Holleman • Wiberg
Lehrbuch der Anorganischen Chemie begründet von A.F. Holleman fortgeführt von Egon und Nils Wiberg 102., stark umgearbeitete und verbesserte Auflage von
Nils Wiberg Erstellung des Sachregisters Gerd Fischer
w
Walter de Gruyter G Berlin • New York DE
Autor
Erstellung des Registers
Professor Dr. Nils Wiberg Ludwig-Maximillians-Universität München Department Chemie und Biochemie Butenandstraße 5-13 (Haus D) 81377 München, Germany e-mail:
[email protected] F a x +49(0)89/2180-77865
Dr. Gerd Fischer Ludwig-Maximilians-Universität München Department Chemie und Biochemie Butenandstraße 5-13 (Haus D) 81377 München, Germany
Das Buch enthält 403 Abbildungen, 188 Tabellen und 6 Tafeln. Chronologie, Perspektiven Autoren des Lehrbuchs der Anorganischen Chemie (laut 1. Auflage: für „Studierende an Universitäten und Technischen Hochschulen") waren bis zur 21. Auflage Prof.Dr. Arnold Frederik Holleman (1859-1953; Universität Groningen; die Bearbeitung der 20. und 21. Auflage übernahm stellvertretend E.H. Büchner), von der 22. bis zur 90. Auflage Prof. Dr. Egon Wiberg (1901-1976; Universität München) und ab der 91. Auflage Prof. Dr. Nils Wiberg (*1934; Universität München; Mitarbeit ab der 34. Auflage): 1. Aufl. 2. Aufl. 3. Aufl. 4. Aufl. 5. Aufl. 6. Aufl.
1900 7. Aufl. 1909 1903 8. Aufl. 1910 1904 9. Aufl. 1911 1906 10. Aufl. 1912 1907 11. Aufl. 1913 1908 12. Aufl. 1914
13. Aufl. 14. Aufl. 15. Aufl. 16. Aufl. 17. Aufl. 18. Aufl.
1916 1918 1919 1920 1921 1925
19. Aufl. 1927 20. Aufl. 1930 21. Aufl. 1937 22.-23. Aufl. 1943 24.-25. Aufl. 1945 26.-27. Aufl. 1951
28.-29. Aufl. 30.-31. Aufl. 32.-33. Aufl. 34.-36. Aufl. 37.-39. Aufl. 40.-46. Aufl.
1951 1952 1953 1955 1956 1958
47.- 56. Aufl. 57.- 70. Aufl. 71.- 80. Aufl. 81.- 90. Aufl. 91.-100. Aufl. 101. Aufl.
1960 1964 1971 1976 1985 1995
Teils erfuhren die „Neuauflagen" hinsichtlich der vorangehenden Auflagen keine Änderungen (z. B. 22./23. Aufl., 24./25. Aufl.; eine Auflage bestand seinerzeit aus 3000 Buchexemplaren) bzw. nur geringe Änderungen, teils wesentliche Änderungen, so im Falle der 1.Aufl. (1900: Übersetzung des 1898 von F.A. Holleman begründeten Lehrbuchs vom Holländischen ins Deutsche durch W. Manchot), der 22. Aufl. (1943; Übernahme des Werks durch E. Wiberg), der 71. Aufl. (1971), der 81. Aufl. (1976), der 91. Aufl. (1985; Übernahme des Werks durch N. Wiberg), der 101. Aufl. (1995), der 102. Aufl. (2007; 7. Umarbeitung des Werks). Bewährt haben sich Umarbeitungen des Werks in Abständen von zehn Jahren. Die explosionsartig voranschreitende Entwicklung der Anorganischen und Metallorganischen Chemie forderten eine drastische Erweiterung des diesbezüglichen Lehrstoffs und des Umfangs des Lehrbuchs. So erscheint eine Teilung der in 10 Jahren zu erwartenden 103. Aufl. in ein kurzgefasstes, den „Chemieanfänger" begleitendes und ein - zugleich zu erwerbendes - stoffumfassendes, dem „Chemiefortgeschrittenen" und „Chemieinteressierten" dienendes Lehrbuch der Anorganischen (und Metallorganischen) Chemie sinnvoll zu sein
ISBN 978-3-11-017770-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. © Copyright 2007 by Walter de Gruyter & Co., 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau. Buchbinderische Verarbeitung: Buchbinderei „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza. Einbandentwurf: Martin Zech, Bremen.
Vorwort zur 102. Auflage
Die 102. Auflage des „Lehrbuchs der Anorganischen Chemie", die sowohl Grundlagen- als auch Stoffwissen der anorganischen und metallorganischen Chemie vermittelt, wendet sich, wie die vorausgehenden Auflagen, sowohl an den Studierenden (Anfänger, Fortgeschrittenen) und Doktoranden der Chemie als auch an den mit Chemie Befassten anderer Wissensbereiche (Physik, Geologie, Biologie, Industrielle Chemie, Pharmazie, Lebensmittelchemie, Medizin usw.), ferner an den (in Schulen, Fachhochschulen, Universitäten usw.) Lehrenden sowie an den in der chemischen Industrie und anderen Einrichtungen Berufstätigen. Ersterem Personenkreis kann das Lehrbuch zur umfassenden Prüfungsvorbereitung in Chemie, letzterem als Chemie-Nachschlagewerk dienen. Die vorausgehende 101. Auflage wurde weitestgehend umgestaltet, sorgfältig revidiert, erweitert (sowie - falls notwendig - gekürzt) und neu gesetzt, so dass nunmehr mit der 102. Auflage des Lehrbuchs ein neues Werk entstanden ist (die vorliegende 102. Auflage stellt einschließlich der 1. Auflage die 7. komplett überarbeitete Edition dar). Die Einbeziehung zusätzlicher Wissensgebiete der Chemie und vieler seit dem Erscheinen der letzten Buchauflage vor 12 Jahren neu gewonnener Einsichten dokumentiert sich in einer großen Anzahl hinzu gekommener Haupt- und Unterkapitel, des Weiteren Neueinfügungen von Textabschnitten, von Tabellen, von Figuren und von Formeln. Einige ,,high lights", ausgewählt aus vielen neuen aufregenden Entdeckungen der letzten Jahre, sind etwa neue Elementmodifikationen (polymerer Stickstoff, faseriger Phosphor, Kohlenstoff-Nanoröhren), Mehrfachbindungssysteme (Verbindungen mit SiSi-Dreifach-, mit CrCr-Fünfachbindungen), Elementclusterverbindungen (Elemente der III. - VI. Hauptgruppe), Elementstickstoffverbindungen (Nitride, Diazenide, Azide sowie Nitrido-, Dinitrogen-, Azido-Komplexe), Superschwere Elemente (Elemente 104 bis 118). Alle mit der Molekül-, Festkörper-, Metallorganischen-, Bioanorganischen-, Technischenund Kern-Chemie der bisher rund 120 bekannten Elemente befassten Kapitel wurden auf den neuesten Stand der Wissenschaft gebracht, wobei sich der Autor bemühte, durch eine ausgewogene- Wesentliches hervorhebende und Unwesentliches streifende - Darstellung der Sachverhalte, den Buchumfang nicht unnötigerweise zu vergrößern. Bei zusätzlicher Nutzung der in Fußnoten vermerkten Literaturzitate chemischer Artikel von Reviewcharakter (berücksichtigt bis zum Jahre 2005 und teilweise darüber hinaus; vgl.1) auf S. VI) ermöglicht das Lehrbuch auch eine eingehende Information über aktuelle chemische Sachverhalte sowie einen schnellen Zugang zu chemischen Daten. Die bewährte Unterteilung des Textes in Groß- und Kleingedrucktes, welche dem Anfänger das Auffinden des für ihn zunächst wichtigen Wissensstoffs (Großdruck) und dessen Abtrennung vom Wissensstoff für Fortgeschrittene (Kleindruck) erleichtern soll, wurde beibehalten. Auch die sehr weitgehende Gliederung des Textes in Haupt-, Unter- und Unterunterabschnitte usw. sowie die vielseitige Anwendung von Halbfett- und Kursivdruck, von Spitzmarken und Unterstrichenem dient dazu, das Wesentliche gegenüber dem weniger Wesentlichen hervorzuheben und Blickpunkte für eine leichtere Orientierung innerhalb des Buches zu schaffen. Des Weiteren ermöglicht die Textgestaltung bei Nutzung der eingefügten Querverweise in der Regel ein Einlesen in jedes Buchkapitel ohne eingehende Kenntnisse anderer Textabschnitte. Insbesondere die zahlreich eingefügten Sachgebiets-Überblicke werden dem „eiligen" Studenten die Prüfungsvorbereitung erleichtern und dem sich Orientierenden ,,rasch" Einblicke in In-
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Vorwort
teressensgebiete verschaffen Ein ausführliches Register ermöglicht zudem das Auffinden eines jeden gewünschten Sachverhalts; auch lassen sich den „Tafeln" viele wichtige Kenndaten der Elemente und dem „Anhang" u.a. Informationen über Atomare Konstanten, SI-Einheiten, Natürliche Nuklide, Normalpotentiale, Nobelpreisträger sowie Nomenklaturfragen entnehmen. Organisation des Lehrbuchs. Das Buch ist wie bisher in vier große Hauptteile (A, B, C, D) sowie einen Anhang (E) gegliedert. Im Teil A („Grundlagen der Chemie"; S. 1-296) werden zunächst - auf induktivem Wege - im Zusammenhang mit der Zerlegung chemischer Stoffe in zunehmend einfachere Bestandteile die Begriffe des Moleküls, Atoms, Elektrons, Protons und Neutrons abgeleitet und einige für die Chemie grundlegende Gesetze sowie das Perio densystem der Elemente besprochen, dann - auf deduktivem Wege - im Zusammenhang mit dem Aufbau chemischer Stoffe aus einfachen Bestandteilen der Atom- und Molekülbau diskutiert sowie das chemische Gleichgewicht und wichtige Typen von Molekülumwandlungen (Redox-, Säure-Base-Reaktionen) erläutert. Die erworbenen Kenntnisse finden schließlich mit der Behandlung des Wasserstoffs und seiner Verbindungen ihre Anwendung und Erweiterung. Es schließt sich im Teil B („Hauptgruppen des Periodensystems", s- und p-Block-Elemente", S.297-1299) die systematische Abhandlung der Elemente der acht Hauptgruppen (Ausbau der äußersten Elektronenschalen), im Teil C („Nebengruppen des Periodensystems"; ,,d-Block-Elemente"; S. 1301-1873) die der äußeren Übergangselemente (Ausbau der zweitäußersten Elektronenschalen) und im Teil D („Lanthanoide und Actinoide"; ,,f-Block-Elemente"; S. 1795-1990) die der inneren Übergangselemente (Ausbau der drittäußersten Elektronenschalen) an. Zum besseren Verständnis und zum raschen Erlangen eines Überblicks des Behandelten wird jeder der drei Teile durch zusammenfassende Artikel grundlegenden Inhalts (Periodensystem sowie Trend der Elementeigenschaften; Grundlagen der Molekül-, Komplex-, Festkörper- sowie Kernchemie) eingeleitet, der Teil C zudem durch ein zusammenfassendes Kapitel stofflichen Inhalts (Überblick über wichtige Verbindungsklassen der Übergangsme talle) abgeschlossen. Im Teil D werden zudem die erst in jüngster Zeit künstlich hergestellten superschweren Elemente („Transactinoide") besprochen. Der Teil E („Anhang"; S. 1991-2031) enthält Zahlentabellen, einen Abschnitt über SI-Einheiten, ihre Definition und Umrechnung in andere gebräuchliche Maßeinheiten, Tabellen der natürlichen Nuklide der Radien von Ato1
Bei den Zeitschriften und Sammelwerken wurden folgende Abkürzungen gebraucht:
Acc. Chem. Res. Adv. Fluorine Adv. Inorg. Chem. (and Radiochem.) Adv. Organomet. Chem Angew. Chem. (Int. Ed.) Chem. Commun. Chem. Rev. Chem. Soc. Rev. COMPR. COORD. CHEM. INORG. CHEM. ORGANOMET. CHEM.
Coord. Chem. Rev. Fortschr. Chem. Forsch Eur. J. Inorg. Chem.
Accounts of Chemical Research Advances in Fluorine Chemistry Advances in Inorganic Chemistry (and Radiochemistry Advances in Organometallic Chemistry Angewandte Chemie (International Edition in English Chemical Communications Chemical Reviews Chemical Society Reviews Comprehensive - Coordination Chemistry*) Inorganic Chemistry - Organometallic Chemistry**) Coordination Chemistry Reviews Fortschritte der chemischen Forschung European Journal of Inorganic Chemistry
GMELIN HOUBEN-WEYL J. Organomet. Chem. J. Chem. Educ. KIRK-OTHMER Progr. Inorg. Chem. Pure Appl. Chem. Quart. Rev. Struct. Bond. Survey Progr. Chem. Topics Curr. Chem. ULLMANN
Gmelins Handbuch der Anorganischen Chemie Houben-Weyl-Müller, Methoden der org. Chemie Journal of Organometallic Chemistry Journal of Chemical Education Kirk-Othmer, Encyclopedia of Chemical Technology Progress in Inorganic Chemistry Pure and Applied Chemistry Quarterly Reviews Structure and Bonding Survey of Progress in Chemistry Topics of Current Chemistry Ullmann, Enzyklopädie der technischen Chemie
*) G. Wilkinson, R . D . G i l l a r d , McCleverty (Hrsg.): ,,The Syntheses, Reactions, Properties and Applications of Coordination Compounds" j G. Wilkinson, R . D . G i l l a r d , McCleverty, T . J . M e y e r (Hrsg.): ,,The Syntheses, Reactions, Properties and Applications of Coordination Compounds - From Biology to Nanotechnology", Comprehensive Coordination Chemistry I/II, Pergamon, Oxford 1987/2004. **) G. Wilkinson, F. G. A. Stone, E. W. Abel (Hrsg.)/ E.W. Abel, F. G. A. Stone, G. Wilkinson (Hrsg.)/D. M. P. Mingos, R. H. Crabtree (Hrsg.): ,,The Syntheses, Reactions and Struktures of Organometallic Compounds", Comprehensive Organometallic Chemistry I/II/III, Pergamon/ Pergamon/Elsevier, Oxford 1982/1995/2006.
Vorwort
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men und Ionen, der Bindungslängen zwischen Hauptgruppenelementen, der Normalpotentiale unterschiedlicher Elementwertigkeiten, ferner eine Übersicht über die bisherigen Nobelpreisträger für Chemie und Physik sowie eine kurze Einführung in die Nomenklatur der Elemente und ihrer Verbindungen. „Tafeln" im Vor- und Nachsatz informieren zudem über das Langund Kombinierte Periodensystem (Taf. I, VI) über Namen, Nummern, Massen, Entdecker, Häufigkeiten der Elemente (Taf. II) sowie über atomare, physikalische, chemische, biochemische, toxische Elementeigenschaften (Taf. III, IV, V). Umgestaltungen, Erweiterungen, Ergänzungen. Wegen der überaus zahlreich vorgenommenen Änderungen (keine Seite blieb bei der Überarbeitung der 102. Buchauflage unverändert) ist eine ins Einzelne gehende Aufzählung der Korrekturen und Neueinfügungen, wie sie noch im Vorwort der 101. Buchauflage erfolgte, an dieser Stelle aus Platzgründen nicht mehr möglich. Es seien deshalb nachfolgend nur einige - die 102. Buchauflage tragende - Gesichtspunkte hervorgehoben und auch diese nur durch wenige - das weite Feld der Umgestaltungen, Ergänzungen und Erweiterungen kaum streifende - Beispiele (jeweils in Klammern) verdeutlicht. Hervorzuhebende Änderungen betreffen (i) neu eingefügte Überblicke über die Halogen- und Chalkogenverbindungen der Elemente (Kap. XII, XIII), (ii) neu konzipierte zusammenfassende Kapitel über die schweren Chalkogene (Se, Te, Po), Pentele (As, Sb, Bi), Tetrele (Ge, Sn, Pb), Triele (Ga, In, Tl) und ihre Chemie (Kap. XIII, XIV, XV, XVI), (iii) die Umorganisation der zusammenfassenden Überblicke über wichtige Verbindungsklassen (Kap. XXXII), (iv) Einfügen eines Kapitels (XXXVII) über superschwere Elemente („Transactinoide"). Drei Lehrbücher in einem Das vorliegende Lehrbuch vereinigt in sich ein Lehrbuch über Grundlagen der Chemie (ca. 30 % des Buchtextes), ein Lehrbuch über Elemente und Verbindungen der Anorganischen Chemie (ca. 60 %) sowie ein Lehrbuch über Metallorganische Chemie (ca. 10%). Die drei Teile sind im Inhaltsverzeichnis durch unterschiedliche Markierung der Seitenverweise hervorgehoben. Der Lehrbuchteil Grundlagenchemie (einschließlich einer Einführung in die Kernchemie; Kap. I VII, IX, X, XIX XXI, XXXIII, XXXIV) ist, da er das Kernstück der Ausbildung von Chemieanfängern und Nebenfachstudenten darstellt, in leicht verständlicher Lehrbuchweise abgefasst. Die Grundlagenchemie wurde - in noch stärkerem Maße wie in der vorausgehenden Buchauflage - unter Einbeziehung wichtiger neuer Sachgebiete und Sachverhalte ausgebaut und in eigenen Kapiteln sowie Abschnitten übersichtlich zusammengefasst (bezüglich einiger neu hinzugekommener Grundlagen-Unterkapitel vgl etwa Neutralisations-Reionisations-Massenspektrometrie, Clusterverbindungen, Molekülassoziate, Elektrische Batterien, Brennstoffzellen, Brönsted'sche Säure-Base-Reaktionen in aprotischen Medien, Begriff und Einsatz schwach koordinierender Anionen, neue Prinzipien des VSEPR-Modells, Konsequenzen der Gültigkeit der Oktettregel im Falle der p-BlockElementverbindungen, nanostrukturierte Materialien). Im Lehrbuchteil Elemente und Verbindungen der Anorganischen Chemie (einschließlich der Superschweren Elemente; Kap. VIII, XI-XVIII, XXII-XXXII, XXXIV-XXXVII) wird der derzeitige Stand der Anorganischen Stoffchemie (einschließlich energetischer, kinetischer, mechanistischer Aspekte) umfassend dargestellt. Die Beschreibung bezieht sich hierbei nicht nur auf,,normale" chemische Spezies, sondern auch auf solche, die unter besonderen Bedingungen (bei niedrigen oder hohen Temperaturen sowie Drücken; kurzzeitig in der Gas- oder Lösungsphase usw.) zugänglich sind bzw. existieren. Die Beschreibung der schweren Homologen der VI.-III. Hauptgruppe (Se, Te, Po; As, Sb, Bi; Ge, Sn, Pb; Ga, In, Tl) erfolgt nunmehr jeweils zusammen in einem Kapitel, was den Überblick vergrößert und den Platzbedarf verkleinert. Eine große Zahl der in der 101. Buchauflage aufgeführten Fußnoten wurden - auf Wunsch vieler Leser - in den Haupttext der 102. Buchauflage eingebunden, wobei Fußnoten, die weitreichendere Sachverhalte klarstellen (Literatur, Geschichtliches, Physiologisches, Namensherkünfte, Sonderstoffklassen wie Pigmente, Hartstoffe, Keramiken, Wärmespeicher usw.) ver-
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Vorwort
blieben oder neu eingefügt wurden. Im Element- und Verbindungsteil müssen die unterschiedlichen Interessensgruppen (Chemiestudenten im unteren oder höheren Semester, Studenten mit dem Nebenfach Chemie, Chemiedoktoranden, Chemielehrende, Chemieberufstätige usw.) das für sie Wesentliche aus der Stofffülle herauskristallisieren. Doch wird das Auswählen und Überblicken der Sachgebiete wie bereits angedeutet wurde durch Groß- und Kleindruck durch eine ausgefeilte, bis ins Einzelne gehende Systematik, durch Fett- und Kursivdruck und last not least durch zahlreiche zusammenfassende Unterkapitel und Abschnitte er leichtert Die Beschreibung der Elemente umfasst jeweils Vorkommen, Darstellung (im Labor, in der modernen Technik), Physikalische und Chemische Eigenschaften, Verwendung, Allotrope und Polymorphe Modifikation (neue Schwefel- und Phosphorallotrope, Kohlenstoff-Nanoröhren, kurzlebige Elementspezies wie 0 4 , S 2 0 3 , N4, P6 usw.), kationische und anionische Elementformen (Halogen- und Chalkogenkationen sowie -anionen; Nj", N , Pentel-, Tetrel- und Trielclusterkationen sowie -anionen). Es schließt sich eine Beschreibung des Verhaltens der Elemente in ihren Verbindungen (Oxidationsstufen, Koordinationszahlen, Fähigkeit des Elements zur Ausbildung von Ein- und Mehrfachbindungen, Elementtendenzen zur Clusterbildung in Verbindungen) an. Die Beschreibung anorganischer Elementverbindungen umfasst jeweils ähnliche Unterkapitel wie die Beschreibung der Elemente. Im Zentrum stehen - traditionsbedingt - die Wasserstoffverbindungen der Elemente. Insbesondere die Kapitel über Hydride des Sauerstoffs, Stickstoffs, Siliciums sowie Bors und ihrer Elementhomologen wurden unter Einbeziehung sehr kurzlebiger oder nur errechenbarer Spezies (z. B. H 2 0 3 , N2H2, Si2H4, Si2H2, B„Hn+2) sorgfältig überarbeitet. Was die Halogen-, Chalkogen-, Pentel-, Tetrel-, Triel-, Erdalkalimetall- sowie Alkalimetallverbindungen der Elemente betrifft, so sei nur ausschnittsweise neu Hinzugekommenes erwähnt: Kenn- und Strukturdaten der Halogen-, Chalkogen- und (vereinzelt) Pentelverbindungen jeweils tabellarisch; zusammenfassende Überblicke über die Halogen- und Chalkogenverbindungen der Elemente; Berücksichtigung von Verbindungen der Elemente in niedrigwertigen, in kationischen, in anionischen Formen (Trielclusterhalogenide, Kationen niedrigwertiger Chalkogen- und Pentelhalogenide, Halogenidokomplexe der p-Block-Elemente usw.); eingehende Behandlung neuer Oxide sowie Oxokomplexe und - parallel hierzu neuer Nitride und Nitridokomplexe der Elemente; breite Diskussion der Alkali- und Erdalkalimetallverbindungen der Elemente („Elementide" wie Nitride, Phosphide, Arsenide, Antimonide, Bismutide, Carbide, Germanide, Stannide, Plumbide, Boride, Aluminide, Gallide, Indide, Thallide). Der Lehrbuchteil Metallorganische Chemie ist das Bindeglied zwischen Anorganischer und Organischer Chemie und wird von Forschern beider Gebiete gleichermaßen eingehend stu diert. Gerade in den Verbindungen der Metalle oder Halbmetalle (Se, Te, Si - Pb, B Tl, Be - Ra, Li - Fr, d- und f-Block-Metalle) mit Organyl- bzw. organylverwandten Gruppen zeigen diese Elemente ihre ihnen innewohnenden chemischen Fähigkeiten. Eine kurzgefasste, aber weitestgehend vollständige Abhandlung von Synthesen, Strukturen und Reaktionen der „Metallorganischen Verbindungen" darf auch in einem Lehrbuch für Anorganische Chemie keinesfalls fehlen. Beispielsweise vermögen (insbesondere sterisch überladene) Organyl- oder organylverwandte Reste Elemente u. a. in hohen oder niedrigen Oxidationsstufen, in mehrfach gebundenem Zustande bzw. in Clusterverbänden zu stabilisieren (PR5, PR^, SiR2, R2Si—SiR2, RSi=SiR, Si4R4, Sn6R6, BnRn+2, A14R4, Al^Cp*, ^ 8 ^ 2 0 , In8R6, R6T16C12 R C r ^ C r R u. v.m.). Hinweis: Seitenzahlen der mit Metallorganischer Chemie befassten Abschnitte wurden zur Kennzeichnung mit einem Punkt markiert Dank. Wieder erfreute ich mich bei der Neubearbeitung des Lehrbuchs der Mithilfe zahlreicher Leser des Werks, die mich in Zuschriften und mündlichen Gesprächen auf Verbesserungsmöglichkeiten des Buches hinwiesen und wertvolle Vorschläge zur Umgestaltung von Buch
Vorwort
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abschnitten machten. Erwähnt und bedankt seien hierfür: Prof. Dr. B. Albert, Darmstadt; Prof. Dr. N. Auner, Frankfurt; Prof. Dr. M. Baudler, Köln; Prof. Dr. W. Beck, München; Prof. Dr. A. Berndt, Marburg; Prof. Dr. H.P. Boehm, München; Dr. H. Böttcher, München; Prof. Dr. R. Blachnik, Osnabrück; P. Brandhuber, München; Prof. Dr. H. J. Breunig, Bremen; Prof. Dr. H. Bürger, Wuppertal; T. Bug, Schierling; D. Daul, Tübingen; Prof. Dr. K. Dehnicke, Marburg; Prof. Dr. G. Demazeau, Bordeaux; Prof. Dr. M. Driess, Bochum; J. Dyckmans, Göttingen; Dr. M.A.Ebner, Regensburg; Prof. Dr. Eisenmann, Darmstadt; Prof. Dr. Ch. Elschenbroich, Marburg; Prof. Dr. B. Engels, Würzburg; Prof. Dr. G. Ertl, Berlin; Prof. Dr. J. Evers, München; Prof. Dr. T. F. Fässler, München-Garching; Dr. E.Faninger, Ljubljana; Dr. D.Fenske, Karlsruhe; Prof. Dr. A.C.Fillipou, Bonn; Dr. G.Fischer, München; Dr. W. Fischer, Darmstadt; W. Griesmeir, Augsburg; Prof. Dr. R. Gruehn, Gießen; Prof. Dr. A. Haas, Bochum; Prof. Dr. K. Hartl, München; Prof. Dr. J. Heck, Hamburg; Prof. Dr. K. Hegetschweiler, Saarbrücken; S.Hellkamp, Göttingen; Prof. Dr. M.Herberhold, Bayreuth; Dr. H. Huppertz, München; Prof. Dr. Ch. Janiak, Freiburg; Prof. Dr. M. Jansen, Stuttgart; Prof. Dr. H. Karsch, München-Garching; Dr. M. Kämper, München; Prof. Dr. T.M. Klapötke, München; S. Klein; Dr. S. Kleinhenz, Berlin; M. Klingele, Heitersheim; Prof. Dr. P. Klüvers, München; Prof. Dr. R. Kniep, Dresden; P.H. Koenig, München; Dr. A. Kornath, Dortmund/München; Prof. Dr. E. Kroke, Konstanz; Prof. Dr. I. Krossing, Freiburg; Prof. Dr. Ch. Janiak, Freiburg; J. Kühnstedt, München; Dr. K.-H. Lautenschläger, Dresden; A.Leonhardt, Burgthann; B.Lerche, Regensburg; Prof. Dr. I.P.Lorenz, München; P.Louridas, Aachen; Prof. Dr. F. Lux, München; Prof. Dr. G. Maier, Gießen; Dr. R. Meissner, Halle; Prof. Dr. G. Meyer, Köln; Prof. Dr. W.-W. du Mont, Braunschweig; Dr. H.S. P. Müller, Köln; C. Muenchenbach, Freiburg; Prof. Dr. R. Niewa, München-Garching; M. Nott; Dr. D. Opitz, Duisburg; D. Oppermann; Prof. Dr. P. Paetzold, Aachen; Dr. V. Pershina, Darmstadt; S. Pitula; Prof. Dr. W. Preetz, Kiel; U. Punjer-Friedrichs, München; B. Reiser, Karlsruhe; Dr. M. Schädel, Darmstadt; Prof. Dr. K. Schank, Saarbrücken; C. Schepp, Tübingen; Prof. Dr. O.J. Scherer, Kaiserslautern; Prof. Dr. W. Scherer, Augsburg; Prof. Dr. G. Schmid, Essen; Prof. Dr. A. Schmidpeter, München; Dr. K. Schmidt, Bonn-Bad Godesberg; Dr. A. Schnepf, Karlruhe; Prof. Dr. H.G. von Schnering, Stuttgart; Prof. Dr. W. Schnick, München; Prof. Dr. H. Schnöckel, Karlsruhe; T. Schödl, Regensburg; Dr. H. Schönemann, Neukirchen-Vluyn; J. Scholler, München; Prof. Dr. H. Schubert, Pfinztal; Prof. Dr. W. Schubert, Wien; Schüler des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums, Gladbach; Dr. A. Schulz, Rostock; G. Schwarz; Ch. Seifert; M. Seitz, Regensburg; Dr. G. Siegert, Darmstadt; M. M. Skocic, Wien; Dr. B. Stegemann, Berlin; Prof. Dr. R. Steudel, Berlin; M. Stich, Regensburg; Dr. A.M.Stier, Regensburg; Prof. Dr. J.Strähle, Tübingen; Prof. Dr. A.Türler, München-Garching; Prof. Dr. H.Vahrenkamp, Freiburg; S.K.Vasisht, München/Chandigarh; M.Vogler, Berlin; Dr. K. Volkamer, Frankenthal; T. Wabnitz, Regensburg; Dr. R. Wagner, Guben; Dr. B. Weber, München; Prof. Dr. M. Weidenbruch, Oldenburg; Prof. Dr. W. Weigend, Jena; Dr. A. Weitze, Brunsbüttel; Prof. Dr. J. Werringloer, Tübingen; Prof. Dr. W. Westerhausen, Jena; Dr. C. Wickleder, Siegen; Dr. M.S.Wickleder, Oldenburg; J.Wiebke; Prof. Dr. H.Willner, Duisburg; A. Winkel, Clausthal; Dr. J. Wunderle, Halle; Dr. P. Wurmbach, Berlin; Prof. Dr. U. Zennek, Erlangen; P. Zilles, Marburg. Besonders danken möchte ich Prof. Dr. A. Schmidpeter, München, dafür, dass er mir seit dem Erscheinen der 101. Auflage des Lehrbuchs mit vielen (nahezu tausend) Verbesserungsund Erweiterungsvorschlägen für die 102. Auflage des Werks unermüdlich zur Seite stand Entsprechendes gilt für Herrn M. J. ten Hoor, der mir Hunderte von Hinweisen übersandte. Mehreren Kollegen schulde ich für ihre teilweise sehr intensive Mitarbeit bei der Um gestaltung und Aktualisierung einiger Abschnitte des Lehrbuchs großen Dank: Prof. Dr. B. Albert, Darmstadt (Boride); Prof. Dr. N. Auner, Frankfurt (Energiewirtschaft); Prof. Dr. W. Beck, München (Komplexchemie, Bioanorganische Chemie); Prof. Dr. A. Berndt, Marburg (Polyborane und ihre Organylderivate); Prof. Dr. H.-P. Boehm, München (Kohlenstoff-
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modifikationen); Prof. Dr. J. Evers, München (Festkörperchemie); Prof. Dr. B. Eisenmann (Alkalimetalltrielide); Dr. H. Huppertz, München (Festkörperchemie); Prof. Dr. Ch. Janiak, Freiburg (Komplexchemie), Prof. Dr. I. Krossing, Freiburg (schwach koordinierende Anionen); Prof. Dr. R. Niewa, München-Garching (Metallnitride); Prof. Dr. P. Paetzold, Aachen (Borchemie); Dr. V. Pershina, Darmstadt (Transactinoide); Dr. M. Schädel, Darmstadt (Transactinoide); Dr. K. Schmidt, Bonn-Bad Godesberg (Diskussionen); Prof. Dr. W. Schnick, München (Nichtmetallnitride); Prof. Dr. H. Schnöckel, Karlsruhe (Trielclusterverbindungen); Prof. Dr. S.K.Vasisht, München/Chandigarh (Literaturrecherche und -überprüfung). Großer Dank gebührt den nachfolgend aufgeführten Kollegen, welche das gesetzte Manuskript des Lehrbuchs nach dessen Korrektur durch den Autor nochmals mit ,,frischem Auge" auf Fehler hin überprüften: Prof. Dr. J. Evers, Müchen (Kap. VI-VIII); Dr. G. Fischer, München (Kap. II); Dr. H. Huppertz, München (Kap. XXI, XXXIV); Prof. Dr. D. Johrendt, München (Kap. XXXV-XXXVII); Prof. Dr. Ch. Janiak, Freiburg (Kap. XX, XXXII); Dr. F. Karau, München (Kap. III, V); Prof. Dr. H. Karsch, München-Garching (Kap. X, XVII, XVIII); Prof. Dr. K.-W. Klinkhammer, Mainz (Kap. XV); Dr. A. Kornath, Dortmund/München (Kap. XIV); Prof. Dr. I.-P. Lorenz, München (Kap. XXII-XXVI); Dr. J. Schmedt auf der Günne, München (Kap. IV, IX, XIX, XXXIII); Dr. A. Schnepf, Karlsruhe (Kap. XVI); Dr. A. Schulz, Rostock (Kap. XI-XIII); Dr. B. Weber, München (Kap. XXVII-XXXI). Dankend erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch die durch die Lektorin A. Sust, Berlin, abschließend erarbeitete Umbruchrevision aller Kapitel des Lehrbuchs Herr Dr. Fischer, München, beteiligte sich nicht nur an der Korrektur der zahlreichen Figuren sowie Formelbilder, an der Erfassung neuer Kenndaten und an der Korrektur des Manuskripts, sondern er erarbeitete wiederum in dankenswerter Weise die Neufassung eines umfangreichen Sachregisters, das - für sich genommen - bereits leserdienliche Züge eines kurzgefassten Lehrbuchs der Anorganischen und Metallorganischen Chemie erkennen lässt Auch allen jenen, die dazu beigetragen haben, dass die vorliegende 102. Auflage des Lehrbuchs zu einem guten, ,,druckreifen" Abschluss gekommen ist, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danken: der am Münchener Institut der LMU tätigen Sekretärin, Frau Hermione Mayer, für die Bewältigung vieler Büroarbeiten, dem de Gruyter-Programmbereichsleiter für Medizin und Naturwissenschaften, Herrn Wolfgang Böttner, für die Ermöglichung selbst unmöglich erscheinender Vorgehensweisen, der Fachlektorin, Frau Dr. Stephanie Dawson, für ihren tatkräftigen „lehrbuchfertigstellenden" Einsatz, der mit der technischen Herstellung des Werks betrauten de Gruyter-Mitarbeiterin, Frau Marie-Rose Dobler, für die große Geduld mit einem Autor voller schwer realisierbarer Wünsche, der Zeichnerin, Frau Christel Speidel, für ihre beispielhafte Umsetzung der bildlichen Vorstellungen eines Autors in Neuzeichnungen und Formelbilder, der Setzerei Tutte, Salzweg-Passau, für die technisch sehr aufwändige Buchherstellung, der Universitätsphilologin, Frau Prof. Dr. Claudia Wiener, für die liebevolle Nachhilfe in Latein. Last not least danke ich den Tegernseern Bergen, Neureuth und Galaun, deren Bezwingung mit anschließender Einkehr in den von Kathi sowie Erich, Lisi sowie Franz geführten Berggaststätten dem Autor immer wieder die notwendige „Schreibenergie" verschaffte Innig verbunden bin ich schließlich meiner Frau Christel, die nicht nur mein fast unleserliches Manuskript in ein digital erfasstes Dokument umsetzte, mich auf Fehler im Text nachsichtig aufmerksam machte, das Personenregister des Lehrbuchs erstellte, mich mit leiblichen und seelischen Ermunterungen beglückte, sondern mir immer wieder mit jugendlichem Elan versicherte: ,,Das macht mir alles riesig Spaß." Was für eine Frau! ,,Habemus ergo istum denuo editum librum!" München, Februar 2007
Nils Wiberg
Inhalt
Seitenverweise im Inhaltsverzeichnis ohne besondere Kennzeichnung beziehen sich auf die Grundlagenchemie, diejenigen mit schwarzem, senkrechten Balken auf die Anorganische Chemie, Seitenzahlen mit Punkt auf die Metallorganische Chemie.
Einleitung
Teil A
1
Grundlagen der Chemie. Der Wasserstoff
Kapitel I Element und Verbindung 1 Der reine Stoff 1.1 Homogene und heterogene Systeme 1.2 Zerlegung heterogener Systeme 1.2.1 Zerlegung auf Grund verschiedener Dichten 1.2.2 Zerlegung auf Grund verschiedener Teilchengrößen 1.3 Zerlegung homogener Systeme 1.3.1 Zerlegung auf physikalischem Wege
3 5 5 5 6 6 7 8 8
Phasenscheidung durch Temperaturänderung (S. 8), Phasenscheidung durch Lösungsmittel (S. 10), Phasenscheidung durch Chromatographie (S. 10)
2
1.3.2 Zerlegung auf chemischem Wege Der Element- und Verbindungsbegriff
Kapitel II Atom und Molekül 1 Atom- und Molekularlehre 1.1 Massenverhältnisse bei chemischen Reaktionen. Der Atombegriff 1.1.1 Experimentalbefunde
11 12
15 15 15 15
Gesetz von der Erhaltung der Masse (S. 15), Stöchiometrische Gesetze (S. 17)
2
1.1.2 Dalton'sche Atomhypothese 1.2 Volumenverhältnisse bei chemischen Reaktionen. Der Molekülbegriff . . . . 1.2.1 Experimentalbefunde 1.2.2 Avogadro'sche Molekülhypothese 1.3 Wahl einer Bezugsgröße für die relativen Atom- und Molekülmassen . . . . 1.3.1 Stoffmengen 1.3.2 Äquivalentmengen 1.3.3 Stoff- und Äquivalentkonzentrationen Atom- und Molekülmassenbestimmung 2.1 Bestimmung relativer Molekülmassen 2.1.1 Gasförmige Stoffe Zustandsgleichung idealer Gase (S.28), Methoden der Molekülmassenbestimmung (S. 32)
19 20 20 21 24 24 26 27 28 28 28
XII
Inhalt
2.1.2
Gelöste Stoffe
32
Aggregatzustände der Materie (S. 32), Zustandsdiagramme von Stoffen (S. 33), Zustandsgleichung gelöster Stoffe (S. 35), Methoden der Molekülmassenbestimmung (S. 37)
2.2 2.2.1 2.2.2
Bestimmung relativer Atommassen Bestimmung über eine Massenanalyse von Verbindungen Bestimmung über die spezifische Wärmekapazität von Verbindungen . . . .
38 38 40
Gasförmige Stoffe (S.40), Feste Stoffe (S.41)
3
2.3 Absolute Atom- und Molekülmassen Die chemische Reaktion, Teil I 3.1 Der Materie-Umsatz bei chemischen Reaktionen 3.1.1 Chemische Reaktionsgleichungen 3.1.2 Einteilung chemischer Reaktionen 3.2 Der Energie-Umsatz bei chemischen Reaktionen 3.2.1 Gesamtumsatz an Energie 3.2.2 Umsatz an freier und gebundener Energie
Kapitel III Atom- und Molekülion 1 Ionenlehre 1.1 Die elektrolytische Dissoziation. Der Ionenbegriff 1.1.1 Experimentalbefunde: Mengenverhältnisse bei der elektrolytischen Stoffauflösung 1.1.2 Arrhenius'sche Ionenhypothese
42 44 44 44 45 47 47 49 52 52 52 52 53
Einteilung der Elektrolyte (S. 53), Stärke der Elektrolyte (S. 55), Reaktionen der Elektrolyte (S. 56)
1.2 1.2.1
2
3
Die elektrolytische Zersetzung. Der Elektronen- und Protonenbegriff . . . . Experimentalbefunde: Massenverhältnisse bei der elektrolytischen Stoffabscheidung 1.2.2 Stoney'sche Elektronen- und Rutherford'sche Protonenhypothese Ionenmassenbestimmung 2.1 Die Massenspektrometrie 2.2 Bestimmung relativer Ionenmassen. Der Isotopenbegriff 2.2.1 Qualitative Untersuchungen 2.2.2 Quantitative Untersuchungen 2.3 Lebensdauer instabiler Moleküle Ionisierungs-, Dissoziations-, Atomisierungsenergie
Kapitel IV Das Periodensystem der Elemente, Teil I 1 Einordnung der Elemente in ein Periodensystem
58 58 59 62 62 65 65 67 68 69 73 74
Gekürztes Periodensystem (S. 74), Ungekürztes Periodensystem (S. 76)
2
Vergleichende Übersicht über die Elemente
77
Entdeckung der chemischen Elemente (S. 77), Verbreitung der chemischen Elemente (S. 78), Aufbau der Erdkugel (S. 79), Aufbau der Biosphäre (S. 79), Eigenschaften der chemischen Elemente (S. 80)
Kapitel V Der Atombau 1 Das Schalenmodell der Atome 1.1 Bausteine der Materie. Elementarteilchenbegriff 1.1.1 Die Nukleonen und andere Elementarteilchen 1.1.2 Die Quarks und andere Urbausteine 1.2 Der Atomkern
82 82 82 82 84 86
Inhalt
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2
Bauprinzip Nukleonenzustände und Stabilität Durchmesser und Dichte der Atomkerne Die Elektronenhülle Bauprinzip Elektronenkonfiguration und Stabilität
XIII
86 88 89 90 90 92
Einelektronenzustände (S. 92), Mehrelektronenzustände (S. 96)
1.3.3 Durchmesser von Atomen und Atomionen Atomspektren 2.1 Die Bausteine des Lichts. Der Photonenbegriff 2.2 Elektronenspektren 2.2.1 Die optischen Spektren 2.2.2 Die Röntgen-Spektren 2.3 Photoelektronenspektren
99 100 100 103 105 107 109
Kapitel VI Der Molekülbau. Die chemische Bindung, Teil I 1 Die Elektronentheorie der Valenz 1.1 Verbindungen erster Ordnung 1.1.1 Die Metallbindung
112 112 113 113
2
Bindungsmechanismus und Eigenschaften der Metalle (S. 113), Metallwertigkeit, Metallgitterenergie und Metallatomradien (S. 114), Strukturen der Metalle (S. 115), Legierungen (S. 119)
1.1.2
Die Ionenbindung
120
Bindungsmechanismus und Eigenschaften der Ionenverbindungen (S. 120), Ionenwertigkeit (S. 121), Gitterenergie von Ionenkristallen (S. 122), Strukturen einiger Ionenkristalle (S. 124), Kristallgitter von Salzen und anderen Festkörpern (S. 127), Ionenradien (S. 128), Mischkristallbildung (S. 130)
1.1.3
Die Atombindung
131
Bindungsmechanismus und Eigenschaften der Atomverbindungen (S. 131), Atomwertigkeit (S. 132), Bindungsgrad, Bindungslänge und Atomradien (S. 135), Molekülgestalt und Bindungswinkel (S. 139), Bindungsenergie (S. 141)
1.1.4
Übergänge zwischen den Bindungsarten
143
Elektronegativität (S.145), Dipolmoment der Moleküle (S. 147), Halbmetalle und Halbleiter (S. 148)
1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.4
Übergänge zwischen Verbindungen und Elementen. Clusterverbindungen Verbindungen höherer Ordnung Die koordinative Bindung Komplexbildung am Elektronendonator Komplexbildung am Elektronendonatorakzeptor Komplexbildung am Elektronenakzeptor Assoziate von Molekülen Die zwischenmolekulare Bindung Wasserstoffbrücken-Assoziate Charge-Transfer-Komplexe Kolloiddisperse Systeme
149 150 151 151 154 155 157 158 160 165 166
Vergleich grob-, kolloid- und molekulardisperser Lösungen (S.167), Beständigkeit kolloider Lösungen (S. 168)
2
Molekülspektren 2.1 Überblick 2.2 Farbe chemischer Stoffe 2.2.1 Allgemeines
170 170 171 171
XIV
Inhalt
2.2.2
Spezielles
174
Farbe von Atomen und Atomionen (S. 174), Farbe von Molekülen und Molekülionen (S. 175), Farbe von Komplexen (S. 176), Farbe von Festkörpern (S. 176)
3 4
Laser und Anwendungen Molekülsymmetrie 4.1 Symmetrieelemente und Symmetrieoperationen 4.2 Punktgruppen 4.3 Anwendungen
Kapitel VII Die Molekülumwandlung. Die chemische Reaktion, Teil II 1 Das chemische Gleichgewicht 1.1 Die Reaktionsgeschwindigkeit 1.1.1 Die ,,Hin"-Reaktion 1.1.2 Die ,,Rück"-Reaktion 1.1.3 Die Gesamtreaktion 1.2 Der Gleichgewichtszustand 1.2.1 Das Massenwirkungsgesetz 1.2.2 Das Verteilungsgesetz 1.2.3 Die elektrolytische Dissoziation
177 180 181 182 184 186 186 187 187 189 192 193 193 195 196
Allgemeines (S. 196), Dissoziation schwacher Säuren (S. 199)
1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.4.1
Die Beschleunigung der Gleichgewichtseinstellung Reaktionsbeschleunigung durch Katalysatoren Reaktionsbeschleunigung durch Temperaturerhöhung Die Verschiebung von Gleichgewichten Qualitative Beziehungen
202 203 204 205 205
Das Prinzip von Le Chatelier (S. 205), Folgerungen des Prinzips von Le Chatelier (S. 205)
1.4.2
Quantitative Anwendungsbeispiele
207
Die Hydrolyse (S. 207), Die Neutralisation (S. 209)
2
1.5 Heterogene Gleichgewichte 1.5.1 Fest-gasförmige Systeme 1.5.2 Fest-flüssige Systeme Die Oxidation und Reduktion 2.1 Ableitung eines neuen Oxidations- und Reduktionsbegriffs 2.1.1 Das Redoxsystem 2.1.2 Die Oxidationsstufe 2.2 Die elektrochemische Spannungsreihe 2.2.1 Das Normalpotential
212 213 214 217 217 217 219 220 220
Allgemeines (S. 220), Normalpotentiale in saurer und basischer Lösung (S. 223), Re lative Stärke gebräuchlicher Oxidations- und Reduktionsmittel (S.227)
2.2.2
Die Konzentrationsabhängigkeit des Einzelpotentials
229
Allgemeines (S. 229), Redoxkraft in saurer, neutraler und basischer Lösung (S. 232)
3
2.3 Die elektrolytische Zersetzung 2.4 Elektrische Batterien Die Acidität und Basizität 3.1 Ableitung neuer Säure- und Basebegriffe 3.1.1 Brönsted-Säuren und -Basen
234 237 240 240 240
Aquasystem (S.240), Protonenhaltige und protonenfreie Systeme (S.242)
3.1.2 3.2
Lewis-Säuren und -Basen Stärke von Brönsted-Säuren und -Basen
244 245
Inhalt
3.2.1 3.2.2
Die protochemische Spannungsreihe Die Konzentrationsabhängigkeit der Brönsted'schen Acidität und Basizität
XV
245 248
Allgemeines (S. 248), Sehr starke Säuren und Supersäuren (S. 250)
3.3 3.3.1
Stärke und Weichheit von Lewis-Säuren und -Basen Das HSAB-Prinzip
253 253
Allgemeines (S. 253), Anwendungen (S. 254)
3.3.2
Schwach koordinierende Ionen
256
Schwach koordinierende Anionen (S. 256), Schwach koordinierende Kationen (S. 257)
Kapitel VIII Der Wasserstoff und seine Verbindungen 1 Das Element Wasserstoff 1.1 Vorkommen 1.2 Darstellung
259 259 259 260
Wasserstoffgewinnung aus Wasser (S. 260), Wasserstoffgewinnung aus Kohlenwasserstoffen (S. 263), Reinigung und Transport von Wasserstoff (S. 263)
1.3 1.4
Physikalische Eigenschaften Chemische Eigenschaften
264 265
Thermisches Verhalten (S.265), Säure-Base-Verhalten (S.266), Redox-Verhalten (S. 267)
1.5 1.6
Verwendung, Brennstoffzellen Besondere Formen des Wasserstoffs
269 271
Atomarer Wasserstoff(S. 271), Leichter, schwerer, superschwerer Wasserstoff(S. 273), Ortho- und Parawasserstoff (S. 274)
2
Verbindungen des Wasserstoffs (Überblick) 2.1 Grundlagen 2.1.1 Systematik 2.1.2 Stöchiometrie 2.1.3 Struktur und Bindung
276 276 276 277 280
Salzartige Wasserstoffverbindungen (S. 280), Metallartige Wasserstoffverbindungen (S. 282), Kovalente Wasserstoffverbindungen (S. 283)
2.2
Darstellung
285
Elementwasserstoffgewinnung durch Hydrogenolyse (S. 285), Elementwasserstoffgewinnung durch Protolyse (S.287), Elementwasserstoffgewinnung durch Hydridolyse (S. 288)
2.3 2.4
Physikalische Eigenschaften Chemische Eigenschaften
288 290
Thermisches Verhalten (S. 290), Säure-Base-Verhalten (S. 292), Redox-Verhalten (S. 293)
2.5
Teil B
Verwendung, Metallhydrid-Nickel-Akkumulator
Hauptgruppenelemente
Kapitel IX Hauptgruppenelemente (Repräsentative Elemente) 1 Periodensystem (Teil II) der Hauptgruppenelemente 1.1 Elektronenkonfiguration der Hauptgruppenelemente 1.2 Einordnung der Hauptgruppenelemente in das Periodensystem 2 Trends einiger Eigenschaften der Hauptgruppenelemente Metallischer und nichtmetallischer Charakter (S. 302), Wertigkeit (S. 304), Allgemeine Reaktivität (S. 305), Periodizitäten innerhalb des Hauptsystems (S. 307)
295
297 299 299 299 301 301
XVI
Inhalt
Kapitel X Grundlagen der Molekülchemie 1 Strukturen der Moleküle 1.1 Der räumliche Bau der Moleküle. Strukturvorhersagen mit dem VSEPR-Modell 1.1.1 VSEPR-Regeln
312 313 313 314
Ideale (:)mZL„-Strukturen (S.314), Reale (:)mZL„-Strukturen (S. 315)
2
1.1.2 Anwendungen der VSEPR-Regeln 1.1.3 Ausnahmen der VSEPR-Regeln 1.2 Die Isomerie der Moleküle
316 323 325
Bindungsmodelle der Moleküle. Die chemische Bindung, Teil II 2.1 Die Atomorbitale (AO) 2.1.1 Das Wasserstoffatom
327 327 328
Aufenthaltswahrscheinlichkeiten des Wasserstoffelektrons (S. 330), Wellenfunktionen des Wasserstoffelektrons (S. 334)
2.1.2 Atome mit mehreren Elektronen 2.1.3 Mehratomige Systeme (Moleküle) 2.1.4 Relativistische Effekte 2.2 Die Molekülorbitale (MO). Strukturvorhersagen mit dem LCAO-Modell 2.2.1 Zweiatomige Moleküle
337 339 340 343 344
Allgemeines (S. 344), Lineare Kombination von Atomorbitalen zu Molekülorbitalen (S. 347)
2.2.2 Mehratomige Moleküle 2.3 Die Hybridorbitale (HO). Strukturvorhersagen mit dem HO-Modell . . . . 2.3.1 Allgemeines
355 361 361
Gestalt der Hybridorbitale (S. 361), Strukturvorhersage mithilfe von Hybridorbitalen (S. 363)
2.3.2 2.3.3 3
Struktur von Molekülen mit Einfachbindungen Struktur von Molekülen mit Mehrfachbindungen
Reaktionsmechanismen der Moleküle. Die chemische Reaktion, Teil III 3.1 Die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen 3.1.1 Chemische Geschwindigkeitsgesetze 3.1.2 Geschwindigkeiten chemischer Reaktionen
364 368 371 372 372 373
Halbwertszeit chemischer Vorgänge (S. 374), Zeitmaßstab physikalischer und chemischer Vorgänge (S. 376)
3.2 Der Mechanismus chemischer Reaktionen 3.2.1 Isomerisierungen 3.2.2 Dissoziationen und Assoziationen
380 382 384
Dissoziationen und Rekombinationen (S. 384), Eliminierungen und Additionen (S. 387)
3.2.3
Substitutionen
389
Homolytische Substitutionsreaktionen (S. 389), Radikalkettenreaktionen (S. 390), Heterolytische Substitutionsreaktionen (S. 393), Nucleophile Substitutionsreaktionen (S. 394), Nucleophile Substitutionen an tetraedrischen und pseudo-tetraedrischen Zentren (S. 398)
3.2.4 4
Die Erhaltung der Orbitalsymmetrie
402
Stereochemie der Moleküle 4.1 Stereochemische Isomerie (Stereoisomerie) 4.1.1 Enantiomerie
405 406 406
Moleküle mit einem Chiralitätszentrum (S.408), Moleküle mit mehreren Chiralitätszentren (S. 409)
Inhalt
4.1.2
Diastereomerie
XVII
411
Isomere mit diastereomeren Konfigurationen (S.412), Isomere mit diastereomeren Konformationen (S.413)
4.2 4.2.1 4.2.2
Stereochemische Dynamik Enantioselektive Reaktionen Stereochemie chemischer Reaktionen
Kapitel XI Die Gruppe der Edelgase 1 Die Elemente Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon und Radon
414 414 416 417 417
Vorkommen (S. 417), Gewinnung (S. 418), Physikalische Eigenschaften (S. 419), Verwendung (S.420), Chemische Eigenschaften (S.421), Edelgase in Verbindungen (S. 422)
2
Die Verbindungen der Edelgase 2.1 Edelgashalogenide 2.2 Edelgasoxide und -fluoridoxide 2.3 Sonstige Edelgasverbindungen
Kapitel XII Die Gruppe der Halogene 1 Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat 1.1 Das Fluor 1.2 Das Chlor
422 422 426 428 430 430 430 433
Vorkommen (S. 433), Darstellung (S. 433), Physikalische Eigenschaften (S. 436), Che mische Eigenschaften (S. 437), Verwendung (S. 438)
1.3 1.4 1.5 1.6
Das Brom Das Iod Das Astat Halogen-Ionen sowie Assoziate
438 440 443 443
Halogen-Kationen (S. 443), Halogen-Anionen (Halogenide) (S. 446), Halogen-Assoziate (S. 446)
2
1.7 Halogene in Verbindungen Wasserstoffverbindungen der Halogene
447 448
Fluorwasserstoff (S. 448), Chlorwasserstoff (S. 452), Bromwasserstoff (S. 454), Iodwasserstoff (S. 455)
3
Interhalogene
457
Zweiatomige Interhalogene (S.457), Mehratomige Interhalogene (S. 459), Interhalogen-Kationen und -Anionen (S. 461)
4
Sauerstoffsäuren der Halogene 4.1 Überblick 4.2 Sauerstoffsäure des Fluors 4.3 Sauerstoffsäuren des Chlors
463 463 465 466
Hypochlorige Säure HClO (S. 466), Chlorige Säure HCl0 2 (S. 468), Chlorsäure HCl0 3 (S. 469), Perchlorsäure HCl0 4 (S.471)
5
4.4 4.5 Oxide 5.1 5.2 5.3
Sauerstoffsäuren des Broms Sauerstoffsäuren des Iods und Fluoridoxide der Halogene Überblick Sauerstoffverbindungen des Fluors Oxide des Chlors
472 474 478 478 479 482
Dichloroxid C12O (S.482), Chlordioxid Cl0 2 (S.482), Weitere Chloroxide (S.485)
5.4 5.5
Oxide des Broms Oxide des Iods
487 488
XVIII
6
Inhalt
5.6 Fluoridoxide des Chlors, Broms und Iods Verbindungen der Halogene (Überblick) 6.1 Grundlagen 6.1.1 Systematik 6.1.2 Strukturverhältnisse 6.1.3 Bindungsverhältnisse 6.2 Darstellung 6.3 Eigenschaften und Verwendung
Kapitel XIII Die Gruppe der Chalkogene 1 Der Sauerstoff 1.1 Das Element Sauerstoff 1.1.1 Sauerstoff (Dioxygen)
490 492 492 492 493 494 494 494 497 497 498 498
Vorkommen (S. 498), Darstellung (S. 498), Physikalische Eigenschaften (S. 501), Chemische Eigenschaften (S. 501), Verwendung (S. 503)
1.1.2
Ozon (Trioxygen)
504
Darstellung (S. 504), Physikalische Eigenschaften (S. 505), Chemische Eigenschaften (S. 506), Verwendung (S. 507)
1.1.3
Sauerstoff-Ionen. Oxide
507
Sauerstoff-Kationen (S. 507), Sauerstoff-Anionen. Oxide (S. 508)
1.1.4
Kurzlebige Sauerstoffspezies
509
Singulett-Sauerstoff (S.510), Farbe des Sauerstoffs (S.511), Atomarer Sauerstoff (S. 513), Tetrasauerstoff (S. 513)
1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2
Sauerstoff in Verbindungen Die Atmosphäre Bestandteile der Atmosphäre. Evolution der Erde Der Kreislauf des Ozons
514 514 515 516
Bildung und Zerfall von Ozon in der mittleren und oberen Atmosphäre (S. 517), Bil dung und Zerfall von Ozon in der unteren Atmosphäre (S. 518), Katalytischer Abbau von Ozon in der Atmosphäre (S. 519)
1.2.3 Chemie der Atmosphäre und ihre Umweltfolgen 1.3 Wasserstoffverbindungen des Sauerstoffs 1.3.1 Überblick 1.3.2 Wasser und die Hydrosphäre
520 524 524 525
Vorkommen (S. 525), Reinigung (S. 526), Physikalische Eigenschaften (S. 528), Struk turverhältnisse (S. 529), Chemische Eigenschaften (S. 530), Schweres und Superschwe res Wasser (S. 533)
1.3.3 Wasserstoffperoxid
534
Darstellung (S. 534), Physikalische Eigenschaften und Struktur (S. 535), Chemische Eigenschaften (S. 535), Verwendung (S. 539), Salze von (S. 539)
2
Der Schwefel 2.1 Das Element Schwefel 2.1.1 Vorkommen 2.1.2 Gewinnung 2.1.3 Physikalische Eigenschaften
540 540 540 541 543
Aggregatzustände des Schwefels (S. 543), Zustandsdiagramm des Schwefels. Phasenübergänge (S. 545)
2.1.4 2.1.5
Chemische Eigenschaften und Verwendung Schwefel-Allotrope Darstellung (S. 550), Strukturen (S.551), Mechanistische Aspekte der S„-Modifikationsumwandlungen (S. 554)
547 550
Inhalt
2.1.6
Schwefel-Ionen. Sulfide
XIX
554
Schwefel-Kationen (S. 554), Schwefel-Anionen. Sulfide (S. 556)
2.1.7 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3
Schwefel in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Schwefels Schwefelwasserstoff (Sulfan) H S Höhere Schwefelwasserstoffe (Polysulfane) H2S„ Halogenverbindungen des Schwefels Überblick Schwefelfluoride Schwefelchloride, -bromide, -iodide Oxide des Schwefels Überblick Schwefeldioxid S O Schwefeltrioxid S O Niedere Schwefeloxide Sauerstoffsäuren des Schwefels Überblick Schweflige Säure H2SO3 und Dischweflige Säure H 2 S 2 0 5 Schwefelsäure H2SO4 und Dischwefelsäure H2S2Ov
557 557 557 561 562 562 564 567 569 569 570 573 575 577 577 579 583
Darstellung (S. 583), Physikalische Eigenschaften (S. 586), Strukturen (S. 586), Che mische Eigenschaften (S. 587), Verwendung (S. 590), Derivate (S. 590)
2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7 2.5.8 2.6 2.6.1
Niedere Schwefelsäuren H2SO, H2SO2, H2S2O, H 2 S 2 0 2 Dithionige Säure H 2 S 2 0 4 und Dithionsäure H 2 S 2 0 6 Thioschwefelsäure H 2 S 2 0 3 Polysulfanmonosulfonsäuren und Polysulfandisulfonsäuren (Polythionsäuren) H2S„Os Peroxomonoschwefelsäure H2SO5 und Peroxodischwefelsäure H 2 S 2 0 8 . . . . Stickstoffverbindungen des Schwefels Schwefelnitride
593 594 595 598 600 601 602
Tetraschwefeltetranitrid („Schwefelstickstoff") S4N4 (S. 603), Weitere Schwefelnitride (S. 606)
2.6.2
Schwefelnitrid-Ionen
609
Schwefelnitrid-Kationen (S.609), Schwefelnitrid-Anionen (S.610)
2.6.3
Schwefelnitridhalogenide und -oxide
612
Schwefel-Stickstoff-Halogen-Verbindungen (S. 612), Schwefel-Stickstoff-SauerstoffVerbindungen (S. 615)
3
Das Selen, Tellur und Polonium 3.1 Die Elemente Selen, Tellur, Polonium 3.1.1 Vorkommen 3.1.2 Darstellung 3.1.3 Physikalische Eigenschaften und Strukturen 3.1.4 Chemische Eigenschaften und Verwendung 3.1.5 Selen-, Tellur-, Polonium-Allotrope 3.1.6 Selen-, Tellur-, Polonium-Ionen. Chalkonide
617 617 617 618 618 619 621 622
Chalkogen-Kationen (S. 622), Chalkogen-Anionen. Chalkogenide (S. 624)
3.1.7 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2
Selen, Tellur, Polonium in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Selens, Tellurs, Poloniums Halogenverbindungen des Selens, Tellurs, Poloniums Überblick Selenhalogenide
626 626 627 627 629
XX
Inhalt
3.3.3 Tellurhalogenide 3.4 Interchalkogene 3.4.1 Überblick 3.4.2 Selen-, Tellur-, Poloniumoxide
631 634 634 635
Darstellung (S. 635), Eigenschaften (S. 636), Strukturen (S. 636)
4
3.4.3 Selensulfide 3.5 Sauerstoffsäuren des Selens, Tellurs, Poloniums 3.5.1 Überblick 3.5.2 Sauerstoffsäuren des Selens 3.5.3 Sauerstoffsäuren des Tellurs 3.5.4 Sauerstoffsäure des Poloniums 3.6 Stickstoff- und Kohlenstoffverbindungen des Selens und Tellurs 3.7 Organische Verbindungen des Selens und Tellurs Verbindungen der Chalkogene (Überblick) 4.1 Grundlagen 4.1.1 Systematik 4.1.2 Strukturverhältnisse 4.1.3 Bindungsverhältnisse 4.2 Darstellung 4.3 Eigenschaften und Verwendung
Kapitel XIV Die Stickstoffgruppe („Pentele") 1 Der Stickstoff 1.1 Das Element Stickstoff 1.1.1 Vorkommen 1.1.2 Darstellung 1.1.3 Physikalische Eigenschaften 1.1.4 Chemische Eigenschaften und Verwendung 1.1.5 Allotrope und ionogene Formen von Stickstoff. Nitride
637 638 638 639 642 643 643 645 646 646 646 647 648 649 650 651 651 651 651 652 652 653 655
Stickstoff-Allotrope (S. 655), Stickstoff-Kationen (S. 657), Stickstoff-Anionen. Nitride (S. 658)
1.1.6 Stickstoff in Verbindungen 1.2 Wasserstoffverbindungen des Stickstoffs 1.2.1 Überblick 1.2.2 Ammoniak NH 3
659 659 659 661
Darstellung (S. 661), Physikalische Eigenschaften (S. 665), Chemische Eigenschaften und Verwendung (S. 665), Ammoniumsalze und Düngemittel (S. 669), Inversion von Ammoniak und anderen Molekülen (S. 672)
1.2.3 Hydrazin N 2 H 4
675
Darstellung (S. 675), Eigenschaften und Verwendung (S. 676), Innere Rotation von Hydrazin und anderen Molekülen (S. 678)
1.2.4
Stickstoffwasserstoffsäure HN 3
680
Darstellung (S. 680), Physikalische Eigenschaften und Struktur (S. 681), Chemische Eigenschaften und Verwendung (S. 681), Azide (S. 683), Pseudoelemente, Paraelemente (S. 684)
1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8 1.3 1.3.1
Nitren NH Diimin N 2 H 2 Triazan N3H5, Tetrazan N 4 H 6 und Triazen N 3 H 3 Tetrazen N 4 H 4 Halogenverbindungen des Stickstoffs Überblick
686 686 690 692 693 693
Inhalt
1.3.2
Halogenderivate des Ammoniaks
XXI
695
Überblick (S. 695), Fluoramine (S. 696), Chloramine (S. 697), Brom- und Iodamine (S.701)
1.3.3 1.3.4 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4
Halogenderivate des Hydrazins und Diimins Halogenderivate der Stickstoffwasserstoffsäure (Halogenazide) Oxide des Stickstoffs Überblick Distickstoffmonoxid N 2 O Stickstoffmonoxid NO. Distickstoffdioxid N 2 0 2 Distickstofftrioxid N 2 0 3 Stickstoffdioxid N O - Distickstofftetraoxid N 2 0 4 Sonstige Stickstoffoxide Sauerstoffsäuren des Stickstoffs Überblick Hydroxylamin NH 2 OH Nitrosowasserstoff HNO Salpetrige Säure H N O
702 704 704 704 705 707 712 713 715 717 717 719 721 723
Darstellung und Struktur (S. 723), Eigenschaften und Verwendung (S. 724), Nitrosylverbindungen und Nitrosierungen (S. 726)
1.5.5
Salpetersäure H N O
729
Darstellung (S.729), Physikalische Eigenschaften und Struktur (S. 731), Chemische Eigenschaften und Verwendung (S. 732), Salze (S. 733), Nitrylverbindungen und Nit rierungen (S. 734)
2
1.5.6 Di- und Tristickstoffsauerstoffsäuren 1.5.7 Peroxosäuren des Stickstoffs 1.6 Schwefelverbindungen des Stickstoffs Der Phospor 2.1 Das Element Phosphor 2.1.1 Vorkommen 2.1.2 Darstellung 2.1.3 Physikalische Eigenschaften und Strukturen 2.1.4 Chemische Eigenschaften und Verwendung 2.1.5 Allotrope und ionogene Formen von Phosphor. Phosphide
736 739 740 743 743 743 744 746 750 753
Phosphor-Allotrope (S. 753), Phosphor-Kationen (S. 754), Phosphor-Anionen. Phosphide (S. 755)
2.1.6 2.2 2.2.1 2.2.2
Phosphor in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Phosphors Überblick Acyclische gesättigte Phosphane
2.2.3
Cyclische gesättigte Phosphane
Monophosphan P H (S. 762), Höhere acyclische Phosphanre
757 758 758 762 (S. 764)
768
Monocyclische Phosphane P„H„ (S. 768), Bicyclische Phosphane P„H„_2 (S. 769), Oligocyclische (käfigartige) Phosphane P„H„+m (S. 770)
2.2.4 2.3
Ungesättigte Phosphane (Phosphene) Halogenverbindungen des Phosphors
773 775
Überblick (S. 775), Phosphor(III)-halogenide (S. 777), Phosphor III)-halogenide (S. 779), Phosphor(V)-halogenide (S. 780), Pseudorotation und andere Ligandenaus tauschprozesse (S. 782)
2.4
Chalkogenverbindungen des Phosphors
783
Überblick (S. 783), Phosphoroxide (S. 786), Phosphorsulfide und -selenide (S. 788)
2.5
Sauerstoffsäuren des Phosphors
789
XXII
2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4
Inhalt
Überblick Phosphinsäure H 3 PO 2 Phosphonsäure H3PO3 Phosphorsäure H 3 PO 4
789 793 794 795
Darstellung (S. 795), Physikalische Eigenschaften und Struktur (S. 796), Chemische Eigenschaften (S. 797), Salze und Phosphatdünger (S. 798), Derivate (S. 801)
2.5.5
Kondensierte Phosphorsäuren
804
Oligophosphorsäuren (S. 805), Polyphosphorsäuren (S. 807), Phosphate in der Natur (S. 808), Derivate kondensierter Phosphorsäuren (S. 809)
2.5.6 2.5.7 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4 2.6.5 2.7
Niedere Phosphorsäuren Peroxophosphorsäuren Stickstoffverbindungen des Phosphors Überblick Phosphornitride Imino- und Nitridophosphorane (Phosph(V)-azene, -azine) Iminophosphane (Phosph(III)-azene) Aminophosphane, -phosphorane (Phosph(III und V)-azane) Organische Verbindungen des Phosphors
809 811 811 811 812 814 816 816 817
Überblick (S.817*), Organylphosphane und -phosphoniumsalze (S. 818«), Phosphaalkene und Phosphaalkine (S. 819»), Organylphosphorane (S. 821 •)
3
Das Arsen, Antimon und Bismut 3.1 Die Elemente Arsen, Antimon, Bismut 3.1.1 Vorkommen 3.1.2 Darstellung 3.1.3 Physikalische Eigenschaften und Strukturen 3.1.4 Chemische Eigenschaften und Verwendung 3.1.5 Verwendung, Legierungen 3.1.6 Allotrope und ionogene Formen von Arsen, Antimon, Bismut. Pentelide
822 822 822 823 824 826 827 828
Allotrope (S. 828), Kationen (S. 828), Anionen. Arsenide, Antimonide, Bismutide (S. 829)
3.1.7 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.5 3.6 3.6.1
Arsen, Antimon und Bismut in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Arsens, Antimons, Bismuts Halogenverbindungen des Arsens, Antimons, Bismuts Überblick Trihalogenide E X Pentahalogenide E X Niedrigwertige Halogenide EX < 3 Chalkogenverbindungen des Arsens, Antimons, Bismuts Überblick Oxide und Sauerstoffsäuren des Arsens Sulfide und Thiosäuren des Arsens Oxide und Sauerstoffsäuren des Antimons Sulfide und Thiosäuren des Antimons Oxide und Sulfide, Säuren und Basen des Bismuts Interpentele Organische Verbindungen des Arsens, Antimons, Bismuts Überblick Organylarsane, -stibane, -bismutane und Derivate R„EX3_„ (S.854»), Organylarsorane, -stiborane, -bismorane und Derivate R„EX5_„ (S. 855»), Höhere gesättigte Organylarsane, -stibane, -bismutane (S. 857«), Ungesättigte Organylarsane, -stibane, -bismutane (S.859*)
829 829 832 832 834 837 838 839 839 841 845 847 849 850 852 853 853
Inhalt
Kapitel XV Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele") 1 Der Kohlenstoff 1.1 Das Element Kohlenstoff 1.1.1 Vorkommen 1.1.2 Gewinnung, Physikalische Eigenschaften, Strukturen, Verwendung
XXIII
861 861 862 862 863
Überblick (S. 863), Graphit und graphitischer Kohlenstoff (S. 864), Diamant (S. 868), Fullerene (S. 870), Kohlenstoff-Nanoröhren (S. 876)
1.1.3
Chemische Eigenschaften
877
Allgemeines (S. 877), Graphitverbindungen (S. 879), Fullerenverbindungen (S. 881), Verbindungen der Kohlenstoff-Nanoröhren (S. 883)
1.1.4
Kohlenstoff-Ionen. Carbide
884
Überblick (S. 884), Carbide (S. 884)
1.1.5 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.6 1.6.1 1.6.2 1.6.3 1.6.4 1.7
Kohlenstoff in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Kohlenstoffs Halogenverbindungen des Kohlenstoffs Chalkogenverbindungen des Kohlenstoffs Überblick Kohlenstoffdioxid (Kohlendioxid) C0 2 Kohlenstoffmonoxid (Kohlenmonoxid, Kohlenoxid) CO Kohlenstoffdisulfid C S , Kohlenstoffoxidsulfid COS Sonstige Kohlenstoffoxide und -sulfide Kohlenstoffselenide und -telluride Chalkogensäuren des Kohlenstoffs Überblick Die Kohlensäure Einige weitere Kohlenstoff-Chalkogensäuren Fette und Kohlenhydrate Stickstoffverbindungen des Kohlenstoffs Überblick Kohlenstoffnitride, Cyanverbindungen a-Aminosäuren, Proteine, Nucleobasen, Nucleotide Evolution des Lebens Metallorganische Verbindungen
886 887 890 892 892 893 896 900 901 903 903 903 906 908 909 910 910 911 914 915 916
Verbindungsbestandteile (S.916»), Verbindungstypen (S.917»)
2
Das Silicium 2.1 Das Element Silicium 2.1.1 Vorkommen 2.1.2 Darstellung 2.1.3 Physikalische Eigenschaften und Strukturen 2.1.4 Chemische Eigenschaften 2.1.5 Verwendung, Chips 2.1.6 Silicium-Ionen. Silicide
918 918 918 919 921 922 923 923
Überblick (S. 923), Silicide (S. 924)
2.1.7 2.1.8
Zintl-Phasen Silicium in Verbindungen
925 927
Oxidationsstufen und Koordinationszahlen (S. 927), Vergleich von Silicium und Kohlenstoff (S. 928)
2.2
Wasserstoffverbindungen des Siliciums Überblick (S. 936), Monosilan SiH4 (S. 937), Höhere gesättigte Silane Si„H2„+m (S. 940), Silylen SiH2 (S.942), Ungesättigte Silane (S.942)
936
XXIV
2.3
Inhalt
Halogenverbindungen des Siliciums
944
Überblick (S. 944), Siliciumtetrahalogenide (Tetrahalogensilane) SiX4 (S.945), Disiliciumhexahalogenide (Hexahalogendisilane) Si2X6 (S. 948), Höhere Siliciumhalogenide Si„X2n+m (S. 948), Dihalogensilylene (Siliciumdihalogenide) SiX2 (S.949)
2.4
Chalkogenverbindungen des Siliciums
949
Siliciumdioxid Si0 2 (S.950), Siliciummonoxid SiO (S.953), Sonstige Siliciumchalkogenide (S. 954)
2.5 Sauerstoffsäuren des Siliciums. Silicate 2.5.1 Überblick 2.5.2 Kieselsäuren
955 955 959
Monokieselsäure H 4 Si0 4 (S. 959), Polykieselsäuren (S.961)
2.5.3
Natürliche Silicate
962
Insel-, Gruppen- und Ringsilicate (S. 963), Ketten- und Bandsilicate („Inosilicate") (S. 964), Schichtsilicate („Phyllosilicate") (S.965), Gerüstsilicate („Tectosilicate") (S. 970)
2.5.4
Technische Silicate
973
Alkalisilicate (S.974), Gläser (S.974), Tonwaren (Tonkeramik) (S.979)
2.6 2.7
Nitride und Carbide des Siliciums Organische Verbindungen des Siliciums
982 985 •
Überblick (S.985*), Organylmonosilane und Derivate (S.986«), Silicone (S.992«), Höhere Organylsilane (Organyloligosilane) (S. 994»), Organylsilylene (S.995»), Ungesättigte Organylsilane (S.997»)
3
Das Germanium, Zinn und Blei 3.1 Die Elemente Germanium, Zinn, Blei 3.1.1 Vorkommen 3.1.2 Darstellung 3.1.3 Physikalische Eigenschaften und Strukturen 3.1.4 Chemische Eigenschaften 3.1.5 Verwendung, Legierungen 3.1.6 Alltrope und ionogene Formen von Germanium, Zinn, Blei
1002 1002 1003 1003 1004 1005 1006 1007
Überblick (S. 1007), Germanide, Stannide, Plumbide (S. 1007)
3.1.7 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.5
Germanium, Zinn und Blei in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Germaniums, Zinns, Bleis Halogenverbindungen des Germaniums, Zinns, Bleis Überblick Dihalogenide E X Tetrahalogenide E X Chalkogenverbindungen des Germaniums, Zinns, Bleis Überblick Oxide und Sulfide, Säuren und Basen des Germaniums Oxide und Sulfide, Säuren und Basen des Zinns Oxide und Sulfide, Säuren und Basen des Bleis Der Bleiakkumulator („Bleiakku") Organische Verbindungen des Germaniums, Zinns, Bleis Überblick (S.1028»), Organylgermane, -stannane, -plumbane und Derivate (S. 1029«), Höhere Organylgermane, -stannane und -plumbane (S. 1033»), Organylgermylene, -stannylene, -plumbylene und Derivate (S. 1035«), Ungesättigte Organylgermane, -stannane und -plumbane und Derivate (S. 1038»)
1009 1009 1011 1011 1013 1015 1016 1016 1018 1020 1022 1026 1028 •
Inhalt Kapitel XVI Die Borgruppe („Triele") 1 D a s Bor 1.1 D a s Element Bor 1.1.1 Vorkommen 1.1.2 Darstellung 1.1.3 Physikalische Eigenschaften u n d Strukturen Reine Bormodifikationen (S. 1044), Bormodifikationen mit Heteroatomen (S. 1046)
2
XXV 1042 1042 1042 1042 1043 1044
1.1.4 1.1.5 1.1.6
Chemische Eigenschaften Verwendung Bor-Ionen. Boride Überblick (S. 1047), Boride (S. 1048)
1047 1047 1047
1.1.7 1.2 1.2.1
Bor in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Bors Überblick Systematik (S. 1054), Strukturen (S. 1055), Bindungsverhältnisse (S. 1060)
1051 1054 1054
1.2.2
D i b o r a n (6) B 2 H 6 , Tetrahydridoborat BH4" 1063 Darstellung von B2H6 (S. 1063), Eigenschaften und Verwendung von B2H6 (S. 1064), Tetrahydridoborate BH4" (S. 1071)
1.2.3
H ö h e r e Borane, höhere H y d r i d o b o r a t e 1073 Überblick (S. 1073), Tri- und Tetraborane (S. 1075), Penta- und Hexaborane (S. 1077), Hepta-, Octa- und Nonaborane (S. 1080), Deca-, Undeca- und noch höhere Borane (S. 1081), Hydrido-cfoio-polyborate B„H„2- (S. 1084)
1.2.4
Heteroborane 1089 Überblick (S. 1089), Carbaborane („Carborane") (S. 1090), Sonstige Nichtmetallaborane (S. 1094), Metallaborane (Hydridopolyborat-Komplexe) (S. 1095)
1.3
Halogenverbindungen des Bors 1097 Überblick (S. 1097), Bor(III)-halogenide und Halogenoborate (S.1098), Bor(II)-halogenide (S. 1102), Bor(I)-halogenide (S. 1102), Halogenborylene und niedere Borfluoride (S. 1103)
1.4
Sauerstoffverbindungen des Bors Boroxide (S. 1104), Borsauerstoffsäuren (S. 1105), Borate (S. 1108)
1.5 1.6
Schwefelverbindungen des Bors 1110 Stickstoffverbindungendes Bors 1111 Überblick (S. 1111), Bornitride und Nitridoborate (S. 1113), Bor(III)-ammine, -amide und -imide (S. 1115), Niedrigwertige Bor-Stickstoff-Verbindungen (S. 1121)
1.7 1.8 1.9
Phosphorverbindungen des Bors 1123 Kohlenstoffverbindungen des Bors 1125 Organische Verbindungen des Bors 1126* Überblick (S. 1126»), Organische Derivate des Monoborans (S. 1127»), Organische Derivate höherer Borane (S. 1132»)
1104
D a s Aluminium 2.1 D a s Element Aluminium 2.1.1 Vorkommen 2.1.2 Darstellung Gewinnung von reinem Dialuminiumtrioxid aus Bauxit (S. 1138), Schmelzelektrolyse des Dialuminiumtrioxids (S. 1140)
1137 1137 1137 1138
2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
1141 1141 1143 1143
Physikalische Eigenschaften u n d Struktur Chemische Eigenschaften Verwendung, Legierungen Aluminium-Ionen. Aluminide
XXVI
3
Inhalt
2.1.7 2.2
Aluminium in Verbindungen Wasserstoffverbindungen des Aluminiums Darstellung (S. 1146), Eigenschaften (S.1146), Tetrahydridoaluminate (S.1149)
2.3
Halogenverbindungen des Aluminiums 1150 Überblick (S. 1150), Aluminiumtrihalogenide AlX3 (S. 1151), Aluminiumsubhalogenide (S. 1153)
2.4
Sauerstoffverbindungen des Aluminiums 1156 Überblick (S. 1156), Aluminiumhydroxide; Olation und Oxolation (S. 1156), Aluminiumoxide (S. 1160), Aluminate (S. 1162), Aluminiumsalze (S. 1164)
2.5 2.6
Sonstige einfache Aluminiumverbindungen 1166 Organische Verbindungen des Aluminiums 1167 Überblick (S. 1167«), Aluminiumtriorganyle und Derivate (S.1168«), Aluminiummonoorganyle und Derivate (S. 1172»), Oligoaluminiumorganyle und Derivate (S.1174«)
D a s Gallium, I n d i u m u n d Thallium 3.1 Die Elemente Gallium, Indium, Thallium 3.1.1 Vorkommen 3.1.2 Darstellung 3.1.3 Physikalische Eigenschaften u n d Strukturen 3.1.4 Chemische Eigenschaften u n d Verwendung 3.1.5 Allotrope u n d ionogene F o r m e n von Gallium, Indium, Thallium. Trielide Überblick (S.1182), Gallide, Indide, Thallide (S.1183)
1144 1145
1178 1178 1178 1179 1180 1181 1182
3.1.6 3.2 3.3
Gallium, I n d i u m u n d Thallium in Verbindungen 1185 Wasserstoffverbindungen des Galliums, Indiums, Thalliums 1186 Halogenverbindungen des Galliums, Indiums, Thalliums 1190 Überblick (S. 1190), Triel(III)-halogenide (S. 1190), Triel(II)-halogenide (S. 1192), Weitere gemischt-valente Trihalogenide (S. 1192), Triel(I)-halogenide (S. 1193)
3.4
Chalkogenverbindungen des Galliums, Indiums, Thalliums 1194 Überblick (S. 1194), Trielhydroxide (S. 1194), Trieloxide (S. 1196) Trielsulfide, -selenide, -telluride (S.1197)
3.5 3.6
Pentelverbindungen des Galliums, Indiums, Thalliums 1198 Organische Verbindungen des Galliums, Indiums, Thalliums 1200 Überblick (S. 1200»), Organylgallane, -indane, -thallane E R und Derivate (S. 1201 •), Organylgallylene, -indylene, -thallylene und Derivate (S. 1202»), Ungesättigte Organylgallane, -indane, -thallane und Derivate (S. 1205»), Höhere Organyltrielane (,,Oligotrielane") und Derivate (S. 1206»)
Kapitel XVII Die Gruppe der Erdalkalimetalle 1215 1 D a s Beryllium 1215 1.1 D a s Element Beryllium 1215 Vorkommen (S. 1215), Darstellung (S.1216), Eigenschaften (S. 1216), Verwendung, Legierungen (S. 1217), Beryllium in Verbindungen (S. 1217) 1.2
2
Anorganische Verbindungen des Berylliums 1219 Wasserstoffverbindungen des Berylliums (S. 1219), Halogenverbindungen des Berylliums (S.1220), Chalkogenverbindungen des Berylliums (S. 1221), Sonstige einfache Berylliumverbindungen (S. 1222), Berylliumsalze von Oxosäuren (S. 1222)
1.3 Organische Verbindungen des Berrylliums 1223 D a s Magnesium 1225 2.1 D a s Element Magnesium 1225 Vorkommen (S. 1225), Darstellung (S.1225), Eigenschaften (S. 1226), Verwendung, Legierungen, Magnesiumbatterie (S. 1226), Magnesium in Verbindungen (S. 1227)
Inhalt
2.2
Anorganische Verbindungen des Magnesiums
XXVII
1228
Wasserstoffverbindungen des Magnesiums (S. 1228), Halogenverbindungen des Magnesiums (S. 1229), Chalkogenverbindungen des Magnesiums (S.1230), Sonstige einfache Magnesiumverbindungen (S. 1231), Magnesiumsalze von Oxosäuren (S. 1232), Magnesiumkomplexe, Magnesium in der Biosphäre (S. 1232)
3
2.3 Organische Verbindungen des Magnesiums 1233 Das Calcium, Strontium, Barium und Radium 1236 3.1 Die Elemente Calcium, Strontium, Barium, Radium 1236 3.1.1 Vorkommen 1236 3.1.2 Darstellung 1238 3.1.3 Physikalische Eigenschaften 1238 3.1.4 Chemische Eigenschaften, Verwendung 1238 3.1.5 Erdalkalimetalle in Verbindungen 1239 3.2 Anorganische Verbindungen des Calciums, Strontiums, Bariums, Radiums 1240 3.2.1 Wasserstoffverbindungen der Erdalkalimetalle 1240 3.2.2 Halogenverbindungen der Erdalkalimetalle 1240 3.2.3 Chalkogenverbindungen der Erdalkalimetalle 1243 3.2.4 Sonstige einfache Erdalkalimetallverbindungen 1245 Stickstoffverbindungen der Erdalkalimetalle (S. 1245), Kohlenstoffverbindungen der Erdalkalimetalle (S. 1247)
3.2.5 3.2.6 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2
Erdalkalimetall-Salze von Oxosäuren Erdalkalimetallkomplexe Organische Verbindungen der Erdalkalimetalle Mörtel Luftmörtel Wassermörtel
Kapitel XVIII Die Gruppe der Alkalimetalle 1 Das Lithium 1.1 Das Element Lithium
1248 1253 1254 1255 1256 1257 1259 1259 1259
Vorkommen (S.1259), Darstellung (S.1260), Eigenschaften (S. 1260), Verwendung, Legierungen, Lithiumbatterien (S. 1260), Lithium in Verbindungen (S. 1261)
1.2
Anorganische Verbindungen des Lithiums
1262
Wasserstoffverbindungen des Lithiums (S. 1262), Halogenverbindungen des Lithiums (S. 1262), Chalkogenverbindungen des Lithiums (S. 1263), Sonstige einfache Lithium verbindungen (S. 1263), Lithiumsalze von Oxosäuren (S. 1264)
2
1.3 Organische Verbindungen des Lithiums Das Natrium, Kalium, Rubidium, Cäsium und Francium 2.1 Die Elemente Natrium, Kalium, Rubidium, Cäsium, Francium 2.1.1 Vorkommen 2.1.2 Darstellung 2.1.3 Physikalische Eigenschaften 2.1.4 Chemische Eigenschaften 2.1.5 Verwendung, Natriumbatterien 2.1.6 Alkalimetalle in Verbindungen 2.2 Anorganische Verbindungen des Natriums, Kaliums, Rubidiums, Cäsiums, Franciums 2.2.1 Wasserstoffverbindungen der Alkalimetalle 2.2.2 Halogenverbindungen der Alkalimetalle 2.2.3 Chalkogenverbindungen der Alkalimetalle 2.2.4 Sonstige einfache Alkalimetallverbindungen 2.2.5 Alkalimetallsalze von Oxosäuren
1264 1270 1270 1270 1272 1273 1275 1276 1277 1279 1279 1280 1283 1287 1288
XXVIII
Inhalt
2.2.6 Alkalimetallkomplexe, Alkalimetalle in der Biosphäre 2.3 Organische Verbindungen der Alkalimetalle
Teil C
Nebengruppenelemente
Kapitel XIX Nebengruppenelemente (Äußere Übergangsmetalle) 1 Periodensystem (Teil III) der Nebengruppenelemente 1.1 Elektronenkonfiguration der Nebengruppenelemente 1.2 Einordnung der Nebengruppenelemente in das Periodensystem 2 Trends einiger Eigenschaften der Nebengruppenelemente
1292 1296 •
1301 1303 1303 1303 1305 1307
Wertigkeit (S.1308), Analogien und Diskrepanzen zwischen Haupt- und Nebensystem (S. 1309), Periodizitäten innerhalb des Nebensystems (S. 1311)
Kapitel XX Grundlagen der Komplexchemie 1 Bau und Stabilität der Übergangsmetallkomplexe 1.1 Die Komplexbestandteile 1.1.1 Komplexliganden
1315 1316 1316 1316
Einzähnige Liganden (S. 1318), Mehrzähnige Liganden: Chelatliganden (S. 1320)
1.1.2
Komplexzentren
1320
Einatomige Metallzentren (S.1322), Mehratomige Metallzentren: Metallcluster (S. 1324)
2
1.2 Die Komplexstabilität 1.2.1 Komplexbildungs- und Dissoziationskonstanten 1.2.2 Der Chelat-Effekt 1.2.3 Redoxstabilität 1.3 Der räumliche Bau der Komplexe 1.4 Die Isomerie der Komplexe 1.4.1 Konstitutionsisomerie der Komplexe 1.4.2 Stereoisomerie der Komplexe Bindungsmodelle der Übergangsmetallkomplexe. Die chemische Bindung, Teil III 2.1 Valenzstruktur-Theorie der Komplexe 2.1.1 Zusammensetzung und Stabilität von Komplexen 2.1.2 Struktur und magnetisches Verhalten von Komplexen 2.2 Ligandenfeld-Theorie der Komplexe 2.2.1 Energieaufspaltung der d-Orbitale im Ligandenfeld. Magnetisches Verhalten der Komplexe
1327 1328 1330 1332 1333 1343 1343 1344 1348 1349 1349 1352 1354 1355
Allgemeines (S.1355), Oktaedrisches Ligandenfeld (S.1356), Tetraedrisches und kubisches Ligandenfeld (S. 1360), Quadratisches und quadratisch-pyramidales Ligandenfeld (S.1361), Quadratisch-pyramidales sowie trigonal- oder pentagonal-bipyramidales Ligandenfeld (S. 1362)
2.2.2
Ligandenfeldstabilisierungsenergie. Stabilität und Struktur der Komplexe
1363
Allgemeines (S. 1363), LFSE und Komplexstabilität (S. 1364), LFSE und Komplexstruktur (S. 1365), Jahn-Teller-Effekt und Komplexverzerrungen (S. 1367)
2.2.3
Energieaufspaltung von Thermen im Ligandenfeld. Optisches Verhalten der Komplexe
1368
Farbe von Komplexen (S. 1368), d^d-Übergänge (S. 1370), CT-Übergänge (S. 1374)
2.3 2.3.1
Molekülorbital-Theorie der Komplexe Molekülorbitalschemata der Komplexe Molekülorbitale der Komplexe (S. 1375), Energieniveau-Schema der Molekülorbitale oktaedrischer Komplexe (S. 1376)
1375 1375
Inhalt
3
XXIX
2.3.2 Edelgasregel, 18-Elektronenregel 1378 2.3.3 Isolobal-Prinzip 1379 Reaktionsmechanismen der Übergangsmetallkomplexe. Die chemische Reaktion, Teil IV. 1380 3.1 Nucleophile Substitutionsreaktionen der Komplexe 1381 3.1.1. Nucleophile Substitution an tetraedrischen Zentren 1382 3.1.2. Nucleophile Substitution an quadratisch-planaren Zentren 1382 3.1.3. Nucleophile Substitution an oktaedrischen Zentren 1385 3.2 Umlagerungsreaktionen der Komplexe 1392 3.3 Redoxreaktionen der Komplexe 1393 3.3.1 Elektronentransfer-Prozesse 1394 Outer sphere Redoxprozesse (S. 1394), Inner sphere Redoxprozesse (S. 1396)
3.3.2
Redoxadditionen und -eliminierungen
1398
Oxidative Additionen (S. 1398), Reduktive Eliminierungen (S. 1399)
Kapitel XXI Einige Grundlagen der Festkörperchemie 1 Synthese von Festkörpern 1.1 Überblick 1.2 Schmelz- und Erstarrungsdiagramme binärer Systeme („Phasendiagramme")
1401 1403 1403 1404
Abscheidung reiner Stoffe (S. 1404), Abscheidung von Mischkristallen (S. 1406)
1.3
Einige wichtige Legierungsphasen
1408
Hume-Rothery-Phasen (S.1408), Zintl-Phasen (S. 1408), Laves-Phasen (S.1409), Nickelarsenid-Phasen (S. 1409)
2
1.4 Einige 2.1 2.1.1
Transportreaktionen Eigenschaften der Festkörper Magnetische Eigenschaften der Festkörper („Magnetochemie") Diamagnetismus und Paramagnetismus
1409 1410 1410 1411
Materie im Magnetfeld. Die magnetische Suszeptibilität (S. 1411), Atomistische Deutung der magnetischen Suszeptibilität (S. 1412)
2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1
Ferromagnetismus, Ferrimagnetismus und Antiferromagnetismus Ferro- und Antiferroelektrizität Elektrische Eigenschaften der Festkörper Leiter, Nichtleiter, Halbleiter
1417 1420 1420 1421
Metalle. Elektronische Leiter (S.1421), Nichtmetalle. Elektronische Nichtleiter (S. 1422), Halbmetalle. Elektronische Halbleiter (S. 1423)
2.2.2
Supraleiter
1425
Konventionelle Supraleiter (S. 1426), Hochtemperatur-Supraleiter (S. 1428)
3
Oberflächenreiche sowie nanostrukturierte Materialien 3.1 Der aktive Zustand fester Materie 3.2 Nanophasen-Materialien
Kapitel XXII Die Kupfergruppe 1 Das Kupfer 1.1 Das Element Kupfer
1429 1430 1431 1433 1433 1433
Vorkommen (S. 1433), Darstellung (S. 1434), Physikalische Eigenschaften (S.1437), Chemische Eigenschaften (S.1437), Verwendung, Legierungen (S. 1438), Kupfer in Verbindungen (S. 1439)
1.2
Verbindungen des Kupfers
1440
XXX
2
1.2.1
Kupfer(I)-Verbindungen (d 10 ) 1440 Wasserstoffverbindungen (S.1440), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S.1441), Chalkogenverbindungen (S.1443), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1444)
1.2.2
Kupfer(II)-Verbindungen (d 9 ) Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1446), Kupfer in der Biosphäre (S. 1450)
1444 (S. 1444),
Chalkogenverbindungen
1.2.3 Kupfer(III)- u n d Kupfer(IV)-Verbindungen 0 U 7 ) 1.2.4 Organische Verbindungen des Kupfers D a s Silber 2.1 D a s Element Silber Vorkommen (S. 1452), Darstellung (S. 1453), Physikalische Eigenschaften (S. 1454), Chemische Eigenschaften (S. 1455), Verwendung, Legierungen (S. 1455), Silber in Verbindungen (S. 1456) 2.2 2.2.1
3
Inhalt
1450 1451 • 1452 1452
Verbindungen des Silbers 1457 Silber(I)-Verbindungen (d 10 ) 1457 Wasserstoffverbindungen (S.1457), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1457), Chalkogenverbindungen (S. 1460), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1461)
2.2.2 Silber(II)-Verbindungen (d 9 ) 2.2.3 Silber(III)- u n d Silber(IV)-Verbindungen (d 8 , d 7 ) 2.2.4 Organische Verbindungen des Silbers 2.3 Der photographische Prozess D a s Gold 3.1 D a s Element Gold Vorkommen (S. 1466), Darstellung (S. 1467), Physikalische Eigenschaften (S. 1468), Chemische Eigenschaften (S. 1468), Verwendung, Legierungen (S. 1468), Gold in Verbindungen (S. 1469), Vergleichende Betrachtungen (S. 1470)
1461 1463 1463 • 1464 1466 1466
3.2 3.2.1
Verbindungen des Golds 1473 Gold(I)-Verbindungen (d10) 1473 Wasserstoffverbindungen (S.1473), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1473), Chalkogenverbindungen (S. 1475), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1475)
3.2.2 3.2.3
Gold(II)-Verbindungen (d 9 ) Gold(III)-Verbindungen (d 8 ) Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1477)
3.2.4 3.2.5 3.2.6
1475 1476 (S. 1476),
Gold(IV)- u n d Gold(V)-Verbindungen (d 7 , d 6 ) Niedrigwertige Goldverbindungen Organische Verbindungen des Golds
Chalkogenverbindungen 1478 1478 1481 •
Kapitel XXIII Die Zinkgruppe 1483 1 D a s Zink u n d C a d m i u m 1483 1.1 Die Elemente Zink u n d C a d m i u m 1483 Vorkommen (S. 1483), Darstellung (S. 1484), Physikalische Eigenschaften (S. 1486), Chemische Eigenschaften (S. 1487), Verwendung, Legierungen, Zinkbatterien (S. 1488), Zink und Cadmium in Verbindungen (S. 1488) 1.2 1.2.1
Verbindungen des Zinks u n d C a d m i u m s 1489 Zink(II)- u n d Cadmium(II)-Verbindungen (d10) 1489 Wasserstoffverbindungen (S.1489), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1490), Chalkogenverbindungen (S. 1491), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1494), Zink in der Biosphäre (S. 1495)
Inhalt
2
XXXI
1.2.2 Zink(I)- u n d Cadmium(I)-Verbindungen (d^s 1 ) 1.2.3 Organische Verbindungen des Zinks u n d C a d m i u m s D a s Quecksilber 2.1 D a s Element Quecksilber Vorkommen (S. 1497), Darstellung (S. 1498), Physikalische Eigenschaften (S.1499), Chemische Eigenschaften (S.1499), Verwendung, Amalgame (S.1500), Quecksilber in Verbindungen (S. 1500), Vergleichende Betrachtungen (S. 1501)
1495 1496» 1497 1497
2.2 2.2.1
1502 1502
2.2.2
2.2.3 2.2.4
Verbindungen des Quecksilbers Quecksilber(I)-Verbindungen (cPs 1 ) Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S.1502), (S. 1503), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1504) Quecksilber(II)-Verbindungen (d 10 ) Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1507)
Chalkogenverbindungen 1504
(S.1504),
Chalkogenverbindungen
Niedrigwertige Quecksilberverbindungen Organische Verbindungen des Quecksilbers
1509 1510»
Kapitel XXIV Die Scandiumgruppe 1513 1 Die Elemente Scandium, Yttrium, L a n t h a n u n d Actinium 1513 Vorkommen (S.1513), Darstellung (S. 1514), Physikalische Eigenschaften (S. 1515), Chemische Eigenschaften (S. 1515), Verwendung, Legierungen (S. 1515), Scandium, Yttrium, Lanthan und Actinium in Verbindungen (S. 1516), Vergleichende Betrachtungen (S. 1516) 2
Verbindungen des Scandiums, Yttriums, L a n t h a n s u n d Actiniums 1517 Wasserstoffverbindungen (S. 1517), Halogenverbindungen (S. 1517), Chalkogenverbindungen (S. 1518), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S.1519), Organische Verbindungen des Scandiums, Yttriums und Lanthans (S. 1519«)
Kapitel XXV Die Titangruppe 1520 1 D a s Titan 1520 1.1 D a s Element Titan 1520 Vorkommen (S. 1520), Darstellung (S. 1521), Physikalische Eigenschaften (S.1522), Chemische Eigenschaften (S. 1522), Verwendung, Legierungen (S. 1523), Titan in Verbindungen (S. 1523) 1.2 1.2.1
1.2.2
1.2.3
2
Verbindungen des Titans Titan(IV)-Verbindungen (d 0 ) Wasserstoffverbindungen (S. 1524), Halogen- und (S. 1524), Chalkogenverbindungen (S. 1526) Titan(III)-Verbindungen (d 1 ) Wasserstoffverbindungen (S. 1528), Halogen- und (S. 1529), Chalkogenverbindungen (S. 1529)
1524 1524 Pseudohalogenverbindungen 1528 Pseudohalogenverbindungen
Titan(II)-Verbindungen (d 2 ) 1530 Wasserstoffverbindungen (S. 1530), Halogenverbindungen (S. 1530), Chalkogenverbindungen (S. 1530), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1531)
1.2.4 Organische Verbindungen des Titans 1531 • D a s Zirconium u n d H a f n i u m 1533 2.1 Die Elemente Zirconium u n d H a f n i u m 1533 Vorkommen (S. 1533), Darstellung (S. 1534), Physikalische Eigenschaften (S.1534), Chemische Eigenschaften (S.1534), Verwendung, Legierungen (S.1535), Zirconium und Hafnium in Verbindungen (S. 1535), Vergleichende Betrachtungen (S. 1535) 2.2 2.2.1 2.2.2
Verbindungen des Zirconiums u n d H a f n i u m s Wasserstoffverbindungen Halogen- u n d Pseudohalogenverbindungen
1536 1536 1536
XXXII 2.2.3 2.2.4 2.2.5
Inhalt Chalkogenverbindungen 1538 Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen 1540 Organische Verbindungen des Zirconiums u n d H a f n i u m s 1540» Zirconium- und Hafniumorganyle (S. 1540»), Katalytische Prozesse mit Beteiligung von Zr-Organylen (S. 1541«)
Kapitel XXVI Die Vanadiumgruppe 1542 1 D a s Vanadium 1542 1.1 D a s Element Vanadium 1542 Vorkommen (S. 1542), Darstellung (S. 1543), Physikalische Eigenschaften (S. 1543), Chemische Eigenschaften (S. 1543), Verwendung, Legierungen (S. 1544), Vanadium in Verbindungen (S. 1544) 1.2 1.2.1
Verbindungen des Vanadiums Vanadium(V)-Verbindungen (d 0 ) Halogenverbindungen (S. 1545), Chalkogenverbindungen (S. 1546)
1545 1545
1.2.2
Vanadium(IV)-Verbindungen (d 1 ) Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1548)
1547
1.2.3
2
(S.1547),
Chalkogenverbindungen
Vanadium(III)- u n d Vanadium(II)-Verbindungen (d 2 , d 3 ) 1550 Wasserstoffverbindungen (S.1550), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S.1550), Chalkogenverbindungen (S.1551), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1552)
1.2.4 Organische Verbindungen des Vanadiums 1552» D a s N i o b i u m u n d Tantal 1553 2.1 Die Elemente N i o b i u m u n d Tantal 1553 Vorkommen (S. 1553), Darstellung (S. 1553), Physikalische Eigenschaften (S. 1554), Chemische Eigenschaften (S. 1554), Verwendung, Legierungen (S. 1554), Niobium und Tantal in Verbindungen (S. 1554), Vergleichende Betrachtungen (S. 1555) 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
Verbindungen des Niobiums u n d Tantals Wasserstoffverbindungen Halogen- u n d Pseudohalogenverbindungen Chalkogenverbindungen Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen Organische Verbindungen des Niobiums u n d Tantals
1555 1555 1555 1559 1560 1561 •
Kapitel XXVII Die Chromgruppe 1562 1 Das Chrom 1562 1.1 D a s Element C h r o m 1562 Vorkommen (S. 1562), Darstellung (S. 1563), Physikalische Eigenschaften (S. 1565), Chemische Eigenschaften (S. 1565), Verwendung, Legierungen (S. 1565), Chrom in Verbindungen (S. 1565) 1.2 1.2.1 1.2.2
Verbindungen des C h r o m s Chrom(VI)-Verbindungen (d 0 ) Chrom(V)- u n d Chrom(IV)-Verbindungen (d 1 , d 2 ) Halogenverbindungen (S. 1571), Sauerstoffverbindungen (S. 1571)
1567 1567 1571
1.2.3
Chrom(III)-Verbindungen (d 3 ) Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1574), Chrom(III)-Komplexe (S. 1576)
1573
1.2.4
(S.1573),
Chalkogenverbindungen
Chrom(II)-Verbindungen (d 4 ) 1577 Wasserstoffverbindungen (S.1577), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S.1577), Chalkogenverbindungen (S.1578), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1578), Chrom(II)-Komplexe (S. 1579)
Inhalt
2
XXXIII
1.2.5 Organische Verbindungen des C h r o m s 1581 • D a s M o l y b d ä n u n d Wolfram 1582 2.1 Die Elemente M o l y b d ä n u n d Wolfram 1582 Vorkommen (S. 1582), Darstellung (S. 1583), Physikalische Eigenschaften (S.1583), Chemische Eigenschaften (S.1583), Verwendung, Legierungen (S.1584), Molybdän und Wolfram in Verbindungen (S. 1584), Vergleichende Betrachtungen (S. 1585) 2.2 2.2.1 2.2.2
Verbindungen des M o l y b d ä n s u n d Wolframs Wasserstoffverbindungen Halogen- u n d Pseudohalogenverbindungen Halogenide (S. 1587), Pseudohalogenide (S. 1590)
1586 1586 1587
2.2.3
Chalkogenverbindungen 1590 Sauerstoffverbindungen (S. 1590), Molybdate(VI) und Wolframate(VI) (S.1594), Sonstige Chalkogenide und Chalkogenokomplexe (S. 1600)
2.2.4 2.2.5 2.2.6
Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen 1601 Molybdän- u n d Wolfram-Komplexe 1602 Organische Verbindungen des M o l y b d ä n s u n d Wolframs 1605» Molybdän- und Wolframorganyle (S. 1605»), Katalytische Prozesse unter Beteiligung von Mo- und W-organylen (S. 1606»)
Kapitel XXVIII Die Mangangruppe 1607 1 Das Mangan 1607 1.1 D a s Element M a n g a n 1607 Vorkommen (S. 1607), Darstellung (S. 1608), Physikalische Eigenschaften (S.1608), Chemische Eigenschaften (S. 1608), Verwendung, Legierungen (S. 1609), Mangan in Verbindungen (S. 1609)
2
1.2 1.2.1
Verbindungen des M a n g a n s 1610 Mangan(II)-Verbindungen (d 5 ) 1610 Wasserstoffverbindungen (S. 1610), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1610), Chalkogenverbindungen (S.1612), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1613), Mangan(II)-Komplexe (S. 1613)
1.2.2
Mangan(III)- u n d Mangan(IV)-Verbindungen (d 4 ,d 3 ) 1614 Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S.1614), Chalkogenverbindungen (S. 1614), Mangan(III)- und Mangan(IV)-Komplexe (S.1616)
1.2.3 Mangan(V)-, (VI)-, (VII)-Verbindungen (d 2 , d 1 , d 0 ) 1.2.4 Organische Verbindungen des M a n g a n s D a s Technetium u n d R h e n i u m 2.1 Die Elemente Technetium u n d R h e n i u m Vorkommen (S. 1620), Darstellung (S. 1621), Physikalische Eigenschaften (S.1622), Chemische Eigenschaften (S. 1622), Verwendung, Legierungen (S. 1622), Technetium und Rhenium in Verbindungen (S. 1622), Vergleichende Betrachtungen (S. 1623)
1617 1619» 1620 1620
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
1624 1624 1625 1628 1631 1631 1632*
Verbindungen des Technetiums u n d Rheniums Wasserstoffverbindungen Halogen- u n d Pseudohalogenverbindungen Chalkogenverbindungen Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen Technetium- u n d Rheniumkomplexe Organische Verbindungen des Technetiums u n d R h e n i u m s Technetium- und Rheniumorganyle (S. 1632»), Katalytische Prozesse unter Beteiligung von Re-organylen (S. 1634«)
XXXIV
Inhalt
Kapitel XXIX Die Eisengruppe 1 D a s Eisen 1.1 D a s Element Eisen 1.1.1 Vorkommen 1.1.2 Darstellung Erzeugung von Roheisen (S. 1637), Gewinnung von Stahl (S. 1640) 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.2 1.2.1
2
Physikalische Eigenschaften Chemische Eigenschaften Verwendung, Legierungen Eisen in Verbindungen Verbindungen des Eisens Eisen(II)- u n d Eisen(III)-Verbindungen (d 6 , d 5 ) Wasserstoffverbindungen (S.1647), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S.1647), Chalkogenverbindungen (S.1652), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S.1659), Eisen(II)- und Eisen(III)-Komplexe (S.1659), Eisen in der Biosphäre (S. 1661)
1635 1636 1636 1636 1637 1642 1644 1644 1645 1647 1647
1.2.2 Eisen(VI)-, (V)-, (IV)-Verbindungen (d 2 , d 3 , d 4 ) 1.2.3 Organische Verbindungen des Eisens D a s R u t h e n i u m u n d Osmium 2.1 Die Elemente R u t h e n i u m u n d Osmium Vorkommen (S. 1666), Darstellung (S. 1667), Physikalische Eigenschaften (S. 1667), Chemische Eigenschaften (S. 1667), Verwendung, Legierungen (S. 1667), Ruthenium und Osmium in Verbindungen (S. 1667), Vergleichende Betrachtungen (S. 1668)
1665 1666» 1666 1666
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
1668 1668 1669 1672 1676 1676 1679»
Verbindungen des R u t h e n i u m s u n d Osmiums Wasserstoffverbindungen Halogen- u n d Pseudohalogenverbindungen Chalkogenverbindungen Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen Ruthenium- u n d Osmiumkomplexe Organische Verbindungen des R u t h e n i u m s u n d Osmiums
Kapitel XXX Die Cobaltgruppe 1681 1 D a s Cobalt 1681 1.1 D a s Element Cobalt 1681 Vorkommen (S. 1681), Darstellung (S. 1681), Physikalische Eigenschaften (S. 1682), Chemische Eigenschaften (S. 1682), Verwendung, Legierungen (S. 1682), Cobalt in Verbindungen (S. 1682)
2
1.2 1.2.1
Verbindungen des Cobalts 1683 Cobalt(II)- u n d Cobalt(III)-Verbindungen (d 7 , d 6 ) 1683 Wasserstoffverbindungen (S.1683), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S.1684), Chalkogenverbindungen (S.1686), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1690), Cobalt(II)- und Cobalt(III)-Komplexe (S. 1690), Cobalt in der Biosphäre (S. 1693)
1.2.2 1.2.3
Cobalt(IV)- u n d Cobalt(V)-Verbindungen (d 5 , d 4 ) 1694 Organische Verbindungen des Cobalts 1694« Cobaltorganyle (S. 1694»), Katalytische Prozesse unter Beteiligung von Co-organylen (S.1695«)
D a s R h o d i u m u n d Iridium 1696 2.1 Die Elemente R h o d i u m u n d Iridium 1696 Vorkommen (S. 1696), Darstellung (S. 1696), Physikalische Eigenschaften (S. 1696), Chemische Eigenschaften (S. 1697), Verwendung, Legierungen (S. 1697), Rhodium und Iridium in Verbindungen (S. 1697), Vergleichende Betrachtungen (S. 1698)
Inhalt
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
Verbindungen des Rhodiums und Iridiums Wasserstoffverbindungen Halogen- und Pseudohalogenverbindungen Chalkogenverbindungen Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen Rhodium- und Iridiumkomplexe Organische Verbindungen des Rhodiums und Iridiums
XXXV
1698 1698 1699 1702 1704 1704 1706*
Rhodium- und Iridiumorganyle (S.1706»), Katalytische Prozesse unter Beteiligung von Rh-Organylen (S. 1706«)
Kapitel XXXI Die Nickelgruppe 1 Das Nickel 1.1 Das Element Nickel
1709 1709 1709
Vorkommen (S. 1709), Darstellung (S. 1710), Physikalische Eigenschaften (S.1710), Chemische Eigenschaften (S.1710), Verwendung, Legierungen, Nickel-Batterien (S. 1711), Nickel in Verbindungen (S. 1711)
1.2 1.2.1
Verbindungen des Nickels Nickel(II)- und Nickel(III)-Verbindungen (d8, d7)
1712 1712
Wasserstoffverbindungen (S. 1712), Halogen- und Pseudohalogenverbindungen (S. 1713), Chalkogenverbindungen (S.1714), Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen (S. 1716), Nickel(II)- und Nickel(III)-Komplexe (S. 1717), Nickel in der Biosphäre (S. 1720)
1.2.2 1.2.3
Nickel(IV)-Verbindungen (d6) Organische Verbindungen des Nickels
1720 1720*
Nickelorganyle (S. 1720«), Katalytische Prozesse unter Beteiligung von Ni-organylen (S. 1720»)
2
Das Palladium und Platin 2.1 Die Elemente Palladium und Platin
1722 1722
Vorkommen (S. 1722), Darstellung (S. 1722), Physikalische Eigenschaften (S.1724), Chemische Eigenschaften (S.1724), Verwendung, Legierungen (S.1724), Palladium und Platin in Verbindungen (S. 1725), Vergleichende Betrachtungen (S. 1725)
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
Verbindungen des Palladiums und Platins Wasserstoffverbindungen Halogen- und Pseudohalogenverbindungen Chalkogenverbindungen Pentel-, Tetrel-, Trielverbindungen Palladium- und Platinkomplexe Organische Verbindungen des Palladiums und Platins
1726 1726 1726 1732 1735 1735 1739»
Palladium- und Platinorganyle (S.1739«), Katalytische Prozesse unter Beteiligung von Pd-organylen (S. 1741»)
Kapitel XXXII Überblick über wichtige Verbindungsklassen der Übergangsmetalle .. 1744 1 Einige Klassen anorganischer Übergangsmetallverbindungen 1744 1.1 Wasserstoffverbindungen 1744 1.1.1 Übergangsmetallhydride 1745 1.1.2 Diwasserstoffkomplexe der Übergangsmetalle 1748 1.2 Halogen- und Pseudohalogenverbindungen 1750 1.2.1 Übergangsmetallhalogenide 1750 Struktur-und Bindungsverhältnisse (S. 1751), Darstellung und Eigenschaften (S. 1755)
1.2.2 1.2.3
Metallcluster-Komplexe vom Halogenid-Typ Übergangsmetallcyanide
1756 1759
XXXVI
2
Inhalt
1.2.4 Übergangsmetallazide 1.3 Sauerstoffverbindungen. Nichtstöchiometrie 1.3.1 Übergangsmetalloxide, Nichtstöchiometrie 1.3.2 Disauerstoffkomplexe der Übergangsmetalle 1.4 Stickstoffverbindungen 1.4.1 Übergangsmetallnitride 1.4.2 Distickstoffkomplexe der Übergangsmetalle Metallcarbonyle und verwandte Komplexe 2.1 Die Metallcarbonyle 2.1.1 Grundlagen, Metallcluster-Komplexe vom Carbonyl-Typ Überblick (S.1787«)
2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3
(S.1780»),
Strukturverhältnisse
(S. 1781«),
1761 1762 1762 1766 1771 1771 1775 1780« 1780» 1780»
Bindungsverhältnisse
Darstellung Eigenschaften. Die Metalltrifluorphosphane und -carbonylhalogenide . . . . Verwendung Die Metallcarbonyl-Anionen, -Hydride und -Kationen Metallcarbonyl-Anionen Metallcarbonylwasserstoffe Metallcarbonyl-Kationen Die Verwandten der Metallcarbonyle Thio-, Seleno- und Tellurocarbonyl-Komplexe Isocyanido- (Isonitril-) Komplexe Nitrosyl-Komplexe
1789 • 1791 • 1798 « 1799» 1799« 1804« 1809« 1812« 1812» 1813 • 1816»
Grundlagen (S. 1816»), Darstellung (S. 1820«), Eigenschaften (S. 1821»)
3
Einige Klassen organischer Übergangsmetallverbindungen 3.1 Organische n-Komplexe der Übergangsmetalle 3.1.1 Metallorganyle 3.1.2 Alkylidenmetallkomplexe (Carbenkomplexe) 3.1.3 Alkylidinmetallkomplexe (Carbinkomplexe) 3.2 Organische u-Komplexe der Übergangsmetalle 3.2.1 ff-Metallkomplexe der Alkane
1823 • 1823 • 1824« 1829» 1832* 1833 • 1833 •
(7-CH-Metallkomplexe (S. 1833«), Wasserstoff + Sauerstoff.
(2 a)
Wasserstoff ist wie Sauerstoff(s. o.) durch gewöhnliche physikalische und chemische Methoden nicht in einfachere Stoffe trennbar und stellt demgemäß analog Sauerstoff ein Element dar. Ermittelt man hierbei die Massenverhältnisse, in denen Wasserstoff und Sauerstoff bei der beschriebenen Wasserzersetzung oder bei irgendeiner Art der Wasserzerlegung auftreten, so stellt man fest, dass Sauerstoff und Wasserstoff unabhängig von den Versuchsbedingungen (Menge des zersetzten Wassers, Temperatur, Druck, Stromstärke usw.) stets im Massenverhältnis 7.936 :1 gebildet werden. Zu dem gleichen Ergebnis wie bei dieser Analyse kommt man umgekehrt auch bei der Synthese des Wassers aus Wasserstoff und Sauerstoff: Wasserstoff + Sauerstoff -> Wasser + Energie.
(2b)
Auch hier erfolgt die Vereinigung im Massenverhältnis Sauerstoff: Wasserstoff = 7.936:1 Ist der Wasserstoff (Sauerstoff) im Ü b e r s c h u s s über dieses Massenverhältnis hinaus vorhanden, so bleibt die überschüssige Wasserstoffmenge (Sauerstoffmenge) bei der Reaktion u n v e r ä n d e r t zurück Die Zerlegung des Wassers in seine elementaren Bestandteile kann beispielsweise im ,,Hofmann'schen Zersetzungsapparat' (Fig. 11) durchgeführt werden. Man füllt zu diesem Zwecke den aus drei miteinander
Funkenstrecke
Wasserstoff
Sauerstoff
WasserstoffSauerstoffGemisch
Wasser
positive Elektrode
negative Elektrode
Quecksilber
V-
Fig. 11 Hofmann'scher Apparat zur elektrolytischen Zerlegung von Wasser.
2
stoicheion (griech.) = Grundstoff; metron (griech.) = Maß.
Fig. 12 Synthese von Wasser im Volta'schen Eudiometerrohr.
18
II. Atom und Molekül
kommunizierenden Röhren bestehenden Apparat durch den Trichter der mittleren Röhre so weit mit Wasser, dass die beiden äußeren Rohre bis an die Hähne - die dann geschlossen werden - mit Wasser angefüllt sind. Im unteren Teil der beiden äußeren Rohre befindet sich je ein kleines Platinblech mit einem nach außen führenden Platindraht. Sobald die Platindrähte mit einer Gleichstromquelle von genügender Spannung verbunden werden, beginnen an den Platinblechen (,,Elektroden") kleine Bläschen aufzusteigen: das Wasser wird unter Bildung von Wasserstoff und Sauerstoff ,,elektrolytisch zersetzt", und zwar bildet sich der Wasserstoff (brennbares, die Verbrennung nicht unterhaltendes Gas) an der mit dem negativen Pol der Stromquelle verbundenen Elektrode (,,Kathode"), während der Sauerstoff (die Verbrennung unterhaltendes, nicht brennbares Gas) an der positiven Elektrode (,,Anode") entwickelt wird. Da reines Wasser den elektrischen Strom nur sehr schlecht leitet, verwendet man zur ,,Elektrolyse" ein durch Ansäuern mit Schwefelsäure besser leitend gemachtes Wasser Die Synthese des Wassers aus Wasserstoff und Sauerstoff kann andererseits in einem ,,Volta'schen Eudiometerrohr" erfolgen. Hierfür führt man in den linken Schenkel des betreffenden, in Fig. 12 abgebildeten, mit Quecksilber gefüllten Gefäßes ein Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch ein und bringt das Gasgemisch durch einen kleinen elektrischen Funken zur Reaktion, wodurch sich Wasserstoff und Sauerstoff unter explosionsartiger Wärmeentwicklung (Freiwerden der nach (2 a) zur Wasserzersetzung erforderlichen Energie) zu Wasser verbinden, das sich in Form eines aus feinsten Wassertröpfchen bestehenden Beschlags auf der Innenwand des Rohres niederschlägt
Analoge Beobachtungen wie bei der Wasserzerlegung und Wasserstoff/Sauerstoff-Vereinigung macht man bei anderen chemischen Reaktionen. Zerlegt man beispielsweise den aus den beiden gasförmigen Elementen Chlor und Wasserstoff bestehenden Chlorwasserstoff, dessen wässrige Lösung unter dem Namen ,,Salzsäure" bekannt ist, in seine elementaren Bestandteile, so ergibt sich stets das konstante Massenverhältnis Chlor: Wasserstoff = 35.175:1. Das aus den Elementen Wasserstoff und Stickstoff aufgebaute Ammoniak, dessen wässerige Lösung wir unter dem Namen ,,Salmiakgeist" kennen, enthält seine Bestandteile stets im unveränderlichen Massenverhältnis Stickstoff: Wasserstoff = 4.632 :1. In dem aus Wasserstoff und Kohlenstoff bestehenden Methan, das manchen Erdgasquellen als ,,Grubengas" entströmt, sind die Elemente stets im konstanten Massenverhältnis Kohlenstoff: Wasserstoff = 2.979 : 1 enthalten. Zu den gleichen Ergebnissen führt wiederum die Synthese von Chlorwasserstoff, Ammoniak und Methan aus Wasserstoff und Chlor, Wasserstoff und Stickstoff bzw. Wasserstoff und Kohlenstoff: Chlorwasserstoff + Energie Ammoniak + Energie Methan Energie
Wasserstoff + Chlor, Wasserstoff + Stickstoff, Wassersto Kohlenstoff.
Zahlreiche Untersuchungen haben nun gezeigt, dass es sich hier um ein allgemeingültiges Gesetz handelt. Man nennt es das Gesetz der konstanten Proportionen: Das Massenverhältnis zweier sich zu einer chemischen Verbindung vereinigender Elemente ist konstant. Das Gesetz wurde 1799 von dem französischen Chemiker Joseph Louis Proust (1754-1826) aufgefunden. Gesetz der multiplen Proportionen Häufig bilden zwei Elemente nicht nur eine, sondern mehrere Verbindungen miteinander. So lassen sich z.B. Stickstoff und Sauerstoff allein zu f ü n f verschiedenen Verbindungen vereinigen Vergleicht man nun die verschiedenen Massenverhältnisse, nach denen der Zusammentritt der beiden Elemente erfolgt, so stellt man fest, dass sie nicht willkürliche, v o n e i n a n d e r u n a b h ä n g i g e Zahlenwerte darstellen, sondern untereinander in e i n f a c h e m Z u s a m m e n hang stehen. Die mit einer gegebenen Menge Stickstoff verbundene Menge Sauerstoff verhält sich nämlich bei den verschiedenen Verbindungen wie 1 : 2 : 3 : 4 : 5 : Verb. 1: Verb. 2: Verb. 3: Verb. 4: Verb. 5:
Massenverhältnis Massenverhältnis Massenverhältnis Massenverhältnis Massenverhältnis
Sauerstoff: Stickstoff Sauerstoff:Stickstoff Sauerstoff: Stickstoff Sauerstoff: Stickstoff Sauerstoff: Stickstoff
= = = = =
0.571 1.142 1.713 2.284 2.855
: 1 = (1 x0.571) :1 = (2 x 0.571) :1 = (3 x 0.571) :1 = (4 x 0.571) : ^ 5 x 0.571)
1. Atom- und Molekularlehre
19
Auch hier handelt es sich, wie eingehende Untersuchungen zeigten, um ein allgemeingültiges Gesetz. Es wurde im Jahre 1803 von dem englischen Naturforscher John Dalton (1766-1844) aufgefunden und wird das Gesetz der multiplen Proportionen genannt Die Massenverhältnisse zweier sich zu verschiedenen chemischen Verbindungen vereinigender Elemente stehen im Verhältnis einfacher ganzer Zahlen zueinander. Das Gesetz erweitert das Gesetz der konstanten Proportionen und schließt es in sich ein. Gesetz der äquivalenten Proportionen Vergleicht man die Massenverhältnisse, nach denen sich S a u e r s t o f f und Stickstoff miteinander zu den oben genannten fünf Verbindungen vereinigen, mit den Massenverhältnissen, nach denen Sauerstoff und Stickstoff mit Wasserstoffzusammentreten (s. oben), so macht man eine neue interessante Feststellung. Man kann nämlich das für die Sauerstoff-Stickstoff-Verbindung 3 geltende Massenverhältnis Sauerstoff: Stickstoff = 1.713 : 1 auch durch das Verhältnis 7.936 : 4.632 ( = 1.713) zum Ausdruck bringen, also durch jene Zahlenwerte, die schon in den für die Vereinigung von Sauerstoff und Stickstoff mit Wasserstoff geltenden Massenverhältnissen auftraten. In gleicher Weise können auch die Massenverhältnisse der übrigen Stickstoff-Sauerstoff-Verbindungen (s. oben) mithilfe dieser Verhältniszahlen ausgedrückt werden Verb. 1: Verb. 2: Verb. 3: Verb. 4: Verb. 5:
Massenverhältnis Massenverhältnis Massenverhältnis Massenverhältnis Massenverhältnis
Sauerstoff: Sauerstoff: Sauerstoff: Sauerstoff: Sauerstoff:
Stickstoff Stickstoff Stickstoff Stickstoff Stickstoff
= = = = =
0.571 1.142 1.713 2.284 2.855
:1= :1= :1= :1= :1=
(1 x 7.936): (2 x 7.936): (3 x 7.936): (4 x 7.936): (5 x 7.936):
(3 x (3 x (3 x (3 x (3 x
4.632), 4.632), 4.632), 4.632), 4.632).
Analoges gilt ganz allgemein in anderen Fällen: Bilden zwei Elemente A und B mit einem d r i t t e n Element C in bestimmtem Massenverhältnis je eine Verbindung, so ergibt sich bei der Vereinigung der beiden Elemente A und B m i t e i n a n d e r nie ein ganz neues Massenverhältnis, sondern ein Zahlenpaar, das in den beiden anderen Zahlenpaaren bereits enthalten ist. Man nennt dieses Gesetz, das grundsätzlich schon im Jahre 1791 von dem deutschen Chemiker Jeremias Benjamin Richter (1762-1807) erkannt wurde, das Gesetz der äquivalenten Proportionen Elemente vereinigen sich stets im Verhältnis bestimmter Verbindungsmassen (,,Aquivalentmassen"; vgl. hierzu S. 26) oder ganzzahliger Vielfacher dieser Massen zu chemischen Verbindungen. Das Gesetz geht über die Aussagen der beiden vorhergehenden Gesetze hinaus und schließt diese in sich ein.
1.1.2
Dalton'sche Atomhypothese
Eine einfache und einleuchtende D e u t u n g finden alle bisher behandelten Gesetzmäßigkeiten durch die von J. Dalton schon vor experimenteller Sicherstellung der stöchiometrischen Ge setze konzipierte (wichtigster Vorläufer: J.Jungius) und 1808 veröffentlichte Atomhypothese. Nach dieser Hypothese sind die chemischen Elemente nicht bis ins U n e n d l i c h e teilbar, sondern aus kleinsten, chemisch nicht weiter zerlegbaren Teilchen, den so genannten „Atomen"3 aufgebaut. Alle Atome eines gegebenen Elements A haben dabei untereinander gleiche Masse, während die Massen der Atome zweier verschiedener Elemente A und B charakteristisch voneinander verschieden sind. Wegen der Existenz von isotopen Atomarten eines Elements (s. dort) muss man heute statt „Masse" richtiger „Durchschnittsmasse" sagen. Vereinigt sich nun ein Element A mit einem Element B zu einer chemischen Verbindung, so kann dies nur so geschehen, dass je a Atome A mit je Z> Atomen B zu je einem kleinsten
3
atomos (griech.) = unteilbar; molecula (lat.) = kleine Masse.
20
II. Atom und Molekül
Teilchen AaBj, der chemischen Verbindung zusammentreten, wobei a und b ganze Zahlen darstellen. Also z.B.: A + B -> AB 2A + B -> A 2 B A +2B AB 2A+3B^A2B3
oder oder oder usw.
Da die Atome hierbei mit ihren charakteristischen Massen in die Verbindung eintreten, finden alle bisher besprochenen stöchiometrischen Gesetze ihre zwanglose Deutung. So erklärt sich das Gesetz von der Erhaltung der Masse daraus, dass bei chemischen Reaktionen entsprechend der Atomhypothese keine U m w a n d l u n g von Materie, sondern nur eine Z u s a m m e n l a g e r u n g oder U m g r u p p i e r u n g von A t o m e n erfolgt, sodass die Gesamtmasse des chemischen Systems naturgemäß unverändert bleiben muss. Die nach dem Gesetz der konstanten und der multiplen Proportionen experimentell bestimmbaren k o n s t a n ten und m u l t i p l e n M a s s e n v e r h ä l t n i s s e bei der Vereinigung von Elementen zu chemischen Verbindungen geben nach der Atomvorstellung das Verhältnis der Element-Atommassen bzw. ihrer ganzzahligen Vielfachen wieder. In gleicher Weise stellt das nach dem Gesetz der äquivalenten Proportionen experimentell beobachtbare Verhältnis der Verbindungsmassen nichts anderes dar als das Verhältnis der Atommassen bzw. ihrer Vielfachen. Über das Massenverhältnis der A t o m e der einzelnen Elemente („relative Atommassen") lässt sich auf Grund der bei der Bildung chemischer Verbindungen aus Elementen feststell baren M a s s e n v e r h ä l t n i s s e naturgemäß keine eindeutige Aussage machen. Denn es ist ja zunächst noch u n b e k a n n t , in welchem Z a h l e n v e r h ä l t n i s sich die Atome zur Verbindung vereinigen. Erfolgt z.B. die Wasserbildung aus Wasserstoff und Sauerstoff so, dass je 1 Wasserstoff- und 1 Sauerstoffatom zu einem Wasserteilchen zusammentreten, so besagt das experimentell gefundene Massenverhältnis Wasserstoff: Sauerstoff = 1 : 7.936, dass ein Sauerstoffatom 7.936 mal schwerer als ein Wasserstoffatom ist. Erfolgt aber die Vereinigung im Atomzahlenverhältnis Wasserstoff: Sauerstoff = 2 : 1 oder 1:2, so folgt aus dem beobachteten Massenverhältnis eine doppelt bzw. halb so große Atommasse des Sauerstoffs, nämlich von 7.936 x 2 = 15.872 bzw. 7.936 : 2 = 3.968 (bezogen auf eine relative Atommasse 1 des Wasserstoffs), da dann 1 Sauerstoffatom 7.936 mal schwerer als 2 Wasserstoffatome bzw. 7.936 mal schwerer als V2 Wasserstoffatom ist. Es bedarf also mit anderen Worten zur Festlegung der relativen Atommassen noch der K e n n t n i s des Zahlenverhältnisses, nach welchem die Atome zu den chemischen Verbindungen zusammentreten. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist diese Aufgabe bei Reaktionen g a s f ö r m i g e r Stoffe in einfacher Weise durch Ermittlung der Volumenverhältnisse zu lösen, nach denen die Bildung der Verbindungen erfolgt.
1.2
Volumenverhältnisse bei chemischen Reaktionen. Der Molekülbegriff
1.2.1
Experimentalbefunde
Jeder Menge eines Stoffes entspricht, wenn der Stoff gasförmig ist oder sich vergasen lässt, bei bestimmtem Druck und bei bestimmter Temperatur ein bestimmtes G a s v o l u m e n . Wir können daher die besprochenen stöchiometrischen Massengesetze bei Reaktionen gasför miger Stoffe in Volumengesetze umwandeln, indem wir den Ausdruck ,,Massenverhältnis" durch den Ausdruck ,,Volumenverhältnis" ersetzen (z.B.: „Das Volumenverhältnis zweier sich zu einer chemischen Verbindung vereinigender gasförmiger Elemente ist konstant"). Bei dieser Umformung der Massengesetze zu Volumengesetzen ergibt sich nun eine neue interessante
1. Atom- und Molekularlehre
21
Tatsache: die Volumenverhältnisse chemisch reagierender Gase sind nicht nur konstant oder multipel, sondern lassen sich zum Unterschied von den Massenverhältnissen darüber hinaus durch einfache ganze Z a h l e n ausdrücken. Ermittelt man z. B. bei der elektrolytischen Zerlegung des Wassers im Hofmann'schen Zersetzungsapparat (Fig. 11) die gebildeten Volumina Wasserstoff und Sauerstoff, so stellt man fest, dass auf 1 Volumen Sauerstoff genau 2 Volumina Wasserstoff entstehen. Während also das Massenverhältnis Wasserstoff: Sauerstoff den nicht ganzzahligen Wert 1 : 7.936 besitzt, ist das Volumenverhältnis durch die einfachen ganzen Z a h l e n 2 : 1 ausdrückbar. Das gleiche Volumenverhältnis ergibt sich bei der Synthese des Wassers in dem weiter oben beschrie benen Synthese-Apparat (Fig.12): jede über das Volumenverhältnis Wasserstoff:Sauerstoff = 2 : 1 hinausgehende überschüssige Wasserstoff- oder Sauerstoffmenge wird nach der Explosion des Gasgemisches u n v e r ä n d e r t vorgefunden. Nimmt man die Synthese bei einer Temperatur oberhalb 100°C vor, sodass nach der Reaktion auch das gebildete Wasser in Dampfform vorliegt, so zeigt sich, dass auch das W a s s e r d a m p f v o l u m e n in einfachem ganzzahligen Verhältnis zu den Volumina der Ausgangsstoffe steht. Je Volumen Wasserstoff wird nämlich 1 Volumen Wasserdampf (gemessen bei gleichem Druck und gleicher Temperatur) gebildet 2 Volumina Wasserstoff + 1 Volumen Sauerstoff -> 2 Volumina Wasserdampf.
(3)
Analoge Beobachtungen macht man z. B. bei der erörterten Chlorwasserstoff-, Ammoniakund Methan-Synthese. Während für die Massenverhältnisse Wasserstoff: Chlor bzw. Wasserstoff: Stickstoff bzw. Wasserstoff: Kohlenstoff die Zahlen 1 : 35.175 bzw. 1 : 4.632 bzw. 1 : 2.979 gelten, lassen sich die Volumenverhältnisse durch die viel einfacheren Gleichungen 1 Volumen Wasserstoff + 1 Volumen Chlor -> 2 Volumina Chlorwasserstoff, 3 Volumina Wasserstoff + 1 Volumen Stickstoff -> 2 Volumina Ammoniak, 4 Volumina Wasserstoff + Kohlenstoff -> 2 Volumina Methan
(4) (5) (6)
wiedergeben (Kohlenstoff ist kein Gas, sondern ein fester, äußerst schwer vergasbarer Stoff, für den praktisch keine Gasvolumenbestimmung möglich ist). Entsprechendes ergibt sich bei anderen Gasreaktionen Es handelt sich hier also wieder um ein allgemeingültiges Gesetz. Es wurde erstmals im Jahre 1808 von dem französischen Naturforscher Joseph Louis Gay-Lussac (1778-1850) aufgefunden und wird als chemisches Volumengesetz bezeichnet Das Volumenverhältnis gasförmiger, an einer chemischen Umsetzung beteiligter Stoffe lässt sich bei gegebener Temperatur und gegebenem Druck durch einfache ganze Zahlen wiedergeben
1.2.2
Avogadro'sche Molekülhypothese
Nach dem Gesetz der äquivalenten Proportionen treten Elemente im Verhältnis b e s t i m m t e r V e r b i n d u n g s m a s s e n oder deren M u l t i p l a zusammen (s. oben). Die Tatsache, dass die für chemische Umsetzungen gasförmiger Stoffe gültigen Massenverhältnisse bei der Umformung zu Volumenverhältnissen in ganzzahlige P r o p o r t i o n s werte übergehen, zeigt demnach, dass sich die Massen gleicher Volumina elementarer Gase wie die V e r b i n d u n g s m a s s e n dieser Gase oder deren Vielfache verhalten. Nach Dalton sind nun aber die V e r b i n d u n g s m a s s e n oder deren Vielfache den A t o m m a s s e n proportional (s. oben). Es liegt daher nahe - und dieser Schluss wurde zunächst auch gezogen - , das chemische Volumengesetz durch die einfachste Annahme zu deuten, dass gleiche Volumina aller elementaren Gase bei gleichem Druck und gleicher Temperatur die gleiche Anzahl von A t o m e n enthalten, dass also mit anderen Worten das V o l u m e n v e r h ä l t n i s chemisch miteinander reagierender gasförmiger Elemente direkt das Z a h l e n v e r h ä l t n i s der dabei in Reaktion tretenden A t o m e dieser
22
II. Atom und Molekül
Grundstoffe wiedergibt. Diese Annahme gleicher Teilchenzahl in gleichen Gasvolumina erklärte zugleich in zwangloser Weise das völlig gleichartige Verhalten der Gase gegenüber Druck-, Temperatur- und Volumenänderungen (vgl. weiter unten). Allerdings musste man dann gerade wegen dieses gleichartigen physikalischen Verhaltens aller Gase schließen, dass auch gasförmige Verbindungen ebenso wie gasförmige Elemente in gleichen Volumina gleich viele kleinste Teilchen enthalten, und das führte zu W i d e r s p r ü c h e n zwischen der Annahme eines atomaren Aufbaus der elementaren Gase und den bei chemischen Gasreaktionen be obachtbaren Volumenverhältnissen So zeigt z.B. die Bildung von 2 Volumina Chlorwasserstoff aus 1 Volumen Chlor und 1 Volumen Wasserstoff, dass sich je kleinstes Teilchen Wasserstoff und kleinstes Teilchen Chlor 2 kleinste Teilchen Chlorwasserstoff bilden. Da nun jedes Teilchen Chlorwasserstoff sowohl Wasserstoff wie Chlor enthalten muss, muss sich jedes Teilchen Wasserstoff und Chlor in zwei H ä l f t e n aufgespalten haben. Dann kann es sich aber bei diesen Teilchen des Wasserstoffs und Chlors nicht um die A t o m e handeln, da diese ja definitionsgemäß chemisch nicht mehr teilbar sind. Man wird daher, wenn man an der Vorstellung einer gleichen Zahl kleinster Teilchen in gleichen Gasvolumina festhalten will, zwangsläufig zu dem Schluss geführt, dass gleiche Volumina von Wasserstoff und Chlor nicht eine gleiche Anzahl von Atomen, sondern eine gleiche Anzahl größerer, mindestens aus zwei A t o m e n b e s t e h e n d e r Komplexe enthalten. Diese größeren Atomverbände nennt man „Moleküle"3 oder Molekeln. Der Begriff des Moleküls wurde im Jahre 1811 von dem italienischen Physiker Amedeo Avogadro (1776-1856) eingeführt. Nach ihm gilt der - heute als Avogadro'sches Gesetz bezeichnete - Satz Gleiche Volumina idealer Gase enthalten bei gleichem Druck und gleicher Temperatur gleich viele Moleküle. (Bezüglich idealer und realer Gase vgl. Zustandsgleichung idealer Gase.) Aus den Volumenverhältnissen bei der Chlorwasserstoffbildung folgt zunächst nur, dass ein Molekül Wasserstoff oder Chlor eine d u r c h 2 teilbare Anzahl von Atomen enthalten muss. Nun zeigt sich aber, dass es keine Reaktion gibt, bei der aus 1 Volumen Wasserstoff oder Chlor mehr als 2 Volumina eines gasförmigen, Wasserstoff bzw. Chlor enthaltenden Reaktionsproduktes gebildet werden. Es besteht daher kein G r u n d zur Annahme, dass das Wasserstoff- oder Chlormolekül mehr als zwei A t o m e enthält. Damit ergibt sich für die Chlorwasserstoffbildung das folgende Bild 1 Vol.
Wasserstoff
1 Vol.
Chlor
2 Vol.
Chlorwasserstoff
Die aus je zwei Atomen bestehenden Moleküle des Wasserstoffs und Chlors reagieren danach unter gegenseitigem Austausch von Atomen so miteinander, dass zwei aus je einem Wasserstoff- und Chloratom bestehende Chlorwasserstoffmoleküle entstehen. In analoger Weise kann eine „Reaktionsgleichung66 für die Hasser-Synthese abgeleitet werden. Die Bildung zweier Volumina Wasserdampf aus 2 Volumina Wasserstoff und 1 Volumen Sauerstoff zeigt, dass jedes S a u e r s t o f f m o l e k ü l aus mindestens zwei A t o m e n S a u e r s t o f f besteht. Da keine sonstige Reaktion bekannt ist, bei der aus 1 Volumen Sauerstoff mehr als 2 Volumina einer gasförmigen Sauerstoffverbindung entstehen, besteht keine Veranlassung, mehr als zwei Sauerstoffatome je Sauerstoffmolekül anzunehmen. Für den Wasserstoff folgt aus den Volumenverhältnissen der Wassersynthese kein zwingender Schluss zur Annahme eines mehr als einatomigen Aufbaus der kleinsten Wasserstoffteilchen. Denn da aus je 1 Teilchen Wasserstoff 1 Teilchen Wasser entsteht, wäre dem atomaren Aufbau des Wasserstoffs dann Genüge geleistet, wenn jedes Wassermolekül 1 Wasserstoffatom enthielte (wie man dies in der Tat eine Zeitlang annahm). Da nun aber die bei der Chlorwasserstoffsynthese be-
1. Atom- und Molekularlehre
23
obachtbaren Volumenverhältnisse, wie oben auseinandergesetzt, zur Annahme eines aus zwei A t o m e n bestehenden W a s s e r s t o f f m o l e k ü l s zwingen, muss man diesen Schluss auch hier zugrunde legen. Für die Synthese von Wasser kommt man somit zu der Gleichung: 2 Vol.
1 Vol.
2 Vol.
Wasserstoff
Sauerstoff
Wasserdampf
Danach besteht jedes Wassermolekül aus 2 Wasserstoffatomen und 1 Sauerstoffatom. Entsprechende Überlegungen ergeben für die Ammoniak-Synthese aus Wasserstoff und Stickstoff das folgende Bild: 3 Vol.
1 Vol.
2 Vol.
Wasserstoff
Stickstoff
Ammoniak
Jedes Ammoniakmolekül enthält danach 1 Stickstoffatom und 3 Wasserstoffatome. Für den laufenden Gebrauch ist die oben angewandte Schreibweise für Reaktionsgleichungen natürlich zu u m s t ä n d l i c h . Man ist daher zur Vereinfachung der Ausdrucksweise übereingekommen, die einzelnen Atomarten durch chemische „Kurzschriftzeichen" („Elementsymbole66) aus einem oder zwei Buchstaben zum Ausdruck zu bringen (vgl. hierzu auch Anh. VIII sowie Tafel II). So verwendet man für das Wasserstoffatom (empfohlener Name hydrogen) das Symbol H welches sich von hydrogenium (hydor/gennan (griech.) = Wasser/erzeugen) ableitet. Das Chloratom wird wegen der gelbgrünen Farbe von Chlorgas durch C1 symbolisiert (chloros (griech.) = gelbgrün), das Sauerstoffatom (empfohlener Name oxygen) wegen seines Vorkommens in vielen Säuren durch O (oxys (griech.) = sauer), das Stickstoffatom (empfohlener Name nitrogen) als Zentralatom der Salpetersäure durch N (nitrum (lat.) = Salpeter) und das Kohlenstoff atom (empfohlener Name carbon) als Hauptbestandteil der Kohle durch C (carbo (lat.) = Kohle) Element- und Verbindungsmoleküle lassen sich nun in einfacher Weise durch „chemische Formeln66 zum Ausdruck bringen, indem man das Symbol bzw. die a n e i n a n d e r gereihten Symbole der in den betreffenden Molekülen enthaltenen Elemente angibt. Dabei pflegt man die Anzahl der in einem Molekül vorhandenen Atome eines Elements durch einen entsprechenden Z a h l e n i n d e x rechts unterhalb des Elementsymbols auszudrücken. Die ,,Reaktionsgleichungen" (3)-(6) v e r e i n f a c h e n sich damit wie folgt (vgl. hierzu S. 44): C 2H 3H 4H
2C
= 2HCl, = 2H20, 2N = 2CH 4
(vgl. Anm. 4 ).
Die aus den Massen- und Volumenverhältnissen bei chemischen Reaktionen abgeleitete Atom- und Molekularlehre gestattet, die im ersten Kapitel behandelten Begriffe des heterogenen und homogenen Stoffs, der Lösung und des reinen Stoffs, der Verbindung und des Elements
4
Bei festen Stoffen wie Kohlenstoff verzichtet man auf die Angabe der Molekülgröße. Dass bei der Methanbildung 2 Atome Kohlenstoff mit 4 Molekülen Wasserstoff in Reaktion treten, weiß man gemäß der weiter unten geschilderten Methode der relativen Atommassenbestimmung
24
III. Atom- und Molekülion
wie folgt etwas strenger zu definieren (zum Aufbau der Elemente aus Rein- und Mischelementen vgl. Isotope): I. Heterogene Stoffe II. Homogene Stoffe 1. Lösungen 2. Reine Stoffe a) Verbindungen b) Elemente
Stoffaufbau aus verschiedenen Phasen. Stoffaufbau aus einer einzigen Phase. Phasenaufbau aus verschiedenen M o l e k ü l a r t e n . Phasenaufbau aus einer einzigen M o l e k ü l a r t . Molekülaufbau aus verschiedenen A t o m a r t e n . Molekülaufbau aus einer einzigen A t o m a r t .
Entsprechend diesem verschiedenen Aufbau sind die verschiedenen Stoffarten verschieden charakterisiert Heterogene Stoffe können jede beliebige Zusammensetzung haben und weisen die charakteristischen chemischen und physikalischen Eigenschaften ihrer Bestandteile auf. So findet man z. B. im Schwarzpulver die Eigenschaften seiner Bestandteile Schwefel, Kohle und Salpeter wieder; und durch Variieren des Mischungsverhältnisses von Schwefel, Kohle und Salpeter lassen sich beliebig viele Sorten von Schwarzpulver erzeugen. Demgegenüber zeigen Lösungen teils die Eigenschaf ten ihrer Bestandteile, teils neue Eigenschaften; häufig ist ihre Zusammensetzung nur innerhalb mehr oder minder weiter Grenzen variabel. So unterscheidet sich z. B. eine aus Chlorwasserstoffgas und Wasser bestehende wässerige Salzsäurelösung bereits in manchen chemischen und physikalischen Eigenschaften weitgehend von denen ihrer Bestandteile; auch gelingt es nicht, Lösungen jeder beliebigen Chlorwasserstoffkonzentration herzustellen, da dem Mischungsverhältnis durch die Löslichkeit des Chlorwasserstoffs in Wasser eine Grenze gesetzt ist Verbindungen schließlich sind in ihren Eigenschaften vollkommen verschieden von denen ihrer Bestandteile und besitzen eine durch den Molekülaufbau gegebene genau definierte Zusammensetzung. So sind die Eigenschaften des Wassers völlig anders als die seiner elementaren Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff, und seine Zusammensetzung entspricht stets dem Gewichtsverhältnis Wasserstoff: Sauerstoff = 1 : 7.936 (s. oben).
1.3
Wahl einer Bezugsgröße für die relativen Atomund Molekülmassen
1.3.1
Stoffmengen
Die durch Studien der Volumenverhältnisse bei chemischen Reaktionen (s. oben) erschlossenen ,,chemischen Formeln" HCl, H 2 0 , NH 3 und CH 4 für Chlorwasserstoff, Wasser, Ammoniak und Methan gestatten in Verbindung mit den bei ihrer Bildung aus den Elementen aufge fundenen Massenverhältnissen nunmehr eine eindeutige Festlegung der auf eine willkürliche Einheit bezogenen (dimensionslosen) „relativen Atommassen" (früher: „Atomgewicht") der enthaltenen Elemente Wasserstoff, Chlor, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff. Damit kommen wir zur Lösung jenes Problems, das auf Grund der Massenverhältnisse allein nicht lösbar war Das Wasser H 2 0 enthält nach der Analyse auf je 1 g Wasserstoff 7.936 g Sauerstoff. Also ist ein Sauerstoffatom 7.936 mal schwerer als zwei Wasserstoffatome. Setzt man daher die Atommasse des Wasserstoff willkürlich gleich1 fest (J. Dalton, 1805), so ist dem Sauerstoff die „relative" - d.h. auf die willkürlich gewählte Einheit H = 1 bezogene - Atommasse 2 x 7.936 = 15.872 zuzuordnen. In gleicher Weise ergeben sich aus den Massenverhältnissen und Formeln des Chlorwasserstoffs, Ammoniaks und Methans die relativen Atommassen 35.175 bzw. 3 x 4.632 = 13.896 bzw.4x2.979 = 11.916 für Chlor, Stickstoffund Kohlenstoff. Im Laufe der Zeit erwies es sich nun als zweckmäßig, nicht den Wasserstoff, sondern den Sauerstoff zur Vergleichsbasis für relative Atommassen zu wählen, da die Atommasse der
1. Atom- und Molekularlehre
25
Tab. 1 Relative Atommassen. bezogen auf (Dalton 1805) Wasserstoff Chlor Sauerstoff Stickstoff Kohlenstoff
1.000 35.175 15.872 13.896 11.916
1
bezogen auf (Stas 1865) 1.008 35.457 16.000 14.008 12.011
16
bezogen auf 12C = 12 (IUPAC 1961) 1.008 35.453 15.999 14.007 12.011
meisten Elemente nicht aus der Zusammensetzung der Wasserstoffverbindungen, sondern aus der Zusammensetzung der zahlreicher vorkommenden Sauerstoffverbindungen ermittelt wird. Man setzte zu diesem Zwecke die Atommasse des Sauerstoffs willkürlich gleich 16 fest (J.S. Stas, 1865; allgemein angenommen seit 1905). Denn 16 ist die ganze Zahl, die dem ursprünglich auf H = 1 bezogenen Wert 15.872 für Sauerstoff am nächsten kommt. Später stellte sich dann heraus, dass der Sauerstoff kein aus lauter gleichschweren Atomen bestehendes „Reinelement", sondern ein aus Atomarten („Isotopen", s. dort) verschiedener Masse zusammengesetztes „Mischelement" darstellt. Da die Chemiker die Atommassen auf dieses Isotopengemisch als Bezugsbasis 16, die Physiker aber auf das zu 99.759% darin enthaltene leichteste Isotop als Bezugsbasis 16 bezogen, differierten die beiden Atommassenskalen ein wenig (um den Faktor 1.000 275) voneinander. Zur Beseitigung dieser Differenz beschloss die Internationale Atommassenkommission der IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry) im Jahre 1961, die Atommassen einheitlich auf das zu 98.893 % im Kohlenstoffenthaltene leichteste Kohlenstoffisotop der Masse 12 C; vgl. Isotope) als Bezugsbasis 12 zu beziehen (chemischer Wert für dieses Isotop bis 1961: 12.000 52, physikalischer Wert: 12.003 82). Dadurch wurden die beiden Skalen identisch, ohne dass sich die bis dahin gebrauchten chemischen und physikalischen Zahlenwerte der Atommassen wesentlich änderten (Division der alten Werte durch 1.000 043 bzw. 1.000 318). Wasserstoff besitzt nunmehr, auf eine Atommasse 12 des Kohlenstoffisotops 12 C bezogen, die Atommasse A r (H) = 1.008, Chlor die Atommasse^ r (Cl) = 35.453, Sauerstoff die Atommasse^ r ( 0 ) = 15.999, Stickstoff die Atommasse ^ r ( N ) = 14.007 und Kohlenstoff die Atommasse ^ r (C) = 12.011 (Tab. 1; bezüglich genauester relativer Atommassen vgl. Tafel II). Wie aus Tafel II hervorgeht, variiert die Genauigkeit der relativen A tommassen beträchtlich. Sie erstreckt sich von 1 Stelle nach dem Komma wie bei Pb bis hin zu 7 Stellen nach dem Komma wie bei F. Genaue Werte für sind von allen Reinelementen bekannt, während die Bestimmung von At für Mischelemente teils auf experimentelle Schwierigkeiten stoßen kann (falls die Zahl der Elementisotope groß ist), teils auf prinzipielle (falls Schwankungen der relativen Isotopenhäufigkeit vorliegen). Näheres vgl. S. 67.
Addiert man die relativen Massen der in einem Molekül eines Elements oder einer Ver bindung enthaltenen Atome, so erhält man die „relative Molekülmasse66 M r (früher ,,Molekulargewicht"). Wasserstoff, Chlor, Sauerstoff und Stickstoff haben demnach, bezogen auf 12 C = 12, die relativen Molekülmassen M r (H 2 ) = 2 x 1.008 = 2.016 bzw. M r (Cl 2 ) 35.453 70.906 bzw (0 15.999 31.998 bzw (N 14.007 = 28.014, Chlorwasserstoff, Wasser, Ammoniak und Methan die relativen Molekülmassen (HCl 1.008 35.453 36.461 bzw (H 0 ) 1.008 15.999 18.015 bzw M r (NH 3 ) = 3 x 1.008 + 14.007 = 17.031 bzw. M r (CH 4 ) = 4 x 1.008 +12.011 = 16.043. Bei Verbindungen, bei denen man wie z.B. im Falle von Kohlenstoff C, Kupfer Cu, Quarz Si0 2 oder Steinsalz NaCl wegen ihres h o c h a t o m a r e n A u f b a u s auf eine Angabe der Molekülgröße verzichtet, bezeichnet man die den vereinfachten Molekülformeln (,,Substanzformeln", ,,analytische Formeln") entsprechenden relativen Molekülmassen besser als „relative Formelmassen" (früher „Formelgewicht").
Die den relativen Atom- bzw. Molekülmassen chemischer Stoffe numerisch entsprechenden Gramm-Mengen, die man früher als „1-Gramm-atom" bzw. ,,1-Gramm-molekül" bezeichne-
26
III.Atom-und Molekülion
te 5 , enthalten ableitungsgemäß (vgl. Massen- und Volumengesetze) jeweils die gleiche, der Avogadro'schen Zahl Z A (vgl. S. 42) entsprechende Anzahl Atome bzw. Moleküle. Man definiert nun eine „Stoffmenge" mit Z A Teilchen als Stoffmenge „1 Mol" dieser Substanz: „ 1 Mol einer Substanz ist die Stoffmenge eines Systems (Materiebereichs), die aus ebensoviel (ZA) kleinsten Teilchen besteht, wie Kohlenstoffatome in genau 12 g des Kohlenstoffisotops ^ C enthalten sind". Das Symbol für Mol ist ,,mol", die Anzahl Mole wird mit ,,«" bezeichnet. Die auf die Stoffmenge 1 Mol bezogene Atom- bzw. Molekülmasse wird als „molare6 Masse" M eines Stoffes bezeichnet (Einheit: g/mol bzw. auch kg/mol): m M =n
, N (7)
(m = Masse in g oder kg,« = Menge in mol des Stoffs). Sie entspricht numerisch der relativen Atom- bzw. Molekülmasse des betreffenden Stoffs. Die molare Masse von Wasserstoffatomen, Chloratomen, Wassermolekülen oder Ammoniakmolekülen (Ax bzw. M r = 1.008, 35.453, 18.015 oder 17.031; s. oben) beträgt mithin: M ( H ) = 1.008 g/mol, M(Cl) = 35.453 g/mol, M ( H 2 0 ) = 18.015 g/mol bzw. M ( N H 3 ) = 17.031 g/mol. Mithin haben gemäß Beziehung (7) 1 mol H, 1 mol Cl, 1 mol H 2 0 bzw. 1 mol N H 3 eine Masse (früher ,,Molmasse") von m = n- M = \xM = 1.008 g, 35.435 g, 18.015 g bzw. 17.031 g. Die Einheit Mol bezieht sich nicht nur auf Stoffsysteme, deren Einzelteilchen Atome bzw. Moleküle sind. Die Einzelteilchen können ebensogut Ionen (s. dort), Elementarteilchen (s. dort), Photonen (s. dort) bzw. andere Teilchen oder Gruppen solcher Teilchen genau angegebener Zusammensetzung sein. So versteht man z. B. unter 1 mol Luft (78.09 mol% N 2 ,20.95 % 0 2 ,0.93 % Ar, 0.03 % C0 2 ) eine Luftmenge, die eine Masse von [78.09 x 28.013 +20.95 x 31.999 +0.93 x 39.948 +0.03 x 44.010] : 100 = 28.964 g hat. Analog entspricht 1 mol Hg 2 + einer Masse von 401.18 g, 1 mol einer Masse von 96.062 g, 1 mol Elektronen einer Masse von 5.486 x 10~4 g, 1 mol Protonen einer Masse von 1.007 g, 1 mol CH 3 Radikale einer Masse von 15.035 g, 1 mol CuZn einer Masse von 128.923 g, 1 mol Fe 0 9 S einer Masse von 82.885 g. '
1.3.2
Äquivalentmengen
Dividiert man die ,,molare Masse" oder allgeiner die ,,molare Formelmasse" (s. oben) eines Stoffteilchens durch die „Atomwertigkeit11, worunter vorerst die Anzahl von H-Atomen verstanden sein soll, die ein betrachtetes Atom A des Stoffteilchens (z. B. AB„) binden kann oder nach Ersatz anderer mit A verknüpfter Atome oder Atomgruppen B durch H-Atome gebunden hätte (Näheres S. 132), so erhält man die so genannte „relative Äquivalentmasse" (früher Äquivalentgewicht), d. h. die auf eine Wertigkeitseinheit entfallende relative Aqmvalentmasse =
5
6
relative Formelmasse . Wertigkeit
(8)
Gemäß dem Internationalen Einheitensystem („Systeme International d'Unites", kurz SI; vgl. Anhang II) sollen beide Bezeichnungen nicht mehr verwendet werden. Ihre früher üblichen Abkürzungen („Tom", „Mol") d ü r f e n n i c h t mehr gebraucht werden, da ihnen heute eine andere Bedeutung zukommt (vgl. obigen Text). Unter einer „spezifischen" Größe („spezifische Wärme", „spezifisches Volumen" usw.) versteht man nach internationaler Übereinkunft eine auf die Einheit der Masse (1 g), unter einer „molaren" Größe (,,molare Wärme", ,,molares Volumen" usw.) eine auf die Einheit der Stoffmenge (1 mol) bezogene Größe. Beide Größen hängen durch die Beziehung spezifische Größe x molare Masse = molare Größe miteinander zusammen. Da sich die spezifischen Größen auf u n t e r s c h i e d l i c h e Teilchenzahlen, die molaren Größen dagegen auf die g l e i c h e n Teilchenzahlen beziehen, treten Gesetzmäßigkeiten erst bei den molaren Größen zutage (z.B. gleiches molares Volumen der Gase bei den Normalbedingungen). Die früher gebrauchte Größe des ,,spezifischen Gewichts", unter der man das Gewicht der Volumeneinheit (1 c m ) verstand, ist nach der obigen Festlegung keine spezifische Größe, weshalb man dafür den Ausdruck ,,Dichte" ( = Masse der Volumeneinheit: g/cm 3 ) verwendet. Auch die gebräuchliche Bezeichnung ,,n-molare Lösung" ist, da es sich hierbei nicht um eine Stoffmenge, sondern volumenbezogene Größe handelt, strenggenommen falsch.
1. Atom- und Molekularlehre
27
Da die Wertigkeit in Gleichung (8) auch durch die Äquivalentzahl z ausgedrückt wird, gilt, dass eine ,,Äquivalentmenge66 gleich dem z-ten Teil einer Stoffmenge entspricht. Numerisch mit der Äquivalentmasse stimmt die „molare Äquvalentmasse66 (früher ,,1 Grammäquivalent" oder kurz ,,1 val") überein. Unter einem ,,Aquivalentteilchen" (kurz ,,Äquivalent66) versteht man den (gedachten) Bruchteil 1 / z eines Stoffteilchens. So entspricht 1 mol Äquivalent x / z mol Stoffteilchen und 1 mol Stoffteilchen gleich z mol Äquivalent. Die relativen bzw. molaren Äquivalentmassen von O- oder N-Atomen betragen z. B. bei Bezug auf deren aus H 2 0 oder NH 3 abzuleitenden Atomwertigkeit 15.9994:2 = 7.9997 bzw. 7.9997 g oder 14.0067: 3 = 4.6689 bzw. 4.6689 g und von S- oder N-Atomen bei Bezug auf deren aus S O oder N 0 2 abzuleitenden Atomwertigkeit (jeweils Ersatz von O durch 2H) 32.066:6 = 5.344 bzw. 5.344 oder 14.0067: 3.5017 bzw. 3.5017 g. Die molare Masse eines S0 3 -Äquivalents beträgt somit 5.334g/mol; auch ist die S 0 -Äquivalentmenge zahlenmäßig sechsmal größer als eine vorgegebene S 0 -Stoffmenge An die Stelle der Wertigkeit in Gleichung (8) setzt man nicht nur die ,,Atomwertigkeit" (,,Bindigkeit", S. 132), sondern auch die ,,Ionenwertigkeit" (S. 121), die ,,Metallwertigkeit" (S. 114), die ,,Gesamtwertigkeitt" oder die ,,Oxidationsstufe" (S. 152). Da einem Stoffteilchen mehrere Wertigkeiten (Äquivalentzahlen) sowohl unterschiedlichen als auch gleichartigen Typs zukommen können, weist es dementsprechend vielfach mehrere relative bzw. molare Äquivalentmassen auf (als Äquivalentzahlen werden auch Differenzen von Wertigkeiten eines Typs wie etwa ,,Oxidationsstufendifferenz" (S. 220) in Gl. (8) eingesetzt). Die molaren Äquivalentmassen erweisen sich insbesondere bei stöchiometrischen Berechnungen von SäureBase, Redox- bzw. Ionenreaktion als sehr nützlich.
1.3.3
Stoff- und Äquivalentkonzentrationen
Unter der ,,Stoffmengenkonzentration66 c (kurz ,,Konzentration66) versteht man die A n z a h l Mole eines Stoffsje Liter (Symbol: mol/l). Befinden sich also z. B. 4g H 2 in 2 Litern Gasraum, so ist die Konzentration cH des Wasserstoffs gleich 1 (d.h. gleich 1 mol = 2 g H 2 je l). Statt durch das Symbol cAB pflegt man die Konzentration eines Stoffs AB auch durch die Schreibweise [ A B auszudrücken. Eine Lösung, die n mol Substanz je Liter enthält, nennt man ,,n-molare Lösung"6. Befinden sich demgemäß 4 mol HCl in 21 Wasser, so liegt eine 2-molare (kurz: 2 M) Chlorwasserstofflösung vor. Zu unterscheiden von der Konzentration (früher auch ,,Molarität6^ cAB eines Stoffs AB (in mol pro Liter Lösung) ist die ,,Molalität66 mAB eines Stoffs, worunter man die A n z a h l Mole eines Stoffsje K i l o g r a m m (Symbol: mol/kg) versteht. Eine ,,n-molale Lösung" (kurz: n m Lösung) enthält « mol Substanz je K i l o g r a m m Lösungsmittel. Da sich das Volumen einer Lösung, nicht dagegen die Masse des Lösungsmittels mit der Temperatur ändert, ist die Konzentration eines gelösten Stoffs zum Unterschied von der Molalität temperaturabhängig
Unter der ,,Äquivalentkonzentration66 (früher „Normalität") eines gelösten Stoffes versteht man den Quotienten aus der Äquivalentmenge (in mol) und dem Volumen (in Liter) der Lösung. Lösungen, die je Liter ein 1 mol Äquivalent enthalten, werden als 7-normale Lösungen bezeichnet In einer 1-normalen Nitrat- oder Carbonat-Lösung sind demnach 62.0049: 1 = 62.0049 g N 0 3 oder 60.0094: 2 = 30.0047 g C 0 | ~ gelöst (Bezug auf die Ionenwertigkeit). Unter einer 1-normalen Säure oder Base versteht man eine Säure- oder Baselösung, die je Liter 1 mol H + - oder 0 H - I o n e n zu bilden imstande ist (vgl. S.240 bezüglich Säuren und Basen). Eine 1-normale Phosphorsäurelösung enthält demnach 97.9953 :3 = 32.6651 g H 3 P 0 4 , eine 1normale Calciumhydroxidlösung 74.10:2 = 37.05 g Ca(0H) 2 je Liter.
28
III. Atom- und Molekülion
2
Atom- und Molekülmassenbestimmung
2.1
Bestimmung relativer Molekülmassen
Die Bestimmung relativer Molekülmassen von Stoffen erfolgt bevorzugt im g a s f ö r m i g e n odergelösten Zustand. Und zwar ermittelt man auf dem Wege der nachfolgend beschriebenen Methoden die Molzahl« der Moleküle, aus der der zu untersuchende Stoff mit der gegebenen Masse m (bestimmt durch Wägung) besteht. Mittels der Beziehung M = mfn (vgl. vorausgehenden Abschnitt, Gl. (7)) folgt dann die m o l a r e Masse der betreffenden Verbindung, deren Zahlenwert gleich der relativen M o l e k ü l m a s s e ist. (Vgl. auch Bestimmung relativer Molekülmassen mittels der Massenspektrometrie bzw. Dialyse; S. 75 und 928).
2.1.1
Gasförmige Stoffe
Die im vorstehenden Abschnitt erfolgte Festlegung einer bestimmten Bezugseinheit für die relativen Molekülmassen vereinfacht sehr die Molekülmassenbestimmung von Gasen. Jedes M o l einer Verbindung oder eines Elements enthält definitionsgemäß gleichviele Moleküle. Nun sind nach der Avogadro'schen Hypothese in gleichen Volumina idealer Gase (s. unten) bei gleicher Temperatur und gleichem Druck gleich viele Moleküle und damit auch gleich viele Mole enthalten. Somit nehmen umgekehrt auch gleiche Molmengen idealer Gase bei gegebenem Druck und gegebener Temperatur unabhängig von der Art des Gases gleiche Volumina ein. Und zwar beträgt bei den „Normalbedingungen" 0 °C und 1.013 bar - das von 1 mol eines Gases eingenommene Volumen stets 22.414 Liter („molares Gasvolumen" Vm; früher als Molvolumen bezeichnet; für 0°C und 1 bar beträgt das Gasvolumen 22.711 l/mol). Die relative Molekülmasse eines idealen Gases ergibt sich damit sehr einfach als Zah lenwert der Masse von 22.414 Litern dieses Gases bei den Normalbedingungen. Es ist zur relativen Molekülmassenbestimmung eines Gases nun nicht erforderlich, stets gerade 22.4141 bei 0 °C und 1.013 bar abzuwiegen. Denn mithilfe der ,,Zustandsgleichung der Gase" lässt sich auch für ein unter anderen Druck- und Temperaturverhältnissen gemessenes beliebiges Gasvolumen von bekannter Masse die Anzahl enthaltener Gasmole angeben sodass auf 1 mol umgerechnet werden kann. Wir wenden uns daher zunächst der Zustandsgleichung der Gase zu Zustandsgleichung idealer Gase Ein Gas besteht aus einer sehr großen Zahl von Molekülen, die mit g r o ß e r Geschwindigkeit und völlig regellos in dem ihnen zur Verfügung stehenden Raume herumschwirren 7 (vgl. unten), wobei sie gleichzeitig um ihre eigene Achse rotieren und innere Schwingungen ausführen (vgl. spezifische Wärme). Infolge ihrer ungeordneten Bewegung prallen sie häufig sowohl g e g e n e i n a n d e r wie auch gegen die W ä n d e des einschließenden Gefäßes und werden dabei unter Anderung von Richtung und Geschwindigkeit wie elastische Billardkugeln zu r ü c k g e w o r f e n . Die Wirkung der Stöße auf die Wandungen erscheint uns als der „Druck" des Gases Denken wir uns die eine Wand des Gefäßes (Fig. 13 a) beweglich, so wird sich diese, dem Druck nachgebend, nach oben bewegen. Um sie in ihrer Lage zu halten, müssen wir sie mit einem ganz bestimmten Gewicht G belasten. Das Gegengewicht muss dabei - wenn Volumen, Temperatur und Gasmenge gegeben sind - umso g r ö ß e r sein, je g r ö ß e r die Fläche des beweglichen Stempels, d. h. die je Zeiteinheit darauf prallende Zahl von Molekülen und damit die darauf ausgeübte G e s a m t k r a f t des Gases ist. Zu einem charakteristischen kon7
Geschichtliches Der Name ,,Gas" wurde von dem belgischen Chemiker J. B. van Helmont im 17. Jahrhundert geprägt: chaos (griech.) = Durcheinander, Unordnung.
2. Atom- und Molekülmassenbestimmung
29
bewegliche Wand
Fig. 13 Messung des Drucks eines Gases. (a)
(b)
stanten Wert kommt man unter den gegebenen Bedingungen nur dann, wenn man das Gewicht auf eine b e s t i m m t e Fläche, z.B. auf die F l ä c h e n e i n h e i t - 1 c m - bezieht. Diese auf 1 c m Wandfläche wirkende Kraft eines Gases nennt man im engeren Sinne den Gasdruck p. Er lässt sich experimentell am einfachsten in der Weise messen, dass man als Gegengewicht eine Flüssigkeit von b e k a n n t e r Dichte verwendet. Denn dann genügt gemäß Fig. 13b die Messung der H ö h e h (cm) der erforderlichen Flüssigkeitssäule in einem ,,Manometerrohr" (,,Barometerrohr"), da diese mit der Dichte (g/cm3) multipliziert direkt den Gasdruck (g/cm2) ergibt. Als Flüssigkeit verwendet man meist Quecksilber (Dichte = 13.595 g / c m bei 0°C). Den Druck gibt man dabei in mm Quecksilbersäule („Torr", benannt nach dem italienischen Physiker und Mathematiker Evangelista Torreli, 1608-1647) an: 760 mm = 760 Torr = 1 Atmosphäre = 1.013 250 bar = 101325.0 Pascal (vgl. Anh. II) entsprechen hierbei der Masse von 76 x 13.595 = 1033.23 g Quecksilber.
Führt man dem Gas W ä r m e (,,thermische8 Energie") zu, indem man seine Temperatur um einen bestimmten Betrag erhöht, so erhöht sich die Bewegungsenergie (,,kinetische8 Energie") der Gasteilchen. Hält man dabei das Volumen des Gefäßes konstant, so wächst dementsprechend der auf die Wände ausgeübte Druck. Hält man umgekehrt den Außendruck konstant, so wird der bewegliche Stempel gehoben, d.h. das Volumen vergrößert. D r u c k und Volumen sind also von der Temperatur abhängig. Die q u a n t i t a t i v e Prüfung dieser Abhängigkeit ergab die Beziehung p- V = k> (273.15 +tc),
(1)
wonach das Produkt der Maßzahlen/? und V für Druck und Volumen der um 273.15 vermehrten Celsiustemperatur £c proportional ist.
8
thermos (griech.) = warm; kinein (griech.) = bewegen (vgl. Kino).
30
III. Atom- und Molekülion
Zeichnet man diese Funktion grafisch auf, d.h. trägt man das Produkt p • V in seiner Abhängigkeit von der Größe (273.15 + tc) in ein Koordinatensystem ein (Fig.14), so erhält man eine Gerade, die beim Temperaturpunkt tc = — 273.15°C (entsprechend 273.15 +tc = 0) die Abszisse schneidet (p • V = 0). Durch das Gasgesetz (1) wird also eine Temperaturskala definiert, deren Nullpunkt A (,,absoluter Nullpunkt") um 273.15 Celciusgrade tiefer als der Nullpunkt B der - willkürlich festgelegten - Celsiusskala liegt. Man ist übereingekommen, diese durch das Gasgesetz geforderte Temperatur 273.15 + tc „absolute Temperatur66 (,,Kelvin-Temperatur") zu nennen und durch das Zeichen T zu symbolisieren. Damit vereinfacht sich die Gasgleichung (1) zu der Form ,
(2)
wonach das P r o d u k t p • V der a b s o l u t e n T e m p e r a t u r T p r o p o r t i o n a l ist. Der Proportionalitätsfaktor fc dieser Beziehung (2) ist keine universelle K o n s t a n t e , sondern von M asse und A r t des betrachteten Gases abhängig. Denn bei konstantem Volumen und konstanter Temperatur ändert sich natürlich der Druck und damit die Konstante bei gegebenem Gas mit dessen Masse und bei gegebener Masse mit der Natur des Gases Eingehende Untersuchungen haben ergeben, dass fc ganz allgemein der A n z a h l Mole n eines betrachteten Gases p r o p o r t i o n a l ist: ,
(3)
wobei der neue Proportionalitätsfaktor i? für alle Gase denselben Wert besitzt und daher ,,universelle Gaskonstante66 genannt wird Die durch Gleichung (3) wiedergegebene experimentelle Beobachtung besagt, dass die Konstante k und damit nach (2) auch der D r u c k p eines Gases von gegebener Temperatur T und gegebenem Volumen V nur von der Zahl (Z), nicht aber von der Art (z.B. der Masse) der Gasmoleküle abhängt. Schwere Gasmoleküle üben mit anderen Worten den gleichen Druck auf die Wände eines Gefäßes aus wie eine gleiche Anzahl leichter Moleküle. Dies ist aber nur dann möglich, wenn die schweren Gasmoleküle im Mittel eine kleinere - und zwar der Quadratwurzel aus der Masse m umgekehrt proportionale Geschwindigkeit D aufweisen als die leichteren, sodass die kinetische Energie (mv2)/2 in beiden Fällen die gleiche ist („Gesetz der Gleichverteilung der Energie66). Beispielsweise besitzen bei 20 °C die leichten Wasserstoffmoleküle eine mittlere Geschwindigkeit von 1760 m/s (6336 km/Stunde), die 16 mal schwereren Sauerstoffmoleküle dagegen eine |/76 = 4-mal kleinere Geschwindigkeit von 440 m/s (1584 km/Stunde). Dieses Gleichverteilungsgesetz bezieht sich allerdings nur auf die m i t t l e r e kinetische Energie der Gasmoleküle. Die Energie der einzelnen Moleküle kann weitgehend von diesem Mittelwert abweichen, da als Folge der ständigen Energieübertragung von Molekül zu Molekül bei Zusammenstößen sich mitunter bei einzelnen Molekülen besonders hohe E n e r g i e b e t r ä g e ergeben (,,sehr heiße" Moleküle), während a n d e r e entsprechend energieärmer sind. Und zwar gilt nach J.C. Maxwell (1831-1879) und L. Boltzmann (1844-1906) unter gewissen vereinfachenden Voraussetzungen die Gesetzmäßigkeit, dass der Bruchteil von Molekülen, deren Energiegehalt den Betrag £ a je Mol überschreitet, gleich e ~ E ^ R T ist. In Fig. 15 ist die hieraus folgende Verteilung der Geschwindigkeit („Maxwell'sche Geschwindigkeitsverteilung66) über verschiedene Geschwindigkeitsstufen Au (von je 10 m/s Breite) am Beispiel des Sauerstoffs (bei 0 und bei 100 °C) wiedergegeben. Wie das Diagramm zeigt, haben bei einer gegebenen Temperatur die weitaus meisten Moleküle eine in der Umgebung der m i t t l e r e n Geschwindigkeit liegende Geschwindigkeit. Die Zahl der mit großer Geschwindigkeit begabten, besonders energiereichen Moleküle ist sehr gering und nimmt mit steigender Temperatur im Verhältnis zu der der anderen Moleküle zu
Die durch Einführung der Beziehung (3) in Gleichung (2) entstehende neue und nunmehr allgemeingültige Gasgleichun p- V =
n•R•T
(4)
heißt „allgemeine Zustandsgleichung idealer Gase66. In ihr hat R, wenn m a ^ in Bar V in Liter, « in Mol und T in Kelvin ausdrückt, den Zahlenwert 0.083145 l b a r m o l ^ K - 1 ( = 0.082058 l a t m m o l ^ K - 1 ) . Die Dimension von R ist [Energie]/([Kelvin] x [mol]), weil
p - V die Dimension Energie besitzt [Druck] x [Volumen] = ([Kraft]/[Fläche]) x [Volumen] = [Kraft] x [Länge] = [Energie]. Drückt man die Konstante R in Joule, Kelvin und Mol aus, so besitzt sie den Wert 8.3145 J m o l _ 1 K _ 1 . Bezieht man die Gaskonstante statt auf 1 mol Moleküle auf 1 Molekül, indem man sie durch die Avogadro'sche Konstante NA (Dimension mol~i; S. 42), also die Anzahl der Moleküle eines Mols dividiert, so erhält man die „Boltzmann'sche Konstante" ÄB = 1.380658 x 10" 2 3 J/K (R = kB-NA). Die allgemeine Z u s t a n d s g l e i c h u n g idealer Gase gilt, wie schon der Name besagt, nur für,,ideale Gase", d.h. solche Gase, deren Moleküle praktisch keinen gegenseitigen Anziehungskräften unterliegen und daher im Gasraum völlig frei beweglich sind (vgl. auch unten, 2.1.2). Bei ,,realen Gasen", für die diese Voraussetzung nicht zutrifft, muss die Zustandsgleichung durch K o r r e k t i o n s g l i e d e r ergänzt werden (vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie). Tatsächlich existiert strenggenommen kein ideales Gas; doch zeigen viele Gase nahezu ideales Verhalten, insbesondere wenn sie unter niedrigem Druck stehen und bei Temperaturen weit oberhalb ihres Siedepunktes untersucht werden. So weichen die molaren Volumina realer Gase bei den Normalbedingungen vielfach von dem, durch die Gasgleichung (4) festgelegten Volumen idealer Gase (Vm = 22.414mol/l) nur wenig ab, z.B. H 2 : 22.43 l/mol; N 2 : 22.40 l/mol; 0 2 : 22.39 l/mol; HCl: 22.25 l/mol; NH 3 : 22.08 l/mol. Das „reale" Verhalten eines Gases zeigt sich - abgesehen davon, dass sein molares Volumen vom Idealwert etwas abweicht - z.B. auch darin, dass seine Expansion mit einer Abkühlung verbunden ist, auch wenn keine äußere Arbeit geleistet wird, da bei der Ausdehnung Arbeit gegen die gegenseitigen Anziehungskräfte der Gasmoleküle aufgewendet wird. Die zur Leistung dieser ,,inneren Arbeit" erforderliche Energie, die ja nach dem Gesetz von der Erhaltung der Energie irgendeinem Energievorrat entstammen muss, wird dem W ä r m e i n h a l t des Gases entnommen (vgl. Verflüssigung der Luft).
Erwähnt sei, dass die Zustandsgleichung (4) eine Reihe von Teilgesetzen enthält, die sich aus ihr durch Konstanthalten einzelner Größen ergeben. Die bekanntesten dieser Teilgesetze sind Das „Boyle-Mariotte'sche Gesetz": Das Produkt aus Druck p und Volumen V einer bestimmten Gasmenge (n = konstant) ist bei gegebener Temperatur (T = konstant) konstant: p-V= (nRT) = a. Das „Gay-Lussac'sche Gesetz": Bei gegebenem Volumen (V = konstant) ist der Druck p, bei gegebenem Druck (p = konstant) das Volumen V einer bestimmten Gasmenge (n = konstant) der absoluten Temperatur Tproportional:p = (nR/V) • T = b • T bzw. K = (nR/p) • T = c • T. Das „Avogadro'sche Gesetz66 (S. 26): Gleiche Volumina (V = konstant) idealer Gase enthalten bei gleichem Druck {p = konstant) und gleicher Temperatur (T = konstant) gleich viele Moleküle: n = (pV/RT).
32
III. Atom- und Molekülion
Methoden der Molekülmassenbestimmung Die Z u s t a n d s g l e i c h u n g (4) ermöglicht die Bestimmung der M o l z a h l « einer gegebenen Gasmenge. Bestimmt man gleichzeitig die Masse m dieser« Mole, so folgt die m o l a r e Masse M, deren Zahlenwert gleich der relativen M o l e k ü l m a s s e Mr ist, aus der Beziehung m M =-. n
, N (5)
Führen wir hierin den aus der Zustandsgleichung (4) folgenden Wert für « ein, so erhalten wir die Beziehung M =
m-R-T —, p- V
(6)
die es gestattet, aus 4Größen, nämlich dem D r u c k (p), dem Volumen (K), der T e m p e r a t u r (T) und der Masse (m) eines idealen Gases seine m o l a r e Masse (M) zu errechnen. Ist M(x) die molare Masse des Stoffs x, dessen relative Molekülmasse bestimmt werden soll und 1/12 M( 1 2 C) = 1 g/mol der zwölfte Teil der molaren Masse des Kohlenstoffisotops 12 C, so gilt: M r (x) = 12xM(x)/M( 1 2 C). Bei der praktischen Molekülmassenbestimmung geht man in allen Fällen von einer gegebenen Temp e r a t u r T aus. Bei den übrigen drei Größen p, V und m kann man insofern mit einer gewissen Willkür verfahren, als man zwei von ihnen vorschreibt und die dritte sich durch den Versuch von selbst einstellen lässt. Dementsprechend lassen sich die Methoden zur Bestimmung der relativen Molekülmassen von Gasen in drei Gruppen einteilen 1. /> und V sind vorgegeben, m stellt sich ein: Wägung eines bestimmten Gasvolumens V von bekanntem Druck bei gegebener Temperatur 2. /> und m sind vorgegeben V stellt sich ein: Volumenmessung einer bestimmten Gasmasse m von bekanntem Druck bei gegebener Temperatur 3. m und V sind vorgegeben, /> stellt sich ein: Druckmessung einer bestimmten Gasmasse m von bekanntem Volumen bei gegebener Temperatur
2.1.2
Gelöste Stoffe
Aggregatzustände der Materie Moleküle eines gegebenen Gases üben aufeinander A n z i e h u n g s k r ä f t e aus. Im gasförmigen, also stark verdünnten Zustande, in welchem die einzelnen Moleküle eine relativ große Entf e r n u n g voneinander aufweisen und sich in dauernder u n g e o r d n e t e r Bewegung befinden (s. oben, S.28), treten diese Anziehungskräfte naturgemäß um so weniger in Erscheinung, je größer die A b s t ä n d e zwischen den Molekülen und die molekularen Geschwindigkeiten (vgl. Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilung) sind. Da erstere mit steigender Verd ü n n u n g , letztere mit steigender T e m p e r a t u r zunehmen, verhält sich ein gegebener gasförmiger Stoff um so „idealer", je verdünnter und heißer er ist, und um so „realer", je mehr man ihn komprimiert und abkühlt Verkleinert man die E n t f e r n u n g e n zwischen den Molekülen eines gegebenen Gases durch K o m p r i m i e r e n oder die Bewegungsenergie der Gasteilchen durch A b k ü h l e n des Gases, so werden die A n z i e h u n g s k r ä f t e immer wirksamer. Bei einem bestimmten Druck oder bei einer bestimmten Temperatur verlieren schließlich die Moleküle, diesen Kräften folgend, sprunghaft einen Teil ihrer Energie. Auch jetzt schwirren die Teilchen noch ungeordnet umher; sie können sich aber - abgesehen von einer relativ geringen Anzahl besonders energiereicher Teilchen (vgl. Maxwell'sche Geschwindigkeitsverteilung) - unter dem Einfluss der gegenseitigen Anziehung nicht mehr wie vorher beliebig weit voneinander entfernen. Aus dem Gas ist eine energieärmere Flüssigkeit geworden, der man zwar noch jede beliebige äußere Form geben kann, die aber nicht mehr wie das Gas jedes ihr dargebotene Volumen auszufüllen
2. Atom- und Molekülmassenbestimmung
33
vermag. Die bei der Änderung des Aggregatzustandes abgegebene Energie wird als ,,Kondensationsenthalpie" frei (zum Begriff Enthalpie vgl. S.47). Die gleiche Energiemenge muss als ,,Verdampfungsenthalpie" zugeführt werden, um umgekehrt die Flüssigkeit wieder in Dampf zu verwandeln. Sie beträgt für Wasser 40.651 kJ/mol bei 100 °C. Verringert man die Bewegungsenergie der Moleküle durch erneute A b k ü h l u n g noch weiter, so nimmt der Energiegehalt bei einer bestimmten Temperatur unter dem Einfluss weiterer Kohäsionskräfte in derselben Weise nochmals s p r u n g h a f t - um den Betrag der „Erstarrungsenthalpie" - ab. Die Flüssigkeit erstarrt zum energieärmeren festen Stoff. Die Moleküle haben ihre freie Beweglichkeit eingebüßt, ihre W ä r m e b e w e g u n g besteht nur noch in einem p e n d e l a r t i g e n , elastischen Schwingen um bestimmte Ruhelagen. Die Materie besitzt in diesem Aggregatzustand daher eine b e s t i m m t e Gestalt. Die Anordnungsgesetze, denen die einzelnen Teilchen dabei unterliegen, finden ihren Ausdruck in der ,,KristallstrukturDas Eis bildet mindestens 9 solcher kristallisierter Modifikationen (mit kubischer, hexagonaler und rhombischer Symmetrie). Beim Schmelzen eines festen Stoffs muss die beim Erstarren freigewordene E r s t a r r u n g s e n t h a l p i e als ,,Schmelzenthalpie" wieder zugeführt werden. Sie beträgt beim Wasser 6.010 kJ/mol bei 0 °C. Zustandsdiagramme von Stoffen Jede Flüssigkeit und jeder feste Stoff hat bei gegebener Temperatur einen ganz bestimmten Dampfdruck). Schließt man z. B. irgendeine Flüssigkeit in ein Gefäß von bestimmtem Volumen ein (Fig. 16), so beobachtet man, dass sich der freie Raum über der Flüssigkeit bis zu einer bestimmten Konzentration mit dem Dampf der Flüssigkeit anfüllt. Ein Teil der durch die Anziehungskräfte innerhalb des Flüssigkeitsvolumens festgehaltenen Moleküle vermag also die Flüssigkeitsoberfläche zu verlassen. Das kommt daher, dass wie beim Gas (s. oben) so auch bei der Flüssigkeit nicht alle Moleküle gleiche kinetische Energie besitzen, sondern dass letztere um einen bestimmten M i t t e l w e r t schwankt. Nur den „heißeren", d.h. infolge von Zusammenstößen mit anderen Molekülen besonders energiereich gewordenen Molekülen ist der Übertritt in die Dampfphase möglich, da es nur diesen gelingt, die in der Grenzfläche wirksamen, zurücktreibenden Kräfte zu überwinden. Die in den G a s r a u m gelangten Moleküle fliegen nun regellos umher, prallen auf die Grenzflächen des einschließenden Raumes und üben damit auf diese einen D r u c k aus. Sie stoßen dabei natürlich auch auf die F l ü s s i g k e i t s o b e r f l ä c h e zurück und werden von dieser wieder eingefangen. Solange die Zahl der die Flüssigkeitsoberfläche verlassenden Teilchen größer als die der z u r ü c k k e h renden ist, findet in summa noch eine V e r d a m p f u n g statt. Sobald aber infolge dieser weiteren Verdampfung die Konzentration der Gasmoleküle so weit gestiegen ist, dass die Zahl der sich kondensierenden und der wieder verdampfenden Moleküle gleich geworden ist kommt der Verdampfungsvorgang n a c h a u ß e n hin zum Stillstand. Es herrscht jetzt mit Erreichung des ,,Sättigungsdampfdrucks66 dynamisches Gleichgewicht. Der S ä t t i g u n g s d a m p f d r u c k einer Flüssigkeit oder eines festen Stoffs ist für eine gegebene Temperatur eine K o n s t a n t e und unabhängig von der Größe der 0berfläche. Ist die 0berfläche doppelt so groß, so werden zwar doppelt so viele Moleküle die Grenzfläche verlassen, aber es werden bei gegebenem Dampf-
Dampf
Flüssigkeit
Fig. 16
:
•. Pflüss. •
. • Pfest. •. •.
Flüssigkeit
fester Stoff
—
Dampfdruck einer Flüssigkeit.
Fig. 17
Gefrier-(Schmelz-)punkt und Dampfdruck.
34
III.Atom-und Molekülion
druck auch doppelt so viele Gasmoleküle zurückkehren, da ja der Druck eines Gases definitionsgemäß die Kraft pro Flächeneinheit ist, die Kraft also, die durch die auf 1 c m Fläche aufprallende Zahl von Gasteilchen ausgeübt wird.
E r h ö h t man die T e m p e r a t u r der Flüssigkeit und damit die mittlere kinetische Energie der Flüssigkeitsteilchen, so vermag eine g r ö ß e r e A n z a h l von Molekülen die Flüssigkeitsoberfläche zu verlassen. Damit stellt sich ein neues dynamisches Gleichgewicht mit einem h ö h e r e n Sättigungsdampfdruck ein. Trägt man alle diese Sättigungsdampfdrücke in ein Koo r d i n a t e n s y s t e m mit dem Druck als Ordinate und der Temperatur als Abszisse ein, so erhält man demgemäß eine mit zunehmender Temperatur a n s t e i g e n d e Kurve, wie sie für das Beispiel des Wassers in Kurve A von Fig. 18 (nicht maßstäblich) dargestellt ist. Längs der Kurve befinden sich F l ü s s i g k e i t und D a m p f im Gleichgewicht. Bei h ö h e r e n Drücken und n i e d r i g e r e n Temperaturen als den durch die Kurve angezeigten ist nur die Flüssigkeit, bei n i e d r i g e r e n Drücken und h ö h e r e n Temperaturen nur der D a m p f beständig. Erwärmt man z.B. flüssiges Wasser von der Temperatur und dem Druck des Punktes 1 (Fig. 18) bei gleichbleibendem Druck, bewegt man sich also in der Richtung des gestrichelten Pfeiles nach rechts, so beginnt das Wasser bei der Temperatur des Schnittpunktes mit Kurve A zu ,,sieden". Während dieses Übergangs der Flüssigkeit in den Dampfzustand ändert sich die Temperatur nicht, da die zugeführte Wärme restlos als Verdampfungswärme verbraucht wird. Erst nach völliger Verdampfung ist weitere Erwärmung möglich, wobei man sich in Richtung des gestrichelten Pfeiles von der Kurve entfernt. In gleicher Weise beginnt ein Wasserdampf von der Temperatur und dem Druck des Punktes 2 sich bei Druckvermehrung (Richtung des gestrichelten Pfeiles) zu „kondensieren", sobald die Kurve A erreicht ist. Während dieses Übergangs des Dampfes in den flüssigen Zustand ändert sich der Druck nicht, da der Dampf einer D r u c k e r h ö h u n g durch Kondensation zur dichteren Flüssigkeit ausweicht. Kurve A trennt somit das Existenzgebiet des flüssigen Wassers von dem des Wasserdampfes.
Diejenige Temperatur, bei welcher der Sättigungsdampfdruck einer Flüssigkeit den Wert von 1.013 bar = 760 Torr erreicht, nennt man definitionsgemäß den Siedepunkt der Flüssigkeit (Taupunkt des Dampfes). Er liegt für Wasser bei 100°C. Die Dampfdruckkurve des Wassers endet bei der kritischen Temperatur von 374.1 °C und dem kritischen Druck von 221.3 bar (kritische Dichte: 0.324 g/cm), da bei höheren Temperaturen und Drücken flüssiges und gasförmiges Wasser identische Eigenschaften besitzen (vgl. physikalische Eigenschaften des Wasserstoffs, S.264). Eine analoge Kurve wie für die Verdampfung einer F l ü s s i g k e i t ergibt sich für die Verdampfung eines festen Stoffes. Sie gibt in entsprechender Weise die zusammengehörenden Paare von Druck und Temperatur an, bei denen sich fester Stoff und D a m p f miteinander im dynamischen Gleichgewicht befinden, und verläuft - wie sich theoretisch auch begründen lässt - stets steiler als die Dampfdruckkurve der Flüssigkeit (vgl. Kurve B in Fig. 18). Ein besonders ausgezeichneter Punkt ist der S c h n i t t p u n k t der beiden Dampfdruckkurven des festen und flüssigen Stoffes. Er gibt den Schmelzpunkt des Feststoffs (Gefrierpunkt der Flüssigkeit) unter dem eigenen Dampfdruck an und liegt z.B. für reines luftfreies Wasser (Fig. 18) unter einem Eigendampfdruck von 4.579 Torr bei + 0.0099°C = 273.16 K (,,Tripelpunkt" des Wassers). U n t e r h a l b der Temperatur des Schnittpunktes hat die Flüssigkeit, oberhalb der feste Stoff den größeren D a m p f d r u c k . Bringt man daher z.B. die flüssige und die feste Form des gleichen Stoffes getrennt in ein Gefäß der in Fig. 17 wiedergegebenen Form und kühlt das Ganze auf eine unterhalb der Temperatur des Kurvenschnittpunktes (Fig. 18) gelegene Temperatur i (pfmss > pfcst) ab, so wird die Flüssigkeit links (Fig. 17) bis zum konstanten Sättigungsdampfdruck/>fläs,. verdampfen und sich rechts wegen Überschreitung des kleineren Sättigungsdampfdruckes />fest - als fester Stoff kondensieren: die Flüssigkeit erstarrt. Liegt umgekehrt i oberhalb der Temperatur des Kurvenschnittpunktes (p lmss < />fest), so verdampft rechts fester Stoff und kondensiert sich links zu Flüssigkeit: der feste Stoff schmilzt. Nur dann, wenn />flüs, = />fest ist, d.h. bei der Temperatur des Schnittpunktes der beiden Dampfdruckkurven A und 13, befinden sich flüssige und feste Form eines Stoffes miteinander im Gleichgewicht
Der S c h m e l z p u n k t (Gefrierpunkt) eines Stoffes ist vom ä u ß e r e n D r u c k a b h ä n g i g . Und zwar kann er mit steigendem Druck zu- oder abnehmen (vgl. Le Chatelier'sches Prinzip).
2. Atom- und Molekülmassenbestimmung
35
760
4.579
0.0099°C
100°C
Fig. 18 Zustandsdiagramm des Wassers (nicht maßstäblich) Dampfdrücke bei 0/20/40/60/80/100 °C gleich 4.58/17.53/55.32/149.38/355.1/ 760 Torr.
Temperatur
Beim Wasser fällt er für je 1.013 bar Drucksteigerung im Mittel um 0.00753 °C. Bei 1.013 bar Druck schmilzt (gefriert) demnach reines, luftfreies Wasser bei 0.0099-0.0075 = 0.0024°C, l u f t g e s ä t t i g t e s reines Wasser bei 0°C = 273.15 K („Eispunkt" des Wassers). In Fig. 18 wird die Druckabhängigkeit des Schmelzpunktes durch Kurve C wiedergegeben. Die drei Kurven A, B und C teilen das D r u c k - T e m p e r a t u r - D i a g r a m m des Wassers in drei Felder. Innerhalb dieser Felder ist nur je ein Aggregatzustand des Wassers existenzfähig; längs der Kurven dagegen sind je zwei Phasen, beim S c h n i t t p u n k t der drei Kurven alle drei Phasen nebeneinander beständig („koexistent"). Das ganze Diagramm h e i ß „Zustandsdiagramm66 („Phasendiagramm66) des Wassers. Entsprechende Diagramme (Ordinate: Druck; Abszisse: Temperatur) werden für andere Stoffe gefunden (z. B. Zustandsdiagramme des Schwefels, S. 545). Vgl. hierzu auch ,,Siede"- und „Schmelzdiagramme" (Ordinate: Temperatur; Abszisse: prozentuale molare Zusammensetzung, S.500 und 1404). Zustandsgleichung gelöster Stoffe Löst man z.B.Zuckerin Wasser auf, so verteilt er sich darin molekular. Die Zuckermoleküle diffundieren in der Lösung wie die Moleküle eines Gases regellos umher, sodass sich der gelöste Stoff wie ein g a s f ö r m i g e r Stoff verhält. Zwar üben die Moleküle des flüssigen und daher spezifisch dichten Lösungsmittels starke Anziehungskräfte auf die gelösten Moleküle aus. I n n e r h a l b der Lösung heben sich diese aber gegenseitig auf, da sie hier - wie in Fig. 19 an einem solchen Teilchen gezeigt ist - von allen Seiten her gleichmäßig wirken. Nur an der A u ß e n f l ä c h e der Flüssigkeit, an der die Anziehung einseitig nach dem Innern erfolgt, wirken sich die Kräfte aus. Daher kommt es, dass die in einer Lösung gelösten Moleküle keinen dem Gasdruck entsprechenden Druck auf die Wände des einschließenden Ge fäßes auszuüben vermögen. Dies ist erst dann der Fall, wenn das die Lösung enthaltende Gefäß von L ö s u n g s m i t t e l umgeben ist und die Wände des Gefäßes h a l b d u r c h l ä s s i g (,,semipermeabel") 9 , d.h. durchlässig für das L ö s u n g s m i t t e l und u n d u r c h l ä s s i g für den gelösten Stoff sind. Denn nur dann wirken - wie in Fig.20 an einem gelösten Teilchen gezeigt ist - auch an der W a n d g r e n z f l ä c h e die Anziehungskräfte wie im Innern der Lösung gleichmäßig von allen Seiten her auf die gelösten Moleküle, sodass diese - in summa der Anziehung entzogen - wie G a s m o l e k ü l e gegen die für sie undurchlässige Wand anprallen und damit einen D r u c k auf diese ausüben. Es ist nach dieser Analogie zwischen dem Druck eines Gases und dem eines gelösten Stoffes nicht verwunderlich, dass der „osmotische9 Druck^ (n) - wie namentlich quantitative Unter9
semi (lat.) = halb; permeare (lat.) = hindurchgehen; osmos (griech.) = eindringen.
36
III.Atom-und Molekülion halbdurchlässige Wand
Lösung
—
Fig. 19 Wirkung der Anziehungskräfte des Lösungsmittels auf gelöste Teilchen.
Lösungsmittel
Fig. 20 Zustandekommen des osmotischen Druckes.
suchungen des holländischen Physikochemikers Jacobus Henricus v a n ' t Hoff (1852-1911) im Jahre 1885 zeigten - bei v e r d ü n n t e n („idealen") Lösungen in d e r s e l b e n W e i s e von dem Volumen ( V ) , der Zahl gelöster Mole (/z) u n d der absoluten Temperatur (7) a b h ä n g t wie der G a s d r u c k (vgl. Gl. (4)); (7)
n -V = n - R -T
u n d dass die K o n s t a n t e R den g l e i c h e n W e r t wie bei der Zustandsgleichung der Gase (s. dort) besitzt. G e l ö s t e S t o f f e üben somit d e n s e l b e n D r u c k aus, den sie - falls m a n sie verdampfen k ö n n t e - bei gleicher T e m p e r a t u r u n d im gleichen V o l u m e n auch als G a s e ausüben würden. Alle an die Gasgleichung (4) geknüpften Folgerungen gelten daher auch f ü r den Lösungszustand. Enthalten also z.B. 22.41 Wasser 1 mol eines Stoffs, so beträgt der osmotische D r u c k bei 0 °C 1.013 bar = 1 a t m (1 mol Stoff in 22.71 H 2 0 f ü h r t bei 0°C zu 7i — 1 bar). Das Zustandekommen des osmotischen Druckes kann statt von der Seite des gelösten Stoffes aus auch von der Seite des Lösungsmittels her abgeleitet werden. Diese andere Art der Betrachtungsweise lässt die Analogie zwischen Gasdruck p und osmotischem Druck n weniger gut erkennen, ermöglicht dafür aber ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem osmotischen Druck n und der Dampfdruckerniedrigung Ap einer Lösung. Auch lässt sie leichter das Verhalten von Lösungen bei Verwendung s t a r r e r halbdurchlässiger Wände verstehen. Infolge ihrer ungeregelten Wärmebewegung passieren die Moleküle des Lösungsmittels fortwährend die halbdurchlässige Trennungswand von innen nach außen und umgekehrt. Die Zahl der aus dem reinen Lösungsmittel mit einem „Diffusionsdruck" D i f f in die Lösung diffundierenden Moleküle ist dabei größer als die Zahl der in umgekehrter Richtung (Diffusionsdruck y D i f f ) aus der Lösung in das reine Lösungsmittel wandernden Teilchen, da in der Lösung das Lösungsmittel durch den gelösten Stoff verdünnt und die Konzentration an diffundierbaren Lösungsmittelmolekülen in ihr dementsprechend geringer als im reinen Lösungsmittel ist. Die Differenz ApDiff beider Diffusionsdrücke (ApDiff. = pDiff. — p'Diff.) ist numerisch gleich dem osmotischen Druck 7i und bei gegebener Temperatur und Flüssigkeitsmenge der Molzahl n des gelösten Stoffes proportional ApDiff
= n = kf • n
(mit fc' = RTjV; vgl. (7)).
(8)
Infolge dieses „Diffusions-Überdruckes" ApDiff dringt, falls die halbdurchlässige Membran starr ist und das Lösungsgefäß ein Steigrohr aufweist, solange Lösungsmittel in das Gefäß ein, bis der hydrostatische Druck hydr der Flüssigkeitssäule im Steigrohr den Wert des Differenzbetrags A/>Diff. = />Diff. — p' Diff . und damit des osmotischen Druckes n erreicht hat. Nunmehr gilt hydr + p' D i f f = pDiff, sodass jetzt unter dem Einfluss des um den hydrostatischen Druck phydr vermehrten Diffusionsdruckes pp iff in der Zeiteinheit gleich viele Lösungsmittelmoleküle die halbdurchlässige Wand in beiden Richtungen durchwandern. Die experimentelle Messung des osmotischen Drucks n = ApDiff läuft hiernach auf eine Messung des hydrostatischen Druckes p hydr . = ApDiff der Flüssigkeitssäule im Steigrohr hinaus (vgl. hierzu Lehrbücher der physikalischen Chemie).
2. Atom- und Molekülmassenbestimmung
37
Methoden der Molekülmassenbestimmung Die der G a s g l e i c h u n g (4) entsprechende osmotische Gleichung (7) ermöglicht die Ermittlung von relativen M o l e k ü l m a s s e n gelöster Stoffe, indem man durch Messung der Größen n, V und T die in einer Lösung je Liter Lösungsmittel vorhandene Molzahl zz des gelösten Stoffes bestimmt, woraus sich bei Kenntnis der Masse m dieser /z Mole die Masse eines Mols ergibt (vgl. (5)). Diese Methode der M o l e k ü l m a s s e n b e s t i m m u n g ist deshalb von großer Wichtigkeit, weil sich sehr viele Stoffe, wie z.B. der Zucker, nicht unzersetzt verdampfen lassen, während sie durch Auflösen in Wasser oder anderen Lösungsmitteln leicht in eine dem Gaszustand entsprechende molekulare Aufteilung gebracht werden können, sodass eine Ermittlung ihrer Molekülmasse mittels der der Gasgleichung (4) entsprechenden osmotischen Gleichung (7) möglich ist. Leider stößt aber die Messung des osmotischen Drucks n meist auf experimentelle Schwierigkeiten, da es in vielen Fällen nicht gelingt, eine wirklich ideale h a l b d u r c h l ä s sige Wand zu konstruieren. Glücklicherweise gibt es nun andere, ohne Zuhilfenahme einer semipermeablen Wand messbare Größen, die wie der osmotische Druck 7i der Molzahl /z des gelösten Stoffs p r o p o r t i o n a l sind und daher an seiner Stelle zu deren Bestimmung und damit zur Ermittlung der relativen Molekülmasse des gelösten Stoffes dienen können. Es handelt sich hier um die „Dampfdruckerniedrigung", die ,,Siedepunktserhöhung" und die ,,Gefrierpunktserniedrigung" von Lösungsmitteln. Löst man in einem Lösungsmittel einen beliebigen n i c h t f l ü c h t i g e n Stoff auf (bei einem flüchtigen Stoff sind die Verhältnisse komplizierter), so werden die Moleküle der gelösten Substanz das Lösungsmittel verdünnen, sodass im Zeitmittel weniger Lösungsmittelmoleküle die Flüssigkeitsoberfläche verlassen als vor der Auflösung des Fremdstoffs (die Flüssigkeitsoberfläche spielt hier die Rolle einer idealen semipermeablen Wand, indem nur das flüchtige Lösungsmittel die Trennungsfläche durchwandern (verdampfen) kann, während der - voraussetzungsgemäß (vgl. oben) - nichtflüchtige gelöste Stoff an der Flüssigkeitsoberfläche zurückbleibt). Das dynamische Gleichgewicht zwischen D a m p f und Flüssigkeit (s. weiter oben) stellt sich damit bei einem geringeren S ä t t i g u n g s d a m p f d r u c k ein als beim reinen Lösungsmittel: die Dampfdruckkurve der Lösung (Fig. 21) liegt u n t e r h a l b der Dampfdruckkurve des reinen Lösungsmittels. Und zwar ist bei gegebener Flüssigkeitsmenge u n d gegebener Temp e r a t u r die Dampfdruckerniedrigung Ap = p — p' wie die in analoger Weise zustandekommende Diffusionsdruckerniedrigung A/?Diff. = Pjxff,— p'Diff. ~ vgl. (8) - und wie der osmotische Druck rc - vgl. (7) - der Molzahl « des gelösten Stoffes p r o p o r t i o n a l : ,
(9)
sodass man bei Kenntnis von fc durch Messung von Ap die Molzahl « ermitteln kann. Experimentell noch einfacher ist die Messung der durch die Dampfdruckerniedrigung bedingten Gefrierpunktserniedrigung und Siedepunktserhöhung des Lösungsmittels. Wie aus Fig. 21 hervorgeht, liegt
Fig.21 Gefrierpunktserniedrigung, Siedepunktserhöhung und Dampf druckerniedrigung l
8
Temperatur t
38
III. Atom- und Molekülion
der Schnittpunkt der Dampfdruckkurve der Lösung mit der Dampfdruckkurve des festen Lösungsmittels und damit der G e f r i e r p u n k t t' der Lösung bei einer tieferen, ihr Schnittpunkt mit der Atmosphärendruck-Horizontalen und damit der Siedepunkt ^ der Lösung bei einer h ö h e r e n Temperatur als beim reinen L ö s u n g s m i t t e l {t bzw. ts). Genau wie die Dampfdruckerniedrigung (Apt = pt —p't) ist nun, wie der französische Physikochemiker Francois Marie Raoult (1830-1901) fand, auch diese F i x p u n k t s v e r s c h i e b u n g (At = t — t' bzw. A ts = t's — ts) bei gegebenem Flüssigkeitsvolumen der in diesem Volumen aufgelösten Molzahl n des gelösten Stoffs p r o p o r t i o n a l („Raoult'sches Gesetz"): At=E-n.
(10)
Übereinkunftsgemäß bezieht man die Anzahl Mole n stets auf ein Volumen von 1000 g Lösungsmittel. Der Proportionalitätsfaktor E nimmt dann z.B. beim Wasser den Wert 1.860 (Gefrierpunktserniedrigung) bzw. 0.511 K • kg/mol (Siedepunktserhöhung) an 1 0 . Der Proportionalitätsfaktor £ wird als ,,molare Gefrierpunktserniedrigung" bzw. ,,molare Siedepunktserhöhung" bezeichnet, weil er die Fixpunkts verschiebung einer Lösung wiedergibt, die je 1000 g Lösungsmittel (vgl. oben) 1 mol Substanz enthält (für n = 1 ist At = E). Die Bestimmung der Molekülmasse nach dem Gefrierpunktsverfahren nennt man auch ,,kryoskopische" die nach dem Siedepunktsverfahren ,,ebullioskopische" n Methode. Letztere steht an Bedeutung hinter der ersteren zurück, da der Wert der Siedepunktserhöhung stets merklich kleiner als der der Gefrierpunktserniedrigung ist. Zur praktischen Ausführung beider Methoden dienen u. a. Apparate, die auf den deutschen Chemiker Ernst Beckmann (1853-1923) zurückgehen (1888). Zur Messung der Fixpunktsverschiebung werden dabei so genannte ,,Beckmann-Thermometer" verwendet, deren Skala nur etwa 6°C umfasst, welche in Vioo Grade eingeteilt sind; eine besondere Vorrichtung erlaubt, den Nullpunkt der Skala willkürlich auf eine gewünschte Temperatur einzustellen, sodass ein einziges Thermometer für alle Bestimmungen benutzbar ist
2.2
Bestimmung relativer Atommassen
2.2.1
Bestimmung über eine Massenanalyse von Verbindungen
Die kleinste Menge eines Elements, die sich in 1 Molekül einer Verbindung dieses Elements befinden kann, ist 1 Atom. Wie insbesondere der italienische Chemiker Stanislao Cannizzaro (1826-1910) erkannte, ergibt sich somit die molare A t o m m a s s e experimentell als die kleinste Anzahl von G r a m m e n eines Elements, die in 1 mol einer Verbindung dieses Elements aufgefunden werden. Zur Bestimmung der numerisch mit der relativen Atommasse übereinstimmenden molaren Atommasse eines Elements ist es demnach erforderlich, nach einer der vorstehend erörterten Bestimmungsmethoden die m o l a r e M o l e k ü l m a s s e zahlreicher Verbindungen des betreffenden Elements zu ermitteln und anschließend durch Analyse jeweils die in 1 mol Verbindung enthaltene G r a m m - M e n g e des Elements zu bestimmen. Tab.2 enthält einige bei Verbindungen der Elemente Wasserstoff, Chlor, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff auf solche Weise enthaltene Ergebnisse. Wir ersehen aus der Tabelle folgendes: Die kleinste Gramm-Menge Wasserstoff, die in 1 mol der in der Tabelle aufgeführten Wasserstoffverbindungen enthalten ist (vgl. Spalte 3), beträgt 1 g. Da auch in keiner sonstigen Wasserstoffverbindung weniger als 1 g Wasserstoff je mol Verbindung aufgefunden wird, muss man annehmen, dass 1 g/mol die molare Masse von Wasserstoff darstellt. Dem Wasserstoff kommt also mit anderen Worten die (abgerundete) relative Atommasse 1 zu. In gleicher Weise lässt sich aus der Tabelle entnehmen - und dieser Schluss wird durch die Untersuchung anderer Verbindungen bestätigt - , dass die Elemente Chlor, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenstoff die (abgerundeten) relativen Atommassen 35.5, 16,14 und 12 besitzen. Denn 35.5,16, 14 bzw. 12 g sind, wie man sieht, die kleinsten Gramm10 Zeigt also z. B. eine 1 %ige wässerige Lösung eine Gefrierpunktserniedrigung von 0.614 °C, so enthält sie in 1000 g = 1 Liter Wasser n = A f . E = 0.614: 1.860 = 0.33 mol gelöster Substanz, woraus für letztere gemäß der Beziehung M = m/n eine molare Masse M von 10 : 0.33 = 30.3 g/mol folgt. Eine hohe molare Gefrierpunktserniedrigung (40 °C) weist z.B. der Campher (Kampfer) C 1 0 H 1 6 O (Smp. 179.5°) auf, der deshalb gerne für orientierende Molekülmassenbestimmungen im Schmelzpunktsröhrchen herangezogen wird. 11 kryos (griech.) = Eis; skopein (griech.) = beobachten; bulla (lat.) = Siedeblase.
2. Atom- und Molekülmassenbestimmung Tab. 2 gen
39
Molare Masse und Zusammensetzung einiger gasförmiger oder leicht verdampfbarer Verbindun-
Substanz Wasserstoff Chlorwasserstoff Wasser Wasserstoffperoxid Ammoniak Hydrazin Methan Ethan Ethylen Acetylen Benzol Chlor Dichloroxid Chlordioxid Chlorstickstoff Kohlenstofftetrachlorid Sauerstoff Distickstoffoxid Stickstoffmonoxid Stickstoffdioxid Kohlenoxid Kohlendioxid Stickstoff
molare Masse (g/mol 2 3
18 34 17 32 16 30 28 26 78 71 87 67 120 V2 154 3 44 30 46 28 44 2
Je Mol Substanz enthaltene Gramm-Menge H Cl O N C 2 1 2 2 3 4 4 6 4 2 6 -
3
-
71 71 35 106% 142 -
-
-
16 32 16 32 32 16 16 32 16 32
14 28 14 28 14 14 28
-
_
Formel H2
-
HC
-
N2H4
12 24 24 24 72 12 12 12 -
H2O H2O2
NH CH C2H6 C2H4 C2H2 C6H6
C C Cl NC CC
o2
N2O
NO NO2
CO CO 2 N2
Mengen dieser Elemente, die in 1 mol ihrer Verbindungen analytisch gefunden werden. Diejenigen Verbindungen der Tabelle, die ein ganzes Vielfaches der als molare Masse erkannten Gramm-Menge eines Elementatoms je Mol Substanz aufweisen, enthalten das entsprechende Vielfache dieses Elements je Molekül. Ethan zum Beispiel, das 6 g Wasserstoff und 24 g Kohlenstoff je Mol aufweist, hat also die Formel C 2 H 6 . In analoger Weise kommen wir zu den in Spalte 8 der Tabelle angegebenen chemischen Formeln für die übrigen Substanzen. Diese Formeln - von denen wir diejenigen für Wasserstoff, Chlor, Sauerstoff und Stickstoff sowie für Chlorwasserstoff, Wasser und Ammoniak schon früher (vgl. Avogadro'sche Molekülhypothese) durch einen im Prinzip analogen, wegen des Fehlens einer Bezugseinheit damals aber notgedrungen noch etwas umständlicheren Gedankengang abgeleitet hatten ermöglichen dann bei Kenntnis der genauen massenmäßigen Zusammensetzung der Verbin dungen eine exakte Festlegung der relativen Atommassen der enthaltenen Elemente Prinzipiell ergeben sich die molaren Massen der Atome auch schon als die kleinste, in 1 mol einer Verbindung dieser Elemente enthaltene Gramm-Menge (vgl. oben). Da aber die beschriebene Bestimmung molarer Massen falls man nicht alle bei der Messung der vier Größen und möglichen Fehlerquellen und die Abweichungen vom idealen Gesetz peinlichst durch Korrekturen kompensiert im Allgemeinen keine Präzisionswerte liefert, stellen auch die direkt aus den molaren Verbindungsmassen entnommenen molaren Massen der Elementatome im Allgemeinen keine Präzisionswerte dar. Es ist daher zur Erzielung genauester Werte zweckmäßiger, die molaren Atommassen durch Kombination der aus der geschilderten Bestimmung molarer Molekülmassen hervorgehenden eindeutigen Molekülformeln mit dem analytisch genauestens bestimmbaren Massenverhältnis der Elemente in den einzelnen Verbindungen zu ermitteln
Tafel II enthält die in solcher Weise durch genaueste Analyse chemischer Verbindungen gegebener Formel oder nach sonstigen Methoden bestimmten relativen Atommassen aller bis jetzt bekannten Elemente samt ihren Symbolen und,,Atomnummern" („Ordnungszahlen").
40
III. Atom- und Molekülion
Unter letzteren wollen wir dabei zunächst einfach die laufende Nummer verstehen, die einem Element zukommt, wenn man die Grundstoffe nach steigender relativer Atommasse anordnet. Die Werte werden laufend von einer internationalen Kommission kritisch geprüft und falls zuverlässigere und genauere Bestimmungen von relativen Atommassen vorliegen - berichtigt. Die Zahl der Dezimalen (von denen die letzte als noch unsicher angenommen wird) gibt den Grad der Genauigkeit an, bis zu dem die betreffende relative Atommasse bis jetzt bestimmt worden ist. Erst sehr genaue chemische Bestimmungen relativer Atommassen verdanken wir dem amerikanischen Forscher Theodore William Richards (1868-1928) und dem deutschen Chemiker Otto Hönigschmid (1878-1945).
2.2.2
Bestimmung über die spezifische Wärmekapazität von Verbindungen
Da man anfangs noch keine Verbindungen der in geringer Menge in der Luft vorhandenen Edelgase (S.421) kannte, war damals bei ihnen eine Bestimmung relativer Atommassen auf dem oben geschilderten Wege (Ermittlung der kleinsten in 1 mol Verbindung enthaltenen Elementmenge) nicht möglich. Hier musste man zu physikalischen Methoden greifen. Eine geeignete derartige Methode ist z.B. die Bestimmung der spezifischen W ä r m e k a p a z i t ä t , die sowohl bei gasförmigen wie bei festen Elementen eine relative Atommassenbestimmung ermöglicht Gasförmige Stoffe Führt man einem Gas Wärme zu, so wird dadurch die Bewegungsenergie der Gasmoleküle erhöht. Nun kann man dreierlei Möglichkeiten der Bewegung unterscheiden: a) die f o r t s c h r e i t e n d e Bewegung der Moleküle („Translation"), b) die Drehbewegung der Moleküle („Rotation"), c) die Schwingungsbewegung der Atome innerhalb der Moleküle („Oszillation"). Die f o r t s c h r e i t e n d e Bewegung der Moleküle kann nach den 3 Richtungen des Raums hin erfolgen, hat also 3 „Freiheitsgrade" (vgl. hierzu Lehrbücher der physikalischen Chemie). In analoger Weise besitzt auch die D r e h b e w e g u n g eines Moleküls maximal 3 Freiheitsgrade, da sie um die 3 verschiedenen Molekül-Raumachsen erfolgen kann. Die Zahl der Freiheitsgrade der Schwingungsbewegung schließlich steigt mit der Zahl der Atome innerhalb des Moleküls rasch an (vgl. einschlägige Lehrbücher) und ist im einfachsten Falle eines zweiatomigen Moleküls gleich 2 (elastisches Hin- und Herschwingen der Atome gegeneinander, entsprechend einer Speicherung von potentieller und kinetischer Energie). Die kinetische Gastheorie lehrt, dass die der Erwärmung eines idealen Gases um 1 °C bei konstantem Volumen entsprechende Bewegungssteigerung eine Zufuhr von Rß = 4.157 2 J pro Freiheitsgrad und Mol erfordert (s. Lehrbücher der physikalischen Chemie). Je nach der Zahl der bei der Erwärmung „angeregten" Freiheitsgrade wird daher die zur Erwärmung eines Mols Gas um 1 °C erforderliche Energie Cv („molare Wärmekapazität"; Dimension J • m o l - 1 - K ^ 1 ) bei konstantem Volumen verschiedene Werte annehmen. Liegt z.B. ein dreiatomiges, gewinkeltes Molekül (Fig.22a) vor, so können bei der Erwärmung je 3 Freiheitsgrade der Translation und Rotation angeregt werden (die Freiheitsgrade der Oszillation ,,erwachen" meist erst bei verhältnismäßig hohen Temperaturen und können hier daher außer acht gelassen werden). Dementsprechend beträgt Cv für solche Moleküle theoretischö R ß = 24.9 J m o l ~ i K ~ i ; gefunden werden z.B. für Wasser (H 2 0)25.2, für Schwefelwasserstoff (H 2 S) 25.5 J m o l ~ i K ~ i . Bei einem zweiatomigen Molekül (Fig. 22b) kann der Freiheitsgrad der Drehung um die Atom-Verbindungsachse des Moleküls bei Zimmertemperatur vernachlässigt werden, da der Radius der Drehbewegung wegen des geringen Durchmessers der Atome verschwindend klein im Vergleich zum Radius der Dreh
bewegung um die beiden anderen Molekül-Raumachsen ist, sodass ein sehr kleines Trägheitsmoment um die Längsachse des Moleküls resultiert und die Auslösung der Rotation um diese Achse dementsprechend hohe Anregungsenergien erfordert und daher nur bei sehr hohen Temperaturen erfolgen kann (vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie). Hier bleiben also 3 + 2 = 5 Freiheitsgrade, entsprechend einer molaren Wärmekapazität Cv = 5 R/2 = 20.8 J m o l _ 1 K _ 1 ; gefunden wurden z.B. für Wasserstoff (H 2 ) 20.6, für Stickstoff (N 2 ) 20.8 Jmol - : L K~i, was zugleich ein weiterer Beweis für den zweiatomigen Aufbau der Moleküle dieser Gase ist. Bei e i n a t o m i g e n Molekülen (Fig. 22c) schließlich kommen bei Zimmertemperatur nur die Freiheitsgrade der Translation in Frage, da die Anregung der Rotation wegen des geringen Durchmessers der Atome höhere Energiebeträge erfordert. Hier muss demnach Cv = 3 R/2 = 12.5 J m o l ~ i K ~ : betragen. Genau diesen Wert findet man nun bei den Edelgasen. Daraus geht hervor, dass die Edelgase einatomig sind, dass also die relative Molekülmasse (Zahlenwert der molaren Masse von 22.415 l Gas bei 0 °C und 1.013 bar) gleich der relativen Atommasse ist Leichter als Cv lässt sich meist das Verhältnis Cp/Cv = y der molaren Wärmekapazitäten bei konstantem D r u c k (Cp) und bei k o n s t a n t e m Volumen (Cv) ermitteln (z.B. aus der Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Schallwellen in dem untersuchten Gas; s. Lehrbücher der physikalischen Chemie). Da nun zwischen Cp und Cv bei idealen Gasen die einfache Beziehung Cp = Cv + R besteht, gilt: für einatomige Gase für zweiatomige Gase für dreiatomige Gase
y = 20.80 : 12.48 = 1.67, y = 29.14 : 20.80 = 1.40, y = 33.29 : 24.95 = 1.33.
Bei den Edelgasen ist y = 1.67, woraus sich wieder die Einatomigkeit dieser Gase ergibt.
Feste Stoffe Die einzige Bewegungsmöglichkeit der Atome eines festen Stoffes, z. B. eines Metalls, besteht in einem elastischen Schwingen um b e s t i m m t e S c h w e r p u n k t s l a g e n . Da diese Schwingungen nach den drei Raumrichtungen hin erfolgen können, besitzen die Atome je drei Freiheitsgrade, wobei jeder Freiheitsgrad doppelt zu zählen ist, da bei der elastischen Schwingung sowohl kinetische wie potentielle Energie gespeichert wird. Die zum Erwärmen eines festen Elements um 1 °C bei konstantem Volumen erforderliche Energie Cv sollte daher 6 R/ 2 = 24.9 J m o l ~ i K ~ : betragen. Dieser Wert erhöht sich auf 25-27 J m o l ~ i K ~ : , wenn man nicht die molare Wärmekapazität bei konstantem Volumen, sondern die molare Wärmekapazität bei konstantem Druck (C ) betrachtet, welche bei festen Stoffen nahezu ausschließlich gemessen wird und um einige Prozent größer als erstere ist (Arbeitsleistung gegen den konstanten Luftdruck bei der thermischen Ausdehnung des festen Stoffs).
42
III. Atom- und Molekülion
Regel von Dulong und Petit In der Tat ist nun nach einer von den französischen Forschern Pierre Louis Dulong (1785-1838) und Alexis Therese Petit (1791-1820) bereits im Jahre 1819 aufgestellten Regel das Produkt aus spezifischer Wärmekapazität cp [ J g _ i K _ i ] und molaren Masse M [gmol~i] fester Elemente nahezu konstant und im Mittel gleich 26 Jmol ~iR ~i (unter spezifischer Wärmekapazität (häufig kurz: spezifische Wärme) versteht man die zum Erwärmen von 1 g Substanz um 1 °C( = 1K) erforderliche Energie): MxCp = Cp(« 2NH 3 ) bei 25°C (298.15 K) aus der Reaktionsenthalpie Äff (NH 3 ) = [2 Aff f (NH 3 )] — [3 Aff f (H2) + Aff f (N 2 )] = [2 x ( — 46.14)] - [ 3 x 0 + 0 ] = —92.28 kJ/mol (vgl.Gl. (15)) und der Reaktionsentropie AS = [2 S(NH 3 )] - [3 S(H 2 ) + S(N 2 )] = [2 x 192.4]-[3x130.7 +191.6] = —198.9 Jmol"1 K"1 = —0.1989 M m o l ^ I C " (vgl. Gl. (17)) die freie Reaktionsenthalpie AG = AH - T AS zu —92.28 — 298.15 • ( — 0.1989) = —32.98 kJ/ mol. Mithin stellt die exotherme und exotrope Umsetzung von Wasserstoff und Stickstoff zu Ammoniak eine bei 25°C freiwillig verlaufende exergone Reaktion dar (AGf (NH 3 ) = — 32.98/2 = —16.49 kJ/ mol).
22 Bei den Feststoffen nimmt die - auf 1 mol Atome bezogene - Entropie mit ihrer H ä r t e a b (z. B. H g 76.07, Pb 64.85, W32.66, C Dialnallt 2.38 J m o l ~ 1 K ~ 1 ) , bei den Gasen mit der Zahl der M o l e k ü l a t o m e (z.B. einatomige Gase s; 150 J mol ~1 K "1, Gase mit zweiatomigen Molekülen s; 100 J mol " 1 K "1 Atome, Gase mit drei- bzw. vieratomigen M o lekülen s; 80 bzw. 60 J m o l ~ 1 K ~ 1 Atome; vgl. Freiheitsgrade der Moleküle). 3 2 Von der normalerweise benutzten Reaktionsentropie bei konstantem Druck (AS ) unterscheidet m a n die Reaktionsentropie bei konstantem Volumen {ASv). 24 E x a k t AH = AG + TAS . F ü r Reaktionen bei konstantem Volumen gilt entsprechend: AU = AA + TASV.
Kapitel III
Atom- und Molekülion
Vergleicht man die Atommassen der leichteren Elemente miteinander, so macht man die interessante Feststellung, dass sich diese als ganzzahlige Vielfache der Atommasse des Wasserstoffs darstellen lassen. So kommt etwa dem Helium-, Kohlenstoff-, Stickstoff- bzw. Sauerstoffatom die 4-, 12-, 14- bzw. löfache Atommasse des Wasserstoffs zu. Dieser Sachverhalt veranlasste den englischen Arzt William Prout (1785-1850) bereits im Jahre 1815 zu der kühnen Hypothese (,,Prout'sche Hypothese"), dass alle chemischen Elemente aus dem leichtesten Element Wasserstoff aufgebaut seien. Damit wurde erstmals die Annahme von der U n t e i l b a r k e i t der A t o m e in Zweifel gezogen. Man ließ dann die Prout'sche Ansicht wieder fallen, als sich herausstellte, dass die - inzwischen genauer zugänglichen - Atommassen, insbesondere der schwereren Elemente, bezogen auf Wasserstoff als Einheit, von der Ganzzahligkeit abwichen. Wie wir heute wissen, stellen die Atome in der Tat nicht die kleinsten Materieteilchen dar. Sie sind teilbar und setzen sich, wie in den nachfolgenden Abschnitten erläutert sei, aus Untereinheiten des Wasserstoffs zusammen. Somit hat sich die Prout'sche Hypothese heute als eine geniale Intuition erwiesen Dass am A u f b a u der Materie elektrische L a d u n g e n beteiligt sind, folgerte man schon frühzeitig aus der bekannten Tatsache, dass etwa durch gegenseitiges Reiben geeigneter Stoffe Elektrizität erzeugt werden kann (vgl. Elektrisiermaschine). Eine erste Bestätigung fand diese Vorstellung durch physikalische und chemische Studien an wässrigen Lösungen p o l a r e r S t o f f e . Wir wollen uns nun diesen Untersuchungen, die zum I o n e n b e g r i f f und darüber hinaus auch zum E l e k t r o n e n - und P r o t o n e n b e g r i f f führten, zuwenden.
1
lonenlehre
1.1
Die elektrolytische Dissoziation. Der lonenbegriff
1.1.1
Experimentalbefunde: Mengenverhältnisse bei der elektrolytischen Stoffauflösung
Löst man C h l o r w a s s e r s t o f f HCl, ein bei — 85°C verflüssigbares, farbloses Gas, in Wasser auf, so erhält man die sogenannte „Salzsäure". Die chemischen E i g e n s c h a f t e n des reinen, wasserfreien, verflüssigten C h l o r w a s s e r s t o f f s sind nun ganz andere als die seiner wässrigen Lösung. So löst z.B. die wässrige Lösung Zink, Eisen und viele andere Metalle unter Entwicklung von Wasserstoff auf (z.B. Z n + 2 H C 1 -> ZnCl 2 + H 2 ) und rötet blaues Lackmuspapier, während weder der reine verflüssigte Chlorwasserstoff noch das reine flüssige Wasser diese Reaktion geben. Gleiches gilt von den physikalischen E i g e n s c h a f t e n . So leitet z.B. die wässrige Lösung gut den elektrischen Strom unter Bildung von Chlor am positiven und Wasserstoff am negativen Pol, während reiner, flüssiger Chlorwasserstoff und reines, flüssiges Wasser praktisch Nichtleiter sind. Der Chlorwasserstoff muss sich demnach bei seiner Auflösung in Wasser irgendwie verändern. Welcher Art diese Veränderung ist, ergibt sich bei einer Bestimmung der M o l e k ü l m a s s e des gelösten Chlorwasserstoffs nach der Gefrierpunktsmethode (s. dort). Es stellt sich dabei nämlich heraus, dass die Gefrierpunktserniedrigung A t der wässrigen Lösung rund doppelt so groß ist, als sie sich gemäß der Gleichung A; = E • n aus der Molmenge « des aufgelösten
1. Ionenlehre
53
Chlorwasserstoff - bei Zugrundelegen der Molekülmasse 36.5 - errechnet. Das bedeutet, dass die Lösung doppelt so viele (2«) Teilchen enthält, als der aufgelösten Zahl («) von Chlorwasserstoffmolekülen entspricht. Jedes Chlorwasserstoffmolekül HCl muss sich also in der wässrigen Lösung in zwei Teilchen aufgespalten haben. Diese Teilchen können nach der Formel HCl nur das Wasserstoff- und das Chlorteilchen sein. Die elektrische L e i t f ä h i g k e i t der Lösung zeigt andererseits, dass die beiden Teilchen elektrisch geladen sind, und zwar wandern bei der elektrischen Stromleitung („Elektrolyse") die Chlorteilchen zur positiv geladenen, die Wasserstoffteilchen zur negativ geladenen Elektrode, was eine negative Aufladung der Chloratome und eine positive Aufladung der Wasserstoffatome nahelegt. Somit sprechen alle Anzeichen für die Annahme einer Spaltung ungeladener Chlorwas serstoffmoleküle HCl in positiv geladene Wasserstoffteilchen H + und negativ geladene Chlorteilchen C HC
1.1.2
C
Arrhenius'sche lonenhypothese
Den Sachverhalt, dass viele Stoffe, die man zur Unterscheidung von den in wässriger Lösung nicht leitenden „Nichtelektrolyten" (wie Alkohol, Ether, Chloroform, Benzol) unter der Bezeichnung „Elektrolyte"1 zusammenfasst, bei der Auflösung in Wasser nicht nur in einzelne Moleküle, sondern darüber hinaus in positiv und negativ geladene Molekülteile zerfallen, hat der schwedische Physikochemiker Svante Arrhenius (1859-1927) erkannt und mit dem Namen „elektrolytische Dissoziation" belegt. Gemäß seiner in den Jahren 1884-1887 aufgestellten Theorie der elektrolytischen Dissoziation bezeichnet man die durch Molekülspaltung gebildeten, geladenen Teilchen als „Ionen"2, und zwar nennt man die positiv geladenen Teilchen „Kationen", weil sie bei der Elektrolyse zur negativen K a t h o d e wandern und die negativ geladenen Teilchen „Anionen", weil sie von der positiv geladenen A n o d e angezogen werden 3 . Die Annahme einer elektrolytischen Dissoziation stieß anfangs auf vielfachen Widerspruch, da man den Unterschied zwischen A t o m e n und Ionen nicht genügend beachtete. So wurde beispielsweise der Einwand gemacht, dass in Natriumchloridlösungen (NaCl) - welche farblos, geruchlos und beständig sind - kein freies Natrium und kein freies Chlor vorhanden sein könne, weil Natrium Wasser sofort unter Wasserstoffentwicklung zersetze und Chlorlösungen grüngelb seien und einen angreifenden Geruch besäßen. Hierzu ist zu bemerken, dass die Lösung nach der Ionenlehre ja gar keine ungeladenen Natrium- und Chlor-Atome, sondern geladene Natrium- und Chlorid-Ionen enthält, die infolge ihrer elektrischen Ladung einen a n d e r e n Energieinhalt als die Atome besitzen und sich daher auch chemisch und physikalisch ganz anders als diese verhalten müssen.
Einteilung der Elektrolyte Unter den Elektrolyten lassen sich drei große Gruppen unterscheiden, die „Säuren", die „Basen" und die „Salze".
1
2 3
Die von M. Faraday geprägten Namen E l e k t r o l y s e (Zerlegung durch den elektrischen Strom) und E l e k t r o l y t (elektrolytisch zerlegbarer Stoff) leiten sich ab von lysis (griech.) = Trennung (vgl. A n a l y s e = Auftrennung). ion (griech.) = wandernd. Der p o s i t i v e Pol einer Stromquelle wurde nach kata (griech.) = hinab und hodos (griech.) = Weg als K a t h o d e bezeichnet, weil der - damals noch fälschlicherweise als Strom positiver Ladungsträger betrachtete - elektrische Strom auf seinem Wege vom positiven zum negativen Pol gewissermaßen h i n a b fließt. Der n e g a t i v e Pol erhielt dementsprechend nach ana (griech.) = hinauf den Namen A n o d e . Tatsächlich i s t - wie oben ausgeführt - die Kathode der negative, die Anode der positive Pol. Der ebenfalls vom griechischen hodos = Weg abgeleitete Name E l e k t r o d e bezeichnet ganz allgemein eine Kathode oder Anode, an der sich der Übergang des elektrischen Stroms von einem Medium in ein anderes vollzieht. Je nach der Richtung des Stroms fungiert eine Elektrode als Kathode oder Anode.
54
III. Atom- und Molekülion
Unter Säuren H„ A(« = Wertigkeit des Säurerestes - „Acylrestes"4 - A) versteht man solche Stoffe, die wie der Chlorwasserstoff HCl in wässriger L ö s u n g positiv geladene Wass e r s t o f f - I o n e n H + bilden (bezüglich einer moderneren Definition der Säuren vgl. S. 232). Beispiele für solche Säuren sind etwa die Salpetersäure ( H N O ) , die Schwefelsäure (H 2 S0 4 ) und die Phosphorsäure (H 3 PO 4 ): HN03 ^ H+ + N O ;
H 2 SO 4
2 H + SO2";
^ P ^
3 H + PO|~.
Die bei der Dissoziation auftretenden W a s s e r s t o f f - I o n e n H + bedingen den s a u r e n Geschmack der Säuren (daher ihr Name) und färben ein in die Lösung eingetauchtes blaues L a c k m u s p a p i e r („Reagens auf Säuren") rot. Das Gegenstück zu den Säuren bilden die Basen (Laugen) B (OH)m (m = Wertigkeit des Baserestes B), welche die Eigenschaft haben, umgekehrt rotes L a c k m u s p a p i e r („Reagens auf Basen") zu bläuen. Diese Blaufärbung sowie der l a u g e n h a f t e (seifenartige) G e s c h m a c k der Basen wird durch negativ geladene H y d r o x i d - I o n e n OH (frühere Bezeichnung: Hydroxyl-Ionen) bedingt, und man definiert dementsprechend Basen als Stoffe, die in wässeriger L ö s u n g negativ geladene H y d r o x i d - I o n e n bilden (bezüglich einer moderneren Definition der Basen vgl. S. 240). Beispiele hierfür sind das Natriumhydroxid NaOH (wässrige Lösung: Natronlauge) und das Calciumhydroxid Ca(OH) 2 (wässrige Lösung: Kalkwasser): NaOH -> N a + + OH ;
Ca(OH) 2 -> C a 2 + + 2 O H " .
Die aus Säureresten A und Basenresten B zusammengesetzten, salzartig schmeckenden Salze Bj,Aa schließlich leiten sich von den Säuren H„A durch Ersatz der Wasserstoff-Ionen H + durch positive Basereste B m+ bzw. von den Basen B(OH) m durch Ersatz der H y d roxid-Ionen OH durch negative S ä u r e r e s t e A"~ ab (b : a = n \m) und bilden entsprechend ihrer Zusammensetzung in wässriger Lösung (soweit sie löslich sind) B a s e - K a t i o n e n ßm + und S ä u r e - A n i o n e n A"~. Als Beispiel seien etwa angeführt: Natriumnitrat NaNO 3 , Calciumnitrat Ca(NO 3 ) 2 , Natriumsulfat Na 2 SO 4 , Calciumsulfat C a S O , Natriumphosphat N PO und Calciumphosphat C (PO NaNO Na + + N O 3 , Na 3 PO 4 ^ 3Na + + P O | " , CaSO C2+ + SO 2 ",
Na 2 SO 4 -^2Na++SO2", Ca(NO 3 ) 2 Ca2+ + 2 N 0 3 , Ca 3 (PO 4 ) 2 3Ca2 + + 2 P O | ~ .
Die verschiedene stöchiometrische Zusammensetzung der Salze wird dabei durch die A n z a h l bzw. m der positiven Ladungen der Kationen und Anionen bedingt, da deren Vereinigung ja elektroneutrale Moleküle ergeben muss (b • m = a • «). Je nach der Zahl der durch Base-Kationen ersetzbaren Wasserstoffatome spricht man von „einbasigen", „zweibasigen", ,,dreibasigen" (oder „einwertigen", ,,zweiwertigen" usw., aber nicht einbasischen, zweibasischen usw.) Säuren. Salpetersäure ist danach eine einbasige, Phosphorsäure eine dreibasige Säure. In gleicher Weise unterscheidet man je nach der Zahl der durch Säure-Anionen ersetzbaren Hydroxidgruppen „einsäurige", „zweisäurige", „dreisäurige" (oder „einwertige", „zweiwertige" usw.) Basen. Sind nicht alle Wasserstoffatome einer mehrbasigen Säure durch Base-Kationen bzw. nicht alle Hydroxidgruppen einer mehrsäurigen Base durch Säure-Anionen ersetzt, so spricht man von „sauren" („Hydrogen"-, ,,B"-) bzw. „basischen" („Hydroxid"-) Salzen; z.B. NaHSO 4 : ,,saures Natriumsulfat" („Natriumhydrogensulfat", „Natriumbisulfat"), Ca(OH)NO 3 : ,,basisches Calciumnitrat" („Calciumhydroxidnitrat").
4
Die Bezeichnung „Acylrest" ( = Säurerest) und ,,acid" (= sauer) leiten sich ab von acidus (lat.) = sauer.
1. Ionenlehre
55
In den ungelösten reinen Salzen sind die in wässriger Lösung beobachteten I o n e n bereits vorgebildet, und zwar liegen in ihnen die K a t i o n e n und Anionen, bei welchen es sich sowohl um „Atom-Ionen" (wie Na + , C a 2 + ,C1") als auch - aus mehreren Atomen zusammengesetzten - „Molekül-Ionen" (wie NH 4, NO 3, SO4", P O ) handeln kann, gemischt gepackt dicht nebeneinander (vgl. S. 124). Geschmolzene Salze leiten dementsprechend den Strom. Man bezeichnet dabei Stoffe, die aus Ionen aufgebaut sind, als „echte Elektrolyte" (z.B. NaCl) und unterscheidet sie von den „potentiellen Elektrolyten", bei welchen eine Ionenbildung erst nach Auflösung der - in reinem Zustand nicht-ionisch gebauten (vgl. S.131) Stoffe erfolgt. Zu letzterer Gruppe gehören die Säuren (z.B. HCl). Warum Säuren wie z. B. Chlorwasserstoff erst beim Auflösen in Wasser elektrolytisch dissoziieren, werden wir später erfahren (S.240). Hier wollen wir uns mit der Vorstellung begnügen, dass sich das Wasser als ,,Dielektrikum" (Wasser hat eine große Dielektrizitätskonstante 5 ) zwischen die geladenen Bestandteile des Chlorwasserstoffmoleküls schiebt und diese dadurch voneinander trennt
Stärke der Elektrolyte Ein Elektrolyt kann praktisch vollständig oder teilweise oder praktisch ü b e r h a u p t nicht in Ionen gespalten sein. Dementsprechend unterscheidet man starke, mittelstarke und schwache Elektrolyte (vgl. hierzu S. 196). Die Salzsäure HCl ist z.B. eine starke Säure, da sie in wässriger Lösung praktisch vollkommen in Ionen dissoziiert ist; die Blausäure HCN wird dagegen als schwache Säure bezeichnet, da sie in wässriger Lösung weitgehend in Form undissoziierter HCN-Moleküle vorliegt. Ein besonders schwacher Elektrolyt ist das Wasser, das gemäß HÖH -> H + + OH sowohl eine sehr schwache Säure wie eine sehr schwache Base ist und weder sauer noch basisch, sondern n e u t r a l reagiert, da die Anzahl der H + - und O H - I o n e n gleich groß ist. Die Stärke eines Elektrolyten pflegt man durch den so genannten „Dissoziationsgrad" a auszudrücken, der angibt, welcher Bruchteil (a ^ 1) der insgesamt gelösten Moleküle des Elektrolyten in Ionen dissoziiert ist (vgl. S. 197): a = Anzahl dissoziierter Moleküle/Gesamtzahl der Moleküle. Mit 100 multipliziert ergibt a den p r o z e n t u a l e n Dissoziationsgrad. Wasser besitzt z.B. bei 25°C den Dissoziationsgrad a = 1.8 x 1 0 " 9 , was besagt, dass 1.8 x 10~ 7 % des Wassers in H + und O H - I o n e n gespalten sind. Die Bestimmung des Dissoziationsgrades erfolgt z.B. durch Messung des osmotischen D r u c k e s % bzw. d e r - diesem Druck proportionalen - S i e d e p u n k t s e r h ö h u n g oder G e f r i e r p u n k t s e r n i e d r i g u n g At bestimmen. Denn diese Größen (s. dort) ermöglichen ja gemäß den Beziehungen % • V = n • R • T bzw. At = E • n die Ermittlung der in einer untersuchten Lösung vorhandenen Gesamt-Molzahl n. Diese Zahl n hängt ihrerseits aber - wenn die Anzahl Mole des gelösten Elektrolyten vor der D i s s o z i a t i o n mit n' und die Zahl der bei der D i s s o z i a t i o n je Molekül entstehenden I o n e n mit v bezeichnet wird - mit dem Dissoziationsgrad a durch die Gleichung n = n' (1 — a) +v • n' • a = n' + n' (y — 1) a bzw. et =
n — n' n' (v — 1)
zusammen, da n' mol eines Elektrolyten bei der Dissoziation n' (1 — a) mol undissoziierter Moleküle und v • n' • a mol Ionen ergeben. Löst man also z. B.n' = 0.24 mol eines in zwei (v = 2) Ionen je Molekül zerfallenden Elektrolyten in Wasser auf, und ergibt die Bestimmung der Molzahl n in der Lösung nach einer der oben genannten Methoden den Wert 0.30, so ist der Dissoziationsgrad a = (0.30 — 0.24): [0.24 (2 — 1)] = 0.25, was bedeutet, dass 25% des Elektrolyten in Ionen dissoziiert sind. Zwei weitere Methoden zur Bestimmung des Dissoziationsgrades elektrolytischer Dissoziationen be stehen in der Messung der elektrischen Leitfähigkeit (vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie) und der Messung des elektrischen P o t e n t i a l s (s. dort). Bei dem ersten Verfahren vergleicht man die Leitfähigkeit (AJ der Lösung eines Elektrolyten vom Dissoziationsgrad a mit der - aus Tabellen zu 5
Die Dielektrizitätskonstante £ eines Stoffs gibt gemäß F = F0/s an, wievielmal kleiner die Anziehungskraft i 7 zwischen zwei entgegengesetzten Ladungen in einem von dem betreffenden Stoff erfüllten Medium ist als die Anziehungskraft F 0 im Vakuum unter gleichen Bedingungen. In Benzol, welches eine rund 35mal kleinere Dielektrizitätskonstante als Wasser aufweist, leitet HCl den elektrischen Strom nicht.
56
III. Atom- und Molekülion
entnehmenden - Leitfähigkeit A x= ls die bei vollständiger Spaltung des Elektrolyten in Ionen (a = 1) zu erwarten wäre: a = AJAa = 1 . Bei dem zweiten Verfahren ermittelt man aus dem Potential einer in die Elektrolytlösung eintauchenden Elektrode die I o n e n k o n z e n t r a t i o n ca des Elektrolyten und vergleicht sie mit der bei vollständiger Spaltung des Elektrolyten zu erwartenden Ionenkonzentration Ca=l
=
Ca/Ca=V
Wie sich aus solchen experimentellen Bestimmungen von Dissoziationsgraden ergibt, ist der Dissoziationsgrad eines Elektrolyten keine Konstante, sondern bei gegebener Temperatur von der Verdünnung abhängig, und zwar nimmt er mit der Verdünnung zu. Die quantitativen Beziehungen hierfür werden wir später kennenlernen (vgl. Massenwirkungsgesetz, S. 193)6.
Reaktionen der Elektrolyte Salze sind im Allgemeinen in wässriger Lösung v o l l k o m m e n in Ionen gespalten. Ist die Lösung so v e r d ü n n t , dass die beiden entgegengesetzt geladenen Ionenarten keine merklichen Kräfte aufeinander ausüben („ideale Ionenlösung"), so setzen sich die p h y s i k a l i s c h e n E i g e n s c h a f t e n der Salzlösung additiv aus den Eigenschaften der beiden Ionenarten zusammen. Dementsprechend ist z. B. die F a r b e aller Permanganatlösungen M M n 0 4 mit farblosem Metallion M + (wie Na + , K + , Mg2 + /2) violett, weil das Permanganat-Ion M n 0 4 violett gefärbt ist Ganz entsprechend stellen die chemischen E i g e n s c h a f t e n von verdünnten Elektrolytlösungen eine Summe der Eigenschaften von Kation und Anion dar. So fällt etwa aus wässerigen Lösungen aller löslichen Bleisalze PbX 2 (X z.B. = N O , CH 3 CO 2 ) bei Zugabe von Schwefelsäure weißes Bleisulfat aus, weil die infolge der Dissoziation der Bleisalze vorhandenen Blei-Ionen Pb2 + (PbX 2 -> Pb2 + + 2 X ) mit den aus der Dissoziation der Schwefelsäure stammenden Sulfat-Ionen SO2" (H 2 SO 4 -> 2 H + + SO2") zu schwerlöslichem Bleisulfat PbSO zusammentreten Pb2 + + SO2" -y PbSO 4 . Mithin können in Wasser gelöste Blei-Ionen Pb2 + durch „Fällungsreaktion" mit Sulfat-Ionen SO2" nachgewiesen werden. In analoger Weise lässt sich das Chlorid-Ion Cl" der Metallchloride (MCI ^ M + +C1"; M + z.B. = N a + , K + , Mg2 + /2) in wässriger Lösung daran erkennen, dass es mit Silbernitratlösung (AgNO 3 -> Ag + + N O ) einen schwerlöslichen weißen Niederschlag von Silberchlorid AgCl ergibt: Ag + + Cl"
AgCl.
Man nennt solche Umsetzungen zwischen Ionen „Ionenreaktionen"; sie verlaufen ganz allgemein sehr rasch (S. 3 7 8 . Liegt das fragliche Atom oder die Atomgruppe in wässeriger Lösung nicht in Ionenform vor, so bleibt selbstverständlich die charakteristische Ionenreaktion aus. So reagiert z.B. das im Tetrachlorkohlenstoff CC14 oder im Chloroform CHC13 an Kohlenstoff gebundene Chlor, welches in wässeriger Lösung nicht als Chlor-Ion abdissoziiert, nicht mit Silbernitratlösung unter Silberchloridbildung
6
7
Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass die aus Messungen des osmotischen Drucks, der Siedepunktserhöhung, der Gefrierpunktserniedrigung, der elektrischen Leitfähigkeit bzw. des elektrischen Potentials hervorgehenden Werte von a aus Gründen, die später (S.196) erörtert werden, etwas kleiner als die w a h r e n D i s s o z i a t i o n s g r a d e sind und daher auch „scheinbare Dissoziationsgrade" genannt werden. U m zu den „wahren Dissoziationsgraden" zu kommen, müssen die zur Bestimmung von a (und damit der Molzahl N) dienenden Größen des osmotischen Drucks JI„ der Leitfähigkeit ^ und der Ionenkonzentration c^ vor Einsetzen in die betreffenden Bestimmungsgleichungen für a. noch durch Korrektionsglieder y(y < 1) dividiert werden (S. 197). Eine direkte Bestimmung der wahren Konzentrationen c aller Reaktionsteilnehmer eines teilweise dissoziierenden Elektrolyten und damit eine direkte Bestimmung von a kann durch optische Methoden erfolgen (vgl. Lehrbücher der Physikalischen Chemie). Die Ionenreaktionen stellen einen Spezialfall „doppelter Umsetzungen" dar, worunter man allgemein die Umwandlung zweier Verbindungen AB und CD in zwei andere Verbindungen AC und BD versteht: AB + CD AC + BD. z. B.: AgNO 3 + NaCl - A g C l + N a N O 3 . (Die Reaktion PbX 2 + H 2 S O 4 - PbSO 4 + 2 H X stellt eine ,,mehrfache Umsetzung" dar.)
1. Ionenlehre
57
Eine im Laboratorium häufig durchgeführte Ionenreaktion ist die „Neutralisation" (S. 209) von Säuren und Basen. Gibt man chemisch äquivalente Mengen einer starken Säure (z.B. Salzsäure) und einer s t a r k e n Base (z.B. Natronlauge) zusammen, so geht die Eigenschaft der Säure, blaues Lackmuspapier zu röten („sauer zu reagieren"), und die Eigenschaft der Base, rotes Lackmuspapier zu bläuen („basisch zu reagieren"), verloren, weil sich die Wass e r s t o f f - I o n e n der Säure mit den H y d r o x i d - I o n e n der Base zu dem nur spurenweise (s. oben) dissoziierten Wasser vereinigen: N a + + O H ~ + H + +C1"
N a + + C1~ + H 2 O .
Die Kationen der starken Base und die Anionen der starken Säure beteiligen sich, wie aus dieser Gleichung hervorgeht, nicht an der Reaktion, sodass man den Neutralisationsvorgang auch vereinfacht als OH schreiben kann. Die Reaktionsenthalpie dieser Ionenreaktion, die extrem rasch verläuft (vgl. S. 378) beträgt bei Zimmertemperatur 55.873 kJ (13.345 kcal) pro Mol H 2 O. Daher kommt es, dass bei jeder Neutralisation einer s t a r k e n Säure mit einer starken Base unabhängig von der Art der Säure und Base eine,,Neutralisationsenthalpie" von 55.873 kJ freigesetzt wird. Ist aber die Säure schwach, so hat die Neutralisationsenthalpie einen anderen Wert; denn dann müssen die Moleküle der schwachen Säure während der Neutralisation in dem Maße nachdissoziieren, in welchem die Wasserstoff-Ionen verbraucht werden, sodass sich die gemessene Neutralisationsenthalpie aus der eigentlichen N e u t r a l i s a t i o n s e n t h a l p i e (55.9 kJ) und der D i s s o z i a t i o n s e n t h a l p i e zusammensetzt. So beträgt z. B. die bei der Neutralisation von Blausäure (HCN) mit Natronlauge freiwerdende Neutralisationsenthalpie nur 12.2 kJ weil die Dissoziation der Blausäure in Wasserstoff- und CyanidIonen 43.7 kJ erfordert: 43.7 k HCN H+ +OH~ HCN + O H ~
CN H 2 0 +55.9 kJ CN" + H 2 0 + 12.2kJ.
Da das Wasser zu einem geringen Betrag in Wasserstoff- und Hydroxid-Ionen gespalten ist, verläuft die Neutralisation H + + O H ~ -> H 2 0 - und damit auch die Reaktion HCN + O H ~ -> CN~ + H 2 0 nicht q u a n t i t a t i v , sondern führt zu einem - allerdings ganz nach der rechten Seite der Reaktionsgleichung verschobenen - Gleichgewicht (vgl. S. 193). Derselbe Gleichgewichtszustand stellt sich ein, wenn wir in Umkehrung der zu Salz und Wasser führenden Neutralisationreaktion Salz und Wasser zu sammengeben. Es setzen sich letztere dann in geringem Maße unter Rückbildung von Säure und Base um („Hydrolyse"). Ist die Säure schwach und die Base stark, so führt diese Hydrolyse - wie etwa die von rechts nach links gelesene Gleichung HCN + O H ~ -> CN~ + H 2 O zeigt - zu einer basischen Reaktion der Lösung; im u m g e k e h r t e n Falle (Säure stark und Base schwach) reagiert die Salzlösung sauer (Näheres S. 207).
Die bisherigen Betrachtungen, die veranschaulichen, dass Atome aus elektrisch geladenen Teilchen aufgebaut und mithin teilbar sind, waren mehr q u a l i t a t i v e r Art. Im Folgenden wenden wir uns q u a n t i t a t i v e n Beziehungen der Verhältnisse stromdurchflossener Elektrolytlösungen zu und betrachten speziell die Größe der elektrischen Ionenladung.
58
III. Atom- und Molekülion
1.2
Die elektrolytische Zersetzung. Der Elektronen- und Protonenbegriff
1.2.1
Experimentalbefunde: Massenverhältnisse bei der elektrolytischen Stoffabscheidung
Taucht man in eine wässrige Salzsäurelösung zwei Platinelektroden ein und legt an die Elektroden eine elektrische Spannung an, so wandern die Wasserstoff-Ionen zur negativen und die Chlorid-Ionen zur positiven Elektrode (vgl. Fig. 24), wo dann eine E n t l a d u n g zu freiem Wasserstoff bzw. Chlor erfolgt (,,elektrolytische Zersetzung" der Salzsäure, vgl. S. 234). Die abgeschiedenen Mengen Wasserstoff und Chlor entsprechen dabei einer von dem englischen Naturforscher Michael Faraday (1791-1867) im Jahre 1833 aufgefundenen und unter dem Namen „1. Faraday'sches Gesetz66 bekannten Gesetzmäßigkeit Die Masse eines elektrolytisch gebildeten Stoffs ist der durch den Elektrolyten geflossenen Elektrizitätsmenge direkt proportional. Schickt man also z.B. doppelt soviel elektrischen Strom durch eine Salzsäurelösung, so wird auch doppelt soviel Wasserstoff an der Kathode und doppelt soviel Chlor an der Anode gebildet. negative Elektrode (Kathode) © Wasserstoff \
positive Elektrode (Anode) © Chlor
Fig. 24
Elektrolyse von Salzsäure.
Vergleicht man weiter die Massen gebildeten Wasserstoffs und Chlors miteinander, so stellt man fest, dass auf 1 mol ( = 2.016 g) Wasserstoff H 2 jeweils auch 1 m o ^ 70.906 g) Chlor Cl2 entsteht. Somit unterscheiden sich die Ladungen des Wasserstoff- und Chlorid-Ions nur im Vorzeichen, aber nicht in der G r ö ß e voneinander, was ja auch schon daraus folgt, dass das Chlorwasserstoffmolekül HCl nach außen hin neutral ist. Wie groß die elektrische Ladung eines einzelnen Wasserstoff- oder Chlorid-Ions („elektrische Elementarladung66 e) ist, ergibt sich aus dem experimentellen Befund, dass zur Entladung von 1 mol Wasserstoff- bzw. Chlorid-Ionen - d.h. von jeweils 6.022 x 10 23 Ionen (Avogadro'sche Zahl) - eine Elektrizitätsmenge von 96485 Coulomb - entsprechend ,,1 Faraday" - erforderlich ist. Jedes Wasserstoff- bzw. Chlorid-Ion trägt danach eine E l e m e n t a r l a d u n g von 96485 : (6.022 x 1023) = 1.6022 x 10 " 1 9 Coulomb, in einem Falle mit positivem, im anderen mit negativem Vorzeichen Die experimentelle Bestimmung der elektrischen Elementarladung erfolgte erstmals durch den amerikanischen Physiker Robert Andrew Millikan (1868-1953) im Jahre 1911 durch Messen des Unterschiedes der Fallgeschwindigkeit feiner, mit einem oder wenigen Ionen beladener Ö l t r ö p f c h e n einerseits im Schwerefeld der Erde, andererseits zusätzlich im elektrischen Feld direkt bestimmt. (Die an den Öltröpfchen haftenden Ionen wurden aus Gasmolekülen durch Bestrahlen erhalten; vgl. hierzu auch Lehrbücher der physikalischen Chemie.) Millikan stellte fest, dass die mit einem Öltröpfchen verbundene Ladung gleich 1.6 x 10"19 Coulomb oder ein Vielfaches dieses Wertes ist. Da sich die Elementarladung e durch Weiterentwicklung der Millikan'schen Methode sehr genau bestimmen lässt, berechnet man heute in Umkehrung der oben geschilderten Weise die Avogadro'sche Konstante NA (S. 46) gemäß NA = Fje aus der Faraday-Konstante sowie der Ladung e.
Nimmt man statt Salzsäure HCl Schwefelsäure H 2 SO 4 , so sind auch hier zur Abscheidung von 1 mol Wasserstoffatomen 96485 Coulomb erforderlich. Die Wasserstoffatome der Schwe-
1. Ionenlehre
59
felsäure tragen somit die gleiche (positive) Elementarladung von 1.6022 x10~ 1 9 Coulomb wie in der Salzsäure. Daher müssen die Sulfat-Ionen der Schwefelsäure zwei (negative) Elementarladungen aufweisen: SO2", da nur dann das ganze Molekül H 2 SO 4 nach außen hin neutral ist. Demnach sind zur Entladung eines Mols Sulfat-Ionen 2 x 96485 Coulomb erforderlich8 ; und entsprechend müssen bei der Elektrolyse z.B. einer wässrigen Kupfersulfatlösung (CuSO 4 -> Cu.2+ + SO2") zur kathodischen Abscheidung von 1 mol Kupfer2 x96485 Coulomb aufgewandt werden. Indem man nun die durch die Zahl der Ladungen dividierte molare Formelmasse eines Ions, d.h. den auf 1 Einheitsladung entfallenden Massenanteil ganz allgemein als ,,molare Äquivalentmasse" (S. 26) des Ions bezeichnet, lassen sich diese experimentellen Befunde in einfacher Weise durch das „2. Faraday'sche Gesetz" zum Ausdruck bringen Die Massen der durch gleiche Elektrizitätsmengen abgeschiedenen chemischen Stoffe verhalten sich wie deren molare Äquivalentmassen In Übereinstimmung mit diesem Gesetz wird die Einheit der elektrischen Strommenge, das Coulomb (Symbol C) als diejenige Elektrizitätsmenge definiert, die zur elektrolytischen Abscheidung von 1/F = 1 /96485 der molaren Äquivalentmasse eines Stoffes erforderlich ist (z. B. von 107.870/96485 = 0.0011180 g Silber aus einer Silbersalzlösung in einem „Silbercoulombmeter"). Eine Stromstärke von 1 Coulomb pro Sekunde wird seit 1908 als 1 Ampere (Symbol A) bezeichnet (bzgl. der Definition seit 1948 vgl. Anh. II). Benannt sind beide Einheiten nach den französischen Physikern Charles Augustin de Coulomb (1736-1806) und Andre Marie Ampere (1775-1836). Gemäß dem gegebenen Zusammenhang Ampere x Sekunde = Coulomb muss man also einen elektrischen Strom von 1 Ampere insgesamt 96 485 Sekunden (26 h 48 min) lang auf Salzsaüre einwirken lassen, um 1.008 g Wasserstoff an der Kathode zu entwickeln. - Bezüglich weiterer elektrischer Einheiten, wie Volt, Joule, Watt, Ohm und ihre Definition vgl. Anh. II.
1.2.2
Stoney'sche Elektronen- und Rutherford'sche Protonenhypothese
Die beiden Faraday'schen Gesetze sind ohne Annahme kleinster, nicht weiter unterteilbarer Elektrizitätsmengen nicht zu deuten. In derselben Weise, in der die s t ö c h i o m e t r i s c h e n Massengesetze (Reaktionen von Materie mit Materie, S. 15) zur Entwicklung einer A t o m theorie für die M a t e r i e und die p h o t o c h e m i s c h e n Äquivalenzgesetze (Reaktionen zwischen Materie und Lichtenergie, S. 100) zur Ableitung einer a t o m i s t i s c h e n Struktur des Lichts zwangen, führten die Faraday'schen Gesetze (Reaktionen zwischen Materie und elektrischer Energie) zwangsläufig zur Aufstellung einer atomistischen T h e o r i e für die Elektrizität Aus den Faraday'schen Gesetzen folgt allerdings zunächst nur, dass die Elektrizität diskreter und nicht k o n t i n u i e r l i c h e r N a t u r ist, dass also die positiven und negativen Ladungen der Atome nur bestimmte, nicht jedoch beliebige Werte annehmen können. So lässt etwa die elektrolytische Dissoziation des Chlorwasserstoffs bzw. die elektrolytische Zersetzung der Salzsäure: HCl
(HO)
> H" + +C1"" bzw. 2H
.
+2C1"" —
(Strom)
H2+Cl2,
keine Aussage über die Zahl n der beim Wasserstoff- bzw. Chlorid-Ion vorhandenen positiven bzw. negativen Elementarladungen zu (fest steht allerdings, dass n für das Wasserstoff- und Chlorid-Ion gleich groß ist). Nun zeigt sich aber, dass bei der elektrolytischen Dissoziation von Säuren pro gebildetes Wasserstoffkation in keinem bekannten Fall mehr als maximal 1 Anion entsteht. Es besteht daher kein Grund zu der Annahme, dass das Wasserstoff-Ion mehr als eine positive, das Chlorid-Ion demgemäß mehr als eine negative E l e m e n t a r l a d u n g trägt (n = 1; vgl. hierzu die Ableitung der stöchiometrischen Molekülzusammensetzung aus den Volumengesetzen der Gase, S. 20). Der elektrischen Elementarladung kommt hiernach der oben gegebene Wert von + 1.6022 x 10" 1 9 Coulomb zu.
8
In der Tat werden allerdings nicht die Sulfat-Ionen entladen, sondern die Hydroxid-Ionen des Wassers: OH~ J 0 2 + H + + ©. Hierauf ist die Sauerstoffentwicklung bei der Elektrolyse schwefelsäurehaltigen Wassers zurückzuführen
60
III. Atom- und Molekülion
Der Elektronenbegriff. Die kleinste, als Bestandteil in A t o m e n auftretende Einheit der negativen Elektrizitätist nach einer, auf eigenen Überlegungen (1874) sowie Vorstellungen des deutschen Naturforschers Hermann v. Helmholtz (1821-1894) fußenden H y p o t h e s e des englischen Forschers George Johnstone Stoney (1826-1911) aus dem Jahre 1891 das „Elektron66 (von griech. elektron = Bernstein9). Dem Elektron (Namengebung: Stoney; Symbol: e, exakter: e~) kommt die L a d u n g — 1 zu (d.h. 1 negative Elementarladung von 1.6021892x 10-19 Coulomb). Bereits sechs Jahre nach Aufstellung der Elektronenhypothese - also im Jahre 1897 - erfolgte dann die Entdeckung des Elektrons durch den englischen Physiker Joseph John Thomson (1856-1940). Bedeutungsvoll für die Elektronenentdeckung waren dabei - anders als im Falle der auf Untersuchungen von geladenen Teilchen in der Lösungsphasegestützten Elektronenhypothese - Untersuchungen von geladenen Teilchen in der Gasphase, denen wir uns kurz zuwenden wollen: Legt man an zwei Elektroden, die in einem gasgefüllten, auf beiden Seiten abgeschlossenen Glasrohr (,,Gasentladungsrohr") eingeschmolzen sind (Fig. 25), eine elektrische Spannung von 1000 V an und pumpt das Glasrohr zunehmend leer, so beginnt ab Gasdrücken < 10-2 bar Strom zu fließen, was sich nach außen hin in einem Leuchten des gesamten eingeschlossenen Restgases bemerkbar macht (,,leuchtende Gasentladung"; Aussendung eines „Linienspektrums", vgl. S. 100). Bei weiterer Druckabnahme erscheint ab 10-3 bar in der Nähe der Kathode eine dunkle Zone, die sich zunehmend vergrößert und schließlich bei Gasdrücken < 10 ~5 bar das gesamte Gasrohr ausfüllt; die Gasentladung wird trotz Stromflusses unsichtbar (,,dunkle Gasentladung"). Sind Kathode und Anode durchlöchert (Fig. 25), sodass die Träger des Elektrizitätsflusses durch die Elektroden fliegen können, so lassen sich in letzterem Falle nur hinter der Anode nicht dagegen hinter der Kathode - geladene Teilchen nachweisen (z.B. mittels eines Zinksulfid-Fluoreszenzschirms, s. dort). Träger des Stromes ist also bei sehr niedrigen G a s d r ü c k e n ausschließlich die zur positiven Anode fließende und demgemäß negativ geladene E l e k t r i z i t ä t (,,Kathodenstrahlen"). Vakuumpumpe positive Gasionen (Kationen)
negative Elektrizität (Elektronen)
h Fig. 25 Erzeugung von Kathoden- und Kanalstrahlen. Kathode
Kanalstrahlen
Kathodenstrahlen
Anode
Über die Ablenkung der Kathodenstrahlen in elektrischen und magnetischen Feldern (S. 62) kann unter Berücksichtigung der Größe für die elektrische Elementarladung die relative Masse der K a t h o d e n s t r a h l e n t e i l c h e n bei Kenntnis ihrer Geschwindigkeit nach Elektrodendurchtritt ermittelt werden. Sie beträgt (nach genaueren neueren Untersuchungen) 1/1836 der Atommasse des Wasserstoffs. Da bisher kein leichteres, aus einem chemischen Stoff (hier der Elektrode) stammendes Teilchen der Elementarladung — 1 aufgefunden wurde, besteht 9
Geschichtliches Die Bezeichnungen „Elektron",,,Elektrizität" usw. stammen daher, dass Bernstein - ein Harz - , wie schon im Altertum bekannt war, nach Reiben mit einem Fell leichte Körper (z. B. Holundermark-Kügelchen) anzieht, also nach unseren heutigen Kenntnissen ,,elektrisch" aufgeladen ist. William Gilbert (1540-1603) entdeckte, dass diese Eigenschaft des Bernsteins auch anderen Stoffen, z.B. Glas, zukommt (das nach Reiben mit Seide Kräfte ausstrahlt, die denen des Bernsteins entgegengesetzt sind). Er prägte dafür die Namen ,,Elektrizität" und ,,elektrisiert" („gebernsteint"). Die Reibungselektrizität war bis in das 17. Jahrhundert die allein beachtete elektrische Erscheinung. 1747 führte Benjamin Franklin (1706-1790) die Bezeichnung „positive" Elektrizität für die G l a s e l e k t r i z i t ä t und „negative" Elektrizität für die H a r z e l e k t r i z i t ä t ein.
1. Ionenlehre
61
der berechtigte Grund zu der - erstmals von J.J. Thomson (1897) ausgesprochenen - Annahme, dass die aus der Kathode tretenden (emittierten) Teilchen negative E l e k t r i z i t ä t s atome, die Kathodenstrahlen mithin Strahlen aus Elektronen mit der relativen Masse Mr(e) = 0.000548 6 darstellen. Der Protonenbegriff. Untersucht man im Falle einer l e u c h t e n d e n statt einer dunklen Gase n t l a d u n g (s. oben) den Raum hinter den durchlöcherten Elektroden (Fig.25), so lassen sich nicht nur hinter der Anode, sondern auch hinter der Kathode geladene Teilchen nachweisen. Träger des S t r o m e s ist nun außer zur positiven Anode fließende negative Elektrizität auch zur negativen Kathode fließende, positiv geladene Elektrizität („Kanalstrahlen", von Eugen Goldstein 1886 entdeckt). Wie aus der Ablenkung in elektrischen und magnetischen Feldern folgt, handelt es sich im Falle der Kanalstrahlenteilchen um G a s k a t i o n e n , die beim Zusammenstoß der Kathodenstrahlen (Elektronen) mit den Atomen bzw. Molekülen des in der Entladungsröhre eingeschlossenen Gases durch H e r a u s s c h l a g e n von Elektronen entstehen. In den vom W a s s e r s t o f f g a s ausgehenden positiven Kanalstrahlen, die aus Wass e r s t o f f - I o n e n H + bestehen, wurden dann - fußend auf Untersuchungen von Wilhelm Wien (1864-1928) und Joseph John Thomson (s. o.) - von dem englischen Physiker Sir Ernest Rutherford im Jahre 1913 die lange gesuchten positiven G e g e n p a r t n e r der n e g a t i v e n E l e k t r o n e n erkannt. Somit ist die kleinste, als B e s t a n d t e i l in A t o m e n auftretende M a t e r i e e i n h e i t der positiven E l e k t r i z i t ä t das als „Proton"i° bezeichnete Wasserstoffkation H + . Dem Proton (Namengebung: Rutherford; Symbol: p, exakter: p + ) kommt die L a d u n g + 1 zu (d.h. 1 positive Elementarladung von 1.6021892 x 10"i® Coulomb). Die relative Protonenmasse M r (p), die sich in einfacher Weise als Differenz M r (H) — M r (e) der relativen Massen des Wasserstoffs und Elektrons (s. oben) ergibt, ist wegen der sehr kleinen Elektronenmasse praktisch gleich der relativen Wasserstoffatommasse (M r (p) = 1.007276). Jedes chemische Element ist durch eine ganz b e s t i m m t e A n z a h l von P r o t o n e n charakterisiert, die in der Mitte des Atoms, dem sogenannten „Atomkern" lokalisiert sind (vgl. S. 86)U. Diese „Protonenzahl" („Kernladungszahl") ist gleich der bereits besprochenen „Ordnungszahl " (,,Atomnummer") des Elements^ Enthält der Atomkern 1 Proton, so handelt es sich um das Element Wasserstoff; 2 Protonen im Kern entsprechen dem Element Helium usw. Zur Kompensation der positiven Ladung jedes Kerns der nach außen hin n e u t r a l erscheinenden Atome umgibt eine der Protonenzahl entsprechende Anzahl von Elektronen den Atomkern in Form einer „Elektronenhülle" (vgl. S.90). Positiv geladene Atome (AtomK a t i o n e n ) weisen dann weniger, negativ geladene A t o m e ( A t o m - A n i o n e n ) mehr Elektronen als Protonen auf Da die Atome des leichtesten Elements Wasserstoff jeweils nur einen positiv geladenen (Proton) sowie negativ geladenen (Elektron) Baustein der Materie enthalten, kann man sich die Elementatome formal aus Wasserstoffatomen zusammengesetzt denken. Dieser Sachverhalt kommt der alten Prout'schen Hypothese (s. dort) sehr nahe. Allerdings ist dann nicht ganz verständlich, warum die relativen A t o m m a s s e n von der G a n z z a h l i g k e i t zum Teil beträchtlich abweichen (z.B. B 10.81; Ge 72.59; Xe 131.30), nachdem die Atome offenbar aus Bausteinen der angenäherten Masse 1 bestehen (die Elektronen steuern wegen ihrer verschwindend kleinen Masse (0.0005) zur Atommasse praktisch nichts bei). Eine Erklärung für die beobachteten Unstimmigkeiten werden uns P r ä z i s i o n s m a s s e n b e s t i m m u n g e n von Atom- und Molekül-Ionen mittels der „Massenspektrometrie" liefern.
1° proton (griech.) = erstes, Ur-(Teilchen); nucleus (lat.) = Kern; ne-utrum (lat.) = keines von beiden (weder positiv noch negativ). 11 Neben Protonen enthält der Atomkern (,,Nukleus")i° noch ungeladene „Neutronen"^ der angenäherten relativen Masse 1. Dass die Zahl der positiven Kernladungen beim Fortschreiten von einem zum nächsten Element im Periodensystem um je 1 Einheit zunimmt, wurde erstmals 1913 von Henry Moseley nachgewiesen (S. 107).
62
III. Atom- und Molekülion
2
lonenmassenbestimmung
2.1
Die Massenspektrometrie 12
Das von Joseph John Thomson (1856-1940) im Jahre 1907 entwickelte und ab 1919 von Francis William Aston (1877-1945) und vielen anderen (z.B. J.Mattauch, A.J.Dempster) apparativ weiterentwickelte Verfahren der Massenspektrometrie beruht auf Folgendem (vgl. „Massenspektrometer", Fig. 26): Schickt man eine elektrische Entladung - also Elektronen hoher Geschwindigkeit - durch eine stark verdünnte, g a s f ö r m i g e V e r b i n d u n g s p r o b e , so können die Gaspartikel durch Zusammenstoß mit den Elektronen in Ionen (Kanalstrahlen, s. oben) übergeführt werden, und zwar bilden sich insbesondere unter E l e k t r o n e n a b s p a l tung und gegebenenfalls gleichzeitiger Molekülspaltung positiv geladene Moleküle, Molekülbruchstücke bzw. Atome, also beispielsweise aus Molekülen AB (A, B = Atom, Atomgruppe): AB
+e
— 2e
> AB + ,
AB
+e
— 3e
> AB++,
AB
+e
—2e
> A + +B.
(1)
Seltener entstehen durch E l e k t r o n e n e i n f a n g und gegebenenfalls Molekülspaltung negativ geladene Moleküle, Molekülbruchstücke bzw. Atome (z.B. A B + e ~ -> AB"; AB +e~ -> A + B " ) oder durch E l e k t r o n e n s t o ß positiv sowie negativ geladene Molekülbruchstücke (z.B. A B + e " A+ + B " +e"). Beschleunigt man nun die gebildeten Kationen oder Anionen in einem elektrischen Feld und lässt sie anschließend durch ein statisches magnetisches Sektorfeld fliegen (vgl. Fig. 26),
Fig. 26 Einfachfokussierendes, magnetisches Massenspektrometer. (Die wiedergebende Ablenkung im Magneten gilt unter der Vorausetzung, dass mK < mB.)
12
Literatur H.Kienitz (Hrsg.): „Massenspektrometrie", VCH, Weinheim 1968; M.R.Litzow, T.R.Spalding: , M a s s Spectrometry of Inorganic and Organometallic Compounds", Elsevier, Amsterdam 1973; H. J. Hübschmann: ,,Handbuch der GC/MS: Grundlagen und Anwendungen", VCH, Weinheim 1996; R . A . H . Johnstone, M.E. Rose: , M a s s spectrometry for chemists and biochemists", 2. Aufl., Cambridge University Press, Cambridge 1996. V.M. Bierbaum: ,,Frontiers in Mass Spectrometry", Chem. R e v 101 (2001) 209-606; C. A. Schalley (Hrsg.): ,,Modern Mass Spectrometry'', Topics Curr. C h e m 225 (2003).
2. Ionenmassenbestimmung
63
so werden in Letzterem Ionen unterschiedlicher Masse bzw. L a d u n g - oder e x a k t e r unterschiedlichen Verhältnissen m/z von Masse m zu Zahl z der Teilchenladung - verschieden stark abgelenkt, u n d zwar die leichteren u n d höher geladenen Ionen stärker als die schwereren u n d weniger geladenen (Fig. 26; vgl. auch Lehrbücher der Physik). A m Ausgang des Magneten erscheinen d e m g e m ä ß alle Ionen unterschiedlichen Verhältnisses mfz getrennt an verschiedenen Stellen u n d k ö n n e n d o r t durch geeignete Messanordnungen nachgewiesen werden (einfach/zweifach/dreifach geladene Ionen der Masse m ß m / ^ m erscheinen an der gleichen Stelle). Die Massentrennungswirkung (,,Massenauflösung") k a n n dabei wesentlich verstärkt werden, wenn m a n die Ionen nicht nur durch ein magnetisches Sektorfeld schickt („einfach fokussierendes Massenspektrometer"), sondern davor oder danach zusätzlich durch ein elektrisches Sektorfeld („doppelt fokussierendes Massenspektrometer; ein elektrisches Sektorfeld ist in F i g . 4 2 S. 110 abgebildet). Von den erwähnten Massenspektrometern unterscheidet m a n den „Massenseparator66, mit dem die nach Massen g e t r e n n t e n einfach geladenen Kationen an verschiedenen Orten aufgefangen u n d - nach ihrer Entladung - in Substanz isoliert werden. Jedes Massenspektrometer setzt sich aus fünf Funktionsteilen zusammen: Probenzuführungs-, Ionenerzeugungs-, Ionenbeschleunigungs-, Massentrennungs- und Ionennachweisteil (vgl. Fig. 26). Da die Ionenerzeugung in gutem Hochvakuum (Druck 10 mbar) erfolgen muss, enthält ein Massenspektrometer zusätzlich eine Hochvakuumanlage Die - erforderlichenfalls durch Erwärmen gewonnene - gasförmige Probe wird im Ionenerzeugungsteil (,,Ionenquelle") auf unterschiedliche Weise ionisiert. Im Falle der ,,Elektronenionisation" (EI) bewirken Elektronen e, die nach ihrem Austritt aus einer Glühkathode eine Spannung Ue (meist 70 V) durchflogen und mithin eine Energie eUc (meist 70eV; e = Elementarladung) erworben haben sowie die kinetische Energie m e vl/2 (mc = Elektronenmasse, ue = Elektronengeschwindigkeit) mit sich führen, Prozesse des Typus (1). Aus der Gleichheit von elektrischer und kinetischer Energie (eU e = mei>e/2) berechnet sich dann i>e gemäß Gleichung (2a) (für Ue = 70 V ergibt sich i>e zu ca. 5000 km/sec). (2) Im Falle der ,,Chemischen Ionisation" (CI) bewirken Gaskationen, die aus Gasen (z.B. Ammoniak, Isobutan, Methan) durch Elektronenstoß zuvor erzeugt wurden (bei Methan z. B. CH4 , CH5), durch Reaktion mit den Probemolekülen AB (z.B. AB + CH5 ABH + + C H ; AB + CHJ ABCH + ) deren Überführung in vergleichsweise langlebige „Quasimolekülionen". Durch geschickte Wahl des ,,CIGases" kann ein weiterer Zerfall letzterer Ionen häufig weitgehend unterbunden werden, was die CIMethode zur Bestimmung von Molekülmassen privilegiert (bei Elektronenionisation ist die Konzentration der Molekülionen nicht selten klein). Probemoleküle AB können darüber hinaus wie folgt ionisiert werden: durch starke, inhomogene elektrische Felder in der ,,Feldionisation" (FI), durch monochromatisches, kurzwelliges Licht in der ,,Photoionenquelle" (vgl. S. 109), durch sehr hohe Temperaturen in der „Thermionenquelle". Im Falle nicht unzersetzt verdampfbarer Verbindungen beschießt man eine Lösung der Probe AB in einer schwerflüchtigen Matrix (z. B. Glycerin, 3-Nitrobenzylalkohol) mit energiereichen, rasch fliegenden schweren Edelgasatomen („Fast Atom Bombardment", FAB) oder Cäsiumkationen („Fast Ion Bombardment", FIB), wobei Proben- und Matrixmoleküle in das Vakuum „gesputtert" und hierbei ionisiert werden (meist Bildung von ABH ). Bei Salzen können auf diese Weise die Kationen (bzw nach Wechsel aller Polaritäten des Massenspektrometers auch die Anionen B ~) direkt untersucht werden. Es ist auch möglich, eine nicht unzersetzt verdampfbare Probe auf mikroskopisch kleine Kohlenstoffnadeln („Whisker") aufzubringen und durch ein sehr starkes, inhomogenes elektrisches Feld (s. oben) zu ionisieren („Felddesorption", FD). Durch elektrische Felder lassen sich auch winzigste, in die Ionenquelle gesprühte Tröpfchen einer Probenlösung ionisieren, wobei die Tröpfchen beim Verdampfen des Solvens im Vakuum letztendlich ihre Ladungen auf die Probenmoleküle übertragen (,,Elektrospray Ionisation'', ESI). Die - wie beschrieben - erzeugten Ionen werden anschließend im Ionenbeschleunigungsteil beim Durchfliegen einer Hochspannungspotentialdifferenz auf Geschwindigkeiten im Bereich von km pro Sekunde gebracht (Berechnung mit Gleichung (2b) mit der Zahl z der Ionenladungen). Im Massentrennungsteil werden dann die beschleunigten Kationen beim Durchfliegen des homogenen, zur Ionenrichtung senkrechten magnetischen Sektorfeldes der Feldstärke H von einer zur Flugrichtung senkrecht wirkenden magnetischen Kraft („Lorentzkraft"), wie in Fig.26 dargestellt, abgelenkt. (Die Anionenablenkung ist entgegengesetzt; zur Anionentrennung müssen sowohl das elektrostatische Feld
64
III. Atom- und Molekülion
100
200
300
400
500
600
— relative Masse —
Fig. 27 Kationen-Massenspektrum von Bismuttriiodid Bil 3 . (Der kleine Peak bei der relativen Masse 128 geht auf H I + zurück, das sich hydrolytisch aus Bil 3 gebildet hat.)
als auch der Magnet umgepolt werden.) Da eine ionenbremsende bzw. -beschleunigende Kraft fehlt, beschreiben die Ionen eine durch Gleichung (3) gegebene Kreisbahn, wonach der Ablenkungsradius rIon umso kleiner (d. h. die Ablenkung umso größer) ist, je kleiner die Ionenmasse mlon und die lonengeschwinn digkeit vlon und je größer die Ionenladung ze sowie die magnetische Feldstärke H sind. 13 m
11
ze
(3)
Indem die Magnetfeldstärke gesteigert wird („Magnetscan"), erreicht man, dass der Reihe nach Ionen zunehmender Masse den „Kollektorspalt" passieren (vgl. Fig. 26). Sie werden im Ionennachweisteil als kleine Ionenströme registriert, wobei ein Computer diese zusammen mit den zugehörigen Magnetfeldstärken speichert und in Form eines „Massenspektrum" wiedergibt. Die Positionen der unterschiedlich hohen ,,Massenpeaks" auf der m/z-Abszisse werden hierbei festgelegt durch Vergleich der aktuellen Magnetfeldstärken mit den Magnetfeldstärken aus einer früheren gespeicherten Kalibrierungsmessung mit einer Referenzsubstanz. Als Beispiel ist das Kationen-Massenspektrum von B i s m u t t r i i o d i d Bil 3 in Fig. 27 wiedergegeben, dem zu entnehmen ist, dass sich das Molekül beim Stoß mit Elektronen der Energie 70 eV unter Ionisierung in das Molekül-Ion Bil J (rel. Molekülmasse ca. 590) sowie unter gleichzeitiger Molekülspaltung in die Bruchstückionen Bil^ (463), Bil + (336), Bi + (209) und I + (127) umwandelt (zweifach geladene Ionen treten beim Stoß mit Elektronen der Energie 70 eV hier noch nicht auf). Somit geht aus einem Verbindungsmassenspektrum in einfacher Weise sowohl die relative Verbindungsmasse als auch die Verbindungszusammensetzung hervor. Auch bei Unkenntnis einer Verbindungsprobe lässt sich aus ihrem Massenspektrum im Allgemeinen leicht die Verbindungsstöchiometrie (und zusätzlich häufig die -struktur) ermitteln. Die H ö h e der M a s s e n p e a k s ist der M e n g e der gebildeten Ionensorte d i r e k t p r o p o r t i o n a l . Zur (tabellarischen bzw. graphischen) Registrierung von Massenspektren werden demgemäß die Peakhöhen prozentual aufeinander bezogen, indem man dem höchsten Peak (,,Basispeak") bzw. der Höhensumme aller Peaks die Häufigkeit 100% zuschreibt (vgl. Fig.27). Die Massenspektrometrie ist heute ein äußerst wertvolles und vielseitig anwendbares Hilfsmittel zur s t o f f l i c h e n und e n e r g e t i s c h e n E r f o r s c h u n g der Materie. So dient sie beispielsweise zur präparativen Stofftrennung (vgl. Massenseparator), zur Aufklärung von Molekülzusammensetzungen und -strukturen 13 Außer durch Magnetfelder kann die Massentrennung im nachweisempfindlichen „Flugzeitmassenspektrometer" (Time of Flight, TOF) dadurch erreicht werden, dass man Ionen z. B. mit einem Laser (s. dort) gepulst erzeugt und dann durch ein Rohr schickt, um sie schließlich am Rohrende gepulst nachzuweisen (erst erscheinen die schnelleren leichteren, dann die langsameren schwereren Ionen). Das „Quadrupolmassenspektrometer" nutzt zur Massentrennung elektrische Felder und Welchselfelder (vgl. Lehrbücher der Massenspektrometrie). D a sich elektrische Felder zum Unterschied von Magnetfeldern schnell und präzise ändern lassen, können Massenspektren sehr rasch registriert werden, sodass Quadrupolmassenspektrometer als ideale Detektoren für Gaschromatographen in direkt gekoppelten Geräten (,,GC-MS-Koppelung") benutzt werden.
2. Ionenmassenbestimmung
65
(s. oben), zur qualitativen und quantitativen Analyse von Verbindungsgemischen, zur Ermittlung von Spurenverunreinigungen, zur Feinbestimmung relativer Atommassen (s. unten), zur Bestimmung der Lebensdauer instabiler Teilchen (s. unten), zur Bestimmung von Ionisierungs- und Dissoziationsenergien (s. unten) und zur Klärung von Reaktionsabläufen.
2.2
Bestimmung relativer lonenmassen. Der Isotopenbegriff
2.2.1
Qualitative Untersuchungen
Schickt man das farblose, aus isolierten A t o m e n aufgebaute, gasförmige Element Neon Ne (Ordnungszahl 10, rel. Atommasse 20.179) durch ein Massenspektrometer, so kommt man nach Betrachtung des registrierten Massenspektrums (drei Ne + -Massenpeaks) zu dem interessanten Schluss, dass das Element aus drei verschiedenen Sorten von Neonatomen bestehen muss, deren relative Massen rund der 20-, 21- bzw. 22fachen Masse des Wasserstoffs entsprechen (Häufigkeit: 90.9%, 0.3 % bzw. 8.8 %). Dieser Sachverhalt wurde erstmals von dem Physiker Joseph John Thomson im Jahre 1912 bei Untersuchungen der Ablenkung von Neonkanalstrahlen ( = Ne + -Strahlen) im magnetischen Feld aufgedeckt. Eingehende massenspektrometrische Untersuchungen haben inzwischen ergeben, dass die meisten Elemente aus Atomen verschiedener Masse zusammengesetzt sind. Der Massenunterschied der Elementatome beruht dabei, wie im Einzelnen noch zu besprechen sein wird (S.86), auf der u n t e r s c h i e d l i c h e n A n z a h l der am Atomaufbau neben den Protonen und Elektronen noch beteiligten, ungeladenen „Neutronen66 der angenäherten Masse 1 (die Elektr o n e n - und P r o t o n e n z a h l ist, da ja nur Atome eines b e s t i m m t e n Elements, also Atome gleicher Ordnungszahl betrachtet werden, selbstverständlich jeweils gleich groß). Neutronen und Protonen, die zum Unterschied von den in der Atomhülle lokalisierten Elektronen den A t o m k e r n (,,Nukleus") bilden, werden auch als ,,Nukleonen", jedes durch die Anzahl seiner Neutronen und Protonen eindeutig bestimmtes Atom als Nuklid bezeichnet. Man nennt die zu einem Element gehörenden Nuklide gleicher O r d n u n g s z a h l (Protonenzahl, Kernladungszahl) und verschiedener Masse, die im Periodensystem ein und denselben Platz einnehmen, nach einem Vorschlag des englischen Physikochemikers Frederick Soddy (1877-1965) „Isotope66i4 und kennzeichnet deren Nukleonenzahl („Massenzahl" = abgerundete relative Isotopenmasse) durch einen links oben am Atomsymbol angebrachten Index, während man die Protonenzahl („Ordnungszahl", ,,Kernladungszahl") durch einen links unten befindlichen Index zum Ausdruck bringt. Für die erwähnten Neon-Isotope ergeben sich somit die Symbole 20 N e 2o Ne und 22 Ne. Die Differenz von Massen- und Ordnungszahl gibt naturgemäß jeweils die Neutronenzahl an. Die Ladungszahl eines Elementatoms E wird durch einen rechts oben, die Atomzahl des Elements in einem Molekül durch einen rechts u n t e n angebrachten Index wiedergegeben: Nukleonenzahl Kernladungszahl
E
Ladungszahl Atomzahl
In diesem Sinne bezeichnet z.B. das Symbol if 0 2~ ein doppelt negativ geladenes, aus zwei Atomen Sauerstoff der Ordnungszahl (Protonenzahl) 8 und Masse (Nukleonenzahl) 16 aufgebautes Peroxid-Ion Als Beispiel eines aus besonders vielen Isotopen bestehenden Elements ist in Fig. 28 das Massenspektrum des in der gleichen Elementgruppe wie Neon stehenden, farblose, aus isolierten Atomen aufgebauten
i4 isos (griech.) = gleich; topos (griech.) = Platz (im Periodensystem am gleichen Platz).
66
III. Atom- und Molekülion
Fig. 28 Kationen-Massenspektrum von Xenon. 124
126
128
130
132
relative Masse
134
136
138
•
gasförmigen Elements Xenon Xe (Ordnungszahl 54, rel. Atommasse 131.30) wiedergegeben. Ersichtlicherweise setzt sich Xenon aus insgesamt 9 Isotopen zusammen. i5 Ähnlich wie im Falle des Xenons weisen die Massenspektren anderer Elemente eine durch Zahl, Lage (Masse) und Intensität charakterisierte Abfolge von Massenpeaks der Element-Isotopenkationen („Isotopenmuster") auf. Aus dem massenspektrometrisch ermittelten A t o m - I s o t o p e n m u s t e r lassen sich daher umgekehrt in einfacher Weise Elemente identifizieren. Analog können aus den M o l e k ü l - I s o t o p e n m u s t e r n Rückschlüsse auf die Zusammensetzung von Verbindungen gezogen werden.
Auf S. 13 definierten wir ein Element als einen Stoff, der zum Unterschied von den chemischen Verbindungen durch keine der ,,gebräuchlichen" physikalischen und chemischen Methoden in einfachere Stoffe zerlegt werden kann. Die im vorstehenden entwickelte Lehre vom Aufbau der Atomkerne ermöglicht nunmehr eine etwas exaktere F o r m u l i e r u n g des E l e m e n t b e g r i f f s Ein Element ist ein Stoff, dessen Atome (Nuklide) alle die gleiche Kernladung besitzen. Haben die Atome eines Elements zugleich auch alle die gleiche Masse, so liegt ein „Reinelement66 (,,anisotopes Element"), a n d e r n f a l l s ein „Mischelement66 (,,isotopes Element ") vor. Damit lässt sich die auf S. 14 gegebene Einteilung der Stoffe wie folgt fortsetzen: b) Elemente Molekülaufbau aus einer einzigen A t o m a r t . Mischelemente Atomaufbau aus Kernen verschiedener Masse Reinelemente Atomaufbau aus Kernen gleicher Masse Da die chemischen Eigenschaften von Isotopen eines Mischelements praktisch nicht voneinander verschieden sind, muss man zur wirksamen Trennung der Isotope („präparative Isolierung von Reinelementen66) physikalische Methoden anwenden, die sich auf die verschiedene Masse von Atom- bzw. Molekülisotopen (sowie -isotopenkationen) gründen. Ein einfaches und wirksames derartiges Verfahren ist z. B. die Isotopentrennung in Massenseparatoren (vgl. S. 63; z. B. „Calutron-Verfahren") oder in Gaszentrifugen. Andere, ebenfalls recht brauchbare Methoden zur Isotopentrennung bedienen sich der verschiedenen D i f f u s i o n s - , V e r d a m p f u n g s - und I o n e n e n t l a d u n g s g e s c h w i n d i g k e i t (vgl. z.B. HO-Elektrolyse, S. 533), da die leichteren Isotope infolge ihrer geringeren Masse etwas leichter diffundieren i5 Zur besseren Übersicht über die Vielzahl bisher bekannter Nuklide (Anh. III) ordnet man diese mit Vorteil in ein Koordinatensystem ein („Nuklidkarte66, vgl. S. 1993), deren Abszisse/Ordinate die Neutronenzahl/Protonenzahl wiedergibt Isotope Nuklide stehen dann in der Karte in waagrechten, isotone Nuklide in senkrechten und isobare Nuklide in diagonalen Reihen (vgl. S.87).
2. Ionenmassenbestimmung
67
bzw. verdampfen bzw. entladen werden. Ein recht wirksames Verfahren zur Isotopentrennung ist auch das von den deutschen Physikochemikern Klaus Clusius und Gerhard Dickel im Jahre 1938 ausgearbeitete „Trennrohrverfahren11, das sich der Kombination zweier physikalischer Erscheinungen, der T h e r m o d i f f u s i o n und der K o n v e k t i o n s s t r ö m u n g bedient (vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie). Die Reindarstellung von Nukliden ist u.a. deshalb von Wichtigkeit, weil mit ihrer Hilfe eine Indizierung von Atomen möglich ist, deren Weg im Verlaufe einer Reaktion verfolgt werden soll (,,Isotopenmarkierung" zur Klärung von Reaktionsmechanismen). Verfüttert man z.B. an ein Tier eine Aminosäure, die an Stelle des gewöhnlichen Stickstoffs 14 N das schwere Stickstoffisotop ^ N enthält, so lässt sich das Schicksal dieser Aminosäure im tierischen Körper bis ins einzelne verfolgen, da der im Stoffwechsel ausgeschiedene oder in Form von Eiweiß im Organismus zurückbehaltene Stickstoff seiner Herkunft nach an der erhöhten Anwesenheit des Nuklids I^ N erkannt werden kann. Darüber hinaus sind Reinelemente für die Kernchemie von Bedeutung, da sich naturgemäß deutliche Unterschiede zwischen den Isotopen eines Elements zeigen, sofern die Eigenschaften des Atomkerns betrachtet werden
2.2.2
Quantitative Untersuchungen
Mit doppelfokussierenden Massenspektrometern (S. 63) lassen sich - abgesehen von Zahl und Häufigkeit der Isotope eines Elements - r e l a t i v e N u k l i d m a s s e n ohne weiteres bis auf 0.000001 Atommasseneinheiten genau bestimmen (,,Präzisionsmassenbestimmungen"). Die im Anhang III wiedergegebene Tabelle gibt den heutigen Stand der Nuklidforschung für die n a t ü r l i c h vorkommenden - 262 stabilen und 72 radioaktiven, also insgesamt 334 - Nuklide wieder ( k ü n s t l i c h e Nuklide, vgl. Kap. über Radioaktivität). Wie aus der Tabelle hervorgeht, sind 20 Elemente (Be, F, Na, Al, P, Sc, Mn, Co, As, Y, Nb, Rh, I, Cs, Pr, Tb, Ho, Tm, Au, Bi) aus nur e i n e r natürlich vorkommenden Atomart aufgebaut (,,Reinelemente", „mononuklide Elemente", „anisotope Elemente"); sie besitzen alle u n g e r a d e Ordnungs- und Massenzahlen. Die übrigen Elemente stellen,,Mischelemente" (,,polynuklide Elemente") dar, wobei bis zu 10 Isotope eines Elements in der N a t u r vorkommen. Unter den nichtradioaktiven Elementen (Wasserstoff bis Bismut ohne Technetium und Promethium) sind alle Massenzahlen von 1 - 2 0 9 mit Ausnahme der Massen 5 und 8 vertreten (künstliche Nuklide mit Massenzahl 5 und 8 existieren). Wie sich aus der Tabelle weiterhin ergibt, besteht eine Tendenz zur P a a r u n g von Protonen und Neutronen. So haben von den 262 nichtradioaktiven Nukliden der Natur nicht weniger als 257 (98 %) gepaarte Protonen und/oder Neutronen, wobei die Mehrzahl hiervon (155) gepaarte P r o t o n e n und N e u t r o n e n besitzt, während vom Rest (102) die eine Hälfte (53) gepaarte Protonen, die andere Hälfte (49) gepaarte N e u t r o n e n aufweist. Nur 5 von den 262 stabilen Isotopen der Natur (2%) sind bezüglich ihrer ProtonenNeutronen-Zahl ungerade-ungerade. Besonders stabile Nuklide liegen bei den leichteren Elementen vor, wenn die Zahl der Protonen und Neutronen nicht nur gerade, sondern gleich groß ist: z.B. \ He, 12 C 16 O Ca 4 0
6
S
20
Relative Atommassen Die relativen Massen der Nuklide sind in erster Näherung ganzzahlig und entsprechen - gerundet - der Massenzahl und damit der Nukleonenzahl des betreffenden Isotops. Da die natürlich vorkommenden Elemente im allgemeinen Gemische mehrerer Atomarten unterschiedlicher Masse sind, kommt den Elementen jeweils eine mittlere relative A t o m m a s ^ ^ r zu, die irgendwo zwischen den relativen Massen des leichtesten und schwersten Isotops des betreffenden Elements liegt Sie berechnet sich in einfacher Weise aus den relativen Isotopenmassen sowie den prozentualen Iso topenhäufigkeiten H der n Elementnuklide gemäß: 1 A = 100
^ k i sotop +(Hx At)6.lsotop + ...+(Hx
AX.i sotop ] .
(4)
Für das aus 9 Isotopen mit den Massenzahlen 124, 126, 128, 129, 130, 131, 132, 134 und 136 zusammengesetzte Xenon (vgl. Fig. 28) folgt aus Gleichung (4), wie sich mit den Werten im Anhang III leicht berechnen lässt, demgemäß Ar (Xe) zu 131.30. Es wird nun verständlich, weshalb die relativen Atommassen der Elemente häufig von der Ganzzahligkeit beachtlich abweichen, obwohl die Atome aus Nukleonen (Protonen, Neutronen) der angenäherten relativen Masse 1 aufgebaut sind (die Elektronen spielen wegen ihrer verschwindend kleinen Masse für diese Betrachtung keine Rolle).
68
III. Atom- und Molekülion
Da die Atomsorten eines Elements chemisch (praktisch gleichartig reagieren, das Mischungsverhältnis also im wesentlichen erhalten bleibt, ändert sich die Durchschnitts- Atommasse bei chemischen Reaktionen praktisch nicht. Daher bedient sich der Chemiker in der Praxis stets der - in Tafel II zusammengestellten - mittleren relativen Atommassen („praktische relative Atommassen66) Ar. Allerdings schwankt bei einigen Elementen (H, He, Li, B, C, N, O, Si, S, Ar, Cu, Sr, Pb) die relative Häufigkeit der Isotope in irdischem Material aufgrund langzeitiger Entmischungsprozesse geringfügig, wodurch sich eine präzise Angabe von A r auf sechs oder mehr Stellen nach dem Komma verbietet, obwohl sich massenspektrometrisch - wie erwähnt - relative Nuklidmassen bis auf 0.000001 Masseneinheiten bestimmen lassen. Da zudem der Fehler des Berechnungsergebnisses relativer Atommassen (wegen der massenspektrometrisch weniger präzise ermittelbaren relativen Isotopenhäufigkeiten) mit der Anzahl der Isotope eines Elements wächst, lassen sich insbesondere nur die Atommassen der 20 Reinelemente (s. oben) bzw. jener Mischelemente, die ein dominierendes Isotop enthalten (Häufigkeit > 99%: H, He, N, O, Ar, V, La, Ta, U), sehr genau bzw. einigermaßen genau angeben. Aus gleichem Grunde ermöglichen Mischelemente mit ungerader Kernladung (da sie nur aus wenigen Isotopen bestehen präzisere Angaben von als solche mit gerader Kernladung (meist viele Isotope). Von einer Reihe von Elementen (H, He, Li, B, N, O, Ne, Ar, Ca, Kr, Rb, Sr, Zr, Ru, Pd, Ag, Cd, Sn, Te, Xe, La, Ce, Nd, Sm, Eu, Gd, Dy, Er, Yb, Lu, Os, Pb, Th, U) sind zudem geologische Vorkommen mit anomaler Isotopenzusammensetzung bekannt. Letztere wird durch radioaktive Prozesse hervorgerufen (z.B. Bildung bestimmter Nuklide aus radioaktiven Vorstufen). Die relativen Atommassen anomal zusammengesetzter Elemente liegen meist weit außerhalb des Bereichs der in Tafel II wiedergegebenen Werte. Auch kann in Handelspräparaten die relative Atommasse eines Elements, aus welchem ein für einen bestimmten Zweck benötigtes Isotop technisch abgereichert wurde (zur Zeit: H, Li, B, Ne, Kr, U), beträchtlich vom Normalwert abweichen. Für die radioaktiven Elemente ab Uran, die sich nur künstlich gewinnen lassen, hängt vom Syntheseweg des betreffenden Elements ab. In Tafel II sind jeweils die relativen Nuklidmassen der wichtigsten, für präparative Zwecke genutzten radioaktiven Nuklide (häufig nicht identisch mit den längstlebigen Nukliden) wiedergegeben. Relative Nuklidmassen Wie aus Anhang III hervorgeht weichen die relativen Nuklidmassen etwas von der Ganzzahligkeit ab. So kommt dem aus je einem Elektron, Proton und Neutron zusammengesetzten Wasserstoffisotop 2 H (Deuterium) nicht etwa exakt ein Sechstel der Masse des aus je sechs Elektronen Protonen und Neutronen aufgebauten Kohlenstoffisotops ^ C (rel. Masse 12.000000) zu, also 2.000000, sondern die relative Masse 2.014102. Der Grund für das Abweichen der relativen Nuklidmasse von der Ganzzahligkeit liegt in der hohen, etwa 8000000 eV ( = 8 MeV) betragenden Energie („Nukleonenbindungsenergie66), die für jedes zusätzliche mit einem Atomkern verschmolzene Proton oder Neutron frei wird (vgl. S. 1893). Diesem Energiewert entspricht gemäß der „Einstein'schen Beziehung" E = mc1 (vgl. S. 16) ein Massenverlust von ca. 0.008 Masseneinheiten. Einem gebundenen Nukleon, dessen relative Masse im u n g e b u n d e n e n Zustand etwa 1.008 Masseneinheiten beträgt, kommt mithin n ä h e r u n g s weise die Masse 1.000 zu, dem aus a Nukleonen aufgebauten Atomkern mithin näherungsweise die ganzzahlige relative Masse a ( = Massenzahl des Nuklids). Da jedoch die Bindungsenergie pro Nukleon der einzelnen Nuklidkerne keineswegs exakt übereinstimmt, sind natürlich auch keine exakten ganzzahligen relativen Nuklidmassen zu erwarten. Die sehr hohen (allerdings nicht sehr weitreichenden) N u k l e o n e n b i n d u n g s k r ä f t e bewirken trotz der gegenseitigen aber vergleichsweise kleinen elektrostatischen Abstoßung der Kernprotonen einen extrem festen Z u s a m m e n h a l t des Kerns. Verglichen mit den Nukleonenbindungskräften sind die auf (weitreichender) elektrostatischer Anziehung beruhenden B i n d u n g s k r ä f t e der E l e k t r o n e n an den Kern, die nun besprochen werden sollen, etwa eine Million mal kleiner.
2.3
Lebensdauer instabiler Moleküle
Bei massenspektrometrischen Untersuchungen findet man häufig im Sinne der Gleichungen (5) aus Probemolekülen ABC oder A und B gebildete Kationen AB + , die sich von Neutralmolekülen mit kleiner oder sehr kleiner Lebensdauer ableiten (z.B. 2 H 2 + e~ -> H j + H + 2e"; 2 0 2 + e" ->• O^ + 2 e " oder 2 N 2 + e~ ->• N^ + 2 e " ) : AB++C,
ABC 2e
AB + .
A+ B
(5)
2e
Mit „Neutralisations-Reionisations-Massenspektrometrie" (NR-MS) kann sowohl die Existenz der Moleküle AB in der Gasphase bewiesen, als auch deren Lebensdauer bestimmt werden. Dazu entlädt man die aus dem Kollektorspalt eines Massenspektrometers austretenden
3. Ionisierungs-, Dissoziations-, Atomisierungsenergie
69
Ionen AB + in einer 1. Kollisionszelle durch Zusammenstoß mit Gasmolekülen zu Molekülen AB. Ein elektrisch geladener Deflektor entfernt verbliebene Ionen AB + sowie A + und B + . In einer 2. Kollisionszelle reionisiert man AB mit Gaskationen und weist in einem 2. Massenspektrometer gegebenenfalls erneut gebildete Ionen AB + nach. Findet sich ein AB-Peak, so kann er nur von zwischenzeitlich gebildeten Molekülen AB herrühren. Verlängert man die Flugzeit der Moleküle AB zwischen 1. und 2. Kollisionszelle durch Änderung der Beschleunigungsspannung der Ionen AB + im 1. Massenspektrometer (bzgl. der Ionengeschwindigkeit vgl. (2b)), so nimmt das Ausmaß des Zerfalls der AB-Moleküle während des Fluges zwischen der 1. und der 2. Kollisionszelle zu, bis schließlich im 2. Massenspektrometer nur noch die Hälfte bzw. keine Ionen AB + detektiert werden können (,,Halbwertslebenszeit" bzw. „Maximallebenszeit" der Moleküle AB; erstere Lebensdauer beträgt etwa für 0 4 / N 4 0.95/1 |is).
3
lonisierungs-, Dissoziations-, Atomisierungsenergie
Die Energie, die erforderlich ist, um einem gasförmigen Atom A bzw. einem gasförmigen Molekül AB gemä Energie + A -> A + + e ~ ,
Energie + AB -> AB + +e~
ein Elektron zu entreißen, um es also zu ionisieren, wird als „Ionisierungsenergie" (besser: ,,Ionisierungsenthalpie") der betreffenden Atome und Moleküle bezeichnet. Sie beträgt z.B. für H-Atome 13.598 eV, für H 2 -Moleküle 15.426 eV: 13.598 eV + H
H + + e",
15.426 eV + H 2
H + +e".
Die Bestimmung der Ionisierungsenergie kann u. a. in folgender Weise mittels eines Massenspektrometers erfolgen: man steigert die Energie der zur Probenionisierung eingesetzten Stoß-Elektronen, indem man letztere vor Eintritt in die Ionenquelle des Massenspektrometers (s. dort) ein elektrostatisches Feld durchfliegen lässt, dessen Potentialdifferenz Ue sukzessive vergrößert wird. Eine Ionisierung der Probenatome bzw. -moleküle wird durch Elektronenstoß dann eintreten, wenn die Energie eUc der Elektronen gerade gleich der Ionisierungsenergie ist. Benötigt man demnach für die I o n i s i e r u n g von W a s s e r s t o f f a t o m e n H bzw. von W a s s e r s t o f f m o l e k ü l e n H 2 Elektronen, die mindestens ein Potential von 13.598 V bzw. 15.426 V durchlaufen haben, so beträgt die Ionisierungsenergie des Wasserstoffatoms mithin 13.598 eV pro Atom bzw. sein ,,Ionisierungspotential" 13.598 V, die Ionisierungsenergie des Wasserstoffmoleküls 15.426 eV bzw. sein Ionisierungspotential 15.426 V (1 eV pro Teilchen «< 100 kJ pro Mol Teilchen, vgl. Anh.II). Die einsetzende Ionisierung der Atome bzw. Moleküle lässt sich leicht am A u f t r e t e n eines Massenpeaks des betreffenden Atom- bzw. Molekül-Ions im Ionennachweisteil des Massenspektrometers erkennen. Man bezeichnet die Ionisierungsenergie bzw. das Ionisierungspotential deshalb auch als „Auftrittsenergie" bzw.,,Auftrittspotential". Die Erzeugung der Atome aus den in die Ionenquelle eines Massenspektrometers eingelassenen zugehörigen Elementen kann bei den schwerer flüchtigen Elementen durch Erhitzen auf hohe Temperaturen, bei den leicher flüchtigen Elementen mittels einer elektrischen Entladung erfolgen
Die Ionisierungsenergien, die für alle Atome (vgl. Tafeln III-V) und sehr viele Moleküle bestimmt wurden^, liegen im Bereich 3 - 2 5 eV pro Teilchen (häufigster Bereich: 7 - 1 4 eV), d.h. im Bereich 300-2500kJ pro Mol Teilchen. Höher als diese für n e u t r a l e Atome und Moleküle geltenden ersten Ionisierungsenergien sind erwartungsgemäß stets die zweiten Ionisierungsenergien (Ablösung eines Elektrons aus einem einfach positiv geladenen Ion), noch höher sind die d r i t t e n Ionisierungsenergien (Ablösung eines Elektrons aus einem zwei fach positiv geladenem Ion) usw. Dabei macht man die Beobachtung, dass die Ionisierungsis Literatur. ,,Handbook of Chemistry and Physics", CRC Press.
70
III. Atom- und Molekülion
energie eines Elementatoms der n-ten Hauptgruppe des Periodensystems beim Übergang von der n-ten zur (n + 1)-ten Ionisierungsstufe besonders stark zunimmt (z. B. werden für das in der 4. Gruppe 4) stehende Kohlenstoffatom folgende Ionisierungsenergien gefun den: C 11.3; C + 24.4; C + + 47.9; C + + + 64.5; C + + + + 392eV)" Betrachtet man die Ionisierungsgleichung für Wasserstoffatome (s. oben) von rechts nach links, so besagt sie, dass die „Elektronenaffinität66 des Wasserstoff-Kations — 13.598 eV pro Teilchen beträgt^, die Elektronenaffinität des neutralen Wasserstoffatoms ist wesentlich kleiner und beläuft sich auf — 0.756 eV pro Atom: H + +e~
H+13.598 eV,
H+e"
H
+0.756 eV.
Unter den neutralen Atomen zeichnen sich die Atome von Elementen der sechsten und siebten H a u p t g r u p p e durch relativ große (negative), der zweiten und achten H a u p t g r u p p e durch relativ kleine (positive) Elektronenaffinitäten aus (vgl. Tafeln III-V). Sie liegen im Bereich von etwa —4 bis + 1 eV (vgl. S.94).i® Entsprechend der Elektronenaffinität ist die so genannte „Protonenaffinität66 als jener Energiebetrag festgelegt, der bei der chemischen (nicht kernchemischen) Vereinigung eines Wasserstoff-Kations H + (Proton) mit Atomen, Molekülen oder Ionen in der Gasphase frei wird (negative Vorzeichen) oder verbraucht wird (positive Vorzeichen): A+H
+
^AH
+
;
AB+H+^ABH
+
;
B~ + H + -> BH.
Die Protonenaffinitäten neutraler Atome oder Moleküle liegen im Bereich — 1.5 bis —10eV, z.B.: He — 1.79; Ne —2.15; Ar — 2.34; H 2 — 3.01; N 2 —5.4; HCl —5.2; HBr —6.1; HI — 6.3; H 2 O —7.9; H 2 S — 7.6; NH 3 —9.2; P H —8.1; C H —5.3 eV.
Beim Zusammenstoß von Elektronen mit Wasserstoffmolekülen H 2 entsteht in der Ionenquelle eines Massenspektrometers außer dem Molekül-Ion H 2 auch das Bruchstück-Ion H + , sofern die Stoß-Elektronen mindestens eine Energie von 18.12 eV mit sich führen: 18.12 eV + H 2 -> H + + H + e ~ . Man kann diese Ionisierungsenergie dazu benutzen, um die auf direktem Wege nur schwer zugängliche Energie für die S p a l t u n g von W a s s e r s t o f f m o l e külen in zwei W a s s e r s t o f f a t o m e i n d i r e k t auf einem Reaktionsumweg zu bestimmen (vgl. Hessschen Satz). Hierzu lässt man der energieverbrauchenden Spaltung eine Entladung der Wasserstoff-Kationen folgen, bei der die negative Ionisierungsenergie des Wasserstoffatoms von —13.60 eV ( = Elektronenaffinität) frei wird. Insgesamt muss mithin zur Spaltung eines H 2 -Moleküls in H-Atome eine Energie von 18.12 — 13.60 = 4.52 eV pro Molekül (436 kJ bzw. 104 kcal pro mol H 2 ) aufgewendet werden: ber. + 4.52 eV
H + + H + e"
Man bezeichnet die zur Abspaltung von Atomen oder Atomgruppen aus Molekülen auf zubringende Energie als „Dissoziationsenergie66 und spricht im vorliegenden Fall mithin von der Dissoziationsenergie des Wasserstoffs "
Weit mehr Energie (mehrere Millionen eV) erfordert die Ablösung von Protonen statt Elektronen aus Atomen (vgl. S. 68). i 8 Die Elektronenaffinität entspricht im vorliegenden Fall einer vom System abgegebenen Energie, sie muss demgemäß ein negatives Vorzeichen erhalten (vgl. S.47). Es ist jedoch auch üblich, die Vorzeichensetzung für Elektronenaffinitäten umzukehren. Diesem Brauch wird im vorliegenden Lehrbuch nicht gefolgt, i^ Die Ionisierungsenergie eines N e u t r a l a t o m s ist ganz allgemein numerisch gleich der Elektronenaffinität des zugehörigen einfach geladenen K a t i o n s , die Ionisierungsenergie eines einfach geladenen A n i o n s numerisch gleich der Elektronenaffinität des zugehörigen N e u t r a l a t o m s (jeweils entgegengesetztes Vorzeichen).
3. Ionisierungs-, Dissoziations-, Atomisierungsenergie
71
Die Spaltung eines Moleküls AB in A und B kann entweder in der Weise erfolgen, dass die Bindungselektronen gleichmäßig auf beide Molekülbruchstücke verteilt werden (,,hämolytische Dissoziation") oder so, dass ein Spaltprodukt die bindenden Elektronen übernimmt („heterolytische Dissoziation"). Energie + A : B
homolytische Dissoziation
A-
B
Energie + A : B
heterolytische Dissoziation
A+ + : B "
Ersteren Fall haben wir oben, letzteren bei der Besprechung der elektrolytischen Dissoziation (s. dort) kennengelernt. Es ist demgemäß zwischen der h o m o l y t i s c h e n Dissoziationsenergie (häufig auch einfach Dissoziationsenergie genannt) und der - betragsgemäß im Allgemeinen höheren - heterolytischen Dissoziationsenergie zu unterscheiden. So muss beispielsweise zur,,Homolyse" von Wasserstoffmolekülen ein Energiebetrag von 4.52 eV pro Molekül (436 kJ/mol), zur ,,Heterolyse" aber ein Energiebetrag von 17.36 eV pro Molekül (1675 kJ/mol) aufgewendet werden, wie aus folgendem Kreisprozess hervorgeht60; H,
ber. 17.36 eV
+ 18.12 eV
H + + H" 0.76 eV
H+ + H + eDie Dissoziationsenergien (positive Vorzeichen) werden in kJ, bezogen auf 1 mol Stoff, wiedergegeben. Sie liegen f ü r homolytische Dissoziationen im Bereich 0 - 1 0 0 0 k J / m o l , z.B.: H 2 436.22; F 2 158.09; Cl 2 243.52; Br 2 192.97; I 2 151.34; 0 2 498.67; N 2 946.04 kJ/mol. Die Spaltung von Molekülen in A t o m e erfordert mithin im Allgemeinen weniger Energie als die Spaltung von A t o m e n in Kationen u n d Elektronen Enthält ein Molekül A B mehrere gleichartige A t o m e B (B k a n n auch eine A t o m g r u p p e sein), so wird zwischen der e r s t e n , z w e i t e n , d r i t t e n Dissoziationsenergie usw. unterschieden, je nachdem das e r s t e A t o m B oder nach Abspaltung des ersten das z w e i t e A t o m B oder nach Abspaltung zweier A t o m e B das d r i t t e A t o m B usw. abgespalten wird. Beispielsweise beträgt im Falle des Wassermoleküls H 2 O die erste Dissoziationsenergie + 499 kJ/mol f ü r den Vorgang H 2 0 -> H + H O , die zweite Dissoziationsenergie + 428 kJ/mol f ü r den Vorgang H O -> H + O . D a s arithmetische Mittel der gefundenen (ersten, zweiten, dritten ...) Dissoziationsenergien wird d a n n als „Bindungsenergie" des betreffenden A t o m s B im Molekül A B bezeichnet (für AB sind Dissoziations- u n d Bindungsenergie n a t u r g e m ä ß identisch). Im Falle des Wassers beträgt die Sauerstoff-Wasserstoff-Bindungsenergie ersichtlicherweise (499 + 4 2 8 ) : 2 = 463.5 kJ/mol. Aus der Bindungsenergie eines Moleküls A B folgt unter Berücksichtigung der zur Überführung der Elemente A^ und B^ in Atome A und B aufzubringenden Energiebeträge in einfacher Weise die ABnBildungsenthalpie (s. dort). Beispielsweise ergibt sich die Bildungsenthalpie flüssigen Wassers - also die im Zuge der Reaktion H 2 + 1/2O2 -> H 2 O abgegebene Wärme - als Summe der Enthalpien A H der Teilreaktionen H 2 2H (AH = +436 kJ/mol), 1/2O 2 O (AH = 249 kJ/mol), 2 H + 0 ^ H 2 0 (gasförmig AH = - 2 x 463.5 kJ/mol), H 2 O (gasförmig) ^ H 2 O (flüssig AH = - 44 kJ/mol) zu 436+249 - 2 x 4 6 3 . 5 - 4 4 = - 2 8 6 kJ/mol. Die zur Überführung eines Elementes E^ in 1 mol Atome E benötigte Energie („Atomisierungsenergie": genauer: Atomisierungsenthalpie = Sublimationsenthalpie + Dissoziationsenthalpie): Atomisierungsenergie + J E , -> E ist dabei sehr unterschiedlich groß, wie Tab.4 veranschaulicht. Ersichtlicherweise nehmen die Atomisierungsenergien innerhalb einer E l e m e n t g r u p p e im Falle der Hauptgruppenelemente von oben nach unten ab (Ausnahmen O/S, F/Cl), im Falle der Nebengruppen elemente demgegenüber zu (Ausnahmen Ni/Pd, Cu/Ag, Zn/Cd/Hg). Innerhalb der E l e m e n t p e r i o d e n beobachtet man beim Gang von links nach rechts energetische Auf- und Abbewegungen. Besonders kleine Atomisierungsenergien weisen jeweils die Elemente der I. und VII. Haupt-, sowie der II. Nebengruppe, besonders großedie Elemente der IV. Haupt- sowie V. bzw. VI. Nebengruppe auf. Die niedrigste 60 Die heterolytische Dissoziationsenergie des Wasserstoffmoleküls ist numerisch gleich der Protonenaffinität des Wasserstoff-Anions (umgekehrtes Vorzeichen).
72
III. Atom- und Molekülion
Atomisierungsenergie kommt dem F l u o r zu, die höchste dem K o h l e n s t o f f unter den Hauptgruppenelementen bzw. dem W o l f r a m unter den Nebengruppenelementen.
Tab. 4 H 218 Li 159 Na 107 K 89 Rb 81 Cs 76
Atomisierungsenergien (kJ/mol) der Elemente.
Be 325 Mg 148 Ca 178 Sr 164 Ba 180
Sc 378 Y 421 La 431
Ti 470 Zr 609 Hf 619
V 514 Nb 726 Ta 782
Cr 397 Mo 658 W 849
Mn 281 Tc 678 Re 770
Fe 416 Ru 643 Os 791
Co 425 Rh 357 Ir 665
Ni 430 Pd 378 Pt 565
Cu 338 Ag 285 Au 336
Zn 131 Cd 112 Hg 61
B 563 Al 326 Ga 277 In 243 Tl 182
C 717 Si 456 Ge 377 Sn 302 Pb 195
N 473 P 315 As 303 Sb 262 Bi 207
O 249 S 279 Se 227 Te 197 Po 146
F 79 C 122 B 112 I 107 A -
Kapitel IV
Das Periodensystem der Elemente, Teil I1
A m Beispiel des Sauerstoffs u n d Wasserstoffs (vgl. vorstehende Kapitel) sahen wir, dass jedes einzelne Element ganz charakteristische chemische Eigenschaften besitzt u n d Verbindungen ganz bestimmter Zusammensetzung bildet. Es wäre n u n recht unbefriedigend, das chemische Verhalten der übrigen über 100 bis jetzt bekannten Elemente der Reihe nach zu behandeln, ohne die Elemente untereinander zu vergleichen u n d nach Zusammenhängen und chemischen Analogien zu suchen. So n i m m t es nicht wunder, dass im Laufe des vorigen J a h r h u n d e r t s zahlreiche Versuche u n t e r n o m m e n worden sind, die Elemente nach ihren chemischen Eigenschaften in G r u p p e n einzuteilen u n d Gesetzmäßigkeiten f ü r diese E i n o r d n u n g zu finden. Diese Versuche gipfelten in der Formulierung des Periodensystems der Elemente (häufig sprachlich inkorrekt auch als „Periodisches System der Elemente" bezeichnet). Geschichtliches Der erste Versuch einer Ordnung von Elementen nach Gesetzmäßigkeiten rührt von J.W. Döbereiner her, der im Jahre 1829 nachwies, dass sich verschiedene der damals bekannten Elemente (vgl. S. 14) ihrem chemischen Verhalten nach zu Gruppen vonje 3 Elementen (,,Triaden") zusammenfassen lassen, in welchen die relativen Atommassenunterschiede jeweils annähernd gleich sind (,, Triadenregel"); z.B.: Ca 40.1 Li 6.9 16.1 Sr 87.6 ^ 49.7 Na 23.0 16.1 Ba 137.3 K 39.1 Damit wurde zum erstenmal der Gedanke eines Zusammenhangs zwischen Eigenschaften und relativen Atommassen eingeführt. Eine Weiterentwicklung dieses Gedankens war erst nach Erweiterung der Kenntnis der relativen Atommassen möglich. Im Jahre 1864 entdeckte der englische Chemiker John Alexander Reina Newlands (1838-1898), dass bei der Anordnung der Elemente nach steigender Atommasse jeweils nach 7 Elementen ein Element folgt, das dem Anfangsglied der Reihe chemisch ähnlich ist („Gesetz der Oktaven"). 1869 haben dann der russische Chemiker Dimitrij Iwanowitsch Mendelejew (1834-1907) und der deutsche Forscher Lothar Meyer (1830-1895) unabhängig voneinander diese Beziehungen schärfer formuliert und zum Periodensystem der Elemente zusammengefasst, dessen Grundprinzip ebenfalls die Ordnung der Elemente nach der relativen Atommasse ist. Auf dieses Periodensystem gehen letztlich alle heute in Gebrauch befindlichen Formen des Periodensystems zurück. Da zur Zeit der Aufstellung des Periodensystems noch eine Reihe von Elementen fehlten, blieben in diesem System seinerzeit verschiedene Lücken, aus denen Mendelejew 1871 auf die Existenz und die Eigenschaften von hierher gehörenden, aber bis dahin noch unbekannten Elementen schloss (Eka-Bor = Scandium, Eka-Aluminium = Gallium, Eka-Silicium = Germanium, Eka-Mangan = Technetium, Eka-Tellur = Polonium, Dwi-Mangan = Rhenium, Eka-Tantal = Protactinium, Eka-Cäsium = Franzium; bzgl. der Vorsilben Eka und Dwi vgl. Anm. l s , S.91). Deren bald darauf erfolgende Entdeckung (z. B. Ga 1875 durch Lecoq de Boisbaudran, Sc 1879 durch Lars Frederik Nilson, Ge 1886 durch Clemens Winkler) hat dann dem Mendelejew'schen Periodensystem wesentlich zum Durchbruch verholfen, während z.B. Newlands für sein analoges Gesetz der Oktaven seinerzeit noch wenig Verständnis gefunden hatte Weitere wichtige Erkenntnisse: (i) Entdeckung der von Mendelejew nicht vorausgesagten Edelgase (u.a. durch J.W. Rayleigh, W. Ramsay, M.W. Travers ab 1894; vgl. S.417) und ihre Aufnahme ins Periodensystem. - (ii) Entdeckung, dass nicht die relative Atommasse, sondern die Kernladungszahl das
1
Teil II: S.299; Teil III: S. 1303; Teil IV: S. 1877.
74
IV. Das Periodensystem der Elemente
ordnende Prinzip für Elemente darstellt. - (iii) Vorhersage von 14 Lanthanoiden durch N.Bohr (1913), von 14 Actinoiden durch G.T. Seaborg (1944) sowie von bisher 14 Transactinoiden durch mehrere Arbeitsgruppen (ab 1964) und ihre Aufnahme ins Periodensystem.
Im Folgenden wollen wir uns zunächst auf die Ableitung einer übersichtlichen gekürzten Form des Periodensystems beschränken. Diese soll dann zur ungekürzten Form des Periodensystems erweitert werden. Im Rahmen eines vergleichenden Überblicks sei schließlich kurz auf die Entdeckung, die Verbreitung sowie einige Eigenschaften der Elemente eingegangen.
1
Einordnung der Elemente in ein Periodensystem
Gekürztes Periodensystem Ordnet man die in der Elementtabelle (Tafel II) aufgeführten Elemente nach steigender Größe der relativen Atommasse, d.h. nach der Reihenfolge der Atomnummern, so erhält man die folgende Reihe (bezüglich der Elemente 104-118, vgl. S. 1977): 1H
HHO
4Be
5B
6C
7N
8O
110Ne |
11Na
12Mg
13Al
14Si
16S
17Cl
118Ar |
3Li
19K
20Ca
21 Sc
22 Ti
23 V
9F 24Cr
25Mn
26 Fe
27Co
28 Ni
29 Cu
30Z
31 Ga
32Ge
33 As
34Se
35 Br
|36Kr|
37 Rb
38 Sr
39Y
40Zr
41 N b
42Mo
43 Tc
44 Ru
45R
46 Pd
47 Ag
48 Cd
49In
50 Sn
51 Sb
52 Te
531
56B
57La
58Ce
59 Pr
60N
61 Pm
62Sm
63 Eu
64Gd
65 Tb
66 Dy
67 Ho
68Er
69 Tm
70Yb
71 Lu
72Hf
73 Ta
74W
75Re
76 Os
77 Ir
78 Pt
79Au
80 Hg
81TI
82 Pb
83Bi
84 Po
85At
| 86 Rn |
87Fr
88 Ra
89 Ac
90T
91 Pa
92U
93Np
94Pu
95 Am
96 Cm
97 Bk
98 Cf
99 Es
100 Fm
101Md
102 No 103 Lr
104Rf
105D
106Sg
107 Bh
108Hs
109Mt
110Ds
111 Rg 112
113
114
115
116
(117)
| 54Xe | 55Cs
15
118
Ein Vergleich der physikalischen und chemischen Eigenschaften der so geordneten Elemente führt zu der interessanten Feststellung, dass sich diese Eigenschaften beim Fortschreiten vom einen zum nächsten Element in ganz gesetzmäßiger Weise ändern und dass jeweils nach einer gewissen Anzahl von Schritten eine Elementreihe wiederkehrt, die in ihren Eigenschaften der vorangehenden Elementreihe ähnelt. Als Beispiel hierfür sei etwa die - fettgedruckte - Elementfolge Helium (He) bis Argon (Ar) herausgegriffen. „Helium" (He, Atomnummer 2) ist ein reaktionsträges, monoatomares Gas, das sich zum Unterschied von anderen Elementen mit keinem anderen Element chemisch zur Umsetzung bringen lässt. Das achte auf Helium folgende Element „Neon" (Ne, Atomnummer 10) ist wieder ein solches „Edelgas", ebenso das an achter Stelle hinter dem Neon stehende Element „Argon" (Ar, Atomnummer 18). Die zwischen den - fett umrahmten Edelgasen Helium und Neon einerseits und Neon und Argon andererseits stehenden Elemente 3 (Lithium Li) bis 9 (Fluor F) bzw. 11 (Natrium Na) bis 17 (Chlor Cl) zeigen eine übereinstimmende Abstufung ihrer Eigenschaften. So sind z. B. die auf das Helium und Neon unmittelbar folgenden Elemente Lithium (Li) und Natrium (Na) beide silberglänzende Leichtmetalle, die sich mit Wasser lebhaft unter Wasserstoffentwicklung umsetzen, während die vor den Edelgasen Neon und Argon stehenden, diatomaren Elemente Fluor (F 2 ) und Chlor (Cl2) beide erstickend riechende Gase darstellen, die mit den vorerwähnten Leichtmetallen Li und Na lebhaft unter Bildung salzartiger Verbindungen analoger Zusammensetzung (LiF, LiCl, NaF, NaCl) reagieren. Ordnet man demnach die Elemente Helium bis Argon in zwei waagrechte „Perioden" wie folgt ein: He Ne
Li Na
Be Mg
B AI
C Si
N P
O S
F Cl
Ne Ar,
1. Einordnung der Elemente in ein Periodensystem
75
so weisen die untereinanderstehenden Elemente (,,homologe"2 Elemente) weitgehende Ähnlichkeiten in Eigenschaften und Verbindungsformen auf. Die übrigen auf das Argon noch folgenden Elemente lassen sich nur dann in überzeugender Weise in die damit vorgezeichneten acht verschiedenen senkrechten „Gruppen" einordnen, wenn man sich auf die in der obigen Zusammenstellung fett gedruckten Elemente beschränkt und alle übrigen - nicht fett gedruckten - Elemente unberücksichtigt lässt. Denn erst die Elemente 36 (Krypton, Kr), 54 (Xenon, Xe) und 86 (Radon, Rn) haben wieder Edelgascharakter, und von den zwischen Argon und Krypton, Krypton und Xenon, Xenon und Radon stehenden Elementen zeigen nur die den Edelgasen nachfolgenden je zwei und die den Edelgasen vorangehenden je fünf Elemente Eigenschaften, die eine eindeutige Einordnung in die obigen sieben Gruppen zwischen den Edelgasen rechtfertigen: Ar Kr Xe Rn
K Rb Cs Fr
Ca Sr Ba R
Ga In Tl 113
Ge Sn Pb 114
As Sb Bi 115
Se Te Po 116
Br I At (117)
K X R 118.
In der Elementtabelle bringt der gestrichelte senkrechte Pfeil zum Ausdruck bringt, dass an dieser Stelle eine Reihe dazwischenliegender Elemente - Scandium (Sc) bis Zink (Zn), Yttrium (Y) bis Cadmium (Cd), Lanthan (La) bis Quecksilber (Hg) und Actinium (Ac) bis Element 112, insgesamt also 10 +10 +24 +24 = 68 Elemente - ausgelassen worden sind. Man nennt die so erhaltene Elementanordnung „Gekürztes Periodensystem der Elemente". Es lässt sich in besonders übersichtlicher Form - unter Einfügung des Wasserstoffs (Atomnummer 1) und Heliums (Atomnummer 2) wie folgt wiedergeben Gekürztes Periodensystem der Elemente
1
I
I
1 H
2 H
1
0
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
2
2 He
3 Li
4 Be
5 B
6 C
7 N
8 O
9 F
10 N
2
3
10 Ne
11 Na
12 Mg
13 Al
14 Si
15 P
16 S
17 Cl
18 A
3
4
18 Ar
19 K
20 Ca
31 Ga
32 Ge
33 As
34 Se
35 Br
36 K
4
5
36 Kr
37 Rb
38 Sr
49 In
50 Sn
51 Sb
52 Te
53 I
54 X
5
6
54 Xe
55 Cs
56 Ba
81 Tl
82 Pb
83 Bi
84 Po
85 At
86 R
6
7
86 Rn
87 Fr
88 Ra
113 Eka-Tl
114 Eka-Pb
115 Eka-Bi
118 Eka-R
7
0
I
II
III
IV
V
116 (117) Eka-Po Eka-At VI
VII
VIII
Dieses gekürzte Periodensystem der Elemente ist ein Teil des vollständigen Periodensystems der Elemente (s. unten) und enthält nur die so genannten „Hauptgruppen" des Gesamtsystems (vgl. hierzu den oberen, farbigen Teil des kombinierten Periodensystems der Tafel VI im hinteren Buchdeckel). Hierzu gehören (einschließlich Wasserstoff, Helium und dem wohl in 2
homologos (griech.) = übereinstimmend.
76
IV. Das Periodensystem der Elemente
naher Zukunft erzeugten Element 117) die 50 Hauptgruppenelemente (,,repräsentative Elemente"). Das Hauptsystem umfasst sieben waagrechte Perioden (,,Periodennummer" 1 bis 7) und abgesehen von der ersten, ,,sehr kurzen Periode" - acht senkrechte Gruppen (,,Gruppennummer•" I bis VIII). Über den einzelnen Elementsymbolen ist die dazugehörige ,,Atomnummer" (,,Ordnungszahl") angegeben. Diese ist gleich der auf S. 61 besprochenen,,Kernprotonenzahl" („Kernladungszahl") des Elements. Auf die tiefere Bedeutung der Periodennummer und Gruppennummer werden wir später (vgl. Atombau) noch zu sprechen kommen. In der Richtung von oben nach unten und von rechts nach links nimmt im gekürzten Periodensystem der Metallcharakter, in umgekehrter Richtung der Nichtmetallcharakter in der Weise zu, dass sich links eines von den Elementen B, Si, Ge, As, Sb, Se, Te, At gebildeten Bereichs die metallischen, rechts davon die nichtmetallischen Elemente befinden, während der Bereich selbst mit Halbmetallen bestückt ist (S. 148). Eine scharfe Grenze lässt sich allerdings nicht ziehen. In ähnlicher Weise wie der Metall- und Nichtmetallcharakter, unterliegen auch andere Eigenschaften solchen periodischen Abstufungen, z. B. der Atomradius, das Atomvolumen, der Ionenradius, die Dichte, das Ionisierungspotential, die Elektronenaffinität, die Elektronegativität, der Schmelzpunkt, der Siedepunkt, das Normalpotential, die Wertigkeit und Oxidationsstufe, die Schmelz-, Verdampfungs- und Sublimationsenthalpie, die Bildungsenthalpie eines gegebenen Verbindungstyps usw. Hiervon wird in den späteren Abschnitten des Lehrbuchs noch die Rede sein (vgl. hierzu Periodensystem, Teil I I - I V sowie Tafeln III-V). Die Periodizität der chemischen Eigenschaften kommt etwa darin zum Ausdruck, dass Elemente einer gegebenen Gruppe mit Elementen einer anderen gegebenen Gruppe Verbindungen analoger Zusammensetzung bilden (,,homologe" Verbindungen). Beispiele sind hierfür etwa die Verbindungsreihen BeCl2, MgCl 2 , CaCl 2 , SrCl2, BaCl2, RaCl 2 oder B 2 0 3 , A1 2 0 3 , Ga 2 0 3 , In 2 0 3 , T1 2 0 3 oder NaF, NaCl, NaBr, NaI, NaAt oder C O , CS2, CS usw
Ungekürztes Periodensystem Die an der Stelle des gestrichelten Pfeils im gekürzten Periodensystem ausgelassenen 68 „Nebengruppenelemente" + „Lanthanoide" + „Actinoide" (,,Übergangsmetalle") sind ausnahmslos Metalle. Sie lassen sich unter Auslassung von jeweils 14 dem „Lanthan" (La) bzw. ,,Actinium" (Ac) folgenden Elementen nach steigender Atomnummer in vier waagrechte Perioden (jeweils 10 Elemente) einordnen: Sc
Ti
V
Cr
Mn
Fe
Co
Ni
Cu
Z
Y
Zr
Nb
Mo
Tc
Ru
Rh
Pd
Ag
C
La
+
Hf
Ta
W
Re
Os
Ir
Pt
Au
H
A
l
Rf
Db
Sg
Bh
Hs
Mt
Ds
Rg
112
Wiederum weisen untereinanderstehende Elemente wie im Falle der repräsentativen Elemente - auffallende Ähnlichkeiten in Eigenschaften und Verbindungsformen auf (vgl. hierzu auch Periodensystem, Teil III). Die an der Stelle des punktierten Pfeils im oben wiedergegebenen System der Übergangsmetalle („äußere Übergangsmetalle") fehlenden 28 ,,inneren Übergangsmetalle" gleichen in ihren Eigenschaften einander und den Elementen Lanthan sowie Actinium (vgl. hierzu Periodensystem, Teil IV). Sie werden auch als „Lanthanoide" Ln (Ce, Pr, Nd, Pm, Sm, Eu, Gd, Tb, Dy, Ho, Er, Tm, Yb, Lu) bzw. „Actinoide" An (Th, Pa, U, Np, Pu, Am, Cm, Bk, Cf, Es, Fm, Md, No, Lr) bezeichnet (zu den so genannten „SeltenerdMetallen" zählen Scandium, Yttrium, Lanthan sowie alle Lanthanoide).
Die Einordnung der Übergangsmetalle erfolgt in so genannte „Nebengruppen" eines Hauptund Nebengruppen enthaltenden „ungekürzten Periodensystems". Es lässt sich besonders übersichtlich in Form des „Langperiodensystems der Elemente" wiedergeben, welches aus dem gekürzten Periodensystem durch Einfügen des Systems der Nebengruppenelemente an der Stelle des gestrichelten Pfeils hervorgeht. Es ist auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels (Tafel I) abgebildet. Ersichtlicherweise sind in ihm die auf Lanthan und Actinium folgenden „Lanthanoide" und „Actinoide" durch einen gestrichelten Pfeil ersetzt und unterhalb
2. Vergleichende Übersicht über die Elemente
77
vom System getrennt aufgeführt. D a s Langperiodensystem umfasst damit 18 senkrechte Gruppen, charakterisiert durch arabische Gruppennummern 1 - 1 8 (neues IUPAC-System; die 0. u n d 18. G r u p p e sind miteinander identisch) sowie 7 waagrechte Perioden, nämlich eine sehr kurze Periode (1. Periode, 2 Elemente), zwei kurze Perioden ( 2 . - 3 . Periode, je 8 Elemente), zwei lange Perioden ( 4 . - 5 . Periode, je 18 Elemente) u n d zwei sehr lange Perioden ( 6 . - 7 . Periode, je 32 Elemente; das Element 117 dürfte in naher Z u k u n f t erzeugt werden). Innerhalb jeder waagrechten Periode sind die Elemente nach steigenden A t o m n u m m e r n angeordnet. Innerhalb jeder senkrechten G r u p p e stehen die besonders eng verwandten Elemente übereinander (im Falle der beiden kurzen Achterperioden, bei denen die Übergangselemente der langen Perioden fehlen, bleibt ein entsprechender R a u m frei). Ü b e r den Elementsymbolen ist die zugehörige Atomnummer, unterhalb die Atommasse angegeben. Wie wir bei der Eigenschaftsbesprechung der Nebengruppenelemente noch erfahren werden (vgl. Periodensystem, Teil III, S. 1303), weisen die langen Perioden eine doppelte Periodizität auf: es bestehen chemische Verwandtschaften von Elementen aus jeweils einer Haupt- und Nebengruppe. Die Zugehörigkeit der Nebengruppen zu entsprechenden Hauptgruppen kann hierbei durch römische Gruppennummern 0-VIII angedeutet werden (Chemical Abstract System, ,,CAS"). Das Langperiodensystem enthält dann der Reihe nach folgende Gruppen: I.-II. Hauptgruppe (Gruppen Ia, IIa), dann IIL-VIII. und I.—II. Nebengruppe (Gruppen IIIb-VIIIb und I b - I I b ; die Gruppe VIIIb setzt sich aus drei Teilgruppen zusammen), schließlich III.—VIII. Hauptgruppe (Gruppen IIIa-VIIIa). In Abweichung hiervon (altes IUPAC System) werden aber auch die ersten 10 Gruppen des Langperiodensystems als Gruppen I A - V I I I A bezeichnet (VIIIA setzt sich aus drei Teilgruppen zusammen) und die folgenden 8 Gruppen als IB-VIIIB. Das Langperiodensystem im vorderen Buchdeckel (Tafel I) berücksichtigt neben dem neuen IUPAC-System (über und unter den Elementen) zusätzlich sowohl das CA-System (über den Elementen) wie das alte IUPAC-System (unter den Elementen). Um eine überzeugende Einordnung der Elemente in das Periodensystem zu ermöglichen, musste an einzelnen Stellen das Prinzip der Aufeinanderfolge nach steigender relativer Atommasse durchbrochen werden. So findet sich in den Hauptgruppen des Periodensystems das Argon (Ar) vor dem Kalium (K) und das Tellur (Te) vor dem Iod (I), obwohl nach der relativen Atommasse die Reihenfolge umgekehrt sein sollte; in gleicher Weise muss bei den Nebengruppen entgegen der relativen Atommasse das Cobalt ( C o vor das Nickel (Ni) und das Thorium (Th) vor das Protactinium (Pa) gestellt werden. Daraus geht hervor, dass in Wirklichkeit nicht die relative Atommasse, sondern eine andere - mit der relativen Atommasse in gewissem Zusammenhang stehende - Größe die Reihenfolge der Elemente bedingt (vgl. Atombau). In der Zusammenstellung der Elemente auf S. 71 sind die Umstellungen (,,Inversionen") bereits berücksichtigt
2
Vergleichende Übersicht über die Elemente
E n t d e c k u n g der c h e m i s c h e n E l e m e n t e 3 Die Hauptzeit der Entdeckung der Elemente fällt wie aus der Tafel II hervorgeht in das 18. Jahrhundert (17 Elemente), das 19. Jahrhundert (50 Elemente) u n d das 20. Jahrhundert (30 Elemente). Zwölf Elemente waren schon im Altertum bekannt; zwei wurden im 13. Jahrhundert, eines im 17. Jahrhundert aufgefunden (in nachfolgender Zusammenstellung sind die Elemente chronologisch geordnet; bezüglich Einzelheiten der Entdeckung siehe bei den betreffenden Elementen): Altertum: 13. J a h r h d t . 17. J a h r h d t . 18. J a h r h d t .
3
C, S, Cu, Ag, Au, Fe, Sn, Sb, Hg, Pb, Bi, Pt. As, Zn. P. Co, Ni, Mg, H , N , O, Cl, M n , Cr, M o , Te, W, Zr, U , Ti, Y, Be.
Literatur M . E . Weeks, H . M . Leicester: ,,Discovery of the Elements", Chem. Educ. Publ. Company, Easton 1968; N. A. Figurovskii: , D i e Entdeckung der chemischen Elemente und der Ursprung ihrer Namen", Deubner, Köln 1981.
78
IV. Das Periodensystem der Elemente
19. Jahrhdt.: V, Nb, Ta, Rh, Pd, Os, Ir, Ce, K, Na, B, Ca, Sr, Ru, Ba, I, Th, Li, Se, Cd, Si, Al, Br, La, Er, Tb, Cs, Rb, Tl, In, Ga, Ho, Yb, Sc, Sm, Tm, Gd, Pr, Nd, Ge, F, Dy, Ar, He, Kr, Ne, Xe, Po, Ra, Ac. 20. Jahrhdt.: Rn, Eu, Lu, Pa, Hf, Re, Tc, Fr, Np, At, Pu, Am, Cm, Pm, Be, Cf, Es, Fm, Md, No, Lr, Rf, Db, Sg, Bh, Hs, Mt, Ds, Rg, Element 112. 21. Jahrhdt.: Bisher Elemente 113, 114, 115, 116, 118. Verbreitung der chemischen Elemente 4 Die Verbreitung der im Periodensystem zusammengefassten Elemente auf unserer Erde ist unterschiedlich. So bestehen die uns zugänglichen Teile der Erde („Erdhülle") - nämlich die Luft („Atmosphäre")5, das Meer („Hydrosphäre"')5, die Tier- und Pflanzenwelt („Biosphäre"')5 und eine ca. 5-50 km dicke Schicht („Erdkruste"; auch „Lithosphäre" genannt) 5 des äußeren Gesteinsmantels der Erde (vgl. Fig. 29) - zur Hälfte ihrer Masse (48.9 %) aus Sauerstoff und zu über einem Viertel (26.3 %) aus Silicium. In das restliche Viertel teilen sich in der Hauptsache die 11 Elemente Al, Fe, Ca, Na, K, Mg, H, Ti, N, Cl und P mit zusammen 24.44% (Summe 99.64%), während die übrigen Elemente zusammen nur noch 0.36% ausmachen, wovon der Hauptteil (0.30%) auf die Elemente Mn, F, Ba, Sr, S, C, Zr, V und Cr entfällt. Für die Häufigkeit der Elemente (in Gewichts-% der Erdkruste einschließlich Wasser- und Lufthülle, jeweils geordnet nach fallendem Anteil), die man nach ihrer Affinität für metallisches Eisen, für Sulfid, für Silicat bzw. für die Atmosphäre in siderophile5, chalkophile5, lithophile5 und atmophile5 Elemente unterteilt, gelten hierbei folgende Bereiche (vgl. hierzu auch die Tafel II, und bezüglich der Elementanteile in Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre und Kosmos S. 514, 525, 76, 1921): 10 10 1% 1-10"*% 1 0 " 1 - 1 0 " 2 0/ o/ 1 0 " 2 - 1 0 " 3 0/ o/ 10~ 3 -10" 4 %0 / 10"4-10"5% 10 5 - 1 0 6 % 10 " 6 - 10"7% 10"7-10 " 8 % 1 0 " ^ - 10"20% < 10" 2 o %
O, Si. Elementhäufigkeit in der Al, te, Ca, Na, K, M g Erdhülle ( = Erdkruste + H, Ti, Cl, P. Wasser + Lufthülle) Mn, F, Ba, Sr, S, C, N, Zr, V, Cr. R b M, Z i , C e Ol, Y, La, N d d Sc, Li, N b d Th, B. Pr, Br, Sm, G d Ar, Yb, Cs, Dy, Hf, Er, Be Xe, T a U, M W , Mo, Ge, Ho, Eu. Tb, I, Tl, Tm, L u d B , MH | , A | , ^ ^1, T , M, Pt. siderophil (fett) Os, Ne,He, Au, R , lr. chalkophil (unterstr.) Kr. lithophil (steil) Ra, Pa, Ac, P o Rn, Np, Pu, P m atmophil (kursiv) Fr, At, Transplutonium-Elemente biophil (vgl. S.76)
Bezogen auf die ganze Erdkugel ist Fe mit 34.6% das häufigste Element. Es folgen O (29.5%), Si (15.2%), Mg (12.7%), Ni (2.39), S (1.93), Ca (1.13), Al (1.09), Na (0.57), Cr (0.26), Mn (0.22), Co (0.13), P (0.10), K (0.07), Ti (0.05). Bezogen auf Atomprozente rückt der leichte Wasserstoff an die dritte Stelle. Im Weltall nimmt der Wasserstoff mit 90 Atom-% sogar die 1. Stelle ein (9 Atom-% He, 1 Atom-% übrige Elemente).
4
5
Literatur R . G . Schwab: „ Was wissen wir über die tieferen Schichten der Erde?", Angew. C h e m 86 (1974) 612-624; Int. E d 13 (1974) 580; W.S. Fyfe: ,,Geochemistry", Oxford, University Press 1974; B. Mason, C.B. Moore (Übers.: G. Hintermaier-Erhard): ,,Grundzüge der Geochemie", Emke, Stuttgart 1985; H . J . M . Bowen: „Environmental Chemistry of the Elements", Acad. Press, New York 1979; E.-I. Ochiai: ,,Bioinorganic Chemistry", Allyn and Bacon Boston, 1977; R.W. Hay: ,,Bioinorganic Chemistry", Halsted Press, 1984. atmos (griech.) = Dunst; sphaira (griech.) = Kugel; hydor (griech.) = Wasser; bios (griech.) = Leben; lithos (griech.) = Stein; chalkos (griech.) = Kupfer; sideros (griech.) = Eisen; barys (griech.) = schwer.
2. Vergleichende Übersicht über die Elemente
Lithosphäre
Dicke [km]
/Biosphäre
AtmoSphäre
Hydrosphäre ' Erdkruste (d = 2.6-2.9 g/cm 3 )
IChalko-/ Erdmantel sph. (d= 3.5-3.6 g/cm 3 )
Atmosph. Hydrosph.c) Erdkruste Erdmantel Erdkern Gesamterde
> 1000 bis 11 5 bis > 40 2883 3471«) 6371
Volumen [m 3 ] -
Dichteb) [g/cm 3 ] -
18
1.4x10 8x1018 899x 1018 175X1018 1083 X 1018
1.03 2.8 4.5 11.0 5.514
79
Masse [t] 5.136 Xl01 5 1.4 1018 24 1018 4016X1018 1936x 1018 5976 1018
\flüs-
1 si§ ,
a) Radius. - b) Mittlere Dichte, der Gesteine.
o-> o
c) Ohne gebundenes Wasser
o
\ e / Erdkern B \s/ ( 40 km unter den Gebirgen) enthält hauptsächlich Sauerstoff, Silicium und Aluminium, gebunden in Form von Fe-, Ca-, Na-, Mg-, K-, Ti-, P-haltigen „Silicaten" und „Alumosilicaten"; 95 % der Kruste sind hierbei Erstarrungsgesteine (meist „Granit"), 5 % Sedimentgesteine (4 % Tongesteine, 0.75 % Sandsteine, 0.25 % Kalksteine). Granit bildet hierbei die kontinentalen Krusten, Basalt die Ozeanbecken (vgl. S. 958). Der Erdmantel besteht in seinem oberen, ca. 1200 km dicken Teil (,,Lithosphäre"5) aus „Silicatgesteinen" von Al, Fe, Ca, K, Na, Mg, wobei höhere, hellere, als ,,Sial" (von Si und Al) bezeichnete Schichten (insbesondere „Granit", „Gneis") Fe-ärmer sind als tiefere, dunklere, als ,,Sima" (von Si und Mg) bezeichnete Schichten (insbesondere „Basalt", „Melaphor", „Diabas", „Grabbo", „Diorit"). In seinem unteren, ca. 1700 km dicken Teil (,,Chalkosphäre" 5 ) besteht der Erdmantel aus einem Gemisch von „Oxiden" insbesondere der Elemente Mg, Fe, Cr, Ca, Na, Ni. Der aus Fe (86Gew.-%), Ni (7%), Co (1%) und Schwefel (6%) aufgebaute Erdkern (,,Siderosphäre", ,,BarysphäreiiS) ist im inneren Teil (Radius von 1400 km) bei einem Druck von 1.5-3.5 Millionen Bar und einer Temperatur von über 4000 °C fest, im darum gelagerten äußeren Teil (Schale von 2100 km Dicke) flüssig. Die Dichte nimmt von außen nach innen in Stufen von 2.6 bis 13.5 g / c m zu {Durchschnittsdichte der Erde: 5.514 g / c m ) . Infolge der in der Tiefe herrschenden extrem hohen Drücke zeichnen sich die Strukturen der Verbin dungen durch höhere Koordinationszahlen der Gitterbausteine und damit höhere Dichte aus (man vergleiche etwa den bei hohen Drücken entstehenden Stishovit Si0 2 (Koordinationszahl 6 des Si; Dichte = 4.387 g / c m ) mit dem unter Normaldruck beständigen Cristobalit Si0 2 (Koordinationszahl 4 des Si; Dichte = 2.334 g / c m ) . Vgl. hierzu S.953.
Aufbau der Biosphäre 4 Nach bisherigen Erkenntnissen liegen der anorganischen und organischen Materie des Menschen unter ,,normalen" Verhältnissen 26 lebensnotwendige (,,essentielle") und 11 nicht lebensnotwendige, nur zufällig anwesende oder durch andere Elemente ersetzbare (,,akzidentelle") Elemente zugrunde (Summe: 37 Elemente). Die Häufigkeiten dieser „Bioelemente" sind in der Tafel II wiedergegeben. Hiernach enthält ein erwachsener, 75 kg schwerer Mensch folgende Elementmengen (essentielle Elemente sind durch Fettdruck hervorgehoben): O 45.8 kg C 17.7 kg H 7.05 kg N 2.10 kg Ca 1.05 kg P 0.70 kg
S K Na Cl M F
175 g 170 g 105 g 105 33 g 4.2
Zn Si Rb F Sr Zr
3.0 1.4 g 1.4g 0.8 g 0.3 0.3
C Br S Nb I Al
200 mg 140 mg 140 mg 100 mg 70 mg 35 mg
Pb Cd Ba Mn V B
35 mg 30 mg 20 mg 20 mg 20 mg 14 mg
14 S M 5.0 A 3.5 Co 2.8 2.0 C Li 2.0 N 1.0
mg mg mg mg mg mg mg
80
IV. Das Periodensystem der Elemente
Andere Organismen bauen sich im Wesentlichen aus den gleichen Elementen auf (hinzu kommen bei Pflanzen insbesondere La, Ti, W, Ag, Au, Hg, Ga). Die Mengenverhältnisse der Elemente sind jedoch zum Teil andere; auch können essentielle Elemente der Menschen bei anderen Lebewesen akzidentelle sein und umgekehrt. So reichern etwa viele Pflanzen (Roggen, Bohnen, Mohn usw.) das Element Bor, Manteltierchen oder Fliegenpilze das Element Vanadium an, wobei das Bor für die Pflanzen - anders als für den Menschen oder die Tiere ein essentielles Element darstellt Die häufigsten Bioelemente des Menschen entstammen ersichtlicherweise der 1. und 2. Elementperiode, die meisten der 4. Periode (16 Elemente). Iod (Ordnungszahl 53) stellt das schwerste Nichtmetall, Molybdän (Ordnungszahl 42) das schwerste Metall von biologischer Bedeutung für den Menschen dar. Am Aufbau des Menschen sind mit insgesamt 94.07 Gew.-% im Wesentlichen nur die drei Elemente O (61.07%), C (23.60%) und H (9.40%) beteiligt. Weitere 5.91% steuern die Elemente N (2.80%), Ca (1.40%), P (0.93%), S (0.23%), K (0.23%), Na (0.14%), Cl (0.14%) und Mg (0.04%) bei (Summe ca. 99.9%), während die verbleibenden Elemente zusammen nur ca. 0.1 % ausmachen. Man bezeichnet letztere als „Spurenelemente", worunter man Grundstoffe versteht, deren Menge die des Eisens in lebenden Organismen nicht übersteigt. Die häufigeren Bioelemente bilden in Form von Wasser (ca. 50Gew.-% des Menschen) das „Reaktionsmedium", in Form von Calciumcarbonat und -phosphat die „Gerüstsubstanz", in Form von Natriumchlorid den „Elektrolyten" und in Form von Eiweißstoffen, Zuckern und Fetten den mengenmäßig wesentlichen „organischen" Teil des Menschen. Die Spurenelemente fungieren andererseits als aktive Zentren der Enzyme (z.B. Fe im Hämoglobin, Co im Vitamin B 12 ) 6 . Aus einem Vergleich der oben zusammengestellten Werte mit den Gewichtsanteilen der Erdhülle (S. 78) ist zu folgern, dass sich die biologischen Spezies im Zuge ihrer Entwicklung naturgemäß solcher Elemente bedienten, die häufiger auftreten und demgemäß leichter zugänglich sind. So kommen unter den essentiellen Elementen des Menschen in der Erdhülle 19 reichlich (> 10" 2 Gew-%), 6 (Ni, Zn, Cu, Co, Sn, Mo) noch ausreichend (10" 2 bis 10"4 %) und nur 2 (I, Se) untergeordnet vor (< 10"4 %). Da essentiellen Elementen in jedem Falle (zum Teil noch unbekannte) Biofunktionen zukommen, ist die Verfügbarkeit der Bioelemente für Organismen von größter Bedeutung; ihr Mangel führt meist zu schweren Schädigungen. Allerdings gibt sich ein Überangebot eines Bioelements ebenfalls in spezifischen Krankheitsbildern zu erkennen. Z. B. stellen Selen oder Arsen für Säugetiere essentielle Elemente dar, die bereits oberhalb sehr kleiner Konzentration in organischen Geweben,,giftig" wirken. Für jedes Bioelement existiert somit ein mehr oder weniger großer, biologisch wirksamer Konzentrationsbereich („Fenster"), in welchem es weder Mangelsymptome verursacht, noch toxisch wirkt. In gewissen Grenzen können sich jedoch Organismen im Laufe der Zeit an - umweltbedingte - außergewöhnlich niedrige bzw. hohe Konzentrationen eines Elements anpassen (Entwicklung von Mechanismen zum ,,Aufspüren" und ,,Anreichern" bzw. zum „Tarnen" und „Ausscheiden" der betreffenden Elemente).
Eigenschaften der chemischen Elemente Physikalische Eigenschaften Von den bekannten Elementen sind bei Raumtemperatur 11 (H, He, Ne, Ar, Kr, Xe, Rn, F, Cl, O, N) gasförmig, 2 (Br, H g flüssig, alle übrigen fest. Ca. 3/4 aller Elemente stellen Metalle, ca. 1/4 Nicht- und Halbmetalle dar. Erstere zeigen in der Regel silberigen Metallglanz (Ausnahmen: goldgelb glänzendes Cs, Ba, Au; rotbraun glänzendes Cu). Die Nicht- und Halbmetalle sind demgegenüber meist farbig. Bezüglich weiterer Eigenschaften der Elemente vgl. die Tafeln III-V. Toxizität7. Die Giftigkeit der einzelnen Elemente unterscheidet sich zum Teil stark. So wirken etwa die Elemente Be, As, Cd, Hg, Tb, Pb sehr toxisch, während ihre Nachbarelemente Li (in Form von Li + ), B, Ge, Br (in Form von Br~; Br2 ist toxisch), Ag, In, Au, Bi ungefährlich sind. Toxisch wirken außer den aufgeführten und einigen weiteren nicht-radioaktiven Elementen alle Radionuklide aufgrund der von ihnen ausgehenden radioaktiven Strahlung (zur Toxizität der Elemente vgl. Tafeln III-V). Die Toxizität eines Elements stellt dabei keine starre Größe dar, sondern sie hängt sowohl von der Verabreichungsform des Elements (als kompakter oder staubförmiger Stoff, als unlösliche oder lösliche Verbindung) als auch vom Empfänger ab (z. B. ist As, Se, V für Menschen und Tiere bzw. Cu für die meisten Pflanzen hochgradig toxisch, während As, Se, V für Pflanzen bzw. Cu für Menschen und Tiere nur mäßig toxisch wirken). Zur Beurteilung der Toxizität eines Stoffs dient u. a. der MAK-Wert, worunter man die maximal zulässige Arbeitsplatz-Konzentration (in m l / m oder m g / m ) eines Stoffes als Gas, Dampf oder Schwebestoff 6
7
Der „Wert" eines Menschen beträgt laut Tagespreis der einzelnen Elemente, aus denen der Mensch besteht, nur wenige Euro, laut Beschaffungskosten für die hochkomplizierten molekularen, den Menschen aufbauenden Stoffe zigmillionen Euro toxo (griech.) = Bogen; toxenma (griech.) = Pfeil; toxikon (griech.) = Pfeilgift.
2. Vergleichende Übersicht über die Elemente
81
in der Luft versteht, die auch bei langfristiger Exposition (40 Stundenwoche) die Gesundheit des Menschen nicht beeinträchtigt 8 . Den weiter oben erwähnten Elementen bzw. ihren Verbindungen kommen etwa folgende MAK-Werte zu (bei Metallverbindungen beziehen sich die Werte auf den Metallgehalt; c = cancerogen, krebserzeugend): Be MAK c
B203 15
Tl + 0.1
Pb As 0.1 c
Se0 2 0.1
Br2 I 2 0.7 1
Cu 1
Ag Cd 0.01 c
HgO 0.01
V205 0.05 [mg/m 3 ].
Im Falle cancerogener Stoffe, für die kein MAK-Wert aufgestellt werden kann, verwendet man TRK-Werte (,technische Richtkonzentration in ml oder mg pro m 3 ), die analog den MAK-Werten definiert sind8, z. B. Be: TRK = 0.002 m g / m , As: 0.1, Cd: ?. Die MAK-Werte werden durch BAT-Werte (biologische Arbeitsstofftoleranz) ergänzt, die sich auf die im Blut und Harn bestimmbare Menge der aufgenommenen und gegebenenfalls metabolisierten Stoffe (in ng/l) beziehen8.
8
Literatur Deutsche Forschungsgemeinschaft: „Maximale Arbeitsplatzkonzentrationen leranzwerte 1990", VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1990.
und biologische
Arbeitsstoffto-
Kapitel V
Der Atombau
Beim Studium der besprochenen und noch zu besprechenden Physik und Chemie der Atome und ihrer Bestandteile tauchen für den aufmerksamen Leser einige Fragen auf: Warum sind die Ionisierungsenergien der Edelgasatome so hoch, die der im Periodensystem unmittelbar folgenden Alkalimetallatome dagegen so niedrig? Warum sind andererseits die Elektronenaffinitäten der Halogenatome - verglichen mit jenen der Edelgasatome - so groß? Warum sind die chemischen Eigenschaften der Ionen von denen der Ausgangsatome ganz verschieden? Weshalb treten Alkalimetalle bevorzugt als einfach, Erdalkalimetalle als zweifach geladene Kationen auf und umgekehrt Halogene bzw. Chalkogene als ein- bzw. zweifach geladene Anionen? Warum nimmt die Ionisierungsenergie beim Übergang von der n-ten zur (n +l)-ten Ionisierungsstufe (n = Gruppennummer) so besonders stark zu? Weshalb zeigen Elemente einer bestimmten Gruppe des Periodensystems ähnliche Eigenschaften? Warum senden die Gasatome und -ionen im Falle einer leuchtenden Gasentladung Licht ganz bestimmter Wellenlänge und kein kontinuierliches Spektrum aus Auf alle diese Fragen gibt uns das ,,Schalenmodell der Atome", mit dem wir uns nun näher befassen wollen, eine einfache Antwort.
1
Das Schalenmodell der Atome
1.1
Bausteine der Materie. Elementarteilchenbegriff 1
1.1.1
Die Nukleonen und andere Elementarteilchen
N a c h unseren heutigen Kenntnissen (Werner Heisenberg, 1901-1976) bestehen die A t o m e aus einem winzig kleinen, fast die gesamte A t o m m a s s e in sich vereinigenden A t o m k e r n (,,Nukleus") 2 u n d einer räumlich ausgedehnten, fast masseleeren A t o m h ü l l e . Alle A t o m kerne sind dabei aus zwei Sorten von Teilchen der angenäherten relativen Massen 1 (Nukleonen) 2 aufgebaut, den einfach positiv geladenen Protonen (S. 61) 2 sowie den ungeladenen Neutronen 2 . Die Atomhülle enthält die einfach negativ geladenen Elektronen 2 . Die Anzahl der P r o t o n e n u n d Elektronen ist in neutralen A t o m e n gleich der O r d n u n g s z a h l ( K e r n l a d u n g s z a h l ) , die A n z a h l der N e u t r o n e n gleich der D i f f e r e n z d e r M a s s e n - u n d O r d n u n g s z a h l des betreffenden Elements („Heisenberg'sches Atommodell", 1932). Geschichtliches. Man hatte nach der Entdeckung des Elektrons (S. 60) zunächst angenommen, dass die Atome kleine, gleichmäßig mit schwerer Masse positiver Ladung ausgefüllte Kugeln seien, in welchen die leichten Elektronen eingebettet wären („Thomson'sches Atommodell" 1897). Ernest Rutherford (1871-1937) widerlegte dann wenig später die Vorstellung eines k o m p a k t e n Atomaufbaus, indem er experimentell zeigte, dass zweifach positiv geladene, also elektronenfreie Heliumatome 2 He 2 + (a-Teilchen; vgl. Radioaktivität) hoher Geschwindigkeit («< 16000 km/s) zu 99.9% ungehindert durch hauchdünne 1
2
Literatur B.H. Bransden: „The Elementary Particles", Quart. Rev. 21 (1967) 474-489; P. Joos: „Die Elementarteilchen", Physik in unserer Zeit 1 (1970) 9-15; N. Schmitz: „Das Quarkmodell der Elementarteilchen", Physik in unserer Zeit 2 (1971) 55-61; P. Becker, M. Böhm: ,,Die neuen Elementarteilchen", Physik in unserer Zeit 7 (1976) 34-38; Y. Nambu: „The Confinement of Quarks", Scientific American 235 (1976) 48-60; H.Fritzsch: „Quarks - Urstoffe unserer Welt" und ,,Vom Urknall zum Zerfall", Piper, München 1982 und 1983; E. Lohrmann: ,Einführung in die Elementarteilchenphysik", 2. Aufl., Teubner, Stuttgart 1990; H.V. Klapdor-Kleinigrothaus: „Teilchenphysik ohne Beschleuniger", Teubner, Stuttgart 1995. Bezüglich der Namen vgl. Kap.III, Anm. 1 0 .
1. Das Schalenmodell der Atome
83
etwa 10~ 6 m dicke Folien aus Metall (z.B. Aluminium, Kupfer, Silber, Gold, Platin) fliegen. Aus der Seltenheit beobachteter Ablenkungen der Helium-Ionen (ca. 0.1 %) schloss er, dass nur ein kleiner Raumteil der Atome den Kationen Widerstand leiste, und aus der beachtlichen Winkelgröße der Ablenkungen folgerte er, dass der betreffende Raumteil praktisch die gesamte Atommasse und zudem die gesamte positive Atomladung in sich vereinige (nach den Gesetzen des elastischen Stoßes werden die leichten He-Ionen nur an relativ schweren und hoch geladenen Massen abgelenkt). Rutherford postulierte deshalb, dass die Atome aus einem kleinen schweren, positiv geladenen Kern und einer räumlich ausgedehnten leichten, negativ geladenen E l e k t r o n e n h ü l l e bestehen („Rutherford'sches Atommodell", 1911). Den Befund, dass die Massenzahl eines Atoms im Allgemeinen viel größer (abgesehen vom H-Atom mindestens doppelt so groß) als die Kernladungszahl ist, erklärte man zunächst damit, dass die P r o t o n e n z a h l eines Kerns gleich seiner Massenzahlsei und die über die Kernladungszahl hinausgehende Protonenzahl durch K e r n e l e k t r o n e n neutralisiert werde. Später setzte man anstelle der überschüssigen Kernprotonen neuartige, ungeladene Kernteilchen, die man sich formal aus einer innigen Vereinigung von Proton und Elektron hervorgegangen dachte. Diese, von E. Rutherford 1920 postulierten und von W. D. Harkins 1921 als N e u t r o n e n bezeichneten Kernteilchen wurden dann 1932 von dem englischen Physiker James Chadwick (1891-1974) entdeckt. Dabei spricht die Tatsache, dass die Masse des Neutrons größer ist als die Masse von Proton + Elektron (Tab. 5), natürlich gegen die Auffassung, Neutronen bestünden aus Protonen und Elektronen in fester (energieliefernder) Bindung. Elektronen (e), P r o t o n e n (p) u n d N e u t r o n e n (n) werden als „Elementarteilchen" bezeichnet, w o r u n t e r m a n n i c h t w e i t e r z e r l e g b a r e (aber durchaus ineinander umwandelbare) Bestandteile des Universums versteht. Auf die erwähnten d r e i m a t e r i e l l e n B a u s t e i n e , deren Masse, Ladung, Radius u n d Dichte der Tab. 5 e n t n o m m e n werden kann, ist letzten Endes die unendliche Vielfältigkeit der belebten u n d unbelebten Welt zurückzuführen. D e n n durch Kombination der aus N u k l e o n e n (p + , n) bestehenden A t o m k e r n e mit den aus Elektronen (e~) bestehenden Atomhüllen entstehen zunächst die A t o m e der über hundert E l e m e n t e , aus diesen die Millionen von M o l e k ü l e n der chemischen V e r b i n d u n g e n u n d aus letzteren schließlich die u n e n d l i c h v i e l s e i t i g e n E r s c h e i n u n g s f o r m e n der belebten u n d unbelebten N a t u r . A u ß e r den erwähnten, zu den Leptonen 2 (Elektron) u n d H a d r o n e n 2 (Proton, Neutron) zu zählenden Elementarteilchen kennt m a n noch zwei weitere langlebige Bausteine im Weltall, die fast materielosen Neutrinos (S. 88) mit weniger als ein fünfzigtausendstel der Elektronenmasse sowie - als Träger der elektromagnetischen Strahlung - die materielosen Photonen (S. 100). D a r ü b e r hinaus existieren viele andere kurzlebige Leptonen und Hadronen, die wie die Neutrinos u n d P h o t o n e n am A t o m a u f b a u nicht beteiligt sind. Z u den „Leptonen" 3 zählt m a n hierbei die Elektronen (e), Myonen(ji), Tauonen(x)3 sowie Neutrinos (v), u n d zwar Letz-
Tab. 5 Atombausteine, -kerne und -hüllen (Z = Kernladung, ^ = Massenzahl, Ar(m) = relative (molare) Atommasse m c = absolute Elektronenmasse, NA = Avogadro'sche Konstante). Ladung [in Coulomb]
Radiusb [in e] [ca., in m ]
Teilchen
Mi isse relativ ( " C = 12) absolut [kg]
Elektron u-Quark d-Quark
0.000548 579 0.322 0.322
9.109390 x 10~ 3 i 0.535 x 10-27 0.535 x 10-2 7
—1.602177 x 1 0 - i " — +1.068118 x 1 0 - i " 2/ — 0.534059 x 1 0 - i " — 1/3
Proton Neutron
1.007276 1.008665
1.672623 x 10-2 7 1.674929 x 10-27
+1.602177 x 1 0 - i " + 0
Atomkern Atomhülle
A r — Z/1836 Z/1836
^ „ / A ^ - Z x me Z x mc
+ 1.6x 1 0 - i " x Z —1.6 x 1 0 - i " x Z
1 0 + Z - z
10-i" 10-i" 10-i" 1.3 x 1 0 - i ' 1.3 x 1 0 - i '
Dichte [ca., in g/cm3] p 1014 P 10" P 10" 2x 10" 2x 10"
1.3 x 1 0 - i ' x y^A 2 x 1 0 " 2 x 10 —4 x Z ~ 2 x 10—10'
a Na = 6.022 1 37 x 10 23 m o r 1 . b Planck'sche Elementarlänge = 1.617 x 1 0 ^ ' m . c Ein Proton ist 1836.156-mal, ein Neutron 1838.683mal schwerer als ein Elektron, ein Elektron mindestens 50000-mal schwerer als ein Neutrino.
3
Lepton von leptos (griech.) = leicht Hadron von hadros (griech.) = dick, s t a r k Meson von meson (griech.) = Mitte; Baryon von barys (griech.) = schwer Hyperon von hyper (griech.) = über. Bzgl. Myonen und Tauonen vgl. S. 1903.
84
V. Der Atombau
tere in Form von Elektron-, Myon- und Tauonneutrinos ve, vß und v t 3 (vgl. S.88), zu den „Hadronen"3 die Mesonen3 (geladene und ungeladene Teilchen mit Massen zwischen Proton und Elektron, S. 1903) und Baryonen3 in Form der ,,Nukleonen" (Proton, Neutron) und ,,Hyperonen" 3 (geladene und ungeladene Teilchen mit größerer als der Protonenmasse). Dabei kennt man zu jedem Elementarteilchen ein „Antiteilchen". So stellt das von P.A.M. Dirac im Jahre 1928 vorausgesagte und von C.D. Anderson 1932 in der Höhenstrahlung entdeckte „Positron" (positives Elektron e + ) das Antiteilchen zum negativen Elektron, dem „Negatron" (e~) dar 4 . In analoger Weise entspricht dem einfach positiv geladenen „Proton" (p + ) ein einfach negativ geladenes, gleichschweres „Antiproton" (p~), dem ungeladenen „Neutron" (n) ein ungeladenes, gleichschweres „Antineutron" (n), dem ungeladenen „Neutrino" (v) ein ungeladenes „Antineutrino" (v) usw. (Näheres vgl. S.88, 1904). Gelegentlich ist ein Teilchen (z.B. das Photon) auch sein eigenes Antiteilchen.
1.1.2
Die Quarks und andere Urbausteine
Die Vielzahl bisher bekannter Elementarteilchen spricht dafür, dass sie wohl zum Teil keine U r b a u s t e i n e der Natur darstellen, sondern ihrerseits zusammengesetzter Natur sind. Tatsächlich folgt aus der Streuung von auf 20000 MeV beschleunigten - d.h. fast mit Lichtgeschwindigkeit fliegenden - Elektronen an Nukleonen, dass letztere strukturiert sind (man vergleiche die weiter oben im Kleindruck erwähnte, von Rutherford erforschte Streuung von a-Teilchen an Materieatomen, aus der die Struktur der Atome abgeleitet wurde). Genauere Untersuchungen mit hochbeschleunigten Elektronen (und auch mit Neutrinostrahlen) ergaben hierbei, dass das Proton wie das Neutron aus jeweils drei elektrisch geladenen Bausteinen besteht, die gleichberechtigt innerhalb des Nukleons existieren. Durch diese, ab 1966 im Stanforder Linear Accelerator Center (SLAC) und ab 1970 im Genfer CERN-Forschungszentrum durchgeführten Experimente wurde eine im Jahr 1964 von den amerikanischen Physikern Murray Gell-Mann und George Zweig unabhängig voneinander aufgestellte Hypothese bestätigt, wonach die Nukleonen aus jeweils drei „Quarks"5 bestehen sollen und zwar das Proton aus zwei u- und einem d-Quark, das Neutron aus einem u- und zwei d-Quarks (u und d stehen für ,,up" und „down"). Sowohl das u- als auch das d-Quark sind wie das Elektron geladen, und zwar trägt das u-Quark 2/3 einer positiven, das d-Quark 1 /3 einer negativen Elementarladung (Tab. 5). Die Masse beider Teilchen ist aber viel größer als die des Elektrons; sie beträgt etwa 1/3 der Masse des Protons bzw. Neutrons (Tab.5). Hierbei stellen beide Quarks nur M a s s e p u n k t e mit einer r ä u m l i c h e n A u s d e h n u n g < 10"i 9 m dar. Demgegenüber sind die Protonen und Neutronen als Folge ihres Baus aus herumschwirrenden Quarks ausgedehnte Objekte (vgl. die um die Atomkerne herumfliegenden Elektronen, die zu einer vergleichsweise großen Ausdehnung der Atome führen; S. 99). Die Nukleonen erscheinen als kleine Kugeln vom Radius 10~i 5 m (Tab. 5), deren drei Konstituenten im Mittel 10~i 5 m voneinander entfernt sind (vgl. Fig. 30). Die N u k l e o n e n l a d u n g e n setzen sich aus den Quarkladungen zusammen und betragen mithin erwartungsgemäß +2/3 +2/3 — 1/3 = + 1 im Falle des Protons und + 2/3 — 1/3 — 1/3 = 0 im Falle des Neutrons (in analoger Weise ergeben sich die Ladungen der aus Antiquarks ü und d zusammengesetzten Antiprotonen üüd und Antineutronen üdd zu —2/3—2/3 +1/3 = — 1 und —2/3 +1/3 +1/3 = 0). Ähnlich 4
5
Das Positron hat die genau gleiche verschwindende relative Masse von 0.000 548 580 und die genau gleiche elektrische Ladung von 1.602177 x 10~i 9 Coulomb (umgekehrtes Vorzeichen) wie das Negatron (vgl. Tab.5). Es ist nicht im eigentlichen Sinne instabil, verschwindet aber beim Zusammentreffen mit einem Elektron unter Aussendung elektromagnetischer Strahlung, so dass es nur eine sehr kurze Lebensdauer (s; 10~ 5 s) besitzt: + e+ 1.022MeV. Vgl. hierzu auch S. 1904, 1989. Der von M. Gell-Mann geprägte Name Quark für die Konstituenten der Nukleonen bezieht sich auf ein von James Joyce in seinem Roman ,,Finnegans Wake" geprägtes Kunstwort: ,,Three quarks for Master Mark". Die drei Quarks sind hierin die Kinder eines Herrn Finn oder Mark, die manchmal anstelle von Herrn Finn (Mark) auftreten. Entsprechend verhält sich das Proton (Neutron) in mancher Situation so, als wenn es aus drei Quarks bestünde.
1. Das Schalenmodell der Atome
85
wie die Nukleonen sind andere B a r y o n e n aus jeweils drei Q u a r k s aufgebaut (S. 1903). Sie unterscheiden sich damit von den Mesonen, die sich aus nur zwei Q u a r k s (exakt aus einem Quark und einem Antiquark) zusammensetzen 6 .
10Proton
Neutron
Fig. 3 Aufbau von Proton und Neutron aus Quarks.
Das Universum enthält nach heutigem Kenntnisstand neben den masselosen Photonen als Bausteinen des Lichts 24 massehaltige „Urbausteine" (vgl. S. 1903), nämlich jeweils 6 verschiedene Typen von Quarks (u, d, s, c, b, t) und Antiquarks (ü, cl, s, c, b, t) sowie jeweils 6 verschiedene Typen von Leptonen (e", ju~, t " , ve, vß, vT) und Antileptonen (e + , ju+, t + , ve, vß, vT). Für die Struktur der stabilen Materie spielen nur die u- und d-Quarks als Konstituenten von Proton und Neutron eine Rolle 7 , sodass also die unendliche Vielfalt unseres Universums letztendlich auf einer Kombination von 3 Urbausteinen (Elektron, u- und d-Quark) beruht 8 . Die Quarks werden durch besondere Kräfte, die so genannten „chromoelektrischen Kräfte", aneinander gebunden. Anders als die elektrischen Wechselwirkungen, die mit dem Quadrat des Abstands der elektrisch geladenen Teilchen abnehmen, verschwinden die chromoelektrischen Wechselwirkungen zwischen den Quarks gerade bei sehr kleinen Abständen ( < 10"i 6 m), um im Bereich 10"i 6 bis 10"i 5 m sehr rasch größer zu werden und bei Abständen > 10"i5 m konstant stark zu bleiben. Aus letzterem Grunde ist die Kraft zwischen zwei Quarks bei 10"i 4 m genau so groß wie bei 1 cm oder 1 m Abstand. Demgegenüber bewegen sich die Quarks in den kleinen Nukleonen sieht man einmal von den elektromag netischen Wechselwirkungen ab - fast wie freie Teilchen. Man kann die Quarks gewissermaßen mit aneinandergeketteten Sklaven vergleichen, die sich ungehindert bewegen können, solange sie sich nicht weit voneinander entfernen. Es ist ihnen aber unmöglich, sich über die gegebene Kettenlänge hinaus voneinander wegzubewegen Die Spaltung eines Mesons oder Baryons in völlig freie, d.h. ungebundene Quarks erfordert gemäß dem Besprochenen unendlich viel Energie und ist aus diesem Grunde unmöglich. Selbst zur Abtrennung eines Nukleonenquarks um 1 cm von seinen beiden Partnern muss etwa die gleiche Energie aufgewendet werden wie zum Heben einer Masse von 1 Tonne um 1 m. Die chromoelektrischen Kräfte stellen somit in der Tat sehr starke Kräfte dar. Verglichen mit ihnen sind die elektrischen Kräfte zwischen den Quarks klein, so dass die Abstoßung gleich geladener u-Quarks in den Protonen oder d-Quarks in den Neutronen die Stabilität der Nukleonen nur unwesentlich vermindert Q u a r k s existieren ausschließlich im Q u a r k v e r b a n d . Pumpt man etwa Energie in ein Meson, so werden sich dessen beide Konstituenten (Quark # und Antiquark #) so lange voneinander entfernen, bis die aufgewendete Energie gemäß der Einsteinschen Beziehung £ = mc2 gerade der Masse eines Quark/ Antiquark-Paares entspricht. Unter Aufbrechen der „Bindung", welche die Mesonenquarks ursprünglich verknüpfte, entsteht dann ein neues Quarkpaar aus dem „Nichts" heraus, wobei sich das alte Quark mit dem erzeugten Antiquark und das alte Antiquark mit dem erzeugten Quark zu zwei neuen Mesonen verbindet Energie 4- q ^ ^ q —•
6
7
8
grv/ww^ + ^wwv^.
Die leichtesten Mesonen sind das + -Meson (Bau: du; Masse = 0.248 806 x 1 0 " 2 7 kg), das rc"-Meson (Bau üd; Masse wie bei rc+) und das n°-Meson (Bau: Superposition aus 50% üu und 50% dd; Masse = 0.240598 x 10"27 kg). Die leichtesten Baryonen stellen das Proton p + (uud) sowie das Neutron n (udd) nebst zugehörigen Antiteilchen dar (Tab. 5). Die Mesonen gleichen in gewisser Beziehung dem aus einem Elektron e " und seinem Antiteilchen e + aufgebauten Positronium e " e + (vgl. S.1990). Nur die Quarkkombinationen uud (Proton) sowie udd (Neutron) mit dem Gesamtspin 1/2, d.h. der Spinanordnung H t der einzelnen Quarks (jeweils Spin 1/2) sind stabil (Analoges gilt für üüd = Antiproton und üdd = Antineutron). So ist das Proton praktisch unbegrenzt haltbar (die Protonen-Zerfallshalbwertszeit wird auf 10 3 0-10 3 2 s geschätzt), wogegen das freie Neutron durchschnittlich nach 636 s = 102-8 s in ein Proton und ein Elektron zerfällt (in kerngebundener Form können Neutronen praktisch unbegrenzt stabil sein). Alle übrigen Kombinationen von u- und dQuarks (z.B. uuu = A + -Hyperon mit dem Gesamtspin 3/2 und der Spinanordnung t t t der einzelnen Quarks oder du = n + -Meson) oder von anderen Quarks mit u-, d- sowie anderen Quarks sind nur sehr kurzlebig (S. 1903). Ein 75 kg schwerer Mensch besteht beispielsweise aus 7.0 x 1028 u-Quarks, 6.5 x 1028 d-Quarks und 2.5 x 1028 Elektronen. Die Anzahl der im sichtbaren Teil des Universums vorhandenen Quarks wird auf 1080 geschätzt.
86
V. Der Atombau
Entsprechendes gilt für die Baryonen. Somit sind die Quarks zwar Teile eines Hadrons, die man indirekt nachweisen kann, sie lassen sich aber nicht aus ihrem Zusammenhang lösen. Folglich stellen die Hadronen als „nicht weiter zerlegbare Bestandteile des Kosmos" Elementarteilchen dar 9 . Dass ausschließlich Kombinationen von Quarks und Antiquarks (Mesonen) bzw. von drei Quarks oder drei Antiquarks (Baryonen) möglich sind und keine anderen, folgt aus der Theorie der ,,starken Wechselwirkung" (Theorie der „Quantenchromodynamik" QCD), einer Theorie, die der Theorie der,,elektromagnetischen Wechselwirkung" (Theorie der ,,Quantenelektrodynamik" QED) an die Seite zu stellen ist. Hiernach ,,neutralisieren" sich die starken Wechselwirkungen zwischen den Quarks g nach außen hin bei Vorliegen von qq- sowie qqq- bzw. qq(/-Verbänden (elektrische Wechselwirkungen erscheinen nach außen hin neutralisiert, wenn Verbände aus gleich vielen positiv und negativ geladenen Teilchen vorliegen; vgl. z. B. das aus einem positiven Proton und einem negativen Elektron bestehende „neutrale" Wasserstoffatom). Alle Quarks und damit alle H a d r o n e n nehmen an der starken Wechselwirkung - der stärksten in der Natur anzutreffenden Wechselwirkung - teil, die geladenen Quarks und Hadronen zusätzlich an der elektromagnetischen. Dabei sind die weiter oben diskutierten Kräfte zwischen den Nukleonen im Atomkern, wie sich nunmehr ergibt, nicht elementar, sondern eine Folgeerscheinung der starken Wechselwirkungen zwischen den Konstituenten der Nukleonen. Man kann sie mit den bei Abständen < 1 0 - i ° m wirksamen van der Waals-Kräften (S. 157) zwischen Molekülen vergleichen, die eine Folgeerscheinung der elektrischen Kräfte innerhalb der Atome darstellen und den Zusammenhalt der Moleküle in der kondensierten Phase bedingen. Wie diese, nehmen dementsprechend auch die bei Abständen < 10"i 5 m wirksamen Nukleonenbindungskräfte sehr rasch mit dem Abstand ab Zum Unterschied von den Hadronen unterliegen die L e p t o n e n nicht der starken Wechselwirkung, sondern nur der elektromagnetischen und zusätzlich der so genannten ,,schwachen Wechselwirkung", an der auch die Hadronen teilnehmen^. Ein Elektron kann also in das Innere eines Atomkerns hineinfliegen, ohne dass seine Bahn von der starken Wechselwirkungskraft beeinflusst würde
1.2
Der Atomkern
1.2.1
Bauprinzip
Wie aus Tab. 6 zu ersehen ist, variiert die der O r d n u n g s z a h l eines Elements gleichzusetzende Protonenzahl (Kernladungszahl) in bisher bekannten A t o m k e r n e n zwischen 1 u n d 118, entsprechend der Existenz von r u n d 120 verschiedenen Elementen. Die obere Grenze der f ü r Elemente möglichen Protonenzahl soll nach theoretischer Überlegung bei 175 liegen, doch dürfte m a n bei der Synthese neuer Elemente (,,superschwere Elemente"; vgl. S. 1977) mit den derzeit verfügbaren M e t h o d e n wenig über die Kernladungszahl 120 h i n a u s k o m m e n . Wie der Tab. 6 weiter zu entnehmen ist, k a n n die Neutronenzahl bei vorgegebener Protonenzahl in gewissen Grenzen schwanken. Hierbei werden die chemischen Eigenschaften des betrejfenden Elements nicht mehr merklich verändert. D e n n die chemischen Eigenschaften eines A t o m s hängen praktisch nur von der E l e k t r o n e n h ü l l e (s. unten) u n d damit von der P r o t o n e n z a h l ab, sodass es f ü r das chemische Verhalten eines A t o m s gleichgültig ist, wieviele u n g e l a d e n e N e u t r o n e n sich außerdem im A t o m k e r n befinden. Wie weiter oben besprochen, nennt man die zu einem Element gehörenden Atome (Nuklide) gleicher K e r n l a d u n g u n d verschiedener Masse „Isotope" n und unterscheidet sie damit von den „Isobaren" n , deren Atome (Nuklide) verschiedene K e r n l a d u n g (Protonenzahl) aber gleiche Masse (Nukleonenzahl) aufweisen (rund 80 der im Anhang III wiedergegebenen Massenzahlen treten m e h r f a c h auf). Neben
9
D a Energien, die zur Spaltung von Atomkernen in Nukleonen oder von Atomen in Atomkerne und Elektronen aufgebracht werden müssen, klein sind, verglichen mit der den Nukleonen bzw. Elektronen aufgrund ihrer Masse zukommenden Energie, lassen sich Atomkerne und Atome in Protonen, Neutronen und Elektronen auftrennen. Atomkerne und Atome sind somit keine Elementarteilchen i° Es gelang, in den 60er-Jahren eine Theorie zu schaffen, welche die schwache und elektromagnetische zu einer ,,elektroschwachen Wechselwirkung" vereinigte (S. Weinberg, Nobelpreis 1979). Neben starker und elektroschwacher Wechselwirkungskraft existiert noch die ,,Gravitationskraft". ii isos (griech.) = gleich; topos (griech.) = Platz; baros (griech.) = Gewicht; tonos (griech.) = Strick, Seil (Isotone: Protonen durch Neutronen gleicher Anzahl,,zusammengebunden"); meros (griech.) = Anteil (Isomere: aus gleichen Teilen aufgebaut).
1. Das Schalenmodell der Atome Tab. 6
87
Aufbau der Atomkerne. Elemente
Kernaufbaua)
Massenzahlena) natürlich vorkommend
bisher bekannt 1H H 3 Li B 5B 6C 7 N 8 O 9F 10 Ne 11 Na 12 M 13 A 14 S 15
Wassersto Helium Lithium Beryllium Bor Kohlensto Sticksto Sauersto Fluor Neon Natrium Magnesium Aluminium Silicium Phosphor
98 Cf 99 E 100 Fm 101 M 102 No 103 Lr 104 Rf 105 Db 106 Sg 107 Bh 108 Hs 109 Mt 110 Ds 111 Rg 112 Eka-Hg 113 Eka-Tl 114 Eka-Pb 115 Eka-Bi 116 Eka-Po 117 Eka-At 118 Eka-Rn
Californium Einsteinium Fermium Mendelevium Nobelium Lawrencium
vgl Trans actinoide (S. 1977)
1
2 3 4 5 6 7
8 9 10 11 12 13 14 15p 98 99 100 101 102 103 104p 105p 106p 107p 108p 109p 110 111 112p 113p 114 115 116 117 118
0 1 2 2 2 2 5 4 6 6 8 8 10 10 + 12
bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis
2n 7n 8n 10 n 12n 14n 15n 16n 17n 18n 23 n 22 n 24 n 25 n 27 n
141 bis 158 n 144 bis 157 n 142 bis 159 n 146 bis 158 n 148 bis 157 n 150 bis 157 n 149 bis 164 n 151 bis 163 n 152 bis 165 n 154 bis 165 n 156 bis 170 n 157 bis 167 n 157 bis 172 n 161 bis 169 n 165 bis 174 n 165 bis 172 n 172 bis 176 n 172 bis 173 n 174 bis 177 n ? 176 n (?)
1 bis 3 bis 5 bis 6 bis 7 bis 8 bis 12 bis 12 bis 15 bis 16 bis 19 bis 20 bis 23 bis 24 bis 27 bis 239 243 242 247 250 253 253 256 258 261 264 266 267 272 277 278 286 287 290 ? 294
bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis
3 9 11 14 17 20 22 24 26 28 34 34 37 39 42
1,2,3 3,4 6, 9,10 10,11 12,13,14 14,15 16,17,18 19 20,21,22 23 24, 25, 26 27 28, 29, 30 31
256 256 259 259 259 260 268 268 271 272 278 276 282 280 286 284 290 288 293
(?)
a) Bei den Elementen 104-118 sind im angegebenen Neutronen- und Massenbereich nicht alle Nuklide bekannt (vgl. Fig. 187 auf S. 1983).
Tab. 7
Isotope, Isomere, Isobare, Isotone.
Protonenzahl )
Neutronenzahl («)
Nukleonenzahl (m = p + n)
Bezeichnung
verschieden
verschieden
Isotope
gleich
gleich
Isomere
verschieden
gleich
Isobare
gleich
verschieden
Isotone
gleich
verschieden
88
V. Der Atombau
Isotopen und Isobaren unterscheidet man gemäß Tab. 7 noch „Isotone" n und „Isomere" n (bei Letzteren sind die Nukleonen des Kerns verschieden angeordnet). Für Isobare gilt die „Mattauch'sche Isobarenregel", wonach kein Paar stabiler Isobaren existiert, deren Kernladungszahlen nur um 1 Einheit voneinander verschieden sind. Entsprechend dieser Regel sind z. B. die Isobaren 40 Ar und 40 Ca sowie die Isobaren " 6 Yb und " 6 Hf stabil, während die dazwischenliegenden Isotopen 40K bzw. " 6 Lu instabil (radioaktiv) sind. Auch kann man aus der Mattauch'schen Regel z. B. ableiten, dass die bisher in der N a t u r nicht aufgefundenen Elemente 43 und 61, deren Existenz wegen ihrer verhältnismäßig niedrigen Kernladungszahl denkbar wäre, nicht als stabile Elemente existieren können, da die Nachbarelemente ( 4 2 Mo und 4 4 Ru bzw. 6 0 Nd und 62 Sm) bereits dicht mit stabilen Isotopen besetzt sind (vgl. Anh.III).
1.2.2
Nukleonenzustände und Stabilität
Der zu stabilen Atomkernen führende relative Gehalt an Neutronen, die gewissermaßen als „Kittsubstanz" den Zusammenhalt der sich gegenseitig abstoßenden, gleichgeladenen Protonen bewirken, n i m m t im Mittel mit steigender Protonenzahl zui2. So besteht der Kern des häufigsten Wasserstoffisotops nur aus einem Proton (Protonenzahl: Neutronenzahl = p : n = 1 : 0). Bei den folgenden Elementen bis zur Kernladungszahl 20 (Ca) ist die N e u t r o nenzahl etwa gleich der P r o t o n e n z a h l (p\ n = 1:1), so dass die relative Atommasse angenähert gleich der v e r d o p p e l t e n A t o m n u m m e r ist. Vom Calcium ab steigt die Neutronenzahl rascher als die Protonenzahl, so dass beispielsweise beim M a n g a n auf 25 Protonen 30 Neutronen (p\ n = 1 : 1.2), beim Arsen auf 33 Protonen 42 Neutronen (p\ n = 1 : 1.3), beim Cäsium auf 55 Protonen 78 Neutronen (p\ n = 1 : 1.4), beim Gold auf 79 Protonen 118 Neutronen (p\ n = 1:1.5) und beim U r a n auf 92 Protonen 146 Neutronen ( p : n = 1 : 1.6) entfallen. Abweichungen vom optimalen Neutron- zu Protonverhältnis führen zu instabilen Atomkernen. Ist das Verhältnis n: p größer als das erwähnte optimale Verhältnis, so erfolgt im Kern ein Ausgleich in der Weise, dass ein Kern-Neutron in ein Kern-Proton übergeht^. Die dabei f r e i w e r d e n d e Energie (0.783 MeV/Teilchen = 75.55 Millionen kJ/mol) wird in Form eines negativen E l e k t r o n s variabler Geschwindigkeit sowie eines „Antineutrinos" ve abgegeben^: Energie
n —-—-—» p^ + e abgabe
+v e .
12 Diese Zunahme der Neutronenzahl mit der Protonenzahl ist der Grund dafür, dass die Reihenfolge der Elemente nach der Kernladungszahl (Protonenzahl) - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen (s. S. 108)- mit der Reihenfolge nach der Massenzahl (Protonen- + Neutronenzahl) übereinstimmt, so dass sich vor Kenntnis der Kernladungszahl ein Periodensystem der Elemente aufstellen ließ. 13 Wegen der hohen Nukleonenbindungsenergie (S. 68) sind andere Kernumwandlungsprozesse wie etwa das Ausschleudern von Neutronen oder Protonen energetisch benachteiligt 14 Da die kinetische Energie des gebildeten negativen Elektrons (Negatrons) beobachtungsgemäß alle Werte annehmen kann, musste man schließen, dass zusätzlich ein l a d u n g s f r e i e s und m a s s e - oder f a s t m a s s e l o s e s Teilchen (Elektron-Antineutrino ve) erzeugt wird, dessen kinetische Energie die des Elektrons zum Wert von 75 Millionen kJ ergänzt. In analoger Weise treten bei einer Aussendung positiver Elektronen (Positronen) wie etwa beim Zerfall von Antineutronen (n + e + + ve) gleichzeitig Elektron-Neutrinos ve auf. Wie man heute weiß, kommt den Neutrinos eine - wenn auch verschwindend kleine - Masse zu (S. 1904). Die fast masselosen Neutrinos und Antineutrinos (man kennt neben Elektron- auch Myon- und Tauon-Neutrinos sowie -Antineutrinos) sind wie die masselosen Photonen (keine Antiteilchen) neutral, haben aber nicht wie letztere einen Spin 1, sondern einen Spin \, den das Neutrino stets in seiner Fortbewegungsrichtung, das Antineutrino in entgegengesetzter Weise ausrichtet. Beide Teilchen fliegen gewissermaßen wie ein Propeller mit (nahezu) Lichtgeschwindigkeit durch den Raum, das Neutrino mit Rechts-, das Antineutrino mit Linksdrall. Die Wechselwirkung der Neutrinos und Antineutrinos mit normaler Materie ist äußerst schwach. Infolgedessen durchdringen sie Materieansammlungen sehr leicht und durchqueren z.B. ohne Schwierigkeit die Erde, die Sonne oder sogar noch wesentlich größere Sterne. Ein einmal erzeugter Neutrino- oder Antineutrinostrahl geistert - unbeeinflusst von den Sternen und Galaxien - noch in Jahrmillionen im Weltall herum. In den seltenen Fällen einer Wechselwirkung mit Materie verwandeln sich die Neutrinos und Antineutrinos normalerweise in das im Index angezeigte Lepton (z.B. ve in e + , ve in e").
1. Das Schalenmodell der Atome
89
Derartigen exothermen Vorgängen begegnen wir beim natürlichen radioaktiven Zerfall (S. 1882) vieler Elemente und bei der künstlichen Atomumwandlung (S. 1900) in Form der ,,/?-Strahlung" (exakter: -Strahlung). Auch das Neutron selbst (außerhalb des Atomkerns) zerfällt spontan mit einer Halbwertszeit (s.S. 1894) von 10.6 Minuten in ein Proton und ein Elektron sowie ein Antineutrino Umgekehrt kann, wenn das Verhältnis n: p kleiner als das oben erwähnte optimale Zahlenverhältnis ist, auch ein Kern-Proton in ein Kern-Neutron übergehen. In diesem Fall wird das Elektron des gerade besprochenen Vorganges ,,mit umgekehrtem Vorzeichen" frei, und zwar in Form eines positiven E l e k t r o n s e + (Positron: s.S.84), zudem ein Neutrino vZ 4 : Energie 6 aufnahme
n +e
+ v„.
Derartige Umwandlungen spielen sich aber nur bei vorheriger E n e r g i e z u f u h r (1.805 MeV/ Teilchen = 174.16 Millionen kJ/mol) ab und treten daher nicht bei dem freiwillig ablaufenden Zerfall der natürlich-radioaktiven Elemente, sondern nur bei dem durch Energiezufuhr erzwungenen Zerfall der künstlich-radioaktiven Elemente in Form einer ß + -Strahlung auf (s.S. 1909). Aus den erwähnten energetischen Gründen neigt ein Atomkern mit zu kleinem Verhältnis von Neutronen- zur Protonenzahl zur Ausstrahlung des besonders stabilen Heliumkerns 4 He2 + . Man begegnet dieser Art des Kernzerfalls sowohl bei natürlichen wie bei künstlichen radioaktiven Prozessen (s. dort) in Form von ,,a-Strahlung". Viele Versuche sind unternommen worden, auch beim Aufbau der Atomkerne innere Strukturen wie beim Aufbau der Atomhüllen zu entdecken (Atomhüllen mit 2, 10, 18, 36, 54, 86 Elektronen sind besonders stabil; s. auch weiter unten). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass Atomkerne mit 2, 8, 20, 28, 40, 50, 82, 126 oder 184 Protonen bzw. Neutronen besonders stabil sindi 5 . Man nimmt an, dass diese so genannten ,,magischen Zahlen" energetisch bevorzugte Nukleonenschalen charakterisieren („Schalenmodell des Kerns"; J.H.D. Jensen und M. Goeppert-Mayer, 1948; s. dort).
1.2.3
Durchmesser und Dichte der Atomkerne
Der D u r c h m e s s e r des in guter Näherung kugelförmigen Atomkerns, der sich im Mittelpunkt des Atoms befindet und 99.95-99.98 %> der gesamten Masse des Atoms verkörpert (vgl. Tab. 5), beträgt durchschnittlich nur den etwa z e h n t a u s e n d s t e n Teil (10~4) des D u r c h messers des G e s a m t a t o m s , sein Volumen dementsprechend weniger als den billionsten Teil (10-i2) des gesamten Atomvolumens. 1000 Kubikmeter ( = 10i2 mm 3 ) Eisen z.B. enthalten demnach weniger als 1 Kubikmillimeter Atomkerne mit einem Gewicht von rund 8000 Tonnen, während der übrige Raum von 1000 Kubikmetern, verglichen mit der Masse der Atomkerne, praktisch masseleer und nur von Kraftfeldern erfüllt ist. Der a b s o l u t e Durchmesser der Atomkerne liegt in der Größenordnung von 1 0 - i ^ m i 6 , der der Atome in der Größenordnung von 10"i° m, entsprechend einem Volumen in der Größenordnung 10-33 (Atomkern) bzw. 10"2i m m (Atom). In einem Kubikmillimeter finden also 1033 Atomkerne bequem Platz. Wie phantastisch groß diese Zahl ist, geht aus folgendem Zahlenbeispiel hervor: Die Zahl der seit Christi Geburt bis auf den heutigen Tag vergangenen Sekunden ist nur ein winziger Bruchteil von 1033. Selbst wenn man für jede seit Beginn unserer Zeitrechnung verlaufende Sekunde einen Zeitraum von 1000 Milliarden J a h r e n setzt (das Alter des
15 Eine besondere Stabilität besitzt hiernach das Blei-Isotop 2°|Pb mit der ,,doppelt-magischen" Zahl von 126 Neutronen und 82 P r o t o n e n 3 —
1 6 Der Durchmesser d = 2r der Atomkerne variiert gemäß der Beziehung rf = 2.8 x 1 0 - " x y A (A = Massenzahl = 1 bis ca. 260; vgl. Tab. 6) von 2.8 bis 17.6 x 1 0 m , entsprechend einem Durchschnitt von 1 0 x 1 0 - " m .
90
V. Der Atombau
Weltalls beträgt etwa 14 Milliarden Jahre), so beträgt die Zahl der in dieser unvorstellbar langen Zeitspanne verflossenen S e k u n d e n erst rund den t a u s e n d s t e n Teil (!) der in einem Kubikmillimeter unterzubringenden Zahl von 1033 Atomkernen. Es ist eine bewundernswerte Leistung des Physikers und Chemikers, dass er nicht nur von der E x i s t e n z solch winziger Atomkerne weiß, sondern dass er auch die zugehörigen M a s s e n und den inneren A u f b a u dieser ihrerseits aus noch kleineren Partikeln aufgebauten Teilchen kennt und die ihnen innewohnende Energie praktisch auszunutzen versteht (vgl. Elementumwandlung). Aufgrund ihrer kleinen Ausdehnung weisen die Atomkerne eine unvorstellbare hohe mitt lere Dichte von 2 x 10i4 g / c m auf (vgl. Tab.5), entsprechend einem cm-Gewicht von ca. 200 Millionen Tonnen. Die Dichte ist in erster Näherung k o n s t a n t . Das heißt, beim schrittweisen Einbau von Nukleonen in den Atomkern erfolgt abgesehen von den leichteren Kernen - ein etwa g l e i c h b l e i b e n d e r R a u m z u w a c h s (vgl. hierzu „Tröpfchenmodell der Kerne", N. Bohr, 1935; s.dort).
1.3
Die Elektronenhülle
1.3.1
Bauprinzip
Hauptschalen Die Zpositiven Ladungen (Protonen) jedes Atomkerns werden durch eine entsprechende Anzahl Z negativer Ladungen (Elektronen), welche die Hülle eines Atoms bilden, kompensiert. Die Elektronen der Atomhülle umgeben den Atomkern dabei nicht regellos, sondern verteilen sich gesetzmäßig auf räumliche Schalen („Hauptschalen"), die von innen nach außen als ,,1., 2., 3., 4.Schale" usw. oder als Schalen der Hauptquantenzahlen n = 1, 2, 3, 4, ..., co bzw. mit den Buchstaben des Alphabets als ,,K-, L-, M-, N-Schale" usw. bezeichnet werden. Man nahm früher mit Bohr an, dass die Elektronen in diesen Schalen planetengleich auf gegebenen „Bahnen" um den Kern als „Sonne" rotieren". Heute ist man von diesem anschaulichen Modell notgedrungen wieder abgekommen, da es mit vielen Tatsachen in Widerspruch steht (vgl. S. 328f). Im Prinzip kann man sich aber immer noch des anschaulichen Schalenmodells bedienen, wenn man sich dabei nur dessen bewusst bleibt, dass die verschiedenen „Elektronenschalen" lediglich bildliche Symbole für verschiedene Energiezustände der Elektronen darstellen Jede Schale vermag maximal 2 • n2 Elektronen aufzunehmen (vgl. unten). Die innerste, erste Schale (n = 1) ist demnach nach Einbau von 2 • \ 2 = 2, die nächstäußere zweite Schale (n = 2) nach Aufnahme von 2- 2 2 = 8, die dritte und vierte Schale (n = 3, 4) nach Besetzung mit 2 • 3 2 = 18 und 2 • 4 2 = 32 Elektronen gefüllt. (Bezüglich einer weiteren Unterteilung dieser Haupschalen in Unterschalen s. weiter unten.) Beim Fortschreiten von Element zu Element in Richtung steigender Kernladungszahlen wird nun gemäß Tab. 8 die 1. Schale vollständig mit 2, dann die 2. Schale vollständig mit 8 und schließlich die 3. Schale teilweise mit 8 Elektronen besetzt, so dass also die Außenschalen von XH und 2 He ein und zwei Elektronen, die Außenschalen von 3 Li bis x 0 Ne sowie x jNa i7 Nach dem von N. Bohr entwickelten „Bohr'schen Atommodell" sind nur solche Bahnen vom Radius r ,,erlaubt" (,,stationäre Elektronenzustände"), für die der Drehimpuls m • v • r des Elektrons (m = Masse, u = Geschwindigkeit) gleich ft/2 n(h = Plancksches Wirkungsquantum) oder einem ganzen Vielfachen davon ist (,,Impulsquantelung" des Bohrschen Atommodells). Nur so ließ sich das Atom-Linienspektrum des Wasserstoffs deuten (s. dort). So sollte z.B. im Wasserstoffatom das Elektron den Kern im Grundzustand in einem Abstand von 0.529 A mit einer unvorstellbar großen Geschwindigkeit von 2180 km/s rund 1 0 " mal je Sekunde auf einer Kreisbahn umlaufen, da dann die Zentrifugalkraft des umlaufenden Elektrons auf seiner festgelegten Bahn die Coulombsche (elektrosta tische) Anziehungskraft e2fr2 des Kerns auf das Elektron (e = Elementarladung) kompensiert. Das Wasserstoffatom besitzt damit die Gestalt einer Kreisscheibe (,,Scheibenmodell" des Wasserstoffs). Hierzu und zu den Einwendungen gegen das Bohrsche Atommodell vgl. S. 328.
1. Das Schalenmodell der Atome
91
bis ! 8 Ar ein bis acht Elektronen enthalten. Mit den nach x8 Ar stehenden Elementen 1 9 K und 20 Ca erfolgt dann zunächst keine weitere Vervollständigung der 3. Schale, die mit 8 Elektronen beim Edelgas Argon offensichtlich eine stabile Zwischenstufe erreicht hat, sondern es beginnt der Ausbau der 4. Schale mit ein und zwei Elektronen. Erst dann wird die 3. Schale mit den in Tab. 8 an der Stelle des gestrichelten Pfeils ausgelassenen 10 Übergangselementen (Kernladungszahlen 21 bis 30) vervollständigt. Die Hauptgruppenelemente 3 x Ga bis 3 ö Kr setzen dann die begonnene Auffüllung der 4. Schale mit drei bis acht Elektronen (stabile Zwi schenstufe) fort. In analoger Weise erfolgt mit den nach den Edelgasen 3ö Kr, 54 Xe sowie 8 6 Rn stehenden Alkali- und Erdalkalimetallen - vor der Vervollständigung ihrer (4., 5., 6.) Außenschale - eine Besetzung der nächsten (5., 6., 7.) Schale mit ein und zwei Elektronen, die nach Überspringen der Übergangselemente (Auffüllung innerer Schalen mit Elektronen mit den Hauptgruppenelementen 49 In, 8x Tl sowie 3 Eka-Tl (S. 1977)i8 fortgeführt wird und bei den Edelgasen 54 Xe, 8 ö Rn sowie u 8 E k a - R n (S. 1977)i® mit der stabilen Zwischenanordnung von 8 Elektronen ihren vorläufigen Abschluss findet. Periodensystem Vergleicht man die Elektronenanordnungen in der Außenschale der Atome mit dem auf Grund des chemischen Verhaltens der Elemente aufgestellten ,,Gekürzten Periodensystem." (S. 71), so stellt man fest, dass die zu einer Gruppe des Systems gehörenden, also chemisch einander ähnlichen Glieder jeweils die gleiche Zahl von ,,Außenelektronen" aufweisen. Daraus geht hervor, dass die chemischen Eigenschaften der Atome und damit auch der aus diesen Atomen aufgebauten Elemente in der Hauptsache durch die in der äußersten Elektronenschale enthaltenen Elektronen bedingt werden. Die graduellen Abstufungen der Elemente innerhalb einer solchen Gruppe beruhen auf der Verschiedenheit von Zahl und Bau der inneren Schalen und dem dadurch gegebenen unterschiedlichen Radius (s. unten) der äußersten Schale Da die Zahl der Außenelektronen nur zwischen 1 und 8 variiert, gibt es auch nur acht große Gruppen von Elementen. Die auf Grund der chemischen Eigenschaften vollzogene Einordnung der Elemente in 8 Hauptgruppen eines Periodensystems findet also durch die Lehre vom Atombau ihre theoretische Erklärung. Damit gewinnen zugleich auch die dort nur zur Gruppen-, Perioden- und Atom-Numerierung benutzten Zahlen eine tiefere Bedeutung. Die über und unter einer senkrechten Gruppe stehende römische Zahl stellt nicht einfach nur die Gruppennummer der betreffenden Elementfamilie dar, sondern gibt zugleich die Zahl der Außenelektronen in den Atomen dieser Gruppe wieder. Die links und rechts neben einer waagrechten Periode angegebene arabische Zahl bedeutet nicht einfach nur die Periodennummer der betreffenden Elementreihe, sondern gibt zugleich a n in der wievielten Elektronenschale sich die durch die römische Gruppenziffer angegebene Anzahl von Außenelektronen befindet Die über jedem Elementsymbol verzeichnete Ordnungszahl schließlich stellt wie bereits erwähnt (S. 61) nicht einfach nur die Atomnummer des betreffenden Elements dar, sondern gibt zugleich die Zahl der Kernladungen und damit auch die Gesamtzahl der Elektronen in der Atomhülle wieder. So lässt sich aus dem Gekürzten Periodensystem ohne weiteres ablesen, dass z. B. das Strontium 2 Außenelektronen in der 5. Schale bei einer Gesamtzahl von 38 und das Chlor 7 Außenelektronen in der 3. Schale bei einer Gesamtzahl von 17 Elektronen besitzt Die Elektronenanordnung der Hauptgruppenelemente erklärt auch, warum Alkalimetall-Ionen stets einfach, Erdalkalimetall-Ionen zweifach positiv geladen sind, während Halogenid-Ionen umgekehrt im einfach-, Chalkogenid-Ionen im zweifach-negativen Zustand existieren. Da Alkali- bzw. Erdalkalimetalle ein bzw. zwei Elektronen mehr, Halogene bzw. Chalkogene ein bzw. zwei Elektronen weniger als ein Edelgas in der Außenschale besitzen, erreichen sie nach Abgabe bzw. Aufnahme von ein bzw. zwei
i® Mendelejew benutzte die dem Sanskrit entnommenen Vorsilben Eka ( = 1) und Dwi ( = 2), um noch unbekannte Elemente zu bezeichnen, die unterhalb eines bereits bekannten Elements in der nächsten oder übernächsten Periode des Periodensystems zu erwarten waren
92
V. Der Atombau
Elektronen eine Außenschale mit 8 Elektronen (,,Achterschale", ,,Oktettschale"), die gemäß dem oben Besprochenen eine besonders stabile Zwischenstufe der Elektronenanordnung darstellt. Entsprechend der hohen Abgabetendenz der Alkalimetalle und Aufnahmetendenz der Halogene für Elektronen, sind die Ionisierungsenergien ersterer Elemente besonders niedrig und die Elektronenaffinitäten letzterer Elemente besonders negativ Die chemischen Eigenschaften der Ionen sind von denen der ungeladenen Atome natürlich ganz ver schieden, da erstere ja zum Unterschied von letzteren Edelgas-Elektronenschalen besitzen und daher chemisch beständiger sind. So entwickeln z. B. die Natrium Ionen des Natriumchlorids NaCl als „PseudoNeonatome" mit Wasser keinen Wasserstoff und besitzen in dieser Verbindung keinen Metallglanz, während sich die ungeladenen Atome des metallisch glänzenden Natriummetalls mit Wasser stürmisch unter Wasserstoffentwicklung umsetzen; in analoger Weise sind die Chlorid Ionen des Natriumchlorids als ,,Pseudo-Argonatome" geruch- und farblos, während ungeladenes, elementares Chlor erstickend riecht und eine gelbgrüne Farbe besitzt
1.3.2
Elektronenkonfiguration und Stabilität
Einelektronenzustände Gemäß dem weiter oben Besprochenen sind Elektronenhüllen mit ,,Edelgaskonfiguration" von 2 (He), 10 (Ne), 18 (Ar), 36 (Kr), 54 (Xe) und 86 (Rn) Elektronen als besonders beständige Anordnungen zu betrachten. Dies folgt auch eindrucksvoll aus dem Gang der Elementionisierungsenergien und -elektronenaffinitäten (vgl. Fig. 96, S. 308), wonach für die Ionisierung der Edelgasatome besonders hohe Energien benötigt werden und für deren Beladung mit Elektronen sogar Energien aufzuwenden sind. Nun enthalten aber die Außenelektronenschalen der Edelgasatome zwei (He) bzw. acht Elektronen (Ne — Rn) und stellen somit im Falle von Ar, Kr, Xe und Rn noch keine mit Elektronen abgeschlossene Schalen dar (s. oben). Dieser Befund legt ähnlich wie der Gang der Einordnung von Elektronen in eine bestimmte Hauptschale von Elementen steigender Ordnungszahl (s. oben) - den Gedanken nahe, dass stabile Zwischenstufen der Schalenbesetzungen mit Elektronen existieren, was auf eine Unterteilung der Elektronen-Hauptschalen in Unterschalen (Nebenschalen) deutet. Nebenschalen In der Tat lassen sich bei einer Elektronenschale der ,,Hauptquantenzahl" n (s. oben) jeweils « Unterschalen (Nebenschalen), charakterisiert durch die ganzzahligen Nebenquantenzahlen / = 0, 1, 2, 3, ... n — 1 unterscheiden, welche wie im Falle der Hauptschalen lediglich bildliche Symbole für die verschiedenen Energiezustände der Elektronen darstellen. Da l ein Maß für den Bahndrehimpuls der in den betreffenden Nebenschalen untergebrachten Elektronen ist, spricht man auch von ,,Bahndrehimpulsquantenzahlen" (,,Bahnquantenzahlen"). Darüber hinaus bezeichnet man Nebenschalen der Bahnquantenzahlen / = 0, 1, 2, 3 usw. auch als s-, p-, d-, f-Nebenschalen (-Zustände) usw. (vgl. hierzu S. 330)i®. Jede Nebenschale vermag dabei maximal 4 l +2Elektronen aufzunehmen, also die s-Schale (/ = 0) maximal zwei, die p-Schale (/ = 1) sechs, die d-Schale (/ = 2) zehn und die f-Schale (/ = 3) vierzehn Elektronen. Somit kann die ,,1. Hauptschale" zwei ,,s-Elektronen" der Nebenquantenzahl / = 0 aufnehmen, während bei den 8 Elektronen der ,,2. Hauptschale" zwischen zwei ,,s-Elektronen" (Elektronen der Nebenquantenzahl / = 0) und sechs ,,p-Elektronen" (Elektronen der Nebenquantenzahl / = 1) zu unterscheiden ist, indem sich die 8 Elektronen auf zwei Nebenschalen, nämlich einer mit 2 Elektronen abgesättigten s-Schale und einer mit 6 Elektronen abgesättigten p-Schale verteilen. In analoger Weise sind die 18 Elektronen der ,,3. Hauptschale" auf je eine s-, p- und d-Ne-
i^ Die Symbole s, p, d und f leiten sich von den willkürlichen Namen bestimmter Spektrallinien-Serien (vgl. Atomelektronenspektren, unten) a b s = scharfe Nebenserie p = Prinzipale Serie ( = Hauptserie), d = diffuse Nebenserie, f = fundamentale Serie. Die weiteren Zustände mit Nebenquantenzahlen > 3 werden in alphabetischer Reihenfolge g-, h-, i-Zustände usw. bezeichnet.
1. Das Schalenmodell der Atome
93
Tab. 8 Zuordnung der Elemente (ohne H, He) im Langperiodensystem zu solchen des s-, p-, d- und f-Blocks. 1 2 3 4 5 6 7
2
sBlock Elemente
Lanthanoide Actinoide
3
4
5
6
7
8
9
10
d-Block-Elemente
11
12
13
14
15
16
p-BlockElemente
17
18 2 3 4 5 6 7
f-Block-Elemente
benschale, die 32 Elektronen der ,,4. Hauptschale" auf je eine s-, p-, d- und f-Nebenschale verteilt. Je nachdem die mit steigender Ordnungszahl der Elemente neu hinzukommenden Elektronen eine s-, p-, d- oder f-Nebenschale besetzen, zählt man das betreffende Element im Sinne der Tab. 8 zu den Elementen des „s-Blocks" (Elemente der I. und II. Hauptgruppe, d.h. der 1. und 2. Gruppe), „p-Blocks" (Elemente der III.-VIII. Hauptgruppe, d.h. der 13.-18. Gruppe), „d-Blocks" (äußere Übergangselemente, d.h. der 3.-12. Gruppe) bzw. „fBlocks" (innere Übergangselemente = Lanthanoide, Actinoide). Hierbei stellen die Elemente des s-, d- und f-Blocks durchwegs Metalle dar, wogegen die Elemente des p-Blocks teils Metalle (Elemente auf der linken bzw. unteren Seite des Blocks) oder Nichtmetalle (Elemente auf der rechten bzw. oberen Seite des Blocks) sind. Die s-, p-, d-, und f-Zustände der verschiedenen Schalen werden je nach deren Hauptquantenzahl als 1s-, 2s-, 3s- bzw. 2p-, 3p- bzw. 3d-, 4d-, bzw. 4f-, 5f-Nebenschalen usw. voneinander unterschieden, wobei die vorgesetzte Zahl die Hauptquantenzahl (Schalennummer) wiedergibt. Die jeweils in den s-, p-, d- und f-Nebenschalen vorhandene Elektronenzahl x eines Atoms wird durch einen hochgestellten Index zum Ausdruck gebracht: s x bzw. p x bzw. d x bzw. f x . So gilt beispielsweise für die Elektronenanordnung („Elektronenkonfiguration") der 5 Außenelektronen des Stickstoffs das Symbol 2s 2 2p 3 , während dem homologen Phosphor das analoge Symbol 3 s 2 3 p 3 und dem homologen Arsen das Symbol 4 s 2 4 p 3 zukommt. Die Gesamt-Elektronenkonfiguration des Arsens wäre durch den Ausdruck 1 s 2 | 2 s 2 2 p 6 | 3 s 2 3 p 6 3 d 1 0 | 4 s 2 4 p 3 oder - da Argon die Elektronenkonfiguration 1s2|2s 2 2p 6 13s 2 3p 6 besitzt - durch den kürzeren Ausdruck [Ar] 3d104s 2 4p 3 wiedergegeben. Bei einem gegebenen Atom kommt nun einem Elektron in jeder Nebenschale ein ganz bestimmter Energiegehalt zu. Man definiert diesen Energiebetrag als die beim Einfangen des aus,,unendlicher" Entfernung kommenden - Elektrons in der betreffenden Nebenschale freiwerdende Energie. Sie entspricht dem negativen Betrag der - experimentell zugänglichen - Ionisierungsenergie des Elektrons20. Wie der Tab. 9 zu entnehmen ist, verringert sich die durch Elektroneneinfang abgegebene Energie sowohl bei Besetzung von Nebenschalen zunehmender Haupt-, aber gleicher Nebenquantenzahl, als auch bei Besetzung von Nebenschalen gleicher Haupt-, aber zunehmender Nebenquantenzahl. Der Energiegehalt der Atomelektronen wächst also in der Reihenfolge 1s-, 2 s-, 3 s ... oder 2p-, 3 p-, 4p- ... oder 3d-, 4d-, 5d-Elektron bzw. in der Reihenfolge ns-, «p-, nd-, n f - . . . Elektro^ 1 . Dieser Sachverhalt ist in Fig. 31,
20 Der Energiegehalt der Elektronen der Atomhülle trägt also stets ein negatives Vorzeichen (vom System abgegebene Energie). Er ist umso kleiner (die bei der Elektronenbesetzung der Schale abgegebene Energie also umso negativer), je fester das Elektron an den Atomkern gebunden ist. Der absolute Zahlenwert des Elektronenenergiegehalts ist damit ein M a ß für die „Stabilität" eines Elektronenzustandes. 21 Eine Ausnahme bildet nur das angeregte Wasserstoffatom, in welchem das Elektron in einer bestimmten Hauptschale unabhängig von der Nebenschale den gleichen Energiegehalt hat (vgl. Atomelektronenspektren).
94
V. Der Atombau
Tab. 9 Ionisierungsenergien ( = negative Energiegehalte) in eV von Atomelektronen einiger Hauptgruppenelemente in verschiedenen s-, p- und d-Zuständen. 2s 3 Li B 5 6 7 8 9 10
B C N O F Ne
11 Na 12 M 13 14 15 16 17 18
A Si Cl A
2p
3s
3p
5.4 9.3
3s 19 K 20 C
12.9 16.6 20.3 28.5 37.9 48.5
8.3 11.3 14.5 13.6 17.4 21.5
66 92
34 54
5.1 7.6
121 154 191 232 277 326
77 104 134 168 206 248
10.6 13.5 16.2 20.2 24.5 29.2
3d
_
37 46
19 28
Ga Ge A S B Kr
162 184 208 234 262 293
107 125 145 166 189 214
20 32 45 60 76 94
37 Rb 38 S
325 361
242 273
830 888 949 1012 1078 1149
669 719 771 825 881 941
31 32 33 34 35 36
6.0 8.1 10.5 10.4 13.0 15.8
3p
49 50 51 52 53 54
I S S T I Xe
-
4s
4p
4d
5s
5
4.3 6.1 11.0 14.3 17.0 20.2 23.8 27.5
6.0 7.9 9.8 9.8 11.9 14.0
114 137
32 40
15 22
447 489 533 578 626 676
126 141 157 174 193 213
82 93 104 117 131 146
_ -
20 28 37 46 56 68
4.2 5.7 10.0 12.0 15.0 17.8 20.6 24
5.8 7.3 8.6 9.0 10.5 12.1
welche die durch waagrechte Striche („Niveaus") symbolisierten Energiegehalte der Atomelektronen wiedergibt, bildlich veranschaulicht. Ihr ist zu entnehmen, dass beispielsweise s-Zustände der Hauptquantenzahl n energetisch etwas günstiger liegen als die d-Zustände der Hauptquantenzahl n — 1. Infolgedessen besetzen in Übereinstimmung mit dem weiter oben Besprochenen die mit steigender Ordnungszahl der Elemente nach den Edelgasen der 3.-6. Periode (Ar, Kr, Xe bzw. Rn) neu hinzukommenden Elektronen zunächst die 4 s-, 5 s, 6 s- bzw. 7 s-Unterschale, bevor ein weiterer Ausbau der bereits teilweise besetzten 3., 4., 5. bzw. 6.Hauptschale (Konfiguration s 2 p 6 ) erfolgt. Bezüglich weiterer Einzelheiten des als Aufbauprinzip bezeichneten schrittweisen Elektroneneinbaus in die Haupt- und Nebenschalen der Atome im Grundzustand vgl. S.299, 1303, 1877. Die Bindungsstärke eines Elektrons der negativen Atomhülle an den positiven Atomkern wächst 1. mit zunehmender Kernladung, 2. mit dem in Richtung kleiner werdender Hauptquantenzahlen abnehmenden Abstand des Elektrons vom Kern (vgl. S. 330f) sowie 3. mit abnehmender Abschirmung der Kernladung durch die anderen Elektronen der Hülle22 (für Beispiele vgl. Tab. 9). Die ausgezeichnete Stabilität abgeschlossener sp-Außenschalen („Achterschalen", ,,Oktettschalen") rührt nun insbesondere daher, dass d-Elektronen (wie auch f-Elektronen) erheblich stärker abgeschirmt werden als s- und p-Elektronen der gleichen Hauptschale. Aus diesem Grunde ist beispielsweise das Außenelektron des Kaliums in der 3d-Nebenschale schwächer gebunden als ein Außenelektron des vorstehenden Edelgases Argon mit 3 3 -Elektronenkonfiguration (tatsächlich besetzt das beim Kalium neu hinzukommende Elektron nicht die 3d-Schale, sondern den geringfügig stabileren 4s-Zustand; das betreffende Elektron ist in diesem Zustand zwar weiter vom positiven Atomkern entfernt und demgemä um 11 eV schwächer gebunden aber entschieden weniger abgeschirmt als in der 3d-Schale).
Orbitale Jede Nebenschale der Nebenquantenzahl / kann nun ihrerseits nochmals in 2 l+ 1 energiegleiche, als Orbitale^ bezeichnete Zustände (vgl. S.332), charakterisiert durch die ganzzahligen magnetischen (Bahn-)Quantenzahlen mt = +l, ..., +1, 0, — 1, ..., —I
22 Letztere verringern die wahre Kernladung Z auf den für das betrachtete Elektron wirksamen Wert Z — a. ( = effektive Kernladung; a = Abschirmungskonstante des betrachteten Elektrons; s. auch Atomspektren S. 105 u. 107 sowie Atomorbitale S. 332f). 23 Da der auf Bohr zurückgehende Ausdruck „Elektronen-Bahn" der Beschreibung des Elektronenzustandes in einem Atom nach neueren Anschauungen nicht mehr gerecht wird, hat man das Wort „Bahn" (engl.: orbit) durch den Ausdruck ,,bahnartiger Zustand" (im engl. Schrifttum: orbital) ersetzt.
1. Das Schalenmodell der Atome
Jv
95
(1)
C.A
(5)
4p (15)
(5) (3) (1)
2p ss-
2s
Fig. 31 Energieniveau-Schema der s-, p-, d-, f-Atomzustände (nicht maßstäblich; 1s nicht berücksichtigt).
llLSKopplung
Fig. 32 Kopplungs- und Termschema des Kohlenstoffatoms (p 2 -Konfiguration). In Klammern: Anzahl der Zustände
unterteilt werden. Die ,,1. Hauptschale" (n = 1,1 = 0, ml = 0) beinhaltet damit nur ein sOrbital, die ,,2. Hauptschale" (n = 2, / = 0 bzw. 1 (rnl = + 1 , 0 , — 1)) ein s-Orbital und drei p-Orbitale, die ,,3. Hauptschale" (n = 3, / = 0, 1 bzw. 2 (ml = + 2, +1, 0, —1, —2)) ein s-Orbital, drei p-Orbitale und fünf d-Orbitale, die ,,4. Hauptschale" ein s-, drei p-, fünf dund sieben f-Orbitale 24 . Somit ergeben sich, wie abzuleiten ist, für jede ^-te Schale ft2 Orbitale. Jedes Orbital kann seinerseits 2 Elektronen von entgegengesetztem Spin, charakterisiert durch die magnetischen Spinquantenzahlen ms = + \ und — \ , aufnehmen. Die Existenz eines durch die Spinquantenzahl s = \ festgelegten „Elektronenspins66 folgerten S.A. Goudsmit und G.E. Uhlenbeck im Jahre 1925 aus einer sorgfältigen Analyse der Elektronenspektren von Alkalimetallatomen. Zur Veranschaulichung ordneten sie jedem Elektron ein mechanisches und magnetisches Moment so zu, als ob die Elektronenladung in dauernder Rotation in einer bestimmten (ms = + oder der entgegengesetzten Richtung (ms = —j) begriffen sei (spin (engl.) = schnell drehen). Tatsächlich besitzt der Elektronenspin, der - wie P. A.M. Dirac (Nobelpreis 1933) im Jahr 1928 nachwies - die notwendige Konsequenz einer relativistischen Quantentheorie darstellt, kein klassisches Analogon und ist deshalb streng genommen keiner anschaulichen Deutung zugänglich Nach dem auf S. 346 näher erläuterten „Pauli-Prinzip66 können nun zwei Elektronen eines Atoms nie die gleichen vier Quantenzahlen zz, /, ml und rns besitze^ 5 . Jedes Orbital (charakterisiert durch n, l, rnt) kann somit maximal zwei Elektronen aufnehmen, die jedoch entgegengesetzten Spin aufweisen müssen. Da jede ^-te Schale ^ 2 -Orbitale beinhaltet, ergibt sich also in Übereinstimmung mit dem weiter oben Gesagten die maximale Elektronenzahl einer Schale der Hauptquantenzahl zz zu 2- n2.
24 Die drei p-Orbitale werden auch als p x -, p y - und p Z -Orbital bezeichnet (S. 333), die fünf d-Orbitale als d x2 _ y2 -, d z2 -, d xy -, d xz -, d yz -Orbital (S. 334), die sieben f-Orbitale als f z(x2 _ y2) -, f x(y2 _ z2) -, f y(x2 _ z2) -, f z3 -, f x3 -, fy3-, f xyz -Orbitale. 25 Die Spinquantenzahl s ist für jedes Elektron gleich so dass sich Elektronen mit ihr nicht unterscheiden lassen. Zur Berechnung eines Einzelelektronenzustands genügen demnach 4 (n, l, m^, m s ) der 5 Quantenzahlen (n, l, s, m^, m s ).
96
V. Der Atombau
Die Einordnung der Elektronen in die Orbitale regelt nun das „Prinzip der größten Multiplizität" (,,7. Hund'sche Regel"; Näheres vgl. weiter unten), wonach die mit steigender Ordnungszahl der Elemente neu hinzutretenden Elektronen jedes Orbital einer Unterschale erst einzeln besetzen, bevor die paarige Einordnung der Elektronen beginnt. Demgemäß erfolgt die fortschreitende Besetzung der Orbitale der 2. Hauptgruppe so, dass nach Auffüllung des energieärmeren s-Orbitals mit 2 Elektronen die nachfolgenden Elektronen jedes der drei energiereicheren, aber untereinander energieentarteten 26 p-Orbitale zunächst einmal einfach, dann doppelt besetzen. So verteilen sich z.B. die 5 Außenelektronen des „Stickstoffs" derart, dass 2 Elektronen ein s-Orbital und je 1 Elektron in den drei p-Orbitalen enthalten sind, während von den 6 Außenelektronen des „Sauerstoffs" 2 das s-. 2 weitere das erste p-Orbital und die 2 verbleibenden je eines der beiden restlichen p-Orbitale besetzen. Die Atomelektronenkonfigurationen lassen sich bildlich dadurch veranschaulichen, dass man die einzelnen Orbitale durch Kästchen • (oder auch Kreise O) symbolisiert. In letztere trägt man dann entsprechend der Elektronenbesetzung des betreffenden Orbitals - 0, 1 oder 2 durch Pfeile | gekennzeichnete Elektronen ein. In entgegengesetzte Richtung weisende Pfeile beziehen sich dabei auf Elektronen unterschiedlichen Spins. Die Elektronenkonfiguration von Elementen der 2. Periode lassen sich demgemäß bei Berücksichtigung des Aufbau- und Multiplizitäts-Prinzips wie in Fig. 33 darstellen: 1s He: 1s
2
Li: ^ 2 2 s 1 Be: 1s 2 2s 2
Fig. 33
2s
2p
1s 2
2
2s
QU
B: 1s 2s 2p^
QU
C: 1 s 2 2 s 2 2 p 2
QU QU QU QU
N: 1 s 2 2 s 2 2 p 3
QU QU
IT
QU
2p
1
ITI I T I T I IT
1s
IT
2
2
4
nm n n
1
O:
1s 2s 2P
1
F:
1s22s22P5
Ne
1 s 2 2 s 2 2 p 6 [TU
ITI
2s
2
QU Ut | T | T l QU Ut UT I r l QU UtiUti Tt|
Elektronenkonfigurationen der Elemente der 2. Periode.
Aus der l.Hund'schen Regel folgt, dass der Energiegehalt eines Nebenschalenelektrons bei paariger Einordnung weniger negativ ist als bei ungepaarter. Dies lässt sich anschaulich mit der gegenseitigen elektrostatischen Abstoßung der Elektronen erklären, die größer ist, wenn zwei Elektronen das gleiche Orbital (den gleichen ,,bahnartigen Zustand"2 3 ) besetzen, und kleiner ist, wenn sie sich in unterschiedliche Orbitale einer bestimmten Unterschale einordnen. Aufgrund der geringeren ,,Elektronenwechselwirkung" ist die Besetzung der Orbitale einer Nebenschale (p, d, f) mit jeweils nur einem statt zwei Elektronen demgemäß energetisch günstiger. Erst wenn alle Orbitale einer Nebenschale mit je einem Elektron gefüllt sind (,,halbbesetzte Nebenschale") beginnt die etwas energieaufwendigere paarige Einordnung der Elektronen. Mithin stellen nicht nur mit Elektronen vollbesetzte, sondern auch mit Elektronen halbbesetzte Nebenschalen energetisch ausgezeichnete Elektronenanordnungen dar (vgl. hierzu Ionisierungsenergien, Elektronenaffinitäten, S.308). Mehrelektronenzustände Sind Nebenschalen eines Atoms nicht vollständig mit Elektronen besetzt, also nicht p 6 -, d 10 -, ^ - k o n figuriert, so bestehen ersichtlicherweise mehrere Möglichkeiten der Elektroneneinordnung in die einzelnen Orbitale der betreffenden Nebenschale. Zum Beispiel lassen sich in Kohlenstoffatomen (p2-Außenelektronenkonfiguration) die zwei p-Elektronen wie folgt auf die drei p-Orbitale (mt = + 1 , 0 , — 1) verteilen: +10 —
+10 —
+1 0 —
+10 —
+1 0 —
+10 —
+1 0 —
+10 —
+ 1 0 —1
it in i in i ti nrrn htm 11 htm m m it in i in i n nrrn hui i in in r~m~n in ti i in iti nrrn Aufgrund der Kopplungen von Elektronenbahnen und -spins kommt den einzelnen Anordnungen („Mikrozuständen") zum Teil verschiedene Energie zu. Beispielsweise führt, wie oben abgeleitet wurde, die
26 Von ,,Entartung" spricht man, wenn mehrere Orbitale zwar verschiedene Quantenzahlen, aber gleiche Energie haben.
1. Das Schalenmodell der Atome
97
Spinwechselwirkung zu energieärmeren Zuständen mit ungepaarten und energiereicheren mit gepaarten Elektronen einer Nebenschale. Mithin kann eine bestimmte Elektronenkonfiguration (z.B. 1s 2 2s 2 2p 2 im Falle von Kohlenstoffatomen) zu mehreren energetisch unterschiedlichen ,,Gesamtzuständen" (Termen27) führen. Ähnlich wie man den Zustand eines Atomelektrons (Einelektronenzustand) durch verschiedene Quantenzahlen (z.B. / und s) festlegt, charakterisiert man Terme (Mehrelektronenzustände) einer bestimmten Elektronenkonfiguration leichter bis mittelschwerer Atome (etwa bis zu den Lanthanoiden, s. unten) nach A. S. Russell und F.A. Saunders (,,Russell-Saunders-Kopplung", „LS-Kopplung") durch die Gesamt-Bahndrehimpulsquantenzahlen L sowie die Gesamt-Spinquantenzahlen S, die zu Termsymbolen 1S + 1L zusammengefasst werden (vgl. Tab. 10). Die Spin-Spin-Wechselwirkung führt dabei insgesamt zu einer etwas größeren Energieaufspaltung als die Bahn-Bahn-Wechselwirkung. Spin-Spin-Kopplung Die Gesamt-Spinquantenzahl S ergibt sich in einfacher Weise als Summe der Spinquantenzahlen s = + 1 / 2 ungepaarter Elektronen einer Atomhülle und kann demnach die Werte S = 0, V2, 1, 3/2, 2 usw. annehmen, je nachdem, ob die Elektronenhülle 0, 1, 2, 3, 4 ungepaarte Elektronen usw. aufweist. Für einen gegebenen Wert v o n 5 gibt es 2 S + 1 entartete Spinzustände (,,Spinmultiplizität"), charakterisiert durch die magnetischen Gesamt-Spinquantenzahlen Ms = S, S — 1, S — 2 , . . . , — S (die M s -Werte stellen zugleich die Summe der mS-Werte der Einzelelektronen dar). Die aus S = 1/2, 1, 3/2, 2 . . . usw. hervorgehenden Spinmultiplizitäten 2S + 1 werden als „Singulett", ,,Dublett", ,,Triplett", „Quartett", „Quintett" bezeichnet. Im Falle von C-Atomen (p 2 -Konfiguration) sind z.B. Mikrozustände mit keinem ungepaarten Elektron (5 = 0; Singulettzustand) sowie mit zwei ungepaarten Elektronen (5 = 1; Triplettzustand) in der p-Nebenschale möglich, wobei der Triplettzustand im Sinne des oben Besprochenen energieärmer ist als der Singulettzustand (Energieaufspaltung ca. 190 kJ/mol; vgl. Fig. 32, S.95). Bahn-Bahn-Kopplung Die Gesamt-Bahndrehimpulsquantenzahlen L möglicher Zustände einer Konfiguration mit x-Elektronen in einer Schale der NebenquantenzahH beträgt L = 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6 ... oder gleichbedeutend L = S, P, D, F, G, H, I ...2®. Das Ende der Zahlen- bzw. Buchstabenreihe (Zustand mit dem höchsten L-Wert) ergibt sich, wenn man im Kästchendiagramm einer Nebenschale / die Elektronen der Reihe nach von links nach rechts - und zwar jeweils doppelt in die einzelnen, nach abnehmenden -Werten angeordneten Kästchen füllt und dann die den Elektronen zukommenden -Werte addiert Hiernach lauten die Terme mit den höchsten -Werten für Atome mit teilbesetzter -Nebenschale (mt = + 1 0 —1): 1 0
t 1
p - P
—
1 0
ti 2
p ^ D
—
1 0
ti t 3
p ^ D
—
1 0
it ti 4
p - D
—
1 0
—
ti ti t 5
p - P
1 0
—
ti ti ti s
Für einen gegebenen Wert von L existieren jeweils 2 L +1 entartete Bahnzustände, charakterisiert durch die magnetischen Gesamt-Bahndrehimpulsquantenzahlen ML = L, L — 1,L — 2, ... 0 ...-L (die ML-Werte stellen zugleich die Summe der m,-Werte der Einzelelektronen dar). Im Falle des C-Atoms (p2-Konfiguration) führt die Bahnkopplung der beiden p-Elektronen (/ jeweils 1, d.h. Lmllx = 2) z.B. zu drei Zuständen mit Gesamt-Bahndrehimpulsquantenzahlen L = 0 , 1 , 2 , nämlich zu einem S-, P- und D-Zustand. Es lässt sich bei einiger Übung aus den Mikrozuständen der p 2 -Konfiguration (s. oben) ableiten, dass der S-Zustand und die D-Zustände nur als Singuletts (1 bzw. 5 Mikrozustände), die P-Zustände nur als Tripletts (9 Mikrozustände)existieren: 2 S + 1 L = 'S, *D, 3 P (gesprochen: Singulett-S, Singulett-D, TriplettP)29. Durch die Bahnwechselwirkungen werden somit die Singulett-Zustände des C-Atoms energetisch aufgespalten (um ca. 140 kJ/mol), und zwar in einen energieärmeren *D- und energiereicheren ^-Zustand (vgl. Fig.32, S.95). In Tab.10 sind die möglichen Russel-Saunders-Terme für s*-, p*- und d*-Elektronenkonfigurationen zusammengestellt
27 terminus (lat.) = Grenze, Ende, Ziel. 2® Der Buchstabe S wird sowohl als Symbol für L = O (nicht kursiv) als auch als Symbol für den Gesamtspin der Elektronenhülle (kursiv) verwendet. Bezüglich der Bedeutung der Buchstaben S, P, D, F . . . vgl. Anm. 1 9 . 29 Der Gang der Herleitung der Terme des C-Atoms aus den oben wiedergegebenen 15 Mikrozuständen der p ^ K o n figuration ist kurz folgender: (i) Spinzustände: D a jedem Triplett-Zustand drei Mikrozustände mit Ms = 1, 0, — 1 zuzuordnen sind und 3 der 15 Mikrozustände M s -Werte = 1 aufweisen, sind 3 x 3 = 9 Mikrozustände zu TriplettTermen und mithin 1 5 — = 6 Zustände zu Singulett-Termen des C-Atoms zu zählen. (ii) Bahnzustände: Aus der Tatsache, dass unter den 15 Mikrozuständen des C-Atoms derjenige mit einem M s -Wert = 2 (D-Term) gepaarte Elektronen aufweist, resultiert ein 'D-Term. D a einem D-Zustand fünf Mikrozustände mit M L = 2, 1, 0, —1, —2 zuzuordnen sind, verbleibt von den 6 zu Singulett-Termen zu zählenden Mikrozuständen (s. oben) nur ein einziger. Er kann nur einem 'S-Term des C-Atoms zugeordnet werden. Damit müssen die 9 zu Triplett-Termen zu zählenden Mikrozustände (s. oben) dem verbleibenden P-Zustand des C-Atoms zugeordnet werden 3P.
98
V. Der Atombau
Tab. 10 Russel-Saunders-Terme (RS-Terme, LS-Terme) für s p * - und d*-Elektronenkonfigurationen, geordnet nach steigender Energie. s
0,2.
1
s: p
0,6
p l
p
,5
2,4
p3:
's S
3
d
0,10
d
l,9.
'S D
2
d2S:
'S P P, D, S, D,
2
d
3,7.
d
4,6.
F, F, D, S,
d5:
P, P, H, G,
G, D, H, G, F, D, D, G, F, F, D, P, P, I, G, G, F, D, D, S, F, D, P, I, H, G, G, F, F, D, D, D, P,
Spin-Bahn-Kopplung. Jeder durch S und L charakterisierte Term spaltet als Folge einer Kopplung des Gesamt-Spins und Gesamt-Bahndrehimpulses in 2 S + 1 energetisch nur wenig voneinander unterschiedene Unterterme auf (,,Spinmultiplizität des Terms"), charakterisiert durch die ,,Gesamtdrehimpuls-Quantenzahlen" („Innere Quantenzahlen") J. Letztere ergeben sich als Summen der Quantenzahlen L und Ms mit ganzen bzw. halbzahligen Werten vonM s = + SbisM s = — S und werden als Indicesam Termsymbol a n g e f ü g t S + 1 L J e d e r so charakterisierte Unterterm beinhaltet 2 J +1 energiegleiche Niveaus. Im Falle des C-Atoms führt die Spin-Bahn-Wechselwirkung naturgemäß zu keiner Energieaufspaltung der Singulett-Terme (Spinmultiplizität = 1), während der 3P-Term (Spinmultiplizität = 3) die Unterterme 3 P 0 , 3 P!, 3 P 2 liefert, wobei der 3 P r T e r m (3 Niveaus) um 0.2 kJ/mol, der 3 P 2 -Term (5 Niveaus) um 0.5 kJ/mol, der 'D 2 -Term (5 Niveaus) um 122 kJ/mol und 'S 0 -Term (1 Niveau) um 259 kJ/mol energiereicher ist als der 3 P 0 -Term (1 Niveau) (vgl. Fig.32, S.95). Die Frage nach dem energieärmsten Term einer bestimmten Elektronenkonfiguration (Grundzustand des Atoms) lässt sich durch die drei Hund'schen Regeln beantworten: 1. Unter den verschiedenen Termen zu einer Konfiguration liegt der Term mit der höchsten Multiplizität (d. h. dem höchsten S-Wert oder größten Zahl ungepaarter Elektronen) energetisch am tiefsten (im Falle von C-Atomen p). 2. Bei Termen einer Konfiguration mit der gleichen höchsten Multiplizität liegt der Term mit dem höchsten Drehimpuls (d.h. dem höchsten L-Wert) energetisch am tiefsten. Gemäß der 2.Hund'schen Regel erhält man bei Berücksichtigung des Prinzips der größten Multiplizität (1. Hund'sche Regel) den energieärmsten Term („LS-Grundterm") einer Elektronenkonfiguration, indem man einen Mikrozustand der mit Elektronen teilweise besetzten Nebenschale mit maximalem Gesamt-Spin- und Gesamt-Bahndrehimpuls bildet (voll besetzte Nebenschalen müssen nicht berücksichtigt werden, weil sich die Elektronendrehimpulse kompensieren). Beide Bedingungen sind automatisch erfüllt, wenn man im Kästchendiagramm einer Nebenschale die Elektronen der Reihe nach von links nach rechts erst einzeln mit gleichem Spin, dann doppelt mit gepaartem Spin in die einzelnen, nach abnehmenden m,-Werten angeordneten Kästchen füllt (Bestimmung von S durch Addition von ms, von L durch Addition von mt, der Multiplizität gemäß 2S +1). Hiernach lauten die LS-Grundterme für Atome mit teilbesetzter p*Nebenschale = + 1 0 —1)35): 1 0 —
t 1
P --
1 0 —
t
t
P
2
P =P
t 1 0t —t 3
p .
S
t 1 0t
—
tl
P
t1 5
p .
0 —
tl
P
t
1 0 —
tl tl tl p 6 . i 'S
3. Bei Termen einer Konfiguration mit gleichem höchsten Spin- und Drehimpuls liegt bei weniger (mehr) als halbgefüllten Unterschalen der Term mit dem kleineren (größeren) Wert für J energetisch am tiefsten (im Falle von C-Atomen ). Die mithilfe der drei Hund'schen Regeln leicht ermittelbaren Terme der Elementatome im Normalzustand sind in den Tab. 43, 96, 151 (S. 300, 1194, 1720) in der Spalte „Elektronenkonfiguration" wiedergegeben jj-Kopplung. Das vorstehend geschilderte Prinzip der LS-Kopplung trifft nicht mehr für schwere Atome ( x ab der 5. Periode) zu, bei welchen starke Kopplungen zwischen dem Bahn- und Spinmoment jedes einzelnen Elektrons aufgrund relativistischer Effekte auftreten (l = j), und die Kopplungen der resultierenden Einzelelektronen-Bahnimpulse (,, jj-Kopplung") schwächer sind und erst nachfolgend berücksichtigt werden müssen. Es lassen sich allerdings auch die schweren Atome nach dem LS-Kopplungsschema bei Berücksichtigung gewisser Korrekturen behandeln
1. Das Schalenmodell der Atome
Fig. 34
1.3.3
99
Elektronenschalen und relative Atomradien der Elemente Lithium bis Chlor.
Durchmesser von Atomen und Atomionen
Fig. 34 gibt die Elektronenverteilung für die Elemente Lithium bis Fluor sowie Natrium bis Chlor bildlich wieder. Wir sehen daraus, dass innerhalb einer waagrechten Elementperiode der Atomdurchmesser entsprechend der wachsenden Anziehung des positiven Kerns auf die negative Elektronenhülle mit steigender Kernladung abnimmt (Li > Be > B usw.). Innerhalb einer senkrechten Elementgruppe nimmt dagegen der Atomdurchmesser mit steigender Kernladung zu (Li < Na < K usw.), weil beim Fortschreiten von einem zum nächsten Gruppenglied eine neue Elektronenschale hinzukommt. Die halben Atomdurchmesser, die so genannten ,,van der Waals-Radien" der Atome betragen ca. 1 - 3 Ä (vgl. Tab. 11). Beim Übergang eines Atoms in den positiv geladenen Zustand unter Abgabe der in der äußersten Schale lokalisierten Elektronen (Li -> Li + , Be -> Be 2+ usw.) wird der Teilchendurchmesser infolge des Wegfalls einer Elektronenschale und der geringeren Abschirmung der Kernladung beachtlich kleiner. Umgekehrt wird der Teilchendurchmesser beim Übergang eines Atoms in den negativ geladenen Zustand unter Aufnahme einer bestimmten, zur Vervollständigung seiner Außenschale mit 8 Elektronen noch benötigten Zahl von Elektronen (F -> F " , O -> C)2~ usw.) infolge der stärkeren Abschirmung der Kernladung etwas größer. So ist im Natriumchlorid, das aus Na + - und Q~-Ionen aufgebaut ist (vgl. Ionenbindung), zum Unterschied von den Verhältnissen beim ungeladenen Natrium- bzw. Chlor-Atom (s. oben) das Natrium Kation (Ionenradius 1.16 A) sogar wesentlich kleiner als das ChlorAnion (Ionenradius 1.67 Ä). Bei isoelektronischen Ionen steigt erwartungsgemäß der Ionendurchmesser von den Kationen zu den Anionen hin, und zwar bei den Kationen mit abnehmender, bei den Anionen mit zunehmender Ladung des Ions: Ca2 + < K + < C 1 ~ < S2~ (Ionenradien: 1.14, 1.52, 1.67 bzw. 1.70 Ä; bezüglich weiterer ,,Ionenradien" vgl. das Kapitel Ionenbindung, bezüglich ,,Atomradien" das Kapitel Atombindung und bezüglich ,,Metallatomradien" das Kapitel Metallbindung). Tab. 11 Van-der-Waals-Radien (A) einiger Nichtmetalle und Metalle.
Ni 1.6 Pd 1.6 Pt 1.7
Cu 1.4 Ag 1.7 Au 1.7
Zn 1.4 Cd 1.6 Hg 1.5
B A Ga 1.9 In 1.9 Tl 2.0
H C Si G Sn Pb
1.4 1.7 2.1 -
2.2 2.0
N P As Sb Bi
1.6 1.9 2.0 2.2 2.4
O S Se Te P
1.5 1.8 1.9 2.1 -
F Cl Br I A
1.5 1.8 1.9 2.1 -
He Ne Ar Kr Xe R
1.8 1.6 1.9 2.0 2.2 -
100
V. Der Atombau
Wir haben uns bisher im Wesentlichen mit dem Aufbau der Elektronenhülle des jeweils stabilsten Atomzustandes beschäftigt. Es existieren jedoch immer auch andere, energetisch weniger stabile Elektronenanordnungen der Atome. Wir wollen uns nunmehr den durch Lichtwechselwirkung mit den Atomen induzierten Übergängen zwischen den einzelnen Atomelektronenkonfigurationen zuwenden.
2
Atomspektren
2.1
Die Bausteine des Lichts. Der Photonenbegriff
Wie wir heute wissen, reagiert nicht nur die M a t e r i e sondern auch die E n e r g i e in Form von kleinsten, nicht weiter teilbaren Teilchen (,,Quanten"). Als „Atom" der potentiellen elektr i s c h e n E n e r g i e haben wir beispielsweise die Größe E =e• U
(1) 19
zu betrachten, in der e die „Elementarladung" ( = 1.602177 x 10~ C), d.h. das „Atom" der Elektrizitätsmenge (vgl. S. 60) und U die angelegte elektrische Spannung (Potentialdifferenz) darstellt30. Die elektrische Energie kommt also wie die Materie in verschieden großen (,,leichteren" und „schwereren") Quanten e- U vor, deren Energiebetrag der angelegten Spannung U proportional ist. ,,1 mol" elektrische Energie wird durch die Größe NA • e- U (NA = Avogadro'sche Konstante = 6.022136 x 1023 mol - 1 ) wiedergegeben, in der man die molare Elektrizitätsmenge NA • e auch als 1 F a r a d a y F bezeichnet, benannt nach dem englischen Naturforscher Michael Faraday (1791-1867): F = N A -e = 96485 C/mol.
Die Energiequanten der elektromagnetischen Strahlung, also z.B. des L i c h t s ( S t r a h l u n g s e n e r g i e ) , welche „Photonen" 31 oder „Lichtquanten" (Symbol y) genannt werden, sind durch die Gleichung E =h-v
(2)
definiert, wobei A das „Planck'sche Wirkungsquantum" (benannt nach dem deutschen Physiker Max Planck, 1858-1947) ein Proportionalitätsfaktor mit der Einheit einer „Wirkung" (Energie x Zeit) und v die Frequenz3 2 des betreffenden Lichts darstellt. Soll dabei 1s in Joule ausgedrückt werden, so hat A den Wert 6.626076 x 10 _ 34 Js. ,,1 mol" Licht wird durch die Größe N a • h- v (NA = A v o g a d r o ' s c h e K o n s t a n t e = 6.022136 x 1023 m o l _ i ) wiedergegeben, in der man die Größe NA • h auch als 1 E i n s t e i n [E] ( = 3.990 3 1 3 x 1 0 _ i 0 Js) bezeichnet, benannt nach dem deutschen Physiker Albert Einstein (1879-1955)33.
30 Misst m a ^ in C o u l o m b [C] oder in mole [F], die Spannung in Volt, so ergibt sich die elektrische Energie als Produkt beider Maßeinheiten in Coulomb x Volt = J o u l e [J] oder Faraday x Volt = Joule/mol. 31 Der Name Photon - von phos (griech.) = Licht - stammt von G . N . Lewis (1926). 32 Die Frequenz (Schwingungszahl) v eines einfarbigen (,,monochromatischen") Lichts hängt mit dessen Wellenlänge durch die Beziehung v • 1 = c (c = Lichtgeschwindigkeit = 2.997 924 x 108 m/s) zusammen (A und c in der gleichen Längeneinheit gemessen). Die Frequenz v (Zahl der Lichtschwingungen in der Sekunde) gibt also die Zahl der Wellenlängen A an, die das betreffende Licht in einer Sekunde zurücklegt. Sie variiert bei sichtbarem Licht von 3.795 x 1014/s (rotes Licht der Wellenlänge 790 nm) bis 7.687 x 1 0 " / s (violettes Licht der Wellenlänge 390 nm) (vgl. Spektrum der elektromagnetischen Wellen, Fig. 36). Die Zahl der Wellenlängen 1, die zusammen eine Strecke von 1 cm ergeben, nennt man die Wellenzahl v a l s o v (meist in c m _ i = 1/A (A in c m = v l c ( " i n s " \ c in cm/s). - Die Maßeinheit 1 Schwingung/Sekunde heißt ,,1 Hertz" (1 Hz); ,,1 Kilohertz" (1 kHz) ist gleich 103, ,,1 Megahertz" (1 MHz) gleich 106 Hz. 33 Der elektrischen Energie e • U und dem Lichtenergiequant h- \ entspricht seitens der thermischen Energie das Produkt k B • Tbei der T e m p e r a t u R , w o b e ^ B die „Boltzmann'sche Konstante" ( = 1.380 6 5 ^ 10^23 J/K, vgl. S. 3 4 ^ benannt nachdem österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann (1844-1906) - darstellt. Ä;B hat die Dimension einer Entropie. Das Produkt NA-kB (NÄ = Avogadro'sche Konstante) wird auch als „Gaskonstante" Ä ( = 8.314510 J m o l _ i K _ i , s. dort) bezeichnet. NA-kB • T ist die ,,molare Wärmeenergie" bei der Temperatur T.
2. Atomspektren Tab. 12
101
Energiewerte der Äquivalente sichtbaren Lichts.
Licht-Wellenlänge (nm) zahl (cm - 1 )
Lichtfarbe
Komplementärfarbe
Licht-Äquivalent (kJ/mol Photonen)
350 400 450 500 550 600 650 700 750 800
Ultraviolett Violett Blau Blaugrün Grün Gelb Orangerot Rot Dunkelrot Ultrarot (Infrarot)
Weiß Gelbgrün Orangegelb Rot Purpur Blau Blaugrün Blaugrün Blaugrün Schwarz
342 299 266 239 218 199 184 171 160 150
28600 25000 22200 20000 18200 16700 15400 14300 13 300 12500
Gemäß der Beziehung E = h • v gibt es energieärmere („leichtere") und energiereichere („schwerere") Lichtquanten, je nachdem die Frequenz v des betrachteten Lichts klein oder groß ist, während für eine Lichtart von gegebener Frequenz alle Quanten gleiche Energie (gleiche Masse; s. unten) besitzen. Rotes Licht der Wellenlänge ^ = 700 nm (Frequenz v = 4.2827 x 10i 4 s~i) besteht z.B. aus Energiequanten („Energiepaketen") der Größe £ • v = (6.6262 x 10~34) x (4.2827 x 10^) = 2.8378 x 1 0 ^ 1 j = 2.8378 x 10 ~24 kJ. Dagegen stellen die Quanten von blauem Licht der Wellenlänge^ = 450 nm (Frequenz v = 6.6621 x 1 0 " s"i) eine um 56% größere Energie von je (6.6262x 10"34)x (6.6621 x 10") s 4.4144 x 1 0 ^ k j dar. 6.0220 x 1023 „rote" Lichtquanten (,,1 mol" rotes Licht der Wellenlänge 700 nm) sind einer Energievon (6.0220 x 1023) x (2.8378 x 10"24) ^ 170.89 kJ äquivalent,,,1 mol" blaues Licht der Wellenlänge 450 nm entspricht einer Energie von (6.0220x1023) x (4.4144 x 1 0 ^ 4 ) ^ 265.84 kJ. In Tab.12 sind solche ,,Lichtäquivalente" für die einzelnen Arten des sichtbaren Lichts in kJ/mol Photonen angegeben (der Energiewert für ein einzelnes Photon ist jeweils gleich dem wiedergegebenen Energiewert, dividiert durch die Avogadro'sche Konstante A^). Setzt m a n die Planck'sche Beziehung E = h • v zwischen Energie u n d Lichtfrequenz in die Einstein'sche Beziehung E = m- c2 zwischen Energie u n d Masse ein (h • v = m • c2), so folgt unter Berücksichtigung von X = c j \ 3 2 die Gleichung 1 =
h in • c
(3)
welche den Zusammenhang der Wellenlänge und der Masse eines Photons zum Ausdruck bringt u n d eindrucksvoll veranschaulicht, dass eine strenge Unterscheidung zwischen Wellen- und Teilchencharakter des Lichts nicht möglich ist: In vielen Fällen wie den Beugungs- u n d Interferenzerscheinungen verhält sich das Licht wie eine W e l l e u n d wird d a n n zweckmäßig durch eine W e l l e n l ä n g e charakterisiert. In anderen Fällen wie z.B. den photochemischen Reaktionen oder dem photoelektrischen Effekt (s. unten) gleicht aber das Licht mehr einem durch eine bestimmte E n e r g i e bzw. bestimmte M a s s e charakterisierbaren T e i l c h e n („Welle-Teilchen-Dualismus"; vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie). G e m ä ß der Beziehung X = hf mc k o m m t beispielsweise den P h o t o n e n der Wellenlänge 700 n m (rotes Licht) die - verschwindend kleine - Masse von 3 . 1 6 x 1 0 ^ 3 g, den etwas energiereicheren P h o t o n e n der Wellenlänge 450 n m (blaues Licht) die etwas größere Masse von 4.91 x 10 _ 33 g zu (zum Vergleich: Ruhemasse des Elektrons = 9.11 x 1 0 ~ 2 8 g). Wie der französische Physiker Louis-Victor de Broglie im Jahre 1924 darüber hinaus zeigen konnte, lassen sich nicht nur elektromagnetische Wellen als Teilchen, sondern - nach Ersatz von c in Gleichung (3) durch die Geschwindigkeit v - umgekehrt auch Materieteilchen (Elektronen, Protonen, Neutronen, Atome usw.) der Masse m und der Geschwindigkeit u als beugungs- und interferenzfähige elektromagnetische Wellen („Materiewellen"; „deBroglie-Wellen") der Wellenlänge X =
h m•v
(4)
102
V. Der Atombau
beschreiben (vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie). So entspricht etwa einem E l e k t r o n der kinetischen Energie (Ek = mv2/2) von 1 oder 100 oder 10000 eV (Geschwindigkeit u = 5.9 x 105 bzw. 5.9 x 106 bzw. 5.9 x 107 m/s) eine Wellenlänge von 12.3 bzw. 1^3 bzw. 0.123 Ä, einem P r o t o n der Geschwindigkeit 1.38 x 105 m/s eine Wellenlänge von 0.029 Ä und einem Wasserstoffmolekül von 200°C eine Wellenlänge von 0.82 A. G e n a u wie sich n u n A t o m e oder Moleküle der Materie nur in ganzzahligem Verhältnis miteinander umsetzen k ö n n e n (,,stöchiometrische Gesetze"; s. dort), k ö n n e n auch M a t e r i e u n d E n e r g i e nur in g a n z z a h l i g e m Verhältnis ihrer kleinsten Teilchen miteinander reagieren. F ü r den Fall der Wechselwirkung zwischen M a t e r i e u n d e l e k t r i s c h e r E n e r g i e haben wir diese Folgerung bereits kennengelernt („Faraday'sche Gesetze"; s. dort). F ü r den Fall der Wechselwirkung zwischen M a t e r i e u n d L i c h t wird sie durch das „photochemische Äquivalenzgesetz" zum A u s d r u c k gebracht, welches besagt, dass 1 Materieatom oder -molekül nur mit 1 Lichtquant h • v (oder einem ganzzahligen Vielfachen davon) in Reaktion treten kann und umgekehrt. Will man z.B. die Reaktion Cl 2 +243.52 kJ
2C1
erzwingen, welche die Vorbedingung für die Chlorwasserstoffbildung aus Wasserstoff und Chlor ist (H 2 + Cl2 2HC1 +184.74 kJ;,,Chlorknallgasreaktions. dort), so ist zur Spaltung je Mol Chlor durch ,,Photodissoziation" (S. 378) 1 mol Lichtquanten aufzuwenden, wobei die Energie dieser Lichtquanten h - v je Mol den Wert der freien Reaktionsenthalpie (S. 49) der Cl2-Dissoziation von 211.53 kJ/mol, die im vorliegenden Fall etwas kleiner ist als die Reaktionsenthalpie von 243.52 kJ/mol, überschreiten muss. Nach Tab.12 ist dies z.B. bei blauem und kürzerwelligem (etwa violettem) Licht der Fall, nicht dagegen z.B. bei gelbem oder längerwelligem (etwa rotem) Licht. So kommt es, dass die Chlorknallgasexplosion zwar durch blaues, nicht aber durch rotes Licht ausgelöst wird. Will man andererseits aus einem Metall Elektronen herausschlagen, was durch Bestrahlung des Metalls mit Licht möglich ist (,,photoelektrischer" bzw. „lichtelektrischer Effekt" vgl. Fig. 35), so benötigt man für jedes vorgegebene Metall Licht einer bestimmten Minimalfrequenz (,,photoelektrische Schwelle"). So erfordert der Austritt von Elektronen (,,Photoelektronen") aus N a t r i u m m e t a l l eine Auslöseenergie EA von etwa 1.9 eV pro Elektron, entsprechend 183 kJ/mol Elektronen (die Ionisierungsenergie einzelner Na-Atome ist naturgemäß höher als die von Na-Metall und beträgt 5.1 eV; vgl. S. 94). Zur Überwindung der photoelektrischen Schwelle benötigt man dementsprechend o r a n g e r o t e s Licht (X « 650 nm, vgl. Tab. 12). Licht mit Photonen kleinerer Energie (hv < EA), also größerer Wellenlänge (kleinerer Frequenz) bleibt wirkungslos, auch wenn es sehr intensiv ist. Bestrahlt man andererseits das Metall mit Licht einer g r ö ß e r e n als der mindestens benötigten P h o t o n e n e n e r g i e (Tzv> EA), also kleinerer Wellenlänge (größerer Frequenz), so wird der Energieüberschuss auf die emittierten Elektronen in Form von kinetischer Energie Ek = m • v2ß = e • U übertragen: h • v = EA+m-v 2 /2 (vgl. Photoelektronenspektren) 34. Der photoelektrische Effekt wird in Photozellen (z.B. für lichtgesteuerte Türöffner) genutzt. (Bezüglich weiterer, den Quantencharakter des Lichts dokumentierender Beispiele vgl. auch Atomspektren.) Photon
/
Elektron /e • U)
Photoelektrischer Effekt Da der Proportionalitätsfaktor A = 6.626076 x 10 "34 Js eine Konstante ist, begnügt man sich bei photochemischen Reaktionen wie der lichtinduzierten Spaltung von Chlormolekülen oder der Ionisierung von Metallen meist mit der Angabe der zur Verwirklichung der Umsetzung erforderlichen F r e q u e n z (z. B. in Form der Wellenlänge X = c/v oder Wellenzahl v = V^)- So entspricht der freien Dissoziationsenthalpie von 211.53 kJ/mol im Falle des Chlors eine Frequenz von 211.53 : (3.9903 x 1 0 " ° ) = 5.3011 x 10i4/s, entsprechend einer Wellenlänge von 565.5 nm bzw. einer Wellenzahl von 17680/cm (3.9903 x 10 _ i3 kJ • s/mol = Einstein-Konstante, s. oben).
34 Die Deutung des photochemischen Effektes (Überprüfung der wiedergegebenen Gleichung) durch Albert Einstein im Jahre 1905 hat wesentlich zur Anerkennung der Theorie der Lichtquanten beigetragen.
2. Atomspektren
103
In entsprechender Weise begnügt man sich bei elektrochemischen Reaktionen mit der Angabe des Potentials (z.B. in Form der Normalpotentiale e0, s. dort) der zur Verwirklichung der Umsetzung notwendigen Energie E = e • U, da ja e = 1.60217^ x 10" 1 9 C ( = J/V) wiederum eine Konstante ist. So benötigt man z. B. zur elektrolytischen Abscheidung eines Mols von metallischem Natrium Na aus Natrium-Ionen N a + (Na + +e~ Na) die Menge NA • e • U = 261.86 kJ/mol an freier elektrischer Energie AG (Reaktionsenthalpie AH des Vorgangs = 240.28 kJ/mol, vgl. S.94). Hieraus berechnet sich dann gemäß Gleichung (1) ein Abscheidungspotential von U = AG/i7 = 26186 [Jmol"i]/96485 [Cmol"i = J V " i m o l " i ] = 2.714V.
Ganz allgemein reichen die Quanten des s i c h t b a r e n Lichts, wie aus Tab. 12 hervorgeht, nur für solche chemischen Vorgänge aus, deren molarer Umsatz nicht mehr als 300 kJ an freier Energie erfordert. Allerdings stellt das dem Auge sichtbare Licht bekanntlich nur einen winzigen Ausschnitt (k ca. 400-800 nm) aus dem elektromagnetischen Spektrum (Fig. 36) dar, welches Wellenlängen von Bruchteilen eines Femtometers ( = 10~i 5 m) bis zu Tausenden von Kilometern umfasst, einen Ausschnitt der uns trotz seiner verschwindenden Spaltbreite die ganze Farbenpracht der Natur vermittelt. Will man dennoch energieaufwendige chemische Prozesse wie z. B. die Spaltung von Stickstoffmolekülen in Atome (946 kJ + N 2 -> 2N) photochemisch erzwingen, so muss man u n s i c h t b a r e s , kurzwelliges Licht verwenden (im Falle der N 2 -Spaltung z.B. u l t r a v i o l e t t e s Licht (vgl. Fig. 36) der Wellenlänge < 127 nm). sichtbares Licht 25
24
1
23
22
I
1 1 1 -6
-5
V10
1
-4
19
1 -3
10 100
Femtometer
Fig.36
20
1 1
18
17
1 1
1
r- RöntgenStrahlen Strahlen
Kosmische Strahlen
-7
21
1 1 1
-2 1
1 -1
0
1
16
Ultraviolett
13
12
1 1
1
1 1
1 4
5
i
10 V10
3
Mikrometer
11
10
9
1 I
8
1
1 1 6
7
6
5
4
1 1 1 1
Mikrowellen
Infrarot
2
10 1001000 V100 V10 Pikometer
14
15
1 1
1
!
8
9
10
11
1 1 1 1
1
10 100
1
10 1 0 0 1 0 0 0 1 0 Meter
1
log v Hz
Wechselstrom
1 1
12
2
1 l l
Radiowellen
7
Millimeter
3
1
13
14
1 15
1 1 1 16
17
18 l o g k k
1001000104 Kilometer
Spektrum der elektromagnetischen Wellen (vgl. S.172).
Die Einwirkung elektromagnetischer Strahlen auf Stoffe kann u. a. in der Auslösung von Molekülrotationen oder -schwingungen, der Anregung oder Abionisation von Atom- oder Molekülelektronen, in der Spaltung von Molekülen oder Atomkernen bestehen. Voraussetzung für die physikalische, chemische oder kernchemische Wirksamkeit einer bestimmten Lichtart ist jedoch, dass sie vom betrachteten Stoff aufgenommen („absorbiert") wird. Wir wollen uns nunmehr etwas näher mit der Lichtabsorption und -emission der Materie (Atome) befassen
2.2
Elektronenspektren
Bringt man feste Stoffe, wie Quarz oder gebrannten Kalk, durch Erhitzen zum Weißglühen und zerlegt das hierbei ausgesandte Licht durch ein Prisma, so erhält man ein so genanntes ,,kontinuierliches Spektrum", d.h. ein Spektrum, in welchem alle Farben des sichtbaren sowie ultraroten und ultravioletten Lichts (Fig. 36) vertreten sind. Anders verhalten sich glühende, aus Elementatomen bestehende Gase und D ä m p f e . Hier erhält man ein aus einzelnen Linien bestehendes, so genanntes,,diskontinuierliches Spektrum". Und zwar weist jedes Element ganz charakteristische Spektrallinien auf (z.B. Natrium: gelbe Doppellinie bei 589.3 nm; Kalium: rote Doppellinie bei 768.2 nm und violette Doppellinie bei 406.0 nm; s. dort), an denen es wie R.W. Bunsen und G.R. Kirchhoff gezeigt haben - auch bei Gegenwart anderer Stoffe eindeutig erkannt werden kann („Spektralanalyse66; vgl. Elektronenspektren, unten). Die beobachtbare Lichtausstrahlung beruht auf Folgendem: Führt man einem Atom Energie (z.B. in Form von thermischer, optischer, chemischer oder elektrischer Energie) zu, so
104
V. Der Atombau
k ö n n e n d a d u r c h Elektronen entgegen der Anziehung durch den Kern von e n e r g i e ä r m e r e n , inneren Orbitalen auf e n e r g i e r e i c h e r e , äußere Orbitale „ g e h o b e n " werden. D a s A t o m befindet sich d a n n nicht m e h r im „Grundzustand", sondern in einem „angeregten Zustand". In diesem Z u s t a n d verweilt es nur s e h r k u r z e Z e i t ; schon nach durchschnittlich 10~ 8 (hundertmillionstel) bis 10~9 (milliardstel) Sekunden ,,springen" die energiereichen Elektronen wieder in ihre n o r m a l e n oder doch wenigstens in e n e r g i e ä r m e r e Orbitale zurück. Die dabei von den Elektronen a b g e g e b e n e E n e r g i e wird in F o r m von L i c h t frei; u n d zwar wird je E l e k t r o n e n s p r u n g ein L i c h t a t o m („Photon") ausgesandt. N a c h dem G e s e t z v o n d e r E r h a l t u n g d e r E n e r g i e muss dabei die Energie h- v des Lichtquants (s. oben) gleich der Differenz der Energieinhalte Evor u n d ls n a c h des Elektrons v o r u n d n a c h dem Elektronensprung sein ( | l s | = Absolutwert der Elektronenenergie):
h-v = |£| n a c h -|£| v o r
(5)
D a sich n u n die Elektronen n u r in ganz bestimmten Orbitalen mit ganz bestimmten Energiegehalten befinden können, sind nur ganz bestimmte Energiedifferenzen \E | n a c h — | E | vor u n d damit auch n u r ganz bestimmte Frequenzen v möglich. So erklärt sich das Linienspektrum (s. oben) der Atome. Das bei der energetischen (z.B. thermischen, elektrischen oder optischen) Anregung von Atomen emittierte Linienspektrum wird auch ,,Emissionsspektrum" genannt. Führt man die zur Anregung erforderliche Energie in Form von weißem, d.h. ein kontinuierliches S p e k t r u m ergebendem Licht zu, so werden die einzelnen Anregungsbeträge diesem Licht entnommen. Dementsprechend treten in dem kontinuierlichen Spektrum des weißen Lichtes bei denjenigen Wellenlängen (Frequenzen), die vom Atom verschluckt („absorbiert") werden,,,Absorptionslinien" als d u n k l e Linien auf sonst k o n t i n u i e r lichem G r u n d e auf („Absorptionsspektrum"). Gemäß Beziehung (1) kann naturgemäß jeder Stoff nur Licht der gleichen Frequenzen (Wellenlängen) absorbieren die er selbst zu emittieren vermag („Kirchhoff'sches Gesetz der Absorption und Emission"). So emittiert beispielsweise angeregter N a t r i u m d a m p f eine charakteristische, bei 589.3 nm gelegene gelbe Doppel-Linie („D-Linie" 588.9953 und 589.5923 nm). Betrachtet man dementsprechend Natriumdampf in der Durchsicht, so erscheint er uns p u r p u r f a r b e n , da er vom weißen Licht alles bis auf das genannte Gelb hindurchlässt und daher die K o m p l e m e n t ä r f a r b e zu Gelb zeigt. Die Tatsache, dass sich unter den Absorptionslinien des kontinuierlichen Sonnenspektrums („Fraunhofer'sche Linien") auch die D-Linie des Natriums befindet, beweist, dass die Sonnenatmosphäre u.a. Natriumdampf enthält. In dieser Weise kann uns die ,,Spektralanalyse" („Atomabsorptionsspektroskopie", „AAS") Aufschluss über die Zusammensetzung der Sonne und der Fixsterne geben Das vom Natriumdampf aus weißem Licht absorbierte und daher in der Durchsicht im sonst lücken losen Spektrum fehlende Licht wird in Form eines gelben Leuchtens (Wellenlänge 589.3 nm) des Natriumdampfes nach allen Richtungen gestreut („Fluoreszenz"). In der selben Weise vermögen auch viele andere Stoffe bei Anregung durch Bestrahlung zu,,fluoreszieren" (vgl. S. 376). Dabei braucht nicht immer wie im Falle des Natriumdampfes nur eine einzige (Doppel-)Linie ausgestrahlt zu werden. Vielmehr kann die Rückkehr des angeregten Atoms in den Grundzustand auch über dazwischenliegende Energiezustände hinweg erfolgen, so dass ein ganzes „Fluoreszenzspektrum" ausgestrahlt wird. Naturgemäß besitzt dieses bei der Fluoreszenz ausgestrahlte Licht kleinere Frequenzen (größere Wellenlängen) als die erregende, absorbierte Strahlung („Gesetz von Stokes"). Klingt die Fluoreszenz nicht - wie dies bei Gasen und D ä m p f e n durchweg der Fall ist - sehr rasch, sondern verhältnismäßig l a n g s a m ab, so spricht man von,,Phosphoreszenz" 35. Diese Art der,,langsamen Fluoreszenz" trifftman häufigbei festen Stoffen an, z.B. beim Calciumsulfid (s. dort). Man unterscheidet somit bei den als „Lumineszenz"36 bezeichneten, auf „spontane Emission" von Photonen zurückgehenden Erscheinungen (vgl. S.177) zwischen Fluoreszenz (Leuchten nur während der Erregung) und Phosphoreszenz (allmähliches Abklingen des Leuchtens nach Abschaltung der Erregung). Als weitere Folgen der Wechselwirkungen des Lichts mit Materie seien die „stimulierte Emission"
35 Da verunreinigte Abarten des Fluorits CaF 2 die Eigenart zeigen, grünliches, bläuliches oder violettes Licht auszustrahlen, nannte G. G. Stokes diese Erscheinung ,,Fluoreszenz", obwohl sie, wie wir heute wissen, keineswegs auf Fluorverbindungen beschränkt und daher im erweiterten Sinne zu verstehen ist. Analoges gilt für den nach dem Leuchten des weißen Phosphors benannten Begriff der „Phosphoreszenz". 36 Lumen (lat.) = Licht.
2. Atomspektren
105
von Photonen (S. 177), der „photoelektrische Effekt" (S. 102), der „ T y n d a l l - E f f e k t " (S. 167), die „RayleighStreuung" (S. 512) und die ,,Raman-Streuung" (S. 512) genannt. Die Energiedifferenzen eines Elektrons zwischen zwei b e n a c h b a r t e n Schalen eines A t o m s n e h m e n mit w a c h s e n d e m R a d i u s der Schalen, also z u n e h m e n d e r E n t f e r n u n g des Elektrons v o m Kern, a b (vgl. das U n t e r k a p i t e l 1.3.2, S.95). D a h e r h a b e n die beim E l e k t r o n e n s p r u n g eines angeregten ä u ß e r e n Elektrons ausgesandten Spektrallinien eine k l e i n e r e F r e q u e n z v (größere Wellenlänge X) als die beim entsprechenden E l e k t r o n e n s p r u n g zwischen i n n e r e n , k e r n n ä h e r e n Schalen ausgestrahlten Linien. So erklärt es sich, dass die im ersten Fall bedingten „äußeren" Spektren im energieärmeren i n f r a r o t e n (X > 10 2 , 9 nm), s i c h t b a r e n (X = 10 2 , 9 _ 1 0 2 - 6 = ca. 8 0 0 - 4 0 0 n m ) oder u l t r a v i o l e t t e n ß < 102-6 n m ) Gebiet liegen (,,optische Spektren"), w ä h r e n d die d u r c h E l e k t r o n e n s p r ü n g e im I n n e r n der A t o m h ü l l e verursachten ,,inneren" Spektren d e m Gebiet der viel kurzwelligeren, energiereicheren R ö n t g e n s t r a h l e n (X = 10 _ 2 — 10° n m ) a n g e h ö r e n („Röntgenspektren"). W i r besprechen im F o l g e n d e n zunächst die ersteren u n d d a n n die letzteren, u n d zwar in einfachster F o r m .
2.2.1
Die optischen Spektren
Der einfachste Fall eines Atoms liegt dann vor, wenn ein einzelnes E l e k t r o n einem positiv geladenen Atomkern zugeordnet ist. Dies ist z.B. der Fall bei einem n e u t r a l e n W a s s e r s t o f f a t o m H oder bei einem p o s i t i v g e l a d e n e n H e l i u m - I o n He + (d.h. einem Heliumatom, dem man - etwa unter der Einwirkung eines starken elektrischen Funkens - ein Elektron entrissen hat) oder bei einem d o p p e l t p o s i t i v g e l a d e n e n - d.h. zweier Elektronen beraubten - L i t h i u m - I o n Li2 + usw. Die W a s s e r s t o f f a t o m e können am bequemsten dadurch zum Leuchten gebracht („angeregt") werden, dass man Wasserstoff unter vermindertem Druck in eine mit Elektroden versehene Glasröhre (z.B. „Geissler-Röhre", ein Vorläufer der „Neon-Röhre", oder ,,Plücker-Röhre", mit der im Jahre 1858 die Kathodenstrahlen entdeckt wurden) bringt und der e l e k t r i s c h e n E n t l a d u n g eines Induktoriums aussetzt (vgl. Fig. 37 sowie Kathodenstrahlen). Der Wasserstoff leuchtet dann in einem eigentümlichen Rotviolett auf. Aber nur dem unbewaffneten Auge erscheint dieses Licht als einheitlich. Zerlegt man es durch ein Prisma, so beobachtet man im sichtbaren Spektralgebiet vier g e t r e n n t e Linien, die als H a , H^, H und H 5 bezeichnet werden (Fig. 37). Elektrode
Wasserstoff
Elektrode
^
_ 656 5 n m ( r o t )
486.3 nm (grünlichblau H = 434.2 nm (violett)
410.3 nm (violett)
Fi §*37 A n r e g u n g v o n W a s s e r " stoff in der Plücker-Röhre.
Bei Benutzung geeigneter Spektrographen lassen sich noch weitere, im U l t r a v i o l e t t liegende Linien sichtbar machen. Man erhält so das in Fig. 38 wiedergegebene Spektrum, das man auch als „Balmer-Serie" des Wasserstoffspektrums bezeichnet. Wie man aus dieser Balmer-Serie ersieht, rücken die einzelnen Linien beim Fortschreiten vom langwelligen zum kurzwelligen Licht hin in gesetzmäßiger Weise immer näher zusammen. Mathematisch lässt sich diese Gesetzmäßigkeit durch die Gleichung 1
/ I I
erfassen, worin X die Wellenlänge in m, v = 1/X die auf 1 m entfallende Zahl von Wellenlängen X (,, Wellenzahl "), ^H die so genannte „Rydberg'sche Konstante" ( = 10967758 m _ 1 ) und « die Reihe der ganzen Zahlen - begonnen mit n = 3 - bedeutet. Für die obigen vier Linien H a , H , H y und H 5 ergeben sich Seriengrenze
Ha
Rß
HY H > > >
0.732 0.414 0.225 0.155
8 6 4 3
129
für unterschiedliche Koordinationszahlen der Kationen.
Anionenanordnung um das Kation
Strukturtypc) AB (r + jr-)
kubisch oktaedrisch tetraedrisch trigonal-planar
CsCl (1.13) NaCl (0.70) ZnS (0.44) BN
AB CaF 2 (1.06) Ti0 2 (0.45) Si (0.33)
a) Weitere Grenzradienverhältnisse > 1.000 (KZ = 12, kuboktaedrisch), > 0.902 (KZ = 12, ikosaedrisch), > 0.732 (KZ = 9, dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch neben kubisch), > 0.668 (KZ = 8, dodekaedrisch), > 0.645 (KZ = 8, antikubisch), > 0.592 (KZ = 7, überkappt-oktaedrisch), > 0.528 (KZ = 6, trigonal-prismatisch). - b) Bei gegebener Salzformel A B und gegebener Kationenkoordinationszahl KZ K berechnet sich die Anionenkoordinationszahl KZ A wie folgt: KZ A = KZ K /n (z.B. A1 2 0 3 = AlOj 5 mit K Z k = 6 : KZ A = 6 : 1,5 = 4). - c) In Klammern jeweils berechnetes Radienverhältnis bei Zugrundelegen der für die betreffende K Z gültigen Radien von Kation und Anion.
und da die sich so ergebende „Koordinationszah^ (KZ; vgl. S.151) des Kations bezüglich des betreffenden Anions die Typen energetisch günstiger Kristallstrukturen festlegt. So berechnet sich für den Fall, dass ein Kation kubisch von 8 bzw. oktaedrisch von 6 bzw. tetraedrisch von 4 Anionen in der Weise umgeben ist, dass sich sowohl die ungleich- als auch die gleichgeladenen Ionen gerade berühren, ein Grenzradienverhältnis von 0.732 bzw. 0.414 bzw. 0.225 (bezüglich weiterer Grenzradienverhältnisse vgl. Tab. 17). Demgemäß ist zu erwarten, dass die CsCl-Struktur mit KZ = 8 der Kationen (Fig. 52a) bzw. die NaCl-Struktur mit KZ = 6 der Kationen (Fig. 51a) bzw. die ZnS-Struktur mit KZ = 4 der Kationen bis zum Verhältnis r + /r~ = 0.732 bzw. 0.414 bzw. 0.225 stabil bleibt. Wird das jeweilige Grenzradienverhältnis unterschritten, so entfällt der Berührungskontakt zwischen Kationen und Anionen. Es wird dann aus energetischen Gründen eine Struktur mit kleinerer Koordinationszahl der Kationen gebildet, in welcher sich wieder alle entgegengesetzt geladene Ionen berühren. Wird andererseits das jeweilige Grenzradienverhältnis überschritten, so kann sich eine Struktur mit höherer KZ der Kationen bilden; ein energetischer Zwang hierfür besteht allerdings weniger. Wie aus Tab.18 hervorgeht, welche Kationen- und Anionenradien wiedergibt, beträgt das für KZ = 6 berechnete Radienverhältnis r+/r~ im Falle von MgO 0.68, im Falle von BeO ca. 0.40. Gemäß Tab. 18 kommt dem „Berylliumoxid" somit nicht mehr wie dem „Magnesiumoxid" die NaCl-Struktur, sondern die ZnS-Struktur zu, da das Radienverhältnis seiner Ionen unter dem kritischen Verhältnis von 0.414 liegt. Ganz entsprechend vermag der „Rutil" Ti0 2 nicht mehr in der CaF 2 'Struktur zu kristallisieren, da das für KZ = 8 seiner Kationen berechnete Radienverhältnis (0.70) das kritische Verhältnis von 0.732 unterschreitet. Ande-
Tab. 1 Ionenradien [Ä] von Shannon und Prewitt für Kationen und Anionen der Hauptgruppenelemente der Koordinationszahl 6 (die Radien vierfach bzw. achtfach koordinierter Kationen sind um ca. 0.1 Ä kleiner bzw. größer; die Anionenradien ändern sich wenig mit der Koordinationszahl). Für weitere Ionenradien und Literatur hierzu vgl. Anhang IV. Hauptgruppenelemente L N K+ R C F
0.73 1.16 1.52 1.66 1.81 1.94
Be2 + 0.41 Mg2 + 0.86 Ca2 + 1.14 Sr2 + 1.32 Ba2 + 1.49 Ra 2 + 1.62
g3 +
AI 3 + Ga 3 + In 3 + T13 +
Tl +
0.25 0.68 0.76 0.94 1.03 1.64
C4 +
Si 4 + G 4+ S 4+ P 4+ P 2+
0.29 0.54 0.67 0.83 0.92 1.33
N 3 + 0.30 p3 + 0.58 A s 3 + 0.72 Sb 3 + 0.90 Bi 3 + 1.17
Nebengruppenelemente, Lanthanoide, Actinoide: Anhang IV.
N3p5 +
As5 +
S
5+
Bi 5 +
1.32 0.52 0.60 0.74 0.90
C>2S2-
Se 2 " Te 2 " P 4+
1.26 1.70 1.84 2.07 1.08
F" C B r
1.19 1.67 1.82 2.06
130
VI. Der Molekülbau
rerseits k ö n n e n CsI u n d R b I g e m ä ß ihren Radienverhältnissen (0.88 u n d 0.81 f ü r K Z = 6 bzw. 0.91 u n d 0.85 f ü r K Z = 8) gleichermaßen in der CsCl- wie N a C l - S t r u k t u r existieren. Tatsächlich kristallisiert CsI (wie CsBr u n d CsCl) in der CsCl-Struktur, R b I (wie alle „Alkalimetallhalogenide" a u ß e r CsCl, CsBr, CsI) in der N a C l - S t r u k t u r . Bei hohen Drücken geht allerdings R b I wie auch viele andere Alkalimetallhalogenide m i t N a C l - S t r u k t u r u n t e r Wechsel der , , M o d i f i k a t i o n " (vgl. S. 545) in die C s C l - S t r u k t u r über, wie ü b e r h a u p t feste Stoffe mit steigendem D r u c k Kristallstrukturen mit größeren Koordinationszahlen der Kristallbausteine bevorzugen („Druckkoordinations-Regel"). Andererseits wandelt sich das Salz CsCl bei hohen Temperaturen (oberhalb 469 °C) u n t e r Wechsel seiner C s C l - S t r u k t u r in eine N a C l - S t r u k t u r u m . A u c h lassen sich die gasförmigen Verbindungen CsCl, CsBr u n d CsI auf geeigneten Oberflächen (z.B. N a C l , K B r ) m i t N a C l - S t r u k t u r abscheiden („Epitaxie", vgl. S. 1044). Bezüglich der von Stellung, Ladung und Koordinationszahl abhängigen Ionendurchmesser 2r folgt aus Tab. 18 in Übereinstimmung mit dem auf S. 99 Besprochenen, dass die Größe der Kationen bei gleicher Ladung innerhalb einer Elementperiode von links nach rechts und innerhalb einer Elementgruppe von unten nach oben abnimmt (bezüglich der in letzteren Fällen zu beobachtenden Ausnahme von der Regel bei schwereren Übergangsmetallen vgl. S. 340). Darüber hinaus verringert sich die Größe eines Kations mit wachsender Ladung (Oxidationsstufe) und sinkender Koordinationszahl. Letzterer Sachverhalt erklärt sich damit, dass sich mit abnehmender Koordinationszahl die Abstoßung zwischen den gleichgeladenen Anionen verringert, sodass sie näher zusammenrücken können. Die Größe der Anionen nimmt ähnlich wie die der Kationen innerhalb einer Periode von links nach rechts und innerhalb einer Gruppe von unten nach oben ab. Ein Wechsel der Ladung und Koordinationszahl bewirkt hierbei weit kleinere Größenveränderungen als bei den Kationen. Dementsprechend ist die Bildung eines Salzes wie NaI (r Na+ = 1.16 Ä, rx- = 2.06 Ä) aus Metallen und festen Nichtmetallen (z.B. Na und 12; Metallatomradius von Natrium 1.86 Ä, van der Waals-Radius von Iod 2.05 Ä) insgesamt mit einer Volumenminderung verbunden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind die Anionen größer als die Kationen (vgl. Tab. 18). Die Bestimmung der Ionenradien, d. h. die Aufteilung der experimentell zugänglichen Kernabstände d auf Kationen- und Anionenradien erfolgt mit Vorteil über die aus Röntgenbeugungsexperimenten (s. oben) ableitbaren Elektronendichteverteilungen, wobei das Minimum der Elektronendichte zwischen Kation und Anion als Punkt genommen werden kann, bis zu dem die betreffenden Ionen ,,reichen". Es genügt hierbei die Kenntnis des Radius eines Ions; denn über dessen Größe lassen sich aus Abständen d + / _ zu entgegengesetzt geladenen Ionen in Salzen Radien der Gegenionen ermitteln (d+/_ = r+ + r_), welche ihrerseits wieder für Ionenradienbestimmungen nach der gleichen Methode genutzt werden können. Die in Tab. 18 wiedergegebenen, von R.D. Shannon und C.T. Prewitt 1969 und 1976 veröffentlichten, auf den Radius von F " = 1.19 bezogenen Ionenradien wurden auf diese Weise erhalten. Früher bestimmte man die Ionenradien nach Lande (1920) und V.M. Goldschmidt (1926; ,,Goldschmidt'sche Ionenradien") über den kürzesten Abstand d_/_ zwischen den Anionen geeigneter Salze mit kleinen Kationen und großen Anionen (r_ = d_j_/2 und hieraus: r+ = d+j_ — r_), wobei die Annahme gemacht wurde, dass sich die Anionen berühren und dass die betreffenden Ionen in allen Salzen den gleichen Radius haben. Tatsächlich ist letzte Forderung nicht immer erfüllt, wie die unterschiedlichen C>2- /O2- - Abstände in folgenden - hinsichtlich der O2- -Packung (dichtest) und Kationenkoordinierung (KZ = 6) vergleichbaren - Verbindungen lehrt: d 0 2 - / 0 2 - = 2.97 Ä (MgO), 2.75 Ä (TiO 2 , Rutil), 2.49 A (SiO2, Stishovit). Die „neueren" Ionenradien von Shannon und Prewitt unterscheiden sich von den ,,traditionellen" Ionenradien um ca. + 0 . 1 4 Ä (Kationen) bzw. — 0.14Ä (Anionen). Mischkristallbildung Die K a t i o n e n u n d A n i o n e n eines Ionenkristalls k ö n n e n in vielen Fällen schrittweise d u r c h a n d e r e K a t i o n e n u n d A n i o n e n ersetzt werden, o h n e d a s s s i c h d e r K r i s t a l l s t r u k t u r t y p d a b e i ä n d e r t . So k a n n m a n z.B. in einem N a t r i u m c h l o r i d k r i s t a l l das N a t r i u m I o n f ü r I o n d u r c h S i l b e r ersetzen, w o d u r c h die Eigenschaften des N a t r i u m c h l o r i d s kontinuierlich in die des Silberchlorids übergehen. M a n n e n n t diese Erscheinung „Mischkristallbildung" (,,Isomorphie") u n d unterscheidet zwischen ,,vollständiger" u n d „unvollständiger Mischkristallbildung", je n a c h d e m der gegenseitige Ersatz der I o n e n u n b e g r e n z t („Mischkristalle ohne Mischungslücke") oder n u r b e g r e n z t („Mischkristalle mit Mischungslücke") möglich ist. F r ü h e r glaubte m a n , dass n u r chemisch gleichwertig zusammengesetzte Verbindungen zur Mischkristallbildung fähig seien („Regel von Mitscherlich"). M a n benutzte diese Regel zur Ermittlung u n b e k a n n t e r A t o m m a s s e n , indem m a n r ü c k w ä r t s aus der I s o m o r p h i e zweier
1. Die Elektronentheorie der Valenz
131
Verbindungen auf deren analoge Zusammensetzung schloss. So zog man beispielsweise aus der Tatsache der Isomorphie zwischen Kaliumperchlorat KCl0 4 und Kaliumpermanganat KMn x O 4 die Schlussfolgerung, dass dem Kaliumpermanganat die Formel K M n 0 4 zukomme, dass also die - zunächst unbekannte - Größe x den Wert 1 habe. Heute wissen wir, dass in Wirklichkeit die Gleichheit des F o r m e l t y p s , der G i t t e r a b stände und in den meisten Fällen auch des S t r u k t u r t y p s („homöotype Mischkristallbildung", „Homöomorphie") die Voraussetzung für die Erscheinung der Mischkristallbildung zweier Salze ist, während Wertigkeit und chemische Ä h n l i c h k e i t der Gitterbausteine nicht so ausschlaggebend in Erscheinung treten. Beispielsweise bilden die Verbindungen K [ M n 0 4 ] , K[BF 4 ], Ba[SO 4 ] und Y [PO 4 ] untereinander Mischkristalle, obwohl sie sich in der Wertigkeit der Bausteine und in ihrem chemischen Charakter weitgehend voneinander unterscheiden. Sind die Gitterabstände völlig oder p r a k t i s c h gleich, so findet man sehr häufig u n b e g r e n z t e M i s c h b a r k e i t . Bei g r ö ß e r e n U n t e r s c h i e d e n in den Gitterabständen (im Allgemeinen sind bei Zimmertemperatur Differenzen bis zu etwa 6 % zulässig) vermag ein Salz die Ionen eines zweiten Salzes nur bis zu einem bestimmten Grenzwert aufzunehmen und umgekehrt, sodass mehr oder minder große M i s c h u n g s l ü c k e n auftreten. In manchen Fällen zwingt ein Salz dem anderen beim Einbau in sein Ionengitter seinen Strukturtyp auf. In diesem Falle spricht man von „heterotyper Mischkristallbildung" oder „Heteromorphie". So haben z. B. die Mischkristalle, die bei der Aufnahme des m o n o k l i n e n Eisenvitriols FeSO 4 • 7 H 2 O in das Gitter des r h o m b i s c h e n Magnesiumvitriols MgSO 4 • 7H 2 O entstehen, eine r h o m b i s c h e Kristallform, während umgekehrt das m o n o k l i n e FeSO 4 ^7H 2 O das r h o m b i s c h e MgSO 4 ^7H 2 O zu m o n o k l i n e n Mischkristallen einbaut
Das sich gegenseitig vertretende Ionenpaar braucht nicht immer rein statistisch auf das Ionengitter verteilt zu sein, sondern kann sich auch nach einem bestimmten räumlichen Vert e i l u n g s p l a n im Gitter anordnen. In diesem Falle resultiert ein ,,Doppelsalz" mit stöchiometrischer Zusammensetzung. Als Beispiel sei hier erwähnt: der Dolomit CaMg(CO 3 ) 2 . Bei den Mischkristallen mit rein statistischer Verteilung des isomorphen Salzpaares lässt sich natürlich keine solche charakteristische stöchiometrische Formel angeben. Dies bedeutet aber keinen Widerspruch gegen das Gesetz der k o n s t a n t e n P r o p o r t i o n e n (s. dort), weil sich dieses Gesetz auf die Zusammensetzung der Moleküle bezieht und in diesem Falle der ganze K r i s t a l l ein einziges R i e s e n m o l e k ü l darstellt, dessen stöchiometrische Zusammensetzung allein durch die Bedingung der Elektroneutralität bestimmt wird Auch bei einem aus nur zwei verschiedenen Ionenarten aufgebauten Ionengitter kann das Gesetz der konstanten Proportionen formal versagen, wenn z.B. eine der beiden Ionenarten in verschiedenen Wertigkeiten vorkommt und im Gitter entsprechende ,,Leerstellen" auftreten. Beispielsweise hat das Oxid des zweiwertigen Eisens normalerweise nicht die Zusammensetzung FeO, sondern die Formel Fe 0 S4 O bis Fe 0 95 O, weil im FeO-Gitter einzelne Fe2 + -Gitterstellen unbesetzt sind und zum Valenzausgleich dafür an anderen Stellen Fe3 + -Ionen auftreten: 02"
Fe 3 +
C>2-
F
Fe 2 +
02"
F
C>2-
F
C>2-
F
C>2-
F
Q2-
C>2-
F
2+
Q2-
2+
2+
2+
3+
C>2-
F
F 2
2+
2+
F 2
Es handelt sich hier um einen homöotypen Mischkristall aus den Oxiden des zwei- und dreiwertigen Eisens, FeO und Fe 2 0 3 . Das Phänomen, dass hochmolekulare Verbindungen keine stöchiometrischen Zusammensetzungen aufweisen („nichtstöchiometrische Verbindungen") ist sehr verbreitet (vgl. S. 1762).
1.1.3
Die Atombindung
Bindungsmechanismus und Eigenschaften der Atomverbindungen Nicht immer kann durch Elektronenübergang für die beteiligten Atome eine stabile Edelgasschale erreicht werden Kombinieren wir etwa zwei im Periodensystem der Elemente rechts
132
VI. Der Molekülbau
stehende Atome, z.B. zwei C h l o r a t o m e , miteinander, so ist ist das Ziel der Bildung stabiler Edelgasschalen nur dadurch zu erreichen, dass sich beide Atome ein Elektronenpaar (,,Dublett") teilen:
Das gemeinsame Elektronenpaar stellt ganz allgemein einen weiteren Typus von chemischer Bindung zwischen zwei Atomen dar, den man als Atombindung (Kovalenz, homöopolare Bindung) bezeichnet. Zum Unterschied von der Ionenbindung ist die Atombindung räumlich gerichtet (s. weiter unten). Wie ein Vergleich der kovalent gebauten ,,Atomverbindungen" (Moleküle im engeren Sinne) mit den ionisch gebauten Salzen zeigt, bilden die Verbindungen mit Atombindungen im Allgemeinen keine Riesenmoleküle, sondern abgeschlossene kleinere Teilchen (,,niedermolekulare Atomverbindungen"), da infolge Fehlens von Ionenkräften keine Veranlassung zur Zusammenlagerung der Einzelmoleküle zu Riesenverbänden besteht. Allerdings können einzelne Moleküle als solche aus sehr vielen bis überaus vielen Atomen bestehen und sind dann sehr groß bis riesengroß. Als Beispiele derartiger ,,hochmolekularer Atomverbindungen" sind hier der später noch zu besprechende „Diamant" (S. 868) und der „Quarz" (Si0 2 ) x (S. 952) erwähnt. Sie zählen zusammen mit den aus Kationen und Elektronen zusammengesetzten „Metallen" (S. 113) und den aus Kationen und Anionen zusammengesetzten „Salzen" (S. 120) zur Klasse der ,,Festkörper" (vgl. S. 1882). Charakterisierung der Atomverbindungen Thermisches Verhalten Niedermolekulare Atomverbindungen sind zum Unterschied von den schwerflüchtigen Salzen meist flüchtige Stoffe (niedrige Schmelz- und Siedepunkte), womit eine auf S. 112 gestellte Frage nach der unterschiedlichen Flüchtigkeit von HCl und NaCl ihre Beantwortung gefunden hat. Allerdings kann die Flüchtigkeit durch Assoziation der Moleküle infolge Dipolwirkung (S. 157) herabgesetzt werden. Auch sind natürlich alle hochmolekularen Atomverbindungen wie Diamant oder Quarz schwerflüchtig. - Löslichkeit, mechanisches Verhalten Bestehen Moleküle eines Stoffes aus nicht allzu vielen Atomen, so lösen sich die betreffenden Verbindungen in der Regel in organischen und vielen anorganischen Medien. Darüber hinaus sind sie nur von geringer Härte, da sich die Moleküle bei mechanischer Beanspruchung der Verbindungen im Allgemeinen leicht gegeneinander verschieben lassen. Mit wachsender Molekülgröße nimmt naturgemäß die Löslichkeit der Verbindungen ab und die Härte der Stoffe zu, sodass etwa „Diamant" in allen gebräuchlichen Medien völlig unlöslich ist und zugleich an Härte von keinem anderen Stoff übertroffen wird (vgl. S.958). Elektrisches Verhalten Der Aufbau aus Atomen statt aus Ionen bedingt, dass kovalente Stoffe wie HCl oder NH 3 zum Unterschied vom heterovalenten NaCl in reinem Zustand keine elektrische Leitfähigkeit zeigen, also Nichtleiter sind, womit sich eine weitere auf S. 112 gestellte diesbezügliche Frage beantwortet. Dass sie in wässeriger Lösung zum Teil (z. B. HCl) den elektrischen Strom leiten, beruht auf der Bildung von Ionen durch Reaktion mit dem Lösungsmittel (vgl. elektrolytische Dissoziation, S. 196). - Optisches Verhalten Ähnlich wie die Ionenverbindungen sind auch die Atomverbindungen vielfach lichtdurchlässig und farblos. Farbe weisen sie nur dann auf, wenn sie spezielle Atomgruppierungen (z. B. die Azogruppe, vgl. S. 175f) enthalten, deren Elektronen mit sichtbarem Licht angeregt werden können.
Atomwertigkeit Die Zahl der von einem Atom ausgehenden Atombindungen, seine ,, Wertigkeit" („Bindungszah^; ,,Bindigkeit66; „Atomwertigke^), hängt wie bei der Ionenbindung von der Zahl seiner Außenelektronen ab. Vereinigen wir z.B. Chlor mit S a u e r s t o f f , so muss letzterer, da seinen Atomen zwei Elektronen zur Achterschale fehlen, zwei Elektronenpaare mit zwei Chloratomen teilen, um zur Neonschale, d.h. zu einem „Elektronenokte^ der Außenschale zu kommen
Sauerstoff ist daher zum Unterschied von ,,einwertigem" („einbindigem") Chlor ,,zweiwertig" (,,zweibindig"). Dementsprechend sind auch die beiden Sauerstoffatome eines S a u e r s t o f f moleküls zum Unterschied von den Chloratomen des Chlormoleküls nicht durch eine ,,ein-
1. Die Elektronentheorie der Valenz
133
fache Bindung" (ein gemeinsames Elektronenpaar), sondern durch eine ,,Doppelbindung" (zwei gemeinsame Elektronenpaare) miteinander verknüpft 7 :
Beim S t i c k s t o f f m o l e k ü l muss die Verknüpfung der beiden Stickstoffatome sogar durch eine ,,Dreifachbindung" erfolgen, da nur auf diesem Wege Achterschalen für die Stickstoffatome zu erzielen sind
Ganz allgemein ergibt sich gemäß der „(8— TV)-Regel" die Bindigkeit eines kovalent gebundenen Atoms der IV.-VIII. Hauptgruppe aus der Differenz der Außenelektronenzahl N des Atoms von der Zahl acht. In analoger Weise wie oben treten die Atome Chlor, Sauerstoff und Stickstoff auch gegenüber dem die Heliumschale erstrebenden Wasserstoff ein- oder zwei- oder dreiwertig auf, während sich das Kohlenstoff atom mit seinen vier Außenelektronen bzw. das Boratom mit seinen drei Außenelektronen sowohl gegenüber Wasserstoff (als auch gegenüber anderen Elementen) als vierwertig (C-Atom) bzw. dreiwertig (B-Atom) erweist: H:C1:
H:0:H
H H:N:H
H H:C:H H
H H:B H
Unter Berücksichtigung des Besprochenen lassen sich nun auch die auf S. 112 gestellten Fragen beantworten, warum Chlor, Sauerstoff und Stickstoff zum Unterschied von den monoatomaren Edelgasen diatomar aufgebaut sind und warum Ammoniak die Zusammensetzung NH 3 und nicht etwa die Formel NH 2 oder N H 4 hat. Letztere Zusammensetzungen sind nur in Form des Anions NH 2 und Kations NH 4 möglich, die wie NH 3 Edelgaselektronenkonfigurationen besitzen und mit H 2 O bzw. CH 4 ,,isoelektronisch" sind (bezüglich isoelektronischer Moleküle s. weiter unten).
Das Bor erreicht in Verbindungen BX3 (X = H, F, Cl, Br, I, OR usw.) durch Verbindungsbildung zunächst kein Elektronenoktett und muss sich dieses erst durch besondere Bindungsmechanismen wie Mesomerie (S. 136), Dimerisierung (S. 155) oder Anlagerung von Teilchen mit freiem Elektronenpaar „aufbauen". Z.B. besitzt das aus BH 3 und H " hervorgehende, mit CH 4 isoelektronische Anion BH 4 im Sinne vorstehender Elektronenformel Edelgaskonfiguration.
Formeln Der Chemiker vereinfacht die bisher genutzten ,,Elektronenformeln" homöopolarer Verbindungen meist dadurch, dass er jedes gemeinsame (,,anteilige", „bindende") Elektronenpaar, also jede Atombindung durch einen vom betrachteten Atom ausgehenden Valenzstrich kennzeichnet (a) (,, Valenzstrichformeln"). Vielfach ist es dabei zweckmäßig, auch die unbeanspruchten („freien", „einsamen", ,,nicht bindenden") Elektronenpaare durch Punkte (b) oder durch - quergerichtete - Striche wiederzugeben (c). Für die gewöhnliche Beziehung von Verbindungen genügt allerdings auch hier wie bei den heteropolaren Verbindungen die bloß Aneinanderreihung der Elementsymbole (d):
7
Die Elektronenformel von 0 2 ist oben vereinfacht dargestellt und gilt nur für eine a n g e r e g t e Form des Sauerstoffs (,,Singulett-Sauerstoff', s. dort). I m n o r m a l e n Sauerstoff(,,Triplett-Sauerstoff\ s. dort) entspricht die Bindungsstärke zwar einer Doppelbindung, doch ist er paramagnetisch, was für die Anwesenheit ungepaarter Elektronen spricht (vgl. S.353 und Kapitel über Sauerstoff).
134
VI. Der Molekülbau
CL—CL
:C1—CL:
|C1—CL|
CL 2
H—O—H
H—Ö—H
H—O—H
H
H
H
H—N—H
H—N—H
H—N—H
0 = 0
0 = 0
N=N
:N=N:
|N=N|
N2
(a)
(b)
(c)
(d)
H
2
0
I
ö = ö
7
NH
3
02
Einfachbindungen werden auch als „g-Bindungen", die zugehörigen Bindungselektronenpaare als „a-Elektronenpaare" bezeichnet. Im Falle von Mehrfachbindungen bezeichnet man die über die Einfachbindung (d-Bindung) hinaus vorhandenen Bindungen als „n-Bindungen sodass etwa die Dreifachbindung des Stickstoffs N = N aus einer g- und zwei rc-Bindungen besteht und mithin neben einem d-Elektronenpaar zwei ,,n-Elektronenpaare" aufweist (vgl. S. 346f). Die freien Elektronenpaare werden ,,n-Elektronenpaare" genannt. Formale Ladungszahl. Ein sehr nützlicher Begriff bei der Bildung von Molekülen aus Atomen ist die so genannte „formale Ladungszahl". Man erhält diese (rein fiktive) Zahl, wenn man die zu einem g e b u n d e n e n Atom gehörenden Elektronen zusammenzählt - wobei gemeinsame Elektronenpaare halb zum einen und halb zum anderen Atom zu rechnen sind (Verfahren der ,,Homolyse"s einer Bindung) - und die so erhaltene Elektronenzahl mit der Zahl der Außenelektronen des neutralen f r e i e n Atoms vergleicht. So tragen etwa die Atome des Stickstoffmoleküls N 2 keine formalen Ladungen (auf jedes N-Atom entfallen wie im freien Zustand 5 Elektronen), während im Kohlenoxidmolekül CO am Kohlenstoff eine negative, am Sauerstoff eine positive Formalladung anzunehmen ist (sowohl auf das C- wie auf das O-Atom entfallen 5 Elektronen, entsprechend 1 Elektron mehr bzw. weniger als im freien Zustand):
Nach einer Regel, die 1920 von I. Langmuir ausgesprochen und 1948 von L. Pauling weiterentwickelt wurde („Elektroneutralitätsregel"), erstreben die Atome in Molekülen möglichst kleine formale Ladungszahlen (nicht mehr als + 1 bzw. — 1). Beim Kohlendioxid C O ist mithin von den beiden möglichen Valenzstrichformeln
die erstere bei weitem bevorzugt (vgl. unten, Mesomerie). Isosterie. Nach der Elektronenformel ist das Kohlenoxid CO mit dem Stickstoff N 2 isoelektronisch, wobei man unter isoelektronischen (isosteren) Molekülen nach Langmuir (1919) analog gebaute Moleküle mit gleicher Atom- und Außenelektronenzahl (Isosterie im weiteren Sinne) bzw. mit gleicher Atom- und Gesamtelektronenzahl (Isosterie im engeren Sinne) versteht. Isoelektronische Verbindungen zeichnen sich, falls die Kernladungssummen übereinstimmen, 8
„Homolyse" = Zerlegung in gleiche Teile: homoios (griech.) = gleichartig und lysis (griech.) = Trennung. Beim Verfahren der ,,Heterolyse" einer Bindung, bei dem die gemeinsamen Elektronen ganz zu dem elektronegativeren Atom gezählt w e r d e n - heteros (griech.) = andersartig-, erhält man eine andere (ebenfalls fiktive) Zahl: die,,Oxidationsstufe" (vgl. S. 219).
1. Die Elektronentheorie der Valenz
135
Tab. 19 Physikalische Eigenschaften isoelektronischer Moleküle CO und N 2 sowie C 0 2 und N 2 0 . CO Schmelzpunkt [K] Siedepunkt [K] Kritische Temperatur [K] Kritischer Druck [bar] Flüssigkeitsdichte [g/cm 3 ] Löslichkeit in Wasser bei 0 0 C (l G a s / M 2 0 )
68 82 133 35 0.793 0.033
-
N2 63 77 126 34 0.796 0.023
CO 217 195 305 73 1.031 1.710
=
N2O 182 184 310 72 0.996 1.305
vielfach durch eine auffallende Ähnlichkeit in den physikalischen Eigenschaften aus, wie Tab. 19 am Beispiel der Verbindungspaare : C = 0 : / : N = N : und Ö = C = Ö / N = N = Ö zeigt. In analoger Weise beobachtet man Ähnlichkeit in den chemischen Eigenschaften. Unterscheiden sich die Kernladungssummen der isoelektronischen Moleküle voneinander, d.h. tragen die Moleküle als Ganzes verschiedene Ladungen wie z.B. Stickstoff : N = N : , Cyanid : C = N : ~ , Acetylid : C = C : 2 ~ oder Kohlenstoffdioxid Ö = C = Ö , Azid N = N = N " , so sind sie physikalisch naturgemäß weniger vergleichbar, während nach wie vor vielseitige chemische Analogien zu beobachten sind. (Vgl. hierzu auch ,,isolobale" Moleküle, S. 1379.) Bindungsgrad, Bindungslänge und Atomradien Wie aus der Elektronentheorie der Valenz abgeleitet wurde, enthält das „Chlor" Cl2 eine Einfach-, der „Sauerstoff" 0 2 eine Doppel- und der „Stickstoff" N 2 eine Dreifachbindung. Man spricht hier auch von einem „Bindungsgrad66 (einer „Bindungsordnung66) 1 in Cl 2 , 2 in 0 2 und 3 in N 2 . Diese vom Cl2 zum N 2 hin wachsende Bindungsordnung und damit auch Bindungsfestigkeit drückt sich beispielsweise in der in gleicher Richtung zunehmend aufzuwendenden Dissoziationsenergie zur Spaltung der Moleküle in die Atome aus, womit die diesbezügliche Frage auf S. 112 beantwortet wäre: : d — Q : + 244 kJ/mol;
0 = 0 + 499 kJ/mol;
: N = N : + 946 kJ/mol.
Doppel- und Dreifachbindungen kommen in Verbindungen erster Ordnung bevorzugt bei Elementen der ersten A c h t e r p e r i o d e vor, wogegen die Tendenz der Elemente höherer Achterperioden zur Ausbildung von Mehrfachbindungen weniger ausgeprägt ist mit der Folge, dass Doppel- und Dreifachbindungen durch Zusammenlagerung der betreffenden Moleküle zu größeren (dimeren, trimeren, . . . polymeren) Moleküleinheiten in Einfachbindungen übergehen („Doppelbindungsregel66; vgl. hierzu S. 933). So besitzt z. B. der P h o s p h o r (zweite Achterperiode) im Gegensatz zum homologen Stickstoff (a) nicht die Molekularformel P 2 , da diese eine D r e i f a c h b i n d u n g voraussetzt: : P = P : . Er weicht vielmehr der Ausbildung einer solchen Mehrfachbindung aus, indem er entweder ein Molekül P 4 („weißer Phosphor") bildet, den kleinsten Molekülverband, zu welchem sich dreiwertige Phosphoratome ohne Ausbildung von Mehrfachbindungen zusammenschließen können (b), oder indem er ein wabenförmiges, hochmolekulares Molekül P x (c) aufbaut (,,schwarzer Phosphor"), in welchem das gleiche Ziel einer mehrfachbindungsfreien Dreiwertigkeit erreicht wird:
136
VI. Der Molekülbau
In analoger Weise vermeidet der Schwefel die D o p p e l b i n d u n g des homologen Sauerstoffs (d), indem sich seine Atome nicht zu S 2 -Molekülen S = S , sondern zu Ringen Sn (e) (,,Cycloschwefel";n z.B. = 6, 7 oder 8) oder zu hochmolekularen Ketten (f) (,,Catenaschwefel") zusammenschließen:
Dem monomolekularen Kohlendioxid 0 = C = O entspricht aus den gleichen Gründen das homologe, hochmolekulare Siliciumdioxid (Si0 2 ) x , dem monomeren Distickstofftrioxid 0 = N — O — N = O das homologe dimere Tetraphosphorhexaoxid (P 2 0 3 ) 2 = P 4 0 6 , dem monomolekularen Nitrat-Ion NO 3 das homologe trimere Metaphosphat-Ion (PO^) 3 usw. Diese „Scheu" der Elemente höherer Elementperioden vor der Ausbildung von Mehrfachbindungen bestimmt maßgeblich die chemischen Unterschiede zwischen den Elementen der ersten Achterperiode und ihren h ö h e r e n Homologen, wie später ausführlich am Beispiel der Sauerstoff/Schwefel- (S. 550), Stickstoff/Phosphor- (S.757), Kohlenstoff/Silicium- (S.928) und Bor/Aluminium-Chemie (S. 1145) gezeigt werden wird. Sie beantwortet zugleich die auf S. 112 gestellte Frage nach dem Grund der unterschiedlichen Molekülgröße von Sauerstoff/Schwefel, Stickstoff/ Phosphor und Kohlendioxid/Siliciumdioxid
Mesomerie (Resonanz), Konjugation, Hyperkonjugation. Elektronenformeln wie Ö = Ö — Ö : für das Ozonmolekül 0 3 oder [ Ö = N — Ö : ] " für das isoelektronische Nitrit-Ion NO 2 dürfen nicht dazu verleiten anzunehmen, dass das eine endständige O-Atom doppelt, das andere dagegen einfach an das Zentralatom gebunden sei, dass also das eine O-Atom zugleich durch eine ,,lokalisierte"9 a- sowie 7t-Bindung, das andere nur durch eine lokalisierte a-Bindung mit dem mittleren Atom verknüpft sei. Vielmehr sucht jedes der beiden O-Atome in gleichem Maße an den k-Bindungselektronen zu partizipieren, sodass der wahre Bindungszustand des Moleküls einem Zwischenzustand mit ,,delokalisierten"9 rc-Elektronenpaaren entspricht, der sich im Sinne der ,,Mesomerieformeln" (g) und (h) durch Angabe der möglichen ,,Alloktett"Formeln (,,Grenzformeln") wiedergeben lässt: 0 = 0 — 0 : ^ ( ^ + 2 ^ , erfordert mithin einen Energiebetrag von 75 kJ/mol. Zur A t o m i s i e r u n g des gebildeten festen K o h l e n s t o f f s (Graphit) sowie des molekularen Wasserstoffs müssen gemäß 717 kJ + £ C, -> C bzw. 872 kJ + 2 H 2 -> 4H weitere 717 + 872 = 1589 kJ/mol aufgewendet werden (Fig.57, mittlere Spalte), sodass die A t o m i s i e r u n g von M e t h a n unter Spaltung von 4CH-Bindungen, CH 4 -> C + 4H, insgesamt 75 + 1589 = 1664 kJ/mol erfordert. Ein Viertel dieses Betrags, 1664/4 = 416 kJ/mol, entspricht dann der molaren CH-Bindungsenergie des Methans Diegemäß717 kJ + -> Causfestem Kohlenstoff gebildeten Kohlenstoffatome entstehen im Grundzustand (Elektronenkonfiguration ), in welchem zwei der vier Außenelektronen ein s-Orbital als Paar besetzen (vgl. Bau der Elektronenhülle). Nur die verbleibenden beiden u n g e p a a r t e n , je ein p-Orbital besetzenden Elektronen stehen somit für eine Elektronenpaarbindung mit dem Wassersto zur Verfügung (Fig. 57, linke Spalte, unten). Die Verbindungsformel des einfachsten Kohlenwasserstoffs sollte dann C H lauten. Um zur tatsächlich verwirklichten Formel C H zu kommen, muss das Kohlenstoffatom unter E n e r g i e z u f u h r von etwa 400 kJ/mol zunächst in jenen angeregten Zustand übergeführt werden, in welchem die 4 Außenelektronen einzeln das s- sowie die drei p-Orbitale besetzen (Elektronenkonfiguration: sp3; Fig. 57, linke Spalte, Mitte). Läge dem Kohlenstoffatom allerdings eine sp 3 -Elektronenkonfiguration zugrunde, so wären sowohl s- als auch p-Elektronen des Kohlenstoffs an der Elektronenpaarbindung beteiligt, was zu unterschiedlichen CH-Bindungen in Methan führen müsste. Tatsächlich weist aber das CH 4 -Molekül 4 gleichartige Bindungen auf. Das C-Atom muss daher unter
142
VI. Der Molekülbau
Fig. 57 Energetische Verhältnisse der CH 4 -Bildung aus elementarem Kohlenstoff und Wasserstoff (nicht maßstabsgerecht).
weiterer E n e r g i e z u f u h r (ca. 314 kJ/mol) zunächst in einen real nicht erreichbaren, sondern nur errechenbaren, hypothetischen Zustand („Valenzzustand66 vgl. S. 349) gebracht werden, in welchem die im Atom wirksamen Kopplungen der vier Außenelektronen aufgehoben sind (vgl. Fig. 57, linke Spalte, sowie Anm. 29 , S. 97). Nunmehr kann das Kohlenstoffatom mit 4 Wasserstoffatomen unter E n e r g i e a b gabe zu CH 4 abreagieren. Der Energiegewinn ist dabei insgesamt so groß, dass er nicht nur die zur Überführung des Kohlenstoffatoms in den Valenzzustand aufzuwendende „Promotionsenergie66 (genauer: „Promotionsenthalpie66) 12, sondern zusätzlich die für die Atomisierung von elementarem Kohlenstoff und Wasserstoff benötigte Energie um 75 kJ/mol übertrifft (Fig. 57, rechte Spalte). Während mithin CH 4 in exothermer Reaktion aus den Elementen entsteht, ist CH 2 (Methylen), wie sich theoretisch ableiten und experimentell auch bestätigen lässt, ein endothermes Molekül, womit die Disproportionierung von Methylen in Kohlenstoff und Methan 2CH 2 + CH 4 unter Energieabgabe verläuft. Die Methanist also vor der Methylenbildung bevorzugt, und die Formel der einfachsten Wasserstoffverbindung des Kohlenstoffs lautet - wie aus der Elektronentheorie der Valenz schon gefolgert wurde - CH 4 . Anwendungen In Tab.21 sind einige nach der oben beschriebenen bzw. nach anderen^ Methoden ermittelte Bindungsenergien (-enthalpien) wiedergegeben, die u.A. zur überschlagsmäßigen Berechnung von Bildungsenthalpien chemischer Verbindungen genutzt werden. So ergibt sich z. B. die Enthalpie der Bildung von „Methylenchlorid" CH2C12 gemäß + H 2 + Cl 2 CH2C12 aus den aufzuwendenden Atomisierungsenthalpien der Elemente (^C x : 717; H 2 : 436; Cl 2 : 242 kJ/mol), vermindert um die abgegebenen Energiebeträge für gebildete zwei CH- sowie zwei CCl-Einfachbindungen (2x416 = 832
12 promovere (lat.) = befördern. 1 3 Zum Beispiel folgen AB-Bindungsenergien auch aus den Atomisierungsenergien von Molekülen des Typus H X A — BH y nach Abzug der Bindungsenergie für x HA- sowie j BH-Bindungen. So ergibt sich die NN-Einfachbindungsenergie aus der Atomisierungsenergie von Hydrazin H 2 N — N H 2 (1723 kJ/mol), vermindert um den Energiebetrag von 4 NH-Bindungen (4 x 391 = 1564 kJ/mol) zu 159 kJ/mol. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass Bindungsenergien nur im Falle zweiatomiger Moleküle mit Dissoziationsenergien identisch, im Falle anderer Moleküle aber meist sehr unterschiedlich sind (z.B. N—N-Bindungs-/Dissoziationsenergie von H 2 N — N H 2 : 159/251 kJ/mol).
143
1. Die Elektronentheorie der Valenz Molare Bindungsenergien [kJ/mol] bei 298 K. Si
C
H 381 372 C S N P 0 s F 646 Cl 444 Br 369 I 296 Doppelbindungen: C = C 615 Dreifachbindungen: c = C 811
416 323 345 306 306 222 305 335 264 444 358 289 226 489 595 327 398 272 329 214 234 C = N 616 c = N 892
N
P
0
S
391 305 335 159 290 181
327 264
463 358 444 181 407 144
361 289 226
-
290 205 407 201 278 496 193 328 264 159 184 0 729 0 1077
F
Cl
565 429 489 327 595 398 278 193 201 496 328 (285) 214 206 270 272 368 214 368 158 255 272 243 206 255 217 (239) 238 209 (201) 200 N = N 466 S 762 N = :N 945
2
ß a)
Einfachbindungen:
oo )
Tab. 21
Br
I
365 272 329 159 264 (239) 238 217 194 180 0
297 214 234 -
184 (201) -
209 180 153 498
a) BB = 332 kJ/mol. --b) Durchschnittswert (z.B. H 3 C — C H 3 : 331 kJ/mol; Cx (Diamant): 358 kJ/mol). - c) Vgl. S. 554.
und 2 x 327 = 654 kJ/mol) zu 717 + 436 + 242 - 832 - 654 = - 91 kJ/mol (experimenteller Wert: - 8 8 kJ/mol). Auch zur näherungsweisen Bestimmung von Mesomerieenergien (s. dort) eignen sich die Bildungsenergien. So berechnet sich die Bildungsenthalpie für das „Kohlendioxid", dessen Bindungszustand durch folgende Mesomerieformel
beschrieben werden kann (der ungeladenen Grenzformel kommt hierin das größte Gewicht zu), aus den Element-Atomisierungsenergien 717; 0 2 : 498 kJ) sowie C0-Doppelbindungsenergien (2 x 729 kJ) zu - 2 4 3 kJ/mol. Der experimentell gefundene Wert beträgt demgegenüber - 3 9 4 kJ/mol, womit sich die Resonanzenergie zu - 1 5 1 kJ/mol ergibt. Schließlich können Bildungsenergien zur Lösung von Strukturfragen herangezogen werden. Beispielsweise ist für ,,0zon" 0 3 sowohl ein kettenförmiger als auch ringförmiger Aufbau denkbar:
A - A
:0:
:0:
:0:
:0: / \
: 0 — O:
:0:
Wegen der großen Differenz zwischen der für ein Molekül letzterer Struktur mit drei 00-Einfachbindungen berechneten Bildungsenthalpie ( + 315 kJ/mol) und der experimentell für 0 3 gefundenen (+143 kJ/mol) scheidet jedoch eine Ringstruktur für das 0zonmolekül aus.
1.1.4
Übergänge zwischen den Bindungsarten
In einer Ionenverbindung A + B~ k a n n das Kation A + infolge seiner positiven L a d u n g (,,induktiver Effekt" des k a t i o n i s c h e n Bindungspartners) die E l e k t r o n e n h ü l l e d e s A n i o n s B~ z u s i c h h e r ü b e r z i e h e n („Deformation" der Elektronenhülle), sodass diese nicht mehr a l l e i n d e m A n i o n , sondern teilweise auch dem K a t i o n mit angehört. Es entsteht d a n n aus der Ionenbindung ein Übergangszustand („polarisierte Ionenbindung66), der im Grenzfall in die Atombindung übergeht (vgl. hierzu auch Fig. 58): [ A ] + DB]" Ionenbindung
[A :B~] polarisierte Ionenbindung polare Atombindung
-
[A :B] Atombindung
144
VI. Der Molekülbau
Da bei gegebenem A n i o n die d e f o r m i e r e n d e W i r k u n g des Kations um so stärker ist, je kleiner dessen R a d i u s und je größer dessen positive L a d u n g ist, nimmt z.B. in der Reihe NaCl
MgCl 2
AlCl 3
SiCl4
PC13
Ionenbindung
SC12
ClCl Atombindung
(A in AB variant, B konstant) von links nach rechts der S a l z c h a r a k t e r ab und der M o l e k ü l c h a r a k t e r zu, sodass ganz links (Natriumchlorid) praktisch reine Ionen- und ganz rechts (Chlor) praktisch reine Atombindung vorliegt, während etwa das dazwischenliegende Aluminiumchlorid einen ausgesprochenen Ü b e r g a n g s t y p zwischen Ionen- und Atombindung verkörpert und auch in seinen Eigenschaften eine Mittelstellung zwischen den Salzen (S. 120) und Atomverbindungen (S. 131) einnimmt. Die Tatsache, dass das erste Element einer Hauptgruppe weniger dem zweiten Element der gleichen als dem zweiten Element der folgenden Hauptgruppe ähnelt, dass also z.B. die Lithiumverbindungen mehr den Magnesium- als den Natriumverbindungen (S. 1261), die Berylliumverbindungen mehr den Aluminium- als den Magnesiumverbindungen (S. 1218) und die Borverbindungen mehr den Silicium- als den Aluminiumverbindungen (S. 1153) ähneln („Schrägbeziehung" im Periodensystem): L
B
beruht mit auf dieser d e f o r m i e r e n d e n W i r k u n g der Kationen, da in diesen Fällen die durch die Z u n a h m e des K a t i o n e n r a d i u s (Li + -> Na + ; Be 2+ -> Mg 2 + ; B 3 + -> AI3 + ) bedingte Verringerung derdeformierenden Wirkungdurch eine entsprechende Z u n a h m e der K a t i o n e n l a d u n g (Na + -> Mg2 + ; Mg2+ —> AI3 + ; AI3+ -> Si4 + ) wieder kompensiert wird. Die Deformierbarkeit eines Anions nimmt bei gegebenem Kation mit wachsender Größe des R a d i u s und der negativen L a d u n g des Anions zu. Daher besitzen die Sulfide eines Metalls weniger Salzcharakter als seine Chloride und Oxide und die Iodide eines Metalls weniger Salzcharakter als seine Bromide. In analoger Weise besitzen - wegen der deformierenden Wirkung kleiner, hoch geladener Kationen (s. o.) - die Berylliumverbindungen weniger Salzcharakter als die entsprechenden Lithium- oder Natriumverbindungen und die Magnesiumverbindungen weniger Salzcharakter als die entsprechenden Natrium oder Calciumverbindungen Der Ü b e r g a n g zwischen Ionen- u n d A t o m b i n d u n g lässt sich natürlich auch von der Seite der Atombindung her betrachten: In einer kovalenten Verbindung A - B ist das gemeinsame Elektronenpaar n u r d a n n s y m m e t r i s c h auf die beiden Bindungspartner verteilt, wenn A u n d B i d e n t i s c h sind. Sind aber A u n d B voneinander v e r s c h i e d e n , so wird im Sinne von Fig. 58 das gemeinsame Elektronenpaar zunehmend stärker auf die Seite des A t o m s B mit der g r ö ß e r e n E l e k t r o n e n a n z i e h u n g s k r a f t gezogen (,,induktiver Effekt" des a n i o n i s c h e n Bindungspartners), wobei durch ,,Polarisierung" der A t o m b i n d u n g ein Übergangszustand („polare Atombindung") entsteht, der im Grenzfall in die Ionenbindung übergeht (vgl. hierzu Elektronegativität u n d Dipolmoment, weiter unten).
Metallbindung [A]+ [:] 2 ~ [B] +
Ionen-/MetallBindung [A
S+ 2S- S + Atom-Metall[A : B] Bindung \ (vgl. Halbmetalle, Halbleiter)
(vgl. Zintl-Phase
Ionenbindung [A] + [=BF
S + S-
Atombindung [A: B]
A :B
polare Atom-/polarisierte IonenBindung (vgl. Elektronegativität, Dipolmoment)
Fig.58
Übergänge zwischen Metall-/Ionen-/Atombindung.
1. Die Elektronentheorie der Valenz
145
Ersetzt man in Na + Cl nicht das Natrium, sondern das Chlor der Reihe nach durch die übrigen Elemente der 3. Periode des Periodensystems NaCl Na 2 S Ionenbindung
Na 3 P
NaSi
Na^Al
Na^Mg
NaNa Metallbindung
(A in AB konstant, B variant), so kommt man im Sinne der Fig. 58 von der reinen Ionenbindung (Natriumchlorid) auf dem Wege über eine „Ionen-/Metallbindung" (z.B. Natriumsilicid) zur reinen Metallbindung (Natrium). Es erfolgt also dabei ein allmählicher Übergang von gebundenen Elektronen in freie Leitungselektronen (vgl. hierzu Zintl-Phasen, weiter unten). In analoger Weise kann auch ein allmählicher Übergang von der Atombindung über eine ,,Atom-/Metallbindung" in die Metallbindung erfolgen, wie man etwa aus der Reihe der Elemente ClCl SS Atombindung
PP
SiSi
AlAl
MgMg
NaNa Metallbindung
(A und B in AB variant) ersieht, die im Sinne von Fig. 58 vom Molekül Chlor (elektronischer Nichtleiter, S. 132) über das Halbmetall Silicium (elektrischer Halbleiter, s. weiter unten) zum Metall Natrium (elektrischer Leiter, S.114) führt. Nachfolgend sei im Zusammenhang mit den Übergängen Ionen-/Atom- bzw. Metall-/Ionen- bzw. Metall-/Atombindung kurz auf den Elektronegativitätsbegriff, auf das Dipolmoment der Moleküle sowie auf Halbmetalle und -leiter eingegangen. Die Zintlphasen als wichtige Übergangsglieder zwischen Ionenund Metallverbindungen werden auf S. 925 eingehend behandelt Elektronegativität14,15 Nützlich f ü r die Beurteilung des p o l a r e n C h a r a k t e r s v o n A t o m e n in M o l e k ü l e n ist die schon m e h r m a l s e r w ä h n t e , v o n L i n u s P a u l i n g im J a h r e 1932 eingeführte „Elektronegativität", u n t e r der m a n d a s Bestreben der Atome v e r s t e h t Bindungselektronen in Bindungen A - B an sich zu ziehen, sodass die Differenz — x B der E l e k t r o n e g a t i v i t ä t e n x v o n A u n d B d e n ionischen C h a r a k t e r der B i n d u n g veranschaulicht. „ E l e k t r o n e g a t i v i t ä t " u n d „ E l e k t r o n e n a f f i n i t ä t " (s. d o r t ) sind d e m e n t s p r e c h e n d nicht identisch, d a sich erstere a u f , , g e b u n d e n e " , letztere auf ,,freie" A t o m e bezieht. In der Tab. 22 sind die häufig genutzten A l l r e d - R o c h o w - W e r t e der Elektronegativitäten, die sich nicht viel v o n d e n Pauling-Werten unterscheiden, zusammengestellt. Wie aus der Tabelle h e r v o r g e h t , w ä c h s t die Elektronegativität der H a u p t g r u p p e n e l e m e n t e i n n e r h a l b einer
14
Literatur. H . O . Pritchard, H.A. Skinner: „The Concept of Electronegativity", Chem. R e v 55 (1955) 745-786; A.L. Allred: ,Electronegativity Values from Thermochemical Data", J. Inorg. Nucl. C h e m 17 (1961) 215-221; J. Hinze: ,,Elektronegativität der Valenzzustände", Fortschr. Chem. Forsch. 9 (1968) 448-485; D. Bergmann, J. Hinze: „Elektronegativität und Moleküleigenschaften", Angew. C h e m 108 (1996) 162-176; Int. E d 35 (1996) 150. 5 1 Geschichtliches Linus Pauling (1901-1994) legte seinen Elektronegativitätswerten die Bindungsdissoziationsenergie Da_b (in eV) zugrunde, indem er empirisch folgerte, dass die Differenz zwischen der experimentell g e f u n d e n e n Bindungsdissoziationsenergie DA_B und der als geometrisches Mittel der Bindungsdissoziationsenergien DA_A und DB_B b e r e c h n e t e n (kleineren) Bindungsdissoziationsenergie durch die (absolute) Elektronegativitätsdifferenz | xA — XB I bedingt wird (Erschwerung der Dissoziation infolge der Polarität der Bindung). Da sich auf diese Weise nur D i f f e r e n z e n von Elektronegativitäten ermitteln lassen, musste willkürlich ein Referenzpunkt festgelegt werden, wofür ursprünglich der Wert xH = 0, dann, um negative /-Werte zu vermeiden, der Wert x F = 4 gewählt wurde: Pauling
YÄ = K\XA-x
,1
mit
A =
DAB-
Später (1958) haben dann A.L. Allred und E . G . Rochow als Maß für die Anziehungskraft eines Atomkerns auf die Elektronen einer Bindung die wirksame C o u l o m b - K r a f t i 7 eingeführt, die dem Wert Z/r2 (Z = effektive Kernladung, vgl. dort; r = Atomradius) proportional ist, und haben durch Wahl passender Koeffizienten die so sich ergebenden Elektronegativitätswerte x den Paulingschen Werten angepasst. R.S. Mulliken (1934) nutzte zur Berechnung der /-Werte Ionisierungsenergien und die Elektronenaffinitäten der Atome (jeweils positive Werte in eV): Allred-Rochow:
x = 0.359 Z/r2 + 0.744;
Mulliken
x = 0.168 (IE V + EA V ) — 0.207.
Allerdings verwendet man zur EN-Berechnung in letzterem Falle nicht IE und EA für den Atomgrundzustand (z.B s 2 p 2 für C/Si: IE = 11.26/8.15eV; EA = 1.12/1.36eV), sondern für den Atomvalenzzustand, z.B. ergibt sich IE v (sp 3 ) von sp-hybridisiertem Kohlenstoff bzw. Silicium aus den Ionisierungsenergien IE(p) von s- und p-Elektronen des durch Elektronenanregung aus dem s 2 p 2 -Atomgrundzustand ( 3 P-Zustand) erreichbaren sp-Atomzustand ( 5 S-Zustand) gemäß IE v (sp 3 ) = | I E ( s ) + f ( I E ) ( p ) zu ± x 2 4 . 7 + f x 1 2 . 4 = 15.5eV (C) bzw. Ax 19.8 + f x 9.8 = 12.3eV (Si).
146
VI. Der Molekülbau
Tab.22
Elektronegativitäten (nach Allred-Rochow) der Elemente (vgl. Tafeln III-V) a) .
H
2.20
Hauptgruppenelemente
Li
0.97
Be
B
2.01
C
2.50
N
3.07
O
3.50
F
Na
0.93b)
Mg 1.23
AI
1.47
S
1.74
P
2.06
s
2.44
C
K
0.91
C
1.04
Ga
1.82
G
2.02
A
2.20
S
2.48
Rb
0.89
Sr
0.99
In
1.49
S
1.72
S
1.82
T
Cs
0.86
B
0.97
T
1.44
Pb
1.55
B
1.67
P
Fr
0.86
R
0.97
1.47
H
5.2
4.10
N
4.5
2.83
A
3.2
B
2.74
Kr
2.9
2.01
I
2.21
Xe
2.4
1.76
A
1.96
R
2.1
a) Die Nebengruppenelemente haben /-Werte zwischen 1.00 und 1.75 (1. Übergangsperiode: 1.20-1.75; 2. Übergangsperiode: 1.11-1.46; 3. Übergangsperiode einschließlich Lanthanoide: 1.01-1.55; 4. Übergangsperiode einschließlich Actinoide: 1.00-1.22). - b) Wert nach Pauling, der wie Werte anderer Bearbeiter (Ausnahme Allred-Rochow) kleiner als der von Li ist.
E l e m e n t p e r i o d e von links nach rechts (zunehmende effektive Kernladung Z ) u n d innerhalb einer E l e m e n t g r u p p e - abgesehen von 4 A u s n a h m e n (Ga -> Al; Ge -> Si; As -> P; Se -> S) - von unten nach oben (abnehmende Zahl elektronenbesetzter Hauptschalen). J e g r ö ß e r die Differenz zwischen den Elektronegativitäten zweier miteinander verbundenen A t o m e ist, desto ausgeprägter ist der i o n i s c h e C h a r a k t e r der Bindung, wobei das A t o m mit der k l e i n e r e n Elektronegativität den p o s i t i v e r e n , das mit der g r ö ß e r e n Elektronegativität den n e g a t i v e r e n Bindungspartner darstellt. So ist etwa der Wasserstoff im Aluminiumwasserstoff A l H 3 elektronegativ, im Chlorwasserstoff H C l elektropositiv. In analoger Weise kehren sich z. B. bei den Verbindungspaaren O F 2 / O C l 2 , N F 3 / N C l 3 u n d NC1 3 /PC1 3 die relativen Polaritäten der Bindungspartner u m ( O F 2 , N F 3 , PC1 3 : Halogen e l e k t r o n e g a t i v e r e r Partner; OCl 2 , NC1 3 : Halogen e l e k t r o p o s i t i v e r e r Partner), was sich etwa bei der Hydrolyse bem e r k b a r m a c h t (s. dort). Dass die Elektronegativität beim Übergang der in der 3. Periode stehenden Elemente Al, Si, P und S zu den in der 4. Periode stehenden Homologen Ga, Ge, As und Se nicht ab-, sondern zunimmt, rührt daher, dass zwischen den Elementen Mg (II. Hauptgruppe) und Al (III. Hauptgruppe, jeweils 3. Periode) keine weiteren Elemente stehen, während zwischen den Elementen Ca (II. Hauptgruppe) und Ga (III. Hauptgruppe, jeweils 4. Periode) noch 10 Nebengruppenelemente (Sc bis Zn) plaziert sind. Der Übergang Mg -> Al ist infolgedessen mit der Erhöhung der Kernladung um 1, der Übergang Ca -> Ga mit einer solchen um 11 verbunden. Letzterer Sachverhalt führt dazu, dass die positive Kernladung die Außenelektronenschale von Ga stärker anzieht als die von Al, obwohl die betreffende Schale von Ga (4. Hauptschale) kernferner als die von Al (3. Hauptschale) ist. Als Folge hiervon wächst die ElementElektronegativität beim Übergang AI -> Ga. Der Effekt wirkt sich - in abnehmendem Ausmaße - auch bei den Übergängen Si -> Ge, P -> As sowie S -> Se aus. Beim Übergang Cl -> Br erfolgt zwar bereits eine Elektronegativitätsabnahme, diese ist aber noch verschwindend klein. Die beachtliche Steigerung der Kernladungszahl in Richtung Ca -> Ga macht sich naturgemäß auch in einer auffallenden Verkleinerung der Atomradien bemerkbar. Dieser als ,,d-Orbitalkontraktion" bezeichnete Effekt hat zur Folge, dass der Atomradius von Ga (1.24 Ä) kleiner als der von Al (1.30 Ä) und der von Ge (1.22 Ä) nur geringfügig größer als der von Si (1.17 Ä) ist. Die Elektronegativitäten stellen veränderliche Atomeigenschaften dar, da in Verbindungen die Werte und miteinander verknüpfter Atome A und B naturgemäß auch von der Art und Elektronegativität der zusätzlich mit A und B verbundenen benachbarten Atomgruppen abhängt. Z.B. wächst die Elektronegativität für Kohlenstoff unter dem Einfluss von F-Atomen (für H 3 C—/F 3 C— ca. 2.3/3.3) oder mehrfach gebundenen Resten (für H 3 C—CH 2 —/H 2 C=CH—/HC=C— ca. 2.5/2.7/3.0). Dementsprechend reagiert etwa Hydroxid OH"mit H 3 CI/F 3 CI unter Bildung von H 3 COH/F 3 CH neben I"/IOH und H C = C H unter Bildung von H C = C : ~ neben HOH. M a n pflegt den polaren Zustand einer kovalenten Bindung häufig durch ihren „partiellen Ionencharakter66 auszudrücken, welcher definitionsgemäß im Falle r e i n e r A t o m b i n d u n g gleich 0 % , im Falle r e i n e r I o n e n b i n d u n g gleich 100 % ist u n d mit der Differenz der Elektronegativitäten näherungsweise wie folgt zusammenhängt:
1. Die Elektronentheorie der Valenz
|/A-/B| = 0.0 Ionencharakter (%) = 0
0.4 3
0.8 12
1.2 25
1.6 40
2.0 54
147
2.4 68.
Bei einer Elektronegativitätsdifferenz von etwa 2 (z.B. BF 3 ) handelt es sich hiernach um eine Atombindung mit etwa 50%igem Ionencharakter, bei kleineren Differenzen (z.B. NF 3 ) um vorwiegend kovalente, bei g r ö ß e r e n (z.B. NaF) um vorwiegend e l e k t r o v a l e n t e Bindungen Die Elektronegativitätsdifferenz \xA — xBI der Bindungspartner verringert sich sowohl beim Übergang von der Ionen- zur Atombindung als auch von der Ionen- zur Metallbindung, wobei die Elektronegativitätssumme \xK + xB| in ersterem Falle meist zunimmt, in letzterem abnimmt. Beim Übergang von der Atom- zur Metallbindung bleibt \xA — xBI klein, während sich \xA + xB| verringert. Da sich die Elementelektronegativitäten (Tab. 22) nicht innerhalb der Perioden, sondern auch innerhalb der Gruppen ändern, führt naturgemäß der Ersatz der Bindungspartner in AB durch Gruppenhomologe zu Bindungsübergängen. Z.B. erfolgt im Falle der Interchalkogene (A und B = Chalkogen) beim Erstatz beider Bindungspartner durch schwerere Gruppenhomologe zu einem Übergang Atom-/Metallbindung (O2, S s , Se^, Te , P o J oder bei Ersatz nur eines Bindungspartners durch ein schwereres Gruppenhomologes zu einem Übergang Ionen-/Metallbindung PoO 2 , PoS, PoSe, PoTe^, P o J und vice versa. Der partielle Ionencharakter von Molekülbindungen bewirkt - wie kurz erläutert sei - Änderungen von deren Längen, deren Winkel sowie deren Energie: Bindungslängen Die Bindungslängen dAB berechnen sich nach der ,,Schomaker-Stevenson-Gleichung" aus den Atomradien und wie folgt dAB = rA + rB - c | -
XBI
(falls 4 r in Ä: c « 0.09; vgl. Anh. V)
Darüber hinaus wird die Anwendung folgender Beziehung empfohlen (,,Haaland'sche Gleichung"): dAB = rA + rB — 0.085 | Z a -
Zb |
1
-4
Die Korrektur der Bindungslängen wird bei großen Elektronegativitätsunterschied der an der Bindung beteiligten Atome A und B beachtlich und führt etwa dazu, dass AI—X-Bindungen in Aluminiumverbindungen mit stark elektronegativem X (z. B. N, O, Hal) kürzer sind als entsprechende Ga—X-Bindungen in Galliumverbindungen (z.B. AI—Cl/Ga—Cl in AlCl 3 /GaCl 3 2.06/2.10Ä) obwohl rA1 > r Ga ist (vgl. Tab. 20). Bindungswinkel. Wie auf S. 314 im Zusammenhang mit dem VSEPR-Modell noch eingehend besprochen wird, führt ein wachsender Elektronegativitätsunterschied von weniger elektronegativem A und elektronegativerem B in Verbindungen A B mit freien Elektronenpaaren an A zu einer Erniedrigung der Abstoßungskräfte der Bindungen A— B und mithin zu einer Verkleinerung des Winkelst—A—B (vgl. auch S. 139). Bindungsenergien Bindungsenergien für polare Moleküle A—B sind in der Regel größer als erwartet, d. h. größer als das Mittel der Summe der Bindungsenergien der unpolaren Moleküle A—A und B—B (z.B. Bindungsenergie für F—F/Cl—Cl/Cl—F 158/243/255kJ/mol), da A und B in AB als Folge des Elektronegativitätsunterschieds partiell positiv und negativ geladen sind, sodass beide Atome nicht nur durch eine Kovalenz, sondern zusätzlich durch eine partielle Elektrovalenz verknüpft sind. L. Pauling hat aus diesem Befund die Elektronegativitäten der Elemente abgeleitet 15 . Andererseits sind Einfachbindungen, an denen die kleineren Atome N, O, F beteiligt sind schwächer als erwartet wegen der verstärkten Abstoßungskräfte der freien Elektronenpaare (vgl. Gang der CC-, NN- OO-, FF-Bindungsenergien mit denen der SiSi-, PP-, SS-, ClCl-Bindungsenergien, Tab.21).
Dipolmoment der Moleküle 1 6 , 1 7 Zahlenmäßig wird der polare Charakter eines Moleküls AB durch das elektrische „Dipolmoment" fi ,1! = 10i°£l~i cm"i) kommen Metallen bei sehr tiefen Temperaturen zu (z.B. Al bei ^ 1.14 K), bei welchen sie in den supraleitenden Zustand übergehen (vgl. S. 1425).
1. Die Elektronentheorie der Valenz
149
Zu den Elektronenhalbleitern, deren Leitfähigkeit in charakteristischer Weise mit der Temperatur wächst („positiver" Temperaturkoeffizient der Leitung; vgl. Ionen- und Elektronenleiter, S.120, 114) zählen außer den erwähnten zwischen den kovalenten ,,Atomverbindungen" und ,,Metallen" stehenden Halbmetallen auch viele - zum Teil farbige (S. 176) - Stoffe, die im weiter oben diskutierten Sinne einen Zustand zwischen den heterovalenten ,,Salzen" und den ,,Metallen" sowie „Legierungen" einnehmen. Beispiele bieten insbesondere Verbindungen, die mit Elementen der IV. Hauptgruppe isoelektronisch sind (A ra B v Verbindungen wie BN, GaAs, InSb; A"Bvi-Verbindungen wie BeO, MgTe, CdS; A1 Bvn-Verbindungen wie CuCl, AgBr), eine Reihe von Übergangsmetallboriden, -carbiden, -nitriden sowie auch viele Metalllegierungen (z.B. NaSi, Mg2Ge, ZnSb). Bezüglich weiterer Einzelheiten vgl. S. 1421.
1.1.5
Übergänge zwischen Verbindungen und Elementen. Clusterverbindungen 2 0 , 2 1
Wie auf S. 24 besprochen wurde, besteht zwischen Verbindungen und Elementen kein prinzipieller Unterschied: Verbindungen sind aus verschiedenartigen Atomarten, Elemente aus einer einzigen Atomart aufgebaut. Enthalten Stoffe neben einer großen Zahl miteinander verknüpfter „Atome einer Sorte" nur wenige Fremdatome, so liegen Übergänge zwischen Verbindungen und Elementen vor Ersetzt man beispielsweise in der Atomverbindung „Schwefelwasserstoff"YLjS das zentrale Schwefelatom durch zwei, drei, vier, . . . n,...x Schwefelatome, so gelangt man über H 2 S 2 , H 2 S 3 , H 2 S 4 , . . . H 2 S„,... H 2 S x «< S^ letztendlich zum nichtmetallischen Element „Schwefel" (vgl. S. 557, 540). Auch werden Aluminiumverbindungen, ausgehend von der Atomverbindung „Aluminiumwasserstoff" AlR 3 (R = H), in Richtung aluminiumreicherer Spezies wie A12R4, A14R4, A17R6, A169R1S, A1 77 R 20 (R 4= H; zum Teil negativ geladen) hinsichtlich Struktur und Eigenschaften dem metallischen Element ,,Aluminium" Al^ immer ähnlicher). Analoges gilt für den anionischen und kationischen Teil binärer 20
Literatur. F.A. Cotton: „Transition-Metal-Compounds Containing Clusters of Metal Atoms", Quart. Rev. 20 (1966) 389-401; M. Moscovits (Hrsg.):,,Metal Clusters", Wiley, New York, 1986; I.G. Dance: „ Clusters and Cages", Comprehensive Coord. Chem., Vol. 1, Pergamon, Oxford, 1987, S. 135-178; D.F. Shriver, H . D . Kaesz, R . D . Adams: „The Chemistry of Metal Cluster Complexes", VCH, New York, 1990; D.M.P. Mingos, D.I. Wales: ,,Introduction to Cluster Chemistry", Prentice Hall, New York, 1990; G. Gonzales-Moraga: ,,Cluster Chemistry", Springer, Berlin, 1994; G. Schmid (Hrsg.):,,Clusters and Colloides. From Theory to Applications", VCH, Weinheim, 1994; C.E. Housecroft: ,, Cluster Molecules of the p-Block elements", Oxford University Press, 1994; ,, Clusterverbindungen der Hauptgruppenelemente", VCH, Weinheim, 1996; P. Braunstein, L.A. Oro, P.R. Raithby (Hrsg.):,,Metal Clusters in Chemistry", 3 Bände, Wiley-VCH, 1999; M. Driess, H. N ö t h (Hrsg.): ,,Molecular Clusters of Main-Group Elements", Wiley-VCH, 2004; B.Hartke: „Strukturübergänge in Clustern", Angew. C h e m 114 (2002) 1534-1554; Int. E d 41 (2002) 1468; T.F. Fässler, S.D. Hoffmann: ,,Endohedrale Zintl-Ionen: intermetalloide Cluster", Angew. C h e m 116 (2004) 6400-6406; Int. E d 43 (2004) 6242. 1 2 Geschichtliches. Der englische Begriff Cluster ( = Haufen, Klumpen) hat Eingang in Kunst, Wisj senschaft und tägliches Leben gefunden. So wird er V in der Musik als Begriff für Akkorde (Klangbilder, < Klangfelder, Tontrauben), bestehend aus vielen / übereinandergeschichteten kleinen Tonintervallen \ benutzt (vgl. Notenbeispiel aus der Oper ,,Lulu" von Alban Berg), in der Kernphysik für besonders stabile Kombinationen von Nukleonen (z.B. A-Teilchen *HE2 + ) und in der Sprachwissenschaft u.a. für eine Folge ungleicher Konsonanten in Wörtern (z.B. Borschtsuppe, Wrdlbrmpfd (Name des Radfahrers aus Verkehrscene von Karl Valentin, Piper, München, 4 (1996) 13)). In der Chemie ist der Begriff Cluster im Jahr 1964 durch E.A. Cottton für chemisch miteinander verknüpfte M e t a l l a t o m e M n ( n > 2) in Übergangsmetallverbindungen(,,Metallatom-Clusterverbindungen") wie folgt eingeführt worden20:,,Metallatom-Clusterverbindungen enthalten eine begrenzte Anzahl von Metallatomen, welche ausschließlich, hauptsächlich oder zumindest signifikant durch Bindungen zwischen den Metallatomen zusammengehalten werden, wobei auch einige Nichtmetallatome mit dem Cluster assoziiert sein können. Inzwischen wird der Begriff Cluster für den chemisch abgegrenzten Bereich von zwei, mehreren oder sehr vielen miteinander verknüpften, gleichen oder ungleichen Elementatomen in Verbindungen (,,Elementatom-Clusterverbindungen") genutzt. Vielfach ähneln die Atomcluster der Clusterverbindungen ausschnittsweise den Elementen, aus deren Atomen sie aufgebaut sind; sie tragen als „Zwischenstufen" auf dem Wege zum Element gewissermaßen bereits die „Idee" des betreffenden Elements in sich. Für letztere Clusterverbindungen, deren Studium für das Verständnis vieler Elementeigenschaften (z.B. normale und super-elektrische Leitfähigkeiten von Metallen) wichtig ist, hat H.Schnöckel im Jahre 2000 die Begriffe metalloide bzw. - allgemein - elementoide Cluster geprägt ( . . . oid von griech. . . . oeides = . . . ähnlich; die Idee v o n . . . ; vgl. hierzu J. Am. Chem. Soc. 122 (2000) 9178, Ref. 3) und T.F. Fässler für metallzentrierte, heteroatomare Cluster den Begriff ,,intermetalloide" Cluster.
150
VI. Der Molekülbau
Ionenverbindungen MX, M X , M X usw. nach Addition weiterer Atome X bzw. M. Hierbei verwandelt sich etwa P 3 " in M 3 P n (n = 1 ) auf dem Wege über phosphorreichere Anionen P4",P4", Pf", P4" (n = 7, 11, 21, 45; letzteres Anion polymer) in elementaren Phosphor (S. 743), während Cäsiumoxid Cs2O auf dem Wege über Cs3O, Cs4O, Cs7O, Cs„O in elementares Cäsium Cs, übergeht. Die abgegrenzten Bereiche von zwei, mehreren oder sehr vielen chemisch miteinander verknüpften gleichartigen (gegebenenfalls auch ungleichartigen) Elementatomen (ursprünglich Metallatomen) einer Verbindung werden in der Chemie - weitestgefasst - als Cluster bezeichnet 2 !. Letztere können als molekulare Ausschnitte aus bekannten oder noch zu entdeckenden Formen (Modifikationen) der betreffenden Elemente (gegebenenfalls Elementverbindungen) interpretiert werden. Die Verknüpfung der Atome im - meist mehr oder weniger kugel- oder käfigförmigen, aber auch scheiben- und stabförmigen - Cluster erfolgt in vielen Fällen durch delokalisierte Bindungen, wie sie in Metallen (S. 113), in Elektronenmangelverbindungen (S. 155) oder selbst in Nichtmetallen (z.B. P 4 ) auftreten („Cluster im engeren Sinne"), in anderen Fällen aber auch durch lokalisierte einfache oder mehrfache, normal- oder hypervalente Bindungen (bzgl. der Hypervalenz vgl. S. 366, bzgl. der auf van der Waals-Bindungen zurückgehenden Assoziate bzw. Aggregate S. 157). Eine ,,Ligandenhülle" aus elektro- bis kovalent gebundenen Atomen bzw. Atomgruppen ergänzt den ,,Clusterkern" zur Clusterverbindung, wobei Kern und Hülle als Verbindungsbereiche chemisch deutlich voneinander unterscheidbar sein sollten (Vorliegen anderer Bindungsmechanismen innerhalb des Kerns und zwischen Kern und Hülle). Bei fehlender Hülle (Hülle = Vakuum) spricht m a n von nackten Clustern (z. B. enthalten Metall-Molekularstrahlen meist Cluster M n , deren Charakterisierung derzeit ein wichtiges Anliegen ist; auch stellen Nichtmetalle wie Cl 2 , P 4 , S 8 in gewissem Sinne ,,nackte" Cluster und - in letzter Konsequenz - alle Moleküle „Atomcluster" dar). Der Begriff Cluster erfordert, da er in der modernen Chemie einen weiten Bereich umfasst, Spezifikationen. So lassen sich etwa Cluster unterteilen (i) nach der Art ihrer Bausteine in ,,Metall"-, „Halbmetall"- oder ,,Nichtmetall "-Cluster, (ii) nach der Vielfältigkeit ihrer Bausteine in ,,homoleptische" (aus einer Atomsorte bestehende) und ,,heteroleptische" (aus mehreren Atomsorten bestehende) Cluster, (iii) nach der Bindung ihrer Bausteine in ,,hypo-", „normal-" oder ,,hypervalente" Cluster (s. oben) und (iv) nach der Anordnung ihrer Bausteine u.a. in ,,polygone" (vieleckig-ringförmige), ,,polyedrische" (vielflächig-käfigförmige) bzw. „metalloide"/„elementoide" Cluster (letztere, bereits oben erwähnte Cluster sind häufig kugelförmig-kompakt; mit Atomen zentrierte metalloide Cluster werden auch als „intermetalloide Cluster" bezeichnet). Bezüglich weiterer Einzelheiten sei auf einschlägige Kapitel des Lehrbuchs z.B. über folgende Verbindungen verwiesen: Metallcluster vom Halogenid-Typ (S. 1756; z.B. (MoCl 2 ) 6 , Re 2 Cl2", Cr2(OAc)4, Chevrelphasen wie Pb n Mo 6 S 8 ), Metallcluster vom Carbonyl-Typ (S.1780; z.B. Mn 2 (CO) 10 , Fe 3 (CO) 12 , Co^CO^ 2 , Pt 19 (CO)4", OS20(CO)2", Pd3(CNR)2 + , Cp 3 Mn 3 (NO) 4 mit Cp = C 5 H°), donorstabilisierte Metallcluster und -kolloide (s. bei den betreffenden Metallen; z.B. A C (PP ^ ^5610^00R36 m i t R — P h e n a n t h r e n ) , P o l y b o r a n e u n d H e t e r o p o l y b o r a n e ( S . 1 0 5 4 f , 1089; z.B. B 5 H., B0H14, B 1 2 H l " , C 2 B 1 0 H 1 2 , N B ^ H ^ ) , Clusterverbindungen der schweren Triele (S. 1174, 1193; z.B. AO4R4, Ga.R^ I n t . R ^ AL^R.", Ga 8 4 Rl"; bzgl. R vgl. bei den betreffenden Clustern), gemischte Metall-Nichtmetallatom-Cluster (S. 1735; z.B.0Co 6 S 8 ](PPh 3 ) 6 , [Ni s X 6 ]Cl 4 (PPh 3 ) 4 mit X = PPh, [Cu 36 Se ls ](PiBu 3 ) 12 ), Clusterverbindungen der Tetrele, Pentele, Chalkogene (vgl. bei den einzelnen Elementen, z.B. C 60 , S i R 4 , Sn 6 R 6 , Na 4 Pb 9 , P 7 H 3 , Bi6Cl7, Cs 4 Se 16 , Rb2Te5), Alkalimetallsuboxide (S. 1285; z.B. Rb 9 0 2 , Cs a l O 3 ).
1.2
Verbindungen höherer Ordnung
Verbindungen, wie die bis jetzt besprochenen, bei denen durch kovalenten oder elektrovalenten Elektronenausgleich für die beteiligten Bindungspartner erstmals Edelgasschalen erreicht wer den, heißen „Verbindungen erster Ordnung". Die Fähigkeit der Atome zur Bindung anderer Atome ist aber nach Bildung dieser Verbindungen noch nicht erschöpft wenn sie über unge bundene Elektronen oder über Elektronenlücken verfügen: durch Anlagerung von Atomen oder Molekülen vermögen viele Verbindungen erster Ordnung unter Energiegewinn in „Ver-
1. Die Elektronentheorie der Valenz
151
bindungen höherer Ordnung" („Koordinationsverbindungen"22 bzw. „Komplexe"^) überzugehen. Bezüglich der N a m e n (Nomenklatur) der betreffenden Verbindungen vgl. Anh. VIII.
1.2.1
Die koordinative Bindung
Bindungsmechanismus Die Verknüpfung der bei der Komplexbildung neu in ein zentrales Teilchen Z (Atom, Ion oder Molekül) eintretenden Liganden22 Yj erfolgt jeweils durch ein gemeinsames Elektronenpaar unter Ausbildung einer „koordinativen Bindung"": Z:L Letztere stellt eine mehr oder weniger polare Atombindung dar, die bei sehr großem Elektronegativitätsunterschied der Komplexpartner Z und L in eine mehr oder weniger polarisierte Ionenbindung übergeht (vgl. S. 143). Das betreffende Elektronenpaar der Koordinationsbindung k a n n dabei formal ganz von L, hälftig von Z und L oder ganz von Z stammen: :L
Z:
Komplexbildung am Elektronenakzeptor
Im Allgemeinen vermag ein Zentralatom oder -ion gleichzeitig mit mehreren Liganden Bindungsbeziehungen einzugehen. In den so gebildeten Komplexen ZL„ bezeichnet m a n die Zahl der vom Zentrum gebundenen Liganden als „Koordinationszahl"" („Zähligkeit"; ,,Liganz"; ,,koordinative Wertigkeit"). Erfolgt die Komplexbildung eines Nichtmetall-Liganden L mit einem Nichtmetallatom oder -ion, so deutet m a n den Bindungsmechanismus mit Vorteil als Komplexbindung am Elektronendonator oder -donatorakzeptor Z (Bildung von Nichtmetall-Komplexen), erfolgt sie andererseits mit einem Metallatom oder -ion, so beschreibt m a n die Bindungsknüpfung zweckmäßigerweise als Komplexbildung am Elektronenakzeptor Z (Bildung von Metall-Komplexen). Gemäß dem Gesagten sind koordinative Bindungen von kovalenten oder elektrovalenten Bindungen nicht zu unterscheiden, da die Herkunft der Elektronen bei der fertigen Bindung keine Rolle mehr spielt. So sind z.B. in dem aus H + und :NH 3 zustandekommenden Komplex NH4 alle 4 N—H-Bindungen genau gleichwertig; die koordinative N—H-Bindung unterscheidet sich also in nichts von den drei kovalenten N—H-Bindungen des Moleküls NH 3 . Entsprechendes gilt etwa für die Element-Fluor-Bindungen in den aus B F oder BeF2 und hervorgehenden Anionen BF4 oder BeF2". Die Komplexbildung am Elektronendonator bzw. -akzeptor führt zu einer positiven bzw. negativen Formalladung an Z und einer negativen bzw. positiven Formalladung an L, während die Komplexbildung am Elektronendonatorakzeptor den Ladungszustand von Z und L nicht ändert. Tragen Z und/oder L vor der Komplexbildung bereits Ladungen, so addieren sich naturgemäß die bei der koordinativen Verknüpfung neu auftretenden Ladungen zu den bereits vorhandenen. Allerdings sagen die Formalladungen im Falle der koordinativen Bindungen nichts über die effektive Ladung der Bindungspartner, d. h. nichts über die Bindungspolaritäten aus (bezüglich Einzelheiten siehe unten). Charakterisierung der Koordinationsverbindungen Sind Komplexe ZLn nach außen hin ungeladen (,,komplexe Moleküle"), so entsprechen deren Eigenschaften (z.B. thermisches, Löslichkeits-, elektrisches Verhalten) im Wesentlichen den kovalenten Verbindungen (S. 132). Sind sie andererseits positiv oder negativ geladen, so bilden sie zusammen mit Gegenionen „Ionenkristalle" („komplexe Salze") mit den typischen Eigenschaften heterovalenter Verbindungen (S. 120).
1.2.2
Komplexbildung am Elektronendonator
Das Chlorid-Ion C l " (a) im Natriumchloridmolekül N a + C l " enthält vier freie Elektronenpaare, die zur Auffüllung unvollständiger Elektronenschalen anderer Atome dienen können. Lagert m a n etwa an diese Elektronenpaare 1, 2, 3 oder 4 Sauerstoffatome O an, deren Elekt22 coordinare (lat.) = beiordnen; complexus (lat.) = verbunden; ligare (lat.) = binden; donator (lat.) = Geber; acceptor (lat.) Empfänger
152
VI. Der Molekülbau
ronensextett dabei zu einem Oktett ergänzt wird, so gelangt m a n zu den vier Komplexionen (b)-(e) mit den ,,Zähligkeiten" 1 - 4 des zentralen Chlors:
:C1:Ö:
: 0 : Cl: 0 :
:Ö: :0:C1:0:
:Ö: :Ö:C1:Ö: :0:
Hypochlorit-Ion (b)
Chlorit-Ion (c)
Chlorat-Ion (d)
Perchlorat-Ion (e)
:C1:
Chlorid-Ion (a)
Damit ist zugleich die auf S. 112 gestellte Frage beantwortet, warum sich vom Natriumchlorid NaCl zwar Verbindungen der Formel NaCl0, NaClO 2 , NaCl0 3 und NaClO 4 , aber keine der Zusammensetzung NaClO 5 , NaCl0 6 usw. ableiten und warum z.B. NaCl0 3 in wässeriger Lösung in die Ionen Na + und Cl dissoziiert In ähnlicher Weise wie das Chlorid-Ion C l " können z.B. auch an das Xenon-Atom Xe, Sulfid-Ion S 2 _ , Phosphid-Ion P 3 _ und Silicid-Ion S i 4 _ , die jeweils ein Außenelektronenoktett aufweisen, Sauerstoffatome angelagert werden. Die Endglieder [ Z 0 4 ] n ~ (jeweils Zähligkeit 4 für Z) haben dabei, wenn m a n zugleich die bei der koordinativen Bindung auftretenden formalen Ladungszahlen berücksichtigt, folgende Elektronenformeln (Q-(k): r
~i :Ö: r. 4 + ~ : 0 : Xe: 0 :
T~
-1 :Ö: r. 3 + :0:C1:0: :Ö: "
r-
_ -i 2 :Ö: .. 2+ r. :0:S:0: : Ö:
_
r-
3-
r-
_
:0: r. + r. :0:P:0: : O:
:Ö: r. ±o r. : O : Si: O: -Ö: " Silicat-Ion (k)
Xenontetraoxid
Perchlorat-Ion
Sulfat-Ion
Phosphat-Ion
(f)
(g)
00
(i)
Man kann die Schreibweise letzterer Elektronenformeln dadurch weitgehend vereinfachen, dass man alle Elektronen und Formalladungen weglässt und die Verbindungen durch „Komplexformeln": O 0 Xe 0 0
O 0 Cl 0 O
-
O O S O 0
2-
o 0 P o
3-
0
o O Si 0 0
zum Ausdruck bringt. Diese „komplexe Schreibweise" wurde von dem deutsch-schweizerischen Chemiker Alfred Werner (1866-1919) schon lange vor Kenntnis der Elektronenformeln eingeführt. Noch kürzer kann man natürlich die Formeln durch einfache Aneinanderreihung der Atomsymbole wiedergeben: XeO4, ClO", S O r , PO2", SiOJ" Nicht nur Atome oder Atomionen, sondern auch Molekülatome mit abgeschlossener Elektronenschale (0ktett), darüber hinaus Atome mit unvollständiger Elektronenschale vermögen als Elektronendonatoren Liganden mit Elektronenlücken zu koordinieren. So kann etwa an das Molekülatom N der Amine : N H 3 oder : N F 3 in ersterem Falle H + , in letzterem Falle O oder F + unter Bildung von A m m o n i u m N H 4 , Stickstofftrifluoridoxid O N F 3 und Trifluorammonium N F 4 angelagert werden. Auch addiert das Schwefelatom S, das in der Außenschale ein Elektronensextett aufweist, 1, 2 oder 3 0 - A t o m e unter Bildung von Schwefelmonooxid S 0 (isoelektronisch mit O 2 ; s. dort), Schwefeldioxid SO 2 (isoelektronisch mit O 3 ) oder Schwefeltrioxid S O 3 (kein Sauerstoffanalogon bekannt; s. unten). Die Gesamtwertigkeit (,,Oxidationsstufe"; s. dort) der Zentralatome in Komplexen ist gleich der Summe der aus den ,,Elektronenformeln" zu entnehmenden ,,Bindungs- und Formalladungszahlen" (Xenon im Tetraoxid: 4 + 4 = 8-wertig; Chlor im Perchlorat: 4 + 3 = 7-wertig; Schwefel im Sulfat: 4 + 2 = 6-wertig; Phosphor im Phosphat: 4 + 1 = 5-wertig; Silicium im Silicat: 4 + 0 = 4-wertig usw.).
1. Die Elektronentheorie der Valenz
153
Für die Struktur von Komplexen gilt das bei den kovalenten Verbindungen erster Ordnung Gesagte (vgl. S. 139 und 314). Demgemäß sind die Komplexe (k) sowie NH 4 , ONF 3 , NF 4 tetraedrisch, das Ion (d) pyramidal und das Ion (c) gewinkelt aufgebaut, da das jeweilige Zentralatom von vier (a + n)Elektronenpaaren umgeben ist, die sich nach den Ecken eines Tetraeders abstoßen und von denen vier, drei bzw. zwei mit Sauerstoff verbunden, die restlichen ligandenfrei sind. In analoger Weise kommt SO2 und S O ein gewinkelter und trigonal-planarer Bau zu, da das S-Atom drei nach den Ecken eines gleichseitigen Dreiecks ausgerichtete n)-Elektronenpaare aufweist Bindungsverhältnisse. In den Elektronendonator-Komplexen erfolgt typischerweise eine Kombination von im Periodensystem der Elemente rechts stehenden Atome, sodass also - gemäß dem auf S. 131 Besprochenem - die Zentralatome oder -ionen mit den Ligandenatomen durch mehr oder weniger polare kovalente Bindungen (Atombindungen) verknüpft sind (die durch Kombination von Nichtmetall-Elektronendonatoren als Zentrum mit Metallkation-Liganden hervorgehenden Komplexe rechnet m a n in der Regel nicht zu den Elektronendonator-, sondern Elektronenakzeptor-Komplexen und betrachtet mithin die Metallkationen als Zentrum, die Nichtmetalldonatoren als Liganden). Außer durch kovalente Bindungen sind die Partner der Elektronendonator-Komplexe - bedingt durch die positiven Ladungen von Z und negativen Ladungen von L - im Sinne des auf S. 120 Besprochenen zusätzlich durch elektrovalente Bindungen (Ionenbindungen) verknüpft. Teilt man etwa im Falle der Komplexe (b)-(k) die m positiven Formalladungen von Z durch die Anzahl n der formal einfach-negativ geladenen O-Atome und addiert den so ermittelten elektrovalenten Anteil der ZO-Bindungen zur jeweils vorliegenden kovalenten Einfachhindung so ergibt sich insgesamt der ,,formale Bindungsgrad" der betreffenden ZO-Bindungen. Im Falle des Sulfat-Ions beträgt letzterer etwa mjn + 1 = j + 1 = 1.5, womit auch die SO-Bindungslänge von 1.51 Ä übereinstimmt die zwischen der kovalenten SO-Einfach- und -Doppelbindungslänge liegt. Entsprechend der Zunahme der Formalladung des Z-Atoms in Richtung S i O ü b e r und bis Cl0 4 erhöht sich der Bindungsgrad der ZO-Bindungen von 1.0 über 1.25 und 1.5 bis 1.75; in gleicher Richtung verkürzt sich die Bindungslänge von 1.63 Ä über 1.55 Ä und 1.51 Ä bis 1.46 Ä. Die XeO-Bindungslänge in Xe0 4 (XeOBindungsgrad 2.0) von 1.74Ä lässt sich allerdings nicht mit den ZO-Bindungslängen von SO 4 ~, TO Cl0 4 vergleichen, in welchen Z einer niedrigeren Elementperiode entstammt, sondern nur mit der IO-Bindung in IO 4 (1.78 Ä). Bei Komplexen wie XeO4, Cl0 4 oder SOj~ können allerdings die hohen ,,Formalladungen" der Zentralatome (4 + , 3+ bzw. 2 + ; vgl. f - h ) durch eine Polarisierung der ZO-Bindungen kompensiert werden. Die größere Elektronegativität des Sauerstoffs (3.50) im Vergleich zum Xenon (2.4), Chlor (2.83) oder Schwefel (2.44) bedingt jedoch, dass die effektiven Ladungen der Zentralatome auch im Ion noch kleine positive Werte besitzen (z.B. ca. 0.3+ in SO^~). In SO, S O und S O , die durch Kombination von S-Atomen (Elektronensextett) als Elektronendonatoren mit O-Atomen (Elektronensextett) hervorgehen, erlangen zunächst nur die Ligandenatome ein Elektronenoktett. Durch Betätigung freier Elektronenpaare an SO-re-Bindungen erreicht aber auch das Schwefelatom in den betreffenden Komplexen das erwünschte Elektronenoktett, wie im Falle von S O durch die Mesomerieformel (l) zum Ausdruck gebracht sei (für SO und S O vgl. das auf S. 132 und 136 bei 0 2 und 0 3 Gesagte):
I :0:
I :0:
ii :0:
Schwefeltrioxid (l) Somit sind die S- und O-Atome in Schwefeltrioxid S O , das mit Bortrifluorid B F isovalenzelektronisch ist (vgl. S. 137), durch kovalente Bindungen der Ordnung 1.33 verknüpft. Darüber hinaus führt der Elektronegativitätsunterschied der Bindungspartner zu effektiven positiven bzw. negativen Ladungen auf dem S-Atom bzw. O-Atom, sodass auch elektrovalente SOBindungen zu berücksichtigen sind, die zusammen mit den kovalenten Bindungen einen relativ kurzen SO-Abstand von 1.43 Ä bedingen. Letzterer ist ersichtlicherweise kürzer als der SOAbstand in (1.51 Ä; s. oben), was wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass im Zuge
154
VI. Der Molekülbau
der Bildung von S O ^ - aus S 0 3 (formal: S 0 3 + O 2 - -> SO2 — die Ordnungen der kovalenten SO-Bindungen von 1.33 auf 1.00 erniedrigt werden (in entsprechender Weise verlängert sich der BF-Abstand beim Ubergang vom B F 3 in BF4 von 1.30 auf 1.41 Ä). Früher erklärte man die vergleichsweise kurzen Bindungsabstände in den Komplexen (b)-(k) bzw. in S O sowie S O durch zusätzliche „Hingabe" (engl. „donation") freier Elektronenpaare vom negativen Liganden in elektronenunbesetzte d-Orbitale des positiven Zentralatoms unter Erweiterung von dessen Außenelektronenschale und formulierte Valenzstrichformeln wie etwa (m)-(o). -12 O o o, Sulfat-Ion (m)
Schwefeldioxid (n)
Schwefeltrioxid (o)
Tatsächlich beteiligen sich - laut ab initio Berechnungen - d-Orbitale nicht (bzw. nur in geringem Ausmaße) an den Bindungen der Partner in Elektronendonator-Komplexen. Im Prinzip kann man sich aber noch der alten Formulierungen bedienen, wenn man sich nur dessen bewusst bleibt, dass die Summe der Bindungs- und freien Elektronenpaare des Zentrums der Elektronendonator-Komplexe immer vier beträgt und dass die darüber hinaus durch Valenzstriche angedeuteten weiteren Elektronenpaare keine Symbole für kovalente, sondern für elektrovalente Bindungen darstellen.
1.2.3
Komplexbildung am Elektronendonatorakzeptor
Erfolgt die Komplexbildung z.B. am Xe-Atom (4 freie Elektronenpaare) in der Weise, dass sich dessen freie Elektronenpaare jeweils mit zwei F-Atomen verbinden, welche hierbei je 1 Elektron zur koordinativen Bindung beisteuern, so k o m m t es bei der Anlagerung von 2, 4, oder 6 F-Atomen formal zur Ausbildung einer 10er-, 12er bzw. 14er-Elektronenschale (Bildung von Xenon(II)-, Xenon(IV)- oder Xenon(VI)-fluorid).
Xenon(H)-fluorid
Xenon(IV)-fluorid
Xenon(VI)-fluorid
Hierbei treten wie ersichtlich, keine formalen Ladungen auf, da die auf das Xe-Atom entfallende Elektronenzahl gleich 8 ist (gebundene Elektronenpaare hälftig, freie Elektronen ganz zu Xe gerechnet), sodass die ,,Gesamtwertigkeit" ( , , O x i d a t i o n s s t u f e s . dort) hier gleich der Zahl der Bindungen ist. In analoger Weise wie das Xe-Atom vermag das I-Atom des Iodfluorids I F (3 freie Elektronenpaare), das Te-Atom des Tellurdifluorids TeF 2 (2 freie Elektronenpaare) und das SbA t o m des Antimontrifluorids S b F 3 (1 freies Elektronenpaar) je freies Elektronenpaar 2 FAtome zu binden unter Bildung der ,,hypervalenten"23 Endglieder Iod(VII)-, Tellur(VI)- und Antimon(V)-fluorid F I—F F ^ I ^ F F Iod(VII)-fluorid
F F \ l / F Te F I ^F Tellur(VI)-fluorid
F
I /F
F—Sb, I XF F
Antimon(V)-fluorid
23 hyper (griech.) = über, darüber hinaus, mehr als gewöhnlich; die p-Block-Zentralatome hypervalenter Verbindungen weisen mehr als 8 Elektronen auf.
155
1. Die Elektronentheorie der Valenz
Elektronendonatorakzeptor-Komplexe werden von Atomen oder Molekülatomen als Zentren mit freien Elektronenpaaren nur mit besonders elektronegativen Teilchen wie F 2 , Cl2, (OR)2 als Liganden gebildet. Bezüglich weiterer Einzelheiten über die Bindungsverhältnisse (polare Atombindungen) und die Struktur der betreffenden Komplexe (XeF2: gewinkelt; XeF 4 quadratisch-planar; XeF 6 : verzerrt-oktaedrisch; IF 7 : pentagonal-bipyramidal; TeF6: oktaedrisch; SbF 5 : trigonal-bipyramidal) vgl. S.365 und 316.
1.2.4
Komplexbildung am Elekronenakzeptor
Das Molekülzentrum Bor in Verbindungen B X 3 wie etwa B H 3 oder B F 3 wirkt als Elektronenakzeptor, da es im Sinne des auf S. 133 Besprochenen nur ein Elektronensextett aufweist. Es ist dementsprechend zur Erlangung eines Elektronenoktetts bestrebt, einen Elektronendonator wie H " , F ~ oder N H - unter Bildung der durch Valenzstrichformeln wiedergegebenen Komplexe (a)-(c) - anzulagern: H H—B—H | 1 _ H _
F — B— F
Tetrahydridoborat(HI)-Ion (a)
Tetrafluoroborat(III)-Ion (b)
" T
H
"
Hx
_
H
H—B—N—H
_
H
H
Amminboran (c)
/
/ Kx
H
\ B7
)
/ H
H
\
H
Diboran (d)
Das Bestreben der B-Atome in BH 3 nach Vervollständigung seiner Elektronenschale ist dabei so groß, dass sich zwei BH3-Moleküle im Sinne der Valenzstrichformel (d) zusammenlagern, indem sich die BAtome jeweils an einem BH-Bindungselektronenpaar des anderen BH3-Moleküls beteiligen und dadurch ein Elektronenoktett erlangen (im monomeren B F erfolgt die Auffüllung der Elektronenschale des Bors durch Betätigung der hier vorhandenen freien Elektronenpaare von F an den BF-Bindungen; vgl. S. 137). Wie sehr in der Tat die Vereinigung zweier BH3-Moleküle zur Stabilisierung von BH 3 beiträgt, ersieht man daraus, dass die Bindungsenthalpie AHf für BH 3 den Wert +100 kJ/mol und für ^ (BH 3 ) 2 den Wert + 18 kJ/mol besitzt, sodass die Dimerisierung von BH 3 also vergleichsweise exotherm ist: BH 3 ^(BH 3 ) 2 + 82 kJ. Zum Unterschied von den endständigen H-Atomen in Diboran (BH 3 ) 2 , die wie üblich mit einem B-Atom durch „Zweizentren-Zweielektronen-Bindungen" (2z2e-Bindungen) verbunden sind, erfolgt die Verknüpfung der mittelständigen H-Atome („Brückenwasserstoffatome") gleich mit zwei BAtomen durch ein Elektronenpaar, sodass also „Dreizentren-Zweielektronen-Bindungen" (3z2e-Bindungen) vorliegen. Da in (BH 3 ) 2 die Zahl zur Verfügung stehenden Außenelektronen zur Bildung von 2z2eBindungen nicht ausreicht, zählt man Diboran zur Klasse der „Elektronenmangel-Verbindungen". Man hat die 3z2e-Wasserstoffbrücken A - - H - A ' von H zwischen positivierten Bindungspartnern A und A' (H ist elektronegativer als B in B---H---B) früher auch als ,,anionische Wasserstoffbrücken" bezeichnet und sie damit von den auf S. 160 zu besprechenden ,,kationischen Wasserstoffbrücken" X—H-- :Y von H zwischen negativierten Bindungspartnern X und Y unterschieden (S. 164). Das H-Atom der 3z2e-Wasserstoffbrücken liegt typischerweise symmetrisch zwischen den Bindungspartnern und bildet mit diesen einen spitzen Winkel Im Unterschied zu den Verbindungen des Typs BX 3 , C X 4 und N X , deren Molekülzentren der ersten Achterperiode angehören und welche einen oder - in letzteren beiden Fällen keinen Elektronendonator zu koordinieren vermögen, lagern deren Verbindungshomologen mit Molekülzentren aus der zweiten oder einer höheren Achterperiode bis zu drei Liganden mit freien Elektronenpaaren an. Beispielsweise addieren A M 3 , SiF 4 oder S b F 3 maximal 3H~ oder 2 F " (vgl. e - g ; analog bildet A l F 3 mit F~ den Komplex A l F l ~ ) : H Hn3L/H AI H/ | XH H
F
X2L/
p/
F
| \F F
I \F F
Brx
/B+rx
/Br
Br/
x
x
Br/
Br
Hexahydridoaluminat(IH)-Ion
Hexafluorosilicat(IV)-Ion
Pentafluoroantimonat(III)-Ion
dimeres Aluminium(III)-bromid
(e)
(f)
(g)
(h)
156
VI. Der Molekülbau
Das Bestreben der Al-Atome in Al zur Koordination von Elektronendonatoren ist wiederum so groß, dass sich AlH3-Moleküle über ,,anionische" Al---H---Al-Brücken zusammenlagern. Wegen der Möglichkeit von Al in AlH 3 zur Addition von 3 Donatoren werden alle 3 H-Atome des Moleküls für 3z2e-Bindungen herangezogen, was zu einem „Polyalan" (AlH3) führt (ReO 3 -Struktur, vgl. S. 126). In analoger Weise bildet AlF 3 ein Polymer (AlF3)x, wogegen AlBr3 - als Folge der größeren räumlichen Ausdehnung von Br - Dimere (AlBr3)2 (h) ergibt, in welchen die Al-Atome der AlBr3-Moleküle jeweils eines der freien Elektronenpaare des anderen AlB -Moleküls koordinieren (eine intermolekulare Koor dination der freien Elektronenpaare ist hier und entsprechendes gilt für Al energetisch günstiger als eine intramolekulare Elektronenkoordination wie bei B F ) . Da die Zahl der zur Verfügung stehenden Außenelektronen in vorliegendem Falle für 2z2e-Bindungen ausreicht, ist (AlBr3)2 naturgemäß keine Elektronenmangelverhindung. Außer Atomen von Verbindungen erster Ordnung vermögen vielfach auch Atome von Verbindungen höherer Ordnung weitere Elektronendonatoren zu koordinieren, wie die Formeln (i)-(m) (Addukte von SbF 5 , IF Ö , I F 7 , X e F ö mit F~ bzw. S 0 3 mit O 2 ~ ) zum Ausdruck bringen (SO2" lässt sich mithin als Elektronendonator-Komplex von S 2 ~ + 4O (s. oben) oder als Elektronenakzeptor-Komplex von SO 3 + O 2 - beschreiben). " ^
F 1 yP Sb F I F F
F
F
F
F
F F
A
0
< > Xe
F"? F
Hexafluoroantimonat(V)-Ion (i)
^ F F
Octafluoroiodat(VII)-Ion (k)
F
\
2V
0
s
F
Octafluoroxenat(VI)-Ion (l)
Tetraoxosulfat(VI)-Ion (m)
Während Atome der Nichtmetalle in Verbindungen gegehenenfalls als Elektronenakzeptoren wirken, trifft letztere Eigenschaft für alle Kationen der Metalle zu. Beispiele sind etwa die aus den Ionen Li + , Be2 + , Mg2 + , Ba2 + und dem Elektronendonator H 2 O hervorgehenden Komplexe (n)-(q), die m a n als „Hydrate" (allgemein ,,Solvate"2 4 ): bei Koordination mit Donatoren wie Wasser, Ammoniak, Alkohol usw.) bezeichnet:
OH 2 I H 2O - Li | — OH 2
OH2 Tetraaqualithium(I)-Ion (n)
OH2 I H 2O - B! e - OH 22
OH2 Tetraaquaberyllium(II)-Ion (o)
+
H 2 O^ l +
H2O _
H2O
OH 2
„OH 2
Mg / i v
+
I OH2 OH2
Hexaaquamagnesium(II)-Ion (P)
HO \ + /Ba H2O -y
H2O
OH2 OH2 +
OH2 OH2
Octaaquabarium(II)-Ion (q)
Die weiter oben beschriebene Komplexhildung am Elektronendonator und -donatorakzeptor lässt sich formal auch als Komplexhildung am Elektronenakzeptor behandeln. So könnten die Komplexverbindungen und -ionen XeO4, C l 0 4 , SO2", TO2" und S i O d u r c h Koordination von jeweils 4 Oxid-Ionen O 2 " mit den als Elektronenakzeptoren wirkenden, positiv geladenen Zentral-Ionen Xe s + , Cl7 + , S 6 + , P 5 + und Si4+ entstanden sein. In analoger Weise könnten sich die Moleküle IF 7 , TeF6 oder SbF 5 aus den Ionen I7 + , Te6+ oder Sb5+ und 7, 6 oder 5 Fluorid-Ionen F~ aufbauen. Vielfach bevorzugt man letztere Betrachtungsweise, und zwar insbesondere dann, wenn das Zentralatom wie im Falle von Si oder Sb relativ elektropositiv ist oder wenn die Herkunft komplexer Nichtmetall-Kationen wie etwa XeF 3 , XeF5+, BrF 4 , IFg , Cl0 3 usw. gedeutet werden soll. Wie bei den Komplexen des Elektronendonator-Typs berechnet sich auch bei den Komplexen des Elektronenakzeptor-Typs die „Gesamtwertigkeit" (,,Oxidationsstufe" s. dort) der Zentralatome als Summe der Bindungs- und Formalladungszahlen (z.B. B in B H 4 oder B F 4 24 Solvo (lat.) = ich löse. Solvatation = Bildung von Solvaten mit dem Lösungsmittel.
1. Die Elektronentheorie der Valenz
157
4 - 1 = 3; Al in AlH ö oder : 6 - 3 = 3; Sb in S b F 2 " oder S W 6 : 5 - 2 = 3 oder 6 - 1 = 5; Li in L i ( 0 H 2 ) ^ : 4 - 3 = 1). Was die Bindungsverhältnisse betrifft, so sind die Donatoren in den Elektronenakzeptorkomplexen an Nichtmetall-Atomzentren durch mehr oder weniger polare Atombindungen und an Metall-Ionenzentren durch mehr oder weniger polarisierte Ionenbindungen (bzw. IonenDipol-Bindungen) geknüpft. Bezüglich Einzelheiten zu den in ersterem Komplextypus vorliegenden Kovalenzen (2z2e-, 3z2e-, 3z4e-Bindungen) vgl. das über gebundene Atome mit Elektronenoktett (S. 132, 364), mit Elektronenmangel (S. 155) oder mit Elektronenüberschuss (S. 365) an anderen Stellen Gesagte. Komplexe, bei denen die Bindung der Liganden (Anionen, D o n o r a t o m e in Molekülen wie H 2 0 , N H ) an die Metall-Kationen nicht durch Kovalenzen, sondern Elektrovalenzen erreicht wird, sind umso beständiger, je größer die Ladung des Zentralkations bzw. Donoranions oder das Dipolmoment (S. 147) der Donormoleküle ist und je kleiner der durch die Kationen- oder Anionenradien (S. 122, 128) bedingte Abstand ist, bis zu dem sich die Komplexpartner nähern können. Die formalen Ladungen der Elektronenakzeptorkomplexe (vgl. a-r) beschreiben - insbesondere im Falle weniger elektonegativer Komplexzentren die tatsächlich vorliegenden Ladungsverhältnisse nicht richtig. Z.B. beträgt die Formalladung von Be im Tetrafluoroberyllat-Ion BeF2", das man sich aus einem Be2 + -Kation und vier F"-Anionen entstanden denken kann, gleich 2 - , die sich mit dem Metallcharakter von Be naturgemäß nicht vereinbaren lässt (pro angelagertes F "-Ion wird dem Be2+-Ion formal 1 negative Ladung übertragen, während die Ladung von F~ verschwindet). Ein mesomerer Ladungsausgleich ist hier nicht möglich. Tatsächlich handelt es sich wegen der großen Elektronegativitätsdifferenz der Komplexpartner — xBe = 4.10 - 1.47 = 2.63), die einen 75%igen Ionencharakter der BeF-Bindungen bedingt (S. 147), nichtumpolare BeF-Atombindungen, sondern wahrheitsgetreuer um polarisierte Be2 + F~-Ionenbindungen, in die erstere durch reduktiven Ladungsausgleich übergehen. In Wirklichkeit wird nur j der Ladung jedes F "-Ions - also insgesamt 1 negative Ladung - auf das Be2 +-Ion übertragen, sodass es statt der formalen Ladungszahl 2 - die effektive Ladungszahl 1 + besitzt. In Übereinstimmung mit der Erwartung ist somit im BeF2"-Ion das zentrale Metall-Ion positiv und jedes der vier FluoridLiganden partiell negativ aufgeladen. Entsprechendes gilt für andere Elektronenakzeptor-Komplexe, die sich in der Regel aus weniger elektronegativen Zentren und elektronegativeren Liganden aufbauen Bezüglich der Strukturen der Elektronenakzeptor-Komplexe mit Nichtmetall-Zentren (B in BX4, H3BNH3, B 2 H 6 : tetraedrisch; SiF2" oktaedrisch; SbF2" quadratisch-pyramidal; SbF 6 ~: oktaedrisch; IFd", X e F 2 " antikubisch) vgl. S. 314. Die Zahl der vom Metall-Kationzentrum angelagerten Ionen oder Dipolmoleküle wird - einerseits von den Ladungsverhältnissen- andererseits durch den auf der 0berfläche des Zentralions zur Verfügung stehenden Platz und durch die Möglichkeit einer regelmäßigen Anordnung der - sich meist gegenseitig abstoßenden - Addenden bedingt. Die drei einfachsten Körper von hoher Symmetrie sind das Tetraeder, das Oktaeder und das Hexaeder (Würfel)25. Dementsprechend findet man je nach dem Größenverhältnis von Kation zu Addend vor allem die Koordinationszahlen 4 (vier Ecken eines Tetraeders besetzt), 6 (sechs Ecken eines 0ktaeders besetzt) und 8 (acht Ecken eines Antiprimas besetzt)25, während die sehr kleinen Koordinationszahlen 2 und 3 bzw. die ungeraden Koordinationszahlen 5, 7 und 9 viel seltener vorkommen.
1.3
Assoziate von Molekülen
N a c h Vereinigung der Atome zu valenzmäßig abgesättigten Verbindungen erster oder höherer 0 r d n u n g (S. 113, 150) als Folge der Wirkung ,,zwischen-atomarer Kräfte" (,,chemischer Kräfte") bleibt den betreffenden Verbindungsmolekülen noch die Fähigkeit, sich als Folge der Wirkung der - viel kleineren - ,,zwischen-molekularen Kräfte" („van-der-Waals-Kräfte" im
25 Tetraeder = Vierflächner (4 Ecken, 6 Kanten, 4 Dreiecksflächen), Hexaeder (Würfel) = Sechsflächner (8 Ecken, 12 Kanten, 6 Quadratflächen) und Oktaeder = Achtflächner (6 Ecken, 12 Kanten, 8 Dreiecksflächen) gehören neben dem Pentagondodekaeder = Zwölfflächner (20 Ecken, 30 Kanten, 12 Fünfecksflächen; vgl. S.871) und dem Ikosaeder = Zwanzigflächner (12 Ecken, 30 Kanten, 20 Dreiecksflächen; vgl. S. 871) zu den fünf so genannten ,,regelmäßigen Polyedern" („Platonische Körper"). Vom Pentagondodekaeder ist ein weiterer Zwölfflächner, das (Trigon-)Dodekaeder, zu unterscheiden (8 Ecken, 18 Kanten, 12 Dreiecksflächen; vgl. S.1059). Das Antiprisma stellt einen Würfel dar, bei dem gegenüberliegende quadratische Flächen um 45° gegeneinander verdreht sind. Die antiprismatische Koordination ist aus elektrostatischen Gründen günstiger als die kubische. („Polyederformel von L. Euler (1707-1783): Ecken Flächenzahl Kantenzahl 2.)
158
VI. Der Molekülbau
weiteren Sinne) zu „Assoziaten" („Aggregaten") dieser Moleküle zu vereinigen (gelegentlich werden Assoziate auch als „Komplexe" bezeichnet, z.B. CT-Komplexe, s. u.). Letztere Kräfte bedingen den Zusammenhalt der Moleküle in der kondensierten (seltener gasförmigen) Phase, sodass sie also die Struktur der Flüssigkeiten und Feststoffe mitbestimmen. Die schwachen zwischenmolekularen Kräfte (Bindungsenergien meist < 20 kJ/mol) stellen im gewissen Sinne Folgeerscheinungen der stärkeren zwischenatomaren Kräfte dar (Bindungsenergien meist > 2 0 0 kJ/mol; m a n vergleiche die auf extrem starken Wechselwirkungen beruhenden Bindungen der Quarks innerhalb der Nukleonen und - als Folgeerscheinung hierzu - die schwächeren Bindungen der Nukleonen untereinander in den Atomkernen, S. 86). Nachfolgend sei zunächst allgemein auf die zwischenmolekularen Bindungen von (ungeladenen oder geladenen) Molekülen begrenzter dreidimensionaler Ausdehnung eingegangen, die im Grenzfall in zwischenatomare Bindungen übergehen können. Anschließend sollen die durch teilweisen Protonenoder Elektronen-Transfer zwischen Molekülen hervorgehenden Assoziate als Beispiele eingehender besprochen werden
1.3.1
Die zwischenmolekulare Bindung
26
Bindungsmechanismen In derselben Weise, in der sich entgegengesetzt geladene Ionen untereinander anziehen (S. 122), können sich auch Ionen und Moleküle mit „permanenten Dipolmomenten" , sowie Dipolmoleküle untereinander anziehen und auf diese Weise Molekülaggregate bilden. Die K r a f t F, mit der dies geschieht, lässt sich für verschiedene Fälle durch folgende Gleichungen wiedergeben e
i
Ion/Ion
2
d
Reichweite ca. 500 Ä
on
ipol
V2
d3 ca. 15 A
ipol
ipol
d4 ca. 5 Ä
Ladung des Ions Dipolmoment Abstand der Ladungsschwerpunkte der Ionen bzw. Dipolmoleküle). M a n sieht daraus, dass die , , D i p o l k r ä f t e " bei gleichen Abständen d gemäß dem größenmäßigen Unterschied zwischen e und ji (vgl. S. 147) sehr viel kleiner als die ,,Ionenkräfte" sind und zudem mit wachsendem Abstand der Ladungen entsprechend der höheren Potenz von d sehr viel rascher abklingen als diese. Die vergleichsweise großen Anziehungskräfte zwischen Kationen und Anionen bedingen - wie besprochen - in jedem Falle chemische Bindungen zwischen den Teilchen. Die Wechselwirkungskräfte zwischen Ionen und Dipolmolekülen variieren jedoch mit der Größe und mit dem Abstand der Ladungen beachtlich und werden dementsprechend je nach ihrer Stärke als zwischenatomare oder -molekulare Bindungen klassifiziert. So sind die Bindungen zwischen den kleinen Kationen und Dipolmolekülen aufgrund der Möglichkeit, sich bis zu kurzen Abständen anzunähern, den chemischen Bindungen zuzurechnen (s. oben), während die Anziehungskräfte zwischen den größeren Anionen und Donormolekülen, die sich weniger weitgehend annähern können, zu den van-der-Waals-Bindungen gezählt werden. Die vergleichsweise kleinen und richtungsabhängigen auch als ,,Orientierungskräfte" bezeichneten Anziehungskräfte zwischen Dipolmolekülen untereinander liefern immer zwischenmolekulare Bindungen Auch ungeladene Teilchen ohne permanentes Dipolmoment können mit Ionen, Dipolmolekülen oder sogar ungeladenen dipollosen Teilchen in Bindungsbeziehung treten. So vermag etwa ein Ion oder ein Dipolmolekül die Elektronenhülle eines dipollosen Teilchen entsprechend seiner Polarisierbarkeit (,, Weichheit") a in ähnlicher Weise wie ein Kation die Elektronenhülle eines Anions zu deformieren (polarisieren). Hierdurch erlangt das betrachtete Teilchen (Edelgasatom, symmetrisches Molekül) ein mehr oder weniger großes „induziertes Dipolmoment" H und wird d a n n vom Ion bzw. von dem Molekül mit permanentem Dipol gebunden. Die anziehende Wechselwirkung dipolloser Moleküle (oder Atome) untereinander, welche in F o r m 26 Literatur. P.L. Huyskens, W.A.P. Luck: , Jntermolecular Forces", Springer, Berlin 1991; J.N. Israelachvili: „Intermolecular and Surface Forces", 2. Aufl., Acad. Press, London 2002.
1. Die Elektronentheorie der Valenz
159
der „London'schen Dispersionskräfte" den Zusammenhalt derartiger Teilchen (z.B. Edelgasatome, H 2 , C H 4 ) in der kondensierten Phase vermitteln, lässt sich in stark vereinfachender Weise mit einer Korrelation (Synchronbewegung) der durch das Umlaufen der negativen Atomelektronen um die positiven Atomkerne bedingten fluktuierenden Dipolmomente zurückführen (tatsächlich sind die Dispersionswechselwirkungen eine quantenmechanische Erscheinung). Die Kräfte F (van-der-Waals-Kräfte im engeren Sinne), welche die Anziehung zwischen den dipollosen Teilchen und den Ionen, Dipolen sowie zwischen den dipollosen Teilchen untereinander bewirken („London 'sehe Dispersionskräfte"), können durch nachfolgende Gleichungen wiedergegeben werden E1
lon/ind. Dipol
2
d5
ipol in
ipol
E1
Dispersion
I a 1 a2 d1
(e bzw. ^ = Ladung bzw. Dipolmoment der Teilchen, von denen das polarisierende Feld ausgeht; I = ^ I 2 / ( ^ ^ I 2 ) mit I I 2 = Ionisierungsenergien; d = Abstand der Ladungsschwerpunkte der Ionen bzw. Moleküle mit induziertem Dipol). Als Folge der hohen Potenzen von sind die betreffenden Anziehungskräfte von sehr kleiner Reichweite und auch vergleichsweise klein Die Dispersionskräfte nehmen als schwächste aller zwischenmolekularen Kräfte mit der Molekülmasse (richtiger Molekülvolumen) und der Zahl sowie Weichheit polarisierbarer Elektronen rasch zu. Demgemäß steigt etwa der Siedepunkt für Wasserstoff in Richtung zunehmender Masse (für H 2 /D 2 /T 2 = 20/23/25 K); auch haben fluorhaltige Verbindungen wegen der schlecht polarisierbaren Fluorelektronen vergleichsweise niedrige Siedepunkte (z.B. SF 6 /CCl 4 bei fast gleicher Masse = - 6 4 / + 77°C). Den besprochenen anziehenden Kräften i 7 anziehend wirken - wie bei der Ionenbindung (S. 122) bereits besprochen wurde - abstoßende Kräfte von der Größe .fabstoßen^ ~ B/J" der sich gegenseitig durchdringenden Elektronenhüllen der betrachteten Atome, Ionen, Dipole, dipollosen Molekülen entgegen. Tatsächlich ist der als ,,Austauschabstoßung" (engl. „exchange repulsion") bezeichnete Effekt eine Folge des Pauli-Prinzips, wonach die Annäherung von Elektronen gleichen Spins energetisch ungünstig ist. Erst die Summe der entsprechenden Energiebeiträge £ anziehend und £ abstoßend , die den erwähnten Kräften entsprechen, ergibt die Gesamtenergie welche im Sinne der Fig. 50 auf S. 123 beim Abstand d 0 ein Minimum durchläuft. Dieses liegt mit abnehmenden Anziehungskräften der betrachteten Teilchen bei wachsenden Abständen und ist d a n n auch abnehmend tief. Naturgemäß wirken im Falle der Bindungen zwischen den Ionen zusätzlich die erwähnten schwächeren Bindungen, die aber hier in erster Näherung vernachlässigt werden können Charakterisierung der Assoziate von Molekülen Die zwischenmolekularen Kräfte sind u. a. f ü r den Zusammenhalt der Moleküle („Kohäsion"21) sowie die Haftwirkung zwischen den Stoffen (,,Adhäsion"2i) verantwortlich und bedingen damit den Übergang der Gase in den flüssigen oder festen Zustand, den Widerstand der so gebildeten festen Stoffe gegen ein Zerbrechen, Zerreißen, Zerschneiden, die Viskosität der flüssigen Stoffe, die Wirksamkeit eines Klebers, die Adsorption von Stoffen an Grenzflächen (vgl. S. 1429) usw. (bei makromolekularen Stoffen sind die zahlreichen zwischenmolekularen Kräfte so groß, dass diese nicht ohne Spaltung chemischer Bindungen verdampfen). Besondere Formen der zwischenmolekularen Kräfte und zugleich Übergänge zu den chemischen Kräften stellen die nachfolgend bespro chenen, zu Protonendonatorakzeptor-Komplexen (,, Wasserstoffbrücken-Assoziaten") sowie zu Elektronendonatorakzeptor-Komplexen (,,charge-Transfer-Komplexen") führenden Wechselwirkungen dar. Charakteristisch für ersteren/letzteren Typ von Assoziaten ist der partielle Übergang von Protonen bzw. Elektronen von einem Teilchen auf seinen als Protonenakzeptor bzw. Elektronenakzeptor wirkenden Bindungspartner.
21 cohaerere (lat.) = zusammenhängen; adhaerere (lat.) = anhängen.
160
1.3.2
VI. Der Molekülbau
Wasserstoffbrücken-Assoziate 28,29
Allgemeines. Der Fluorwasserstoff H F sucht die sehr hohe Polarität seiner Bindung dadurch auszugleichen, dass sich - ganz im Sinne des oben Besprochenen - jeweils der positivierte Wasserstoff eines HF-Dipols an das negativierte Fluor eines anderen Dipolmoleküls lagert, wodurch Zick-Zack-Ketten (HF) X oder gewellte Ringe (HF) Ö gebildet werden, die in festem undflüssigem H F (in ersterem Falle ohne (HF) 6 -Ringe) vorliegen (die unterschiedlichen Elektronegativitäten Xh = 2.20 bzw. Xf = 4.10 bedingen HF-Bindungen mit hohen positiven bzw. negativen Partialladungen auf H bzw. F und damit ein hohes H F - D i p o l m o m e n t von 1.80 Debye). ö -
S -
F\ F:-
. '
H
F:-. H v -
F:-
H .••
\*
H
X:~--H—Y+
X: + H — Y
+
schwacher
(Partialladungen übersichtlichkeitshalber unberücksichtigt Das Ausmaß des Protonentransfers in einer H-Brücke wird durch die Protonen-Akzeptorfähigkeit der Partner X:~ und:Y bestimmt. Ist sie für X:~ deutlich größer als für :Y, so kommt es zur Ausbildung einer H-Brücke des Typs X—H--^Y mit langer gerichteter, elektrovalenter H-• -:Y-Bindung, ist sie für X:" deutlich kleiner als für :Y, so bildet sich eine H-Brücke des Typs X:" • • -H—Y + mit langer gerichteter, elektrovalenter X:---H-Bindung und (zusätzlich) mit einer Ionenbindung zwischen X~ und H Y + (z.B. RCOOH + NH 3 ^ RCOO:~---H—NH 3 ). Der Zusammenhalt der Partner geht in letzterem Falle naturgemäß wesentlich auf die sehr großen Coulomb-Energie der sich anziehenden Ionen und nur untergeordnet auf die viel kleinere Energie der H-Brücken zurück. Trotzdem bleiben die H-Brücken gerichtet, d. h. strukturbestimmend. Ist die Protonen-Akzeptortendenz für X:" und :Y etwa gleich groß, so bilden sich Brücken X—H—Y mit gerichteten, kovalenten X—H- und H—Y-Bindungen, in welchen die H-Atome eine Position zwischen X und Y einnehmen oder um die betreffende Position oszillieren („Flip-Flop-Brücken"; Übergang in eine Atomverbindung mit H-Brücken). Eine gute Voraussetzung für die Bildung solcher H-Brücken besteht naturgemäß dann, wenn die H-Brückenpartner identisch sind (Y = X), was zu Assoziaten des Typs HX 2 (positiv oder negativ geladen) führt. Beispiele für derartige ,,Solvate des Protons" sind etwa H(Hal) 2 , H(OH 2 ) 2 + , H(OH) 2 , H(NH 3 ) 2 + , H(NO 3 ) 2 , H ( C O 3 ) E n t s p r e c h e n d e Brücken bilden sich nicht nur inter-, sondern auch intramolekular aus (f), wobei in letzteren Fällen zudem mehrfach gegabelte H-Brücken beobachtet werden (g, h). O H
o
HC
II HC.
-C" II
,o
O
Ö J H2 H , C C-OlcC
\
H2
CH
\ x
H,C
©
I
©
O c /=° C
-N-—. / /
/CH2 CH 2
o
Hydrogenmaleinat (f)
1,3-Dioxanol-5 (g)
Hydrogennitrilotriacetat (h)
Eine Verringerung der Polarität bzw. Polarisierbarkeit von X—H und/oder :Y führt letztendlich zu H-Brücken mit sehr schwachen nicht gerichteten und unpolaren H-- • :Y-Dispersionsbindungenen (Übergang in eine ,,van-der-Waals-Verbindung" mit H-Brücken). Energieverhältnisse Die Energie der H-Brückenbindung X—H--^Y hängt von der Art der Partner X und Y ab, wie aus Tab. 23 hervorgeht. Ihr ist folgendes zu entnehmen Fluor, Sauerstoff sowie Stickstoff führen als Partner von H zu relativ starken H-Brücken, deren Elementhomologe sowie Kohlenstoff und auch Wasserstoff (s.u.) zu schwachen bis sehr schwachen H-Brücken (vgl. z.B. HO—H---OH 2 mit HS—H-"SH 2 bzw. H 2 N — H — O H mitH 3 C—H•••OH 2 ;Tab.23). Symmetrische H-Brücken sind stärker als vergleichbare asymmetrische H-Brücken (vgl. z.B. H 2 0—H—OH 2 und H 3 N—H•••NH 3 mit H 3 N—H---OH 2 ; Tab.23) und intramolekulare H-Brücken vielfach stärker als intermolekulare. Die HBrücken in neutralen Elementwasserstoffen verstärken sich (und werden zugleich symmetrischer) nach deren Protonierung oder Deprotonierung (vgl. z.B. HO—H---OH 2 mit H 2 0—H—OH 2 und HO—H—OH~; Tab. 23). Die Energie einer H-Brückenbindung X—H-":Y stellt keine integrale Eigenschaft des Protonendonators sowie -akzeptors dar und hängt demgemäß nicht ausschließlich von der Art, sondern auch vom Umfeld der Partner X undY ab. So weisen H-Brücken in Festkörpern wegen der Einflüsse der Umgebung keine optimalen Geometrien und damit keine maximalen Bindungsenergien auf (vgl. Tab. 23). Auch wird ein Elementwasserstoff durch Einbeziehung in eine Wasserstoffbrücke polarer und damit sowohl als Protonendonator als auch -akzeptor wirksamer, sodass also beide H-Brücken in einer Kette
1. Die Elektronentheorie der Valenz
163
Tab.23 Berechnete Dissoziationsenergien [kJ/mol] von H-Brücken für einige Dimere mit optimaler Geometrie in der Gasphase a) . H-Brücken-Dimer
-Energie
H-Brücken-Dimer
-Energie
163 138 100
HO HO NC
•Cl OH OH
56.6 20.3 15.9
HC
OH NH OH OH B
96 80 71
HO
B F 3 C - H - OH H2N—H- B
13.4 13.0 9.2
HS
F—H—F~
HO
H-Brücken-Dimer
HCC
-Energie
OH B CCH SH OH FCH
9.2 5.9 5.0 4.6 2.3 0.8
a) In Festkörpern weisen H-Brücken wegen der Einflüsse der Umgebung keine optimale Geometrie und damit keine optimale H-Brückenenergie auf. - b) Bz = Benzol C 6 H 6 (vgl. S. 137); das H-Atom des Protonendonators weist auf das n-System von C 6 H 6 . - c) N C H = Blausäure N = C — H . - d) HCCH/CCH~ = Acetylen H—C=C—H/Acetylid :C=C—HT.
X—H--- :Y—H"-:Z stärker sind, als sie es einzeln wären (z.B. Förderung der Aggregation polarer Elementwasserstoffe, vgl. HF, oben). Diesem als ,,o-Bindungs-Kooperativität" bezeichneten Effekt entspricht die ,,n-Bindungs-Kooperativität" von H-Brücken, die man etwa im Falle von Carbonsäuren RCO(OH) findet, deren Bindungszustand durch die Mesomerieformel (i) beschrieben wird. Nach Einbeziehen der O—H-Gruppen in eine O—H--^Y-Brücke wächst - im Sinne der Mesomerieformel (k) - das Gewicht der Grenzstruktur mit negativ-einwertigem Sauerstoff und damit die Fähigkeit der Carbonsäure zur Assoziation mit Protonendonatoren (letzter Effekt spielt eine wichtige Rolle für die Bildung der Sekundärstruktur von Proteinen; vgl. Lehrbücher der Biochemie). -
©
,o R—C^
— R—C
\
_
-
O
O
O—H
R—C
R—C
V O—H
o—H-:Y
/ N
O—H-:Y
(k) R C O O H - Y
(i) RCOOH
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass sich Doppelprotonendonatoren bzw. -akzeptoren wie H 2 O zu Ringen mit gleichlaufender (,,homodromer") und nicht entgegenlaufender (,,antidromer") Richtung der H-Brücken zusammenlagern, wobei die (H 2 O) 5 -Form (l) günstiger ist als die Form (m). H
O HO'
.H OH
H.
HO
OH
O - H —O H H
H O ••• H— O H H
(l) (H 2 O) 5
(m) (H 2 O) 5
Naturgemäß erhöht sich die Assoziationsenergie mit der Zahl der X—H--^Y-Brücken zwischen zwei betrachteten Molekülen. So bilden z.B. Carbonsäuren RCO(OH) (vgl. i) Dimere (vgl. S.903), indem die OH-Gruppe des einen Moleküls als Protonendonator jeweils in Wechselbeziehung mit der CO-Gruppe des anderen Moleküls als Elektronenakzeptor tritt (zusätzlich wird hierbei noch die erwähnte -Bindungs Kooperativität wirksam). Als weitere Beispiele seien die vier ,,Nucleobasen" Thymin, Adenin, Cytosin, Guanin genannt, welche in der Natur über phosphathaltige Zuckermoleküle (Desoxyribose) zu langen Ketten (,,Desoxyribonucleinsäuren" DNS; engl. DNA) verbrückt vorliegen. Zwei DNA-Stränge mit aufeinander abgestimmter Abfolge ihrer Nucleobasen sind dabei durch Wasserstoffbrücken zwischen Thymin und Adenin (n) sowie Cytosin und Guanin (o) (andere Kombinationen treten aus energetischen Gründen nicht auf) zu Doppelsträngen (,,Genen") vereinigt (vgl. S.915 und Lehrbücher der Biochemie):
164
VI. Der Molekülbau H
H H3C
P-H—N
//
\
HC
N—H-N
//
N—C
^O
H \
N
H
/
Thymin
W
J
//
C—N
HC
C=N
/
\ _ H - 0 ^
\\
/
C—C
^
/
CH
W
C —N
N ••• H — N
N—C
/
C— C
C=N
0---H—N \H Cytosin
Adenin
Guanin
(o)
(n)
Charakterisierung der H-Brückenverbindungen. Die Wasserstoffbrücken sind von außerordentlicher Bedeutung für die Struktur, Funktion sowie Dynamik vieler Stoffe der anorganischen und organischen Chemie, der Biochemie und Biologie, der Mineralogie, der supramolekularen Chemie, der molekularen Medizin und Pharmazie. Die H-Brücken bewirken u.a. ungewöhnlich hohe Schmelzpunkte, Siedepunkte, Verdampfungsenthalpien von HF, H O und N H 3 sowie von anderen OH- und NH-Gruppen enthaltenden Molekülen, außergewöhnliche Lösungseigenschaften von Wasser (s. dort), mangelnde Stabilität mancher Komplexe in protischen Lösungsmitteln, starke Haftungen von Textilmitteln (z.B. Farbstoffe) auf Fasern. Auch ist Leben auf der Erde nur durch Wasserstoffbrücken möglich geworden. Beispielsweise verursachen letztere die,,Anomalien des Wassers" (s. dort), welche die chemischen Lebensvorgänge im Medium Wasser erst ermöglichen (ohne Existenz von H-Brücken bei würde H 2 O bei — 90 °C schmelzen und bei — 80°C sieden). Zudem spielen die H-Brücken eine zentrale Rolle für die Strukturbildung der meisten lebensnotwendigen Stoffe (Gene, Proteine, Polysaccharide usw.), und sind darüber hinaus für die biologische Erkennung sowie die enzymatische Katalyse von größter Bedeutung Andere Typen von H-Brücken Der sehr hohe Schmelzpunkt des auf S. 1117 erwähnten Amminborans H 3 B—NH 3 ( + 114°C; zum Vergleich: für isoelektronisches Ethan H 3 C—CH 3 : Smp. — 181°C) deutet auf besondere Wechselbeziehungen zwischen den Amminboran-Molekülen hin, als welche „Diwasserstoffbrücken" erkannt wurden. Im Sinne der Formel (p) bildet hierbei die NH-Gruppe eines H 3 B—NH 3 Moleküls als Protonendonator zu einer BH-Gruppe eines anderen NH -Moleküls als Protonen akzeptor eine Wasserstoffbrücke aus, sodass also N- und B-Atom zweier Amminborane durch eine H 2 Brücke miteinander verknüpft sind. Anders als im Falle der „normalen" H-Brücke (q) weist der Protonenakzeptor diesmal kein ungebundenes Elektronenpaar auf, sodass dem Protonendonator nur das (7-Elektronenpaar der BH-Bindung verbleibt (sowohl B wie H ist in BH 3 des Amminborans negativ polarisiert). Letzter Sachverhalt erklärt den bei nahe 90 liegenden HHB-Winkel (der NHH-Winkel liegt nahe bei 180°). Ganz allgemein findet man H-•-H-Brücken zwischen NH- oder OH-gruppenhaltigen Molekülen als Protonendonatoren und Molekülen mit negativierten Element-Wasserstoff-Gruppen als Elektronenakzeptoren, wobei das Element ein Boratom (womöglich auch ein Borhomologes) oder ein Übergangsmetall (z.B. Ir, Re) sein kann. Die H--H-Abstände betragen 1.75-1.90Ä (van-der-WaalsAbstand zweier H-Atome > 2.40 Ä), die Bindungsenergien der Diwasserstoffbrücken 10-30 kJ/mol (im Falle von (p) 12.7 kJ/mol). H3 N % H
H
3
\
7
/
H
/ /
B-N-H-H H
(p) [ B H ^ N H J 2
Ö- (5+ Cl2TeIVMe2). Durch Licht (meist des sichtbaren Bereichs) lassen sich die Komplexe in einen angeregten Molekülzustand mit mehr oder minder vollständiger Ladungsübertragung auf das Akzeptormolekül überführen: ö ö+ , + A-:D ^ A-D CT-Komplexe zeichnen sich deshalb ganz allgemein durch intensive Farben, d. h. starke Lichtabsorption im Sichtbaren aus (vgl. die oben erwähnten braungelben und roten Iodlösungen). Die Bildung eines CT-Komplexes lässt sich infolgedessen am Auftreten einer neuen, für den Komplex charakteristischen, meist sehr breiten Absorptionsbande (vgl. S. 172) im sichtbaren bzw. ultravioletten Bereich (,,ChargeTransfer-Bande" oder kurz „CT-Bande") erkennen. Energieverhältnisse Die CT-Komplex-Bindung ist wie die H-Brücken-Bindung meist schwach. Die Bindungsenthalpien liegen im Bereich 5 - 50 kJ/mol. Naturgemäß wachsen die Bindungsenergien mit zunehmender Akzeptortendenz (Cl2 < Br2 < I 2 ) in Bezug auf einen bestimmten Donor und mit steigender Donortendenz (Benzol < organische Iodide, Alkohole, Ether, Ketone < organische Sulfide < organische Selenide < organische Amide) bezüglich eines bestimmten Akzeptors. Mit zunehmender Stärke der Komplexbindung nimmt die Ladungsübertragung vom Donor auf den Akzeptor zu. Ist letzterer ein Halogenmolekül, so verlängert sich in gleicher Richtung die Hal—Hal-Bindung und verkürzt sich die Hal- • -Donor-Bindung (vgl. hierzu Polyhalogenide, S. 446). Charakterisierung der CT-Komplexe CT-Komplexe sind von Bedeutung bei chemischen und photochemischen Reaktionen, welche häufig durch eine rasch erfolgende CT-Komplexbildung eingeleitet werden, (vgl. z.B. Hydrolyse von Hal 2 , S.446). Des Weiteren spielen sie in der Chemie der Antioxidantien, als Initiatoren spezieller Polymerisierungsreaktionen und im Zusammenhang mit der Frage nach organischen Metallen oder der Supraleitung (S. 1425) eine Rolle. Auch ist die EDA-Komplexbildung zur Deutung von Energie- und Stoff-Übertragungsprozessen in der Biochemie wesentlich. Eine Anwendung finden CT-Komplexe schließlich in der CT-Chromatographie (S. 10).
1.4
Kolloiddisperse Systeme^
Unter einem dispersen 3 3 System versteht man ganz allgemein ein aus zwei (oder mehreren) Phasen bestehendes System, bei welchem die eine Phase {„disperse Phase") in der anderen {„Dispersionsmittel") fein verteilt ist. Je nach dem Zerteilungsgrad (,,Dispersitätsgrad") der dispersen Phase unterscheidet man „grobdisperse", ,,kolloiddisperse" und ,,molekulardisperse" Systeme: Disperse Phase:
molekulardispers
kolloiddispers
grobdispers
Teilchendurchmesser
10000 Ä
(Übergänge zwischen 10-100 und 1000-10 000 Ä.) Da disperse Phasen der kolloiddispersen Systeme in gewissem Sinne verwandt mit den oben behandelten Assoziaten (Aggregaten) von Molekülen sind, sei nachfolgend kurz auf die - am besten untersuchten - flüssig-festen Systeme eingegangen.
32 Literatur. ULLMANN: „Colloids", A7 (1986) 341-367; D.J. Shaw: „Introduction to Colloid and Surface Chemistry", 3. Aufl., Butterworth, London 1980; R.J.P. Corriu, D. Leclercq:,,Neue Entwicklungen der Molekülchemie für Sol-GelProzesse", Angew. C h e m 108 (1996) 1524-1540; Int. E d 35 (1996) 1420; T. Hofmann: , K o l l o i d e C h e m i e in unserer Zeit 38 (2004) 24-35; M. Antonietti (Hrsg.): ,,Colloid Chemistry, I / I I " , Topics Curr. C h e m 226/227 (2003). 33 Das Wort kolloid (leimartig) leitet sich von kolla (griech.) = Leim ab, weil Leim - wie Th. G r a h a m 1860 erstmals feststellte - ,,kolloide" Lösungen zu bilden vermag; - dispergere (lat.) = verteilen; - solutio (lat.) = Lösung; - suspendere (lat.) = schweben; - emulgere (lat.) = ausmelken; - dialysis (griech.) = Trennung; - hydor (griech.) = Wasser; - lyein (griech.) = lösen; - philos (griech.) = Freund; - phobos (griech.) = Scheu; - gelare (lat.) = zum Erstarren bringen; - coagulare (lat.) = gerinnen lassen; - pepsis (griech.) = Verdauung; - thixis (griech.) = Berührung; - tropos (griech.) Wandlung
1. Die Elektronentheorie der Valenz
167
Vergleich grob-, kolloid- und molekulardisperser Lösungen Tyndall-Effekt Ist ein f e s t e r Stoff in einem f l ü s s i g e n Lösungsmittel so weit zerteilt, dass er in der Lösung nur in Form von E i n z e l m o l e k ü l e n oder in Form von Aggregaten weniger, miteinander verbundener (,,assoziierter") Moleküle vorliegt („Amikronen", Durchmesser bis 10 A = 10" 7 cm), so erscheint dieses molekulardisperse System sowohl dem b l o ß e n als auch dem b e w a f f n e t e n Auge als eine v o l l k o m m e n k l a r e F l ü s s i g k e i t . Wir sprechen dann von einer „echten Lösung". Liegt der Partikeldurchmesser im Bereich 100-1000 A ( 1 0 ~ 4 - 1 0 " 5 cm), so sind die Teilchen - auch unter dem Mikroskop - immer noch nicht sichtbar, da ihre Größe unterhalb der Wellenlänge des sichtbaren Lichts (400 bis 800 nm) liegt. Ein solches kolloiddisperses System, das man auch „kolloide Lösung" oder „Sol" 3 3 nennt, erscheint daher für r e l a t i v g r o b e U n t e r s u c h u n g s m i t t e l immer noch als hom o g e n e L ö s u n g . Dass hier aber gröbere Partikel als in einer echten Lösung vorliegen, kann man z. B. dadurch zeigen, dass man einen L i c h t s t r a h l durch die Lösung schickt. Während in e c h t e n L ö s u n g e n dieser Lichtstrahl bei seitlicher Beobachtung u n s i c h t b a r b l e i b t (,,optisch leere" Flüssigkeit), kann man in k o l l o i d e n L ö s u n g e n seinen G a n g v e r f o l g e n , da die kleinen festen Partikel das L i c h t nach allen Richtungen s t r e u e n , so dass seitlich eine l e u c h t e n d e T r ü b u n g zu beobachten ist (Fig. 59). Diese Erscheinung - die man auch im täglichen Leben beobachtet, wenn ein Sonnenstrahl in ein von Tabakrauch erfülltes dunkles Zimmer fällt - wurde von dem englischen Naturforscher Michael Faraday (1791-1867) im Jahre 1857 entdeckt und von dem englischen Physiker John Tyndall (1820-1893) näher untersucht und wird daher Faraday-Tyndall-Effekt genannt. Wegen der Kleinheit der kolloiden Teilchen sieht man bei diesem Effekt für gewöhnlich keine g e s o n d e r t e n P a r t i k e l c h e n , sondern nur ein d i f f u s e s Licht. Betrachtet man den Lichtkegel aber mit Hilfe eines besonders leistungsfähigen M i k r o s k o p s („Ultramikroskop"), so lässt sich bei Teilchengrößen bis herab zur Größenordnung von 100 Ä auch die Leuchterscheinung der e i n z e l n e n submikroskopischen Teilchen („Ultramikronen", „Submikronen") als L i c h t fleck beobachten.
kolloide Lösung r - ^
Linse
* Lichtquelle
Tyndall-Kegel
Fig. 59
Tyndall-Effekt.
Sind die in einem flüssigen Lösungsmittel verteilten festen Partikel größer als 10000 Ä („Mikronen"), so liegt ein grobdisperses System vor, das auch als „Suspension" 3 3 bezeichnet wird und dem Auge nicht mehr als klare, sondern als t r ü b e Lösung erscheint (die entsprechende grobdisperse Verteilung einer Flüssigkeit in einer Flüssigkeit nennt man „Emulsion"33. Entsprechend ihrer Mittelstellung zwischen echten Lösungen und grobdispersen Systemen lassen sich kolloide Lösungen entweder durch T e i l c h e n v e r k l e i n e r u n g grober Verteilungen („Dispersionsmethoden") oder durch T e i l c h e n v e r g r ö ß e r u n g molekulardispers gelöster Stoffe („Kondensationsmethoden") herstellen. Von D i s p e r s i o n s m e t h o d e n seien hier erwähnt: die m e c h a n i s c h e Z e r k l e i n e r u n g in der „Kolloidmühle", das Z e r s t ä u b e n v o n M e t a l l e l e k t r o d e n in einem übergehenden e l e k t r i s c h e n Bogen unter Wasser und die k o l l o i d e Z e r t e i l u n g durch,, Ultraschall"; bei der K o n d e n s a t i o n s m e t h o d e geht man zweckmäßig so vor, dass man die Bildung des gewünschten schwerlöslichen Stoffs in sehr v e r d ü n n t e r L ö s u n g oder bei Gegenwart von „Schutzkolloiden" (s. unten) vornimmt, wodurch die Vereinigung zu größeren Partikeln erschwert wird Die festen Teilchen einer kolloiden Lösung können ganz verschiedene - z. B. kugelige (Silber, Platin, Arsentrisulfid, Polykieselsäure), s c h e i b e n f ö r m i g e (gealtertes Eisenhydroxid), s t ä b c h e n f ö r m i g e (Vanadiumpentaoxid, Wolframsäure) - Gestalt haben. Filtration; Dialyse G r ö b e r e S u s p e n s i o n e n (Teilchengröße > 10000Ä) lassen sich leicht durch Pap i e r f i l t e r filtrieren, da die mittlere Porenweite solcher Filter 10000 Ä ( j ^ m m ) beträgt und größere Teilchen daher zurückgehalten werden. Dagegen laufen k o l l o i d e Teilchen (Teilchengröße 100-1000 Ä) glatt durch solche Filter hindurch, da ihr Durchmesser 10-100mal kleiner als diese Porenweite ist. Hier muss man sich zur Trennung von disperser Phase und Dispersionsmittel der sogenannten „Ultrafiltration" bedienen, bei welcher „Ultrafilter" (tierische, pflanzliche oder künstliche Membranen) mit einer mittleren Porenweite von 100 Ä zur Anwendung gelangen. E c h t e L ö s u n g e n (Teilchengröße < 10 Ä) laufen natürlich auch durch diese U l t r a f i l t e r hindurch. Daher benutzt man solche Ultrafilter auch zur T r e n n u n g v o n k o l l o i d u n d echt g e l ö s t e n S t o f f e n durch „Dialyse". Der hierbei benutzte Apparat („Dialysator")33 besteht im Prinzip aus einem unten mit einer M e m b r a n (z.B. Pergamentpapier oder Schweinsblase oder künstliches Ultrafilter wie Cellophan) verschlossenen zylindrischen Gefäß, das die zu dialy-
168
VI. Der Molekülbau Anode ©
Kathode ©
Elektrolytlösung
kolloide Lösung Membran
J_
Wasser _
Sol
Fig. 60 Dialysator.
Fig. 61 Elektrophorese.
sierende Lösung enthält und in ein weiteres, von reinem Wasser durchströmtes Gefäß gehängt wird (Fig. 60). Die echt gelösten S t o f f e diffundieren dann - unter dem Einfluss der Brownschen Bewegung - durch die Membran hindurch und werden von dem strömenden Außenwasser weggeführt, während die kolloid gelösten S t o f f e von der Membran zurückgehalten werden. Die Abnahme der Konzentration des diffundierenden molekulardispers gelösten Stoffs pro Zeiteinheit (,,Dialysegeschwindigkeit"v= — dc/dt) ist immer der gerade vorhandenen Konzentration c proportional: v = X - c (X = von der Temperatur, der Membran und der Schichthöhe der Lösung abhängiger ,,Dialysekoeffizient "). Da die Geschwindigkeit der Brownschen Bewegung und damit auch der Dialyse der Wurzel aus der Masse M der gelösten Teilchen umgekehrt proportional ist, gilt für zwei Stoffe A und B die Beziehung: X A ß B = ] / M b / M a . Man kann letztere Beziehung dazu benutzen, um die relative M o l e k ü l m a s s e eines gelösten Stoffes A zu ermitteln, indem man den Dialysekoeffizient des Stoffes bestimmt und mit dem Dialysekoeffizienten eines Stoffes B von b e k a n n t e r relativer Molekülmasse vergleicht
Beständigkeit kolloider Lösungen Die feinteilige, d.h. o b e r f l ä c h e n r e i c h e M a t e r i e hat infolge der an der Oberfläche vorhandenen freien Valenzen, ein großes Bestreben, ,,sich selbst zu adsorbieren", d. h. unter Energieabgabe in einen gröberen, o b e r f l ä c h e n ä r m e r e n Z u s t a n d überzugehen (S. 1440). Daher sollten kolloide wässerige Lösungen eigentlich instabil sein und zum ,,Ausflocken" neigen. Dass sie entgegen dieser Erwartung nicht spontan ausflocken, hat seinen Grund darin, dass die Vereinigung der kleinen Teilchen zu größeren bei kolloid auftretenden Stoffen durch G e g e n k r ä f t e behindert wird, unter denen vor allem die elektrische A u f l a d u n g und die U m h ü l l u n g mit W a s s e r m o l e k ü l e n zu nennen sind. Die letztere Art der Stabilisierung findet man vor allem bei den sogenannten ,,hydrophilen" (,,lyophilen", solvatokratischen")33, die erstere bei den sogenannten ,,hydrophoben" (,,lyophoben", elektrokratischen^')33 Kolloiden. Hydrophobe Kolloide Erstreckt sich das Adsorptionsvermögen kolloider Teilchen bevorzugt auf eine bestimmte, in der Lösung vorhandene I o n e n a r t , so laden sich alle Teilchen gleichsinnig auf. Die dadurch erfolgende gegenseitige elektrische A b s t o ß u n g verhindert dann den Zusammentritt der Teilchen zu größeren Verbänden und bedingt so die S t a b i l i t ä t des Sols. Die A u f l a d u n g kann z.B. durch Adsorption von W a s s e r s t o f f - I o n e n (z.B. bei Hydroxiden) oder von H y d r o x i d - I o n e n (z.B. bei Sulfiden) aus dem Wasser, aber auch durch Adsorption einer der Ionenarten bewirkt werden, aus denen die Moleküle der kolloiden Teilchen selbst bestehen (z.B. bei AgCl; vgl. S. 1457). Das Vorzeichen der Aufladung lässt sich leicht ermitteln, indem man das Sol in den unteren Teil eines U-Rohres einfüllt, die beiden Schenkel des U-Rohres vorsichtig mit einer Elektrolytlösung auffüllt und dann mit Hilfe zweier eingebrachter Elektroden eine kräftige Gleichspannung anlegt (Fig. 61). Je nach der positiven oder negativen Aufladung der kolloiden Teilchen w a n d e r t dann die Grenzschicht zwischen Sol und Lösung zur K a t h o d e oder A n o d e hin („Elektrophorese"). Auf diese Weise hat man z.B. festgestellt, dass M e t a l l h y d r o x i d s o l e wie F e ( O H ) 3 , C d ( O H ) 2 , A l ( O H ) 3 , C r ( O H ) 3 u n d M e t a l l o x i d s o l e wie TiO 2 , ZrO 2 , Ce0 2 meist positiv, Metallsole wie Au, Ag, Pt und Metallsulfidsole wie AS2S3, Sb 2 S 3 meist negativ geladen sind. Will man einen durch elektrische A u f l a d u n g stabilisierten kolloiden Stoff(etwa eine durch Einleiten von Schwefelwasserstoff in eine wässerige, nicht angesäuerte Arseniklösung gewonnene, tiefgelbe kolloide As 2 S 3 -Lösung) zum A u s f l o c k e n bringen, so muss man die abstoßende Ladung der kolloiden Teilchen beseitigen. Dies kann in verschiedener Weise geschehen. Ein häufig beschrittener Weg ist der Zusatz besonders gut adsorbierbarer, entgegengesetzt geladener I o n e n (im Falle des negativ geladenen
1. Die Elektronentheorie der Valenz
169
As 2 S 3 -Sols beispielsweise die Zugabe von H + -Ionen in Form verdünnter Salzsäure). Ganz allgemein sind daher Lösungen hydrophober Kolloide sehr e m p f i n d l i c h g e g e n ü b e r E l e k t r o l y t z u s a t z . Der Punkt, an dem die elektrische Ladung des Kolloids gerade kompensiert ist, heißt „isoelektrischer Punkt". Es ist leicht verständlich, dass m e h r w e r t i g e Ionen wegen ihrer größeren Ladung s t ä r k e r a u s f l o ckend wirken als einwertige. So verhalten sich die Mengen K + , Ba 2 + und A 3 + , die zur Fällung eines negativ geladenen Arsentrisulfidsols erforderlich sind, etwa wie 1000 : 10 : 1, und in gleicher Weise hängt z. B. die Ausflockung eines positiv geladenen Eisenhydroxidsols von der Wertigkeit der zugesetzten Anionen ab. Gibt man den zur Neutralisation verwendeten Elektrolyten ü b e r den i s o e l e k t r i s c h e n P u n k t h i n a u s zu, so gelingt es, die Teilchen - falls sie auch den neutralisierenden Elektrolyten zu adsorbieren vermögen - noch vor der Ausflockung u m z u l a d e n und auf diese Weise kolloid in Lösung zu halten, da die Ausflockung beim isoelektrischen Punkt eine gewisse Zeit erfordert. Bisweilen lassen sich die ausflockenden Ionen durch A u s w a s c h e n wieder beseitigen. Dann verläuft - falls nur ein schwacher innerer Zusammenhang in den Flöckchen besteht der eben geschilderte Vorgang der Ausflockung wieder r ü c k w ä r t s , und der gefällte Niederschlag geht wieder k o l l o i d in Lösung. Man beobachtet diese der Ausflockung entgegengesetzte Erscheinung häufig beim Auswaschen gefällter Sulfide und Halogenide. Eine andere Möglichkeit der A u s f l o c k u n g besteht im Zusammengeben eines positiv und eines negativ geladenen Kolloids. Sind die beiden Sole - z.B. Eisenhydroxid- und Arsentrisulfidsol - in elektrisch ä q u i v a l e n t e n M e n g e n vorhanden, so flocken sie sich gegenseitig vollständig aus, sodass oberhalb des Niederschlags reines Wasser stehenbleibt. Ist eines der Kolloide im Ü b e r s c h u s s vorhanden, so behält die Lösung oberhalb des Niederschlags die Ladung des überschüssigen Kolloids. Bringt man zwei positiv oder zwei negativ geladene Sole zusammen, so findet selbstverständlich keine Ausflockung statt. Hydrophile Kolloide Bei den h y d r o p h i l e n K o l l o i d e n wirkt weniger die e l e k t r i s c h e A u f l a d u n g als vielmehr die U m h ü l l u n g mit W a s s e r m o l e k ü l e n (,,Hydratation") stabilisierend auf die kolloid gelösten Teilchen. Denn hydrophile Kolloide haben ein großes Bestreben, W a s s e r m o l e k ü l e zu a d s o r b i e r e n , welche die Vereinigung der Kolloidteilchen zu gröberen Partikeln verhindern. Dieses Bestreben zur Anlagerung von Wasser kann so weit gehen, dass - wie z. B. bei konzentrierten Polykieselsäure- oder Aluminiumhydroxidlösungen - das Sol zu einer g a l l e r t a r t i g e n , w a s s e r r e i c h e n M a s s e »Gel") 33 erstarrt, welche falls keine Alterserscheinungen (chemische Teilchenvergrößerungen wie bei der Polykieselsäure S. 924) eingetreten sind-beim Verdünnen mit Wasser wieder zu einem Sol gelöst werden kann (,,reversible Kolloide"): ,,Koagulation"33
Sol
Gel.
,,Peptisation"33
Solche hydrophile Kolloide sind dementsprechend viel weniger empfindlich gegenüber Elektrolytzusätzen als hydrophobe Kolloide und werden nur durch relativ große Mengen von Salzen ausgeflockt, wobei letztere wasserentziehend wirken In den Gelen haben wir uns unregelmäßige, von Lösungsmittel,,durchtränkte", weitmaschige Gerüste aus kolloiden Bauteilchen vorzustellen, die an einzelnen Punkten durch van der Waalssche oder chemische Kräfte miteinander verbunden sind. Infolge der geringen Zahl der Verknüpfungsstellen genügt bisweilen - bei Vorliegen schwacher Bindungen - ein bloßes S c h ü t t e l n des Gels, um diese lokalen Bindungen zu lösen und damit das Gel zu v e r f l ü s s i g e n (Erscheinung der „Thixotropie")33. Nach Aufhören der mechanischen Störung treten im Laufe längerer oder kürzerer Zeit die verknüpfenden Bindungen erneut auf, sodass das Gel wieder e r s t a r r t . H y d r o p h o b e K o l l o i d e (z.B. Metallsole) lassen sich zum Unterschied von hydrophilen Kolloiden (z.B. Metallhydroxidsole) nach der Ausflockung nicht wieder in den Solzustand zurückversetzen (,,irreversible Kolloide"), da infolge des Fehlens einer schützenden Wasserhülle die Koagulation zu einer stabilen Teilchenvergrößerung führt. Will man diese Teilchenvergrößerung vermeiden, so muss man die kolloide Lösung des hydrophoben Kolloids durch Z u s a t z eines a d s o r b i e r b a r e n h y d r o p h i l e n Kolloids („Schutzkolloid") stabilisieren. Denn dann nehmen die Teilchen des h y d r o p h o b e n K o l l o i d s durch Adsorption des hydrophilen Kolloids den Charakter eines h y d r o p h i l e n K o l l o i d s an. So kann man z.B. k o l l o i d e s Silber durch Zusatz e i w e i ß a r t i g e r S t o f f e wasserlöslich erhalten („Kollargol"). (Vgl. hierzu auch ,,Cassiusschen Goldpurpur", S. 1469, 1480.)
170
2
2.1
VI. Der Molekülbau
Molekülspektren3 4
Überblick
Möglichkeiten der Molekülanregung Viel komplizierter als die Atomspektren (S. 100) sind die Molekülspektren. Denn im Falle von Molekülen können ja bei Energiezufuhr außer Elektronensprüngen auch Rotationen (Drehbewegungen) der Moleküle und Oszillationen (Schwingungen) der Atome innerhalb der Moleküle angeregt werden (vgl. hierzu spezifische Wärmekapazität, S. 40). A m leichtesten gelingt die Anregung von Molekülrotationen. Die dazu erforderlichen Energiebeträge (ca. 0 . 0 0 1 - 1 kJ/mol) entsprechen den Energiegehalten der Lichtquanten des Mikrowellenbereichs und des langwelligen Infrarots (1 ca. 100-0.1 mm; vgl. Fig.62). Daher findet m a n in diesem Wellenbereich der Molekülspektren die „Rotationsspektren11, wobei die Frequenzen der Rotationsspektrallinien durch die zwischen den verschiedenen Rotations energiezuständen des Moleküls bestehenden Energiedifferenzen gemäß h • v = | E | n a c h — | E | vor (vgl. Atomspektren) gegeben sind. Die Anregung von Molekülschwingungen erfordert Energiemengen, wie sie im Wesentlichen in den Energiequanten des Infrarots und des langwelligen sichtbaren Bereichs vorliegen (ca. 0 . 1 - 2 0 0 kJ/mol, entsprechend 1 ca. 1000-0.6 (im; Fig. 62). Somit findet m a n im infraroten Wellenbereich die „Schwingungsspektren". Die Molekülelektronenanregungen treten schließlich im sichtbaren und kürzerwelligen Gebiet auf. Wie bei den Atomen, unterscheidet m a n auch bei den ,,Elektronenspektren" zwischen den Spektren der inneren Elektronen, die nur durch Z u f u h r von Photonen im Energiebereich der Röntgens t r a h l e n ^ 5000 kJ/mol, e n t s p r e c h e n d ! < 1 nm) angeregt werden können, und den Spektren der äußeren Elektronen, die durch Absorption von Lichtquanten im sichtbaren und ultravioletten Bereich in Zustände höherer Energie übergeführt werden (ca. 150-5000 kJ/mol, entsprechend 1 ca. 8 0 0 - 1 nm); Fig. 62). Neben den Rotations-, Schwingungs- und Elektronenspektren der Moleküle sind unter den Molekülspektren die ,,Kernresonanzspektren" sowie die ,,Elektronenspinresonanzspektren" chemischer Verbindungen von Bedeutung. Wie im Falle der anderen spektroskopischen Methoden, nimmt die Substanzprobe auch bei der Kern- bzw. Elektronenspinresonanz-Spektroskopie aus der angebotenen elektromagnetischen Strahlung Energiequanten bestimmter Größe auf (in ersterem Falle nur bei Vorliegen eines Kernspins, vgl. S. 274). Sie dienen hier zur Anregung von Atomkernen bzw. Elektronen, und zwar hinsichtlich der Ausrichtung ihres magnetischen Spinmoments in einem äußeren Magnetfeld. Voraussetzung ist mithin, dass die Verbindungsprobe einem (möglichst starken) homogenen Magnetfeld ausgesetzt ist und dass die Kerne der Molekülatome ein magnetisches Moment besitzen (Kernresonanz-Spektroskopie) bzw. dass die untersuchten Moleküle ungepaarte Elektronen aufweisen (Elektronenspinresonanz-Spektrosko pie). Bei dem in gängigen Kern- bzw. Elektronenspinresonanz- Spektrometern erreichten Induktionen von einigen Tesla liegen die zur Kernanregung benötigten Energiequanten im Radiowellenbereich (Me 3* Literatur. Rotationsspektren H.W. Kroto: „ Molecular Rotation Spectra", John Wiley, London 1975; C.H. Townes, A.L. Schawlow: „Microwave Spectroscopy", Dover, New York 1975; D. Christen: „Determination of Molecular Structure by Microwave Spectroscopy and Electron Diffraction", Elsevier, Amsterdam 1983. Schwingungsspektren. G. Herzberg: , Jnfrared and Raman Spectra of Polyatomic Molecules", Van Nostrand, New York 1966; E. B. Wilson jr., I.C. Decius, P.C. Cross: „Molecular Vibrations", New York 1955; H. Siebert: „Anwendung der Schwingungsspektroskopie in der anorganischen Chemie", Springer Verlag, Berlin 1966; J. Brandmüller, H. Moser: ,Einführung in die Ramanspektroskopie", Darmstadt 1962; J. Weidlein, U. Müller, K. Dehnicke: „Schwingungsspektroskopie Eine Einführung", Thieme, Stuttgart 1982; H. Günzler: „IR-Spectroscopy", VCH, Weinheim 2000. Elektronenspektr e n A.B.P. Leber: „ Inorganic Spectroscopy", Elsevier, Amsterdam 1968; G. Herzberg: „ Elektronic Spectra of Polyatomic Molecules", Van Nostrand, London 1966; B. G. Ramsey: „Electronic Transitions in Organometalloids", Academic Press, New York 1969; C.R. Brundle, A.D. Baker (Hrsg.): ,,Electron-Spectroscopy: Theory, Techniques and Applications", Volume I-IV, Academic Press, London 1977-1981. Elektronenspinresonanz K. Scheffler, H. B. Stegmann: „Elektronenspinresonanz", Springer Verlag, Berlin 1970; G. Gerson: ,,Hochauflösende ESR-Spektroskopie", Verlag Chemie, Weinheim 1967; D.J. Lowe: „Endor and EPR of metalloproteins", Landes, Berlin 1995. Kernspinresonanz H. Günther: „NMR-Spektroskopie" 2. Aufl., Thieme, Stuttgart 1983; H. Friebolin: „Ein- und Zweidimensionale NMR-Spektroskopie", Verlag Chemie, Weinheim 1988; A.E. Derome: „Modern NMR-Techniques for Chemistry Research", Pergamon, Oxford 1987; R . R . Ernst, G. 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2. Molekülspektren
171
Fig.62 Rotations-, Schwingungs-, Elektronen-, Kernresonanz- und Elektronenspinresonanzspektren von Molekülen im Spektrum der elektromagnetischen Wellen
terbereich; v um 108 Hz; Fig. 62), die zur Elektronenspinanregung erforderlichen Quanten im Mikrowellenbereich (Millimeterbereich v um 1010 Hz; Fig. 62). Anwendungen Die Molekülspektren stellen ein wichtiges Hilfsmittel zur Klärung von Struktur- und Bindungsfragen dar. So kann man den Rotationsspektren (,,Mikrowellenspektren") einfach gebauter Moleküle etwa Aussagen über die Trägheitsmomente der Moleküle entnehmen. In besonders günstigen Fällen (z. B. bei dreiatomigen Molekülen ABA) lassen sich dann aus dem Trägheitsmoment eines Moleküls die Bindungslängen und -winkel mit hoher Präzision bestimmen. Voraussetzung für eine messtechnisch ausreichend intensive Absorption von Mikrowellen durch ein Molekül ist, dass dieses ein Dipolmoment aufweist. Aus diesem Grunde lassen sich Mikrowellen zur Ortung von Flugkörpern nutzen („Radarstrahlen"), da die wesentlichen Bestandteile der Luft (O2, N 2 , Edelgase, C0 2 ) kein Dipolmoment besitzen und deshalb die Mikrowellen nicht absorbieren. Aus Zahl, Lage und Intensität der in den Schwingungsspektren (in Form von „Infrarot"- und „Ramanspektren") beobachtbaren Banden lassen sich ebenfalls Aussagen über die Symmetrie (S. 180) und die Struktur (Atomfolge, Bindungswinkel, Bindungsenergie) der untersuchten Moleküle machen. Der Wert der Elektronenspektroskopie („Ultraviolettspektroskopie") sowie auch der Elektronenspinresonanzspektroskopie (ESR; ,,elektronenparamagnetische Resonanz" EPR) von Molekülen liegt u. a. darin, dass sich diese Messmethoden vorzüglich dazu eignen, die Ergebnisse quantenmechanischer Rechnungen zu überprüfen. Durch eine derartige Korrelation zwischen Theorie und Experiment hat man erkenntnisreiche Einblicke in die elektronische Struktur bestimmter Verbin dungsklassen gewonnen, z.B. in die Klasse der theoretisch relativ leicht zu behandelnden zweiatomigen Moleküle, in die Klasse der Moleküle mit Mehrfachbindungssystemen, in die Klasse der ÜbergangsmetallKomplexverbindungen (S. 1315) oder in die Klasse der Radikale. Die Kernresonanzspektroskopie (,,kernmagnetische Resonanz" KMR; ,,nuclear magnetic resonance" NMR) ermöglicht schließlich wertvolle Einsichten in Bindungsarten und die räumliche Atomaufteilung in Molekülen; auch gestatten sie schnelle reversible Reaktionen zu untersuchen
2.2
2.2.1
Farbe chemischer Stoffe 35
Allgemeines
Farben faszinieren den Menschen seit alters her und lösen in ihm sowohl psychologische wie ästhetische Sinneserlebnisse aus (man denke nur an die Mode, die Architektur, die Gebrauchs35 Literatur K. Nassau: ,, Wie entstehen Farben!", Spektrum der Wissenschaft, Dezember (1980) 65-81; W. Kaim, S. Ernst, S. Kohlmann: ,,Farbige Komplexe: das Charge-Transfer Phänomen", Chemie in unserer Zeit, 21 (1987) 50-58.
172
VI. Der Molekülbau
KomplementärFarbe
blau grün 12000
14000
600 I gelb
16000
500 I Metall-CT-Übergänge"), die wie im Falle von hydratisiertem blutrotem [Fe(SCN) 3 ] zu sogenannten ,,Metallreduktionsbanden" im UV-Spektrum führen, und Prozesse vom Typus e M e t a i i ^e L i d („MetalleLigand-CT-Übergänge"), die wie im Falle von rotem [Fe(2,2'-Bipyridyl) 3 ] 2 + ,,Metalloxidationsbanden" verursachen. Enthält ein Komplex wie das blaue Ion [Fe n Fe n l (CN) 6 ]" {„Berliner Blau") unterschiedlich oxidierte Metallzentren, so kann sich der ,,charge transfer" darüber hinaus zwischen zwei Metallzentren M und M' abspielen („MetalleMetall-CT-Übergänge"). Auch das Mineral „Magnetit" Fe"Fe'.J'O.j (schwarz) und der Edelstein „Saphir" (blau), einem Mineral der Zusammensetzung A1 2 0 3 , in welchem dreiwertiges Aluminium AI3+ in kleiner Menge durch Fe 2 + /Ti 4 + ersetzt ist, verdanken ihre Farbe solchen Metall-»Metall-CTÜbergängen. Schließlich kann ein Elektronentransfer zwischen zwei Liganden L und L in gemischt-koordinierten Komplexen ML„L^ erfolgen (,,Ligand->Ligand-CT-Übergänge"), wenn eine Ligandensorte Elektronendonator-, die andere Sorte Elektronenakzeptor-Eigenschaften aufweist. Hierbei kommt dem Metallzentrum allerdings keine wesentliche Bedeutung zu. Demgemäß beobachtet man derartige CTÜbergänge auch zwischen zwei Molekülen, die aufgrund ihres Elektronendonator- und -akzeptor-Charakters über zwischenmolekulare Bindungen verknüpft sind. Tatsächlich sind DonatorsAkzeptor-CTÜbergänge vielfach für die intensiven Farben von Mischungen elektronenliefernder und -aufnehmender Moleküle verantwortlich (z.B. braune Lösungen von ,,Iod" in „Alkohol"; vgl. S. 165).
Farbe von Festkörpern Als Beispiele farbiger Festkörper (s. dort) wurden weiter oben bereits Ionenverbindungen („Salze"; S. 120) besprochen, deren Farben auf eine Anregung lokalisierter Elektronen bestimmter Zentren (Übergangsmetallionen, F-Zentren) bzw. einen Elektronenübergang zwischen unterschiedlich oxidierten Zentren im Festkörper zurückgehen Vielfach beruht die Farbe fester Körper wie etwa die der Metalle (S. 113) aber auf einer Anregung nicht-lokalisierter („delokalisierter") Elektronen, d.h. Elektronen, die sich als „Elektronengas" innerhalb des ganzen Festkörpers mehr oder weniger frei bewegen (bei den weiter oben besprochenen Teilchen mit konjugierten Doppelbindungen bestand diese freie Beweglichkeit innerhalb der betreffenden Moleküle). Die ,,delokalisierten" Elektronen der Metalle (um 10 23 Atome pro c m ) besetzen dabei paarweise mit entgegengesetztem Spin über den Festkörper delokalisierte Energiezustände (Molekülorbitale; vgl. Atomorbitale S. 332). Ein Metall weist eine ungeheuer große Zahl derartiger Zustände auf, wobei die Energieniveaus der einzelnen Zustände lückenlos übereinander liegen. Sie bilden ein kontinuierliches, sich über einen bestimmten Energiebereich erstreckendes Band („Energieband"), das beim absoluten Temperaturnullpunkt ausgehend vom energieärmsten Energieniveau bis zu einer bestimmten Energie („Fermi-Energie", „Fermi-Grenze"; benannt nach dem italienischen Physiker Enrico Fermi) mit Elektronen gefüllt ist (vgl. hierzu auch S. 1420). Durch Lichteinwirkung werden die Metallelektronen in einen elektronenleeren Zustand oberhalb der Fermi-Grenze gehoben. Da auch die elektronenleeren Niveaus innerhalb eines weiten Energiebereichs dicht übereinander liegen, kann ein Metall Strahlung jeder Wellenlänge absorbieren und wieder emittieren. Letzterer Vorgang verleiht ihm seinen typischen silberigen Glanz. Dass hiervon abweichend Cu und Au farbig sind, beruht wohl darauf, dass die Zahl der Zustände vergleichbaren Energieinhalts („Zustandsdichte") oberhalb der Fermi-Grenze unterschiedlich ist, womit Licht unterschiedlicher Wellenlängenbereiche unterschiedlich stark absorbiert und wieder emittiert wird (vgl. bzgl. Gold auch S. 1471). Hochmolekulare Atomverbindungen (S. 131) weisen statt eines ,,breiten" zwei oder mehrere „schmälere", durch „Energielücken" („Bandlücken") getrennte Bänder auf. Die energieärmeren Bänder („Valenzbänder") sind vollständig mit Elektronen besetzt, die energiereicheren Bänder („Leitungsbänder") leer. Im Falle von „Diamant" C^ beträgt der Abstand zwischen dem elektronenbesetzten und -unbesetzten Band 5.4 eV = 43 600 cm~1 Somit benötigt man zur Anregung der Diamantelektronen unsichtbares „Röntgenlicht"; Diamant ist farblos. Festkörper aus dem Übergangsbereich zwischen Metallen und Atom- bzw. Ionenverbindungen (Halbleiter, S. 148) weisen ebenfalls Energiebänder auf. Diese sind aber durch vergleichsweise kleine Lücken voneinander getrennt, sodass die betreffenden Stoffe häufig bereits mit sichtbarem Licht in Wechselwirkung treten („Heben" eines Elektrons vom Valenz- in das Leitungsband). Ist der Bandabstand < 12500 c m - ^ 1.6 eV), so absorbiert der Halbleiterdas gesamte sichtbare Licht und erscheint - falls er das absorbierte Licht wieder vollständig im gleichen Wellenzahlenbereich emittiert - metallisch glänzend (z.B. Si,: Bandabstand 1.09 eV; vgl. S.1420), ansonsten schwarz (z.B. CdTe: Bandabstand 1.6 eV). Ent-
3. Laser und Anwendungen
177
spricht andererseits der Bandabstand des Halbleiters der Energie sichtbaren Lichts (ca 12500-25000 cm"i = 1.6 — 3.1 eV), so erscheint er farbig wie z.B. gelbes CdS („Cadmiumgelb"; Bandabstand 2.6 eV), rotes HgS („Zinnober"; Bandabstand 2.1 eV). Man beschreibt die farbgebende Absorption von Halbleitern M X wie CdS, CdSe, HgS häufig einfach als,,charge-transfer-Übergänge" zwischen M und X (vgl. weiter oben sowie S. 1374). Ein,,farbloser" Halbleiter (Bandabstand > 25000 c m " 1 > 3.1 eV) lässt sich durch Ersatz einiger seiner Atome durch außenelektronenärmere oder -reichere Fremdatome (,,Dotierung") ,farbig machen", falls die Energieniveaus der fehlenden oder überschüssigen Fremdatomelektronen in der Energielücke zwischen Valenz- und Leitungsband des Halbleiters liegen. Es werden dann Elektronenübergänge vom Valenzband in leere Fremdatomzustände oder von Fremdatomelektronen in das leere Leitungsband möglich (vgl. S. 1424). Beispielsweise erscheint Boratom-dotierter Diamant blau (,,Wittelsbacher Diamant" der Bayerischen Krone), Stickstoffatom-dotierter Diamant gelb-grün (,,Tiffany-Diamant").
3
Laser und Anwendungen 38,39
Z u m Betrieb eines Lasers können chemische Stoffe wie etwa die in Fig. 67 wiedergegebenen Elemente und Verbindungen als aktives ,,Lasermedium" dienen. Wegen der großen Bedeutung der Laser-Technik u. a. für die Werkstoffbearbeitung, Medizin, Messtechnik, Datenübertragung oder Informationstechnik sei nachfolgend kurz auf Funktionsweisen und Anwendungsbereiche der Laser eingegangen Allgemeines. Ein Laser stellt einen Energieumwandler dar, der niederwertige (ungeordnete, entropiereiche) eingespeiste thermische, optische, elektrische oder chemische Energie unter Energieverlust in hochwertige (wohlgeordnete, entropiearme) Strahlungsenergie hoher Dichte umwandelt (engl, light amplification by stimulated emission of radiation; Abkürzung: ,,Laser")3 8 . Die als ,,Lichtverstärkung" (stimulierte E m i s s i o n 4 0 bezeichnete Energieumwandlung beruht darauf, dass im Laser angeregte Atome, Ionen oder Moleküle M* in sehr hoher Konzentration durch ein spontan gebildetes40, den Laser mit Lichtgeschwindigkeit durchlaufendes Photon (vgl. Fig. 66 a) zur ( p r a k t i s c h gleichzeitigen Abgabe von Photonen veranlasst werden, wobei die zusätzlich gebildeten Photonen in ihrer Energie, Ausbreitungsrichtung sowie Phase
38 Literatur. W. J. Jones: , L a s e r s " , Quart. Rev. 23 (1969) 73-57; U. Schindewolf: „Der Laser und seine Anwendungen in der Chemie", Chemie in unserer Zeit 6 (1972) 17-26; K.L. Kompa: „Chemical Lasers", Topics Curr. Chem. 37 (1973) 1 - 9 2 ; A. Beu-Shaul, Y. Haas, K. L. Kompa, R. D. Levine: ,,Lasers and Chemical Change", Springer, Berlin, Heidelberg, New York 1981; W. Brunner, K. Junge: „Lasertechnik - Eine Einführung", Hüthig, Heidelberg 1982; K. Kleinermanns, J. Wolfram: ,,Laser in der Chemie - wo stehen wir heute?", Angew. C h e m 94 (1987) 38-58; Int. E d 26 (1987) 38; F. Kneubühl, M. Sigrist: ,,Laser", Teubner, Stuttgart 1988; A. Müller: ,,Laser in der Chemie", Chemie in unserer Zeit 24 (1990) 280-291; ULLMANN (5. Aufl.): „Lasers", A15 (1990) 165-181; S. Georgiou, F. Hillenkamp (Hrsg.): ,,Laser Ablation of Molecular Substrates", Chem. R e v 103 (2003) 317-644; N.E. Henriksen: ,,Laser control of chemical reactions", Chem. Soc. R e v 31 (2002) 37-42. 3^ Geschichtliches Die Idee des Lasers ist alt. Bereits 1917 findet sich in einer Arbeit von Albert Einstein über die Natur der elektromagnetischen Strahlung eine Beschreibung der drei relevanten optischen Übergänge zwischen atomaren bzw. molekularen Energieniveaus: „Absorption",,,Spontane Emission",,,Stimulierte Emission" (vgl. Anm.43'). Die für das Laserphänomen verantwortliche stimulierte Emission wurde erstmals von Ch.H. Townes (Nobelpreis 1964) im Jahre 1954 in Form eines Masers (,,Ammoniak-Maser") zur Verstärkung von Mikrowellen eingesetzt (microwave amplification by stimulated emission of radiation) und von T. Maiman im Jahre 1960 in Form eines Lasers (,,Rubin-Laser"; erster ,,Festkörper-Laser") zur Verstärkung von sichtbarem Licht praktisch genutzt. In der Folgezeit entwickelten u.A. A. Javan, W. Bennett, D. Herriot 1961 den ersten ,,Gas-Laser" (He/Ne-Laser), R. Hall 1962 den ersten ,,Halbleiter-Laser" (Dioden-Laser), J.V.V. Kasper, G . C . Pimentel 1964 und 1965 die ersten ,,chemischen Laser" (Iod- bzw. Wasserstoff/Chlor-Laser). Bezüglich C O - und HF-Laser vgl. oben. 40 Wie auf S. 100 ausgeführt, wird ein chemischer Stoff durch Absorption von elektromagnetischer Strahlung in Form von Photonen geeigneter Energie in einen rotations-, schwingungs- oder elektronisch angeregten Zustand übergeführt. Letzterer, auch durch Einwirkung thermischer, elektrischer oder chemischer Energie erreichbare Zustand kann ohne äußere Energieeinwirkung unter spontaner Emission eines Photons in irgendeine Raumrichtung nach 10 s („Fluoreszenz") bis 10 "4 s und länger („Phosphoreszenz") in den Grundzustand oder einen anderen energieärmeren Zustand ,,zurückfallen" (vgl. Glühlampen, Gasentladungslampen). Das emittierte Photon vermag seinerseits eine stimulierte Emission (s.o.) auszulösen. Damit die Wahrscheinlichkeit für die stimulierte Emission größer als die für die spontane Emission ist (zunehmend schwerer für zunehmend kurzwelligeres Licht erreichbar), muss der angeregte Zustand deutlich stärker als der weniger oder nicht angeregte Zustand ,,besetzt" sein (,,Populationsinversion").
178
VI. Der Molekülbau
^
\
Energie
y
hv
I Energie
X-
\
/
/
—;
\ /Verstärker \ / / Spiegel
Spiegel (100% Reflexion)
100% Reflexion
1 h \
98% Reflexion
(98% Reflexion)
(a)
(b)
Fig. 66 Aufbau und Wirkungsweise eines Lasers: (a) Spontane Lichtemission. (b) Stimulierte Lichtemission (die durch die Spiegel reflektierten, gem. (a) gebildeten Photonen werden verstärkt).
mit dem einlaufenden Photon übereinstimmen (,,kohärente Strahlung") Abgabe weiterer Photonen auslösen können (vgl. Fig.66b): hv + nM*
und ihrerseits die
(n + 1 ) h v + n M .
U m die im Lasermedium gespeicherte Energie vollständig zu gewinnen, ist es in der Regel erforderlich, dass die gebildeten Photonen dieses Medium mehrmals durchlaufen, ehe sie den Verstärker verlassen. Dies erreicht m a n durch zwei Endspiegel (optische „Resonatoren"), von denen einer nicht-, der andere teildurchlässig ist (vgl. Fig. 66b). Die Lichtverstärkung erfolgt naturgemäß nur so lange, wie die Stoffanregung durch gepulste oder stetige Energiezufuhr von außen („Pumpen" des Lasers) aufrecht erhalten wird. Demgemäß können Laser, deren wichtigste Typen in Fig. 67 zusammengefasst sind, sowohl im Puls-, als auch im Dauerbetrieb arbeiten Rubin (0.694) Farbstoff-Laser
Festkörper-Laser J
• 0.1
UV—
sichtbar
Neodym (1.064)
HF CO (-2.8) (~5.
chemische Laser Halbleiter-Laser 1
1 • • IR
H KrF N2 A r + He/Ne ( — 0.14) (0.25) (0.34) ( — 0.50) ( - 0 . 6 3 )
CO (-6)
X[/xm]
10"
C02 (-10)
•100" H20 (28)
f
Gas:
1
\
Laser
J
HCN (311)
Fig. 61 Wichtige Lasermedien und Lasertypen (1 Jim = 1.25 eV; in Klammern jeweils Laseremission in {im; mittlerer Wert bei mehreren Emissionen 4 i Als Beispiele für Laser sollen nachfolgend der Kohlendioxid-, der Rubin- und der Fluorwasserstoff-Laser stellvertretend für ,,Gas-", „Festkörper-" und „chemische Laser" eingehender besprochen werden. Bezüglich weiterer, mit Leistungen im Bereich 1 0 " 6 bis 10i 2 Watt arbeitender Lasertypen vgl. Fig. 67 und A n m . 4 i
4
i Excimer- und Exciplex-Laser (Untergruppe der Gas-Laser): Durch Gasentladung werden aus Teilchen A oder A + B Moleküle AA* bzw. AB* erzeugt, die nur im angeregten Zustand existieren (excimer von engl excited dimer = angeregtes Dimeres; exciplex von engl excited complex = angeregter Komplex). Der Übergang AA* bzw. AB* A + A 4- hv bzw. A + B + hv ist stimulierbar (stimulierte UV-Emissionen für (F 2 )*/ArF*/KrCl*/KrF*/ XeCl*/XeF* = 0.157/0.193/0.222/0.248/0.308/0.351 |im). - Edelgasionen-Laser (Untergruppe der Gas-Laser): Bildung angereger Edelgasionen durch Gasentladung. Stimulierte Emissionen für Edelgasion* Edelgasion + hv im sichtbaren und UV-Bereich. - Helium-Neon-Laser (Untergruppe der Gas-Laser): Die stimulierten Emissionen stammen von angeregtem Neon (Ne* Ne + hv), das durch gasentladungsangeregtes Helium über einen Energietransfer (He* + Ne He + Ne*) gebildet wird. - Farbstoff-Laser: Gelöste organische Farbstoffe werden durch Bestrahlung mit UV- oder Laserlicht in angeregte Singulett-Zustände übergeführt, die durch stimulierte Emission in den elektronischen Grundzustand zurückkehren. - Halbleiter-Laser (,,Dioden-Laser"): Die Funktion beruht auf einer stimulierten Emission von Photonen im Zuge der durch elektrischen Strom erzeugten Elektronen-Loch-Paare in npHalbleiterdioden
3. Laser und Anwendungen
1 symmetrische Valenz-
antisymmetrische Valenz-
.
179
i
Deformations- Valenz-Schwingung Schwingung
Fig. 68 Veranschaulichung der Laserwirkung von CO -Gas (nicht maßstabsgerecht) sowie der Energiespeicherwirkung von -Gas ). CO
Kohlendioxid-Laser Die Funktion des von C.K.N. Patel 1963 entdeckte^ 9 C02-Lasers beruht darauf, dass bei elektrischer Entladung von CO 2 -Gas durch Elektronenstoß eine Überbesetzung des vergleichsweise langlebigen Zustands der antisymmetrischen Valenzschwingung (001) gegenüber dem Zustand der symmetrischen Valenzschwingung (100) und dem des ersten Obertons der Deformationsschwingung (020) auftritt (vgl. Fig. 68). Die durch stimulierte Emissionen („Laserübergänge") erreichbaren Zustände 100 und 020 (IR-Licht der Wellenlängen 10.6 bzw. 9.6 Jim) werden durch spontane Strahlung oder Relaxation über den Zustand 010 der Deformationsschwingung rasch abgebaut. Durch stoßinduzierte Energieübertragung mit beigemischtem Stickstoff kann die Überbesetzung des 001-Zustands zudem noch erhöht werden. Das N 2 -Molekül wird nämlich unter den Bedingungen der elektrischen Entladung selbst schwingungsangeregt und kann so (da es als Molekül mit Inversionszentrum nicht unter Abstrahlung in den Grundzustand übergehen darf) als Energiespeicher dienen, der den CO2-Schwingungszustand 001 durch Energietransfer „auffüllt". In ähnlicher Weise wie der CO 2 -Laser funktionieren andere ,,Gas-Laser" (vgl. Fig. 67). Rubin-Laser Die Funktion des von T. Maiman 1960 entdeckten Rubinlasers (Rubin = Korund A1 2 0 3 , in welchem rund 0.05 Gew.-% AI3+ durch Cr3+ ersetzt sind; vgl. S. 1575) beruht darauf, dass Cr3 + -Ionen ( 4 A 20 -Grundzustand im oktaedrischen Feld von sechs O 2 _ -Ionen) bei Bestrahlung mit blauem bzw. grünem, Pumplicht (Wellenlängen um 0.40 bzw. 0.55 Jim) in den angeregten 4FX- bzw. 4 F 2 -Zustand übergehen (bezüglich der Zustandssymbole vgl. S. 96f und Anm.21 auf S. 1371). Beide Zustände wandeln sich rasch - u.a. durch Abgabe von IR-Quanten - in den metastabilen, d.h. langlebigen 2 E g -Zustand um - der seinerseits durch stimulierte Emission (,,Laserübergang") in den 4 A 2g -Grundzustand zurückgeführt werden kann. Man bewerkstelligt das optische Pumpen des Rubin-Lasers mit einer Blitzlichtlampe, die um den Rubinstab gewickelt ist, d.h. man arbeitet im Pulsbetrieb. In ähnlicher Weise wie der Rubin-Laser funktioniert der Neodym-Laser, ein weiterer wichtiger „Festkörper-Laser". Meist nutzt man den NdYAG-Laser (Ersatz von - 1 %% Y3+ in Yttrium-Aluminium-Granat Y 3 A1 5 0 1 2 = YAG durch Nd3+), ferner den Nd-Glas-Laser (Nd3+ in Silicat- oder Phosphatgläsern als Wirtsmaterial). Fluorwasserstoff-Laser Die Funktion des von K. Kompa und G.C. Pimentel 1965 entdeckten Fluorwasserstoff-Lasers beruht auf der Umsetzung von Wasserstoffatomen mit Fluormolekülen (oder anderen Fluorverbindungen), die gemäß H + F 2 HF* + F und F + H 2 HF* + H zu schwingungsangeregten HFMolekülen führt (Population der Valenzschwingungsniveaus 0/1/2/3 bei ersterer Reaktion rund 1 : 2 : 1 0 : 4 ) . Die Besetzungsinversion der Schwingungsniveaus gibt Anlass zur Abstrahlung von Laserenergie im Wellenlängenbereich 2.7-2.9 Jim. Der HF-Laser wird in der Weise betrieben, dass man wasserstoffatomhaltiges Gas (H wird durch Gasentladung erzeugt) und F 2 -Gas unabhängig voneinander in den Laserverstärker leitet, wobei es in der Mischzone zur Bildung von HF* kommt. Der - sowohl im Dauer- als auch Pulsbetrieb arbeitende - HF-Laser zählt angesichts seiner hohen Strahlungsausbeute und angesichts der Vorteile einer chemischen Energiespeicherung zu den stärksten bisher bekannten La serquellen. Dem HF-Laser analog arbeiten der HC- und HBr-Laser (Emissionen 3.0 bzw. 4.3 |im). Als weitere wichtige „chemische Laser" seien der Iod-Laser (Bildung angeregter Atome I* durch UV-Photodissotiation z. B. von CF 3 I; stimulierter Übergang I* I + hv) und der Kohlenoxid-Laser genannt (Bildung schwingungsangeregter Moleküle CO* u.a. durch Photolyse von CS 2 /O 2 -Gemischen; CS2 CS + S; SO O; CS CO* S; stimulierter Übergang CO* CO ). Anwendungen der Laser Im Bereich der Materialbearbeitung eignet sich die Lasertechnik zum Bohren, Fräsen, Schneiden, Schweissen hochschmelzender Materialien (selbst cm-dicker Stahlplatten) sowie für filigrane Arbeiten auf elektronischen Mikrochips (Einsatz insbesondere von C O - und YAG-Lasern). In der Medizin nutzt man Laserstrahlen (Einsatz insbesondere von Festkörperlasern) zum Schneiden
180
VI. Der Molekülbau
von Gewebe (u. a. Warzen- oder Melanomentfernung von der Haut; Abtragen von Karzinomen im gynäkologischen sowie Hals-, Nasen-, Ohren-, Magen- und Darmbereich; Rekanalisierung von Arterien) und zum Verschweißen von Gewebe (u.a. Fixierung der Augennetzhaut, Verschließen von Blutadern). Des weiteren nutzt man Laser in der Messtechnik (Einsatz insbesondere von kleinen Gas- und Festkörperlasern, z.B. He/Ne-Lasern) und zwar im Baugewerbe (u.a. Ausrichten, Entfernungsmessungen), in Flugzeugen (u. a. Messung von Drehbewegungen), in der Geologie (u. a. Messung der Drift von Erdkrustenschollen, der Höhe von Bergen, der Tiefe des Meeres), in der Astronomie (u. a. Bestimmung von Planetenabständen) und der Kristallographie (Bestimmung von Gitterabständen). Auch beim Militär bedient man sich der Lasertechnik (z.B. Steuerung von Bomben oder Raketen entlang eines auf ein Objekt gerichteten Laserstrahls). Wichtig ist schließlich der Einsatz von Lasern in der Datenübertragung (Licht leitfasern erlauben eine Übertragung von mehr Daten pro Zeiteinheit als herkömmliche Kupferkabel und der Informationstechnik (Ablesen der CD-Platten oder des Strichmusters auf Verkaufsartikeln). In beiden Fällen setzt man bevorzugt Diodenlaser ein. Besonders interessant erscheint die Verwendung von Lasern als Energiequelle in der Chemie (Einsatz insbesondere von Exciplex- und Festkörperlasern). Die geringe Entropie von Laserlicht lässt erwarten, dass laserinduzierte chemische Reaktionen zu Produkten führen könnten, deren Bildung mit einem geringen Entropieumsatz verbunden ist. Diesbezügliche Studien stellen derzeit eine große Herausforderung der Laserchemie dar.
4
Molekülsymmetrie 42
Die Frage43 nach der Gestalt des Symbols, das - folgerichtig - an achter Stelle der Reihe
stehen müsste, lässt sich über eine Betrachtung der Symmetrie44, welche den wiedergegebenen sieben Symbolen innewohnt, leicht lösen: durch jedes Zeichen verläuft in der Mitte von oben nach unten eine Ebene, an der sich die beiden Hälften jedes einzelnen Symbols spiegeln. Die „rechte" Hälfte entspricht - der Reihe nach - den Zahlen ^ 2 3 4 5 6 7 , die „linke" Hälfte den Spiegelbildern dieser Zahlen. Somit hat das achte Symbol der Reihe das Aussehen 88. Die Symmetrie stellt eine in der N a t u r und der Kunst weit verbreitete Erscheinung dar, bei der m a n im alltäglichen Leben an regelmäßige Formen, angenehme Proportionen, harmonische Anordnungen, periodische Wiederholungen denkt. Im naturwissenschaftlichen Sinne verbindet m a n mit dem Begriff Symmetrie andererseits die Möglichkeit, Objekte (Moleküle, Kristallbausteine usw.) oder Bewegungsformen (Molekülschwingungen, Elektronenbahnen) durch geeignete ,,Symmetrieoperationen" zur Deckung zu bringen (s.u.). Ähnlich wie für das oben angeschnittene Zahlenproblem sind hierbei Symmetriebetrachtungen auch für die Lösung naturwissenschaftlicher Fragestellungen äußerst hilfreich und tragen etwa in der Chemie zum Verständnis der Eigenschaften und des Verhaltens von Verbindungen wesentlich bei. Nachfolgend sei deshalb im Zusammenhang mit dem Bau der Moleküle dem Leitthema dieses Kapitels VI - auf die Molekülsymmetrie eingegangen. Letztere dokumentiert sich in Symmetrieelementen und -operationen und wird durch die sogenannten ,,Punktgruppen" (s.u.) zum Ausdruck gebracht (die mathematische Behandlung von Symmetrieoperationen ist Gegen stand der Gruppentheorie).
42 Literatur F.A. Cotton: ,,Chemical Applications of Group Theory", 2. Aufl. Wiley, New York 1971; J.P. Fackler jr.: ,,Symmetry in Coordination ChemistryAcademic Press, New York 1971; M. Orchin, H . H . Jaffe: ,,Symmetry, Orbitals and Spectra", Wiley New York 1971; P.B. Dorain: ,,Symmetrie und anorganische Strukturchemie", Vieweg, Braunschweig 1972; W. E. Hatfield, W. E. Parker:,,Symmetry in Chemical Bonding and Structure", Merrill, Columbus, Ohio 1974; J . M . Hollas: ,,Die Symmetrie von Molekülen", Walter de Gruyter, Berlin, New York 1975. 43 Gestellt im Rahmen einer Aufnahmeprüfung der Akademie in London. 44 symmetria (griech.) = Gleichmaß; - C von cycle (engl.) = Zyclus, Kreislauf, Umlauf; - S von Spiegelachse; - i von Inversion; - a von Spiegelebene; - m von mirror (engl.) = Spiegel; - E bzw. I von equivalence, identity (engl.) = Gleichwertigkeit, Gleichheit.
4. Molekülsymmetrie
4.1
181
Symmetrieelemente und Symmetrieoperationen
Unter einer Symmetrieoperation (,,Deckoperation") versteht m a n einen Vorgang wie etwa das oben erwähnte „Spiegeln", durch den gleichartige Objekte so ineinander übergeführt werden, dass deren Ausgangs- und Endlage nicht zu unterscheiden (,,deckungsgleich") s i n d Symmetrieelemente (z.B. die „Spiegelebene" im Falle des Spiegelns) schreiben hierbei vor, wie die betreffenden Symmetrieoperationen ausgeführt werden sollen. Es lässt sich zeigen, dass zur Klassifizierung der Molekülsymmetrie nur zwei grundlegende Symmetrieelemente berücksichtigt werden müssen: ,Drehachsen" (,,Symmetrieachsen"; Symbol: C 4 4 ; zugehörige Operationen: ,Drehungen") und ,,Drehspiegelachsen" (Symbol: S44; zugehörige Operationen: , D r e h spiegelungen"). Beispielsweise enthalten die Moleküle „Wasser" und „Ammoniak" Drehachsen des Typs C 2 bzw. C 3 , welche in nachfolgenden Formelbildern (a) und (b) durch Pfeile symbolisiert sind: C3
C2 CD
Cp N
CJ3
NHi:
H2 O:
h - K T (a,)
H
H
H'
H"
(bi)
(a2)
CL5
et,
H^I^H
H I C3v
H"
(b2)
C3v
1
(b3)
N a c h Drehung der Moleküle um 180° (H 2 O) bzw. um 120° ( N H 3 ) u m die betreffenden Achsen nehmen alle Molekülatome Positionen ein, die mit der Ausgangsposition deckungsgleich sind. Demgemäß unterscheiden sich die Formelbilder (a x ) und (a 2 ) bzw. (b x ), (b 2 ) und (b 3 ) nur in der - nicht realen - „Nummerierung" der Wasserstoffatome. Würde m a n während des Drehvorgangs die Augen schließen, so wüsste m a n nach Wiederöffnen der Augen nicht, ob die Drehung tatsächlich ausgeführt wurde oder nicht. D a nach zweimaliger Drehung von Wasser um 180° bzw. nach dreimaliger Drehung von A m m o n i a k u m 120° wieder die Ausgangsposition hinsichtlich der Wasserstoffnummerierung erreicht wird, spricht m a n im Falle der betreffenden Symmetrieachsen von einer „zweizähligen" bzw. „dreizähligen" Drehachse (Symbole: C 2 , C 3 ). Ganz allgemein heißt das Symmetrieelement der Drehung w-zählige Drehachse Cn(n = Ordnung der Rotation). Die Symmetrieoperation C™ besteht in einer m-maligen Drehung eines Objektes um den Winkel 360°/n, wobei nach m = n Drehschritten die jeweilige Ausgangsposition des Objekts erreicht wird. Ein Spezialfall der Drehung stellt die einzählige Drehung C{ dar, der als Symmetrieelement die Identität E44 (auch mit 144 bezeichnet) zugeordnet wird; sie k o m m t als „Pseudooperation" jedem Objekt zu und führt letztendlich zu keiner Atomvertauschung in Molekülen ( C j = = E). Das Molekül „ M e t h a n " enthält andererseits drei Drehspiegelachsen S 4 , die in Richtung der HCH-Winkelhalbierenden verlaufen (im Formelbild c ist eine derartige Achse eingezeichnet; die beiden anderen Achsen verlaufen durch die Mitte der vorderen und hinteren bzw. linken und rechten Würfelfläche):
s4
S & 4
cb '".H-hu
CH 4 :
H'
"H -I— Z.
V
-H"
'7+ H(c2)
-H' "H-
'"H(ci)
H"
(c3)
(c4)
N a c h Drehung des Moleküls u m 90° bei gleichzeitiger Spiegelung an einer senkrecht zur Drehspiegelachse durch das zentrale Kohlenstoffatom verlaufenden Ebene (nur im Formelbild c 1 wiedergegeben) nehmen wiederum alle Molekülatome äquivalente Positionen ein, wobei
182
VI. Der Molekülbau
hier nach viermaliger Wiederholung dieser Drehspiegelung die Molekülausgangsposition erreicht wird (charakterisiert durch den Index 4 am Symmetriesymbol S). Allgemein heißt das Symmetrieelement der Drehspiegelung w-zählige Drehspiegelachse S„. Die Symmetrieoperation S™ besteht in einer m-maligen Drehspiegelung eines Objekts um den Winkel 360°/n, wobei nach m = n Drehspiegelschritten die jeweilige Ausgangsposition des Objekts erreicht wird. (Die kombinierte Operation S™ kann hierbei sowohl im Sinne „Drehung, dann Spiegelung", als auch im umgekehrten Sinne ,,Spiegelung, dann Drehung" ausgeführt werden.) Spezialfälle der Drehspiegelung sind die ein- und zweizähligen Drehspiegelungen und S2, deren zugehörige Symmetrieelemente als Spiegelebene („Symmetrieebene") a und Inversionszentrum („Symmetriezentrum") i bezeichnet werden. 4 4 Durch einmalige „Spiegelung" a m (m = 1) werden Molekülatome auf der einen Seite einer durch ein Molekül verlaufenden Spiegelebene in entsprechende Atome auf der anderen Seite dieser Ebene übergeführt, während Atome, die auf der Spiegelebene liegen, in sich selbst übergehen. Zweimalige Spiegelung a m (m = 2) führt zur Ausgangsposition des Objekts zurück (er2 = E). Das „Wasser" (a) enthält z.B. zwei Spiegelebenen, nämlich die durch die Molekülatome festgelegte Ebene sowie die senkrecht zu dieser „Molekülebene" in Richtung der HOH-Winkelhalbierenden verlaufende Ebene. „Ammoniak" (b) weist drei Spiegelebenen auf; sie erstrecken sich jeweils in Richtung einer NH-Bindung und der Winkelhalbierenden der beiden anderen NH-Bindungen. Dem „Methan" (c) liegen schließlich sogar 6 Spiegelebenen zugrunde. Bezieht man sich hierbei auf den Würfel des Formelbildes (c), so spannen sich letztere in Richtung der Flächendiagonalen auf (jeweils 2 gegenüberliegende Diagonalen der insgesamt 12 Flächendiagonalen eines Würfels liegen auf der gleichen Ebene). Die „Inversion" stellt andererseits eine Spiegelung an einem Symmetriezentrum dar; durch einmalige Inversion im (m = 1) werden Molekülatome in Richtung des in der Molekülmitte lokalisierten Inversionszentrums auf die andere Seite befördert, wobei der Abstand zum Zentrum in Ausgangs- und Endposition der invertierten Atome gleich groß ist. Zweimalige Inversion im (m = 2) führt zur Ausgangsposition des Objekts zurück (i2 = E). Ersichtlicherweise besitzen Wasser (a), Ammoniak (b) und Methan (c) kein Inversionszentrum. Symmetriezentren kommen aber den nachfolgend wiedergegebenen Molekülen „trans-Diimin" (d), „Ethylen" (e), „Xenontetrafluorid" (f), „Kohlendioxid" (g) und „Tellurhexafluorid" (h) zu:
N2H2:
/
N = N
/
H
H C2H4:
H
C 2h
H (d)
4.2
\ / C=C / \
D 2h
H
F XeF 4 :
H
\ / Xe / \n
F
(e)
F
f
CO 2 : 0 = C = 0 F
TeF 6 :
Fc-H-^F p ^ J^p r ^ Te*"/ l F
D 4h (f)
D«,h (g)
Oh
(h)
Punktgruppen
Wie oben bereits angedeutet wurde und aus den Formelbildern (a)-(h) hervorgeht, besitzen Moleküle häufig nicht nur ein, sondern mehrere Symmetrieelemente. Beispielsweise enthält „Methan" (c) 3 vierzählige Drehspiegelachsen (jeweils in Richtung der HCH-Winkelhalbierenden), 6 Spiegelebenen (alle durch ein C- und zwei H-Atome gebildete Ebenen) sowie 4 dreizählige Drehachsen (jeweils in Richtung der CH-Bindungen). Je mehr Symmetrieelemente einem Molekül zukommen, desto symmetrischer ist es. Demgemäß wächst etwa die Symmetrie in Richtung H 2 O (C2, 2CTv), NH 3 (C3, 3c>v), C H (3S4, 4C 3 , 6a v ). Der komplette Satz aller Symmetrieelemente bzw. -operationen eines Moleküls (Ordnung der Gruppe) stellt dann dessen Punktgruppe („Symmetriegruppe") dar, charakterisiert durch eines der nachfolgend wiedergegebenen Punktgruppensymbole (bezüglich einiger Punktgruppensymbole, zugehöriger Symmetrieelemente sowie Verbindungsbeispiele vgl. Tab.24, erste, vierte und fünfte Spalte): C„
C„v
C„h
D„
D„ h
S„
S„T = D f
T
T
Th
O
O
I
I„
d
(n = 1, 2, 3 ... 00)
Kh
Der Begriff Punktgruppe geht darauf zurück, dass sich die Symmetrieelemente in der Regel in einem Punkt schneiden bzw. dass bei Ausführung aller Symmetrieoperationen eines Moleküls mindestens ein Punkt unberührt bleibt (der betreffende Punkt ist identisch mit dem Molekülschwerpunkt). Die einzelnen Punktgruppensymbole resultieren andererseits aus einer Aneinanderreihung von Symmetrieelementen die voneinander unabhängig sind
4. Molekülsymmetrie Tab. 24
Punktgruppen einiger Moleküle.
Punktgruppen ZähligSchoenflies/International keit
Symmetrieelemente (außer E)
1 2 3 4 6
1 2 3 4 6
c2 C3 C4 C6
Cs = S1 C 2 v ( = Dlh)
m=2 2 mm
2 4
a C 2 , 2a v
C3v
3m
6
c 3 , 3
trans-N 2 H 2 , trans-CHCl = CHC1
i
3/m = 6 4/m 6/m
6 8 12
C3, a h c 4> i C 6 , c>h, i
B(OH) [Re 2 (H-T^-SO,),]
222 32 422 62
4 6 8 12
3C 2 C 3 C2 3, C , 4C 2 C6, 6 C 2
[Mo(C^[MO(C204)4]4-
42 m
8
S4, 3 C 2 , 2 a d
m
12 16
S 4 N 4 , AS 4 S 4 , B 2 CI 4 , H 2 C = C = C H 2 , B(OH) s6, H C - C H , S2Oi", R 3 W = W R 3 S s , closo-B 1 0 Hi"
2h
mmm
8
3h 4h
m2 4/mmm
Dsh D«h
6/mmm
3h C6h lv D3 »4 »6
D3d = S 6 v
Dooh T
23
Td
43 m
Th
m3
O
432 m3m
oh I„ Kh
183
[Co(en3 ] 3 + , P ! r
S 6 , C 3, S s , C , 4C 2 , 4 a d
i
3C 2 , 2CTv,CTH>i = S 2
12 16 20 24 oo
C
12 24
4 ^ j j 3C 2 , 3S 4 4C 3 , 3C 2 , 6c>d, 3S 4
24
4C 3 , 3C 2 , 3c>h, i, 4S 6
24 48
3C 4 , 4C 3 , 6C 2 3C 4 , 4C 3 , 6C 2 , 3a h , 6a v , i, 3S 4 , 4S 6 6C 5 , 10C 3 , 15C 2 , 15a v , i, 12S 10 , 10S 6 ooC„, ooa, i
60 »
3CT CT > V> H>S 3 C 4 , 4C 2 , 4a v , a h , i, S 4 C 5 , 5C 2 , 5a v , a h , S 5 6 C6, a v , a h , i, S 6
Coo, COA„ i ,
S
„
H 2 C = CH 2 , A2Br6, trans-\_Pt(NH3)2Cl2], I 2 C1 6 BQ 3 , PF 5 , N 3 - , B 3 N 3 H 6 , R e H i " , C H 6 XeF 4 , IC1 4 , P t Q i " [Cl 4 Re = R e C l 4 ] i " C 5 H 5 , [Fe(C 5 H 5 ) 2 ], B 7 H i " , XeFJ C6H6 C O , Cl 2 , H C ^ C H (M
C)
(f
C H , SiF 4 , P 4 , X e 0 4 , [Ni(CO) 4 ], P r 4 ( C O ) 1 ^ , B4C14 [ C o ( N O 2 ) 6 ] 3 " [W(NMe 2 ) 6 ]
TeF 6 , B 6 H i " [Cr(CO) 6 ] closo-B12 H i " He, Ne, Ar, Kr, Xe, Rn
184
VI. Der Molekülbau
Nach Schoenflies („Schoenflies-Symbole", Tab. 24, erste Spalte) gibt man zunächst die höchstzählige Drehachse Cn oder Drehspiegelachse Sn (,,Hauptachse") bzw. - bei Vorliegen von Dieder-, Tetraeder-, Oktaeder-, Ikosaeder- oder Kugelsymmetrie - den Symmetrietypus D, T, O, I oder K an, anschließend die Art der vorhandenen Spiegelebenen als Index (Diedersymmetrie haben Moleküle mit einer Hauptachse Cn und n hierzu senkrecht angeordneten zweizähligen „Nebenachsen" C 2 ). Im Falle der Spiegelebenen unterscheidet man zusätzlich horizontal zur Hauptachse verlaufende Horizontalebenen (Index h) sowie vertikal zu den betreffenden Achsen verlaufende Vertikalebenen (Index v) bzw. - falls Vertikalebenen zwischen zwei zweizähligen Achsen liegen - Diederebenen (Index d). Im Einzelnen ist noch zu beachten, dass Moleküle, die ausschließlich eine Spiegelebene bzw. ein Inversionszentrum aufweisen, durch das Punktgruppensymbol Cs bzw. Q charakterisiert werden (C lv = C l h = S 2 = Cs; S; = Q). Darüber hinaus gilt: C 2 = C! und C 2v = D l h . Schließlich enthält jede geradzählige Drehspiegelachse S„(n = 2, 4, 6 ...) eine Drehachse C n/2 , jede ungeradzählige Drehspiegelachse (n = 1 , 3 , 5 . . . ) eine Drehachse C„, wodurch sich folgende Punktgruppen einander entsprechen: S„v = D„/2d (n = gerade) und S„ = C„h (n = ungerade). Neben den zur Charakterisierung der Molekülsymmetrie verwendeten Punktgruppensymbolen von Schoenflies benutzt man - insbesondere zur Symmetrie-Charakterisierung der 32 Kristallklassen45 die Punktgruppensymbole von Hermann und Mauguin, („Hermann-Mauguin-Symbole", „Internationale Symbole") die in der zweiten Spalte der Tab.24 wiedergegeben sind. Sie resultieren aus einer Aneinanderreihung von Drehachsen (charakterisiert durch die Zahlen 1, 2, 3, 4, 6; fünfzählige Achsen sind wie höher als sechszählige Achsen mit Kristallen in der Regel nicht vereinbar), Drehinversionsachsen (statt Drehspiegelachsen; charakterisiert durch die Zahlen I = i , 2 = a, 3 = S 6 , 4 = S 4 , 6 = S 3 ) und Spiegelebenen (charakterisiert durch m44, die vertikale bzw. horizontale Lage von m zur Drehachse X wird wie folgt symbolisiert: Xm bzw. X/m). Es lässt sich zeigen, dass nur die in den Punktgruppensymbolen zum Ausdruck gebrachten Kombinationen von Symmetrieelementen bzw. -operationen für Moleküle möglich sind. Symmetrieelementkombinationen haben hierbei vielfach zwangsläufig andere Symmetrieelemente zur Folge, z. B. die Kombination von C 2 oder C 4 mit a h (Punktgruppen C 2h bzw. C 4h ) ein Inversionszentrum i. Auch lässt sich eine Lageänderung eines Moleküls, die durch das Hintereinanderschalten „zweier" Symmetrieoperationen hervorgerufen wurde (,,Multiplikation" von Operationen), immer auch durch „eine" Symmetrieoperation erzielen. Z.B. entspricht im Falle der Punktgruppe T d (vgl. c, Methan) die Folge der Operationen S 4 und S 4 der Operation S 4 (S 4 xS 4 = S 4 ). In analoger Weise gilt etwa für die Punktgruppe C 2 h : C^xcri = i 1 . Zur Identifizierung der Punktgruppensymmetrie eines Moleküls sucht man mit Vorteil zunächst dessen Hauptsymmetrieachsen (Bestimmung der Zähligkeit ), dann hierzu unter einem Winkel angeordnete Cj-, C 2 -, C 3 -, C 4 - oder C5-Nebenachsen (Bestimmung des Hauptsymbols C/S, D, T, O, I), schließlich Spiegelebenen und deren Lage zur Hauptachse (Bestimmung des Index h, v, d).
4.3
Anwendungen
Aussagen über Moleküleigenschaften, die aus Symmetriebetrachtungen gefolgert werden können, betreffen die optische Aktivität von Molekülen (S. 406), das Dipolmoment (S. 147), physikalische Eigenschaften der Kristalle, Orbitale von Molekülen (S. 355), Zahl, Lage und Intensität von Molekülschwingungen (S. 171), Elektronenspektren von Verbindungen (S. 170f), NMR-Spektren, Synchronreaktionen chemischer Verbindungen (S. 171) (vgl. hierzu Lehrbücher der physikalischen und theoretischen Chemie sowie der Spektroskopie). Der Schmelzpunkt einer Substanz wächst mit der Symmetrie von Verbindungsmo lekülen vergleichbarer Masse, falls diese nur durch van-der-Waals-Kräfte im engeren Sinne verknüpft sind, da sich geordnete Kristalle aus entropischen Gründen umso leichter bilden, je symmetrischer die Kristallbausteine sind Lage von Molekülatomen, -bindungen, -winkeln Molekülatome wie die Wasserstoffatome des Wassers (a), Ammoniaks (b), Methans (c), die sich durch Symmetrieoperationen des betreffenden Teilchens ineinander überführen lassen, heißen äquivalente Atome. Die Gesamtheit der äquivalenten Atome bildet einen „Atomsatz". Liegen hierbei die Atome eines Satzes auf keinem Symmetrieelement, so spricht man von einer „allgemeinen Lage", liegen sie wie die Wasserstoffatome in H 2 O, NH 3 , CH 4 auf einem oder mehreren Symmetrieelementen, so nehmen die Atome eine „spezielle Lage" ein. Bei allgemeiner Lage entspricht
45 Im Falle von Kristallen sind nur die mit den 7 Kristallsystemen in Tab. 16 (S. 128) wiedergegebenen 32 Punktgruppen (32 Kristallklassen) vereinbar, die nochmals in 230 Raumgruppen unterteilt werden. Zur Ableitung letzterer Gruppen nutzt man neben Dreh- und Drehspiegelachsen noch die Translation als drittes Grundsymmetrieelement. Die gleichzeitige Ausführung von Spiegelung bzw. Drehung und Translation führt dabei zur Gleitspiegelung sowie Schraubenbewegung als Folgesymmetrieoperation
4. Molekülsymmetrie
185
die Atomzahl (der „Rang") eines Satzes der Zähligkeit, welcher der Punktgruppe des betrachteten Moleküls zukommt (vgl. Tab.24, dritte Spalte); bei spezieller Lage ist diese Zahl kleine^ 6 . Entsprechendes wie für die Molekülatome gilt auch für die Molekülbindungen und Molekülwinkel. Demgemäß spricht man von äquivalenten Bindungen und Winkeln bzw. von einem Bindungs- oder Winkelsatz. Auch unterscheidet man äquivalente, zu einer Klasse zählende Symmetrieelemente von nicht äquivalenten. Beispielsweise sind die drei Spiegelebenen des Ammoniaks (b) äquivalent, weil sie sich durch dreizählige Drehung ineinander überführen lassen, wogegen die beiden Spiegelebenen des Wassers (a) keine Äquivalenz aufweisen, weil keine Symmetrieoperation existiert, welche sie zur Deckung bringen könnte. Lage von Molekülkoordinaten Die Symmetrieelemente eines Moleküls bestimmen auch die Lage der Koordinatenachsen. Und zwar wird der Koordinatenursprung mit dem Molekülschwerpunkt gleichgesetzt. Die Symmetrieachse mit der höchsten Zähligkeit (Hauptachse) wird dann zur z-Achse (bei mehreren gleichwertigen Hauptachsen soll die z-Achse durch die meisten Atome gehen). Die x-Achse liegt senkrecht zur Molekülebene, falls die z-Achse in der Molekülebene verläuft und umgekehrt; sie soll dabei durch die meisten Atome gehen. Die y-Achse ergibt sich zwangsläufig.
46 Die Zähligkeit einer Punktgruppe ergibt sich als Produkt von Zähligkeiten, welche den im Punktgruppensymbol aufgeführten Symmetrieebenen zukommt (2 im Falle von CT bzw. i\n im Falle von C„ bzw. S„; 2n im Falle von D„; 12, 24 bzw. 20 im Falle von T, O bzw. I). Der Rang eines Atomsatzes ist dann die Punktgruppenzähligkeit geteilt durch die Zähligkeit der Symmetrieelemente, auf denen ein Atom des Satzes liegt. Demgemäß umfasst der Wasserstoffatomsatz in H 2 O (C2V, H-Lage auf CT), N H 3 (C3V, H-Lage auf CT) bzw. C H 4 (T d , H-Lage auf C 3 und CT): 4 : 2 = 2 Atome; 6 : 2 = 3 Atome; 2 4 : ( 3 x 2) = 4 Atome.A.A.
Kapitel VII
Die Molekülumwandlung
Die chemische Reaktion, Teil II1
Die Physikochemiker Gilbert Newton Lewis und Merle Randall berichten in der ersten Auflage ihres Standardwerkes „Thermodynamic and Free Energy of Chemical Substances" (New York 1923) über die Begegnung mit einem angesehenen Chemiker, der experimentell die Frage zu entscheiden suchte, ob Stickstoff bei entsprechend hohen Drücken mit Wasser in der Umkehrung der bekannten Stickstoffdarstellung (S. 652) in merklichem Ausmaße Ammoniumnitrit bilde: N2 + 2 H 2 0
NH+ + N02~
und so der Luftstickstoff für Düngezwecke fixiert werden könne. Er wurde von Lewis und Randall darauf aufmerksam gemacht, dass die Größe des zu erwartenden Effekts viel einfacher den auf S.491 behandelten Tabellen der freien Bindungsenthalpie AGt chemischer Substanzen zu entnehmen sei, wobei der Wert AGt seinerseits die Berechnung des Ausmaßes chemischer Reaktionen (Lage des ,,chemischen Gleichgewichts") in quantitativer Weise (in Form von ,,Gleichgewichtskonstanten") gestatten würde. Bei der Nachprüfung ergab sich im vorliegenden Falle, dass selbst zur Bildung einer nur 0.000 001-molaren, also analytisch noch gerade nachweisbaren NH 4 N0 2 -Lösung, ein Stickstoffdruck von 1 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 bar erforderlich ist, dass es also mit anderen Worten keinen Sinn hat, Zeit, Mittel und Arbeit auf das genannte Problem zu verschwenden. Heute, fast ein Jahrhundert später, gibt es keine Chemiker mehr, die - im übertragenden Sinne - dem Phantom einer Stickstoffhydrolyse nachspüren und in mühevollen, kostspieligen Untersuchungen Fragen experimentell zu klären suchen, die sich anhand des vorliegenden thermodynamischen Zahlenmaterials leicht und rasch beantworten lassen In diesem Sinne sei nachfolgend zunächst das ,,chemische Gleichgewicht" besprochen. Im Anschluss hieran soll dann auf die „Oxidation-Reduktions-" sowie die ,,Säure-Base-Reaktionen" näher eingegangen werden, welche für die Chemie von grundlegender Bedeutung sind.
1
Das chemische Gleichgewicht
Erwärmt m a n IodwasserstoffHI, ein bei Zimmertemperatur farbloses Gas, in einem geschlossenen Gefäß auf höhere Temperaturen, so beginnt er sich wenig oberhalb von 180 °C in Wasserstoff und Iod zu zersetzen: 9.46 kJ + 2 H I ^
H 2 + I 2 (g),
wie an dem Auftreten violetter Ioddämpfe zu erkennen ist. Mit steigender Temperatur nimmt das Ausmaß dieser Zersetzung zu. Kühlt m a n umgekehrt ein H 2 /I 2 -Gasgemisch von hohen Temperaturen ausgehend langsam ab, so vereinigen sich Iod und Wasserstoff rückwärts zu Iodwasserstoff. Dabei macht m a n in beiden Fällen die interessante experimentelle Beobachtung, dass jeder Temperatur ein ganz bestimmter Zersetzungsgrad entspricht. So sind beispielsweise bei 300°C stets 19 %, bei 1000°C stets 33 % des Iodwasserstoffs zerfallen, gleichgültig ob m a n diese Temperaturen von niedrigeren oder höheren Temperaturen ausgehend einstellt 1
Teil I: S. 44; Teil III: S. 371; Teil IV: S. 1348
1. Das chemische Gleichgewicht
187
oder ob m a n von Iodwasserstoff oder einem äquimolekularen Gemisch von Iod und Wasserstoff ausgeht. Wir beobachten also, dass derartige Umsetzungen zu einem „chemischen Gleichgewicht" führen, wobei die Reaktion mit zunehmender Annäherung an den Gleichgewichtszustand zunehmend langsamer erfolgt. Zur Ableitung des für das Gleichgewicht gültigen Gesetzes (,,Massenwirkungsgesetz") geht m a n zweckmäßig vom Begriff der Reaktionsgeschwindigkeit aus.
1.1
Die Reaktionsgeschwindigkeit
1.1.1
Die „Hin"-Reaktion
In einem geschlossenen Gefäß möge sich bei gegebener Temperatur zwischen zwei g a s f ö r m i g e n oder zwei g e l ö s t e n S t o f f e n AB und C D eine im Sinne der Gleichung (1) AB + C D -> A D + BC
(1)
e i n s i n n i g von links nach rechts verlaufende Reaktion mit der Geschwindigkeit abspielen. Die „Reaktionsgeschwindigkeit" (genauer: „Konzentrationszuwachsrate") v^ kann m a n dabei wahlweise definieren als die A b n a h m e der ,,Konzentration" (S. 30) cAB bzw. c CD der A u s g a n g s s t o f f e AB und C D oder als Z u n a h m e der Konzentration c AD bzw. c BC der E n d s t o f f e A D und BC je Sekunde (zur Formulierung als Differentialquotient vgl. weiter unten) 2 : V
_ _ ^^AB
"
dt
DCCD _ dt
DCAD _ dt
DCBC dt
(2) .
(
Die direkte Bestimmung der zeitlichen K o n z e n t r a t i o n s ä n d e r u n g eines reagierenden Stoffes ohne Störung des Reaktionssystems stößt häufig auf experimentelle Schwierigkeiten. Man verfolgt dann die Änderung anderer physikalischer Größen (z. B. Druck, Brechungsindex, elektrische Leitfähigkeit, Lichtabsorption), die mit der Konzentration in irgendeiner - meist linearer - Beziehung stehen. So lässt sich beispielsweise bei mit Volumenänderungen verbundenen Gasreaktionen die zeitliche Änderung des Gasdrucks experimentell einfach an einem Manometer verfolgen. Man definiert dann in diesem Falle die Reaktionsgeschwindigkeit als Ab- bzw. Zunahme des Partialdrucks eines an der Reaktion beteiligten Gases D a die beiden betrachteten Substanzen AB und C D gasförmig oder gelöst sein sollen, fliegen ihre Moleküle im homogenen Reaktionsraum r e g e l l o s umher. Damit eine Wechselwirkung zwischen beiden Stoffen erfolgen kann, m u ß je ein Molekül AB mit einem Molekül C D zusammenstoßen („Stoßtheorie"). Die R e a k t i o n s g e s c h w i n d i g k e i t wird also der Z a h l der Z u s a m m e n s t ö ß e je Sekunde (z) proportional sein (v_, = k' • z). D a letztere ihrerseits mit der K o n z e n t r a t i o n s o w o h l von AB als auch von C D wächst (z = k" • c AB • c CD ), ergibt sich insgesamt die einfache Beziehung = k_
(3)
wonach die Geschwindigkeit einer einsinnig ablaufenden chemischen Umsetzung den Konzentrationen der Reaktanden proportional ist. Die darin vorkommende Konstante k^ ( = k' • k") bezeichnet man aus naheliegenden Gründen als „Geschwindigkeitskonstante" der Reaktion. Sie entspricht zahlenmäßig der Geschwin2
Ganz allgemein gilt für die Geschwindigkeit einer Reaktion des Typus (jrAB + r C D =
äAD + tBC die Beziehung:
1 1 1 1 • dc AB /d( = • d c ^ / d f = + - • dc AD /d( = + - • dc Bc /d(. q r s t
Z.B. entstehen bei der Umsetzung von Wasserstoff und Iod zu Iodwasserstoff H H + II H I + HI, einem Spezialfall der allgemeinen Reaktion (1), pro H 2 - und 1 2 -Molekül jeweils zwei HI-Moleküle. Die Abnahme von cH bzw. c l2 entspricht also nur der Hälfte der Zunahme von cHI, und es gilt mithin: t u = — ä c H J ä t = — dc l2 /d( = + \ dc HI /d(.
188
VII. Die Molekülumwandlung
digkeit der Reaktion bei den E i n h e i t e n d e r K o n z e n t r a t i o n d e r reagierenden Stoffe, hat für jeden chemischen Vorgang bei g e g e b e n e r T e m p e r a t u r einen charakteristischen k o n s t a n t e n W e r t und w ä c h s t bei nicht zusammengesetzter Reaktion m i t s t e i g e n d e r T e m p e r a t u r (s. unten). Z u m Unterschied von der Geschwindigkeitskonstante fc^ ist die R e a k t i o n s g e s c h w i n digkeit k e i n e bei gegebener Temperatur konstante Größe (Ausnahme: Reaktion 0. Ordnung; vgl. S. 372). Sie hängt vielmehr, wie Gleichung (3) zeigt, von den K o n z e n t r a t i o n e n der Ausgangsstoffe ab und nimmt daher nach Einsetzen einer chemischen Reaktion in dem M a ß dauernd ab, in dem die Konzentrationen dieser Stoffe infolge der Umsetzung kleiner werden. Aus diesem Grunde muss sie - vgl. Gleichung (2) - durch einen D i f f e r e n t i a l q u o t i e n t e n ausgedrückt werden, da sie in jedem Zeitmoment eine andere Größe besitzt. Würde j e d e r Z u s a m m e n s t o ß zwischen zwei Molekülen AB und C D zur Reaktion führen, so müsste k ^ bei Gasreaktionen einen u n g e h e u e r g r o ß e n W e r t (10 1 1 bis 10 1 2 pro Mol und Sekunde) besitzen, da die Zahl der Zusammenstöße eines einzelnen Moleküls mit anderen je Sekunde ungeheuer groß ist ( « 10 1 1 bei den Einheiten der Konzentration und « 10 1 0 bei 1 bar): v,max (u max : maximale Reaktionsgeschwindigkeit : maximale Geschwindigkeitskonstante). In Wirklichkeit ist aber die Geschwindigkeitskonstante im Allgemeinen um viele Z e h n e r p o t e n z e n k l e i n e r als dieser maximal zu erwartende Wert fcmaJ[, so dass die meisten Gasreaktionen nicht mit unmessbar großer Geschwindigkeit, sondern in e n d l i c h e r Z e i t ablaufen. Dies rührt daher, dass n i c h t alle Zusammenstöße zur Reaktion führen, sondern nur die Zusammenstöße besonders e n e r g i e r e i c h e r (,,reaktionsbereiter") Moleküle, deren kinetische Energie (Translationsenergie) einen bestimmten Energiebetrag E n („Aktivierungsenergie" der ,,Hin"-Reaktion) - bei Gasreaktionen meist 8 0 - 4 0 0 kJ/mol - ü b e r s c h r e i t e t . Der Bruchteil von Molekülen, der pro Mol eine höhere Energie als ls a aufweist, ist nach S. 33 gleich e~ E * I R T . Daher gilt
Die maximale Geschwindigkeitskonstante fcmax ändert sich nur wenig mit der Temperatur und kann näherungsweise als k o n s t a n t angesehen werden. Die bekannte Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit mit steigender Temperatur beruht also hauptsächlich auf einer Zunahme energiereicher Moleküle und nur untergeordnet auf einer Zunahme der Stoßzahl. Die Geschwindigkeit einer Reaktion hängt nicht ausschließlich von der Zahl der Zusam menstöße e n e r g i e r e i c h e r Moleküle, sondern - in weniger starkem Maße - auch von der richtigen räumlichen O r i e n t i e r u n g der zusammenstoßenden Moleküle sowie von der Rotations- und Schwingungsenergie (s. dort), welche den reagierenden Molekülen neben der Translationsenergie zukommt, ab. M a n berücksichtigt diesen Sachverhalt durch einen F a k t o r p („sterischer Faktor"), und es gilt dann: (4) („Arrhenius'sche Gleichung") mit A^ = p • km!lx („Häufigkeitsfaktor", „Frequenzfaktor"). Mit steigender Reaktionstemperatur steigt mithin die Geschwindigkeitskonstante exponentiell an Beispiel: Für die Umsetzung von Wasserstoff und gasförmigem Iod zu Iodwasserstoff ist A^ = 10 11 ' 3 l/mol • s und £ a = 167.5 kJ/mol. Daraus folgt z.B. für 356°C (629 K) unter Berücksichtigung der Arrhenius'schen Gleichung in logarithmischer Schreibweise: lnfc^ = l n ^ — EJRT bzw. (da lnfc = 2.303 logfc): logfc^ = 11.3-167.5/(2.303 x0.008314x 629)= - 2 . 6 1 oder k^ = 2.46x10~ 3 1/ mol • s in guter Übereinstimmung mit dem experimentellen Wert von 2.55 x 10 ~ 3 l/mol • s. Ganz entsprechend berechnet sich für 377°C (650 K) ein Wert von 5.75 x 10~3 l/mol • s.
1. Das chemische Gleichgewicht
1.1.2
189
Die ,,Rück"-Reaktion
Die bisherigen Betrachtungen über die Reaktionsgeschwindigkeit gelten nur für den Fall, dass die Reaktion im Sinne der Reaktionsgleichung (1) e i n s i n n i g (,,irreversibel") von links nach rechts verläuft. Diese Voraussetzung trifft aber nur f ü r einen Teil der bekannten chemischen Umsetzungen näherungsweise zu. Im Allgemeinen sind die chemischen Reaktionen u m k e h r b a r (,,reversibel"), d . h . die an der Reaktion beteiligten Stoffe haben das Bestreben, im Sinne der Reaktionsgleichung AB
CD
AD
BC
sowohl von links nach rechts (,,Hin"-Reaktion) wie von rechts nach links (,,Rück"-Reaktion) zu reagieren. Es werden also die Moleküle A D und BC bei Zusammenstößen ihrerseits die Neigung zeigen, sich wieder rückwärts unter Bildung der ursprünglichen Stoffe AB und C D umzusetzen. F ü r diese Reaktion lässt sich, falls die Stoffe A D und BC ebenfalls gasförmig oder gelöst sind, in entsprechender Weise eine der Gleichung (3) analoge Geschwindigkeitsgleichung ableiten =
K
(5)
wobei hier in Anlehnung an Gleichung (2) als Z u n a h m e der Konzentration der Stoffe AB bzw. C D oder als A b n a h m e der Konzentration der Stoffe A D bzw. BC je Sekunde definiert ist 2 : . dc AB = + —r~ dt
=
, dc CD + — dt
=
dc BC dc A D t~ = —T~ • dt dt
(6)
Der im Allgemeinen von verschiedene Zahlenwert von lässt sich wieder bei Kenntnis der Aktivierungsenergie sowie des Häufigkeitsfaktors für die Rückreaktion über die Arrhenius'sche Gleichung (4) für jede beliebige Temperatur berechnen. Beispiel: Für die Spaltung von Iodwasserstoff in Wasserstoff und gasförmiges Iod ist A„_ = 10 lo s l/mol • s und £ a = 184.2kJ/mol. Hieraus folgt gemäß (4) z.B. für 356°C (629 K): logfc^ = 10.8 - 184.2/ (2.303 X 0.008314 X 629) = - 4 . 4 9 oderfc^ = 3.24 X 10~5 l/mol • s (experimenteller Wert 3.02 x 10~5 l/mol • s). Die Aktivierungsenergien f ü r „ H i n " - und ,,Rück"-Reaktion, und E n s t e l l e n keine unabhängigen Größen dar, sondern sie stehen zahlenmäßig durch die chemische R e a k t i o n s e n e r g i e (s. dort) miteinander in Beziehung. Dies lässt sich in einfacher Weise im R a h m e n der auf dem Physikochemiker Henry Eyring zurückgehenden „Theorie des Übergangszustandes" (,,transition state theory") - einer der Stoßtheorie gleichwertigen, mehr auf den Stoßkomplex der reagierenden Moleküle (statt auf deren Zusammenstoß) ausgerichteten Beschreibung des Ablaufs chemischer Reaktionen - verständlich machen: Im Zuge der „ H i n " - (bzw. ,,Rück"-)Reaktion AB + C D A D + BC nähern sich die Moleküle AB und C D (bzw. A D und BC), wobei unter stetiger E n e r g i e a u f n a h m e eine L o c k e r u n g gewisser Molekülbindungen, verbunden mit einer mehr oder minder starken K n ü p f u n g neuer zwischenmolekularer Bindungen, erfolgt (,,Reaktionsknäuel"). Es entsteht schließlich in einem ,,Übergangszustand " der Reaktion ein besonders energiereicher Komplex [ A B C D ] + („aktivierter Komplex"; charakterisiert durch das Zeichen =|=), der rasch unter E n e r g i e a b g a b e in die Moleküle A D und BC (bzw. AB und CD) zerfällt: AB CD Edukte
ABCD aktivierter Komplex
AD BC Produkte
190
VII. Die Molekülumwandlung
Zur Auslösung einer chemischen Reaktion genügt hiernach häufig eine Lockerung chemischer Bindungen. Die zur Bildung des aktivierten Komplexes aufzuwendende Aktivierungsenergie ist damit im Allgemeinen kleiner als die Summe der Dissoziationsenergien der in Reaktion tretenden Molekülbindungen (bei Gasreaktionen häufig V3 dieser Energie). Nach dem Postulat von G.S. Hammond ist dabei die Bindungslockerung bei der Bildung aktivierter Komplexe im Falle exothermer Reaktionen kleiner als im Falle endothermer Reaktionen, d.h. der aktivierte Komplex gleicht im ersteren Falle mehr den Ausgangs-, in letzterem Falle mehr den Endstoffen der Umsetzung. Die Geschwindigkeit der ,,Hin"- (bzw. ,,Rück"-)Reaktion AB + C D A D + BC ist nun verständlicherweise umso größer, 1. je höher die K o n z e n t r a t i o n C[ABCD]* des gebildeten aktivierten Komplexes ist, 2. je r a s c h e r der aktivierte Komplex [ A B C D ] * in die Produkte (bzw. Edukte) zerfällt und 3. je größer die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass der Zerfall von [ A B C D ] * in der gewünschten und nicht in der umgekehrten Richtung abläuft (,,Durchlässigkeit " der R e a k t i o ^ 3 • Wie dabei aus der Theorie des Übergangszustandes folgt, hängt die für eine chemische Reaktion charakteristische Geschwindigkeit insbesondere von der Kon zentration C[ABCD]* ab, die ihrerseits von der zur Bildung des Komplexes [ A B C D ] * erforderlichen Energie, auf die wir nun näher eingehen wollen, bestimmt wird. Der Energiegehalt des „Reaktionsknäuels" hängt von der räumlichen Orientierung der Atome im Komplex [ A B C D ] * ab. Jener Reaktionsweg, auf dem die Edukte (bzw. Produkte) unter Überschreiten des energieärmsten der möglichen Übergangsstufen in die Produkte (bzw Edukte) übergeführt werden, wird als ,,Reaktionskoordinate" bezeichnet. Dabei werden ,,Hin"- und ,,Rück"-Reaktion durch die gleiche Reaktionskoordinate beschrieben („Gesetz der mikroskopischen Reversibilität").
Fig. 69 Reaktionskoordinaten-Diagramm: Profil der Enthalpie (a) bzw. freien Enthalpie (b) einer chemischen Umsetzung (bezüglich der Katalysatorwirkung (b) vgl. S. 203).
In übersichtlicher F o r m trägt m a n die E n e r g i e in einem „Reaktionskoordinaten-Diagramm 66 gegen die R e a k t i o n s k o o r d i n a t e in der in F i g . 6 9 a veranschaulichten Weise auf (,,Energieprofil" einer chemischen Reaktion). In diesem Diagramm stellen die waagrechten Niveaus zu Beginn und am Ende des Kurvenzuges den Energiegehalt des Ausgangs- bzw. Endstoffs („Ausgangs"- bzw. „Endzustand" der Reaktion) dar, während das Maximum (,, Übergangszustand" der Reaktion) dem Energiegehalt des aktivierten Komplexes entspricht. Dabei verläuft die ,,Hin"-Reaktion entlang der Reaktionskoordinate von links nach rechts, die ,,Rück"-Reaktion umgekehrt von rechts nach links. Die Energiedifferenz zwischen dem Energiegehalt der Reaktanden A B / C D bzw. A D / B C und dem des aktivierten Komplexes ist dann die „Aktivierungsenthalpie 66 AHt bzw. AHt der ,,Hin"- und ,,Rück"-Reaktion. Sie entspricht näherungsweise der Aktivierungsenergie AH**Ea. 3
(7)
Im Gegensatz hierzu sind für die Geschwindigkeit im Rahmen der Stoßtheorie (s. dort) 1. die Zahl der M o l e k ü l z u s a m m e n s t ö ß e pro Zeiteinheit, 2. der B r u c h t e i l e n e r g i e r e i c h e r Zusammenstöße und 3. die G e o m e t r i e des Zusammenstoßes (sterischer Faktor) von Bedeutung.
1. Das chemische Gleichgewicht
191
Die Differenz der Aktivierungsenthalpien f ü r die „ H i n " - und „ R ü c k " - R e a k t i o n gibt, wie der Fig. 69 a leicht zu entnehmen ist, die im Zug der Reaktion AB + C D ^ A D + BC abgegebene bzw. aufgenommene R e a k t i o n s e n t h a l p i e wieder: AH% -AHt
= AH.
(8)
Mithin wird die Geschwindigkeit einer Reaktion nicht von der Reaktionsenthalpie A H bestimmt, wie m a n früher einmal annahm. Die Geschwindigkeit einer Reaktion wird allerdings auch nicht von der Aktivierungsenthalpie AH * (bzw. Aktivierungsenergie EJ bestimmt; denn die Aktivierungswärme W*es!lml = AH* der Bildung des aktivierten Komplexes aus den Reaktanden AB/CD bzw. AD/BC setzt sich ähnlich wie die Reaktionswärme (s. dort) aus zwei Gliedern, der „freien" (W*rl!i) und der „gebundenen Aktivierungswärme" (gebunden) zusammen (vgl. hierzu S.49): W*g e s a m t = W*f r e i — W* gebunden 1
'
\
(9) >
Nur der bezüglich seiner Energieform freie Anteil W*rei = AG * („freie Aktivierungsenthalpie") bestimmt die Reaktionsgeschwindigkeit Die Differenz der freien Aktivierungsenthalpien für die ,,Hin"- und ,,Rück"-Reaktion A G t — A G t , stellt gemäß Fig. 69 b die freie Reaktionsenthalpie A G dar, welche ihrerseits die Affinität einer chemischen Reaktion (s. dort) bestimmt. Mithin wird die Reaktionsgeschwindigkeit nicht durch die chemische Affinität, sondern ausschließlich durch die freie Aktivierungsenthalpie einer Umsetzung festgelegt. Ein thermodynamisch instabiles chemisches System (negatives AG) kann dementsprechend sowohl kinetisch stabil („inert", „metastabil"; großes AG + ) als auch kinetisch instabil („labil"; kleines AG + ) sein Thermodynamisch stabile (kurz: „stabile") chemische Systeme (positives A G) sind andererseits immer kinetisch stabil (Fig. 69b, Reaktionskoordinate von rechts nach links gelesen AG * > AG). Vgl. hierzu auch S. 49. Die in ihrer Energie gebundene Aktivierungswärme ist mit der Bildung des aktivierten Kom plexes zwangsläufig gekoppelt. Sie hängt mit der so genannten „Aktivierungsentropie" AS * durch die Beziehung AW* ehundl!n = TAS* zusammen (vgl. gebundene Reaktionswärme, S. 51), worin die Aktivierungsentropie in gleicher Weise wie die Reaktionsentropie ein Maß für die Erhöhung (positives Vorzeichen von AS + ) bzw. Erniedrigung (negatives Vorzeichen von AS + ) der molekularen U n o r d nung (Bewegungsfreiheit) bei der Bildung des aktivierten Komplexes aus den Edukten (bzw. Produkten) ist. Die Beziehung (9) für den Gesamtumsatz der Aktivierungswärme W*esaml = AH* lässt sich mithin wie folgt formulieren AH* = AG + - TAS*.
(10)
Die freie Aktivierungsenthalpie A G * hängt, wie die Theorie des Übergangszustandes lehrt, mit der Geschwindigkeitskonstante fc für die „Hin"- oder „Rück"-Reaktion folgendermaßen zusammen: k =
h _ l .
e
- ^ * I R T
(11)
(fcB = Boltzmannsche Konstante = 1.380662 x 10~ 23 J/K; h = Planck'sches Wirkungsquantum = 6.626176 x 10~ 34 Js). Eine exaktere Form der Beziehung (11) enthält noch den Faktor k (,,Durchlässigkeits-", „Übergangs-" bzw. ,,Transmissionskoeffizient"), der zwischen 0.5 und 1 liegt und im Allgemeinen gleich 1 gesetzt wird. Bei Berücksichtigung der Beziehung (10) und des Zusammenhangs e a + b = ea • e b ergibt sich hieraus die „Eyring'sche Gleichung": */RT
.
(12)
h Einer Gegenüberstellung des Ausdrucks (12) mit der Arrhenius'schen Gleichung (4) lässt sich unter Be rücksichtigung von exp (— EJRT) x exp(— AH */RT) somit die Beziehung
h entnehmen, wonach die Häufigkeitsfaktoren wesentlich durch die Änderung der Aktivierungsentropie AS* (Änderung der molekularen Unordnung (Bewegungsfreiheit)) beim Übergang der Reaktanden in den aktivierten Komplex bestimmt werden
192
VII. Die Molekülumwandlung
Beispiel: Für die Umsetzung von H 2 und gasförmigen I 2 zu HI ergibt sich k^ bei 356°C (629 K) experimentell zu 2,53 x 10~3 l/mol • s. Aus der Gleichung (11) in logarithmischer Schreibweise (Zahlenwerte fürfcB,/i, Ä berücksichtigt), logfc^ = 10.32 + l o g T - 5 2 . 2 3 AG */T, folgt dann AG + = 0.01915 Tx (10.32 + l o g T - l o g f c J = 0.0191^ x 629 x (10.32 + log 629 - l o g 2.53 x 10" 3 ) = 189.3 kJ/mol. Zur Berechnung von AS* und AH* aus Gleichung (12) (bzw. (10)) ist die Kenntnis von Geschwindigkeitskonstanten (bzw. freier Aktivierungsenthalpien) bei mindestens zwei Temperaturen einer chemischen Reaktion Voraussetzung
1.1.3
Die Gesamtreaktion
Der in jedem Zeitmoment nach außen hin beobachtete Bruttoumsatz der Gesamtreaktion ist gleich dem Umsatz der ,,Hin"-Reaktion vermindert um den Umsatz der ,,Rück"-Reaktion. Daher stellt sich die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion als die Differenz der Geschwin digkeiten der beiden Teilreaktionen dar r =
—
.
(13)
Die messende Verfolgung der Geschwindigkeit einer Reaktion ergibt dementsprechend immer nur die Differenz der Teilgeschwindigkeiten v^ und v N u r bei solchen Reaktionen, bei denen im Vergleich zu klein ist daher gegenüber vernachlässigt werden kann ist r annähernd gleich v D i e s sind d a n n die praktisch quantitativ von links nach rechts verlaufenden Reaktionen. Alle anderen Reaktionen führen zu einem G l e i c h g e w i c h t s z u s t a n d , dessen Lage durch die relative Größe von k ^ und bestimmt wird (S. 193) 4 . Um alles bisher Gesagte durch ein Zahlenbeispiel zu veranschaulichen, sei die bereits öfter erwähnte Reaktion der Bildung und des Zerfalls von Iodwasserstoff eingehender betrachtet: H 2 + I 2 (g) ^ HI + HI + 9.46 kJ . Für die Abhängigkeit der Geschwindigkeit dieser Reaktion von den Konzentrationen der Reaktanden fand M. Bodenstein im Jahre 1894 ein aus (13) nach Einsetzen von (3) und (5) folgendes Geschwindigkeitsgesetz r= -
^
= k^-cHl-ch-K-c2m.
(14)
Die beiden Geschwindigkeitskonstanten fc^ und haben bei den in Spalte 1 der Tab.25 angegebenen Temperaturen die in Spalte 2 und 3 wiedergegebenen Werte (wobei fc^ in diesem Temperaturbereich durchweg um rund 2 Zehnerpotenzen größer als fc^ ist, entsprechend einer Begünstigung der HI-Bildung gegenüber dem HI-Zerfall): Tab. 25 Geschwindigkeits- und Gleichgewichtskonstanten der HI-Bildung und -Zersetzung. t°C
Geschwindigkeitskonstanten k_ [l/mol • s] k^ [l/mol • s]
Gleichgewichtskonstanten kjk^ Kc
356 393 443 508
2.53 x 10~3 1.42x10^ 1.40x10"! 1.34x10°
0.84x10 2 0.64 x10 2 0.56 x 102 0.34 x ! 0 2
3.02 x 10~5 2.20 x 10~4 2.50x10^ 3.96x10"2
0.67x10 2 0.60 x10 2 0.50x10 2 0.40 x10 2
Befinden sich also in 1 Liter 1 m o ^ 2 g) Wasserstoff und 1 mol (254 g) Iod bei Abwesenheit von Iodwasserstoff, so werden gemäß der dann gültigen Geschwindigkeitsgleichung (14) (cH2 = cl2 = 1; cH[ = 0) bei 356°C je Sekunde 2.53 • 10 "3 m o ^ 5,06 mg) Wasserstoff pro Liter umgesetzt. Umgekehrt entstehen bei einer Konzentration von 1 mol (= 128 g) reinem Iodwasserstoff je Liter und Sekunde gemäß der 4
Will man in den letztgenannten Fällen die für einsinnig verlaufende Reaktionen geltenden Gleichungen (3) und (5) zur Berechnung der Teilgeschwindigkeiten u benutzen, so muss man die Geschwindigkeitsbestimmung ganz zu Beginn der chemischen Umsetzung vornehmen, wo infolge Fehlens von Reaktionsprodukten die Gegenreaktion noch n i c h t ins G e w i c h t fällt.
1. Das chemische Gleichgewicht
193
Gleichung (14) (cHl = cl2 = 0; cHI = 1) bei 356 °C 3.02 • 10 "5 m o ^ 0.06 mg) Wasserstoff durch Zerfall des Iodwasserstoffs. Bei gleichzeitigem Vorhandensein von je 1 mol H 2 , I2 und HI je Liter beträgt daher die Bruttoabnahme an Wasserstoffje Sekunde 0.00253 - 0.00003 = 0.00250 mol(= 5.00 mg)Wasserstoff. Dabei werden 2 x 0.0025 = 0.005 m o ^ 640 mg) Iodwasserstoff gebildet. Betragen die Konzentrationen nicht 1 sondern nur 0.1 mol/l, so ergibt sich für die je Sekunde gebildeten und verbrauchten Mengen und damit für die Geschwindigkeit r der HI-Bildung, wie durch Einsetzen der Konzentrationen in die Geschwindigkeitsgleichung (14) hervorgeht, ein 100-mal kleinerer Wert. Wie Tab. 25 weiter zeigt, wachsen die beiden Geschwindigkeitskonstanten fc^ und fc^ mit steigender Temperatur, und zwar nimmt fc^ weniger rasch zu als fc^ (bei 800°C gilt k^ x fc^). Der Iodwasserstoffzerfall wird also bei Temperaturerhöhung stärker begünstigt als die Iodwasserstoffbildung, so dass in summa mit steigender Temperatur zunehmende Zersetzung des Iodwasserstoffs erfolgt (bezüglich der Spalten 4 und 5 der Tab.25 vgl. S. 192). Bei Zimmertemperatur sind k^ und so klein, dass hier weder Umsetzung von und zu HI noch Zerfall von HI in und erfolgt ist dabei um Zehnerpotenzen kleiner alsfc_>,so dass bei Raumtemperatur ein gasförmiges H2/12-Gemisch als metastabil, HI dagegen als stabil anzusehen ist.
1.2
Der Gleichgewichtszustand
1.2.1
Das Massenwirkungsgesetz
N a c h Gleichung (14) ist die Geschwindigkeit einer Gesamtreaktion AB + C D A D + BC gleich der Differenz der Geschwindigkeit der „ H i n " - und „Rück"-Reaktion. N u n nimmt, wie schon erwähnt, die Geschwindigkeit = k^ • c AB • c CD (3) der Teilreaktion AB + C D -> A D + BC nach Einsetzen der Reaktion dauernd ab, da die Stoffe AB und C D dabei verbraucht und die Konzentrationen c AB und c CD dementsprechend kleiner werden. Umgekehrt wächst die Geschwindigkeit = k„_ • c AD • c BC (5) der Gegenreaktion in dem Maße, in dem sich bei der G e s a m t r e a k t i o n die Reaktionsprodukte A D und BC bilden, c AD und c BC daher größer werden. Die G e s c h w i n d i g k e i t = v^ — (14) der von links nach rechts verlaufenden G e s a m t r e a k t i o n m u ß demnach nach Beginn der chemischen Umsetzung dauernd a b n e h m e n . Schließlich k o m m t ein Punkt, bei dem v_> = wird. D a n n ist (15) Das heißt: die G e s c h w i n d i g k e i t d e r n a c h a u ß e n h i n b e o b a c h t b a r e n R e a k t i o n i s t g l e i c h N u l l ; die Reaktion ist n a c h a u ß e n h i n zum Stillstand gekommen, sie befindet sich ,,im chemischen Gleichgewicht Das chemische Gleichgewicht ist also kein s t a t i s c h e s , sondern ein d y n a m i s c h e s . Im Gleichgewichtszustand befinden sich nicht etwa die Moleküle AB, CD, A D und BC indifferent nebeneinander (,,statisches Gleichgewicht"). Vielmehr findet auch hier wie zuvor eine „ H i n " und ,,Rück"-Reaktion statt; nur h e b t s i c h n u n m e h r d e r g e g e n s e i t i g e U m s a t z g e r a d e a u f (,,dynamisches Gleichgewicht"). Es werden mit anderen Worten in einem gegebenen Zeitabschnitt ebenso viele Moleküle AB und C D unter Bildung von A D und BC v e r b r a u c h t wie umgekehrt Moleküle AB und C D aus A D und BC wieder e n t s t e h e n , so dass keine Konzentrationsänderungen mehr erfolgen, nach außen hin also keine Veränderung des Systems mehr wahrzunehmen ist Bei w e l c h e n K o n z e n t r a t i o n e n der Reaktionsteilnehmer sich das dynamische Gleichgewicht einstellt, ergibt sich aus der Gleichgewichtsbedingung (15). Ersetzen wir hierin die Werte und durch die Ausdrücke (3) und (5), so erhalten wir:
C
AD
C
AB '
C
' C
BC
CD
(16)
194
VII. Die Molekülumwandlung
Diese Gleichung (16) ist unter dem N a m e n ,,Massenwirkungsgesetz" bekannt und besagt folgendes Eine chemische Reaktion kommt bei gegebener Temperatur dann zum Stillstand (,,Gleichgewichtszustand"), wenn der Quotient aus dem Produkt der Konzentrationen der Reaktionsprodukte und dem Produkt der Konzentrationen der Ausgangsstoffe einen bestimmten, für die Reaktion charakteristischen Zahlenwert Kc erreicht hat. Welche E i n z e l w e r t e den verschiedenen Konzentrationen im Gleichgewichtszustand zukommen, ist gleichgültig, sofern nur der Q u o t i e n t aus den K o n z e n t r a t i o n s - P r o d u k t e n dem Wert der „Gleichgewichtskonstante66 Kc entspricht. Es gibt also unendlich viele Gemische von AB, CD, A D und BC, die der Gleichgewichtsbedingung (16) genügen und daher nach außen hin nicht reagieren. Ist der Quotient aus den Konzentrationsprodukten kleiner (größer) als die Gleichgewichtskonstante, so verläuft eine chemische Reaktion so lange von links nach rechts (von rechts nach links), bis durch die Konzentrationsänderung der Reaktionsteilnehmer das Massenwirkungs gesetz schließlich wieder erfüllt und somit der Gleichgewichtszustand erreicht ist Das Gesetz der chemischen Massenwirkung wurde zum ersten Male klar und umfassend im Jahre 1867 von dem norwegischen Mathematiker Cato Maximilian Guldberg (183^—1902) und dem norwegischen Chemiker Peter Waage (1833-1900) ausgesprochen. Es blieb zunächst unbekannt und wurde dann von verschiedenen Seiten, unabhängig von Guldberg und Waage, neu entdeckt Dass in der Tat gemäß Gleichung (16) die Gleichgewichtskonstante Kc gleich dem Quotienten der beiden Geschwindigkeitskonstanten fc^ und fc^ ist, geht für das schon behandelte Beispiel H 2 + I 2 HI + HI aus der Tab.25 (S.192) hervor, in welcher der Quotient fc^/fc(Spalte 4) dem durch analytische Bestimmung der HI-, H 2 - und 12-Konzentrationen im Gleichgewicht gemäß der Massenwirkungsgleichung C
HI '
c
C
h 2 'ch
HI =
K
c
ermittelten i^c-Wert (Spalte 5) gegenübergestellt ist. Die Zahlen zeigen eine gute Übereinstimmung. Entsprechend der Tatsache, dass in diesem speziellen Fall fc^ mit steigender Temperatur rascher wächst als fc^, wird Kc = k^jk^ mit Temperaturerhöhung kleiner: die Dissoziation des Iodwasserstoffes nimmt zu, das Gleichgewicht ,,verschiebt sich zugunsten der linken Seite" der obigen Reaktionsgleichung. Beteiligen sich an einer Einzelreaktion mehrere Moleküle e i n - u n d d e r s e l b e n M o l e k ü l a r t , so verändert sich das Massenwirkungsgesetz sinngemäß. Betrachten wir etwa den DeaconProzess (s. dort) HCl + H C l + HCl + H C l + 0 2 1 / 2 C + 1 / 2 C 0 2 ) m e t a s t a b i l , N 2 0 3 ( - • N O + N O ) und flüssiges N H 3 (-> gasförmiges N H ) l a b i l . Auch chemische Verbindungsgemische können stabil, metastabil oder labil sein. Zum Beispiel dürfte bei gewöhnlicher Temperatur eigentlich kein Sauerstoff neben Wasserstoff und kein Schwefeldioxid neben Sauerstoff bestehen, da die Gleichgewichte 2 H 2 + 0 2 2 H 2 O bzw. 2 S O 2 + 0 2 2 S 0 3 ganz auf der linken Seite liegen. Ebenso müssten sich bei Zimmertemperatur eigentlich alle o r g a n i s c h e n S u b s t a n z e n an der Luft zu C O , H O usw. o x i d i e r e n , so dass ein pflanzliches und tierisches Leben unmöglich wäre, wenn es sich hier nicht um metastabile Zustände handeln würde, die unter normalen Bedingungen nur mit u n m e s s b a r k l e i n e r G e s c h w i n d i g k e i t in den wahren stabilen Endzustand übergehen Ein metastabiles System ist einem Wagen vergleichbar, der auf einem Bergabhang stehen bleibt, weil die Bremse angezogen ist, oder auch einem Uhrenräderwerk, das sich - ungeölt - nur sehr langsam unter der Spannung der Feder bewegt. Erst wenn die „Reibung" durch Lösen der Bremse bzw. Ölen des Uhrwerks mehr oder weniger beseitigt ist, setzt sich der Wagen bzw. das Räderwerk als Folge der Schwerkraft bzw. der Federspannung in Bewegung. Noch zutreffender ist vielleicht der Vergleich mit einem auf einem Bergabhang in einer Mulde stehenden Wagen, der unter Arbeitsaufwand erst auf den - gegebenenfalls zuvor erniedrigten - Muldenrand geschoben werden muss, damit er den Berg herun-
1. Das chemische Gleichgewicht
203
terrollen kann. Bei chemischen Reaktionen bewirkt ein Katalysator - im übertragenen Sinne - eine Erniedrigung des Muldenrandes, der bei Temperaturerhöhung, d. h. wachsender Schubkraft zunehmend leichter erreichbar wird
1.3.1
Reaktionsbeschleunigung durch Katalysatoren
Unter „Katalysatoren" 8 versteht m a n ganz allgemein Stoffe, welche die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion e r h ö h e n („positive Katalysatoren") oder e r n i e d r i g e n („negative Katalysatoren"), o h n e dabei im Endeffekt v e r b r a u c h t z u w e r d e n , so dass sie nach der Reaktion u n v e r ä n d e r t wieder vorliegen und in der Reaktionsgleichung daher n i c h t a u f t r e t e n . So setzt sich etwa ein metastabiles Gemisch von Wasserstoff und Sauerstoff in Berührung mit fein verteiltem Palladium oder Platin bereits bei Raumtemperatur rasch oft unter Explosion - zu Wasser um bzw. werden die metastabilen Nahrungsmittel im menschlichen Körper unter dem Einfluss von Katalysatoren (Enzymen) oxidiert. Ein positiver Katalysator beeinflusst eine chemische, auf dem Wege über einen aktivierten Komplex (s. dort) ablaufende Reaktion in der Weise, dass er die Bindung eines e n e r g i e ä r m e r e n aktivierten Komplexes ermöglicht. Positive Katalysatoren setzen mithin die freien Aktivierungsenergien einer „ H i n " - und ,,Rück"-Reaktion, A G * und A G t , um den gleichen Betrag herab (vgl. Fig. 65 auf S. 183, gestrichelte Linie), e r h ö h e n also die Geschwindigkeit sowohl der „ H i n " - als auch der , , R ü c k " - R e a k t i o n g l e i c h e r m a ß e n und b e s c h l e u n i g e n demgemäß die Gleichgewichtseinstellung. N e g a t i v e Katalysatoren e r n i e d r i g e n in analoger Weise die Geschwindigkeit der „ H i n " - und ,,Rück"-Reaktion u m gleiche Beträge und h e m m e n d a m i t die Gleichgewichtseinstellung. An der Differenz der freien Aktivierungsenthalpien, also an der freien Reaktionsenthalpie AG ändert sich hierdurch naturgemäß nichts; d . h . die chemische Affinität einer Reaktion, welche ja deren Gleichgewichtslage b e s t i m m t wird durch Katalysatoren nicht verändert. Die katalytischen Wirkungen, deren eingehende Erfassung wir dem deutschen Physikochemiker Wilhelm Ostwald (1853-1932) verdanken, können verschiedene Ursachen haben. So k a n n etwa eine Reaktion etwa des Typus A + B AB bei Anwesenheit eines Katalysators K nach dem Schema AK AK A + B
AB AB
derart ablaufen, dass ein Z w i s c h e n p r o d u k t A K gebildet wird, welches sofort nach seiner Entstehung unter R ü c k b i l d u n g d e s K a t a l y s a t o r s weiterreagiert. Die beiden T e i l r e a k t i o n e n sind dabei dadurch charakterisiert, dass sie zusammengenommen mit g r ö ß e r e r G e s c h w i n d i g k e i t ablaufen als die d i r e k t e Reaktion. M a n nennt derartig wirkende Katalysatoren ,, Überträger". Ein hierher gehörendes Beispiel ist etwa die Übertragung von Sauerstoff auf Schwefeldioxid (SO 2 + 1 / 2 O 2 -> S O ) durch Stickstoffoxide (Bleikammerverfahren der Schwefelsäuregewinnung, s. dort). M a n beobachtet diese Überträgerwirkung von Katalysatoren vor allem bei der „homogenen Katalyse", bei der reagierende Stoffe und Katalysatoren eine e i n z i g e P h a s e (Gas- oder Lösungsphase) bilden.
8
Von katalyein (griech.) = losbinden, aufheben.
204
VII. Die Molekülumwandlung
Die „heterogene Katalyse", bei der G a s - oder L ö s u n g s r e a k t i o n e n durch f e s t e Katalysatoren („Kontakte"; vgl. das Kontaktverfahren der Schwefelsäuregewinnung) beschleunigt werden, ist meist durch eine O b e r f l ä c h e n w i r k u n g des Katalysators zu deuten. Hiernach werden die reagierenden Stoffe durch physikalische oder auch chemische Bindung an der Oberfläche des Katalysators in einen reaktionsbereiteren Zustand übergeführt, in dem sie befähigt sind, schneller als im ,,unaktivierten" Zustand zu reagieren. Die Festigkeit der Adsorptions-Bindung muss dabei naturgemäß sehr spezifisch abgestuft sein, damit das adsorbierte Molekül zwar durch die Oberflächenbindung in einen gegenüber dem Normalzustand reaktionsfähigeren Zustand versetzt wird, andererseits aber nicht infolge zu fester Bindung eine stabile chemische Oberflächen-Verbindung mit dem festen Katalysator bildet (auf die Bildung solcher Oberflächen-Verbindungen ist z. B. die ,,Passivierung" (s. dort) vieler Metalle an der Luft oder in oxidierenden Säuren zurückzuführen). Auch muss die Art der Bindung eine leichte Loslösung des Reaktionsproduktes vom Katalysator ermöglichen, was ebenfalls dazu beiträgt, dass für jede chemische Reaktion ganz spezifische Katalysatoren erforderlich sind. Die Tatsache, dass die Wirkung fester Katalysatoren häufig durch minimale Mengen von „Kontaktgiften" („Hemmstoffen") aufgehoben werden kann, zeigt, dass nicht die ganze Oberfläche des festen Katalysators, sondern wahrscheinlich nur bestimmte „aktive Stellen" (z.B. Spitzen, Ecken, Kanten, Kristallgitterstörungen) des Katalysators - welche bei der „Vergiftung" durch anderweitige Adsorption blockiert werden - für die Katalysatorwirkung verantwortlich zu machen sind. Durch Zugabe bestimmter Fremdstoffe („Aktivatoren", „Promotoren"), die an sich für die fragliche Reaktion gar nicht katalytisch wirksam zu sein brauchen, kann die Wirkung eines Kontakts häufig in sehr bedeutendem Maße verstärkt werden. So beschleunigt beispielsweise fein verteiltes Eisen die Bildung von Ammoniak aus Wasserstoff und Stickstoff (3 H 2 + N 2 -> 2NH 3 ) weit weniger als ein Gemisch von Eisen und Aluminiumoxid (vgl. NH3-Synthese), da das schwerschmelzende Aluminiumoxid die Eisenteilchen bei der erhöhten Reaktionstemperatur der Ammoniaksynthese am allmählichen Zusammensintern („Rekristallisieren") hindert und so deren große unregelmäßige Oberfläche stabilisiert. Die Entwicklung solcher aus mehreren Stoffen bestehender „Mischkatalysatoren", die den Ausgangspunkt der modernen katalytischen Großindustrie bildet, ist weitgehend den systematischen Untersuchungen des deutschen Naturforschers A. Mittasch (1869-1953) zu danken.
1.3.2
Reaktionsbeschleunigung durch Temperaturerhöhung
Ein anderes Mittel zur Steigerung der Reaktionsgeschwindigkeit einer chemischen Umsetzung ist, wie bereits erwähnt wurde (S. 188), die E r h ö h u n g d e r R e a k t i o n s t e m p e r a t u r , und zwar steigert bei Raumtemperatur eine T e m p e r a t u r e r h ö h u n g u m j e 10°C nach einer von van't Hoff erkannten Faustregel die Reaktionsgeschwindigkeit im Allgemeinen auf das z w e i bis v i e r f a c h e . Eine chemische Reaktion verläuft daher bei 100 °C mindestens 2 1 0 « 1000-mal schneller als bei 0°C, so dass Reaktionen, die bei 100°C in einer Stunde ablaufen, bei 0°C mindestens 40 Tage erfordern. Z u m Unterschied vom K a t a l y s a t o r , welcher die Lage eines Gleichgewichts n i c h t v e r ä n d e r t , also die Geschwindigkeit der „ H i n " - und ,,Rück"-Reaktion in gleicher Weise beschleunigt, beeinflusst die T e m p e r a t u r s t e i g e r u n g auch den G l e i c h g e w i c h t s z u s t a n d , da sie die Geschwindigkeiten der Hin- und Rückreaktion in verschieden starker Weise erhöht. Daher lässt sich das Mittel der Geschwindigkeitssteigerung durch Temperaturerhöhung immer dann nicht anwenden, wenn es mit einer Verschlechterung der Gleichgewichtslage der erwünschten Reaktion verbunden ist. Das ist bei e x o t h e r m e n Reaktionen der Fall (s. unten), weshalb m a n bei solchen Umsetzungen (etwa der NH 3 -Synthese; s. dort) zum Unterschied von e n d o t h e r m e n Reaktionen (etwa der NO-Synthese; s. dort) Katalysatoren statt Temperaturerhöhung zur Reaktionsbeschleunigung anwendet
1. Das chemische Gleichgewicht
1.4
1.4.1
205
Die Verschiebung von Gleichgewichten
Qualitative Beziehungen
Das Prinzip von Le Chatelier Ein Gas oder ein gelöster Stoff ist nach der allgemeinen Zustandsgleichung^ = c • R^ T durch drei Größen charakterisiert: den D r u c ^ , die K o n z e n t r a t i o n c und die T e m p e r a t u r T. Dementsprechend k a n n m a n ein im chemischen Gleichgewicht befindliches homogenes System durch Veränderung dieser Größen, also durch V e r g r ö ß e r n ( V e r k l e i n e r n ) d e s R e a k t i o n s d r u c k s , durch V e r g r ö ß e r n ( V e r k l e i n e r n ) d e r K o n z e n t r a t i o n der Reaktionspartner oder durch E r h ö h e n ( E r n i e d r i g e n ) d e r R e a k t i o n s t e m p e r a t u r stören und verschieben. N a c h welcher Seite der chemischen Reaktionsgleichung hin die Gleichgewichtsverschiebung bei derartigen äußeren Eingriffen erfolgt, geht qualitativ aus dem im Jahr 1888 von dem französischen Chemiker Henry Le Chatelier (1850-1936) formulierten „Prinzip des kleinsten Zwanges" h e r v o r Übt man auf ein im Gleichgewicht befindliches System durch Änderung der äußeren Bedingungen einen Zwang aus, so verschiebt sich das Gleichgewicht derart, dass es dem äußeren Zwange ausweicht. Das Gesetz gilt sowohl für physikalische wie für chemische Gleichgewichte. Beispiele ersterer Art sind z. B. die Veränderung des Schmelzpunktes mit dem Druck und das Verdampfen einer Flüssigkeit beim Erwärmen: Übt man auf ein bei 0 °C im Gleichgewicht befindliches Gemisch von Wasser und Eis einen Druck aus, so tritt Schmelzen des Eises ein (Grundlage des Schlittschuhlaufens), weil beim Übergang von Eis in Wasser eine Volumenverminderung erfolgt und so dem äußeren Druck ausgewichen wird. Erhitzt man ein bei 100°C im Gleichgewicht befindliches Gemisch von Wasser und Wasserdampf, so erfolgt Verdampfung des Wassers, weil der Übergang von flüssigem in dampfförmiges Wasser Wärme verbraucht und so dem äußeren Zwang der Wärmezufuhr ausgewichen wird. In ganz entsprechender Weise lassen sich auch die Verschiebungen voraussehen, welche die Ausübung eines äußeren Zwanges bei chemischen Gleichgewichten zur Folge haben muss (vgl. die nächsten Unterkapitel).
Folgerungen des Prinzips von Le Chatelier Veränderung der Konzentration eines Reaktionspartners Fügt m a n zu einem im chemischen Gleichgewicht befindlichen System A + B
C + D
n e u e n S t o f f A hinzu, so verschiebt sich das Gleichgewicht nach r e c h t s , da hierdurch dem äußeren Zwang der Konzentrationsvergrößerung von A durch Verbrauch von A ausgewichen wird. Wie weit die Verschiebung geht, ergibt sich aus dem M a s s e n w i r k u n g s g e s e t z , da auch die Stoffkonzentrationen des s i c h n e u e i n s t e l l e n d e n Gleichgewichts natürlich wie vorher der Beziehung (28 a) genügen müssen. Befanden sich also vorher in der Volumeneinheit a mol A, & mol B, c mol C und d mol D und erhöhen wir die Konzentration des Stoffs A um a' mol auf a + a', so wird, wenn wir die bis zur neuen Gleichgewichtseinstellung umgesetzte Molmenge des Stoffs A mit x bezeichnen, das neue Gleichgewicht durch die Beziehung (28 b) wiedergegeben, aus der sich x errechnen lässt. (a) ° c ' Cp = Kc cA- cB
(b)
^c + X ) ( d + x ) = K (a + a' — x) (b — x)
c
Fügt man also z.B. zu einer Säure HA oder einer Base B0H: HA
B0H
0H
weitere Ionen A" (in Form eines Salzes MA der Säure) bzw. B + (in Form eines Salzes BX der Base) hinzu (etwa Natriumacetat zu Essigsäure oder Ammoniumchlorid zu Ammoniak), so müssen sich die obigen Gleichgewichte nach links verschieben, so dass die saure (basische) Wirkung der Lösung abnimmt (,,Abstumpfen" von Säuren und Basen). Ein anderes Beispiel für eine Gleichgewichtsverschiebung durch
206
VII. Die Molekülumwandlung
Konzentrationsänderung ist etwa der Übergang von gelbem Chromat C r O i n orangefarbenes Dichromat C r 2 b e i Zusatz von Säure (S. 1567): 2 C r O + 2H+
C r 2 0 ^ + H20
gelb
orange
oder der Umschlag von Indikatoren (s. dort) bei Änderung der Wasserstoffionen-Konzentration. In gleicher Richtung wie die V e r m e h r u n g d e r K o n z e n t r a t i o n eines Reaktionspartners auf der e i n e n Seite der Reaktionsgleichung wirkt natürlich die V e r m i n d e r u n g d e r K o n z e n t r a t i o n eines Reaktionspartners auf der a n d e r e n Seite. Veränderung des Reaktionsdrucks Ü b t m a n auf eine Gasreaktion des Typus A + B ^ C + D einen D r u c k aus, so erfolgt nach dem Prinzip von Le Chatelier keine Verschiebung des Gleichgewichts, da die Zahl der Moleküle und damit das Volumen der Reaktionspartner auf beiden Seiten der Reaktionsgleichung gleich ist, also weder durch eine Reaktion von links nach rechts noch durch eine solche von rechts nach links dem Zwang des Drucks ausgewichen werden könnte. Besitzen aber z.B. die gasförmigen R e a k t i o n s p r o d u k t e ein k l e i n e r e s Vol u m e n als die gasförmigen A u s g a n g s s t o f f e , wie dies z.B. bei der Ammoniakbildung aus Wasserstoff und Stickstoff der Fall ist: 3H
2N
so führt eine Druckerhöhung (Verminderung des Reaktionsraums) zu einer V e r s c h i e b u n g n a c h r e c h t s und damit zu einer Ausbeuteverbesserung (vgl. Ammoniaksynthese). V e r g r ö ß e r u n g des Reaktionsraumes ( V e r m i n d e r u n g des Drucks) ergibt umgekehrt eine Verschiebung des Gleichgewichts nach der Seite mit dem g r ö ß e r e n V o l u m e n . So nimmt beispielsweise bei elektrolytischen Dissoziationen des allgemeinen Typus BA die Spaltung mit s t e i g e n d e r V e r d ü n n u n g der Lösung (Erniedrigung des osmotischen Drucks) zu. Die q u a n t i t a t i v e Zunahme der Dissoziation folgt wieder aus dem M a s s e n w i r k u n g s g e s e t z , bei binären Elektrolyten also aus der bereits erwähnten (S. 197), hier nochmals wiedergegebenen Gleichung (22 a), die direkt die Beziehung zwischen Dissoziationsgrad a und Volumen V wiedergibt. Bei k l e i n e n D i s s o z i a t i o n s g r a d e n , bei denen a gegenüber 1 v e r n a c h l ä s s i g t werden kann, ist nach (22b) der D i s s o z i a t i o n s g r a d a der W u r z e l a u s d e m V o l u m e n V proportional: (a) a 2 /(1 - a) = Kc • V
(b) n = k- ]/V
(bei kleinen a und k = ]/H).
(22)
Verdünnt m a n demnach das Lösungsvolumen eines s c h w a c h e n binären Elektrolyten aufs v i e r f a c h e , so nimmt der Dissoziationsgrad a aufs d o p p e l t e zu. F ü r V = co folgt aus (22a) a = 1, da nur d a n n die linke Seite von (22 a) den Wert co annimmt (a 2 /(1 — a) = 1/0 = co); bei ,,unendlicher Verdünnung" sind also auch schwache Elektrolyte v o l l s t ä n d i g dissoziiert (die Beziehung (22a) gilt nicht mehr f ü r sehr schwache Elektrolyte). Ein Beispiel für den mit steigender Verdünnung zunehmenden Dissoziationsgrad ist etwa die Aufhellung von rot nach gelb beim Verdünnen einer roten Eisen(III)-rhodanid-Lösung Fe(SCN)3 (vgl. S. 198): Fe(SCN) 3 rot
Fe3+ + 3SCN~ , gelb
farblos
ein Umschlag, der sich durch Zugabe von Fe3+ oder SCN~ zur gelben Lösung (Verschiebung des obigen Gleichgewichts nach links) wieder rückgängig machen lässt. Veränderung der Reaktionstemperatur Bei T e m p e r a t u r e r h ö h u n g ( - e r n i e d r i g u n g ) verschiebt sich ein chemisches Gleichgewicht nach dem Prinzip von Le Chatelier nach der unter W ä r m e v e r b r a u c h ( - e n t w i c k l u n g ) entstehenden Seite hin. Liegt also ein Gleichgewicht der Art
1. Das chemische Gleichgewicht A + B
C+
207
D+W
( W = Reaktionswärme = — A H ) vor, so begünstigt T e m p e r a t u r e r h ö h u n g die von rechts nach links verlaufende e n d o t h e r m e , T e m p e r a t u r e r n i e d r i g u n g die von links nach rechts verlaufende e x o t h e r m e Reaktion, da sich die Wärme ^ h i e r b e i wie ein Reaktionsteilnehmer verhält, dessen Vermehrung (Temperaturerhöhung) mit Wärmeverbrauch (Verschiebung des obigen Gleichgewichts nach links) und dessen Verminderung (Temperaturerniedrigung) mit Wärmeentwicklung (Verschiebung des obigen Gleichgewichts nach rechts) beantwortet wird. So vertieft sich etwa die gelbe Farbe einer Eisen(III)-Salzlösung Fe3 + beim Erhitzen gemäß der Hydrolysegleichung W + Fe3+ + 3 H 2 0 ^ Fe(OH) 3 + 3H + gelb
braun
nach Braun hin, während sie sich beim Abkühlen umgekehrt aufhellt. Der gleiche Effekt der Aufhellung kann naturgemäß durch Zugabe von Säure (Verschiebung des obigen Gleichgewichtes nach links durch Vergrößerung der H + -Konzentration; s. oben) erzielt werden. Ganz allgemein herrschen bei h o h e n T e m p e r a t u r e n die e n d o t h e r m e n , bei t i e f e n T e m p e r a t u r e n die e x o t h e r m e n Vorgänge vor. Beim a b s o l u t e n N u l l p u n k t (T = 0 K) können sich nur e x o t h e r m e Reaktionen abspielen (natürlich verlaufen letztere bei 0 K unmessbar langsam); bei g e w ö h n l i c h e r T e m p e r a t u r (T = 300 K) verlaufen die meisten Umsetzungen noch e x o t h e r m , doch kommen bereits e n d o t h e r m e Reaktionen vor; bei den Temperaturen des e l e k t r i s c h e n L i c h t b o g e n s (T > 3000 K) dagegen werden die e x o t h e r m e n Verbindungen größtenteils z e r s t ö r t und e n d o t h e r m e g e b i l d e t . Quantitativ lässt sich die Gleichgewichtsverschiebung durch Temperaturveränderung mithilfe der Reaktionsisochore (18c) bzw. Reaktionsisobare (18d) (s. weiter oben) errechnen, die sich ja für negatives A U bzw. AH (exotherme Reaktionen) eine Abnahme und für positives A U bzw. AH (endotherme Reaktionen) eine Zunahme der Gleichgewichtskonstante K von Reaktionen ergibt. Zur Auswertung der Differentialgleichungen (18) ist allerdings eine vorherige Integration erforderlich, welche die Kenntnis der Temperaturabhängigkeit von bzw voraussetzt
1.4.2 Quantitative Anwendungsbeispiele Die Hydrolyse
S a l z e B A (Baserest B, Säurerest A) sind im allgemeinen praktisch v o l l s t ä n d i g dissoziiert (BA -> B + + A _ ) . Löst m a n ein solches Salz BA in Wasser auf, welches in geringem Betrage in Wasserstoff- und Hydroxid-Ionen gespalten ist ( H O H O H ), so liegen in der wässrigen Lösung nebeneinander die Ionen B+ , A " , H + , OH vor. Je nach der Stärke der aus diesen Ionen zusammensetzbaren S ä u r e H A und B a s e B O H kann nun verschiedenerlei erfolgen. Handelt es sich um eine s t a r k e Säure H A und eine s t a r k e Base BOH wie bei dem Salz N a C l (B = Na; A = Cl) - , so können die vier Ionen u n v e r ä n d e r t n e b e n e i n a n d e r bestehen (I), so dass keine Reaktion des Salzes mit dem Wasser („Hydrolyse") eintritt, die Lösung also n e u t r a l reagiert (pH = 7). Ist aber bei starker Base BOH die Säure H A oder bei starker Säure H A die Base BOH s c h w a c h - wie im Falle von Natriumacetat N a A c 9 (B = Na; A = Ac) bzw. von Ammoniumchlorid N H 4 Q (B = N H 4 ; A = Cl) - , so setzen sich die Anionen A~ bzw. Kationen B + mit den - in geringer Konzentration vorliegenden - Wasserstoff- bzw. Hydroxid-Ionen des Wassers teilweise zu 9
Die Abkürzung ,,ac~ " symbolisiert „Acetat" C H 3 C O J , das Deprotonierungsprodukt der Essigsäure C H 3 C O 2 H (lat.) acetum = Essig), die Abkürzung „Ac" den,, Acetylrest" CH 3 CO. Vielfach wird Acauchals Abkürzung für ,,Acylreste" genutzt, einer Bezeichnung für Atomgruppen, die formal aus Säuren durch Abspaltung einer OH-Gruppe resultieren.
208
VII. Die Molekülumwandlung
undissoziierter Säure (Base) um, so dass eine a l k a l i s c h e ( s a u r e ) Reaktion der Lösung auftritt (II; III). Sind schließlich s o w o h l S ä u r e H A wie B a s e B O H s c h w a c h - wie im Falle von Ammoniumacetat N H 4 A c (B = N H 4 ; A = Ac) - , so bildet sich unter Hydrolyse sowohl undissoziierte Säure wie undissoziierte Base (IV), und die Reaktion der Salzlösung hängt in diesem Falle von der relativen Stärke der hydrolytisch gebildeten schwachen Säure und schwachen Base ab (vgl. unten): B+OH~H+A~
B+OH"H+A-
(I) (starke Base, starke Säure)
(II) (starke Base, schwache Säure)
B+OHH+A~
B+OHH+A+
(III) (schwache Base, starke Säure)
(IV) (schwache Base, schwache Säure)
Wie weit jeweils die Hydrolyse fortschreitet, lässt sich leicht mithilfe des M a s s e n w i r k u n g s g e s e t z e s errechnen, wie nachfolgend am Beispiel eines aus einer s c h w a c h e n S ä u r e H A und einer s t a r k e n B a s e B + O H aufgebauten Salzes B + A " gezeigt sei: Die Hydrolyse eines solchen Salzes setzt sich aus den beiden Teilreaktionen HOH ^ H
+
+
A" + H O ^
H+ +OH" HA
(29a) (29b)
HA + O H ~
(29)
zusammen. Solange die durch die Gleichgewichtskonstante der e r s t e n Teilreaktion (Ionenprodukt des Wassers: K w = c H+ • c O H -; s. dort) bedingte Wasserstoffionen-Konzentration c H+ = KJcOHg r ö ß e r als die durch die Gleichgewichtskonstante der z w e i t e n Teilreaktion („Säurekonstante" Ä"s) bedingte Wasserstoffionen-Konzentration c'H+ = Ks • C H A / C A - ist, geht die H y d r o l y s e gemäß (29) w e i t e r . Dabei nimmt c H+ infolge Zunahme von c O H - ab und Ch+ infolge Zunahme von c HA und Abnahme von c A - zu. G l e i c h g e w i c h t tritt dann ein, wenn c H + = ch + . D a n n gilt die Beziehung (30 a) oder - umgeformt - Gleichung (30 b) (a)
=
Ks • c HA
(b
c HA • c O H -
=
Kw
= Kaydl = Kb,
(30)
KHydl nannte m a n früher die „Hydrolysekonstante" KHyäl des Salzes B + A " , während m a n heute (was im Endergebnis auf das gleiche hinauskommt) im Sinne der Brönsted'schen SäureBase-Auffassung (S.240) die Hydrolyse (29) als Basewirkung der starken „Anionbase" A~ und die Hydrolysekonstante (30) dementsprechend als „Basekonstante" KB von A~ definiert. Nach (30) ist die Hydrolysekonstante (die Stärke der Anionbase A " ) umso g r ö ß e r , die Hydrolyse gemäß (29) also umso s t ä r k e r , je kleiner Ks, d.h. je s c h w ä c h e r die bei der Reaktion (29) gebildete Säure H A ist. Ist die Säurekonstante Ks der schwachen Säure H A - wie häufig der Fall - größer als das sehr kleine Ionenprodukt Kw = 1 0 ~ i 4 des Wassers (z.B. Essigsäure: Ä"s ca. 10~5), so folgt f ü r K H y d l = K ß ein Wert < 1. Das Gleichgewicht (29) liegt dann weitgehend auf der linken Seite Der pH-Wert der Lösung eines Salzes B + A d a s sich von einer schwachen Säure HA und einer starken Base B + OH~ ableitet, folgtaus der Gleichung (30), sofern berücksichtigt wird, dass beim Umsatz von A~ mit Wasser gemäß (29) OH~-Ionen und HA-Moleküle in äquimolekularer Menge entstehen (cOH- = c H A): O H - / A KJK, bzw. (da cH+ • C - = Kw): C = \/Kw • K^/cA-. In logarithmischer Schreibweise ergibt sich damit C
C
=
OH
pH = i
+ pK s + log cA _).
H+
1. Das chemische Gleichgewicht
209
Hat also z.B. die Säure HA eine Dissoziationskonstante Ks = 1 0 ( p K s = 5; etwa Essigsäure), so berechnet sich für den pH-Wert einer 0.1-molaren B + A"-Lösung mit cA_ ~ cB + A_ (das Gleichgewicht (29) ist praktisch vollständig nach links verschoben): pH = 0.5x(14 + 5 + log 0.1) = 9. Die wässerige Lösung von Salzen derartiger Säuren (also z. B. Natriumacetat) reagiert demnach alkalisch, so dass etwa bei der Titration von Essigsäure mit Natronlauge (s. unten) der Äquivalenzpunkt (quantitative Natriumacetatbildung) nicht mit dem Neutralpunkt zusammenfällt, sondern im alkalischen Gebiet (bei pH = 9) liegt. In ganz entsprechender Weise leitet sich für Salze B + A " , die aus einer s t a r k e n S ä u r e H A~ und einer s c h w a c h e n B a s e B 0 H gebildet sind, die Hydrolysekonstante +
c
boh
^w
(31)
ab, die sich auf die Hydrolysegleichung (32) bezieht: H+ +0H~ B0H
H0H ^ 0H B+ + H 0 H
B0H + H +
(32a) (32b (32)
und im Sinne der Brönsted'schen Säure/Base-Auffassung (S. 240) zahlenmäßig die Säurewirkung der starken „Kationsäure" B + wiedergibt. Die Säurekonstante Ks von B + und damit das A u s m a ß der Hydrolyse (32) ist dabei gemäß (31) umso g r ö ß e r , je kleiner Kß, d.h. je s c h w ä c h e r die bei der Reaktion (32) gebildete Base B 0 H ist. Für den pH-Wert der Lösung eines Salzes B + A d a s sich von einer starken Säure H + A~ und einer schwachen Base B0H ableitet, folgt aus der Beziehung (31) mit cH+ = cBOH: Ch + /Cb+ = KW/KB bzw.: cH+ = | / K w • cb + /K b . In logarithmischer Schreibweise ergibt sich damit: pH = 1 * (p^ w - ^ b - log cB + ) Hat also z.B. die Base B0H eine Dissoziationskonstante KB = 10-5 (p^ B = 5; etwa Ammoniak), so berechnet sich für den pH-Wert einer 0.1-molaren B + A "-Lösung mit cB + «< cB + A_ (das Gleichgewicht (32) ist praktisch vollständig nach links verschoben): pH = 0.5x(14 — 5 — log 0.1) = 5. Die wässerige Lösung von Salzen derartiger Basen (also z. B. von Ammoniumchlorid) reagiert also sauer, so dass man etwa bei der Titration von Ammoniak mit Salzsäure (s. unten) zur Erkennung des Endpunkts der Titration (Äquivalenzpunkt) einen Indikator (s. dort) verwenden muss, der im sauren Gebiet (bei pH = 5) umschlägt. F ü r Salze B + A " , denen eine s c h w a c h e S ä u r e H A und eine s c h w a c h e B a s e zugrunde liegt (also z.B. f ü r Ammoniumacetat) gilt gemäß der Hydrolysegleichung H0H
HA
B0H
B0H
(33)
,
(34)
die Hydrolysekonstante %a-Cb°H_ C
C
A - ' B-
ATw ^S '
wonach die Hydrolysetendenz (33) mit abnehmender Größe von Ks und Kß wächst. Für den pH-Wert der Lösung eines Salzes B + A d a s sich von einer schwachen Säure und einer schwachen Base ableitet, gilt in guter Näherung: pH = i x (p^ w + pK s — pKB).
Die Neutralisation Während bei der H y d r o l y s e aus Salz und Wasser Säure und Base entstehen, bilden sich bei der „Neutralisation" umgekehrt aus Säure und Base Salz und Wasser: Säure + Base
Neutralisation
^
Hydrolyse
Salz + Wasser .
210
VII. Die Molekülumwandlung
Die Hydrolyse ist also die U m k e h r u n g der N e u t r a l i s a t i o n . Beide führen naturgemäß zu demselben Gleichgewichtszustand: starke Säure schwache Säure starke Säure schwache Säure
+ + + +
starke Base: starke Base: schwache Base: schwache Base:
H++OH" HA + OH" H + + BOH HA + BOH
HOH, HOH + A~ , HOH + B + , HOH + A" + B + .
(35) (36) (37) (38)
Beim Zusammengeben äquivalenter Mengen starker Säure H + und starker Base OH~ (35) entsteht somit eine neutrale Lösung, da das bei der Neutralisation neben Wasser verbleibende, vollkommen dissoziierte Salz nach dem weiter oben Gesagten keine Neigung zur Hydrolyse besitzt so dass die Salzlösung äquivalente Mengen H + und OH~ (cH+ = cOH- = 10~7) aufweist. Dagegen bildet sich beim Zusammengeben äquimolekularer Mengen einer schwachen Säure und starken Base (bzw. einer starken Säure und schwachen Base) eine basisch (bzw. sauer) reagierende Lösung, da das gebildete Salz B + A~ gemäß Gleichung (36) bzw. (37) - Umkehrung von Gleichung (29) und (32) -bis zum Hydrolysegleichgewicht (s. oben) hydrolysiertist. Äquimolekulare Mischungen einer schwachen Säure und schwachen Base schließlich (38) - Umkehrung von (33) - können schwach sauer, schwach basisch oder neutral reagieren, je nachdem die schwache Säure HA im Vergleich zur schwachen Base BOH stärker, schwächer oder gleich stark ist. Wichtig für die Praxis des Laboratoriums ist die Ä n d e r u n g d e s p H - W e r t e s während des Verlaufs der Neutralisation einer Säure durch eine Base und umgekehrt. Denn die Art dieser Abhängigkeit des pH-Wertes vom Neutralisationsgrad („Neutralisationskurve") legt wie im folgenden gezeigt sei - die Bedingungen fest, unter denen der „Äquivalenzpunkt" d. h. der Punkt, bei dem gerade die der Säure (Base) äquivalente Menge Base (Säure) zugesetzt ist erkannt werden kann Die Wasserstoffionen-Konzentration c H+ einer zehntelmolaren („0.1-molaren"-)Lösung einer s t a r k e n S ä u r e H + A " (z.B. Salzsäure) beträgt 1 0 _ 1 , entsprechend einem pH-Wert von 1. Neutralisiert m a n durch Zusatz einer s t a r k e n B a s e B + O H (z. B. Natronlauge) 90 % der Säure, so dass nur noch Vio der ursprünglichen Säure vorhanden ist, so verringert sich - wenn wir die Volumenvergrößerung der Lösung bei der Titration außer acht lassen 1 0 - die Wasserstoffionen-Konzentration auf den zehnten Teil (c H+ = 10 ~ 2 ), entsprechend einem p H Wert von 2. Bei abermaliger Neutralisation von 90 % der jetzt noch vorhandenen Säuremenge (entsprechend einer Gesamtneutralisation von 99 %) nimmt der pH-Wert, da nunmehr nur noch 7 1 0 0 der ursprünglichen Säure vorliegt, wieder um 1 Einheit auf den Wert 3 zu usw. Ist der pH-Wert 7 erreicht, so liegt nach dem früher Gesagten der Ä q u i v a l e n z p u n k t , d . h . eine - in diesem Falle neutrale - wässrige Lösung des Salzes B + A " vor. Bei weiterer Zugabe von starker Base ergibt ganz entsprechend jede Vermehrung der gerade vorhandenen Hydroxidionen-Konzentration auf das zehnfache eine Abnahme des pOH-Wertes und damit Zunahme des pH-Wertes um 1 Einheit, so dass ein bestimmter Basezusatz nach Überschreiten des Äquivalenzpunktes zuerst eine große und d a n n eine immer mehr abnehmende Änderung des pH-Wertes zur Folge hat. Trägt m a n alle diese pH-Werte in Abhängigkeit vom Neutralisationsgrad in ein Koordinatensystem ein, so erhält m a n die in Fig. 71 mit,,starker Säure" und ,,starke Base" gekennzeichnete Kurve. M a n ersieht daraus, dass der Äquivalenzpunkt durch einen s t e i l e n A b f a l l der Kurve, d.h. eine s p r u n g h a f t e Z u n a h m e des pH-Wertes charakterisiert ist. Diese sprunghafte p H Änderung lässt sich in einfachster Weise mithilfe eines I n d i k a t o r s (s. dort) erkennen, der in dem betreffenden p H - G e b i e t , , u m s c h l ä g t D i e Umschlagsbereiche zweier solcher Indikatoren sind in Fig. 71 mit eingetragen. Will m a n demnach den unbekannten Gehalt der wässrigen Lösung einer starken Säure ermitteln, so braucht m a n nur nach Zusatz einer geringen Indikatormenge so lange eine Baselösung bekannter Konzentration (,,eingestellte Lösung", 10 Man kann, um dieser Voraussetzung näher zu kommen, annehmen, dass die zugesetzte starke Base k o n z e n t r i e r t sei. Aber auch bei der Titration mit einer z e h n t e l m o l a r e n starken Base unterscheidet sich die Titrationskurve nicht wesentlich von der in Fig.71 gezeichneten: Endprodukt der Kurve (200% zugesetzte Base) bei p H = 12.53 statt 13.00.
1. Das chemische Gleichgewicht
211
Äquivalenzpunkt Säureüberschuss 1 Baseüberschuss
0 1 2 3
saures Gebiet
/ / / / / / / / / / / / / Umschlagsgebiet / / ^ M e t h y l r o t ''///
4
X
5
6 Neutralpunkt / ; Umschlagsgebiet H« / / Phenolphthalein /
f
/ / / / / / / / / / / . > basisches Gebiet
i 0
1
1 1
1 1
1 1 1 1
20 40 60 80 100120 140160180 2 0 0 % zugesetzte Base
i
I
i
I
I
I
I
I
Fig. 71 Neutralisationskurven starker und schwacher Säuren und Basen.
I I
200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 % zugesetzte Säure
,,Maßlösung",,,Titrierflüssigkeit", ,,Titrant") zufließen zu lassen, bis der zugesetzte Indikator umschlägt. Aus Milliliter-Anzahl und Konzentration („Titer") der verbrauchten Base lässt sich dann ohne weiteres der Säuregehalt der in dieser Weise ,,titrierten" Lösung (früher als „ T i t r a n d " bezeichnet) errechnen („Acidimetrie"). In gleicher Weise lässt sich eine ,,Titration" (,,Maßanalyse") von Basen mit Säuren („Alkalimetrie") durchführen; m a n durchläuft dann in Fig. 71 die Neutralisationskurve von rechts nach links (vgl. untere Abszisse). Titriert m a n eine s c h w a c h e S ä u r e (z.B. Essigsäure) mit einer s t a r k e n B a s e (z.B. Natronlauge), so sieht das Kurvenbild etwas anders aus. Denn eine zehntelmolare Lösung einer schwachen Säure mit z.B. der Dissoziationsonstante K s = 10 ~ 5 (Essigsäure) hat j a nicht wie eine starke Säure einen pH-Wert von 1, sondern gemäß der Beziehung (39 a) (a) f n i l f A !
=
10-5
(b)
= 10-5 •
C
(39) C
HA
A-
(c H+ = cA~; c HA praktisch = 1 0 - 1 ) einen pH-Wert von 3. Die Neutralisationskurve beginnt damit in Fig.71 beim Ordinatenpunkt 3. Der weitere Verlauf ergibt sich ebenfalls aus der obigen Beziehnung (39 a), die zweckmäßigerweise zur Beziehung (39 b) umgeformt wird, indem m a n für das Verhältnis die dem gerade vorliegenden Neutralisationsgrad ent sprechenden Werte einsetzt. So ist für c H A /c A - = 10 (9%ige Neutralisation; c H A /c A - = 9 1 / 9 « 10)c H + = 1 0 - 4 (pH = 4), fürc H A /c A _ = 1 (50%ige Neutralisation) c H + = 10-5 (pH = 5), f ü r cHJcAc
c
= 1/10 (91 % i g e N e u t r a l i s a t i o n cHJcA-
= 9/91 « 7 1 o ) % ?
+
= 1 0 - 6 ( p H = 6), f ü r
(pH = 7) usw. (vgl. S. 200). Der Ä q u i h J a - = V1oo (99 %ige Neutralisation) c H + = 1 0 v a l e n z p u n k t liegt bei p H = 9 (s. oben). Bei weiterer Zugabe von starker Base mündet die Neutralisationskurve der schwachen Säure in die mit „starke Base" bezeichnete K u r v e ein (Fig. 71); der Kurvenverlauf „schwache Säure" in Fig. 71 entspricht ganz dem Kurvenverlauf von Fig. 70 (vertauschte Koordinaten!). Wie aus dem Kurvenbild (,,schwacher Säure", ,,starke Base") hervorgeht, lässt sich von den beiden in Fig.71 angeführten Indikatoren in diesem Falle nur das P h e n o l p h t h a l e i n
212
VII. Die Molekülumwandlung
zur Erkennung des Äquivalenzpunktes verwenden; denn das M e t h y l r o t würde schon lange v o r d e m Ä q u i v a l e n z p u n k t (pH = 9), nämlich ab p H = 4 (entsprechend einer erst rund 10%igen Neutralisation der schwachen Säure) umzuschlagen beginnen (Endpunkt des Umschlags bei p H = 6, entsprechend einer erst rund 90 %igen Neutralisation). Umgekehrt ist bei der Titration einer s c h w a c h e n B a s e (K ß = 10"5) mit einer s t a r k e n S ä u r e , etwa von Ammoniak mit Salzsäure (Kurvenbild ,,starke Säure", „schwache Base"), zur Erkennung des Äquivalenzpunktes p H = 5 (s. oben) nur das M e t h y l r o t , nicht aber das P h e n o l p h t h a l e i n zu gebrauchen, da letzteres schon ab p H = 10 (entsprechend einer erst rund 10%igen Neutralisation der schwachen Base) umzuschlagen begänne (Endpunkt des Umschlags bei p H = 8, entsprechend einer erst rund 90 %igen Neutralisation). U n d die Titration einer s c h w a c h e n S ä u r e (Ks = 10"5) mit einer s c h w a c h e n B a s e (Kß = 10"5), etwa von Essigsäure mit Ammoniak, lässt sich (vgl. Kurvenbild ,,schwache Säure", ,,schwache Base") mit k e i n e m der beiden angeführten Indikatoren durchführen und ist zudem nicht empfehlenswert, weil der pH-Sprung beim Äquivalenzpunkt (pH = 7) nur k l e i n und w e n i g a u s g e p r ä g t (undeutlicher Indikatorumschlag) ist. Bei s t a r k e n , d . h . vollkommen in Ionen dissoziierten S ä u r e n stimmt die durch T i t r a t i o n ermittelte Säurekonzentration mit der w i r k l i c h v o r h a n d e n e n Wasserstoffionen-Konzentration numerisch überein. Bei s c h w a c h e n Säuren dagegen ist die durch T i t r a t i o n gefundene Säurekonzentration selbstverständlich weit g r ö ß e r als die v o r h a n d e n e Konzentration freier Wasserstoff-Ionen, da bei der Titration (Gleichgewichtsverschiebung) nicht nur die freien, sondern auch die g e b u n d e n e n (potentiellen) H + -Ionen der schwachen Säure erfasst werden. M a n unterscheidet hier daher zwischen einer ,,potentiellen" und einer ,,aktuellen" Wasserstoffionen-Konzentration. Die erstere findet m a n bei der T i t r a t i o n , die letztere mithilfe von I n d i k a t o r e n und V e r g l e i c h s l ö s u n g e n bekannten pH-Wertes oder auf p o t e n t i o m e t r i s c h e m Wege (S.230). Die von F. Descroizilles im Jahre 1791 begründete und in der Folgezeit von R. Boyle und insbesondere J.L. Gay-Lussac (1830) ausgebaute „Maßanalyse" („Titrimetrie", „Titrimetrische Analyse"), d.h. die quantitative Analyse eines gelösten Stoffs durch Bestimmung des Endpunktes einer Titrationskurve mit Indikatoren oder physikalischen Methoden (z.B. ampero-, kondukto-, potentio-, volta-, polaro-, nephelometrischen Messungen) nach Zugabe von n ml Maßlösung, beschränkt sich nicht auf Säure- und BaseTitrationen. Voraussetzung für die - verglichen mit einer gravimetrischen Bestimmung (S. 217) einfacheren und rascheren - maßanalytische Stoffbestimmung ist eine schnell, eindeutig und quantitativ erfolgende Reaktion des Stoffs mit dem für die Titration genutzten Reagens. Wichtige maßanalytische Verfahren sind neben der ,,Neutralisations-Titration" („Acidimetrie", „Alkalimetrie") die ,,Komplexometrie" (Titration von Metallionen mit starken Komplexbildnern, vgl. S.1332), die ,,Fällungstitration" (Titration von Kationen bzw. Anionen mit Niederschlag bildenden Anionen bzw. Kationen; vgl. nachfolgenden Abschnitt) und die ,,Redoxtitration" (Titration von Ionen und Molekülen mit Oxidationsmitteln (,,Oxidimetrie", z. B. „Bromato"-, ,,Iodo"-, Dichromato"-, „Mangano"-, ,,Cerimetrie"; S. 473, 597,1568,1618, 1940) und-weniger gebräuchlich- Reduktionsmitteln („Reduktometrie", z. B. ,,Titanometrie"; S. 1529)).
1.5
Heterogene Gleichgewichte
Alle bisher behandelten chemischen Gleichgewichte bezogen sich auf h o m o g e n e , d . h . aus einer einzigen Phase (Gasphase, Lösungsphase) bestehende Systeme. Liegen h e t e r o g e n e , d.h. aus mehreren Phasen bestehende Systeme vor (z.B. Gas und fester Stoff; Lösung und fester Stoff), so lässt sich das Massenwirkungsgesetz nicht unmittelbar anwenden, da dieses unter der Voraussetzung frei und ungeordnet im Reaktionsraum herumschwirrender Moleküle abgeleitet wurde (S. 187), eine Voraussetzung, die bei festen Stoffen nicht erfüllt ist. M a n kann sich hier aber so helfen, dass m a n die Reaktion als nur in e i n e r Phase verlaufend betrachtet
1. Das chemische Gleichgewicht
1.5.1
213
Fest-gasförmige Systeme
Als Beispiel eines fest-gasförmigen Systems sei die - etwas vereinfacht formulierte (S. 1644) Umsetzung von Eisen und Wasserdampf zu Eisenoxid und Wasserstoff herangezogen: Fe + H 2 0
FeO + H 2 ,
(40)
die im geschlossenen Reaktionsgefäß zu einem Gleichgewichtszustand führt. Als fester Stoff hat Eisen bei gegebener Temperatur wie jeder Stoff einen konstanten S ä t t i g u n g s d r u c k pFe. Der Druck ist zwar wegen seiner Kleinheit nicht direkt messbar, besitzt aber einen bestimmten e n d l i c h e n W e r t . Das Eisen wird daher im Reaktionsgefäß (vgl. Fig. 72) bis zur Erreichung des Wertes pFe verdampfen. Im Gasraum findet dann gemäß (40) die Umsetzung zwischen Eisen- und Wassermolekülen statt. Der dabei gebildete Eisenoxiddampf scheidet sich wegen des außerordentlich kleinen Sättigungsdruckes von festem Eisenoxid sofort in fester F o r m ab, bis der Druck auf diesen S ä t t i g u n g s d r u c k pFeQ gesunken ist. Umgekehrt verdampft das Eisen in dem Maße, in dem es durch die Reaktion verbraucht wird, immer wieder nach, so dass auch sein Druck im Gasraum dauernd k o n s t a n t bleibt, solange noch fester Bodenkörper vorhanden ist
.• ° •
• • • °
1 • • ° ••
•D0° •• o° • • D O • • •• n o •• °• , o • • oa •
• •
•
Y / / / / / / / / / / NNWwnwWW //, o Moleküle Fe
• Moleküle FeO
• Moleküle H 2 0
• Moleküle H 2
Fig. 72
Heterogener Reaktionsraum.
Im Gleichgewichtszustand gilt für den G a s r a u m das Massenwirkungsgesetz (41 a), wobei pFe und pFe0, wie eben abgeleitet, k o n s t a n t e Größen sind, und zur mathematischen Vereinfachung mit der Konstante Kp zu einer n e u e n K o n s t a n t e Kp zusammengefasst werden können (a) P™P**=Kv PFe PH20
( b ) ^
= K'px
(mit K'p=pFt/pFe0).
(41)
P H20
Die betrachtete Reaktion k o m m t danach bei gegebener Temperatur dann zum Stillstand wenn das Verhältnis der Drücke von Wasserstoff und Wasserdampf einen bestimmten konstanten Wert ^ erreicht hat. D a K'p bei etwa 1350°C den Wert 1 hat, verwandelt sich oberhalb (unterhalb) dieser Temperatur bei den Einheiten des Druckes von H 2 und H 2 0 Eisenoxid in Eisen (Fe in FeO). Solange das Druckverhältnis p H J p H 2 0 kleiner als K'p ist, findet die Reaktion (40) in der Richtung von links nach rechts, im anderen Falle von rechts nach links statt. Arbeitet m a n nicht in g e s c h l o s s e n e m G e f ä ß , sondern leitet m a n Wasserdampf durch ein mit Eisenpulver gefülltes erhitztes o f f e n e s Rohr, so erfolgt q u a n t i t a t i v e Oxidation des Eisens, da dann der Wasserstoff e n t w e i c h t und deshalb den für die Einstellung des Gleichgewichts erforderlichen Druck nicht erreichen kann Das hier Abgeleitete gilt ganz allgemein Beteiligen sich an einem chemischen Gleichgewicht feste Stoffe, so können deren Drücke oder Konzentrationen bei der Aufstellung der Massenwirkungsgleichungen unberücksichtigt bleiben.
214
VII. Die Molekülumwandlung
Entwässert man also z.B. bei konstanter Temperatur ein kristallwasserhaltiges Salz („Hydrat") wie Kupfersulfat CuS0 4 • 5 H 2 0 - das zuerst 2, dann nochmals 2 und schließlich das letzte Wassermolekül abgibt C u S 0 4 - 5 H 2 0 ?± CuS0 4 3 ^ 0 + 2 ^ 0 , C u S 0 4 3 H 2 0 ^ CuS0 4 • 1 H 2 0 + 2 H 2 0 , CuS0 4 • 1 H 2 0 ^ CuS0 4 + H 2 0 , so gilt für den Gleichgewichtszustand in allen drei Fällen die einfache Beziehung (42): Ph2o = K , (42) wobei (und damit der Wasserdampfdruck 20 ) für jede der drei Teilreaktionen einen charakteristischen k o n s t a n t e n Wert besitzt (bei 50 0C: 45 bzw. 30 bzw. 4.5 mbar). Saugt man daher bei 500C über dem Kupfersulfat-Hydrat den Wasserdampf ab, so erhält man beim Auftragen der Wasserdampfdrücke gegen die Zusammensetzung des Hydrats eine charakteristische Treppenkurve (Fig. 73), aus der man - hier wie in anderen Fällen - die bei der Entwässerung auftretenden Zwischenhydrate direkt entnehmen kann 60 50 40
P5 #3 -
Pi^i
ß 30 o
ffi
20 10
0
Fig. 73 Druckänderung bei der isothermen Entwässerung 5
1
1
1
1
1
4
3
2
1
0
mol H 2 0 / mol C u S 0 4
1.5.2
Fest-flüssige Systeme
Als Beispiele für fest-flüssige Systeme seien die Kombinationen von Ionen B + und A~ zu unlöslichen Salzen BA betrachtet. Für die Dissoziation neutraler Moleküle BA in Ionen: BA gilt (vgl. Gl. (21)) die Gleichgewichtsbedingung:
Erhöht m a n durch Zugabe von B + und/oder von A~ und durch die hierdurch bedingte Gleichgewichtsverschiebung nach links die Konzentration von BA so weit, dass die Löslichkeit von BA erreicht wird, so fällt BA als fester Stoff aus. Jetzt ist seine Konzentration c BA nicht mehr wie zuvor in der ungesättigten Lösung variabel, sondern gleich dem konstanten Wert der Löslichkeit. M a n kann daher c BA - wie vorher pFe und pFe0 - mit der Gleichgewichtskonstanten zu einer neuen Konstanten L (L = Kc • c BA ) zusammenfassen (statt L wird häufig auch KL geschrieben): c B+ • cA_ =Lx
= Kl,
(43 a)
die m a n als „Löslichkeitsprodukt" des Stoffes BA bezeichnet, weil das P r o d u k t der Ionenkonzentration c B + und c A - diesen Wert annehmen muss, damit die Löslichkeit der Verbindung BA erreicht wird und diese bei weiterer Erhöhung von cB+ oder cA~ ausfällt. Bei Salzen B & A a ,
1. Das chemische Gleichgewicht
215
bei denen sich gemäß (43 b) neutrale Moleküle B 6 A a i n b Kationen B m + und a Anionen A"" aufspalten (b • m = a • ri), nimmt das Löslichkeitsprodukt L die allgemeine F o r m (43 c) an: (b) B,Aa ^ bBm+ + aA»~
(c) 4 m + • c =
L
]/Llbh-a°.
(d) cBbAa =
(43)
Auflösung von Salzen. Wie m a n der nach abnehmender Größe von L für Salze Bj, A a geordneten Tab. 27 entnehmen kann, sind die Löslichkeitsprodukte und damit die Löslichkeiten von Salzen sehr unterschiedlich. So berechnet sich die Löslichkeit eines s c h w e r e r löslichen, in zwei Ionen zerfallenden Salzes BA ^ B m + + A m _ unter der Annahme, dass undissoziierte Moleküle in der (sehr verdünnten) BA-Lösung nicht vorhanden sind und mithin die Konzentration des insgesamt gelösten BA-Anteils gleich der Konzentration der Kationen bzw. Anionen ist (cBA = cB„+ = c A „_), aus dem f ü r den Dissoziationsvorgang gültigen Löslichkeitsprodukt L = cB„+ • CA„- = c B A zu c BA = | / Z (für Salze Bj, Aa gilt (43d)). Demgemäß lösen sich in 1 Liter Wasser bei Raumtemperatur 4.9 x 10"3 mol C a S 0 4 , 3.9 x 10"5 mol B a S 0 4 , 7.1 x 10"7 mol AgBr oder gar nur 9.2 x 1 0 - 2 3 mol CuS (für L vgl. jeweils Tab. 27). Enthält eine wässrige Lösung Kationen Bm+ bzw. Anionen A , die auch in dem zu lösenden Salz vorhanden sind (,,gleichioniger" Z u s a t z ) , so wird die Dissoziation eines Salzes B,, A a zurückgedrängt (vgl. Prinzip von Le Chatelier) und seine Löslichkeit mithin verringert: Gleichionige Zusätze erniedrigen die Löslichkeit schwerer löslicher Elektrolyte. Beispielsweise erniedrigt sich die BaS0 4 -Löslichkeit von 3 . 9 x 1 0 ~ 5 mol/l in reinem Wasser auf 1.5 x 10~7 mol/l in einer wässrigen, 0.01-molaren BaCl 2 -Lösung; denn mit cBa2+ « c BaCl2 und C
SOl"
=
C
BaSO4
folgt:
^BaSO4
=
C
Ba2+ ' CSOl"
=
C
BaCl2 ' CBaSO4
u n d
C
BaSO4
=
^BaSO4/CBaCl2
=
X
10
9
/
0.01 = 1 . 5 x 1 0 "7 mol/l. Tatsächlich ist die Löslichkeit von B a S 0 4 in einer 0.01-molaren BaCl 2 -Lösung etwas höher (5.8 x 1 0 " 7 mol/l), wie sich aus einer exakteren Rechnung mit Ionenaktivitäten statt -konzentrationen ergibt (s. u.).
Tab. 27 Salz SrCr0 4 KCl0 4 MgC0 3 CaS0 4 CuCl SrS0 4 NiC0 3 CuBr Ag0H PbS0 4 CaC0 BaC0 SrC0 BaS0 AgCl BaCr ZnC0 3 CuI AgBr PbC0
Löslichkeitsprodukte L einiger in zwei, drei bzw. vier Ionen dissoziierender Salze in Wassera,b). L 3.6 x 2.9 x 2.6 x 2.4 x 1.0x 7.6 x 1.4 4.2 2.0 1.6x 4.7 1.9 x 1.6x 1.5 1.7 8.5 x 6.3 5.1 x 5.0 3.3
PKl 5
10" 10" 5 10" 5 10" 5 10" 6 10" 7 10" 7 10" S 10" S 10" S 10" 9 10" 9 10" 9 10" 9 10" 10 10" 11 10" 11 10" 12 10" 13 11" 14
4.44 4.54 4.59 4.62 6.00 6.12 6.85 7.38 7.70 7.80 8.33 8.72 8.80 8.82 9.77 10.1 10.2 11.3 12.3 13.5
Salz PbCr AgCN MnS AgI FeS ZnS SnS PbS CdS CuS HgS Ba(0H) L C0 Sr(0H) PbC Ca(0H) Ba Pb Pb Mg
L 1.8x 1.6 7.0 x 8.5 x 3.7 x 1.1 x 1.0 x 3.4 x 1.0 x 8.5 x 1.6x 4.3 x 1.7 4.2 1.6 3.9 1.7 3.6 1.4 6.4
14
10" 10" 14 10" 16 10" 17 10" 19 10" 24 10" 26 10" 2S 10" 2S 10" 45 10" 54 10" 3 10" 3 10" 4 10" 5 10" 6 10" 6 10" S 10" S 10" 9
PKl
Salz
L
13.7 13.8 15.2 16.1 18.4 24.0 26.0 27.5 28.0 44.1 53.8 2.37 2.77 3.38 4.80 5.41 5.77 7.44 7.85 8.19
Sr Ca A C0 A Cr Mg(0H) Mn(0H) Cd(0H) Pb(0H) Fe(0H) Ni(0H) Zn(0H) H C Be(0H) Cu(0H) H B
2.8 1.7 6.2 4.1 1.5 6.8 2.3 4.2 1.6 3.2 1.8 2.0 2.7 1.6 1.3 1.2 5.5 x 6.7 x 1.9 5.0
H
A S Cr(0H) Al(0H) Fe(0H)
P Kl 10" 10" 10 10" 12 10" 12 10" 12 10" 13 10" 14 10" 15 10" 15 10" 17 10" 17 10" 1S 10" 19 10" 19 10" 21 10" 2S 10" 51 10" 31 10" 33 10" 3S 9
8.55 9.77 11.2 11.4 11.8 12.2 13.6 14.4 14.8 16.5 16.7 17.7 18.6 18.8 20.9 27.9 50.3 30.2 32.7 37.3
a) Bei leichter löslichen Salzen gibt man statt L die in 100 g Solvens lösliche Grammmenge der Substanz an. - b) Die i-Werte können wegen mangelnder Charakterisierung der vorliegenden Salzkristalle bis zu einer Zehnerpotenz und mehr schwanken. - c) Wegen der hohen Unlöslichkeit von CuS, Ag 2 S und HgS (weit weniger als 106 gelöste Teilchen pro Liter), kommt hier den L-Werten keine reale Bedeutung zu.
216
VII. Die Molekülumwandlung
Streng genommen gilt das Löslichkeitsprodukt (43 b) nur für i d e a l e , also ausreichend verdünnte Ionenlösungen. Diese Bedingung ist im Falle der Auflösung schwerer löslicher Salze B,,Aa in r e i n e m Wasser naturgemäß erfüllt. Löst m a n die Salze jedoch in Wasser, welches ,fremdionige" Z u s ä t z e , also Ionen, die in dem zu lösenden Salz n i c h t v o r h a n d e n sind, enthält, so muss - da nunmehr statt einer idealen eine r e a l e Ionenlösung vorliegt - mit Aktivitäten a = y • c statt Konzentrationen c gerechnet werden (vgl. S. 197). An die Stelle des Löslichkeitsprodukts = L c (43 b) tritt damit die Beziehung (43 e): a\„+ • a"A„- = La,
(43 e)
in welcher L a (,,thermodynamisches Löslichkeitsprodukt") zum Unterschied von Lc (,,stöchiometrisches Löslichkeitsprodukt") bei gegebener Temperatur eine wahre, von der Ionenstärke (S. 197) der Lösung unabhängige Konstante ist (in Tab.27 sind thermodynamische Löslichkeitsprodukte La = L wiedergegeben.) Aus der für ein schwerer lösliches, in B + und dissoziierendes Salz gültigen Beziehung La = a B+ • aA~ = J V ' cB+ 'JA- ' c a- (vgl- 23)) folgt nun, da die Aktivitätskoeffizienten y für nicht allzu konzentrierte Elektrolytlösungen kleiner 1 sind und mit wachsender Ionenstärke der Lösung abnehmen (S. 197), dass sich die Konzentrationen cB+ und cA_ (zur Wahrung der Konstanz von L) mit zunehmender Ionenstärke erhöhen. Allgemein gilt: Mit zunehmender Ionenstärke einer (nicht allzu konzentrierten) Elektrolytlösung erhöht sich die Löslichkeit eines schwerer löslichen Salzes. So steigt etwa die Löslichkeit des Bariumsulfats BaS0 4 von 3.9 x 10~5 mol/l in reinem Wasser auf etwa das Doppelte, nämlich auf 7.6x10~ 5 mol/l in einer wässrigen 0.01-molaren MgCl2-Lösung (Ionenstärke I = 0.03 mol/l; vgl. Gl. (26)). Ausfällung von Salzen. D a Salze in wässriger Lösung vollkommen in Ionen gespalten sind, setzen sich die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Salzlösung additiv aus den Eigenschaften der das Salz aufbauenden Ionenarten zusammen. Gibt m a n daher die Lösung eines leichtlöslichen Salzes zu der Lösung eines anderen leichtlöslichen Salzes so fällt aus dem Lösungsgemisch, falls keine Komplikationen (z.B. Komplexbildungen) auftreten, B + D bzw. C + A~ aus, wenn die Löslichkeit (das Löslichkeitsprodukt) von B + D bzw. C + A~ in Wasser kleiner ist als die von B + A " bzw. C + D~ (,,Fällungsreaktion"). So fällt beispielsweise beim Vereinigen einer wässerigen Bariumchlorid bzw. -nitrat-Lösung mit einer wässerigen Natrium-, Zink- oder Kupfer(II)-sulfat-Lösung Bariumsulfat aus (z. B. BaCl 2 + N a 2 S 0 4 ^ [ B a S 0 4 ] f e s t + 2NaCl; B a ( N 0 3 ) 2 + Z n S 0 4 -> [ B a S 0 4 ] f M t + Z n ( N 0 3 ) 2 ) , da die Ionenkombination Ba 2 + S 0 4 " ein sehr kleines Löslichkeitsprodukt (1.5 x 10 " 9 mol 2 /l 2 ) aufweist, und demnach die G l e i c h g e w i c h t s k o n s t a n t e d e r F ä l l u n g s r e a k t i o n : Ba2+ + S 0 2 - ^ farblos farblos
[BaS04]fM, farblos
(44)
sehr groß ist CS:Fällung = 1/£ Ba so 4 = 1 / 1 . ^ 10"^ = 6 . ^ 1 ^ 1 2 / m o P ) . In analoger Weise führt z. B. die Vereinigung einer Ag + - mit einer -haltigen Lösung zur Fällung von gelbem Silberiodid, die Vereinigung einer Hg2 + - mit einer S2" -haltigen Löung zur Fällung von schwarzem Quecksilbersulfid: Ag+ + I farblos farblos
AgI, gelb
H g 2 + + S2- -»• HgS . farblos farblos schwarz
(45) (46)
Man nutzt die Schwerlöslichkeit vieler Salze in der analytischen Chemie zum qualitativen und quantitativen Nachweis von Ionen löslicher Salze. So lassen sich Ionen qualitativ an charakteristischen Fällungsreaktionen sowie Eigenschaften der gebildeten Niederschläge (z.B. Farbe, vgl. (44)-(46)) er-
2. Die Oxidation und Reduktion
217
kennen. Andererseits kann die quantitative Bestimmung der Menge einer bestimmten, in Wasser gelösten Ionensorte B m+ bzw. A"~ in einfacher Weise durch Wägung eines, über eine charakteristische Fällungsreaktion erhaltenen, unlöslichen Niederschlags B^D^ bzw. CcAa eindeutiger und bekannter Zusammensetzung erfolgen („Gravimetrie"; zur Erzielung einer möglichst vollständigen Fällung setzt man das Fällungsmittel gemäß dem oben Besprochenen zweckmäßig im Überschuss ein). Multipliziert man die gefundene Niederschlagsmasse mit dem - tabellierten und wie folgt festgelegten - Massenanteil (,,gravimetrischer" bzw.,,analytischer Faktor") des betreffenden Ions (z. B. Bm + ) in der ausgefällten Verbindung (z.B. B6D„): gravimetrischer Faktor (für B
in B^DJ =
Z?xrel. Ionenmasse von Bm +
so erhält man die Ionenmasse und damit die ursprünglich in der Lösung vorhandene Ionenmenge. Analog folgt aus dem Produkt der Niederschlagsmasse mit dem gravimetrischen Faktor eines bestimmten, im ausgefallenen Salz anwesenden Elements die Masse des betreffenden Elements. Beispielsweise beträgt der gravimetrische Faktor für Barium in Bariumsulfat (A r (Ba 2+ ) = 137.34; M r (BaSO 4 ) = 233.40) 1 x 137.34/233.40 = 0.5884. Fallen also beim Versetzen einer Ba2 + -haltigen Lösung mit Natriumsulfat 2.3319 g BaSO4 aus, so enthielt die Lösung 0.5884 x 2.3319 = 1.3721 g Ba2+ (also etwa 0.01 mol Ba2 + ).
2
Die Oxidation und Reduktion
Bei der Besprechung der Einteilung chemischer Reaktionen (s. dort) wurde u.a. auch auf die Begriffe der O x i d a t i o n und R e d u k t i o n eingegangen. Aufgrund der im vorangehenden Kapitel VI entwickelten E l e k t r o n e n t h e o r i e d e r V a l e n z lässt sich nun die Erscheinung der Oxidation und Reduktion auf breiterer Grundlage diskutieren.
2.1 2.1.1
Ableitung eines neuen Oxidations- und Reduktionsbegriffs Das Redoxsystem
N a c h der ursprünglichen Definition bedeutet die Oxidation eine V e r e i n i g u n g m i t S a u e r s t o f f (Oxygenium). Verbindet sich nun z.B. ein Metallatom M mit einem Sauerstoffatom O (M + O -> MO), so beruht die Oxidbildung nach der Elektronentheorie der Valenz auf einem Ü b e r g a n g v o n E l e k t r o n e n ( © ) vom M e t a l l - zum S a u e r s t o f f a t o m : M ^ 2© + 0 M + O
^
M2+ + 2 © 02M2+ + 0 2 - .
Das Sauerstoffatom entzieht dem Metallatom Elektronen, da es die Tendenz hat, sich durch A u f n a h m e zweier Elektronen eine A c h t e r s c h a l e aufzubauen. N u n haben auch andere Stoffe dieses Bestreben. Daher k a n n m a n dem Metall auch mithilfe z.B. von Chlor seine Valenzelektronen entreißen: © + Cl ^
Cl" .
Es liegt nahe, den dabei sich ergebenden Gesamtvorgang (M + Cl 2 -> MC1 2 ) ebenfalls als eine O x i d a t i o n des Metalls zu bezeichnen. In der Tat hat m a n schon früher von einer ,,Oxidationswirkung" des Chlors und von einem „Verbrennen" von Metallen im Chlorstrom gesprochen. Die Schwierigkeit, dass solche sauerstoff-freien Oxidationsmittel wie das Chlor entgegen der ursprünglichen Definition keine s a u e r s t o f f - ü b e r t r a g e n d e n Mittel sind, umging m a n durch eine Erweiterung des Begriffs eines Oxidationsmittels, indem m a n in Analogie zur wasserstoffentziehenden Wirkung des Sauerstoffs ganz allgemein alle W a s s e r s t o f f - e n t -
218
VII. Die Molekülumwandlung
z i e h e n d e n Mittel (Chlor ist z.B. ein solches Mittel: Cl 2 + H 2 -> 2HCl) als 0 x i d a t i o n s m i t t e l bezeichnete N a c h der n e u e n D e f i n i t i o n besteht die Oxidation in einem Entzug von Elektronen und die oxidierende Wirkung eines 0xidationsmittels in dessen elektronen-entziehender Wirkung. In diese Definition fügen sich das Chlor und andere s a u e r s t o f f - f r e i e 0 x i d a t i o n s m i t t e l nunmehr zwangslos ein. Der elektronen-entziehende Stoff braucht dabei kein n e u t r a l e s A t o m , sondern kann z.B. auch ein g e l a d e n e s I o n sein. So haben beispielsweise dreifach geladene Eisen-Ionen das Bestreben, durch A u f n a h m e je eines Elektrons in zweifach geladene überzugehen © + Fe3+
Fe2+ .
Daher bezeichnet m a n auch E i s e n ( I I I ) - S a l z e als 0 x i d a t i o n s m i t t e l . Ebenso k a n n der Entzug von Elektronen auch ohne direkte Zuhilfenahme chemischer Stoffe e l e k t r o l y t i s c h mittels einer A n o d e erfolgen (,,anodische Oxidation"), da die Anode als positive Elektrode ganz allgemein der Lösung Elektronen entzieht und sie an den positiven Pol der Stromquelle abführt Die gleiche Entwicklung hat der Begriff der Reduktion durchgemacht. Ursprünglich bedeutet die Reduktion das R ü c k g ä n g i g m a c h e n d e r 0 x i d a t i o n . Lässt m a n z.B. auf ein Metalloxid bei erhöhter Temperatur W a s s e r s t o f f einwirken, so wird es zu Metall reduziert ( M 0 + H 2 -> M + H 2 0 ) . N a c h der Elektronentheorie der Valenz beruht dieser Vorgang darauf, dass das Metall die bei der 0xidation a b g e g e b e n e n E l e k t r o n e n wieder z u r ü c k e r l a n g t : M2 + C>2-+ 2 H ^ M + H + 0 2 " H + bzw. (da sich 0 2 " heraushebt) M 2 + + 2 H -> M + 2 H + , indem der vorher ungeladene Wasserstoff unter Bildung von Wasserstoff-Ionen seine Außenelektronen an das Metall abgibt 2H
M2+
+2©
2H
+ M2+
^
2H M 2H+
+M,
wobei sich die gebildeten Wasserstoff-Ionen mit den Sauerstoff-Ionen des Metalloxids zu Wasser vereinigen ( 2 H + + 0 2 " -> H 2 0 ) . Statt durch Wasserstoff kann nun die Z u f u h r von Elektronen z. B. auch mittels Natrium erfolgen N
N
weshalb m a n ein Metalloxid auch mithilfe von Natrium zum Metall r e d u z i e r e n kann. Somit ergibt sich die Reduktion nach der erweiterten Definition als eine Zufuhr von Elektronen und ein Reduktionsmittel als ein elektronenzuführendes Mittel. Auch g e l a d e n e I o n e n - z.B. zweifach geladene Chrom-Ionen, die das Bestreben haben, in dreifach geladene überzugehen C r 2+
Cr3+ + © ,
können daher Reduktionsmittel sein. Ebenso stellt bei einer Elektrolyse die K a t h o d e ein Reduktionsmittel dar (,,kathodische Reduktion"), weil die Kathode als negative Elektrode diejenige Elektrode ist, welche die vom negativen Pol der Stromquelle kommenden Elektronen der Lösung zuführt Die entwickelten Definitionen der 0xidation bzw. Reduktion und des 0xidationsmittels bzw. Reduktionsmittels können zu der Gleichung Reduktionsmittel
üxidation < Reduktion
Oxidationsmittel + Elektron
2. Die Oxidation und Reduktion
219
zusammengefasst werden. M a n nennt ein dieser Definitionsgleichung entsprechendes elektronenabgebendes und -aufnehmendes System auch „Reduktions-Oxidations-System" oder abgekürzt „Redoxsystem" (,,korrespondierendes Redox-Paar"): Red.
Ox. + © .
D a unter normalen chemischen Bedingungen keine freien Elektronen existieren, erfolgt der Übergang eines Reduktionsmittels zum ,,korrespondierenden" („konjugierten") Oxidationsmittel unter Elektronenabgabe immer nur in Anwesenheit eines geeigneten Oxidationsmittels, welches die abgegebenen Elektronen unter Übergang in das mit ihm korrespondierende (konjugierte) Reduktionsmittel aufzunehmen vermag. Mithin setzen sich Redox-Reaktionen immer aus zwei korrespondierenden Redox-Paaren (,,Redox-Halbreaktionen") wie folgt zusammen
2.1.2
Red Oxn + ©
Ox Red , n
Red
Ox
Ox
Red
Die Oxidationsstufe
Ein für den Chemiker recht nützlicher, wenn auch fiktiver Begriff ist der der „Oxidationsstufe" („Oxidationszahl", ,,Oxidationsgrad", „elektrochemische Wertigkeit"). M a n versteht darunter diejenige Ladung, die ein A t o m in einem Molekül besäße, wenn letzteres aus lauter Ionen aufgebaut wäre (Verfahren der Heterolyse einer Bindung; vgl. formale Ladungszahl). So besitzt z.B. der Schwefel in der Dithionsäure ( H 2 S 2 0 6 ) die Oxidationsstufe + 5 ( 2 H + + 6 O 2 ~ + 2S 5 + ), das M a n g a n im Permanganat-Ion ( M n 0 4 ) die Oxidationsstufe + 7 (4O 2 ~ + M n 7 + ) und der Stickstoff im Nitrat-Ion ( N O ) bzw. im Ammoniumchlorid (NH 4 Cl) die Oxidationsstufen + 5 (3O 2 ~ + N 5 + ) bzw. - 3 ( 4 H + ^ N 3 ~ ) . M a n pflegt diese elektrochemischen Wertigkeiten als kleine arabische Ziffern über das betreffende Elementsymbol zu setzen (vgl. auch Anh. VIII): H2S206,
KMn04,
NaNO3,
NH4Cl.
Die Summe der Oxidationsstufen der Atome eines Moleküls bzw. Ions ist dann Null bei Molekülen bzw. gleich der Ladung des Ions bei Ionen [z.B. M n 0 4 : ( + 7 ) + 4 x ( - 2 ) = —1]. Zur E r h ö h u n g der Oxidationsstufe ist stets ein O x i d a t i o n s m i t t e l , zur E r n i e d r i g u n g ein R e d u k t i o n s m i t t e l erforderlich; die Ü b e r f ü h r u n g von Stickstoffmonoxid N O (Oxidationsstufe des Stickstoffs 2) in Nitrat kann also nur mithilfe eines Oxidationsmittels wie z.B. M n 0 4 oder HOCl, die Ü b e r f ü h r u n g von Permanganat in eine Mangan(II)-Verbindung (Oxidationsstufe des Mangans: + 2) nur mithilfe eines Reduktionsmittels wie Fe2 + oder SO2~ bewerkstelligt werden NO+2H20 M n 0 4 + 8H + + 5©
NOj + 4 H
+
+3©,
Mn2+ + 4 ^ O .
(1) (2)
Die Formulierung komplizierter, in Wasser ablaufender Redoxsysteme wie (1) oder (2) erfolgt zweckmäßig in der Weise, dass man auf eine Gleichungsseite die tiefere (z. B. NO; Mn 2 + ), auf die andere Seite die höhere Oxidationsstufe (NO3; M n 0 4 ) schreibt und dann die dem Sauerstoffunterschied zwischen höherer und tieferer Oxidationsstufe entsprechende Zahl von Wassermolekülen (2; 4) auf der sauerstoffärmeren Gleichungsseite hinzufügt, was auf der anderen Seite eine entsprechende Zahl von Wasserstoff-Ionen (4; 8) ergibt. Aus dem Ladungsunterschied zwischen beiden Gleichungsseiten des betreffenden Redoxvorganges folgt nunmehr zwangsläufig die bei dem Vorgang umgesetzte Zahl von Elektronen (3; 5), die zugleich den ,,Oxidationsstufenwechsel" („Wertigkeitsunterschied") des betrachteten Redoxsystems wiedergibt. Die Umformung der für saure Lösungen gewonnenen Redoxgleichungen auf basische Lösungen erfolgt am einfachsten so, dass man die in saurer Lösung vorhandenen Molekülformen durch die in basischer
220
VII. Die Molekülumwandlung
Lösung existierenden ersetzt, wodurch sich gegebenenfalls die Anzahl der Wasserstoff-Ionen verändert. Anschließend tauscht man die Wasserstoff-Ionen durch die gleiche Zahl an Hydroxid-Ionen auf der anderen Gleichungsseite aus, was in der Gesamtbilanz einen der Anzahl der Hydroxid-Ionen entsprechenden Zuwachs von Wassermolekülen auf der Seite der Wasserstoff-Ionen ergibt. Der Z u n a h m e der Oxidationsstufe des o x i d i e r t e n Stoffs (vgl. (1)) bzw. A b n a h m e der Oxidationsstufe des r e d u z i e r t e n Stoffs (vgl. (2)) entspricht jeweils eine gleich große A b n a h m e der Oxidationsstufe des O x i d a t i o n s m i t t e l s bzw. Z u n a h m e der Oxidationsstufe des R e d u k t i o n s m i t t e l s . Beispielsweise steht im Falle der durch Permanganat erfolgenden Oxidation von Stickstoffmonoxid (Kombination von (1) und (2)) der Zunahme der Oxidationsstufe des Stickstoffs um 5 x 3 = 15 Einheiten eine Abnahme der Oxidationsstufe des Mangans um 3 x 5 = 15 Einheiten gegenüber: x5| NO +2H20 x3| M n 0 4 + 8 H + 5NO
+5©
+3Mn04 + 4H+
NO3 + 4 H + M n 2 + + 4H2O
+3©
5NOj + 3 M n 2 + + 2H2O .
(1) (2) (3)
Wie ersichtlich, ergeben sich die Gleichungen chemischer Redoxprozesse in einfacher Weise aus den beiden in Frage kommenden (Teil-)Redoxsystemen (z.B. (1) und (2)), indem man zuerst das elektronenabgebende, dann das elektronen-aufnehmende System formuliert und schließlich die beiden Reaktionsgleichungen mit solchen Faktoren multipliziert, dass die Zahl der abgegebenen und der aufgenommenen Elektronen einander entspricht (vgl. hierzu auch unten, Gl. (7) und (8)). Die durch den elektrochemischen Wertigkeitsunterschied einer Redoxreaktion dividierte relative Formelmasse eines Oxidations- bzw. Reduktionsmittels nennt m a n „relative elektrochemische Äquivalentmasse" (früher: e l e k t r o c h e m i s c h e s Ä q u i v a l e n t g e w i c h t ; vgl. hierzu S.27). Die der relativen elektrochemischen Äquivalentmasse entsprechende ,,molare elektrochemische Äquivalentmasse" gibt d a n n den Massenanteil wieder, dem die A u f n a h m e (Abgabe) eines Mols Elektronen entspricht. Teilt m a n die molare elektrochemische Äquivalentmasse durch die Avogadro'sche Konstante NA = 6.022 x 10 2 3 m o l - 1 , so erhält m a n die Masse, die einem ,,elektrochemischen Äquivalent" - also dem (gedachten) Bruchteil 1/z eines Oxidations- bzw. Reduktionsteilchens (z = Wertigkeitsunterschied _ zukommt (vgl. S.27). 1 mol elektrochemisches Äquivalent ( = NA Äquivalentteilchen) Kaliumpermanganat (1 mol „Oxidationsäquivalent") entspricht dann 158.038 : 5 = 31.608 g K M n O 4 , 1 mol elektrochemisches Äquivalent Kaliumiodid (1 mol,,Reduktionsäquivalent"; I " -> 1 / 2 ^ ^ + © ) 166.006 : 1 = 166.006 g KI. Eine Lösung die je L i t e r 1 mol Oxidations- bzw. Reduktionsäquivalent enthält, bezeichnet m a n als eine „7-normale Lösung" eines Oxidations- bzw. Reduktionsmittels; sie k a n n je Liter 1 mol Elektronen (entsprechend 96484.6 Coulomb) aufnehmen bzw. abgeben. Dementsprechend verbrauchen a ml einer -normalen Lösung eines Oxidationsmittels bei der Titration (s. dort) mit einer gleichfalls &-normalen Lösung eines Reduktionsmittels bis zum Äquivalenzpunkt genau ebenfalls a ml dieser Lösung („Oxidimetrie").
2.2
2.2.1
Die elektrochemische Spannungsreihe
Das Normalpotential
Allgemeines
Wie aus dem Vorstehenden leicht ersichtlich ist, kann es bei einem chemischen Vorgang k e i n e O x i d a t i o n o h n e e i n e g l e i c h z e i t i g e R e d u k t i o n geben und umgekehrt. Denn ein Stoff muss ja die Elektronen a b g e b e n (Reduktionsmittel), ein a n d e r e r m u ß sie a u f n e h m e n (Oxidationsmittel). D a nun ein gegebener Stoff Elektronen nicht von jedem anderen Stoff aufzunehmen oder an jeden anderen Stoff abzugeben vermag, gibt es keine a b s o l u t e n Oxidations- und Reduktionsmittel. Vielmehr ist die Oxidations- oder Reduktionswirkung einer Substanz eine F u n k t i o n des zu oxidierenden oder zu reduzierenden Reaktionspartners.
2. Die Oxidation und Reduktion
221
Taucht m a n z.B. einen Z i n k s t a b in eine K u p f e r s u l f a t l ö s u n g , so überzieht er sich mit Kupfer, weil das Zink bestrebt ist, an Kupfer-Ionen Elektronen abzugeben: Zn2+ + 2 © Cu
(4) (5)
Cu2+ —> Z n 2 + + Cu .
(6)
Zn C 22++ Zn
Zink reduziert also die Kupfer-Ionen zu metallischem Kupfer. Taucht m a n aber umgekehrt einen K u p f e r s t a b in eine Z i n k s u l f a t l ö s u n g , so ist das Kupfer nicht imstande, die ZinkIonen zu Zink zu reduzieren. Wohl aber wirkt es beispielsweise gegenüber S i l b e r - I o n e n als Reduktionsmittel: Cu 2 © + 2Ag+ Cu + 2 A g +
Cu2+ + 2 © 2Ag Cu2 + + 2 A g .
Will m a n diese unterschiedliche Oxidations- und Reduktionswirkung z a h l e n m ä ß i g erfassen, so muss m a n nach der t r e i b e n d e n K r a f t des Elektronenübergangs fragen. Die Tatsache, dass Zink an Kupfer-Ionen Elektronen abzugeben imstande ist, dass also zwischen dem Zinksystem (4) und dem Kupfersystem (5) ein elektrischer Strom fließt, zeigt, dass zwischen beiden Systemen eine S p a n n u n g (,,Potentialdifferenz") besteht. Denn ein S t r o m handele es sich um einen Wasser-, Wärme-, Gas- oder Elektrizitätsstrom - fließt nur beim Vorhandenensein eines , , N i v e a u " - U n t e r s c h i e d s (Höhen-, Temperatur-, Druck-, PotentialDifferenz), nämlich v o m h ö h e r e n z u m t i e f e r e n N i v e a u h i n . Die zwischen Zink und Kupfer vorhandene Spannung oder Potentialdifferenz lässt sich beim bloßen Eintauchen eines Zinkstabes in eine Kupfersulfatlösung experimentell nicht mes sen, weil sich der Elektronenaustausch zwischen A t o m und Atom, also innerhalb a t o m a r e r D i m e n s i o n e n abspielt. T r e n n t m a n aber das Zinksystem (4) r ä u m l i c h von dem Kupfersystem (5), indem m a n - vgl. Fig. 74 - einen Zinkstab in eine Zinksulfatlösung und einen Kupferstab in eine Kupfersulfatlösung eintaucht und die beiden Lösungen durch eine poröse Scheidewand (,,Diaphragma") voneinander scheidet (,,Daniell-Element"), so kann das Zink seine Elektronen nur auf dem Wege über einen das Zink mit dem Kupfer verbindenden ä u ß e r e n S c h l i e ß u n g s d r a h t an die Kupfer-Ionen abgeben. Der chemische Vorgang ist dabei d e r s e l b e (6) wie im Reagenzglas; die vorhandene Spannung lässt sich aber zum Unterschied von dort durch Anlegen einer gleich großen Gegenspannung an die beiden Elektroden m e s s e n (Stromlosigkeit im Schließungsdraht). Die Potentialdifferenz hat im Fall des Zink-Kupfer-Elements, falls die Konzentration an Zink- und Kupfer-Ionen je 1 mol pro Liter beträgt, den Wert 1.10 V. U n d zwar besitzt das Z i n k das h ö h e r e , das K u p f e r das t i e f e r e Potential, da die Elektronen in der Richtung des Pfeils (Fig. 74) vom Zink zum Kupfer hin fließen (vgl. Fig. 80, S.235).
äußerer Schließungsdraht Zn
1.10 Volt
Cu Kupferstab
Zinkstab
Kupfersulfatlösung
Zinksulfatlösung
Diaphragma
Fig. 74 Galvanisches Zink-KupferElement.
222
VII. Die Molekülumwandlung
Die Potential-Differenz zwischen den beiden Elektroden kann mit der D r u c k - D i f f e r e n z zwischen zwei mit Gas von verschiedenem Druck gefüllten Gasbehältern verglichen werden. Wie sich beim Öffnen eines Verbindungsrohrs zwischen beiden Behältern der Gasdruck durch Fließen eines Gasstroms vom Behälter mit höherem zum Behälter mit niedrigerem Druck ausgleicht, fließt auch hier bei leitender Verbindung von Zink und Kupfer das „Elektronengas" vom Zink, der Stelle höheren „Elektronendrucks", zum Kupfer, der Stelle niederen „Elektronendrucks". Die Potential-Differenz ist demnach ein - logarithmisches - Maß für die Elektronendruck-Differenz zwischen zwei Elektroden. Die Reaktion (6) kommt dann zum Ende, wenn sich die Elektronendrücke von Zn und Cu ausgeglichen haben (vgl. weiter unten). Kombiniert m a n das K u p f e r statt mit Zink mit S i l b e r (s. oben), so fließt der Strom in u m g e k e h r t e r Richtung (Fig. 75), und die Potentialdifferenz hat bei Anwendung 1-molarer Ionenlösungen den Wert 0.46 Volt. Zink und Silber lassen sich ihrerseits in analoger Weise zu einem ,,galvanischen Element" (vgl. S.237) zusammenstellen, dessen „elektromotorische Kraft 66 (Emk) gleich 1.56 V, also gleich der Summe der beiden anderen Potentialdifferenzen (1.10 + 0.46 = 1.56) ist und dessen Elektronenstrom vom Zink zum Silber fließt. Eine W a s s e r s t o f f e l e k t r o d e , d.h. eine von Wasserstoff bei Atmosphärendruck umspülte und in eine 1-normale Wasserstoffionen-Lösung (genauer: in eine H + -Lösung der Aktivität aH+ = 1) bei 25 °C eintauchende platinierte Platinelektrode („Normal-Wasserstoffelektrode 66 ), liefert mit Zink bzw. Kupfer bzw. Silber galvanische Elemente der elektromotorischen K r a f t 0.76 bzw. 0.34 bzw. 0.80 V, wobei der Elektronenstrom im ersten Fall vom Metall zu Wasserstoff, in den beiden letzten Fällen vom Wasserstoff zum Metall fließt. äußerer Schließungsdraht
Silberstab
Kupferstab
Silbernitratlösung
Kupfersulfatlösung
Diaphragma
Fig. 75 Galvanisches Silber-Kupfer-Element.
Auch an der Grenzfläche der Kathoden- und Anodenflüssigkeit tritt jeweils eine kleine Potentialdifferenz (,,Diffusionspotential") auf. Bezüglich dieser Potentialdifferenz, die hier außer acht gelassen wurde, vgl. die Lehrbücher für physikalische Chemie. Trägt m a n die obigen Ergebnisse nach Art der Fig. 76 maßstäblich auf, so erhält m a n eine „elektrochemische Spannungsreihe66 (besser wäre die Bezeichnung ,,Potentialreihe"), in welcher jedes höherstehende Element an die tieferstehenden Elemente Elektronen abzugeben imstande ist, und aus der die jeweilige Potentialdifferenz E M K (in Volt) eines galvanischen Elements unmittelbar zu entnehmen ist Die Emk ist dabei ein Maß für die ,freie Energie " A G = n • F • EMK des dem galvanischen Element zugrunde liegenden elektrochemischen Vorgangs, ausgedrückt in ,,Faradayvolt" [FV] pro Molgleichung = ,,Elektronenvolt" [eV] pro Molekülgleichung (n = Zahl der in der Gleichung umgesetzten FaradayEinheiten bzw. Elektronen). Die von der Reaktion 2Ag + + Cu 2Ag + Cu2 + abgegebene freie Energie AG beträgt somit (ohne Berücksichtigung des Diffusionspotentials) bei den Einheiten der Konzentration von Cu2 + und Ag + 2 x 0.46 = 0.92 eV pro Molekülgleichung = 0.92 FV pro Molgleichung. Natürlich sind bei der geschilderten Versuchsanordnung nur P o t e n t i a l d i f f e r e n z e n messbar. Die a b s o l u t e n Potentialwerte der einzelnen Elektroden bleiben hierbei unbekannt. Ihre Kenntnis ist aber auch nicht erforderlich, da bei galvanischen Elementen nur die elektromotorische G e s a m t k r a f t interessiert. Es genügt daher, einen w i l l k ü r l i c h e n N u l l p u n k t festzusetzen, so wie m a n etwa zur T e m p e r a t u r m e s s u n g statt des absoluten Nullpunktes die Temperatur des schmelzenden E i s e s und zur H ö h e n m e s s u n g statt des Erdmittelpunktes
2. Die Oxidation und Reduktion Red.
Ox.
+
n©
Zn
*±Zn2++
2©
-0.76
H2
+±2H + +
2©
±0.00
2©
+0.34
Cu ?±Cu
Ag +±Ag+ +
©
223
e0[v]
+0.8
Fig. 16 Wahl eines willkürlichen Nullpunktes der elektrochemischen Spannungsreihe (a) und Normalpotentiale für Zn, H 2 , Cu, Ag in saurer Lösung (b) („Oxidationspotentiale" Red. Ox + nQ werden vor ,,Reduktionspotentialen" Ox + ^ © Red. bevorzugt: eQx = e Red ).
die H ö h e des M e e r e s s p i e g e l s als willkürlichen Nullpunkt wählt. Bei der S p a n n u n g s r e i h e hat m a n sich dahin entschieden, das Potential einer N o r m a l - W a s s e r s t o f f e l e k t r o d e (H 2 2 H + + 2 © ) (vgl. oben) willkürlich als N u l l p u n k t festzulegen 1 1 (vgl. Fig.76); m a n hätte aber genau so gut auch das Potential des Silbers oder Kupfers zum Nullpunkt der Skala machen können. Zur Unterscheidung voneinander erhalten gemäß einer 1953 getroffenen internationalen Übereinkunft die Potentiale aller in der Spannungsreihe ü b e r dem Wasserstoff stehenden Elemente ein n e g a t i v e s , die aller d a r u n t e r stehenden Elemente ein p o s i t i v e s Vorzeichen^. Zink, Kupfer und Silber haben demnach, bezogen auf die Wassrstoffelektrode als Nullelektrode, in 1-molarer Metallionenlösung bei 25 °C „Normalpotentiale 66 („Standardpotentiale") s0 von — 0.76 bzw. + 0.34 bzw. + 0.80 V (vgl. Fig. 76). Es ist für die Angabe der N o r m a l p o t e n t i a l e gleichgültig, ob man z.B. für das Wasserstoff-Redoxsystem die Gleichung H 2 2H + + 2 © oder die Gleichung ViH2 H + + © schreibt, da die Potentiale ja nur das „Niveau" angeben, bei dem die Elektronen aufgenommen oder abgegeben werden. Dagegen ist die bei einer Redoxreaktion gewinnbare freie Energie AG = n- F • EUK naturgemäß von der gewählten Reaktionsgleichung abhängig, da letztere die Zahl « der umgesetzten Elektronen und damit die fließende Ladungsmenge bestimmt (freie Energie Ladungsmenge Potentialdifferenz).
Normalpotentiale in saurer und basischer Lösung Die in Tab. 28 wiedergegebene erweiterte Spannungsreihe enthält eine Zusammenstellung der Normalpotentiale s 0 (in Volt) einiger wichtiger Metalle in saurer und basischer Lösung (c H+ = 1 bzw. c O H - = 1; exakter: %+ = 1 bzw. aOH- = 1), geordnet nach der H ö h e dieser 11 In Wirklichkeit besitzt die Reaktion H 2 2 H + + 2 © gar nicht einen Wert Null der freien Energie, sondern erfordert eine Zufuhr von mehr als 800 kJ entsprechend einem Wasserstoffpotential e 0 von 4.5 statt - wie willkürlich festgelegt - von 0 V. 12 Auch die umgekehrte Vorzeichengebung für Potentiale ist im amerikanischen Schrifttum bisweilen noch gebräuchlich. Die hier verwendeten Vorzeichen der Normalpotentiale stimmen mit dem international festgelegten Vorzeichen der auf Wasserstoff bezogenen freien Energie AG = n- F • e 0 der tabellierten Redoxhalbsysteme Red. Ox. + © überein. In elektrochemischen Spannungsreihen bevorzugt man dabei die Formulierung Red. Ox. + © („Oxidationspotentiale": Oxidation = Elektronenentzug der Redox-Halbsysteme) vor der Formulierung Ox. + © Red. („Reduktionspotentiale"; Reduktion = Elektronenzufuhr der Redox-(Halbsysteme): £ 0x . = %ed.-
224
VII. Die Molekülumwandlung
Tab.28
Spannungsreihe einiger Metalle (Wasser, 25 °C; weitere Werte: Anhang VI).
Saure Lösung 1) Red. L K C Na M A M Z C F C S Pb H2 C A H
P P A
Ox.
Basische Lösung 1) +nQ
L + e K+ + e Ca 2 + + 20 N + e Mg 2 + + 20 AI3 + + 3 0 Mn 2 + + 20 + 20 Z 2+ + 30 3 Cr + + 20 F 2 + + 20 C 2 + + 20 S 2 + + 20 P 2+ + 2 0 2 H + + 20 C 2+ + 0 A + 20 H g2
+
+ 20
P 2 + + 20 P 2+ + 3 0 Au 3 +
£0 [V] - 3.040 - 2.925 -2.84 -2.713 -2.356 - 1.676 - 1.180 -0.7626 - 0.744 - 0.440 - 0.4025 -0.137 -0.125 + 0.0000 0.340 0.7991 0.8595 0.915 1.188 1.498
Red L C K N M A M Z C S F H2 C P C P H P 2A A
-2OH -2OH" -4OH" -2OH" -4OH" -4OH" • 3OH~ -2OH" • 2OH~ -2OH" • 3OH~ • 2OH~ -2OH" -2OH" -2OH" • 2OH~ -4OH"
Ox
+ nQ
+
0 20 0 0 20 30 20 20 30 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 30
Li Ca(OH)2 K+ N Mg(OH)2 Al(OH)4 Mn(OH) 2
+ + + + + + + + Zn(OH)2Cr(OH) 4 + Sn(OH)3+ Fe(OH)2 + 2H + Cd(OH)2 + Pb(OH)3+ Cu(OH)2 + Pd(OH)2 + Hg + H2O + Pt(OH) 2 + A + H2O + Au + H2O +
«.
[V]
-3.040 -3.02 -2.925 -2.713 -2.687 -2.310 -1.55 - 1.285 -1.33 -0.909 -0.877 -0.828 -0.824 -0.540 -0.219 -0.07 0.0977 0.15 0.342 0.70
Normalpotentiale (für weitere Potentiale vgl. A n h . V I ) . Sie beziehen sich alle auf 25°C, auf 1-molare wässerige Metallionenlösungen (genauer: Lösungen der Ionenaktivität 1) sowie auf die Normal-Wasserstoffelektrode als Nullpunkt und sind ein M a ß f ü r die r e d u z i e r e n d e bzw. o x i d i e r e n d e K r a f t des betreffenden Redoxsystems. Je h ö h e r (tiefer) das System in der Spannungsreihe steht, d . h . je n e g a t i v e r (positiver) sein Normalpotential ist, um so s t ä r k e r ist seine r e d u z i e r e n d e (oxidierende) W i r k u n g . Die an der S p i t z e der Reihe stehenden Metalle sind demnach besonders s t a r k e R e d u k t i o n s m i t t e l und lassen sich hiernach besonders l e i c h t o x i d i e r e n („unedle Metalle"); dagegen sind die am unteren E n d e der Reihe stehenden Metalle nur s c h w e r zu o x i d i e r e n („edle Metalle") und wirken in F o r m ihrer Ionen umgekehrt als s t a r k e O x i d a t i o n s m i t t e l 1 3 . Aus der Stellung des Lithiums über dem Kalium und Natrium ersieht man, dass für die Aufeinanderfolge der Metalle in der Spannungsreihe nicht allein die Ionisierungsenergie IE (exakter: freie Ionisierungsenthalpie) maßgeblich ist, die bei den Alkalimetallen vom Cs zum Li zunimmt, sondern dass auch die Hydratationsenthalpie AHHydr (exakter: freie Hydratationsenthalpie) eine Rolle spielt, die beim Li + besonders groß, bei Cs + am kleinsten ist und daher die Bildung positiver Li + -Ionen in wässeriger Lösung begünstigt; ferner spielt die Atomisierungsenergie AE (exakter: freie Atomisierungsenthalpie), die in Richtung von Cs zum Li hin wächst, eine Rolle (bzgl. Ionisierungs-, Hydratations-, Atomisierungsenergie vgl. Tafel III). 1 / « M „ ^ M ^ M + + e ~ -> M,[ jdl +e~. Jedes Redoxsystem kann - bei den Einheiten der Konzentration der Redoxpartner (vgl. unten, Abschn. 2.2.2) - nur gegenüber einem tiefer (höher) stehenden System als Reduktionsmittel (Oxidationsmittel) auftreten. Greifen wir etwa die Reduktion von Wasserstoff-Ionen zu elementarem Wasserstoff in saurer Lösung, also die Entwicklung von Wasserstoff aus Säuren heraus, kommen hierfür nur die in der Spannungsreihe über dem System 2 H + + 2 0 H 2 stehenden Metalle Blei bis Lithium, nicht aber die darunter stehenden Metalle Kupfer bis Gold in Frage. So kann man z.B. durch Einwirkung von Zink oder Eisen auf Säuren Wasserstoff erzeugen, während die reduzierende Kraft von Kupfer oder Silber zur Entladung von Wasserstoff-Ionen nicht ausreicht, so dass sich diese Metalle in Säuren nicht unter Wasserstoffentwicklung auflösen, sondern umgekehrt aus den Lösungen ihrer Salze durch 13 Da sich aus den jeweils 20 Systemen der in Tab. 28 angegebenen Spannungsreihen insgesamt (20 x 19) :2 = 190 Kombinationen bilden lassen, kann man allein anhand der obigen Tabelle fast 200 chemische Reaktionen vorauszusagen.
2. Die Oxidation und Reduktion
225
Wasserstoff (unter Druck) ausgefällt werden können. In ähnlicher Weise kann man z.B. Kupfer aus Kupfersalzlösungen durch Eisen und Silber aus Silbersalzlösungen durch Zink, nicht aber etwa Cadmium aus Cadmiumsalzlösungen durch Blei niederschlagen. Beim Übergang von s a u r e r zu b a s i s c h e r Lösung verschieben sich entsprechend Tab. 28 die Potentiale aller derjenigen Metalle, die H y d r o x o k o m p l e x e oder s c h w e r l ö s l i c h e H y d r o x i d e bilden, nach n e g a t i v e r e n Werten hin, da dann die Metallionen-Konzentrationen stark h e r a b g e s e t z t und die Redoxgleichgewichte daher nach r e c h t s verschoben sind, entsprechend einer e r h ö h t e n Reduktionswirkung (vgl. hierzu Konzentrationsabhängigkeit der Einzelpotentiale, S.229). So sind z.B. Aluminium, Zink oder Zinn in a l k a l i s c h e r Lösung noch wesentlich s t ä r k e r e R e d u k t i o n s m i t t e l als in s a u r e r , wovon m a n für präparative Zwecke häufig Gebrauch macht. Ebenso sind z.B. Palladium und Platin in a l k a l i s c h e r Lösung wesentlich w e n i g e r e d e l als in s a u r e r , was m a n beim Schmelzen von Alkalien in Tiegeln aus solchen Materialien beachten muss Auch f ü r Nicht- und Halbmetalle lässt sich eine Spannungsreihe aufstellen, wobei die Nicht(Halb-)metalle sowohl als R e d u k t i o n s - wie als O x i d a t i o n s m i t t e l auftreten können und mithin „Redox-Amphoterie" zeigen (vgl. hierzu Säure-Base-Amphoterie). So vermag etwa Chlor als redox-amphoteres Element unter Elektronenaufnahme (Wirkung als Oxidationsmittel) in Chlorid bzw. unter Elektronenabgabe (Wirkung als Reduktionsmittel) in unterchlorige Säure überzugehen. In analoger Weise lassen sich beispielsweise die Elemente Brom, Schwefel, Selen, Phosphor oder Arsen sowohl reduzieren als auch oxidieren (vgl. Tab. 29). Wie bei den Metallen stehen oben die Redoxsysteme mit starker Reduktions- und unten die Redoxsysteme mit starker Oxidationskraft. So wirkt z.B. der Phosphor stärker reduzierend als Arsen und die Hypochlorige Säure stärker oxidierend als Hypobromige Säure: der Schwefelwasserstoff ist ein schwächeres Reduktionsmittel als Selenwasserstoff und das Fluor ein stärkeres Oxidationsmittel als Brom. Jedes Halogen lässt sich nur durch solche Oxidationsmittel aus seinen Anionen in Freiheit setzen, welche in der Spannungsreihe darunterstehen. Daher kann z. B. das Brom aus Iodiden Iod und das Chlor aus Bromiden Brom freimachen, nie umgekehrt. Unter den in obiger Tabelle aufgenommenen Nichtmetallen ist Phosphor das stärkste Reduktions-, Fluor das stärkste Oxidationsmittel. Das Fluor, welches das positivste Potential aller Oxidationsmittel überhaupt besitzt, kann dieser Stellung in der Spannungsreihe gemäß überhaupt nicht auf chemischem Wege, sondern nur durch eine Anode entsprechend positiven Potentials, also durch anodische Oxidation aus Fluoriden gewonnen werden.
Tab.29
Spannungsreihe einiger Nicht- und Halbmetalle (Wasser, 25°C; vgl.Anhang VI).
Saure Lösung 0H+ = 1) Red.
Basische Lösung OOH- = !) Ox.
As
+
A + 3H,0
PH H2 H2S + 3H20 A 2H s 2I 3H S 2B 2H 2C B 2H C 2H 2H
PO S P
s As SO h Se B
o2 C 2HBrO 2HClO
F2
+ 3H 3H 2H 3H + 2H + 2H 3H + 4H + + 4H + + 4H + 2H 2H 2H
+ nQ
E„ [V]
E„ [V]
+ + + + + + + + + + + + + + + +
- 0.225 -0.502 -0.40 -0.063 + 0.000 + 0.144 0.240 0.500 0.535 + 0.74 1.065 + 1.229 + 1.358 1.604 1.630 3.053
-1.37 -1.73 -0.92 -0.89 -0.828 -0.476 -0.68 -0.659 0.535 -0.366 1.065 0.401 1.358 0.455 0.421 2.866
30 30 20 30 20 20 30 40 20 40 20 40 20 20 20 20
226
VII. Die Molekülumwandlung
Die Potentiale aller derjenigen N i c h t m e t a l l e , an deren Redoxgleichgewichten in saurer Lösung W a s s e r s t o f f - I o n e n beteiligt sind, nehmen in a l k a l i s c h e r Lösung n e g a t i v e r e bzw. w e n i g e r p o s i t i v e Werte an, da hier die H + - K o n z e n t r a t i o n e n viel kleiner sind, was einer Verschiebung dieser Redoxgleichgewichte nach r e c h t s entspricht. So ist z.B. das Sulfid-Ion S2" (etwa in F o r m von Natriumsulfid Na 2 S) in a l k a l i s c h e r Lösung ein s t ä r k e r e s R e d u k t i o n s m i t t e l als der zugehörige Schwefelwasserstoff H S in s a u r e r Lösung, und Sauerstoff wirkt in s a u r e r Lösung s t ä r k e r o x i d i e r e n d als in a l k a l i s c h e r . Für die Chemie in wässeriger Lösung ist die Tatsache von Bedeutung, dass sich Wasser sowohl zu Wasserstoff reduzieren (H 2 0 + Q -> j H 2 + 0H~) als auch zu Sauerstoff oxidieren lässt (H 2 0 -> j 0 2 + 2 H + + 2 0 ) . Reduktionsmittel wie beispielsweise Natrium (üxidationsmittel wie beispielsweise Fluor), deren Normalpotential negativer (positiver) als das für die Reduktion (üxidation) von Wasser gültige ist (vgl. Tab. 29), sind in Wasser - falls keine Reaktionshemmungen vorliegen (vgl. weiter unten, Abschn. 2.2.2) - instabil (Wasserstoff- bzw. Sauerstoffentwicklung). Weiterhin können Redoxsysteme in Ionen-Umladungen und in komplizierteren chemischen Vorgängen bestehen. Auch hier seien einige Beispiele in Tab. 30 gegeben (weitere Beispiele bei der späteren Besprechung der einzelnen Elemente und ihrer Verbindungen; vgl. auch Anh. VI). Die Potentiale der I o n e n u m l a d u n g e n in alkalischer Lösung sind alle negativer bzw. weniger positiv als in saurer, da die Konzentrationen der höherwertigen Ionen durch Hydroxid-, 0xid-, oder Hydroxokomplex-Bildung stärker herabgesetzt werden als die der niederwertigen. So wird z.B. Fe(II) in alkalischer Lösung durch Sauerstoff wesentlich leichter zu Fe(III) oxidiert als in saurer, und Sn(II) ist in alkalischer Lösung ein wesentlich stärkeres Reduktionsmittel als in saurer, so wie auch Ag(II) in alkalischer Lösung wesentlich schwächer oxidierend wirkt als in saurer. Auch die Redoxpotentiale der k o m p l i z i e r t e r e n R e d o x s y s t e m e verschieben sich beim Übergang von sauren zu alkalischen Lösungen stark zur negativeren Seite hin, da in basischen Lösungen die H + -Konzentration klein ist, so dass sich die Redoxgleichgewichte der sauren Systeme in alkalischer Lösung nach rechts verschieben, entsprechend einer größeren Reduktionskraft (schwächeren 0xidationswirkung); vgl. Abschnitt 2.2.2. So wirken gemäß Tab. 30 z. B. Phosphonate und Sulfite in alkalischer Lösung wesentlich stärker reduzierend als Phosphonsäure bzw. Schwefeldioxid in saurer. Sulfate und Nitrate sind in alkalischer Lösung wesentlich schwächere 0xidationsmittel als Schwefel- und Salpetersäure in saurer. Ganz allgemein lässt sich somit feststellen Oxidationsmittel sind in saurer, Reduktionsmittel in alkalischer Lösung stärker wirksam. Demgemäß erzeugt m a n Kationen M ( A n i o n e n M 0 £ " ) mit M in niedriger (hoher) 0xidationsstufe mit Vorteil in saurem (alkalischem) Milieu. Natürlich sind in Wasser die betreffenden Ionen nur dann „haltbar", wenn sie H 2 0 nicht
Tab. 30 Spannungsreihe einiger Ionen-Umladungen und komplizierterer Redoxsysteme (Wasser, 25 °C; vgl. Anhang VI). Saure Lösung 1) Red Cr
2+
Basische Lösung 1) Ox Cr
3+
H 3 P 0 3 + H 2 0 ^ H 3 PÜ 4 + 2 H + Sn2+ Sn4+ Sü 2 + 2 H 2 0 ^ S02" + 4 H + Fe2+ Fe3+ N0 2H N0 4H P 2+ 2H Pb 4H M 2+ 4H Mn 8H A A 2+ 2H
+nQ +
e0 [V]
Q
-0.408
+2Q +2Q +2Q + Q
-0.276 +0.154 +0.158 +0.771 0.959 1.698 1.51 1.980 2.075
«. [V] - 1.33 - 1.12 - 0.93 - 0.936 - 0.69 -0.15 0.28 0.33 0.604 1.246
2. Die Oxidation und Reduktion
227
zu H 2 reduzieren oder zu 0 2 oxidieren. In letzteren Fällen muss m a n zu redoxstabileren nichtwässerigen Medien übergehen (s. unten). Ähnlich wie die OH~-Ionen vermögen auch andere Komplexbildner oder Fällungsmittel wie F C P , Br~, I", CN~ oder NH 3 infolge Bildung von Komplexionen oder schwerlöslichen Verbindungen die Redoxpotentiale von Metallen oder Ionenumladungen oft drastisch zu verschieben. So ist z.B. das edle Silber (£0 = + 0.7991 V) in einer Cyanidlösung (Ag + 2CN" ^ Ag(CN) 2 + Q; £0 = — 0.31 V) unedler als etwa Zinn oder Blei in saurer Lösung, und auch die Oxidation von Eisen(II) zu Eisen(III) erfolgt im komplexierten Zustand (z.B. Fe(CN)g~ ^ Fe(CN)g" + O; £„ = + 0.361 V) viel leichter als im unkomplexierten 0.771 V). Die Kenntnis der Redoxsysteme (zur Formulierung vgl. Abschnitt 2.1.2) und ihrer Normalpotentiale erleichtert sehr die Aufstellung von Oxidations-Reduktions-Gleichungen. Zum Beispiel folgt aus den Werten der Normalpotentiale, dass man bei den Einheiten der Konzentration mithilfe von Permanganat in saurer Lösung aus Chloriden Chlor in Freiheit setzen kann (vgl. Tab. 29 und 30): x2|
2C Mn04 + 8 H + + 5 Q 2 M n 0 4 + 16H + + 1 0 C P
C ^ Mn2 +
+4H20
2Mn2 + + 5C12 + 8H 2 O.
(7)
Als weiteres Beispiel sei etwa die Auflösung von Kupfer in Salpetersäure angeführt, die gemäß den Gleichungen x2| N O 3 + 4 H
C +3Q
3Cu + 2NO3 + 8H +
C 2+ NO +2H20 3Cu2 + +
+
(8)
nicht unter Wasserstoff-, sondern unter Stickstoffoxid-Entwicklung vor sich gehen muss, da das Kupfer als edles Metall zum Unterschied vom Zink oder Eisen (vgl. Tab. 28) nicht von den WasserstoffIonen, sondern von der Salpetersäure (vgl. Tab.30) oxidiert wird.
Relative Stärke gebräuchlicher Oxidations- und Reduktionsmittel Die Normalpotentiale von Redoxsystemen variieren, wie aus den oben wiedergegebenen Spannungsreihen hervorgeht, von — 3 bis + 3 V. D a die Oxidationskraft eines Oxidationsmittels (Reduktionskraft eines Reduktionsmittels) keine a b s o l u t e Größe ist, sondern - außer von Konzentrationsänderungen (vgl. weiter unten, Abschnitt 2.2.2) - von dem zu oxidierenden (zu reduzierenden) Reaktionspartner abhängt, kann m a n nur in r e l a t i v e m Sinne von starken und schwachen Oxidations- und Reduktionsmitteln sprechen. U n d zwar ist in Übereinstimmung mit dem weiter oben Besprochenen die elektronenentziehende oxidierende (elektronenzuführende reduzierende) K r a f t eines Redoxsystems bezüglich eines anderen u m so größer, je positiver bzw. weniger negativ (je negativer bzw. weniger positiv) sein Normalpotential, verglichen mit dem des anderen Redoxsystems, ist. So ist z.B. Iodwasserstoff in saurer Lösung (e0 = + 0.5355 V) gegenüber Arsensäure (E0 = + 0.560 V) ein sehr schwaches, gegenüber Wasserstoffperoxid (E0 = + 1.763 V) dagegen ein sehr starkes Reduktionsmittel; Sauerstoff vermag in alkalischer Lösung (E0 = + 0.401 V) zwar Eisen (II) zu Eisen (III) (Fe(OH)2 + OH" ^ Fe(OH)3 + Q; £0 = — 0.69 V), aber nicht Silber (I) zu Silber (II) (Ag 2 0 + 2OH~ 2Ag0 + H 2 0 + 2Q; £0 = +0.604 V) zu oxidieren, wirkt also nur im ersteren Fall als Oxidationsmittel Die Fig.77 gibt die Stärke einiger gebräuchlicher Reduktions- und Oxidationsmittel maßstäblich auf einer Potentialskala wieder. Besonders starke Reduktionsmittel sind danach sowohl in saurer wie in alkalischer Lösung Li, Na und Ca, besonders starke Oxidationsmittel F 2 , O und S2C>2~. Potentiale im Bereich > + 2V (entsprechend sehr starker Oxidationskraft) besitzen nach unseren heutigen Kenntnissen in saurer Lösung: O 3 (+2.08), F 2 O (+2.15), S2C>2~(+ 2.01), O (+2.422), H 4 XeO e (+2.42) und F 2 (+ 3.05); Potentiale im Bereich < —2V (entsprechend sehr hoher Reduktionskraft) weisen in alkalischer Lösung auf: H + (—2.93), 1.Hauptgruppe (—3.04 bis —2.713), 2.Hauptgruppe (—3.02 bis — 2.62), Al und 3. Nebengruppe (— 2.85 bis — 2.31), Zr (— 2.36), Hf (— 2.50) und P (— 2.05). Wie aus der Fig. 77 darüber hinaus anschaulich hervorgeht, gehört zu einem starken Reduktionsmittel jeweils ein schwaches korrespondierendes Oxidationsmittel und zu einem starken Oxidationsmittel umgekehrt ein schwaches konjugiertes Reduktionsmittel.
228
VII. Die Molekülumwandlung saure Lösung
alkalische Lösung
Reduktionskraft wächst
Reduktionskraft wächst
Lithium ( - 3 . 0 4 ) Kalium ( - 2 . 9 3 ) Calcium ( - 2 . 8 4 )
1
Lithium Calcium Atomarer Wasserstoff ( -2.93), Kalium Natrium Magnesium
Natrium ( - 2 . 7 1 )
Magnesium ( — 2.36) Atomarer Wasserstoff ( - 2 . 1 1 )
-
Aluminium ( - 2 . 3 1 )
J
cj Aluminium (—1.68)
Phosphor ( - 2 . 0 5 )
Wirkung als Oxidationsmittel
Chrom II ( - 0 . 4 1 ) Eisen ( - 0 . 4 4 )
Wasserstoff Schwefelwasserstoff ( + Zinn(II) ( + Schweflige Säure ( +
J 3
-
o Zink ( - 0 . 7 6 )
.4
Volt
(-3.04) (-3.02) (-2.93)"" (-2.71) ( — 2.69) x
( ± 0 ) - f ± 0 | - Wasserstoff-Ion ( ± 0 ) 0.14) — Schwefelsäure ( + 0.16) 0.15) 0.16)
Zink Phosphonat Sulfit Stannit Eisen Wasserstoff Arsenit Thiosulfat Sulfid
Wirkung als (-1.29) Oxidationsmittel (-1.19) (-0.94) r 3 l (-0.93)x-1 ( - 0.88); (-0.83) . Arsenat ( - 0 . 6 7 ) (-0.67)7 (-0.58) 7 ,Schwefel ( - 0 . 4 8 ) (-0.48)7
- / C h r o m a t (-0.11) Peroxid ( - 0 . 0 7 ) J t Braunstein ( - 0 . 0 5 ) Selenit ( + 0 . 0 3 ) - l ± " J - Selenat (+0.03) "Quecksilberoxid ( + 0.10) Bleidioxid ( + 0.28)
Hydroxid-Ion ( + 0 . 4 0 ) \ Disilberoxid ( + 0.34) / Iod ( + 0.54) ( + 0.54) Iodid ( + 0.54) : x Sauerstoff ( + 0.40) ( + 0.56) ^ Arsensäure ( + 0.56) \\ Iod ( + 0.54) ( + 0.70) Eisen(III) ( + 0.77) \ Permanganat ( + 0.60) ( + 0.77) /Salpetersäure ( + 0.94) \ Chlorat ( + 0.69) ( + 0.94) - T j ~ t Salpetrige Säure ( + 1 . 0 0 ) Wirkung als p j ] Peroxid ( + 0.87) ( + l .07) i =-= L Brom ( + 1.07) v Reduktionsmittel Brom ( + 1.07) Selensäure ( + 1.15) (+1.15) Ozon ( + 1 . 2 5 ) _ T r a u n s t e i n ( + 1.23),Sauerstoff (+1.23) Chlor ( + 1 . 3 6 ) > Chromsäure ( + 1.38), Chlor (+1.36) Atomarer Y Chlorsäure ( + 1 . 4 5 ) Sauerstoff ( + 1.59) \ Bleidioxid ( + 1.70) Permangansäure ( + 1.51) Wirkung als Wasserstoffperoxid ( + 1 . 7 6 ) Reduktionsmittel [ ^ Silber(II) ( + 1.98) m ^ ^ Ozon ( + 2.08)
Iodwasserstoff Arsenige Säure Wasserstoffperoxid Eisen(II) Salpetrige Säure Bromwasserstoff Selenige Säure
Peroxodischwefelsäure ( + 2.01) Atomarer Sauerstoff ( + 2.42)
Fluor ( + 2.87)
r
- Fluor ( + 3.05)
Oxidationskraft wächst
Oxidationskraft wächst
Fig. 77 Maßstäbliche Potentialskala (Volt) gebräuchlicher Reduktions- und Oxidationsmittel in saurer und basischer Lösung.
Sind von einem Element wie beispielsweise Chlor Verbindungen mehrerer unterschiedlicher Oxidationsstufen bekannt (z.B. HCl, HClO, HClO 2 , H C l O 3 , HClO 4 ), so lässt sich dessen Redoxverhalten besonders übersichtlich in F o r m eines „Potentialdiagramms 66 wiedergeben. Hierzu schreibt m a n die (ungeladenen bzw. geladenen) Elementverbindungen mit abnehmender Oxidationsstufe des Elements nebeneinander und verbindet jeweils Paare von Elementverbindungen mit einem Strich, auf dem das - für saure bzw. basische Lösung zutreffende - Normalpotential des Redoxprozesses steht. Als Beispiel sei nachfolgend das Potentialdiagramm einiger wichtiger O x i d a t i o n s s t u f e n d e s C h l o r s wiedergegeben:
2. Die Oxidation und Reduktion Saure
229
Lösung
Ihm ist zu entnehmen, dass die Verbindungen des Chlors - mit Ausnahme von Chlorid C l " - in saurer Lösung bei den Einheiten der Konzentration mehr oder minder starke 0 x i d a t i o n s m i t t e l sind (alle Potentiale > 1). Besonders hohe 0xidationskraft k o m m t der Chlorigen und Unterchlorigen Säure H C l 0 2 und H C l 0 zu. Der als „Disproportionierung"i4 bezeichnete Übergang einer Elementverbindung aus einer m i t t l e r e n in eine h ö h e r e und eine t i e f e r e 0 x i d a t i o n s s t u f e , der immer dann erfolgen kann, wenn das Potential des betreffenden Reduktionsprozesses positiver bzw. weniger negativ ist als das Potential des 0 x i d a tionsprozesses, ist z.B. ausgehend von Chlorat Q O 3 unter Bildung von Perchlorat Q O 4 sowie eine rechts von Q O 3 stehende Chlorverbindung (HClO 2 , H C l 0 , Cl 2 bzw. C l " ) möglich (vgl. (9). Ein Beispiel für den umgekehrten Vorgang, nämlich die Bildung einer Elementverbindung m i t t l e r e r 0xidationsstufe aus einer n i e d r i g e r e n und einer h ö h e r e n 0xidationsstufe (,,Komproportionierung"i4) bildet die Umsetzung von Hypochloriger Säure H C l 0 mit Chlorid C l " , die in saurer Lösung zu Chlor führt (vgl. (9)). Sind die Normalpotentiale einer zusammenhängenden Reihe von Redoxpaaren (z.B. ClOg /HCl0 2 ; HCl0 2 /HCl0; HCl0/Cl 2 ) bekannt, so berechnet sich das Normalpotential irgendeines Paares nicht benachbarter 0xidationsstufen dieser Reihe wie folgt: Man multipliziert jedes Normalpotential der Reihe von Redoxpaaren zwischen den betreffenden, nicht benachbarten 0xidationsstufen mit der Anzahl der beim zugehörigen Redoxschritt jeweils umgesetzten Elektronen und addiert die so erhaltenen Werte. Das durch die Anzahl der im Falle des zu berechnenden Redoxvorganges umgesetzten Elektronen di vidierte Ergebnis stellt das gesuchte Redoxpotential dar. Demgemäß errechnet sich das Normalpotential für den Prozess Cl0 3 7Cl 2 aus den Potentialen für die Vorgänge Cl0 3 7HCl0 2 (1.18 V), HCl0 2 /HCl0 (1.65 V) und HCl0/Cl 2 (1.63 V) zu: [2 x 1.18 + 2 x 1.65 + 1 x 1.63] : 5 = 1.46 V.
2.2.2
Die Konzentrationsabhängigkeit des Einzelpotentials
Allgemeines
Durch Ä n d e r u n g d e r K o n z e n t r a t i o n e n der an einem Redoxsystem beteiligten Reaktionspartner kann m a n den Zahlenwert des Normalpotentials und damit die o x i d i e r e n d e bzw. r e d u z i e r e n d e K r a f t eines Redoxsystems R e d O x . + n © w i l l k ü r l i c h v e r ä n d e r n . Es gilt dafür bei Zimmertemperatur (25 °C) die „Nernst'sche Gleichung66:
£ = £0 +
0.05916 1 log n
— C
(10)
Red.
Hierin bedeutet e 0 das N o r m a l p o t e n t i a l (bei den Einheiten der Konzentration der Reaktionsteilnehmer), /z die Zahl der in der Redoxgleichung a b g e g e b e n e n bzw. a u f g e n o m m e n e n E l e k t r o n e n , c Qx bzw. cRed das M a s s e n w i r k u n g s p r o d u k t (s. dort) der Konzentrationen - genauer: Aktivitäten (s. dort) - der Reaktionsteilnehmer auf der 0xidations- bzw. Reduktionsseite der Redoxgleichung und e das bei diesen Konzentrationen resultierende E i n i4 dis. (lat.) = auseinander: com (lat.) = zusammen: proportio (lat.) = Verhältnis.
230
VII. Die Molekülumwandlung
z e l p o t e n t i a l ! 5 . Bei den Einheiten der Konzentration der Reaktionspartner folgt aus Gleichung (10): s = s 0 + (0.05916/«) log 1 = s 0 + 0 = s 0 , was der Definition von s 0 entspricht. Bei Kenntnis der Normalpotentiale und der Konzentrationen der Reaktionspartner las sen sich mittels (10) die unter den betreffenden Bedingungen bei 25°C gültigen E i n z e l p o t e n t i a l e d e r R e d o x t e i l s y s t e m e b e r e c h n e n . Beispielsweise ergibt sich für das P e r m a n ganatsystem (Mn04 + 8H+ + 5© Mn2+ + 4 H O ) die Beziehung (c H2G ist als Konstante bereits in der Größe 1.51 enthalten): £ = 1 . 5 1 + 0 . 0 1 1 8 log C
+ C
.
(11)
Mn2 +
M a n kann demnach durch V e r g r ö ß e r u n g (Verkleinerung) der Permanganat- und Wasserstoffionen-Konzentrationen bzw. durch V e r k l e i n e r u n g (Vergrößerung) der ManganionenKonzentration die oxidierende K r a f t des Permanganats nach Belieben e r h ö h e n (erniedrigen). So nimmt das Potential im Falle gegebener Permanaganat- und Manganionen-Konzentration bei Vergrößerung (Verkleinerung) der Wasserstoffionen-Konzentration um je 1 Zehnerpotenz - entsprechend der Erniedrigung (Erhöhung) des pH-Wertes um 1 Einheit - um je 0.0118 log 10s x 0.1 V zu (ab). Demgemäß beträgt das Einzelpotential bei einer Wasserstoffionen-Konzentration von 10~3 (z.B. in 1/10molarer Essigsäure) nicht mehr 1.5, sondern 1.5 — (3 x 0.1) = 1.2 V und bei einer Wasserstoffionen-Konzentration von 1 0 ( z . B . in 1/10-molarer Borsäure) nur noch 1.5 — (6 x 0.1) = 0.9 V. Dementsprechend vermag Permanganat bei einem pH-Wert 0 C h l o r i d z u Chlor (e0 = 1.4 V), Bromidzu Brom (e0 = 1.1 V) und Iodid zu Iod (e0 = 0.5 V) zu oxidieren; bei einem pH-Wert 3 erstreckt sich dagegen die Oxidationswirkung nur noch auf das Bromid und Iodid und bei einem pH-Wert 6 nur noch auf das Iodid. Bei Kenntnis der Normalpotentiale s 0 kann m a n die Beziehung (10) zwischen Potential und Ionenkonzentration umgekehrt auch dazu verwenden, um durch Messung des Einzelpotentials g (vgl. (12), (13)) einer in eine Lösung unbekannter Ionenkonzentration eintauchenden Elektrode die I o n e n k o n z e n t r a t i o n c Ion (genauer Ionenaktivität) der Lösung zu e r m i t t e l n . M a n benutzt dieses Prinzip besonders häufig zur Bestimmung der W a s s e r s t o f f i o n e n - K o n z e n t r a t i o n einer Lösung (,,potentiometrische pH-Bestimmung"; vgl. Gl.(20) und Lehrbücher der physikalischen Chemie). K o n s t a n t b l e i b e n d e K o n z e n t r a t i o n e n (wie z.B. die - verschwindend kleine - Konzentration einer Lösung an Metallelektronen oder die Konzentration einer Lösung an Gas bei Gaselektroden von 1 atm = 1.013 bar Druck) brauchen in die Massenwirkungsprodukte c 0 x bzw. c Red n i c h t m i t e i n g e s e t z t zu w e r d e n , da sie übereinkunftsgemäß als konstante Größen schon im Zahlenwert s 0 des Normalpotentials m i t e n t h a l t e n s i n d . So gilt z. B. für Redoxsysteme des Typus M M2+ + 2 © (M = Metall) die vereinfachte Beziehung: g = fi0 +0.02958 l o g c M 2 +
(12)
und für Gaselektroden des Typus 2 X ~ ^ X 2 + 2 © ( X = Nichtmetall) bei 1.013 bar Druck die vereinfachte Beziehung s = s0 — 0.02958 log c 2 - .
(13)
Danach wirkt ein Kationen-bildendes M e t a l l um so s t ä r k e r r e d u z i e r e n d , je k l e i n e r die I o n e n k o n z e n t r a t i o n der Lösung ist, während bei einem Anionen-bildenden N i c h t m e t a l l umgekehrt die O x i d a t i o n s w i r k u n g mit a b n e h m e n d e r Ionenkonzentration s t e i g t .
15 Der Proportionalitätsfaktor 0.05916 resultiert aus einer Größe — • ln, die bei der Umrechnung in — • log den F F Zahlenwert 0.05916 ergibt (Gaskonstante Ä = 8.314412 J m o P 1 K P 1 ; Temperatur T = 298.15 K (25 °C); Faraday F = 96485 Jmol~1V~1; Faktor zur Umwandlung des natürlichen in den dekadischen Logarithmus = 2.3026).
2. Die Oxidation und Reduktion
231
Auf die Konzentrationsabhängigkeit der Potentiale ist es zurückzuführen, dass die Normalpotentiale solcher Metalle, die schwerlösliche Hydroxide bilden (Erniedrigung der Metallionen-Konzentration), in alkalischer Lösung wesentlich negativer sind als in saurer (vgl. Abschn. 2.2.1). Man kann diese Potentialänderung dazu benutzen, um die Löslichkeitsprodukte derartiger Hydroxide zu ermitteln. So errechnet sich etwa aus der Normalpotentialabnahme des Redoxsystems Fe/Fe(II) um 0.437 V beim Übergang von saurer (Fe Fe2+ + 2Q; e0 = -0.440 V) zu alkalischer Lösung (Fe + 2OH" ^ F e ( O H ) 2 + 2Q; e0 = - 0.877 V), dass der Logarithmus der Fe2 +-Konzentration in 1molarer OH"-Lösung gemäß - 0.437 = 0.02958 log cFe2+ einen Wert von - 0.437/0.02958 = - 14.8 besitzt, was einem Löslichkeitsprodukt L = cFe2+ • CqH- = 10~ 14,s von Fe(OH)2 entspricht. Im Verlaufe einer R e a k t i o n z w i s c h e n z w e i e l e k t r o c h e m i s c h e n R e d o x s y s t e m e n I und II:
x(-1)|
Red^ Red. n
Ox. t + nQ Ox. n + nQ
% %
Red.j-1- Ox. u
Ox.j + Red. n % - %
(14) (15) (16)
(n = Zahl der in der Redoxgleichung (16) umgesetzten Elektronen (Faraday-Einheiten)) v e r r i n g e r t sich wegen der Konzentrationsabhängigkeit der Einzelpotentiale % und % die e l e k t romotorische Kraft ^MK
=
S
(17)
l~ %,
denn das Potential ^ des Elektronen-abgebenden Systems wird gemäß (10) infolge Vergrößerung des Quotienten c0x l/cRed l positiver (weniger negativ), das Potential % des Elektronenaufnehmenden Systems wegen der Verkleinerung des Quotienten c Gx u /c R e d n umgekehrt weniger positiv (negativer). Die Reaktion k o m m t dann zum S t i l l s t a n d , wenn die beiden E i n z e l p o t e n t i a l e ^ und % einander g l e i c h geworden sind. Die Potentialdifferenz E M K (Triebkraft des Elektronenübergangs) ist jetzt gleich Null, was besagt, dass die in diesem Zeitpunkt erreichten Konzentrationen der Reaktionsteilnehmer der Gleichgewichtsbedingung des Massenwirkungsgesetzes (Endpunkt der Reaktion) entsprechen. Gehen wir beispielsweise bei der Reaktion Cr2+
+
Fe3+
C r 3 + + Fe2+
(18)
von einer wässrigen Lösung (25 °C) aus, die je ein Mol Cr2+ und Fe3+ pro Liter enthält, und tragen die Einzelpotentiale der zugrunde liegenden Redoxsysteme Cr2+ +± Cr3+ + Q (e0 = - 0 . 4 1 V) und Fe2+ Fe3+ + Q (e0 = + 0.77 V) gemäß (10) (n = 1) als Funktion des prozentualen Umsatzes graphisch auf, so erhalten wir die in Fig. 78 wiedergegebenen ausgezogenen Kurven. Wie aus dem Kurvenverlauf ersichtlich, nimmt während der Umsetzung das Redoxpotential des Chromsystems (e(Cr)) ab, das des Eisensystems (e(Fe)) zu, und zwar anfangs rasch, dann innerhalb eines weiten Bereichs langsam^, zum Schluss wieder rasch. Die Reaktion (18) kommt dann zum Stillstand wenn beide Potentiale einander gleich geworden sind (e(Cr) = e(Fe)), d.h. wenn die durch den jeweiligen Abstand zwischen den beiden e-Kurven zum Ausdruck kommende elektromotorische Kraft EMK des Vorgangs (vgl. (17)) Null geworden ist. Dies ist gemäß dem Diagramm erst nach praktisch quantitativem (99.99999999 %igen) Umsatz der Fall (e(Cr) = e(Fe) = + 0.18 V; £ MK = e(Cr) - e(Fe) = 0 V). Ersetzt m a n in der f ü r den G l e i c h g e w i c h t s z u s t a n d des Redoxvorgangs (16) gültigen Beziehung: sl = % die Einzelpotentiale % und % der Redoxteilsysteme (14) und (15) durch
i® Die geringe Konzentrationsabhängigkeit der Einzelpotentiale innerhalb eines weiten Konzentrationsbereichs der Partner eines korrespondierenden Redoxpaares ist typisch für Redoxsysteme: das R e d o x p o t e n t i a l wird in e r s t e r L i n i e durch das für 50%igen Umsatz gültige Normalpotential eines Redoxsystems und erst in z w e i t e r L i n i e durch die K o n z e n t r a t i o n des Reduktions- und Oxidationsmittels b e s t i m m t (stärker wirkt sich in vielen Fällen die Wasserstoffionen-Konzentration auf das Redoxpotential aus; vgl. das M n O ^ / M n 2 + -System, oben). Das O x i d a t i o n s bzw. R e d u k t i o n s v e r m ö g e n von Redoxysystemen lässt sich also bereits aufgrund ihrer Normalpotentiale in saurer bzw. basischer Lösung in g u t e r N ä h e r u n g r i c h t i g b e u r t e i l e n .
232
VII. Die Molekülumwandlung
Fig. 78 Potentialänderungen im Verlauf der Umsetzung Cr 2 + + Fe 3
:Cr 3
F2
die rechte Seite der Nernst'schen Gleichung (10), so erhält m a n - nach einfacher U m f o r m u lierung die Beziehung C
0.05916
x As 0 = - log
Ox.l' ^Red.II
_ C Red.I '
C
= - l o g ^ = p K,
(19)
Ox.II_ Gleichgew.
welche die Berechnung der Gleichgewichtskonstanten einer Redox-Gesamtreaktion = ^ox.i^Red.n/^Red.i^ox.n) bzw. ihres pT^-Wertes aus der Differenz Ae 0 = e 0 J — e 0 J I von Normalpotentialen der ihr zugrunde liegenden Redox-Teilreaktionen g e s t a t t e t ^ . Beispielsweise berechnet sich der p7^-Wert für den Vorgang Zn + Cu2+ Zn2 + + Cu des DaniellElements (Zn/Zn2 + : e0 = - 0 . 7 6 3 V; Cu/Cu2 + : e0 = + 0.337 V) nach (19) (« = 2) zu [2/0.05916] x [ - 0 . 7 6 3 - 0.337] = -37.2. Die Gleichgewichtskonstante K = cZn2 + /cCu2+ der Redoxreaktion beträgt also 103?-2, was einer quantitativen Reduktion von Cu2+ durch Zn zu Cu entspricht. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass eine Redoxreaktion, deren Redoxteilsysteme eine negative Normalpotentialdifferenz von 0.4 V und mehr aufweisen, praktisch quantitativ abläuft, da dann der p7^-Wert gleich - 0.4/0.05916 = - 7 und kleiner ist.
Redoxkraft in saurer, neutraler und basischer Lösung Beim Wasserstoff (j>H2 ^ H + + © ) ergibt sich - da e 0 = 0 ist - gemäß (10) die Veränderung des Einzelpotentials mit der Wasserstoffionen-Konzentration beim Wasserstoffdruck von 1 atm (1.013 b a r ) i 8 aus der Beziehung SH2 = 0.05916 log c H +
oder
e H2 = - 0.05916 p H .
(20)
17 Die Quotienten e 0 /0.05916 sind gleich den „Oxidationsexponenten" pÄ^x., der auf einen Elektronenumsatz bezogenen Redox-Teilreaktionen Red. 0 x . + ©: e 0 /0.05916 = - log c0JcRedm = - log^ 0 x . = p^ox . Köx stellt dabei nicht die wahre, auf den Vorgang Red. 0 x . + ©, sondern eine relative, auf den Vorgang Red. + H + 0x. + 1 / 2 H bezogene Gleichgewichtskonstante dar (wendet man (19) auf letzteren Redoxprozess an, so folgt mit « = l und e 0 J = e 0 (für Red. 0 x . + ©) sowie e0>n = 0 (für H + + © 1/2 H ) wie gefordert e 0 /0.05916 = pK O x ). Mithin vereinfacht sich (19) zur Beziehung n x p^ 0 x.i — n x pÄQx.ii = p ^ (« = Zahl der in der Redoxgesamtreaktion Red.j, + 0x.n 0x.j + Red. n umgesetzten Elektronen). Den für Prozesse Red. 0 x . + © gültigen 0xidationsexponenten sind die auf Vorgänge 0 x . + © ** Red. bezogenen „Reduktionsexponenten" p^ R e d an die Seite zu stellen: = P^Red. (vgl. Säure- und Baseexponenten).
2. Die Oxidation und Reduktion
233
In 1-molarer H + - L ö s u n g (pH = 0) hat danach das Potential s des Wasserstoffs den Wert ± 0.000 ( = fi0), in reinem Wasser (pH = 7) den Wert — 0.05916 x 7 = — 0.414, in 1-molarer O H "-Lösung (pH = 14) den Wert — 0.05916 x 14 = — 0.828 V. Dementsprechend lassen sich z.B. die Wasserstoff-Ionen des neutralen W a s s e r s nur durch solche Metalle zu elementarem Wasserstoff entladen, deren Potential < — 0.414 V ist, z.B. durch A l k a l i - und E r d a l k a l i m e t a l l e . Die Zahl der zur Darstellung von Wasserstoff aus W a s s e r geeigneten Metalle ist also kleiner als die zur Wasserstoffstoffgewinnung aus S ä u r e n in Frage kommende Zahl von Metallen mit einem Potential < 0 V (vgl. S. 261). Zur Wasserstoffentwicklung in a l k a l i s c h e n Lösungen kommen nach der zugehörigen Spannungsreihe der Metalle (Tab. 28) alle Metalle mit einem negativeren Normalpotential als — 0.828 V in Frage, z. B. A l u m i n i u m oder Z i n k . Umgekehrt lässt sich H 2 in wässriger Lösung nur durch solche Stoffe zu H 2 0 oxidieren, deren Potential bei p H = 0 bzw. 7 bzw. 14 positiver als 0.000, — 0.414 bzw. — 0,828 V ist. Die Tatsache, dass Stoffe wie M a g n e s i u m (s. dort), Aluminium (s. dort) oder Z i n k (s. dort) mit W a s s e r entgegen ihrer Stellung in der Spannungsreihe k e i n e n W a s s e r s t o f f e n t w i c k e l n , beruht darauf, dass das bei der Umsetzung gebildete u n l ö s l i c h e M e t a l l h y d r o x i d (Mg + 2 H O H M g ( O H ) 2 + H 2 ) eine S c h u t z s c h i c h t um das Metall bildet („Passivierung 66 ) (Fig. 79), welche den weiteren Angriff des Wassers verhindert, so dass die Reaktion gleich nach Beginn zum Stillstand kommt. Löst m a n die Hydroxidschicht durch Zugabe von S ä u r e oder eines anderen Lösungsmittels auf, so geht die Wasserstoffentwicklung weiter. Metalle wie die A l k a l i - oder schwereren E r d a l k a l i m e t a l l e , die l ö s l i c h e H y d r o x i d e bilden, können keine solche Schutzschicht ausbilden und reagieren daher mit Wasser lebhaft unter Wasserstoffentwicklung Auch bei der Einwirkung von M e t a l l e n a u f S ä u r e n kann häufig die Wasserstoffentwicklung entgegen den Aussagen der Spannungsreihe wegen Ausbildung einer u n l ö s l i c h e S c h u t z s c h i c h t ausbleiben. So löst sich z.B. Blei u.a. deshalb nicht in verdünnter S c h w e f e l s ä u r e , weil das dabei sich bildende B l e i s u l f a t (Pb + H 2 S O 4 -> P b S O 4 + H 2 ) als schützende Deckschicht die weitere Einwirkung der Schwefelsäure unterbindet (wichtig für die H e m m u n g des Bleis, sich in Säuren zu lösen, ist allerdings auch die ,,Überspannung" des Wasserstoffs am Blei). M a n macht von dieser Beständigkeit des Bleis Gebrauch beim Bleikammerprozess (s. dort) und beim Akkumulator (s. dort).
- Magnesium
Schutzschicht - Wasser
Fig. 79 Passivität des Magnesiums gegenüber Wasser.
1 8 Für beliebigen Wasserstoffdruck folgt aus (10): % 2 = — 0.05916 x (pH + 1/2log^ H 2 ). Gemäß dieser Beziehung ist jedem Potentialwert % 2 bei gegebenem p H ein bestimmter Wasserstoffdruck zugeordnet: — log^ H2 = 2 pH + % 2 / 0.02958. Bisweilen verwendet man zur Charakterisierung der Reduktionskraft eines Redoxsystems den „WasserstoffRedoxexponenten" rH, der in Analogie zum „Wasserstoff-Ionenexponenten" p H = —logc H+ den negativen Logarithmus des Wasserstoffdrucks p H einer Wasserstoffelektrode von gleich großem Reduktionsvermögen wiedergibt: rH = — log^ H2 = e H2 /0.02958 + 2 pH Hiernach besitzt ein Redoxsystem vom rH-Wert 5 die gleiche Reduktionskraft wie Wasserstoff von 10 "5 Atmosphären (1.013 • 1 "5 bar), der eine in Säure (pH = 0) tauchende Platinelektrode berührt, nämlich % 2 = 0.02958 x (rH — 2 pH) = 0.02958 x ( 5 - 2 x 0) = 0.1479 V. Die „normale" rH-Skala (pH = 0) erstreckt sich von 0 (Normal-Wasserstoffelektrode, e 0 = 0 V) bis 42 (Normal-Sauerstoffelektrode, e 0 = + 1.229 V). Bei rH-Werten < 0 bzw. > 42 wird aus wässerigen Lösungen vom pH-Wert = 0 Wasserstoff bzw. Sauerstoff entwickelt. Der rH-Wert ist wie der pH-Wert für biologische Prozesse insofern von Bedeutung, als organisches Leben nur innerhalb bestimmter rH-Grenzen möglich ist
234
VII. Die Molekülumwandlung
Zum Unterschied von anderen Ionenreaktionen in Wasser wie z.B. der Ausfällung unlöslicher Salze oder den Säure-Base-Reaktionen, die im Allgemeinen ungehemmt verlaufen, beobachtet man im Falle von Redoxumsetzungen bei normalen Temperaturen häufig Reaktionshemmungen. So ist etwa die Wasserstoffbildung nicht nur im Falle der Einwirkung von Metallen, sondern auch von anderen Reduktionsmitteln auf Wasser vielfach gehemmt. Beispielsweise sollte Cr 2 + entsprechend dem für die Ionenumladung Cr2+ Cr3+ + Q in saurer Lösung gültigen Normalpotential (e0 = - 0 . 4 1 V) bei pH = 0 mit Wasser unter Wasserstoffentwicklung reagieren (Cr2+ + H + Cr3+ + jH 2 ). Tatsächlich sind jedoch Chrom(II)-Ionen auch in saurer Lösung längere Zeit beständig. Umgekehrt wirkt der Wasserstoff gegenüber wässrigen Lösungen von Oxidationsmitteln, mit denen er aufgrund der Redoxpotentialverhältnisse unter W a s s e r s t o f f a u f n a h m e (Bildung von Wasser) reagieren sollte, bei normalen Temperaturen meist nicht reduzierend. So sollte beispielsweise Fe3+ entsprechend dem für die Ionenumladung Fe2+ Fe3+ + Q in saurer Lösung gültigen Normalpotential (E0 = + 0.771 V) bei pH = 0 in Wasser von Wasserstoff reduziert werden (Fe3+ + J H 2 Fe2+ + H + ). Tatsächlich wirkt H 2 jedoch auf Eisen(III)-Ionenlösungen nicht ein. Selbst so starke Oxidationsmittel wie MnO^ oder S2C>2~ werden in wässrigen Lösungen von Wasserstoff nicht angegriffen. Das Potential eines Redoxsystems, an dem H + -Ionen beteiligt sind, wird beim Übergang von saurer (p 0) zu neutraler (p 7) und zu alkalischer Lösung (p 14), falls die übrigen Teilnehmer des Ox. + n H + + n Q ) Redoxsystems unverändert bleiben und das Verhältnis H + / Q gleich 1 ist (Red. ganz allgemein um 0.414 bzw. 0.828 V negativer. So entspricht etwa dem Potentialwert - 0.225 V des Redoxsystems AsH 3 /As in saurer Lösung (AsH3 As + 3H + + 3Q) ein Potentialwert -0.225-0.414 = - 0 . 6 3 9 V in neutraler und -0.225-0.828 = - 1.053 V in alkalischer Lösung (As 3O A 3H ). Beim Sauerstoff ( ^ H 2 0 ^ £ 0 2 + H + + © ) ergibt s i c h - da e 0 = + 1.229 V i s t - g e m ä ß ( 1 0 ) , g 02 = + 1.229 + 0.05916 logc H +
bzw.
e 0 2 = + 1.229 - 0.05916 p H
das Normalpotential in 1-molarer H + - L ö s u n g (pH = 0) zu + 1.229, in reinem Wasser (pH = 7) zu + 1.229 - 0 . 0 5 9 1 6 x 7 = + 0 . 8 1 5 und in 1-molarer O H -Lösung (pH = 14) zu + 1.229 - 0.05916 x 14 = + 0.401 V. Sauerstoff kann somit thermodynamisch alles oxidieren, was bei p H 0 ein Potential von < + 1.229, bei p H 7 von < + 0.815 und bei p H 14 von < + 0.401 V besitzt, wirkt also in saurer Lösung wesentlich stärker oxidierend als in alkalischer. So wird z.B. Cr(II) (e0 = - 0.41 V in saurer und neutraler, - 1.33 V in alkalischer Lösung) in l u f t g e s ä t t i g t e m Wasser rasch zu Cr(III) oxidiert, während es in l u f t f r e i e m Wasser beständig ist und in saurer (e0 von H 2 0.00 V) und alkalischer Lösung (e0 von H 2 - 0.83 V) langsam (s. oben) Wasserstoff entwickelt. Auch Fe(II) (e0 = + 0.771 V in saurer, - 0.69 V in alkalischer Lösung) ist in l u f t f r e i e m Wasser stabil, während es in Gegenwart von L u f t in Wasser langsam, in Säuren und Laugen schnell zu Fe(III) oxidiert wird. U m k e h r t lässt sich H 2 O in wässriger Lösung nur durch solche Stoffe zu 0 2 oxidieren, deren Potential bei p H 0 bzw. 7 bzw. 14 positiver ist als + 1.229, + 0.815 bzw. + 0.401 V. Zum Unterschied von den im Allgemeinen stark gehemmten Reaktionen des Wasserstoffs mit in Wasser gelösten Oxidationsmitteln sind Umsetzungen von Sauerstoff mit in Wasser gelösten Reduktionsmitteln in vielen Fällen nicht gehemmt. Große Hemmung weist demgegenüber praktisch immer die Oxidation des Wassers zu Sauerstoff (2H 2 0 < ± 0 2 + 4 H + + 4 Q ) auf. So sollte etwa Chlorat ClOj entsprechend dem für die Redoxreaktion C P + 3 H 2 0 -> ClO3 + 6 H + + 6 Q in saurer Lösung gültigen Normalpotentials (e0 = + 1.45 V) bei pH = 0 unter Sauerstoffentwicklung mit Wasser reagieren. Tatsächlich sind jedoch Chlorate in Wasser stabil. Ein Oxidationsmittel, das aus Wasser Sauerstoff rasch in Freiheit setzt, ist z.B. das Fluor.
2.3
Die elektrolytische Zersetzung
Die in den vorangehenden Abschnitten behandelte Theorie der galvanischen Elemente ermöglicht nunmehr auch ein besseres Verständnis für den Vorgang der e l e k t r o l y t i s c h e n Z e r s e t z u n g , da es sich bei der Elektrolyse um eine U m k e h r u n g der in einem galvanischen Element f r e i w i l l i g a b l a u f e n d e n Redox-Reaktion handelt. Schalten wir beispielsweise eine in Zinksulfatlösung tauchende Zinkelektrode mit einer in Kupfersulfatlösung eintauchenden Kupferelektrode zu einem Daniell-Element zusammen, so
2. Die Oxidation und Reduktion
235
Fig.80 Elektromotorische Kraft des Daniell-Elements.
„fließt" bei leitender Verbindung der beiden Elektroden durch einen äußeren Schließungsdraht der Elektronen-,,Strom" gemäß dem vorhandenen Potential-,,Gefälle" vom „höheren" ( - 0 . 7 6 V) zum „tieferen" ( + 0 . 3 4 V ) Potential-,,Niveau" (Fig.80): Zn 2 © + Cu2+ Zn + Cu2 +
Zn2++2© > Cu
(a) (b)
(21)
Zn 2+ + C u .
Das Zink reduziert mit anderen Worten die Kupfer-Ionen zu metallischem Kupfer. Dabei wird eine elektrische Arbeitsmenge verfügbar, die durch das P r o d u k t aus Potentialdifferenz und fließender Elektrizitätsmessung (Volt x Coulomb = Joule oder Volt x Faraday = Faradayvolt oder Volt x Elektronenladung = Elektronenvolt) gegeben ist. Der u m g e k e h r t e V o r g a n g , d.h. die Abscheidung von Zink und die Auflösung von Kupfer, lässt sich nur dann erzwingen, wenn m a n durch Einschaltung einer Stromquelle von genügender Spannung in den äußeren Stromkreis der Zinkelektrode ein ,,höheres" (d.h. n e g a t i v e r e s ) Potential als - 0.76 und der Kupferelektrode ein „tieferes" (d.h. p o s i t i v e r e s ) Potential als + 0.34 V erteilt und damit in U m k e h r u n g der Stromrichtung von Fig. 80 dem K u p f e r Elektronen e n t z i e h t , dem Z i n k Elektronen a u f z w i n g t (Fig. 81). Denn dann n i m m t gemäß dem zwischen Stromquelle und Elektrode vorhandenen Potential- „gefalle" die vorher E l e k t r o n e n - a b f ü h r e n d e Zinkanode (21 a) jetzt E l e k t r o n e n aus der Stromquelle auf und wird damit zur E l e k t r o n e n - z u f ü h r e n d e n K a t h o d e (22a), während die vorher E l e k t r o n e n - z u f ü h r e n d e Kupferkathode (21 b) jetzt E l e k t r o n e n an die Stromquelle a b g i b t und damit zur E l e k t r o n e n - a b f ü h r e n d e n A n o d e (22 b) wird („Elektroden" können s o m i t - j e nach Stromrichtung - sowohl als „Kathoden" als auch „Anoden" wirken).
Zn
Kathode
Null-Linie des Potentials
Anode
Cu
Elektronenstrom
0.34 V
Fig. 8 Elektromotorische Kraft und Zersetzungsspannung.
236
VII. Die Molekülumwandlung
(b)
2+ +2© ^ Cu ^
Z 2+
C
Zn Cu2++2© Z
(22)
C 2+
Insgesamt geht damit unter gleichzeitiger Abscheidung von Zink (anstelle von H 2 , dessen Entladung gehemmt ist, s. u.) Kupfer in Lösung. Die für eine solche elektrolytische Zersetzung („Elektrolyse 66 ) erforderliche „Zersetzungsspannung 66 muss, wie aus Fig. 81 hervorgeht, ganz allgemein mindestens e t w a s g r ö ß e r a l s d i e e l e k t r o m o t o r i s c h e K r a f t d e s f r e i w i l l i g a b l a u f e n d e n V o r g a n g s sein. Das Mehr an Spannung (U) dient dabei zur Überwindung des Ohm'schen Widerstandes R der Zelle und damit zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Stromstärke / gemäß dem,,Ohm'schen Gesetz" (U = I - R). Im Falle unseres Daniell'schen Elements muss also die Zersetzungsspannung größer als 0.76 + 0.34 = 1.10 V sein (naturgem ä ß sind auch Zersetzungsspannungen wie die Normalpotentiale konzentrationsabhängig). Die bei der Elektrolyse angewandte Stromquelle (vgl. Fig. 81) wirkt gewissermaßen als „Elektronenumlaufpumpe". Sie „saugt" an der Anode (Kupfer) die Elektronen mit „Unterdruck" ab, „komprimiert" sie auf höheren „Druck" (die hierfür erforderliche Energie wird bei chemischen Stromquellen durch einen freiwillig ablaufenden chemischen Vorgang - beim Bleiakkumulator z.B. durch die Reaktion Pb + Pb0 2 + 2H 2 SO 4 2PbSO 4 + 2 H 2 0 + Energie - geliefert) und „presst" die Elektronen mit diesem höheren „Druck" in die Kathode (Zink) ein. Die hineingesteckte Arbeit speichert sich dabei in Form der Elektrolyseprodukte (im Falle des betrachteten Daniell-Elements also in Form der im Vergleich zu den Ausgangsstoffen Zn2+ und Cu energiereicheren Endprodukte Zn und Cu2+) auf. Entfernt man die Elektronenpumpe (Stromquelle) aus dem äußeren Stromkreis (vgl. Fig. 80) und ersetzt sie durch einen Widerstandsdraht, so kehrt sich entsprechend dem zwischen Zink und Kupfer vorhandenen Potentialgefälle automatisch die Stromrichtung um, indem jetzt wieder das Elektronen-affinere Kupfer dem weniger Elektronen-affinen Zink die Elektronen entzieht Befinden sich in einer Lösung m e h r e r e e n t l a d b a r e I o n e n s o r t e n , so hängt die R e i h e n f o l g e d e r E n t l a d u n g von der relativen Größe der verschiedenen E i n z e l p o t e n t i a l e ab. Eine wässrige Natriumchloridlösung enthält beispielsweise Natrium-, Wasserstoff-, Chloridund Hydroxid-Ionen. Ihre Einzelpotentiale haben in 1-molarer Natriumchloridlösung die Werte e Na = - 2.7 V, s H2 = - 0.4 V, e c l 2 = + 1.4 V, s Q2 anstelle + 0.8 V größer als 1.4 V (s. u.). F ü h r t m a n daher in die Lösung etwa zwei Platinelektroden ein und legt an die Elektroden eine s t e i g e n d e S p a n n u n g an, so wird (vgl. Fig. 82) der Elektronenstrom zu fließen beginnen, sobald die Einzelpotentiale von W a s s e r s t o f f und C h l o r überschritten werden. Die N a t r i u m - und H y d r o x i d - I o n e n bleiben unentladen als N a t r o n l a u g e , N a O H , zurück. M a n benutzt die Verschiedenheit der Abscheidungsspannung von Metallen und Nichtmetallen in der Analyse häufig zur Trennung und Bestimmung von Kationen und Anionen (,,Elektroanalyse" und ,,Polarographie"; vgl. Lehrbücher der analytischen Chemie). Bei ungünstiger Lage der Potentiale lassen sich häufig durch K o n z e n t r a t i o n s ä n d e r u n g e n , Komplexierung der Ionen (vgl. S.231), Anwendung von Ü b e r s p a n n u n g s e l e k t r o d e n usw. die für eine
2.7 V Elektronenstrom T < -0.4 V Null-Linie Na H2 des Potentials Kathode
Anode CI2 O2
1
1.4 V
Elektronenstrom
>1.4 V Fig. 82 Potentialverhältnisse bei der Elektrolyse einer 1-molaren wässrigen Natriumchlorid-Lösung.
2. Die Oxidation und Reduktion
237
erfolgreiche Elektrolyse erforderlichen Potentialverhältnisse schaffen. So kann man z. B. bei der Elektrolyse wässeriger Natriumchloridlösungen durch Anwendung von Quecksilberkathoden und von hohen N a t r i u m c h l o r i d - K o n z e n t r a t i o n e n die Abscheidung von N a t r i u m statt Wasserstoff erzwingen (vgl. S.435), weil unter diesen Versuchsbedingungen das N a t r i u m p o t e n t i a l 0.05916log infolge Vergrößerung von und Verkleinerung von (Amalgambil dung) so weit nach der positiven und das Wasserstoffpotential (e = 0.05916 logc H+ ) infolge der großen Überspannung des Wasserstoffs an Quecksilber so weit nach der negativen Seite hin verschoben wird, dass Natrium und Wasserstoff in der Spannungsreihe ihre Plätze tauschen. Die Überspannung f/ des Wasserstoffs an Quecksilber beträgt bei Raumtemperatur und niedrigen Stromdichten 0.78 V, an Blei bis 0.78 V, an Zink 0.70 V, an blankem Platin 0,10 V (platiniertes Pt 0.005 V), die des Sauerstoffs an Nickel 0.1, an Eisen 0.24 und an blankem Platin 0.44 V. Sie nimmt ganz allgemein mit wachsender Stromdichte/zu: ^ = a + b • log/(a abhängig von der Art der Elektrode, von der Natur des entwickelten Gases). Elektrolysen spielen in Wissenschaft und Technik eine große Rolle. Als Beispiele seien die an anderen Stellen des Lehrbuches eingehend besprochenen Verfahren der „Chloralkali-Elektrolyse" zur Gewinnung von Cl 2 und N a O H , der ,,Schmelz-Elektrolyse" zur Herstellung und Reinigung von Metallen, der ,,elektrolytischen Raffination" von Metallen (z. B. Cu, Ag, Au, Pt-Metalle) oder des ,,Aufladens von Batterien" (s. nachfolgend) genannt.
2.4
Elektrische Batterien 19 ' 20
Ob Taschenlampe, Computer, Taschenradios, Laptops, Taschenrechner, Filmkameras, Mobiltelefone, Armbanduhren, Walkman's, Spielzeuge, Blitzgeräte, Akkubohrer, Hörgeräte, Herzschrittmacher: Es sind elektrische Batterien, welche für den Betrieb dieser Gebrauchsartikel die notwendige elektrische Gleichspannung und den Elektronenstrom liefern. Elektrische Batterien ermöglichen des weiteren das Starten eines Autos, auch den Betrieb von Kraftfahrzeugen sowie von Kraftwerken, die Notversorgung wirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder medizinischer Einrichtungen nach einem Stromausfall und vieles mehr. Wie sind diese unentbehrlichen Begleiter unseres täglichen Lebens aufgebaut, wie funktionieren die elektrischen Batterien? Der Beantwortung dieser Fragen diene das nachfolgend Besprochene. ,,Galvanische Zellen" (,,galvanische Elemente"20) bestehen - im Sinne des weiter oben Besprochenem - aus zwei - durch einen ionendurchlässigen, aber elektronenundurchlässigen Elektrolyten voneinander getrennten Elektroden die als Folge chemischer Reaktionen an letzteren (,,Entladung" der Zelle) chemische Energie in nutzbare elektrische Energie umwandeln. M a n unterscheidet hierbei galvanische Zellen, die nur einmal entladen werden können, sowie solche, die nach Stromabgabe durch eine äußere Stromzufuhr wieder aufladbar sind (vgl. Elektrolyse, S. 234) und somit nochmals (bis zu 500-mal und darüber) als Stromquelle wirken (irreversible, die Zelle zerstörende Prozesse beschränken deren Lebensdauer). Zur
1 9 Literatur. P.G. Bruce: „Solid State Chemistry of Lithium power sources", Chem. Commun. (1997) 1817-1824; C.H.Haman,, W.Vielstich: „Elektrochemie", Wiley-VCH, Weinheim 1998; L.F.Trueb, P.Rüetschi: ,Batterien und Akkumulatoren", Springer, Berlin 1998; H.Wendt, M.Götz: ,Brennstoffzellen", Chemie in unserer Zeit 31 (1997) 301-309; G.Eichinger, G.Semrau: ,,Lithium-Primärzellen", Chemie in unserer Zeit 24 (1990) 32-36; M.Winter, J.O. Besenhard:,, Wiederaufladbare Batterien", Chemie in unserer Zeit 33 (1999) 252-266, 320-332; K. A. Friedrich: ,,Die Brennstoffzelle: eine Zukunftstechnologie", Nachr. aus der Chemie 48 (2000) 1212-1217; L.J. Blomen, M . N . Mugerwa:,,Full Cell Systems", Plenum Press, New York 1993; J.-P. Gabano:,,Lithium Batteries", Acad. Press, London 1983; M.S. Whittingham, R.F. Savinell, T. Zawodzinski (Hrsg.): ,,Batteries and Fuel Cells", Chem. Rev. 204 (2004) 4243-4886. 2 0 Geschichtliches Die Bezeichnung „galvanische Elemente" („galvanische Zellen") erfolgte zu Ehren des italienischen Arztes und Naturforschers Luigi Galvani (1737-1798), der viele elektrische Erscheinungen untersuchte (bekannt ist der Froschschenkelversuch aus dem Jahre 1789). Als galvanische Zellen, die frühzeitig größere technische Bedeutung erlangten, seien genannt: das 1836 vom englischen Forscher John Frederic Daniell (1790-1845) entdeckte Zn/Cu-Element (,,Daniell-Element"), das 1859 vom französischen Forscher Gaston Plante (1834-1889) entdeckte Pb/PbO 2 -Element (Vorläufer des,,Bleiakkus"), das 1860 vom französischen Forscher Georges Leclanche (183^—1882) entdeckte Zn/MnO 2 -Element (,,Leclanche-Element) sowie das 1899 vom schwedischen Chemiker Waldemar Jungner (1869-1924) entdeckte Cd/NiO(OH)-Element („Jungner-Element"). Entwicklungen jüngeren Datums sind die Li-, die MH/NiO(OH)- und die Na-Batterien. D a die Vorgänge im Daniell-Element umkehrbar sind, ist die betreffende Zelle als Vorläufer der Akkumulatoren zu betrachten. Die Elektrolyse und der Akkumulator wurden vom Münchener Privatgelehrten Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) um 1800 entdeckt.
238
VII. Die Molekülumwandlung
Erhöhung der Zellspannung und der Stromausbeute werden mehrere dieser galvanischen Elemente zu nicht-regenerierbaren „Primärbatterien" („Batterien" 2 1 im engeren Sinne,,, Wegwerfbatterien") oder zu regenerierbaren „Sekundärbatterien" („Akkumulatoren"^, ,,Stromspeicher"') zusammengefasst (im englischen Sprachgebrauch werden üblicherweise auch Zellen als Batterien bezeichnet). Von den erwähnten Batterien, die eine einmalige bzw. - nach zwischenzeitlichem Wiederaufladen - auch mehrmalige Stromentnahme erlauben, grenzt m a n noch die „Brennstoffzellen"" (,,bzw. „ S t a c k s " 2 i dieser Zellen) ab, welche dadurch kontinuierlich Strom liefern, dass der porösen negativen Elektrode ununterbrochen gasförmiger Brennstoff (H 2 , CO), der porösen positiven Elektrode ständig gasförmiges Oxidationsmittel (Luft, 0 2 ) zugeführt wird. In stark vereinfachender Weise bringen die Fig. 83 und die Gleichungen (23) die Wirkungsweise der elektrischen Batterien zum Ausdruck (Entsprechendes gilt f ü r Brennstoffzellen), wobei die Redoxteilreaktionen (23a) und (23b) im Falle der nicht regenerierbaren Batterien unter Energieabgabe (S. 222) nur von links nach rechts die der regenerierbaren Bat terien unter Energieaufnahme (S. 236) zusätzlich von rechts nach links ablaufen können. Die Addition beider Teilreaktionen ergibt dann die Gesamtreaktion (23c) der elektrischen Batterie, deren Ablauf von links nach rechts dem „Entladen" (E) und von rechts nach links dem „Laden" (L) der Batterie entspricht (die Zahl der von Red.j abgegebenen und von O x I I aufgenommenen Elektronen ist - anders als in (23) wiedergegeben - häufig unterschiedlich).
Red., Ox. II + n 0
«—-
Red. I + O X . I I -«
E
Ox. I + n 0
(23a)
Red. II
(23b)
" Ox. I + Red. II + Energie (23c)
Fig. 83 Aufbau einer Batteriezelle (schematisch), E = Entladen, L = Laden.
In Tab. 31 sind - abgesehen von Brennstoffzellen (S. 269) - die wichtigsten technisch genutzten elektrischen (Lithium-, Natrium-, Zink-, Blei- bzw. Hydrid-) Primär- und Sekundärbatterien zusammengestellt. Wiedergegeben sind deren Aktivmassen in geladenem und entladenem Zustand sowie die genutzten Elektrolyte, des weiteren einige charakteristische Kenndaten und Anwendungen (für Einzelheiten vgl. Seitenverweise). Die Benennung der Batterien erfolgt in vereinfachender Weise meist durch Angabe der reagierenden Elemente: Lithium-Mangan bzw. Zink-Mangan-Batterie usw. Diebetreffenden Aktivmassen der Elektroden (negativer Pol = Elemente sowie Hydrid mit ausreichender Reduktionskraft; positiver Pol = Elemente, Elementoxide, Elementhalogenide mit ausreichender Oxidationskraft) sind meistens fest, gelegentlich aber auch flüssig (Na-Batterie) oder gasförmig (Brennstoffzellen, Zn/O2-Zelle). Feste Aktivmassen bringt man meist fein verteilt auf dem Stromleiter auf (z. B. stromleitendes Gitter, Li eingelagert in Graphit) oder dispergiert sie im Elektrolyten, während gasförmige Aktivmassen über poröse Elektroden zur Reaktion kommen. Als Elektrolyte nutzt man gemäß Tab.31 abgesehen von festen Ionenleitern in einigen Fällen - sowohl wässerige als auch organische salzhaltige Medien, welche vielfach durch aufsaugende Stoffe (Vliese) verfestigt werden, wodurch derartige,,Trockenbatterien" in jeder beliebigen Lage funktionsfähig bleiben Erwünscht sind elektrische Batterien mit großen Energiedichten (in Wh/kg oder Wh/l), Zellspannungen sowie Wirkungsgraden. Von entscheidender Bedeutung für eine hohe Energiedichte (,,Strombelastbarkeit") der Batterie sind rasche elektrochemische Elektrodenprozesse (Beschleunigung durch Feinverteilung der Aktivmassen) und eine rasche Ionenbewegung in den Elektrolyten (feste Ionenleiter bei höheren
21 Batterie (franz.) = mit mehreren Geschützen bestückte militärische Grundeinheit (battre = schlagen, Geschlagene); mit dem Fremdwort Batterie verbindet sich somit die Vorstellung vom „Zusammenwirken mehrerer Elemente zu einer Krafteinheit"; accumulare (lat.) = anhäufen; stark (engl.) = Stapel.
2. Die Oxidation und Reduktion
239
Tab. 31 Ausgewählte Primär- und Sekundärbatterien. Für Einzelheiten vgl. Seitenquerverweise, bezüglich der Brennstoffzellen S.269. Spannungb) Temperatur
Energiedichte
Giftig- Anwendung (bzgl. keit Consumer vgl )
Vgl. Seite
1.5-1.3 V Raumtemp.
105 Wh/kg 125 Wh/l
klein
Consumer
1488
Zn/Mn wässerige Zn(OH) 2 /MnO(OH) KOH
1.5-1.3 V Raumtemp.
140 Wh/kg 370 Wh/l
klein
Consumer
1488
Li/Mn Li Mn02
organische Elektrolyte
2.8 2.6 V Raumtemp.
300 Wh/kg 600 Wh/l
mittel
Consumer
1260
Li/(CF)„ LiF/
organische Elektrolyte
2.7-2.5 V Raumtemp.
300 Wh/kg 500 Wh/l
mittel
Consumer
1260
Pb/Pb PbSO /PbSO
wässerige SO
35 Wh/kg 2.0-1.8 V - 2 0 bis 35° 100 Wh/l
groß
Autostarter, Elektroauto, 1026 Notstrom, Kraftwerke
Cd/Ni(OH) Cd(OH) /Ni(OH)
wässerige KOH
1.2-1.0 V - 40 bis 45
50 Wh/kg 155 Wh/l
groß
Consumer, Elektroauto, 1711 Notstrom, Raum-/Luftfahrt
MH/NiO(OH) M g) /Ni(OH) 2
wässerige KOH
1.2-1.0 V - 20 bis 40
80 Wh/kg 200 Wh/l
mittel
Consumer, Elektroauto, 296, Raum-/Luftfahrt 1711
Wichtige Typen von Batterien Aktivmassena) Elektrolyte Primärbatterien Zn/Mn ZnCl 2 /MnO(OH)
NH Cl im Vlies
Sekundärbatterien
Zn/Mn wässerige Zn(OH) /MnO(OH) KOH
75 Wh/kg 1.4-0.8 V - 1 0 bis 65° 180 Wh/l
klein
Consumer, Solarbetrieb
1488
Zn/ (g) Zn(OH) /
wässeriges KOH
1.2-0.9 V 5 bis 35°
85 Wh/kg 160 Wh/l
klein
Consumer
1488
organische Elektrolyte
4.0 3.0 V - 30 bis 60
110 Wh/kg 275 Wh/l
mittel
Consumer, Elektroauto
1261
-A 100 Wh/kg 2.0-1.7V = NaAl n O / 7 ) 290 bis 330° 145 Wh/l
mittel
Notstrom
1276
mittel
Elektroauto
1276
O
LiQ/Li^CoO, C n /LiCo0 2 Na(fl)/Na 2 S l0 N /N Na(fl)/NiC NaCl/Ni
ß-Al2 0 / / fl. NaAlC
2.5 2.4 V 270 bis 350
85 Wh/kg 140 Wh/l
a) Erste/zweite Zeile jeweils Aktivmasse nach Ladung/Entladung des Akkus. - b) Die Ruhespannung des Akkus ist jeweils höher als die wiedergegebene Arbeitsspannung. - c) Innerhalb der wiedergegebenen Temperaturbereiche arbeitet der Akku. - d) Die theoretische Energiedichte des Akkus ist jeweils größer als die wiedergegebene praktische. - e) Zum Bereich der von Consumern genutzten Geräte zählen u. A. Taschenlampen, -radios, -rechner, Computer, Laptops, Mobiltelefone, Spielzeuge, Blitzgeräte, Akkubohrer, -schrauber. - ^ U. a. Ethylencarbonat ( = l,3-Dioxolan-2-on).
Temperaturen zeigen vergleichbare Ionenwandergeschwindigkeiten wie wässerige Medien bei Raumtemperatur). Die Zellspannung ist gemäß dem auf S. 236 Besprochenen in wässerigen Elektrolyten auf l.23 V begrenzt, lässt sich aber bei ausreichender H 2 - und O 2 -Überspannung bis auf 2 V steigern. Trotzdem kommt es bei der Batterieladung und auch -lagerung durch H 2 - und O 2 -Entwicklung („Knallgasgemisch") zu kritischen Druckanstiegen in den (meist geschlossenen) Systemen, welche durch geeignete Maßnahmen verhindert werden müssen. Nicht-wässerige Elektrolytlösungen ermöglichen andererseits Zellspannungen bis zu 4 V und damit den Einsatz reaktiver Aktivmassen; auch lassen sich derartige Zellen bei tiefen Temperaturen betreiben. Nachteile organischer Elektrolyte sind deren hohe Toxiztät, leichte Entflammbarkeit und niedrigere Leitfähigkeit. Der Wirkungsgrad der Batterien (Ausmaß der Verwandlung chemischer in nutzbare elektrische Energie) ist aufgrund der eingeschränkten vollständigen Nutzung der Aktivmassen und der mit dem Batteriebetrieb verbundenen Wasserstoffentwicklung höchstens 50-80%. Was werden zukünftige Entwicklungen den elektrischen Batterien, was werden sie uns bringen? Der weltweite Absatz der Batterien, welche derzeit die einzigen mobilen Speicher des in Verbrennungs-, Wasser-, Solar- oder Kernkraftwerken durch Umwandlung von Wärme-, mechanischer, Sonnen- oder Kern- in elektrische Energie gewonnenen Stroms darstellen, dürfte in Zukunft steigen (global werden derzeit 40
240
VII. Die Molekülumwandlung
Milliarden Batterien pro Jahr hergestellt, und zwar hauptsächlich Bleiakkus als Starterbatterien, darüber hinaus Primär- und Sekundärbatterien im Verhältnis ca. 10:1 (Primärbatterien sind wegen der energieverbrauchenden Herstellung der Aktivmassen ebenfalls Stromspeicher im weiteren Sinne). Eine Optimierung von Art, Anordnung und Verteilung der aktiven Komponenten der in Form von Knopf-, Zylinder-, Prismen-, Plattenzellen (bzw. von Modulen dieser Zellen) erhältlichen Batterien dürfte eine weitere Erhöhung von deren Wirkungsgrad ermöglichen und deren Anwendungsprofil hinsichtlich des gewünschten Einsatzes verbessern (z. B. Li-/Pb-/Cd-Batterien für Herzschrittmacher/Autostarter/Hochstromanwendungen; mit einem 250 kg schweren Pb/PbO 2 -Akku kann ein Auto ca. 60 km weit fahren, während der Aktionsradius mit einem 250 kg schweren LiCJCoO 2 -Akku ca. 250 km beträgt). Eine wichtige Rolle für die Entwicklung der zum Teil sehr giftigen Batterien wird wohl der Umweltschutz spielen. Denn Batterien müssen nicht nur entsorgt werden, sondern sie nutzen zur Herstellung und Wiederaufladung vielfach Elektrizität aus fossilen Brennstoffen
3
Die Acidität und Basizität
Die Begriffe ,,Säure" und ,,Base", wie sie 1887 von S. Arrhenius und W. Ostwald definiert wurden, haben eine ähnliche Erweiterung erfahren wie die vorstehend behandelten Begriffe ,,Reduktionsmittel" und ,,Oxidationsmittel".
3.1
3.1.1
Ableitung neuer Säure- und Basebegriffe Brönsted-Säuren und -Basen 22
Aquasystem
Arrhenius und Ostwald verstanden unter einer Säure einen sauer schmeckenden Stoff wie HCl, der in wässriger Lösung unter Bildung von Wasserstoff-Ionen dissoziiert (S. 53): HCl H + + C l " . N a c h Brönsted und Lowry beruht die Säurewirkung eines Stoffes darauf, dass er an die Moleküle des Wassers P r o t o n e n a b g i b t (,,protolytische Reaktion") und so zur Bildung von O x o n i u m - I o n e n H 3 0 + Veranlassung gibt, die den sauren Geschmack der Lösung bedingen, z.B.: H :C1:H + :Ö: H
h " T (1) H:Ö: + :C1: H Die Ionen einer wässrigen Salzsäure entstammen also nicht einer Dissoziation des Chlorwasserstoffs gemäß HCl H + + C1" , sondern einer (stark exothermen) chemischen Reaktion (1) zwischen Chlorwasserstoff und Wasser. Die gebildeten Oxonium-Ionen H 3 0 + liegen in Wasser als Hydronium-Ionen [H 3 O • 3 H 2 0 ] + = H 9 0^ vor, die ihrerseits hydratisiert sind (sowohlOxonium- wie Hydronium-Salze lassen sich aus Lösungen isolieren). Der Kürze halber pflegt man statt der ausführlichen Gleichung (1) gewöhnlich die gekürzte Gleichung HCl H + + Cl" zu schreiben. Man muss sich dabei aber bewusst bleiben, dass die Wasserstoff-Ionen H + hier wie bei anderen Säuren HA in Wirklichkeit hydratisierte Oxonium-Ionen sind, dass also freie Protonen H + in Wasser (und anderen Medien) nicht existieren. Sie treten allerdings im Massenspektrometer (S. 62) bei Beschluss von mit Elektronen auf
Definiert m a n nun ganz allgemein eine Säure als einen chemischen Stoff, der imstande ist, so steht - ähnlich wie an Wasser oder andere Stoffe Protonen abzugeben (,,Protonensäure"), beim Begriff des Reduktionsmittels (s. oben, Abschnitt 2.1.1) - nichts im Wege, auch geladene 22 Geschichtliches A.L. Lavoisier (1743-1794) hielt noch den , , S a u e r " s t o f f (daher der Name) für das maßgebende ,,saure Prinzip" eines Stoffes, da beim Auflösen vieler Nichtmetalloxide in Wasser saure Lösungen entstehen (Oxygenium = Säurebildner). 1816 wies dann H. Davy (1779-1829) und später (1840) vor allem J. Liebig (1803-1873) dem durch Metalle ersetzbaren W a s s e r s t o f f diese Rolle zu. Nach Arrhenius (1859-1927) schließlich ist nicht das Wasserstoff-Atom, sondern das Wasserstoff-Ion, nach J . N . Brönsted (1874-1947; dänische Schreibweise: Br0nsted), T. M. Lowry (1874-1936) das Oxonium-Ion H 3 0 + als ursächlich für eine Säure in Wasser zu betrachten.
3. Die Acidität und Basizität
241
Ionen als Säuren zu bezeichnen. Denn die saure Reaktion z.B. von Hydrogensulfaten ( M H S O 4 ) oder Ammoniumsalzen ( N H 4 X ) in wässriger Lösung beruht j a auf einem ganz analogen Protonenübergang HSO4 + H 2 0
H 3 0 + + SO2"
bzw.
NH + + H 2 0
H 3 0 + + NH3 .
Dementsprechend unterscheidet m a n zwischen ,,Neutral-säuren" (z.B. HCl, H N O ) , ,,Anionsäuren" (z.B. H S O 4 , H 2 P O 4 ) und „Kation-säuren" (z.B. N H + , [ A l ( O H 2 ) 6 ] 3 + , [Cr(OH 2 ) 6 ] 3 + ) . Viele protonenfreie Stoffe wie Nichtmetalloxide oder Metallkationen (z. B. in Form der Metallhalogenide) verwandeln sich erst beim Auflösen durch Reaktion mit dem Wasser in Brönsted-Säuren z.B. SO3 + H 2 0 ?± H 2 SO 4
bzw.
A I 3 + + 6 H 2 0 ?± Al(OH 2 )3 + .
Man bezeichnet derartige, durch Wasseranlagerung in Brönsted-Säuren überführbare (bzw. umgekehrt durch Wasserentzug aus Brönsted-Säuren hervorgehende) Stoffe als „SäureanhydrideDas Schwefeltrioxid bzw. das Aluminium(III)-Kation stellen also das Säure-anhydrid der Schwefelsäure H 2 SO 4 bzw. der Kationsäure Al(OH 2 )3 + oder Cr(OH 2 )3 + dar. Reagieren Metallsalze M + X " (M + = Metallkation) in Wasser sauer, so beruht die saure Wirkung mithin auf der großen Stärke der in Wasser gebildeten Kationsäure M(OH2)„+ [M(OH2)„+ + H 2 0 ?± M ( O H 2 ) _ (OH) + H 3 0 + ] und nicht - wie früher an+ genommen (vgl. S. 207) - auf der geringen Stärke der Base MOH (M + + H 2 0 NH 3 vgl. S. 451, 589, 668).
3.1.2
Lewis-Säuren und -Basen
Im Jahre 1923 hat G . N . Lewis (1875-1946) den Säure-Base-Begriff n o c h m a l s erweitert und vom P r o t o n völlig u n a b h ä n g i g gemacht. G e m ä ß (5) erfolgt die Vereinigung eines Protons mit einer Brönsted-Base derart, dass sich das die s a u r e n Eigenschaften bedingende P r o t o n , dem ein Elektronenpaar zu Erreichung einer Heliumschale fehlt, als Elektronenakzeptor an ein freies Elektronenpaar der D o n a t o r - B a s e (z.B. N H 3 ) unter Ausbildung einer E l e k t r o n e n p a a r b i n d u n g anlagert. N u n gibt es aber noch viele a n d e r e Elektronenakzeptoren, die sich analog dem Proton an freie Elektronenpaare von Elektronendonatoren anzulagern su chen. Solche Akzeptoren (wie B F , A l H 3 , S 0 3 , H + , Fe 2 + ) bezeichnet Lewis ganz allgemein als S ä u r e n , die Donator-Partner (wie F " , H O , O H , N H 3 , C N ~ ) als B a s e n . U m sie von den vorher definierten Brönsted-Säuren und -Basen zu unterscheiden, nennt m a n sie heute ,,Lewis-Säuren" und „Lewis-Basen". Das V e r e i n i g u n g s p r o d u k t einer Lewis-Säure (Elektronenpaar-Akzeptor) und einer Lewis-Base (Elektronenpaar-Donator, Ligand) wird als „Säure-Base-Komplex" („Säure-BaseAddukt", „Koordinationsverbindung", ,,Elektronenpaar-Akzeptor-Donator-Komplex") bezeichnet Assoziation
Lewis-Säure + Lewis-Base
•
- Säure-Base-Komplex.
(6)
Dissoziation
Hiernach stellen etwa H 3 B N H 3 , [ A g ( O H 2 ) 2 ] + , [ F e ( C N ) ö ] 4 " , AlCl 4 bzw. NaBr Komplexe aus den Lewis-Säuren H 3 B , Ag + , Fe 2 + , AlCl 3 bzw. N a + und den Lewis-Basen N H , H O ,
3. Die Acidität und Basizität
245
C N ~ , C l " bzw. Br~ dar. In entsprechender Weise lassen sich z.B. Brönsted-Säuren H A als Komplexe aus der Lewis-Säure H + und der Lewis-Base beschreiben. Auch die Bildung einer Brönsted-Säure aus ihrem Anhydrid ( = Lewis-Säure) und Wasser ( = Lewis-Base) ist im Sinne von (6) als Komplexbildung zu klassifizieren (z.B. S 0 3 + H 2 0 -> H 2 S O 4 ) . D a auch die R e d u k t i o n s m i t t e l wie die Lewis-Basen E l e k t r o n e n d o n a t o r e n und die O x i d a t i o n s m i t t e l wie die Lewis-Säuren E l e k t r o n e n a k z e p t o r e n sind, gehen die beiden Begriffe im Grenzfall ineinander über. M a n kann aber unterscheidend sagen, dass bei R e d o x - R e a k tionen ein v ö l l i g e r Übergang e i n e s oder m e h r e r e r Elektronen vom einen zum anderen Reaktionspartner erfolgt (z.B.: Zn: + Cu.2+ -> Zn2+ + : Cu), während bei L e w i s - S ä u r e Base-Reaktionen (4) nur der t e i l w e i s e Übergang eines E l e k t r o n e n p a a r e s unter Ausbildung einer kovalenten Bindung stattfindet (z.B. R 3 N : + B F 3 -> R 3 N : B F 3 ) . Wenn man einen Vorgang wie die Vereinigung von PC13 mit O zu PC13O zugleich auch als Oxidationsvorgang (Oxidation des Phosphors von der Oxidationsstufe + 3 zur Oxidationsstufe + 5) betrachtet, obwohl es sich dabei nicht um einen völligen Elektronenübergang, sondern um die Ausbildung einer E l e k t r o n e n p a a r b i n d u n g handelt (C13P: + Ö: -> C13P:Ö:), so widerspricht dies nicht der obigen unterscheidenden Definition. Denn zur Ermittlung der Oxidationsstufen und damit zur Deklarierung der Reaktion als Oxidationsreaktionmussmanjaim Sinne dieser Definition (s. dort) einen (fiktiven) völligen Übergang der Elektronen vom Phosphor zu den Liganden zugrunde legen.
3.2
3.2.1
Stärke von Brönsted-Säuren und -Basen24 Die protochemische Spannungsreihe
Wie die Redoxsysteme Red. Ox. + Elektron (S.217) lassen sich auch die Brönsted'schen S ä u r e - B a s e - S y s t e m e Säure Base + Proton in eine Potentialreihe einordnen, wobei sich als o r d n e n d e s P r i n z i p in diesem Fall der S ä u r e e x p o n e n t pÄ"s („protochemisches Normalpotential ") anbietet; denn dieser gibt den pH-Wert bei den Einheiten der Konzentration (genauer: Aktivität) von Säure und Base wieder [pÄ"s = p H + log (c Säure /c Base ) = p H + log 1 = pH; vgl. S. 199]. Er ist daher ein logarithmisches M a ß für die H + -Konzentration (genauer: Aktivität) von Säure/Base-Systemen unter Standardbedingungen, so wie das Normalpotential s 0 (s. dort) ein analoges logarithmisches M a ß für die Elektronenkonzentration von Redoxsystemen bei den Einheiten der Konzentration des Reduktions- und Oxidationsmittels darstellt. Der Säureexponent pÄ"s von Säure-Base-Systemen entspricht dabei dem Oxidationsexponenten pK 0 x von Redox-Systemen (vgl. S.232)2 5 . Die in Tab. 32 wiedergegebene „protochemische Spannungsreihe" enthält eine Zusammenstellung der ,,protochemischen Normalpotentiale" einiger Säuren in wässeriger Lösung bei 25 °C, geordnet nach der Höhe des Säureexponenten pÄ"s. Je höher (tiefer) ein System in der protochemischen Spannungsreihe steht, d.h. je n e g a t i v e r (positiver) sein protochemisches Potential ist, u m so stärker ist seine p r o t o n e n a b g e b e n d e (protonenaufnehmende) Wirkung. Die überaus starken ( p ^ s < ca. — 3.5) sowie die sehr starken, starken und mittelstarken Säuren (pÄ"s ca. 0 + 3.5) stehen demgemäß im o b e r e n , die schwachen Säuren (pÄ"s ca. 7 + 3.5) im
2* Literatur. R.P. Bell: ,,Acids and Bases: Their Quantitative Behaviour", Chapman and Hall, London 1969; R.J. Gillespie: „Proton Acids, Lewis Acids, HardAcids, Soft Acids and Superacids" in E. F. Caldin, V. Gold: „Proton Transfer Reactions", Chapman and Hall, London 1975; F. Strohbusch: „Neuere Erkenntnisse der Säure-Basen-Theorie", Chemie in unserer Zeit 16 (1982) 103-110; G.A. Olah, D.A. Klumpp: „Superelectrophilic Solvation", Acc. Chem. Res. 37 (2004) 211-220. 25 Da freie Protonen (wie auch freie Elektronen) in kondensierter Phase nicht existieren, bleiben die wahren protochemischen Einzelpotentiale — log^ s = p.K"s der Systeme Säure Base + H + = eBslse • c H + /c s ä u „) unbekannt. Man kann aber wie im Falle der Redoxreaktionen einen willkürlichen Nullpunkt wählen, der sich zweckmäßigerweise auf das System H 3 0 + H 2 0 + H + bezieht (-Kh30+ = cH+/cH3o+ = 1; P^h 3 o+ = 0). Für die Säurekonstanten KHA bzw. Kha, welche sich auf die Säure-Base-Vorgänge HA A " + H + bzw. HA + H 2 0 H 3 0 + + A~ beziehen, ergibt sich dann folgender Zusammenhang KHA = c H30 + • cA-/cHA und nach Erweiterung mit c H + : KHA = (cA- • c H + / C
X C ( H30 + /CH + ) = ^ H Ä j O M i ^ 3 0 + = 1 e r g i b t s i c h a l s A : P P ^ H A - S o m i t stellen HA für Wasser gültigen Säurexponenten p.STs in der Tat ein (logarithmisches) Maß für die Säuredissoziation dar.
die
246
VII. Die Molekülumwandlung
Tab.32
Protochemische ,,Spannungsreihe" einiger Säure-Base-Systeme (Wasser 25°C).
Säure
Base
+ H+
HCl0 4 HCl so Po HCl HNO3 H3O+ So HSo Po [Fe(OH 2 )6 ] 3 + HF HAc [Al(OH2)6 ] 3 + CO2 + H 2 O [Fe(OH 2 )6 ] 2 + H2S HSO PO HCl HCN NH [Zn(OH 2 ) 6 ] 2 h HCO
Cl C HSO PO Cl NO H2O HSO
+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +
SO2Z
PO [Fe(OH 2 ) 5 (OH)]2 + F" A [Al(OH2)5(OH)]2 + HCO [Fe(OH 2 ) 5 (OH)] + HS SO2HPOjz
Cl CN NH [Zn(OH 2 ) 5 (OH)] + CO2-
HO HPOjz
HS NH OH H,
PO32z
OH" NH 2z
H"
H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+ H+
10 - 7.0 - 3.0 - 2.7 - 1.37 + 0A) 1.90 1.96 2.161 2.46 3.17 4.75 4.97 6.35 6.74 6.99 7.20 7.207 7.537 9.21 9.25 + 8.96 10.33 11.65 12.325 12.89 + 14.00a) 23 29 39
a) Die Konzentration des Wassers (55.3 mol/l) ist als Konstante im p.ff s -Wert mit enthalten (ist dies nicht der Fall, so gilt Ks = [ H 3 0 + ] [ O H ~ ] / [ H 2 0 ] = 10- 1 5 - 5 [mol/l]).
m i t t l e r e n und die sehr schwachen Säuren (pÄ"s ca. 14 + 3.5) sowie die überaus Säuren (pKs > ca. 17.5) im u n t e r e n Teil der protochemischen Spannungsreihe.
schwachen
Innerhalb der Reihe kann ähnlich wie im Falle der elektrochemischen Spannungsreihe (s. dort) bei den Einheiten der Konzentration von Säuren und korrespondierenden Basen eine P r o t o n e n a b g a b e nur von einem höherstehenden an ein tieferstehendes Systemerfolgen. Soführt etwa die Vereinigung von NH4 (Säure) mit OH~ (Base) gemäß der protochemischen Spannungsreihe unter Protonenübergang von NH4 zu OH~ zur Bildung von NH 3 und H 2 O (Ammoniakgewinnung im Laboratorium durch Freisetzen der schwächeren Base durch die stärkere), die Umsetzung von H 3 0 + mit S2~ unter Protonenübergang von H 3 0 + zu S 2 ~ über SH~ zur Entwicklung von H 2 S (Schwefelwasserstoffgewinnung im Laboratorium durch Freisetzen der schwächeren Säure durch die stärkere). Die jeweilige Potentialdifferenz Ap.fiTs der Säurepotentiale p.fiTs zweier korrespondierender Säure-Base-Paare („protomotorische Kraft") ist dabei ein Maß für die „freie Energie" AG = 0.05916 x Ap.fiTs (in Faradayvolt) bzw. AG = 5.2294 x Ap.STs (in Kilojoule)26 des aus beiden Teilsystemen zusammengesetzten Gesamtvorgangs. D a die pÄ"s-Werte sowohl für die B r ö n s t e d - S ä u r e n wie für die korrespondierenden Brönsted-Basen gelten, benötigt m a n nicht wie früher gesonderte Basekonstanten K ß (sowie
26 Der Proportionalitätsfaktor resultiert aus einer Größe RT• ln (R = 8.617 x 1 0 " 5 F - V / K bzw. 8.314 x 10~ 3 k J m o p i K z i ; T = 273.15K: Faktor zur Umwandlung des natürlichen in den dekadischen Logarithmus = 2.3026); denn AG = - RTlnÄTs.
3. Die Acidität und Basizität
247
Hydrolysekonstanten K n y i l , die im Brönsted'schen Sinne Säure- bzw. Basekonstanten von Ionensäuren bzw. -basen darstellen), sondern k o m m t mit der Säurekonstante Ks aus. Die auf Vorgänge des Typus HA Säurereaktion mit Wasser
HA OH Basereaktion mit Wasser
(HA z. B. N H 4 oder HF, A " d e m g e m ä ß N H 3 oder F ") bezogenen Säure- und Basekonstanten Ks = C H30+ • c A -/c H A und Kß = c HA • c O H - / c A - hängen, wie eine Multiplikation beider Konstanten ergibt, über das Ionenprodukt des Wassers K w = c H30 + • c O H - miteinander zusammen: • ^B = CH3o+ • c O H - = 1 0 " ' 4
bzw.
p ^ + p ^ p J ^
= 14.00.
(7)
Die Säure- und Baseexponenten eines korrespondierenden Säure-Base-Paares, welche die Säud.h. die Tendenz zur H + -Abdissorestärken („Acidität") bzw. Basestärken („Basizität"), + ziaton bzw. H -Assoziation von Säuren bzw. Basen zum Ausdruck bringen, ergänzen sich also zu 14. So beträgt z.B. für das Ammoniak NH 3 + H 2 0 NH 4 + OH~ der p.£B-Wert 4.75 (entsprechend einem pOH-Wert 4.75 für die Einheiten der Konzentration von NH 3 und NH 4 ), während der p.fiTs-Wert der zu NH 3 korrespondierenden Säure NH 4 + H 2 0 NH 3 + H 3 0 + gleich 9.25 ist (p^ s = 14.00 = 14.00 - 4.75 = 9.25). Aus der Beziehung (7) folgt des weiteren, dass einer mittelbis sehr starken Säure (pisTs ca. 0 + 3.5) eine sehr schwache korrespondierende Base ca. 14 + 3.5) zugeordnet ist (z.B. HCl/CP) und umgekehrt (z.B. S2~/HS~), während schwache Säuren auch schwache korrespondierende Basen bedingen (pisTs jeweils ca. 7 + 3.5; z.B. HAc/Ac~ oder HClO/ClO"). Die p.fiTs-Werte (protochemische Normalpotentiale) wässeriger Säure-Base-Systeme variieren, wie aus Tab. 32 hervorgeht, von — 10 bis ca. 40, was bedeutet, dass bei einer Protonenaktivität von a H+ = 10'° (aH- = 10 "4°) die Säure HA zur Hälfte undissoziiert, zur Hälfte dissoziiert voliegen würde. Die Aciditäten der Wasserstoffverbindungen von Nichtmetallen E H nehmen dabei beim Austausch des Elements E durch ein im Periodensystem weiter unten bzw. rechts stehendes Element zu (z.B. p.STs HF > HCl > HBr > HI; p,K s NH 3 > H 2 0 > HF; vgl. auch Kapitel über Wasserstoffverbindungen). Bei Sauerstoffsäuren der Elemente H„EOm + „ = EOm(OH)„ wächst die Acidität mit abnehmender Zahl von sauerstoffgebundenen H-Atomen und zunehmender Zahl von wasserstofffreien O-Atomen (z. B. p.STs HClO > HCl0 2 > HClO, > HCl0 4 ; pK s H 4 Si0 4 > H 3 PO 4 > H 2 SO 4 > HClO 4 ; vgl. abweichendes Verhalten von Säuren wie H 2 PO(OH), HPO(OH) 2 , HCO(OH)). Nach R.P. Bell gilt für die Acidität von EOm(OH)„ die Überschlagsregel: p.STs = 8 — 5 m, wonach unabhängig von der Zahl n der OH-Gruppen für m = 0 die p.fiTs-Werte bei 8 (+ 1) (schwache Säuren), für m = 1 bei 3 (+ 1) (mittelstarke Säuren), für m = 2 bei - 2 ( + 1) (starke Säuren) und für m = 3 bei — 7 ( + 1) (überaus starke Säuren) liegen (vgl. Tab. 33). Darüber hinaus sind die p.fiTs-Werte für die 2. bzw. 3.Säuredissoziationskonstante (pK2 und p.K3) ca. 5 bzw. ca. 10 Einheiten positiver als der entsprechende Wert (pi^) für die 1. Säuredissoziationskonstante (erster, zweiter, dritter Wert in Tab. 33 jeweils pKl, pK2, pK3). Die s a u r e oder b a s i s c h e Wirkung einer Substanz ist k e i n e g e g e b e n e S t o f f e i g e n s c h a f t , sondern - abgesehen von ihrer Konzentration (s. unten) - eine F u n k t i o n d e s R e a k t i o n s p a r t n e r s . Säuren und Basen im a b s o l u t e n S i n n e gibt es also ebensowenig wie absolute
Tab. 33 p.STs-Werte für Elementsauerstoffsäuren EOm (OH), m= 0 ClOH Te(OH) As(OH) Si(OH)
m =1 7.5 7.7 9.2 9.5
ClO(OH) IO(OH) SO(OH) SeO(OH)
m =1 1.9 1.6/8.3 1.8/7.2 2.6/8.3
TeO(OH)2 NO(OH) PO(OH) AsO(OH)
m= 2 2.5/7.7 3.3 2.2/7.2/12.3 2.2/6.9/11.5
Cl (OH) SO (OH) Se (OH) NO (OH)
-2.7 -3.0/2.0 -3.0/1.7 -1.4
248
VII. Die Molekülumwandlung
Reduktions- und Oxidationsmittel (s. dort). So ist etwa N H 3 gegenüber H C l O eine s c h w a c h e , gegenüber HCl dagegen eine s t a r k e Base ( k l e i n e pÄ" s -Differenz von 1.7 im ersten, g r o ß e von 16.3 im zweiten Fall). Häufig vermögen chemische Stoffe (so genannte „Ampholyte") sowohl als S ä u r e als auch als B a s e zu wirken und zeigen mithin ,,Säure-Base-Amphoterie". Beispielsweise ist H 2 P O 4 als a m p h o t e r e s Ion gegenüber N H 3 eine Säure, gegenüber H N O eine Base. Auch das protonierbare bzw. zu O H deprotonierbare Wasser ist ein Ampholyt In W a s s e r ist die s t ä r k s t e S ä u r e das Oxonium-Ion H 3 0 + , die s t ä r k s t e B a s e das Hydroxid-Ion O H , da sich alle - gemäß ihrem pÄ"s-Wert - stärkeren Säuren und Basen praktisch q u a n t i t a t i v zu H 3 0 + bzw. O H umsetzen, z.B. HCl NH
NH
Cl OH
Dementsprechend sind alle s e h r s t a r k e n Säuren und Basen in Wasser gleich stark; das Wasser übt durch die Bildung von H 3 0 + - bzw. O H -Ionen einen ,,nivellierenden" Effekt auf die Acidität sehr starker Säuren und Basen aus Die Unterschiede der Säurekonstanten sehr starker Säuren (entsprechendes gilt für sehr starke Basen machen sich in geeigneten nichtwässrigen Lösungsmitteln bemerkbar. So sind etwa entsprechend der kleineren Neigung der Essigsäure (CH 3 COOH = HAc) zur Aufnahme von Protonen (Bildung von H2AC+ ) alle in Wasser sehr starken Säuren in HAc nur schwache, in ihrer Acidität deutlich voneinander verschiedene Säuren. In Ammoniak (sehr kleine Neigung zur Abgabe von Protonen unter Bildung von NH 2 ) sind andererseits alle in Wasser starken Basen nur schwach. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die relativen Aciditäten von Säuren etwas vom gewählten Reaktionsmedium abhängen
3.2.2
Die Konzentrationsabhängigkeit der Brönsted'schen Acidität und Basizität
Allgemeines
Durch V e r ä n d e r u n g d e r K o n z e n t r a t i o n e n der Säure-Base-Partner lässt sich - analog wie bei den Redoxsystemen (s. dort) - die Acidität bzw. Basizität eines Stoffs und damit seine Stellung in der Säure-Base-Reihe w i l l k ü r l i c h ä n d e r n . Es gilt dafür eine, bereits an anderer Stelle erwähnte Beziehung (s. S. 199), welche der Nernst'schen Gleichung (s. dort) sehr ähnlich ist p H = pÄ"s + log -
(8)
Hierin bedeutet pÄ"s den S ä u r e e x p o n e n t e n („protochemischesNormalpotential"), c Base bzw. c säure die K o n z e n t r a t i o n (genauer: Aktivität) der Base bzw. ihrer korrespondierenden Säure und p H den bei dieser Konzentration resultierenden W a s s e r s t o f f i o n e n e x p o n e n t e n (,,protochemisches Potential"). Bei den Einheiten der Konzentration der Säure-Base-Partner folgt aus der Gleichung (8): p H = pÄ"s + log 1 = pK s + 0 = pÄ"s, was der Definition des pÄ"s-Wertes entspricht Bei Kenntnis der pÄ"s-Werte und der Konzentration der Säure-Base-Partner lässt sich mittels (8) das unter den betreffenden Bedingungen gültige p r o t o c h e m i s c h e P o t e n t i a l b e r e c h n e n . Beispielsweise ergibt sich für das A m m o n i u m s y s t e m ( N H 4 N H 3 + H + ) die Beziehung (25 °C; Wasser): p H = 9.25 + log -^NHi. C +
NH4
3. Die Acidität und Basizität
249
M a n k a n n demnach durch V e r g r ö ß e r u n g (Verkleinerung) der Ammoniakkonzentration bzw. durch V e r k l e i n e r u n g (Vergrößerung) der Ammoniumkonzentration die Acidität des Ammoniums in Wasser nach Belieben e r n i e d r i g e n (erhöhen). So beträgt etwa das protochemische Potential (pH) von NH 4 in Wasser (cNH + = 1 mol/l) bei Verminderung der NH 3 -Konzentration von 1 auf 0.1 mol/l nicht mehr + 9.25, sondern 9.25-1.00 = 8.25, entsprechend einer Erhöhung seiner Acidität Bei Kenntnis der pÄ"s-Werte von Säure-Base-Systemen kann m a n die Beziehung (8) zwischen p H und der Konzentration der Säure-Base-Partner umgekehrt auch dazu verwenden, um durch Messung der Konzentrationen und eines in kleiner Menge einer Lösung zugesetzten Säure-Base-Systems den pH-Wert der betreffenden Lösung zu ermitteln (vgl. Indikatoren und weiter unten). Das protochemische Potential einer Säure in Abwesenheit der korrespondierenden Base 0) liegt nach (8) unendlich hoch (log ), das einer entsprechenden reinen Base unendlich niedrig (log ). Bringt m a n daher eine reine Säure mit einer reinen Base zusammen, so ist im ersten M o m e n t das Potentialgefälle und damit die protomotorische K r a f t unendlich groß. Sobald sich aber Spuren von korrespondierenden Säuren und Basen gebildet haben, nimmt das Reaktionspotential sofort endliche Werte an. Die Reaktion geht dann solange weiter, bis das Potential des Säure-Base-Systems I (pHj) infolge der Abnahme der Konzentration der Säure I und der Zunahme der Konzentration der korrespondierenden Base I soweit gesenkt und das Potential des Systems II (pH n ) infolge Abnahme der Konzentration der Base II und Z u n a h m e der Konzentration der Säure II soweit gestiegen ist dass beide einander gleich ( p ^ = p H n ) und die treibende K r a f t (ApH = p ^ — p H n ) dementsprechend gleich 0 geworden ist (vgl. hierzu die entsprechenden Verhältnisse bei Redoxreaktionen S.231). Ersetzt m a n in der für den G l e i c h g e w i c h t s z u s t a n d des Säure-Base-Vorgangs Säure
Base
Base
Säure
(9)
gültigen Beziehung p ^ = p H n (s. oben) die protochemischen Potentiale p ^ und p H n der Teilvorgänge Säure Base Proton und Säure Base Proton durch die rechte Seite der Gleichung (8), so erhält m a n - nach einfacher Umformulierung - die Beziehung: A p Ks=
— log
•-Basel
Säure II
'-Säure I
'-Base II.
Gleichgew.
= — l o g ^ = p K.
(10)
Sie gestattet die Berechnung der Gleichgewichtskonstante einer Säure-Base-Gesamtreaktion ( K = c B a s e I - c S ä u r e U /c S ä u r e I • c BaseII ) bzw. ihres pÄ"s-Werts aus der Differenz A p ^ = pK SU — p^s.n von protochemischen Normalpotentialen (pÄ"s-Werten) der ihr zugrundeliegenden Säure-Base-Teilreaktionen (pÄ"s! bzw. pÄ"s n beziehen sich auf die pÄ"s-Werte des protonenabgebenden bzw. -aufnehmenden Systems). Gemäß Gleichung (10) berechnen sich folgende Zusammenhänge zwischen Ap.fiTs-Werten und prozentualem Umsatz von Säure I mit Base II (jeweils Konzentration 1 mol/l): ApKs
+6
+4
+2
0
—2
—4
—6
% Umsatz ca.
0.1
1
10
50
90
99
99.9
...
Sie ermöglichen in einfacher Weise eine Vorhersage über Art und Ausma von Säure-Base-Reaktionen in Wasser. Dies sei anhand einiger Beispiele aufgezeigt: Reaktionen wässriger Säuren mit Basen („Neutralisation", S. 209). Gemäß der Zusammenstellung verhält sich eine Säure gegenüber allen in der protochemischen Spannungsreihe um 2 Einheiten und mehr unter ihr stehenden Basen als starke bis sehr starke, gegenüber allen in der Spannungsreihe um 2 Einheiten und mehr über ihr stehenden Basen als schwache bis sehr schwache Säure und umgekehrt. Essigsäure (p^ s = 4.75) ist z.B. gegenüber Wasser (pKs = 0.00) eine schwache Säure, wobei die Potentialdifferenz
250
VII. Die Molekülumwandlung
von Ap.fiTs = + 4.75 einer geringeren als 1 %igen Dissoziation der Essigsäure entspricht (vgl. hierzu Dissoziationsgrad von Säuren sowie Ostwald'sches Verdünnungsgesetz). Dagegen ist Essigsäure gegenüber wässerigem Ammoniak = 9.25) eine sehr starke Säure, da die Potentialdifferenz Ap.fiTs von — 4.50 zwischen CH 3 COOH und NH 3 zu einer über 99%igen Reaktion („Neutralisation") beider Stoffe zu CH COO und NH führt Ist das Kation bzw. Anion eines Salzes amphoter, so kann das betreffende Ion auch mit sich selbst unter Säure-Base-Disproportionierung reagieren, z.B.: 2Al(OH 2 ) 5 (OH)2+ Al(OH2)3 + + Al(OH 2 ) 4 (OH) 2 bzw. 2H 2 PO 4 ^ H 3 PO 4 + H P O ^ . Da jedoch der pi^-Wert der (n + 1)-ten Dissoziationskonstante einer Säure (p^„ + 1 ) immer um mehrere Einheiten größer ist als der pi^-Wert der n-ten Dissoziationskonstante (p.fir„), die Differenz Ap.fiTs = $Kn+l —pKn beider p.fiTs-Werte also mehrere (positive) Einheiten beträgt (im Falle von H„EOm ca. 5 Einheiten; S. 239), liegt das Säure-Base-Disproportionierungsgleichgewicht weitgehend auf der linken Seite, d.h. die Reaktion mehrwertiger Säuren erfolgt immer im Sinne einer Komproportionierung der höheren und niederen zu der mittleren Acidi tätsstufe. Dementsprechend sind Hydrogencarbonate HCO 3 (Ap.fiTs = 3.98), Hydrogensulfate HSO 4 (Ap.STs = 5.0) sowie Hydrogen-und Dihydrogenphosphate H P O j - undH 2 PO 4 (Ap.fiTs ca. 5.1) zu weniger als 1%,Hydrogensulfide S ^ ^ = 5.9) und Hydroxide (Ap.fiTs = 15) praktisch überhaupt nicht in die höhere und niedere Säurestufe disproportioniert. Die Titration einer mehrwertigen Säure mit einer Base verläuft demnach stufenweise. (Liegt der p.Ks-Wert des amphoteren Ions unterhalb 0.00 (oberhalb von 14.00), so wirkt dieses gemäß oben Besprochenem gegenüber Wasser als Säure (Base).) Reaktion von Salzen in Wasser (,,Hydrolyse"; S. 207). Eine wässrige Salzlösung reagiert sauer (basisch), wenn sich die Kationsäure B + eines Salzes mit Wasser weitgehender (unvollständiger) unter H 3 0 + Bildung umsetzt als die Anionbase unter Bildung von OH~ (z.B. saure Reaktion im Falle von NH 4 Cl, basische Reaktion im Falle von NaAc). Sind die Salzionen B + bzw. A" überaus schwache Säuren bzw. Basen wie im Falle von NaCl, so reagiert die Salzlösung neutral. Die pH-Werte wässeriger Salzlösungen lassen sich im Einzelnen nach den bereits auf S. 208 abgeleiteten Formeln berechnen. Alle Anionbasen A~ reagieren bei Standardbedingungen praktisch vollständig gemäß A~ + H 2 0 OH~ + HA, wenn die pi^-Werte der zu A~ korrespondierenden Säuren HA um einige Einheiten positiver sind als 14.00 des Systems OH ). Dementsprechend sind Salze wie N NH oder N (pisTs(NH3) = 23; p.fiTs(H2) = 39) wasserunbeständig und zersetzen sich zu NH 3 bzw. H 2 sowie Natronlauge. Ist demgegenüber der p.fiTs-Wert der korrespondierenden Säure des Anions A~ um einige Einheiten weniger positiv als 14.00, so erfolgt praktisch keine Reaktion in der angegebenen Weise. Zum Beispiel sind Salze wie N CN oder N A ( (HCN) 9.21; (HAc 4.75; weitere Beispiele vgl. Tab. 32) wasserbeständig und „hydrolysieren" nur zu rund 1 % bzw. 0.001 %. In analoger Weise setzen sich die Kationsäuren B + , deren pi^-Werte um einige Einheiten negativer (weniger negativ) sind als 0.00 (= p.STs des Systems H 3 0 + ^ H 2 0 + H + ), bei Standardbedingungen praktisch vollständig (praktisch nicht) mit Wasser unter Protonenübertragung um. Dementsprechend ist das Salz H 2 F + Cl0 4 (pi 14) ist, werden als,,übersauer" (,,überbasisch") bezeichnet. Sehr starke Säuren (pÄg < 0; z.B. HCl0 4 ) bzw. sehr starke Basen (pKs > 14, d.h. p^ B < 14; z.B. O2") liegen innerhalb des gesamten normalen pH-Bereichs in Wasser nur in deprotonierter bzw. nur in protonierter, sehr schwache Säuren (p^ s >14; z. B. NH 3 ) bzw. sehr schwache Basen (pKs < 0, d. h. p^ B >14; z. B. HF) nur in unveränderter Form vor Die Messung der Acidität konzentrierter Lösungen sehr starker Säuren, die erstmals durch L.P. Hammett im Jahre 1930 durchgeführt wurde, kann mittels schwacher bis überaus schwacher Indikatorbasen In erfolgen (z.B. Nitroaniline, aromatische Nitroverbindungen), welche in der betreffenden Säurelösung nur teilweise protoniert werden. Bei Kenntnis des p.STs-Werts des Indikatorsystems (InH + In + H + ) lässt sich dann über die Beziehung (8) nach Einsetzen der auf spektroskopischem Wege bestimmten Konzentration c[n und c[nH+ der Indikatorbase In und ihrer korrespondierenden Säure InH + die Acidität der Lösung berechnen. Da wegen der hohen Säurekonzentration mit Aktivitäten a = y • c gerechnet werden m u s ^ = Aktivitätskoeffizient, s. dort) und die Beziehung (8) mithin pH = p.STs + loga [n /a [nH+ = p.STs + logc[n/c[nH+ + log yIn/}'InH+ lautet, erhält man allerdings nach Einsetzen der experimentell ermittelten wahren Konzentrationen c[n und c[nH+ nicht den pH-Wert selbst, sondern gemäß der unter diesen Bedingungen gültigen ,,Hammet'schen Aciditätsfunktion" Ho = ptfs,i„ +
togcjc,^
(11)
den Hammet'schen H0-Wert, der seinerseits ein Maß für den pH-Wert ist (H 0 = pH — l o ^ ta/jw = — l °g%+ • J W J W )27Die H0-Werte werden im einzelnen wie folgt ermittelt: Zunächst errechnet man mittels (11) nach Einsetzen der spektroskopisch bestimmten Konzentrationen c[n sowie c[nH+ eines noch relativ basischen, in einer verdünnten Säure gelösten Indikators sowie des konventionell bestimmten pH-Werts der Säurelö sung den p.STs-Wert des betreffenden Indikators (für verdünnte Säurelösungen gilt: H 0 x pH27). Mit diesem Indikator bekannten p.STs-Werts bestimmt man dann, wie oben beschrieben, den H0-Wert einer konzentrierteren Lösung der betreffenden Säure. Die konzentriertere Säurelösung dient anschließend wieder zur Ermittlung des p.fiTs-Werts eines weniger basischen Indikators mittels der Beziehung (11) usf. 27 Man nimmt an, dass der Quotient y ln /y lnH + in einer gegebenen Säurelösung für alle u n g e l a d e n e n Basen gleich ist. Dieser Sachverhalt ist für v e r d ü n n t e Lösungen experimentell bewiesen, für welche Aktivitätskoeffizienten nur eine Funktion der Ionenstärke sind (s. dort). Er trifft wohl näherungsweise auch für k o n z e n t r i e r t e Lösungen zu, falls gleich geladene - und zudem ähnlich strukturierte - Basen betrachtet werden. Das Aciditätsmaß H 0 unterscheidet sich dann für alle derartigen Basen nur um einen Betrag logyi„/yinH+ vom p H - W e r t . F ü r n e g a t i v g e l a d e n e B a s e n In " (Hln S 2 - ) und je höher oxidiert sie sind (z.B. SO2" > S 2 - ) . Geordnet nach abnehmender Härte resultiert f ü r einige wichtige Donatoratome in nicht allzu hoher Oxidationsstufe folgende Reihe: Donatoratome E in Lewis-Basen Eoder härter
ER
F > 0 > N, Cl > Br, H > S, C > I, S e > P, T e > As > Sb harte
mittelharte
weicher
weiche Lewis-Basen
Die Ladung hat in der Regel keinen deutlichen Einfluss auf den harten bzw. weichen Charakter einer Base (z.B. O2" « OH" « H 2 O; S2" « SH"). Auch der Einfluss unterschiedlicher Substitution bleibt meist klein (z.B. PR 3 x P(OR) 3 (R = organischer Rest)). Demgegenüber nimmt die Härte mit zunehmendem Durchmesser einen oxid-haltigen Lewis-Base ab (z.B. O ! " > S O 2 " ) .
Anwendungen Mittels des empirischen Konzepts der harten und weichen Säuren und Basen (HSAB-Prinzip) lässt sich in vielen Fällen die Stabilität von Komplexen qualitativ richtig beurteilen. So kann etwa der bekannte Befund, dass Metallionen wie Mg2 + , Ca2 + , AI3+ in der Natur vielfach als Oxide, C a r b o n a t e bzw. Sulfate und Metallionen wie Cu + , Hg2 + , Pb2+ demgegenüber als Sulfide vorkommen, damit erklärt werden, dass erstere Ionen als harte Säuren wirken und deshalb die harte Base O2" (bzw. Oxid-haltige Anionen wie CO2", SO2") bevorzugen, während sich letztere Ionen als weiche Säuren lieber mit der weichen Base S 2 " verbinden. In analoger Weise lässt sich die Tatsache, dass hohe Oxidationsstufen der Elemente vielfach nur in ihren Fluor- und Sauerstoffderivaten anzutreffen sind (z.B. SF6, IF7, PtF 6 , CuF 4 , Cl0 4 , XeO4", M n 0 4 , Os0 4 ) darauf zurückführen, dass hochgeladene und deshalb als sehr harte Säuren wirkende Elementkationen (z.B. S6 + ,I 7 + ,Pt 6 + ,Cu 3 + ,C17 + ,Xes +, Mn7 + ,Os s +) bevorzugt die härtesten Basen ( F , O 2 " ) koordinieren. Umgekehrt werden die als weiche Säuren wirkenden Übergangsmetalle in niedrigen Oxidationsstufen besonders durch weiche Basen wie CO, CN~, PR 3 usw. stabilisiert (z.B. Bildung von Ni(CO) 4 , Fe(CO)2", Cr(CN)6", Pt(PR 3 ) 4 ). 29 synergein (griech.) = zusammenbinden.
3. Die Acidität und Basizität
255
Aus dem HSAB-Prinzip folgt weiterhin, dass doppelte Lewis-Säure-Base-Umsetzungen des Typs S : B + S':B'
S : B ' + S': B
(13)
bevorzugt so ablaufen, dass sich jeweils Säure-Base-Adduktpaare (S : B und S': B' bzw. S : B' und S': B) mit vergleichbar harten und weichen Säure- und Basepartnern (S bzw. S'; B bzw. B') bilden. Dieser Sachverhalt erklärt viele Reaktionen, die unter Komplex- bzw. N i e d e r s c h l a g s b i l d u n g (Bildung von Polynuklearkomplexen) erfolgen. So verdrängt etwa die weichere Base NH 3 die härtere Base H 2 0 in Komplexionen M(OH 2 ) ™ + , in welchen M m + als weiche Säure wirkt, zum Beispiel: [Cu(OH 2 ) 4 ] 2 + + 4 N H 3 [Cu(NH 3 ) 4 ] 2 + + 4 H O . Kationen, die wie oder A 3 + alsharte Säuren wirken, liegen demgegenüber auch in wässerigem Ammoniak in Form ihrer Hydrate bzw. - als Folge der Brönsted'schen Basewirkung von Ammoniak - in Form ihrer Hydroxide vor. Eine Verdrängung des harten Wassers ist in diesen Fällen aber vielfach durch die noch härtere Base Fluorid möglich. So setzen sich etwa die in wässeriger Lösung vorliegenden Aquakomplexe der sehr harten Säuren Li + , Be2 +, Mg2+ und Ca2+ mit überschüssigem gemäß (13) unter Bildung der schwer löslichen Salze LiF und CaF 2 bzw. der löslichen Komplexionen B e F u n d M g F u m . Außer über Komplex- und Niederschlagsbildung ermöglicht das HSAB-Prinzip in vielen Fällen qualitative Vorhersagen über Energie- und Geschwindigkeitsverhältnisse chemischer Reaktionen. So wäre etwa zu erwarten, dass bei der Hydrolyse von Natriumhydrid NaH mehr Energie freigesetzt wird als bei der Hydrolyse von Kupferhydrid CuH: MH + H ^ -> M ^ + H 2 . Denn die Verdrängung der weichen Base durch die harte Base H 2 O erfolgt im ersteren Falle an einem harten Zentrum (Na + ), in letzterem Falle an einem weichen Zentrum (Cu + ) und führt mithin einmal zu einer günstigeren, einmal zu einer ungünstigeren Säure-Base-Kombination. Tatsächlich verläuft die NaH-Hydrolyse exotherm, die CuH-Hydrolyse endotherm. Der aus dem HSAB-Prinzip abzuleitende Sachverhalt, dass sich die weiche Base lieber mit der weichen Säure Cu + als mit der harten Säure N a + verbindet, bedeutet natürlich nicht, dass CuH bezüglich eines Zerfalls in die Elemente stabiler als NaH ist. Denn für den Zerfall der Metallhydride in M s und H 2 sind die Energien der homolytischen Dissoziation von MH in M und H sowie der Assoziation von M zu M^ und H zu H 2 , nicht dagegen die Energie der heterolytischen Dissoziation von MH in M + und maßgebend. Tatsächlich ist CuH eine endotherme, NaH eine exotherme Verbindung. - Bezüglich der Anwendung des HSAB-Prinzips auf Reaktionsgeschwindigkeiten vgl. S. 395.) Neben der Härte und Weichheit spielt natürlich auch die Stärke der Lewis-Säuren und -Basen eine entscheidende und in einigen Fällen sogar dominierende Rolle für die Stabilität eines Säure-Base Addukts. So vereinigen sich etwa H + (harte Säure) und H " (weiche Base) miteinander zu einem beachtlich stabilen Komplex H 2 (Abgabe von 1675 kJ/mol), weil H + eine sehr starke Säure und eine sehr starke Base ist. Dabei wirken Elemente in einer Verbindung um so stärker sauer, je positiver und je kleiner sie sind und um so stärker basisch, je negativer und größer sie sind. Zum Beispiel nimmt die Säurestärke des Aluminiums in der Reihe AlCl 3 < AlCl 2 < AlCl2+ < AI3 + , die Basestärke des Sauerstoffs in der Reihe H 2 0 < OH~ < C>2~ zu. Die relative Stärke von Lewis-Säuren mit nur einer Elektronenpaarlücke (z.B. Al(OH 2 ) 3 + , B(OH) 3 , S0 3 , H + ) lässt sich hierbei näherungsweise aus der Stärke der sich unter Wasseraddition an diese Lewis-Säuren bildenden Brönsted-Säuren (z.B. Al(OH 2 )3+ B(OH) 3 (OH 2 ), H 2 SO 4 , H 3 0 + ) abschätzen, während die Stärke von Lewis-Basen aus der Stärke der mit ihnen identischen Brönsted-Basen hervorgeht. Demgemäß stellen z.B. viele Metallkationen M p + schwache und S O bzw. H + sehr starke Lewis-Säuren dar, da Hydrate M(OH 2 )J + als schwache, H 2 SO 4 bzw. H 3 0 + als starke Brönsted-Säuren wirken. Beispiele für schwache Lewis-Basen sind Cl", PR 3 , CN~, CO Beispiele für starke Lewis-Basen H " , OH~, S2~. Erst bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Stärke und der Weichheit bzw. Härte lassen sich LewisSäure-Base-Beziehungen angenähert richtig beurteilen. Setzt sich dabei der Säure-Base-Komplex wie im Falle der Hydrate oder Ammoniakate niedrig geladener Ionen oder der Wasserstoffbrücken-Addukte (s. dort) aus schwachen Säuren und Basen zusammen, so tritt verständlicherweise das HSAB-Prinzip besonders deutlich zutage; denn es bestimmt unter diesen Bedingungen allein die Stabilität eines SäureBase-Addukts, d.h. die Gleichgewichtslage der R e a k t i o n (12). Während im Bereich der schwachen Säuren und Basen Kombinationen aus harten (weichen) Säuren und weichen (harten) Basen ohne Wechselwirkung bleiben, führt praktisch jede Kombination von starken Säuren und Basen zu einem stabilen Säure-Base-Komplex. Das HSAB-Prinzip ist aber nach wie vor selektiv wirksam und bestimmt die Gleichgewichtslage der R e a k t i o n (13): bevorzugt bilden sich die Kombinationspaare S h a r t : Bhart und Swei(.h :Bwei(;h. So stellen beispielsweise A12S3 und HgO sehr stabile Addukte der starken Säure AI3 + (hart) bzw. Hg2+ (weich) mit der starken Base S2~ (weich) bzw. O2~ (hart) dar, reagieren aber miteinander zu A1 2 0 3 und HgS (Abgabe von über 850 kJ/mol). Da sich die H ä r t e oder Weichheit von Lewis-Säuren oder -Basen nicht theoretisch, sondern nur empirisch erfassen lässt, sind weder quantitative Angaben über die Säure- bzw. Basestärke, d.h. über den nicht durch Härte oder Weichheit verursachten Teil des Wechselwirkungsvermögens von Komplex partnern, noch exakte Vorhersagen über Komplexstabilitäten möglich. Nach experimentellen Ergebnissen liefert die Adduktbildung harter Säuren mit harten Basen im allgemeinen mehr Energie (häufig viele
256
VII. Die Molekülumwandlung
hundert Kilojoule) als die Adduktbildung weicher Säuren mit weichen Basen (gelegentlich nur einige Kilojoule pro Koordinationsbindung). Die Bildung sehr starker Lewis-Säure-Base-Komplexe ist für viele Problemstellungen der Chemie von hoher Bedeutung, für andere umgekehrt die Bildung sehr schwacher Lewis-SäureBase-Komplexe. Auf letzteren Sachverhalt sei im Zusammenhang mit der Besprechung schwach koordinierender Anionen und Kationen näher eingegangen (die betreffenden Anionen stellen dabei die konjugierten Basen der Supersäuren dar).
3.3.2 Schwach koordinierende Ionen 30 Schwach koordinierende Anionen30
Eine Reihe einfach geladener Komplexionen wie [BX4 ] " (X = F)
[AK4]",
[EF 6 ] "
[XSO 3 ] "
[XO 4 ]",
(X = Cl, Br, I)
(E = P, As, Sb)
(X = F, CF 3 )
(X = Cl)
zeichnen sich durch geringe Basizität aus und wirken demgemäß hinsichtlich Kationen als schwach koordinierende Anionen (engl. Weakly Coordinating Anions WCA). Die Basizität der Anionen und damit ihre Koordinationstendenz sowie die Stabilität der Anionen gegen ihre chemische Zersetzung durch elekt rophile Kationen lässt sich dadurch weiter verringern, dass man Halogenid der wiedergegebenen Komplexanionen (,,WCAs der 1. Generation") gegen raumerfüllende (das Zentralatom sterisch abschirmende), ebenfalls einfach negativ geladene und in der Regel fluorierte Anionen ersetzt (Beispiele sind etwa die Ionen [B(CF 3 ) 4 ]", [B(C 6 F 5 ) 4 ]", [B(OTeF 5 ) 4 ]", [Sb(OTeF 5 ) 6 ]", [A1{OC(CF 3 ) 3 } 4 ]". Diese ,,neue Generation von WCAs", die dem Traum vom „nicht koordinierenden Anion" schon sehr nahe kommt, ist dadurch charakterisiert, dass die negative Ladung über eine große, nicht basische, meist hochfluorierte Oberfläche delokalisiert wird (,,Teflon-Effekt"). Das gleiche Ziel ist durch Komplexierung einfacher einwertiger Anionen wie F", CN~ mit starken Lewis-Säuren wie EF 5 (E = As, Sb), B(C 6 F 5 ) 3 , A1{OC(CF3)}3 unter Bildung von Monoanionen wie [ F 5 E - F - E F 5 ] " , [(F 5 C 6 ) 3 B-CN-B(C 6 F 5 ) 3 ]", [{(F 3 C) 3 CO} 3 A1-F-A1{OC(CF 3 ) 3 } 3 ]" zu erreichen. Schließlich weisen die chemisch inerten, voluminösen polyedrischen, auf S. 1090f. abgehandelten ,,Carbaborate" [ C B t ^ ^ „ X J " und [CB^H ^ - „ X J " (X = F, Cl, Br, I, CH 3 , CF 3 ; n =1-12 bzw. 1-10; vgl. Fig.84d) extrem schwache Koordinationstendenz auf. Als Beispiele gibt Fig.84 einige wichtige, in Richtung (a) bis (g) zunehmend raumerfüllendere WCAs wieder. Die schwach koordinierenden Anionen dienen in der Grundlagenforschung zur Stabilisierung außerordentlich Lewis-acider Kationen, die sonst allenfalls in der Gasphase (z. B. in einem Massenspektrometer) existieren. In diesem Sinne bestehen in Salzen mit großen, schwach koordinierenden Anionen wie (d) bis (g) hinsichtlich der Kationen „Pseudo-Gasphasen Bedingungen". Stabilisiert werden etwa homoatomare Nichtmetallkationen wie Cg0, N J , Sb2 + , E2+/E2+ (E = S, Se, Te), X 2 / X 3 / X J (X = Br, I), Xe2 , protonierte Moleküle wie H(C 6 0 ) + , H ( ^ 2 S ^ + , H(C 6 H 6 ) + , H(OEt 2 ) 2 oder einfache Methyl-, Silyloder Phosphanyl-Kationen (,,dehydridierte Moleküle") wie CX 3 (X = CH 3 , OH, SH, Cl, Br, I), SiMes3 (Mes = 2,4,6-Me 3 C 6 H 2 ) P2XJ/P3X + /P 2 X + (X = Br, I), darüber hinaus Kationen ML + wie Au(Xe)2 + , Hg(Xe)2 +, Ag(P 4 ) 2 , Ag(S s ) 2 , Ag(C 2 H 4 )^, Ag(C 2 H 2 ) 4 mit schwachen Liganden. Letzerer Sachverhalt erklärt sich damit, dass die Gitterenthalpie von Salzen mit dem Raumbedarf der Kationen und Anionen deutlich abnimmt (z.B. zf#Gitter [kJ/mol] = 1036 (LiF), 740 (CsF), 568 (CsAsF6), 362 (CsAlX4 mit X = OC(CF 3 ) 3 ); vgl. S. 122). Als Folge hiervon sinkt die Differenz AAHGilter der Gitterenthalpie eines donorhaltigen und -freien Salzes mit der Anionengröße (für unendlich große Anionen geht AAHCMla gegen null). Bei wachsendem Raumbedarf der Anionen werden somit die erwähnten Komplexe ML deshalb stabilisiert, weil selbst ein kleiner Enthalpiebeitrag der Komplexbildung M + (g) + nD(g) -> ML + (g)inder Gasphase letztendlich größer als AAHo^ist (z.B. ist Ag(C 2 H 4 )^X " fürX~ = Cl" unbekannt, für X" = BF 4 bei 0°C nur unter Druck haltbar und für X" = A1{OC(CF3)3}" bei Raumtemperatur in N 2 -Atmosphäre beständig). Entsprechendes gilt auch für die - als ,,Coulomb-Explosion" bezeichnete - Dissoziation mehrfach geladener, mehratomiger Kationen in zwei weniger geladene, kleinere Kationen.
3° Literatur. I. Krossing, I. Raabe: „Nichtkoordinierende Anionen - Traum oder Wirklichkeit? Ein Überblick zu möglichen KandidatenAngew. C h e m 116 (2004) 2116- 2142 und zit. Lit.; Int. E d 43 (2004) 2066; J.Dupont, J.Spencer: ,,1,3-Dialkylimidazoliumsalze: Ionische Flüssigkeiten, aber keine unschuldigen Solventien", Angew. C h e m 116 (2004) 5408-5409; Int. E d 43 (2004) 5296; K. Binnemans: „Ionic Liquid Crystals", Chem. Rev. 205 (2005) 4148-4204; P. Wasserscheid: „Ionische Flüssigkeiten", Chemie in unserer Zeit 37 (2003) 52-63; J.H. Davis, Jr., P.A. Fox: „From curiosities to commodities: ionic liquids begin the transition", Chem. Commun. (2003) 1209-1212.
3. Die Acidität und Basizität
(a) [BF 4 ] -
TeF s
F.Te" TeF.
(e) [ B ( C 6 F 5 ) 4 r (• = CF)
Fig.84
(d) [CB 1 1 F 1 1 Me]" (• = BF, CMe)
(c) [Sb 2 F n ]"
(b) [SbF s ] -
257
TeF
NMe 4 XeFJ) stabilisieren (vgl. Kapitel der betreffenden Anionenzentralelemente). Des weiteren kann man mit ihnen die oben bereits erwähnten ionischen Flüssigkeiten K + A " erhalten mit K + z. B. Trimethylorganylammonium [NMe 3 R]+ (a) (R = Et, Bu, Hex),
258
VII. Die Molekülumwandlung
N-Butylpyridinium [C5H5NBu]+ oder 1,3-Butylmethylimidazolium [C 3 H 3 N 2 R 2 ] + (e) und A~ z. B. BF4, PFg , EtjPF^, CF 3 SO^ (s. o.). Die Salze mit dem Kation (e) sind in einem großen Temperaturbereich (bis — 80 °C) flüssig und thermisch wie chemisch stabil; sie verfügen über einen weiten Redoxstabilitätsbereich, eine hohe Dichte, eine relativ niedrige Viskosität und einen vernachlässigbar kleinen Dampfdruck. Sie werden in der Technik als fluide, umweltfreundliche Medien („grüne Lösungsmittel") für - unkatalytisch oder katalytisch durchgeführte - Synthesen, in der Spektroskopie und Elektrochemie, für den Umgang mit Nanomaterialien, bei Extraktions- und Trennverfahren benötigt.
Kapitel VIII
Der Wasserstoff und seine Verbindungen1
Der Wasserstoff (Atomnummer 1), der im Jahre 1766 von dem englischen Privatgelehrten Henry Cavendish (1731-1810) entdeckt wurde 1 , ist das leichteste und einfachst gebaute Element. Demgemäß hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm und seinen Verbindungen wesentlich zur Entwicklung des A t o m - und M o l e k ü l b e g r i f f s sowie zum Verständnis des Baus und der U m w a n d l u n g von A t o m e n und Molekülen beigetragen (vgl. vorstehende Kapitel) und u.a. zu der Hypothese geführt, dass alle Elemente aus Wasserstoff (genauer: aus seinen Bestandteilen) zusammengesetzt sind. Tatsächlich ist der zuletzt angedeutete Sachverhalt nicht nur formaler Art. Man nimmt nämlich an, dass bei der Entstehung des Weltalls durch einen ,,Urknall" primär neben kleineren Mengen Helium ausschließlich Wasserstoff gebildet wurde, der sich dann in der Folgezeit durch kernchemische Reaktionen teilweise in die übrigen Elemente umwandelte (vgl. S. 1917). So gehen die unendlich vielseitigen Erscheinungsformen der belebten und unbelebten Natur letztlich auf Wasserstoff zurück (,,Am Anfang war der Wasserstoff"). Im Folgenden wollen wir uns zunächst mit dem Vorkommen, der Darstellung und den physikalischen sowie chemischen Eigenschaften des n a t ü r l i c h e n Wasserstoffs, dann mit einigen b e s o n d e r e n F o r m e n des Wasserstoffs (atomarer, schwerer und superschwerer Wasserstoff, O r t h o - und Parawasserstoff) befassen, um uns schließlich den Verbindungen des Wasserstoffs mit den übrigen Elementen zuzuwenden. Aus letzteren gehen nach Substitution der Wasserstoffatome gegen andere Atome oder Molekülreste die als ,,Derivate" der Wasserstoffverbindungen bezeichneten weiteren Verbindungen der betreffenden Elemente hervor. Spielt demnach das Element Wasserstoff die Rolle eines Vaters aller Elemente, so kann man in den Wasserstoffverbindungen gewissermaßen die den mannigfaltigen Verbindungen eines Elements zugrundeliegenden „Muttersubstanzen" sehen.
1
1.1
Das Element Wasserstoff2
Vorkommen
Der Wasserstoff kommt in der unteren E r d a t m o s p h ä r e in freiem Z u s t a n d e nur spurenweise (5 x 10~ 5 Vol.-%) vor. Mit steigender Höhe nimmt der prozentuale Wasserstoffgehalt zu, bis in einigen 100 km Höhe die dort außerordentlich dünne Erdatmosphäre fast ausschließlich aus Wasserstoff besteht. In g e b u n d e n e m Z u s t a n d e ist der Wasserstoff als Bestandteil des Wassers (11.19 Gewichtsprozente Wasserstoff) und anderer Verbindungen weit verbreitet; und zwar ist im Durchschnitt jedes sechste Atom aller am Aufbau der Erdkruste (einschließlich der Wasser- und Lufthülle) beteiligten Atome ein Was1
2
Geschichtliches Der englische Naturforscher Robert Boyle (1627-1691) beschreibt im Jahre 1671 die Bildung eines ,,leichtbrennbaren Dampfes" als Folge der Einwirkung von Eisenpulver auf verdünnte Schwefelsäure und hatte damit wohl als erster Wasserstoff in Händen (die Ansicht, Paracelsus (1493-1541) habe Wasserstoff bereits gekannt, ist umstritten). Erst von Henry Cavendish wurde die aus Metallen und Säuren erzeugbare,,brennbare Luft" isoliert, sorgfältig charakterisiert und eingehend untersucht. Ihm wird deshalb die Entdeckung des Wasserstoffs zuerkannt. Der französische Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier (1743-1794) hat dann im Jahre 1783 für Wasserstoff den Namen Hydrogen ( = Wasserbildner; hydor (griech.) = Wasser) vorgeschlagen. Hiervon leitet sich das Elementsymbol H ab. Literatur. K . M . Mackay: ,,The Element Hydrogen, Ortho- and Para-Hydrogen, Atomic Hydrogen", Comprehensive Inorg. C h e m 1 (1973) 1 - 2 2 ; GMELIN: „Hydrogen", Syst. Nr. 2; ULLMANN: , H y d r o g e n " , A13 (1989) 297-442; A15 (1989) 1-61; KIRK-OTHMER: „Hydrogen", Vol. 13(1995) 838-949; W.E. Jones,S.D. MacKnight, L. Teng: „TheKinetics of Atomic Hydrogen Reactions in the Gas Phase", Chem. R e v 73 (1973) 407-440; P. Neta: ,,Reactions of Hydrogen Atoms in Aqueous Solutions", Chem. R e v 72 (1972) 533-543; M. Mackay, M.F. A. Dove: ,Deuterium and Tritium", Comprehensive Inorg. C h e m 1 (1973) 77-116; E.A.Evacer: „Tritium and its Compounds", Butterworth, London 1974; KIRK-OTHMER: ,Deuterium", „Tritium", Vol. 8 (1995) 1-30, Vol. 17 (1995), 405f.; C.L. Young: ,,Hydrogen and Deuterium", Pergamon, Oxford 1981. Vgl. auch A n m . 1 0 .
260
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
serstoffatom (entsprechend 0.74 Gewichtsprozenten Wasserstoff). Im Weltall ist der Wasserstoff das bei weitem verbreitetste Element (mittlere kosmische Dichte = 2 x 10~ 31 g/cm). So besteht etwa die Sonne ganz überwiegend (zu rund 80 A t o m = über 50 Gewichtsprozente) aus Wasserstoff, dessen unter riesiger Energieerzeugung erfolgende Umwandlung in Helium (die man in der ,, Wasserstoffbombe" nachzuahmen versucht) seit Jahrmilliarden der Erde Licht und Wärme spendet. Isotope. Der natürlich vorkommende Wasserstoff besteht zu 99.9855% aus dem Isotop }H (relative Atommasse 1.00782519), zu 0.0145% aus dem Isotop ^H (relative Atommasse 2.01410222) und zu 10-15 % aus dem Isotop 3 H (relative Atommasse 3.0160497); ihre Häufigkeiten verhalten sich also näherungsweise wie 1 : 10- 4 : 10-1 7 . Der in elementarer Form d i a t o m a r auftretende Wasserstoff setzt sich mithin hauptsächlich aus dem Molekülisotop }H2 sowie untergeordnet aus den Isotopen fH 2 , I H 2 , }HjH, }H 3 H und f H 3 H zusammen. Da die aus nur einer Isotopensorte aufgebauten Wasserstoffmoleküle }H2, I H 2 und 3 H 2 zudem in zwei verschiedenen Formen (Ortho- und Para-Form, s. weiter unten) existieren, besteht natürlicher Wasserstoff insgesamt aus neun verschiedenen Molekülsorten. Berücksichtigt man, dass die Wasserstoffisotope auch atomar und ionisch auftreten (H, D, T, H + , H", H 2 , H 3 ... H+5, D + , T + , D", T", D^, HD 2 usw.), so existieren über 50 verschiedene, wohl charakterisierte Wasserstoffformen
1.2
Darstellung 2
Als Ausgangsstoff zur W a s s e r s t o f f g e w i n n u n g eignet sich praktisch jede Wasserstoffverbindung. Die Darstellung von Wasserstoff erfolgt jedoch zweckmäßig aus W a s s e r H 2 O , das in praktisch unbegrenzten Mengen zur Verfügung steht, sowie auch aus M e t h a n C H (Erdgas) und anderen K o h l e n w a s s e r s t o f f e n C m H n , die in F o r m der,,fossilen Brennstoffe" Kohle, Erdöl und Erdgas - noch - reichlich zur Verfügung stehen. Zur großtechnischen Darstellung von Wasserstoff (Weltjahresproduktion 1996 um 37 Millionen Tonnen) dienen als Rohstoffquellen zu über 90% fossile Stoffe (insbesondere Erdgas und Erdöl, in geringerer Menge Kohle), die „Crack"-Prozessen, dem ,,Steam-Reforming"-Verfahren, der ,,partiellen Oxidation" bzw. der Vergasung, unterworfen werden (s.u.). Die technische H2-Gewinnung aus Wasser hat in Kombination mit der O2-Gewinnung (,, Wasser-Elektrolyse", s. u.) bisher nur untergeordnete, in Kombination mit der Cl2-Gewinnung („Chloralkali-Elektrolyse", S. 433) etwas größere Bedeutung.
Wasserstoffgewinnung aus Wasser Die Bindung von Wasserstoff und Sauerstoff ist im Wassermolekül s e h r f e s t und lässt sich nur durch Z u f u h r e r h e b l i c h e r E n e r g i e m e n g e n sprengen. 286.02 kJ + H 2 O (fl)
H2 + ^O2
bzw.
241.98 kJ + H 2 O (g)
H2+|02.
Die Energie kann dabei in verschiedenster Weise, z.B. in F o r m t h e r m i s c h e r , e l e k t r i s c h e r oder c h e m i s c h e r Energie zugeführt werden. Die „thermische Spaltung" des Wassers in seine elementaren Bestandteile gelingt nur bei s e h r h o h e n T e m p e r a t u r e n (vgl. S. 530) und spielt für die H 2 -Darstellung keine Rolle. Die elektrochemische Spaltung haben wir als besonders einfache Methode zur Zerlegung des Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff bereits auf S. 17 kennengelernt („Elektrolyse des Wassers"). Der Energieverbrauch zur Darstellung von 1 m 3 Elektrolysewasserstoff (neben j m 3 Sauerstoff), der in s e h r r e i n e r F o r m entsteht und deshalb f ü r katalytische Hydrierungen (z.B. Fetthärtung) verwendet werden kann (s. unten), beträgt immerhin rund 5 Kilowattstunden (kWh). Daher ist die technische Wasserstofferzeugung durch H 2 O-Elektrolyse nur in Ländern mit b i l l i g e n W a s s e r k r ä f t e n (Ägypten, Indien, Peru, Norwegen) lohnend. Im Hinblick auf die angestrebte technische Nutzung von Wasserstoff als (sekundärem) Energieträger in naher Z u k u n f t (,,Nach-Erdöl-Zeitalter") könnte allerdings die H 2 -Erzeugung aus Wasser langfristig größere Bedeutung erlangen Technisch verfährt man bei dieser Methode im Prinzip so, dass man (Fig. 85) mehrere hundert Zersetzungszellen hintereinanderschaltet und die erste Elektrode (Nickel) der ersten Zelle mit dem positiven, die letzte Elektrode (Eisen) der letzten Zelle mit dem negativen Pol der Stromquelle
1. Das Element Wasserstoff
261
verbindet, während die mittleren Elektroden aus anodenseitig vernickeltem Eisenblech als „bipolare" (d. h. in der einen Zelle als Kathode, in der benachbarten als Anode wirkende) Elektroden benutzt werden. Eine poröse, den Stromtransport gestattende Scheidewand (,,Diaphragma") verhindert in jeder Zelle die Vermischung des kathodisch gebildeten Wasserstoffs und anodisch entwickelten Sauerstoffs zu Knallgas Zwecks besserer Stromleitung wird das Wasser mit N a t r o n - oder Kalilauge versetzt (Spannung je Zelle rund 2 V; theoretische Zersetzungsspannung für eine 1-normale OH "-Lösung: 0.828 (H + ) + 0.401 (OH") = 1.229 V, S. 232). Die Elektrolysetemperatur beträgt hierbei 80-85°C. Auch wässerige Kochsalzlösungen werden zur Elektrolyse verwandt („Chloralkali-Elektrolyse", vgl. S.433). Der hierbei erzeugte Wasserstoff ist wegen seiner hohen Reinheit ein begehrtes Produkt.
Wasserstoff Sauerstoff Wasser
Diaphragma
© Kathode (Eisen)
Anode (Nickel)
Fig. 85 Schematische Darstellung der Wasserstoff- und Sauerstoffgewinnung durch Wasserelektrolyse
bipolare Elektrode
Für die chemische Spaltung des Wassers können alle Metalle, Halbmetalle und Nichtmetalle dienen, welche eine höhere Affinität zu Sauerstoff als der Wasserstoff haben. Das sind jene Elemente, deren Normalpotential n e g a t i v e r als das des Wasserstoffs ist (vgl. elektrochemische Spannungsreihe), deren Potential in s a u r e m Wasser (pH = 0) also negativer als + 0 V in n e u t r a l e m Wasser (pH = 7) negativer als - 0.414 V bzw. in a l k a l i s c h e m Wasser (pH = 14) negativer als — 0.828 V ist. Hierzu gehören (vgl. z. B. Tabellen 26 und 27 auf S. 202 und 215) - mit Ausnahme von Kohlenstoff - die Elemente der I . - I V . Hauptgruppe und darüber hinaus der Phosphor (alkalisches Milieu) aus der V . - VIII. Hauptgruppe sowie - mit Ausnahme der Metalle der Platingruppe, Kupfergruppe und des Quecksilbers - alle Elemente der Nebengruppen, Lanthanoiden und Actinoiden (s. dort). Ist das Normalpotential wie im Falle fast aller Nichtmetalle (z.B. Kohlenstoff) p o s i t i v e r als das des Wasserstoffs, so kann das betreffende Element Wasserstoff aus Wasser nur unter E n e r g i e z u f u h r in Freiheit setzen. Die Geschwindigkeit der Reaktionen von Wasser bzw. wässerigen Säuren oder Basen mit den Elementen, die aufgrund ihrer Stellung in der Spannungsreihe Wasserstoff entwickeln müssten, kann s e h r g r o ß bis v e r s c h w i n d e n d k l e i n sein. Der zum Teil langsame Reaktionsablauf beruht, wie bereits erwähnt wurde (S.233), u.a. auf der Ausbildung einer, den weiteren Elementangriff durch Wasser, Säuren oder Basen mehr oder weniger stark h e m m e n d e n S c h u t z s c h i c h t um das betreffende Element. Für die technische Darstellung von Wasserstoff k o m m t der Umsetzung von M e t a l l e n mit Wasser keine Bedeutung zu. In begrenztem U m f a n g diente die Zerlegung von Wasser durch E i s e n bei 500°C zur H 2 -Erzeugung (neben FeO entstehen auch andere Eisenoxide, vgl. S. 1644). F
Fe
Von technischer, heute wieder zunehmender Bedeutung ist demgegenüber die Spaltung von Wasser durch das Nichtmetall K o h l e n s t o f f (in F o r m von Koks, S.866), der sich bei 8 0 0 - 1 0 0 0 0 C mit Wasserdampf nach der Gleichung 131.38 kJ + H 2 O (g) + C ^
CO + H 2
262
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
zu einem als ,, Wassergas" oder „Synthesegas"3 bezeichneten Gasgemisch von Kohlenoxid und Wasserstoff umsetzt (es entsteht nebenbei auch etwas Kohlendioxid, vgl. S. 878). Dabei wird der E n e r g i e b e d a r f dieser endothermen Reaktion („Kohlevergasung") durch Teilverbrennung der Kohle gedeckt. Hierzu leitet m a n entweder a b w e c h s e l n d Luft und Wasserdampf über die Kohle, wodurch sich diese zunächst erhitzt („Heißblasen", „Blaseperiode"') und dann wieder abkühlt („Kaltblasen", „Gaseperiode"), oder m a n setzt gleich ein G e m i s c h von Sauerstoff und Wasserdampf ein. Die A b t r e n n u n g d e s K o h l e n o x i d s aus Wassergas erfolgt in der Technik in geschickter Weise so, dass m a n es (nach Entfernung schwefelhaltiger Verunreinigungen; vgl. S. 558) mit weiterem Wasserdampf unter N e u b i l d u n g v o n W a s s e r s t o f f zu Kohlendioxid oxidiert („Kohlenoxid-Konvertierung"): H 2 0 (g) + CO ^
H 2 + C 0 2 + 41.19 kJ,
welches sich zum Unterschied von CO unter Druck ( 2 5 - 3 0 bar) leicht mit Wasser, Methanol oder anderen Lösungsmitteln herauswaschen, durch Tiefkühlung abtrennen oder durch Basen (z.B. organische Amine, Kaliumcarbonat) chemisch binden lässt (Näheres vgl. S.662 beim Ammoniak). D a die CO-Konvertierung eine e x o t h e r m e Reaktion darstellt, verschiebt sich das Konvertierungsgleichgewicht mit a b n e h m e n d e n T e m p e r a t u r e n nach r e c h t s (vgl. S.897). Eine praktisch quantitative Ausbeute wäre bei Raumtemperatur zu erwarten. Bei dieser Temperatur ist jedoch die Umsatzgeschwindigkeit unmessbar klein. M a n führt die Reaktion dementsprechend in Anwesenheit von Katalysatoren durch, welche allerdings bestenfalls ab 200 °C genügend reaktionsbeschleunigend wirken. Die Gleichungen der Kohlevergasung und CO-Konvertierung ergeben addiert die Gesamtgleichung 90.19 kJ + 2 H 2 0 (g) + C ^
2H2 + C02.
In summa reagiert also Kohlenstoff mit dem Wasserdampf in endothermer Reaktion unter Bildung von Wasserstoff und Kohlendioxid. Für die Darstellung von Wasserstoff im Laboratorium können die Umsetzungen der Metalle Aluminium bzw. Silicium (eingesetzt als Ferrosilicium, s. dort) mit heißer Natronlauge genutzt werden: A1+ 0 H ~ + 3 H 2 0 -> Al(0H)4 + 1.5H 2 , Si + 2 0 H ~ + H 2 0 S i O + 2H 2 . Je 27 g (1 mol) Aluminium werden dabei 33.61 Wasserstoff (= 1.2 m 3 je kg Al) bzw. je 28 g (1 mol) Silicium 44.8 l Wasserstoff (= 1.6 m 3 H 2 je kg Si) entwickelt. Im allgemeinen verwendet man jedoch Zink, das sich mit verdünnter Salz- oder Schwefelsäure bereits bei Zimmertemperatur unter lebhafter Wasserstoffentwicklung umsetzt (mit Wasser reagiert es erst bei erhöhter Temperatur): Zn + 2 H s O +
Z n 2 + + 2 H 2 0 + H2.
Für die Reaktion nutzt man mit Vorteil einen „Kipp'schen Apparat" (vgl. Holleman-Wiberg, 101. Aufl., bzw. Lehrbücher der analytischen Chemie), der auch für die Entwicklung vieler anderer Gase wie C0 2 , 0 2 , Cl2, N 0 im Laboratorium geeignet ist. Heute entnimmt man allerdings die betreffenden Gase einfacher käuflich leicht erhältlichen Stahlflaschen mit Gasdruck-Reduzierventilen Dapraktischalle Nichtmetalle Wasser nur unter Energiezufuhr zu spalten vermögen (s. oben), spielen sie für die Wasserstoffdarstellung im Laboratorium keine Rolle. Eine gewisse Bedeutung zur Gewinnung kleiner Wasserstoffmengen hat die Umsetzung von Wasser mit Hydrid-Ionen (erhältlich durch Re
3
Mit Synthesegas bezeichnet man C0/H 2 -Gemische sowie auch N 2 /3H 2 -Gemische (für die NH 3 -Synthese). Für einige C0/H 2 -Gemische existieren auch andere Bezeichnungen (z. B. „ Wassergas" für C 0 / H 2 durch Kohlevergasung (s.o.), „Spaltgas" für C 0 / H 2 durch chemische Kohlenwasserstoffspaltung (S. 263). Synthesegas stellt die Rohstoffbasis zur Gewinnung von Wasserstoff (s. o.), Kohlenmonoxid (S. 896) sowie einigen großtechnischen Basisprodukten wie Ammoniak (S. 661), Methanol und 0xoalkoholen (S. 899) und (möglicherweise in naher Zukunft) Kohlenwasserstoffen (S. 899) dar
1. Das Element Wasserstoff
263
duktion von molekularem Wasserstoff mit elektropositiven Metallen wie Natrium oder Calcium), die insbesondere in Form des Calciumdihydrids CaH 2 eingesetzt werden: CaH 2 + 2 H 2 0
Ca(OH)2 + 2H 2 .
Der so erzeugte Wasserstoff kann u.a. zum Füllen meteorologischer Ballone dienen.
Wasserstoffgewinnung aus Kohlenwasserstoffen Die Kohlenwasserstoffe sind im Allgemeinen e x o t h e r m e Verbindungen, d . h . ihre Zerlegung in die Bestandteile Wasserstoff und Kohlenstoff kann nur unter E n e r g i e z u f u h r - wenn auch kleinerer als im Falle von Wasser (s. oben) - erfolgen z.B.: 74.86 kJ + C H 4 ^
C + 2H2.
Die Wasserstoffgewinnung aus Kohlenwasserstoffen, die für das Laboratorium keine Bedeutung hat, erfolgt in der Technik durch Z u f u h r t h e r m i s c h e r sowie c h e m i s c h e r E n e r g i e . Ausgangsprodukt der „thermischen Kohlenwasserstoffspaltung" ist die S t e i n k o h l e , welche sich bei 1100-1300 °C unter Luftausschluss („Verkokung") in K o k s 98 %iger Kohlenstoff), S t e i n k o h l e n t e e r ( = höhermolekulare Kohlenwasserstoffe) sowie - hauptsächlich aus W a s s e r s t o f f ( 6 0 - 6 4 Vol.-%) und M e t h a n ( 2 5 - 2 7 Vol.-%) bestehendes - K o k s o f e n g a s („Kokereigas") verwandelt. Aus dem Gas lässt sich durch Tieftemperaturfraktionierung (vgl. S. 500) Wasserstoff abtrennen. In entsprechender Weise lässt sich durch hohes Erhitzen von Erdölen („Cracken") Wasserstoff neben Kohlenstoff (Ruß, S.866) erzeugen. Bei der „chemischen Kohlenwasserstoffspaltung" verbindet m a n im Prinzip die thermische Kohlenwasserstoffspaltung mit einer Oxidation des hierbei gebildeten Kohlenstoffs, wobei der für den Oxidationsprozess benötigte Sauerstoff dem Wasser entnommen wird. Dabei ergibt sich für das Methan (aus Erdgasquellen bzw. Kokereigas) folgende Reaktionssummengleichung 206.2 kJ + C H 4 + H 2 O (g) ^
CO + 3 H 2 .
Ihr ist zu entnehmen, dass sich Methan und Wasser nur unter E n e r g i e z u f u h r in Wasserstoff und - seinerseits konvertierbares (s. oben) - Kohlenmonoxid umwandeln. H o h e Temperaturen begünstigen somit den Prozess der Bildung von C O / H 2 („Spaltgas", „Synthesegas"; vgl. Anm. 3 ). In der Praxis führt man die - gewissermaßen eine Kombination der Wasserstoffgewinnung aus Wasser und Kohlenwasserstoffen darstellende - Spaltung („Vergasung") von Erdöl und Erdgas in ,,Spaltröhren" aus Chrom-Nickel-Stahl bei 700-830°C und 40 bar in Anwesenheit eines Nickelkatalysators oder bei 1200-1500°C ohne Katalysator durch (Näheres vgl. S. 897). Im ersten Falle („katalytische Röhrenspaltung von Kohlenwasserstoffen", „Steam Reforming") verbleiben etwa 8 Vol.-%, in letzterem 0.2 Vol.-% Methan im Gleichgewicht (um das erreichte Gleichgewicht der unkatalysierten Spaltung,,einzufrieren", muss das Prozessgas sehr schnell abgekühlt werden). Die hohen Temperaturen des zweiten, insbesondere zur Umwandlung von Schwerölen aus Raffinerierückständen wichtigen (Texaco - bzw. Shell-) Verfahrens erzeugt man in geschickter Weise durch teilweise Verbrennung der Kohlenwasserstoffe mit Sauerstoff (,,partielle Oxidation" von Schweröl).
Reinigung und Transport von Wasserstoff Reiner Wasserstoff. Vor seiner Weiterverwendung (z.B. für Hydrierungen) muss der technisch aus Kohle, Koks, Erdöl, Erdgas und Wasser auf dem Wege der Kohlevergasung, Verkokung, chemischer Kohlenwasserstoffspaltung, Kohlenoxid-Konvertierung dargestellte Wasserstoff von verbliebenen Verunreinigungen (hauptsächlich H 2 S, CO, C O ) befreit werden, da sie z.B. die für Hydrierungen benützten Katalysatoren vergiften. Als Methoden zur Abtrennung des schwach sauer und reduzierend wirkenden Schwefelwasserstoffs aus Synthesegas (Anm 3 ) haben sich u.a. dessen Absorption in Methanol, dessen Bindung an Basen (festes ZnO bzw. Na 2 O; wässrige H 2 NCH 2 CH 2 OH- bzw. K 2 CO 3 Lösung) sowie dessen Oxidation zu Schwefel bewährt (z.B. oxidative Adsorption an Aktivkohle oder Eisen(III)-hydroxid). Kohlenoxid sowie Kohlendioxid können - nachdem die Hauptmenge im Synthesegas durch CO-Konvertierung und CO -Druckwäsche beseitigt wurde physikalisch durch Ausfrie
264
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
ren bei tiefen Temperaturen im Zuge einer Wäsche mit flüssigem Stickstoff oder chemisch durch Auswaschen mit einer ammoniakalischen Kupfer (I)-chlorid- oder -carbonatlösung unter Druck abgetrennt werden (vgl. hierzu NH 3 -Darstellung). Beide Kohlenoxide lassen sich auch auf dem Wege einer Umwandlung in Methan bei 250-350°C und 30 bar in Gegenwart eines Ni-Katalysators (CO + 3H 2 ^ CH 4 + H 2 O; CO 2 + 4H 2 ^ CH 4 + 2H 2 O; vgl. S. 899), welches sich leicht von Wasserstoff durch Ausfrieren trennen lässt, beseitigen. Höchstreiner Wasserstoff. Relativ reiner Wasserstoff entsteht bei der Elektrolyse von Wasser an Platinelektroden. Zur Gewinnung höchstreinen Wasserstoffs lässt man diesen bei 300 °C durch Palladium diffundieren (vgl. S. 290; die Verunreinigungen wandern nicht durch Pd) oder setzt ihn bei 250 °C mit Uran zu Urantrihydrid um (U + l j H 2 -> UH 3 ), welches nach Abpumpen der unumgesetzten Gasverunreinigungen in Umkehr seiner Bildung bei 500 °C im Vakuum wieder in Uran und Wasserstoff gespalten wird. In entsprechender Weise lässt sich Wasserstoff noch einfacher durch Umsetzen mit der Legierung LaN bei Raumtemperatur und anschließender Zersetzung des gebildeten Hydrids LaN maximal 6.7) bei etwas erhöhter Temperatur reinigen (vgl. S. 295). Transport In den Handel kommt Wasserstoff in (rot gestrichenen) Stahlbomben, in denen er unter einem Druck von 200 bar steht. Der Transport von H 2 erfolgt darüber hinaus als Gas bei Raumtemperatur in Rohrleitungen oder als Flüssigkeit bei — 253 °C in hochisolierten Drucktankwagen. Möglich erscheint in naher Zukunft ein Transport von „gespeichertem" Wasserstoff als,,Feststoff" in Form von Hydriden (z. B. LaNijH^, TiFeH x , MgNiH J ). Der größte Teil des synthetisierten Wasserstoffs wird allerdings direkt in den -erzeugenden Betrieben verbraucht
1.3
Physikalische Eigenschaften
Wasserstoff ist ein farb-, geruch- und geschmackloses, wasserunlösliches Gas. Durch sehr starke Abkühlung lässt er sich zu einer farblosen Flüssigkeit verdichten, welche bei — 252.76°C (20.39 K) siedet und bei — 259.19°C (13.96K) zu einer festen Masse (hexagonal-dichteste Packung der H 2 -Moleküle) erstarrt. Bei Drücken im Megabar-Bereich geht nichtmetallischer Wasserstoff in eine metallische Modifikation über (s. unten). - Der HH-Abstand im gasförmigen H 2 -Molekül beträgt 0.741 66 Ä. Dichte Da der Wasserstoff unter allen Stoffen die kleinste M o l e k ü l m a s s e (2.01594) besitzt, ist er das leichteste aller Gase. 1 Liter Wasserstoff wiegt bei 0°C und 1 atm 0.089870 g; die Luft besitzt demgegenüber unter gleichen Bedingungen ein rund 14 mal größeres Litergewicht von 1.2928 g. Dementsprechend zeigt der Wasserstoff in Luft eine Auftriebskraft von rund 1.2928 — 0.0899 = 1.2029 g je Liter oder 1.2029 kg je Kubikmeter. Er eignet sich somit als Füllgas für Luftballons und Luftschiffe. Zum Tragen von zwei Personen samt Ballon, Gondel und Ausrüstung sind 600 m 3 Wasserstoff (Auftrieb von 720 kg; Ballondurchmesser von 10—11 m) erforderlich; ein Zeppelinluftschiff benötigte seinerzeit etwa 250000m 3 . Nachteilig für die Verwendung von Wasserstoff als Füllgas ist seine B r e n n b a r k e i t und sein großes D i f f u s i o n s v e r m ö g e n (s. unten). Daher bevorzugt man jetzt Helium (s. dort) als Traggas. Auch im flüssigen und festen Zustande ist der Wasserstoff erheblich leichter als andere Stoffe. So beträgt die Dichte des flüssigen Wasserstoffs beim Siedepunkt 0.0700 g/cm 3 und des festen Wasserstoffs beim Schmelzpunkt 0.0763 g/cm 3 , was dem rund 800 fachen Wert der Dichte des gasförmigen Wasserstoffs entspricht Kritische Daten Lange Zeit hindurch hielt man den Wasserstoff - wie auch verschiedene andere Gase - für ein sogenanntes „permanentes Gas", d.h. ein Gas, das in keinen der beiden a n d e r e n Aggreg a t z u s t ä n d e übergeführt werden kann. Zu dieser Meinung gelangte man, weil alle Versuche, den Wasserstoff durch Druck zu verflüssigen, fehlschlugen, obwohl man Drücke bis zu mehreren tausend Bar anwandte. Heute weiß man, dass es für jedes Gas eine M a x i m a l t e m p e r a t u r gibt, oberhalb derer es auch durch noch so hohen Druck nicht verflüssigt werden kann. Diese Temperatur nennt man „kritische Temperatur". Man kann sich die Bedeutung dieser Temperatur wie folgt vergegenwärtigen: In einem geschlossenen G e f ä ß (Fig. 86) befinde sich eine Flüssigkeit unter ihrem eigenen Dampfdruck (S. 33). Bei bestimmter Temperatur T l hat die Flüssigkeit eine bestimmte Flüssigkeitsdichte rffl, der D a m p f eine wesentlich kleinere Dampfdichte dä. Erhöht man die Temperatur auf den Wert T2, so verdampft ein Teil der Flüssigkeit, bis der der Temperatur T2 entsprechend höhere Dampfdruck erreicht ist. Die D a m p f d i c h t e wird damit größer. Gleichzeitig n i m m dfl ab, weil sich die Flüssigkeit mit steigender Temperatur ausdehnt. Bei weiterer Temperaturerhöhung nimmt weiter z u dfl weiter ab. Schließlich kommt ein Punkt, bei dem dä = dfl wird. Flüssigkeit und D a m p f haben bei dieser Temperatur die gleiche Dichte, sodass kein U n t e r s c h i e d mehr zwischen beiden besteht. Die Temperatur, bei der dies der Fall ist, bezeichnet man als kritische Temperatur; die dazugehörige Dichte heiß kritische Dichte, der dazugehörige Druck kritischer Druck. Beim Wasserstoff beträgt die kritische Temperatur
1. Das Element Wasserstoff
:••:• dA
265
5 dd ;; dkrit
I ^fi I
%
V J / dd< dfi
d&< dfi
dd= dfi
T2
rkrit.
f
|
Temperatur
Fig. 86
Kritischer Zustand.
— 239.960C (33.19 K), der kritische Druck 13.10 bar und die kritische Dichte 0.0310 g / c ^ . Will man also den Wasserstoff verflüssigen, so muss man eine Temperatur von — 239.96 0C unterschreiten; es genügt dann ein Druck von 13.10 bar. In der Praxis erfolgt die Wasserstoffverflüssigung in analoger Weise wie die Verflüssigung der Luft (s. dort), wobei mit flüssiger Luft vorgekühlter Wasserstoff eingesetzt wird. Bei sehr hohen Drücken (3-4 Millionen bar) geht der Wasserstoff, wie man annimmt, in eine metallische Form über, bei der die intermolekularen HH-Abstände den intramolekularen HH-Abständen gleichen, sodass die Elektronen wie in einem Metall als delokalisiert betrachtet werden können. Möglicherweise enthalten die großen Planeten wie Jupiter (der zu 78 % seiner Masse aus Wasserstoff besteht) in ihrem Inneren solchen metallischen Wasserstoff. Diffusionsvermögen Unter dem Diffusionsvermögen von Gasen versteht man ihre Fähigkeit, sich auch durch poröses Material hindurch - in ein anderes Medium hinein auszubreiten. Die Ges c h w i n d i g k e i t dieser Diffusion ist bei gegebenen äußeren Bedingungen der Wurzel aus der molaren Masse des Gases umgekehrt proportional. Daher verhalten sich die Diffusionsgeschwindigkeiten zweier Gase umgekehrt wie die Wurzeln aus ihren molaren Massen: v1/v2 = | / M 2 / M 1 . Als leichtestes Gas diffundiert dementsprechend der Wasserstoff am schnellsten durch poröse Trennwände - z.B. das Material einer Ballonhülle (s. oben) - hindurch (gemäß obiger Beziehung 4-mal schneller als der Sauerstoff). Ja selbst durch Metalle wie Eisen, Platin oder Palladium diffundiert der Wasserstoff (allerdings nicht physikalisch, sondern chemisch; vgl. metallartige Wasserstoffverbindungen) verhältnismäßig leicht. Ein heißes Palladiumblech z. B. stellt für Wasserstoff praktisch kein Hindernis dar (für Helium besteht diese Durchlässigkeit nicht). Analoges wie für das Diffusionsvermögen gilt für das Effusionsvermögen des Wasserstoffs, also sein Entweichen aus Kapillaren. Wärmeleitvermögen Das Wärmeleitvermögen des Wasserstoffs ist wesentlich höher als das der Luft, da sich die leichteren Wasserstoffmoleküle wesentlich schneller bewegen als die schwereren Stickstoffund Sauerstoffmoleküle (vgl. oben), dabei aber gleichviel Energie pro Molekül transportieren (vgl. S. 30). Bringt man z.B. in einem mit Stickstoff gefüllten Glaszylinder eine Platinspirale auf elektrischem Wege gerade zum Glühen und verdrängt dann den Stickstoff durch Wasserstoff, so leuchtet die Spirale nicht mehr, weil sie in Wasserstoff weit mehr Wärme durch Leitung verliert als in Stickstoff. Löslichkeit Die Löslichkeit des Wasserstoffs in Wasser ist gering. 1001 Wasser lösen bei 0 0C und einem Druck von 1 atm = 1.013 bar 2.15 l Wasserstoff. In Alkohol ist die Löslichkeit etwas größer. Ein großes Lösungsvermögen für Wasserstoff besitzen dagegen viele Metalle (z. B. Pd) und Legierungen (z. B. LaNi 5 , TiFe), was zur Wasserstoffspeicherung genutzt werden kann (LaNi 5 nimmt H 2 bei Raumtemperatur und 8.5 atm bis zur Grenzzusammensetzung LaNi 5 H 6 7 auf, wobei die Wasserstoffdichte in der Legierung zweimal so groß wie in flüssigem Wasserstoff ist). Allerdings werden hierbei die H2-Moleküle nicht,,physikalisch", sondern „chemisch" unter Spaltung in H-Atome aufgenommen (vgl. S.282).
1.4
Chemische Eigenschaften
Thermisches Verhalten
Die Bindung zwischen den Wasserstoffatomen des Wasserstoffmoleküls ist s e h r s t a r k , sodass zur homolytischen Dissoziation der Wasserstoffmoleküle in Wasserstoffatome erhebliche Energiemengen benötigt werden: 436.22 kJ + H 2 ^
2H.
266
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
Dementsprechend gelingt die thermische Spaltung von Wasserstoffmolekülen erst bei relativ hohen Temperaturen (Kp für obiges Gleichgewicht bei 25°C = 1 0 ~ 7 1 mol/l). Beispielsweise sind gemäß folgender Tabelle T [Kelvin]
300
% Spaltung
10~
1500 34
10~
3
2000
3000
4000
5000
6000
0.081
7.85
62.2
95.4
99.3
selbst bei 3000 K 2700 °C) nur rund 8 % der Wasserstoffmoleküle gespalten (die Prozente beziehen sich auf einen Gesamtdruck p = pH2 + p H = 1.013 bar). Erst bei 6000 K liegt Wasserstoff praktisch vollständig in atomarer F o r m vor. D a die Außentemperatur der überwiegend aus Wasserstoff bestehenden Sonne etwa 6000 K beträgt, existieren hiernach an der Sonnenoberfläche im Wesentlichen nur Wasserstoffatome. Bei weiterer Erwärmung zerfallen dann die Wasserstoffatome bis 100000 K (Temperatur des Sonnenmantels) unter Abspaltung von Elektronen in Wasserstoff-Kationen (1312.14kJ + H ^ H + + e " ) , welche ihrerseits ab 10000000 K (Temperatur des Sonnenkerns) zu schwereren Atomkernen wie 2 H e zusammenschmelzen (S. 1917).
Säure-Base-Verhalten Energetisch noch aufwendiger als die homolytische H 2 -Dissoziation (1) ist die heterolytische Dissoziation (2) der Moleküle H 2 in Ionen H + und H e i n e Reaktion, die auch als H 2 Disproportionierung in die Oxidationstufen + 1 und — 1 beschrieben werden kann: 1675 kJ + H
2
^ H
+
+ H~.
(2)
Hiernach ist molekularer Wasserstoff eine extrem schwache Säure bzw. Base, das WasserstoffKation H + (Proton) bzw. -Anion (Hydrid) also eine überaus starke Säure bzw. Base. Das Gleichgewicht liegt selbst in Wasser, welches die gebildeten Ionen durch Hydratation beachtlich stabilisiert (A// H y d r f ü r H + — 1168, für H ca. —350J/mol), vollständig auf der linken Seite So berechnet sich aus der Säurekonstante für den Dissoziationsvorgang (Ks = = 10 " 3 9 mol2/l2) bei Berücksichtigung der für neutrales Wasser zutreffenden Protonenkonzentration (cH+ = 10 ~7 mol/l) eine Hydridionen-Konzentration von 10~ 32 mol/l. Demnach ist das Hydrid-Ion in Wasser nur bis zur unvorstellbar kleinen Konzentration von 10~32 mol/l existenzfähig und vereinigt sich bei höherer Konzentration mit den Protonen des Wassers unter Bildung molekularen Wasserstoffs. Aus diesem Grunde lösen sich die aus Metall-Kationen und Hydrid-Anionen aufgebauten Alkali- bzw. schweren Erdalkalimetallhydride (vgl. salzartige Hydride) in Wasser nur unter Zersetzung (z.B. NaH + H 2 0 -> NaOH + H 2 ; vgl. protochemische Spannungsreihe). Analog entziehen H"-haltige Metallhydride selbst extrem schwachen Säuren wie NH 3 oder CH 4 Protonen. Anders als lässt sich das Wasserstoff-Kation nicht in Form von Salzen isolieren, da das Proton als überaus starke Säure selbst mit extrem schwach basischen n-, a- und n-Elektronenpaaren reagiert (z.B. Bildung von HeH + , CHJ, CgH^ ; vgl. Protonenaffinität). Es entsteht aber durch Elektronenstoß im Massenspektrometer (S. 62) aus Wasserstoffmolekülen H 2 , auf dem Wege über das DiwasserstoffKationYL2 , welches teilweise in H + und H zerfällt. H + sowie H-^ vermögen als stark saure Teilchen H2-Moleküle unter Bildung von Triwasserstoff - bzw. Tetrawasserstoff-Kationen H 3 (a) bzw. H 4 + (c) zu addieren, wobei beide Kationen als Säuren weitere H 2 -Moleküle unter Bildung von H + (n = 5 — 11, 13,15) aufnehmen. Das vergleichsweise stabile Kation H 3 (H + + H 2 -> H^ + 424 kJ) stellt das einfachste Beispiel einer Verbindung mit Dreizentren-Zweielektronen-Bindung (3z2e-Bindung) dar (b). Es bildet sich offensichtlich auch beim Einleiten von -Gas in eine Supersäure als kurzlebiges Zwischenprodukt (vgl S.250) und vermag 1, 2 oder 3 H 2 -Moleküle an seine H-Atome zu addieren, wobei die H2-Bindungen senkrecht zur H 3 -Ringebene angeordnet sind (H 4 lagert in entsprechender Weise 1 oder 2 H2-Moleküle an seine H-Ringatome an): r
H // \\
/
_H
i
\H_
(a) H3
+
r
H i H
i H
(b) H3
+
rn 1 1 H
1 \ ,H—H / (c)
H4+
1. Das Element Wasserstoff
267
Die Fähigkeit des Wasserstoffs, sowohl wie die Alkalimetalle im einfach positiv, als auch wie die Halogene im einfach negativ geladenen Zustand existieren zu können, legt eine Einordnung des Wasserstoffs in beide angesprochenen Elementgruppen nahe. Wie nachfolgende Zusammenstellung veranschaulicht, ist jedoch die Ionisierungsenergie des Wasserstoffs erheblich höher als die des typischen Reduktionsmittels Lithium und die E l e k t r o n e n a f f i n i t ä t erheblich größer als die des typischen Oxidationsmittels Fluor; sodass der Vergleich von Wasserstoff mit den Alkalimetallen sowie Halogenen eher irreführend ist
Ionisierungsenergie [kJ/mol] Elektronenaffinität [kJ/mol]
H 1312 —73
Li 513 —60
F 1681 —328
Außer der Brönsted-Acidität/Basizität k o m m t dem Wasserstoff auch Lewis-Acidität/Basizität hinsichtlich von Metallfragmenten L„M (L = geeigneter Ligand) zu, mit denen er Komplexe des Typs L„M • H 2 bildet (Näheres S. 1748; vgl. hierzu auch Bildung von H + • H 2 , s. oben).
Redox-Verhalten Die charakteristischste chemische Eigenschaft des W a s s e r s t o f f s ist seine B r e n n b a r k e i t . Dagegen unterhält der brennbare Wasserstoff zum Unterschied vom nichtbrennbaren Sauerstoff (s. dort) nicht die Verbrennung: eine in Wasserstoffgas eingeführte Kerze erlischt. Entzündet m a n Wasserstoff an der Luft, so verbrennt er mit fahler, bläulicher, heißer Flamme zu Wasser 2 H 2 + 0 2 -> 2 H 2 O (fl.) + 572.04 kJ.
(3)
Bei Z i m m e r t e m p e r a t u r erfolgt die Vereinigung von Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser mit u n m e s s b a r g e r i n g e r G e s c h w i n d i g k e i t , da der molekulare Wasserstoff H 2 infolge seiner hohen Dissoziationsenergie (s. oben) recht reaktionsträge ist. Ein Gemisch von H 2 und 0 2 im Volumenverhältnis 2 : 1 kann m a n z.B. jahrelang aufbewahren, ohne dass es zu einer merklichen Umsetzung kommt. Dass aber auch bei dieser niedrigen Temperatur die Neigung zur Wasserbildung besteht, ersieht m a n daraus, dass bei Zugabe eines K a t a l y s a t o r s die Reaktion stattfindet. Lässt m a n ein Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch beispielsweise in Berührung mit wenig f e i n v e r t e i l t e m P a l l a d i u m - oder P l a t i n m e t a l l stehen, welche den Wasserstoff in atomarer F o r m lösen (vgl. metallartige Hydride), so erfolgt schon bei Zimmertemperatur in kurzer Zeit - oft unter Explosion - quantitative Bildung von Wasser. Der deutsche Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner (1780-1849) bediente sich schon im Jahre 1823 dieser katalytischen Wirkung des Platins zur Herstellung eines Feuerzeugs (,,Döbereiners Feuerzeug"). Bei diesem Feuerzeug wurde in ähnlicher Weise wie im Kipp'schen Apparat (s. dort) aus Zink und Säure Wasserstoff entwickelt, der durch eine Düse gegen fein verteiltes Platin strömte. Die bei der so katalysierten Wasserbildung freiwerdende Wärme brachte das Platin zum Glühen, sodass sich der ausströmende Wasserstoff entzündete. Bei e r h ö h t e r T e m p e r a t u r erfolgt die Wasserbildung aus H 2 und 0 2 auch ohne Gegenwart eines K a t a l y s a t o r s mit messbarer Geschwindigkeit. Erhitzt m a n z.B. ein Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch an einer Stelle durch Berühren mit einer Flamme auf etwa 600 °C, so k o m m t die Reaktion in Gang. Durch die hierbei frei werdende Wärme werden die Nachbarpartien der erhitzten Stelle zur Umsetzung angeregt. Die so in F o r m einer „Kettenreaktion" (vgl. Mechanismus der H 2 / 0 2 - R e a k t i o n ; S. 391) weitergeführte Umsetzung erzeugt ihrerseits Wärme usw., sodass sich die Umsetzung schließlich von der erhitzten Stelle ausgehend unter starker Temperatursteigerung e x p l o s i o n s a r t i g durch das ganze Gemisch hindurch fortsetzt („Knallgasexplosion"). Der dabei zu beobachtende laute Knall k o m m t dadurch zustande, dass der gebildete Wasserdampf infolge d e r m o m e n t a n entwickelten Reaktionswärme plötzlich ein viel größeres Volumen erlangt, als es das ursprüngliche Wasserstoff-Sauerstoff-Gemisch einnahm, sodass die Luft mit großer Gewalt weggestoßen wird.
268
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
Besonders heftig explodiert ein Gemisch, das Wasserstoff und Sauerstoff im stöchiometrischen Volumenverhältnis 2 : 1 enthält (bei L u f t statt Sauerstoff gilt das Volumenverhältnis 2 : 4.78, entsprechend 30Vol.-% H 2 ). Wasserstoff-Luft-Gemische, die weniger als 6 oder mehr als 67 Vol.-% Wasserstoff enthalten, detonieren nicht mehr. Wegen der Gefährlichkeit der Knallgasexplosion muss man sich beim Arbeiten mit Wasserstoff stets durch eine ,,Knallgasprobe" davon überzeugen, dass die verwendete Apparatur und das Wasserstoffgas luftfrei sind. Zu diesem Zwecke fängt man nach längerem Durchleiten von Wasserstoff etwas Gas in einem Reagensglas auf und bringt die Mündung des Glases an eine Flamme. Ist der Wasserstoff frei von Luft, so brennt er ruhig oder mit nur ganz schwachem Verpuffen ab. Erfolgt die Verbrennung dagegen mit pfeifendem Geräusch, so ist noch Knallgas vorhanden. Mischt man dem Wasserstoff erst im Moment des Entzündens den zur Verbrennung notwendigen Sauerstoff bei, so wird naturgemäß eine Explosion vermieden, da sich dann die Verbrennung wegen des Fehlens eines zündfähigen Gasgemisches nicht ausbreiten kann. Man bedient sich dieser Art der gefahrlosen Wasserstoffverbrennung zur Erzeugung hoher Temperaturen im „Knallgasgebläse". Bei diesem Gebläse (Fig. 87) werden die beiden Gase Wasserstoff und Sauerstoff mittels eines sogenannten „Daniell'schen Hahns" getrennt voneinander einer gemeinsamen Austrittsöffnung zugeführt, an der das entströmende Gasgemisch entzündet wird. Die Temperatur der Knallgasflamme kann bis zu 3000 °C betragen, sodass sich in dieser Flamme hochschmelzende Stoffe wie Platin Pt (Smp. 17720C), Aluminiumoxid A1 2 0 3 (Smp. 2050 0C), Quarz Si0 2 (Smp. 1550 0C) leicht schmelzen lassen (verwendet man Luft, so werden nur 20000C erreicht).
Fig. 87 Daniell'scher Hahn. Technisch wird das Knallgasgebläse in großem Umfang zum autogenen Schweißen und Schneiden von Metallen angewendet. Beim „autogenen Schweißen" wird zum Unterschied von der Nietung oder Lötung eine Schweißnaht aus dem Metall selbst erzeugt4. Zur Vermeidung einer Oxidation der Schweißstelle verwendet man einen Überschuss an Wasserstoff (4 bis 5 Vol. H 2 auf 1 Vol. O 2 ); die Temperatur der so erzeugten Flamme beträgt 2000 C). Höhere Temperaturen erreicht man bei der Ace ty len-Sauerstoff-Schweißung (C 2 H 2 + 2.5 0 2 2 C 0 2 + H 2 0 + 1300.5 kJ), der verbreitetsten Art der autogenen Schweißung, bei der man auf 3 Teile Acetylen 4 Teile Sauerstoff anwendet. Zur Schweißung dienen in beiden Fällen ,,Schweißbrenner" oder „Schweißpistolen", die nach Art des Daniellschen Hahns (Fig. 87) konstruiert sind und denen die Gase aus Stahlflaschen durch Druckschläuche zugeführt werden. Autogen schweißen lassen sich z.B. Kupfer, Messing, Bronze, Eisen, Nickel und Aluminium, aber z.B. kein Werkzeugstahl. Das „autogene Schneiden" und Durchbohren von Metallen geschieht in der Weise, dass man mit einem Schweißbrenner eine kleine Stelle zur Weißglut erhitzt und dann mit Sauerstoffüberschuss (Drosselung der Wasserstoff- bzw. Acetylen-Zufuhr) weiterbläst. Das Metall verbrennt zu Oxid, welches weggeblasen wird, und die dabei auftretende Verbrennungswärme liefert die erforderliche Schmelzhitze. Das Verfahren des autogenen Schneidens liefert einen scharfen, sauberen Schnitt und wird in der Technik zum Schneiden von Panzerplatten, Ausschneiden von Kesselböden, Durchlochen von Profileisen, Demontieren alter Brücken und Schiffe usw. angewendet. Wie mit Sauerstoff vereinigt sich der Wasserstoff auch mit fast allen anderen Elementen E x zu Wasserstoffverbindungen E H . Ist dabei das Element wie im Falle des Sauerstoffs (s. oben), der Halogene oder des Stickstoffs elektronegativer als der Wasserstoff, so erfolgt die Bildung der Wasserstoffverbindung formal unter Oxidation des Wasserstoffs (Reduktion des Elements), ist es wie im Falle der Alkali- oder Erdalkalimetalle weniger elektronegativ, so erfolgt die Bildung des Elementwasserstoffs unter Reduktion des Wasserstoffs (Oxidation des Elements), z.B.: ±o ±o H 2 + C\2 ±o ±0 H2 + 2Na
4
-
+1-1 2 HCl ++ 1 - 1 2NaH
-3 +1 ±o ±o 3H2 + N2 2NH3 ±0 +2 -1 ±0 H 2 + Ca -» C a H 2
autos (griech.) = selbst; gennan (griech.) = erzeugen.
1. Das Element Wasserstoff Wasserstoff vermag demgemäß sowohl als Reduktionsmittel wirken
als auch als Oxidationsmittel
269 zu
Die unter Z u f u h r von Wasserstoff ablaufenden und deshalb auch als ,,Hydrierungen" bezeichneten Umsetzungen des Wasserstoffs mit den Elementen erfolgen bei Raumtemperatur - ähnlich wie beim Sauerstoff bereits besprochen (s. oben) - häufig noch unmessbar langsam. Man führt sie zur Reaktionsbeschleunigung deshalb im allgemeinen bei höheren Temperaturen durch und katalysiert sie darüber hinaus in vielen Fällen (als ,,Hydrierungskatalysatoren" eignen sich u.a. die Metalle der VIII.Nebengruppe; insbesondere Fe, Co, Ni, Pd, Pt werden verwendet). So lässt sich etwa die Einfachbindung des Chlors (Cl—Cl) erst oberhalb 100°C, die D o p p e l b i n d u n g des Sauerstoffs (O=O; vgl. S. 501) erst oberhalb 400°C und die D r e i f a c h b i n d u n g des Stickstoffs ( N = N ) erst bei so hohen Temperaturen mit messbarer Geschwindigkeit hydrierend spalten, dass man zur Darstellung von Ammoniak aus den Elementen auf die Verwendung eines Katalysators (Fe) angewiesen ist (vgl. Darstellung von NH 3 ). Auch die technisch wichtigen Hydrierungen organischer ungesättigter Verbindungen (z.B H 2 + ^ C = C C -> ^CH—CHC; 2H 2 + ^ C = 0 -> ^CH 2 + H 2 O) können meistens nur in Anwesenheit von Katalysatoren durchgeführt werden. (Bezüglich weiterer Einzelheiten der Umsetzungen von Elementen mit Wasserstoff vgl. die Darstellung der Elementwasserstoffe, weiter unten.) Außer mit den Elementen reagiert der Wasserstoff auch mit vielen Elementverbindungen EY n (Y = elektronegativer Verbindungspartner), und zwar im Allgemeinen unter R e d u k t i o n des betreffenden Elements. So entzieht er vielen Metalloxiden EO„ den Sauerstoff unter Bildung von Wasser. Leitet m a n z.B. Wasserstoff über erhitztes Kupferoxid, so wird letzteres zu metallischem Kupfer reduziert: CuO + H 2 -> Cu + H 2 O . In entsprechender Weise können M e t a l l h a l o g e n i d e EHal„ durch Wasserstoff in Metalle und Halogenwasserstoffe übergeführt werden, z.B. Palladiumdichlorid in Palladium und Chlorwasserstoff: PdCl 2 + H 2 -> Pd + 2HCl. D a letztere Reaktion in wässrigem Medium - ausnahmsweise - selbst bei Raumtemperatur rasch abläuft, nutzt m a n sie als T e s t r e a k t i o n a u f W a s s e r s t o f f . In einigen Fällen beobachtet m a n als Folge der Einwirkung von Wasserstoff auf Elementverbindungen aber auch eine O x i d a t i o n des (elektropositiven) Elements. So setzt sich etwa die Iridium(I)Verbindung IrClL 3 (L = Ligand) unter , , o x i d a t i v e r A d d i t i o n " von Wasserstoff bereits bei Raumtemperatur zur Iridium (III)-Verbindung H 2 I r C l L 3 um.
1.5
Verwendung, Brennstoffzellen
Der größte Teil des technisch erzeugten Wasserstoffs (Jahresweltproduktion im zig Megatonnen-Bereich) dient zur Synthese von Ammoniak (s. dort). Technisch von großer Bedeutung sind weiterhin Hydrierungen von Kohlenstoffverbindungen wie etwa die Hydrierung von Kohle, Erdöl und Teer zu Benzin, die Hydrierung von Kohlenoxid zu Alkoholen oder Kohlenwasserstoffen und die Hydrierung öliger Fette zu festen Fetten (,,Fetthärtung"). Erwähnt sei schließlich der Einsatz von Wasserstoff zur Synthese von Chlorwasserstoff (s. dort), als Treibstofffür Raketen, als Brenngas für Kraftfahrzeuge oder Kraftwerke z.B. in Brennstoffzellen (s.u), als Heizgas, als Reduktionsmittel zur Darstellung von Metallen (z.B. Mo, W, Co, Ge) aus den Oxiden und zum autogenen Schweißen und Schneiden (s. oben). Die angesprochenen Brennstoffzellen5 sind Primärbatterien (S.237), welche die im Zuge der Wasserstoffverbrennung (3) freigesetzte chemische in elektrische Energie umwandeln. Der als ,,elektrochemische Verbrennung" bezeichnete Vorgang stellt die Umkehrung der zur H 2 -Darstellung genutzten ,, Wasserelektrolyse" dar (S. 260). Eine - in Fig. 88 schematisiert wiedergegebene - Brennstoffzelle liefert dadurch kontinuierlich Strom, dass man einer porösen, elektronenleitenden Elektrode kontinuierlich Wasserstoff als Brennstoff, der anderen porösen, elektronenleitenden Elektrode Sauerstoff als Oxidationsmittel zuführt und gebildetes Wasser als Reaktionsprodukt kontinuierlich abführt; die beiden Elektroden sind durch einen ionendurchlässigen, aber elektronen- und gasundurchlässigen Elektrolyten voneinander
5
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270
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
H2
2H+ +
^
20
(3a) (3b)
Vi o 2 + 2 e H2 + V O2
H 2 O + Energie
(3)
(H 2 O)
poröse Anode
gasdichter Elektrolyt
poröse Kathode
Fig.88 Brenstoffzelle (schematisch). Gebildetes Wasser tritt im Falle von H + -Wanderung bei der Kathode, im Falle von O 2 ~-(OH~-)Wanderung bei der Anode aus. Bezüglich der Potentiale für die Teilreaktion (3a) und (3b) in sauren, neutralen, alkalischen Medien vgl. S. 232.
getrennt (die erste ,,H 2 /O 2 -Batterie" konstruierte Grove im Jahre 1839). Den Ablauf der in Fig.88 aufgeführten Redoxteilrektionen (3a) und (3b) ermöglichen dabei auf den porösen Elektroden aufgebrachte Katalysatoren (Edelmetalle, Raney-Nickel, Wolframcarbid, Molybdän- oder Wolframsulfide usw.) Die Tab. 34 informiert über Elektroden, Elektrolyte, Betriebstemperaturen und Anwendungsbereiche technisch entwickelter Brennstoffzellen (die Einzelzellen werden über dipolare Platten (S. 260) zu Stapeln (,,stacks") zusammengeschaltet, um höhere Spannungen und Stromausbeuten zu erlangen). Ersichtlicherweise klassifiziert man die Brennstoffzellen nach ihren Elektrolyten, wobei man sie zudem in Nieder- und Hochtemperaturzellen unterteilt (50-200°C bzw. 600-1000°C). Brennstoffzellen können zur stationären oder mobilen Stromerzeugung genutzt werden (z.B. in Kraftwerken, Mehrfamilienhäusern, Kraftfahrzeugen, Schiffen, Bahn, Kleintragegeräten). Der Betrieb der Zellen ist unvermeidlich mit Abwärme verbunden, auch verlässt immer ein kleiner Teil des Brenngases die Anode elektrisch unverbrannt. Zur Erhöhung des Gesamtwirkungsgrades kombiniert man demgemäß Brennstoffzellen in Kraftwerken mit brenngas- sowie dampfgetriebenen Turbinen (mit der Abwärme lässt sich z.B. auch ein Fernwärmenetz betreiben). Probleme für H 2 -betriebenen Fahrzeuge sind das hohe Gewicht der Wasserstoffspeicher, die verhältnismäßig kleinen Reichweiten, die mit ,,vollgetanktem" Speicher erreicht werden können, und das Fehlen der nötigen Wasserstoff infrastruktur. Für einen kostengünstigen Betrieb einer Brennstoffzelle benötigt man billigen Brennstoff. Demgemäß benutzt man bisher fossile Stoffe, die durch thermische oder chemische Kohlenwasserstoffspaltung in der weiter oben beschriebenen Weise (S. 262) zunächst in H 2 und CO-haltiges Synthesegas, dann durch nachträgliche CO-Konvertierung in Wasserstoff verwandelt werden. Da CO ein Gift für viele Elektroden
Tab. 34 Technisch entwickelte Brennstoffzellen (engl. fuel cells) zur elektrochemischen Verbrennung von Wasserstoff mit Sauerstoff oder Luft zu Wasser (MCFC verbrennt zudem Kohlenmonoxid zu Kohlendioxid). BrennstoffZellen' 0
Anode
Elektroden"' Kathode
AFC PEMFC PAFC MCFC SOFC
Ni, Pt Pt, Ru, C Pt, C Ni-LiCrCO Ni, Z r 0 2
Ag Pt, C Pt, C LiFe Li^Sr^MnOJ
Typ
Elektrolyten Matrix
30% K O H Asbest lonenleiter 9 5 % H 2 P O 4 Teflon L CO Teflon lonenleiter
Wanderg. K OH — —
• JH + JH entdeckt. to proton (griech.) = das Erste; to deuteron (griech.) = das Zweite; to triton (griech.) = das Dritte.
274
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
Tab. 3
Einige Kenndaten von leichtem, schwerem und superschwerem Wasserstoff.
Eigenschaften
H2
HD
Smp. beim Tripelpunkt [K] a ) Sdp Dampfdruck beim Smp Torr Schmelzenthalpie kJ/mol Verdampfungsenthalpie beim Sdp kJ/mol Sublimationsenthalpie beim Smp kJ/mol Dissoziationsenergie bei 298 kJ/mol Dissoziationsenergie bei 0K [kJ/mol] Nullpunktsenergie kJ/mol Kernabstand [Ä]
13.957 16.60 18.73 18.5 19.7 20.62 20.390 22.13 23.67 23.6 34.3 25.04 55.1 92.9 128.5 124.6 142.9 162.0 0.117 0.159 0.197 0.250 0.904 1.076 1.226 1.393 1.029 1.524 1.645 436.2 439.6 443.6 440.9 445.5 447.2 432.2 435.7 439.8 437.0 441.4 443.2 26.0 22.5 18.5 21.3 16.8 15.2 0.74166 0.74136 0.74164 0.74164
D2
HT
DT
t2
a Alle Wasserstoffarten kristallisieren aus der zugehörigen Flüssigkeit als hexagonal-dichtest gepackte Festkörper aus b) Die Nullpunktsenergie (s. dort) ist die Schwingungsenergie, die dem Kern eines Moleküls in dessem niedrigsten Schwingungszustand bei 0 K verbleibt (Näheres S. 344).
Richtung H 2 -> D 2 zunehmenden Dissoziationsenergie (vgl. Tab. 35) der leichte Wasserstoff bei 2000 K zu 0.000813%, der schwere aber nur zu 0.000746% in Atome zerfallen. Schwerer Wasserstoff D 2 kann wie schweres Wasser D 2 O (S. 533) zur Herstellung deuterierter Verbindungen (etwa von Metalldeuteriden M D ) dienen (z.B. M + j D 2 - > M D „ ; 2Li 3 N + 3D 2 -> 6 LiD + N 2 ). Mit H 2 , H O , NH 3 , CH 4 usw. reagiert D 2 an feinverteiltem Pt- oder Ni-Kontakt bis zu einem Gleichgewicht unter Bildung isotop substituierter Moleküle (HD, HDO usw.). Hierbei sollte etwa die Deuterierung von Protium gemäß H 2 + D 2 ^ 2HD zu einem Produktgemisch mit gleichen Mengen H 2 und D 2 sowie der doppelten Menge HD führen, falls die Reaktion thermoneutral, d. h. ohne Zufuhr oder Abgabe von Energie verlaufen würde. Die Gleichgewichtskonstante hätte dann den Wert: Kc = CHD/cH2CD2 = 22/1 ' 1 = 4 . Tatsächlich ist jedoch die HD-Dissoziationsenergie nicht gleich der mittleren Dissoziationsenergie von H 2 und D 2 , sondern kleiner (vgl. Tab. 35), sodass zur Überführung von und in HD Energie aufgewendet werden muss 0.6 kJ + H 2 + D 2 ^
2HD.
Entsprechend dieser Gleichung ist das Gleichgewicht t e m p e r a t u r a b h ä n g i g und verschiebt sich mit fallender Temperatur zugunsten der linken Seite. Beim absoluten Nullpunkt liegen dementsprechend ausschließlich H 2 undD 2 vor = 0). Mit steigender Temperatur setzen sich dann zunehmende Mengen von HD mit H 2 und D 2 ins Gleichgewicht, wobei sich die Gleichgewichtskonstante Kc der Reaktion zunehmend dem Wert 4 nähert. Bei Raumtemperatur beträgt Kc = 3.26. (Zum Mechanismus der Reaktion vgl. auch „Erhaltung der Orbitalsymmetrie", S. 402.)
Ortho- und Parawasserstoff 2,9 Wie dem Elektron so kann m a n auch dem Proton ein mechanisches und magnetisches Spinm o m e n t so zuordnen, als ob die Protonenladung in ständiger Rotation in einer bestimmten (m s = + 1 / 2 ) oder entgegengesetzten Richtung (m s = —1/2) begriffen sei. Tatsächlich ist der Kernspin wie der Elektronenspin (S. 95) als notwendige Konsequenz der relativistischen Quantentheorie keiner anschaulichen Deutung zugänglich. Beim H 2 -Molekül können nun die Kernspins (Symbol f ) der beiden Kernprotonen innerhalb der Elektronenhülle ungepaart ( | | ) oder gepaart ( | | ) sein (Fig. 91). Im ersten Falle spricht m a n von der,,symmetrischen" oder ,,OrthoF o r m " („Orthowasserstoff"; resultierendes magnetisches M o m e n t etwa doppelt so groß wie das eines Protons), im zweiten Falle von der ,,antisymmetrischen" oder , , P a r a " - F o r m („Parawasserstoff"; resultierendes magnetisches M o m e n t gleich Null). Als Folge der vektoriellen Addition von Spinbeiträgen der einzelnen Nukleonen können Atomkerne einen Spin („Kernspin") aufweisen und sind dann der Kernspinresonanz-Spektroskopie (vgl. S. 170) zu9
Geschichtliches Die Existenz von o- und p - H 2 folgerten D . M . Dennison und R. Mecke 1924 aus spektroskopischen Studien. W. Heisenberg lieferte dann 1927 eine quantenmechanische Interpretation (,,Kernspin des Protons") des Sachverhalts
1. Das Element Wasserstoff
275
Elektronenhülle
Atomkerne Orthowasserstoff
Parawasserstoff
Fig. 91 Spin (t) der Atomkerne im Wasserstoffmolekül.
gänglich. Und zwar ist der Gesamtspin bei Kernen mit gerader Zahl von Protonen und zugleich Neutronen (gg-Kerne) stets Null, während er bei Kernen mit gerader (ungerader) Zahl von Protonen und zugleich ungerader (gerader) Zahl von Neutronen (gu- und ug-Kerne) halbzahlige Werte im Bereich 1 / 2 bis 9 / 2 (selten höher) und bei Kernen mit ungerader Zahl von Protonen und zugleich Neutronen (uu-Kerne) ganzzahlige (kleine) Werte aufweist. Nun macht sich die eben erwähnte Art der Molekül-Isomerie (vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie) bei allen Molekülen bemerkbar, die aus zwei ganz gleichartigen Atomen aufgebaut sind und deren Kerne einen Spin aufweisen (also keine gg-Kerne). So findet man sie z.B. auch beim D 2 und T 2 , aber nicht beim HD oder beim 1 6 0 2 . Darstellung O r t h o w a s s e r s t o f f (o-H 2 ) und P a r a w a s s e r s t o f f (p-H 2 ) haben einen verschiedenen Energieinhalt und hängen durch die Gleichgewichtsbeziehung o-H
p-H 2 + 0.08 kJ
miteinander zusammen. Entsprechend dieser Gleichung, nach welcher die O r t h o f o r m in Übereinstimmung mit dem auf S. 95 erwähnten Pauli-Prinzip die energiereichere ist, ist das Gleichgewicht temp e r a t u r a b h ä n g i g und verschiebt sich mit fallender T e m p e r a t u r zugunsten der rechten Seite (Fig. 92). Beim a b s o l u t e n N u l l p u n k t liegt dementsprechend reiner P a r a w a s s e r s t o f f vor. Mit steigender T e m p e r a t u r setzen sich zunehmende Mengen von O r t h o w a s s e r s t o f f mit der Paraform ins Gleichgewicht, bis bei Zimmertemperatur 75 % Ortho- und 25 % Paraform vorliegen. Dieser Sachverhalt lässt sich mit dem Gesetz der Gleichverteilung der Energie (S. 30) von Molekülen unterschiedlichen Energiegehalts bei ausreichend hohen Temperaturen (Energiedifferenzen < Wärmeenergie) erklären: o-H 2 kann als ,,Triplett"-Molekül (vgl. Ausführungen auf S. 97) drei Zustände, p-H 2 als ,,Singulett"-Molekül nur einen Zustand einnehmen. Demgemäß enthält Diprotium H 2 bei Raumtemperatur drei Volumenanteile des geringfügig energiereicheren Ortho- und ein Volumenanteil Para-Wasserstoff. Die Einstellung des Gleichgewichts bei den verschiedenen Temperaturen erfolgt bei Abwesenheit von Katalysatoren nur a u ß e r o r d e n t l i c h langsam und erfordert Jahre. Aus diesem Grunde lassen sich Ortho- und Parawasserstoff, deren physikalische Eigenschaften sich geringfügig voneinander unterscheiden (s. unten) auf physikalischem Wege bei tiefen Temperaturen voneinander trennen. So kann etwa durch wiederholte Ad- und Desorption von normalem Wasserstoff^ an Aluminiumoxid bei 20.4 K und 50 mbar der adsorptionsfreudigere Orthowasserstoff o-H 2 in 99 %iger Reinheit gewonnen werden. Bei Gegenwart geeigneter K a t a l y s a t o r e n findet die gegenseitige Umwandlung von Ortho- und Parawasserstoff selbst bei sehr tiefen Temperaturen in wenigen M i n u t e n statt. Ein sehr guter Katalysator ist z.B. Aktivkohle. Lässt man gewöhnlichen Wasserstoff bei 20 K in Berührung mit aktiver Kohle stehen, so kann man nach kurzer Zeit einen 99.7%igen P a r a w a s s e r s t o f f absaugen, wie erstmals K.F. Bonhoeffer und P. Harteck im Jahre 1929 zeigten.
0 10 20 ;) 30 I 40 )
I 50 | 60 :
70 80
Fig. 92 Temperaturabhängigkeit des Ortho-Parawas serstoff-Gleichgewichts
90 100,
60 80 100 120 140 160 180 200 220 240 260 280 300 K absolute Temperatur •
276
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
Beim Deuterium D 2 ist nicht wie beim leichten Wasserstoff H 2 die Ortho-, sondern die P a r a f o r m die energiereichere, sodass bei tiefen Temperaturen O r t h o d e u t e r i u m gebildet wird. Das Gleichgewichtsgemisch bei Zimmertemperatur besteht zu 2 / 3 aus Ortho- und zu 7 3 aus Paraform. Beim Deuteriumwasserstoff HD sind in Übereinstimmung mit der weiter oben angeführten Regel keine verschiedenen Sorten bekannt. Tritium T 2 besteht wie H 2 bei Zimmertemperatur zu 75 % aus o-T2 und zu 25 % aus p-T 2 . Eigenschaften Parawasserstoff hat ebenso wie der Orthowasserstoff andere physikalische Eigenschaften als der natürliche. So besitzt p-H 2 z.B. eine höhere spezifische Wärme, was man zur genauen Analyse von Ortho-Para-Wasserstoffgemischen benutzen kann. Weiterhin unterscheiden sich z.B. Schmelzpunkte, Siedepunkte, D a m p f d r ü c k e und Dissoziationsenergien, wie aus Tab. 36 hervorgeht Para- und Orthowasserstoffkönnenin Abwesenheit von Katalysatoren bei Zimmertemperatur wochenlang in Glasgefäßen ohne merkliche Umwandlung in das Gleichgewichtsgemisch a u f b e w a h r t werden (s. oben). Die Gleichgewichtseinstellung wird durch Erhitzen auf 800-1000°C, durch elektrische Entladungen, durch a t o m a r e n Wasserstoff oder durch Katalysatoren beschleunigt. Als Katalysatoren sind paramagnetische Stoffe (z.B. molekularer Sauerstoff, Stickstoffmonoxid NO, Platinschwarz, Mn2 + -Ionen) wirksam, wobei die Umwandlung umso schneller verläuft, je größer der Paramagnetismus des Katalysators ist. Daher kann die Beschleunigung der Umwandlung z.B. von Para- in Orthowasserstoff zum Nachweis paramagnetischer Stoffe dienen. Tab. 36
Einige Kenndaten von Ortho- und Parawasserstoffen.
Property
p-H2
o-H
Smp. beim Tripelpunkt [K] Sdp Dampfdruck beim Smp Torr Dissoziationsenergie bei 298 kJ/mol Dissoziationsenergie bei 0K [kJ/mol] Anteile in H 2 (D2) bei Raumtemp. [%] a )
13.813 20.273 52.8 436.23 432.24 25
14.05 20.454 55.1 436.15 430.82 75
p-D 18.78 23.66 443.64 439.10 33.3
o-D 18.69 23.53 128.5 443.64 439.81 66.7
a) T 2 enthält bei Raumtemperatur 25% p-T 2 und 75% o-T 2
2 2.1
2.1.1
Verbindungen des Wasserstoffs (Überblick) 2 1 0 Grundlagen
Systematik
Abgesehen von den Edelgasen bildet der Wasserstoff mit j e d e m E l e m e n t E mindestens eine W a s s e r s t o f f v e r b i n d u n g der Summenformel E H , wobei allerdings von einigen wenigen i ° Literatur. E.Wiberg, E.Amberger: , H y d r i d e s of the Elements of the Main Croups I - V I I " , Elsevier, Amsterdam 1971; K . M . Mackay: ,, Hydrides", Comprehensive Inorg. Chem.,1 (1973) 23-76; E.L. Muetterties: ,, Transition Metal Hydrides", Dekker, New York 1974; H. Peisl: ,, Wasserstoff in Metallen", Physik in unserer Zeit 9 (1978) 37-45; ULLMANN: ,,Hydrides", A U (1989) 199-226; J.C. Green, M . L . H . Green: ,,Transition Metal Hydrogen Compounds", Comprehensive Inorg. Chem. 4 (1973) 355-452; COMPR. COORD. CHEM. I/II: ,,Hydrogen and Hydrides as Ligands" (vgl. Vorwort); W. Bronger: ,Komplexe Übergangsmetallhydride", Angew. C h e m 103 (1991) 776-784; Int. E d 30 (1991) 759; M.Y. Darensbourg, C.E. Ash: „Anionic Transition Metal Hydrides", Adv. Organometal. C h e m 27 (1987) 1 - 5 0 ; R . G . Pearson: „The Transition-Metal-Hydrogen-BondChem. R e v 85 (1985) 41-49; L. Schlapbach: ,,Hydrogen in Intermetallic Compounds", Springer, Berlin 1988; R . H . Crabtree, P.M.Siegbahn, O. Eisenstein, A.L. Reingold, T.F. Koetzle: ,,A New Intermolecular Interaction: UnconventialHydrogen Bonds with Element-Hydride Bonds as Proton Acceptors", Acc. Chem. R e s 29 (1996) 348-354; I. Alkorta, I. Rozas, J. Elguero: ,,Non-Conventional Hydrogen Bonds", Chem. Soc. R e v 27 (1998) 163-170; S. Aldrige, A.J. Jones: , Hydrides of the Main Croup Metals: New Variation of an Old Theme", Chem. Rev. (2001) 3305-3366; W. Crochala, P.P. Edwards:,, Thermal Decomposition of the Non-Interstitial Hydrides for the Storage and Production of Hydrogen", Chem. R e v 204 (2004) 1283-1316; F. Schüth, B. Bogdanovic, M. Felderhoff: ,,Light metal hydrides and complex hydrides for hydrogen storage", Chem. Commun. (2004) 2249-2259.
2. Yerbindungen des Wasserstoffs (Überblick)
277
Nebengruppenelementen bisher nur Addukte L m • EH n der betreffenden Elementwasserstoffe mit geeigneten Elektronendonormolekülen („Liganden"): L wie : P R 3 oder : CO bekannt sind. Der Index n kann in E H Werte bis 4, in L m E H n Werte bis 7 annehmen. In den Elementwasserstoffen trägt der Wasserstoff teils p o s i t i v e , teils n e g a t i v e Ladungsanteile, je nachdem die mit Wasserstoff verbundenen Elemente elektronegativer oder weniger elektronegativ als der Wasserstoff sind. Somit k o m m t Wasserstoff in Yerbindungen die Oxidationsstufen + 1 und —1 zu. Die Grenze zwischen beiden Yerbindungstypen, die gemäß der Elektronegativitätswerte (s. dort) f o r m a l zwischen B und Si, P und S, As und Se, Te und I, At und R n verläuft, lässt sich - sofern m a n auch chemische Einsichten (z.B. Säure-BaseYerhalten) berücksichtigt - nicht scharf ziehen. Insbesondere hängt die Polarität des Wasserstoffs auch davon ab, ob das dem Hydrid zugrundeliegende Element E nur mit Wasserstoff oder wie bei den metallartigen bzw. höheren kovalenten Hydriden (s. dort) zusätzlich mit weiteren Elementen verknüpft ist. In letzteren Fällen ist der Wasserstoff weniger negativiert bzw. mehr positiviert als in ersteren Fällen. Häufig betrachtet m a n - mehr oder weniger willkürlich - die Wasserstoffverbindungen von B, Si, Ge, Sn, Pb sowie der links hiervon im Periodensystem stehenden Elemente als solche mit negativ polarisiertem Wasserstoff und die Wasserstoffverbindungen von C, P, As, Sb, Bi sowie der rechts hiervon stehenden Elemente als solche mit positiv polarisiertem Wasserstoff. Demgemäß ergeben sich dann die Oxidationsstufen der Zentralelemente von E H in B H 3 zu + 3, in C H 4 zu —4, in S M 4 , G e H 4 , SnH 4 sowie P b H 4 zu + 4 und in P H , A s H 3 , S b H 3 sowie BiH 3 zu —3. N u r am Rande sei erwähnt, dass Übergangsmetallverbindungen Lewis-Säure-Base-Komplexe LWM 0
E — H ö + ••• E
a) AgH, AuH, InH 3 , PbH 4 und H 2 Po wurden bisher nur in Spuren in der Gasphase nachgeweisen, HgH 2 , TlH 3 und HAt sind noch unsicher. b Bezugszustand: EH„, ScH 2 , Y H 2 , LaH 2 , TiH 2 , ZrH 2 , H f f l ^ 7 , NiH 0 5 , PdH 0 5; Temperatur von 25°C; alle an der Bildung beteiligten Stoffe im bei 25°C stabilen Zustand (Gase unter 1.013 bar Druck). Die Bildungsenthalpien beziehen sich also insbesondere auf polymeres Kupferhydrid V^(CuH).^ Polymeres Berylliumhydrid Vx(BeH 2 ) I , dimeres Boran V2(BH 3 ) 2 ,Polymeres Alan ^ ( A H ^ , flüssiges Wasser V ^ ( H O ^ , p o l y m e r e n Fluorwasserstoff 1 /x(HF^. Bildungsenthalpien monomerer gasförmiger Elementhydride; CuH +243, AgH +285, A u H +310, BH 3 +100, A l H 3 ca. +150, H 2 0 - 2 4 2 , H F - 2 7 1 kJ/mol. c) Bezogen auf jeweils 1mol gasförmiges monomeres Hydrid E H . Dissoziationsenergien für Elementmonohydride: MgH 218, C a H 167, SrH 163, BaH 176, Z n H 85, CdH 69, HgH 40, BH 293, AlH 285, G a H 276, InH 243, TlH 188, CH 339, SiH 314, GeH 322, SnH 314, PbH 176, N H 352, PH 297, OH 427, SH 245 kJ/mol. d) Bei den exothermen salzartigen Hydride beziehen sich die Zersetzungstemperaturen auf p Hx = 1 bar (Plateauregien; vgl. Fig. 93 auf S. 286). e) Wasserstoffzersetzungsdruck bei Raumtemperatur für NiH 0 9 : 3400bar, für P d H 0 5 : 0.5mbar. 0 Entsprechund sind von den Lanthanoiden Ln metallartige Hydride L n H < 2 < 3 bekannt ( E u H < 3 fehlt; E u H 2 und Y b H 2 sind salzartig). Von den Actinoiden An kennt man bisher folgende metallartige Hydride A n H < 2 < 3 : AcH., 2; PaH< 3 , U H < 3 , NpH., 3 , PuH., 3 , A m H < 3 . Bildungsenthalpien: L n H 2 um - 2 1 0 , A n H 2 um - 1 6 0 k J / m o l .
ordinationszahl von H = drei) und oktaedrischer Umgebung der Magnesium-Kationen mit Hydrid-Ionen (vgl. Fig. 53 auf S. 126). Bindungsverhältnisse Die gefundenen, für Salze charakteristischen Strukturen der Alkali- und Erdalkalimetallhydride (ohne BeH 2 ) sprechen f ü r einen ionischen Aufbau der Verbindungen. Betrachtet m a n allerdings die D i f f e r e n z d e r E l e k t r o n e g a t i v i t ä t e n der Metalle und des - in jedem Falle elektronegativem - Wasserstoffs (maximal 1.3 (CsH), minimal 1.0 (MgH 2 )) und dem sich daraus errechnenden prozentualen Ionencharakter der Metall-Wasserstoff-Bindungen (maximal ca. 30 %, minimal ca. 18 %; vgl. Elektronegativität, S. 145), so würde m a n eher kovalenten Verbindungsbau erwarten. Tatsächlich stützen noch eine Reihe anderer Befunde die Vorstellung eines ionischen Aufbaus der Alkali- und Erdalkalimetallhydride (ohne BeH2): So stimmen gefundene und berechnete Gitterener-
282
VIII.
Der Wasserstoff und seine Verbindungen
gien einigermaßen überein, wenn man der Rechnung einen ionischen Yerbindungsaufbau zugrunde legt, z.B.:
Gitterenergie [kJ/mol]
gef.: ber.:
LiH
NaH
KH
MgH 2
Ca
Sr
913 929
810 800
712 707
2709 2805
2428 2512
2261 2269
Darüber hinaus leitet geschmolzenes Lithiumhydrid (Smp. 692 °C) den Strom ähnlich gut wie andere, aus einwertigen Anionen und Kationen zusammengesetzte, geschmolzene Salze. Bei Stromdurchgang wird der Wasserstoff dabei an der Anode entwickelt. Eine ähnliche Beobachtung macht man im Falle der übrigen, salzartigen Hydride (einschließlich EuH 2 , YbH 2 ), die zwar - wegen ihrer hohen Schmelzpunkte - nicht mehr ohne Zersetzung in den flüssigen Aggregatzustand übergeführt, aber in geeigneten Salzschmelzen (LiCl/KCl: Smp. 360°C; NaOH: 318°C) unzersetzt gelöst und elektrolysiert werden können Die aus den Strukturbestimmungen der salzartigen Wasserstoffverbindungen abgeleiteten und nach folgend zusammengestellten ,,Radien der Hydrid-Ionen" unterscheiden sich auffallend und sind insgesamt viel kleiner als der Radius für das ungebundene H~ (ca. 2Ä):
^ m h [Ä] rH-[Ä]
LiH
NaH
KH
RbH
CsH
MgH 2
CaH 2
SrH2
BaH2
EuH 2
YbH 2
2.04 1.14
2.45 1.29
2.86 1.34
3.03 1.37
3.20 1.39
1.95 1.09
2.32 1.06
2.49 1.09
2.67 1.11
2.45 1.06
2.32 1.04
Die Radienverkleinerung geht wohl zum Teil auf die hohe Kompressibilität des Hydrid-Ions zurück. Zum Teil beruht sie aber sicher auch auf einer starken, den Übergang einer Ionen- in eine Atombindung dokumentierenden Polarisation des Hydrid-Ions. Demgemäß hat das Hydrid-Ion gerade in jenen Wasserstoffverbindungen, deren Metall-Kationen besonders elektropositiv und wenig geladen sind (RbH und CsH), einen besonders großen Radius (der H-Atomradius beträgt 0,37 Ä). Tatsächlich folgt aus Neutronenbeugungsuntersuchungen, dass im Lithiumhydrid das Außenelektron des Lithiums nicht vollständig, sondern nur zu 88 % auf den Wasserstoff übergegangen ist. Demgemäß bietet sich f ü r die salzartigen Wasserstoffverbindungen also folgendes B i n d u n g s m o d e l l an. Die Bindungspartner sind durch I o n e n b i n d u n g e n m i t k o v a l e n t e n B i n d u n g s a n t e i l e n verknüpft. Letztere nehmen in Richtung CsH -> LiH bzw. B a H 2 -> M g H 2 bzw. Alkali -> Erdalkalimetallhydride zu. Magnesiumhydrid steht, wie aus der vergleichsweise h o h e n A b w e i c h u n g des berechneten vom gefundenen Wert der I o n e n g i t t e r e n e r g i e (s.oben) bzw. n i e d r i g e n K o o r d i n a t i o n s z a h l des Hydrid-Ions im I o n e n g i t t e r (drei) hervorgeht, bereits an der Grenze zu den kovalenten Wasserstoffverbindungen.
Metallartige Wasserstoffverbindungen Strukturverhältnisse Den metallartigen Wasserstoffverbindungen, zu denen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die Übergangsmetallhydride zählen (vgl. Tab. 37), liegen typische M e t a l l s t r u k t u r e n zugrunde, in welche atomarer Wasserstoff eingelagert ist (s. unten). M a n rechnet die Yerbindungsgruppe deshalb auch zu den (Wasserstoff-) ,,Einlagerungsverbindungen" (,,interstitielle Verbindungen"). Da sich mit der Einlagerung von Wasserstoff in die betreffenden Metalle im Allgemeinen die Metallstruktur ändert, stellen die metallartigen Hydride keine Einlagerungsverbindungen im strengen Sinne dar. Nur verschwindend wenig Wasserstoff wird jeweils von den betreffenden Metallen ohne Änderung ihrer Struktur unter Bildung ,,echter Einlagerungsverbindungen" in oktaedrischen Lücken aufgenommen. Die Löslichkeit des Wasserstoffs in den Metallen nimmt mit steigender Temperatur zu, beträgt aber selbst oberhalb von 500°C im Allgemeinen nicht mehr als zehn Atomprozente (MH < 0 J . Mit am meisten Wasserstoff lösen Yanadium, Niobium und Tantal ohne Änderung ihres kubisch-raumzentrierten Gitters (Grenzstöchiometrie bei Raumtemperatur: YH 0 05 , NbH 0 t ls TaH 0 22 ; bei 200°C MH). ' ' ' In den metallartigen Hydriden besetzt Wasserstoff oktaedrische und tetraedrische Lücken einer (zum Teil etwas verzerrten) k u b i s c h - bzw. h e x a g o n a l - d i c h t e n M e t a l l a t o m p a c k u n g (Koordinationszahl des Wasserstoff = sechs, vier). D a jede aus « Kugeln ( = Metall-
2. Yerbindungen des Wasserstoffs (Überblick)
283
atome) bestehende dichte Packung n oktaedrische bzw. 2n tetraedrische Lücken aufweist (vgl. Metallstrukturen), ergibt sich im Falle der metallartigen Wasserstoffverbindungen bei Besetzung a l l e r o k t a e d r i s c h e n Lücken die Grenzzusammensetzung M H , bei Besetzung aller t e t r a e d r i s c h e n Lücken die Grenzzusammensetzung M H und bei Besetzung sowohl aller o k t a e d r i s c h e n als auch t e t r a e d r i s c h e n Lücken die Grenzzusammensetzung M H 3 . In der von den metallartigen Hydriden allgemein b e v o r z u g t e n S t r u k t u r sind die Metallatome k u b i s c h - d i c h t ( = kubisch-flächenzentriert) g e p a c k t , und die Wasserstoffatome besetzen t e t r a e d r i s c h e L ü c k e n . Tatsächlich ist dieser Verbindungsaufbau nicht ideal verwirklicht, da Wasserstoff statt in tetraedrischen Lücken zu einem kleinen, mit wachsenden Temperaturen steigenden und von Metall zu Metall verschiedenen Prozentsatz auch in ok taedrischen Lücken lokalisiert ist. Sind a l l e Tetraederlücken mit Wasserstoff gefüllt, so lässt sich die Struktur von nunmehr vorliegendem M H _ gemäß dem auf S. 125 Besprochenen - auch als Fluoritstruktur (CaF 2 -Struktur) deuten: jede übernächste kubische Lücke einer kubisch-primitiven H - A t o m p a c k u n g ist mit M besetzt. Diese - in vielen Fällen tatsächlich realisierbare - i d e a l e Stöchiometrie kann jedoch zum Teil beachtlich u n t e r s c h r i t t e n werden (Teilbesetzung der Tetraederlücken mit M), ohne dass die Metallphase instabil würde. So existieren f ü r die Hydride des Titans, Zirconiums bzw. Hafniums folgende Stabilitätsbereiche: T i H 1 0 _ 2 . 0 , Z r H 1 > 5 _ 2 . 0 , H f H x 7 _ 2 0 . Die Grenzstöchiometrie kann aber wie im Falle von Yttriumdihydrid sowie der Lanthanoid- und Actinoidhydride (mit Ausnahme von E u H 2 ) auch dadurch ü b e r s c h r i t t e n werden, dass Wasserstoff nicht nur alle tetraedrischen, sondern zusätzlich oktaedrische Lücken besetzt. Beschreibt m a n die M H 2 - S t r u k t u r als Fluritstruktur (s. oben), so besteht der Übergang in die M H 3 - S t r u k t u r in der Auffüllung der noch leeren kubischen Lücken mit H - A t o m e n Dabei lassen sich die Oktaederlücken bei den leichteren Lanthanoiden (La-Nd) vollständig (Grenzstöchiometrie M H ) , bei Yttrium und den schwereren Lanthanoiden (Sm-Lu) sowie Actinoiden (ab Np) jedoch nur teilweise mit Wasserstoff auffüllen (z.B. bis zur Grenzstöchiometrie SmH2.55, HoH 2 24 , ErH 2 3 u YbH 2 55). Bei höheren Wasserstoffgehalten bilden sich bei Yttrium und in den zuletzt genannten Fällen neue Hydridphasen aus, in welchen die Metallatome nicht mehr kubisch-dicht, sondern (verzerrt) hexagonal-dicht gepackt sind und der Wasserstoff alle tetraedrischen sowie zusätzlich oktaedrische Lücken besetzt (Grenzstöchiometrie MH ). Bindungsverhältnisse. Ein charakteristisches Merkmal der zur Diskussion stehenden Hydride stellt ihre elektrische Leitfähigkeit dar. Diese lässt sich durch ein, die wahren Verhältnisse allerdings stark vereinfachendes B i n d u n g s m o d e l l erklären, wonach die Metallatome der metallartigen Hydride M H sowohl miteinander als auch mit Wasserstoffatomen über M e t a l l b i n d u n g e n (s. dort) verknüpft sind. Chemisch vermag der im Metall bewegliche Wasserstoff (vgl. physikalische und chemische Eigenschaften) sowohl wie h y d r i d i s c h e r Wasserstoff (Wasserstoffentwicklung bei Säureeinwirkung, z.B. U H 3 + 3HC1 -> UC1 3 + 3 H 2 ) als auch wie p r o t i s c h e r Wasserstoff zu wirken (z.B. kathodische H 2 -Entwicklung bei der Elektrolyse von Titan- bzw. Palladiumwasserstoff).
Kovalente Wasserstoffverbindungen Strukturverhältnisse Den kovalenten Wasserstoffverbindungen, zu denen die Hydride des Berylliums sowie der Elemente der I . - I I . Neben- und I I I . - V I I . Hauptgruppe zählen (Tab. 37), liegen M o l e k ü l s t r u k t u r e n zugrunde, welche in einfacher Weise aus der Zahl der den Elementen E in ihren Verbindungen zukommenden bindenden und nichtbindenden Elektronenpaaren folgen (vgl. Regeln von Gillespie und Nyholm, S. 313). F ü r die monomeren kovalenten Hydride E H der 12.-16. Elementgruppe ergeben sich hiernach folgende M o l e k ü l g e s t a l t e n (Koordinationszahl von H in jedem Falle eins; für Strukturen höherer Elementwasserstoffe E m H„ vgl. die Verbindungskapitel der betreffenden Elemente):
284
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen 2.- bzw. 12.-
13.-
14.-
H
H I
H—E—H H /
linear
trigonal-planar
15.-
16.-Gruppe
pyramidal
gewinkelt
HAH tetraedrisch
Der B i n d u n g s w i n k e l H E H beträgt mithin im Falle der m o n o m e r e n kovalenten Wasserstoffverbindungen von Elementen der 2. (12.)-14. G r u p p e (z.B. Be, Zn, B, Al, C, Si) 180, 120 bzw. 109.5°.Im Falle der Wasserstoffverbindungen von Elementen der 15. und 16. G r u p p e (z. B. N, P, O, S) erreicht der HEH-Bindungswinkel - wie auf S. 318 bereits besprochen wurde - nicht ganz den Tetraederwinkel (109.5°). Er verkleinert sich zudem mit steigender Ordnungszahl des Gruppenelementes bis auf 90° (vgl. Tab. 38). Die Gestalt der aus den ungeladenen Elementwasserstoffen durch Protonierung, Deprotonierung bzw. Hydridionen-Anlagerung hervorgehenden geladenen Elementwasserstoffe lässt sich ähnlich wie bei diesen aus der Zahl bindender und nichtbindender Elektronenpaare folgern. Hiernach sind etwa die aus HF, H O bzw. NH 3 durch P r o t o n i e r u n g gebildeten Ionen H 2 F + , H 3 0 + bzw. NH 4 gewinkelt, pyramidal bzw. tetraedrisch, die aus CH 4 bzw. NH 3 durch D e p r o t o n i e r u n g erhaltenen Ionen CH^ bzw. NH 2 pyramidal bzw. gewinkelt und die aus BH 3 bzw. AlH 3 durch H"-Anlagerung hervorgehenden Ionen BH 4 bzw. AlH 4 tetraedrisch gebaut. Die Tab. 38 enthält einige EH- und E E - B i n d u n g s l ä n g e n der kovalenten Wasserstoffverbindungen E H und E 2 H W (zum Vergleich sind auch Abstände in einigen Elementen E x wiedergegeben). Ersichtlicherweise nehmen die - nicht nur für E H , sondern in guter Näherung allgemein für E m H w gültigen - EH-Abstände innerhalb einer E l e m e n t p e r i o d e (z.B. C H 4 , N H 3 , H O , H F ) ab, innerhalb einer E l e m e n t g r u p p e (z.B. C H 4 , S M 4 , G e H 4 , SnH 4 ) zu. In gleicher Richtung ändern sich die - häufig als Bezugsgrößen bei vergleichenden Bindungsabstandsbetrachtungen benutzten - EE-Abstände. Erhöhte Ordnung einer Bindung führt naturgemäß zu einer Bindungsverkürzung. Die kovalenten Hydride von Elementen der 12. und 13. sowie 15., 16. und 17. Gruppe des Langperiodensystems existieren - wie an anderen Stellen bereits eingehend besprochen wurde (S.164, 160) - über Wasserstoff verbrückt {Koordinationszahl von H gleich zwei) als mehr oder weniger starke Assoziate (Di-, Oligo-, Polymere; z.B. (BH 3 ) 2 , (AlH 3 ) JC , ( G a H 3 ) 2 , (NH 3 ) X , (H 2 O) X , (HF) 6 , (HF) X ), die bei ausreichend kleinen Drücken oder hohen Temperaturen in Monomere übergehen.
Tab.38 Einige Bindungslängen und -winkel in Wasserstoffverbindungen und freien Elementen (aus Kovalenzradien berechnete EE-Abstände (vgl. Anh.V) sind kursiv gedruckt). EH-Abstände und HEH-Winkel in Wasserstoffverbindungen E H Molekül NmH„, BmH„) genutzte Yerfahren sowie für Einzelheiten der EH„-Darstellung durch Hydrogenolyse, Protolyse und Hydridolyse vgl. die Wasserstoffverbindungen der betreffenden Elemente.
Elementwasserstoffgewinnung durch Hydrogenolyse Fast alle einfachen Elementwasserstoffe E H lassen sich durch Hydrogenolyse nach folgender Summengleichung gewinnen xEx + f H 2 ^
EH
der
Elemente
n-
Handelt es sich hierbei um einen endothermen Prozess (vgl. Tab.37, S.281), so muss zur Yerschiebung des Gleichgewichts nach rechts bei erhöhter Temperatur oder mit aktiviertem (nascierendem, kathodisch entwickeltem, atomarem) Wasserstoff gearbeitet werden. D a jedoch exotherme Hydrogenolysen von Elementen unter Normalbedingungen im allgemeinen noch sehr langsam ablaufen, führt m a n letztere ebenfalls bei höherer Temperatur und häufig in Anwesenheit eines Katalysators durch. Zur günstigen Beeinflussung des durch die Temperaturerhöhung sich in diesem Fall nach links verschiebenden Gleichgewichts kann m a n zusätzlich unter Wasserstoffdruck arbeiten, wenn es sich um eine unter Gasvolumenverminderung ablaufende Reaktion handelt
286
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
So setzen sich unter den Hauptgruppenelementen nur die (gasförmigen) Nichtmetalle Fluor, Chlor und Sauerstoff sowie die (fein verteilten) Metalle Calcium, Strontium und Barium auch in Abwesenheit von Katalysatoren ohne äußere Energiezufuhr mit molekularem Wasserstoff (im Fall von Cl2 und 0 2 nach „Zündung" des Gasgemischs) zu den besonders exothermen Verbindungen HF, HCl und H 2 0 sowie CaH 2 , SrH 2 und BaH 2 um. Erst bei höherer bis sehr hoher Temperatur entstehen demgegenüber die weniger exothermen bzw. endothermen einfachen Wasserstoffverbindungen der Elemente Brom (Hydrogenolyse bei 150-300 0 C, Pt bzw. Aktivkohle als Katalysator), Iod (vgl. Brom), Schwefel (ab 300°C, MoS 2 , Bimsstein bzw. V 2 0 5 als Katalysator), Selen (3500C), Tellur (6500C), Stickstoff (5000C, 200 bar, Fe als Katalysator), Phosphor (vgl. Stickstoff), Arsen (vgl. Stickstoff), Kohlenstoff (3500 °C; statt CH 4 entsteht endothermes Acetylen C 2 H 2 im elektrischen Lichtbogen), Silicium (1500 0C), Germanium (10000C), Aluminium (1100-1300°C), Gallium (um 11500C), Indium (um 1050°C), Magnesium (500°C, 200 bar oder 450°, 70 bar, Mgl 2 als Katalysator), Lithium (600-700 0C) bzw. Natrium-Cäsium (250-600°C). Wasserstoff in statu nascendi (s.dort) kann beispielsweise zur Bildung der endothermen Wasserstoffverbindungen H 2 Po, AsH 3 , SbH 3 , BiH3 oder SnH 4 aus Polonium, Arsen, Antimon, Bismut oder Zinn sowie aus Verbindungen dieser Elemente genutzt werden (vgl. Marsh'sche Arsenprobe), kathodisch freigesetzter Wasserstoff zur Synthese von Tellurwasserstoff aus Tellur (Elektrolyse von 15-50 %iger H 2 S 0 4 unter Verwendung einer Tellurkathode). Die Einwirkung von atomarem Wasserstoff u.a. auf Blei bzw. Thallium liefert deren (besonders endotherme) Wasserstoffverbindungen in Spuren. Auch die bei sehr hohen Temperaturen gebildeten Wasserstoffverbindungen des Kohlenstoffs, Siliciums, Germaniums, Aluminiums, Galliums, Indiums entstehen offenbar durch Reaktion der (gasförmigen) Elemente mit atomarem Wasserstoff, der sich bei den gewählten hohen Temperaturen in sehr kleiner Menge im Gleichgewicht mit molekularem Wasserstoff befindet. Der atomare Wasserstoff ist auch an der unkatalysierten Bildung von Wasserstoffverbindungen der Nichtmetalle bei niedrigeren Temperaturen beteiligt (vgl. z.B. Bildung von Halogenwasserstoffen, Wasser S. 390 und 391). Durch Synthese aus den Elementen werden in der T e c h n i k insbesondere A m m o n i a k sowie die Metallhydride gewonnen. Über Einzelheiten der Ammoniakdarstellung soll im Zusammenhang mit den Wasserstoffverbindungen des Stickstoffs berichtet werden (s. dort). Hier sei auf die Bildung der Metallhydride etwas näher eingegangen: In der Fig. 93 ist der vom H 2 - D r u c k abhängige Verlauf der Wasserstoffaufnahme von Metallen bzw. Legierungen bei festgelegten Temperaturen dargestellt (,,Isothermen" der Metallhydrogenolyse). Ersichtlicherweise nimmt das bei den gewählten Reaktionstemperaturen (T 1 bzw. r 2 in Fig. 93) mit Wasserstoffgas in Berührung stehende feste oder bereits flüssige Metall zunächst Wasserstoff unter Bildung einer festen oder flüssigen Lösung auf (Region der „Lösungsphase", ,,a-Phase"). Die vom Metall gelöste Wasserstoffmenge steigt mit wachsendem Wasserstoffdruck etwas an, bis die von der gewählten Temperatur abhängige und sich mit zunehmender Temperatur zu hö heren Wasserstoffgehalten verschiebende Grenze der Wasserstofflöslichkeit erreicht ist (Fig.93): Grenzzusammensetzung M H a bei 7 \ und MH & bei T2.
0.2
0.4
0.6
0.8
1.0
1.2
1.4
Wasserstoffaufnahme (mol H/mol M)
1.6
1.8
Fig. 93 Isothermen der vom Wasserstoffdruck abhängigen Bildung von Metallhydriden MH < 2 (T> T2> 7\): Der Bereich der Hydridphase kann bei metallartigen Hydriden beachtlich sein; bei den salzartigen Hydriden ist er sehr klein oder ver schwindet ganz. In letzteren Fällen sind also die Grenzstöchiometrien MH a ,, und MHb,, praktisch gleich der idealen Stöchiometrie (zum Beispiel wurde für Magnesiumdihydrid eine Grenzstöchiometrie M g H > 1 9 9 aufgefunden).
2. Yerbindungen des Wasserstoffs (Überblick)
287
Die weitere Wasserstoffaufnahme erfolgt nun innerhalb einer mehr oder weniger breiten Region bei konstantem Wasserstoffdruck (Region der Mischphase, ,,Plateauregion", Fig. 93: a!a' bzw. bjb'). Hierbei bildet sich die mit der Lösungsphase nicht mischbare Hydridphase des Metalls. Letztere weist bis zur vollständigen Umsetzung der Lösungs- in die Hydridphase den f ü r das betreffende Metallhydrid kleinsten bei der gewählten Temperatur zulässigen Was serstoffgehalt auf (Fig.93): Grenzstöchiometrie M H bei 7 \ und M H , bei T2; erst dann absorbiert die Hydridphase bei nunmehr wieder ansteigendem Wasserstoffdruck zusätzlich Wasserstoff bis zur i d e a l e n Grenzstöchiometrie (z.B. M H 2 ) des Hydrids (Region der Hydridphase, „ß-Phase"). Bei Bildung einer weiteren Hydridphase (z.B. M H < 3 ) schließt sich dem in Fig. 93 wiedergegebenen Diagramm ein entsprechendes Diagramm an. Die Plateauregion - d . h . der Koexistenzbereich zweier verschiedener wasserstoffhaltiger Phasen wird ihrerseits mit zuneh menden Temperaturen kleiner und entfällt schließlich ab einer gewissen Temperatur in Fig.93) ganz. Oberhalb T existiert dann nur noch e i n e Metall-Wasserstoff-Phase. Wie dem Besprochenen zu entnehmen ist, muss somit die durch Temperaturerhöhung erzielbare Beschleunigung der Metallhydridbildung jeweils durch unerwünschte höhere Wasserstoffdrücke erkämpft werden. M a n wählt demgemäß einen Mittelweg und setzt Wasserstoff bei nicht zu hohen Temperaturen und d a f ü r kleineren Drücken etwas länger mit den Metallen bzw. auch Legierungen um. In vielen Fällen lassen sich stöchiometrisch zusammengesetzte Metallhydride sogar bei Wasserstoffdrücken von 1 bar und darunter aus den Elementen synthetisieren, und zwar insbesondere, wenn genügend reine Metalle verwendet werden. So setzen sich unter den Nebengruppenelementen, Lanthanoiden sowie Actinoiden die Elemente Scandium, Yttrium, Lanthan und Actinium (einschließlich aller Lanthanoide und Actinoide) bei 300 °C und darunter Titan, Zirconium und Hafnium bei 300-400°C mit molekularem Wasserstoff unter Normaldruck zu Dihydriden MH 2 der betreffenden Elemente um. Entsprechend erhält man aus Vanadium, Niobium und Tantal bei 300-400 °C Monohydride MH (reines V-Pulver reagiert bereits bei Raumtemperatur zu VH). Höhere Wasserstoffdrücke benötigt man demgegenüber zur Synthese der Trihydride M H des Yttriums, Lanthans und der Lanthanoide, der Dihydride M H des Vanadiums und Niobiums sowie des Monohydrids des Palladiums und Nickels (hier muss Wasserstoff sogar mit einem Druck von 3400 bar bei Raumtemperatur eingesetzt werden). Bei den verbleibenden Nebengruppenmetallen konnte eine Wasserstoffaufnahme in der beschriebenen Weise bisher nicht festgestellt werden. Bei der Einwirkung von Wasserstoff auf gasförmiges Kupfer (bei 1400°C), Silber (1100 °C) bzw. Gold (1400 °C) konnte jedoch die Bildung von gasförmigem CuH, AgH bzw. AuH nachgewiesen werden (vgl. die oben beschriebenen Verhältnisse im Falle von Al, Ga, In). Darüber hinaus ließen sich mittels kathodisch freigesetztem Wasserstoff Hydride des Chroms und Kupfers und von anderen Metallen (z.B. V, Nb, Ni) synthetisieren (z.B. Elektrolyse von HF unter Verwendung der betreffenden Metalle als Kathode).
Elementwasserstoffgewinnung durch Protolyse Wasserstoff sowie die Wasserstoffverbindungen von Elementen E der I V . - V I I . Hauptgruppe und von Bor lassen sich außer durch Elementhydrogenolyse auch durch Protolyse u. a. der nachfolgend zusammengestellten Metallverbindungen M„E mittels Säuren H A wie Schwefel-, Phosphor- oder Salzsäure gewinnen (M = Na, K, ^ M g , ^ C a , ^ Z n , ^ F e bzw. ^Al; A z.B. SO H, PO ): M„E + n H A M„E z.B.:
MA Mg
EH Ca M Si M Ge M Sn
M C
Zn 3 As 2 M S
N FeS AS AT
Ca Ca NaCl KB KI
So setzt man zur technischen Darstellung von Fluor- bzw. Chlorwasserstoff konzentrierte Schwefelsäure mit Flussspat CaF 2 bzw. Kochsalz NaCl u m Brom- und Jodwasserstoff lassen sich wegen ihrer leichten Oxidierbarkeit nicht auf analogem Wege synthetisieren (konz. H 2 SO 4 wirkt stark oxidierend). Man kann
288
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
beide Säuren jedoch aus ihren Alkalimetallsalzen mittels - nicht oxidierender - konzentrierter Phosphorsäure austreiben (einfacher ist die Protolyse von PBr 3 bzw. PI 3 ). Während sich die mittel- bis sehr starken flüchtigen Halogenwasserstoffsäuren HHal nur durch konzentrierte nicht-flüchtige Säuren aus ihren Salzen in Freiheit setzen lassen (Verschiebung des Gleichgewichts durch Abdestillieren der flüchtigen starken Säure), genügen für die Bildung der nur schwach sauren WasserstoffverbindungenU202, H 2 S, H2Se, H2Te, NH 3 , PH 3 , AsH 3 , S M 3 , C 2 H 2 , SiH4, GeH 4 , SnH 4 und BmH„ aus ihren oben wiedergegebenen „Metallsalzen" bereits verdünnte Säuren oder zum Teil sogar Wasser. Die Umsetzung von Eisensulfid FeS mit Salzsäure im Kippschen Apparat (s.dort) dient dabei zur Synthese von Schwefelwasserstoff im Laboratorium, die Protolyse von Calciumcarbid CaC 2 mit Wasser zur technischen Darstellung von AcetylenC2H2. Der Gewinnung des einfachsten Kohlenwasserstoffs Methan C H durch Protolyse von Aluminiumcarbid A14C3 kommt demgegenüber keine praktische Bedeutung zu, da C H in Form von Erdgas ausreichend zur Verfügung steht. Das Verfahren spielt jedoch für die Synthese von deuteriertem Methan CD eine Rolle (Umsetzung von A mit O). Analog lässt sich deuteriertes Ammoniak ND 3 durch Reaktion von Mg 3 N 2 bzw. AlN mit D 2 O gewinnen.
Elementwasserstoffgewinnung durch Hydridolyse Mit Vorteil werden die Wasserstoffverbindungen von Elementen E der I I I . - V . Hauptgruppe sowie von Beryllium, Magnesium, Kupfer, Zink und Cadmium auch durch Hydridolyse von Elementhalogeniden EHal„ (z.B. BeCl 2 , MgBr 2 , BF 3 , AlCl 3 , SiCl 4 , GeCl 4 , SnCl 4 , PC1 3 , A s Q 3 , S b Q 3 , BiCl 3 , CuI, Z n l 2 , Cdl 2 ) mit Lithiumhydrid LiH, N a t r i u m b o r a n a t N a B H 4 oder Lithiumalanat LiAlH 4 , also Hydrierungsmitteln, die hydridischen Wasserstoff H enthalten, synthetisiert: EHal„ +
E H + nHal".
(Für nähere Einzelheiten vgl. Wasserstoffverbindungen der betreffenden Elemente.)
2.3
Physikalische Eigenschaften
Die einfachen Wasserstoffverbindungen von Elementen der IV VII. Hauptgruppe sowie des Bors sind farblose, mit Ausnahme von geruchlosem und ungiftigem Wasser bzw. Methan unangenehm widerlich bis stechend riechende, giftige bis hochgiftige Flüssigkeiten bzw. Gase. Die übrigen Hydride stellen abgesehen von schmelzbarem Lithiumhydrid (Smp. 692°C) - unter Zersetzung schmelzende Feststoffe dar, welche im Falle der meist spröden und häufig pulverig anfallenden metallartigen Wasserstoffverbindungen metallisch-grau bis -dunkel, im Falle der salzartigen und kovalenten Wasserstoffverbindungen mit Ausnahme von rotbraunem Kupferhydrid farblos sind (verunreinigte salzartige Hydride haben blass graues bis schwarzes Aussehen). Flüchtigkeit Wie der Fig. 94 zu entnehmen ist, erhöhen sich im Falle der einfachen kovalenten Wasserstoffverbindungen von Elementen der IV.-VII. Hauptgruppe innerhalb einer Hydridgruppe (z.B. C H , SiH4, GeH 4 , SnH 4 , PbH 4 ) die Schmelz- und Siedepunkte mit zunehmender Masse des Hydrids. Ausnahmen bilden nur die Verbindungen Fluorwasserstoff HF, Wasser H2 O sowie Ammoniak NH 3 , die wegen der Assoziation der betreffenden Elementwasserstoffmoleküle über Wasserstoffbrücken (s. dort) weniger leicht schmelzbar und weniger flüchtig sind als ihre - nur sehr schwach assoziierten schwereren Gruppenhomologen HCl, H S sowie P H (Fig. 94). Wären die Verbindungen HF, H O sowie N H monomolekular, so sollten sie naturgemäß bei niedrigeren Temperaturen als ihre Homologen HCl, H 2 S sowie P H schmelzen bzw. sieden. Im anomalen Schmelz- und Siedeverhalten von HF, H O und N H (entsprechendes gilt auch für das Verhalten anderer physikalischer Eigenschaften wie Verdampfungsenthalpie, Troutonkonstante) kommen demnach die vorliegenden Wasserstoffbindungen sichtbar zum Ausdruck. Methan, das wegen Fehlens freier Elektronenpaare keine kationischen Wasserstoffbrücken ausbilden kann, fällt dementsprechend mit seinen physikalischen Daten auch nicht aus der Reihe der übrigen Wasserstoffverbindungen der vierten Gruppe des Periodensystems heraus Als weitere Ausnahmen unter den flüchtigen kovalenten Hydriden weist auch der einfachste Borwasserstoff B H wegen seiner Dimerisierung über Wasserstoffbrücken einen höheren Schmelz- und Siedepunkt als die einfachste Wasserstoffverbindung des rechts im Periodensystem neben Bor stehenden Kohlenstoffs ( C H ) auf (Fig. 94). Wäre das Hydrid B H monomolekular, so sollte es leichter schmelzbar und flüchtiger als das schwerere monomolekulare Methan sein. Da Aluminium-, Beryllium-, Zinkbzw. K u p f e r h y d r i d nicht nur zu Moleküldimeren, sondern auch über relativ starke Wasserstoffbrücken
2. Yerbindungen des Wasserstoffs (Überblick)
Fig. 94
289
Schmelz- und Siedepunkte einfacher flüchtiger kovalenter Elementwasserstoffe.
zu Molekülpolymeren zusammentritt, sind die betreffenden Verbindungen ähnlich wie die polymeren salz- und m e t a l l a r t i g e n Hydride nicht mehr flüchtig und (mit Ausnahme von LiH) nicht unzersetzt schmelzbar Dichte. Die salzartigen H y d r i d e sind mit Ausnahme von MgH 2 , welches weniger dicht als Magnesiummetall ist, um 40-80 % (Alkalimetallhydride) bzw. 15-25 % (Erdalkalimetallhydride, EuH 2 , YbH 2 ) dichter als die zugrunde liegenden Metalle. Dies geht u.a. auf die Radienverkleinerung beim Übergang der Metall-Atome in -Ionen sowie auf die hohe Kompressibilität des Hydrid-Ions H " zurück. Im Falle der Alkalimetalle und ihrer Wasserstoffverbindungen spielt darüber hinaus die höhere Packungsdichte der Metallatome in den Hydriden eine Rolle (Metall: kubisch-innenzentrierte Packung; Hydrid: kubischflächenzentrierte Packung: vgl. Metallbindung). Die m e t a l l a r t i g e n Hydride sind umgekehrt weniger dicht (und zwar im allgemeinen mit zunehmendem H-Gehalt in wachsendem Maße) als die zugrunde liegenden Metalle. Die Packung des Wasserstoffs ist in den wasserstoffreichen Hydriden andererseits zum Teil dichter als im festen, reinen Wasserstoff(vgl. Verwendung von Metallen als Wasserstoffspeicher). Löslichkeit Unter den k o v a l e n t e n W a s s e r s t o f f v e r b i n d u n g e n lösen sich die Halogen-, Chalkogensowie Stickstoffwasserstoffe in Wasser gut, die Hydride der Stickstoffgruppenelemente (ab Phosphor), der Kohlenstoffgruppenelemente sowie des Bors schlecht, die restlichen kovalenten Elementwasserstoffe nur unter Zersetzung (Bildung von H 2 ). In Diethylether (C 2 H 5 ) 2 0 lösen sich mit Ausnahme von ZnH 2 und CdH 2 alle kovalenten Hydride mehr oder weniger gut. Wasser, flüssiges Ammoniak sowie flüssiger Fluorwasserstoff werden ihrerseits als Lösungsmittel für polare, Kohlenwasserstoffe für unpolare Stoffe verwendet Die salzartigen W a s s e r s t o f f v e r b i n d u n g e n lösen sich in Wasser nur unter Zersetzung (Bildung von H 2 ) und sind in aprotischen organischen Medien mit Ausnahme von Lithiumhydrid vollständig unlöslich (wegen der geringfügigen Löslichkeit von LiH in Lösungsmitteln wie Diethylether verlaufen Hydrierungen mit LiH in derartigen Reaktionsmedien im allgemeinen erfolgreicher als mit dem stärker reduzierend wirkenden, aber unlöslichen NaH). Gute Löslichkeit zeigen salzartige Hydride demgegenüber in Alkalimetallhalogenid- bzw. -hydroxidschmelzen. Da Natriumhydrid, gelöst in NaOH (Smp. 318 0C) bis 550 0 C stabil ist, kann es in dieser Form für Reduktionsprozesse bei höheren Temperaturen verwendet werden Zum Unterschied von den salzartigen Hydriden lösen sich die m e t a l l a r t i g e n Hydride nicht in Salzschmelzen und können aufgrund dieser Eigenschaft von ersteren unterschieden werden (die Löslichkeit der Hydride EuH 2 und YbH 2 in Salzschmelzen spricht hiernach für deren salzartigen Aufbau). Elektrische Leitfähigkeit Die k o v a l e n t e n Wasserstoffverbindungen sind Nichtleiter, die salzartigen Hydride in geschmolzenem, gelöstem oder festem Zustand (bei höheren Temperaturen) Ionenleiter, die m e t a l l a r t i g e n Hydride Elektronenleiter. Die elektrische Leitfähigkeit der zuletzt genannten Ver-
290
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
bindungen nimmt mit steigendem Atomverhältnis von Wasserstoff zu Metall ab. Metallartige Hydride mit sehr hohem Wasserstoffgehalt (Stöchiometrie M H ) sind demgemäß nur noch Halbleiter. Bildungsenthalpie Legt man den Hydriden wie in Tab.37 (S.281) das Langperiodensystem zugrunde, so finden sich die unter Wärmeabgabe aus den Elementen erhältlichen, also exothermen Verbindungen auf der linken und rechten Seite (exothermste Verbindung: HF) und die nur unter W ä r m e a u f n a h m e aus den Elementen darstellbaren endothermen Verbindungen in der Mitte des Periodensystems der Elementwasserstoffe Im Falle der kovalenten Hydride wird die Bildungsenthalpie innerhalb der Elementgruppen von oben nach unten positiver bzw. weniger negativ (Tab. 37, S. 281). Thermodynamisch relativ instabil sind demgemäß insbesondere die kovalenten Wasserstoffverbindungen der jeweils schwersten Gruppenelemente (Au, Hg, Tl, Pb, Bi, Po, At). Innerhalb der Elementperioden wächst die thermodynamische Stabilität der kovalenten Wasserstoffverbindungen im großen und ganzen von links nach rechts, wobei die beobachteten Unregelmäßigkeiten im Gangder Bildungsenthalpien (z.B.BH 3 -> C H NH 3 vgl.Tab.38) auf die unterschiedlich hohen, in die EH„-Bildungsenthalpien eingehenden Atomisierungsenergien der Elemente E^ (s. dort) zurückgehen. Die monomeren Formen der unter Normalbedingungen polymeren kovalenten Elementwasserstoffe weisen naturgemäß stets weniger negative bzw. positivere Bildungsenthalpien als die entsprechenden polymeren Formen auf (vgl. Tab.41). Zieht man von den auf eine Formeleinheit bezogenen Bildungsenthalpien der polymeren Hydride die Bildungsenthalpien der monomeren Hydride ab, so ergeben sich die im Zuge der Hydridpolymerisation über Wasserstoffbrücken freiwerdenden Energien. Sie sind zum Teil recht hoch, z.B. CuH ca. 222, BH 3 82, AlH 3 ca. 161, NH 3 < 20, H 2 0 21, HF 32 kJ/mol. Unter den salzartigen Hydriden kommen - wie bei ionischem Bindungsaufbau zu erwarten ist (vgl. Ionenbindung) - den Dihydriden höhere Bildungsenthalpien als den Monohydriden zu. Im Falle der metallartigen Hydride nimmt andererseits die Enthalpie für die Bildung einer Wasserstoffverbindung der Stöchiometrie E H , , bezogen auf die Aufnahme von 1 mol Wasserstoff pro mol Metall, mit zunehmendem Atomverhältnis n von Wasserstoff zu Metall ab. Wasserstoffmobilität Im Falle einer Reihe von Elementhydriden bleiben die Wasserstoffatome nicht auf Dauer mit ihren Elementnachbarn verknüpft, sondern weisen eine mehr oder weniger große Beweglichkeit (,,Mobilität") auf. So vertauschen etwa die Wasserstoffatome der metallartigen Hydride ihre Plätze gegenseitig, indem sie aus ihren Gitterpositionen in benachbarte unbesetzte (tetraedrische bzw. oktaedrische) Lücken der Metallstrukturen wandern, wobei die hierdurch freiwerdenden Zwischengitterplätze anschließend wieder durch andere Wasserstoffatome besetzt werden und so fort. Extrem leicht erfolgt diese Art der Wasserstoffdiffusion im Falle des Vanadium-, Niobium-, Tantal- und insbesondere Palladiumhydrids (Diffusionsaktivierungsenergie £ a : 10-20 kJ/mol). Doch auch die Hydride der Titangruppenelemente (£ a = 40-50 kJ/mol) oder der Lanthanoide (£ a ca. 80 kJ/mol) zeigen Wasserstoffmobilität Darüber hinaus beobachtet man im Falle der salzartigen Hydride bei höheren Temperaturen Umgruppierungen der Salzkationen. Unter den kovalenten Wasserstoffverbindungen neigen insbesondere die zur Ausbildung von Wasserstoffbrücken befähigten Hydride (u.a. Fluor-, Sauerstoff-, Stickstoff-, Borwasserstoffe) zum zwischenmolekularen (intermolekularen) oder auch innermolekularen (intramolekularen) raschen bis sehr raschen Wasserstoffaustausch.
2.4
Chemische Eigenschaften
Unter den chemischen Eigenschaften der Verbindungen des Wasserstoffs sind das t h e r m i sche, das S ä u r e - B a s e sowie das Redox-Verhalten, über das in den nachfolgenden 3 Unterkapiteln zusammenfassend berichtet wird, von besonderem Interesse. (Bezüglich weiterer Einzelheiten der chemischen Eigenschaften kovalenter Elementwasserstoffe vgl. die Wasserstoffverbindungskapitel der betreffenden Elemente.) Ein weiteres Unterkapitel geht auf die Verwendung der Elementwasserstoffe ein.
Thermisches Verhalten Alle Wasserstoffverbindungen E H lassen sich - in U m k e h r u n g ihrer Bildung (s. dort) - t h e r m i s c h in die Elemente s p a l t e n : EH
„ ^
iEx + fH2.
2. Yerbindungen des Wasserstoffs (Überblick)
291
Als Z e r s e t z u n g s z w i s c h e n p r o d u k t e können sich hierbei im Falle der k o v a l e n t e n Elementhydride (Element u.a. B, C, Si, N, P) höhere Elementwasserstoffe, im Falle der salzund m e t a l l a r t i g e n Hydride andere Hydridphasen bilden (z.B. Strukturumwandlung von C a H 2 , S f f l 2 , BaH 2 ; Bildung von Monohydriden aus VH 2 , N M 2 ) . Die Thermolyse der nur u n t e r E n e r g i e z u f u h r zersetzbaren exothermen Elementhydride (exakten exergonen Elementhydride; vgl. Tab. 37, S. 281) erfordert naturgemäß u m s o h ö h e r e T e m p e r a t u r e n je stabiler die betreffenden Elementwasserstoffe, d . h . j e n e g a t i v e r ihre Bild u n g s e n t h a l p i e n A// f (exakter: freie Bildungsenthalpien AG f ) sindii, und je h ö h e r der angestrebte D i s s o z i a t i o n s g r a d der Verbindungen ist. So zerfällt etwa unter den kovalenten Wasserstoffverbindungen der schwach exotherme Schwefelwasserstoff H S ( A # f = — 21 kJ/ mol) bei 1000 °C zu 2 5 % und bei 1500 °C zu 6 6 % in Schwefel und Wasserstoff, wogegen das weit exothermere Wasser H 2 0 (&H f = —286 kJ/mol) selbst bei 2200°C erst zu 4 % in Sauerstoff und Wasserstoff gespalten vorliegt. Bei den festen exothermen Hydriden dokumentiert sich das mit steigenden Temperaturen wachsende Bestreben zur Spaltung in die Elemente eindrucksvoll anhand des mit der Tem peratur zunehmenden W a s s e r s t o f f d r u c k s über der festen Phase. Er beträgt unter den s a l z a r t i g e n Hydriden im Falle des Magnesiumhydrids M g H 2 (AH f = —74 kJ/mol) bzw. Lithiumhydrids LiH (A H { = —91 kJ/mol) bei 650 bzw. 972 °C jeweils 1013 m b a r (weitere Temperaturen, bei denen der Wasserstoffdruck über salzartigen Hydriden Atmosphärendruck entspricht, sind in Tab.37, S.281 wiedergegeben). Unter den m e t a l l a r t i g e n Hydriden, deren Spaltungstendenz nicht nur mit der Zersetzungstemperatur, sondern auch mit dem W a s s e r s t o f f g e h a l t der Verbindungen wächst, beobachtet m a n einen Zersetzungsdruck von 1 atm z.B. im Falle der Lanthanhydride L a H 2 5 5 bzw. L a H 2 8 5 bei 400°C bzw. 200°C, im Falle der Thoriumhydride T h H x 8 bzw. ThH 3 .5 bei 800°C bzw. 300°C. Vanadium- und Niobiummonohydrid stellen unter Normalbedingungen stabile Hydride dar (ein Wasserstoffdruck von etwa 1 atm wird bei 500 °C erreicht), wogegen die betreffenden Dihydride ihren Wasserstoff bereits bei Raumtemperatur abgeben. Z u m Unterschiede von den exothermen Wasserstoffverbindungen sind die endothermen Elementhydride (exakten endergone Elementhydride; vgl. Tab. 37, S. 281) bezüglich einer Spaltung in die Elemente t h e r m o d y n a m i s c h i n s t a b i l und sollten sich mithin auch o h n e äußere E n e r g i e z u f u h r zersetzen. Dies ist in der Tat der Fall. Doch erfordert die Zersetzung wegen der vielfach recht hohen Zerfalls-Aktivierungsenergien (s. dort) zum Teil so lange Reaktionszeiten, dass die betreffenden Hydride als k i n e t i s c h s t a b i l ( m e t a s t a b i l ) erscheinen. N u r dann, wenn keine größeren Aktivierungsenergien f ü r den Zerfall aufgebracht werden müssen, sind die Wasserstoffverbindungen (wie u.a. CuH, Z n H 2 , C d H 2 , H g H 2 , G a H 3 , SnH 4 , BiH 3 ; vgl. Tab. 37) bereits bei Raumtemperatur und darunter k i n e t i s c h i n s t a b i l , sodass m a n sie bei tiefen bis sehr tiefen Temperaturen aufbewahren muss, um sie vor ihrem Zerfall zu schützen. Bei den übrigen - also metastabilen - Hydriden (u.a. BH 3 , A H 3 U , SiH 4 , G e H 4 , P H 3 , A s H 3 , SbH 3 , H 2 Se, H 2 Te, HBr, HI; vgl. Tab. 37) erfolgt der Zerfall erst bei erhöhter Temperatur mit messbarer Geschwindigkeit. Zunehmende Temperaturen verschieben allerdings gleichzeitig das Zerfallsgleichgewicht wegen des endothermen Charakters der Verbindungen auf die Seite des Elementhydrids (vgl. Darstellung endothermer Hydride bei hohen Temperaturen). Bei den in Tab. 37, S. 281 wiedergegebenen, für einen gerade messbar einsetzenden Zerfall geltenden Zersetzungstemperaturen beobachtet m a n jedoch noch überwiegend Spaltungi 2 . 11 Unstimmigkeiten können sich insbesondere bei schwach exo- bzw. endothermen Verbindungen ergeben. So stellt z. B. festes, polymeres Aluminiumhydrid ( A l ^ ) . , eine exotherme Verbindung dar (AH{ = — 1 1 kJ/mol, vgl. Tab. 37), die sich jedoch nicht freiwillig aus den Elementen bildet (AGf = + 4 7 kJ/mol). 1 2 Die in Tab. 37 wiedergegebenen Bildungsenthalpien beziehen sich auf 25°C und Reaktionspartner im bei 25°C stabilsten Zustand. Da bei höheren Temperaturen meist alle Reaktanden im gasförmigen Zustand vorliegen, gelten unter diesen Bedingungen häufig andere, um Sublimations- bzw. Verdampfungsenthalpien beteiligter Feststoffe bzw. Flüssigkeiten verringerte Bildungsenthalpien, z. B. statt 26 kJ + \ H 2 + \ I 2 (Q ^ HI nunmehr \ H 2 + \ I 2 (g) ^ H I + 4.7 kJ bzw. statt 5 kJ + § H 2 + 1 P 4 (Q ^ P H nunmehr § H 2 + £ P 4 (g) ;=: PH 3 + 54 kJ.
292
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
Die Zersetzungstemperaturen der flüchtigen endothermen Elementwasserstoffe nehmen im Periodensystem der Hydride (Tab. 37) von rechts nach links sowie von oben nach unten ab. Dieser Temperaturgang rührt u.a. daher, dass zunächst unter Zufuhr von Energie (Aktivierungsenergie) EH-Bindungen der betreffenden Hydride gespalten werden. Die Höhe der EH„-Zerfallstemperaturen folgt demgemäß näherungsweise aus dem Wert der mit den EH-Dissoziationsenergien größenordnungsmäßig vergleich baren - EH-Bindungsenergien, die im Periodensystem der flüchtigen Hydride ebenfalls von rechts nach links sowie von oben nach unten abnehmen (Tab. 38). Allerdings kommt es nicht in jedem Falle zu einer Dissoziation von E H in EH„_ t und atomaren Wasserstoff. So zerfällt etwa Iodwasserstoff (s. dort) bei nicht zu hohen Temperaturen auf dem Wege I—H + H—I -> I + H—H + I in Iodatome und molekularen Wasserstoff. Die - auch bei den nichtflüchtigen Hydriden und den flüchtigen Borwasserstoffen zu beobachtende - Bildung von molekularem statt energiereichem, atomarem Wasserstoff senkt naturgemäß die Zersetzungsaktivierungsenergien und damit die Zerfallstemperaturen der endothermen Wasserstoffverbindungen Eine Reihe von Katalysatoren (insbesondere Metalle) erhöhen die Zersetzungsgeschwindigkeit der endothermen Hydride und verringern mithin ihre Zerfallstemperaturen. Leitet sich das Hydrid selbst von einem Metall oder Halbmetall ab (z.B. AsH 3 , S M 3 , BiH3, SM 4 ), so beobachtet man naturgemäß eine Eigenkatalyse des Zerfalls. Die im Zuge der Metallhydridsynthesen häufig nicht auszuschließende Bildung von Metallspuren hat wegen ihrer destabilisierenden Wirkung in vielen Fällen eine Reinisolierung der betreffenden endothermen Hydride sehr erschwert (z.B. BiH3) oder bisher sogar unmöglich gemacht (z.B. PbH 4 ).
Säure-Base-Verhalten Brönsted-Säure-Base-Verhalten. Die k o v a l e n t e n Wasserstoffverbindungen von E l e m e n t e n d e r I V . - V I I . H a u p t g r u p p e und des B o r s vermögen als Säuren zu wirken: EH„ -
eh;-!
+H+.
Die Säurestärke der betreffenden Verbindungen wächst innerhalb der Elementhydridgrupp e n von oben nach unten und innerhalb der E l e m e n t h y d r i d p e r i o d e n von links nach rechts (vgl. Tab. 32, S. 246) 1 3 . Auch mit zunehmender Zahl von Elementatomen E pro H - A t o m in Wasserstoffverbindungen E m H„ (also z.B. in Richtung H 2 0 -> H 2 0 2 , N H 3 -> N 3 H , C 2 H 6 -> C 2 H 4 -> C 2 H 2 , B 5 H 9 -> B 1 0 H 1 4 ) wächst u.a. die Säurestärke eines Elementwasserstoffs So wirken Chlor-, Brom- bzw. Iodwasserstoff in Wasser als überaus starke, Fluor-, Selenbzw. Tellurwasserstoff als mittelstarke, Schwefelwasserstoff als schwache, Wasser als sehr schwache und Ammoniak bzw. Methan als überaus schwache Säuren. Zur Deprotonierung der überaus schwachen, in Wasser nicht mehr dissoziierenden Säuren benötigt m a n genügend basische Lösungsmittel (u.a. flüssiges Ammoniak, das z.B. mit German oder Tetraboran reagiert: N H 3 + G e H 4 ^ N H 4 + G e H 3 ; N H 3 + B 4 H 1 0 ^ N H 4 + B 4 H 9 ) bzw. sehr starke Basen (u. a . H " in F o r m von festen Alkalihydriden, die sich z. B. mit Ammoniak oder Methan umsetzen: H + N H 3 ^ H 2 + N H 2 ; H + C H 4 ^ H 2 + C H 3 ) . Die Elementwasserstoffe vermögen umgekehrt auch als Basen zu wirken, sofern sie wie im Falle der k o v a l e n t e n Wasserstoffverbindungen von E l e m e n t e n d e r V. - V I I . H a u p t g r u p p e über freie Elektronenpaare verfügen: :E H
„ + H+ ^
EH
„++1 •
Die Basenstärke der betreffenden Verbindungen : EH„ sinkt, d. h. die Stärke der korrespondierenden Säuren EH„ + +1 wächst dabei innerhalb der E l e m e n t h y d r i d g r u p p e n bzw. - p e r i o d e n von oben nach unten bzw. von links nach rechts (vgl. Tab. 32, S. 246). Ammoniak N H 3 ist in Wasser eine schwache, Phosphan P H eine sehr schwache, nur noch durch stärkste Säuren wie H I protonierbare Base
13 Auch B 2 H 6 vermag wohl wie viele höhere Borwasserstoffe (z. B. B 4 H 1 0 ; B5Hc,, B 6 H 1 0 , B 1 0 H 1 4 ) als Säure zu wirken; doch ist die Protonendissoziation nicht beobachtbar, da sich Basen mit B 2 H 6 in anderer Weise rascher umsetzen (vgl. Borwasserstoffe).
2. Yerbindungen des Wasserstoffs (Überblick)
293
Wegen ihrer Wirkung sowohl als Säure als auch Base beobachtet man eine Eigendissoziation der besprochenen Elementwasserstoffe 2EH„ ^
EH„++1 + EH„"_1.
Das ,,Eigendissoziationsgieichgewicht" liegt allerdings in jedem Falle weitgehend auf der linken Seite (positive Gleichgewichtsexponenten, z.B. H O 15.7, NH 3 27.7, HF 10.7). Neben den erwähnten kovalenten Wasserstoffverbindungen reagieren auch die s a l z a r t i g e n Hydride als Brönsted-Basen. Ihre Basizität geht auf das Hydrid-Ion H zurück und ist demgemäß extrem hoch (S.266). Alkali- sowie die schweren Erdalkalimetallhydride setzen sich daher selbst mit den allerschwächsten Säuren wie C H (s. oben) um und lösen organische Reaktionen aus, f ü r deren Start (z.B. Esterkondensation) eine CH-Deprotonierung Voraussetzung ist. Die Reaktivität der salzartigen Hydride steigt dabei mit zunehmendem Ionencharakter der Verbindungen (s. dort). So setzt sich etwa Wasser mit Magnesiumdihydrid langsam, mit Calciumdihydrid bzw. Lithiumhydrid rasch und mit Natriumhydrid so heftig um, dass sich der gemäß N a H + H 2 0 -> H 2 + N a O H gebildete Wasserstoff entzündet. Die Reaktivität salzartiger Hydride hängt auch von anderen Faktoren (Verteilung, Verunreinigungen) ab. So ist beispielsweise aus den Elementen synthetisiertes, kompaktes Magnesiumdihydrid (> 98% MgH 2 , < 2% Mg, MgO) relativ hydrolyse- und sauerstoffstabil, während durch Pyrolyse aus Mg(C 2 H 5 ) 2 erhaltenes M g H 9 1 heftig mit Wasser und Luft (Selbstentzündung) reagiert. Aber selbst dann, wenn der negativierte Wasserstoff wie in metallartigen bzw. vielen kovalenten Wasserstoffverbindungen über stark polarisierte Ionen- bzw. polare Atombindungen mit Elementen verknüpft ist, vermag er noch mit Säuren zu reagieren. So zersetzen sich u.a. UH 3 , CuH, ZnH 2 , AlH 3 , SiH4 mit Salzsäure unter Wasserstoffentwicklung. Elementwasserstoffe mit negativiertem H reagieren - allerdings meist nur bei erhöhter Temperatur - auch mit gasförmigen Säuren (z.B. HCl, H 2 0 , H 2 S, NH 3 ). So setzt sich etwa LiH bei 400°C mit HCl bzw. NH 3 zu LiCl bzw. LiNH 2 , UH 3 bei 400 °C mit H 2 0 zu Uranoxid um. Lewis-Säure-Base-Verhalten Die kovalenten und salzartigen Hydride vermögen nicht nur in der beschriebenen Weise als Säuren und Basen im Sinne von Brönsted zu wirken, sondern sie reagieren auch als Lewis-Säuren bzw. -Basen (S.244). So zeigt sich etwa in Reaktionen wie NaH + BH 3
NaBH,
LiH + AlH 3
LiAlH4,
NH 3 + BH 3 ^
H 3 NBH 3
der Lewis-saure Charakter von Boran BH 3 oder Alan AlH 3 bzw. der Lewis-basische Charakter von Alkalimetallhydriden oder Ammoniak. (Vgl. hierzu auch die als Säure-Base-Komplexbildung beschreibbare Wasserstoffbrücken-Adduktbildung,z.B.: F—H (Lewis-Säure) + F " (Lewis-Base) -> F—H • •• F~.) Unter den zahlreich bekannt gewordenen Lewis-Säure-Base-Reaktionen der Elementwasserstoffe sei insbesondere die unter Wasserstoffentwicklung ablaufende Hydrolyse vieler Hydride erwähnt: (OH")
E H +n H20 —
E(OH)„ + nH 2
(E z.B.: B, Al, Si, Ge, Sn, P). Der Ablauf dieser durch Hydroxid-Ionen katalysierten Reaktion erfolgt dabei in der Weise, dass sich OH~ als Lewis-Base zunächst an die Lewis-Säure E H unter Bildung des Säure-Base-Komplexes HO E H addiert. In letzterem sind die mit dem Element verbundenen Wasserstoffatome wegen der negativen Komplexladung naturgemäß negativierter als in der ungeladenen Ausgangsverbindung. Demgemäß setzen sie sich relativ leicht mit den Protonen des Wassers unter H^Entwicklung und Rückbildung von OH~ um: HOEH~ + H 2 0 -> HOEH„_ t + H 2 + OH~. Eine mehrmalige Wiederholung dieser - jeweils zu einem Austausch eines Wasserstoffs gegen die OH-Gruppe führenden - Reaktionsfolge liefert letztlich das Produkt E(OH)„. Da Wasser die Rolle des Hydroxid-Ions übernehmen kann, zersetzen sich die betreffenden Hydride - allerdings langsamer - auch in neutralem Wasser.
Redox-Verhalten Die Elementwasserstoffe haben sowohl oxidierende als auch reduzierende Eigenschaften und lassen sich demnach sowohl reduzieren als auch oxidieren. Im Zuge der Redox-Reaktionen wird hierbei im Falle von Hydriden mit positiviertem Wasserstoff — H Ä + ) das Element oxidiert, der Wasserstoff reduziert, im Falle von Hydriden mit negativiertem Wasserstoff (E^ + — H Ä _ ) umgekehrt das Element reduziert, der Wasserstoff oxidiert.
294
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen
Ihre Wirkung als Oxidationsmittel entfalten die Elementwasserstoffe insbesondere gegenüber stark e l e k t r o p o s i t i v e n Elementen wie N a t r i u m , K a l i u m , C a l c i u m usw., welche mit den Hydriden von Elementen der I V - V I I . Hauptgruppe in geeigneten Lösungsmitteln (u.a. Ethern) unter Wasserstoffentwicklung reagieren, z.B.: K + EH B -
KEH,^
+jH
2
(vgl. hierzu auch Darstellung von Wasserstoff aus Wasser). Ohne Wasserstoffentwicklung erfolgt z.B. die Reduktion von Diboran mit Alkalimetallen: 2Na + 2(BH3)2
NaBH4 + NaB3H
Gegenüber e l e k t r o n e g a t i v e n Elementen wie Fluor, Chlor, Sauerstoff usw. wirken die Elementwasserstoffe andererseits als Reduktionsmittel. Ihre R e d u k t i o n s k r a f t wächst dabei innerhalb der Elementhydridgruppen bzw. -perioden von oben nach unten bzw. von rechts nach links (vgl. hierzu Normalpotentiale, Tab. 29 auf S. 225). Der Fluorwasserstoff stellt hiernach unter den Elementwasserstoffen das schwächste Reduktionsmittel dar. Seine Oxidation gelingt nicht mehr auf chemischem, sondern nur noch auf elektrochemischem Wege. Alle übrigen Elementwasserstoffe lassen sich auch chemisch oxidieren. So führt etwa F l u o r alle k o v a l e n t e n Wasserstoffverbindungen in Elementfluoride über: EH„ +
-
«HF + EFr
In entsprechender Weise - aber nicht mehr mit allen kovalenten Hydriden - setzen sich C h l o r sowie B r o m zu Elementchloriden sowie -bromiden um. S a u e r s t o f f verwandelt die Elementwasserstoffe mit Ausnahme von H F und H 2 0 bei mehr oder weniger hohen Temperaturen gemä
in Elemente bzw
bei Sauerstoffüberschuss
in Elementoxide
Beispielsweise setzt Sauerstoff aus Chlorwasserstoff bei 430 °C in Anwesenheit von Kupferoxid als Katalysator Chlor in Freiheit („Deacon-Verfahren" zur Chlorgewinnung), Ammoniak führt er bei 600-700°C in Anwesenheit von Platin als Katalysator in Wasser und Stickstoffoxid („Ammoniakverbrennung" zur Gewinnung von NO, s. dort), Methan sowie höhere Kohlenwasserstoffe (Benzine, Dieselöle usw.) in Wasser und Kohlendioxid über (zur Energiegewinnung). Des weiteren bildet sich beim Leiten von Sauerstoff durch eine wässerige Lösung von Brom-, Iod-, Schwefel-, Selen- oder Tellurwasserstoff Brom, Iod, Schwefel, Selen, Tellur in elementarer Form. Phosphor-, Arsen-, Antimon-, Silicium-, Germanium-, Zinn-, Bor-, Beryllium- oder Zinkwasserstoff entzünden sich an Luft teils bei erhöhter Temperatur (z.B. PH 3 bei 150°C), teils bereits bei Raumtemperatur (z.B. AlH3); B 2 H 6 /0 2 -, SiH 4 /0 2 -, PH 3 / -Gemische können explodieren Entsprechend den kovalenten Wasserstoffverbindungen lassen sich die m e t a l l a r t i g e n H y d r i d e beispielsweise mit Halogenen in Metallhalogenide, mit Sauerstoff in Metalloxide überführen. Insbesondere die Reaktion mit Sauerstoff ist im allgemeinen kinetisch beachtlich gehemmt, sodass die metallartigen Hydride recht luftstabil sind (z.B. Lanthanhydrid bis 1000°C). Besonders starke Reduktionsmittel stellen die s a l z a r t i g e n Hydride dar, da sie das sehr oxidable Hydrid-Ion enthalten. Demgemäß setzen sie sich (zum Teil bei erhöhter Temperatur) mit allen N i c h t m e t a l l e n (selbst Stickstoff) zu Alkali- bzw. Erdalkalimetallverbindungen der Elemente um, z.B.: 500
Ca Ca
2C
700
CaO + H 2 0 , Ca
3CaH2 + N 2
500
Ca3N2 + 3H
2. Yerbindungen des Wasserstoffs (Überblick)
295
Die Geschwindigkeit der Reduktionsreaktionen steigt dabei mit zunehmendem Ionencharakter des Hydrids (S.281). So setzt sich Lithium- bzw. Calciumhydrid bei 500 °C und Natriumhydrid bei 230 °C mit Sauerstoff um, während sich die schwereren Alkali- und Erdalkalihydride bereits bei Raumtemperatur an Luft entzünden. Neben Elementen vermögen salzartige Hydride auch die in oxidierter F o r m vorliegenden - Elemente von E l e m e n t v e r b i n d u n g e n (z.B. Elementhalogenide, -chalkogenide) zu reduzieren. Die Reaktion führt im Allgemeinen zu den Elementen selbst (s. unten), unter schonenden Bedingungen aber auch zu Verbindungen der Elemente in niedrigen positiven 0 x i dationsstufen (z.B. Reduktion von T W 2 , Z r O 2 , H f O 2 , V 2 0 5 , N b 2 O s , T a 2 0 5 mit LiH) und in einigen Fällen zu Elementhydriden (vgl. Darstellung der Elementwasserstoffe durch Hydridolyse).
2.5
Verwendung, Metallhydrid-Nickel-Akkumulator
Die vielseitig nutzbaren Elementwasserstoffe dienen u.a. als Reaktionsmedien (z.B. CmH„, NH 3 , H 2 0 , HF), als Säuren und Basen (z.B. HCl, NH 3 ), als Energiequellen (z.B. CmH„ in Form von Kohle, Erdöl, Benzin, Erdgas als Brenn- und Treibstoffe; N 2 H 4 als Raketentreibstoff), als Wasserstoffquellen (z.B. H 2 0 , C m H n , CaH 2 , NH 3 ), als Reduktionsmittel für anorganische und organische Verbindungen, als Trockenmittel (z.B. CaH 2 ), als Neutronenmoderatoren (z. B. ZnH 2 , ScH2), als Ausgangsverbindungen zur Synthese von Derivaten der Elementwasserstoffe. Von großer Bedeutung ist darüber hinaus die Metalldarstellung durch Thermolyse von Methylhydriden bzw. durch Reduktion von Metalloxiden („Hydrimet-Verfahren"), die Speicherung von Wasserstoff in geeigneten Metallen und Legierungen sowie die Stromerzeugung in Batterien mit Metallhydriden als negativen Aktivmassen („Metallhydrid-Nickel-Akkumulatoren"). Auf die letzteren drei Anwendungsgebiete sei nachfolgend kurz eingegangen Metalldarstellung durch Metallhydridthermolyse (vgl. hierzu S.268). Die thermische Zersetzung von metallartigen Hydriden dient in Verbindung mit ihrer Darstellung nicht nur zur Gewinnung reinen Wasserstoffs (z.B. Thermolyse von TiH < 2 bei 1000°C, von P d H < t bei 200°C, von UH 3 , UD 3 bzw. UT 3 bei 450-550 °C), sondern insbesondere auch zur Darstellung reiner Metalle. Da letztere meist pulverförmig anfallen, lassen sich Metalle (insbesondere der III. und IV. Nebengruppe einschließlich der Lanthanoide und Actinoide) auf dem Wege über ihre Hydride pulverisieren. In diesem Zusammenhang sei noch bemerkt, dass die Bildung spröder metallartiger Hydride aus dem Gefäßmaterial von Wasserstoffdruckautoklaven (z. B. aus Ti, Zr) zum drastischen Verlust der Materialfestigkeit führt, was der Grund für Explosionen der betreffenden Autoklaven sein kann Metalldarstellung nach dem Hydrimet-Verfahren (vgl. hierzu oben). Ein wichtiges technisches Verfahren zur Metalldarstellung stellt die bei 600-800 °C erfolgende Reduktion von pulverisierten Metalloxiden mit ebenfalls pulverisiertem und mit den Oxiden innig vermischtem CaH 2 zu Metallen M wie Ti, Zr, V, Nb, Ta, Cr, Mo, W, Mn, Fe, Cu, B, Al, Si, Sn, Pb dar (,,Hydrimet-Verfahren"): «CaH 2 + M0„ ^ M + n CaO + nH 2 (Hierbei wirkt CaH 2 wohl nicht direkt, sondern nach Spaltung in die Elemente durch entstandenes Ca indirekt als Reduktionsmittel.) Der Vorteil dieser Reaktion mit CaH 2 statt - wie ebenfalls gebräuchlich - mit Mg, Al oder Si (s. dort) besteht in der relativ niedrigen Reakionstemperatur, der Bildung einer metallschützenden H2-Atmosphäre und der - meist - quantitativ verlaufenden Reduktion zum Metall (und nicht zu niedrigwertigen Metalloxiden oder Ca/M-Legierungen; die Legierungstendenz von Ca ist klein). Auch lässt sich das Metall durch Waschen des Reaktionsgemischs mit Wasser in einfacher Weise isolieren. Statt der Metalloxide werden auch Metallsulfide oder Halogenide, statt des Calciumhydrids auch Lithiumoder Natriumhydrid verwendet (z.B. dient NaH zum Entrosten von Stahl). Wasserstoffspeicherung (s. dort). Wasserstoff hat von allen chemischen Brenn- und Treibstoffen den höchsten Energiegehalt pro Gewichtseinheit und bildet bei der Verbrennung - anders als Kohle, Erdöl, Erdgas - keine umweltschädlichen Produkte. Er stellt somit ein idealer sekundärer Energieträger für Kraftwerke oder Transportmittel dar. Eine für die Wasserstoffenergiewirtschaft unumgängliche Lagerung des Wasserstoffs kann in gekühlten, mit flüssigem Wasserstoff gefüllten Gefäßen (,, Wasserstofftanks") oder besser - in ungekühlten, mit gasförmigem Wasserstoff ,,gefüllten" Metallen oder Legierungen (,, Wasserstoffspeicher") erfolgen. Die Wasserstoffspeicher sollten hierbei Wasserstoff bei Raumtemperatur unter leicht erhöhtem Druck bis zur Dichte des flüssigen Wasserstoffs aufnehmen und bei niedrigem Druck wieder reversibel abgeben, wobei von den wasserstoffbeladenen Speichern Stabilität gegen Sauerstoff erwartet wird. Bewährt hat sich die Legierung LaNi 5 , die bei Raumtemperatur Wasserstoff reversibel
296
VIII. Der Wasserstoff und seine Verbindungen |— Elektronenstrom
II
KOH — OH -
LaNi 5 Anode
Fig.95
|
NiO(OH)
LaNi 5 H
Ni(OH) 2 Elektrolyt
i LaNi 5 H I + OH~
j LaNi 5 + H 2 O + 0
NiO(OH) + H 2 O + 0
Ni(OH)2+OH~
\ LaNi 5 H I + NiO(OH)
* L
7 LaNi 5+ Ni(OH) 2 + Energie
Kathode
Metallhydrid-Nickel-Akkumulator (schematisch).
bis zur Grenzzusammensetzung LaNi 5 H 6 7 aufnimmt (in den heutigen Speichern ist Ni zum Teil durch Co sowie durch Spuren Mn, Al, Si ersetzt und La durch eine billigere Mischung aus La, Ce, Pr, Nd). Geprüft auf ihre Eignung als ,,Niedertemperaturspeicher" wurden AB2-Legierungen mit A z.B. Ti, Zr, V und B z.B. Cr, Mn, Co, Ni, Al. Als ,,Hochtemperaturspeicher" bietet sich Mg an (s.dort). Metallhydrid-Nickel-Akkumulatoren (vgl. S. 237). Der MH/Ni-Akku besteht gemäß Fig. 95 aus L a N ^ H als negative bzw. NiO(OH) als positive Aktivmasse und wässeriger Kalilauge (im Kunststoffvlies) als fester Elektrolyt. Beim Entladen E spielen sich die in Fig. 95 wiedergegebenen Redoxteilreaktionen ab, die sich beim Laden L umkehren. Der MH/Ni-Akku (auch als ,,Nickel-Metallhydrid-Akku" bezeichnet) ist eine Weiterentwicklung des weniger umweltverträglichen, weniger Energie pro Gewichts- oder Volumeneinheit liefernden Ni/CdAkkus (S. 1117; Vertrieb in Europa nur noch bis 2007 erlaubt). Es werden sowohl MH/Ni-Großakkumulatoren (Kraftfahrzeuge, Kraftwerke, Luft- und Raumfahrt) als auch MH/Ni-Kleinakkumulatoren (Akkuschrauber, Gameboys, Laptops, Mobiltelefone usw.) genutzt.
Teil B Hauptgruppenelemente
Gekürztes Periodensystem der Elemente 0 1
I
II
1 H 1.0079
2 H 4.0026
1
0
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
0
1
2
13
14
15
16
17
1
2
2 He 4.0026
3 Li 6.941
4 Be 9.0122
5 B 10.811
6 C 12.011
7 N 14.0067
8 O 15.9994
9 F 18.9984
10 N 20.1797
2
3
10 Ne 20.1719
11 Na 22.9898
12 Mg 24.3050
13 Al 26.9815
14 Si 28.0855
15 P 30.9738
16 S 32.066
17 Cl 35.4527
18 A 39.948
3
4
18 Ar 39.948
19 K 39.0938
20 Ca 40.078
31 Ga 69.723
32 Ge 72.61
33 As 74.9216
34 Se 78.96
35 Br 79.904
36 K 83.80
4
5
36 Kr 83.80
37 Rb 85.4678
38 Sr 87.62
49 In 114.82
50 Sn 118.710
51 Sb 121.75
52 Te 127.60
53 I 126.904
54 X 131.29
5
6
54 Xe 131.29
55 Cs 132.905
56 ] 81 ] Ba Tl 137.327 ] 204.383
82 Pb 207.2
83 Bi 208.980
84 Po 209.983
85 At 209.987
86 R 222.018
6
7
86 Rn 222.018
87 Fr 223.020
88 Ra 226.025
113 Eka-Tl 284
114 Eka-Pb 290
115 Eka-Bi 288
116 Eka-Po 293
117 Eka-At
118 Eka-R 294
7
0
1
2
13
14
15
16
17
1
0
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
1 ]
]
„In der Naturwissenschaft ist die Vorstellungskraft genauso wichtig wie die Beobachtung.'" VAN'T HOFF, 1887
Kapitel IX
Hauptgruppenelemente (Repräsentative Elemente)
1
Periodensystem (Teil II) 1 der Hauptgruppenelemente
G e m ä ß dem auf S. 73 Besprochenen zählt m a n die 50 Elemente mit den Ordnungszahlen 1 - 2 0 (H bis Ca), 31-38 (Ga bis Sr), 4 9 - 5 6 (In bis Ba), 81-88 (Tl bis Ra) und 113-118 (Eka-Tl bis Eka-Rn) zu den Hauptgruppenelementen („repräsentativen" Elementen). Bei ihnen erfolgt, wie ebenfalls bereits angedeutet wurde (S. 90), ein Ausbau der äußersten Elektronenschalen mit insgesamt acht Elektronen, und zwar zunächst mit zwei s-Elektronen von 0 auf 2 (,,s-Block-Elemente"), anschließend mit sechs p-Elektronen von 2 auf 8 (,,p-Block-Elemente"). Die Besetzung der für die p-Elektronen zur Verfügung stehenden drei p-Orbitale in jeder Hauptschale erfolgt gemäß der Hund'schen Regel (s. dort) zunächst einzeln mit Elektronen des gleichen Spins. D a n n beginnt die paarige Einordnung der Elektronen. Im Folgenden wollen wir uns etwas näher mit der Elektronenkonfiguration der 44 Hauptgruppenelemente, ihrer hieraus abzuleitenden Einordnung in das Periodensystem sowie mit Trends einiger ihrer Eigenschaften befassen.
1.1
Elektronenkonfiguration der Hauptgruppenelemente
Die Tab. 39 gibt f ü r die nach steigender Kernladungszahl geordneten Hauptgruppenelemente die Verteilung der Elektronen auf die verschiedenen Elektronenschalen wieder, wobei die jeweils neu hinzugekommenen Elektronen in der Spalte „Schalenaufbau" durch fetteren Druck hervorgehoben sind (jede Hauptschale n nimmt maximal 2 • « 2 Elektronen auf; bezüglich einer Erläuterung der Spalte „Elektronenkonfiguration" vgl. S. 92 und 96). Das Elektron des „Wasserstoffatoms" befindet sich in der innersten ersten Schale. Das gleiche gilt für die beiden Elektronen des „Heliumatoms". Damit ist die 1. Schale bereits voll aufgefüllt (2 • 1 2 = 2). Mit dem nächsten Element, dem „Lithium", beginnt der Aufbau der 2. Schale. Da diese insgesamt 8 Elektronen aufzunehmen vermag (2 • 22 = 8), ist sie erst nach acht Elementen, also beim „Neon" abgeschlossen. Das nächste Elektron tritt in die 3. Schale ein („Natrium"). Diese erreicht dann beim „Argon" mit 8 Elektronen einen vorläufigen Abschluss. Sie ist zwar mit 8 Elektronen noch nicht gesättigt, da ihre Maximalzahl an Elektronen 2 • 32 = 18 beträgt; aber die Zahl 8 stellt - wie aus der maximalen Elektronenzahl 8 der 2. Schale hervorgeht - eine stabile Zwischenstufe der Elektronenanordnung dar. Mit dem „Kalium" und „Calcium" (Ausbildung einer Zweier-Außenschale wie beim Helium) beginnt die Bildung der 4. Schale. Dann folgen 10, in der Tabelle nicht aufgeführte, sondern nur durch eine gestrichelte Linie angedeutete ,,Übergangsmetalle" (Kernladungszahl 21 bis 30), bei denen die Elektronenzahl der noch unvollständig gebliebenen 3. Schale von 8 auf die Sättigungszahl 18 ergänzt wird. Das „Gallium" setzt dann die vorher begonnene Besetzung der 4. Schale fort, die beim „Krypton" mit der schon erwähnten stabilen Zwischenanordnung von 8 Elektronen ihren vorläufigen Abschluss findet. „Rubidium" und „Strontium" (Ausbildung einer „Helium"-Außenschale als Zwischenschale) eröffnen den Aufbau der 5. Schale. Dann erfolgt wie zuvor durch 10 in der Tabelle nicht aufgeführte Übergangsmetalle (Kernladungszahl 39 bis 48) die Auffüllung der noch unvollständig gebliebenen nächstinneren 4. Schale von der Zahl 8 auf die
1
Teil I: S.73, Teil III: S. 1303, Teil IV: S. 1877.
300
IX. Hauptgruppenelemente
Tab. 39 Aufbau der Elektronenhülle der Hauptgruppenelemente im Grundzustand. (Über die Elektronenanordnung der in der Tabelle ausgelassenen Elemente (gestrichelte Linien) und ihre Einordnung in das Periodensystem wird auf S. 1303 und S. 1877 näher berichtet.) Elemente E Nr. E Name
i
er
Elektronenkonfiguration Symbol
1H 2 He
Wasserstoff Helium
3 Li 4 Be 5 B 6C 7 N 8 O 9 F 10 Ne
Lithium Beryllium Bor Kohlenstoff Stickstoff Sauerstoff Fluor Neon
[He] [He] [He] [He] [He] [He] [He] [He]
2s 1 2 s2 2s 2 2 p i 2s 2 2p2 2s 2 2 p 3 2s 2 2 p 4 2s 2 2p 5 2s 2 2 p 6
11 12 13 14 15 16 17 18
Natrium Magnesium Aluminium Silicium Phosphor Schwefel Chlor Argon
[Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne]
3 si 3 s2 3 s2 3 p i 3 s 2 3 p2 3 s 2 3 p3 3 s 2 3 p4 3 s 2 3 p5 3 s 2 3 p6
19 K 20 C
Kalium Calcium
[Ar] 4si [Ar] 4s2
31 32 33 34 35 36
Gallium Germanium Arsen Selen Brom Krypton
[Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar]
37 Rb 38 S
Rubidium Strontium
[Kr] 5 s i [Kr] 5 s 2
49 50 51 52 53 54
Indium Zinn Antimon Tellur Iod Xenon
[Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr]
55 Cs 56 B
Cäsium Barium
[Xe] 6 s1 [Xe] 6 s 2
81 82 83 84 85 86
Thallium Blei Bismut Polonium Astat Radon
[Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe]
87 Fr 88 R
Francium Radium
[Rn] 7 s1 [Rn] 7 s 2
113 114 115 116 117 118
Eka-Tl Eka-Pb Eka-Bi Eka-Po Eka-At Eka-Rn
[Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn]
N Mg AI Si P S Cl Ar
Ga Ge A S B Kr
In S S T Xe
T Pb B P A R
3di° 3di° 3di° 3di° 3di° 3di°
4di° 4di° 4di° 4di° 4di° 4di°
4f" 4f" 4f" 4f" 4f" 4f"
4s 2 4s 2 4s 2 4s 2 4s 2 4s 2
Term
Schalenaufbau 2sp 3spd ls
4spdf
5spdf
4pi 4p2 4p3 4p4 4p5 4p6
5s25pi 5s 2 5p2 5s 2 5p3 5s25p4 5s 2 5p5 5s 2 5p6
18 18 18 18 18 18 18 18
5di° 5di° 5di° 5di° 5di° 5di°
6s 2 6 p i 6s26p2 6s 2 6p3 6s26p4 6s 2 6p5 6s 2 6p6
5f"6di°7s27pi 5f"6di°7s27p2 5f"6di°7s27p3 5f"6di°7s27p4 5f"6di°7s27p5 5 f " 6di° 7 s 2 7 p 6
32 32 32 32 32 32
18 18 18 18 18 18
32 32
18 18
32 32 32 32 32 32
32 32 32 32 32 32
6spd
7sp
2. Trends einiger Eigenschaften der Hauptgruppenelemente
301
nächststabile, aber noch nicht maximale Zahl von 18 Elektronen (für n = 4 ist 2 • n2 = 32). Dann erst wird wieder durch die Elemente „Indium" bis „Xenon" die 5. Schale bis zur Elektronenzahl 8 ergänzt. Mit dem „Cäsium" und „Barium" (Helium-Zwischenschale) beginnt die 6. Schale. Durch 10 + 14 = 24 in der Tabelle fortgelassene Übergangsmetalle (Kernladungszahl 57 bis 80) wird anschließend die 5. Schale von 8 auf 18 und die 4. Schale von 18 auf 32 Elektronen ergänzt, so dass erst mit dem „Thallium" der Weiterausbau der seit dem Barium unverändert gebliebenen 6. Schale bis zur Elektronenzahl 8 („Radon") erfolgt. Die Elemente 87 („Francium") und 88 („Radium") (Helium-Zwischenschale) eröffnen die 7. Schale. Die folgenden, in der Tabelle nicht aufgeführten 10 + 14 = 24 Übergangsmetalle (Kernladungszahl 89 bis 112) bauen ihre neu hinzukommenden Elektronen in der noch ungesättigten 5. und 6. Schale ein. Auf das Element 112 folgen 6 Elemente (Kernladungszahl 113 bis 118), die gemäß Tab. 39 die Elektronenzahl der 7. Schale von 2 auf 8 ergänzen. Element 118 wäre wieder ein Edelgas (Eka-Rn).
1.2
Einordnung der Hauptgruppenelemente in das Periodensystem
Wie bereits auf S. 74 angedeutet wurde, bringt m a n die besprochenen Zusammenhänge in übersichtlicher F o r m durch das auf S. 297 wiedergegebene gekürzte Periodensystem zum Ausdruck (vgl. hierzu den orangefarbenen Teil des „kombinierten Periodensystems", Tafel VI). Es leitet sich vom ungekürzten Periodensystem („Langperiodensystem", vgl. Tafel I) durch Weglassen aller Nebengruppenelemente ab und umfasst die waagrechten Perioden 1 bis 7 und - abgesehen von der ersten ,,kurzen Periode" - die senkrechten Gruppen I - V I I I (die 0. und VIII. Gruppe sind miteinander identisch). Für letztere nutzt m a n auch die in Tab. 40 wiedergegebenen Gruppenbezeichnungen. Über den einzelnen Elementsymbolen ist die Kernladungszahl, unter ihnen die relative Atommasse der betreffenden Elemente angegeben. Die links und rechts neben einer waagrechten Periode stehende arabische Zahl („Periodennummer"') gibt zugleich die Hauptquantenzahl der äußersten, mit Elektronen besetzten Schale wieder, die ober- und unterhalb jeder senkrechten Gruppe stehende römische Zahl („Gruppennummer"') zugleich die Anzahl von Elektronen in der betreffenden Außenschale. Auf die Bedeutung der ebenfalls aufgeführten arabischen Gruppennummern, die dem Langperiodensystem entstammen (Tafel I), und sich auf die Gesamtzahl der Elementgruppen - einschließlich der an der Stelle des gestrichelten Pfeils ausgelassenen Nebengruppen - beziehen, wird auf S. 1303, 1877 näher eingegangen.
2
Trends einiger Eigenschaften der Hauptgruppenelemente (Tafel III)
D a sich die in Tab. 39 aufgeführten Hauptgruppenelemente im Elektronenbau der äußersten Hauptschale unterscheiden, sind die Eigenschaften der Elemente charakteristisch voneinander verschieden. Dies erkennt m a n schon daran, dass die Elemente unter Normalbedingungen teils gasförmig (Edelgase, Fluor, Chlor, Sauerstoff, Stickstoff), flüssig (Brom) oder fest (übrige Elemente), teils als Nicht- sowie Halbmetalle mit bestimmten Farben oder als Metalle mit silberigem Glanz vorkommen und dass die Elemente entsprechend ihrer Außenelektronenzahl unterschiedliche Wertigkeiten betätigen. Im Sinne einer deutlichen Periodizität ändern sich die Eigenschaften der Elemente innerhalb einer Periode (gleiche Außenschale, unterschiedliche s ^ - K o n f i g u r a t i o n ) in prinzipieller, innerhalb einer Gruppe (unterschiedliche Außenschalen, gleiche ^p^-Konfiguration) in gradueller Weise. Einige Eigenschaften der Hauptgruppenelemente sind in der Tafel II zusammengestellt Nachfolgend soll zunächst auf den metallischen und nichtmetallischen Charakter, auf die Wertigkeit und auf die allgemeine Reaktivität der Hauptgruppenelemente eingegangen werden. Ein abschließendes Unterkapitel befasst sich dann mit Periodizitäten im Hauptsystem. Be-
302
IX. Hauptgruppenelemente
Tab. 40
Bezeichnungen der einzelnen Hauptgruppenelementfamlien.
Gruppe"'
Element
Gruppenbezeichnung
Symbole
I II III IV V VI VII VIII
Li, Na, K, Rb, Cs, Fr Be, Mg, Ca, Sr, Ba, Ra B, Al, Ga, In, Tl, Eka-Tl C, Si, Ge, Sn, Pb, Eka-Pb N, P, As, Sb, Bi, Eka-Bi O, S, Se, Te Po, Eka-Po F, Cl, Br, I, At, Eka-At He, Ne, Ar, Kr, Xe, Rn, Eka-Rn
Alkalimetalle Erdalkalimetalle Trieleb> Tetreleb Penteleb,c) Chalkogene Halogene Edelgase
(M1) (Mn) T T Pn Chalk Hal Eg
(1) (2) (13) (14) (15) (16) (17) (18)
(Z) (Y) (X) (Ng) d
a) In Klammern: Nummerierung im Langperiodensystem. - b) Von tri, tetra, penta (griech.) = drei, vier, fünf und Element. - c) Früher auch Pnictogene oder Pnicogene von pniktos (griech.) = erstickt. - d) Ng von Noble gases; noble (engl.) edel
züglich der Entdeckung der Hauptgruppenelemente sowie ihrer Verbreitung in der Erdhülle (Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre, Erdkruste) und ihrer Toxizität vgl. Tafeln II und III sowie S. 78 f
Metallischer und nichtmetallischer Charakter Metalle, Halbmetalle, Nichtmetalle Im Periodensystem der Hauptgruppenelemente nimmt (wie auf S. 77 bereits angedeutet) von links nach rechts und von unten nach oben, also in der Richtung nach rechts oben hin der nichtmetallische (elektronegative) und in umgekehrter Richtung, also nach links unten hin der metallische (elektropositive) Charakter der Elemente zu. Infolgedessen enthält die I. und II. Hauptgruppe nur Metalle (Charakteristika: meist silberig-glänzend, formbar, wenig flüchtig, strom- und wärmeleitend; vgl. S. 114), die VII. und VIII. Hauptgruppe nur Nichtmetalle (Charakteristika: nicht-glänzend, farbig, spröde, meist flüchtig, nicht-stromleitend, schlecht wärmeleitend; vgl. S. 132). Deshalb sind sich die Alkaliund Erdalkalimetalle einerseits und die Halogene und Edelgase andererseits untereinander jeweils sehr ähnlich, während dies gemäß nachfolgender Tab. 41 bei den mittleren Hauptgruppen nicht mehr der Fall ist, da diese sowohl Metalle (unterer Bereich) wie Nichtmetalle (oberer Bereich) enthalten, und zusätzlich im dazwischen liegenden, grau unterlegten Bereich der Tabelle auch noch Halbmetalle bzw. Halbleiter (Charakteristika: mattgrau-glänzend, spröde, wenig flüchtig, mäßig strom- und wärmeleitend; vgl. S.148, 1421; Iod, Astat und R a d o n stehen an der Grenze zu den Halbmetallen sowie -leitern). So ist in der III. und IV. Hauptgruppe „Diamant-Kohlenstoff" ein typisches Nichtmetall, während „Graphit-Kohlenstoff", ,,Bor", „Gallium", „Silicium", „Germanium" und graues „a-Zinn" Halbmetalle bzw. -leiter (Bor an der Grenze zu den Nichtmetallen, Gallium an der Grenze zu den Metallen), die verbleibenden Elemente „Aluminium", „Indium", „Thallium", weißes ,,ß-Zinn" und „Blei" Metalle Tab. 41
Metallischer, halbmetallischer und nichtmetallischer Charakter der Hauptgruppenelemente. Metalle (Leiter
Halbmetalle (Halbleiter
a)
I
II
2 3 4 5 6
Li Na K Rb Cs
Be Mg Ca Sr Ba
Nebengruppenmetalle
Nichtmetalle (Nichtleiter III
IV
V
VI
VII
VIII
B
C Si Ge Sn Pb
N P As Sb Bi
O S Se Te Po
F Cl Br I At
N A K X R
(Al) Ga In Tl
a) Zu den Hauptgruppenelementen der Tabelle kommen noch H, He, Fr, Ra sowie Eka-Tl bis Eka-Rn.
2. Trends einiger Eigenschaften der Hauptgruppenelemente
303
darstellen, wobei man AI - wie auch die Metalle der I. und II. Hauptgruppe - zu den Leichtmetallen (Dichten < 5 g(cm3), In, Tl, ß-Sn, Pb zu den Schwermetallen (Dichten > 5 g/cm3) zählt. Der metallische Charakter wächst also - wie erwartet - beim Übergang von Elementen der Kohlenstoffgruppe zu entsprechenden Elementen der Borgruppe sowie innerhalb beider Gruppen vom Bor zum Thallium sowie vom Kohlenstoff zum Blei hin (bezüglich der Unregelmäßigkeit bei Al s. weiter unten). Dementsprechend ist Diamant-Kohlenstoff ein harter, spröder Stoff mit starken Kovalenzbindungen (Analoges gilt — abgeschwächt - für B, Si, Ge), Thallium bzw. Blei ein weicher, duktiler Stoff mit schwächeren Metallbindungen (Analoges gilt - abgeschwächt - für C Graphit , Al, Ga, I n ß-Sn, (Sb), Bi, Po). Auch zeigt sich der wachsende Metallcharakter in der Zunahme der Koordinationszahlen der Elementatome (B, a-Ga: < 12; bzgl. Ga vgl. S. 1180); Al, In, Tl: 12; C Diamant bis o:-Sn: 4; ß-Sn bis Pb: 12). Auffallenderweise steigt die elektrische Leitfähigkeit (S. 1421) innerhalt) beider Elementgruppen von oben nach unten nicht kontinuierlich an (vgl. Tafel III). Gründe hierfür werden weiter unten (S. 309) besprochen. In der V. und VI. Hauptgruppe sind „Stickstoff", „Sauerstoff" und „Schwefel" ausgesprochene Nichtmetalle (Leitfähigkeit wie bei CDiamant ^ 10 10 ^ 1 cm 1 ). „Phosphor", „Arsen" und „Selen" kommen außer in typischen nichtmetallischen Formen (weißer und violetter Phosphor, gelbes Arsen, rotes Selen) bereits in halbleitenden Modifikationen vor (schwarzer Phosphor, graues Arsen, graues Selen), die sich durch starke Lichtabsorption bzw. -reflexion und ein gewisses Leitvermögen für den elektrischen Strom auszeichnen (S. 1421). Bei „Antimon", „Bismut", „Tellur" und „Polonium" ist diese halbleitende bzw. metallische Form bereits die bevorzugte Erscheinungsform, wobei letzteren Elementen eine elektrische Leitfähigkeit wie vielen Metallen zukommt (> 10 _ 1 cm - 1 ). In der II. Hauptgruppe (Erdalkalimetalle) sind - wie angedeutet - alle Elemente Metalle, in der VII. Hauptgruppe (Halogene) alle Elemente Nichtmetalle, jedoch nimmt auch hier der metallische Charakter zum leichtesten Erdalkalimetall, der nichtmetallische Charakter zum schwersten Halogen hin ab. „Beryllium" bildet dementsprechend zum Unterschied von den übrigen Erdalkalimetallen bereits ein amphoteres Hydroxid (s.u.), und beim „Iod" fällt schon ein äußeres Kennzeichen der Metalle, der Metallglanz, ins Auge. Basizität und Acidität D a mit dem metallischen Charakter eines Elements E auch der basische und mit dem nichtmetallischen Charakter auch der saure Charakter der betreffenden Elementsauerstoffverbindungen2 wächst, sind die Hydroxide E ( O H ) und E ( O H ) 2 in der I. und I I . H a u p t g r u p p e alle Basen ( E ( O H ) ^ E + + O H " ; E ( O H ) 2 ^ ± E 2 + + 2 O H ) und die in der VII. und VIII. Hauptgruppe alle Säuren (EOH ^ EO~ + H + ) , während sich die Hydroxide von Elementen in der Mitte des Hauptsystems - einschließlich Beryllium- und Astathydroxid - mehr oder minder amphoter, also zugleich wie Säuren und Basen verhalten (Richtung links oben nach rechts unten; ausgesprochen amphoter: Be(OH) 2 , Al(OH) 3 , G a ( O H ) 3 , Sn(OH) 2 , Sb(OH) 3 , P o ( O H ) 2 , At(OH)). Entsprechend dem metallischen (nichtmetallischen) Charakter der Hauptgruppenelemente, der im Periodensystem von rechts oben nach links unten (von links unten nach rechts oben) wächst, erhöht sich der basische (saure) Charakter der betreffenden Elemensauerstoff-Verbindungen, wie etwa nachfolgende Beispiele von Basen und Säuren der höchstoxidierten Elemente aus der 3. Periode und III. Hauptgruppe zeigen (die Basenstärke nimmt ab, die Säurestärke zu mit wachsender Oxidationsstufe des Elements, z. B. T I O H basischer als Tl(OH) 3 und H 2 S O 4 saurer als H 2 S O 3 ; vgl. S.245 sowie bei den betreffenden Elementen). (schwache Säure)
B(OH) 3 NaOH
Mg(OH) 2 Al(OH)3
Si(OH) 4 PO(OH) 3 SO 2 (OH) 2 Cl0 3 (OH)
Ga (OH)3 In (OH) 3 Tl(OH) 3 (schwache Base)
2
Bezüglich der Basizität und Acidität von Elementwasserstoffverbindungen vgl. S.292.
304
IX. Hauptgruppenelemente
Die aus der Kombination von Basen und Säuren hervorgehenden Salze weisen erwartungsgemäß umso ausgeprägteren Salzcharakter auf - erkenntlich u. a. an der Ionenbildungstendenz in Wasser sowie der Thermolyse- und Hydrolysestabilitäten - je stärker die betreffenden Basen und Säuren sind. So treten im sauren Milieu alle Hydroxide von Elementen der I. und II. Hauptgruppe oder Metallen der III. bis VII. Hauptgruppe in niedriger positiver Wertigkeit (Tl + , Sn2 + , Pb 2 + , Bi3 + , Po 2 + , At + ; Ga + und In + sind in Säure redoxinstabil) in Form von Kationen auf, wobei letztere mit H 2 S gefällt werden (Bildung von T12S, SnS, PbS, Bi2S3, PoS, At2S). Des weiteren lassen sich etwa die Carbonate oder Nitrate der Erdalkalimetalle oder Triele in Richtung von Beryllium zum Radium bzw. vom Bor zum Thallium hin zunehmend schwerer thermisch, die Halogenide dieser Elemente in gleicher Richtung zunehmend schwerer hydrolytisch zersetzen, wobei allerdings die Halogenide der Borgruppe alle mehr oder minder stark mit Wasser reagieren (EX3 + 3 H 2 0 -> E(OH) 3 + 3HX), während die einwertigen Thalliumhalogenide vergleichsweise wasserstabil sind. In analoger Weise wächst die Hydrolyseneigung in der IV. und V. Hauptgruppe mit der Oxidationsstufe und abnehmender Ordnungszahl des Elements. So wird etwa SiCl4 sehr heftig, PbCl2 gar nicht und SnCl4 leichter als SnCl2 hydrolysiert. Auch zersetzen sich PC13 und AsCl3 in Wasser bis zu den zugrundeliegenden Säuren E(OH) 3 , während SbCl3 und BiCl3 in basische Chloride „SbOCl" und „BiOCl" übergehen, wovon nur SbOCl bei fortgesetzter Behandlung mit Wasser langsam weiter in Sb(OH) 3 umgewandelt wird. Dass CX 4 nicht hydrolysiert, ist auf eine kinetische Hemmung zurückzuführen, ohne diese CX 4 heftig mit Wasser reagieren würde. Analoges gilt für N F . NC13 ist mit den übrigen Gruppenchloriden nicht vergleichbar, da es nach NC13 + 3 H 2 0 -> NH 3 + 3 HOCl hydrolysiert.
Wertigkeit Die Maximalwertigkeit der Hauptgruppenelemente (Metallwertigkeit in M e t a l l e n Ionenwertigkeit oder Oxidationsstufe in elektrovalenten Verbindungen Bindigkeit oder Oxidationsstufe in kovalenten Verbindungen) wächst gegenüber stark elektronegativen Elementen wie „Sauerstoff" und „ F l u o r " gemäß dem nachfolgenden Schema von 0 in der 0. Hauptgruppe (leichte Edelgase) bis 8 in der VIII. Hauptgruppe (schwere Edelgase) und entspricht somit jeweils der Gruppennummer, wie etwa die beiden Reihen Ne, N a 2 O , MgO, A1 2 0 3 , S i 0 2 , P 2 O s , S O , C1 2 0 7 , X e 0 4 bzw. Ne, NaF, M g F 2 , AlF 3 , SiF 4 , P F 5 , SF 6 , I F 7 , X e F 8 (unbekannt) zeigen. Die Maximalwertigkeit gegenüber weniger elektronegativen Elementen wie dem „Wasserstoff" oder dem „ I o d " steigt - sofern das Vorzeichen der Wertigkeit unberücksichtigt bleibt in der 0. bis IV. Hauptgruppe von 0 bis 4 an, um dann in der IV. bis VIII. Hauptgruppe wieder von 4 auf 0 zu fallen, wie folgende zwei Reihen lehren: Ne, N a H , M g H 2 , AlH 3 , SiH 4 , P H , SH 2 , ClH, Ar bzw. Ne, NaI, M g l 2 , All 3 , Sil 4 , PI 3 , SI 2 , ClI, Ar.
0
I
II
Ha ptgru ppe III IV V
VI
VII
VIII 0
0 0 m 0 m 0
2 1
0
5 4
0 0
6
maximale Wertigkeit gegen O und F (nicht erreichbar bei O, F Edelgasen; es existiert X e 0 4 )
4 3
0
2
0 0 0
maximale Wertigkeit gegen H und I (Tll 3 und Pbl 4 existieren nicht)
Zwischen den umrandeten Wertigkeiten der Hauptgruppen VI bis VIII treten gemäß obiger Tabelle jeweils noch Zwischenwertigkeiten auf, die sich von diesen um je zwei Einheiten unterscheiden (z. B. in der VI. Hauptgruppe zwischen SF Ö und SF 2 die Verbindung SF 4 , in der VII. Hauptgruppe zwischen I F 7 und I F die Verbindungen I F 5 , ff 3 , in der VIII. Hauptgruppe zwischen X e F 8 (unbekannt) und Xe die Verbindungen XeF 6 , XeF 4 , XeF 2 ), während dazwischenliegende Oxidationsstufen nur in Ausnahmefällen beobachtet werden (vgl. etwa N O , N O in der V., C l 0 2 in der VII. Gruppe). Weiterhin neigen die im oben wiedergegebenen Periodensystem der Hauptgruppenelemente (S. 297) rechts vom gestrichelten Pfeil stehenden Elemente der Hauptgruppen III und IV mit steigender Atommasse immer stärker zu einer
2. Trends einiger Eigenschaften der Hauptgruppenelemente
305
im Vergleich zur Gruppennummer um zwei Einheiten kleineren Wertigkeit (vgl. etwa TlCl in der III., SnCl 2 und PbCl 2 in der IV. Hauptgruppe). Durch Abgabe von nur 1 (III. Hauptgruppe) bzw. 2 (IV. Hauptgruppe) Außenelektronen erlangen sie nämlich die ausschließlich aus stabilen 2er, 8er, 18er und 32er Schalen aufgebauten Elektronenanordnungen der links angrenzenden Elemente Zn, Cd und H g (s. dort), bei welchen den Elementen eine Zweierschale von Außenelektronen (,,Helium"-Schale) verbleibt („Effekt des inerten Elektronenpaares")3. Je nachdem der Rest X in Verbindungen EX„ elektronegativer oder elektropositiver als das betrachtete Hauptgruppenelement E ist, kommt der Wertigkeit (Oxidationsstufe) des Elements ein positives oder negatives Vorzeichen zu.So enthalten etwa die Wasserstoffverbindungen EH, E H und E H von Elementen der I., II. und III. Hauptgruppe negativ-polarisierten, die der VII., VI. und V. Hauptgruppe positivpolarisierten Wasserstoff, so dass also die betreffenden Elemente positiv- bzw. negativ-einwertig, -zweiwertig und -dreiwertig sind, während in der IV. Hauptgruppe Kohlenstoff in C H positiv-vierwertig, Silicium, Germanium, Zinn und Blei in SiH4, GeH 4 , SnH 4 , PbH 4 negativ-vierwertig vorliegen (vgl. S. 277). Entsprechendes gilt für die Iodverbindungen. Die Minimaloxidationsstufen der Hauptgruppenelemente gegenüber stark elektropositiven Elementen wie den Alkali- und Erdalkalimetallen (bzw. H, I in den höheren Elementgruppen) beträgt in der 0., I., II. und III. Hauptgruppe 0, —1,0 und — 1 und steigt in der IV. bis VIII. Hauptgruppe von — 4 bis 0 an, wie etwa folgende Reihe demonstriert: Ne, Na ~3), Mg, LiAl, Ca2Si, Ca 3 P 2 , Na 2 S, NaCl, Ar. Einschließlich der oben erwähnten Maximaloxidationsstufen erstrecken sich damit die Oxidationsstufen der Hauptgruppenelemente zwischen den nachfolgend angegebenen Grenzen
0
I
II
Hauptgruppe III IV V
0
+1
+2
+3
+4
+5
+6
+7
+8
maximale Oxidationsstufe
0
—1
0
—1
—4
—3 — 2
—1
0
minimale Oxidationsstufe
VI
VII VIII
Zwischen den in der IV.-VI. Hauptgruppe gegenüber weniger elektronegativen Resten betätigten minimalen Oxidationsstufen —4, —3, —2 und maximalen Oxidationsstufen + 4, +3, + 2 treten Zwischenoxidationsstufen auf, die sich wiederum um je zwei Einheiten unterscheiden, sofern man sich auf Verbindungen E X mit einem zentralen Elementatom beschränkt (z. B. in der IV. Hauptgruppe zwischen C ~ IV H 4 und C + i v f 4 die Verbindungen C" n H 3 F, C 0 H 2 F 2 , C + "HF 3 , in der V. Hauptgruppe zwischen N~ r a H 3 und N + raF3 die Verbindungen N~'H 2 F und N + ' H F , in der VI.Hauptgruppe zwischen O~ n H 2 und 0 + n F 2 die Verbindung O°HF). In Verbindungen EmX„ mit mehreren zentralen Elementatomen kommen letzteren allerdings auch dazwischenliegende Oxidationsstufen zu (z. B. hat Kohlenstoff im Ethan C 2 H 6 , Acetylen C 2 H 2 , Difluoracetylen C 2 F 2 bzw. Tetrafluorethylen C 2 F 4 die Oxidationsstufe —3, —1, + 1 bzw. + 2, Stickstoff in Diimin N 2 H 2 bzw. Difluordiimin N 2 F 2 die Oxidationsstufe —1 bzw. +1, Sauerstoff in Wasserstoffperoxid 0 2 H 2 die Oxidationsstufe — 1).
Allgemeine Reaktivität Im oben wiedergegebenen Periodensystem der Hauptgruppenelemente befinden sich in der I. Hauptgruppe („Alkalimetalle") und in der VII. Hauptgruppe („Halogene") die reaktionsfreudigsten Elemente, da die Atome dieser Grundstoffe besonders große Tendenz zeigen, durch Abgabe (I. Hauptgruppe) bzw. A u f n a h m e (VII. Hauptgruppe) je eines Elektrons die Elektronenschale des jeweils links bzw. rechts benachbarten Edelgases (0. bzw. VIII. Hauptgruppe) zu erlangen. Sowohl die Alkalimetalle wie die Halogene treten daher zum Unterschied von manchen Elementen der mittleren Hauptgruppen (z. B. C, N, O, As, S) in der N a t u r nie in elementarer F o r m auf. Die allgemeine Reaktivität der den Alkalimetallen folgenden bzw. den Halogenen vorausgehenden (weniger reaktionsfreudigen) Elementen der II., III. und IV. Hauptgruppe bzw. VI., V. und IV. Hauptgruppe, die durch Abgabe bzw. A u f n a h m e von 3
Auch bei den Elementen der I. und II. Hauptgruppe beobachtet man den Effekt des inerten Elektronenpaares. So tritt z.B. N a bei geeignetem, komplexem Kation [M(Donor)] + als Natrium-Anion N a " auf [M(Donor)] + Na~; Ca bildet mit geeigneten Komplexbildnern Verbindungen mit nullwertigem Calcium: Ca(NH 3 ) 6 , was in beiden Fällen eine abgeschlossene, unbeanspruchte s-Zweierschale bedingt.
306
IX. Hauptgruppenelemente
je zwei, drei oder vier Elektronen die Elektronenschale des jeweils zwei bis vier G r u p p e n weiter links bzw. rechts stehenden Edelgases erlangen, nimmt sowohl in ersteren Fällen (Oxidation der Elemente) wie letzteren Fällen (Reduktion der Elemente) mit wachsender Entfernung der Elemente von den Alkalimetallen bzw. Halogenen ab (vgl. hierzu etwa die Reaktionen der Elemente mit Wasserstoff (S. 285) sowie mit Wasser (S. 532)). Hinsichtlich der Reduktion der Alkalimetalle, Erdalkalimetalle, Triele, Tetrele bzw. Oxidation der Halogene, Chalkogene, Pentele, Tetrele trifft das Umgekehrte zu. Die Elemente der 0.- bzw. VIII.-Hauptgruppe („Edelgase") stellen, da sie stabile Außenschalen mit 8 Elektronen aufweisen, die reaktionsträgsten Elemente dar. Sie schließen sich den vorausgehenden Halogenen und nachfolgenden Alkalimetallen insofern an, als sie einerseits wie erstere flüchtige Nichtmetalle sind und andererseits wie letztere in ihren Verbindungen ausschließlich elektropositiv aufzutreten vermögen, wobei der elektropositive Charakter nur bei den schwersten Gliedern (Kr, Xe, Rn) und gegenüber den elektronegativsten Elementen (im wesentlichen nur F, O) zur Verbindungsbildung ausreicht Die Tab. 42 gibt die Normalpotentiale für die Übergänge der Hauptgruppenelemente E in ihre höchsten, der Gruppennummer n entsprechenden Oxidationsstufen (E E" + nQ sowie in die um zwei Einheiten kleineren Oxidationsstufen (E ^ E"~2 + (H — 2)Q) wieder (für weitere Redoxpotentiale vgl. Anh. VI). Nachfolgend sei im Zusammenhang mit dem edlen und unedlen Charakter der Hauptgruppenelemente kurz auf die Redoxkraft hoher, mittlerer und niedriger Wertigkeit der Elemente eingegangen. Redoxkraft hoher Oxidationsstufen. Innerhalb der einzelnen Hauptperioden (Entsprechendes gilt für die Nebenperioden, S. 1309) erniedrigt sich die Beständigkeit der der Gruppenzahl entsprechenden Maximalwertigkeit mit steigender Ordnungszahl der Elemente, sodass dementsprechend die Oxidationskraft der höchsten Oxidationsstufen E1 in gleicher Richtung wächst, (vgl. Tab.42, obere Hälfte, z.B. 5.Periode). Tab. 42 Normalpotentiale E0 [V] für E 0 /E" und E 0 /E" 2, saures Milieu (n = der Hauptgruppennummer entsprechende Wertigkeit). I
II
E°-
Ga, In -> Tl, Sn -> Pb, Sb -> Bi nicht zu-, sondern abnimmt. Auch erniedrigt sich die Äcidität beim Übergang Al(OH) 3 -> Ga(OH) 3 nicht, sondern sie erhöht sich. Schließlich wächst die Beständigkeit höchster Oxidationsstufen (Abgabetendenz für Elektronen) für die nachfolgend aufgeführten Elemente einer Hauptgruppe in Pfeilrichtung (vgl. S. 306): AI -, sondern zusätzlich über ^-Bindungen mit dem Zentralatom verknüpft (S. 574, 731, 907). Da sich aber die ^-Bindungen gleichmäßig über alle ZL-Bindungen verteilen, kommt es zu keinen Abweichungen der Strukturen von der „idealen" trigonal-planaren Molekülgeometrie. Erstreckt sich demgegenüber in einem Komplex L n Z=L / eine Doppelbindung wie z.B. in ,,Ethylenen" L 2 C = C H 2 oder „Ketonen" L 2 C = O (L u.a. H, Halogen) im Wesentlichen nur zu einem Liganden, so resultieren im Sinne der Regel 2 „reale" Molekülgeometrien mit Bindungswinkeln LZL < 120° und LZL' > 120° (vgl. Tab. 43), da die Abstoßungskraft
1. Strukturen der Moleküle
317
Tab.43
Bindungswinkel (wachsend in Pfeilrichtung) einiger Moleküle L 2 C = L ' und L—Z=L'. .. LZL in LZL
CH (117.7 )
C CH (114.0°)
T
H2C=0 (115.8 )
ClN0 > F N 0 (Tab. 44) geht auf die wachsende Elektronegativitätsdifferenz %Hal — XN zwischen Halogen und Stickstoff in gleicher Richtung zurück (Regel 3). Tetraedrische und pseudotetraedrische Strukturen. Gleiche L i g a n d e n Vier (er + n)-Valenzelektronenpaare richten sich nach den VSEPR-Modellvorstellungen (Regel 1) um ein Zentralatom tetraedrisch bzw.pseudotetraedrisch aus, was zu „tetraedrischen", ,,trigonal-pyramidalen" bzw. ,,gewinkelten" Molekülen ZL 4 , :ZL 3 bzw. Z L 2 führt (für Verbindungsbeispiele vgl. (d), (e), (f) sowie Tab. 44):
Allerdings entsprechen die LZL-Bindungswinkel aufgrund unterschiedlicher Abstoßungskräfte der freien und gebundenen Elektronenpaare von Z sowie Radien von L (vgl. Regeln 2, 3, 4) meist nicht dem Tetraederwinkel von 109.5°. Der Bindungswinkel in ,, Wasserstoffverbindungen" ZH4, ZHS und ZH2 der Tetrele, Pentele und Chalkogene erniedrigt sich gemäß Tab. 44 für Elemente der gleichen Periode in Richtung ZH 4 , ZH 3 , ZH 2 (wachsende Anzahl von freien Elektronenpaaren; Regel 2), für Elemente der gleichen G r u p p e (ohne ZH 4 ) mit wachsender 0rdnungszahl des Elements (Regel 4). Die Zunahme der Bindungswinkel im Falle von ,,Pentel"- und ,,Chalkogenhalogeniden" ZX3 bzw. SX 2 ^ 0 X 2 (X jeweils F, ZX 2 in Richtung SbX 3 AsX 3 PX 3 • N X bzw. TeX 2 • SeX 2 Cl, Br oder I; Tab. 44) oder in Richtung ZF 3 ZC13 ^ ZBr 3 ZI 3 bzw. ZF 2 ZC12 ^ ZBr 2 (Z jeweils N bis Sb oder 0 bis Te; Tab. 44) lässt sich über den abnehmenden Radius des Pentels bzw. Chalkogens oder den zunehmenden Radius des Halogens erklären (Regel 4; zum gleichen Ergebnis führt die Betrachtung der Elektronegativitätsdifferenzen von Z und L; Regel 3). G e m ä ß Regel 3 kann die Vergrößerung des Bindungswinkels in Richtung N F 3 -> N H und 0 F 2 -> 0 H 2 gedeutet werden, aber nicht ohne weiteres die Winkelverkleinerung in Richtung NC13 N H bzw. PC13 P H bzw. C1 2 0 -> H 2 0 usw. In letzteren Fällen hilft jedoch Regel 4 weiter. Interessanterweise besitzen Tetrelverbindungen ZL4 mit vier glei-
318
X. Grundlagen der Molekülchemie
Tab.44 Bindungswinkel (wachsend in Pfeilrichtung) einiger tetraedrischer und pseudotetraedrischer Moleküle ZL 4 , :ZL3, Z L (gasförmiger Zustand). Wasserstoffverbindungen CH4
•
SC12
SeCl 2
(91.0°)
(96.0°)
(98.6°)
(99.r)
(100.2°)
(95.8°)
(99.6°)
T
T
T
T
T
T
T
T
•
(95.0°)
SbCl 3
SbB
(97.2°)
(98.2°)
Sb
Te
(99.1°)
(93.3°)
->•
TeCl2 (97.0°)
OB (112.3°)
T
->•
(92.1°) SbH 3
->•
(110.9°)
PBr 3
PI 3 (ca. 102°)
AsH 3
->•
T
->•
SB (?) T
->•
SeB (100°) T
->•
TeB (98.3°)
chen, aber mehratomigen Liganden L wie OR, N R 2 , C R 2 R ' - anders als solche mit vier einatomigen oder linearen Liganden L wie H, Hal, C N - nichttetraedrische Strukturen mit vier gleichen ZL-Bindungslängen, aber unterschiedlichen LZL-Bindungswinkeln bzw. L - L - A b ständen (vier LZL-Winkel größer, zwei kleiner 109.5° und umgekehrt). Als Beispiele mögen die isoelektronischen Verbindungen B ( O M ^ (g) und C(OMe) 4 (h) dienen (Me = CH 3 ):
D
2 d "
S
4
-
Symmetrie (schematisch) Z(LR)4 verzerrt-tetraedrisch (g) z . B . B ( O M e ) 4
Z(LR)4 verzerrt-tetraedrisch (h) z . B . C ( O M e ) 4
Die Verzerrungen lassen sich wie folgt erklären: Anders als in einatomigen oder linearen Liganden ist die Ladungsverteilung der mit Z verknüpften Atome nicht linearer Liganden L axialasymmetrisch, sodass Ligandenatome von Z L unterschiedliche Radien r0 in unterschiedlichen Richtungen aufweisen. Es lässt sich zeigen, dass die Liganden in solchen Fällen besonders dicht gepackt sind, wenn die Moleküle Z L die Symmetrie D M bzw. S4 anstelle Td besitzen (weitere Beispiele für Z L mit DM-Symmetrie: B(OH)4", C(NHMe)4; mit S.-Symmetrie: C(OH)4, C(CH2Cl)4, C(CH2CH3)4, Ti(NMe2)4, V(O«Bu)4). Ungleiche Liganden. Auffallenderweise liegt der HOF-Winkel in ,,Hypofluoriger Säure" H O F nicht zwischen dem H 2 O- und OF 2 -Winkel (104.5, 103.7), sondern ist mit 97.2° wesentlich kleiner. Regel 4 ermöglicht eine einfache Erklärung für diesen Sachverhalt: der kleine H O F Winkel ist - im Sinne der Formeln (i), (j), (k) - eine Konsequenz der gegebenen Ligandenradien und der unterschiedlichen Bindungslängen in H O F :
L96 Ä H
/ V
1 0 4 5
--'H 1.52 Ä
(r0(H) = 0 . 7 6 Ä ) (i) H 2 O
°
0.85 Ä / O
97-2°
O ^ 103.7° \
1.83 Ä
^
(ro(H)+ro(F) = 1.86 Ä ) (j) H O F
2.20 Ä
F
(r0(F) = 1.10 Ä ) (k) O F 2
In entsprechender Weise erklären sich die kleinen HOX-Winkel in H O C l sowie H O ( O H ) . Die Tendenz zu dichtester Ligandenpackung zeigt sich auch eindrucksvoll im vergleichsweise konstanten F---F-Abstand von 2.27Ä in Borverbindungen wie BF 2 X (X = F, Cl, OH, NH 2 ) oder BF 3 X (X = F " , NMe 3 , C H ^ , C F ^ ) und von 2.16Ä in Kohlenstoffverbindungen wie
1. Strukturen der Moleküle
319
CF 2 Y (Y = C H , CF 2 , O) oder CF 3 X (X = F, Cl, O " , OF). In Verbindungen wie SO 2 X 2 , POX 3 oder SNF 3 beanspruchen die Mehrfachbindungsdomänen S = O , P = O , S = N mehr R a u m als die Einfachbindungsdomänen S —X, P —X, sodass die Winkel OSO, OSX, O P X größer als die von SXS, X P X sind (z.B.OSO/ClSCl in SO2C12 123.5/100.3°; Regel 2). Tatsächlich liegen in den betreffenden Molekülen neben kovalenten G- noch elektrovalente SO-, PO-, SN-Bindungen vor (vgl. S. 153; nachfolgend werden die betreffenden Doppelbindungen als , , f o r m a l " bezeichnet). Offensichtlich k o m m t O bzw. N mit hoher negativer Partialladung in Verbindungen (:)mZLw ein vergleichsweiser großer Ligandenradius zu (Regel 4). Trigonal-bipyramidale, pseudotrigonal-bipyramidale und quadratisch-pyramidale Strukturen. Ideale S t r u k t u r e n Umfasst die Valenzschale des Zentralatoms in einem Molekül fünf (er + n)Elektronenpaare, so richten sich diese im Sinne des VSEPR-Modells nach den Ecken einer trigonalen Bipyramide aus. Z u m Unterschied vom regulären Tetraeder (s. oben) oder Oktaeder (s. unten), dessen Eckplätze alle gleichwertig sind, muss m a n bei der trigonalen Bipyramide zwei Arten von Positionen unterscheiden: 3 gleichwertige äquatoriale und 2 davon verschiedene, gleichwertige axiale Plätze. Es gilt hierbei die Regel, dass die freien Elektronenpaare die äquatorialen Positionen einnehmen, was m a n folgendermaßen erklären kann: die axialen Elektronenpaare werden von drei äquatorialen, die äquatorialen aber nur (d.h. schwächer) von zwei axialen, im rechten Winkel angeordneten Elektronenpaaren abgestoßen (die Abstoßung der unter 120°-Winkeln angeordneten äquatorialen Elektronenpaare untereinander ist wegen ihrer großen Entfernung zu vernachlässigen); infolgedessen besetzen -Elektronen paare erstere, freie Elektronenpaare letztere Positionen in der pseudo-trigonalen Bipyramide (Regel 2). Im Sinne des Besprochenen sind damit Moleküle (:) m ZL w (m + n = 5) wie folgt gebaut: bei fünf Liganden (kein freies Elektronenpaar) gemäß (l) , trigonal-bipyramidal" (ZL 5 , z. B. PF 5 ), bei 4 Liganden (1 freies Elektronenpaar) gemäß (m) ,verzerrt-tetraedrisch" = ,,wippenförmig" ( : Z L 4 , z. B. :SF 4 ), bei 3 Liganden (2 freie Elektronenpaare) gemäß (n) , T - f ö r m i g " (ZL 3 , z.B. BrF 3 ) und bei 2 Liganden (3 freie Elektronenpaare) gemäß (o) ,Jinear" (:ZL 2 , z.B. :XeF 2 ). Bezüglich weiterer Beispiele für trigonal-bipyramidale, wippenförmige, T-förmige, lineare Strukturen vgl. Tab. 45.
N u r wenig energiereicher als die Ausrichtung von fünf Elektronenpaaren nach den Ecken einer trigonalen Bipyramide ist die Ausrichtung nach den Ecken einer quadratischen Pyramide (vgl. Fig. sowie Berry-Pseudorotation von Molekülen ZL 5 auf S.782). Kleine Effekte (hervorgerufen durch Einflüsse der Kristallpackung oder der Liganden) genügen demgemäß, um die trigonal-bipyramidale Koordination (l) eines zentralen Atoms in eine quadratisch-pyramidale überzuführen. Trotzdem sind die meisten Moleküle ZL 5 (z. B. PHal 5 , AsHal 5 , SbHal 5 , aber auch SbMe 5 , BiMe 5 , Sb(p-Tolyl) 5 , Bi(o-FC 6 H 4 ) 5 ) trigonal-bipyramidal gebaut, doch finden sich in Kristallen manchmal quadratisch-pyramidale Strukturen (Sb(C 6 H 5 ) 5 , Bi(C 6 H 5 ) 5 : vgl. Tab. 45; trigonal-bipyramidales Bi(o-FC 6 H 4 ) 5 steht in Lösung mit quadratisch-bipyramidalem Bi(o-FC 6 H 4 ) 5 im Gleichgewicht). ,,Pseudo-quadratisch-pyramidal" gebaute Moleküle (:)mZLw (m + n = 5) sind bisher unbekannt. Deutlich energiereicher als die Ligandenausrichtung nach den Ecken einer trigonalen Bipyramide, ist eine solche nach den Ecken eines ,,Pentagons" (Beispiel in Tab. 45).
320
X. Grundlagen der Molekülchemie
Tab. 45
Bau von (:)mZL„ (Z = Hauptgruppenelement; m + n = 2 - 9 ; vgl. S. 139, S. 1333).
Elektrt nenpaare von Z Zahl Anordnung 2
3
4
5
Verbin dung Typ Geometrie
linear
ZL 2
linear
BOJ, C 0 2 , NO + , N3", HCN, (Be, Mg) H 2 (g), (Be, Mg)X 2 (g), Ca(Br, Cl,F) 2 (g), Sr(Br,I) 2 (g)
gewinkelt
ZL 2
gewinkelt
Sr(F, Cl) 2 (g), BaX 2 (g), (Ca - Ba)(H, Me, N H 2 ) 2 ( b
(pseudo-) trigonalplanar
ZL 3
trigonalplanar
BC13, Gal 3 , InMe 3 , CO2", COX 2 , NO 2 X, N O " , SO 3 , Te0 3 (g), (Be-Ba)X 3 " (b)
ZL 3
pyramidal
InH 3 (g), (Sr, Ba)(OH 2 ,NH 3 )2 +
:ZL 2
gewinkelt
CF 2 , SiCl 2 , ( S n , P b ) X ( g ) , NOX, N O " , O , S 0 2 , NSF, X O "
tetraedrisch
BF4", CH 4 , NH 4 + , NR 3 O, NSF 3 , POX 3 , ^ F
(pseudo-) tetraedrisch
(pseudo-) trigonal bipyramidal
ZL 4
9
S03X",
trigonal pyramidal
C H " , NH 3 , H 3 0 + , PX 3 , SOX 2 , SO2", TeO2", X0 3 ", ClO 2 F, X e 0 3
ZL 2
gewinkelt
NH",
ZL 5
trigonal bipyramidal
P(F, Cl, Ph, OPh) 5 , A 5 F 5 , SbCl 5 , SYF 4 (Y = O, N, Me, CR 2 )
wippen förmig
(P,As)F 4 ", (S,Se)F 4 , RSX 3 , R 2 SX 2 , R 2 SeX 2 , TeCl 4 , R 2 TeX 2 ,
T-förmig
ClF 3 , BrF 3 , ICI3, R I X , X e O F , XeF3+
linear
I C " , IBrCl", I3", KrF 2 , XeF 2
:ZL 2
8
",
:ZL 3
ZZ.L3
7
2
R 2 SO 2 , S 0 2 X 2 , SO^", Q O 4 , X e 0 4
:ZL 4
6
Beispiele (g = gasf., b = ber.; R = Organyl, py = Pyridin, Me = CH 3 )
+
, SX 2 , ClO", Cl 2 O, I3+, X e 0 2
(As, Sb)Ph 5 x ±C 6 Hi2, I 0 2 F 3 , I 0 3 F 2 , X e 0 3 F 2 (Br,I)F4, C l O F , I 0 2 F 2 , Xe02F2
quadratischpyramidal
ZL 5
quadratischpyramidal
SbPh 5 , BiPh 5 , I n C 2 " , Mg(OPMe 3 )2 +
pentagonal planar
ZL 5
pentagonal planar
In[Mn(CO) 4 ] 2 "
(pseudo-) oktaedrisch ( = trigonal antiprism.)
ZL 6
oktaedrisch
AlF^", S ^ 2 " ,
, SF 6 , SeF 6 , Te(OH) 6 , ClF6+, BrF 6 + , IF 6 + ,
I O | - , IOF 5 , XeOJ", X e 0 2 F 4 :ZL 5
quadratisch pyramidal
S W 2 " , S b a 2 " , S F " , SeOCl 2 py 2 , TeF5", TeQ 5 ", ClF 5 , BrF 5 , IF 5 , C l O F 4 , XeF5+ , XeOF 4
ZL 4
quadratisch
B r F 4 , I F 4 , IC14 , XeF 4
pentagonal pyramidal
ZL 6
pentagonal pyramidal
SbCl(15-Krone-5)2 + , BiCl(15-Krone-5)2 + (15-Krone-5 = ( - C H C H O - ) 5 )
(pseudo-) pentagonal bipyramidal
ZL 7
pentagonal bipyramidal
IF 7 , I O F " , TeF7 , TeOF2", TeF 6 (OMe)", TeF 5 (OMe) 2 ", S b F f " , BiF2"
:ZL 6
pentagonal pyramidal
XeOFg"
ZL 5
pentagonal planar
XeF 5 ", IF2", X e F 4 C N "
(pseudo-) überkapptoktaedrisch
:ZL 6
verzerrtoktaedrisch
SeF2", T e F 2 " , I F 6 " , X e F 6
reguläroktaedrisch
SnXJ", PbXJ", S b X B i X S e X 2 " , TeX2", BrF6" (X = Cl,Br und z.T. I)
antikubisch
ZL 8
antikubisch
TeF2", IF 8
überkappt prismatisch
:ZL 7
überkapptprismatisch
XeF"
3fach-kapptprismatisch
:ZLc,
3fach-kapptprismatisch
Bi(H 2 O)^ +
antikubisch
:ZL 8
antikubisch
XeF 2 "
1. Strukturen der Moleküle
321
Reale Strukturen mit gleichartigen L i g a n d e n Die unterschiedliche Abstoßungskraft von freien und bindenden Elektronenpaaren führt zu gewissen Abweichungen der Atomlagen von den idealen Positionen der vorstehend behandelten geometrischen Körper. U n d zwar bedingt die größere Abstoßungskraft der freien Elektronenpaare in Molekülen (:) Z L (m + n = 5) eine Verkleinerung des idealen Bindungswinkels (Regel 2). Hierbei ist die D o m ä n e eines äquatorialen freien Elektronenpaars - entsprechend der gegebenen Platzverhältnisse mehr in äquatorialer als in axialer Richtung verteilt und verkleinert folglich äquatoriale Bindungswinkel stärker als axiale. So beträgt etwa beim :SF 4 -Molekül (m) der Winkel F ^ S F ^ statt 180 nur 173°, der Winkel F aq SF aq statt 120 sogar nur 101°. Im BrF3-Molekül (n) beträgt der Winkel B a l F B ä q statt 90 nur 86° ( £ B r ^ F B r ^ also 172°). Das :XeF 2 -Molekül (o) ist verständlicherweise exakt linear, da die drei freien Elektronenpaare symmetrisch um die axiale Bindung angeordnet sind. Ebenso kommen auch im PF 5 -Molekül (l) den FPF-Winkeln die zu erwartenden idealen Werte von 90 bzw. 120° zu. Besetzen in einem Molekül (:) m ZL„ (m + n = 5) gleichartige Liganden äquatoriale und axiale Plätze einer trigonalen Bipyramide, so sind die axialen Bindungen länger als die äquatorialen, da axiale Elektronenpaare von den Liganden stärker als äquatoriale abgestoßen werden (s oben). Das ,,trigonal-bipyramidale" Zentralatom verhält sich so, als wäre sein Radius in der axialen Richtung größer als in der äquatorialen; m a n hat es sich also nicht als Kugel sondern als Ellipsoid vorzustellen. Im PF 5 -Molekül (l) beträgt z.B. P — F a x = 1.577 und P - F ä q = 1.534 Ä, im SF 4 -Molekül (m) S —Fax = 1.646 und S —Fäq = 1.545 Ä und im BrF 3 Molekül (n) Br —F^ = 1.810 und Br —Fäq = 1.721 Ä. In quadratisch-pyramidalen Molekülen Z L ist umgekehrt die axiale Bindung kürzer als die Bindung zu einem Liganden in der Basis. Reale Strukturen mit ungleichartigen L i g a n d e n Die unterschiedliche Abstoßungskraft der Ligandenbindungen (Regel 3) hat zur Folge, dass Liganden in Molekülen (:)mZL„ (m + n = 5), falls sie verschiedenartig sind, bevorzugt axiale oder äquatoriale Plätze in der trigonalen Bipyramide einnehmen. U n d zwar besetzen die Liganden mit der größten Abstoßungskraft der zugehörigen Bindungselektronen erwartungsgemäß äquatoriale Plätze, die ja auch von den freien Elektronenpaaren aus den oben besprochenen Gründen bevorzugt werden. So sind die stark elektronegativen Fluoratome in PC1 4 F bzw. PC13F2 axial, die weniger elektronegativen Methylgruppen in PF 4 Me bzw. PF 3 Me 2 äquatorial gebunden. In analoger Weise nehmen die ,, formal" doppelt gebundenen Sauerstoff-Liganden (s. oben) in den isoelektronischen Molekülen SOF 4 und Xe0 2 F 2 äquatoriale Stellungen ein (vgl. (p) und (q)). Entsprechendes wie f ü r SOF 4 gilt für Moleküle SYF 4 (Y = N M e , CH 2 ), wobei die S—NMe- bzw. S—CH 2 -Ebenen senkrecht zur äquatorialen Molekülebene orientiert sind (Folge der Ausrichtung ovaler Doppelbindungsdomänen senkrecht zur S—NMe- bzw. S—CH 2 Ebene und parallel zur Äquatorebene der trigonalen Bipyramide (s. oben)). Bemerkenswerterweise ist der F ax ZF ax -Winkel in SOF 4 auf der Sauerstoffseite > 180°, was andeutet, dass die S—O-Domäne in (p) F ^ stärker abstößt als zwei S—F ä q -Domänen, während die beiden X e = O ä q - D o m ä n e n in (q) stärkere Abstoßungskräfte auf F ^ entwickeln als das freie, in der Äquatorebene ausgebreitete Elektronenpaar
(p) SOF 4
(q) XeO 2 F 2
Oktaedrische und pseudooktaedrische Strukturen Ideale S t r u k t u r e n Sechs (cj + n) Valenzelektronenpaare richten sich nach den VSEPR-Modellvorstellungen (Regel 1) um ein Zentralatom oktaedrisch bzw. pseudooktaedrisch aus, was zu ,,oktaedrischen", ,,quadratisch-pyramidalen" bzw. „quadratisch-planaren" Molekülen ZL 6 , :ZL 5 , Z L 4 führt (z.B. SF Ö , :BrF 5 ,
322
X. Grundlagen der Molekülchemie
XeF 4 , vgl. (r), (s), (t) und bezüglich weiterer Verbindungsbeispiele Tab. 45; erwartungsgemäß besetzen zwei freie Elektronenpaare in pseudooktaedrischen Molekülen gegenüberlie gende Plätze („trans-Stellung"), in denen sie am weitesten voneinander entfernt sind):
Etwas energiereicher als die Ausrichtung von sechs Elektronenpaaren nach den Ecken eines 0ktaeders (trigonales Antiprisma) ist die Ausrichtung nach den Ecken eines ,,trigonalen Prismas'' (vgl. (z) ohne Kappe) oder einer ,,pentagonalen Pyramide''. Reale S t r u k t u r e n Die unterschiedliche Abstoßungskraft von freien und bindenden Elektronenpaaren (Regel 2) bedingt im Falle von :ZL 5 -Molekülen Abweichungen der Atomlagen von der idealen Position. U n d zwar werden die vier in der quadratischen Basisfläche liegenden -Bindungen von dem nicht bindenden Elektronenpaar stärker abgestoßen als von dem zur oberen Spitze der Pyramide führenden bindenden Elektronenpaar, sodass das Zentralatom unterhalb dieser Basisfläche liegt, und die Bindungen zu den Basisliganden länger sind als die zum axialen Liganden. So beträgt etwa der Valenzwinkel F A c h s e BrF Basis in :BrF 5 statt 90° nur 85°: auch ist der Bindungsabstand F A c h s e Br mit 1.69 A kleiner als der Abstand BrF Basis (1.77 A). Die Bindungswinkel LZL von ZL 6 - und ZL 4 -Molekülen (alle ZL-Bindungen bei gleichartigen Liganden gleich lang) entsprechen der Erwartung von 90°. Enthält ein Molekül (:)mZL„ (m +n = 6) ungleichartige Liganden, so besetzen die Liganden mit der größeren Abstoßungskraft der zugehörigen Bindungselektronen wiederum Positionen, die auch von den freien Elektronenpaaren eingenommen würden. So nimmt etwa im quadratisch-pyramidal gebauten Molekül :Xe0F 4 (isoelektronisch mit IF 5 ) der „formal'' doppelt gebundene Sauerstoff-Ligand die axiale Stellung eines der beiden freien Elektronenpaare im XeF4-Molekül (t) ein. Strukturen von Molekülen (:)mZL„ mit (m + n) > 6. Keine freien Elektronenpaare Umfasst die Valenzschale des Zentralatoms in einem Molekül ZL sieben acht oder neun bindende Elektronenpaare, so richten sich diese nach den Ecken einer „pentagonalen Bipyramide" (u), eines „Antikubus" (a) oder eines „dreifach-überkappten trigonalen Prismas" (y) a u s Sieben, acht oder neun Liganden in Verbindungen Z L (kein freies Elektronenpaar) ordnen sich infolgedessen ,,pentagonal-bipyramidal'', ,,antikubisch'' oder ,,dreifach-überkappt prismatisch'' an (für Verbindungsbeispiele vgl. (u), (a), (y) und Tab. 45). Energetisch vergleichbar mit ZL„ ist - im Rahmen des VSEPR-Modells - anstelle von (u) auch das „überkappte Oktaeder66 (x) sowie das „überkappte trigonale Prisma66 (z), anstelle von (a) auch das „Dodekaeder" (ß). In keinem Falle sind bisher Beispiele für Verbindungen ohne freie Z-Elektronenpaare mit letzteren Geometrien für Z = p-Block-Element, sondern nur solche für Z = d-Block-Element bekannt geworden (vgl. (x), (z), (ß)). Im Gegensatz zum Antikubus (a), dessen Eckplätze alle gleichartig sind, gibt es bei der pentagonalen Bipyramide (u) äquatoriale und - davon verschiedene - axiale Plätze. Im Falle pentagonal-bipyramidal gebauter Moleküle ZL sind dabei anders als im Falle trigonal-bipyramidal strukturierter Moleküle ZL5 - die äquatorialen Bindungen länger (stärkere Abstoßung der unter 72° zueinander stehenden äquatorialen Elektronenpaare), die axialen kürzer (schwächere Abstoßung der unter 90° zu den äquatorialen Elektronenpaaren stehenden axialen Elektronenpaare), sodass Liganden mit der größeren Abstoßungs kraft der zugehörigen Bindungselektronen axiale Plätze einnehmen (z. B. 0Me in TeF5(0Me)~ und TeF4(0Me^~; 0 in I0F^). Als Folge ihrer hohen gegenseitigen Abstoßung ist die Planarität der äquatorialen Bindungen in (u) nicht streng erfüllt. Auch im dreifach-überkappten Prisma (y) liegen unterschiedliche Bindungen in Richtung der Dreiecksflächen (nicht eingezeichnet) und in Richtung der Kappen des Prismas vor
1. Strukturen der Moleküle
ZL7 pentagonalbipyramidal (u) z.B. IF 7
:ZL 6 pentagonalpyramidal (v) z.B. XeOF 5
.ZLs pentagonal planar (w) z.B. XeF5
ZL 7 überkapptoktaedrisch (x) z.B. MoF 7
323
:ZL S verzerrt oktaedrisch (y) z.B. :XeF s
Freie Elektronenpaare Moleküle :ZL 6 mit sechs Liganden und einem freien Elektronenpaar bzw. Moleküle ZL 5 mit fünf Liganden und zwei freien Elektronenpaaren leiten sich von der pentagonalen Bipyramide (u) ab, in welcher die axialen Positionen durch freie Elektronenpaare besetzt sind (vgl. (v), (w)). Sie haben dementsprechend einen ,,pentagonal-pyramidalen" oder ,,pentagonal-planaren" Bau (z. B. rXeOF^, XeF;T). Moleküle :ZL 6 mit sechs Liganden und einem freien Elektronenpaar leiten sich zudem vom überkappten Oktaeder (x) ab, in welchem die „ K a p p e " durch ein freies Elektronenpaar ersetzt ist (vgl. (y)) bzw. vom regulären Oktaeder (r) und weisen dann sowohl eine „verzerrt oktaedrische" (z. B. :XeF 6 ) als auch eine „regulär oktaedrische" Ligandenkoordination (z. B.: BrF^) auf, während Moleküle :ZL 7 bzw. :ZL S ,,einfach-überkappt-trigonal-prismatisch" ((z) z.B. : X e F f ) bzw. „antikubisch" ((a) z.B. : X e F 2 _ ) gebaut sind. In den Fällen (v) und (w) sind die freien Elektronenpaare stereochemisch deutlich, im Falle von (y) schwach und in den Fällen (z) und (a) nicht wirksam. Offenbar erniedrigt sich im Sinne der Regel 4 (Tendenz zu dichtester Ligandenpackung) die stereochemische Wirksamkeit eines freien Elektronenpaars in Molekülen :ZL„ (vgl. Tab.45) mit abnehmender Periodennummer von Z innerhalb einer Elementgruppe (:IF^ verzerrt oktaedrisch; :BrF(~ oktaedrisch), mit wachsender Koordinationszahl n (:XeF6 überkappt-oktaedrisch; :XeFf, :XeF|" überkappt-prismatisch, antikubisch) und mit wachsendem Ligandenradius (:SeF2" überkappt-oktaedrisch; :SeCl2" oktaedrisch). Das stereochemisch wirksame (unwirksame) freie Elektronenpaar verteilt sich wegen Platzmangels in der Ligandenhülle hauptsächlich (ausschließlich) um den Atomrumpf Z und wird in ersterem Falle als ,,schwaches" freies Elektronenpaar, in letzterem Falle als „inertes" s-Elektronenpaar klassifiziert. Die stereochemisch schwach wirksamen Elektronenpaare führen dabei nur zu geringen LZL-Winkelverzerrungen (x), die stereochemisch unwirksamen Elektronenpaare zu geringen ZL-Bindungsverlängerungen.
1.1.3 Ausnahmen der VSEPR-Regeln Wie dem vorstehenden Unterkapitel zu entnehmen ist, liefert das VSEPR-Modell sehr erfolgreich richtige Aussagen über die prinzipiellen Strukturmerkmale von Nichtmetall-Verbindungen (:)mZL„ = ( : ^ E L , in welchen sowohl Z als auch das mit Z verbundene Atom in L ein p-Block-Element E darstellt und die ZL-Bindungen vorwiegend kovalent sind (für ,,scheinbare" Ausnahmen und Erklärungen hierfür vergleiche: unerwartet große Bindungswinkel in Verbindungen ZL2 (S.929), Bildung von quadratisch-pyramidalen statt trigonal-bipyramidalen Verbindungen M L (S. 856), stereochemische Unwirksamkeit eines Elektronenpaars in Verbindungen :ZL >6 (S. s.o.)). Ausnahmen des VSEPR-Modells, d.h. Abweichungen von der durch die VSEPR-Regeln (S. 313) vorherbestimmten Geometrie der Moleküle (Anordnung der Liganden um das Zentrum, relative Länge der ZL-Bindungen, relative Größe von LZL-Winkeln) ergeben sich aber vielfach bei Metall-Verbindungen (:)mZL„ = (:)mML„ (L wie oben), in welchen das Zentrum ein i-,rf-oderf-Block-Element M darstellt, und die ZL-Bindungen vorwiegend elektrovalent sind.
324
X. Grundlagen der Molekülchemie
Die Vorhersage von Molekülstrukturen durch das VSEPR-Modell geht im Falle der Nichtmetallverbindungen E L von der - durch Berechnungen bestätigten - grundlegenden Annahme aus, dass die Rumpfelektronen der Nichtmetallatome E (das sind alle Elektronen außer den Valenzelektronen; Elektronenkonfiguration der äußersten Rumpfschale von E: s2 bzw. s2p6 bzw. s2p6d10) eine sphärische Verteilung aufweisen und somit keinen Einfluss auf die Anordnung der das Atom umgebenden Liganden ausüben. Dieser Sachverhalt scheint aber für Metallverbindungen M L mit M in der der Gruppennummer entsprechenden Oxidationsstufe (Elektronenkonfiguration der äußersten Rumpfschale: s2p6d0) nicht zuzutreffen. In der Tat lassen sich Ausnahmen des VSEPR-Modells im Falle von M L vielfach durch eine, von den Liganden verursachte nichtsphärische Verteilung der M-Rumpfelektronen erklären (vgl. hierzu den an anderer Stelle (S. 1354) im Rahmen der Ligandenfeld-Theorie zu besprechenden Einfluss von L in (:)mMLn auf die Valenzelektronen der Metallatome mit s 2 p 6 d 1— Außenelektronenschale). Der betreffende - über Berechnungen abgesicherte - Einfluss lässt sich etwa im Rahmen des VSEPR-Modells durch folgende Regel 5 beschreiben (bzgl. Regel 1—4 vgl. S.313): Die Polarisation von d°-Metallkationrümpfen durch Ligandenanionen erzeugt auf der L gegenüberliegenden Metallrumpfseite negative Ladungskonzentrationen, deren elektrostatische Ligandenabstoßung die Geometrie von MLn mitbestimmt. ML2-, M L - und ML4-Moleküle. Gleiche Liganden. Gemäß Tab. 46 kommt einigen Erdalkalimetalldihalogeniden M L (L = Hal) in der Gasphase nicht die vom VSEPR-Modell vorhergesagte lineare, sondern eine gewinkelte Struktur zu. Berechnungen lehren in letzteren Fällen, dass die - als ,,inverse Polarisation" zu deutende - Wechselwirkung der Halogen-Monoanionen mit den Erdalkalimetall-Dikationen zu einer mehr oder weniger starken Lokalisierung der M 2+ -Rumpfaußenelektronen an den Ecken eines Tetraeders führt (die ,,Ladungskonzentrationen" sind in (a) durch Q symbolisiert). Die zwei negativ geladenen Liganden besetzen dann aus elektrostatischen Gründen ,,ladungsfreie Ecken des Würfels (a), d. h. überkappen Flächen des Ladungs-Tetraeders, und bilden dadurch ein gewinkeltes ML2-Molekül (b), sofern die Halogen-Anionen hinreichend stark polarisierend auf die M 2+ -Rumpfelektronen einwirken. Diesem Modell zufolge sollte der LML-Bindungswinkel mit wachsender Polarisierbarkeit des Erdalkalimetallions - also in Richtung Be2+ -> Ba2+ - und mit zunehmender Polarisationskraft der Liganden - also in Richtung I" -> F~ - immer stärker von 180° abrücken, d. h. immer stärker der elektrostatischen L----L-Abstoßung entgegenwirken, was gemäß Tab. 45 der Fall ist (in Tab. 45 wurden ML2-Moleküle mit LML-Winkeln > 160° noch als quasilinear eingeordnet). Nach Berechnungen sollten aus den gleichen Gründen auch die Moleküle M L mit M = Ca, Sr, Ba, Ln und L = H, Me in der Gasphase gewinkelt sein (b) und eine Reihe von gasförmigen Molekülen ML3 pyramidale Strukturen (c) aufweisen (vgl. Tab.45; die Tendenz zur Abwinkelung von M L ist aus elektrostatischen Gründen kleiner als die von M L , sodass etwa alle gasförmigen Trihalogenide MHal3 von Metallen , d0-Über, RuO4, 0s0 4 ).
4+
M im Feld von n = 2 _ 4 Liganden (a)
ML 2 (gewinkelt) (b)
ML3 (pyramidal) (c)
ML4 (tetraedrisch) (d)
Ungleiche Liganden In tetraedrischen Molekülen MLHal 4 _„ (n = 1, 2) mit mehrfach gebundenen Liganden L wie O oder N (z. B. VOHal3, Cr0 2 F 2 , MoNF 3 , WNF 3 ) weichen die Bindungswinkel dadurch in unerwarteter Weise vom Idealwinkel ab, dass entgegen Regel 1 des VSEPR-Modells die LML-Winkel kleiner, die HalMHal-Winkel größer als der Tetraederwinkel sind (z. B. Cr0 2 F 2 : * OCrO/FCrF = 107.8°/ 111.9°; zum Vergleich * OSO/FSF in SO2F2 124/96°). Nach Berechnungen sind die Ladungskonzentrationen in MLHal 4-n auf der M-Rumpfseite gegenüber von L größer als gegenüber von Hal, was eine stärkere (schwächere) Abstoßung ersterer (letzterer) Ladungskonzentrationen und als Folge hiervon einen kleineren LML-Winkel (größeren HalMHal-Winkel) bedingt (man setzt hierbei voraus, dass Ladungskonzentration, Metallion und Verursacher der Ladungskonzentration auf einer Geraden liegen). M L - und ML6-Moleküle. Gleiche Liganden. Zwei Strukturtypen konnten jeweils für M L - sowie ML6Moleküle gefunden werden: die mit dem VSEPR-Modell konforme trigonal-bipyramidale Struktur (e) (z. B. VHalj, NbHalj, TaHal5) mit längeren axialen und kürzeren äquatorialen Bindungen bzw. oktaedrische ML-Struktur (g) (z. B. ScH3f (ber.), T i H ( b e r . ) , TiF2", ZrCl2" CrF6 (ber.), MoF6, WHal6, W(OMe)6, W(NMe2)6) und die mit dem VSEPR-Modell nichtkonforme quadratisch-pyramidale ML-Struktur (f) (z. B. TeMe5, VH5 (ber.), TaH5 (ber.), VMe5 (ber.)) mit kürzerer axialer Bindung und längeren Bindungen zu den Basisatomen bzw. trigonal-prismatische ML-Struktur (h) (z. B. ZrMe2", TaMe^, VH^ (ber.), CrH 6 (ber.), CrMe6 (ber.), MoMe6, WMe6, MnH+ (ber.))
1. Strukturen der Moleküle
325
Berechnungen geben im Falle von MLS Hinweise a u f f ü n f Ladungskonzentrationen der äußeren Rumpfelektronen sowohl im Falle von (e) als auch (f), und zwar jeweils auf der von den Liganden abgewandten Rumpfseite, sodass also im Falle der trigonalen Bipyramide die beiden axialen Ladungskonzentrationen auf die beiden axialen Liganden weisen, während diese Situation in der quadratischen Pyramide nicht gegeben ist. Hiernach sollte die quadratisch-pyramidale Koordination bei hinreichend großer Wechselwirkung der Ligandenelektronenmitden Ladungskonzentrationen (F 1) jedoch jeweils ^ — 1 Kugelschalen, auf denen die Elektronendichte gleich null ist („Knotenflächen", s. hierzu folgendes Unterkapitel). So nimmt etwa die radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit des 2s-Wasserstoffelektrons mit zunehmendem Abstand r vom Proton zunächst rasch bis auf den Wert null (beim Abstand 2 rB) ab, dann rasch zu und schließlich wieder ab (Fig. 98c). Die radiale Elektronendichte \pl s 4nr 2 des 2s-Wasserstoffelektrons (Fig. 101 a) weist zwei Maxima - ein kleines inneres und ein größeres äußeres - auf (zwischen den Maxima geht wie erwähnt die Elektronenaufenthaltswahrscheinlichkeit im Abstand auf null zurück). Der Radius des äußeren Dichtemaximums ist dabei etwas größer als der Radius der von Bohr für « = 2 berechneten Kreisbahn (4rB). Innerhalb des Bereichs geringer Elektronendichte beträgt die gesamte Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons nur 5.4 %, außerhalb 94.6 %. Ganz allgemein weist die radiale Dichte eines «s-Elektrons n - von innen nach außen wachsende - Maxima auf (vgl. Fig. 98 c, 101 a, 104a), zwischen denen n — 1 Nullstellen liegen. Dabei hält sich das Elektron im Wesentlichen außerhalb des äußersten Minimums auf Z u m Unterschied von der kugelsymmetrischen Dichteverteilung des Wasserstoffelektrons in den verschiedenen /zs-Zuständen weist das Elektron in jedem der drei möglichen w p-Orbitale einer bestimmten Hauptschale ^ > 1 des a n g e r e g t e n Wasserstoffatoms nur eine a x i a l s y m m e t r i s c h e Wahrscheinlichkeitsverteilung auf. Die Gestalt der drei 2pElektronenladungswolken gleicht dabei Hantelformen, die nach den drei Raumkoordinaten x, y bzw. z ausgerichtet sind und daher als p p y - bzw. p z -Orbital bezeichnet werden (Fig. 102). Die Elektronenwahrscheinlichkeitsverteilung ist in allen Hantelhälften der drei zzp-Zustände gleich. Das Ma-
Fig. 101 Radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit (a) eines 2s-, (b) eines 2p-Elektrons (bezüglich der p-Elektronendichte vgl. Text).
2. Bindungsmodelle der Moleküle
333
Fig. 102 Gestalt der drei axialsymmetrischen 2p-Orbitale (der 2p-Elektronenladungswolken) des Wasserstoffatoms (vgl. das bei Fig. 98b Gesagte). ximum der v o l u m e n e l e m e n t b e z o g e n e n 2p x -, 2p y - bzw. 2p z -Elektronendichte liegt auf der betreffenden x-, y- bzw. z-Symmetrieachse beiderseits des Wasserstoffkerns im gleichen Abstand (im Falle des 2p-Elektrons bei ca. + 5 atomaren Einheiten « 2.6 A). Ausgehend hiervon verringert sich die Aufenthaltswahrscheinlichkeit nach allen Richtungen unter Wahrung der Axialsymmetrie (jedoch nicht der Kugelsymmetrie). Ähnlich wie im Falle des Wasserstoffelektrons in «s-Zuständen weist auch die Dichteverteilung des Elektrons in einem «p^-, «py- bzw. «pz-Wasserstoffatomzustand « — 1 Knotenflächen auf. Eine dieser Knotenflächen ist allerdings eben und verläuft zu der im Orbital-Index angegebenen Achse senkrecht durch den Atommittelpunkt; n — 2 Knotenflächen (also null im Falle der 2 p-, eine im Falle der 3 pOrbitale usw.) liegen wie im Falle der «s-Zustände (« > 1) konzentrisch zum Atommittelpunkt (vgl. z.B. Fig. 101 b, 104b, 105). Wegen der axialsymmetrischen Wahrscheinlichkeitsverteilung eines p-Elektrons ist die Elektronendichte auf Kugelschalen mit dem Radius r nicht an allen Orten gleich groß. N u n k o m m t aber einem Wasserstoffelektron im p p y - sowie p Z -Atomorbital einer bestimmten Hauptquantenzahl jeweils g l e i c h e E n e r g i e zu. Es besetzt demzufolge die drei ,,energieentarteten" p-Zustände mit gleicher Wahrscheinlichkeit. D a bei der Addition der Dichteverteilung + + tp^ des Wasserstoffelektrons im p^-, p y - und p z -Zustand eine s p h ä r i s c h e Gesamtelektronendichteverteilung resultiert, erscheint auch ein angeregtes Wasserstoffatom mit einem ftp-Elektron als kugelförmiges Teilchen. Von den fünf möglichen w d-Orbitalen einer bestimmten Hauptschale ft > 2 des a n g e r e g t e n Wasserstoffatoms haben vier d-Orbitale ( d x r d x z , d y z , d x 2 ) eine r o s e t t e n f ö r m i g e Gestalt, während ein d-Orbital (d z2 ) einem h a n t e l f ö r m i g e n Gebilde gleicht, das von einem r i n g f ö r m i g e n Wulst umgeben ist. Zur Gestalt der fünf 3d-Elektronenladungswolken vgl. Fig. 103 1 1 . Die Elektronenwahrscheinlichkeitsverteilung ist in allen Rosettenteilen der Orbitale gleichartig und z.B. im Falle der 3d-Orbitale mit der Dichteverteilung der 2p-Orbitale vergleichbar. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung des d z 2 -Elektrons ist bezüglich der z-Achse axialsymmetrisch Wie im Falle des Wasserstoffelektrons in «s- und «p-Zuständen weist die Dichteverteilung des Elektrons in einem «d-Wasserstoffatomzustand wiederum n — 1 Knotenflächen auf. Zwei dieser Knotenflächen sind im Falle des dxy-, dxz- und d^-Orbitals eben und verlaufen zu den im Orbital-Index genannten Achsen jeweils senkrecht durch den Atomkern. Auch das dx2_ ^-Orbital besitzt zwei durch den Kern verlaufende, jedoch auf der Winkelhalbierenden der x- und 7-Achse senkrecht stehende Knotenebenen, während die entsprechenden beiden Knotenflächen des dz2-Orbitals nicht mehr eben sind, sondern zwei 11 Die andersartige Form des d z2 -Orbitals im Vergleich mit dem d x2 _ y2 -Orbital rührt daher, dass man die dem d x 2 _ y 2 Orbital (Rosette längs der x- und j-Achse) entsprechenden zwei Orbitale d y2 _ z2 (Rosetten längs der j - und z-Achse) und d x 2 _ z 2 (Rosette längs der x- und z-Achse) aus mathematischen Gründen k o m b i n i e r t . Prinzipiell ließen sich die d-Orbitale auch in anderer Form repräsentieren, doch haben sich die in Fig. 103 dargestellten Gestalten allgemein eingebürgert
334
X. Grundlagen der Molekülchemie z
Fig. 103 Gestalt der fünf 3d-0rbitale (der 3d-Elektronenladungswolken) des Wasserstoffatoms (vgl. das bei Fig. 98b Gesagte). Kegelmäntel bilden, an deren gemeinsamer Spitze sich der Atomkern befindet. Zusätzlich zu den erwähnten Knotenflächen liegen n — 3 Knotenflächen (also null im Falle der 3d-, eine im Falle der 4d0rbitale usw.) konzentrisch zum Atommittelpunkt (vgl. z.B. Fig. 104c).
Fig. 104 Radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit (a) eines 3 s-, (b) eines 3 p- und (c) eines 3d-Elektrons. Wie im Falle der p-Elektronen ändert sich auch im Falle der d-Elektronen die Dichte im Abstand r vom Kern von 0 r t zu 0 r t . D a jedoch einem Elektron in jedem d - 0 r b i t a l eines Wasserstoffatoms gleiche Energie zukommt, hält es sich in den fünf d-0rbitalen mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf. Wieder resultiert bei der Addition der Elektronendichten der fünf d-0rbitale einer bestimmten Hauptquantenzahl eine sphärische Gesamtelektronendichtever teilung. Infolgedessen erscheint auch ein angeregtes Wasserstoffatom mit einem nd-Elektron als kugelförmiges Teilchen
Wellenfunktionen des Wasserstoffelektrons Wellencharakter des Elektrons N a c h dem auf S. 100 Besprochenen k o m m t einem E l e k t r o n sowohl T e i l c h e n - als auch W e l l e n c h a r a k t e r zu. Während sich nun die durch das Quadrat von ^ gegebene Elektronen-Aufenthaltswahrscheinlichkeit anschaulich deuten lässt, wenn m a n das Atom- (bzw. Molekül-) Elektron als Teilchen behandelt (s. oben), geht m a n zur D e u t u n g d e r F u n k t i o n tp besser vom Wellencharakter des Elektrons aus. Um einen kleinen Anhaltspunkt für die Richtung der Gedankengänge zu geben, sei ein Beispiel erläutert, das mit dem hier zu behandelnden Problem in einem gewissen Zusammenhang steht. Regt man eine, an zwei Stellen eingespannte Saite zu einer stehenden Welle an, so schwingt diese Saite (Energie-
2. Bindungsmodelle der Moleküle
335
Verluste durch Reibung seien ausgeschlossen) unendlich lange im gleichen Rhythmus weiter. Stehende Wellen („stationäre Schwingungen") solcher Art sind bei gegebener Saitenlänge / jedoch nur mit ganz bestimmten Frequenzen möglich. Die Wellenlängen besitzen bekanntlich die Werte 2 //n (also 2 /, /, 2/3 /, 1/2 /, 2/5 /, 1/3 l usw.) entsprechend der Grundschwingung (« = 1) und den verschiedenen Oberschwingungen = 2, 3, 4, 5, 6, usw.) des betrachteten Systems. Je nachdem die Saite mit der einen oder anderen Frequenz schwingt, kommt ihm als schwingendes System ein bestimmter Energieinhalt zu. Um das System in die einzelnen Schwingungszustände zu überführen, müssen bestimmte ,,EnergieQuanteni" zu- oder abgeführt werden. Die Schwingungsamplitude in einer Entfernung x von der Einspannung der Saite ist (im Zeitpunkt maximaler Saitenauslenkung) durch die Wellenfunktion \p' ~ sin (180 nx) gegeben (x in /-Einheiten gemessen: x läuft also von 0 bis 1). Wie aus der graphischen Darstellung der für die Grundschwingung 1) und die 1. Oberschwingung 2) gültigen Funktionen sin (180 x) und \p'2 ~ sin (360 x) hervorgeht:
weist erstere Funktion im ganzen x-Bereich nur positive Werte, letztere Funktion im Bereich x 0.5 negative Schwingungsamplituden auf. Abgesehen von den Stellen, an denen die Saite eingespannt ist, wird im Falle von \p\ (Grundschwingung) keine, im Falle von \pf2 eine Nullstelle („Knotenpunkt") bei x = 0.5 aufgefunden (die 2., 3., 4. Oberschwingung usw. weist 2, 3, 4 Knotenpunkte usw. auf). Analoges wie für die Schwingungszustände der S a i t e als eines eindimensionalen Schwingungssystems (vgl. Kleingedrucktes) gilt für die Schwingungszustände einer eingespannten Metallplatte als eines zweidimensionalen Schwingungssystems. Damit ähneln die eindimensionale Saite und die schwingende zweidimensionale Metallplatte der dreidimensionalen E l e k t r o n e n h ü l l e d e s W a s s e r s t o f f a t o m s , die ebenfalls durch bestimmte Energiequanten in ganz bestimmte Energiezustände (Schwingungszustände) gebracht werden kann. Wie bei der schwingenden Saite und der schwingenden Platte lässt sich auch im Falle der „ n e g a t i v e n E l e k t r i z i t ä t " des Wasserstoffatoms eine stationäre „Grundschwingung" und eine stationäre 1., 2., 3 usw. Oberschwingung unterscheiden. Den (schwingungsfreien) K n o t e n p u n k t e n der eindimensionalen und den schwingungsfreien K n o t e n l i n i e n der zweidimensionalen Schwingungen entsprechen dabei schwingungsfreie K n o t e n f l ä c h e n der dreidimensionalen Schwin gungen (Knotenzahl bei der Grundschwingung = 0, bei der 1. Oberschwingung = 1, bei der 2. Oberschwingung = 2 usw.). Jeder Schwingungszustand des Wasserstoffelektrons lässt sich durch eine ,, Wellenfunktion" („Orbital", exakter: „Atomorbital" AO) y; mathematisch erfassen. Sie hat an jedem P u n k t des Wasserstoffatoms einen bestimmten endlichen, als S c h w i n g u n g s a m p l i t u d e deutbaren p o s i t i v e n oder - g e g e b e n e n f a l l s - n e g a t i v e n oder - an Stellen einer Knotenfläche - v e r s c h w i n d e n d e n Wert, dessen s t e t s positives Q u a d r a t die weiter oben besprochene Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Wasserstoffelektrons am betreffenden Punkt ergibt Atomorbitale als Wellenfunktion. Die Wellenfunktion des Wasserstoffelektrons im Zustand der „Grundschwingung" (1s-Zustand; keine Knotenfläche) lautet: 1
—r
(4)
(r = Abstand des Elektrons vom Wasserstoffkern in atomaren Einheiten r B ). Sie ist in Fig. 98a (S. 330) graphisch dargestellt. Die s p h ä r i s c h e S y m m e t r i e der Funktion (4) k o m m t besonders gut in der Darstellungsweise der Fig. 105 (erste Reihe) zum Ausdruck, in welcher die
336
X. Grundlagen der Molekülchemie
wiedergegebene kreisförmige K o n t u r l i n i e eine Linie gleichen \p1 S -Wertes repräsentiert. Durch Rotation dieser Konturlinie um den Kreismittelpunkt entsteht eine kugelförmige K o n t u r f l ä c h e konstanten ^ S - W e r t e s (Fig. 99b; S. 330), welche die ls-Schwingungsform (Gestalt des ls-Orbitals) veranschaulicht. Zweckmäßigerweise wählt m a n die Knotenfläche so, dass sich das ls-Elektron innerhalb der Fläche zu einem hohen Prozentsatz (z.B. 9 9 % ) aufhält. Das in den Kreis der Fig. 105 (erste Reihe) bzw. in die Kugelschale der Fig. 99 b eingezeichnete Pluszeichen bringt zum Ausdruck, dass die tp-Werte des 1 s-Orbitals im gesamten Funktionsbereich p o s i t i v sind. F ü h r t m a n dem Wasserstoffatom im Grundzustand (Hauptquantenzahl ^ = 1) E n e r g i e zu, so geht es in den durch ^ = 2 charakterisierten Zustand der ,,1. Oberschwingung" (eine Knotenfläche) über. Es hat in diesem Zustand die Möglichkeiten zu z w e i verschiedenen, als 2s- und 2p-Zustände bezeichneten Schwingungsformen (vgl. Konturliniendiagramm Fig. 105 (zweite Reihe) sowie Gestalt des p p y - und p Z -Orbitals: Fig. 102). Sowohl das 2s- als auch jedes der drei 2p-Orbitale weist jeweils einen Bereich mit positiven und negativen Schwingungsamplituden auf. Beide Bereiche sind im ersten Fall durch eine sphärische, in den letzten Fällen durch eine e b e n e Knotenfläche voneinander getrennt. N o c h größere Energiezufuhr zum Wasserstoffatom bedingt die Ausbildung der durch n = 3 charakterisierten ,,2. Oberschwingung" (zwei Knotenflächen). Hier lassen sich d r e i verschiedene, als 3 s-, 3 p- und 3d-Zustände bezeichnete Schwingungsformen unterscheiden (vgl. Konturliniendiagramm Fig. 105 (dritte Reihe) sowie Gestalt der d xy -, d x z -, d yz -, d x i - y i - und d z2 Orbitale: Fig. 103). Im Zustand der . Oberschwingung" (n = 4) der Wasserstoffelektronenhülle lassen sich v i e r als 4s-, 4p-, 4d- und 4f-Zustände bezeichnete Schwingungsmöglichkeiten unterscheiden (jeweils d r e i Knotenflächen). Bezüglich der Gestalt der f-Orbitale vgl. Lehrbücher der theoretischen Chemie. Wie aus den maßstabsgerechten Konturliniendiagrammen (Fig. 105) hervorgeht, bestimmt die Hauptquantenzahl n ( = 1, 2, 3) die Größe, die Nebenquantenzahl l ( = 0, 1, 2 entsprechend s, p, d) die Gestalt des betreffenden Orbitals.
Fig. 105 Maßstäbliche Konturliniendiagramme der 1s-, 2s-, 2pz-, 3s-, 3pz-, 3dxz-, 3dz2-Atomorbitale des Wasserstoffs (wiedergegeben sind jeweils die 99 % Konturen; die punktierten Linien repräsentieren Knotenebenen der betreffenden Orbitale).
2. Bindungsmodelle der Moleküle
337
2.1.2 Atome mit mehreren Elektronen Die korrekte Wellenfunktion f ü r Atome mit mehreren Elektronen hängt von den jeweils drei Koordinaten aller Elektronen gleichzeitig ab (für die 1s-Wellenfunktion des Wasserstoffelektrons genügte demgegenüber bereits eine Koordinate, nämlich der Abstand r; vgl. S. 330). G e n a u genommen lässt sich deshalb das Orbitalkonzept nicht auf Mehrelektronensysteme übertragen (Orbitale stellen definitionsgemäß Einzelelektronenwellenfunktionen dar). Näherungsweise kann jedoch ein herausgegriffenes Elektron eines Mehrelektronenatoms so behandelt werden, als würde es sich in einem kugelsymmetrischen Feld des positiven Kerns und der negativen Ladungswolke der übrigen Elektronen bewegen, wobei die Bewegungsdetails der übrigen Elektronen ohne Einfluss auf die Bewegung des betreffenden Elektrons sind („Modell des unabhängigen Elektrons", „Einelektronen-Näherung"). Die Mehrelektronenwellenfunktion ergibt sich dann näherungsweise als Produkt V1V2V3 ••• (so genanntes „Hartree-FockProdukt") aller Einelektronenfunktionen ip 1; ip2, ip3 . . . (s. unten). Nach dem von Wolfgang Pauli (1900-1958) aufgefundenen Antisymmetrie-Prinzip („Pauli-Prinzip", S.95, 346) sind nur solche Mehrelektronenfunktionen erlaubt, die bei Vertauschung der Koordinaten zweier beliebiger Elektronen ihren Betrag beibehalten, aber ihr Vorzeichen umkehren. Daher genügt nicht ein einziges Hartree-Fock-Produkt; denn dieses verhält sich immer symmetrisch bezüglich eines Koordinatentauschs. Man benötigt eine Summe von Hartree-Fock-Produkten, einschließlich der Elektronenspinfunktionen mit geeignet gewählten positiven und negativen Vorzeichen. Hierbei werden die Einelektronenfunktionen in geschickter Weise so gewählt, dass sich die antisymmetrisierte Hartree-Fock-Produktfunktion der korrekten Mehrelektronenfunktion optimal anpasst (vgl. S. 339). Den Fehler, den man macht, weil das zur Beschreibung von Mehrelektronensystemen benutzte Einelektronenmodell Details der Elektronenbewegung nicht berücksichtigt, nennt man den ,,Korrelationsfehler" und den hiermit verknüpften Energiefehler die „Korrelationsenergie". Im R a h m e n dieser Näherung k o m m t den «s-, «p-, «d- und «f-Orbitalen von Atomen der Ordnungszahl > 1 die gleiche Gestalt wie den entsprechenden Orbitalen des Wasserstoffatoms (s. oben) zu. Ihre Größe unterscheidet sich jedoch. Des weiteren sind in Atomen mit mehreren Elektronen - anders als in solchen mit nur einem Elektron (z.B. H, H e + , Li 2 + usw.) - die Nebenschalen einer Hauptschale nicht mehr energieentartet. Auch hängt der Energiegehalt eines Elektrons in einem bestimmten Atomorbital wesentlich von der Zahl und Art der übrigen Elektronen des Atoms ab. Denn letztere schirmen die positive Ladung des Atomkerns mehr oder weniger gut ab (S. 94) und mindern damit die für den Energiegehalt des betrachteten Elektrons u.a. mitverantwortliche elektrostatische Kernanziehung. So durchdringt etwa die Ladungswolke des äußeren 2s-Elektrons des Lithiumatoms (Elektronenkonfiguration 1s 2 2s 1 ) nur zum Teil die Ladungswolke der beiden 1s-Atomelektronen (vgl. Fig.99c, S.330): Die 1 s-Elektronen schirmen deshalb die drei positiven Kernladungen des Lithiums gegenüber dem 2s-Elektron erheblich ab. Der Energiegehalt eines 2s-Elektrons in einem Lithiumatom ist damit um vieles kleiner als der Energiegehalt eines 2s-Elektrons in einem Lithiumkation Li 2 + mit fehlenden 1s-Elektronen. Weniger als eine 2s- durchdringt eine 2p-Elektronenladungswolke die Ladungswolke eines 1s-Elektrons (Fig. 106). Als Folge hiervon ist ein 2p-Elektron (allgemein «p-Elektron) schwächer als ein 2s-Elektron (allgemein «s-Elektron) an den Kern eines Atoms mit mehreren Elektronen gebunden. Einem angeregten Lithiumatom der Elektronenkonfiguration 1s 2 2 p 1 k o m m t deshalb ein um 745 kJ/mol größerer Energiegehalt als einem Lithiumatom im Grundzustand (1s 2 2 s 1 ) zu. Noch weniger,,durchdringend" als eine p-Elektronenladungswolke wirkt eine d- und insbesondere eine f-Elektronenladungswolke. Folglich wird ein Elektron vorgegebener Hauptquantenzahl « in der Reihe s-, p-, d-, f-Elektron zunehmend stärker durch die anderen Atomelektronen abgeschirmt Bezüglich eines Elektrons e der Hauptquantenzahl n und Nebenquantenzahl / (= 1, 2, 3..., entsprechend s, p, d...) wird die Kernladung in guter Näherung nur durch Elektronen e' kleinerer bzw. gleicher Hauptquantenzahl abgeschirmt (ri ^ n). Bei gleicher Hauptquantenzahl (n' = n) wirken überdies nur
338
X. Grundlagen der Molekülchemie
Fig. 106 Radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit für Elektronen in 1s-, 2s-, und 2p-Atomorbitalen des Wasserstoffatoms
Elektronen kleinerer bzw. gleicher Nebenquantenzahl (/' ^ /). Elektronen im gleichen Zustand (n' = n; r = l) verringern die Kernladung jeweils um ca. 1/3 Ladungseinheit. Elektronen in anderen Zuständen (n' < n und/oder V < l) bewirken meist eine mehr oder minder vollständige Abschirmung einer Kernladung pro Elektron (vgl. Lehrbücher der theoretischen Chemie). Die Atome lassen sich in der Reihenfolge wachsender Ordnungszahlen aus Kernen und Elektronen dadurch aufbauen, dass man unter Berücksichtigung des Pauli-Prinzips sowie der 1. Hund'schen Regel das jeweils neu hinzukommende Elektron in dasjenige wasserstoffähnliche Atomorbital einfügt, in welchem es den niedrigsten Energiegehalt aufweist. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich mit dem „Einbau" jedes weiteren Elektrons die Energien der übrigen Atomelektronen ändern, was in einigen wenigen Fällen sogar einen Elektronenumbau zur Folge hat. So kommt etwa dem Vanadium die Elektronenkonfiguration 1s 2 2s 2 2p 6 3s 2 3p 6 3d 3 4s 2 , dem im Periodensystem nachfolgenden Chrom aber die Konfiguration 1s2 2s2 2p 6 3s2 3p 6 3d 5 4s1 zu. Beim Übergang vom Vanadium zum Chrom führt mithin der weitere Einbau eines 3d-Elektrons gleichzeitig zu einem Wechsel eines Elektrons aus dem 4s- in den 3d-Zustand. Bezüglich weiterer Einzelheiten des ,,Aufbauprinzips der Atome" vgl. S.299, 1303, 1877. Jedes Elektron eines Atoms mit mehreren Elektronen lässt sich in guter Näherung (s. unten) durch eine Wellenfunktion beschreiben, deren Quadrat die Aufenthaltswahrscheinlichkeitsverteilung (Dichteverteilung) des betreffenden Elektrons liefert. Die Dichteverteilung aller Elektronen eines beliebigen Atoms kann dann als Summe der Dichteverteilung der einzelnen Atomelektronen dargestellt werden. Wie im Falle des Wasserstoffatoms im Grund- bzw. angeregten Zustand ergibt sich hierbei in jedem Falle eine kugelsymmetrische Elektronendichteverteilung. Letztere weist sphärische Dichtemaxima auf, deren Zahl der Anzahl von Hauptschalen entspricht, die im betreffenden A t o m mit Elektronen besetzt sind (vgl. Fig. 107). Bezüglich des - experimentell nachweisbaren - schalenartigen A u f b a u s der Elektronenhülle kommen mithin das alte und das neue Atommodell zu entsprechenden Ergebnissen. Während jedoch nach den Bohr'schen Vorstellungen jedes Elektron eines Mehrelektronenatoms einer bestimmten Schale zugeordnet wird, auf der es ausschließlich anzutreffen ist, hält sich das betreffende Elektron nach den neuen atomistischen Vorstellungen im gesamten R a u m u m den Atomkern auf. Damit trägt es gleichzeitig zur Dichte aller sphärischen Elektronendichtemaxima eines Atoms bei Die bereits mehrfach erwähnten Wellenfunktionen der Atomelektronen stellen Lösungen der - in ihrer mathematischen Form hier nicht näher behandelten - „Schrödinger-Gleichung" dar:
Fig. 107
Bildliche Wiedergabe der Dichte der Elektronen in den Atomen der Edelgase (rB = 0.529 Ä).
2. Bindungsmodelle der Moleküle
339
H ip — Exp (H = Hamilton-Operator, ^ = Wellenfunktion, £ = der zuxp gehörende Energiewert („Eigenwert"); vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie). Anders als für Einelektronensysteme (H, He + , L i + + ) ist für Mehrelektronensysteme (z.B. He, Li, Be) eine Lösung dieser Gleichung in geschlossener Form grundsätzlich unmöglich. Eine „exakte" Lösung der Schrödinger-Gleichung, d.h. die Bestimmung der exakten Wellenfunktion eines Mehrelektronensystems ist für beliebig komplizierte atomare oder molekulare Systeme aber ebenso zugänglich wie die „exakte" Lösung etwa der Gleichung x = ]/2, nämlich durch eine konvergente Entwicklung in eine unendliche Reihe. Allerdings erfordert die angesprochene Lösung schon im Falle einfacher Probleme einen enormen rechnerischen und damit auch finanziellen Aufwand. In allen Fällen, in denen dieser Aufwand nicht gescheut wurde, konnten theoretische Ergebnisse erzielt werden, die ohne eine einzige Ausnahme mit den experimentellen Ergebnissen völlig übereinstimmten. Durch geeignete Methoden (z. B. ,,Hartree-Fock-Näherung" der Wellenfunktion für Atome mit mehreren Elektronen) lassen sich zudem Näherungswellenfunktionen errechnen, aus welchen etwa Elektronendichteverteilungen folgen, die mit experimentell durch Röntgen- und Elektronenbeugungsmessungen ermittelten Dichteverteilungen in dem betreffenden Atom (oder Molekül) gut übereinstimmen (vgl. etwa Fig. 108). Von großer Hilfe ist hierbei ein theoretisch begründeter Satz (Variationsprinzip), wonach keine, versuchsweise für ein Mehrelektronensystem verwendete und in die Schrödinger-Gleichung eingesetzte Wellenfunktion eine niedrigere Energie der Atom- bzw. Molekülelektronen ergeben kann, als der exakten Energie des Systems entspricht. Führen damit versuchsweise eingeführte Wellenfunktionen nach vorgenommenen Änderungen zu niedrigeren Energiewerten, so entsprechen sie meist in besserem Maße den exakten Wellenfunktionen, sind also besser angepasst. Die Anpassung der Wellenfunktionen kann z.B. dadurch erfolgen, dass man in die Funktion einen Parameter einführt und mathematisch das Funktionsminimum in Abhängigkeit von der Energie aufsucht
Im Falle der „self-consistentfield(SCF-) Methode" („Methode des selbstkonsistenten Feldes",,,HartreeFock-Methode") verfährt man im Einzelnen zur Anpassung der Atomelektronenwellenfunktionen etwa wie folgt: Man nimmt für «-1 der « Atomelektronen plausible Wellenfunktionen an, berechnet mit ihrer Hilfe die sphärische Feldwirkung der -1 Elektronen und bestimmt über die Schrödinger-Gleichung unter Berücksichtigung der Feldwirkung des Atomkerns und der -1 Elektronen die Wellenfunktion des «-ten Elektrons. Dann greift man ein anderes Elektron heraus und bestimmt dessen Wellenfunktion unter Berücksichtigung eines „verbesserten" Feldes (berechnet aus «-2 angenommener Wellenfunktionen und der erhaltenen Wellenfunktion für das n-te Elektron). Nachdem auf diese Weise für jedes Atomelektron die Wellenfunktion verbessert wurde, beginnt der Zyklus erneut. Es folgen so viele Zyklen bis die Wellenfunktionen der einzelnen Elektronen bei einem zusätzlichen Zyklus keine Änderung mehr erfahren und somit selbstkonsistent geworden sind
2.1.3
Mehratomige Systeme (Moleküle)
Ein einfaches, auf W. Heitler und F. London (1927) zurückgehendes und von J.C. Slater sowie L. Pauling weiterentwickeltes Näherungsverfahren (Valenzstruktur-Methode bzw. -Theorie Valence-Bond- (VB-)Theorie,,,Elektronenpaar-Theorie") 5 behandelt Bindungselektronen in mehratomigen Systemen (Molekülen) ähnlich wie Atomelektronen, deren Gesamt-
340
X. Grundlagen der Molekülchemie
Wellenfunktion sich als Produkt der mit Elektronen besetzten Atomorbitale ergibt (s. oben). Das Verfahren sei nachfolgend anhand des Wasserstoffmoleküls erläutert. Wasserstoffmolekül. In zwei weit voneinander entfernten Wasserstoffatomen H und H' besetzt ein Elektron (Elektron (1)) das s-Atomorbital (exakter: 1s Atomorbital) des einen, das andere Elektron (Elektron (2)) das s'-Atomorbital w des anderen Wasserstoffatoms. Die Zweielektronenwellenfunktion des Atomsystems ergibt sich dann als Produkt (1) VV (2) der elektronenbesetzten s-Orbitale. Sind die Wasserstoffatome andererseits wie im Wasserstoffmolekül nahe benachbart, so kommt es im Sinne des auf S. 131 Besprochenen dadurch zu einer kovalenten chemischen Bindung zwischen den H-Atomen, dass sich die Bindungspartner gemeinsam in ein Elektronenpaar teilen. Mit anderen Worten besetzt das Elektron (1) bzw. (2) nunmehr nicht länger ausschließlich das Orbital bzw. ips,, sondern mit gleicher Wahrscheinlichkeit zusätzlich das Orbital w bzw. ips. Dies lässt sich durch die Zweielektronenwellenfunktion Vkov =
Vs
( 1 )
W
(2)
+
Vs (
2 )
W
( 1 )
zum Ausdruck bringen. Einsetzen von xpkov in die Schrödinger-Gleichung liefert bei Berücksichtigung der Wirkung effektiver Kernladungen (Abvchirmung der Kernladung durch das andere Elektron) für den Bindungsabstand von 0.743 Ä ein Energieminimum von — 365 kJ/mol (experimentelle Werte: 0.742 Ä, — 458 kJ/mol). Die Wellenfunktion („Bindungsorbital") des Wasserstoffmoleküls lässt sich durch zusätzliche Berücksichtigung von Ionen- neben Kovalenzstrukturen im Rahmen der Resonanz (S. 136) [H—H ~ H + H~ ~
H~H+],
d.h. von Funktionen, die wie \ps (1) (2) bzw. , (1) VV (2) die Besetzung des s-Orbitals von H bzw. H' mit zwei Elektronen zum Ausdruck bringen, weiter verbessern: V = V k o v + ^Vion
m i t
Vion = V s
( 1 )
Vs ( 2 ) + W
(1)
W
(2)
(X, das Gewicht der Ionengrenzstruktur an der Mesomerie beträgt ca. 0.25). Berücksichtigt man schließlich noch die Elektronenkorrelation (s. oben ) und verwendet „verbesserte" s-Wellenfunktionen (vgl. S. 348), so liefert die Rechnung fast exakt die experimentell gefundenen Werte für die Bindungslänge und -eneregie. Eine Bindung zwischen den Wasserstoffatomen tritt aber in jedem Falle nur dann ein, d.h. eine negative Bindungsenergie wird nur dann erhalten falls die beiden Elektronen entgegengesetzten Spin haben („Paaren von Elektronen"). Andere Moleküle In entsprechender Weise wie die s-Elektronen halb-besetzter s-Orbitale (s. oben) bilden die p-Elektronen halbbesetzter p-Orbitale zweier Hauptgruppenelemente Zweielektronenbindungen. Die „Bindungsorbitale" können hierbei vom a- oder 7i-Typ sein, auch können mehrere Elektronenpaare den Zusammenhalt der Bindungspartner verursachen. Tatsächlich wurde das Bindungsmodell der Elektronenpaarung (VB-Methode) stillschweigend vielen Ausführungen in Kapitel VI zugrunde gelegt.
2.1.4
Relativistische Effekte12
Im Zusammenhang mit der Besprechung von Trends einiger Eigenschaften der Hauptgruppenelemente (S. 302) wurde verdeutlicht, dass die Eigenschaftsänderungen dieser Elemente in freiem oder gebundenem Zustande beim Fortschreiten von einem zum nächsten Element innerhalb der einzelnen Perioden und G r u p p e n jeweils den gleichen Gang aufweisen. Bei den schweren Hauptgruppenelementen Tl, Pb, Bi, Po, At, Rn, Fr, R a (Ordnungszahlen 8 1 - 8 8 ) beobachtet m a n jedoch vielfach Eigenschaften (Metallcharakter, Wertigkeit, Ionisierungsenergie, Elektronenaffinität, Atom- und Ionenradien, Bindungsenergien, -längen und -winkel, Farben der Elemente und ihrer Verbindungen), die nicht dem erwarteten Eigenschaftsgang entsprechen (vgl. etwa die Fig. 96 auf S. 308). In analoger Weise unterscheiden sich die Eigenschaften der schweren Nebengruppenelemente Hf, Ta, W, Re, Os, Ir, Pt, Au, H g (Ordnungszahlen 7 2 - 8 0 ) zum Teil auffällig von denen der leichteren Gruppenhomologen (vgl. S.1307f).
12
Literatur. P. Pyykkö: „Relativistic Quantum Chemistry", Adv. Q u a n t u m C h e m 11 (1978) 353-409; „Relativistic Effects in Structural Chemistry", Chem. R e v 88 (1988) 563-594; P. Pyykkö, J.-P. Desclaux: „Relativity and the Periodic System of Elements", Acc. Chem. R e s 12 (1979) 276-281; G . L . Mali (Hrsg.): ,, Relativistic Effects in Atoms, Molecules, and Solids", Plenum Press, New York 1983; P. Pyykkö: , Relativistic Theory of Atoms and Molecules", 2 Bände, Springer, Berlin 1986 und 1993.
2. Bindungsmodelle der Moleküle
341
Schließlich differieren die berechneten Energien der betreffenden Atome trotz Berücksichtigung der Korrelationsenergien deutlich von den tatsächlichen Energien (Entsprechendes gilt für Moleküle, welche die betreffenden Atome enthalten sowie - in geringerem bis sehr geringem Ausmaß - auch für „leichtere" Atome und Moleküle. Die Eigenschaftsanomalien der schweren Elemente gehen in erster Linie auf relativistische Effekte der Elektronen zurück. U n d zwar beobachtet m a n direkte relativistische Effekte insbesondere für Elektronen in s-Atomorbitalen und (abgeschwächt)p-Atomorbitalen (bzw. Molekülorbitalen mit s- und p-Orbitalbeteiligung; vgl. Unterabschnitt 2.2). Die überaus großen Geschwindigkeiten der s- und p-Elektronen in Kernnähe (s-Elektronen halten sich im U n terschied zu anderen Elektronen sogar an Stellen der Atomkerne auf) führen zu einer deutlichen relativistischen Erhöhung der s- und p-Elektronen-Massen (vgl. S. 16) und damit zu einer relativistischen Abnahme des mittleren Elektronen/Kern-Abstandes („relativistische sund p-Orbitalkontraktion"). Z. B. erreichen 1 s-Elektronen des „Quecksilbers" im Mittel 58 % der Lichtgeschwindigkeit, entsprechend einer 20 %igen Erhöhung ihrer Masse bzw. 20 %igen Verkleinerung ihres mittleren Kernabstandes (mit der Elektronenmasse m e wächst gemäß Ekin = me v 2 /2 die kinetische Energie des Elektrons, was im Sinne der Ausführungen auf S. 329 (Fig. 97) und S. 348 eine „ S c h r u m p f u n g " des betreffenden Atomorbitals bewirkt). Als Folge der relativistischen Radienkontraktion der Atome beobachtet m a n naturgemäß eine relativistische Bindungskontraktion der Moleküle, die annähernd proportional zuZ2(Z = Kernladung) ist Der mit einer Absenkung der Energie der s- und p-Orbitale (bzw. Molekülorbitale mit sund p-Orbitalbeteiligung) verbundene Effekt ist naturgemäß in Atomen mit massenreichen („schweren") Kernen größer als in solchen mit massenarmen („leichten") Kernen. Relativistische Effekte in Valenzschalen nehmen etwa mit Z 2 zu und werden in der 6. Periode (Z = 55-86) ähnlich groß wie einige andere Schalenstruktureffekte (vgl. z. B. H-Brückenbindung). Wegen der gegenseitigen Elektronenabschirmung (S. 109) nimmt die relativistische Orbitalkontraktion allerdings nicht stetig mit steigender Kernladung der Atome z u . Z . B. wächst sie für 6s-Elektronen gemäß Fig. 109 von „Cäsium" (Ordnungszahl 55) zunächst bis zum „ G o l d " (Ordnungszahl 70), vermindert sich dann bis zum „ R a d i u m " (Ordnungszahl 88) und nimmt schließlich bis zum „ F e r m i u m " (Ordnungszahl 100) hin wieder zu (Unregelmäßigkeiten bei Ba, La, Ce, Gd, Cm). Die „Anomalie" des Golds rührt teilweise von der Überlappung der d-Orbitale der 5. mit den s-Orbitalen der 6. Periode her Weniger ausgeprägt als die Kontraktion der s- und p-Orbitale ist die der dundf-Atomorbitale. D a die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen in d- und f-Orbitalen in der N ä h e der Atomkerne klein ist, werden die d- und f-Elektronen von den s- und p-Elektronen vor der Kernladung gut abgeschirmt (vgl. Anm. 1 2 ). Die relativistische Kontraktion der s- und p-Orbitale erhöht noch den Abschirmungseffekt der s- und p-Elektronen. Letzterer fällt stärker 100 Ba
Fm
_u 60
70 80 Ordnungszahl —
90
100
Fig. 109 Durch relativistische Effekte bedingte Kontraktion der 6s-Atomorbitale der Elemente Cs (Ordnungszahl 55) bis Fermium (Ordnungszahl 109) vom „mittleren nichtrelativistischen" Radius rnichtrel (= 100%) zum nichtrel mittleren relativistischen" Radius rrel rel
342
X. Grundlagen der Molekülchemie
als der Effekt der relativistischen d- und f-Orbitalkontraktion ins Gewicht, sodass m a n bei schweren Elementen insgesamt als Folge indirekter relativistischer Effekte eine „relativistische d- und f-Orbitalexpansion" beobachtet. Einige Beispiele mögen den Einfluss relativistischer Effekte auf die Eigenschaften der schweren Elemente sowie die Spin-Bahn-Kopplung verdeutlichen. I. und II. Hauptgruppe Die Ionisierungsenergien nehmen innerhalb der Elemente der Alkali- und Erdalkaligruppe (s1- bzw. s2-Außenelektronenkonfiguration) bis Cs bzw. Ba als Folge des wachsenden mittleren Abstands der s-Valenzelektronen vom Kern ab, dann beim Übergang zu Fr bzw. Ra als Folge der relativistischen s-Orbitalkontraktion wieder zu (Rb/Cs/Fr: 4.18/3.89/4.15eV; Sr/Ba/Ra:: 5.70/5.21/ 5.28 eV; vgl. Tafel III). Cäsium hat unter allen Atomsorten die kleinste Ionisierungsenergie und zugleich den größten Atomradius. Da die Ionenradien der Alkali- und Erdalkalikationen M + und M 2 + durch die (relativistisch weniger beeinflussten) p-Orbitale der zweitinnersten Hauptschale bestimmt werden, steigen diese stetig mit zunehmender Ordnungszahl der Gruppenelemente an (vgl. Anhang IV). I. und II. Nebengruppe Die Ionisierungsenergien nehmen innerhalb der Elemente der Kupfer- und Zinkgruppe (s1- bzw. s2-Außenelektronenkonfiguration) mit steigender Ordnungszahl als Folge des wachsenden Abstands der Valenzelektronen vom Kern und der (gegenläufigen) steigenden relativistischen s-Orbitalkontraktion zunächst ab, dann wieder zu (Cu/Ag/Au: 7.73/7.58/9.22 eV; Zn/Cd/Hg: 9.39/8.99/ 10.44 eV; vgl. Tafel IV). Wegen der in Richtung C s / B a A u / H g stark zunehmenden Kernladungszahl sind die relativistischen Effekte bei letzterem Elementpaar viel deutlicher ausgeprägt als bei ersteren. So nimmt beim Übergang von der 5. zur 6. Periode im Falle der I. und II. Hauptgruppe (Rb -> Cs; Sr -> Ba) die Ionisierungsenergie noch ab (Zunahme erst für Cs -> Fr; Ba -> Ra), im Falle der I. und II. Nebengruppe (Ag -> Au; Cd -> Hg) bereits zu, wobei naturgemäß die Ionisierungsenergien von Ag, Au, Cd, Hg deutlich höher liegen als die von Rb, Cs, Sr, Ba. Hierbei sind wiederum die Elemente Au und Hg auffallend edler als die leichteren Homologen der I. und II. Nebengruppe, wogegen sich die in der gleichen Periode stehenden Elemente Cs und Ba unedler als ihre leichteren Homologen in der I. und II. Hauptgruppe verhalten. Wegen der erwähnten gegenläufigen Effekte (Schalenerhöhung, Orbitalkontraktion) vergrößert und verkleinert sich darüber hinaus der Atomradius von E (1.278/1.445/1.442 Ä) beim Übergang von E = Cu über Ag nach Au, während die Dissoziationsenthalpie von E 2 in gleicher Richtung sinkt und wächst (194/159/221 kJ/mol). Auffallende Stabilität weist auch das mit Au 2 isoelektronische Hg2 + - I o n auf, wogegen Cd2 + vergleichsweise instabil ist. Als Folge der hohen s-Orbitalkontraktion (Fig. 109) ist die Elektronenaffinität von Au ( — 2.31 eV) wesentlich größer als die von Cu und Ag (—1.23/ — 1.30 eV). Gold verhält sich demgemäß in mancher Beziehung ,,iodanalog" und bildet wie Iod mit Rb und Cs anionisches Au~. In analoger Weise verhält sich Hg „edelgasanalog" (gefüllte s-Unterschale) und ist anders als das feste Nachbarelement Au (starke Metallbindungen) flüssig (schwache Metallbindungen). Der der s-Orbitalkontraktion entgegengesetzte Effekt der d-Orbitalexpansion von Au zeigt sich in einer vergleichsweise niedrigen 2. Ionisierungsenergie (20.52 statt 21.48 eV bei Ag) und in der - bei Ag nur wenig ausgeprägten - Tendenz von Au zur Ausbildung höherer Wertigkeiten (insbesondere drei aber auch noch fünf). III.-VIII. Nebengruppe Wie an anderer Stelle noch ausführlich behandelt wird (S. 1879), führt die Zunahme der positiven Kernladung innerhalb der Reihe der Lanthanoide Ln (6. Periode; Ordnungszahlen 57-71; Füllung der 4f-Schalemit Elektronen) bzw. der Actinoide An (7. Periode; Ordnungszahlen 89-103; Füllung der 5f-Schale mit Elektronen) zu einer Verkleinerung der Ln 3 + - und An 3 + - I o n e n r a d i e n als Folge der wachsenden Anziehung der 5sp- bzw. 6 sp-Elektronen seitens der durch die f-Elektronen nur wenig abgeschirmten Kernprotonen, deren Zahl in gleicher Richtung zunimmt. Die relativistische s- und p-Orbitalkontraktion verstärkt hierbei die angesprochene Lanthanoid bzw Actinoidkontraktion (vgl S. 1879). Der Effekt der relativistischen f-Orbitalexpansion, der sich naturgemäß bei den Actinoiden (größere Kernmasse) stärker als bei den Lanthanoiden (kleinere Kernmasse) auswirkt, zeigt sich u. a. in der bei den Lanthanoiden nur wenig ausgeprägten Tendenz der frühen Actinoide zur Ausbildung hoher Wertigkeiten (vier bei Th, fünf bei Pa, sechs bei U, sieben bei Np, Pu, Am; vgl. S. 1957). In analoger Weise ist die Tendenz der Nebengruppenelemente Hf bis Au zur Ausbildung hoher Oxidationsstufen aufgrund der relativistischen 5d-Orbitalexpansion größer als die der leichteren Homologen Zr bis Ag (vgl. S.1307). Die Ln-Kontraktion bewirkt, dass der Atomradius des auf Ln folgenden Elements Hf (1.564 Ä) sogar kleiner ist als der des leichteren Homologen Zr (1.590 Ä). Hierbei heben sich die entgegengesetzt wirkenden relativistischen Effekte der s, p-Orbitalkontraktion und der d, f-Orbitalexpansion bei Hf - wie sich berechnen lässt - gerade auf. Bei den rechts von Hf stehenden Elementen wirken sich die radienvergrößernden Effekte stärker als die radienverkleinernden Effekte aus, sodass die Atomradien von Nb und Ta gleich (1.47 Ä), die von W, Re, Os, Ir, Hg größer als die der Gruppenhomologen sind (vgl. Tafel IV; die Radien von Pt und Au mit ihrem sehr starken relativistischen Kontraktionseffekt sind mit 1.37 Ä bzw. 1.44 Ä vergleichbar mit denen von Pd und Ag). Die d-Orbitalexpansion der späteren
2. Bindungsmodelle der Moleküle
343
Elemente der 3.Übergangsreihe (Os, Ir, Pt, Au, Hg) ist u.a. auch der Grund für das besonders weiche Lewis-saure Verhalten dieser Elemente (vgl. S. 253). III. - VIII. Hauptgruppe Die relativistische s-Orbitalkontraktion zeigt sich bei den Elementen Tl bis Rn darin, dass das s-Valenzelektronenpaar chemisch vergleichsweise inert ist (Effekt des inerten Elektronenpaars). Demgemäß existiert Thallium bevorzugt in der einwertigen, Blei bevorzugt in der zweiwertigen Form, während die zugehörigen leichteren Homologen bevorzugt drei- und vierwertig auftreten. Spin-Bahn-Kopplungen Die Elektronen in p-Orbitalen (Entsprechendes gilt für d- und f-Orbitale) teilen sich aufgrund der „relativistischen Spin-Bahn-Kopplung" in zwei Gruppen: Elektronen in stärker kontrahierten p 2-Orbitalen mit der Spin-Bahn-Quantenzahly = 1 — s = 1 — 1 / 2 = 1 / 2 (Fassungsvermögen: 2 Elektronen) und Elektronen in weniger stark kontrahierten p 2-Orbitalen mit der Spin-Bahn-Quantenzahly'=l + s = l + \ = § (Fassungsvermögen: 4 Elektronen; bezüglich der Spin-Bahn-Kopplung vgl. S.98). Als Folge hiervon zeigt „Thallium" (Außenelektronenkonfiguration 6s26p}/2 in mancher Beziehung „halogenähnliches", „Blei" (Konfiguration 6s 2 6p 2 / 2 ) „edelgasähnliches" und „Bismut" (Konfiguration 6 s2 6p 2 /2 6pj /2 ) „alkalimetallähnliches" Verhalten. So ist etwa die Elektronenaffinität von Thallium (— 0.31 eV) nur unwesentlich kleiner als die von Blei (— 0.36 eV), trotz seiner niedrigeren Kernladung, wogegen sie sich beim entsprechenden Übergang zwischen den leichteren Homologen In/Sn, Ga/Ge, Al/Si, B/C stark erhöht (vgl. Fig.96 auf S. 308). Auch weist die Ionisierungsenthalpie beim Übergang Tl/Pb/Bi (6.107/7.415/7.285 eV) bei Pb ein lokales Maximum auf, das im Falle der leichteren Homologen, für welche die relativistischen Effekte kleiner sind, nicht beobachtet wird (vgl. Fig.96 auf S. 308). Die Stabilität einer vollbesetzten p t -Unterschale zeigt sich schließlich darin, dass das Pb (6s2 6p 1 / 2 ) wie die Edelgase in dichtester Packung kristallisiert (leichtere Homologe: Diamantgitter) und das Bi (6 s2 6p 2 /2 6p3 /2 ) einwertig, Po (6 s2 6p 2 /2 6p§/2) zweiwertig aufzutreten imstande sind (offenbar bildet Rn ebenfalls höherwertige Kationen, vgl. S.426).
2.2
Die Molekülorbitale (MO) 5
Strukturvorhersagen mit dem LCAO-Modell
Bezüglich ihres Baus unterscheiden sich Moleküle von den Atomen hauptsächlich nur da durch, dass sie statt e i n e s Atomkerns m e h r e r e in eine „Wolke von Elektronen" eingebettete positive Kerne aufweisen, dass sich also ihre Elektronen nicht nur im Felde eines, sondern mehrerer positiver Zentren bewegen. Das vorstehend für Atome Besprochene lässt sich demgemäß im Wesentlichen auf die Moleküle übertragen. So wird etwa die bei der B i l d u n g v o n M o l e k ü l e n aus den zugehörigen A t o m k e r n e n und - e l e k t r o n e n gewonnene potentielle Coulomb-Energie Epot wie im Falle der Bildung der Atome aus ihren geladenen Bestandteilen zur einen Hälfte in kinetische Energie kin der Elektronen umgewandelt und zur anderen Hälfte nach außen abgegeben (vgl. Virial-Theorem). Beispielsweise wird bei der Vereinigung von 2 Protonen und 2 Elektronen zu einem Wasserstoffmolekül H 2 im Grundzustand ein potentieller Energiebetrag von —63.874 eV gewonnen, wobei die Hälfte ( + 31.937 eV) dem System als kinetische Energie verbleibt, während die andere Hälfte ( — 31.937 eV) freigesetzt wird. Letzterer Energiebetrag ist hierbei größer als der durch Vereinigung von 2 Protonen und 2 Elektronen zu zwei Wasserstoffatomen im Grundzustand erhältliche Energiebetrag von 2 x (—13.595) = —27.190 eV. Die Differenz beider Beträge ( — 4.747 eV) stellt dann die bei der Vereinigung von zwei Atomen Wasserstoff zu einem Wasserstoffmolekül abgegebene chemische Bindungsenergie dar. Wie im Falle der Atomelektronen lässt sich naturgemäß auch im Falle der Molekülelektronen nichts bestimmtes über deren Bahn aussagen. Es kann jedoch wieder eine W a h r s c h e i n l i c h k e i t s v e r t e i l u n g für den A u f e n t h a l t der einzelnen Elektronen angegeben werden, welche sich als Quadrat (xp2) von E l e k t r o n e n w e l l e n f u n k t i o n e n („Orbitalen"; exakter: „Molekülorbitalen", MOs) ip ergibt. Das heißt, ähnlich den Atomelektronen ,,besetzen" auch die Molekülelektronen einzelne Orbitale (hier: Molekülorbitale), in welchen ihnen jeweils ein ganz bestimmter Energiegehalt zukommt. Jedes Molekülorbital kann wiederum maximal 2 Elektronen entgegengesetzten Spins aufnehmen. Darüber hinaus ergibt sich im R a h m e n der Einelektronen-Näherung die Mehrelektronenwellenfunktion als Produkt aller Einelektronenwellenfunktionen (vgl. S.339).
344
X. Grundlagen der Molekülchemie
Wie nun in den nachfolgenden beiden Unterkapiteln anhand z w e i - und m e h r a t o m i g e r Moleküle demonstriert sei, lassen sich die betreffenden Molekülorbitale, deren Kenntnis nicht nur die B e r e c h n u n g von E l e k t r o n e n d i c h t e n , sondern u.a. auch von E l e k t r o n e n e n e r g i e n ermöglicht, in guter Näherung aus Atomorbitalen der am Molekülaufbau beteiligten Atome herleiten
2.2.1
Zweiatomige Moleküle
Allgemeines
Vereinigung von Atomen zu zweiatomigen Molekülen Nähert m a n zwei Atome (bzw. Atomgruppen) A und B einander, die eine stabile chemische Verbindung A B bilden, so nimmt der Energiegehalt des Systems A/B zunächst ab, dann - bei kleinen AB-Abständen - wieder zu. Als Beispiel ist in Fig. 110 der Energieverlauf der Bildung von W a s s e r s t o f f m o l e k ü l e n H 2 beim absoluten Nullpunkt als Funktion des Abstandes zweier Wasserstoffatome H wiedergegeben. Der G l e i c h g e w i c h t s a b s t a n d der Atomkerne im Molekül A B (im Falle von H 2 : 0.74166 Ä) ist durch das E n e r g i e m i n i m u m gegeben. Die bei der Annäherung der Atome A und B bis auf diesen Abstand freigesetzte Energie entspricht in Übereinstimmung mit dem Virial-Theorem (s. dort) der vom A/B-System aufgenommenen k i n e t i s c h e n Energie der Elektronen (und Kerne, s.u.) bzw. der Hälfte der bei der Atomvereinigung gewonnenen p o t e n t i e l l e n Energie. Wollte m a n die Atomkerne einander noch über den Gleichgewichtsabstand im Molekül A B annähern, so müsste m a n dem A/B-System Energie zuführen, da sich im Zuge der Kernabstandsverkürzung die kinetische Energie der (auf einen kleineren R a u m zusammengedrängten) Elektronen in weit stärkerem M a ß e erhöht, als sich die potentielle Energie erniedrigt. Bei sehr kleinen Kernabständen nimmt die potentielle Energie infolge der elektrostatischen Kernabstoßung sogar wieder zu. Umgekehrt erfordert die Trennung der Atomkerne des Moleküls A B wegen der starken Zunahme der potentiellen und der vergleichs weise geringeren A b n a h m e der kinetischen Systemenergie eine Energiezufuhr Ähnlich wie die Elektronen, so sind auch die Kerne eines zweiatomigen (bzw. mehratomigen) Moleküls im Grundzustand nicht in Ruhe: Selbst beim absoluten Nullpunkt (0 K) schwingen sie um ihre Gleichgewichtslage, sodass also nicht von einem bestimmten, sondern nur von einem durchschnittlichen K e r n a b s t a n d gesprochen werden kann. Im Falle des Wasserstoffmoleküls können die Protonen etwa jeden Abstand unter der in der Energiekurve der Fig. 110 eingezeichneten ausgezogenen waagrechten Linie einnehmen. Die Mitte dieser Linie (0.741 66 Ä) repräsentiert dann den durchschnittlichen K e r n a b s t a n d Man bezeichnet die besprochene Schwingung der Molekülkerne als „Nullpunktsschwingung" und die mit ihr verbundene Energie, d. h. der im Molekül selbst bei beliebig niedriger Temperatur verbleibende Rest an Schwingungsenergie als „Nullpunktsenergie". Die Nullpunktsschwingung stellt eine nichtklassische Schwingung dar, für die kein klassisches Analogon existiert. Der Unterschied zwischen der +100
458 kJ/mol
jl 0.5 ! 1.0 0.74166 Ä
1.5
2.0
[Nullpunktsenergie 26 kJ/mol
2.5 H/H-Abstand [Ä]
Fig. 110 Verlauf der Gesamtenergie der Bildung von Wasserstoffmolekülen als Funktion des Abstands zweier Wasser stoffatome 1 H (D0 = experimentelle H2-Dissoziationsenergie bei 0 K; bei 25 0C beträgt letztere 436.22 kJ/mol).
2. Bindungsmodelle der Moleküle
345
klassischen und der Nullpunktsschwingung besteht insbesondere darin, dass bei ersterer die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der schwingenden Massen bei minimaler bzw. maximaler Auslenkung, bei letzterer aber in der Gleichgewichtslage am größten ist. Der Betrag E0 der Nullpunktsenergie ergibt sich für zweiatomige Moleküle AB zu: E0 = \h- v0 (v0 = Frequenz der Nullpunktsschwingung). Da zwei miteinander durch eine elastische Feder ( = chemische Bindung) verknüpfte Kugeln (= Atome A und B) bekanntlich umso häufiger gegeneinander schwingen, je stärker die Federkraft und je leichter die Kugeln sind, kommt dem Wasserstoffmolekül 1 H 2 (Diprotium), in welchem besonders leichte Atome relativ fest miteinander verbunden sind, eine vergleichsweise hohe Nullpunktsenergie von 26.0 kJ/mol zu (vgl. Fig. 110). Entsprechend der höheren Kernmasse des Dideuteriums und insbesondere des Ditritiums beträgt die Nullpunktsenergie des Wasserstoffmoleküls 2 H 2 bzw. 3 H 2 nur 18.5 bzw. 15.2 kJ/mol (vgl. Tab. 35 auf S. 274). Da der Energieverlauf der 1 H 2 -, 2 H 2 - bzw. 3H2-Bildung aus 1 H-, 2 H- bzw. 3H-Wasserstoffatomen jeweils in der gleichen Weise vom Wasserstoffkernabstand abhängt (Energieminimum: 458 kJ/mol), nimmt die experimentell messbare Dissoziationsenergie der Moleküle in der Reihe 1 H 2 , 2 H 2 , 3 H 2 zu (436.2, 443.6, 447.2 kJ/mol bei 298 K; vgl. Tab.35). Ähnlich wie nun die Elektronenhülle eines Atoms oder Moleküls durch Zufuhr bestimmter Energiemengen in angeregte Zustände übergeführt werden kann (vgl. S.325), lässt sich auch das schwingende Kernsystem zwei- bzw. mehratomiger Moleküle durch Zufuhr geeigneter Energiequanten in verschieden angeregte Schwingungszustände versetzen (vgl. Schwingungsspektroskopie). So führt etwa ein Energiebetrag von 49.8 kJ/mol das Molekül Diprotium 1 H 2 in den ersten angeregten Schwingungszustand über (in Fig. 110 sind die angeregten Schwingungszustände von 1 H 2 durch gestrichelte, in die Energiekurve eingezeichnete waagrechte Linien charakterisiert). Einem aus « Atomen zusammengesetzten mehratomigen Molekül kommen im Normalfall 3« — 6 Schwingungsmöglichkeiten zu (vgl. Schwingungsspektroskopie). Die gesamte Nullpunktsenergie eines mehratomigen Moleküls stellt dann die Summe der durch Eq = ihvl0(i = i-te Molekülschwingung) gegebenen Energien der 3« — 6 Nullpunktsschwingungen dar. Ist« sehr groß, so nimmt die gesamte Nullpunktsenergie eines Moleküls zum Teil recht große Beträge an. Orbitale zweiatomiger Moleküle. Die Fig. 111 a gibt die Dichteverteilung ip2 der beiden Elektronen im Grundzustand eines Wasserstoffmoleküls wieder. Ersichtlicherweise halten sich die Elektronen bevorzugt in der N ä h e der Wasserstoffatomkerne sowie der Kernverbindungsachse auf. Somit k o m m t in der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wasserstoffmolekülelektronen die durch einen Valenzstrich symbolisierte chemische Bindung zwischen zwei Wasserstoffatomen sichtbar zum Ausdruck. Die bezüglich der Bindungsachse rotationssymmetrische Gestalt der Ladungswolke der Wasserstoffmolekülelektronen wird besonders gut durch die Fig. 111b und c veranschaulicht (wiedergegeben sind jeweils Flächen gleichen ip 2 -Wertes). Sowohl Fig. 111 b wie c repräsentieren zugleich die Gestalt des mit zwei Elektronen „besetzten" Molekülorbitals ip des Wasserstoffmoleküls im Grundzustand. M a n nennt es wegen seiner Ähnlichkeit mit einem s-Atomorbital (vgl. Fig. 111 c) auch <x-Molekülorbital. In analoger Weise werden ganz allgemein Molekülorbitale zweiatomiger Moleküle, die bezüglich der Bindungsachse rotationssymmetrisch sind, als o-Molekülorbitale bezeichnet. Alle Elektronen von Einfachbindungen (o-Bindungen, S. 134) besetzen Orbitale letzteren bzw. angenähert letzteren Typus.
Fig. 111 (a) Dichteverteilung eines Elektrons im energieärmsten o-Molekülorbital des Wasserstoffmoleküls. (b, c) Gestalt des cr-Molekülorbitals des Wasserstoffmoleküls im Grundzustand (in (c) in Richtung der Bindungsachsen gesehen).
346
X. Grundlagen der Molekülchemie
(a)
(b)
(c)
(d)
Fig. 112 (a) Dichteverteilung des Elektrons eines 7i-Molekülorbitals. - (b, c) Gestalt eines 7i-Molekülorbitals (in (c) in Richtung der Bindungsachse gesehen). Die gestrichelten Linien repräsentieren Knotenebenen senkrecht zur Papierebene. - (d) Gestalt eines J-Molekülorbitals in Richtung der Bindungsachse gesehen (Gestalt quer zur Bindungsachse analog (b)).
Von den a-Molekülorbitalen unterscheidet m a n die TI-Molekülorbitale, welche den p-Atomorbitalen ähnlich sind und (gegebenenfalls neben anderen, nichtebenen Knotenflächen) eine ebene Knotenfläche aufweisen, die in Richtung der Bindungsachse verläuft (vgl. F i g . l l 2 b und c). Wie im Falle der p-Orbitale sind auch die ip-Werte der n-Orbitale auf beiden Seiten der betreffenden Knotenebene spiegelbildlich gleich, haben aber ein unterschiedliches Vorzeichen (in Fig. 112b und c durch + und - symbolisiert). Die durch ^ 2 gegebene Elektronendichte hat hierbei in bestimmtem Abstand beiderseits der Knotenebene oberhalb und unterhalb der Bindungsachse besonders hohe Werte (Fig. 112a). 7i-Molekülorbitale werden von Elektronen der über Einfachbindungen hinausgehenden Bindungen {n-Bindungen, S. 134) zwischen mehrfach miteinander verknüpften Atomen (z. B. N = N ) besetzt. Die den Atomorbitalen vergleichbaren, nur für Bindungen zwischen Nebengruppenelementatomen bedeutungsvolle^-Molekülorbitale weisen zwei ebene Knotenflächen auf (gegebenenfalls neben anderen nicht ebenen Knotenflächen), die in Richtung der Bindungsachse senkrecht zueinander verlaufen (vgl. Fig. 112d). Die Gestalt der betreffenden ö-MOs gleicht von der Seite gesehen der des 7T-MOs in Fig. 112b, wobei allerdings nicht nur zwei, sondern vier Orbitalbereiche existieren, und diese liegen nicht nur über und unter der Bindungsachse wie im Falle der 7T-MOs, sondern oberhalb vor und hinter sowie unterhalb vor und hinter der Bindungsachse. Die \|/-Werte der ö-Orbitale sind wie die \|/-Werte der 7T-Orbitale auf beiden Seiten der Knotenebenen spiegelbildlich gleich, haben aber unterschiedliche Vorzeichen, wobei der Verlauf der durch gegebenen Elektronendichte der vier -Orbitaluntereinheiten dem der Elektronendichte der zwei 7T-Orbitaluntereinheiten gleicht. Ähnlich wie s-, p-, d - . . . Atomorbitale (lateinische Buchstaben) sind somit G-, rc-, 5 - . . . Molekülorbitale (griechische Buchstaben) durch 0, 1, 2 . . . ebene, in Richtung der Bindungsachse verlaufende Knotenflächen charakterisiert Pauli-Prinzip. Vergleicht man die \\f-Orbitalwerte an den Orten mit den Koordinaten x, y, z und — x, — y,—z (Spiegelung der \|/-Werte am Koordinatenursprung), so bleibt der Betrag der \|/-Werte erhalten. Das Werte-Vorzeichen ändert sich im Falle der s-, d-, G-, ö-Orbitale nicht und kehrt sich im Falle der p-, ^-Orbitale um. Man bringt diesen Sachverhalt auch wie folgt zum Ausdruck: Beim Vertauschen der Orts- {Raum-, Bahn-)koordination eines Paars von Elektronen in einem bestimmten Quantenzustand (Orbital) bleibt die Orts- {Raum-, Bahn-) funktiony des Systems entweder gleich oder es ändert sich lediglich das Vorzeichen. In ersterem Falle bezeichnet man die ,,Ortsfunktion" als symmetrisch (abgekürzt: sym), in letzterem als antisymmetrisch (abgekürzt: asym).In entsprechender Weise verhält sich die ,,Spinfunktion" zweier Elektronen bei Koordinatenaustausch symmetrisch bzw. antisymmetrisch bei paralleler (ff) bzw. antiparalleler ( f j ) Spinausrichtung. Nach einem wichtigen, von dem österreichischen Physiker Wolfgang Pauli (1900-1958) in den Jahren 1924/1925 formulierten Gesetz („Pauli-Prinzip") müssen Gesamtwellenfunktionen für Teilchen mit halb-
2. Bindungsmodelle der Moleküle
347
zahligem Spin (,,.Fermionen") antisymmetrisch (y/ — y/), mit ganzzahligem Spin (,,Bosonen") symmetrisch (y/ in Bezug auf den Austausch der Orts- und Spinkoordinaten für ein beliebiges Teilchenpaar sein. Die Symmetrie einer Gesamtwellenfunktion von Teilchen ergibt sich hierbei als Produkt der Symmetrie von deren Orts- und Spinfunktion, wobei gilt: sym x sym = sym; asym x asym = sym; sym x asym = asym; Beispiele für Fermionen sind das Elektron, das Proton, das Neutron, der Kern des Tritiums (Spin jeweils V2), ein Beispiel für ein Boson der Kern des Deuteriums (Spin gleich 1; vgl. Anh. II). Als Anwendung des Pauli-Prinzips wurde auf S. 94 das Elektronenaufbauprinzip der Atome besprochen, wonach jedes Orbital maximal 2 Elektronen entgegengesetzten Spins aufnehmen kann. Da die als Produkt der Symmetrie der Elektronenortsfunktionen gegebene Symmetrie der Gesamtortsfunktion beider Elekt ronen - unabhängig davon, ob die Elektronen ein symmetrisches oder antisymmetrisches Orbital besetzen (sym x sym = sym; asym x asym = sym) - symmetrisch ist, fordert das für Elektronen (Fermionen) gültige Antisymmetrieprinzip eine antisymmetrische Spinfunktion (sym (Ort) x asym (Spin) = asym), d. h. Orbitale (z. B. s-AO von H e cr-MO von H2) können höchstens von zwei Elektronen unterschiedlichen Spins besetzt werden (unterschiedliche Orbitale wie das 1 s- und 2s-AO von He oder das 2px- und 2p -AO von C dürfen natürlich mit je einem Elektron gleichen Spins besetzt werden). Im Zusammenhang mit dem Pauli-Prinzip sei des weiteren auf den Ortho- und Parawasserstoff eingegangen (vgl. S.274). Die Spinfunktion der Protonen ist für o-H2 voraussetzungsgemäß symmetrisch, für p-H2 antisymmetrisch (andere Bezeichnungen für ortho bzw. para). Das Pauli-Prinzip fordert für Protonen (Fermionen) eine antisymmetrische Gesamtwellenfunktion, d.h. eine antisymmetrische bzw. symmetrische Ortsfunktion für o-H2 bzw. p-H2. Die Protonenbewegungen beziehen sich in H2 auf MolekülRotationen und -Schwingungen v, wobei Rotations-Schwingunszustände für v0, v2, v4 ... symmetrisch, für v1? v3, v5 ... antisymmetrisch sind. Mithin kann Orthowasserstoff in der energieärmsten Form nur den Rotationszustand vt einnehmen (Rotationen sind energieärmer als Schwingungen) und ist damit energiereicher als Parawasserstoff, der im Grundzustand v0 existieren darf: p-H2 + 0.08 kJ o-H2 (S. 275). Da die Kerne {Deuteronen) von Dideuterium D2 zu den Bosonen gehören (Spin gleich 1), fordert hier das Pauli-Prinzip eine symmetrische Gesamtwellenfunktion. Als Folge hiervon ist o-D2 etwas energieärmer als p-D2 (vgl. S. 276). Die Verhältnisse im Falle von Ditritium (Kerne mit dem Spin gleich */2) entsprechen jenen im Falle von Diprotium.
Lineare Kombination von Atomorbitalen zu Molekülorbitalen Ein einfaches, auf F. H u n d (1928) zurückgehendes und u . A . von E. Hückel, R.S. Mulliken, J.E. Lennard-Jones und C.A. Coulson weiterentwickeltes Näherungsverfahren zur Herleitung von Molekülorbitalen zwei- (und mehr-) atomiger Moleküle stellt die lineare Kombination von Atomorbitalen zu Molekülorbitalen dar inear Combination of Atomic Orbitals to Molecular Orbitals", „.LCAO-MO-Methode" bzw. -Theorie; häufig kurz als Molekülorbital(MO-)Theorie bezeichnet) 1 3 . Das Verfahren sei nachfolgend anhand des Wasserstoffmoleküls H 2 sowie anderer zweiatomiger Moleküle (u.a. N 2 , O 2 , F 2 , H F ) näher erläutert. Das Wasserstoffmolekül. Unter der erwähnten linearen Kombination von Atomorbitalen zu angenäherten Molekülorbitalen versteht m a n explizit die Addition bzw. Subtraktion von Atomorbitalen (Wellenfunktionen) der an einer chemischen Bindung beteiligten Atome. Demgemäß folgt etwa das in Fig. 111 wiedergegebene d-Molekülorbital der Wasserstoffmolekülelektronen im Grundzustand näherungsweise aus einer Addition der 1 s-Atomorbitale zweier Wasserstoffatome H und FT (Fig. 113; der Index s am MO-Symbol ex soll dessen H e r k u n f t aus s-Atomorbitalen aufzeigen):
Fig.113 Zustandekommen des bindenden -Molekülorbitals von durch Überlappung (positive Interferenz) von 1sWasserstoffatomorbitalen
13 Bezüglich der Valence-Bond- (VB-)Methode, einem anderen Näherungsverfahren, vgl. S. 339 und 361.
348
X. Grundlagen der Molekülchemie
H
H'
Abstand entlang der Kernverbindungslinie
Fig. 114 Elektronendichte eines Elektrons im Wasserstoffatom sowie im Wasserstoffmolekül entlang der Wasserstoffverbindungslinie (t/; 1s(1s>} = Dichtefunktion des Elektrons im 1 s-Wasserstoffatomorbital (vgl. Fig. 98b auf S. 330); = N21Pl^±)Wu)2. Durch diese als ,,positive Interferenz" von Schwingungsamplituden deutbare „Überlappung66 (symmetrische Kombination) der 1 s-Wellenfunktionen zweier Wasserstoffatome erhöhen sich die Funktionswerte ip (Schwingungsamplituden) und damit auch deren Quadrate ip2 (Elektronendichte) - wie zu fordern (Fig. 111) — insbesondere in der Gegend der Kernverbindungslinie (vgl. Fig. 114). Die Zweielektronenwellenfunktion \pa des Wasserstoffmoleküls mit den Elektronen (1) und (2) ergibt sich dann - abgesehen vom Normierungsfaktor N1 4 - als P r o d u k t der -Molekülorbitale Wa = [Vi, (1) + Vi,' (1)] LWi s (2) + Vi,' (2)] . Mit der Näherungswellenfunktion \p lässt sich der in Fig.110 dargestellte Verlauf der Gesamtenergie der Bildung von Wasserstoff-Molekülen aus -Atomen als Funktion des Was serstoffkernabstandes qualitativ richtig wiedergeben: Die Berechnung führt zu einem Energieminimum des H 2 -Moleküls. D . h . , mit wird die chemische Bindung zwischen den Wasserstoffatomen erfasst. Allerdings liegt das errechnete Energieminimum mit — 260 kJ/mol noch beachtlich oberhalb des tatsächlichen Minimums ( — 458 kJ/mol; vgl. Fig. 110). Auch wird es bei einem Kernabstand von 0.850 statt 0.7417 Ä aufgefunden. Dies ist aber von geringer Bedeutung. Zudem können die Werte für die Energie sowie den Kernabstand durch geeignete Korrekturen (Berücksichtigen der Elektronenkorrelation (S. 337) und der Konfigurationswechselwirkung, Verwendung geeigneter Ausgangswellenfunktionen für die Atomelektronen, s. unten) noch erheblich verbessert werden. Man kann sich fragen, welcher physikalische Mechanismus für die chemische Bindung im Rahmen der LCAO-MO-Näherung für die chemische Bindung des H 2 -Moleküls verantwortlich ist. Denkbar wäre etwa, dass die mit der H2-Bildung verbundene Konzentrierung der Wasserstoffelektronen in der Bindungsregion, also in einer Gegend, in welcher die Elektronen von beiden H 2 -Kernen gleichzeitig angezogen werden, eine Abnahme der potentiellen Systemenergie bewirkt. Tatsächlich führt die positive Interferenz der 1s-Wasserstofforbitale jedoch zu einer geringfügigen Erhöhung der potentiellen Energie; denn 14 Normierungsfaktor, Überlappungsintegral. Das durch Überlagerung der s-Atomorbitale von Wasserstoffatomen gebildete a s - (bzw. crs*-) Molekülorbital des Wasserstoffmoleküls lautet explizit:
=
U(±)Ww)
Der ,,.Normierungsfaktor" N ergibt sich dabei aus der Forderung, dass die Wahrscheinlichkeit, 1 Wasserstoffelektron in der Summe aller Volumenelemente dK des Raums um die Wasserstoffkerne anzutreffen, naturgemäß gleich 1 sein muss (vgl. S. 330): = (Wls(±}Ww)2 dV = N2$(W2U(±}2VuVu> + V2u>)dV=N2($W2lsdV(±}2$WlsWu,dK+JW22sdV) = iV 2 (1 ( ±) 2 S + 1) = 1. (Bei der Rechnung wurde berücksichtigt, dass die Integrale j r p j s d V und jipf s ,dV gleich 1 sind (vgl. S.330). S ist das so genannte ,,Überlappungsintegral" ^WuWis'dV, welches das Ausmaß der Überlappung beider Atomorbitale zum Ausdruck bringt. Es folgt somit: N(7V*) N = 1 / | / 2 ( l ( + )(S). D a im vorliegenden Falle S ca. 0.6 ist, folgt darüber hinaus: N = 0.56 und N* = 1.12.
2. Bindungsmodelle der Moleküle
349
die der Bindungsregion aus anderen Molekülgegenden zugeführte Ladung wird wie sich berechnen lässt - im wesentlichen gerade an Stellen in unmittelbarer Nähe der Wasserstoffkerne, also an Orten besonders kleiner potentieller Elektronenenergie weggenommen (vgl. hierzu Fig.114; darüber hinaus führt die gegenseitige Abstoßung beider H 2 -Elektronen zu einer Erhöhung von £pot). Entscheidend für die chemische Bindung des H2-Moleküls ist (bei Zugrundelegen der LCAO-MO-Näherung) demgegenüber eine starke Abnahme der kinetischen Energie der Wasserstoffelektronen im Zuge der H-Atomverei nigung Offensichtlich steht dann die LCAO-MO-Näherung nicht in Übereinstimmung mit dem Virial-Theorem (s. dort); denn der beachtlichen Erniedrigung der kinetischen Energie entspricht zwar eine gewisse, jedoch bei weitem keine doppelte Erhöhung der potentiellen Energie. Um eine das Virial-Theorem besser erfüllende und demgemäß auch richtigere Näherungsfunktion für die H 2 -Elektronen zu erhalten {exakte Wellenfunktionen erfüllen das Virial-Theorem exakt), ohne auf die dem Chemiker sehr entgegenkommende LCAO-MO-Näherungsmethode verzichten zu müssen (Aufbau von Molekülen bzw. MOs aus Atomen bzw. AOs), geht man zweckmäßig von geeignet veränderten („vorbereiteten", ,,promovierten"), nämlich verkleinerten 1s- Wasserstoff atomorbitalen ausi 5 . Diese Orbitalverkleinerung führt laut Fig.97 (S. 329) zu einer drastischen Erhöhung der kinetischen Energie und einer weniger drastischen Erniedrigung der potentiellen Systemenergie, sodass nunmehr die kinetische Energie Ekip des Wasserstoffatomelektrons nicht mehr - wie gefordert - gleich der Hälfte seiner potentiellen Energie £ pot , sondern größer ist: \Ekin \ > \1E ot |. Mit Vorteil wählt man nun die promovierten Wasserstoffatomorbitale in der Weise, dass die mit der positiven 1s-Orbitalinterferenz verbundene Abnahme der kinetischen Elektronenenergie gerade so groß ist, dass die dem H-System verbleibende kinetische Energie näherungsweise gleich der Hälfte der potentiellen Elektronenenergie wird (| Ekip | « \1^ pot l )• Wie sich theoretisch begründen lässt, führt die lineare Kombination einer bestimmten Anzahl von Atomorbitalen jeweils zur gleichen Anzahl von Molekülorbitalen. Infolgedessen resultieren aus der Überlappung der 1s-Orbitale zweier Wasserstoffatome H und H' z w e i Molekülorbitale von denen e i n e s - wie besprochen (Fig. 1 1 3 ) - durch A d d i t i o n , das a n d e r e jedoch durch S u b t r a k t i o n der betreffenden Atomorbitale erhalten wird (Fig. 115):
ls(H)
ls(H')
1) für das Wasserstoffelektron. wird dabei so gewählt, dass sich mit der betreffenden Wellenfunktion im Sinne der Fig. 110 ein besonders tiefes Energieminimum für das H 2 -Molekül berechnet.
350
X. Grundlagen der Molekülchemie
gekennzeichnet (bezüglich der so genannten „nicht bindenden'' Molekülorbitale vgl. weiter unten). Demgemäß bezeichnet m a n das H 2 -Orbital der Fig. 115 auch als crf-Molekülorbital. Während Elektronen im a S - M o l e k ü l o r b i t a l des Wasserstoffmoleküls einen k l e i n e r e n E n e r g i e g e h a l t aufweisen als die 1 s-Atomorbitale der getrennten Wasserstoffatome, k o m m t Elektronen im o f - M o l e k ü l o r b i t a l umgekehrt ein g r ö ß e r e r E n e r g i e g e h a l t zu. Dieser Sachverhalt ist in Fig. 116 a, welche die durch waagrechte Striche („Energieniveaus") symbolisierten Energiegehalte der Wasserstoffelektronen im 1 s-Atomorbital sowie im bindenden d s - bzw. antibindenden of-Molekülorbital wiedergibt, in F o r m eines ,,Energieniveau-Schemas'' des W a s s e r s t o f f m o l e k ü l s bildlich veranschaulicht. Die beiden (im Schema durch Pfeile symbolisierten) Elektronen des Wasserstoffmoleküls im Grundzustand besetzen - mit entgegengesetztem Spin (vgl. Pauli-Prinzip) - naturgemäß das energieärmere Molekülorbital 1 6 . Bei der Bildung eines Wasserstoffmoleküls aus zwei Wasserstoffatomen wird gemäß Fig. 116 azweimal der Energiebetrag £ freigesetzt, da zwei 1 s-Wasserstoffatomelektronen in das gemeinsame, um den Betrag E energieärmere crs-Wasserstoffmolekülorbital übergehen (E = Ionisierungsenergie). Nur einmal erhält man diesen Energiebetrag im Falle der Vereinigung eines Wasserstoffatoms H mit einem WasserstoffatomIon H + zum Wasserstoffmolekül-Ion H 2 , da das u.a. durch Ionisierung von H 2 in der Gasphase zugängliche H 2 -Kation nur über ein einziges Elektron im crs-Molekülorbital verfügt. Demgemäß ist die Dissoziationsenergie von H 2 bei 25 °C mit 255 kJ/mol erheblich kleiner als von H 2 (432 kJ/mol). Dass sie nicht exakt halb so groß ist wie die Dissoziationsenergie von H 2 , hängt u.a. mit der gegenseitigen Abstoßung der beiden Elektronen im Wasserstoffmolekül H 2 zusammen, die eine gewisse Destabilisierung von dessen -Molekülorbital bewirkt Fig. 116 b gibt auch das dem Energieniveauschema der Wasserstoffmolekülorbitale (Fig. 116 a) entsprechende Schema der Bildung von a s - und er*-Molekülorbitalen des hypothetischen Heliummoleküls He2 durch Überlappung der betreffenden 1s-Heliumorbitale wieder. Da das He2-Molekül über 4 Elektronen verfügt, jedes Molekülorbital aber maximal nur zwei Elektronen aufnehmen kann, sind sowohl das bindende a s - als auch das antibindende öf-Molekülorbital vollständig mit Elektronen besetzt. Bei der Bildung eines Heliummoleküls aus zwei Heliumatomen gehen also im Sinne des in Fig. 116 b wiedergegebenen Schemas zwei von den vier Heliumatomelektronen in das um den Betrag energieärmere s-Rumpfelektronenkonfiguration (z.B. Ti 2 + , V 2 + , V 3 + , 3+ Cr usw.) vgl. das Kapitel über Grundlagen der Komplexchemie (S. 1315). In d 0 -ML„-Verbindungen bringt das zentrale Metallatom zwei, drei, vier, fünf oder sechs Elektronenpaare in zwei gewinkelt ausgerichteten sd-, drei pyramidal ausgerichteten sd 2 -, vier tetraedrisch ausgerichteten s d - , fünf quadratisch-pyramidal ausgerichteten s d - oder sechs gekappt-trigonal-pyramidal ausgerichteten sd-Hybridorbitalen unter, welche zur Überlappung mit Orbitalen der Liganden zu Zweizentren-Zweielektronen-Bindungen genutzt werden. Zur Hybridisierung dienen hierbei die «s-AOs der Außenschale (n = Hauptquantenzahl) und die («-1)d-AOs der nächst inneren Atomschale. Die «p-AOs haben - sieht m a n von Komplexen M L mit Koordinationszahlen größer sechs sowie ausgeprägten ML-71-Bindungen ab - höchstens sekundäre Bedeutung, d. h. nehmen aus energetischen Gründen nicht an der Hybridierung mit den ns- und («-1)d-AOs teil (s. oben). Weist M sieben und mehr Außenelektronenpaare auf (,,hypervalente Systeme"), so können die Metallatome in den Metallverbindungen ihren „Elektronenreichtum" durch Ausbildung von delokalisierten Dreizentren-Zweielektronen-Bindungen bewältigen (man diskutiert allerdings auch eine Beteiligung von «p-AOs an den sd5HOs). Die Strukturvorhersage für d0-ML„-Verbindungen mithilfe der Hybridorbitale (VB-Modell) setzt kovalente ML-Bindungen voraus; sie ist damit konträr zur Strukturvorhersage mithilfe der Rumpfelektronenpolarisation (VSEPR-Modell, S. 324), welche für elektrovalente Bindungen abgeleitet wurde. Tatsächlich sind Hybridisierung und Elektronenpolarisation immer gleichzeitig wirksam, wobei die relative Bedeutung für die Beschreibung der ML„-Strukturen naturgemäß von der Art des Metalls (Beteiligung von s- und d-AOs an A C + BD. In letzterem Reaktionsbeispiel verwandeln sich die E d u k t e A B und C D über „Zwischenprodukte" A D und BC in die P r o d u k t e A C und BD, wobei m a n unter Z w i s c h e n p r o d u k t e n allgemein chemische Stoffe versteht, die während einer Reaktion auf mono-, bi- oder gegebenenfalls trimolekularem Wege l a n g s a m e r e n t s t e h e n als w e i t e r r e a g i e r e n , anderenfalls wäre der betreffende Stoff isolierbar. Reaktionszwischenprodukte sind demzufolge kurzlebige und deshalb nur in kleiner Konzentration gebildete, auch als „reaktive Zwischenstufen"19 bezeichnete chemische Teilchen. Häufig setzen sich Gesamtreaktionen aus einer ganzen Reihe von einsinnigen oder auch rückläufigen Folge- und Parallelreaktionen zusammen. Dabei gilt jedoch i m m e r , dass sich
19
„Zwischenstufen" sind nicht zu verwechseln mit „Übergangszuständen" (auch inkorrekt als „Übergangsstufen" bezeichnet). Erstere zeichnen sich im Energieprofil durch Energiemulden, letztere durch Energieberge aus.
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
373
g l e i c h z e i t i g v e r l a u f e n d e R e a k t i o n e n gegenseitig n i c h t b e e i n f l u s s e n und h ä u f i g , dass jeweils der l a n g s a m s t e E i n z e l v o r g a n g g e s c h w i n d i g k e i t s b e s t i m m e n d ist (,,geschwindigkeitsbestimmender Schritt"; vgl. hierzu Geschwindigkeitsgesetze der HHal-Bildung aus H 2 und Hal 2 : Lehrbücher der physikalischen Chemie, Holleman-Wiberg, 101. Aufl.). Für den speziellen, doch häufig anzutreffenden Fall, dass das empirisch ermittelte Geschwindigkeitsgesetz irgendeiner Gesamtreaktion von Molekülen A mit B, C usw. dem Ausdruck =
=
(4)
genügt, ist der Begriff der „Reaktionsordnung" n, welche die Summe der Exponenten aller Konzentrationen darstellt, definiert: n=a+b+c
+ ...
Findet man demnach experimentell das Gesetz (1), so spricht man von einer „Reaktion I.Ordnung", bei einem Gesetz (2) von einer „Reaktion 2. Ordnung". Dabei ist zu beachten, dass Stöchiometrie, Molekularität und Ordnung einer Reaktion keineswegs miteinander übereinstimmen müssen. Beispielsweise wäre nach den stöchiometrischen Reaktionsgleichungen häufig eine vier-, fünf- oder noch höhermolekulare Reaktion zu erwarten, während in Wirklichkeit praktisch ausschließlich ein- bzw. zweimolekulare Reaktionen auftreten. Die Reaktionsordnungen n ergeben sich experimentell zu n = 0 bis n = 3 (einschließlich gebrochener Zahlen). Liegen einige Edukte einer Reaktion A + B + C ... -> Produkte, deren Geschwindigkeit einer Beziehung des Typs (4) folgt, in weit größerer Konzentration als die übrigen Reaktionsteilnehmer vor, so bleibt die Konzentration dieser Partner während der Reaktion nahezu konstant, sodass ihre Konzentrationen mit in die Konstante fc einbezogen werden können. Damit erniedrigt sich die Reaktionsordnung n um die Exponenten, welche den Konzentrationen in der Beziehung (4) zukommen, auf den Wert m, und man spricht dann von einer „Reaktion pseudo-m-ter Ordnung". Besonders komplizierte Geschwindigkeitsgesetze findet man im Falle „oszillierender Reaktionen", worunter man chemische Umsetzungen versteht, die periodisch in der einen und der entgegengesetzten Richtung ablaufen. Ein Beispiel bietet die von W.C. Bray im Jahre 1921 als erste homogene, oszillierende chemische Reaktion aufgefundene und zusammen mit A.H. Liebhafsky näher untersuchte iodatkatalysierte Wasserstoffperoxid-Zersetzung im sauren Milieu (,,Bray-Liebhafsky-Reaktion"): 2H202
(IO,~)
> 0 2 + 2H20,
bei der man (nach kurzer Induktionsperiode) rhythmische Schwankungen der Konzentration von gebildetem gelösten Iod sowie Sauerstoff (d. h. von violetten und farblosen Lösungen) im Gegentakt beobachtet. Die Oszillationen beruhen darauf, dass Iodat von H 2 0 2 über ionische Zwischenstufen zu Iod reduziert (5a) und dieses anschließend von H 2 0 2 über radikalische Zwischenstufen wieder zu Iodat oxidiert wird (5 b). Das Wasserstoffperoxid zersetzt sich dabei gleichzeitig in Sauerstoff und Wasser (5) und liefert mit diesem Zerfall die Energie für die chemische Oszillation 2IO3 + 5 H 2 0 2 + 2 H + ^ I 2 + 5 0 2 + 6 H 2 0 1 oszillierendes I2+11H202 2I0 3 - + 3 0 2 + 2 H + + 1 0 H 2 0 j System 16H 2 0 2
8 0 2 + 16H 2 0 + 3061 kJ
} energielieferndes System
(5a) (5b) (5)
Wie eine Pendeluhr, die als wesentliche Bestandteile einen Energielieferanten - das Gewicht - sowie ein schwingungsfähiges System - das Pendel - enthält, weist mithin auch eine oszillierende Reaktion ein energielieferndes und ein geeignetes, zu Oszillationen befähigtes chemisches System auf.
3.1.2 Geschwindigkeiten chemischer Reaktionen Während sich Wasserstoff und Iod gemäß H 2 + 1 2 -> 2 H I bei 350 °C im Zeitraum von einigen Stunden zu Iodwasserstoff vereinigen, erfolgt eine Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff unter Bildung von Wasser ( 2 H 2 + 0 2 -> 2 H 2 0 ) bei 350°C noch e x t r e m l a n g s a m und ist auch nach sehr vielen Jahren nicht abgeschlossen. Andere Reaktionen wie die Vereinigung von in Wasser gelösten Wasserstoff- und Hydroxid-Ionen zu Wasser (H + + O H " -> H 2 0 ) laufen
374
X. Grundlagen der Molekülchemie
wiederum so rasch ab, dass m a n ihre Geschwindigkeit lange Zeit für u n m e s s b a r g r o ß geh a l t e n h a t . D i e G e s c h w i n d i g k e i t e n c h e m i s c h e r R e a k t i o n e n e r s t r e c k e n sich mithin über einen a n s e h n l i c h e n Z a h l e n b e r e i c h . Besonders augenfällig kommen die beobachteten Geschwindigkeitsunterschiede chemischer Reaktionen in deren H a l b w e r t s z e i t e n zum Ausdruck. Mit ihnen wollen wir uns daher zunächst beschäftigen, um uns anschließend dem Z e i t m a ß s t a b c h e m i s c h e r V o r g ä n g e zuzuwenden.
Halbwertszeit chemischer Vorgänge Unter der „Halbwertszeit" t1/2 = % eines e i n s i n n i g r e a g i e r e n d e n chemischen Systems, in welchem die Reaktionspartner in s t ö c h i o m e t r i s c h e m V e r h ä l t n i s vorliegen, versteht m a n jene Zeit, die für den Ü b e r g a n g d e r H ä l f t e der vorhandenen E d u k t - in P r o d u k t m o l e k ü l e benötigt wird. N a c h T Sekunden sinkt mithin die ursprüngliche, zur Z e i t ; = 0 Sekunden vorliegende Konzentration c 0 der Reaktionspartner auf den halben Wert: c = c 0 /2. Hiernach ergibt sich beispielsweise f ü r eine bimolekulare Reaktion des Typs A B + C D -> Produkte, für die das Geschwindigkeitsgesetz = — d c / d ; = k • c AB • c C D = k- c2 (c AB = c C D = c) bzw. nach Gleichungsumstellung ( — dc/c 2 = k- dt) und anschließender Integration zwischen den Grenzen c 0 und c die Beziehung (6 a), der Ausdruck (6b) für die Halbwertszeit gilt (Einsetzen von c 0 /2 f ü r c sowie t für J in (6a)): (a)
1
1
C
Cq
1 (b) T bimolekular = — — . /C ' CQ
= k-t
(6)
Ganz entsprechend erhält m a n f ü r monomolekulare Reaktionen des Typs A B Produkte aus dem f ü r diesen Fall gültigen Zeitgesetz = —dc/dt = k • c (c = c AB ) die Beziehung (7a) und für trimolekulare Reaktionen des Typs A B + C D + E F -> Produkte unter Berücksichtigung des Geschwindigkeitsgesetzes —d /d AB C
=
C
CD
EF) den Ausdruck (7b): ( (a
t z ^monomolekular
j k
- 0.693 j k
( b (b
J ^trimolekular
_
1.5 2' k 'CQ
( ) (7)
Liegen mithin die Reaktanden monomolekularer Reaktionen in variabler, Reaktanden di- und trimolekularer Reaktionen in einmolarer Konzentration vor (c0 oder kurz c = 1), so ist die Reaktionshalbwertszeit überschlagsmäßig (bei bimolekularen Reaktionen sogar exakt) gleich dem Kehrwert der Geschwindigkeitskonstante (8a). Im Falle monomolekularer Zerfallsreaktionen ist neben der Halbwertszeit auch die ,,Lebensdauer" T' definiert. Man versteht hierunter jene Zeit, die für den Zerfall von 2/e-tel Edukt- in Produktmoleküle benötigt wird. Nach t' Sekunden sinkt mithin die ursprünglich vorliegende Konzentration c0 des Reaktanden auf 1/e («< V3): c = c0/e (Basis der natürlichen Logarithmen e = 2.71828). Man erhält dann aus dem für monomolekulare Reaktionen gültigen Zeitgesetz ln(c 0 /c) = k - t die Beziehung (8 b) O „ e a r = 0.7 T ) . Die Lebensdauer eines nach 1. Ordnung zerfallenden Reaktanden ist mithin exakt gleich dem Kehrwert der Geschwindigkeitskonstanten. mo
omol
kul
monomolekular
~
1 b
k
'
_ lne _ 1 k k
Während die Halbwertszeiten monomolekularer Reaktionen nach Gl. (7 a) von der Konzentration der Reaktionsteilnehmer unabhängig sind, nehmen die Halbwertszeiten von di- und insbesondere von trimolekularen Reaktionen gemäß (6 b) und (7 b) mit wachsender Anfangskonzentration der Reaktanden ab. Durch ausreichende ,, Verdünnung" der Reaktanden lässt sich mithin jedes kinetisch instabile (labile) chemische System in ein stabiles (metastabiles, inertes), d.h. m i t , , g e n ü g e n d " großer Halbwertszeit abreagierendes System, überführen, falls im Zuge der chemischen Umwandlung ein Teilschritt der Molekularität > 1 durchlaufen wird. Beispielsweise zersetzt sich Diimin N 2 H 2 (S. 686) sehr rasch nach zweiter Reaktionsordnung gemäß 2 H — N = N — H -> N = N + H 2 N — N H 2 . Es lässt sich deshalb unter Nor-
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
375
Fig. 131 Zusammenhang von Halbwertszeiten Tc = 1 chemischer Reaktionen mit deren freien Aktivierungsenergien AG+ bei verschiedenen Reaktionstemperaturen 25
50
75
100
125
150 kJ/mol
freie Aktivierungsenthalpie AG* (« A H * ) — •
malbedingungen nicht isolieren. Die Verbindung ist jedoch in der Gasphase bei Partialdrücken < 10 ~ 3 m b a r metastabil. Das Weltall ist wegen seiner hohen Materieverdünnung demgemäß ein idealer Ort für „exotische" Moleküle. Vgl. hierzu auch die Matrix-Technik, S. 524). Wegen der Abhängigkeit der Geschwindigkeitskonstanten von der Temperatur der Reaktionsteilnehmer sind demgemäß auch die Halbwertszeiten temperaturabhängig; sie nehmen mit sinkender Temperatur unabhängig von der Reaktionsmolekularität zu (vgl. Arrhenius'sche Gleichung). Ein chemisches System lässt sich mithin auch durch ,,Einfrieren" in einen metastabilen Zustand überführen. So wird beispielsweise das erwähnte, bei Raumtemperatur beachtlich instabile Diimin N 2 H 2 (S. 686) unterhalb - 1 8 0 °C metastabil, selbst wenn es in reiner, also hochkonzentrierter F o r m vorliegt. Die Fig. 131 gibt den Zusammenhang von Halbwertszeiten T c=1 chemischer Reaktionen mit ihren freien Aktivierungsenthalpien AG + (vgl. weiter unten), die bei nicht allzu hohen Temperaturen den Aktivierungsenergien bzw. -enthalpien AH* näherungsweise gleichgesetzt werden können, graphisch wieder (bezüglich der gewählten logarithmischen Zeitskala vgl. auch Fig. 132 und das dort Gesagte). Man erkennt, dass die Halbwertszeiten erwartungsgemäß mit steigender freier Aktivierungsenthalpie zunehmen, und zwar umso rascher, je kleiner die Temperatur ist, bei der die Umsetzung durchgeführt wird. Bei vorgegebener freier Aktivierungsenthalpie (z.B. 100 kJ) wachsen mithin die Halbwertszeiten mit abnehmender Reaktionstemperatur überproportional So zerfällt beispielsweise eine thermodynamisch instabile Verbindung, für deren Zersetzung eine freie Aktivierungsenthalpie von 100 kJ/mol aufgebracht werden muss (vgl. gestrichelte Senkrechte in Fig. 131), bei 500 K (227 0C) sehr rasch (T « 1/1000 s), bei 400 K (127 0C) noch rasch (T « 1 s), bei 300 K (27 0C) bereits langsam (T « 8 Stdn. = 1 Arbeitstag) und bei 200 K ( - 73 0C) sehr langsam (T « 1000000 Jahre) zur Hälfte. Die fragliche Verbindung ist mithin oberhalb Raumtemperatur kinetisch instabil und geht unterhalb Raumtemperatur in den metastabilen Zustand über Ist die für den Verbindungszerfall benötigte freie Aktivierungsenthalpie größer als oben angenommen, so ist die Verbindung auch noch bei höheren Temperaturen metastabil (vgl. gestrichelte Waagrechte in Fig. 131). Zum Beispiel ließe sie sich ohne sichtbare Zersetzung auf 100 0C (373 K) erwärmen, würde AG + mehr als 150kJ/mol betragen (vgl. z.B. den Iodwasserstoffzerfall, S. 192). Muss andererseits zum Zerfall nur eine freie Aktivierungsenthalpie von 50 oder gar 20 kJ/mol aufgebracht werden, so kann die Verbindung nur unterhalb — 100 0 C bzw. — 200 0 C (173 bzw. 73 K) längere Zeit unzersetzt aufbewahrt werden
376
X. Grundlagen der Molekülchemie
Zeitmaßstab physikalischer und chemischer Vorgänge In der Fig. 132 ist ein logarithmischer Sekundenmaßstab mit einigen charakteristischen F i x p u n k t e n unserer Erfahrungswelt wiedergegeben. Die Skala nimmt ihren Anfang bei der kleinsten Zeiteinheit, der Planck'schen Elementarzeit (5 x 1 0 ~ 4 4 s), und endigt mit dem zur Zeit gültigen Alter des Universums (14-15 Milliarden Jahre « 4.4 x 10 1 7 s). Dabei versteht m a n unter der,,Elementarzeit" jene sehr kurze Zeit, die das mit maximal möglicher Geschwindigkeit von etwa 3.0 x 10 8 m/s fortschreitende Licht zum Passieren der Planck'schen Elementarlänge von 1.6 x 1 0 - 3 5 m benötigt ( * P l a n c k = / P i a n c k / c ) 2 0 . Der logarithmische Maßstab der Fig. 132 bedingt dabei, dass beim Voranschreiten um einen äquidistanten Abschnitt auf der Zeitskala die Zeit lawinenartig um jeweils den zehnfachen Betrag anschwillt. Demzufolge ist der Skalenabstand zwischen 1s und 10 s doppelt so groß wie der Abstand zwischen dem -kosmisch gesehen-jungen Alter der Erde (6 Milliarden Jahre = 1017-3 s)unddem Alter des Universums (20 Milliarden Jahre = 10i7-8 s). Außer den erwähnten Fixpunkten finden sich in der Zeitskala Halbwertszeiten , , c h e m i s c h e r V o r g ä n g e " sowie Perioden (Dauern) einiger, insbesondere im Zusammenhang mit der Geschwindigkeit chemischer Reaktionen i n t e r e s s i e r e n d e r , , p h y s i k a l i s c h e r V o r g ä n g e " , die zunächst diskutiert werden sollen (bzgl. der in Fig. 132 bei den physikalischen Vorgängen mit aufgeführten inneren Molekülrotationen und Pseudorotatioen vgl. S. 672, 678, 782). Physikalische Molekülvorgänge. Zur Anregung von Molekülrotationen bzw. -schwingungen benötigt man Mikrowellen bzw. Licht des infraroten Bereichs (Schwingungsperioden < 10"9 s bzw. < 1 0 " " s; vgl. Fig. 132 sowie S. 170). Die Anregung von Atom- und Molekülelektronen bzw. die Anregung der Atomkerne (Schwingungsperioden < 1 0 " " s bzw. < 10"i s s) erfordert kürzerwelliges Licht. Da die Rotations- bzw. Schwingungsperioden rotierender bzw. schwingender Moleküle im Bereich von ca. 10" 9 bis 10-i 3 bzw. 10"ii bis 10"i 5 s liegen (vgl. Fig. 132, ausgezogene Pfeile), beträgt die mittlere Dauer einer Molekülrotation bzw. einer Molekülschwingung mithin etwa 10"ii bzw. 10"i 3 s. Rotiert also ein Molekül einmal um eine seiner drei Trägheitsachsen, so kann es in dieser Zeit durchschnittlich 100 Schwingungen ausführen. Da andererseits die mittlere Stoßzeit zweier Moleküle im Gasraum (Fig. 132) bzw. in Lösung (S.378) unter Normalbedingungen etwa 10"io s beträgt, kann ein Molekül zwischen zwei Zusammenstößen ungefähr 10-mal rotieren und 1000-mal schwingen Die Anregung äußerer Molekülelektronen durch sichtbares bzw. ultraviolettes Licht erfolgt im Mittel in 10 "i5 s, also in einer Zeit, die wesentlich kürzer ist, als die Periode einer Molekülschwingung (etwa 10"i3 s). Wird mithin ein Molekül elektronisch angeregt, so ändern sich die Atomabstände während des Anregungsaktes nur unwesentlich (,,Franck-Condon-Prinzip", 1927). Da nun die Atomgleichgewichtslagen im Molekülgrundzustand und im elektronisch angeregten Zustand im allgemeinen verschieden sind, ist die Elektronenanregung eines Moleküls häufig mit einer Schwingungsanregung gekoppelt. Ist letztere sehr groß, so kann das Molekül als Folge der Elektronenanregung sogar in Molekülbruchstücke (Radikale) zerfallen („Photodissoziation"). Die Desaktivierung angeregter Molekülzustände erfolgt im Allgemeinen rasch. So übertragen etwa rotations- bzw. schwingungsangeregte Moleküle in Lösungsmitteln ihre Rotations- bzw. Schwingungsenergie in ca. 10 "i3 bis 10"i 2 s auf die sie umgebenden Lösungsmittelmoleküle (,,Rotations"- bzw. ,,Schwingungsrelaxation"; Fig. 132). Elektronisch angeregte Moleküle verbleiben ähnlich wie die Atome (vgl. Atomspektren) im Allgemeinen 10"9 bis 10"4 s (häufig 10"9 bis 10" s s) im Anregungszustand, um dann unter Abgabe von Licht (,,Fluoreszenz"; vgl. Fig.132 und S. 103) in den Grundzustand überzugehen. Erfolgt hierbei eine Änderung des Elektronengesamtspins (S. 402) des Moleküls, d. h. ändert sich hierbei die Anzahl der ungepaarten Molekülelektronen, so kann sich die Lebensdauer eines elektronisch angeregten Moleküls oft beträchtlich erhöhen, der Übergang in den Grundzustand unter Abgabe von Licht mithin verzögern. Diese dann als ,,Phosphoreszenz" bezeichnete Art der „langsamen Fluoreszenz" (vgl. Fig. 132 und S. 103) beobachtet man vielfach beim Übergang der Moleküle vom angeregten Triplett-Zustandin ihren Singulett-Grundzustand. (Im üblicherweise anzutreffenden Singulett-Grundzustand sind alle Molekülelektronen spingepaart, im - durch optische Molekülanregung erreichbaren (s. unten) - Triplett-Zustand liegen zwei ungepaarte Elektronen vor; vgl. Spinmultiplizität.)
2
o Die Planck'sche Elementarlänge ergibt sich nach / Pl!lnck = | / G • h/c3 [ m ] mit G = Gravitationskonstante = 6.68 x 1 0 ~ n m 3 / k g • s2,h = h/2n, h = Planck'sches W i r k u n g s q u a n t u m = 6.626 x 10"34 kg • m 2 / s und c = Lichtgeschwindigkeit = 2.998 x 10 8 m/s.
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle physikalische Vorgänge
zeitliche Fixpunkte
377
chemische Vorgänge
^ Alter des Universums^ H 2 + I 2 -» 2 H I
Alter der Erde Beginn des L e b e n s ' ' "
Halbwertzeiten chemischer Reaktionen (Beispiele: 25 °C, c 0 = 1)
1flis
- erste Menschen -
- C h r i s t i Geburt -Lebenserwartung des Menschen
Lebensdauer angeregter Zustände
-
C"-0
—1010 langsame Reaktionen
1 Tag — 1 Stunde normale Reaktionen
Phosphoreszenz
— Rekordzeit 100 m-Lauf — — Dauer eines Herzschlags —
Perioden elektromagn. Wellen
des menschl. Auges — Periode des K a m m e r t o n s -
Wechselstrom
a) b)
Fernsehwellen Mikrowellen
InterKombination
+
+HO
g
sehr schnelle Reaktionen mittlere Stoßzeit zweier Moleküle der unteren Atmosphäre
—
ultraviolettes Licht
(H20)
4- H 2 0 2 — - F e O H 2
Molekülschwingung
Schwingungsrelaxation ,
Elektronenanregung
Röntgenstrahlen
Umwandlung
Sauerstoffaufnahme des Blutfarbstoffs
— Periode der Mittelwelle — Bayer. Rundf., Ismaning
Molekülrotation
infrarotes Licht
; Fe schnelle Reaktionen
""Periode des I n s e k t e n - ' ' flügelschlags
IIj j
Radiowellen
'
— zeitl. Auflösevermögen - -
10"10
— mittlere Dauer e i n e s - chem. Reaktionsakts Periode der gelben - Natrium-D-Linie
- Periode der K u p f e r K,-Linie Kernanregung
kosmische Strahlen
— - L e b e n s d a u e r A-Teilchen Planck'sche Elementarzeit
Fig. 132 Zeitskala einiger historischer, biologischer, physikalischer und chemischer Vorgänge. (Die gestrichelten Linien beziehen sich auf innere Molekülvorgänge a) innere Molekülrotation, S.678; b) Pseudorotation, S. 672, 782; c) S. 378; d) S. 379.)
Für elektronisch angeregte Moleküle besteht darüber hinaus auch eine Möglichkeit, sich viel rascher als durch Fluoreszenz ohne A b g a b e von Licht zu desaktivieren (,,strahlungslose Übergänge"). So können Moleküle ihre elektronische Energie ähnlich wie rotations- und schwingungsangeregte Moleküle (s. oben) über Stoßreaktionen auf andere Moleküle übertragen (,,äußere Umwandlung"). Häufig erfolgt aber auch in 10" 1 3 bis 10" 1 1 s eine sogenannte ,,innere Umwandlung" (Fig. 132) eines elektronisch angeregten Molekülzustandes unter E r h a l t des E l e k t r o n e n g e s a m t s p i n s (s. oben) in einen stark schwingungsangeregten, energieärmeren elektronischen Molekülzustand (z. B. Grundzustand). Die freigesetzte Elektronenenergie wird also in diesem Falle in Schwingungsenergie des betreffenden Moleküls verwandelt. Eine innere U m w a n d l u n g vollzieht sich insbesondere bei großen, flexiblen Molekülen mit vielen Schwingungsmöglichkeiten leicht. Fluoreszenz beobachtet man demzufolge bevorzugt bei star-
378
X. Grundlagen der Molekülchemie
ren Molekülen wie den organischen Aromaten. Die Schwingungsenergie wird ihrerseits rasch durch Stoß auf andere Moleküle übertragen (s. oben) bzw. für Moleküldissoziationsprozesse verbraucht. Zum Unterschied von der als ,,Photodissoziation" bezeichneten (S. 376) direkt vom elektronisch angeregten Zustand ausgehenden Molekülspaltung nennt man die nach innerer Umwandlung des Elektronenzustands erfolgte Spaltung in Molekülbruchstücke „Prädissoziation". Durchschnittlich langsamer (in 1 0 - 1 1 bis 1 0 s ) , vermögen sich elektronisch angeregte Molekülzustände auch unter Änderung des Elektronengesamtspinsinschwingungsangeregte Molekülzustände umzuwandeln. Durch diesen, als ,,Interkombination" bezeichneten Vorgang gehen angeregte SingulettZustände, die durch Lichteinwirkung aus Molekülen im Singulett-Grundzustand zunächst entstehen, unter Spinumkehr eines Elektrons in energetisch günstigere Triplett-Zustände über. Die Desaktivierung eines gebildeten Triplett-Zustandes (Übergang in den Singulett-Grundzustand) kann dann unter Abgabe von Licht (Phosphoreszenz, s. oben) oder strahlungslos erfolgen. Chemische Molekülvorgänge. Wie der Fig. 132 zu entnehmen ist, überstreichen die Halbwertszeiten normaler Reaktionen, deren Geschwindigkeiten mit k l a s s i s c h e n Untersuchungsmethoden (vgl. S. 187) bestimmt werden, einen Bereich von etwa 1 0 ° - 1 0 5 s. Sehr viele chemische Reaktionen wickeln sich jedoch mit Halbwertszeiten > 10 5 s (langsame Reaktionen) bzw. mit Halbwertszeiten < 10° s (schnelle Reaktionen) oder gar < 10 s (sehr schnelle Reaktionen) ab. Zur zeitlichen Verfolgung schneller und sehr schneller Reaktionen benutzt m a n Strömungs- bzw. Relaxationsmethoden (z. B. zeitabhängige N M R - P h ä n o m e n e ; vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie). Während die Halbwertszeit chemischer Reaktionen in Richtung großer Werte nicht begrenzt ist, existiert offenbar eine u n t e r e Z e i t g r e n z e f ü r c h e m i s c h e U m w a n d l u n g e n , die der Dauer des eigentlichen chemischen Reaktionsaktes entspricht und bei Raumtemperatur etwa bei 1 0 " ^ s (Fig. 1 3 2 ) 2 \ d.h. der mittleren Zeit einer Molekülschwingungsperiode liegt. Z. B. ist der Primärprozess des Sehvorganges im menschlichen Auge eine chemische Reaktion die in einer Zeit von weniger als 100 Femtosekunden (vgl. Fig. 132) abläuft („Femtosekundenchemie"). Allerdings erreichen aber selbst die schnellsten bimolekularen chemischen Reaktionen im Allgemeinen nicht die maximal mögliche Geschwindigkeit, da die mittlere Stoßzeit zweier Moleküle in der Gasphase bzw. in der Lösung bei den Einheiten des Drucks bzw. der Konzentration nur etwa 10~i° s beträgt. Tatsächlich beträgt die Stoßzahl von Molekülen in Lösung bei Konzentrationen von 1 mol/l etwa 10ii pro Sekunde; sie ist mithin größer als die Stoßzahl von Molekülen in der Gasphase unter Normalbedingungen (10i°s"i), was u.a. einfach auf die größere Bezugskonzentration der Moleküle in Lösung zurückzuführen ist (bei 1 atm. 1 bar beträgt die Gasmolekülkonzentration 1/22.4 «< 0.05 mol/l). Nun besteht aber zudem ein wesentlicher Unterschied zwischen den Zusammenstößen von Molekülen in der Gasphase und in der Lösung. Gelöste Moleküle werden im Gegensatz zu gasförmigen Molekülen durch Lösungsmittelmoleküle wie von einem Käfig umgeben, in welchem sie - abhängig von der Viskosität des Lösungsmittels - einige Zeit verharren, bevor sie aus dem Käfig durch Diffusion wieder entweichen (,,Käfig-Effekt"). Aus diesem Grunde stoßen zwei Moleküle, die sich zufällig gleichzeitig in einem Lösungsmittelkäfig befinden, mehrmals zusammen. Bei extrem schnellen Umsetzungen, bei denen jeder Stoß zur Reaktion führt (AG* verschwindet), ist nur die Anzahl der „ersten" Zusammenstößemaßgebend, die für gelöste Stoffe bei den Einheiten der Konzentration und 25 °C etwa 109,5 s"i beträgt, was einer chemisch wirksamen Stoßzeit von 10~9,5 s entspricht. Unter den chemischen Umsetzungen zählen die Protonenübertragungen, die sich nach dem Schema A: 2
:B
i Gemäß Gleichung (11) auf S. 191 hängt die Reaktionshalbwertszeit folgendermaßen mit der freien Aktivierungsenthalpie AG* zusammen: xc = i s; 1/£ = (h/kBT)- e A e * I R T . Verschwindet A G s o folgt: xc = 1 « hlkBT. Mit h (Planck'sches Wirkungsquantum) = 6.266x 10~ 3 4 J - s undfc B (Boltzmann'sche Konstante) = 1.381 x 1 0 ~ 2 3 J/K ergeben sich dann bei Reaktionstemperaturen von 30, 300 bzw. 3000 K näherungsweise die Werte 10 1 0 " " bzw. 10"i4 s als untere Zeitgrenze für chemische Reaktionen. Die minimale Halbwertszeit einer chemischen Reaktion (10"i3 s) ist mithin noch 100-mal größer als die Anregungsdauer äußerer Molekülelektronen ( 1 0 " " s). Wegen der relativ langen Lebensdauer elektronisch angeregter Moleküle (10~ 5 s) können letztere aber chemisch abreagieren. U m die Ermittlung der Geschwindigkeiten sehr schneller Reaktionen hat sich der deutsche Nobelpreisträger Manfred Eigen verdient gemacht.
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
379
abwickeln und nucleophile, nach 2. Ordnung ablaufende Substitutionsreaktionen (S. 394) am Proton darstellen, zu den besonders schnellen Reaktionen (Fig. 132). Drei Beispiele mögen dies belegen k [l/mol-1 S - 1 ]
11k = TC = 1 [s]
H20 +H2O
1.4X10"
10-1115
NH + + OH" - ^ N H 3 + H 2 O
3.4X101°
10-10.53
H30
+
+OH"
NH4
NH
1.1 x 1 0
9
10-9.°4
Hiernach haben sich also bei einer Neutralisation nach einer hundertmilliardstel Sekunde bereits über die Hälfte der H 3 0 + - und O H " - I o n e n zu Wasser vereinigt, falls ursprünglich c H + = c O H - = 1 mol/l betrug. Die Neutralisation erfolgt demzufolge mit einer Halbwertszeit, die sogar kleiner als die mittlere normale Stoßzeit zweier Moleküle in Lösung ist (s. oben). Dies beruht weniger darauf, dass sich die Stoßzahl entgegengesetzt geladener Teilchen erhöht (s. oben), sondern hauptsächlich auf dem speziellen Bewegungsmechanismus von Oxoniumund Hydroxid-Ionen. D a nämlich die Wassermoleküle des Lösungsmittels Wasser über W a s s e r s t o f f b r ü c k e n (s. dort) untereinander sowie auch mit den H 3 0 + - und O H ~ - I o n e n „vernetzt" sind, kann der T r a n s p o r t eines O x o n i u m - bzw. H y d r o x i d - I o n s im Sinne folgender Kettenreaktionen (a) und (b) schematisch durch rasche Weitergabe von Protonen nach rechts (a) bzw. links (b) erfolgen:
„Wanderung" der H 3 0 + -Ionen nach rechts
^Wanderung" der OH "-Ionen nach rechts
Der auf das „ U m k l a p p e n " von Wasserstoffbindungen (s. dort) zurückgehende Protonentransport wickelt sich also i n n e r h a l b eines großen, aus vielen H 2 O-Molekülen sowie H 3 0 + und O H ~ -Ionen zusammengesetzten Moleküls ab und kann daher rascher, als es die Stoßreaktion erlauben würde, erfolgen (Fig. 132, gestrichelte Linie). Die einzelnen Protonenübergänge laufen sehr schnell ab. So überträgt etwa das H 3 0 + -Ion nach durchschnittlich 10-13 s eines seiner drei Protonen auf ein benachbartes H 2 O-Molekül (und hat damit eine extrem kurze Lebenszeit). Wären etwa H2O-Moleküle über H-Brücken zu einer sehr langen, mit einem H 3 0 + -Ion beginnenden Kette vereinigt und würde sich das Proton entlang dieser Kette gemäß dem obigen Mechanismus fortbewegen, so ergäbe sich bei diesem „Stafettenlauf" der Protonenweitergabe eine beachtliche Protonenwanderungsgeschwindigkeit von etwa 10 000 km/h, sodass das Proton in Wasser bei geradliniger Bewegung die Erde in 4 Stunden umrasen könnte. Wegen der rasch vor sich gehenden Protonenübergänge in Wasser (,,Protonenleitfähigkeit') „wandern" H 3 0 + - und OH"-Ionen auch im elektrischen Feld unvergleichlich schneller als andere Ionen (Weitergabe von Protonen in Richtung zur Kathode). Ähnlich rasch wie in den oben wiedergegebenen Reaktionsbeispielen wickeln sich viele andere Protonenübergänge zwischen Nichtmetallen ab (eine Ausnahme bilden z.B. Deprotonierungen CH-acider Verbindungen, deren Halbwertszeiten im Minutenbereich liegen). Die hohen Protonenübertragungsgeschwindigkeiten sind u. a. für den raschen Ablauf biologischer Vorgänge (z. B. Genreproduktion, Enzymsynthesen), die sich im allgemeinen aus sehr vielen und häufig mit Protonenübergängen verbundenen Einzelreaktionen zusammensetzen, von wesentlicher Bedeutung (vgl. Lehrbücher der Biochemie). Natürlich erfolgen nur freiwillig (also unter Energieabgabe) verlaufende Protonenübergänge sehr rasch. Die Halbwertszeit eines energieverbrauchenden Protonenübergangs, wie sie die Rückreaktion der Neutralisation, d.h. die Dissoziation des Wassers darstellt: 55.873 kJ + H 2 0 + H 2 0
H30++OH",
ist erwartungsgemäß sehr groß. Langsamer als Protonenübergänge erfolgen im Allgemeinen die stark reaktandenabhängigen - Elektronenübertragungen:
in ihrer Geschwindigkeit
380
X. Grundlagen der Molekülchemie *
*
k [lmoR^
1
]
l/fc = T C = 1 [ S ]
5
Co(NH 3 )6+ + C o ( N ^ ) 3 + ^ Co(NH 3 )3+ + Co(NH 3 )6+ lO" ^ l0 5 -i Fe(H 2 O) 6+ + Fe ( H O ) 3+ -> Fe ( H O ) 3+ + Fe(H 2 O) 6+ ca. l ca. l F e ( H O ) 6+ + I r a 6 " -> Fe ( H O ) 3+ + IrCl;3" l0 6 '5 lO" 6 ^ Wie den nach 2. Reaktionsordnung ablaufenden Umsetzungsbeispielen zu entnehmen ist, überdecken die Halbwertszeiten der Elektronenübertragungen einen sehr weiten Bereich, der sich auf der Seite sehr schneller Reaktionen bis zu Werten von l O " 8 s erstreckt (Elektronenübergänge innerhalb eines Moleküls verlaufen ähnlich wie Protonenübergänge innerhalb eines Moleküls (s. oben) noch rascher in ca. lO"15 s; vgl. Fig. l32, gestrichelte Linie). Langsamer als die im Sinne nucleophiler Substitutionsreaktionen am Proton zu klassifizierenden Protonenübertragungen (s. oben) erfolgen im Allgemeinen auch Substitutionen (Fig. l32), wie folgende, nach l . Reaktionsordnung ablaufende nucleophile Substitutionen an Metallkationen lehren (L = Ligand, z.B. Halogenid, Ammoniak): Cr ( H O ) 3 + + L - > Cr(H 2 O) 5 L 3 + + H 2 O Fe ( H O ) 3+ + L Fe(H 2 O) 5 L 3 + + H 2 O Cu(HO)6+ + L ^ Cu(H 2 O) 5 L6++H 2 O
k [l/s] 3x l0"6 l x l0 2 2xl0s
l/fc = r [ s ] l055 l0"6° l0"8- 3
Als Ligand L kann in den vorstehenden Gleichungen natürlich auch das Wasser fungieren. Mithin tauschen in Wasser gelöste Cr (III)-, Fe (III)- bzw. Cu(II)-Ionen (Entsprechendes gilt für andere Metallkationen) Wassermoleküle ihrer Hydrathülle mit den Lösungsmittelmolekülen aus. Wachsende Geschwindigkeit der H 2 O-Substitution bedingt dann eine Abnahme der „Lebenserwartung" des betreffenden hydratisierten Ions in Wasser. Viele hydratisierte Metallionen wie z.B. das Cu(HO)6+-Ion existieren in Wasser nicht länger als etwa ein elektronisch angeregtes Molekül (s. weiter oben).
3.2
Der Mechanismus chemischer Reaktionen 22
Die aus experimentellen Untersuchungen der Geschwindigkeit chemischer Reaktionen (,,kinetische Untersuchungen") abgeleiteten Geschwindigkeitsgesetze liefern meist wertvolle Informationen über die den betreffenden Reaktionen zugrundeliegenden chemischen Mechanismen (für eine Definition vgl. S. 37l). So lässt sich etwa aus einem experimentell aufgefundenen Geschwindigkeitsgesetz des Typus v^ = k • caK • c£ • . . . (vgl. Formel (4) auf S. 373) häufig folgern, dass sich der aktivierte Komplex, dessen Bildung und Zerfall die Geschwindigkeit der betreffenden Gesamtreaktion bestimmt, aus a Molekülen des Reaktionsteilnehmers A, b Molekülen des Reaktionsteilnehmers B, c Molekülen des Reaktionsteilnehmers C usw. zusammensetzt (vgl. hierzu das weiter unten besprochene B e i s p i e l ) D i e Information beschränkt sich in diesem Falle allerdings auf die Stöchiometrie des aktivierten Komplexes und
66 Literatur. A.A. Frost, R . G . Pearson:,,Kinetik und Mechanismen homogener chemischer Reaktionen", Verlag Chemie. Weinheim l964; J.O. Edwards:,,Inorganic Reaction Mechanisms" Benjamin, New York l964; F. Basolo, R . G . Pearson: ,,Mechanisms of Inorganic Reactions", Wiley, New York l967; D. Benson: ,Mechanisms of Inorganic Reactions in Solution", McGraw-Hill, New York l969; H. Taube: ,,Electron Transfer Reactions of Complex Ions in Solution", Academic Press, New York l970; M.L. Tobe: ,Reaktionsmechanismen der Anorganischen Chemie", Verlag Chemie, Weinheim l976; D.S. Matteson: ,, Organometallic Reaction Mechanisms of the Nontransition Elements", Academic Press, New York l974; S. Wieghardt: ,,.Elektronentransfer bei Übergangsmetallkomplexen", Chemie in unserer Zeit 13 (l979) l l 8 - l 2 5 ; R. van Eldik (Hrsg.): ,,Inorganic and Bioinorganic Mechanisms", Chem. Rev. 205 (2005) l9l7-2722; R. van Eldik, C.D. Hubbard (Hrsg.): ,,Inorganic Reaction Mechanisms", Adv. Inorg. C h e m 54 (2003) l-46l. 3 6 Treten in dem zur Diskussion stehenden Geschwindigkeitsgesetz auch Konzentrationen im Nenner auf, d.h. enthält das Gesetz auch negative Exponenten a, b und/oder c, so ist zur Ableitung der Zusammensetzung des aktivierten Komplexes wie folgt zu verfahren: unter Berücksichtigung der im Geschwindigkeitsgesetz auftretenden Exponenten als Faktoren addiert man die Formeln der Reaktionspartner, deren Konzentrationen im Zähler stehen, und subtrahiert hiervon die Formeln der Reaktionspartner, deren Konzentrationen im Nenner stehen. Werden während des geschwindigkeitsbestimmenden Schritts Moleküle des Reaktionsmediums (z. B. Wasser) gebildet oder verbraucht, so geht deren - praktisch konstant bleibende - Konzentration nicht in das Geschwindigkeitsgesetz ein (vgl. Massenwirkungsgesetz). Dies ist bei der Ableitung der Formel des aktivierten Komplexes zu berücksichtigen.
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
381
betrifft weder seine S t r u k t u r noch den R e a k t i o n s w e g , auf dem er in raschen, dem geschwindigkeitsbestimmenden Schritt vor- bzw. nachgelagerten Teilreaktionen entsteht bzw. weiterreagiert. Aufgrund kinetischer Untersuchungen alleine kann somit kein Reaktionsmechanismus „bewiesen" werden; vielmehr lässt sich nur die Zahl der in Betracht gezogenen reaktionsmechanistischen Alternativen einschränken, da natürlich von mehreren denkbaren Mechanismen einer chemischen Reaktion nur solche in Frage kommen, die mit dem experimentell ermittelten Geschwindigkeitsgesetz vereinbar sind. Zur eindeutigen Klärung eines chemischen Reaktionsmechanismus müssen stets weitere experimentelle Methoden herange zogen werden. Zu ihnen gehören neben ,,stereochemischen Untersuchungen" (S. 400) z.B. der Nachweis gebildeter reaktiver Zwischenstufen auf physikalischem Wege durch ,,spektroskopische Untersuchungen" (vgl. Molekülspektroskopie) oder auf chemischem Wege durch ,,Abfangen der Zwischenstufe" mit Reaktanden, die sich mit den betreffenden Zwischenstufen vor deren Weiterreaktion rasch zu Produkten umsetzen, aus denen die zwischenzeitliche Existenz der Zwischenstufen hervorgeht Aus dem Geschwindigkeitsgesetz i?HI_Bildung = k • c Hl • cl2 der bereits erwähnten Bildung von Iodwasserstoff aus Wasserstoff und Iod in der Gasphase folgt, dass der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der HI-Bildung über einen aktivierten Komplex der Stöchiometrie H 2 I 2 verläuft. Demnach könnte Iodwasserstoff etwa auf dem Wege (1) aus je einem Wasserstoff- und Iodmolekül entstehen, wobei die Eduktmoleküle unter stetiger Lockerung der Bindungen H—H und I—I bei gleichzeitiger Ausbildung zusätzlicher chemischer Bindungen zwischen H und I in die Produktmoleküle übergingen:
Iodwasserstoff könnte sich aber ebensogut nach vorausgegangener Spaltung von Iodmolekülen in Iodatome I2
2I,
(2a)
aus einem Wasserstoffmolekül und zwei Iodatomen bilden, wobei sich diesmal die Edukte des geschwindigkeitsbestimmenden Reaktionsschritts (2 b) unter stetiger Lockerung der Bindung H—H bei gleichzeitiger Ausbildung chemischer Bindungen zwischen H und I in die Produkte verwandeln würden: I + H—H + I Edukte
I
H
H
aktivierter Komplex
I
I—H + H—I.
(2b)
Produkte
Die beiden, unter mehreren denkbaren mechanistischen Alternativen ausgewählten und mit dem gefundenen Geschwindigkeitsgesetz für die HI-Bildung in Einklang stehenden Reaktionswege (1) und (2) verlaufen über aktivierte Komplexe der geforderten Stöchiometrie, aber unterschiedlicher Struktur (der Verlauf von (2 b) kann seinerseits durch trimolekularen Stoß oder - alternativ und wahrscheinlicher - gemäß H2 + I H2I (rasch), H2I + I 2HI (geschwindigkeitsbestimmend) erfolgen). Tatsächlich verleiteten die kinetischen Ergebnisse (M. Bodenstein, 1894; vgl. S.192) zunächst zu dem Schluss, dass Iodwasserstoff auf dem Wege (1) durch bimolekulare Stoßreaktion aus Wasserstoff und Iod entstehen würde. Neuere Untersuchungen (J.H. Sullivan, 1967) ergaben jedoch, dass die Iodwasserstoffbildung stark beschleunigt wird (Umsetzung bereits bei 1400C), wenn man ein H 2 /I 2 -Gasgemisch mit Licht der Wellenlänge 578 nm bestrahlt, also mit Licht, welches eine photochemische Spaltung (S. 102), der Iodmoleküle bewirkt. Darüber hinaus wurde gefunden, dass die HI-Bildungsgeschwindigkeit in Übereinstimmung mit dem Reaktionsablauf (2b) p r o p o r t i o n a l dem Q u a d r a t der K o n z e n t r a t i o n der Iodatome ist (cT lässt sich durch die Lichtintensität einstellen). Somit erfolgt die Bildung von Iodwasserstoff offensichtlich auf dem Wege (2) und nicht auf dem Wege (1), der sich zudem aus Gründen der Nichterhaltung der Orbitalsymmetrie (S.402) verbietet. Aufgrund des Gesetzes der mikroskopischen Reversibilität (S. 190) führt dann auch die Iodwasserstoffspaltung nicht direkt, sondern indirekt auf dem Wege über -Moleküle und sich ihrerseits dimerisierende Iodatome zu den Produkten H 2 und 12. Da die Teilreaktion: 160.8 kJ + 2HI H 2 + 2I (Ea = 184 kJ/mol) stark endotherm ist, sind im aktivierten Komplex der HI-Spaltung gemäß dem Prinzip von Hammond (S. 190) das H 2 -Molekül sowie die beiden I-Atome bereits weitgehend vorgebildet
382
X. Grundlagen der Molekülchemie
Eingehende Studien des Ablaufs chemischer Umsetzungen haben in zahlreichen Fällen zu detaillierten Vorstellungen über den Reaktionsmechanismus geführt, sodass sich heute bereits viele Reaktionen aufgrund ihres Mechanismus klassifizieren lassen. Nachfolgend wollen wir uns nunmehr etwas näher mit Kinetik und Mechanismus einiger wichtiger chemischer Vorgänge beschäftigen, und zwar im Unterkapitel 3.2.1 zunächst mit Reaktionen des Typus A A' (,,Isomerisierungen"), an denen einschließlich des Produktes nur zwei Reaktionspartner teilnehmen. Anschließend werden im Unterkapitel 3.2.2 Umsetzungen des Typus A B A + B (,,Dissoziationen" bzw. ,Assoziationen") und im Unterkapitel 3.2.3 Vorgänge des Typus A B + C ^ A C + B („Substitutionen") behandelt, also Reaktionen mit drei bzw. vier stöchiometrisch wirksamen Reaktionsteilnehmern.
3.2.1
Isomerisierungen
Der mit einer Ä n d e r u n g d e r A t o m f o l g e b z w . - a n o r d n u n g verbundene Übergang eines Moleküls A in sein Konstitutions- bzw. Stereoisomeres A' (S. 325) wird als Verbindungsisomerisierung bezeichnet: A;
.
(3)
Je nach der a b s o l u t e n bzw. r e l a t i v e n Größe der Geschwindigkeitskonstanten und k ^ für die ,,Hin"- und ,,Rück"-Isomerisierung (3) erfolgt die wechselseitige Umwandlung der Isomeren A und A' mehr oder minder r a s c h bzw. mehr oder minder v o l l s t ä n d i g (vgl. Massenwirkungsgesetz, S.193). Sind beide Konstanten relativ klein (große Aktivierungsbarrieren Ea, verglichen mit der kinetischen Molekülenergie Ekin& 2.5kJ/mol bei 25°C), d.h. wickelt sich die Isomerisierung in beiden Richtungen sehr langsam ab wie z.B. im Falle der Isomerenpaare (4 a / a ) bzw. ( 4 b / b ) ,
(4)
so lassen sich die Isomeren A und A' unabhängig von der durch K = k^jk^ gegebenen Gleichgewichtslage der Reaktion (3) in Substanz isolieren. Die Moleküle A und A' sind in diesem Falle isomerisierungsstabil bzw. -metastabil; sie zeigen unter Normalbedingungen keine Tendenz zur Änderung ihrer Konstitution (vgl. 4a/a') bzw. Konfiguration (vgl. 4 b / b ) und werden demgemäß hinsichtlich dieser Isomerisierungen als ,,starre Moleküle" bezeichnet („starr" bezieht sich nicht auf Molekülschwingungen). Eine Einstellung des Isomerisierungsgleichge wichts (3) erfolgt hier erst in Anwesenheit geeigneter Katalysatoren oder gegebenenfalls bei ausreichender Erwärmung. So wandelt sich etwa Difluordisulfan (4a) in Anwesenheit von Spuren H F bereits unterhalb Raumtemperatur rasch in sein thermodynamisch stabiles Konstitutionsisomeres (4 a') (Thiothionylfluorid) und trans-Difluordiimin (4b) bei Erwärmung auf höhere Temperaturen in sein stabiles Konfigurationsisomeres (4 b') (cis-Difluordiimin) um. Ist eine der Geschwindigkeitskonstanten der Reaktion (3) relativ groß (E a vergleichbar Ekin, s. oben), die andere relativ klein, d.h. erfolgt die wechselseitige Isomerisierung in der einen Richtung sehr rasch, in der anderen sehr langsam, so liegt das Isomerisierungsgleichgewicht vollständig auf einer Seite und stellt sich zudem rasch ein. Unter diesen Bedingungen klein, groß bzw. umgekehrt) lässt sich somit nur eines der beiden Isomeren isolieren, nämlich das thermodynamisch stabile. So existiert etwa die Phosphor (III)-Säure nur in F o r m der thermodynamisch stabilen Phosphonsäure (5 a') und nicht in F o r m der kinetisch sowie thermodynamisch bezüglich (5 a') instabilen Phosphorigen Säure (5 a):
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
383
(5)
D a Isomere des zuletzt besprochenen Typus (z.B. (5a')) selbst keine Isomerisierungstendenz aufweisen, sind sie ebenfalls als „starr" zu beschreiben (sowohl von (5 a) wie (5 a') leiten sich isolierbare Ester P(OR) 3 (metastabil) und RPO(OR) 2 (stabil) ab). Sind schließlich beide Geschwindigkeitskonstanten der Reaktion (3) relativ groß, d. h. erfolgt die Isomerisierung in beiden Richtungen rasch, so ist jeweils nur ein Gemisch der wechselseitig ineinander übergehenden Isomeren isolierbar. Die Moleküle A und A' sind in diesem Falle bezüglich ihrer Isomerisierung instabil; sie zeigen zum Unterschied von den starren Molekülen, denen wohl-definierte Strukturen zukommen, flexible Atomanordnungen und werden demzufolge als „nicht-starre" bzw. „fluktuierende Moleküle" bezeichnet. Tatsächlich gehört die Mehrzahl der chemischen Stoffe diesem Molekültypus an. So wandert etwa der stickstoffgebundene Wasserstoff des Triazens (6) rasch zwischen den beiden äußeren Stickstoffatomen des aus d r e i N-Atomen bestehenden Triazengerüsts ^ N — N = N — hin und her (R = organischer Rest):
(6)
M a n bezeichnet Isomere wie (6a) und (6a'), die durch Wanderung von Atomen oder Atomgruppen wechselseitig rasch ineinander übergehen und nebeneinander bestehen auch als ,,Tautomere"24 und den „Isomerisierungsvorgang" als „Tautomerie" („Tautomerisierung"). Die Tautomerie (6) stellt insofern einen Spezialfall dar, als sich die an der Tautomerisierung beteiligten Tautomeren in keiner Eigenschaft unterscheiden, wogegen sie im Normalfall verschiedenartig sind. Selbst zwischen (6 a) und (6 a') bestünde bereits ein Unterschied, wenn eines der beiden äußeren Stickstoffatome 15N-isotopenmarkiert oder mit einem anderen Rest R' verknüpft wäre. Da chemisch unterschiedlichen Tautomeren naturgemäß auch ein verschiedener Energiegehalt zukommt, liegt das - sich rasch einstellende - Tautomeriegleichgewicht im zuletzt besprochenen Falle mehr oder minder auf einer Seite. So enthält etwa das ,,Keton" Aceton CH 3 COCH 3 nur weniger als 0.1 % seines thermodynamisch instabileren ,,Enol"-Tautomeren (wegen des Geschwindigkeitsbezugs ist die Abgrenzung der Tautomerie von einer - langsam erfolgenden - Isomerisierung wie (4a) (4a') naturgemäß gleitend): OH I H 3 C—C=CH 2 R 2 SC1 + + C l " R 2 SQ 2 ), nach letzterem Mechanismus etwa die F l u o r i e r u n g von Xe oder Cl 2 bzw. die C h l o r i e r u n g von S D oder CD in der Gasphase bei erhöhter Temperatur Die Einstufenadditionen und -eliminierungen verlaufen, wie im Einzelnen noch besprochen wird (vgl. S. 403), nur dann glatt, wenn bestimmte elektronische Voraussetzungen gegeben sind (vgl. Prinzip von der Erhaltung der Drbitalsymmetrie, S. 402). Die Mehrstufeneliminierungen und -additionen können sowohl radikalisch als auch ionisch ablaufen. So wird etwa die bei hohen Temperaturen mögliche a-Addition von Chlor an Schwefeldioxid in der Gasphase von einer Spaltung einzelner Chlormoleküle in Chloratome eingeleitet: Cl2 2 Cl. Die gebildeten Chloratome addieren sich dann an S D ( S D + Cl SDCl), worauf sich die entstandenen Radikale S D C l mit Chlormolekülen unter Rückbildung von Chloratomen zu SD C umsetzen (SD C C SD C Cl). Die Cl-Atome vereinigen sich ihrer seits wieder mit S D usf. (vgl. Radikalkettenreaktionen). Nach einem ionischen Mechanismus erfolgen
26 Den ß-Eliminierungen und -Additionen entsprechen in gewissem Sinne die „Kondensationen" (von condensatio (lat.) = Verdichtung) und ,,Solvolysen" (von solvere (lat.) = (auf)lösen): A — B + C — D AxC+'B. Homofug
Die sowohl in der G a s p h a s e als auch in der L ö s u n g s p h a s e anzutreffenden homolytischen Substitutionsreaktionen erfolgen, falls es sich um exotherme Reaktionen handelt, unter Normalbedingungen meist rasch (häufig gilt E n < 40 kJ/mol). Beispiele bieten etwa die Umsetzungen von Wasserstoffatomen mit Halogenen (X 2 + H -> X H + X) oder von Halogenatomen mit Wasserstoff (H 2 + X -> H X + H). Bezüglich der Stereochemie homolytischer Substitutionen vgl. S. 402. D a - von wenigen Ausnahmen wie N O , N O , C l 0 2 abgesehen - Radikale als ,,elektronenungesättigte" Teilchen unter normalen Verhältnissen nur in dimerer F o r m existieren, muss die f ü r eine S H -Reaktion benötigte E i n g a n g s g r u p p e C im Allgemeinen z u n ä c h s t g e b i l d e t werden. Dies geschieht häufig durch thermische oder photochemische Spaltung der Radikaldimeren oder geeigneten, unter Bildung der gewünschten Radikale zerfallenden Verbindungen (z. B. R — N = N — R + Wärme oder Licht ^ 2R' + N = N ) . Die durch homolytische Substitution gebildeten radikalischen A b g a n g s g r u p p e n B v e r s c h w i n d e n im einfachsten Fall durch Radikaldimerisierung. Häufig setzen sie sich jedoch wieder mit einem Reaktionsteilnehmer unter homolytischer Substitution und Bildung neuer ihrerseits weiterreagierender Radikale um, sodass sich d a n n insgesamt eine als „Radikalkettenreaktion" bezeichnete Folge homolytischer Substitutionsreaktionen ergibt. Beispiele f ü r Umsetzungen letzteren Typus bieten etwa die zu Halogenwasserstoffen führenden Reaktionen
390
X. Grundlagen der Molekülchemie
von W a s s e r s t o f f und H a l o g e n e n sowie die zu Wasser führende Reaktion von W a s s e r s t o f f und S a u e r s t o f f auf die nachfolgend näher eingegangen sei.
Radikalkettenreaktionen Mischt man Chlor und Wasserstoff unter Lichtausschluss im Molverhältnis 1 : 1 , so kann m a n das Gasgemisch bei gewöhnlicher Temperatur und im Dunkeln unverändert aufbewahren, ohne dass eine merkliche Reaktion einsetzt. Im diffusen Tageslicht dagegen entsteht a l l m ä h lich, im S o n n e n l i c h t oder bei B e s t r a h l u n g mit blauem oder kürzerwelligem Licht oder bei lokaler E r h i t z u n g e x p l o s i o n s a r t i g Chlorwasserstoffgas: H 2 + Cl 2 -> 2HC1 + 184.74 kJ. M a n nennt daher das Chlor-Wasserstoff-Gemisch auch „Chlorknallgas". Die reaktionsbeschleunigende Wirkung des L i c h t s oder der Wärme beruht darauf, dass unter Einwirkung dieser Energiezufuhr eine Spaltung einzelner Chlormoleküle in C h l o r a t o m (Chlorradikale) erfolgt (vgl. photochemische sowie thermische Dissoziation, S. 376, 385): Kettenstart:
243.52 kJ + Cl 2 ^
2Cl.
(15)
Die so durch die ,,Kettenstartreaktion" (15) gebildeten Chloratome reagieren nach der Gleichung (16a) mit Wasserstoffmolekülen unter homolytischer Substitution (S H -Reaktion, s. oben) und Bildung von W a s s e r s t o f f a t o m e n , die sich ihrerseits wieder gemäß (16b) in einer stark exothermen -Reaktion mit Chlormolekülen unter Rückbildung von Chloratomen weiter umsetzen. Die entstandenen Chloratome treten dann von neuem gemäß (16 a) in die Reaktion (,,Radikalkettenreaktion"), bis sich die Reaktionsgeschwindigkeit infolge des r a s c h e n T e m p e r a t u r a n s t i e g s zur E x p l o s i o n 2 7 steigert: Kettenreaktion:
Er = 30 kJ 3.98 kJ + Cl + H 2 — > HCl + H H + Cl 2 — H 2 + Cl 2
20 k
» H C 1 + C 1 + 188.72 kJ > 2HC1 + 184.74 kJ
(16 a) (16 b) (16)
Eine einmal eingeleitete Reaktionskette bricht dann ab (,,Kettenabbruchreaktion"), wenn die ,,Kettenträger" der Reaktion (H bzw. Cl) in Anwesenheit eines dritten Stoßpartners (Molekül oder Wand; vgl. S. 386) rekombinieren: Kettenabbruch:
2C1 ^
Cl 2 + 2 4 3 . 5 2 kJ
oder durch eine Umsetzung mit einem Fremdstoff (,,Inhibitor")2 s beseitigt werden (etwa gem ä ß Cl + 0 2 -> ClO 2 ). Ein Kettenabbruch bzw. eine Inhibierung tritt bei geeigneten Versuchsbedingungen verhältnismäßig selten ein, sodass dann mehrere Millionen Chlorwasserstoffmoleküle gemäß (16a) und (16b) gebildet werden können (,,Kettenlänge"), bevor die Kette abreißt Entsprechend Chlor setzt sich Fluor bereits bei Raumtemperatur explosionsartig sowie Brom und Iod bei erhöhter Temperatur (um 300°C) allmählich mit Wasserstoff um (vgl. ,chemische Laser", S. 177f). Auch andere Gasphasenhalogenierungen (z.B. Chlorierung von S O zu SO2Cl2 (S.389) oder von CO zu COC12) sowie ganz allgemein viele weitere chemische Umsetzungen in der Gas- und Lösungsphase erfolgen nach Radikalkettenprozessen. Das wesentliche Merkmal derartiger Prozesse ist in allen Fällen das Auftreten radikalischer Zwischenprodukte (,,Kettenträger") in kleinen Konzentrationen, welche durch Umsetzen mit den Edukten eine Reaktion auslösen, aus der sie neben den Reaktionsprodukten immer 27 Verpuffungen Explosionen Detonationen beruhen auf einer rasch erfolgenden Umwandlung potentieller in kinetische Gasenergie, verbunden mit einer Ausdehnung und/oder Verdichtung der Gase mit einer Geschwindigkeit im Bereich 0.01-1 m/s (Verpuffung), 1 - 1 0 0 0 m/s (Explosion), 1000-10000m/s (Detonation). In letzteren beiden Fällen treten zudem Stoßwellen auf. 2 8 inhibitio (lat.) = die Hemmung.
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
391
wieder selbst hervorgehen. Als,,Kettenstarter" bildet sich jeweils der energieärmste aller möglichen Kettenträger. So wird etwa die radikalische Halogenwasserstoffbildung durch die weniger endotherme Dissoziation der Halogenmoleküle und nicht durch die stärker endotherme Dissoziation von Wasserstoffmolekülen eingeleitet. Umgekehrt wickelt sich unter den möglichen exothermen ,,Kettenabbrüchen" jene Reaktion bevorzugt ab, bei der die energieärmsten und deshalb in besonders hoher Konzentration vorliegenden Kettenträger verschwinden. So wird z.B. die Kette der Bromwasserstoffbildung praktisch ausschließlich durch den Vorgang 2B B und nicht durch die Reaktionen 2H oder H + Br -> HBr abgebrochen, da entsprechend dem Energiegehalt von Brom- und Wasserstoffatomen (vgl. Tab. 4, S. 72) erstere etwa 1 Million mal häufiger im Reaktionsgemisch auftreten. Gehen chemische Explosionen wie im Falle der Chlorknallgasreaktion darauf zurück, dass die Geschwindigkeit einer Radikalkettenreaktion infolge eines Wärmestaus sehr stark beschleunigt wird, so spricht m a n von „thermischen Explosionen" (die Wärme staut sich, wenn bei einer Reaktion mehr Wärme pro Zeiteinheit entsteht als durch Wärmeleitung oder -strah lung abgeführt werden kann). M a n unterscheidet sie von den „isothermen Explosionen", die dann beobachtet werden, wenn bei einer Kettenreaktion pro Fortpflanzungsschritt nicht wie im Falle „unverzweigter Radikalketten" (z.B. (16)) nur ein, sondern mehrere Kettenträger entstehen, die ihrerseits neue Radikalketten auslösen („verzweigte Radikalketten"')21. Bei Kettenreaktionen des letzten Typus wächst mithin die Anzahl der Radikalketten lawinenartig an, was auch ohne Wärmeentwicklung, d.h. bei isothermem Reaktionsverlauf zu einer sehr starken Reaktionsbeschleunigung und gegebenenfalls zu einer Explosion führt Als Beispiel für eine Reaktion, die sich zur isothermen Explosion steigern kann, bietet sich die bereits erörterte (S. 267) Umsetzung von Wasserstoff und Sauerstoff („Knallgas") zu Wasser an: H 2 + j 0 2 -> H 2 0 (g) + 241.98 kJ. Sie wird durch eine komplexe Kettenstartreaktion ausgelöst, deren Folge die Bildung von W a s s e r s t o f f a t o m e n ist: Kettenstart
436 k
2H
Die H-Atome reagieren dann in einer K e t t e n r e a k t i o n mit Sauerstoffmolekülen unter Bildung von S a u e r s t o f f a t o m e n (17a), welche ihrerseits durch Reaktion mit Wasserstoffmolekülen wieder Wasserstoffatome zurückbilden (17 b). Neben Sauerstoff- und Wasserstoffatomen entstehen im Zuge der Reaktionen (17a) und (17b) aber noch H y d r o x y l - R a d i k a l e H 0 , die sich mit Wasserstoffmolekülen zu Wasser und Wasserstoffatomen umsetzen (17c):
Kettenreaktion: (verzweigte Kette
E„ = 70 kJ 70 kJ + H + 0 2 — > H0 + 0
(17 a)
42 k • H 0 + H
(17 b)
8 kJ + O + H 2 — x2|
0 H + H2 3H2 + 0 2
Ea
~ 2 2 k J > H 2 Q + H + 63 kJ > 2 H 2 0 + 2 H + 48 kJ
(17c) (17)
Die Gleichungen (17 a), (17 b) und 2 x (17 c) ergeben addiert die Gesamtgleichung (17), der zu entnehmen ist, dass pro gebildetes Wassermolekül praktisch keine Energie (24 kJ/mol H 2 0 ) , d a f ü r aber ein z u s ä t z l i c h e r Kettenträger (H) entsteht, welcher seinerseits als Starter einer neuen Radikalkette wirkt (,,Kettenverzweigung"). Ein häufiges Durchlaufen der fast thermoneutralen (isothermen) Reaktionsfolge (17) k a n n somit zu einer beachtlichen Geschwindigkeitssteigerung bis zur i s o t h e r m e n E x p l o s i o n führen2i. Der K e t t e n a b b r u c h der radikalischen Knallgasreaktion erfolgt im Wesentlichen über das stabile, langlebige, d . h . in vergleichsweise hoher Konzentration vorliegende H y d r o g e n p e r o x y l - R a d i k a l H 0 2 , welches durch Addition von Wasserstoffatomen an Sauerstoffmoleküle entsteht (18 a) und durch Reaktion mit einem anderen H 0 2 - R a d i k a l in Wasserstoffperoxid
392
X. Grundlagen der Molekülchemie
übergeht (18 b) (wegen des stark exothermen Charakters sind die Radikalreaktionen (18 a) und (18 b) an Stoßpartner M (Wand, Molekül) gebunden, welche die frei werdende Reaktionsenthalpie aufnehmen):
Kettenabbruch:
x2\K
+ 02
M
H D 2 + 197 kJ
M H D 2 + H D — • H 2 0 2 + 0 2 + 178 kJ 2H + 0 2
—" H 2 0 2 + 572 kJ
(18 a) (18 b) (18)
Die Gleichungen (18 a, zweimal genommen) und (18 b) ergeben addiert die Gesamtgleichung (18), wonach der Knallgasreaktion pro gebildetes Wasserstoffperoxidmolekül zwei Wasserstoffatome durch Reaktion mit Sauerstoff entzogen werden. Die hierbei freigesetzte erhebliche Wärmemenge von 572 kJ/mol H 2 0 2 trägt ganz wesentlich zu der hohen Temperatur einer Knallgasflamme bei (vgl. Knallgasgebläse). Allerdings bleibt die aktuelle H 2 0 ^ K o n z e n t r a tion stets klein, weil das gebildete H 2 0 2 unter den Bedingungen der Knallgasreaktion laufend wieder zersetzt wird (z.B. gemäß: H 2 0 2 + H ->• H 2 0 + DH; H 2 0 2 + H ->• H 2 + H D 2 ; H 2 0 2 + DH H 2 0 + H D ; H 2 0 2 + M* -> 2 H O + M). Wasserstoffperoxid stellt hiernach nur ein Zwischenprodukt der zu Wasser führenden Knallgasreaktion dar. Die intermediäre Bildung von H 2 0 2 lässt sich aber dadurch sichtbar machen, dass man eine Knallgasflamme auf einen Eisblock richtet und so die Flammengase rasch auf eine Temperatur bringt, bei der H 2 0 2 metastabil ist. Das Wasserstoffperoxid scheidet sich dann auf dem Eis ab und kann dort analytisch (z.B. mit Titanylsulfat, s. dort) nachgewiesen werden. Insbesondere bei höheren Drücken des H 2 /0 2 -Gasgemischs bildet sich Wasserstoffperoxid auch noch auf dem Wege einer unverzweigten Kettenreaktion'. Kettenreaktion: (unverzweigte Kettey v 6
M H + 0 2 —> H D + 197 kJ 61 kJ + H D + H 2 —> H 2 0 2 + H H 2 + 0 2 —> H 2 0 2 + 136 kJ
(19 a) (19 b) (19)
Die Knallgasreaktion verläuft bei Temperaturen unterhalb 400 °C wegen der hohen Aktivierungsenergie der H 2 /0 2 -Reaktion von über 400 kJ noch unmessbar langsam und oberhalb 600 °C explos^1. Im Bereich 400-600 °C beobachtet man in Abhängigkeit von Temperatur, Druck, Gaszusammensetzung und Art des Reaktionsgefäßes teils nichtexplosive, teils explosive Vereinigungen von Wasserstoff und Sauerstoff. Besonders eingehend wurde der Zusammenhang des Gasdrucks stöchiometrischer Knallgasgemische (H2 : D = 2 : 1) und der Reaktionsgeschwindigkeit studiert: Erhöht man den Gasdruck von 0 bis 104mbar bei konstanter Temperatur im Bereich von 400-600 °C sukzessive, so beobachtet man zunächst eine stetige, dann eine explosive, hierauf wieder eine stetige und schließlich bei hohen Drücken eine explosive Vereinigung von Wasserstoff und Sauerstoff (vgl. Fig. 134, linke Hälfte). Der Übergang vom Gebiet der nichtexplosiven in das Gebiet der explosiven Reaktion erfolgt jeweils bei einem bestimmten von der Temperatur abhängigen Druck des Gasgemisches (,,erste", ,,zweite" und ,,dritte Explosionsgrenze"). Die auch im Falle anderer Kettenreaktionen (z.B. Umsetzung von CD, P 4 , PH 3 , D H „ oder SiH4 mit O 2 ) zu beobachtenden Druckgrenzen der isothermen Explosion lassen sich durch Kettenabbruchreaktionen erklären. Im Bereich der explosiven Knallgasreaktion werden insgesamt mehr Kettenträger gebildet, als durch Vorgänge an der Gefäßwand (Wandreaktion) oder im Gasraum (Dreierstöße) wieder verschwinden. Wandreaktionen nehmen bei sinkendem Druck, Dreierstöße bei wachsendem Druck zu, da die Kettenträger bei sinkendem (wachsendem) Druck häufiger die Gefäßwand (ein weiteres Molekül) treffen können. Da der Übergang von der explosiven zur stetigen Knallgasreaktion immer dann eintreten muss, wenn die Zahl der entstehenden und wieder verschwindenden Kettenträger gleich groß wird, erwartet man also sowohl bei kleinen Drücken (erste Explosionsgrenze) als auch bei höheren Drücken (zweite Explosionsgrenze) Grenzen des Explosionsbereichs (vgl. ,,Explosionshalbinsel", Fig.134 untere Hälfte). Die erste Explosionsgrenze ist deshalb von Art und Größe der Gefäßwand abhängig, die zweite nicht. Anwesende inerte Fremdgase erleichtern im Gebiet kleiner Drücke die Knallgasexplosion, da sie die
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
393
10000
400
440 480 520 — Temperatur [°C]
560
600
200 400 600 800 — Temperatur [°C] —
Fig. 134 Explosionsgrenzen eines Gemisches von 2H 2 + O2 in Abhängigkeit von Temperatur und Druck (linke Hälfte: bis 10 bar; rechte Hälfte: bis 106bar).
Diffusion der Kettenträger zur Gefäßwand behindern. Im Gebiet der zweiten Explosionsgrenze erschweren Fremdgase umgekehrt die Explosion, da sie die Wahrscheinlichkeit für Dreierstöße erhöhen. Die dritte Explosionsgrenze erklärt sich in einfacher Weise dadurch, dass die Geschwindigkeit der Reaktion (19 b) mit wachsendem Wasserstoffdruck stark erhöht wird. Mit steigendem H 2 -Druck reagieren demzufolge die durch Addition von Wasserstoffatomen an Sauerstoffmoleküle gebildeten H0 2 -Radikale zunehmend auf dem Wege (19b) ab, d.h. die Ausbeute der H-Atome liefernden Reaktionsfolge (19b) erhöht sich mit dem Reaktionsdruck auf Kosten der H-Atome verbrauchenden Reaktionsfolge (18 a, b). Ab der dritten Explosionsgrenze übersteigt die Menge der nach (19 b) gebildeten Kettenträger die Menge der nach (18 a, b) verschwindenden Kettenträger, sodass sich die Reaktion zur Explosion (genauer thermische Explosion) steigert. Wie eingehende Studien der Knallgasreaktion bei Drücken > 10 bar lehrten, gehört die dritte Explosionsgrenze zu einer „2. Explosionshalbinsel" (vgl. Fig. 134, rechte Hälfte), deren obere Begrenzung („vierte Explosionsgrenze") in Richtung hoher Drücke über ein Gebiet stetiger H 2 0-Bildung in einem Bereich führt, in welchem sich kein Wasser bildet. Demgemäß lässt sich die Reaktion von H2 und 0 2 unter einem Druck von 76000 bar und Raumtemperatur (ca. 300 K) weder durch Laserstrahlen (X = 488 nm) noch durch eine Halogenlampe zünden. Nach Raman-Untersuchungen soll bei sehr hohen H 2 /0 2 -Drücken eine feste Legierung der Zusammensetzung (H2)4(02)3 entstehen (vgl. die Bildung metallischen Wasserstoffs bei sehr hohen Drücken; ,,van-der-Waals-Legierungen" wie die erwähnte sind im Falle von He/N 2 oder Ar/ bei hohen Drücken schon länger bekannt
Heterolytische Substitutionsreaktionen Bei heterolytischen Substitutionsreaktionen A B + C ^ A C + B unterscheidet m a n zwischen ,,nucleophilen" Substitutionen (,,SN-Reaktionen") und „elektrophilen" Substitutionen (,,S E Reaktionen"). In ersterem Falle stellt die eintretende Gruppe C („Nucleophil"29) formal ein ungebundenes Elektronenpaar für die neu zu bildende Bindung AC zur Verfügung, während die austretende Gruppe B („Nucleofug") das Elektronenpaar der zu spaltenden Bindung A B mit sich nimmt
25
Ein Nucleophil ist eine Lewis-Base, die sich mit ihrem freien Elektronenpaar an ein Lewis-saures Verbindungszentrum (Verbindungskern) unter Ausbildung einer Bindung anzulagern sucht (nucleus (lat.) = Kern; philos (griech.) = Freund). Umgekehrt sucht sich das Lewis-saure Elektrophil als Elektronenpaarakzeptor an ein Elektronenpaar des Substrats anzulagern.
394
X. Grundlagen der Molekülchemie
A : B + iJC — Nucleophil
-Reaktion
»A^C+:B. Nucleofug
(20)
Bei elektrophilen Substitutionen übernimmt umgekehrt die Eingangsgruppe C („Elektrophil")2® als Elektronenpaarakzeptor formal das Elektronenpaar der zu spaltenden Bindung AB, während die Abgangsgruppe B (,,Elektrofug") unter Zurücklassen des Bindungselektronenpaares aus dem Molekül A B tritt -Reaktion A :B+ C — • A : C + B. Elektrophil Elektrofug Die G e s c h w i n d i g k e i t der hauptsächlich in der L ö s u n g s p h a s e anzutreffenden heterolytischen Substitutionsreaktionen hängt zum Unterschied von jener der homolytischen Substitutionsprozesse erheblich von den Reaktionspartnern sowie auch vom benutzten Reaktions medium ab (En liegt im Bereich von 0 bis zu mehreren hundert Kilojoule pro Mol). D a n u c l e o p h i l e S u b s t i t u t i o n s r e a k t i o n e n in der anorganischen Chemie besonders häufig angetroffen werden, sollen sie etwas eingehender besprochen werden.
Nucleophile Substitutionsreaktionen Als Beispiele dieses Reaktionstyps haben wir bereits Protonenübertragungen (z. B. Neutralisation; vgl. Gl. (21)) kennengelernt. Weitere Beispiele f ü r Reaktionen des Typs (20) stellen etwa die in der Technik zur Hydrazingewinnung durchgeführte Umsetzung von Chloramin mit Ammoniak (22) oder die im Laboratorium gebräuchliche Oxidation von Sulfit mit Wasserstoffperoxid (23) sowie Substitutionen an Metallatomen von Komplexen (z. B. Gleichungen (24)-(27)) dar (die Substitutionszentren sind jeweils fett gedruckt; bzgl. der Angaben über den Reaktionspfeilen s. unten): H—OH2 H2N—Cl HO—OH
+:OH~
^
+:NH3
^
H—OH
+:OH2
H2N—NH3++:Cr
+:SO2~ ^
(22)
+:OH~
(23)
(NC) 5 C o — C l 3 " + : O H 2
(24)
( N H 3 ) 5 C O — O H | + + :C1~
^ ^ ( H O ^ C o — C P + + :OH2
(25)
( H 2 O ) 5 C r — O H | + + :C1~
^
(H 2 O) 5 Cr—CP+ + : O H 2
(26)
( N H
(27)
(NC) 5 Co—OH2~ + :C1"
( N H 3 ) 3 P t — N H 2 + + :C1"
^
HO—SO3
(21)
3
) C l ^
+ :NH3
Diese Beispiele nucleophiler Substitutionsreaktionen an nichtmetallischen und metallischen Zentren (H, N, O, Co, Cr, Pt) veranschaulichen recht eindrucksvoll, dass selbst so unterschiedliche Prozesse wie Säure-Base-Reaktionen (z. B. (21)), Redoxreaktionen (z. B. (22)), (23)) oder Komplexbildungsreaktionen (z. B. (24)-(27)) vielfach auf den Reaktionstyp (20) zurückgehen Substitutionsmechanismen. Bei nucleophilen Substitutionsreaktionen (20) unterscheidet m a n mechanistisch zwischen dissoziativen und assoziativen Prozessen. Im Falle einer dissoziativen
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
395
Substitutionsreaktion wie etwa den Umsetzungen (24), (25) dissoziiert das Substrat A—B = R „ E — X (R = nicht an der Substitution direkt beteiligte anorganische oder organische Gruppen) zunächst unter Erniedrigung der Koordinationszahl des Substitutionszentrums E langsam in R „ E + und X D a s Substitutionszwischenprodukt R„E + verwandelt sich dann in rascher Reaktion entweder unter Addition der Abgangsgruppe : X " in das Edukt zurück oder unter Anlagerung des Nucleophils :Nu~ in das Produkt R „ E — N u (X, N u z.B.: H, F, Cl, Br, I, OR, SR, N R , CN): R„E—X+:Nu~
langsam rasch . - R „ E + + :X~ + :Nu~ • R„E—Nu + :X". rasch
(28) 30
Bei dissoziativen Substitutionsreaktionen erfolgt mithin die Spaltung der E X Bindung bereits vor der Knüpfung der ENu-Bindung. D a der geschwindigkeitsbestimmende Schritt hierbei eine monomolekulare (einmolekulare) Reaktion darstellt, bezeichnet m a n Reaktionen der Art (28) auch als Substitutionen des Typus 1 und spricht von ,,S N l-_Reaktionen" 3 1 ~ 3 3 . Im Falle assoziativer Substitutionsreaktionen wie etwa der Umsetzungen (21), (22), (23), (26), (27) addiert das Substrat R n E — X unter Erhöhung der Koordinationszahl des Substitutionszentrums E das Nucleophil : N u " in reversibler Reaktion. Die hierbei gebildete Zwischenstufe R „ E X N u zerfällt dann unter Abspaltung von : X " in die Produkte: RnE—X+:Nu~
langsam . - Nu: rasch L
E
:X
rasch J
• R„E—Nu++:X".
(29) 3 o
Bei assoziativen Substitutionsreaktionen erfolgt die Spaltung der E X Bindung also während oder nach Knüpfung der E N u Bindung. D a der geschwindigkeitsbestimmende Schritt nunmehr eine bimolekulare (zweimolekulare) Reaktion darstellt, bezeichnet m a n Reaktionen der Art (29) auch als Substitutionen des Typs 2 und spricht von ,,S^2-Reaktionen"31-33^ SN1-Reaktionen sind insbesondere für Substrate R„EX mit hoch koordinierten Reaktionszentren E typisch, SN2-Reaktionen für solche mit niedrig koordinierten Zentren. Demgemäß verlaufen nucleophile Substitutionen an zwei- und dreifach koordinierten Zentren (n = 1,2) ausschließlich auf assoziativem, jene an siebenfach und höher koordinierten Zentren (n = 6, 7, 8) meist auf dissoziativem Weg, während der X/Nu-Austausch an vier-, fünf- und sechsfach koordinierten Zentren (n = 3, 4, 5) sowohl assoziativ wie dissoziativ aktiviert ist. Substitutionsgeschwindigkeit D a im Falle eines dissoziativen Substitutionsprozesses nur die EX-Bindungsspaltung, nicht dagegen die Nu-Bindungsknüpfung geschwindigkeitsbestimmend ist (s. oben), hängt die Geschwindigkeit des X / N u A u s t a u s c h e s (28) zwar wesentlich von der N a t u r der austretenden Gruppe X sowie des Substratrestes R„E, doch nicht bzw. vergleichsweise nur wenig von der N a t u r des Nucleophils N u ab. So verläuft etwa der dis30 Entsprechende Gleichungen, aber mit anderer Verteilung der Ladung erhält man, wenn man von geladenem R„EX bzw. ungeladenem N u ausgeht. 31 Die Ziffern 1 und 2 im Falle von S N 1- und S N 2-Reaktionen (nähere Charakterisierung: S N 1-Si, SN1-P, S N 2-Si, S N 2-P) beziehen sich nicht, wie häufig fälschlicherweise angenommen wird, auf die Reaktionsordnung. Tatsächlich wurden für S N 1-Reaktionen häufig, für S N 2-Reaktionen gelegentlich Geschwindigkeitsgesetze anderer Ordnung aufgefunden31. 3 2 Geschwindigkeitsgesetze. SN 1-Reaktionen. v^ = k eSubstrat/(1 +k^e I /fc^c N l l ) = Geschwindigkeitskonstanten der Hin-/Rück-/Weiter-Reaktion der Zwischenstufe bzw. des Übergangszustands). Ist c x /c Nu (zum Reaktionsbeginn, bei Nu-Überschuss) oder k^/k'^ klein, kann k ^ c j k ' c N u vernachlässigt werden, sodass v^ = k^c Substrat resultiert. Für X = Nu, d. h. k^ = k'_> gilt letzteres Gesetz 1. Ordnung exakt. - S N 2-Reaktionen: = k cSubstrat c Nu mit k = + k'J). — I d -, 1,,-Reaktionen. = kKeSubstrateNll/(1 + Kc Nu ) mit K = Gleichgewichtskonstante der Bildung des Outer-sphere Komplexes, & = Geschwindigkeitskonstante des Interchange Prozesses. Für Kc N u -4 1 bzw. b z w k > 1 gi l t d a n n n ä h e r u n g s w e i s ^ ^ = C u t t N = «Substrat N ^ = Substrat' 33 S N 1- und S N 2-Reaktionen verlaufen unter geeigneten Voraussetzungen auch über radikalische Zwischenstufen, z. B. S RN 2-Reaktion: Nu~ + R „ E - X — Nu' + R„E' + X~ — R „ E - N u + X " oder S RN 1-Reaktion: R „ E - X ' ~ (etwa aus R „ E - X + N u ~ ) + Nu~ *±R„E' + X~ + N u ~ R„E-Nu'-+X~ (+R„E-X R „ E - X " " + R „ E - N u + X~ usw.). So wird etwa Chlorid Cl" in Chlorbenzol PhCl, das einer normalen S N 2-Reaktion schwer zugänglich ist, durch voluminöses (sperriges) R 3 Si" (R = (CH 3 ) 3 C) auf die wiedergegebene Weise durch das Silanid R 3 Si~ ersetzt. k K
C
S
b s
r a
C
U
c
U
396
X. Grundlagen der Molekülchemie
soziativ aktivierte H 2 D / N u - A u s t a u s c h von in Wasser gelöstem [ C o ( N H 3 ) 5 ( H 2 D ) ] 3 + unabhängig von der Art des Nucleophils (z.B. C l " , Br~, I " , H D ) mit einer Halbwertszeit um 10 6 s 11 Tage) bei Raumtemperatur (vgl. (25)). Andererseits ist die Bildung der Übergangsstufe eines assoziativen Substitutionsprozesses nicht nur mit einer teilweisen EX-Bindungsspaltung, sondern auch mit einer mehr oder minder starken ENu-Bindungsknüpfung verbunden (s. oben). Demgemäß haben bei S N 2-Prozessen neben den Abgangsgruppen, die auf die Geschwindigkeit ähnlich, aber weniger eingreifend wie bei S N 1-Reaktionen wirken, die Nucleophile einen ausgeprägten Einfluss auf die Geschwindigkeit des X / N u - A u s t a u s c h s . So erfolgt etwa der assoziativ aktivierte H D " / N u " - A u s t a u s c h von in Wasser gelöstem H 2 0 2 (vgl. Reaktion (23)) in der Reihenfolge N u " = I " , SO2", C N " , S C N " , B r " , C l " , D H " zunehmend langsamer. Bei anderen Substraten beobachtet m a n häufig eine ähnliche oder gerade umgekehrte Reihenfolge der Substitutionsfähigkeit (,,Nucleophilie", ,,Nucleophilität") eintretender Gruppen Bezüglich des Einflusses der Abgangsgruppen auf die Geschwindigkeit dissoziativer Substitutionen muss berücksichtigt werden, dass der geschwindigkeitsbestimmende Substitutionsschritt R„E—X -> R„E + + X~ in der Regel stark endotherm ist. Demzufolge gleicht der aktivierte Komplex des Dissoziationsprozesses mehr den Umsetzungsprodukten (vgl. Prinzip von Hammond), d.h. in der Reaktionsübergangsstufe ist die EX-Bindung bereits weitgehend heterolytisch gespalten. SN1-Reaktionen verlaufen deshalb umso rascher, je kleiner die EX-Dissoziationsenergie ist. So wird etwa die Geschwindigkeit dann erhöht, wenn die Lewis-Basizität der Abgangsgruppen klein in bezug auf den Lewis-sauren Substratrest ist (vgl. hierzu Lewis-Acidität und -Basizität). Ist demnach das saure Reaktionszentrum eines Substrats wie im Falle von [Co(NH 3 ) 5 X] 3 + hart, so erfolgt die X-Substitution mit zunehmender Weichheit der austretenden Gruppe (also etwa in der Reihe X = F, Cl, Br, I) zunehmend rascher; ist es dagegen weich - wie etwa im Falle von [Co(CN) 5 X] 3 ~ - so wird die Substitutionsgeschwindigkeit mit zunehmender Härte der Abgangsgruppe (also etwa in der Reihe X = I, Br, Cl, F) größer (vgl. (24), (25)). Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Lösungsmittel aufgrund seines solvatisierenden Einflusses die Acidität und Basizität der Substitutionszwischenprodukte wesentlich mitbestimmt Der Einfluss der Nucleophile auf die Geschwindigkeit assoziativer Substitutionen lässt sich dadurch verständlich machen, dass man eine SN2-Reaktion gedanklich in eine energieliefernde Addition der LewisBasen: Nu" an das Lewis-saure Substrat R„EX und eine energieverbrauchende Abdissoziation der LewisBasen :X" von diesem Substrat aufgegliedert. Beide Teilreaktionen erfolgen mehr oder minder gleichzeitig, wobei insgesamt zunächst der Energieverlust und dann (nach Überschreiten des Übergangszustands) der Energiegewinn überwiegt. Eine hohe Basizität des Nucleophils bezüglich des Substitutionszentrums E führt nun relativ früh auf der Reaktionskoordinate zu wesentlichen ENu-Bindungsbeziehungen. Zunehmende Lewis-Basizität der Nucleophile erhöht also die Stabilität der Substitutionsübergangsstufe und erleichtert damit den assoziativen Substitutionsvorgang. Ist hiernach z. B. das saure Substitutions-Zentrum eines Substrats wie im Falle von HDX (X = DH) weich (vgl. (23)), so erfolgt die X-Substitution mit zunehmender Weichheit der Nucleophile (also etwa in der Reihe Nu = F, Cl, Br, I) zunehmend rascher, ist es dagegen hart, so wird die Substitutionsgeschwindigkeit umgekehrt mit zunehmender Härte der Eingangsgruppen (also etwa in der Reihe Nu = I, Br, Cl, F) größer. Weist also ein Nucleophil wie z.B. :SCN:~ sowohl ein weiches Donoratom (S) als auch ein hartes Donoratom (N) auf, so wird ersteres bevorzugt mit harten, letzteres mit weichen Substraten reagieren (Bildung von R„E—SCN bzw. R„E—NCS). In analoger Weise werden Substrate, die gleichzeitig harte und weiche Substitutionszentren besitzen, von weichen und harten Nucleophilen an unterschiedlichen Stellen substituiert. Wie im Falle von SN1-Reaktionen ist allerdings auch bei SN2-Substitutionen zu berücksichtigen, dass das Reaktionsmedium auf Grund seines solvatisierenden Einflusses die Substitutionsgeschwindigkeit wesentlich mitbestimmt Stabilität der Zwischenprodukte Die Stabilität des Zwischenprodukts einer SN1-Substitution ist meist sehr gering, d.h. im Energieprofil einer SN1-Substitution macht sich die Zwischenstufe R„E + nur durch eine relativ kleine Energiedelle bemerkbar (Fig. 135, gestrichelte Kurve). Häufig ist die Energiemulde so flach (vgl. ausgezogene Kurve in Fig. 135) und mithin die Lebensdauer von R„E + so kurz, dass sich die Zwischenstufe weder durch chemische noch durch physikalische Methoden nachweisen lässt. Unter diesen Umständen kommt es nur dann zu einem X/Nu-Austausch, wenn sich das Nucleophil zur Zeit der heterolytischen EX-Bindungsspaltung bereits in unmittelbarer Nähe des Substrats aufhält. Demgemäß ist der eigentlichen Substitution (28) hier eine sehr rasche reversible Reaktion vorgeschaltet, die unter Eintritt des Nucleophils in die als äußere Koordinationssphäre bezeichnete Solvathülle des Substrats erfolgt und zu einem schwachen, also leicht in seine Bestandteile R„EX und Nu~ zerfallenden Komplex R„EX,Nu~ führt („outer sphere" Komplex; ist R„EX ein Kation, Nu ein Anion, so spricht man von einem „Ionen-
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
397
S N 1: [ N u - - E - - X " ]
SM 1: S
N 2:
Fig. 135 Energieprofile von SN1- und S^-Reaktionen: Id, Ia = ausgezogene, D, A = gestrichelte Kurve (in den Übergangsstufen, -zuständen sind die nichtreagierenden Gruppen R der Übersichtlichkeit halber nicht berücksichtigt).
R„EX + Nu R„ ENu + X " Reaktionskoordinate
paar"). Von seinem eingenommenen Platz in der äußersten Koordinationssphäre aus kann dann das Nucleophil gemäß (30a) unmittelbar nach Abdissoziation von X~ in die innere Koordinationssphäre des Substrats nachrücken (in (30a, b) sind die nichtreagierenden Gruppen R übersichtlichkeitshalber weggelassen): [Nu" •••E + — X " ] R
rasch
EX
+ Nu~ ^ ^
rasch
R„EX,Nu^
langsam
(a)
^
rasch
[Nu
ä
rasch
> R„ENu + X~
(30)3°
••• E •••X ] (b
Man bezeichnet den Prozess (30) insbesondere in der Komplexchemie auch als „dissoziativen Auswechsel"- bzw. ,,dissoziativen Interchange-Mechanismus" (kurz „Id-Mechanismus")32 und unterscheidet ihn vom „Dissoziationsmechanismus" („D-Mechanismus"), der dann vorliegt, wenn die Lebensdauer der Zwischenstufe R„E + vergleichsweise groß ist, sodass sich die Zwischenstufe physikalisch und chemisch nachweisen lässt (z. B. ,,Selektionsfähigkeit" für Nucleophile). Beispielsweise erfolgt der H 2 0/CP-Austausch [Co(NH 3 ) 5 (H 2 0)]3+ + C P ^ [Co(NH 3 ) 5 Cl]2 + + H 2 0 nach einem Id-Mechanismus, während der entsprechende Austausch gemäß [Co(CN) 5 H 2 0]2~ + Cl" [Co(CN) 5 Cl]3~ + H 2 0 nach einem D-Mechanismus verläuft Wie im Falle der SN1-Substitution ist die Stabilität des Zwischenprodukts im Falle einer S^-Substitution häufig so gering, dass sich die Zwischenstufe im Energieprofil nur durch eine sehr kleine oder durch überhaupt keine Energiedelle bemerkbar macht (vgl. Fig. 135, ausgezogene Kurve) und dann aufgrund ihrer kurzen Lebenszeit weder chemisch noch physikalisch nachgewiesen werden kann (die Zwischenstufe geht hierbei in einen ,,Übergangszustand" über). Man bezeichnet letzteren Prozess (30b) insbesondere in der Komplexchemie auch als,,assoziativen Auswechsel-" bzw. „assoziativen InterchangeMechanismus" (kurz Ia-Mechanismus)32 und unterscheidet ihn vom „Assoziativen Mechanismus" (AMechanismus), bei dem der X/Nu-Austausch unter zwischenzeitlicher Bildung eines nachweisbaren Kom plexes („Zwischenstufe") erfolgt. Nach einem Ia-Mechanismus verläuft etwa die Reaktion (26), nach einem A-Mechanismus die Reaktion (27). In den Id- und Ia-Zwischenstufen bzw. Übergangszuständen (30 a, b) sind jeweils das Nucleophil Nu und das Nucleofug X gleichzeitig mit dem Zentrum des Substrats verknüpft, wobei - voraussetzungsgemäß - in ersterem Falle die EX-Bindungsspaltung wesentlich stärker, in letzterem Falle wesentlich schwächer ausgeprägt ist (vgl. Fig. 135) als die ENu-Bindungsbildung. Liegt der Substitutionsverlauf an der Grenze des I d - und Ia-Bereichs, so ist eine Zuordnung der Substitution zum einen oder anderen Interchange-Mechanismus häufig schwer zu treffen, da man auf beiden Seiten der Grenze eine gewisse, mehr oder weniger große Abhängigkeit der Substitutionsgeschwindigkeit von der Art des Nucleophils beobachtet (keine derartige Abhängigkeit wird bei D-Mechanismus, eine sehr starke Abhängigkeit bei A-Mechanismus gefunden). Die Klassifizierung einer Interchange-Reaktion als I d - oder Ia-Typ erfolgt am besten durch Messung des Aktivierungsvolumens A V = V (Ausgangsprodukt) -V (Übergangs-, Zwischenstufe) (vgl. Lehrbücher der Kinetik), das im Falle von Id-Prozessen positiv, im Falle von Ia-Prozessen negativ ist
398
X. Grundlagen der Molekülchemie
Nucleophile Substitutionen an tetraedrischen und pseudo-tetraedrischen Zentren Als Beispiele nucleophiler Substitutionen seien nachfolgend solche an tetraedrisch- und pseudo-tetraedrisch-koordinierten Nichtmetallen und Halbmetallen herausgegriffen und hinsichtlich der Geschwindigkeit und Stereochemie ihres Ablaufs eingehender besprochen (für Substitutionen an anders koordinierten Zentren vgl. S. 1381). Wie die folgende Zusammenstellung wichtiger Typen von B-, C-, Si-, Ge-, Sn-, N-, P-, 0 - , S- und Cl-Verbindungen verdeutlicht, sind Nicht- und Halbmetalle in der Mehrzahl ihrer Verbindungen tetraedrisch von vier Bindungselektronenpaaren oder pseudo-tetraedrisch von insgesamt vier gebundenen und unge bundenen Elektronenpaaren umgeben, während die tetraedrische Ligandenanordnung bei den Metallen von weit geringerer Bedeutung ist. Dementsprechend spielen nucleophile Substitutionen an tetraedrischen und pseudo-tetraedrischen Zentren insbesondere f ü r die Chemie der Nicht- und Halbmetalle eine große Rolle 3 4 . [f^B—X]~
^C—X ^Si—X SGe—X 5Sn-X
X
X
J^P—X >P—X [^P-X]+
O
Ö o
:C1—X
X
0
X
0
X
0
O
Ö O
Geschwindigkeitsverhältnisse. Die Geschwindigkeit des X/Nu-Austauschs in Substraten R 3 E X (vgl. obige Zusammenstellung) wird durch die Nucleophile Nu, Substitutionszentren E und Nucleofuge X in starkem Maße beeinflusst (Nu, X z. B. H, Halogen, 0 R , N R , 0rganyl; X muss elektronegativer als E sein, da anderenfalls das Nucleofug wie etwa X = Cl in H 0 X seinerseits als Substitutionszentrum wirken kann). Neben den erwähnten ,,reagierenden" bestimmen die „nicht-reagierenden" G r u p p e n R (z.B. H, Halogen, 0 R , N R , 0rganyl, freies Elektronenpaar), das Lösungsmittel sowie - gegebenenfalls - Katalysatoren die Substitutionsgeschwindigkeit Einfluss reagierender Gruppen Nucleophile Substitutionsreaktionen verlaufen an tetraedrischen oder pseudo-tetraedrischen Substitutionszentren E der Substrate R 3 EX in der Regel auf assoziativem Wege und nur unter besonderen Bedingungen bei Kohlenstoff, weniger häufig bei Bor und selten bei den übrigen Elementen auch auf dissoziativem Wege (s. unten). Die Geschwindigkeit nucleophiler Substitutionen an tetraedrischen Kohlenstoffatomen ist vergleichsweise klein. Sie reagiert sehr sensibel auf Änderungen des Nucleophils, Nucleofugs und Lösungsmittels. Dieser Sachverhalt begründet u. a. die Vielfalt organischer Kohlenstoffverbindungen und deren einzigartige Bedeutung für die Biosphäre. Wesentlich rascher als bei Substraten R 3 CX erfolgt der X/Nu-Austausch bei Substraten R3SiX an tetraedrischen Siliciumatomen (hier kann die Geschwindigkeit der - ausschließlich assoziativ-aktivierten - Substitutionen häufig nur noch mit besonderen Techniken bestimmt werden). Dieser Befund steht in Übereinstimmung mit einer Regel, wonach der Ersatz eines Elements in R 3 EX durch ein schwereres Gruppenhomologes mit einer erheblichen Erhöhung der Geschwindigkeit des assoziativ-aktivierten nucleophilen X/Nu-Austau sches verbunden ist. Beim Ersatz von E durch einen Periodennachbarn erhöht sich die Geschwindigkeit der X/Nu-Substitution vergleichbarer Substrate EX darüber hinaus mit abnehmender Bindigkeit von E, also z.B. in Richtung ^CX, "NX, —0X. Im Falle von SN2-Reaktionen substituieren Nucleophile zunehmender Weichheit (z.B. Nu — F < Cl" < Br~ < I") den Rest X in R 3 EX in der Regel zunehmend rascher, wobei die Geschwindigkeitserhöhung ihrerseits mit steigender Weichheit des Elements E, d.h. mit abnehmender 0xidationsstufe sowie wachsender 0rdnungszahl des Elements innerhalb einer Periode drastisch zunimmt. Ist hierbei E wie Bor in R 3 BX~ oder Schwefel RS0 2 X vergleichsweise wenig weich, so kann sich - selbst in protischen Lösungsmitteln (s. unten) - die Reihenfolge der Nucleophile umkehren. Nucleofuge X der Substrate
34S N 2-Prozesse an trigonal- oder pseudo-trigonal-planaren Zentren (z. B. " B — X ) bzw. S N 1-Prozesse an trigonal- bzw. pseudo-trigonal-bipyramidalen Zentren ( z . B . ^ S — X ) erfolgen über tetraedrische Zwischenstufen. Sie nehmen gewissermaßen an der Stelle der Zwischenprodukte (oder -stufen) einer S N 1- bzw. S N 2-Substitution an tetraedrischen Zentren ihren Anfang.
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
399
R 3 EX werden andererseits in der Regel bei abnehmender Basizität (z.B. DH~ < F ~ < C l ~ < B r ~ < I ~ ) zunehmend rascher substituiert (besonders gute Abgangsgruppen X sind Anionen starker Sauerstoffsäuren wie SD2", NO3). Beispiele: Das Nucleofug X der Substrate C H X (X = Br), HDX (X = DH), PhSX (X = PhSD), PhSDX (X = PhSD), P h S D X (X = P h S D ) wird unter Normalbedingungen durch das Nucleophil Iodid 100-mal, 100000-mal, 10000-mal, 80-mal, < 0.5-mal so rasch ausgetauscht wie durch das Nucleophil Chlorid (Lösungsmittel: Wasser bzw. Dioxan/Wasser-Gemische). Das Nucleophil Bromid substituiert in den Substraten HDX andererseits das Nucleofug X = DCDMe, D S D , DH2+ ca. 600-mal, 40000-mal, 30000000-mal schneller als das Nucleofug X = DH. Einfluss nicht reagierender Gruppen Mit wachsender Raumerfüllung der nicht reagierenden Gruppen R in R 3 EX wird - insbesondere bei kleinen Substitutionszentren E - der X/Nu-Austausch assoziativer, unter Erhöhung der Koordinationszahl von E ablaufender Substitutionen zunehmend erschwert (,,sterische Verzögerung" von S N 2-Reaktionen), der X/Nu-Ersatz dissoziativer, unter Erniedrigung der Koordinationszahl von E erfolgender Substitutionen dagegen erleichtert („sterische Beschleunigung" von SN1-Reaktionen). In gleicher Richtung wirken sperrige Nucleofuge und Nucleophile. Darüber hinaus erfahren assoziative Prozesse durch elektronenanziehende, dissoziative Prozesse durch elektronenliefernde nicht reagierende Gruppen eine elektronisch bedingte Beschleunigung. Unter besonderen Bedingungen (raumerfüllende, an ein kleines Substitutionszentrum E gebundene und/oder stark elektronenlieferende Gruppen R) kann die entgegengesetzte Abhängigkeit der Geschwindigkeit einer SN2- und S N 1-Reaktion von sterischen und elektronischen Einflüssen der nicht reagierenden Gruppen sogar dazu führen, dass eine nucleophile Substitution an tetraedrischen Zentren nicht - wie üblich - auf assoziativem, sondern auf dissoziativem Wege abläuft. Im allgemeinen kommt es allerdings nicht (wie im Falle von Bor- und insbesondere Kohlenstoffverbindungen) zu einem Wechsel des Substitutionsmechanismus, sondern nur zu einer Verzögerung des Reaktionsablaufs. Beispiele Die Geschwindigkeit der assoziativen Substitution von Chlorid verringert sich in der Verbin dungsreihe PhS—Cl, PhSD—Cl, PhSD—Cl drastisch, da in gleicher Richtung jeweils ein „kleines" Elektronenpaar durch ein ,,großes" Sauerstoffatom ersetzt wird; der Substitutionstyp ändert sich jedoch nicht. Entsprechendes gilt für die Verbindungsreihe CH 3 SX, MeCH 2 SX, Me 2 CHSX, Me 3 CSX (jeweils Ersatz einer kleineren durch eine raumerfüllende nicht reagierende Gruppe; X z.B. S 0 3 ) . Andererseits erfolgt die alkalische Hydrolyse von BF 4 bzw. CH 3 Cl nach einem SN2-Mechanismus, jene von BC14 bzw. Me 3 CCl aber nach einem SN1-Mechanismus, weil in letzteren Verbindungen statt kleinerer Fluorbzw. Wasserstoffatome größere Chlor- bzw. Methylgruppen an die Substitutionszentren Bor und Kohlenstoff gebunden sind. In analoger Weise verläuft die Hydrolyse von Me 2 NSD 2 Cl anders als die von P h S D C l nicht auf assoziativem, sondern dissoziativem Wege, da die nicht reagierende Me 2 N-Gruppe das ungesättigte Schwefelatom der SN1-Zwischenstufe Me 2 NSD 2 in hohem Maße mesomeriestabilisiert: [Me 2 N—SD M e 2 N = S D 2 ] + . Für weitere Beispiele s. unten. Einfluss des Lösungsmittels Führt der Ersatz eines Lösungsmittels durch ein anderes zu einer vergleichsweise größeren Stabilisierung der Übergangs- oder Zwischenstufe durch Solvatation (gleichbedeutend ist eine entsprechende Destabilisierung der Edukte), so ist der Solvenswechsel mit einer Verkleinerung der Aktivierungsenergie der Substitution, d.h. mit einer Reaktionsbeschleunigung verbunden. Demzufolge erhöht sich in Medien wachsender Polarität die Geschwindigkeit solcher nucleophiler Substitutionen, bei denen wie im Falle vieler 1- und einer Reihe von 2-Reaktionen die Bildung der Übergangsstufen unter Ladungszunahme erfolgt. Darüber hinaus beobachtet man beim Wechsel von protischen zu aprotischen Medien (z.B. H D , RDH, R C D H R 2 D, Me 2 CD, Me 2 NCHD, Me 2 SD) meist eine Beschleunigung assoziativer Substitutionen, weil in aprotischen Lösungsmitteln die zusätzliche Stabilisierung der Nucleophile durch Wasserstoffbrücken entfällt. Die Geschwindigkeitszunahme ist insbesondere bei anionischen Nucleophilen beachtlich und wächst bei letzteren zudem mit ihrer Härte, weil protische Medien bevorzugt harte, aprotische Medien weiche Basen solvatisieren. Gegebenenfalls kann der Lösungsmittelwechsel sogar zu einer Umkehr der Nucleophilitätsreihe führen. So erfolgt etwa der X/Nu-Austausch am weichen Schwefelatom der Verbindung PhSX (X = PhSD) in protischen Medien in der Reihenfolge N u " = Cl" < Br~ < I " und in aprotischen Medien in der Reihenfolge Nu~ = I " < Br" < Cl" rascher. Dissoziative Substitutionen verzögern sich andererseits beim Wechsel vom protischen zum aprotischen Lösungsmittel, da die Abgangsgruppe nicht mehr durch Wasserstoffbrückenbindungen stabilisiert wird Katalytische Einflüsse Ein gutes Nucleophil N % das auch als Nucleofug wirkt, kann einen assoziativen Substitutionsprozeß gegebenenfalls katalysieren, weil die Substitutionsfolge: R„EX+ N % -> R„ENu K + X~; R„ENu k + Nu~ -> R„ENu + N % insgesamt rascher zu den Produkten führt als der direkte X/Nu-Austausch: R E X + Nu~ -> R„ENu + X". Das Nucleophil kann hierbei wie bei Nitrosierungen
400
X. Grundlagen der Molekülchemie
ein schweres Halogenid-Ion (S. 726) oder wie bei vielen Substitutionen an Metallkomplexzentren (S. 1381 f) ein Lösungsmittelmolekül (,,Kryptosolvolyse") sein. Wichtiger als diese Art der nucleophilen Katalyse ist die elektrophile Katalyse nucleophiler Substitutionen durch Brönsted- oder Lewis-Säuren (allgemein: Elektrophile). Indem sich letztere an die als Base wirkende Abgangsgruppe X des Substrats R n EX anlagern, verringert sich die Basizität der austretenden Gruppe, wodurch die Dissoziation der EX-Bindung erleichtert wird. Z. B. wird der Austausch von Sauerstoff zwischen Wasser und Anionen EO™" (z.B. ClO", BrO~, C l 0 2 , ClC^, Br03~, IO3, Cl0 4 , SOj", SC>3", SeO3", N 0 2 , NO3, TO3", AsO3", AsO;3", TO3", VC>3", CrOj", Mn0 4 usw.) von Elementsauerstoffsäuren HmEOn durch Protonen katalysiert. Im Falle von Bromat Br0 3 erfolgt er etwa auf dem Wege + 2H + rasch
: OH
0 2 B r — O \^
OH,
geschwindigkeitsbestimmend
2H
0 2 Br—ÖS' \
Ein analoger Mechanismus liegt dem Sauerstoffaustausch anderer Anionen EO^~ zugrunde (E = Hauptoder Nebengruppenelement; vgl. auch Redoxprozesse, S. 473). Ist hierbei das Substitutionszentrum E groß und liegt es in niedriger Oxidationsstufe vor, so wirkt bereits 1 Proton katalytisch. Der geschwindigkeitsbestimmende Substitutionsschritt erfolgt in der Regel assoziativ und nur dann dissoziativ, wenn die 0 = S = O ) , SOj" (-> C>=SO=O), PO3" (-> C>=PO=Cr), SN1 -Zwischenstufen wie im Falle von SO 3 " CO 3 " (-> O—C=O) elektronisch in hohem Maße stabilisiert sind. Die Geschwindigkeit des Sauerstoffaustauschs wächst erwartungsgemäß mit zunehmender Basizität von EO^~ (Verschiebung des vorgelagerten Protonierungsgleichgewichts nach rechts), also in den Reihen Cl0 4 < SOj" < PO3" < SiO4" bzw. Cl0 4 < ClO 3 < Cl0 2 < C W bzw. ClO 3 < Br03~ < IO3" (vgl. S.247). Zudem erhöht sich die Geschwindigkeit bei assoziativ-aktiviertem O-Austausch mit abnehmender Koordinationszahl und zu nehmender Größe des Substitutionszentrums in (sterische Beschleunigung), also in den Reihen Cl0 4 < ClO 3 < Cl0 2 < ClO~ bzw. ClO3 < Br03~ < IO3. Der starken Abnahme der Basizität in Richtung ClO~ -> Cl0 4 bei gleichzeitiger Zunahme der Koordinationszahl von Chlor entspricht infolgedessen ein besonders großes Anwachsen der Halbwertszeit des Sauerstoffaustauschs: sie beträgt im Falle von ClO~ bei Raumtemperatur nur Bruchteile einer Sekunde, im Falle von Cl0 4 aber selbst in 9molarer Lösung bei 100 °C über 100 Jahre. Stereochemie Bei Substraten R 3 E X (R = anorganischer oder organischer Rest, freies Elektronenpaar) erfolgen S N 2-Reaktionen in der Regel so, dass das Substitutionszentrum E vom Nucleophil N u auf der dem Nucleofug X abgewandten Seite angegriffen wird. Die eintretende Gruppe schiebt die Abgangsgruppe gewissermaßen ,,von hinten" aus dem Molekül. Mit dem X/Nu-Austausch ist zugleich ein Umklappen der nicht reagierenden G r u p p e n R verbunden (,,Regenschirmmechanismus"; vgl. hierzu auch S.416): R S -
Nu
E—X
..
I <s+ ..
A
R s -
N
:X R R
In der Übergangsstufe (A-Mechanismus, S. 397) oder dem Übergangszustand (^-Mechanismus, S. 397) der Substitution ist das Reaktionszentrum trigonal-bipyramidal von 5 Liganden umgeben, wobei ein- und austretende Gruppe axiale, die drei nicht reagierenden G r u p p e n äquatoriale Plätze einnehmen. In „stereochemischer" Sicht (S.416) ist eine S N 2-Reaktion hiernach mit einer Inversion des Substratrestes R 3 E verbunden, wobei m a n diese Inversion seit ihrer Entdeckung durch P. Walden im Jahre 1896 auch als ,, Walden'sche Umkehr" bezeichnet N u r in Ausnahmefällen (s. unten) beobachtet m a n auch einen Angriff des Nucleophils ,,von vorne" auf das Zentrum E der Substrate R 3 E X . Die assoziativ-aktivierten nucleophilen Substitutionen erfolgen d a n n unter Erhalt (Retention) der Konfiguration, wobei in der Substitutionsübergangs- oder -zwischenstufe das Reaktionszentrum von 5 Liganden trigonal-bipyra-
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
401
midal bis quadratisch-pyramidal umgeben und - im Sinne des Gesetzes der mikroskopischen Reversibilität (S. 190) - mit ein- und austretender Gruppe vergleichbar verknüpft i s t . 3 5 ' 3 6 8~ Nu E —X
+ :Nu"
- N u + :X" X 8~
Die Bevorzugung des Inversionsmechanismus im Falle von Substraten R 3 EX ist nicht die Folge einer elektrostatischen Abstoßung von Nucleophil und Nucleofug, sondern quantenmechanisch begründet (tatsächlich werden auch entgegengesetzt geladene ein- und austretende Gruppen unter R3E-Konfigurationsumkehr ausgetauscht). Im Zuge der - unter synchroner Bindungsbildung und -spaltung erfolgenden orbitalsymmetrieerlaubten (S. 402) - SN2-Reaktion tritt ein elektronenbesetztes Orbital des Nucleophils mit dem elektronenleeren antibindenden g*-Molekülorbital der EX-Bindung des Substrats R 3 EX in steigende Wechselbeziehung (Elektronenfluss Nu" nach EX). Hierdurch wird die EX-Bindung zunehmend geschwächt und schließlich gebrochen. Da hierbei die reaktionsfördernden Nu"/EX-Orbitalinterferenzen im Falle eines Rückseitenangriffs (a) stärker als im Falle eines Vorderseitenangriffs (b) zum Tragen kommen (Knotenebene des g*-Molekülorbitals in der EX-Region, vgl. S. 351), ist ersterer vor letzterem Angriff bevorzugt.
Die Nu/EX-Bindungsbeziehungen lassen sich im Falle des Vorderseitenangriffs etwa durch Vergrößerung des EX-Abstands oder Verkleinerung des Nucleophils verstärken (z. B. Übergang: R 3 CX R 3 SiX bzw. Nu" = I" - > B r " Cl" F~). Günstig wirkt auch eine Erhöhung der Asymmetrie des er*-Molekülorbitals als Folge eines größeren Unterschieds der Elektronegativität oder Periodennummer von E und X (z.B. Übergang: R3EC1 R 3 EF bzw. R 3 EF R 3 EH). Demgemäß beobachtet man den Retentionsmechanismus neben dem Inversionsmechanismus bei Kohlenstoffverbindungen CX überhaupt nicht, bei Siliciumverbindungen R3SiX jedoch in einer Reihe von Fällen. Bei Substraten R 3 E X mit tetraedrischen Zentren E erfolgen S N l-Reaktionen auf dem Wege über trigonal-planar gebaute Substitutionszwischenprodukte R 3 E + , welche durch Addition des Nucleophils N auf der einen oder anderen Seite von R 3 E H in das Substitutionsprodukt übergehen (D-Mechanismus): R E—X
:X
R :N
A CJ
/
R
.E—Nu bzw. Nu—E^ R
W
In,,stereochemischer Sicht" (S. 405) ist die S N 1-Reaktion hiernach sowohl mit einer Retention als auch Inversion des Substratrestes R 3 E verbunden (vgl Racemisierung, S.416). Allerdings verlaufen im allgemeinen Retention und Inversion nicht in gleichem Ausmaß (vollständige 35 Sind Nucleophile Nu und Nucleofuge X in einer zunächst gebildeten Zwischenstufe ungleichartig gebunden, so geht dem Austritt von X ein intramolekularer Nu/X-Platzwechsel voraus (vgl. Pseudorotation, S. 782). Die Übergangsstufe dieses Wechsels stellt dann die oben angesprochene Stufe mit gleichartig gebundenen Gruppen dar. 36 Elektrophile E+ vermögen Retentionsprozesse gemäß R 3 E—X + E + + N u " R3E—X—E—Nu R 3 E—Nu—E—X R 3 E — N u + E + + X " zu katalysieren. Da hierbei der eigentliche Substitutionsschritt eine (assoziative bzw. dissoziative) interne Umlagerung darstellt, bezeichnet man solche Prozesse auch als interne nucleophile Substitution und spricht von „SNi-Reaktionen".
402
X. Grundlagen der Molekülchemie
Racemisierung), sondern unterschiedlich ausgeprägt {partielle Racemisierung), da die reversible Abdissoziation von X~ auf dem Wege über ein inneres Ionenpaar R 3 E + ,X~ mit verzerrttetraedrischer A n o r d n u n g der Gruppe R und X erfolgt. Ist nun das Nucleophil Bestandteil der Solvathülle (^-Mechanismus), so kann es sich ,,von hinten" an das Zentrum E des Substrats addieren, ehe R 3 E + ,X~ vollständig in freie Ionen R 3 E + und X~ dissoziiert (der Angriff des Nucleophils ,,von vorne" ist unter diesen Bedingungen aus elektrostatischen und sterischen Gründen weniger bevorzugt).
3.2.4
Die Erhaltung der Orbitalsymmetrie 37
Beim Studium der vorstehenden Abschnitte über chemische Reaktionsmechanismen tauchen für den aufmerksamen Leser u.a. folgende beiden Fragen auf: Warum läuft die auf S. 388 erwähnte Gasphasenchlorierung von S 0 2 in mehreren Radikalschritten, statt auf dem einstufigen und zudem rascheren Weg der R 2 S-Chlorierung ab, obwohl es sich in beiden Fällen um scheinbar analoge Reaktionen - nämlich u m die Chlorierung von Schwefel der Koordinationszahl zwei - handelt? Und: Aus welchem Grunde setzen sich Wasserstoff und Iod auf dem Umweg über radikalische Zwischenstufen (S. 381) und nicht direkt in einem Reaktionsschritt zu Iodwasserstoff um? Eine Antwort auf die gestellten Fragen gibt das von R.B. Woodward (Nobelpreis 1965) und R. H o f f m a n n (Nobelpreis 1981) im Jahre 1965 aufgestellte „Prinzip von der Erhaltung der Orbitalsymmetrie66, wonach einstufige (mono-, bi- oder trimolekulare) Stoffumwandlungen nur dann o h n e a l l z u g r o ß e H e m m u n g e r f o l g e n k ö n n e n , wenn sich während des Reaktionsablaufs die Orbitalsymmetrie der Reaktanden nicht ändert (,, Woodward-H offmannRegeln" 3 8 ). Das Prinzip soll anhand der erwähnten Bildung von Iodwasserstoff aus Wasserstoff und Iod erörtert werden. Es sei hierzu einmal angenommen, dass die HI-Bildung - wie m a n ursprünglich auch tatsächlich glaubte (S. 381) - über einen aktivierten Komplex (31 a) führen würde, in welchem die Bindungen der Edukte H 2 und I 2 gelockert wären und sich bereits Bindungsbeziehungen zwischen Wasserstoff und Iod ausgebildet hätten (,,Synchronmechanismus" der HI-Bildung): H—H
H- • H
H
H
(a) Unter diesen Umständen müsste die Umsetzungsgeschwindigkeit wesentlich von der Stabilität des Komplexes (28a), d.h. von der für seine Bildung erforderlichen Energie bestimmt werden (vgl. Theorie des Übergangszustandes, S. 189). Wie nun aus theoretischen Überlegungen folgt, lässt sich bei bimolekularen Synchronreaktionen wie (31) die Bildung des aktivierten Komplexes in guter Näherung als Lewis-Säure37 Literatur R.B. Woodward, R. Hoffmann: ,,Die Erhaltung der Orbitalsymmetrie", Verlag Chemie, Weinheim 1970; R . G . Pearson: ,,Symmetry Rules for Chemical Reactions: Orbital Topology and Elementary Processes", Wiley, New York 1976; P. Wieland, H. Kaufmann:,,Die Woodward-Hoffmann-Regeln: Einführung und Handhabung", Birkhäuser Verlag, Basel 1972; N.T. Anh (Übersetzer H.-J. Hansen, H. Heimgartner): ,,Die Woodward-Hoffmann-Regeln und ihre Anwendung", Verlag Chemie, Weinheim 1972; G.B. Gill, M . R . Willis: ,,Pericyclic Reactions", Chapman and Hall, London 1974; K. Fukui:,,Grenzorbitale - ihre Bedeutung bei chemischen Reaktionen", Angew. C h e m 94 (1982) 852-861; Int. E d 21 (1982) 801. 38 Geschichtliches Neben Woodward und Hoffmann erkannten eine Reihe anderer Wissenschaftler die Möglichkeit, den Ablauf chemischer Reaktionen über 0rbitalbetrachtungen zu deuten. Genannt sei insbesondere K. Fukui (Nobelpreis 1981). Die Anwendung des Prinzips von der Erhaltung der 0rbitalsymmetrie auf anorganische Probleme geht insbesondere auf R. G. Pearson zurück. Dem Prinzip von der Erhaltung der 0rbitalsymmetrie ist das „Prinzip von der Erhaltung der Spinsymmetrie" an die Seite zu stellen, wonach chemische Stoffumwandlungen nur dann glatt erfolgen, wenn sich während des Reaktionsablaufs der Gesamtspin der Reaktanden nicht ändert. Demzufolge führt die thermische Zersetzung des 0zonaddukts ( R 0 ) 3 P 0 3 (Singulett-Zustand) außer zu ( R 0 ) 3 P 0 (Singulett-Zustand) zu Sauerstoff im (angeregten) Singulett-Zustand (vgl. S.510).
3. Reaktionsmechanismen der Moleküle
403
Base-Reaktion beschreiben. Hierbei wirkt der eine Eduktpartner mit seinem energiereichsten e l e k t r o n e n b e s e t z t e n Molekülorbital ( , , H D M D " ) 3 9 der in R e a k t i o n t r e t e n d e n E l e k t r o n e n p a a r e als L e w i s - B a s e , der andere Eduktpartner mit seinem energieärmsten u n b e s e t z t e n Molekülorbital (,,LUMD")39 des in Reaktion tretenden Bindungssystems als L e w i s S ä u r e . An der synchronen HI-Bildung (31) sind etwa die Bindungselektronen von Wasserstoff und Iod beteiligt (nicht dagegen die nichtbindenden Elektronenpaare des Iods), sodass in diesem Falle die bindenden d- bzw. antibindenden o*-Molekülorbitale von Wasserstoff und Iod betrachtet werden müssen (übersichtlichkeitshalber sind in der nachfolgenden Darstellung der d- und ex*-MDs von H 2 und I 2 jene Gebiete, in denen die Phasen (Vorzeichen) der Drbitale (Wellenfunktionen) negativ sind, durch graue Tönung gekennzeichnet):
o- MO
N u E c b a + anhand von Änderungen des optischen Drehwerts verfolgbare Konfigurationsumkehr (Nu + X) bzw. Racemisierung (Nu = X) deutet infolgedessen umgekehrt auf einen Inversionsmechanismus (auf Walden'sche Umkehr)4 6 . Ist hierbei das Nucleophil N u radioaktiv, das Nucleofug X = N u nicht radioaktiv, dann verliert das Substrat seine optische Aktivität doppelt so rasch wie es radioaktiv wird Erfolgen andererseits SN2-Reaktionen stereospezifisch unter Retention (vgl. S.400), dann kommt den Produkten die gleiche Konfiguration wie den Edukten zu. Allerdings stellt ein Konfigurationserhalt bei SN2-Reaktionen kein ausreichendes Kriterium für das Vorliegen eines Rententionsmechanismus dar. Bildet sich nämlich das Substitutionsendprodukt aus einem optisch aktiven Edukt durch zwei hintereinander geschaltete assoziativ-aktivierte nucleophile Substitutionen auf dem Wege über ein Substitutionszwi schenprodukt, so bleibt die Substratkonfiguration insgesamt erhalten, falls beide Reaktionsschritte stereospezifisch unter Inversion des Substitutionszentrums ablaufen. Beispiele hierfür bieten etwa Substitutionen mit Nachbargruppenbetätigung (vgl. Lehrbücher der organischen Chemie) oder Substitutionen, die durch ein Hilfsnucleophil Y" katalysiert sind: R 3 EX + Y" + Nu~ -> R 3 EY + X~ + Nu~ -> R 3 ENu (S. 399). Dissoziativ-aktivierte nucleophile Substitutionen (S N 1-Reaktionen) erfolgen an tetraedrischen Zentren E von Substraten R 3 E X , wie besprochen (S. 401), mehr oder weniger stereounspezifisch unter Retention und Inversion der R 3 E - G r u p p e n , wobei der Inversionsanteil meist größer als der Retentionsanteil ist. Dementsprechend fallen die Substitutionsprodukte meist als Racemate mit überschüssigen Anteilen an Inversionsprodukten an, sofern optisch aktive Edukte abcEX eingesetzt wurden Im Grenzfall entstehen durch SN1-Reaktion stereospezifisch ausschließlich Inversionsprodukte. Bilden sich letztere - wie bei Vorliegen von Nachbargruppenbetätigung möglich - über zwei derartige SN1-Teilreaktionen, so erhält man stereospezifisch ausschließlich Retentionsprodukte. Die Beobachtung einer Racemisierung bei nucleophilen Substitutionen stellt übrigens kein hinreichendes Kriterium für einen SN1-Mechanismus dar, da racemische Produktgemische auch durch hintereinander geschaltete SN2-Reaktionen entstehen, falls optisch inaktive (spiegelsymmetrische) Zwischenprodukte durchlaufen werden.
Kapitel XI
Die Gruppe der Edelgase1
Unter der Bezeichnung „Edelgase" fasst m a n die in der 0. bzw. 18. Gruppe (0. bzw. VIII. Hauptgruppe) des Periodensystems enthaltenen 6 gasförmigen chemisch außerordentlich reaktionsträgen Elemente Helium (He), Neon (Ne), Argon (Ar), Krypton (Kr), Xenon (Xe) und Radon (Rn) zusammen 2 ' 3 . Bezüglich Eka-Radon (Eka-Rn; Element 118) vgl. S. 1977.
1
Die Elemente Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon und Radon
Vorkommen Die Luft weist nach unseren heutigen Kenntnissen folgende Mengen an Edelgasen auf (vgl. Tab. 58 auf S. 515). Helium Neon Argon Krypton Xenon Radon Vol.-% Gew.-%
0.0005240 0.0000724
0.001818 0.001267
0.9340 1.2880
0.000114 0.000330
0.0000087 0.000039
6x 10~ l s 4.6x10""
Ein größerer Hörsaal von beispielsweise 20 m Länge, 25 m Breite und 10 m Höhe (5000 m 3 ) enthält danach rund 23 Liter Helium, 80 Liter Neon, 47000 Liter Argon, 5 Liter Krypton, V2 Liter Xenon und einige zehnmilliardstel Liter Radon von Atmosphärendruck. Argon ist also keineswegs ein seltenes Element 1
2
3
Literatur. A . H . Cockett, K. C. Smith: „ T h e Monoatomic Gases: PhysicalProperties andProduction", Comprehensive Inorg. C h e m 1 (1973) 139-211; GMELIN: „Noble Gases", System-Nr 1, bisher 2 B ä n d e ULLMANN (5. Aufl.): „Noble Gases", A 1 7 (1991) 485-539. Vgl. Anm. 5 . Der Name ,,Edelgase" leitet sich in Anlehnung an die chemisch widerstandsfähigen ,,Edelmetalle" von ihrer Reaktionsträgheit ab. Im Französischen ist der N a m e ,,gaz rare" (seltenes Gas) gebräuchlicher als der N a m e ,,gaz noble" (edles Gas), im Englischen umgekehrt der N a m e ,,noble gas" gebräuchlicher als der N a m e ,,rare gas"; helios (griech.) = S o n n e neos (griech.) = n e u argos (griech.) = t r ä g e kryptos (griech.) = verborgen xenos (griech.) = f r e m d radius (griech.) = Strahl. Geschichtliches Der englische Privatgelehrte Henry Cavendish (1731-1810) ließ im Jahre 1785 durch ein über Seifenlauge ( N a O H ) abgesperrtes Gemisch von Luft und Sauerstoff elektrische Funken schlagen, wodurch sich - nach heutigen Kenntnissen - N O bildete, das von der Lauge absorbiert wird. Nach Konstantwerden des - während des Versuches abnehmenden - Gasvolumens und Entfernen des restlichen Sauerstoffs mit Hilfe eines Absorptionsmittels blieb schließlich eine winzige Gasblase zurück, welche (wie wir heute wissen) die - von Cavendish nicht als solche erkannten - Edelgase enthielt. Die eigentliche Entdeckung der Edelgase wird dem englischen Physiker Lord John Rayleigh (1842-1919) zuerkannt, dem 1894 auffiel, dass der aus Luft isolierte Stickstoff schwerer als der aus Verbindungen erhalteneist (1.2567 g/l gegenüber 1.2505 g/l beiO °C und 1 atm). Er schloss daraus, dass L u f t noch schwerere inerte Gase enthalte, die er dann zusammen mit dem englischen Physikochemiker William Ramsay (1852-1916) als Rohargon isolierte. 1895 gelang es W. Ramsay und (unabhängig) P. T. Cleve ein von W. F. Hillebrand 1890 beim Auflösen von Uranmineralien in Säuren freigesetztes inertes G a s ebenfalls als Edelgas zu identifizieren. Seine Spektrallinien stimmten mit - ca. 30 Jahre zuvor von dem Astronomen P. J.C. Janssen und (unabhängig) J.N. Lockyer entdeckten - Linien eines im Sonnenspektrum aufgefundenen und als Helium bezeichneten Stoffs überein. Durch fraktionierende Destillation des Rohargons nach dem 1895 von Carl von Linde in Deutschland erfundenen und in England von William Hampson 1896 nachvollzogene Verfahren der Luftverflüssigung gelang Ramsay 1898 die Gasauftrennung in N e o n Argon Krypton und Xenon. Später (1900) fanden der deutsche Forscher F.E. D o r n und die englischen Forscher E. Rutherford sowie F. Soddy das Radon als Produkt radioaktiver Zerfallsprozesse.
418
XII. Die Gruppe der Halogene
Im Weltall, das zu rund 9 Atom-% aus Helium besteht, ist Helium nach dem Wasserstoff (rund 90 Atom-%) das häufigste Element. Da das leichte Helium vom Gravitationsfeld der Erde nicht zurückgehalten wird, ging alles ursprünglich vorhandene Helium der Erde verloren. Die geringen, in der Atmosphäre vorzufindenden Mengen an 2 He entstammen wie die des Argons "g Ar radioaktiven Zerfallsreaktionen a - Z e r f a l l von Th, 2 3 5 , 2 H U im Falle von H e ß - Z e r f a l l von "fgK im Falle von Ar (s. dort). Demgemäß findet sich Helium außer in der Luft auch in zahlreichen Erdgasen. In Europa lohnt sich bisher die Heliumgewinnung aus solchen Gasen nicht, da die heliumreicheren Erdgasquellen zu wenig ergiebig, die ergiebigeren Erdgasquellen zu heliumarm (0.01 bis 0.1 % Helium) sind. Wohl aber finden sich in den Vereinigten Staaten von Amerika ergiebige Gasquellen mit 1 bis 8% Helium neben stark wechselnden Mengen von Stickstoff (12-80%), welche die Gewinnung von mehreren hunderttausend Kubikmetern Helium je Jahr ermöglichen. Auch in radioaktiven Mineralien (z.B. in uran- und thoriumhaltigen Sediment- und Eruptivgesteinen) findet sich das Helium als eines der Reaktionsprodukte des radioaktiven a-Zerfalls. Beim Pulvern, Erhitzen oder Auflösen dieser Mineralien in Säuren entweicht das eingeschlossene (,,okkludierte") Gas. Isotope (vgl. Anh. III). Natürlich in der Erdatmosphäre vorkommendes Helium besteht zu 99.99986 % aus dem Isotop 2 H e und zu 0.00014% aus dem Isotop 2 He. Neon setzt sich aus 3 Isotopen ( 2 g N e 2 0 N e , 2 2 N e im Verhältnis 90.48 : 0.27 : 9.25) zusammen, Argon ebenfalls aus 3 Isotopen (ig Ar, ig A r "g Ar im Verhältnis 0.34:0.06:99.60), K r y p t o n aus 6 Isotopen K r gg K r ig K r H Kr, ig g Kr, gg Kr im Xe 2 g X e , ^ X e , Verhältnis 0.3 : 2.3 : 11.6 : 11.5 : 57.0 : 17.3) und Xenon aus 9 Isotopen OifXe, 05gXe o,"Xe Xe o , " X e Xe im Verhältnis 0.1 : 0.1 : 1.9 : 26.4 : 4.1 : 21.2 : 26.9 : 10.4 : 8.9). Von R a d o n (Ordnungszahl 86) kennt man bis jetzt 32 Isotope mit Massenzahlen 199-226 (je zwei Kernisomere der Massenzahlen 199, 201, 203, 214; längstlebiges Isotop 2 2 2 R n , A-Strahler; T1/2 = 3.825d). Unter ihnen kommen 20g R n 2 2 g R n und 2^2 Rn in Spuren auch natürlich vor. Für den NMR-spektroskopischen Nachweis eignen sich die Nuklide g H e 2 0 N e g | K r T /o/ | 0 X e , für Indikatorzwecke 2 He und 222 Rn sowie die künstlich erzeugten Nuklide g 5 K r (ß"-Strahler 2 = 10.76 a), * 2 4 X e (Zerfall unter Elektroneneinfang; T1/2 = 36.4 d) und o | 2 X e (ß~-Strahler; T1/2 = 5.270 d). o | 2 X e und 222 Rn finden darüber hinaus Verwendung in der Medizin.
Gewinnung 1 Die t e c h n i s c h e Gewinnung von Helium erfolgt im Allgemeinen aus amerikanischen E r d g a s e n . Hierbei verfährt m a n in der Weise, dass m a n aus dem Rohgas zunächst durch Druckwaschung mit Wasser und Kalkmilch das Kohlendioxid entfernt. Das so vorgereinigte Gas wird dann durch stufenweises Komprimieren und Expandieren bis auf — 205 °C heruntergekühlt. Hierbei bleibt das Helium unkondensiert, und m a n erhält so ein über 99%iges Helium Die Erzeugung von Helium im L a b o r a t o r i u m kann durch Erhitzen heliumhaltiger Mineralien wie Cleveit UO 2 , Monazit (Ce,Th) (P0 4 ,Si0 4 ), Thorianit Th0 2 auf über 1000°C erfolgen. 1 kg Cleveit (Monazit, Thorianit) liefert dabei 7 - 8 (1-2, 8-10) Liter Helium. (Bezüglich der Trennung von 2 He und 2 He vgl. physikalische Eigenschaften.) Die Gewinnung von Neon, Argon, Krypton und Xenon erfolgt ausschließlich aus L u f t . Hierzu muss m a n die übrigen Luftbestandteile, also hauptsächlich Sauerstoff und Stickstoff, entfernen. Das kann auf c h e m i s c h e m oder auf p h y s i k a l i s c h e m Wege erfolgen. Der erste Weg wird bei der Darstellung im L a b o r a t o r i u m , der letztere bei der t e c h n i s c h e n Darstellung eingeschlagen Im L a b o r a t o r i u m erfolgt die Entfernung des Sauerstoffs gewöhnlich durch Überleiten der - von Kohlendioxid und Wasserdampf befreiten - Luft über glühendes Kupfer: 2 Cu + 0 2 -> 2 CuO; den Stickstoff bindet man zweckmäßig durch Erhitzen mit Magnesium oder Calcium: 3 Mg + N 2 -> Mg 3 N 2 . Will man Sauerstoff und Stickstoff durch das gleiche Reagens beseitigen, so kann man Calciumcarbid (CaC 2 ) verwenden, das bei hoher Temperatur mit Sauerstoff unter Bildung von Kalk (CaO) und Kohlenstoff (C): 2CaC 2 + 0 2 -> 2CaO + 4C, mit Stickstoff unter Bildung von ,,Kalkstickstoff", einem Gemisch von Calciumcyanamid (CaCN 2 ) und Kohlenstoff(C) reagiert: CaC 2 + N 2 -> CaCN 2 + C. Das auf einem dieser Wege erhaltene Edelgasgemisch wird als „Rohargon" bezeichnet, da es (vgl. Vorkommen) zu 99.8 Vol.-% aus Argon und nur zu 0.2% (d.h. zu 2 / 1 0 0 0 seines Volumens) aus den übrigen Edelgasen besteht
1. Die Elemente Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon und Radon
419
Die t e c h n i s c h e Gewinnung der Edelgase aus der Luft bedient sich der F r a k t i o n i e r u n g v e r f l ü s s i g t e r L u f t (S.500). Entsprechend den (abgerundeten) Siedepunkten der verschiedenen Bestandteile der Luft (genauere Siedepunktswerte s. unten):
He -269
Ne -246
N2 - 196
Ar - 186
02 - 183
Kr - 153
Xe - 108°C
kann m a n bei der Rektifikation der flüssigen Luft einen helium- und neonhaltigen Stickstoff, einen argonhaltigen Stickstoff bzw. Sauerstoff und einen krypton- und xenonhaltigen Sauerstoff abtrennen, die als Ausgangsmaterial für die Reingewinnung der einzelnen Edelgase (Kombination von physikalischen und chemischen Trennmethoden) dienen können. Die dabei neben dem Hauptprodukt (Helium, Neon, Argon) erhältlichen Mengen an K r y p t o n und Xenon (einige hundertm 3 pro Jahr) reichenallerdings für die Bedürfnisseder Glühlampenindustrie (S. 420) nicht aus. Zur Gewinnung größerer Mengen Krypton und Xenon bedient man sich daher zweckmäßig eines von Georges Claude beschriebenen Verfahrens, bei dem die beiden Edelgase als H a u p t p r o d u k t gewonnen werden. Es beruht darauf, dass man nicht die Gesamtmenge der Luft, sondern nur etwa Vio davon verflüssigt und mit dieser Flüssigkeit aus den übrigen 9 j w der bis nahezu an den Taupunkt abgekühlten Luft die schweren Edelgase und einen kleinen Teil des Sauerstoffs auswäscht. Die so erhaltene Lösung von Krypton und Xenon in flüssiger Luft wird dann wie vorher rektifiziert und gereinigt. Zur Gewinnung des schwersten Edelgases, des Radons, lässt m a n eine Radiumsalzlösung etwa 4 Wochen lang in einem verschlossenen Gefäß stehen, worauf sich das dabei gebildete gasförmige R a d o n (vgl. natürliche Radioaktivität) nach Befreiung von dem durch Radiolyse des Wassers gebildeten und aus der Lösung auskochen oder im Vakuum abpumpen lässt
Physikalische Eigenschaften 1 Die Edelgase sind farb-, geschmack- und geruchlose, mit abnehmender Atommasse schwerer zu verflüssigende und zu verfestigende, einatomige Gase, deren wichtigste physikalische Eigenschaften in Tafel III zusammengefasst sind. Mit Ausnahme des Heliums (hexagonal dichteste Kugelpackung) kristallisieren sie alle mit kubisch dichtester Atompackung. Ihre Elektronenkonfigurationen, die von den im Periodensystem vorangehenden und nachfolgenden Elementen erstrebt werden, entsprechen den folgenden Anordnungen 2 He l 0 Ne
2 2, 8
l s Ar i Kr > Xe > Rn) sowie mit zunehmender E/X-Assoziationsenergie (also in Richtung Br < Cl < F für die wiedergegebenen Edelgase) zu erwarten. Hiernach sollten Edelgashalogenide E X thermodynamisch umso stabiler sein, je höher die Ordnungszahl des Edelgasesund je kleiner die Ordnungszahl (jegrößer die Elektronegativität) des Halogens ist. Demgemäß stellt etwa ArF2 eine thermodynamisch sehr instabile, bisher unbekannte Verbindung, KrF 2 eine schwach endotherme, unterhalb Raumtemperatur zersetzliche und XeF2 wie RnF 2 eine stabile exotherme Verbindung dar. Andererseits nimmt die thermodynamische Stabilität von XeX2 in Richtung XeF2 §> XeCl2 > XeBr2 bzw. XeF2 > Xe(OR)2 > Xe(NR 2 ) 2 > Xe(CR3)2 ab (Elektronegativitäten von F/Cl/Br/O/N/C gleich 4.5/2.8/2.7/3.5/3.1/2.5). Tatsächlich sind XeCl2 und XeBr2 sowohl thermodynamisch wie kinetisch instabil; auch lassen sich XeX2-Verbindungen nur mit elektronegativen OR-, N R - sowie CR-Gruppen wie OTeF5, N(SO 2 F) 2 , C 6 F 5 isolieren (S.428). Auch mit steigender Oxidationsstufeeines Edelgases nimmt die thermodynamische Stabilität eines Edelgashalogenides EX„ (n = gerade) bezüglich der jeweils um zwei Halogenatome ärmeren Verbindung EX„_2 ab. So betragen etwa im Falle der exothermen Umsetzungen Xe + F2 -> XeF2, XeF2 + F2 -> XeF4, XeF4 + F2 -> XeF6 die Reaktionsenthalpien - 164, - 114 bzw. nur - 83 kJ/mol. Die Bildung des bisher unbekannten Xenonoctafluorids gemäß XeF6 + F2 -> XeFs soll nach Berechnungen bereits endotherm sein. Analoges gilt für die Bildung des (ebenfalls unbekannten) Kryptontetrafluorids bzw. des (sehr instabilen) Xenontetrachlorids aus den entsprechenden Dihalogeniden. Die Stabilitätsabnahme der Edelgashalogenide in Richtung E X , EX 4 , EX 6 , EXS ist wohl die Folge einer starken Zunahme der im Zuge der Verbindungsbildung aus den Elementen aufzuwendenden Promotionsenergie von E sowie einer Abnahme der E/X-Assoziationsenergie mit wachsender Oxidationsstufe der Edelgase
5
Literatur N. Bartlett, F.O. Sladky: „ The Chemistry of Krypton, Xenon, and Radon", Comprehensive Inorg. Chem. 1 (1973) 213-330; K. Seppelt, D. Lentz: ,,NovelDevelopments in Noble Gas Chemistry", Progr. Inorg. C h e m 29 (1982) 167-202; L. Stein: „ The Chemistry of Radon", Radiochem. Acta 32 (1983) 139-152; H. Selig, J.H. Holloway: „Cationic and Anionic Complexes of the Noble Gases", Topics Curr. C h e m 124 (1984) 33-90; A.J.Edwards: ,,Halogenium Species and Noble Gases", Comprehensive Coord. C h e m 3 (1987) 311-322; J.H. Holloway, E . G . H o p e : ,,Recent Advances in Noble Gase Chemistry", Adv. Inorg. C h e m 46 (1999) 51-100; M.Petterson, J.Kendell, M. Räsänen: ,,New Rare-Gase Containing NeutralMolecules", Eur. J. Inorg. Chem. (1999) 729-737; K.O. Christe:,,Die Renaissance der Edelgaschemie", Angew. Chemie 113 (2001) 1465-1467; Int. E d 40 (2001) 1419; D.C.Grills, W.M.George: ,,Transition Metal Noble Gas Complexes", Adv. Inorg. Chem. 52 (2001) 113-150; J.F.Lehmann, H.P.A.Mercier, G.J. Schrobliger: „ The chemistry of Krypton", Coord. Chem. R e v 233/234 (2002) 1-40. Geschichtliches Die erste Edelgasverbindung erhielt der amerikanische Chemiker N. Bartlett im Juni 1962 durch U m setzung von Xe mit PtF 6 (angeregt durch die Beobachtung, dass 0 2 mit PtF 6 zu O 2 PtF^ reagierte und dass 0 2 sowie Xe vergleichbare Ionisierungsenergien -12.072/12.130 eV - besitzen). Wie sich herausstellte, weist die - zunächst als ,,XePtF 6 " formulierte - Xe-Verbindung keine konstante Zusammensetzung auf und enthält auch kein einwertiges Xenon, sondern stellt eine Mischung aus Xe(II)-Verbindungen dar (u. a. X e F + P t F ^ , XeF + P t 2 F i 1 ; Xe 2 F 3 + PtF^). Im Juli 1962 gelang dann dem deutschen Chemiker Rudolf Hoppe mit XeF 2 die Gewinnung einer binären Edelgasverbindung. Ihr folgte zwei Monate darauf die Darstellung von XeF 4 durch die amerikanischen Forscher H . H . Claassen, H. Selig und G. Malm. Im Jahre 1963 wurde dann von verschiedenen Arbeitsgruppen über die Entdeckung von XeF 6 sowie von D.F. Smith über die Präparation von X e 0 3 berichtet.
422
XII. Die Gruppe der Halogene
Edelgase in Verbindungen Entsprechend der Stellung der Edelgase in der 0. und VIII. Hauptgruppe des Periodensystems vermögen die Elemente in den Oxidationsstufen 0, 2, 4, 6 und 8 aufzutreten (die Stufen 4, 6, 8 sind bisher nur bei Xe gesichert). Sie betätigen hierbei - bei Zählung nur der nächsten Nachbarn - die Koordinationszahlen eins (z.B. XeF + ), zwei (z.B. lineares XeF2), drei (z.B. pyramidales XeO3, T-förmiges XeOF2), vier (z.B. tetraedrisches Xe0 4 , quadratisch-planares XeF4, wippenförmiges Xe0 2 F 2 ), fünf (z. B. trigonal-bipyramidales XeO2F2, quadratisch-pyramidales XeOF4, pentagonal-planares XeF5), sechs (z.B. oktaedrisches XeOg", verzerrt-oktaedrisches XeF6, pentagonal-pyramidales XeOF^), sieben (z.B. überkappt-trigonalprismatisches XeF f ) und acht (z.B. quadratisch-antiprismatisches XeF2").
2
Die Verbindungen der Edelgase5
Eingehender untersucht wurden bisher die Edelgasfluoride sowie -oxide und -fluoridoxide. Sie werden nachfolgend zusammen mit anderen Edelgasverbindungen E X (X z. B. Cl, Br, OR, N R 2 , C R 3 ) besprochen.
2.1
Edelgashalogenide
Überblick. Bisher kennt m a n die Fluoride KrF2, XeF 2 , XeF4, XeF 6 sowie RnF 2 und hat Hinweise auf die Existenz der Halogenide R n F 4 , RnF ö , X e Q 2 , XeCl 4 und XeBr 2 (vgl. Tab. 50).
Tab.50
Halogen- und Sauerstoffverbindungen der Edelgase (AH{ in kJ/mol).
OxidStufe
Halogenverbindungen Fluoride
+2
ArF2 KrF2 Nicht existent Farblos + ArF (?) Zers AHf +60 kJ Xe2 RnF2 Farblos Bisher keine Smp. 129°C Kenndaten AH{ - 1 6 4 kJa)
XeCl2 Instabil XeCl + isoliert XeBr2 Instabil
XeO Instabil
_
+4
XeF4 Rn Farblos Existenz Smp. 117°C wahrscheinl AHt - 2 8 4 kJa)
XeCl4 Instabil
Xe Instabil
XeOF2 Gelb, Zers. > —25°C positiv
+6
XeF6 Rn Farblos Existenz Smp. 49.4°C wahrscheinl a) AHt - 3 6 kJ
—
Xe0 3 f) /Rn0 3 c) Farblos/keine Daten
Xe Farblos Smp. 30.8 °C positiv
XeOF4 Farblos Smp. —46.2°C AHt —96 kJ
+8
_ XeFs Nicht existent Xe (?)
Xe Farblos Smp — 39.5°C
Xe Farblos Smp — 54.1 °C
Xe0 2 F 4 /Xe0F 6 Im MS /Exist. fragl
Halogenide
_
Sauerstoffverbindungen (vgl. auch S. 428) Oxide Oxidfluoride
a) XeF-Bindungsenergien [kJ/mol]: 133 (XeF 2 , XeF 4 ), 128 (XeF 6 ), 85 (XeF 8 , geschätzt), 49 ( X e O J , - b ) XeCl 2 , XeCl 4 , XeBr 2 wurden als instabile Produkte des ß-Zerfalls von 125>IC12 , 12 5 IC1 4 , i2 5 IBr 2 Mössbauer-spektroskopisch nachgewiesen. Bzgl. XeCl 2 vgl. Text. Man kennt auch XeClF. - c) Die Fluorierung von Radon (möglich auch mit schwachen Fluorierungsmitteln) führt über R n F 2 hinaus zu höheren Radonfluoriden (RnF 4 , R n F 6 ?), deren Hydrolyse Radontrioxid RnO^ ergibt, wie nachgewiesen wurde. - d) In flüssigem und gasförmigem Zustand (Sdp. 75.4°C) gelbgrün. - e) Im Festzustand gelb.- f) Explosiv, AH, = + 4 0 2 kJ/mol (XeO 3 ), + 6 4 3 kJ/mol (Xe0 4 ) a ) .
2. Die Verbindungen der Edelgase
423
Die Fluoride des Xenons und Radons stellen e x o t h e r m e , die übrigen Halogenide e n d o t h e r m e Verbindungen dar. Alle bekannten E d e l g a s f l u o r i d e sind a u s d e n E l e m e n t e n zugänglich. Allerdings ist eine vorherige A k t i v i e r u n g des Fluors, das mit den Edelgasen nicht in molekularer, sondern nur in atomarer F o r m zu reagieren vermag, erforderlich. Diese Aktivierung gelingt verhältnismäßig leicht, da Fluor bereits durch eine relativ geringe Energiezufuhr von 158 kJ/mol in die Atome zerlegt wird, während z. B. Chlor eine wesentlich höhere Dissoziationsenergie von 244 kJ/mol benötigt (vgl. Tab. 13, S. 111). Die Energie k a n n in F o r m von t h e r m i s c h e r (Erhitzung), p h o t o c h e m i s c h e r (UV-Bestrahlung, Mikrowellen), e l e k t r i s c h e r (Funkenentladung), c h e m i s c h e r (fluorabgebende Substanzen) oder S t r a h l u n g s E n e r g i e ( y- oder Elektronenstrahlung) zugeführt werden. Xenon(II)-fluorid XeF2 entsteht z. B. in exothermer Reaktion mit hoher Ausbeute beim Durchleiten einer Mischung von Xenon und Fluor (Molverhältnis Xe: F2 = > 2 : 1 ; 2 bar Druck) durch ein auf 400 °C erhitztes Nickelrohr Xe + F2
XeF2 © + 164 kJ
bzw.
X e + F 2 - > X e F 2 (g) + 108 kJ
(Ausfrieren des gebildeten XeF2 bei — 50 °C) sowie beim Stehenlassen eines Xe/F2-Gemisches im Sonnenlicht oder durch Mikrowellen-Entladung in einer Xe/F2-Mischung. XeF2 stellt eine feste farblose u.a. in H 2 0 , HF (flüssig), BrF5, Acetonitril lösliche Verbindung von charakteristischem, durchdringendem Geruch dar, die gleich allen Xenonfluoriden in Nickel- oder Monelmetall-Gefäßen bei Ausschluss von Feuchtigkeit unbegrenzt aufbewahrt werden kann und leicht unter Bildung großer, durchsichtiger, prächtig glänzender tetragonaler Kristalle sublimierbar ist (vgl. Tab. 50). In Wasser bzw. verdünnten Säuren löst sich XeF2 molekular und hydrolysiert langsam (Halbwertszeit in wässriger HF 7 h bei 0 °C) unter Bildung von Xe, 0 2 sowie H 2 0 2 . Das mit IF 2 isoelektronische Molekül XeF2 ist wie alle Xe(II)-Verbindungen (XeHal2, Xe(0R) 2 , Xe(NR 2 ) 2 , Xe(CR 3 ) 2 ) linear aufgebaut (D„h-Symmetrie des Atomtripels X—Xe—X mit X = Hal, O, N, C). Die XeF2-Struktur folgt sowohl aus dem VSEPR-Modell (S.313) als auch aus einem WalshDiagramm (22 Valenzelektronen, S. 357); dem „hypervalenten" Halogenid F—Xe—F liegt eine Dreizentren-Vierelektronen-Bindung (3z4e) zugrunde. Der Atomabstand XeF beträgt im Gas 1.977 Ä, im Kristall (Molekülgitter) 2.00 Ä; die Kraftkonstante der XeF-Bindung entspricht mit 2.82 N/cm der der CBr-Bindung im Methylbromid CH3Br (2.8 N/cm). Redox-Verhalten. Charakteristisch für XeF2 ist dessen starke Oxidationswirkung: XeF2 (aq) + 2 H + + 2 Q
Xe + 2HF(aq);
e0 = + 2.32 V .
So führt XeF2 in angesäuerter wässriger Lösung Cl" in Q 2 , I 0 3 in I O 4 , Br0 3 in B r 0 4 , Co2 + in Co3 + , Ce3+ in Ce4 + , Ag + in Ag2 + über (Perbromat wurde auf diese Weise erstmals erhalten). Ammoniak reduziert XeF2 bei Raumtemperatur (3XeF2 + 2NH 3 -> 3Xe + N 2 + 6HF), Wasserstoff bei 400 °C (XeF2 + H 2 -> Xe + 2HF). Letztere Reaktion kann zur Analyse der Verbindung herangezogen werden. Mit der Oxidation einer Verbindung ist vielfach eine Fluorierung verbunden. So entstehen etwa aus Stickoxiden Fluoride: XeF2 + 2 N 0 2 -> Xe + 2FNO 2 , aus Kohlenwasserstoffen fluorierte C-Verbindungen. Bezüglich der besonders starken Oxidationskraft von XeF2 in Supersäuren (HF/SbF5) vgl. Nachstehendes. Gegenüber Fluor wirkt XeF2 als Reduktionsmittel (Bildung von XeF4, Xe ). Säure-Base-Verhalten. Eine weitere charakteristische Eigenschaft von XeF2 ist dessen Wirkung als Fluoridionen-Donator gegenüber Lewis-sauren Metallfluoriden M F (z.B. MF 5 mit M = As, Sb, Bi, V, Nb, Ta, Ru, Rh, Os, Ir, Pd, Pt; MF 4 mit M = Zr, Hf, Cr, Mn; MF 3 mit M = Al, Ga, Fe, Co): XeF2 + MF„ ^
[XeF]+[MF„+ 1 ]".
Die kristallinen, reaktiven und leicht hydrolysierbaren Komplexe, in welchen XeF + stärker oxidierend wirkt als XeF2 und z.B. H O in H 2 OF + überführt, bilden sich am besten im Lösungsmittel BrF5. Verwendet man überschüssiges Metallpentafluorid, so erhält man auch [XeF]+ [MJFJJ] - , setzt man überschüssiges XeF2 ein, so bildet sich [Xe 2 F 3 ] + [MF„ + j ] " . Die zwischenzeitliche Existenz von XeF + spielt möglicherweise auch eine Rolle bei der Substitution von Fluorid durch andere Anionen (vgl. Bildung von Xe(OAc)2, Xe[N(SO 2 F) 2 ] 2 , Xe(C6F5)2). In Anwesenheit schwächerer Fluorid-Akzeptoren kommt es zu keiner vollständigen F"-Abstraktion, sondern zur Bildung von Komplexen, z.B.: Ca 2 + [AsFg] 2 + 4XeF 2 -> Ca(FXeF) 4 + [AsF^] 2 . Weniger ausgeprägt ist demgegenüber die Fluoridionen-Akzeptorwirkung von Xe (keine Bildung von Xe ).
424
XII. Die Gruppe der Halogene
Das mit IF isoelektrische :Xe-F: + -Kation besitzt Allelektronenoktettstruktur und ist daher stabil (mit der Abdissoziation des Fluorids steigt die Xe-F-Bindungsenergie von 133 kJ/mol in XeF2 auf 205 kJ/mol in Xe ). Allerdings bildet das Kation Xe als starke Lewis-Säure Bindungskontakte zum jeweiligen Anion X~ (lineare Anordnung X~---Xe-F + ) und addiert z.B. auch Nitrile wie HCN oder CF 3 CN (lineare Anordnung RCN X ). Das X -Kation ist aus zwei linearen Xe -Einheiten mit ge meinsamem F aufgebaut (Winkel am Brücken-F: 151°; Abstände Xe-F exo , Xe-F Brücke = 1.90, 2.14 A). In HF/SbF 5 (,,Supersäure") lagert sich das Proton nicht an das Xe-, sondern an das F-Atom von XeF2 an (vgl. die analogen Verhältnisse im Falle der Reaktion von XeF2 mit Lewis-Säuren, weiter unten). Dies lehrt die Bildung des farblosen Salzes [F—Xe---F-H] + F S b 2 F ^ (Abstände—Xe/Xe--FH/ F-H---FSb 2 F l g = 1.938/2.359/2.534 Ä). Möglicherweise erfolgt in HF/SbF 5 auch eine doppelte Protonierung von XeF2 unter Bildung des solvatisierten Xe2 + -Ions Xe(FH)2 + , welches dann als extrem starkes Oxidationsmittel wirkt (s. oben). Ähnlich wie das Proton vermögen sich auch ,,nackte" Metallionen an das F-Atom von XeF2 zu addieren, wie Reaktionen von XeF2 mit Metallhexafluoroarsenaten in wasserfreiem flüssigem Fluorwasserstoff lehren. M2 + (AsF6~)2 + mXeF2 -> M(XeF2)2+ (AsF6")2 ( M 2 ^ 2Ag + , Pb2 + , Mg2 + , Ca2 + , Sr2 + , Ba2 + , 2 / 3 Lni+ m = 2-6; in HF liegt M2+ zunächst in Form von M(HF)2 + vor). In den Salzen ist M2 + antikubisch oder dreifach-überkappt trigonal-prismatisch sowohl mit Fluoroliganden von Xe als auch von As koordiniert Xenon(IV)-fluorid XeF4 bildet sich z.B. bei mehrstündigem Erhitzen von Xenon mit überschüssigem Fluor (Molverhältnis Xe: F2 = 1:5; 6 bar Druck) auf 400 °C in einem geschlossenen Nickelgefäß mit fast quantitativer Ausbeute Xe + 2F 2
XeF4 © + 278 kJ
bzw.
Xe + 2F 2
XeF4 (g) + 216 kJ.
Auch aus XeF2 kann XeF4 durch weitere Einwirkung von Fluor gewonnen werden. XeF4 bildet farblose, monokline, durchsichtige, bei Abwesenheit von Feuchtigkeit beständige Kristalle (vgl. Tab. 50). XeF4 ist wie XeF2 und XeF6 in wasserfreier Flusssäure löslich, wenn auch wesentlich weniger als diese; die Lösungen leiten wie die Xe -Lösungen und im Gegensatz zu den Xe -Lösungen nicht den elektrischen Strom. Mit Wasser, verdünnter Säure oder Laugen erfolgt Hydrolyse unter Bildung - letztendlich - von Xe und 0 2 bzw. Disproportionierung unter Bildung von Xe und Xe0 3 . Sowohl im Kristallverband (Molekülgitter) als auch im Gas ist das mit IF 4 isoelektronische Molekül XeF4 quadratisch-eben aufgebaut (D4h-Symmetrie; vgl. VSEPR-Modell, S. 313) mit einem XeF-Abstand von 1.94 Ä (Gas) bzw. 1.953 Ä (Kristall). Die Kraftkonstante der XeF-Bindung beträgt 3.02 N/cm2/>. Redox-Verhalten. XeF4 wirkt stärker oxidierend und fluorierend als XeF2. So greift es metallisches Platin unter Bildung von PtF 4 und metallisches Quecksilber unter Bildung von Hg 2 F 2 und gleichzeitiger Entwicklung von Xe an und reagiert heftig mit organischen Ethern wie Tetrahydrofuran oder Dioxan. Die Reduktion von Xe durch gemä Xe
2H
X
4H
erfolgt ab 70 °C mit merklicher Reaktionsgeschwindigkeit und läuft bei 130 °C in Kürze quantitativ ab (zum analytischen Nachweis von XeF4). Mit weiterem Xe reagiert XeF4 bei 400 °C unter Bildung von XeF2. Gegenüber Fluor wirkt XeF4 als Reduktionsmittel und geht bei 300°C in XeF6 über. Säure-Base-Verhalten. Unter den drei Xenonfluoriden XeF2, XeF4 und XeF6 ist Xenontetrafluorid der schwächste Fluoridionen-Donator. Das hängt damit zusammen, dass Xenon im Kation XeF3 5 Elektronenpaare (ungünstig) statt wie im Falle von XeF + oder XeF 5 4 oder 6 Elektronenpaare (günstig) aufweist. Demzufolge reagiert XeF4 nur mit den besonders stark Lewis-sauren Metallfluoriden SbF5 und BiF5 unter Bildung der Addukte [ X e F 3 ^ [ M ^ ^ ] " mit dem T-förmig gebauten XeF3 -Kation (vgl. isoelektronisches I F sowie VSEPR-Modell, S. 313; C2v-Symmetrie). Als Fluoridionen-Akzeptor ist XeF4 stärker als XeF2 (bisher kein XeF3~), aber schwächer als XeF6 (XeF 7 und XeF 2 " sehr stabil) und liefert mit NR 4 F~, M + F~ (M = Na bis Cs) und NOF das Ion XeF5 (pentagonal-planarer Bau, D 5h Symmetrie). Kationen XeF 3 oder D onoraddukte von XeF4 sind wohl Zwischenprodukte der nucleophilen Substitution des Xe-gebundenen Fluorids (z.B. Bildung von Xe(OTeF5)4). Xenon(VI)-fluorid XeF6 bildet sich aus Xenon und überschüssigem Fluor (Molverhältnis Xe : F2 = 1: 20) bei 300 °C und 60 bar in Druckgefäßen aus Nickel mit mehr als 90 %iger Ausbeute: Xe + 3 F 2 ^ X e F 6 © + 361 kJ
bzw.
X e + 3 F 2 ^ X e F 6 ( g ) + 291 kJ.
Bei 700 °C und 200 bar Druck ist die Ausbeute praktisch quantitativ. Experimentell einfacher ist die Fluorierung in Anwesenheit von NaF, die bei 50 °C in 1 d zu Na 2 XeF 8 führt, das thermisch zu NaF und XeF6 zersetzt werden kann (s. u.). XeF6 bildet farblose, extrem leicht hydrolysierende, zu einer gelbgrünen Flüssigkeit schmelzende Kristalle (vgl. Tab. 50), die wegen ihrer Reaktivität gegenüber Si0 2 (Bildung
2. Die Verbindungen der Edelgase
425
von explosivem Xe0 3 gemäß 2XeF 6 + 3Si0 2 2Xe0 3 + 3SiF4) nicht in Glasapparaturen gehandhabt werden können. In flüssigem HF ist XeF6 bemerkenswert gut löslich (oberhalb 30 °C 1 mol XeF 6 in rund 2 mol HF); die gelben Lösungen leiten beträchtlich den elektrischen Strom (Bildung von XeF5 HF 2 ?)• Das gasförmige XeF 6 -Molekül (isoster mit IFg ) ist überkappt-oktaedrisch aufgebaut (Elektronenpaar = Kappe; C3v-Symmetrie; vgl. VSEPR-Modell, S. 313) und fluktuierend (S. 782). Der XeF-Abstand beträgt 1.890 Ä, die Kraftkonstante 2.8 N/cm. Die festen Kristalle enthalten XeF 5 -Einheiten (quadratischpyramidale Fluoridorientierung), die über -Brücken zu tetrameren und hexameren Ringen verknüpft sind. Gelöst in nicht-ionisierenden Medien (F5S—O—SF5) liegt XeF6 bei tiefen Temperaturen tetramer in Form von (XeF 6 ) 4 vor. Wieder sind hierbei XeF5 -Einheiten über F~ verbrückt; end- und brückenständige Fluoratome vertauschen rasch ihre Plätze (vgl. „nicht starre" Moleküle). In flüssigem XeF6 existieren Monomere und Tetramere nebeneinander. Die Leitfähigkeit der Schmelze (1.45 x 10" 6 ß " i cm"i) deutet auf Eigendissoziation (Bildung von XeF5+, X e ^ ^ , XeF7", Xe2F]~3, s.u.). Redox-Verhalten. Unter den Xenonfluoriden ist die oxidierende und f l u o r i e r e n d e Wirkung von XeF6 am stärksten. So führt XeF6 etwa metallisches Quecksilber in HgF 2 (zur Analyse von XeF 6 ) oder AuF 3 in eine Goldverbindung mit der Oxidationsstufe + 5 des Goldes über. Mit Wasserstoff tritt beim Erwärmen quantitative Reduktion zu Xenon ein XeF6 + 3H 2
Xe+6HF.
Eine Fluorierung von XeF6 zu XeF s oder XeF7+ (wohl antikubischer bzw. pentagonal-bipyramidaler Bau) ist bisher nicht gelungen. Säure-Base-Verhalten. XeF6 vermag als Fluorid-Donator (stärker als XeF 2 ) sowie Fluorid-Akzeptor zu wirken. So bilden sich mit Metallfluoriden 5 , SbF5, PtF 4 , AuF 5 , BF3 usw.; vgl. XeF 2 ) gemäß XeF6 + MF„ ^
[XeF5]^MF„+1]"
im Lösungsmittel BrF5 kristalline Komplexe mit dem XeF 5 -Kation. Verwendet man überschüssiges MF 5 , so erhält man auch [ X e F 5 s e t z t man überschüssiges XeF6 ein, so bildet sich [ X e 2 F n ] + [ M F ] " . Mit Alkalifluoriden MF bildet XeF6 als Akzeptor Fluoroxenate(VI) des Typus MXeF 7 und M 2 XeF s . Farbloses Rb 2 XeF s und Cs 2 XeF s können bis 400 °C nicht zersetzt werden und sind damit die beständigsten aller bisher dargestellten Xenonverbindungen. Im Falle von KF und NaF sind - wie nach der Zersetzlichkeit von gelbem CsXeF7 (> 50 °C) und farblosem RbXeF 7 (> 20 °C) zu erwarten ist bei Zimmertemperatur nur die Verbindungstypen Xe und N Xe erhältlich Na 2 XeF s zersetzt sich bereits bei 120 °C in die Ausgangskomponenten 2NaF + XeF6, was zur Reinigung von XeF6 herangezogen werden kann, da XeF2 und XeF 4 bei Raumtemperatur nicht mit Alkalifluoriden reagieren. Mit LiF scheint XeF6 nicht zu reagieren. Aus XeF6 und NOF bildet sich (NO + ) 2 [XeF 8 ]2", aus XeF6 und N O F das Salz N ^ X ^ " bzw. N 0 2 X e ^ ^ . Kationen oder Donoraddukte von XeF6 sind wohl Zwischenprodukte der nucleophilen Substitution von Xe-gebundenen F-Atomen (z. B. Bildung von Xe (OSO F), Xe(OT ). Das XeF2"-Ion bildet ein kubisches Antiprisma (D4d-Symmetrie), das XeF7 -Ion ein überkapptes trigonales Prisma («< C2v-Symmetrie). Das weiter oben erwähnte, mit IF 5 isostere XeF 5-Kation ist quadratisch-pyramidal strukturiert (C4v-Symmetrie; vgl. VSEPR-Modell, S. 313). Im X e ^ ^ - I o n sind XeF7~Ionen (überkappt trigonal-prismatisch; C2v-Symmetrie) und XeF6 (verzerrt oktaedrisch mit dem freien Elektronenpaar über einer Kante; C2v-Symmetrie) lose miteinander verknüpft. Die Xe 2 F ^-Kationen sind gemäß [F 5 Xe—F—XeF 5 ]+ aufgebaut (gewinkelte XeFXe-Gruppe). Krypton(II)-fluorid KrF2 ist bisher die einzige binäre Verbindung des Kryptons. Sie lässt sich u.a. durch Einwirkung elektrischer Entladungen (Cu-Elektroden, 15 mA, 3000-4000 V) auf ein Gemisch von Kr und F2 bei — 183 °C und 20 mbar darstellen: 60 kJ + Kr + F2
KrF 2 (g).
Alle Versuche, Krypton weiter zu fluorieren, scheiterten bisher. KrF 2 bildetfarblose, tetragonale Kristalle, die bereits unterhalb von 0 °C (30 mbar) schnell sublimieren, sich bei Raumtemperatur spontan zersetzen, aber bei — 78 °C längere Zeit unzersetzt aufbewahrt werden können. Das KrF 2 -Molekül ist linear aufgebaut (KrF-Abstand 1.889 Ä im Gaszustand), die Kraftkonstante der KrF-Bindung ist mit 2.46 N/cm nicht wesentlich kleiner als die von XeF2 (2.82 N/cm). KrF 2 stellt ein sehr starkes O x i d a t i o n s m i t t e l dar und führt etwa ClF3 in ClF5, I 2 in IF 7 , Xe in XeF6, AgF in AgF2, Hg in HgF 2 über. Analog XeF2 wirkt auch KrF 2 als Fluoridionen-Donator und bildet mit starken Fluoridionen-Akzeptoren wie SbF5, AsF5, PtF 5 , TaF5 oder NbF 5 Salze [KrF] + [ M F ] " [KrF]+ [M-zFn]" bzw. [Kr 2 F 3 ] + [ M F ] " . Am stabilsten sind erwartungsgemäß die SW 5 -Komplexe, die sich erst oberhalb Raumtemperatur zersetzen. Das Kation K r F + ist das stärkste bisher bekannte Oxidationsmittel und oxidiert u.a. IF 5 zu IFg , BrF5 zu BrFg , NF 3 zu NF4+, Au zu
426
XII. Die Gruppe der Halogene
AuF5 (im Falle von XeOF4 wird F + nicht auf Xe, sondern auf O übertragen). Es koordiniert als LewisSäure z. B. HCN (Bildung von [HCN->Kr-F] + mit linearer NKrF-Gruppierung). Im Gegensatz zu Xe 2 F 3 ist Kr 2 F 3 unsymmetrisch gebaut (Addukt von KrF + an KrF 2 ). Von Wasser, verdünnter Lauge bzw. Säure wird KrF 2 augenblicklich und vollständig gemäß KrF 2 + H 2 0 -> Kr + 2HF + \ 0 2 zersetzt. Radon(II)-fluorid RnF2 entsteht durch Fluorierung von Radon bereits mit schwachen Fluorierungsmitteln wie ClF3, BrF3, BrF5, ClF + SW6", BrF + SW6", BrF + Sb 2 Fn. Rn ist unter den Edelgasen das elektropositivste Element und zeigt demgemäß in seiner zweiwertigen Stufe bereits einen gewissen Metallcharakter. Dies dokumentiert sich darin, dass Rn in RnF 2 2 von einem Kationenaustauscher M'R (R = Anion des Austauscherharzes, vgl. S. 527) im Sinne von Rn + 2F~ + 2M'R -> RnR 2 + 2 M F zurückgehalten wird (Medium C2C13F3) und mit BrF2+ BrF4~ in SO2C12 eluierbar ist. Offensichtlich existieren auch höhere Radonfluoride RnF4 und RnF6 (Hydrolyse zu RnO 3). Eingehende Studien der Reaktivität werden 2 jedoch dadurch sehr erschwert, dass alle Rn-Isotope kurzlebig sind (am langlebigsten g g R n mit T1/2 = 3.825 d). Xenon(II)-chlorid XeCl2 lässt sich als Komponente eines Tieftemperaturkondensats (gewonnen durch Abschrecken eines Xe/Cl2-Entladungsgemischs) schwingungsspektroskopisch nachweisen. Das mit IC1 isoelektronische XeCl+-Kation (XeCl-Abstand 2.309 Ä), das stabiler als XeCl2 ist (vgl. XeF2 und XeF + ), bildet sich in Form des orangefarbenen Salzes XeCl + S b ^ n im Zuge der Umsetzung von gelbem Xe S n in HF/SbF 5 -Lösung bei — 30 °C in Anwesenheit kleiner Mengen SbCl5. Das Salz zerfällt bei Raumtemperatur gemäß 2XeCl + Sb 2 F^ -> Xe + C\2 + XeF + Sb 2 F^ + 2SbF5.
2.2
Edelgasoxide und -fluoridoxide
Überblick. M a n kennt bisher von den Edelgasen nur Oxide der Formel X e 0 3 und X e 0 4 (offensichtlich existiert auch RnO 3 ) sowie hiervon abgeleitete Oxidfluoride der Formel X e 0 2 F 2 , XeOF 4 , X e 0 3 F 2 und X e 0 2 F 4 (vgl. Tab. 50, S.422). Die niederen Oxide XeO und X e 0 2 sowie Kryptonoxide ließen sich noch nicht darstellen. XeO entsteht möglicherweise bei der vorsichtigen Hydrolyse von XeF 2 als unbeständiges, leicht in die Elemente zerfallendes Zwischenprodukt; X e 0 2 lässt sich als Fluor-Derivat XeOF 2 isolieren. Bezüglich Sauerstoffverbindungen des Typs Kr(OAc) 2 und Xe(OAc) 2 4 6 vgl. das nächste Unterkapitel. Nachfolgend sind Potentialdiagramme einiger Oxidationsstufen des Xenons bei p H = 0 und 14 wiedergegeben (vgl. Anh.VI). pH = 0 0
Xe
2.32
pH = 14
+2
XeF2
1.92
+6
Xe0 3
2.42
+s
H 4 XeO e
2.12
o
Xe
1.24
+6
HXeO"
0.99
+s
HXeO
1.18
Xenon(VI)-oxid Xe0 3 entsteht bei der vorsichtigen Hydrolyse von XeF6, XeOF4 und XeF4 (im letzteren Falle naturgemäß unter Disproportionierung der Oxidationsstufe des Xenons): XeF6 + 3 H 2 0
Xe0 3 + 6HF,
3XeF 4 + 6 H 2 0
Xe + 2Xe0 3 + 12HF
und kann aus den so gewonnenen Lösungen durch vorsichtiges Eindunsten im Exsikkator (z.B. BaO als Trockenmittel) in Form farbloser, orthorhombischer, zerfließlicher Kristalle erhalten werden (vgl. Tab. 50, S. 422). Die Löslichkeit von Xe0 3 in Wasser ist beträchtlich, wie daraus hervorgeht, dass man bereits bis 11-molare farblose und geruchlose Lösungen herstellen konnte. Im Kristall liegt ein Molekülgitter mit isolierten XeO3-Einheiten vor; wie das isostere Iodat-Ion IO 3 ist auch das XeO3-Molekül nicht eben, sondern trigonal-pyramidal aufgebaut (C3v-Symmetrie; vgl. VSEPR-Modell, S. 313: XeO-Abstand = 1.76 Ä; Valenzwinkel OXeO = 103°; Kraftkonstante der XeOBindung = 5.66 N/cm; die entsprechenden Daten des IO 3 -Ions lauten: IO-Abstand = 1.82 Ä; Winkel OIO = 99°; Kraftkonstante 5.48 N/cm). Redox-Verhalten. Xe0 3 ist zum Unterschied vom entsprechenden Fluorid XeF6 eine endotherme, explosive Verbindung: XeO, (fest) -> Xe + f 0 2 + 402 kJ . Die farblose wässrige Lösung von Xe0 3 besitzt stark oxidierende Eigenschaften (vgl. Potentialdiagramm) und oxidiert z.B. Iodid, Bromid bzw. Chlorid zu Halogen, Plutonium(III) zu Plutonium(IV), Mangan(II) zu Mangan(IV) und Mangan(VII).
2. Die Verbindungen der Edelgase
427
Säure-Base-Verhalten. Die nur schwach sauer reagierenden wässrigen Lösungen besitzen eine sehr geringe elektrische Leitfähigkeit und enthalten offensichtlich unverändertes Xe0 3 neben nur wenig H 2 Xe0 4 (pKs = 10.5). Bei Zusatz von Lauge erfolgt Bildung von Xenat(VI) HXe0 4 : Xe
OH
HXe
1.5
10 ),
das sich zu Perxenat(VIII) X e O u n d elementarem Xenon zu disproportionieren vermag: 2HXe07
+OH
-H2O
> HXeO3" + Xe + O, .
Feste Xenate(VI) des Typus XeO2" oder XeO%" wurden bis jetzt noch nicht eindeutig isoliert. Mit KF, RbF, CsF vereinigt sich Xe0 3 zu sehr stabilen Verbindungen M[Xe0 3 F], mit RbCl, CsCl zu Verbindungen M 2 [XeO 3 Cl 2 ]-iMCl (enthalten Ketten —Xe0 3 —F—Xe0 3 —F— bzw. —XeO3Cl — Cl— XeO3Cl • • • Cl— mit quadratisch-pyramidalen Xe0 3 F 2 - bzw. verzerrt-oktaedrischen XeO3C13-Baueinheiten). Acetonitril liefert mit Xe0 3 das Addukt MeCN -> Xe0 3 . Xenon(VIII)-oxid XeO 4 . Aus den aus Xenon(VI)-Lösungen durch Disproportionierung von H X e 0 4 (s. oben) bzw. durch Oxidation von H X e 0 4 mit 0 3 erhältlichen gelben Perxenat(VIII)-Lösungen (zweckmäßig Ba 2 XeO 6 ) lässt sich mit konz. Schwefelsäure das zugrundeliegende Xenon(VIII)-oxid Xe0 4 bei - 5 °C als farbloses Gas in Freiheit setzen: X e O + 4H +
H 4 XeO e
- 2H20
Xe04.
Da es sehr explosiv ist (es explodiert gelegentlich schon bei - 40 °C gemäß Xe0 4 (g) -> Xe + 2O 2 + 643 kJ), muss es hierbei sofort in eine dicht benachbarte, mit flüssigem Stickstoff gekühlte Falle abdestilliert werden, wo es sich als blassgelbe feste Substanz kondensiert (vgl. auch Tab. 50, S. 422). Das Xe0 4 -Molekül ist wie das isostere IO 4 -Ion tetraedisch aufgebaut (Td-Symmetrie; vgl. VSEPRModell, S. 313). Der XeO-Abstand beträgt im Gaszustand 1.736 Ä, die Kraftkonstante der XeO-Bindung 5.75 N/cm Redox-Verhalten. Das Normalpotential H4 XeO e + 2 H + + 2 Q -> Xe0 3 + 3 H O b e t r ä g t 2.42 V (im alkalischen 0.99V, s.o.), entsprechend sehr starker Oxidationskraft (z.B. 3+ Cl0 3 -> C l 0 4 ; Cr3+ Cr 2 02"; M 2 ^ M n 0 4 ; I 0 3 IO 4 ; Am(III) Am(VI); Co2+ ^ Co ). Säure-Base-Verhalten. Unter den von Xe0 4 abgeleiteten und isolierten, schwerlöslichen Perxenaten(VIII) seien genannt: Na 4 Xe0 6 • 8H 2 O, Na 4 XeO e • 6H 2 O, Na 4 XeO e • 9H 2 O, Ba 2 XeO e • 1.5 H 2 O. Alle diese (farblosen) Verbindungen enthalten im Kristall isolierte oktaedrische Baugruppen XeO (Oh-Symmetrie; XeO-Abstand 1.84 Ä ; isosteres IOg": 1.82 Ä ) . In wässriger Lösung reagieren die Perxenate infolge Hydrolyse alkalisch: X e O + H 2 0 -> HXeO3" + OH~. Neben den Ionen HXeO3", die selbst bei pHWerten von 11-13 die Hauptspezies darstellen, existieren im schwach alkalischen bis schwach sauren Gebiet noch die Ionen H 2 XeO2" und H 3 XeOg . Die freie (schwache) Perxenonsäure H 4 XeO e (p-ST1>2>3>4 Ü 14) lässt sich nicht isolieren, da sie sich leicht unter Sauerstoffabgabe zur Oxidationsstufe der Xenonsäure zersetzt (bei pH = 11.5: 1 % pro Stunde, in saurer Lösung: augenblicklich). Die Acidität von Xe zeigt sich auch in der Bildung des Addukts MeCN Xe mit Acetonitril Xenonfluoridoxide (vgl. Tab.50, S.422). ,,Xenondifluoridoxid" XeOF 2 entsteht bei der vorsichtigen Tieftemperaturhydrolyse ( - 80 °C) von XeF 4 als hellgelber, bis ca. - 25 °C metastabiler Festkörper. Die Verbindung (über O-Brücken polymer) zersetzt sich beim Erwärmen unter Disproportionierung in XeF 2 und Xe0 2 F 2 und bildet mit CsF das Addukt Cs[XeOF 3 ]. „Xenondifluoriddioxid" Xe0 2 F 2 und ,,Xenontetrafluoridoxid" XeOF4 lassen sich durch Reaktion von XeF6 mit H 2 O, Si0 2 , Xe0 3 oder NaNO 3 gemäß + 2XeO,
3Xe0 2 F 2
C a S 0 4 + 2 H F ; vgl. S. 448; auch Fluorapatit (s. dort) dient zur HF-Gewinnung). Zur Gewinnung von Fluor muss dieser Fluorwasserstoff von Wasserstoff befreit, d.h. oxidiert werden. D a nun Fluor seinerseits das stärkste chemische Oxidationsmittel unter den Elementen darstellt (s. weiter unten), ist dessen Oxidation nicht auf chemischem, sondern n u r a u f e l e k t r o c h e m i s c h e m W e g e (vgl. S.234) möglich. Als Elektrolyt der zu Wasserstoff und Fluor führenden HF-Elektrolyse, 542.6 kJ + 2 H F
H 2 + F2,
ist allerdings k e i n e w ä s s e r i g e Fluorwasserstofflösung brauchbar; denn Fluor entzieht selbst dem Wasser sofort den Wasserstoff (vgl. chemische Eigenschaften). M a n erhält dementsprechend bei der Elektrolyse wässeriger Lösungen von vornherein kein Fluor, sondern Sauerstoff, da sich die O H " - I o n e n des Wassers wesentlich leichter ( 2 H 2 0 ^ 0 2 + 4 H + + 4 © ; £0 = 1.23 V) als die elektronegativeren F " - I o n e n des Fluorwasserstoffs (2HF(aq) F2 + 2H + + 2 © ; £ 0 = 3.05 V) entladen lassen. Deshalb muss m a n w a s s e r f r e i e n , f l ü s s i g e n F l u o r w a s s e r s t o f f (Sdp. 19.54°C) verwenden, in welchem m a n zur Erhöhung der elektrischen Leitfähigkeit (flüssiger Fluorwasserstoff leitet wegen seiner geringen elektrolytischen Eigendissoziation wie reines Wasser den elektrischen Strom praktisch nicht) wasserfreies K a l i u m f l u o r i d auflöst (Molverhältnis K F : H F zwischen 1 : 1 bis 1 : 3 ) . Z u m Beispiel lassen sich w a s s e r f r e i e S c h m e l z e n von Salzen des Typus K F • H F (Smp. 225 °C) oder K F • 2 H F (Smp. 72°C) oder K F • 3 H F (Smp. 66°C) zur elektrolytischen Zersetzung benutzen. In der Technik arbeitet man heutzutage nach dem ,,Mitteltemperatur-Verfahren" mit einer Elektrolytzusammensetzung von 1 mol KF auf 1.8-2.5 mol HF (mittlere Zusammensetzung: KF • 2HF) und führt die Elektrolyse bei 70-130°C durch, wobei man den elektrolytisch zersetzten Fluorwasserstoff durch frischen Fluorwasserstoff ersetzt und so die Elektrolysetemperatur und Badzusammensetzung konstant hält. Die HF-Elektrolyse erfolgt in hintereinander geschalteten Monel- bzw. Stahlzellen mit graphitfreien Petrolkoks-Anoden (Fig. 136). Als Kathode dient der Zellenmantel. Kathoden- und Anodenraum sind durch Eisenbleche, die in die Elektrolytflüssigkeit bis zu einer bestimmten Tiefe eintauchen, voneinander getrennt. Man arbeitet mit 4-15 kA, einem Spannungsabfall von 8 - 12V je Zelle und Stromdichten von etwa 0.10-0.15 A/cm 2 . Die Stromausbeute beträgt 95%. Das erzeugte Fluor enthält bis zu 10% HF, das sich durch Kühlen auf —100 0C größtenteils ausfrieren lässt. Restliches HF kann durch NaF gebunden werden
H2
F2 F2
H2
HF Kathode: H + + © y2H2 Anode: F" -> V2 F2 + © 2
Fig. 136 Schematische Darstellung des Verfahrens zur HF-Elektrolyse
432
XII. Die Gruppe der Halogene
Physikalische Eigenschaften Das Fluor ist ein in dünner Schicht (< 1 m) farbloses, in dicker Schicht blassgelbes Gas von durchdringendem Geruch (s.u.). Bei — 188.13°C verdichtet sich Fluor zu einer hellgelben Flüssigkeit (Dichte 1.5127 g/cm3 beim Sdp., Litergewicht 1.696 g bei 0°C), welche bei — 219.62°C zu einer farblosen Festsubstanz erstarrt. Es kristallisiert wie die übrigen Halogene in einem Molekülgitter (F—F-Abstand 1.43 Ä im Gas; vgl. Iod). Bezüglich weiterer physikalischer Daten vgl. Tafel III, bezüglich der Elektronenstruktur S. 354. Fluor wird in Tanklastwagen, die mit flüssigem N 2 gekühlt sind, versandt; es kommt in Stahlflaschen in den Handel (50 l reines F2 bei 28 bar bzw. 10% F 2 /90%N 2 bei 200 bar). Chemische Eigenschaften Fluor ist das r e a k t i o n s f ä h i g s t e aller Elemente und - abgesehen von wenigen endothermen Fluorverbindungen wie KrF 2 , ClFg - das s t ä r k s t e Oxidationsmittel überhaupt (saure Lösung: s 0 = 3.05 V; alkalische Lösung: s 0 = 2.87 V). Die Ursache der hohen Reaktivität - sowohl im thermodynamischen wie kinetischem Sinne - ist u. a. die besonders niedrige Dissoziationsenergie von F 2 (158 kJ/mol; bei 2700°C/1 bar vollständige Spaltung in F) und die meist sehr hohe Affinität des Fluors zu anderen Elementen. Mit dem Nichtmetall Wasserstoff verbindet sich Fluor - auch im Dunkeln - schon bei gewöhnlicher Temperatur unter Entzündung oder gar heftiger Explosion (bezüglich des Mechanismus dieser Radikalkettenreaktion vgl. S. 390). Schwefel und Phosphor setzen sich bei der Temperatur der flüssigen Luft lebhaft mit Fluor um. Kohlenstoff, der mit Chlor erst bei der hohen Temperatur des elektrischen Lichtbogens reagiert, vereinigt sich in feinverteiltem Zustande bereits bei Zimmertemperatur mit Fluor unter Flammenerscheinung. Ebenso entzünden sich unter den Metallen z. B. die Alkali- und Erdalkalimetalle im Fluorstrom bei Raumtemperatur unter Bildung von Fluoriden des Typus M ' F bzw. M"F 2 (M = Metall). Auch sonst reagiert Fluor schon in der Kälte lebhafter noch in der Wärme oder bei sonstiger energetischer Anregung - mit allen anderen Elementen außer Helium, N e o n und Argon. Die mit Fluor sich verbindenden Elemente betätigen als Folge der außerordentlich großen Elektronegativität des Fluors alle gemäß ihrer Stellung im Periodensystem möglichen Wertigkeiten bis zu ihren höchsten positiven Oxidationsstufen hinauf (z.B. PF 5 , SF 6 , IF 7 ). Viele Metalle (z.B. Kupfer, M agnesium)und Metall-Legierungen (z.B. Stahl, M onelmetall = Legierung aus Kupfer und Nickel) werden in der Kälte oder bei wenig erhöhter Temperatur von Fluor nur oberflächlich angegriffen, da sie sich mit einer dichten und festhaftenden Schicht von Fluorid bedecken, welche den weiteren Angriff von Fluor verhindert („Passivierung"). Darauf beruht die Möglichkeit, diese Metalle zum Bau von Fluor-Entwicklungsapparaten zu verwenden (geeignet z. B. Chromnickelstahl bis 80 C, Nickel bis 630 C; Dichtungen aus Kupfer). Bei höherer Temperatur erfolgt aber auch bei ihnen eine durchgreifende Reaktion. Selbst Gold und Platin werden bei Rotglut von Fluor stark angegriffen. Im Laboratorium kann man mit Fluor in trockenen Glasapparaturen arbeiten, sofern das Gas frei von HF ist, das zum Unterschied von F2 Glas angreift. Wegen der großen Affinität zu Wasserstoff entreißt das Fluor auch allen Wasserstoffverbindungen lebhaft den Wasserstoff. Die Reaktion ist dabei weit heftiger als beim Chlor. So reagieren beispielsweise Schwefelwasserstoff oder Ammoniak unter Flammenbildung; ebenso wird Wasser lebhaft zersetzt: H 2 S + F2
-|S s + 2HF,
2NH 3 + 3F2
N 2 + 6HF,
H 2 0 + F2
j 0 2 + 2HF ,
während beim Chlor (s. dort) diese Wasserzersetzung nur unter Mitwirkung des Lichts erfolgt (die Umsetzung von H 2 O und F2 erfolgt unter Zwischenbildung von Hypofluoriger Säure: H 2 0 + F2 -> HF + HOF -> 2HF + J 0 2 ) . Fluor entreißt auch kohlenstoffgebundenen Wasserstoff unter hoher Wärmeentwicklung. Diese Eigenschaft wird zur Oberflächenfluorierung von Kunststoffen technisch genutzt (s.u.). Bezüglich weiterer chemischer Eigenschaften vgl. Tafel III. Verwendung Fluor (Weltjahresproduktion: 10 Kilotonnenmaßstab) dient hauptsächlich zur Herstellung solcher anorganischer und organischer Fluorverbindungen, die wie etwa ClF, ClF3, BrF3, IF 5 , SF6, höherwertige Metallfluoride (z.B. UF 6 ) oder perfluorierte Alkane (z.B. C 3 F S ) nicht auf andere Weise hergestellt werden können. Bei der Fluorierung chemischer Verbindungen ist es nicht notwendig, das Fluor vorher zu isolieren. Man kann sich hier vielmehr des sehr eleganten Verfahrens der „Elektrofluorierung" bedienen, bei dem die zu fluorierenden, in Fluorwasserstoff gelösten Verbindungen an großen Anoden fluoriert werden, während zugleich H 2 an der Kathode entwickelt wird (5-10 V, 100-200 A/m 2 , 0-20°C; z.B. H 2 0 F2O; H 2 S SF6; NH + N F , N 2 F 2 , NH 2 F; CS2 CF3SF5, SF6; HSO 3 F SO 2 F 2 ; NaCl0 4 FClO 3 ; C„H 2 n + 1 X C„F 2 n + 1 X (X = SO3F, COF; als Herbizide, Flammschutzmittel, Tenside, Emulgatoren, Feuerlöschmittel, Katalysatoren, Oleophobierungsmittel).
1. Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat
433
Vielfach kann man auch mit Fluorwasserstoff (z.B. PC13 + 3HF PF3 + 3HCl; A1 2 0 3 + 6HF -> 2AlF 3 + 3 ^ 0 ; CC14 + 2HF -> 2HC1 + CC12F2 (Freon); HCC13 + 2HF -> 3HC1 + 1/n(CF2)„ (Teflon)) oder mit Elementfluoriden wie AgF, AgF2, CoF3, MnF3, ClF3, IF 5 , AsF3 fluoridieren (z.B. PC13 + AsF3 -> PF3 + AsQ 3 ). Die größte Fluormenge dient der Gewinnung von UF 6 (zur Uranisotopentrennung), die zweitgrößte zur Gewinnung von SF6 (als Dielektrikum). Wichtig ist ferner die Oberflächenfluorierung von Kunststoffen (zur Verminderung der Durchlässigkeit von Kraftstoffbehältern für Benzin, zur Erhöhung des Haftvermögens für Lacke, Farben, Kleber usw.) sowie zur Herstellung von Fluorgraphit (S. 879), der sich wegen seiner guten Leitfähigkeit für den Einsatz als Elektrodenmaterial eignet
1.2
Das Chlor 1 ' 6 ' 7
8
Vorkommen
Das Chlor ist ein sehr reaktionsfähiges Element. Daher kommt es in der Natur wie Fluor nicht frei, sondern nur gebunden in Form von Chloriden vor. Die wichtigsten Salze sind: das Steinsalz NaCl, der Sylvin KCl, der Carnallit KMgCl 3 • 6 H 2 0 (,,KCl • MgCl2 • 6H 2 0"), der Bischofit MgCl2 • 6 H 2 0 und der Kainit KMgCl(SO) • 3 ^ 0 (,,KCl • MgS0 4 • 3H 2 0"). In den Ozeanen bildet NaCl die Hälfte der gelösten Salze (18.1 g Cl" je Liter; zum Vergleich: 1.4mg F", 68 mg Br~, 0.06 mg je Liter; vgl. Taf. II). Gasförmiger Chlorwasserstoff HCl kommt in vulkanischen Exhalationen vor. Physiologisch von Wichtigkeit ist weiterhin das Vorhandensein von 0.3-0.4% ChlorwasserstoffHClim Magensaft, entsprechend einer rund 1/10-molaren Salzsäurelösung8. Isotope (vgl. Anh.III). Natürlich vorkommendes Chlor besteht zu 75.77% aus dem Isotop 17 Cl und zu 24.23% aus dem Isotop " Cl. Sie eignen sich beide für den NMR-spektroskopischen Nachweis in Verbindungen. Das künstliche Isotop Cl (ß "-Strahler; T1/2 = 3.1 x 105 a) wird zum Markieren genutzt.
Darstellung Zur Darstellung des Chlors geht m a n zweckmäßig von Produkten aus, die in beliebiger Menge zur Verfügung stehen. Ein solcher Ausgangsstoff ist das oben erwähnte, aus Lagerstätten ( c a . 7 0 % der Weltproduktion) oder Meerwasser gewonnene S t e i n - oder K o c h s a l z N a C l (s. dort), das durch Elektrolyse der wässrigen Lösung in Chlor, Wasserstoff und Natronlauge verwandelt wird. Untergeordnete Bedeutung hat die Umwandlung von Chlorwasserstoff H C l (Zwangsanfall bei einigen organischen Reaktionen) in Chlor durch Oxidation mit Sauerstoff oder durch Elektrolyse Gewinnung von Chlor aus Natriumchlorid Zur t e c h n i s c h e n Darstellung von Chlor elektrolysiert m a n seit 1890 wässrige Lösungen von N a t r i u m c h l o r i d („Chloralkali-Elektrolyse"), wodurch zurzeit 97 % des Chlors erzeugt werden (1995 weltweit 50 Millionen Jahrestonnen;
6
7
8
Literatur GMELIN: „Chlorine", System-Nr 6, bisher 4 B ä n d e ULLMANN (5. Aufl.) ,,Chlorine", ,,Chlorine Oxides and Chlorine Oxygen Acids", A6 (1986) 399-525;,,Hydrochloric Acid", A 1 3 (1989) 283-296; J. S. Sconce (Hrsg.): „Chlorine. Its Manufacture, Properties and Uses", Reinhold, New York 1962; verschiedene Autoren: „Chlorine", Pure Appl. C h e m 68 (1996) 1683-1824. Geschichtliches (vgl. Tafel II). Entdeckt wurde das Chlor 1774 durch den schwedischen Chemiker Carl Wilhelm Scheele (1742-1786) als Produkt der 0xidation von HCl mit Braunstein M n 0 2 (s. unten). Scheele bezeichnete das Chlor im Lichte der Phlogistontheorie (s. dort) noch als ,,dephlogistierte Salzsäure"; C.L. Berthollet (1748-1822) sprach nach Überwindung der Phlogistontheorie von ,,oxidierter Salzsäure", da er das Chlor für eine sauerstoffhaltige Substanz hielt; H. Davy erkannte 1810 die Elementnatur des Chlors und gab ihm seinen jetzigen Namen gemäß seiner gelbgrünen Farbe: chloros (griech.) = gelbgrün. Physiologisches. Chlor Cl2 reagiert mit tierischem und pflanzlichem Gewebe und zeichnet sich demgemäß durch hohe Giftigkeit aus. Es vernichtet Mikroorganismen (Desinfektionswirkung) und wirkt auf Säugetiere und den Menschen rasch tödlich ( M A K = 1.5 m g / m bzw. 0.5 ppm; Verätzungen der Luftwege und Lungenbläschen). 0.0001 Vol.-% Cl 2 lassen sich in der Luft noch mit dem Geruchssinn wahrnehmen. Der Mensch enthält ca. 1.4 g d e s f ü r ihn essentiellen Elements pro kg Gewebe in anionischer oder gebundener F o r m Chlorid Cl spielt zur Aufrechterhaltung des SäureBase-Gleichgewichts, im Wasserhaushalt sowie bei der Nieren- und Magensekretion der 0rganismen eine wichtige Rolle
434
XII. Die Gruppe der Halogene Amalgambildner
e©f Kathode (-)
Anode (+)
n ^ • NaCl- Lösg.
Anode (+)
Anode (+) Graphitkontakt
H2
^ I j ^ T ^ i
NaClLösg.
- NaOHLösg.
La
Amalgamzersetzer
je©
Na xH g .
W
'/////////V///////l Diaphragma, Membran (a)
Hg (b)
1
-H 2 0 NaOHLösg.
Fig. 137 Schematische Darstellung der Verfahren zur Chloralkali-Elektrolyse: (a) Diaphragma- bzw. Membran-Verfahren, (b) Amalgam-Verfahren. Indikator für den Leistungsstand der Industrie) 9 . Der Gesamtvorgang der Elektrolyse erfolgt nach der Bruttogleichung 446.1 kJ + 2 H [ Ö H + " 2 N ä " j Cl(aq) ^
H 2 + 2 N a O H ( a q ) + Cl 2 ,
da von den in der Lösung enthaltenen Ionen H + , O H ", N a + und C l " die H + - und Q " - I o n e n (insbesondere bei hoher Chlorid-Konzentration) am leichtesten entladen werden (vgl. elektrolytische Zersetzung, S. 234). Außer C h l o r entstehen dabei also noch W a s s e r s t o f f und N a t r o n l a u g e , was gewisse Probleme für die Verwendung der zwangsläufig miteinander gekoppelten drei Elektrolyseprodukte (Ausgleich zwischen Bedarf und Produktion) aufwirft. Es muss bei der Chloralkali-Elektrolyse verhindert werden, dass die kathodisch durch Entladung der Wasserstoff-Ionen des Wassers neben W a s s e r s t o f f gebildete L a u g e ( O H ~ ) mit dem anodisch durch Entladung der Chlor-Ionen des Natriumchlorids gebildeten C h l o r (Cl 2 ) in Berührung kommt, da sonst nach der Gleichung 2 O H ~ + Cl 2 -> OC1~ + C l " + H 2 O unter gleichzeitiger R ü c k b i l d u n g v o n C h l o r i d H y p o c h l o r i t g e b i l d e t wird (S.466) bzw. der Wasserstoff mit dem Chlor ein Chlorknallgas-Gemisch (S. 437) ergibt. M a n erreicht dies durch die T r e n n u n g v o n K a t h o d e n - u n d A n o d e n r a u m . Sie erfolgt im Prinzip beim ,,Diaphragma"- b z w . , , M e m b r a n - V e r f a h r e n " (Fig. 137a) durch eine ionendurchlässige S c h e i d e w a n d ( , , D i a p h r a g m a „ M e m b r a n " ) ^ beim heute nicht mehr genutzten ,,Glocken-Verfahren" (vgl. HF-Elektrolyse) durch eine nicht bis zum Boden reichende und so den Stromtransport ermöglichende T r e n n w a n d und beim ,,Quecksilber-(,,Amalgam-)Verfahren" (Fig. 137b) durch eine völlige Abtrennung von Kathoden- und A n o d e n r a u m und s e p a r a t e D u r c h f ü h r u n g von anodischer Chlor- und kathodischer Wasserstoffbildung. Die Reinheitsanforderungen an das eingesetzte N a C l wachsen hierbei für die Prozesse in der Reihenfolge Diaphragma-, Amalgam-, Membran-Verfahren (bezüglich der NaCl-Reinigung vgl. S. 1182). Der K a t h o d e n v o r g a n g des Diaphragmaverfahrens besteht in einer Entladung der durch Dissoziation des Wassers gebildeten Wasserstoff-Ionen, der Anodenvorgang in einer Entladung der aus
9
Geschichtliches Die erste technische Chloralkali-Elektrolyseanlage wurde 1890 in Deutschland in Griesheim (Zementdiaphragma-Verfahren) und 1892/1895 in USA (Asbestdiaphragma-Verfahren/Amalgam-Verfahren) gebaut; die Voraussetzungen für die heutigen Amalgamzellen schufen 1892 H. J. Castner in den USA und K. Keller in Österreich (,,Castner-Keller-Zelle"). Ökonomische und ökologische Zwänge führten in der Folgezeit zu wesentlichen Verbesserungen des Diaphragma- und Amalgam-Verfahrens (96%ige Stromausbeute bei Verwendung von aktivierten Titananstelle von Graphitanoden; Einsatz umweltfreundlicher Asbestdiaphragmen; Reduktion der Hg-Emission um über eine Zehnerpotenz bis auf 20 g pro Tonne Chlor im Jahre 1979) und schließlich zur Entwicklung des MembranVerfahrens (erste technische Nutzung 1975 in Japan). Die Chloralkali-Elektrolyse steht im Energieverbrauch unter den elektrolytischen Verfahren derzeit an erster Stelle *o diaphragma (griech.) = Scheidewand, membran (lat.) = Häutchen.
1. Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat
435
der Dissoziation des Natriumchlorids stammenden Chlorid-Ionen; die nichtentladenen N a t r i u m - und H y d r o x i d - I o n e n bleiben in der Lösung als N a t r i u m h y d r o x i d zurück: ?±2H++2OH-> H 2 ^ 2Na+ + 2 C P -> C12 + 2 Q 2NaOH
2HOH Kathodenvorgang:2H + + 2 Q 2NaCl Anodenvorgang: 2 C P 2N 2O Gesamtvorgang:
2 H 2 0 + 2NaCl
p
0
p
14
0V 1.36
1.36
H 2 + 2NaOH + Cl2 .
Als K a t h o d e n dienen Stahlelektroden, als A n o d e n Elektroden aus E l e k t r o g r a p h i t b z w . aktiviertem T i t a n (mit Edelmetallen oder Edelmetalloxiden beschichtet), als feinporiges D i a p h r a g m a Asbest (Zellspannung: 3.0-4.15 V; Stromstärke bis 150000 A; Stromdichte 2.2-2.7 kA/m 2 ). Da bei zu stark angewachsener H y d r o x i d i o n e n - K o n z e n t r a t i o n a u c h eine anodische Entladung von OH~-Ionen unter Bildung von Sauerstoff und Wasser erfolgt, kann man die Elektrolyse nicht bis zur völligen Zersetzung des Natriumchlorids fortsetzen. Daher beschickt man bei dem (veralteten) disk o n t i n u i e r l i c h arbeitenden Diaphragmaverfahren (z.B. dem ,,Griesheimer Verfahren") die Elektrolysezellen immer mit neuer Chloridlösung, sobald eine etwa 5 %ige Natronlauge entstanden ist. Das beim Eindampfen dieser verdünnten Zell-Lauge in Vakuumverdampfapparaten fast völlig ausfallende Natri umchlorid kehrt wieder in den Betrieb zurück. Bei den - wesentlich günstigeren - k o n t i n u i e r l i c h arbeitenden Verfahren (z.B. dem ,,Billiter-, Hooker- bzw. Diamond-Verfahren") wird durch eine entsprechende Regelung des Zuflusses der Chloridlösung an der Anode und des Abflusses der Lauge an der Kathode der Beteiligung der Hydroxid-Ionen am Stromtransport (Wanderung zur Anode) entgegengewirkt, sodass hier stärkere (1^—16 %ige) Zell-Laugen erzielt werden können. Eine Variante des Diaphragmaverfahrens mit wachsender Bedeutung ist das Membranverfahren, bei welchem Kathoden- und Anodenraum (Elektroden wie oben) durch eine hydraulisch undurchlässige, ionenleitende, 0.2mm dicke Doppelmembran aus Nafion getrennt istn. Die optimale Stromdichte beträgt 2 - 3 k A / m , die Zellspannung 3.15 V. Das Verfahren erlaubt die Herstellung von - praktisch chloridfreien - Zell-Laugen mit bis zu 35% NaOH. Beim Amalgamverfahren werden Anoden- und Kathodenvorgang in g e t r e n n t e n Zellen gesondert durchgeführt. In der einen Zelle („Amalgambildner", Fig.137b, links) wird durch Verwendung einer Q u e c k s i l b e r k a t h o d e (Vertauschung der Potentialhöhe von H und Na infolge hoher Überspannung des Wasserstoffs und Amalgambildung mit Natrium; vgl. S. 237) die Zerlegung der Natriumchloridlösung in Natriumamalgam (NaHg*) und Chlor ermöglicht. Als Anoden für die Chlorabscheidung dienen hierbei hintereinanderliegende, stempelförmige, 8 - 1 2 cm dicke Platten aus Graphit oder aktiviertem Titan, die horizontal liegen und für den Chlorabzug mit zahlreichen kleinen vertikalen Bohrungen versehen sind Da das an der Anode gebildete Chlor ,,in statu nascendi" zusammen mit dem untergeordnet durch anodische Entladung von OH~-Ionen der Lösung erzeugten „nascierenden" Sauerstoff in geringem Umfang mit dem Graphit unter Bildung von Kohlenstoffchloriden und -oxiden abreagiert (,,Abbrand"), werden die Graphitanoden von Zeit zu Zeit nachgestellt. Elektrolysiert wird bei 80 °C bis zu einem NaClGehalt von ca. 250 g pro Liter; anschließend wird die Sole mit festem NaCl bis auf einen Gehalt von 360 g pro Liter aufkonzentriert. Man arbeitet mit einer Zellspannung von 4-5.5 V und Stromstärken bis über 300000 A (Stromdichte: 8 - 1 5 k A / m ) . Das in der ersten Zelle gebildete flüssige Natriumamalgam (0.2-0.4%) wird in einer zweiten Zelle (,,Amalgamzersetzer", Fig.137b, rechts) nicht kathodisch, sondern an Graphitkontakten mit Wasser unter Wärmeentwicklung zu Quecksilber, 20-50 %iger Natronlauge und Wasserstoff zersetzt (NaHg^ lässt sich nicht in wirtschaftlicher Weise in Na und Hg trennen). Amalgam und Quecksilber werden umgepumpt. Beim Amalgamverfahren spielen sich somit insgesamt folgende Vorgänge ab: Amalgambildung
Amalgamzersetzung
Kathode:
2Na + 2xHg + 2 Q -> 2NaHg^
2NaHg + 2 H 2 0 — i — • H , + 2 NaOH
Anode:
2C1"
Graphit
— 2 x Hg
^C12 + 2Q 2NaCl + 2 H , 0
Cl, + 2 NaOH + H ,
11 Nafion = Polytetrafluorethylen (PTFE) mit COOH-haltigen Perfluoralkyl-Seitenketten (der Anode zugewandte Membranseite 0.15 mm dick) und SO 3 H-haltigen Perfluoralkylseitenketten (der Kathode zugewandt, 0.05 mm dick). Nafion gestattet den Durchtritt von Na + -Ionen. Wasser vermag nicht als solches, sondern nur zusammen mit den Na + -Ionen (in Form der Hydrathülle) durch Nafion zu wandern.
436
XII. Die Gruppe der Halogene
Ein wesentlicher Vorteil des Amalgam-Verfahrens (in Europa zum Teil noch bevorzugt) gegenüber dem Diaphragma-/Membran-Verfahren (in USA und Japan bevorzugt) ist der, dass die Natronlauge getrennt von der Natriumchloridlösung erzeugt wird, sodass eine chloridfreie, reine Lauge und reines Chlor entsteht. Ein gewisser N a c h t e i l besteht andererseits darin, dass mit dem Abfluss der verdünnten NaCl-Lösung aus der Amalgamerzeugungszelle bzw. der NaOH-Lösung aus der Amalgamzersetzungszelle zwangsläufig etwas Quecksilber als solches bzw. in Form von Verbindungen mitgeführt wird. Da Quecksilber sehr giftig ist und mithin ein Umweltrisiko darstellt, muss es auf kostspielige Weise aus den Elektrolytabwässern entfernt werden, bevor diese das jeweilige Werksgelände verlassen (entsprechendes gilt für die Emissionen). Ein weiterer Nachteil des Amalgamverfahrens ist der hohe Energieverbrauch (1^ — 15 % höher als beim Diaphragmaverfahren). Die Wirtschaftlichkeit des Diaphragmaverfahrens wird jedoch wiederum durch die Bildung sauerstoffhaltigen Chlors sowie verdünnter und zudem NaCl-haltiger Natronlauge gemindert. Auch stellt das Diaphragma wegen seines Asbestgehaltes ein Umweltrisiko dar. Als Vorteile des Membranverfahrens sind zu nennen: Bildung einer reinen 35%igen (also recht konzentrierten) Lauge, geringer Energieverbrauch, Vermeidung von Quecksilber und Asbest, niedrige Investitionskosten. Nachteilig sind hier insbesondere die hohen Reinheitsanforderungen an die Sole. Das Membran-Verfahren ist unter ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten für die voraussehbare Zukunft das Verfahren der Wahl. Es verdrängt infolgedessen das Diaphragma- und Amalgam-Verfahren (Anteile Memb./Diaph./Amalg.-Verfahren am Weltmarkt 1990: 16/45/39%; 2010 (geschätzt): 50/35/ 15%). Gewinnung von Chlor aus Chlorwasserstoff (Salzsäure). Als chemisches Verfahren der Luftoxidation von HCl hat das Deacon-Verfahren (erfunden 1868 vom englischen Chemiker Henry Deacon, 1822-1876) früher große technische Bedeutung gehabt: 4HCl + 0 2 ^ 2H 2 0(g) + 2C12 +114.48 k J . Die Reaktion bedarf zur Beschleunigung eines K a t a l y s a t o r s . Als solcher dienen mit CuCl-Lösung getränkte Tonkugeln, über die ein Gemisch aus 70% Luft und 30% HCl bei 430 °C geleitet werden (66% Ausbeute). Eine andere Möglichkeit zur chemischen HCl-Oxidation besteht im gelinden Erhitzen eines Gemischs von Kochsalz und mäßig konzentrierter Schwefelsäure mit Mangandioxid 4HC
Mn
2H
MnC
C
Die Umsetzung verläuft wahrscheinlich in zwei Stufen so, dass durch doppelte Umsetzung primär Mangantetrachlorid (MnClJ gebildet wird: 4HC1 + M n 0 2 -> 2 H 2 0 + MnCl 4 , welches dann sekundär in Mangandichlorid (MnCl 2 ) und Chlor zerfällt: MnCl 4 -> MnCl 2 + Cl 2 . Die Umsetzung von Chlorwasserstoff und Braunstein hat als Weldon-Verfahren (erfunden 1866) früher eine technische Rolle gespielt und ist jetzt längst überholt. Von weiteren geeigneten Oxidationsmitteln zur Chlorgewinnung aus Salzsäure (e0 = + 1.3583 V) im Laboratorium seien hier erwähnt (vgl. die elektrochemische Spannungsreihe): das K a l i u m p e r m a n ganat K M n 0 4 (Auftropfen von konzentrierter Salzsäure auf Kaliumpermanganatkristalle: 2 K M n 0 4 + 16HC1 2MnCl 2 + 2KC1 + 5C12 + 8H 2 O und der C h l o r k a l k CaCl 2 O (Einwirkung von Salzsäure auf gepresste Chlorkalkwürfel im Kippschen Apparat CaCl(OCl) + 2HC1
CaCl 2 + H 2 0 + Cl2 .
Zur elektrochemischen Gewinnung von Chlor aus Chlorwasserstoff geht man in der Technik (ca. 350 000 Jahrestonnen) von konzentrierter Salzsäure aus, die in Zellen an Graphitelektroden elektrolysiert wird, deren Kathoden- und Anodenraum durch ein PVC-Tuchdiaphragma getrennt ist (Zersetzung bei ca. 2 V und Stromstärken von ca. 4000 A/m 2 ): 334.54 kJ + 2 H + ( a q ) + 2 C P ( a q )
H 2 + Cl2 .
Die zulaufende Säure ist 23%ig, die ablaufende 17-20 %ig; sie wird durch HCl-Gas wieder aufkonzentriert. Das Verfahren hat gegenüber der Chloralkali-Elektrolyse (s. oben) den Vorteil, dass dabei nicht zwangsläufig auch Natronlauge entsteht, deren Weiterverwendung nicht immer sichergestellt ist.
Physikalische Eigenschaften Chlor ist ein gelbgrünes, erstickend riechendes, die Schleimhäute stark angreifendes Gas, welches rund 2*/2mal so schwer wie Luft ist (Litergewicht von Chlor 3.21, von Luft 1.29 g bei 0°C). Durch Druck kann es leicht verflüssigt werden, da seine kritische Temperatur recht hoch liegt (kritische Temperatur: 143.9°C; kritischer Druck: 77.1 bar; kritische Dichte: 0.67 g/cm 3 ). Daher gelangt es als flüssiges Chlor (Dichte 1.565 g/cm 3 beim Sdp.) in (grau gestrichenen) Stahlbomben und in Kesselwagen unter einem
1. Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat
437
Druck von 6.7 bar bei 20 °C und von 3.7 bar bei 0 °C in den Handel. Der Siedepunkt des flüssigen Chlors liegt bei — 34.06°C, der Erstarrungspunkt bei — 101.00°C. Wie Brom und Iod kristallisiert auch Chlor in einem (orthorhombischen) Molekülgitter (intramolekularer Atomabstand Cl—Cl im Festzustand 1.980 Ä, im Gaszustand 1.988 Ä; vgl. Iod). Bezüglich der elektronischen Struktur vgl. S. 354, bezüglich weiterer Eigenschaften vgl. Tafel III. In Wasser ist Chlor relativ gut löslich: 1 Liter Wasser löst bei 25 °C und Atmosphärendruck 0.0921 mol Chlor. Die Lösung Vio molar) heißt:,, Chlorwasser" (vgl. hierzu S. 466). Wegen dieser guten Löslichkeit wird das Chlor bei der Darstellung im Laboratorium zweckmäßig nicht über Wasser, sondern über gesättigter Kochsalzlösung aufgefangen, in der es weniger löslich ist. Noch bequemer ist es, das Gas in einem trockenen Glasgefäß zu sammeln, indem man es auf den Boden des Gefäßes leitet; infolge seiner Schwere bleibt es unten liegen und verdrängt von hier aus allmählich die Luft. Beim Abkühlen der gesättigten wässerigen Chlorlösung auf 0 °C scheiden sich grünlich-gelbe Kristalle der Zusammensetzung Cl2 • 7.25 H 2 0 (vgl. hierzu Clathrate) ab, die sich an der Atmosphäre bei 9.6°C zersetzen.
Chemische Eigenschaften Das Chlor gehört nach dem Fluor zu den chemisch r e a k t i o n s f ä h i g s t e n Elementen und verbindet sich - meist schon bei gewöhnlicher Temperatur, noch heftiger bei erhöhter Temperatur - mit f a s t a l l e n anderen Elementen unter starker Wärmeentwicklung. N u r gegen die E d e l g a s e sowie gegen S a u e r s t o f f und S t i c k s t o f f verhält sich Chlor indifferent; auf dem Wege über andere Verbindungen lassen sich aber auch Chlorverbindungen dieser Ele mente gewinnen (vgl. Xenondichlorid, Chloroxide, Stickstofftrichlorid). Unter den Metallen reagieren die Alkalimetalle am heftigsten (unter Lichterscheinung) mit Chlor; fast ebenso heftig setzen sich die Erdalkalimetalle um 2Na + Cl2 -> 2NaCl + 822.56 kJ;
Ca + Cl2 -> CaCl2 + 796.3 kJ.
Aber auch die Halbmetalle (z.B. As, Sb, Bi) oder Übergangsmetalle (z.B. Fe, Cu) reagieren in feinverteiltem Zustand noch lebhaft mit Chlor (z.B. Sb + 1.5C12 -> SbCl3 + 382.4kJ; Fe+1.5C1 2 -> FeCl 3 + 399.8 kJ; Cu + Cl2 -> CuCl2 + 220.2 kJ). Bei allen diesen Reaktionen spielt ein gewisser Feuchtigkeitsgehalt des Chlors eine Rolle (s. unten). Denn trockenes Chlor ist viel reaktionsträger als feuchtes. So verbindet sich z.B. vollkommen trockenes Chlor nicht mit Kupfer oder Eisen. Daher kann man solches Chlor durch Eisenrohre fortleiten und im flüssigen Zustande (6.7 bar bei 20 C) in Stahl bomben und eisernen Kesselwagen in den Handel bringen Unter den Reaktionen des Chlors mit Nichtmetallen (z. B. Phosphor, Schwefel, Halogene, Wasserstoff), die bei Zimmertemperatur im Allgemeinen weniger heftig verlaufen, ist besonders die Umsetzung mit Wasserstoff erwähnenswert. Diese bereits mehrfach angesprochene ,, Chlorknallgasreaktion" folgt bei Bestrahlung mit blauem oder kurzwelligerem Licht oder bei lokaler Erhitzung explosionsartig im Zuge einer durch eine Spaltung von Chlormolekülen in -atome (243.52 kJ + Cl2 -> 2Cl) gestarteten Radik a l k e t t e n r e a k t i o n (bei 1 bar sind bei 25/200/1200/1700/2700°C ca. 10- 17 /10" s /10" 2 /6/52/100% Cl2Moleküle in Cl-Atome gespalten): C HC H, H + Cl2 -> HCl + Cl. Das Bestreben des Chlors, sich mit Wasserstoff zu verbinden, ist so groß, dass es auch vielen Wasserstoffverbindungen (z.B. Acetylen, Ammoniak, Schwefelwasserstoff, Iodwasserstoff) den Wasserstoff unter Chlorwasserstoffbildung entreißt C 2 H 2 + C12 -> 2C + 2HCl, 2NH 3 + 3C12 -> 6HC1 + N 2 , H 2 S + C12 -> 2HCl + | S s , 2HI + C12 -> 2HC1 + I 2 . Auch Wasser kann durch Chlor in entsprechender Weise unter Sauerstoffentwicklung zersetzt werden^: H 2 0(fl) + Cl2 ^ 2HCl + i 0 2 . i 2 Während in thermodynamischer Sicht HCl und 0 2 in der G a s p h a s e freiwillig zu H 2 0 und Cl 2 reagieren (vgl. Deacon-Verfahren, S.436), setzen sich H 2 0 und Cl 2 in k o n d e n s i e r t e r P h a s e freiwillig zu HCl und 0 2 um: 2 C l 2 ( a q + 2 H 2 0 3/H2O, M'ClO 3 , HCl0 4 /H 2 O, M'Cl0 4 , Mg(Cl0 4 ) 2 , ClO2, Q 2 O (u.a. als Bleich- und Oxidationsmittel), Metall- und N i c h t m e t a l l c h l o r i d e wie CIF, ClF3, ICl, IQ 3 , S2C12, SC12, SOC12, S O a 2 , P Q 3 , P Q 5 , P O a 3 , AsCl3, S b a 3 , S b a 5 , B i a 3 , COC12, SiCl4, A l a 3 , TiCl 4 , T i a 3 , MoCl 5 , FeCl 3 , ZnCl 2 , Hg 2 Cl 2 , HgCl 2 bzw. chlorierte K o h l e n w a s s e r s t o f f e w i e e t w a Chlormethan, -ethan, -benzole bzw. zu Polyvinylchlorid (PVC) polymerisierbares Vinylchlorid CH 2 =CHCl. Häufig stellen die durch Chlorierung erhältlichen Produkte nur Zwischenverbindungen auf dem Wege zu chlorfreien Endprodukten (z.B. Silicone, Tetraethylblei, Glycol, Glycerin, Methylcellulose) dar.
1.3
Das Brom 1 ' 1 3 ' 1 4 1 5
Vorkommen Wie Fluor und Chlor kommt auch das Brom wegen seiner Aggressivität in der Natur nicht in freiem, sondern nur in gebundenem Zustande in Form von Bromiden (z. B. als Bromargyrit AgBr) vor, und zwar findet es sich gewöhnlich mit Chlor gemeinsam in analog zusammengesetzten Verbindungen wobei es an Menge wesentlich hinter diesem zurücksteht. Wichtig ist weiterhin sein Vorkommen im 13 Literatur. Z. E. Jolles (Hrsg.): ,,Bromine and its Compounds", Academic Press, New York 1966; GMELIN: ,,Bromine", System-Nr 7, bisher 4 B ä n d e ULLMANN (5. Aufl.): ,,Bromine and Bromine Compounds", A 4 (1985) 405-429. 14 Geschichtliches (vgl. Tafel II). Entdeckt wurde Brom im Jahre 1826 von dem französischen Chemiker Antoine Jerome Belard (1802-1876) als Bestandteil des Meerwassers (er setzte es durch Zugabe von Chlorwasser zu den MgBr 2 haltigen Mutterlaugen, die nach Auskristallisation von NaCl und N a 2 S O 4 aus dem Wasser der Salzmarschen bei Montpellier verblieben, in Freiheit; s.u.). Wegen seines angreifenden Geruchs erhielt Brom seinen Namen: bromos (griech.) = Gestank. 15 Physiologisches. Brom Br 2 führt in flüssiger F o r m zu schmerzhaften, tiefen Hautwunden, als Gas zu Verätzungen der Luftwege und Lungenbläschen ( M A K = 0.66 m g / m bzw. 0.1 ppm). 0.0001 Vol.-% Br 2 lassen sich in der Luft noch mit der Nase w a h r n e h m e n Bromid Br ist anders als Chlorid Cl" nicht essentiell für den Menschen; es reichert sich aber nach Einnahme (z. B. in F o r m von KBr) im Körper unter Verdrängung des Chlorids an. Bromid setzt als „Sedativum" die Erregbarkeit des Zentralnervensystems herab ohne einschläfernd zu wirken; es wird zudem zur Bekämpfung der „Epilepsie" eingesetzt.
1. Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat
439
Meerwasser (68 g Br~ je m 3 ; vgl. Tafel II) sowie in Solequellen (insbesondere Arkansas, Michigan) und Salzseen (Totes Meer 4 - 5 kg Br~ je m 3 ). Bezüglich des Vorkommens von Brom in der Biosphäre vgl. Anm. 15. Isotope (vgl. Anh.III). Natürlich vorkommendes Brom besteht zu 50.69% aus dem Isotop 35 Br und zu 49.31 % aus dem Isotop ®1 Br. Beide Nuklide eignen sich für den NMR-spektroskopischen Nachweis in Verbindungen. Zur Verbindungsmarkierung dienen die künstlich erzeugten Isotope 33 Br (ß +-Strahler; t 1 / 2 = 57 h) und ®2Br (ß "-Strahler r 1 / 2 = 35.5 h). Darstellung Brom ist w e n i g e r r e a k t i o n s f ä h i g als Chlor. Daher k a n n Chlor das Brom aus seinen Verbindungen verdrängen. Lässt m a n z.B. Chlor (Normalpotential des Vorgangs Cl 2 + 2© 2C1" gleich 1.3583 V) auf eine schwach saure (pH3.5), wässerige Lösung von Kaliumbromid (Normalpotential des Vorgangs 2Br~ Br 2 + 2 © gleich 1.065 V) einwirken, so wird unter Übergang von Elektronen vom Bromid-Ion zum Chlor Brom in Freiheit gesetzt: 2 K B r + Cl 2
2KC1 + B r 2 .
Zur technischen Darstellung von Brom nach diesem Verfahren benutzt m a n als Ausgangs bromid bevorzugt bromhaltigen Carnallit, KMg(Cl, Br) 3 • 6 H 2 O , weil sich das Brom in dieser F o r m in größerer Menge in den Endlaugen (,,Mutterlaugen") der Kaliumchloridgewinnung (s. dort) vorfindet (MgBr 2 + Cl 2 -> MgCl 2 + Br 2 ). Wegen des steigenden Bedarfs an Brom (vgl. Verwendung) werden jedoch heute auch die an Brom ärmeren Endlaugen von Sylvinitund Hartsalzbetrieben (s. dort) zur Bromgewinnung herangezogen. Selbst das Meerwasser dient (in den USA) zur Herstellung von Brom Die Gewinnung von Brom aus den Carnallit-Endlaugen erfolgt durch „Heißentbromung". Hierzu leitet man diese bei 80 °C in senkrecht angeordneten, mit Glas-(,,Raschig"-)Ringen gefüllten Sandstein-, Granit- oder ausgemauerten Blechtürmen einem Strom von Chlorgas und Wasserdampf entgegen. Der Wasserdampf bläst das gebildete Brom aus der Lauge und verlässt zusammen mit dem Brom sowie einer kleinen Menge von nicht umgesetztem Chlor den Turm im oberen Teil. Das nach Kondensation des H 2 O/Br 2 /Cl 2 -Dampfgemischs sich vom leichteren „Sauerwasser" abscheidende schwerere „Rohbrom" wird zur Abtrennung von gelöstem Chlor destilliert Dient zur Bromerzeugung eine Bromid-ärmere Lauge oder Meerwasser, so bläst man das Brom aus der nicht erwärmten Reaktionslösung mit Luft aus (,,Kaltentbromung"). Das Brom/Luftgemisch wird in Soda-, Natron- oder Kalilauge geleitet, in welcher sich das Brom in Bromid und Bromat umwandelt (3Br2 + 6OH~ 5Br" + BrOj + 3 H 2 O ; vgl.S. 473). Aus der stark konzentrierten Br"/BrOjLösung scheidet sich nach Ansäuern mit Schwefelsäure (5Br~ + BrOj + 6H + -> 3Br 2 + 3H 2 O; vgl. S. 473) Brom ab Im Laboratorium kann Brom wie Chlor durch Oxidation von H B r gewonnen werden (z.B. Einwirkung von Schwefelsäure und Braunstein auf HBr). Physikalische Eigenschaften Brom ist neben Quecksilber das einzige bei gewöhnlicher Temperatur flüssige Element. Es siedet bei 58.78 °C, erstarrt bei — 7.25 °C und stellt eine tiefbraune, lebhaft rotbraune Dämpfe entwickelnde, schwere erstickend riechende Flüssigkeit (Dichte 3.14 g/cm3 bei 20°C) dar. Mit fallender Temperatur hellt sich seine Farbe auf und bei 20 K ( — 253 °C) ist es orangefarben. Der intramolekulare Atomabstand Br—Br beträgt im festen Brom 2.27 Ä, im gasförmigen Brom 2.281 Ä (vgl. Iod). Bezüglich der elektronischen Struktur vgl. S. 354, bezüglich weiterer physikalischer Eigenschaften vgl. Tafel III. In Wasser ist Brom besser löslich als Chlor (0.2141 mol in 1 Liter Wasser bei 25 °C). Die Lösung 1/5 molar) heißt „Bromwasser". Unterhalb von 6.2°C bildet Brom mit dem Wasser ein Hydrat der Formel Br2 • 8.6 H 2 O (vgl. Clathrate). Mit vielen unpolaren Lösungsmitteln wie CS2 und CC14 ist Brom unbegrenzt mischbar Chemische Eigenschaften Die chemischen Eigenschaften des B r o m s , das bei 25/700/1200/ 1700/2700°C und 1 bar zu ca. 1 ~i 3 /1/25/85/100% gespalten in Br-Atome vorliegt, sind denen des C h l o r s analog, nur reagiert das Brom w e n i g e r e n e r g i s c h . Während z. B. das Chlorgas sich im Licht bereits bei gewöhnlicher Temperatur mit W a s s e r s t o f f verbindet, ist dies beim Bromdampf erst bei höherer Temperatur der Fall (zum Mechanismus der Reaktion H 2 + Br 2 -> 2 H B r vgl. S. 391). Dagegen ist sein Verbindungsbestreben im f l ü s s i g e n , also konzentrierten Zustand noch recht stark. Wirft m a n z. B. Arsen- oder Antimonpulver oder Stanniolkugeln
440
XII. Die Gruppe der Halogene
auf flüssiges Brom, so erfolgt wie beim Chlor Vereinigung unter Feuererscheinung. Unter den Metallen sind gegen f e u c h t e s Brom nur Platin und Tantal beständig, gegen t r o c k e n e s Brom auch andere Metalle vor allem Blei und Silber, aber nicht z. B. Eisen (vgl. hierzu die Reaktivität von feuchtem und trockenem Chlor). Ebenso wie Chlor vermag auch Brom verschiedenen Wasserstoffverbindungen den Wasserstoff zu entziehen. So benutzt man z.B. die Reaktion von Brom mit Schwefelwasserstoff oder Toluol zur Bromwasserstoffdarstellung (s. dort): H 2 S + Br2 -> 2HBr + | S s ,
C 6 H 5 CH 3 + Br2 -> C 6 H 5 CH 2 Br + HBr.
Auch verhält sich Bromwasser (s. oben) wie Chlorwasser und zerfällt im direkten Sonnenlicht unter Bildung von Bromwasserstoff und Sauerstoff: H 2 0 + Br2 -> 2HBr + j 0 2 . Verwendung Brom (Weltjahresproduktion 500 Kilotonnenmaßstab) dient wie Chlor u. a. als Oxidations-, Bleich- und Desinfektionsmittel. Es wurde früher in großem Umfang zur Herstellung von CH 2 B r —CH 2 Br aus Ethylen eingesetzt (Pb-Fänger für das Antiklopfmittel PbEt 4 ). Daneben dient es zur Darstellung einer Reihe anorganischer und organischer Bromverbindungen wie Bromwasserstoff, Alkalimetallbromide (u.a. für Pharmazeutika), Silberbromid (für photographische Filme), Kaliumbromat (für Titrationen). 0rganische Bromverbindungen werden u.a. als Wurmvertilgungsmittel (CH3Br), Herbizide, Fungizide, Insektizide, Flammschutzmittel, Tränengas (z.B. Bromaceton), Inhalationsnarkotika (z.B. CF3CHBrCl) verwendet
1.4
Das Iodi' 16' 17' 18
Vorkommen Iod - das seltenste Element unter den nicht radioaktiven Halogenen Fluor, Chlor, Brom, Iod — ist in der Natur wie das Brom in Gebirgen, Seen, Mineralwässern, Erdölbohrwässern sowie im Meer weit verbreitet (vgl. Tafel II); es tritt aber jeweils nur in kleiner Konzentration auf, und zwar zum Unterschied von Fluor, Chlor und Brom nicht nur als Halogenid, sondern auch als Halogenat. Vergleichsweise viel Iod (0.02-1 %) enthält der Chilesalpeter N a N 0 3 (s. dort) in Form des beigemengten Lautarits Ca(I0 3 ) 2 . In nordamerikanischen und japanischen Solwässern ist bis zu 100 ppm Iod in Form des Iodids gelöst. Ferner enthält die durch Verbrennen von Tang (Meeresalgen) gewonnene Asche Iodide, da die Algen das im Meerwasser vorhandene Iodid in ihrem 0rganismus in Form organisch gebundenen Iods anreichern. Bemerkenswert ist das Vorkommen organisch gebundenen Iods in der Schilddrüse (vgl. Physiologisches^). Isotope (vgl. Anh.III). Natürlich vorkommendes Iod besteht zu 100% aus dem Isotop 1271, das sich zum NMR-spektroskopischen Nachweis in Verbindungen eignet. Die künstlichen Isotope i211 (Zerfall unter Elektroneneinfang; T1/2 = 13.3 h), 1271 (Zerfall unter Elektroneneinfang; T1/2 = 60.2 d) und 1 (ß~Zerfall; T1/2 = 8.070 d) nutzt man zur Verbindungsmarkierung, die Isotope i25> 1 zudem in der Medizin. Darstellung Die Hauptquelle für die t e c h n i s c h e G e w i n n u n g von Iod bilden die I o d a t haltigen Mutterlaugen des Chilesalpeters, und zwar wird die dem Iodat I 0 3 zugrunde liegende Iodsäure H I 0 3 durch Schweflige Säure H 2 S 0 3 zu Iodwasserstoff reduziert (vgl. hierzu die Spannungsreihe): HI03 + 3H2S03
HI + 3 H 2 S 0 4 .
(1)
i® Literatur. GMELIN: „Iodine", System-Nr 8, bisher 2 B ä n d e ULLMANN (5. Aufl.): ,,Iodine and Iodine Compounds", A M (1989) 381-391. i7 Geschichtliches (vgl. Tafel II). Entdeckt wurde das Iod im Jahre 1811 vom Pariser Salpetersieder Bernard Courtois (1777-1838) in Meeresalgenasche (er setzte es hieraus mit konzentrierter H 2 S 0 4 in Freiheit). Die elementare Natur des Iods wurde allerdings erst 1813 von Gay-Lussac erkannt, der ihm im Jahre 1814 nach der violetten Farbe seines Dampfes den Namen gab: ioeides (griech.) = veilchenfarbig, i® Physiologisches Die Einnahme größerer Mengen freien Iods I 2 (30 g Iodtinktur) kann tödlich wirken ( M A K = 1 . 1 m g / m bzw. 0.1 ppm; Gegenmittel: Stärkegel, verd. N a 2 S 2 0 3 - L ö s u n g ) . Der Mensch enthält ca. 60-80 mg des für ihn essentiellen Elements gebunden insbesondere als Bestandteil der Schilddrüsenhormone ,,Di"und „Triiodthyronin" sowie „Thyroxin" H 0 — C 6 H 2 R 2 — 0 C 6 H 2 I 2 — C H 2 C H ( N H 2 ) C 0 0 H ( R = h 2 , HI bzw. I 2 ). Die optimale Zufuhr von Iodid beträgt täglich 0.15-0.20 m g Iodidmangel bedingt Schilddrüsenunterfunktion (,,Hypothyreose"; Folgen: Kropfbildung, Kinder-Kretinismus), Iodidüberdosierung Schilddrüsenüberfunktion (,,Hyperthyreose; Folgen: Iod-Allergie, -Schnupfen, -Basedow).
1. Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat
441
Zur Rückoxidation dieses Iodwasserstoffs zu Iod bedarf es in diesem Falle keines besonderen Oxidationsmittels wie Braunstein oder Chlor, da die in der Lösung vorhandene Iodsäure (e0 = + 1.19 V) den Iodwasserstoff (e0 = + 0.535 V) zu Iod zu oxidieren vermag: HIO3 + 5HI ^
3H20 + 3I2.
(2)
Gibt m a n daher nur 5/6 der nach Gleichung (1) erforderlichen Menge an Schwefliger Säure zu, sodass gemäß H I O 3 + ^ H 2 S O 3 ^ ^ H I O 3 + f H I + ^ f H 2 S O 4 auf je 5 mol gebildeten Iodwasserstoff 1 mol Iodsäure unangegriffen zurückbleibt - wie dies Gleichung (2) verlangt - , so erhält m a n direkt das gewünschte Iod 2HIO3 + 5H2SO3 ^
5H2SO4 + H 2 0 + I 2 .
In der Praxis behandelt man die Laugen der Chilesalpeterverarbeitung, die 6-12 g Iod pro Liter enthalten, nach der Abtrennung des Salpeters NaNO 3 in Türmen (vgl. Bromdarstellung) mit gasförmigem Schwefeldioxid S O . Das hierbei entstehende Iod scheidet sich als ,,Rohiod" (80%ig) ab. Es wird durch Sublimation gereinigt. Etwa die Hälfte des Weltbedarfs an Iod wird auf diese Weise aus der Chilesalpetermutterlauge gewonnen. Die andere Hälfte des benötigten Iods stellt man aus Iodid-haltigen Erdölbohrwässern und Solen dar, indem man das Iod mittels Chlor in Freiheit setzt und durch Luft aus der Lösung bläst (vgl. Bromdarstellung). Zur Reinigung wird das Iod entweder mit S O zu HI reduziert und mit Cl2 erneut oxidiert oder an einem Anionen-Austauscher als Polyiodid adsorbiert und mit Lauge wieder desorbiert. Die im letzten Jahrhundert praktisch ausschließlich durchgeführte Gewinnung des Iods aus Tangasche hat heute nur noch eine untergeordnete Bedeutung Im L a b o r a t o r i u m lässt sich Iod ähnlich wie Brom und Chlor durch Einwirken von Schwefelsäure und Braunstein auf Kaliumiodid gewinnen. Physikalische Eigenschaften. Iod ist bei gewöhnlicher Temperatur fest und bildet grauschwarze metallglänzende, halbleitende Schuppen der Dichte 4.942 g/cm. Es schmilzt bei 113.60 0C zu einer braunen, den elektrischen Strom leitenden Flüssigkeit (3I 2 < I3 + I 3 ) und siedet bei 185.240C unter Bildung eines violetten Dampfes (62.3 kJ + 12(Q 12(g)). Trotz des verhältnismäßig hohen Siedepunktes ist Iod schon bei Zimmertemperatur merklich flüchtig: bei Temperaturerhöhung nimmt die Verflüchtigung des Iods stark zu, sodass es - falls man nicht zu schnell und zu hoch erhitzt - zu sublimieren pflegt, bevor es schmilzt. Bezüglich der elektronischen Struktur vgl. S.354, bezüglich weiterer Eigenschaften vgl. Tafel III. Wie schon aus der Schuppengestalt des festen Iods hervorgeht, bildet Iod eine Schichtstruktur. Innerhalb der Schichten (vgl. Fig. 138) liegen die 12-Moleküle (intramolekularer I—I- Abstand 2.715 Ä) alle in einer Ebene, wobei der kürzeste intermolekulare Abstand zwischen zwei I-Atomen benachbarter LMoleküle 3.496 Ä beträgt und damit wesentlich kleiner als der doppelte van-der-Waals-Radius (4.30 A) ist. Man muss daraus auf beachtliche elektronische Wechselwirkungen zwischen den Iodmolekülen schließen, welche die zweidimensionalen Halbleitereigenschaften des festen Iods und seinen Metallglanz bedingen. Wie aus der Fig. 138 darüber hinaus folgt, sind die Iodatome einer 12-Schicht näherungsweise quadratisch gepackt. Der Abstand der I-Atome zwischen den Schichten im orthorhombischen Iodkristall
X 2 (fest) F2 C B
I2
1.49 1.98 2.27 2.72
... 3.24 3.32 3.31 3.50
... 2.84 3.74 3.99 4.27
(gasf.) d x - x [A] 1.435 1.988 2.284 2.666
Fig. 138 Struktur einer Halogenschicht im festen Chlor, Brom, Iod (die Struktur von festem Fluor weicht von der der übrigen Halogene ab). XX-Abstände in festen und gasförmigen Halogenen (r x ... x , r x ... x = zwischenmolekulare Abstände innerhalb und zwischen den Schichten).
442
XII. Die Gruppe der Halogene
(4.27 Ä) entspricht etwa dem doppelten van-der-Waals-Radius von I. Die Schichten sind in der Weise gestapelt, dass jeweils die I-Atome einer Schicht über quadratische Mulden benachbarter Schichten zu liegen kommen (vgl. S. 116). Entsprechend Iod ist festes Brom und Chlor aufgebaut, doch ist die Verkürzung des kürzesten Abstands zwischen den Halogenmolekülen - bezogen auf den betreffenden van-derWaals-Abstand - weniger drastisch als im Falle von Iod (vgl. Fig. 138). Bei Drücken > 160000 bar geht das Iod senkrecht zu den Schichtebenen, bei Drücken > 220000 bar auch in Richtung der Schichtebenen in eine metallisch leitende Form über. In Wasser löst sich Iod nur in sehr geringen Mengen (0.0013 mol in 1 Liter bei 25 °C) und mit schwach bräunlichgelber Farbe („Iodwasser", ~ 1/1000-molar). Leicht löslich ist es dagegen mit dunkelbrauner Farbe in wässerigen Lösungen von Kaliumiodid und von Iodwasserstoff; dabei bilden sich die Anlage rungsverbindungen KI • I 2 = KI 3 bzw. HI -12 = HI 3 (s. S. 446). Auch in zahlreichen organischen Donorlösungsmitteln wie Alkohol (7 %ige Lösung + 3 % KI; desinfizierende ,,Iodtinktur"), Ether, Dioxan, Aceton, flüssigem Trimethylamin, Pyridin und ungesättigten Kohlenwasserstoffen löst es sich wie in Wasser mit brauner Farbe, während die Iodlösungen in aromatischen Kohlenwasserstoffen (wie Benzol, Toluol, Mesitylen) eine rote Farbe aufweisen (vgl. S. 165). Andere organische Lösungsmittel wie Schwefelkohlenstoff(CS 2 ), Chloroform (CHC13) und Tetrachlorkohlenstoff(CCl4) lösen das Iod zum Unterschied davon mit violetter Farbe Charakteristisch für Iod ist auch die beim Zusammenbringen mit Stärkelösung auftretende intensive Blaufärbung. Durch diese,,Iodstärkereaktion" lassen sich geringste Iodmengen nachweisen. Die Färbung, die auf der Bildung einer Einschlussverbindung zwischen Iod und Stärke beruht (Aufnahme von Iod in den „Kanälen" des Polysaccharids Amylose) verschwindet beim Erwärmen und tritt - falls nicht zu lange erwärmt wurde beim Abkühlen wieder auf Chemische Eigenschaften (vgl. Tabel III). In seinen chemischen Eigenschaften ist das Iod, das bei 25/200/700/1200/1700°C bei 1 bar zu ca. 1 "11/10-4/4/68/100 % in I-Atome gespalten vorliegt, hinsichtlich seines Redox-Verhaltens dem C h l o r und B r o m sehr ähnlich, nur reagiert es w e i t w e n i g e r h e f t i g a l s diese. Direkt und lebhaft verbindet es sich bei erhöhter Temperatur z.B. mit den Elementen P h o s p h o r , A l u m i n i u m , E i s e n und Q u e c k s i l b e r . Dagegen ist etwa die Tendenz zur Vereinigung mit W a s s e r s t o f f so gering, dass der Iodwasserstoff beim Erwärmen leicht bis zu einem bestimmten Gleichgewicht in Iod und Wasserstoff zerfällt (S. 186). Hinsichtlich des Säure-Base-Verhaltens wirkt Iod umgekehrt Lewis-basischer und -saurer als Chlor und Brom (Betätigung des elektronenbesetzten/-leeren n*-HOMO-/G*-LUMO-MOs). Beispiele sind etwa die Kationen Ag(I 2 ) + (im Sinne nachfolgender Formel polymer) bzw. I(I 2 ) + sowie das Anion I ( I 2 ) " (vgl. hierzu Halogen-Ionen und -Assoziate, S. 443):
(Gegenionen: A s F ö , SbF ö ; 4—i ~ 2.67 Ä; £ A g — I — I = 99°).
Verwendung Iod (Weltjahresproduktion: 10 Kilotonnenmaßstab) dient u.a. als Desinfektionsmittel (vgl. Iodtinktur), Katalysator (z.B. Umwandlung von amorphem in graues Selen) sowie Schmiermittel (in Verbindung mit aromatischen Kohlenwasserstoffen) und wird zur Darstellung vieler anorganischer und organischer Iodverbindungen benötigt. Als Beispiele seien genannt NaI (Zusatz zu Speisesalz, Induktion der Regenbildung, Vermeidung von Hagelschlag), AgI (u. a. für photographische Filme; Induktion der Regenbildung), Nil 2 und Til 4 (u.a. für katalytische Prozesse), Cdl 2 und Pbl 2 (u.a. für Elektromotorbürsten), NaIO 3 (u.a. zur Backqualitätserhöhung bestimmter Mehle), CH 2 I 2 (u.a. als besonders dichtes Lösungsmittel), Diiodfluorescein und Erythrosin (u. a. als Farbstoffe in der Photographie und der Nahrungsmittelchemie). Erwähnenswert ist darüber hinaus die Verwendung von Iod zur Gewinnung extrem reiner Metalle wie Ti, Zr, Hf nach der Methode von van Arkel und de Boer (S. 1410) sowie der Einsatz des radioaktiven, nicht natürlich vorkommenden Iodisotops 131 I in der Radiodiagnostik (z. B. Na i M I für die Darstellung der Schilddrüse (Schilddrüsenzintigraphie) und Radiotherapeutik (z. B. zur Behandlung einer Schilddrüsenüberfunktion bzw. eines Schilddrüsenkarzinoms). Bezüglich der Verwendung von Iod in der Maßanalyse s.S. 597.
1. Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat
1.5
443
Das Astat 1 ' 1 9 ' 2 0
Vorkommen, Gewinnung Da die natürlichen Nuklide mit den Massenzahlen 215-219 nur in geringsten Spuren (3 x 10 ~24 Gew.-%) als Zwischenglieder der radioaktiven Zerfallsreihen vorkommen (vgl. S. 1885; im radioaktiven Gleichgewicht entfällt z. B. auf 70 Billiarden 2^® U-Atome nur 1 Atom 21® At) und Astat nicht als Uranspaltprodukt auftritt, ist man zur präparativen Gewinnung von Astat auf künstliche Darstellungsmethoden, z.B. die Bestrahlung von Bismut mit Cyclotron-beschleunigten a-Teilchen von 26-29 MeV, angewiesen: 2»5Bi + *He
2 j n + 2®5 A t .
Die bis jetzt bekannten 24 Isotope des Astats, deren Massenzahlen von 196 bis 219 (je zwei Kernisomere der Massenzahlen 198, 200, 202, 212) und deren Halbwertszeiten von 10~ 7 Sekunden bis 8.3 Stunden variieren, gehen beim radioaktiven Zerfall unter a-Strahlung in Bismut (8 3Bi) oder unter .ST-Einfang (s. dort) in Polonium ( s 4 Po) über. Einige von ihnen seien im folgenden angeführt: At—4
•2-P0
29.4 m
207 A
204 P °
215 A t — ^ 210 P 0 211 A t - 2 - . 211 P 0 7.22h
> 210Bi
790 ns
215 A t ^ ^
8.3 h 200 P 0
1.63h
215 a — - 0
5.4 h
1.8h 200 M
2 0 5 A t — ^ 205P 0
214 Bi
2s 215 A t - ^ 0.9m
210 Bi
Eigenschaften Wegen der großen Unbeständigkeit - das längstlebige Astat-Isotop (210 At) zerfällt mit einer Halbwertszeit von 8.3 Stunden kann Astat nicht wie die übrigen Halogene in größeren Mengen angesammelt werden, sodass sich unsere Kenntnis seiner Chemie auf,,Tracerexperimente", d. h. auf Untersuchungen mit Spurenmengen (meist 211 At) gründet. Immerhin zeigen diese Untersuchungen, dass sich das Astat At 2 so verhält, wie man es von einem höheren Homologen des Iods I 2 erwarten muss. So ist es fest (Smp. ~ 300, Sdp. ~ 335 °C) und sublimierbar (erwartungsgemäß weniger flüchtig als Iod), löst sich etwas in Wasser, kann aus diesen Lösungen wie Iod mittels Benzol, Schwefelkohlenstoff oder Tetrachlorkohlenstoff extrahiert werden und reagiert mit Laugen unter quantitativer Disproportionierung in höhere und niedere Oxidationsstufen, sodass es aus alkalischen Lösungen (zum Unterschied von Iod) mit organischen Lösungsmitteln nicht mehr ausgeschüttelt werden kann
1.6 Halogen-Ionen sowie Assoziate^i Halogen-Kationen
Darstellung Löst man Iod in Schwefelsäure, die ca. 2 Mole S O pro Mol H 2 SO 4 enthält ( 6 5 % i g e s O l e u m H 2 SO 4 • 2SO 3 = H 2 S 3 O 1 0 ), so entsteht eine kräftig blaue Lösung. Die Farbe geht, wie R. J. Gillespie 1966 erstmals eindeutig nachwies, auf das blaue Diiod-Kation I 2 zurück (Absorptionsmaxima /lmax = 410, 490, 640 nm), das durch Oxidation des Iods mit S c h w e f e l t r i o x i d gebildet wird:
15 Literatur. A.H.W. Aten, jr.: ,,The Chemistry of Astatine", Adv. Inorg. Radiochem. 6 (1964) 207-223. I. Brown: ,,Astatine: Its Organonuclear Chemistry and Biomedical Applications", Adv. Inorg. C h e m 31 (1987) 43-88. 20 Geschichtliches Die Suche nach einem aufgrund des Periodensystems unterhalb des Iods noch zu vermutenden Elements 85 (,,Eka-Iod") blieb lange Zeit vergeblich. Erst im Jahre 1940 gelang dann den amerikanischen Forschern D. R. Corson, K. R. McKenzie und E. Segre die künstliche Gewinnung des Elements 85 (in Form des Isotops 211 At) durch Bestrahlung von Bismut, also des um 2 Stellen links im Periodensystem stehenden Elements, mit Cyclotronbeschleunigten a-Teilchen von 30 MeV (vgl. hierzu S. 1905). Drei Jahre später wurde das Element 85, das seltenste der natürlich vorkommenden Elemente, von den Österreicherinnen B. Karlik und T. Bernert auch in der Natur aufgefunden (die Erdkruste enthält nicht mehr als ca. 45 mg At; es folgen Fr (100 g), Pm (12 kg), Pu (25 kg), Np (1.21), Rn (8.51), Po (25001), Ac (70001)). 21 Literatur. R.J. Gillespie, J. Passmore: ,Homopolyatomic Cations of the Elements", Adv. Inorg. Radiochem 17 (1975) 49-87; S. Brownridge, I.Krossing, J.Passmore, H.D.B.Jenkins, H.K. Roobottom: ,Recent advances in understanding of the syntheses, structures, bonding and energetics of the homopolyatomic cations of groups 16 and 17", Coord. Chem. R e v 197 (2000), 397-481; H. Bürger: ,,Gasphasenkomplexe - mögliche präreaktive Vorstufen in Reaktionen von Halogenen mit NH3, H2O und H2S", Angew. Chem 109 (1997) 743-746; Int. E d 36 (1997) 718; P.H. Svensson, L.Kloos: , Synthesis, Structure, and Bonding in Polyiodide and Metal Iodine-Iodine Systems", Chem. Rev 103 (2003) 1649 1684.
444
XII. Die Gruppe der Halogene 2I 2 + 2 S 0 3 + H 2 S 0 4
in H 5, S 0 14 - 2 S 0 3
—
^ 2I + + S0 2 + 2 H S 0 4 (
+4SO,
2HS
3
0.
(1)
Auch bei der Oxidation von Iod mit A n t i m o n p e n t a f l u o r i d SbF 5 (entsprechendes gilt u.a. für TaF 5 ) in flüssigem Schwefeldioxid entsteht I 2 : 2I 2 + SbF5
in flüssigem S 0 ,
^
2I + + SbF 3 + 2 F " (
+
+ 4SbF,
-> 2 S b 2 F ^ ) .
(2)
I2+
Das gebildete 2 S b ^ (Smp.127°C) bzw. Ta 2 F ii (Smp.120°C) lässt sich in diesem Falle nach Abtrennung des in flüssigem S O unlöslichen Antimontrifluorids und Abdampfen des Schwefeldioxids in Form tiefblauer, bei Raumtemperatur stabiler Kristalle isolieren. Das I 2 -Ion entsteht darüber hinaus bei der Oxidation von Iod mit P e r o x o d i s u l f u r y l d i f l u o r i d S 2 0 6 F 2 in Fluoroschwefelsäure H S 0 3 F : 2I 2 + S 2 0 6 F 2
in H S 0 , F
• 2I + + 2 S 0 3 F ~ .
(3)
Kühlt man derartige (paramagnetische) Lösungen auf Temperaturen < — 60 °C ab, so wechselt die Farbe von blau nach rot bei gleichzeitiger Abnahme des Paramagnetismus. Es bildet sich in reversibler Reaktion gemä 2I2+ ^ I2 + hierbei das rote Tetraiod-Dikation + (/lmax = 357 nm), das u.a. in Form von I2 + [MFg ] 2 (M = As, Sb; erzeugt durch Einwirkung von I 2 auf AsF5 bzw. F~ auf 1 2 Sb2Fj~i) isoliert werden konnte. Während I 2 (0xidationsstufe von I: + 1 /2) in Gegenwart der Ionen HS3O]/0 bzw. Sb 2 F]^, die als korrespondierende Basen der sehr starken Supersäuren (s. dort) H ^ O j 0 bzw. HSb 2 F n extrem wenig basisch sind, stabil ist, disproportioniert I 2 in Gegenwart des etwas basischeren Ions S0 3 F~ = X " gemäß ^ 5I3+ + IX 3
(4)
in das rotbraune Triiod-Kation I 3 (/lmax = 270, 340, 470 nm; 0xidationsstufe von I: + 1 /3) und I (0S0 2 F) 3 (0xidationsstufe von I: + 3). In Anwesenheit noch basischerer Gegenionen X~ wie etwa H S 0 4 liegt das Disproportionierungsgleichgewicht (4) praktisch vollständig auf der rechten Seite. Infolgedessen führt etwa die 0xidation von Iod mit 20 %igem 0 l e u m , d.h. mit Schwefelsäure, die pro Mol H 2 S 0 4 nur 1/4 Mol - also sehr wenig - S 0 3 enthält, direkt zum 1 3 -Ion (3I 2 + 2 S 0 3 + H 2 S 0 4 -> 2I 3 + 2 H S 0 4 + S0 2 ). Letzteres Kation entsteht auch in reiner Schwefelsäure aus Iod durch 0xidation mit I o d s ä u r e H I 0 3 (in reiner H 2 S 0 4 löst sich I 2 in geringem Umfang molekular mit rosa Farbe): 7I, + H I 0 , + 5 H S 0
in
5
S0
— ^ 5I + + 5 H S 0 4 + 3 H 0 .
Die auf diese Weise gewonnenen I 3 -Lösungen (Absorptionsmaxima: 305, 470 nm) nehmen noch I 2 auf: Bildung des schwarzgrünen Pentaiod-Kations Ig , schwarzen Pentadecaiod-Trikations Ijg und möglicherweise schwarzen Heptaiod-Kations I, . Die I 3 -, I5-, Ig+- und I7-Kationen lassen sich u.a. in Form der Salze 1 3 AsF6~, I ^ S 0 3 F " (Smp. 101.5°C), I + AlCl 4 (Smp. 45°C), I5+AlCl4 (Smp. 50°C), I5+SbFg (Smp. 73 °C), (SbFg ) 3 und I7+ S0 3 F~ (Smp. 90.5 °C) isolieren. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Verbindungen zu synthetisieren, die das unsolvatisierte MonoiodKation I + enthalten. Alle bisher untersuchten Verbindungen IX mit positiv einwertigem Iod weisen jedoch selbst dann, wenn X~ ein extrem wenig basisches Anion darstellt (z.B. Cl0 4 ), kovalent gebundenes Iod auf; d.h. das Lewis-saure I + -Ion, das in der Gasphase in Abwesenheit eines Gegenions existiert und wohl bekannt ist, stabilisiert sich in Anwesenheit eines Gegenions X~ (Lewis-Base) in jedem Falle durch Aufnahme dieses Ions und Bildung eines Lewis-Säure-Base-Addukts IX. Zum Unterschied hierzu existieren in der kondensierten Phase solvatisierte Iod-Kationen wie etwa I(py) 2 in Salzen I(py) 2 X~ (py = Pyridin C 5 H 5 N; X " = C l 0 4 , N 0 3 , R C 0 2 ). Letztere Salze bilden sich in Methylenchlorid bei der Einwirkung von Iod auf Silbersalze AgX in Anwesenheit überschüssigen Pyridins: AgX + I 2 + 2py -
I(py) 2 + X- + AgI.
Das Bis(pyridin)iod-Kation entsteht auch bei der Reaktion von Iod mit Pyridin: 2I 2 + 2py -> I(py)2^ I 3 (vgl. S.447). I(py) 2 wirkt als 0xidationsmittel. Analog Iod vermag Brom ein komplexstabilisiertes Atomkation zu bilden (z. B. Br(py)2 N O ) , während Chlor diese Fähigkeit nur in sehr abgeschwächter Form und F l u o r überhaupt nicht mehr besitzt. Dagegen geht Astat, das elektropositivste Halogen, sehr leicht in das Kation At + z.B. in Form von At(py)2 über; es ist mit Schwefelwasserstoff fällbar (-> At 2 S) und lässt sich kathodisch abscheiden. Hierin dokumentiert sich der verstärkte metallische Charakter von Astat, der ja auch schon bei Iod im Metallglanz der Kristalle zum Ausdruck kommt
1. Die Elemente Fluor, Chlor, Brom, Iod und Astat
445
Instabiler als das I 2 -Ion ist das kirschrote Dibrom-Kation Br2 (Amax = 5 1 0 nm), das in Lösung selbst in Anwesenheit des extrem schwach basischen Anions SbF 2 (S0 3 F)4 teilweise unter Disproportionierung zerfällt (vgl. (4)). Die Darstellung von Br2 SbF 2 (S0 3 F)~ erfolgt durch Einleiten von Brom in die Supersäure HS0 3 F/SbF 5 /3S0 3 . Stabil ist Br2 in Form des analog Gl. (2) zugänglichen Salzes Br2 Sb 3 F^ 6 (Smp. 85.5 0C). Stabiler als das Br2 -Ion - aber instabiler als das I 3 -Ion - ist das braune Tribrom-Kation Br3 (Amax = 300, 375 nm): Es bildet sich beim Eintropfen von Brom in die Supersäure HS0 3 F/SbF 5 /S0 3 bzw. im Zuge der Reaktion 3Br 2 + 2 0 + A s F " 2Br+AsF" + 2 0 2 sowie 7Br 2 + BrF5 + 5AsF s 5Br 3 + AsF" in Form des Salzes Br+AsF^ (Sblp. 50°C). Isolierbar ist auch B r + [ A u ( S 0 3 F ) J " (Zers. 105oC). Das Br+Ion neigt in Anwesenheit von Gegenionen X ", die sich wie S0 3 F~ nicht von extrem starken Supersäuren ableiten, zur Disproportionierung gemäß Br3+ + X "
Br 2 + BrX .
(5)
Es nimmt zudem weiteres Br2 unter Bildung des dunkelbraunen Pentabrom-Kations BrJ auf, das in Form von Br+ [Au(S0 3 F) 4 ]" (Smp. 65 0C) und Br 5 + MF" (erzeugt durch 0xidation von Br2 mit XeF + M F " ; M = As, Sb) isoliert werden konnte. Das noch instabilere „Dichlor-Kation" Cl2 konnte bisher weder in gelöster noch in fester Phase isoliert werden (es existiert ähnlich wie das Difluor-KationF2 nur in Abwesenheit eines Gegenions in der Gasphase und lässt sich aus Chlor bzw. Fluor durch Elektronenstoß im Massenspektrometer leicht gewinnen). Es bildet sich aber als blaues Addukt CI4 mit Cl 2 im Zuge der Reaktion von überschüssigem Cl2 mit IrF 6 bzw. SbF 5 bzw. 0 2 (z.B. HF als Reaktionsmedium) als Bestandteil von Salzen: 2 Cl2 + IrF 6 CI4 IrF^ (Zersetzung oberhalb — 78 0 C zu Salzen des Cl 3 -Ions). Das gelbe Trichlor-Kation Cl3 disproportioniert leichter als Br3 analog (5) und bildet sich infolgedessen selbst beim Einleiten von Cl 2 -Gas in die Supersäure HS0 3 F/SbF 5 /S0 3 nicht mehr. Es liegt in dem nach Cl2 + ClF + AsF5 Cl 3 AsF^ in HF/SbF 5 bei tiefen Temperaturen zugänglichen Salz Cl 3 AsF^ vor. Das Trifluor-Kation F3h ist bisher unbekannt. Strukturen Mit dem in Richtung F 2 , Cl 2 , Br 2 , I 2 energetisch leichter erfolgenden Übergang der Halogenmoleküle X 2 in Kationen X2 (Ionisierungsenergien für F 2 /Cl 2 /Br 2 /I 2 = 15.697/11.480/10.515/ 9.3995 eV) reduziert sich der XX-Abstand um ca. 0.1 A.
x2 X2+ x2-
dF_F
dci—ci
^Br—Br
1.43 1.43 1.43
1.98 1.89 1.98
2.28 2.13 2.28
di-1 2.66Ä 2.56Ä >2.66Ä
Fig. 139 Energieniveauschemata von Molekülorbitalen sowie XX-Abstände (Cl2 in der Gasphase) der Dihalogen-Kationen X 2 , -Moleküle X 2 sowie -Anionen X 2 (feste Phase; vgl. hierzu auch S. 354). Diese Abstandsverkürzung entspricht einer auch von der M0-Theorie geforderten Erhöhung der XXBindungsordnung; denn der Übergang X 2 X 2 + © ist gemäß Fig. 139 mit der Abionisation eines a n t i b i n d e n d e n n*-Elektrons verbunden, wodurch die XX-Bindungsordnung von 1 auf 1.5 erhöht wird (vgl. S. 354). Die Ionen X 3 sind als 20-Elektronenspezies der Erwartung entsprechend gewinkelt gebaut (a) (C2v-Symmetrie, vgl. Tab. 46 auf S. 358). Diese Struktur folgt auch aus dem VSEPR-Modell. Denn den mittleren Halogenatomen kommen in :X—X—X: + vier g- und n-Elektronenpaare zu, was eine tetraedrische 0rientierung der Elektronen bedingt. Im CI4 - sowie I^ + -Ion nehmen die Halogenatome die Ecken eines Rechtecks ein (b). 0ffensichtlich sind hier ein Cl 2 -Ion mit einem Cl 2 -Molekül bzw. zwei I 2 -Ionen unter Betätigung ihrer 71 *-0rbitale (Fig. 139) über eine Vierzentren-Dreielektronen- bzw. -Zweielektronen-rc*7i*-Bindung miteinander verknüpft (vgl. S.360). In analoger Weise liegt in den Z-förmig strukturierten X5-Ionen formal eine Verknüpfung zweier X + -Einheiten über X 3 vor (c) (in I^J sind drei I^"-Einheiten lose miteinander zu einer I 15 -Zick-Zack-Kette verknüpft). Die Struktur von ist noch unbekannt
(a)
v r X
X—X
(b)
ßr3+
13+ 1.98 2.27 2.66 Ä 105.5° 102.5° 101.8°
cij
d
4 X
: d 1 =d2 X— X CI4
d! d2
1.89 2.44
(c)
/X
97° \ X
1T 2+
4 2.58 Ä 3.27 Ä
X
Br5+ dx d2
2.28 2.51
15+ 2.65 Ä 2.90 Ä
446
XII. Die Gruppe der Halogene
Halogen-Anionen (Halogenide) Darstellung Aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Elektronegativität gehen die Halogene lieber in den Anionen- als in den Kationenzustand über. Besonders leicht bilden sich hierbei Monohalogenide X", welche etwa in den Alkali- oder Erdalkalihalogeniden MX bzw. MX 2 vorliegen. Darüber hinaus existieren eine Reihe von Polyhalogenid-Anionen. So geht, wie weiter oben bereits angedeutet wurde (vgl. physikalische Eigenschaften), die erhöhte Löslichkeit von Iod in Iodid-haltigem Wasser auf die Bildung des Triiodids I3 zurück. Die Tendenz zur Triiodid-Bildung ist recht groß, wie u. a. aus dem in geschmolzenem Iod vorliegenden Dissoziationsgleichgewicht 3I 2 I3 + I3" hervorgeht. In Salzen mit geeignet großen Kationen existieren zudem Polyiodide u.a. der Zusammensetzung 15", I f , Ig", Ig", I9 , I2", I 2 2 oder Ig" . Selbst ein Pentaiodid IJ entsteht und bildet offensichtlich die Farbe des blauen Iod-Stärke-Komplexes (I^ ist in den Amylose-Kanälen eingelagert). Auch von Brom und Chlor ist ein Tribromid BrJ bzw. Trichlorid CI3 bekannt, doch ist ihre Bildung nach X" + X 2
X3"
weniger bevorzugt, wie sich aus dem für Wasser gültigen G l e i c h g e w i c h t s k o n s t a n t e n ergibt: ^ = 725 (X = I), 18 (X = Br) und 0.01 (X = Cl). Das CI3-Ion entsteht infolgedessen nur noch beim Sättigen einer k o n z e n t r i e r t e n Cl"-haltigen Lösung mit Chlor. Beständiger als wässerige sind alkoholische X3"Lösungen und insbesondere X3"-haltige Salze mit großen Kationen wie Cs + , R 4 N + , [Co(NH 3 ) 6 ] 3 + (der I2-Gleichgewichtsdruck von Csl 3 erreicht demgemäß erst bei 250 0 C den Wert eines Bars). Neben Bv^ kennt man auch ein Pentabromid Br^. Noch unbeständiger als das Trichlorid ist das Trifluorid F3 . Es bildet sich bei 15 K beim Ausfrieren von Argongas, das F 2 sowie gasförmiges MF (M = Rb, Cs) in kleiner Menge enthält: F 2 + F " F3 . Beim Erwärmen der „Tieftemperaturmatrix" auf 40 K zerfällt F3" in Umkehrung seiner Bildung. Die Dihalogen-Anionen X 2 (Cl 2 ; hellgrün; Br2 : grün; I 2 : dunkelgrün) entstehen z. B. bei der Bestrahlung von X"-haltigen Gläsern nach: 2 X " + hv X 2 + © in kleinen Konzentrationen. Unter normalen Bedingungen (z. B. in wässerigem Milieu) sind die Ionen X 2 sehr instabil und zerfallen unter Disproportionierung: 2X 2 X " + X3 . In einer Argonmatrix lässt sich bei 15 K auch F 2 gemäß M + F2 M + F " (M = K, Rb, Cs) erzeugen. Strukturen Der Übergang X 2 + © X2 ist gemäß Fig. 139 mit einer Erniedrigung der XX-Bindungsordnung von 1 auf 0.5 verbunden (Einbau eines Elektrons in das antibindende 0-*-Molekülorbital). Somit sind für die X 2 -Anionen zum Unterschied von den X 2 -Kationen nicht kleinere, sondern größere XXAbstände als für die X 2 -Moleküle zu erwarten. Anders als die gewinkelt gebauten Trihalogen-Kationen X3 (a) weisen die Trihalogen-Anionen XJ als 22-Elektronenspezies einen linearen Bau auf (d). Djes entspricht der Erwartung (vgl. VSEPR-Modell, S.313), da dem mittleren Halogenatom in X—'X'—X" f ü n f {X—X-:Nu}"
X " + X—Nu.
Ein Beispiel bietet etwa die alkalische Hydrolyse des Iods (I2 + OH~ -> I " + IOH; vgl. S. 165), die über den UV-spektroskopisch nachweisbaren CT-Komplex OH führt (die Bildung des Assoziats erfolgt 100-mal rascher als dessen Weiterreaktion). In analoger Weise verläuft die Ammonolyse des Iods über einen CT-Komplex: I 2 + NH 3 I — I - N ^ -> I " + I—NH3+ ( + NH 3 ^ I—NH 2 + vgl. S. 165). Erwähnt sei auch die Reaktion des Iods mit Pyridin py = NC 5 H 5 : 2I 2 + 2py -> 2I—I---py -> I(py)2 + 1 ( s . oben) bzw. die Reaktion des Iods mit Thiosulfat: I 2 + S2C>2~ -> I—I•••SSO2~ -> I—SSO3 + I"; I—SSO3 + S 2 0 2 ^ S 4 0 2 " + 1 " (vgl. S.597). Als weiteres Beispiel eines Assoziats sei das - kristallstrukturanalytisch geklärte - Toluol-Addukt CH 3 C 6 H 5 ---Br 2 genannt, in welchem ein BrAtom des B -Moleküls mit einer Doppelbindung des CH -Moleküls kontaktiert (Weiterreaktion des Addukts zu HBr und CH 3 C 6 H 4 Br). Ein Beispiel für die Bildung einer präreaktiven Vorstufe bildet die faszinierende Umsetzung von Fluor mit Wasser: sie liefert beim Durchleiten von F 2 durch flüssiges Wasser die Verbindungen HF, H 2 0 2 , O 2 sowie O F (S.480) und beim Überleiten von F 2 über festes Wasser (Eis) bei - 40 °C die hochreaktive Hypofluorige Säure: F 2 + H 2 0 £> HOF + HF (S. 465). Mikrowellenspektroskopischen Studien zur Folge bildet sich aus F 2 undH 2 O zunächst die sehr kurzlebige Vorstufe F—F •••OH (Abstände FF/FO = 1.418/ 2.719 Ä). Entsprechende präreaktive Vorstufen ließen sich für Umsetzungen von F 2 mit H 2 S oder NH 3 bzw. von Q 2 , Br2, ClF, BrCl mit H 2 O, H 2 S oder N H nachweisen. Dabei wächst die Stärke der zwischenmolekularen Bindung für eine gegebene Base in der Reihe F 2 < Cl2 < Br2 < BrCl < ClF und für ein gegebenes Halogen in der Reihe NH
1.7
Halogenein Verbindungen
In seinen Verbindungen ist Fluor an elektropositivere Elemente anionisch in Form von F ", sonst kovalent gebunden und tritt zum Unterschied von Chlor als elektronegativstes Element praktisch nur in der Oxidationsstufe - 1 auf (Ausnahmen: F 2 , F 3 ; vgl. S.446). In den ionischen Fluoriden betätigt es die Koordinationszahlen eins (z. B. gasförmiges BeF2), zwei (lineares F in NbF 3 , gewinkeltes F in festem BeF2, festem HF), drei (trigonal-planares F in MgF2), vier (tetraedrisches F in CaF2, CuF) und sechs (oktaedrisches F in NaF); in den kovalenten Fluoriden ist es immer einzählig. Verbindungen mit kationischem Fluor existieren nicht (vgl. S. 443). Das Chlor liegt in seinen Verbindungen mit elektropositiven, wenig Lewis-sauren Bindungspartnern wie den Alkali- bzw. Erdalkalimetallen als anionischer Bestandteil, sonst im Allgemeinen als kovalent gebundener Bestandteil vor und betätigt die Oxidationsstufe — 1. Nur bezüglich der elektronegativen Elemente Sauerstoff und Fluor (und zum Teil auch Stickstoff) betätigt es auch positive Oxidationsstufen, und zwar hauptsächlich + 1 (z.B. ClO", CIF, CM 3 ), + 3 (z.B. Cl0 2 , ClF 3 ), + 5 (z.B. C l 0 3 , ClF 5 ) und + 7 (z.B. Cl0 4 , ClO 3 F), s e l t e n 2 (z.B. ClO, instabil), + 4 (z.B. Cl0 2 ), + 6 (z.B. C1 2 0 6 ). Gebrochene Oxidationsstufen kommen dem Chlor in den Ionen Cl 3 (— V3) bzw. Cl 3 ( + V3) zu. Dabei vermag das Chlor nur gegenüber den elektronegativsten, verschwindend Lewis-basischen Partnern wie den von den Supersäuren abgeleiteten Anionen auch als kationischer Verbindungsbestandteil aufzutreten (vgl. S.443). Koordinationszahlen Eins (z.B. Cl2, RC1), zwei (lineares Cl in C1F2 , gewinkeltes Cl in CIO2, Al 2 Cl 6 , PdCl 2 ), drei (trigonal-pyramidales Cl in CIO3, T-förmiges Cl in C1F3), vier (tetraedrisches Cl in Sr Cl2, CIO4 , wippenförmiges Cl in Cl O F ) , fünf (quadratisch-pyramidales Cl in C1F5, trigonalbipyramidales Cl in C10 2 F 3 ), sechs (oktaedrisches Cl in Na Cl), acht (kubisches Cl in Cs Cl). Vergleich von Chlor mit Fluor. Die Chemie des Chlors und seiner Verbindungen unterscheidet sich in charakteristischer Weise von der seines leichteren Homologen Fluor. Dies ist wie im Falle der im Periodensystem sich links anschließenden Elementpaare Sauerstoff/Schwefel, Stickstoff/Phosphor, Kohlenstoff/Silicium, Bor/Aluminium, Beryllium/Magnesium und Lithium/Natrium darauf zurückzuführen, dass das leichtere Homologe im Unterschied zum schwereren einen viel kleineren A tomradius aufweist und in Verbindungen keine Dreizentren-Vierelektronen-Bindungen ausbildet. Für Einzelheiten vgl. S.309. Das Brom hat in seinen Verbindungen mit elektropositiven Partnern im Allgemeinen die Oxidationsstufe — 1 und liegt als ionisch bzw. kovalent gebundener Bestandteil vor (z. B. K + Br~; HBr). Unter besonderen Bedingungen lassen sich auch die negativen Oxidationsstufen — 1/3 (Br^) bzw. — 1/2 (Br2 ) verwirklichen
448
XII. Die Gruppe der Halogene
(vgl. S. 446). Bezüglich elektronegativen Partnern vermag Brom als kovalent gebundener Verbindungsbestandteil hauptsächlich in den 0xidationsstufen + 1 (z.B. BrO~, BrF), + 3 (z.B. Br0 2 , BrF3), + 5 (z. B. BrO 3, BrF5) und + 7(z.B. Br0 4 , BrO 3 F) aufzutreten. Nur die elektronegativsten Partner (Anionen der Supersäuren) stabilisieren Brom in kationischer Form (Br2 , & 3 ; vgl. S. 443). - Koordinationszahlen: Eins (z. B. Br2, RBr), zwei (lineares Brin Brj; gewinkeltes Brin BrF2 , Al2Br6), drei (trigonal-pyramidales Brin BrO3, MgBr2; T-förmiges Brm BrF3), vier (tetraedrisches Brm BrO 4 , BrO3F; quadratisch-planares Br in BrF 4 ; wippenförmiges Br in Br 0F 3 ), fünf (quadratisch-pyramidales Br in BrF5), sechs (oktaedrisches Br in Na Br, BrF g ), acht (kubisches Br in Cs Br). Die 0xidationsstufen des Iods entsprechen denen des Chlors und Broms. Demgemäß betätigt Iod gegenüber elektropositiven Partnern im Wesentlichen die 0xidationsstufe — 1 (z.B. K + I~,HI), gegenüber elektronegativen Partnern hauptsächlich die 0xidationsstufen + 1 (z. B. IO~, ICl), + 3 (z.B. I 0 2 , IC13), + 5 (z.B. IO3 , IF 5 ) und + 7 (z.B. IO4 , IF7). Koordinationszahlen Eins (z.B. I 2 , RI), zwei (lineares I in IC12 ; gewinkeltes I in IF2 , A12I6), drei (trigonal-pyramidales I in IO3, Cdl 2 ; T-förmiges I in IF3), vier (tetraedrisches IinlO 4 , Cul; quadratisch-planares I inlCI4,1 2 Q 6 ; wippenförmiges I i n l F ^ , I 0 2 F 2 ), fünf (quadratisch-pyramidales I in IF5, trigonal-bipyramidales I in IO|"?), sechs (oktaedrisches I in IOg", Nal, IFg; verzerrt-oktaedrisches I in ffg ), sieben (pentagonal-bipyramidales I in IF7), acht (kubisches I in C l ; antikubisches I in ff g). Bezüglich eines Vergleichs von Iod mit seinen Gruppenhomologen s. S. 309.
2
Wasserstoffverbindungen der Halogene1
Fluorwasserstoff 1,3 ' 22 Darstellung Der Fluorwasserstoff, der f ü r die Fluorchemie von zentraler Bedeutung ist, wird in der Technik durch Einwirkung einer Säure auf ein Salz des Fluorwasserstoffs gewonnen. Als Fluorid verwendet m a n insbesondere den in der N a t u r vorkommenden Flussspat CaF 2 (s.dort). Beim Erwärmen dieses Salzes mit konzentrierter Schwefelsäure auf 2 0 0 - 2 5 0 °C in 20 m langen und 3 m dicken Stahldrehrohröfen destilliert der Fluorwasserstoff ab: 59 kJ + CaF 2 + H 2 S 0 4
CaS04 + 2HF.
Das mit Schwefelsäure gewaschene gasförmige R o h p r o d u k t lässt sich durch mehrstufige Kühlung zu flüssigem H F von 99.5 %iger Reinheit konzentrieren. Letzterer, in (Tankwagen versandter) Fluorwasserstoff ist in Stahlflaschen im Handel und lässt sich durch Destillation weiter reinigen Der reichlich in der Natur vorkommende Fluorapatit (s. dort) wird wegen seines geringen FluoridGehalts (2-4%>) bisher noch wenig als HF-Rohstoffquelle genutzt (Aufschluss: Ca 5 (P0 4 ) 3 F + 5H 2 S0 4 -> 5 CaS0 4 + 3 H 3 P 0 4 + HF). Zudem geht bis zu 30 % des gebildeten Fluorwasserstoffs durch Reaktion mit der Apatitverunreinigung Si0 2 verloren (Bildung von H 2 SiF 6 , vgl. S. 946). Die Erzeugung von Fluorwasserstoff aus den Elementen gemäß H 2 + F2 -> 2HF + 545.2 kJ ist ungebräuchlich. Im Laboratorium gewinnt man wasserfreien Fluorwasserstoff zweckmäßig durch Erhitzen von sauren Fluoriden des Typus MF • HF, z. B.: KF • HF -> KF + H F Physikalische Eigenschaften Wasserfreier Fluorwasserstoff ist bei gewöhnlicher Temperatur eine farblose, leicht bewegliche, stechend riechende, an der Luft stark rauchende Flüssigkeit, welche bei 19.51 °C siedet und bei — 83.36°C erstarrt (Dichte bei 0°C 1.002 g/cm3)22. Struktur Der HF-Bindungsabstand beträgt 0.917 Ä, die HF-Dissoziationsenergie 573.98 kJ/mol. Fester Fluorwasserstoff liegt in polymerer Form (HF)X vor; und zwar sind einzelne HF-Moleküle über Wasserstoffbrücken zu langen Zickzack-Ketten mit linearen F—H F- Gruppierungen verknüpft (vgl. Formelbild auf S. 160). Gasförmiger Fluorwasserstoff besteht beim Siedepunkt (19.51 °C) teils aus hexameren Molekülen (HF) 6 (vgl. Formelbild auf S. 160), teils aus monomeren Molekülen HF, wobei mit zunehmender Temperatur der Anteil an HF auf Kosten des (HF)6-Anteils wächst. 0berhalb von 90 °C ist Fluorwasserstoff ausschließlich monomolekular. In flüssigem Fluorwasserstoff liegen - meist unverzweigte, aber miteinander in bindender Wechselwirkung stehende - Ketten aus durchschnittlich sieben,
22 Physiologisches HF-Dämpfe sind sehr giftig ( M A K = 1.7 m g / m bzw. 2 ppm). Auf der Haut führt H F zu schmerzhaften, schlecht heilenden Wunden.
2. Wasserstoffverbindungen der Halogene
449
über starke, nichtlineare H-Brücken verknüpften HF-Molekülen vor. Die Assoziation von Fluorwasserstoff über Wasserstoffbrücken bedingt dessen auffallend hohen Siede- und Schmelzpunkt (vgl. S. 160) sowie die vergleichsweise hohe Dielektrizitätskonstante flüssigen Fluorwasserstoffs von 83.5 bei 0°C. Letztere ist u. a. die Ursache dafür, dass flüssiger Fluorwasserstoff neben Wasser (Dielektrizitätskonstante: 78.3 bei 25°C) eines der besten (wasserähnlichen) Lösungsmittel für anorganische und organische salzartige sowie kovalente Stoffe ist (z. B. für Metall- und Nichtmetallfluoride, Cellulose, Kohlenhydrate, Proteine; s. unten). Chemische Eigenschaften In Wasser löst sich der sehr hygroskopische Fluorwasserstoff leicht (bei Zimmertemperatur unbeschränkte Mischbarkeit). Die dabei entstehende Lösung wird ,,Fluorwasserstoffsäure" oder „Flusssäure" genannt (Azeotrop: 38 Gew.-% HF, 62 Gew.-% H 2 O ; Sdp. 112°C, Dichte 1.138 g/cm 3 ; vgl. bei HCl). Aus der Lösung lassen sich die Hydrate 4 H F • H 2 O . (Smp. — 100.4 °C), 2 H F • H 2 O (Smp. — 75.5 °C) und H F • H 2 ° (Smp. — 35.5 °C) mit ionogenem A u f b a u isolieren (z.B. H 3 0 + H 3 F 4 , H 3 0 + F " , s. unten). Somit stellt die Auflösung von H F in H 2 O keinen physikalischen, sondern einen chemischen Vorgang dar. Die Flusssäure löst zahlreiche Metalle unter Wasserstoffentwicklung und Bildung von,,Fluoriden" (s.u.). Gold und Platin werden von Flusssäure nicht angegriffen, Blei nur oberflächlich. Die Gleichgewichtskonstante der Dissoziation HF hat in verdünnter wässeriger Lösung den Wert 6.46 x 10"4 mol/l ( p ^ s = 3.19), entsprechend einer (formal) 8 %igen Dissoziation in 0.1 molarer Lösung. Flusssäure wirkt hiernach als schwache Säure. Die Acidität der Halogenwasserstoffe nimmt in der Reihe HI > HBr > HCl > HF ab (pKs = — 9.3, — 8.9, — 6.1 bzw. + 3.2). Die Acidität verringert sich beim Übergang von HCl zu HF besonders drastisch. Die Ursache hierfür steht in Verbindung mit dem hohen Energieaufwand der Protonenabspaltung aus HF (1508 kJ/mol in der Gasphase; zum Vergleich: HCl: 1358 kJ, HBr: 1314 kJ, HI: 1277 kJ/mol), der durch die Hydratation von und von in Wasser nicht kompensiert werden kann (Hydratations energie: —458 (F"), —384 (Cl"), —351 (Br"), —307 kJ/mol (I")). Tatsächlich ist HF in verdünnter wässeriger Lösung vollständig dissoziiert. Im Zuge dieser Dissoziation bilden sich jedoch nicht - wie bei anderen Säuren üblich - Hydronium-Ionen, sondern auf Grund der hohen Affinität von F " zu H + gemäßH 2 0 + HF SiF 4 + 2 H 2 O . Der wasserfreie flüssige Fluorwasserstoff ist eine sehr starke Protonsäure. Durch Zusatz von etwas Antimonpentafluorid lässt sich die Säurestärke weiter steigern (vgl. Supersäuren, S.250). H F vermag selbst die sehr schwache Base Fluorwasserstoff in geringem Ausmaße zu protonieren. Das Ionenprodukt des in reinem flüssigen Fluorwasserstoff vorliegenden Autoprotolysegleichgewichts 3H beträgtca. 1
HF beiO°C(zum V e r g l e i c h 2 H 2 0 ^ H 3 0 + + O H " : Ionenprodukt = 10"14).
Salze Die Fluoride der meisten Metalle lösen sich in Wasser, einige jedoch schwer (z.B. CaF 2 , SrF2, BaF2, CuF 2 , PbF 2 ). Aus Wasser erhält man die Fluoride teils wasserfrei (LiF, NaF, NH 4 F, MgF2, CaF2,
450
XII. Die Gruppe der Halogene
SrF2, BaF2, SnF2, PW 2 , SbF3, SiF4(g), GeF4(g)), teils wasserhaltig (KF • 2 H 2 0 , R b F ^ 3 H 2 0 , CsF • 1.5 H 2 0 , AgF • 4 ^ 0 , CuF 2 • 4 H 2 0 , ZnF 2 • 4 H 2 0 , CdF 2 • 4 H 2 0 , HgF 2 • 2 H 2 0 , M F • 6 H 2 0 mit M = Fe, Co, Ni), AlF 3 • H 0 , GaF 3 • 3 H 2 0 , InF 3 • 3 H 2 0). Manche Fluoride können sich zudem noch mit einem oder mehreren Molekülen Fluorwasserstoff unter Bildung von Hydrogenfluoriden verbinden. So kristallisiert z.B. aus einer KF-haltigen Flusssäure KF • HF („Kalium-hydrogendifluorid", ,,saures Kaliumfluorid"; Smp. ca. 225 °C) und aus einer K F • HF-Schmelze in Anwesenheit unterschiedlicher Mengen Fluorwasserstoff u.a. KF • 2 H F (Smp. 72°C). K F • 3HF (Smp. 66°C) bzw. KF • 4HF aus, durch deren thermische Zersetzung man in Laboratorien leicht reinen Fluorwasserstoff gewinnen kann. In analoger Weise bilden sich andere ,,saure Fluoride" MF • «HF (M = Li,Na, R b , C s , H 3 0 , NH 4 ,N(CH 3 ) 4 , N 0 , pyH). Den betreffenden Salzen liegen komplexe Anionen ] " (n = 1, 2, 3, 4, 5, 7) folgenden Baus zugrunde
•
[F—H—F]" I—2.26 A
1
n 1 il
n
H 2.40A
/F 2.32Ä'
H' /
H
/
H2.45A
H
H
\ ,' F—H—F
F—H—F
/
2.28Ä
H H H
•'
2.27Ä
'•
H F
H F
I F
\
H,l\
Ersichtlicherweise koordinieren in ihnen 1, 2, 3 oder 4 HF-Moleküle ein Fluoridion F~ linear, gewinkelt, trigonal oder tetraedrisch bzw. 2 oder 4HF-Moleküle ein Hydrogendifluoridion FHF~ cis-ständig oder tetragonal (im Anion [ H 7 F s ] " sind an das Ion F H F " drei Gruppen F—H ••• F—H über H-Brücken gebunden). Die F - •• F Abstände der F—H • • • F-Gruppen wachsen mit zunehmendem HF-Gehalt von [H„F n+ t ] " (Grenzwert: 2.50 Ä in polymerem HF; zum Vergleich: FF-van der Waals-Abstand m 2.70 Ä) Der Winkel am Fluor beträgt etwa 110-120°. Das Ion [ H 3 F 4 ] " existiert in mehreren isomeren Formen: (i) kettenförmigcis-konfiguriert (z.B. in K 2 [H 2 F 3 ][H 3 F 4 ] = KF • 2.5 HF und in H 3 0 [ H 3 F 4 ] ) , (ii) trigonal-planar (z.B. in K[H 3 F 4 ]), (iii) trigonal-pyramidal (z.B. in NR 4 [H 3 F 4 ], NH 4 [H 3 F 4 ]). Das in kondensierter Phase nicht existente „nackte" Fluorid-Ion ist eine starke Lewis-Base. Vergleichsweise nahe kommt man ihm in wasserfreiem Cäsiumfluorid Cs + F~ oder - insbesondere - im TetramethylammoniumfluoridMe4N + F~, das in Acetonitril mäßig löslich ist und sich nach Me 4 N + 0 H ~ + wässeriges HF -> Me 4 N + F~ • x H 2 0 (Trocknung bei 150°C im Vakuum) darstellen lässt. Cs + , NMe 4 , aber auch andere einwertige Kationen (PPh 4 , AsPh 4 , NBu 4 usw.) wirken hier gewissermaßen als schwach hinsichtlich F~ koordinierende Kationen. Mit Me 4 N + F " lassen sich Fluorokomplexe X e F j , ClFg , BrFg , IFg , IFg, I0Fg , TeF^ erzeugen (s.u.). Halogenokomplexe. Viele Metall- und Nichtmetallfluoride bilden mit Alkalifluoriden Fluorokomplexe, z.B BeF2 + 2 F " -> BeF2"; AlF3 + 3 F " -> AlFg";
BF3 + F " -> B F 4 ; SiF4 + 2 F " -> SiF2";
AlF 3 + F " -> AlF 4 ; PF 5 + F " -> PFg .
Diese Fluorokomplexe, die mit neutralen Fluoriden gleicher Elektronenzahl isoster sind (BeF2" und BF 4 z.B. mit C F ; AlF 4 mit SiF4; AlF g", SiF2" und PFg mit S F ) , leiten sich von starken komplexen Fluorosäuren ab. In entsprechender Weise bilden Chloride, Bromide, Iodide, Astatide Halogeno-Komplexe, in welchen das Halogenid als einzähniger (tj1) Ligand wirkt. Es existieren darüber hinaus Komplexe mit verbrückenden Qi) Halogeno-Liganden. Und zwar vermag Halogenid X~ zwei Metall- oder Nichtmetallkationen gewinkelt (a) oder diagonal (b), drei derartige Kationen trigonal-pyramidal (c) oder trigonal-planar (d), vier oder sechs Metallionen in Salzen tetraedrisch oder oktaedrisch zu koordinieren; auch beobachtet man Verbindungen zweier Metallkationen über zwei, drei oder sogar vier HalogenoIonen (e, f, g): X
M
/ \
X
M
M—X—M
/|\
M ^
M
M—X
/
M
M (a)
(b)
(c)
(d)
(z.B. RuFRuin RuF 5 ; (RNC) 4 CoICo(CNR) 4 + )
(z.B. F 5 NbFNbF 5 ; C13A1 Cl AlCl 3 )
(z.B. F ( X e 0 F ) s ; TeClJ
(z.B. F(SbF 3 ) 3 )
2. Wasserstoffverbindungen der Halogene X M
Ä
X
w
M
M^
X
M
M^
451
w
JA
X
X
(e) (z.B. F0 2 MoF 2 Mo0 2 F 2 ;
(f) (z.B.
(g) (z.B. Cp'MoCl4MoCp'
Cl3CuCljCuCl*"; Cl2ZnCl2ZnCl2")
(R3P)3H2MoF3MOH2(PR3)3;
mit Cp' = i P r C 5 H 4 )
Cl3 CrCl3Cr Q 3 " )
Die X-Brücken sind in (a)- (d) häufig symmetrisch, zum Teil aber auch asymmetrisch. Bei Fluorid werden Einfachbrücken häufig, Doppelbrücken weniger häufig, Tripelbrücken selten, bei Chlorid, Bromid, Iodid Doppelbrücken häufig, Einfach- und Tripelbrücken weniger häufig und Quadrupelbrücken selten ausgebildet Fluorwasserstoff als Reaktionsmedium Säure-Base-Reaktionen in HF. Gemäß dem auf S.242 Besprochenen fungiert im Fluorwasserstoffsystem das H 2 F + -Ion (,,Fluoronium-Ion") als Säure, das H F 2 - I o n (,,Hydrogendifluorid-Ion") als Base. Fluoride wie B F , SiF4, MF 5 (M = P, As, Sb, Nb, Ta) sind in diesem System Säuren, da sie gemäß nachfolgenden Gleichungen (linke Seite) H 2 F + -Ionen erzeugen; Fluoride wie M'F (M1 = Li bis Cs, Ag, Tl), M"F 2 (M11 = Mg bis Ba, Pb, Ag, Hg), SF4, XeF6 sind dagegen Basen, da hier gemäß nachfolgenden Gleichungen (rechte Seite) HF 2 -Ionen gebildet werden: BF SiF4
+ HF
+ 2HF
> HBF > H 2 SiF 6
HF
MF
+ HF
+ 2 HF
HF
• HMF
,,
>H2F++BF4;
M"F 2
" 2 H 2 F + + SiF2";
SF4
• H2F+ + M F ;
XeF6
+ 2HF
+ HF
HF
" M2^ + 2 H F 2 ; " SF++HF2; • XeF5+ + HF 2 .
Amphotere Eigenschaften zeigen CrF 3 , SbF3, AlF 3 und BeF2 in flüssigem HF. Einige Fluoride (z.B. XeF 2 , XeF 4 , VF5, UF 6 , 0sF 6 , SF6, ReF 7 ) lösen sich in HF molekular ohne Dissoziation (vgl. S0 2 , C 0 2 in Wasser). Ein Beispiel für eine N e u t r a l i s a t i o n in flüssigem H F bietet etwa die Umsetzung: BrF2+ HF 2 + H 2 F + SbFg BrF2+SbF6~ + 3HF, ein Beispiel für eine Solvolyse die bei — 80°C erfolgende Reaktion: K 2 S 0 4 + 4HF 2 K + 2HF 2 + H 2 SÜ 4 . Solvolysen in HF lassen sich mit Vorteil zur Darstellung wasserfreier Fluoride aus Chloriden, Bromiden, üxiden, Hydroxiden, Carbonaten, Sulfiten usw. nutzen. In gleicher Weise werden üxoanionen wie N ü 3 , P 0 ^ " , SO2", CK)2", MoO2", M n 0 4 fluoridiert (Bildung von N 0 2 + H F 2 , H 2 P0 3 F, H P 0 2 F 2 , H 3 0 + PFg , HS0 3 F, Cr0 2 F 2 , Mo0 2 F 2 , MnO 3 F). Löslichkeiten in HF. Die Löslichkeit der Fluoride M F in fl. HF sinkt mit steigender Ionenladung der Metalle (also in der Reihe MF > M F > M F ; z.B. ist AgF ca. 150mal löslicher als AgF2; TlF ca. 7000mal löslicher als TlF3) und abnehmendem Ionenradius der Metalle (z.B. CsF ca. 20mal löslicher als LiF; BaF2 ca. 4000mal löslicher als BeF2). Abnehmende Löslichkeit wird für Salze in folgender Reihe gefunden: Hg 2 F 2 (0.87 g in 100 g HF löslich) > CaF 2 > AgF 2 , HgF 2 , SbF3 > CoF 3 > CdF 2 > MnF 3 > TlF3 > CeF3 > CrF 2 ,NiF 2 > MnF 2 , ZnF 2 > BeF2 > BrF 3 > FeF 3 > FeF 2 > AlF 3 (0.002 g pro 100 g HF). Redox-Reaktionenin HF. Ähnlich wie für das Lösungsmittel Wasser lässt sich auch für das Lösungsmittel Fluorwasserstoff eine Spannungsreihe für Redox-Reaktionen von Elementen und Elementverbindungen aufstellen, z.B. (e0-Werte in Volt; in Klammern jeweils das betreffende Normalpotential in Wasser): Cd/Cd 2 + Pb/Pb2 + H2/H+
—0.29 —0.26 ±0.00
(—0.40) (—0.13) (±0.00)
C /C 2+ Fe2 +/Fe 3 + Hg/H 2+
0.52 + 0.58 0.80
0.16) (+0.77) 0.80)
Ag/A Ag + /Ag 2 + /
0.88 +2.27 2.71
0.80) ( + 1.96) 3.05)
Die oberhalb / stehenden Systeme vermögen sich unter Wasserstoffentwicklung in flüsigem H F (cH+ = 1 ) zu lösen, falls keine Hemmungen vorliegen. Von präparativem Nutzen ist die elektrochemische Freisetzung von Fluor in Anwesenheit anorganischer und organischer Verbindungen. Durch derartige elektrochemische Fluorierungen in HF lässt sich etwa NH 4 F in N F , HNF 2 und H 2 NF, Wasser in 0 F 2 , Schwefelwasserstoff in SF4 und S F , Trimethylamin in N ( C F ) 3 , Schwefelkohlenstoff in C F S F 5 , ( C F ) 2 S F , Acetonitril in CF 3 CN und C 2 F 5 N F überführen (vgl. S.433).
452
XII. Die Gruppe der Halogene
Verwendung Fluorwasserstoff wird zur Herstellung von Fluor (S. 431), von anorganischen Fluoriden wie NaF, B F , H B F , AlF3, SnF4, UF 4 , NH 4 F und organischen Fluorverbindungen wie CC12F2, CClF3, (CF2)n (S. 433), zum Ätzen und Polieren in der Glasindustrie sowie Beizen von Edelstählen, als Katalysator für Alkylierungen und in der Halbleiter-Herstellung genutzt.
Chlorwasserstoff 1 - 6 - 23 Darstellung Zur t e c h n i s c h e n Darstellung von Chlorwasserstoff dienen in der Hauptsache zwei Verfahren. Das eine geht von K o c h s a l z , das andere von den E l e m e n t e n Wasserstoff und Chlor aus. Als Beiprodukt entsteht Chlorwasserstoff weiterhin in größerem Ausmaß bei der technischen Chlorierung von K o h l e n w a s s e r s t o f f e n und bei anderen technischen Prozessen L ä s s t m a n auf Kochsalz bei erhöhter Temperatur konzentrierte S c h w e f e l s ä u r e („LeblancVerfahren") oder ein Gemisch von Röstgas, Luft und Wasserdampf („Hargreaves-Verfahren") einwirken, so erfolgt in zwei Stufen ein Austausch des Natriums im Natriumchlorid durch den Wasserstoff der Schwefelsäure: NaCl + H 2 S O 4 NaCl + N a H S O 4
HCl + N a H S O 4 HCl + N a 2 S O 4
2NaCl + H2SO4
2HCl + Na2SO4.
(bei 20°C) (bei 800°C)
Das Chlorid-Schwefelsäure-Verfahren hat heute in der Technik nur noch geringe Bedeutung. Es stellt jedoch die gebräuchlichste L a b o r a t o r i u m s m e t h o d e zur Chlorwasserstoffgewinnung dar (in diesem Falle besser N H 4 C l statt N a C l als Ausgangschlorid). Besonders reinen Chlorwasserstoff erhält m a n durch Synthese aus den Elementen Wasserstoff und Chlor, die ihrerseits neben Alkalilauge bei der Chloralkali-Elektrolyse (S. 433) erhalten werden H 2 + Cl 2
2 H C l ( g ) + 184.6 kJ .
In der Technik benutzt m a n zu dieser Chlorwasserstoffsynthese einen im Prinzip dem D a n i e l l ' s c h e n H a h n (s. dort) entsprechenden, aus zwei ineinander gesteckten Rohren bestehenden Q u a r z b r e n n e r . Durch das innere R o h r strömt das Chlor, durch den Mantelraum der Wasserstoff. Das Chlor brennt dann ganz ruhig mit fahler, grünlichgelber Flamme im Wasserstoff, ohne dass es zu einer Chlorknallgas-Explosion (s. dort) kommt. Z u m Reaktionsverlauf der HCl-Synthese aus den Elementen, die quantitativ abläuft und zur Erzeugung sehr reinen Chlorwasserstoffs in der Technik zunehmend an Bedeutung gewinnt, vgl. S.390 und 437. An Stelle von Wasserstoff können auch Wasserstoffverbindungen (z. B. Kohlenwasserstoffe; vgl. S. 437) verwendet werden. So fallen in der Technik große Mengen von Chlorwasserstoff bei der Chlorierung organischer Verbindungen an: R H + Cl 2 -> RC1 + H C l (R = Organylrest). Auch bei der Darstellung von Isocyanaten ( R N H 2 + COC1 2 ->• R N C O + 2HCl) und Fluorkohlenwasserstoffen (RC1 + H F -> R F + HCl) fallen beträchtliche Mengen H C l an. Etwa 90 % des derzeit gewonnenen Chlorwasserstoffs werden so aus R H , R N H 2 und RC1 als „Reaktionsnebenprodukt" erzeugt.
gg Physiologisches Im Magensaft von Mensch und Tieren findet sich eine 0.1-0.5°%ige Salzsäure (pH 2.3-0.9) zur Unterstützung der eiweißverdauenden Enzyme. Bei Störungen der Magensäureproduktion kommt es zu „Sodbrennen", da HCl gewebeätzend wirkt ( M A K = 7 m g / m bzw. 5 ppm). Eingeatmet führen HCl-Dämpfe zu Lungenentzündungen (Verätzung der Lungenbläschen), auf die Haut gebracht bzw. getrunken verursacht Salzsäure die Bildung schmerzhafter Hautblasen bzw. Verätzungen von Rachen, Speiseröhre, Magen (Folge: Heiserkeit, Atemnot, Herzschwäche, Ohnmacht, Tod; Gegenmittel: Milch, Eiweiß, Magnesiumoxid, Magenauspumpung).
2. Wasserstoffverbindungen der Halogene
453
Physikalische Eigenschaften Chlorwasserstoff ist ein farbloses Gas von stechendem Geruch (Dichte 1.187 g/cm3 bei — 114°C, HCl-Abstand 1.274Ä, HCl-Dissoziationsenergie 428.13 kJ/mol)23. Es lässt sich leicht zu einer farblosen Flüssigkeit verdichten (kritische Temperatur: 51.3 °C), die bei — 85.05°C siedet und bei — 114.22°C erstarrt. Im festen Zustand bildet HCl wie alle Halogenwasserstoffe H-verbrückte, planare Zick-Zack-Ketten (vgl. S.160). Bemerkenswert ist die außerordentlich große Löslichkeit des Chlorwasserstoffs in Wasser. Pro Liter H 2 O löst sich bei 0 °C und 1 bar unter starker Wärmeentwicklung 5071 (über 20 mol) HCl-Gas (Molverhältnis HCl:H 2 O rund 1:3; Bildung einer 45%igen Lösung der Dichte 1.21 g/cm3; 2n-HCl ist 7%ig). Die Neigung von HCl, sich mit H 2 O zu verbinden, ist so groß, dass HCl-Gas an feuchter Luft raucht (Bildung von Nebel aus HCl-haltigen O-Tröpfchen). Auch in Alkoholen und Ethern löst sich HCl sehr gut. Erhitzt man eine wässrige HCl-Lösung, so gibt sie - während der Siedepunkt steigt - zunächst weit mehr Chlorwasserstoff als Wasserdampf ab, sodass die Lösung an Chlorwasserstoff verarmt. Mit fortschreitender Destillation nimmt der Wasserdampfgehalt des abgegebenen Dampfes zu, bis schließlich bei 108.5 °C der Dampf dieselbe Zusammensetzung erreicht wie die - inzwischen verdünnter gewordene - Lösung (20.22 Gew.-% HCl, 79.78% H O ; Dichte bei 25 °C 1.096 g/cm). Von hier ab geht dann ohne Änderung der Siedetemperatur dieses Gemisch k o n s t a n t e r Zusammensetzung („azeotropes24 Gemisch") über. Zu der gleichen azeotropen Lösung gelangt man, wenn man eine verdünnte HClLösung der Destillation unterwirft; in diesem Falle enthält der entstehende Dampf zunächst mehr Wasser als die Lösung Chemische Eigenschaften Säure-Base-Verhalten. Leitet m a n H C l in Wasser (Analoges gilt f ü r HBr, HI), so erfolgt - anders als im Falle von H F - eine praktisch vollständige Dissoziation in Protonen und Halogenid HC
C
(pÄ"s (HCl) ca. — 7; zum Vergleich: pÄ"s (HF) = 3.19). Die wässrige HCl-Lösung heißt,,Chlorwasserstoffsäure"' oder „Salzsäure" (aus dem ,,Salz" NaCl stammend). Aus ihr kristallisieren bei starkem Abkühlen ein Hexahydrat H C l • 6 H 2 O (Smp. — 70°C), Tetrahydrat H C l • 4 H 2 O , Trihydrat H C l • 3 H 2 O (Smp. - 2 4 . 9 ° C ) , Dihydrat HCl • 2 H 2 O (Smp. — 17.6°C) und Monohydrat H C l H 2 O (Smp. — 15.3°C), denen ionogener A u f b a u H 1 0 O + C r , H 9 0 + C r , H 7 0 3 + C r , H 5 0 2 + C r und H 3 0 + C1" zukommt (vgl. S.532). Somit stellt die Auflösung von H C l in H 2 O keinen physikalischen, sondern einen chemischen Vorgang dar. Salzsäure bildet als sehr starke Säure beständige Salze (,,Chloride"). Unter letzteren sind CuCl, AgCl, H g 2 C l 2 , TlCl und PbCl 2 (entsprechendes gilt f ü r die Bromide, Iodide, Astatide) schwer bis mäßig schwer in Wasser löslich. H C l vermag nicht nur Wasser zu protonieren (vgl. die erwähnten Hydrate), sondern reagiert auch mit vielen anderen Basen unter Dissoziation (z. B. Vereinigung mit Ammoniak unter Bildung von Salmiak-Nebeln: H C l + N H 3 -> N H 4 C l " ) oder Addition (z.B. Vereinigung mit C l " unter Bildung des schwachen Addukts [Cl ••• H • • C l ] " = HC1 2 ; Salze mit dem C -Kation sind anders als solche mit dem -Kation bisher un bekannt). Bezüglich der Chloro-Komplexe vgl. S. 450. Redox-Verhalten. Die Reduktionswirkung von H C l ist gering; sie wächst beim Fortschreiten von H F über HCl, HBr H I zu H A t (vgl. Spannungsreihe, S.464). So benötigt m a n zur Oxidation von H C l zu Cl 2 starke Oxidationsmittel (S. 436), während HI-Lösungen schon an der Luft Iod ausscheiden (S. 456). Andererseits wirken die Halogenwasserstoffe alle als gute Oxidationsmittel und vermögen zahlreiche Metalle in Halogenide überzuführen. Allerdings sind eine Reihe thermodynamisch möglicher Prozesse kinetisch gehemmt wie z. B. die Ü b e r f ü h r u n g von Ag in AgCl (Analoges gilt f ü r AgBr, AgI; die AgF-Bildung verbietet sich aus thermodynamischen Gründen), von FeCl 2 in FeCl 3 , von Si in SiCl 4 , von Ti in TiCl 4 (in letzteren Fällen erfolgen die Oxidationen jedoch bei höheren Temperaturen).
24 azeotrop = durch Sieden nicht trennbar: a (griech.) = Negierung, zeo (griech.) = ich siede, trope (griech.) = die Umänderung.
454
XII. Die Gruppe der Halogene
Halogenwasserstoffe als Reaktionsmedien. Flüssiger Chlor-, Brom- bzw. Iodwasserstoff sind wegen der kleinen Flüssigkeitsbereiche (HCl: 29.2°C; HBr: 20.1 °C; HI: 15.4°C) und niedrigen Dielektrizitätskonstanten (HCl: 9.28 bei - 9 5 ° C ; HBr: 7.0 bei - 8 5 ° C ; HI: 3.4 bei - 5 0 ° C ) als Lösungsmittel und Reaktionsmedium weniger geeignet als flüssiger Fluorwasserstoff (s. oben). Die niedrigen Siedepunkte ermöglichen jedoch die Durchführung von Reaktionen bei tiefen Temperaturen und ein einfaches Abdampfen des Solvens, was gewisse Vorteile für die Präparation von Protonenaddukten sowie von Halogeniden mit sich bringen kann (z.B. im Falle der Präparation von Salzen mit den Ionen P H 4 , H X 2 , BX 4 , B2C1 g", A12C17; X = Halogen). Verwendung Chlorwasserstoff kommt als solches in Stahlflaschen oder als Salzsäure (meist 38%ig: konzentrierte oder rauchende Salzsäure) in den Handel (Weltjahresproduktion: Millionentonnenbereich). HCl wird zur Reinigung und zum Beizen von Metallen, zur Gewinnung von Metallchloriden, für Neutralisationsreaktionen, zur Hydrolyse von Proteinen und Kohlenhydraten, zur Erzeugung von Chlordioxid (S. 482) sowie zur Säurebehandlung von Ölquellen genutzt. Auch führt man HCl zum Teil in Chlor über (vgl. HCl-Elektrolyse; modifizierter Deacon-Prozess).
Bromwasserstoff 1 ' 13' 25 Darstellung B r o m w a s s e r s t o f f kann nicht wie Chlor- und Fluorwasserstoff aus Salzen durch Einwirkung konzentrierter Schwefelsäure dargestellt werden. Denn der dabei gebildete Bromwasserstoff, der sich wesentlich leichter als Fluor- und Chlorwasserstoff oxidieren lässt, wird von der konzentrierten Schwefelsäure die als Oxidationsmittel wirken k a n n teilweise zu Brom oxidiert: 2KBr + H2SO4
K 2 S O 4 + 2HBr,
2HBr + H2SO4
Br 2 + SO 2 + 2 H 2 O .
M a n muss daher entweder v e r d ü n n t e Schwefelsäure nehmen, wobei dann aber nur verdünnte Bromwasserstofflösung, kein gasförmiger Bromwasserstoff erhalten wird, oder m a n muss sich einer n i c h t o x i d i e r e n d e n S ä u r e bedienen. So kann m a n z.B. mit konzentrierter P h o s p h o r s ä u r e ( H 3 P O 4 ) aus Natrium- oder Kaliumbromidreinen Bromwasserstoff austreiben 3KBr + H3PO4 K3PO4 + 3HBr. Meist verwendet m a n allerdings im Laboratorium nicht Phosphorsäure, sondern einfach W a s s e r als nichtoxidierende Wasserstoffionenquelle („Säure"). D a Wasser jedoch eine sehr schwache Säure ist, muss m a n dann leichter zersetzliche Bromide als Ausgangsmaterial verwenden. Besonders geeignet ist hier P h o s p h o r t r i b r o m i d (PBr 3 ). Lässt m a n zu Phosphortribromid Wasser tropfen, so entsteht nach PBr 3 + 3 H O H
H 3 P O 3 + 3HBr
Bromwasserstoff, der sich wegen seiner großen Flüchtigkeit leicht von der schwerflüchtigen Phosphonsäure H 3 P O 3 (s. dort) abtrennen lässt. Da sich Phosphor und Brom lebhaft zu Phosphortribromid umsetzen (2P + 3 Br2 -> 2PBr 3 ), braucht man bei dieser Darstellungsart kein fertiges Phosphortribromid anzuwenden, sondern kann von den Elementen Phosphor und Brom ausgehen. Man lässt dann Brom zu angefeuchtetem roten Phosphor tropfen und erwärmt das Gemisch vorsichtig Will m a n Bromwasserstoff entsprechend dem Chlorwasserstoff mit befriedigender Ausbeute aus den Elementen erzeugen: H 2 + Br 2 (g)
2 H B r + 72.8 kJ ,
so darf m a n nicht bei allzu hohen Temperaturen arbeiten, da sonst das obige Gleichgewicht zum Unterschied vom entsprechenden H F - und HCl-Gleichgewicht merklich nach links ver25
Physiologisches HBr wirkt wie HCl stark reizend auf die Schleimhäute und ist giftig (MAK = 6.7 m g / m ; 2ppm).
2. Wasserstoffverbindungen der Halogene
455
schoben ist. Daher verwendet m a n zweckmäßig einen K a t a l y s a t o r , der die Vereinigung der Elemente bei einer verhältnismäßig n i e d r i g e n T e m p e r a t u r ermöglicht, und zwar leitet m a n Wasserstoffgas und Bromdampf bei 1 5 0 - 3 0 0 ° C durch ein mit P l a t i n a s b e s t oder a k t i v e r K o h l e beschicktes Rohr. Es ist dies zugleich die beste technische Darstellungsweise für Bromwasserstoff. Auch durch Einwirkung von Brom auf Wasserstoffverbindungen k a n n Bromwasserstoff gewonnen werden. Im L a b o r a t o r i u m benutzt m a n als Wasserstoffverbindung zu diesem Zwecke gewöhnlich Schwefelwasserstoff (H 2 S), Tetralin ( C 1 0 H 1 2 ) oder Toluol ( C 6 H 5 C H 3 ) . Physikalische Eigenschaften Bromwasserstoff ist ein farbloses Gas von stechendem Geruch (Sdp. — 66.73°C, Smp. — 86.82°C; Dichte 2.603 g/cm bei — 84°C; HBr-Abstand 1.414Ä, HBr-Dissoziationsenergie 3 6 2 . 5 0 k J / m o l ) I n Wasser ist HBr noch löslicher als HCl (6121 25mol pro Liter H 2 Ü bei 0°C und 1 bar; Molverhältnis HBr: H 2 Ü rund 1: 2). HBr bildet demgemäß an feuchter Luft Nebel. Das azeotrope Gemisch von HBr und H 2 Ü hat bei 1 bar die Zusammensetzung 47.63 Gew.-% HBr + 52.37Gew.-% H 2 Ü und siedet bei 124.3°C (Dichte 1.482g/cm3 bei 25°C). Chemische Eigenschaften In Wasser treten wie beim Fluor- und Chlorwasserstoff die sauren Eigenschaften in den Vordergrund. Aus der als ,,Bromwasserstoffsäure" bezeichneten Lösung kristallisieren die Hydrate H B r - 6 H 2 0 (Smp. - 8 8 ° C ) , H B r - 4 H 2 0 (Smp. - 5 6 ° C ) , H B r - 3 H 2 0 (Smp. —48°C), HBr - 2 H 2 0 (Smp. —11.3°C) und H B r H 2 0 (Smp. — °C), denen ionogener A u f b a u wie den entsprechenden HCl-Hydraten zukommt. Wiederum ist also die Auflösung des Halogenwasserstoffs in H 2 0 ein chemischer Vorgang. Redox-Verhalten. Die Bindung zwischen Wasserstoff und Halogen ist im Bromwasserstoff w e n i g e r f e s t als im Chlorwasserstoff. Leitet m a n daher Chlor in Bromwasserstoff ein, so beobachtet m a n die Bildung von rotbraunen B r o m d ä m p f e n : 2 H B r + Cl 2
2HC1 + B r 2 .
Bromwasserstoff ist also ein stärkeres Reduktionsmittel als Chlorwasserstoff, Chlor ein stärkeres 0xidationsmittel als Brom Die Salze des Bromwasserstoffs (,,Bromide") sind meist in Wasser löslich. Schwer löslich sind vor allem das Silberbromid (AgBr), das Quecksilber(I)-bromid (Hg2Br 2 ) und das Bleibromid (PbBr 2 ). Zur Darstellung der Alkalibromide, der für den Chemiker wichtigsten Bromide, S. 472. Bezüglich der Bromokomplexe, vgl. S. 450. Verwendung HBr dient vor allem zur Darstellung von Bromiden wie LiBr (zur Lufttrocknung in Klimaanlagen), NaBr/KBr (zur Herstellung von AgBr für die Photographie), CaBr 2 /ZnBr 2 (mengenmäßig wichtigste Bromide; als ,,packer fluid" bei der Erdölförderung).
Iodwasserstoff 1 - 16 ' 26 Darstellung Der Iodwasserstoff ist noch l e i c h t e r o x i d i e r b a r als der Bromwasserstoff. Daher k o m m t aus den schon beim Bromwasserstoff erörterten Gründen (s. dort) eine Darstellung aus Salzen und konzentrierter Schwefelsäure nicht in Frage. In Analogie zur Bromwasserstoffgewinnung erfolgt die Iodwasserstoffdarstellung deshalb im Laboratorium durch Einwirkung von Phosphorsäure auf Kaliumiodid oder besser von W a s s e r a u f P h o s p h o r t r i i o d i d oder durch Einleiten von S c h w e f e l w a s s e r s t o f f in eine wässerige Iod-Aufschlämmung: PI 3 + 3 H 0 H
H 3 P 0 3 + 3HI
oder
I2 + H2S
2HI+£S8.
Wie im Falle der Bromwasserstoffdarstellung ist es auch im Falle der Iodwasserstoffgewinnung nicht erforderlich, das Phosphorhalogenid als solches zu verwenden. Vielmehr genügt es, von den Elementen Phosphor und Iod auszugehen, indem man entweder ein breiiges Gemenge von rotem Phosphor und Wasser zu mit Wasser befeuchtetem Iod oder eine Lösung von Iod in wässeriger Iodwasserstoffsäure zu rotem Phosphor tropfen lässt 26 Physiologisches Wie HCl und HBr ist auch HI giftig und wirkt ätzend auf die Schleimhäute.
456
XII. Die Gruppe der Halogene
Zur Darstellung aus den Elementen leitet m a n in der Technik Wasserstoffgas und Ioddampf über erwärmten (500°C) P l a t i n s c h w a m m als Katalysator: 5.4kJ + H 2 + I 2 © ^
2HI;
H 2 + I 2 (g)
2HI + 9.5kJ.
Es ist dies auch hier wie beim Bromwasserstoff die beste Methode zur R e i n d a r s t e l l u n g des Halogenwasserstoffs. Z u m Reaktionsverlauf der HI-Synthese aus den Elementen vgl. S. 381 und 402. Auch die Umsetzung von Iod mit Hydrazin als Wasserstoffverbindung wird in der Technik zur HI-Bildung genutzt ( N 2 H 4 + 2 I 2 -> 4 H I + N 2 ; vgl. auch Reaktion von mit S, oben). Physikalische Eigenschaften Iodwasserstoff ist ein farbloses, stechend riechendes, an der Luft rauchendes Gasundistwie HBrgiftig2® (Sdp. —35.36°C, Smp. —50.80°C, Dichte 2.85 g/cm bei — 47 °C; HI-Abstand 1.609Ä, HI-Dissoziationsenergie 294.58kJ/mol). Pro Liter H 2 O lösen sich bei 10°C und 1 bar 4251» 15 mol HI (Molverhältnis HI: H O rund 1:4). Das Azeotrop hat bei 1 bar die Zusammensetzung 56.7 Gew.-% HI + 43.3 Gew.-% H 2 O und siedet bei 126.7°C (Dichte 1.708g/cm bei 25°C). Chemische Eigenschaften Redox-Verhalten. Als Gas und in wässeriger Lösung ist der Iodwasserstoff bei A u s s c h l u s s v o n L u f t s a u e r s t o f f und bei g e w ö h n l i c h e r T e m p e r a t u r vollkommen beständig. Bei Einwirkung von S a u e r s t o f f erfolgt dagegen - in Analogie zum wesentlich schwieriger ablaufenden Deacon-Prozess (HCl-Oxidation langsame Oxidation zu Iod 4H
2H
2I
Daher färben sich Iodwasserstofflösungen, namentlich konzentrierte, an der Luft bald braun (Bildung von H I • I 2 = H I 3 (S. 446)). L i c h t beschleunigt diese Iodbildung. In analoger Weise wird Iodwasserstoff sowohl als Gas wie in Lösung durch B r o m oder C h l o r sowie durch viele a n d e r e Oxidationsmittel (z.B. konz. Salpetersäure) in Iod übergeführt; z.B.: 2 H I + Br 2
2HBr + I 2 .
Er ist mit anderen Worten ein stärkeres Reduktionsmittel als Chlor- und Bromwasserstoff. Charakteristisch im Vergleich zum Brom- und Chlorwasserstoff ist die beim Erwärmen leicht erfolgende S p a l t u n g des Iodwasserstoffs in I o d und W a s s e r s t o f f . Sie hat uns Gelegenheit gegeben, auf S. 186 etwas näher auf den Begriff des c h e m i s c h e n G l e i c h g e w i c h t s einzugehen. Säure-Base-Verhalten. Die wässerige Lösung von Iodwasserstoff hat ganz den Charakter einer S ä u r e (,,Iodwasserstoffsäure") und entwickelt dementsprechend mit vielen Metallen M Wasserstoff unter gleichzeitiger Bildung von Salzen (,,Iodiden"): 2H
MI
Ähnlich wie aus den Fluor-, Chlor- und Bromwasserstoffsäuren kristallisieren aus Iodwasserstoffsäure Hydrate wie H I 4 H 2 O (Smp. — 3 6 . ^ C ) , H I 3 H 2 O (Smp. — 4 ^ C ) und H I 2 H 2 O (Smp. ca. — 42 °C), denen ionogener A u f b a u zukommt, sodass also die Auflösung von H I in Wasser ein chemischer Vorgang ist. Zur Darstellung der Alkaliiodide, der für den Chemiker wichtigsten Iodide, vgl. S. 472. Bezüglich der Iodokomplexe, vgl. S.450.
3. Interhalogene
3
457
Interhalogene 1,27
Die V e r b i n d u n g e n d e r H a l o g e n e u n t e r e i n a n d e r „Interhalogene") haben im einfachsten Fall die Formel XY; doch sind auch Verbindungen bekannt, die sich um zwei, vier oder sechs Halogenatome von dieser Formel unterscheiden XY 3 , X Y und XY 7 .
Zweiatomige Interhalogene Darstellung Bei den Verbindungen der Zusammensetzung XY sind alle denkbaren Kombinationen bekannt wie aus Tab. 51 hervorgeht, in welcher neben den einfachen Interhalogenen auch die reinen Halogene mit aufgenommen sind. Ihre Darstellung erfolgt ganz allgemein aus den Elementen'. X2+Y2
2XY.
So erhält man z.B. das Chlorfluorid ClF durch Vereinigung von Chlor und Fluor bei 250 °C in Anwesenheit von Kupferspänen Bromfluorid BrF durch Sättigen von Brom mit Fluor bei 10 °C, Iodfluorid IF aus den Elementen bei — 40 °C, Bromchlorid BrO durch UV-Bestrahlung eines Br2/Cl2-Gemisches in Frigen (CF„Cl4-„), Iodchlorid IO durch Überleiten von Chlor über Iod und Iodbromid IBr durch Einwirken von Brom auf Iod. (Zum Reaktionsverlauf der XY-Synthese vgl. S. 402.) Eigenschaften Die physikalischen Eigenschaften (vgl. Tab. 51) der zweiatomigen, giftig wirkenden Interhalogene XY, in denen jeweils das schwerere Halogen der elektropositive, das leichtere der elektronegative Partner ist (z. B. Clä + F ä _ ), liegen vielfach zwischen denen der reinen Halogene. Farbe, SchmelzTab.51
Halogene X 2 a) und Interhalogene XYa) (man kennt auch AtBr, AtI usw.). a)
FF (1886, Moissan) Farbloses Gas Smp. — 219.62 °C Sdp. — 188.14°C CIF (1928, Ruff) Farbloses Gas Smp. — 155.6 °C Sdp. — 101.1 °C AHt — 56.5 kJ/mol
ClCl (1774, Scheele) Gelbgrünes Gas Smp. — 101.00°C Sdp. — 34.06 °C
Br (1933, Ruff) Hellrotes Gas Smp 33 °C Sdp. ~ +20°C (Dispr.) —58.6 kJ/mol
BrCl (1930, Lux) Rotbraunes Gas Smp. — 66 °C Sdp. ca. 5°C (Zerfall) AHt + 14.6 kJ/mol
BrBr (1826, Balard) Tiefbraune Flüssigkeit Smp. — 7.25 °C Sdp + 58.78°C
IF (1960, Schmeisser Weißes Pulver (— 78 °C) Dispr. oberhalb — 14 °C AHt — 95.4 kJ/mol
a-ICl (1814, Davy)b) Rubinrote Nadeln Smp. + 27.38 °CC) Sdp. 94.4 °C (Zerfall) —23.8 kJ/mol
IBr (1826, Balard) Schwarze Kristalle Smp 41 C Sdp + 116 °C (Zerfall) AHt — 10.5 kJ/mol
Dissoziationsenergien'. F 2 : 157.9; ClF: 252.5; BrF: 248.6; IF: ca.277; a 2 : 121.7; BrCl: 215.1; ICl: 207.7; Br 2 : 193.9; IBr: 175.4; I 2 : 152.5 [kJ/ mol
b) Unabhängig entdeckt von Gay-Lussac. c) ICl kommt noch in einer zweiten, metastabilen Modifikation (ß-ICl) in Form von braunroten rhombischen Tafeln vom Smp. 13.9°C vor.
II (1812, Courtois) Grauschwarze Schuppen Smp. + 113.60°C Sdp + 185.24°C
27 Literatur. W. K. R. Musgrave: „ The Halogen Fluorides; their Preparation and Uses in Organic Chemistry", Adv. Fluorine C h e m 1 (1960) 1 - 2 8 ; E. H. Wiebenga, E. E. Havinga, K. H. Boswijk: „Structures of Interhalogen Compounds and Polyhalides", Adv. Inorg. Radiochem. 3 (1961) 133-169; D. Naumann: ,,Fluor und Fluorverbindungen", Steinkopff-Verlag, Darmstadt 1980, S. 18-32; A.J. Edwards: „Halogenium Species and Noble Gases", Comprehensive Coord. C h e m 3 (1987) 311-322; P.J. Stang, W.V. Zhdankin: ,Organic Polyvalent Iodine Compounds", Chem. Rev. 95 (1995) 1123-1179.
458
XII. Die Gruppe der Halogene
und Siedepunkt nehmen bei gegebenem ersten Halogen mit der Atommasse des zweiten, d.h. in der Richtung von oben nach unten und von links nach rechts in Tab. 51 zu. So variiert die Farbe von Fluor bis Iod, den beiden äußersten Gliedern, von farblos bis grauschwarz, der Schmelzpunkt von — 220 bis + 114°C und der Siedepunkt von — 188 bis + 185°C. Unter den chemischen Eigenschaften der zweiatomigen Interhalogene XY wächst die Disproportionierungsneigung (3 XY ^ X 2 + X Y ; 5 XY ^ 2 X 2 + X Y ) mit zunehmender Entfernung der Halogene im Periodensystem, also in Richtung von oben nach unten und von rechts nach links in Tab. 51. So ist z.B. das Chlorfluorid disproportionierungsstabil; Bromfluorid disporportioniert bereits sehr leicht (3 Br B Br ), sodass eine genaue Bestimmung seiner physikalischen Daten nicht möglich ist Iodfluorid ist schließlich so zersetzlich, dass seine Darstellung nur bei tiefen Temperaturen glückt. Oberhalb — 14°C zerfällt es gemäß5IF -> 2I 2 + IF 5 . Die Zerfallsneigung der Interhalogene in die E l e m e n t e (2XY X 2 + Y 2 ) wächst andererseits in der Reihe ClF, BrF, IF < IC1 < IBr < BrCl (vgl. A# F ). Bei Raumtemperatur ist ICl etwas (0.4 %), IBr merklich (ca. 8 %), BrCl stark in die Elemente zersetzt (2 BrCl Br 2 + Cl 2 ; K = 0.145). Die Interhalogene XY wirken als Halogenierungsmittel. Technische Anwendung findet insbesonderer ClF als starkes Fluorierungs- und Chlorfluorierungsmittel (z.B. Se -> SeF 4 ; W W F ; CO ClCOF; SO 2 ^ C l S O F ; SO 3 ^ C l O S O F ; SF 4 C l S F ; NSF 3 ^ C1 2 NSF 5 ; C H 2 = C H 2 -> CH 2 C1—CHF). Bezüglich der Wirkung der zweiatomigen Interhalogene als Lewis-Säuren und -Basen (Bildung von X 2 Y + , XY 2 ) und ihrer Verwendung als Reaktionsmedien vgl. S.461. Die Hydrolyse der gemischten Halogene XY erfolgt wie die der reinen Halogene und unter Bildung von Halogenwasserstoff und Hypohalogeniger Säure (XY + H O H HY + HOX), wobei das elektropositive Halogen die Hypohalogenige Säure bildet. Sie stellt eine (assoziative) nucleophile Substitution von Y~ am Substitutionszentrum X durch H 2 O bzw. OH~ dar (HO~ + X—Y -> H O X Y~ -> HO—X + Y~; vgl. S. 447). Das Gleichgewicht liegt im Falle der Fluoride im Alkalischen und Sauren auf der rechten Seite, im Falle der Chloride und Bromide im Alkalischen auf der HY/HOX-Seite, im Sauren auf der XY-Seite (gebildetes HOX kann sich weiter in HX und HXO disproportionieren). Derivate Außer den Derivaten X—OH der Interhalogene X—Y existieren noch eine Reihe anderer Sauerstoff-Derivate des Typs X—OAc (Ac = Acylrest). Unter ihnen können die Halogen-fluorosulfate X—OSO 2 F (Ac = SO 2 F) durch Einwirkung von S O a u « — F (X—F + SO 3 ^ X—OSO 2 F; X = F, Cl) bzw. durch Reaktion von X 2 mit S 2 0 6 F 2 (X 2 + F O S O — O S O 2 F 2X—OSO 2 F; X = Cl, Br, I) gewonnen werden (FOSO 2 F: farbloses Gas, Smp. — 158.5°C, Sdp. — 31.3°C; ClOSO 2 F: gelbe Flüssigkeit, Sdp. 45.1 °C; BrOSO 2 F; rotbraune Flüssigkeit, Sdp. 117.3°C; bezüglich (IOSO 2 F) 2 , Smp. 45.1 °C, vgl. S.461). Wasserunlösliches ,,Cäsiumfluorsulfat" Cs + FOSO 3 entsteht als relativ stabiles Salz durch Fluorierung von Cs 2 SO 4 mit Fluor in Wasser. Bezüglich der Halogen-nitrite X-ONO vgl. S. 735. Unter den Halogen-nitraten X — O N O (Ac = N O ; vgl. auch Salpetersäure) entsteht die Fluorverbindung durch Fluorierung von Salpetersäure (F 2 + H N O 3 -> H F + F O N O : farbloses Gas, planar, Smp. — 175°C Sdp. — 45.9°C), die Chlorverbindung durch Chlorierung von Salpetersäure mit Chlorfluorid (ClF + H N O 3 H F + C l O N O ) , durch Einwirkung von Cl0 2 auf N O (S. 484) oder besser durch Umsetzen von N 2 O s mit Q 2 O bei — 20°C ( N 2 0 5 + C1 2 0 2ClONO 2 : farbloses Gas, Smp. — 107°C, Sdp. 1 ° C ) . Das Chlornitrat ist wie das Bromnitrat B r O N O (gelbe Flüssigkeit, Smp. — 42°C, Zers. ab 0°C) bzw. Iodnitrat I O N O (gelbe, oberhalb — 5 °C zersetzliche Verbindung) auch gemäß: X 2 + AgN O 3 -> AgX + X O N O erhältlich. Unter den Halogen-perchloraten X—OCl0 3 bildet sich die Fluorverbindung (auch als „Perchlorylhypofluorit" bezeichnet) durch Fluorierung von Perchlorsäure (F2 + H C l 0 4 H F + FOCl0 3 -Jarbl. Gas, Sdp. — 15.9 °C), die Chlorverbindung durch Umsetzen von CsCl0 4 mit C l O S O F (-> CsSO 3 F + ClOCl0 3 : blaßgelbe Flüssigkeit, Sdp. 44.5°C; vgl. hierzu Chloroxide), die Bromverbindung durch Reaktion von Br 2 mit ClOCl0 3 (Br 2 + 2 C l O C l O C\2 + 2BrOCl0 3 ; rote, oberhalb — 20 °C zersetzliche Flüssigkeit) und die Iodverbindung bei — 85 °C in Ethanol gemäß I 2 + AgCl0 4 AgI + I O C l 0 3 (nicht rein erhältlich). Bezüglich weiterer Derivate vgl. Halogen-pseudohalogenide.) Die S t a b i l i t ä t der Verbindungen XOAc (OAc = S O F , N O , Cl0 4 ) nimmt jeweils in der Reihe FOAc > ClOAc > BrOAc > IOAc ab. (IOSO 2 F) 2 disproportioniert gemäß: 5IOSO 2 F
2I + + I(OSO 2 F) 3 + 2 S 0 3 F ~ .
Die entsprechende Disproportionierung von B r O S O F erfolgt erst in der Supersäure H S O F / S b F 5 / 3 S 0 3 (vgl. Halogenkationen). Da in XOAc Fluor als elektronegativer, Chlor, Brom und Iod als elektropositiver Partner vorliegt, stellen die Verbindungen AcOF formal „Acyl-hypofluorite", die Verbindungen ClOAc, BrOAc und IOAc ,,Halogen(I)-acylate" dar. Letztere Verbindungen reagieren deshalb mit Halogenverbindungen E Y , deren Halogenid Y die Oxidationsstufe - 1 aufweist, v i e l f a c h unter Abspaltung von Halogenen bzw. Interhalogenen XY nach dem Schema: OA
OA
XY
3. Interhalogene
459
und eignen sich infolgedessen zur Darstellung von Verbindungen E(0Ac)„, z.B.: BrCl + C l 0 N 0 2 -> B r 0 N 0 2 + Cl2; C0C12 + 2Br0S0 2 F C0(0S0 2 F) 2 + 2BrCl; AgCl + Cl0Cl0 3 AgCl0 4 + Cl2; MC1„ + nClN0 3 ^ M(N0 3 )„ + nCl2 (MC1„ = TiCl4, SnCl4, BC13, AlCl3).
Mehratomige Interhalogene Darstellung Bei Einwirkung von überschüssigem Halogen Y 2 auf die einfachen Verbindungen X Y (oder auf das Halogen X 2 ) entstehen höhere Interhalogene:
XY + Y 2
XY
XY 3 + Y 2
XY
XY 5 + Y 2
XY 7
(X = schwereres (elektropositiveres), Y = leichteres (elektronegativeres) Halogen). Die Neigung zu dieser Anlagerung steigt mit zunehmender Masse von X sowie abnehmender Masse von Y (vgl. hierzu das bei den Edelgasen auf S. 421 Besprochene). So bildet Iod drei höhere Fluoride (IF 3 , IF 5 , IF 7 ), Brom und Chlor nur zwei höhere Fluoride (BrF 3 , BrF 5 und ClF 3 , Cl ), während bei den Chloriden nur vom Iod ein isolierbares höheres Interhalogen (IC und bei den Bromiden kein isolierbares höheres Interhalogen bekannt ist (vgl. Tab. 52). Chlortrifluorid ClF3 erhält man durch Vereinigen von Chlor und Fluor bei 300 °C in Anwesenheit von Kupferspänen und Chlorpentafluorid ClF5 aus ClF3 und F2 im Autoklaven bei 350 °C und 250 bar. Aus den Elementen bildet sich Bromtrifluorid BrF3 bei 20 °C, Brompentafluorid BrF5 bei etwa 200 °C, Iodtrifluorid IF3 bei — 40 °C in einem inerten Lösungsmittel (Umkristallisation aus fl. HF, das Spuren H 2 0 enthält), Iodpentafluorid IF5 bei Raumtemperatur (auch gemäß 312 + 5 AgF -> I F + 5 AgF zugänglich) und Iodheptafluorid IF7 bei 250-270 °C. Zum Reaktionsverlauf der XY„-Synthese vgl. S.402. Eigenschaften Einige physikalische Eigenschaften der höheren, stark giftig wirkenden Interhalogene sind in Tab. 52 wiedergegeben, aus der u. a. folgt, dass die Flüchtigkeit der höheren Fluoride XF 3 , XF 5 und XF 7 bei gegebenem Zentralatom X mit zunehmendem Fluorgehalt steigt (I 2 C1 6 lässt sich nur unter Druck verflüssigen und so als Reaktionsmedium nutzen). Strukturen. Gemäß dem VSEPR-Modell (S. 313) besitzen die Moleküle des Typus XF3 T-Gestalt (C2vSymmetrie; F-Atome an den 3 Ecken, Zentralatom X am Schnittpunkt des T); die Moleküle des Typus XFS bilden eine quadratische Pyramide (C4v-Symmetrie; F-Atome an den 5 Ecken der Pyramide, Zentralatom X in der Mitte unterhalb der Basisfläche); den Molekülen des Typus XF7 kommt die Form einerpentagonalen Bipyramide zu (D5h-Symmetrie; F-Atome an den 7 Ecken, Zentralatom X im Zentrum der Bipyramide):
Tab. 52 Interhalogene X Y , XY 5 und XY 7 a) . Cff6+ (1972, Christie)b) Gegenionen z.B.: BF", PtFg (Cl existiert nicht
CIF (1930, Ruff) Farbloses Gas Smp. — 76.3 °C Sdp 11.75 AHt —164.8 kJ/mol
CIFS (1963, Smith) Farbloses Gas Smp. — 103 °C Sdp. — 13.1 °C AHt —255 kJ/mol
Br (1905, Lebeau Farblose Flüssigkeit Smp 8.77 Sdp 125.75 AHt — 301 kJ/mol
BrF6+ (1974, Gillespie) BrFs (1931, Ruff) Farblose Flüssigkeit Gegenionen z.B.: Smp. — 60.5 °C AsFg~, Sb 2 F„ Sdp 41.3 (BrF7 existiert nicht) AHt —458.6 kJ/mol
I F (1960, Schmeisser) Gelbe Plättchen (— 78 C) Dispr. oberhalb — 28 °C — 486 kJ/mol
IFS (1870, Gore) Gelbe Flüssigkeit Smp 9.42 Sdp 104.48 — 843 kJ/mol
I F (1930, Ruff) Farbloses Gas Smp. 6.45°C Sblp. 4.77 °C AHt —962.5 kJ/mol
a Bindungsenergien ClF3: 174.3; BrF3: 186.8; I F : ~276;ClF 5 : 154.2; BrF5: 186.8; I F : 268.4; IF7: 231.6 [kJ/mol], b Unabhängig von Roberto entdeckt c Man kennt auch IC12F und IClF2. (IC13)2 (1814, Davy)c) Gelbe Nadeln Smp. 101 °C (16 bar) Zerfall 77 AH t —89.6 kJ/mol
460
XII. Die Gruppe der Halogene
IF
C1F5
Br
IF
IF
1.81
1.98
1.62
1.689
1.844
1.786
(IC13)2 2.68 A
r
2
1.598
1.72
1.87
1.72
1.774
1.869
1.858
2.38Ä
OL
87.5°
86.2°
80.1°
90
84.8
81.9
(fluktuierend)
's
8
BrF3
1.698
l
9
CIF3 r
0*2)
ICI3 existiert zum Unterschied von den monomolekularen übrigen Interhalogenen in dimerer Form und hat eine ebene Molekülstruktur (in gasförmigem ClF3, BrF3 und IF3 existieren bei höheren Drücken Dimere in untergeordnetem Maße; auch erfolgt ein Fluoraustausch in gasförmiger und kondensierter Phase über Dimere als Reaktionszwischenprodukte; vgl. S. 783). In kondensierter Phase beobachtet man im Falle von BrF3 bzw. IF3 - anders als im Falle von ClF3 - schwache Bindungsbeziehungen zwischen Br bzw. I eines Moleküls und dem F-Atom anderer Moleküle, wodurch Polymere (BrF3)x bzw. (IF3)X entstehen, in welchen Br eine verzerrt quadratische, I eine verzerrt pentagonal-planare F-Koordination erhält (unverzerrt in BrF" bzw. IF|"). Eine charakteristische chemische Eigenschaft aller Halogenfluoride ist - neben der Hydrolyseempfindlichkeit - ihre hohe Fluorierungs- und Oxidationstendenz. Sie steigt - wenn m a n von ClF 5 absieht, dessen Reaktionen vielfach kinetisch gehemmt sind - bei gegebenem Zentralatom mit zunehmendem Fluorgehalt und bei gegebener Stöchiometrie mit abnehmender Masse des Zentralatoms: I F < IF 3 < BrF < IF 5 < BrF 3 < ClF < IF 7 < BrF 5 < ClF 3 . Die Halogenfluoride ClF 3 , BrF 3 und I F dienen neben ClF (s.o.) in der Praxis als Fluorierungsmittel und werden in der Technik im Tonnenmaßstab hergestellt. So reagiert,,Chlortrifluorid" ClF3, eine der reaktionsfähigsten chemischen Substanzen, mit vielen anorganischen und organischen Verbindungen wie Wasser, Ammoniak, Asbest, Holz explosionsartig (ClF3Gemische mit NH 3 oder N 2 H 4 werden als Raketentreibstoffe genutzt). Viele Elemente entzünden sich in Anwesenheit von ClF3 unter Bildung von Fluoriden. Selbst Xenon, aber auch Chloride und Oxide werden fluoriert (z.B. AgCl + ClF3 AgF2 + Vi Cl2 + ClF; Co 3 0 4 + 3ClF 3 3CoF 3 + 1 V2 C\2 + 2O 2 ). Als ClF3-Behältermaterial kann Stahl, Nickel, Kupfer, Monel verwendet werden, deren Reaktion mit ClF3 zu einer zusammenhängenden, das Metall schützenden Fluoridschicht auf der Oberfläche führt. ClF3 wird (wie auch BrF3, s.u.) zur Herstellung von UF 6 (U + 3ClF 3 UF 6 + 3ClF) und zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen eingesetzt (Überführung in Fluoride, unter denen nur UF 6 flüchtig ist und absublimiert werden kann). ,,Bromtrifluorid" BrF3 ist weniger reaktiv als ClF3, reagiert aber gleichwohl mit Wasser explosionsartig und wirkt bezüglich vieler Elemente als starkes Fluorierungsmittel Die quantitativ erfolgenden Umsetzungen mit Oxiden zu Fluoriden bzw. Fluoridoxiden (z.B. B203 + 2 BrF 2 BF3 + Br2 + 1 lA 0 2 ; 3 Si0 2 + 4 B r F ^ 3 S i F + 2Br 2 + 3 O 2 ; 3 Cl0 2 + BrF3 3Cl0 2 F + '/2B 2 ; 3 N 2 0 5 + BrF3 Br(NO 3 ) 3 + 3 N 0 2 F ) können zur analytischen Gehaltsbestimmung von Sauerstoff genutzt werden. „Iodpentafluorid" I F lässt sich wegen seiner geminderten Reaktivität bereits in Glasapparaturen handhaben. Trotzdem reagiert es noch mit einer Reihe von Elementen (z. B. Alkalimetalle, B, P, As, Sb, Mo, W) unter Entflammung. Oxide werden allerdings meist nur in Fluoridoxide verwandelt (z.B. Cr0 3 Cr0 2 F 2 ; V 2 0 5 VOF3). Mit Ausnahme von I F lassen sich alle Halogenfluoride umgekehrt auch fluorieren (vgl. Darstellung; IF 3 ist instabil gegen Disproportionierung: 5IF 3 -> I 2 + 3IF 5 ). Im Falle der Verbindungen ClF 5 und BrF 5 , die eine extrem kleine Reduktionstendenz aufweisen, benötigt m a n allerdings besonders starke Oxidationsmittel wie PtF 6 bzw. KrF 2 , eingesetzt in F o r m von K r F + AsFg : 2 C l F + 2PtF6 Br Kr As
ClF 6 + PtF 6 " + ClF 4 + PtF 6 -; Br As Kr
Die Ionen Cl und Br stellen bisher die einzigen bekannten Fluorverbindungen des Chlors und Broms in der Oxidationsstufe + 7 dar. Beide Ionen X F ^ lassen sich nicht gemäß
3. Interhalogene
461
XFg + F " -> XF 7 in Chlor- bzw. Bromheptafluorid verwandeln, sondern zerfallen hierbei in Chlor- bzw. Brompentafluorid und Fluor: XFg + F~ -> XF 5 + F 2 . Mithin ist die Oxidationskraft von XFg so groß, dass sich sogar Fluorid chemisch oxidieren lässt. Wasser führt die mehratomigen (zur Verhütung von Explosionen mit Inertgasen verdünnten) Halogenfluoride auf dem Wege über Halogenfluoridoxide in Halogensauerstoffsäuren über (XY3 + 2 H 2 0 -> HXO 2 + 3HY; XFS + 3 H 2 0 X O 2 F + 4HF + H 2 C > H X O 3 + 5HF; IF7 + 6 H 2 0 I O F S + 2HF + 5 H 2 0 -> HIO 2 F 4 + 3HF + 4 H 2 0 -> H 5 IO 6 + 7HF). Das Chlorid IC13 reagiert mit Wasser nach: 2IC13 + 3 H 2 0 -> 5HC1 + ICl + HIO 3 . Bezüglich der Wirkung der mehratomigen Interhalogene als Lewis-Säuren und -Basen und ihrer Verwendung als Reaktionsmedien s. nachfolgend. Derivate Ähnlich wie von den Interhalogenen XY kennt man auch von den Interhalogenen XY 3-Derivate. Sie haben die Formel X(OAc)3. Unter ihnen können die Halogen(III)-fluorosulfate X(OSO 2 F) 3 (Ac = SO2F, X = Br, I) durch Reaktion von X 2 mit überschüssigem S 2 0 6 F 2 gewonnen werden: X 2 + 3S 2 O e F 2 -> 2X(OSO 2 F) 3 (Br(OSO2F)3: gelber Festkörper, Smp. 59 °C; I(OSO 2 F) 3 : gelber Festkörper, Smp. 33.7 °C). Äquimolare Mengen I 2 und S 2 0 6 F 2 setzen sich gemäß I2 + S 2 0 6 F 2 -> (ISO3F)2 um (schwarzer Festkörper, Smp. 51.1 °C; Struktur I X mit X = Iod in äquatorialer sowie 2X = 2S0 3 F in axialer Stellung Halogen(III)-nitrate X(ONO 2 ) 3 (Ac = N O ; X = Br, I) bilden sich aus X 2 und überschüssigem AgNO 3 (2X 2 + 3 AgNO 3 ^ 3 AgX + X(ONO 2 ) 3 ) sowie durch Reaktion von BrF3 mit N 2 0 5 (BrF3 + 3 N 2 O s -> 3 N 0 2 F + Br(ONO 2 ) 3 (hellgelbe Substanz Smp. 48 °C (Zers.)) bzw. von IC13 mit ClONO 2 (ICl 3 + 3ClONO 2 ^ 3C1 2 +I(ONO 2 ) 3 (gelbes Pulver, Zerfall > 0°C). Unter den Halogen(III)perchloraten X(OCl0 3 ) 3 kennt man die Iodverbindung I(OCl0 3 ) 3 , die durch Zugabe von AgCl0 4 zu I 2 in Ether bei — 85 °C erhalten werden kann: 2I 2 + 3AgCl0 4 -> 3AgI + I(OCl0 3 ) 3 (farbloser Festkörper; Zers > — 45°C). Halogen-acylate. Bekannt sind bisher das ,,Iod(III)-acylat" I(OTeF5)3 und das ,,Iod(V)-acylat" I(OTeF5)s (möglicherweise entsteht I(OSO 2 F) 5 neben anderen Produkten bei der Thermolyse von I(OSO 2 F) 3 ). Ein ,,Iod(VII)-acylat" I(OAc)7 ist unbekannt.
Interhalogen-Kationen und -Anionen Darstellung Interhalogene bilden mit geeigneten Halogenidionen-Akzeptoren bzw. -Donatoren in Gegenwart großer Gegenionen wie BF", AuF4", MF6" (M = P, As, Sb, Bi, Nb, Ta, Pt), Sb 2 F^, SnF2~, S0 3 F~ bzw. K + , Rb + , Cs + , ER 4 (E = N, P, As), PC14 nachfolgende Interhalogen-Kationen bzw. -Anionen (entsprechende Kationen und Anionen existieren von At, z.B. AtBr2 , Atl 2 ): Cl Cl
Br Br
IF IF
BrC
IC IC
IB IB
Cl Cl
Br Br
IF IF
Cl BrC
IC
IB
Br Br
IF IF
IF
Ersichtlicherweise kommen den aus zwei unterschiedlichen Halogensorten aufgebauten ,,Heteropolyhalogen-Ionen" vergleichbare Zusammensetzungen wie den auf S. 443 besprochenen „HomopolyhalogenIonen" X+ '", X+'~ zu (man kennt auch aus drei unterschiedlichen Halogensorten zusammengesetzte Heteropolyhalogen-Ionen; s.u.). Strukturen Wie bei den Interhalogenverbindungen X Y ist auch bei den zugehörigen Kationen [XY„ _ l ] + und Anionen [ X Y n + d a s größere (elektropositivere) Halogen (X) das Zentralatom (also z.B. Cl—Cl—F + bzw. Br—Br—Cl" und nicht Cl—F—Cl+ bzw. Br—Cl—Br"). Da in allen Verbindungen gerade Elektronenzahlen erstrebt werden, ist bei den neutralen Molekülen die Zahl der an X (ungerade Elektronenzahl) angelagerten Halogenatome Y ungerade, bei den positiv oder negativ geladenen Ionen die Zahl der an X + bzw. X " (gerade Elektronenzahlen) angelagerten Halogenatome Y gerade. Die Kationen des Typs XY2 (isoelektronisch mit den Dihalogeniden der Chalkogene) sind gewinkelt (C2v-Symmetrie), die Anionen XY2 (isoelektronisch mit den Edelgasdihalogeniden) linear, wobei die beiden XYAbstände je nach Gegenkation teils gleich, teils unterschiedlich lang sind (D„ h - bzw. C„v-Symmetrie). Die Kationen XY/ (isoelektronisch mit den Tetrahalogeniden der Chalkogene) sind wippenförmig (C2vSymmetrie), die Anionen XY4 (isoelektronisch mit Xenontetrafluorid) quadratisch-planar (D4h-Symmetrie). Den Kationen XYg (isoelektronisch mit Chalkogentetrafluoriden) kommt die Struktur eines Oktaeders (O-Symmetrie), den Anionen XY^ (isoelektronisch mit Xenonhexafluorid) die Struktur eines regulären (BrF^) bzw. verzerrten Oktaeders (IFg ) zu. Einer Reihe iodhaltiger Ionen XY+'~ = I(C12I2) + , I(Br 2 I 2 ) + , I(C13I)~, I(Br 3 I)~ kommen keine wippenförmigen bzw. quadratisch-planaren, sondern im Sinne der Formeln X(Y 2 ) 2 / _ kettenförmige Strukturen Y—Y—X—Y—Y + '~ zu mit Z-förmiger Konformation im Falle der Kationen (vgl. BrJ, IJ: S.444) oder V-förmiger Konformation im Falle der Anionen (vgl. IJ, S.446). IFg ist antikubisch (D4d-Symmetrie) gebaut. Eigenschaften Bei thermischen Zersetzungen der Interhalogen-Anionen zu Halogenid und Interhalogenen hinterbleiben erwartungsgemäß die elektronegativeren Halogene als Halogenid (z.B. IC12 -> Cl" + ICl;
462
XII. Die Gruppe der Halogene
IC14 -> C P + IC13; IBrCF C P + IBr). Hierbei wächst die Stabilität der Anionen mit der Größe des Gegenkations und der Größe des Zentralatoms sowie der Symmetrie des Polyhalogenids (z. B. Br 2 CP BrC B B IC IB ). Unsymmetrische Interhalogenkationen gehen leicht in symmetrische über (z.B. 2C1 2 F + -> ClF 2 + Cl3 in HF/SbF 5 bei — 78°C). Insbesondere die Kationen wirken wie die Interhalogene selbst als starke Oxidationsmittel (z.B. O 2 + BrFg -> 0 2 + BrF5 + lA F2; Xe + BrF + XeF + + BrF5). Interhalogene als Reaktionsmedien Flüssiges Bromtrifluorid 125.8 °C) dissoziiert in geringem U m f a n g nach 2BrF3
(Flüssigkeitsbereich 8.8 bis
BrF 2 + + B r F ^ .
In diesem Lösungsmittel wirken somit Stoffe, die zur Erhöhung der Konzentration von B r F 2 (isoster mit SeF 2 ) führen, als,,Solvo-Säuren", und Stoffe, welche die Konzentration von B r F 4 (isoster mit XeF 4 ) steigern, als ,,Solvo-Basen" (vgl. S. 242), z. B.: BrF 3 + A u F 3 -> BrF 2 + A u F 4 ; 2 B r F 3 + SnF 4 2 B r F 2 + SnFg"; BrF 3 + PF 5 -> BrF 2 + + P F Ö ;
K F + BrF 3 BaF 2 + 2 B r F 3 A g F + BrF 3
K + + BrF4; B a 2 B r F 4 ; Ag + + BrF 4 .
In analoger Weise wie in Wasser sind auch in flüssigem BrF 3 Neutralisationstitrationen Sinne von BrF 2 + SbF 6 Solvo-Säure
+
Ag + BrF 4 Solvo-Base
AgSbF ö + Solvo-Salz
im
2BrF3 Solvens
möglich, wobei das E n d p r o d u k t konduktometrisch (Minimum der Leitfähigkeit) scharf zu bestimmen ist. Auch lassen sich in BrF 3 Redoxreaktionen wie in Wasser durchführen; sie erfolgen gegebenenfalls unter Beteiligung der Ionen Br und Br (zum Vergleich Was sersystem: 2 H + + 2 © H 2 ; 2 O H ~ ^ '/2 0 2 + H 2 0 + 2 © ) : 2BrF^+2©
BrF 3 + BrF;
2BrF4
BrF 3 + B r F 5 + 2 © .
So lassen sich Metalle (und zwar selbst sehr edle) und Metallhalogenide unter Oxidation in flüssigem BrF 3 auflösen, z.B. Ag -> A g F -> Ag + B r F 4 ; A u -> A u F 3 -> BrF 2 A u F 4 ; R u RuF 5 BrF 2 + R u F ö ; PdCl 2 PdF3 BrF 2 + P d F 4 . Entsprechend BrF3, aber in geringerem Umfang, sind auch die anderen Interhalogene in flüssigem Zustand gemäß 2XY„ XY„+_ t + XY„ dissoziiert (studiert wurden insbesondere die stabilen Systeme ICl, ClF3, BrF3, IC13 (unter Druck), ClF5, BrF5, IF5, IF ? ). In ihnen wirken Bor(III)-, Aluminium(III)-, Arsen(V)-, Antimon(V)- und Platin(V)-halogenide sowie auch S O allgemein als Solvo-Säuren (z.B. 2IC1 + AlCl3 ^ I 2 Cl + AlCl4 ; ClF3 + BF3 ^ ClF2+ BF 4 ; IC13 + SbCl5 ICl + SbClg ; ClF5 + MF 5 ClF/MFg ; BrF5 + SO3 ^ BrF + SO 3 F", IF7 + MF 5 ^ IF + M ^ l , Alkalimetallhalogenide, PC15 und NOF als Solvo-Basen (z.B. PC15 + ICl -> PC1 +IC12 ; MF + ClF3 ^ M + ClF 4 ; CsF + BrF5 Cs + BrFg ; NOF + IF 5 NO + IFg). Als Neutralisationstitrationen seien erwähnt: Rb + IC12 + I 2 Cl + SbCl6 Rb + SbCl6+3ICl; Cs + BrFg + BrF + SbFg Cs + SbFg +2BrF 5 ; IF+SbFg + NOIFg NO Sb 2I
4. Sauerstoffsäuren der Halogene
4
4.1
463
Sauerstoffsäuren der Halogene 1,28 Überblick
Systematik. M a n kennt vom Fluor nur eine Sauerstoffsäure der Zusammensetzung HFO und vom Chlor, Brom, Iod sowie Astat jeweils vier Sauerstoffsäuren der allgemeinen Zusammensetzung HXO„ (« = 1, 2, 3, 4; vgl. Tab.53). Außer der Iod(VII)-Säure H I 0 4 (Periodsäure) existiert zusätzlich eine wasserreichere F o r m H 5 I O 6 (,,Orthoperiodsäure"). In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die durch Addition von H 2 0-Molekülen an Elementsauerstoffsäuren HmEO„ sich ableitenden - meist nur als Salz existierenden - wasserreichsten Säureformen H m EO„-^H 2 0 = H m + 2pEO„ + p (p = 1, 2) mit dem Präfix ortho gekennzeichnet werden (z.B. Borsäure H3BO3 -> Orthoborsäure H 5 BO 4 , Kohlensäure H 2 CO 3 -> Orthokohlensäure H 4 CO 4 , Salpetersäure HNO Orthosalpetersäure H 3 N 0 , Tellursäure H 2 Te0 4 -> Orthotellursäure H 6 TeO 6 , Periodsäure HIO 4 Orthoperiodsäure H 5 IO 6 ; siehe bei den Elementen und Anh.VIII). Monowasseraddukte auf dem Wege zu Diwasseraddukten werden durch meso gekennzeichnet (z.B. Mesoperiodsäure H3IO5> nur Salze). In Substanz isolierbar sind H C l O 4 , H I O 3 , H I O 4 , H 5 I O 6 und 2 H I O 4 x H 5 I O 6 ( = H 7 1 3 0 1 4 ; früher Triperiodsäure). Die übrigen Säuren HXO„ sind nur in wässerigem Milieu, HClO, HBrO, H I O 3 , H C l 0 4 , H B r 0 4 und H I O 4 zudem in der Gasphase existent. Als Reaktionszwischenprodukt bilden sich auch Peroxohalogen-Sauerstoffsäuren, die sich von den in Tab. 53 wiedergegebenen Säuren dadurch ableiten, dass ein Sauerstoff-Ligand O (Oxo-Gruppe) durch einen Disauerstoffliganden 0 2 (Peroxo-Gruppe) ersetzt ist (z. B. HOOCl: Peroxohypochlorige Säure; vgl. S. 511). Strukturen. In den Salzen der Halogen-Sauerstoffsäurenist das Halogenit-Ion XO 2 im Sinne des VSEPRModells (S. 313) gewinkelt O C ^ > OBrO « 110°), das Halogenat-Ion X ^ trigonal-pyramidal O C ^ * OBrO 106°; * OIO x; 98°), das Perhalogenat-Ion X ^ tetraedrisch, das Mesoperiodat-Ion IOf" quadratisch-pyramidal und das Orthoperiodal-Ion IOg~ oktaedrisch aufgebaut. Die XO-Abstände verkürzen sich etwas mit wachsender O-Zahl als Folge der steigenden Ladung des Zentralatoms (zunehmende elektrostatische Anziehung von X"+ und O ( v g l . S. 153; ClO-Abstand in ClO~: - 1.69, Cl0 2 : 1.56, Cl0 3 : 1.48 und Cl0 4 : 1.44 Ä; ber. für ClO-Einfachbindung: 1.65 Ä; BrO-Abstand in BrO~: 1.81; Br0 2 : 1.72; B r 0 3 : 1.65; Br0 4 : 1.61 Ä; ber. für BrO-Einfachbindung: 1.80 Ä). In allen Tab. 53 Sauerstoffsäuren der Halogene (X = Cl, Br, I, At; für X = F nur HFO). Oxidationsstufe
Formel
+1
HXO
Hypohalogenige Säuren Halogen(I)-säuren
MXO
Hypohalogenite Halogenate(I)
+3
HXO2
Halogenige Säuren Halogen(III)-säuren
MXO2
Halogenite Halogenate(III)
+5
HXOj
Halogensäuren Halogen(V)-säuren
MXOj
Halogenate Halogenate(V)
+7
HXO4
Perhalogensäuren Halogen(VII)-säuren Orthoperiodsäure
MXO4
Perhalogenate Halogenate(VII) Orthoperiodate
H5IO6
Säuren Name
Formel
M„H5„O6
Metallsalze Name
a) Man kennt auch Mesoperiodate M 3 IO.
28
Literatur. B.J. Hathaway: „Oxyanions", Comprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 413-434; J.C. Schumacher: ,Perchlorates", Reinhold, New York 1960; N . M . G o w d a , S.B.Naikar, G . K . N . R e d d y : ,Perchlorate Ion Complexes", Adv. Inorg. Radiochem. 28 (1984) 255-299; W. Levason: „The coordination chemistry of periodate and tellurate Ligands", Coord. Chem. Rev. 161 (1997) 33-80.
464
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Halogensauerstoffsäuren ist das P r o t o n an den Sauerstoff gebunden. Formeln wie HOX, HOXO, H 0 X 0 2 und H O X O geben somit die Molekülkonstitution besser als die in Tab. 53 verwendeten Formeln wieder. Die HOX-Gruppierungen in HX0 n sind gewinkelt (:£• HOX in den Hypohalogenigen Säuren 97.2° (HOF), 103° (HOCl), 110° (HOBr)). Darstellung. Unter den Halogen-Sauerstoffsäuren sind nur die Hypofluorige Säure H F O (bei tiefen Temperaturen) sowie die Perchlorsäure H C l O 4 , die Iodsäure H I O 3 und die Periodsäuren H I 0 4 , H 5 I 0 6 sowie H 7 I 3 0 1 4 (jeweils unter Normalbedingungen) in Substanz i s o l i e r b a r . Zur D a r s t e l l u n g der Säuren HXO„ bzw. der Säureanionen X O " geht m a n von den H a l o g e n e n X 2 aus, die sich in alkalischer Lösung nach X2 + 2 0 H "
X"+X0"+H
2
0
und
3XO~
2X
XO
in Halogenid sowie H y p o h a l o g e n i t X O " bzw. H a l o g e n a t XO3 disproportionieren. Die Reduktion bzw. Oxidationdes Halogenats liefert d a n n H a l o g e n i t X 0 2 bzw. P e r h a l o g e n a t X 0 4 . T e c h n i s c h e P r o d u k t e sind insbesondere die Säuren H O C l und H C l 0 4 als wässerige Lösungen sowie Hypochlorite, Chlorite, Chlorate, Perchlorate, Bromate und Periodate als feste Salze Säure-Base-Verhalten Die Säurestärke der Halogensauerstoffsäuren ( H X 0 „ H + + XO„) nimmt mit wachsendem n und in der Richtung ( H A t O J < H I 0 „ < HBrO„ < HClO„ < ( H F O ) zu. Die stärkste Säure ist mithin H C l 0 4 , die schwächste H I O (HAtO; H 5 I O 6 ist wesentlich schwächer als ,,hypothetische" H I O ) . In entgegengesetzter Richtung erhöht sich die Basestärke der Halogensauerstoffsäuren (HXO„ + H + H 2 X 0 „ + ) . Allerdings ist diese insgesamt sehr klein. Doch zeigen alle reinen Säuren Eigendissoziation (2HXO„ H 2 XO„ + + X O " ) . Bezüglich des - zum Teil über H 2 XO„ + führenden Sauerstoffaustausches mit dem von H 2 O vgl. S. 400. Redox-Verhalten. Thermodynamische Aspekte. Nachfolgend sind die Potentialdiagramme einiger Oxidationsstufen des Fluors, Chlors, Broms, Iods und Astats bei p H = 0 und 14 wiedergegeben (vgl. Anh.VI), denen zu entnehmen ist, dass die O x i d a t i o n s k r a f t der Halogen-Sauerstoffsäuren bzw. ihrer Anionen - erwartungsgemäß (S. 226) - in s a u r e r L ö s u n g , die Reduktionskraft in alkalischer Lösung größer ist (stärkste Oxidationsmittel: A t 0 4 • aq/ B r 0 4 gefolgt von H 5 I 0 6 bzw. H 3 I 0 2 " , stärkste Reduktionsmittel H A t O / H I O bzw. TO-):
+7
Clor BrOr H 5 IO 6 AtOr • aq
3.05
HOF-
pH = 0
1.20
1.85
1.60
1.85
+5
1.43
+1
1.63
±0
1.36
-1
Clor—HOCI—eI,—Cr BrOr
1.45
1.13
1.60
HOB
—1
1.4
0.7
HOAt
Br,
1.44
IO; — H O I AtO"
FO
pH = 14
1.07
0.54 2
At2
Br~
— R
0.25
+7
0.37
Clor 1.03
Br h 3 io 2~
At" AtO
+5
0.49
Clor
aq
0.65
1.03
BrOr IOr AtO
0.49
0.15
0.5
+1
clo_ BrO~ IO" AW
-F, 0.42
±0
2.87
1.36
ei, 0.46
0.42
0.0
Br, 1, At2
F" -1
er 1.07
Br"
0.54
— r
0.25
At
Wie aus den Diagrammen zudem folgt, lassen sich Chlor, Brom, Iod und Astat nur in alkalischem, nicht dagegen in saurem Milieu in Halogen(— I) und Halogen(+ I) disproportionieren (vgl. S. 229). Bei pH = 7 haben die Gleichgewichtskonstanten der Reaktionen X 2 + H 2 0 H + + X" + HOX bei 25°C die sehr kleinen Werte 4.2 x 10"4 (Cl), 7.2 x 10" 9 (Br), 2.0 x 1 0 " ^ (I). Für pH = 14 gelten demgegenüber die großen Werte 7.5 x 10i 5 (Cl), 2 x 10s (Br) und 3 x 101 (I). Entsprechendes gilt, abgesehen von der Hypochlorigen Säure, auch für die Disproportionierung von Halogen (+ I) in Halogen ( —I) und Halogen (+ V) (für den Übergang H0X/X~ berechnen sich aus den oben wiedergegebenen Werten mithilfe der Regeln auf S.229 die Potentiale: pH = 0: 1.49 (Cl), 1.34 (Br), 0.99 (I), 0.8 V (At); pH = 14: 0.89 (Cl), 0.77 (Br), 0.48 (I), 0.1 V (At)).
4. Sauerstoffsäuren der Halogene
465
Die Oxidationskraft wächst für X 2 bzw. HOX (die Reduktionskraft sinkt für X~ bzw. X 2 ) einsinnig von leichteren zu schwereren Halogenen, während die Redoxpotentiale der Systeme XO 4 /:XO 3 für X in Richtung Cl, Br, I, At zu-, ab- und wieder zunehmen. Die Potentiale bringen in letzteren Fällen die Willigkeit des s-Elektronenpaares zur Betätigung einer chemischen Bindung zum Ausdruck, die umso größer ist, je weniger dieses an den Kern des betreffenden Halogens gebunden ist. Die betreffende Elektron-KernBindungsenergie wächst mit zunehmenden mittlerem Elektron-Kern-Abstand (d. h. mit zunehmender Hauptquantenzahl) und - bezüglich einer bestimmten Hauptschale - mit zunehmender Kernladung. Beim Übergang von :Cl0 3 zu :BrO^ (Halogene der 3. und 4. Periode) bzw. von :IO3 zu :At0 3 (Halogene der 5. und 6. Periode) wächst die Kernladungszahl wegen der in der 4. bzw. 6. Periode zusätzlich zwischen Ca und Ga bzw. Ba und Tl eingeschobenen 10 bzw. 24 Übergangsmetalle so beachtlich mit der Folge an, dass das s-Elektronenpaar der Halogene in :Br0 3 bzw. :At0 3 - obwohl es einer höheren Hauptschale angehört als das in :Cl0 3 bzw. :IO3 - stärker an den Atomkern als in ^ l O ^ bzw. :IO3 gebunden wird (in letzterem Falle erhöhen relativistische Effekte (S. 340) zusätzlich die Bindung des s-Elektronenpaares an den Atomkern). Damit erklärt sich die Abnahme der Reduktionskraft in Richtung :Cl0 3 -> :Br0 3 bzw. :IO3 -> A t O ^ (Zunahme der Oxidationskraft in Richtung Cl0 4 -> Br0 4 bzw. IO At ). Beim Übergang von :Br0 3 zu :IO3 (jeweils Einschub von 10 Übergangsmetallen zwischen Ca und Ga bzw. Sr und In) führt der zunehmende mittlere Abstand des s-Elektronenpaares vom Atomkern in Richtung Br -> I (Erhöhung der Hauptquantenzahl) zu einer Abnahme von dessen Bindungswilligkeit (Zunahme der Reduktionskraft in Richtung :Br0 3 —> :IO3 , Abnahme der Oxidationskraft in Richtung Br IO ). Analoges wie für das s-Elektronenpaar gilt wenn auch abgeschwächt für p-Elektronenpaare (vgl Gang der Redox-Potentiale für die Systeme XO 3 /HOX bzw. XO~). Das kleine F-Atom in :F—OH bindet hierbei seine s- und p-Elektronenpaare so stark an den Atomkern, dass eine Überführung der Hypofluorigen Säure in FO 2 , F 0 3 oder gar FO 4 unmöglich ist (letztere Teilchen wären umgekehrt extrem starke Sauerstoffdonatoren). Das im Falle der Halogensauerstoffsäuren aufgefundene Redox-Verhalten der Einzelverbindungen gilt in entsprechender Weise auch für Chalkogensauerstoffsäuren (S. 639) und Pentelsauerstoffsäuren (S. 841). Kinetische Aspekte Die Disproportionierungsgeschwindigkeit von Hypohalogenit in Halogenid und Halogenat nimmt in Richtung ClO~, BrO~, IO" zu. Bei und unterhalb Raumtemperatur erfolgt die Disproportionierung von ClO~ zu Cl" und Cl0 3 nur sehr langsam, sodass bei der Reaktion von Cl2 mit Laugen in der K ä l t e recht reine Lösungen von ClO~ und Cl" entstehen. In heißen Laugen 75°C) ist die Disproportionierungsgeschwindigkeit von Cl demgegenüber groß. Lösungen von Br sind nur unterhalb C, Lösungen von IO nur bei tiefen Temperaturen stabil (bei Zugabe von Iod in Lauge entsteht IO mithin nur als Zwischenprodukt der zu und IO führenden Disproportionierung). Der Übergang 3XO" - > 2 X ~ + X O 3 erfolgt hierbei jeweils in zwei Teilschritten: X O ~ + X O ~ -> X~ + XO 2 , XO" + XO 2 -> X~ + X ^ (zum Mechanismus vgl. S.473). Da beide Teilreaktionen vergleichbar rasch ablaufen, bildet sich XO 2 nur intermediär und zwar Cl0 2 in geringer (maximal 1 %iger), Br in mäßiger Konzentration Mechanistische Aspekte Vgl. bezüglich Disproportionierungen von X 2 in H 2 O S.467, bzgl. Redoxreaktionen von HXO S.467, HXO 2 S.483 und HXO 3 S.473.
4.2
Sauerstoffsäure des Fluorsi' 3
Hypofluorige Säure HFO (,,Hydroxylfluorid" HOF). Leitet man Fluorgas bei niedrigem Druck über Eis bei — 40 °C, so enthält das gasförmige Produktgemisch außer HF, O 2 , H 2 0 2 und H 2 O auch HOF, das nach Ausfrieren vonH 2 O und H 2 0 2 bei — 50 °C und von HF bei — 78 °C in einer auf — 183 °C gekühlten Falle in mg-Mengen als weißer Körper kondensiert werden kann, der bei — 117 °C zu einer blassgelben, bei ca. 10-20°C siedenden Flüssigkeit schmilzt. Gasförmiges HOF (h.Ht = —98.2 kJ/mol) zerfällt in Teflongefäßen bei 100 mbar und 25 °C - wohl auf radikalischem Wege - mit einer Halbwertszeit von ca. 30 Minuten in Fluorwasserstoff und Sauerstoff: 2HOF
2HF + 0 2 .
Die gleichen Zersetzungsprodukte beobachtet man auch in schwach alkalischer wässriger HOF-Lösung I neutraler oder schwach saurer wässriger Lösung reagiert HOF demgegenüber rasch unter Bildung von Fluorwasserstoff und Wasserstoffperoxid: HOF
HF
Offensichtlich bilden sich die Produkte hierbei im Zuge einer nucleophilen Substitution von Fluorid am Sauerstoffatom der gemäß HO ä + —F 15 " polarisierten Hypofluorigen Säure durch Wasser. Der unter-
466
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
schiedliche Reaktionsverlauf in alkalischer Lösung könnte auf das Hypofluorit-Ion OF zurückgehen, welches sich gemäß HOF + OH" 0 F ~ + H 2 0 bildet und möglicherweise ebenfalls gegenüber HOF als Nucleophil wirkt: FO" + HO—F FO—OH + F " (HOOF HF + 0 2 ). Vgl. hierzu die Reaktion mit Sulfat, oben. Die Gasphasenzersetzung von HOF erfolgt wohl radikalisch. Fluor führt HOF in 0F 2 und HF über (HOF + F2 -> 0F 2 + HF). Mit wässriger /odidlösung setzt sich HOF zu I j , 0 H ~ und F " um (HOF + 3I" -> I " + 0 H ~ + F"), mit wässriger Sulfatlösung zu Peroxosulfat (HOF + S02" H00S0 3 ~ + F " S02" + H F ) . Strukturen. Die Abstände O—F und O—H im gewinkelten Molekül HOF entsprechen mit 1.442 bzw. 0.964 A Einfachbindungen, der Winkel HOF beträgt 97.2°. Bezüglich des sehr kleinen Bindungswinkels am Sauerstoff (zum Vergleich: H0H-/F0F-Winkel = 104.7/103.2°) siehe das auf S. 318 Besprochene. Von HOF abgeleitete Salze M + 0 F ~ sind bisher unbekannt. Es lassen sich jedoch kovalente Hypofluorite AcOF (Ac = Acylrest wie O3Cl, 0 3 S~, F5S, 0 2 N ) synthetisieren (vgl. S.458). Darüber hinaus konnten durch die Reaktion XeF + MFg + H 2 0 -> H 2 0 F + MFg + Xe (M = As, Sb) in wasserfreiem Fluorwasserstoff blassrote Salze erhalten werden, welche protonierte Säure H 2 0 F + (isoelektronisch mit H 2 NF) enthalten und bei Raumtemperatur kurze Zeit, bei — 40 °C unbegrenzt haltbar sind.
4.3
Sauerstoffsäuren des Chlors 1,6,28
Hypochlorige Säure HCIO
Darstellung Leitet m a n C h l o r in W a s s e r ein, so bildet sich bis zu einem (weitgehend links liegenden) Gleichgewicht (s. o.) in einer hydrolytischen Disproportionierungsreaktion S a l z s ä u r e und ,,.Hypochlorige Säure" (,,Unterchlorige Säure"')'. C12 + H 0 H
HCl + H O C l .
(1)
Will m a n das Gleichgewicht (1) nach r e c h t s verschieben, so fällt m a n zweckmäßig die im Gleichgewicht befindliche Salzsäure mit Q u e c k s i l b e r o x i d (HgO) als braunes unlösliches Q u e c k s i l b e r o x i d c h l o r i d H g 3 0 2 C l 2 = HgCl 2 • 2 H g 0 (s. dort) aus: 3 H g O + 2HC1 -> HgCl 2 • 2 H g O + H 2 0 . Insgesamt ergibt sich damit die Gleichung 2Cl2 + 3 H g 0 + H 2 0
HgCl22HgO + 2H0Cl,
gemäß der m a n C h l o r in eine (gut gerührte) Aufschlämmung von Q u e c k s i l b e r o x i d in W a s s e r einleitet. Auf diese Weise kann m a n (chloridhaltige) ziemlich konzentrierte ( 2 0 - 2 5 % ige) Lösungen der Hypochlorigen Säure H O C l gewinnen, die allerdings schon bei 0°C bald unter Abgabe von Sauerstoff und Bildung von Salzsäure zerfallen (vgl. unten). Durch HOCl-Extraktion mit geeigneten Lösungsmitteln (z. B. Ketone, Ester, Nitrile) oder durch Elektrodialyse der HOCl-Lösungen lässt sich H O C l von Chlorid befreien. Chloridfreie HOCl-Lösungen erhält m a n in der Technik auch durch Einleiten von C1 2 0 in Wasser (C1 2 0 + H 2 0 2 H 0 C l ; s.u.). Benutzt man starke Basen zur Verschiebung des Gleichgewichtes (1), leitet man also Chlor z.B. in N a t r o n l a u g e oder Kalkmilch ein, so wird nicht nur die starke Salzsäure, sondern auch die schwache Hypochlorige Säure neutralisiert (s.u.): Cl2 + 2 N a 0 H Cl2 + Ca(0H) 2
NaCl + NaOCl + H 2 0 , CaCl(0Cl) + H 2 0 .
(2) (3)
Eigenschaften Allgemeines. Die Hypochlorige Säure ist nur in wässeriger Lösung sowie als verdünntes Gas, nicht aber wasserfrei in kondensiertem Zustand bekannt (Struktur: C l 0 - / 0 H Abstand 1.693/0.97 Ä; ClOH-Winkel 103°). Konzentriert m a n verdünnte HOCl-Lösungen (farblos), so werden sie gelb, da die Säure - in reversibler Reaktion - gemäß (4) in ihr gelbes Anhydrid C1 2 0 übergeht (beim Einleiten von C1 2 0 in flüssiges Wasser oder durch Versetzung von C1 2 0 mit gasförmigem Wasser bildet sich wieder wässerige hypochlorige Säure bzw. entsteht gasförmiges Chlorhydroxid):
4. Sauerstoffsäuren der Halogene 2H0C1
C1 2 0 + H 2 0 ,
^(0°C) =
3.55X10"
3
l/mol.
467 (4)
Aus konzentrierten HOCl-Lösungen lässt sich durch Ausschütteln mit Tetrachlorkohlenstoff oder durch Durchleiten eines Luftstroms bzw. Destillation unter vermindertem Druck Dichloroxid abtrennen Die HOCl-Lösungen besitzen einen eigentümlichen, von dem des Chlors deutlich verschiedenen Geruch und z e r s e t z e n s i c h - langsam im Dunkeln, schneller im diffusen Tageslicht, sehr rasch im Sonnenlicht bzw. in Anwesenheit von Katalysatoren wie Cobalt-, Nickel- oder Kupferoxid hauptsächlich nach der Gleichung (5) 2 H C l 0 ( a q ) -> 2 H C l ( a q ) + 0 2 + 92.5 kJ
(5)
unter Bildung von S a l z s ä u r e und S a u e r s t o f f . D a die gebildete Salzsäure ihrerseits mit überschüssiger Hypochloriger Säure unter Umkehrung von (1) reagiert, enthalten sich zersetzende wässerige HClO-Lösungen immer auch C h l o r . Darüber hinaus zerfällt die Hypochlorige Säure - untergeordnet im sauren, ausschließlich im alkalischen Milieu - zu S a l z s ä u r e und C h l o r s ä u r e (bzw. Chlorid und Chlorat; vgl. Darstellung von H C l 0 3 (S.469)): 3HClO
2 H Q + HClO3 •
(6)
Mechanistisch wird der Zerfall (5) von wässriger Hypochloriger Säure in HCl und 0 2 durch die homolytische Dissoziation HOCl -> HO- + •Cl ausgelöst. Die gebildeten Radikale setzen sich dann mit HOCl in homolytischen Substitutionsreaktionen weiter zu den Reaktionsprodukten um. Bezüglich des Mechanismus der Disproportionierung (6) vgl. S.473. Redox-Verhalten. Die Hypochlorige Säure gehört zu den s t a r k e n O x i d a t i o n s m i t t e l n (e0 f ü r H C l O / C l " = + 1.49 V bei p H = 0; weniger oxidierend ist sie in alkalischer Lösung f ü r ClO~/Cl~ = + 0 . 8 9 V bei p H = 14). So bleicht sie z.B. augenblicklich L a c k m u s p a p i e r oder I n d i g o l ö s u n g (oxidative Zerstörung des Lackmus- und Indigo-Farbstoffs), macht aus I o d w a s s e r s t o f f I o d frei (2I~ - > I 2 + 2 © ) , bildet mit S a l z s ä u r e Chlor (2 C l " ->• Cl 2 + 2 © ) , mit A m m o n i a k S t i c k s t o f f ( 2 N H 3 ^ N 2 + 6 H + + 6 © ) u n d m i t W a s s e r s t o f f p e r o x i d Sauerstoff ( H 2 0 2 -> 0 2 + 2 H + + 2 © ) . Auch die bleichende und desinfizierende Wirkung von Chlor (S. 438) bzw. der fortschreitende Zerfall des Chlorwassers im Sonnenlicht in Salzsäure und Sauerstoff beruht auf intermediär nach (1) gebildeter Hypochloriger Säure, die oxidierend wirkt bzw. nach (5) zerfällt. Die Oxidationswirkung der Hypochlorigen Säure beruht auf ihrer großen Neigung zur Sauerstoffübertragung (schematisch: HClO -> HCl + O). In diesem Sinne oxidiert sie Sulfit zu Sulfat (schematisch: 0 + S02" -> S02"), Nitrit zu Nitrat (O + N 0 2 -> N 0 3 ) , Hypohalogenit bzw. Halogenitzu Halogenat (O + XO" -> X 0 2 ; 0 + X 0 2 -> X 0 3 ) , Arsenit zu Arsenat (O + AsO4" -> AsO4") und führt Metallsulfide (wie Bleisulfid) in Sulfate ( 4 0 + MS MSOJ, Bromide in Bromate ( 3 0 + Br" -> B r 0 3 ) und Cyanide in Cyanate (O + CN~ -> 0 C N ~ ) über. In vielen Fällen wirkt HOCl auch als D o n a t o r positiven Chlors (schematisch: ClOH -> Cl + + 0 H ~ ) und führt etwa Chlorid in Chlor (schematisch: Cl + + e r Cl2; Umkehrung von (1)), Hypochlorit in Dichloroxid (Cl + + ClO" ClOCl; Bildung des HOCl-Anhydrids), Wasserstoffperoxid in Peroxohypochlorige Säure (Cl + + H 0 0 ~ -> HOOCl; vgl. S. 511). AmmoniakinChloramin (Cl + + NH 3 ^ Zwischenprodukt der N2-Bildung; vgl. S. 698) und Cyanid in Chlorcyan (Cl + + CN" ClCN) über. Mechanistisch wickeln sich die Oxidationsreaktionen von wässriger Hypochloriger (wie auch Hypobromiger oder Hypoiodiger) Säure HOX in der Regel im Zuge einer Übertragung des Halogens X auf den Reaktionspartner :Nu" im Rahmen einer assoziativ aktivierten nucleophilen Substitution am Halogen von HOX bzw. von H 2 0 X + ab (XO - ist unwirksam): :Nu" +X—OH (bzw. X—0H 2 + )
Nu—X + OH" (bzw. H O )
(Folgereaktion gegebenenfalls: Nu—X + H 2 0 Nu—OH + HX; Nu" z.B.: Cl", Br", I", CN", ClO", Cl0 2 , I 0 3 , SO2", N 0 2 , H 2 0 2 , NH 3 ). Hypochlorit ClO~ führt HOCl einerseits in reversibler Reaktion sehr rasch in das Dichloroxid ClOCl und viel langsamer in das Dichloroxid ClClO über, wobei ClClO zu Chloriger Säure HOClO hydrolysiert (vgl. S.473). Die Oxidation von Sulfit S02" mit HOCl erfolgt einerseits auf dem Wege S02" + 2 H + S0 2 + H 2 0; S0 2 + HOCl S0 3 + HCl; S0 3 + H 2 0
468
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
SO2" + 2 H (saures Milieu), andererseits auch im Zuge von S O 2 - + ClOH -> C l S ^ + OH"; ClSO3 + H 2 0 -> S O 2 ^ Analog letzterer Reaktion wird Nitrit N ^ von HOCl oxidiert: N ^ + ClOH ClNO2; ClNO 2 + H 2 0 N ^ + CP + 2H + . Säure-Base-Verhalten. Die Hypochlorige Säure ist eine s e h r s c h w a c h e S ä u r e (Ks beträgt bei 25°C 2 . 9 ^ 1 0 - 8 ; HOBr: = 2.06 x 10"8; HOI: = 2.3 x 1 0 " 1 1 ) . Dementsprechend hydrolysieren ihre Salze, die Hypochlorite ClO ", leicht unter Bildung von freier Hypochloriger Säure OC HOH HOC OH sodass auch die Hypochlorite in wässriger Lösung (dagegen nicht in a l k a l i s c h e r Lösung) s t a r k e O x i d a t i o n s m i t t e l sind (s. oben). Salze Unter den festen Alkali- und Erdalkalimetallhypochloriten sind LiOCl, Ca(OCl) 2 , Sr(OCl) 2 , Ba(OCl) 2 stabil, N a O C l leidlich stabil, KOCl und Mg(OCl) 2 instabil (gewinnbar sind KOCl-Lösungen und festes Mg(OH)OCl). T e c h n i s c h wird LiOCl untergeordnet, N a O C l und Ca(OCl) 2 in größerem Maße erzeugt. Natriumhypochlorit Natriumhypochlorit-Lösungen (,,Eau de Labarrague", seit 1820) werden technisch praktisch ausschließlich durch (exotherme) Umsetzung von Chlor mit 15-20 %iger N a t r o n l a u g e unter Kühlung (vgl. S. 466) nach (2) gewonnen und zum Bleichen sowie Entfärben von Zellstoff und Textilien, zur Desinfektion von Schwimmbädern und zur Herstellung von Hydrazin (S. 675) verwendet (keine Bedeutung mehr haben heute KOCl-Lösungen (,,Eau de Javel", seit 1792). Da bei der Chloralkali-Elektrolyse (s. dort) Chlor und Alkalilauge gerade in dem für die Hypochloritbildung erforderlichen Molverhältnis Cl2 : NaOH = 1 : 2 entstehen (446.3 kJ + 2NaCl (aq) + 2HOH Cl2 + 2NaOH(aq) + H 2 ), kann man die Hypochlorit-Gewinnung mit der Chloralkali-Elektrolyse verbinden, indem man das aus Solen oder Meerwasser entwickelte Chlor in diaphragmalosen Zellen gleich auf die kathodisch ge bildete Natronlauge einwirken lässt: 346 kJ + NaCl(aq) + H 2 0 -> NaOCl(aq) + H 2 (Weltjahresproduktion: Megatonnenbereich). Beim Abkühlen der Lösung auf — 10°C werden farblose Kristalle abgeschieden, denen die Formel NaOCl • 6H 2 O zukommt. Wegen seiner Instabilität wird es nicht gehandelt, ist aber in Form eines Na 3 PO 4 -Addukts (,,chloriertes Trinatriumphosphat" 4Na 3 PO 4 • NaOCl • 44H 2 O) Bestandteil von Haushalts- und Industriereinigungsmitteln. Chlorkalk. Verwendet man zur Umsetzung mit Chlor statt der einsäurigen Base NaOH diezweisäurige Base Ca(OH) 2 , indem man Chlor mit pulverigem gelöschten Kalk umsetzt, so entsteht statt des Gemisches von Natriumchlorid und Natriumhypochlorit (2) ein gemischtes Calciumsalz der Salz- und Hypochlorigen Säure (Calcium-hypochlorit-chlorid) nach (3). Es bildet den wesentlichen Bestandteil des technischen Chlorkalks, der seit 1799 außer zum Bleichen u.a. zur Desinfektion von Abwässern und Schwimmbädern, zur Beseitigung des üblen Geruchs von Fäkalien oder faulenden Kadavern und zur Vernichtung chemischer Kampfstoffewie Lost dient. Die Wirksamkeitvon Chlorkalk (technischer Chlorkalk enthält von der Darstellung her mehr oder minder große Mengen von Kalk) kann durch Einwirkung von Salzsäure (Chlorentwicklung) oder Kaliumiodidlösung (Iodausscheidung) bestimmt werden (die Menge des durch HCl entwickelbaren ,,wirksamen Chlors" (ca. 36Gew.%) bedingt den Handelswert des Produkts der ungefähren Zusammensetzung 3 CaCl(OCl) • Ca(OH)2 • 5 H 2 O; Weltjahresproduktion: zig Kilotonnenbereich): CaCl(OCl) + 2HC1
CaCl2 + H 2 0 + Cl 2 ;
CaCl(OCl) + 2HI
CaCl2 + H 2 0 + I 2 .
Chlorkalk war mehr als hundert Jahre lang die einzige Form, in der man Chlor transportieren und handhaben konnte. Erst durch die Einführung von Flüssigchlor (ab 1912) ist seine Bedeutung zurückgegangen Calciumhypochlorit (,,Perchloron", ,,hochprozentiger Chlorkalk") wird technisch durch Chlorierung einer Ca(OH)2-Suspension in der Weise erzeugt, dass nur CaCl2, nicht aber Ca(OCl)2 in Lösung geht:2Ca(OH) 2 + 2Cl 2 -> Ca(OCl)2 • 2 H 2 0 + CaCl 2 .Eshat gegenüber dem Chlorkalkden Vorteileines größeren Gehaltes an wirksamem Chlor (70-80%).
Chlorige Säure HCl0 2 Darstellung Die durch Umsetzung einer Ba(Cl02)2-Suspension mit Schwefelsäure gewinnbare ,,Chlorige Säure" HCl0 2 (Ks = 1.07 x 10-2) zersetzt sich in saurer Lösung sehr schnell hauptsächlich gemäß 5HCl0 2
4Cl0 2 + H ^ 2 ^ O
und ist daher als Säure bedeutungslos (zum Zersetzungsmechanismus vgl. S. 483).
(7)
4. Sauerstoffsäuren der Halogene
469
Beständiger (bis zu 1Jahr bei 25°C) sind in alkalischer Lösung ihre Salze, die ,,Chlorite", die man neben Chloraten gewinnt, wenn man Chlordioxid Cl0 2 (s. dort) in Alkalilauge einleitet (Disproportionierung von Cl ): 2Cl0 2 + 2NaOH
NaCl0 2 + NaClO s + H 2 O .
Frei von Chloraten erhält man die Chlorite in der Technik bei gleichzeitiger Zugabe von Wasserstoffperoxid (S. 547) als Reduktionsmittel 2Cl0 2 + 2NaOH + H2C>2
2NaCl0 2 + 0 2 + 2 ^ O .
Eigenschaften Die Lösungen der Chlorite (zur Cl0 2 -Struktur vgl. S.463) wirken stark oxidierend. Dampft man Natriumchloritlösungen ein, so erhält man ein festes weißes, 90-95 % NaCl0 2 enthaltendes Salz (unter-/oberhalb 38°C wasserfrei/als Trihydrat). Dieses kommt - zur Erhöhung der Handhabungssicherheit mit einem Wassergehalt von 10-15 %. bzw. in Gemisch mit NaCl bzw. NaNO 3 - für Bleichzwecke in den Handel, da das beim Versetzen von Natriumchloritlösungen mit Säuren gemäß (7) freiwerdende Chlordioxid (vgl. ClO2-Darstellung) Textilien faserschonend bleicht (Weltjahresproduktion: zig Kilotonnenbereich). Mit oxidierbaren Stoffen wie organischen Substanzen, Kohle-, Schwefel- oder Metallpulvern bildet festes Natriumchlorit wie Chlorat explosible Gemische. Besonders charakteristisch für die Chlorige Säure sind das gelbe Silbersalz AgCl0 2 und das gelbe Bleisalz Pb(Cl0 2 ) 2 , die beide sehr schwer löslich sind und sich beim Erwärmen oder durch Schlag unter Explosion zersetzen, während das feste reine N a t r i u m c h l o r i t beim Erhitzen (auf über 200 °C) unter Umständen eine stürmische, aber keine explosive Zersetzung hauptsächlich gemäß 3NaCl0 2 -> 2NaClO s + NaCl erleidet.
Chlorsäure HCl0 3 Darstellung Zur Darstellung der Chlorsäure geht m a n gewöhnlich von ihren Salzen, den „Chloraten", aus. Diese entstehen leicht bei der Einwirkung von H y p o c h l o r i g e r S ä u r e auf H y p o c h l o r i t : 2HClO + ClO"
2HC1 + ClO3 ,
(8)
indem hierbei die (im Vergleich zum ClO " - I o n oxidationskräftigere) Hypochlorige Säure H C l O ihr eigenes Salz ClO~ auf dem Wege über C l 0 2 zur Stufe des Chlorats C l O j oxidiert und dabei selbst in Salzsäure übergeht (Disproportionierung; zum Mechanismus s. S. 467). M a n braucht zu diesem Zwecke Hypochloritlösungen nur w e n i g anzusäuern (Cl HC HCl C ), da bei der Reaktion (8) immer wieder Salzsäure nachgebildet wird, welche neue Hypochlorige Säure in Freiheit setzt. Beim Erwärmen einer ClO "-Lösung (Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit, Verstärkung der Hydrolyse) erfolgt auch ohne Ansäuern eine Disproportionierung gemäß (8). So gewinnt m a n z.B. Natriumchlorat im L a b o r a t o r i u m durch Einleiten von Chlor in h e i ß e N a t r o n l a u g e , in welcher sich Cl 2 zu C l " und zu seinerseits gemäß (8) disproportionierendes ClO " umsetzt, sodass sich insgesamt folgende Summenreaktion ergibt 3C
6O
Cl
5C
3H O.
In der T e c h n i k stellt m a n Chlorat praktisch ausschließlich durch E l e k t r o l y s e einer h e i ß e n K o c h s a l z l ö s u n g (ohne Trennung von Kathoden- und Anodenraum, S.433) bei einer Zellspannung von 3 . 0 - 3 . 5 V dar: 354 kJ + NaCl(aq) + 3 H 2 0
N a C l 0 3 (aq) + 3 H 2 .
Im Einzelnen spielen sich hierbei folgende Vorgänge ab: Das an der Anode (aus Pt oder aktiviertem Ti) freigesetzte Chlor (2CP -> C12 + 2 Q ) reagiert mit dem an der Stahlkathode neben Wasserstoff gebildeten Hydroxid-Ion (2H 2 0 + 2 Q -> H 2 + 2OH~; für Einzelheiten vgl. Chloralkali-Elektrolyse, S. 433) zu Hypochlorit ab (C 2O C Cl O). Dieses verwandelt sich anschließend auf chemischem Wege gemäß (8) (ClO-Disproportionierung) und zudem auf elektrochemischem Wege nach 6ClO" + 3 H 2 0
2 C l 0 3 + 4 C F + 6H + + 1 J 0 2 + 6 Q
470
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
(anodische ClO"-Oxidation) in Chlorat. Zur Unterdrückung der Chlorat-Bildung auf letzterem, stromverbrauchendem und deshalb unerwünschtem Wege beschleunigt man die ClO"-Disproportionierung durch Arbeiten in der Wärme (ca. 60-75°C) in schwach saurem Milieu (pH 6-7; man gibt laufend etwas Säure zum Elektrolyten) und verhindert durch geeignete Maßnahmen die rasche Diffusion von ClO~ zur Anode (die stromverbrauchende Reaktion ClO" + 2 H + + 2 Q -> Cl" + H 2 0 an der Kathode wird durch Zugabe geringer Mengen Chromat CK)2" zur Lösung gehemmt). Es bilden sich Lösungen mit 280-700 g NaClO s und 80-180 g NaCl je Liter Sole, aus denen NaClO s nach Einengen in der Kälte ausfällt. Die Herstellung von KClO s erfolgt durch doppelte Umsetzung von NaCl0 3 mit KCl (NaCl KC KCl NaCl). F ü r die Gewinnung der f r e i e n C h l o r s ä u r e ist die Umsetzung von B a r i u m c h l o r a t mit S c h w e f e l s ä u r e zweckmäßig, da das dabei neben Chlorsäure entstehende Bariumsulfat ( B a S 0 4 ) schwerlöslich ist und daher leicht durch Abfiltrieren abgetrennt werden kann: Ba(Cl03)2 + H 2 S 0 4
2HCl03 + BaS04 .
Die farblose Lösung kann im Vakuum über konzentrierter Schwefelsäure als wasserentzie hendem Mittel bis zu einem Gehalt von 4 0 % Chlorsäure eingedunstet werden, ohne dass sich die Säure zersetzt. Konzentriert m a n darüber hinaus, so tritt unter Bildung von Sauerstoff, Chlor, Chlordioxid und Perchlorsäure Zersetzung ein ( 8 H C l 0 3 ->• 4 H C l 0 4 + 2 H 2 0 + 3 0 2 + 2C1 2 ; 3 H C l 0 3 H C l 0 4 + H 2 0 + 2ClO 2 ). Eigenschaften Redox-Reaktionen. Konzentrierte Chlorsäure ist ein sehr kräftiges Oxidationsmittel (e0 für C l 0 3 / C r = + 1.450 bei pH = 0, S.464). Tränkt man z.B. Filterpapier mit einer 40%igen wässerigen Chlorsäurelösung und lässt es an der Luft liegen, so entzündet es sich bald von selbst; ein in die konzentrierte HClO 3 -Lösung eingetauchter Holzspan entflammt. Weißer Phosphor verbrennt mit heller Lichterscheinung (Bildung von Phosphorsäure); ebenso greift HCl Schwefel an (Bildung von Schwefelsäure). Chlorid, Bromid und Iodid X~ werden zu Halogenen oxidiert: ClO3 + 5 X + 6H +
(Folgereaktion: 2BrCl
Br2 + a 2 ) .
(Bei Br~ und I~-Überschuss bildet sich Chlorid: X Q + X~ -> X 2 + Cl", bei HClO3-Überschuss Iodat I 2 + 2 C l 0 3 -> 2 I 0 3 + Q 2 .) Besonders stark oxidierend wirkt eine Mischung von konzentrierter Chlorsäure und rauchender Salzsäure (,,Euchlorin"); man benutzt sie z. B. zum Zerstören organischer Stoffe bei der Prüfung auf anorganische Bestandteile. Mit abnehmender Konzentration sowie zunehmendem pH-Wert einer HClO3-Lösung erniedrigt sich die Oxidationskraft der Chlorsäure (e0 für Cl0 3 /Cl" = + 0.692 V bei pH = 14) und darüber hinaus die Geschwindigkeit der Oxidationen mit HClO 3 : Im Allgemeinen erfolgt die Reduktion von HCl0 3 bis zu Chlorid Cl". Insbesondere in konzentrierter Lösung wird HCl0 3 darüber hinaus zu Chlor und Chlordioxid Cl0 2 reduziert (S. 482; bezüglich des Mechanismus der Oxidationsreaktionen vgl. S.473, 483). Säure-Base-Reaktionen. In stärkerer Verdünnung ist die Chlorsäure verhältnismäßig beständig. Als starH + + C l 0 3 ; p ^ s = — 2.7) ist sie praktisch vollkommen dissoziiert. ke, einbasige Säure (HCl0 3 Salze Die besonders wichtigen Alkalichlorate (zur Struktur des mit SO 2" isoelektronischen ClO 3 -Ions vgl. S. 463) sind farblos, in Wasser löslich und in festem Zustande bei gewöhnlicher Temperatur haltbar. Ihre verdünnten wässerigen Lösungen wirken weit weniger stark oxidierend als die der Hypochlorite. Feste Gemische von Chlorat und oxidierbaren Substanzen (z. B. Phosphor, Schwefel, organische Verbindungen) explodieren demgegenüber schon beim Verreiben im Mörser; daher muss man beim Arbeiten mit Chloraten stets größte Vorsichtwalten lassen. Mischungen von Chloratenmit Magnesium verpuffen beim Entzünden als,,Blitzlicht" (vgl. S. 1226). Beim Erhitzen für sich zersetzen sie sich oberhalb des Schmelzpunktes unter Disproportionierung (s. u.) bzw. in Anwesenheit von Katalysatoren wie Mn0 2 unter Sauerstoffabspaltung (2KCl0 3 2 K Q + 3 0 2 ) . Besonders thermolabilist NH 4 Cl0 3 (Zers. 5 °C). Kaliumchlorat (Smp. 368 °C, Zers. 400 °C) wird in großen Mengen (Weltjahresproduktion: zig Kilotonnenbereich) für Oxidationszwecke, zur Herstellung der Zündmasse von Zündhölzern (s. dort), sowie in der Feuerwerkerei und Sprengstoffindustrie gebraucht. Auch findet es in der Medizin als Antiseptikum in Form von Gurgel- und Mundwässern Verwendung, wobei man allerdings beachten muss, dass es in größeren Mengen (> 1 g) wie alle Chlorate giftig ist Natriumchlorat (Smp. 248 °C, Zers. 265°C) wird als Oxidationsmittel, als Ausgangsmaterial für die Gewinnung von anderen Chloraten, von Perchloraten sowie von Chlordioxid (s. dort), zur Oxidation von U(IV) bei der Urangewinnung, als Entlaubungsmittel für Baumwollsträucher und zur Unkrautbekämpfung verwendet (Weltjahresproduktion: Megatonnenbereich). Wegen seiner hygroskopischen Eigenschaften ist es für pyrotechnische Zwecke weniger geeignet als KCl
4. Sauerstoffsäuren der Halogene
471
Perchlorsäure HClO 4 28 Darstellung Erhitzt m a n Chlorate, z.B. Kaliumchlorat, auf höhere Temperatur so d i s p r o p o r t i o n i e r e n sie unter Bildung von Chlorid und ,,Perchlorat": 4KCl03
KCl + 3 K C l 0 4
(K = 102 9 ; selbst bei 100°C langsam).
Bei noch stärkerem Erhitzen zerfällt das gebildete Perchlorat weiter in Chlorid und Sauerstoff (Cl C 2 O ). T e c h n i s c h werden Perchlorate (insbesondere N a C l 0 4 ) durch anodische Oxidation von Chloraten bei p H 6 . 5 - 1 0 hergestellt: ClO4 + 2 H + + 2 ©
ClOj + H 2 0
(e0 = + 1.19 V)
(Anode: Pt oder P b 0 2 auf Graphit; Kathode: Fe; Stromdichte: 3000 A / m 2 ; Zellspannung: 6.5 V (Pt), 4.75 V (PbO 2 )). Die zugrunde liegende Perchlorsäure lässt sich technisch durch anodische Oxidation von Chlor in Perchlorsäure als Elektrolyt bei 0°C in relativ reiner F o r m gewinnen 2 C l 0 4 + 16H + + 14©
Cl 2 + 8 H 2 0
(e0 = + 1.39 V)
(Anode: Pt; Kathode: Ag; Diaphragma; Stromdichte: 2500 A / m ; Zellspannung: 4.4 V). HCl entsteht auch beim Behandeln von N a C l mit konzentrierter Salzsäure NaCl
HC
NaC
HCl
und k a n n nach Abfiltrieren von ausgefallenem N a C l im Vakuum zusammen mit ca. 30 % Wasser abdestilliert werden (s.u.). Die wasserfreie Säure ist durch Vakuumdestillation in Gegenwart rauchender Schwefelsäure erhältlich. In den Handel k o m m t 6 0 - 6 2 %ige bzw. 7 0 - 7 2 % i g e Perchlorsäure (Molverhältnis H 2 O : H C l 0 4 = 3.5 bzw. 2.5). Physikalische Eigenschaften Die reine Perchlorsäure ist eine farblose, bewegliche, an der Luft rauchende, bei — 112°C erstarrende und bei 130°C siedende Flüssigkeit mit der Dichte 1.761 g/cm3 bei 25°C (Struktur von HOClO 3 : Abstände HO—Cl/Cl—O = 1.635/1.408 Ä; Winkel HOCl/OClO = 105.8/ 112.8°). Die konzentrierten wässerigen Lösungen der Perchlorsäure sind von öliger Konsistenz, ähnlich der konzentrierten Schwefelsäure. Eine 72 %ige Perchlorsäure-Lösung siedet als azeotropes Gemisch unter Atmosphärendruck bei 203 C. Unter den Hydraten ist das kristallisierte M o n o h y d r a HCl0 4 • H O erwähnenswert, das bei 49.90°C schmilzt und die Konstitution eines Oxoniumperchlorats (H 3 O)Cl0 4 besitzt (unterhalb — 30°C sind die H 3 0 + -Ionen über H-Brücken gebunden, oberhalb — 30 °C rotieren sie frei auf ihren Gitterplätzen). Zwei weitere Hydrate sind: HCl0 4 • 2 H 2 0 = (H 5 0 2 )Cl0 4 (Smp. — 20.65 °C, Sdp. = + 203°C) und HCl0 4 ^ 3 ^ 0 = (H 7 0 3 )Cl0 4 (Smp. — 40.2°C). Chemische Eigenschaften Beim Erwärmen färbt sich reine H C l 0 4 unter Zersetzung braunrot und zerfällt schließlich unter E x p l o s i o n (Produkte: HCl, Cl 2 , C1 2 O, ClO 2 , O 2 ) . Schon bei gewöhnlicher Temperatur geht die Zersetzung langsam vor sich, wobei bisweilen ohne erkennbaren äußeren Anlass Explosion eintreten kann. Infolge der starken O x i d a t i o n s w i r k u n g werden brennbare Substanzen wie Holz, Holzkohle, Papier, organische Verbindungen explosionsartig unter heftiger Detonation oxidiert. Reduktionsmittel wie H I oder SOC1 2 reagieren unter Entzündung, Metalle wie Ag oder A u werden aufgelöst. Auf der H a u t erzeugt Perchlorsäure schmerzhafte und schwer heilende Wunden. Die reine flüssige Säure dissoziiert in geringem Maße nach: 3HCl04 ^
C1 2 0 7 + H 3 0 + + C l 0 4
(K = 0.68 x 10~ 6 bei 25°C).
In v e r d ü n n t e m Z u s t a n d e ist die Perchlorsäure wesentlich beständiger und trotz ihrer hohen thermodynamischen Oxidationskraft C l 0 4 /Cl~ (e 0 = + 1.38 V) kinetisch von w e i t g e r i n g e r e m Oxidationsvermögen als die Chlorsäure (Oxidationspotential C l O j / C l " =
472
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
+ 1.45 V). So kann z.B. die verdünnte wässerige Lösung mit Salzsäure schwach erwärmt werden, ohne dass Chlor entwickelt wird; Schweflige Säure wird nicht zu Schwefelsäure oxidiert, Indigo auch in stark saurer Lösung nicht entfärbt. Auch HI, H N O , Cr2 + , Eu2 + reagieren nicht. Oxidiert werden aber z.B. Sn2 + , Ti 3 + , V2 + , S 2 0 2 " ; die Perchlorsäure geht hierbei in Chlorwasserstoff über. Alkalimetalle reduzieren andererseits die Protonen der Säure zu Wasserstoff. Salze Die Perchlorsäure gehört zu den stärksten Säuren, die es gibt (Ks = 10i°). Ihre Salze, die ,,Perchlorate", sind die beständigsten Sauerstoffsalze des Chlors und praktisch von allen Metallen bekannt. Die meisten von ihnen sind in Wasser sehr leicht löslich (z. B. 5570 g AgCl0 4 in 1 Liter Wasser; ähnlich löslich ist AgCl0 4 in Toluol). Ziemlich schwerlöslich sind in kaltem Wasser Kalium-, Rubidium- und Cäsiumperchlorat. Die KCl0 4 -Bildung wird daher vielfach zur ,,quantitativen Bestimmung von Kalium" benutzt. In kleinen Mengen kommt es in der Caliche, dem Ausgangsprodukt für den Chilesalpeter (s. dort) vor. Da es ein starkes Pflanzengift ist, muss es bei Verwendung des Salpeters für Düngezwecke vorher entfernt werden. Es lässt sich leicht durch doppelte Umsetzung aus NaCl0 4 und KCl gewinnen. Die Verbindung wird für Feuerwerkskörper sowie im Gemisch mit Mg für Leuchtsignalraketen genutzt. Natriumperchlorat dient als Edukt für die HCl0 4 -Gewinnung und zur Spengstoffbereitung, Magnesiumperchlorat als Elektrolyt in Trockenzellen Ammoniumperchlorat (Gewinnung hauptsächlich nach: NH 3 + HCl0 4 -> NH 4 ClO 4 ) ist ein wesentlicher Bestandteil fester R a k e t e n t r e i b s t o f f e (häufig: 75% NH 4 Cl0 4 und 25% hochmolekulare organische Substanzen oder Aluminiumpulver). Wegen des steigenden Bedarfs an NH Cl hat die Synthese von HCl in letzter Zeit technisches Interesse gefunden (Weltjahresproduktion: Megatonnenbereich). In Komplexen wirkt das tetraedrische Cl0 4 -Ion als einzähniger (r\'), zweizähnig-chelatbildender (r\2) und verbrückender (j£) Ligand. 28
4.4
Sauerstoffsäuren des B r o m s ^ 3 ^ 8
Hypobromige Säure HBrO, die schwächer als die Hypochlorige Säure ist (Dissoziationskonstante 2.06 x 10 8), und ihre Metallsalze, die ,,Hypobromite" (MBrO), entstehen in Analogie zu den entsprechenden Verbindungen des Chlors (S.466) durch Schütteln von Bromwasser mit Quecksilberoxid bzw. durch Umsetzen von Brom mit Alkalilauge bei 0°C: 2Br 2 + 3Hg0 + H 2 0 Br2 + 2 N a 0 H
HgBr 2 -2HgO + 2H0Br,
NaBr + Na0Br + H 2 0 .
Wässerige Hypobromige Säure ist viel instabiler als wässerige Hypochlorige Säure und zerfällt bzw disproportioniert rasch gemäß: 2H0Br -> 2HBr + 0 2 bzw. 3H0Br -> 2HBr + HBr0 3 . Die Hypobromitlösungen sind wie die Hypochloritlösungen ausgeprägte Bleich- und Oxidationsmittel (Normalpotential HBrO/Br" in saurer Lösung = +1.34 V; mit HClO bzw. ClO~ vergleichbare Oxidationsmechanismen, S. 467). Die Hypobromite (z. B. NaOBr • x H 2 0 durch Kristallisation aus NaBr/ NaOBr-Lösungen) sind gelb, haben einen eigentümlichen aromatischen Geruch und disproportionieren in wässeriger Lösung quantitativ unter Bildung von Bromid und Bromat: 3BrO~
2Br~ + BrOj ,
weshalb man Hypobromitlösungen bei 0 °C darstellen und aufbewahren muss. Durch Erhitzen des beim Eindampfen der disproportionierten Lösung hinterbleibenden Bromid-Bromat-Gemisches mit Holzkohlepulver (Reduktion des Bromat-Anteils zu Bromid) werden technisch Alkalibromide gewonnen: 2BrOj + 3C -> 2Br~ + C O - In analoger Weise lassen sich Alkaliiodide darstellen. Bromige Säure HBr0 2 entsteht in Form ihrer Salze (,,Bromite") als Zwischenprodukt der zu Bromat führenden Oxidation von Hypobromiten (bzw. Brom) mittels Hypochlorit oder Hypobromit in alkalischem Medium, wobei sich Br0 2 -haltige Lösungen durch rechtzeitiges Stoppen der Reaktionen mit NH 3 , welches unverbrauchtes ClO~ bzw. BrO~ rasch zersetzt, gewinnen lassen. BrO~ + ClO" -> Br0 2 + C P
oder
2BrO~
Br0 2 + Br" .
Die letztgenannte Methode läuft auf eine D i s p r o p o r t i o n i e r u n g von Hypobromit hinaus, bei der neben Bromit und Bromid auch Bromat auftritt. Umgekehrt kann z.B. Lithiumbromit auch durch Komproportionierung von Lithiumbromat und -bromid bei 190-225 °C auf trockenem Wege erzeugt werden: 2 B r 0 3 + B r " -> 3Br0 2
4. Sauerstoffsäuren der Halogene
473
Die Bromite besitzen sowohl im festen wie im gelösten Zustande eine gelbe Farbe. Zum Unterschied von den Chloriten sind sie nur in alkalischer Lösung beständig, während sie sich in saurer Lösung unter Bromausscheidung zersetzen. Permanganat wird durch Bromit zu Manganat(VI) reduziert: 2 M n 0 4 + Br0 2 + 2 0 H "
2 M n O + BrOj + H 2 0 ,
was sich zur bequemen Gewinnung von Manganat(VI)-Lösungen heranziehen lässt. Mit SchwermetallIonen wie Pb 2 + , Hg 2 + und Ag + bilden Alkalibromite schwerlösliche gelbe bis orangefarbene Niederschläge. Von den Alkali- und Erdalkalibromiten (in kristallisierter Form wurden z.B. isoliert: NaBr0 2 • 3 H 2 0 und Ba(Br0 2 ) 2 • H O ) hat das,,Natriumbromit" als Entschlichtungsmittel für den oxidativen Stärkeabbau bei der Textilveredlung Eingang in die Technik gefunden. Bromsäure H B r 0 3 . Darstellung. Die ,,Bromsäure" lässt sich analog der Chlorsäure (S. 469) durch Umsetzung von B a r i u m b r o m a t mit verdünnter S c h w e f e l s ä u r e gewinnen und kann bis zu einem Gehalt von ca. 50 % H B r 0 3 angereichert werden. Konzentriert m a n darüber hinaus, so tritt Zersetzung ein nach 4HBr03 ^
2Br2 + 5 0 2 + 2 H 2 0 .
Die ,,Bromate" B r 0 3 entstehen ebenfalls entsprechend den Chloraten durch D i s p r o p o r t i o n i e r u n g v o n Brom in heißen Laugen ( 5 0 - 8 0 ° C ) bzw. durch 0 x i d a t i o n heißer alkalischer Bromidlösungen mit Chlor oder Hypochlorit: 3Br2 + 6 0 H ~ -> B r 0 3 + 5 B r +3H20, Br~+3C12 + 60H~ Br03 + 6 ^ + 3 ^ 0 . Die A l k a l i b r o m a t e (zur Struktur von B r 0 3 vgl. S.463), die in der T e c h n i k als weniger lösliche Fraktionen von den gleichzeitig gebildeten löslicheren Bromiden bzw. Chloriden abgetrennt werden, sind farblos, wasserlöslich und zerfallen thermisch sowohl gemäß 2 B r 0 3 -> 2Br~ + 3 0 wie nach 2 B r 0 3 -> 0 2 ~ + Br 2 + 2.5 0 2 . Sie werden zur Metallbehandlung und in Haarfestigern verwendet Eigenschaften. Die Bromsäure ist eine starke Säure ( p ^ s ~ 0) und ein kräftiges 0xidationsmittel. Sie führt z.B. Halogenid in Halogen (s.u.), Wasserstoffperoxid in Sauerstoff, Schwefel in Schwefelsäure, Phosphor in Phosphorsäure über. Auch die wässerigen BrO 3 - L ö s u n g e n wirken - insbesondere nach Ansäuern - stark oxidierend (vgl. Potentialdiagramm S. 464) und werden für R e d o x - T i t r a t i o n e n („Bromatometrie") verwendet, z.B.: N O N03 , A s O A s O | ~ , S b ( i n ) -> Sb(V), Sn(II) Sn(IV), N 2 H 4 N2, Cr(in) Cr(VI). Die quantitativ erfolgende Komproportionierung von Bromat und Bromid zu Brom in s a u r e r Lösung BrO3 + 5 B r ~ + 6 H +
3 ^ + 3 ^ 0 ,
(1)
wird u.a. zur Herstellung von Bromlösungen für Redox-Titrationen („Bromometrie") genutzt. Die Komproportionierung stellt die U m k e h r u n g der weiter oben erwähnten, zur Bromatgewinnung genutzten Disproportionierung von Brom in Bromat und Bromid dar, welche in a l k a l i s c h e r Lösung (Entzug von Protonen) erfolgt. Der durch pH-Änderung hervorgerufene wechselseitige Übergang von Brom in Bromat und Bromid k a n n zur Reinigung von Brom genutzt werden (vgl. Darstellung von Br 2 ). Der Mechanismus der Umsetzung (1) besteht aus einer Folge mehrerer assoziativ aktivierter, durch Protonen katalysierter Substitutionsprozesse (SN2-Reaktionen, s. dort). Und zwar setzen sich zunächst Bromat und Bromid wie folgt zu Bromit und Brom um TT
Q 2 Br—O
+ 2H+ rasch
(a)
+ /
+:Br"; + : 0 H
\
geschwindigkeitsbestimmend
Q 2 Br—O
(b)
+Br:"
^ Q2Br—Br ^ ^
rasch
(c)
Q2Br:~ + Br—Br.
(2)
474
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Anschließend reagiert das gebildete Br mit B analog (2) zu Hypobromit Br und B und das gebildete BrO~ seinerseits auf dem Wege: Br:~ + Br—OH -> Br—Br + :0H~ (vgl. S.472) zu Brom. Den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der gesamten Reaktionsfolge, die im Falle der ,,Hin"-Reaktion (1) von links nach rechts, im Falle der ,,Rück"-Reaktion (1) von rechts nach links durchlaufen wird, stellt der assoziativ aktivierte H 2 0/Br~-Austausch (2b) am zentralen Bromatom von Br0 3 dar; die nachfolgende nucleophile Substitution (2c) am ä u ß e r e n Bromatom von O 2 BrBr sowie die sich anschließenden Redoxprozesse von Bromit und Hypobromit verlaufen vergleichsweise rasch. Ersichtlicherweise führt eine Z u n a h m e der P r o t o n e n k o n z e n t r a t i o n (Abnahme des pH-Werts) der Lösung zu einer Verschiebung des dem geschwindigkeitsbestimmenden Schritt vorgelagerten, sich rasch einstellenden Protonierungsgleichgewichts (2a) nach rechts, was insgesamt eine E r h ö h u n g der R e a k t i o n s g e schwindigkeit zur Folge hat. Ähnlich wie von Bromid wird Bromat im sauren Milieu von Chlorid bzw. Iodid reduziert. Br0 3 + 5 X + 6H+ X B r + 2X 2 + 3 H 2 0 (Folgereaktion: 2ClBr Cl2 + Br 2 ; bei I"-Überschuss bildet sich Bromid: IBr + I" -> I 2 + Br~, bei HBrO 3 -Überschuss Iodat: I2 + 2 B r 0 3 -> 2 I 0 3 + Br 2 ). Die Reaktionsgeschwindigkeit wächst hierbei in Richtung Cl" < Br~ < I". Demgemäß wirkt Brom in HBrO s als weiches Substitutionszentrum (vgl. S. 396). Entsprechend (2) setzen sich darüber hinaus Chlorat Cl0 3 und Iodat IO mit Halogeniden um (bezüglich der Bildung von Cl im Falle der Reduktion von Cl mit Cl" in stark saurer Lösung vgl. S.483). Die bevorzugte Verwendung von Bromat für Redox-Titrationen beruht dabei auf dessen vergleichsweise hoher Oxidationskraft (z.B. höher als von I 0 3 ) und Oxidationsgeschwindigkeit (z.B. höher als von C l 0 3 ) . Ganz allgemein laufen Reaktionen von Hypohalogeniten, Halogeniten, Halogenaten und Perhalogenaten X 0 " + 1 (n = 0 - 3 ) mit Reduktionsmitteln Nu:" vielfach - wie im Falle von (2) - im Zuge nucleophiler Substitutionsreaktionen am Zentralatom X von H X 0 „ + 1 bzw. H2X0„++> ab, z.B.: Nu:" + 0„X—0H 2 + 0 „ X — N u + :0H 2 , gefolgt von N u r + Nu—X0„ ^ Nu 2 + :XO" bzw. ^ O ^ Nu—X0„ -> H 2 0 — N u + + :XO". Perbromsäure HBr0 4 lässt sich in Form ihrer Salze (,,Perbromate") nicht analog der Perchlorate (s. dort) durch thermische Br0 3 -Disproportionierung, sondern nur durch Oxidation von Bromaten mittels sehr starker Oxidationsmittel wie XeF2 in mäßiger Ausbeute gewinnen (aus den Lösungen kann man durch Zugabe von RbF das Rubidiumsalz RbBr0 4 auskristallisieren): Br
Xe
Br
2H
Xe
Auch anodisch lässt sich diese Oxidation durchführen (e0 für B r 0 3 / B r 0 4 in saurer Lösung = + 1.853 V), während z. B. Ozon, Natriumperxenat oder Natriumperoxodisulfat trotz genügend hoher Oxidationspotentiale selbst bei 100 °C, auch in Anwesenheit von Silberkatalysator, dazu - aus kinetischen Gründen nicht in der Lage sind Zur O x i d a t i o n mit F l u o r leitet man das Halogen so lange in eine alkalische Br0 3 -Lösung, bis diese neutral reagiert (neben der Br0 4 -Bildung erfolgt F"-Bildung: F2 + 2 0 H ~ -> 2F~ + lA 0 2 + H 2 0). Anschließend fällt man überschüssiges B r 0 3 als AgBrO 3 , gebildetes F~ als CaF 2 aus und schickt die verbleibende Reaktionslösung durch eine Kationenaustauschersäule. Die austretenden verdünnten Lösungen der ,,Perbromsäure" HBr0 4 können bis zu 6 molaren Lösungen (55 %) ohne Zersetzung konzentriert werden und sind selbst bei 100 °C unbegrenzt haltbar. In verdünnter Lösung ist Perbromsäure trotz ihres hohen Oxidationspotentials (vgl. S.464) ein träges Oxidationsmittel, das Cl" nicht, Br~ und nur langsam zu elementarem Halogen oxidiert. Dagegen oxidiert die 3-molare Säure z. B. leicht rostfreien Stahl, und die 12-molare Lösung explodiert schon bei Berührung mit Salpetersäure. KBr0 4 (stabil bis 275 °C) geht beim Erhitzen auf über 280 °C unter Sauerstoffabspaltung nicht analog KCl0 4 in KBr, sondern in KBr0 3 über.
4.5
Sauerstoffsäuren des lodsi28
Hypoiodige Säure HIO. Schüttelt man eine wässerige I o d l ö s u n g mit Quecksilberoxid (vgl. S.466), so erhält man vorübergehend die freie ,,Hypoiodige Säure" HIO (2I 2 + 3HgO + H 2 0 -> Hgl 2 • 2HgO + 2HI0), welche die schwächste der drei Hypohalogenigen Säuren darstellt (Dissoziationskonstante 2.3 x 10">>). Sie ist sehr unbeständig und zersetzt sich rasch unter D i s p r o p o r t i o n i e r u n g auf dem Wege über Iodige Säure in Iod und Iodsäure 5HI0
H I 0 3 + 2I 2 + 2 H 2 0
(Reaktionsweg: 3HIO -> 2HI + H I O ; H I 0 3 + 5HI ^ 3 H 2 0 + 3I 2 ). Etwas beständiger sind die „Hypoiodite" in wässriger Lösung, die analog den Hypochloriten und -bromiten durch Einwirkung von Iod auf Alkalilaugen gewonnen werden können und die sowohl als Oxidations- als auch Reduktionsmittel wirken (vgl. Potentialdiagramm, S. 464). In kurzer Zeit gehen infolgedessen auch sie unter Disproportionierung in Iodid und Iodat über. Feste Metallhypoiodite sind bisher unbekannt.
4. Sauerstoffsäuren der Halogene
475
Iodige Säure HI0 2 . Über die Iodige Säure und ihre Salze, die „Iodite", ist bisher wenig bekannt. I 0 2 stellt ein reaktives Zwischenprodukt der Disproportionierung von I 0 " in Natronlauge dar (vgl. S. 465). Iodsäure H I 0 3 . Darstellung. Die ,,Iodsäure" kann durch e l e k t r o c h e m i s c h e oder c h e m i s c h e 0xidation von I o d - in letzterem Falle mit konzentrierter S a l p e t e r s ä u r e , W a s s e r s t o f f p e r o x i d , 0 z o n oder C h l o r - in wässriger Lösung gewonnen werden, z.B.: I 2 + 6 H 2 0 + 5C1 2
2 H I 0 3 + 10HCl.
Die im letzteren Falle gleichzeitig gebildete S a l z s ä u r e muss durch S i l b e r o x i d aus dem Gleichgewicht entfernt werden (2HC1 + A g 2 0 -> 2AgCl + H 2 0 ) , da Iodsäure die Salzsäure in Umkehrung obiger Bildungsgleichung oxidiert (s.u.). Aus den Salzen kann die Säure durch Erwärmen mit S c h w e f e l s ä u r e in Freiheit gesetzt werden: NaI0
S0
HI0
NaHS0
Die Salze der Iodsäure, die ,,Iodate", lassen sich ihrerseits durch Einwirkung von Iod auf heiße Alkalilaugen oder durch 0xidation von Iod mit Chloraten gewinnen: 3I2 + 6 0 H "
I03 + 5 r + 3 H
2
0;
I2 + 2 C l 0 3
2 I 0 3 + Cl 2 .
Auch durch Hochdruckoxidation von Iodid bei 600°C mit Sauerstoff unter 100 bar sind sie nach 2 I " + 3 0 2 -> 2 I 0 3 zugänglich. Eigenschaften. Die Iodsäure, die als einzige unter den Halogensäuren H X 0 3 wasserfrei isoliert werden kann, kristallisiert in farblosen, durchsichtigen Kristallen von saurem, herbem Geschmack (Struktur: H-verbrückte ( H 0 ) I 0 2 - P y r a m i d e ; £ ( H 0 ) I 0 = 97°, £ 0 I 0 = 101.4°, Abstand H 0 — 1 1 . 8 9 Ä). Sie zersetzt sich t h e r m i s c h bei 100°C in H I 3 0 8 , bei 200°C in I 2 O S ( 3 H I 0 3 ^ H I 0 3 • I 2 ° 5 + H 2 0 ->• 1 . 5 I 2 O s + 1 . 5 H 2 0 ) und wirkt als mittelstarke Säure ( p ^ s = 0.804). Darüber hinaus ist sie ein kräftiges 0 x i d a t i o n s m i t t e l (s 0 für I 0 3 /I 2 1.19 V bei p H = 0) und verwandelt etwa Halogenid in Halogene (X = Cl, Br, I): I 0 3 + 5X~ + 6 H + -> IX + 2 X 2 + 3 ^ 0 , Wasserstoffperoxid in Sauerstoff (vgl. „ B r a y - L i e b h a f s k y - R e a k t i o n " , S. 373), Arsenit in Arsenat ( I 0 3 + 3 A s O I " + 3 A s O S u l f i t in Sulfat S 0 2 ~ ( I 0 3 + 3 S O b z w . 2 I 0 3 + 5 S O + 2 H + ^ I2 + 5 S O + H 2 0 ) . Die von H.H. Landolt im Jahre 1886 entdeckte und zur Iod-Gewinnung genutzte (S. 440) Umsetzung von Iodat mit der 2.5-fachen Menge Sulfit in saurer Lösung zu Iod und Sulfat („Landolt-Reaktion") stellt eine ,,gekoppelte Reaktion" dar: I03+3S0|- > r + 3So2", I0 5I 6H 3I 3H 0 , 2I 2 + 2 S O + 2 H 2 0 4 r + 4 H + + 2SO^ .
(1) (2) (3)
Hierbei entsteht das Iod auf den Wegen (1) und (2) langsamer, als es auf dem Wege (3) verschwindet. Erst wenn nach einer bestimmten Zeit die zugegebene Menge Sulfit verbraucht ist und die Reaktionen (1) und (3) nicht mehr ablaufen können, liefert der Vorgang (2) sichtbare Mengen Iod. Führt man infolgedessen die Umsetzung in Anwesenheit von etwas Stärke durch, so färbt sich diese nach längerem (errechenbarem) Warten plötzlich blau. Man zählt die Landolt-Reaktion aus diesem Grunde zu den „Zeitreaktionen". Die Umsetzungen (1), (2) und (3) sind ihrerseits aus jeweils mehreren Teilreaktionen zusammengesetzt (vgl. hierzu S. 473). So verläuft etwa die Umsetzung (3), die eine Teilreaktion der Folge (1) darstellt, auf dem Wege: H 0 3 S " +1—I H0 3 S—I + I"; HS0 3 I + H 2 0 H 2 S0 4 + HI. Geschwindigkeitsbestimmend ist jeweils nur die erste Teilreaktion von (1), (2) und (3). Ähnlich wie S0 3 ~ reagieren die Reduktionsmittel Sn2+ und S 2 0 3 ~ vollständig bzw. AsO 3 ~ und Fe(CN)g~ teilweise mit Iodat, bis die I ~ / I 0 3 -Komproportionierung zu I 2 einsetzt. Andererseits erfolgt die Reduktion von I 0 3 mit Hydroxylamin NH 0 H , Hydrazin oder Hydrochinon H 0 0 H langsamer als die I ~ / I 0 3 -Komproportionierung, weshalb sich in diesen Fällen Iod von Reaktionsbeginn an abscheidet.
476
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Salze. Die Alkalisalze der Iodsäure haben im Allgemeinen die Formel M I O und enthalten das pyramidal gebaute „Iodat" IO3 (vgl. S.463). Man kennt aber auch saure Salze der Zusammensetzung M I O • H I O und M I O • 2 H I O , bei denen die HIO-Moleküle über Wasserstoffbrücken an die I 0 3 Anionen gebunden sind. Die Iodate sind viel beständiger als die Chlorate und Bromate ( K I O zerfällt erst oberhalb 500°C in KI und O 2 ), stellen aber immer noch ausgesprochene Oxidationsmittel dar (e0 für IO3 /I 2 in alkalischer Lösung = + 0.20 V). So detonieren sie im Gemisch mit brennbaren Substanzen durch Schlag. Die Iodate der vierwertigen Metalle Ce, Zr, Hf, Th können aus 6-molarer H N 0 3 ausgefällt werden, was zur Abtrennung dieser Metalle von anderen Metallen dienen kann. In Lösung addiert Iodat ein H 2 0-Molekül gemäß I 0 3 + H 2 0 H 2 I O unter Bildung von,,Dihydrogenmetaiodat" H 2 I 0 4 (formal Addition von 0 H ~ an H I O ; es lassen sich auch andere Basen wie Me 2 S0 an H I 0 3 addieren). Beim Ansäuern zerfällt das Addukt wieder unter H 2 0-Abspaltung in H I O (vgl. H I O ) . Tatsächlich existiert eine „Metaiodsäure" H 3 I 0 4 ebensowenig wie eine „Orthoiodsäure" H 5 I 0 5 bzw. deren Salze M 3 I 0 4 (wippenförmiges ,,Metaiodat" I04") und M 5 I 0 (quadratisch-pyramidales ,,Orthoiodat" IO5"). Es lassen sich aber offensichtlich Salze kondensierter Meta- und Orthoiodsäuren gewinnen. So enthält C s ^ O ^ Schichten aus quadratischen I v O 5 -Pyramiden (I v in Pyramidenmitte) und trigonalen I v 0 3 -Pyramiden (I v an Pyramidenspitze) mit gemeinsamen O-Atomen. Periodsäure H I O ? Orthoperiodsäure H s IO s .2® Darstellung. O x i d i e r t m a n I o d a t e (bzw. auch Iodide oder Iod) mit C h l o r oder H y p o c h l o r i t in Natronlauge bei 100°C, so entstehen ,,Periodate" (bezüglich der in Lösung tatsächlich vorliegenden Iod(VII)-Ionen s. unten): IO
Cl
IO
C
Aus der Lösung erhält m a n beim Abkühlen das Orthoperiodat N a 3 H 2 I 0 6 , das beim Umkristallisieren aus verdünnter Salpetersäure in das Periodat N a l O übergeht. Analog den Perchloraten können Orthoperiodate darüber hinaus durch t h e r m i s c h e D i s p r o p o r t i o n i e r u n g von Iodaten gewonnen werden, z.B.: 5Ba(I03)2 -
Ba5(I06)2 + 4I2 + 9 0 2 .
In der T e c h n i k stellt m a n Periodate durch e l e k t r o c h e m i s c h e O x i d a t i o n von Iodat an PbO 2 -Anoden oder durch c h e m i s c h e O x i d a t i o n von I 0 3 mit Chlor dar. Die Orthoperiodsäure IO lässt sich durch Umsetzen des Bariumsalzes B IO mit konzentrierter Salpetersäure bzw. durch anodische Oxidation von Iodsäure H I O gewinnen HI03 + 3H20 ^ H5I06 + 2 H + + 2 © (e0 = 1.60 V ) . Die aus wässeriger Lösung kristallisierende Säure bildet farblose, prismatische, an der Luft zerfließende Kristalle vom Smp. 128.5 °C. Sie geht beim Erhitzen im Vakuum (70°C, 0.1-0.01 mbar) unter H 2 0 - A b s p a l t u n g in H 5 I O 6 x 2 H I O über (früher als ,,Triperiodsäure" bezeichnet farblose, pulverige, hygroskopische Substanz), die sich ihrerseits bei 100 °C im Vakuum unter weiterer H 2 0 - A b g a b e in die Periodsäure H I O (richtiger: ,,Polyperiodsäure" ( H I 0 4 ) x ) umwandelt (feinkristalline schwach gelbliche, hygroskopische Substanz. Letztere verwandelt sich bei weiterer Erwärmung auf 150 °C im Vakuum unter H 2 0 - und O ^ A b s p a l tung über I 2 O ö in I 2 0 5 (vgl. Iodoxide)). 2 H I 0 4 x H 5 I 0 bildet sich auch beim Behandeln von H 5 I 0 6 mit 97%iger H 2 S 0 bei Raumtemperatur, H I O beim Behandeln von H 5 I 0 6 mit 100 %iger H 2 S 0 bei 50 °C (die Iod(VII)-Säuren sind unter den angegebenen Bedingungen praktisch unlöslich in SO ). Beim Lösen in Wasser verwandeln sich beide Säuren unter H 2 0 - A u f n a h m e in die Säure H 5 I 0 _ der einzigen in Wasser existenzfähigen Iod(VII)-Säure zurück Strukturen. Die „Orthoperiodsäure" H 5 I 0 stellt ein Dihydrat H I O ' 2 H 2 0 der Periodsäure dar (a), wobei beide H 2 0-Moleküle an das Iod und nicht - wie im Falle von H X O ' 2 H 2 0 = H 5 0 2 X 0 4 (X = Cl, Br) - an das Proton gebunden sind. Demgemäß ist das Iod in H 5 I 0 sechsfach - und zwar oktaedrisch von fünf OH-Gruppen und einem O-Atom koordiniert (Abstände HO I/ 1.89 1.78 Ä). Die ,,Polyperiodsäure" (auch ,,Metaperiodsäure") ( H I O ^ , in welcher die I-Atome ebenfalls oktaedrisch von O-Atomen umgeben werden, stellt ein Polykondensat der Orthoperiodsäure dar. Die Kondensation erfolgt hierbei unter Abspaltung von jeweils zwei H 2 0-Molekülen pro Kondensations-
4. Sauerstoffsäuren der Halogene
477
schritt auf dem Wege über „Diperiodsäure" ~R6I2O10 (b) (nur Salze bekannt) und ,,Oligoperiodsäuren" H 6 + „l2 + „Oio + 4n (auch Salze unbekannt), wobei Ketten aus verzerrten, untereinander gauche-kantenverbrückten IO 6 -Oktaedern gebildet werden (c). Jede Kette ist über H-Brücken zwischen den OH~ und IO-Gruppen mit vier benachbarten, parallel verlaufenden Ketten verknüpft (Abstände I—O und I—OH/ I—OI/O O = 1.84/1.91 und 2.01/2.69 Ä; Winkel IOH/OHO = 112/176°). Bezüglich der IO4-Teilstruktur liegt Isotypie mit vielen Übergangsmetalltetrahalogeniden (z.B. UI 4 ) vor (S. 1752): die Oktaederlücken hexagonal-dichtest-gepackter O-Atome sind zu mit I-Atomen in der Weise besetzt, dass Zick-Zack-Ketten von IO 6 -Oktaedern mit gemeinsamen gauche-ständigen Kanten zustande kommen. Die Verbindung 2 HIO 4 x H 5 IO 6 liegt als Cokristallisat aus (HIO4)X und H 5 IO 6 vor. OH HOH—,OH
O H O l — -OH
| O O O - l — ^ O - l — -OH
A 1 A HO-—\-0-—\-0
\
HO-—[OH O
HO-—'-OH OH
0
' O p ^ ^ h / O H
/ A
Orthoperiodsäure H 5 IO 6 (a)
' A
HO-—j-o-—-[o O ± m H5IO
:
2 H 2O
+ 2mH2 0
' A
O
o - - - - - z O - \ — 3OH ' ' / W Z / V . / HO-—\~0—' O O O I \
Polyperiodsäure (HIO 4 ) x ("Metaperiodsäure ") (c) (keine Salze)
OH O HO|-—^O^j-—;OH
/ A
'
'
HO---j-O-—r-OH O OH Diperiodsäure H ^ O (b) (nur Salze)
J Q
Redox-Verhalten. Die O r t h o p e r i o d s ä u r e H 5 I O 6 wirkt - insbesondere in saurer Lösung sehr s t a r k o x i d i e r e n d (vgl. Potentialdiagramm auf S.464) und vermag etwa Mangan(II) in Permanganat, Sulfit in Sulfat oder organische 1,2-Diole unter CC-Spaltung in Ketone überzuführen (z. B. H O — C M e 2 — C M e 2 — O H + H 4 I O 6 2 M e 2 C = 0 + IO3 + 3 ^ O ) . Säure-Base-Verhalten. H 5 I O 6 ist eine s c h w a c h e m e h r b a s i g e S ä u r e = 3.29, pK 2 = 8.31, pK 3 = 11.60; monomere Periodsäure H I O 4 wäre zum Unterschied von H 5 I O 6 eine sehr starke Säure), die in saurer bis neutraler Lösung praktisch undissoziiert vorliegt In s e h r s a u r e r Lösung (z.B. 10M-HC10 4 ) geht sie nach H 5 I O 6 + H + H 6 I Ü £ (K = 0.16) in das ,,Orthoperiodonium-Ion" H6IO£ = I(OH)g (isoelektronisch mit Te(OH) ö , Sb(OH)g und Sn(OH)g _ ; isolierbar als (I(OH) 6 ) 2 SO 4 ) über. Außer Protonierungs- und Deprotonierungsgleichgewichten sind in wässeriger IO -Lösung auch noch folgende zu Periodat IO bzw Dihydrogendiperiodat H 2 I 2 O f 0 führende Dehydratisierungsgleichgewichte zu berücksichtigen H4IO6 2^IO^o
^
H2I2O?0 + 2 H O
(K = 29); (K = 820).
In schwach alkalischer Lösung liegen somit hauptsächlich I O 4 neben geringen Mengen H 4 I O 6 , in stark alkalischer Lösung H 2 I 2 O f o neben geringen Mengen H 3 I O g 0 vor. Salze. Aus wässerigen Metallionen-haltigen H 5 IO 6 -Lösungen lassen sich in Abhängigkeit vom Metallion, vom pH-Wert, von den Konzentrationsverhältnissen und von der Temperatur unterschiedlich zusammengesetzte Salze der Iod(VII)-Säure auskristallisieren. So bildet sich etwa bei Zugabe von Cs + -Ionen zu einer alkalischen H 5 IO 6 -Lösung ein Salz der Periodsäure HIO 4 , nämlich Cäsium-periodat CsIO4, das wie KC10 4 und RbBr0 4 in Wasser schwerlöslich ist (Verschiebung der in Lösung vorliegenden Gleichgewichte in Richtung IO 4 ). In entsprechender Weise lassen sich unter geeigneten Bedingungen Salze der Orthoperiodsäure H 5 IO 6 mit den Anionen H 4 IOg , H j I O ^ , H 2 IOg~ und IOg~ (z.B. Alkali- und Erdalkalimetallsalze, Ag 5 IO 6 ) 2S gewinnen. Auch von der bisher unbekannten MesoperiodsäureYi3IO5
478
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
(= H I O ' H O : ,,halb zwischen" H I O • 2 H 2 0 und H I O ) und den Diperiodsäuren H 6 I 2 O 1 0 und existieren Salze mit den Anionen IOl", H 3 I 2 O?", ^IO, H I 2 0 I 2 0 u n d I 2 0 £ " . Strukturen. In den Periodaten liegen (anders als in ( H I O ^ ) meist I O - I o n e n mit der Koordinationszahl 4 des Iods (Td-Symmetrie; tetraedrische Umgebung mit Sauerstoffatomen), in den Mesoperiodaten IO 1" Ionen mit der Koordinationszahl 5 des Iods (C4v-Symmetrie; quadratisch-pyramidale Umgebung mit Sauerstoffatomen), in allen anderen Salzen Iodat(VII)-Ionen mit der Koordinationszahl 6 des Iods vor (O -Symmetrie oktaedrische Umgebung mit Sauerstoffatomen). Laut Röntgenstrukturanalyse sind in den von den hypothetischen Säuren H 6 I 2 0 1 0 (e) bzw. H 4 I 2 0 9 (f) abgeleiteten Diperiodaten jeweils zwei IO-Oktaeder über eine gemeinsame Kante bzw. Fläche verknüpft. Diperiodate des letzteren Typs entstehen aus Diperiodaten M 4 H 2 I 2 O 1 0 durch intramolekulare H 2 0-Abspaltung (z.B. K 4 H 2 I 2 O 1 0 • 8 H 2 0 -> K 4 I 2 0 9 + 9 H 0 bei 110 °C). Interessanterweise wurden bisher keine Salze aufgefunden, die sich von einer hypothetischen Diperiodsäure H s I 2 0 n (d) mit eckenverknüpften IO-Oktaedern ableiten würden. O I/O
OH | O
o^l o^l OH O (d) H2I2OII
O
O |
o
^ o OH
OH | O
O ^
o
O
o
x
O x
o
O
(e) H2I2O10
(f) I 2 O 4 f
Komplexe2® Beim Vereinigen wässeriger Lösungen von Alkalimetall-orthoperiodat mit wässerigen Lösungen von Übergangsmetallionen M" + bilden sich vielfach Orthoperiodat-Komplexe, die - selbst bei relativ hoher Oxidationsstufe des Metalls - erstaunlich stabil sind. Beispiel: [M(IO 6 ) 2 ] 6 " (M = Pd(IV), Pt(IV), Ce(IV)), [M(IO 6 ) 2 ]7" (M = Co(III), Fe(III), Cu(III), Ag(III), Au(III)), [M(IO6)3]>>" (M = Mn(IV)). Die oktaedrischen I0g"-Ionen wirken in den Komplexen als zweizähnige Chelatliganden.
5
5.1
Oxide und Fluoridoxide der Halogene^ 9 Überblick
Systematik. Von den vier Sauerstoffsäuren H X 0 „ (n = 1, 2, 3, 4) des Chlors, Broms bzw. Iods leiten sich als Anhydride formal Halogenoxide der Formeln X 2 0 , X 2 0 3 , X 2 O s und ab (2 H X O O). Darüber hinaus sind als gemischte Anhydride die Oxide (Anhydride der Hypohalogenigen und Halogenigen Säuren), (Anhydride der Halogenigen und Halogensäuren bzw. der Hypohalogenigen und Perhalogensäuren) und X 2 O s (Anhydride der Halogen- und Perhalogensäuren) denkbar. Die Tab. 54 gibt die bisher von Chlor, Brom und Iod bekannten Oxide wieder. Analoge Summenformeln wie den Sauerstoffverbindungen des Chlors, Broms und Iods kommen auch den Sauerstoffverbindungen des Fluors zu (Tab. 54), in welchen das Halogen zum Unterschied von den zuerst genannten Verbindungen nicht der elektropositive, sondern der elektronegative Partner ist. Demgemäß bezeichnet m a n die Fluor-Sauerstoffverbindungen auch nicht als Fluoroxide, sondern - richtig als Sauerstoff-fluoride Strukturen Das Halogenatom X (a) weist drei freie Elektronenpaare und ein freies Elektron auf, die zur Auffüllung der unvollständigen Elektronenschale von 1, 2, 3 oder 4 Sauerstoffatomen O dienen können (vgl. die Additionen von O an X", S. 152). Hierdurch kommt man zu linearen Halogenmonoxid- (b), gewinkelten Halogendioxid- (c), pyramidalen Halogentrioxid- (d) bzw. verzerrt-tetraedrischen Halogentetraoxid-Radikalen (Oxidationsstufen + 2, +4, +6, ,, + 7"; eine Addition von O an O-Atome liegt im Falle der Spezies XOO (X = F, Cl) vor):
25
Literatur. M.Jansen, T.Kraft: „ The Structural Chemistry of the Halogene Oxides in the Solid State", Chem. Ber. 130 (1997) 307-315; R.P. Wayne et al.: ,,Halogene Oxides: Radical Sources and Reservoirs in the Laboratory and the Atmosphere", Atmospheric Environments 29 (1995) 2677-2881; K. Seppelt: ,,Bomine Oxides", Acc. Chem. Res. 30 (1997) 111—113; J.J.Turner: „Oxygenfluorides", Endeavour 27 (1968) 42-47; De Marco, J.M.Shreeve: ,Fluorinated Peroxides", Adv. Inorg. Radiochem. 16 (1974) 109-176; D. Naumann: „Fluor und Fluorverbindungen", Steinkopff, Darmstadt (1980), 27-30 bzw. « - 5 0 ; J.J. Renard, H.I. Bolker: „The Chemistry of Chlorine Monoxide (Dichlorine Monoxide)Chem. Rev. 76 (1976) 487-508; G. Gordon, R.G.Kieffer, D . H . Rosenblatt: „The Chemistry of Chlorine DioxideProgr. Inorg. C h e m 15 (1972) 201-286.
5. Oxide und Fluoridoxide der Halogene
+4 ±0
+
:x: "
479
:Ö:
+6
|
2
:x—Ö: . . . . . -'O. " .0;
(a)
(b)
(c)
-"O. . ^| .0;
-"O. . | .O' .
(d)
(e)
Durch Delokalisierung im Sinne von [:X—Ö: X = Ö : ] verteilt sich die „Elektronenlücke" auf die Atome X und O (Erhöhung der XO-Bindungsordnung durch Mesomerie; vgl. BF 3 , S. 137). Eine gleichmäßige Verteilung der 7 Bindungselektronen auf die 4 XO-Bindungen in X O (e) mit der Folge eines tetraedrischen Baus des vorliegenden Chlortetraoxids (Td-Symmetrie) unterbleibt jedoch nach neueren Ergebnissen; statt dessen beobachtet man zwei längere und zwei kürzere ClO-Bindungen (C2v-Symmetrie). Die Abstände XO betragen in (b): 1.32 (F), 1.570 (Cl), 1.721 (Br), 1.867 Ä (I), in (c): 1.470 (Cl), 1.644Ä (Br), in ClO3: 1.50 Ä die Winkel in (c): 117.4° (Cl), 114.3° (Br), 114° (I), in ClO3: 113°. Bis auf isolierbares Cl0 2 stellen die Radikale XO (X = F, Cl, Br, I), XO2 / X O (X = Cl, Br, I) bzw. X O (X = Cl) nur kurzlebige, in der Inertgasmatrix bei tiefen Temperaturen isolierbare Spezies dar. Von (b)-(e) abgeleitete Kationen bzw. Anionen existieren demgegenüber in Salzen (vgl. S. 443, 490): +3
XO + Halogenosyl +1
XO " Hypohalogenit
+5
XOJ Halogenyl +3
XO 2 Halogenit
XO3+ Perhalogenyl +5
XO3Halogenat
+7
XO4 -
Perhalogenat
Dimere aus Radikalen (a)-(e) unter- oder miteinander sind anders als die Radikale selbst in vielen Fällen isolierbar. Hierbei addieren sich X-Atome sowohl an das X- als auch an das O-Ende der Radikale XO„ unter Ausbildung von Halogen-Halogen- bzw. Halogen-Sauerstoff-Bindungen (bei X O ist nur letztere Möglichkeit gegeben), wobei sich die XO„-Radikale in der Regel unter Ausbildung von X—O—X-Gruppierungen verknüpfen (vgl. Unterkapitel 5.2-5.5). Beispiele für nachgewiesene oder isolierte Verbindungen, deren Strukturen in jedem Fall durch das VSEPR-Modell erklärt werden, sind etwa X—XO/ X — X O /X—XO (X jeweils Cl, Br, I), X—OX (X = F bis I), X—OXO (X = Cl, Br), X—OXO2 (X = Cl, Br), Cl—OClO3, O 2 I—OIO, 0 2 X — O X O (X = Br, I), 0 3 C1—OClOj (ähnlich wie in den Iodsauerstoffsäuren neigt das Iod in seinen Oxiden zur Erhöhung der Koordinationszahl (s. unten). In Ausnahmefällen erfolgt die Dimensierung auch unter Ausbildung von Sauerstoff-Sauerstoff-Bindungen (z. B. XO—OX mit X = F, Cl, Br). Da F-Atome nur die Radikale OF und OOF mit Sauerstoff bilden, existieren auch nur wenige Sauerstofffluoride (vgl. nachstehend). F-Atome vereinigen sich aber mit anderen Radikalen XO und zwar bevorzugt unter Ausbildung von X-Bindungen zu mehr oder weniger beständigen Fluoridoxiden F X O (n = 1, 2, 3) des Chlors, Broms oder Iods (vgl. Unterkapitel 5.6). Darstellung und Eigenschaften Die Sauerstoffverbindungen des Fluors, Chlors, Broms und Iods sind hochreaktiv und neigen zum (teils explosiven) Zerfall in die Elemente. Wegen des endothermen Charakters aller Halogenoxide bis auf I 2 0 5 (Tab. 54) k a n n deren Darstellung aus den Elementen nur unter Energiezufuhr erfolgen (elektrische Entladung von Halogen/ Sauerstoff-Gemischen oder Umsetzung von Halogen mit Ozon als ,,chemisch aktiviertem" Sauerstoff). Eine Bildung von Halogen-Sauerstoff-Verbindungen ist darüber hinaus aus den Halogensauerstoffsäuren möglich, indem m a n diese durch Wasserentzug in ihre (normalen bzw. gemischten) Anhydride überführt. Schließlich lassen sich auch durch Umwandlung von Halogenoxiden auf dem Wege über ihre Spaltprodukte XO„ (n = 1 - 4 ) neue Halogen-Sauerstoff-Verbindungen gewinnen Technisch werden insbesondere C1 2 O, C l 0 2 und I 2 0 5 erzeugt.
5.2
Sauerstoffverbindungen des Fluors 1,29
Vom Fluor sind bis jetzt mit Sicherheit drei diamagnetische Sauerstoffverbindungen (OF 2 , 0 2 F 2 und - weniger gut untersucht - 0 4 F 2 ) sowie zwei paramagnetische Sauerstoffverbin-
480
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Tab. 54 Isolierte (Fettdruck) und nachgewiesene Halogenoxide (Smp./Sdp. [°C], A.fff [kJ/mol], in Klammern Zersetzungstemperatur).
X2O
x2o2 x2o3 x2o4
Sauerstofffluoride
Chloroxide
Bromoxide
OF 2 (200 °C) Farbl. Gas - 2 2 3 . 8 / - 145.3 °C - 2 3 . 8 kJ/mol
C1 2 0 (60 °C) Gelbbraunes Gas - 120.6/2.0 °C + 80.4 kJ/mol
B r 2 0 ( - 40°C) Braune Fl. Smp. - 17.5°C ca. 110 kJ/mol
( - 95 C) O F C b) Orangerot mehrere - 1 6 3 . 5 / - 57 °C konst.-Isom. 19.8 k + 126 kJ + 130 kJ
Br
IO
b)
b)
+ 101.8 kJ
+ 125.8 kJ
c ( - 45 C) Dunkelbrauna| + 190 kJ
0 4 F 2 ( - 185 °C) O 2 F <J> Rotbrauna| Smp. - 191 °C
C1 2 0 4 (0°C) Gelbe Fl -117/45°C 180 kJ
—
x2o6
-
x2o7
Cl b)
(O
x2o5
B ( - 40 C) Orangefarbena|
cl (45 C) B Gelbrotes G. - 59/11 °C 102.6 kJ
(Ci 2 o 5 ) c)
c
Rote Fl Smp. 3.0°C c (expl.) Farbl Fl -91.5/81.5°C 272 kJ
Iodoxide
C10 3
Br
175.1 k
-
(85 C) Gelbe Sub Smp. 130°C
IO
I2O4.5
B ( - 20 C) Farbl Subst
(300 C) Farbl. Subst. Smp. 300°C, - 158.2 kJ
(B
I 2 0 6 (150 °C) IO Gelbe S ubst
Br03
145 kJ Cl
(B
(I
270 kJ
a In kondensierter Phase. - b) Dissoziationsenergie für OF/ClO/BrO/IO = 201.9/270/235/180 kJ/mol. - c) Bisher unbekannt, Existenz denkbar. - d) Dimerisierung < - 175 °C.
dungen (OF und O 2 F ) bekannt. Die Existenz weiterer Verbindungen O n F 2 mit « = 3, 5 und 6 ist noch unsicher. M a n kennt jedoch F 3 C O O O C F 3 und F ( O ) C O O O C ( O ) F Sauerstoffdifluorid OF2. Leitet man Fluor in Wasser oder eine 0.5-molare Natrium- oder Kaliumhydroxidlösung, so erhält man mit maximal 80 %iger Ausbeute das (formale) Anhydrid O F der Hypofluorigen Säure (S. 465): 2F 2 + 2OH" -> 2 F " + O F 2 + H 2 O . Das Sauerstoffdifluorid O F (A// f = +23.8 kJ/mol), das von der Lauge rasch abgetrennt werden muss (Weiterreaktion, s. u.), ist ein farbloses, sehr giftiges, die Atmungsorgane heftig angreifendes Gas, welches sich bei -145.3°C zu einer intensiv gelben Flüssigkeit (Smp. - 223.8°C; Dichte bei - 1 8 3 ° C = 1.719 g/ cm3) verdichtet. Zum Unterschied vom Dichloroxid ist Sauerstoffdifluorid für sich nicht explosiv, sondern zerfällt erst beim Erwärmen auf 200-250 °C oder Belichten nach einem Radikalmechanismus in Fluor und Sauerstoff: F 2 0 -> F2 + j 0 2 + 23.8 kJ. In Wasser ist O F etwas löslich (6.8 cm3 in 100 cm3 Wasser bei 0°C). Die Lösung zeigt keine sauren, wohl aber stark oxidierende Eigenschaften (z.B. Oxidation aller Halogenwasserstoffe nach OF2 + 4HX (aq) -> 2X 2 + H 2 0 + 2HF). Bei Einwirkung des Gases auf Alkalilaugen entstehen keine,,Hypofluorite" (OF2 + 2OH~ -> 2OF~ + H 2 O), sondern Fluorid und Sauerstoff: OF 2OH 2F O. Sauerstoffdifluorid ist ein gutes Oxidationsmittel, wenn auch weniger reaktionsfähig als Fluor. Beim Erwärmen setzt es sich mit zahlreichen Nichtmetallen (selbst mit Xenon) und Metallen unter Fluoridund Oxidbildung um. Auch Nichtmetallverbindungen werden von O F oxidiert. So explodiert ein Gemisch von H 2 O-Dampf und O F bei Zündung (OF2 + H 2 0 -> 0 2 + 2 H F + 275.9 kJ); auch reagiert O F z. B. mit OH" (-> 0 2 ; s. oben), H 2 S ( ^ S 8 , SF„), N3 (-> N 2 O, N 2 ) oder C O F in Form seines F"-Addukts O C F (-> F3COOOCF) bei Raumtemperatur und darunter. Letztere Umsetzungen verlaufen wohl auf dem Wege assoziativer nucleophiler Substitutionen am O-Atom von O F (vgl. HOF, S.465), z.B.:
5. Oxide und Fluoridoxide der Halogene
481
(i) F—O—F + O H " F " + {HO—O—F} FH + 0 2 + F~. - (ii) F—O—F + 2 N 3 2 F " + {N 3 —O—N 3 } ->2F~ + 2 N 2 + N 2 O (das Sauerstoffdiazid-Intermediat besitzt nach ab-initio Studien C 2 -Symmetrie und zerfällt unter Eliminierung von 2 N 2 auf dem Wege über cyclisches N 2 O (C2v) in lineares N 2 O ( C ^ ) unter Abgabe von ca. 785 kJ/mol). - (iii) F—O—F + 2OCF 3 -> F 3 C O — O — O C ^ 2 F . Sauerstoffdifluorid stellt demgegenüber kein Reduktionsmittel dar. Selbst Fluor in Anwesenheit von AsF5 vermag O F nicht zu oxidieren: O"F 2 + F2 + AsF5 // > O IV F 3 AsF 6 ~. AsF5 bewirkt statt dessen eine Zersetzung von O F unter Sauerstoffreduktion: 2 OF2 + AsF5 -> As 1.5 Das Molekül O F ist wie das Wassermolekül H 2 O gewinkelt (vgl. Tab. 46, S. 358); der Bindungswinkel FOF beträgt 103.7°, der FO-Abstand 1.405 Ä (ber. für FO-Einfachbindung: 1.41 Ä). Die OF-Dissoziationsenergie beträgt 178.5 kJ/mol für die erste und 201.9 kJ/mol für die zweite OF-Bindung von OF 2 . Durch UV-Photolyse von O F in einer N 2 -Matrix bei 4 K kann man das Sauerstofffluorid-Radikal OF erzeugen ( O F OF + F), das sich beim Erwärmen zu 0 2 F 2 dimerisiert. Der OF-Abstand in OF (1.32 Ä) spricht wie beim isoelektronischen O 2 -Ion (S. 508) für einen Zwischenzustand zwischen einfacher (ca. 1.40 A) und doppelter Bindung (ber. 1.20 Ä). Disauerstoffdifluorid 0 2 F 2 • Unterwirft man ein äquimolekulares Gemisch von Fluor und Sauerstoff in einem mit flüssiger Luft gekühlten Gefäß bei 10-20 mbar der Einwirkung einer elektrischen Hochspannung^ Glimmentladung, so scheidet sich an den gekühlten Wänden eine Verbindung der Formel 0 2 F 2 als orangegelber fester Beschlag ab: 19.8 kJ + F2 + 0 2 j± 0 2 F 2 . Die Substanz, die in CClF 3 mit gelber Farbe löslich ist, schmilzt bei — 163.5°C zu einer orangeroten Flüssigkeit (Dichte bei —157°C = 1.736 g/cm 3 ) vom (extrapolierten) Siedepunkt — 57°C (Zers. ab — 95°C in die Elemente). Das gasförmige, schwach braune Disauerstoffdifluorid zerfällt bei — 160 °C langsam (4% pro Tag), oberhalb — 100 °C rasch in Umkehrung der obigen Bildungsgleichung in die Elemente (zum Zerfallsmechanismus vgl. S. 386). 0 2 F 2 ist ein sehr starkes Fluorierungs- und Oxidationsmittel. So explodieren Gemische mit Alkoholen oder Kohlenwasserstoffen schon bei sehr tiefen Temperaturen. Mit elementarem Schwefel tritt selbst bei — 180°C Explosion ein. Cl2 wird in ClF und ClF3 übergeführt, H 2 Sin SF6. Mit Fluoridionen-Akzeptoren wie B F oder P F (AsF5, SbF 5 ) reagiert 0 2 F 2 unter Bildung von ,,Dioxygenylsalzen" (O 2 F 2 + B F ^ 0 2 B F + i F ; O 2 F 2 + P F ^ 0 2 P F + i F ) . Die Salze enthalten das NO-isoelektronische Dioxygenyl-Ion 0 2 (S. 507). Kohlenmonoxid setzt sich mit 0 2 F 2 in Gegenwart von Sauerstoff zu Bis(fluorformyl) trioxid um, das sich bereits unterhalb Raumtemperatur in Bis(fluorformyl)dioxid zersetzt: F(O)C—O—O—O—C(O)F F(O)C—O—O—C(O)F + j 0 2 . Die Molekülstruktur des entspricht der des Wasserstoffperoxids (S. 535): die beiden Molekül hälften F—O in F—O—O—F sind um 87.5° gegeneinander verdreht, der FOO-Winkel beträgt 109.5° (Tetraederwinkel), der OO-Abstand ist mit 1.217 Ä wesentlich kleiner als im H O 2 (1.475 Ä) und entspricht dem im molekularen Sauerstoff (1.207 Ä), was auf einen Doppelbindungsanteil im Sinne der Mesomerieformel ®
e
e
®
[ F — 0 = 0 F F—O—O—F F O = 0 — F ] hindeutet (O—O-Einfachbindung ca. 1.45, 0=O-Doppelbindung ca. 1.20 Ä), womit auch der große FO-Abstand von 1.575 Ä im Vergleich zu 1.405 Ä in F 2 O übereinstimmt (F—O-Einfachbindung ca. 1.40 Ä). Die OO-Dissoziationsenergie beträgt 432.6 kJ/mol, die OF-Dissoziationsenergie 75 kJ/mol. Tetrasauerstoffdifluorid 0 4 F 2 und Disauerstoffmonofluorid 0 2 F. Das durch Einwirkung einer elektrischen Entladung auf ein 0 2 /F 2 -Gemisch (Molverhältnis 2 : 1) bei — 200°C und 10mbar Druck gewinnbare Radikal O 2 F dimerisiert sich bei tiefen Temperaturen (unterhalb — 175 °C in zunehmenden Maße) zu 0 4 F 2 (dunkelrotbrauner Festkörper, Smp. — 191 °C) und zersetzt sich oberhalb — 185°C in 0 2 und F 2 : — 190°C
Q4F2
-185°C
> 2O 2 + F 2 .
Tetrasauerstoffdifluorid 0 4 F 2 , das sich aus zwei über eine schwache OO-Bindung verknüpften O 2 FMolekülhälften aufbaut (FOO • • • OOF) sowie O 2 F sind stärkere Fluorierungs- und Oxidationsmittel als 0 2 F 2 . Wie 0 2 F 2 reagiert auch 0 4 F 2 / 0 2 F mit Fluoridakzeptoren wie B F leicht zu Salzen mit dem Dioxygenyl-Ion: O 2 F + B F 0^"BF 4 . In wasserfreiem HF(fl) ist Disauerstoffdifluorid 0 2 F 2 aufgrund geeigneter Solvatation (O 2 F + nHF ^ 0 2 + H„F" +1 ) bis — 50°C metastabil. Derartige Lösungen, die sich in einfacher Weise durch Zugabe von Alkalimetallfluoriden zu Lösungen von O 2 AsFg" in fl. H F gewinnen lassen (O MF ), besitzen stark oxidierende Eigenschaften und führen etwa Ag(II) in Ag(III), Au(III) in Au(V) oder Ni(II) in Ni(IV) über (Bildung von AgF 4 , AuF6~, NiFJ").
482
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Das Disauerstoff-fluorid-Radikal O 2 F (isoelektronisch mit Ozonid O 3) ist gewinkelt gebaut und weist analog0 2 F 2 (s. oben)-eine starke, kurzeOO-Bindung(Abstand: 1.217 Ä, Dissoziationsenergie463 kJ/mol) und eine schwache, lange OF-Bindung (Abstand: 1.575 Ä, Dissoziationsenergie: 77 kJ/mol) auf.
5.3
Oxide des Chlors 1 ' 9 ' 29
Chlor bildet Oxide der Zusammensetzung XO„ (n = 1 - 4 ) und X 2 O n (« = 1 - 7 ) , wobei allerdings C1 2 0 5 noch unbekannt ist und ClO, ClO 3 , C10 4 sowie C1 2 0 2 bisher nur in der Gasphase oder Matrix nachgewiesen wurden (vgl. Tab. 54). Neben C1 2 O ist insbesondere das Oxid C10 2 von größerer Bedeutung.
Dichloroxid Cl 2 0 Darstellung Leitet m a n Chlor nicht in eine Aufschlämmung von Quecksilberoxid in Wasser (2Cl 2 + 3 H g 0 + H 2 0 H g C l 2 - 2 H g O + 2HOC1, S.466), sondern über festes, feuchtes, frischbereitetes Quecksilberoxid bei C, oder behandelt m a n das Quecksilberoxid mit einer CC1 4 -Lösung von Chlor, so erhält m a n statt der Hypochlorigen Säure HOC1 ihr Anhydrid C12O: 2Cl2 + 3HgO H g C l 2 - 2 H g O + C1 2 O . Auch durch Reaktion von C\ 2 mit feuchtem N a 2 C O 3 oder durch Ausschütteln des in wässeriger Lösung mit HOC1 im Gleichgewicht stehenden C1 2 O (2HOC1 C1 2 0 + H 2 O ) mit CC1 4 lässt sich C1 2 O in Technik und Laboratorium gewinnen. Eigenschaften C1 2 O ist ein gelbbraunes, unangenehm riechendes Gas, welches sich bei 2.0°C (Sdp.) zu einer rotbraunen Flüssigkeit (Smp. - 120.6 °C) kondensiert und in Wasser gut löslich ist. Beim Verdünnen einer gesättigten wässerigen Lösung (143.6 g C12O pro 100 g Wasser) bildet sich in zunehmendem Ausmaß Hypochlorige Säure (C1 2 0 + H 2 0 2HOC1; vgl. S.466). Mit Laugen ergibt das Oxid Hypochlorite. Als endotherme Verbindung (Tab.54) zerfällt es beim Erhitzen oder beim Zusammenbringen mit brennbaren Substanzen (Schwefel Phosphor, Ammoniak, organische Verbindungen explosionsartig in seine Elemente. N u r bei Abwesenheit jeder Spur oxidierbarer Substanz lässt es sich unzersetzt destillieren. Das Chlor ist im Dichloroxid der positivere, der Sauerstoff der negativere Partner, weshalb C1 2 O mit Metallchloriden wie SnCl 4 (negativ polarisiertes Chlor) gemäß SnCl 4 + C1 2 0 -> SnOCl 2 + 2 Cl 2 reagiert. Das C12O-Molekül ist wie das H 2 O-Molekül gewinkelt (Winkel C1OC1 = 110.9°; ClO-Abstand = 1.670 Ä, ber. für Cl—O-Einfachbindung 1.65 Ä). Die OCl-Dissoziationsenergie beträgt 144 kJ/mol für die erste und 270 kJ/mol für die zweite OCl-Bindung von C12O (Aff f = + 80.4 kJ/mol). Man verwendet C12O zur Produktion von Hypochloriten (insbesondere Ca(OCl)2, als Bleichmittel für Textilien und Holzmelasse sowie zur Herstellung chlorierter organischer Lösungsmittel sowie von Chlorisocyanaten
Chlordioxid Cl Darstellung. Chlordioxid ClO 2 , das in seiner Oxidationsstufe zwischen der Chlorigen Säure und Chlorsäure steht, lässt sich durch Reduktion der Chlorsäure gewinnen. Als Reduktionsmittel k a n n die Chlorsäure selbst dienen, die hierbei gemäß der Disproportionierungsgleichung (1) in Perchlorsäure übergeht 2HCl HCIO
HCl 2
+ HCIO
3HC103
3
^
H
2
O +
HCl 2C10
2
2C102 + H C 1 0 4 + H 2 O .
(1) (2) (3)
Erforderlich ist dabei, dass das bei der Anhydridbildung (2) entstehende Wasser aus dem Gleichgewicht entfernt wird. Man verfährt daher bei der Darstellung so, dass man konzentrierte Schwefel-
5. Oxide und Fluoridoxide der Halogene
483
säure bei 0 °C auf Kaliumchlorat einwirken lässt; die dabei in Freiheit gesetzte Chlorsäure (KC103 + H 2 SO 4 -> HC10 3 + KHSO 4 ) disproportioniert sich dann gemäß (1), und die konzentrierte Schwefelsäure bindet das Wasser (2). In der besprochenen Weise dient die Umsetzung (3) u.a. zum qualitativ-analytischen Nachweis von Chlorat, dessen Vorliegen indirekt aus der Bildung von C102 bei der Behandlung der Analysensubstanz mit konzentrierter SO folgt (Cl gibt sich seinerseits akustisch zu erkennen, indem es unter den Darstellungsbedingungen nach seiner Bildung explodiert). Im Laboratorium verwendet man zur Überführung von Chlorsäure in C102 allerdings zweckmäßiger l HCl HC10 2 + HC10 3
HCl ^ H 2 0 + 2Cl0 2
2C
2HC10 3 + H 2 C 2 0 4 ^ 2C10 2 + 2 C 0 2 + 2 ^ O .
(4) (5) (6)
Dann tritt als Oxidationsprodukt der Oxalsäure Kohlendioxid auf (4), welches das in reinem Zustande explosive - gasförmige Chlordioxid verdünnt, sodass es gefahrlos zu handhaben ist.In der Praxis verfährt man dabei so, dass man auf ein Gemisch von Kaliumchlorat und Oxalsäure Schwefelsäure einwirken lässt. Sehr reines C102 entsteht darüber hinaus durch Reduktion von Silberperchlorat mit Chlor bei 90°C: 2AgCl0 4 + Cl2 -> 2C10 2 + 2O 2 + 2AgCl bzw. durch Oxidation von Natriumchlorit mit Chlor: 2NaCl0 2 + C\2 2C10 2 + 2NaCl. Technisch benutzt m a n zur Darstellung von Chlordioxid aus Natriumchlorat Schwefeldioxid (Reaktionsmedium: 3 - 5 molare H 2 S O 4 ) bzw. konzentrierte Salzsäure als Reduktionsmittel f ü r Chlorsäure 2HC103 + S O
2C102 + H 2 S O 4 ,
2 H C 1 0 3 + 2HC1 -> 2 C 1 0 2 +
(7) (8)
Das Chlordioxid wird entweder an Ort und Stelle verwendet oder in einem Gemisch von Natronlauge und Wasserstoffperoxid absorbiert (2C10 2 + 2 N a O H + H2C>2 ->• 2 N a C l 0 2 + 2 H 2 0 + 0 2 ) und die Lösung auf Walzentrocknern zu festem Natriumchlorit (S. 469) eingedampft, das beim Ansäuern ( N a C l 0 2 + H 2 S O 4 -> H C 1 0 2 + N a H S O 4 ) oder bei Einwirkung von Chlor Cl freigibt 5HC102
4C102 + H ^ 2 ^ O ,
2 N a C l 0 2 + C\2
2NaCl + 2Cl02 .
(9) (10)
Mechanismen. Die Reduktion von Chlorsäure in stark saurer Lösung nach (8) erfolgt offensichtlich auf dem Wege über eine nucleophile Substitution von H 2 O in protonierter Chlorsäure H 2 OC10 2 durch Chlorid, wobei sich das gebildete instabile Substitutionsprodukt ,,Dichlordioxid" C1C102 anschließend zu Chlor und Chlordioxid zersetzt HO
Cl
Cl
Cl" + H 2 O—C10 2 Cl—C102
^ Cl—C102 + H 2 O iCL + C102
HOCIO2 + H + + e r
-> jCi 2 + e i o 2 + H 2 O .
Dass C1C102 durch Q nicht in Cl2 und C102 übergeführt wird, geht auf die kleine Nucleophilität von Cl" unter den Reaktionsbedingungen und die vergleichsweise hohe Bildungstendenz des Radikals C102 zurück: Cl" + Cl—C102 Cl—Cl + C102 langsamer als 2 Cl—C102 Cl—Cl + 2 ClO2. Im Falle von BrBr0 2 und IIO 2 ist umgekehrt die Nucleophilität von Br~ und hoch, die Bildungstendenz von Br0 2 und IO 2 klein, sodass Halogenid die Oxide in letzteren Fällen in Br 2 /Br0 2 und I 2 /IO 2 verwandelt. Auch bei der Erzeugung von Cl nach (9) stellt das Oxid ClCl ein Reaktionszwischenprodukt dar HCl HCl HCl HCl (geschwindigkeitsbestimmend); HCl HCl ClCl O. Analoges gilt für die Bildung von Cl0 2 nach (10): C\2 + C10 2 -> C1C102 + CP.Inbeiden Fällen zersetzt sich entstandenes C1C102 anschließend wieder gemäß: 2C1C102 -> Cl2 + 2C10 2 , wobei das Chlor weiterreagiert, z.B.: Cl2 + HC10 2 HC1 + C1C102. Physikalische Eigenschaften Chlordioxid, das erste, vor knapp 200 Jahren bekannt gewordene Halogenoxid, ist ein gelbrotes, giftiges Gas (MAK = 0.28 m g / m bzw. 0.1 ppm) von scharfem, durchdringendem
484
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Geruch, das sich durch Abkühlung leicht zu einer rotbraunen Flüssigkeit (Sdp. 11 °C) und durch noch stärkere Abkühlung zu orangeroten Kristallen (Smp. — 59°C) verdichten lässt (vgl. Tab.54). Es ist in Wasser gut löslich (besser als Chlor; 20 Raumteile in 1 Raumteil Wasser bei 4°C = 8 g Cl0 2 pro Liter H 2 0). Aus der wässerigen, im Dunkeln beständigen und an Licht zersetzlichen (-> HClO 3 , HCl) dunkelgrünen Lösung lassen sich ,,Clathrate" Cl0 2 • 8( + 2 ) H 2 0 gewinnen (S. 530). Strukturen Das Radikal Cl0 2 ist wie das C120-, Cl0 2 - bzw. ClO2-Teilchen gewinkelt (C2v"Symmetrie) und stellt eines der wenigen Moleküle mit ungerader Elektronenzahl ohne Dimerisationsneigung dar (vgl. NO, N0 2 ). Der Bindungsabstand verringert sich in der Reihe C120 (isoelektronisch mit C12F + ), Cl0 2 ( s C ^ J ) , Cl0 2 ( = S0 2 ) und Cl02+ (= S0 2 ) und entspricht bei a 2 0 einer einfachen bei Cl02+ einer doppelten und bei Cl0 2 sowie Cl0 2 einem Zwischenzustand zwischen einfacher und doppelter Bindung (ber. für Cl0-Einfach- und -Doppelbindung 1.65 und 1.45 Ä; bzgl. der Cl0-Doppelbindung mit ko- und heterovalenten Bindungsanteilen vgl. S. 153):
;CI
;cr Cl
d £
Cl
o'
N
O
O
/
X
O
o'
X
O
C12 o
ClO2
ClO2
ClO2+
1.696 Ä 110.9°
1.57 Ä 110.5°
1.470 Ä 117.4°
1.408 Ä 118.9°
; o
C i
0
(C1O 2 ) 2 1.471/1.476/2.708 Ä 115.6 ° ( O - C l - O ) , 101.5 ° (O •••• C l - O )
Der Bindungswinkel ist entsprechend der verschieden großen Zahl abstoßender freier Elektronen am Zentralatom (vgl. VSEPR-Modell) in C1 2 0 und Cl0 2 (4 freie Elektronen) erwartungsgemäß kleiner als in Cl0 2 und Cl0 2 (3 bzw. 2 freie Elektronen). Der gewinkelte Bau der Teilchen C120, ClO 2 , Cl0 2 , Cl0 2 mit 20, 20, 19 bzw. 18 Valenzelektronen ergibt sich auch über eine M0-Betrachtung (vgl. S. 357). Aus letzterer folgt zudem die beobachtete Cl0-Abstandsverkürzung und 0Cl0-Winkelvergrößerung (Abspaltung von Elektronen aus antibindenden M0s, Annäherung an 16-Elektronenmoleküle A B mit linearem Bau). Beim Übergang in den festen Zustand dimerisiert sich Cl0 2 unter Verlust seines Paramagnetismus zu diamagnetischem (Cl0 2 )2 (lose Verbrückung über zwei 0-Brücken; C2h-Symmetrie; vgl. Formelbild). Dimerisierungsgleichgewichte unter Ausbildung einer Element-Element-Bindung wurden auch für die 19e-Systeme N F und S 3 aufgefunden; während das 19e-Teilchen S O praktisch nur dimer, die Teilchen 0 3 undP nur monomer sind. Cl0 2 lässt sich einerseits als Chlorosylchlorat 0C1—0Cl0 2 (Chlor(III,V)oxid) beschreiben, wobei ein exoständiges 0-Atom des Chloratteils - bei gleichzeitiger Lockerung der 0Cl0—ClO 2 -Bindung - eine Bindungsbeziehung mit dem Cl-Atom der Chlorosylgruppe eingeht. Andererseits sprechen die schwachen Cl---0-Bindungen in (Cl02)2 für eine %*7i*-Bindung zwischen den Cl0-Gruppen des Cl0Cl0-Vierrings (vgl. hierzu (I2)2 + bzw. (Cl2) + , S.360). Chemische Eigenschaften Thermisches und photochemisches Verhalten. Chlordioxid ist entsprechend seinem endothermen Charakter äußerst explosiv und zerfällt schon bei gelindem Erwärmen auf über 45 °C, durch Schlag, am Licht oder bei Berührung mit oxidierbaren Stoffen unter „ K n a l l " in Chlor und Sauerstoff (flüssiges C l 0 2 explodiert bei — 40 °C). Die C l 0 Dissoziationsenergie beträgt 273 kJ/mol für die erste und 270 kJ/mol für die zweite Cl0-Bindung von C l 0 2 (A// f = 102.6 kJ/mol). C l 0 2 -> '/2 Cl 2 + 0 2 + 102.6 k J . Der thermische und photochemische Zerfall von Cl0 2 wird durch die Dissoziation: 273 kJ + Cl0 2 -> ClO + 0 unter Zwischenbildung von Chlormonoxid Cl0 ausgelöst. Andere Zerfallszwischenprodukte sind Cl00, C1 2 0 3 , C1 2 0 4 und Cl 2 O e . Letztere Produkte lassen sich unter geeigneten Bedingungen auch in Substanz fassen (s.u.). Redox-Verhalten. Die meisten Metalle werden von C l 0 2 zu einer Mischung von 0 x i d e n und Chloriden oxidiert. Ebenso wirken die wässerigen Lösungen stark oxidierend (e0 für C l 0 2 / C l 0 2 = + 1.19 V, für C l 0 2 / C r = + 1.50 V). Eine Reduktion zu Chloriten beobachtet m a n etwa mit den Metallen Mg, Zn, Cd, Ni (-> M ( C l 0 2 ) 2 ) sowie Al (-> Al(Cl0 2 ) 3 ), eine Reduktion zur Hypochloritstufe mit N 0 2 (-> C l 0 N 0 2 ) . Die Oxidation von C l 0 2 ist u. a. mit Fluor F 2 (-> F C l 0 2 ) , 0 z o n 0 3 (-> C1 2 0 6 ) und rauchender Schwefelsäure H 2 S 0 4 • « S 0 3 ( - [ClO + ] 2 S 3 O f ö ) möglich.
5. Oxide und Fluoridoxide der Halogene
485
Säure-Base-Verhalten. In Wasser tritt allmählich (am Licht rascher) in Umkehrung der Bildungsgleichung (5) Umsetzung zu Chloriger Säure und Chlorsäure ein: 2 C l 0 2 + H 2 0 -> H C l 0 2 + H C l O 3 ; die Chlorige Säure zersetzt sich dabei schnell weiter, sodass letzten Endes Salzsäure und Chlorsäure als Disproportionierungsprodukte auftreten: 6 C l 0 2 + 3 H 2 0 -> H C l + 5 H C l O 3 . In alkalischen Lösungen, die C l 0 2 stürmisch zersetzen, bleibt die Stufe der Chlorigen Säure erhalten 2Cl02 + 2OH~
Cl02 + Cl03 + H2O ,
da die Chlorite beständiger sind als die ihnen zugrunde liegende Säure. Auch die Einwirkung von Hydrogenperoxid 0 2 H " (statt O H ) führt zur Disproportionierung von ClO 2 : 2 C l 0 2 + 2 O 2 H ~ ^ C l 0 2 + C l 0 4 + H 2 0 2 . Gebildetes Peroxochlorat C l 0 4 = 0 2 C 1 — O — O " ist jedoch instabil und zerfällt unter O 2 -Abgabe in Chlorit C l 0 2 . Insgesamt wird demnach C l 0 2 durch alkalisches Wasserstoffperoxid in Chlorit verwandelt (vgl. S. 469). Ammoniak (eingesetzt in F o r m von N a N H 2 ) verwandelt C l 0 2 in Tetrachlorkohlenstoff u. a. in ein Amid C l 0 2 ( N H 2 ) der Chlorsäure (isolierbar als Natriumsalz). Verwendung Chlordioxid (Weltjahresproduktion: Megatonnenbereich) dient - gegebenenfalls in Form des stabilen Pyridinaddukts Cl0 2 • py - in wässeriger Lösung zu Bleich-, Desinfektions- und Chlorierungszwecken. Anders als bei der Chlorbleiche bzw. der Wasserchlorierung verursacht die ClO2-Holzmelassenbleichung bzw. ClO2-Trinkwasserdesinfektion keine Chlorlignin- bzw. Chlorkohlenwasserstoff-Bildung.
Weitere Chloroxide Dichlormonoxid C120. Bezüglich des isolierbaren Chloroxids ClOCl vergleiche das Unterkapitel 5.3.1. Ein Konstitutionsisomeres hiervon, das Chloroxid ClClO, bildet sich möglicherweise intermediär als Folge der Einwirkung von Chlorid auf Chlorit im sauren Milieu (Cl~ + Cl0 2 + 2 H + ClClO + H 2 O; Cl" + ClClO ClCl + ClO"; vgl. S. 473). Chlormonoxid ClO. Das Radikal Chlormonoxid (AH{ = 101.8 kJ/mol; r c l o = 1.569 Ä; EDiaa, ca.270 kJ/ mol) bildet sich als Reaktionszwischenprodukt u.a. durch Photolyse oder Mikrowellenentladung von Cl2 /O2-Gemischen, beim thermischen oder photochemischen Zerfall von Cl0 2 (s.o.) oder Q 2 O und durch Reaktion von Chloratomen mit C12O oder O 3 . In der Atmosphäre entsteht ClO durch den Prozess Cl + 0 3
ClO + o 2
in großer Menge, wobei die benötigten Cl-Atome und O3-Moleküle ihrerseits in der Luft durch photochemische Reaktionen von Chlorfluorkohlenwasserstoffen (früher aus Spraydosen, Kühlschränken, Lösungsmitteln) mit Sauerstoff erzeugt werden (vgl. S. 516 f). Die ClO-Bildung ist in der Atmosphäre unerwünscht, da das Radikal den lebensschützenden Ozonschild der Erde abzubauen vermag (vgl. S. 520). Dichlordioxid C1 2 0 2 . Erzeugtes ClO verschwindet durch Dimerisierung zu Dichlordioxid (A.fff ca. 130 kJ/ mol): 2ClO
C1 2 0 2 + 73 kJ,
welches u.a. die Struktur eines ,,Dichlorperoxids" besitzt (Formelbild (a); r c l o = 1.70 Ä; roa = 1.43 Ä; ClOO 110 ClOOC 81 4
Cl
O—O
\
Cl
(a) C l 2 0 2
4
Cl
O—Cl
Cl
\
o
(b) C l 2 0 2
a — ci: o (c) C l 2 0 2
Cl
o
(d) CI2O2
Es zerfällt thermisch nach ClOOCl + M -> Cl2 + 0 2 + 130 kJ (M = Stoßpartner) und photochemisch nach 80 kJ + ClOOCl ^ Cl + OOCl; 33 kJ + OOC1 0 2 + Cl. Die in der Atmosphäre auf diese Weise gebildeten Chloratome katalysieren den O3-Zerfall; vgl. Ozonloch, S. 520). Vergleichbaren Energiegehalt wie ClOOCl hat das isomere ,,Chlorylchlorid" Cl—Cl0 2 (Formelbild (c); KHt ca. 135 kJ/mol; r c l a = 2.22 Ä, rclo = 1.44 Ä, £ ClClO/OClO = 103.5/116.0°), höheren Energiegehalt das,,Chlorchlorit" Cl—OClO (Formelbild (b); KH t ca. 170 kJ/mol). Letzteres Oxid bildet sich möglicherweise ebenfalls durch ClO-Dimerisierung und wandelt sich dann in das Isomer ClCl0 2 um, welches seinerseits auch aus der Reaktion von Chlorid und Chlorat in saurem Medium hervorgeht (C Cl 2H
486
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
ClCl0 2 + H 2 0 ; C r + ClCl0 2 ClCl + Cl0 2 bzw. 2ClCl0 2 Cl2 + 2ClO 2 ; vgl. S.473) bzw. durch Reaktion von FCl0 2 mit Elementchloriden wie BC13, AlCl 3 oder von Chloratomen mit Cl0 2 gebildet wird. Es zerfällt in der Gasphase thermisch nach 2. Reaktionsordnung (!) zu Cl2 und Cl0 2 (2 ClCl0 2 -> Cl2 + 2 Cl0 2 ; xVj ca. 1 Min. bei 25 °C, 4 mbar; ClCl0 2 ist also in der Stratosphäre metastabil und isomerisiert sich in der Tieftemperaturmatrix photochemisch in Cl0Cl0 und Cl00Cl. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang das violette Dichlordioxid-Kation C1 2 0 2 . Es entsteht durch Reaktion von Cl2 mit 0 2 + SbFg in fl. HF bzw. HF/SbF 5 bei — 78 °C neben C1+ (S. 445) und lässt sich als Salz C1202+ SbFg 1 oder C S 02 n isolieren. Es ist im Sinne des Formelbildes (d) als n*7i*-Addukt von Cl2 und (Singulett-Sauerstoff, vgl. S. 510) deutbar (Abstände Cl—Cl/Cl—0/0—0 im planar-trapezförmigen Ion C1202+ (Gegenion SbF6") 1.916/2.425/1.185 Dichlortrioxid C1 2 0 3 entsteht bei der Tieftemperaturphotolyse von Cl0 2 neben Cl 2 O e , Cl2 und 0 2 (siehe C1 2 0 4 ) auf dem Wege: ClO + Cl0 2 t* C1 2 0 3 + 46 kJ. Die bei — 78 °C metastabile Verbindung zerfällt bei — 45 °C (Smp.) langsam, bei 0°C explosionsartig in die Elemente. Das 0xid ist als Chlorchlorat Cl—0Cl0 2 (Chlor(I,V)-oxid) zu beschreiben (Abstände Cl—0Cl0 2 /Cl0—Cl0 2 /Cl0Cl0—O = 1.75/ 1.84/1.42 Ä; Winkel Cl—O—Cl0 2 /Cl0—Cl—0/0—Cl—O = 108.1/96.4/114.30°; pyramidales ClO3). Chlordioxid Cl0 2 . Bezüglich des bei Raumtemperatur isolierbaren (metastabilen) Chlordioxids OClO (vgl. oben, S. 482). Ein Konstitutionsisomeres hiervon, das bei Raumtemperatur nicht isolierbare (instabile) Radikal ClOO (analog00Fgebaut; KHt = + 8 8 kJ/mol; Cl0-Dissoziationsenergie + 33 kJ/mol) bildet sich u.a. durch Photolyse von 0 C l 0 in einer Tieftemperaturmatrix sowie als kurzlebiges Zwischenprodukt des Zerfalls von Chlormonoxid Cl0 (s.o.). Dichlortetraoxid C bildet sich bei niedrigen Temperaturen durch photochemische Dimerisierung von Cl in rostfreien Stahlgefäßen sowie durch Chlorierung von Perchlorat mit Chlor-fluorsulfonat hv
(— 45 °C)
Das 0xid, das gemäß der Formulierung Cl—0Cl0 3 ein Chlorperchlorat (Chlor(I, VII)-oxid) darstellt, zersetzt sich bei Raumtemperatur langsam gemäß: 2C1 2 0 4 -> Cl2 + 0 2 + Cl 2 O e in Chlor, Sauerstoff und - weiter zerfallendes - Dichlorhexaoxid (möglicher Reaktionsweg: C l 0 C l 0 3 -> ClO + Cl0 3 ; 2ClO Cl2 + 0 2 ; 2 C l 0 3 C1 2 0 6 ). Dichlorpentaoxid Cl 2 O s ist bisher unbekannt. Chlortrioxid Cl0 3 (pyramidal) entsteht u.a. (Tab. 54) gemäß C l 0 C l 0 3 ClO + Cl0 3 bei der VakuumBlitzpyrolyse bei 400 °C, 10 0 3 mbar und lässt sich durch Abschrecken mit Inertgasen (Verdünnung 1: 400) in einer Tieftemperaturmatrix isolieren. Es spaltet bei Bestrahlung (X > 420 nm) nach Cl0 3 -> Cl0 2 + O Sauerstoffatome ab, die in der Ne-Matrix gemäß Cl0 2 + O -> 0 C l 0 0 -> ClO + O 2 , in der O 2 -Matrix gemäß 0 2 + O -> 0 3 verschwinden. Dichlorhexaoxid C1 2 0 6 . Darstellung. C1 2 0 6 wird zweckmäßig durch 0xidation von Chlordioxid mit sauerstoffverdünntem Ozon (äquimolare Mengen; 2 mbar) bei 0 °C unter Nutzung eines Daniell'schen Hahns (s. dort) dargestellt: 2Cl0 2 + 2 0 3
(2Cl0 3 + 2 0 2 )
Cl 2 0 6 + 2 0 2 .
Eigenschaften. Dichlorhexaoxid stellt eine schwarzrote, ölige, stark oxidierend wirkende, diamagnetische, in CC14 lösliche Flüssigkeit dar, die bei 3 °C zu tiefroten Kristallen erstarrt und bei 203 °C (extrapoliert) unter Bildung eines rotbraunen Dampfes siedet Gasförmiges (und wohl auch flüssiges) C1 2 0 6 hat die im Formelbild (e) wiedergegebene Struktur eines Chlorylperchlorats O 2 C1—0Cl0 3 (Chlor(V,VII)-oxid; CsSymmetrie) mit kovalent verknüpften Cl0 2 und Cl0 4 -Molekülteilen: (e
C
(f C
Cl
o
/
x
O
Es ist bei Raumtemperatur in trockener Glasapparatur kurzlebig (zv% bei 1 mbar ca. 8 min) und zerfällt thermisch in C1 2 0 4 , Cl0 2 und 0 2 , photochemisch ausschließlich in Cl0 2 und 0 2 : Cl 2 O e
Cl 2 0 4 + 0 2 ,
Cl 2 O e
2Cl0 2 + 0 2
(Zerfallsweg: 0 2 C1—O—ClO, -> Cl—O—Cl0 3 + 0 2 ; 0 2 C1—O—ClO, -> Cl0 2 + Cl0 4 2Cl0 2 + 0 2 ; keine Dissoziation in 2Cl0 3 !). Längerlebig als Cl 2 0 6 -Gas ist festes und flüssiges Dichlorhexaoxid, das unterhalb — 30°C gefahrlos gelagert werden kann, falls organische Stoffe (z.B. Schliffett), die Cl 2 O e unter Explosion angreifen, ferngehalten werden. In fester Phase kommt C1 2 0 6 die in Formelbild (f) wiedergegebene Struktur mit isolierten Cl0 2 und Cl0 4 -Ionen zu (CsCl-Struktur; Cl0 2 ist auch mit
5. Oxide und Fluoridoxide der Halogene
487
Gegenionen wie BF 4 , G e F j , S 3 0 l " isolierbar; Struktur siehe S. 484. Im Kristall verknüpfen die Cl0 4 Anionen die Cl0 2 -Kationen über schwache O — Cl-Bindungen zu polymeren Zick-Zack-Ketten (xptrigonal-bipyramidaler Bau von O — Cl0 2 ••••O). Ozon 03 führt Cl 2 O e bei Raumtemperatur langsam in C1 2 0 7 über: Cl 2 O e + 0 3 -> C1 2 0 7 + 0 2 . Mit Wasser reagiert es als gemischtes Anhydrid: C1 2 0 6 + H 2 0 ^ HClO, + H C l 0 4 , mit Alkalilaugen unter Bildung von Chlorat und Perchlorat, mit Fluorwasserstoff teilweise gemäß: Cl 2 O e + H F +± FCl0 2 + HClO 4 . Es kann zur Darstellung von Perchloraten eingesetzt werden, z.B. CrO2C12 + 2Cl 2 O e -> CrO 2 (Cl0 4 ) 2 + Cl2 + 2Cl0 2 . Stickstoffmonoxid setzt aus Cl 2 O e Chlordioxid in Freiheit: NO + C1 2 0 6 Cl0 2 + NO + Cl0 4 . Dichlorheptaoxid C1 2 0 7 . Darstellung. C1 2 0 7 entsteht als Anhydrid der Perchlorsäure (2HCl0 4 C1 2 0 7 + H 2 O) bei der vorsichtigen Entwässerung von Perchlorsäure mit Phosphorpentaoxid (P 2 0 5 + H 2 0 2HPO 3 ) bei - 10 °C: 2HCl0 4 + P 2 0 5
C1 2 0 7 + 2HPO 3
und kann sofern gewisse Vorsichtsmaßregeln wegen der explosiven Natur des Oxids 272 kJ mol) beachtet werden - im Vakuum direkt von der polymeren Metaphosphorsäure abdestilliert werden. Eigenschaften. Dichlorheptaoxid ist eine farblose, flüchtige, ölige Flüssigkeit vom Siedepunkt 81.5 °C und Erstarrungspunkt — 91.5 °C. Bei Berührung mit einer Flamme oder durch Schlag explodiert es heftig. Unter gewöhnlichen Bedingungen ist C1 2 0 7 aber beständiger (und damit weniger stark oxidierend) als die übrigen Chloroxide; so greift es z.B. Schwefel, Phosphor oder Papier in der Kälte nicht an. Mit Wasser bildet es Perchlorsäure, mit Alkalilaugen Perchlorate. Seine Struktur entspricht der Formel 03C1—O—ClO3 (C-Symmetrie; äußerer ClO-Abstand = 1.42 Ä, innerer ClO-Abstand = 1.72 Ä; ClOCl-Winkel 118.6 ). Danach ist das Chlorylperchlorat C OCl isoelektronisch mit dem Di sulfat-Ion S 2 O l " . Der thermische Zerfall wird durch eine monomolekulare Dissoziation in Chlortrioxid und das Radikal Chlortetraoxid ausgelöst: 135 kJ + C1 2 0 7 -> Cl0 3 + Cl0 4 . Chlortetraoxid Cl0 4 . Vgl. hierzu das auf S. 479 Besprochene.
5.4
Oxide des Broms 1,29
Brom bildet die Oxide Br 2 0„ (n = 1, 3, 5; vgl. Tab.54). Br0 2 lässt sich - anders als Cl0 2 (S.482) nicht in Substanz isolieren, sondern nur als reaktive Zwischenstufe nachweisen (vgl. Tab. 54). Dibromoxid Br 2 0. Darstellung. Das Oxid Br 2 O entsteht analog C12O (S. 482) bei der Einwirkung von Brom auf Quecksilberoxid: 2Br 2 + 3HgO
HgBr 2 • 2HgO + Br 2 O .
Verfährt man hierbei so, dass man Bromdampf über erwärmtes Quecksilberoxid leitet, so erhält man ein zur Hauptsache aus Brom und nur zu wenigen Prozenten des Bromgehalts aus Dibromoxid beste hendes Gasgemisch. Der Gehalt des Reaktionsprodukts an Dibromoxid lässt sich auf über 40 % des Bromgehalts steigern, wenn man die Umsetzung von Brom und Quecksilberoxid in Tetrachlorkohlenstoff vornimmt. Am besten wird Br 2 O durch elektrische Durchladung eines 1 : 5 Gemischs aus Br 2 /O 2 , Auskondensieren der gebildeten Produkte bei — 196 °C und Abpumpen der leichter flüchtigen Produkte bei — 60 °C im Vakuum oder durch Hydrolyse von BrOTeF5 gewonnen. Eigenschaften. Dibromoxid ist nur bei tiefen Temperaturen beständig. Es stellt bei diesen Temperaturen einen dunkelbraunen, festen, nadelförmig kristallisierenden, im Hochvakuum sublimierbaren Stoff von stechendem, chlorkalkähnlichem Geruch dar (gewinkeltes Molekül; C2v-Symmetrie; BrO-Abstand 1.838 Ä, BrOBr-Winkel 112.3° im Gas). Beim Erwärmen auf über — 40°C beginnt es zu zerfallen. Beim Schmelzpunkt (— 17.5°C) ist die Zersetzung schon recht lebhaft. Sie führt zu Brom und Sauerstoff (Br 2 0 -> Br2 + lA O 2 + ca.110 kJ), sodass die zunächst schwarzbraune Flüssigkeit bald die rotbraune Farbe des flüssigen Broms annimmt. In reinem Tetrachlorkohlenstoff löst sich Dibromoxid mit moosgrüner Farbe. Beim Schütteln dieser Lösung mit Natronlauge entsteht Hypobromit (das sich leicht zu B und Br disproportioniert): Br 2 0 + 2NaOH
2NaOBr + H 2 O .
Br 2 O ist also das Anhydrid der Hypobromigen Säure. Aus Iodiden setzt Br 2 O Iod in Freiheit, welches von Br 2 O seinerseits zu I 2 0 5 oxidiert wird.
488
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Dibromtrioxid Br 2 0 3 und -pentaoxid Br 2 O s . Darstellung. Durch 0zonisierung einer Lösung von Brom in CFC13 bei — 78 °C erhält man einen zitronengelben Feststoff, der sich durch Methylenchlorid in CH2Cl2-lösliches Br 2 0 3 (orangefarbene Lösung) und CH2Cl2-unlösliches farbloses Br 2 0 5 trennen lässt (entsteht bei langer 0zonisierung ausschließlich). Eigenschaften. Aus der CH2C12-Lösung kristallisiert Br 2 0 3 bei — 90 °C in orangefarbenen Nadeln aus, die sich ab — 40 °C (auf dem Wege über Br 2 0?) in Br2 und 0 2 zersetzen. Br 2 0 3 kommt die Struktur eines Brombromats Br—0Br0 2 zu (Brom(I,V)-oxid; gewinkelte Br0Br-Gruppe: 111.2°; Br—0Br0 2 -Abstand 1.85 Ä; pyramidale BrO 3 -Gruppe mit Br an der Pyramidenspitze: Br0-Abstände 2 x 1.61, 1 x 1.85 Ä; 0Br0-Winkel rund 105°; syn-Konformation); die Moleküle bilden in fester Phase polymere Zick-Zack-Ketten — 0 2 B r 0 B r — 0 2 Br0Br--- - mit langen Br---0-Bindungen (2.54 Ä), welche über lange Br---Br-Bindungen (2.99 Ä) mit isolierten Br 2 0 3 -Baueinheiten verknüpft sind. Das 0xid disproportioniert sich in Laugen (auf dem Wege über BrO~ und B r 0 3 ) zu Br" und Br0 3 und reagiert mit Fluor u.a. zu FBrO 2 . Das CH2Cl2-unlösliche 0xid Br 2 0 s lässt sich aus Propionitril in farblosen Kristallen auskristallisieren, die bei ca. — 20 °C unter Zersetzung schmelzen. Es hat als Anhydrid der Bromsäure HBr0 3 die Struktur eines Bromylbromats O 2 Br—0Br0 2 , dessen terminale 0-Atome auf Deckung stehen (gewinkelte Br0Br-Gruppe: 121.2°; pyramidale BrO 3 -Gruppe mit Br an der Pyramidenspitze: Br0-Abstände 2 x 1.61, 1 x 1.89 Ä; 0Br0- Winkel 94/103/109°; vgl. Formel (a) für I 2 O s mit Br anstelle I).
5.5
Oxide des Iods 1,29
Iod bildet 0 x i d e der Zusammensetzung IO„ (n = 1 - 3 ; vgl. Tab. 54) und X 2 O n (« = 4 - 6 ) sowie das 0 x i d I 4 O s ( = I 2 0 4 5 ). Von größerer Bedeutung ist nur Diiodpentaoxid I 2 O s . Diiodpentaoxid I 2 0 5 . Darstellung. Zum Unterschied von der Chlorsäure und Bromsäure lässt sich Iodsäure durch Erwärmen auf 200 °C auf dem Wege über , , H I 3 0 8 " in ihr Anhydrid überführen, welches seinerseits mit Wasser auf dem Wege über , , H I 3 0 8 " Iodsäure zurückbildet (handelsübliches , , I 2 O s " besteht meist aus H I 3 O g , einem Cokondensat H I 0 3 • I 2 0 5 aus H I 0 3 und I 2 0 5 ) : 200 °C, — H2 , 0 200 °C, - 2i H , 0 . 3 H I 0 33 ^ ^ H I 0 33 I 2 2Q ,5 . ' (1) 2 2 5 +H20 +IH20 Das so entstehende „Diiodpentaoxid" I 2 0 5 stellt ein weißes kristallines Pulver dar, das als exotherme Verbindung erst beim Schmelzpunkt in die Elemente zerfällt, aus denen es umgekehrt in einer Glimmentladung gewonnen werden kann: 158.2 kJ + I 2 O s
300 v
Glimmentladung
I2 + 2 j 0 2 .
Eigenschaften. Von flüssigem Schwefetrioxid wird I 2 0 5 bei 100 °C unter Entzug von O 2 ö gemäß (2) in farbloses Iodyldisulfat (I0 2 ) 2 S 2 0 7 übergeführt (auch aus H I 0 3 in 20%igem 0leumbei 195 °C zugänglich), von Iod in konzentrierter Schwefelsäure gemäß (3) zu farblosem Bis(iodosyl)sulfat (I0) 2 S0 4 reduziert und in wasserfreier Phosphorsäure bei 310-330°C in ein Produkt umgewandelt, das nach Zugabe von konz. H 2 S0 4 zum Reaktionsgemisch die leuchtend gelbe Verbindung (I 3 0 6 )HS0 4 liefert (anstelle des Anhydrids I 2 0 5 setzt man die Säure H 5 I 0 6 ein). Mit Kohlenmonoxidreagiert I 2 0 5 bei 170°C quantitativ gemäß (4) zu Kohlendioxid und Iod, was zur iodometrischen Bestimmung von C 0 durch Titration des gebildeten Iods herangezogen wird 2S 3 I 2 0 5 + 2I 2 + 5 H 2 S 0 4 5C
(I0
(2)
5(I0) 2 S0 4 + 5 H 2 0
(3)
5C
(4)
Strukturen. Diiodpentaoxid I 2 O s hat in der gemäß (1) gebildeten Verbindung H I 0 3 x I 2 0 5 die im Formelbild (a) wiedergegebene Struktur (terminale 0-Atome auf Deckung = ekliptische oder synperiplanare Konformation, vgl. S.478; Abstände I0 e x o /I0 e n d o = 1.78/1.95 Ä; Winkel 0 e x 0 I0 e x o /O e x o I0 e n d o /I0I = 95-100°/93-102°/139°). Reines I 2 O s weist die Struktur (b) auf (terminale 0-Atome auf Lücke = staggered oder synclinale Konformation; Abstände I0 e x o /I0 e n d o = 1.80/1.96 Ä; Winkel e x o I0 e x 0 /°e X 0 I0 e n do/ I0I = 96-98°/88-97°/126°). Die I0 3 -Gruppen weisen pyramidalen Bau auf (I an der Pyramidenspitze). Im Kristall sind die I 2 0 5 -Moleküle durch schwache I---0-Bindungen zu einem dreidimensionalen Netzwerk so verbrückt, dass jedes I-Atom verzerrt pseudo-oktaedrisch von einem freien Elektronenpaar und
5. Oxide und Fluoridoxide der Halogene
489
fünf O-Atomen umgeben ist. In kristallinem HIO 3 x I 2 0 5 weisen die I-Atome von I 2 0 5 eine verzerrtoktaedrische Koordination von sechs O-Atomen auf. Im Bis(iodosyl)disulfat ( I 0 2 ) 2 S 2 0 7 sind die Iodyl-Kationen IO 2 im Sinne des Formelbildes (c) zu Dimeren I 2 O j + mit planaren, viergliedrigen IOIO-Ringen verbrückt, wobei die beiden terminalen O-Atome cis-ständig oberhalb einer Ringseite lokalisiert sind (Abstände IO exo /IO endo = 1.75/1.90 bzw. 2.00 Ä; Winkel O e x o IO e n d o /O^ 0 IO e ^ 0 /IOI = 97-99/77/102°). Die S 2 O^-Gruppen verknüpfen die I 2 0 4 + -Gruppen im Kristall zu eindimensional unendlichen Ketten, wobei die trigonal-pyramidalen IO 3 Einheiten in I 2 Oj+ dann pseudo-trigonal-bipyramidalstrukturiert vorliegen. Im Bis(iodosyl)sulfat ( I 0 ) 2 S 0 4 liegt das Iodosyl-Kation IO + im Sinne des Formelbildes (d) polymerisiert in Form von Spiralketten —O—I—O—I—O—I— vor (IO-Abstand 1.97Ä; Winkel OIO/IOI = 95.2/127.1°). Die SO;^Ionen verknüpfen die [IO + j^-Ketten zu zweidimensionalen Schichten, worin die I-Atome quadratischplanar von vier O-Atomen umgeben sind. Auch das Isopolykation I3Og in der Verbindung (I 3 0 6 )HS0 4 ist im Sinne des Formelbildes (e) polymer. [I3Og ist hiernach an doppelt so vielen pyramidalen I v 0 3 wie quadratisch-planaren I"'O 4 -Einheiten aufgebaut. Die Koordination von Iod der I v O 3 -Gruppen wird durch drei schwächere Bindungen zu O-Atomen aus den I 3 0g-Ketten bzw. HSO 4 -Ionen auf sechs erhöht (verzerrt-oktraedrische Umgebung). O
+5
+3^ O
i+5 O.
o ^
1+5
+5
I
o -o; (a) I 2 O 5
o
N> ( f
G
\o
/
p
I 2 0 4 + HIO 4 + H 2 O) als gelbes, körniges Pulver. Beim Erhitzen disproportioniert es oberhalb 85°C gemäß: 5 I 2 0 4 -> 4 I 2 0 5 + I 2 (umgekehrt bildet es sich aus I 2 0 5 und I 2 in konz. H 2 SO 4 auf dem Wege über (IO) 2 SO 4 (vgl. Gl.(3)) gemäß: 4(IO) 2 SO 4 + 4 H 2 0 -> I 2 0 4 + I 2 + 4H 2 SO 4 ). In heißem Wasser löst es sich unter Bildung von Iodat und Iodid. Strukturell stellt I 2 0 4 ein lodyliodit 021—OIO (Iod(V,III)-oxid) dar mit gewinkelten I v O 2 -Einheiten (IO-Abstände 1.80 und 1.85 Ä; OIO-Winkel 97°) und gewinkelten I' n O 2 -Einheiten (IO-Abstände 1.93 Ä, OIO-Winkel 95.8°). Beide Einheiten sind über I—O—I-Brücken im Sinne der Formulierung (f) zu polymeren ZickZack-Ketten (I 2 0 4 )^ verknüpft mit gewinkelten I v O 2 - und tetraedischen I'''0 4 -Gruppen, wobei die Koordinationszahl des '''-Atoms durch einen schwachen intermolekularen Kontakt zu einem O-Atom noch um eins erhöht wird Diiodhexaoxid I 2 0 6 . Im Unterschied zu Perchlorsäure lässt sich Periodsäure nicht in ein Anhydrid (Diiodheptaoxid I 2 0 7 ), sondern nur in Diiodhexaoxid I 2 O e verwandeln. Letzteres wird als blassgelber Festkörper bei der - unter Zersetzung erfolgenden - Entwässerung eines Gemischs von H 5 IO 6 in konz. H 2 SO 4 erhalten. Auch bei der Entwässerung eines Gemischs von HIO 3 und H 5 IO 6 mit 95%iger H 2 SO 4 sowie bei der thermischen Zersetzung von HIO 4 bei 117°C im Vakuum entsteht I 2 0 6 (HIO 3 + H 5 IO 6 -> I 2 0 6 + 3H 2 O; 2HIO 4 -> I 2 O e + H 2 0 + ' / i O J ^ 6 ist unter Feuchtigkeitsausschluss unbegrenzt haltbar und bis über 100°C stabil. Bei 150°C zerfällt es gemäß: I 2 O e -> I 2 0 5 + Vi 0 2 . In Wasser löst es sich unter Wärmeentwicklung und Bildung von HIO 3 und H 5 IO 6 . Struktur I 2 O e stellt ein Iod(V,VII)oxid dar und liegt im Kristall als Dimer I 4 0 1 2 vor, welches im Sinne der Formulierung (g) aus zwei kantenverknüpften I vn O 6 -Oktaedern aufgebaut ist, welche mit ihren axialen O-Atomen gemeinsame Ecken mit den O-Atomen von zwei I v O 3-Einheiten bilden. Jedes I 4 Oj 2 -Molekül ist über schwächere I • • OBindungen mit jeweils vier I 4 0 12 -Molekülen so verknüpft, dass (I 4 0 12 ) n -Schichten entstehen.
+5
O
(X
/\ 1+^— o-
0
u
x
o
+5/
0
a
.0
\ /> (f) I2O4
(g) I2O6
490
XII. Die Gruppe der Halogene
Tab. 55
Fluoridoxide der Halogenea).
Von HXO3 abgele itete Fluoridoxide X0 2 F X0F 3
X
X0F
Von H X 0 a geleitete Fluoridoxide X X0F
Cl
Cl F Farbloses Gas Smp. — 115 0 C Sdp. —6 0 C Zers. > 250°C
Cl0F 3 Farbloses Fl Smp. — 42 0 C Sdp. + 27 0 C Zers. > 300 0 C AH{ = — 148 kJ
Cl0 3 F b) Farbloses Gas Smp. — 146.49 0 C Sdp. — 46.67 0 C Zers. > 300 °C AH{ = — 23.9 kJ
Br
Br F Farblose Fl Smp. —9 0 C Zers 55 C
Br0F 3 Farblose Fl Smp. —5 0 C bis Zers. ca. 20 0 C
Br0 3 F Farbloses Gas Smp. — 110 o C Zers. ca. 20°C
I
(I0F)„ Farblose Krist. Smp 200 C Zers 200
I0F Farblose Nadeln Zers. > 110°C
I0 3 F Farblose Krist. Zers. > 100°C
Cl Farbloses Gas Smp. — 81.2 0 C Sdp. — 21.6°C
(I02F3)„ Gelbe Subst. Smp. 41 0 C
I0F 5 b) Farblose Fl Smp. 4.5°C
a) Man kennt auch instabile, von H X 0 2 abgeleitete Fluoridoxide X O F (X = Cl, Br) b) . - b) Es existieren auch Hypofluorite Cl(OF), C l 0 2 ( 0 F ) , eis- und trans-I0F4(0F).
Tetraiodnonaoxid I 4 0 9 kann durch Einwirkung von Ozon auf Iod in CC14 bei — 78°C in quantitativer Ausbeute als hellgelber, hygroskopischer Festkörper gewonnen werden und zerfällt beim Erhitzen auf über 7 5 ° C g e m ä ß 2 I 4 0 9 3 I 2 0 5 + I 2 + 1 1 / 2 0 2 . D i e Verbindung ist ähnlich w i e l 2 0 4 als Iod(III,V)-oxid aufzufassen und reagiert mit Alkalilauge unter Bildung von Iodat und Iodid: 3 I 4 0 9 + 1 2 O H " I " + 1 1 I 0 3 + 6 ^ 0 . Strukturell könnte I 4 0 9 ein Iodat I 3 0 ^ I 0 3 darstellen (s. oben).
5.6
Fluoridoxide des Chlors, Broms und Iods 29
Systematik. Von den Halogenigen, Halogen- und Perhalogen-Säuren HOXO, H 0 X 0 2 und H 0 X 0 3 (X = Cl, Br, I) leiten sich durch Austausch der OH-Gruppe gegen F Fluorderivate des Typs FXO, F X 0 2 und F X O ab (formal Kombinationen der Radikale F mit XO, X O und X O , vgl. S. 478). Da in ihnen F der elektronegative, XO„ der elektropositive Molekülteil darstellt, formuliert man die Verbindungen zweckmäßigerweise wie folgt XOF, X 0 2 F und X0 3 F. Eine weitere Substitution von zweiwertigen O-Atomen gegen zwei einwertige F-Atome führt ausgehend von X O F zu Fluoridoxiden des Typs X0F 3 , ausgehend von X O F zu Fluoridoxiden des Typs X0 2 F 3 sowie X O F (bei weiterem Ersatz von O gegen F erhält man die bereits auf S. 459 behandelten Halogenfluoride XF 5 und XF 7 ). Die bisher bekannten Fluoridoxide der Halogene sind in Tab. 55 zusammengestellt. Unter den in Tab. 55 wiedergegebenen Verbindungen sind die Halogenosylfluoride XOF im Sinne des VSEPR-Modells (S.313) gewinkelt (Cs-Symmetrie), die Halogenylfluoride X O F pyramidal (Cs; I 0 2 F ist polymer), die Perhalogenylfluoride X O F tetraedrisch (C 3v ), die Halogenosyltrifluoride X O F wippenförmig (Cs), die Halogenyldifluoride X 0 2 F 3 trigonal-bipyramidal (C 2v ; I 0 2 F 3 ist über O-Brücken dimer) und die Halogenosylpentafluoride X O F oktaedrisch (C4v) gebaut (vgl. Formelbilder). Die Fluoridoxide neigen zur Abgabe eines Fluorids an Akzeptoren wie B F , SnF 4 , AsF 5 , SbF 5 : Bildung von X 0 + (im Falle I 0 + polymer), X 0 2 (gewinkelt, im Falle I 0 2 polymer), X 0 3 ? (planar). Andererseits vermögen die Fluoridoxide Fluorid von Donatoren wie KF oder BaF2 aufzunehmen: Bildung von X0 2 F 2 ~ (wippenförmig), X0F 4 ~ (quadratisch-pyramidal), X 0 2 F 4 (oktaedrisch). ••
T
\ /! H-x-!ici
p
• •
T
1
v
O
XOF
F ^
1 ^ o
O
F
F
F
FV|.
1I
CX-J
^
r F
XO.F
XOF 3
o/|No
1
F
F--I—^F
0
F
O
XO3F
XO2F3
XOF5
5. Oxide und Fluoridoxide der Halogene
491
Chlorosylfluorid ClOF bildet sich durch teilweise Hydrolyse gemäß ClF3 + H 2 0 -> ClOF + 2 HF in verdünnter Gasphase als thermolabile, zu ClF und ClO 2 F disproportionierende Verbindung (T1/2 bei 100 Pa ca. 3 min). Es ist thermodynamisch stabiler als das isomere Hypofluorid Cl(OF). Bromosylfluorid BrOF ist instabiler als ClOF und ließ sich bisher nur in der Inertgasmatrix bei tiefen Temperaturen nachweisen Chlorylfluorid Cl0 2 F (isoelektronisch mit P F und SOF2) kann als Derivat der Chlorsäure aus Kaliumchlorat mit ClF3 (O/F-Austausch) sowie besonders einfach durch Fluorierung von Cl0 2 mittels AgF2 (oder BrF 3 ) als farbloses, hydrolyseempfindliches Gas gewonnen werden: 6KCl0 3 + 4ClF 3
6Cl0 2 F +
+
+
bzw.
Cl0 2 + AgF 2
Cl0 2 F + AgF.
Es ist in flüssiger Phase zum Teil gemäß 2 C l 0 2 F -> Cl0 2 + Cl02F-T dissoziiert und lässt sich von PtF 6 oxidieren: 2 Cl0 2 F + 2 PtF 6 -> Cl0 2 PtF6~ + Cl0 2 F 2 + PtF 6 ~. Bromylfluorid Br0 2 F, ein Derivat der Bromsäure, entsteht aus Kaliumbromat mit BrF5 bei — 50 °C (BrF5 als Lösungsmittel, Spuren von HF als Katalysator) als farblose, oberhalb 55 °C in BrF3, Br2 und 0 2 zerfallende Flüssigkeit: KBr0 3 + BrF5
Br0 2 F + K [ B r O F ] (
KBrO, L
>2KB^2]).
Iodylfluorid IO 2 F lässt sich durch Auflösen des Anhydrids der Iodsäure, I 2 0 5 , in wasserfreier Flusssäure als polymerer Feststoff gewinnen: HF
IO
HIO
Chlorosyltrifluorid ClOF (isoelektronisch mit S F ) kann durch Fluorierung von C12O bzw. ClONO 2 bei — 78 °C als farblose, bei Raumtemperatur flüssige, mit Glas und Quarz reagierende und stark oxidierend wirkende Substanz gewonnen werden Bromosyltrifluorid BrOF entsteht als Fluorokomplex BrOF~ gemäß KBr0 3 + KBrF 6 -> K[Br0 2 F 2 ] + K [ B r O F ] (K[BrOF] lässt sich mit Acetonitril von K[Br0 2 F 2 ] weglösen) und lässt sich hieraus durch H F (wasserfrei) bei — 78°C in Freiheit setzen: K [ B r O F ] + HF -> B r O F + K [ H F ] - Iodosyltrifluorid IOF3 entsteht bei der Umsetzung von I 2 O s mit IF Perchlorylfluorid Cl0 3 F (isoelektronisch mit Cl0 4 ) bildet sich u.a. durch Fluorierung von KCl0 3 mit elementarem F2 bei — 20°C in SbF5 bzw. durch Fluoridierung von KCl0 4 mit HSO 3 F: KCl0 3 + F2
K F + ClO 3 F
bzw.
KCl0 4 + HSO 3 F
Cl0 3 F + KHSO 4
als farbloses, stark oxidierend wirkendes, hydrolysebeständiges, giftiges, bis über 400 °C beständiges Gas und wird wie S F als Isolator in Hochspannungsanlagen eingesetzt. Mit Ammoniak reagiert Cl0 3 F unter Bildung eines ,,Perchlorylamids" ClO 3 (NH 2 ): Cl
NH
Cl
(NH
HF
dessen Wasserstoffatome acid sind und sich durch Metallionen ersetzen lassen, z.B.: K [ C l 0 3 (NH)] und K 2 [ C l 0 3 N ] (farblose, bis 300 °C stabile, auf Stoß explodierende Substanz). Die so entstehenden Salze leiten sich von den Perchloraten Cl durch Austausch eines zweiwertigen O-Atoms gegen eine iso elektronische NH-Gruppe bzw. ein isoelektronisches N ~-Anion ab. Das bei — 80 °C und in der Gasphase haltbare, hydrolyseempfindliche Perbromylfluorid Br0 3 F wird bei der Reaktion von KBr0 4 und SbF5 in Gegenwart von HF, das beständigere Periodylfluorid IO 3 F bei der Fluorierung von KIO 4 in flüssigem HF erhalten KBr0 4 + SbF5
Br0 3 F + K [ S b O F ]
bzw.
KIO 4 + F2 -> IO 3 F + K F + | 0 2 .
Letzteres zerfällt bei 100 °C in IO 2 F und 0 2 . Chloryltrifluorid Cl ist auf dem Wege Cl Pt NOF Cl NO Pt zugänglich Iodyltrifluorid (IO entsteht bei der Behandlung von B (IO in SO -haltiger Fluorsulfonsäure als sublimierbarer Festkörper (oberhalb 100 °C monomer). IF 7 setzt sich mit Wasser bzw. mit Si0 2 (100 °C) zu farblosem, flüssigem, relativ hydrolysebeständigem Iodosylpentafluorid IOFS um, das mit F~ in Acetonitril den Fluorokomplex IOFg (pentagonal-bipyramidal mit axialem Sauerstoff; C5v-Symmetrie) bildet.Das gemäßI0 4 + 4 H F IO2F4~ + 2HOgewinnbareoktaedrischeTetrafluorodioxidoiod(VII)-Ion IO 2 F 4 leitet sich von I O F durch Ersatz eines zu Sauerstoff cis- oder trans-ständigen Fluorids durch Oxid a b cis-IO 2 F 4 (Symmetrie C 2v ), trans-IO2F4 ( D J . Mit HF lassen sich die zugrundeliegenden Säuren cis- und trans-HOIOF in Freiheit setzen. N F 4 führt die Ionen in cis- und trans-IOF(OF) (blassgelb; 2:1 Isomerengemisch: Smp. — 33°C, Sdp. 28°C; Zerfall bei 120°C in I O F und >/2 0 2 ), Cl(OSO 2 F) in cis- und trans-IOF(OCl) über.
492
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
6
Verbindungen der Halogene (Überblick)
Nachfolgend werden Verbindungen E m X„ der Elemente E mit Halogenen X zusammenfassend besprochen. Bezüglich Einzelheiten der Halogenverbindungen mit Wasserstoff, Halogenen, Sauerstoff bzw. mit anderen Elementen vgl. das vorstehend in den Unterkapiteln 2 - 5 bzw. das nachstehend im Zusammenhang mit den betreffenden Elementen diskutierte.
6.1
6.1.1
Grundlagen
Systematik
Abgesehen von He, Ne und Ar bilden Fluor und Chlor mit jedem Element, die übrigen Halogene mit fast allen Elementen mindestens eine, meist aber mehrere isolierbare Halogenverbindungen der in Tab. 56 aufgeführten Summenformeln. In den betreffenden Elementhalogeniden stellt das Halogen X in der Regel den elektronegativen, das Element E den elektropositiven Verbindungspartner dar (abnehmende Elektronegativität in Richtung F > O > N > C l > B r > C > S, Se > I). Dabei existieren von den einzelnen Halogenen einerseits nicht alle in Tab. 56 aufgeführten Formelmöglichkeiten, andererseits - bei Vorliegen von Elementclustern - Halogenide E m X„ anderer Zusammensetzung. Insgesamt kennt m a n einschließlich der teilhydrierten Halogenide HpEmXn_p von jedem Halogen mehr Verbindungen als vom Wasserstoff (vgl. S. 276). Der Untersehied der 0xidationsstufen der Elemente E, in clusterfreien Halogeniden beträgt im Falle der Hauptgruppenelemente + 2, im Falle der Nebengruppenelemente + 1 (Tab. 56). Die höehsten Oxidationsstufen der Elemente werden mit Fluor als Bindungspartner erreicht. Doch selbst dieses Halogen vermag - anders als Sauerstoff - Elemente der VIII. Gruppe nicht in die achtwertige Stufe (Oetafluoride) überzuführen. So kennt m a n kein XeF 8 (aber XeO 4 ), kein OSF 8 (aber 0 s 0 4 bzw. RuO 4 ), kein PuF 8 (auch kein P u O 4 , sondern nur P u 2 0 7 ) . Die Frage, ob Eka-Osmium („Hassium", Element 108) ein Octafluorid HsF 8 bildet ( H s 0 4 ist bekannt) muss noch beantwortet werden. Bezüglich der erreichbaren Maximalwertigkeiten der Elemente in Halogeniden E X gilt Folgendes: (i) In Richtung Fluoride > Chloride > Bromide > Iodide sinkt die Tendenz zur Ausbildung hoher Oxidationsstufen (z.B. PbF4, PbCl 4 darstellbar, PbBr4, Pbl 4 nicht isolierbar). - (ii) Innerhalb der Element-Perioden durchlaufen die mit Halogenen erreichbaren höchsten Oxidationsstufen der Elemente sowohl im Hauptals auch im Nebensystem Maxima (z.B. TeF6, IF 7 , XeF6; SiCl4, PC15, SC14; SbBr3, TeBr4, IBr). - (iii) Innerhalb der V.-VII. Hauptgruppe wäehst, sinkt, wäehst, sinkt die Stabilität der mit Halogenen erreichbaren höchsten Oxidationsstufen der Elemente aus den auf S. 465 im Zusammenhang mit den Halogensauerstoffsäuren genannten Gründen (z.B. NX 5 nicht zugänglich; PX 5 (X == | I) darstellbar; AsX5
Tab. 56 Summenformeln bisher isolierter Verbindungen EmX„ der Haupt- bzw. Nebengruppenelemente E mit Halogenen X. E-Gruppe
I
II
III
IV
V
VI
Hauptgruppen
EX
EX
EX1>3
EX2>4
EX3>5a)
EX2>4>6a) EX1>3>5>7b) EX2>4>6c)
E„X. d)
< EX (+ Lanthanoide, Actinoide)
J EX 2 _ 4
EX 2 _ s
VII
VIII
> EX 2 _ 6
EX 2 _ 7
E_ X„d) a) Stickstoff- und Sauerstoffhalogenide sind bis auf die Fluoride richtiger als Halogennitride und -oxide zu klassifizieren. - b) Vgl. hierzu Interhalogene. - c) Nur Fluoride bekannt. - d) Verbindungen, die Elementcluster oder - in seltenen Fällen - Elemente in unterschiedlichen Oxidationsstufen enthalten.
6. Verbindungen der Halogene (Überblick)
493
(X == | Br, I) instabiler als PX5; SbX5 (X == | Br, I) stabiler als AsX5; BiX5 nur noch für X = F gewinnbar. - (iv) Innerhalb der III. bzw. IV. Hauptgruppe sinkt die Stabilität der mit Halogenen erreichbaren Oxidationsstufe + 3 bzw. + 4 gegenüber der Oxidationsstufe + 1 bzw. + 2 der Elemente und vice versa (z.B. BX 3 /CX 4 isolierbar, BX/CX2 nicht isolierbar; Tll 3 /Pbl 4 nicht isolierbar, TlI/PbI 2 isolierbar). (v) Innerhalb der Nebengruppen wächst die Stabilität der mit Halogenen erreichbaren höchsten Oxidationsstufe mit steigender Ordnungszahl der Elemente (s.dort; z.B. CrF6, MnF 7 nicht isolierbar; WF 6 , ReF7 isolierbar).
6.1.2
Strukturverhältnisse
Die Tab. 57 gibt die - in Übereinstimmung mit dem VSEPR-Modell stehenden - Strukturen einkerniger Halogenide E X der Hauptgruppenelemente in der Gasphase wieder. Sie werden je nach Anzahl der dem Zentralelement zuzuschreibenden Elektronenpaare als Verbindungen mit Elektronenoktett (,,normalvalente" Halogenide), mit Elektronenunterschuss (,,hypovalente" Halogenide bzw. Subhalogenide) oder mit Elektronenüberschuss (,,hyperkoordinierte" Halogenide bzw. Perhalogenide; früher hypervalente Halogenide) bezeichnet. Die mit dem Übergang von der Gas- in die kondensierte Phase verbundene Zusammenlagerung der EX„-Moleküle erfolgt im Falle der hypovalenten Halogenide in der Regel unter Ausbildung chemischer (elektro- bis kovalenter) E—X—E-Bindungen, im Falle der normalvalenten und hyperkoordinierten Halogenide vielfach unter Ausbildung zwischenmolekularer EX--EX- bzw. EX---XE-Bindungen. In den zuerst genannten Verbindungen erstreben die EXn-Moleküle meist eine oktaedrische (bzw. pseudooktaedrische) Umgebung des Zentralatoms (durch Zusammenlagern von E X erhöht sich die Koordinationszahl von E pro zwei EXE-Brücken um eins). Die Oktaeder besitzen hierbei gemeinsame Ecken (bevorzugt bei Fluoriden), gemeinsame Kanten (selten bei Fluoriden, häufig bei Chloriden, Bromiden, lodiden) oder gemeinsame Flächen (nur bei Ubergangsmetallhalogeniden). Bei großem Elektronegativitätsunterschied von E und X (AEN von 2 entspricht etwa 50% Ionencharakter der EX-Bindung) bilden sich Raumstrukturen aus (z.B. M'X, M"X 2 , AlF3), bei zunehmend kleinerem Unterschied Schichtstruk-
Tab. 57 Strukturen einkerniger Halogenide E X der Hauptgruppenelemente in der Gas- bzw. kondensierten Phase, geordnet nach den Gruppennummern sowie dem Halogenierungsgrad der Elemente (in Klammern Existenzen bzw. Nichtexistenzen von E X ; in Kreisen die Anzahl der dem Element E zuzuschreibenden Elektronen). I EX (F
I)
II
III
EX2
EX 3
VI
IV
VII
EX 4
:EX3
EX 2
:E X
(Pb«f4.
PC)
(F I)
(F
(F'-i)
:EX
:EX2
EX 5
(Ga,In,Tl)
(Ge,Sn,Pb) (P—Bi)b>
(F I)
®
linear bzw gewin kelt Polymere (Ausnahmen BX
®
pseudo-) trig.planar
i)
:EX4 (S—Po)c>
EF 3
VIII
pseudo-) tetraedrisch :EF2
(Cl—I)d>
(Kr—Rn)
EF6
:EF5
(S Te)
(CI-I)
Ep4 (Xe)
EF7
:EF6
(I)
(Xe)
Monomere (einige Ausnahmen
Strukturen"'
10
pseudo-) trig.-bipyr.
12
pseudo-) oktaedrisch
14
pent.-bipyr. verzerrt okt
vgl. bei betreffenden Elementen
a) „Fluktuierende" Strukturen (S.782) bei :EX 3 , EX 2 , EX 5 , :EX 4 , EF 3 , :EF 5 , EF 7 , :EF 6 . - b) Nicht (As,Bi)Cl 5 , (P, As, Sb, Bi)Br 5 , (P, As, Sb, Bi)I 5 ; AsCl 5 und PBr 5 existieren in fester Phase. - c) Nicht SC14, SBr 4 , (S, Se)I 4 , SC14 existiert in fester Phase. - d) Auch IC1 3 . - e) Gewinkelt: CaF 2 , Sr(F, Cl) 2 , B ^ 2 (vgl. S.323). - f) Polymer: SnF 4 , P W 4 , N I 3 , BiF 3 , Bil 3 , PC1 5 , PBr 5 , SW5, BiF 5 ; oligomer: SeCl 4 , SeBr 4 , TeX 4 , IC1 3 .
494
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
turen (z.B. (SnF4);c mit Eckenverknüpfung, (AlClj)^ mit Kantenverknüpfung der EX 6 -0ktaeder), Kettenstrukturen (z.B. (BiF5).c mit Eckenverknüpfung der BiF 6 -0ktaeder) oder Inselstrukturen (z.B. (SbF5)4 mit Eckenverknüpfung der EX 6 -0ktaeder, (IC13)2 mit Kantenverknüpfung der (:)2EX4-Pseudooktaeder). Kleinere Elementatome bevorzugen eine tetraedisehe (oder pseudotetraedische) Umgebung (z.B. (BeF2).c/ (BeCl^ mit Raum-/ Kettenstruktur und Ecken-/Kantenverknüpfung der BeX4-Tetraeder), größere Elementatome höhere Koordinationszahlen (z.B. dreifach-überkappt-trigonal-prismatische Umgebung von E in (BiF3).t bzw. ( P b C l ^ , kubische Umgebung von E in (CsCl)^ bzw. (CaF^). Bezüglich Einzelheiten der Hauptgruppenelementhalogenide vgl. bei den betreffenden Elementen, bezüglich eines Überblickes über die Nebengruppenelementhalogenide S. 1750. Die Strukturen der Halogenide E X in kondensierter Phase lassen sich auch über Halogenidpaekungen ableiten, in deren Lücken die betreffenden Elementkationen so eingelagert sind, dass sie benachbarte Lücken innerhalb des gesamten Packungsraums oder bestimmter Schichten, Ketten bzw. Inseln einnehmen (die Schichten, Ketten, Inseln sind dann untereinander über zwischenmolekulare X---X-Bindungen verknüpft). Nicht bindende s- und p-Elektronenpaare der Elementatome sind häufig stereochemisch wirksam und führen zu Verzerrungen der Halogenidpackungen (z.B. in :PbCl2, :BiF3, :PX3> aber nicht in :BiI3).
6.1.3
Bindungsverhältnisse
Die EX-Bindungen der Halogenide E X sind mehr oder weniger kovalent bis ionogen und - anders als im Falle der Wasserstoffverbindungen - nur selten metallartig (z.B. in den niedrigwertigen Halogeniden (Ca, Sr, Ba)X = M2 + ( e ~ ) X " mit X = Cl, Br, I oder in Halogeniden mit unendlicher Metallclusterausdehnung wie in Ag 2 F). Meist wächst die EX-Elektrovalenz im Zuge des Übergangs von E X aus der Gasphase in die kondensierte Phase wegen der dadurch gewinnbaren Coulombenergie. Z u m Teil erfolgt sogar eine Ionisierung im Zuge der Kondensation (z.B. 2 P C l 5 ( g ) -> PC1 4 PC1 6 ); auch wird die Existenz von E X gelegentlich erst in der festen Phase durch Ausbildung eines Ionengitters ermöglicht (z.B. PBr 3 + Br 2 (g) P B r ^ B r " ; SC12 + Cl 2 (g) ^ S C l ^ C l " ) .
6.2
Darstellung
Die Halogenverbindungen werden hauptsächlich auf drei Wegen gewonnen E
Halogenierung
— ^ — > + "/ 2 X 2
EX
*;
EX
Dehalogenierung
»+m — — — • - /2X2
EX n
;
EY
Halogenidierung
» — - — r - " + nX
; —nY
EX
«•
F ü r weitere, zu Halogeniden mit E-Clustern führende Synthesen vgl. Halogenverbindungen der Elemente Zur Halogenierung geht man von den Elementen, aber auch von Elementverbindungen wie Hydriden, Halogeniden, Oxiden aus und setzt sie - gegebenenfalls unter Energiezufuhr oder in Anwesenheit von Hilfsreagenzien - mit Halogenen, Halogenwasserstoffen bzw. Elementhalogeniden um (z.B. Xe + F2 -> KCl + Br2; B 2 0 3 + 3C12 + 3C 2 BC13 + 3 CO; XeF2; NH 3 + 3C12 NC13 + 3 HCl; KBr + Cl2 Sn + 2HC1 ^ SnCl2 + H 2 ; As 2 0 3 + 6HC1 ^ 2 A s ^ + 3 H 0 ^ s + 5 ^ 2IF 5 + 5S0F 2 ). Die Dehalogenierung kann u. a. durch Niehtmetalle, Metalle oder Elementhalogenide - gegebenenfalls unter Wärmezufuhr - erfolgen (z.B. nSCl 2 + ( n - 1 ) H 2 S„Cl2 + 2(n — 1)HCl; 2ClF 3 + Cl2 3 ClF; SiCl4 + Si EBr„ -> ECln —> EF„ und für ein bestimmtes Halogen innerhalb der Perioden von rechts nach links (z.B. BX3 C X ; AlX 3 SiX4 PX 5 SnX 4 GeX 4 SiX4) bzw. in Richtung der 3. sowie 5.Periode (V-VIII. Gruppe; z.B. PX 5 AsX 5 SbX5 S F ( - 2 9 8 ) + S F (-1220). Anderenfalls zerfallen die betreffenden Halogenide, z.B.: 2XeF 4 ( - 1 2 0 ) XeF2 ( - 1 6 4 ) + XeF6 ( - 7 7 ) ; 2ClF 3 ( - 1 6 5 ) ClF ( - 5 7 ) + ClF5 (-255). Redox-Verhalten. Edelgas- und Halogenfluoride wirken als starke Fluorierungs- bzw. Oxidationsmittel (z.B. KrF 2 : Fluorierung von BrF5 zu BrF6+, von Xe zu XeF6; ClF: Fluorierung von W zu W F , von Se zu SeF4; ClF3: Fluorierung von Xe zu XeF2, von W zu W F , von AgF zu AgF2; BrF3: Fluorierung von Au zu AuF 3 ). Die Oxidationskraft endothermer Fluoride wie KrF 2 , ClF6+ oder BrF6+ übertrifft naturgemäß die von elementarem Fluor. Demgemäß lässt sich etwa Fluorid mit ClF6+ chemisch (!) oxidieren: ClF6+ + F ~ -> ClF5 + F 2 . Niedrigwertige Tetrel- und Trielhalogenide stellen andererseits Dehalogenierungs- bzw. Reduktionsmittel dar (z.B. SnCl2: Reduktion von Fe 3 + zu Fe 2 + , von AsC>4- zu AsO von M n 0 4 zu Mn 2 + , von S O zu H 2 S). Säure-Base-Verhalten Elementhalogenide E X wirken in vielen Fällen wie folgt als Lewis-Säuren und/ oder -Basen E
+ Halogenid-Donator
X+m
E X „
- m
^ + mX~ .
So lassen sich die Fluoride XeF„ mit HOAc (Ac = Acylrest) in Xe(OAc)„, ClF mit H 2 O in Q 2 O , ClF3 mit B 2 0 3 in - seinerseits zerfallendes - C1 2 0 3 , IF 5 mit C r 0 3 in O I F oder S F mit EO-gruppenhaltigen Verbindungen wie R 2 CO, R 3 PO, SeO2, TeO2, I 2 0 5 in O S F bei gleichzeitiger Bildung von R 2 C F , R 3 PF 2 , SeF4, TeF4, IF 5 umwandeln. Verwendung Die Hauptgruppenelementhalogenide dienen u.a. als Lösungsmittel (z.B. CH2C12, CHC13, CC14; die Nutzung von CH 3 Cl, CFQ 3 , CF2C12 usw. als Sprays sollte vermieden werden, vgl. Ozonloch), als Oxidationsmittel (z.B. XeF 2 , ClF3, BrF3, IF5), als Reduktionsmittel (z.B. SnQ 2 ), als Halogenidierungsmittel (z. B. SF4, PC15), zur Wasserdesinfektion (z.B. C12O, NH 2 Cl), als Bleichmittel (z. B. NC13 für CaF 2 ),
496
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
als Lewis-Säuren für katalytische Prozesse (z.B. BF3, BC13, AlCl3), zum Halogenidentzug (z.B. AsF5, SW 5 , SbCl5), als Produktvorstufen (z.B. S2C12, SC12 zur Vulkanisation, PC13 für Öladditive, Weichmacher, Flammschutzmittel, Insektizide, AlF 3 zur Herstellung von Kryolith Na 3 AlF 6 , CHC13 zur Herstellung von Teflon, PC15 zur Herstellung von (NPC12)^ und daraus gewinnbarer Kunststoffe, SiCl4 zur Herstellung von Silicagel und Kieselsäureestern).
Kapitel XIII
Die Gruppe der Chalkogene
Zur Gruppe der „Chalkogene" (16. Gruppe bzw. VI. Hauptgruppe des Periodensystems der Elemente) gehören die Elemente Sauerstoff (O), Schwefel (S), Selen (Se), Tellur (Te) und Polonium (Po) 1 . Am Aufbau der Erdrinde beteiligen sich die Chalkogene mit 48.9 (O), 3 x 10~2 (S), 5 x 10" 6 (Se), 1 x 10~6 (Te) und 2 x 10~14 Gew.-% (Po), entsprechend einem Gewichtsverhältnis von ca. 5 0 0 0 0 0 0 0 : 3 0 0 0 0 : 5 : 1 : 1 " 8 . Bezüglich Eka-Polonium (Eka-Po; Element 116) vgl. S. 1977.
1
Der Sauerstoff
Der elementare Sauerstoff existiert in zwei isolierbaren Formen als,,Disauerstoff" (,,Dioxygen"; exakter: „Triplett-Disauerstoff"; Trivialname „Sauerstoff") sowie als ,,Trisauerstoff" („Trioxygen"; Trivialname: „ O z o n " ) und darüber hinaus in nicht isolierbaren Formen als „Monosauerstoff" („Monooxygen", atomarer Sauerstoff),,,Singulett-Disauerstoff" (kurz: „SingulettSauerstoff") und ,,Tetrasauerstoff". Nachfolgend seien im Zusammenhang mit elementarem Sauerstoff zunächst die langlebigen ,,allotropen Modifikationen", Sauerstoff und Ozon, dann hieraus sich bildende Sauerstoff-Ionen und schließlich die kurzlebigen Sauerstoffspezies, Singulett-Sauerstoff, atomarer Sauerstoff sowie Tetrasauerstoff beschrieben. Weitere Kapitel befassen sich mit der Erdatmosphäre, deren Bestandteile Sauerstoff und Ozon für die unbelebte und belebte Natur bedeutungsvoll sind, sowie mit den Wasserstoffverbindungen des Sauerstoffs. Über Verbindungen des Sauerstoffs mit anderen Elementen wird bei letzteren berichtet.
1
Den Namen Chalkogen = Erzbildner tragen die Elemente, weil sie - namentlich mit den beiden ersten Gliedern in Form von Oxiden und Sulfiden - maßgeblich am Aufbau der natürlichen Erze beteiligt sind: chalkos (griech.) = Erz; gennan (griech.) = erzeugen.
498
1.1
1.1.1
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Das Element Sauerstoff
Sauerstoff (Dioxygen) 2 ' 3 ' 4
Vorkommen In elementarem Zustande kommt der Sauerstoff in der Natur als Bestandteil der Luft vor, welche getrocknet 20.95 Volumenprozente oder 23.16 Gewichtsprozente Sauerstoff enthält (S. 515). In gebundenem Zustande finden wir ihn in Form von Oxiden und Oxosalzen (Carbonaten, Silicaten usw.), so etwa im Wasser, welches gereinigt zu 88.81, als Meerwasser zu etwa 86 Gew.-% aus Sauerstoff besteht. Weiterhin bildet er einen wichtigen Bestandteil der Biosphäre, wie etwa den Zuckern, Fetten, Eiweißstoffen der Organismen. Insgesamt ist er in Form von anorganischen Verbindungen, organischen Verbindungen und molekularem Sauerstoff zu 48.9% am Aufbau von Erdrinde, Meer, Biosphäre und Luft beteiligt. Der Sauerstoff ist somit das weitestverbreitete Element und kommt in seiner Gewichtsmenge der Gewichtsmenge sämtlicher übrigen Elemente - zusammengenommen - gleich. Isotope (vgl. Anhang III). Der natürlich vorkommende Sauerstoff besteht aus den Isotopen ' | O (99.762 %), '?O (0.038%) und 'gO (0.200%). 'gO dient bei reaktionsmechanistischen Untersuchungen zum Markieren von Sauerstoffverbindungen 'sO in Sauerstoffverbindungen für NMR-spektroskopische Untersuchungen. Unter den künstlichen Isotopen hat 'gO mit 2.03 min (ß^-Strahler) die längste Halbwertszeit.
Darstellung Zur technischen Darstellung von Sauerstoff dient die Luft, untergeordnet das Wasser sowie andere Sauerstoffverbindungen. Die Abtrennung des in der Luft neben Sauerstoff enthaltenen Stickstoffs k a n n hierbei auf physikalischem oder chemischem Wege erfolgen, die aus den Sauerstoffverbindungen naturgemäß nur auf chemischem Wege. Sauerstoffgewinnung auf chemischem Wege Zur chemischen Zerlegung von Luft erhitzt m a n diese z. B. mit Bariumoxid (BaO) auf etwa 500 °C. Hierbei nimmt BaO Sauerstoff unter Bildung von Bariumperoxid (BaO 2 ) auf (vgl. S. 540): 500 2 B a O + O 2, „ ' 2Ba02 . 700°C
2
3
4
Literatur E. A.V. Ebsworth, J.A. Connor, J.J. Turner: „ O x y g e n " in Comprehensive Inorg. Chem. 2 (1973) 685-794; M. Ardon: „Oxygen", Elementary Forms and Hydrogen Peroxide", Benjamin, New York 1965; GMEL^: „Oxygen", Sysstem-Nr.3; ULLMANN (5. Aufl.): , , O x y g e n A 1 8 (1991) 329-347. Vgl. auch Anm. 5, 8, 9, 12, 21, 26, 28, 31. Geschichtliches (vgl. Tafel II). Dass Luft aus mehreren Bestandteilen zusammengesetzt ist, von denen einer (Sauerstoff) die Verbrennung unterhält, erkannte erstmals Leonardo da Vinci im 15. Jahrhundert. „Entdeckt" wurde der Sauerstoff 1772 von Carl Scheele als ,,Feuerluft" bzw. „ Vitriolluft" und - unabhängig davon - 1774 von Joseph Priestley als ,,dephlogistierte Luft", und zwar gewann Scheele Sauerstoff durch Erhitzen von Stoffen wie KNO 3 , Ag 2 CO 3 , HgO bzw. durch Zugabe von Braunstein M n 0 2 zu Vitriolöl H 2 SO 4 , Priestley durch Erhitzen des zuvor aus Luft und Quecksilber gewonnenen Oxids HgO. (Priestley schreibt: "Meine Leser werden sichnicht wundern, dass ich nach Prüfung der Güte der neuen Luft durch Mäuse Neugier empfand, sie selbst zu kosten. Die neue Luft vermittelte meinen Lungen kein wesentlich anderes Gefühl als normale Luft, aber ich bildete mir ein, dass meine Brust besonders leicht würde. Wer weiß, ob diese neue Luft nicht eines Tages ein moderner Luxusartikel wird? Das Privileg, sie einzuatmen, hatten bisher nur 2 Mäuse und ich). Antoine Lavoisier erkannte die Elementnatur des neuen Gases und führte die Phlogiston-Theorie damit ad absurdum. Dem neuen, zunächst als ,,Lebensluft" bezeichneten Element, gab er 1877 den Namen „Oxygen", da er glaubte, es sei ein essentieller Bestandteil aller Säuren: oxys (griech.) = scharf, sauer; geinomai (griech.) = ich stelle her (es wird empfohlen, auch in Deutschland anstelle von Sauerstoff den Namen Oxygen, von dem sich das Elementsymbol O ableitet, zu gebrauchen). In der Folgezeit erkannte M . F a r a d a y 1848 den paramagnetischen Charakter von Sauerstoff, verflüssigten L. Cailletet und R. Picet (unabhängig) 1877 erstmals Sauerstoff (Verflüssigung in der Technik durch C. von Linde ab 1896), entdeckten W.H. J. Childe und R. Mecke 1931 sowie G. Herzberg 1934 Formen von Singulett-Sauerstoff (Einführung als chemisches Reagenz durch H.Kautzky ab 1931), stellte L.Vaska 1963 erstmals einen 02-Komplex dar und bewiesen F. Cacace et al. 2001 die Existenz von Tetrasauerstoff. Physiologisches Sauerstoff ist - abgesehen von einigen Bakterienarten (,,Anaerobier") - für alle Organismen lebensnotwendig. Der Mensch veratmet täglich 900 g 0 2 (0.3 Tonnen pro Jahr). Atem-Gasgemische mit O 2 -Partialdrücken < 0.08 bar führen bei ihm zur Bewusstlosigkeit und schließlich zur Erstickung. O 2 -Partialdrücke > 0.6 bar wirken für ihn toxisch (Bildung von schädlichem Hyperoxid O 2 , das nicht rasch genug durch das Enzym ,,Hyperoxid-Dismutase"" abgebaut werden kann).
1. Der Sauerstoff
499
Bei Temperaturerhöhung auf 700°C (oder bei Druckverminderung) gibt das so gebildete Bariumperoxid in Umkehrung dieser Reaktion unter Rückbildung von Bariumoxid den gebundenen Sauerstoff wieder ab. Dieses Verfahren der Sauerstoffgewinnung aus Luft („Brin'sches Bariumperoxid-Verfahren") war früher die einzige technische Methode der Sauerstoffgewinnung und machte den Sauerstoff ab 1886 als erstes technisches Gas verfügbar. Auch die N a t u r bedient sich der dem Brin'schen Verfahren zugrundeliegenden Methode der Sauerstoffgewinnung über eine Sauerstoffverbindung, die sich aus einem geeigneten chemischen Stoff in Anwesenheit von Luft bildet und den gebundenen Sauerstoff leicht wieder abzugeben imstande ist. Einen derartigen Stoff stellt in der belebten Natur etwa der dunkelrote Blutfarbstoff (,,Hämoglobin" Hb) ein Komplex des zweiwertigen Eisens Fe2 + - dar, der im Zuge der Atmung gemäß höherer O,-Druck
Hb (Fe") + 0 2 ; = =
niedrigerer O 2 -Druck
Hb (Fe • 0 2 )
den Sauerstoff der Luft unter Normalbedingungen (Atmosphärendruck) in den menschlichen bzw. tierischen Lungen bindet (Bildung von hellrotem Oxyhämoglobin) und bei niedrigerem Druck in den Gewebszellen wieder abgibt (vgl. S. 1662, 1766). Statt durch Luftzerlegung lässt sich der Sauerstoff auch durch Zerlegung des Wassers in seine Bestandteile gewinnen. Er fällt hierbei in der Technik als Nebenprodukt der - in Ländern mit billigem Strom betriebenen - elektrochemischen Darstellung des Wasserstoffs aus Wasser an (vgl. S. 260). Die H 2 0-Elektrolyse ist insbesondere auch für die Gewinnung von l s 0 2 aus H 2 ls 0-angereichertem Wasser bedeutungsvoll (durch fraktionierende H 2 0-Destillation lässt sich H 2 i g 0 bis zu einem Gehalt von 97 Mol-% anreichern). Analog dem Wasser können auch andere Sauerstoffverbindungen durch Zufuhr von Energie unter Bildung von Sauerstoff gespalten werden. So geben z.B. die 0xide der Edelmetalle schon bei verhältnismäßigschwachem Erwärmenihren Sauerstoff ab, z. B. Ag20 und Au 2 0 3 oberhalb 160 °C. Ein weiteres Beispiel für diese Spaltung von Metalloxiden - die auch zur Entdeckung des Sauerstoffs führte (S. 12) - stellt die Zersetzung des Quecksilberoxids (2HgO -> 2Hg + 0 2 ) dar. Statt der teuren Edelmetalloxide lassen sich darüber hinaus eine Reihe wohlfeilerer Sauerstoffverbindungen der Nichtmetalle wie Kaliumchlorat KCl0 3 (s. dort), Bariumperoxid Ba0 2 (s. oben) oder Chlorkalk Ca0Cl 2 (s. dort) unter 0 2 -Entwicklung thermisch zersetzen. Die zweckmäßigste L a b o r a t o r i u m s m e t h o d e zur raschen Gewinnung von sehr reinem Sauerstoff ist (neben der Elektrolyse von Wassser) die katalytische Zersetzung von Perhydrol H 2 0 2 (vgl. S. 533), soweit nicht der in Stahlflaschen erhältliche Sauerstoff genügt In den grünen Pflanzen werden in der Natur durch ,,Assimilation" (vgl. S. 502, 1232) Wasser und Kohlendioxid in Gegenwart von Sonnenlicht in Sauerstoff und Kohlenhydrate verwandelt (beide 0-Atome vom gebildeten Sauerstoff 0 stammen hierbei - wie Studien mit H180 ergaben - aus dem Wasser). Tatsächlich geht der gesamte atmosphärische Sauerstoff auf die Assimilation zurück (S. 516). Sauerstoffgewinnung auf physikalischem Wege Sauerstoff (sowie Stickstoff und die Edelgase) werden heute in der Technik durch fraktionierende Destillation flüssiger Luft nach dem „LindeVerfahren" erzeugt, welches zum Ende des 19. Jahrhunderts von C. v. Linde (Deutschland) sowie - unabhängig - von W. H a m p s o n (England) aufgefunden und später durch G. Claude (Frankreich) verbessert wurde (s. unten). Erzeugung flüssiger Luft. Zur Luftverflüssigung, die wegen des niedrigen Tripelpunkts von Sauerstoff (— 128.4°C) und Stickstoff (— 147.0°C) nicht durch Druck allein erfolgen kann, bedient man sich des „Joule-Thomson-Effekts": J.P.Joule und W.Thomson beobachteten 1852, dass sich komprimierte reale Gase unterhalb der so genannten ,,Joule-Thomson-Temperatur" TJT bei einer Entspannung von A bar u m A / W a n g - />Ende = P «Anfang " «Ende = «°C g e m ä ß d e r F a u s t r e g e l A t = H • AP • [273/(273 + W a n g ) ] ' abkühlen („Joule-Thomson-Koeffizient" ^ = positiv unterhalb und negativ oberhalb TJT; für Gase ist abgesehen von H2 und He - \i bei Raumtemperatur positiv: ^ = 16 K (He), 193 K (H2), 850 K (N2), 1040 K (02), 2000 K (C02). Auch bei sehr hohen Druckdifferenzen ist die Luftverflüssigung nicht durch ein einmaliges Expandieren zu erreichen (ca. '/t °C pro Bar Ap). Man vereinigt daher nach Carl von Linde (1842-1934) durch Anwendung des,,Gegenstromprinzips" die Wirkung beliebig vieler Expansionen mithilfe einer ,,Linde-Maschine" (Fig. 140) wie folgt: Die auf ca. 200 bar komprimierte und mittels Kühlwasser von Kompressionswärme befreite Luft wird über ein Drosselventil wieder auf den ursprünglichen Druck entspannt, wobei eine Abkühlung von etwa 45 °C auf — 30 °C eintritt. Die abgekühlte Luft wird dann in einem Wärmeaustauscher zur Vorkühlung nachströmender Luft genutzt, die nach Kompression, Wasserkühlung und Entspannung auf eine tiefere Temperatur abgekühlt wird usw. Der Luftabkühlungs-
500
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
effekt lässt sich nach G. Claude dadurch deutlich verbessern, dass das Gas unter Arbeitsleistung expandiert wird. Eigenschaften flüssiger Luft Flüssige Luft wird zur Verhinderung zu raschen Verdampfens in doppelwandigen,,Dewar-Gefäßen" aufbewahrt (Zwischenräume evakuiert und metallisiert (z. B. versilbert), vgl. ,,Thermosflaschen" bzw. nicht metallisierte ,, Weinholdgefäße"). Sie ist in frischem Zustand praktisch farblos und nimmt im Laufe der Zeit - wegen Absiedens des flüchtigeren farblosen Stickstoff - mehr und mehr die blaue Farbe flüssigen Sauerstoffs an. Bringt man Stoffe mit flüssiger Luft zusammen, so ändern sich deren Eigenschaften deutlich, z. B. die Farbe (Aufhellung gelber Schwefel wird kreideweiß), die Elastizität (ein aufschlagender Gummiball zersplittert; Glockentöne werden heller), die Leitfähigkeit (Kupfer wird stromleitender, vgl. Supraleitfähigkeit, S. 1425), die Oxidierbarkeit (glimmende Holzspäne verbrennen in fl. Luft mit heller Flamme). Trotz ihrer tiefen Temperatur kann man fl. Luft gefahrlos über die Hände gießen, da sich zwischen der warmen Hand und der kalten Flüssigkeit sofort eine schützende Dampfhaut bildet, welche die Kälte nur schlecht leitet („Leidenfrost'sches Phänomen"). Fraktionierende Destillation flüssiger Luft Der Verlauf der Fraktionierung flüssiger Luft geht aus dem in Fig. 141 wiedergegebenen Siedediagramm (Abszisse: Volumenprozente 0 2 /N 2 ; Ordinate: Temperatur) hervor, in welchem die Siedepunkte aller flüssigen 0 2 /N 2 -Mischungen als ,,Siedekurve" und die Kondensationspunkte (Taupunkte) aller dampfförmigen O2/N2-Mischungen als „Taukurve" eingetragen sind. Ersichtlicherweise besitzt bei einer bestimmten Temperatur der Dampf nicht die gleiche Zusammensetzung wie die Ausgangsflüssigkeit, sondern ist stets reicher an flüchtigerem, tiefer siedendem Stickstoff. So sieden etwa 60% O2/40% N2 bei — 190oC (Punkt A2 des Diagramms) unter Bildung eines Dampfes aus 30% O2/70% N2 (B2). Damit wird die Flüssigkeit sauerstoffreicher, womit sich ihr Siedepunkt erhöht. Im Zuge der Destillation bewegt man sich also auf der Siedekurve in Richtung A3 aufwärts. Würde die gesamte Flüssigkeit verdampfen, so besäße der Dampf letztendlich die Zusammensetzung 60 % 0 2 /40 % N2 (B4) (der letzte verdampfende Flüssigkeitstropfen hätte die Zusammensetzung A4). Man muss daher die Destillation schon dann unterbrechen (,,fraktionierende" Destillation), wenn der Dampf (die Flüssigkeit) eine Zusammensetzung zwischen B2 und B4 (zwischen A2 und A4) aufweist (vgl. B3 bzw. A4). Kondensiert man den Dampf B3 völlig, so erhält man eine Flüssigkeit A u welche beim Sieden schon einen sehr stickstoffreichen Dampf Bt (20% 0 2 /80% N2) ergibt. Beim völligen Verdampfen des flüssigen Anteils A3 entsteht andererseits ein Dampf B3, welcher beim Kondensieren zu einer sehr sauerstoffreichen Flüssigkeit A5 führt (90% 0 2 /10% N2). Durch wiederholte Destillation und Kondensation gelingt es schließlich reinen Sauerstoff im Destillationsrückstand und reinen Stickstoff im Destillat zu gewinnen. In der Technik wird diese ,,Rektifikation" der flüssigen Luft in großem Maßstabe unter Verwendung selbsttätig wirkender Rektifikationsapparate durchgeführt. Die größten Anlagen haben heute eine Kapazität bis zu 200 000 m3 pro Stunde. Hierbei erfolgt die Verflüssigung der Luft (nach Abtrennung von Wasser, Kohlendioxid und Kohlenwasserstoffen, z. B. durch Molekularsiebe) beim Niederdruck-/Mit-
_r Wasserkühler -
°C -183
komprimierte Luft expandierte Luft
dampfförmig
-186
Luft ^Anfang
-187
-
P Anfang
-188
-
%— Drosselventil Verdichter (Kompressor)
J l iA r
-185
Gegenströmer (Wärmeaustausch)
~L
-
-184
Ende
_ 189 -
||F|ff *
-190
B2
-191
/
P Ende
flüssige Luft
Fig. 140 Schematische Darstellung der Luftverflüssigung nach Linde
3
Taukurve ^ N v N v ^
/^Siedekurve
A2
Jll
-192 -193 -194
flüssig
-195 -196
1 0
Fig. 141 Fraktionierende Destillation und Kondensation von Sauerstoff-Stickstoff-Gemischen
I
1
1
10 20 30 40 50
J_ J_ 100 90 80 70 60 50
L
L 1
60 70 80 90 100% 0 2 _L 40 30 20
J 10 0 % N 2
1. Der Sauerstoff
501
teldruck-/Hochdruck-Verfahren (letzteres veraltet) um 40/60/ > 100 bar. Heute haben auch Verfahren an Bedeutung gewonnen, welche zur Trennung der Luft die unterschiedliche Adsorptionsstärke oder Geschwindigkeit von 0 2 und N2 an (Zeolith- bzw. Kohlenstoff-)Molekularsieben ausnutzen. In den Handel kommt der Sauerstoff in (blau gestrichenen) Stahlflaschen (,,Bomben") mit Rechtsgewinde unter einem Druck von 200 bar. Der Transport kann auch als Flüssigkeit in kälteisolierten Kesselwagen (bis 20 m 3 ) erfolgen und die Flüssigkeit von dort in Standtanks (bis 100 m 3 ) übergepumpt werden
Physikalische Eigenschaften Sauerstoff ist bei gewöhnlicher Temperatur und unter normalem Luftdruck ein farb-, geruch- und geschmackloses Gas (in sehr dicker Schicht bläulich). Durch starke Abkühlung lässt er sich zu einer hellblauen Flüssigkeit verdichten, welche bei — 182.97°C (90.18 K) siedet und bei — 218.75°C (54.40 K) zu hellblauen, kubischen Kristallen (y-0 2 ) erstarrt (unterhalb — 249.26 °C und — 229.35°C existieren noch eine monokline (a-0 2 ) und eine rhomboedrische (/?-02) Modifikation sowie Hochdruck-Modifikationen (z. B. e-0 2 bei 0.6Mbar). Bei Drücken von 2Mbar soll Sauerstoff in eine metallische Form übergehen. Der Tripelpunkt liegt bei — 128.4 °C). Die Dichte des gasförmigen Sauerstoffs (0°C, 1 atm, 45° geographischer Breite) beträgt 0.001429, die des flüssigen Sauerstoffs (beim Siedepunkt) 1.140 und die des festen Sauerstoffs (bei — 252 °C) 1.426 g/cm3. Fester Sauerstoff ist also rund 1000 mal schwerer als gasförmiger. In 100 Volumina Wasser lösen sich bei 0°C 4.91, bei 20 °C 3.05, bei 25°C 2.75 und bei 100°C 1.70 Raumteile Sauerstoffgas, was für die Atmung der Meerestiere ausreicht. In organischen Medien ist die O2-Löslichkeit ca. 10-mal höher (z. B. in 100 Volumina Benzol/Aceton/Tetrachlorkohlenstoff/Diethylether 22.3/28.0/30.2/45.0 Raumteile 0 2 Gas Struktur. Der Sauerstoff 0 2 ist im gasförmigen, flüssigen und festen Zustand paramagnetisch (TriplettZustand) und weist eine für eine Doppelbindung sprechende hohe 00-Dissoziationsenergie von 498.34 kJ/mol (Einfachbindung: ca. 200 kj/mol) 5) bzw. kurze 00-Bindungslänge von 1.20741 Ä auf (Einfachbindung: 1.48 Ä). Sauerstoff sollte demgemäß durch die Valenzstichformel (a), nicht jedoch durch die für angeregten Singulett-Sauerstoff (S.510) zutreffende Formel (b) charakterisiert werden: (a) Ö ^ Ö
(b) 0 = 0
Bezüglich weiterer physikalischer Daten vgl. Tafel III, bezüglich der elektronischen Struktur Farbe, Anregung und Dissoziation von Sauerstoff S. 509, 511, 513.
Chemische Eigenschaften Thermisches Verhalten Sauerstoff (exakter: Triplett-Sauerstoff 3 0 2 ) stellt einen thermisch stabilen Stoff dar, der erst bei relativ hohen Temperaturen in 0-Atome dissoziiert und sich in geringem Ausmaße in -Moleküle (0zon umwandelt 498.3kJ + 0 2
20;
0 2 + 0 ±5 0 3 + 106.5kJ.
So beträgt die O2-Dissoziation bei 2100/3900/4700/5750K und 1 bar < 1%/50%/> 90%/>99% und die um 3500 K erreichbare Maximalausbeute an 0 3 weniger als 1%. Der thermisch vergleichsweise leicht erfolgende Austausch von 0-Atomen in O2-Moleküle gemäß 0 0 + 0 * 0 * ^ 2 0 0 * (£a ca. 170 kJ/mol) wickelt sich offenbar nicht in Stufen über 0-Atome, sondern konzertiert ab (S. 404). Die-wohl geringfügig exotherme - Assoziation von O2- zu 0 4 -Molekülen erfolgt in geringem Ausmaße erst bei tiefen Temperaturen in flüssigem bzw. festem Sauerstoff (vgl. S. 514). Redox-Verhalten. Allgemeines. Wie auf S.45 bereits angedeutet wurde, verbindet sich g a s f ö r m i g e r Sauerstoff 0 2 , der einen t h e r m i s c h sehr stabilen, erst bei relativ hohen Temperaturen in 0 - A t o m e zerfallenden Stoff darstellt (vgl. S. 385) 5 , mit allen Elementen außer He, Ne, Ar und K r zu (isolierbaren) Sauerstoffverbindungen. Vielfach verlaufen diese RedoxReaktionen sogar unter erheblicher Energieabgabe (häufig: Wärmeentwicklung und Feuererscheinung). Als Beispiele derartiger „Verbrennungsvorgänge" wurden bereits die Umsetzungen von Sauerstoff mit Wasserstoff (Knallgasreaktion, vgl. S. 267 und 392), Kohlenstoff, Schwefel, Phosphor, Eisen und Magnesium behandelt (vgl. S. 45). Das Bestreben zu Wasserstoff ist dabei so groß, dass sich auch viele E l e m e n t w a s s e r s t o f f e mit Sauerstoff zu Wasser unter gleichzeitiger Bildung von Elementen bzw. Elementoxiden umsetzen (S. 294). So verbrennen etwa Kohlenwasserstoffe bzw. Kohlenwasserstoffgemische (z.B. Benzin) bei
502
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Sauerstoffzufuhr zu Wasser und Kohlendioxid, Ammoniak zu Wasser und Stickstoff (vgl. Ammoniakverbrennung, S. 730) oder Chlorwasserstoff zu Wasser und Chlor (vgl. DeaconVerfahren, 436). Noch stärker oxidierend als gasförmiger wirkt f l ü s s i g e r Sauerstoff(s. oben). Wichtige s a u e r s t o f f v e r b r a u c h e n d e Prozesse sind in der Umwelt neben der - u.a. zur Wärmeerzeugung sowie zum Antrieb von Motoren in Technik und Haushalt genutzten Verbrennung von Kohle bzw. Kohlenwasserstoffen (Erdöl, Erdgas) vor allem die - zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur und der Lebensvorgänge von 0rganismen in der Natur genutzte Verbrennung von Nahrungsmitteln (z.B. Kohlenhydrate C m (H 2 0)„ wie Zucker, Stärke, Zellulose). Auch die Verwesung bzw. Vermoderung stellt einen wichtigen, sauerstoffverbrauchenden Prozess dar. Es müsste demnach infolge dieser Verbrennungsvorgänge eine dauernde Abnahme des Sauerstoff- und Zunahme des Kohlendioxid- und Wassergehaltes der Atmosphäre zu beobachten sein, wenn nicht ein entgegenwirkender sauerstoffliefernder Prozess stattfände, der in Umkehrung der Verbrennungsvorgänge unter Aufnahme von Energie Kohlendioxid und Wasser wieder in Kohlenhydrate (bzw. andere Kohlenstoffverbindungen) und Sauerstoff verwandelt. Dieser regulierend wirkende Vorgang ist die „Assimilation" der Pflanzen, bei welcher unter der Einwirkung des vom Blattgrün (Chlorophyll) absorbierten Sonnenlichtes das in der Luft oder im Wasser enthaltene Kohlendioxid u. a. in die Kohlenhydrate Zucker und Stärke verwandelt wird, die sich als Reservestoffe in den Pflanzen ablagern (vgl. S. 1232): Kohlenhydrate + Sauerstoff ^
Dissimilation (Tiere)
^ Kohlendioxid + Wasser + Energie .
Assimilation (Pflanzen)
Die Pflanzen dienen dann wieder Menschen und Tieren zur Nahrung, werden erneut mittels des durch den Blutfarbstoff(Hämoglobin) herangeführten Sauerstoffs,,veratmet" (,,Dissimilation ''), und so beginnt der Kreislauf des Sauerstoff von neuem. Dieser ist in seinen Teilen so ausgeglichen, dass - soweit unsere Messgenauigkeit und Erfahrung bisher reichen - der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre (vgl. S.514) konstant bleibt. Je höher beispielsweise infolge der Verbrennungsprozesse der Kohlendioxidund Wasserdampfgehalt der Luft ansteigt, um so größer wird auch unter sonst gleichen Bedingungen die Assimilationstätigkeit der Pflanzen. Hinzu kommt, dass die jährlich in der geschilderten Weise im Kreislauf befindliche Sauerstoffmenge (10" t) verhältnismäßig gering ist im Vergleich zu der in der Atmosphäre vorhandenen (10i51). Allerdings nimmt Sauerstoff nicht nur an dem erwähnten Cyclus, sondern zusätzlich an einem ,,0zon-Kreislauf" teil (S.516), wodurch die jährlich umgesetzte O2-Menge größer ist. Tatsächlich wird jedes Sauerstoffmolekül etwa alle 2000 Jahre durch ein anderes ersetzt. Kinetische A s p e k t e Reaktionen mit gasförmigem Sauerstoff wie die vorstehend beschriebenen Verbrennungsvorgänge verlaufen im Allgemeinen erst bei erhöhter Temperatur mit ausreichender Geschwindigkeit und müssen infolgedessen durch „ Z ü n d u n g " in Gang gebracht (Anzünden von Holz, Kohle, Benzin, Schwefel usw.) oder durch „Katalysatoren" beschleunigt werden (vgl. die durch Platin katalysierte Knallgasreaktion, S. 267). Bei n o r m a l e r Temperatur verhält sich der Sauerstoff (genauer: „ T r i p l e t t - S a u e r s t o f f ' ' , S. 354) jedoch gegen viele oxidable Stoffe ausgesprochen r e a k t i o n s t r ä g e . So behält etwa das sehr starke Reduktionsmittel Natrium in wasserfreier Luft bei Raumtemperatur tagelang seinen metallischen Glanz. Das Alkalimetall kann sogar in trockenem Sauerstoff geschmolzen werden (Smp. 97.82°C), ohne sich zu entzünden. Die beachtliche Reaktionsträgheit des normalen Sauerstoffs bei nicht allzu hohen Temperaturen ist für die Existenz der ,,brennbaren" Lebewesen in der Erdatmosphäre von großer Bedeutung (vgl. hierzu den reaktionsfähigen, für Lebewesen äußerst giftigen, angeregten Sauerstoff (,,Singulett-Sauerstoff', S.353 und 510) oder das ebenfalls giftige 0 z o n (S. 504)). Tatsächlich setzt sich allerdings auch gasförmiger Sauerstoff in vielen Fällen bereits unter Normalbedingungen langsam mit oxidablen Stoffen um. Man nennt diese Erscheinung ,,stille Verbrennung'' (,,Autoxidation''). Hierzu gehören z.B. das Rosten und Anlaufen von Metallen, der stille Abbrand von Kohlehalden (das Vermodern von Holz und die Verwesungserscheinungen werden allerdings wesentlich durch Mikroorganismen verursacht). Setzt man die zu oxidierenden Stoffe in feinverteilter, oberflächenreicher Form bzw. den Sauerstoff in konzentriertem (flüssigem) Zustande ein, so wird die Geschwindigkeit von stillen Verbrennungen vielfach so erhöht, dass die nunmehr vermehrte zeitliche Wärmeabgabe zu einer Temperatursteigerung des Reaktionsgemischs führt, die ihrerseits wieder eine Reaktionsbeschleunigung bedingt usw. So kann es schließlich zur Explosion kommen (z. B. „Mehlstaubexplosion'', „Kohlenstaubexplosion", Explosion beim Vereinigen von flüssigem Sauerstoff mit vielen organischen Stoffen wie etwa Kohlenwasserstoffen).
1. Der Sauerstoff
503
Thermodynamische A s p e k t e Zum Unterschied von Umsetzungen des gasförmigen Sauerstoffs verlaufen viele 0xidationsreaktionen von in Wasser (bzw. anderen polaren Medien) g e l ö s t e m S a u e r s t o f f mehr oder minder ungehemmt. So oxidiert sich in luftgesättigtem Wasser Iodid zu Iod, Bromid zu Brom, Sulfid zu Schwefel, Eisen(II) zu Eisen(III), Chrom(II) zu Chrom(III). Der Sauerstoff wird hierbei zu Wasser reduziert (vgl. S.267): 02 + 4H+ + 4 ©
2H20.
Die Reduktion erfolgt dabei in vielen Fällen stufenweise in Einelektronenschritten, wobei im Sinne der auf S. 525 wiedergegebenen Potentialdiagramme als erstes Reaktionszwischenprodukt das HyperoxidIon 0 2 (s. unten) bzw. dessen Protonenaddukt entsteht (0 2 + © 0 2 bzw. 0 2 + H + + © H02; p.K s (H0 2 ) ca. 2). Das stark oxidierend wirkende O 2 -Ion, das auch bei vielen biologischen O 2 -0xidationsreaktionen entsteht, wird dann weiter zum ein- bzw. zweifach protonierten Peroxid-Ion O 2 " reduziert ( 0 2 + H + + © 0 2 + BF 4 (O2+ AsFJ);
280°C
0 2 + f F2 + PtF5
> 0 2 + PtFJ .
Die auf den beschriebenen Wegen erhaltenen, stark oxidierend wirkenden und zum Teil in wasserfreiem flüssigen Fluorwasserstoff löslichen Dioxygenyl-Salze O2 MF 4 (M z.B. B), 0 2 M F 5 (M z.B. Ge), 0 2 MF 6 (M z.B. P, As, Sb, Bi, V, Rh, Pt) oder (O 2 ) 2 MF 6 (M z.B. Sn) sind thermisch mehr oder minder instabil (z.B. O 2 PF 6 : Zers. ab — 80°C, 0 2 BF 4 ; Zers. ab 0°C, 0 2 AsF 6 : Zers. ab 130°C, 0 2 SbF 6 : Zers. ab 280 °C), wobei der Zerfall auf dem Wege O2MF„ -> MF — i + O 2 F ( ^ 0 2 + '/jF 2 ) erfolgt. Zur elektronischen Struktur des O 2 -Ions s. weiter unten. Versuche zur Überführung von Ozon in das Trioxygen-Monokation O3 (,,Trioxygenyl") z.B. gemäß O 3 + PtF 6 O J P ^ führten bisher zu keinem Erfolg, obwohl die Ionisierungsenergie von 0 3 (12.43 eV) fast der von 0 2 (12.07 eV) entspricht. Das Kation 03+ lässt sich aber im Massenspektrometer durch Elektronenstoß aus 0 3 ebenso erzeugen wie die Kationen 0 + , O? undO^ ausO 2 (O 2 + e~ -^0 2 + + 2e~ ^ 0 + + O + 2e"; O2+ + 0 2 ^ 0 4 + + Energie; bzgl. der Neutralisation von O^ zu Tetraoxygen 0 4 vgl. S. 514).
Sauerstoff-Anionen. Oxide. Die Sauerstoffverbindungen der Metalle (s. dort) enthalten das - mehr oder weniger stark polarisierte - Oxid O 2 " (Rauchquarz enthält neben „Oxid-Dianionen" O 2 " auch das „OxidMonoanion" O " in kleiner Konzentration, S.174). Das Dianion O 2 " ist in Wasser instabil (O 2 _ + H 2 0 -> 2 O H ) , existiert aber in Schmelzen von Metalloxiden sowie von Salzen der Elementsauerstoffsäuren und spielt in diesen oxidionenaktiven Medien als Base eine ähnliche Rolle wie das Kation H + als Säure in protonenaktiven Lösungsmitteln. Hierbei ist der Zusammenhang von Säuren und Basen im ,,Protosystem" (J.N. Brönsted 1923, T.M. Lowry 1923) durch die Gleichung (a) (Säuren = Protonendonatoren; Basen = Protonenakzeptoren), im „Oxosystem" (H. Lux 1939, H. Flood 1947) durch die Gleichung (b) definiert (Basen = Oxidionendonatoren, Säuren (Antibasen) = Oxidionenakzeptoren). Lux-Flood-Basen sind z. B. Baseanhydride wie CaO ( C a ( O H ) 2 C a O + H2O), Lux-Flood-Säuren Säureanhydride wie Si0 2 (H4Si04 £> Si0 2 + 2H 2 O). H + -Abgabe
(a) Säure ; =+ =
" Base + H + ;
H -Aufnahme
0 2 ~-Abgabe
(b) Base .. 2 _ O
" Säure + O2" .
-Aufnahme
Ähnlich wie im Protosystem lässt sich auch im Oxosystem eine ,,Spannungsreihe" aufstellen, aus dem das Bestreben der Abgabe bzw. Aufnahme von Oxid-Ionen hervorgeht. Starke Basen, sind etwa die Alkalimetalloxide, mittelstarke Basen Oxide wie ZnO oder CuO, mittelstarke Säuren Oxide wie Si0 2 oder B 2 0 3 und starke Säuren Nichtmetalloxide (stärkste Base: Cs2O; stärkste Säure: C1207; amphoteren Charakter haben A1203 oder Fe203). Die Potentiale zweier korrespondierender Säure-Base-Paare („SäureBase-Halbreaktionen") ermöglichen Vorhersagen über Reaktionen zwischen oxidhaltigen Spezies. So ergibt sich etwa, dass Fe2(CO3)3 nicht existiert, da die Übertragung von Oxidionen des Eisen(III)-oxids auf C O gemäß Fe 2 0 3 + 3C0 2 £> Fe2(CO3)3 ein endergonischer Prozess ist (vgl. S. 49). Andererseits wirkt amphoteres A1203 hinsichtlich S 2 0 2 " als 0 2 "-Donator (A1203 + 3 S 2 0 2 ~ 2A13+ + 6SO;j~) und hinsicht2 lich CO2" als 0 ~-Akzeptor (A1203 + CO2~ ^ 2Al02~ + CO), sodass sich A1203 sowohl durch Schmelzen mit Na 2 S 2 0 7 als auch mit Na2CO3 ,,sauer" bzw ,,alkalisch" aufschließen lässt (vgl. S. 1138). Das gelbe Hyperoxid 0 2 (früher auch: „Superoxid") liegt in den gelben bis orangefarbenen, ionisch aufgebauten Alkali- und Erdalkalimetallsalzen N a O 2 , K 0 2 , R b O 2 , CsO 2 , M g ( O 2 ) 2 , C a ( O 2 ) 2 , Sr(O 2 ) 2 , B a ( O 2 ) 2 vor (Darstellung u. a. aus den Elementen; vgl. S. 537,1175). Beim Lösen der Hyperoxide in Wasser zersetzen sich diese unter Abgabe von Sauerstoff: 2 O 2 + 2 H 2 0 -> 0 2 + H 2 0 2 + 2 O H ~ (die Reaktion erfolgt wohl über - seinerseits disproportionierendes - Perhydroxyl: demgemäß ist 0 2 in stark alkalischem Milieu bzw. aprotischen Lösungsmitteln metastabil). In analoger Weise zerfallen die Hyperoxide beim Erhitzen unter Sauerstoffentwicklung. Es entstehen hierbei Salze M 2 0 2 und M 1 1 0 2 , (man kennt auch L i 2 0 2 ; vgl. S. 537, 1285), die das farblose Peroxid O enthalten
1. Der Sauerstoff
,00 ^OOO BO
1.49 1.0
1.33 1.5 (a)
1.21 2.0
1.12Ä 2.5
509
1.35 1.28 ? : £ 0 0 0 113.5 116.8 ? BO 1.25 1.50 1.50 (b)
Fig.143 Energieniveauschemata (a) der Molekülorbitale von Peroxid O2", Hyperoxid O 2 , TriplettSauerstoff 3 0 2 und Dioxygenyl 0 2 ; (b) der 7i-Molekülorbitale von Ozonid O3 , Ozon 0 3 und Trioxygenyl O3 (vgl. hierzu S. 354 und 370; BO = Bindungsordnung).
Mit dem Übergang des Sauerstoffmoleküls in das Hyperoxid- sowie Peroxid-Ion vergrößert sich der OO-Abtand jeweils um über 0.1 Ä (vgl. Fig. 143 a). Diese Abstandsvergrößerung entspricht einer von der MO-Theorie geforderten Erniedrigung der OO-Bindungsordnung; denn der Übergang 0 2 02 0 2 " ist gemäß Fig. 143 a jeweils mit der Aufnahme eines zusätzlichen Elektrons in das antibindende 7i*-Molekülorbital verbunden, wodurch die OO-Bindungsordnung von 2 beim Sauerstoff über 1.5 beim Hyperoxid bis 1 beim Peroxid vermindert wird (vgl. S.354). Umgekehrt erhöht sich beim Übergang vom Sauerstoff 0 2 zum Disauerstoff-Kation O 2 die Bindungsordnung um 0.5 auf 2.5, da der Übergang mit der Abspaltung eines antibindenden n*-Elektrons verknüpft ist. Demgemäß ist der OO-Abstand im Disauerstoff-Ion 0 2 (zur Bildung s. weiter oben) kleiner als im Sauerstoffmolekül (vgl. Fig. 143 a). Analog den in der Reihe O 2 , 0 2 , 0 2 , O2" wachsenden Bindungslängen fallen in gleicher Richtung die Kraftkonstanten (16.0, 11.4, 6.2, 2.8 N/cm), Schwingungsfrequenzen (1860, 1555, 1145, 770 / cm) und Dissoziationsenergien (628, 499, 398, 126 kJ/mol). Aus Fig. 143 a folgt darüber hinaus, dass bis auf O2" alle genannten Teilchen paramagnetisch sind. In ,,elektrovalenten Verbindungen" M n O p oder ,,Komplexen" (LmM)„Op weist O 2 " die Koordinationszahlen eins bis acht auf (vgl. S. 514, 1159), während O2" zwei bis sechs Partner koordiniert (vgl. S. 1767). Neben den Anionen O 2 " , 0 2 und O 2 " existiert von Sauerstoff auch noch rotes Ozonid O J , das den intensiv roten Salzen M O (M = N a , K, Rb, Cs, N M e 4 ) zugrunde liegt (Darstellung u.a. aus M O und O 3 ; vgl. S. 1175). Die Ozonide werden von Wasser äußerst heftig unter Sauerstoffentwicklung zersetzt ( 2 0 3 + H 2 0 -> 2 1 / 2 0 2 + 2 0 H ~ ) und gehen beim gelinden Erwärmen in Hyperoxide M O über ( 2 0 3 - > 2 0 2 + 0 2 ) . Das mit Cl0 2 isoelektronische, paramagnetische Ozonid-Ion ist gewinkelt gebaut (C2v-Symmetrie; vgl. S. 484). Der OOO-Winkel beträgt 113.5° (K0 3 ) (zum Vergleich: OOO-Winkel in 0 3 = 116.8°). Der OO-Abstand (Bindungsordnung: 1.25) ist mit 1.346 A ( K O ) größer als der OO-Abstand in Ozon (1.278 Ä; Bindungsordnung = 1.5). Ein gewinkelter Bau der Teilchen O3 , 0 3 und O3 (bisher keine Verbindungsbeispiele) mit 19, 18 und 17 Elektronen ergibt sich auch über eine MO-Betrachtung (vgl. Tab.46 auf S. 358; der Übersichtlichkeit halber sind in Fig. 143b nur die 71 -MOs des Molekülorbital-EnergieniveauSchemas (vgl. S. 370) wiedergegeben). Aus Fig. 143bfolgt zudem die OO-Bindungsverkürzung und OOOWinkelvergrößerung beim Übergang von O3 zu 0 3 (Abspaltung eines 71 *-Elektrons; Annäherung an 16Elektronenmoleküle AB mit linearem Bau).
1.1.4
Kurzlebige Sauerstoffspezies
Nachfolgend sei zunächst auf den Singulett-Sauerstoff, eine vergleichsweise langlebige F o r m des angeregten Triplett-Sauerstoffs, dann auf die durch Lichtabsorption und -streuung bedingte blaue Farbe von 0 2 und schließlich auf den - u. a. photolytisch aus 0 2 erzeugbaren - atomaren Sauerstoff (Monosauerstoff) sowie den - durch Ionisation und Neutralisation im Massenspektrometer erzeugbaren - Tetrasauerstoff eingegangen.
510
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Singulett-Sauerstoff 3' 9 Während der atmosphärische Sauerstoff unter normalen Bedingungen reaktionsträge ist und die chemischen Stoffe der lebenden und nichtlebenden Umwelt nur sehr langsam oxidiert (s. S. 502), wandelt er sich im Sonnenlicht bei Anwesenheit geeigneter Farbstoffmoleküle in eine aggressive Form um, die etwa Farben bleicht, Kunststoffe vergilbt und Lacküberzüge zum Abblättern bringt. Das eigentliche Agens bei diesen Vorgängen ist der ,,Singulett-Sauerstoff" 1 0 2 (früher auch: „Orthosauerstoff"), der sich vom normalerweise vorliegenden ,,TriplettSauerstoff" 3 0 2 (früher auch: „Parasauerstoff") dadurch unterscheidet, dass die beiden antibindenden n*-Elektronen nicht wie im Falle von 3 0 2 den gleichen, sondern einen e n t g e g e n g e s e t z t e n Spin aufweisen (vgl. Fig.143 a). Dabei existiert der Singulett-Sauerstoff seinerseits in zwei energetisch unterschiedlichen Formen. Im energieärmeren Zustand besetzen die beiden entgegengesetzt gerichteten n*-Elektronen als Paar ein n*-Molekülorbital (das zweite n*-Molekülorbital ist elektronenleer), im energiereicheren Zustand dagegen einzeln jedes der beiden 7i*-Molekülorbitale. Erstere 1 0 2 - F o r m ist um 94.72 kJ/mol, letztere um 157.85 kJ/mol energiereicher als die 3 0 2 - F o r m 1 0 ji* —$—
— $ —
+ 95 kJ/mol : > (8000 cm" 1 )
Triplett-Sauerstoff ( 3 Z~-Zustandio, r oo= 1.207 Ä)
+ 63 kJ/mol : > — $ — —-L— (5000 cm" 1 ) Singulett-Sauerstoff Singulett-Sauerstoff (^-Zustand^, (^-Zustand^, rGO = 1.216 Ä) r0 I t
(im vorstehenden Schema sind nur die Elektronenanordnungen in den n*-Molekülorbitalen veranschaulicht; bezüglich der Anordnungen in den übrigen O 2 -Orbitalen vgl. Fig.143 a). Der energiereichere Singulett-Sauerstoff ( 1 Z' + -O 2 ) ist sehr kurzlebig ( < 1 0 " 9 s) und verwandelt sich unter Energieabgabe hauptsächlich in den vergleichsweise langlebigen und infolge dessen chemisch wirksamen energieärmeren Singulett-Sauerstoff (*A g -O 2 ; T 1/2 ca. 10~ 4 s). Erzeugung Singulett-Sauerstoff kann auf photochemischem oder chemischem Wege gewonnen werden. Wegen der äußerst geringen Lichtabsorption von Triplett-Sauerstoff im geforderten Wellenzahlenbereich entsteht er allerdings durch direkte Bestrahlung mit Sonnenlicht nur in verschwindendem Ausmaße (s. u.). Die Absorption von Tageslicht lässt sich jedoch durch geeignete ('O2-stabile) organische Farbstoffe wie Methylenblau, Acridinorange, Eosin, Fluorescein oder Rose Bengale,,sensibilisieren" (vgl. S. 1466). Hierbei erfolgt die Lichtübertragung in der Weise, dass der Farbstoff-Sensibilisator S durch das eingestrahlte Licht zunächst in einen angeregten Singulett-Zustand 'S* übergeführt wird. Das angeregte SingulettMolekül 'S* verwandelt sich dann rasch unter Spinumkehr eines Elektrons („Interkombination", vgl. S. 378) in ein angeregtes Triplett-Molekül 3S*, welches seinerseits mit Triplett-Sauerstoff nach 3
S* (TT) + 3 o 2 ( U ) ^
IS(T^o2(T!)
unter Bildung von Singulett-Sauerstoff weiterreagiert. Wesentlich für den raschen Ablauf letzterer Reaktion ist dabei, dass die Umsetzung - wie gefordert (S. 402) - ohne Elektronenspinumkehr erfolgt (es wird nur jeweils ein Elektron des Sensibilisators und ein Elektron des Sauerstoffs vertauscht).
9
Literatur P. L e c h t k e n : , S i n g u l e t t - S a u e r s t o f f , Chemie in unserer Zeit 8 (1974) 11-16; A.A. Gorman, M.A. J. Rodgers: „Singlet Molecular Oxygen", Chem. Soc. Rev. 10 (1981) 205-232; W. Adam: „Die Singulettsauerstoff-Story", Chemie in unserer Zeit 15 (1981) 190-196; B. Ranby, J.F. Rabek (Hrsg.): ,,Singlet Oxygen: Reactions with Organic Compounds and Polymers", Wiley, Chichester 1978; H . H . Wasserman, R. Murray (Hrsg.), ,, Singlet Oxygen", Acad. Press, New York 1979; A.A. Frimer: „ The Reaction of Singlet Oxygen with Olefines: The Question of Mechanism", Chem. R e v 79 (1979) 359-387; A.A. Firmer (Hrsg.): ,,Singulett-O2CRC, Boca Raton FL, 1985; M . C . D e R o s a , R.J. Crutchley: ,,Photosensitized singlet oxygen and its applications", Coord. Chem. R e v 233/234 (2002) 351-371. 10 Die Charakterisierung des Elektronenzustandes zweiatomiger Moleküle erfolgt nach ähnlichen Regeln wie jene der Atome (vgl. S. 96). Statt der großen lateinischen Buchstaben S, P, D ... für die Bahndrehimpulsquantenzahlen werden große griechische Buchstaben 2, n , A ... als Symbole verwendet. Bezüglich der am Symbol oben links angebrachten Spinmultiplizität vgl. S.97. Die am Symbol rechts oben und unten stehenden Zeichen betreffen die Symmetrie der Gesamtwellenfunktion, welche den betrachteten Elektronenzustand des Moleküls beschreibt, und zwar hinsichtlich einer vertikalen Spiegelebene ( + , —) bzw. des Inversionszentrums (g, u).
1. Der Sauerstoff
511
Auf chemischem Wege entsteht Singulett-Sauerstoff häufig bei der thermischen - unter Erhalt des Gesamtspins erfolgenden (S. 402) - 0 2 -Eliminierung aus Molekülen M O , die Sauerstoff in Form von Peroxogruppen (O—O-Gruppen) vorgebildet enthalten: MO
M + H),
So erhält m a ^ 2 bei der Umsetzung von Hypochlorit mit Wasserstoffperoxid, die über die zersetzliche, unter O 2 -Abspaltung zerfallende Peroxohypochlorige Säure HOOCl führt: H—O—O—H
+ ClO"
C
-HO"
rasch -HCl'
10=0.
oder durch Thermolyse von (Ph0) 3 P0 3 ( ^ (Ph0) 3 P0 + ^ S.388) bzw. K 3 Cr v (0 2 ) 4 v 1 1 K 3 Cr 0 4 + 2 0 2 ). Besonders bequem lässt sich 0 2 - unter Vermeidung des Arbeitens in der Lösungsphase oder mit gefährlichen Ausgangsstoffen - durch Überleiten von HCl- oder HBr-Gas über käufliches Natriumperoxid erzeugen: 2Na 2 0 2 + 4HC1 2 H 2 0 + 4NaCl + 102. Eigenschaften Singulett-Sauerstoff 2 , der zum Unterschied vom paramagnetischen Triplett-Sauerstoff 3 0 2 diamagnetisch ist, stellt nur ein kurzlebiges Teilchen dar, welches in Abwesenheit geeigneter Reaktionspartner rasch (in durchschnittlich 10 " 4 s) in Triplett-Sauerstoff übergeht, wobei die gleichzeitig freigesetzte Energie u. a. in Form von Licht in Erscheinung tritt. Demzufolge ist etwa die Umsetzung von Hypochlorit mit Wasserstoffperoxid von einer Emission begleitet, die man mit dunkel adaptiertem Auge als roten Schimmer wahrnehmen kann Tatsächlich sind zwei Emissionen bei A = 633.4 und 759.6 nm zu beobachten. Die Emission kleinerer Wellenlänge geht auf den Übergang eines Paars von xO2-Molekülen (jeweils *Ag-Zustand, s. oben) in zwei -Moleküle zurück
'o 2 (TD + ' O j ( U ) -
3
O 2 ( T T ) + 3 O 2 ÜD +190kJ.
Der rasche Ablauf dieser Desaktivierungsreaktion beruht wieder darauf (vgl. photochemische x O^Erzeugung, oben), dass die Umsetzung ohne Elektronenspinumkehr erfolgt (S. 402). Die zusätzlich beobachtete Emission bei 759.6 nm geht auf den Übergang eines xO2-Moleküls aus dem -Zustand (s. oben) in den O 2 -Grundzustand zurück (Freisetzung von 158 kJ pro M o ^ 2 ) . Das beim Übergang eines 1 0 2 Moleküls aus dem 1Ag- in den O 2 -Grundzustand emittierte Licht liegt im nicht sichtbaren ultraroten Bereich (Freisetzung von 95 kJ pro Mol 1 0 2 = Emission bei 1263 nm). Singulett-Sauerstoff stellt ein sehr wirkungsvolles Oxidationsmittel dar und addiert sich zum Unterschied vom Triplett-Sauerstoff z.B. an viele organische Doppelbindungssysteme unter [2 + 2]- oder [2 + 4]-Cycloaddition (a, b) sowie unter En-Reaktion (c) (vgl. S.404 und Lehrbücher der organischen Chemie):
Photochemisch erzeugter Singulett-Sauerstoff wird in der chemischen Industrie (z. B. Riechstoffindustrie) im Tonnenmaßstab zur selektiven Oxidation genutzt. Auch in der lebenden Natur spielt er als Oxidationsmittel eine Rolle. So produziert etwa das Blattgrün (Chlorophyll) der Pflanzen im Sonnenlicht nicht nur Triplett-Sauerstoff durch Assimilation (vgl. S. 502), sondern es sensibilisiert auch den lichtinduzierten Übergang des erzeugten Sauerstoffs vom Triplett- in den Singulettzustand. Da Singulett-Sauerstoff das Blattgrün und andere Zellbestandteile oxidativ zerstört, stellt er ein Gift für die Pflanzen dar und muss mittels eines besonderen, von der Pflanze bereitgestellten Schutzstoffes (ß-Carotin) laufend desaktiviert werden. Als Folge der im Herbst nachlassenden Desaktivierung von 1 0 2 und der nunmehr möglichen oxidativen Zerstörung des Blattgrüns durch den Singulett-Sauerstoff werden uns dann alljährlich die herrlichen Herbstfarben der Blätter beschert
Farbe des Sauerstoffs Flüssiger und fester Sauerstoff erscheinen blau (s. oben). 0 2 entzieht hiernach dem weißen Licht rote bis grüne Farbanteile. Die noch verbleibenden Lichtanteile ,,sieht" man dann als charakteristische (blaue) Komplementärfarbe (vgl. S. 172). Die Ursache der farbbedingten Absorptionen ist offenbar nicht eine elektronische Anregung des Triplett-Sauerstoffs vom Grundzustand ( 3 I " ) aus in einen der oben besprochenen Singulett-Zustände (1Ag, 1Ig^)^, denn die betreffenen Übergänge (n* — n*-Übergänge) sind mit einer Umkehr des Elektronenspins verbunden und deshalb streng verboten (vgl. Spinerhaltungssatz;
512
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
S. 402). Dies bedingt eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit für die Vorgänge 0 2 ) + hv -> 0 2 Ag, ), d. h. sehr kleine molare Extinktionen der zugehörigen Absorptionslinien. Auch liegen die als „atmosphärische O2-Banden" (langwellige ,,Fraunhofer Linien") im Elektronenspektrum registrierbaren Übergänge (zwischen nicht schwingungsangeregten Zuständen) bei 1263 nm CAg) und 759.6 nm also im unsichtbaren infraroten bzw. an der Grenze zum sichtbaren Bereich. Energiereicher als %* — %*-Übergänge sind Vorgänge, bei welchen ein re-Elektron des molekularen Sauerstoffs in ein %*-Molekülorbital übergeht (% — %*-Übergänge): TT* — ^ — t
+ 4 3 2 kJ/mol
H ^ (36100 c m " i ) Triplett-Sauerstoff ( ^ " - Z u s t a n d , rOO = 1.207 Ä)
—f—
+ 1 5 9 kJ/mol
—f— (13260 c m " i ) angeregter Triplett-Sauerstoff f ! ^ - Z u s t a n d , roo= 1.42 Ä)
angeregter Triplett-Sauerstoff ( ^ " - Z u s t a n d , rOO = 1.60 Ä)
(im vorstehenden Schema sind nur die Elektronenanordnungen in den %- und %*-MOs veranschaulicht; bezüglich der Anordnungen in den übrigen O 2 -Orbitalen vgl. Fig. 143 a). Allerdings liegen die im Elektronenspektrum registrierbaren Übergänge vom Triplett-Sauerstoff-Grundzustand ( 3 I ~) u. a. in den angeregten Triplett-Zustand („Herzberg 02-Banden; verbotene Übergänge) bzw. („SchumannRunge 02-Banden"; erlaubte Übergänge) mit 277 bzw. 203 nm im unsichtbaren ultravioletten Bereich und sind folglich ebenfalls nicht die Ursache für die blaue Farbe von flüssigem oder festem Sauerstoff. Tatsächlich geht letztere auf erlaubte Elektronenübergänge zurück, bei denen zwei kollidierende 02-Moleküle simultan vom Triplett-Grundzustand (3I") wie folgt in angeregte Singulett-Zustände übergehen: a
^
2O 2 ( 3 Z s+ ) + h v '
+ 1 9 0 kJ/mol
-
(15840 c m " i )
> 2O 2 ( A );
a
^
2O 2 ( 3 Zs + ) + h v '
+ 2 5 3 kJ/mol
-
(21110cm"i)
,
,
^
> 02 2 ( 1 A8 J + 02 2 ( 1 Z8 + ).
Durch ersteren Vorgang werden weißem Licht rote, gelbe und grüne Anteile entzogen (ca. 630, 580, 540, 500 nm; es erfolgt zugleich eine Aufnahme von null, ein, zwei oder drei Schwingungsquanten), was zur charakteristischen blauen Farbe von flüssigem und festem Sauerstoff führt. Die Banden des zweiten Vorgangs (ca. 470, 450 nm usw.) sind von kleiner Intensität und deshalb von geringer Bedeutung für die -Farbe Gasförmiger Sauerstoff absorbiert praktisch kein sichtbares Licht (im sichtbaren Bereich liegen nur die extrem intensitätsschwachen Lichtabsorptionen, die einen Übergang zu schwingungsangeregtem 0 2 O-S^") führen (s.o.); die Bildung von 0 2 (*A g )-Paaren ist wegen der Seltenheit eines Dreierstoßes von zwei -Molekülen mit einem Photon in der Gasphase unwahrscheinlich). Die blaue Farbe der haltigen Atmosphäre kann hiernach also nicht auf der Bildung elektronisch angeregter Sauerstoffmoleküle beruhen. Der ,,blaue Himmel" geht vielmehr darauf zurück, dass Licht beim Durchstrahlen von Stoffen an den Elektronenhüllen der Stoffteilchen teilweise seitlich gestreut wird („Tyndall-Effekt" im Falle von kolloiden Lösungen „Rayleigh-Streuung" im Falle von Gasen, echten Lösungen, reinen Flüssigkeiten), wobei das gestreute Licht die Wellenlänge des einfallenden Lichts besitzt. Die Intensität der „unverschobenen Streustrahlung^n in Gasen wächst sehr stark mit abnehmender Wellenlänge des Lichts (rot < gelb < grün < blau). Dementsprechend leuchten die Teile des Himmels, von denen wir nur gestreutes Licht sehen blau (das Licht der Abendsonne, dem wegen des langen Weges durch die Atmosphäre alle Blauanteile durch Streuung entzogen sind, erscheint in der Komplementärfarbe rot). Die Streuintensität wächst zudem mit der Polarisierbarkeit der Gasmoleküle
11 Bei Durchstrahlung von Stoffen mit monochromatischem Licht erscheinen, wie der Physiker C.V. Raman 1928 entdeckte, neben der „unverschobenen Streustrahlung" noch zusätzliche Spektralbanden (,,verschobene Streustrahlung", „Raman-Streuung"), die bevorzugt zu kleineren Frequenzen (größeren Wellenlängen) hin verschoben sind und unabhängig von der Frequenz der Lichtquelle die gleichen Frequenzabstände von der Erregerlinie besitzen (,,Raman-Spektrum"). Der ,,Raman-Effekt", der 1923 vom deutschen Physiker A. Smekal vorausgesagt wurde, beruht darauf, dass die Photonen hv einf des einfallenden Lichts beim Zusammenstoß mit Molekülen nicht nur ,,reflektiert" werden (Rayleigh-Linie), sondern unter Schwingungsanregung auch einen Teil ihrer Energie an Moleküle abgeben können, sodass das gestreute Photon hv geslr (Raman-Linie) eine kleinere Energie besitzt als das einfallende: K i n f . —hv geslr , = h v e i n f . - v g e s l J = hv absorb .. Die Raman-Frequenzen v absorb . der absorbierten Energiemengen entsprechen den zur Anregung von Molekülschwingungen dienenden Energiequanten bei Bestrahlung mit infrarotem Licht. Da manche Linien, die im IR-Spektrum nicht auftreten („optisch inaktive" Linien), im RamanSpektrum vorkommen (,,ramanaktiv", ,,ramanerlaubt") und umgekehrt manche ,,ramaninaktive" (,,ramanverbotene") Linien im IR-Spektrum zu finden („optisch aktiv") sind, ergänzen sich IR- und Raman-Spektrum in vollkommener Weise. So ist etwa die Valenzschwingung des molekularen Sauerstoffs bei 1555 c m " i optisch inaktiv aber ramanerlaubt und lässt sich über das Raman-Streuspektrum bestimmen
1. Der Sauerstoff
513
Atomarer Sauerstoff Die energieärmeren Formen des Sauerstoffatoms (zwei fehlende Elektronen in der p-Außenschale) sind wie die des Kohlenstoffatoms (zwei Elektronen in der p-Außenschale) der 3 P-Grundzustand sowie die angeregten *D- und ^-Zustände (vgl. hierzu S. 96): 0( 3 P)
+ 190 kJ/mol (15870cm" 1 ) '
0 ( D)
+ 214 kJ/mol (17910cm"i) '
0(S).
Erzeugung. Gemäß Fig. 144, welche Potentialkurven von 0 2 in verschiedenen Zuständen ( 3 £~, 1Ag, 3 h Zu und 3 I " ; s. oben) wiedergibt, lässt sich Sauerstoff im Grundzustand ( 3 I " ) durch Zufuhr bestimmter Energiequanten in höhere Schwingungszustände, charakterisiert durch waagrechte Striche, überführen (z.B. werden 18.6 kJ/mol für die 1. Schwingungsanregung benötigt). Schließlich, nach Zufuhr von insgesamt 498 kJ/mol und Erreichung eines entsprechend hohen Schwingungszustandes, dissoziert 0 2 in zwei Sauerstoffatome 0 im Grundzustand ( 3 P). Die Anregung kann z. B. durch Einwirkung von Wärme, Mikrowellen oder elektrischen Entladungen erfolgen. Lichtenergie kann nur wirksam werden, falls diese vom O 2 -Molekül aufgenommen wird. Tatsächlich ist aber die optische Schwingungsanregung verboten. Entsprechendes gilt für die optische Elektronen- und zugleich Schwingungsanregung der - ebenfalls in 0( 3 P) zerfallenden - Zustände 1Ag, und (vgl. Fig. 144). Erlaubt ist demgegenüber die optische Anregung des - zugleich in 0 ( 3 P ) und 0 ( D ) zerfallenden - Zustandes 3 I ~ (vgl. Fig. 144), sodass sich also atomarer aus molekularem Sauerstoff außer durch Einwirkung von Mikrowellen und elektrischen Entladungen auch durch Bestrahlung mit kurzwelligem Ultraviolett (X < 242 nm) erzeugen lässt. Die Quantenausbeute der lichtinduzierten O 2 -Spaltung ist sogar vergleichsweise hoch, da bei vertikaler Anregung (Franck-Condon-Prinzip, vgl. S. 376) von 0 2 im Grundzustand gemäß Fig. 144 hochschwingungsangeregter Sauerstoff 0 2 ( 3 £~) entstehen muss (vgl. dünne senkrechte Linie). In analoger Weise wie aus molekularem Sauerstoff O2 entstehen Sauerstoffatome auch photolytisch aus Ozon 0 3 , Distickstoffoxid N 2 0 , StickstoffdioxidN02, KohlendioxidC02 und einigen anderen sauerstoffhaltigen Stoffen (vgl. S. 521). Eigenschaften Atomarer Sauerstoff wirkt als äußerst starkes Oxidationsmittel (e0 für O + 2 H + + 2 e " H 2 0 gleich + 2.422 V bei pH = 0 und + 1.59 V bei pH = 14) sowie als äußerst starke Lewis-Säure (Elektronensextett!) und reagiert mit Wasserstoffverbindungen leicht unter H-Abstraktion (z.B. H 2 , CH 4 , H20 + O H, CH 3 , 0 H + 0H), mit Lewis-Basen unter Addition (z.B. 0 2 , C0, Cl", S 2 " + O ^ 0 3 , C 0 2 , ClO 3 , SO2"). Die Konzentration der erzeugten 0-Atome lässt sich durch „Titration" mit N 0 2 , das mit 0 unter Leuchten reagiert, bestimmen ( N 0 2 + O N 0 + 0 2 ; NO + O N0f N 0 2 + hv). Atomarer Sauerstoff bildet sich in der sonnenbestrahlten Atmosphäre aus 0 2 und 0 3 in großem Ausmaß und ist für die Chemie in der Atmosphäre von hoher Bedeutung (vgl. hierzu S. 521).
Tetrasauerstoff Tetrasauerstoff 0 lässt sich aus Disauerstoff im Massenspektrometer durch Anwendung der ,,Neutralisations-Reionisations-Technik" (S. 68) als kurzlebige, im Mikrosekundenbereich existierende Spezies
E o Tof
Fig. 144
Potentialkurven der Zustände i£ g + , 3 E+ und des molekularen Sauerstoffs. Ersichtlicherweise wächst der durchschnittliche (und zugleich wahr scheinlichste) Kernabstand mit steigender Energie des Elektronenzustandes von
2
3
- 0 2 - Kernabstand [Ä]-
514
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
gewinnen. Die Barriere des Zerfalls von O 4 , dessen Struktur bisher unbekannt, aber als Aggregat (O2)2 zweier O2-Moleküle zu beschreiben ist, in zwe^^ 2 -Moleküle beträgt etwa 25 kJ/mol. O4-Moleküle treten offensichtlich in kleiner Konzentration neben 3 0 2 -Molekülen in flüssigem Sauerstoff auf (Dissoziationsenergie ca. 0.5 kJ/mol). Sie sollen - laut IR-Studien - der bei 0.6 Mbar entstehenden e-Hochdruckmodifikation von festem Sauerstoff zugrunde liegen.
1.1.5 Sauerstoff in Verbindungen Der Sauerstoff ist in fast allen Verbindungen der elektronegative Partner und betätigt hauptsächlich die Oxidationsstufe —2 (z.B. Na 2 O, H 2 O), seltener die Oxidationsstufe — 1 (z.B. Na 2 0 2 , H 2 0 2 ) oder (z.B. NaO 2 ) und in Ausnahmefällen andere negative Oxidationsstufen wie etwa — § (z.B. H 2 0 3 ) oder — -j (z.B. K0 3 ). Nur gegenüber Fluor als elektronegativstem Element bzw. gegenüber äußerst stark oxidierend wirkenden Elementverbindungen (z. B. PtF 6 ) vermag Sauerstoff auch als elektropositiver Partner aufzutreten und die Oxidationsstufen + 0 (z.B. HOF; vgl. S.465), (z.B. O 2 PtFg ), + 1 (z.B. 0 2 F 2 ) und + 2 (z.B. OF 2 ) zu betätigen. In seinen Verbindungen mit Nichtmetallen liegt der Sauerstoff als kovalent einfach bzw. mehrfach gebundener Partner vor (z. B. H—O—H, 0 = C = 0 , C = 0 ) , wobei er die Koordinationszahlen eins, zwei und drei aufweist (z. B. CO, C0 2 , Cl3PO, H 2 0 , C1 2 0, H 3 0 + ) . In elektrovalenten Verbindungen mit Metallen betätigt er neben den Koordinationszahlen eins (z. B. Os0 4 , MO" - ), zwei (z. B. linear in Cl 5 Ru—O—RuQ^, gewinkelt in (C13P—O—)2TiCl2) und drei (planar in TiO2, pyramidal in M(OH 2 )^ + ) auch die Koordinationszahlen vier (z.B. quadratisch-planar in NbO, tetraedrisch in BeO, ZnO, CuO, Zr0 2 , Ce0 2 ), sechs (oktaedrisch in MgO, CaO) und acht (kubisch in Li 2 0, Na 2 0). Die ROR-Bindungswinkel in Verbindungen R 2 O bzw. R 3 0 + (R = anorganischer bzw. organischer Rest) liegen im Bereich 100-115°, falls der Elektronegativitätsunterschied zwischen O und R nicht zu groß ist (z.B. £ HOH in H2 O 104.5°, in H 3 0 + ca.113°; £ COC in (CH 3 ) 2 O111°). Andernfalls beobachtet man ROR-Winkel > 115° (z.B. £ SiOSi in (H3Si)2O 144.1°, in (R3Si)2O mit R = C(CH 3 ) 3 180°; £ HgOHg in (ClHg) 3 0 + 120°, d.h. planares Hg3O-Gerüst). Die Tendenz des Sauerstoffs zur Ausbildung von n-Bindungen ist sehr groß, die zur Bildung von Elementketten klein (s. S. 524).
1.2
Die Atmosphäre 12 ' 1 3
Im Unterschied zu den gasförmigen Hüllen der Sonnenplaneten Venus, Mars, Jupiter, Saturn, U r a n u s und Neptun (Merkur und Pluto haben keine Gashüllen) enthält die Atmosphäre der Erde nennenswerte Mengen an Sauerstoff. Letzterer ist nicht nur für den charakteristischen blauen Himmel der Erde mitverantwortlich (vgl. S. 511), sondern er spielt auch bei geo- und biochemischen Kreisläufen, bei Verbrennungsprozessen und als Filter der tödlich wirkenden harten Sonnenstrahlung eine wichtige Rolle f ü r die unbelebte und belebte N a t u r unseres „blauen Planeten". Im Folgenden wollen wir uns etwas eingehender mit der Erdatmosphäre beschäftigen und zunächst auf die Bestandteile der Atmosphäre, d a n n auf den Kreislauf des Ozons und schließlich auf die - f ü r die N a t u r zum Teil recht folgenschwere - Chemie in der Atmosphäre eingehen (man vgl. hierzu auch die Kreisläufe des Sauerstoffs, Schwefels, Stickstoffs, Kohlenstoffs, Wassers und Kohlendioxids).
1 2 Literatur. M. J. McEwan, L. F. Phillips: „ Chemistry of the Atmosphere", Wiley, New York 1975; J. Heicklen:, ,Atmospheric Chemistry", Academic Press, New York 1976; J.W. Chamberlin: „Theory of Planetary Atmospheres", Academic Press, New York 1978; H . D . Holland: „The Chemistry of the Atmosphere and Oceans", Wiley, New York 1978; C.E. Junge: „Die Entwicklung der Erdatmosphäre", Naturwissenschaften 68 (1981) 236-244; R.Jaenicke (Hrsg.): ,,Atmosphärische Spurenstoffe", Verlag Chemie, Weinheim 1987; P. Fabian: „Atmosphäre und Umwelt", Springer, Berlin 1989. F. Zabel: „Das antarktische Ozonloch - anthropogene Ursachen", Chemie in unserer Zeit 21 (1987) 141-150; R. Zellner: ,,Ozonabbau in der Stratosphäre", Chemie in unserer Zeit 27 (1993) 230-236; T. Hofmann, D. Klockow: „Atmosphärenchemie", Chemie in unserer Zeit 32 (1998) 182-191; P.J. Crutzen: ,,Mein Leben mit 03, NO und anderen YZO^-Verbindungen", Angew. C h e m 108 (1996) 1878-1898; Int. E. 35 (1996) 1758; M.J. Molina: „Die Abnahme des Ozongehalts in der Polaratmosphäre", Angew. C h e m 108 (1996) 1900-1907; Int. E d 35 (1996) 1778; S.S. Rowland: ,,Der Abbau des stratosphärischen Ozons durch FluorchlorkohlenwasserstoffeAngew. Chem. 108 (1996) 1908-1921; Int. E d 39 (1996) 1786; R.P. Wayne: „Chemistry of Atmospheres", OUP, Oxford 2000; A.R. Ravishankara (Hrsg.): ,,Atmospheric Chemistry: Long Term Issues", Chem. Rev. 103 (2003) 4505-5262; P.S.Monks: ,,Gas-phase radical chemistry in the trophosphere", Chem. Soc. R e v 34 (2005) 376-395; U. Pöschl: ,,Atmosphärische Aerosole: Zusammensetzung, Transformation, Klima- und Gesundheitseffekte", Angew. C h e m 117 (2005) 7690-7712; Int. E d 44 (2005) 7520. 3 1 Der Name geht zurück auf atmos (griech.) = Dampf, Dunst; sphaira (griech.) = Kugel.
1. Der Sauerstoff
1.2.1
515
Bestandteile der Atmosphäre. Evolution der Erde12
Die trockene Erdatmosphäre besteht seit einigen hundertmillionen Jahren aus den Hauptgasen „Stickstoff" (78.09 Vol.-%), „Sauerstoff" (20.95%), „ A r g o n " (0.93 %) und „Kohlendioxid" (0.03%), die - zusammen genommen - praktisch 100 Vol.-% wasserfreier Luft ausmachen. Ferner enthält die von Produkten menschlicher Aktivitäten (,,anthropogenen" Stoffen) unbelastete Luft gemäß Tab. 58 eine Reihe weiterer anorganischer und organischer,,Spurengase" („Quellgase") in sehr kleinen Anteilen (im Wesentlichen: He, Ne, Kr, Xe, H 2 , 0 3 , H S , S 0 2 , N H 3 , N 2 0 , N 0 , N 0 2 , C H 4 , CC1 4 , CH 3 Cl, CH 3 Br, C H 3 I , C 0 , C 0 S , CS 2 ). Unter ihnen weist insbesondere , , 0 z o n " 0 3 einen mit dem Standort, der Jahreszeit und der Höhe stark wechselnden Anteil auf (s. unten). Entsprechendes gilt f ü r das in der Luft enthaltene „Wasser" H 2 0 , das in der unteren Atmosphäre bis maximal 4Vol.-% enthalten ist. Evolution der Erde und ihrer Atmosphäre Im Zuge der Bildung des Sonnensystems (Sonne, Planeten, Planetoide bzw. Asteroide, Monde) vor 4.6 Milliarden Jahren (vgl. S. 1920) ballten sich gashaltige feste Teilchen (,,Planetesimalen") des „Urnebels" u.a. zur Erde zusammen, wobei sie sich als Folge der adiabatischen Materieverdichtung sowie ablaufender radioaktiver Prozesse (u.a. Zerfall von 4 0 K, 2®Al) auf einige tausend Grad unter Schmelzen erwärmte und einen Teil leichter sowie - in Verbindungsform - leichtflüchtiger Elemente („Uratmosphäre",,,Primordialatmosphäre") durch ,,Abdampfen" in den Weltraum verlor. Hierdurch verminderten sich „Wasserstoff", „Edelgase", „Kohlenstoff" und „Stickstoff" in der Urmaterie um das 103- bis 10i4-fache. Daß sich der „Sauerstoff" nicht abreicherte und das „Argon" heute in der Atmosphäre häufiger als die übrigen Edelgase vertreten ist, beruht darauf, dass Sauerstoff mit vielen Elementen (z. B. Si, Al, Fe) schwerflüchtige Verbindungen bilden konnte und dass 40Ar durch ß + -Zerfall von 40K nachgeliefert wurde. Während der langsamen, auf das Nachlassen der radioaktiven Prozesse sowie auf die starke Wärmeabstrahlung zurückzuführenden und vor etwa Milliarden Jahren abgeschlossenen Abkühlung der Erde erfolgte zudem ein Entmischen und Ausgasen der Erdmaterie, wobei sich der Erdkern, der Erdmantel, die Erdkruste, das Erdmeer sowie die sauerstofffreie erste Atmosphäre bildete. Letztere bestand wohl zunächst hauptsächlich aus dem reduzierend wirkenden Gas „Methan" CH 4 (,,Methanatmosphäre") mit Beimengungen von H 2 , H 2 Ü, NH 3 . Im Laufe der Zeit verwandelte sie sich durch geänderten Vulkanismus sowie durch Blitz- und Strahlentätigkeit (CH 4 + 2NH 3 + 2 H 2 0 + hv Cü 2 + N 2 + abdiffundierendes H 2 ) in „Kohlendioxid" Cü 2 und „Stickstoff" N 2 . Da Cü 2 im Meer gelöst und dort zudem in Form von Calcium- und Magnesiumcarbonat-Sedimenten abgelagert wurde, bestand - vor ca. 3.5 Milliarden Jahren- die weder reduzierend, noch oxidierend wirkende
Tab. 58 Zusammensetzung der Erdatmosphäre"'. Bestandteile Art Hauptquellenb| N
2
0
2
Ar 0 C02 Ne He
CH4 Kr
H2 03 0 C0
Vulkanismus Photosynthese jS-Zerfall von 40K Meer Verbr., Atmg., Meer Vulkanismus a-Zerfall von U, Th Sumpfmikroben Vulkanismus Sumpfmikr., Verbr. Bestrahlg. von 0 2 Mikroben, Verbr. CH 4 -0xidat., Autos
VolumenProzente01 78.085 20.948 0.934 variabel -3x10" 1.818X10" 5.24x10" -2x10" 1.14x10" -5x10" variabel 10" 10"
GesamtMasse [t]
Bestandteile Art Hauptquellenb|
VolumenProzente
GesamtMasse
3.866 X 1015
Xe NH N0, N 0 S0 H2S CH 3 Cl
8.7 x 1 0 " 6 ~2x10"6 - 1 x10"7 ~2x10"8 ~2x10"8 ~3x10"9 ~3x10"9 Fe 2 0 3 ; S2" -> SO2", Mn2 + -> MnO 2 ), dann zunehmend rascher bis auf den heute beobachteten Wert von 21 %, der vor ca. 350 Millionen Jahren erreicht war. Die Bildung einer sauerstoffhaltigen und deshalb stark UV-Strahlung-absorbierenden Atmosphäre ermöglichte vor 1 Milliarde Jahren zudem eine explosionsartige biologische Evolution nach einer langen Zeit ohne nennenswerte biologische Fortschritte (,,Blaualgenzeit ")i5: nämlich die Besiedlung des Landes und die Entwicklung sauerstoffverbrauchenden Lebens wie das der noch einfach gebauten Eukaryonten und - später - der hochorganisierten Pflanzen, Tiere und - seit über 1 Million Jahren - des Menschen. Es entstand unsere varietätenreiche Flora und Fauna der Länder und Meere Wäre die gesamte photosynthetisch produzierte Biomasse durch ,,Atmung" lebender und ,, Verwesung" toter Organismen wieder,,verbrannt", so ergäbe sich insgesamt kein Gewinn an molekularem Sauerstoff. Tatsächlich wurde aber im Laufe der Zeit eine große Menge der Biomasse unter Luftabschluss „konserviert" (Bildung von Kohle, Erdöl, Erdgas). Ihr entspricht eine freigesetzte Sauerstoffmenge, die 20-mal so hoch ist wie die Menge an Atmosphärensauerstoff. Somit sind 95 % des photosynthetisch erzeugten Sauerstoffs für Oxidationsprozessein der Erdkruste verbraucht worden, während 5 % hiervon zur Bildung der dritten Erdatmosphäre beigetragen und Kreisläufe wie die des Sauerstoffs (S. 502), Schwefels (S. 547), Stickstoffs (S. 654), Kohlenstoffs (S. 878) ausgelöst haben.
1.2.2
Der Kreislauf des Ozons^
Sauerstoff ist nicht nur in seiner diatomaren F o r m (vgl. S. 502), sondern auch in seiner triatomaren Modifikation („Ozon") in einen natürlichen Kreislauf eingebunden, der in einem wechselseitigen, über photochemische, chemische und katalytische Teilreaktionen ablaufenden reversiblen Übergang von atmosphärischem Di- in Trisauerstoff besteht: 3O
2O
Wie im Einzelnen zunächst erläutert sei, erfolgt hierbei die Bildung und der Zerfall von Ozon in einer Höhe oberhalb 10 km (mittlere und obere Atmosphäre) nach anderen Mechanismen als unterhalb 10 km untere Atmosphäre).
14 Hinsichtlich der Atmosphären anderer Sonnenplaneten, für die einige kosmische Daten in Anh. I zusammengestellt sind, ist folgendes bekannt: Wegen der kleinen Masse hat Merkur bzw. Pluto seine Atmosphäre vollständig, Mars (venusanaloge Luft; 0.007 bar; 225 K) größtenteils verloren. Aus der Atmosphäre der mittelgroßen Planeten Venus und Erde konnten die leichteren Gase H 2 und He entweichen (die Venus hat zudem den größten Teil des Wassers u.a. nach H 2 0 + hv gesteinsbildendes 0 2 + abdiffundierendes H 2 verloren), während die Gashüllen der großen Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun wie deren Inneres hauptsächlich aus H 2 und He bestehen (Beimengungen insbesondere CH 4 , N H 3 ; hoher Druck; niedrige Temperatur). Die Atmosphäre der Venus (90 bar; 740 K) enthält neben Gasen in kleinen Mengen (insbesondere Ar, H O ) hauptsächlich C O darüber hinaus N 2 (3.5 %; die N 2 -Masse entspricht insgesamt etwa der der Erdatmosphäre), Schwefel und Schwefelsäure. D a die Venus wegen ihrer höheren Oberflächentemperatur keine Hydrosphäre ausbilden konnte, erfolgte auch keine, durch ein Meer vermittelbare CO 2 -Ablagerung j n Form von Carbonaten, sondern der Aufbau einer CO 2 -Atmosphäre mit hohem Druck und hoher Temperatur (Treibhauseffekt). Der Merkur ist von außen gesehen rot (Grund: Oberflächeneisenoxid), die Venus blendend weiß (reflektierende Wolkendecke), die Erde - an wolkenfreien Stellen - blau (Lichtstreuung der Luft, Lichtabsorption der Meere), der Jupiter, Saturn, Uranus bzw. Neptun grünstichig (Lichtabsorption von Methan und Ammoniak). 15 Wegen der von der ,,sauerstofffreien" Atmosphäre nicht zurückgehaltenen harten UV-Strahlung konnte sich Leben nur im „Schutze" des Meeres entwickeln, in welchem sich zudem die für die Evolution des Lebens wesentlichen G r u n d s t o f f e - gebildet durch Blitztätigkeit aus atmosphärischem CH 4 , N H 3 und H 2 O und der Tätigkeit von Vulkanen („schwarze Schlote", ,,black smokers") im Meer - anreicherten (,,Ursuppe"). Den oben erwähnten photosynthetisierenden, zu den ,,Autotrophen" zu zählenden Einzellern (insbesondere Blaualgen) gingen die - seit ca. 3.8-3.5 Milliarden Jahren existierenden - ,,Heterotrophen" voraus.
1. Der Sauerstoff
517
Bildung und Zerfall von Ozon in der mittleren und oberen Atmosphäre Das unter Wärmeabgabe aus „Sauerstoffatomen" O - erzeugt durch Photolyse von 0 2 mit kurzwelligem Ultraviolett ( < 242nm = 498 kJ/mol; vgl. S. 513) - und „Sauerstoffmolekülen" 0 2 gebildete , , 0 z o n " 0 3 der Erdatmosphäre absorbiert seinerseits längerwelliges Ultraviolett unter Zerfall des 0 z o n s in Sauerstoffmoleküle und - ihrerseits unter Wärmeabgabe mit 0 z o n reagierenden - Sauerstoffatomen (,,Chapman-Mechanismus"; vgl. nachfolgende Reaktionsschemata sowie Gleichungen (1)-(3) auf S. 504). Hierbei führt die Photolyse von 0 3 mit Strahlen der Wellenlänge > 310 nm zu 0 - A t o m e n im Grundzustand 3 P, mit Strahlen der Wellenlänge < 310 nm zu 0 - A t o m e n im angeregten Zustand *D (310 nm = 392 kJ/mol; bezüglich der Termsymbole 3 P und *D vgl. S.98). 0 22 X2|0 + 02
302
Photonenaufnahme (X < 242 n m Wärmeabgabe 5 (Stoßpartner Ozonbildung
>2 0
„ o3
>20
P D)
03
0 + 03
2 0
Photonenaufnahme (A ^ 310 nm) Wärmeabgabe 5 (Stoßpartner Ozonzerfall
> 0 2 2+ 0 ( 3 P / 1 D ) „ 202
> 302
Die aus 0 3 hervorgehenden energiereichen Atome 0 ( D ) sind für die Chemie der Atmosphäre von größter Bedeutung, da sie nicht nur mit 0zon, sondern auch mit anderen atmosphärischen Quellgasen reagieren und diese dadurch abbauen (s. weiter unten). Allerdings werden sie durch Stoßreaktion rasch desaktiviert. Die auf direktem Wege oder über 0 ( D ) aus 0zon gebildeten energieärmeren Atome 0( 3 P) setzen sich ebenfalls nicht ausschließlich mit 0zon unter Sauerstoffbildung, sondern zusätzlich mit Sauerstoff unter üzonbildung um (siehe Reaktionsgleichungen). Auf dem Wege der Bildung und des Zerfalls von 0zon im Zuge einer Wechselwirkung des Sonnenlichts mit Luftsauerstoff wird energiereiche Sonnenstrahlung in Wärme umgewandelt Hierbei ist der Licht/Wärme-Umsatz, dessen Geschwindigkeit naturgemäß mit der Konzentration von Sauerstoff sowie geeigneten Photonen wächst, in einer Höhe von ca. 50 km über der Erde besonders hoch. Von dort aus sinkt er gemäß Fig. 145 sowohl mit zunehmender Höhe (Verringerung der Sauerstoffkonzentration infolge der Luftdruckabnahme) als auch mit abnehmender Höhe (Verringerung der Konzentration geeigneter Photonen infolge ihrer Absorption). Dem Umsatzmaximum entspricht ein - durch die „Stratopause" markiertes - Temperaturmaximum der Atmosphäre von 20-30°C in ca. 50 km Höhe (Fig. 145). Unterhalb der Stratopause nimmt die Temperatur im Bereich 50 bis 15 km Höhe (,,Stratosphäre") i6 auf ca. — 60 °C ab, um nach diesem - durch die ,, Tropopause" markierten - Temperaturminimum im Bereich 15 bis 0 km Höhe (,,Troposphäre")i6 als Folge der von der Erde ausgehenden Wärmestrahlung wieder bis auf durchschnittlich 20-30°C anzusteigen. überhalb der Stratopause verringert sich die Temperatur in 50 bis 90 km Höhe (,,Mesosphäre")i6 ebenfalls, um dann nach einem Temperaturminimum von etwa — 80°C („Mesopause") im Bereich > 90 km Höhe (,,Thermosphäre")i6 wieder bis auf über 1500°C in 700 km Höhe anzusteigen (Fig. 145). Das Maximum der Ozonkonzentration (d. h. die Stelle des größten Geschwindigkeitsverhältnisses von Oj-Bildung zum O3-Zerfall) befindet sich gemäß Fig. 145 in der mittleren Stratosphäre in 20 bis 25 km Höhe (die genaue Lage hängt von der geographischen Breite und von der Jahreszeit ab). Das Maximum der Sauerstoffatomkonzentration (d. h. die Stelle des größten Geschwindigkeitsverhältnisses von Bildung und Weiterreaktion der 0-Atome) liegt andererseits bei der Mesopause in 90 km Höhe (Fig. 145). Unterhalb der Stratopause in ca. 50 km Höhe ist die Konzentration an 0 3 größer, darüber kleiner als die an Sauerstoffatomen
i6 Man bezeichnet die Trophosphäre, die am Äquator, in mittleren Breiten bzw. der Polarregion ca. 18, 15 bzw. 8 km hoch reicht, auch als untere, die Strato- und Mesosphäre als mittlere und die Thermosphäre als obere Atmosphäre bzw. die ionenarme Tropo-, Strato- und Mesosphäre als ,,Neutrosphäre" und die ionenreiche Thermosphäre als ,,Ionosphäre" bzw. die durch Luftzirkulation gekennzeichnete „Gasdurchmischungszone" unterhalb 60 km Höhe als „Homosphäre", die durch gravitative Auftrennung der Molekülmassen markierte „Gasentmischungszone" darüber als „Heterosphäre". Auch hat sich für das Gebiet oberhalb 100 km Höhe, in welchem das Erdmagnetfeld die Vorgänge mitbestimmt, der Name ,,Magnetosphäre" eingebürgert, für das Gebiet oberhalb 700 km Höhe, aus dem Moleküle mit großer Geschwindigkeit in den interstellaren Raum entweichen können, als ,,Exosphäre" (in der Exosphäre herrschen vergleichsweise hohe Temperaturen, s. oben).
518
XIII. Die Gruppe der Chalkogene -90
120]
-60
-30
1— 1
0 1
30
60
. - - T Temperatur ^
100
' Mesopause
80
90 °C Thermosphäre (< 0.001 mbar) Mesosphäre (~1-0.001 mbar)
60 40^
Stratosphäre (~100-1 mbar) pause 106
Troposphäre
Fig. 145 Ozon-, Sauerstoffatom- und Temperaturprofil der Erdatmosphäre am Äquator während des Tags16.
1012 Teilchen/cm 3
Ohne UV-Bestrahlung, also in der Nacht, entstehen in der Atmosphäre weder 0 3 noch O. Während aber bereits gebildetes Ozon erhalten bleibt, verschwinden die Sauerstoffatome durch rasche Folgereaktionen (s. oben und unten). Unter UV-Bestrahlung, also am Tag, stellt sich eine Gleichgewichtskonzentration an Trisauerstoff O 3 und Monosauerstoff O in Disauerstoff O 2 ein (vgl. Fig. 145), wobei die zur Gleichgewichtseinstellung benötigte Zeit (,,Relaxationszeit") mit zunehmender Höhe abnimmt und in der Troposphäre bis zu einem Jahr, in der Stratosphäre Monate bis Stunden, in der Mesosphäre nur Sekunden bis Bruchteile von Sekunden beträgt Oberhalb ca. 35 km Höhe (ab mittlerer Stratosphäre) liegen bei Bestrahlung folglich Gleichgewichtsbedingungen vor, wobei die O3-Gleichgewichtskonzentration beim Gang vom Äquator zum Pol hin sinkt, da sich in gleicher Richtung die Dichte der Sonnenstrahlen erniedrigt Unterhalb 35 km Höhe herrscht andererseits photochemisches Ungleichgewicht, das sich in Richtung Erde verstärkt. Die O3-Verteilung wird in diesem Bereich mehr und mehr durch Prozesse der Luftzirkulation bestimmt, die ein Anwachsen der O 3 -Konzentration in Richtung hoher Breitengrade bedingt. Würde man alle Ozonmoleküle der Luft an der Erdoberfläche auf 1 Atmosphäre verdichten, so hätte die resultierende Ozonschicht am Äquator eine Dicke von ca.2.5 mm (250 ,,Dobson Units", „D.U.") und in hohen nördlichen Breiten je nach Jahreszeit eine Dicke von 4.5 bis 5.5 mm (450-550 D.U.). Auf der Südhalbkugel durchläuft die O3-Dicke ein Maximum in 55° südlicher Breite. Durch die Bildung und den Zerfall des Ozons sowie durch einige weitere atmosphärische Prozesse wird die harte Ultraviolettstrahlung im Wellenlängenbereich < 175 n m bis zur Mesopause sowie die Strahlung im Bereich 175-290 nm bis zur Tropopause vollständig und die Strahlung im Bereich 2 9 0 - 3 4 0 nm bis zur Erdoberfläche teilweise absorbiert, während der überwiegende Anteil der weichen UV-Strahlung (340-400 nm) und des gesamten sichtbaren Lichts (400-800 nm) ungehindert durch die Erdatmosphäre wandern. Die Infrarotstrahlung (Wärmestrahlung, Bereich > 800 nm) wird andererseits größtenteils durch den Wasserdampf, das Kohlendioxid und einige andere natürliche und anthropogene Quellgase absorbiert (vgl. hierzu „Treibhauseffekt", S.523).
Bildung und Zerfall von Ozon in der unteren Atmosphäre D a kurzwellige, zur Dissoziation von 0 2 führende UV-Strahlung ( < 242 nm) nicht bis in die untere Atmosphäre vordringt, ist dort keine O 3 -Bildung wie in der mittleren Atmosphäre möglich. Der O 3 -Zerfall kann demgegenüber nach den gleichen Prozessen wie in den höheren Regionen erfolgen, da Strahlen der Wellenlängen um 310 n m auch in der Troposphäre ausreichend zur Verfügung stehen. Der Ursprung des troposphärischen Ozons, das 5 - 1 0 % des atmosphärischen Ozons ausmacht, stellt einerseits die Stratosphäre dar, aus der es durch Luftzirkulation heruntergebracht wird. Demzufolge sinkt die Ozonkonzentration in Richtung Erdoberfläche; auch ist sie in Bereichen effektiver Mischungsprozesse zwischen Strato- und Troposphäre vergleichsweise hoch (z.B. während des Sommers in mittleren nördlichen Breiten). Andererseits entsteht das Ozon in der unteren Atmosphäre auch durch photochemische Prozesse aus molekularem Sauerstoff und „Stickstoffdioxid" N O (untere Troposphäre) bzw. „Stickstofftrioxid" N O (obere Tropo-, untere Stratosphäre), falls das Quellgas „Stickstoffmonoxid" N O , aus welchem N O und N O in der Atmosphäre gebildet werden (s.u.), in ausreichender Menge zur Verfügung steht (Näheres S. 521):
1. Der Sauerstoff
N0
Photonenaufnahme (X < 420 nm)
'
N0
0
Wärmeabgabe O +
O,
N0
(Stoßpartner
Photonenaufnahme
o + o,
O,
Ozonbildung
N
N0
N0
519
N0
(X < 670 nm) Wärmeabgabe
O,
(Stoßpartner Ozonbildung
N0
Auch Kohlenwasserstoffe bewirken in der unteren Troposphäre eine Erhöhung der 0 z o n konzentration (s. weiter unten).
Katalytischer Abbau von Ozon in der Atmosphäre Eine Reihe von Radikalen (im Wesentlichen H, 0 H , 0 2 H , N 0 , Cl, Br), die - mit Ausnahme des langlebigen Stickstoffmonoxids wegen ihrer kurzen Lebenszeit in der Atmosphäre durch photochemische und chemische Prozesse aus natürlichen und anthropogenen Quellgasen (im Wesentlichen H 2 , H 2 0 , C H 4 , N 2 0 , CH 3 Cl, CH 3 Br, CFC1 3 , CF 2 C1 2 , C 0 ; vgl. Tab. 58) laufend nachproduziert werden m ü s s e n katalysieren die 0zonzersetzung. Sie wirken damit auf die 0 3 - K o n z e n t r a t i o n ein. Insgesamt wickeln sich unter normalen Bedingungen etwa 3 0 % des gesamten O 3 -Abbaus in der Luft über solche Katalysator-gesteuerten und ca. 70 % über die auf S. 517 erwähnten Licht-induzierten Reaktionen ab. 0 h n e katalytischen O 3 - A b b a u müsste die Atmosphäre ca. 30 % mehr 0 z o n enthalten. Die Bildung der Radikale geht letztendlich auf eine Bestrahlung der Erdatmosphäre zurück. Und zwar bilden sich durch Einwirkung von Sonnenstrahlen auf 0 3 (X < 1200 nm), 0 2 (X < 242 nm; > 20 km Höhe), N 0 (X < 420 nm) bzw. N 2 0 (X < 240 nm; > 20 km Höhe) angeregte Sauerstoffatome 0 ( D ) neben 0 ( 3 p) (S. 520) und durch Photolyse von Halogenkohlenwasserstoffen (CH3Cl, CH 3 Br, CFQ 3 , CF2C12 usw.) in der Stratosphäre Chlor- und Bromatome. Die Atome 0 ( D ) reagieren dann mit H 2 , H 0 , CH 4 zu Wasserstoffatomen H und Hydroxylradikalen 0 H (H und 0 H entstehen oberhalb 40 km zudem gemäß: H 2 0 + hv (X < 185 nm) ^ H + 0H), mit N 2 0 zu Stickstoffmonoxid N 0 , mit CH 3 Cl, CFQ 3 , CF2C12 zu Chloratomen Cl. Die H-Atome bilden ihrerseits mit 0 2 PerhydroxylO2H, die 0H-Radikalemit 0 3 / C 0 ^CCl die Radikale O 2 H/H/Cl. Darüber hinaus entstehen durch Einwirkung der kosmischen Höhenstrahlung (S. 1903) oder der solaren Protonen- und Elektronenstrahlung auf H 2 0 , N 2 und 0 2 in der Stratound Mesosphäre H-, 0 H - und N0-Radikale. Letztere Reaktionen erfolgen bevorzugt in der Polregion, in welcher der Einfall polarer Teilchen weniger durch den Erdmagnetismus behindert ist (die Hauptquelle für N 0 in der Troposphäre stellt die Blitztätigkeit, der Mikrobenstoffwechsel sowie die Verbrennung von Kohle und Erdöl dar; s.u.). Für die Wirkung der Radikale als Katalysatoren des atmosphärischen -Abbaus ist ein Durchlaufen folgender Reaktionsteilschritte, bei welchen die Radikale R immer wieder zurückgebildet werden, verantwortlich (aus und N 0 gebildetes N 0 wandelt sich mit weiterem in der unteren Stratosphäre gemäß N 0 2 + 0 3 N03 + < , + hv ^ N 0 + < R = OH, NO 03 +R
> 02 + 0R
0R
20
R = H, OH, NO, Cl, Br
R=
03 + R
O
0R
> 02 + 0R R
+0,
+O2H
0H + O
0H (über
> 0,H
H)
o33 + o33
o,33 T+o w
02 ' 3JW
(untere Atmosphäre
)
* 20
O + O
O,
(mittlere, höhere Atmosphäre, c0 ^ c0)
-Abbaureaktionen zum Gesamtabbau des 0zons nimmt mit Der relative Beitrag der katalytischen wachsender Höhe der Atmosphäre ab. Die N0-Katalyse dominiert in der unteren und mittleren Stratosphäre (Maximum in ca. 25 km Höhe; unterhalb 20 km wirkt N 0 zunehmend O3-bildend, s.o.), die H-Katalyse 0, 1, 2) in der Troposphäre und der oberen Stratosphäre sowie der Mesosphäre (Mi nimum in ca. 35 km Höhe). Der Beitrag der Cl- und Br-Katalyse zum katalytischen O 3 -Abbau ist in der
520
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
mittleren Stratosphäre besonders hoch, aber insgesamt noch geringer als der der anderen Radikale zusammengenommen. Der Abbau der Radikale erfolgt in der Luft sowohl durch Reaktion der Radikale untereinander als auch durch Reaktion der Radikale mit Quellgasen. Wichtige Zwischenstufen des Abbaus sind die (längerlebigen) Radikale O 2 H und N O , die u.a. wie folgt entstehen und weiter in ,,Reservoirgase" umgewandelt werden (M = Stoßpartner):
H,0
+02
H202 + 0 2
OH 0,H
H + O2 J (M) P,H
"_q2| OH
NO Cl
HCl + O ,
HNO
h
^
Ä
N205
^
Cl ^
ClNO 3
INOJ
Cl
HOCl + 0 2
NO 3 + O 2
-_OHf NO
OH- und Cl-Radikale verschwinden zudem durch Reaktion mit wasserstoffhaltigen Quellgasen wie CH 4 oder H 2 S (Bildung von H 2 O, HCl, Oxidationsprodukten wie CO, H 2 SO 4 ; vgl. S. 523). Die erzeugten Reservoirgase werden zum Teil mit dem Regen aus der Atmosphäre gewaschen (z.B.: H 2 0 2 , HNO 3 , HCl, H 2 SO 4 ; s.u.), zum Teil durch Bestrahlung in Radikale zurückverwandelt (z. B. HNO 3 + hv -> NO 2 + O H ^ 5 + hv ^ NO 2 + N O ; N O , + ^ NO + 0 2 ; ClNO 3 + hv ^ NO 2 + ClO). Infolgedessen sind am Tage die Konzentrationen der Reservoirgase niedrig und die der Radikale hoch, während für die Nacht das Umgekehrte gilt.
1.2.3 Chemie der Atmosphäre und ihre Umweltfolgen 12 Durch Verdunstung, Vulkanismus, Mikrobentätigkeit, Aktivitäten von Tieren und insbesondere der Menschen gelangen aus den Ozeanen, Böden, Fabriken, Haushalten, Großfeuerungs- und Müllverbrennungsanlagen, Autos, Flugzeugen usw. laufend große Mengen natürlicher und anthropogener, meist reduzierend wirkender ,,Quellgase" in die Atmosphäre (vgl. Tab. 58). Diese verweilen dort - entsprechend ihrer ,,Lebensdauer" (vgl. S. 374) - mehr oder weniger lang (z. B. N 2 mehrere zig Millionen Jahre, OH ca. 1 Sekunde), wobei sie einerseits durch den Wind lokal bis global verteilt werden (die,,lokale", „regionale", „hemisphärische" bzw. „interhemisphärische" Durchmischungszeit beträgt Stunden, Tage, Monate bzw. Jahre) und sich andererseits infolge der Sonnenbestrahlung in Anwesenheit von Sauerstoff und Wasser chemisch umwandeln (meist oxidieren; s. u.). Schließlich werden sie - unverändert oder chemisch verändert - mit dem Regen als sogenannte ,,Senkengase" ausgewaschen (u.a. C 0 2 , H N O , H 2 SO 4 , HCl). Somit spielt das Wetter17 und die Chemie in der Atmosphäre eine entscheidende Rolle für das dynamische Gleichgewicht zwischen Quell- und Senkengasen, d. h. für die stoffliche Zusammensetzung unseres atmosphärischen „Lebensraumes". Aufgrund der wirksamen ,,Stoffkreisläufe" können sich somit die Quellgase in der Atmosphäre nicht dauerhaft anreichern. Zwar bedingen die beachtlichen Emissionen einiger Gase anthropogenen Ursprungs - wie etwa die von NO, N O , CO, C O , S0 2 , CH 4 , CFC13, CF2C12 usw. - in jüngerer Zeit eine Konzentrationssteigerung der betreffenden Stoffe in der Atmosphäre, doch würden sich die erhöhten Quellgasmengen bei Ausschalten der Verursachung nach und nach wieder auf das normale Maß reduzieren (,,Atmosphärenreinigung"). Da die betreffenden Quellgase teils direkt, teils nach chemischer Umwandlung für Organismen mehr oder weniger lebensschädlich sind, indem sie u.a. Ozon aboder aufbauen, chemischen (SO2-haltigen) und photochemischen (O3-haltigen) Smogis bilden bzw. zu saurem Regen führen, sollte eine weitere Erhöhung dieser ,,Schadstoffe" in der Atmosphäre tunlichst
i7 Das Wetter ist eng mit dem Wasserkreislauf (Verdunstung, Wolkenbildung, Niederschlag) und der Luftzirkulation verbunden. Der Sättigungsdampfdruck des Wassers, d.h. der für die Nebel- und Wolkenbildung maßgebende H 2 OPartialdruck nimmt mit der Temperatur, also mit der Höhe ab und erreicht beim Temperaturminimum der Tropopause ( _ 60 °C) einen sehr kleinen Wert. Infolgedessen spielt sich das Wetter fast ausschließlich in der Troposphäre ab (insbesondere über den Polregionen bilden sich auch stratosphärische Eiswolken). Die Luftzirkulation erfolgt in der Troposphäre unter normalen Temperaturbedingungen (Temperaturabnahme mit der Höhe) sowohl horizontal wie vertikal. Nimmt andererseits die Temperatur - wie im Falle von Inversionswetterlagen oder in der Stratosphäre mit der Höhe zu, so findet im wesentlichen nur noch ein Horizontalaustausch der Luftmassen statt, i® Geschichtliches. Der Begriff Smog (von smoke (engl.) = Rauch und fog (engl.) = Nebel) wurde um die Jahrhundertwende für den in London infolge intensiver Kohleverbrennung im Winter gebildeten gelben, S 0 2 - und rußhaltigen Nebel geprägt (,,London-Smog"). Er entsteht gerne in Ballungsgebieten bei Inversionswetterlagen. Von ihm unterschieden wird der in Los Angeles und anderen Städten als Folge intensiven Autoverkehrs im Sommer durch Bestrahlung der Abgase gebildete O 3 -haltige Smog (,,Los Angeles-Smog").
1. Der Sauerstoff
521
vermieden werden (vgl. hierzu u. a. Erdölentschwefelung (S. 542), Rauchgasentschwefelung (S. 570), Autoabgasreinigung mit geregeltem Dreiwege-Katalysator (S. 711), Rauchgasentstickung (S. 711). Sauerstoff. Die Absorption des kurzwelligen Sonnenlichts durch die obere und mittlere Atmosphäre im Zuge der auf S.517 besprochenen wechselseitigen Umwandlung 3O 2 2O 3 von Disauerstoff O 2 (Lebensdauer T ca. 2000 Jahre) in Trisauerstoff 0 3 (T ca. 1 Monat) ist wegen der &ebs-erregenden und Mutations-auslösenden Wirkung energiereicher Strahlung für das Leben auf der Erde von hoher Bedeutung. Eine drastische Abnahme der O 3 -Gleichgewichtskonzentration in diesem Bereich aufgrund stark erhöhter Konzentrationen an Radikalen, welche den O 3 -Abbau katalysieren (S. 518), wäre mit erheblichen Gefahren für die Lebewesen verbunden; u. a. wäre die stabile Erbfolge in Frage gestellt. Besonders drastisch wirkt sich zur Zeit die gestiegene Konzentration von Chlorfluorkohlenwasserstoffen und damit von Chloratomen in der Südpol-Region über dem antarktischen Kontinent aus, wo das Ozon seit einigen Jahren während des Oktobers (australischer Frühling) in 10 bis 25 km Höhe praktisch vollständig durch chlorkatalysierten Abbau verschwindet (Ozonlochi 9 - Der entsprechende Ozonabbau in der Nordpol-Region über der Arktis ist weniger ausgeprägt In der unteren Atmosphäre würde sich eine Ozonabnahme nicht nur aus den besprochenen Gründen, sondern auch deshalb schädlich auf Organismen auswirken, da 0 3 in diesem Bereich gemäß 02 + O(D/3P),
03 ^
OCD) + H 2 0
> 2OH
als Lieferant für Hydroxyl-Radikale OH (T ca. 1 Sekunde) wirkt, welche als solche oder nach ihrer Umwandlung in Perhydroxyl-Radikale O 2 H (T ca. 1 Minute): OH + H ,
• H 2 0 + H,
H + 02
(M)
• 02H
(M = Stoßpartner) die Reinigungsmechanismen in der Troposphäre auslösen. Da in der unteren Atmosphäre ausschließlich langwelliges, für eine O 2 -Spaltung ungeeignetes Ultraviolett einfällt, verbietet sich hier die in höheren Bereichen zusätzlich ablaufende Reaktionsfolge 0 2 + hv -> 2O; O + H 2 0 -> 2OH als OH-Quelle, sodass in einer ozonlosen Troposphäre alle chemischen Reaktionen zum Stillstand kämen ( 3 0 2 ist reaktionsträge und reagiert mit den Quellgasen praktisch nicht). Andererseits wirkt das Ozon als Gift für das Blattgrün der Pflanzen und die Atemwege der Tiere und Menschen (S. 504), weshalb eine dratische Zunahme des O 3 -Pegels am „Grunde" der Troposphäre als Folge einer erhöhten N O - oder Kohlenwasserstoff-Konzentration für Lebewesen gefährlich werden kann (siehe unten, Stickstoffoxide). Über eine weitere, lebensvernichtende Form des Sauerstoffs Singulett-Sauerstoff *0 2 (T ca. 10 Sekunden), wurde bereits auf S. 510 berichtet (,,Triplett-Sauerstoff" 3 0 2 ist demgegenüber lebenserhaltend). Wasserstoff. Etwa gleich ergiebige Quellen für H 2 sind die unvollständige Verbrennung fossiler Stoffe in Motoren und Öfen, die unvollständige Oxidation von Methan und anderen Kohlenwasserstoffen in der Atmosphäre sowie die Tätigkeit von Mikroorganismen in Böden und Ozeanen. Eine Senke für H 2 (T ca. 2 Jahre) stellt die Reaktion von H 2 mit OH-Radikalen in der Troposphäre bzw. O-Atomen in der Stratosphäre dar OH
O;
O( D)
OH
Darüber hinaus verbrauchen eine Reihe von Mikroben Wasserstoff für Reduktionszwecke (Hauptsenke). Stickstoffoxide. Distickstoffoxid N 2 O, ein durch Bodenbakterien aus N H 4 (Nitrifikation) bzw. N 0 3 (Denitrifikation) und zudem durch Verbrennung fossiler Stoffe gebildetes, global verteiltes Quellgas (T
i9 Der erhöhte Ozonabbau über dem Südpol geht nach bisherigen Erkenntnissen auf stratosphärische, bis 25 km hoch reichende Wolken aus Eis- und Salpeter-Trihydrat-Partikeln zurück ( H O und H N O ' 3 H 2 0 = H 7 0 3 + NO 3 ~; Kondensation unter den vorliegenden Verhältnissen bei 185 bis ca. 200 K), die während der sonnenarmen, kalten Monate - abgeschlossen vom Rest der Atmosphäre - über der Antarktis liegt. An den Oberflächen der H N O ' 3 H 2 O-Partikel vermögen Cl-Atome - gebildet nach H O N O 2 + HC1 + hv H O O N O + HC1 H O ' + N O 2 + HCl H 2 0 + N O 2 + Cl (S. 737) - den O 3 -Abbau möglicherweise wie folgt zu katalysieren: 2C1 + 2 O 3 (ClO) 2 + 2O 2 ; (ClO) 2 + hv ->• 2C1 + 0 2 (der normale Katalysezyklus Cl + 0 3 ->• ClO + O 2 ; ClO + O ->• Cl + O 2 in Abwesenheit von Eis erfolgt erst in über 30 km Höhe, da ClO in niedrigeren Höhen wegen Fehlens von O-Atomen nicht in Cl und O 2 , aber durch Reaktion mit N O , das anstelle von O vorhanden ist in das dort photostabile Reservoirgas C l O N O übergeht; bzgl. B r N O und seiner O 3 -vernichtenden Wirkung vgl. S.735). Mit zunehmender Sonneneinstrahlung verschwindet der Zyklon ab November, wodurch ozonreiche Luft von niederen Breiten in die SüdpolRegion einströmen kann (Rückbildung der normalen Ozonsphäre). Über dem Nordpol liegt im Winter kein Zyklon ähnlichen Ausmaßes, sodass dort die Ozonreduktion weniger einschneidend ist.
522
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
ca. 100 Jahre), verhält sich in der Troposphäre chemisch inert und entwickelt erst in der an geeigneten Photonen sowie O-Atomen reicheren Stratosphäre chemische Aktivitäten hv
(k < 240 nm)
N 2 + O;
N20 + O(D)
N2 + 0 2
N20 + O(D) ^
2NO.
Letztere Reaktion stellt eine wichtige Quelle für Stickstoffmonoxid NO in der Stratosphäre dar, das sich zudem aus Luft in Düsen von Überschallflugzeugen sowie bei der Einwirkung solarer Protonen bildet. Wegen seiner langen stratosphärischen Lebensdauer (T = 2 bis 3 Jahre) verteilt sich NO in diesem Bereich global Troposphärisches NO entsteht demgegenüber durch Mikrobentätigkeit aus N 2 , N H 4 , N 0 2 , NO 3 , bei Gewittern in der Luft sowie als Begleiterscheinung der Verbrennung in Automotoren (Hauptquelle) und Feuerungsanlagen. Es verteilt sich in der unteren Atmosphäre nur lokal (T ca. 1 Tag) und verschwindet insbesondere durch Oxidation zu Stickstoffdioxid N O mit Ozon oder dem Perhydroxyl-Radikal (s.u.; 3 0 2 oxidiert NO in der vorliegenden kleinen Konzentration extrem langsam; vgl. S. 709). NO 2 (T = einige Tage) verwandelt sich durch Aufnahme eines OH-Radikals weiter in Salpetersäure HNO 3 (T = einige Tage), die einerseits mit dem Regen ausgewaschen wird und andererseits mit OH zu kurzlebigem Stick stofftrioxid NO abreagieren kann
Die erwähnten Stickstoffoxide stellen Komponenten des photochemischen Smogs (,,Los-Angeles Smog")i 8 dar, der während windarmer Schönwetterperioden in Ballungsgebieten mit hoher Fahrzeugdichte, d.h. hohem NO-Ausstoß, entsteht. N 0 2 bewirkt dann eine Bildung von Ozon und Peroxyacylnitraten (,,PAN"), die typische Atemgifte des Smogs darstellen (die O 3 -Konzentration erhöht sich nicht nur direkt auf den im Schema wiedergegebenen Wegen, sondern auch dadurch indirekt, dass OHRadikale, welche den Ozonzerfall katalysieren, durch Reaktion mit N O , H N O sowie PAN verschwinden). Schwefeloxide. Schwefeldioxid S O gelangt in die Troposphäre durch Verbrennung fossiler Stoffe in Großfeuerungsanlagen (Hauptquelle), Haushalten und Automotoren. Auch entsteht es in der Atmosphäre durch Oxidation schwefelhaltiger Verbindungen (z. B. H S , CS 2 ) bio- oder geologischen Ursprungs. S 0 2 verteilt sich aufgrund seiner Lebensdauer von einigen zig Tagen regional im Umkreis bis zu mehreren tausend Kilometern und stellt eine wichtige Komponente des chemischen Smogsi8 dar. Der SO-Verlustmechanismus besteht in der Oxidation von gasförmigem sowie wassergelöstem SO mit OH, H 2 0 2 zu Schwefelsäure H 2 SO 4 , die zusammen mit der Säure H N O (s.o.) und anderen Säuren in geringeren Konzentrationen (u.a. HCl, C 0 2 , H 2 0 2 ) aus der Atmosphäre gewaschen wird (saurer Regen). Die laufende Erhöhung des S O - und NO-Ausstoßes hat in jüngerer Zeit zu einem beachtlichen Anstieg der Säureeinträge in die Gewässer und Böden geführt (Erniedrigung des pH-Werts des Regens von nor malerweise 5.0 bis 5.6 auf 4.0 bis 4.5 in vielen Erdregionen). Typische Folgen sind die verstärkte Erosion von Gebäudefassaden, der Rückgang von Seeplankton, die Schädigung von Amphibien- und Fischpopulationen, das Auswaschen einiger für das Pflanzenwachstum lebenswichtiger Ionen (u.a. K + , Mg 2 + , Ca2 + ) aus den Böden, das Freisetzen einiger Schwermetallionen (u.a. Cu2 + , Zn2 + , Cd2 + , Pb2 + , Mn2 + ). Letztere vergiften dann Böden, das Grundwasser, Flüsse, Seen und damit die Flora und Fauna. Die Säuren sind darüber hinaus - neben Produkten des photochemischen Smogs (O 3 , Aldehyde, PAN) Mitverursacher des weltweit seit einigen Jahren zu beobachtenden Waldsterbens (Einwirkung des sauren Nebels auf die Blattorgane; Einwirkung der im Boden freigesetzten Schwermetallionen auf das Feinwurzelwerk). Kohlenstoffoxide. Ca. 1/3 des giftigen Kohlenmonoxids CO (S. 896) bildet sich in der Atmosphäre durch OH-initiierte Oxidation von CH 4 (s.u.) und anderen Kohlenwasserstoffen, ca.2/3 entstehen als Folge der unvollständigen Verbrennung fossiler Stoffe insbesondere auf der - fahrzeugreichen - Nordhalbkugel der Erde. Seine Lebensdauer von ca. 2 Monaten bedingt eine hemisphärische Verteilung. Mit wachsender Höhe nimmt die CO-Konzentration bis ca. 20 km ab, dann - als Folge der in größeren Höhen rasch erfolgenden Oxidation von CH 4 und der Photolyse von CO 2 - wieder zu. Kohlenmonoxid verschwindet insbesondere durch Reaktion mit dem Hydroxyl-Radikal OH, das durch Folgereaktionen des gleichzeitig gebildeten Wasserstoff-Atoms wieder zurückgebildet wird (vgl. S.519):
1. Der Sauerstoff
CO
+OH
0 2 H + NO
CO
CO
O2H
> OH + NO'2
CO
NO
2O'2 — > C O 2 + O 3
OH
CO
O2H + o 3
OH
CO
523
2O'2
> CO 2 + o 2
Bei vergleichsweise hohen (z.B. durch starken Verkehr verursachten) NO-Konzentrationen wird gemäß der ersten Reaktionsfolge pro reagierendes CO-Molekül ein Molekül Ozon gebildet, wobei Stickstoffmonoxid NO und das Hydroxyl-Radikal OH (erzeugt n a c h 0 3 + H 2 0 + hv -> 0 2 + 2OH; s.o.) als Katalysator wirken. Bei vergleichsweise niedrigen NO-Konzentrationen wird andererseits gemäß der zweiten Reaktionsfolge pro reagierendes CO-Molekül ein Molekül Ozon verbraucht Die Oxidation von CO stellt nur eine bescheidene Quelle für atmosphärisches Kohlendioxid C O dar, dessen Menge sich seit der Industrialisierung (um 1750) laufend global erhöht und derzeit ca.101 2 Tonnen beträgt. Zwar werden der Atmosphäre durch Ausgasen des Meers (das 60mal soviel C O enthält wie die Luft), durch Atmung der Tiere und durch Vulkanismus etwa die gleichen Mengen an CO zugeführt wie ihr durch Auflösen im Meer (ca. 10 n Tonnen pro Jahr), Assimilation der grünen Pflanzen (ca. 1 n Tonnen pro Jahr) und Verwitterung von Urgestein (ca. 108 Tonnen pro Jahr vgl. hierzu S. 1236) wieder entzogen werden („Kreislauf des Kohlendioxids", T ca. 30 Jahre). Die Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas liefert jedoch zusätzlich C O ; auch vermindert die Rodung tropischer Regenwälder den Anteil der durch Photosynthese verbrauchten CO -Menge Der CO-Konzentrationsanstieg ist aus folgenden Gründen für den Wärmehaushalt der Erdatmosphäre bedeutsam: Kohlendioxid sowie einige andere farblose, für sichtbares Licht durchlässige Atmosphärengase (insbesondere Kohlenwasserstoffe, Halogenkohlenwasserstoffe, Distickstoffoxid, Wasser) vermögen das von der Erde ausgehende infrarote Licht ( > 800 n m zu absorbieren und in Wärme umzuwandeln („Treibhauseffekt"; die IR-Strahlung bildet sich an der Erdoberfläche durch Umwandlung einfallender sichtbarer und UV-Strahlung (340-800 nm)). Ohne diesen Effekt wäre die Erde kalt und unbewohnbar. Der steigende Gehalt an CO ist dementsprechend mitverantwortlich für die beobachtete Verstärkung des Treibhauseffekts (zunehmende Erwärmung der Erdoberfläche). Kohlenwasserstoffe Methan und einige andere Kohlenwasserstoffe bilden sich bei der unvollständigen Verbrennung fossiler Stoffe sowie der anaeroben Vergärung organischer Materie durch Mikroben (,,Sumpfgas") und gelangen auch durch Verdunstung von Benzin (aus Tanks, während des Umfüllens), in die Atmosphäre. CH 4 verteilt sich global (T ca. 7 Jahre). Der letztendlich zu CO führende Methanabbau wird im wesentlichen durch OH-Radikale in der Troposphäre und durch O-Atome in der Stratosphäre initiiert CH
OH
CH
O,
CH
O( D)
CH
OH
Oxidationszwischenprodukte sind u.a. Aldehyde und (bei NO-Anwesenheit) Peroxyacylnitrate, die giftige Bestandteile des photochemischen Smogs darstellen (s.o.). Halogenkohlenwasserstoffe Unter den atmosphärischen Halogenkohlenwasserstoffen sind ,,Chlor",,Brom"- und ,,Iodmethan" CH 3 Hal (Hal = Cl, Br, I) sowie ,,Tetrachlormethan" CC14 auch natürlichen Ursprungs, ,,Chlormethane" wie CH3CC13 oder Chlorfluorkohlenwasserstoffe („FCKW'" „CFKW") wie CC13F, CC12F2, CHClF 2 ausschließlich anthropogenen Ursprungs. Wegen ihrer langen Lebensdauer (bis über 100 Jahre) verteilen sich die - für Spraydosen, Kühlaggregate, Feuerlöscher, Lösungsmittel, Trockenreiniger, Schäume usw. früher genutzten und von dort in die Atmosphäre abgelassenen - Chlorfluorkohlenwasserstoffe (jährlicher Ausstoß ca. 2 x 106 Tonnen) global. Die wasserstofffreien Verbindungen sind in der Troposphäre stabil und werden erst in der Stratosphäre abgebaut (Cl-Atombildung durch UVBestrahlung oder O-Atomeinwirkung), die wasserstoffhaltigen Verbindungen setzen sich zudem mit OHRadikalen um (u. a. Bildung von H 2 O und Cl) und können demzufolge auch in der Troposphäre abgebaut werden. Die gebildeten Chloratome katalysieren den Ozonzerfall (S. 519) und tragen wesentlich zur Verminderung der Ozonsphäre bei (vgl. „Ozonloch"). Darüber hinaus verstärken die Halogenkohlenwasserstoffe den ,,Treibhauseffekt" (s.o.) deutlich, indem sie infrarotes Licht (Wellenlängenbereich um 10000 nm) absorbieren. Somit stellen diese Verbindungen in doppelter Sicht ein schwerwiegendes Umweltproblem dar. Wegen ihrer hohen Lebenserwartung wäre die Atmosphäre allerdings auch nach weltweitem Emissionsstop noch mehrere hundert Jahre mit diesen Verbindungen belastet
524
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
1.3
Wasserstoffverbindungen des Sauerstoffs
1.3.1
Überblick
Systematik Außer dem Wasser (,,Dihydrogenoxid") H 2 0 (a) (AH{ = _ 286.02 kJ/mol) mit der weltweit wohl bekanntesten chemischen Formel gibt es noch eine zweite unter Normalbedingungen isolierbare weniger stark exotherme (AH{ = _ 187.9 kJ/mol), sauerstoffreichere Wasserstoffverbindung des Sauerstoffs, das Wasserstoffperoxid (,,Dihydrogendioxid"; „Dioxidan") H 2 0 2 (b). Die ebenfalls nur aus Wasserstoff und Sauerstoff bestehenden, noch sauerstoffreicheren Neutralmoleküle Dihydrogentrioxid („Trioxidan") H 2 0 3 (c) und Dihydrogentetraoxid (,,Tetraoxidan") H 2 0 4 (d) sowie die Radikale Hydroxyl (,,Hydrogenoxid") HO (e), Perhydroxyl (,,Hydrogendioxid") H O (f) und Hydrogenozonid (,,Hydrogentrioxid") H O (g) sind unter Normalbedingungen instabil; sie konnten aber mithilfe der Matrixtechnik2° bei tiefen Temperaturen isoliert und spektroskopisch nachgewiesen werden (die Gruppierungen HOH, HOO, OOO sind gewinkelt gebaut, die Gruppierungen HOOH, HOOO gauche-konformiert). Von H O und H O existieren isolierbare Salze M 1 *^ (S. 1285) und M P 3 (S. 1285), nicht aber von HO; auch lässt sich in Form von Derivaten wie COOOCF und F(O)COOOC(O)F isolieren (vgl Sauerstofffluoroxiden, S.481).
H
/
O
\ H
(a) H 2 O
A H
O (b) H 2 O 2
H H
/
O \
O
/
O \ H
(c) H 2 O3
O H
O Ö
H Ö
(d) H 2 O 4
H —HO (e) HO
U
/
O \
H
(f) H O 2
O
/ H
O \
O
/
O
(g) H O 3
Darstellung Die Moleküle H 2 0 ( n = 2, 3, 4) und Radikale HO„ (n = 1, 2, 3) entstehen als reaktive Zwischenprodukte bei der Vereinigung von H 2 und 0 2 zu H 2 O (,,Knallgasreaktion") oder durch Einwirkung (thermischer, elektrischer, elektromagnetischer usw.) Energie auf weltweit zugängliches Wasser, darüber hinaus bei einigen Redoxreaktionen des Wasserstoffperoxids. Demgemäß spielen die betreffenden Teilchen bei Verbrennungen und Explosionen sowie für die Wasser- und Atmosphärenchemie eine wichtige Rolle. H 2 0 2 und H 2 0 lassen sich zudem durch Hydrierung von Sauerstoff bzw. Ozon in organischen Medien mit wasserstoffliefernden Reagenzien RH wie 2-Ethylanthrachinon (vgl. Formel auf S. 534) gemäß 02 + R H
H202 + R
bzw.
O 3 + RH 2
H203 + R
gewinnen. Ersterer Prozess wird technisch zur H 2 0-Darstellung genutzt (S. 534), letztere Umsetzung muss wegen der Labilität von H 2 0 bei _ 78 °C durchgeführt werden (zv% für H 2 0 3 -> H 2 0 + 0 2 in wässeriger HCl0 4 vom pH = 2 beträgt bei Raumtemperatur 0.2 Sekunden). Metastabile Lösungen von H 2 0 3 in Aceton oder Tetrahydrofuran, die neben H 2 0 3 nur noch H 2 0 enthalten, lassen sich durch Ozonierung eines unlöslichen Harzes bei _ 78 °C erzeugen, das 1,2-Diphenylhydrazin-Reste —O—C 6 H 4 —NH—NH—C 6 H 5 gebunden enthält. Hydrierend wirkt hinsichtlich 0 3 auch Wasserstoffperoxid: O3 + H 2 0 2 -> H 2 0 3 + 0 2 (s. u.). Tatsächlich wirken Gemische von 0 3 und H 2 0 2 rascher und durchgreifender oxidierend als 0 3 bzw. H 2 0 2 für sich alleine; sie werden als ,,Peroxon" (von Wasserstoffperoxid und Ozon) zur oxidativen Reinigung von Böden oder Wasser, die mit organischen Stoffen verseucht sind, genutzt. Des Weiteren bilden sich H 2 0 3 bzw. H 2 0 4 durch Hydratisierung von Singulett-Sauerstoff bzw. Ozon als kurzlebige Reaktionszwischenprodukte in Nischen von Antikörpern und T-Zellrezeptoren des Immunsystems von Organismen bei Abwesenheit überschüssigen Wassers: ' 0 2 + H 2 0 -> H 2 0 3 ; O3 + H 2 0 -> H 2 0 4 (s. u.). Die Reaktionen dienen zur 'O 2 -Entgiftung; darüber hinaus zerstört H 2 0 3 alle von Antikörpern erkannten Fremdspezies ohne Beteiligung anderer Bestandteile des Immunsystems oxidativ Bezüglich der Erzeugung der Radikale HO und H O vgl. S. 521. H O konnte durch „NeutralisationsReionisationstechnik" im Massenspektrometer (S. 68) aus H O (gewinnbar aus H3+ und 0 3 ) erzeugt und als lebensfähige, in HO und 0 2 zerfallende Spezies (zy% > 10_ 6 s), nachgewiesen werden. Redox-Verhalten. Thermodynamische Aspekte Nachfolgend sind die Potentialdiagramme einiger Oxidationsstufen des Sauerstoffs für pH = 0 und 14 wiedergegeben (vgl. Anh. VI), denen zu entnehmen ist, dass die Oxidationskraft der betreffenden Spezies in saurer Lösung, die Reduktionskraft in alkalischer Lösung größer ist (stärkstes Oxidationsmittel HO, stärkstes Reduktionsmittel 0 2 ).
2° Unter der - zur Isolierung instabiler Verbindungen dienenden - „Matrix-Technik" (matrix (lat.) = Mutterboden) versteht man die Einbettung des zu untersuchenden Stoffs in großer Verdünnung in eine feste Matrix aus einem inerten Material bei tiefen Temperaturen (z. B. in festes Argon oder in festen Stickstoff bei der Temperatur des flüssigen Heliums (Sdp. _ 268.9°C)). Auf diese Weise werden Wechselwirkungen der zu untersuchenden Spezies (z. B. Dimerisierungen) verhindert Literatur H. Schnöckel, S. Schunck: „Matrixisolation: Erzeugung und Nachweisreaktionen reaktiver Moleküle", Chemie in unserer Zeit 21 (1987) 73-81.
1. Der Sauerstoff pH = 0
525
pH = 14 1.229
-0.125 .
HO
1.515
-H,0:
0.68
0.401 2
HO/H20
0.695
2.85
I
-2 2H 2 -2
±°
02
- 0.33
1.763
-12 02
0.20
-1
H02
-0.29
2
HO/HO ~
0.065
2.02
-2
2H-2"
0.867
Ersichtlicherweise erfolgen die Disproportionierungen^ß2 -> 0 2 /H2O bzw. H 0 2 0 2 /H 2 O bzw. HO -> H 2 0 2 ^ 0 freiwillig. Sie sind jedoch zum Teil kinetisch gehemmt (S. 535, 391). - Kinetische, mechanistische Aspekte Bezüglich der Geschwindigkeiten und der Reaktionswege von Redoxreaktionen des Wasserstoffperoxids vgl. S. 537. Bildung und Zerfall von Dihydrogentri- und -tetraoxid erfolgen - nach bisherigen, auf ab-initio-Studien beruhenden Kenntnissen - über Wasserstoffbrückenaddukte von 0„, H 2 0„, HO„. So spielt im Falle der exothermen Hydrierung 0 3 + H 2 0 2 -> H 2 0 3 + 3 0 2 (bzw. '0 2 ) das sich leicht bildende Addukt (h) eine tragende Rolle (AHt ca. — 64 kJ/mol; E0 klein). Es verwandelt sich thermisch direkt in H 2 0 3 und 3 0 2 oder ' 0 2 (zfff, ca. — 71 bzw. + 13 kJ/mol; 18 0 3 l i e f e r t 18 0 18 0 18 OH), photochemisch indirekt unter O2-Eliminierung auf dem Wege über den Komplex OH 'OOH in H 2 0 3 ( 18 0 3 l i e f e r t 18OOOH). Die endotherme Additionl02 + H20 -> H 2 0 3 wird andererseits durch ein H 2 O-Molekül katalysiert, das zusammen mit den Edukten 'Ö 2 /H 2 O den - in H 2 0 3 und H 2 O übergehenden - Komplex (i) bildet (Ea ca. 139 kJ/mol; ohne H2O-Katalyse: 256 kJ/mol; die ursprünglichen H 2 O-Moleküle sind in (i) durch Fett- und Kursivdruck hervorgehoben). Umgekehrt katalysiert H 2 O naturgemäß den exothermen Zerfall von H 2 0 3 in H 2 O und 0 2 auf dem Wege über (i), sodass H 2 0 3 nur in Abwesenheit von H 2 0 einigermaßen metastabil ist (£ a in Anwesenheit von 0, 1, 2 HO-Molekülen 189, 53, 1 kJ/mol). Allerdings katalysiert auch H 2 0 3 seinen eigenen Zerfall 2H 2 0 3 -> 2H 2 0 2 + 0 2 , wobei sich (H 2 0 3 ) 2 zunächst in den aus O3, H O und H 2 0 2 zusammengesetzten Komplex (k) umlagert, der in Wasserstoffperoxid H 2 0 2 sowie Dihydrogentetraoxid übergeht (Fettdruck in (k)). zersetzt sich seinerseits über das (HO )Dimere (l) in Wasserstoffperoxid und Sauerstoff. H
H I
.H—O o-
\
I
9 ••' O—H
(h) H O 2 H O 3
H
H
I
: ^ o ^
o H
(i) H 2 O 3 H 2 O
/
o-
\
I • o„
0 1 o.
H
O-H—O.
O—H (k) O 3 H 2 O 2 H 2 O
o I ,0 'H
(l) HO 2 H O 2
1.3.2 Wasser und die Hydrosphäre 2,21,22
Vorkommen
Das Wasser bedeckt in Form der Ozeane 71 % der Erdoberfläche. Der Rest ist von Wasserläufen durchzogen und enthält Seen sowie Grundwasser. Auch am Aufbau der Pflanzen- und Tierwelt ist das Wasser in bedeutendem Maße beteiligt. So besteht z. B. der menschliche Körper zu über 50 % aus Wasser, manche 21 Literatur. M . C . R . Symons: „ Water Structure and Reactivity", Acc. Chem. R e s 14 (1981) 179-187. T. Mann: „Die Entwicklung der Abwassertechnik und Wasserreinhaltung", Chemie in unserer Zeit 25 (1991) 87-95; GMELIN: „ Water Desalting", System-Nr.3; ULLMANN: „Water", A28 (1995); R.Ludwig: „Wasser: von Clustern in die Flüssigkeit", Angew. C h e m 113 (2001) 1856-1876; Int. E d 40 (2001) 1808; J.M.Ugalde, I.Alkorta, J. Elguero: „ Wassercluster: auf dem Weg zu einem Verständnis anhand von Grundprinzipien ihrer statischen und dynamischen Eigenschaften", Angew. C h e m 112 (2000) 733-737; Int. Ed. 39 (2000) 717; COMPR. COORD. CHEM.: „Oxygen Ligands" (vgl. Vorwort); H. Weingärtner, E.U.Franck: „ Überkritisches Wasser als Lösungsmittel", Angew. C h e m 117 (2005) 2730-2752; Int. E d 44 (2005) 2627; L . R . P r a t t (Hrsg.): „Water", Chem. Rev. 102 (2002) 2625-2854; mehrere Autoren: „Role of Water in Electron-Initiated Processes and Radical Chemistry: Issues and Scientific Advances", Chem. R e v 105 (2005) 355-389; R.I. Walton: ,,Subcriticalsolvothermalsyntheses of condensedinorganic materials", Chem. Soc. Rev. 31 (2002) 230-238; J. Müller, H. Lesch: „ Woher kommt das Wasser auf die Erde?", Chemie in unserer Zeit 37 (2003) 242-247; R.Ludwig, D.Paschek: „Wasser: Anomalien und Rätsel", Chemie in unserer Zeit 39 (2005) 164-175; R. van Eldik, I. Bertini (Hrsg.): ,,Redoxometry of Water-MetalIon Interactions", Adv. Inorg. C h e m 57 (2005) 1 -470; S. Licht: „Thermochemical solar hydrogen generation", Chem. Commun. (2005) 4635-4646. 22 Geschichtliches Die Menschheitsgeschichte ist in jeder Hinsicht eng mit dem Wasser (griech: hydro; lat.: aqua) verknüpft. So konnte Leben nur im Medium Wasser entstehen. In vielen Mythen und Religionen spielt es eine wichtige Rolle. Thales von Milet sah ca. 585 v. Chr. im Wasser ein fundamentales Prinzip der Natur. Die in China ca. 600 v. Chr. entwickelte Vorstellung, Wasser sei ein Element, hielt sich bis ins Mittelalter. Erst H. Cavendish erkannte 1784 den Verbindungscharakter des Wassers und seinen Aufbau aus den Elementen Wasserstoff und Sauerstoff.
526
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Gemüse und Früchte, z.B. Blumenkohl, Radieschen, Spargel, Kürbis, enthalten mehr als 90%, einige wirbellose Meerestiere über 95% Wasser. Die Atmosphäre kann bis zu 4 Vol.-% Wasser in Dampfform aufnehmen und gibt es bei Druck- und Temperaturänderungen in flüssiger („Nebel", „Wolken", „Regen") oder fester Form („Reif", „Schnee", „Hagel") wieder ab. Schließlich enthalten auch zahlreiche Mineralien chemisch gebundenes Wasser (z.B. als „Kristallwasser"). Die Gewichtsverteilung der als Hydrosphäre bezeichneten (nicht-zusammenhängenden) Wasserhülle der Erde auf die unterschiedlichen Wasservorkommen beträgt (Gesamtmasse der Hydrosphäre ca. 1.7 x 10i s Tonnen; 109 t H 2 0 « 1 k m ) : Ozeane 14100 x 10141 Salzseen ) i4 Binnenmeere j
Grundwasser Seen Flüsse
84 x 10141 1.3 x 1 0 " t 0.013 x 1 0 " t
Eis 290 x10i4t Luft 0.12 x 1 0 " t Gesteine 2600 x10"t
Abzüglich des chemisch in Gesteinen gebundenen Wassers besteht die Hydrosphäre zu ca.97 Gew.-% aus Salzwasser (Ozeane: 97.4%; Rest: 0.007%) und zu ca.3 Gew.-% aus Süßwasser (Grundwasser: 0.6%; Seen: 0.009%, Flüsse: 0.0001 %; Polareis und Gletscher: 2.0%; Wasserdampf: 0.0008%). Durch Verdunstung werden der Atmosphäre ca. 3.5 x 1 0 " Tonnen Wasser pro Jahr zugeführt; 90% hiervon kehren als Niederschlag ins Meer zurück, 10% schlagen sich auf dem Land nieder oder werden von Pflanzen aufgenommen Kreislauf des Wassers).
Reinigung Wegen der weiten Verbreitung erübrigt sich eine chemische Darstellung des Wassers. Die Gewinnung reinen Wassers läuft stets auf die Reinigung natürlicher Wässer hinaus. Unter den natürlichen Süßwässern ist das „Regenwasser" relativ rein, da es einen natürlichen Destillationsprozess durchgemacht hat. Es enthält jedoch Staubteilchen und Senkengase aus der Luft (u. a. N 2 , O 2 , C0 2 , H 2 SO 4 , H N O , HCl; vgl. S.520). „Grund"-, „Quell", „Fluss"- und „Seewasser" (pH meist 6-8) enthalten 0.01 bis 0.2% gelöste Stoffe, und zwar insbesondere Ca2 + , Mg2 + , Na + , HCO 3 (meist Hauptanteil), SO2~, Cl". Sind weniger Calcium- und Magnesiumverbindungen vorhanden, so nennt man das Wasser weich, anderenfalls hart (S. 1250). Quellwässer (juvenile Wässer), die größere Mengen Mineralien (über 1 g pro kg Wasser) enthalten, nennt man Mineralwässer. Ihnen kommt häufig eine besondere Heilwirkung zu. Je nach den gelösten Stoffen unterscheidet man Solwässer (mit Kochsalz), Bitterwässer (mit Magnesiumsalzen), Schwefelwässer (mit Schwefelwasserstoff), Säuerlinge (mit Kohlensäure), Eisenwässer (mit Eisensalzen) usw. In entsprechender Weise charakterisiert man Flusswässer (analoges gilt für Seewässer) nach seinen Hauptmineralbestandteilen und spricht etwa von Flüssen des Calciumcarbonat-Typs (z. B. Amazonas, Missisippi), des Calciumsulfat-Typs (z. B. Colorado), NatriumchloridTyps (z.B. Jordan). Allerdings sind heute viele Flüsse durch Stoffe menschlicher Aktivitäten mehr oder weniger verschmutzt Unter den natürlichen Salzwässern enthält das „Meerwasser" (pH meist 8.1-8.3) neben Gasen durchschnittlich 3.0 Gew.-% Alkalihalogenid und insgesamt ca. 3.5 Gew.-% Salze (Gesamtgehalt: ca. 5 x 10ifi Tonnen). Darunter finden sich - wenn auch teilweise nur in äußerst geringen Mengen - Verbindungen bzw. Ionen von etwa 80 verschiedenen Elementen (vgl. hierzu Tafel II). Hauptbestandteile sind O 2 , N 2 , C O , Ar, Li + , Na + , K + , Rb + , Mg2 + , Ca2 + , Sr2 + , F", Cl", Br", SC>2", N O , , H 3 BO 3 , H 4 Si0 4 . (Man gibt die Menge gelöster Gase in Milliliter Gas (1 Atm.) pro Liter Wasser, die Menge gelöster Ionen („Chlorinität", „Salinität") in Gramm Ionen pro Kilogramm Wasser (%o) an. 1 l (kg) Meerwasser enthält 0 - 9 m l O 2 , 8.4-14.5ml N 2 , 34-56ml C O , 0.2-0.4ml Ar, 0 - 2 2 m l H 2 S, 10.56g Na + , 0.38g K + , 1.27 g Mg2 + , 0.40 g Ca2 + , 18.98 g Cl", 0.07 g Br", 2.65 g SO2~, 0.14 g HCO 3 , 0.03 g H 3 BO 3 .) Trinkwasser Aus Wasser, das getrunken werden soll, entfernt m a n nicht alle gelösten Stoffe, da völlig reines Wasser fade schmeckt. Die erwünschten (bzw. maximal zugelassenen) Konzentrationen betragen für Mg2+ 30 mg/l (150mg/l), f ü r Ca2+ 75 mg/l (200mg/l), für C l " 20 mg/l (60 mg/l), für SO2~ 200 mg/l (400 mg/l), für N O 3 25 mg/l (50 mg/l) und für die Salze insgesamt 500 mg/l (1500 mg/l). Am besten geeignet als Trinkwasser ist im allgemeinen,,Quellwasser", dessen erfrischender Geschmack von etwas gelöster Kohlensäure und L u f t herrührt. In Ermangelung dessen nimmt m a n ,,Grund"-, „Fluss"- oder ,,Seewasser". Insbesondere in letzteren beiden Fällen ist eine sorgfältige Reinigung notwendig. Die Wasserreinigung kann folgende Schritte umfassen: (i) Ausflockung kolloidal verteilter Stoffe (organische Verbindungen, Tonminerale) durch deren Adsorption an ,,M(OH) 3 -Flocken" (M = Al, Fe), die sich nach Zugabe von M 2 (SO 4 ) 3 bzw. FeCl(SO) zum Wasser bei pH 6.5-7.5 (M = Al) bzw. 8.5
1. Der Sauerstoff
527
(M = Fe) bilden. Das so vorbehandelte Wasser wird filtriert. (ii) Oxidation unerwünschter Stoffe wie pathogener Keime, Fe2 + - sowie Mn2 + -Ionen, Ammoniak mit „Chlor" (,,Durchbruchschlorung"), „Ozon" (,,Ozonisierung") oder ,,Chlordioxid" (vgl. S.482). In ersterem Falle werden unerwünschterweise auch gelöste organische Stoffe wie Phenol, Kohlenwasserstoffe chloriert. Gebildetes Fe(III)- und Mn(IV)oxidHydrat wird abfiltriert. (iii) Entfernung gelöster organischer Stoffe durch Behandlung des Wassers mit „Aktivkohle" in gekörnter oder pulverisierter Form. Die Operation führt zugleich zur Zersetzung der Oxidationsmittel Cl2 oder O 3 , zur Oxidation von Ammoniak sowie zur Ausflockung der Eisen- und Manganoxid-Hydrate. Um eine Re-infektion des Wassers zu verhindern, erfolgt anschließend eine ,,Sicherheitschlorung" mit 0.1-0.2 mg Cl2 pro Liter Wasser. Wachsende Bedeutung erlangt in trockenen Gebieten wie der Arabischen Halbinsel zudem die Nutzbarmachung von ,,Meerwasser" als Trinkwasser. Hierzu wird dieses durch ,,Destillation" (,,vielstufige Entspannungs-Verdampfung", s.u.) bzw. durch ,,umgekehrte Osmose" entsalzt (bezüglich Osmose vgl. S.35). In letzterem Falle drückt m a n das Meerwasser bei 4 0 - 7 0 bar durch semipermeable, nur Wasser durchlassende Membranen u.a. aus Acetylcellulose oder Polyamid. Brauchwasser In Haushalten, Laboratorien und technischen Geräten benötigt m a n - etwa f ü r Waschmaschinen, analytische Operationen, Dampfkessel - vielfach HCO3-freies (,,teilenthärtetes",,,teilentsalztes") oder ionenarmes bzw. sehr reines (,,vollentsalztes") Wasser, das durch ,,Austreiben" von C O , durch ,,Ionenfällung", durch ,,Ionenkomplexbildung", durch ,, Wasserdestillation" oder durch Einsatz von ,,Ionenaustauschern" erhältlich ist. Teilentsalzung Die Entfernung des im Süßwasser als Ca(HCO 3 ) 2 gelösten Hydrogencarbonats HCO 3 , das unter anderem die Bildung von Kesselstein CaCO 3 verursacht (S. 1249), kann nach Zuatz von Schwefelsäure durch,,Austreiben" von C O oder nach Zusatz von Calciumhydroxid durch Ausfällen von festem Calciumcarbonat erfolgen (hierbei gebildetes CaSO ist vergleichsweise löslich): Ca(HCO 3 ) 2 + H 2 SO 4
CaSO4 + 2 H 2 0 + 2 C 0 2 ,
Ca(HCO 3 ) 2 + Ca(OH)2
2CaCO 3 + 2H 2 O.
2+
Die Reinigung des Wassers von Ca -Ionen kann auch durch Komplexbildung mit Polyphosphaten (S. 806) erfolgen Vollentsalzung Das u. a. für Hochleistungsdampfkessel oder in der Elektronikindustrie benötigte Wasser sehr hoher Reinheit erhält man aus natürlichem Süß- bzw. Salzwasser, indem man es der Destillation unterwirft, wobei die gasförmigen Stoffe entweichen und die festen Stoffe im Destilliergefäß zurückbleiben. Soll das Wasser vollkommen rein gewonnen werden, so ist eine mehrmalige Destillation (,,vielstufige Entspannung-Verdampfung") in Edelmetallapparaturen erforderlich, wobei jeweils nur die mittleren, reinsten Fraktionen in einer Edelmetall-Vorlage gesondert aufgefangen werden Ionenarmes Wasser mit Restgehalten von höchstens 0.02 mg Salz pro Liter H 2 O erhält man aus Süßwasser andererseits durch chemische Bindung der Kationen und Anionen in anorganischen (,,Zeolith A", ,,Permutit", „Sasil", S.972) oder organischen (,,Wolfatit", ,,Amberlit", ,,Levatit", ,,Dowex") Ionenaustauscher^3. Namentlich die organischen Kunstharzaustauscher werden zur Enthärtung von Wasser verwendet, da sie eine Vollentsalzung harten Wassers ermöglichen. Man leitet zu diesem Zweck das Wasser durch zwei Säulen, deren erste Polymerisate mit sauren Gruppen enthält (z.B. sulfonsäuregruppenhaltiges Polystyrol SO H), welche die Kationen des harten Wassers gegen Wasserstoff-Ionen aus
23 Ionenaustauscher sind feste, wasserunlösliche (aber hydratisierte) Salze, Säuren oder Basen, welche als Kationenb z w Anionenaustauscher Kationen (einschließlich des Protons) oder Anionen (einschließlich des Hydroxids) gegen andere Elektrolyte austauschen. Sie sind teils natürlichen (Zeolithe, Montmorillonite, Bentonite und andere Alumosilicate), teils künstlichen Ursprungs. Zu letzterer Gruppe gehören alle organischen Ionenaustauscher. Sie bestehen aus einem hochmolekularen organischen Gerüst („Matrix"; z. B. Polystyrol), an das geladene und ungeladene „Ankergruppen" (—SOf, — S O H , —CO^, —CO 2 H, —NMe 2 , —NMe 3 + ) mit austauschbaren Metall-Kationen, Protonen bzw. Hydroxid-Anionen geknüpft sind. Man nutzt sie zur Ionenabtrennung aus der Lösung (z. B. —SO 3 Na + 0,5Ca 2 + —SO 3 Ca 0 5 + N a + ; 1 Liter Polystyrolsulfonsäure nimmt etwa 40g CaO auf), zur Ionentrennung (wachsende Ionenaffinität in der Reihe L N C M A C und in der Reihe C B < N O < H S O < I"). Mit dem Hauptteil der synthetisierten Ionenaustauscher wird Wasser aufbereitet (s. o.); der geringere Teil dient zur Nahrungsmittelreinigung, zur Reinigung und Isolierung von Pharmaka, als Depot für SrSO4, B a S O und R a S O (treten zum Unterschied von C a S O stets wasserfrei auf). Analoges gilt für die Nitrate der Erdalkalimetalle. - Literatur. C.B. Amphlett: , Jnorganic Ion Exchangers", Elsevier, New York 1964; J.A. Marinsky, Y. Marcus (Hrsg): ,,Ion Exchange and Solvent Extraction", Marcel Dekker, New York 1981; ULLMANN (5. Aufl.) ,,Ion Exchange", A H (1989) 393-459.
528
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
tauschen, während die zweite solche mit basischen Gruppen (z. B. ammoniumgruppenhaltiges Polystyrol R—NMe 3 OH~) aufweist, welche die Anionen binden und dafür Hydroxid-Ionen abgeben: R—SO 3 H + M + ^ R—SO 3 M + H +
bzw.
R — N M e ^ H ' + A " ^ R — N M e 3 + + OH~
(M + = Metalläquivalent, z.B. |Ca2 + ; -^Mg2 + ; A~ = Anionenäquivalent, z.B. iSO2~, Cl"). Die H + Ionen werden durch die OH~-Ionen neutralisiert, sodass salzfreies (,,de-ionisiertes") Wasser hinterbleibt, dessen Reinheit in der Regel allen Ansprüchen genügt. Die Regenerierung der Filter erfolgt durch Umsetzen mit Säuren bzw. Laugen (Umkehrung obiger Vorgänge). Man verwendet auch ,,Austauschermischbette", in denen nebeneinander die Austauscher in der Protonen- und Hydroxid-Form vorliegen. Zu ihrer Regenerierung trennt man die Mischung durch einen starken Wasserstrom von unten in eine leichtere obere Zone mit Kationen- und schwerere untere Zone mit Anionenaustauscher, die unabhängig voneinander weiterbehandelt werden Reinheitsprüfung von Wasser Ein ausgezeichnetes Merkmal für die Reinheit des Wassers liefert die Messung des elektrischen Leitvermögens, das mit zunehmender Reinheit abnimmt Vollkommen reines Wasser besitzt bei 18°C eine spezifische Leitfähigkeit von nur 4x 10~ s reziproken Ohm ( „Siemens") pro cm. Demgegenüber beträgt z. B. das spezifische Leitvermögen des Kupfers bei der gleichen Temperatur 6 x 105 reziproke Ohm/cm. 1 Kubikmillimeter reinstes Wasser besitzt also bei Raumtemperatur den gleichen elektrischen Widerstand wie ein Kupferdraht von 1 m m Querschnitt und (6 x 10 5 ): (4x 10 _ s ) = 1.5 x 1 0 " mm = 15Millionen Kilometer Länge.Diese Drahtlänge entspricht der 40fachen Entfernung zwischen Erde und Mond! Die geringsten Spuren von Salzen oder die Aufnahme von Kohlendioxid aus der Luft steigern das Leitvermögen des Wassers erheblich. So besitzt z. B. das für Leitfähigkeitsmessungen Verwendung findende besonders reine ,,Leitfähigkeitswasser" schon eine spezifische Leitfähigkeit von 1 x 10~ 6 reziproken Ohm/cm, entsprechend dem 25fachen Wert von völlig reinem Wasser.
Physikalische Eigenschaften 2,21 Reines Wasser ist bei gewöhnlicher Temperatur eine geruch- und geschmacklose, durchsichtige, in dünner Schicht farblose, in dicker Schicht bläulich schimmernde, den elektrischen Strom nichtleitende (s.o.) Flüssigkeit, welche definitionsgemäß bei 0°C zu Eis erstarrt und bei 100°C unter Bildung von Wasserdampf siedet (vgl. hierzu das Zustandsdiagramm auf S.35). Seine kritische Temperatur beträgt 373.98°C, der kritische Druck 220.5 bar, die kritische Dichte 0.322 g/cm3 (vgl. hierzu S.264), die Schmelzenthalpie 6.010 kJ/mol bei 0°C, die Verdampfungsenthalpie 40.651 kJ/mol bei 100°C (vgl. hierzu auch Tab. 60 auf S. 533)24. Die Abgabe und Aufnahme der Erstarrungs- bzw. Schmelzwärme durch die im Winter unter Wärmeentwicklung gefrierenden und im Frühling unter Wärmeverbrauch wieder auftauenden Wasser massen trägt wesentlich zum Temperaturausgleich unserer Erdoberfläche bei. Außer der unterhalb 0°C existierenden, in dünner/dicker Schicht ebenfallsfarblosen) blauen hexagonalen Normaleismodifikation (Eis Ih), existiert unterhalb _ 120 °C eine kubische Tieftemperatureismodifikation (Eis Ic) mit vergleichbarer Dichte wie Eis I h , darüber hinaus kennt man 11 weitere dichtere Hochdruckeismodifikationen (Eis II-XII) sowie zwei durch Abschrecken bei Atmosphären- oder hohem Druck erhältliche amorphe Eisformen (unter den Hochdruckformen sind zwei Eis VI und VII bei Raumtemperatur und darüber stabil). Beim Übergang vom flüssigen in den festen Zustand dehnt sich das Wasser zum Unterschied von den meisten anderen Flüssigkeiten unter Abnahme der Dichte um 9% aus (Dichte von Eis/Wasser bei 0°C = 0.9168/0.9999 g/cm3), was geologisch insofern von Bedeutung ist, als im Winter das in die Risse und Spalten von Gesteinen eingedrungene Wasser beim Erstarren die Felsmassen sprengt und so durch Schaffung neuer Oberflächen die Verwitterung fördert und eine Neubildung des für die Vegetation erforderlichen Erdbodens ermöglicht. Mit steigender Temperatur nimmt die Dichte des flüssigen Wassers - ebenfalls zum Unterschied von fast allen anderen Flüssigkeiten - zunächst bis 4°C (exakt: 3.98°C) zu, um erst dann wie bei den meisten sonstigen Flüssigkeiten abzunehmen (0°C: 0.9999, 4°C: 1.0000, 10°C: 0.9997, 15°C: 0.9991, 20°C: 0.9982, 25 °C: 0.9971,100°C: 0.9584 g/cm 3 ). Alles Wasser von höherer und tieferer Temperatur als 4°C ist somit leichter als Wasser von 4°C. Auch diese Tatsache ist in der Natur von Bedeutung. So kühlt sich das Wasser von Seen bei Frostperioden zunächst nur bis 4 °C ab, da das 4 °C kalte, schwerere Wasser nach unten sinkt und dafür das leichtere, wärmere Wasser an die Oberfläche kommt und dort auf 4 °C abgekühlt wird. Bei Abkühlung unter 4 °C bleibt das kältere Wasser auf der Oberfläche und erstarrt dort zu spezifisch leichtem und daher ebenfalls an der Oberfläche blei bendem Eis (Eisberge tauchen im Meerwasser nur zu etwa 9/10 ein). Dementsprechend kann die Kälte
24 Das Wasser diente früher häufig zur Definition von Maßeinheiten. So wurde z. B. die Masse eines Kubikzentimeters Wasser von 4 °C als 1 Gramm (g) - tausendfacher Wert: 1 Kilogramm ( k g - , bezeichnet. Die Wärmemenge, die erforderlich ist, um 1 g Wasser von 14.5 auf 15.5°C zu erwärmen, diente unter dem Namen „Kalorie" (cal 15 . c ) tausendfacher Wert: „Kilokalorie" (kcal 15 . c ) - als Wärmeeinheit (1 cal = 4.18680 J). Auch die Definition der Celsiustemperatur (°C) gründet sich auf das Wasser.
1. Der Sauerstoff
529
nur langsam in größere Tiefen vordringen, sodass tiefere Gewässer nie bis zum Grunde gefrieren, was für das Fortbestehen der Lebewesen im Wasser naturgemäß von Bedeutung ist. Das Verhalten von flüssigem Wasser weicht in fast jeder Hinsicht von den gewöhnlichen Flüssigkeiten ab. Alle Anomalien sind dabei für die belebte und unbelebte Natur von großer Bedeutung. Genannt seien außer dem erwähnten Gang der Dichte und den für ein kleines Molekül wie erstaunlich hohen Schmelz- und Siedepunkten sowie Schmelz- und Verdampfungsenthalpien (s. oben) u. a. die Oberflächenspannung, die Viskosität, die Wärmekapazität, die Protonen- und Hydroxidionen-Mobilität, das Lösungsvermögen, die ebenfalls unerwarteten Abhängigkeiten der betreffenden Wassereigenschaften von Druck und Temperatur. Tatsächlich bedingen die für flüssiges Wasser strukturbestimmenden Wasserstoffbrücken (s. unten) die anomalen Eigenschaften.
Strukturverhältnisse Gasförmiges Wasser weist eine weit größere Strukturvielfalt auf als gasförmiger Fluorwasserstoff (S. 448). Neben isolierten O-Molekülen ließen sich bisher in O-Gas bei tiefen Temperaturen dimere bis dekamere H2O-Spezies nachweisen. Das,, Wassermonomer" ist gewinkelt gebaut (vgl. Formelbild (a), C2vSymmetrie; dOH = 0.957Ä; HOH = 104.5°) und besitzt ein Dipolmoment von 1.85 D, was darauf zurückgeht, dass die positiven Bereiche der tetraedrisch lokalisierten Molekülladungen gemäß (a) bei den Wasserstoffatomen, die negativen Bereiche beim Sauerstoffatom liegen. Das ,, Wasserdimer" (b) weist eine lineare, asymmetrische Wasserstoffbrücke auf (S. 160) (Cs-Molekülsymmetrie; der O---O-Abstand ist mit 2.98Ä wesentlich länger als in flüssigem/festem Wasser: 2.85/2.76Ä). Die „Wassertrimeren", -,,tetrameren" und -,,pentameren" sind cyclisch und quasiplanar gebaut (bzgl. (H2O)5 vgl. S. 163; in Richtung (H2O)2, (H2O)3, (H2O)4, (H2O)5 abnehmende O O-Abstände als Folge kooperativer Effekte, S. 162). Die energetisch stabilste Form des ,, Wasserhexameren" ist der Cluster (c), der im H 2 O-Gas vorliegt (in (c) wie (d) und (e) bedeuten O---0 = O—H---O). Die etwas energiereicheren quasiplanaren Hexameren (d) werden in flüssigen He-Tröpfchen gebildet, die sesselförmigen Hexameren (e) liegen in Kanälen gewisser organischer Wirte vor. Die „Wasserheptameren", -,,nonameren" und -,,dekameren" leiten sich vom ,, Wasseroktameren" mit Sauerstoff an den Ecken eines Würfels dadurch ab, dass ein H 2 O-Molekül fehlt oder ein bzw. zwei H 2 O-Moleküle in Würfelkanten eingelagert sind.
, o - o . o-o"'"
o. V"o--°. ö - o . : ;
(d) ( H 2 O ) 6
(e) (H 2 O)6
>'
(a) H 2 O
(b) ( H 2 O ) 2
(c) ( H 2 O ) 6
o
0
Festes Wasser (Eis). In Normaleis Ih bzw. Tieftemperatureis Ic nehmen die O-Atome die Position der CAtome in hexagonalem bzw. kubischem Diamant ein (vgl. S. 868), wobei die H-Atome ungeordnet zwischen den O - -- O-Gruppen lokalisiert sind. Die Modifikationen Eis Ih bzw. Ic lassen sich auch von der Tridymitbzw. Cristobalitmodifikation des Siliciumdioxids Si0 2 herleiten (vgl. S.952), worin die Si-Atome durch O-Atome und die O-Atome durch H-Atome ersetzt sind. Jedes O-Atom in Eis Ih bzw. Ic ist tetraedrisch von vier anderen O-Atomen koordiniert O---O---0 = 104.5°; dO...0 = 2.765Ä ( 3 x ) und 2.752Ä), wobei die Verknüpfung der O-Atome über nichtlineare Wasserstoffbrücken O—H---O erfolgt (dOH ca. 1Ä, dn...0 ca. 1.8Ä, HOH ca. 105°). Charakteristisch für die Ih und I c -Strukturen des Eises sind ihrerseits untereinander über H-Brücken verknüpfte - zu Schichten kondensierte sesselförmige Wasserhexamere (vgl. (e)). Die Hochdruckmodifikationen II-XII leiten sich zum Teil ebenfalls von den Si0 2 Strukturen bzw. von SiO-Gerüsten in Silicaten (s. dort) ab. Z.B. existieren dichtere Cristobalitformen des festen Wassers mit ungeordneten (Eis VII) oder geordneten H-Lagen (Eis VIII). Entsprechendes gilt für die beiden Keatitformen (s. dort) des festen Wassers (Eis III, IX), wobei in den ,,geordneten" Modifikationen Eis II bzw. IX die Winkel H—O—H wiederum ca. 105°, einige Winkel O---O---O demgegenüber nur 88 bzw. 99° betragen. Flüssiges Wasser Die Wasserstruktur ist in Einzelheiten noch ungeklärt. Beim Schmelzen des Eises mit seinen weitmaschigen, von Hohlräumen durchsetzten Kristallstrukturen (s. oben) brechen etwa 15% der bestehenden H-Brücken auf, und es bilden sich aus dem dreidimensional-unendlichen Wassermolekülverband unter Umorientierung der H 2 O-Moleküle dichter gepackte dreidimensional-endliche Wassermolekül-Aggregate, die nebeneinander existieren (,,Mischungsmodelle") oder miteinander über Wasserstoffbrücken zu dreidimensional-unendlichen Netzwerken (,,Kontinuumsmodelle") verknüpft sind (wegen der kurzen, im Picosekundenbereich unter Brechen und Schließen von H-Brücken erfolgenden AggregatUmorientierungszeit liegen stets über 95% intakte H-Brücken vor). Dem Verdichtungsvorgang im Zuge einer Wassererwärmung über 0 °C wirkt die Volumenzunahme infolge Erhöhung der Molekülbewegungen mit der Folge eines Dichtemaximums von Wasser bei ca. 4°C entgegen.
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XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Ein aufregendes Strukturmodell des Wassers stellte im Jahre 1999 M.F. Chaplin vor. Hiernach baut sich Wasser aus Wasserpentameren und -hexameren auf, die miteinander zu einem aus 280 Molekülen H 2 0 bestehenden Aggregat verknüpft sind, das zwischen einer ausgedehnteren Form mit idealer Ikosaedersymmetrie (Dichte 0.94g/cm~3) und einer „kollabierten" Form mit nahezu Ikosaedersymmetrie (Dichte 1.00 g/cm~3) ohne Umorientierung der H-Brücken fluktuieren kann 25 . Das Modell erklärt nicht nur den Dichte- und Viskositätsverlauf mit der Temperatur, sondern auch die experimentell bestimmte radiale Verteilung (Maxima der O-•• O-Abstände) und die mittlere Zahl nächster Nachbarn (4.4) der H 2 0-Moleküle sowie durch wassergelöste Neonatome ermittelte Abstände von Hohlräumen in (H20)280. Clathrathydrate.2.21.26,27 In Wasser gelöste kleine unpolare Moleküle wie Ar, Kr, Xe, Cl2, Br2, CH4 bewirken eine Umstrukturierung des Wassers in der Weise, dass das H-Brückennetzwerk nunmehr statt vieler kleiner Hohlräume wenige große aufweist. Hierbei schmiegen sich im Sinne des Formelbildes (f) die O—H • • • O-Brücken tangential an das betreffende Teilchen an, welches seinerseits durch van-der-WaalsBeziehungen mit dem vorliegenden H 2 0-Verband das Clusternetzwerk stabilisiert. Beim Abkühlen der betreffenden Lösungen entstehen feste Einschlussverbindungen („Clathrathydrate", „Gashydrate", „Eishydrate"). In ihnen liegen ,,gefüllte" Hohlräume von H 2 0-Aggregaten vor, die ihrerseits miteinander zu dreidimensional-unendlichen H 2 0-Verbänden kondensiert sind. Clathrathydrate u. a. der Edelgase oder Halogene bauen sich etwa aus kleineren (H20)20-Pentagonikosaedern (g) und größeren (H20)24-Tetrakaidodekaedern (h) im Verhältnis 1 : 3 auf. Die kubische Elementarzelle enthält hierbei 48 H 2 0-Moleküle, die 2 Käfige des Typs (g) vom Durchmesser 5.2Ä und 6 Käfige des Typus (h) vom Durchmesser 5.9 Ä bilden. Bei Besetzung aller 8 Hohlräume mit Edelgasmolekülen (selten erreichbar) ergibt sich so eine Zusammensetzung 8Eg • 46H 2 0 = Eg(H 2 0) 575 . Ein analoges Clathrathydrat 8C12 • 46H 2 0 bildet sich auch mit Chlormolekülen, während von den größeren Brommolekülen nur die 6 größeren Hohlräume eingenommen werden, wobei sich dann bei vollständiger Besetzung die Zusammensetzung 6Br2 • 46H 2 0 = Br2(H20)7.66 ergibt.
H 2 O-Netzwerk um Gastmoleküle (f)
Pentagondodekaeder (g)
Tetrakaidodekaeder (h)
Die Clathrathydrate, die in Anwesenheit anderer Gäste zum Teil auch andere Strukturen aufweisen, sind von allgemeinem Interesse. So können sich in arktischen Regionen Gasleitungen durch Bildung von Gashydraten in unerwünschter Weise verstopfen, was verhütet werden muss. Andererseits sind am Boden der 0zeane riesige Mengen an Gashydraten des Methans in erwünschter Weise entstanden, die es auszubeuten gilt. Außer Wasser vermögen auch geeignete andere anorganische oder organische Stoffe (z. B. Hydrochinon) Clathrate u. a. mit Ar, Kr, Xe, HCl, HBr, H S , S0 2 , N 0 , CH4, C0, C0 2 , HCN zu bilden. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass auch Wassermoleküle als Gäste in geeigneten Wirten (z.B. Zeolithen, Salzen) eingelagert sein können („zeolithisches Wasser" (vgl. S.971), „Gitterwasser" z. B. in KF • 2H 2 0. NaCl • 2H 2 0, H3PW12040 • 29H 2 0).
Chemische Eigenschaften 2,21 Thermisches Verhalten. Wegen der hohen Bildungsenthalpie und Bindungsdissoziationsenergien des Wassers (H 2 + V 2 0 2 H 2 0 ( g ) + 242 kJ; 499 kJ + H 2 0 H + H 0 ; 428 kJ + H 0 H + 0 ) gelingt dessen ,,thermische Spaltung" in seine elementaren Bestandteile nur bei sehr hohen Temperaturen: bei 1000/1500/2000/2500/3000/3500 K sind rund 1 0 ^ / 1 0 ^ / 0 . 5 8 / 4 . 2 1 / 25 Platon ordnete den vier im Altertum diskutierten „Elementen" regelmäßige Körper zu, nämlich dem Feuer das Tetraeder, der Erde den Würfel, der Luft das Oktaeder und - auffallenderweise - dem Wasser das Ikosaeder. 26 Literatur. L. Mandelcorn: ,,Clathrate", Chem. Rev. 59 (1959) 827-839; M.M. Hagen Clathrate Inclusion Compounds", Reinhold, New York 1962; W.C. Child jr.: ,,Molecular Interactions in Clathrates", Quart. R e v 18 (1964) 321-346; G. A. Jeffrey, R.K. McMullan: „The Clathrate Hydrates", Progr. Inorg. Chem. 8 (1967) 43-108; W. Schlenk jr. ,,Einschlussverbindungen", Chemie in unserer Zeit 3 (1969) 121-130. 27 clatratus (lat.) = vergittert.
1. Der Sauerstoff
531
14.4/30.9% des H 2 0 - D a m p f e s bei 1 atm in H 2 und 0 2 gespalten (tatsächlich werden neben den Molekülen H 2 und 0 2 auch Radikale H, H O und O gebildet, sodass der wahre Dissoziationsgrad erheblich größer ist, z.B. bei 2000/3000K gleich 0.87/29.2%). Säure-Base-Verhalten. Flüssiges Wasser weist sowohl saure als auch basische Eigenschaften auf, wie u. a. im Autoprotolysegleichgewicht 2H20
H30+ + O H
(Ionenprodukt = 10 - 1 4 ; vgl. S. 201)
zum Ausdruck kommt, wonach Wasser in sehr geringem Ausmaße neben H 2 0 - M o l e k ü l e n auch - unerwartet bewegliche (S. 379), hydratisierte (s. u.) - Ionen H 3 0 + sowie O H enthält. Durch Zusatz von Stoffen, welche H + - I o n e n liefern oder O H - I o n e n binden (Säuren) bzw. welche H + - I o n e n binden oder O H - I o n e n liefern (Basen) lässt sich die H 3 0 + - bzw. O H Ionenkonzentration steigern (vgl. S. 243). Für die Löslichkeit heterovalenter Verbindungen (Salze) bzw. für die unter Ionisierung verlaufende Hydrolyse kovalenter Verbindungen (z.B. Säuren, Halogenide, Anhydride) ist die Hydratisierung28 der gebildeten Ionen von entscheidender Bedeutung, z.B.: NaCl + xH 2 0 AlQ 3 + xH 2 0
Na(H2O)+ + Cl-(aq); HCl + xH 2 0 Al(H2O)+ + 3Cr(aq); y4P4010 + xH 2 0
H(H2O) + + Cl"(aq); H(H2O)„++ H2PO4-(aq).
Die Auflösung von Salzen bzw. heterolytische Bindungsspaltung in Verbindungen ist naturgemäß nur dann möglich, wenn bei der Hydratisierung der Kationen und Anionen insgesamt ein noch größerer Betrag an ,,Hydratisierungsenergie" (vgl. Tab. 59) gewonnen wird, als ,,Gitterenergie" zur Spaltung der Salze bzw. ,Bindungsenergie" zur Spaltung von Säuren, Halogeniden usw. in freie Ionen aufgebracht werden muss. Hierbei versteht man unter Hydratisierungsenergie die beim Einfangen gasförmiger Ionen in Wasser freiwerdende, auf unendliche Verdünnung extrapolierte Reaktionsenthalpie (genau genommen muss die freie Hydratationsenthalpie größer sein als die freie Gitter- bzw. Bindungsenthalpie; bzgl. der Salzlöslichkeiten vgl. S.202). Die in Wasser - ihrerseits hydratisierten - Hydrate [M(H2O)Jm+im~, die ihr gebundenes Wasser meist sehr rasch mit ungebundenen H2O-Molekülen des Lösungsmittels Wasser austauschen (S. 380), weisen unterschiedliche - u. a. vom Ionenradius, von der Ionenkonzentration, von der Ionenladung (meist 2 + / 3 + ) abhängige - Koordinationszahlen n auf. Als typische Beispiele für Hydrate seien genannt [H(H2O)2] + , [Li(H2O)6]+ (stark verdünnt), [Li(H2O)4]+ (konzentriert), [Be(H2O)4]2+, [Mg(H2O)6]2+, [Sr(H2O)8]2+, [Al(H2O)6]3 + , [SO4(H2O)]2-, [OH(H 2 O)]-. Die hydratisierten H+-Kationen bzw. OH -Anionen sind für die sauren bzw. basischen Eigenschaften wässeriger Lösungen von Säuren bzw. Basen verantwortlich. Die betreffenden Lösungen enthalten streng genommen - nicht die Ionen H 3 0 + oder OH", sondern deren Wasseraddukte HjO^ (zum Teil wohl auch H703+ und H s O^) sowie H 3 0 f , wobei diese Ionen ihrerseits mit weiteren Wassermolekülen solvatisiert sind. Dies geht u.a. daraus hervor, dass beim Auflösen von H + bzw. OH" in Wasser die Hydratationsenergien 1168 bzw. 511 kJ/mol frei werden, wogegen die Reaktion von H + bzw. OH" mit einem H2O-Molekül weit weniger Energie liefert (z. B. beträgt AH { für die Bildung von H 3 0 + /H 5 0^/H 7 0 3 + / H904+ aus H + und «H2O 611/749/837/904kJ/mol). Tab.59
Hydratationsenergien [kJ/mol] einiger Ionen.
Kationen H+ L -1168 - 521
N - 406
K+ - 322
R -301
C - 277
NH -304
Anionen C F" - 458 -384
B -351
r - 307
OH" -511
Cl -238
e~ -160
Mg + + -1922
Ba + + - 1361
Sc + + + -2643
28 Literatur. J.F. Hinton, E.S. Amis: „ Solvation Numbers of Ions", Chem. R e v 71 (1971) 627-674; J.P. Hunt, H.L. Friedman: „Aquo Complexes of Metal Ions", Progr. Inorg. C h e m 30 (1983) 359-387; G.W. Neilson, J.E. Enderby: ,,The Coordination of Metal Aquaions", Adv. Inorg. C h e m 34 (1989) 195-218; H. Ohtaki, T. Radnai: ,,Structures and Dynamics of Hydrated Ions", Chem. R e v 93 (1993) 1157-1204.
532
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Aus den wässrigen Säure- bzw. Baselösungen konnten Salze mit den erwähnten und anderen Hydraten von H + bzw. 0H~ isoliert werden (z. B. H5O^Cl~, HjO^Br"), welche übrigens auch in der Ionosphäre der Erde angetroffen werden. Nachfolgendes Formelbild gibt die Strukturen einiger dieser Hydrate wieder. Zentraler Baustein der Kationen ist das pyramidal gebaute ,,Oxonium-Ion" H 3 0 + (variabler, vom Gegenion abhängiger H0H-Winkel im Bereich 115 + 15°; d 0H ca. 1 Ä), welches Basen über Wasserstoffbrücken bindet (auch H 2 0-Moleküle haben - in vermindertem Ausmaße - diese Eigenschaft, welche für die Löslichkeit vieler kovalenter Verbindungen in Ethanol, Essigsäure usw. verantwortlich ist). So vermag H 3 0 + über asymmetrische H-Brücken ein, zwei oder drei H 2 0-Moleküle unter Bildung der ,,Hydroniumionen" (k), (m) und (h) zu addieren. Wie ein Vergleich lehrt, ist der 0-^0-Abstand in Eis (i), in welchem jedes H 2 0-Molekül mit jeweils 4H 2 0-Molekülen in Wasserstoffbrückenkontakt steht (s. o), mit 2.75 noch relativ groß (van-der-Waals-Abstand zweier 0-Atome ca. 2.80 Ä). Kleiner ist er demgegenüber in den Kationen H s O H 7 0 3 + und insbesondere HsO2f (die für H s O^ wiedergegebenen Abstände beziehen sich auf das Sulfosalicylat bzw. - in Klammern - auf das Bromid). Der kleinste, bisher für ein H2Os-Ion aufgefundene 0-^0-Abstand liegt in dem Tetrawasseraddukt H13 0^ (o) vor (im noch wasserreicheren Protonenaddukt H4102c wandert H + auf der Innenseite eines (H20)20-Pentagondodekaeders von 0 - zu 0-Atom). Besonders kurze 0-^0-Abstände beobachtet man im Falle der hydratisierten Hydroxidionen 0H~, deren zentraler Baustein das Anion H 3 0^ (l) ist. Es stellt das Addukt von 0 H " mit einem Molekül H 2 0 dar und weist - ähnlich wie HFj" (s. dort) - eine symmetrische H-Brücke auf. H
. '•. 0,99 1.76 •••O - 1 — H /I 2.75 Ä
\
•• O^TT 1\
/1 H
1.10 (11)
H
1.34 (1.23),
H
H
2.44 A
'•••O/h-
(2.40)
H
(k) H 5 O 2 +
(i) ( H 2 O ) x
H, O
0
H, O
/
H, O 2.52 A .*'
H \
O — H OH2 /l—2.5-2.6 Ä ^
O—H
/ H / / O
/l—2.39 A—1\
H
(m) H 7 O J
OH, '•.
O—H
H, O
— H ••• - 2.29 A
(l) H 3 O 2
2.5-2.6 A
W
/ •O....
H
H
H2O
H, O (h) H 9 O 4
OH2 (o) H13O6
Die Ionen H 3 0 + sowie H 5 0^ lassen sich auch als Monohydrat H(H 2 0) + sowie Dihydrat H(H 2 0)^ des Protons beschreiben. Sie entstehen aus diesen unter Abgabe von 611 sowie 749 kJ/mol (s. o.). Den letzten Solvationstyp des Protons findet man auch in den Ionen HF^, HCl^, HBr^, H(0H)^, H(C03)3 H ( N ^ j " , wobei in jedem Falle der Brückenwasserstoff näherungsweise symmetrisch zwischen den digonal angeordneten „Solvatmolekülen" liegt. Redox-Verhalten. Wasser weist - wie besprochen (S. 232) - sowohl oxidierende als auch reduzierende Eigenschaften auf und wird von 0xidationsmitteln mit einem Redoxpotential bei pH = 0/7/14 von > 1.23/ > 0.82/ > 0.40 V (z. B. F 2 , Cl2) in Sauerstoff, von Reduktionsmitteln mit einem Redoxpotential bei pH = 0/7/14 von < 0 . 0 0 / < - 0 . 4 ^ - 0 . 8 3 V (z.B. Alkali-, Erdalkalimetalle) in Wasserstoff umgewandelt (vgl. hierzu die Potentialdiagramme auf S. 525, die zugleich über Zwischenstufen der H 2 0 - 0 x i d a t i o n informieren). Wasser kann also nur dann als Medium f ü r Redoxreaktionen dienen, wenn die elektrochemischen Potentiale der Redox-Teilreaktion der betreffenden Redoxpartner die für H 2 0 zutreffenden Redoxpotentiale nicht über- bzw. unterschreiten. Wegen kinetischer Reaktionshemmungen können die erwähnten Potentialgrenzen aber meist etwas über- bzw. unterschritten werden. Die Geschwindigkeiten der unter H2-Entwicklung erfolgenden Reaktion mit Wasser sind - in Abhängigkeit von Reduktonsmitteln - sehr unterschiedlich (Entsprechendes gilt für die unter 02-Entwicklung verlaufenden Reaktionen). So nimmt die Reaktionsfähigkeit der Metalle der I.—III. Hauptgruppe gegen neutrales Wasser innerhalb der Elementgruppen von unten nach oben und innerhalb der Elementperioden von links nach rechts ab, da das nach
1. Der Sauerstoff M + nH 2 0
M(OH)„ + "/2H2
533
(n = 1, 2, 3)
gebildete Metallhydroxid in gleicher Richtung unlöslicher wird und das Metall somit zunehmend vor einem weiteren Wasserangriff schützt (z. B. Reaktion von H 2 O mit K, Rb, Cs unter Flammenerscheinung und Schmelzen der Metalle, mit Na ohne Flammenerscheinung, aber Schmelzen des Metalls, mit Ca, Sr, Ba ohne Flammenerscheinung und ohne Schmelzen der Metalle, mit Mg erst bei erhöhter Temperatur). Wässerige Säuren, in denen die Hydroxide aller Erdalkalimetalle gut löslich sind, setzen sich auch mit Mg sowie Be bei Raumtemperatur unter H2-Entwicklung um. Analog lassen sich die Metalle der III. und IV. Hauptgruppe (Al, In, Tl, Ge, Sn, Pb), die mit neutralem Wasser unter Normalbedingungen langsam bzw. nicht zu Hydroxiden abreagieren, in nicht-oxidierenden Säuren lösen (Tl löst sich wegen der Bildung von schwerlöslichem TlCl nicht in Salzsäure, Pb wegen der Bildung von schwerlöslichem PbCl2 bzw. PbSO4 nicht in Salz- bzw. Schwefelsäure). Wegen der Bildung säureunlöslicher Oxidschichten reagieren die Halbmetalle der IV. Hauptgruppe (Si, Ge) nicht mehr mit Säuren. Sie können aber - wie auch B, Al, Ga, Sn, Pb oder P - in starken Basen (z. B. NaOH, KOH) unter H2-Entwicklung gelöst werden. Kohlenstoff kann wegen seines zu hohen Redoxpotentials nicht mit Wasser unter Normalbedingungen reagieren. Die Reaktion muss durch Wärmeeinwirkung erzwungen werden (vgl. Kohlevergasung, S. 262). Auf einer Redoxreaktion beruht auch die quantitative Bestimmung kleiner H 2 O-Mengen in Lösungsmitteln, Komplexen, Mischphasen usw.: man titriert mit einem Gemisch aus I 2 in Methanol/SO 2 in Pyridin („Karl-Fischer-Lösung") bis zum Auftreten der braunen Farbe von Iod (H 2 0 + S O +12 + MeOH + 3py -> 3pyH + + 2I~ + MeSO4~; pro H 2 O-Molekül wird ein Molekül I2 verbraucht).
Schweres und Superschweres Wasser 29,30 Die Gewinnung von schwerem Wasser D 2 0 erfolgt in einfacher Weise durch stufenweise Elektrolyse von Wasser, wobei sich vorzugsweise der leichte Wasserstoff entwickelt (Verhältnis H : D im Gas - in Abhängigkeit vom Elektrolysematerial - 6-mal bis 16-mal größer als im Elektrolyserückstand; aus 201H 2 O/ D 2 O (Verhältnis 6000:1) lassen sich 0.1 c m 99.99%iges D 2 O isolieren). Zur industriellen Darstellung geht man dabei zweckmäßig von technischen Elektrolytlaugen aus, die nach längerem Gebrauch einen bis aufs fünffache angereicherten D 2 O-Gehalt besitzen Superschweres Wasser T 2 0 kann durch Pd-katalysierte Oxidation von T2 oder durch Reaktion von CuO mit T2 gewonnen werden (wegen seiner hohen Radioaktivität benutzt man T2O praktisch nicht). Die Verschiedenheit der physikalischen Eigenschaften von H2O, D 2 O und T2O geht aus Tab. 60 hervor. Hinsichtlich seiner chemischen Eigenschaften ist das leichtere Wasser reaktionsfähiger als das schwere. Man nutzt D 2 O u. a. zur Synthese volldeuterierter Verbindungen, von denen viele als Produkte im Handel sind. So liefern Metalloxide Metalldeuterohydroxide (z.B. NaOD/Ca(OD) 2 aus Na 2 O/CaO), Nichtmetalloxide Deuterosäuren (z. B. D2SO4/D3PO4 aus SO3/P4C>10), Salze die zugrunde liegenden Elementwasserstoffe (z. B. Mg3N2 Deuteroammoniak ND 3 (Smp./Sdp. - 73.5/- 30.9°C), A14C3 Deuteromethan CD4 Tab. 60
Einige Kenndaten von leichtem, schwerem und superschwerem Wasser.
Eigenschaften Rel. Molekülmasse Dichte bei 25 °C [g • cm - 3 ] Maximale Dichte [g • cm - 3 ] des flüssigen Wassers Temperatur des Dichtemaximums [°C] Schmelzpunkt [°C] Siedepunkt [° Molare Schmelzwärme beim Gefrierpunkt kJ/mol Molare Verdampfungswärme beim Siedepunkt kJ/mol Dielektrizitätskonstante 20 -Wert 26
O 18.0151 0.99701 1.0000 3.98 0.00 100.00 6.010 40.651 78.39 14.000
DjO
T
20.0276 1.1044 1.1059 11.23 3.81 101.42 6.343 41.701 78.06 14.869
22.0315 1.2138 1.2150 13.4 4.48 101.51
15.215
29 Geschichtliches H.C. Urey und E.W. Washburn fanden 1932, dass sich bei der Wasserelektrolyse D 2 O im zurückbleibenden Wasser anreichert. 1933 konnten G.N. Lewis und R.T. Macdonald durch fortgesetzte Elektrolyse einige ml D 2 O gewinnen. 30 Physiologisches Auf höhere Organismen wirken deuterierte Verbindungen giftig. Erhalten Mäuse volldeuterierte Nahrung, so sterben sie, wenn etwa '/3 ihres Körperwasserstoffs durch Deuterium ersetzt ist. Demgegenüber konnten Algenstämme in reinem D 2 O gezüchtet werden. Bei ihrer späteren Aufarbeitung ließen sich zahlreiche volldeuterierte Verbindungen wie Chlorophyll isolieren
534
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
(Smp. - 183.370C), A12S3DeuteroschwefelwasserstoffV>S (Smp. - 86.02°C), M*S208 Deuterowasserstoffperoxid D 2 0 2 (Smp + 1.50C), A P Deuterophosphan PD3 (krit. Temp. 50.4°C), hydrolyseempfindliche Halogenide Deuterohalogenwasserstoffe (Smp./Sdp. = - / 1 8 . 6 5 0 C (DF), -114.72/-84.4 0 C (DCl), - 87.54/- 66.90C (DBr), - 51.93/- 36.20C (DI)). Darüber hinaus wird D 2 0 zum Studium der Mechanismen von Reaktionen genutzt, an denen Wasserstoffkationen beteiligt sind. So tauschen etwa Kohlenwasserstoffe CmHn oder Phosphonat- bzw. Phosphinat-Ionen HP02" bzw. H 2 P0^ - anders als Hydroxid 0 H " , Ammoniak N H oder Ammonium NH^ - ihre H-Atome nicht mit dem D-Atom von D 2 0 aus, was anzeigt, dass ihnen hinsichtlich Wasser keine saure Funktion zukommt.
1.3.3 Wasserstoffperoxid 3 ^ 3 2' 33 Darstellung
Alle Darstellungsmethoden von Wasserstoffperoxid (0xidationsstufe von 0 : - 1), einem vielseitig technisch genutzten Produkt (s. unten), laufen letzten Endes auf eine (endotherme) Dehydrierung von Wasser (0xidationsstufe von 0 : - 2) bzw. (exotherme) Hydrierung von Sauerstoff (0xidationsstufe von 0 : + 0) hinaus: 384.1 kJ + 2 H 2 0
H 2 0 2 + H2;
H2 + 0 2 ^
H 2 0 2 + 187.9kJ.
Früher kombinierte man die beiden Reaktionen (Komproportionierung von Wasser und Sauerstoff (192.3 kJ + 2H 2 0 + 0 2 2H 2 0 2 ) und setzte etwa Bariumoxid an der Luft zum Peroxid um (2BaO + 0 2 2Ba0 2 ; vgl. S. 498), welches anschließend durch Eintragen in gekühlte 20%ige H 2 S0 4 in Wasserstoffperoxid und schwerlösliches Bariumsulfat übergeführt wurde: Ba0 2 + H 2 S0 4 BaS0 4 + H 2 0 2 . Das Verfahren spielt heute in der Technik keine Rolle mehr. Eine Möglichkeit der Gewinnung von H 2 0 2 durch Komproportionierung bildet in der Zukunft vielleicht die Umsetzung von H 2 0 und 0 2 in Gegenwart von C 0 und geeigneten Pd-Komplexen L2PdX2 (L z.B. 1,10-Phenonthrolin, X = CF 3 C00): 0 2 + H20 + C 0 H 2 0 2 + C0 2 + 185.5 kJ. Auch die Dehydrierung von Wasser, die früher (bis 1945) fast ausschließlich zur H 2 0 2 -Gewinnung diente, wird heute praktisch nicht mehr praktiziert. Statt Wasser benutzte man hierbei als Ausgangsverbindung Schwefelsäure H0 3 S—0H, welche sich durch anodische Oxidation unter gleichzeitiger H^Entwicklung in Peroxodischwefelsäure H0 3 S—O—O—S0 3 H überführen lässt (vgl. S. 600). Die Hydrolyse letzterer Säure führt dann zu Wasserstoffperoxid und Schwefelsäure (S. 601), die somit zurückgewonnen wird: 2H 2 S0 4 H 2 S 2 0 8 + H2; H 2 S 2 0 8 + 2H 2 0 H 2 0 2 + 2H 2 S0 4 (in summa: 2H 2 0 H 2 0 2 + H2). Die Gewinnung von H 2 0 2 erfolgt in der Technik heute im Wesentlichen durch Hydrierung von Sauerstoff der Luft bei 3 0 - 8 0 ° C und 5 bar unter Verwendung von Anthrahydrochinon (a) in der organischen Phase als Hydrierungsmittel (,,Anthrachinon-Verfahren" der BASF). Das hierbei gebildete Anthrachinon (b) wird wieder katalytisch (Pd) mit H 2 bei 40 °C und 5 bar (Pd) zu Anthrahydrochinon (a) zurückhydriert, sodass letzten Endes die Reaktion H 2 + 0 2 -> H 2 0 2 resultiert (R in nachstehenden Formeln meist Ethyl C 2 H 5 ):
Literatur S.B. Brown, P. Iones, A. Suggett: , R e c e n t Developments in the Redox Chemistry of Peroxides", Progr. Inorg. C h e m 13 (1970) 159-204; C. Walling: ,,Fenton's Reagent Revised", Acc. Chem. Research 8 (1975) 125-131; ULLMANN (5. Aufl.): , H y d r o g e n Peroxide", A 1 3 (1989) 4 4 3 - 4 6 6 ; ,,Peroxo Compounds", A 1 9 (1991) 177-233; B.S. Lana, K. Burgess: ,,Metal-Catalyzed Epoxidations of Alkenes with Hydrogen Peroxide", Chem. Rev. 103 (2003) 2457-2474; H.B. D u n f o r d : ,,Oxidations of iron (II/III) by hydrogen peroxide: from aqua to enzyme", Coord. Chem. R e v 233/234 (2002) 311-318; R . N o y o r i , M . A o k i , K . S a t o : ,,Green oxidation with aqueous hydrogen peroxide", Chem. C o m m u n . (2003) 1977-1987. Geschichtliches Aus Bariumperoxid u n d Säure hat L.J. Thenard 1818 erstmals Wasserstoffperoxid erhalten. D a s zur H 2 0 2 - G e w i n n u n g heute genutzte Anthrachinon-Verfahren wurde von der Firma B A S F in den Jahren 1935-1945 entwickelt Physiologisches. H 2 0 2 wirkt als D a m p f stark ätzend auf die H a u t (insbesondere Schleimhäute der Atemwege u n d Augen; MAK-Wert = 1.4 m g / m 3 = 1 p p m , sodass heute von Munddesinfektionen mit 3 %oiger H 2 0 2 - L ö s u n g Abstand genommen wird. Eingenommen, führt H 2 0 2 zu inneren Blutungen.
1. Der Sauerstoff
535
M a n erhält nach Extraktion von H 2 0 2 aus der organischen Phase mit Wasser verdünnte wässerige H 2 0 2 -Lösungen, die durch fraktionierende Destillation (Abdestillation von H 2 0 ) leicht in verhältnismäßig konzentrierte H 2 0 2 -Lösungen verwandelt werden können. In den Handel k o m m t H 2 0 2 - meist stabilisiert mit Diphosphaten, organischen Komplexbildnern oder Zinnverbindungen - als 3-, 35-, 50- oder 70%ige Lösung, die 35 %ige unter dem N a m e n ,,Perhydrol". Aus den hochprozentigen Mischungen k a n n reine H 2 0 2 durch fraktionierende Kristallisation erhalten werden Auf dem selben Prinzip wie das Anthrachinon-Verfahren beruht die Gewinnung von H 2 0 2 durch Hydrierung von Sauerstoff mit Isopropanol in der Lösungsphase (,, Isopropanol-Verfahren; nur in Rußland): (CH3)2CH—OH + 0 2 ^ (CH 3 ) 2 C=0 + H 2 0 2 (eine Rückführung des Acetons (CH 3 ) 2 C=0 in Isopropanol durch katalytische Hydrierung ist möglich, wird aber in der Praxis nicht durchgeführt). Auch in der Biosphäre wird H 2 0 2 durch (enzymatische) Hydrierung von Sauerstoff mit Alkoholen (Galactose) gemäß ^CH—OH + 0 2 -> ^ C = 0 + H 2 0 2 gewonnen. Wasserstoffperoxid stellt für die Organismen einerseits ein willkommenes Oxidationsmittel dar, wirkt aber andererseits als Gift für die Zellen, wo es durch Autooxidationsprozesse oder Einelektron-Reduktionen auf dem Wege über HO-Radikale entsteht und an Ort und Stelle enzymatisch (z. B. durch,, Catalase") i n 0 2 u n d H 2 0 umgewandelt wird (S. 535). Wegen der hohen Kosten der HO 2 -Gewinnung nach dem Anthrachinon-Verfahren (s. o.) sucht man für die Zukunft nach kostengünstigeren und zugleich gefahrloseren, mit hohen Ausbeuten verlaufenden Methoden der Hydrierung von Sauerstoff gemäß H2 + 0 2 -> H 2 0 2 . Nicht bewährt haben sich etwa stille elektrische Entladungen in H2/02-Gemischen oder die kathodische Reduktion von 0 2 . Eine Möglichkeit bietet aber offenbar ein Verfahren, bei welchem Wasserstoff durch eine mit reinem Pd-Metall sowie einer zusätzlichen Pd/Ag-Legierung beschichtete Al 2 0 3 -Membran Sauerstoff in 0.02 n H 2 S0 4 entgegengeleitet wird. Nur H-Atome, die in Pdaus H2-Molekülen gebildet werden (S. 1726), vermögen durch die Membran zu diffundieren. Sie reagieren praktisch quantitativ mit den O2-Molekülen zu Wasserstoffperoxid: 2H + 0 2 H2O2.
Physikalische Eigenschaften und Struktur In reinem, wasserfreiem Zustande bildet Wasserstoffperoxid eine praktisch farblose, in sehr dicker Schicht jedoch blaue, sirupöse (starke Vernetzung durch H-Brücken) Flüssigkeit (Sdp. 150.2°C; Dichte bei 20°C 1.448 g/cm3), welche bei Abkühlung zu nadelförmigen, farblosen Kristallen vom Smp. — 0.43 °C erstarrt und in vielen physikalischen Eigenschaften dem Wasser ähnelt. Unter vermindertem Druck kann es unzersetzt destilliert werden (Sdp. bei 28 mbar: 69.7 °C). Es ist in jedem Verhältnis mit Wasser mischbar und bildet mit H 2 0 das Hydrat H 2 0 2 • H O (Smp. — 52°C). Struktur Das HO 2 -Molekül ist gauche-konfiguriert, also nicht eben (C2-Symmetrie):
a = Bindungswinkel ß = Diederwinkel
Der OO-Abstand beträgt im Gaszustand 1.475 Ä, der OOH-Winkel o: 94.8°. Die beiden O—H-Hälften des Moleküls (OH-Abstand 0.95 Ä) sind um den Winkel ß 111.5° gegeneinander verdreht (vgl. hierzu innere Rotation, S. 678). Auch beim F 2 0 2 -Molekül (S. 481) beobachtet man diese Verdrehung, nur ist sie dort etwas kleiner (87.5°); auch ist dort der OO-Abstand mit 1.217 Ä wesentlich kleiner als hier, was auf einen Doppelbindungsanteil im F 2 0 2 zum Unterschied vom Grundkörper H 2 0 2 schließen lässt. In Tieftemperaturphasen von H 2 0 2 treten ß-Winkel zwischen 90 bis 180° auf (in letzterem Falle
Chemische Eigenschaften Zerfall. Wasserstoffperoxid zeigt ein starkes Bestreben, unter großer Wärmeentwicklung in Wasser und Sauerstoff zu z e r f a l l e n : 2H202
2H20 + 0 2 +196.2kJ.
(1)
Bei Z i m m e r t e m p e r a t u r ist die Zerfallsgeschwindigkeit allerdings unmessbar klein, sodass Wasserstoffperoxid sowohl in reinem wie in gelöstem Zustande praktisch beständig ( m e t a -
536
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
s t a b i l ) ist, und sich erst beim E r w ä r m e n auf höhere Temperaturen - unter Umständen explosionsartig - z e r s e t z t . Die große Zerfallshemmung von H 2 0 2 beruht hierbei darauf, dass der erste Schritt der H 2 0 2 - T h e r m o l y s e in einer e n e r g i e a u f w e n d i g e n Molekülspaltung in zwei HO-Radikale besteht (211 kJ + H O O H ->• 2 H O ) . Letztere setzen sich dann weiter mit H 2 0 2 zu H 2 0 4 und 0 2 um (vgl. S. 391). Durch K a t a l y s a t o r e n (z.B. fein verteiltes Silber, Gold, Platin, Braunstein, Staubteilchen, Stoffe mit rauhen Oberflächen als h e t e r o g e n e Katalysatoren und Nichtmetallionen wie IO3 , O H bzw. Metallionen wie Fe 3 + , Cu 2 + , Peroxidasen als h o m o g e n e Katalysatoren) lässt sich die Zersetzungsgeschwindigkeit des Wasserstoffperoxids stark e r h ö h e n , sodass gegebenenfalls bereits bei Raumtemperatur s t ü r m i s c h e S a u e r s t o f f e n t w i c k l u n g und bei hochkonzentrierten Lösungen wegen der starken durch die -Thermolyse bedingten Temperatursteigerung sogar e x p l o s i o n s a r t i g e r Z e r f a l l eintritt. M a n nutzt diesen katalytischen Zerfall von H 2 0 2 zur D a r s t e l l u n g von S a u e r s t o f f im Laboratorium (z.B. durch Eintauchen eines platinierten Nickelblechs in 30%iges H 2 0 2 oder durch Einbringen von Fe(III)-Salzen in die H 2 0 2 - L ö s u n g ) sowie zur raschen B e s e i t i g u n g von W a s s e r s t o f f p e r o x i d (z. B. durch Erhitzen mit Alkalilauge). Auch die N a t u r bedient sich eines Katalysators (z.B. des Fe 3 + -haltigen Enzyms Catalase) zum raschen A b b a u des im lebenden Organismus durch eine Reihe von Prozessen erzeugten Wasserstoffperoxids (s. unten und Lehrbücher der Biochemie). Mechanistische Aspekte Bezüglich der Wirkungsweise von Iodat als homogenem Katalysator der H 2 0 2 Zersetzung vgl. S. 373, bezüglich der katalytischen Wirkung von Hydroxid weiter unten Eisen ( III)-Ionen beschleunigen den Zerfall wässeriger H 2 0 2 -Lösungen offensichtlich auf dem Wege (2) (,,Kremer-SteinMechanismus"; in nachfolgender Gleichung ist koordiniertes H 2 O übersichtlichkeitshalber nicht berücksichtigt, also Fe3+ anstelle Fe(H2O)g+): +H2O2
Fe
~H 2 O FenI(O2H2)3+ ^ ^
-HO,
2
2
+H2O2 FeV03+
+H2O
-O 2 Fe I I I (O 3 H 2 ) 3 +
_ H
2°2
Fe3 _ H
(2)
2°2
Die katalytische Wirksamkeit der Eisenionen besteht hiernach auf einem wechselseitigen Redoxübergang Fe(III) £> Fe(V). Der wechselseitige Übergang Fe(III) £> Fe(II) (,, Haber-Weiss-Mechanismus"), der ebenfalls als Auslöser für die H202-Zersetzung (1) diskutiert wird, ist nach neueren Untersuchungen weniger wahrscheinlich Hydroxid-Ionen beschleunigen ganz allgemein dadurch den Zerfall von Peroxoverbindungen AcOOH gemäß 2AcOOH 2AcOH + 0 2 (Ac z.B.H, CH3CO, Me3CCO, HOS), dass sie AcOOH in AcOO~ überführen. (AcOOH + OH" AcOO"+ H2O), wobei AcOOH und AcOO" anschließend unter 0 2 Freisetzung weiterreagieren (AcOOH AcOO Ac AcOH). Sind die Konzentrationen von AcOOH und AcOO~ gleich groß, was der Fall ist, wenn der pH-Wert der Lösung den p.fiTs-Wert der Säure aufweist, dann verläuft die Zersetzung naturgemäß mit maximaler Geschwindigkeit. Die O2-Bildung erfolgt hierbei zugleich nach einem Stufenmechanismus (3) und einem Synchronmechanismus (4): f Ac-O-O-H Ac
H
o / 0
A c - O " + H—O—O—O—Ac Ac
o A Ac
+O-O-Ac
H
>
Ac-O Ac
+ O2 + HOAc.
(3)
.H + O,.
(4)
/ 0
Ac
Ac
Mit wachsender Sperrigkeit von Ac nimmt das Ausmaß der Reaktion (3) auf Kosten der Reaktion (4) zu (z.B. Ac = CMe3: 76% (3)/24% (4); Ac = CH3: 9% (3)/91 % (4); Ac = SO": 17% (3)/83% (4); Ac = H: wohl hauptsächlich (4)). Das Fe(III)-haltige Enzym Catalase, das sowohl die zersetzende Wirkung von Fe(III)-Ionen als auch die von Basen nutzt, katalysiert die H202-Zersetzung 10-mal rascher als Fe(H O) Die Wirkung der Zersetzungskatalystoren kann mehr oder minder weitgehend durch P h o s p h o r s ä u r e , N a t r i u m d i p h o s p h a t , N a t r i u m s t a n n a t und verschiedene organische Säuren - vor allem Barbitursäure und H a r n s ä u r e - aufgehoben werden. Daher stabilisiert man Wasserstoffperoxidlösungen durch
1. Der Sauerstoff
537
Zusatz geringer Mengen derartiger A n t i - K a t a l y s a t o r e n (,,Inhibitoren"). Will man reine Wasserstoffperoxidlösungen zusatzfrei aufbewahren, so muss man p a r a f f i n i e r t e Glasgefäße oder Flaschen aus Polyethylen oder reinem Aluminium (> 99.6 % Al) verwenden, um eine Abgabe von Alkali zu verhindern. Redox-Verhalten. Die charakteristische Eigenschaft des Wasserstoffperoxids ist seine o x i d i e r e n d e W i r k u n g : H 2 0 2 -> H 2 0 + 0 b z w . H 2 0 2 + 2 H + + 2 © 2 ^ 0 ^ insauer Lösung + 1.763, in alkalischer + 0.867 V). So oxidiert es - ähnlich wie Ozon - z.B. Bleisulfid zu Bleisulfat (PbS + 4 0 P b S O J , Eisen(II)-Salze zu Eisen(III)-Salzen ( F e 2 + F e 3 + + ©), Schweflige,Salpetrigeund Arsenige Säure zu Schwefelsäure ( H 2 S 0 3 + O -> H 2 S 0 4 ) bzw.Salpetersäure ( H N 0 2 + O ->• H N O ) bzw. Arsensäure ( H 3 A ^ + O ->• H 3 A s O 4 ) , Chrom(III)Salze zu C h r o m a t (Cr 3 + + 4 H 2 0 ->• C M 2 " + 8 H + + 3 ©), Mangan(II)-oxid zu Braunstein ( M n O + O -> M n O 2 ) , Iodwasserstoff zu Iod (2I~ -> I 2 + 2 © ) , Schwefelwasserstoff zu Schwefel ( S - > |-S 8 + 2 © ) . D a das Wasserstoffperoxid bei seiner Oxidationswirkung nur in W a s s e r übergeht, also keine störenden Nebenprodukte liefert, ist es im chemischen Laboratorium als sauberes Oxidationsmittel beliebt. Weniger ausgeprägt ist die r e d u z i e r e n d e W i r k u n g des Wasserstoffperoxids: H 2 0 2 -> 2 H + 0 2 bzw. H 2 0 2 ->• 2 H + + 0 2 + 2 © (s 0 in saurer Lösung + 0.682, in alkalischer — 0.076 V). Sie tritt nur gegenüber ausgesprochenen O x i d a t i o n s m i t t e l n auf. So wird z.B. die violette Permangansäure H M n 0 4 in saurer Lösung zu fast farblosem Mangan(II)-Salz reduziert ( M n 0 4 + 8 H + + 5 © ->• M n 2 + + 4 ^ 0 ; zur Bestimmung des H 2 0 2 - G e h a l t s einer Lösung), Chlorkalk zu Calciumchlorid (CaCl(OCl 2H CaC O), Silberoxid zu Silber ( A g 2 0 + 2 H ^ 2 A g + H 2 0 ) , Quecksilberoxid zu Quecksilber (HgO + 2 H ^ H g + H 2 0 ) , Bleidioxid zu Blei(II)-Salz ( P b 0 2 + 2 H PbO + H 2 0 ) , Chlor zu Salzsäure (Cl 2 + 2 H ^ 2HCl), Ozon zu Sauerstoff ( 0 3 + 2 H ^ 0 2 + H 2 0 ) . Mechanistische Aspekte Die Übertragung von O-Atomen des Wasserstoffperoxids erfolgt in vielen Fällen gemäß (5) durch nucleophile Substitution von OH" durch die zu oxidierenden Spezies (z. B. Halogenid, Sulfid, Sulfit, Thiosulfat, Rhodanid, Amine, Nitrit; nachfolgend durch Nu" symbolisiert): HO—OH + Nu" -> HO—Nu + OH" .
(5)
Die Nucleophile reagieren in Richtung wachsender Weichheit des zu oxidierenden Zentrums zunehmend rascher (NO", Cl" < Br" < R3N, SCN~ < CN~ < S 2 0 ^ < SO^ < I"; vgl. S. 398)34. Säuren katalysieren die betreffenden Redox-Reaktionen: HO—OH + H + ^ HO—0H 2 + ; ^ O ^ + N r HO—Nu + H 2 0 (die Substitution von H 2 0 in H302+ erfolgt im Mittel 100-mal rascher als die Substitution von O H in H 2 0 2 ). Vielfach setzt sich jedoch H 2 0 2 mit seinen Redoxpartnern AcOH (Ac = Acylrest wie Cl, ClO2, S0 3 H, N O , P0 3 H 2 ) gemäß (6a) unter Bildung von Peroxo-Derivaten AcOOH um (elektrophile Substituition von H + in H 2 0 2 durch Ac + ) 3 4. Letztere sind isolierbar, falls Ac keine ausgeprägte Redoxneigung besitzt (z. B. Bildung von H2 S 0 aus H2 S 0 , von H3 P 0 aus H 3 P 0 , von orangefarbenem T i ( 0 ) S 0 aus farblosem Ti(0)S0, von blauem Cr0(0 2 ) 2 • H O aus gelbem Cr02" (letztere Reaktionen werden zum Nachweis von H 2 0 2 genutzt). Weist andererseits das Zentrum von Ac stark oxidierende bzw. stark reduzierende Eigenschaften auf, so verwandelt sich die gebildete Peroxo-Verbindung unter Sauerstoffabgabe (6b) bzw. intramolekularer Umlagerung (6c) in AcH bzw. Ac(0)0H: AcOH (a) I + H 2 0 2 ; — H 2 0
AcH
Ac(0)0H.
(6)
4 Substitutionstypen von : Die häufig zu beobachtenden Vorgänge (5) sind als SN2-Reaktionen zu klassifizieren (S. 394). Ein (seltenes) Beispiel einer SN1 -Reaktion bieten die zentralen Reaktionsschritte der durch Fe(III)-Salze katalysierten H 2 0 2 -Zersetzung (2), welche sich auch wie folgt formulieren lässt: ( H 2 0 ) 5 F e O — 0 H 2 + + 0 2 H ~ ±5 ( H 2 0 ) 5 F e 0 3 + + 0 H - + 0 2 H ( H 2 0 ) 5 F e 0 — 0 2 H 2 + + 0 H " . S^Reaktionen geht H 2 0 2 in Anwesenheit von Radikalen wie X O (gewinnbar aus H X 0 2 und H X 0 3 ; X = Br, I) oder Fe 2 + (vier ungepaarte 2+ 2+ Elektronen) ein: H O O H + X 0 2 ^ H O X O , + OH; H O O H + Fe F e 0 H + OH (vgl. unten, Fentons Reagenz). SE-Reaktionen führen zur Substitution eines Protons in H 2 0 2 (vgl. Umsetzung von H 2 0 2 mit HOCl (S.510) oder mit F e ( 0 H ^ + (Gl. (2)).
538
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Als Beispiel für (6b) wurde auf S. 510 bereits die Umsetzung von Hypochloriger Säure ClOH mit H 2 0 2 besprochen, die über Peroxohypochlorige Säure ClOOH zu HCl und Singulett-O2 führt, welcher unter roter Chemoluminiszenz in Triplett-O2 übergeht. Weitere Beispiele sind die unter O2-Bildung erfolgenden Reaktionen von H 2 0 2 mit Hypobromiger Säure BrOH, Chlorsäure HCl0 3 , Orthoperiodsäure H5IO6, Selensäure H 2 Se0 4 und Salpetersäure HNO- Die Umsetzung von alkalischer H 2 0 2 -Lösung (H 2 0 2 + OH~ -> 0 2 H~ + H2O) dient zur technischen Gewinnung von NaCl0 2 aus Chlordioxid Cl0 2 (2Cl0 2 + NaOOH NaCl0 2 + 0 2 ClOOH; 0 2 ClOOH + NaOH 0 2 + NaCl0 2 + H2O). Der jeweils freigesetzte Sauerstoff stammt ausschließlich aus Ein Beispiel für (6c) ist die zu Schwefelsäure führende Umsetzung von Schwefeldioxid S O in saurer Lösung (7a). In alkalischer Lösung, in welcher S O in Form von Sulfit SO^ vorliegt, erfolgt die Oxidation nicht über eine Peroxogruppen-haltige Zwischenstufe, sondern nach (5) im Zuge einer nucleophilen Substitutionsreaktion (7b). In entsprechender Weise wickelt sich die Oxidation von Nitrit N O mit H 2 0 2 in saurer Lösung gemäß (6c), in alkalischer gemäß (5) ab.
O ±H 2 O 2 :SO 2
,
, :SO 3
-
2
I , •
±HOOH -
, X HO i'j^O!— OH " ! H [03^--0---0H]2
O I —— HO — S — OH | O -O
3
(7a)
S—OH
(7b)
-:OH"
Bei den bisher besprochenen Redoxreaktionen des Wasserstoffperoxids änderte sich die Oxidationsstufe der Eduktpartner jeweils gleich um zwei Einheiten. Es sind jedoch auch Redoxprozesse bekannt, die mit einem Oxidationsstufenwechsel von nur einer Einheit verbunden sind. So erfolgt etwa mit Fe2 + -Ionen eine stufenweise Reduktion von Wasserstoffperoxid zur Oxidationsstufe des Wassers H 2 0 2 + Q -> HO" + HO; HO + Q -> HO~ (k = Geschwindigkeitskonstante, x = Halbwertszeit; an Eisen koordiniertes Wasser blieb unberücksichtigt): Fe2+ + H 2 0 2 Fe3+ + H O ~ + H O fc = 76 lmol^'s"1 3 s Fe2+ + HO - > F e + + HO" fc = 3x10 lmol"is"i
xc = 1 = 1 . 3 x 1 0 ^ s, x ^ = 3.3x10~ 9 s.
In Anwesenheit überschüssigen Wasserstoffperoxids setzen sich die intermediär gebildeten HO-Radikale zusätzlich mit diesem zu HO -Radikalen um (HO HO ), welche ihrerseits von den entstandenen Fe 3 + -Ionen zu 0 2 oxidiert werden. HO und Fe3+ bewirken mithin eine stufenweise Oxidation von Wasserstoffperoxid zu Sauerstoff: H 2 0 2 -> H + + HO 2 + Q; H0 2 H + + 0 2 + Q (es wird allerdings auch eine Oxidation von Fe2+ im Sinne von (2) gemäß Fe2+ + H 2 0 2 -> Fen(O2H2)2+ -> Fe IV 0 2+ + H 2 O diskutiert. Führt man die Fe2+/H 2 0 2 -Umsetzungen in Anwesenheit gesättigter organischer Verbindungen HR durch, so reagieren die HO-Radikale auch mit diesen unter H-Abstraktion (HO - + HR -> HOH + R). Darüber hinaus vermögen sich die HO-Radikale an Mehrfachbindungen ungesättigter organischer Verbindungen zu addieren. Man verwendet deshalb Gemische von Eisen(II)Salzen und Wasserstoffperoxid (,,Fenton's Reagenz") in der organischen Chemie zu Oxidationszwecken, wobei man zweckmäßig Wasserstoffperoxid langsam zu einer Fe2 +-haltigen Lösung der betreffenden organischen Verbindung tropft, um die Konzentration des - ebenfalls mit HO-Radikalen reagierenden Wasserstoffperoxids klein zu halten Säure-Base-Verhalten. Als S ä u r e ( H 2 0 2 + H 2 0 H 3 0 + + H O 2 ) ist Wasserstoffperoxid etwas stärker als Wasser. Die Dissoziationskonstante beträgt bei 20°C 2 . 4 x 1 0 ~ i 2 (Wasser K = 1.8 x 10~i 6 ), entsprechend einer Wasserstoffionen-Konzentration von rund 10~ 6 in 1molarer Lösung. Wasserstoffperoxid ist also eine sehr schwache Säure, deren Salze (,,Peroxide") dementsprechend in Wasser stark hydrolysiert sind. Als B a s e ( H 2 0 2 + H 2 0 H 3 0 2 + O H ~ ) ist Wasserstoffperoxid wesentlich schwächer als Wasser. Es lassen sich jedoch Protonenaddukte wie H 3 0 2 SbFg mit starken Säuren (z. B. H S b F ö ) als farblose Feststoffe isolieren. Das mit H 2 N — O H isoelektronische Kation H 2 0 — O H zerfällt bei leicht erhöhter Temperatur (um 50°C) unter O 2 -Abgabe ( 2 ^ 0 ^ -> 2 H 3 0 + + 0 2 ) . Ähnlich wie H 3 0 + , das H 2 O-Moleküle über H-Brücken zu binden vermag (vgl. S. 532), existiert auch ein A d d u k t von H 3 0 2 + mit H 2 0 2 der Konstitution H O O H — H - 0 2 H 2 .
1. Der Sauerstoff
539
Verwendung Wasserstoffperoxid (Weltjahresproduktion: Millionentonnenmaßstab) findet u.a. als Bleichmittel zum Bleichen von Haaren (,,Blondfärben"), Stroh, Federn, Schwämmen, Elfenbein, Stärke, Leim, Leder, Pelzwerk, Wolle, Baumwolle, Seide, Kunstfaserstoffen, Fetten, Papier, Ölen usw. Verwendung. Der mengenmäßig größte Anteil entfällt auf die Papierherstellung. H 2 0 2 wird entweder als solches in wässeriger Lösung oder - z.B. im ,,Persil" und allen neueren Wasch- und Bleichmitteln - gebunden in ,,Natrium(s. dort) perborat " NaB(0H) 2 (0 2 ) • 3 H 2 0 oder in ,,Natriumcarbonat-Perhydrat" ^ 2 C 0 • eingesetzt. Außerdem wird es wegen seiner desinfizierenden Wirkung in Form einer 3 %igen Lösung oder an organische Stoffe gebunden für medizinische und kosmetische Zwecke gebraucht; so ist z.B. das ,,Ortizon" eine feste Additionsverbindung von Wasserstoffperoxid und Harnstoff. Als Sauerstoffuberträger nutzt man H 2 0 2 zur Reinigung von Haushalts- und Industrieabwässern, zur Gewinnung von Peroxoverbindungen und insbesondere zur Epoxidierung ungesättigter organischer Verbindungen.
Salze von H 2 0 2 Wichtige Salze des Wasserstoffperoxids sind das Natriumperoxid N
und das Bariumperoxid Ba
Natriumperoxid Darstellung. N a t r i u m p e r o x i d wird technisch durch Verbrennen von N a t r i u m an der Luft dargestellt: 2Na + 0 2 ^ N a 2 0 2 +504.9 k J . Und zwar führt man zwecks Vermeidung einer zu großen lokalen Wärmeentwicklung (Wiederzerfall des gebildeten Peroxids) das Natrium bei 300-700°C in Aluminiumgefäßen einem trockenen, kohlendioxidfreien Luftstrom entgegen, sodass nach Einsetzen des Prozesses das noch frische Natrium zuerst in saue r s t o f f a r m e r , verbrauchter Luft zu N a 2 0 verbrennt und sich erst später mit s a u e r s t o f f r e i c h e r Luft bei ca. 350 °C vollends zu N a 2 0 2 umsetzt (,,Gegenstromprinzip"). Auch Drehtrommeln werden zur technischen Darstellung verwendet, wobei das Natrium bei 150-200°C zuerst in N a 2 0 und dann bei 350°C weiter zu N a 2 0 2 oxidiert wird. Einwirkung von 0 2 bei 150 bar und 450 °C führt N a 2 0 2 (diamagnetisch) in N a t r i u m h y p e r o x i d N a 0 2 (paramagnetisch) über (vgl. hierzu S. 1285). Eigenschaften. Natriumperoxid ist ein farbloses (wegen anwesendem gelbem N a 0 2 meist blassgelbes), fast unzersetzt schmelzbares (Smp.675°C), sehr hygroskopisches, thermisch bis 500°C stabiles Pulver von stark oxidierenden Eigenschaften. So reagiert es z.B. explosionsartig mit oxidierbaren Stoffen wie Schwefel, Kohlenstoff oder Aluminiumpulver und ist beim Zusammenbringen mit organischen Substanzen (z. B. Sägemehl, Eisessig) sehr feuergefährlich. Löst man Natriumperoxid unter intensiver Kühlung in Wasser, so erhält man eine Lösung, die infolge hydrolytischer Spaltung wie ein Gemisch aus Natronlauge und Wasserstoffperoxid wirkt (s. oben): Na202 + 2H20 ^ H202 + 2Na0H. Ohne Kühlung löst sich das Natriumperoxid unter lebhafter S a u e r s t o f f e n t w i c k l u n g , da infolge der durch die starke Lösungswärme (exotherme Bildung des Hydrats N a 2 0 2 • 8 H 2 0 ) bedingten Temperatursteigerung das Wasserstoffperoxid unter der katalytischen Wirkung des hydrolytisch gebildeten Al kalihydroxids rasch in Wasser und Sauerstoff zerfällt: Na202 + H 2 0
2Na0H + | 0 2 .
Verwendung. Wegen seiner starken oxidierenden und damit auch bleichenden Wirkung findet Natriumperoxid in ausgedehntem Maße Verwendung zur Papier- und Textilbleiche. Die in der wässerigen Lösung vorhandene Natronlauge wird dabei durch Schwefelsäure (OH" + H + -> H 2 0 ) oder durch Magnesiumsulfat ( 2 O H + Mg 2 + -> Mg(0H) 2 ) unschädlich gemacht. Zeitweilig war Natriumperoxid ein Bestandteil von Waschmitteln; seit 1939 dürfen aber natriumperoxidhaltige Waschmittel wegen ihrer Feuergefährlichkeit bei uns nicht mehr hergestellt werden. Wichtig ist das Natriumperoxid noch als Ausgangsmaterial für die Herstellung anderer Peroxoverbindungen. Auf die Freisetzung von 0 2 gemäß N a 2 0 2 + C 0 2 -> N a 2 C 0 3 + \ O 2 gründet sich die Anwendung von N a 2 0 2 in Atemgeräten (für Taucher, Feuerwehrleute, in Unterseebooten; in Raumkapseln wird das leichtere Lithiumperoxid Li 2 0 2 eingesetzt).
540
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Bariumperoxid Bariumperoxid wird technisch durch Erhitzen von lockerem, porösem Bariumoxid im Luftstrom bei 500-600°C und 2 bar Druck gewonnen: 2Ba0 + 0 2 ^ 2Ba0 2 + 143 k J . Da die Bildungsreaktion mit W ä r m e a b g a b e und Volumenverminderung verbunden ist, verschiebt sich das Gleichgewicht mit steigender Temperatur und fallendem Druck nach links. Man kann daher den Sauerstoff der Luft bei niedriger Temperatur und erhöhtem Druck binden und bei höherer Temperatur und erniedrigtem Druck wieder entbinden (bei 795 °C erreicht der O 2 -Druck von Ba0 2 den Wert einer Atmosphäre). Hiervon hat man früher einmal (ab 1886) zur technischen Darstellung von Sauerstoff aus Luft Gebrauch gemacht, bevor dieses ,,Brin-Verfahren" durch die Wasserelektrolyse und dann durch die Luftverflüssigung und -zerlegung (ab 1895) ersetzt wurde. Bariumperoxid wird u.a. als Sauerstoffträger zur Entzündung von Zündsätzen - z. B. Thermitgemischen (s. dort) - verwendet.
2
Der Schwefel 35
Nachfolgend wird zunächst der elementare Schwefel, der in mehreren unterschiedlichen Formen S„ existiert, behandelt, und zwar erst der OctaschwefelS8 (Trivialname: Schwefel), dann andere Schwefel-Allotrope S„, schließlich Schwefel-Ionen sm +/m ~. Es folgt die Besprechung der Wasserstoff-, Halogen-, Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen des Schwefels.
2.1
2.1.1
Das Element
Vorkommen
Schwefe^^e,37,3s
Schwefel kommt wie der homologe Sauerstoff in der Natur sowohl in freiem wie gebundenem Zustande vor, ist aber rund 1000-mal seltener als dieser. Mächtige Lager des Elements finden sich vor allem in Italien (Sizilien), Nordamerika (Louisiana und Texas), Mittelamerika (Mexiko), Südamerika (Peru, Chile), Japan (Hokkaido) und Polen Anorganisch gebundener Schwefel findet sich vorwiegend in Form von Sulfiden und Sulfaten. Die Sulfide bezeichnet man je nach ihrem Aussehen als ,,Kiese", ,,Glanze" und „Blenden"; die meistverbreiteten unter ihnen sind der Eisenkies (Schwefelkies, Pyrit) FeS 2 , der Kupferkies (Chalkopyrit) CuFeS2, der Arsenkies (Giftkies, Arsenopyrit) FeAsS, der Bleiglanz PbS, der Kupferglanz Cu2S, der Molybdänglanz MoS2, die Zinkblende ZnS, der Zinnober HgS, der Realgar As 4 S 4 , das Auri-
35
Literatur. M. Schmidt, W. Siebert: „ S u l f u r C o m p r e h e n s i v e Inorg. Chem. 2 (1973) 759-933; B. Meyer (Hrsg.): ,,Elemental Sulfur, Chemistry and Physics", Wiley, New York 1965; G. Nickless (Hrsg.): ,,Inorganic Sulfur Chemistry", Elsevier, New York 1968; A. Senning (Hrsg.): ,,Sulfur in Organic andInorganic Chemistry", 4 Bände, Dekker, New York 1971-1982; Ch. C. Price, Sh. Oae: „ S u l f u r Bonding", Ronald Press, New York 1962; GMELIN: „Sulfur", SystemN r 9, bisher 10 Bände ULLMANN (5. Aufl.): „ S u l f u r " , A25 (1994); R. Steudel (Hrsg.): ,,Elemental Sulfur and SulfurRich Compounds, I/II", Topics Curr. C h e m 230/231 (2003). Vgl. auch Anm. 36,40,41,42,44,45,46,48, 51, 57, 58, 60. 6 3 Literatur. B.Meyer: „ Solid Allotrops of Sulfur", Chem. R e v 64, (1984) 421-451; R. Steudel: , Eigenschaften von Schwefel-Schwefel-Bindungen", Angew. C h e m 87 (1975) 683-692; Int. E d 14 (1975) 655; „Flüssiger Schwefel-ein Rohstoff komplizierter Zusammensetzung" (gemeinsam mit H.-J. Mäusle), Chemie in unserer Zeit 14 (1980) 73-81; ,,Homocyclic Sulfur Molecules", Topics Curr. C h e m 102 (1982) 149-176; ,,Das gelbe Element und seine erstaunlichen Eigenschaften", Chemie in unserer Zeit 30 (1996) 226-234; W. Kutney, K.Turnbull: „Compounds containing the S=S-Bond", Chem. R e v 82 (1982) 331-357. 37 Geschichtliches (vgl.Tafel II). Schwefel war wegen seines elementaren Vorkommens bereits in prähistorischen Zeiten bekannt. Er ist neben Kohlenstoff das einzige in der Antike genutzte Nichtmetall (Verwendung als Räuchermittel, bei religiösen Zeremonien, Baumwollbleichern, Zündholzmachern, Apothekern, zur Schwarzpulverherstellung). Der Name Schwefel leitet sich wohl von zu sweban (althochdeutsch) = einschlafen ab, der Name Sulfur von skulbari (sanskrit) = Feind des Kupfers. Im Mittelalter war Sulfur oder Sulphur (lat.) ein Synonym für die Eigenschaft der Brennbarkeit 38 Physiologisches Der Mensch enthält ca. 2.5 g des essentiellen Elements Schwefel pro kg Gewebe in gebundener Form (z. B. in Aminosäuren wie Cystein, Methionin sowie Coenzymen, Enzymen und Vitaminen wie Thiamin, Biotin, Ferredoxin und anderen Eisenproteiden; schwefelreich sind insbesondere die Haare und Nägel). Schwefel wirkt nicht als solcher, sondern nur nach Umwandlung in H 2 S oder S O in Berührung mit lebenden Substanzen giftig und kann aus letzterem Grunde zur Bekämpfung von Rebenmehltau, Spinnmilben, Pilzkrankheiten, Krätze usw. (jeweils Überführung in H 2 S) eingesetzt werden (bezüglich der schädigenden Wirkung von Schwefel in oxidierter Form vgl. den ,,sauren Regen", S.522).
2. Der Schwefel
541
pigment As2S3. Die wichtigsten Sulfate der Natur sind Calciumsulfat (Gips CaSO4 • 2H 2 O und Anhydrit CaSO4), Magnesiumsulfat (Bittersalz MgSO4 • 7H 2 O und Kieserit MgSO4 • H O ) , Bariumsulfat (Schwerspat BaSO4), Strontiumsulfat (Cölestin SrSO4) und Natriumsulfat (Glaubersalz Na 2 SO 4 • 10H 2 0). Als Bestandteil der Eiweißstoffe findet sich der Schwefel in der Biosphäre (Pflanzen- und Tierreich) auch organisch gebunden3%. Der bei der Verwesung von Tierleichen oder beim Faulen von Eiern auftretende üble Geruch rührt beispielsweise hauptsächlich von Schwefelverbindungen (Schwefelwasserstoff H 2 S, Mercaptanen RSH) her, die sich bei der Eiweißfäulnis bilden Steinkohlen - die ja pflanzlichen Ursprungs sind - weisen bis zu 8 % Schwefel, teils in organischer Bindung, teils in Form von Schwefelkies auf Erdöl enthält ebenfalls organisch gebundenen Schwefel, Erdgas Schwefelwasserstoff(vgl. auch S. 542). Erwähnenswert ist das Vorkommen von Schwefel neben Schwefelsäure in der Venusatmosphäre sowie der Schwefelvulkanismus auf dem Jupitermond Io (überwiegend S O mit 3-10 mol-% SO). Isotope (vgl. Anh. III). Der natürlich vorkommende Schwefel besteht aus den vier Isotopen 32S (95.02 %), 33S (0.75%), 3£S (4.21%) und 3®S (0.02%). HS kann in Schwefelverbindungen für NMR-spektroskopische Untersuchungen genutzt werden. Das künstlich erhältliche radioaktive Nuklid 3^S (ß-Strahler, t 1 / 2 = 87.9 Tage) dient bei mechanistischen Untersuchungen zum Markieren von Schwefelverbindungen und kann in der Photographie zur Konturierung unterbelichteter Bilder dienen, indem man auf letztere nach Behandlung mit einer alkalischen 3^ S-Thioharnstoff-Lösung einen unterbelichteten Film legt
2.1.2
Gewinnung
Die technische Gewinnung von Schwefel (S 8 ) erfolgt teils aus elementarem Vorkommen, teils durch Oxidation von Schwefelwasserstoff oder durch Reduktion von Schwefeldioxid, teils durch Zersetzung von Disulfid:
H2S
Oxidation
• s
SO2 + 297 kJ) in Meilern oder Ringöfen.
542
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Schwefelschaum
Druckluft
äußeres Rohr mittleres Roh inneres Rohr Wasserdampi
geschmolzener Schwefel
Fig. 146 Fußkörper der Schwefelpumpe von H. Frasch.
Aus Schwefelwasserstoff. Große Bedeutung besitzt in neuerer Zeit die Darstellung von Schwefel aus S c h w e f e l w a s s e r s t o f f , der in den bei der Gewinnung oder Aufbereitung fossiler Brennstoffe (Kohle, Erdöl) anfallenden Gasen ( H e i z g a s , K o k s o f e n g a s , W a s s e r g a s , S y n t h e s e g a s usw.) oder in Erdgasen enthalten ist bzw. bei der Entschwefelung von Erdöl (s.u.) anfällt. Die Umwandlung dieses Schwefelwasserstoffs in Schwefel erfolgt ganz allgemein durch Verbrennen mit Sauerstoff in Gegenwart von Katalysatoren in z w e i S t u f e n : H2S+|02 S02+2H2S ^ 3H2S+f02
S02 + H 2 0 + 518.37 kJ | S 8 + 2 H 2 0 + 145.66 kJ
(1) (2)
| S 8 + 3 H 2 0 + 6 6 4 . 0 3 kJ
(3)
da bei d i r e k t e r Oxidation zu Schwefel gemäß (3) die gesamte Verbrennungsenthalpie im K o n t a k t frei wird, wo sie nur schwierig zu beherrschen ist (bei zu hoher Temperatur entsteht S O statt S). Die Zerlegung des Vorgangs in die beiden Stufen (1) und (2), von denen nur die zweite - schwächer exotherme - eines Katalysators bedarf, beseitigt diese Schwierigkeit. Der gebildete Schwefel ist sehr rein (durchschnittlich 99.5%ig). Bei diesem als „Claus-Verfahren" bezeichneten Prozess wird das H2S-haltige Gas im Gemisch mit der gemäß (3) benötigten Menge Sauerstoff zunächst in einer Brennkammer zur Reaktion gebracht (60-70 % Umsatz zu Schwefel; Rest H 2 S und S O ) und anschließend in einem ersten Reaktor bei 300 0C an einem Co/Mo-Katalysator (fein verteilt auf A1 2 0 3 ) sowie in einem zweiten Reaktor bei 170 0 C an einem oberflächenreichen Al 2 0 3 -Katalysator praktisch vollständig in Schwefel verwandelt. Das im ,,Claus-Ofen" eingesetzte H2S-haltige „Sauergas" trennt man aus dem Heiz-, Koksofen-, Wasser-, Synthese-, Erdgas durch chemische oder physikalische Absorption ab (vgl. S. 558) und regeneriert es anschließend aus den Absorptionsflüssigkeiten oder -stoffen. Die Abtrennung des organisch gebundenen Erdöl-Schwefels in Form von H 2 S (Erdöl-Entschwefelung), die zur Gewinnung umweltfreundlicher, bei ihrer Verbrennung nur wenig S O emittierender Brennstoffe durchgeführt wird, erfolgt durch Hydrierung an Co-haltigen MoS 2 - oder WS2-Katalysatoren (fein verteilt auf A1 2 0 3 ) bei ca.400°C und erhöhtem Druck (,,Hydrodesulfurierung"). Zugleich wird im Erdöl gebundener Stickstoff als NH 3 (,,Hydrodenitrifizierung") und gebundener Sauerstoff als H 2 0 (,,Hydrodeoxygenierung") herausgespalten. Aus Schwefeldioxid Auch das in manchen technischen Gasen, z.B. Konvertergasen (S. 1435) und Röstgasen (S. 584), enthaltene Schwefeldioxidkann zur Schwefelgewinnung nutzbar gemacht werden, indem man das Schwefeldioxid in einen mit Koks beschickten heißen Generator einbläst, wobei Reduktion zu Schwefeldampf erfolgt S0 2 + C ?± C 0 2 + S. Das Verfahren hat technisch keine Bedeutung, da S O in der Regel zu H 2 S0 4 weiter verarbeitet wird. Aus Pyrit Erhitzen von Pyrit auf 1200 0C unter Luftabschluss führt zu einer Spaltung gemäß 83 kJ + FeS2 FeS + Ys S8 in Schwefel und Eisen(II)-sulfid („Outokumpo-Verfahren").
2. Der Schwefel
2.1.3
Physikalische Eigenschaften
543
35,36
Schwefel k o m m t in mehreren festen, flüssigen und gasförmigen Zustandsformen vor, von denen im Folgenden nur die wichtigsten angeführt seien 95.6°C
119.6°C
Ump.
Smp
rhombisch
monoklin
hellgelb
hellgelb
fester Schwefel
444.6 °C Sdp. dünn-/zäh-/dünnflüssig gelb
dunkelrotbraun
temperaturabhängiges Gleichgew flüssiger Schwefel (abgeschreckt; plastischer Schwefel)
(445-2200 °C) dunkelrotbraun temperaturabhängiges Gleichgew. gasförmiger Schwefel
Nachfolgend sollen zunächst die drei Aggregatzustände des Schwefels, dann im Zusammenhang mit dem Zustandsdiagramm des Schwefels Gesetzmäßigkeiten der Phasenübergänge besprochen werden
Aggregatzustände des Schwefels Fester Schwefel (vgl. Taf.III). Die bei g e w ö h n l i c h e r T e m p e r a t u r thermodynamisch allein beständige feste Modifikation des Schwefels ist der sogenannte ,,rhombische Schwefel" oder ,,a-Schwefel" a-S 8 (Smp. 112.8 °C bei raschem Erhitzen; Dichte = 2.06 g/cm 3 ). Die spröden Kristalle sind unlöslich in Wasser, schwer löslich in Alkohol sowie Ether, wenig löslich in Tetrachlorkohlenstoff, Aceton sowie Benzol, leicht löslich in Kohlenstoffdisulfid, Iodoform. Reinster a-Schwefel erscheint bei 20°C gelb mit Grünstich, unterhalb — 80°C schneeweiß, wogegen handelsüblicher, durch Spuren S 6 und S 7 verunreinigter S 8 -Schwefel die charakteristisch ,,schwefelgelbe" Farbe besitzt, die sich beim Erwärmen etwas vertieft, beim Abkühlen aufhellt. Bei 95.6°C verwandelt sich der a-Schwefel unter geringem Wärmeverbrauch (3.2 kJ/ mol S 8 ) und Volumenvergrößerung langsam in eine zweite fast farblose, etwas weniger dichte feste Modifikation, den so genannten ,,monoklinen Schwefel" oder ,,/?-Schwefel" /?-S8 (Smp. 119.6°C bei raschem Erhitzen; Dichte = 2.00 g/cm 3 ), der ebenfalls in Kohlenstoffdisulfid leicht löslich ist und dessen Dampfdruck bei 100 °C bereits so groß ist, dass er im H o c h v a k u u m sublimiert werden kann. O b e r h a l b der Umwandlungstemperatur (,,Umwandlungspunkt") ist nur der m o n o k l i n e , u n t e r h a l b nur der r h o m b i s c h e Schwefel beständig); die Umwandl u n g s g e s c h w i n d i g k e i t ist allerdings unter normalen Bedingungen so klein, dass beispielsweise Nadeln des bei höherer Temperatur gewonnenen monoklinen Schwefels bei Zimmer temperatur erst im Laufe einiger Tage unter Bildung kleiner rhombischer Kriställchen zer fallen. Eine dritte Modifikation des S 8 -Schwefels stelltperlmuttfarbener, monokliner ,,y-Schwefel" y-S 8 dar (Smp. 108.6°C bei raschem Erhitzen: um 2.03g/cm 3 ). Er wird u . a . durch langsames Abkühlen einer konzentrierten Lösung von Schwefel in E t O H sowie CS sowie durch Zersetzung von EtOCSSCu mit Pyridin erhalten und geht oberhalb (unterhalb) 95.6°C in ß-Schwefel (a-Schwefel) über. Die Lösungen des a-, ß- und y-Schwefels in C S sind identisch und zeigen die gleiche, einer Molekülgröße S 8 entsprechende Gefrierpunktserniedrigung. Auch die Kristalle des a-, /?- und -Schwefels sind aus solchen -Molekülen nur in verschiedener Anordnung aufgebaut Letztere haben die Gestalt eines gewellten Achtrings (,,Kronenform"; Näheres S. 550). Neben S 8 existieren viele weitere Normaldruck-Modifikationen des Schwefels, die Schwefelringe enthalten (n = 5 bis weit über 30; bisher über 20 Modifikationen in reiner F o r m bekannt) bzw. aus Schwefelketten aufgebaut sind (n = 2 bis 4, unter 1 0 bis zu 1 0 ) . Auf sie wird weiter unten näher eingegangen (vgl. allotrope Modifikationen des Schwefels). Darüber hinaus kennt m a n Hochdruck-Modifikationen des Schwefels: U n d zwar verwandelt sich S 8 Schwefel bei Drücken oberhalb 120 kbar in eine dichtere S 6 -Nichtmetall-Modifikation (d=2.21 g / c m bei Raumtemperatur), oberhalb 330 kbar in eine Halbmetall-Modifikation
544
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
(Halbleiter; Struktur unbekannt), oberhalb von 830 kbar bzw. oberhalb 1620 kbar in MetallModifikationen mit Schichtstruktur (orthorhombisch, Koordinationszahl des Schwefels gleich 4) bzw. mit Raumstruktur (rhomboedrische Struktur des ß-Poloniums, Koordinationszahl des Schwefels gleich 6; d= 6.6 g/cm 3 bei 2050 kbar). Die beiden metallischen Modifikationen werden bei 10 bzw. 1 7 K supraleitend. Flüssiger Schwefel weist viele, bei keiner anderen Flüssigkeit beobachtete Eigenschaften auf, wie etwa das Studium des Erwärmens und Abkühlens von Schwefelschmelzen lehrt. Erwärmen von Schwefelschmelzen Der monokline ß-Schwefel schmilzt bei 119.6°C (idealer Smp. des Schwefels) zu einer dünnen, durchsichtigen hellgelben Flüssigkeit, dem so genannten „XSchwefel". Kühlt m a n diese Flüssigkeit unmittelbar nach dem Schmelzen ab, so erstarrt sie wieder bei 119.6°C und löst sich nach dem Erstarren vollständig in Kohlenstoffdisulfid auf. Aus der CS 2 -Lösung kristallisiert a-Schwefel aus. Somit sind in der Lösung und damit auch in der Schmelze unveränderte S 8 -Ringe enthalten (SA = S 8 ). Läßt m a n jedoch die Schmelze einige Stunden oberhalb des Schmelzpunktes stehen, so tritt mit ihr eine Veränderung ein, indem bis zu einem Gleichgewicht andere, in der S 8 -Schmelze gelöste Schwefelmoleküle entstehen, nämlich n i e d e r m o l e k u l a r e Schwefelringe Sw („K-Schwefel") mit von 8 verschiedener Ringgröße (n = 5 bis über 30, insbesondere 6, 7,9,12; vgl. Fig. 147a) sowie h o c h m o l e k u l a r e Schwefelketten S x („^-Schwefel"; x = unter 10 2 bis 10 6 ). Kühlt m a n eine Schmelze, die längere Zeit (12 Stunden) bei 120 °C getempert wurde, ab, so erstarrt sie bei niedrigerer Temperatur k o n s t a n t bei 114.5°C (realer Smp. des Schwefels), weil der gebildete n- und ^-Schwefel wie ein Fremdstoff den Erstarrungspunkt des A-Schwefels herabsetzt (der Schmelzpunkterniedrigung von c a . 5 ° C entspricht ein Fremdmolekülgehalt von etwa 5 M o l - % ) . Schreckt m a n die betreffende Schmelze durch Eingießen in kaltes Wasser ab und versucht sie in Schwefelkohlenstoff zu lösen, so bleibt der aus dem X-Schwefel entstandene Anteil an hochmolekularem /^-Schwefel als gelbes, in CS 2 unlösliches Pulver zurück. Bei weiterer S t e i g e r u n g d e r T e m p e r a t u r verschiebt sich das Gleichgewicht S^ 5 in temperatur- und druckabhängigen Gleichgewichten in zunehmendem Maße. Bei 700 °C und 1 mbar. besteht der Schwefeldampf überwiegend aus S 2 -Molekülen. Oberhalb 1800 °C beginnen auch die S 2 -Moleküle in S-Atome zu dissoziieren, die dann oberhalb von 2200°C bei Drücken < 10~5 m b a r dominieren.
Zustandsdiagramm des Schwefels. Phasenübergänge Die Erscheinungen, dass ein Stoff je nach den Zustandsbedingungen (Temperatur, Druck) in verschiedenen festen Zustandsformen („Modifikationen") existiert, findet sich nicht nur beim Schwefel, sondern auch bei vielen anderen Stoffen, z. B. beim Eisen, Phosphor, Zinn, Kohlenstoff, Ammoniumnitrat, Quecksilbersulfid. Man nennt sie „Polymorphie"3g und spricht von ,,polymorphen Modifikationen". Die - bereits
3^ polys (griech.) = viel; morphe (griech.) = Gestalt; Polymorphie = Vielgestaltigkeit; allos (griech.) = ein anderes; trope (griech.) = Umwandlung; Allotropie = Umwandlung in etwas anderes; enantios (griech.) = entgegengesetzt; monos (griech.) allein
546
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
beim Sauerstoff beobachtete - Erscheinung, dass Elemente zudem in verschiedenen Molekülgrößen existieren (z. B. S6, S7, S , S9) bezeichnet man als „Allotropie"39 und spricht von ,,allotropen Modifikationen". Man unterscheidet zwischen ,,enantiotropen"39 ( = wechselseitig umwandelbaren) Modifikationen (z.B. S ^ S ^ ) und ,,monotropen"39 ( = einseitig umwandelbaren) Modifikationen (z.B. Sy Sa bzw. Sjg). Verständlich wird dieses Verhalten aufgrund der Dampfdruckkurven, deren Schnittpunkte nicht nur - wie besprochen (S. 33) - den Schmelzpunkt eines Stoffs, sondern auch den Umwandlungspunkt fester Modifikationen A und B eines Stoffs unter dem eigenen Dampfdruck wiedergibt (Fig. 148a, Punkt 1). Unterhalb der Umwandlungstemperatur ist die Form A, oberhalb die Form B die beständigere, da in ersterem Falle A, in letzterem B den geringen Dampfdruck besitzt. Nur beim Umwandlungspunkt selbst können beide feste Modifikationen dauernd nebeneinander bestehen, da sie hier genau den gleichen Dampfdruck aufweisen. Schneidet nun die Dampfdruckkurve der Schmelze die Dampfdruckkurven der beiden festen Modifikationen A und B oberhalb des Umwandlungspunktes 1 (Fig. 148 a), so wandelt sich beim Erwärmen der Stoff A beim Umwandlungspunkt 1 in die Modifikation B und die Modifikation B beim Schmelzpunkt 2 in die Schmelze um, da stets die Zustandsform mit dem kleinsten Dampfdruck (ausgezogene Kurventeile) die beständigste ist. Schneiden sich die Kurven dagegen unterhalb des Umwandlungspunktes 1 (Fig. 148b), so schmilzt der Stoff A beim Erwärmen am Punkt 3, bevor der Umwandlungspunkt 1 erreicht ist; eine Umwandlung von A in B ist daher in diesem Fall nicht möglich. Der Punkt 3 in Fig. 148 a, der den Schmelzpunkt der bei dieser Temperatur nicht beständigen festen Form A darstellt, kann häufig durch vorsichtige Unterkühlung der Schmelze erreicht werden. Denn wenn man dafür sorgt, dass keine Kristallkeime des Stoffs B zugegen sind, so gelingt es, beim Abkühlen der Schmelze ein Auskristallisieren des Stoffes B beim Punkt 2 zu vermeiden und auf den gestrichelten (metastabilen) Teil der Dampfdruckkurve der Schmelze zu gelangen, bis beim Punkt 3 ein Auskristallisieren des Stoffs A erfolgt. In analoger Weise kann bei monotropen Modifikationen (Fig. 148 b) durch vorsichtige Unterkühlung der Schmelze bis zum Punkt 2 der Erstarrungspunkt von B erreicht und so die - unter diesen Temperaturbedingungen lediglich metastabile- Modifikation B erhalten werden, die sich dann allerdings von selbst - mehr oder weniger schnell - in die stabile Form A umwandelt. Die Erscheinung, dass ein in mehreren Modifikationen verschiedenen Energiegehalts existierender Stoff beim Abkühlen nicht gleich in den energieärmsten Zustand, sondern zunächst in eine Zustandsform mittleren Energiegehalts übergeht, ist ein Spezialfall einer als „Ostwald'sche Stufenregel" bekannten Regel: Ein in mehreren Energiezuständen vorkommendes chemische System geht beim Entzug von Energie nicht direkt, sondern stufenweise in den energieärmsten Zustand über. Die Ostwald'sche Stufenregel wird allerdings besser durch die ,,Ostwald-Vollmer-Regel" ersetzt, welche besagt, dass sich zuerst die weniger dichte Modifikation bildet. Da die instabilere Form meist auch die weniger dichte ist, besagen beide Regeln im allgemeinen dasselbe. In Fällen aber, in denen die instabilere Form die dichtere ist (z. B. Diamant im Vergleich zum Graphit) trifft nur die Fassung von Ostwald-Vollmer zu. Wie aus dem in Fig. 149 - vereinfacht - wiedergegebenen Zustandsdiagramm (Phasendiagramm) des Schwefels hervorgeht, ist die Druck-Temperatur-Ebene dieses Diagramms durch mehrere Kurvenzüge in vier (verschieden gerasterte) Felder eingeteilt, deren jedes dem Existenzbereich einer der vier wichtigsten Zustandsformen des Schwefels (rhombischer, monokliner, flüssiger, gasförmiger Schwefel) entspricht. Längs der Kurven, in denen je zwei Felder aneinander grenzen, sind je zwei Zustandsformen des Schwefels, in den Punkten 1, 2, 3 und 4 (,,Tripelpunkte"), in denen je drei Felder aneinander stoßen, je drei Zustandsformen des Schwefels miteinander im Gleichgewicht (Punkt 1: 95.6 0 C bei 0.0038 mbar; Punkt 2: 119.6 0 C bei 0.018 mbar; Punkt 3: 112.8 0 C bei 0.013 mbar; Punkt 4: 154 0 C bei ca. 1400 bar). Innerhalb
T
Fig. 148 Dampfdruckkurven enantiotroper (a) und monotroper (b) Modifikationen
Fig. 149 Zustandsdiagramm (vereinfacht) des Schwefels (Smp y-Schwefel = 108.6 0 C).
2. Der Schwefel
547
der Felder in Fig. 149 kann man Druck und Temperatur variieren, ohne den Existenzbereich der betreffenden Schwefelform zu überschreiten (zwei Wahlfreiheiten). Längs der Kurven lässt sich nur Druck bzw. Temperatur festlegen, dann ist die Temperatur bzw. der Druck durch die Kurve zwangsläufig gegeben (eine Wahlfreiheit). Für das Gleichgewicht zwischen 3 Formen des Schwefels (Punkte 1, 2, 3, 4) ist schließlich sowohl Druck wie Temperatur vorgegeben (keine Wahlfreiheit). Der amerikanische Physiker Josiah Willard Gibbs (1839-1903) hat 1878 die vorgenannten, auch beim Wasser (S. 37) bereits beobachteten Beziehungen für heterogene Gleichgewichtssysteme verallgemeinert und quantitativ zu einer als „Gibbs'sches Phasengesetz" bekannten Gleichung zusammengefasst: Zahl der Phasen + Zahl der Freiheitsgrade = Zahl der Bestandteile + 2 („Phasen" = Zustandsformen; „Freiheitsgrade" = Wahlfreiheiten für Druck und Temperatur;,,Bestandteile" = phasenbildende Molekülsorten des Schwefels (im Falle des Schwefels = 1)). Da die Kurven, welche benachbarte fest/feste oder fest/flüssige Stoffphasen trennen sehr steil im DruckTemperatur-Diagramm ansteigen (Ump. 0.04°C je Bar, Smp. 0.025 °C je Bar), liegen die Tripelpunkte 1 und 2 sehr nahe dem Umwandlungspunkt 5 bzw. Schmelzpunkt 6 des Schwefels bei 1 atm = 1.013 bar. Die Dampfdruckkurve des flüssigen Schwefels erreicht bei 444.6 °C einen Wert von 1 atm und endet bei 1040°C (kritische Temperatur) und 118 bar (kritischer Druck).
2.1.4 Chemische Eigenschaften und Verwendung Thermisches Verhalten Schwefel ist thermisch weniger stabil als Sauerstoff. Die Dissoziationsenergie der S—S-Bindung in S 8 (150 kJ/mol) ist etwa mit der in I 2 (151 kJ/mol) vergleichbar (in 0 2 498 kJ/mol). Hiernach sollte bei einer Temperatur von 200°C und 1 bar, bei welcher 4 % aller I 2 -Moleküle in I-Atome gespalten sind (S. 385), 8 x 4 = 3 2 % der cyclo-S 8 -Moleküle in F o r m von catena-S 8 -Diradikalen vorliegen. Tatsächlich ist die Radikalkonzentration in Schwefelschmelzen bei 200°C noch extrem klein, weil die zugeführte Wärmeenergie zur Umwandlung von S 8 in energiereichere S Ä -Modifikation (n =|= 8) genutzt wird, wie ausführlich besprochen wurde (vgl. physikalische Eigenschaften). Oberhalb 1000°C besteht der Schwefeldampf ausschließlich aus O2 -analogen S2 -Molekülen (Dissoziationsenergie 0 2 / S 2 gleich 498/ 425kJ/mol), die d a n n ab 2000°C zunehmend in S-Atome aufspalten. Redox-Verhalten. S 8 -Schwefel verbindet sich schon bei mäßig erhöhter Temperatur mit fast allen Metallen und Nichtmetallen (ausgenommen Gold, Platin, Iridium, Stickstoff, Tellur, Iod und Edelgase). Vielfach verlaufen diese Redox-Reaktionen des Schwefels, bei denen er meist reduziert, seltener oxidiert wird, unter großer Wärmeabgabe. So entzündet er sich z.B. beim Erhitzen an der Luft ab 250 °C und verbrennt mit blauer Flamme zu Schwefeldioxid (JS 8 + 0 2 -> SO 2 + 297.03 kJ). Ebenso vereinigt er sich mit Wasserstoff (|-S 8 + H 2 -> H 2 S + 20.6 kJ) bei erhöhter, mit den Halogenen Fluor, Chlor und Brom (zB. § S 8 + Cl 2 -> S 2 C1 2 + 59.4 kJ) bei Raumtemperatur. Beim Erhitzen mit Eisenfeile erfolgt Reaktion mit heftiger Wärmeentwicklung (Fe + ^ S 8 — a-FeS + 95.12 kJ). Kupfer verbrennt im Schwefeld a m p f u n t e r Lichterscheinung (Cu + | - S 8 -> CuS + 53.2 kJ). Beim Verreiben von Quecksilber mit Schwefelblumen in einem Mörser entsteht schwarzes Quecksilbersulfid (Hg + ^ S 8 -> HgS + 54.01 kJ). Auch von oxidierenden Säuren wie Salpetersäure (Oxidation zu Schwefelsäure H 2 S O 4 ) , von wässerigen Alkalien (Disproportionierung zu Polysulfiden S u n d Thiosulfat S 2 O r (S. 395) sowie flüssigem Ammoniak (Disproportionierung zu Polysulfiden S und dem Anion des Schwefelimids S 7 N H (S. 611) wird Schwefel angegriffen. Gegen Wasser und nicht oxidierende Säuren wie Salzsäure ist er demgegenüber inert Redox-Prozesse sind auch für den Kreislauf des Schwefels wesentlich, der in einer wechselseitigen Überführung von reduziertem in oxidierten Schwefel besteht: S(— II) S( + VI). So wird der in Biomasse gebundene Schwefel durch Verwesung in H 2 S, durch Verbrennung in S O übergeführt. Die Oxidation beider Gase führt in der Atmosphäre zu Schwefelsäure (S. 522), die mit dem sauren Regen in Böden und Meere gelangt (teils reversible Ablagerung als CaSO4). Pflanzen und Mikroben reduzieren den SulfatSchwefel zu Schwefelwasserstoff (teils reversible Ablagerung als FeS2) und verwenden ihn zum Aufbau ihrer Biomasse usf. Die enzymatische Reduktion von SO4~ mit H 2 (aus der Umgebung) wird von,,Schwefelbakterien" ebenso wie die enzymatische Oxidation von H 2 S mit 0 2 zudem zur Energieversorgung
548
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
genutzt. Wichtiges Reaktionszwischenprodukt ist Thiosulfat S 2 OJ", das teils enzymatisch zu SOJ" oxidiert oder zu H 2 S reduziert, teils durch Disproportionierung in H 2 S/SOJ" (Hauptreaktion) übergeführt wird. Hierbei erfolgt eine Isotopenfraktionierung in der Weise, dass gebildetes und sedimentiertes SOJ" reicher, gebildetes und sedimentiertes S 2 " ärmer an S ist. Auf die von einigen Schwefelbakterien ausgelöste Umwandlung von H 2 S bzw. dem endständigen S-Atom von S 2 02" in elementaren Schwefel (vgl. Schwefelsole, S. 545) gehen wohl die gewaltigen Schwefelablagerungen (z.B. in Texas) zurück. Besonders charakteristisch für Schwefel ist auch seine Eigenschaft, mit vielen Verbindungen R n E: (R = anorganischer oder organischer Rest) gemäß ES unter Sulfurierung zu reagieren (im speziellen Falle der Umwandlung von R„EH in R„ESH bzw. von R„EH in R„ESO 3 H spricht m a n auch von ,,Sulfidierung" bzw. ,,Sulfonierung"). So lassen sich etwa Sulfit in Thiosulfat ( : S O J " + i S 8 ^ S S O J " ) , Sulfid in Polysulfid (S2" + f S 8 S J " i ) , Phosphane, Arsane bzw. Stibane R„E: (E = P, As, Sb) in Phosphan-, Arsan-bzw.Stibansulfide R n ES, A r s e n i t i n T h i o a r s e n a t ( : A s O 3 " + | S 8 -> SAsO3"), Cyanid in Thiocyanat (:CN~ S C N ~ ) überführen (vgl. hierzu auch Umwandlung von SModifikationen, unten). Mechanistisch stellen derartige Sulfurierungsreaktionen meist assoziative nucleophile Substitutionsreaktionen (SN2-Reaktionen) des zu sulfurierenden Partners am S8-Schwefel dar. Als Beispiel sei etwa die Umsetzung des Schwefels mit Sulfit zu Thiosulfat (S, 8S 2 " 8 S 2 0 J ) herausgegriffen. Hier führt der nucleophile Angriff von Sulfit auf S8 unter Ringöffnung zunächst zu einem Octasulfansulfonat S 8 SOJ", aus welchem anschließend durch nucleophilen Sulfitangriff am ß-Atom der Schwefelkette Thiosulfat verdrängt wird
(1)
In analoger Weise wird dann das gebildete Heptasulfansulfonat S 7 SOJ" durch nucleophilen Sulfitangriff am ß-Schwefelatom in Hexasulfansulfonat S6SO J" und dieses weiter über Penta-, Tetra-, Tri- und Disulfansulfonat schließlich in Monosulfansulfonat ( = Thiosulfat) übergeführt. Insgesamt erfolgt also ein schrittweiser Schwefelkettenabbau nach:
(2)
Da die Ringöffnung der nach S8 + 8SO J" 8S 2 0 J" verlaufenden Umsetzung (2) von Schwefel mit Sulfit der geschwindigkeitsbestimmende Schritt ist, stellen die - auf anderen Wegen (S. 599) zugänglichen - Polysulfansulfonate S„SO J" nur rasch weiterreagierende, nicht isolierbare Zwischenprodukte dar. In analoger Weise wie durch :SOJ" wird S 8 auch durch andere Nucleophile wie :SJ", :PR 3 , :AsR 3 , :AsO 3", SbR3 , :CN" abgebaut, wobei wieder jeweils die Ringöffnung der geschwindigkeitsbestimmende Reaktionsschritt ist. Entsprechend dem S8-Schwefel reagieren aber auch andere Schwefelhomocyclen Sn (n z.B. 6, 7, 9-12) mit den erwähnten Nucleophilen :Nu gemäß S„ + n:Nu nSNu unter Spaltung der SS-Bindungen. Wegen der erhöhten Spannung der betreffenden Schwefelringe (S. 533) erfolgt hier die Ringöffnung - und damit die gesamte Sulfurierungsreaktion - sogar rascher als im Falle von S 8 . Thiosulfat bildet sich aus S8 und SOJ" in einer Gleichgewichtsreaktion. Das Gleichgewicht liegt in alkalischer Lösung praktisch vollständig auf der Thiosulfatseite (S. 596). In saurer Lösung lässt es sich jedoch auf die Seite des elementaren Schwefels verschieben, weil das gleichzeitig entstehende Sulfit-Ion unter diesen Bedingungen (pH < 7) instabil ist (S. 597) und gemäß S O J " + 2H + SO2 + H 2 O in Form von Schwefeldioxid laufend aus dem Gleichgewicht gezogen wird. Beim Ansäuern wässeriger ThiosulfatLösungen erfolgt mithin in Umkehrung von (2) ein Schwefelkettenaufbau, indem Thiosulfat-Ionen unter Übergang in Sulfit-Ionen Schwefelatome auf andere Thiosulfat-Ionen übertragen, deren Schwefelkette hierdurch schrittweise verlängert wird. Hat sich auf diese Weise schließlich S6 SO J", das in saurer Lösung als Hexasulfansulfonat HS6SOG vorliegt, so entsteht unter Abspaltung von HSO3 cyclo-Hexaschwefel S 6 (vgl. Gleichg. (2)); eine Abspaltung von S5 aus HS5SO3~ unterbleibt aus Ringspannungsgründen). In
2. Der Schwefel
549
analoger Weise können die Ionen HS 7 SÖ 3 bzw. HS 8 SÖ 3 , die sich durch weitere „Schwefelung" von HS 6 SÖ 3 mit S 2 02" bilden, in HSÖ 3 und cyclo-Hepta- bzw. -Octaschwefel S7 bzw. S8 zerfallen (2), sodass insgesamt ein Gemisch von S 6 , S 7 und S 8 entsteht (Molverhältnis ca. 6 : 2 : 1). Eine Bildung von S 9 wird nicht beobachtet, weil die S8-Eliminierung aus HS 8 SÖ 3 so rasch erfolgt, dass dessen Weitersulfurierung zu HS 9 SÖ 3 unterbleibt. Neben den zu S 6 , S 7 und S8 führenden Reaktionen laufen in untergeordnetem Maße auch Umsetzungen des Typus HS„SÖ3 + HSWSÖ3 ^ H2SX + "03S—S^—SÖ3 ab (n + m = x + y; vgl. S.599). Säure-Base-Verhalten. 40 Ein Beispiel für eine Säure-Base-Reaktion des elementaren Schwefels stellt die Umsetzung von S 8 mit AgAl(ÖR) 4 (R = C(CF 3 ) 3 ) zu Salzen A g ( S 8 ) + [Al(ÖR) 4 ] und Ag(S 8 ) 2 [Al(ÖR) 4 ] dar, in welchem S 8 hinsichtlich A g + formal als Lewis-Base wirkt und als mehrzähniger Ligand fungiert (Fig. 150a). In analoger Weise bilden wohl Schwefelringe mit mehr als 8 S-Atomen derartige Schwefelkomplexe. Als Beispiel eines Komplexes mit einem Schwefelring, der weniger als 8 S-Atome enthält, ist in Fig. 150b das A d d u k t von S 7 mit B r + wiedergegeben (vgl. S. 568). In seiner sauerstoffanalogen diatomaren F o r m bildet Schwefel mit L n M entsprechend Fig. 150 f Komplexe mit doppelt ,,end-on" oder entsprechend Fig. 150 g,h mit einfach oder doppelt ,,side-on" verknüpften S 2 -Gruppen (Verbindungen mit einfach end-on komplexierten Dischwefel (Fig. 150e)) sind noch unbekannt. D a der SS-Abstand im Falle der S 2 -Komplexe mit 2 . 0 - 2 . 1 Ä im Einfachbindungsbereich liegt ( r s _ s « 2.08; r s = s = 1.89 Ä), beschreibt m a n letztere Verbindungen vorteilhafter als Addukte aus L w M 2 + und S 2 " . Dementsprechend lassen sie sich in einfacher Weise aus Komplexfragmenten und Disulfid synthetisieren. In analoger Weise entstehen Komplexe L w MS m (vgl. z.B. Fig.150c,d) durch Komplexierung von Polysulfiden S2" (m = 3 - 7 , 9) und die zahlreichen Komplexe MS™~ mit „Schwefelatomen" aus M(2«-^) + und ^S2" (vgl. Polysulfane, Übergangsmetalle und Anm.40). Darüber hinaus kennt man Charge-Transfer-Komplexe (S. 165). So kristallisiert aus Iodoform-Lösung die Verbindung CHI 3 • 3S8 in Nadeln aus, in welchen jedes I-Atom mit einem - formal als Lewis-Säure wirkenden S-Atom eines S8-Rings verbunden ist. Weitere CI-Komplexe sind etwa: Sbl 3 • 3S 8 , Snl 4 • 2S 8 .
L„M—S V
/ S
*Br (a) Ag(S 8 ) +
(b) B r S j
ML„ UM
S (e) ( - )
Fig. 150
UM
(c) z.B. (C5H5>2TiS 5
L„M
V
(f) z.B. (NH 3 ) 5 Ru(S2)Ru(NH 3 ) 4 5
(g) (Z.B. (C5H5)2MgS2
(d) z.B. ( C S H 5 ) 2 W S 4
A L„M
ML„
(h) z.B. (CO) 3 Fe(S 2 )Fe(CO) 3
Schwefelkomplexe.
40 Literatur A. Müller, E. Diemann:,,,Sulfides" sowie ,,Metallothio Anions" in Comprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 515-550 sowie 559-577;,,Polysulfide Complexes of MetalsAdv. Inorg. Radiochem. 31 (1987) 89-122; A. Müller: ,,Coordination Chemistry of Mo- and W-S Compounds and some Aspects of Hydrodesulfurization Catalysis", Polyhedron 5 (1986) 323-340; A. Müller, E. Diemann, R. Jostes, H. Bögge: ,,Thioanionen der Übergangsmetalle: Eigenschaften und Bedeutung für Komplexchemie und Bioanorganische Chemie", Angew. C h e m 93 (1981) 957-977, Int. E d 20 (1981) 934; M. Draganjac, T.B. Rauchfuss: ,,Übergangsmetallpolysulfide, Koordinationsverbindungen mit rein anorganischen Chelatliganden", Angew. C h e m 97 (1985) 253-264, Int. E d 24 (1985) 742; J. Wachter: , S y n t h e s e , Struktur und Reaktivität schwefelreicher Cyclopentadienyl Übergangsmetallkomplexe", Angew. C h e m 101 (1989) 1645-1658, Int. E d 28 (1989) 1613.
550
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Verwendung Elementarer Schwefel (Weltjahresproduktion um 50 Megatonnen) wird hauptsächlich (85-90%) zur Herstellung von Schwefelsäure und deren Folgeprodukte (s. dort), darüber hinaus zur Erzeugung anorganischer und organischer Schwefelverbindungen (z.B. S0 2 und Folgeprodukte (s. dort), CS2, P 2 S 5 , Malerfarben wie As 2 S 3 , Ultramarin, Insektizide, Pharmazeutika), in der Zündholzindustrie, zur Herstellung von Schwarzpulver, Feuerwerkskörpern, zur Bekämpfung von Schädlingen u. a. m. verwendet. Auch kann er im Straßenbau genutzt werden (bis zu 50 %iger Asphaltersatz). /^-Schwefel (,,Crystex", S. 544) findet ausgedehnte Anwendung bei der Vulkanisation von Kautschuk (Bildung von S-Ketten zwischen den C-Ketten des Kautschuks).
2.1.5
Schwefel-Allotrope 35,36
Darstellung
Außer cafena-Polyschwefel S^ und cjc/o-Octaschwefel S 8 lassen sich aus abgeschreckten Schwefelschmelzen auch cjc/o-Heptaschwefel S 7 , cjc/o-Dodecaschwefel S 1 2 , cjc/o-Octadecaschwefel a - S 1 8 sowie cjc/o-Icosaschwefel S 2 0 isolieren. Hierzu gießt man eine Schwefelschmelze in dünnem Strahl in flüssigen Stickstoff und löst das erhaltene gelbe Schwefelpulver sofort bei 25 °C in Kohlenstoffdisulfid, trennt unlöslichen -Schwefel ab und kühlt dann die Lösung mit Trockeneis (— 78°C), wodurch der größte Teil des /l-Schwefels zusammen mit S 12 auskristallisiert (S12 lässt sich von S 8 durch Flotation des Niederschlags in CS2 abtrennen). Aus der CS^ Lösung des re-Schwefels kann nach Zugabe von Glaspulver und Pentan eine plastische, orangefarbene Substanz abgeschieden werden. Hieraus erhält man durch Extraktion mit Toluol S7 und anschließend nach Auflösen in CS2 und Stehenlassen der Lösung bei 20 °C S 18 und S 20 als Niederschlag. Insgesamt können aus 400 g Schwefelauf diese Weise ca. 3 g S 7 ,0.8 g 2 ,0.08 goc - S 18 und 0.04 g S 20 rein isoliert werden. Gemische von Schwefelhomocyclen entstehen auch bei einer Reihe von chemischen Reaktionen, die wie etwa die Zersetzung von Natriumthiosulfat N a 2 S 2 0 3 in salzsaurer Lösung (vgl. S. 548) oder die Umsetzung von Dichloridsulfan S 2 C1 2 (gelöst in CS 2 ) mit einer wässrigen KI-Lösung (vgl. S. 568) unter Schwefelbildung erfolgen: N a 22 S22 0 33
+ 2HC1 — 2NaCl
( H 22 S22 0 33 )
.
2s„; — ,,H 2 SO 3 "
"
S 2 C1 2
+2KI — 2KC1
(S 2 I 2 )
- fS„. —12
Durch Extraktion mit Chloroform CHC1 3 bzw. Toluol lässt sich aus den nach letzteren beiden Methoden dargestellten Schwefelgemischen leicht cjc/o-Hexaschwefel S 6 (,,Aten'scher" bzw. „Engel'scher Schwefel"; früher auch s-Schwefel) gewinnen. Es existieren auch Synthesemethoden, die gezielt zu bestimmten allotropen Schwefelmodifikationen führen. So lassen sich etwa durch Kondensation von Polysulfanen H 2 S X mit Dichlorpolysulfanen S Cl 2 im Molverhältnis 1 : 1 in trockener, verdünnter etherischer Lösung gemäß H 2 S , + S,C1 2 -
Sx+y + 2HCl
die bereits erwähnten Schwefelringe mit « = x + y = 6, 8, 12, 18, 20 darstellen. Anstelle von H 2 S 5 oder H 2 S 6 k a n n auch Cp 2 TiS 5 (Cp = C 5 H 5 ) bzw. (tmeda)ZnS 6 (tmeda = M J N C ^ C H N M J ) als Lieferant einer S 5 - bzw. S 6 -Schwefelkette, anstelle von S CL2 auch S J ,(SCN) 2 dienen (z.B. Cp 2 TiS 5 + S 4 (SCN) 2 S 9 + Cp 2 Ti(SCN) 2 ; die Reaktion von Cp 2 TiCl 2 mit SO 2 C1 2 führt nicht zu S 5 , sondern verläuft gemäß: 2Cp 2 TiS 5 + SO 2 C1 2 S 1 0 + Cp 2 TiCl 2 + S O ) . Letztere Methoden ermöglichten die Gewinnung und erstmalige Isolierung von cjc/o-Nona-, -Deca-, -Undeca-, -Trideca-, Tetradeca- und -Pentadecaschwefel S 9 , S I O 5 S H , S 1 3 , S 1 4 , S 1 s • Bezüglich der Bildung von cjc/o-Pentaschwefel S 5 und catena-Tetraund -Trischwefel S 4 , S 3 in Schwefelschmelzen und -Dämpfen s. oben. Die wichtigste Komponente des Schwefeldampfes oberhalb 720 °C sowie des Dampfes über Pyrit FeS2 bei 850 °C ist Dischwefel S 2 . Beim Abschrecken dieses Dampfes auf die Temperatur desflüssigenStickstoffs erhält man blauen bis schwarzen, sich oberhalb — 80 °C zersetzenden Schwefel, der wohl u. a. auch S 2 enthält. S2 lässt sich durch Abschrecken des Dampfes auf 20 K in Anwesenheit von inerten Gasen in den metastabilen Zustand überführen (Matrixisolierung von S 2 ). Dischwefel entsteht darüber hinaus u.a. in schwefelreichen Flammen (s.u.), bei der elektrischen Durchladung sowie Photolyse von Schwe-
2. Der Schwefel
551
Tab. 61 Einige Eigenschaften und Strukturparameter allotroper Schwefelmodifikationen (SS-Abstände im Mittel 2.04-2.08 Ä; längster Abstand 1.18 Ä in S7 im Zentrum der planaren SS—SS-Baueinheit; SSSWinkel im Mittel 103-108°). S„a) S2 S3
s4 Ss S6 8-S7 a S
"8
a-S9 Sio Sn S12 Sl3 S14 S 1S -S P-S18 S2o S„
Farbe violett blau rot (orangerot) orangegelb intensiv gelb hellgelb intensiv gelb gelb gelb gelb gelb tiefgelb zitronengelb intensiv gelb gelb hellgelb gelb
Smp. [°C]b)
Kristallsystem (Punktgruppe nicht isoliert nicht isoliert nicht isoliert nicht isoliert rhomboedrisch orthorhombisch orthorhombisch monoklin monoklin orthorhombisch orthorhombisch hexagonal triklin ? orthorhombisch monoklin orthorhombisch monoklin
(Stabilität (D ) (C ) (C2v?) (Cs?) (D ) (C ) (D ) (C ) (D (C ) (D ) (C ) (C ) (?) (C ) (C ) (D ) -
(instabil) (instabil) (instabil (instabil ca. 100 (d) 39 (h) 120 (oo) 65 (d) 80 (d) 74 (d) 148 (oo) 114 (d) 117 (d) (h 126 (oo) (
121 (oo)
Dichte [g/cm 3 ] 2.21 2.18 2.06 2.11 2.10 2.08 2.04 2.09 2.04 -
2.09 -
2.02 2.01
SSSS Grad 73.8 0.3 108.9 98.5 (59.7-115.6) 75.4 123.7 69.0-140 86.0 89.4 29.5 116.3 72.5 107.1 (30-140) 79.5 89.0 66.5 87.8 66.3 89.9 85.3
(74) (76) (99) (93) (96) (97) (88) (85) (93) (85) (84) (80) (84) (85)
a) Es existieren von den ätiotropen Schwefelmodifikationen S 7 , S 8 , Sc, und Sj 8 polymorphe Modifikationen a-, ß-, y-, S-S 7 ; a-, ß-, y-S 8 ; a-, ß-S 9 ; a-, ß-S 18 . Die polymorphen Modifikationen von S 7 , S 8 und Sc, enthalten gleich-konformierte, die Modifikationen von S 1 8 jeweils ungleich-konformierte Schwefelringe. - b) Unter Zersetzung. Die unter 115 °C schmelzenden Modifikationen S S 7 , Sc,, S 1 0 , S ^ zersetzen sich unter Bildung einer S^-haltigen viskosen Schmelze und werden bei 115 °C in die normale dünnflüssige Schwefelschmelze übergeführt, die höher schmelzenden Modifikationen gehen direkt in die normale dünnflüssige Schmelze über (Zusammensetzung entsprechend Smp.; z.B. 9 5 % S 8 , 5 % Sn bei 120 °C). - c) Zeitdauer, während der die Modifikation bei 20 °C unzersetzt haltbar ist (h = Stunden; d = Tage; oo = sehr lange). Stabilitätsreihenfolge: S 8 > S 1 2 18 2 0 > S 6 9 1 0 1 3 1 5 > S 7 . CS 2 wirkt stabilisierend auf S„ (z.B. ist S 6 in CS 2 bei 20 °C recht stabil). - d) Diederwinkel'z. B. in'S° 0.3'°, 84°, 108°, 75° und in S 1 0 77°, 123°.
felverbindungen wie H 2 S, S2C12, S 2 Br 2 , COS, CS2 und thermolytisch nach RSe—SS—SÄ -> RSeS ^ + S 2 (RR = —CH 2 CMe 2 CH 2 —) bei 100 °C in Chlorbenzol als kurzlebige Reaktionszwischenstufe. In letzterem Falle bildet sich Singulett-Dischwefel *S2 (s.u.) der sich wie Singulett-Sauerstoff 102 durch Cycloadditionsreaktionen nachweisen lässt und unter Energieabgabe in seinerseits polymerisierenden - Triplett-Dischwefel 3 S 2 übergeht. 1 S 2 ( 1 A ) ist um 60kJ/mol = 5000cm M energiereicher als 3 S 2 ( 3 2~). Weitere S 2 -Zustände sind wie im Falle von 0 2 (S. 510): ^ (+ 108kJ/mol s 9000 cm"1), 3X + (+269 kJ/ m o ^ 22500 cm"), 3 2" (+ 379 kJ/mol s 31690 cm"); Ursache für die violette Farbe von S 2 ). Der auf 5 2 zurückgehende Triplett-Triplett-Übergang 3X+ -> 3E~ wird beim Verbrennen von Schwefelverbindungen in einer reduzierenden Flamme als Emissionsbande beobachtet und zur quantitativen Gehaltsbestimmung von gebundenem Schwefel genutzt. - Die höchsten Konzentrationen (ca. 20 %) an Trischwefel 5 3 bzw. Tetraschwefel S 4 liegen im Schwefeldampf bei 10mbar/400°C bzw. 20mbar/450°C vor. - Atomarer Schwefel entsteht im Triplett-Grundzustand (3P) durch Hg-photosensibilisierte Bestrahlung (253.7 nm) von COS und durch Photolyse (< 210 nm) von CS2 oder Ethylensulfid, im angeregten Singulett-Zustand ( 3 P + 110.52 kJ ^ 'D) durch Photolyse (210-230 nm) von COS oder P S F . SingulettSchwefel reagiert mit Paraffinen und anderen Elementwasserstoffen unter Einschiebungin EH-Bindungen, mit Olefinen unter Addition. In Tab. 61 sind einige Kenndaten der orangefarbenen bis hellgelben, mehr oder minder thermolyse- und lichtempfindlichen, allotropen Schwefelmodifikationen S„(n = 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 18, 20, oo) zusammengestellt. Vgl. hierzu auch das auf S. 543 Besprochene sowie Tafel III.
Strukturen Konformation und Geometrie Analog S 8 (gewellter Achtring, ,,Kronenform", vgl. Fig. 151) hat S 6 die Gestalt eines gewellten Rings („Sesselform", vgl. Fig. 151). Die kompakte Anordnung der S-Atome (sehr
552
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
S13 (C2) Fig. 151
Strukturen einiger Schwefelmoleküle (in Klammern jeweilige Symmetrie).
kleines Loch in der Ringmitte) hat dabei zur Folge, dass kristallines S 6 die dichteste aller bisher isolierten Schwefelmodifikationen ist und deshalb unter Druck aus festem S 8 entsteht (s. oben). S 7 (,,Sesselform") lässt sich strukturell aus S 8 herleiten, indem man ein S8-Schwefelatom entfernt und die ungesättigten Schwefelenden miteinander verbindet. Letztere Bindung (links in der S 7 -Struktur der Fig. 151) ist ungewöhnlich lang (2.18 A; s. unten). Die sich an diese Bindung des S 7 -Moleküls anschließenden Bindungen sind alternierend kurz (ca. 2.00 Ä), lang (ca. 2.10 Ä) und wieder kurz (ca. 2.04 Ä). Im Falle des gewelltringförmigen Moleküls S 1 2 sind 6 der 12 Schwefelatome an den Ecken eines planaren, gleichseitigen Sechsecks angeordnet und jeweils über ein Schwefelatom (abwechselnd oberhalb und unterhalb der Sechsringebene liegend) miteinander verknüpft (Fig. 151). Im S t 0 liegen ebenfalls 6 Schwefelatome in einer Ebene. Zwei gegenüberliegende Paare benachbarter Schwefelatome sind dabei direkt miteinander verknüpft, während die restlichen Paare über jeweils ein Schwefelatom (abwechselnd ober- und unterhalb der Sechsringebene liegend) miteinander verbunden sind (Fig. 151). S 9 resultiert aus dem S x0 -Molekül durch Eliminierung eines S-Atoms (aus dem in Fig. 151 waagrecht angeordneten S 2 -Gruppen), S t t aus dem S x2 -Molekül durch Ersatz einer S 3 -Gruppe (rechte äußere Gruppe in Fig. 151), S t 3 durch Ersatz eines S-Atoms (rechtes äußeres Atom in Fig. 151) durch eine S 2 -Gruppe, S 1 4 durch Insertion einer S 2 Gruppe in eine der S—S-Bindungen. Unter den Schwefelringen existiert nur S l g in zwei unterschiedlichen Konformationen (Fig. 151). Das symmetrischere a-S 18 (C2h-Symmetrie) besteht formal aus zwei miteinander verknüpften, von S 1 2 abgeleiteten S 9 -Fragmenten (Herausnahme des rechten äußeren und der beiden vorausgehenden S-Atome aus S 12 in Fig. 151). Weniger symmetrisches ß-S 18 (Q) unterscheidet sich von a-S 18 u.a. dadurch, dass die ä u ß e r t 3 - G r u p p e der linken und rechten Molekülseite in Fig. 151 nicht endo/endo-, sondern exo/exo-konformiert ist. S 2 0 bildet einen großen gewellten Ring, wobei die wenig kompakte Anordnung der S-Atome (größeres Loch in der Ringmitte) dazu führt, dass kristallines S 20 die am wenigsten dichte aller bisher isolierten Schwefelmodifikationen ist. Im Unterschied zu den besprochenen S-Molekülen besitzt = S^ keinen ring-, sondern einen kettenförmigen Bau. Und zwar enthalten die beim Ziehen des plastischen S-Schwefels entstehenden Fäden (S. 545) schraubenförmig angeordnete Ketten von Schwefelatomen (Fig. 151), wobei genau 10 S-Atome auf drei Cyclen der Helix (griech. von Spirale) entfallen (die Helix lässt sich näherungsweise aus eckenverknüpften Würfeln in der in Fig. 151, rechte Seite, zum Ausdruck gebrachten Weise ableiten). Es liegen enantiomere rechts- und linksgängige, unterschiedlich angeordnete Schwefelspiralen parallel nebeneinander (man kennt drei verschiedene S ^-Phasen). Die bei S^ zu beobachtende Erscheinung der Chiralität beobachtet man auch bei den Schwefelringen S 1 0 , Sx 1 , S x 3 und S 2 0 , denen - anders als den übrigen S„-Ringen - keine Drehspiegelachsen zukommen (S. 182; in den Kristallen liegen wiederum jeweils beide Enantiomere zu gleichen Teilen vor). Das nur in der Gasphase und Lösung existierende Molekül S 5 ist wohl wie S 8 , S 7 und S 6 ringförmig gebaut. S 4 und S 3 kommen demgegenüber kettenförmige Strukturen zu (gewinkelte S=S• • • S=S-Kette wie in S 2 0 2 , Ö 4 ; gewinkelte S—S-S-Kette wie in O 3 , S0 2 , S 2 0; vgl. S. 571). Das Molekül S 2 ist im Grundzustand -Zustand) wie molekularer Sauerstoff (vgl. S. 510) als einzige der Schwefelmodifikationen paramagnetisch (diradikalischer ,,Triplett-Dischwefel"; SS-Dissoziationsenergie
2. Der Schwefel
553
R
Fig. 152 Veranschaulichung der Konformation von Verbindungen R 2 S n mit Schwefelketten. (Übersichtlichkeitshalber wurde das weitere, in einem s-Atomorbital jedes Schwefelatoms lokalisierte freie Elektronenpaar nicht berücksichtigt.) 425.01 kJ/mol; gefunden für SS-Einfachbindung: ca. 150 kJ/mol; SS-Abstand 1.887 Ä; bzgl. „SingulettDischwefel" s. oben). Bindungswinkel und Ringspannung Wie auf S. 365 besprochen wurde, verwendet der mit zwei einfach gebundenen Resten R verknüpfte Schwefel in ,,Monosulfanen" RSR p-Atomorbitale für die chemischen Bindungen (vgl. Fig. 152a; * HSH in H 2 S = 92.3°, in Me 2 S 99°). ,,Disulfane" RSSR bevorzugen die in Fig. 152b veranschaulichte Konformation mit einem Diederwinkel von etwa 90° (so genannte ,,gauche"Konformation, vgl. S. 679), in welcher die Abstoßung der in p-Atomorbitalen untergebrachten freien Elektronenpaare der benachbarten Schwefelatome weit geringer ist als etwa in der in Fig. 152 c wiedergegebenen ,,cis"-Konformation (Diederwinkel 00; analoges gilt für die ,,trans"-Konformation mit einem Diederwinkel von 180°; in letzterem Falle weisen die SR-Bindungen in entgegengesetzte Richtungen). Im Falle von HSSH beträgt der Diederwinkel etwa 90.3° ( * SSH = 97.9°), im Falle von H 3 CSSCH 3 84° SSC = 103° 67) ). In ,,Trisulfanen" RSSSR sind die Konformationen Fig. 152d (,,cis"-Anordnung) sowie 152e („trans"-Anordnung; es existiert ein Spiegelbildisomeres) energetisch begünstigt. Die Abstoßung der in p-Atomorbitalen lokalisierten freien Elektronenpaare der äußeren Schwefelatome der Kette führt hierbei zu einer Aufweitung des SSS-Winkels sowie zu einer Verdrillung des SSSR-Diederwinkels zu kleineren bzw. größeren Werten. Stellt R eine Schwefelkette dar, so ergibt sich ein optimaler SSS-Winkel von ca. 106° und ein optimaler SSSS-Diederwinkel um ca. 85° bzw. ca. 100°. In derartigen Schwefelketten bzw. -ringen kann die Anordnung der Schwefelatome entweder entsprechend Fig. 152d all-cis (z.B. S 6 , S 7 , S 8 ) oder entsprechend Fig.152e all-trans (z.B. SM) oder entsprechend Fig.152d-e teils cis, teils trans sein (z.B. S 1 0 , SX1, S 12 , S 1 3 , S 14 , S 18 , S 20 ). Dabei wächst in Schwefelringen mit zunehmender AAbweichung des SSS-Bindungs- sowie des SSSSDiederwinkels vom optimalen Wert (s. oben) deren Spannung. Gemäß Tab. 61 stellen somit S 6 , S 7 , S 1 0 , SX1 und S 13 gespannte Schwefelringe dar (aus Spannungsgründen ist bei Schwefel der S 8 -Ring stabiler als der S 6 -Ring, bei Kohlenstoff umgekehrt der C 6 -Ring stabiler als der C 8 -Ring). Eine weit höhere Ringspannung als für S 6 ist für das S 5 -Molekül zu erwarten, das - wohl aus diesem Grunde - trotz vieler Versuche bisher nicht in Substanz isoliert werden konnte. Auch liegt S 6 in der Sesselkonformation und S 10 in der in Fig. 151 wiedergegebenen Anordnung vor, da S 6 in der Bootkonformation (C2v-Symmetrie) und S 1 0 in der symmetrischen Kronenkonformation (D 5d ) gespanntere Ringformen darstellen (weniger optimale SSSS-Torsionswinkel). Die (ausschließliche) Verkleinerung eines optimalen SSSS-Diederwinkels auf 0° durch Drehen um die mittlere SS-Bindung (vgl. Fig. 152 b und c; R = Schwefelkette) erfordert nur ca. 20 kJ/mol. Noch kleiner ist der Betrag für die Vergrößerung des optimalen Torsionswinkels auf 180°. Demgemäß ist etwa S 7 kein starres, sondern ein flexibles Molekül. Wesentlich weniger flexibel sind S 6 und S 8 , weil bei S 6 die ,,Torsions-Pseudorotation" mit einer zusätzlich energieverbrauchenden Änderung der SSS-Bindungswinkel in Richtung weniger optimaler Werte verbunden ist (die Barriere für den Übergang von sesselkonformiertem S 6 in 16 kJ/mol energiereicheres bootkonformiertes S 6 beträgt 90 kJ/mol) und bei S 8 zwei Diederwinkel nahezu gleichzeitig den Wert von 0° durchlaufen. Bindungsabstand und Dissoziationsenergie Im Zuge der Verkleinerung oder Vergrößerung des optimalen SSSS-Diederwinkels wächst der SS-Bindungsabstand z. B. im Falle der linken äußeren Bindung von S 7 in Fig. 151 auf 2.18 A. Zugleich verkleinern sich die benachbarten SS-Bindungen von S7 bis unter 2.00 A, während sich die übernächsten SS-Bindungen wiederum verlängern usf. Ganz allgemein beobachtet man in gespannten Schwefelringen alternierende Bindungslängen und - als Folge hiervon - alternierende Bindungsdissoziationsenergien. Die Dissoziationsenergie von SS-Einfachbindungen in RS—SR beträgt etwa 270 kJ/mol (z. B. HS—SH: 272 kJ/mol). Unter allen homonuklearen Einfachbindungen ist die S—S-Bindung nach der H—H- und C—C-Bindung somit die drittstärkste. Für S„-Ringe liegt die SS-Dissoziationsenergie beachtlich unterhalb dieses Werts von 270 kJ/mol, nämlich bei ca. 150 kJ/mol, da die ungesättigten radikalischen Endschwefelatome eines gespaltenen S-Rings durch die freien Elektronenpaare des benachbarten Schwefelatoms mesomer stabilisiert werden. Aus dem gleichen Grunde beträgt etwa die Dissoziationsenergie von CH 3 SS-SSCH 3 nur 151 kJ/mol.
554
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Die Enthalpie A H t für die Bildung der gasförmigen Moleküle S„ (g) aus festem rhombischen a-Schwefel S s (f) oder gasförmigem Schwefel S s (g) haben folgende Werte: s„ s7 S5 S4 S3 S2 S Ss s6 (S (f (g)) 114 103 124 137 133 128.5 278.99 kJ/mol S„ 106 (S (g 0 21 24 58 84 93 102 265 kJ/mol (g)) Ersichtlicherweise ist mithin die Reaktion 4S 2 (g) -> S s (g) ( A # = — 408 kJ) stark exotherm, während die analoge (hypothetische) Reaktion 4 0 2 -> O s (AH ca. + 888 kJ) eine stark endotherme Umsetzung darstellt. Bei der Überführung einer Doppelbindung X = X in zwei Einfachbindungen —X—X— ist mit anderen Worten im Falle des Sauerstoffs (X = O) Energie aufzuwenden, während im Falle des Schwefels (X = S) dabei Energie gewonnen wird. Die Formeln der unter Normalbedingungen stabilen Modifikationen des Sauerstoffs und Schwefels lauten deshalb 0 2 und S s .
Mechanistische Aspekte der S„-Modifikationsumwandlungen Einen Sonderfall der Sulfurierung und Desulfurierung stellt die gegenseitige Umwandlung von Schwefelmodifikationen dar. Die Schwefelring-Verkleinerung oder - Vergrößerung ist ein wichtiger Vorgang in Schwefelschmelzen und erwärmten Schwefellösungen (m ^ n):m S„ «Sm. Analog verändern sich viele Verbindungen RS„R (R = anorganischer oder organischer Rest) bei erhöhter Temperatur unter Schwefelketten-Verkürzung oder - Verlängerung. Die Umwandlungen könnten über monomolekulare Ringspaltungen bzw. -isomerisierungen mit sich anschließenden intra- oder intermolekularen Radikalsubstitutionen bzw. intermolekularen Übertragungen von S-Atomen oder S—S-Molekülen ablaufen (bezüglich der Bildung von S 2 aus RSeSSSeR vgl. allotrope S-Modifikationen, oben): : • • S—S
•
" •
• • • S—S • • • S—S
:
I
: • • S—S •
Dissoziation
I
• • • S—S •
Isomerisierung
• • • Sv^
„
• • • S—S
—; Isomerisierung
•S^n
^n+^n
Rekombination
S=S
Sm + • S 2 „ _ m
S m =S + S„ ^ Sm + S=S„
bzw.
S m _ 1 + S=S„ + 1
••• S^
Beide Vorgänge erfolgen als stark endotherme Reaktionen (£ a des ersten Reaktionsschritts um 150 kJ/mol) wohl erst bei vergleichsweise hohen Temperaturen (tatsächlich konnte in flüssigem Schwefel bei 170°C noch kein Schwefelradikal nachgewiesen werden). Die bei 150 °C und darunter erfolgenden Umlagerungen 73 ' wickeln sich möglicherweise auf dem Wege einer o:-Addition unter Ringdimerisierung mit sich anschließender a-Eliminierung des intermediär gebildeten „hypervalenten" Spirosystems unter Bildung zweier kleinerer oder eines größeren Schwefelrings ab: St
S
> + I
S-l
a-Addition
^
a-Elimin
-
rSL
S
-S"i
a-Elimin.
S-l
a-Addition
>C
"
rS
I + SC
Ls
^S-l
bzw.
r S ^ L
S
^S.
^S-l
Mit letzterem Mechanismus ließe sich der Befund, dass man statt des gespannten Moleküls S 5 immer S 10 erhält, zwanglos erklären. Entsprechendes gilt für den leicht erfolgenden Übergang von S 7 in S 6 und S s (Lösungen von S s bzw. S 7 bzw. S 6 in CS2 liefern bei 150 °C ein Gleichgewichtsgemisch der drei Schwefelmodifikationen % = 64min für S 8 , 31 min für S7). Darüber hinaus könnten auch in Spuren als Verunreinigung anwesende Nucleophile die Ringveränderungen katalysieren, z.B.: Nu" + S7 + S 7 ^ Nu-Sf + S 7 ^ Nu-S! 4 ^ Nu-Sg + S 8 ^ Nu" + S 6 + S s .
2.1.6
Schwefel-Ionen, Sulfide 41
Schwefel - Kationen
Vereinigt man Schwefel mit S0 3 -haltiger Schwefelsäure (Oleum), so erhält man in Abhängigkeit von den Reaktionsbedingungen (Molverhältnis S O : H 2 S0 4 , Umsetzungsdauer) rote, gelbe bzw. blaue Lö4
i Literatur. R.J. Gillespie, J. Passmore: „Homopolyatomic Cations of the Elements", Adv. Inorg. Radiochem. 17 (1975) 4^—87; R.J. Gillespie: „ Ring, Cage and Cluster Compounds of the Main Group Elements", Chem. Soc. Rev. 8 (1979) 31^—352; S. Brownridge, I. Krossing, J. Passmore, H.O.B. Jenkins, H . K . Roobottom: ,,Recent Advances in the understanding of the syntheses, structure, bonding and energetics of the homopolyatomic cations of Groups 16 and 17", Coord. Chem. R e v 197 (2000) 397-481; D. Reinen, G.-G. Lindner: ,,The nature of the chalcogen colour centres in Ultramarine-type solids", Chem. Soc. R e v 28 (1999) 75-84.
2. Der Schwefel
555
sungen. Die Farbe geht nach Untersuchungen von R. J. Gillespie auf das rote Nonadecaschwefel-Dikation S19 , das blaue Octaschwefel-Dikation S1 + sowie das blaßgelbe Tetraschwefel-Dikation S4 + zurück (bzgl. der blauen Farbe sowie der Anwesenheit von sowie S+ (n = 4-7) in Lösung s. unten). In 5%igem Oleum entsteht hauptsächlich S19+, in 1 ^ 1 5 % i g e ^ S19+ und Sg+, in 45-65 %igem Sg+ und S 4 + . In S0 3 freier konz. H 2 S0 4 löst sich Schwefel beim Erwärmen in molekularer Form. Die durch Oxidation von Schwefel mit Schwefeltrioxid (2S0 3 + 2 © S0 2 + S02") gebildeten Schwefel-Kationen sind in Oleum (ähnlich wie Iod-Kationen, S. 443) nicht stabil und werden langsam zu S0 2 weiter oxidiert. Das blaue, durch Reaktion von Schwefel und S 0 3 erhältliche und früher als „Dischwefeltrioxid" S 2 0 3 angesehene Produkt ist offenbar ein Gemisch u. a. von S 2 H S 3 0 j " 0 und S Auch bei der 0xidation von Schwefel mit PeroxodisulfuryldifluoridS206F2 (S 2 0 6 F 2 + 2 © ->-2 S 0 3 F ") in Fluoroschwefelsäure H S 0 3 F bzw. in flüssigem Schwefeldioxid S 0 2 entstehen die Schwefel-Kationen S? 9 \ Sg + , bzw. Sl + : Jfs8
S » [S03F3L; rot
s8
S i n S 0 blau
3
f 1
s8
Säns03f3]2. blassgelb
3 F ; vgl. I 2 S 0 3 F , S.444) u.a. unter Schwefelausscheidung. Schließlich lässt sich Schwefel durch Arsenpentafluorid AsF 5 bzw. Antimonpentafluorid SbF5 in flüssigem Fluorwasserstoff bzw. Schwefeldioxid zu den Kationen Si9 bzw. Si9 und durch Antimonpentafluorid bei 140 °C zum Kation Si9 oxidieren (3 AsF 5 + 2 © - » A s F 3 + 2AsF^; 5SbF 5 + 2 © SbF 3 + 2 S b 2 F ^ ) . Die Salze S 1 9 (AsF 6 ) 2 , S 1 9 (SbF 6 ) 2 , (S 1 1 ) 2 und S 4 (SbF 6 ) 2 können nach Abtrennung von H F bzw. S 0 2 in Form roter, tiefblauer bzw. blaßgelber, bei Raumtemperatur stabiler mit EF 3 , H F bzw. S 0 2 solvatisierten Kristalle isoliert werden.
Feste Phase Im S^-Kation sind zwei gewellte S 7 -Ringe teils in Sessel-, teils in Bootkonformation über eine gewinkelte S 5 -Schwefelkette miteinander verbunden: S 7 —S—S—S—S—S—Si9. Die beiden dreibindigen Schwefelatome (Verknüpfungsstellen von Schwefelring und -kette) tragen die positiven Ladungen. Das Sl + -Kation ist analog S 8 ringförmig gebaut, wobei die positiven Ladungen über den S 8 -Ring delokalisiert sind. Allerdings ändert sich die Ringkonformation im Zuge der 0xidation von S 8 zu Si9 dadurch, dass ein Schwefelatom von der exo- in die endo-Stellung umklappt (C 2v -Symmetrie):
Der S i 9 -Ring weist einen vergleichsweise kurzen transannularen Schwefel/Schwefel-Abstand von 2.832 Ä auf, der für eine schwache SS-Wechselwirkung spricht (SS-Einfachbindungsabstand 2.08 Ä; SS-van-derWaals-Abstand ca. 3.7 Ä; auch die beiden anderen transanularen SS-Abstände sind mit ca. 2.98 Ä noch verhältnismäßig klein). Das Dikation Si9 nimmt strukturell eine Mittelstellung zwischen der Struktur des neutralen Schwefels S 8 und der Struktur des mit dem Tetrakation S J9 isovalenzelektronischen Schwefelnitrids S 4 N 4 ein, das sich von der S 8 -Kronenform durch exo/endo-Umwandlung zweier gegenüberliegender S-Atome ableitet (Ersatz der fettgedruckten S-Atome durch N-Atome). Tatsächlich existiert S 8 9 nur „depolymerisiert" in Form des S4 + -Kations, das quadratisch-planar mit kurzen SS-Bindungen von 1.98 A gebaut ist (D 4h -Symmetrie; 6n Aromat; das mit Si9 isovalenzelektronische S 2 N 2 neigt umgekehrt zur Dimerisation zu S 4 N 4 ). Si9 stellt das dem 0 2 beim Schwefel entsprechende Kation dar. Ein Salz mit dem in Lösung existierenden S - K a t i o n ließ sich bisher nicht gewinnen (s. unten). Lösungsphase Löst man die Kationen S?9", Sg+ oder S 4 + (in letzterem Falle in Anwesenheit von Hal 2 in Spuren), so entstehen - und zwar mit abnehmender Polarität des Lösungsmittels (HF, H 2 S0 4 , Radikalkationen S+ (« = 5 — 7) und das Dikation 2S 2S S*+, z. B.: 2S' + ±+S26+ + 2S5+ (Hauptgleichgewicht) bzw. 3 S ^ 2S •S 7 + bzw.3Sj + (die 0xidation von Sg+ zu S 4 + erfolgt wohl auf dem Wege über S^). Das Gleichgewicht 2Sg+ : 2S liegt in S0 2 -Lösungen des Sg + -Kations praktisch vollständig auf der rechten Seite, während sich das in Lösung rechts liegende Gleichgewicht Sg + (solv.) + S 4 + (solv.) ±+ 2Sg + (solv.) im Zuge des Auskristallisierens von Salzen mit den betreffenden solvatisierten Kationen nach links verschiebt. Nach ab-initio Berechnungen bilden die betreffenden Kationen S„-Ringe mit halbsesselförmigem (S^; Cs-Symmetrie), sesselförmigem (S^, Sg+; D3d-Symmetrie) bzw. gewelltem Bau (S^; C2-Symmetrie). Das fast planare Dikation Sg+ (10^ Aromat; SS-Abstand ca. 2.03 Ä) ist wohl für die intensive blaue Farbe der Sg + -Lösungen verantwortlich (n* — n*-Übergang; ^max = 585 nm).
556
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Gasphase. Durch Elektronenstoß lässt sich gasförmiger Schwefel im Massenspektrometer in Radikalkationen S+ (n = 2-8) überführen. S^" weist einen kurzen, für eine 2.5fache Bindung sprechenden SSAbstand auf (1.825 Ä; vgl. homologes 0 2 + ), S3+ bildet eine gewinkelte Kette (SS-Abstand 1 . 9 1 1 S S S Winkel 101.4°), die Kationen S^ bis S8+ sind ringförmig gebaut. Dikationen S2n+ zerfallen in der Gasphase als Folge der Abstoßung der zwei positiven Ladungen in einfach-geladene Radikalkationen („CoulombExplosion").
Schwefel-Anionen. Sulfide Analog Sauerstoff bildet auch Schwefel ein farbloses AnionS2~ (Monosulfid(2— ) oder kurz Sulfid). Es liegt in den aus den Elementen in flüssigem Ammoniak leicht erhältlichen Alkalimetallsulfiden M 2 S bzw. schwereren Erdalkalimetallsulfiden MS vor (vgl. S. 559; andere Metallsulfide weisen mehr oder minder große MS-Kovalenzanteile auf). Darüber hinaus existieren eine Reihe hell- bis dunkelgelber Dianionen S2" (Polysulfide(2 — ) mit n = 2, 3, 4, 5, 6 usw.), die sich von Sulfid durch Anlagerung weiterer Schwefelatome an freie Sulfidelektronenpaare ableiten:
Sulfid(2-) Disulfid(2-)
Trisulfid(2-)
Teträsulfid(2-)
Pentasulfid(2^)
Feste Phase Die Polysulfide (z.B. Na 2 S 2 , BaS 3 , Na 2 S 4 , Cs 2 S 5 , Cs 2 S 6 , (PPh 4 ) 2 S 7 ) bilden ab S j " gewinkelte Ketten, die näherungsweise Molekülausschnitte aus den ungeladenen ring- und kettenförmigen Schwefelmodifikationen darstellen
s
s s
s-s f s
s 3 " (C2v)
S 4" (C 2 )
s—s | s
S - S
S5" (Cs)
s-s N
s—s
Ns s >7 - s
s S25- (C 2 )
S«" (C 2 )
Die SS-Abstände entsprechen Einfachbindungen (Bereich 2.01-2.15 Ä) die SSS-Winkel betragen wie in den ungeladenen Schwefelmodifikationen 105-115°, die Diederwinkel ca. 76° in BaS 4 , 110° (Mittelwert) in Cs 2 S 6 ). Die Polysulfide entstehen beim Zusammenschmelzen von Alkalimetallen bzw. Alkalimetallsulfiden mit Schwefel unter Luftausschluss bei erhöhter Temperatur oder beim Vereinigen von Schwefel mit heißen wässerigen S 2 "-haltigen Lösungen (zum Mechanismus der Polysulfidbildung aus Sulfid und Schwefel vgl. S. 560). Die exotherme Bildung von Na 2 S„ aus Natrium und Schwefel wird in der NatriumSchwefel-Batterie zur Erzeugung von Strom genutzt (vgl. S. 1276). Lösungsphase Vereinigt man Alkalimetallpolysulfide mit polaren Medien wie Aceton, Dimethylformamid, Dimethylsulfoxid oder mit Alkalimetallhalogenid-Schmelzen, so entstehen farbige Lösungen. Die Farbe geht auf die Anwesenheit von Polysulfiden (1 —) zurück, nämlich auf das gelbgrüne Disulfid(l —) 5 2 (entspricht O 2 beim Sauerstoff), das blaue Trisulfid(l —) S j (entspricht dem Ozonid O3 beim Sauerstoff) sowie das rote Tetrasulfid(l —) S j (Stabilität S3 > S 2 > S 4 ) . Das orangerote Hexasulfid(l —) S 1). Bezüglich elektronegativen Partnern (F, Cl, Br, 0 , N, C) vermag Schwefel als kovalent gebundener Verbindungsbestandteil in den 0xidationsstufen 0 bis + 1 (z.B. S„F2, S„C12, S„0; n > 1), + 2 (SF2, SC12, S 2 0 i 3 ) ^ 3 (z.B. S 2 0 r ) , + 4 (z.B. SF4, S0 2 ), + 5 (z.B. S 2 F 10 , S 2 0 i 3 ) und + 6 (z.B. SF6, S0 3 ) aufzutreten. Nur Partner besonders geringer Lewis-Basizität (Anionen der Supersäuren) stabilisieren Schwefel in kationischer Form (s. weiter unten). Koordinationszahlen: Eins (z.B. CS 2 ), zwei (z.B. gewinkeltes S in H 2 S; lineares S in M 2 S mit M = Cr(C0) 2 (C 5 H 5 )), drei (z.B. pyramidales S in S0C1 2 , SOi ; planares S in SO 3 ), vier (z.B. tetraedrisches S in S0 2 C1 2 , S O ^ ; wippenförmiges S in SF 4 , pyramidales S in S2 Co 4 (C0) 1 0 ), fünf (z.B. quadratisch-pyramidales S in SF5; S0F 4 ), sechs (z.B. oktaedrisches S in SF 6 , PbS; trigonal-prismatisches S in FeS), sieben (z.B. einfach-überkappt-trigonal-prismatisches S in Ti 2 S), acht (z.B. kubisches S in Na 2 S). Vergleich von Schwefel mit Sauerstoff. Die Chemie des Schwefels und seiner Verbindungen unterscheidet sich in charakteristischer Weise von der seines leichteren Homologen Sauerstoff. Es seien nur vier Punkte herausgegriffen (Näheres S. 311). Das schwerere Homologe weist eine geringere Tendenz zur Ausbildung von p„p„-Bindungen auf. So entspricht der Molekülformel 0 2 des Sauerstoffs etwa eine Molekülformel S s des Schwefels, und Kohlendisulfid S = C = S ist zum Unterschied von Kohlendioxid 0 = C = 0 bezüglich Polymerisation thermodynamisch (dagegen nicht kinetisch) instabil. Beim Schwefel besteht - anders als beim Sauerstoff - die Möglichkeit mehr als drei Partner kovalent zu binden und große Koordinationszahlen auszubilden (SF6 gegenüber 0F 2 ). Der Schwefel weist zum Unterschied vom Sauerstoff eine ausgesprochene Tendenz zur Bildung von Elementketten auf. So bildet Sauerstoff in der Regel nur Verbindungen mit Element-Zweierketten (H—O—O—H und Derivate) und in Ausnahmefällen instabile Verbindungen mit Dreier- und Viererketten (z B. H—O—O—O—H, F—O—O—O—O—F). Demgegenüber tritt die ausgesprochene Fähigkeit des Schwefels zur Kettenbildung außer in seinen allotropen Elementmodifikationen S„ (s. unten) bei einer Reihe von Verbindungen in Erscheinung wie z.B. den Polysulfanen R 2 S n (R = H, organischer Rest; S.561), den Polysulfiden S ^ ( s . unten), den Halogen- und Cyanopolysulfanen S„X2 (X = F, Cl, Br, I, CN; S. 667), den Aminopolysulfanen S„(NR 2 ) 2 (S. 606), den niederen Schwefeloxiden S„0 und S„0 2 (S. 573), den Polysulfanmono- und -disulfonsäuren bzw. -disulfonaten HS n S0 3 M und S„(S0 3 M) 2 (M = H, Alkalimetall; S. 598) sowie den Polysulfan-diphosphonsäuren S„ (P0 3 H) 2 (S. 567). Die SchwefelSchwefel-Bindungen sind dabei außergewöhnlich flexibel: die SS-Kernabstände variieren zwischen 1.8 und 3.0 Ä(z.B. SS-Abstandin SSF2 1.860 Ä, S 2 0 i 3 1.95 Ä, H 2 S 2 2.055 Ä, S 2 0 i 3 2.15 Ä, S 2 0 ^ 2.39 k, Si9 (s. unten) 2.823 Ä), der SSS-Valenzwinkel zwischen 90 und 180° (z.B. S ^ 90°, S 8 108°, Thiothiophthen 180 °C), der SSSS Diederwinkel zwischen 0 und 180° (vgl. Schwefelmodifikationen) und die SS-Bindungsenergie zwischen (n — 1)SCN" + H 2 S. Erstere Reaktion lässt sich zur quantitativen Bestimmung von nutzen (gravimetrische Bestimmung von gefälltem CdS, iodometrische Be stimmung von Thiosulfat). Der Kettenabbau erfolgt durch nucleophilen Angriff von S0^~ bzw. CN" am Polysulfanschwefel im Sinne des auf S. 548 Besprochenen Polysulfane verhalten sich wie Monosulfan als Reduktionsmittel (formal: H2S„ -> "/8S8 + 2H), zudem als Oxidationsmittel (Sulfurierungsmittel; vgl. z. B. Reaktion von S0^~ bzw. CN" mit H2S„). Abgesehen von ihrem Verhalten als Säuren (s. oben) wirken Polysulfane in stark saurer, nicht wässeriger Lösung auch als Basen. So bilden sich in H F / M F (M = As, Sb) die farblosen Salze H 3 S^MF^ mit dem Monomercaptosulfonium-Ion H2S—SH+ (H—S—H/H—S—S/S—S—H-Winkel ca. 96/100/92°). Man kennt auch das pyramidal gebaute Trimercaptosulfonium-Ion S(SH) und das davon abgeleitete Derivat S(SCl (Bildung aus H 3 S + MF6" in H F / M F mit überschüssigem H2S bzw. mit MeSCl). 0berhalb ca. — 45°C zerfallen die Salze H 3 S^MF^ unter Schwefelausscheidung in H3S + MF^ (vgl. das analoge Verhalten von H 3 0^-Salzen, S. 538). Bezüglich der Kondensation von Sulfanen H2S„ mit Chlorsulfanen SmCl2 siehe bei letzteren Salze Zur Bildung der hydrolyseempfindlichen Alkali- und Erdalkalimetallpolysulfiden (Smp. von Na 2 S 2 / K 2 S 3 /BaS 3 /Na 2 S 4 /K 2 S 4 /Na 2 S 5 /K 2 S 5 /K 2 S 6 = 484/292/554/294/255/211/196°C) sowie zur Struktur der Polysulfid-Ionen S i n derartigen Salzen vgl. S. 552, zur Hydrolyse der Polysulfide s. oben. Die Reduktionswirkung der Polysulfide S ^ ist etwas kleiner als die des Sulfid-Ions Si3 in Wasser (e0 für Si3 — 0.48, für Si3 —0.43, für S ; - —0.39, für S ^ —0.36, für S ; - —0.34V; vgl. Natrium-SchwefelBatterie, S. 1276). Komplexe Polysulfid-Anionen S k ö n n e n als Chelatbildner auftreten. Erwähnt sei hier etwa der schon seit 1903 bekannte Komplex (NH 4 ) 2 PtS t5 , dessen Anion PtSi- - wie 64 Jahre später festgelegt werden konnte - gemäß P t I V ( S 5 ^ aus drei PtS5-Sechsringen (Sesselkonformation) mit gemeinsamem, oktaedrisch von sechs S-Atomen umgebenem Pt-Atom aufgebaut ist und der durch Cyanid bei 60 °C zu Pt n ( S 5 ^ reduziert werden kann. In entsprechender Weise enthalten Cp 2 MoS 2 (Cp = C 5 H 5 ), [Mo 2 (S 2 )gji- dreigliederige MS2-Ringe, Cp'2TiS3 (Cp' = C 5 Me 5 ) einen nicht ebenen viergliederigen MS3-Ring, Cp 2 MS 4 (M = Mo,W), [ M ( S J 2 ] i - (M = Ni, Pd, Zn, Hg), [Sn(S 4 ) 3 ]i- nicht ebene fünfgliederige MS4-Ringe, Cp 2 MS 5 (M = Ti,V) [Rh(S 5 ) 3 ]2- sesselkonformiertesechsgliederige MS5-Ringe, [M(S 6 ) 2 ]i- (M = Zn, Cd, Hg) siebengliederige MS6-Ringe, (Me 3 P) 2 MS 7 (M = Ru, 0s) achtgliederige MS7-Ringe und [MS 9 ](M = Ag, A u zehngliederige MS9-Ringe (Chelatbildner: S ^ mit n = 2-7,9; vgl. Fig. 150 auf S.537).
2.3
2.3.1
Halogenverbindungen des Schwefels35 45 Überblick
Wie aus Tab. 62 hervorgeht, bildet Schwefel Halogenide der Formeln SX„ (n = 2, 4, 6). Außerdem kennt m a n noch Verbindungen S 2 X„ (n = 2, 4, 10) mit einer Dischwefelgruppe sowie Verbindungen S„X 2 (n > 2) und S 3 F m (m = 4,6) mit längeren Schwefelketten. Die Darstellung 45
Literatur. J.W. George: ,Halides and Oxyhalides of the Elements of Croups Vb and VIb", Progr. Inorg. Chem. 2 (1960) 33-107; B. Krebs, F.-P. Ahlers: „Developments in Chalcogen-Halide ChemistryAdv. Inorg. C h e m 35 (1990) 235-317; F. Seel: „Lower Sulfur Fluorides", Adv. Inorg. Radiochem. 16 (1974) 297-333; D. Naumann: ,,Fluor und Fluorverbindungen", Steinkopff, Darmstadt 1980, S. 50-60; W. C. Smith: „Chemie des Schwefeltetrafluorids", Angew. Chemie 74 (1962) 742-751; Int. E d 1 (1962) 467; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Sulfur Halides", A25 (1994); K. Seppelt: „Fluorstabilisierte Schwefel-Kohlenstoff-Mehrfachbindung", Angew. C h e m 103 (1991) 399-413; Int. Ed.30 (1991) 361.
2. Der Schwefel
563
der Schwefelhalogenide (Strukturen s. unten) erfolgt durch Halogenierung von S 8 (-> S 2 X 2 bis SX 6 ), Dehalogenierung von S 2 C1 2 (-> S„C12) sowie Halogenidierung von S„Cl 2 (-> S„X 2 ), S 8 (-> S„F 2 ) bzw. SC14 (-> S„F 4 ). Von technischer Bedeutung sind S 2 Q 2 , S Q 2 , SF 4 und SF Ö . Stabilität. Die Affinität des Schwefels zu den Halogenen sowie die Bildungstendenz höherer Oxidationsstufen nimmt mit steigender Masse des Halogens ab. Demgemäß sind selbst „ h o h e " Fluoride exotherme und ,,niedrige" Iodide endotherme Verbindungen (Tab. 62); auch sinkt der maximale Halogengehalt der bei Raumtemperatur isolierbaren Halogenide in Richtung der Iodide: SF Ö , SC1 2 , S 2 B r 2 , SI 0 (bei tiefen Temperaturen sind zusätzlich SC14, SBr 2 , S 2 I 2 , aber nicht SC1 6 , SBr 4 , SI 2 isolierbar). Die Halogenide S 2 X 2 haben hinsichtlich benachbarter Oxidationsstufen eine etwas erhöhte Stabilität (Tab. 62), weshalb sich die Halogenide S„X 2 in S 8 sowie S 2 X 2 , die Halogenide SX 2 in S 2 X 2 und X 2 (bzw. SF 4 ) umwandeln. Die Schwefelhalogenide vermögen sowohl als Reduktionsmittel (niedrige Halogenide) und Oxidationsmittel (höhere Halogenide) als auch als Säuren (Halogenidakzeptoren) und Basen (Halogeniddonatoren) zu wirken.
Tab.62
Schwefelhalogenide (AHl in kJ/mol). Verbindungstypus
a)
S„X2 (n > 2) Polyschwefeldihalogenide (Dihalogenpolysulfane)
=S+1
+1 Dischwefeldihalogenide (Dihalogendisulfane) +2
SX2 Schwefeldihalogenide (Dihalogen sulfane
S2X4 Dischwefeltetrahalogenide
+ 3
-
s2x6 Dischwefelhexahalogenide
+4
SX4 S2Xg SchwefelDischwefeltetrahalogenide octahalogenide (Tetrahalogensulfurane)
+ 5
-
+6
SX Schwefelhexahalogenide (Hexahalogenpersulfurane
s2x10 Dischwefeldecahalogenide
Fluoride
Chloride
Bromide
S»F2 Hellgelbe Öle (bisher nur S 3 F 2 /S 4 F J-Gemische)
S,C12 Gelbe bis orangerote Öle (isoliert bis 8)
Tiefrote Öle (isoliert bis 8)
FSSF > ( -50 ) ' C ' Farbl Gas Smp.-133°C Sdp. + i r c Äff,« -370kJ
SSF 2 Farbl Gas - 1 6 4 . 6 °C - 10.6 °C -385kJ
ClSSCl b) Gelbe Fl Smp. - 7 6 . 5 ° C Sdp 137.1 A H , = - 5 8 . 2 kJ
BrSSB Tiefrote Fl Smp. - 46°C Sdp 57 (0.22 Torr)
SF20) Farbl Gas sehr zersetzlich AH, = - 2 9 8 kJ
FSSF 3 d) Farblose Fl Smp. - 9 8 ° C Sdp. + 39°C - 6 6 3 kJ
SC Rote Fl. Smp. - 122°C Sdp 59.6 AH, = - 4 9 . 4 kJ
SB Instabil (intermediär aus SC12 + 2 HBr) um
SC Farblose Subst Zers. > - 30°C
SB Gegenionen AsF6~, SbF6-
SF C Farbloses Gas Smp. - 64°C Sdp. - 1 9 . 1 °C AH, = - 1 0 4 9 kJ
SF B Farbloses Gas Smp. - 79°C Sdp 3.1
_
B
Iodide SA Nur in Lösung; zersetzlich pos ISSI Dunkelbraune Substanz Zers - 31
f)
SF Farbloses Gas Smp. - 1 2 1 . 0 ° C Sdp. - 40.4°C AH, ca. - 7 6 2 kJ SSF Farblose Fl Smp. - 52.7°C Sdp. 26.7°C SF s Farbloses Gas Smp. - 5 0 . 8 ° C (u. Druck) Sblp. - 6 3 . 8 ° C AH, = - 1 2 2 0 kJ
a) O x i d a t i o n s s t u f e n . - b) Es existieren a u c h C1SSF (farblose Flüssigkeit; S m p . - 9 6 °C, S d p . 96 °C) u n d CISSBr. - c) E s existieren a u c h Thiohypofluorige Säure H S F (fest bei - 6 0 ° C , i n s t a b i l bei R a u m t e m p e r a t u r ; e r z e u g b a r bei - 6 0 ° C g e m ä ß : H 2 S + X e F + + SbF 6 ~ ^ H 2 S F + S b F 6 + X e ^ H S F + H F + S b F 5 + X e ) u n d Thiohypobromige Säure H S B r ( e r z e u g b a r in H C C 1 3 g e m ä ß : B r 2 + H 2 S H B r + H S B r ; isoliert als Salz N H ^ S B r ~ ) . - d) E s existieren a u c h ein Trischwefelhexafluorid S 3 F 6 ( s . d o r t ) u n d ein Trischwefeltetrafluorid S 3 F 4 = F S S S F 3 ( S m p . - 6 2 ° C ; Sdp. 94 °C, e x t r a p . ) . - e) E s existiert C1SSF 3 . - f ) I n F o r m v o n F S S F o d e r F 3 S S F 3 d e n k b a r . - g) I n F o r m v o n F 3 S S F 5 d e n k b a r . - h) E s existieren a u c h SC1 3 F, SC1 2 F 2 u n d S C l F 3 .
564
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Schwefel bildet darüber hinaus Halogenidoxide der Formel SOX 2 („Thionylhalogenide", isoliert mit X = F, al, Br, I) sowie SO 2 X 2 („Sulfurylhalogenide",X = F, al, Br). Sie werden als Derivate der Schwefligen und Schwefelsäure SO(OH) 2 und S0 2 (0H) 2 (Ersatz von OH durch X) bei diesen Säuren (S. 582 und 591) zusammen mit anderen Sauerstoff/Halogen-Verbindungen des Schwefels (z.B. S0F 4 ) besprochen. Bezüglich der Verbindungen SO 3 X 2 (Konstitution X—O—S0 2 X', isoliert mit X' = F und X = F, al, Br, I) vgl. S. 458.
2.3.2
Schwefelfluoride 45
Dischwefeldifluorid S 2 F 2 (Tab. 62) kommt in zwei verschiedenen, isomeren, gasförmigen Formen vor: als ein dem Thionylfluorid 0SF 2 entsprechendes, thermodynamisch beständiges Thiothionylfluorid SSF2 (a) (Q-Symmetrie) und als ein dem Disauerstoffdifluorid F 0 0 F entsprechendes, thermodynamisch in Bezug auf SSF2 (b) (C2-Symmetrie) unbeständiges Difluordisulfan FSSF:
Der SS-Abstand (vgl. Tab. 63) spricht in beiden Fällen für das Vorliegen einer Doppelbindung (z.B. SS-Abstand in S 2 : 1.887 a\, ber. für die SS-Einfachbindung: 2.08 Ä). Die hohe SS-Bindungsverstärkung in FSSF lässtsich u. a. durch Wechselbeziehungen im Sinne von [ F " S = S F + FS—SF FS=S + F"] erklären. Der SF-Abstand (Tab. 63) entspricht in beiden Fällen einer Einfachbindung (ber. für Einfachbindung: 1.68 Ä). ,,Thiothionylfluorid" SSF2 entsteht durch Umsetzung von verdünnt gasförmigem S 2 ai 2 mit KF bei 140-145 °a bzw. HgF 2 bei 20 o a und reagiert entsprechend seiner Konstitution mit HF gemäß SSF2 + 2HF ^ H 2 S + S F , bei der 0xidation mit N 0 2 gemäß S S F + 3 0 S0 2 + 0SF 2 . „DifluordisulfanFSSF lässt sich durch Eintragen von AgF in geschmolzenen Schwefel bei 125 o a , sofortiges Abschrecken des entstehenden Gasgemisches in flüssiger Luft und Fraktionierung im Hochvakuum oder durch Überleiten von verdünnt gasförmigem S 2 ai 2 über AgF bei Raumtemperatur gewinnen. Es reagiert zum Unterschied von SSF2 mit N 0 2 unter Bildung von Nitrosyl-fluorosulfat N 0 + S0 3 F~. Beide Verbindungen werden von Natronlauge zu F " und S 2 0 3 " zersetzt (mit Wasser Bildung von S 8 , HF, H 2 S n 0 6 ). Im gefrorenen Zustande ist FSSF in Glasgefäßen tagelang haltbar; bei — 60 bis — 50 °a bildet sich in Anwesenheit von NaF gemäß FSSF + F " FSSF 2 F " + SSF2 ein Isomerengemisch ungefähr gleich großer Mengen von FSSF und SSF2, welches sich oberhalb — 50 o a unter reversibler Einstellung eines temperaturabhängigen Gleichgewichts zunehmend in SSF2 verwandelt (oberhalb 0 o a nur SSF2). In Ni-, Au- und Pt-Gefäßen ist reines, HF-freies FSSF auch bei Raumtemperatur lange Zeit beständig; bei Anwesenheit von SSF2 erfolgt jedoch beschleunigte Umwandlung in das thermodynamisch stabilere SSF2, ebenso bei Erwärmung. SSF2 ist seinerseits bezüglich S F thermodynamisch instabil; die Disproportionierung 2SSF 2 | S 8 + S F erfolgt jedoch aus kinetischen Gründen selbst bei 250 o a nicht, in Anwesenheit von Katalysatoren wie B F jedoch rasch. Im Falle des erwähnten Gemischs FSSF/SSF könnte es sich um Tetraschwefeltetrafluorid FSSSSF3 handeln, gebildet durch ß-Addition von FSSF an SSF2. Für die Möglichkeit einer derartigen Addition spricht die Verbindung Trischwefeltetrafluorid FSSSF3, die sich durch Qokondensation von S F und S S F bei tiefen Temperaturen bildet (bei höheren Temperaturen Zerfall nach 1. Reaktionsordnung gemäß: 3S 3 F 4 ^ S F + 4 S S F ; = 4.5 h bei Raumtemperatur). Durch die Einwirkung von gasförmigem Schwefel auf AgF lassen sich höhere Homologe von FSSF - nämlich Difluortrisulfan S 3 F 2 und Difluortetrasulfan S 4 F 2 - im Gemisch als hellgelbes, schwerflüchtiges Öl gewinnen, das sich thermisch leicht zersetzt (-• Schwefel, S S F , FSSF).
Tab. 63
Strukturparameter von Di- und Monoschwefeldihalogeniden.
S2X2
r SS [Ä]
r SX [Ä]
*SSX
*XSSX
SX
(g s2a2(g) S2Br2(g)
1.888 1.931 1.98
1.635 2.057 2.24
108.3° 108.2° 105°
87.9° 84.8° 83.5°
SF (g) Sa (f)
1.59 2.00
98.2° 103°
a) FSSF. Für S S F wurde gefunden rSS = 1.860 Ä, rSF = 1.598 Ä, £ SSF = 107.5°, £ FSF = 92.5°.
2. Der Schwefel
565
Schwefeldifluorid SF2 (Tab. 62, 63) existiert entsprechend seiner Formel als Monomeres (,,Monoschwefeldifluorid"), darüber hinaus als Dimeres (SF2)2 = S 2 F 4 („Dischwefeltetrafluorid") und Trimeres (SF)3 = S 3 F 6 („Trischwefelhexafluorid"). ,,Schwefeldifluorid" S F (,,Difluorsulfan") entsteht durch Halogenaustausch beim Überleiten von SCl2-Dampf bei Drücken < 25 mbar über KF (170 0C), HgF2 (150 0C) bzw. AgF (Raumtemperatur) neben anderen Schwefelhalogeniden (S 2 F 2 , SF4, S2ClF, S 2 ClF 3 ), von denen es abgetrennt werden muss. Eine weitere gute Darstellungsmöglichkeit besteht in der Fluorierung von COS mit F 2 . Gasförmiges S F (gewinkelt, C2v-Symmetrie) ist nur in verdünntem Zustand und nur in Abwesenheit von Zersetzungskatalysatoren (z.B. HF, B F , PF 5 , Metallfluoride) kurzzeitig beständig (Zerfallshalbwertszeit in Edelstahlgefäßen bei einem Druck von 13 mbar etwa 4Stdn.). Die summarisch nach Gleichung (4) erfolgende Zersetzung verläuft dabei über das Di- und Trimere von SF2 auf folgendem Wege: 2S SF s3F6
SSF
3S
SSF, + S F + 253 kJ.
SF
(1) (2) (3) (4)
„Dischwefeltetrafluorid" F 4 bildet sich in einer temperatur- und druckabhängigen Gleichgewichtsreaktion (l) durch SF2-Dimerisierung (ber. Gleichgewichtszusammensetzung bei 25 0C und einem Gesamtdruck von 13 mbar: 35 Mol-% S F , 65 Mol-% S 2 F 4 ). Die Gleichgewichtseinstellung wird allerdings durch die vergleichbar rasch erfolgenden, zu den SF2-Zersetzungsprodukten S S F und S F führenden Umsetzungen (2) und (3) gestört. Das sich von S F (s. unten) strukturell durch Austausch eines äquatorialen Fluoratoms durch eine SF-Gruppe ableitende S 2 F 4 = F3S—SF (C-Symmetrie; Tab. 62) entsteht außer nach (1) auch bei der schonenden Fluorierung von Schwefel mit F2 neben S S F , SF4 und SF6 und verbleibt nach Abdestillieren letzterer Schwefelfluoride bei — 78 0C in reiner Form als farblose Flüssigkeit. S 2 F 4 zersetzt sich auf dem Wege über das Spaltprodukt S F nach 3S 2 F 4 2 S S F + 2SF 4 . Die Dimerisierung von Schwefeldifluorid (1) stellt eine a-Additionsreaktion von S F an S F , die Spaltung von S 2 F 4 in zwei Moleküle S F eine a-Eliminierung dar, wobei beide Reaktionen als Orbitalsymmetrie-erlaubte Vorgänge (S. 402) konzertiert (synchron) verlaufen können (in den Formeln blieb das stereochemisch wenig wirksame s-Elektronenpaar unberücksichtigt, vgl. S. 365):
In analoger Weise wie S F vermag sich auch ClSF (Zwischenprodukt der Fluoridierung von SC12) an S F unter a-Addition zu lagern (-• ClSSF). ,,Trischwefelhexafluorid" S 3 F 6 (mögliche Konstitution F 3 S—S—SF) bildet sich im Zuge der Zersetzung von S F (4) nur als Reaktionszwischenstufe, da die bei tiefen Temperaturen durch Cokondensation von SF und auf dem Wege (2) im Zuge einer -Addition erhältlichen Verbindung leicht auf dem Wege (3) unter ß-Eliminierung zerfällt. Letztere Reaktion ist nicht reversibel, d.h. eine ß-Addition von S F an S S F erfolgt - anders als die ß-Addition von S F an S S F (s. oben) - nicht. Schwefeltetrafluorid S F (Tab. 62) Darstellung S F , ein farbloses, erstickend riechendes, sehr toxisches Gas, wird im Laboratorium zweckmäßig durch Umsetzung von Schwefeldichlorid mit Chlor und Natriumfluorid in Acetonitril bei 7 0 - 8 0 ° C (SC12 + Cl 2 + 4 N a F -> S F + 4NaCl; in Cl 2 - Abwesenheit: 3SCl 2 + 4 N a F S 2 C1 2 + S F + 4 N a C l ) und in der Technik durch Fluorierung von Schwefel oder geeigneten niederwertigen Schwefelverbindungen (z. B. SWC12) gewonnen. Eigenschaften. Die in Stahlflaschen erhältliche Verbindung ist sehr hydrolyseempfindlich ( S F + 2 H 2 0 -> SO 2 + 4 H F ) . Sie wirkt als schwache Lewis-Säure und bildet z.B. 1 : 1-Addukte mit organischen Basen wie Triethylamin oder Pyridin und mit Alkalifluoriden M F (Bildung von Komplexen M [ S F ] mit dem SF^~-Ion). Darüber hinaus wirkt S F als F " - D o n o r gegenüber starken Lewis-Säuren wie P F , AsF 5 , SbF 5 , BF 3 (Bildung von [ S F ] 2 [ E F + J " mit dem SF^"-Ion). Schließlich lässt sich S F zu S(VI)-Derivaten oxidieren (z.B. + F 2 ^ S F ; + ClF SF 5 Cl; + 0 2 in Anwesenheit von N O 2 ^ O S F ) .
566
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Strukturen Die 4 Fluoratome des „wippenförmigen" Tetrafluorids S F besetzen im Sinne des VSEPRModells (S.313) zwei axiale und zwei äquatoriale Plätze des pseudo-trigonal-bipyramidalen Schwefels (Q2v-Symmetrie; vgl. Tab.46 auf S. 358). Die SF-Abstände betragen im gasförmigen S F 1.643 (axial) bzw. 1.542 Ä (äquatorial), die FSF-Winkel 173.1° (axial) bzw. 101.6° (äquatorial). In flüssigem Schwefeltetrafluorid liegen über Fluorbrücken assoziierte SF4-Moleküle vor. Bei gewöhnlichen Temperaturen unterliegen die Fluoratome des S F schnellen intramolekularen Austauschprozessen (vgl. Pseudorotation, S. 782). Die mit QlF5 bzw. :PF3 isoelektronischen Ionen SF^ bzw. :SF3+ sind quadratisch-pyramidal mit S in der Basisfläche bzw. pyramidal mit S an der Pyramidenspitze gebaut. :SF3+ stellt formal ein LewisSäure-Base-Addukt von F + an SF2 dar (homologes 0F 3 + ließ sich bisher nicht erzeugen). Das Addukt S F + von 2F + an SF2 existiert bisher nur als Derivat in Form von R4S2+ mit R2 = 2,2'-Biphenylen. S F hat in neuerer Zeit als Fluoridierungsmittel Verwendung erlangt, z. B. zur Fluoridierung der Ketogruppe: ^ C = 0 + SF4 -> ^QF 2 + 0 = S F 2 , oder zur Fluoridierung anorganischer 0xide, Sulfide oder Qarbonyle (z.B. I 2 0 5 + 5SF 4 2IF 5 + 5S0F 2 ). Schwefelhexafluorid S F (Tab.62) das wie die isoelektronischen Ionen PFg und A l F oktaedrisch gebaut ist (0 h -Symmetrie; SF-Abstand = 1.561 Ä), bildet sich unter starker Wärmeentwicklung durch unmittelbare Vereinigung der Elemente: + 3F 2 -> SF 6 + 1220 kJ. Zur Abtrennung von gleichzeitig gebildeten anderen Schwefelfluoriden wird das Reaktionsgas im Zuge der Darstellung in der Technik zunächst auf 400°Q erhitzt (S 2 F 1 0 -> SF 4 + S F ) und dann mit Laugen gewaschen ( S F + 6 0 H " ->• S 0 3 " + 4 F + 3 ^ 0 ) . Es erfolgt schließlich eine Druckdestillation. Eigenschaften. SFÖ ist ein farbloses und geruchloses, nicht entzündbares ungiftiges und wasserunlösliches Gas hoher Dichte (5.1 mal dichter als Luft), das auffallenderweise chemisch fast so indifferent wie Stickstoff ist. So kann es z.B. mit Wasserstoff erhitzt werden, ohne dass Fluorwasserstoff entsteht. Schmelzende Alkalihydroxide, heißer Qhlorwasserstoff, überhitzter Wasserdampf von 500°Q und selbst Sauerstoff in einer elektrischen Entladung zersetzen es nicht. Natrium k a n n in SF 6 -Gas geschmolzen werden, ohne dass seine 0berfläche infolge NaF-Bildung blind wird; erst beim Siedepunkt (881.3 °Q) wird es von S F angegriffen. SF 6 ist hierbei kinetisch, nicht thermodynamisch stabil und sollte etwa mit Wasser unter beträchtlicher Energieabgabe zu H 2 S 0 4 und H F hydrolysieren. Angegriffen wird S F jedoch von Natrium in fl. N H 3 (-> Na 2 S, N a F ) sowie von Schwefelwasserstoff ( ^ S8 + H F ) . Bezüglich der Photolyse von S F s. unten. Verwendung S F wird aufgrund seines inerten Verhaltens und seiner hervorragenden thermischen wie elektrischen Isolatoreigenschaften als Löschmittel, als Dielktrikum in Hochspannungsanlagen, als Lichtbogenlöschmittel in elektrischen Geräten, Transformatoren, Schaltanlagen usw. (hier genügen N 2 /SF 6 -Gemische), als Schutzgas über Metallschmelzen, zur W ä r m e d ä m m u n g und Geräuschd ä m p f u n g usw. genutzt. D a S F einen zig-tausendfach stärkeren ,,Treibhauseffekt" aufweist als Q 0 2 (S. 523), finden Umweltbedenken hinsichtlich des Langzeitgebrauches von S F zunehmend Beachtung (es wurden steigende SF-Konzentrationen in der Atmosphäre nachgewiesen). ,,Schwefelhexachlorid" Sai 6 und ,,-hexabromid" SBr6 gibt es nicht, wohl aber Schwefelchloridpentafluorid SFsCl (Tab. 62) und Schwefelbromidpentafluorid SFsBr (Tab. 62). Die Halogenide (a4v-Symmetrie) entstehen bei der Umsetzung äquimolekularer Mengen S F und QlF bei 375 °Q im Druckgefäß bzw. BrF bei 100 °Q. Beide Reaktionen werden durch QsF katalysiert (Umsetzung bereits bei Raumtemperatur bzw. 90 °a). Als Zwischenstufe tritt dabei wohl die Verbindung QsSF auf (QsF + SF4 -> QsSF), die mit QlF (man verwendet auch ai 2 ) bzw. BrF gemäß QsSF + XF -> SF5X + QsF weiterreagiert. Die Verbindungen S F X (X = Ql, Br) sind wesentlich reaktiver als S F und werden von Alkalien (SFBr bereits durch Wasser) schnell hydrolysiert: SF5X + 80H~ -> S 0 j " + 5F~ + X" + 4 ^ 0 , weil der die Hydrolyse einleitende nucleophile Angriff von 0H~ gemäß SF5X + 0H~ -> S F + X 0 H an X = Ql, Br um vieles rascher als an X = F erfolgt. Beim Erwärmen auf 400 °Q (X = Ql) bzw. auf 150 °C (X = Br) oder beim Bestrahlen mit UV-Licht zerfallen diese Schwefelhalogenide über SF-Radikale gemäß 2 S F X -> SF4 + S F + X 2 . Mit Sauerstoff reagieren sie wie auch S F bei Bestrahlung zu F 5 S—O—SF (Smp./Sdp. — 118/31 °Q), F 5 S—0—0—SF (Smp./Sdp. — 95/49 °Q; Reaktion mit S F zu F 5 S—O—SF—O—SF) und F 5 S—O—O—O—SF (bei niedrigen Temperaturen metastabil) auf folgenden Wegen: SF5X + hv ^ S F + X' (X = F, Ql, Br); 2SF; + 0 2 ^ F 5 S00' + S F F 5 S O O S ^ 2F5S0"; F 5 S0' + 0 2 bzw. SF; bzw. F S 0 0 ' ^ F 5 S 0 0 0 ' , F5SOSF5 bzw. F5SOOOSF5. Die Radikale S F (Q4v-Symmetrie), F5SO' (Q2v-Symmetrie), F5SOO' (Q-Symmetrie) und F5SOOO' Cs-Symmetrie) ließen sich
2. Der Schwefel
567
zusammen mit viel Argongas in Ab- und Anwesenheit von O2-Gas in einer Tieftemperaturmatrix isolieren (dSF ca. 1.59Ä; dSO ca. 1.60Ä bzw. 1.80 Ä in F5SOO; dOO 1.28 (F5SOO) sowie 2.36 und 1.19 (F5SOOO; ^FSF/FSO um 90°; £SOO in F3SOO/F3SOOO 114.5/120.4°; £ O O O 107.4°). Ein weiteres Sauerstoffderivat von SF6, F5S—OF (Smp./Sdp. — 86.0/— 35.1°), entsteht durch Fluorierung von F4SO bzw. F2SO. Man kennt auch die Säuren F5SOH und F3SOOH sowie die Stickstoffderivate SNR2 (anders als SF6 lässt sich F5SNMe2 mit AsF5 in fl. S O in das Kation F4SNMe^~ mit trigonal-bipyramidalem Schwefel und NMe2 in äquatorialer Stellung überführen), N(SF 5 ) 3 , F 5 SNO 2 (aus SClF5 + N O ) . Dischwefeldecafluorid S 2 ¥ 1 0 (Tab. 62). Als Nebenprodukt bei der Einwirkung von Fluor auf Schwefel entsteht ein Fluorid S 2 F 10 , dessen Darstellung am besten durch die photochemische Reaktion von SF5C1 (s. oben) mit H 2 gemäß 2SF5C1 + H 2 S 2 F 10 + 2HCl erfolgt. S 2 F 10 , ein sehr giftiges Gas (MAKWert = 0.25 mg/m 3 = 0.025 ppm), ist im Sinne von F 5 S—SF aus zwei quadratisch-pyramidalen SF5Gruppen mit Schwefel in der Basisfläche aufgebaut; die über eine lange S—S-Bindung (2.21 Ä; ber. für Einfachbindung 2.08 Ä) miteinander verknüpften Pyramiden sind gegeneinander um 45° verdreht (D 4d Symmetrie). S 2 F 10 (hydrolysestabil) ist reaktionsfähiger als S F . Entsprechend der langen SS-Bindung zerfällt es leicht in zwei SF-Radikale und reagiert deshalb mit Cl 2 , Br2 bzw. N 2 F 4 zu SFCl, SF5Br bzw. SF5—NF2. Bei 150 °C zerfällt es in SF4 + SF6.
2.3.3 Schwefelchloride, -bromide, -iodide 45 Polyschwefeldihalogenide S n X 2 („Dihalogenpolysulfane"; Tab. 62) leiten sich von den Polysulfanen H2S„ (s. dort) durch Austausch der Wasserstoffatome gegen Halogenatome ab und besitzen die Struktur gewinkelter Ketten (höchstwahrscheinlich spiralig gewunden wie in jj,-Schwefel; vgl. hierzu S. 544 und 552). Man erhält die Polyschwefeldichloride SnCl2, wenn man S2C12 bei hoher Temperatur (400 bis 900 0C) mit H 2 im Abschreckrohr behandelt. Dichlorpolysulfane bestimmter Kettenlänge lassen sich durch Kondensation von Polysulfanen mit Dichlorpolysulfanen im Molverhältnis 1 : > 2 gemäß dem Schema ClS„:Ci + H:S X :H + CliSyCl
->
Sx + 2yC\2 + 2 HCl
gewinnen (x = 1 -4; y = 1,2; x + 2y = n = 3 — 8). Die Dichlorpolysulfane S„Cl2 (einzeln isoliert bis « = 8) stellen gelbe bis orangerote, stark lichtbrechende, ölige Flüssigkeiten von beißendem, aufdringlichem Geruch dar, welche zum Zerfall in Schwefel und S2C12 neigen und von Wasser zu HCl, Schwefel und einem Gemisch verschiedener Schwefelsauerstoffsäuren hydrolysiert werden (Bildungsenthalpien bzw. Dichten von S3C12/S4C12/S5C12/S6C12/S7C12/ S8C12 = —51.9/ — 42.7/— 36.8/ — 29.3/ — 22.2/— 14.7 kJ/molbzw. 1.744/1.777/1.802/1.822/1.84/1.85 g/cm3). Durch Kondensation von S„Cl2 mit Polysulfanen im Molverhältnis 1: 1 lassen sich in sehr verdünnter etherischer Lösung gezielt allotrope Schwefelmodifikationen darstellen (S. 550). Die Kondensation mit Polysulfanen im Molverhältnis > 2 :1 führt zu höheren Polysulfanen. Als weitere Kondensationsreaktionen seien etwa genannt: die zu Bis(amino)polysulfanen $„(NR2)2 führende Umsetzung von S„Cl2 mit R 2 NH, die zum Schwefelimid S 7 NH führende Umsetzung von S7C12 mit N H (vgl. Schwefelnitride), die zu Nonathionsäure (H 2 S 9 0 6 = HO3S—S7 — SO 3 H führende Umsetzung von HS—SO3H mit S5C12 (vgl. Schwefelsauerstoffsäuren) sowie die zu Polysulfandiphosphonsäuren H 2 0 3 P—S n —PO 3 H 2 führende Umsetzung von Monothiophosphorsäure H 3 PO 3 S mit S„Cl2(w = 5-10). Erwähnt sei schließlich auch die Umsetzung von Polyschwefeldichloriden mit Quecksilberdithiocyanat Hg(SCN)2 in HCC13 bzw. CS 2 , die zu farblos bis grüngelben Polyschwefeldicyaniden S„(CN)2 führt: S„C12 + Hg(SCN)2 S„ + 2 (CN)2 + HgCl 2 . Bei der Behandlung definierter Polyschwefeldichloride mit HBr bei Raumtemperatur entstehen die Polyschwefeldibromide SnBr2 (isoliert bis « = 8) als zersetzliche (-• Schwefel + S 2 Br 2 ), dunkel- bis himbeerrote, ölige Flüssigkeiten, bei der Umsetzung von S„Cl2 mit KI die sehr instabilen (-• Schwefel + 12), bisher nur in Lösung erhaltenen Polyschwefeldiiodide SBI2 (Tab. 62). Schwefelhalogenide S 2 X 2 und SX 2 (Tab. 62, 63). Dischwefeldichlorid S 2 C \ 2 („Dichlordisulfan", ,,Chlorschwefel"; gauche-Struktur analog F S S F mit C 2 -Symmetrie) entsteht als orangegelbe, an feuchter Luft rauchende, toxische Flüssigkeit von widerlichem, stechendem und zu Tränen reizendem Geruch, wenn man trockenes Chlor in geschmolzenen Schwefel bei ca. 240 °C leitet; (MAK-Wert von S 2 C1 2 = 6 mg/m 3 = 1 ppm). Durch Blitzlichtphotolyse lässt sich ClSSCl in einer Tieftemperaturmatrix zu SSC12 isomerisieren (analog S S F gebaut; Ai7f ca. 10 kJ/mol). Die weitere Einwirkung von Chlor verwandelt S 2 C\ 2 bei Raumtemperatur langsam (in Tagen), in Anwesenheit von katalytischen Mengen FeCl 3 oder I 2 rasch in Schwefeldichlorid SC12 („Di-
568
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
chlorsulfan"; gewinkelte Struktur analog SF 2 mit C 2V -Symmetrie), eine rote, ebenfalls an Luft rauchende, toxische und nach Chlor riechende Flüssigkeit (Weltjahresproduktion von SC12/ S 2 C1 2 in der Technik: zig Kilotonnenmaßstab) i S 8 + Cl 2
S 2 Cl 2 + 5 8 . 2 k J ;
S 2 C1 2 + C\ 2
2SCl 2 + 4 0 . 6 k J .
Unter normalen Bedingungen enthält SC12 immer etwas Chlor, das sich zusammen mit S2C12 im Gleichgewicht mit SC12 befindet. Durch Entfernung von Cl2 (z. B. durch Abziehen bei vermindertem Druck) lässt sich das Gleichgewicht auf die linke Seite verschieben und somit SC12 in S 2 C\ 2 überführen. Spuren von PC15 hemmen die Gleichgewichtseinstellung, sodass SC12 in Anwesenheit von 0.1 % PC15 bei Atmosphärendruck destillierbar wird. In der Gasphase ist SC12 in Abwesenheit von Licht selbst bei 80 0 C hinsichtlich C und C metastabil Die reversible Chlorierung von S2C12 erfolgt wahrscheinlich auf dem Wege einer a-Addition von Cl2 an S 2 C\ 2 mit sich anschließender a-Eliminierung von SC12 aus dem gebildeten Zwischenprodukt: ClS—SC1 + C12 ?± C13S—SCI 2 SC12 (vgl. S. 404). In analoger Weise entsteht wohl S2C12 aus Schwefel und Chlor durch eine Folge von a-Additionen und a-Eliminierungen des Typus —S—S—S—S— + C12 ^ —S—SC12—S—S ?± —S—SCI + ClS—S— (Schwefel-Schwefel-Bindungen werden von Chlor bereits bei Raumtemperatur angegriffen; demgemäß lässt sich S2C12 durch Reaktion von Chlor mit Schwefel, gelöst in S2C12, bereits bei Raumtemperatur gewinnen). SC12 bzw. S2C12 werden von Sulfanen zu Polyschwefeldichloriden reduziert (s. oben), von Sauerstoff oder Fluor zu SOCl2 bzw. S02C12 oder S F bzw. SF6 oxidiert. Der Schwefel beider Chloride verhält sich hinsichtlich Nucleophilen als saures Zentrum. So werden die Verbindungen in Natronlauge unter Bildung von Chlorid und Thiosulfat zersetzt (2SC12(2S2C12) + 6OH" 4C1" + S202_ + 3H 2 O( + 2/8S8); mit Wasser Bildung von S8, HCl, H 2 S n 0 6 ; vgl. S. 592), von Ammoniak in Schwefelnitride (S. 602) übergeführt. Als basisches Zentrum wirkt der Schwefel von SC12 in Komplexen wie trans-PdCl2(SCl2)2 (gelb) oder trans-PtCl4(SCl2)2 (rot). Dischwefeldichlorid vermag große Mengen Schwefel zu lösen, wobei in geringem Ausmaß Polyschwefeldichloride S„Cl2 entstehen, und findet daher beim Vulkanisieren des Kautschuks Verwendung. Darüber hinaus wird S2C12 wie auch SC12 zur Herstellung von anorganischen Schwefelverbindungen (z. B. SOCl2, S F ) sowie für Sulfidierungs- und Chlorierungsreaktionen genutzt. Schwefeldichlorid addiert sich leicht an organischen Doppelbindungen und bildet etwa mit C H 2 = C H 2 das früher als Kampfstoff genutzte Senfgas S(CH 2 CH 2 Cl) 2 . Analog S2C12 bildet sich Dischwefeldibromid S2Br2 (Tab. 62,63) aus Brom und Schwefel als granatrote, ölige, Glas nicht benetzende Flüssigkeit. Auch bei der Umsetzung von S2C12 sowie SC12 mit HBr entsteht S 2 Br 2 . Letztere Reaktion verläuft über Schwefeldibromid SBr2 (Tab. 62) als instabiles Zwischenprodukt, das sich gemäß 2 SBr2 S 2 Br 2 + Br2 rasch in Brom und Dischwefeldibromid zersetzt Dischwefeldiiodid S 2 I 2 (Tab. 62) lässt sich durch Umsetzung von S2C12 mit HI in CC14 bei Raumtemperatur oder besser durch Umsetzen von HI mit S2C12 in Freon bei — 78 0C als oberhalb — 30 0 C langsam in Schwefel (insbesondere S 6 , S 7 , S 8 ; vgl. S. 550) und Iod zerfallender Festkörper gewinnen. Ein Schwefeldiiodid SI2 konnte bisher nur in einer Tieftemperaturmatrix bei 6 K nachgewiesen werden; beständig sind jedoch Derivate RSI mit sperrigen Gruppen R wie Ph 3 C. Während sich Iod mit Schwefel nicht umsetzt, bilden beide Partner in SbF5-, SbF5/AsF3- bzw. AsF 5 / SO-Lösungen die Verbindungen [S 7 1] + [SbFg ], [S 14 I 3 ]3 + [SbF 6 "] 3 • 2AsF 3 bzw. [S 2 1 4 ] 2+ [AsF 6 "] 2 , welche die Schwefel-Iod-Kationen S 7 I + (c) (es existiert auch S7Br+, vgl. S. 549), S 14I^ + (d) bzw. S2I^ + (e) enthalten. Letzteres Ion (SbF^-Salz; C2v-Symmetrie) stellt formal ein Addukt von Triplett-S2 (rss = 1.887 Ä) mit zwei Radikalkationen I 2 = 2.56 Ä) dar, wobei offensichtlich unter Betätigung der mit je einem Elektron besetzten 7t*-Orbitale von I 2 sowie von S 2 (n* und n*) ZweielektronenVierzentrenbindungen geknüpft werden (vgl. 12 + , S. 360, 445).
Schwefeltetrahalogenide (Tab. 62). Das sich beim Einwirken von flüssigem Chlor auf Schwefeldichlorid bei — 78 0 C nach SC12 + C\2 SC14 bildende Schwefeltetrachlorid SC14 ist nur bei tiefen Temperaturen beständig und zerfällt beim Erwärmen wieder in Schwefeldichlorid und Chlor. Die Verbindung liegt im Festzustand wohl in ionogener Form als SC13 Cl" vor (pyramidales SCl^-Ion, isoelektronisch mit PC13). Die hydrolyseempfindliche Verbindung (SC14 + 2 H 2 0 SO2 + 4HCl) bildet mit Lewis-Säuren MXnSalze mit dem pyramidalen SC13+-Ion (z. B. SC14 + AlCl3 ^ [SC13] + [AlCl 4 ]"). Das Ion S(SCl)3+ (S. 562)
2. Der Schwefel Tab. 64
569
Schwefeloxide97.
Oxidationsstufe
Monoschw efeloxide SO Formel Name
Di- und P'olyschwefeloxide S„Om Formel Name
< +1
-
-
S,0"
+1
-
-
O
+2
SO
Schwefelmonoxid Schwefel(II)-oxid
+4
SO
Schwefeldioxid Schwefel(IV)-oxid
+6
SO
Schwefeltrioxid Schwefel(VI)-oxid
+ 6b)
SO
Schwefeltetraoxid Peroxoschwefel(VI)-oxid
s„o2"
E olyschwefelmonoxide E olyschwefeldioxide Dischwefelmonoxid Dischwefel(I)-oxid
s2o2
Dischwefeldioxid Dischwefel(II)-oxid
-
-
s,o9 (SO3.-4),
Trischwefelnonaoxid Trimeres Schwefel(VI)-oxid (SO3)3 Polyschwefelperoxide Peroxopolyschwefel(VI)-oxide
a) M a n kennt bisher: S 3 O, S 5 O, S 6 O, S 7 O, S 8 O, S 9 O, S 10 O, S 7 0 2 sowie (S„O)j (n und x variabel). - b) Die Verbindungen enthalten Peroxogruppen — O — O — mit der Oxidationsstufe —1 (statt wie sonst —2) des Sauerstoffs.
stellt ein Derivat von SC13+ dar. Ein Schwefeltetrabromid SBr4 und -iodid SI4 existieren nicht. Zugänglich sind aber Salze mit dem pyramidalen SB, + -Ion, die etwa bei der Einwirkung von Brom auf Schwefel inMF 5 /S0 2 -Lösung(M = As, Sb) entstehen: | S s + 3Br 2 + 3MF 5 -> 2SBr+2MF~ + MF 3 (in analoger Weise bilden sich Salze SC13 MFg"), während im Falle der I 2 /S s /MF 5 -Reaktion keine Salze mit dem SI^"-Ion entstehen (Derivate Me2SI + sind isolierbar), sondern nur die Kationen (c), (d) und (e) erhalten werden; die Reaktion 2SI 3 -> S 2 IJ + +1 2 ist also exotherm). Darüber hinaus existiert ein aus S 8 , Br2 und AsF5 in flüssigem S O gewinnbares Kation S3Br^, das im Sinne von SBr 2 (S 2 Br) + ein Derivat von SBr3 darstellt (Ersatz eines Br-Atoms durch die SSBr-Gruppe; vgl. S(SC13)3, oben).
2.4
2.4.1
Oxide des Schwefels 35 ' 46 Überblick
Schwefel bildet niedermolekulare Oxide der Zusammensetzung SO m (m = 1, 2, 3, 4), S n O (« = 2, 5 - 1 0 ) und S „ 0 2 (n = 2, 7) sowie hochmolekulare Oxide der Formel (S„O)X und (SO 3 _ 4 ) x , wie aus Tab. 64 hervorgeht, in der die Oxide nach steigender Oxidationsstufe des Schwefels angeordnet sind. Unter ihnen sind Schwefeldioxid S O (Gewinnung durch Verbrennen von Schwefel, Rösten von Sulfiden) und Schwefeltrioxid S O (gewinnbar durch katalytische Oxidation von S O mit O 2 ) seit langem bekannt und technisch sehr wichtig (z. B. als Edukte zur Erzeugung von Schwefeliger und Schwefelsäure). Nachfolgend sei zunächst auf diese beiden Oxide eingegangen, dann auf,,niedere Schwefeloxide" mit Schwefel in Oxidationsstufen 4.
46
Literatur. P.W. Schenk, R. Steudel: ,,Oxides of Sulphur" in G . Nickless (Hrsg.): ,,Inorganic Sulphur Chemistry", Elsevier, Amsterdam 1968; R. Steudel: , H o m o c y c l i c Sulfur Oxides", Comments Inorg. Chem. 1 (1982) 313-327; ,,The Lower Oxides of Sulphur and Related Organic Sulfoxides", Phosphorus and Sulphur 23 (1985) 3 3 - 6 4 ; ULLMANN (5. Aufl.): , , S u l f u r dioxide"; ,,Sulfuric Acid and Sulfur trioxide", A25 (1994); R. Mews, E. Lork, P - G . Wabon, B. Görtler: ,, Coordination Chemistry in and of sulfur dioxide", Coord. Chem. Rev. 197 (2000) 277-320; E. Clennan: ,,Persulfoxide: Key Intermediate in Reaction of Singulet Oxygen with Sulfides", Acc. Chem. R e s 34 (2001) 875-884; Ch. Brandt, R. von Eldik: ,,Transition Metal-Catalyzed Oxidation of Sulfur(/V) Oxides. Atmospheric-Relevant Processes and Mechanisms", Chem. R e v 95 (1995) 119-190.
570
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Monomeres Schwefeltetraoxid S 0 4 unbekannter Konstitution bildet sich bei der Reaktion von S0 3 mit atomarem Sauerstoff (z. B. photolytisch aus O 3 ) bei 1^—78 K in inerter Matrix (Konstitution wahrscheinlich S0 2 (0 2 ) mit pyramidalem S). Die in allen Farben schimmernden, oberhalb 15 °C in S O und 0 2 zerfallenden, O—O-Gruppen-haltigen Polymerengemische (S03_4)J. entstehen als Produkte der Einwirkung einer stillen elektrischen Entladung auf SO/O2- bzw. SO 3 /0 2 -Gemische. Ihre Hydrolyse führt zuH 2 S0 4 , H 2 S0 5 , H 2 0 2 und O 2 . Das früher als S 2 0 3 angesprochene, z. B. aus S s und S O zugängliche „Schwefeloxid" ist tatsächlich ein Gemisch aus ,,Schwefel"-Sulfaten (u.a. Sg + 2HS3Oj~0, S4 + S 4 O f j ; vgl. S. 555; bzgl. kurzlebiger S 2 0 3 -Gasmoleküle vgl. S. 576). S 2 0 4 existiert nicht. Auch S 2 0 ist bis jetzt unbekannt; ein Oxid dieses Typs lässt sich aber bei den höheren Homologen des Schwefels, dem Selen (s. dort) und Tellur (s. dort), gewinnen. Bezüglich der Schwefelhalogenidoxide vgl. S.582, 591.
2.4.2 Schwefeldioxid S0 2 4 6 ' 4 7 Darstellung Technisch wird Schwefeldioxid in großen Mengen durch Verbrennen von Schwefel bzw. Schwefelwasserstoff sowie durch Erhitzen schwefelhaltiger Erze wie z.B. Kupfer-, Zink-, Bleisulfid CuS, ZnS, PbS oder Pyrit FeS 2 im Luft- oder Sauerstoffstrom dargestellt (bzgl. weiterer technischer Verfahren vgl. bei Schwefelsäure): |S8 + 02
S 0 2 + 297.03 kJ,
2FeS2 + 5 ^ 0 2
F e 2 0 3 + 4 S 0 2 + 1655 k J .
Die Wärmeentwicklung ist beim „Röstprozess" (s. dort) so groß, dass einmal brennende Sulfide von selbst weiterbrennen. Auch durch Reduktion von Schwefeltrioxid mit Schwefel in Anoder Abwesenheit von konzentrierter Schwefelsäure bildet sich S02: 2 S 0 3 + -§S8 -> 3 S 0 2 (zur Erzeugung sehr reinen Schwefeldioxids). Bei der Verbrennung von Kohle und Heizöl, die stets geringe Mengen (bis einige Prozente) Schwefel in Form von Verbindungen enthalten, entsteht giftiges S0 2 , das so - unerwünschterweise (S. 522) - in großen Mengen in die Luft gelangt, wobei in Städten Konzentrationen von 0.1 ppm erreicht werden können. Die Entfernung von S0 2 aus Verbrennungsgasen der Feuerungsanlagen („Rauchgas-Entschwefelung") kann (i) durch S0 2 -Absorption in Wasser, Ammoniak, organischen Aminen, Lösungen von Alkali- und Erdalkalihydroxiden sowie von Salzen schwacher Säuren (z.B. CaC0 3 , Na 2 C0 3 , Na 2 S0 3 , Na-citrat), (ii) durch S0 2 - Umwandlung in Schwefelsäure an Aktivkohle, (iii) durch S02-Druckkondensation (5 bar) bei der Temperatur des flüssigen Ammoniaks erfolgen. In der Regel leitet man dem nach oben strömenden Rauchgas eine Suspension fein gemahlenen Kalkes entgegen und oxidiert das gebildete Calciumsulfit (CaC0 3 + S0 2 -> CaS0 3 + C0 2 ) an gleicher oder anderer Stelle mit Luft bei pH-Werten von 4.8-5.3 zu Gips (CaS0 3 + ^ 0 2 -> CaS0 4 ), der - suspendiert in Wasser - abfließt und nach seiner Aufbereitung in der Bauindustrie verwendet wird. Bezüglich weiterer Einzelheiten zur Rauchgas-Reinigung vgl. S. 711. Im Laboratorium gewinnt m a n Schwefeldioxid als Anhydrid der Schwefligen Säure H 2 S 0 3 am bequemsten durch Entwässern der letzteren: ,,H2S03"
H 2 0 + S02,
indem m a n in käufliche, 40- bis 50%ige konzentrierte Natriumhydrogensulfitlösung ( N a H S 0 3 ) konzentrierte Schwefelsäure ( N a H S 0 3 + H 2 S 0 4 H 2 S 0 3 + N a H S 0 4 ) als wasserentziehendes Mittel eintropfen lässt Statt von Schwefliger Säure kann m a n auch von Schwefelsäure ausgehen, indem m a n konzentrierte Schwefelsäure durch Erhitzen mit Kupfer zur Schwefligen Säure reduziert H 2 S 0 4 + Cu
CuO + S 0 2 + H 2 0 .
Physikalische Eigenschaften Schwefeldioxid ist ein farbloses, stechend riechendes, giftiges 47 nicht brennbares und die Verbrennung nicht unterhaltendes, korrodierendes Gas. Es lässt sich leicht zu einer farblosen Flüssigkeit verdichten, die bei — 10.02°C siedet und bei — 75.48°C zu weißen Kristallen erstarrt
47 Physiologisches S 0 2 wirkt stark toxisch (MAK-Wert 5 mg/m 3 = 2 ppm) und führt selbst in kleinen Konzentrationen (0.04 Vol.-% in Luft, 0.3 Vol.-% in Wasser) zu Vergiftungserscheinungen wie Atemorganentzündung, Atemnot, Hornhauttrübung, Magenverätzung. Größere Mengen wirken tödlich (vgl. desinfizierende Wirkung). Noch anfälliger bezüglich S 0 2 sind die Pflanzen (vgl. auch sauren Regen, S.522).
2. Der Schwefel
571
(d = 1.46 g/cm3 beim Smp.; kritische Temperatur: 157.2 °C, kritischer Druck: 78.7 bar). Die Verdampfungsenthalpie ist sehr hoch und beträgt beim Siedepunkt 25.0 kJ/mol = 389 kJ/kg S0 2 ; daher tritt beim Verdunsten von flüssigem Schwefeldioxid eine bedeutende Temperaturerniedrigung ein, wovon man früher in Kältemaschinen Gebrauch gemacht hat. In Wasser ist Schwefeldioxid leicht löslich: 1 Volumen Wasser löst bei 0 °C rund 80, bei 20 °C rund 40 Volumina S0 2 . Es bildet bei 0 °C ein Clathrat S O ' 5.75 H 2 0 , das sich bei 7 °C zersetzt Flüssiges Schwefeldioxid ist ein ausgezeichnetes Lösungsmittel für viele anorganische und organische Stoffe und kann daher für solche Umsetzungen angewandt werden, die im wässerigen System wegen Hydrolysezersetzung nicht durchführbar sind. Viele anorganische Salze leiten in S0 2 -Lösung den elektrischen Strom ähnlich gut wie in Wasser, sind also wie in diesem elektrolytisch dissoziiert Struktur. Das S02-Molekül (isoelektronisch mit ClO^) ist wie das O3-, S 2 0- und S3-Molekül im Sinne des VSEPR-Modells (S. 313) gewinkelt gebaut (a) (C2v-Symmetrie). Der 0S0-Winkel entspricht mit 119.5° einem sp1-hybridisierten S-Atom (zum Vergleich: 0 116.8°, S 2 0 118.0°), der S0-Abstand mit 1.432Ä (ber. für Einfach-/Doppelbindung 1.70/1.50 Ä) sowie die hohe Dissoziationsenergie mit 552 kJ/mol einer Doppelbindung. Der gewinkelte Bau von S0 2 folgt sowohl aus einer VB-Betrachtung (vgl. Mesomerieformel (a); in kurzer Schreibweise (a')) als auch aus einer M0-Studie (18 Valenzelektronen, vgl. S. 357). Der kurze S0-Abstand geht auf kovalente und elektrovalente (ionische) Bindungsanteile zurück (0rdnung 1.5 der Kovalenz; deutliche - im Falle von 0 3 nicht relevante - Elektrovalenz aufgrund des Elektronegativitätsunterschieds zwischen 0 und S: zlEN = 3.50 — 2.44 = 1.06). Vielfach bringt man die Bindungssituation in S 0 durch die Valenzstrichformel (a'') zum Ausdruck, wobei man sich aber dessen bewusst sein muss, dass die Doppelbindungsstriche neben Kovalenzen (Hauptanteil) auch Elektrovalenzen symbolisieren (S. 153). In entsprechender Weise formuliert man S02-Derivate, z.B. R 2 S = 0 (S. 582), R N = S = 0 / R N = S = N R (s. u.; R = anorganischer, organischer Rest), wobei allerdings für ThionylverbindungenR2S0, in welchen das S-Atom vier (a + n)-Bindungen betätigt, sinnvollerweise keine S0-Doppel-, sondern S0-Einfachbindungsstriche verwendet werden: R S — 0 . Die für die Reaktivität des S02Moleküls maßgebenden Grenzorbitale (S. 402) sind das o-*-M0 (b) und rc*-MQ (c) (vgl. hierzu auch S. 357). ++
o.
++
,o-
-o.
..
.o
. ^ • V:O'
o: (a) S O 2
(a') SO 2
..
OO
. / .O"v
x
'O.
(a") SO 2
(b) HOMO,
(c) LUMO, n *
Chemische Eigenschaften Redox-Verhalten. Das Schwefeldioxid ist durch seine reduzierende Wirkung ausgezeichnet, die auf seinem Bestreben beruht, sich zur üxidationsstufe der Schwefelsäure zu oxidieren. Zwar ist die zu S 0 3 führende Reaktion mit Sauerstoff gehemmt und erfolgt nur in Anwesenheit von Katalysatoren (S. 583) oder mit atomarem Sauerstoff. Leitet m a n jedoch einen Schwefeldioxidstrom über feinverteiltes, braunes Bleidioxid P b O 2 , so verwandelt sich dieses unter Aufglühen in weißes Bleisulfat P b S 0 4 : S02+i0
2
S 0 + 99.0 kJ;
P b 0 2 + S 0 2 -> P b S 0 4 .
Mit F 2 und Cl 2 reagiert S 0 2 zu den entsprechenden Sulfurylhalogeniden S 0 2 X 2 (S. 583). Viele organische Farbstoffe werden reduktiv entfärbt, worauf die Bleichwirkung des Schwefeldioxids beruht. Auch der wässerigen Lösung des Schwefeldioxids kommt diese reduzierende Wirkung zu (Näheres S. 581). Die oxidierende Wirkung des Schwefeldioxids (Übergang von S0 2 in S(0) oder S(-II) unter Abgabe von 0-Atomen) zeigt sich nur beim Erhitzen mit besonders kräftigen Reduktionsmitteln (Magnesium, Aluminium, Kalium, Natrium, Calcium), da die Sauerstoffatome des S0 2 -Moleküls, wie die hohe Bildungsenthalpie (297 kJ/mol) zeigt, sehr fest gebunden sind. Dementsprechend unterhält auch Schwefeldioxid die Verbrennung nicht. Man kann daher z.B. Brände im Innern von Schornsteinen dadurch löschen, dass man unten Schwefel abbrennt; der Schwefel bindet dann allen Sauerstoff, sodass der Ruß nicht weiterbrennen kann. Leichter lässt sich S0 2 gemäß 2S0 2 + 2 Q -> S2C>4~ zu Dithionit S 2 0 4 _ (S. 594) reduzieren (Übergang in S(III) ohne Abgabe von 0-Atomen). Demgemäß vermag S0 2 in Medien wie HC0(NMe 2 ), P0(NMe 2 ) 3 viele Metalle, z. B. solche der ersten Übergangsreihe, unter Bildung von Dithioniten (z. B. M n S 2 0 4 ) aufzulösen. Interessanterweise werden die bereffenden Moleküle von S0 2 in M S0 unter gleichzeitiger 0xidation von S0 oxidierend aufgelöst (M S0 M 0; Bildung von Disulfaten der Kationen Ti(0SMe 2 )J + , V(0SMe2)36 + , M ( 0 S M e 2 + m i m = Mn, Fe, Co, Ni, Cu, Zn). Zur Reaktion von S0 2 mit H 2 S vgl. S. 594.
572
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Säure-Base-Verhalten. Die wässerige Lösung von S 0 2 reagiert sauer und verhält sich auch sonst wie eine Brönsted-Säure-Lösung (Näheres S. 579). Demgegenüber wirkt Schwefeldioxid allenfalls hinsichtlich Supersäuren als Brönsted-Base (z.B. H 2 F + S b F ^ + S 0 2 ( —25°C) -> F S ( 0 H ) 2 SbFg), wogegen es sowohl gute Lewis-saure wie -basische Eigenschaften besitzt. In den mit L„M (L = geeigneter Ligand, M = Metall) gebildeten Schwefeldioxid-Komplexen48 ist S0 2 mit harten Metallzentren über Sauerstoff (d), mit weichen über Schwefel gebunden, wobei der Schwefel einfach (e, f), verbrückend (g) oder - zusammen mit Sauerstoff - side on (h) gebunden vorliegt (L = Ph 3 P; Cp = C 5 H 5)49:
sK 0
°v o
1 L„M (d) z.B. SO 2 -SbF 5
s
x
i L M n
(e) z.B. L 3 NiSO 2
s^,.
L„M
/
V ° O
(f) z.B. L 3 PtSO 2
v° S
L„M
/ \
ö /
ML„
(g) z.B. [Cp(CÜ) 2 Fe] 2 S0 2
\
\
L„M\\ ^O (h) z.B. L 2 (NO)RhSO 2
In den Komplexen L„MS0 2 mit einer koordinativen MS-Bindung kann der Schwefel sowohl planar (e) wie pyramidal (f) konformiert sein. In ersterem Falle wirkt Schwefeldioxid formal als Lewis-Base (Betätigung des H 0 M 0 , vgl. (b)), in letzterem Falle als Lewis-Säure (Betätigung des LUM0, vgl. (c)). Die S0 2 -Komplexe mit pyramidalem Schwefel (f) lassen sich häufig mit molekularem Sauerstoff zu Sulfatokomplexen L n M(S0 4 ~) oxidieren (freies Schwefelelektronenpaar!). Auch neigen sie zur reversiblen S0 2 -Abgabe. Sie entstehen auch mit Nichtmetall-Basen D wie Fluorid, Hydroxid, 0xid, Sulfit, organischen Aminen (Bildung von D ->S0 2 ). Die stärkere S0 2 -Koordination in Komplexen mitplanarem Schwefel (e) beruht auf einer Rückkoordination freier Metallelektronen in das elektronenleere 7t*-0rbital von S0 2 (vgl. c). Komplexe des Typs (e) stellen somit im Sinne von L n M = S 0 2 formal Derivate des Schwefeltrioxids dar (Komplexe mit verbrücktem Schwefel (g) sind als Derivate von C1 2 S0 2 aufzufassen). In analoger Weise erfolgt eine Stabilisierung von Komplexen des Typs (f) dadurch, dass S0 2 zusätzlich über Sauerstoff an L„M gebunden ist (side-on-Komplexe (h)). Ein Beispiel eines isolierbaren S0 2 -Komplexes mit koordiniertem Sauerstoff (d) ist S0 2 • SbF5 (Smp. 66 °C). In der Regel führt die Komplexierung (S02 ^ Nb0Cl 3 , W0C1 4 , Nachweis. Der Nachweis kleiner Mengen S0 2 in der Atmosphäre erfolgt u.a. durch Absorption der Luft in H 2 0 2 (S0 2 + H 2 0 2 H 2 S0 4 ; Titration von H 2 S0 4 ), durch Umsatz der Luft mit Na 2 HgCl 4 (2S0 2 + H g C l + 2 H 2 0 H g ( S 0 3 ) + 4HCl; Kolorimetrie von H g ( S 0 3 ) ) , durch Einbringung der Luft in eine reduzierende Flamme (2S0 2 + 4H 2 ^ S 2 + 4 ^ 0 ; Messung der Lichtemission von angeregtem S 2 ), durch Analyse der S0 2 -Fluoreszenz bei 241 nm. Derivate Ersetzt man in Schwefeldioxid ein Sauerstoffatom 0 durch die gleichfalls zweiwertige Imidgruppe NH, so gelangt man zum „Thionylimid" 0 = S = N H , das man bei der Umsetzung von Thionylchlorid S0C12 mit 3 mol Ammoniak inder Gasphase erhält:0SCl 2 + 3NH 3 0SNH + 2NH 4 Cl.Thionylimid 0 = S = N H (das auch in einer isomeren Form als ,,Thiazylhydroxid'' H 0 — S = N vorkommt) stellt bei Zimmertemperatur ein farbloses, bei Drücken unterhalb 20 mbar beständiges Gas dar, das zu einer farblosen, bei — 85 0 C gefrierenden, sich nach kurzer Zeit zu festem dunkelbraunem ,,Polythionylimid'' [—NH—S0—NH—S0—NH—S0—] polymerisierenden Flüssigkeit verdichtet werden kann. (Bezüglich tetramerem (0SNH) 4 vgl. S. 606). Man kennt auch organische und anorganische Derivate des Thionylimids wie 0 = S = N R , 0 = S = N C l , 0 = S = N K , wobei die Alkalimetall-thionylimide M*NSO zur Einführung der NS0-Gruppe in Elementhalogenide dienen können, z. B. Bildung von Y(NS0) 2 mit Y = S, Se, Te (vgl. S. 611). Ein Schwefeldiimid H N = S = N H ist nur in Form von Derivaten R N = S = N R (R z. B. organischer Rest, Silylgruppe, Kalium) bekannt.
48 Literatur W.A. Schenk: ,,Schwefeloxide als Liganden in Koordinationsverbindungen'''', Angew. C h e m 99 (1987) 101-112, Int. E d 26 (1987) 98; S.E. Livingstone: ,,Sulfur containing LigandsComprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 634-659; K . K . Pandey:,,Coordination Chemistry of Thionitrosyl (NS), Thiazate (NSO~),Disulfidothionitrate (S3N~), Sulfur Monoxide (SO, andDisulfur Monoxide (S20) Ligands", Progr. Inorg. C h e m 40 (1992) 445-502. 49 Weitere Beispiele für SO2-Komplexe: (e) n 1 -Schwefel (planar): [ M n C p ( C 0 ) 2 ( S 0 2 ) ] , [ R u C l ( N H 3 ) 4 ( S 0 2 ) ] + , [ C o L 2 ( N 0 ) ( S 0 2 ) ] ; (Q r| 1 -Schwefel ( p y r a m i d a l [ R h C l ( C 0 ) L 2 ( S 0 2 ) ] , [IrCl(C0)L 2 (S0 2 )]; (g) r) 1 -Schwefel (verbrückend): [ ( I r H ( C 0 ) 2 L ) 2 S 0 2 ] , [ ( I r L 2 ( C 0 ) L 2 ) 2 S 0 2 ] ; beide M-Atome können auch wie in [ F e 2 ( C 0 ) 8 ( S 0 2 ) ] , [ F e 2 C p 2 ( C 0 ) 3 ( S 0 2 ) ] , [Pd 2 Cl 2 (dppm) 2 (S0 2 )], [ P t 3 L 3 ( S 0 2 ) 3 ] durch eine Metallbindung verknüpft sein (h) r| 2 Schwefel-Sauerstoff (side-on): [Mo(C0) 3 (phen) 3 (S0 2 )], [ R u C l ( N 0 ) L ( S 0 2 ) ] . In den Komplexen (f) und (h) kann Sauerstoff seinerseits ein weiteres Fragment L n M binden.
2. Der Schwefel
573
Verwendung. Schwefeldioxid (mehrere hundertmillionen Jahrestonnen), das verflüssigt in Stahlflaschen oder Kesselwagen in den Handel kommt, dient u.a. zum Raffinieren von Erdöl. Die fäulnis- und gärungsverhindernde Wirkung von S O benutzt man zum Desinfizieren von Wein- und Bierfässern (,,Ausschwefeln"), Früchten und Säften (,,Schwefeln") und zur Vertilgung von Ungeziefer („Ausräuchern") usw., die reduzierende Wirkung zum Bleichen von Stroh, Seide, Wolle und anderen Stoffen, welche die Chlorbleiche nicht vertragen. Hauptverwendung findet S O zur Schwefelsäuredarstellung (s. dort). Darüber hinaus wird es zur Erzeugung schwefelhaltiger Chemikalien (Sulfite, Thiosulfate, Dithionite, Hydroxyalkansulfinate, Alkansulfinate) sowie zur Sulfochlorierung und Sulfoxidation von Kohlenwasserstoffen genutzt; auch findet es als Kühl- und nichtwässeriges Lösungsmittel Verwendung.
2.4.3
Schwefeltrioxid SO346
Darstellung Schwefeltrioxid k a n n nicht durch direktes Verbrennen von Schwefel an der Luft oder in Sauerstoffatmosphäre gewonnen werden S 8 + 1 ^ 0 2 -> SO 3 (g) + 396.0 kJ), da die bei der Verbrennung des Schwefels zu Schwefeldioxid freiwerdende bedeutende Wärmemenge (1) die Bildung des bei höheren Temperaturen endotherm in Schwefeldioxid und Sauersto zerfallenden Schwefeltrioxids verhindert £S 8 + 0 2 SO2+i02 ^
SO 2 + 297.0 k J , SO 3 (g) + 9 9 . 0 k J .
(1) (2)
Die Vereinigung von Schwefeldioxid und Sauerstoff nach (2) gelingt nur bei n i c h t a l l z u h o h e n T e m p e r a t u r e n (400-600°C). Wegen der in diesem Temperaturgebiet zu g e r i n g e n U m s e t z u n g s g e s c h w i n d i g k e i t müssen zur Reaktionsbeschleunigung K a t a l y s a t o r e n (z.B. Vanadiumoxide, Stickstoffoxide, Eisenoxide, Platinschwamm) angewandt werden. Das Verfahren wird technisch mit V 2 0 5 -Katalysatoren in großem Maßstabe bei der Schwefelsäurefabrikation durchgeführt (S. 583). Aus der hierbei zunächst gebildeten rauchenden Schwefelsäure („Oleum") wird S O durch Destillation und Verflüssigung der D ä m p f e gewonnen. Im Laboratorium gewinnt man Schwefeltrioxid als Anhydrid der Schwefelsäure durch Entwässern von Schwefelsäure (Erwärmen von konzentrierter Schwefelsäure mit Phosphorpentaoxid als wasserentziehendem Mittel H 2 SO 4 -> H 2 0 + S O ) , durch Destillation von rauchender Schwefelsäure oder durch Erhitzen von Hydrogensulfaten (z.B. Natriumhydrogensulfat NaHSO), Disulfaten (z.B. Natriumdisulfat Na 2 S 2 0 7 ) oder Sulfaten (z.B. Eisen(III)-sulfat Fe 2 (SO 4 ) 3 ): 2MHSO
—Hz
° ' M2S207
SO3 + M 2 SO 4
2 S 0 3 + M 2 O.
Physikalische Eigenschaften Schwefeltrioxid kommt in drei Modifikationen, einer ,,eisartigen" und zwei ,,asbestartigen" Formen, vor. Kühlt man Schwefeltrioxiddampf auf — 80 °C oder noch tiefer ab, so kondensiert er sich zu einer eisartig durchscheinenden, bei 16.86 °C schmelzenden und bei 44.45 °C siedenden Masse (y-SO3; rf = 1.903 g/cm3 bei 25 °C), welche im festen Zustande hauptsächlich aus (SO3)3-Molekülen, im flüssigen Zustande aus (SO3)3- und SO-Molekülen und im Dampfzustande hauptsächlich aus SO-Molekülen besteht (126 kJ + (SO 3 ) 3 3S0 3 ). Bewahrt man das Schwefeltrioxid längere Zeit unterhalb Raumtemperatur auf, so wandelt es sich - verursacht durch geringste Wasserspuren - in die beständigeren asbestartigen Formen (jö-SO3, a - S O ) um, weiße seidenglänzende, verfilzte Nadeln der Molekulargröße (SO3)„ und (SO 3 ) p ^ > n > 3), die bei der Destillation wieder in die niedriger schmelzende eisartige y-Modifikation übergehen. Das feste Schwefeltrioxid des Handels ist ein Gemisch von a- und jS-SO3. Es schmilzt bei 32-40°C (jS-SO3; Smp. 32.5°C, a-SO 3 : Smp. 62.2°C; in beiden Fällen unter Depolymerisation zu (SO3)3 und S O ) . Dem flüssigen Schwefeltrioxid des Handels ( y - S O ) sind zum Schutz vor Polymerisation Stabilisatoren (z.B. Borsäure, Thionylchlorid) zugefügt. Die Bildungsenthalpien betragen — 396 (gasf. S0 3 ), — 437.9 (flüssiges S O ) , — 447.4 (y-SO), — 449.6 (j8-SO3), — 462.4 kJ/ mol (a-SO3). Struktur. Das monomere Gasmolekül S O ist im Sinne des VSEPR-Modells (S. 313) trigonal-planar gebaut (a) (D3h-Symmetrie; OSO-Winkel 120°). Der SO-Abstand entspricht mit 1.43 Ä (ber. für Einfach/Doppelbindung 1.70/1.50 Ä) sowie die SO-Dissoziationsenergie mit ca. 350 kJ/mol einer Doppelbindung. Der Bau des SO-Moleküls folgt sowohl aus einer VB-Betrachtung (vgl. Mesomerieformel auf S. 153 mit sp-hybridisiertem S-Atom, in kurzer Schreibweise (a)), als auch aus einer MO-Studie (24 Valenzelektronen, vgl. S.357). Der kurze SO-Abstand geht wie bei S O (S.571) auf kovalente und elektrovalente Bindungsanteile zurück (Ordnung 1.33 der Kovalenz; deutliche Elektrovalenz aufgrund des Elektrone-
574
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
gativitätsunterschieds zwischen O und S: AEN = 1.06). Wie im Falle von S O bringt man die Bindungssituation in S O vielfach durch die Valenzstrichformel (a') zum Ausdruck (vgl. hierzu das bei S O Besprochene). Analog formuliert man SO3-Derivate, z. B. R 2 S(=O) 2 (S. 590) sowie R N = S ( = O ) 2 / ( R N = ) 2 S = O / (RN=) 3 S (s. u.; R = anorganischer, organischer Rest), wobei allerdings für Sulfurylverbindungen R2SO2, in welchen das S-Atom vier SO2~) in Freiheit zu setzen. 0 1 0—s—0 11 0
2-
(d) SO 3 • O 2 - = S O 4 -
0
H
1 I O—S—N—H I I O H (e) S O 3 N H 3
0 0 0 1 I I o—s—o—s—o—s—o I I I O
O
O
(f) 2SO 3 • S O | - = S3O!20
Im Addukt (g) von Wasser mit Schwefeltrioxid ist - laut Schwingungsspektrum einer Tieftemperaturmatrix bzw. Rotationsspektrum eines Dampfes von S O • H 2 0 - ein H2O-Molekül mit normaler Geometrie (S. 529) über eine langet—O-Bindung (2.453 Ä) an ein leicht pyramidalisiertes SO3-Molekül (Winkelsumme an S 334°) gebunden. Hierbei sind die H-Atome des H2O-Moleküls überraschenderweise von den O-Atomen des SO3-Moleküls abgewandt, was eine Übertragung eines Protons unter Bildung von Schwefelsäure H2SO4 erschwert. Tatsächlich kann letztere gar nicht erfolgen, da £ a für diesen Prozess (ca. 114 kJ/mol) größer ist als AH{ für die Adduktbildung (ca. — 33 kJ/mol), womit eine Energiezufuhr zur Adduktspaltung in S O und H 2 O führen muss. Erst nach Anlagerung eines weiteren H2O-Moleküls an S O • H O (g) unter Bildung von S O • (H2O)2 (h) ist eine energiegünstige Verschiebung zweier Protonen unter Bildung von hydratisierter Schwefelsäure H2SO4 • H 2 0 = H 3 0 + H S ^ auf dem Wege über den Zwischenzustand (i) möglich (AHfür die Bildung von (i) aus S O und (H2O)2 (vgl. S. 529) beträgt ca. — 110 kJ/ mol, für die Umlagerung von (i) in H2SO4 • H O ca. 96 kJ/mol). Tatsächlich reagieren H2O- mit SO3Molekülen in der Gasphase bei Raumtemperatur und darunter (Bedingungen in der Atmosphäre, S. 522) auf dem Wege einer O-Dimerisierung mit sich anschließender Addition von (H O) an SO zu Schwe felsäure, deren Bildung aus S O somit unerwartet komplex verläuft.
2. Der Schwefel
H
v-H
H
9 a
f
.H o"
H
2.331 Ä
: 2.453 Ä
575
1.837 Ä
...H
;i-o
-O
o
er
O
O
(g) S O 3 H 2 O
O'
(h) S O y (H2O) 2
(i) Übergangszustand H S O 4 H 3 O für ( h ) — H 2 S O4 -H 2 O
Redox-Verhalten. S 0 3 ist ein starkes O x i d a t i o n s m i t t e l und führt z.B. S 8 in S O , SC19 in SOC12 und S O C 2 , PC1 3 in POC1 3 , P 4 in P 4 0 1 0 , H I in I 2 H S in S 8 über (vgl. auch Kationen der Halogene und Chalkogene). Die Reduktion mit Metalloxiden (insbesondere F e 3 0 4 ) wird in der Technik zur Entfernung von S O aus Rauchgasen genutzt (vgl. S. 711). Derivate Ersetzt man in Schwefeltrioxid ein S a u e r s t o f f a t o m O durch die gleichfalls zweiwertige Imidgruppe NH, so gelangt man zum Sulfurylimid (Sulfimid) O 2 SNH, das bei der Einwirkung von trockenem Ammoniak auf Sulfurylchlorid bzw. Schwefeltrioxid (O2SC12 + 3NH 3 ^ 0 2 SNH + 2NH 4 Cl; H 2 O) neben Sulfurylamid (Sulfamid) O 2 S(NH 2 ) 2 in trimerer (k) sowie tetSO NH ramerer (l) Form entsteht (vgl. trimeres SO)- Die am Stickstoff gebundenen Wasserstoffatome zeigen sauren Charakter (z.B. p ^ ^ für (O 2 SNH) 3 = 1.7/2.1/4.4). So bildet das (trimere bzw. tetramere) Sulfurylimid Salze wie (SO2NNa)n und (SO2NAg)n (« = 3, 4; aus (SO2NAg)3 lässt sich über (SO2NSiMe 3 ) 3 reines, farbloses (SO 2 NH) 3 gewinnen). Bei Gegenwart von Schwefelsäure polymerisiert sich das cyclische Sulfurylimid zu kettenförmiger Sulfurylimidsulfonsäure HO3S—(SO2NH)X—OH. Thionyldiimid OS(NH)2 und Schwefeltriimid S(NH)3 sind nur in Form von Derivaten wie (m) bekannt (z. B. entsteht farbloses S(N*Bu)3 (tBu = C M 3 ) auf dem Wege über S(N/Bu)2", das aus S(N*Bu)2 und NtBu2~ (eingesetzt als Li2N/Bu) gewonnen wird und durch Oxidation mit I2 oder Br2 über das blaue Radikalanion S ( N B ^ " in das Schwefeltriimid überführbar ist; bzgl. der Bindungsverhältnisse vgl. S0 3 ).
o2
H
N. 02S
so2
HN
NH
I
I o2
(k) (O2SNH)3
HN—S—NH
I
I
I
I
o2s
so2
HN —S—NH
o2
(l) (O2SNH) 4
NR RN=S NR (R z.B. CMe 3 , SiMe 3 ) (m) S(NR) 3
Verwendung S O dient zur Herstellung von Schwefelsäure und anderen Schwefelverbindungen (Chlorsulfonsäure, Thionylchlorid, Aminosulfonsäure, Dimethylsulfat usw.) und zur Sulfonierung organischer Substanzen (insbesondere in der Waschmittelindustrie).
2.4.4
Niedere Schwefeloxide46
Polyschwefelmonoxide SnO und -dioxide S n 0 2 . Gelbes S s O liegt in einer bei — 50 0 C haltbaren, durch Einleiten von S2O/SO erhaltenen Lösung vor (SO/SO entsteht beim Verbrennen von Schwefel in Sauerstoff bei 15 mbar). Bei der Einwirkung von Trifluorperoxoessigsäure C F ^ O H auf Schwefel Sn (n = 6-10) in Kohlendisulfid bzw. Methylenchlorid bei niedrigen Temperaturen (—10 bis — 400C) entstehen gemä S„ + CFCO(OOH^ ^ „ O + CFCO(OH) kristalline Oligoschwefelmonoxide S„O in kleinen Ausbeuten orangefarbenes a-S 6 0: Smp. 39 0C (Zers.); dunkelorangefarbenes ß-SeO: Smp. 34 0C (Zers.); orangefarbenes S7O: Smp. 55 0 C (Zers.); orangegelbes SsO: Smp. 78 0 C (Zers.); dunkelgelbes S 9 0: (Zers. 33-34°C); orangefarbenes S10O: Zers. 510C). S 7 O lässt sich durch weitere Einwirkung von C F ^ O H in HeptaschwefeldioxidSfö2 umwandeln (dunkelorangefarbene Kristalle: Zers. 60-62 0 C; auch aus S 8 und C^CO(OOH) erhältlich). Bei der Umsetzung von S 6 mit CFCO(OOH) entstehe wohl über S 6 0 2 - letztendlich S 10 und SO2. Erwähnt sei hier noch der Wackenroder Schwefel (SnO)x (goldgelb), der als Polyschwefelpolyoxid (n > 2) zu klassifizieren ist (vgl. S. 598). Die erwähnten Schwefeloxide S„O und S„0 2 leiten sich strukturell von den entsprechenden Schwefelringen Sn durch Hinzufügen eines oder zweier exocyclischer Sauerstoffatome ab und haben im Falle von S 6 O, S7O, S 8 O und S 7 0 2 die Strukturen (n)-(r):
576
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Die bei tiefen Temperaturen haltbaren, lichtempfindlichen Oxide SnO zersetzen sich bei Raumtemperatur langsam (im Falle von S 5 O rasch) auf dem Wege über SmO (m > n) und S O letztendlich unter Bildung von polymerem sowie cyclischem Schwefel und S O . Durch Iodwasserstoff werden die Schwefeloxide zu Schwefel reduziert (z.B. S 8 0 + 2HI ^ S 8 + I 2 + H 2 O), was sich zur quantitativen Bestimmung der Verbindungen nutzen lässt. Mit SbCl5 liefern S 8 O und S 6 O in CS2 bei — 50 0 C die Addukte S 8 O • SbCl5 und S 1 2 0 2 • 2SbCl 5 • 3CS 2 (beide Addukte orangefarben mit SbCl 5 -Koordination am Sauerstoff; bei Raumtemperatur zerfällt S 8 O • SbCl5 rasch in S 8 , SbCl3 und SOC12). Dischwefelmonoxid S 2 0 und Trischwefelmonoxid S 3 0 . 96-100% reines, gasförmiges S 2 O wird (neben 4 - 0 % S O ) beim Überleiten von Thionylchloriddampf (Druck: 0.1-0.5 mbar) über trockenes gepulvertes Silbersulfid bei 160 0 C erhalten: Ag 2 S + SOCl2
2AgCl + S 2 O.
Bei der partiellen Verbrennung von Schwefel in reinem, strömendem 0 2 (5-15 mbar) entsteht S 2 O neben S O in maximal 32%iger, bei der Umsetzung von Schwefel mit CuO bei 250-400 0 C im Vakuum in maximal 40 %iger Ausbeute. S O ließ sich durch Neutralisations-Reionisations-Technik im Massenspektrometer als kurzlebige Spezies (t1/2 f> 1 jis) nachweisen (Bildung: O 3 + +COS SO + + 0 2 + CO; SO++2COS -> S 3 Q + + 2CO; S 3 0 + + X e -> S 3 0 + Xe + ). - Strukturen. Das S 2 O-Molekül (s) ist wie 0 3 (S. 506), S O (S. 571) und S 3 (S. 551) gewinkelt, das S 3 O-Molekül (t) wie S 4 (S. 551), S 2 0 2 (s. u.) und wohl auch 0 4 (S. 514) kettenförmig mit endständigem Sauerstoff gebaut (eis- oder trans-Form):
03
SO2
(s) S 2 O
S3
cis-S 3 O
(t)
trans-S3O
Der SS-Abstand in S 2 O (s) entspricht einer Doppelbindung (gef. 1.884, ber. 1.88 Ä), ebenso der SOAbstand (gef. 1.465, ber. 1.50 Ä). Der SSO-Winkel beträgt 118.0°. Das farblose Dischwefeloxid S 2 O ist nur in der Gasphase bei Drücken < 1 mbar einige Tage haltbar und polymerisiert bei höheren Drücken bzw. beim Abschrecken an kalten Flächen bzw. beim Einleiten in ein Lösungsmittel bzw. bei höheren Temperaturen rasch unter Herausspalten von S O zu gelben bis orangefarbenen Polyschwefeloxiden (SBO)X (n = 2 bis sehr groß):
die ihrerseits oberhalb 150 °C weiter in S O und Schwefel zerfallen. Mit Wasser reagiert S 2 O unter Bildung von Schwefel, Schwefelwasserstoff und S O . Mit Laugen entsteht Sulfit, Sulfid und Thiosulfat. Mit H a l o g e n e n wird nach S 2 0 + 2C12 SOC12 + SC12 Thionylchlorid und Schwefeldichlorid gebildet. 50 Schwefelmonoxid SO, Dischwefeldioxid S 2 0 2 und Dischwefeltrioxid S 2 0 3 . Die Oxide SO und S 2 0 2 entstehen neben S 2 O, wenn man strömendes Schwefeldioxid bei niedrigen Drücken (0.1-0.2 mbar) der M i k r o w e l l e n e n t l a d u n g aussetzt (Molverhältnis der gebildeten Oxide SO : S 2 0 2 : S 2 O ca. 5 : 1 : 1). Darüber hinaus bildet sich gasförmiges SO neben anderen Schwefeloxiden durch Verbrennen von Schwefel in reinem Sauerstoff bei vermindertem Druck (|S 8 + \ 0 2 SO + 64 kJ), gelöstes SO bei der Thermolyse einiger cyclischer organischer Sulfoxide. Das farblose Oxid SO, das in der Atmosphäre 5 0 Von den instabilen Schwefeloxiden sind Komplexe 49 bekannt. Schwefelmonoxid kann hierbei mit einer, zwei oder drei Einheiten L n M verknüpft sein: Bildung von L n MSO (formal SO 2 -Derivat mit gewinkeltem Schwefel, z.B. in (R 3 P) 2 ClMSO mit M = Rh, Ir), von (L n M) 2 SO (formal C1 2 SO-Derivat mit pyramidalem Schwefel wie in [ P h 2 P C H 2 P P h 2 ) ( C O ) R h ] 2 S O oder auch SO 3 -Derivat mit planarem Schwefel wie in [ C p ( C O ) 2 M n ] 2 S O ) , von ( L W M ) 3 S O (formal C1 2 SO 2 -Derivat mit tetraedrischem Schwefel, z.B. in Fe 3 (CO) 9 S(SO)). Beispiele für Komplexe des Dischwefelmonoxids und -dioxids sind die durch Oxidation von (dppe) 2 IrS 2 (side-on gebundes S 2 ) mit Periodat erhältlichen sauerstoffreicheren Produkte (dppe) 2 IrS 2 O und (dppe) 2 IrS 2 0 2 (es sind jeweils die beiden S-Atome mit Ir verknüpft; dppe = P h 2 P C H 2 C H 2 P P h 2 ) .
2. Der Schwefel
577
des Jupitermondes Io vorkommt, ist in der Gasphase bei Drücken von 0.01 mbar nur weniger als 1 s haltbar (Nachweis gemäß PhN3 + SO -> PhNSO + N2) und disproportioniert nach 2SO -> SO2 + S wahrscheinlich auf dem Wege: 2SO S 2 0 2 ; S 2 0 2 + SO S 2 0 + SO; 2S 2 0 SO2 + S3 (gasförmiges S 2 0 2 ist bei 0.1 mbar mehrere Stunden haltbar). Das im Massenspektrometer durch Elektronenbeschuss aus SO erzeugbare Kation SO+ reagiert mit S O zum Kation S203+, das sich zu S 2 0 3 neutralisieren lässt (%Vj > 1 ns: S 2 0 3 -> SO + SO2 + 70 kJ; £ a ca. 25 kJ/mol). Strukturen Das Molekül SO ist wie 0 2 und S 2 paramagnetisch (Triplett-Grundzustand) und weist eine für eine Doppelbindung sprechende Dissoziationsenergie und Bindungslänge auf (zur elektronischen Struktur vgl. S. 354). Das Molekül S 2 0 2 bildet eine gewinkelte planare Kette OSSO (C2v-Symmetrie); die Abstände sprechen für das Vorliegen von SO-Doppelbindungen sowie SS-Bindungen mit partiellem Doppelbindungscharakter. S 2 0 3 (Triplett-Zustand) ist gewinkelt-kettenförmig gebaut: O—S—O—S—O. S—.S o2 dOO = 1.207 DEOO = 499
SO dSO = 1.481 DESO = 552
S2 dSS = 1.887 Ä DESS = 429 kJ/mol
O o dSO = 1.458 dSS = 2.025 Ä £OSS = 112.7°
Sauerstoffsäuren des Schwefels 35 '
2.5
Überblick
2.5.1
Systematik. Schwefel bildet drei Sauerstoffsäuren der allgemeinen Formel H 2 SO„ (n = 3, 4 und 5), sechs Sauerstoffsäuren der Zusammensetzung H 2 S 2 O n (n = 3, 4, 5, 6, 7 und 8) und mehrere Säuren der Stöchiometrie H 2 S „ 0 3 , H 2 S „ O s sowie H 2 S „ 0 3 „ + 1 mit drei und mehr Schwefelatomen pro Molekül (H 2 SO„ und H ^ O , , mit « = 1,2 treten nur als Reaktionszwischenprodukte auf, existieren aber in F o r m organischer Derivate). Ihre N a m e n und die N a m e n ihrer Salze gehen aus Tab. 65 hervor, in der die einzelnen Schwefelsäuren nach steigender Oxidationsstufe des Schwefels geordnet sind. Mit Ausnahme der e i n b a s i g e n P e r o x o schwefelsäure sind sie alle z w e i b a s i g . Ihre S t ä r k e wächst innerhalb der Mono- bzw. Dischwefelsäuren mit zunehmendem n; bei gleicher Oxidationsstufe von S wirken Dischwefelsäuren saurer als Monoschwefelsäuren Als zweibasige Säuren bilden Schwefelsäuren H2SmO„ Salze des Typs M'HSmO„ und M2SmO„ (bei Ausschluss von Wasser ist auch das zweite Wasserstoffatom von H 2 SO 5 z.B. bei der Einwirkung von Na oder NaH durch Metall ersetzbar). Die den Salzen zugrundeliegenden Sulfat-Anionen S m v e r mögen ihrerseits als Liganden in Komplexen zu fungieren (vgl. S. 589, 596). Strukturen. Die K o n s t i t u t i o n der Säuren H2SO„ ( n = 2-5) und H 2 S 2 O n ( n = 3-8) bzw. ihrer Salze kann durch die folgenden Komplexformeln wiedergegeben werden (vgl. hierzu das auf S. 152 Besprochene und bezüglich der Strukturen der Säuren bei diesen): -
-
2-
2-
O S O
O
"
2"
O S O
"
o " SSO _ o . Thiosulfat 51
2-
2-
"O O S S _O O Dithionit
Sulfit O O O S S _ O O Disulfit "
2-
"
"
2-
"
o2 . o _ Peroxosulfat
o . Sulfat
O O O S S o _ O O Dithionat "
O
o
O S O
. Sulfoxylat
O
s
O o s OSO O _ O Disulfat "
O
2-
O O o s o2 s o O _ O Peroxodisulfat "
Literatur. ULLMANN: ,,Sulfamic acid and derivatives",,,Sulfinic acids", „Sulfites, Thiosulfates, Dithionites",,,Sulfones and Sulfoxides", ,,Sulfonic acids", ,,Sulfuric acid and Sulfur trioxide", A25 (1994); ,,Fluorosulfuric Acid", A l l (1988) 431-434;,,Chlorosulfuric Acid" A7 (1986) 17-21; A.W. Jache: ,, Fluorosulfuric Acid, its Salts and Derivatives", Adv. Inorg. Radiochem. 16 (1974) 177-200; E. Buncel: „Chlorosulfates", Chem. R e v 70 (1970) 323-337; J . K . Brask, T. Chivers: „Imido-Analoga einfacher Oxoanionen: ein neuer Abschnitt in der Chemie der Clusterverbindungen", Angew. C h e m 113 (2001) 4082-4098; Int. E d 40 (2001) 3960.
578
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Tab.65
Sauerstoffsäuren des Schwefels.
Oxid.stufe Formel
Säuren des Typus H SO Name Salze
+2
Sulfoxylsäurea) Schwefel(II)-säure
H2SO2
H2SO3
Säuren des Typus Name
Sulfoxylatea) H2S203b> Thioschwefelsäure Sulfate(II) Dischwefel(II)-säure
+3 +4
Formel
Schweflige Säure Sulfite Schwefel(IV)-säure Sulfate(IV)
+5
Salze Thiosulfate Disulfate(II)
H2S2O4
Dithionige Säure Dischwefel(III)-säure
Dithionite Disulfate(III)
H2S2O5
Dischweflige Säure Dischwefel(IV)-säure
Disulfite Disulfate(IV)
H2S206b> Dithionsäure Dischwefel(V)-säure
Dithionate Disulfate(V) Disulfate Disulfate(VI)
+6
H2SO4
Schwefelsäure Sulfate Schwefel(VI)-säure Sulfate(VI)
H2S2O7C) Dischwefelsäure Dischwefel(VI)-säure
+ 6d)
H2SO5
Peroxoschwefel(Vl)-säure
H2S2O8
Peroxo sulfate(VI)
s2o„
Peroxodischwefel(VI)- Peroxodisul säure fate(VI)
a) H 2 S 0 2 könnte auch als Hyposchweflige Säure (Salze Hyposulfite) bezeichnet werden. - b) Man kennt darüber hinaus schwefelreiche Säuren (Polysulfanmonosulfonsäuren und -disulfonsäuren) der Zusammensetzung H 2 S „ 0 3 und H 2 S „ 0 6 (vgl. S. 598). - c) Man kennt darüber hinaus höhere Schwefelsäuren (Polyschwefelsäuren) wie Trischwefelsäure H 2 S 3 O 1 0 , Tetraschwefelsäure H 2 S 4 0 1 3 . - d) Die Verbindungen enthalten Peroxogruppen —O—O— mit der Oxidationsstufe —1 (statt sonst — 2) des Sauerstoffs.
Ersichtlicherweise enthalten unter den Dischwefelsäuren H 2 S 2 O n bis auf die beiden höchsten Glieder (n = 7, 8) alle S—S-Bindungen. (Bezüglich der Struktur der Schwefelsäuren mit gewinkeltem, pyramidalem bzw. tetraedrischem Schwefelatom vgl. bei den betreffenden Säuren.) Mehr als vier O-Atome vermag das S 2 "-Ion nicht anzulagern (S. 152), da es nur vier freie Elektronenpaare besitzt. Beim Übergang vom Sulfat zum Peroxosulfat wird daher der Sauerstoff nicht an den Schwefel, sondern an den Sauerstoff des Sulfat-Ions angelagert: [0 3 S—O—0] 2 ~. Die so entstehende O—O-Gruppierung wird,,Peroxo-Gruppe" genannt. Man muss demnach zwischen O—Ofreien Per-Verbindungen (z.B. Perchlorat QO4) und O—O-haltigen Peroxo-Verbindungen (z.B. Peroxosulfat S O ^ ) unterscheiden. In entsprechender Weise vermag das S 2 ~-Ion nicht mehr als sechs O-Atome anzulagern. Beim Übergang von S2C>2~ zu S2C>2~ und S2C>2~ wird daher in die S—S-Bindung eine Oxo- bzw. Peroxo-Gruppe eingelagert. Von einzelnen der oben wiedergegebenen Schwefelsäuren leiten sich weitere Säuren dadurch ab, dass ein S a u e r s t o f f a t o m des Moleküls durch ein Schwefelatom ersetzt ist. Auf diese Weise kommt man z.B. vom Sulfat SO2~ zum Thiosulfat S2C>2~ (s. oben) und vom Disulfat S2C>2~ zum Trithionat [O3SSSO3]2~. Die beiden letzteren Säuren H 2 S 2 0 3 und H 2 S 3 0 6 vermögen noch weiteren Schwefel anbzw. einzulagern, wobei die Polysulfan-monosulfonsäurenH2SnO 3 (S. 598) sowie die Polysulfan-disulfonsäuren (Polythionsäuren) (S. 598) entstehen. Darstellung. N u r fünf der genannten Sauerstoffsäuren, nämlich Schwefelsäure, Dischwefelsäure, Peroxoschwefelsäure, Peroxodischwefelsäure und Thioschwefelsäure sowie die Polythionsäuren sind in f r e i e m Z u s t a n d e isolierbar; die übrigen kennt m a n nur in w ä s s r i g e r L ö s u n g oder in F o r m von S a l z e n . Besonders wichtig sind die Schweflige Säure sowie die Schwefelsäure, die aus ihren A n h y d r i d e n S O sowie S O dargestellt werden: SO 2 + H2C>
H2SO3;
S03 + H 2 0
H2SO4.
Von diesen Säuren ausgehend, ist die n ä c h s t n i e d e r e Oxidationsstufe (Thionige Säure sowie Thionsäure) durch R e d u k t i o n , die n ä c h s t h ö h e r e Oxidationsstufe (Thionsäure sowie Peroxodischwefelsäure bzw. hieraus durch Hydrolyse die Peroxomonoschwefelsäure) durch O x i d a t i o n und die Disäuren g l e i c h e r Oxidationsstufe (Dischweflige Säure sowie Dischwefelsäure) durch Kondensation (Wasserentzug) gewinnbar.
2. Der Schwefel Reduktion: 2502 + 2© 2503 + 2©
S20^S202~
Kondensation: 2HSO 3 " ^ S 2 0 2 5 ~ + H 2 O 2HSO 4 " S202^H2O
579
Oxidation: 2SO^ S20^-+2© 2SO2S202-+2©
Die SulfoxylsäureH2SO2 lässt sich nicht analog den Monoschwefelsäuren H 2 S O und H 2 S O 4 aus dem Oxid gleicher Oxidationsstufe (SO) und Wasser darstellen. Entsprechend wirkt S 2 0 - wie SO und zum Unterschied von S O und S O _ nicht das Anhydrid der Thiosehwefligen Säure H 2 S 2 0 2 (zur Darstellung von H 2 S 2 0 2 vgl. S. 593). Nachfolgend sind Potentialdiagramme einiger Oxidationsstufen des Schwefels für pH = 0 und 14 wiedergegeben (vgl. Anh.VI), denen zu entnehmen ist, dass die O x i d a t i o n s k r a f t der Schwefelsauerstoffsäuren bzw. ihrer Anionen - wie erwartet - in saurer Lösung, die R e d u k t i o n s k r a f t in alkalischer Lösung größer ist (stärkstes Oxidationsmittel: Peroxodisulfat, gefolgt von Dithionit; stärkstes Reduktionsmittel: Dithionit gefolgt von Sulfit):
Wie aus dem Diagramm zudem folgt, lässt sich Schwefel ähnlich wie die Halogene (S. 464) nur in alkalischer, nicht dagegen in saurer Lösung in Schwefel ( — II) und Schwefel ( + II) bzw. Schwefel ( + IV) bzw. Schwefel( + VI) disproportionieren (S.229). Tatsächlich entsteht beim Kochen von Schwefel in AlkalilaugeThiosulfatundPolysulfid:2S 8 + 4OH" S2C>2- + H 2 0 + 2S 7 H~(-> Polysulfidgemisch). Die Disproportionierung von Thiosulfat S 2 02- (Oxidationsstufe + II) in die Oxidationsstufen + IV und 0 erfolgt umgekehrt nur in saurem, nicht dagegen in alkalischem Medium (in letzterem Falle Komproportionierung von S 8 und SO2-; vgl. S. 548). Dithionit, Sulfit und wohl auch Dithionat vermögen sowohl in saurer als auch in alkalischer Lösung zu disproportionieren, während Sulfat unter jeder Bedingung disproportionierungsstabil ist
2.5.2 Schweflige Säure H 2 S0 3 und Dischweflige Säure H 2 S 2 0 5 51 Löst m a n S c h w e f e l d i o x i d in Wasser auf, so erhält m a n eine ausgesprochen s a u e r reagierende, den elektrischen Strom leitende Lösung: SO
SO
Die sauren Eigenschaften sind dabei auf gebildete S c h w e f l i g e S ä u r e H 2 S O 3 zurückzuführen. Allerdings liegt das Gleichgewicht im Gegensatz zum analogen S O / H 2 O - G l e i c h g e w i c h t (s. u.) ganz auf der l i n k e n Seite, sodass fast alles gelöste Schwefeldioxid als u n v e r ä n d e r t e s SO 2 bzw. hydratisiertes S O vorliegt ( S O • H 2 0 H2SO3; ^ 10-9) und nur geringe Mengen in F o r m der (infolge der Verdünnung weitgehend dissoziierten) Säure H 2 S O vorhanden sind. Beim Erwärmen (Einengen) der Lösung entweicht das im Gleichgewicht befindliche Schwefeldioxid, worauf sich das gestörte Gleichgewicht immer wieder neu einstellt. Beim Abkühlen kristallisiert das Gashydrat (s. dort) , , S O • 5 J H 2 O " aus. Daher gelingt es n i c h t , aus der wässerigen Lösung die w a s s e r f r e i e S ä u r e H 2 S O zu isolieren. Saure Eigenschaften Als z w e i b a s i g e S ä u r e dissoziiert die Schweflige Säure in 2 Stufen: H 2 S O 3 S0 2 . Hierzu setzt man flüssigen, auf 140-150°C erhitzten und in Druckzerstäubern, Zweistoffbrennern oder Rotationszerstäubern fein verteilten „Schwefel" in Brennkammern mit trockener Luft um (flüssiger Schwefel hat bei 150° C ein Viskositätsminimum). Daneben sind in Gebrauch: (ii) „Abrösten von Sulfiden", d.h. Erhitzen von Sulfiden wie „Pyrit" FeS2, „Kupferkies" CuFeS2, „Bleiglanz" PbS oder „Zinkblende" ZnS unter Luftzutritt auf 700-900 °C in Etagen-Drehrohr- oder Wirbelschichtöfen54, z.B. 2FeS 2 + 5 | 0 2 -> Fe 2 0 3 + 4S0 2 (vgl. S.570; Verhältnis der S0 2 -Produktion durch Verbrennen von Schwefel bzw. Rösten von Sulfiden in der Welt ca.2:1). - (iii) „ Verbrennung von Schwefelwasserstoff" insbesondere aus dem Kokereiprozess: H 2 S + i\02 -> H 2 0 + S0 2 (vgl. S. 558). - (iv) „Spalten von Sulfaten" wie „Gips" CaS0 4 • 2 H 2 0 aus der H 3 P0 4 -Gewinnung bzw. Rauchgasentschwefelung (S. 570) oder wie „Eisenvitriol" F e S 0 4 ^ 7 H 2 0 aus der TiO2-Herstellung (s. jeweils dort): CaS0 4 -> CaO + S0 2 + \ 0 2 bzw. 2FeS0 4 ^ Fe 2 0 3 + 2S0 2 + i 0 2 . Hierzu wird CaS0 4 • 2 H 2 0 nach Überführen in Anhydrit CaS0 4 in Anwesenheit von Koks und tonigen Zuschlägen auf 700-1200 °C (Müller-KühneVerfahren, S. 1251), FeS0 4 • 7 H 2 0 nach Überführen in FeS0 4 • H 0 in 200 °C heißen Wirbelschichttrocknern54 bei hohen Temperaturen in Etagen-, Drehrohr- oder Wirbelschichtöfen54 zersetzt. - (v) „Spalten von Abfallschwefelsäure" aus Prozessen der Metall-, Petro-und organischen Chemie:H 2 S0 4 -> S0 2 + j 0 2 + H 2 0 . Hierzu wird die durch organische Stoffe verunreinigte Schwefelsäure nach ihrer Konzentrierung (mindestens 60 Massen-% H 2 S0 4 ) in reduzierender Rauchatmosphäre im Drehrohrofen (Bildung von Koks) oder in oxidierender Sauerstoffatmosphäre im gemauerten 0fen (Bildung von C0 2 ) bei ca. 1000 °C zersetzt. Zur energieaufwendigen, kostspieligen Konzentrierung von Abfallschwefelsäuren durch Venturi-Aufstärker, Tauchbrenner, Umlaufverdampfer, Plinke-Destillationskolonnen, Drum-Konzentratoren, Bayer-Bertrams-Fallfilmverdampfer und ihre Rückführung (nach Reinigung oder Spaltung) in die jeweiligen Produktionsprozesse zwingen in steigendem Maße ökologische Überlegungen. 2. Eine Reinigung des S0 2 /Luft-Gemischs ist im Falle der durch Schwefelverbrennung erhaltenen Gase nicht notwendig. In den übrigen Fällen können die Röstgase nicht direkt über den Kontakt geleitet werden, da sie Verunreinigungen enthalten, welche teils mechanisch („Flugstaub", der die Kontaktmasse bedeckt), teils chemisch (,,Kontaktgifte" wie Arsenverbindungen, welche den Kontakt vergiften) die Wirksamkeit des Katalysators herabsetzen oder lähmen. Sie müssen daher vor der Umsetzung noch einer
54 In Wirbelschichtverfahren, die heute vielfach bevorzugt werden, wird ein auf durchlöcherten, horizontal angeordneten Böden (,,Wirbelbett", ,,Schwebebett", ,,Fließbett") liegendes feinkörniges Stückgut durch einen von unten kommenden Gasstrom in der Schwebe gehalten. Derartige ,, Wirbelschichten" können wie Flüssigkeiten durch Öffnungen und Rohre strömen, auf Unterlagen fließen oder - bei höheren Teilchengeschwindigkeiten - als Flugstaub aus Behältern austreten. Letzterer Flugstaub kann über einen nachgeschalteten „Zyklon" 5 5 wieder in den Reaktor zurückgeführt werden (,,.zirkulierende Wirbelschicht"). Die große öberfläche des ,,Wirbelgutes" gewährleistet einen innigen Kontakt reagierender gasförmiger mit festen Phasen (z. B. Abrösten von FeS 2 ), ermöglicht die Umsetzung von Gasen an feinkörnigen Katalysatoren (z.B. katalytische Sö 2 -Verbrennung) und erleichtert das Trocknen von feinkörnigem Material (z.B. Entwässern von FeSÖ 4 • 7 H 2 0 vor seiner Spaltung in F e 2 0 3 und S 0 2 ) .
2. Der Schwefel
585
sorgfältigen Reinigung unterzogen werden. Zur Befreiung von Flugstaub bedient man sich meist der elektrischen Gasreinigung („Elektrofiltration"), indem man das im Zyklon 55 von grobem Staub befreite Gas durch ein starkes elektrisches Feld (50000 bis 80000 Volt) leitet, wobei sich die Staubteilchen durch Aufnahme der von der negativen Kathode („Sprühelektrode") ausgesandten Elektronen negativ aufladen und an der positiv geladenen Anode („Niederschlagselektrode") niederschlagen, die zum Abschütteln des Staubes mechanisch geklopft wird. Das Arsen wird bei dieser Entstaubung nur dann vollständig entfernt, wenn die Röstgase - die die elektrische Entstaubungsanlage mit 300-400 0 C verlassen - auf 60-80 0 C gekühlt und einer nochmaligen Gasreinigung unterworfen werden. 3. Umsetzung des SO 2 /Luft-Gemisches zu S Q . Das gereinigte Schwefeldioxid-Luft-Gasgemisch tritt nun in den Kontaktkessel ein, wo sich unter Wärmeentwicklung die Umsetzung von Schwefeldioxid und Sauerstoff zu Schwefeltrioxid - vgl. (2) - abspielt. Zur Verschiebung des Gleichgewichts (2) arbeitet man hierbei mit einem zwei- bis dreifachen Überschuß an Luftsauerstoff (1 bis 1.5 statt 0.5 mol 0 2 je mol S O , d.h. Luft: S 0 2 = 5 : 1 bis 8:1) und - da die Umsetzung unter Volumenminderung abläuft - gegebenenfalls bei erhöhtem Druck (5 bar im Falle des Ugine-Kuhlmann-Verfahrens). Besonders wichtig ist aber die Aufrechterhaltung einer sowohl hinsichtlich der Schwefeltrioxid-Ausbeute als auch hinsicht lich der Reaktionsgeschwindigkeit günstigen Temperatur. Es muss also bei der Umsetzung freiwerdende W ä r m e dauernd abgeführt werden, da sonst die Temperatur des Kontaktes steigt und die SchwefeltrioxidAusbeute damit sinkt (vgl. Fig. 153 a). Als Reaktoren benutzt man „Hordenkontaktöfen" (Fig. 153b), in denen die Katalysatormasse auf Rosten („Horden") schichtweise übereinander angeordnet ist. Bei neueren Anlagen haben die Öfen meist vier Kontaktschichten und drei dazwischen geschaltete Kühlzonen, in denen die Reaktionsgase teils durch Wärmeaustauscher, teils durch Zumischung kalter Luft gekühlt werden. Mit derartigen Anlagen sind Ausbeuten um 98 % erzielbar. Vorteilhafterweise werden die Reaktionsgase nach dem Durchgang durch die ersten drei Horden erst nach dem Auswaschen des gebildeten S O mit konz. H S O (s. unten) durch die vierte Katalysatorschicht gegeben („Doppelkontaktverfahren"). Diese Variante gewährleistet einen SO 2 -Umsatz von mehr als 99.5 % und trägt damit zugleich zur Reinhaltung der Luft bei Besonders effektvoll wird neuerdings S O und 0 2 in einem „Wirbelschichtreaktor"54 an einer Katalysator-Wirbelschicht umgesetzt (Abführung der Wärme mit Rohrkühlern im Reaktor).
S0 7 +0 2 100r
450°C^ 1. W ä r m e - ^ T 620°C austauscher
80-
2. Horde (90% Umsatz)
10 bar
60-
N H 4 S 0 4 H ) bzw. Na 2 S0 3 -Lösungen (-> N a H S Q ) gewaschen („Wellmann-Lord-Verfahren"); auch eine oxidative Adsorption von S0 2 an Aktivkohle (,,Sulfacid-Verfahren") bzw. eine SQ-Oxidation mit H 2 0 2 oder H 2 S 0 5 (,,Peracidox-Verfahren") ist möglich. Die Endgase des Doppelkontakt-Verfahrens müssen nicht gereinigt werden. Die Vereinigung des katalytisch gebildeten Schwefeltrioxids mit Wasser zu Schwefelsäure (S0 3 + H 2 0 —> H 2 S 0 4 ) kann nicht einfach so erfolgen, dass man das den Kontaktkessel verlassende Gasgemisch durch Wasser leitet, weil S 0 3 von H 2 0 nur langsam aufgenommen wird, sodass ein großer Teil des Schwefeltrioxids unumgesetzt entweicht. Dagegen nimmt konzentrierte (98%ige) Schwefelsäure das Schwefeltrioxid vollständig und momentan unter Bildung von Dischwefelsäure (Pyroschwefelsäure) H 2 S 2 0 7 auf (s. oben). Man verfährt daher so, dass man das Schwefeltrioxid in Füllkörperkolonnen durch 98%ige Schwefelsäure absorbiert (7) und durch Zufließenlassen von Wasser (Hydrolyse der gebildeten Dischwefelsäure und höheren Polyschwefelsäuren) die Schwefelsäurekonzentration konstant hält (8). Insgesamt ergibt sich damit die gewünschte Schwefelsäurebildung (3). SO
SO SO
S03 + H 2 0
H2S04.
SO
(7) (8) (3)
In den Handel gelangt die „Kontaktsäure" als ,,konzentrierte Schwefelsäure" (98%ige Schwefelsäure) oder als,,rauchende Schwefelsäure" (,,Oleum";,,Vitriolöl"), d.h. eine Schwefelsäure mit einem Überschuss an Schwefeltrioxid (7). Aus der rauchenden Schwefelsäure erhält man durch Destillation reines SO Bleikammerverfahren52. Statt durch Vanadiumoxide bei 500 °C in der Gasphase (Kontaktverfahren) wurde die Oxidation von S 0 2 mit Luft zu S 0 3 früher durch Stickstoffoxide bei 80 °C in Schwefelsäure katalysiert (Bleikammerverfahren). Die sauerstoffübertragende Wirkung von N Q kann dabei schematisch wie folgt wiedergegeben werden: N 2 0 3 + S0 2 ^ 2NO + S0 3 ; 2 N 0 + '/ 2 0 2 N 2 0 3 . Tatsächlich verläuft die Katalyse in H 2 S0 4 über N0 + -Kationen: N 2 0 3 + 2 H + ^ 2NO+ + H 2 0; N 0 + + S0 2 + H 2 0 ON—S03~ + 2 H ; NO + + ON—SO^ —» S0 3 + 2 N 0 ; 2NO + i / 2 0 2 N 2 0 3 (unerwünschterweisekann es hierbei auch zur Ablagerung von ,,blauer (violetter) Säure" N 2 O ^ H S O sowie von,,Bleikammerkristallen" N 0 + H S 0 ^ kommen). Als Nachteil des Verfahrens erwies sich insbesondere die erzielbare Säurekonzentration von maximal 78%, sodass H 2 S0 4 nachträglich unter Energieaufwand konzentriert werden musste. SOj-Bildung in der Erdatmosphäre (vgl. S. 522). Die Oxidation von S0 2 der Atmosphäre anthropogenen Ursprungs zu S0 3 erfolgt zur einen Hälfte durch OH-Radikale (bzgl. ihrer Bildung vgl. S. 521) in Anwesenheit eines Stoßpartners: HO + S0 2 + M -> H 0 S 0 2 + M* (geschwindigkeitsbestimmend); H 0 S 0 2 + 0 2 -> S0 3 + H Q (gebildetes S0 3 verwandelt sich mit H 2 0-Molekülen - wie besprochen (S. 574) - in Schwefelsäure, die Bestandteil des sauren Regens ist). Zur anderen Hälfte wird atmosphärisches S Q , gelöst in Wassertropfen der Wolken, durch Oxidationsmittel wie 0 3 , H 2 0 2 , C H 3 C 0 ( 0 0 H ) zu H 2 S0 4 oxidiert.
Physikalische Eigenschaften Wasserfreie Schwefelsäure H 2 SO 4 (100 %ige H 2 S0 4 ) ist eine ölig dicke (durch H-Brücken vernetzte), ätzend wirkende53, farblose Flüssigkeit (Smp. 10.37°C, Sdp. 279.6°C, Dichte 1.8269g/cm). Beim Erwärmen über den Siedepunkt hinaus gibt reine H 2 S0 4 einen S0 3 -haltigen H 2 S0 4 -Dampf ab, bis schließlich bei einem konstanten Siedepunkt von 338°C eine 98.33 %ige Schwefelsäure als azeotropes, auch durch Destillation verdünnter Schwefelsäure erreichbares, Gemisch übergeht (100%ige H 2 S0 4 lässt sich nur durch Auflösen der berechneten SQ-Menge in konzentrierter H 2 S0 4 gewinnen). Erhitzt man den Dampf von H 2 S0 4 über 338 °C hinaus, so erfolgt Spaltung in Wasserdampf und Schwefeltrioxid: 176.6 kJ + H 2 S0 4 ^ S Q (g) + H 2 0 (g) (,,Abrauchen" von Schwefelsäure). Bei 450°C ist die Dissoziation praktisch vollständig. Bei tiefen Temperaturen hat umgekehrt S0 3 ein außerordentliches Bestreben, sich mit Wasser unter Bildung von H 2 S 0 und deren Hydraten zu vereinigen (s. unten). Wegen ihrer hohen Dielektrizitätskonstanten (100 bei 25 C) löst wasserfreie Schwefelsäure viele Elektrolyte Die wasserfreie DischwefelsäureH2S2O,, die aus rauchender H 2 S0 4 bestimmten S0 3 -Gehalts (1^—62%) beim Abkühlen auskristallisiert, bildet eine durchsichtige, kristalline Masse (Smp. 36°C. „Tetraschwefelsäure" H 2 S 4 0 13 schmilzt bei 4°C).
Strukturen Die mittlere Länge der SO-Bindung im tetraedrisch gebauten (sp3-Hybridisierung), durch die (räumliche) Valenzstrichformel (a) wiedergegebenen Sulfat-Ion S O liegt mit einem Wert von 1.51 Ä zwischen der einer Einfach- und Doppelbindung (ber. 1.50/1.70 Ä; Analoges gilt für die isoelektronischen Ionen SiO]
2. Der Schwefel
587
PO^", ClO^f; s. dort). Der für eine kovalente SO-Bindung zu kurze SO-Abstand geht auf zusätzliche elekrovalente Bindungsanteile zurück (vgl. S. 153); der noch kürzere SO-Abstand in S O (S. 571) bzw. S O (S. 573) von rund 1.43 Ä wird durch darüber hinaus existierende SO-rc-Bindungen verursacht. Das Hydrogensulfat-Ion HSO^ (b) weistin Salzen S—OH-/S—O-Abstände von 1.56/1.47 Ä, die Schwefelsäure H2SO4 (c) in der Gasphase (C2-Symmetrie) von 1.574/1.422 Ä auf. In letzterem Falle betragen die Winkel O—S—O/O—S—OH/HO—S—OH/S—O—H 123.3/142.2/101.1/108.5°, wobei die H-Atome eine antiStellung zueinander einnehmen. Im kristallisierten Zustand kommt der Schwefelsäure eine gewellte Schichtstruktur zu, bei welcher jedes SO4-Tetraeder über H-Brücken mit 4 anderen SO4-Tetraedern verknüpft ist (jedes H2SO4-Molekül liefert und empfängt jeweils 2 H-Brückenatome; vgl. hierzu die Bindungsverhältnisse in H2O, S. 529). 2-
-
^ o
0 1 1 | o
o
(a) SO 4
-
r
O | 1
o
| o
1
/ H i
2-
-
NR | 1
| 1 o
RN _
(b) HSO 4
0
| NR NR
H_
(c) H 2 S 0 4
(d) S ( N R ) f
Das SO2~-Ion (a) leitet sich formal vom S 2_ -Ion durch Anlagerung von vier Sauerstoffatomen, denen nur ein Elektronensextett zukommt, an die vier Elektronenpaare des Sulfids ab (vgl. S. 152). Auch eine Anlagerung von vier Iminogruppen NR anstelle der isoelektronischen O-Atome an das S2~-Ion unter Bildung von SO^-isoelektronischem, tetraedrischem Tetraimidosulfat S(NR)2" (d) ist möglich. Es leitet sich von der hypothetischen ,, Tetraimidoschwefelsäure" S(NH)2(NH2)2 ab, welche gemäß folgender Gleichung analog Schwefelsäure deprotonierbar, aber auch protonierbar sein sollte: S(NH)2~ + : < ! + S ( N H ) 3 ( N H 2 r
+
S(NH)2(NH2)2+: mC + nH 2 0) und zugleich oxidativ (s. unten) zerstörend wirkt. Daher sieht rohe konzentrierte 2Schwefelsäure wegen hineingeratener Teilchen des Verpackungsmaterials gewöhnlich mehr oder weniger braun aus. Eine konzentrierte Zuckerlösung bläht sich bei Zugabe von konzentrierter Schwefelsäure unter Bildung voluminöser Kohle auf. Filtrierpapier lässt sich in einem Gemisch von 30 %igem H 2 0 2 und 0leum ,,auflösen". Als zweibasige Säure bildet die Schwefelsäure zwei Reihen von Salzen Hydrogensulfate (Bisulfate; saure Sulfate;primäre Sulfate) M'HS0 4 und Sulfate (normale Sulfate; neutrale Sulfate; sekundäre Sulfate) M 2 S0 4 . Sulfate sind die beständigsten Sauerstoff-Schwefel-Salze und stellen die wichtigsten mineralischen Verbindungen vieler Metalle dar. Ihre Darstellung kann durch Säure-Base-Reaktionen (Neutralisation von Metalloxiden und -hydroxiden mit H 2 S0 4 , Verdrängung flüchtiger Säuren in Salzen mit H 2 S0 4 ), Redox-Reaktionen (Auflösen von Metallen in H 2 S0 4 , 0xidation von Metallsulfiden und -sulfiten) und doppelte Umsetzungen (Umwandlung löslicher in unlösliche Metallsulfate) erfolgen. Die normalen Sulfate sind in Wasser meist leicht löslich. Praktisch unlöslich sind Barium-, Strontium- und Bleisulfat; Calciumsulfat ist etwas löslich. Die Alkali- und Erdalkalisulfate sind thermisch sehr beständig. Die Sulfate dreiwertiger Metalle zerfallen leichter; so kann man durch Erhitzen von Eisen(III)-sulfat Fe 2 (S0 4 ) 3 oder Aluminiumsulfat A1 2 (S0 4 ) 3 Schwefeltrioxid darstellen, z.B.: Fe 2 (S0 4 ) 3 Fe 2 0 3 + 3S0 3 (vgl. S. 573). Die Hydrogensulfate kennt man vor allem von den Alkalimetallen. Sie sind in Wasser sehr leicht löslich und gehen beim Erhitzen auf 150-200°C unter H 2 0-Abspaltung zunächst in Disulfate (Pyrosulfate) und bei höherem Erhitzen unter S0 3 -Abspaltung dann in normale Sulfate über: 2NaHS0 4
Na 2 S 2 0 7
^ Na 2 S0 4 .
Die Salze der Dischwefelsäure (Disulfate S 2 02 _ ) entstehen - in Umkehrung ihrer thermischen Zersetzung - durch Einwirkung von S0 3 auf Sulfate, wobei auch Tri-, Tetra- und Pentasulfate gebildet werden können S0 S02-
3
S0 -
S
2
Oj-
3
-
s
3
o
2
S0 -
3
-
S4O23-
S0
3
-
s5O26-.
In Wasser werden alle Polysulfate und Polyschwefelsäuren (deren Acidität mit steigender Kettenlänge wächst) rasch zu S02~ bzw. H 2 S 0 4 hydrolysiert. Auch beim Erhitzen gehen die Polysulfate und Polyschwefelsäuren in S02- bzw. H , S 0 4 über.
2. Der Schwefel
589
Basische Eigenschaften Die Schwefelsäure ist eine extrem schwache Base S0 2 (0H) 2 + 2H +
S0(0H)+ + H +
S(0H);; + .
Dementsprechend wirken nur extrem starke Supersäuren (S. 250) wie HF, H 2 S 2 0 7 , HS0 3 F, H[B(HS0 4 ) 4 ], H 2 [Sn(HS0 4 ) 6 ] und H 2 [Pb(HS0 4 ) 6 ] in reiner H 2 S 0 4 als Säuren, also Protonen-abgebend (z.B. H 3 S 0 4 + H S 2 0 7 ; K = 1.4 x 10-2). Und auch sie vermögen Schwefelsäure nur einmal, also nicht unter Bildung von S(0H) 4 + (isoelektronisch mit den zugänglichen Spezies P ( 0 H ^ , Si(0H)4, B(OH)^ zu protonieren. In der magischen Säure HF/SbF 5 lässt sich der Schwefelsäuresilylester (Me 3 Si0) 2 S0 2 in das kristalline, isolierbare Salz H 5 S 0 + S ^ _ umwandeln (SO-Abstände im (H0) 3 S0 + mit verzerrt tetraedrischer SQ-Baueinheit 1.413 (3 x)/ca. 1.55 Ä). Auch 100%ige Schwefelsäure ist wegen ihrer hohen Acidität (s. oben) etwas nach 2H 2 S0 4 ^ H 3 S 0 + + H S 0 4
^ = 2.7x10-4
(10)
dissoziiert; sie leitet deshalb den elektrischen Strom und weist eine hohe Protonenbeweglichkeit auf. „Reine" Schwefelsäure besteht also nicht ausschließlich aus H 2 S0 4 , sondern sie enthält noch zusätzlich - vgl. (9), (10) — Kationen, Anionen und Neutralmoleküle in kleiner Konzentration (insgesamt ca. 0.1 mol-%; insbesondere H 3 S0 4 + , H 3 0 + , HS0 4 , HS207~, H 2 S 2 0 7 im Molverhältnis von ca. 3:2:4:1:1). Gemäß der Autoprotolyse (10) wirken in Schwefelsäure als Reaktionsmedium Stoffe die H 3 S0 4 -Ionen (,,Sulfatacidium-Ionen") bilden, als Säuren, Stoffe die HS0 4 -Ionen (,,Hydrogensulfat-Ionen") erzeugen, als Basen Basischer als Schwefelsäure ist naturgemäß das Hydrogensulfat- und insbesondere das Sulfat-Ion. Von letzterem sind demgemäß Komplexe bekannt, in welchen das tetraedrische S0^--Ion wie das Cl0 4 -Ion als einzähniger (r\'), zweizähnig-chelatbildender (t) 2 ) und verbrückender ((i) Ligand wirkt, z.B. [Co(NH 3 ) 5 (r| 1 -S0 4 )]+, [Co en 2 (r| 2 -S0 4 )] + , [ ( e n 2 n - N H 2 ) ^ - S ^ mit en = CH CH NH Oxidierende Eigenschaften Als Säure entwickelt die Schwefelsäure bei der Einwirkung auf alle in der Spannungsreihe oberhalb des Wasserstoffs stehenden Metalle Wasserstoff (M M 2 + + 2 © ; 2 © + 2 H + ^ H 2 ): M" + H 2 S 0 4 ^ M " S 0 4 + H2. Hiervon macht m a n im Laboratorium zur Darstellung von Wasserstoff Gebrauch. Die Schwefelsäure muss dabei verdünnt sein, da konzentrierte Schwefelsäure wegen ihres Oxidationsvermögens (s. unten) von dem naszierenden Wasserstoff teilweise zu Schwefelwasserstoff reduziert wird ( H 2 S 0 4 + 8 H -> H 2 S + 4 H 2 0 ) , sodass der entwickelte Wasserstoff Schwefelwasserstoff enthält. Auch darf das Metall nicht wie im Falle des Bleis ein unlösliches Sulfat bilden, welches als schützende Deckschicht den weiteren Angriff der Säure verhindert (vgl. S. 233). Die in der Spannungsreihe unterhalb des Wasserstoffs stehenden, weniger stark reduzierend wirkenden Metalle (z. B. Kupfer, Quecksilber, Silber) lösen sich nicht in verdünnter, wohl aber beim Erhitzen in konzentrierter Schwefelsäure, da diese stärkere Oxidationswirkung besitzt als erstere und das Bestreben hat, in Schweflige Säure überzugehen. Die Auflösung der erwähnten Metalle erfolgt infolgedessen nicht unter Wasserstoff-, sondern unter Schwefeldioxid-Entwicklung, dem Reduktionsprodukt der Schwefelsäure (M -> M 2 + + 2 © ; H2S04 + 2H+ + 2 © S02 + 2H20): M" + 2H2S04
M"S04 + S02 + 2H20.
Platin und Gold, die nur sehr geringe reduzierende Wirkung aufweisen, werden selbst von konzentrierter Schwefelsäure nicht angegriffen. Andererseits werden Nichtmetalle wie Kohlenstoffoder Schwefel von heißer konzentrierter Schwefelsäure unter Schwefeldioxid-Entwicklung oxidativ gelöst. H I und H 2 S werden in I 2 bzw. S 8 übergeführt. In v e r d ü n n t e r wässeriger Lösung ist die auf dem Übergang in Schweflige Säure beruhende Oxidationswirkung nicht sehr stark (Oxidationspotential s 0 des Vorgangs S O ^ - + 4 H + + 2 ©
• 590
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
S 0 2 + 2 H 2 O : + 0.158 V, vgl. S. 579) und zudem gehemmt. Mit zunehmender Konzentrierung der Schwefelsäure wächst aber das Oxidationsvermögen (Verschiebung des Potentials nach positiveren Werten infolge Abnahme der Wasserkonzentration) sowie auch die Oxidationsgeschwindigkeit. Reduzierende Eigenschaften. Die Schwefelsäure ist ein sehr schwaches Reduktionsmittel. Ihre Oxidation führt gemäß 2S0^~ ^ S2Og~ + 2 Q (e0 = 2.01 V) unter Übergang eines Oxo-Sauerstoffs (Oxidationsstufe — 2) in einen Peroxo-Sauerstoff (Oxidationsstufe —1) zur Peroxodischwefelsäure (Näheres S. 600). Verwendung Nach der Chlorproduktion stellt die Herstellung von Schwefelsäure (mehrere hundertmillionen Jahrestonnen) ein Indikator für den Leistungsstand der chemischen Industrie eines Landes dar. Die H2SO4Hauptmenge wird zur Darstellung von Kunstdünger - Superphosphat (S. 800), Ammoniumsulfat (S. 671) - verbraucht. Weiter dient sie zur Darstellung der meisten anderen Mineralsäuren (z.B. Salzsäure, Phosphorsäure, Chromsäure) sowie in der anorganischen Industrie u.a. zur Gewinnung von Sulfaten (z.B. Aluminiumsulfat), zur Herstellung von Titandioxid, zur Uran- und Kupferaufbereitung, in der organischen Industrie zur Einführung von ,,Sulfonsäuregruppen" SO 3 H an Stelle von Wasserstoff (,,Sulfonierung") und im Gemisch mit Salpetersäure als ,,Nitriersäure" (vgl. S. 736) zum Ersatz von Wasserstoffatomen durch Nitrogruppen N O (,,Nitrierung") in Cellulose, Glycerin, Benzol u.a. (Darstellung von Schießbaumwolle, Celluloid, Nitroglycerin, Pikrinsäure, Nitrotoluol, Nitrofarbstoffen usw.). Auch als Akkumulatorensäure werden beträchtliche Mengen Schwefelsäure verbraucht. Im chemischen Laboratorium schließlich ist sie eines der besonders häufig gebrauchten Reagentien. Derivate 5 1 Ersetzt m a n in der Schwefelsäure (a) eine oder beide Hydroxylgruppen durch einwertige Reste X, so k o m m t m a n zu Sulfonsäuren (b) bzw. Sulfurylverbindungen (c) (X = anorganische, organische Gruppen; bzgl. des Ersatzes von O in S O ^ durch S bzw. N R vgl. S. 587, bzgl. der N a m e n Anhang VIII): O
HO
| O
O
0 1 OH
Schwefelsäure (a)
HO
| O
X
Sulfonsäuren (b)
X
| O
X
Sufurylverbindungen (c)
Die Sulfurylverbindungen, welche als Charakteristikum die Sulfurylgrwppe ^ S 0 2 enthalten, stellen wie die Thionylverbindungen ^ S O (S. 582) eine vielseitige Substanzklasse dar, zu der naturgemäß auch die Schwefelsäure (X/X = O H / O H ) sowie die Sulfonsäure und die Ester (X/X = O H oder OR/anorg. bzw. org. Rest) zählen, darüber hinaus Verbindungen wie die Sulfone R 2 SO 2 (R = organischer Rest), die Schwefeldioxiddihalogenide (s. u.), die Sulf'ansulfonsäure HSSO 2 OH (Thioschwefelsäure H 2 S 2 0 3 , S. 595) die Sulfonsäureamide SO 2 (OH)(NR 2 ) (S. 740), die Sulfuryldiamide SO 2 (NR 2 ) 2 . Die Sulfurylverbindungen sind (verzerrt) tetraedrisch gebaut mit Schwefel in der Tetraedermitte (c). Sie leiten sich formal vom Sulfan SX durch Anlagerung zweier O-Atome an die freien Elektronenpaare des Schwefels ab und haben vergleichsweise kurze SO-Bindungen von < 1.50 Ä (ber. für Einfach-/Doppelbindung 1.70/1.50 Ä), verursacht durch das Zusammenwirken kovalenter und elektrovalenter Bindungsanteile (vgl. das bei S O Besprochene, S.153). Nachfolgend sei auf Halogensulfonsäuren HSO 3 X und Sulfurylhalogenide (exakten Sulfuryldihalogenide; X = Halogen in (c) isoelektronisch mit S Ä 4 ) näher eingegangen, f ü r die einige Kenndaten in Tab. 67 zusammengefasst sind. Es schließt sich ein kurzer Überblick über Imidoelemente an
2. Der Schwefel Tab. 67
Eigenschaften und Strukturparameter von Halogensulfonsäuren und Sulfurylhalogeniden.a)
Verbindungen HSO 3 F HSO 3 C1 HSO 3 Br SO 2 F 2 SO2C12
591
farbl. farbl. farbl. farbl. farbl.
Smp./Sdp. [°C] Dichte g/cm Flüssigkeit Flüssigkeit Flüssigkeit Flüssigkeit Flüssigkeit
— 88.98/162.7 — 80/152 8 C) /135.7/ —55.2 — 54.1/69.3
1.726 1.776 ? 1.66
SO/SX
145/1.540b) 149.0/2.062b) ? 1.405/1.530 1.43/1.99
* OSX/OSX/XSX 113.7/104.5/-b) 113.2/104.9/—b> ?
124/92.8/97 123/107.6/111
a) Es existieren auch S O C f f und SO 2 BrF, darüber hinaus SOF 4 und S F s O H . - b) Überstrichene Zahlen: Mittelwerte; S O 3 F " (gef.): Abstände SO/SF = 1.434/1.540Ä, ^ OSO/OSF = 114.8/103.4°; S O 3 C r (ber.): Abstände SO/SX = 1.461/1.242Ä; > OSO/OC1 = 116.1/101.5°. - c) Unter Zersetzung in Br2, S0 2 und H 2 SO 4 .
Chloroschwefelsäure (Chlorsulfonsäure), HSO 3 Cl, wird technisch durch unmittelbare Vereinigung von trockenem C h l o r w a s s e r s t o f f und flüssigem Schwefeltrioxid hergestellt. Eine andere, technisch nicht durchgeführte Darstellungsmethode ist die Einwirkung von P h o s p h o r p e n t a c h l o r i d auf konzentrierte Schwefelsäure SO3 + HCI
HSO 3 Cl,
H 2 SO 4 + PC15
HSO3C1 + POC13 + HCl.
Die Verbindung stellt eine farblose, an feuchter Luft stark rauchende Flüssigkeit von stechendem Geruch dar (vgl. Tab. 67), reagiert mit Wasser unter Bildung von Salzsäure und Schwefelsäure: HSO C
SO
HCl
Verwendung Chlorsulfonsäure (Weltjahresproduktion: 100 Kilotonnenmaßstab) ist ein sehr starkes Sulfonierungsmittel und gestattet in der organischen Chemie die Einführung der Sulfonsäuregruppe — SO 3 H (RH + ClSO 3 H -> RSO 3 H + HCl) auch in solchen Fällen, in denen rauchende Schwefelsäure versagt. Darüber hinaus dient sie in der organischen Chemie als wasserentziehendes Kondensationsmittel. Die Salze der Chlorsulfonsäure (,,Chlorosulfate") sind nicht so stabil wie die der Fluorsulfonsäure. Fluoroschwefelsäure (Fluorsulfonsäure), HSO 3 F kann analog der Chlorsulfonsäure aus S O und HF gewonnen werden (in der Technik führt man die Reaktion in Fluorsulfonsäure durch). Die farblose Flüssigkeit (Tab. 67) dient als Fluoridierungsmittel und hochacides Lösungsmittel (H0-Wert — 15.1; vgl. S. 250; zum Vergleich HSO 3 Cl: — 13.8). Als eine der stärksten Säuren bildet sie sehr viele stabile Salze (,,Fluorosulfate"), die sich durch Einwirkung von S O auf Fluoride gewinnen lassen: CsF + SO3 -> Cs(SO 3 F), CaF 2 + 2 S 0 3 -> Ca(SO 3 F) 2 (verzerrt tetraedrisches SO 3 F~-Ion; Tab. 67) und die in ihren Löslichkeiten den isoelektronischen Perchloraten und Fluoroboraten (s. dort) ähneln. Mit Wasser reagiert HSO 3 F heftig zu H 3 0 + SO 3 F~, das dann wie die Fluorosulfate langsamer Hydrolyse unterliegt. Im Gemisch mit SbF 5 wird es als besonders starkes Protonierungsmittel verwendet (vgl. Supersäuren, S. 250), mit dem man sogar Methan CH protonieren kann Verwendung findet Fluorsulfonsäure als Fluoridierungsmittel, Sulfonierungsmittel, Katalysator für Alkylierungen und Polymerisationen sowie zum Polieren von Bleikristallglas. HSO 3 F-Derivate. Ersetzt man in FSO 2 OH den Wasserstoff durch Halogen, so kommt man zu Sauerstoff/Halogen-Verbindungen des Schwefels der Summenformel SO 3 X 2 (Halogenfluorosulfate, FSO 2 OX; isoliert mit X = F, Cl, Br, I; vgl. S. 458). Ersetzt man andererseits in FSO 2 OH die beiden doppelt gebundenen Sauerstoffatome durch vier einfach gebundene Fluoratome, so gelangt man zu Pentafluoroorthoschwefelsäure, F 5 SOH. Diese Säure lässt sich bei — 78 °C nach F 4 SO + ClF F5SOC1 ( + H C 1 -> F 5 S O H + Cl2) aus Schwefeltetrafluoridoxid (s. unten) gewinnen. Sie zersetzt sich oberhalb — 65 °C in F 4 SO und HF (s. unten). Stabiler sind die durch Ersatz des Wasserstoffs durch andere Reste erhältlichen Derivate wie z.B. F5SOF, F5SOOF, F 5 SOSF 5 oder F 5 SOOSF 5 sowie F 5 SOSO 2 F (vgl. hierzu S. 566). Sulfurylchlorid, S0 2 C1 2 wird in der Technik durch direkte Vereinigung von Chlor und Schwefeldioxid am gekühlten Aktivkohle-Katalysator oder durch Umsetzung von Dischwefeldichlorid und Chlor sowie Sauerstoff an Aktivkohle gewonnen (zum Mechanismus vgl. S.402); auch durch Erhitzen von C h l o r o s c h w e f e l s ä u r e (,,Dismutierung"56 zur reinen OH- und Cl-Verbindung) kann es erhalten werden:
56
dismutare (lat.) = vertauschen (hier: Vertauschen von OH- und Cl-Liganden). Bei der Dismutierung bleiben zum Unterschied von der Disproportionierung (S. 229) die Oxidationsstufen der davon betroffenen Elemente unverändert.
• 592
XIII. Die Gruppe der Chalkogene S2C12 + C12 + 2O 2
SO,C1,
SO, + Cl,
2HSO 3 C1 ^ H 2 SO 4 + SO2C12
2SO,Cl,
Die farblose, erstickend riechende, an feuchter Luft stark rauchende Flüssigkeit ist ein gutes Lösungsmittel und zerfällt oberhalb 300 °C in S O und Cl 2 . Mit wenig Wasser liefert Sulfurylchlorid Chloroschwefelsäure, mit viel Wasser Schwefelsäure: + HOH -HCl
+ HOH -HCl
(mit Ammoniak reagiert es in analoger Weise zu Sulfamid SO 2 (NH 2 ) 2 (S. 575)). Verwendung. S0 2 C1 2 dient in der organischen Chemie als wasserentziehendes Mittel bei Synthesen, vielfach auch als sulfonierendes, chlorsulfonierendes und chlorierendes Mittel. Sulfurylfluorid, S0 2 F 2 das analog dem Sulfurylchlorid durch unmittelbare Vereinigung von Schwefeldioxid und F l u o r oder durch Erhitzen von F l u o r o s c h w e f e l s ä u r e bzw. deren Salzen (z.B. gemäß Ba(SO 3 F) 2 -> BaSO4 + SO 2 F 2 ) erhalten werden kann, ist ein farb- und geruchloses Gas (Tab. 67), das im Gegensatz zum Sulfurylchlorid ähnlich r e a k t i o n s t r ä g e wie Schwefelhexafluorid (s. dort) ist. Es kann mit Wasser im geschlossenen Rohr auf 150 °C erhitzt werden, ohne sich zu zersetzen. Durch Laugen wird es nur sehr langsam angegriffen. Natrium lässt sich in ihm schmelzen, ohne seinen Metallglanz zu verlieren. Anders als SF6 wirkt es für Lebewesen giftig und wird etwa zur Bekämpfung von Holzwürmern (z. B. in Kirchenfiguren, -sitzbänken) genutzt. Ersetzt man in SO 2 F 2 ein Sauerstoffatom durch zwei Fluoratome, so gelangt man zum Schwefeltetrafluoridoxid SOF 4 (,,Thionyltetrafluorid"; farbloses Gas; Smp. — 99.6 °C; Sdp. — 48.5°C). Es bildet sich durch Fluorierung von Thionylfluorid SOF 2 oberhalb 80 °C und lässt sich in Gegenwart von CsF weiter zu Schwefelpentafluoridhypofluorit SF 5 (OF) fluorieren ( F 2 S = 0 + 2F 2 -> F 4 S = 0 + F 2 -> F 5 S—OF) bzw. zu Schwefeltrifluoridhypofluorit SF 3 OF isomerisieren. Es wirkt gegenüber Lewis-sauren Fluoriden wie AsF 5 oder S W 5 als Fluorid-Donator (SOF 4 + AsF 5 -> SOF 3 AsFg"; Bildung des verzerrt tetraedrisch gebauten Kations SOF 3 (isoelektronisch mit SF4)). SOF 4 hat eine trigonal-bipyramidale Gestalt (C2v-Symmetrie; äquatorial gebundenes O; Abstände SO/SFäq/SFax = 1.413/1.583/1.550 Ä; Winkel OSFax/ OSFäq/FalSFal/FäqSFäq = 90.7/125(178.5/110°). Der Sauerstoff im „Tetrafluorsulfuranoxid" F4SO (Sulfuran = SH 4 ) lässt sich wie der in Phosphanoxiden R 3 PO durch eine Iminogruppe NR (S. 575) sowie eine Methylengruppe CH 2 ersetzen. Im thermostabilen Tetrafluorsulfuranmethylen F 4 SCH 2 (gewinnbar nach: F 5 SCH 2 Br + RLi -> F 4 SCH 2 + RB LiF) ist die in ihrer Rotation behinderte Methylengruppe planar strukturiert (sp -hybridisiert > HCH 120.9°), wobei die Wasserstoffe in Richtung der axialen F-Atome des verzerrt-trigonal-bipyramidalen Schwefels weisen (C2v-Symmetrie; ^ FaxSF„ = 170.4°, * F^SF^ = 96.4°, SC-Abstand 1.55 Ä). Sonstige Halogenderivate Wie von der Schwefelsäure H 2 SO 4 leiten sich auch von der Dischwefelsäure H 2 S 2 0 7 , der Trischwefelsäure H 3 S 3 O 1 0 und der Peroxodischwefelsäure H 2 S 2 0 8 Halogenderivate („Disulfurylhalogenide" bzw. „Trisulfurylhalogenide" bzw. ,,Peroxodisulfurylhalogenide") ab: O
O
o o o X— S —O— S —O— S —X o o o
X o
o
Disulfurylhalogenide
o
o
o
o
X
Trisulfurylhalogenide
Peroxodisulfurylhalogenide
Erwähnt seien hier das Disulfuryldifluorid O(SO 2 F) 2 (farblose Flüssigkeit, Sdp. 51 °C), das Peroxodisulfuryldifluorid O 2 (SO 2 F) 2 (farblose Flüssigkeit, Smp. — 55.4°C, Sdp +67.1°C) sowie das Disulfuryldichlorid O(SO 2 Cl) 2 (farblose Flüssigkeit, Sdp. + 153 °C). Die Verbindung 2 (SO 2 F) 2 = (SO 3 F) 2 , die ein schließlich gebildet wird, eignet sich z. B. zur Gewinnung von Verbindungen mit positivem Halogen bzw. Chalkogen (vgl. S. 443, 554, 622). Imidoelementate51. Ein Ersatz von O-Atomen gegen isoelektronische NR-Gruppen ist nicht nur - wie erwähnt (S. 580, 587) - im Falle von SO2" und SO2", sondern auch im Falle anderer Anionen EO™~ (,,Elementate") von Elementsauerstoffsäuren HmEO„ (S. 247) möglich, wie folgende Beispiele von ,,Imidoelementaten" EZ™~ lehren (Z = NR): m—
z-^z EZ 2 (E = N - Bi)
Z i:Iz ^ z
—i m— m—
m—
E Z 3 (C, Si) E Z 3 (P, Tc, Re)
_
r
z ii
_
ECl
-Li.,, I T . > - f —L1 I ,Li—-Z '
I ^ yLi
1
z
z
E Z 3 (As, Sb)
SiZ 4 4,EZ 2 4 (P,Sb,Nb)
LiEZ 3
E Z | " (S - Te)
EZ24 ( C r - W , Mn) ReZ 4
(E = S - Te, WtBu)
z
2. Der Schwefel
593
Die gewinkelt, planar, pyramidal und tetraedrisch gebauten Imidoelementate EZ™ liegen (i) als solvensgetrennte Ionenpaare vor, falls die Anionen voluminöse Gruppen R tragen und die Gegenionen donorstabilisiert sind (z.B. Li(THF)4+ P(NMes *)3~, (Ph 3 P) 2 N + Re(NDip) 3 - mit M e ^ = 2,4,6-«Bu3C6H2; Dip = 2,6,-;'Pr2C6H3), bilden (ii) mit den donorstabilisierten Gegenionen isolierte Ionenpaare (z. B. Li 2 S(NBu) 4 • 4THF; vgl. S. 587) oder sind (iii) mit den Gegenionen (bisher fast ausschließlich Li + ) zu Clustern verknüpft (z. B. Li2E(NNBu)3 mit E = S, Se, Te, WNiBu; vgl. Formelschema). Ähnlich wie in EO™~ lassen sich O-Atome auch in Oxiden EmO„ durch NR-Gruppen substituieren (z. B. SO 2 /S0 3 -> S(NR) 2 /S(NR) 3 (S. 572, 575); P 4 0 6 P 4 (NR) 6 (S. 817); (RAlO), (RAlNR), (S. 1171)).
2.5.4
Niedere Schwefelsäuren H 2 S0, H 2 S0 2 , H 2 S 2 0, H 2 S 2 0 2
Die Schwefel(O)-, Schwefel(II)-, Dischwefel(O)- und Dischwefel(I)-säuren H2S0, H2S02, H2S20, H 2 S 2 0 2 sind weder in Substanz noch in wässriger Lösung isolierbar. Man nimmt an, dass H 2 S 0 2 und H 2 S 2 0 2 bei der Hydrolyse von Säurederivaten wie S„Cl2, S„(CN) 2 , S„(0R) 2 , S„(NR 2 ) 2 (n = 1, 2) als kurzlebige Zwischenprodukte entstehen. Die hypothetische Schwefel(0)-säure H 2 S O könnte die Konstitution einer Sulfensäure (a) oder die eines Sulfanoxids (Sulfoxids) (b) haben. Von beiden Tautomeren sind organische Derivate (RS0H, R 2 S 0 ) bekannt. Für die Schwefel(II)-säure H 2 S O 2 sind drei tautomere F o r m e n Hyposchweflige Säure (Sulfoxylsäure) (c), Sulfinsäure (d) sowie Sulfandioxid (Sulfon) (e) denkbar:
H—S—0H
H I H—S—0
Sulfensäure
Sulfanoxid
H HO—S—0H
H0—S—0
I
H I 0—S—O
k (a)
Hyposchweflige Säure
Sulfinsäure
(c)
(d)
(b)
Sulfandioxid (e)
Abkömmlinge von (c) sind die durch Alkoholyse von SX 2 (X = Cl, NR 2 ) gemäß SX 2 + 2 H 0 R -> S ( 0 R ) 2 + 2HX gewinnbaren Ester S(0R) 2 , bei deren Hydrolyse intermediär nach S ( 0 R ) 2 + 2 H 0 H -> S ( 0 H ) 2 + 2 H 0 R die freie Säure entsteht. Die Säure S ( 0 H ) 2 (exakter: wässrige S(0R) 2 -Lösung) besitzt wie die mit ihr vergleichbare Hypochlorige Säure Cl(0H) oxidierende Eigenschaften und führt Iodwasserstoff in Iod, Schwefelwasserstoff in Schwefel, Stickstoffwasserstoffsäure in Stickstoff und Eisen(II) in Eisen(III) über. Charakteristisch ist die Umsetzung mit Sulfit zu Trithionat S 3 Og" bzw. mit Thiosulfat zu P e n t a t h i o n a t S 5 O g " : S(0H)2 + 2S0g"
S(S03)g" + 2 0 H ~ ;
S(0H)2 + 2S20g"
S(S203)g" + 2 0 H " .
In alkalischer Lösung geht die Sulfoxylsäure, die auch durch kathodische Reduktion von wässrigem S 0 2 entstehen soll (S0 2 -> S 0 2 -> S 0 g " bzw. auch S 2 Og"), u.a. in Thiosulfat S 2 Og" über: 2S(0H)2 + 2 0 H "
S2Og" +
3H0.
Form (d) der Schwefel(II)-säure liegt den organischen,,Sulfinsäuren" RS ( 0 ) 0 H zugrunde. Ein Beispiel ist der,,Rongalit" H 0 C H 2 — S ( 0 ) 0 N a (Natrium-hydroxymethansulfinat), der bei der Spaltung von Natriumdithionit N a 2 S 2 0 4 mit Formaldehyd C H 2 = 0 entsteht (vgl. S. 595). Von der Schwefel(II)-säureForm (e) leiten sich die organischen „Sulfone" R 2 S 0 2 ab. Die hypothetischen Dischwefel(0)-säuren H 2 S 2 O, die sich formal von den Schwefel(II)-säuren H 2 S 0 2 (s. oben) durch Ersatz eines 0-Atoms einer Hydroxylgruppe gegen ein S-Atom ableiten, hätten - falls sie gewonnen werden könnten - die Konstitutionen (f) und (g) (die denkbaren Tautomeren von (g), S—SH—0H bzw. S—SH 2 —0 mit endständigem S-Atom sind energiereicher). Es leiten sich von der Thiosulfinsäure (g) viele organische Derivate R— S0—SR (gewinnbar durch 0xidation von RS—SR mit H 2 0 2 ) ab. Man kennt darüber hinaus Salze N H R 3 [ R — S 0 — S ] " („Thiosulfinate". Schwefelderivate der Thiosulfinsäure stellen etwa die niedrigen Schwefeloxide S„0 dar (S. 598). In Analogie zum Dischwefeldifluorid S 2 F 2 , das als Difluordisulfan FSSF und als isomeres Thio-thionylfluorid S S F existiert (vgl. S. 564), könnte auch die Dischwefel(I)-säure H 2 S 2 0 2 in zwei Formen als Dihydroxydisulfan H 0 S S 0 H (Hypodithionige Säure) (h) sowie als Thiothionylhydroxid SS(0H) 2 (i) bzw. dessen Protonentautomeres (Thioschweflige Säure) (k) auftreten. H
..
..
..
I
OH
..
..
. . I
O
. . I
HS — S — O H
HS — S — O
HO — S — S — OH
:S — S — OH
HS — S — O H
Thiosulfoxylsäure (f)
Thiosulfinsäure (g)
Hypodithionige Säure (h)
Thiothionylhydroxid (l)
Thioschweflige Säure (k)
• 594
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Die Form (k) bildet sich möglicherweise in verschwindender Gleichgewichtskonzentration nach: H2S + S O < H 2 S 2 0 2 als erstes Zwischenprodukt der letztlich zu einem Gemisch von Polythionsäuren H 2 S n O 6 (,, Wackenrodersche Flüssigkeit", S. 598) führenden Umsetzung von Schwefelwasserstoff und Schwefeldioxid in Wasser. Sie liegt auch in Komplexen wie (Ph3P)(X) CpRu(SMe—SO) (X = PPh 3 oder CO) vor, die sich durch SO-Addition an (Ph 3 P)(X)CpRuSMe bilden und eine sehr lange SSBindung (ca. 2.48 Ä) aufweisen. Von der Säureform (h) leiten sich organische Derivate RO—S—S—OR ab, die durch Alkoholyse von S 2 X 2 (X = Cl, NR 2 ) gemäß S 2 X 2 + 2HOR S 2 (OR) 2 + 2HX gewonnen werden und bei deren Hydrolyse intermediär nach S 2 (OR) 2 + 2 H 2 0 -> S 2 (OH) 2 + 2HOR die Verbindung (h) entstehen soll. Die Säure S 2 (OH) 2 (exakter: wässrige S 2 (OR) 2 -Lösung) wirkt als mildes Oxidationsmittel und führt wie S(OH) 2 (s. oben) Iodwasserstoffin Iod, Schwefelwasserstoff in Schwefel und Eisen(II) in Eisen(III) über. Mit Sulfit bzw. Thiosulfat reagiert sie unter Bildung von Tetrathionat S 4 b z w . Hexathionat S 6 S 2 (OH) 2 + 2SOg~
S 2 ( S 0 3 + 2OH~;
S2 (OH)2 + 2S2Og~
S 2 (S 2 0 3 )g" + 2OH".
In saurer Lösung zerfällt sie - wohl auf dem Wege über das in (k) übergehende Isomere (i) (s. oben) in Schwefelwasserstoff und Schwefeldioxid: S 2 (OH) 2 ^ H 2 S + SO- Beide Produkte lassen sich in Gegenwart von Silber-Ionen in Form von Ag 2 SO 3 • Ag2S aus der wässrigen Lösung fällen und reagieren in Abwesenheit von Ag + zu einem Gemisch von Polythionsäuren (s. oben). Die alkalische Hydrolyse von S2 (OR)2 führt zu Sulfit und Sulfid sowie darüber hinaus zu Schwefel und Thiosulfat.
2.5.5
Dithionige Säure H 2 S 2 0 4 und Dithionsäure H 2 S 2 0 6
Die Dithionige Säure H 2 S 2 0 4 ( D i s ch w e fe l( I ll) - s ä u r e ) steht in ihrer Oxidationsstufe um eine Einheit u n t e r h a l b , die Dithionsäure (Dischwefel(V)-säure) H 2 S 2 0 6 um eine Einheit o b e r h a l b der Schwefligen Säure H 2 S O 3 (Schwefel(IV)-säure). Dementsprechend gewinnt m a n erstere durch R e d u k t i o n , letztere durch O x i d a t i o n der Schwefligen Säure; schematisch: 2S02 + 2©
Reduktion
•
+3 , S 2 Og~;
+ 4 , Oxidation + 5 240g~ • S202~+2©.
Als R e d u k t i o n s m i t t e l dienen zweckmäßig Zink (Zn -> Z n 2 2 + 2 © ; s. unten), Natrium (Na ->• N a + + © ; s. unten), Formiat ( H C O 2 ^ H + + C O 2 + 2 © ; s. unten) oder der elektrische Strom (kathodische Reduktion einer Hydrogensulfitlösung), als O x i d a t i o n s m i t t e l vierwertiges M a n g a n (Mn 4 2 + 2 © -> M n 2 2 ; Einwirkung von Schwefeldioxid auf in Wasser aufgeschlämmtes Mangandioxid-Hydrat), dreiwertiges Eisen (Fe 3 2 + © -> F e 2 2 ; Einwirkung von Schwefeldioxid auf Eisen(III)-oxid-Hydrat) oder der elektrische Strom (anodische Oxidation einer Sulfitlösung). Die Dithionige Säure H 2 S 2 0 4 (Dischwefel(Ill)-säure) und ihre Salze (Dithionite) sind durch ihr s t a r k e s R e d u k t i o n s v e r m ö g e n charakterisiert, da sie in Umkehrung der obigen Bildungsgleichung wieder in die S c h w e f l i g e S ä u r e überzugehen suchen: S 2 Og~ -> 2 S 0 2 + 2 © . So fällen Dithionite z. B. aus Quecksilber (II)-chlorid-, Silbernitrat- und Kupfersulfatlösungen unter Übergang in Sulfite die Metalle aus ( M 2 2 + 2 © -> M); Iodlösung wird entfärbt (I 2 + 2 © -> 2 I " ) . Das Reduktionspotential hat in alkalischer Lösung ( S 2 0 + 4 O H ~ 2SOg~ + 2 H 2 0 + 2 © ) den Wert s 0 = — 1.12 V, in saurer (schwächer reduzierender) Lösung (HS204 + 2 H 2 0 den Wert —0.07 V (vgl. S. 579). Die Dithionige Säure H 2 S 2 0 4 ( p K j = 0.35; />K2 = 2.45) ist nicht isolierbar, da sich Dithionite beim Ansäuern gemä 2S 2 O2- + H 2 O
2HS^^S202"
zersetzen. Selbst wässrige S2C>2~-Lösungen zerfallen langsam in der beschriebenen Weise (möglicher Zerfallsweg: S 2 0 2 ~ + 2 H + H2S204 H 2 SO 2 + SO 2 ; 2H 2 SO 2 2 2H O). Verwendung Natriumdithionit Na 2 S 2 0 4 • 2H 2 O (Weltjahresproduktion: mehrere hundert Kilotonnen) wird wegen seiner reduzierenden Wirkung als Färbe- und Druckereihilfsmittel in der Industrie, als Bleich-
2. Der Schwefel
595
mittel in der Textil- und Papierindustrie, als Absorptionsmittel für Sauerstoff in der analytischen Chemie sowie zur Herstellung von Rongalit = Natriumhydroxymethansulfinat (Na 2 S 2 0 4 + 2 C H 2 = 0 + H 2 0 NaO 2 SCH 2 OH + Na0 3 S—CHOH; für den Direkt- und Ätzdruck) genutzt. Man gewinnt es in der Technik insbesondere durch Reduktion von S O mit einer wässrigen Aufschlämmung von Zinkstaub bei 40 0C (2S0 2 + Zn ZnS 2 0 4 ; Umwandlung in Na 2 S 2 0 4 ) bzw. einer methanolischen Lösung von Natriumformiat oder wässerigen Lösung von Natriumboranat im alkalischen Milieu: 2S0 2 + HCOONa+ NaOH 8S0 9 + N a B H +8NaOH
Na 2 S 2 0 4 + C O + H 2 O; 4Na 9 S 9 O d + NaBO 9 + 6 H O .
Geringe Bedeutung hat die Reaktion von NaHSO 3 mit Natrium (eingesetzt als Amalgam) in Wasser. Struktur. Die S 2 0 4 "-Ionen enthalten gemäß [ 0 2 S — S O ] 2 " eine S—S-Bindung, die mit einem Kernabstand von 2.389 Ä wesentlich länger als eine Einfachbindung (ber. 2.08 Ä) ist. Sie stellt nach der SSBindung im oben erwähnten Komplex (Ph 3 P)(CO)CpRu(SMe—SO) ( r ss = 2.48 Ä) die längste, bisher bekannt gewordene „tragende" SS-Bindung dar. Der große SS-Bindungsabstand erklärt die leichte Spaltbarkeit der SS-Bindung und die hohe Reaktivität der Dithionite. In wässriger Lösung stellt sich sogar 2S0 2 = 0.63 x 10" 9 ) ein. Das Radikalion S O (isoelektronisch mit für viele Reuukiionsieakiiunen Reduktionsreaktionen des Dithionits ((SO Cl und PO2 ) ist IUI s o 22 -r SO2 + ©) verantwortlich. \2~ formal Doppelbindungen (ber. 1.50 Ä). InteressanDie SO-Abstände (1.500 Ä) entsprechen im S20%" terweise stehen im Dithionit-Ion die an verschiedenen Schwefelatomen gebundenen Sauerstoffatome auf Deckung (Fig. 154). Die Dithionsäure H22^S eine starke Säure, und ihre Salze (Dithio2w260 (Dischwefel(V)-säure), nate) zeigen keine große Neigung, in U m k e h r u n g der Darstellungsgleichung (s. oben) unter Bildung von Schwefliger Säure oder Sulfiten oxidierend zu wirken. Dagegen d i s p r o p o r t i o n i e r e n sie leicht in Schwefel- und Schweflige Säure bzw. - beim Erhitzen - in Sulfate und Schwefeldioxid, schematisch: H2S2O6 + H2O
H2SO4 + „H2SO3"
SO2- + SO 2 .
Konzentriert m a n z.B. eine wässrige Lösung von Dithionsäure, so zerfällt sie leicht nach (Aktivierungsenergie H 2 s 2 0 6 - H 2 S O 4 + SO 2 . Die Disproportionierung von S 2 02 2ca.125 kJ/mol) wird durch Protonen beschleunigt und erfolgt analog der Disproportionierung). Die - verglichen mit S 2 0 2 " - höhere Stabilität von S 2 0 2 " in saurer Lösung ( H 2 S 2 0 6 lässt sich bis zu 3.7 mol/l konzentrieren) beruht auf der - verglichen mit H 2 S 2 0 4 - höheren Acidität der Säure (geringe Bildungstendenz von HS 2 Og bzw. H 2 S 2 0 6 aus 2" und Protonen).
2.389 Ä •
A
To o
S 2 O i (C 2 v )
V
_2.2^A_s
A S
\
S 2 o j ~ (C s )
°
o °
\S-—-—-s
A \o
o
S 2 O6" (D3 d )
Fig. 154 Konformation von Dithionit, Disulfit und Dithionat (in Klammern Symmetrie).
Struktur Wie die Dithionite S 2 O2- enthalten auch die Dithionate S 2 02" gemäß [0 3 S—SO]2" eine verhältnismäßig lange (2.155 A) S—S-Einfachbindung (tetraedrische Anordnung der vier Liganden um jedes S-Atom, gestaffelte Anordnung, vgl. Fig. 154). Der kurze SO-Abstand von 1.45 Ä entspricht einer SO-Doppelbindung (ber. 1.50 Ä).
2.5.6
Thioschwefelsäure H 2 S 2 0 3
Darstellung, Eigenschaften M a n erhält die S a l z e der Thioschwefelsäure, die Thiosulfate S 2 0 3 2 " , durch Kochen von Sulfitlösungen mit feingepulvertem Schwefel (zum Mechanismus vgl. S. 548), durch Oxidation von Oligosulfiden mit Luftsauerstoff oder durch Oxidation von Schwefelsauerstoff mit Sulfit:
• 596
XIII. Die Gruppe der Chalkogene SOg-+|S8 ^ s 2 o r , 2H2S + 4SOg- + 2 H +
s r + i*o2 ^ s2o|-, 3S2Og- + 3 H O .
In der Technik stellt man etwa Natriumthiosulfat Na 2 S 2 0 3 • 5H 2 O durch Reaktion von Schwefel mit einer wässerigen Na2SO3-Suspension oder NaHSO 3 -Lösung in Rührgefäßen bei 50-100°C dar, wobei das Salz nach Abtrennung überschüssigen Schwefels in farblos-durchsichtigen, bei 48.5°C im Kristallwasser schmelzenden monoklinen Prismen auskristallisiert. In analoger Weise entsteht Ammoniumthiosulfat (NH durch Umsetzung von Schwefel mit (NH SO in wässrigem Ammoniak bei 80-110°C (bei 20°C kristallisiert das wasserfreie Salz aus). Die den Salzen zugrunde liegende Thioschwefelsäure H 2 S 2 0 3 ist nur bei tiefen gemä H O SO C H O SO SH HC
Temperaturen
aus Chlorsulfonsäure und Sulfan als farblose, ölige, H 2 SO 4 -ähnliche Flüssigkeit erhältlich. Das in etherischer Lösung bei — 78 °C gemäß N a 2 S 2 0 3 + H C l ->• H 2 S 2 0 3 + 2 N a C l (kleine Mengen H 2 O als Katalysator) sowie gemäß S 0 3 + H 2 S H 2 S 2 0 3 gewinnbare Etherat H 2 S 2 0 3 • 2Et 2 O der Säure ist als Salz [Et 2 OH + ] 2 S 2 C) 2 ~ des Thiosulfats zu formulieren. Es zerfällt schon unterhalb 0°C in Umkehrung letzterer Bildungsgleichung in S O und H 2 S (die mit H 2 S 2 0 3 verwandte Schwefelsäure H 2 S O zerfällt erst oberhalb 300°C in H 2 O und SO 3 , s. dort). Ohne Lösungsmittel bildet S O und H 2 S bei tiefen Temperaturen ein farbloses, kristallines Schwefeltrioxid-Sulfan-Addukt H 2 S — S O , das ein Isomeres der Thioschwefelsäure darstellt und sich beim Erwärmen in seine Komponenten H 2 S und S O zersetzt (vgl. das auf S. 574 besprochene Wasseraddukt H 2 0 — S O und seine Umlagerung in H 2 SO 4 ). Schließlich lässt sich Hydrogenthiosulfat HS 2 0^~ in F o r m seines Ammoniumsalzes ( N H 4 ) H S 2 0 3 durch Protonierung von Ammoniumthiosulfat ( N ^ ^ O 3 mit konzentrierter Schwefelsäure in Methanol bei — 80 °C gewinnen: (NH
SO
( N H )HS
( N H )HSO
Das als farbloses Pulver anfallende Salz zersetzt sich ab ca. — 20°C unter Schwefelbildung (s. unten). Wässrige Lösungen von H S j O ^ , die durch starkes Ansäuern von S 2 O ^ - L ö s u n g e n erzeugt werden können, sind demgegenüber bei 0°C mehrere Stunden haltbar. Strukturen Wie im Sulfat-Ion sind auch im Thiosulfat-Ion S2O^" die vier Liganden um das zentrale S-Atom nahezu tetraedrisch angeordnet («< C3v-Symmetrie; SSO-/OSO-Winkel 109.5°). Die Abstände SO/SS betragen allerdings 1.468/2.013 Ä. Somit ist die SO-Bindung wesentlich, die SS-Bindung nur unwesentlich kürzer als eine Einfachbindung (ber. für Einfach-/Doppelbindung 1.70/1.50Ä (SO), 2.08/ 1.88 Ä (SS)), was auf hohe (geringe) elektrovalente Bindungsanteile in erstem (zweitem) Falle weist. Im verzerrt-tetraedrisch gebauten Hydrogenthiosulfat-Ion HS203~ ist der Wasserstoff im Sinne von HS—SO3~ am Schwefel gebunden (die tautomere Form SSO2(OH)_ ist um 20 kJ/mol energiereicher). In HS203~ betragen - nach Berechnungen - die Abstände SO/SS 1.469/2.226 Ä, die Winkel OSO/SSO im Mittel 115.1/103.^. In verzerrt-tetreadrisch gebauter Thioschwefelsäure H 2 S 2 0 3 ist im Sinne von HS—SO2—OH ein Wasserstoff am Schwefel, und - in anti-Stellung hierzu (vgl. H S O , S. 587) - ein Wasserstoff am Sauerstoff gebunden (die tautomere Form SSO(OH)2 ist um 41 kJ/mol energiereicher). In H 2 S 2 0 3 betragen die berechneten Abstände S—OH/S—O/S—SH 1.624/1.439/2.101 Ä und die Winkel HS—S—OH/ HS—S—O1/HS—S—O2/HO—S—O1/HO—S—O2/0—S—O 102.9/105.3/110.1/104.4/108.2/124.0°. Säure-Base-Verhalten Die Thioschwefelsäure, die in wässeriger Lösung nicht, in wasserfreiem (lösungsmittelfreiem) Zustande nur bei tiefen Temperaturen haltbar ist (s. oben), wirkt als starke, zweibasige Säure: HS
2
2H
deren pi^-Werte (pK t = + 0 . 6 ; pK 2 = + 1 . 7 4 ) allerdings einander ähnlicher sind als die der verwandten Schwefelsäure ( p ^ = — 3.0; pK 2 = + 1.96; A p i ^ ca. 1 f ü r H 2 S 2 0 3 , ca. 5 für H 2 SO 4 ). Thioschwefelsäure ist also in Wasser weniger sauer als H 2 S O , Hydrogenthiosulfat etwas saurer als H S O ' Anders als für Protonen (Brönsted-Basizität) zeigt das S 2 02~-Ion eine deutliche Affinität f ü r Metallzentren geeigneter Komplexpartner (Lewis-Basizität). In Komplexen wirkt S 2 O^" u . a . als einzähniger (r\l-S) sowie zweizähnigchelatbildender (rj2-S,
2. Der Schwefel
597
0 ) Ligand, z.B. [Pd e n ( ^ - S 2 0 3 ) 2 ] 2 " , [Ni(SC(NH 2 ) 2 ) 4 (^ 2 -S 2 0 3 )]. Darüber hinaus kann der Thioschwefel wie in [Cu(S 2 0 3 )]^ auch Brücken (n) ausbilden. Redox-Verhalten. In Abhängigkeit vom pH-Wert einer wässrigen Lösung von Thioschwefelsäure disproportioniert die Schwefel(III)-säure H 2 S 2 0 3 rasch bis langsam in S(— I I ) / S ( + IV)bzw. S(0)/S(IV)-Verbindungen, schematisch: H 2 S 2 O 3 + H 2 O -»• H 2 S + H 2 S 0 ;
H 2 S2 o 3 -> V 8 s 8 + „
H S
°".
In Substanz bzw. etherischer Lösung zerfällt die Säure - wie besprochen - schon unterhalb 0°C in die Verbindungen Schwefelwasserstoff (Sulfan) und Schwefeltrioxid, welche ihrerseits weiter unter Komproportionierung in Schwefel und Schwefeldioxid übergehen können (vgl. S. 548). In wässriger Lösung ist die starke Säure H 2 S 2 0 3 praktisch vollständig in hydratisierte Protonen und Hydrogenthiosulfat dissoziiert, wobei H S j O ^ im vorliegenden sehr sauren Medium wie erwähnt nur sehr langsam in Schwefel und Schwefeldioxid übergeht (Bildung von Schwefel in kolloider Form). Die Geschwindigkeit letzterer Reaktion nimmt mit wachsendem pH-Wert der Lösung zunächst zu, dann wieder ab und ist in mäßig sauren Medium, in welchem H S j O ^ und S 2 n e b e n e i n a n d e r vorliegen sehr groß, im neutralen bis basischen Medium, in welchem ausschließlich Thiosulfat existiert extrem klein. Die Geschwindigkeitsverhältnisse der Disproportionierung, deren Mechanismus bereits auf S. 548 besprochen wurde, erklären sich damit, dass das HS2Og~-Ion vom Nucleophil HS2Og" deutlich langsamer als vom Nucleophil S2Og" unter Schwefelkettenaufbau angegriffen wird (erster Reaktionsschritt: HS—S03" + SS02" 4? HS—SS02" + S02 ). Die hohe Nucleophilie von S 2 02" kommt auch in vielen anderen Redoxreaktionen des Ions (z. B. mit I2 (s. u.) oder mit H 2 0 2 (S. 536)) zum Ausdruck. Das S 2 O g ~ Ion zersetzt sich in neutraler wässriger Lösung erst oberhalb 270 °C (im Autoklaven), wobei allerdings kein Schwefelkettenaufbau, sondern eine Disproportionierung gemäß S 2 02" + H 2 0 -> H2S + S0g~ erfolgt. Der nucleophile Angriff von H 2 0 am zentralen S-Atom von S 2 02" unter Substitution von S2~ wickelt sich also deutlich langsamer ab als der am zentralen S-Atom von HS0 3 Cl unter Substitution von C Verwendung Natriumthiosulfat Na 2 S 2 0 3 • 5 H 2 0 (Weltjahresproduktion: hundert Kilotonnenmaßstab), das wichtigste Thiosulfat (s.o.), findet mannigfache Verwendung. In der P h o t o g r a p h i e (s. dort) dient es als komplexbildendes „Fixiersalz" zum Herauslösen des beim Belichten und Entwickeln unverändert gebliebenen Silberhalogenids aus photographischen Papieren und Filmen (Ag g" [Ag(S 2 0 3 )]~ + X "; AgX + 2S 2 Og" -> [Ag(S 2 0 3 ) 2 ] 3 " + X "). Allerdings wird es hierzu heute fast ausschließlich durch Ammoniumthiosulfat ersetzt, da (NH4)2S203 den Vorteil kürzerer Fixier- und Wässerungszeiten, höherer Ergiebigkeit des Fixierbades und leichterer Möglichkeiten zur Wiedergewinnung des Silbers verbrauchter Bäder bietet. In der Textilbleicherei und Papierfabrikation benutzt man Na 2 S 2 0 3 • 5H 2 0 als reduzierendes „Antichlor" zur Entfernung des Chlors aus chlorgebleichten Geweben, da es Chlor in Chlorid überführt (C12 + 2 Q -> 2C1"), wobei es selbst in Sulfat übergeht (S2Og" + 5 H 2 0 -> 2 S O g " + 10H + + 8Q; e0 = +0.29 V). Mit dem weniger stark oxidierenden Iod (I2 + 2 Q -> 2I") setzt sich das Thiosulfat (mittlere 0xidationsstufe + 2) nur bis zur 0xidationsstufe + 2.5 der Tetrathionsäure H 2 S 4 0 6 um (2S 2 Og" -> S 4 Og" + 2Q; e0 = +0.08V). Da hierbei die bei Gegenwart von Stärke blaue (S. 442) Iodlösung entfärbt wird 2SS0g" + I 2 farblos
blau
"0 3 S—S—S—S0 3 + 2 I " , farblos
farblos
kann man leicht den Punkt (,,Äquivalenzpunkt") erkennen, an dem gerade die zur Iodmenge äquivalente Menge Thiosulfat zugesetzt ist. Man benutzt daher die Reaktion zur quantitativen Bestimmung von 0 x i d a t i o n s m i t t e l n („Iodometrie"), indem man durch Einwirkung dieser 0xidationsmittel auf eine Kaliumiodid-Lösung eine dem 0xidationswert der 0xidationsmittel äquivalente Iodmenge in Freiheit setzt (21" -> I 2 + 2 0) und diese mit einer eingestellten Natriumthiosulfatlösung titriert (vgl. Titrationen). Auch Reduktionsmittel können iodometrisch bestimmt werden, indem man diese auf einen bekannten Überschuss einer eingestellten Kaliumtriiodid-Lösung einwirken lässt (KI 3 ^ KI + I 2 ;I 2 + 2 Q 2I") und das hierbei nicht umgesetzte Iod mit Thiosulfat bis zur Entfärbung ,,zurücktitriert" oder indem man die Reduktionsmittel direkt mit der eingestellten Kaliumtriiodid-Lösung bis zur bleibenden Iod färbung titriert
• 598
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
In der Reaktion mit Iod kommt die hohe Nucleophilie des Thiosulfats (bzw. Hydrogenthiosulfats) zum Ausdruck: " O 3 S S : " + I — I "0 3 SS—I + I " ; "0 3 SS—I + " : S S 0 3 ^ ~0 3 SS—SS0 3 + T . Ähnlich wie Iod reagiert S 2 0 3 ~ mit vielen anderen, nucleophil angreifbaren Molekülen (z.B. H 2 0 2 , S. 537).
2.5.7
Polysulfanmonosulfonsäuren H ^ C ^ und Polysulfandisulfonsäuren (Polythionsäuren) H 2 S„0 6
Unter dem Namen Polysulfanmonosulfonsäuren und Polysulfandisulfonsäuren (Polythionsäuren) fasst man Schwefelsauerstoffsäuren zusammen, in welchen ein oder beide Wasserstoffe in Sulfanen H 2 S m durch den Sulfonsäurerest S 0 3 H ersetzt sind: H0.S—S
S„—SH
H0.S—S
Polysulfanmonosulfonsäuren 7)
S —S0,H
Polysulfandisulfonsäuren (Polythionsäuren) H 2 S„0 6 (n = 3-14).
Die einfachste Polysulfanmono- bzw. -disulfonsäure ist die Thioschwefelsäure H0 3 S—SH und die Trithionsäure H 0 3 S — S — S 0 3 H (die Schweflige Säure H 0 3 S H und die Dithionsäure H 0 3 S — S ^ H gehören nicht zu den Sulfansulfonsäuren, da sie sich nicht von einem Sulfan ableiten). Die höheren Glieder beider Reihen (Di-, Tri-, Tetrasulfanmonosulfonsäure usw.; Tetra-, Penta-, Hexathionsäure usw.) leiten sich ihrerseits von der Thioschwefelsäure und der Trithionsäure durch Einlagerung weiterer Schwefelatome ab (Verlängerung der Schwefelkette). Die Polysulfanmonosulfonsäuren bilden sich analog der Thioschwefelsäure H 0 SH bei tiefen Temperaturen gemäß H0 3 SC1 + H 2 S m H 0 3 S — S m H + HCl oder in Ether bei — 78 0 C gemäß S 0 3 + H2Sm H0 3 S—S m H als bei Raumtemperatur instabile Verbindungen. Wasser und insbesondere wässeriges Alkali zersetzen die Säuren rasch zu Thiosulfat, Schwefeldioxid (Sulfit) und Schwefel. (Mechanistisch erfolgt der Zerfall wohl analog dem auf S. 548 diskutierten Schwefelkettenaufbau im Zuge nucleophiler Substitutionen des Typs: " O 3 S S " + " S m S 0 3 2 ) . Die sehr komplexe, mechanistisch ungeklärte Bildungsreaktion verläuft möglicherweise über Thioschweflige Säure H 2 S 2 0 2 , die sich aus H 2 S und S 0 2 bildet: H 2 S + S ^ ^ H S S ^ H (vgl. S. 593). H 2 S 2 0 2 könnte dann unter Disproportionierung u. a. in Thioschwefelsäure übergehen, die ihrerseits u. a. zu Sulfanen und Polythionsäuren disproportioniert. Dass letzterer Reaktion Realität zukommt, lässt sich leicht zeigen: lässt man eine a n g e s ä u e r t e T h i o s u l f a t l ö s u n g längere Zeit stehen, wobei man durch Arbeiten
2. Der Schwefel
599
im g e s c h l o s s e n e n System ein Entweichen von Schwefeldioxid verhütet, welches im Zuge der Reaktionsfolge + s2O2"
HSSO 3
3
+SO2"
+5S2c>2-
+S2O2"
HSSSO 3 ^ 3
2
HSSSSO,
3
+SO2"
^ ^ ^
+H
+
^ ^ HS s SO 3 R = = = i So 8
+ 5SO2"
(1) w
+
nach SO2" + 2 H SO 2 + H 2 O entsteht (vgl. S. 548), so beobachtet man die Bildung von Polythionsäuren durch Kondensation der im Gleichgewicht mit Thiosulfat und Schwefel stehenden Polysulfan monosulfonate HS SO "0 3 S—S^.H + HS.-HS—SO 3 " ^
"0 3 S—S^—S—SO 3 "+ 1 ^ .
(2)
Polythionate. Darstellung Die Salze der Polythionsäuren sind ganz allgemein durch Umsetzung von Schwefel-Verbindungen des Typs SX 2 oder S 2 X 2 (X = Cl, OR, N R ) mit Sulfit SO2" oder Thiosulfat S 2 02 gewinnbar: O 3 SS2" + X - S - X + s m s O 2 "
nucleophile Subst • -o — — — 2X
s — s ^ ü j
(m = 0,1; y = 1, 2; 2 m + y = 1, 2, 3, 4). Trithionat S 3 0 2 " entsteht auch bei der Oxidation von N a 2 S 2 0 3 mit Wasserstoffperoxid: 2 N a 2 S 2 0 3 + 4 H 2 0 2 -> + N 2 S ^ 4 H O . Bezüglich der Bildung von Tetrathionat S 4 0 2 " aus Thiosulfat und Iod vgl. S.597. Das Kaliumsalz des Pentathionats S 5 0 2 " erhält man aus der Wackenroder'schen Flüssigkeit nach Zusatz von Kaliumacetat, das des Hexathionats S 6 0 2 " über die Reaktion von K N O 2 mit K 2 S 2 0 3 in Salzsäure. Unter den - in reiner Form isolierbaren Salzen zeichnen sich die Alkalimetall-polythionate durch Beständigkeit aus Strukturen. In den Polythionaten S„02" = [ 0 3 S — S „ _ 2 — S O ] 2 " liegen Schwefel-Zickzackketten (vgl. S. 552) mit einem mittleren SS-Abstand von 2.04 Ä (Einfachbindungen wie im Falle des elementaren Schwefels) vor, die an den beiden Enden je eine S O - G r u p p e mit einem mittleren SS-Abstand von 2.12 Ä tragen (SO-Abstände = 1.43 Ä). Die SSS-Bindungswinkel betragen im Mittel 104°, die SSSS-Diederwinkel in S 4 0 2 " ca. i^ S s 0 2 " ca. 108° und i^ S 6 0 | " ca. 90 und 108°. Es sind auch Polythionate dargestellt worden, in denen ein Teil des Sulfanschwefels durch Se oder Te ersetzt ist, z.B. [0 3 S—S—Se—S—SO]2" und [0 3 S—S—Te—S—SO] 2 "Sulfurierende Wirkung Die Polythionate S/);?" wirken ähnlich wie andere Verbindungen mit Schwefelketten (S 8 , H 2 S„, S„X2; S.548, 561, 567) als Sulfurierungsmittel (schematisch: S n O2" -> SO 2 + SO2" + (n — 2)S) und führen etwa Sulfit in Thiosulfat (schematisch: S + SO2" -> S 2 02"), Sulfid in Polysulfid (xS + HS~ -> HS~ + J , Arsenit in Thioarsenat (S + AsO2" SAsO2") oder Cyanid in Thiocyanat über (S + C N " SCN~). Der Mechanismus dieser Schwefelübertragungen sei anhand der Umsetzung der Polythionate mit Sulfit in Wasser näher erläutert. Sie führt zunächst unter assoziativer nucleophiler Substitution von Thiosulfat S 2 0 2 " durch die SO2"-Gruppe zu einem um 1 Schwefelatom ärmeren Polythionat, also beispielsweise ausgehend von Pentathionat S 5 0 2 " zu Tetrathionat S 4 0 2 " : 03S:2^^03SSS—SSO3
^
~0 3 SSS—SO 3 ~ + :SSO2"
(3)
(nucleophiler Angriff von SO2" an der mit einem Pfeil bezeichneten Stelle; vergleiche hierzu die Reaktion von SO2" mit S 8 , S.548). In einer Folgereaktion, die analog (3) abläuft, wird anschließend das gebildete Tetrathionat durch Sulfit in Trithionat S 3 0 2 " und Thiosulfat überführt ( O S 2 " + O 3 SS— SSO 3 +± ~0 3 SS—SO 3 + SSO2"). Insgesamt wandelt sich somit S 5 0 2 " in Anwesenheit von Sulfit auf dem beschriebenen zweistufigen Weg in Trithionat und Thiosulfat um. Entsprechend werden Polythionate ganz allgemein von Sulfit zu Trithionat und Thiosulfat abgebaut: S n O2" + (n — 3)SO2" S302" + (« — 3 ) S 2 0 2 " . Man nutzt diesen Schwefelkettenabbau („Sulfitabbau") zum analytischen Nachweis von Polythionaten Das Gleichgewicht der Umsetzung von Sulfit mit Polythionaten S „ z u nächstniederen Polythionaten S n _ 1 0 2 " und Thiosulfat (z.B. (3)) liegt auf der Thiosulfatseite. Es lässt sich jedoch durch Entfernen von Sulfit (z. B. mit Formaldehyd: HSO 3 + 0 = C H 2 -> HO—CH 2 —SO 3 ~) auf die entgegengesetzte Seite verschieben, was einem Schwefelkettenaufbau entspricht (vgl. z.B. Rückreaktion (3)). Die Sulfurierung anderer chemischer Stoffe mit Polythionaten erfolgt ebenfalls nach dem Prinzip (3). So führt etwa die Einwirkung von Cyanid auf das Polythionat S 5 0 2 " in Wasser gemäß C N " + "0 3 SSS—SSO 3 ^ - 0 3 S S S C N + SSO2" zu Cyandisulfan-sulfonat, welches seinerseits durch Cyanid in Cyansulfan-sulfonat "O 3 SSCN und Thiocyanat umgewandelt wird: CN~ + ~0 3 SS—SCN -> ~0 3 SSCN + S C N " . D a s Ion "O 3 SSCN hydrolysiert schließlich nach " 0 3 S — S C N + O H " ^ ~ 0 3 S O H + SCN~ zu Sulfat und Thiocyanat, sodass der ,,Cyanidabbau" von S 5 0 2 " also insgesamt nach der Summengleichung S 5 0 2 " + 2CN~ + 2OH~ 2SCN~ + S 2 0 2 " + SO;;" + H 2 O abläuft.
• 600
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Hydrolyse Das beim Sulfitabbau gebildete Trithionat S3Og setzt sich schließlich mit Wasser weiter zu Sulfat und Thiosulfat um: "0 3 S—SSO 3 + H 2 0
"0 3 S—OH + HSSO 3 .
(4)
Allerdings erfolgt diese Hydrolyse von Trithionat viel langsamer als dessen Bildung durch Sulfitabbau der Polythionate (t y (50°C) bei pH = 14/12 bis 2/ —0.5 gleich 1/60/1 h). Ganz allgemein hydrolysieren Verbindungen d e / Typs "0 3 S—X (X z.B. F, Cl, Br, CN, SCN, S 2 0 3 , S") gemäß: "0 3 S—X + H 2 0 -> -0 3 S—OH + HX (vgl. Gl. (4)). Die Reaktionsgeschwindigkeit hängt dabei wesentlich von der Art der Abgangsgruppe ab und ist beispielsweise im Falle von C sehr groß, im Falle von X " = S 2 " sehr klein. Thermolyse. In wässeriger Lösung zersetzen sich die Polythionate allmählich, wobei die Zersetzungsgeschwindigkeit für die einzelnen Polythionate in unterschiedlicher Weise vom pH-Wert abhängt (T^ (50 °C) für S 4 02" und S 5 O^ bei pH = 12/9 — 5/2 — 0 gleich 1 /60/5000 h, für S 6 O^ bei pH = 8 — 7/4/2/0 gleich 5/10/60/500h). Hierbei zerfällt Trithionat hauptsächlich in Thiosulfat und Sulfat (S 3 0g- + 2OH~ -> S 2 Og- + SOg- + H 2 O; s. o.), Tetrathionat in Trithionat und Pentathionat (2S 4 Og- -> S 3 Og- + S 5 Og-) und Pentathionat sowie höhere Polythionate unter Schwefelbildung in das nächstniedere Polythionat (S„Og- ^ S n - 1 O g - + i S s ) . Auf dem Wege s„og-
— *
—
S
b -
^ 2 -
— „
-S
s„-2O22-
-xS
>S3O2-
+ 2OH~; - H 2 0
• S2Og- + SOg-
verwandeln sich Polythionate infolgedessen letztlich in Schwefel, Thiosulfat und Sulfat. Da die Polythionsäuren ihrerseits aus Thiosulfat und Schwefel entstehen können (vgl. Gleichungen (1) und (2)), disproportioniert S 2 Og- auf dem diskutierten Wege - gemäß der thermodynamischen Forderung, vgl. S. 579 - letztendlich in Sulfid und Sulfat. Der Zerfall der Polythionate (jeweils nach einer Induktionsperiode) wird offensichtlich durch Sulfit, das sich zunächst in Spuren bilden muss, ausgelöst. Und zwar führt SOg- das betreffende Polythionat in das nächstniedere Polythionat über: S n Og-t- SOg Sn _ 1 Og - + S 2 Og- (vgl. z.B. (3)), wobei das gebildete Thiosulfat unter Rückbildung des Katalysators SOg- Schwefel ausscheidet: (S 2 Og- -> | S s + SOg- (vgl. (1)). Insgesamt läuft also folgende Reaktion ab: S„0g- -> S n - 1 O g s . Im Falle der Tetrathionatzersetzung setzt sich das im ersten Reaktionsschritt gebildete Thiosulfat ( S 4 0 g - + SOgS 3 Og- + S 2 Og-) zudem mit S 4 Og- unter Schwefelkettenaufbau um: S 4 Og- + S 2 Og- ^ S 5 Og- + SOg- (Umkehrung von (3)). Damit ergibt sich für den S 4 Og--Zerfall folgende Summengleichung 2 S 4 0 g S 3 Og- + S 5 Og-. Bezüglich des Zerfalls von S3Og - vgl. Gl. (4) und das Kleingedruckte, oben.
2.5.8
Peroxomonoschwefelsäure H o S0 K und Peroxodischwefelsäure H 2 S 2 0 8
Peroxodischwefelsäure H 2 S 2 0 8 . Darstellung In analoger Weise, wie m a n durch Oxidation von S u l f i t e n zu Dithionaten gelangt (S. 594), k o m m t m a n durch Oxidation von S u l f a t e (oder Hydrogensulfaten) zu Peroxodisulfaten: 2S02- ^
S2Og- + 2 © .
Die Oxidation ist aber weit schwieriger als dort, da die Peroxodisulfate ein sehr großes Bestreben haben, unter Rückbildung von Sulfat - also in Umkehrung der Bildungsgleichung - o x i d i e r e n d zu w i r k e n (vgl. Potentialdiagramme S. 579). M a n kann daher zur Oxidation nur die s t ä r k s t e n O x i d a t i o n s m i t t e l , nämlich F l u o r (F 2 + 2 © -> 2 F ) oder eine A n o d e entsprechend positiven Potentials verwenden Die technische Darstellung der Peroxodischwefelsäure (,,Marshall'sche Säure") und ihrer Salze (Peroxodisulfate) erfolgt so, dass man wässerige Schwefelsäure (ca. 560 g pro Liter) oder eine Lösung von (NH 4 ) 2 SO 4 (ca. 210 g pro Liter), Na 2 SO 4 bzw. K 2 SO 4 in Schwefelsäure (ca. 260 g pro Liter) mit hoher Stromdichte unter Verwendung von Platinanoden (hohe Überspannung des Sauerstoffs) elektrolysiert (Wasserstoffentwicklung an der Kathode). Besonders leicht sind dabei Kalium- und Ammonium-peroxodisulfate zu gewinnen, da sie wegen ihrer Schwerlöslichkeit leicht auskristallisieren (das Natriumsalz wird aus dem Ammoniumsalz und NaOH gewonnen). Hohe Konzentration und hohe Stromdichte ( ~ 1 A/dm 2 ) sind deshalb erforderlich, weil bei verdünnten Lösungen und kleinen Stromdichten infolge der geringen Konzentration entladener Sulfat-Ionen letztere nicht miteinander (2SO 4 -> S 2 Og-), sondern mit dem Wasser unter Bildung von Sauerstoff (2SO 4 + H 2 0 -> 2HSO 4 + j 0 2 )
2. Der Schwefel
601
reagieren. Auf diesem letzteren Vorgang beruht ja die verstärkte anodische Sauerstoffentwicklung bei der Elektrolyse schwefelsauren statt neutralen Wassers Eigenschaften Peroxodischwefelsäure^^fd% = H 0 3 S — O — O — S 0 3 H , die in F o r m farbloser, hygroskopischer, bei 65 °C unter schwacher Zersetzung schmelzender Kristalle erhältlich ist, und farblose Peroxodisulfate S20\~ = ~Oß—O—O—S03~ (Abstände 00/S0endo/ S0 e x o = 1.31/1.50 Ä/ca. 1.45 A) sind s t a r k e 0 x i d a t i o n s m i t t e l . Das 0xidationspotential hat in b a s i s c h e r Lösung ( S 2 0 g " + 2 © 2 S O g " ) den Wert s 0 = + 1 . 0 V , in s a u r e r Lösung ( S 2 0 g " + 2H+ +2Q 2 H S 0 4 ) den Wert e 0 = + 2 . 0 1 V. So werden z.B. Eisen(II)-salze zu Eisen(III)-salzen (Feg + -> F e 3 + + ©), Mangan(II)-salze zu Braunstein (Mng + + 2 H 2 0 -> M n 0 2 + 4 H + + 2 © ) bzw. - bei Gegenwart von Silber-Ionen als Katalysator - zu Permanganat ( M n g + + 4 H 2 0 ->• M n 0 4 + 8 H + + 5 ©), Chrom(III)-salze - bei Gegenwart von Silber-Ionen - zu Dichromat ( 2 C r 3 + + 7 H 2 0 ->• C r 2 O g " + 1 4 H + + 6 © ) , Silbersalze zu „Silberperoxid" ( 2 A g + + 2 H 2 0 ->• A g 2 0 2 + 4 H + + 2 © ) oxidiert. Fast alle Peroxodisulfate sind in Wasser löslich; die Lösungen sind verhältnismäßig beständig. Dagegen unterliegt die f r e i e Peroxodischwefelsäure in wässeriger Lösung rascher H y d r o l y s e : H03S—00—S03H + H20
H03s—00H + H0—S03H
Verwendet werden die Peroxodisulfate (Weltjahresproduktion ca. hundert Kilotonnen) als Starter radikalischer Polymerisationen, für Ätzungen gedruckter Schaltungen, für Bleichprozesse. Peroxomonoschwefelsäure H 2 SO 5 . Die bei der Hydrolyse von H 2 S 2 O s neben Schwefelsäure entstehende Peroxomonoschwefelsäure (Peroxoschwefelsäure; „Caro'sche Säure") lässt sich in langsamer Reaktion weiter zu Schwefelsäure und Wasserstoffperoxid (s. dort) hydrolysieren: H0
00H
H0
0H
H00H
Die Reaktion ist umkehrbar, sodass man durch Einwirkung von 100 %igem Wasserstoffperoxid auf kalte, konzentrierte Schwefelsäure Peroxoschwefelsäure erhalten kann. Nimmt man statt H 2 S0 4 die Säure HS0 3 Cl, so kann man bei Einwirkung von H 2 0 2 die Peroxomonoschwefelsärue H 2 S0^ in farblosen, bei 45 °C schmelzenden, hygroskopischen, bei weiterer HS03Cl-Einwirkung in H 2 S 2 0 8 übergehenden Kristallen erhalten (Abstände 00/S—O2 H/S—0H/S—0 1.464/1.602/1.524/ca. 1.425 Ä, Winkel H0 2 —S—0H/0—S—0/H—O—O—S 104.0/121.4/104°): H00H
+ HS0,C1 — HCl
H0 3 S—O—0H
+HS0C1
—» H0 3 S—O—O—S0 3 H
— HCl
Zum Unterschied von der auf Kaliumiodidlösung nur langsam ansprechenden Peroxodischwefelsäure scheidet die Peroxomonoschwefelsäure, die weniger stabil als erstere ist, aus Kaliumiodidlösungen augenblicklich Iod aus. Salze M 2 S0 5 der Peroxomonoschwefelsäure (,,Peroxosulfate") sind nicht bekannt, dagegen Salze M'HS0 5 (,,Hydrogenperoxosulfate"; z.B. KHS0 5 • H 2 0 mit dem Anion S0 3 (00H)~ Abstände O—0/S—0 2 H/S—0 1.463/1.634/1.445 Ä; Winkel H0 2 —S—0/0—S—0/H—O—O—S 103.9/ 114.4/87°) Das im Handel erhältliche Tripelsalz (KHS0 5 ) 2 • KHS0 4 • K 2 S0 4 („Oxone") wird als wirksames 0xidationsmittel genutzt
2.6
Stickstoffverbindungen des Schwefels
Die Chemie der Schwefelstickstoffverbindungen ist durch eine unerwartete Vielfalt faszinie render Verbindungen gekennzeichnet. Einige dieser Substanzen werden nachfolgend besprochen, und zwar zunächst die Schwefelnitride (einschließlich der Schwefelimide), dann die Schwefelnitrid-Kationen sowie -Anionen und schließlich die Schwefelnitrid-halogenide und -oxide. Bezüglich einer Reihe von Schwefelstickstoffverbindungen, die sich von den Stickstoffwasserstoffen durch Austausch eines oder mehrerer Wasserstoffatome gegen den einwer tigen Sulfonsäurerest S 0 3 H bzw. die zweiwertige Sulfurylgruppe S 0 2 oder Thionylgruppe S 0 bzw. von Schwefelsauerstoffverbindungen durch Substitution der 0 - A t o m e gegen isoelektronische N R - G r u p p e n ableiten; vgl. S.740 sowie bei S 0 2 , S 0 3 , SO^", S02~-
• 602
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Die Schwefelnitride enthalten vielfach die mit S0 2 isoelektronische Gruppierung — NSN—, die im Sinne des VESPR-Modells (S. 313), des VB-Modells (sp-Hybridisierung des Schwefels; Mesomerieformel (a); Kurzschreibweise (b); S. 364) und des MO-Modells (18 Valenzelektronen (S. 357), Dreizentren-Vierelektronen-7i-Bindung (S. 360)) gewinkelt ist. Die SN-Bindungen sind mit 1.5-1.6 A kürzer als Einfachbindungen (ber. für Einfach-/Doppelbindung 1.74/1.54 Ä), was auf heterovalente Bindungen neben kovalenten %- und cr-Bindungen zurückgeht. ö++
5 _ N
2]
N
//
X„M \
S
N—S
\
N
>'/
[Cl3V(S2N3)]
N—Sv / X„M
N
w
N
S
[Cl4Mo(S2N3)] -
/
Cp 2 Ti
\
N N—S
-7
[Cp2Ti(S3N 2 )]
605
N^S
X/
/S-N
S ^ ,
\ / /
N
^S
[Pd2(S3N2)(S3N) 2 ]
N* /
N
Cp 2 Ti N. [Cp2Ti(S3N 4 )]
\ /
I I
N — P t — C1
[ClPt(S4N 3 )]
Fig.156 Strukturen einiger Metallkomplexe mit Schwefelnitrid-Chelatliganden (Cp = C 5 H 5 ; es existierenauch Komplexe mit den IonenS 2 N 3 = NSNSN" bzw. SN2Y2- = NSNY 2 " (protoniert HNSNY" mit Y = Se, Te). Gerüst in das des As 4 S 4 um (Fig. 155) N anstelle von As, aber keine NN-Bindungen). Im 2 :1-Addukt (S 4 N 4 ) 2 SnCl 4 sowie 7 ; 2-Addukt S 4 N 4 • 2 C u C l behält das Schwefelnitrid seine Konformation bei (in letzterem Falle wirkt S 4 N 4 als verbrückender Ligand zwischen —Cu—Cl—Cu—Cl—Zick-Zack-Ketten). Das 7 ; 4 - A d d u k t ^ ^ ^ • 4 AlCl 3 stellt ein A d d u k t S 2 N 2 • 2AlCl 3 dar. Überschüssiges AlCl 3 depolymerisiert somit S 4 N 4 zu S 2 N 2 (s.o.). In anderen Fällen reagieren Metallsalze wie Pb(N0 3 ) 2 in flüssigem Ammoniak oder CoCl2, NiCl 2 , PdCl2, PtCl2 in Methanol mit S 4 N 4 unter Ringspaltung und Bildung von Metallkomplexen57'58 [M(S 2 N 2 )] 2 (planar; im Falle M = CpCo: monomer), [M(S 2 N 2 H) 2 ] (planar; cis-Konfiguration der HAtome), [M(S 3 N) 2 ] (planar), [M(S 2 N 2 H)(S 3 N)] (planar) und [Pd 2 (S 3 N 2 )(S 3 N) 2 ] (mehrcyclisch), welche die Ionen S 2 N2", S 2 N 2 H", S 3 N" bzw. S 3 N2" als zweizähnige Schwefelnitrid-Chelatliganden enthalten (vgl. Fig. 156 und S.610, 1320). In analoger Weise führt die Einwirkung von VC14, MoCl 5 , WC16 auf S 4 N 4 in Anwesenheit von Chlorid zu S 2 N 3 "-Komplexen vom Typ [Cl n M(S 2 N 3 )]" (planarer, sechsgliederiger, mesomeriestabilisierter MS 2 N 3 -Ring mit einheitlichen SN-Abständen von ca. 1.58 Ä); auch setzt sich Cp 2 Ti(C0) 2 mit S 4 N 4 zu Komplexen mit den Liganden S 3 N2" sowie S 3 N j " um (Fig.156; der S 3 N 2 -Ligand im erwähnten mehrcyclischen Pd- und im Ti-Komplex haben gemäß Fig. 156 unterschiedliche Konstitution). Ein Beispiel für einen Komplex, in welchem ein Schwefelnitrid-Ligand nicht zwei-, sondern dreizähnig wirkt, ist ClPt(S 4 N 3 ) (gewinnbar aus S 4 N 4 und cis-(PhCN)2PtCl2; Fig. 156). Bezüglich der Thionitrosyl-Komplexe L n M(NS) siehe S. 606. Reaktionen mit Reduktionsmitteln Durch elektrochemische Reduktion erhält m a n aus S 4 N 4 das Radikalanion S 4 N 4 , welches sich oberhalb — 20°C in das Anion S 3 N 3 umwandelt und sich unterhalb — 20 °C weiter zu S 4 N 2 " und darüber hinaus zu SN2" und S2" reduzieren lässt (s.u.). Bei der Hydrierung mit nascierendem Wasserstoff (z. B. SnCl 2 in siedendem Ethanol/Benzol: SnCl 2 + 2 R 0 H -> S n C l 2 ( 0 R ) 2 + 2 H n a s c ) oder der Reduktion mit Dithionit geht Schwefelnitrid in eine Wasserstoffverbindung über, welche die in Fig.155 wiedergegebene Struktur eines N-hydrierten Schwefelstickstoffs besitzt: S 4 N 4 + 4 H n a s c -> S 4 N 4 H 4 . Die Reduktion mit Iodwasserstoff führt darüber hinaus unter Ringspaltung zu A m m o n i a k und Schwefelwasserstoff ( S 4 N 4 + 2 0 H I ^ 4 N H 3 + 4 H 2 S + 101 2 ), die mit Schwefelwasserstoff zu Ammoniak und Schwefel (Umkehrung der Bildung, s.o.).
5 8 Literatur. T. Chivers, F. Edelmann: ,,Transition-Metall Complexes of Inorganic Sulphur-Nitrogen Ligands", Polyhedron 5 (1986) 1661-1699; P.F. Kelly, J . D . Woollins: ,,The Preparation and Structure of Complexes Containing Simple Sulphur-Nitrogen Ligands", Polyhedron 5 (1986) 607-632; H.W. Roesky, K . K . Pandey: ,,Transition-Metal Thionitrosyl and Related ComplexesAdv. Inorg. Radiochem. 26 (1983) 337-356; B. F. G. Johnson, B. L. Haymore, J . R . Dilworth: ,,Thionitrosyl ComplexesComprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 118-122; K . K . Pandey: ,,Coordination Chemistry of Thionitrosyl (NS), Thiazate (NSO~), Disulfidothionitrate (S3NSulfur Monoxide (SO), and Disulfur Monoxide (S20) LigandsProgr. Inorg. C h e m 40 (1992) 445-502.
• 606
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Die Struktur des cyc/o-Tetraschwefeltetraimids S 4 (NH) 4 (Smp. 145°C) leitet sich vom gewellten SS-Ring durch Austausch jedes zweiten S-Atoms gegen eine NH-Gruppe ab, wobei sowohl die NH-Gruppen wie die S-Atome an den Ecken eines Quadrats lokalisiert sind. Damit unterscheidet sich der S 4 (NH) 4 vom S 4 N 4 -Ring (Fig. 155), bei dem nur die N-, aber nicht die S-Atome ein Quadrat bilden. Alle SN-Abstände sind im S 4 (NH) 4 -Molekül gleich groß und betragen 1.67 Ä, was einer Einfachbindung entspricht (ber 1.74 Ä für Einfach-, 1.54 Ä für Doppelbindung). Die vier H-Atome sind alle nach einer Seite hin orientiert. Sowohl der NSN-Winkel (110°) als auch der SNS-Winkel (129°) ist größer als der SSS-Winkel in S s (108 ), womit also der (NH) -Ring insgesamt ebener als der -Ring ist Bei der alkalischen Hydrolyse geht S 4 (NH) 4 in Anwesenheit von S O in N H und S 3 Og- (Hauptprodukt) über Chlor dehydriert S 4 (NH) 4 zu S 4 N 4 , Sauerstoff oxidiert das Imid (möglicherweise zum Thionylimid (SONH)4; vgl. hierzu S. 572 und (SO 2 NH) 4 auf S. 573). Als schwache Säure bildet S 4 (NH) 4 Salze wie S 4 (NNa) 4 , S 4 (NAg) 4 , als Base Komplexe wie [Ag(S 4 N 4 H 4 ) 2 ]2 (Sandwich-Struktur, alle acht S-Atome an A geknüpft). Außer dem Tetraschwefeltetraimid (NH) sind auch -Ringe mit geringerer Substitution von SAtomen durch NH-Gruppen bekannt. Derartige Schwefelimide erhält man bei der Reaktion von NH 3 mit SC12 oder S2C12 in heißem Dimethylformamid (man gießt das zunächst gebildete, S 4 N~-haltige Reaktionsgemisch in kalte Salzsäure) bzw. nach anderen Methoden. Hierbei bilden sich in keinem Falle Isomere mit benachbarten NH-Gruppen, sondern nur blassgelbes Heptaschwefelimid S 7 (NH) (Smp. 113.5°C), drei isomere farblose Hexaschwefeldiimide S6 (NH) 2 (Smp. 130°C (1,3), 133°C (1,4), 155°C (1,5)), zwei isomere farblose Pentaschwefeltriimide S5 (NH) 3 (Smp. 128°C (1, 3, 5), 133 °C (1, 3, 6)) und ein Tetraschwefeltetraimid (s. oben). Die Konformation aller Schwefelimide gleicht der von S s (Kronenform), wobei die N-Atome trigonal-planar mit zwei S-Atomen und einem H-Atom umgeben sind. Das eingehender untersuchte Heptaschwefelimid S 7 (NH) lässt sich besonders bequem aus S s und NaN 3 in (Me 2 N) 3 PO als Lösungsmittel gewinnen: 7/8Ss + NaN 3 -> N 2 + S 7 (NNa) (Protolyse zu S 7 NH). Es zersetzt sich thermisch wie S 6 (NH) 2 in S 4 N 4 , lässt sich zu S 7 (NH)(O) oxidieren und zu S 4 N " (blau) elektrochemisch reduzieren (S 7 NH + 2 Q -> S 4 N _ + S 3 + 72 H 2 ). Es wirkt wie die anderen Schwefelimide als schwache Säure. Demgemäß bilden sich mit NaR oder Hg(ac)2 die Salze S 7 NNa und S 7 N—Hg—NS 7 , mit BX3 (X = Cl, Br), CH 3 COCl und Me 3 SiNMe 2 die Verbindungen S 7 NBX 2 , S 7 NCOCH 3 und S 7 NSiMe 3 , mit SmCl2 Oligoschwefeldinitride S7N—Sm—NS7 (s. dort), mit SOC12 die Verbindung SO NS Man kennt auch Schwefelimide, die sich von S 6 ,S 9 ,S 1 0 ,S 1 2 durch NH-Ersatz einiger S-Atome ableiten (z.B. S 4 (NH) 2 ( s . u . ) ^ g N H ^ , N H ^ 1 1 N H ) , wobei die S—NH—S-Gruppen planar sind (nicht in S 6 (NH) 2 wegen einer Wechselwirkung des freien Elektronenpaares am Stickstoff mit den a*-Orbitalen der benachbarten SS-Bindungen). Reaktionen mit Oxidationsmitteln. Die elektrochemische Oxidation führt S 4 N 4 unter Ringerhalt über S 4 N 4 in S 4 N g 2 , unter Ringvergrößerung in S5N;J" und unter Ringverkleinerung in S 3 N 2 über (s.u.). Diese und andere Schwefelnitrid-Kationen bilden sich auch bei der Einwirkung von Lewis-Säuren mit Oxidationswirkung (z.B. AsF 5 , SbF 5 , S b O s , Sg2, T 4 2 , S N + ) auf S 4 N 4 . Von Fluor F 2 bzw. Fluorierungsmitteln (z. B. A g F 2 , H g F 2 ) wird S 4 N 4 in S„N n F„ (n = 1, 3, 4), von Chlor in S 3 N 3 C1 3 und von Brom sowie Iod in ( S N B r ^ ) , ^ S 4 N 3 B r bzw. ( S N I < 0 übergeführt Weitere Schwefelnitride57 Schwefelmononitrid S N (AHf = + 281 kJ/mol) bildet sich z. B. bei der elektrischen Entladung eines Schwefel-Stickstoff-Gasgemischs oder im Zuge der thermischen Zersetzung von gas förmigem S 4 N 4 (s.o.) als reaktives, rasch in Schwefel, Stickstoff und höhere Schwefelnitride zerfallendes Teilchen. Der SN-Abstand beträgt 1.497 Ä (ber. f ü r Einfachbindung: 1.74 Ä, für Doppelbindung: 1.54 Ä), die SN-Dissoziationsenergie 463 kJ/mol. SN ist wie NO ein Molekül mit „ungerader" Elektronenzahl (,,odd-Molekül"): [ S = N S = N ] , welches durch Abgabe bzw. Aufnahme eines Elektrons in ein Teilchen mit ,,gerader" Elektronenzahl übergeführt wird (Bildung von : S = N : + , S = N ~ ; vgl. hierzu weiter unten). NS vermag analog NO als Ligand in Komplexen58 aufzutreten und lässt sich in komplexgebundener Form ,,isolieren". Zur Gewinnung von ,,Thionitrosyl-Komplexen" setzt man vielfach das dem Nitrosyl-Kation NO + entsprechende Thionitrosyl-Kation (,,Thiazyl-Kation") NS + in Form von Salzen wie NS + PFg (s.u.) oder von potentiellen NS + -Quellen wie N3S3C13 (s.u.) mit geeigneten Metallkomplexen um (man kann auch Thiazyl-
2. Der Schwefel
607
fluorid-Komplexe L n M(NSF) defluorieren oder Nitrid-Komplexe L„M(N) sulfurieren). In den strukturell geklärten NS-Komplexen (z.B. [CpCr(C0) 2 (NS)], [ R u Q 4 ( H 0 ) ( N S ) J " [ 0 s Q 3 ( P ^ ) 2 ( N S ^ ) liegen lineare M—N=S-Gruppierungen mit kurzen NS-Abständen um 1.55 A (Bindungsordnung 2.0 bis 2.5) vor. Dischwefeldinitrid S 2 N 2 entsteht beim Überleiten von gasförmigem Tetraschwefeltetranitrid S 4 N 4 über erhitzte Silberwolle bei 300 °C im Vakuum (Ag bindet den durch S 4 N 4 -Zersetzung nebenbei entstehenden und mit S 2 N 2 zu S 4 N 2 reagierenden Schwefel; statt S 4 N 4 kann auch weniger explosives S 4 N 3 C l verwendet werden):
Struktur Das mit S ( S . 555) isovalenzelektronische ringförmig-planare, nahezu quadratische Molekül (D2h-Symmetrie) lässt sich durch die wiedergegebene Mesomerieformel näherungsweise beschreiben (vgl. Formeln (a) und (b) auf S.602 sowie unten). Die SN-Abstände betragen 1.651 und 1.657Ä (ber. für Einfach-/Doppelbindung 1.74/1.54 Ä), die NSN-/SNS-Winkel 89.9/90.4°). Der quadratische Bau des S2No2-Moleküls (etwa gleichlange NN- und SS-Abstände von ca. 2.3 Ä; van-der-Waals-Abstände 3.2 und 3.6 A) geht auf elektrostatische Abstoßung der negativ-polarisierten N- und positiv-polarisierten S-Atome zurück ( + 0.2 Ladungen auf jedem Atom). Das Molekül S 2 N 2 ist nach Berechnungen trotz seiner 671Elektronen (^-Elektronen von der Gruppe — NSN—, ^-Elektronen vom verbleibenden S-Atom) kein Aromat 59 , sondern besitzt einen Singulett-Diradikal-Charakter (vier 71 -Elektronen + zwei nicht bindende -Radikalelektronen entgegengesetzten Spins). Eigenschaften. S 2 N 2 bildet farblose, wasserunlösliche, etherlösliche, leicht sublimierbare Kristalle (Dampfdruck: 0.01 mbar bei Raumtemperatur), die mit Lewis-Säuren wie B Q 3 , AlCl 3 oder S b 0 5 Lewis-Säure-Base-Addukte bilden (z.B. S 2 N 2 • B 0 3 , S2N2 • 2 A l a 3 , S 2 N 2 • S b 0 5 , S 2 N 2 • 2 S b O s ; die Bindung zur Säure erfolgt über Stickstoff). S 2 N 2 ist nur bei tiefen Temperaturen längere Zeit haltbar und zersetzt sich bei 30 °C (gegebenfalls explosionsartig) in die Elemente (Ai7 f ca. 230 kJ/mol). Spuren von Wasser, Alkali oder Kaliumcyanid katalysieren die Dimerisierung von S 2 N 2 zu S 4 N 4 . In Abwesenheit derartiger Katalysatoren polymerisiert S 2 N 2 bei Raumtemperatur langsam zu Polyschwefelpolynitrid. Polyschwefelpolynitrid (SN) X ist eine bronzefarbene, diamagnetische, bei 130 °C schmelzende und bei 240 °C explosionsartig zerfallende Kettenverbindung:
(vgl. Fig. 155; SN-Abstände im nahezu planarem (SN) X im Mittel 1.6 Ä, Winkel N S N / SNS = 106.2°/120°). Die - auch als Polythiazyl bezeichnete - Verbindung, die besonders gefahrlos gemäß 3 ( C H 3 ) 3 S i N 3 + (NSCl) 3 3Ix (SN)X + 3 ( C H 3 ) 3 S i O + 9 / 2 N 2 zugänglich ist, weist entlang der Ketten metallische Leitfähigkeit auf und verwandelt sich unterhalb 0.33 K in einen Supraleiter. Die Leitfähigkeit von (SN) X lässt sich durch teilweise Bromierung (-> schwarzblaues ( S N B r 0 4 ) x ) noch erhöhen. Monoschwefeldinitrid S N (isovalenzelektronisch mit N 2 0 ) entsteht als kurzlebige, in Stickstoff und Schwefel zerfallende Reaktionszwischenstufe beim Erwärmen von Phenylthiatriazol auf 100 °C (Matrixisolierung bei 20 K):
59 Aromatische Ringsysteme weisen (4n + 2)71-Elektronen (n = 0, 1, 2, 3 ...) also 2, 6, 10, 147i-Elektronen auf.
• 608
XIII. Die Gruppe der Chalkogene N—N Ph—C.
100°C
—-[:N=N—S: ^ N=N=S ] - Ph—C=N
N
N 2 + ± S8
Tetraschwefeldinitrid S 4 N 2 hat gemäß Fig.155 eine ganz andere Struktur als das Sauerstoffhomologe N 2 0 4 und besitzt auch nicht analog jenem die Neigung zum Zerfall in Moleküle S 2 N. Es bildet einen nicht planaren, sechsgliederigen Ring, wobei die Atomfolge S—N—S—N—S in einer Ebene liegt und durch ein oberhalb dieser Ebene liegendes Schwefelatom verbrückt ist. Die Abstände SS/SN/NS(N) betragen 2.055/1.661/1.561 Ä, die Winkel SSS/SSN/SNS/NSN 103.2/103.9/127.3/121.1°. Die Verbindung bildet tiefdunkelrote Kristalle, die bei 25 0 C schmelzen. Sie entsteht bei der Einwirkung von Schwefel auf S 4 N 4 in siedendem Toluol sowie aus S 4 N 4 ohne Schwefel in siedendem Xylol: N—S—N 1 Ü " 2 |i :|
— s S-7 ^N— S «
o/N
N - S — N
"
"
Darüber hinaus bildet sie sich aus S 4 N 3 Cl (s.u.) mit ZnS (aktiviert mit Zn oder Ag2Se) bei 180 °C, durch thermische Zersetzung von Hg(NS 7 ) 2 bei Raumtemperatur bzw. durch Einwirkung von wässerigem Ammoniak auf S2C12. Das Nitrid S 4 N 2 wandelt sich bereits bei — 10 0 C langsam (in Wochen) in Polyschwefelpolynitrid (SN)X (s. oben) und Schwefel um und explodiert wie S 4 N 4 oberhalb 100 0 C. Die Hydrierung führt zu Tetraschwefeldiimid S 4 (NH) 2 , das sich von cyc/o-Hexaschwefel S 6 durch NH-Ersatz zweier durch ein S-Atom voneinander getrennter Schwefelatome ableitet, die elektrochemische Reduktion gemäß 3S 4 N 2 + 14© 2S3N3" + 6S 2 " (Reaktionszwischenprodukt wohl S 4 N 2 ) zum Anion S3N3 . Pentaschwefelhexanitrid S 5 N 6 bildet sich bei der Einwirkung von Bis(trimethylsilyl)schwefeldiimid Me 3 SiN=S=NSiMe 3 auf S 4 N 4 C1 2 (s. dort) in guter Ausbeute:
C1
A
/ N\ N.
/S\C1 XN
s 4- Me3SiN^' ^NSiMe3
s
I
N
\
Z-N
+
2Me3SiCl.
Auch bei der Behandlung von Tetrabutylammonium-tetraschwefelpentanitrid B mit Brom in Methylenchlorid bildet es sich in 75%iger Ausbeute. Das explosive Nitrid ist in orangefarbenen Kristallen (Sblp. 45 °C/10"2 mbar) erhältlich, die unter Schutzgas bei Raumtemperatur stabil sind, sich jedoch an Luft augenblicklich schwarz färben und ab 130°C thermisch zerfallen. Mit Pd 2 Cl2" bildet S 5 N 6 u.a. den Komplex PdCl 2 (S 2 N 3 )" mit dem Liganden S2N3" (planarer PdS 2 N 3 -Ring). Die Struktur von S 5 N 6 leitet sich von der des Tetraschwefeltetranitrids S 4 N 4 durch Einbau einer Schwefeldiimidgruppe —NSN— in eine SS-Bindung ab (Fig. 155). Es resultiert ein korbartiger Molekülbau mit S 4 N 4 als eigentlichem Korb und NSN als zugehörigem Henkel. Die SN-Abstände betragen innerhalb des S 4 N 4 -Molekülteils durchschnittlich 1.61 Ä, innerhalb des NSN-Molekülteils 1.526 Ä und an der Verknüpfungsstelle zwischen S 4 N 4 und NSN 1.706Ä. Der SS-Abstand im S 4 N4-Molekülteil ist mit 2.425 Ä kürzer als jener im S 4 N 4 -Molekül selbst (2.58 Ä). Der Einbau von Schwefeldiimidgruppen in beide SSBindungen von S 4 N 4 würde zu einem Schwefelnitrid der Formel S 6 N 8 führen (vgl. Tab. 68). Oligoschwefeldinitride S n N 2 (n = 11, 15, 16, 17, 19): Durch Umsetzung von Heptaschwefelimid 7 (NH) (s. oben) mit SmCl2 (m = 1, 2, 3, 5) entstehen nach 2S(NH^+SA
-
S„N2 + 2HC1
gelbe Oligoschwefeldinitride S„N2, nämlich Pentadecaschwefeldinitrid S 1 5 N 2 (Smp. 137 0C), Hexadecaschwefeldinitrid S 16 N 2 (Smp. 122 0C), Heptadecaschwefeldinitrid S 1 7 N 2 (Smp. 97 0C) und Nonadecaschwefeldinitrid S 1 9 N 2 , bei denen gemäß der Struktur S 7 N—S m —NS 7 zwe^ 7 N-Reste über ein, zwei, drei bzw. fünf Schwefelatome miteinander verknüpft sind. Erwähnenswert ist weiter das aus 1,3-S 6 (NH) 2 u n d 5 C 1 2 entstehende bernsteinfarbene Undecaschwefeldinitrid S u N 2 (Smp. 150 0C; bezüglich der Struktur des Nitrids mit „planaren" N-Atomen vgl. Fig. 155):
2. Der Schwefel
609
Schwefelnitrid-Ionen 57
2.6.2
Schwefelnitrid-Kationen Überblick. M a n kennt Schwefelstickstoff-Monokationen der Zusammensetzung S n N * (n = \, 3, 4, 5), S B + 1 N + (n = 1, 2, 3) und S ^ N * (W = 3, 5) sowie Schwefelstickstoff-Dikationen der Stöchiometrie S 3 N * + , S 4 N * + und S 6 N 1 + (vgl. hierzu Fig. 157). Das SN + - K a t i o n („Thionitrosyl- " bzw. „ Thiazyl-Kation" : S = N : + ; SN-Abstand 1.495 Ä) entspricht dem Nitrosyl-Kation N 0 + (S. 709), das lineare S 2 N + -Kation (,,Dithionitryl-Kation" S = N = S + ; ^ ^ S y m metrie, SN-Abstand 1.464 Ä) dem Nitryl-Kation N 0 2 (S. 714). Die verbleibenden Ionen stellen - mit Ausnahme von S 4 N 4 , S4N^~ und S 6 N 4 + - planar gebaute Monocyclen dar (vgl. Fig. 157; die Struktur des Ions S 3 N 3 ist noch unbekannt). Die SN-Abstände betragen in den Monocyclen im Mittel 1.56 A (ber. für die Einfachbindung 1.74 A, für die Doppelbindung 1.54 Ä). Die SNS-Winkel (120-150°) sind stets größer als die NSN-Winkel (ca. 110-120°). Das Radikalkation S 4 N 4 bildet einen gewellten Monocyclus (D 4 d-Symmetrie; S an den Ecken eines Quadrats, N abwechselnd ober- und unterhalb), das Kation S 4 N ^ einen nichtebenen Bicyclus (Fig.157; keine SS-Bindung). Im Dikation S 6 N4 + , einem nicht ebenen Tricyclus (Fig. 157), sind zwei S 3 N 2 -Fünfringe über zwei lange S—S-Bindungen (um 3.0 Ä; ber. für Einfachbindung 2.08 Ä, van-der-Waals-Abstand 3.7 Ä) miteinander verknüpft. Die Kationen S 2 N 3 + (6;r-Elektronen), S 3 N 4 + ( ^ - E l e k t r o n e n ) , S 4 N 3 + (10;r-Elektronen), S 4 N4 + ( 1 ^ - E l e k t ronen) und S 5 N$ (147i-Elektronen) stellen Pseudoaromaten d a r 5 9 . Einzelverbindungen Salze mit dem Thionitrosyl-Kation SN + („Thiazyl-Salze", ,,Thiazenium-Salze" SN + X"; X " z. B. AsFg , SW 6 , AlCl 4 , C F 3 S 0 3 ) entstehen bei der Einwirkung von Thiazylfluorid NSF (s.u.) bzw. von Thiazylchlorid NSCl (aus N3S3C13, s.u.) auf starke Lewis-Säuren wie AsF 5 , SW 5 bzw. AlCl3 oder von N3S3C13 auf Silbersalze wie AgAsF 6 sowie CF 3 S0 3 Ag, Salze mit dem Dithionitryl-Kation S 2 N + (,,Dithiazenium-Salze" S 2 N + X " ) bei der Reaktion von Schwefel mit S 4 N 4 /AsF 5 in flüssigem S0 2 oder mit S N + X " in Methylenchlorid: NSF+AsF5 V2S8 + S 4 N 4 + 6AsF 5
S4N3+ (C2V)
S 3 N! + (C2V)
s3N2+ (C2V)
SN + [AsF 6 ]"; 4S 2 N + [AsF 6 ]" + 2AsF 3 .
S4N42+ (D4H)
S5N5+ (C2V)
S6N42+ (C2H)
S 3 NJ (D3H)
S4N5+ (C2V)
S2N3+ (C2V)
S4N5- (C2V)
Fig. 157 Strukturen einiger Schwefelnitrid-Kationen und -Anionen (in Klammern Molekülsymmetrie).
• 610
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
SN + reagiert u.a. mit S 4 N 4 unter Einschiebung (Bildung von S 5 N5) und mit geeigneten Metallverbindungen LnM unter Komplexbildung (L n M—N=S + ), S 2 N + mit Ethylen unter Cycloaddition (Bildung von S 2 N(C 2 H 4 ) 2 + mit Norbornan-Struktur; vgl. S.769)). Das cyclische Trithiadiazenium-Radikalkation S 3 N 2 (,, Thiodithiazyl-Kation") bildet sich beim Auflösen von S 4 N 4 in konzentrierter Schwefelsäure oder in Antimonpentafluorid als ESR-spektroskopisch nachweisbares Reaktionszwischenprodukt. Seine Darstellung erfolgt zweckmäßig durch Oxidation von S 4 N 4 mit [Te£2] [AsFg ] 4 in flüssigem Schwefeldioxid. Das hierbei gebildete Salz S 3 N 2 [AsFg ] lässt sich nach Abdampfen von S O in Form dunkelrotbrauner, in Methylenchlorid löslicher Kristalle isolieren (möglicher Bildungsweg für S3N2+ : S 4 N 4 S4N + S3N2+ + ,,SN 2 " (-> V8S8 + N2)). Das Kation S3N2+, das unter den bekannten Schwefelnitrid-Kationen neben S 4 N 4 ein stabiles Teilchen mit ungerader Elektronenzahl darstellt, liegt in Lösung als diskretes Ion vor. Im Festzustand sind in der Regel zwei S 3 N 2 -Einheiten über lange Schwefel-Schwefel-Bindungen (71 *-7i*-Bindungen, S. 360) miteinander zum Hexathiatetrazenium-Dikation S 6 N 4 + verknüpft (Fig. 157). Letzteres Ion bildet sich z. B. durch Oxidation von S 4 N 4 mit Sf2[AsFg ] 2 und liegt auch im Salz S 6 Nf2[S 2 0 6 C1~] 2 vor, das durch Behandlung des Chlorids S 3 N 2 C1 mit Chlorsulfonsäure gewonnen werden kann 2S 3 N 2 C1 + 4HSO 3 C1 ^ S 6 Nf2[S 2 0 6 C1 "] 2 + 4HCl. Weitere bekanntgewordene S 6 N 4 -Salze enthalten die Anionen S O C F 3 , AsFg , FeCl 4 , S 3 N 3 0 4 , S 2 0 2 F - , S 0 2 F - . Das cyclische Trithiadiazenium-Dikation S 3 N | + (,,Thiodithiazyl-Dikation") entsteht andererseits in reversibler Reaktion durch [2 + 3]-Cycloaddition des Thionitrosyl- und DithionitrylKations: SN + + S 2 N + S 3 Nf2 in flüssigem S O und lässt sich als gelbes S 3 Nf2[AsFg] 2 isolieren (langsames Abdampfen von S O bei 0-5°C). Beim Auflösen des Salzes in fl. S O dissoziiert S 3 Nf2 (planar analog O H 5; 671-Elektronensystem) wieder in SN + und S 2 N + . Das Chlorid S 4 N 3 Cl" mit dem cyclischen Tetrathiatriazenium-Kation S 4 N^ (,, Thiotrithiazyl-Kation") entsteht in ausgezeichneter Ausbeute, wenn man S2C12 auf S 4 N 4 in CC14-Lösung bei Siedetemperatur einwirken lässt. Auch die Reaktion von S3N2C12 auf S2C12 führt zu S 4 N 3 Cl". Das Chlorid der Verbindung lässt sich gegen Br~, I", Br 3 , I 3 , SCN~, N 0 3 usw. austauschen. Auch die Base S 4 N 3 (OH) ist bekannt. Thermisch zersetzt sich S 4 N 3 X" (X~ = Cl", Br") gemäß 2S 4 N 3 X -> S 4 N 4 + 2NSX + ^Sg. Das Tetrachloroferrat (III) des cyclischen Tetrathiatetrazenium-Monokations S 4 N 4 (,,TetrathiazylMonokation") gewinnt man durch Reaktion von (NSCl)3 mit FeCl3 in CH2C12, das Hexachloroantimonat des cyclischen Tetrathiatetrazenium-Dikations S 4 N 4 + (,,Tetrathiazyl-Dikation") durch Reaktion von (NSCl)3 bzw. von S 4 N 4 mit SbCl5 (z.B. S 4 N 4 + 3SbCl 5 ^ S 4 N f ^ 2SbClg + SbCl3; entsprechend reagiert AsF 5 , SW 5 ) oder gemäß S 4 N 4 + FOSOOSO 2 F S 4 N f ^ 2S0 3 F~. Salze des cyclischen Pentathiapentazenium-Kations S s N5 (,,Pentathiazyl-Kation") bilden sich durch Umsetzung von S 4 N 4 mit SN -haltigen Salzen (S SN ). Darüber hinaus entsteht das Chlorid C bei der Umsetzung von S 4 N 4 mit (NSCl)3 (S 4 N 4 + |(NSCl) 3 + AlCl3 ^ S5N5+AlCl4 ) sowie durch thermische Zersetzung von N4S4C12. Das Chlorid lässt sich gegen Bromid und Iodid austauschen. Das orangegelbe Chlorid des bicyclischen Tetrathiapentazenium-Kations S 4 N5 (Smp. 108 °C, Zers.) entsteht bei der Einwirkung von Me3SiNSNSiMe3 auf (NSCl)3 in CC14 bei Raumtemperatur in guter Ausbeute. Es lässt sich in das Fluorid, Hexachloroantimonat sowie Hexafluoroarsenat umwandeln. Das Trithiatriazenium-Kation S 3 N 3 (wohl planar) entsteht möglicherweise bei der Umsetzung von S3N3Cl mit SbCl5 (S3N3CI + SbCl5 ^ S3N3+SbCl6~?), das Dithiatriazenium-Kation S 2 N 3 bei der Umsetzung von (NSCl)3 mit HgCl2 (2S3N3C13 + HgCl2 ^ [S2N3+]2HgCl2~ + 2SC12). Schwefelnitrid-Anionen Überblick Außer den erwähnten Schwefelstickstoff-Kationen kennt m a n auch Schwefelstickstoff-Monoanionen S „ N " (n = 2 (?), 3, 4, 7), S „ N " (n = 3, 4), S 4 N5 sowie die Dianionen S N | " , S 4 N 2 " . Darüber hinaus existieren Deprotonierungsprodukte von S 6 ( N H ) 2 , S 5 ( N H ) 3 , S 4 ( N H ) 4 , S 4 ( N H ) 2 , S 3 ( N H ) 3 . Für komplexgebundene Schwefelnitrid-Anionen vgl. S.605. Von den Ionen S„N~ = N S " ist das dem Nitroxyl N O " entsprechende Anion S N " („Thionitroxyl" S=N~) unbekannt. Das bisher nicht isolierte Anion S 2 N " (,,Dithionitrit" S — N — S : " ) entspricht hinsichtlich seiner Zusammensetzung dem Nitrit N O 2 , das isolierbare Anion S 3 N _ dem Nitrat N O 3 ; letzteres weist aber nicht dessen Struktur, sondern die des isomeren instabilen Peroxonitrits N O ( O 2 ) ~ auf und ist somit als ,,Trithioperoxonitrit" NS(S 2 )~ zu klassifizieren. In analoger Weise stellt das Anion S 4 N " kein Thio-Derivat des Peroxonitrats N O 2 ( O 2 ) ~ dar, sondern leitet sich von S 3 N " = NS(S 2 )~ durch Angliederung eines Schwefelatoms an den Schwefel der N S - G r u p p e ab: S 4 N ~ = N ( S 2 ) 2 . Das Anion S 7 N " stellt das Deprotonierungsprodukt des Heptaschwefelimids S 7 N H (s.o.) dar. Folglich weist
2. Der Schwefel
611
N S f (isovalenzelektronisch mit S 8 ) - anders als die acyclisch gebauten Anionen S 2 N " , S 3 N ~ und S 4 N " (isovalenzelektronisch mit S 3 , S 4 , S 5 ) - eine cyclische Struktur auf (cyclischer Bau sollte auch den bisher unbekannten Anionen S 5 N " und S 6 N " zukommen). Das Anion S N f " leitet sich vom gewinkelten Schwefeldiimid H N = S = N H ab (s. dort). Bezüglich der Strukturen der Anionen S 3 N J und S4N5 vgl. Fig. 157. Die Strukturen der bisher nicht isolierten Anionen S 4 N 4 und S 4 N 4 ~ sind unbekannt. Einzelverbindungen. Sowohl das tieforangefarbene, luftstabile Trischwefelnitrid-Monoanion S 3 N" (U-förmig; wahrscheinlich Cs-Symmetrie) als auch das dunkelblaue, luftstabile Tetraschwefelnitrid-Monoanion S 4 N" (S-förmig, Cs-Symmetrie; SS/SN-Abstände 1.94/1.52 Ä und 1.88/1.67 .Ä; SSN/SNS-Winkel 110/ 124°; ber. für SS/SN-Einfach- und Doppelbindung: 2.08/1.88 und 1.74/1.54 Ä) bilden sich neben S 3 N 3 (s.u.) beim Zerfall des gelben, durch Deprotonierung von S 7 NH bei — 78°C zugänglichen Heptaschwefelnitrid-Monoanions S 7 N" (Cs-Symmetrie, Kronenform) in einer Gleichgewichtsreaktion (s.u. und Formel (a) sowie (b) auf S. 602):
S*N "
S7N "
S4N "
Isolierbare Salze des S 4 N "-Anions stellt man besser durch Einwirkung von Aziden R 4 N + N 3 (R 4 N + z. B. Ph 3 PNPPh 3 ) auf S 4 N 4 in siedendem Acetonitril dar. Hierbei entsteht intermediär S4N5", das in der Wärme 2mol Stickstoff eliminiert (s.u.). Die Desulfurierung von S 4 N" mit Ph 3 P liefert gemäß R 4 N + S 4 N " + Ph 3 P R 4 N + S 3 N " + Ph3PS Salze des S 3 N"-Ions (offensichtlich ist eine weitere Desulfurierung zum gelben Dischwefelnitrid-Monoanion S 2 N" möglich), die in Lösung bereits bei tiefen Temperaturen, im Festzustand ab ca. 80°C u.a. in Salze des S 4 N"-Ions übergehen. Mit geeigneten Metallsalzen bildet S 3 N" die weiter oben erwähnten Komplexe M(S 3 N) 2 mit M = Co, Ni, Pd, Pt sowie Kupfer-, Silber- und Goldkomplexe wie [Cu(S 3 N) 2 ]" (vgl. S. 605). Bei der Einwirkung der Azide R 4 N + N3" bzw. Cs + N 3 (große Kationen) auf S 4 N 4 in Ethanol oder Acetonitril entsteht bei Raumtemperatur auf dem Wege über S4N5" (s.u.) das gelbe, luftempfindliche Trischwefeltrinitrid-Monoanion S 3 N 3 . Es bildet sich auch als Produkt der elektrochemischen Reduktion von S 4 N 4 bei Raumtemperatur auf dem Wege über S 4 N 4 (nicht isoliert) und als Folgeprodukt der Deprotonierung von S 4 (NH) 4 mit Kaliumhydrid. S 3 N 3 (107i-Elektronen) ist als Pseudoaromat 59 planar gebaut (Dh-Symmetrie; SN-Abstände ca. 1.60 Ä, Winkel NSN 117°, Winkel SNS 123°; vgl. Fig. 157). Unter den chemischen Reaktionen von S 3 N 3 seien genannt Thermolyse unter Bildung von S 4 N" (4S 3 N 3 2S 4 N" + S2" + 5N 2 ; Primärreaktion möglicherweise: S 3 N 3 S 2 N" + „ S N " ) ; elektrochemische Reduktion zum instabilen, bisher nicht isolierten Anion S 3 N 3 " (-• S 2 N" + SN2"); Oxidation mit Luftsauerstoff zu S 3 N 3 0 ", ^ ^ O 2 sowie S 4 N 5 0 ", mit Halogenen oder Strom zu S 4 N 4 . Das gelbe, explosive Tetraschwefelpentanitrid-Monoanion S 4 N5 entsteht bei der Einwirkung von Aziden Li + N 3 , N a + N " (kleine Kationen) auf S 4 N 4 (4S 4 N 4 + 3 N a N ^ 3NaS 4 N 5 + V2S8 + 5N 2 ) Esweisteine S4N5+analoge Struktur auf (zum Unterschied vom Kation liegt aber eine schwache SS-Bindung vor; Fig. 157) in und es zersetzt sich thermisch in siedendem Acetonitril auf dem Wege über (S 4 N^ S3N3 + „ S N " ^ S 4 N " + 2 N ) . Die elektrochemische Reduktion führt - wohl über S 4 N3" - zu SN4" und S 3 N 3 , die Oxidation mit Chlor in CH2C12 zu S 4 N 5 Cl, die mit Brom oder Strom zu S 5 N 6 , die Reaktion mit Thionylchlorid zu S 3 N 2 0 und S 3 N 2 0 2 . Das oben erwähnte, aus S 3 N 3 und Sauerstoff erhältliche Anion S 4 N 5 0 " leitet sich von S 4 NJ durch Ersatz eines mit den N-Atomen verknüpften S-Atoms durch eine SO-Gruppe ab. Das in Kohlenwasserstoffen, Ethern und Ammoniak unlösliche, bei 180 0 C thermostabile blassgelbe Kaliumsalz des Schwefeldinitrid-Dianions SN 2 " (C2v-Symmetrie; gewinkelte Struktur N—S—N 2 ~) lässt sich in über 90%iger Ausbeute durch Reaktion von Bis (trimethylsilyl)-schwefeldiimid mit Kaliumtertbutylat in Monoglyme gewinnen: Me 3 SiNSNSiMe 3 + 2/BuOK KNSNK + 2/Bu0SiMe 3 (in analoger Weise entsteht das Thionylimid-Anion N ^ S — O " aus Me 3 SiNS0 und l Bu0K). Das Anion SN2" stellt darüber hinaus das Endprodukt der über S 4 N 4 (nicht isoliert) und S 4 N2" (nicht isoliert) verlaufenden vollständigen elektrochemischen Reduktion von S 4 N 4 bei Temperaturen unterhalb — 20 0C dar. K 2 SN 2 reagiert mit Me 3 ECl (E = Si, Ge, Sn) zu Schwefeldiimiden Me 3 ENSNEMe 3 , mit R 2 AsCl, RAsCl2 und AsBr3 zu den Schwefeldiimiden 2 AsNSNAsR 2 , RAs(NSN) 2 AsR und As 4 (NSN) 5 . Schwefelnitrid-Anionen bilden sich neben Hydrogenpolysulfiden S„H " auch durch Reaktion von Schwefel mit flüssigem Ammoniak im Zuge folgender Gleichgewichtsreaktionen (in 1 kg NH 3 lösen sich 650 g S8 auf chemischem Wege; vgl. hierzu Schwefelkohlenstoff, in welchem sich Schwefel,,physikalisch" löst):
• 612
XIII. Die Gruppe der Chalkogene Sj. + ?NH 3
4
NH 4 + S 7 N~ ^
8 8
- NH+S 4 N~
NH^S 3 N~,
NH+S4N~+5NH3 + |Ss ^ N ^ j + 3 M ; S r , +
+
NH4 SH-+fSs ^ N H 4 S ^ H - .
(1) (2) (3)
Zunächst bildet der Schwefel eine elektrisch leitende, stark farbige Lösung der Ionen S 7 N " (enthält ca. 36% des zugesetzten Schwefels), S 4 N" (ca. 4%), S 3 N" (ca. 6%), S 3 N 3 (< 1 %) und S„H" (ca. 54%). Kondensiert man von solchen Lösungen Ammoniak ab, so bildet sich elementarer Schwefel unter Umkehrung der Reaktionen (1) und (3) wieder zurück. Fällt man andererseits gebildetes Hydrogensulfid SH~ durch Zusatz von AgNO 3 als Ag2S aus, so verschiebt der hierdurch nach (3) (Rückreaktion) freigesetzte Schwefel die Gleichgewichte (1) und (2) in Richtung des Ions S 3 N 3 , das letztendlich praktisch ausschließlich in der Lösung vorliegt (|S s + 12NH 3 + 8Ag + -> 9NH 4 + S 3 N 3 + 4 A 2 S ) . Arbeitet man hierbei in offenen Gefäßen an der Luft, so verwandelt der Luftsauerstoff das gebildete Ion S 3 N 3 oxidativ auf dem Wege über S 3 N 3 zugleich in S 4 N 4 .
2.6.3
Schwefelnitridhalogenide und -oxide 35,57,60
Schwefel-Stickstoff-Halogen-Verbindungen Von den Schwefelnitriden (s.o.) leiten sich Verbindungen mit schwefelgebundenem Halogen folgender Summenformeln a b NSX 3 , (NSX)„ (« = 1, 3, 4), N 4 S 4 X 2 , N 2 S 3 X 2 und (möglicherweise N 3 S 3 X . Hierbei erniedrigt sich die Affinität des Schwefels zu den Halogenen wie im Falle von SX„ (vgl. S. 563) mit abnehmender Elektronegativität des Halogens, sodass m a n zwar viele Fluoride und Chloride, aber nur ein Bromid (N 2 S 3 Br 2 ) und kein Iodid kennt. Von den Schwefelnitridhalogeniden NSX 3 und NSX leiten sich halogenreichere Verbindungen ab, u. a. XNSF4 (X = F, Cl), X 2 N S F s (X = F, Cl), XNSF2 (X = F, Cl, Br). Darüber hinaus sind einige Verbindungen mit ionisch gebundenem Halogen bekannt: S 3 N2C1 + C r , S„N^ X" (X = Cl, Br, I, Br 3 ,1), S s N s + X" (X = Cl, Br, I), S 4 N G X " (X = F, Cl). Sie wurden bereits im Zusammenhang mit den SchwefelnitridKationen (s. dort) behandelt. Thiazylhalogenide N S X und NSX. Darstellung. Bei der F/uorierung von S 4 N 4 mit H g F 2 oder A g F 2 in siedendem CC1 4 erhält m a n u. a. Thiazyltrifluorid N S F 3 und Thiazylfluorid N S F (farblose, stechend riechende Gase; Smp./Sdp. —72.6/— 27.1 °C und — 89/ + 0.4°C): |4S 44 N 44
+ HgF 2 ^ ^ -iHg2F2
NSF
+2HgF, ^ —Hg 2 F 2
N S F33 .
Das Trifluorid entsteht auch durch Fluorierung von N S F mit F 2 oder A g F 2 , das Monofluorid durch Fluorierung von S 4 N 4 mit I F 5 , SF 4 , SeF 6 , C o F 3 , durch Ammonolyse von S F 4 (SF 4 + 4 N H 3 N S F + 3 N H 4 F ) , durch Sulfurierung von N F ( N F 3 + | S 8 N S F + SSF 2 ) und durch Thermolyse von H g ( N S F 2 ) 2 (-> H g F 2 + 2 N S F ) . Thiazylchlorid NSC1 (gelbgrünes Gas) bildet sich in reversibler Reaktion gemäß (NSCl) 3 3NSCl mit steigender Temperatur in wachsendem A u s m a ß sowohl in der Gas- wie Lösungsphase (bei 50 °C liegt das Gleichgewicht weitgehend auf der rechten Seite). Thiazyltrichlorid NSC1 3 , Thiazylbromid NSBr und -iodid NSI sind u n b e k a n n t Thiazylhydroxid N S O H und Thiazylamid N S N H 2 treten als reaktive Zwischenstufen auf. Strukturen Die Thiazylhalogenide NSX (X = F, Cl) sind wie das isovalenzelektronische Schwefeldioxid S O im Sinne des VSEPR-Modells (S.313) gewinkelt (Cs-Symmetrie; Winkel NSF = 116.5°), die Thiazyltrihalogenide N S X (X nur F) wie das isovalenzelektronische Sulfurylfluorid SO2F2 tetraedrisch gebaut (C3v-Symmetrie; Winkel FSF/NSF = 94.3/122°). Damit unterscheiden sich die Thiazylhalogenide NSX und N S F (der zentrale Schwefel jeweils elektropositivstes Atom) strukturell wesentlich von den element60
Literatur. O. Glemser, R. Mews: „Sulfur-Nitrogen-Fluorine Compounds", Adv. Inorg. Radiochem. 14 (1972) 333-390; R. Mews: „Nitrogen-Sulfur-Fluorine Ions", Adv. Inorg. R a d i o c h e m 19 (1976) 185-237; O. Glemser, R. Mews: ,,Die Chemie des Thiazylfluorids (NSF und Thiazyltrifluorids (NSF)-' Ein Vierteljahrhundert Schwefel-StickstoffFluor-Chemie", Angew. C h e m 92 (1980) 904-921, Int. E d 19 (1980) 883.
2. Der Schwefel
613
homologen Nitrosylhalogeniden ONX und ONF 3 (s. dort), bei denen das Halogen nicht am Chalkogenatom, sondern am Stickstoffatom gebunden ist, der als elektropositivstes Atom erwartungsgemäß das Zentraltom bildet. Die NS-Abstände in NSF und NSF 3 (1.446 und 1.416 Ä; ber. für Doppel-/Dreifachbindung 1.54/1.44 Ä) sowie die hohen Dissoziationsenergien (ca. 300 und 400 kJ/mol) entsprechen Dreifachbindungen (SF-Abstände 1.646 und 1.522 Ä). Der gewinkelte Bau von NSX folgt sowohl aus einer VB-Betrachtung (vgl. nachstehende Mesomerieformel; sp 2 -Hybridisierung) als auch aus einer MO-Studie (18 Valenzelektronen; vgl. S. 357). Der kurze NS-Abstand in NSX spricht dafür, dass der Grenzformel (a) der Mesomere [a b c] geringes, der Grenzformel (c) - schon wegen der hohen Stabilität des Kations S N - großes Gewicht zukommt (im Falle von S O sind die (a) und (b) entsprechenden Grenzformeln gleichgewichtig (vgl. S. 571) und (c) spielt keine Rolle). Naturgemäß bedingen nicht nur Kovalenzen, sondern - in geringerem Ausmaße - auch Elektrovalenzen den kurzen SN-Abstand (der Elektronegativitätsunterschied zwischen S und N (0.65) ist deutlich kleiner als zwischen S und O (1.06)). Vielfach bringt man die Bindungssituation in NSX durch die Valenzstrichformel (d) zum Ausdruck.
•Nr
:x: e
^X:
(b) X S N
(a)
(c)
x (d) X S N
F
| F
F
(e) F 3 S N
Der Übergang von NSF -> N S F entspricht dem Übergang SF4 -> SF6, wobei jeweils ein Elektron zweier F-Atome mit einem freien Elektronenpaar des S-Atoms unter Ausbildung einer Dreizentren Vierelektronen-Bindung in Wechselwirkung tritt (vgl. S. 366). Der hierbei resultierende Bindungszustand lässt sich durch die Formulierung F----S----F oder die Mesomerieformel [F—S + F~ F~S—F~] zum Ausdruck bringen, was zu folgender VB-Beschreibung des Thiazyltrifluorids f ü h r t [NSF^F~ N = S F + 2 F ~ ] (der Elektronegativitätsunterschied zwischen N und S ist wegen des ,,elektronenziehenden" Effekts dreier F-Atome in N S F größer als in NSF, was eine Erhöhung der Elektrovalenz bedingt). Üblicherweise bringt man die Bindungssituation in N S F durch die Valenzstrichformel (e) zum Ausdruck. Reaktivität N S F , NSF und NSCl leiten sich von den Schwefelhalogeniden S F , SF 4 und SC14 durch Austausch je dreier Halogenatome gegen ein Stickstoffatom ab. Dementsprechend zeigt Thiazyltrifluorid N S F etwas von der Reaktionsträgheit des Schwefelhexafluorids. So wird es von Natrium bis 200 °C nicht angegriffen und von Wasser nur langsam hydrolysiert ( N S F + 5OH~ -> N H 3 + SO 4 ~ + 3F~ + H 2 O; Reaktionszwischenstufen: H N = S O F 2 , H 2 N — S ^ F ^ N — S O 2 O H ) . Rascher reagiert es mit Fluorwasserstoff ( N S F + 2 H F -> H 2 NSF 5 ). Chlorfluorid addiert sich an die NS-Bindung bereits bei - 7 8 ° C unter Bildung der Schwefelnitridhalogenide (ClNSF 4 ) 2 und Cl 2 NSF s : N=SF3
+ ClF
«• C l N = S F 4
+ ClF
• CI 2 N—SF 5
kann z.B. gemäß S 2 F 1 0 + N 2 F 4 -> 2 F N S F bei 150°C, (F s SN) 2 SF 2 gemäß 2F 5 SNSF 2 -> F 5 SNSF 2 NSF 5 + S F gewonnen werden). Viel reaktiver als N S F ist Thiazylfluorid NSF. Es greift Glasgefäße bereits bei Raumtemperatur langsam unter Bildung von SOF 2 , S0 2 , SiF 4 , S 4 N 4 sowie N 2 an und wird daher mit Vorteil in Teflongefäßen aufbewahrt Fluoridakzeptoren wie SbF 5 führen es in das Kation NS + , Fluoriddonatoren wie Cs + F " in das pyramidal gebaute, mit Fluorsulfinat SO 2 F~ isoelektronische Anion NSF 2 (s. unten) über. Die Gruppierung N S F liegt auch der Quecksilberverbindung H g ( N S F ) 2 (HgNS gewinkelt; NHgN linear) sowie den Schwefelnitrid-Halogeniden XNSF 2 zugrunde (X = F, Cl, Br, I; XNS gewinkelt; gewinnbar nach 2Cs + NSF 2 bzw. Hg(NSF 2 ) 2 + 2X 2 ^ 2XNSF 2 + 2CsX bzw. HgX 2 ; überführbar in (XN) 2 S nach: XNSF 2 + XN(SiR 3 ) 2 XNSNX + 2R 3 SiF). Mit LiN(SiMe 3 ) 2 setzt sich NSF zu Me 3 SiNSNSiMe 3 und mit LiN«Bu(SiMe 3 ) («Bu = CMe 3 ) zu «BuNSN—S—NSNBu um. Gegen Polymerisation ist Thiazylfluorid instabil und trimerisiert sich in flüssiger Phase zu (NSF) 3 , während es in der Gasphase bei Drücken oberhalb 1 bar bei Raumtemperatur sehr langsam in das Tetramere (NSF) 4 übergeht, welches sich seinerseits bei 300 °C in das Trimere umwandeln kann (bei niedrigen Drücken entsteht aus gasförmigem NSF u.a. S 3 N 2 F 2 , s. unten). Das oberhalb 120 °C in S2C12 und N 2 zerfallende Thiazylchlorid NSCl oligomerisiert ausschließlich zum Trimeren (NSCl) 3 . Es ist hinsichtlich der Trimerisation kinetisch instabiler als NSF und - anders als NSF - bei Raumtemperatur nicht metastabil (nicht isolierbar). Es bildet sich jedoch bereits bei gelindem Erwärmen, d.h. bei geringer Energiezufuhr aus (NSCl) 3 in einer Gleichgewichtsreaktion (s.o.). NSCl verwandelt sich mit Chloriddonatoren wie Me 4 N + Cl" oder Ph 4 P + Cl" (Lsm. CH 2 C1 2 ) in das, durch die Mesomerieformel (f) beschreibbare pyramidal gebaute Thiazyldihalogenid-Anion NSX 2 (X = Clbzw. (F2NSFs
• 614
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
auch F; s.o.). NSC^ weist eine kurze NS-Bindung (1.436^\) sowie lange SCl-Bindungen (2.423 Ä) auf ClSCl/NSC! = 93.3/112.8°). © V x
x*
X
^s N^
0 0
X©
x®
(F) [X2SN]'
Thiazylhalogenide (NSX) 3 , (NSX) 4 und N 4 S 4 X 2 . Darstellung Mit Fluor und Chlor (X 2 ) vereinigt sich das Schwefelnitrid unter halogenierender Spaltung der SS-Bindungen auf dem Wege über Tetrathiazyldihalogenide (Tetraschwefeltetranitriddihalogenide)N4S4X2 (g) in die Tetrathiazyltetrahalogenide (Tetraschwefeltetranitridtetrahalogenide) N 4 S 4 X 4 (h), wobei sich das Chlorid (NSCl) 4 rasch gemäß 3 (NSCl) 4 4(NSCl) 3 (T 1/2 = 1 h in CS 2 bei 25 °C) in ein Trithiazyltrihalogenid (Trischwefeltrinitridtrihalogenid) N 3 S ^ g (i) verwandelt, sodass also das Fluorid (NSF) 4 (farblose Kristalle vom Smp. 153 °C, Zers.) und das Chlorid (NSCl) 3 (gelbe Kristalle vom Smp. 162.5 °C) isoliert werden. D a das Fluorid (NSF) 3 (farblose Kristalle vom Smp. 74.2°C und Sdp. 92.5°C) erst bei hohen Temperaturen aus (NSF) 4 gewonnen werden kann, erzeugt m a n es mit Vorteil durch Reaktion von (NSCl) 3 mit A g F 2 in CC1 4 bei Raumtemperatur: 2(NSCl) 3 + 3 A g F 2 2 ( N S F ) 3 + 3AgCl + 1.5C1 2 .
(g) N 4 S 4 X 2
(h) N 4 S 4 X 4
(i) N3S3X3
Die Thiazylhalogenide (NSF) 3 , (NSF) 4 und (NSCl)3 entstehen auch bei der Polymerisation von NSF und NSCl (s. oben), (NSCl)3 zudem bei der Chlorierung von S 3 N 2 C + Cl" mit Cl2 oder S O ^ ( ^ 2 a 2 + 3C12 + 3SC12). Zur Gewinnung von N 4 S 4 X 2 halogeniert man S 4 N 4 unter sehr milden Bedingungen (mit N 2 verdünntes F 2 in CFCl^ Cl2 bei — 60 0C in CS2). Bromide und Iodide des Typs N 4 S 4 X 2 , (NSX)4 und (NSX)3 existieren nicht Gasförmiges Brom führt festes S 4 N 4 bei Raumtemperatur in polymeres, den elektrischen Strom leitendes (NSBrn)x über (n = 1.5 bis 0.25; es liegt wohl oxidiertes Polythiazyl mit Br~- und Br^-Gegenionen vor), während flüssiges Brom bei 70 0 C S 4 N 3 Br^ liefert. In analoger Weise erhält man elektrisch leitendes (NSIn)x durch Behandlung von S 4 N 4 mit Iod. Strukturen. Die trimeren Schwefelnitridmonohalogenide (NSF) 3 und (NSCl)3 sind in ihrer Struktur den trimeren Phosphornitriddihalogeniden (NPX 2 ) 3 (S. 814) vergleichbar. Demgemäß weist (NSX)3 (i) einheitliche, verkürzte SN-Bindungsabstände (ca. 1.60 Ä) im nur leicht gewellten Ring (Sesselkonformation, C3v-Symmetrie) auf. Dagegen weist das tetramere Schwefelnitridmonofluorid (NSF) 4 (h) im Unterschied zu der entsprechenden Phosphorverbindung (NPF 2 ) 4 (einheitlicher PN-Abstand) unterschiedliche SNAbstände im stark gewellten Ring auf (Bootkonformation; C-Symmetrie; Abstände N—SFendo/ N—SFexo = 1.665/1.544 Ä; Winkel SNS/NSN/FSN/FSN = 123.3/111.7/106.2/91.6°). Die drei Fluorbzw. Chloratome im (NSX)3-Ring haben axiale Stellung und liegen alle auf einer Seite der Ringebene (i). Von den vier Fluoratomen des (NSF)4-Rings sind zwei äquatorial (exo), zwei axial (endo) angeordnet. Da die F-Atome von (NSF) 4 am Schwefel sitzen, ist es kein unmittelbares Derivat von (SNH)4, bei dem die H-Atome an Stickstoff gebunden sind. In den teilweise halogenierten Tetraschwefeltetranitriden N 4 S 4 F 2 und N 4 S C 2 nehmen die Halogenatome eine endo- und exo-Stellung im bicyclischen Ring, der analog S 4 N 4 konformiert ist, ein (g). Der SS-Abstand der halogenierten Schwefelatome ist hier mit ca. 4.00 A größer als der SS-van-der-Waals-Abstand, der SS-Abstand der beiden anderen Schwefelatome mit 2.48 Ä (Chlorverbindung) kleiner als in S 4 N 4 (2.58 Ä). Reaktivität Eine charakteristische Reaktion der Thiazylhalogenide (NSX)„ stellt die - weiter oben bereits besprochene - Depolymerisation dar (Bildung von NSX). Halogenidakzeptoren wie AsF 5 , SW 5 , AlCl3, führen (NSX)„ in die Kationen N 4 S 4 F 3 , N 3 S 3 F2 und N 3 S + über, wobei N 4 S 4 F + unter NSF-Abgabe rasch in übergeht und mit überschüssigem Akzeptor letztendlich zu Salzen des Thiazyl Kations SN + abreagiert (vgl. S. 606). Demgemäß wirken Gemische von (NSCl)3 und AlC^ als Quellen + für das SN -Kation, mit welchem z. B. das Nitrid S 4 N 4 in das Kation S 5 N j umgewandelt werden kann (s. dort) oder das Schwefelchlorid SC12 in das Dischwefelnitriddichlorid-Kation NS^l^" (k) (C2v-Symmetrie, Winkel ClSN/SNS = 111/149°; Abstände ClS/SN = 1.99/1.54
2. Der Schwefel S i(NSCl)3
_i_ AlCl ^
[ N = S ] + A l C4
615
+ xr
\
Cl
Se1 7 + [WCl 6 -] 2 ;
17Se -
8Te
^
(WOCIJ
2
Te^+[VOCl2"]2;
8Te -
^
Te^+[WOCl4-]2.
Strukturen Im Se^-Kation (Gegenionen NbCl^, TaBr^, WCl^) sind zwei gewellte Se7-Ringe in Sesselkonformation über eine gewinkelte Se3-Kette miteinander verbunden: Se7-Se-Se-Se-Se7+. Die beiden dreibindigen Se-Atome (Verknüpfungsstellen von Se-Ring und -Kette) tragen die positiven Ladungen und bilden zusammen mit den Selennachbarn eine Pyramide v®
(Y = Chalkogen).
Das Kation Se10+ (Gegenionen AsF6~, SbF6", S0 3 F~, AlCl4~) hat eine Käfigstruktur (Fig. 159a). Sein Bau lässt sich einerseits ausgehend von einem Se6-Ring in Bootkonformation mit einem Se4-Henkel, andererseits ausgehend von einem Se8-Ring in Se 8 + -Konformation mit einer Se2-Brücke beschreiben (es existiert auch Te2Se8+, in welchem die beiden dreibindigen Se- durch Te-Atome ersetzt sind). Das Kation Se 8 + (Gegenionen AsF^, Sb 2 Fü, AlCl^; Se 8 -Ringmit schwacher transanularer Bindung von 2.84Ä; Fig. 159b) und das Kation Seg"1" (Gegenionen u. a. AsF^, Sb 2 Fü, AlX^f, S03F", HS 2 Of; planar-quadratischer 6nAromat; SeSe-Abstand mit 2.283 Ä im Doppelbindungsbereich; vgl. Fig. 159e) sind analog den Kationen und strukturiert). Anders als Se?+ ist Te1„+ (in Te2+TeJ0+[Bi2Cl|-]2) wie auch Te^+ (Gegenionen N b O ^ " / C l " , NbOBr^/ Br~, WOClj"/Cl", WOBr^f /Br~) polymer. Und zwar liegen planare Te^"- bzw. Te 7 + -Einheiten aus drei bzw. zwei über gemeinsame Ecken verknüpften Te4-Ringen vor (Fig. 159f, g), die zu gefalteten Bändern verknüpft sind (die Kationen enthalten - formal gesehen - quadratisch-planare Anionen > :Te: < 2 _ und pyramidale Kationen - : T e < + ) . In einer zweiten aufgefundenen polymeren Te 7 + -Struktur (Gegenion „Se — Se Se
Se
S < ^ X Se Se
Se
Te
Y
v
•Te
i ^Y Y
/ a
X
y
y—Y
Te' ^Te ^Te
/
(c) Te 2 8 + (C 2 )
(b) Y8 2+ (C S )
(a) Sio (C 2 )
\ Te-
\ e
X
/
-Te \ / -Te
\ /
Te
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Te / -Te
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N / / \ -Te \
\ Te-
Fig. 159
I ©
(e) Y 4 2+ (D4h)
.Te— T Te^Te" Te — T e Te
Te
(k) Te 4 + (D2 h )
Te (g) (Te 2+ ) x
Te
(i) Te62+(C2V)
Strukturen einiger Se- und Te-Kationen (Y = S, Se, Te).
Te
.Te
T
\Te—
1 -Y:
:Y
(d) Tel+ (C 2 )
(h) Te64+(D3h)
T
^ -Y:
:Y
Te— / Te
V (f) (Text )x
Te Te / \ Te, „ .Te \ Te-Te / Te Te
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Te / -Te
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v/V "/Te'
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T e
\ T T
(l) (Te 4 2+ ) x
• 624
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
AsFd") sind sesselförmige Se6-Ringe über Te-Atome miteinander zu einer Kette verknüpft: —Te—Te6—Te—Te6— (vgl. SeJT"). Das Kation Te^4" ist teils (Gegenion ReC^") wie S| + und Se8 + strukturiert (vgl. Fig. 159b; kondensierte Se5-Ringe in Sesselform; transannulare Bindungen in S 8 + /Se 8 + /Te| + 2.85/2.84/3.15Ä), teils liegen Te 8 + -Kationen mit kondensierten twistartigen Te5-Ringen oder gewellten Te6-Ringen vor (z. B. in Te2+[WCl6-]2 oder Tejr+Te^+EWCl^; vgl. Fig. 159c oder d). Im Kation Te44" (Gegenion AsF^) nehmen die Te-Atome die Ecken eines trigonalen Prismas ein (Fig. 159h; Abstände innerhalb/zwischen den T -Ringen ca. 2.67/3.10Ä). Die Struktur lässt sich im Sinne des MO-Modells ausgehend vom ringförmigen Te 2+ -Kation (vier rc-Eletronen) ableiten, das ein bindendes, mit einem Elektronenpaar besetztes rc-MO und zwei energieentartete, mit jeweils einem Elektron gleichen Spins besetzte 7i*-MOs aufweist. Zwei derartige Ringe sind über ^-Wechselbeziehungen (S. 360) zu einem Assoziat verknüpft. Die Zweielektronenreduktion von TeJ+ führt zum Kation Te^4" (Gegenionen AlClf + , NbOClf, W O ^ ) , in welchem drei der ursprünglichen neun TeTe-Bindungen auf 3.29/3.67 Ä verlängert vorliegen (vgl. Fig. 159i); es existieren auch Kationen Te„Y6+ mit Y = S, Se und n = 2.0 bis 3.5). Analog S 4 + und Se4+ bildet das Kation Te^4" (Gegenionen AsF^, SW^, Sb 2 Fü, AlClf usw.) einen planar-quadratischen öre-Aromaten (TeTe-Abstand mit 2.688 Ä im Doppelbindungsbereich; es existieren auch Kationen Te„Se4+ mit n = 1 bis 4; Fig. 159e). In anderen Salzen liegt das Tetratellur-Dikation als Dimeres Te^4" (Gegenion VOC12") vor, das einen Kubus mit zwei verlängerten Seiten bildet (Fig. 159k). Polymeres [TeJ+]„ findet sich in Te4+Te1^ [Bi2Cl2~]2, wobei Te4-Ringe miteinander über TeTe-Bindungen zu Ketten verknüpft sind (Fig. 159l). In polymerem [Te^4]x (Gegenion H f C ^ ) sind Te5-Ringe über Te-Atome miteinander zu einer Kette verknüpft: —%—Te5—Te—Te5—, während in polymeren [Te^4]x (Gegenionen U 2 Br1f, Bi4Cl14) T -Ringe über T Te-Gruppen zur Kette verbunden sind T T T T T T
Chalkogen-Anionen. Chalkogenide 68 Darstellung In Anwesenheit geeigneter Kationen (Alkalimetall-, Erdalkalimetall-, Ammonium-, Phosphonium-Kationen usw.) ließen sich bisher folgende Anionen des Sauerstoffs (S. 508), Schwefels (S. 556), Selens (s. unten), Tellurs (s. unten; es fehlen noch Te2~, Te^f, Tejf) und Poloniums (noch wenig eingehend untersucht, S. 625) gewinnen (vgl. Halogen-Anionen, S. 446). O 2 -, O2", O f , O"; S2n~ (n = 1 bis groß), S" (n = 2, 3, 4, 6); Se2" ( n = l - 1 1 ) , Se"(n = 2, 3); Te^ (n = 1-13), Te" (n = 2, 6), Te^;
Po 2 -
Nachfolgend sei auf Selenide M2Sen und Telluride M2Te„ (M z. B. Alkalimetall oder lA Erdalkalimetall) näher eingegangen. Ihre Darstellung erfolgt u. a. aus den Metallen und Chalkogeniden ohne Lösungsmittel (Zusammenschmelzen) oder in Solvenzien (MeOH, N H usw.), wobei in letzterem Fall gegebenenfalls bei erhöhter Temperatur unter Druck gearbeitet wird (,,solvothermische Synthese"). Die Bildungstendenz von Oligoseleniden Se^ aus Se2_ und Se8 in Wasser ist geringer als die von Oligosufiden S ^ aus und S8. Die Synthese von Se^ - nicht aber von Te^ - gelingt jedoch in alkalischer Lösung. Durch Einwirkung von Alkalimetallen auf Selen oder Tellur in flüssigem Ammoniak oder von Selen auf Na2Se in Ethanol, das R 4 N + C1~ enthält, entstehen rote bis schwarzgrüne Oligoselenide Se2~ (n = 2-7) bzw. rote bis schwarzviolette Oligotelluride T 2 5). Verbindungsbeispiele sind etwa die Selenide S (MJ = Alkalimetall), [M n (Krone)]Se„ (M n = Ca, Sr, Ba), (R4N)2Se„, (R4P)2Se„ (z.B. (Ph 4 P) 2 Se u / (Ph3PNPPh3)2Se10) sowie entsprechende Telluride (hier auch Cs2Te13, CsjTe^, Cs4Te28, s. u.). Die Selenide und Telluride sind hydrolyse- und oxidationsempfindlich. Strukturen Farbloses „Monoselenid" Se2" liegt in M2Se (M1 = Li, Na, K: ,,Li 2 O-Struktur") und M n Se vor (M n = Mg, Ca, Sr, Ba: „NaCl-Struktur"; M n = Be, Zn, Ca, Hg: ,,ZnS-Struktur"). Die Anionen Se2" bis Se 2_ sind kettenförmig-gewinkelt entsprechend grauem Selen gebaut. Offensichtlich existieren auch - mit Sf, Sf, Sf vergleichbare - Radikalanionen des Selens (z. B. rotes Sef in Sodalith-Käfigen). Oligoselenide mit mehr als 7 Se-Atomen stabilisieren sich entsprechend einer gewissen - bei Schwefel nicht gegebenen und bei Tellur ausgeprägten Tendenz zur Erhöhung der Koordinatenzahl des Chal kogens im Sinne nachfolgender Gleichung unter Bildung von ,,T-förmigen" bzw. „quadratisch-planaren" Se-Atomen („nicht-klassische Chalkogenide mit „hypervalenten" Chalkogenatomen):
Dem Dianion Se, des Selenids [Sr(Krone)] 2 Se 9 liegt etwa ein Se6-Ring mit einer Se3-Seitenkette zugrunde (Fig. 160). Die Ionen Seif und Seif der Selenide (Ph3PNPPh3)2Se10 und (Pl^P^Se^ weisen andererseits
3. Das Selen, Tellur und Polonium
625»
die in Fig. 160 veranschaulichten Strukturen mit zwei sesselkonformierten, über ein gemeinsames Atompaar bzw. Atom kondensierten Se6-Ringe auf. Schließlich kommt dem Anion Se 8 " des Selenids Cs2Se8 die doppelte Molekülformel S e ^ zu; es leitet sich vom bicyclischen Sejf-Ion durch Ersatz eines Se^ - " Ringteils gegen zwei Se^-Ketten ab (Fig. 160). ,,Monotellurid" Te 2- und „Monopolonid"' Po 2 " liegen in M2Te, M n Te sowie M 2 Po und M n Po vor (Kationen und Strukturen wie im Falle M2Se, M n Se, oben). Der Bau der Di-, Tri- und Tetratelluride Te2~, Te 2- und Te]~ entspricht Ausschnitten aus der Helix des grauen Tellurs (vgl. S^-Struktur, S. 556). Offensichtlich existieren auch mit vergleichbare Radikalkationen Te" (z.B. blaues Te^: in SodalithKäfigen; Te^: s.unten). Das Pentatellurid Te 2 - liegt in (Ph 3 PNPPh 3 ) 2 Te 5 als monomere Kette vor und bildet in Rb2Te5 sowie Cs2Te5 gemäß Fig. 160 unterschiedlich konformierte Bänder aus sesselförmigen Te6-Ringen (gemeinsame Te-Atome in 1- und 4-Stellung) mit quadratisch-planaren und gewinkelten TeAtomen bzw. - anders gesehen - Bänder aus oxidativ miteinander verknüpften planar-quadratischen TeTe!p-Baugruppen. Das planare, formal aus einer Addition von 2Te 2_ an Te^" hervorgehende TeTe$~ = TeSp-Ion findet sich auch in Ga2Te5, K2SnTe5 und Rb 2 SnTe 5 (Fig.160). Unter den Hexatelluriden erinnert das ringförmige Radikalanion Te," in RbTe 6 an das ebenfalls ringförmige Hexasulfid S^ (S. 556). Es ist gemäß Fig. 160 mit anderen Te^-Ionen über schwächere Bindungen zu einer gefalteten [Te^].,Schicht verknüpft. Das Tel "-Ion ist in Cs4Te28 = [Cs2Te6]2[Te4]2[Te8] monomer (schwache Bindungen zu quadratisch-planaren Te4; Te8 fungiert als freier Gast) und in Li2Te6 polymer (Fig. 160). In letzterem Falle sind gewinkelte Te5-Einheiten über Te-Atome verknüpft, die ihrerseits digonal vom Te-Atom der Te 5 -Gruppen koordiniert werden (formal Addition von zwei Te^" mit je einem Ende an Te). Das Hexatellurid T in Cs3Te22 — Cs3Te6[Te8j2 ist ebenfalls polymer und bildet im Sinne der Fig. 160 eine planare T 3 -Schicht (in letzterem Salz sind die T -Ringe zwischen die T 3 -Schichten eingelagert). Die
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Se
Se
Se
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Te 5 in Rb2Te5
Tef in Cs2Te5
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(C
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SnTe| in Rb2SnTe5 ^ e
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Fig. 160
Strukturen von Seleniden und Telluriden.
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I I
• 626
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Hepta- und Octatelluride Te^~ (planar in [Re6Te8]Te7) und Te^" (ein Te oberhalb planarem Te7) sind bicyclisch gebaut, wobei zwei Te4-Ringe bzw. ein Te4- und ein Te5-Ring gemäß Fig. 160 jeweils ein gemeinsames, planar-koordiniertes Te-Atom haben (formal Addition von zwei Te^" bzw. Te^" und Te2~ mit beiden Enden an Te2+; vgl. Se^f; man kennt auch Te(S^ , Te(S7)2_, Te(S5)(S7)2~). Die Dodeca- und Tridecatelluride Tejj in Cs2Te12 und Tej^" in Cs2Te13 sind monomer.
3.1.7
Selen, Tellur, Polonium in Verbindungen
Die Chalkogene Y = Se, Te, Po treten gegenüber elektropositiven Partnern im Wesentlichen in der Oxidationsstufe — 2 (z.B. H2Y, Na2Y), gegenüber elektronegativen Partnern hauptsächlich in den Oxidationsstufen + 2 (z. B. YHal2), + 4 (z. B. YHal 4 , H2YO3) bzw. + 6 auf (z. B. YF 6 , Y0 3 ). Die sechswertige Stufe von Se und Po bildet sich dabei weniger leicht als jene von S und Te (vgl. die Halogen- und Sauerstoffverbindungen der Chalkogene). Man kennt auch Verbindungen mit negativ bzw. positiv einwertigem sowie gebrochenwertigem Se bzw. Te (z. B. Se^-, Te^-, Se2Cl2, Te2Cl, Te3Cl2, Se8+, Te4+). - Koordinationszahlen Eins ( O = C = S e , O = C = T e , MoSe^"), zwei (gewinkelt in Se8, Te^,, H2Y; linear in Cp(CO2)CrSeCr(CO)2Cp), drei (trigonal-planar in Se0 3 (g), TeO3(g); pyramidal in SeOCl2, TeC>2~), vier (tetraedisch in Se0 2 Cl 2 , SeC>2~; wippenförmig in R2SeX2, Te0 2 ), fünf (quadratisch-pyramidal in SeOCl2 • 2py, TeF,r; trigonal-bipyrmidal in YC>4~), sechs (oktaedrisch in YF6, YBr^", Po, CaPo; trigonalprismatisch mit NiAs-Strukturen in VSe, CrSe, ScTe, MnTe, MgPo; pentagonal-pyramidal in MeTeI(S2CNEt2)2), sieben (pentagonal-bipyramidal in PhTe(S2CNEt2)2, S2P(OEt)2), acht (antikubisch in T e F k u b i s c h in Na 2 Po, Po0 2 ). Bindungen. Die Tendenz zur Ausbildung von Doppelbindungen nimmt mit steigender Ordnungszahl des Chalkogens ab ( O = C = O stabil, S = C = S metastabil, S e = C = S e instabil, T e = C = T e selbst bei tiefen Temperaturen instabil; S0 2 monomer, Se0 2 /Te0 2 eindimensional/ dreidimensional polymer). Die Tendenz zur Bildung von YY-Ketten mit normalvalentem Y sinkt in Richtung S, Se, Te (Se2C>2~ hat zum Unterschied von S 2 0 ^ die Konstitution 0 2 Y—O—YO|" anstatt 0 2 Y—YO^), die Bildung von Y„-Clustern mit hypervalentem Y wächst in gleicher Richtung (vgl. Chalkogenide Yjj").
3.2
Wasserstoffverbindungen des Selens, Tellurs, Poloniums6i-69
Die Zahl zugänglicher Chalkogenwasserstoffe nimmt gemäß folgender Zusammenstellung in Richtung der Schwefelwasserstoffe, ausgehend sowohl von den Wasserstoffverbindungen des Sauerstoffs als auch Poloniums, zu: H2O, H 2 0 2 , H 2 0 3 , H 2 0 4 ; H2Se, H2Se2;
H2S„ (n = 1 bis über 30); H2Te, H2Te2; H 2 Po •
Hierin kommt die hohe Tendenz des Schwefels zur Bildung von Elementketten zum Ausdruck. Nachfolgend sei auf die ,,Selane", „Tellane", ,,Polane" näher eingegangen. Darstellung Monoselan, -tellan, -polan. Anders als die exothermen Verbindungen H 2 O (AH{ = — 286 kJ/ mol) und H2S (AH{ = — 21 kJ/mol), stellen H2Se, H2Te und H 2 Po zunehmend endotherme Verbindungen dar 73.0 kJ + Se + H 2 ^ H 2 S e ;
99.6 kJ + Te + H 2 ^ H 2 T e ;
>100 kJ + Po + H 2 ^ H 2 P o .
Eine Darstellung aus den Elementen kann demgemäß nur bei hohen Temperaturen erfolgen (H2Se: > 350°C mit maximaler Ausbeute von 64% bei 520°C; H2Te > 600°C mit minimaler Ausbeute; H 2 Po nicht auf diese Weise gewinnbar). Bei Raumtemperatur entstehen die betreffenden Verbindungen, wenn man atomaren Wasserstoff verwendet. So lässt sich Te durch kathodische Reduktion gewinnen; auch führt die Reduktion von Po mit Hnasc (Mg in Salzsäure) zu H 2 Po (bisher genutzte Methode zur H 2 PoDarstellung in Spuren). Im Übrigen lassen sich H2Se und H2Te durch Protolyse von Seleniden und Telluriden M„Ym wie Fe2Se3, Al2Se3, FeSe, MgSe, Al2Te3, MgTe herstellen, z.B.: Al2Se3 + 6HCl
3H2Se + 2AlCl3;
Al2Te2 + 6HCl ^ 3H2Te + 2AlCl 3 .
Physiologisches. H 2 Se ist noch giftiger als H 2 S und greift die Schleimhäute der Nase und der Augen aufs heftigste an (,,Selenschnupfen"). Entsprechendes gilt für H 2 Te und - in besonderem Maße, wegen seiner Radioaktivität - für Po
3. Das Selen, Tellur und Polonium
627»
Diselan, -tellan. H2Se2 entsteht offensichtlich bei der Reduktion von H 2 Se0 3 mit nascierendem Wasserstoff (Al in Salzsäure) als zersetzliche Verbindung. H2Te2 lässt sich im Massenspektrometer durch Neutralisation von T (aus B T durch Elektronenstoß) mit NM als kurzlebiges Teilchen gewinnen Noch höhere Selane und Tellane sind unbekannt, jedoch ist ein Selenotrisulfan HS—Se—SH zugänglich. Physikalische Eigenschaften Monoselan und -tellan sind unangenehm riechende (H2Se riecht nach Knoblauch), giftige 69 , leicht zu verdichtende (Sdp./Smp. = - 4 1 . 3 / - 6 5 . 7 3 ° C (H2Se), - 2 . 3 / - 5 1 °C (H2Te); Dichten beim Sdp. 2.12 und 2.65 g/cm3) farblose Gase, Monopolan ist eine farblose Flüssigkeit (Sdp./ Smp. = — 35.3/36.1 °C). Die Abstände HSe/HTe betragen 1.46/1.69 Ä, die Winkel HSeH/HTeH 91.0/ 89.5 Chemische Eigenschaften Thermisches Verhalten. Als endotherme Verbindungen sind H2Se, H2Te, H 2 Po unbeständiger als H2S. Wegen der geringen Zerfallsgeschwindigkeit zersetzt sich H2Se bei Raumtemperatur im Dunkeln aber nur sehr langsam, während H2Te und H 2 Po unter diesen Bedingungen instabil sind (H2Se, H2Te, H 2 Po müssen unter Lichtausschluss, H2Te und H 2 Po zudem bei niedrigen Temperaturen gewonnen werden; H2Te zerfällt langsam ab ca. 0°C). Säure-Base-Verhalten. Die Stärke der gemäß H2Y^H
+
+ HY-,
H Y - ^ H + + Y2-
als Säuren wirkenden Chalkogenwasserstoffe wächst in Richtung H 2 O bis H 2 Po. Die erste Dissoziationskonstante beträgt für H2Se 1.88 x 10 - 4 und für H2Te 8.9 x 10 — und liegt damit in der Größenordnung der Dissoziationskonstanten von H N O (4.5 x 10-4), HF (7.2 x 10 — ) sowie H 3 PO 4 (8.1 x 10 — ). Die Dissoziationskonstanten in der zweiten Stufe liegen für H 2 Se/H 2 Teinder Größenordnung von 10 -11 /2 x 10 -11 . Als zweibasige Säuren bilden Selan, Tellan und Polan Hydrogenchalkogenide der Formel M J HY (bisher einige Se-Verbindungen, eine Te-Verbindung (Ph4P)HTe, keine Po-Verbindung isoliert) sowie normale Selenide, Telluride, Polonide M2Y. Die betreffenden Alkali- und Erdalkalichalkogenide sind farblos, die Schwermetallchalkogenide wie die entsprechenden Sulfide (S. 560) mehr oder weniger stark farbig, in Wasser - teils auch in Säuren - unlöslich und durch Einwirkung der Chalkogenwasserstoffe auf die Schwermetall-Salzlösungen darstellbar. Die Stärke der gemäß H2Y + H + ^>H3Y + als Basen wirkenden Chalkogenwasserstoffe sinkt in Richtung H 2 O bis H 2 Po. H2Se lässt sich in HF/SbF 5 bei - 78 °C noch unter Bildung von farblosem H3Se+SbF(~ protonieren (H 3 Se + : pyramidaler Bau; C3v-Symmetrie), das Salz zersetzt sich aber bei - 60 °C in H 2 , Se, HF und SbF5. H2Te zerfällt in HF/SbF 5 selbst bei tiefen Temperaturen in H 2 und Te. Die höheren Chalkogenwasserstoffe H2Y„ (Y = Se, Te), die in Substanz sehr instabil (H2Y2) bzw. unzugänglich sind (H 2 Y >2 ), existieren in Form von Oligochalkogeniden Y ^ (vgl. S.624). Redox-Verhalten. Entsprechend der geringeren Beständigkeiten sind H2Se und insbesondere H2Te (Entsprechendes gilt fürH 2 Po) stärkere Reduktionsmittel als H2S. Aus wässriger H2Se-Lösung fällt demgemäß unter Lufteinwirkung bald rotes Selen, aus wässriger H2Te-Lösung augenblicklich graues Tellur aus (H2Y + 1/2O2 H 2 0 + Y; H2Se, H2Te, H 2 Po müssen unter Luftausschluss gewonnen werden).
3.3
Halogenverbindungen des Selens, Tellurs, Poloniums 45 ' 61 ' 70
3.3.1
Überblick
Von Selen, Tellur, Polonium (E) sind Halogenide der Formeln E„X2 (n = 2, 3, 4; nicht Po) und EX„ (n = 2, 4, 6) bekannt (vgl. Tab. 70). Die Strukturen der Selenhalogenide entsprechen dem Bau analog zusammengesetzter Schwefelhalogenide (s. dort und unten), während die Tellurhalogenide als Folge der Clusterbildungstendenz von Te zum Teil (Te„X2) deutlich andere Struktur aufweisen (s. unten) und die Poloniumhalogenide (Strukturen im Detail unbekannt; dichteste Br~-Packung in PoBr4) als Folge des metallischen Charakters von Po wohl bis auf PoF6 Salzstrukturen besitzen. Die Darstellung der Halogenide (vgl. S. 494) erfolgt durch Halogenierung der Chalkogene (-> E2X2, EX2, EX4, EF6), Dehalogenierung der Chalkogentetrahalogenide (-> E2X2, E„X2) sowie Halogenidierung von Chalkogendioxiden insbesondere mit Halogenwasserstoffen (EO2 + 4HX -> EX4 + 2H 2 O). Stabilität. Die Bildungstendenz der Selen-, Tellur- und Poloniumhalogenide nimmt wie die der Schwefelhalogenide in Richtung Fluoride > Chloride > Bromide > Iodide ab (vgl. z. B. AH{ von TeX4 in Tab. 70). Unter den Hexahalogeniden sind die 70
Literatur. R. Kniep, A. Rabenau: ,,Subhalides of Tellurium"; Topics Curr. C h e m 111 (1983) 145-192; B. Cohen, R.D. Peacock: ,,Fluorine Compounds of Selenium and Tellurium", Adv. Fluorine Chem. 6 (1970) 343-383; A. Engelbrecht, F. Sladky: ,Selenium and Tellurium Fluorides", Adv. Inorg. Radiochem. 24 (1981) 185-223; B. Krebs, F.-P. Ahlers: „Developments in Chalkogen-Halide Chemistry", Adv. Inorg. C h e m 35 (1990) 235-317.
• 628
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Selenverbindungen (und wohl auch Poloniumverbindungen) thermodynamisch instabiler als die Schwefelund Tellurverbindungen (vgl. A.fff von EF6 in Tab. 70; kein SeF5Br im Unterschied zu SF5Br und TeF5Br). Dies steht in Übereinstimmung mit der Beobachtung, dass sich die höchsten Oxidationsstufen von Elementen der 4. und 6. Periode weniger leicht als solche von Elementen der 3. und 5. Periode bilden (vgl. hierzu S. 311, 465). Die Bildungstendenz der Chalkogentetrahalogenide wächst in der Reihe
Tab.70 Selen-, Tellur-, Poloniumhalogenide EmX„ (Kenndaten der Reihe nach Smp [°C]/Sdp. [°C] bzw. Sblp. [°C]/A.fff [kJ/mol]; Z = Zersetzung). a)
E,X„
2)"» In organischen Medien T Br Dunkelglänzend 5°/225°C, Z
S
-
Se„Cl2 (n > 2) In organischen Medien Te 2 Cl Te 3 Cl 2 D'grau Schwarz metastab. Smp. 239°C
Dunkelglänzend Te„ • | I 2 (s. Text)
S C Braungelbe Flüssigk. — 85°/127°C/ —84 kJ
S B Dunkelrote /225 C,
Instabil; Zwischenprodukt: Se 2 Cl 2 + 2 I "
T C Braungelbe Flüssigk.
^Br2 (wohl zugänglich)
ot-Tel
PoF/' Farblose Krist
PoC Hellgelbe Krist. extrapol. 300°/390°C
PoB Rote Kristalle 330°/360°/200 mbar
Po Schwarze Kristalle Smp. 200 °C
Te B (verunreinigt
-
SejFj Instabil in Tieftemp.-Matrix
Se Instabil in Tieftemp.-Matrix
Flüssigk
T
0-TeI Dunkel metastab.
Se Se C Farbloses G a s Farbloses Gas — 46.6° / — 34.8 7 — 1030 kJ — 19°/4.5°C Te Farbloses G a s — 37.6° / —38° / —1319 kJ
Te Cl Farbloses Gas — 28°/13.5°C
Po Farbl. Krist., flüchtig a) Oxidationsstufe. - b) a-Form; metastabile ß-Form: Smp. — 46°C. - c) Es existieren Kationen Se 2 I 4 + , Se 6 I 2 + , Se 6 I + mit den Oxidationsstufen + 3, + 2 / 3 , + 1 / 3 des Selens. In CS 2 -Lösung sollen Se3I2, Se2I2, Sel 2 existieren. - d) Gemischte Dihalogenide: BrSeSeCl, ClSeSCl, BrSeSCl, ClSeSBr, BrSeSBr aus Se 2 Cl 2 /Se 2 Br 2 , Se 2 X 2 /S 2 X 2 . - e) TeCl 2 und TeBr 2 sollen in kondensierter Phase durch Halogenierung von geschmolzenem Te mit CC1 2 F 2 und CBrF 3 entstehen, jedoch wurde die weitere Natur der gebildeten Produkte nie durch Strukturstudien geklärt. - Q Darstellung: Halogenierung (PoX 2 , PoX 4 , PoF 6 ), Dehalogenierung (PoX 2 aus P o Q 4 / S O , PoBr 4 /H 2 S, Pol 4 /Wärme; PoF 4 aus PoF 6 /Wärme), Halogenidierung (PoX 4 aus P o 0 2 / H X ) . Eigenschaften: PoX 4 zerfällt in der W ä r m e in PoX 2 und X 2 ; Bildung der Halogenokomplexe P o X f und PoX2~. - g) a-Form; ß-Form: Farblose, unterhalb 180°C metastabile Kristalle, Smp. im geschlossenem System. - h) a-Form; ß-Form: Orangerote, unterhalb 50°C metastabile Kristalle. - i) Gemischte Tetrahalogenide: TeBr 2 Cl 2 {gelbe Festsubstanz; Smp. 292°C, Sdp. 415°C); TeBr 2 I 2 (granatrote Kristalle, Smp. 325°C, Sdp. 420°C, Zers.). - k ) Für Te(Q + Cl 2 (g)/Br 2 (fl)/I 2 (0 - TeX 4 (g) beträgt Aff f —208/ — 5 9 / + 6 2 kJ/mol; Smp. und Sdp. im geschlossenem System. - l) Smp. bei 2 a t m .
3. Das Selen, Tellur und Polonium
629»
SX4 < SeX4 < TeX4 ( < PoX4) (vgl. A# f für EF4, EC14 in Tab. 62 und 70). Dies dokumentiert sich u. a. darin, dass für Schwefel nur ein Tetrafluorid und Tetrachlorid existiert, während Selen zudem ein Tetrabromid und Tellur sowie Polonium sogar ein Tetraiodid bilden. Auch sinkt die Tendenz zur Spaltung der Tetrahalogenide gemäß EX4 EX2 + X2 in Dihalogenide in Richtung SX4 > SeX4 > TeX4 > PoX 4 und EI4 > EBr4 > EC14 > EF4 (dass TeF4 thermolabiler als TeCl4 ist, beruht auf der bei TeCl4 nicht gegebenen Möglichkeit zur exothermen Disproportionierung nach 3 TeX4 Te + 2TeX6; die entsprechenden Disproportionierungen von SeF4 und wohl auch PoF4 sind endotherm). Alle Seleniodide sind endotherme Verbindungen, die sich wegen ihrer hohen kinetischen Zersetzlichkeit - anders als die zwar endothermen aber weniger labilen Schwefeliodide bisher selbst bei tiefen Temperaturen nicht isolieren ließen (es existieren jedoch kationische und anionische Iodide, Tab. 70). Säure-Base-Verhalten. Die Chalkogenhalogenide wirken sowohl als Halogenidakzeptoren (z. B. Bildung von E2X2", EX3", EX2", EX5", EX2"), als auch als Halogeniddonatoren (u.a. Bildung von EX3+). Nachfolgend sei auf die Halogenide des Selens und Tellurs näher eingegangen. Beide Elemente (wohl auch Polonium) bilden zudem Halogenidoxide der Formel SeOX2/4 („Seleninyldi-" und ,,-tetrahalogenide", Se0 2 X 2 (,,Selenonyldihalogenide"), TeOX2 und TeOX4, die als Derivate der Chalkogenigen und Chalkogensäuren bei letzteren abgehandelt werden
3.3.2
Selenhalogenide
Hexahalogenide (Tab. 70). Die Darstellung von Selenhexafluorid SeF6 erfolgt aus den Elementen (OhSymmetrie, oktaedrischer Bau, SeF-Abstand 1.688 Ä). Es ist reaktiver als S F , setzt sich aber wie das Schwefelhexafluorid unter Normalbedingungen nicht mit Wasser u m Selenchloridpentafluorid SeF 5 C1 wird durch Chlorierung von CsSeF 5 (aus CsF und SeF 4 , s. u.) mit ClOSO 2 F erhalten. Ein Se 2 F! 0 existiert nicht Tetrahalogenide Die Darstellung von Selentetrafluorid SeF 4 , -tetrachlorid SeCl 4 und -tetrabromid SeBr 4 erfolgt aus den Elementen sowie durch Halogenidierung von Se0 2 mit SF 4 , BrF 3 bzw. HX. Ein Selentetraiodid Sel 4 ist nicht erhältlich, aber Sel 3 , S e i ( m a n kennt pyramidale Kationen :YX^ (Y = S, Se, Te und X = F, Cl, Br, I) mit Ausnahme von SI 3 ). Strukturen. Der Bau von :SeF 4 entspricht dem von :SF 4 (wippenförmig, C2v-Symmetrie). Die nicht-starren (fluktuierenden) Moleküle assoziieren mit steigender Konzentration zunehmend über schwache intermolekulare Fluorobrücken, wobei im kristallinen Zustand die Koordination von Selen zu einem verzerrten Oktaeder ergänzt wird (vgl. kristallines TeF4). Der Bau von : SeCl 4 und : SeBr 4 entspricht andererseits der tetrameren Struktur von :TeX 4 (S. 632; Verknüpfung von pyramidalen Se -Einheiten über -Brücken zu einer Kubanstruktur [SeX^X~] 4 = Se 4 X16 ). Reaktivität Die Selentetrahalogenide treten ähnlich wie die Tellurtetrahalogenide als Donatoren mit Lewis-Säuren wie AsF 5 , SbF 5 , SbCl 5 , A K 3 und als Akzeptoren mit Lewis-Basen wie Halogenid X " zusammen. In ersteren Fällen bilden sich Komplexe mit dem Kation :SeX 3 (X = F, Cl, Br, I; isoelektronisch mit AsX 3 ; C 3v -Symmetrie, pyramidaler Bau; Sel^MF^ gewinnt man - da Sel 4 u n b e k a n n t aus Se, I 2 , MF 5 in flüssigem S O ) , in letzteren Fällen S e X ( X = Cl, Br, I: O h -Symmetrie, regulär oktaedrischer Bau;X = F: C 3v -Symmetrie, verzerrt-oktaedrisch), SeXg (SeF^ (a): isoelektronisch mit BrF 5 , X e F \ ; quadratisch-pyramidaler Bau; (SeX^) 2 = Se 2 Xfo (b): kantenverknüpfte S ä 6 - O k t a e d e r mit X = Cl, Br; (SeCl~)n (c): cis-eckenverknüpfte SeCl 6 -Oktaeder), Se 3 X" 3 (X = Cl, Br; vgl. bei Te) und Se 2 Cl9" (d) (flächenverknüpfte SeCl 6 -Oktaeder; bei allen Chloro-, Bromo- und Iodokomplexen - nicht jedoch Fluorokomplexen - bleibt das freie Elektronenpaar stereochemisch unwirksam): Cl
SeFs" (C 4v ) (a)
Se 2 Cl 1 2 o(D 2h )
(b)
(SeCl5")„ (c)
Se2Cl9" (C 3v )
(d)
Lösungen von SeF 4 , SeCl 4 , SeBr 4 bzw. Se0 2 in Flusssäure, konzentrierter Chlor-, Brom- bzw. Iodwasserstoffsäure enthalten die Ionen SeF5", S e C l , S e B r , S e i ( I s o l i e r u n g durch Fällung mit geeigneten Kationen wie protoniertes Pyridin). Flüssiges SeF4 dissoziiert in geringem Ausmaß nach 2 S e ^ ^ SeF3+ + SeF5"; Schmelzen von SeCl4 und SeBr4 (unter X 2 -Druck) verhalten sich hinsichtlich der Dissoziation wie TeX4-Schmelzen (s. dort). SeF4 (sehr hydrolyseempfindlich) wirkt wie S F als gutes
• 630
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Fluorierungsmittelu.a. für P, As, Sb, Bi, Si sowie als Fluoridierungsmittelfür Ketone, Aldehyde, Alkohole, Amide Carbonsäuren usw. und greift auch Glas langsam an. SeCl 4 reagiert als Chloridierungsmittel mit
Stabilität. Zum Unterschied von unzersetzt verdampfbarem, bis zu hohen Temperaturen zerfallstabilem SeF4 existieren die Tetrahalogenide SeCl 4 und SeBr 4 nur in kondensierter Phase. Ihre Überführung in die Gasphase ist mit einem vollständigen, reversiblen Zerfall in die Dihalogenide und Halogene verbunden:
Entsprechend der Abnahme der Stabilität in Richtung SeCl 4 > SeBr 4 lässt sich SeBr 4 trotz seiner höheren Masse leichter - unter Zersetzung in SeX 2 /X 2 - als SeCl 4 verdampfen. Man kann die reversible Überführung in die Gasphase zur Reinigung von SeCl 4 und SeBr 4 nutzen, indem man ein einseitig mit SeX 4 gefülltes, evakuiertes und abgeschlossenes Glasrohr auf der S ä 4 - S e i t e auf 150 0 C (X = Cl) bzw. 80 °C (X = Br) erhitzt, wodurch SeX 2 /X 2 -Gas entsteht, das sich am kühleren Rohrende wieder in festes SeX 4 umwandelt. Der Zerfall von SeBr 4 in SeBr 2 und Br 2 tritt - im Unterschied zu SeCl 4 - auch beim Lösen in Benzol, Tetrachlorkohlenstoff, Schwefelkohlenstoff, Chloroform usw. ein. Dihalogenide (Tab. 70). Die Darstellung von Selendifluorid SeF2 erfolgt zusammen mit Se2F2 und SeF4 (s. dort) durch Umsetzung von Se mit hochverdünntem Fluor. Die Fluoride lassen sich gemeinsam in einer Tieftemperaturmatrix isolieren (unter Normalbedingungen disproportioniert SeF2 in Se und SeF4, vgl. SF). Selendichlorid SeCl2 bildet sich durch Chlorierung von Se mit Sulfurylchlorid in Tetrahydrofuran (Se + S02C12 SeCl2 + S0 2 ) und hieraus Selendibromid SeBr2 nach Zugabe von Trimethylsilylbromid (SeCl2 + 2Me 3 SiBr ^ SeBr2 + 2Me 3 SiCl). Nach Abkondensieren des Solvens verbleiben SeCl2 bzw. SeBr2 als zersetzliche rote Flüssigkeit bzw. rotbraune Festsubstanz (Zerfall nach 3SeX2 Se2X2 + SeX4; haltbarer sind Lösungen der Dihalogenide in organischen Donorlösungsmitteln). SeC und SeB bilden sich zudem quantitativ nach SeX4 SeX2 + X 2 bzw. SeX4 + Se 2SeX 2 bzw. Se2X2 Se + SeX2 beim Verdampfen von S ^ 4 (in An- oder Abwesenheit von Se) bzw. von Se2X2. Das bei erhöhten Temperaturen gewonnene SeX 2 -Gas disproportioniert bei der Kondensation in Se2X2 sowie S ^ 4 und zerfällt bei weiterer Erwärmung in Selen und Halogen (SeCl2 ab ca. 400 0 C, SeBr2 bereits darunter): 3SeX 2 (g)
Abkühlung
2SeX 4 + Se2X2;
(
SeX2(g)
Erwärmung (
.
VnSe„ + X 2 .
Ein Selendiiodid Sel 2 existiert nicht. Man kennt aber Selendipseudohalogenide wie Se(CN) 2 , Se(SCN)2, Se(SeCN)2, Se(NC0) 2 , SeCN" (Salz von HSeCN). - Strukturen. Die Selendihalogenide weisen wie andere Chalkogendihalogenide EX 2 (Y = 0 , S, Se, Te) einen gewinkelten Bau auf (C2v-Symmetrie), wobei sich der Bindungswinkel mit abnehmendem Radius von E und zunehmendem Radius von X vergrößert (vgl. S. 318; SeF/SeCl/SeBr-Abstand 1.71/2.157/2.32Ä; FSeF/ClSeCl/BrSeBr-Winkel ca. 98.8/99.6/100°). Reaktivität. Die Dihalogenide lassen sich durch Addition von Donoren wie Tetrahydrofuran (s. oben) oder Halogenid stabilisieren z. B. kann SeCl2 in Form von SeCl2" (gewinnbar als hellrotes SeCl 2 -Addukt) und SeBr2 als orangefarbenes SeBr2~ (fällt als (Ph4P)2SeBr4 aus Ph 4 P + Br"-haltigen SeBr 2 -Lösungen aus) isoliert werden. Die SeX 4 "-Ionen (2 freie Elektronenpaare am Se) sind wie isovalenzelektronisches ICl^ oder XeF4 quadratisch-planar (e) und addieren leicht SÄ 2 -Moleküle unter Bildung von Se2X^" (f) (isovalenzelektronisch mit 12C16; kantenverknüpfte SeX 4 -Quadrate). Man kennt darüber hinaus Bromoselenate SeBr2" • 2SeBr 2 = Se 3 Br2" (g) u n d SeBr2" • SeBr 2 = Se 2 Br2" (h) sowie SeBr2" • 4SeBr 2 = Se5Br12",
SeBr2" 2SeBr 2 = Se 3 Br^, Se 4 Br^ (zwei über Br + (lineare SeBrSe-Einheit) verknüpfte Se2Br2"-Einheiten). Br /
Br
/ /^ ^
Br
^Br
.Se\ / / Br
Br
/
Br——-Br
Br Br-|-
Br
--Br -Br
/
/ / Br-
-Br—Se-
Br-
^Se
j;Br
\\
I
Br
(e) SeBr42-(D4h)
(f) Se2Br62-(D2h)
(g) Se3Br8zlC3h)
y Br (h) Se2Br8-(Cs)
„Monohalogenide" (Tab. 70). Die Darstellung von Diselendifluorid Se2F2 erfolgt zusammen mit SeF2 und SeF4 (s. dort) durch Fluorierung von Selen und anschließender Isolierung des Gasgemischs in einer Edelgasmatrix bei tiefen Temperaturen (bei Raumtemperatur disproportioniert Se2F2 in SeF4 und Se). Bei der Photolyse der Matrix wandelt sich FSeSeF teilweise in SeSeF2 um (vgl. S2F2). Diselendichlorid Se 2 Cl 2 und -dibromid Se 2 Br 2 werden aus den Elementen oder durch Reaktion von Selen und SeX 4 bei 120 °C
3. Das Selen, Tellur und Polonium
631»
synthetisiert. Sie stellen penetrant riechende, hydrolyseempfindliche dunkelgelbe bis -rote, schwere Flüssigkeiten dar, deren Dichten 2.774 (Se2Cl2) und 3.604 g/cm 3 (Se2Br2) bei 25 0 C betragen und die bei erhöhter Temperatur beträchtliche Mengen elementares Selen lösen, wobei in geringem Ausmaß Polyselendihalogenide SenX2 (X = Cl, Br) entstehen (flüssiges Se 2 Cl 2 enthält ca. 5% Triselendichlorid und Spuren Tetraselendichlorid neben Selendichlorid: SeC S C 2SeCl 2 + Se4Cl2; vgl. S2C12 auf S. 567). Die Diselendihalogenide verdampfen unter Disproportionierung Br) nicht in der Dampfphase): S
- Se„ + SeX2 .
Strukturen, Reaktivität Die Diselendihalogenide Se 2 X 2 (ClSe/SeSe-Abstände = 2.23/2.21 Ä; ClSeSe/ ClSeSeCl-Winkel = 104.3/87.4°; BrSe/SeSe-Abstände = 2.357/2.258 Ä; BrSeSe/BrSeSeBr-Winkel = 107.2/85.0°) haben wie H 2 0 2 , O 2 F 2 , H 2 S 2 , S 2 F 2 , S2C12 u n d 2 B r 2 und im Unterschied zu Te 2 I 2 (s. dort) eine Struktur mit gewinkelter nicht planarer (gauche-konformierter) XEEX-Kette. Der EE-Abstand ist dabei in E 2 X 2 kürzer als in E 2 H 2 oder E00: mit zunehmender Periodennummer von E und X entspricht er aber zunehmend einer Einfachbindung. Der Bindungswinkel EEX in E 2 X 2 vergrößert sich, der Torsionswinkel XEEX verkleinert sich mit abnehmendem Radius von E und zunehmendem Radius von X (vgl. entsprechenden Gang bei E X ) . Die zwischenmolekularen Beziehungen nehmen beim Übergang von S 2 X 2 nach Se 2 X 2 (X = Cl, Br) stark zu (bzgl. Te 2 I 2 s. unten); als Folge hiervon bilden Se 2 X 2 auffallend dichte Flüssigkeiten; auch liegen im festen Zustand bereits lockere Moleküldimere des Typs (i) vor (Dimerisierungsenthalpie für Se2Cl2 ca. 17 kJ/mol). Das Chlorid Se2Cl2 (Entsprechendes gilt wohl für Se2Br2) bildet als Halogenidakzeptor den blassgrünen Chlorokomplex Se2Cl4~ (Gegenion: (Me 2 N)(H 2 N)CCl + ; S4-Symmetrie; Cl-Atome gemäß (k) an den Ecken eines längsverzerrten Tetraeders, zentriert mit Se2). Demgegenüber sind die „Monohalogenide" keine Halogendonatoren. Es existieren aber die Kationen Se9Cl+ (l) (aus Se und NO + SbCl 6 " in fl. S O ; Se7 mit Se2Cl-Seitenkette), Se2Br5+ (m) (aus Se4+ und Br2 in fl. S O ; Br2SeBrSeBr2 mit pyramidalen Se-Atomen und linearer SeBrSe-Gruppe) sowie Se3Br3+ (n) (aus Se, Br2, AsF 5 in fl. S O ; Ersatz von Br in SeBr3+ durch SeSeBr). X
Cl
Se—Se/X ^••Se—Se
X (i) (Se 2 X2) 2 ( C
/ Cl
Se Cl I>C1 Se
(k) Se2Cl 4 2 -(S 4 )
Se Se - C l S1 e i \ e Se^z S ^ /Se Se (l) Se 9 Cl
Br .Br • Se—Br—Se Br
+
Br (m) Se2ßr 5 + (C2 h )
Br
1/
Se
Se
Se
/I
Br ' Br
(n) SeßBrJ (C 2 )
Iodverbindungen. Selen bildet keine neutralen Iodide. Es existieren aber folgende Selen-Iod-Kationen: , oben), Se214 + (p) (gewinnbar als S ^ F ^ - S a l z aus Selen und IJ S ^ F ^ in flüssigem ) 4 "; dachförmige Struktur wie S 2 0 4 " mit langer SeSe-Bindung von 2.841 Ä und - anders als in S2l4+ (s. dort) - nur sehr schwachen Iod-Wechselwirkungen), Se612 + (q) und (Se 6 I + ) n (r) (beide gewinnbar als rubinrote AsF^-Salze aus Selen, Iod, AsF 5 in flüssigem SO2; sesselkonformierte Se6-Ringe mit Iod-Substituenten in 1- und 4-Position, welche zusätzlich schwache Bindungen zu zwei weiteren Se-Atomen des Se6-Rings ausbilden, sodass - entfernt - eine Se 6 I 2 -Kubanstruktur resultiert). In SO2-Lösung entsteht darüber hinaus das Se 4 1 4 +-Kation nach Se4+ + 2I 2 Se4 ableitet und im Gleichgewicht mit Sel^ und Se 6 1\ + liegt: 2Se414 +
3.3.3
2SeI + + Se61? + .
Tellurhalogenide
Hexahalogenide (Tab. 70). Das aus den Elementen sowie durch Fluorierung von Tellurdioxid TeOo mit BrF3 synthetisierbare Tellurhexafluorid TeF6 (vgl. Tab.70; oktaedrischer Bau, TeF-Abstand 1.815 A) ist reaktiver als SeF6 und wird anders als die Selenverbindung von Wasser hydrolysiert (Bildung von Te (OH) 6
• 632
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
auf dem Wege über TeF„ ( O H ) 6 f ) sowie von Alkoholen ROH oder Silylaminen R 2 NSiMe 3 in Verbindungen des Typs TeF„(OR) 6 _„ bzw. T e F n ( N R ) 6 _ n übergeführt. Mit M F (M = Me 4 N, Rb, Cs) bildet TeF 6 Fluorokomplexe TeFf (isoelektronisch mit IF 7 ; pentagonal-bipyramidal; D 5h -Symmetrie) bzw. TeFg_ (isoelektronisch mit IF^; kubisch-antiprismatisch; D 4 d"Symmetrie). Als Derivate von TeF6 seien die gemischten Halogenide Tellurchloridpentafluorid TeF5Cl und Tellurbromidpentafluorid TeF5Br (gewinnbar aus TeCl 4 und TeBr 4 mit F2 bzw. aus TeF4 und ClF oder BrF) genannt. Ein Te2Fx 0 existiert bislang nicht (die Verbindung F5TeOTeF5 wurde lange Zeit fälschlicherweise für Te 2 F 10 gehalten). Tetrahalogenide (Tab. 70). Die Darstellung von Tellurtetrafluorid TeF4, -tetrachlorid TeCl 4 , -tetrabromid TeBr4 und -tetraiodid Tel 4 erfolgt aus den Elementen sowie durch Halogenidierung von Te0 2 mit SF4, SeF4, M F bzw. HX. Reines TeF4 entsteht darüber hinaus durch thermische Zersetzung der - aus Te0 2 und M F in wässeriger Flusssäure zugänglichen - Fluorokomplexe MTeF 5 (M = Na, K) zwischen 450-900 °C. Eigenschaften. TeF 4 ist als Fluorierungs- und Fluoridierungsmittel ähnlich wirksam wie SeF4 und greift bei erhöhter Temperatur Metalle wie Cu, Hg, Au und Ni unter Bildung von Metallfluoriden und -telluriden sowie auch Glas unter Bildung von SiF4 an. Es lässt sich unzersetzt verdampfen, disproportioniert aber ab ca. 190 °C langsam nach 3TeF 4 Te + 2TeF 6 . Auch TeCl 4 verdampft unzersetzt, wogegen die Verdampfung von TeBr 4 und Tel 4 mit einem teilweisen Zerfall von gasförmigem Tetrahalogenid gemäß TeX 4 (g) T ^ 2 ( g ) + X 2 verbunden ist. Bei höheren Temperaturen (ab ca. 500 °C) zersetzt sich auch TeCl 4 unter Cl 2 -Abgabe zu TeCl2 (vollständiger Zerfall von TeQ 4 , TeBr 4 , Tel 4 ab ca. 1000, 500, 400 °C). Strukturen. Im gasförmigen Zustand entspricht der Bau von TeX 4 dem von wippenförmigem S F (s. dort). Die Überführung von gasförmigem, monomerem TeX 4 in den kondensierten Zustand ist mit einer Polymerisation der Tetrahalogenide verbunden. In diesem Sinne bildet festes TeF4 (isoelektronisch mit S b F 4 ) im Unterschied zum homologen, monomeren S F im kristallinen Zustand Kettenmoleküle —F—TeF 3 —F—TeF 3 — (s) (SeF4 nimmt strukturell eine Stellung zwischen S F und TeF4 ein). Andererseits entspricht die Struktur von festem TeCl 4 und TeBr 4 näherungsweise der Formulierung TeX 3 X " , wobei die Te -Einheiten durch Halogenidbrücken zu einer Kubanstruktur der Molekülgröß [TeX 3 X _ ] 4 = Te 4 X 16 verknüpft sind (TeX 3 - und X-Einheiten abwechselnd in den Würfelecken, wobei sich die freien Elektronenpaare von TeX 3 in Richtung Würfelmittelpunkt erstrecken; jedes Te-Atom ist verzerrt oktaedrisch von 3 näheren exo-ständigen und 3 entfernteren brückenständigen X-Atomen umgeben (t). In analoger Weise ist auch SeCl 4 und SeBr 4 sowie e-TeI4, eine metastabile Tel ^Modifikation, aufgebaut :EC14 > :EBr 4 > :EI 4 sinkt (S.323), lassen sich von :SeX 4 und :TeX4 Hexafluoro-Komplexe EFg" weniger leicht als Hexachloro-, -bromo- und -iodo-Komplexe EXg" (X = Cl, Br, I) isolieren; letztere sind zudem regulär-oktaedrisch gebaut. Die Abnahme der stereochemischen Wirksamkeit des freien Elektronenpaars in den Halogeniden (EX 4 ) 4 (X = Cl, Br, I) des Selens und Tellurs in Richtung SeX 4 > TeX 4 und EC14 > EBr 4 > EI 4 kommt auch darin zum Ausdruck, dass für E X in gleicher Richtung die Bindungsabstände der terminalen und brückenständigen Halogenatome (t) einander ähnlicher werden (Verhältnis der mittleren Abstände von EX (brückenständig) zu EX (terminal) = 1.29 (SeCl4), 1.27 (TeCl4), 1.26 (SeBr4), 1.17 (c-TeI4)). Dihalogenide (Tab. 70). Während Tellurdifluorid TeF2 bisher nicht dargestellt werden konnte, sind Tellurdichlorid, -bromid und -iodid TeCl 2 , TeBr2 und Tel 2 bekannt (gewinkelter Bau; TeF/TeCl/TeBr-Abstand 1.876 (ber.)/2.329/2.51 Ä; FTeF/ClTeCl/BrTeBr-Winkel 93.3 (ber.)/97.0/98°; vgl. S. 318). Die Verbindungen existieren in der Gasphase (vgl. hierzu Anm. h) in Tab. 70) und bilden sich quantitativ nach TeX 4 TeX2 + X 2 bzw. T e X + Te 2TeX 2 bei erhöhter Temperatur (vgl. Tetrahalogenide). Auch durch rasches Abkühlen konnten die Dihalogenide bisher nicht unzersetzt - d.h. ohne Disproportionierung in Tellur oder Subhalogenide und Tetrahalogenide - in den metastabilen Zustand überführt werden. Es existieren aber isolierbare Tellurdipseudohalogenide wie Te(CN) 2 , TeCN~ (Salz von HTeCN), Te(NSO) 2 (mit TeCN~ sind nun alle Ionen Y C N " mit Y = O, S, Se, Te bekannt). Auch lässt sich TeX2 (X = Cl, Br, I) durch Adduktbildung mit Donoren D (z. B. (H 2 N) 2 CS, X~) unter Bildung von D 2 TeX 2 , D 2 Te 2 X 4 oder D 4 Te 2 Xg + disproportionierungsstabil und dadurch isolierbar machen. Halogenotellurate(II) TeXg" (quadratisch-planarer Bau analog S Ä g " ) entstehen etwa durch Reduktion von Halogenotelluraten(IV) mit Tellur oder Oxidation von Tellur mit Halogen in Anwesenheit von R + X ~ (R + = großvolumiges Kation wie E t 4 N + oder Ph 4 As + ) nach TeXg" + Te + 2X~ -> 2TeXg" bzw. Te + X 2 + 2X~ -> TeXg" im Solvens Acetonitril als hellgelbe (X = Cl), hellbraune (X = Br) bzw. braune (X = I) Salze. Es existiert zudem ein analog Se 4 Ig" (s. dort) gebautes Ion Te 4 Ig". Subhalogenide Te 4 X 2 , Te 3 Cl 2 , Te 2 I 2 (vgl. Tab. 70) bilden sich in kristallisierter Form sowohl aus der Schmelze durch Abkühlen von flüssigen Te/TeX 4 -Gemischen geeigneter Stöchiometrie als auch im Festzustand durch Tempern von festen Te/Te -Gemischen geeigneter Zusammensetzung oder aus Lösungen durch hydrothermales Auskristallisieren aus heißen, Te/TeX 4 -haltigen, konzentrierten Iodwasserstofflösungen. Te 2 Cl 2 bildet sich andererseits aus Li 2 Te und TeCl 4 in Toluol und verbleibt nach Abdampfen des Solvens als braungelbe Flüssigkeit (analog ist wohl Te 2 Br 2 darstellbar). Strukturen. Den bei Erwärmung in Te und TeX 4 disproportionierenden Subhalogeniden liegen ,,modifizierte" Tellurstrukturen mit Tellurringen, -ketten, -bändern bzw. -schichten zugrunde, die zum Teil Halogenatome tragen. Das Tellurgerüst der Ditellurmonohalogenide Te 2 X besteht gemäß (v) aus Te 6 -Ringen in Bootform, die miteinander über gemeinsame, gegenüberliegende Kanten zu langen Bändern kondensiert sind; die nicht am Kondensationsmechanismus beteiligten Te-Atome (zwei pro Ring) sind in der im Formelbild veranschaulichten Weise über Halogene verbrückt. Damit wechseln sich in Te 2 X pyramidale Te-Atome (i^-tetraedrisch; 3Te-Nachbarn) mit quadratisch-planaren Te-Atomen (i/voktaedrisch; 2Te + 2X-Nachbarn) ab. Die Struktur des Tellurmonoiodids Tel (/^-Modifikation) folgt aus Te 2 I dadurch, dass man die Te-Bänder in Te 2 I in der Mitte trennt und die gebildeten freien Te-Valenzen durch I-Atome absättigt (w). Hiernach enthält ß-TeI planare Zick-Zack-konformierte Te-Ketten, in welchen sich wieder pyramidale mit quadratisch-planaren Te-Atomen abwechseln. In der thermodynamisch stabileren «-Modifikation liegen im Sinne der unten wiedergegebenen Formel (x) viergliedrige Te-Ringe vor mit gewinkelten, pyramidalen und quadratisch-planaren Te-Atomen (die Te 4 I 4 -Moleküle sind über Iodbrücken zu einem Raumverbund miteinander verknüpft). Tritellurdichlorid Te 3 Cl 2 enthält - anders als ß-TeI und ähnlich wie elementares Tellur - spiralig um eine Achse angeordnete Te-Ketten, wobei jedes dritte Te-Atom außer mit 2Te- zusätzlich mit 2Cl-Atomen abgesättigt ist (ip-trigonal-bipyramidal; verzerrt-tetraedrische Anordnung der Te-Nachbarn wie in SF). Man könnte Te 3 Cl 2 auch als Cl—Te—Te—Te—Cl-Polymerisat beschreiben, gebildet durch o: -Addition von Te 3 Cl 2 -Monomeren. Inanaloger Weise ist Te 2 X sowie ß-TeI als Polymerisat von X—Te—%—Te—Te—X- bzw. I—Te—%—I-Monomeren aufzufassen. Die Struktur von Ditellurdichlorid T C ist unbekannt
• 634
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Ähnlich wie von Tel existieren auch von Te2I zwei strukturverschiedene Verbindungen gleicher Zusammensetzung. Anders als die bereits diskutierte enthält die zweite Substanz (bzgl. Gewinnung vgl. S. 621) überraschenderweise kein chemisch an Tellur gebundenes Iod. Sie ist im Sinne der Formulierung Te„ • JI 2 ein Intercalat (Einlagerungsverbindung) von Iod in Tellur; und zwar liegen abwechselnd Einfachschichten von Iod und Doppelschichten von Tellur übereinander, wobei erstere den Schichten in elementarem Iod (s. dort) und letztere einer eigenständigen, bisher nicht bekannten Tellurmodifikation entsprechen. In ihr sind Te8-Quader zweidimensional-unendlich über Flächen miteinander kondensiert. Da
3.4
Interchalkogene71
3.4.1
Überblick
Die wichtigsten binären ,,Interchalkogene" sind nachfolgend zusammen mit den reinen Chalkogenen aufgeführt (thermodynamisch stabilste Kombination jeweils durch fetten Index gekennzeichnet; vgl. hierzu auch Interchalkogen-Kationen und -Anionen): Molekül
Salz
02,3 S0 2>3
$6,7,8,»
SeO2 > 3
S
S e
Te
T
T S
T
Po
P S
P T
2,
PoO 1 i 2 . 3
6,7,8,oo
Po ro
Metall
Da die Elektronegativitäten der Chalkogene weder extrem groß noch klein sind, der Unterschied der Elektronegativitäten des leichtesten Elements Sauerstoff(EN = 3.50) und schwersten Elements Polonium (EN = 1.76) aber erheblich ist, finden sich unter den Interchalkogenen sowohl kovalente ,,Atomverbindungen" (Bedingung für ihre Bildung: vergleichbare, große Elementelektronegativität der Bindungspartner) und elektrovalente „Salze" (Bedingung für ihre Bildung: kleine und große Elementelektronegativität der Bindungspartner) als auch „Metalle" (Bedingung für ihre Bildung: vergleichbare, kleine Elementelektronegativität der Bindungspartner) und Halbmetalle 72 . So gelangt man innerhalb der ersten Spalte obiger Zusammenstellung von der reinen Kovalenz (molekulares O 2 , 0 3 ) über polare Atom- bzw. polarisierte Ionenbindung (molekulares S0 2 , S0 3 ; kettenpolymeres SeO2, schichtpolymeres TeO2) zur Elektrovalenz (raumpolymeres P o 0 2 mit der CaF 2 -Salzstruktur) und innerhalb der letzten Reihe von der Ionenbindung (PoO 2 , Po2 + ist in Wasser stabil und lässt sich mit H 2 S in Form von unlöslichem PoS fällen) über die ,,Halbmetallbindung" (Po^Se^, Po^Te^) zur Metallbindung (Po^). Auch gehen entlang der Diagonalen die nichtleitenden, nichtmetallischen Elemente O 2 , 3 /S 6 , 7 , 8 /Se 6 , 7 , 8 über halbleitende, halbmetallische Formen Se^/Te^ in stromleitendes Polonium Po^ über. Nachfolgend seien die Chalkogenoxide Y0 n (Y = Se, Te, Po;« u. a. 1,2, 3) sowie die Selensulfide SeXS besprochen. Die bisher weniger eingehend untersuchten Tellursulfide Te^S und Tellurselenide Te^Se entsprechen in ihren Strukturen und Eigenschaften den Selen-, Tellur- und Selensulfid-Modifikationen. So lassen sich etwa Selentelluride durch Reduktion von Se0 2 und zugleich Te0 2 in Glykollösung mit Hydrazin in Form eindimensional unendlicher Se- und zugleich Te-haltiger Ketten J[Te^Se ] gewinnen (vgl. Darstellung von Se bzw. Te aus Se0 2 bzw. TeO2), wobei deren Eigenschaften (z. B. Schmelzpunkte) zwischen 71 Literatur R. Paetzold:,,Neuere Untersuchungen an Selen-Sauerstoff-Verbindungen", Fortschr. Chem. Forsch. 5 (1996) 590-630; R. Steudel, R. Laitinen:,,Cyclic Selenium Sulfides", Topics Curr. C h e m 102 (1982) 177-197; W. A. Dutton, W. Ch. Cooper: ,,The Oxides and Oxyacids of Tellurium", Chem. R e v 66 (1966) 657-675. 72 Die Elektronegativität der Halogene ist vergleichsweise hoch, sodass sich unter den Interhalogenen keine Metalle und Salze vorfinden (IF und I 2 weisen molekularen Bau auf), die Elektronegativität der Pentele ist andererseits vergleichsweise gering, sodass die Interpentele keine Salze bilden (BiN hat keine Salzstruktur).
3. Das Selen, Tellur und Polonium
635»
denen der reinen Selen- und Tellurmodifikationen J[Y] liegen. Auch lassen sich Achtringverbindungen aus S-, Se- und/oder Te-Atomen u.a. durch Kondensation von (Me3Si)2Y (Y = Se, Te) mit höheren Schwefel- oder Selendihalogeniden gewinnen (als besonders stabil errechneten sich TeS7, l,2-Te2S6, 1,2TeSeS6 und 1,2,8-TeSe2S5). Alle Tellursulfide gehen beim Stehen in TeS7 über. Die Kenntnisse über Poloniumsulfide, -selenide und-telluride Po^Yy sind noch spärlich. PoS und PoSe bilden wohl Salzstrukturen, während Po.,Te sowohl wie Te^ mit Po anstelle einiger Te-Atome bzw. Te anstelle einiger Po-Atome gebaut sein könnte
3.4.2
Selen-, Tellur-, Poloniumoxide
Selen, Tellur und Polonium bilden wie Schwefel ein Dioxid Y0 2 und ein Trioxid Y0 3 , welche Anhydride der Chalkogenigen und Chalkogensäuren (s. dort) darstellen, in die sie durch Hydratisierung übergehen bzw. aus denen sie durch Dehydratisierung entstehen (vgl. Tab. 71, in welcher zum Vergleich auch die Schwefeloxide mit aufgenommen sind). Die Monoxide YO lassen sich im Falle Y = S, Se, Te als reaktive Zwischenprodukte nachweisen, im Falle Y = Po isolieren. Darüber hinaus existieren von Selen und Tellur wie von Schwefel Mischoxide des Typs Se2Os = SeIVSeVI05, Se3Ov = SeIVSeVI207, Te2Os = TeIVTeVIOs und Te 4 0 9 = TeIV3TeVI09. Bezüglich der Halogenidoxide YOX2, Y0 2 X 2 , YOX4 vgl. Selen- und Tellursauerstoffsäuren.
Darstellung Unter den Monoxiden entsteht PoO bei der Radiolyse von PoSO3 als brauner Feststoff und bildet sich in hydratisierter dunkelbrauner Form bei Zugabe von NaOH zu frisch bereiteten Po 2+ -Lösungen (vgl. S.643). Bezüglich SeO und TeO vgl. Tab.71. Die Dioxide Se02> Te0 2 und Po0 2 bilden sich aus den Elementen durch Verbrennen von Se und Te an der Luft bzw. im 0 2 -Strom (rein blaue Se-Flamme, grünumsäumte blaue Te-Flamme; für AH{ vgl. Tab. 71) bzw. durch Oxidation von Po mit 0 2 bei 250 °C. Darüber hinaus erhält man Se0 2 und Te0 2 durch Einwirkung von konz. H N O auf Se/Te bei 300/400 °C, Po0 2 durch thermischen Zerfall von Po(IV)-hydroxid, -sulfat oder -nitrat. Unter den Trioxiden bilden sich Se0 3 /Te0 3 durch Dehydratisierung von Selen- bzw. Tellursäuren bei 150-160 bzw. 300-360°C (in ersterem Falle in Anwesenheit von P 2 0 5 ; das in zweitem Falle entstehende o:-Te03 geht im abgeschlossenen Rohr nach 12-stündigem Erhitzen in H2SO4 (Sauerstoffanwesenheit) in /?-Te03 über). Se0 3 entsteht auch durch Oxidation von Se mit 0 2 in einer Hochfrequenz-Glimmentladung oder durch Verdrängung des Anhydrids im Zuge der Einwirkung von S O auf K 2 Se0 4 . P o 0 3 bildet sich offensichtlich bei der anodischen Oxidation in Anwesenheit von Cr (bisher nur in Spuren erzeugt). Unter den Mischoxiden erhält man Se 2 0 5 durch Thermolyse von Se0 3 bei 175 °C oder durch Reaktion von Se0 2 mit geschmolzenem Se0 3 bzw. mit H 2 Se 2 0 7 , Se3Ov in 3-30%iger Se0 3 -Nitromethanlösung bei 20-30°C neben NitrosyloligoseleTab. 71 Chalkogenoxide EmO„ (7°/kJ = Smp./Sdp. bzw. Sblp. [°C]/A# f [kJ/mol]; KZ = Koordinationszahl von E (nächste Nachbarn) in festem EmO„; M/K/S/R = Molekül-/Ketten-/Schicht-/Raumstruktur). a)
E
Schwefeloxide
Selenoxide
Telluroxide
Poloniumoxide
+2
EO
SO instabil
Se instabil
TeO instabil
PoO Schwarzer Feststo
+4
E
so2 Farbloses Gas — 75.5° / —10.0° / —297 kJ K Z = 2 (M)
Se Farblose Kristalle 3407 315° / —225.5 kJ K Z = 3 (K)
ot-/0-TeO2d) Farbl./Gelbe Krist. 732.6°/124.5 0 / —322.8 kJ K Z = 4 (R/S)
Po Gelbe Kristalle Sblp. 885° (O 2 -Strom) K Z = 8 (R)
+ 4/ +6
EO2..3
vgl. S. 576
S S Farblose Kristalle K Z = 3 und 4 (K/?)
T T Farblose Kristalle K Z = 4 und 6 (R/S)
-
+6
E
so3 Farblose Kristalle 16.9°/44.5° / —396.0 kJ K Z = 4 (M, trimer)
Se Farblose Kristalle 1187100° / —179.5 kJ K Z = 4 (M, tetramer)
n-jß-TeO^ Gelbe Kristalle Zers./ —348.3 kJ K Z = 6 (R)
Po Nur in Spuren erzeugt
a) Oxidationsstufe. - b) U.a. als reaktive Zwischenprodukte in Flammen nachgewiesen; bzgl. SO vgl. S. 576. - c) Smp. in geschlossenem Rohr. - d) a-Te0 2 (Paratellurit) und ß-Te0 2 (Tellurit, natürliches Mineral) bilden eine rote Schmelze, - e ) Kubisch rote, tetragonaleHochtemperaturmodifikation.-^ Sblp. bei 40mbar. - g ) Kubischem-Te0 3 (VF3- s; Re0 3 Struktur), rhomboedrisches ß-Te0 3 .
• 636
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
naten und Selendioxid (das zunächst entstehende Addukt Se307 • CH 3 N0 2 lässt sich in Vakuum von Nitromethan befreien), Te 2 0 5 und Te 4 0 9 durch Thermolyse von Te0 3 um 400°C.
Eigenschaften Se0 2 bildet farblos-glänzende, bei 315 °C unzersetzt sublimierbare und bei 340 °C im geschlossenen Rohr schmelzende (gelbe Schmelze), in Wasser unter Bildung von H 2 Se0 3 sowie auch in Benzol, H 2 S0 4 , Se0X 2 lösliche Kristalle TeOj/arblose (a-Form) bzw. gelbe (ß-Form), bei 732.2°C schmelzende (rote Schmelze) und bei 1245 °C siedende, in Wasser praktisch unlösliche sowie in Se0X 2 lösliche Kristalle P o 0 2 gelbe bzw. rote (Hochdruckform), bei 885 °C im O2-Strom sublimierbare und bei 500°C bei vermindertem Druck in die Elemente zerfallende, in Wasser unlösliche Kristalle (vgl. Tab. 71). SeO s stellt eine /arbloskristalline, bei 118°C schmelzende und bei 100°C/40mbar sublimierende, sehr hygroskopische und oxidierend wirkende Substanz dar (Tab. 71), die oberhalb 165°C auf dem Wege über Se 2 0 5 in Se0 2 und 0 2 zu zerfallen beginnt (Se0 3 -> Se0 2 + 1/2O2 + 46 kJ) und in ihren Eigenschaften S O näher als Te0 3 steht (z. B. Bildung von 1 : 1 Addukten mit Lewis-Basen wie Pyridin, Dioxan, Ether). Gelbes, in Wasser unlösliches, aber in heißen Alkalien unter Telluratbildung lösliches TeOs (a-, ß-Form) zersetzt sich oberhalb 400 °C unter O 2 -Abspaltung auf dem Wege über Te 2 0 5 in TeO2. Se0 2 ist thermodynamisch instabiler als S O oder TeO2, Se0 3 instabiler als S O oder Te0 3 (vgl. Chalkogensauerstoffsäuren). Als Folge hiervon sind Se0 2 und Se0 3 starke Oxidationsmittel (Se0 2 wird von N H , N2H4 oder S O in Wasser leicht zu Se reduziert). Während Se0 2 im Wesentlichen als Säure wirkt, zeigen Te0 2 und in besonderem Maße Po0 2 amphoteren Charakter. Bezüglich Se 2 0 5 , Te2Os, Se 3 0 7 , Te 4 0 9 vgl. Tab.71. Verwendung Man nutzt Se0 2 als Additiv für Schmierstoffe, Aktivator für Leuchstoffmassen, zur Herstellung von Spezialgläsern sowie Selenverbindungen und für Oxidationsreaktionen namentlich in der organischen Chemie (vgl. Organoselenverbindungen).
Strukturen Im Gegensatz zu monomerem, gasförmigem S O (S. 570) bildet festes Se0 2 gewinkelte polymere Ketten (b) mit pyramidalen Se-Atomen (Abstand SeOendo/SeOexo = 1.78/1.73 Ä; Winkel SeOSe/OendoSeOendo/ OendoSeOexo = 125/98/90°). Im Dampf bei hohen Temperaturen liegt Se0 2 anderereseits monomer vor, wobei der Bindungszustand durch die Mesomerie (a) beschreibbar ist. Bei weniger hohen Temperaturen enthält das Se0 2 -Gas oder die Se02-Schmelze auch dimere und oligomere Moleküle. Gelöst in SeOCl2 liegt Se0 2 in trimerer Form vor Se0 3 ist - anders als trimeres SO3 - im kristallinen Zustand tetramer (c). In der Gasphase stehen tetramere mit planaren monomeren SeO3-Molekülen im Gleichgewicht (Struktur analog S O , s. dort). Neben der tetrameren SeO3-Form existiert wie beim S O noch eine polymere, nadelige, asbestartige Form, die aus ersterer durch Erhitzen gewinnbar ist. In a-Te0 2 sind wippenförmige TeO4-Einheiten (d) (Abstände TeOax/TeOäq = 2.08/1.90 Ä; Winkel O^TeOJO^TeO^ = 168/102°) über gemeinsame O-Atome (Winkel TeOTe = 140°) zu einer Rutil-artigen Raumstruktur verknüpft, während in ß-Te02 die wippenförmigen Te0 4 -Einheiten über zwei gemeinsame O-Atome zu Te206-Baueinheiten (e) verbunden sind, welche ihre vier nicht in Te206-Brücken eingebundenen O-Atome mit vier anderen Te206-Einheiten unter Ausbildung einer Schichtstruktur teilen. Die Koordinationszahl des Tellurs (nächste Nachbarn) ist in Te0 2 mit 4 höher als die des Selens in eindimensionalem Se0 2 (KZ = 3) oder die des
O (a) SeO 2
Baueinheiten in (d)
(c) (SeO 3 ) 4
(b) (SeO 2 ) x
-(TeO2),'x
(e)
schematisch -(TeO2),
(f) (Te 2 O 5 ) x
3. Das Selen, Tellur und Polonium
637»
Schwefels in ,,nulldimensionalem" S0 2 (KZ = 2), aber niedriger als die von Polonium in ,,dreidimensionalem" P o 0 2 („Fluorit-Struktur"; KZ = 8). Hierin kommt der zunehmende metallische Charakter der Chalkogene in Richtung S, Se, Te, Po zum Ausdruck. Auch beim Übergang von Se0 3 zu Te0 3 wächst die Koordinationszahl des Chalkogenzentrums von 4 in (Se03)4 nach 6 in (TeOs)x (TeO 6 -0ktaeder, welche über gemeinsame O-Atome jeweils mit sechs benachbarten TeO 6 -0ktaedern nach den drei Raumrichtungen hin verknüpft sind: VF3- «< Re0 3 -Struktur). In Se2Os liegen gewinkelte Ketten — Se VI (0)—O—Se IV (0)—Se VI (0) 2 —Se IV (0)— vor, in Te2Os sind demgegenüber Te VI 0 6 -0ktaeder mit jeweils vier Te VI 0 6 -0ktaedern über gemeinsame 0-Atome zu Schichten verbunden, zwischen denen Ketten — Te IV (0)—0-Te IV (0)—O—Te IV (0)— eingelagert sind, wobei die TeIV-Atome nach zusätzlicher Koordination von zwei 0-Atomen abwechselnd an der oberen und unteren (Te^O^-Schicht wippenförmig (d) koordiniert sind. Insgesamt resultiert eine Raumstruktur (f). Die Struktur von Se3Ov ist noch unbekannt (im CH 3 N0 2 -Addukt liegen sechsgliedrige Se0Se0Se0-Ringe vor, in welchen eine tetraedische Se VI 0 4 -Einheit und zwei pyramidale SeIV03-Einheiten über gemeinsame 0-Atome im Sinne von — SeVI(0)2—O—SeVI(0)2—O—SeIV(0)—O— verknüpft sind). Te 4 0 9 weist eine Schichtstruktur auf, welche aus TeVI06- und TeIV04-Baueinheiten mit gemeinsamen 0-Atomen besteht.
3.4.3
Selensulfide 70
Gemische von Selensulfiden. Leitet man in wässerige Selenige Säuret S, so bildet sich nach Se
2H
Se
2 Se0 3
bei 20 °C Schwefelwasserstoff
2H
ein orangegelber, H 2 0-unlöslicher und CS2-löslicher Niederschlag der ungefähren Zusammensetzung SeS 2 („Selendisulfid"), der aus einem Gemisch achtgliederiger Schwefelringe besteht, in welchen mehr oder weniger S- durch Se-Atome ersetzt sind. Man verwendet das Produkt, das 100-mal weniger toxisch als elementares Selen ist, zur Schuppenentfernung in Haarwaschmitteln, als Reduktionsmittel in der Feuerwerkstechnik, als Inhibitor in der Polymerchemie, als Färbemittel in der Glasindustrie und zur Herstellung von photoelektrischen Zellen Gemische cyclisch gebauter Selensulfide unterschiedlicher Ringgröße und unterschiedlicher Anzahl von S- und Se-Atomen in den einzelnen Ringen bilden sich auch in schwach endothermer Reaktion beim Schmelzen von Mischungen aus Schwefel und Selen (in flüssigem Zustand ist Schwefel mit Selen in jedem Verhältnis mischbar): 1.3 k
S
S
S
(1)
Die durch Abkühlen der Schmelzen erhältlichen Selensulfide enthalten hauptsächlich achtgliederige Ringe (es sind 28 verschiedene S -Molekülarten denkbar). Ihre Farbe ist bei geringem Selengehalt gelb (a-S s -Struktur bis 18Gew.-% Se), bei mittleren Selengehalten orangegelb (y-S s -Struktur bei 20-49Gew.-% Se a-Se 8 -Struktur bei 50-68Gew.-o%> Se) und bei hohem Selengehalt rubinrot. Mit steigendem Se-Gehalt sinkt der Schmelzpunkt der Gemische zunächst von 119.5 °C (S8) bis 105 °C (40 mol% Se) ab, um dann wieder anzusteigen. Die Polymerisationstemperatur für den Übergang cyclische in polymere kettenförmige Selensulfide (bei reinem Schwefel 159 °C) erniedrigt sich in gleicher Richtung und beträgt bei 75mol-% Se 94°C. Ganz allgemein lassen sich in Verbindungen, die S-Ketten enthalten, S-Atome durch Se-Atome ersetzen. So leiten sich von Thiosulfat S 2 02" Selenosulfat S e S 0 ^ und Thioselenat SSeO2", von den Polythionaten S„C>2~ Selenopolythionate Se^S C>2~ (x = 1, 2; y = 2, 4) ab. Es existiert auch ein Tellurapentathionat TeS402". Reine Selensulfide. Ähnlich wie im Falle von Schwefel und Selen (s. dort) lassen sich durch Reaktion von Sulfanen H2SX (Selan H 2 Se) bzw. des Pentasulfids Cp 2 TiS 5 (Pentaselenids Cp 2 TiSe 5 ) mit Diselenchlorid Se 2 Cl 2 (Schwefelchloriden S„Cl2) gezielt Schwefelsulfide bestimmter Zusammensetzung gewinnen (u.a. sechsgliederige Ringe: SeS5; 1,4-Se2S4; 1,2-Se4S2; Se5S; siebengliederige Ringe: 1,2-Se2S5; 1,2,5Se3S4; 1,2-Se5S2; Se6S; achtgliederige Ringe: SeS7; 1,2,3-Se3S5; 1,2,5,6-Se4S4; 1,2-Se6S2; Se7S; zwölfgliederige Ringe: 1,2-/1,7-Se2S10). Die Strukturen der isolierten Selensulfide entsprechen dem Bau von S„bzw. Sen-Ringen gleicher Gliederzahl (Sessel-, Sessel-, Kronen- und „dreistöckige" Form im Falle der sechs-, sieben-, acht- und zwölfgliederigen Ringe, vgl. S. 552). Im Falle der weniger symmetrischen siebengliederigen Ringe (Entsprechendes gilt auch für zwölfgliederige Ringe) existieren Konformationsisomere, die sich rasch ineinander umwandeln, z.B. 1,2-Se5S2: .Se Se'
•Se. S
,Se. S
•Se. S'
• 638
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Aus CS2 kristallisieren hierbei Gemische, welche die erste und dritte Form in wechselnden Anteilen enthalten. Die einzelnen Selensulfide sind in kristalliner Form mehr oder weniger metastabil. Beim sukzessiven Erwärmen wandeln sie sich spätestens beim Schmelzpunkt in Selensulfidgemische um und poly merisieren in unterschiedlichem Ausmaß. In CS2-Lösung erfolgt der Übergang in andere Selensulfide bereits bei Raumtemperatur mehr oder weniger rasch. Z.B. geht unter den siebengliederigen Ringen 1,2-Se2S5 bei 25 °C mit einer Halbwertszeit von ca. 1 h in den sechsgliederigen Ring SeS5 sowie den achtgliederigen Ring 1,2,3-Se3S5 über (Übertragung eines Se-Atoms möglicherweise über einen hypervalenten Zwischenzustand, vgl. S. 554). Etwas rascher zersetzt sich Se5S2 in Se4S2 und Se6S2. Der sechsgliederige Ring Se5S verwandelt sich andererseits in die Sulfide Se7S, Se6S und Se5S3 und - nach längeren Reaktionszeiten - auch in Se8 und Se 6 S 2 . Entsprechend der Gl. (1) tendieren Selensulfide dazu, sich in schwefel- und selenreiche Verbindungen umzulagern. Schwefel-Sauerstoff-Ringe mit endo-ständigem Sauerstoff verwandeln sich andererseits unter Energieabgabe gemäß Gl. (2) in solche mit exo-ständigem Sauerstoff: —S—Ö—
->
^S—Ö: + Energie.
(2)
3.5
Sauerstoffsäuren des Selens,Tellurs, Polonium 6 1 , 7 3
3.5.1
Überblick
Systematik. Tab. 72 gibt die Formeln bisher bekannter Sauerstoffsäuren des Selens, Tellurs und Poloniums wieder (bezüglich Schwefelsauerstoffsäuren vgl. Tab. 65 auf S. 578). Hiernach existieren unter den betreffenden Säuren nur eine Chalkogen(II)-Säure („Poloniumdihydroxid" H2PoO2 = Po(0H) 2 ; vgl. „Sulfoxylsäure" H2SO2 = S(OH)2 und „Dihydrogentrioxid" = O(OH)2), alle Chalkogen(IV)-säuren (,,Selenige", ,,Tellurige", ,,Polonige Säure" H 2 Se0 3 , H 2 Te0 3 , H 2 PoO 3 ) und alle Chalkogen(VI)-Säuren („Selensäure" U2Se04, „Tellursäure" H 2 Te0 4 (polymer), ,,Orthotellursäure" H6TeOs und ,,Poloniumsäure" Po0 3 • aq (genaue Formel unbekannt)). Darüber hinaus sind Peroxochalkogen-Sauerstojfsäuren (z. B. H2SeOs: Peroxoselensäure) sowie Oligochalkogen-Sauerstojfsäuren (z. B. H2Se207: Diselensäure; H2Se3010: Triselensäure) bekannt, die sich von den in Tab. 72 wiedergegebenen Säuren durch Ersatz eines O-Atoms gegen die Peroxogruppe 0 2 oder durch intramolekulare Wasserabspaltung („Kondensation") ableiten. In Substanz isolierbar sind unter den Säuren der Tab. 72 H 2 Se0 3 , H 2 Se0 4 , (H2Te04);t, H6Te06. Strukturen In den Salzen der Chalkogen-Sauerstoffsäuren ist das Chalkogenit-Ion: Y02" im Sinne des VSEPR-Modells (S. 313)gewinkelt O OYO um 100°), das Chalkogenat-Ion YO^~ tetraedisch, das Mesochalkogenat-Ion Y O ^ (Y bisher Se, Te) trigonal-bipyramidal bzw. quadratisch-pyramidal, das Orthochalkogenat-Ion YO^~ (Y bisher Se, Te) oktaedrisch gebaut (die Ionen TeO^ liegen auch als Dimere, die Ionen TeO^" als Polymere vor, jeweils mit oktaedrischer Koordination von Te; s. unten). Das Proton ist in den Säuren mit dem Sauerstoff verknüpft (gewinkelte HOY-Gruppe; vgl. Schwefel-Sauerstoffsäuren, die zum Teil schwefelgebundene Protonen aufweisen). Formeln wie YO(OH)2, YC)2(OH)2 oder Te(OH)6 geben somit die Molekülkonstitution besser als die in Tab. 72 aufgeführten Formeln wieder. Tab. 72 Sauerstoffsäuren des Selens, Tellurs und Poloniums (H 2 Se0 2 und H 2 Te0 2 sind noch unbekannt, die Po(VI)-Spezies Po0 3 • aq/PoO^" • aq wurden bisher nicht charakterisiert). Oxidationsstufe
73
Formel
Sä uren (Y = Se, Te, Po) Name
Formel
Metallsalze Name
+2
YO
Hypochalkogenige Säuren Chalkogen(II)-säuren
YO
Hypochalkogenite Hypochalkogenate(II)
+4
YO
Chalkogenige Säuren Chalkogen(IV)-säuren
YO
Chalkogenite Chalkogenate(IV)
+6
YO
Chalkogensäuren Chalkogen(VI)-säuren
YO
Chalkogenate Chalkogenate(VI)
Te
Orthotellursäure
MÄ_„Te0 6
Orthotellurate
Literatur. W.A. Dutton, W.Ch. Cooper: „The Oxides and Oxyacids of Tellurium", Chem. R e v 66 (1966) 657-675; M.A. Ansari, J.U. McCounachie, J.A. Ibers: „Tellurometalates" Acc. Chem. R e s 26 (1993) 574-578; W. Levason: ,,The coordination chemistry of periodate and tellurate ligands", Coord. Chem. R e v 161 (1997) 33-80.
3. Das Selen, Tellur und Polonium
639»
Darstellung. Während sich Se0 2 und Se0 3 leicht unter Bildung von H 2 Se0 3 und H 2 Se0 4 in Wasser lösen (SeO2(3) + H 2 0 H2SeO3(4)), bilden die unlöslichen Anhydride TeO2, TeO3, Po0 2 und PoO3(?) mit Wasser höchstens in sehr kleiner Gleichgewichtskonzentration Chalkogenige und Chalkogensäuren, sodass man letztere Verbindung durch Versetzen von Chalkogenaten(IV,VI) mit Säuren (Y02/4 + 2H + -> H 2 Y0 3/4 ) oder Chalkogensalzenmit Basen (Po 2+ + 2 0 H ~ Po(0H) 2 ; Po 4+ + 40H~ H 2 Po0 3 + H 2 0) gewinnt. Auch durch Oxidation von Chalkogenen oder Chalkogenigen Säuren stellt man die betreffenden Säuren her (s. unten). Eigenschaften Säure-Base-Verhalten. Die Säurestärke der - verglichen mit den Halogensauerstoffsäuren (S. 463) insgesamt etwas schwächeren - Chalkogen-Sauerstoffsäuren wächst mit abnehmender 0rdnungszahl und zunehmender 0xidationsstufe des Chalkogens (H 2 S0 4 saurer als H 2 Se0 4 ; H 2 Se0 4 saurer als H 2 Se0 3 ; H 6 Te0 6 deutlich schwächer sauer als die Säure ,,H 2 Te0 4 ", falls sie existierte). Die Basenstärke erhöht sich in umgekehrter Richtung (H 2 Te0 3 ist amphoter, Po(0H) 2 bereits ausgesprochen basisch). Das Redox-Verhalten der Chalkogensauerstoffsäuren geht aus folgenden Potentialdiagrammen einiger 0xidationsstufen des Sauerstoffs, Schwefels, Selens, Tellurs und Poloniums bei pH = 0 und 14 hervor (vgl. Anh. VI). Erwartungsgemäß ist die Oxidationsstufe der Chalkogen-Sauerstoffsäuren bzw. ihrer Anionen ähnlich wie die der Halogen-Sauerstoffsäuren und ihrer Anionen in saurer Lösung größer (stärkstes 0xidationsmittel unter den aufgeführten Spezies - abgesehen von 0 3 - Po0 3 • aq, gefolgt von H 2 Se0 4 , H 6 Te0 6 , H 2 S0 4 ), die Reduktionskraft in alkalischer Lösung (stärkstes Reduktionsmittel S02~). Das Diagramm lehrt darüber hinaus, dass eine Disproportionierung der 0xidationsstufe 0 bzw. + 4 ausschließlich bei S8 im Alkalischem sowie bei S0 2 und S 0 ^ im Sauren und Alkalischen möglich ist. In den übrigen Fällen erfolgt umgekehrt Komproportionierung. Auch lässt sich aus dem Diagramm ersehen, dass S0 2 Selenige Säure bzw. Tellurdioxid zu Selen bzw. Tellur reduzieren kann. pH = 0
o3
+6 S0J-
+4 S0
SeO H6Te06 PoO, • aq
0.158 1.15 0.93 1.524
2.075 0.500 Se
Te PoO,
0.74 0.57 0.724
o2
+0 S8 S T P
1.229 0.144 -0.40 -0.69 < -1.0
H2O
p H = 14
H2S
+6 S02
Se
Se
Po
- 0 . 9 3 6 +4 2 S0 2
Te
Te
1.246
o3
2
P o O • aq
-0.659
0.03
Se
2
-0.366
0.07
Te
2
-0.42
1.474 Po
2
0.748
o2
0.0401
+0 -0.476 S8 S T P
H0 HS
-0.92 S
2
T
2
P
2
-1.143 < -1.4
Die Redoxpotentiale der Systeme Y 0 ^ / : Y 0 ^ werden in Richtung Sulfat(VI/IV), Selenat(VI/IV), Tellurat(VI/IV), Polonat(VI,IV) positiver, weniger positiv und wieder positiver. Wie im Falle der entsprechenden Systeme X0^/:X0 3 ~ (X = Cl, Br, I, At) bereits eingehender besprochen wurde (S. 465), bringen die Potentiale die Willigkeit des s-Elektronenpaares zur Betätigung einer chemischen Bindung zum Ausdruck, die durch Vergrößerung des mittleren Elektron-/Kern-Abstands zunimmt (:SeO2~ -> :Te02") und mit wachsender Kernladung (:S02~ -> :SeO2") sowie zusätzlich wachsendem relativistischem Effekt (vgl. S. 340; :Te02" -> :Po02") abnimmt. Den Sachverhalt, dass Verbindungen von p-Block-Elementen der 4. Periode in ihren höchsten 0xidationsstufen thermodynamisch weniger stabil sind als solche der 3. und 5. Periode haben wir bereits bei den Chalkogenhexafluoriden und -trioxiden kennengelernt (AH{ für SF6/SeF6/TeF6 = - 1220/- 1030/- 1319kJ/mol, für S0 3 /Se0 3 /Te0 3 = - 3 9 6 / - 1 8 0 / - 348kJ/mol).
3.5.2
Sauerstoffsäuren des Selens
Selen(IV)-Säuren. Darstellung, Charakterisierung. Während sich S0 2 in Wasser nur ,,physikalisch" löst (in sehr geringer Menge entsteht H 3 0 + HS0 3 ~, vgl. S. 579), reagiert Se0 2 mit H 2 0 ,,chemisch" unter Bildung von Seleniger Säure H 2 Se0 3 : Se
Se
Sie kann durch Eindunsten der Lösung im Vakuum oder durch Kristallisation aus wässeriger Lösung in Form zerfließender, an trockener Luft unter Wasserabspaltung (Umkehrung der Bildung) verwitternder Prismen gewonnen werden (über H verbrückte pyramidale Se0(0H) 2 -Moleküle; Se0H-/Se0-Abstände 1.74/1.64 Ä). In analoger Weise entsteht aus Se0 2 und Wasserstoffperoxid Peroxoselenige Säure H 2 Se0 4 = S e 0 ( 0 H ) ( 0 0 H ) (stabil bis - 10 °C). Wässrige Lösungen von H 2 Se0 3 erhält man auch bei der 0xidation von gepulvertem Selen mit verdünnter HN0 3 : 3Se + 4 H N 0 3 + H 2 0
3H 2 Se0 3 + 4 N 0 .
Säure-Base-Verhalten. ist eine schwächere Säure als ,,H 2 S0 3 ". Als zweibasige Säure ( p ^ = 2.62; pK2 = 8.32) bildet sie ,,Hydrogenselenite" (saure Selenite) M J HSe0 3 und ,,Selenite" (neutrale Selenite)
• 640
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Tab. 73 Einige Eigenschaften und Strukturparameter von Halogenderivaten der Selenigen und Selensäure (X = Halogen, ^ = Dichte, Z = Zersetzung). Verbindungen SeOF2 SeOC SeOB Se (SeOF4)2
Farblose Flüssigk. Farblose Flüssigk. Orangefarbene Krist. Farbloses Gas Farblose Flüssigk.
Smp./Sdp. [°C]
e
Abstände [Ä] SeX/Se
Winkel [°] XSeX/OSe
15/125 10.9/177.2 41.6/50Z — 99.5/— 8.4 — 12/65
2.80 2.445 3.38
1.73/1.58 2.20/1.61
92/105 97/106
1.685/1.575
94.1/126.2b)
g/cm
a) Im Kristall sind die pyramidalen SeOF 2 -Moleküle über schwache O- und F-Brücken zu Schichten verknüpft und weisen dort verzerrt-oktaedrischen Bau auf. - b) Winkel O S e O . - c) SeF„/SeF äq /SeO = 1.70/1.67/1.78 Ä; SeOSe = 97.5.
MI2Se03 (pyramidaler Bau des SeO2"-Ions mit C^-Symmetrie; SeO-Abstand 1.69,4, OSeO-Winkel 101°). Die Wirkung von H 2 Se0 3 als Base (SeO(OH)2 + H + -> Se(OH)3+ ist wenig ausgeprägt (z. B. Bildung eines basischen Sulfats). Die Hydrogenselenite sind leicht in „Diselenite" M 2 Se 2 0 5 überführbar und befinden sich mit diesen im Gleichgewicht. Entsprechendes gilt für Diselenige Säure H 2 Se 2 0 s in geschmolzener Seleniger Säure 2HSe03~
Se 2 0^ + H2O;
2H 2 Se0 3 ^ H2Se2Os + H 2 O.
Im Gegensatz zu den homologen Disulfiten S202~ = [02S—SO3]2~ (s. dort) enthalten Diselenite keine Element-Element-, sondern Element-Sauerstoff-Element-Gruppen [0 2 Se—O—SeOJ 2 ~ (C2v-Symmtrie; gewinkelte SeOSe-Gruppen: SeOelo-/SeOendo-Abstände 1.64/1.83; SeOSe-Winkel 120°). Redox-Verhalten. Die reduzierende Wirkung der Selenigen Säure ist weit geringer als die der Schwefeligen Säure, was schon daraus hervorgeht, dass sie von S O zu elementarem Selen reduziert wird (vgl. Darstellung von Se). Umgekehrt besitzt H 2 Se0 3 - namentlich im sauren Milieu - recht gute oxidierende Wirkung (vgl. Potentialdiagramme, oben) und verwandelt etwa HI in 12, H S in S8; N2H4 in N2, wobei die Säure selbst in rotes Selen übergeht. Von der oxidierenden Wirkung des Selenits macht man in der organischen Chemie Gebrauch (vgl. Organoselenverbindungen). Unter den Halogenderivaten der Selenigen Säure SeO(OH)2, nämlich pyramidal gebautem SeOF2, SeOCl2 bzw. SeOBr2 (Cs-Symmetrie; vgl. Tab. 73), ist das „Seleninylchlorid" SeOCl2 (AH[ = — 183.0 kJ/ mol) bemerkenswert. Es ist - wie die anderen Oxiddihalogenide - aus SeX4 und Se0 2 bei 200 °C in CC14 im abgeschlossenen Rohr gewinnbar (SeCl 4 +Se0 2 -> 2SeOCl2), zerfällt ab 600 °C zunehmend nach 2SeOCl2(g) -> SeO2(g) + 2Cl 2 + jSe8 und zeigt in flüssiger Phase aufgrund seiner geringfügigen Dissoziation gemäß 2SeOCl 2 fc>SeOCl + + SeOCl3~ elektrische Leitfähigkeit (2.5 x 1 0 - 5 ß - 1 c m - bei 25°C). Mit Chlorid entsteht der Halogenokomplex SeOCl3~, der in dimerer Form als [Cl2OSe(n-Cl)2SeOCl2]2~ ausfällt. SeOCl2 setzt sich fast mit allen Elementen und zudem vielen Elementverbindungen um und wirkt - wie viele andere Chloridoxide (z. B. COC12, MeCOCl, PhCOCl, NOCl, POC13, PhPOCl2, SOC12, SO2C12) als gutes Lösungsmittel. Selen(VI)-Säuren. Darstellung, Charakterisierung. Die Oxidation der Selenigen zu Selensäure H 2 Se0 4 gelingt auf chemischem Wege mit starken Oxidationsmitteln wie Chlor, Chlorsäure, Kaliumpermanganat, Ozon, Wasserstoffperoxid in saurem Milieu oder auf elektrochemischem Wege durch anodische Oxidation. Die Säure bildet farblose, bei 62°C schmelzende, hygroskopische Kristalle (Dichte 2.961 g/cm3; über H zu Schichten verbrückte, tetraedische Se02(OH)2-Moleküle; SeO-Abstände 1.61 Ä, OSeO-Winkel 110°). Selensäure, die sich auch beim Auflösen von Se0 3 in Wasser bildet, zerfällt oberhalb 260 °C unter Wasserabspaltung in Se0 2 und O2, lässt sich aber bei 202 °C im Hochvakuum destillieren und bei 150 °C in Anwesenheit von entwässern 150°C, P 2 O s
Se0 3 + H 2 O
H 2 Se0 4
226600 LC
> Se0 2 + 1/2O2 + H 2 O.
Die 95%ige Lösung (Azeotrop) ist eine der konzentrierten Schwefelsäure äußerlich gleichende, ölige Flüssigkeit, welche bereitwillig Se0 3 in reversibler Reaktion unter Bildung von D - und Triselensäure H 2 Se0 7 („Pyroselensäure"; Smp. 19°C) und H2Se3O10 (Smp. 25 °C) aufnimmt und mit Wasserstoffperoxid - zumindest teilweise - in Peroxoselensäure H 2 Se0 5 = SeO2(OH)(OOH) übergeht (quantitativ gewinnbar aus SeO2(OH)Cl(s. u.) undH 2 0 2 ; Zersetzung oberhalb — 10 °C unter O 2 -Abgabeund Bildung vonH 2 Se0 3 ; eine ,,Peroxodiselensäure" H2Se2Og (HO)O2Se—O—O—Se02(OH) ist unbekannt).
3. Das Selen, Tellur und Polonium
641»
Redox-Verhalten. Die Oxidationswirkung von H 2 Se0 4 übertrifft die von H2SO4 deutlich (vgl. Potentialdiagramme, oben). So entwickelt z. B. ein Gemisch von konzentrierter Salz- und Selensäure reaktionsfähiges Chlor H 2 Se0 4 + 2HC1 ^ H 2 Se0 3 + H 2 0 + 2Cl, sodass man damit - ähnlich wie mit Königswasser (s. dort) - Gold und Platin auflösen kann. Auch bilden sich mit Schwefel, Selen, Tellur, Polonium unter Oxidation der Chalkogene farbige Lösungen (H2SO4 verwandelt Chalkogene nur in Anwesenheit von S O in farbige Chalkogen-Kationen, vgl. S. 622). Säure-Base-Verhalten. Die wässerige H 2 Se0 4 -Lösung stellt eine starke Säure dar = 1.74), fast so stark wie Schwefelsäure. Wie letztere vereinigt sich demgemäß auch H 2 Se0 4 begierig mit Wasser (Bildung + von Hydraten wie H 2 Se0 4 • H 2 0 = H 3 0 HSe0 4 - (Smp. 26°C) oder H 2 Se0 4 • 4 H 2 0 = H 9 0 4 + HSe0 4 (Smp. 52°C) und wirkt verkohlend auf organische Substanzen ein. Als zweibasige Säure bildet H 2 Se0 4 ,,Hydrogenselenate" HSeOf und ,,Selenate" SeC>2~ (tetraedischer Bau mit Td-Symmetrie (a); SeO-Abstand 1.65 Ä), die hinsichtlich Löslichkeit und Kristallstrukturen den (isomorphen) Sulfaten entsprechen, aber - anders als letztere - beim Erhitzen ziemlich leicht Sauerstoff abspalten. Eine ,,Mesoselensäure" H 4 SeO s und „Orthoselensäure" H 6 Se0 6 bilden sich nicht (H 2 Se0 4 entwickelt keine Lewis-, sondern nur Brönsted-Acidität hinsichtlich H 2 O; vgl. hierzu H 2 Te0 4 ). Es lassen sich jedoch ,,Mesoselenate" SeC>4~ (b, c) und ,,Orthoselenate" SeC>6~ in Form von Li4SeO5, Na 4 SeO s und Na 12 (Se0 6 )(Se0 4 ) 3 durch Festkörperreaktionen von Li2O bzw. Na 2 O mit Na 2 Se0 4 unter Argon in abgeschlossenen Gefäßen bei 500 °C gewinnen. In Li4SeOs (SeO-Abstände 1.71 und 1.80 Ä) sind wie in a-Bornitrid BN (s. dort) hexagonale (bienenwabenförmige) Schichten aus Li, Se und O im Verhältnis 4 : 1 : 5 in der Weise auf Deckung übereinander gestapelt, dass Se sowie Li von 5 O und O von 4 Se und 1 Li trigonal-bipyramidal koordiniert ist, wogegen in Na 4 SeO s bzw. Na12(SeO6)(Se04)3 diskrete quadratisch-pyramidale SeO5- bzw. oktaedrische SeO6- und tetraedische SeO4-Baueinheiten vorliegen (SeO-Abständein S e O / S e O 6 " / S e O = 1.73-1.81/ ca. 1.83/ca. 1.65Ä; die quadratisch-pyramidale Se0 4 -Einheiten sind im Kristall über schwache Se---OBindungen zu (Se -Gruppen mit (SeO) -Achtring und oktaedrischer Se-Koordination verknüpft). 0 1 o ^ o O (a) S e O 4 i n N a 2 S e O 4 Te04 inRb6Te209
o I
o I
o
To O (b) S e O ^ i n L i 4 S e O 5 TeOs in R b 2 T e 2 Q 9
o o
u
U
(c) S e O ^ in N a 2 S e O 5 T e O f (unbekannt)
I
o
Q (d) SeO<j in N a 1 2 ( S e O 6 ) ( S e O 4 ) 3 TeOjT i n N a 6 T e 0 6
Unter den Halogenderivaten der Selensäure ist das dem Sulfuryldifluorid entsprechende farblose, gasförmige ,,Selenonyldifluorid" (,,Selendifluoriddioxid") Se0 2 F 2 (vgl. Tab. 73; C2v-Symmetrie; tetraedischer Bau) durch Fluoridierung von Se0 3 mit SeF4 oder durch Umsetzung von BaSe0 4 mit H S O F bei 50 °C gewinnbar (Halogenidoxide Se0 2 X 2 mit X = Cl, Br, I sind unbekannt). Das SOF 4 -homologe ,,Selenonyltetrafluorid" (,,Selentetrafluoridoxid") SeOF4, entsteht in monomerer Form bei der Vakuumpyrolyse von NaOSeF 5 als bei — 196 °C farbloser Festkörper. Es dimerisiert - anders als SOF4 - oberhalb — 100 °C zu /arblos-flüssigem (SeOF4)2 (vgl. Tab. 73; über eine gemeinsame Sauerstoffkante verbrückte F 4 Se0 2 Oktaeder; Abstände SeFax/SeFäq/SeO = 1.70/1.67/1.78 A; Winkel SeOSe = 97.5°). Den Halogenoschwefelsäuren H S O X entsprechen die ,,Halogenoselensäuren" HSeO 3 X (HSeO s F : farblose, viskose, stark oxidierend wirkende Flüssigkeit HSeO3C1: farblose, bis — 10°C beständige Kristalle; HSeO 3 Br und HSe0 3 I sind unbekannt). Des Weiteren entsprechen der Pentafluoroorthoschwefelsäure HOSF 5 die „Pentafluoroorthoselensäure" HOSeF 5 (Smp./Sdp. 38/47°C; vgl. hierzu HOTeF5), den Schwefelverbindungen F5SOF, F5SOSF5 und F5SOOSF5 die Selenverbindungen F 5 SeOF (farbloses Gas; Smp./Sdp. — 54/— 29°C; gewinnbar aus Se0 2 /F 2 bei 80°C), F5SeOSeF5 (farblose Flüssigkeit; Smp./Sdp. — 85/53°C; gewinnbar durch Thermolyse von Xe(OSeF5)2; SeOSe-Winkel = 142.4°) und F 5 SeOOSeF 5 (farblose Flüssigkeit, Smp./Sdp. — 62.8/76.3°C; gewinnbar aus Se0 2 /F 2 bei 120°C). Man kennt auch Amido- und Imidoderivate der Selensäure. Z.B. entsteht das Ammoniumsalz der ,,Amidoselensäure" Se0 2 (OH)(NH 2 ) durch Einwirkung von N H auf Se0 3 • py bei — 70°C, die „Diamidoselensäure" SeO2(NH2)2 durch Ammonolyse von Dimethylselenat SeO2(OMe)2 bei tiefen Temperaturen. Letztere Verbindung lagert sich oberhalb — 60°C in das Ammoniumsalz der trimeren ,,Imidoselensäure" Se0 2 (NH) um: 3Se0 2 (NH 2 ) 2 [NH 4 +] 3 [Se0 2 N-] 3 . Andere Se-haltige Säuren In Schwefelsäuren mit Schwefelketten lässt sich Schwefel teilweise durch Selen ersetzen, wobei man etwa von Thiosulfaten S S O ^ zu Selenosulfaten SeSO^ oder Thioselenaten SSe02~ bzw. von Polythionaten S„02 zu Selenopolythionaten wie [O3SSSeSSO3]2~ gelangt (man kennt auch SSTeSSO 2 ).
• 642
3.5.3
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Sauerstoffsäuren des Tellurs
Tellur(IV)-Säuren. Durch Hydrolyse von TeCl4 oder durch Ansäuern von TeO ^-Lösungen (gewinnbar durch Auflösen von Te0 2 in Alkalien) bildet sich Tellurige Säure H 2 TeO s (Struktur noch unbekannt) als farbloser, unter H 2 0-Abgabe leicht in Te0 2 übergehender Feststoff. H 2 Te0 3 ist schwach amphoter (Löslichkeitsminimum bei pH = 4) und reagiert dementsprechend sowohl mit Basen (Bildung von ,,Hydrogentelluriten" und „Telluriten": H2Te03" HTe03~ + H + TeO2~ + = 2.48; pK2 = 7.70) als auch mit starken Säuren (Bildung von ,,Tellur(IV)-Salzen" Te0(0H) + X~ mit X~ z.B. N03~, ClO^f: H2Te02 Te0(0H) + + 0H~; pK = 2.7). Neben Telluriten M^TeOs existieren auch Polytellurite, z.B. K2Te2Os, K 2 Te 4 0 9 , K 2 Te 6 0 13 . Von Interesse ist in diesem Zusammenhang [Te + ] 2 [U0 2 2 + ][Te 2 04~] mit dem Bis(tellurit)-Anion, in welchem über eine gemeinsame Sauerstoffkante verbrückte, wippenförmige Te -Baueinheiten vorliegen Te -0) Te 4 (die Brückenatome nehmen hinsichtlich des einen Te Atoms eine axiale, hinsichtlich des anderen Te-Atoms eine äquatoriale Position ein). Tellurige Säure (im Sauren/Alkalischen in Form von Te0 2 /Te02") wirkt im Sinne der Potentialdiagramme auf S. 639 sowohl reduzierend (vgl. Darst. von Tellursäure, unten) als auch oxidierend (vgl. Darst. von Tellur, S. 618). Unter den Halogenderivaten bildet Te 6 O u Cl 2 = Te0Cl 2 • 5Te0 2 farblose, sublimierbare Kristalle (es existiert auch Te 6 O u Br 2 ). Te0Cl 2 und Te0I 2 sind bisher nur in der Gasphase nachgewiesen worden; festes Te0Br 2 ist noch unzureichend charakterisiert Tellur(VI)-Säuren. Darstellung, Charakterisierung. Durch starke 0xidationsmittel wie Chlorsäure, Natriumperoxid, Kaliumpermanganat, Chromtrioxid werden Tellur und Tellurige Säure (Aufschlämmung von Te0 2 in Wasser) zur Stufe der Orthotellursäure H 6 TeO s = Te(0H) 6 oxidiert, die aus wässriger Lösung in Form farbloser, bei 136 °C in geschlossenem Rohr schmelzender Kristalle erhalten wird (unterhalb 10°C als H 6 Te0 6 • 4H 2 0). Die vorliegende Säure mit oktaedrischem Bau (e) stellt also nicht analog H 2 S0 4 • 2 H 2 0 ein Säuredihydrat H 5 0 ^ H Y 0 ^ dar, sondern eine Hexahydroxoverbindung, die mit In(0H)3~, Sn(0H)2~, Sb(0H)6~ und I(0H)+ isoelektronisch ist. H 6 Te0 6 spaltet oberhalb 120°C (im offenen oder geschlossenen Gefäß) Wasser ab und verwandelt sich in verschiedene farblose, hygroskopische Kondensate der 0rthotellursäure (,,0ligoorthotellursäuren", ,,Polymetatellursäure", ,,Allotellursäure"; Strukturen unbekannt; Spezies enthalten wohl auch Te(0H) 6 ). Eine wässrige Lösung von Te(0H) 6 geht bei 280 °C und einem Druck von 60 bar im Zuge einer ,,hydrothermalen Synthese" in farblose, wasserund säureunlösliche, in Alkalien lösliche Polytellursäure (H 2 Te0 4 ) x (Dichte 4.7 g/cm33) über, die sich oberhalb 250°C zu Te0 3 zersetzt (Te0 3 zerfällt oberhalb 400°C auf dem Wege über Te 2 0 5 in TeO2; vgl. S. 635). In (H2Te04)x liegen im Sinne von Formelbild (^ - miteinander über H-Brücken verknüpfte Schichten von Te0 4 (0H) 2 -0ktaedern mit eckenverknüpften 0-Atomen vor (verzerrte SnF4-Struktur; 0 k taeder in (f) gegeneinander geneigt): OH HO-
/ \I
„Te
HO1—p-OH HO
OH
(e) Orthotellursäure H 6 TeO 6
TA
TX
[
— o — T e - o — Te—O—Te— . „ / I . ,0 O ' l'I IT / X- i- I T. /
— Te-O—Te—O—Te—O —
'i
a=OH) (f) Polytellursäure (H 2 TeO 4 ) x
'i
Redox-, Säure-Base-Verhalten. H 6 Te0 6 wirkt wesentlich stärker oxidierend als H 2 S0 4 (vgl. Potentialdiagramme, S. 639) und wird durch S0 2 zu Tellur, durch heiße Salzsäure zu Te0 2 reduziert. Sie ist eine sehr schwache, sechsbasige Säure ( p ^ = 7.70, pK2 = 10.95)^ — Salze. Von der nicht-existierenden Tellursäure H 2 Te0 4 , nicht-existierenden Mesotellursäure H 4 TeO s und existierenden 0rthotellursäure H 6 Te0 6 leiten sich isolierbare „Tellurate" Te02~ (tetraedischer Bau, vgl. (a) auf S.641; z.B. Rb6(TeO4)(TeO5), offensichtlich auch M 2 Te0 4 mit M1 = K, Rb, Cs), ,,Mesotellurate" Te04~ (trigonal-bipyramidaler Bau (b); z. B. Rb 6 (Te0 4 )(Te0 5 )) und „Orthotellurate" TeO6" ab (oktaedrischer Bau (d); z. B. Na 6 Te0 6 , K 4 Na 2 Te0 6 , Ag 6 Te0 6 , Hg3TeO6; darüber hinaus zahlreiche saure 0rthotellurate Mj,H6-„Te06). Die Tellurat- und Mesotellurat-Ionen tendieren - insbesondere in Abwesenheit sehr großer Gegenkationen wie K + , Rb + , Cs + - zur Zusammenlagerung unter Ausbildung von oktaedrisch mit Sauerstoff koordinierten Te-Zentren (vgl. hierzu Periodate, S. 476). So existieren ,,Ditellurate" Te208^ (h) und Te2OJp (i) mit Inseln aus zwei kanten- und flächenverknüpften TeO 6 -0ktaedern (Te2OU~-Ionen (g) mit Eckenverknüpfung sind noch unbekannt) sowie ,,Polytellurate" (TeO^X (k) und (TeC^X, (l, m) mit Ketten aus ecken- und kantenverknüpften TeO 6 -0ktaedern. Ein Beispiel für ein Polytellurat mit Schichten aus eckenverknüpften Te0 6 0ktaedern bietet die Polyorthotellursäure (HjTeO^ (f). Erwähnenswert ist des Weiteren K 2 H 4 Te0 7 , ein Salz der nicht-existierenden Peroxoorthotellursäure Te(0H) 5 (00H) mit dem „Peroxoorthotellurat" Te ( 0 6 Unter den Halogenderivaten der 0rthotellursäure Te(0H) 6 ist die ,,Pentafluoro-orthotellursäure" H0TeF 5 erwähnenswert (farbloser Festkörper, Smp./Sdp. 39.1/59.7°C), die durch Reaktion von
3. Das Selen, Tellur und Polonium
o oN I
O—Te—O—Te—O J/
I
O
(g) T e j O j j
^Te
°
o (unbekannt)
I ^
o
o I „o
O
o
o' \ ° / o
J-Te | ^O
(h) Te 2 Ojo in Li 8 Te20
(k) [TeO 2 (OH) 3 ] x in KTeO 2 (OH) 3
(l) [TeO 3 (OH) in KTeO 3 (OH)
o
/
Te
„ ^
o
643»
o
Te
x
o
(i) T e 2 0 9 in Ba3Te20 9
[ T e O | ] x in N a 2 T e 0 4
BaH 4 Te0 6 mit HS0 3 F gebildet wird. Von der starken Säure mit dem besonders elektronegativen OTeF5-Rest leiten sich wie von H0SeF 5 (s. oben) Salze („Teflate") M J 0TeF 5 ab (M1 z. B. Cs, NMe4), mit denen z. B. gemäß «MOTeFj + E X E(0TeF5)„ + nMX Halogenid in Elementhalogeniden gegen den Teflatrest ersetzbar ist (z. B. Bildung von B(0TeF5)3, Fe(OTeFj)3, Nb(OTeFj)anstelle von MOTeFj wird auch B(0TeF5)3 zur „Teflatierung" genutzt, z.B. Bildung von TeF„(0TeF5)6_n mit n = 0, 1, 2, 3 und von Xe(0TeF5)„ mit n = 2, 4, 6). Als weitere Derivate seien genannt: F5TeOF (farbloses Gas, Smp./Sdp. — 80/ 0.6°C; gewinnbar aus B(0TeF5)3 und F2 bei 115°C), F5TeOTeF5 (farblose Flüssigkeit, Smp./Sdp. —36.6/ 59.8°C; TeOTe-Winkel 145.5°; gewinnbar aus Te0 2 und F2 bei 60°C), F5TeOOTeF5 (farblose Flüssigkeit), (TeOF4)2 (farblose Kristalle, Smp./Sdp. 28/77.5 °C; Struktur analog (Se0F4)2, Winkel TeOTe = 99.5°; gewinnbar durch Thermolyse von B(0TeF5)3 bei 600 °C im strömenden System; reagiert mit Fluorid zum pentagonal-bipyramidalen TeOF^-Ion mit axialem O-Atom).
3.5.4
Sauerstoffsäure des Poloniums
Hydratisiertes „Poloniumdihydroxid" Po(OH) 2 bildet sich als dunkelbrauner Niederschlag beim Versetzen wässeriger Po 2+ -Lösungen (gewinnbar durch Auflösen von Polonium in Säure). Es wirkt als Base (PO(OH)2 Po 2+ + 20H~; Bildung des rosaroten Po 2+ -Ions) und möglicherweise auch als schwache Säure ( P O ( O H ) 2 + 0 H ~ ^ P O ( O H ) 3 ~ ? ) . Hydratisiertes Poloniumdioxid Po0 2 • aq („Polonige Säure'' H 2 PoO s ) fällt beim Versetzen einer wässerigen Po(IV)-Lösung (s. unten) mit wässeriger NH 3 - oder verdünnter NaOH-Lösung als blassgelber, voluminöser Niederschlag aus. Die Säure reagiert als amphoterer Stoff sowohl mit Basen (H 2 Po0 3 + 20H~ PoO2~ + 2H 2 0; ^ = 8.2 x 10 — ; z. B. Bildung von K2PoO3) als + 4+ auch mit Säuren (H 2 Po0 3 + 4H Po + 3H 2 0; z.B. Bildung von Po(S0 4 ) 2 , Po(N0 3 ) 4 , Po(Cr0 4 ) 2 ). Po wird anders als Te weder von Peroxodisulfat noch von Hypochlorit zur sechswertigen Stufe oxidiert („Poloniumsäure'' H 2 Po0 4 • aq). Doch bildet sich offensichtlich hydratisiertes, vergleichsweise lösliches, durch H 2 0 2 zu Po0 2 • aq reduzierbares „Polonat" Po02" in Form von K 2 Po0 4 • aq beim Schmelzen von Po mit KCl / K 0 H .
3.6
Stickstoff- und Kohlenstoffverbindungen des Selens und Tellurs61
Selen- und Tellurnitride Die Umsetzung von SeCl4, SeBr4 oder Se0 3 mit Ammoniak (in letzterem Fall unter Druck bei 70 °C) oder - besser - die Reaktion des Diaminoselans (R2N)2Se (R = SiMe3) mit SeCl4 führt zu orangefarbenem, in organischen Medien unlöslichem, hydrolyseempfindlichem Tetraselentetranitrid Se4N4 (Se(NR2)2/SCl2/S02Cl2 bzw. S(NR2)2/SeCl4 führt zu Se2S2N4): 2SeC
(M Si
S
S
8M SiCl
Das Nitrid ist wie S4N4 (S. 603) explosiv (AHl (g) ca. 770 kJ/mol) und wie dieses gebaut (a). Es lässt sich nicht auf dem Wege über Se2N2 polymerisieren, sondern zerfällt bei 160 °C heftig in Selen und Stickstoff. Auch wird es von Hydrazin nicht analog S4N4 in Se4N4H4, sondern in Selen und NH 3 übergeführt, doch hat es sich als Ausgangsprodukt zur Synthese von Selennitrid-Kationen (s. unten), Komplexen mit den Anionen Se 3 N" und Se2N2~ sowie eines orangefarbenen PdCl3~-Addukts an das Diselendinitrid Se2N2 (b) bewährt >/2Se4N4+ (Ph4P)2Pd2Cl6 ^ 2Ph4P+ + [Se2N2 • 2PdCl 3 ] 2 -. (SeSN2 • TiCl4 lässt sich aus Se(NS0) 2 und TiCl4 gewinnen.)
• 644
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Das analog S4N2 strukturierte Tetraselendinitrid Se4N2 (c) entsteht als weiteres Selennitrid gemäß: 2Se2Cl2 + -> Se4N2 + 5N2 + 4Me3SiCl als schwarzes Pulver. Tellur bildet kein dem S4N4 oder Se4N4 entsprechende Nitrid Te^N^ sondern Hexatelluroctanitrid TefN 8 gemäß: (THF)
10TeCl4 + 8(Me3Si)3N
> Te6N8 • 4TeCl4 • 4THF + 24Me 3 SiCl.
Hierin kommt die Tendenz des Tellurs zum Ausdruck, höhere Oxidationsstufen einzunehmen. Im Sinne des Formelbildens (d) liegt dem Nitrid eine rhombendodekaedrische Te6N8-Baueinheit zugrunde, in welcher die Te-Atome die Ecken eines (verzerrten) Oktaeders bilden und die N-Atome als /^-Liganden die acht Oktaederflächen überspannen (Cft) und (N) symbolisieren in (d) Te- und N-Atome in zwei Lagen). Jedes N-Atom bildet mit drei Te-Atomnachbarn eine trigonale, jedes Te-Atom mit vier N-Atomen eine quadratische Pyramide. Vier N-Atome sind zusätzlich mit TeCl4-Molekülen verknüpft (tetraedische NTe4-, quadratisch-pyramidale TeCl4N-Einheiten) und zwei trans-ständige Te-Atome des Te6-Oktaeders zusätzlich von je zwei THF-Molekülen koordiniert. Beim Erhitzen unter Argon gibt die Verbindung bei 83°C THF ab und zerfällt ab 144°C in N2, Te und TeCl4. Außer dem Tellur(IV)-nitrid Te6N8 kennt man noch ein Tellur(IV)-azid Te(N3)4 = TeN12, das durch Einwirkung von Me3SiN3 auf TeF4 in CFC13 oder TeF6 in CH 3 CN als leuchtend gelber, in Me2SO oder CH 3 CN löslicher Feststoff erhältlich ist (TeF4 + -> Te(N3)4 + 4Me3SiF; TeF6 + 6Me3SiN3 Te(N3)4 + 6Me3SiF + 3N 2 ; wohl pseudo-trigonal-bipyramidale = wippenförmige Te-Koordination). Von Te(N3)4 leiten sich die Salze T e ( N ^ SbF^ (pseudo-tetraedrische = pyramidale Te-Koordination), M+Te(N3)j~ (pseudo-oktaedrischer = quadratisch-pyramidale Koordination) und (PPh^)2Te(N3)g" (pseudo-pentagonal-bipyramidale = verzerrt-oktaedrische Te-Koordination) ab.
Se
Se"•Se N
/
N
\l
X
x
N
N
1/
(a) Se4N4 (D2d) (auch Se2S2N 4 )
Se
Sp
S e
©
/
\ N
N — Se (k) Se 3 N+Cl +
Te—|—Te
(d) Te 6 N 8 -4TeCl 4 -4THF (schematisch)
® Te
Se
\ © W
-N
Se
Se
\
(X = Cl'Br>
X
S e (L N'
x^X)
(l) Se+NX 3 (Se+NCl 5 )
Te®
N N
(h) SeS 3 N 4
S
N S
(i) Te+S+Nf
X
Te Te \ N
N \ /
(g) (Se3N+)22+
_)Se (X X
:Se
(auch SeS3N2)
Se
N
N-N-"
(c) Se 4 N 2 (C s )
(auch SeSN 2 -TiCl 4 )
(f) Se3N++
(e) Se3N22+
I z
Se Se-
(b) [Se 2 N 4 • 2 P d C l 3 f
2 Sa®)
Yk@JI
Cl
Se N
^ - S e
Nr Se
\
Ne'
Se--Se
.Se
/
\ /
%^/ N
Te
K
S
(m) Te+SN+X+
\
N
T
x S
N N /
(n) Te+SN+Cl2
x j
N
I „X
(o) Te+SN+X6
Selen- und Tellurnitrid-Kationen Die Selenhomologen der Kationen S 3 N 2 + und (S3N2)2+ (S. 609) entstehen in flüssigem SO gemäß: + 12AsF
4Se 3 N 2+ + 8AsFr + 2N,
Ph3SbCl2) in Methylenchlorid (vgl. S3N2C1+, S. 615; man kennt auch Se2SN2Cl+ und SeS 2 N 2 Cl + , gewinnbar durch Chlorierung von (S SN und (Se ). Chloridakzeptoren führen S C in S (e), Chloriddonatoren in Se3N2Cl2 über (eine längere und eine kürzere SeCl-Bindung; auch aus Se2Cl2 und Me3SiN3 zugänglich). Das kettenförmige Kation Se2NCl^ (Cl—Se—N—Se—Cl; cisoidjtransoid als GaClf /SbClf-Salz) gewinnt man seinerseits durch Einwirkung von Halogenidakzeptoren auf Se2NCl3, wobei planar gebautes Se2NCl3 (l) in Form grüner, metallisch glänzender Kristalle bei der Reaktion von (Me3Si)3N mit SeCl4 in siedendem Methylenchlorid entsteht (analog rotbraun glänzendes Se2NBr3 aus (Me3Si)3N/SeBr4), während sich unterhalb 100°C das rosafarbene Se2NCl5 (l) (trigonal-bipyramidales Se) bildet: 2SeCl 4 +(Me 3 Si) 3 N Se2NCl5 + 3Me3SiCl. Das Nitridchlorid Se2NCl5 verwandelt sich in Anwesenheit von Chloriddonatoren wie Ph4PCl in Se2NC^" (Q"-Addition an einem der beiden Se-Atome), in Anwesenheit von Chloridakzeptoren in Se2NCl^ ( = Cl2Se—N—SeCl^; pyramidale Se-Atome, gewinkeltes N-Atom; auch aus SeCl3+ und (Me3Si)3N zugänglich). Das dem Kation Se2SN2X+ (X = Cl, Br) entsprechende tellurhomologe Kation Te2SN2X+ (m) lässt sich durch Halogenidakzeptoren aus dem Nitridhalogenid Te2SN2X2 (n) gewinnen (man kennt auch Te C und TeSeSN C ). Letztere Verbindung entsteht bei der Thermolyse von Te (NCO) und lässt sich durch Halogenierung in Te2SN2X6 (o) umwandeln (Rückbildung von Te2SN2X2 mit Ph3Sb möglich). Carbide. Die nur aus Kohlenstoff und Selen bzw. Tellur - aber auch Kohlenstoff und Sauerstoff bzw. Schwefel-zusammengesetzten „Kohlenstoffverbindungen der Chalkogene" (z. B. CY2, CYmit Y =Chalkogen) werden als Chalkogenverbindungen des Kohlenstoffs auf S.903 behandelt. Eine weitere wichtige Klasse von Substanzen mit SeC- bzw. TeC-Bindungen, nämlich die organischen Selen- und Tellurverbindungen, wird nachfolgend besprochen.
з.7
Organische Verbindungen des Selens und Tellurs61'63,74
Selenorganyle. Dominierend in der Organoselenchemie sind Verbindungen mit Selen der Oxidationsstufen < II, II und IV - jeweils mit SeC-Einfachbindungen (SeVI wurde bisher nur im Falle von oktaedrisch gebautem R4SeF2 mit R2 = 2,2-Diphenyldiyl bzw. von tetraedisch gebautem R 2 Se0 2 oder RSeC)2(OH) realisiert). So existieren unter den Verbindungen mit SeC-EinfachbindungenR2Se (gewinkelt), R2Se2 (gauche-konformiert) und R 2 Se >2 (gewinnbar aus RBr und Na2Se, Na2Se2 usw.; vom Menschen wird Selen и. a. als Me2Se ausgeschieden 62 ). R2Se lässt sich zu R2SeO und R 2 Se0 2 oxidieren, zu R2SeX2 halogenieren bzw. mit Alkyliodiden RI zu R3SeI umsetzen, R2Se2 lässt sich zu RSeO(OH) bzw. RSeC)2(OH) oxidieren, zu RSeH reduzieren (RSeH ist saurer, RSe~ nucleophiler als RSH bzw. RS~) bzw. zu RSeX und RSeX3 halogenieren (RSeX ist elektrophiler als RSX; das normalerweise auf der rechten Seite liegende Gleichgewicht RSe-I + I-SeR £> RSe-SeR + I - I wird durch sperrige Reste R wie Supermesityl 2,4,6-iBu3C6H2 nach links verschoben). Die Verbindungen RBSeX4-B (n = 1, 2, 3) sind pseudo-trigonal-bipyramidal (wippenförmig) gebaut, wobei das freie Se-Elektronenpaar sowie die Organylgruppen R(z.B. Me) äquatoriale Plätze einnehmen. Sie neigen zu Dissoziation nach R„SeX4-„ £> R„SeX3-„X~ (X-Akzeptoren verschieben das Gleichgewicht nach rechts). Beispiele für Verbindungen mit SeC-Doppelbindung (Polarität C ä " = S e ä + ) stellen - abgesehen von S e = C = Y (Y = O, S, Se; S.903) - die blauen ,,Selenaketone" (,,Selenone") R 2 C=Se dar, die isolierbar werden, wenn R entweder sehr elektronegativ oder raumerfüllend ist (z. B. F 2 C=Se, «Bu 2 C=Se, Mes*HC=Se mit Mes* = 2,4,6-«BuC6H2). 74
Literatur. P.D. Magnus: „Organic Selenium and Tellurium Compounds" in D. Barton, W.D. Ollis (Hrsg.): ,,Comprehensive Organic Chemistry",3 (1979) 491-538; S. Patai, Z. Rappoport (Hrsg.): ,,The Chemistry of Organic Selenium and Tellurium Compounds", 1 (1986), 2 (1987), Wiley, Chichester; L. Engman: ,,Synthetic Applications of Organotellurium Chemistry", Acc. Chem. R e s 18 (1985) 274-279; HOUBEN-WEYL: ,,Organotellurium Compounds", E l l (1990); T. Wirth: ,,Organoselenium Chemistry", Topics Curr. C h e m 208 (2000) 1-256; ,,Organoselenchemie in der stereoselektiven Synthese", Angew. C h e m 112 (2000) 3890-3900; Int. E d 39 (2000) 3740; Ch. Elschenbroich: „Organometallchemie", 4. Aufl., Teubner, Stuttgart, 2002, S. 279-288; W.-W. du M o n t et al.: ,,Tuning selenium-iodine contacs: from secondary soft-soft interactions to covalent bonds", J. Organomet. C h e m 623 (2001) 14-28; C.W. Nogueira, G. Zeni, J.B.T. Rocha: ,,Organoselenium and Organotellurium Compounds: Toxicology and Phamacology", Chem. R e v 104 (2004) 6255-6286.
• 646
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Organoselenverbindungen haben als Reaktionszwischenprodukte in der organischen Synthese Bedeutung, z. B. bei der Dehydrierung von Aldehyden oder Ketonen zu «-ungesättigten Carbonylverbindungen (,,syn-Eliminierung" von RSeOH) oder der Oxidation von Alkanen zu Alkoholen (,,Selendioxid-Oxidation"): SePh CH—CH,—CR ||
+ PhSeBr -HB
> CH 3 —CH—CR
I
> CH 3 —CH—CR ||
o
OS
OS
H
Oxidation
||
o R-x\ +
OSePh
I
EnReaktion
/
• R—
CH 2 =CH—CR ||
o
o
O H
Um lagerung
O SS
>R — /
O e —OO HH
Hydrolyse -,,Se(OH)2"
•
R — O H ^
/
Tellurorganyle. In der Organotellurchemie sind neben Te( < II)-, Te(II)- und Te(IV)- auch Te(VI)-Verbindungen - jeweils mit TeC-Einfachbindungen - leicht zugänglich. Beispiele bieten: R2Te2 (gauche-konformiert; nur mit raumerfüllenden Resten R wie (Me3Si)3Si, (Me3C)3Si, 2,4,6-iBu3C6H2 isolierbar), R2Te/ RTeH (gewinkelt, in letzterem Falle nur mit sperrigen Substituenten isolierbar), RTeX (gewinkelt; z. Teil oligomer wie (PhTeI)4 mit Te4-Ring), R4Te (wippenförmig; z. B. gelbes, flüssiges, übelriechendes, toxisches, pyrophores, thermo- und photolabiles, bei 100°C in Me2Te und C2H6 zerfallendes „Tetramethyltellur" Me4Te; farbloses, festes, geruchloses, thermostabiles,,Tetraphenyltellur" Ph4Te), R„TeX4_„ (über X-Brücken oligomer, z. B. Ph3Te(n-Cl)2TePh3 mit quadratisch-pyramidal koordiniertem Te), R6Te (oktaedrisch; gewinnbar auf dem Wege R4Te + XeF2 -> R4TeF2 + Xe; R4TeF2 + LiR oder ZnR 2 -> R6Te: farbloses, flüchtiges, festes, bis 140 °C thermostabiles ,,Hexamethyltellur" Me6Te; farbloses, sehr thermostabiles, festes ,,Hexaphenyltellur" Ph6Te; reagiert mit Cl2 zum Chlorid Ph5TeCl, das durch Cl~-Akzeptoren in quadratisch-pyramidal gebautes Ph5Te+ verwandelt wird; analog gebaut ist isoelektronisches Ph5Sb). Bemerkenswert unter den niedrigen Tellurorganylen sind die mit isovalenzelektronischen Ionen PhTe—TePh—TePh~ und Me^U—TeMes—TeMes^". Beispiele für Verbindungen mit TeC-Doppelbindung (Polarität: C ä ~=Te ä + ) sind- abgesehen von Y = C = T e (Y = O, S; S.903)-violette,,Telluraketone" (,,7ellone") R 2 C=Te wie etwa F 2 C=Te ( bei — 196°C metastabil; dimerisiert bei hohen Temperaturen zu dunkelrotem F2C(|>Te)2CF2), Ph(Me 2 N)C=Te (Smp. 73 °C), 2,6-C6H4(CMe2-)2C=Te (isolierbar). In der organischen Synthese sind Tellurorganyle noch ohne wesentliche Bedeutung.
4
Verbindungen der Chalkogene (Überblick)
Im Folgenden werden Verbindungen EmY„ von Elementen E und Chalkogenen Y zusammenfassend besprochen. Bezüglich Einzelheiten der Chalkogenverbindungen mit Wasserstoff, Halogenen, Chalkogenen, Stickstoff bzw. mit anderen Elementen vgl. das in vorstehenden U n terkapiteln 1 - 3 bzw. in nachstehenden Kapiteln bei den betreffenden Elementen Besprochene.
4.1
Grundlagen
4.1.1
Systematik
Sauerstoff bildet abgesehen von He, Ne, Ar mit jedem Element, die übrigen Chalkogene mit fast allen Elementen eine, meist aber mehrere isolierbare Halogenverbindungen der in Tab. 74 wiedergegebenen Summenformeln. In den betreffenden Verbindungen ist Sauerstoff (Elektronegativität 3.5), abgesehen von Verbindungen mit F der elektronegative, das Element E der elektropositive Verbindungspartner. Entsprechendes gilt f ü r Schwefel (EN = 2.4), Selen (EN = 2.4) und Tellur (EN = 2.0), abgesehen von Verbindungen mit F, Cl, Br, O, N (im Falle von Te zudem C, P, As; die S—C- und Se—C-Bindungen sind fast unpolar). Natürlich existieren von den einzelnen Chalkogenen nicht alle in Tab. 74 aufgeführten Formelmöglichkeiten. Darüber hinaus kommen den Stickstoff- und Halogenverbindungen der Chalkogene, die ja überwiegend keine Chalkogenide, sondern Nitride bzw. Halogenide darstellen, ferner Verbindungen, welche Element- und/oder Chalkogencluster enthalten, bzw. Verbindungen, mit Elementen in unterschiedlichen Oxidationsstufen, andere Formeln zu. Insgesamt zeigen
4. Verbindungen der Chalkogene (Überblick)
647
Tab. 74 Summenformeln bisher isolierter Verbindungen der Haupt- und Nebengruppenelemente E mit Chalkogenen Y. E-Gruppe
I
II
III
IV
V
Hauptgruppena)
E2Y
E2Y2
Nebengruppena) (+ Lanthanoide, Actinoide)
E2YJ^3
E2Y2
E2Y13 E2Y24 E2Y3« ^ — EmY/> E2Y3 Jg) E2Y2_4 E2Y2_5
VI
VII
VIII
E 2 Y 2 4^ — E2Y2_6
E2Y135^ "' E2Y2_7
E^/» ' E2Y2_8
EmY„f)
a) Summenformeln für E 2 Y 2A68 = E 1A3 , 4 . - b) Stickstoffchalkogenide sind richtiger als Chalkogennitride zu klassifizieren; ihnen kommen demgemäß andere Summenformeln zu z.B. (YN) 1A4 ,„. Phosphortelluride sind bisher unbekannt. - c) Vgl. hierzu Interchalkogene, S.634. - d) Halogenchalkogenide sind bis auf die Oxide richtiger als Chalkogenhalogenide zu klassifizieren; ihnen kommen demgemäß andere Summenformeln zu: Y >2 / 2/1 , Y2/4/6 (vgl. Tab.70, S. 628). - e) Nur Oxide bekannt. - ^ Verbindungen, die Element- und/oder Chalkogencluster bzw. Elemente in unterschiedlichen Oxidationsstufen enthalten. - g) Ln 2 Y 2 4, An 2 Y 2 7 .
die Chalkogenverbindungen (i) wegen der Bindigkeit zwei der Chalkogene anstelle eins bei den Halogenen, (ii) der Möglichkeit nicht nur von E, sondern auch von Y zur Clusterbildung sowie (iii) der hohen Bereitschaft von E, in einer Verbindung doppelvalent aufzutreten, eine größere Verbindungsvielfältigkeit als die Halogenverbindungen (S. 492). Der Unterschied der Oxidationsstufen der Elemente E in clusterfreien Chalkogeniden beträgt im Falle der Hauptgruppenelemente + 2, im Falle der Nebengruppenelemente + 1 (Tab. 74). Die höchsten Oxidationstufen der Elemente werden mit Sauerstoff als Bindungspartner erreicht. Er vermag - anders als Fluor - Elemente der VIII. Gruppe in die achtwertige Stufe (Tetraoxide) überzuführen. So kennt m a n ein X e 0 4 (aber kein XeF 8 ), ein R u 0 4 / 0 s 0 4 (aber kein RuF 8 /0sF 8 ), kein P u 0 4 (auch kein PuF 8 , PuF 7 , aber ein Pu(VII)-oxid) und ein H s 0 4 („Hassium", Element 108, Eka-Osmium). Zwar sind die betreffenden Tetraoxide sogar endothermer als es die Octafluoride wären, doch verhalten sie sich meist kinetisch stabiler. Dementsprechend ist auch ClF 7 nicht isolierbar, das thermodynamisch instabilere C1 2 0 7 aber sehr wohl, wogegen das thermodynamisch stabile IF 7 gewinnbar ist, aber nicht das thermodynamisch wie kinetisch instabile Bezüglich der erreichbaren Maximalwertigkeiten der Elemente in Chalkogeniden gilt - in Analogie zu den Verhältnissen bei Elementhalogeniden (S.492) - folgendes: (i) In Richtung Oxide > Sulfide > Selenide > Telluride sinkt die Tendenz zur Ausbildung hoher Oxidationsstufen (z. B. Pb0 2 darstellbar, PbS2 nicht). - (ii) Innerhalb der Element-Perioden durchlaufen die mit Chalkogenen erreichbaren Oxidationsstufen der Elemente Maxima (z. B. As0 2 5, SeO3, BrO2 5, KrO0). - (iii) Innerhalb der V.- VII. Hauptgruppe wächst, sinkt, wächst, sinkt die Stabilität der mit Chalkogenen erreichbaren höchsten Oxidationsstufen der Elemente von oben nach unten aus den auf S. 465 genannten Gründen (z. B. Oxidationskraft von N O , P O , A S O , Sb2Os, Bi 2 0 5 groß, klein, groß, klein, groß). - (iv) Innerhalb der III. bzw. IV. Hauptgruppe sinkt die Stabilität der mit Chalkogenen erreichbaren Oxidationsstufe + 3 bzw. + 4 gegenüber der Oxidationsstufe + 1 bzw. + 2 der Elemente von oben nach unten (z. B. A1203, Si0 2 stabiler als A12O, SiO; T1203, Pb0 2 instabiler als T12O, PbO). 2
S
2
4.1.2
S
2
S
Strukturverhältnisse
In der Gasphase gegebenenfalls bei höheren Temperaturen und/oder kleineren Drücken liegen die Chalkogenverbindungen vielfach entsprechend ihrer Summenformel monomer mit einfach oder mehrfach an E gebundenen Chalkogenatomen Y vor (Koordinationszahl von Y = 1 oder 2), wobei die Strukturen der betreffenden Monomeren über das VSEPR-Modell erklärbar sind, z.B.: .... :0: :0: :0: / \ ö = c = ö il Ii •• •• ^
/B
B.
V
"
"
.P
-or ^
.P,.
.
.AS
^o- -of
AS^
.. S .
^o- - o r
v
• 648
XIII. Die Gruppe der Chalkogene
Der Übergang von der Gas- in die kondensierte Phase führt in den überwiegenden Fällen - häufiger als bei den Elementhalogeniden - zu einer Oligo- bzw. Polymerisation der Elementchalkogenide unter Ausbildung von chemischen (elektro- oder kovalenten) Bindungen (z. B. B 2 0 3 ->• ( B J O J ) ^ P 2 O s ->• (P 2 O s ) 2 , A s 2 0 3 ->• ( A s ^ ^ , S 0 3 ->• (SÜ3)3; die den Oxiden B 2 0 3 , P 2 0 5 , AS 2 0 3 , S 0 3 entsprechenden Halogeniden BX 3 , PX 5 , AsX 3 , SX 6 bleiben monomer). Beispiele für Monomere in kondensierter Phase sind etwa die Chalkogenide CO, C O , N 2 O s , SO 2 , C1 2 0 7 , XeO 3 , XeO 4 , RuO 4 , OsO 4 , Beispiele f ü r Oligomere die Chalkogenide von leichteren Elementen der V.-VII. Hauptgruppe, Beispiele f ü r Polymere Chalkogenide von Elementen der I . - I V . H a u p t g r u p p e (Ausnahmen: CO, C O ) , von schwereren Elementen der V.-VII. Hauptgruppe (einige Ausnahmen) sowie von Übergangselementen (Ausnahmen R u 0 4 , OsO 4 ). Die Mono und Oligomere sind in kondensierter Phase über zwischenmolekulare Bindungen miteinander verknüpft Die Strukturen der clusterfreien „heterovalenten Chalkogenide" von Elementen E (Metallen M) der I. III. Hauptgruppe ohne Bor lassen sich meist über dichteste Chalkogen-Anionenpackungen ableiten in denen die betreffenden Element-Kationen (Metall-Kationen) unter Ausbildung einer Raumstruktur so eingelagert sind, dass sie benachbarte Oktaederlücken (z. B. in Erdalkalimetallchalkogeniden MnY, in Trielchalkogeniden M™Y3) oder Tetraederlücken (in Alkalimetallchalkogeniden M2Y sowie in BeY, MgTe) einnehmen. Die Koordinationszahlen der Chalkogen-Anionen ergeben sich dann aus der Verbindungszusammensetzung (8/6/4 im Falle von M2Y/MnY/BeY bzw. M™Y3). Insbesondere der Chalkogen-, aber auch der Metall-Teil der ,,heterovalenten" Chalkogenide kann auch als Cluster vorliegen (z. B. Alkali- und Erdalkalimetallperoxide, -ozonide, -oligosulfide/-selenide/-telluride mit den Clusteranionen O2", O f , S ^ , Se2~, Te2~; Gallium(II)- und Indium(II)-chalkogenide mit den Clusterkationen Ga 2+ und In 2+ ). Andererseits verwirklichen Bor sowie die Elemente der IV VIII. Hauptgruppe in den clusterfreien ,,kovalenten Chalkogeniden" Koordinationssphären, welche mit jenen der Elemente in gasförmigen Elementhalogeniden (S. 492) vergleichbar sind. Die Chalkogene verbrücken die EY„-Polyeder (gegebenenfalls auch solche mit unterschiedlichen Oxididationsstufen) über gemeinsame Y-Ecken oder - seltener - gemeinsame Y2-Kanten (z. B. in SS 2 , TeO2) unter Ausbildung der Koordinationszahlen 2 (verbrückendes Y) oder 1 (endständiges Y). Sehr häufig findet sich eine tetraedrische (pseudotetraedrische) Umgebung des Elements E (z. B. SiO2, (P2S3)2, (SO3)3, Xe0 4 ). Das kleine Bor betätigt mit 3 eine Koordinationszahl < 4 (z. B. trigonal-planares B in B2Y3), große Elementatome weisen meist Koordinationszahlen > 4 auf (z. B. oktaedrisches Blei in Pb0 2 , pseudo-trigonal-bipyramidales Te in Te0 2 , kubisches Po in PoO2). Sowohl der Element- als auch der Chalkogenid-Teil kann in den Chalkogenverbindungen als Elementcluster vorliegen (z.B. P4S3, SSe7). Bezüglich Einzelheiten der Haupt- und Nebengruppenchalkogenide vgl. bei den betreffenden Elementen, bezüglich eines Überblicks über die Nebengruppenelementoxide S. 1762.
4.1.3
Bindungsverhältnisse
Die EY-Gruppe der (clusterfreien) Chalkogenide sind mehr oder weniger kovalenter, elektrovalenter oder metallartiger Natur. Im Sinne der Fig. 161 wächst hierbei der kovalente (elektrovalente) Bindungscharakter beim Ersatz eines bestimmten Elements durch rechte (linke) Periodennachbarn, der nichtmetallische (metallische) Charakter nach Substitution eines bestimmten Chalkogens gegen ein solches kleinerer (größerer) Ordnungszahl. So stellen etwa in der Reihe Na 2 O, MgO, A1 2 0 3 , SiO 2 , P 2 0 3 , S 0 2 die beiden ersten Glieder elektrovalente, die beiden letzten Glieder kovalente Oxide und die beiden mittleren Glieder Oxide mit stark polaren Atombindungen (polarisierten Ionenbindungen) dar, während in der Reihe SnO, SnS, SnSe, SnTe, SnPo die erste und zweite/dritte und vierte/fünfte Verbindung ein Nichtmetall/Halbmetall/Metall ist. Hinsichtlich der kovalenten Chalkogenide gilt das an anderer Stelle im Zusammenhang mit Atombin dungen bereits Besprochene (vgl. S.494). So können die Chalkogenatome Y zwei (gegebenenfalls auch drei) cr-Bindungen oder eine 4N 2 + C0 2 ), aus dem sich das Kohlendioxid durch Behandlung mit Kaliumcarbonatlösung (K 2 C0 3 + C 0 2 + H 2 0 2 K H C 0 3 ) oder mit Wasser unter Druck leicht auswaschen lässt. Bei begrenztem Luftzutritt (Kohlenstoffüberschuss) verbrennt die Kohle nur zu K o h l e n m o n o x i d (4N 2 + 0 2 + 2C -> 4N 2 + 2C0). Das so gebildete Gemisch von Stickstoff und Kohlenmonoxid heißt ,,Generatorgas" (vgl. NH 3 -Gewinnung).
Im Laboratorium verwendet man als sauerstoffbindendes Mittel nicht Kohle, sondern Kupfer, indem man Luft über glühendes Kupfer leitet: 4N 2 + 0 2 + 2Cu -> 4N 2 + 2 C u 0 , Da die Luft außer Stickstoff und Sauerstoff noch rund 1 % Edelgase enthält, erhält man aus ihr keinen reinen Stickstoff, sondern edelgashaltigen „Luftstickstoff". Wegen der chemischen Reaktionsträgheit der Edelgase stört dieser Gehalt aber normalerweise nicht. „Reinen Stickstoff" gewinnt man zweckmäßig aus S t i c k s t o f f v e r b i n d u n g e n . Eine hierfür sehr geeignete Verbindung ist das Ammoniak, dessen Überführung in Stickstoff ganz allgemein durch Einwirkung eines 0 x i d a t i o n s m i t t e l s erfolgt: 2 N H 3 + 3 0 -> N 2 + 3 H 2 0 . So bildet sich z. B. Stickstoff beim Eintropfen von konzentrierter Ammoniaklösung in einen wässerigen Chlorkalkbrei (CaCl(0Cl) -> CaCl 2 + 0). Noch häufiger wird im Laboratorium Salpetrige Säure H N 0 2 als 0xidationsmittel benutzt, weil hierbei auch der Stickstoff der Säure mitgewonnen wird NH 3 + H N 0 2
N2 + 2 H 2 0 .
Man erhitzt zu diesem Zwecke eine konzentrierte wässrige Ammoniumnitritlösung ( N ^ N ^ ^ N H 3 + H N 0 2 ) oder die Lösung eines Gemisches von Ammoniumchlorid und Natriumnitrit (NH 4 C1 + N a N 0 2 N H 4 N 0 2 + NaCl) auf etwa 70°C. ,,Spektralreiner Stickstoff' ist bequem durch thermische Zersetzung von Aziden (insbesondere NaN 3 ) gewinnbar (S. 803). N 2 wird als Gas in Röhren oder als Flüssigkeit in Kältebehältern versandt. In den H a n d e l kommt Stickstoff in (früher grün, heute grau gestrichenen) Stahlflaschen (,,Bomben") unter einem Druck von 200-300 bar. Er enthält im Allgemeinen noch Sauerstoffspuren ( < 20 ppm), die sich durch Leiten des Stickstoffs über auf Kieselgur niedergeschlagenes K u p f e r bei 160-180°C entfernen lassen (2Cu + 0 2 -> 2Cu0). Gereinigter Stickstoff enthält < 2 p p m O 2 , sauerstofffreier und ultrareiner Stickstoff < 10 ppm Ar.
1.1.3
Physikalische Eigenschaften
Stickstoff ist ein farb-, geschmack- und geruchloses Gas. Die Masse eines Liters reinen Stickstoffs beträgt bei 0 °C und 1 atm Druck (45° geographischer Breite) 1.25046 g, ist also geringer als die der Luft (1.2928 g/l), welche ja noch den schwereren Sauerstoff (1.42895 g/l) enthält. 1 l „Luftstickstoff", also edelgashaltiger Stickstoff, wiegt 1.2567 g. Wie Sauerstoff und Wasserstoff lässt sich auch Stickstoff nur
1. Der Stickstoff
653
schwer kondensieren (kritische Temperatur: — 146.95°C, kritischer Druck: 33.98 bar, kritische Dichte: 0.3110 g/cm). Der Siedepunkt des farblosen flüssigen Stickstoffs liegt bei — 195.82°C (77.33 K), der Schmelzpunkt des farblosen festen Stickstoffs bei — 209.99°C (63.16 K) (hexagonal-dichteste Kugelpackung von N 2 -Molekülen (ß-N 2 ); unterhalb — 237.54°C existiert noch eine kubisch-dichteste Packung (a-N 2 ); bzgL polymerem Stickstoff N^ vgl. S.656); die Dichte des flüssigen Stickstoffs beim Siedepunkt beträgt 0.8076, die des festen Stickstoffs bei — 253 °C 1.0265 g/cm 3 . Der NN-Abstand in N 2 beträgt 1.0976 Ä, die NN-Dissoziationsenergie 945.33 kJ/mol. Beide Werte entsprechen einer NN-Dreifachbindung. Bezüglich eines MO-Schemas für N 2 vgl. S. 354. In Wasser ist Stickstoff nur etwa halb so gut löslich wie Sauerstoff von gleichem Druck. 1 l Wasser von 0°C löst - unabhängig vom Gasdruck (vgl. S. 195, 501) — 23.2 c m Stickstoff bzw. 49.1 c m Sauerstoff. Die aus Wasser ausgetriebene Luft ist somit sauerstoffreicher (O 2 :N 2 = 1 : 2) als die atmosphärische (O 2 :N 2 = 1 : 4) und enthält, bezogen auf den Stickstoff, zweimal mehr Sauerstoff als die letztere. Dieser größere prozentuale Sauerstoffgehalt ist von Wichtigkeit für die Atmung der Fische im Wasser.
1.1.4
Chemische Eigenschaften und Verwendung
Thermisches Verhalten. Der Stickstoff ist bei gewöhnlicher Temperatur ein sehr r e a k t i o n s träges (,,inertes") Gas. Dies kommt daher, dass die beiden Atome des Stickstoffmoleküls durch eine Dreifachbindung besonders fest aneinander gekettet sind, sodass der Stickstoff selbst die beständigste Stickstoff-,,Verbindung" ist. Zur D i s s o z i a t i o n des Moleküls in die wesentlich reaktionsfähigeren Atome bedarf es einer großen Energiemenge: 2 N (Kp = 10~ 160 ; N-Atombildung ab 8500K).
945.33 kJ + N 2
Die U m s e t z u n g e n des Stickstoffs stellen infolgedessen meist e n d o t h e r m e Prozesse dar, und die e x o t h e r m e n Reaktionen verlaufen häufig mehr oder minder gehemmt, d.h. erst bei höheren Temperaturen. Redox-Verhalten. Stickstoff ist weder brennbar, noch unterhält er die Verbrennung. Taucht man einen brennenden Holzspan in Stickstoff ein, so erlischt er sofort. Lebewesen ersticken im Stickstoffgas, woher das Gas seinen Namen hat 3 . Bei hohen Temperaturen geht Stickstoff allerdings mit zahlreichen Metallen und Nichtmetallen Verbindungen ein (Stickstoff bildet mit allen Elementen außer den Edelgasen binäre Verbindungen, wobei vielfach mehrere Stöchiometrien realisierbar sind). Unter den Metallen vereinigen sich das Alkalimetall Lithium und alle Erdalkalimetalle relativ leicht und voll ständig mit Stickstoff (Lithium sogar bei Raumtemperatur): 3Mg + N 2
Mg 3 N 2 + 461.55 kJ,
6Li + N 2
2Li 3 N + 395 kJ.
Aber auch viele andere Metalle wie Aluminium, Titan, Vanadium, Chrom verbinden sich bei Glühhitze direkt mit dem Stickstoff zu „Nitriden" (s. unten; wichtig ist in diesem Zusammenhang die zu ,,Nitrierstählen" führende Oberflächenhärtung von Eisen mit Stickstoff). Unter den Reaktionen des Stickstoffs mit N i c h t m e t a l l e n seien besonders die Umsetzungen mit Wasserstoff und mit Sauerstoff hervorgehoben (bzgl. der zu Kalkstickstoff CaCN 2 führenden Reaktion mit Calciumcarbid vgl. S. 1247). Die Umsetzung mitH 2 führt zur exothermen Bildung von Ammoniak N 2 + 3H 2
2 N H 3 + 92.28 kJ
= 105-78)
und wird in größtem Maßstab technisch durchgeführt (S. 663). Die Umsetzung mit unter endothermer Bildung von Stickstoffoxid vor sich 180.6 kJ + N 2 + 0 2
2NO
geht
(Kv = 10~30-32)
und hat eine Zeit lang erhebliche Bedeutung für die Gewinnung von Salpetersäure gehabt (S. 690), welche insgesamt aus Stickstoff, Sauerstoff und Wasser in exothermer Reaktion ent-
654
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
steht: N 2 + 2.5 0 2 + H 2 0 ->• 2 H N 0 3 + 30.3 kJ. Die hohe Beständigkeit von N 2 , welche die exotherme Bildung von - in Ozeanen gelöster - H N 0 3 unter Verbrauch des gesamten Luftsauerstoffs verhindert, ist somit von grundlegender Bedeutung f ü r das Leben auf der Erde. Säure-Base-Verhalten. Verhältnismäßig r e a k t i o n s f ä h i g ist Stickstoff außer gegen Lithium (s. oben) auch gegenüber einigen Komplexen L„M der Übergangsmetalle M, die molekularen Stickstoff unter Bildung von Stickstoffkomplexen L„M • N 2 aufnehmen: L„M + N 2
L„M • N 2 .
So reagiert etwa die Ruthenium(II)-Verbindung [ R u ( N H 3 ) 5 ( H 2 0 ) ] 2 + bei Raumtemperatur unter Bildung des Komplexes [ { ( N H 3 ) 5 R u } 2 N 2 ] 4 + , der seinerseits Stickstoff unter Bildung von [ ( N H 3 ) 5 R u N 2 ~ ] 2 + aufnimmt: + N , ( 1 bar)
2(NH 3 ) 5 Ru(0H 2 ) 2+
H0C 6 H 4 + Nj" massenspektrometrisch erzeugt und nachgewiesen werden. Das N^-Ion (m) weist nach ab-initio Berechnungen 5 gleichlange NN-Bindungen von 1.33 Ä auf und stellt wie isovalenzelektronisches PentaphospholidVj (n) (S. 774) bzw. Cyclopentadienid C5H7 (o) (S. 888) einen 6re-Aromaten dar. Es ist hinsichtlich eines Zerfalls in Azid und Stickstoff exotherm; da der Reaktion Nf -> N3~ + N 2 + 60 kJ aber eine hohe Aktivierungsbarriere von ca. 116 kJ/mol zukommt, sollte die Isolierung von Salzen mit dem N^-Ion möglich sein.
1. Der Stickstoff
1.1.6
659
Stickstoff in Verbindungen
Der Stickstoff kommt in seinen Verbindungen in lückenloser Folge in den Oxidationsstufen - 3 bis + 5 vor, wobei naturgemäß die negativen Wertigkeiten in Verbindungen mit elektropositiven Elementen (z. B. Wasserstoff) und die positiven Wertigkeiten in Verbindungen mit elektronegativen Elementen (z. B. Sauerstoff) auftreten: -3
-2
-1
±0
+1
+2
+3
+4
NH 3
N2H4
N2H2
N2
N2O
NO
N2O3
NO 2
+5
N2O5 .
In Verbindungen mit nicht allzu elektropositiven Bindungspartnern tritt Stickstoff mit der Koordinationzahl eins (z. B. N = N , H C = N , N = N = 0 , 0 s 0 3 N " ) , zwei (z. B. gewinkelt in H—N=N—H, C l — N = 0 ; linear in N = N = 0 , R 3 Si—N=SiR 2 ), drei (z. B. pyramidal in NH 3 , NC13; planar in N0 3 ", N(SiH 3 ) 3 ; T-förmig in [(CpMo) 3 (C0) 4 (^ 3 -N)]) und vier (tetraedrisch, z. B. NH 4 , NF 4 , N0F 3 ) auf. Bei elektropositiven Partnern betätigt er auch die Koordinationszahlen fünf (z. B. quadratisch-pyramidal in [Fe 5 (C0) 14 H(|i 5 -N)]; trigonal-bipyramidal in [N(AuPPh 3 ) 5 )] 2 + ), sechs (z.B. oktaedrisch in MN mit M = Sc, Ti, V, Cr, Th, U usw.; trigonal-prismatisch in [ & 6 ( C 0 ^ 6 - N ) ] - ) , pentagonal-prismatisch in N B ^ H 12 ) und acht (z.B. kubisch in BeLiN, AlLi 3 N; hexagonal-bipyramidal in Li 3 N; kubisch-antiprismatisch in [Rh 1 2 H(N) 2 (C0) 2 3 ] 3 ~). - Bindungen Die RNR- Bindungswinkel in Verbindungendes Typs NR 3 (R = anorganischer oder organischer Rest) liegen im Bereich 100-110°, falls der Stickstoff reine Einfachbindungen eingeht (z.B. ^ HNH in N H 106.8° , * FNF in N F 102.1°, * CNC in NMe 3 108.7°). Andernfalls beobachtet man RNR-Winkel nahe 120° (z.B. * SiNSi in N(SiH 3 ) 3 119.6°). In Verbindungen R — N = Y liegen die RNY-Winkel im Bereich 110° (z.B. H N = N H ) bis 180° (z.B. R 3 Si—N=SiR 2 ). An nicht allzu elektropositive Bindungspartner ist der Stickstoff kovalent einfach bzw. mehrfach gebunden, wobei er nur in Ausnahmefällen ein- und zweibindig ist (z. B. instabiles N—H, bei höheren Temperaturen stabiles F—N—F), meist jedoch dreibindig ( N H , H O — N = 0 , H C = N ) und maximal vierbindig (NH 4 , NC1+, 0 = N = 0 + , R — N = C ) . Die Tendenz des Stickstoffs zur Ausbildung vorni-Bindungen ist sehr groß, die zur Bildung von Elementketten klein (längste bisher verwirklichte N-Kette in PhN=N—NPh—N=N—NPh—N=NPh).
1.2
Wasserstoffverbindungen des Stickstoffs2,7
1.2.1
Überblick
Systematik. Stickstoff u n d Wasserstoff bilden miteinander gemäß T a b . 7 5 neun a c y c l i s c h e (kettenförmige) V e r b i n d u n g e n Ammoniak (Azan) N H 3 , Hydrazin (Diazan) N 2 H 4 , Triazan N 3 H 5 u n d TetrazanN4H6 als Vertreter der gesättigten „Azane" N„H„ + 2, Nitren (Azen) N H , Diimin (Diazen) N 2 H 2 , TriazenN3H3 u n d Tetrazen N4H4 als Vertreter der einfach ungesättigten „Azene" N„H„ sowie Stickstoffwasserstoffsäure (Triazadien) N H als Vertreter der doppelt ungesättigten „Azadiene" N„H„ _ 2 . U n t e r ihnen sind die fünf Verbindungen N H , N 2 H 4 , N 2 H 2 , N 3 H u n d N 4 H 4 in Substanz zugänglich (in Tab. 75 fett gedruckt), während die verbleibenden vier Stickstoffwasserstoffe N 3 H 5 , N 4 H 6 , N H ^ H 3 zwar nicht in Substanz isoliert werden konnten, aber als reaktive Zwischenprodukte chemischer Umsetzungen eine Rolle spielen. A u ß e r den genannten Hydriden kennt m a n als Salze der S ä u r e H N mit den B a s e n N H u n d N 2 H 4 die - ebenfalls nur aus Stickstoff u n d Wasserstoff bestehenden - s a l z a r t i g e n Verbindungen Ammoniumazid N H 4 N 3 = N 4 H 4 u n d Hydraziniumazid N2H5N3 = N5H5. Cyclische (ringförmige) Stickstoffwasserstoffe (gesättigt: N„H„, einfach ungesättigt: N„H„_ 2 , doppelt ungesättigt: N„H„_ 4 ) sind bis jetzt noch nicht bekannt, während beim homologen Phosphor cyclische gesättigte Phosphorwasserstoffe P„Hm existieren (S. 758). Von,,Pentazol" (cyclo-Pentazadien) N H kennt man als bisher einzigem cyclischen Stickstoffwasserstoff organische D e r i v a t e N 5 R; auch wurde das Deprotonierungsprodukt Nj" massenspektrometrisch nachgewiesen (s. oben). Cyclo-Triazen bildet sich, k o m p l e x g e b u n d e n an Ag + , bei der Reaktion von Ammoniak mit einem Ag + -haltigen Zeolith. Bezüglich weiterer Derivate und Komplexe von Stickstoffwasserstoffen vgl. Anm. 7 . 7
Literatur P.A.S. Smith: ,,The Chemistry of Open-Chain Organic Nitrogen compounds", 2 Bände, Benjamin, New York 1965, 1966; N. Wiberg: ,,Silyl, Germyl, and Stannyl Derivatives of Azenes NnH„", Adv. Organometal. Chem. 23 (1984) 131-191, 24 (1985) 179-248; D.S. Moore, S.D. Robinson: „ Catenated Nitrogen Ligands: Part I/Part II: Transition Metal Derivatives of Triazenes, Tetrazenes, Tetrazadienes, and Pentazadienes/Triazoles, Tetrazoles, Pentazoles, andHexazines", Adv. Inorg. C h e m 30 (1986) 1 - 6 8 / 3 2 (1988) 171-239; M.T. Nguyen:,,Polynitrogen compounds. 1. Structure and stability of Nt andNs systems", Coord. Chem. R e v 244 (2003) 93-113. Vgl. auch Anm, 8 | 2 7 .
)
4
Bisher isolierte (Fettdruck) oder nachgewiesene acyclische Stickstoffwasserstoffe. Mono(W = l)
Di-
Tri-
-azan -azen -azadien
NH 3 NH -
N2H4
N3H5 N3H3 N3H
N4H6 N4H4 (N
)
NNHM
II
Tab. 75
II
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
2II
660
-
Summenformel
Tetra
N„Hn + 2 N N
A „
H
„
—2
a) Für bisher unbekanntes N 4 H 2 lassen sich neben zwei Kettenformeln ( H — N = N — N = N — H , H 2 N — N = N = N ) mehrere Ringformeln diskutieren (z.B. cjc/o-Tetrazen, Amino-cyclo-triazen, Bicyclo-tetrazan).
Strukturen Den gesättigten, acyclischen Azanen N„Hn + 2 liegt, wie den folgenden Konstitutionsformeln der ersten vier Glieder zu entnehmen ist, ein Gerüst aus n dreibindigen Stickstoffatomen zugrunde, die durch « — 1 cr-Bindungen miteinander verknüpft sind:
Die wasserstoffärmeren, einfach ungesättigten, acyclischen Azene N„H„ enthalten ebenfalls ein Gerüst von n Stickstoffatomen, die hier - sieht man vom Anfangsglied NH ab, dessen ungesättigter Charakter auf das Elektronensextett zurückgeht- durch« — 1 a-Bindungenund 171-Bindung miteinander verbunden
sind:
^
....
H
H
H
Von den noch wasserstoffärmeren, doppelt ungesättigten, acyclischen Azadienen N„H„ _ 2 , denen jeweils ein Gerüst von n Stickstoffatomen zugrunde liegt, die durch n — 1 a-Bindungen und 2 71-Bindungen zusammengehalten werden, ist bisher nur eine Verbindung, die Stickstoffwasserstoffsäure N 3 H, bekannt (man kennt organische acyclische Azadiene, die sich beispielsweise vom Pentazadien H N = N — N H — N = N H oder vom Octazadien H N = N — N H — N = N — N H — N = N H ableiten).
Wie bei den Wasserstoffverbindungen des linken Nachbarn vom Stickstoff im Periodensystem, dem Kohlenstoff, sind auch bei den Stickstoffwasserstoffen viele Isomeriemöglichkeiten vorhanden. Die Isomerie kann sich dabei auf eine unterschiedliche Verkettung der Stickstoffatome mit den Wasserstoffatomen oder auch der Stickstoffatome untereinander beziehen (.Konstitutionsisornerie; s. dort), wie am Beispiel der drei N 4 H 4 -Isomeren (a), (b) sowie (c) gezeigt sei (die dem Tetrazen vorangestellte Zahl bezieht sich auf die Lage der Doppelbindung):
Die Isomerie kann aber auch in einer unterschiedlichen geometrischen Anordnung der Atome bestehen wie die N 4 H 4 -Isomeren (d) und (e) (Konfigurationsisornerie, s. dort) und die N 2 H 4 -Isomeren (f) und (g) (.Konformationsisomerie, s. dort) lehren:
H H\ ..
H 2 N"
trans-2-Tetrazen
(d)
.N
"
NH 2
as-2-Tetrazen
(e)
H x ••/N
I/N
N=N
N=N
H 2 N"
..
H /
N n '
gauche-Hydrazin
(f)
X
H
^m«5-Hydrazin
(g)
1. Der Stickstoff
661
Bezüglich des letzteren - nicht bei N 2 H 4 , aber bei N 2 F 4 beobachteten - Isomeriefalles vgl. S. 703. Stabilität Im Gegensatz zu den meisten Kohlenwasserstoffen C„Hm sind die Stickstoffwasserstoffe N n H m , wenn man von Ammoniak NH 3 absieht, t h e r m o d y n a m i s c h i n Bezug auf die Elemente instabil. Allerdings ist der Zerfall in N 2 und H 2 bei den bisher bekannten Stickstoffhydriden kinetisch gehemmt. Insbesondere die höheren Stickstoffwasserstoffe zersetzen sich statt dessen leicht gemäß
unter Eliminierung von Ammoniak. In diesem Sinne geht Triazan N 3 H 5 in Diimin N 2 H 2 , Tetrazan N 4 H 6 in Triazen N 3 H 3 , Triazen N 3 H 3 in Stickstoff N 2 und Tetrazen N 4 H 4 in Stickstoffwasserstoffsäure N 3 H über (bei N 3 H ist eine intramolekulare NH 3 -Abspaltung unmöglich, bei N 2 H 4 ist sie energetisch ungünstig, weil hierbei energiereiches Nitren NH entsteht). Die kinetisch und thermodynamisch begünstigte NH -Eliminierung bedingt die Instabilität vieler höherer (insbesondere der wasserstoffreicheren Stickstoffwasserstoffe und ist mit ein Grund dafür, dass von Stickstoff - anders als von Kohlenstoff bisher nur vergleichsweise wenige Wasserstoffverbindungen aufgefunden wurden (die NH3-Eliminierung aus Stickstoffwasserstoffen ist mit der energiebegünstigten Bildung von 7i-Bindungen verknüpft (vgl. S. 933), wogegen die entsprechende CH4-Eliminierung aus Kohlenwasserstoffen unter Energieverbrauch abläuft, was die Stabilität letzterer Verbindungen mitbedingt). Nachfolgend soll zunächst das Ammoniak N H als wichtigster Stickstoffwasserstoff, d a n n - die ebenfalls technisch gewonnenen Verbindungen - Hydrazin N2H4 sowie Stickstoffwasserstoffsäure N 3 H u n d schließlich das Triazan N 3 H 5 , Tetrazan N 4 H 6 , Triazen N 3 H 3 , Nitren N H , Diimin N 2 H 2 u n d Tetrazen N 4 H 4 behandelt werden.
1.2.2
Ammoniak NH 3 2
8 9
Darstellung D a s wichtigste Verfahren zur technischen Darstellung von A m m o n i a k ist die in den Jahren 1903-1909 von dem deutschen Physikochemiker Fritz H a b e r (1868-1934; Nobelpreis Chemie 1918) im L a b o r a t o r i u m s m a ß s t a b ausgearbeitete u n d 1913 von dem deutschen Chemiker u n d
8
9
Literatur. A. Mittasch: ,,Geschichte der Ammoniak-Synthese'', Verlag Chemie Weinheim 1954; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Ammonia'', ,,Ammonium Compounds'"'' A2 (1985) 143-265; G. Ertl: ,,Zum Mechanismus der Ammoniak-Synthese'', Nachr. Chem. Tech. L a b 31 (1983) 178-182; R. Juza: ,,Amide der Alkali- und Erdalkalimetalle'', Angew. C h e m 76 (1964) 290-300; Int.Ed. 3 (1964) 471; M.F. Lappert, P.P. Power, A . R . Sanger, R.C. Srivastava:,, Metaland Metalloid Amides'', Ellis Horwood, Chichester 1980; D. A. House:,,Ammoniaand Amines'' sowie M . H . Chisholm, I.P. Rothwell: ,,Amido and Imido Metal Complexes'', Comprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 2 3 - 7 2 sowie 161-188; K. Dehnicke, J. Strähle: ,Nitrido-Komplexe von Übergangsmetallen'', Angew. C h e m 104 (1992) 978-1000; Int. E d 31 (1992) 955; ,,Die Übergangsmetall-Stickstoff-Mehrfachbindung'', Angew. C h e m 93 (1981) 451-464; Int. E d 20 (1981) 413, ,,NHalogenoimido Complexes of Transition Metals'', Chem. R e v 93 (1993) 913-926; W.A. Nugent, B.L. Haymore: ,,Transition Metal Complexes Containing Organoimino (NR) and Related Ligands'', Coord. Chem. R e v 31 (1980) 123-175; D . E . Wigley: ,,Organoimido Complexes of Transition Metals'', Progr. Inorg. C h e m 42 (1994) 239-482; K. Dehnicke, F. Weller, J. Strähle: ,,Nitrido bridges between transition metals and main group elements illustrated by the series [M]NNa to [M]Na'', Chem. Soc. R e v 30 (2001) 125-135. Geschichtliches Ammoniak und Ammoniumsalze (insbesondere Salmiak NH 4 Cl) waren den Ägyptern und Arabern bereits im Altertum bekannt. Kunckel erwähnte 1716 erstmals die NH 3 -Bildung bei Gärungsvorgängen, Hales stellte 1727 erstmals freies N H durch Erhitzen von Salmiak mit Kalk dar, Scheele ermittelte 1774 erstmals die Zusammensetzung von N H . Die Geschichte der direkten Synthese von N H aus N 2 und H 2 ist ein Musterbeispiel für die wissenschaftliche Erfassung einer Aufgabe, ihre prinzipielle Lösung mit theoretischen Ansätzen und Laboratoriumsmethoden und ihre Verwirklichung durch Schaffung einer neuen Technik. Für die chemische Wirtschaft bedeutet die Synthese den ersten großen Einbruch in das Rohstoffmonopol Natur. Die erste in Oppau (bei Ludwigshafen a. Rh.) errichtete großtechnische, mit einem Os-Katalysator arbeitende Syntheseanlage war auf eine Jahresproduktion von 110001 N H ausgerichtet. Inzwischen setzt man billigere Fe-Katalysatoren ein, auch produzieren die Anlagen trotz kleinerer Ausmaße, geringerem Energieverbrauch und stark vermindertem Personalbedarf beachtlich mehr Ammoniak. In der Welt werden heute schätzungsweise über 120 Millionen Jahrestonnen Stickstoff zu synthetischem Ammoniak gebunden Name: Das Ammoniumsalz N H 4 C l (im Altertum mit Steinsalz NaCl verwechselt, das in der Nähe eines Tempels des Jupiters Ammon vorkam) wurde im Altertum ,,Sal ammoniacum'' (Salze des Ammon) genannt, woraus dann die Worte Salmiak für das Salz N H 4 C l und Ammoniak (1782, T. O. Bergmann) für die zugrunde liegende Base N H abgeleitet wurden.
662
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Industriellen Carl Bosch (1874-1940; Nobelpreis Chemie 1931) erstmals in die Technik übertragene Synthese aus den Elementen („Haber-Bosch-Verfahren")2°: 3H 2 + N 2 ^ 2NH 3 +92.28 kJ .
(1)
Neben der Ammoniaksynthese aus den Elementen, nach der heute fast 100% der Welterzeugung an Ammoniak hergestellt werden, spielt die Gewinnung von Ammoniak aus dem Gaswasser der Gasanstalten und Kokereien nur eine untergeordnete Rolle. Man gewinnt es aus dieser farblosen Flüssigkeit durch Kochen und Behandlung mit Kalkmilch, wobei das gelöste Ammoniak entweicht und die hauptsächlich enthaltenen Ammoniumsalze NH 4 HS und N H 4 H C 0 3 ihr N H abgeben (s. unten), welches in Schwefelsäure geleitet und so als Ammoniumsulfat gebunden wird. Die Freisetzung von Ammoniak aus Verbindungen hat Bedeutung zur Gewinnung von 2 2NH 3 (Basebehandlung von 2 2NH 4 , Reduktion von 22N0 3 oder 22N0 2 , Hydrolyse von C a 3 2 ^ 2 ) und ND 3 (Hydrolyse von Mg 3 N 2 mit D 2 0). Bezüglich der Darstellung von Ammoniak im Laboratorium vgl. S. 667, bzgl. der Bildung von N H im Zuge der Erdevolution S. 515.
Da es sich bei der Synthese aus den Elementen um eine e x o t h e r m e (A// f (NH 3 ) = — 46.14 kJ/mol) und mit V o l u m e n v e r m i n d e r u n g verlaufende Umsetzung handelt, verschiebt sich das Gleichgewicht dieser Reaktion mit fallender T e m p e r a t u r und steigendem D r u c k nach rechts, wie auch der Fig. 162 azu entnehmen ist, welche die Ammoniakausbeute (Vol.-% N H in einem Gemisch von 3H 2 + N 2 ) in Abhängigkeit von der Temperatur bei verschiedenen Drücken wiedergibt. Eine praktisch q u a n t i t a t i v e Ammoniakausbeute würde man bei Zimmertemperatur zu erwarten haben. Bei dieser niedrigen Temperatur ist aber die Geschwindigkeit der Umsetzung unmessbar klein (Aktivierungsenergie: 230 kJ/mol), und K a t a l y s a t o r e n wirken auf die Reaktion der Ammoniakbildung erst ab 400°C genügend beschleunigend ein. Daher ist man gezwungen, bei einer Temperatur von mindestens 400 °C, zweckmäßig 500 °C zu arbeiten; bei 500°C beträgt jedoch die Ausbeute an Ammoniak bei Atmosphärendruck (vgl. Fig. 162a, Kurve ,,1 bar") nur noch 0.13 Vol.-%. Um die Ausbeute technisch tragbar zu gestalten, ist es daher erforderlich, einen h o h e n Druck, z.B. 200 bar, anzuwenden, wodurch sich die Ausbeute (vgl. Fig.162 a, Kurve ,,200 bar") auf 17.6 Vol.-% steigert. Im Folgenden sei die technische Durchführung der Ammoniaksynthese näher besprochen (vgl. hierzu auch Fig. 162b, c). Gewinnung der Ausgangsstoffe Als Ausgangsstoffe zur Gewinnung von Stickstoff und Wasserstoff können z.B. L u f t (4N 2 + 0 2 ) und Wasser ( H O ) dienen. In beiden Fällen muss das gewünschte Gas von S a u e r s t o f f befreit werden, welcher das eine Mal physikalisch beigemengt, das andere Mal chemisch gebunden ist. Die Entfernung des Sauerstoffs kann z.B. in beiden Fällen durch das billigste Reduktionsmittel der Technik, den Kohlenstoff in Form von Koks, erfolgen; und zwar setzt sich der Koks bei hoher Temperatur mit Luft bzw. Wasserdampf unter Bildung von Generatorgas ( = 2N 2 + CO; vgl. S.896) bzw. Wassergas ( = H 2 + C0; vgl. S. 261) um. Der für die Ammoniaksynthese erforderliche Stickstoff wird allerdings heute statt aus Generatorgas praktisch ausschließlich durch Tieftemperaturzerlegung der Luft (S. 500), der Wasserstoff außer aus Wassergas auch aus K o k e r e i g a s ( = H 2 + CH 4 ; vgl. S.263) sowie insbesondere dem durch Reaktion von Kohlenwasserstoffen (Erdgas, Erdöl) mit Wasser bei hohen Temperaturen gemä C„H2m + n H 2 0
(n + m)H
+ nC0
erhältlichen Spaltgas ( H + CO; vgl. S. 263) gewonnen. Das beim Steam-Reforming-Prozess aus Erdgas oder Rohbenzin („Naphtha") in einem mit Ni-Katalysator gefüllten Spaltrohrofen („Primärreformer") bei 700-830 °C/40 bar mit H 2 0 gebildete Spaltgas 2° Physiologisches C a . 2 0 p p m N H werden bereits wahrgenommen, ca.100 ppm N H reizen Augen und Luftwege. Eingenommen, bewirkt N H Magenbluten und Kollaps (Gegenmittel: Essig-, Wein-, Zitronensäure). 1.5-2.5 g N H 3 pro m 3 Luft wirken innerhalb 1 Stunde tödlich, ebenso 3 - 5 ml Salmiakgeist (MAK-Wert = 35 m g / m ) .
1. Der Stickstoff
663
enthält noch ca. 8 Vol.-% nicht umgesetztes Methan im Gleichgewicht mit H 2 + C0. Es wird durch einen mit Ni-Katalysator gefüllten Schachtofen („Sekundärreformer") bei 1000-1100°C geleitet, wodurch sich der CH 4 -Gehalt bis auf 0.5 Vol-% erniedrigt. Die Temperaturerhöhung erzielt man durch Verbrennen eines Teils des Spaltgases mit zugemischter Luft. Die Luftmenge wird in geschickter Weise so gewählt, dass das entströmende Spaltgas die für die spätere NH 3 -Synthese notwendige N 2 -Menge enthält. Entsprechend stimmt man die Luftmenge bei der - ohne Katalysator ablaufenden - partiellen Qxidation von schwerem Erdöl bei 1200-1500°C/30-40 bar ab. Da Schwefel ein starkes Gift für den Ni-Katalysator darstellt, müssen bei ersterem Verfahren die Edukte entschwefelt werden (vgl. S. 542), bei letzterem nicht (der Schwefel liegt hier in Form von H 2 S vor). Das im Spaltgas beider Prozesse (sowie auch im Wassergas) enthaltene C 0 wird anschließend durch Kohlenoxid-Konvertierung gemäß C0 + H20
C 0 2 + H2
unter zusätzlicher Bildung von Wasserstoff zu C 0 2 oxidiert (vgl. S.262). Als Kontaktmasse setzt man für die Hochtemperaturkonvertierung (300-400°C; C0-Verringerung auf 3 Vol.-%) Eisenoxid/Chromoxid-Gemische (schwefelempfindlich) bzw. Cobaltoxid/Molybdänoxid-Gemische (schwefelfest), für die Tieftemperaturkonvertierung (200-250 °C; C0-Verringerung auf 0.3 %) Kupferoxid/Zinkoxid-Gemische (schwefelempfindlich) ein. Die schwefelfreien Spaltgase des Steam-Reforming Prozesses werden dabei zunächst bei hohen (Fe/Cr-0xide als Kat.), dann bei tiefen Temperaturen, die schwefelhaltigen Gase der partiellen 0xidation bei hohen Temperaturen (Co/Mo-0xide als Kat.) aufgearbeitet. Die Reinigung der Konvertierungsgase von C 0 2 und - gegebenenfalls - H 2 S erfolgt in der auf S. 262 geschilderten Weise durch Absorption mit Methanol (unter Druck) oder Basen (organische Amine, K 2 C 0 3 ) sowie - anschließend - durch Auswaschen mit flüssigem Stickstoff oder auch Hydrierung zu Methan (C0 + 3H 2 C H + H 2 0 ) . Wasserspuren werden an Zeolithen adsorbiert. Das letztlich vorliegende Gas (,,Synthesegas") enthält ca. 74.2% H 2 , 24.7% N 2 , 0.8% CH 4 , 0.3 % Ar, 1 ppm C 0 (C0 wirkt als Katalysatorgift!). Synthese des Ammoniaks Die Synthese des A m m o n i a k s aus dem Synthesegas ( = N 2 + 3 H 2 ) wird bei 500 °C u n d 200 bar in hohen, meterdicken Stahlrohren ( , , A m m o n i a k - K o n t a k t ö f e n " ) durchgeführt. Diese enthalten entweder ein System aus Wärmeaustauschrohren, welche von mehreren Tonnen K o n t a k t m a s s e (Katalysatormasse) 1 1 umgeben sind („Röhrenreaktoren", Fig. 162 b), o d e r - n e u e r d i n g s - mehrere übereinanderliegende, durch Wärmeaustauscher voneinander getrennte Schichten von K o n t a k t m a s s e i i , wobei jede Schicht nahezu den gesamten Rohrquerschnitt ausfüllt (,,Vollraumreaktoren", Abschnittsreaktoren", Fig.162c). In den W ä r m e a u s t a u s c h r o h r e n bzw. Wärmeaustauschern n i m m t das eintretende G a s die Reaktionsenthalpie des austretenden, bereits umgesetzten Gases auf u n d gelangt d a n n vorgewärmt in den K o n t a k t r a u m , wo sich unter W ä r m e e n t w i c k l u n g die A m m o n i a k b i l d u n g (1) vollzieht. Eine Zusatzheizung ist dementsprechend während des Betriebes nicht erforderlich. Die Berührungszeit zwischen Kontaktmasse u n d G a s beträgt nur 72 Minute. D a h e r wird nicht die volle Gleichgewichtsausbeute ( ~ 1 8 % ) , sondern nur eine Ausbeute von etwa 11 % A m m o n i a k erreicht, diese aber - im Sinne der Wirtschaftlichkeit - sehr rasch. M a n entzieht dem aus dem 0 f e n k o m m e n d e n G a s das A m m o n i a k durch K ü h l u n g (Verflüssigung des A m m o n i a k s ) bzw. durch A b s o r p t i o n m i t W a s s e r („Ammoniakwäscher"'). D a s Restgas wird nach Ersatz der umgesetzten Wasserstoff-Stickstoff-Menge durch ,,Frischgas" im Kreislauf wieder dem A m m o n i a k - K o n t a k t o f e n zugeführt. Große Schwierigkeiten bereitete bei der Einführung des Ammoniaksyntheseverfahrens in die Technik die Frage des 0 f e n m a t e r i a l s , da ja der 0fen bei dem hohen Druck von 200 bar und der hohen Tem11 Katalysator In der ursprünglichen Haberschen Versuchsanlage (1908) wurde 0smium als Katalysator verwendet, das aber bereits 1910 durch einen von A. Mittasch entwickelten billigeren „promotierten" Eisenkatalysator ersetzt wurde, der bis heute in unveränderter Form in Gebrauch ist. Er wird durch Zusammenschmelzen von F e 3 0 4 oder F e 2 0 3 mit geringen Mengen A1 2 0 3 , K 2 0 , M g 0 und C a 0 ( = ,,Promotoren" von promovere (lat.) = befördern) bei 1500°C hergestellt und nach dem Erstarren auf geeignete Körnung gebrochen. Der eigentliche Katalysator, das a-Eisen, wird hieraus durch Reduktion mit Wasserstoff bei 370-420 °C und 70-300 bar gewonnen. A1 2 0 3 verhindert hierbei als ,,struktureller" Promotor das Zusammensintern der kleinen Eisenpartikel. K 2 0 , das etwa 2 0 - 5 0 % der gebildeten Fe-0berfläche bedeckt, wirkt demgegenüber als ,,elektronischer" Promotor (Erhöhung der spezifischen a-Fe-Aktivität auf rund das Doppelte). Die Rolle des Ca0/Mg0-Zusatzes besteht wohl in der Stabilisierung der Makrostruktur des Katalysators. Der gewonnene Katalysator kann bis ca. 530 °C ohne Schädigung erhitzt werden. Aktiver als der promotierte Fe-Katalysator ist mit Cs promotiertes R u auf einem Kohlenstoffträger (bereits technisch genutzt), viel aktiver mit Ba promotiertes R u auf einem Mg0-Träger (Katalysator der Zukunft?).
664
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Fig. 162 Synthese von Ammoniak aus den Elementen: (a) Abhängigkeit der NH 3 -Ausbeute von Druck und Temperatur; (b) und (c) Kontaktöfen (schematisch) für die NH3-Synthese.
peratur von 500°C gegenüber dem leicht diffundierenden und leicht brennbaren Wasserstoff dicht und widerstandsfähig sein muss. Die kleinen S t a h l r o h r e der ersten Versuche platzten nach wenigen Stunden Betriebsdauer, da der Wasserstoff den - die Härte des Stahls bedingenden (S. 1640) - K o h l e n s t o f f unter den Reaktionsbedingungen der Ammoniaksynthese in gasförmiges M e t h a n verwandelte (C + 2H 2 CH 4 ). Die Schwierigkeit wurde von Carl Bosch dadurch behoben, dass er in das Stahlrohr ein Futterohr aus k o h l e n s t o f f a r m e m , weichem Eisen einzog. Dieses legte sich im Betrieb der äußeren Wand so dicht an, dass ein Reißen nicht zu befürchten war. Um dem hindurchdiffundierenden Wasserstoff die Möglichkeit zu geben, nach außen zu entweichen, wurde der äußere Stahlmantel mit dünnen Bohrungen (,,Bosch-Löcher") versehen. Mit der Entwicklung von unter Druck hinreichend wasserstoffbeständigen ferritischen Chrom-Molybdän- oder austenitischen Chrom-Nickel-Stählen konnte auf die Doppelmantelkonstruktion verzichtet werden. Aus Kostengründen verwendet man dünnwandige Rohre dieser Stahllegierungen (Wandstärke ca. 30 mm, Durchmesser ca. 2 m, Länge ca. 30 m), um die man Bänder billigeren Stahls schraubenförmig in vielen Lagen aufwickelt. Andere Verfahren der Ammoniaksynthese unterscheiden sich vom „Haber-Bosch-Verfahren" in der Herstellung der Ausgangselemente und in der Wahl von Temperatur und Druck. So arbeitet z.B. das „Casale-Verfahren" (Italien) bei 600-800 bar und 500 0 C, das ,,Fauser-Verfahren" (Italien) bei 200-300 bar und 5000C, das ,,Claude-Verfahren" (Frankreich) bei 900-1000 bar und 500-600°C, das ,,Mont-Cenis-Verfahren" (Deutschland) bei 100 bar und 400-450 0 C und das ,,Kellogg-Verfahren" (USA) bei 160-240 bar und 5000C. Lagerung Einen Großteil des gebildeten Ammoniaks wandelt man mit Säuren in feste Ammoniumsalze (Düngesalze) oder nach Oxidation zu NO in Salpetersäure und Nitrate um (vgl. S. 730). Der Rest wird als wasserfreier Ammoniak in gekühlten Tanks mit Kapazitäten über 35000 t gelagert, auf Tanklastwagen oder -kähnen befördert oder durch Pipelines (z. Teil mehrere 1000 km lang) gepumpt. In den Handel kommt N H flüssig in (grau gestrichenen) Stahlbomben (10 0C: 6.4 bar; 20 0 C: 8.9 bar Druck) und wassergelöst in Form von 25-35 %igem ,,konzentriertem Ammoniak". Mechanismus der Ammoniak-Synthese.8 Den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der eisenkatalysierten NH 3 -Synthese aus N 2 und H 2 stellt die exotherme dissoziative Adsorption (2a) von molekularem Stickstoff auf der Eisenoberfläche [Fe] unter Bildung eines Oberflächen-Nitrids [FeN] = N ads dar (Aktivierungsenergie 60-85 kJ/mol). Diese Spezies addiert dann in raschen Folgereaktionen Wasserstoffatome Ha d s , die durch dissoziative Adsorption molekularen Wasserstoffs auf der Fe-Oberfläche gebildet
1. Der Stickstoff
665
wurden (2b) und sehr beweglich auf dieser Oberfläche sind. Durch die H-Addition entsteht auf dem Wege über ein Oberflächen-Imid und -Amid letztlich ein Oberflächen-Ammoniakat, das leicht unter NH 3 -Abgabe (NH 3 -Desorption) zerfällt (2c):
Die dissoziative Adsorption von N 2 (2a) verläuft auf dem Wege über einen Komplex des N 2 -Moleküls mit der Fe-Oberfläche: [Fe] + N 2 [FeN 2 ] (vgl. hierzu Stickstoffkomplexe, S. 654 und S. 1775). Kalium auf der Fe-Oberfläche 11 verfestigt durch Elektronenabgabe a.n das Eisen die Komplexbildung (Verstärkung der Metall-7i-Rückbindung: [ : F e ^ N = N : F e ^ N = N ] ) . Damit verbunden ist eine Erniedrigung der Aktivierungsenergie für die -Dissoziation und infolgedessen insgesamt eine Beschleunigung der dissoziativen Stickstoffadsorption P h y s i k a l i s c h e Eigenschaften Ammoniak ist ein farbloses, diamagnetisches Gas von charakteristischem stechendem, zu Tränen reizendem Geruch (s.u.)i°. Es ist entsprechend seiner relativen Molekülmasse (Mr = 17) wesentlich leichter als Luft (Mr « 29) und lässt sich, da seine kritische Temperatur sehr hoch - bei 132.4 °C - liegt (kritischer Druck 113 bar, kritische Dichte 0.236 g/cm 3 ), leicht zu einer farblosen, leichtbeweglichen, stark lichtbrechenden Flüssigkeit verdichten, welche bei — 33.43 0 C siedet und bei — 77.760C zu farblosen, durchscheinenden Kristallen erstarrt. Die hohe Verdampfungsenthalpie des flüssigen Ammoniaks (1370 kJ/kg bzw. 23.35 kJ/mol beim Siedepunkt), die durch die Depolymerisation des im flüssigen Zustand über H-Brücken polymerisierten Ammoniaks bei der Verdampfung bedingt wird ist von Bedeutung für seine Verwendung in der Kälteindustrie 12 (z. B. zur Erzeugung von künstlichem Eis). In Wasser ist Ammoniak außerordentlich leicht löslich; 1 Liter Wasser löst bei 0 0 C 1176 Liter, bei 20 0 C 702 Liter Ammoniak, entsprechend einer 35%igen Lösung. Die wässrige Lösung (,,Salmiakgeist") reagiert schwach basisch (s. unten). - Struktur Ammoniak ist pyramidal gebaut (N an der Pyramidenspitze; C3v-Symmetrie). Der NH-Abstand beträgt 1.014 A, der HNH-Bindungswinkel 107.3°. Bezüglich der Inversion des Ammoniakmoleküls vgl. S. 672. C h e m i s c h e Eigenschaften u n d V e r w e n d u n g Stabilität A m m o n i a k ist bei gewöhnlicher Temperatur beständig, zerfällt aber beim Erwärmen in Gegenwart von Katalysatoren in U m k e h r u n g der Synthesegleichung (1) bis zum Gleichgewichtszustand in seine Elemente: 92.28 kJ + 2 N H 3 ^
N2 + 3 H 2 .
Ebenso zersetzt sich A m m o n i a k beim Belichten mit ultraviolettem Licht oder in elektrischen Entladungen. Die NH-Dissoziationsenergie beträgt 435 kJ/mol. Reduktionswirkung. A n der L u f t lässt sich A m m o n i a k zwar entzünden, brennt aber nicht weiter. In Gegenwart von Katalysatoren k a n n die Verbrennung von A m m o n i a k - L u f t - u n d Ammoniak-Sauerstoff-Gemischen schon bei verhältnismäßig niedrigen Temperaturen (300 bis 500 °C) erreicht werden; sie f ü h r t zu Stickoxiden, wovon m a n bei der technischen Salpetersäuregewinnung nach dem Ostwald-Verfahren (S. 730) G e b r a u c h macht: 4NH3 + 5O2
4 N O + 6 H 2 O ( g ) + 906.11 kJ .
O h n e Katalysator, also bei wesentlich höherer Temperatur, verbrennt A m m o n i a k in reinem Sauerstoff mit fahlgelber F l a m m e hauptsächlich zu Stickstoff u n d Wasser, den thermodynamisch beständigsten Verbrennungsprodukten 12 Heute bevorzugt man als Kühlmittel für Kühlschränke und Kühlanlagen Halogenkohlenwasserstoffe. Dabei ist man bestrebt, bisher eingesetzte Stoffe wie CF 3 Cl (,,Freon 13Smp. — 181.6°C, Sdp. — 81.2°C), CF 2 C1 2 (,,Freon 12 Smp. — 155°C, Sdp. — 30°C) und CFC1 3 („Freon 11Smp. — 110.7 0 C, S d p + 23.77°C) wegen ihrer Umweltproblematik (vgl. Ozonloch sowie S. 523) durch chlorfreie Fluorkohlenwasserstoffe wie C H 2 F — C F 3 oder CF 3 —CHF—CF 3 zu ersetzen.
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XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
4 N H 3 + 3 0 2 -> 2N 2 + 6H 2 0(g) + 1267.3 kJ. Bei hohem Druck sind solche Ammoniak-Sauerstoff-Gemische explosibel Auch durch andere (starke) 0xidationsmittel - z. B. Wasserstoffperoxid, Hypochlorige Säure (S. 466), Salpetrige Säure, Chromsäure, Kaliumpermanganat, Chlor - wird Ammoniak leicht zu Stickstoff oxidiert (2NH 4 +± N 2 + 8H + + 6 Q; Potential e0 in saurer Lösung gleich + 0.27 V vgl. Potentialdiagramm, S.718). Leitet man z.B. Chlor in Ammoniakgas oder eine konzentrierte Ammoniaklösung ein, so entzündet sich das Ammoniak unter Bildung von Stickstoff und Chlorwasserstoff (Näheres zum Reaktionsablauf vgl. S. 447, 698): 2NH 3 + 3C12
N 2 + 6HC1 +461.93 k J .
Der Chlorwasserstoff reagiert dabei unter Bildung von Salmiakrauch (NH 3 + HCl -> NH 4 Cl) weiter. Ähnlich lebhaft reagiert Brom (S. 701), lebhafter Fluor, weniger lebhaft Iod (S. 701). Phosphor wird langsam in P H , Schwefel in H 2 S und S 4 N 4 , Kohlenstoff bei Rotglut in HCN übergeführt.
Oxidations- und Säurewirkung Die Wasserstoffatome des Ammoniaks können durch Metallatome ersetzt werden, worin eine (sehr schwache) Oxidations- bzw. Säurewirkung des Ammoniaks zum Ausdruck kommt: NH 3 + © ->• N H 2 + ^ H 2 ; N H 3 ->• N H 2 + H + . Man kommt so zu den Amiden, Imiden und Nitriden mit den Anionen N H , NH 2 ~ und N3~ (isoelektronisch mit H 2 0, H 0 und O 2 _ ). Unter den Amiden seien die der Alkali- und Erdalkalimetalle erwähnt, die sich durch Einwirkung von Ammoniak auf Alkali- oder Erdalkalimetalle M1 oder M n gewinnen lassen: 2M' + 2NH3
2M'NH2 + H2;
MH+2NH3
^
Mh(NH2)2 + H2.
Beim Erhitzen gehen die Amide in Imide, bei noch stärkerem Erhitzen in Nitride über: M n (NH 2 ) 2 -> M"NH + NH 3 ,
3M U NH
M^
2
+ NH3 .
Beispielsweise verbrennt Magnesium im Ammoniakgas unter Bildung von Magnesiumnitrid Mg 3 N 2 . Die Alkali- und Erdalkalimetallamide, -imide und -nitride sind sehr hydrolyseempfindlich und reagieren mit Elementhalogeniden unter Bildung von Element-Stickstoff-Verbindungen (bzgl. hydrolysestabiler Nitride vgl. S.658.) Trägt man Alkali- oder Erdalkalimetalle in flüssiges Ammoniak ein, so lösen sie sich darin ohne Wasserstoffentwicklung mit blauer Farbe (S. 1295). Die blauen Lösungen sind längere Zeit stabil und stellen kräftige Reduktionsmittel dar. Mit der Zeit zersetzen sie sich - bei Anwesenheit von Katalysatoren wie FeCl 2 rasch - gemäß der oben angegebenen Gleichung zu Metallamid und Wasserstoff. Beim Auflösen der Metalle im flüssigen Ammoniak spielt sich u. a. eine Reaktion im Sinne von Na
fl. N H 3
Na(NH 3 )„ + e(NH 3 ) m
ab, wobei die solvatisierten Elektronen 13 e(NH 3 ) m die blaue Farbe und die große elektrische Leitfähigkeit der Lösung bedingen
Basewirkung Die charakteristische Eigenschaft des Ammoniaks N H 3 (wie auch aller Amine N R ) ist dessen Wirkung als Brönsted-Base. Löst man Ammoniak in Wasser auf, so zeigt die Lösung schwach basische Eigenschaften, die auf die Fähigkeit des Ammoniaks zurückgehen, in reversibler Weise Protonen unter Bildung von ,, Ammonium-Ionen" N H 4 aufzunehmen NH
H0H
NH
0H
13 Literatur. M. Anbar: „The Reactions of Hydrated Electrons with Inorganic Compounds", Quart. R e v 22 (1968) 578-598; U. Schindewolf: ,,Solvatisierte Elektronen", Chemie in unserer Zeit 4 (1970) 37-43; P.P. Edwards: „The Electronic Properties of Metal Solutions in Liquid Ammonia and Related Systems", Adv. Inorg. Radiochem. 25 (1982) 135-185; M . C . R . Symons: , Solutions of Metals; Solvated Electrons", Chem. Soc. Rev. 5 (1976) 337-358.
1. Der Stickstoff
667
Das Gleichgewicht der Reaktion liegt ganz auf der linken Seite; daher kann man im Laboratorium umgekehrt durch Einwirkung von Basen ( O H ) auf Ammoniumverbindungen ( N H 4 ) Ammoniak erzeugen. Die Gleichgewichtskonstante der Reaktion (,,Basekonstante'' des Ammoniaks) hat bei 25 °C den Wert Kb =
CNH4+ C
*
CpH
~ = 1.78 x 1 0 ~ 5
= 4.75).
NH3
Danach ist also eine 0.1-molare wässrige Ammoniaklösung bei Zimmertemperatur zu weniger als 1 % in Ionen dissoziiert, während eine gleichkonzentrierte Kaliumhydroxidlösung praktisch vollständig ionisiert ist Aus wässrigen NH 3 -Lösungen lassen sich zwei Hydrate der Zusammensetzung N H ' H O (Smp. — 79.00°C) und 2 N H 3 ' H O (Smp. — 78.83 °C) auskristallisieren. Sie stellen aber nicht etwa die Verbindungen ( N H ) O H (Ammoniumhydroxid) und (NH 4 ) 2 O (Ammoniumoxid) dar, sondern sind echte Hydrate, bei denen das Wasser über O—H - - N - und O ' H—N-Wasserstoffbrücken mit dem Ammoniak zu einer dreidimensionalen Struktur verknüpft ist. Undissoziiertes ( N H ) O H gibt es nicht; es stellt eine starke Base dar und kommt nur in völlig dissoziiertem Zustande (NH 4 + OH~) vor. Das in wässrigen Lösungen fast ausschließlich vorhandene undissoziierte Ammoniak liegt als Ammoniak-Hydrat (NH O) vor
Stärker ausgeprägt ist das basische Verhalten des Ammoniaks gegenüber stärkeren Säuren als Wasser. So reagiert z.B. Ammoniakgas heftig mit Chlorwasserstoffgas unter Bildung weißer Nebel (feuchte Luft) oder Rauchwolken (trockene Luft) von Ammoniumchlorid NH Cl NH
HC
NH
C
Die gleiche Reaktion spielt sich in wässriger Lösung ab. Ebenso bildet Ammoniak mit Salpetersäure leicht Ammoniumnitrat NH 4 NO 3 und mit Schwefelsäure Ammoniumsulfat (NH 4 ) 2 SO 4 . Das Gleichgewicht liegt in allen diesen Fällen ganz auf der Seite der Ammoniumverbindungen und wird beim Erwärmen nach links verschoben, sodass die Ammoniumsalze um 300 °C unter zwischenzeitlicher Dissoziation sublimieren. Einige Ammoniumsalze mit oxidierenden Anionen, wie NH 4 NO 2 , NH 4 NO 3 oder (NH 4 ) 2 Cr 2 0 7 zersetzen sich dabei unter Oxidation des Ammoniumstickstoffs zu N 2 O oder N 2 . Das mit CH 4 bzw. BH 4 isoelektronische, tetraedrisch gebaute N H 4 -Kation ist eine schwache Kation-Säure (NH 4 + H 2 0 N H + H 3 0 + ; pj^-Wert bei 25 °C = 14.00-4.75 = 9.25), sodass die Ammoniumsalze schwach sauer reagieren (pH-Wert einer 1-molaren Lösung = 9.25/2 = 4.63). Als Lewis Base bildet Ammoniak N H und seine organischen Derivate NH 2 R, N H R 2 sowie N R 3 auch mit anderen Lewis-Säuren als dem Wasserstoffkation H + Addukte, z.B. mit dem Sauerstoffatom O („Aminoxide'' R 3 NO), dem Organylkation R + („Alkylammonium''-Salze N H 3 R + , N R 4 ) oder dem Bortrifluorid B F („Aminate" F 3 BNH 3 , F 3 BNR 3 ). Die Ionen N R 4 der durch Vereinigung organischer Derivate NR des Ammoniaks mit Organylhalogeniden RX erhältlichen Ammoniumsalze NR werden in der Chemie eingesetzt, wenn man große einwertige Kationen benötigt. Besonders wichtige und zahl8 + reiche Lewis-Säure-Base-Addukte stellen die Ammoniak-Komplexe mit Metallionen M" dar („Ammoniakate'', ,,Amminkomplexe'' M ( N H 3 ) ) , deren Studium die Grundlage der Theorie der Koordinationsverbindungen von Alfred Werner bildete (vgl. S. 1315). In analoger Weise wie sich Ammoniak N H (ein freies Elektronenpaar) und seine Derivate N R mit Metallionen bzw. - allgemeiner - Lewis-sauren Fragmenten L n M (L = geeigneter Ligand) zu Amminkomplexen (Fig. 163 a) vereinigen können, vermögen die durch Deprotonierung von Ammoniak bzw. von dessen Derivaten erhältlichen, stärker Lewis-basischen Anionen N H 2 (Amid; zwei freie Elektronenpaare), : N H ( I m i d ; drei freie Elektronenpaare) sowie : N : ( N i t r i d ; vier freie Elektronenpaare) Amidokomplexe (Fig.163 b, c), Imidokomplexe (Fig. 163 d, e, f) sowie Nitridokomplexe (Fig. 163 g, h,i, k) zu bilden. In ihnen wirken alle freien Elektronenpaare oder alle bis auf ein Elektronenpaar bezüglich einem (a, b, d, g) oder mehreren Metallzentren (c, e, f, h, i, k) koordinierend.
668
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele") R2
L„M—NR
L„M—NR 2
(z.B. Cu(NH 3 ) 4 + ) (z.B. Be(NH 2 ) 3 ") (a)
L„M
/
N
\
ML
••
L„M=NR
M L
L„M=N: (z.B. C1 3 VN")
(f)
(g)
ML„
(z.B. [(Me 2 N) 2 ZrN(Bu] 2 )
(c)
(d)
(e)
ML : l N ML
\
(z.B. a 3 V N R )
(b)
(z.B. [PhAJNPh] 4 )
NR
(z.B. [ R 2 A l N R 2 ] 2 )
R N / | \ L„M
L„M
/
L,M=N=ML
L„M'
'ML
ML I N / l \ n L„M M L M L „
(z.B. {(H 2 O)Cl 4 Ru} 2 N 3 ") (z.B. { ( H 2 0 ) ( S 0 4 ) 2 f r } 3 N 4 - ) (z.B. {MeHg}„N + ) (h)
(i)
(k)
Fig. 163 Ammin-, Amido-, Imido- und Nitridokomplexe (R = H, anorganischer oder organischer Rest).
Das freie Elektronenpaar am Stickstoff der Komplexe (b, d, e) kann mehr oder weniger stark in die Metall-Stickstoff-Bindungen mit einbezogen sein, was Verkürzungen der MN-Bindungen sowie Aufweitungen der Winkel am Stickstoff zur Folge hat (z.B. Übergang von „Nitrenkomplexen" L„M=N—R mit gewinkeltem Stickstoff wie in (Me 3 SiS) 3 VNiBu zu „Imidokomplexen" L„M=N—R mit linearem Stickstoff wie in (Me 2 N) 3 TaN «Bu; Näheres S. 1319). Flüssiges Ammoniak als Reaktionsmedium (vgl. S.242). Löslichkeiten in fl. NH 3 . Flüssiges Ammoniak, das in seinem physikalischen Verhalten weitgehend dem - ebenfalls hoch assoziierten - flüssigen Wasser ähnelt, ist ein gutes Lösungsmittel für viele Stoffe, z.B. Salze. Entsprechend der kleineren Dielektrizitätskonstante (NH 3 : 16.90, H 2 0 : 78.30 bei 25 °C) löst NH 3 im allgemeinen organische Verbindungen besser, Salze schlechter als H 2 0 . Gut löslich sind in der Regel Ammoniumsalze, Nitrate, Nitrite, Cyanide, Thiocyanate; auch nimmt die Löslichkeit in Richtung Fluoride, Chloride, Bromide, Iodide zu (z. B. lösen sich 390 g N H 4 N 0 3 , 244 g LiN0 3 , 98 g N a N 0 3 , 10 g K N 0 3 , 0.4 g NaF, 3 g NaCl, 138 g NaBr, 192 g NaI und 206 g NaSCN in 100 g NH 3 bei 25 °C). Die Löslichkeit von Salzen mit höhergeladenen Ionen ist in der Regel gering. Zu unlöslichen Niederschlägen führende doppelte Umsetzungen verlaufen wegen unterschiedlicher Lösungs verhältnisse in Ammoniak und Wasser bisweilen in entgegengesetzter Richtung. So bildet sich in NH 3 nach Ba(N0 3 ) 2 + 2AgBr BaBr2 + 2AgN0 3 unlösliches BaBr 2 , während die Reaktion in H 2 0 umgekehrt unter Bildung von unlöslichem AgBr abläuft. Der Grund ist unter anderem der, dass die weichere Lewis-Base NH 3 bevorzugt die weichere Lewis-Säure Ag + , die härtere Lewis-Base H 2 0 bevorzugt die härtere Lewis-Säure Ba 2 + komplexiert (Bildung von Ag(NH 3 ) 2 , Ba(H 2 0) 2 + ). Säure-Base-Reaktionen in fl. NH 3 . Im Ammoniaksystem wirkt nach dem auf S. 242 Besprochenen das Ammonium-Ion NH 4 als Säure, das ,,Amid-Ion" als Base. Stoffe HX wie HCl, H 2 S0 4 , H N 0 3 , H 3 P 0 4 , C H 3 C 0 0 H sind in diesem System Säuren, da sie NH 4 erzeugen, Stoffe MR wie LiCH 3 oder NaSiH 3 Basen, da sie NH 2 bilden: NH 3 + HX
NH 4 + X";
NH 3 + MR
M + + NH 2 + RH .
Neutralisationen wie etwa N ^ N ^ ^ KNH 2 -> K N 0 3 + 2NH 3 lassen sich wie in Wasser mit Farbindikatoren bzw. konduktometrisch oder potentiometrisch verfolgen. Ammoniak weist im Vergleich zu Wasser eine größere Neigung zur Aufnahme und eine geringere Neigung zur Abgabe von Protonen auf. Demgemäß dissoziieren Säuren (z.B. Essigsäure) mit p.fiTs-Werten von x 5, die sich in Wasser wie schwache Säuren verhalten, in flüssigem Ammoniak als starke Säuren praktisch vollständig: NH 3 + H A -> NH 4 + Ac~. Auch liegen die Ammonolyse-Gleichgewichte H S 0 4 + NH 3 S02" + NH 4 und Ac" + NH 3 HAc + NH 2 in ersterem Falle ganz auf der rechten, in letzterem Falle ganz auf der linken Seite. Schließlich lassen sich in flüssigem Ammoniak selbst Ionen wie C = C 2 " , Ph 3 Ge~, R 2 P~, die in Wasser als sehr starke Basen vollständig hydrolysieren, handhaben und mit geeigneten Partnern zur Reaktion bringen. Der Verdrängung schwächerer durch stärkere Säuren in Wasser entspricht ein analoger Vorgang in Ammoniak, z.B. Mg2Si + 4 N H 4 -> 2Mg 2 + + SiH4 + 4NH 3 , der Ausfällung schwer löslicher Hydroxide und 0xide durch Basen in Wasser einer Ausfällung von Amiden, Imiden und Nitriden aus flüssigem Ammoniak, z.B. A g + + NH 2 AgNH 2 , 3Hg2++ 6NH 2 ^ Hg 3 N 2 + 4NH 3 , der Bildung von Hydroxokomplexen in Wasser eine Bildung von Amidokomplexen in flüssigem Ammoniak, z. B. Zn(NH 2 ) 2 + 2NH 2 -> [Zn(NH 2 ).J 2 ". Ammoniakunlösliches Zn(NH 2 ) 2 zeigt hierbei in N H - wie wasserunlösliches Zn(0H) 2 in H 2 0 - Amphoterie und löst sich sowohl in saurer wie auch basischer Lösung (Bildung von Zn(NH 3 )2+ bzw. Zn(NH 2 )2").
1. Der Stickstoff
669
Redox-Reaktionen in fl. N H • Ähnlich wie für das Lösungsmittel Wasser (S. 223) oder das Lösungsmittel Fluorwasserstoff(S. 451) lässt sich auch für das Lösungsmittel Ammoniak eine Spannungsreihe für RedoxReaktionen von Elementen und Elementverbindungen aufstellen, z. B. (e0-Werte in Volt für cNHs = 1 bei 25°C; in Klammern betreffende Normalpotentiale in H 2 O für c H l 0 = 1): Li/Li+ Na/Na+ Z n / Z n 2+ Cd/Cd2+ H2/H+ N H /N2
_(_ 0.28/— 1.4 (—0.13) (—3.04) Pb/Pb2+ (—2.71) C u / C u + + 0 . 3 6 / — 1.4 (+0.52) (—0.76) C u + / C u 2 + 0.44/0.0 (+0.16) (—0.40) H g / H 2+ + 0 . 6 7 / — 1.1 (+0.85) ( ± 0.00) A g / A g + + 0 . 7 6 / — 1.0 (+0.80) + 0 . 0 4 / — 1.55 ( + 0 . 2 8 ) N 2 / N O 3 + 1 . 1 7 / — 0.14 ( + 1.25) —2.34/— —1.89/— —0.54/— —0.2 /— ± 0.00/-
2.70 2.02 1.8 1.4 1.59
H2O/02 Cl " / C l O " Br"/Br2 Q 7C12 /
+ 1 . 2 6 / + 1.26 + 1 . 2 8 / — 0.06 + 1 . 4 7 / + 1.47 + 1 . 7 3 / + 1.73 + 1.91/+1.91 3.50 3.50
(+0.54) ( + 1.23) ( + 1.45) ( + 1.07) (+1.36) 3.05)
Ersichtlicherweise stimmen die für die Lösungsmittel Ammoniak und Wasser aufgefundenen Spannungs reihen (jeweils saure Lösung) im Groben überein; aufgrund unterschiedlicher Stärke der Ionensolvatation mit Ammoniakmolekülen (weichere Lewis-Base) und Wassermolekülen (weniger weiche Lewis-Base) ändern sich die Normalpotentiale in beiden Reihen aber unterschiedlich stark, was gelegentlich zu Umstellungen der Redoxsysteme führt (z.B. Cu/Cu + und Cu + /Cu 2 + ; Hg/Hg 2 + und Ag/Ag + ; Cl"/ClO3 und Br~/Br 2 ). Die oberhalb H 2 / H + stehenden Systeme reagieren im Medium N H bzw. H 2 0 - falls keine Hemmungen auftreten - unter Wasserstoffentwicklung und Redoxsystemoxidation, die unterhalb N H / N 2 (in N H ) bzw. H 2 O / 0 2 (in H 2 O) angeordneten Systeme müssen sich - ungehemmt - unter Stickstoff- bzw. Sauerstoffentwicklung und Redoxsystemreduktion umsetzen. Die im dazwischenliegenden Bereich (NH 3 : 0.00 bis + 0.04 V; H 2 0 : 0.00 bis + 1.23 V) liegenden Systeme sind hinsichtlich des Reaktionsmediums redoxstabil. Da hier für Ammoniak nur ein Bereich von 0.04 V zur Verfügung steht, sollte — anders als in Wasser mit einem Bereich von 1.23 V - die Durchführung von Redoxreaktionen praktisch unmöglich sein. Tatsächlich sind aber die Redoxreaktionen mit dem Lösungsmittel Ammoniak in der Regel stark gehemmt, sodass in Ammoniak sogar äußerst starke Reduktionsmittel (z.B. Alkalimetalle) und Oxidationsmittel (z. B. Nitrate, Permanganate) gehandhabt und dargestellt werden können (z.B. Synthese der stark reduzierenden Species [M °(CN) 4 ] 4 ~ (M = Ni,Pd, Pt) und [Co^(CN) s ] s ~ sowie der stark oxidierenden Species sowie ). Verwendung Fast 90% des Ammoniaks (Weltjahresproduktion: 100 Megatonnenmaßstab) dienen der Düngemittelfabrikation (Ammoniumsalze oder Salze der Salpetersäure, die ihrerseits aus N H gewonnen werden). Außer für Ammoniumsalze und Salpetersäure (Hauptfolgeprodukte) ist Ammoniak Ausgangsprodukt für die Synthese einer Reihe anderer Stickstoffverbindungen wie z. B. Hydrazin (S. 675), Harnstoff CO(NH 2 ) 2 (s.u.), Hydroxylamin (S. 719), Amidoschwefelsäure NH 2 SO 3 H (S. 740), Natriumcyanid NaCN (S. 912), Sprengstoffe, Fasern/Kunststoffe). Ammoniumsalze und Düngemittel Die Ammoniumsalze N H 4 X~ (X~ = Halogenid, Sulfat, Nitrat, Phosphat, C a r b o n a t usw.) ähneln in ihren Löslichkeiten u n d - soweit nicht Wasserstoffbrücken wie in N H 4 F wirksam sind (s. u.) - auch in ihren Strukturen den entsprechenden Kalium- u n d Rubidiumsalzen M + X " , da die drei Ionen K + , N H 4 u n d R b + vergleichbare Hydratationsenthalpien (322, 304, 301 kJ/ mol) u n d Radien (1.52, 1.64, 1.66 Ä) besitzen. D e n Ammoniumsalzen N H 4 X~ an die Seite zu stellen sind d a r ü b e r hinaus die - niedriger schmelzenden - Oxoniumsalze H 3 0 + X " . So vermögen etwa die tetraedrisch gebauten Amm o n i u m i o n e n N H 4 analog der Anlagerung von bis zu 3 Molekülen H 2 O an die 3 H - A t o m e der trigonal pyramidalen Oxonium-Ionen H 3 0 + (vgl. S. 532) bis zu 4 Moleküle N H an ihre 4 H - A t o m e anzulagern, wie die Existenz des - aus flüssigem A m m o n i a k gewinnbaren - Amm o n i a k a t s N H 4 I • 4 N H 3 = [ N 5 H 1 6 ] I (Smp. — 5.1 °C) zeigt. Allerdings sind die H 3 0 + - I o n e n wesentlich stärkere Säuren als die N H 4 -Ionen u n d n u r bei den stärksten Säuren H X (HCl, HBr, H I , H C l 0 4 , H 2 S O 4 , H S b C l ö usw.) zu erwarten. M i t abnehmender Säurestärke nähert sich die Oxoniumstruktur H 2 0 — H •••X mehr u n d mehr einer Hydratstruktur H2O • • • H—X. Ihr Analogon findet diese Erscheinung bei den Ammoniumsalzen im entsprechenden Übergang von der Ammoniumsalzstruktur H 3 N — H - • •X zur Ammoniakatstruktur H3N- • •H—X, der sich jedoch - entsprechend der höheren Basizität von N H , verglichen mit H 2 0 - erst im Gebiet der schwächeren Säure vollzieht. Der Sachverhalt, dass Ammonium-Ionen N H mit den Alkalimetall-Ionen M + sowie mit den Oxonium-Ionen H 3 0 + vergleichbar sind, ist ein Spezialfall einer als „Grimmscher Hydridverschiebungssatz"
670
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
(H.G. Grimm, 1925) bekannten Regel, wonach Atome durch Aufnahme von a (=1,2,3 oder 4) Wasserstoff-atomen die Eigenschaften der im Periodensystem um a Ordnungszahlen höheren Atome annehmen (vgl. hierzu ,,Isolobal-Prinzip'', S.1379). So bestehen z.B. bei den Elementen Kohlenstoff bis Natrium folgende Zusammenhänge N CH
o NH CH
F OH NH CH
Ne FH OH NH CH
N Ne FH OH NH
Entsprechend dieser Zusammenstellung treten beispielsweise die ,,hydridisosteren'' (= isoelektronischen + isoprotonischen) Atomgruppen FH 2 , OH 3 und N H wie das Natrium in Form positiver Ionen auf, wie etwa die Verbindungsreihe Na[Cl0 4 ], H 2 F[Cl0 4 ], H 3 0 [ C l 0 4 ] und N H 4 [ C l 0 4 ] zeigt (NeH + existiert nur in der Gasphase in Abwesenheit eines Gegenions). Dem Edelgas Neon entsprechen die in sich abgesättigten Moleküle HF, H O , N H und CH 4 . Die Gruppen OH, N H und CH 3 treten wie das Fluoratom als - heteropolar oder homöopolar gebundene - einwertige Liganden auf, wie z.B. die Verbindungsreihen Na[F], Na[OH], Na[NH 2 ], Na[CH 3 ] bzw. CH 3 F, C H O H , C H N H , CH 3 CH 3 beweisen. Dem Sauerstoff O = O entspricht das Diimin H N = N H und das Ethylen C H 2 = C H 2 , dem Stickstoff N = N das Acetylen C H = C H . Es hat natürlich nicht an Versuchen gefehlt, das mit den Alkalimetallen M hydridisostere Ammonium NH 4 in freier Form zu isolieren. Alle diese Versuche sind bis jetzt misslungen. Dagegen konnte das Ammoniumradikal N H als ,,Ammoniumamalgam'' bei der Einwirkung von Ammoniumsalzen auf Alkalimetall-Amalgame (Quecksilber-Legierungen) und bei der Elektrolyse von Ammoniumsalzen in flüssigem Ammoniak unter Verwendung von Quecksilberkathoden isoliert werden: N H 4 + Na-Amalgam
-Na+
> NH 4 -Amalgam
(NH 4 ) 2 CO 3 ) und dessen Anteil an den stickstoffhaltigen Düngemitteln 60-70% beträgt. Allgemeines. Harnstoff ist eine farblose, geruchlose, kristalline, in Wasser, Methanol und Ethanol gut, in Chloroform und Ether dagegen schlecht lösliche Substanz (Dichte = 1.335 g/cm3), welche bei 132.7°C unter Bildung von Biuret NH(CONH 2 ) 2 schmilzt (2H 2 N—CO—NH 2 NH 3 + H 2 N—CO—NH—CO—NH 2 ). Er wurde 1729 von H. Boerhave im menschlichen Harn entdeckt (Wiederentdeckung 1773 durch G.-F. Rouelle) und 1828 erstmals durch Friedrich Wöhler aus Ammoniumcyanat synthetisiert14: N H 4 OCN~ -> H 2 N — C O — N H . Darstellung. Man stellt Harnstoff im Laboratorium durch Einwirkung von Ammoniak auf Phosgen COC12, Chlorameisensäureestern ClCOOR oder Kohlensäurediestern CO(OR) 2 dar, z.B.: COC12 + 4NH 3 -> CO(NH 2 ) 2 + 2NH 4 Cl. In der Technik gewinnt man ihn ausschließlich aus flüssigem Ammoniak (Überschuss) und Kohlendioxid bei 200 °C und 250 bar im Reaktor (die Umsetzung von wässerigem Ammoniak und Kohlendioxid führt zu Ammoniumhydrogencarbonat (NH )HCO und Ammoniumcarbonat (NH 4 ) 2 CO 3 ; vgl. S. 671). Hierbei bildet sich in rascher exothermer Reaktion (AH = — 117 kJ/mol) Ammoniumcarbamat NH 4 OCO(NH 2 ) , dann in weniger rascher endothermer Reaktion Harnstoff (AH = + 15.5 kJ/mol; Verschiebung des Gleichgewichts nach rechts durch Anwendung höherer Temperaturen; Rückdrängung der Hydrolyse des Carbamats zu Ammoniumcarbonat durch Anwendung eines NH -Überschusses):
+ H2, 0
o=c;/ NH
- o=c=o :2NHL
2N
NH
- o=c:
NH
„ NH
2
- o=c NH
Nach Austritt der gebildeten Schmelze aus dem Reaktor unter Entspannung wird das Produkt zur Zer setzung des unumgesetzten Carbamats (ca. 30%) in flüchtiges N H und C O erhitzt. Verwendung. Den erhaltenen Harnstoff verwendet man nach Auskristallisieren und Granulieren bzw. nach Schmelzen und Prillen (s. oben) mit Schwefel umhüllt oder als Depot-Dünger an Formaldehyd kondensiert zu Düngezwecken (zudem Einsatz in Form fester Mischdünger wie ,,Hakaphos'' (CO(NH 2 ) 2 + KNO 3 + (NH 4 ) 2 HPO 4 ), ,,Calcurea'' (CO(NH 2 ) 2 + Ca(NO 3 ) 2 ) bzw. als „Flüssigdünger (z.B. CO(NH 2 ) 2 + N H N O ) . Darüber hinaus nutzt man Harnstoff zur Synthese von Harnstoff-Formaldehyd-Harzen, Klebern, kosmetischen Präparaten, Melamin, Hydrazin, Reinigen von Dieselabgas (CO(NH 2 ) 2 + NO + NO 2 CO + 2N 2 + H 2 O) u.v.a.
Inversion von Ammoniak und anderen Molekülen 1 5 A m m o n i a k N H und seine Derivate N R (R = anorganischer oder organischer Rest) sind meistens p y r a m i d a l aufgebaut und leiten sich formal vom CH 4 - bzw. CR 4 -Tetraeder dadurch ab, dass ein Wasserstoffatom bzw. ein Rest R durch ein freies Elektronenpaar und das C-Atom durch Stickstoff ersetzt sind. Wie die organischen Verbindungen C R mit einem ,,asymmet14 Früher glaubte man, dass die organische Materie nur innerhalb der Lebewesen durch eine geheimnisvolle Lebenskraft („vis Vitalis") erzeugt werden könne. An letzterer begann man zu zweifeln, als es Wöhler gelang, Harnstoff - ein Produkt des biochemischen Stoffwechsels - aus anorganischem Material ( N H 4 O C N ) zu gewinnen. Harnstoff entsteht bei Mensch und Tieren als Endprodukt des Eiweißstoffwechsels bei der Ammoniakentgiftung vorwiegend in der Leber und stellt die wichtigste Stickstoffverbindung des Säugetierharns dar; und zwar werden 8 0 - 9 0 % des mit der Nahrung aufgenommenen Eiweiß-Stickstoffs in Form von Harnstoff (beim Menschen 2 0 - 3 0 g pro Tag) ausgeschieden 15 Literatur. J.M. Lehn: ,,Nitrogen Inversion'', Fortschr. Chem. F o r s c h 15 (1970) 311-377; A. Rauk, L.C. Allen, K. Mislow: „Pyramidale Inversion'', Angew. C h e m 82 (1970) 453-468; Int. Ed. 9 (1970) 400; P. Gillespie, P. Hoffmann, H. Klusacek, D. Marquarding, S. Pfohl, F. Ramirez, E. A. Tsolis, I.Ugi:,,Bewegliche MolekülgerüstePseudorotation und Turnstile Rotationpentakoordinierter Phosphorverbindungen und verwandte Vorgänge'', Angew. C h e m 83 (1971) 691-721; Int. E d 10 (1971) 687; G . D . Lister, J.N. Macdonald, N.L. Owen: ,,Internal Rotation and Inversion'', Acad. Press, London, 1978.
1. Der Stickstoff
673
rischen", d.h. mit 4 verschiedenen Resten R verbundenen Kohlenstoffatom sollten sich dementsprechend auch Stickstoffverbindungen N R mit einem asymmetrischen, d.h. mit 3 verschiedenen Resten R verknüpften Stickstoffatom (4. Rest: freies Elektronenpaar) in Spiegelbildisomere (Enantiomere, Antipoden; s. dort) auftrennen lassen. Dass dies nur ausnahmsweise gelungen ist, wird dadurch bedingt, dass das N-Atom im Ammoniak NH 3 und fast allen Derivaten N R rasch durch die von den drei Wasserstoffatomen bzw. Resten R gebildete Pyramiden-Basisflächen hin- und herschwingt, z.B.:
(Wegen des Schwerpunktsatzes bewegen sich im Falle von NH 3 allerdings hauptsächlich die H-Atome; vgl. Umklappen eines Schirms.) Die Moleküle NH 3 bzw. NR 3 stellen somit keine starren, sondern f l u k t u i e r e n d e Teilchen dar, was u.a. zur Folge hat, dass NR-Spiegelbildisomere wechselseitig rasch ineinander übergehen, sodass sich jeweils nur Gemische der betreffenden Enantiomeren (,,Racemate") isolieren lassen. Man bezeichnet Vorgänge wie (a) ^ (a'), bei welchen Eduktmoleküle (z.B. a) durch Ane i n a n d e r v o r b e i s c h w i n g e n von A t o m e n oder A t o m g r u p p e n in Produktmoleküle (z. B. a') übergehen, als „Pseudorotationen", weil hierbei die Endstoffe aus den Ausgangsstoffen durch Moleküldrehung hervorgegangen zu sein „scheinen", obwohl keine „wahre" R o t a t i o n erfolgte. Der Begriff wird allerdings auch dann verwendet, wenn innere Molekülschwingungsvorgänge zu unterscheidbaren Molekülkonformationen führen (z. B. Spiegelbildisomerisierung asymmetrischer Amine NR ). Speziell im Falle pyramidaler Moleküle wie Ammoniak spricht man auch von pyramidaler Inversion oder kurz von ,,Inversion". Fig. 164 gibt das Energieprofil der NH 3 -Inversion wieder. Der Doppelminimum-Potentialkurve ist zu entnehmen, dass beim wechselseitigen Übergang der energetisch bevorzugten pyramidalen Konformationen (a) und (a') des Ammoniaks (Energieminima bei HNH-Winkeln von 107.3°) eine Inversionsbarriere von nur 24.5 kJ/mol überwunden werden muss. Demgemäß ist die Lebensdauer von Ammoniak in einer der beiden invertomeren Formen relativ klein (vgl. Fig. 131 auf S. 375)16. Für Derivate des Ammoniaks sind die Barrieren teils kleiner, teils größer, z.B. (in Klammern jeweils Inversionsbarrieren in kJ/mol): NH 2 R mit R = NH 2 (2.8), CN (5.6), N 0 2 (11.4), CH 3 (20.1), Cl ( > 42); NHR 2 mit R = C H (28.1); N R mit R = C H (31.4). Verschwindend kleine bzw. keine Inversionsbarrieren weisen NR-Moleküle auf, wenn das freie Elektronenpaar des Stickstoffs wie etwa im Falle von H 2 N—CN in eine 7i-Bindungsbeziehung mit den Resten R treten kann oder wenn das zentrale N-Atom wie in N(SiH3)3 (S.929) mit vergleichsweise elektropositiven Resten verknüpft ist Sehr hohe Barrieren werden andererseits bei vergleichsweise elektronegativen Resten beobachtet (z. B. beträgt die Inversionsbarriere des Stickstofftrifluorids N F etwa 250 kJ/mol). E r h ö h t e Inversionsbarrieren weisen auch solche NR-Moleküle auf, bei denen die Reste R zusammen mit N Bestandteile eines kleineren Rings und damit s t a r r e n Bindungssystems sind; hier sind dementsprechend Enantiomere isolierbar. In analoger Weise wie Ammoniak und seine Derivate invertieren auch andere pyramidal gebaute Moleküle E R rasch, falls E ein Element der ersten Achterperiode darstellt (z.B. C R , R O + ) . Entstammt E demgegenüber einer höheren Periode, so ist die Inversion im allgemeinen stark gehindert ( E R z.B. P R , EO3"). Beispielsweise erhöht sich die Inversionsbarriere beim Übergang vom Ammoniak NH 3
16 Mit der Inversionsbarriere von AG + « AH + = 24.5 kJ/mol folgt aus der Eyring-Beziehung (s. dort) eine Frequenz von 3.4 x 108 s " i für den NH 3 -Umklappvorgang. Tatsächlich beobachtet man zusätzlich eine höhere Inversionsfrequenz von 2.387013 x 10i° s " i , da Inversionsbarrieren (Entsprechendes gilt allgemein für Aktivierungsbarrieren) nicht unbedingt auf „klassischem Wege" ü b e r s c h r i t t e n werden müssen, sondern auch auf,,nichtklassischem, quantenmechanischem Wege" d u r c h s c h r i t t e n ( d u r c h t u n n e l t ) werden können („Tunnel-Effekt"), wenn die Energiebarrieren klein und die bewegten Atome leicht sind. Aufgrund der nicht-klassischen Schwingungsfrequenz v kommt einem NH 3 --Invertomeren die kurze Lebensdauer von 1/v « 4.2 x 1 0 _ n s zu, aus der sich eine nicht-klassische Inversionsbarriere von 12.6 kJ/mol berechnet. Die nichtklassische Inversion des NH 3 -Moleküls führt zu einer Absorptionslinie im Mikrowellenbereich bei ^ = 1.25 cm, wovon man für die Steuerung der Schwingungsfrequenz bei Uhren Gebrauch gemacht hat (,,.Ammoniak-Uhr").
674
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
(24.5 kJ/mol) zum Phosphan P H (155 kJ/mol) um ca. 130 kJ/mol. Die zu den Aminen N R homologen Phosphane PR 3 mit drei verschiedenen Resten R können demzufolge in optische Antipoden getrennt werden. Ebenso existieren z.B. von den Sulfoniumverbindungen R S + (im Gegensatz zu den Oxoniumverbindungen R 3 0 + ) oder den Sulfoxiden R 2 SO (jeweils unterschiedliche Reste R) isolierbare Spiegelbildisomere. Bei gleichem Rest R nimmt die Inversionsbarriere für R 3 E in Richtung S A zu Unter den gewinkelt gebauten Molekülen E R weisen Wasser und seine Derivate R 2 O höhere Pseudorotationsbarrieren auf als Ammoniak und seine Derivate N R . So beträgt die Aktivierungsenergie der gewinkelten Inversion des Wassers 111 kJ/mol:
Noch größere Barrieren kommen ER-Molekülen mit Elementen E zu, die nicht aus der ersten, sondern einer höheren Hauptperiode stammen (z.B. H S : 151 kJ/mol). Planare Inversionen werden auch bei gewinkelten Molekülen E R mit doppelt gebundenen Resten R beobachtet, z. B. (in Klammern Inversionsbarrieren in kJ/mol): C H 2 = N — C H 3 (ca. 110), F — N = N — F (134), 0 = S = O (73). Die Pseudorotationsbarrieren tetraedrisch gebauter Moleküle E R (z. B. CH 4 , CR 4 , N R 4 , BR 4 , TO 4 ") sind im allgemeinen sehr hoch, sodass die betreffenden Verbindungen hinsichtlich der tetraedrischen Inversion als ,,pseudorotations-starr" zu beschreiben sind. So soll die Halbwertszeit der Pseudorotation des Methans CH 4
nach Berechnungen ca. 9 Milliarden Jahre, d.h. rund 10^-5 s betragen (planares CH 4 ist über 800 kJ/mol energiereicher als tetraedrisches). Wäre mithin Methan gleichzeitig mit dem Universum vor etwa 14 Milliarden Jahren (ca. 1017-6 s) entstanden, so hätten sich nur weniger als die Hälfte aller damals gebildeten Methanmoleküle durch Pseudorotation verändert. Wie sich darüber hinaus aus dem Wert t 1 / 2 = 10^-5 s für die CH 4 -Pseudorotation berechnen lässt, ,,pseudorotieren" in 1 mol CH 4 pro Stunde jeweils nur rund 2 x 10~1§ mol CH 4 - Das sind allerdings bei der großen Zahl von 6 x 1023 Molekülen je Mol Methan immer noch etwa 1 Million Methanmoleküle. Bezüglich der Pseudorotation von trigonal-bipyramidal gebauten Molekülen E R (z. B. PF 5 ) und weiteren Molekülen vgl. S. 782.
1. Der Stickstoff
1.2.3
675
Hydrazin N 2 H 4 1 7 1 8 1 9
Darstellung Die Darstellung von Hydrazin (,,Diazan"), einem Aminoderivat des A m m o n i a k s , erfolgt a m bequemsten durch Oxidation von Ammoniak; formal: N H 3 + N H 3 + O -> N H 2 — N H 2 + H 2 O . Als Oxidationsmittel benutzt m a n dabei etwa Hypochlorit C l O " in Ab- bzw. A n wesenheit von Aceton (,,.Raschig-Verfahren" bzw. , . B a y e r - V e r f a h r e n " ) oder Wasserstoffperoxid H 2 0 2 (,,Pechiney-Ugine-Kuhlmann-Verfahren"). Raschig-Verfahren. Als Zwischenprodukt der in alkalischer Lösung (pH = 8 - 1 2 ) durchgef ü h r t e n Oxidation von Ammoniak mit Natriumhypochlorit (Konzentration ca. 1 mol/l) tritt Chloramin N H 2 C l auf, das sich mit A m m o n i a k unter Bildung von Hydrazin umsetzt: (CIO-
i TT A •••••••••••• rn^rn * = = ? ) Cl jOH + Hj N H 2 < * H 2 0 + C1NH 2 H 2 N ;H
+ Cl: N H 2
langsam
CIO- + 2NH3
) H 2 N — N H 2 + HCl ( »N2H4 + H 2 0 + e r .
(1) +
> Cl")
(2) (3)
Beide Teilreaktionen stellen assoziative nucleophile Substitutionsprozesse (SN2-Prozesse) dar, und zwar erfolgt (1) unter nucleophiler Substitution der an Chlor gebundenen Hydroxid- durch eine Aminogruppe (H 3 N: +C1—OH H 3 N—C1 + + :OH" H 2 N—Cl + HOH; vgl. S.467), (2) unter nucleophiler Substitution des am Stickstoff gebundenen Chlors durch eine Aminogruppe (H 3 N: + N H 2 — C l H 3 N—NH 2 + :C1"; man spricht hier auch von einer ,,elektrophilen ,,Aminierung" eines NH 3 -Protons durch eine NH^-Gruppe; vgl. S. 699). Dabei entsteht Chloramin zwischenzeitlich in hoher Konzentration, weil die NH 2 Cl-Bildung (1) wesentlich rascher als die NH 2 Cl-Umwandlung (2) abläuft (in einmolarer Lösung betragen die Reaktionshalbwertzeiten bei Raumtemperatur und pH = 8 etwa eine zehnmillionstel Sekunde im Falle von (1) und zweieinhalb Stunden im Falle von (2). Das nach (2) langsam entstehende Hydrazin vermag sich seinerseits mit Chloramin nach N 2 H 4 + 2NH 2 C1 ^ N 2 + 2NH 4 Cl
(4)
umzusetzen (vgl. S. 699) und stellt infolgedessen (wie NH 2 Cl) nur ein Zwischenprodukt der letztlich zu Stickstoff führenden Oxidation von Ammoniak mit Hypochlorit dar: 3ClO" + 2 N H 3 - > N 2 + 3 H 2 0 + 3C1". Die Hydrazinzersetzung (4) läuft - in unerwünschter Weise - sogar ca. 18mal rascher als die Hydrazinbildung (2) ab, sodass N 2 H 4 zwischenzeitlich nur in kleiner Konzentration gebildet wird. Zur Ausbeutesteigerung von Hydrazin beschleunigt man deshalb den Reaktionsablauf (2) durch Verwendung eines hohen Ammoniaküberschusses. Auch führt man die N 2 H 4 -Bildung zweckmäßig bei höherer Temperatur durch, da die Teilreaktion (2) mit steigender Temperatur stärker beschleunigt wird als die Teilreaktion (4). Schließlich setzt man, da der Zerfall von Hydrazin in Stickstoff durch Schwermetallionen (z.B. Cu 2 + ) katalysiert wird, dem Reaktionsgemisch Leim (Gelatine) oder auch Komplexbildner zu, welche die in den Reagenzien stets vorhandenen Schwermetallspuren binden. Die technische Synthese von Hydrazin erfolgt aus den erwähnten Gründen in der Weise, dass man wässeriges, durch Vermischen von Cl2 und NaOH im Molverhältnis 1 : 2 unter Kühlung gemäß Cl2 + 2 O H " ClO" + Cl" + H 2 O gewonnenes Hypochlorit in Anwesenheit von Komplexbildnern zunächst bei 0 0 C mit der stöchiometrischen Menge Ammoniak (15 %ig) gemäß (1) zu Chloramin umsetzt. Anschließend presst man in die NH 2 Cl-Lösung viel Ammoniak ein, wobei sich diese wegen der stark exothermen Auflösung des Ammoniaks in Wasser rasch bis auf ca. 130 0 C erwärmt. Bei dieser Temperatur 17
Literatur ULLMANN (5. Aufl.): „Hydrazine", A13 (1989) 177-191; D . M . Stanbury: ,Oxidation of Hydrazine in Aqueous Solution", Progr. Inorg. C h e m 47 (1998) 511-562; B.F.G. Johnson, B.L. Haymore, J.R. Dilworth: ,,Diazenido Complexes", ,,Hydrazido(2 —) and Hydrazido(l —) Complexes", Comprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 130-151. 18 Geschichtliches Hydrazin wurde erstmals von T. Curtius 1887 als Produkt der alkalischen Zersetzung von Diazoessigester erzeugt und als Sulfat isoliert. Hieraus gewann er Hyrazin-Hydrat N 2 H 4 • H O , das Lobry de Bruyn 1894 von Wasser befreite. 9 1 Physiologisches Hydrazin und seine wässerigen Lösungen sind toxisch und offensichtlich schwach carcinogen (TRKWert 0.13 m g / m ) . In flüssiger oder Dampfform wirkt N 2 H 4 stark haut- und schleimheitreizend. Bei lokaler Einwirkung ist auch eine Sensibilisierung der Haut möglich
676
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
ist die Hydrazinbildung (2) in wenigen Sekunden abgeschlossen. Die Ausbeute der insgesamt nach Cl2 + 2NaOH + 2NH 3 -> N 2 H 4 + 2NaCl + 2H 2 O verlaufenden Umsetzung beträgt in günstigen Fällen 70%. Die Abtrennung des Hydrazins von der Reaktionslösung erfolgt in der Technik nach der Abkondensation von überschüssigem Ammoniak (Zurückführung in den Raschig-Prozess) durch Abdestillation von anfallendem festen Natriumchlorid, wobei 64%iges Hydrazin (,,Hydrazin-Hydrat" N 2 H 4 • H O ) erhalten wird, welches in den Handel kommt (wasserfreies Hydrazin ist nicht handelsüblich). - Die Abscheidung des Hydrazins aus der Reaktionslösung erfolgt im Laboratorium zweckmäßig als Sulfat N 2 H 4 • H 2 SO 4 , weil dieses verhältnismäßig schwerlöslich ist, sehr gut kristallisiert und eine weit größere Beständigkeit besitzt als das freie Hydrazin (s. unten). Zur Entfernung der Schwefelsäure und Darstellung des freien Hydrazins muss dieses Sulfat mit konzentrierter Kalilauge erwärmt werden, wobei zunächst Hydrazin-Hydrat N 2 H 4 • H O abdestilliert. Die Entwässerung des Hydrats gelingt durch Erhitzen über festem Natriumhydroxid, wobei ca. 98 %iges Hydrazin abdestilliert, das sich durch Behandlung mit wasserfreiem, gepulvertem Bariumoxid völlig entwässern lässt. Bayer-Verfahren Eine andere, technisch vielfach genutzte Möglichkeit, Ammoniak zu Hydrazin zu oxidieren, besteht in der Einwirkung von NaOCl (Konzentration ca. 1.5 mol/l) bei 35 °C in Gegenwart von Aceton Me 2 CO. Dabei entsteht gemäß 2NH 3 + ClO" + 2 M e 2 C = 0 -> M e 2 C = N — N = C M e 2 + 3 H 2 0 + Cl" ein ,,Ketazin" (Kondensationsprodukt von Keton und Hydrazin), das sich unter Druck (8-12bar) bei 180°C mit Wasser unter Rückbildung des Ketons zu Hydrazin hydrolysieren lässt: N 2 (CMe 2 ) 2 + 2 H 2 0 N 2 H 4 + 2Me 2 CO , sodass der Gesamtvorgang wie im Falle der Raschig-Synthese durch die einfache Gleichung 2 N H 3 + CI2 ->N 2 H 4 + 2HCl wiederzugeben ist. Pechiney-Ugine-Kuhlmann-Prozess. Ein weiteres technisches Verfahren verwendet statt Hypochlorit Wasserstoffperoxid als Oxidationsmittel für Ammoniak in Gegenwart von Methylethylketon R 2 C = O als Ketazinbildner und Acetamid/Natriumdihydrogenphosphat als Aktivatoren: 2NH 3 + H 2 0 2 + 2 R C O -> R 2 C = N — N = C R 2 + 4H 2 O. Das Ketazin wird wie beim Bayer-Verfahren weiter verarbeitet. Der Vorteil dieses Prozesses gegenüber dem Raschig- und Bayer-Verfahren besteht im geringen Energieverbrauch und dem Fehlen eines Zwangsanfalls von Kochsalz Eigenschaften u n d V e r w e n d u n g Physikalische Eigenschaften Reines Hydrazin stellt bei Zimmertemperatur eine farblose, ölige, bei Luftabschluss beständige, an der Luft ziemlich rauchende, toxisch wirkende^ Flüssigkeit (Dichte = 1.00 g/ cm 3 bei 25 °C) von eigentümlichem, schwach an Ammoniak erinnernden Geruch dar, deren Flüchtigkeit etwa der des Wassers entspricht. Der Siedepunkt liegt bei 113.5 °C, der Schmelzpunkt bei 2.0 °C. HydrazinHydrat N 2 H4 • H O (Sdp. 118.5°C; Smp. - 51.7 °C; Dichte = 1.0305 g/c^ 3 bei 21 °C) stellt eine schwerbewegliche, an der Luft rauchende, fischartig riechende und alkalisch reagierende Flüssigkeit dar. Strukturell gleicht Hydrazin H 2 N — N H dem Wasserstoffperoxid HO—OH. Analog dort sind die beiden NH 2 Hälften um rund einen rechten Winkel gegeneinander verdreht (gauche-Form; C2-Symmetrie). Der NNAbstand beträgt 1.45 Ä, der NH-Abstand 1.02 Ä, was in beiden Fällen einer Einfachbindung entspricht; die Bindungswinkel HNN und HNH kommen Tetraederwinkeln nahe. (Bezüglich der inneren Rotation des Hydrazins vgl. S. 678). In flüssigem Hydrazin bilden die N 2 H 4 -Moleküle untereinander Wasserstoffbrücken aus, wie schon der hohe Wert der Troutonkonstante von 105.6 J m o ^ ^ " 1 zeigt. Chemische Eigenschaften Thermisches Verhalten Hydrazin lässt sich trotz seines endothermen Charakters (A H { (g) = + 95.46, A / / f ( f l ) = + 55.66, A # f ( a q ) = + 34.33 kJ/mol), der auf die geringe Bindungsenergie der N N - B i n d u n g (vgl. T a b . 2 1 auf S. 143) zurückzuführen ist, zunächst ohne Zersetzungserscheinungen erwärmen; erst bei hohen Temperaturen tritt - gegebenenfalls e x p l o s i o n s a r t i g - Zerfall unter Disproportionierung zu S t i c k s t o f f u n d A m m o n i a k ein: 3N2H4
4 N H 3 + N 2 + 336.5 k J ;
3N2H4 • H 2 0
4 N H 3 + N2 + 3 H 2 0 + 242.9kJ.
(An erhitzten Platin- oder Wolframdrähten entsteht infolge teilweisen katalytischen Zerfalls des A m m o n i a k s auch Wasserstoff.) Hydrazinhydrat, das hinsichtlich des Zerfalls von N H 3 u n d N 2 wesentlich beständiger ist (s. Gleichung), k a n n demgegenüber in paraffinierten, verschlossenen Flaschen jahrelang unzersetzt a u f b e w a h r t werden, u n d eine wässerige Hydrazinlösung lässt sich dementsprechend gefahrlos h a n d h a b e n
1. Der Stickstoff
677
Säure-Base-Verhalten. Als Base bildet Hydrazin wie das Ammoniak Salze. Man nennt diese in Analogie zu den Ammoniumsalzen Hydraziniumsalze. Da Hydrazin H 2 N—NH 2 im Gegensatz zum Ammoniak :NH 3 zwei freie Elektronenpaare aufweist, an welche sich Protonen anlagern können, bildet es zwei Reihen von Salzen, nämlich Hydrazinium(1 + ) und Hydra zinium(2 + )-Salze (N 2 H 5 + /N 2 H4 + ist isoelektronisch mit CH 3 NH 2 /CH 3 CH 3 ): H 2 N—NH 2
+HX
> [ H 3 N — N H ] + X"
+HX
^ N - N H ]
2
+ 2X".
Von den Salzen sind nur die ersteren in wässeriger Lösung stabil, während die letzteren, die wegen des kleinen Wertes der zweiten Basekonstante K 2 (s. unten) nur von sehr starken Säuren gebildet werden, hydrolytisch zu den Monosalzen zersetzt werden: N 2 H 4 + + H 2 0 -> N2H5+ + H 3 0 + . Besonders charakteristisch ist das schon erwähnte „Hydrazinium-sulfat" = N2H4 • [N 2 H 6 ]S0 4 , das in kaltem Wasser schwer, in heißem Wasser leicht löslich ist und daher leicht umkristallisiert werden kann. Es bildet farblose, dicke, glänzende Tafeln. Da Hydrazin eine schwächere Base als Ammoniak ist (Kx = 8.5 x 10~7, K 2 = 8.4 x 10~i6; NH 3 : 1.7^ x 10 _5 ), sind die Hydrazinium(1+)-Salze stärker hydrolytisch gespalten als die Ammoniumsalze Als Lewis-Base kann sich Hydrazin wie Ammoniak auch mit anderen Lewis-Säuren als H + vereinigen, z.B. mit Metallionen. Dabei beteiligt sich normalerweise nur 1 N-Atom an der Hydrazinkomplexbildung". Wie von Ammoniak existieren auch Metallkomplexe von teilweise oder vollständig deprotoniertem Hydrazin, z.B. (R 3 P) 3 Hal 2 Mo=N—NH 2 , (R 3 P) 4 HalMo=N—NH 2 (vgl. S.1779).
Als Säure fungiert Hydrazin nur gegenüber sehr starken Basen wie Natriumhydrid oder Natriumamid H 2 N—NH 2 + NaR
Na + [H 2 N—NH]~ + HR
(R = H, N H ) .
Das äußerst sauerstoffempfindliche „Natrium-hydrazid" NaN 2 H 3 wird in wässeriger Lösung praktisch vollständig gemäß: 0 H hydrolytisch gespalten Redox-Verhalten. Sowohl das wasserfreie Hydrazin als auch seine wässerige Lösung wirken stark reduzierend. So wird z.B. das Hydrazin schon an der Luft allmählich zu Stickstoff und Wasser oxidiert und verbrennt in Sauerstoff mit beträchtlicher Wärmeentwicklung: N2H4 + o 2
N 2 + 2 H 2 0 +622.70 kJ,
was die Verwendung von Hydrazin oder seiner organischen Derivate als Raketentreibsto (Verbrennung mit H 2 0 2 oder N 2 0 4 ) ermöglicht. Ebenso heftig reagiert Hydrazin mit den Halogenen unter Bildung von Stickstoff und Halogenwasserstoff (N 2 H 4 + 2X 2 -> N 2 + 4HX). Auch wird es von vielen oxidierend wirkenden Metallionen oder Metallatomen in Stickstoff übergeführt (z. B. lässt sich Ag durch Reduktion geeigneter Silbersalze AgX durch N 2 H 4 in Form eines Silberspiegels auf Glas niederschlagen). In wässriger Lösung lässt sich Hydrazin durch Oxidationsmittel gemäß N2 + 4 H + + 4 Q -2NH3 + 2H+ + 2 Q N3 + 4 H + + 4 Q
pH = 0 en = — 0.23 V 0.11
pH = 14 —0.92
in Stickstoff, in Stickstoff + Ammoniak oder in Ammoniumazid überführen (vgl. Potentialdiagramme, S.718). Dabei hängt der Anteil der drei Reaktionen am Gesamt-Reduktionsumsatz vom verwendeten Oxidationsmittel, von anwesenden Katalysatoren, vom pH-Wert der Lösung sowie von der Temperatur ab. So oxidieren beispielsweise die Halogene X 2 , viele Metallkationen (z.B. Hg 2 + , Ag + ; s.o.), viele Anionen von Sauerstoffsäuren (z.B. V O , Cr0 4 ~, M o O 4 ) sowie einige Metallkomplexionen (z.B. Tl(H 2 0)g + , Fe(CN)g~) in schwach saurem bis alkalischem Milieu Hydrazin gemäß der ersten Reaktionsgleichung zum Teil ausschließlich, zum Teil nahezu ausschließlich zu Stickstoff, während eine Reihe
678
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
von hydratisierten, als Oxidationsmittel wirkenden Metallionen (z.B. Cu 2 + , Ce4 + , Mn 3 + , Fe3 + , Co 3 + ) Hydrazin gemäß der zweiten Reaktionsgleichung bevorzugt in S t i c k s t o f f u n d A m m o n i a k überführen. Die Bildung von A m m o n i u m a z i d erfolgt im allgemeinen nicht durch letztere und nur zum Teil durch erstereOxidationsmittel (NH 4 N 3 -Bildung z. B. durch H 2 0 2 , H N O , S 2 0 C l O 3 , B r 0 3 ; keineNH 4 N 3 Bildung z.B. durch Cl 2 , Br 2 , I 2 , I 0 3 ) . Dabei ist ein stark saures Milieu Voraussetzung, eine höhere Reaktionstemperatur 80 C) reaktionsfördernd Die Oxidation zu Stickstoff erfolgt m e c h a n i s t i s c h (vgl. S. 699) in der Weise, dass Hydrazin N 2 H 4 entweder direkt (,,Zweielektronenoxidation'': N 2 H 4 -> N 2 H 2 + 2 H + 2 Q z.B. mit Halogenen (X 2 + 2 Q -> 2 X ) oder Thallium(III) (T13+ + 2 Q -> Tl + )) oder in zwei Stufen unter intermediärer Bildung von Hydrazylradikalen N 2 H 3 („Einelektronenoxidation": N 2 H 4 -> N 2 H 3 + H + + Q; N 2 H 3 N 2 H 2 + H + + E z.B. mit Hexacyanoferrat(III) (Fe(CN)3" + Q Fe(CN)4")) in Diimin N 2 H 2 überführt wird. Als thermolabiler Stickstoffwasserstoff disproportioniert Diimin in Stickstoff und Hydrazin (2N 2 H 2 -> N 2 + N 2 H 4 ; S. 689), das seinerseits oxidiert wird. Im Zuge der Oxidation zu Stickstoff + Ammoniak bilden sich zunächst Hydrazylradikale (N 2 H 4 -> N 2 H 3 + H + + Q (z.B. mit Eisen(III) (Fe3+ + Q -> Fe 2 + ) oder Cer(IV) (&4+ 4. q Ce3+)), die sich hier jedoch zu Tetrazan dimerisieren ( 2 N 2 H 3 -> N 4 H 6 ), das als thermolabiler Stickstoffwasserstoff zu Stickstoff und Ammoniak disproportioniert (N 4 H 6 -> N 2 + 2 N H 3 ) (S. 690). Die Oxidation zu Ammoniumazid erfolgt offenbar u.a. auf dem Wege über Diimin (N 2 H 4 -> N 2 H 2 + 2 H + + 2 Q), welches in stark saurem Milieu zu Ammoniumazid dimerisiert (2N 2 H 2 -> N H 4 N 3 ) (S.692). Verwendung Hydrazin (Weltjahresproduktion: 100 Kilotonnenmaßstab) wird hauptsächlich zur Gewinnung von Hydrazinderivaten genutzt, die u.a. als Treibmittel (Blähmittel) für die Herstellung geschäumter Kunststoffmassen (z.B. Azodicarbamid, Benzolsulfonsäurehydrazid), als Polymerisations-Radikalstarter, als Herbizide und Pharmaka (z.B. Antituberkulotikum Neoteben) eingesetzt werden. Ein geringer Zusatz von Hydrazin zum Speisewasser von Dampferzeugern verhindert deren Korrosion (Reduktion von F zu hartem F ). Wasserfreies Hydrazin und dessen Methylderivate MeNHNH sowie M e 2 N N H 2 dienen als Raketentreibstoffe (Oxidationsmittel z.B. N 2 0 4 , O , H 2 0 2 , H N O , F ) . Innere Rotation v o n Hydrazin und anderen
Molekülen^
I m H y d r a z i n m o l e k ü l H 2 N — N H 2 , d a s sich strukturell v o m E t h a n H 3 C — C H 3 d u r c h Ersatz der Kohlenstoff- d u r c h S t i c k s t o f f a t o m e u n d zweier W a s s e r s t o f f a t o m e d u r c h freie E l e k t r o n e n p a a r e ableitet, v e r m ö g e n sich die N H - G r u p p e n u m die N N - E i n f a c h b i n d u n g zu d r e h e n („innere Rotation'' des H y d r a z i n s ; zu unterscheiden v o n „äußeren Rotationen'' des H y d r a z i n s u m seine 3 Trägheitsachsen). N 2 H 4 stellt also kein starres Teilchen m i t wohldefinierter A n o r d n u n g seiner A t o m e , s o n d e r n ein n i c h t - s t a r r e s M o l e k ü l d a r (die N 2 H 4 - K o n f o r m a t i o n k a n n sich z u d e m d u r c h pyramidale Inversion ä n d e r n , vgl. S.672). Allerdings ist die i n n e r e R o t a t i o n des H y d r a z i n s g e h i n d e r t , d a zwei e n e r g e t i s c h b e v o r z u g t e R o t a t i o n s s t e l l u n g e n existieren, deren gegenseitige Ü b e r f ü h r u n g d u r c h innere M o l e k ü l r o t a t i o n der N H G r u p p e n n u r u n t e r Ü b e r s c h r e i t e n einer kleinen E n e r g i e b a r r i e r e möglich ist. Dies geht besonders übersichtlich aus der Fig. 165 hervor, welche den Energieinhalt des Hydrazins in Abhängigkeit vom Verdrillungswinkel (,,Diederwinkel'') der N H -Gruppen zusammen mit ,,New manschen Projektionsformeln'' des Hydrazins werden im Allgemeinen zur V e r a n s c h a u l i c h u n g des r ä u m l i c h e n Baus von Verbindungendes Typus A m B — C D (also z. B. H 2 N — N H ) benutzt. Man erhält die Newman-Projektion eines Moleküls A m B — C D , indem man diese in Richtung der BC-Bindung betrachtet und seine Atome und Bindungen auf eine Papierebene projiziert, wobei man das vordere der beiden hintereinanderliegenden chemischen Zentren B und C durch einen Punkt, das hintere (verdeckte) durch einen Kreis symbolisiert. Die weiter unten wiedergegebenen ,,perspektivischen'' („Sägebock''-) N 2 H 4 -Formeln (a) und (a') gehen somit in die Projektionsformeln (a) und (a') der Fig. 165 über. Dem E n e r g i e p r o f i l der i n n e r e n N 2 H 4 - R o t a t i o n (Fig. 165) ist zu entnehmen, dass die Rotation der N H - G r u p p e n um die NN-Bindung über Molekülkonformationen führt, in welchen die Wasserstoffatome (gesehen in Richtung der NN-Bindung) mal auf D e c k u n g (,,ekliptisch''), mal auf L ü c k e (,,gestaffelt '', „staggered") stehen, wobei die ekliptische cis 20 -Konformation (c) des Hydrazins viel und die gestaffelte trans20-Konformation (b) etwas energiereicher ist als die gauche20-Konformation (a) bzw. 20 Bei einer gewinkelten Atomkette ABCD spricht man von einer ,,cis''(,,syn''-) bzw. einer ,,trans''-(,,anti'') bzw. einer ,,gauche''-(,,skew''-) Anordnung der Atome oder Atomgruppen A und D wenn der Diederwinkel bei 0 oder 360° bzw. bei 180° bzw. dazwischen liegt (cis (lat.) = diesseits; syn (griech.) = zusammen; trans (lat.) = jenseits; anti (griech.) = gegenüber; gauche (franz.) und skew (engl.) = schief, krumm; die Bezeichnung syn und anti beschränkt sich im allgemeinen auf Rotamere).
1. Der Stickstoff
679
trans (gestaffelt)
:
r
"
Vliptisch)
£
- '
\
20 kJ/mol \
0
H
H gauche
gauche H
^
H
N a O H + N H ) sofort entfernt wird. D a N a t r i u m a m i d u n d Natriumnitrat unter Bildung von N 2 O reagieren ( N a N O 3 + N a N H 2 ^ N 2 0 + 2 N a O H ) , ist Natriumazid auch durch Zugabe von gepulvertem N a N O 3 zu einer N a N H 2 - S c h m e l z e bei 190°C in hoher Ausbeute gewinnbar NaNO3 + 3NaNH2
NaN3 + 3NaOH + N H 3 .
Aus dem Natriumsalz lässt sich die freie Stickstoffwasserstoffsäure durch Destillation mit verdünnter Schwefelsäure u n d anschließendem Entwässern des Destillats mit Calciumchlorid 21 Literatur. ULLMANN (5. Aufl.): „Hydrazoic Acid", A13 (1989) 193-197; N. Wiberg, W.-Ch. Joo, K . H . Schmid: ,, Uber einige Azide des Berylliums, Magnresiums, Bors und Aluminiums - Zur Reaktion von Silylaziden mit Elementhalogeniden" Z. Anorg. Allg. C h e m 394 (1972) 197-208; Z. Dori, R.F. Ziolo: „The Chemistry of Coordinated Azides", Chem. R e v 73 (1973) 247-254; G. Bertrand; J.-P. Majoral, A. Baceiredo: ,,Photochemical and Thermal Rearrangement of Heavier Main Group Element Azides", Acc. Chem. R e s 19 (1986) 17-23; H. Bock, R. Dammel: ,,Die Pyrolyse von Aziden in der Gasphase", Angew. C h e m 99 (1987) 518-540; Int. E d 26 (1987) 504; I.C. Tornieporth-Oettnig, T.M. Klapötke: ,,Kovalente anorganischen Azide", Angew. C h e m 107 (1995) 559-568, Int. Ed. 34 (1995) 511; ,,Recent Developments in the Chemistry of Covalent Azides", Chem. R e v 130 (1997) 443-451. 22 Geschichtliches Wässerige HN 3 -Lösungen wurden erstmals von T. Curtius im Jahre 1890 durch Oxidation von wässerigem Hydrazin mit Salpetriger Säure gewonnen. 23 Physiologisches Gasförmiges H N wirkt sehr giftig (MAK-Wert 0.1 mg/m 3 = 0.26 ppm) und führt - eingeatmet bereits in geringsten Konzentrationen zu Kopfschmerz. Flüssiges H N reizt Haut und Schleimhäute.
1. Der Stickstoff
681
als rund 90%ige Säure gewinnen. Gefahrloser wird die reine Säure durch Protonierung von NaN 3 mit geschmolzener Stearinsäure CH 3 (CH 2 ) l ö COOH bei 100-130°C hergestellt (Auffangen von abdestillierender H N 3 in gekühlten Vorlagen). Die Umwandlung von Hydrazin (als Hydrat) in Stickstoffwasserstoffsäure gelingt durch Einwirkung von Salpetriger Säure (bzw. Salpetrigsäureester) in Ether bei 0 °C in Gegenwart von Natriummethylat (zur Salzbildung 22 . HNO 2 + H 4 N 2
HN 3 + 2H 2 O.
Physikalische Eigenschaften und Struktur Die wasserfreie Stickstoffwasserstoffsäure ist eine farblose, giftige23 (ebenso toxisch wie HCN), leicht bewegliche, bei 35.7°C siedende und bei — 80°C erstarrende, stark endotherme (AH t = + 264kJ/mol) Flüssigkeit (Dichte = 1.126 g/cm 3 bei 0 °C) von durchdringendem, unerträglichem Geruch. Struktur. Der Bindungszustand von HN 3 = HN„N^N? lässt sich im Sinne der Mesomerie [a b c] beschreiben (S.136, 370), wobei den Grenzstrukturen in Richtung (a), (b), (c) abnehmendes Gewicht zukommt. Demgemäß sind die beiden NN-Bindungsabstände im HN 3 -Molekül verschieden groß (im Falle von gasförmigem HN 3 N.N/N^N, = 1.243/1.154 Ä), während das zugehörige Azid-Ion N 3 (s. unten) gemäß der Valenzstrichformel (d) gleiche NN-Abstände (1.18 A4.) aufweist (ber. für NN-Einfach-/ Doppel-/Dreifach-Bindung = 1.40/1.20/1.10 Die N 3 -Ketteist als Folge einer schwachen Beteiligung der Grenzstruktur (c) an der Mesomerie (vgl. X — N = O , S.726) leicht gewinkelt (173.3°), während das N 3 -Ion als 16-Elektronenspezies (S. 357) linear strukturiert ist (D^-Symmetrie). Die HN a -Bindungslänge beträgt in HN 3 (gasf.) 1.015 Ä, was einer Einfachbindung entspricht, der HN^N^-Bindungswinkel 108.8°, was auf eine sp -Hybridisierung des H-gebundenen N-Atoms deutet und zudem ein hohes Gewicht der Grenzstruktur (a) anzeigt. Insgesamt ist HN 3 planar- und bezüglich seiner Außenatome H und N transkonformiert (Cs-Symmetrie). Das Molekül lässt sich demgemäß in guter Näherung durch die Formel (e) mit R = H beschreiben. 0
©
©
N—N=N:
/
Q
©
(b) H N 3
(a)
(e) R N 3
_ (f)
(d) N 3
(c)
, N X © ^ N:
L R
© E N== N = =N
N—N
N=N=N ••
/
N
O /N.
R
R
R2N
^
\
(g) R2N3
Chemische Eigenschaften und Verwendung Säure-Base-Verhalten. Die Stickstoffwasserstoffsäure H N 3 ist im Gegensatz zum schwach basischen Ammoniak N H 3 und Hydrazin N 2 H 4 eine schwache Säure von der Stärke der Essigsäure HN 3 ^ H + + N3"
(KS = 1.2 x 10—5;
= 4.92).
Eine 0.1 molare wässerige Lösung ist demnach zu etwa 1 % dissoziiert. Umgekehrt wirkt das Azid-Ion N^ als Base, sodass Alkali- oder Erdalkalimetallazide als typische Salze von HN 3 in wässeriger Lösung ähnlich wie Acetate teilweise hydrolysieren (vgl. S. 207): NaN 3 + H 2 0 NaOH + HN 3 . Die Säurewirkung von HN 3 und Basewirkung von N^ kommt auch in der Bildung eines Wasserstoffbrückenaddukts [N 3 —H • • • N 3 ] " mit einer nahezu linearen unsymmetrischen Brücke (S. 160) zum Ausdruck (NN •••NN-Diederwinkel 66°). Die Stickstoffwasserstoffsäure HN 3 ist als Base - anders als N^ überaus schwach und bildet nur mit den stärksten Säuren Salze H 2 N 3 + X" (X" u. a. AsF6", SbF6", ^F^r), z. B. HN 3 + HF/ SbF5 ^ H2N3+SbF6~. Im Kation H2N3+ (Cs-Symmetrie) sind beide H-Atome an das N„-Atom geknüpft (f, R = H), wobei im Zuge der Protonierung von HN 3 die NKN»-Bindung verlängert,
682
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
die N^N -Bindung verkürzt wird, entsprechend einer E r h ö h u n g des Gewichts der Grenzstruktur (a) an der Mesomerie (Abstände H N ^ N ^ N , = 1.008/1.295/1.101; Winkel HN«H/ HN / 118/107/175.3 ). Die Grenzstruktur (a) der HN 3 -Mesomerieformel weist auf Basizität des N„-Atoms, die Grenzstruktur (c) auf Acidität des N?-Atoms. Demgemäß sollte sich die Lewis-Base unter Bildung des Anions H2N3- (g) an HN 3 addieren. Tatsächlich setzen sich jedoch Alkalimetallhydride mit HN 3 rascher unter H2-Entwicklung zu Alkalimetallaziden um (s. oben). Organische Azide RN 3 (R = Organyl) reagieren demgegenüber als Lewis-Säuren mit Organylanionen R als Lewis-Basen unter Bildung von ,,Triazeniden'' R2N3~ (S.691), deren Bindungszustand durch die Mesomerie (g) beschreibbar ist (gleichlange NN-Bindungen der Ordnung um 1.5 bei Vorliegen gleichartiger Reste R). Lewis-saures Verhalten zeigt HN auch hinsichtlich Phosphanen: HN 3 + PPh 3 {HN=N—NPPh 3 } ^ N2 + HNPPh 3 . Die Umsetzung ist im Falle organischer Azide als ,,Staudinger-Reaktion'' bekannt (die intermediär gebildeten „Staudinger Addukte'' lassen sich in einigen Fällen isolieren). Thermisches Verhalten Eine der hervorstechendsten Eigenschaften der flüssigen Stickstoffwasserstoffsäure ist der - durch Erhitzen oder durch Schlag leicht auszulösende explosionsartige Zerfall in Stickstoff u n d Wasserstoff, bei der große W ä r m e m e n g e n frei werden: 2 H N 3 (fl) ^
3N2 + H2 + 528.4kJ.
Wässerige Lösungen bis zu einem Gehalt von 2 0 % H N 3 sind demgegenüber gefahrlos zu h a n d h a b e n , zersetzen sich aber bei Anwesenheit von fein verteiltem Pt als Katalysator gemäß H ^ ^ ^ O -> N H 2 O H + N 2 in Hydroxylamin (S. 719) u n d Stickstoff. Leitet m a n gasförmige Stickstoffwasserstoffsäure bei niedrigen D r ü c k e n durch ein erhitztes R o h r , so erfolgt Zersetzung nach H N HN in Nitren (S. 686) u n d Stickstoff. Auch die salzartig aufgebauten Alkalimetallazide zersetzen sich, und zwar unter Bildung von Stickstoff und Alkalimetallnitrid im Falle von LiN3 bzw. Stickstoff und Alkalimetall im Falle der übrigen Azide M j N 3 . Mit wachsender Ausdehnung des Kations, d.h. mit zunehmender „Verdünnung" des N3-Ions, erfolgt der Zerfall abnehmend heftig (LiN3 explodiert bei 250 °C mit lautem Knall; CsN3 schmilzt bei 310°C unzersetzt): 3LiN 3
Li3N + 4N 2 ;
2MN 3
2M + 3N 2 (M = Na — Cs).
Die Erdalkalimetallazide M(N zerfallen in Nitride und Stickstoff, wobei die Zersetzung im Falle des Bariumdiazids über Ba3N4 führt: 3Ba(N3)2 (200°C) ^ Ba 3 N 4 +7N 2 ; Ba3N4 (250 °C) 3 Ba3N2 + N2 (Ba3N4 enthält wohl I o n e n N / N ~ oder möglicherweise3", vgl. S. 1245). Die mehr kovalent aufgebauten Schwermetallazide wie Pb(N3)2, AgN 3 , Cd(N3)2, Hg(N3)2 detonieren bei stärkerem Erhitzen, besonders aber auf Schlag, sehr heftig. Entsprechendes gilt für viele überwiegend kovalent aufgebaute Halb- und Nichtmetallazide, sodass also beim Umgang mit Aziden immer höchste Vorsicht geboten ist. Redox-Verhalten (vgl. Potentialdiagramme auf S.718). Die Stickstoffwasserstoffsäure ist sowohl ein kräftiges Oxidationsmittel als auch starkes Reduktionsmittel: H N 3 + 3 H + + 2 © ± ? N 2 + NH 4 + (e0 = + 1.96V); 2 H N 3
2 H + + 3 N 2 + 2 © (e0 = — 3.09 V ) .
D a h e r löst sie wie Salpetersäure eine Reihe von Metallen oxidierend ohne Wasserstoffentwicklung auf (z. B. M n -> M n 2 + , Fe -> F e 2 + , C u -> C u 2 + , Zn -> Z n 2 + ) u n d reduziert z. B. I 2 (in Gegenwart von etwas S 2 O ^ als Katalysator) u n d Ce(IV)-Salze unter quantitativer Bildung von Stickstoff, was m a n zur Analyse der betreffenden Verbindungen nutzen kann. M i t Salpetriger Säure entsteht Stickstoff u n d Distickstoffoxid (S. 716, 728): HN
HNO
Verwendung Unter den Aziden nutzt man die Alkalimetallazide M J N 3 (M1 = Na — Cs) zur Reindarstellung von Alkalimetallen bzw. von spektralreinem Stickstoff, darüber hinaus zur Synthese von Elementaziden (s. unten), die Schwermetallazide, insbesondere Pb(N3)2 (gewinnbar aus Pb(NO3)2 und NaN 3 ) in der Sprengstofftechnik zur Einleitung der Detonation (,,Initialzündung'') von Schieß- und Sprengstoffen.
1. Der Stickstoff
683
Azide Überblick. Mit Ausnahme der Edelgase sowie des Schwefels, Selens und Stickstoffs existiert von jedem Hauptgruppenelement (und wohl von jedem Nebengruppenelement) mindestens ein binäres Azid. Die Stickstoffwasserstoffsäure HN 3 und das Azid-Ion N3~ ähneln hierbei in vielen Eigenschaften der Chlorwasserstoffsäure HCl und dem Chlorid-Ion Cl" (die Elektronegativitäten von Cl und N 3 sind etwa gleich groß). So fällt aus schwach sauren HN 3 -Lösungen bei Zugabe von AgN 3 ein käsiger Niederschlag von Silberazid AgN 3 aus, der dem Silberchlorid AgCl täuschend ähnlich sieht; auch sind die Salze Hg 2 (N 3 ) 2 , Pb(N 3 ) 2 , CuN 3 und TlN 3 wie die analogen Chloride in Wasser unlöslieh oder sehwerlöslieh. Wie HCl bildet HN 3 nieht flüehtige, mehr oder weniger elektrovalent gebaute Metallsalze (z. B. (Li — Cs)N3, (Be — Ba)(N3)2, TlN 3 , CuN 3 , AgN3, Pb(N 3 ) 2 , Zn(N 3 ) 2 , Cd(N3)2) und flüehtige, mehr oder weniger kovalent gebaute Derivate mit N-gebundenem Halb- oder Nichtmetall. Unter letzteren seien genannt: die den Interhalogenen entsprechenden Halogenazide FN 3 , ClN 3 , BrN 3 , IN 3 , die den Sulfuryl-, Nitrosyl-, Phosphoryl- und Carbonylchloriden entsprechenden Azide SO2(N3)2, NO(N 3 ), NO 2 (N 3 ), PO(N 3 ) 3 , CO(N3)2 sowie die den Elementchloriden entsprechenden Elementazide O(N3)2, Te(N3)4, P(N3)3, P(N3)5, As(N3)3, As(N3)5, Sb(N3)3, Sb(N3)5, Si(N3)4, Ge(N3)4, B(N3)3, Al(N3)3, Ga(N 3 ) 3 , TM 5 (bzgl. Einzelheiten vgl. bei den betreffenden Elementen; schwerere Chalkogenazide Y(N3)2 sowie das Stickstoffazid N(N 3 ) 3 sind anders als Halogenazide XN 3 sowie schwerere Pentelazide Z(N3)3 - unbekannt; doch lassen sich Azidoamine R 2 N—N 3 mit R = CH 3 , S0 2 F gewinnen). Wie Cl" so kann auch N3~ in anionischen und kationischen homoleptischen Azidokomplexen als einfach mit dem Komplexzentrum gebundener Ligand fungieren, wobei dem Zentrum folgende Koordinationszahlen zukommen können zwei (linear in H(N 3 )^, Ag(N 3 )^, I(N 3 )^, gewinkelt in I(N 3 )^), drei (trigonal-planar in C(N3)3+, T-förmig in Te(N3)3+), vier (tetraedrisch in B(N3)4~, Ga(N3)4~, Mn(N3)2", Zn(N3)2~, P(N3)4+, As(N3)4+; wippenförmig in As(N3)4~; quadratisch-planar in M(N3)2~ mit M = Pd, Cu, Au), fünf (quadratisch-pyramidal in Te(N 3 )f; trigonal-bipyramidal in Fe(N3)2~), seehs (oktaedrisch in P(N3)6~, As(N3)6~ sowie M(N3)2" mit M = Ge, Sn, Pb, Pt; verzerrt-oktaedrisch in Te(N3)2")- Darüber hinaus tritt N3~ als Brückenligand auf z.B. in [Mn(N ! ) 3 _ ] t() , 2 [ F E ^ ) ^ - , [ C o ( N ) ^ , [Pd 2 (N 3 ) 6 ] -, [ C U 2 ( N 3 ) 6 ] 2 - oder [Cd(N 3 ) 3 -]„ (Näheres weiter unten). Man zählt daher das Azid-Ion zu den Pseudohalogenid-Ionen (s. unten), obwohl es nicht wie andere Pseudohalogenide ein zugehöriges Pseudohalogen (N3)2 bildet (z. B. führt die Elektrolyse wässeriger Lösungen von Alkalimetallaziden nicht zu H 2 und N 6 , sondern zu H 2 und energiearmem Distickstoff: N 6 -> 3N 2 + 790 kJ). Doch sind eine Reihe von Verbindungen der Azidgruppe mit Halogenen (vgl. Halogenazide, oben) sowie anderen Pseudohalogeniden (s. unten, zugänglich). Darstellung Azide lassen sich in Ether durch Umsetzung von Stiekstojfwasserstoffsäure mit Metallhydriden oder Organylmetallverbindungen gewinnen ((MH„ + nHN 3 -> M(N 3 )„ + nH2; MR„ + nHN 3 -> M(N 3 )„ + nRH) oder durch Reaktion von Alkalimetalloxiden mit Elementhalogeniden (MC1„ + nNaN 3 -> M(N 3 )„ + nNaCl; auf diesem Wege sind auch teilhalogenierte Elementazide zugänglich). Darüber hinaus bilden sich Azide aus Halogenaziden sowie - besonders einfach und gefahrlos - Trimethylsilylazid (gewinnbar aus Me3SiCl und NaN 3 in Ether) und Elementhalogeniden (z. B. SnCl4 + 2ClN 3 -> SnCl2(N3)2 + 2C12 (vgl. S.704), S n ^ + 2 M 5 S ^ SnCl2(N3)2 + 2Me3SiCl). Strukturen Analog der HN^NgN^-Gruppierung der Stickstoffwasserstoffsäure sind die EN„N^N ? -Gruppen neutraler oder geladener Elementazide XmE(N3)„ (X = anorganischer, organischer Rest; m > 0; vgl. oben), in welchen N 3 die Koordinationszahl eins aufweist, im Sinne der Formel (e) trans-konformiert mit ENaN^- und NJSf^-Bindungswinkeln von ca. 113 + 5° und 172 + 3°. Als Beispiele für Monoazide seien die Halogenazide (e; R = F, Cl, Br, I) und das mit NNNNN+, OCNCO+, NCNNN, NCNCN~ sowie O N N N O " (bisher unbekannt) isoelektronisches Nitrosylazid (h) genannt, als Beispiele für Spezies mit mehreren Azidgruppen das Komplexion As(N3) N 22 H 22 ;
— 2R +
Hydrierung
N22 —
+2H
- > N22 H22 .
26 Literatur. W. Lwowski:,Nitrenes", Wiley, New York 1970; L. Hoesch: „Nitrene - Bausteine einer organischen Stickstoffchemie", Chemie in unserer Zeit 10 (1976) 54-61. 2? Literatur. Ch.E. Miller:,Hydrogenation with Diimide", J. Chem. Educ. 42 (1965) 254-259; S. Hünig, H . R . Müller, W. Thier: ,,Zur Chemie des Diimins", Angew. C h e m 77 (1965) 368-377; Int. E d 4 (1965) 271; A. Furst, R.C. Berlo, S. Hooton: , H y d r a z i n e as a Reducing Agent for Organic Compounds (Catalytic Hydrazine Reductwns) Chem. R e v 65 (1965) 51-68.
1. Der Stickstoff
687
Die Dehydrierung von Hydrazin kann z. B. durch Einwirkung von E n e r g i e (Wärme, Licht, elektrische Entladung) erfolgen. Besonders bewährt hat sich die Zersetzung von gasförmigem Hydrazin in einer Mikrowellenentladung bei vermindertem Druck: H
\X N
H
_
/
N
/ X
H
/
ca. 5 mbar; 2.45 GHz
:
\
> HN—NH .
(1)
— 2H
H
Diimin entsteht hierbei neben Ammoniak (Hauptprodukt), Stickstoff sowie einigen anderen Stickstoffwasserstoffen in Spuren (z. B. N 3 H 3 ) und kann zusammen mit Ammoniak bei tiefen Temperaturen ausgefroren werden. Die beim raschen Aufwärmen derartiger Tieftemperaturkondensate bis oberhalb ihres Schmelzpunktes (ca. — 80 °C) erhältlichen, kräftig gelben Lösungen von Diimin in flüssigem Ammoniak zersetzen sich rasch. Auch auf c h e m i s c h e m Wege lässt sich Hydrazin zu Diimin dehydrieren. So entsteht es etwa in wässeriger oder alkoholischer Lösung als R e a k t i o n s z w i s c h e n p r o d u k t bei der Oxid a t i o n von Hydrazin mit Oxidationsmitteln wie 0 2 oder H 2 0 2 in Anwesenheit von Cu2 + als Katalysator. Als Reaktionsendprodukt kann es in präparativem Maßstab durch thermische Zersetzung des Hydrazinderivats N 2 H 2 X M (X = Tosylrest p-CH 3 C 6 H 4 SO 2 , M = Alkalimetall) gewonnen werden: H
\
/
X
N - < H
100-120°C MX—>
M
— MX
HN—NH .
(2)
Zur I s o l i e r u n g wird das nach (2) im Hochvakuum erzeugte gasförmige Diimin an Glasflächen, die auf die Temperatur des flüssigen Stickstoffs (— 196 °C) gekühlt sind, niedergeschlagen Zur intermediären Bildung von in Lösung kann man auch nicht-metalliertes Tosylhydrazin N 2 H 3 X (M = H in (2); X = Tosyl) in Anwesenheit von Basen (z. B. Triethylamin NEt 3 ) erhitzen. Darüber hinaus zerfallen auch andere Hydrazinderivate N 2 H 3 X mit negativen Resten X wie Cl, OH, N H nach (2) unter N 2 H 2 -Bildung. Letztere Hydrazinderivate entstehen ihrerseits als Zwischenprodukte bei der elektrophilen A m i n i e r u n g von NH 2 X (z.B. Chloramin NH 2 Cl, Hydroxylamin NH 2 OH, Hydrazin NH 2 NH 2 ) mit Ammoniakderivaten NH 2 Y wie Chloramin NH 2 Cl (Y = Cl) oder Hydroxylamin-O-sulfonsäure NH 2 OSO 3 H (Y = SO 3 H): NH 2 Y + NH 2 X NH 2 —NHX + HY (vgl. S. 691, 699, 742).
Eine bequeme Methode zur Erzeugung von Diimin in Lösung durch Umwandlung von Azoverbindungen stellt die Protolyse von Azodicarbonat ~ O O C — N = N — C O O in Wasser bzw. Alkohol bei 0 - 2 5 °C bzw. in Dichlormethan bei — 78 °C dar: _i_
" OOC—N=N—COO
2H +
— 2C02
> HN=NH .
(3)
Die Hydrierung von Stickstoff zu Diimin kann durch Umsetzen von N 2 mit speziellen Reduktionssystemen (z.B. V(OH) 2 /Mg(OH) 2 /KOH bzw. MoO27Cystein/ATP/NaBH 4 bzw. Na 2 S 2 0 4 /Phosphatpuffer) erfolgen. Letztere Methode hat jedoch nur geringe Bedeutung für die Gewinnung von Diimin. Physikalische Eigenschaften Reines festes, unterhalb — 180 °C metastabiles Diimin (gewonnen durch Tieftemperatur-Abscheidung des thermisch aus Natriumtosylhydrazid erhältlichen Gases) ist leuehtend gelb. Die nicht unzersetzt sublimierbare, sehr lichtempfindliche endotherme Verbindung (A.fff(g) = ca. +140 kJ/mol) liegt bei tiefer Temperatur in der trans-Form vor (C2h-Symmetrie), die thermodynamisch vor der eis-Form (C2v-Symmetrie) etwas (nur wenige kJ/mol) und vor der iso-Form (C2v-Symmetrie; AHf(g) = ca. + 188 kJ/mol) um ca. 48 kJ/mol bevorzugt ist (von allen N 2 H 2 -Formen existieren isolierbare organische, von trans- und eis-Diazen auch isolierbare anorganische Derivate sowie von iso-Diazen Komplexe, z. B. [MoHal 2 (PR 3 ) 3 (NNH 2 ]).
688
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele") ,H ,N=: y H trans-Diimin
ds-Diimin
isö-Diimin
Bei Raumtemperatur setzt sich möglicherweise cis-Diimin mit trans-Diimin ins Gleichgewicht (s. unten). Das bisher nur durch Thermolyse von Cäsiumtosylhydrazid im Hochvakuum nach (2) erhältliche gasförmige iso-Diimin (,, Amino-nitren" [N—NH 2 iazanium"-chlorid N 3 H 5 • HCl = [N 3 H 6 ]Cl zersetzt sich aber augenblicklich, wobei wahrscheinlich zunächst Ammoniumchlorid NH 4 Cl und - seinerseits weiter zerfallendes - Diimin N 2 H 2 (vgl. S. 689) entstehen. Etwas stabiler ist Triazanium-sulfat N 3 H 5 • H 2 S 0 4 = [ N 3 H 7 ] S 0 4 , das aus Hydrazin und Hydroxylamin-0-sulfonsäure N H 2 0 S 0 3 H (S. 742) analog vorstehender Summengleichung ( 0 S 0 3 H anstelle von Cl) in Wasser gewonnen werden kann. Aus dem Salz konnte die zugrundeliegende Base Triazan noch nicht unzersetzt in Freiheit gesetzt werden. Man findet nur dessen Thermolyseprodukte Diimin (s. unten) und Ammoniak: H 2 N—NH—NH 2 H N = N H + NH 3 . Das Tetrazan N 4 H 6 entsteht auf dem Wege über ,,Hydrazyl"-Radikale N 2 H 3 (-> (N 2 H 3 ) 2 ) durch 0xidation von Hydrazin, z. B. mit Fe 3 + oder - besonders glatt - mit 0H-Radikalen in wässerigem Milieu: N 2 H 4 + Fe 3 +
N2H3 + F e 2 + + H + ,
N2H4 + 0 H
N2H3 + H 2 0 .
Die Stickstoffwasserstoffverbindung N 4 H 6 , die bisher noch nicht isoliert werden konnte, zerfällt bei Raumtemperatur mit einer Halbwertszeit von Viooo s (alkalisches Milieu) bis Vio s (stark alkalisches Milieu) gemäß NH
NH
in Triazen und Ammoniak (das Tetrazanderivat (CF 3 ) 2 N—N(CF 3 )—N(CF 3 )—N(CF 3 ) 2 lässt sich isolieren). Da Triazen seinerseits in Ammoniak und Stickstoff übergeht (s. unten), zersetzt sich Tetrazan mithin insgesamt nach N 4 H 6 -> 2 N H 3 + N 2 . Das bisher nur wenig untersuchte Triazen N 3 H 3 entsteht als Zwischenprodukt der thermischen Tetrazanzersetzung bei tiefen Temperaturen (N isolierte Stickstoff verbindung disproportioniert gemäß: N 3 H 3 • Die Zerfallshalbwertszeit beträgt bei Raumtemperatur in Wasser als Thermolysemedium etwa (saures Milieu) bis 100 s (schwach alkalisches Milieu). N3H3 liegt nach Berechnungen als ,,trans-Triazen" vor (s. unten; planares HN 3 -Gerüst, schwach pyramidalisierter Aminstickstoff — N H ; N=N-/N—N-Abstände 1.27/1.36 Ä, NNN-Winkel 112°; AHC ca. + 240 kJ/mol); es ist thermodynamisch um einige kJ/mol energieärmer ist als das konfigurationsisomere „cis-Triazen"'. Deutlich energiereicher sind alle Konstitutionsisomeren des Triazens, nämlich das mit 0zon 0 3 isoelektronische kettenförmige Triimin (NH)3 („catena-Triimin" oder kurz Triimin; planar, NN-Abstände 1.29 Ä, NNN-Winkel 116.7°) um ca. 65 kJ/mol, das als Aminoderivat von iso-Diazen aufzufassende ,,iso-Triazen" (planares NNHN-Gerüst, sp-hybridisierter Aminstickstoff—NH; N=N-/N—N-Abstände 1.21 /1.49 Ä, NNN-Winkel 127°) um ca. 130 kJ/mol sowie das mit Cyclopropan (CH2)3 isoelektronische ringförmige Triimin (NH)3 („cyclo-Triimin", „cyclo-Triazan", ,,Triazirin"; NN-Abstand 1.47 Ä) um ca. 175 kJ/mol (von trans-und cis-Triazen sowie cyclo-Triazan sind isolierbare organische Derivate bekannt). In nachfolgender Reihe sind die N3H3-Isomere nach steigendem Energiegehalt geordnet: NH 2 H
H H
trans-Triazen
NH 2 eis-Triazen
H .
S "'NH
Triimin
^NH2 iso-Triazen
HN
NH
cyclo-Triazan
Ersichtlicherweise ist sowohl für (S. 506) wie für isoelektronisches (NH) die offenkettige Form stabiler als die cyclische (die Ringspannung von cyclo-Triazan beträgt ca. 125 kJ/mol). Allerdings ist die exotherme Umwandlung von cyclo- in catena-Triimin stark gehemmt (Aktivierungsbarriere ca. 160 kJ/mol), was die nachgewiesene Existenz von cyclo-Triazan in Ag + -haltigen Zeolithen (S. 971) erklärt. Auch die (Symmetrie-verbotene) Isomerisierung von iso-Triazen in trans-Triazen durch 1,1-Wasserstoffverschiebung ist gehemmt (£ a ca. 175 kJ/mol), doch erfolgt hier eine 2,3-Wasserstoffverschiebung unter Bildung von N2 und N H vergleichsweise leicht (£ a ca. 45 kJ/mol). Die Zersetzung von trans-Triazen erfolgt wohl über cis-Triazen, das aus trans-Triazen durch Konfigurationsisomerisierung entsteht (Inversion am Azenstickstoff) und das unter (Symmetrie-erlaubter) 1,3Wasserstoffverschiebung in und NH zerfällt (die H-Tautomerie ist durch Studien an Derivaten R N = N — N H ^ R H N — N = N R belegt). Die vergleichsweise große Halbwertszeit des trans-Triazenzerfalls im alkalischen Milieu spricht dabei für eine gewisse kinetische Stabilität des Triazenid-Anions HN—N—NH" (vgl. S. 681), die kleine Halbwertszeit im sauren Medium für eine Labilität des TriazeniumKations H N = N — N H (-> H + + N = N + N H ohne Molekülisomerisierung).
692
1.2.8
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Tetrazen N 4 H 4 2 ' 7
Darstellung Freies „Tetrazen" N 4 H 4 lässt sich durch Verdrängung des Stickstoffwasserstoffs aus Tetrazeniumsalzen N 4 H J X " mit Basen wie Ammoniak gewinnen. Die Tetrazeniumsalze erhält man hierbei durch säurekatalytisierte Dimerisierung von Diimin in kleinen Ausbeuten: 2 N 2 H 2 + H + N 4 H ^ (s. weiter oben). Zur Darstellung von Tetrazen in p r ä p a r a t i v e r Menge protolysiert man aber vorteilhafter das Trimethylsilylderivat N 4 (SiMe 3 ) 4 (Austausch von SiMe 3 gegen H) mittels Trifluoressigsäure F 3 C — C 0 0 H in Methylenchlorid bei — 78 0 C: (Me 3 Si) 2 N—N=N—N(SiMe 3 ) 2
+ 4F3C—C00H — 4F3C—C00SiMe3
> H2N—N=N—NH2 .
Hierbei fällt N 4 H 4 als farblose Festsubstanz aus dem Reaktionsmedium aus und kann durch Umsublimieren bei — 20 0 C gereinigt werden. N 4 (SiMe 3 ) 4 entsteht dabei auf dem Wege: 2 H 2 N — N H 2 2(Me 3 Si) 2 N—NH(SiMe 3 ) SiMe 3 (Me 3 Si) 2 N—N=N—N(SiMe 3 ) 2 (letztere Reaktion erfolgt in Anwesenheit von Si ). Physikalische Eigenschaften Reines Tetrazen kristallisiert monoklin in farblosen Nadeln, die sich bei ca.0°C - gelegentlich explosionsartig - zersetzen (s. unten). Der Stickstoffwasserstoff, der unterhalb von — 30 0 C praktisch unbegrenzt haltbar ist, löst sich sehr gut in Methanol, schlechter in Methylenchlorid, Tetrahydrofuran oder Trimethylamin, sehr schlecht in Ether oder Pentan. Seine Dichte (1.40 g / c m ) ist vergleichsweise hoch (z. B. N 2 H 4 : 1.00 g / c m bei 25 0C); sie entspricht etwa der des mit Tetrazen isomeren Ammoniumazids N H 4 N 3 (1.325 g / c m ) . Strukturen Für N 4 H 4 sind sehr viele Isomere formulierbar, die sich wie die N 3 H 3 -Isomeren durch Insertion einer NH-Gruppe in eine der NH- bzw. NN-Bindungen von N 3 H 3 ableiten, nämlich Isomere mit unverzweigter Kette (trans- und d s - H N = N — N H — N H 2 , trans- und ds-H 2 N—N=N—NH 2 , N = N H — N H — N H 2 ) , mit verzweigter Kette (N=N(NH 2 ) 2 , mit Ringen (cyclo-N3H2(NH2), cyclo-N4H4), mit gespaltener Kette ( N H ^ N = N = N ~ ) . Energetisch am stabilsten ist trans-2-Tretrazen (man kennt organische Derivate von H N = N — N H — N H , H 2 N — N = N — N H und NH 4 N 3 ; deprotoniertes iso-Tetrazen N = N ( N H 2 ) 2 liegt dem Komplex ( C 1 5 W v i ) 2 N 2 ~ zugrunde). Das nach obiger Methode gewonnene Tetrazen besitzt - laut Röntgenstrukturanalyse des kristallinen Stoff - die Konstitution H 2 N — N = N — N H und ist trans-konfiguriert (Q-Symmetrie) (vgl. Fig. 167a; planares N 4 -Atomgerüst; N—N-/N=N-Abstände = 1.429/1.205 A,NNN-Winkel = 108.6°). Die beiden äußeren N-Atome der Tetrazenkette sind nicht planar koordiniert. Sie bilden zusammen mit den beiden H-Atomen sowie einem mittelständigen N-Atom eine trigonale Pyramide (Aminostickstoffe an der Spitze); der HNH-Winkel beträgt 109.8°. Die beiden N H - G r u p p e n sind um 180° gegeneinander verdreht, wobei die Halbierenden der HNH-Winkel nahezu orthogonal zur N 4 -Molekülebene stehen (vgl. Newman-Projektion, Fig. 154b).
Fig. 167 Struktur von trans-2-Tetrazen. (a) Perspektivische Ansicht, (b) Newman-Projektion.
Chemische Eigenschaften Thermisches Verhalten. Festes trans-2-Tetrazen zersetzt sich bei ca. 0 0 C schlagartig in gasförmigen Stickstoff sowie eine flüssige, aus N 2 H 4 und N H 4 N 3 bestehende Phase, aus der nach kurzer Zeit Ammoniumazid-Kristalle wachsen. Etwas beständiger ist g a s f ö r m i g e s Tetrazen bei niedrigen Drücken (aus der Gasphase scheidet sich im Laufe der Zeit Hydraziniumazid N 2 H 5 N 3 ab). G e l ö s t e s Tetrazen zerfällt langsam bereits ab — 20°C. Die Zersetzung läuft insgesamt nach folgenden Summengleichungen unter Disproportionierung in die 0xidationsstufen N 2 und N 2 H 4 (a) bzw. N H 3 und N 3 H (b) ab:
1. Der Stickstoff
693
Reines, festes Tetrazen thermolysiert hierbei zu 70 % nach (a) und zu 30 % nach (b) (Methanollösung: 40 % (a) und 60 % (b); Methylenchloridlösung: 7 % (a), 93 % (b)). Der Zerfall (a) ist basen-, der Zerfall (b) säurekatalysiert (Näheres s. unten). Instabiler als trans- ist cis-2-Tetrazen, das als bisher nicht isoliertes Zwischenprodukt der Protolyse eines (cyclischen) Silylderivats bei — 78 °C in Methylenchlorid mit Trifluoressigsäure entsteht und welches bereits bei — 78 0 C sehr rasch und ausschließlich in Ammoniumazid übergeht: N=N H—N^ H
^N—H
NH4+N3-.
H
Säure-Base-Verhalten 7rans-2-Tetrazen ist schwächer basisch als Hydrazin (welches seinerseits schwächer basisch als Ammoniak ist, S. 666). Es bildet mit starken Säuren HX wie etwa Schwefelsäure bei tiefen Temperaturen Salze N 4 H J X " , die oberhalb ca. — 20 0 C in Ammoniumsalze und Stickstoffwasserstoffsäure zerfallen NH
HN
und aus welchen sich Tetrazen durch Einwirkung der Base Ammoniak wieder in Freiheit setzen lässt (N NH NH ). Gegenüber den stark basischen Lithiumorganylen LiR wirkt Tetrazen als Säure (^N—H + LiR /N—Li + HR) und setzt sich mit diesen in inerten Lösungsmitteln auf dem Wege über LiN 4 H 3 , Li 2 N 4 H 2 , Li 3 N 4 H zu einem unlöslichen, leicht zersetzlichen Nitrid (Li4N4?) um, welches bei Behandlung mit Trimethylchlorsilan Me3SiCl in das oben erwähnte Silylderivat N 4 (SiMe 3 ) 4 übergeht. Der auslösende Schritt des basenkatalysierten Zerfalls von trans-2-Tetrazen besteht wahrscheinlich ebenfalls in einer Deprotonierung von N 4 H 4 , wobei sich das gebildete Tetrazenid-Ion N 4 H 3 dann gemä
unter H-Umlagerung, N 2 -Abspaltung u n ^ H 3 -Reprotonierung weiter zersetzt. In analoger Weise dürfte der säurekatalysierte N 4 H 4 -Zerfall durch eine Protonierung eingeleitet werden, wobei das entstan-
in Ammoniak und protonierte Stickstoffwasserstoffsäure aufspaltet Redox-Verhalten. 7rans-2-Tetrazen wirkt stark reduzierend und wird mithin leicht zu Stickstoff oxidiert (N 4 H 4 2N 2 + 4 H + + 4 ©). Als Oxidationsmittel wirkt z. B. elementares Halogen.
1.3
Halogenverbindungen des Stickstoffs 2,28
1.3.1
Überblick
Der Stickstoff bildet Halogenide der Zusammensetzung NX 3 , N 2 X 4 , N 2 X 2 und N 3 X (Tab. 76). Sie leiten sich vom Ammoniak, vom Hydrazin, vom Diimin und von der Stickstoffwasserstoffsäure durch vollständigen Ersatz der Wasserstoffatome durch Halogenatome ab. Im Falle 28
Literatur. X. L. Armesto, M. Cank, M.V. Garcia, J. A. Santabello:,,Aqueous Chemistry of N-halo-Compounds", Chem. Soc. R e v 27 (1988) 453-460; C.B. Colburn: ,Fluorides of Nitrogen", Endeavour 24 (1965) 138-142, „Nitrogen Fluorides and their Inorganic Derivatives", Adv. Fluorine Chem. 3 (1963) 92-116; J.K. Ruff: ,,Derivatives of the Nitrogen Fluorides", Chem. R e v 67 (1967) 665-680; R. Schmutzler:,,Stickstoff-oxidfluoride", Angew. C h e m 80 (1968) 466-481; Int. Ed. 7 (1968) 440; J. Jander: ,Recent Chemistry and Structure Investigation of Nitrogen Triiodide, Tribromide and Trichloride, and Related Compounds", Adv. Inorg. Radiochem. 19 (1976) 1 - 6 3 ; D. Naumann: ,,Fluor and Fluorverbindungen", Steinkopff, Darmstadt (1980) 60-64; „.Reaktionen der Halogenazide", Angew. Chemie 79 (1967) 253-259; Int. Ed. 6 (1967) 240; K. Dehnicke: ,,Die Chemie des Iodazids", Angew. C h e m 91 (1979), 527-534; Int. E d 18 (1979) 507; „The Chemistry of the Halogen Azides", Adv. Inorg. Radiochem 26 (1983) 169-200; H. Emeleus, J . M . Shreeve, R . D . Verma: ,,The Nitrogen Fluorides and some Related Compounds", Adv. Inorg. C h e m 32 (1988) 2 - 5 3 .
694
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Tab. 76
Stickstoffhalogenide.a)
Verbindungstypus
Fluoride
Chloride
Bromide
Iodide
NH 2 X Halogenamine
NH 2 F (1988, Minkwitz) Farbloses Gas Smp. ca. — 100 °C, Zers.
NH 2 C1 (1923)b) Farbl Gas/20 mbar Smp. ca. — 70°CC> Zers. > — 110 °C
NH 2 Br Rotviolette Subst. sehr zersetzlich
NH (1962, Jander Schwarze Subst. Zers — 90
NHX 2 Dihalogenamine
NHF 2 (1931, Ruff) Farbloses Gas Smp. — 116.4°C Sdp. — 23.6°C AH, = — 67 kJ/mol
NHC (1929, Chapin NHB (1958, Jander Gelbes Gas Orangefarb. Subst. (nicht unzersetzt (mit NH B kondensierbar verunreinigt
NHI 2 (?) (1962, Jander) Schwarze Subst Zers — 60
NX 3
NF 3 a) (1928, Ruff) Farbloses Gas Smp. — 206.8 °C Sdp. — 129.0 °C AHf = — 125 kJ/mol
NCl 3 a) (1811, Dulong) Gelbes O Smp. — 40 °C Sdp 71 229 kJ/mol
NB (1975, Jander Tiefrote Krist. > — 100°C Explosion
NI 3 (1990, Klapötke)"» Tiefrote Subst. Zers — 78 (g 290 kJ/mol
N2X4 Distickstofftetrahaloge nide
(1957, Colburn Farbloses Gas Smp. — 164.5 °C Sdp. — 73 °C —7.1 kJ/mol
C (Reaktionszwischen produkt
N2X2 Distickstoffdihalogenide
(rans/cis-N2F2 (1942, Haller) C Farbl. Gas (Reaktionszwischen Smp. — 172/— 195 °C produkt Sdp. —111.4/— 105.7°C 82.1 69.5 kJ/mol
N3X
(1942, Haller Grüngelbes Gas Smp. — 154 °C Sdp. — 82 °C A H f = + 344 kJ/mol
N 3 Br (1925, Spencer) Orangerote Flüssigk. Smp. — 45 °C explosiv 427 kJ/mol
N 3 I (1900, Hantzsch) Farblose Subst Sblp 20 explosiv 434 kJ/mol
Trihalogenamine bzw Stickstofftrihalogenide
Halogen azide
C (1908, Raschig Farbloses Gas Smp. ca. — 100 °C Sdp. ca. — 15 °C 389 kJ/mol
a) Es existieren auch gemischte Halogenide wie NF 2 Cl (farbloses Gas vom Smp. ~ —190°C und Sdp. — 67 °C), NF 2 Br (farbloses Gas vom Sdp. — 36 °C), NFC1 2 (farbloses Gas vom Sdp. —3 °C), NBr 2 I (rotbraune Festsubstanz, Zers. — 20°C). b) Marckwand, Wille c) AHf = 390 kJ. Der Smp. bezieht sich auf mit N H und NH 4 Cl verunreinigtes, 97 %iges NH 2 Cl. d) Länger bekannt ist das Ammoniakat NI 3 • NH 3 (1813, Courtois; schwarze Krist., explosiv).
von A m m o n i a k existieren darüber hinaus teilhalogenierte Derivate N H 2 X u n d N H X 2 (Tab. 76). Halogenide N X mit Stickstoff der Oxidationsstufe + 5 (vgl. P h o s p h o r p e n t a h a l o genide, Salpetersäure) sind in F o r m von Ionen N X 4 mit X = F, Cl b e k a n n t (Gegenionen AsF 6 - , SbF 6 -). Nachfolgend werden zunächst die Halogenderivate des Ammoniaks („Halogenamine"), dann die des Hydrazins und Diimins (,,Halogenhydrazine", „-diimine") und schließlich die der Stickstoffwasserstoffsäuren (,,Halogenazide") behandelt. Die Halogenidoxide des Stickstoffs vom Typus NOX (,,Nitrosylhalogenide", isoliert mit X = F, Cl, Br; Konstitution: O = N — X ) sowie NO 2 X (,,Nitrylhalogenide", isoliert mit X = F, Cl, Br; Konstitution: O 2 N—X) werden als Derivate der Salpetrigen bzw. Salpetersäure NO(OH) und NO 2 (OH) (Ersatz von OH durch X) bei diesen Säuren besprochen (S. 726 und 734), die Verbindungen N O X („Nitrosyltrihalogenide", isoliert mit X = F, (Cl); Konstitution O H 2 N0~ > N2H4 > N H 0 H > NH 3 > 0H~. Hinsichtlich eines Nucleophils Nu" vermögen Halogenamine NH3_„X„ (X = Cl, Br, I, aber nicht F) bzw. deren Protonenaddukte auch als Donatoren positiven Halogens X + zu wirken. Derartige Halogenierungen verlaufen im Zuge assoziativer nucleophiler Substitution der Amidgruppe am Halogen ,
Nu: + X—NC
Halogenierung
^
.
Nu—X + :NC
Schließlich lassen sich in wasserstoffhaltigen Halogenaminen die positivierten H-Atome durch elektrophile Reaktionspartner El + ersetzen, was einer Amidierung von El + , d.h. einer Übertragung von ^N auf El + entspricht: ^
El + + H—NC
Amidierung
^
^
El—NC + H +
Verwendung finden N H C l (S. 699) und N F (S. 697).
696
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Fluoramine Monofluoramin NH 2 F (Tab.76) lässt sich durch „Verdampfen" des Addukts NH 2 F • 2HF = NH 3 F + HF 2 im ziehenden („dynamischen") Hochvakuum gewinnen und nach Durchleiten des Reaktionsgases durch aktiviertes, gepulvertes KF (Absorption von H F nach KF + HF -> K + H F 2 ; vgl. S. 450) bei der Temperatur des flüssigen Stickstoffs (— 196°C) ausfrieren. Das Addukt N H 3 F + HF^ ist seinerseits durch Einwirkung von Fluorwasserstoff auf Fluorcarbaminsäureester, der durch Fluorierung von Carbaminsäureester zugänglich ist, gewinnbar: F2/N2
(HF)
— HF
u.a.
^
RO—CO—NH 2 — R O — C O — N H F - — N H 3 F + HF~
A
• NHF.
+ 2 K F , — 2KHF2
Das extrem thermolabile Fluoramin (pyramidaler Bau; Tab. 77) fällt als farblose Festsubstanz aus, die bei ca. — 100 °C unter vollständiger Zersetzung nach 3NH 2 F
NH 4 F + 2HF + N 2
schmilzt (bezüglich des Zerfallsweges vgl. die analoge Zersetzung von NH 2 Cl, unten). N H F wirkt als starkes Aminierungsmittel. Z.B. entsteht beim Durchleiten von N H F durch gekörntes CaCl 2 Chloramin (NH 2 F + C r NH 2 C1+ F~). Als schwache Base bildet N H F mit starken Säuren HX Salze NH 3 F + X - mit dem Fluorammonium-Ion NH 3 F + (X" z.B. HF-T, S0 4 H~, S0 3 F~, S 0 3 C P , Cl0 4 ; X " darf keine nucleophilen Eigenschaften besitzen, da sonst Fluorid in N H F durch X~ substituiert wird). Difluoramin NHF 2 (Tab.76) entsteht neben anderen Stickstofffluoriden ( N H F , N F , N 2 F 4 , N 2 F 2 ) bei der Elektrolyse von geschmolzenem N H HF 2 . Das bei Raumtemperatur haltbare, explosive Difluoramin erzeugt man aber mit Vorteil durch Spaltung von Tetrafluorhydrazin (S. 703) mit Thiophenol bei 50°C (N 2 F 4 + 2C 6 H 5 SH 2NHF 2 + C 6 H 5 SSC 6 H 5 ; 40 %ige Ausbeute) oder durch Hydrolyse von N,N-Difluorharnstoff (100%ige Ausbeute). Letzterer ist seinerseits durch Fluorierung wässeriger Harnstofflösungen zugänglich (70%ige Ausbeute): H2N—C^NH
+ F,/N2 — 2HF
H,N—CO—NF,
(konz. H52 S O . ) +H30
— N H F , + N H + CO 2 . +
Farbloses N H F (pyramidaler Bau; Tab. 77) zersetzt sich thermisch (in Anwesenheit von KF als HFFänger) gemäß: (KF)
2NHF 2 - — U 2 H F + N 2 F 2 in Difluordiimin (S. 703). Hierbei wirkt N H F als Aminierungsmittel hinsichtlich N H F (nucleophile Substitution von N-gebundenem Fluorid durch NF 2 unter Hilfestellung von Fluorid als H-Akzeptor: F 2 N~ + N H F ^ F 2 N—NHF + F " ; F N ~ N H F -> F N = N F + HF). Eine elektrophile Aminierung (nucleophile Substitution) liegt wohl auch der Reduktion von N H F mit Jodwasserstoff zu N H zugrunde (NHF 2 + 2 I " -> NHI 2 + 2 F ; NHI 2 + 2HI ^ NH 3 + 2I 2 ). Die überaus schwache Base N H F vermag mit starken Brönsted- und Lewis-Säuren Addukte zu bilden, z.B. das Difluorammonium-Ion NH 2 F 2 oder das Addukt C13B NF), welches nach Berechnungen analog P F trigonal-bipyramidalen Bau aufweist (D3h-Symmetrie, Abstände NF ax /NF äq ca. 1.58/1.39 Ä; Pseudorotationsbarriere ca 17 kJ/mol), ließ sich bisher nicht nachweisen. Es zerfällt (laut Rechnung) auf dem Wege N F NF4 + F + 36kJ (£ a ca. 65-95 kJ/mol) in das Radikal N F (C3v-Symmetrie; Abstände = ca. 1.37 (3 x )/2.70Ä), welches sich nach NF4 -> N F + F + 0 kJ weiter zersetzt. Einwirkung von auf NF in der elektrischen Entladung ergibt als Derivat von NF Stickstofftrifluoridoxid NOF3 (,, Nitrosyltrifluorid"), ein farbloses, stabiles, giftiges, hydrolysebeständiges und oxidierend wirkendes Gas (Smp./Sdp. = — 160/— 87°C; verzerrt tetraedrischer Bau mit C^-Symmetrie), das sich durch Fluorierung mit NOF (z. B. mit IrF6) gewinnen lässt, fluorierend wirkt und mit starken F~Akzeptoren (wie BF, AsF5, SbF5) Komplexe des Typus NOF^" [AsF6]~ bildet (NOF^" ist isoelektronisch mit C O F oder NO3~). Bzgl. eines weiteren Derivats von N F Stickstofffluoriddioxid NO 2 F (,,Nitrylfluorid"; ebenfalls isoelektronisch mit NOF^) vgl. S. 734.
Chloramine Allgemeines Die Darstellung von NH2C1, NHC12 und NC13 erfolgt durch Halogenierung von Ammoniak mit Chlor Cl2 (1), Hypochloriger Säure HOCl (2) bzw. Chloramin NH 2 Cl (3): + C1„+HC1
NH
+ + H 2 O .
(2a,b)
Es lässt sich durch organische Lösungsmittel aus der wässerigen Phase extrahieren. In organischen Medien kann es auch in höheren Konzentrationen durch Komproportionierung aus NH 2 Cl und NC13 erzeugt werden: NH 2 C1 + NC13 2NHC1 2 . Darüber hinaus bildet sich NHC12 gemäß (3 b) durch Disproportionierung aus NH 2 Cl in verdünnter wässeriger Lösung bei pH 3.5-4 (Zutropfen von verdünnter Perchlorsäure zu einer NHC -Lösung): 2NH 2 C1 + H + ^ N H ^ + N ^
(K ca. 10 9 ).
(3b)
Die nach (2a, b) und (3 b) gebildeten Lösungen enthalten Ammonium-Ionen sowie geringe Mengen N H C l und N O , . Zur Erzeugung von ammoniumfreiem, reinem Dichloramin gibt man eine verdünnte wässerige NHCl-Lösung (0.05-molar) auf einen Jonenaustauscher in der protonierten Form und eluiert NHC12 mit Wasser (auf der Säure erfolgt die Disproportionierung (3 b) sowie ein Austausch von H + gegen die Ionen NH und NH C ). Eigenschaften. Das in wässeriger Lösung gelbe und praktisch nicht gemäß HNC12 H + + NC12 dissoziierende (pKs ca. 7) bzw. gemäß HNC12 + H + -> H 2 NC1 2 protonierbare Dichloramin ist viel instabiler als Chloramin und kann deshalb nicht in Substanz isoliert werden. Die N H 4 -haltigen NHC12Lösungen sind bei pH 3.5-4 noch vergleichsweise haltbar (ca. 10% Zersetzung pro Tag), die N H 4 -freien Lösungen sehr instabil (100% Zersetzung in wenigen Stunden). Der Zerfall von N H 4 -freien NHC12 erfolgt bei pH-Werten von 4 (schwach saure Lösung) hauptsächlich nach (7a), bei pH-Werten um 12 (alkalische Lösung) überwiegend nach (7b). In neutraler Lösung verlaufen beide Reaktionen im Verhältnis ca. 1 : 10: 3 NHC12
NC13 + N 2 + 3HCl,
2NHC12 + 3 O H "
(b)
(7)
N 2 + 3 C r + HOCl + 2 H 2 O .
Hierbei wirkt N H C l (bzw. NH 2 C1 2 ) ähnlich wie N H C l (s.o.) als Chlorierungsmittel und überträgt positives Chlor in Umkehrung der NHC12-Gewinnung (2b) auf Wasser, wobei die geringen, durch NHC1 2 -Hydrolyse (2b) gebildeten HOCl-Mengen NHC12 gemäß (2c) zu NC13 chlorieren: NHC12 + H 2 O
(b
N H ^
HOCl;
NHC12 + HOCl
(c)
NC13 + H 2 O .
(2)
Durch diesen HOCl-Entzug, der um viele Zehnerpotenzen rascher abläuft als die Hydrolyse, schreitet die Hydrolyse (2b) weiter voran. Gebildetes NC13 führt dann in Verbindung mit NHC12 im Zuge der Reaktionsfolge (4) zum Zerfall von NHC12, der im Sinne des Besprochenen im alkalischen Milieu ausschließlich Stickstoff liefert (7 b), während im schwach sauren Milieu gewisse Mengen NC13 verbleiben (7a). Wegen der zusätzlichen Bildung von HOCl nach (4) erhöht sich die Geschwindigkeit des NHC12Zerfalls autokatalytisch. Die zerfallshemmende Wirkung der N H 4 -Ionen beruht dann auf dem raschen Abfangen von gebildetem HOCl durch N H gemäß NH 3 + HOCl ^ NH 2 C1 + H 2 O (2a) (die NHC12Ammonolyse NHC12 + NH 3 -> 2NH 2 Cl (3b) erfolgt aber deutlich langsamer als die Chlorierung von NH durch HOCl). Ein Beispiel für eine Reaktion, in welcher NHC12 als elektrophiles Aminierungsmittel wirkt, stellt die Umsetzung von Hydroxid-Jonen mit wässerigem NHC12 dar (Ersatz von Cl" durch OH"; Übertragung von NHC auf OH ), die wohl auf dem Wege über NC (NHC OH NC O) zu sauerstoffhaltigen Stickstoffverbindungen führt (z.B. Hyponitrit N 2 0 2 ~ ) . Stickstofftrichlorid NC13 („Trichloramin"; vgl. Tab.76). Darstellung. NC13 lässt sich durch Einwirken von Chlorgas auf Ammoniumchlorid in Wasser bei pH 3 - 4 auf dem Wege über N H C l und NHC12 gewinnen NH 3 + 3C12
NCl 3 + 3HCl.
(1a,b,c)
Das benötigte Chlor wird in der Technik durch Elektrolyse der NHCl-Lösung erzeugt ( 2 C F -> Cl2 + 2 0 ) . Da das Gleichgewicht (1 a, b,c) durch gebildetes HCl zunehmend nach links verschoben wird (s. o.), arbeitet man in Anwesenheit von Puffersystemen und extrahiert erhaltenes NC13 mit organischen Medien wie CC14. Darüber hinaus entsteht NC13 durch Chlorierung von Ammonium-Ionen mit Hypochloriger Säure (Molverhältnis N H 4 :HOC1 = 1 : 3) in wässeriger Lösung bei p H 3 - 4 auf dem Wege über N H C l und NHC12:
1. Der Stickstoff N H + + 3 H 0 C 1 ^ NC13 + H 3 0 + + 2 H 2 0
701 (2a,b,c)
Allerdings lässt sich hierbei aus den oben genannten Gründen (4) keine quantitative NC13-Ausbeute erzielen. In alkalischem Milieu wird N H von überschüssigem Hypochlorit bzw. Chlor vollständig zu Stickstoff oxidiert (s. oben), in stark saurem Milieu zerfällt NC13 (s. unten). Eigenschaften. Stickstofftrichlorid (pyramidaler Bau; Tab. 77) stellt ein dunkelgelbes, stark riechendes, in Wasser nur mäßig und in CC14, CS 2 , C 6 H 6 gut lösliches Öl dar. NC13 ist eine stark endotherme Verbindung (A.fff ca. 230 kJ/mol). Beim Erwärmen auf über 90 °C, bei Erschütterungen oder bei Berührung mit vielen organischen Substanzen (z. B. Terpentinöl, Kautschuk explodiert sie unter Bildung von Stickstoff und Chlor (radikalischer Zerfallsmechanismus; P.L. Dulong, der NC13 1811 entdeckte, verlor durch eine NC13-Explosion drei Finger und ein Auge). Konzentrierte Salzsäure setzt sich mit NC13 in Umkehrung der Bildung (1) zu Ammoniumchlorid und Chlor um (NC13 + 3HC1-> NH 3 + 3C12; NH 3 + HCl -> N H C l ; in analoger Weise bewirken andere starke Säuren HX eine Umwandlung von NC13 u.a. in N H X und Cl 2 ). Mit Wasser bzw. Ammoniak erfolgt Reaktion nach (8) bzw. (9): 2NC13 + 3 H 2 0
N 2 + 3H0C1 + 3 H C l (
2NC13 + 3NH 3
N2 + 3 M ^ + 3 H C U
+ 30H",
—3H,0
+ 3NH3
^
3CP),
• 3NH 4 Cl).
(8) (9)
Hiernach lässt sich die NC -Gewinnung (2) nicht umkehren (es bleibt nur die Hälfte des positiven Chlors erhalten). Im Zuge der Rückreaktion (1) sowie der Reaktionen (8) und (9) wirkt NC13 als Chlorierungsmittel (Übertragung positiven Chlors). So bildet sich im Falle der langsam erfolgenden Hydrolyse unter Chlorierung von Wasser zunächst Hypochlorige Säure neben Dichloramin NC13 + H 2 0 NHC12 + H0Cl (2c). Das Gleichgewicht liegt allerdings ganz auf der linken Seite. Es wird aber durch die exotherme und sehr rasche Folgereaktion (4), wobei NC als elektrophiles Aminie rungsmittel wirkt nach rechts verschoben (die Addition von (2c) und (4) ergibt die Summengleichung (8)). Die Basizität von NC13 ist klein. Tatsächlich führt die Einwirkung starker Säuren HX auf NC13 wohl auf dem Wege über HNC13 - u. a. zur Bildung von N H X und Cl2 (s. o.), aber nicht zu isolierbaren Protonaddukten. Es gelingt jedoch, die Lewis-Säure Cl + an NC13 unter Bildung des farblosen Tetrachlorammonium-Ions NC14 (Td-Symmetrie) zu addieren: 2NC13 + C\2 + 3AsF 5 -> 2NC1 4 AsFg + AsF 3 (Reaktionsmedium: flüssiges S0 2 ; Versuche zur Reproduzierung der Ergebnisse blieben allerdings bisher erfolglos). Auch lässt sich ein Sauerstoffatom mit NC13 verknüpfen, wobei das zu erwartende Stickstofftrichloridoxid NOCl 3 („Nitrosyltrichlorid") bisher nur in Form des blassgelben Kations N0C1 2 (planar; isoelektronisch mit Phosgen C0C1 2 ; Abstände N0/NCl/NCl im Salz N0Cl 2 + SbCl6 = 1.30/1.61/1.72 erhalten werden konnte NC13 + S0C12 + SbCl5
N0Cl 2 + SbCl6 + SC12 (Reaktionsmedium: CC14).
Brom- und lodamine Wässerige Lösungen von Bromamin NH 2 Br (Tab. 76), bilden sich durch Bromierung von N H (Überschuss) mit Hypobromit (NH 3 + BrO~ N H ^ ^ 0 H " ) , etherische Lösungen beim Einleiten von Ammoniakgas in bromhaltigen, gekühlten Ether (2NH 3 + Br2 -> N H ^ ^ N H B r ) . Beim Eingießen der von unlöslichem N H B r befreiten etherischen Reaktionslösungen in auf — 120 °C gekühltes Pentan fällt reines N H B r als schwarzviolette, pentanunlösliche Substanz aus. Das schwach basisch wirkende N H B r (K b ca. 2x 10 ~ s ) setzt sich in wässeriger und etherischer Lösung in Abwesenheit von überschüssigem Ammoniak bis zu einem Gleichgewicht gemä 2N
B
NH
NHB
zu Dibromamin NHBr 2 (Tab. 76) um (vollständige Gleichgewichtsverschiebung durch Abfangen des Ammoniaks mit Säure oder Calciumchlorid). I Anwesenheit von Ammoniak zersetzt sich Bromamin wie Chloramin (s. oben) mehr oder weniger rasch summarisch nach 3N
B
2N
3N
B
(T1/2 = 580 Min. bei — 70 °C, 124 Min. bei 0 °C, 6.9 Min. bei + 24°C). Die Reaktion verläuft offenbar über Hydrazin (2NH 3 + N H ^ ^ NH 2 —NH 2 + N H B r ) , welches aber seinerseits rasch mit N H B r weiterreagiert, sodass seine Konzentration stets klein bleibt (im Falle der entsprechenden NH 2 Cl/NH 3 Reaktion lässt sich intermediär gebildetes N 2 H unter geeigneten Bedingungen abfangen; s. N 2 H 4 -Synthese). Stickstofftribromid NBr 3 (Tab. 76) bildet sich bei der Einwirkung von Brom auf Ammoniaklösungen vom pH-Wert < 6 und lässt sich in reiner Form durch Reaktion des Trimethylsilylderivats
702
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
(Me 3 Si) 2 NBr mit Bromchlorid in Pentan bei — 87 °C als tiefrote, selbst bei — 100 °C explosive, stark endotherme, pentanunlösliche Substanz gemäß (Me 3 Si) 2 NBr + 2BrCl ^ NBr 3 + 2Me 3 SiCl erzeugen. Die in Ether und Dichlormethan lösliche Substanz setzt sich mit Ammoniak zu Monobromamin (NBr 3 + 2NH 3 -> 3NH 2 Br), mit Iod in Dichlormethan zu ,,Stickstoffdibromidiodid" NBr 2 I (rotbraun, stabil bis — 20 C) um Gibt man zu flüssigem Ammoniak unterhalb des Siedepunktes (— 33.43°C) viel Iod, so bildet sich auf dem Wege über einen Charge-Transfer-Komplex H 3 N • I 2 , Monoiodamin NH 2 Iund Diiodamin NHI 2 schließlich Stickstofftriiodid-Triammoniakat NI 3 • 3NH 3 als ein in flüssigem Ammoniak bei tiefen Temperaturen schlecht löslicher grüner Festkörper (unterhalb — 73 °C entsteht rotes NI 3 • 5NH 3 ): + 2NH,s
2I r
2HN---I
+ 2NH, 2N
+NH,
' 2NH,I 7
^ NHL
+ N H; J
> NL • NH,
+2NH,
* NL • 3 N H .
(10)
Dieser verwandelt sich oberhalb — 33 °C unter Ammoniakabgabe in Stickstofftriiodid-Monoammoniakat NI 3 • ^ H 3 , eine - je nach dem Zerteilungsgrad - rotbraune bis schwarze Substanz. NI 3 • NH 3 lässt sich auch durch Einleiten von Ammoniak in eine wässerige Kaliumtriiodidlösung als wasserunlösliches Produkt gewinnen und ist in Ammoniakatmosphäre bei Raumtemperatur im Dunkeln unbegrenzt haltbar, explodiert jedoch in trockenem Zustand bereits bei der geringsten Berührung, bei gelindem Erwärmen oder bei Bestrahlung unter Bildung von Stickstoff, Ammoniumiodid und Iod (etwa nach: 8 N I 3 - N H 3 -> 5N 2 + 6NH 4 I + 9I 2 ). Das Gleichgewicht (10) ist reversibel. Löst man demgemäß NI 3 • NH 3 in Diethylether in Anwesenheit von Ammoniumiodid, so bildet sich gemäß N I 3 - N H 3 + 3 N H 4 I < ± 3 N H 3 - I 2 + 2 N H 3 der in Ether lösliche braune Charge-Transfer-Komplex N H • L . Beim Versuch, NI 3 • NH 3 im Vakuum von Ammoniak zu befreien, zerfällt das Iodid nach 2NI 3 • NH 3 -> 2 N H 3 + N 2 + 3I 2 unter Stickstoff- und Iodbildung. Solvatfreies reines Stickstofftriiodid NI 3 (Tab.76) lässt sich durch Einwirkung von Iod und Fluor (I2 + F2 -> 2IF) auf Bornitrid in CFC13 bei — 10 °C) nach BN
3I
NI
BF
in kleiner Ausbeute als tiefroter Festkörper gewinnen, der durch Sublimation bei — 20 °C unter teilweiser Zersetzung gereinigt werden kann und bei 0 °C rasch bis explosionsartig zerfällt (in Lösung benötigt der Zerfall bei — 60°C Stunden). NI 3 ist thermodynamisch instabiler als NC13 (Tab. 76). Mit flüssigem Ammoniak ergibt N L das Ammoniakat N L • 3NH 3 , mit Methyliodid bei — 30 °C Tetramethylammoniumiodid: NI 3 + 4 M e ^ NMe 4 + 3I 2 . In NI 3 • NH 3 sind die NI 3 -Moleküle über Iod zu unendlichen Ketten verbrückt: — NI 2 —I—NI 2 —I—NI 2 —I—, wobei jedes Stickstoffatom näherungsweise tetraedrisch von Iod umgeben ist (Abstand des Stickstoffs zu einem Brückeniodatom 2.30 Ä, zu einem terminalen Iodatom ca. 2.14 Ä), jedes Brückeniodatom linear von Stickstoff. Ammoniak bildet mit jeweils einem der beiden terminalen Iodatome jedes Stickstoffatoms einen Charge-Transfer-Komplex N—I NH 3 (I NH 3 -Abstand: 2.53 Ä). Kühlt man eine gesättigte Lösung von NI 3 • 3 N H in flüssigem Ammoniak in Abwesenheit von NH 4 I von — 34 °C auf unter — 75 °C ab, so fällt das gemäß (10) im Gleichgewicht mit Stickstofftriiodid stehende N H I in Form eines roten Ammoniakaddukts aus. Es lässt sich im Vakuum bei — 90 °C von N H befreien und in das schwarze Monoiodamin NH 2 I (Tab. 76) überführen, welches seinerseits bei — 60 °C im Vakuum weiteres Ammoniak unter Bildung des sehr instabilen Diiodamins NHI 2 (vgl. Tab. 76) abgibt (2NH 2 I NHI 2 + N H ) . Kühlt man die oben erwähnte, mit NI 3 • 3 N H gesättigte flüssige AmmoniakLösung nicht ab, so zersetzt sich das N L wohl über das im Gleichgewicht befindliche Iodamin (3NH 2 I + 2NH 3 ^ N 2 + 3NH 4 I; vgl. hierzu die Reaktion von NH 2 Cl und NH 2 Br mit N H ) summarisch nach: NI 3 + 4NH 3 ^ N 2 + 3NH 4 I.
1.3.3
Halogenderivate des Hydrazins und Diimins
Bisher sind von den Halogenhydrazinenen und -diiminen nur N2F4 und N2F2 isoliert und charakterisiert worden. Das gemischte Dihalogendiimin N 2 Cff, das beim Erwärmen eines Gemischs aus FN 3 und ClN 3 auf 120°C entsteht (FN 3 /ClN 3 ->• FN/ClN + 2N 2 F N = N C 1 + 2 N ) , ist hochexplosiv. N2C14 sowie N2C12 stellen Reaktionszwischenprodukte der Reaktion von NHC12 und NC13 dar (vgl. S. 698).
1. Der Stickstoff
703
Distickstofftetrafluorid N 2 F 4 (Tab.76). Leitet man NF 3 bei 375°C über Metalle (z.B. Kupfer) oder unterwirft man ein Gemisch von N F und Hg-Dampf einer elektrischen Entladung, so entsteht durch Fluorentzug gemäß 2NF 3 + 2M ^ N 2 F 4 + 2 M F (M = Äquivalent des Metalls) mit 60-70 %iger Ausbeute gasförmiges ,,Tetrafluorhydrazin" (,,Tetrafluordiazan") N 2 F 4 . Seine Molekülstruktur (NN-Abstand 1.48 Ä, NF-Abstand 1.39 Ä, entsprechend Einfachbindungen) ist hydrazinähnlich (vergleichbare Anteile an gauche und trans-Form (C2- und C2h-Symmetrie), letztere um etwa 2 kJ/mol stabiler; die beiden NF-Hälften werden durch eine Energiebarriere von 12.5 kJ/mol an einer internen Rotation behindert). Es wirkt gegenüber vielen Stoffen wie Schwefel oder Lithium als kräftiges Fluorierungsmittel ( N 2 F 4 + 10Li 4LiF + 2Li 3 N; N 2 F 4 + S 8 u.a. SF 4 , SF 5 NF 2 ) und dissoziiert in der Gasphase beim Erwärmen leicht in dunkelblaue durch Abschrecken des Gases isolierbare Difluoramin-Radikale NF 2 : 93.4 kJ + N 2 F 4 6 (Zerfall von N 2 0 5 ) 3 °. Alle Stickstoffoxide mit Ausnahme von N O 4 (fl) sowie N 2 0 5 (f) sind endotherme, alle Oxide ohne Ausnahme endergone Verbindungen (AGf = positiv) und sollten daher bei Raumtemperatur aus thermodynamischen Gründen in die Elemente zerfallen. Die Zersetzung erfolgt aber aus kinetischen Gründen erst beim Erwärmen Nachfolgend werden zunächst die ,,Nitrosen Gase"3° N2O, NO/N2C>2, N 2 0 3 , NO 2 /N 2 0 4 , dann sonstige Stickstoffoxide (N2Os, NO 3 /N 2 0 6 , N A N 4 0 2 ) besprochen.
1.4.2
Distickstoffmonoxid N 2 0 2 ' 2 9 ' 3 1
Darstellung Distickstoffoxid (früher: , , S t i c k o x y d u l " ) N 2 O k o m m t in Spuren in der Atmosphäre vor u n d entsteht in der Natur als N e b e n p r o d u k t der Denitrifikation u n d Nitrifikation (S.654). In der Technik wird es durch Erhitzen von A m m o n i u m n i t r a t oder einer Mischung von A m m o n i u m s u l f a t u n d N a t r i u m n i t r a t auf 200 °C dargestellt (zum Mechanismus vgl. S. 736): NH^+NO3 ±?NH3+HNO3
N20 + 2H2Ü.
M a n muss dabei Sorge tragen, dass die Temperatur nicht zu hoch steigt, da oberhalb 300°C unter bestimmten Bedingungen ein explosionsartiger Zerfall des A m m o n i u m n i t r a t s eintreten kann + 2 H 2 0 + 124.1 kJ). Im Laboratorium lässt es sich auch durch Umsetzung von Amidoschwefelsäure (siehe dort) mit konzentrierter Salpetersäure (H NSO HNO SO O), durch Zersetzung der Hypo
706
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
salpetrigen Säure (H O) sowie durch Reduktion von Salpetriger Säure mit Hydro xylamin oder Stickstoffwasserstoffsäure gewinnen (HNO NH OH 2H O; HNO HN O). Physikalische Eigenschaften Distickstoffoxid ist ein farbloses, diamagnetisches Gas von schwachem, süßlichem Geruch 31 und lässt sich leicht zu einer Flüssigkeit verdichten, welche bei — 88.48 °C siedet und bei — 90.86 °C zu weißen Kristallen erstarrt (AHf = + 82.10, AGf = + 104.2 kJ/mol). In kaltem Wasser ist es ziemlich löslich: 1 Raumteil Wasser absorbiert, ohne jede chemische Reaktion, bei 0 °C 1.3052, bei 25 °C 0.5962 Raumteile N 2 O; daher muss man es bei der Darstellung über heißem Wasser oder über einer konzentrierten Kochsalzlösung auffangen. Aus der (neutralen) wässerigen Lösung lässt sich bei tiefen Temperaturen ein kristallines „Hydrat" N 2 O • 5f H 2 O ausscheiden (vgl. S. 530). N 2 O löst sich unter Druck darüber hinaus gut in Fetten Die Konstituton des linear gebauten Distickstoffoxids (isoster mit C O ) ist NNO. Sein Valenzzustand lässt sich durch folgende Mesomerieformel (a): " (a)
©
0
:N=N—Ö:
© —
©
"
N=N=Ö
(b)
: N ^ = N :
zum Ausdruck bringen. Der NN-Abstand beträgt 1.126 Ä, entsprechend einem Zwischenzustand zwischen doppelter (1.20 Ä) und dreifacher Bindung (1.10 Ä); der NO-Abstand hat den Wert 1.186 Ä, entsprechend einem Zwischenzustand zwischen einfacher (1.36 Ä) und doppelter Bindung (1.16 Ä). Die Verhältnisse liegen hier ganz analog wie im Falle der Stickstoffwasserstoffsäure NH N = N = N H ] , deren Formel sich von der des Distickstoffoxids N 2 O durch Austausch des Sauerstoffatoms O gegen eine Iminogruppe NH ableitet. Energiereicheres cyclisches N 2 O (b) entsteht offensichtlich als Zwischenprodukt des O(N -Zefalls (S. 481). Chemische Eigenschaften Distickstoffoxid unterhält die A t m u n g nicht, sodass es bei N a r k o sen3i n u r bei gleichzeitiger Sauerstoffzufuhr eingeatmet werden darf. Die Verbrennung leicht entzündlicher K ö r p e r wird dagegen lebhaft unterhalten („Ozon der Stickstoffchemie"). So verbrennen z.B. P h o s p h o r , Schwefel, Kohle oder ein glimmender H o l z s p a n darin wie in Sauerstoff; Gemische mit Wasserstoff explodieren beim E n t z ü n d e n wie Knallgas, n u r - wegen der N 2 - B e i m e n g u n g - etwas schwächer: N 2 0 + H 2 -> N 2 + H 2 0 + 368.1 kJ. Die Verbrenn u n g mit N 2 O ist im Allg. schwieriger einzuleiten, als die mit Sauerstoff, weil Distickstoffoxid bei niedrigen Temperaturen recht beständig - allerdings n u r metastabil (N20 N 2 + j 0 2 + 82.10 kJ) - ist u n d erst bei verhältnismäßig h o h e n Temperaturen (600°C) in die Elemente zu zerfallen beginnt. Besonders heftigt explodieren entzündete Gemische von Distickstoffoxid u n d A m m o n i a k : 3 N 2 0 + 2 N H 3 4 N 2 + 3 H 2 0 + 1012.1 kJ. Mit Stickstoffm o n o x i d , Sauerstoff, Ozon, Halogenen u n d Alkalimetallen reagiert N 2 O bei R a u m t e m p e r a t u r nicht (O 2 reagiert mit N O unter Bildung von braunem N O , N O nicht, was zur Unterscheid u n g von 0 2 u n d N 2 O dient). Bezüglich der Beteiligung v o n N 2 O a m Kreislauf des Stickstoffs sowie Ozons vgl. S.654 u n d 516, bezüglich der Redoxpotentiale S. 718. N 2 O wirkt nicht als Brönsted-Base, vermag aber als Lewis-Base in Distickstoffoxid-Komplexen aufzutreten (z.B. [Ru(NH 3 ) ? (H 2 O)] 2 + + N 2 0 [Ru(NH 3 ) 5 (N 2 O)] 2 + + H 2 O). Hinsichtlich starker Basen wirkt N 2 O darüber hinaus als Lewis-Säure, wie etwa die Umsetzung mit Amid lehrt (S. 680): N H 2 ]O. Verwendung Außer als Inhalationsnarkotikum3I wird N 2 O als Treibgas für Sprays im pharmazeutischen, kosmetischen und Lebensmittelsektor (z. B. Schlagsahne, Speiseeis) eingesetzt.
3i Physiologisches Da N 2 O schwach betäubende Wirkung zeigt, kommt es in verflüssigtem Zustand für Narkosezwecke in den Handel. In geringen Mengen eingeatmet, ruft es einen rauschartigen Zustand und eine kramphafte Lachlust hervor („Lachgas").
1. Der Stickstoff
1.4.3
Stickstoffmonoxid NO. Distickstoffdioxid N 2 0 2 1
Darstellung. D a s Stickstoffoxid
707
32 33
(,,Stickoxid") N O ist eine stark e n d o t h e r m e Verbindung:
180.62 kJ + N 2 + 0 2
2NO
(1)
u n d lässt sich daher nur bei Energiezufuhr (hoher Temperatur, elektrischer Lichtbogen) u n d auch da nur mit schlechter Ausbeute - aus den Elementen erzeugen.
NOZerfall in N 2 + 2O
400
1600 1700 1800 1900 2000 °C - Temperatur
Fig. 168 Temperaturabhängigkeit der Stickstoffmonoxid-Ausbeute bei der Synthese aus Luft (die ausgezogene Kurve entspricht den Gleichgewichtskonzentrationen von NO bei verschiedenen Temperaturen. Außerhalb der Kurve erfolgt NO-Zerfall, innerhalb der Kurve NO-Bildung bis zur Erreichung der für die betreffende Temperatur gültigen Gleichgewichtskonzentration an NO).
Fig. 168 gibt die Ausbeute an Stickoxid in Vol.-% beim Erhitzen von Luft (4N 2 + 0 2 ) auf verschiedene Temperaturen wieder. Wie daraus hervorgeht, befinden sich bei 1800 °C rund 0.5, bei 1900 °C 1 Vol.-% Stickoxid mit Luft im Gleichgewicht (bei 1200/700/200 0 C betragen die Gleichgewichtskonzentrationen rund 0.1/0.04/10" 7 Vol.-% NO). Bei höheren Temperaturen durchläuft die NO-Ausbeute wegen des dort erfolgenden Zerfalls in N 2 -Moleküle und O-Atome ein Maximum (ohne diesen Zerfall würde die NOGleichgewichtskonzentration entsprechend der unterbrochenen Linie exponentiell weiter ansteigen
32
C h e m 105 (1993) 399-402; Int. Literatur H.-J. Galla: , S t i c k s t o f f m o n o x i d , ein interzellarer BotenstoffAngew. E d 32 (1993) 378; R. J. P. Williams: ,,Nitric Oxide in Biology: Its Role as a LigandChem. Soc. Rev. (1996) 77-83; S. Pfeiffer, B. Mayer, B. Hemmens:,,Stickstoffmonoxid: die rätselhafte Chemie eines biologischen Botenstoffs", Angew. C h e m 111 (1999) 1824-1844; Int. E d 38 (1999) 1714; F. Murad: ,,Die Entdeckung einiger biologischen Wirkungen von Stickstoffmonoxid und seine Rolle für die Zellkommunikation", Angew. C h e m 111 (1999) 1976-1989; Int. Ed. 38 (1999) 1856; R.F. Furchgott: ,,Der relaxierende Faktor aus Endothelzellen: Entdeckung, frühe Untersuchungen Angew. C h e m 111 (1999) 1990-2000; Int. E d 38 (1999) 1870; L.J. und Identifizierung als Stickstoffmonoxid", Ignarro: , S t i c k s t o f f m o n o x i d : ein einzigartiges endogenes Signalmolekül in der Gefäßbiologie", Angew. C h e m 111 (1999) 2002-2013; Int. E d 38 (1999) 1882; B.F.G. Johnson, B.L. Haymore, J.R. Dilworth: ,,Nitrosyl Complexes", Comprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 100-118; J. A. McCleverty:,, Chemistry of Nitric Oxide Relevant to Biology", Chem. R e v 104 (2004) 403-418; G.B.Richter-Addo, P.Legzdins, J.Burstyn (Hrsg.): ,Nitric Oxide Chemistry", Chem. R e v 102 (2002) 857-1269; mehrere Autoren: ,,Comparison of the Chemical Biology of NO and HNO: An Inorganic Perspective", Progr. Inorg. C h e m 54 (2005) 349-384. 33 Physiologisches Stickstoffmonoxid, das keinerlei physiologische Reizwirkung aufweist, vermag zweiwertiges Eisen des Hämoglobins zu dreiwertigem zu oxidieren, das Sauerstoff nicht mehr binden und transportieren kann. Es ist infolgedessen potentiell toxisch. Das leicht durch Zellmembranen diffundierende, in physiologischen Medien nur kurzzeitig existierende Oxid (Ti/2 = einige Sekunden) ist andererseits ein außerordentlich wichtiger und weit verbreiteter interzellulärer Botenstoff in biologischen Systemen, wie die Arbeiten von F. Murad, R.F. Furchgott und L.J. Igarro (Nobelpreise 1999) lehren (Bildung von N O im Zuge der enzymatischen Oxidation von L-Arginin in Citrullin mit Sauerstoff). Hierbei fällt N O aus der - vor allem aus Proteinen bestehenden - Gruppe von Signalmolekülen zur Kommunikation zwischen Zellen deutlich aus der Reihe. N O reguliert u. a. den Blutdruck; auch fungiert es in Gehirn und Nervensystem als Schlüssel Neurotransmitter (letzere besorgen an den Nervensynapsen die Signalüber tragung) und beteiligt sich damit an der Funktion des Gedächtnisses. Der Wirkungsradius von N O ist allein durch die NO-Lebensdauer beschränkt. Von Makrophagen (Fresszellen) wird N O bei der Inaktivierung von Bakterien, Parasiten und Tumorzellen abgegeben. Neben vielen weiteren physiologischen und pathologischen Prozessen (NO wirkt in höheren Konzentration neuro- und cytotoxisch) spielt N O bei der Blutplättchenaggregation, Wundheilung, Peniserektion, Apopthose (programmierter Zelltod), Tumor-Progression sowie -Metastasierung und der Lichterzeugung der Glühwürmchen eine Rolle. Die gefäßerweiternde Wirkung von Präparaten wie Glycerintrinitrat oder Natriumnitrosylprussiat soll auf der Freisetzung von N O beruhen.
708
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
und bei 2200 bzw. 2700 °C rund 2 bzw. 5 Vol.-% NO betragen). Die reversible Bildung von NO erfolgt hierbei im Wesentlichen auf folgendem Wege über Sauerstoff- und Stickstoffatome, wobei die N-Atombildung geschwindigkeitsbestimmend ist (M Stoßpartner): Kettenstart:
O
(M)
2O
(M)
Kettenabbruch:
O + N ^ M ^ NO
Radikal-
O + N 2 ^ NO + N
kette:
N + 02 ^
NO + O
Die Vereinigung von Stickstoff und Sauerstoff zu Stickstoffmonoxid in einem elektrischen Flammenbogen („Luftverbrennung") war früher ein großtechnisches Verfahren zur Darstellung von Salpetersäure, da man Stickoxid durch Einwirkung von Sauerstoff und Wasser leicht in Salpetersäure überführen kann: 2 N O + H 2 0 + 1 J 0 2 -> 2 H N O 3 (vgl. S. 730). Die hierfür benutzten Verfahren (,,Birkeland-Eyde-Verfahren, „Schönherr-Verfahren", ,,Pauling-Verfahren") unterschieden sich voneinander nur durch die Art und Weise, in der eine möglichst kurze, aber innige Berührung der Gase mit dem Flammenbogen und eine schnelle Abkühlung der Reaktionsgase erreicht wurden. Da nämlich bei den hohen Temperaturen eines Flammenbogens die Gleichgewichtseinstellung der NO-Bildung und -Zersetzung außerordentlich groß ist, stellt sich beim Abkühlen des Reaktionsgemisches jeweils in kleiner Zeit das der niedrigeren Temperatur entsprechende ungünstigere Gleichgewicht ein. Nur durch „Abschrecken", d.h. Abkühlen mit größerer als der Zerfallsgeschwindigkeit, lässt sich der Zerfall weitgehend vermeiden, da man dann rasch in Temperaturgebiete gelangt, in denen die Gleichgewichtseinstellung langsam vor sich geht (unterhalb 450 °C zerfällt N O als metastabiler Stoff praktisch nicht mehr). Unter günstigsten Reaktionsbedingungen lässt sich so die Konzentration von rund 3 Vol.-% NO erhalten. Wegen des erheblichen Verbrauchs an elektrischer Energie blieb das Luftverbrennungsverfahren in der Hauptsache auf Länder mit billigen Wasserkräften (Norwegen, Schweiz) beschränkt. Inzwischen ist es auch dort durch das billigere Verfahren der Ammoniakverbrennung (s. unten) verdrängt worden. Große Mengen NO werden derzeit gemäß (1) im Verbrennungsraum der Automotoren erzeugt. Das mit den Autoabgasen (Analoges gilt für die Rauchgase von Feuerungsanlagen) in die Luft gelangende Stickoxid stellt ein ernstes Problem dar, da es die Chemie der Atmosphäre ungünstig beeinflusst (vgl. hierzu Smog-Bildung sowie Autoabgas- und Rauchgasreinigung; S. 711). Gewisse Mengen NO entstehen in der Luft darüber hinaus durch Blitztätigkeit gemäß (1).
Die technische Erzeugung von Stickstoffmonoxid durch katalytische Ammoniakverbrennung 4 N H 3 + 5O 2 -> 4NO + 6 H 2 0 + 906.11 kJ dient der Salpetersäuregewinnung und wird daher erst bei der Salpetersäure (S. 730) ausführlicher besprochen. Stickstoffmonoxid lässt sich auch durch Reduktion von Salpetersäure gewinnen: NO3 + 4 H + + 3 Q
^
NO + 2 H 2 O .
Nach der Spannungsreihe kann diese Reduktion unter den Normalbedingungen von allen Stoffen bewirkt werden, deren Potential n e g a t i v e r als + 0.96 V und zur - Vermeidung von Wasserstoffentwicklung p o s i t i v e r als 0 V ist. Solche Stoffe sind z.B. Kupfer (Cu -> Cu2+ + 2Q; e0 = + 0.340 V), Quecksilber (2Hg Hg2+ + 2Q; e0 = + 0.789 V) und Eisen(II)-Salze (Fe2+ Fe3+ + Q ; £0 = + 0.771 V). Die Umsetzung verdünnter Salpetersäure mit K u p f e r (3Cu + 2NO3 + 8 H + -> 2 N O + 3Cu2+ + 4H 2 O) ist eine gebräuchliche NO-Darstellungsmethode des L a b o r a t o r i u m s . Die Reaktion mit Q u e c k s i l b e r (Schütteln von Quecksilber mit Salpetersäure und konzentrierter Schwefelsäure: 6 Hg + 2 NO 3 + 8H + -> 2NO + 3Hg2+ + 4H 2 O) dient zur G e h a l t s b e s t i m m u n g von Salpetersäurelösungen (Messung des entwickelten NO-Volumens). Die Umsetzung mit E i s e n ( I I ) - S a l z e n (vorsichtige Unterschichtung der wässerigen Lösung einer auf Nitrat zu prüfenden Substanz und Eisen(II)-sulfat in einem Reagenzglas mit konzentrierter Schwefelsäure:3 Fe2+ + N O 3 + 4 H + -> NO + 3Fe3+ + 2H 2 O) wird zum q u a l i t a t i v e n N a c h w e i s von Salpetersäure benutzt, da das in der Grenzfläche zwischen wässeriger Lösung (oben) und konz. Schwefelsäure (unten) gebildete Stickoxid mit noch unverändertem Eisen(II)-sulfat eine tief dunkelbraune Anlagerungsverbindung („brauner Ring") bildet [Fe(H 2 O) 6 ]2++ N O -> [Fe(H 2 O) 5 NO]2+ JJ^O. Besonders reines Stickstoffmonoxid erhält man durch Reduktion schwefelsaurer Lösungen von Nitriten (HNO 2 + H + + Q -> NO + H 2 O; £0 = + 1.996 V) mit Iodid (£0 = + 0.5355 V) oder Eisen(II)-Salz (£0 = 0.771 V): 2 H N O 2 + 2 r + 2 H + ^ 2 N O + I 2 + 2H 2 O; HNO 2 + Fe2+ + H + -> NO + Fe3+ + H 2 O. Zur NO-Bildung beim Ansäuern von Nitriten vgl. S. 726. Physikalische Eigenschaften Stickstoffmonoxid ist ein farbloses, paramagnetisches, giftiges33 Gas (Smp./ Sdp. - 1 6 3 . 6 5 / - 151.77°C; Aff f /AG f = + 9 0 . 3 1 / + 86.6kJ/mol). Bei tiefen Temperaturen geht NO als Folge der Paarung der Spin- und Bahnmomente des radikalischen Elektrons in den diamagnetischen Zustand über. In Wasser löst es sich nur wenig (0.07 Raumteile NO in 1 Raumteil Wasser bei 0 °C).
1. Der Stickstoff
709
Struktur. NO ist eines der wenigen Hauptgruppen-Oxide mit u n g e r a d e r Elektronenzahl (,,odd-Molekül"; von engl. odd = ungerade); andere Beispiele hierfür sind Cl0 2 und N O - Sein Elektronenzustand kann nach der VB-Theorie durch die Formel (b) wiedergegeben werden, da der gefundene NO-Abstand von 1.14 Ä einem Zwischenzustand zwischen doppelter (ber. 1.16 Ä) und dreifacher Bindung (ber.1.06 Ä) entspricht
Die Bindungsverhältnisse des NO-Radikals (11 Valenzelektronen) lassen sich nach der MO-Theorie, ausgehend vom MO-Schema des N 2 -Moleküls (10 Valenzelektronen; S. 357), durch Hinzufügen eines zusätzlichen Elektrons beschreiben. Da dieses ein antibindendes 7t-MO besetzen muss, erniedrigt sich die Bindungsordnung von 3 des Stickstoffs auf 2.5. Auch lässt sich naturgemäß das zusätzliche Elektron aus seinem antibindenden Zustand leicht abionisieren (IENO = 9.25 eV; IE N2 = 14.0 eV). Das NO-Molekül kann entweder durch A b g a b e oder durch A u f n a h m e eines Elektrons in ein „geradzahliges" Teilchen übergehen. Das im ersteren Fall entstehende, mit dem Kohlenoxid CO und Stickstoff N 2 isoelektronische ,,Nitrosyl-Kation" N O + (vgl. S. 726) enthält in Übereinstimmung mit Elektronenformel (a) eine D r e i f a c h b i n d u n g (gef. 1.06, ber. 1.06 Ä); dem im zweiten Fall gebildeten, mit dem molekularen Sauerstoff O 2 isoelektronische ,,Nitroxyl-Anion" N O " kommt die Elektronenformel (c) mit D o p p e l b i n d u n g zu (gef. 1.20, ber. 1.20 Ä). Das Dimerisierungsgleichgewicht 2NO N 2 0 2 + 10.5 kJ liegt trotz des Radikalcharakters von NO bei Raumtemperatur ganz auf der linken Seite (vgl. hierzu das andersartige Verhalten von NS, S. 606). Erst im flüssigen und namentlich im festen Zustand ( NNO = 101°). Das zu (d) Konstitutionsisomere (e) bildet sich als roter Stoff bei der Kondensation von NO in Gegenwart von Säuren wie HCl, S 0 2 , BX 3 , SiF4, SnCl 4 , TiCl 4 . Das ebenfalls denkbare Konstitutionsisomere N = 0 — 0 = N wurde bisher nicht nachgewiesen. Chemische Eigenschaften Thermisches Verhalten. D e r exotherme Zerfall v o n N O in N 2 u n d 0 2 ist kinetisch so stark gehemmt, dass er erst bei h o h e n Temperaturen ( 1 1 0 0 - 1 2 0 0 ° C ) beobachtet wird. Bei hohen Drücken zersetzt sich N O bereits bei leicht erhöhter Temperatur (50 °C) nach 3 N O -> N O 2 + N 2 O , im flüssigen u n d komprimierten Z u s t a n d oder in Zeolithen unterliegt N O einer langsamen, exothermen Disproportionierung nach 4 N O -> N 2 0 3 + N 2 O . Bzgl. der Dimerisierung v o n N O bei tiefen Temperaturen s. oben. Redox-Verhalten. Charakteristisch f ü r Stickstoffmonoxid, ist sein großes Bestreben, sich mit Sauerstoff zu b r a u n e m S t i c k s t o f f d i o x i d N O zu verbinden: 2N0 + 02
2N02 +114.2kJ.
(2)
Sobald daher das farblose N O mit L u f t in B e r ü h r u n g k o m m t , bildet es b r a u n e D ä m p f e von N O * D a es sich u m eine e x o t h e r m e R e a k t i o n handelt, verschiebt sich das Gleichgewicht mit s t e i g e n d e r T e m p e r a t u r nach links. So k o m m t es, dass Stickstoffmonoxid oberhalb v o n 650°C nicht m e h r mit Sauerstoff in R e a k t i o n tritt (S. 713). Die Oxidation (2) erfolgt, wie M. Bodenstein bereits im Jahre 1918 erkannte, nach einem Geschwindigkeitsgesetz d r i t t e r O r d n u n g = k • • c 02 ). Tatsächlich handelt es sich jedoch um keine trim o l e k u l a r e Reaktion, wie schon daraus folgt, dass die G e s c h w i n d i g k e i t des NO/O 2 -Umsatzes entgegen der Regel mit steigender T e m p e r a t u r a b n i m m t . Der Vorgang (2) läuft statt dessen auf dem 34 Die „Trouton-Konstante", unter der man den Quotienten aus molarer Verdampfungsenthalpie beim Siedepunkt (J/mol) und absolutem Siedepunkt, d.h. die molare ,,Verdampfungsenthalpie" beim Siedepunkt versteht (vgl. Lehrbücher der physikalischen Chemie), ist ein Maß für den Assoziationsgrad einer Flüssigkeit, verglichen mit der Gasphase. Bei „normalen" Flüssigkeiten, die in keiner Phase merklich assoziiert sind, hat sie den Wert ~ 88, während höhere Werte Assoziation im flüssigen Zustand anzeigen (bei Stoffen mit mittleren Siedetemperaturen). So beträgt etwa die Troutonkonstante beim nichtassoziierten HCl und H 2 S 85.8 bzw. 87.9, beim flüssigkeitsassoziierten N H 3 , H 2 O und H F 97.5 bzw. 109.0 bzw. 103.4 J m o l - i K - i .
710
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Wege zweier Folgereaktionen ab, von denen die erste ein sich rasch einstellendes, zu NO s führendes, weitgehend auf der linken Seite liegendes Gleichgewicht darstellt: 0 N + 0 2 0=N—O—O(K = c nc>3 /c no • c0i und hieraus: cNO = K • cNO • cQ ). Das intermediär in kleiner Konzentration gebildete Stickstofftrioxid reagiert dann weiter mit NO» gemäß 0 = N — O — O - + NO -> ( 0 = N — O - j - O — N = 0 ; vgl. S. 714) -> 2 N 0 2 = k' • c NO • cNO = k'K • • cQ ). Da sich das NO-Bildungsgleichgewicht mit steigender Temperatur auf die NO/O 2 -Seite verschiebt, die NO-Konzentration mithin sinkt, verringert sich in gleicher Richtung die Gesamtreaktionsgeschwindigkeit.
Mit Fluor, Chlor und Brom (aber nicht mit Iod) reagiert Stickstoffmonoxid unter Bildung von N i t r o s y l h a l o g e n i d e n (s. dort; im Falle des Fluors entsteht auch NOF 3 (S. 697)), z.B.: 2NO + Cl2
2NOC1 + 77.12kJ.
In gleicher Weise wirkt es dehalogenierend (z. B. ClNO 2 + NO -> NO 2 + ClNO; XeF 2 + 2NO - + X e + 2NOF). Bezüglich der Reaktion mit O- und N-Atomen vgl. S. 513, 656. Durch starke Oxidationsmittel, deren Potential in der Spannungsreihe positiver als + 0.96 V ist - z. B. durch Chromsäure (e0 = 1.38 V), Permangansäure (e0 = +1.51 V), Hypochlorige Säure (e0 = + 1.494 V) - wird NO in Umkehrung der Bildungsgleichung (s. oben) zu S a l p e t e r s ä u r e oxidiert: NO 3 + 4 H + + 3 © .
NO + 2 H 2 0
Die Reaktion mit Permanganat, die quantitativ verläuft, kann zur analytischen Bestimmung von NO herangezogen werden. Von starken R e d u k t i o n s m i t t e l n wird NO in Stickstoff oder sogar A m m o n i a k übergeführt. So verbrennen z. B. Kohle, Phosphor, Magnesium lebhaft in Stickstoffmonoxid; ein Gemisch gleicher Raumteile NO und H 2 verpufft beim Entzünden und eine gasförmige Mischung von NO und CS 2 brennt bei Berührung mit einer Flamme mit blendend bläulich-weißer Flamme ab. Die Verbrennung schwächerer Reduktionsmittel (z. B. Schwefel) wird von Stickstoffmonoxid nicht unterhalten. Durch Schwefeldioxid wird NO zu N 2 O, durch Cr 2 + zu NH 3 OH und durch LiAlH 4 zu (HNO) 2 reduziert. Große Bedeutung für die Rauchgasreinigung (siehe unten) hat die Reduktion von NO mit Ammoniak zu molekularem Stickstoff. Säure-Base-Verhalten. Hinsichtlich der Oxidationsstufe des Stickstoffs steht NO ( + 2 ) zwischen dem Salpetrigsäure-Anhydrid 3) und dem Hyposalpetrigsäure-Anhydrid ( + 1). Demgemäß reagiert NO mit konzentrierten Alkalilaugen bzw. mit Alkalioxiden bei 100°C - auf dem Wege über seinerseits zerfallendes Hyponitrit N a 2 N 2 0 2 - unter Bildung von Nitrit und Distickstoffoxid (Hyponitrit zerfällt bei hohen Temperaturen, s. dort): 4NO + 2 N a 2 0
2NaNO 2 + N a 2 N 2 0 2 (->• N 2 0 + Na 2 O).
Mit Wasser reagiert NO - anders als N O (s. unten) - nicht. An Metallsalze (z.B. Fe(II)-sulfat, Cu(II)-chlorid) lagert sich NO leicht unter Bildung - meist farbiger - lockerer Additionsverbindungen an (z.B. Bildung von [Fe(H 2 O) 5 NO]2 + ; s.o.), die sich durch Erwärmen wieder in Stickstoffmonoxid und Metallsalz zerlegen lassen. In anderen Fällen bilden sich mit Fragmenten M L (L = geeigneter Ligand) auch sehr stabile Nitrosyl-Komplexe29, in welchen NO über Stickstoff mit einem Metallzentrum (f, g) oder auch verbrückend mit zwei oder gar drei Metallzentren (h, i) verknüpft sein kann (Cp = ^-gebundenes O H 5 ) : O O L„M—N=O
L„M
/
N
\
O
L„M
/
N
\
ML
L„M
/
N
\ I ML„ ML
(z.B. [ F e ( C N ) s N O ] 2 " )
(z.B. [ C o ( N H 3 ) 5 N O ] 2 + )
(z.B. {CpCo} 2 NO)
(z.B. {Cp(NO)Mn} 3 NO)
(f)
(g)
(h)
(i)
In den Komplexen L„MNO liegt der Stickstoff teils linear (f), teils gewinkelt (g) vor. In ersteren Fällen wirkt NO dann als Dreielektronen-, in letzteren als Einelektronendonor (Näheres vgl. S. 1816).
1. Der Stickstoff
711
Verwendung NO wird als Radikalfänger genutzt und dient im Gemisch mit Cl 2 bzw. N 0 2 zur Nitrosierung bzw. NH 4 NO 2 -Gewinnung. Reinigung von Verbrennungsgasen35 Durch Verbrennung fossiler Stoffe (Kohle, Erdöl, Erdgas) und von Müll zur Erzeugung von Energie und Heizwärme werden in Feuerungsanlagen und Motoren weltweit Abgase in großen Mengen erzeugt. Diese enthalten neben Stickstoff, Wasser und Kohlendioxid als Hauptbestandteile eine Reihe umweltschädlicher Nebenbestandteile (vgl. hierzu S. 522), nämlich Schwefeloxide S O ( S O , untergeordnet S O ) sowie Nitrose Gase N O (NO, untergeordnet N O ; es bilden sich bei der Kohleverbrennung 0.5-2 g NO pro m 3 Rauchgas, wobei mit steigender Temperatur die NO-Bildung ab ca. 800°C zunächst abnimmt, dann zunimmt und schließlich - als Folge des NO-Zerfalls - wieder abnimmt; in Motoren entsteht N O wegen der hohen Verbrennungstemperaturen allein aus den Komponenten N 2 und 0 2 der Verbrennungsluft; vgl. S. 708). Darüber hinaus entstehen Kohlenstoffmonoxid sowie Kohlenwasserstoffe bei unvollständiger Verbrennung und schließlich Stäube (u.a. Oxide von Si, Al, Fe, Ca, Mg, Na, Ti, P, As, Se). Die Verringerung der erwähnten Stoffe in den Abgasen durch Vorreinigung der Brennstoffe, Einhaltung optimaler Verbrennungsbedingungen und Nachreinigung der Verbrennungsabgase zählt derzeit zu den wichtigen chemischen Aufgaben. Die im einzelnen ergriffenen Maßnahmen sind für Abgase aus Feuerungsanlagen (,,Rauchgase") andere als für solche aus Motoren (z.B. ,,Autoabgase"). Rauchgasreinigung. „Primärmaßnahmen" zur Verringerung der Bildung unerwünschter Verbrennungsstoffe umfassen im Falle von Feuerungsanlagen Verbrennungsbedingungen, welche eine vollständige Überführung des Brennstoffkohlenstoffs in Kohlenstoffdioxid gewährleisten und zu einer Erniedrigung des SO^und NO -Ausstoßes führen (es bewährten sich niedrige Verbrennungstemperaturen und kurze Verweil zeiten der Gase in Wirbelschichtöfen; vgl. S. 584). „Sekundärmaßnahmen" zur Verringerung gebildeter unerwünschter Verbrennungsstoffe betreffen neben den an anderer Stelle bereits besprochenen Verfahren zur Entfernung von S O durch Kalk („Rauchgas-Entschwefelung"; S. 570) bzw. F e 3 0 4 (S. 575) sowie zur Staub-Abtrennung durch Elektrofiltration („Rauchgas-Entstaubung"; vgl. S. 384) vor allem die Befreiung des Rauchgases von den Nitrosen Gasen N O („Rauchgas-Entstickung"). Sie erfolgt mit Vorteil durch selektive katalytische Reduktion (engl. „selective catalytic reduction") von N O mit Ammoniak an wabenförmigen W O - und V 2 0 5 -haltigen TiO 2 -Katalysatoren („DeNO^-Katalysatoren") bei 200-450 °C (,,SCR-Verfahren"): 2NH3 + 2 N 0 + | 0 2
2N 2 + 3H 2 O.
Um hierbei einen hohen NO-Reduktionsgrad bei gleichzeitig geringer SO-Oxidation und niedrigem NH 3 -Verlust („Schlupf") zu erzielen, müssen optimale Strömungsgeschwindigkeiten, NH 3 -, NO-, 0 2 Stoffmengenverhältnisse sowie Reaktionstemperaturen eingehalten und Katalysatoren mit großen Ober flächen eingesetzt werden (das Katalysatorsystem besteht aus glasfaserverstärkten TiO 2 -Quadern, die von vielen Längskanälen durchsetzt sind; vgl. Dreiweg-Autokatalysator, unten). Autoabgasreinigung. Da die für Otto-Automotoren verwendeten Kraftstoffe weitestgehend von Schwefel und Stickstoff befreit sind (vgl. S. 542), enthalten die Autoabgase als Hauptschadstoffkomponenten nur CO und als Folge unvollständiger Kraftstoffverbrennung sowie NO als unumgängliche Verbren nungsbegleiterscheinung bei höheren Temperaturen (S. 708). Ihre Beseitigung erfolgt durch edelmetallkatalysierte Oxidation des Kohlenstoffmonoxids und der Kohlenwasserstoffe (z.B. Methan CH 4 ) ab ca. 400 °C zu Kohlenstoffdioxid mit anwesendem Stickstoffmonoxid (Reduktion zu N 2 ) sowie Sauerstoff: 2CO + 2NO N2 + 2 C 0 2 C H 4 + 4 N 0 ^ 2 N 2 + CO 2 + 2H 2 O
bzw. bzw.
2CO+ 02 CH 4 + 2O 2 ^
2C02 CO 2 + 2 H 2 0
Das Trägermaterial des ca. 20 cm langen, 15 cm dicken, zylinderförmigen von über 10 000 Längskanälen durchsetzten multifunktionellen Autoabgas-Katalysators („geregelter Dreiweg-Katalysator"; vgl. Fig. 169) besteht in der Regel aus Cordierit (Magnesiumaluminiumsilicat mit sehr geringer Wärmeausdehnung). Die Oberfläche der einzelnen Kanäle (Querschnitt < 1 mm2; Wandstärke ca.0.2 mm) ist mit einer yAl 2 0 3 -Zwischenhaftschicht sowie der Edelmetallschicht belegt ( 1 - 2 g Rh-haltiges Pt mit einer wirksamen Gesamtoberfläche von ca.20000m 2 pro Liter Katalysator). Die Aktivität des Katalysators wird durch thermische Überbelastung, die zu Oberflächenverlusten an Edelmetallen führt, gemindert. Analoges bewirken Metallabrieb und Katalysatorengifte wie S O , Ba-, Zn-, Pb-, P-Verbindungen (Verwendung bleifreien Benzins!). 35 Literatur. E. Koberstein: ,,Katalysatoren zur Reinigung von Autoabgasen", Chemie in unserer Zeit 18 (1984) 37-45; J. Zelkowski: ,Kohleverbrennung, Brennstoff, Physik und Theorie, Technik ", Bd.8 der Fachbuchreihe „Kraftwerkstechnik", VGB-Kraftwerkstechnik GmbH, Essen 1986; J. K o l a r : , , S t i c k s t o f f o x i d e und Luftreinhaltung - Grundlagen, Emissionen, Transmission, Immissionen, WirkungenSpringer-Verlag, Heidelberg 1990.
712
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
JL Abgas Cermet
Fig. 169
VÜ/
"ZrO 2
X-Sonde, Dreiweg-Katalysator und X-Sondenspannung in Abhängigkeit von X.
Soll das aus dem Motor über den (heißen) Dreiweg-Katalysator strömende Abgas frei von CO, C„Hm und N O sein, so muss das Verhältnis des tatsächlich in den Verbrennungsraum gelangenden Sauerstoffs zu dem für eine vollständige Verbrennung gemäß: C„Hm + (n + m/4)02 nCO2 + m/2H 2 O benötigten Sauerstoff (,,Lambda-Wert") gleich eins sein: X = 1. Da CO und C„Hm rascher von 0 2 als von NO katalytisch oxidiert werden, verbleibt bei Sauerstoffüberschuß (X > 1; C„Hm-mageres Abgas) NO, während die O 2 - und NO-Menge bei Sauerstoffunterschuß (X < 1; C n H m -fettes Abgas) für eine vollständige Oxidation von CO und C„Hm nicht ausreichen, sodass CO und C„Hm verbleiben. Nur innerhalb eines sehr engen Bereichs (,,1-Fenster") des Luft/Brennstoff-Verhältnisses arbeitet der Autoabgaskatalysator optimal. Eine Regulation des optimalen Verhältnisses von Luftsauerstoff- und Kraftstoffmengen unter allen Betriebszuständen des Automotors bewirkt in geregelten Dreiweg-Katalysatoren eine dem Katalysator vorgeschaltete „X-Sonde", deren wesentlicher Teil gemäß Fig. 169 ein unten abgeschlossenes ZrO 2 -Keramikrohr darstellt (ca. 15 mm lang, 7 mm dick; Wandstärke: 1 mm). Das Zirkoniumdioxid, das durch Zusatz von ca. 3 Mol-% Y 2 0 3 in seiner tetragonalen Modifikation (verzerrte Fluoritstruktur) stabilisiert wird und mit einer porösen Platin/Keramik-Schicht („Cermet "-Schicht) wie der Keramikkörper des Autoabgaskatalysators belegt ist, wirkt oberhalb 300 0 C als guter Leiter für O 2 "-Ionen. Setzt man die innere Seite des,,Keramikrohrs" dem O 2 -Luftpartialdruck/> (O 2 ) Luft , die äußere Seite dem O 2 -Abgaspartialdruck /KO2)Abgas aus, so tritt zwischen den beidseitig aufgebrachten Elektroden ein Potential auf, das gemäß der Nernstschen Gleichung (S.229) vom Quotienten/?(O 2 ) Luft //?(O 2 ) Abgas abhängt und beim Übergang von X = 0.97 (fettes Abgas) zu X = 1.03 (mageres Abgas) durch einen Potentialsprung von ca.0.8 V charakterisiert ist (Fig. 169; da die Cermet-Schicht eine Redox-Komproportionierung des Abgases wie im Autokatalysator bewirkt, entspricht die O 2 -Konzentration auf der Abgasseite der O 2 -Konzentration des Abgases nach Durchgang durch den Katalysator). Die -Sonde steuert über das Potential (Arbeits punkt: Wendepunkt der in Fig. 169 wiedergegebenen Kurve) das Luft/Brennstoff-Verhältnis.
1.4.4
Distickstofftrioxid N 2 0 3 2 ' 2 9
Darstellung Lässt man Kupfer (oder ein anderes Reduktionsmittel, z. B. Arsentrioxid) nicht auf verdünnte, sondern auf konzentrierte Salpetersäure einwirken, so entsteht an Stelle von Stickstoffmonoxid NO (s. o b e n Stickstoffdioxid N O (s. unten), da NO von konzentrierter Salpetersäure zu N O oxidiert wird. Bei Verwendung von mittelkonzentrierter Säure entstehen NO und N O n e b e n e i n a n d e r und vereinigen sich beim Abkühlen zu Distickstofftrioxid (,,Stickstoffsesquioxid" 36 , „Salpetrigsäure-Anhydrid") N 2 0 3 : NO + NO 2 (g) ?± N 2 0 3 (g) + 39.7 kJ,
NO + NO 2 (fl) ^ N 2 0 3 (fl) + 30.2 kJ.
(3)
Entsprechend letzterer Gleichung kann N 2 0 3 durch Sättigen von flüssigem NO 2 ( = N 2 0 4 , s. unten) mit gasförmigem NO oder durch Zugabe der berechneten Menge 0 2 zu NO (2NO + \ 0 2 NO + NO 2 N 2 0 3 ) gewonnen werden. Physikalische Eigenschaften Distickstofftrioxid (diamagnetisch, AH f = + 83.78 kJ/mol) ist nur bei sehr niedrigen Temperaturen als tiefblaue Flüssigkeit beständig, welche bei — 100.7 0 C zu blassblauen Kristallen erstarrt (Smp. — 103 0C) und bei — 40 bis + 3 0 C unter Bildung eines NO- und N 2 0 3 -haltigen Dampfes siedet, der mit steigender Temperatur zunehmende Mengen N O aufweist (in der N 2 0 3 -Flüssigkeit reichert sich beim Siedevorgang zunächst NO und mit diesem im Gleichgewicht stehendes an). Der N 2 0 3 -Dampf enthält bei 25 0 C und Atmosphärendruck nur noch 10% undissoziiertes N 2 0 3 C^DiSS.(250C) = 1.91 atm). Auch in organischen Lösungsmitteln löst sich N 2 0 3 mit blauer Farbe. 36 sesqui (lat.) = anderthalb.
1. Der Stickstoff
713
Struktur. Als Anhydrid der Salpetrigen Säure ONOH sollte N 2 0 3 die (W-förmige) Struktur (a) besitzen: ..
lo.
of (a) N 2 O 3
To:
'ö:
•ör
(b) N 2 O 3
[:O=N:]
+
o f
.o:
(c) N 2 O3
und damit farblos wie Salpetrige Säure und ihre Ester ONOR sein. Die blaue Farbe im flüssigen Zustand spricht gegen diese Auffassung und für die tatsächlich vorliegende (planare) Struktur (b), da die nicht an Sauerstoff gebundene NO-Gruppe auch sonst vielfach farbgebend wirkt (Abstände N N / N = O / NO 2 = 1.864/1.142/ca. 1.21 Ä (Gasphase) und 1.892/1.120/1.21 Ä (Kristall); ber. f ü r N — N 1.40 Ä; Winkel O N N / N N O / O N O = 105.1/119.6 und 111.8/128.6 Ä im Kristall). Die Form (a) entsteht jedoch aus (b) bei Bestrahlung mit Licht der Wellenlänge um 720 nm (Rückumwandlung bei Bestrahlen von (a) mit Licht der Wellenlänge um 380 nm). Im festen Zustand (Aufhellung) liegt bei tiefen Temperaturen vielleicht die ionogene-Struktur (c) (,,Nitrosylnitrit") neben (b) vor (vgl. N 2 0 5 , unten). Chemische Eigenschaften Die leichte Verschiebbarkeit des Gleichgewichts (3) bedingt, dass ein Gemisch gleicher Raumteile NO und N O in chemischer Hinsicht wie die Verbindung N 2 0 3 , das Anhydrid der Salpetrigen Säure ( N 2 0 3 + H 2 0 2HNO 2 ), wirkt. So wird z.B. ein solches Gemisch ebenso wie N 2 0 3 von Lösungen starker Basen glatt unter Bildung von Nitriten (Salzen der Salpetrigen Säure) absorbiert: NO + NO 2 + 2NaOH
2NaNO 2 + H 2 O ,
indem das nitritbildende Anhydrid N 2 0 3 nach Maßgabe des Verbrauchs immer wieder gemäß (3) nachgebildet wird. Ebenso entsteht beim Einleiten des Gemischs in Wasser Salpetrige Säure (NO + NO 2 + H 2 0 2HNO 2 ), die aber schnell zu H N O und NO zerfällt (S. 724). Bezüglich der Reaktion in konzentrierten starken Säuren (-> N O ) vgl. S.727.
1.4.5
Stickstoffdioxid N0 2 . Distickstofftetraoxid N 2 0 4 2 ' 2 9 ' 3 7
Darstellung Großtechnisch wird Stickstoffdioxid N O , das wie N 2 O und NO spurenweise in der Atmosphäre vorkommt, aus NO und 0 2 als Zwischenprodukt der Salpetersäuredarstellung (S. 730) erzeugt. Im Laboratorium gewinnt man es entweder auf gleichem Wege über NO (2NO + 0 2 -> 2 N 0 2 ) durch R e d u k t i o n von konz. S a l p e t e r s ä u r e mit Kupfer (s. oben): Cu + 2 N 0 3 + 4 H + -> C u 2 + + 2 N 0 2 + 2H 2 O o d e r - besonders bequem-durch Erhitzen von Schwermetallsalzen der Salpetersäure, besonders Bleinitrat, auf 250-600°C im O 2 -Strom: Pb(NO 3 ) 2 PbO + 2 N 0 2 + ^ 0 2 . Physikalische Eigenschaften Stickstoffdioxid ist ein braunrotes, charakteristisch riechendes, äußerst korrosives und stark giftiges37 Gas, das sich leicht verflüssigen lässt. Die Flüssigkeit ist kurz unterhalb des Siedepunktes (21.15 °C) rotbraun, wird beim Abkühlen immer heller bis blassgelb und erstarrt bei — 11.20 °C zu farblosen Kristallen. Erwärmt man umgekehrt das Gas von Zimmertemperatur ausgehend, so nimmt die Intensität der braunroten Farbe zu. Die Farbänderung rührt daher, dass sich das braune, paramagnetische Stickstoffdioxid NO 2 (AH t = + 33.20, AGf = + 52.30 kJ/mol) im Gleichgewicht mit farblosem diamagnetischem Distickstofftetraoxid N 2 0 4 (A.fff(g) = +9.17, AGf(g) = +97.83, AHf (fl) = — 19.51, zlGf(fl) = — 18.69 kJ/mol) befindet: 2 N 0 2 ^ N 2 0 4 (g) + 57.23 kJ
2NO 2 ^ N 2 0 4 (fl) + 85.91 kJ
(4)
und dass sich das Gleichgewicht (4) entsprechend der negativen Reaktionsenthalpie mit steigender T e m p e r a t u r nach links, mit fallender T e m p e r a t u r nach rechts verschiebt; und zwar sind beim Sdp. (21.15°C) ca.20%, bei 50°C 40%, bei 100°C 90% und bei 140°C fast 100% des gasförmigen N 2 0 4 in N O gespalten (Gesamtdruck des N O / N 2 0 4 - G a s e s jeweils 1 bar). Flüssiges N 2 0 4 liegt beim Sdp. (21.15°C) noch zu 99.9%, festes N 2 0 4 beim Smp. (— 11.20°C) zu 99.99% undissoziiert vor.
37 Physiologisches N O ist sehr toxisch (MAK-Wert 5mg/m 3 = 9ppm). Länger andauerndes Einatmen von N O in geringer Konzentration führt zur Irritation der Atemwege, zur Reizung der Binde- und Schleimhäute sowie zu Störungen der Lungenfunktion (erhöhter Atemwiderstand, veränderte Lungendehnbarkeit). Als Folge schwerer Vergiftungen bilden sich Lungenödeme, wobei sich im Überlebensfall eine Fibrosierung der terminalen Bronchialen entwickelt, welche oft mit einem fatalen Lungenversagen verbunden ist.
714
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Struktur. Wie NO (S. 709) gehört auch N O zu den seltenen Hauptgruppen-Oxiden mit u n g e r a d e r Elektronenzahl. Gleich jenem kann es durch Abgabe und durch Aufnahme eines Elektrons in ein „geradzahliges" Molekül, das mit dem Kohlendioxid C O isoelektronische ,,Nitryl-Kation" (,,NitroniumIon") NO2 bzw. das mit dem Ozon 0 3 isoelektronische „Nitrit-Anion" N O übergehen. Interessant ist die Abstufung der Bindungswinkel ONO in diesen Molekülen, die dadurch bedingt wird, dass die freien Elektronen am Stickstoffatom stärker abstoßend auf die NO-Bindungen wirken als die gebundenen Elektronen, sodass bei NO 2 (keine abstoßenden freien Elektronen) ein Bindungswinkel von 180° (lineare Anordnung der Atome), bei N O (ein abstoßendes freies Elektron) ein solcher von 134° und bei NO 2 (zwei abstoßende freie Elektronen) ein solcher von 115° auftritt:
Valenzelektronen; C2v-Symmetrie) folgt auch aus einer MO-Betrachtung (vgl. S. 357). Der Bindungsgrad der NO-Bindung nimmt entsprechend den Elektronenformeln in gleicher Richtung ab und entspricht beim NO 2 mit einem NO-Abstand von 1.154 Ä einer Doppelbindung (ber. 1.16 Ä), beim N O und N O mit einer Bindungslänge von 1.197 bzw. 1.236 Ä einem abnehmenden Doppelbindungscharakter (einfache NO-Bindung ber. 1.36 Ä). Für das NO-Dimere, das Distickstofftetraoxid N 2 0 4 , lassen sich wie im Falle von N 2 0 3 (s. oben) zwei kovalente Strukturen (a, b) und eine ionische Form (c) diskutieren
von denen die Molekülart (b) (planar, D2h-Symmetrie) vorherrscht (NN-Abstand in gasförmigem N 2 0 4 1.78 Ä, ber. für Einfachbindung 1.40 Ä; alle NO-Abstände 1.19 Ä; * ONN = 112.3°, * ONO = 135.4°). In Medien mit hoher Dielektrizitätskonstante (z.B. konz. H S O , Nitromethan) reagiert N 2 0 4 häufig so, als sei das Oxid gemäß (c) (,,Nitrosylnitrat") dissoziiert. Reines N 2 0 4 neigt nicht zur heterolytischen Dissoziation; demgemäß ist die elektrische Leitfähigkeit von flüssigem N 2 0 4 klein ( 1 . 3 x 1 0 _ 1 3 Q _ 1 cm" 1 bei 0°C). Ein mit dem Distickstofftetraoxid 0 2 N — N O isomeres, gelbes ,,Dinitrosylperoxid" ONO—ONO erhält man durch Einleiten von NO in flüssigen Sauerstoff. Chemische Eigenschaften. Thermisches Verhalten. A b 150°C beginnt der Zerfall des Stickstoffdioxids: 114.2 kJ + 2 N 0 2 2 N O + 0 2 ) ist Stickstoffdioxid ein kräftiges O x i d a t i o n s m i t t e l , das die Verbrennung (z.B. von Kalium, Phosphor, Kohle, Schwefel, Wasserstoff) viel lebhafter als die vorher besprochenen Stickstoffoxide N 2 O u n d N O unterhält u n d das mit organischen Verbindungen explosionsartig reagieren k a n n (auslösender Schritt: R H + O N O -> R - + H O N O ) . Seine Oxidationskraft entspricht etwa der des Broms ( N O 2 + 2 H + + 2 © < = » N O + H 2 O ; s 0 = + 1.03 V). U m g e k e h r t k a n n N O gegenüber starken Oxidationsmitteln (z. B. O 3 , H 2 0 ) auch als R e d u k t i o n s m i t t e l wirken ( N O 2 + H 2 0 N O 3 + 2 H + + © ; £ 0 = + 0.803 V). Zur Umsetzung von N O mit Halogenen vgl. S. 735, zur Chemie von N O in der A t m o s p h ä r e S.521. Ein flüssiges Gemisch von N 2 H 4 und 1,1-N 2 H 2 Me 2 („Aerozin-50") diente bei den Ab- und Aufstiegsmotoren der Mondlandefähre als Raketentreibstoff im amerikanischen ,,Apollo"-Programm der Raumschiffahrt: bei der Vermischung von Aerozin — 50 mit N 2 0 4 tritt in sehr stark exothermer Reaktion Selbstentzündung und Verbrennung mit roter Flamme ein: 2N 2 H 4 (fl) + N 2 0 4 (fl) 3N 2 + 4 ^ O ( f l ) + 1226 kJ. Säure-Base-Verhalten. N ? Q 4 steht in seiner Zusammensetzung zwischen dem SalpetrigsäureAnhydrid N 2 0 u n d dem Salpetersäure-Anhydrid N 2 0 5 (s. unten) u n d k a n n als gemischtes Anhydrid der Salpetrigen u n d Salpetersäure aufgefasst werden. Dementsprechend reagiert
1. Der Stickstoff
715
N 2 0 4 (bzw. N 0 2 nach seiner Dimerisierung) mit A l k a l i l a u g e n unter Bildung von N i t r i t und N i t r a t N 2 0 4 + 2NaOH
NaNO 2 + NaNO 3 + H 2 O .
Auch mit Wasser bildet es Salpetrige Säure und Salpetersäure: N 2 0 4 + H 2 0 -> HNO 2 + H N O (bezüglich der Umwandlung von N 2 0 4 in Salpetersäure H N O vgl- S. 730). N 2 Q 4 als Reaktionsmedium. Flüssiges N 2 0 4 wirkt gemäß N 2 0 4 NO + + NO 3 (formal) als Donator für Nitrosyl-Kationen und Nitrat-Anionen, wobei die NO + -Kationen als Oxidationsmittel (NO + + © NO) Metalle auflösen (M M" + ) bzw. als Lewis-Säuren Addukte mit Lewis-Basen wie Halogenid oder Oxid bilden (NO + + X " NOX), während sich die verbleibenden NO 3 -Anionen als Lewis-Basen betätigen und sich etwa an anwesende Metallkationen addieren (M" + + n N ^ M(NO 3 ) n ), z.B.: M + 2 N 2 0 4 ^ M(NO 3 ) 2 + 2NO (M = Sn, Zn, Cu); ZnCl 2 + 2 N 2 0 4 2NOC1 +Zn(NO 3 ) 2 ; CaO + 2 N 2 0 4 (NO) 2 O ( = N 2 0 3 ) + Ca(NO 3 ) 2 . Derartige Reaktionen lassen sich zur Darstellung wasserfreier Nitrate insbesondere dadurch nutzen, dass man Metallbromide oder -iodide in N 2 0 4 löst, da hierbei gebildetes NOBr bzw. NOI in NO und Br2 bzw. I2 zerfällt (z.B. Til 4 + 4 N 2 0 4 Ti(NO 3 ) 4 + 4NO + 2I 2 ). Auch lassen sich Nitratokomplexe gewinnen (z.B. Zn(NO 3 ) 2 + 2 N 2 0 4 (NO) 2 [Zn(NO 3 ) 4 ], Sc(NO 3 ) 3 + 2 N 2 0 4 (NO) 2 [Sc(NO 3 ) 5 ]). Offensichtlich wirkt N 2 0 4 nicht gemäß N 2 0 4 NO 2 + NO 2 als Donator für Nitryl- und Nitrit-Ionen. Bzgl. der Oxidation von Hyponitrit N 2 0 ^ " mit N 2 0 4 (fl.) vgl. S. 740. Verwendung N O dient als Oxidationsmittel (z. B. für Raketentreibstoffe), als Nitrierungsmittel, im Gemisch mit NO zur Gewinnung von NH NO sowie HNO und als nichtwässeriges Lösungsmittel
1.4.6
Sonstige Stickstoffoxide 2,29
Distickstoffpentaoxid (,,Stickstoffpentaoxid", „Salpetersäure-Anhydrid") N 2 0 5 lässt sich als Anhydrid der Salpetersäure (2HNO 3 H 2 0 + N 2 0 5 ) durch Behandeln von Salpetersäure mit P h o s p h o r p e n taoxid als wasserentziehendes Mittel (P 2 0 5 + H 2 0 2 H P O ) gewinnen und bildet farblose, an der Luft zerfließende Kristalle, welche unter Druck bei 41 0 C schmelzen, bei 32.4 0 C sublimieren. Struktur. Für das Distickstoffpentaoxid N 2 0 5 ist zum Unterschied von N 2 0 3 (s. oben) und N 2 0 4 nur eine kovalente (gewinkelte) Struktur (a) möglich:
Diese Molekülart (NO-Abstand in den NO-Gruppen 1.19, im mittleren Teil 1.50 Ä; > NON = 114°, > ONO = 133°) liegt auch im Gaszustand und in den CC1 4 -Lösungen vor (A# f (g) = 11.3, AG f (g) = 115.1 kJ/mol). Im festen Zustand (A# f (f) = - 43.1, AG f (f) = + 113.8 kJ/mol) stellt N 2 0 5 ein ,,Nitrylnitrat" (b) dar (lineares NO 2 -Kation mit einer NO-Bindungslänge von 1.154 Ä (Doppelbindung) und planarsymmetrisches N O Anion mit einem NO-Abstand von 1.243 Ä (Zwischenzustand zwischen einfacher und doppelter Bindung)). Schreckt man gasförmiges auf die Temperatur der flüssigen Luft ab, so bleibt die kovalente Form O 2 NONO 2 auch im festen Zustand für einige Stunden erhalten; beim Erwärmen auf etwa — 70 0 C wandelt sie sich aber rasch in die ionogene Form N O N O um. Chemische Eigenschaften. N 2 0 5 ist unbeständig und zerfällt bei raschem Erhitzen, oft auch schon bei Raumtemperatur ohne erkennbaren äußeren Anlass explosionsartig gemäß N 2 0 5 2 N 0 2 + Vi 0 2 (Mechanismus wohl: N 2 0 5 NO 2 + N O 3 ^ N O + Vi0 2 N—O—O—NO 2 ^ 2 N 0 2 + Vi0 2 ; S. 386). Wie zu erwarten, besitzt N 2 0 5 stark oxidierende Eigenschaften, z. B. N 2 0 5 + I 2 I 2 0 5 + N 2 , N 2 0 5 + X2 2 N 0 2 X + V2Ö2 (X = F, Cl). Auch zeigt N 2 0 5 Säure- und Base-Verhalten. So reagiert es mit Wasser heftig zu Salpetersäure H N O , mit Wasserstoffperoxid zu Peroxosalpetersäure HNO 4 = H O O N O - Mit B F ergibt N 2 0 5 ein 1: 1-Addukt N 2 0 5 • BF3 = NO 2 [F 3 BONO 2 ]", das ein gutes Nitrierungsmittel ist. Mit starken Säuren HY bildet N 2 0 5 Nitrylsalze NO 2 Y " . Stickstofftrioxid N O entsteht aus N O und überschüssigem 0 2 bei niederem Druck in einer Glimmentladung und ist nur bei sehr tiefen Temperaturen ( < — 1420C) metastabil. Auch bei der Umsetzung von N O oder N 2 0 5 mit Ozon bzw. der thermischen Zersetzung von N 2 0 5 ( N O 2 + N O ) tritt es
716
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
als Zwischenprodukt auf, wie spektroskopisch und reaktionskinetisch nachgewiesen werden konnte (vgl. Rolle von N 0 3 für die Chemie der Atmosphäre, S.521). Sein rascher Zerfall erfolgt in Umkehrung der Bildungsgleichung nach 2 N 0 3 2 N 0 2 + O 2 möglicherweise über N 2 0 6 : 2 N 0 3 2 N 0 2 + 0 2 , s. oben. Mit N O bildet N 0 3 Distickstoffpentaoxid N 2 0 5 stofftrioxid N 2 0 3 ergeben. Die Struktur wird wohl durch die Formel (a) (D3h-Symmetrie) zum Ausdruck gebracht
- O — O — N O ergibt. Eine isomere Form (b) entsteht als Zwischenprodukt der Umsetzung von Stickstoffmonoxid mit Sauerstoff zu Stickstoffdioxid (S. 710). Bezüglich der Rolle von N O für die Chemie der Atmosphäre vgl. S.521. Tetrastickstoffmonoxid und -dioxid N 4 0 und N 4 0 2 . Durch Umsetzung von Nitrosylchlorid NOCl mit NaN 3 ohne Lösungsmittel bildet sich unterhalb — 55 0 C das als blassgelbe Verbindung isolierbare, ab — 50 0 C in Distickstoff und Distickstoffoxid zerfallende Nitrosylazid 0NN 3 = N 4 0 (5), durch Reaktion von Nitrylsalzen wie N 0 BF mit NaN 3 bei tiefen Temperaturen in organischen Medien das bisher nur in Lösung nachgewiesene, nicht isolierte, ab —10 0 C in Distickstoffoxid zerfallende Nitrylazid schenprodukt C
-N: < — 50 o C
< — 10 o C
0=N—N=N=N
02N—N=N=N
N
> — 50°C
> — 10°C
N
(5) (6)
Nach spektroskopischen Untersuchungen und ab-initio Berechnungen ist Nitrosylazid 0NN a N^N im Sinne der Formel (a) der Fig. 170 acyclisch, trans-konformiert und planar (Cs-Symmetrie). Sein Valenzzustand lässt sich durch Mesomerie hauptsächlich mit folgenden Grenzstrukturen beschreiben: 0 = N — N — N = N , O — N = N — N = N , 0 = N — N = N = N , 0 = N — N — N = N (Abstände 0N/NN a / N a N ^ N 7 = 1.177/1.472/1.117 Ä, Winkel 0NN a /NN a >yN a N^N 7 = 110.5/105.4/174.5°; ber. für NNEinfach-/Doppel-/Dreifachbindung 1.40/1.20/1.10 bzw 1.37/1.17/1.07 Ä). Energetisch etwas instabiler ist acyclisches, ds-konformiertes und planares Nitrosylazid (Cs-Symmetrie; vgl. Fig. 170b; Abstände und Winkel wie in trans-Nitrosylazid), stabiler cyclisches 0xatetrazol N 4 0 (Fig.170c; isoelektronisch z.B. mit den 6rc-Aromaten C5H5"; C2v-Symmetrie; Abstände 0 N c a . 1.39/1.27/1.42 Ä; Winkel N 0 N ca. 107°) Der Zerfall (5) von trans-0NN3 erfolgt auf direktem Wege über 0 = N — N • • • N = N als Reaktionszwischenstufe und nicht indirekt über zwar stabileres aber energetisch schwerer erreichbares 0xatetrazol (vgl. Fig. 170). Letzteres, bisher nicht gewonnene N 4 0-Isomer dürfte - wegen seiner sehr kleinen Zerfallsbarriere (Fig. 170) - nur bei sehr tiefen Temperaturen nachweisbar sein.
Fig. 170 Reaktionskoordinatendiagramm (schematisch) der Isomerisierung und des Zerfalls von N 4 0 (in Klammern AH( relativ zu N 2 0/N 2 sowie Ea [kJ/mol]).
1. Der Stickstoff
717
Das Nitrylazid ist wohl analog Nitrosylazid gebaut. Die im Zuge seines Zerfalls (6) in N 2 O zu fordernde Umlagerung eines O-Atoms ließe sich zwanglos mit der Bildung eines Oxatetrazoloxids (Bau analog (c), Fig. 170, mit einem exoständigen O-Atom an einem N-Atom der NON-Gruppe) als Zerfallszwischenstufe erklären
1.5
Sauerstoffsäuren des Stickstoffs
1.5.1
Überblick
Systematik. Man kennt in protonierter und/oder deprotonierter Form Monostickstoff-Sauerstoffsäuren HjNO s H 2 NOH und HNO, (n = 1 bis 4), Disticksto#-Sauerstoffsäuren H 4 N 2 0 4 und H 2 N 2 0„ (n = 1 bis 3) sowie die Tristickstoff-Sauerstoffsäure HN 3 0 4 . Ihre Namen sowie die Namen ihrer Salze gehen aus Tab. 80 hervor, in welcher die einzelnen Verbindungen nach steigender Oxidationsstufe geordnet sind. Unter den erwähnten Säuren sind das einbasige, sehr schwach sauer wirkende Hydroxylamin H 3 NO = H 2 NOH, die mittelstarke Salpetrige Säure HNO 2 = HONO und die sehr starke Salpetersäure NHO 3 = H O N O seit langem bekannt und technisch von Bedeutung. Die Säuren H 3 NO, H N O , HNO 4 ( = H O O N O ) und H 2 N 2 0 2 ( = H O N = N O H ) lassen sich in Substanz isolieren, von H N O sind nur wässerige Lösungen erhältlich, die Säuren H 2 N 2 0 3 , H 4 N 2 0 4 und HN 3 0 4 existieren ausschließlich in Form von Salzen (z. B. Na 2 N 2 0 3 , Na 4 N 2 0 4 , NaN 3 Ö 4 ). Weitere, in Anmerkungen der Tab. 80 aufgeführte Sauerstoffsäuren des Stickstoffs stellen reaktive Zwischenprodukte dar. Strukturen Die Stickstoffsauerstoffsäuren leiten sich von den Stickstoffwasserstoffen (s. dort) durch Austausch der H-Atome gegen OH-Gruppen ab, wobei freie N-Elektronenpaare der Endglieder gegebenenfalls noch O-Atome addieren können. So gelangt man etwa vom Ammoniak N H zum Hydroxylamin (a), zur Orthoform NH(OH) 2 (b) des Nitrowasserstoffs HNO (e), zur Orthoform N(OH) 3 (c) der Salpetrigen Säure H N O (f) sowie zur Orthoform NO(OH) 3 (d) der Salpetersäure H N O (g). Da die Gruppierung —N(OH) 2 zur H 2 O-Abspaltung unter Bildung der Gruppierung — N = O neigt, (vgl. hierzu die NH -Abspaltung aus Stickstoffwasserstoffen), liegen nicht die Ortho-, sondern die wasserärmeren Meta formen der betreffenden Säuren vor (das Salz N NO der Orthosalpetersäure NO ist zugänglich).
Tab.80
Sauerstoffsäuren des Stickstoffs.
Oxid.stufe Formel -1
M onostickstoffsauerstoff säuren Name Salze
HNO =
H2NOH
Hydroxylamin"' Stickstoff(-I)-säure
Hydroxylamide (Nitrate(-I))
O ligostickstoffsauerstoffsäuren Name Salze
Formel b)
-
-
Hyposalpetrige Säure Distickstoff(I)-säure
Hyponitrite Dinitrate(I)
(nur Salze
Oxohyposalpetrige S. Distickstoff(II)-säure
Oxohyponitrite Dinitrate(II)
+ 1
HNO 0 '
Nitrosowasserstoff0' Stickstoff(I)-säure
Nitroxyl-Anion Nitrate(I)
D E H :N O : : '
+ 2
-
-
-
H :N O:
8
-'
+ 3
HNO 2 e )
Salpetrige Säure Stickstoff(III)-säure
Nitrite Nitrate(III)
HN3 4 (nur Salze
Dinitramin Tristickstoff(III)-säure
Dinitramide Trinitrate(III)
+ 5
HNO3ei)
Salpetersäure Stickstoff(V)-säure
Nitrate Nitrate(V)
-
-
-
a) Anders als das Monoaminoderivat H 3 NO = H 2 NOH des Wassers ist das Diaminoderivat H 4 N 2 0 = H 2 N O N H 2 (,,2Oxatriazan"; formal Kondensationsprodukt von H 2 NOH) nicht in Substanz bekannt; das isolierbare CF 3 -Derivat entsteht u.A. gemäß 2 C F 3 N = C F 2 + OF 2 ->• (CF 3 ) 4 N 2 O in Anwesenheit von CsF bei —70 bis + 25°C. - b) Als weitere niedrigwertige Stickstoffsauerstoffsäuren entstehen als (spektroskopisch nachweisbare) Zwischenprodukte der Umsetzungen von Salpetriger Säure mit Ammoniak bzw. Hydrazin „Nitrosoamin" H 2 N 2 O = O N — N H (-"• H 2 0 + Nj) bzw. „Nitrosohydrazin" H 3 N 3 O = ON—N 2 H 3 (->• N 2 0 + N H bzw. HN 3 + H 2 O). - c) Der auch als „Nitroxyl" bezeichnete Nitrosowasserstoff existiert nur in der Tieftemperaturmatrix; man kennt auch,,Isonitrosowasserstoff" (,,Hydroxylnitren" HON). - d) Als Nitroderivate des Ammoniaks existieren H 2 NNO 2 = H , N , 0 2 (isomer mit Hyposalpetriger Säure) und H N ( N O ^ 2 = H N 3 0 4 . - e) Es existieren auch Peroxoderivate H 2 N 2 0 3 = H O N = N O O H (isomer mit Salpetersäure) und HNO 4 = NO 2 (OOH). - 0 Die Namen werden üblicherweise für H 2 N 2 0 2 bzw. N2C>2~, anstatt richtiger für H N O bzw. NO~ genutzt. Man kennt trans- und cis-N 2 0 2 ~. - g) Es existieren auch wasserreichere Orthoformen der Säuren H 2 N 2 0 3 und H N O i n Form von Salzen mit den Anionen N 2 04" (vgl. S.738) und NO^" (vgl. S.734).
718
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
HO
H N—OH H
H
(a)
; OH
; HO
•X-;-; N—O
H
/
/
HO
2
I O
(c)
(b)
J -H
H
J-h2 O N=0
O
N=0 (e) HNO
(d)
O L-H2O
HO—N
O
HO- - N O
HO
H
:
HO—N—OjH -N-
H
N—O
-O
(g) HNO 3
(F) HNO 2
Wegen der Tendenz zur Wassereliminierung sind auch die Hydroxyl-hydrazineN-^l 3 (OH), N2H2(OH)2 und N2H(OH)3 sowie das Hydroxyl-diimin N 2 H(OH) zersetzlich. Es existieren hier ausschließlich die Endglieder N2(OH)4 = H 4 N 2 0 4 (wasserärmere Form H 2 N 2 0 3 ) bzw. N2(OH)2 (jeweils nur Salze). Ein wohl gemäß HOF + Nj" HON 3 + F " zugänglichem Hydroxylderivat der Stickstoffwasserstoff säure ist noch unbekannt (vgl. O(N3)2, S.481). Bezüglich Einzelheiten zur Struktur der Säuren (z. B. NH 2 OH: pyramidal; HNO/HONO: gewinkelt; HONO 2 /HONNOH: planar), die sich zum Teil auch als Nitroso- oder Nitroderivate von Stickstoffwasserstoffen bzw. als Peroxoderivate der Stickstoffsauerstoffsäuren beschreiben lassen (z. B. H 2 NNO, H 2 NNO 2 , HN(NO2)2, ONOOH, HONNOOH), siehe bei diesen. Darstellung Die Oxide N2O, NO, N 2 0 3 , N 0 2 und N 2 0 5 (vgl. S. 704) entsprechen in ihren Oxidationsstufen den Säuren H 2 N 2 0 2 , ^ 0 3 , H N O und H N O . Jedoch kann man nur N 2 0 3 ( H N O ) , NO2 (-• HNO 2 + HNO3) und N 2 0 5 (->HNO3) als wahre Säureanhydride bezeichnen. Die übrigen Oxide N 2 0 und NO ergeben mit Wasser nicht die ihrer Oxidationsstufe entsprechende Säure. Sie werden demgemäß aus Salpetriger- bzw. Salpetersäure, die technisch aus N 2 0 3 bzw. NO 2 /0 2 gewonnen wird, durch Reduktion dargestellt. Näheres hierzu vgl. bei den einzelnen Säuren. Redox-Verhalten. Nachfolgend sind Potentialdiagramme (s. dort) einiger Oxidationsstufen des Stickstoffs für pH = 0 und 14 wiedergegeben. Erwartungsgemäß ist die O x i d a t i o n s k r a f t der Verbindungen in saurer Lösung, die R e d u k t i o n s k r a f t in alkalischer Lösung größer (stärkstes Oxidationsmittel: H 2 N 2 0 2 gefolgt von H N O ; stärkstes Reduktionsmittel: NH 2 OH gefolgt von N 2 0 2 " ) : pH = 0 + 0.803 +4
+ 1.07
+ 0 . 9 9 6 +2
NO
r NO3 I
-0.94
HNO2
+ 0.8
+ 1.25-
+ 1-59
+i
+ 1.77
N9O
+1
+2.65
H2N202
- 3.09
-i/3
-HN3
+0
-0.56
+ 1.41
-1.87
-2 +1.35
2
- + 1.45
+ 1.275 -3
,
NH4
- + 0.278 -
pH = 14 -0.86 , N05 1
. + 0.01
+ 0.867
+ 0.25-
-0.46
1 1
+0-76
-0.14
NO2 I
-0.94
NO = = N N , 0 • + 0.18
~~ir
+ 1.52 2 _J
L
hO.lO
+ 0.73
1 I
-3.04
N2O2"
- + 0.41 -
-N 3 -
-0.42 2
NH,
— 0.74 —
Wie aus den Diagrammen weiterhin folgt, vermag Stickstoff weder in saurer noch in alkalischer Lösung gemä 2H
NH
NO
in die Oxidationsstufen — 3 und + 3 zu disproportionieren. Die Gleichgewichtskonstante dieses Vorgangs, die sich aus dem Potential des Oxidations- und Reduktionsschritts mithilfe der auf S.232 abgeleiteten Beziehung berechnen lässt, beträgt ca. 10~ 59 . Hiernach erfordert selbst die Bildung einer nur 0.000001molaren, also analytisch gerade noch nachweisbaren NH 4 NO 2 -Lösung einen Stickstoffdruck von etwa 1051 bar. Eine Fixierung des Luftstickstoffs (z.B. für Düngezwecke) kann also auf dem besprochenen Wege nicht erfolgen. Auch D i s p r o p o r t i o n i e r u n g e n des Stickstoffs in andere Oxidationsstufen (z.B. in + 1/— 1, + 1/— 3, + 3/— 1) sind - zum Unterschied von K o m p r o p o r t i o n i e r u n g e n höherer und tieferer Oxidationsstufen in Stickstoff- unmöglich (vgl. Potentialdiagramme). Anders als Stickstoff kann
1. Der Stickstoff
719
unabhängig vom pH-Wert der wässerigen Lösung Hydroxylamin in Stickstoff und Ammoniak bzw. Hyposalpetrige Säure in Salpetrige Säure und Stickstoff bzw. Salpetrige Säure in Salpetersäure und Stickstoff disproportionieren Nachfolgend werden zunächst die Monostickstoffsauerstoffsäuren - nämlich die technisch wichtigen Verbindungen Hydroxylamin N H 2 O H , Salpetrige Säure H N O 2 , Salpetersäure H N O u n d ihre Derivate sowie der - als reaktives Zwischenprodukt in der Chemie der Stickstoffsauerstoffsäuren wesentliche - Nitrosowasserstoff (Nitroxyl) H N O , d a n n Di- sowie Tristickstoffsauerstoffsäuren u n d schließlich Peroxoderivate von Stickstoffsauerstoffsäuren abgehandelt. Bezüglich einiger weiterer Säuren vgl. A n m e r k u n g e n der Tab. 80.
1.5.2
Hydroxylamin NH 2 0H2' 3 8 ' 3 9
Darstellung Die Darstellung des Hydroxylamins N H 2 O H , des Hydroxylderivats des A m m o niaks, erfolgt durch Reduktion höherer Oxidationsstufen des Stickstoffs (NO, N O 2 , N O 3 ) durch Wasserstoff, Schweflige Säure oder den elektrischen Strom. Reduktion von Stickstoffmonoxid. NO wird technisch in Hydroxylamin übergeführt, indem man ein Gemisch von Stickstoffmonoxid und Wasserstoff in eine schwefelsaure Lösung einleitet, in der als Katalysator Platin auf Aktivkohle (BASF-Verfahren) oder Palladium (Iventa-Verfahren) suspendiert ist: 2NO + 3H 2 ^ 2NH 2 OH. Die Ausbeute beträgt ca.90%. Es fällt nebenbei Ammoniumsulfat an. Reduktion von Nitrit. Zur Reduktion der Salpetrigen Säure eignet sich insbesondere die Schweflige Säure: HNO
2H SO
NH OH
2H SO
In der Technik verfährt man hierbei so, dass man die durch Reaktion von NO (aus der AmmoniakVebrennung, S. 730) und 0 2 in wässeriger (NH 4 )HCO 3 -Lösung erhaltenen Ammoniumnitrit-Lösungen ( 2 N O + >/2 0 2 + 2NH 4 HCO 3 ^ 2NH 4 NO 2 + 2 C 0 2 + H 2 O) bei 0 - 5 °C mit Schwefeldioxid zum Diammonium-hydroxylamin-bis(sulfonat) umsetzt (NH 4 NO 2 + 2 S 0 2 + NH 3 + H 2 0 -> HON(SO 3 NH 4 ) 2 ; vgl. S. 742), das bei 100°C durch Wasser langsam in Hydroxylamin und Hydrogensulfat gespalten wird (2HON(SO 3 NH 4 ) 2 + 2 H 2 0 NH 2 OH + 2(NH 4 )HSO 4 ). Die Ausbeute beträgt ca. 90 %. Der Zwangsanfall von Ammoniumsulfat ist bei diesem ,,Raschig-Verfahren" größer als beim BASF- und Iventa-Verfahren (s.o.). Im Laboratorium gibt man Disulfit zu wässrigen Lösungen von Salpetriger Säure, wobei das zunächst gebildete Hydroxylamin-bis(sulfonat) rasch zum Hydroxylamin-mono(sulfonat) hydrolysiert, das durch Kochen mit Salzsäure in Hydroxylammonium-chlorid NH 2 OH • HCl verwandelt wird. Reduktion von Nitrat. Man kann Salpetersäure mithilfe des elektrischen Stromes zu Hydroxylamin reduzieren: HNO
6H
NH OH
2H O.
Als Elektrolyten benutzt man hierbei in der Technik z. B. eine Lösung von Salpetersäure in 50 %iger Schwefelsäure. Darüber hinaus lässt sich wässriges Ammoniumnitrat in Gegenwart von Phosphorsäure mit Wassersto an einem suspendierten Edelmetallkatalysator auf Aktivkohle unter Druck reduzieren N H NO 3 + 3H 2 ^ NH 3 + NH 2 OH + 2 H O . Die erhaltene Lösung wird nach Abtrennung des Katalysators direkt zur Herstellung organischer Oxime (s.u.) genutzt. Die NH 2 OH-Ausbeute beträgt ca. 60 %. Abtrennung des Hydroxylamins. In allen Fällen erhält man nicht das freie Hydroxylamin, sondern Salze des Typus NH 2 OH • HX (HX = H 3 PO 4 , H 2 SO 4 ). Die freie Base NH 2 OH gewinnt man aus diesen Salzen durch Zugabe einer die Säure bindenden starken Base. Nach Lobry de Bruyn (der im Jahre 1891 erstmals das freie Hydroxylamin darstellte) verwendet man als Base zweckmäßig Natriummethylat NaOMe (Me = CH 3 ) in methanolischer Lösung: NH 2 OH • HX + NaOMe ^ NH 2 OH + NaX + MeOH. Es scheidet sich dann das Natriumsalz der Säure HX aus, welches abfiltriert wird, worauf man das gleichzeitig gebildete leichtflüchtige Methanol CH 3 OH unter vermindertem Druck abdestilliert. NH 2 OH-Lösungen 38
Literatur. F. Seel: ,,Chemie der Raschig'schen Hydroxylamin-Synthese und ihrer FolgereaktionFortschr. Chem. Forsch. 4 (1963) 301-332; K. Wieghardt: ,,Mechanistic Studies Involving Hydroxylamine", Adv. Inorg. Bioinorg. Mechanisms 3 (1984) 213-274; R. C. Mehrotra:,,Oximes, Guanidines and Related Species", Comprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 269-291. 3^ Physiologisches N H 2 O H führt zu allergischen Reaktionen an der Haut, den Augen und der Schleimhäute.
720
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
lassen sich darüber hinaus durch Lösen der Salze NH 2 OH • HX in flüssigem Ammoniak (Abfiltration von unlöslichem NH 4 X) oder dadurch gewinnen, dass man die wässerigen Salzlösungen durch Ionenaustauscher schickt. Das hinterbleibende freie Hydroxylamin kann anschließend durch Vakuumdestillation rein erhalten werden. Da die Gewinnung der freien Base wegen der Explosionsneigung des Hydroxylamins (s. u.) nicht gefahrlos ist, stellt man gewöhnlich aber nur die Salze her. Physikalische Eigenschaften Reines Hydroxylamin kristallisiert in langen, dünnen, geruchlosen, durchsichtigen farblosen Nadeln (AHt = — 114 kJ/mol), die bei 33 °C schmelzen. Der Siedepunkt des flüssigen Hydroxylamins beträgt bei 22mbar 56.5°C (extrapoliert: 142°C bei 1.013bar), die Dichte 1.204g/cm 3 bei 33 C. Struktur Man kann dem Hydroxylamin zwei tautomere Konstitutionsformeln zuweisen: H 2 N—ÖH ~ (in Anwesenheit von & 1 + ) -> NO 2 + NO~ + H 2 O usw. Einelektronenoxidationsmittel wie Ce 4 + , Mn3 + , Fe3 + , Co3 + , & 1 + , Ag + , Ag 1+ bewirken gemäß N H 2 O H -> N H O H + H + + Q eine intermediäre Bildung des Radikals N H O H das zum Teil weiter in - seinerseits zu N 2 O abreagierenden - Nitrosowasserstoff HNO überführt wird (NHOH H N O + H + + Q; 2 H N O N 2 0 + H 2 O; z.B. mit C 4 + , Mn3 + , Cu1+), zum Teil in Stickstoff zerfällt (2NHOH HONHNHOH N 2 + 2 H O ; z.B. mit Co3 + , Fe(CN)4"; vgl. hierzu die über N 2 H 3 -Radikale führende Oxidation von N 2 H 4 , S. 678). Zweielektronenoxidationsmittel wie CrO 1", M n 0 4 , C W " führen N H O H auf dem Wege über H N O in N 2 O über. Erwähnt sei noch die Oxidation durch Salpetrige Säure, die beim Ammoniak zu Stickstoff, beim Hydroxylamin zu Distickstoffoxid führt, und der N 2 O-Bildung aus Ammoniak und Salpetersäure analog ist: NH
HNO
^
— 2H20
N2;
NH2OH
HNO — 2H20
N 2 O;
NH3
HNO
^ N2O .
— 2H20
Sn(II)-, V(II)- und Cr(II)-Salze reduzieren andererseits N H O H zu N H . Reduktionszwischenprodukt e NH2 + OH"; NH2 + H + + e N H ; vgl. hierzu die S.538). Verwendung Mit Aldehyden R H C = O und Ketonen R 2 C = O bildet Hydroxylamin ,,Oxime": Aldoxime R H C = N O H und Ketoxime R 2 C = N O H . Solche Oxime spielen als Zwischenstufen bei der technischen Herstellung von Polyamid-Kunststoffen eine Rolle. Zu über 97 % wird N H O H (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab) hierbei zur Gewinnung von Cyclohexanonoxim C6H 1 0 NOH genutzt, das auf dem Wege über Caprolactam in Polyamid 6 (,,Perlon") verwandelt und als solches zu Textilien verarbeitet wird. Andere Oxime dienen in geringem Umfang als Pharmaka sowie Pflanzenschutzmittel; auch werden sie in Lacken zur Verhinderung der Hautbildung verwendet. Darüber hinaus nutzt man N H O H als Antioxidans in photographischen Entwicklern, zur Stabilisierung von Polymerisationsmonomeren, zur Reduktion von Cu 1+ beim Färben von Acrylfasern.
1.5.3
Nitrosowasserstoff HNO 2 ' 3 9 3
Darstellung Nitrosowasserstoff (,,Nitroxyl") H N = O ist wie dessen Iminoderivat H N = N H (Diazen, Diimin; vgl. S. 686) extrem thermolabil (s. unten) und lässt sich daher nur in einer Tieftemperaturmatrix isolieren. Hierzu werden H-Atome (gebildet aus H 2 -Molekülen in einer Mikrowellenentladung) und NORadikale zusammen mit einer großen Argongasmenge auf ein 10 K kaltes Matrixfenster kondensiert, worauf sich gemäß (1) Nitrosowasserstoff H N O sowie untergeordnet auch Isonitrosowasserstoff NOH (s. unten) und andere Substanzen bilden. Die gleichen Produkte entstehen auch nach Schleusen von H 2 , NO, Ar im Verhältnis 2 : 1 : 2 5 0 durch eine Entladungszone und Abscheiden des Reaktionsgases auf 10 K kalten Flächen ('AH, -4)H + NO
H—N=O.
(1)
H N O wird darüber hinaus als reaktives Zwischenprodukt bei einigen Oxidationen von N H OH, Re duktionen von H N O oder bei der Hydrolyse von HNC12 postuliert. Eine gute HNO-Quelle stellt Di39a Literatur P.J. Farmer, F. Sulc: „ Coordination chemistry of the HNO ligand with hemes and synthetic coordination complexes", J. Inorg. Biochem. 99 (2005) 166-184; K.M.Miranda: „The chemistry of nitroxyl (HNO) and implications in biology", Coord. Chem. R e v 249 (2005) 434-455.
722
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
natriumoxohyponitrit Na 2 N 2 0 3 („Angeli-Salz", s. dort) dar, welches sich bei pH 4 - 8 auf dem Wege (2a) zersetzt, sowie Akylsulfonylhydroxylamine, die bei pH 8-12 gemäß (2b) in HNO übergehen. N202~ + H + RSO 2 NHO"
HN 2 0 3 HNO + N O ; R S O + HNO.
(2a) (2b)
Physikalische Eigenschaften Nach spektroskopischen und ab-initio Studien ist ,,Nitrosowasserstoff" HNO gewinkelt gebaut (a) und weist eine NH-Einfach- sowie eine NO-Doppelbindung auf (Abstände HN/ NO = 1.026/1.211 Ä; Winkel HNO = 108.5°). HNO absorbiert im langwelligen sichtbaren UV-Bereich (scharfe Banden bei 688,709, 761 nm) und ist demgemäß wie die isolierbaren blauen bis grünen organischen Nitrosoverbindungen tieffarbig (Verbindungen XNO mit sehr elektronegativem X wie z.B. F sind farblos; vgl. die Verhältnisse bei X N = N X , S. 688). Beim Bestrahlen der HNO-Tieftemperaturmatrix mit Licht der Wellenlänge 313 nm isomerisiert Singulett-Nitrosowasserstoff HNO gemäß (3) in energiereicheren farblosen ,,Triplett-Isonitrosowasserstoff" NOH (,,Hydroxylnitren"), der wie HNO gewinkelt gebaut ist (b) und NO- sowie OH-Einfachbindungen aufweist (Abstände NO/OH = 1.32/0.984 Ä). Bei Bestrahlung mit Licht der Wellenlänge 254 nm wandelt sich NOH wieder in HNO zurück ( 3 0 -=-O/'0=O (S.510) sind isoelektronisch mit 3 HN-=-O/'HN=O;^ff f für 3 0 2 >02bzw. 3 NOH »HNO = + 9 5 / - 75 kJ/mol). ca. 85 kJ + ^
^
{H + NO}
^
®
(a) HNO
(b) NOH
Chemische Eigenschaften Bei Entfernen der Kühlung thermolysiert NitrosowasserstoffHNO rasch gemäß (4) auf dem Wege über sein Dimeres (c) und dessen Umlagerungsprodukt (d) („Hyposalpetrige Säure", vgl. S. 736) in N2O und H2O: OH
^N + NCf
N=N O^
H
(c) H 2 N 2 O 2
X
0 = N = N
+ H2O
(4)
HO (d) H 2 N 2 O 2
Analog HNO dimerisieren organische Nitrosoverbindungen, wobei es anders als im Falle der HNODimeren (c) zu keiner nachfolgenden Umlagerung kommt. Bei Verbindungen XNO mit anorganischen Resten X unterbleibt sogar häufig die Dimerisierung. Ganz allgemein tendieren Verbindungen XNO mit elektropositiveren Resten X wie H, Organyl, Silyl zur Dimerisierung, während Verbindungen mit elektronegativeren Resten wie N H , OH, F nicht dimerisieren (man bezeichnet XNO meist als ,,Nitrosoverbindungen" und bei sehr elektronegativem X wie Halogen als ,,Nitrosylverbindungen"). Eine Neigung zur Dimerisierung fehlt hiernach der in der Reihe der Monostickstoff-Sauerstoffsäuren (Tab. 80) auf HNO folgenden Säure H N O : das Gleichgewicht 2 H N O (HNO2)2 liegt vollständig auf der linken Seite. Demgegenüber vermögen sich offensichtlich HNO und H N O reversibel gemäß HNO + HNO 2 ^ H 2 N 2 0 3 zu vereinigen, wobei das Gleichgewicht im Alkalischen auf der rechten Seite, im Sauren auf der linken Seite liegt (vgl. Erzeugung (2a) von HNO aus N202~). Nitrosowasserstoff HNO ist eine sehr schwache Säure von der Stärke etwa des Wasserstoffperoxids, sodass Salze MNO in Wasser sehr weitgehend hydrolysieren. Die konjugierte Base von HNO, das Nitroxyl-Anion NO" („Oxonitrat(I)"), ist mit molekularem Sauerstoff isoelektronisch und liegt analog 0 2 als Triplett-Spezies vor (68 kJ + 3 NO~ -> 'NO). Demgemäß erfolgt die - mit einer Änderung der Spinmultiplizität verbundene - Protonierung (5) vergleichsweise langsam (in Sekunden bei pH 7): 3 J
NO~ + H +
»HNO to^s ca. 11.6)
(5)
Salze M NO des Nitroxyl-Anions ließen sich bisher nicht isolieren; doch kann das Anion NO" in das schalenförmig gebaute Polyvanadat V1204^ einlagert werden, wobei NO" in der aus N E t ^ V O und NO entstehenden Verbindung [NEt4]5[V12C)32(NO)] keine wesentlichen Wechselbeziehungen mit den V- und O-Atomen des Wirts eingeht (NO-Abstand in NO" 1.198 Ä; zum Vergleich NO-Abstände in N O /NO 1.06/1.14Ä). Basische Eigenschaften entwickelt Nitrosowasserstoff hinsichtlich geeigneter Komplexfragmente, mit denen es HNO-Komplexe bildet, z.B. [L 2 Re(CO) 2 (HNO)], [L 2 OsCl 2 (CO)(HNO)], [L 2 IrCl 2 H(HNO)] (L = PPh3). In den Komplexen, die sich u. a. durch Protonierung NO-haltiger Vorstufen erzeugen lassen (7), ist HNO über N an das Metallzentrum gebunden (e). Die Reaktion [Ni(CN)4]2~ + NO" -> [Ni(CN) 3 (NO)] 2 ~ (violett) + C N dient als Nachweis für intermediär gebildetes HNO bzw. NO". Die Oxidation des Anions N O führt in Anwesenheit von Sauerstoff gemäß (6) rasch zu Peroxonitrit, das sich seinerseits in saurer Lösung zu Salpetersäure isomerisiert (vgl. S. 739):
1. Der Stickstoff
ON" + 0 2
+ H
OONO~
> HNO 3 .
723
(6) 3
Elektrochemisch lässt sich NO" zu Stickstoffmonoxid oxidieren: N O ~ ^ N O + Q ; £0 = —0.81V NO NO £0 = — 1.7 V; die Reduktion von NO erfordert mithin mehr Energie als die von O2). Andererseits beobachtet man in einigen Fällen wie (7) eine Reduktion von komplexgebundenem NO~ bzw. HNO in Säureanwesenheit unter Bildung von komplexgebundenem Hydroxylamin:
| .L H— C l L^
± HCl « ' (L=PPh3)
| ,L H — ; I r — Cl
± HCl
Cl
'
| /-L C \ - ? Ir— Cl L | Cl
(7)
(e) [IrHClLj(HNO)]
Nitrosowasserstoff HNO spielt in der anorganischen und Biochemie eine wesentliche Rolle als Zwischenprodukt der Überführung von niedrig- in höherwertige Stickstoffverbindungen und umgekehrt (NH 3 4? HNO); physiologisch weist HNO Ähnlichkeiten und Unterschiede zu NO auf (vgl. S. 707).
1.5.4
Salpetrige Säure HN0 2 2 ' 4 0 ' 4 1
Darstellung und Struktur Salpetrige Säure ist nur in verdünnten, kalten, wässerigen L ö s u n g e n und in Form ihrer Salze, der Nitrite, beständig. Diese Nitrite lassen sich entweder durch Einleiten eines äquimolekularen Gemischs von NO und N O in Lauge oder durch Erhitzen von Nitraten - zweckmäßig bei Gegenwart eines schwachen Reduktionsmittels wie Blei oder Eisen - darstellen: N 2 0 3 + 2NaOH 2NaNO2+H2O; N a N O j + Pb NaNO 2 + PbO. Zur technischen Gewinnung von Natriumnitrit leitet man „Nitrose Gase" in Natronlauge oder wässerige Soda und kristallisiert gebildetes NaNO 2 um. In der Natur entstehen Nitrite als Zwischenprodukte der Nitrifikation und Denitrifikation (s. dort). Fügt man zu einer sehr v e r d ü n n t e n , kalten Nitritlösung (zweckmäßig Bariumsalze) die äquivalente Menge Säure (zweckmäßig Schwefelsäure) hinzu, so resultiert (nach Abtrennung des ausgefallenen Bariumsulfats) eine verdünnte Lösung freier Salpetriger Säure: Ba(NO 2 ) 2 + H 2 SO 4 -> 2HNO 2 + BaSO 4 .
40
Literatur. ULLMANN: „Nitrates and Nitrites", „Nitric Acid, Nitrous Acid, and Nitrogen Oxides", A17 (1991) 265-339; T. A. Turney, G. A. Wright: „Nitrous Acid and Nitrosation", Chem. Rev. 59 (1959) 497-513; J.H. Ridd:,,Nitrosation, Diazotisation, and Deamination", Quart. Rev 15 (1961) 418-444; C.J. Collins: „Reactions of Primary Amines with Nitrous Acid", Acc. Chem. Res. 4 (1971) 315-322; D . L . H . Williams: „S-Nitrosation and the Reactions of S-Nitroso Compounds", Chem. Soc. R e v 14 (1985) 171-196; ,,The Mechanism of Nitric Oxid Formation from S-Nitrosothiols (Thionitrites) ", Chem. Commun. (1996) 1085-1092; G. Lammel, J.N. Cape:,,Nitrous AcidandNitrite in the Atmosphere", Chem. Soc. R e v 25 (1996) 361-369; C. Woolf: „Oxyfluorides of Nitrogen", Adv. Fluorine C h e m 5 (1965) 1-30; B.J. Hathaway: ,,Oxyanions", Comprehensive Coord. C h e m 2(1987) 413-434; H. Yamamoto, N. Momiyama: ,,Rich chemistry of nitroso compounds", Chem. Commun. (2005) 3514-3525. 4 1 Physiologisches. Nitrit N O führt - im Kontakt - zu Haut- sowie Augenallergien und - eingenommen - zu Gefäßerweiterungen mit der Folge starken Blutdruckabfalls bis zum Kreislaufkollaps (die Wirkung besteht u. a. auf der Oxidation von Myoglobin zu Metmyoglobin bei gleichzeitiger Reduktion von N O zu NO). Nitrit unterdrückt das Wachstum von Bakterien wie Clostridium botulium (verantwortlich für Botulismus) oder Salmonellen (verantwortlich für Darmentzündungen, Typhus, Paratyphus), weshalb es in Lebensmitteln in Form von Nitritpökelsalz (NaCl + 0.4 bis 0.5% N a N O ) zur Konservierung, aber auch wegen seiner Wirkung als Antioxidans sowie zur Erhöhung einer stabilen Pökelfarbe (u. a. Überführung von Myoglobin in leuchtend rotes Nitrosomyoglobin) zugesetzt wird (Tagesration höchstens 15 |ig N O ) . Im sauren Magensaft kann Nitrit auf dem Wege über Salpetrige Säure mit Aminen R 2 N H zu Nitrosoaminen R 2 N N O reagieren, welchen hohe carcinogene, aber auch teratogene Wirkung zukommt. Die Tumorgefährdung einzelner Organe wird hierbei wesentlich durch R bestimmt (z. B. verursachen Nitrosoamine mit offenkettigen gleich- bzw. ungleichartigen Organylresten Leberkrebs bzw. Speiseröhrenkrebs).
724
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Die Säure lässt sich auch in der G a s p h a s e als wasserfreies H N O 2 - M o l e k ü l erhalten (NO + N 0 2 + H 2 0 ( g ) 2 H N O 2 ( g ) ; K = 7.9 b a r " 1 ) nicht aber im flüssigen Zustande. Struktur Die Konstitution der N i t r i t e ist eindeutig. Es handelt sich bei dem Nitrit-Ion N 0 2 um ein mit dem Ozon 0 3 und Nitrosylfluorid NOF isoelektronisches, gewinkeltes Ion (18 Valenzelektronen, vgl. S. 357) mit einem Bindungswinkel von 115.4° und einem zwischen einer einfachen (1.36 A) und einer doppelten Bindung (1.16 Ä) liegenden NO-Abstand von 1.236 Ä (a). Demgegenüber könnte die freie Salpetrige Säure theoretisch in zwei tautomeren Formen (b) und (c) (C2v- bzw. Cs-Symmetrie) vorliegen, da das Proton H + sowohl am Stickstoff als auch am Sauerstoff sitzen kann (letztere Form ist im Gaszustande (s.u.) jedoch die allein nachgewiesene):
Dennoch leiten sich von der Salpetrigen Säure - ähnlich wie von der Schwefligen Säure (s. dort) - zwei Reihen isomerer organischer Derivate ab: ,,Nitroverbindungen" R — N O (gleichlange NO-Bindungen, z.B. 1.22Ä in CH 3 NO 2 ) und ,,Salpetrigsäureester" RO—NO (ungleichlange NO-Bindunge, z.B. 1.37 und 1.22 Ä in C H 3 0 — N = O ) . Analoge Isomerien finden sich bei Komplexen mit N O als Ligand, da die Bindung an das Zentralmetall einmal über N („Nitro-Komplexe") und einmal über O (,,NitritoKomplexe") erfolgen kann. Die ersteren Komplexe (einer der bekanntesten ist das Kalium-hexanitrocobaltat(III) K 3 [Co(NO 2 ) 6 ]) sind wesentlich beständiger 42 . Von den beiden p l a n a r e n Formen des gasförmigen HONO-Moleküls, der trans- und der cis-Form: Q
Q N—0\
trans-WS02
+
2.14 kJ
H N—O
H c/5-HN02
ist die erstere die stabilere (trans-Form: Bildungsenthalpie A H i = — 80.18, cis-Form: AHf = — 78.04 kJ/ mol; Rotationsbarriere 45.2 kJ/mol). Die NO-Abstände in der trans-Form haben die Werte 1.177 Ä ( O = N ) und 1.433 Ä (N—OH); die Bindungslänge O—H beträgt 0.954 Ä, der Winkel ONO 110.7°, der Winkel HON 102.1°. Eigenschaften u n d V e r w e n d u n g Thermisches Verhalten Beim E r w ä r m e n - langsam auch schon bei Zimmertemperatur u n d beim K o n z e n t r i e r e n zersetzt sich wässerige Salpetrige Säure unter D i s p r o p o r t i o n i e r u n g in Salpetersäure u n d Stickoxid. X2|2HNO2 x2|N203 2N02 N2O4 + H2O 3 H N O9
H2O + N2O3 NO NO N2O4 HNO HNO
(1) (2) (3) (4)
HNO. + 2NO + H2O .
Die Konstante des sich rasch einstellenden Gleichgewichts (1) (Bildung des A n h y d r i d s der Salpetrigen Säure) beträgt bei 25 °C ca. 0.2. Hiernach stehen z. B. 0.1 mol/l H N O mit etwa 0.002 mol/l N 2 0 3 bzw. 0.8 mol/l H N O mit 0.1 mol/l N 2 0 3 im Gleichgewicht. Das Dissoziationsgleichgewicht (2) sowie das Assoziationsgleichgewicht (3) stellen sich analog (1) ebenfalls rasch ein (bezüglich des Dissoziationsund Assoziationsausmaßes vgl. S. 712 und 713). Der langsamste Schritt der Reaktionsfolge (1-4) ist die Hydrolyse (4) des gemischten Säureanhydrids N 2 0 4 . Bezüglich der Mechanismen der Reaktionen (1) und (4) vgl. S. 728.
42 In Nitro- bzw. Nitrito-Komplexen wirkt N O als einzähniger (r| *-N bzw. r| *-O) sowie zweizähnig-chelatbildender Ligand(r| 2 -OO),z.B.: [(NH 3 ) 5 Co(r|*-NO 2 )]2 + , [ ( N H 3 ) 5 C o ( r | ^ O N O ) ^ , [(bipy) 2 Cu(r| 2 -O 2 N)] + . D a r ü b e r hinaus fungiert N O auch brückenbildend Qi-O, |i-ON).4°
1. Der Stickstoff
725
Redox-Verhalten (vgl. Potentialdiagramm, S. 718). Die Salpetrige Säure wirkt - wie ihre leicht erfolgende Disproportionierung in eine höhere und tiefere Oxidationsstufe lehrt (s. oben) sowohl als Reduktions- wie als Oxidationsmittel. Als R e d u k t i o n s m i t t e l (HNO 2 + H 2 0 NO 3 + 3 H + + 2 © ; e 0 = + 0.94 V) tritt sie gegenüber starken Oxidationsmitteln wie Permanganat ( M n 0 4 + 8 H + + 5 © Mn 1 + + 4H 2 O), Bromat (BrO3 + 6H + + 6 © Br" + 3H 2 O), Sauerstoff ( 0 2 + 4 H + 4 © 2H 2 O), Wasserstoffperoxid + Reaktionszwischenstufe HOONO, S. 728) oder Bleidioxid (Pb0 2 + 4 H + + 2 © ? ± P b 1+ + 2 H O ) auf. Man benutzt die Reaktion mit Permanganat, um den Gehalt verdünnter Lösungen von Salpetriger Säure maßanalytisch zu bestimmen. Als O x i d a t i o n s m i t t e l (HNO 2 + H + + © -> NO + H 2 O; 0.996 V) oxidiert Salpetrige Säure beispielsweise Iodide (2 ), Eisen(II)Salze (Fe 1+ Fe 3 + + ©) und Oxalate (C 2 01" ->• 2 C 0 2 + 2 ©). Andere Reduktionsmittel führen die Salpetrige Säure über die Oxidationsstufe des NO hinaus in H 2 N 2 0 2 ( N O ) , N 2 , N 3 H, N H O H oder N H über (vgl. Potentialdiagramm auf S. 718). So wird sie etwa von Zinn(II)-Salzen zu Distickstoffoxid (2Sn1+ + 2HNO 2 + 4 H + ^ 2Sn4 + + N 2 0 + 3 H O ) , von Natriumamalgam zu Hyposalpetriger Säure (s. dort), von Natrium in fl. N H zu N a 4 N 2 0 4 reduziert. Mit H y d r o x y l a m i n reagiert sie zu Hyposalpetriger Säure (vgl. S.736) mit H y d r a z i n zu Stickstoffwasserstoffsäure (Reaktionszwischenprodukt: Hydroxyltriazen H 2 N—N=N—OH), mit S t i c k s t o f f w a s s e r s t o f f s ä u r e zu Stickstoff und Distickstoffoxid (Reaktionszwischenprodukt: Nitrosylazid ON—N 3 , vgl. S.716), mit A m m o n i a k zu Stickstoff (Reduktionszwischenprodukt möglicherweise: Nitrosoamin O N — N H ) : NH 2 OH + HNO 2 ^ H 2 N 2 0 2 + H 2 O ;
N 2 H 4 + HNO 2 ^ N 3 H + 2 H 2 O ;
N 3 H + HNO 2
N H 3 + HNO 2
N2 + N 2 0 + H2O;
^ N2 + 2 H 2 O .
Letztere Reaktion benutzt man zur Stickstoffdarstellung, indem man Ammoniumnitrit (NH 4 NO 2 N H 3 + H N O ) erhitzt: ->• N 2 + 2 H 2 0 + 315 kJ. Als Beispiel einer zu Hydroxylamin führenden Reduktion haben wir auf S. 719 die Umsetzung von H N O mit Schwefliger Säure kennengelernt, als Beispiel einer zu Ammoniak führenden Reduktion sei die Umsetzung von H N O mit Schwefelwasserstoff genannt. Mechanistisch stellt der erste Schritt der Redoxreaktionen der Salpetrigen Säure vielfach eine N i t r o sierung des Redoxpartners dar (Wirkung von H N O als Elektrophil: HONO + Nu" -> OH" + NuNO; Näheres vgl. S.728). Es sind aber auch Elektronenübertragungsreaktionen bekannt: NO2 NO 2 + Q (Wirkung als Reduktionsmittel z.B. hinsichtlich Mn3 + , Co3 + ) bzw. Q + NO 2 N O 1 " ; H + NO1" -> NO + OH~ (Wirkung als Oxidationsmittel z.B. hinsichtlich Na/fl. N H : Bildung des mit O3 und N F isoelektronischen Anions NO1", das in dimerer Form dem gelben, hydrolseempfindlichen Salz N a 4 N 2 0 4 zugrunde liegt ( N 2 0 4 " + 2 H + -> 2NO + 2OH")). Schließlich vermag H N O als Nucleophil einen Schwefelkettenabbau zu initiieren: S s + 8NO.T -> S 8 N ^ 2 + 7NO-T ^ 8 S N ^ . Das (wohl grüne) Thionitrat-Ion NO 2 S~ konnte bisher nicht als Salz isoliert werden (man kennt aber den tert-Butylester der Thiosalpetersäure HSNO ), da NO unter Redoxdisproportionierung u.a. in N 2 O, S 2 0 | " , S3 und NOSj übergeht (formal: 2NO 2 + 2 S -> N 2 0 + S 2 0 1 " bzw. NOS 2 + NO3 ). Das rote Oxodisulfidonitrit-Ion N O ^ = 0 = N — S — b i l d e t sich auch durch Reaktion von NO und in Dimethylformamid oder -sulfoxid und lässt sich in Form von [Ph 3 PNPPh 3 ] + NOS 2 isolieren (vgl. hierzu NS3, S.611).
Säure-Base-Verhalten Als Säure zählt H N O zu den mittelstarken bis schwachen Säuren (HNO 2 ^ H + + N O ; P^s = 3-29 bei 25 °C). Die wässerigen Lösungen ihrer Salze enthalten daher infolge Hydrolyse freie Salpetrige Säure und sind infolgedessen wenig h a l t b a r (vgl. oben). Unter den Salzen lassen sich die Alkalimetallnitrite unzersetzt schmelzen ( N a N O : Smp. 284 °C; KNO 2 : Smp. 441 °C), während andere Salze in der Regel vor Erreichen des Schmelzpunktes zerfallen (z.B. Ba(NO 2 ) 2 > 220°C; AgNO 2 > 140°C; Hg(NO 2 ) 2 > 75°C). N H N O zerfällt gegebenenfalls explosionsartig. Bis auf das in kaltem Wasser nur mäßig lösliche gelbe A g N O sind die Nitrite alle leicht wasserlöslich Natriumnitrit N a N O , das nur schwach giftig ist4i, dient zur Konservierung von Fleisch und wird zur Synthese von Hydroxylamin (s. dort) sowie für Diazotierungen aromatischer Amine benötigt
726
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
(vgl. Nitrosierungen, unten). Beim Erhitzen äquimolarer Gemische von Alkalimetallnitriten M N O mit Alkalimetalloxid M,O als Basen erhält man gemäß M N O + M 2 0 —> M 3 NO 3 gelbes Na 3 NO 3 , rotes K 3 N O bzw. rotbraunes Rb 3 NO 3 . Diese - früher als Orthonitrite bezeichneten - Salze enthalten nicht das Orthonitrit-Ion N O 3 " , sondern stellen Mischkristalle der Salze M N O und M 2 O dar (anti-Perowskistruktur (NO 2 )ONa 3 ). + H+
+ H+ >
> H2NO2 < H30 Als B a s e ist Salpetrige Säure extrem schwach ( H N O < + + NO ; ( H N ^ = — 7). N u r mit sehr starken, konzentrierten Säuren (z.B. 9-molare Schwefelsäure) reagiert sie unter Bildung des Nitrosyl-Kations N O + (vgl. S.727) in kleiner + Gleichgewichtskonzentration. N O vermag sich als sehr starke Lewis-Säure mit der schwachen Lewis-Base H N O weiter zu Distickstofftrioxid umzusetzen ( N O + + H N O 2 -> N 2 0 3 + H + ). Übergießt m a n hiernach Nitrite mit konz. Schwefelsäure, so entweichen braune D ä m p f e von N O neben farblosem und N O ( 2 N a N O 2 + 2 H 2 S O 4 ^ 2 N a H S O 4 + H 2 0 + N 2 0 3 ; N 2 0 3 -> N O + N O ) . Hierdurch unterscheiden sich Nitrite von Nitraten, welche mit konzentrierter Schwefelsäure nicht unter Bildung braunen Stickstoffdioxids reagieren. (Bezüglich H 2 N O 2 und N O + s. auch weiter unten.)
Verwendung NaNO 2 dient zur Diazotierung bei der Herstellung von Azofarbstoffen, Saccharin, Coffein und Pestiziden, als Gegengift bei Cyanidvergiftungen, zum Brünieren und Abschrecken von Stahl, als Ausgangsstoff zur Darstellung vieler anorganischer und organischer Verbindungen (z. B. Hydroxylamin, Nitroverbindungen) und zum Bleichen von Naturfasern. Es ist Bestandteil von Korrosionsschutzmitteln, Reinigungsmitteln, Bohrölen usw. Bezüglich der Verwendung von Pöckelsalz vgl. Anm.41. N i t r o s y l v e r b i n d u n g e n u n d Nitrosierungen40 Salpetrige Säure HONO stellt ein Beispiel aus der Reihe der Nitrosyl- bzw. Nitroso-Verbindungen XNO dar (X z.B. H, F, Cl, Br, OH, OOH, N H , N 0 2 , CH 3 , C 6 H 5 ; vgl. S.724 und das dort hinsichtlich Name, Farbe und Dimerisierungsneigung Gesagte). Die N—X-Bindung der Nitrosylverbindungen weist, falls X vergleichsweise elektronegativ ist, eine unerwartet hohe Polarität im Sinne von N 5+ —X 3 ~ auf. Kommt der Gruppe X zudem eine sehr geringe Basizität zu, d.h. ist die zu X korrespondierende Säure HX sehr stark, so sind die Nitrosylverbindungen sogar mehr oder weniger salzartig gebaut (z.B. NO + ClO4 ,NO + HSO",(NO + ) 2 S 2 0 2 ",NO + AsF 6 -,(NO + ) 2 SnCl^-,NO + BF",(NO + ) 2 PtCl2"). Auch lässt sich das Kation NO + in den zylinderförmigen Innenraum eines mit /Bu- und Me-Gruppen arylsubstituierten Antracyclophans (—CH 2 —C 6 H 4 —) 4 einlagern, wobei NO + durch nichtkovalente Wechselwirkungen mit den Arylgruppen des Wirts sehr fest gebunden ist ( K > 5 x 108) und nach Reduktion als NO entweicht Das in den Nitrosylsalzen enthaltene Nitrosyl-Kation NO + (Oxidationsstufe + 3 des Stickstoffs), welund C 2 " isoelektronisch ist, enthält gemäß der Elektronenformel (a)
eine dreifache Bindung zwischen N und O (Bindungslänge 1.06 Ä; ber. für eine Dreifachbindung 1.06 Ä; der NO-Abstand in N = = O / N = 0 " beträgt 1.14/1.20 In den kovalenten Nitrosylverbindungen ist N gemäß (b) doppelt an O und einfach an X geknüpft. Ist X eine elektronegative Gruppe, so werden häufig Bindungslängen gefunden, die kleiner als eine NO-Doppel- bzw. größer als eine N—X-Einfachbindung sind (vgl. Tab. 81), was auf folgende Mesomerie deutet [ X — N = 0 X " N = 0 + ]. Im übrigen sind die Moleküle X — N = O gewinkelt gebaut (vgl. etwa ONOH (oben) bzw. Nitrosylhalogenide (Tab.81)). In einer Tieftemperaturmatrix isomerisieren die Nitrosylhalogenide XNO (X =Cl, Br) bei Bestrahlung in ebenfalls gewinkelt gebaute Halogennitrosylnitrene XON (c), welche sich bei 10 K wieder langsam in XNO zurückverwandeln Nachfolgend werden zunächst Darstellung und Eigenschaften der Nitrosylhalogenide (einschließlich Pseudohalogenide) und der Nitrosylsalze und im Anschluss hieran Nitrosierungen mit Salpetriger Säure und anderen Nitrosierungsmitteln behandelt. Bezüglich weiterer XNO-Verbindungen vgl Nitrosowasserstoff HNO (S.721), Salpetrige Säure HONO (S.722), Peroxosalpetrige Säure HOONO (S.739), DinitrosylperoxidONOONO (S. 710), DistickstofftrioxidONNO2 (S. 712), NitrosylazidONN3 (S. 716) sowie organische Derivate des Nitrosoamins ONNH 2 (Anm.41). Nitrosylhalogenide (vgl. Tab. 81). Nitrosylchlorid NOC1 ist das gemischte Anhydrid der Salpetrigen und Salzsäure (Säurechlorid der Salpetrigen Säure): ONOH + HCl ONC1 + H 2 O und wird durch Wasser
1. Der Stickstoff
727
Tab.81 Einige Eigenschaften und Strukturparameter der Nitrosylhalogenide sowie des Nitrosyltrifluorids. NOX N0F N0C N0B N0F
Smp Farbloses Gas Orangegelbes Gas Rotes Gas Farbloses Gas
— — — —
C)
132.5 59.6 55.5 160
Sdp (°C)
Afl, (kJ/mol)
N 0 B r zu; bezüglich des Iodids vgl. S. 728. Mit Halogenid-Akzeptoren bilden N 0 C l , N 0 F u n d N 0 B r Nitrosylsalze: N 0 C 1 + SbCl 5 N0[SbCl6]; N 0 F + BF 3 -> N 0 [ B F 4 ] ; N 0 F + ClF N ^ C ^ ] ; N 0 F + ClF 3 N0[ClF4]. Nitrosylpseudohalogenide bilden sich durch Reaktion von N 0 + BF 4 mit N ^ ' oder N0Cl bzw. N0Br mit AgX' (X' = N 3 , CN, 0CN, SCN) als mehr oder weniger stabile Verbindungen N 3 N 0 (Zerfall in N 2 und N 2 0 ; S. 716), C N N 0 (blaugrünes, bei Raumtemperatur stabiles Gas), 0 C N N 0 (Zerfall in N 2 und C 0 ), NCSN0 (Zerfall in N 0 und NCS SCN). Nitrosylsalze Farbloses Nitrosylhydrogensulfat N O + H S O j kann aus Salpetriger und Schwefelsäure (5a) oder Schwefliger und Salpetersäure (5b) gewonnen werden. Die Reaktion muss unter Auschluss von Wasser durchgeführt werden, da das Nitrosylhydrogensulfat durch Wasser in Umkehrung von (5a) in Schwefelsäure und Salpetrige Säure zerlegt wird. Daher leitet man zur Darstellung entweder Salpetrigsäure-Anhydrid in konzentrierte Schwefelsäure ( N 2 0 3 + H 2 S 0 4 -> N 0 + H S 0 4 + H N 0 2 ) oder Schwefligsäure-Anhydrid in konzentrierte Salpetersäure ( H N 0 3 + S0 2 -> N ^ H S ^ ) . Als gemischtes Anhydrid der Salpetrigen und Salpetersäure (2N0 2 + H 2 0 H N 0 2 + H N 0 3 ) gibt auch Stickstoffdioxid N 0 2 sowohl mit Schwefel- wie mit Schwefliger Säure Nitrosylhydrogensulfat, wobei im ersteren Fall (6a) außerdem Salpetersäure, im letzteren Fall (6b) Salpetrige Säure auftritt: HN02 + H2S04
N 0 + HS04
+ H2O
- H
2N02 + H 2 0 + S03 < —H N 0
> HN0, + H2S03;
( 2
' N 0 + HS07 < 3
(5)
O
- H N 0
' 2N02 + H20 + S 0 .
(6)
2
Die Reaktion (6b) spielt sich bei Wassermangel in den Bleikammern der heute nicht mehr durchgeführten Schwefelsäurefabriken ab, wobei sich das Nitrosylhydrogensulfat in Form blättriger weißer, bei 73 °C schmelzender, rhombischer Kristalle (,,Bleikammerkristalle") abscheidet; bei genügender Wassermenge bleibt die Verbindung nicht erhalten, da sie sich gemäß (5 a) zersetzt, sodass Schwefelsäure entsteht (S. 586). Die Reaktion (6a) geht bei der Schwefelsäurefabrikation im Gay-Lussac-Turm vor sich; das gebildete Nitrosylhydrogensulfat wird dabei von überschüssiger konzentrierter Schwefelsäure
728
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
zu ,,Nitroser Säure" (,,Nitrose") gelöst. Im Glover-Turm wird das gelöste Nitrosylhydrogensulfat durch Schweflige Säure in Schwefelsäure und Stickstoffmonoxid umgewandelt (2NO + HSO 4 + H 2 0 + SO2 -> 2NO + 2 H 2 S O ) , das mit NO + HSO 4 die „Blaue" bzw. „ Violette Säure" N 2 0 2 HSO 4 mit dem violettstichig-blauen N 2 02 -Kation bildet. Andere Salze NO + X~ (X z. B. Cl0 4 , S0 3 F, B F ) lassen sich durch Reaktion von starken Säuren wie HClO 4 , HSO 3 F, H B F auf das Anhydrid N 2 0 3 der Salpetrigen Säure gewinnen. Nitrosierungen. Unter einer ,,Nitrosierung" versteht man die Übertragung der Nitrosogruppe einer Nitrosylverbindung ONX von X auf einen Reaktionspartner (Nucleophil) Y = Nu: 0 = N — X + Y " (bzw. HY) ^ 0 = N — Y + X " (bzw. HX).
(7)
Beispiele hierfür sind etwa die Umsetzungen von D i s t i c k s t o f f t r i o x i d N 2 0 3 mit Wasser, Chlorwasserstoff oder Schwefelsäure (Nitrosierung von H 2 O, HCl, H 2 SO 4 mit O N N O ; vgl. S. 726 und 727), die Anhydridbildung der Salpetrigen Säure H N O (Nitrosierung von H N O mit ONOH vgl. S. 712 und weiter unten), die Hydrolyse von N i t r o s y l h a l o g e n i d e n NOX (Nitrosierung von H 2 O mit ONHal, vgl. 729) oder die Umsetzung von Nitrosyl-Salzen mit Halogeniden bzw. Pseudohalogeniden wie Chlorid oder Azid (Nitrosierung von C P , N 3 mit NO + X~ vgl. S.727). Die gebildeten Nitrosylverbindungen stellen in vielen Fällen nur R e a k t i o n s z w i s c h e n p r o d u k t e dar, die sich unter Molekülspaltung oder -isomerisierung weiter umsetzen. So ist etwa N i t r o s y l i o d i d ONI instabil und zersetzt sich rasch nach 2ONI -> 2NO + I 2 . Nitrosiert man hiernach Iodid mit Salpetriger Säure, so entstehen letztlich auf dem Wege über ONI Stickoxid und I 2 : H N O wird durch zu NO reduziert (S. 725). In entsprechender Weise verwandeln sich die durch Nitrosierung von Sulfanen oder Selenanen RYH (Y = S, Se) erhältlichen Nitrosoverbindungen RYNO in RYYR und NO (möglicherweise von biochemischer Relevanz). Weitere, bezüglich einer Molekülspaltung instabile Nitrosylverbindungen sind z.B. das D i s t i c k s t o f f t r i o x i d O N N O (Zerfall in NO und N O ) , das D i n i t r o s y l o x a l a t ONOOC—COONO (Zerfall in 2NO und 2 C 0 2 ) oder das N i t r o s y l a z i d ONN 3 (Zerfall in ON 2 und N 2 ). Die Nitrosierung von Nitrit NO 2 , Oxalat C 2 0 2 " bzw. Azid N 3 etwa mit H N O führt somit letztlich zu NO und N O , NO und C O bzw. N O und N 2 : Salpetrige Säure wird von NO 2 in die Oxidationsstufen + II und + IV übergeführt (vgl. S.712), von C 2 O j " zu NO und von N 3 zu N 2 0 reduziert (vgl. S.713). Ein Beispiel einer bezüglich Molekülisomerisierung instabilen Nitrosylverbindung ist die Peroxosalpetrige Säure ON—OOH, die sich leicht gemäßON—OOH -> 0 2 N — O H in Salpetersäure umwandelt. Setzt man also Wasserstoffperoxid mit Salpetriger Säure um, so bildet sich letztlich Salpetersäure: HNO 2 wird von H 2 0 2 zu H N O oxidiert. Auch die durch Nitrosierung von Aminen des Typs R—NH 2 (R = organischer oder anorganischer Rest wie z.B. C 6 H 5 , CH 3 , NH 2 , OH, H) z.B. mit H N O erhältlichen N i t r o s o a m i n e R—NH—NO isomerisieren leicht nach: R — N H — N = 0 -> R — N = N — O H , wobei die gebildeten Azoverbindungen R — N = N — O H teils isolierbar sind (z.B. C 6 H 5 —N=N—OH, HO—N=N—OH, vgl. S. 739) und sich teils weiter zersetzen (z. B. H 3 C — N = N — O H u.a. H 3 C—OH + N = N ; H?N—N=N—OH H N = N = N + H 2 O (vgl. S. 717); H — N = N — O H H—OH + N = N . Schließlich isomerisieren a r o m a t i s c h e N i t r o s o a m i n e des Typs Ar—NR—NO (Ar = aromatischer Rest wie C 6 H 5 , R = organischer Rest wie C H ) , die durch Nitrosierung von Ar—NHR mit HNO 2 leicht zugänglich sind, unter Wanderung der Nitrosogruppe an den aromatischen Ring (,,Fischer-HeppUmlagerung"), z.B. H—C 6 H 4 —NR—NO -> ON—C 6 H 4 —NHR. Mechanistisch stellen Nitrosierungen des Typs (7) nucleophile, im allgemeinen assoziativ verlaufende Substitutionsprozesse (SN2-Reaktionen) am Stickstoff als elektrophilem Reaktionszentrum dar: Y r + ON—X -> [Y NO X] ^ Y—NO + :X"). Unter besonderen Bedingungen (z.B. HNO 2 in 60%iger H 2 S O ) erfolgen auch dissoziative nucleophile Substitutionsprozesse (SN1-Reaktionen): ON—X T* ON + + : X ; ON + + -> ON—Y. Die Geschwindigkeit der insgesamt sehr rasch erfolgenden Nitrosierungen wächst mit abnehmender Basizität der a u s t r e t e n d e n Gruppe X. Besonders wirksame Nitrosierungsmittel sind etwa die protonierte Salpetrige Säure ON—OH 2 sowie Nitrosylhalogenide ON—X (X = Cl, Br, I), für die Reaktionshalbwertszeiten xc = t von ca.10 " 9 s gefunden werden. Etwas langsamer - aber immer noch vergleichsweise rasch - nitrosieren Distickstofftrioxid ON—NO 2 und protonierte Nitrosoamine ON—NHR 2 (Tc= 1 um 10" 7 s). Schlechtere Nitrosierungsmittel sind die Salpetrige Säure ON—OH, Salpetrigsäureester ON—OR sowie Nitrosoamine O N — N R . Die Geschwindigkeit der Nitrosierungen wird darüber hinaus durch die e i n t r e t e n d e Gruppe beeinflusst, und zwar steigt deren Nucleophilität bezüglich ONX in Richtung NO 3 < H 2 0 < NH 3 < Cl" < Br" < I", SCN~, NO 2 , RS~ < R S e , also näherungsweise mit zunehmender Weichheit des Nucleophils. H y d r o x y l v e r b i n d u n g e n HY = H O R (z.B. H 2 O , H 2 0 2 , C H 3 O H ) bzw. A m i n e H Y = HNR 2 (z.B. NH 3 , N 2 H 4 , NH 2 OH, N 3 H, C H N H , ^ S N H ) lassen sich in vielen Fällen mit Salpetriger Säure als Nitrosierungsmittel gemäß ROH + H N ^ ^ RONO + H 2 O bzw. R 2 NH + HNO 2 R 2 NNO + H 2 O in Nitrosoverbindungen überführen. Als NO-übertragendes Agens wirkt hierbei allerdings nicht die Salpetrige Säure selbst, sondern die wesentlich rascher nitrosierende protonierte Form
1. Der Stickstoff
729
ONOH 2 („Nitritacidium-Ion", ,,Dihydrogennitrit(l +')") oder in sehr starken Säuren das hieraus gebildete Nitrosyl-Kation (ONOH + + H + 2NaN03 + H 2 0 + C02; H N 0 3 + K 0 H K N 0 3 + H 2 0 ; TiCl 4 + 4 N 2 0 4 Ti(N0 3 ) 4 + 4NO + 2C12). Einige Nitrate wie N a N 0 3 , K N 0 3 , werden technisch hergestellt (vgl. hierzu auch stickstoff- und kalihaltige Düngemittel, S. 669 und 1283). Neben einfachen Nitraten M ' N 0 3 kennt man darüber hinaus „Hydrogendinitrate" M ' [ H ( N 0 3 ) 2 ] (M1 = große Kationen wie K, Rb, Cs, NH 4 , AsPh 4 ) und „Dihydrogentrinitrate" M ' [ H 2 ( N 0 3 ) 3 ] (M1 z.B. NH 4 ). Im H(N0 3 )-T-Anion sind zwei Nitrationen über eine symmetrische O—H—0-Wasserstoffbrücke ( 0 0 Abstand 2.45 A), im H 2 ( N 0 3 ) 3 - Anion zwei HN0 3 -Moleküle über zwei asymmetrische O—H---0-Wasserstoffbrücken (00-Abstand 2.60 Ä) mit einem Nitration verknüpft. Die Struktur von N 0 3 in ionischen Nitraten (Alkali-, Erdalkalinitrate) wurde bereits im Zusammenhang mit der HN0 3 -Struktur besprochen (s.o.). Die wasserfreien Nitrate vieler Metalle enthalten allerdings meist keine ionisch, sondern koordinativ gebundene Nitratgruppen4®. Die Nitrate sind alle in Wasser leicht löslich. Beim Erhitzen zersetzen sie sich unter Sauerstoffabspaltung. Die Alkali- und Erdalkalimetallnitrate gehen dabei in Nitrite, die Schwermetallnitrate unter gleichzeitiger Stickstoffdioxidbildung in Oxide über z.B.: KN03
KN02+i02
bzw.
Cu(N0 3 ) 2 -> CuO + 2 N 0 2 + K > 2 .
Einen Ausnahmefall stellt Ammoniumnitrat N H 4 N 0 3 dar, das bei 200-260°C gemäß N H 4 N 0 3 N 2 0 + 2 H 2 0 + 124.1 kJ und oberhalb 300°C gemäß N H 4 N 0 3 ^ N 2 + \ 0 2 + 2 H 2 0 + 206.2 kJ zerfällt. Die Nitrate haben vergleichsweise niedrige Schmelzpunkte und lassen sich deshalb vielfach ohne Zersetzung verflüssigen (Smp./Zersetzungsp. (j)(02) = 1 atm) von Alkalimetallnitraten M N 0 3 ; M = Li: 255/474; Na: 307/525; K: 333/533; Rb: 310/548; Cs: 414/584°C). Wegen der leichten Sauerstoffabgabe
4 6 In Nitrat-Komplexen4 3 wirkt N 0 3 meist als zweizähnig chelatbildender (t]2) Ligand und ist über zwei seiner Sauerstoffatome mit einem Metallzentrum verknüpft, wobei die beiden M 0 - A b s t ä n d e teils gleich lang (symmetrisch: z.B. in C u ( N 0 3 ) 2 , C o ( N 0 3 ) 3 , T i ( N 0 3 ) 4 , S n ( N 0 3 ) 4 , [ C e ( N 0 3 ) 5 ] 2 " , [ C e ( N ^ 6 ] 2 ^ [ T h ( N ^ 6 ] 2 - ) , teils unterschiedlichlang sind (asymmetrisch: z.B. in [ C o ( N 0 3 ) 4 ) ] 2 ~ , [ C u ( H 2 0 ) 2 ( N 0 3 ) 2 ] ) . Seltener tritt N 0 3 als einzähniger (r) 1 } Ligand auf (z.B. in [ A u ( N 0 3 ) 4 ] ~ ) . Darüber hinaus kennt man Komplexe mit N 0 3 als verbrückendem (p) Liganden, wobei als Brücke sowohl ein einzelnes Sauerstoffatom (ß, i]1) oder die 0 N 0 - G r u p p i e r u n g (ß, i]2) fungieren kann
734
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
sind die festen Nitrate bei erhöhter Temperatur ausgezeichnete Oxidationsmittel (vgl. Schwarzpulver, unten). In wässeriger Lösung wirken sie nur gegenüber starken Reduktionsmitteln (z. B. naszierendem Wasserstoff) oxidierend. Dabei können sie bis zu Ammoniak reduziert werden, wovon man in der analytischen Chemie sowohl zum qualitativen Nachweis als auch zur quantitativen Bestimmung von Nitraten Gebrauch macht (Kochen der alkalischen Lösung mit Zn, Al oder ,,Devardascher Legierung" = Cu/Al/ Zn). Zum qualitativen Nachweis der Salpetersäure mittels des ,,braunen Rings" vgl. S. 708. Erhitzt man Natriumnitrat NaNO s längere Zeit mit Natriumoxid auf 340 °C, so geht es in Orthonitrat über (entsprechendes gilt für Kaliumnitrat): NaNO
N
N
NO
Somit wirkt das Nitration hinsichtlich O a l s Lewis-Säure. Die dem farblosen Orthonitrat (tetraedrisches NO 4 ~-Ion mit N in der Tetraedermitte; NO-Abstand 1.39 Ä) zugrunde liegende Orthosalpetersäure H 3 NO 4 ist unbekannt. Durch Wasser wird das Orthonitrat hydrolytisch zu normalem (Meta-)Nitrat zersetzt: Na 3 NO 4 + 2 H 2 0 2NaOH + NaH 2 NO 4 (-> NaNO 3 + H 2 O). Kaliumnitrat ist ein wichtiger Bestandteil des Schwarzpulvers, eines schiefergrauen bis blauschwarzen, gekörnten Gemischs aus etwa 75 Gew.-% Kalisalpeter KNO 3 , 15 Gew.-% Holzkohle (aus Erle, Linde, Buche, Pappel, Faulbaum) und 10 Gew.-% reinem Schwefel47. Schwarzpulver entzündet sich bei 270°C und explodiert unter Volumenzunahme auf das 3000fache bei 2400 °C (Reaktionswärme — 2900 kJ/kg). Hierbei entstehen aus einem kg ca. 2300 Liter Gas (ca. 710 l N 2 , 1130 l C O , 280 l CO, 601 C H , 40 1 H 2 S, 801 H 2 bei 25°C) und 0.6 kg Rauch (ca.290 g K 2 CO 3 , 110 g K 2 SO 4 , 125 g K 2 S 2 0 3 30 g K 2 S 2 , 30 g KSCN, 15 g (NH 4 ) 2 CO 3 ). Im Zuge der - gezündeten - Schwarzpulverreaktion setzt sich geschmolzenes, von Holzkohle aufgesogenes KNO 3 mit der Kohle u. a. zu Kohlenstoffmonoxid sowie Stickstoffmonoxid um (der billigere Natronsalpeter NaNO 3 ist wegen seiner Hygroskopizität hierzu weniger geeignet) und das hierbei gebildete Nitrit mit Schwefel u.a. zu Distickstoffoxid (vgl. S. 705). Die Gase CO, NO und N 2 O entstehen - als Folge der vorgegebenen Stoffanteile von Kalisalpeter, Kohle und Schwefel - im explosiven Volumenverhältnis 31 : 21 :7 und lösen unter Ablauf der Reaktionen N 2 0 + CO -> N 2 + C O sowie NO + CO -> ^N 2 + C O die eigentliche Explosion aus. Nebenbei gebildetes Kaliumcyanid KCN, das wegen seiner hohen Giftigkeit die verheerenden Folgen der mit Schwarz pulver geführten Kriege im Mittelalter noch weiter gesteigert hätte, wird durch Schwefel in weniger schädliches Kaliumthiocyanat KSCN verwandelt
Nitrylverbindungen und Nitrierungen Salpetersäure HONO 2 stellt ein Beispiel aus der Reihe der Nitryl- bzw. Nitro-Verbindungen X N O dar (X z. B. F, Cl, OH, OOH, NH 2 , N 0 2 , NO a , CH 3 , C 6 H 5 ; vgl. S. 729 und das dort über den Namen von X N O Gesagte). Die N—X-Bindung der Nitrylverbindungen ist mehr oder minder polar. Kommt hierbei der Gruppe X eine sehr geringe Basizität zu, d.h. ist die zu korrespondierende Säure HX sehr stark, so sind die Nitrylverbindungen mehr oder weniger salzartig gebaut (z.B. N 0 2 + C l 0 4 , N0 2 + SO 3 F~, N 0 2 + S 2 0 7 H ~ , N 0 2 + B F 4 , ( N O 2 + ) 2 S i F N 0 2 SbCl 6 ). Das in den Nitrylsalzen enthaltene Nitryl-Kation NO 2 (Oxidationsstufe + 5 des Stickstoffs), welches mit den Teilchen CO CN r und N 3 isoelektronisch ist, ist wie diese linear gebaut und enthält gemäß der Elektronenformel (a):
o.
•.O" (a)
[O=N=O]+
(b)
N — X
; N — X
•or
(c)
x N — O
trans
\ X
doppelte Bindungen zwischen N und O (gef. 1. 154 Ä; ber. 1.16 Ä). Die kovalenten Verbindungen XNO 2 lassen sich durch die Mesomerieformel (b) beschreiben und sind planar gebaut (vgl. etwa HONO 2 (oben) sowie die mit N O sowie C O isoelektronischen, C2v-symmetrischen Nitrylhalogenide (Tab. 82)). In einer
47 Geschichtliches, Verwendung. Schwarzpulver („älteres Schießpulver") war den Chinesen bereits vor dem Jahre 1000 bekannt (zunächst nur friedliche Nutzung) und wurde um 1300 nach Europa gebracht (zunächst nur kriegerische Nutzung). Man ersetzt es seit etwa 1865 durch wirkungsvollere, rückstandsarme, rauchschwache Pulver auf Nitrocellulose-Basis (,,neuere Schießpulver"). Wegen seiner mehr schiebenden, weniger zertümmernden Wirkung und seiner ausgezeichneten Anzündleistung wird es in besonderen Fällen heute noch verwendet, z.B. mit Korndurchmessern von 8 mm als Sprengpulver für Steinbrüche, von 2 m m als Böllerpulver (Artilleriemunition), von 0.2-0.7 mm als Zündschnurpulver und in der Feuerwerkerei, von 0.15-0.43 mm als feines Jagdpulver.
1. Der Stickstoff
735
Tieftemperaturmatrix isomerisieren die Nitrylhalogenide XNO 2 bei Bestrahlung in energiereichere cisbzw. noch energiereichere trans-Halogennitrite XONO (c) (AH{ (cis/trans) = + 79/+ 90 (F), + 58/ + 70 (Cl), + 88/ + 103 (Br) kJ/mol; FONO und ClONO wandeln sich thermisch in FNO 2 und C l N O um, BrONO zerfällt in B und NO ). Nachfolgend werden zunächst Darstellung und Eigenschaften der Nitrylhalogenide sowie einiger an derer Nitrylverbindungen und im Anschluss hieran Nitrierungen mit Salpetersäure und anderen Nitrierungsmitteln besprochen. Bezüglich weiterer XNO2-Verbindungen vgl. Salpetersäure H O N O (S. 729), Peroxosalpetersäure HOONO 2 (S. 740), Distickstofftri-, tetra- und -pentaoxid ON—NO2, O2N—NO2, 0 2 N - 0 - N O (S. 704f), Nitrylazidn3NO2 (S. 716), Nitramin NH2NO2 (S. 738) undDinitramin NH(NO2)2 (S. 738). Nitrylhalogenide (vgl. Tab. 82). Nitrylfluorid NO2F, -chlorid NO2C1 und -bromid N ^ B (NO2I ist unbekannt) stellen gemischte Anhydride von Halogenwasserstoffsäuren mit der Salpetersäure dar: 0 2 N O H + HX ^ 0 2 NX + H 2 O. Die wenig beständigen, reaktionsfähigen Gase (vgl. Tab. 82) werden leicht in Umkehrung der Anhydridbildung hydrolysiert, sodass bei ihrer Darstellung Wasser ausgeschlossen werden muss. Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass man das bei der Anhydridbildung entstehende Wasser bindet (z.B. HNO 3 + HCl + H2SO4 NO2C1 + H3C>+HSO4y bzw. HNO 3 + HSO3C1 NO2C1 + H2SO4) oder die Salpetersäure in Form ihres Anhydrids N205 einsetzt: N2Os
+ NÄ
XNO 2 + N a N O
(X = F, Cl, Br).
Darüber hinaus sind die Nitrylhalogenide auch durch Halogenierung von NO auf dem Wege über Ha logennitrite bzw. durch Halogenierung von N a N O zugänglich. 2 N 0 2 + X2 Tab. 82
> 2XONO
2XNO;
NaNO 2 + X2
(X = F, Cl)
> XNO 2 + NaX.
Einige Eigenschaften und Strukturparameter der Nitrylhalogenide.
NO X NO NO C NO2Br
(X = F, Cl)
Farbl. Gas Farbl. Gas Gelbes Gas
Smp [°C]
Sdp
— 166.0 — 145
— 72.5 — 15.9 um 10a)
7 a)
a) Zersetzlich: 2NO 2 Br — 2 N 0 2 +
Br
kJ/mol
[°
— 80 12.6 50.6
^NO/NX
£ ONO
1.23/1.35 1.202/1.840 1.201/2.040
1.25 130.6 131.4
[°]
;
B r N O ist hinsichtlich einer Zersetzung in X2 und NO 2 - anders als FN0 2 und ClNO2 - thermodynamisch instabil und deshalb nicht aus Br2 und N O zugänglich (Br-Atome vereinigen sich mit N O nur untergeordnet zu BrNO; gebildetes BrONO (Hauptprodukt) wandelt sich rascher in Br2 und N O als in B r N O um). In Abwesenheit von Katalysatoren (z. B. NOJ zerfällt B r N O allerdings bei Raumtemperatur in der Gasphase nur langsam (in mehreren zig Minuten). Es lässt sich durch Überleiten von ClNO-Gas über wässerige NaBr-Lösungen bzw noch vorteilhafter durch Leiten von BrNO-Gas zu -Gas synthetisieren ClNO2 + NaBr ^ BrNO 2 + NaCl;
BrNO + 0 3
BrNO 2 + 0 2 .
Das rasch (in Minuten) entstehende B r N O wird dann durch fraktionierende Tieftemperaturkondensation von anderen Produkten abgetrennt. Es ist bei —125 °C als gelber Feststoff mit über 95%iger Reinheit isolierbar. Offensichtlich bildet sich B r N O auch in der Atmosphäre (z. B. in der Troposphäre durch heterogene Reaktion von N 2 O s oder C l N O mit HBr- bzw. MBr-haltigen Meerwassersol-Partikeln) und betätigt sich aktiv am Ozonabbau in der Stratosphäre (vgl. Ozonloch; B r N O bildet bei geringster Lichteinwirkung Br-Atome; BrNO 2 + hv Br + N O ; Br + 0 3 BrO + 0 2 ; vgl. S.521). Nitrylpseudohalogenide bilden sich durch Reaktion von NO^BF^ mit N ^ ' oder N O C l mit AgX' (X' = N3, CN, OCN) als vergleichsweise thermolabile V e r b i n d u n g e n 3 N O (Zerfall in 2N2O; vgl. S. 716), C N N O (Zerfall in N 2 O und CO), O C N N O (Zerfall in N 2 O und CO). Nitrylsalze. Die (farblosen) Nitrylsalze der starken Säuren HClO 4 , H S O F , H 2 S 2 0 7 bzw. H B F lassen sich durch Einwirkung dieser Säuren bzw. der entsprechenden Säureanhydride auf reine Salpetersäure bzw. deren Anhydrid oder durch Umsetzung von Nitrylhalogeniden mit starken Lewis-Säuren gewinnen, z. B. NO (OH) 2HCl NO NO HSO NO BF
NO Cl NO SO NO BF ,
Cl HNO ;
;
N0 2 (OH) + 2 S 0 3 N O 2 + N O 3 + HBF 4 N0 2 C1 + SbCl5
NO NO BF NO SbC
HNO
Nitrierungen Unter einer ,,Nitrierung" versteht man die Übertragung der Nitrogruppe einer Nitroverbindung O 2 NX von X auf einen Reaktionspartner (Nucleophil) Nu = Y, z.B. gemäß:
736
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele") 0 2 N — X + Y " (bzw. HY) ?± 0 2 N — Y + X " (bzw. HX).
Beispiele hierfür sind etwa die Umsetzungen von D i s t i c k s t o f f p e n t a o x i d N 2 0 5 mit Wasser oder Wasserstoffperoxid (Nitrierung von H 2 O bzw. H 2 0 2 mit 0 2 N s . S . 7 1 5 ) , die Anhydridbildung von Salpetersäure (Nitrierung von H N O mit O 2 NOH vgl. S. 715), die Hydrolyse von N i t r y l h a l o g e n i d e n NO 2 X (Nitrierung von Wasser mit NO 2 F bzw. N0 2 Cl, s. oben) oder die Umsetzung von Nitrylsalzen mit Halogeniden bzw. Pseudohalogeniden wie Fluorid oder Azid (Nitrierung von F " bzw. N 3 mit N O + X " s. oben). Insbesondere organische Aromaten lassen sich leicht mit Salpetersäure als Nitrierungsmittel gemäß
in Nitrosoverbindungen überführen. Die Nitrierungsgeschwindigkeit wächst mit zunehmender Konzentration der Salpetersäure in Wasser, Essigsäure, Nitromethan oder Schwefelsäure und ist in 90%iger Schwefelsäure besonders groß. Als NO 2 -übertragendes Agens wirkt hierbei nicht die Salpetersäure selbst, sondern die wesentlich rascher nitrierende, protonierte Form (O 2 NOH + H + C) 2 NOH 2 ), in welcher Wasser auf dem Wege einer dissoziativen nucleophilen Substitution (SN1-Reaktion) durch den Reaktionspartner ersetzt wird, z. B.
Es kann sowohl die Wasserabspaltung aus dem Nitratacidium-Ion O 2 NOH 2 als auch die Anlagerung der Nucleophile an das Nitryl-Kation NO 2 reaktionsgeschwindigkeitsbestimmend sein. Die Addition von Y " an lineares NO 2 unter Bildung von NO 2 Y (gewinkelte NO-Gruppierung) erfolgt vergleichsweise langsam. Noch langsamer vereinigen sich Nucleophile mit dem NO 2 -isoelektronischen Distickstoffoxid (z.B. N 2 0 + N H 2 N 2 NH + OH"). Azid, das ebenfalls mit NO 2 isoelektronisch ist, reagiert nicht mehr mit Nucleophilen
1.5.6
Di- und Tristickstoffsauerstoffsäuren48
Hyposalpetrige Säure H 2 N 2 0 2 . Die Hyposalpetrige Säure (zum Namen vgl. Tab. 80) existiert in einer trans- und einer konfigurationsisomeren bisher nur deprotoniert als N 2 02" nachgewiesenen cis-Form. Darüber hinaus kennt man mit Nitramid (s. u.) eine konstitutionsisomere Form: ^OH (a)
HO
/
N = N
(b)
N=N HO^
fraws-Hyposalpetrige Säure
H\ x
OH
(C)
N—N
c/s-Hyposalpetrige Säure
Nitramid Die Säure trans-H2N202 (a) erhält man durch O x i d a t i o n von Hydroxylamin mit Kupfer-, Silberoder Quecksilberoxid (schematisch: HONH 2 + 2O + H 2 NOH H O N = N O H + 2H 2 O), durch R e d u k tion von Salpetriger Säure mit Natriumamalgam (schematisch: HONO + 4H + ONOH HON=NOH + 2H 2 O) bzw. durch K o m p o r p o r t i o n i e r u n g von Hydroxylamin und Salpetriger Säure (HONH 2 + ONOH H O N = N O H + H2O). Am bequemsten ist die H 2 N 2 0 2 -Gewinnung durch Reduktion von H N O . Zu diesem Zweck schüttelt man eine wässrige Nitritlösung bei 0 0 C mit flüssigem Natriumamalgam 2NaNO 2 + 4NAmalga^ 2H 2 0
Na 9 N 9 0 9 + 4NaOH.
neutralisiert die Lösung nach Beendigung der Reaktion und fällt aus der Lösung mit Silbernitrat AgNO das schwer lösliche gelbe Silberhyponitrit Ag 2 N 2 0 2 . Aus letzterem kann man mit HCl-Gas in Ether die zugrunde liegende Säure trans-H in Freiheit setzen Die freie trans-Hyposalpetrige Säure bildet weiße, in trockenem Zustande äußerst explosive Kristallstäbchen, die sich in Wasser sehr leicht lösen. Die wässrige Lösung reagiert schwach sauer ( p ^ = 7.21; pK 2 = 11.54) und zerfällt langsam schon in der Kälte, schneller beim Erwärmen oder im Alkalischen auf dem Wege über H O — N = N — O " (-• H O " + N = N = O ) unter Bildung von Wasser und Distickstoffoxid (Halbwertszeit bei 25 0 C und pH 1 - 3 ca. 16 Tage): H9O + N9O. 48
Literatur M . N . Hughes: ,,Hyponitrites", Quart. R e v 22 (1968) 1 - 1 3 .
1. Der Stickstoff
737
Die Reaktion ist nur bei Verwendung von Natriumoxid anstelle Wasser umkehrbar, wobei allerdings cis-N 2 02" entsteht: N a 2 0 + N 2 0 cis-Na 2 N 2 0 2 . In letzterer Beziehung kann N 2 0 als Anhydrid der Hyposalpetrigen Säure aufgefasst werden. Von Iod wird trans-H 2 N 2 0 2 zu Salpetriger Säure und Salpetersäure oxidiert, von Salpetriger Säure zu Stickstoff reduziert (vgl. Potentialdiagramm, S. 718): H 2 N 2 0 2 + 3I 2 + 3 H 2 0
HN03 + HN02 + 6HI,
H2N202 + HN02
N2 + H N 0 3 + H 2 0 .
Als zweibasige Säure bildet trans-H 2 N 2 0 2 zwei Reihen von Salzen: sehr zersetzliche „saure trans Hyponitrite" M*HN 2 0 2 und beständigere,,neutrale trans Hyponitrite" M 2 N 2 0 2 ( N a 2 N 2 0 2 thermolysiert ab 260 °C in + trans-N20 2" ist planar gebaut, C 2h -Symmetrie). Beide reagieren in wässeriger Lösung infolge weitgehender Hydrolyse alkalisch, Trans-N202" wirkt reduzierend (z. B. hinsichtlich I2 ; s. oben) und ist gegen Reduktion bemerkenswert stabil (vgl. etwa Gewinnung von Na 2 N 2 0 2 aus N a N 0 2 und Natriumamalgan). Erwähnenswert ist die Oxidation von trans-N20\~ mit flüssigem N 2 0 4 , die rasch zu trans-Peroxohyponitrit 0 N N 0 0 2 " führt (s. u.) und darüber hinaus langsam weiter zu höher oxidierten Spezies N 2 02" {n = 4-6; in Nitromethan erfolgt die 0xidation gemäß N 2 02" + 2N 2 0 4 2N0 3 " + { 0 N 0 N = N 0 N 0 } ^ N 2 + 2 N 0 2 + 2N0 3 "). Im Zuge der Nitrifikation von Ammoniak (vgl. Kreislauf des Stickstoffs, S. 654) spielt Hyponitrit eine wesentliche Rolle als 0xidationszwischenprodukt. Das Dinatriumsalz cis-Na 2 N 2 0 2 von as-H 2 N 2 0 2 (b) lässt sich durch Einleiten von N 0 in eine Lösung von Natrium in flüssigem Ammoniak bei — 50 0 C neben geringen Mengen trans-Na 2 N 2 0 2 , darüber hinaus in quantitativer Ausbeute durch Einwirkung von N 2 0-Gas auf N a 2 0 bei 300-400 0 C gewinnen. Das Salz cis-Na 2 N 2 0 2 mit demplanaren Ion cis-N 2 02" (C2v-Symmetrie; Abstand 0 H / N N = 1.40/1.20 Winkel 0 N N = 119.5°) ist thermisch stabiler als trans-Na 2 N 2 0 2 (Zerfall ab 325 0 C in N a 2 0 • N a N 0 2 ; vgl. S. 726) und hydrolysiert wie dieses (s. oben) auf dem Wege über H 0 — N = N — O " in N 2 0 und 0 H " . In Hyponitrit-Komplexen wirkt cis-N 2 0 2 - als zweizähniger Ligand sowohl chelatbildend (z. B. in gelbem (Ph 3 P) 2 Pt(N 2 0 2 ) mit fünfgliedrigem PtN 2 0 2 -Ring) als auch verbrückend (z. B. in rotem [(NH 3 ) 5 CO] 2 (N 2 0 2 ) 4+ mit C o N N 0 C o Zick-Zack-Kette (man kennt auch isomeres schwarzes (NH 3 ) 5 Co(N0) 2+ mit linearer CoN0-Gruppe). Ein S0 3 Addukt O—N=N(S0 3 )—O 2 " des cis-Hyponitrits entsteht beim Einleiten von N 0 in alkalische S0^-Lösungen. Im Komplex [Ru 2 (C0) 4 (^-L) 3 (^-f/ 2 -L / )] (L = H + P/Bu 2 + Ph 2 PCH 2 PPh 2 ) bildet eine N0-Gruppe von L' = trans-N20\~ bzw. trans-N 2 0 2 H~ mit der Diruthenium-Gruppe einen viergliedrigen Ring Oxohyposalpetrige Säure H 2 N 2 0 3 . Die 0xohyposalpetrige Säure existiert nicht in freiem Zustande, sondern nur in Salzen mit dem Anion a-N 2 02" (d) oder - kurzzeitig - in Lösung (s. u.) in Form des Hydrogenoxohyponitrits HN 2 0 3 "(e) und der Säure H 2 N 2 0 3 . Bzgl. der Konstitution von Peroxohyponitrit, £ - N 2 0 2 " , vgl. (f):
V
N=N
"
Oxohyponitrit (d) N 2 O 3 _
V
N=N
N=N
H
Hydrogenoxohyponitrit (e) HN2O3-
-4~ bzw. Cs + N 3 0 4 (Smp. 8 °C) umwandelbare Ammoniumsalz N H ^ ^ O ^ fällt in Form farbloser, bei 91.5°C schmelzender Kristalle an. Das Anion (g) ist nicht planar gebaut; Die NO-Ebenen sind hinsichtlich der N3-Ebene etwas in entgegengesetzter Richtung verdrillt (Winkel zwischen den NO-Ebenen 20-30° je nach Salz; Rotationsbarriere < 12kJ/
1. Der Stickstoff
739
mol). Die negative Ladung ist über das ganze N 3 0 4 -Ion verteilt (Abstände O elo N/O elldo N/NN ca. 1.23/ 1.23/1.37Ä; ber. für Einfach-/Doppelbindung: 1.35/1.16 (NO), 1.40/1.20 Ä (NN); Winkel OexoOendo/ ° e x o N N ^ e n d o N N / N N N ca. 122.5/112.7/124,6/114.4°). Geschmolzenes Ammoniumdinitramid zersetzt sich sehr langsam bereits bei 91.5°C gemäß: N 2 0 + NH 4 + NOOffensichtlich erfolgt die - protonenkatalysierte - Thermolyse auf dem Wege überfreies Dinitramin HN 3 0 4 (NH4+N304~ -> NH 3 + HN 3 0 4 ), das als sehr starke Säure (p^ s = — 5.62; stärker als H2SO4) unter Autoprotolyse neben dem Anion N304~ das Kation 0 2 NNN0(OH 2 ) + liefert, welches in 0 2 N + , NNO und H 2 0 übergeht ( N O + NH 3 + 2 H 2 0 ^ N H NO3~ + H 3 0 + ) . Bei höheren Thermolysetemperaturen erhält man neben N 2 0 und N H ^ N O f zudem N 2 , NO und N O (die Enthalpie der Thermolyse beträgt über — 1000 kJ/mol).
1.5.7
Peroxosäuren des Stickstoffs49
Peroxosalpetrige Säure H N O - Darstellung Die Peroxosalpetrige Säure HNO 3 = H O O N O bildet sich bei der Einwirkung von Wasserstoffperoxid auf eine wässerige Lösung von Salpetriger Säure (1) als kurzlebige gelbe Spezies, die sich unterhalb von pH = 5 rasch und ausschließlich in Salpetersäure umwandelt (2), aber im alkalischen Medium (Bildung von OONO") mit wachsendem pH-Wert zunehmend isomerisierungsstabiler wird, wobei dann nebenbei der langsame, durch Cu 2+ katalysierte Zerfall (3) der Säure zum Zuge kommt (zy% bei pH < 5/12/> 12 gleich Sekunden/Tage/Stunden; in Anwesenheit von C ausschließlich Zerfall im basischen Milieu): HOONO HONO ; 2N
HOONO 2OONO
O;
(1) (2) (3)
.
+
Da die - über H 2 ONO führende (S. 728) - Bildung (1) von HOONO bei pH-Werten > 2 langsamer erfolgt als die Isomerisierung (2), führt man die Nitrosierung von Wasserstoffperoxid in stark saurem Milieu sowie Anwesenheit von Komplexbildnern für Metallionen durch und versetzt das Reaktionsgemisch sofort mit einer ausreichenden Menge an Base Die Isolierung eines Peroxonitrits M J OONO ist bisher nicht gelungen, doch lassen sich Nitrate M J NO 3 durch Bestrahlung mit Licht der Wellenlänge < 280 nm in gelbe bis orangefarbige, MOONO-haltige Salze umwandeln (Entsprechendes bewirken Röntgen-, Gamma-, Neutronen-, Elektronenstrahlen). Die festen Lösungen sind über Monate haltbar. Bestrahlung führt auch farblose Nitrat- in gelbe PeroxonitritLösungen über. Als weitere Bildungsweisen für OONO" seien genannt: die Reaktion von intermediär aus N H O H erzeugtem Triplett-NO" mit Triplett 0 2 (NO" + 0 2 -> OONO") sowie die - im Blut von Lebewesen erfolgende - Umsetzung von O^ mit NO (O^ + NO -> OONO"; u.a. verantwortlich für die kleine Halbwertszeit von NO in Lebewesen (S. 707); gebildetes OONO isomerisiert sich dort über HOONO rasch nach (2)). Eigenschaften Gelbes, hinsichtlich Nitrat instabiles Peroxonitrit (OONO~ -> NOf + 160 kJ/mol) ist als cis-Konformeres um ca. 4 kJ/mol enerrgieärmer als das trans-Konformere (Rotationsbarriere ca. 75 kJ/ mol; Ordnung der Bindung OO—NO ca. 1.3):
,o
O—N cis-NO(O2)
//
/ P=N
trans-NO(O2)
In Wasser unterliegt die Peroxosalpetrige Säure einer raschen heterolytischen Spaltung gemäß (4): HOONO ^ H + + OONO"
( p ^ s ca. 6.7).
(4)
Die Stärke der Säure HOONO entspricht etwa der von Kohlensäure. Darüber hinaus erfolgt in Wasser eine langsamere - doch wegen der Beständikeit des NO-Radikals noch vergleichsweise rasche (s. o.) homolytische Spaltung von HOONO gemäß (5) (E^ bei pH = 2 bis 5 ca. 85 kJ/mol, in starker Säure (-> H 2 O O N O ) ca. 65 kJ/mol, in starken Basen (-> OONO") §> 85 kJ/mol): HOONO 19
HO' + N O .
Literatur. J.O. Edwards, R.C. Plumb: ,,The Chemistry of Peroxonitrites",
(5)
Progr. Inorg. C h e m 41 (1994) 599-634.
740
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
HOONO kann hiernach als Quelle für Hydroxylradikale dienen und wirkt u. a. dadurch als starkes Oxidationsmittel, dass die OH-Radikale Elektronen entziehen (z. B. Cl" + OH* Cl' + OH"), Wasserstoffatome abstrahieren (hierauf beruht die toxische Wirkung der Säure für Lebewesen), Benzol hydroxylieren oder Polymerisationen auslösen. In Abwesenheit von Reduktionsmitteln erfolgt eine Dimerisierung der gemäß (5) gebildeten Radikale zu Salpetersäure (vgl. Thermolyse (2); Oxidation von drei- zu fünfwertigem Stickstoff). Offensichtlich können Oxidationsreaktionen aber auch direkt von HOONO bzw. OONO" ausgehen (z. B. HOONO + 1" HOI + ONO"; HOONO + R2S R 2 SO + H N O ; ONOO" + C N " O N O " + O C N ; ob der Zerfall (3) in ähnlicher Weise wie der anderer Peroxo-Sauerstoffsäuren erfolgt (vgl. S. 537), sollte geprüft werden). Die Wirkung von HOONO/OONO" als Reduktionsmittel ist wenig ausgeprägt. Die Reduktion von Permanganat gemäß: 2Mn0 4 " + OONO" + 2 0 H " 2MnO2" + 0 2 + N O + H2O in basischem Milieu dient zum analytischen (titrimetrischen) Nachweis der Säure. Peroxohyposalpetrige Säure H 2 N 2 0 3 . Flüssiges N 2 0 4 vermag trans-Hyponitrit Na 2 N 2 0 2 (S. 736) stufenweise zu oxidieren, wobei zunächst rasch Peroxohyponitrit 0 N = N 0 0 2 " entsteht, das als ß-N 2 02" von konstitutionsisomerem a-N 2 02" (Oxohyponitrit 0 N = N 0 2 " ) unterschieden wird (N 2 0 4 führt ß-N 2 02" langsam in sauerstoffreichere Spezies über). Die protonierte Form von ß-N 2 02", die Peroxohyposalpetrige Säure, ist bisher unbekannt. Peroxosalpetersäure H N O ist durch Einwirkung von wasserfreiem H 2 0 2 auf N 2 0 bei — 80 0 C erhältlich (N 2 0 5 + H 2 0 2 0 2 N 0 0 H + H N O ) und in Form farbloser Kristalle isolierbar, welche bereits bei — 30 °C explosionsartig zerfallen. Mittelkonzentrierte H 0 0 N 0 2 - L ö s u n g e n sind bei 20 0 C kurze Zeit haltbar (T1/2 ca. 50 s); bei Verdünnung erfolgt zunehmende Hydrolyse z ^ 0 2 und H N O . Oberhalb pH = 5 zerfällt die Säure in wässeriger Lösung nach: N O ^ N O + 0 2 . Salze mit dem Peroxonitrat-Ion OONO^ ließen sich bisher nicht gewinnen
1.6
Schwefelverbindungen des Stickstoffs 50
Von den Schwefelstickstoff-Verbindungen wurden die Schwefelnitride (einschließlich Schwefelimide, Schwefelnitrid-Kationen und -Anionen) sowie Schwefelnitrid-halogenide und -oxide bereits auf S. 602f. behandelt (Entsprechendes gilt Selen- und Tellurnitride, -nitridhalogenide und -nitridoxide). Nachfolgend sei noch auf Sulfonsäurederivate der Stickstoffwasserstoffe N H , N H 2 0 H , N 2 H 4 , N 2 H 2 und N 3 H eingegangen. Sulfonsäuren des Ammoniaks Lässt man eine konzentrierte N a t r i u m h y d r o g e n s u l f i t l ö s u n g u n t e r E i s k ü h l u n g auf N a t r i u m n i t r i t einwirken, so erfolgt nach (1 a) die Bildung eines in Wasser leicht löslichen Natriumsalzes der Nitrido-tris(schwefelsäure) (,,Azan-trisulfonsäure") N ( S 0 3 H ) 3 (die Gleichung (1 a) gibt nicht den Mechanismus der Reaktion wieder; vgl. Reaktion von H N O bzw. N H 2 0 H mit S O , unten). Durch Zusatz einer kalt gesättigten Kaliumchlorid-Lösung kann diese Verbindung als schwerlösliches Kaliumsalz N ( S 0 3 K ) 3 auskristallisiert werden. In s a u r e r L ö s u n g unterliegt die Nitridotris(schwefelsäure) der H y d r o l y s e . Diese führt aber nicht in Umkehrung der Bildungsreaktion (1 a) zur Stufe der Salpetrigen und Schwefligen Säure zurück, sondern ergibt als Endprodukte A m m o n i a k (als Ammoniumsalz) und S c h w e f e l s ä u r e (als Hydrogensulfat) gemäß (1b, c, d). Als Zwischenprodukte treten dabei ,,Imido-bis(schwefelsäure)" (,,Imino-disulfonsäure") und ,,Amidoschwefelsäure" (,,Aminosulfonsäure") auf: ^ O H + HS03H N—OH + H S 0 3J H \
OH + H S 0 3 H „Salpetrige Säure"
^/SOgH + HÖH (a)
N — S 0 J3 H + HÖH \
^H (b)
+ H2S04
N — S 0 3 H + HÖH \
*
S 0 3 H + HÖH
SO s H + HÖH
Nitridotris(schwefelsäure)
Imidobis(schwefelsäure)
(c)
^H
+ H2S04
N—H
+ Hz2 S 0 4
\
* (d)
S 0 3 H + HÖH Amidoschwefelsäure
^ H + H2S04 N—H + H 2 S 0 4 (1) \
z
Ammoniak
Die hydrolytische Abspaltung der e r s t e n Sulfonsäuregruppe erfolgt schon beim S t e h e n l a s s e n der sauren Lösung; die weitere H y d r o l y s e schreitet erst beim K o c h e n mit genügender Geschwindigkeit fort. In Umkehrung der Hydrolysereaktion (1) können die Sulfonsäuren des Ammoniaks auch aus Ammoniak und Schwefelsäure gewonnen werden. Allerdings muss man dann unter weitgehendem Ausschluss von Wasser arbeiten. Leitet man z.B. S c h w e f e l t r i o x i d in k o n z e n t r i e r t e w ä s s e r i g e A m m o n i a k l ö s u n g e n ein, so entsteht über die Stufe der Amidoschwefelsäure hinweg in sehr guter Ausbeute das 50
Literatur G.A. Benson, W.J. Spillane: ,,Sulfamic Acid and its N-Substituted 151-186.
DerivativesChem.
* \ /
H + H2S04
R e v 80 (1980)
1. Der Stickstoff
741
Triammonium-salz (s. unten) der Imido-bis(schwefelsäure). In der Technik stellt man demgemäß Amidoschwefelsäure50 aus Harnstoff und konzentrierter Schwefelsäure beziehungsweise Oleum dar: CO(NH 2 ) 2 + 2H 2 SO 4 ^ CO 2 + NH 2 (SO 3 H) + N H + HSO4 .Darüber hinaus kann die Amidoschwefelsäure gewonnen werden, wenn man von H y d r o x y l a m i n ausgeht, welches bereits die beiden Wasserstoffatome am Stickstoff trägt und bei der Umsetzung mit S c h w e f l i g e r S ä u r e (Sättigen einer konzentrierten Lösung von salzsaurem Hydroxylamin mit Schwefeldioxid) in einer der Reaktion (1 a) analogen Reaktion in Amidoschwefelsäure übergeht: N H 2 O H + HSO 3 H N H 2 ( S O 3 H ) + H 2 O. Die farblose, bei 205 °C schmelzende, vorzüglich kristallisierende Amidoschwefelsäure H 2 N—SO 3 H ist thermisch bis 210 °C stabil und hydrolysiert erst bei höheren Temperaturen. In festem Zustand liegt sie als Zwitterion + H 3 N — S O 3 vor (gestaffelte Konformation; C 3 v -Sy m m etrie; Abstände HN/NS/SO = 1.02/1.76/1.44 Ä; Winkel HNS/NSO = 111/103 0 C). Sie wirkt als starke Säure (p7^s ca. 1) und bildet Salze mit dem Amidosulfat-Ion (Sulfamat-Ion) H 2 N—SO 3 , die ihrerseits mit einer Reihe von Metalloxiden gut kristallisierende Verbindungen mit Metall-Stickstoff-Bindungen bilden: HgN(SO 3 Na), AgNH(SO 3 K), Au 2 (NSO 3 K) 3 . Man verwendet sie in Metallreinigern, Kesselsteinentfernern, Waschmitteln sowie als Standard in der Acidimetrie. Sie dient auch zur Stabilisierung chlorhaltigen Wassers, da sie in reversibler Gleichgewichtsreaktion Chlor binden und wieder freisetzen kann (H 2 N—SO 3 + Cl 2 +± H N C 1 — S O + HCl). Ihre Salze werden als Flammschutzmittel, Unkrautvertilger sowie bei der Galvanisierung genutzt Die Imido-bis(schwefelsäure) NH(SO 3 H) 2 ist nur in L ö s u n g , nicht aber in f r e i e m Z u s t a n d bekannt. Sie ist dadurch ausgezeichnet, dass sich nicht nur die Wasserstoffatome der S u l f o n s ä u r e g r u p p e n —SO 3 H durch Metalle ersetzen lassen, sondern dass auch das am S t i c k s t o f f gebundene Wasserstoffatom s a u r e n Charakter besitzt. So entsteht z.B. bei Zugabe von gelbem Q u e c k s i l b e r o x i d zum farblosen Kaliumsalz NH(SO 3 K) 2 das sehr schwer lösliche, weiße Q u e c k s i l b e r ( I I ) - s a l z Hg[N(SO 3 K) 2 ] 2 . Auch ein Kaliumsalz K[N(SO 3 K) 2 ] und ein Ammoniumsalz N H 4 [ N ( S O 3 N H 4 ) 2 ] sind bekannt. Noch stärker sauer als HN(SO 3 H) 2 ist die Imido-bis(fluoroschwefelsäure) HN(SO 2 F) 2 (pT^-Wert 1.28; Smp. — 79.9 °C, Sdp.60°C; gewinnbar aus Harnstoff und Fluorsulfonsäure). Die Amidoschwefelsäure HO SO N H leitet sich von der Schwefelsäure HO SO OH durch Ersatz einer H y d r o x y l g r u p p e OH durch die einwertige A m i d o g r u p p e N H 2 ab. Die Substitution beider OH durch NH 2 -Gruppen führt zum Sulfuryldiamid (,,Sulfamid") H 2 N — S O 2 — N H , das bei der Einwirkung von Ammoniak auf S u l f u r y l c h l o r i d bzw. auf S c h w e f e l t r i o x i d (4NH 3 + 0 2 SC1 2 0 2 S ( N H 2 ) 2 + 2NH 4 Cl; S 0 3 + 2 N H 3 SO 2 (NH 2 ) 2 + H 2 O) neben Sulfurylimid (,„Sulfimid") 0 2 S N H (vgl. S. 575) als farblose, bei 92.1 0 C schmelzende Festsubstanz entsteht. Auch hier zeigen die am Stickstoff gebundenen Wasserstoffatome s a u r e n Charakter. So bildet Sulfuryldiamid Salze wie 0 2 S ( N H K ) 2 und O 2 S(NHAg) 2 . Kocht man Sulfuryldiamid kurz in Natronlauge, so kondensiert es zu Jmido-bis(sulfuryl-amid)" H 2 N—SO 2 —NH—SO 2 —NH 2 (farblose Nadeln, Smp. 168-169 °C). Beim Erhitzen auf 180-210 °C kondensiert es zu trimerem ,,Sulfurylimid": 3 S 0 2 ( N H 2 ) 2 (SO 2 NH) 3 + 3 N H 3 . Sulfonsäuren des Hydroxylamins Wendet man bei der Einwirkung von Natriumhydrogensulfit auf Natriumnitrit (1 a) nicht 3 mol sondern nur 2 mol Sulfit je mol Nitrit an, so entsteht - in analoger Weise wie dort - das Natriumsalz der Hydroxylamin-disulfonsäure, das durch Umsetzung mit Kaliumchlorid als schwerlösliches Kaliumsalz ausgefällt werden kann. Auch hier führt die Hydrolyse in saurer Lösung nicht zur Stufe der Salpetrigen und Schwefligen Säure zurück, sondern ergibt letztlich H y d r o x y l a m i n (als Sulfat) und S c h w e f e l s ä u r e ; als Zwischenstufe tritt dabei - vgl. (2) - Hydroxylamin-monosulfonsäure (,,Hydroxylamido-N-schwefelsäure") auf, die als Kaliumsalz HO-NH(SO 3 K) (Abstände ON/NS = 1.48/ 1.69 Ä; Winkel ONS 108.5°) auskristallisiert werden kann: N(OH) 3
+ 2
H S O
H
— 2H20
> N(SOH)2OH
NH(SOH)OH e
+ H2SO4
±H20
>N ^ O H .
(2)
+H2SO4
Die Reaktionsfolge (2) dient zur Darstellung von H y d r o x y l a m i n (s. dort). Umgekehrt lässt sich Hydroxylamin beispielsweise mit Schwefeltrioxid über die Stufe der Mono- und Disulfonsäure hinaus bis zur Hydroxylamin-trisulfonsäure sulfurieren: N H 2 O H + 3 S 0 3 NO(SO 3 H) 3 . Die Hydroxylamin-monosulfonsäure und die Hydroxylamin-disulfonsäure kommen in je zwei isom e r e n Formen vor, da im Hydroxylamin-Molekül einmal der an S t i c k s t o f f gebundene Wasserstoff und einmal der an S a u e r s t o f f gebundene Wasserstoff durch die Sulfonsäuregruppen — SO 3 H ersetzt werden kann /So3H N—H
/ H N—H
^OH Hydroxylamin N-sulfonsäure
^/S03H N—S03H OH
HydroxylaminO-sulfonsäure
HydroxylaminN,N-disulfonsäure
/S03H N—H ^O—S03H HydroxylaminN,O-disulfonsäure
/S03H N^S03H O—S0 3 H Hydroxylamintrisulfonsäure
742
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Auf den Darstellungswegen (2) entstehen die N-Sulfonsäuren, während die Einführung einer Sulfonsäuregruppe am Sauerstoff unter Bildung von farbloser Hydroxylamin-O-sulfonsäure (,,HydroxylamidoO-schwefelsäure") z.B. mit C h l o r s u l f o n s ä u r e (Chloroschwefelsäure) gelingt:
H 2 NO-H + c r s o 3 H
H 2 NOSO 3 H + HCl.
oxylam wirkt als Säure -OH"
' pH < 3
+ OH~
H2N0S03
+ H20
(
p H 3-13
+ H20
nivuou3 pH > 13
In stark saurer Lösung hydrolysiert sie langsam gemäß: H 3 NOSO 3 + H 2 0 N ^ O ^ + HSO 4 („Spaltung der OS-Bindung"). In alkalischer Lösung zersetzt sie sich nach der Summengleichung (es NO bzw. H 2 in Spuren): + 2OH"
2+ x
— 2HO, — 2 S O 4
+ x
N2 +
2-x 4+ x
N2H4+
2x 4+ x
NH
(3)
(x = 0 bis 2; mit abnehmender OH"-Konzentration geht x gegen 2: 2NH 2 OSO 3 + 2 O H " §N 2 + §NH 3 + 2 H 2 0 + 2SO J-). Die mechanistisch sehr verwickelte Reaktion (3) wird durch eine nucleophile Substitution von Sulfat durch das Hydroxid-Ion eingeleitet: HO" + H 2 N—OSO 3 H 2 N—OH + SO 4 " (geschwindigkeitsbestimmender Schritt; t2=6° = 1.54h); H2NOSO3" stellt wie H 2 NCl (S.698) ein wirksames elektrophiles Aminierungsmittel dar. Anschließend aminiert H 2 NOSO 3 die konjugierte Base des gebildeten Hydroxylamins rasch zu - seinerseits sehr rasch über Diimin in Hydrazin und Stickstoff zerfallendem (S. 699) - Hydroxylhydrazin: N H 2 0 " + H 2 NOSO 3 ^ H 2 N—NHOH + SOl~ (x46f = 6.2 s ) ^ - N H O H - > H N = N H + H 2 O; 2 H N = N H H 2 N—NH 2 + N ^ N . Auf analogem Wege wird N 2 H 4 von H 2 NOSO 3 angegriffen: N 2 H 4 + H 2 NOSO 3 N 3 H 6 + + SO 2 f tflf = 100 s); N 3 H 6 + ^ N 2 H 2 + NH + ; 2N 2 H 2 N 2 H 4 + N 2 . B e i h o h e r OH "-Konzentration ist die einleitende O H " /H 2 N-OSO 3 -Umsetzung vergleichbar rasch wie die N 2 H 4 /H 2 N-OSO 3 -Umsetzung; gebildetes N 2 H 4 wird dann nicht vollständig verbraucht Die Hydroxylamin-N,N-disulfonsäure ist wie die Iminodisulfonsäure (s. oben) nur in Lösung, nicht aber in freiem Zustand bekannt. Sie bildet aber eine Reihe stabiler Salze. Oxidiert man das Kaliumsalz mit Kaliumpermanganat, so entsteht eine schön violette Lösung, die das Kaliumsalz der,,Nitroso-disulfonsäure" enthält. 2HO—N(SO 3 K) 2
+ Q
—
> 2ON(SO 3 K) 2 ,
einer Verbindung mit vierbindigem Stickstoff. Im festen Zustande ist das Salz orangegelb und hat die doppelte Molekulargröße (,,Fremy'sches Salz"). Die Nitroso-disulfonsäure zeigt also die gleiche Neigung zur Dimerisierung wie das Stickstoffdioxid, das sich ja ebenfalls vom vierbindigen Stickstoff ableitet: 2 N 0 2 ?± [NO 2 ] 2 ; braun
farblos
2NO(SO 3 K) 2 violett
[NO(SO 3 K) 2 ] 2 . gelb
Hier wie dort hellt sich die Farbe bei der Dimerisierung auf. Verdünnung (Expandieren des N 2 0 ^ D a m p fes, Auflösen von [NO(SO 3 K) 2 ] 2 in Wasser) verschiebt in beiden Fällen entsprechend dem Massenwirkungsgesetz das Gleichgewicht nach links. Sulfonsäure des Hydrazins, des Diimins und der Stickstoffwasserstoffsäure In analoger Weise wie beim A m m o n i a k kann auch beim Hydrazin durch Einwirkung von Schwefeltrioxid ein Wasserstoffatom durch den — SO 3 H-Rest ersetzt werden: H 2 N—NH 2 ^
^
H 2 N—NH(SO 3 H).
Es entsteht so ein Hydrazinium-Salz N 2 H ^ H 3 N 2 SO 3 der ,,Hydrazin-monosulfonsäure" (,,Hydrazidoschwefelsäure") N 2 H 3 SO 3 H (Struktur: + H 3 N—NH—SO 3 ; p£"s = 3.85). Auch Salze der ,,Hydrazin-disu//onsäure" N 2 H 2 (SO 3 H) 2 (symmetrisches und unsymmetrisches Derivat) sowie der Hydrazin-trisulfonsäureN2H(SO3H)3 und,,.Hydrazin-tetrasulfonsäure" N 2 (SO 3 H) 4 sind bekannt. Die Säure N 2 H 2 (SO 3 H) 2 lässt sich zur D i s u l f o n s ä u r e des Diimins (,,Azo-disulfonsäure", ,,Diimin-disulfonsäure") N 2 ( S O H ) 2 oxidieren. So liefert das Pyridinsalz der Hydrazin-disulfonsäure bei der Behandlung mit verdünnter, stark alkalischer Natriumhypochloritlösung und Zugabe von Kaliumchlorid das gelbe ,,Kalium-azo-disulfonat" N 2 (SO 3 K) 2 :
2. Der Phosphor H0 3 S—NH—NH—S0 3 H
— 2H
743
> H03S—N=N—S0H,
welches beim E r w ä r m e n auf 80°C sowie beim Verreiben heftig explodiert. Ebenso wie man das Hydrazin durch 0xidation mit Salpetriger Säure in Stickstoffwasserstoffsäure umwandeln kann (S.681), kann man auch die Salze der Hydrazin-sulfonsäure N 2 H 3 (S0 3 H) in die - explosiven - Salze der „Azidoschwefelsäure" N3(S03H) überführen: (S0 H)
2
HN0
(S0 H)
2H 0 .
Der Phosphor 51
Nachfolgend wird zunächst der e l e m e n t a r e , in mehreren allotropen Modifikationen sowie in ionischen F o r m e n existierende P h o s p h o r behandelt. Es schließt sich die Besprechung von Phosphor in Verbindungen, d a n n der Wasserstoff-, Halogen-, Chalkogen-, Stickstoff- u n d Kohlenstoffverbindungen des P h o s p h o r s an.
2.1
Das Element Phosphor5i-52-53
2.1.1
Vorkommen
Phosphor kommt in der Natur wegen seiner großen Affinität zum Sauerstoff zum Unterschied vom homologen Stickstoff nicht in freiem Zustande, sondern nur in Form von Derivaten der Phosphorsäure H 3 P 0 4 in der Litho- und Biosphäre vor und steht mit einem Vorkommen von 0.1 Gew.-% an 13. Stelle der Elementhäufigkeit. Lithosphäre. Besonders ausgedehnte Phosphat-Lagerstätten finden sich in Afrika (Marokko, Westsahara, Algerien, Tunesien, Ägypten, Togo, Senegal, Angola, Südafrika), in Nordamerika (Florida, Tennessee, Carolina, Utah, Idaho, Montana, Georgia, Wyoming, Mexiko), in Südamerika (Peru, Chile, Brasilien, 51
Literatur. J.R. Van Wazer: ,,Phosphorus and its Compounds", Interscience, New York, Band 1 (1958) 2 (1961); M. Grayson, E.J. Griffith (Hrsg.): ,,Topics in Phosphorus Chemistry", Wiley, New York, Bände 1-11 (1964-1983); A.D.F. Toy: „Phosphorus", ComprehensiveInorg. Chem. Band 2(1973) 389-545; J. Emsley, D. Hall:,,The Chemistry of Phosphorus", Harper and Row Publishers, London 1976; D . E . C . Corbridge: ,,Phosphorus. An Outline of its Chemistry, Biochemistry and Technology", Elsevier, Amsterdam 1980; H. Goldwhite: „Introduction to Phosphorus Chemistry", Cambridge University Press, Cambridge 1981; GMELIN: ,,Phosphorus", System-Nr 16; ULLMANN (5. Aufl.): „Phosphorus", „Phosphorus Compounds", A18 (1991) 505-572; M. Regitz, 0 . J. Scherer: ,,Multiple Bonds and Low Coordination in Phosphorus Chemistry", Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1990; D . E . C . Corbridge: ,,Phosphorus: An Outline of its Chemistry, Biochemistry, and Technlogy", 5. Ed., Elsevier, Amsterdam 1995; A.D.F. Toy, E. N. Walsh: ,,Phosphorus Chemistry in Everyday Living", 2. Ed., ACS, Washington 1987; J.-P. Majoral (Hrsg.): ,,New Aspects in Phosphorus Chemistry, I, II, III, IV, V", Topics/Curr. C h e m 220 (2002), 223 (2003), 229 (2003), 232 (2004), 250 (2005). Vgl. auch Anm. 59, 60, 61, 63, 71, 73. 52 Geschichtliches Entdeckt wurde der Phosphor durch den Alchimisten Hennig Brand, der 1669 auf der Suche nach einem „Stein der Weisen" zur Umwandlung von Silber in Gold u.a. ,,goldgelben" Harn zur Trockne eindampfte und den Rückstand unter Luftabschluß glühte. Dabei erhielt er ein im Dunkeln leuchtendes Produkt, weil das im Harn enthaltene Phosphorsalz N a N H 4 H P 0 4 beim Glühen von dem durch Verkohlung organischer Substanzen entstandendem Kohlenstoff zu weißem Phosphor P 4 reduziert wurde. Lange Zeit hindurch war die beschriebene Methode der einzige Darstellungsweg für Phosphor, bis E. Aubertin und L. Boblique im Jahre 1867 die Phosphorerzeugung durch Erhitzen von Phosphatgestein mit Sand und Koks im 0 f e n (später von J. B. Readman durch einen elektrischen 0 f e n ersetzt) fanden. 1848 entdeckte A.Schrötter die Umwandlung von P 4 in roten Phosphor, 1865 J.W. Hittorf die in violetten Phosphor, 1914 P.W. Bridgeman die in schwarzen Phosphor und 2005 M . R u c k die in faserigen Phosphor. Den Namen hat das Leuchten des weißen Phosphors dem Element gegeben: phosphorus (griech.) = Lichtträger (vgl. F. Krafft: ,,Phosphor - von der Lichtmaterie zum chemischen Element", Angew. C h e m 81 (1969) 634-645; Int. Ed. 8 (1969) 660). 3 5 Physiologisches Weißer Phosphor ist sehr giftig (MAK-Wert 0.1 m g / m ) und führt nach oraler Aufnahme bzw. Resorption durch die Haut zu Kollaps, Atemlähmung, Koma, Erbrechen, Durchfall, Nierenschäden, Lebernekrom. 0.1g P4 können, in den Magen gebracht, zum Tod führen (Gegenmaßnahmen: Einnahme wässriger Lösungen von Kupfersulfat, das Phosphor als Kupferphosphid bindet und zugleich als Brechmittel wirkt). Chronische Vergiftungen führen zu Knochendegeneration. Auf der Haut verursacht P4 schwere Verbrennungen mit tiefen, schlecht heilenden Wunden. Roter Phosphor ist, verglichen mit weißem Phosphor ungiftig. Der Mensch enthält ca. 700 g des essentiellen Elements in F o r m v o n Phosphaten (Knochen, Zähne) und Phosphorsäureestern (Nucleotide, ATP; vgl. Lehrbücher der Biochemie). Er benötigt ca. 1 - 1 . 2 g Phosphor pro Tag. Viele Süßwasserorganismen reichern Phosphat aus der Wasserumgebung stark an, z. B. Algen bis auf das 1000-fache, Fische bis auf das 13000-fache, Planktonkrebse bis auf das 40000-fache.
744
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Columbien), in Australien, im Nahen Osten (Israel, Jordanien), in Ost- und Westeuropa, in Russland, Indien und in China. Die wichtigsten natürlichen Mineralphosphate sind „Calciumphosphate", nämlich der Apatit5i Ca 5 (P0 4 ) 3 (0H,F,Cl) (= ,,3Ca 3 (P0 4 ) 2 • Ca(0H,F,Cl) 2 ") und - als sedimentäres Verwitterungsprodukt von magmatischen Apatitgesteinen sowie organischen Massen tierischen Ursprungs - der Phosphorit Ca 3 (P0 4 ) 2 ( = dichte knollige oder kugelige Aggregate mit hohen Anteilen an Hydroxylund Carbonat-apatiten Ca 5 (P0 4 ) 3 (OH, |-C0 3 )). Nur vereinzelt finden sich „Eisen-" und ,,Aluminiumphosphate•": Vivianit (Blaueisenerz) Fe 3 (P0 4 ) 2 • 8 H 2 0 und Wavellit A1 3 (P0 4 ) 2 (0H,F) 3 • 5 H 2 0 ( = ,,2 AlP 0 4 • Al(0H,F) 3 • 5 H 2 0 " ) sowie ,,Seltenerdphosphate": z.B. Monazit (Ce,Th) (P0 4 ,Si0 4 ). Wichtig ist der Phosphatgehalt mancher ,,Eisenerze", vor allem der lothringischen Eisenerze („Minette") und der nordschwedischen - Magnetit F e 3 0 4 enthaltenden - Eisenerze; er fällt bei der Eisenerzeugung als Thomasmehl (s. dort) an. Biosphäre Weiterhin bilden ,,Phosphorsäureester" neben ,,Phosphaten" einen wesentlichen Bestandteil des lebenden Organismus, wo sie eine bedeutsame Rolle im biochemischen Geschehen spielen (S. 808). Blut, Eidotter, Milch, Muskelfasern, Nerven- und Hirnsubstanz sind besonders phosphorreich. Die Zähne und Knochen der Wirbeltiere enthalten viel Phosphor als Hydroxylapatit Ca 5 (P0 4 ) 3 (0H) ( = ,,3 Ca 3 (P0 4 ) 2 • Ca(0H) 2 "). Reich an Phosphor sind auch diemenschlichen und tierischen Exkremente als Folge der Verdauung aufgenommenen Nahrung. Ein großer Teil der heutigen Phosphatlager - z. B. in Nordafrika und an der Westküste von Peru und Chile geht auf Ablagerungen von tierischen Aus scheidungen und Anhäufungen von Tierleichen in früheren Epochen zurück. Noch heute beobachtet man auf Inseln des Stillen Ozeans und der Südsee die Entstehung solcher gewaltiger Kotablagerungen in Form der „Guano"-Bildung, indem dort die Seevögel ein Calciumphosphat-haltiges Gemisch als „Guano" („Sombrerit") abscheiden, welches schon lange als Stickstoff- und Phosphatdünger geschätzt ist und bei der Verwitterung und Verwesung (Zersetzung der organischen Stoffe zu Kohlendioxid und Ammoniak) in Phosphorit übergeht Isotope (vgl. Anhang III). Natürlich vorkommender Phosphor besteht zu 100% aus dem Isotop 15P; es wird in Phosphorverbindungen für NMR-spektroskopische Studien genutzt. Das künstlich erhältliche radioaktive Nuklid 15P (ß-Strahler, x 1/2 = 14.3 Tage) dient zur Markierung von Phosphorverbindungen sowie in der Medizin.
2.1.2
Darstellung
Der weiße Phosphor P4 wird aus Apatiten Ca 5 (P0 4 ) 3 (0H,F,Cl) mit erhöhtem Fluoridgehalt („Fluorapatite": > 30 Gew.-% P 2 O s , 2,3-4,8 Gew.-% F, geringe Mengen Al, Mg, Lanthanoide, U, Carbonat u. a.) technisch durch Umsetzung mit Koks (Hüttenkoks) und Kies (Quarzit) in einem elektrischen Lichtbogenofen bei 1400-1500 °C hergestellt. Hierbei wird der CaOAnteil des Calciumphosphats Ca 3 (P0 4 ) 2 ( = ,,3Ca0 • P 2 O s ") durch den Quarzsand Si0 2 zu Calciumsilicat CaSi0 3 ( = ,,Ca0 • SiO 2 ") verschlackt, während der P 2 0 5 -Anteil durch den Kohlenstoff C zu P2 reduziert wird, welches beim Abkühlen zu P4 dimerisiert (2P2 -> P4). Der durch Destillation gereinigte Phosphor kommt, in Stangenform gegossen, als weißer Phosphor in den Handel 1542 kJ + Ca 3 (P0 4 ) 2 + 3Si0 2 + 5C
3CaSiO a + 5CO + P 2 .
(1)
Auf 1 Tonne (1000 kg) Phosphaterz entfallen in der Praxis 350 kg SiO2, 160 kg C und 6 kg Elektrodenmasse. Je Tonne P fallen als Nebenprodukte an: 7.7 Tonnen CaSiO3-Schlacke, 150 kg Fe2P-Schlacke (s. unten) sowie 2500 m 3 Ofengas (85% CO; Rest: 40 g Staub + 400 g Phosphordampf pro m 3 ), dem mit Cotrell-Elektrofiltern (vgl. S.585) oberhalb 280°C der Staub mechanisch entzogen wird, worauf man in Sprühtürmen (Einspritzen von Wasser) den Phosphor niederschlägt, der sich zu 90 % als flüssiger gelber Phosphor P4 (Smp. 44.2°C) am Boden unter 10% ,,Phosphorschlamm" (Phosphor-Wasser-Feststoff-Emulsion) ansammelt, während das CO (genutzt für Heizzwecke) entweicht. Die ,,Ofenwanne" des zur Phosphordarstellung verwendeten elektrischen Niederschachtofens (8 m Durchmesser, 6-10 m Höhe) besteht gemäß Fig. 172 aus einem Stahlmantel, der im unteren Teil mit Formsteinen aus Hartbrandkohle als Elektrodenmasse, im oberen Teil mit Schamottesteinen ausgemauert ist. Die Ofendecke besteht aus armiertem Spezialbeton und einem darüber liegenden Deckel aus antimagnetischem Stahl, der den gasdichten Abschluss bildet. Die O f e n b e s c h i c k u n g („Möller") wird über 54 Der Name Apatit rührt her von apate (griech.) = Täuschung, weil das Mineral früher oft mit den Edelsteinen Beryll (s. dort) und Turmalin (s. dort) verwechselt wurde.
2. Der Phosphor
745
jvW-i Kohleelektrode
Kohleelektroc
Gasaustritt
Beschickung
Schamottemauerwerk
Stahlmantel, Betondecke -
Schlackenabstrich
Eisenabstrich
MMHMMMMUM^ill Elektrodenmasse
I
Längsschnitt
Fig. 172
Eisenabstrich
Schlackenabstrich \
Beschickung
Querschnitt
Darstellung von weißem Phosphor im elektrischen 0fen (schematisch).
Beschickungsrohre zugeführt. Zwischen den drei symmetrisch angeordneten Kohleelektroden5 5 (1.5 m Durchmesser, je 20-25 t Gewicht) und dem 0fenboden springt ein L i c h t b o g e n über, der die Energie für den Vorgang (1) liefert. In regelmäßigen Abständen wird die sich im Schmelzofen unten ansammelnde CaSiO3-Schlacke (Dichte = 2.5 g/cm 3 ), die im Gegensatz zu der Hochofenschlacke (s. dort) nur schwierig Verwendung findet, abgestochen. Das mit den Rohstoffen als Verunreinigung eingebrachte Eisen bildet vanadiumhaltigen Ferrophosphor (Dichte = 6.5 g/cm), der am tiefsten Punkt des Bodens getrennt abgezogen wird und auf Vanadiumoxid bzw. -chlorid hin aufgearbeitet wird. Die Phosphorgewinnung aus Calciumphosphat ist sehr energieintensiv (benötigte Energie pro kg Phos phor theoretisch 24886 kJ/mol, praktisch 46000 kJ/mol). Ein moderner Phosphatofen wird mit Stromstärken von 50-60 kA bei 200-600 V Wechselstrom und Stromdichten von 5-6A/cm 2 betrieben. Für den Reaktionsablauf werden 2 Wege diskutiert: (i) Verdrängung der leichter flüchtigen Säure P 2 0 5 durch die schwerer flüchtige, geschmolzene Säure Si0 2 : Ca 3 (P0 4 ) 2 + 3 Si0 2 3 CaSi0 3 + P 2 0 5 ; Reduktion von P 2 0 5 mit Kohlenstoff: P 2 0 5 + 5C P2 + 5C0. (ii) Reduktion des Phosphats durch zunächst gebildetes Kohlenmonoxid: Ca 3 (P0 4 ) 2 + 5CO 3CaO + 5 C 0 2 + P2; Bildung von Schlacke: CaO + Si0 2 CaSi0 3 ; Reduktion von Kohlendioxid mit Kohlenstoff: C 0 2 + C p PC \
-
A
'
^ P P ; 7 Q 5 5° -^yj.j
|
I
I
'
I
I
3 13
.
"
Ä
V ^
\ P
!
J > P P C \ , 2.224 A
> \
I
C\ p \
P = oberhalb
P = unterhalb der Papierebene 1 (c)
Hochdruckphosphor
^
(b)
'
I
I
\
schwarzer Phosphor
N p / N p / N p / \ p / N p / I
.^'A W
2.244
\ '
1-3.314 ÄH
PC I „l^v.
(d)
P
^ pp ^ P " — \ \ \
Fig. 174 Struktur (Doppelschicht) des schwarzen orthorhombischen Phosphors (a, b) und hexagonalen (rhomboedrischen) Hochdruckphosphors (c, d), jeweils von oben (a, c) und von der Seite (b, d) gesehen.
748
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
rallel nebeneinander („endo"-Verknüpfung; Fig.174b), sondern schräg untereinander angeordnet sind („exo"-Verknüpfung; Fig. 174d). In der von rechts oben nach links unten gesehenen Richtung hat die P-Anordnung das in Fig. 174c wiedergegebene, wabennetzförmige Aussehen (P-Atome abwechselnd in einer oberen und unteren Schicht, wobei der kürzeste PP-Abstand zwischen den Doppelschichten 3.56 Ä beträgt Metallischer Phosphor (Dichte 3.83 g/cm 3 ) besitzt eine kubisch einfache Struktur (Po-Struktur, S.619), in welcher jedes P-Atom oktaedrisch von sechs P-Atomen im Abstand 2.377Ä umgeben ist (PPP-Winkel 90°). Violetter Phosphor D e r violette Phosphor („Hittorf'scher Phosphor")52 entsteht bei ein- bis zweiwöchigem Erhitzen von weißem P h o s p h o r auf ü b e r 550 °C in F o r m klar roter, durchscheinender, an den R ä n d e r n violettstichiger, tafelförmiger, wie G l i m m e r spaltbarer Kriställchen (Dichte 2.36 g / c m ) , die wie schwarzer u n d z u m Unterschied von weißem P h o s p h o r in Kohlenstoffdisulfid unlöslich sind. Er stellt die im Temperaturbereich von 550 bis 620°C t h e r m o d y n a m i s c h s t a b i l e M o d i f i k a t i o n d a r u n d s u b l i m i e r t bei 620°C u n t e r Bildung von g a s f ö r m i g e m P 4 bzw. s c h m i l z t bei einem D r u c k von ca. 49 b a r u n t e r Bildung v o n flüssigem P 4 . Die T e m p e r a t u r von 620 °C stellt somit die „ D e p o l y m e r i s a t i o n s t e m p e r a t u r " des polymeren P h o s p h o r s d a r Struktur Dem violetten Phosphor (monoklin) liegt ein kompliziert gebautes S c h i c h t e n g i t t e r zugrunde. Die einzelnen Schichten bestehen aus parallel zueinander angeordneten fünfeckigen Röhren aus Phos phoratomen (vgl. Fig. 175), die an bestimmten Stellen (in Fig. 175 b rechts oben) mit einer kreuzweise darüberliegenden Schicht parallel angeordneter Röhren zu Doppelschichten vernetzt sind. Hierbei ist jeweils nur jede übernächste Röhre der unteren Hälfte der Doppelschicht mit jeder übernächsten Röhre der oberen Hälfte der Doppelschicht verbunden. Eine Doppelschicht besteht somit aus zwei ineinander gestellten, chemisch nicht miteinander verknüpften Systemen. Die Doppelschichten ihrerseits liegen auf Lücke übereinander und werden nur durch van-der-Waals'sche Kräfte zusammengehalten. Die einzelnen Röhren des violetten Phosphors bestehen aus a-P 4 S 4 -analogen P s -Käfigen, sowie aus jö-P4S5-analogen P 9 -Käfigen (vgl. S. 788), die - in abwechselnder Reihenfolge - jeweils über eine P 2 Gruppe miteinander verbunden sind (Fig.175 b). Der PP-Abstand beträgt im Mittel 2.2 Ä, der PPPBindungswinkel im Mittel 101°. Die Röhrenstruktur lässt sich darüber hinaus wie folgt beschreiben: Den Röhren des violetten Phosphors liegen gewellte Bänder (schraffiert) aus kondensierten P 6 -Ringen (Bootform) zugrunde, die sich nicht wie im Falle des schwarzen Phosphors oder arsenanalogen Hochdruckphosphors (s. o.) durch „zwischenmolekulare" Verknüpfung absättigen, sondern ,,innermolekular" durch Verknüpfung mit P2- und P 3 -Fragmenten. Insgesamt resultiert hierbei ein Röhrenaufbau aus miteinander kondensierten P6- und P 5 -Ringen (vgl. Fig. 175b). Im Unterschied hierzu besteht der schwarze Phosphor und orthorhombische Hochdruckphosphor nur aus anellierten P 6 -Ringen, der metallische Hochdruckphosphor aus anellierten P 4 -Ringen und der weiße Phosphor aus anellierten P 3 -Ringen.
P 2 - bzw. P 3 -Fragment
(b) violetter Phospor
Fig. 175 Struktur des violetten Phosphors: (a) Röhre von vorne in Richtung der Röhrenachse, (b) von der Seite gesehen; (c) Ineinanderschichtung der Doppelschichten. Faseriger Phosphor N a d e l n eines faserförmigen A l l o t r o p s des P h o s p h o r s werden d u r c h langsame A b s c h e i d u n g aus der G a s p h a s e im Temperaturbereich zwischen 500 u n d 600°C erhalten. Die Kristalle sind luftstabil u n d spalten bei mechanischer Belastung in dünne Fasern auf. H ä u f i g sind sie m i t p l ä t t c h e n f ö r m i g e n Kristallen des Hittorf'schen Phosphors verwachsen, d e m sie in der Farbe gleichen. Struktur Die polymere Struktur des faserigen Phosphors gleicht jener des Hittorf'schen Phosphors hinsichtlich des Aufbaus der Röhren (vgl. Fig.176) sowie in den Bindungsabständen und -winkeln. Der
2. Der Phosphor
(a)
(b) faseriger
749
Phosphor
Fig. 176 Struktur des faserigen Phosphors: (a) Doppelröhren von vorne in Richtung der Röhrenachse, (b) von der Seite gesehen.
wesentliche Unterschied besteht in der Anordnung der Röhren. In der triklinen Kristallstruktur der faserigen Modifikation liegen sie parallel und sind paarweise zu Doppelröhren verknüpft. Die räumliche Anordnung hat erkennbaren Einfluss auf die kovalenten Bindungen, welche die Röhren verknüpfen. Im Hittorf schen Phosphor wirken aufgrund der großen Oberflächen der zweidimensional ausgedehnten Röhrengitter starke van-der-Waal'sche-Kräfte. Diese ziehen die Röhren aufeinander zu und verkürzen die PP-Bindung zwischen den Brückenatomen auf 2.17Ä. Zwischen den parallel ausgerichteten Röhren im faserigen Allotrop sind die attraktiven Kräfte weitaus schwächer; der Abstand in der Brücke entspricht mit 2.22 Ä einer typischen PP-Einfachbindung (vgl. schwarzer Phosphor). Roter Phosphor. Bei der U m w a n d l u n g des weißen in den violetten P h o s p h o r entstehen durch Polymerisation von flüssigem P 4 oberhalb 200 °C zunächst rote, schleimige Produkte, die im Laufe der Reaktion fester u n d fester werden. Auch in ihnen ist jedes P - A t o m mit drei anderen P - A t o m e n verbunden, aber derart, dass sich ein unregelmäßiges Netzwerk bildet. Bei längerem Erhitzen auf höhere Temperaturen tritt eine gewisse O r d n u n g ein, wobei sich die rote F a r b e vertieft. Aber erst bei 450 °C werden die durch drei kovalente Bindungen fest fixierten A t o m e so weit beweglich, dass sie sich zu einem einigermaßen geordneten A t o m v e r b a n d ausrichten können. M a n bezeichnet das so erhaltene (käufliche) a m o r p h e P r o d u k t als roten Phosphor (Dichte ca. 2.2g/cm 3 ) 5 2 . Es sublimiert je nach seiner Vorgeschichte bis zu 30°C tiefer als der intakt-kristalline violette P h o s p h o r (Sblp. 620°C), der aus ersterem durch langes Erhitzen auf 550°C entsteht (s. oben) 5 Ö . Nach neueren Erkenntnissen (Röntgen-, Neutronenbeugungsexperimente, ab-initio Berechnungen) baut sich roter Phosphor ähnlich wie violetter oder faseriger aus Phosphoratom-Röhren auf, unter denen offensichtlich Stränge aus P2-verbrückten P10-Käfigen einen Bestandteil bilden (vgl. Fig. 179a auf S. 754). Der Grund für den amorphen Zustand des aus P^-Röhren bestehenden roten Phosphors rührt offensichtlich daher, dass sich die unterschiedlich gebauten P^-Stränge nicht in energiegünstiger Weise packen lassen Flüssiger und gasförmiger Phosphor Die aus festem weißem Phosphor bei 44.25°C/1 bar erhältliche Flüssigkeit bzw. der bei 280.5 °C entstehende Dampf besteht-wie erwähnt- aus P4-Molekülen, die hinsichtlich des Übergangs in thermodynamisch stabileren polymeren Phosphor metastabil (Schmelze) bzw. instabil sind (Gas). Der oberhalb 550°C/1 bar thermodynamisch stabile violette Phosphor schmilzt andererseits 56
Die Umwandlung des weißen in roten Phosphor wird durch Halogene beschleunigt. Besonders wirksam ist hierbei das I o d , weniger das Brom, während die Wirkung des Chlors nur sehr gering ausgeprägt ist. Man kann das Halogen auch in Form von Phosphorverbindungen, z. B. als P 2 I 4 oder PBr 3 zugeben. Das Halogen wird unter Bildung eines Mischpolymerisats in das amorphe Netzwerk des entstehenden roten Phosphors eingebaut, indem einzelne Valenzen des Phosphors nicht durch andere Phosphoratome, sondern durch Halogen abgesättigt werden. Kocht man weißen Phosphor z.B. in PBr 3 , so entsteht ein h e l l r o t e s Produkt (,,Schenck''scher Phosphor"), der je nach den Darstellungsbedingungen 10-30 Atom-% Brom enthält. Dieses Brom läßt sich durch Kochen mit Natronlauge gegen Hydroxidgruppen austauschen. Dagegen lässt sich mit Kohlenstoffdisulfid kein PBr 3 extrahieren. Wird weißer Phosphor unter Wasser aufbewahrt, so verwandelt er sich unter dem Einfluss des Lichtes oberflächlich langsam in weiße, gelbe, orangefarbene und rote Produkte. Sie enthalten bis 12% Wasser. Auch hier handelt es sich um ein M i s c h p o l y m e r i s a t , und zwar mit den Elementen des Wassers.
750
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele") P r
arsenanalog, rhomboedrisch
800 1000 — Temperatur [°C] —
1200
Fig. 177 Ausschnitt aus dem Zustandsdiagramm des Phosphors. Pschwarz (orthorhombisch) verwandelt sich in Pviolett bei 550°C/1 bar, P ^ ^ in P4 (fl) bei 620°C/49 bar bzw. in P4(g) bei 620°C/1 bar.
bei 620°C/45 bar bzw. sublimiert bei 620°C/1 bar unter Bildung von nunmehr thermodynamisch stabilem flüssigem bzw. gasförmigem P4. Oberhalb von 800 °C zerfallen die P4-Moleküle in der Gasphase mehr und mehr in P2-Moleküle (Dissoziationsgrad bei 800/1200/2000°C = 1/> 50/fast 100%).Der PP-Abstand beträgt in den :N=N:-analogen Molekülen : P = P : 1.893Ä (ber. für die Dreifachbindung 1.90 Ä). Bei weiterer Erwärmung auf über 2000 °C dissoziieren die P2-Moleküle zunehmend in P-Atome (Dissoziationsenergien: 279.6 kJ + P4 (g) ^ 2P2; 489.5 kJ + P2 (g) ^ 2P; zum Vergleich: N 4 2N 2 + 766 kJ; 995.3 kJ + N2 -> 2N). Schreckt man den P2-Dampf auf die Temperatur des flüssigen Stickstoffs ab, so erhält man ein braunes Kondensat („brauner Phosphor"), der wohl u. a. P2-Moleküle enthält. Der Schmelzpunkt des bei höheren Drücken und oberhalb 550 °C thermostabilen Phosphors wächst gemäß Fig. 177, die einen Ausschnitt aus dem Zustandsdiagramm des Phosphors wiedergibt, mit zunehmendem Druck - typischerweise - an, um dann - atypischerweise - ab ca. 1000 °C bei weiterer Druckerhöhung wieder abzusinken. Letzterer Sachverhalt ist immer dann gegeben, wenn der Schmelzvorgang mit einer Volumenverminderung verbunden ist. Tatsächlich sprechen Röntgenbeugungsexperimente für die Existenz zweier flüssiger Phasen, und zwar einer weniger dichten aus Molekülen P4 des weißen Phosphors bestehenden Flüssigkeit bei weniger hohen Drücken und einer dichteren, aus Molekülen P„ des roten Phosphors (s. oben) bestehenden dichteren Flüssigkeitsphase bei höheren Drücken. Beide flüssige Zustände gehen bei ca. 10 000 bar (vgl. gestrichelte Linie in Fig. 177) reversibel und schnell ineinander über (die Polymerisation von P4 bzw. Depolymerisation von P„ breitet sich durch die Flüssigkeit wie eine Kettenreaktion aus; das Phänomen eines abrupten Strukturwechsels einer Flüssigkeit wurde erstmals im Jahre 2000 im Zusammenhang mit Studien am Phosphor durch ein japanisches Forscherteam entdeckt).
2.1.4
Chemische Eigenschaften und Verwendung 51
Thermisches Verhalten Vgl. hierzu das in vorstehendem Unterkapitel Besprochene. Redox-Verhalten. Weißer P h o s p h o r ist chemisch ä u ß e r s t r e a k t i o n s f ä h i g . In feinverteiltem Z u s t a n d (wie m a n ihn etwa erhält, wenn m a n eine Lösung von weißem P h o s p h o r in Kohlenstoffdisulfid auf einem Filtrierpapier-Bogen verdunsten lässt) e n t z ü n d e t er sich an der L u f t von selbst schon bei Raumtemperatur, in k o m p a k t e r F o r m wenig oberhalb von 50 °C, wobei er mit gelblich-weißer, hell-leuchtender F l a m m e u n d intensiver Wärmeentwicklung zu P h o s p h o r p e n t a o x i d P 2 0 5 = 5"P 4 O 10 verbrennt: P4+5O2
^
P4O10 + 2986kJ.
Wegen dieser leichten Entzündbarkeit darf man den weißen Phosphor nur unter Wasser schneiden, zumal brennender Phosphor auf der Haut tiefgehende, gefährliche B r a n d w u n d e n erzeugt. Die Affinität von Phosphor zu Sauerstoff ist so groß, dass geschmolzener weißer Phosphor sogar u n t e r Wasser brennt, wenn man durch ein Rohr Sauerstoffgas hinzuleitet. An feuchter L u f t oxidiert sich weißer Phosphor vorwiegend zu Säuren der Oxidationsstufe (Phosphonsäure PO ), (Hypodiphos phorsäure H 4 P 2 O e ) und P 2 0 5 (Phosphorsäure H 3 PO 4 ). Auch das bläuliche Leuchten des weißen Phos-
2. Der Phosphor
751
phors im Dunkeln („Chemolumineszenz")57 beruht auf einer O x i d a t i o n , indem die vom Phosphor spurenweise abgegebenen Dämpfe durch den Luftsauerstoff zunächst zu Phosphortrioxid P 2 0 3 und dann unter A b g a b e von Licht - statt wie gewöhnlich von Wärme - zu Phosphorpentaoxid P 2 0 5 oxidiert werden. Das Leuchten wird durch manche Stoffe - z. B. Schwefelwasserstoff, Schwefeldioxid, Chlor, Ammoniak - geschwächt oder unterdrückt; auch in reinem Sauerstoff von A t m o s p h ä r e n d r u c k bleibt das Leuchten aus, während es bei D r u c k v e r m i n d e r u n g (pQ < 600 mbar bei 15°C) wieder auftritt5 S . Wegen seiner g r o ß e n Affinität z u m Sauerstoff wirkt der weiße P h o s p h o r als k r ä f t i g e s R e d u k t i o n s m i t t e l : Schwefelsäure wird d u r c h E r w ä r m e n m i t P h o s p h o r zu Schwefeldioxid, Salpetersäure zu Stickstoffoxiden reduziert; aus Salzlösungen leicht r e d u z i e r b a r e r (edler) Metalle (z.B. G o l d , Silber, K u p f e r , Blei) werden in der W ä r m e die Metalle als solche o d e r als P h o s p h i d e (z.B. C u 3 P ) ausgeschieden. A u c h m i t H a l o g e n e n u n d m i t Schwefel reagiert weißer P h o s p h o r lebhaft, ebenso m i t vielen Metallen (z.B. Fe, Co, Ni, Cu, Pt; m i t A u s n a h m e der Edelgase, Sb, Bi, Te) bildet P h o s p h o r m i t allen Elementen binäre Verbindungen). I n warm e r N a t r o n - oder Kalilauge d i s p r o p o r t i o n i e r t er - a n a l o g d e m C h l o r (S. 466) - u n t e r Bildung v o n P h o s p h o r w a s s e r s t o f f u n d P h o s p h i n a t ; d a r ü b e r h i n a u s oxidiert er sich - a n a l o g d e m Silicium (S. 922) - u n t e r Bildung v o n P h o s p h o n a t ( R e d u k t i o n des Wassers zu W a s s e r s t o f f ) : P4 + 3 O H " + 3 H 2 0
PH
3
+ 3H
2
P0
2
bzw. P 4 + 8 0 H ~ + 4 H 2 0
4 H P O f - + 6H2.
Aufgrund der vergleichsweise hohen Tendenz von Phosphor zum Übergang in die Stufe des Phosphats (iP 4 + 4 H 2 0 H 3 P 0 4 + 5 H + + 5 Q; £0 = - 0.412 V; vgl. Potentialdiagramm, S. 792), d.h. der vergleichsweise kleinen Oxidationswirkung von Phosphat, sind für den Kreislauf des Phosphors in der Natur - anders als für die Kreisläufe der Periodennachbarn C, N, O, S (s. dort) - keine Redoxprozesse maßgebend (Näheres S. 808). Der violette Phosphor ist viel weniger r e a k t i o n s f ä h i g als der weiße Phosphor. So entzündet er sich z.B. erst oberhalb von 400°C, ist nicht giftig, leuchtet nicht an der Luft, schlägt keine Metalle aus Metallsalzlösungen nieder, reagiert mit Halogenen und Schwefel erst bei höherer Temperatur als der weiße Phosphor und verhält sich bei 20 °C weitgehend indifferent gegenüber Alkalilauge. Der schwarze Phosphor ist in seinem chemischen Verhalten dem violetten sehr nahe verwandt. Die Geschwindigkeit der Reaktion mit Oxidationsmitteln ist ungefähr die gleiche. Merkwürdigerweise oxidiert er sich an feuchter Luft etwas schneller und überzieht sich dabei mit einer farblosen, viskosen, aus Säuren des Phosphors bestehenden Flüssigkeitshaut. Der Zutritt des Sauerstoffs ist dadurch gehemmt, sodass sich schwarzer Phosphor nur schwierig entzünden lässt. Der rote Phosphor steht in seiner Reaktionsfähigkeit zwischen dem weißen und dem violetten Phosphor. So explodiert er im Gemisch mit s t a r k e n Oxidationsmitteln (z.B. Kaliumchlorat) bereits beim Verreiben, was schon oft zu schweren Verletzungen geführt hat. Noch weniger stabil ist das - z.B. durch Kochen von weißem Phosphor in Phosphortribromid hergestellte Mischpolymerisat5FI; es entzündet sich bereits bei 300 °C, oxidiert sich merklich schon bei Zimmertemperatur an feuchter Luft, leuchtet in ozonhaltiger Luft, wird in Alkalilauge gelöst und schlägt aus Kupfersulfatlösung Kupfer (neben Kupferphosphid) nieder. Säure-Base-Reaktionen Bezüglich Lewis-saurer Metallfragmente L n M (L = geeigneter Ligand) weist Tetraphosphor P 4 Lewis-basische Eigenschaften auf und addiert sich an diese ,,end-on" (terminal, r | ' ) oder ,,side-on" (kantenverbrückend, r| 2 ) unter Bildung von Phosphor-Komplexen59 (Fig. 178a-d). Die über57 lumen (lat.) = Licht. Von der Chemolumineszenz ist zu unterscheiden die ,,Thermolumineszenz" - von thermos (griech.) = heiß - , die allen Stoffen bei h o h e r T e m p e r a t u r zukommt, die ,,Elektrolumineszenz" (das Leuchten e l e k t r i s c h e r Gasentladungen), die ,,Tribolumineszenz" (das Leuchten unter Druckeinwirkung) und die,,Bioluminszenz" (das Leuchten von O r g a n i s m e n wie Leuchtkäfern, Glühwürmchen, Leuchtbakterien). Bei den durch Bes t r a h l u n g angeregten Lumineszenzerscheinungen (,,Photolumineszenz") unterscheidet man zwischen ,,Phosphoreszenz" (länger anhaltend) und ,,Fluoreszenz" (rasch abklingend). Vgl. S. 376. 8 5 Wegen der hohen Giftigkeit von P 4 ist der Nachweis von weißem Phosphor in der gerichtlichen Chemie von Bedeutung. Er erfolgt nach der „Probe von Mitscherlich" zweckmäßig so, dass man den Mageninhalt in einem mit einem LiebigKühler versehenen Kolben mit Wasser erhitzt. Eventuell vorhandener weißer Phosphor verflüchtigt sich dann mit dem Wasserdampf und kommt im Kühlerrohr an der Stelle, an der sich der Wasserdampf kondensiert, mit der am anderen Ende des Kühlerrohres eindringenden Luft in Berührung. Im Dunkeln beobachtet man daher an dieser Stelle einen l e u c h t e n d e n R i n g . 59 Literatur. O.J. Scherer: ,,Komplexe mit substituentenfreien acyclischen und cyclischen Phosphor-, Arsen-, Antimonund Bismutliganden", Angew. C h e m 102 (1990) 1137-1155; Int. E d 29 (1990) 1104; ,,P„ und As„ Ligands: A Novel Chapter in the Chemistry of Phosphorus and Arsenic", Acc. Chem. R e s 32 (1999) 751-762; ,,Nackte Phosphorliganden", Chemie in unserer Zeit 34 (2000) 374-381; M. Scheer: ,,Metal element triple bonds of the heavier group 15 elements" Coord. Chem. R e v 163 (1997) 271-286.
752
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
,;P
L„ M •
LM
/r^p !X|
L„ M P -
/
3
""ML „
L„ M
L„ M P z.B. n p N i P 4
z.B. ( P h 3 P ) 2 C l R h P 4
z.B.{Cp*(CO) 2 Fe} 2 P 4
z.B.{Cp*(CO)Co} 2 P 4
z.B.{(EtjP) 2 Ni} 2 P 2
(a)
(b)
(c)
(d)
(e)
Ln
Ln
Ln M
V—P
M
M
P- - P P C O
M .P-l-P
< c t > > ^ P _ z.B. ( C O ) 3 C o P 3
z.B. C p * ( C O ) 2 N b P 4
z.B. Cp*FeP 5
z.B. ( C p * M o ) 2 P 6
Ti(P s ) 1
(f)
(g)
(h)
(i)
(k) RhCp'
L„M
L„ M P
ML,
I
L„MP\
P-L-P
P M L„
/
±51
/P—P
/PML„
\
1/
P—P-.
P—P Cp' Th)2P6
(Cp*Ti)2P 6
Cp" 4 (CO)6Fe 4 P 8
(l)
(m)
(n)
RhCp
(Cp' 2Rh2)P 10 (o)
Fig. 178 Phosphorkomplexe(np 3 = N ( C H C H P ^ ) 3 ; Cp = C 5 H 5 ; Cp* = C 5 Me 5 ;Cp' = C 5 H 3 «Bu 2 ; Cp " = C 5 H 4 Me). brückte PP-Kante des Komplexes (Ph3P)2ClRhP4 (Fig. 178b) weist hierbei einen PP-Abstand von 2.46 Ä auf, der für eine schwache PP-Bindungsbeziehung spricht (PP-Abstände in P4 = 2.21 Ä). Im Komplex Ag(P4)^, in welchem Ag + durch r| 2 -Koordination zweier P4-Moleküle planar von P-Atomen umgeben ist, deutet der Abstand der mit Ag + -verknüpften P-Atome von 2.329 Ä auf stärkere PP-Bindungsbeziehungen. Entsprechendes gilt für das - im Massenspektrometer erzeug- und nachweisbare - Kation HP^, in welchem nach Berechnungen eine HP-Dreizentren-Zweielektronen-Bindung vorliegt. In Cp*(C0)CoP 4 beträgt der betreffende PP-Abstand andererseits 2.61 Ä, sodass hier die koordinierten P-Atome - wie übrigens auch in den Komplexen vom Typ der Fig 178 c, d - nicht mehr chemisch miteinander verknüpft sind. In seiner N2-analogen Form bildet Diphosphor P2 Komplexe mit ,,doppelt-side-on" verknüpften L„M-Fragmenten (Fig. 178e; die beiden L„-Gruppen können wie in {(C0)3Co}2P2 durch eine Metallbindung verknüpft sein; PP-Abstände im Doppelbindungsbereich um 2.05 Ä). Darüber hinaus sind „Sandwich-Komplexe" (vgl. S. 1850) mit cyclisch-planarem P3, P4, P5, P6 bekannt, in welchen ein oder zwei L„MFragmente in der in Fig. 178f-i wiedergegebenen Weise die Phosphorringe koordinieren (analog P6 vermögen auch P3 und P5 zwei L„M-Gruppen zu binden, z. B. {LNi}2P3+ mit L = MeC(CH2PPh2)3 und {LCr}2P5 mit L z. B. C5H5). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere das Dianion Ti(P5)2~ (Fig. 178 k), in welchem ein Metallatom aussschließlich mit P5-Ringen verknüpft ist (erstes Verbindungsbeispiel dieses Typs). Schließlich sind „Käfig-Komplexe" u.a. mit P6-, P8- und P10-Gruppen als Clusterbestandteil bekannt (vgl. Fig. 1781-o; zu diesem Verbindungstyp können auch die Komplexe der Fig. 178 b - e gezählt werden. Die Bindungsverhältnisse der -Liganden weisen bemerkenswerte Parallelen zu den Strukturen der -Gerüste in Phosphiden und Phosphanen auf (S. 755, 758). Die Verbindungen lassen sich demgemäß auch als Komplexe aus Metallfragmenten L„M und Phosphid-Anionen P™~ beschreiben: P^" (Fig. 178b, c), PJ- (d), P*- (e), P3- (f),Pj- (g), P5- (h, k), P6 (i), P ^ (l), P«- (m), P ^ (n), P„ (o). Demgemäß kann man etwa -Sandwichverbindungen aus Komplexen MHal und dem Phosphid synthetisieren (vgl. S. 774; Analoges gilt für andere isolierbare Polyphosphide, vgl. S. 755). Mit dem Monophosphid P 3_ lassen sich ähnlich wie mit Nitrid N3~ (vgl. S. 668) Komplexe mit terminaler Phosphorkoordination (r|'; z. B. (R0) 3 W=P, (PhiBuN) 3 Mo=P) sowie mit verbrückender Koordination (n23 4 >4) gewinnen (z. B. H2: [Cp*(C0) 2 Mn=P=Mn(C0) 2 Cp*] + mit linearem P; {(C0)5Cr}2{(C0)5Mn}P' mit planarem P; n6: {(C0) 3 0s} 6 P mit trigonal-prismatischem P; |X8: { ( C O ) 2 1 R U 9 } P mit antikubischem P). Verwendung Mehr als 90% des erzeugten elementaren Phosphors (Weltjahresproduktion Megatonnenmaßstab) werden zu Phosphorpentaoxid¥205 verbrannt, das seinerseits zur Herstellung von Phosphorsäure
2. Der Phosphor
753
H 3 P0 4 bzw. Pentanatriumtriphosphat Na 5 P 3 0 10 (für Waschmittel) sowie Natrium-, Kalium-, Ammoniumund Calciumphosphaten für Düngemittel verwendet wird. Darüber hinaus wird Phosphor in bescheidenem Umfange zur Produktion von Phosphorchloriden (PC13, PC15, P0C13), Phosphorsulfiden (P4S10) sowie phosphororganischen Verbindungen und phosphorhaltigen Legierungen eingesetzt. Schließlich findet Phosphor in der Zündholzfabrikation Verwendung60.
2.1.5
Allotropeundionogene Formenvon Phosphor. Phosphide51,61
Phosphor-Allotrope Es hat nicht an Versuchen gefehlt, weitere nieder- und hochmolekulare Phosphor-Allotrope neben den auf S. 746 abgehandelten Modifikationen (weißer, schwarzer, violetter, faseriger, roter, arsenanaloger, metallischer Phosphor) experimentell zu gewinnen bzw. theoretisch vorherzusagen. Auf sie sei nachfolgend eingegangen Niedermolekulare Allotrope P„, in welchen alle P-Atome dreibindig sind, d. h. in welchen P-Atome drei einfach- bzw. einen einfach- und einen doppelt-gebundenen P-Nachbarn besitzen, weisen eine gerade Anzahl n von P-Atomen auf. Berücksichtigt man nur diesen Sachverhalt, so ergeben sich immer mehrere Isomere für Allotrope gleicher P-Atomzahl, z. B. für P6 - geordnet nach abnehmender thermodynamischer Stabilität - die Phosphor-Allotrope (a)-(e): p
P=P /
\
(a) P 6
p
i v i
/P^ P^I^P
l
II/^N
I i (b) P 6
(c) P 6
II P p--I p
L-p (d) P 6
P^
P
i
II (e) P 6
Die Stabilitätsreihenfolge lässt sich bei Berücksichtigung der Regeln erklären, dass niedermolekulare P„-Moleküle (« bis ca. 12) Käfigstrukturen mit möglichst vielen anellierten P5- und möglichst wenigen P4Ringen anstreben (günstig: (a); ungünstig: (b), (c); Ringstabilitätsreihenfolge: P5 > P3, P6 > P4, vgl. S. 770 sowie S„-Ringe auf S. 553). Hierbei sind Strukturen mit Einfachbindungen energetisch günstiger als solche mit Doppelbindungen (günstig: (b); ungünstig: (e) > (d), (c) > (a)). Doch ist auch das P6-Benzvalen (a) um über 50 kJ/mol P4 energiereicher als das P4-Tetrahedran. Nachfolgend sind die energetisch günstigsten Strukturen der P„-Isomeren mit n = 4, 6, 8,10,12 wiedergegeben. Ersichtlicherweise nimmt deren relative, auf P4 bezogene Stabilität zunächst bis P6 ab, dann in Richtung P8, P10, P12, d.h. in Richtung polymeren Phosphors zu (P„ ist ca. 65 kJ/mol P4 energieärmer als P4).
P 4 (= 0 kJ/mol)
P 6 (ca.+50)
P 8 (ca.+20)
P 1 0 (ca.-10)
P 1 2 (ca.-30)
60 Die ersten Phosphorzündhölzer wurden 1845 in den Handel gebracht. Sie enthielten im Kopf noch weißen Phosphor im Gemisch mit sauerstoffabgebenden Mitteln (z.B. Salpeter, Mennige) und brennbaren Bindemitteln (wie Leim, Dextrin, Gummi arabicum) und waren an jeder Reibfläche zündbar. Wegen ihrer Giftigkeit und allzu leichten Entzündbarkeit wurden sie 1903 wieder verboten. An ihre Stelle traten die schon seit dem Jahre 1848 durch Rudolph Christian Boettger (1806-1881) bekannten Sicherheitszündhölzer. Diese bedienen sich des ungiftigen und weniger leicht entzündlichen roten Phosphors. Und zwar befindet sich der Phosphor nicht im Streichholzkopf, sondern im Gemisch mit Glaspulver - in der an den beiden Seiten der Zündholzschachtel angebrachten Reibfläche. Der Kopf des Zündholzes besteht aus Antimonsulfid oder Schwefel (als brennbarer Substanz), Kaliumchlorat (als sauerstoffabgebendem Mittel) und Bindemitteln. Beim Anstreichen des Zündholzes an der Reibefläche wird etwas Phosphor losgerieben, der dann bei der erhöhten Temperatur mit dem Chlorat Feuer fängt und so den brennbaren Zündholzkopf zur Entzündung bringt. Zur besseren Übertragung der Flamme werden die Hölzer mit etwas Paraffin und zum Schutze gegen Weiterglühen nach dem Erlöschen mit Ammoniumphosphat oder Natriumsilicat getränkt. 6 1 Literatur. S. Böcker, M. Häser: ,,Covalent Structures of Phosphorus: A Comprehensive Theoretical Study", Z. Anorg. Allg. Chemie 621 (1995) 258-286; O. J. Scherer: „Kleine neutrale P„-Moleküle", Angew. C h e m 112 (2000) 1069-1071; Int. E d 39 (2000) 1029; I. Krossing: ,,Homoatomic Cages and Clusters of the Heavier Group 15 Elements. Neutral Species and Cations" in M. Driess, H. Nöth: ,,Molecular Clusters of the Main Group Elements", Wiley-VCH, 2004, S. 209-229; H . G . v. Schnering, W. Hönle: „Bridging Chasms with Polyphosphides", Chem. R e v 88 (1988) 342-273.
754
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
r-—Pu—n
-PA-I
I
/rrl/V
—p
/ \
pN i N
i p
X
X /^p-p P-P
\
P — P ^ P ^ P
(a) (CuI) 3 Pi 2
Fig. 179
v 1
(b) ( C u I ) 8 P i 2
(c) (CuI) 2 P 14
Struktur der Röhren aus P-Atomen in (CuI) 3 P 12 , (CuI) 8 P 12 und (CuI) 2 P 14 .
Dass trotzdem P4 über schmelzendem oder sublimierendem PTiolett bei 620 °C die stabile Phase darstellt (S. 746), erklärt sich damit, dass nicht die wiedergegebenen, sondern nur die freien Stabilitätsenergien (-enthalpien) Aussagen über Reaktionsgleichgewichte ermöglichen (S.49), wobei in den vorliegenden Fällen der Gewinn an Bewegungsfreiheit (Entropie) beim Übergang von P., in P4 die Gleichgewichte i /xPx %P 4 zugunsten von P4 verschiebt (z. B. läge nach thermodynamischen Berechnungen selbst für P12 das Gleichgewicht bei 44°C (Smp. von P4) praktisch vollständig auf der P4-Seite). Für die Isolierbarkeit eines niedermolekularen P-Allotrops spielt naturgemäß die thermodynamische Stabilität eine weit geringere Rolle als die kinetische Stabilität. So ist P4 hinsichtlich seines thermodynamisch begünstigten Übergangs in P^ schon deshalb erstaunlich metastabil, weil erst die Vereinigung von 3 Molekülen P4 einen Phophorcluster liefert, der stabiler als P4 ist. Nun konnte mit P6-Benzvalen (a), das wegen seiner PP-Doppelbindung wohl sehr dimerisierungslabil ist, erstmals die kurzzeitige Existenz eines zweiten niedermolekularen Phosphor-Allotrops durch Neutralfragment-Reionisations-Technik (S.68) im Massenspektrometer nachgewiesen werden (P. Jutzi, 1999) und zwar liefert die chemische Ionisation (He oder Xe) von Cp2P6 (Cp* = C5Me5), in welchem das P6Gerüst vorgebildet vorliegt (S. 773), neben dem Molekülion CpjP^ die Kationen Cp*P^ und Cp + im Verhältnis 1.5:1 als dominierende Fragmente, wobei das ebenfalls gebildete Neutralteilchen P6+ in einem zweiten Ionisationsschritt in P6+ übergeführt und dadurch nachweisbar wurde. Sicherlich ist Ps-Cunean (vgl. obige Formel) kinetisch stabiler als P6-Benzvalen, sodass seine Synthese wohl in naher Zukunft gelingen wird. Gelungen ist die Isolierung von Diphospin : P = P : in einer auf Raumtemperatur ohne P 2 -Zersetzung erwärmbaren Adamantan-Tieftemperaturmatrix (A.Kornath, 2002). Hochmolekulare Allotrope Px sind energieärmer als niedermolekulare, wobei eine kettenförmige Verknüpfung von P„-Käfigen zu Röhren energetisch besonders stabil ist (die Röhren können wie im violetten Phosphor miteinander verbunden sein; eine schichtförmige Verknüpfung von P„-Käfigen ist energetisch weniger vorteilhaft, eine solche von Bändern aus anellierten P 6 -Ringen - vgl. schwarzer Phosphor - möglich). Nach ab-initio Berechnungen sind Stränge aus über P2-Einheiten verknüpten P8-, P9-, P10-Käfigen energetisch besonders vorteilhaft (ca. 60 kJ/mol P4 energieärmer als P4). Röhrenförmige Allotrope ließen sich als Gäste in Kupfer(I)-iodid (Wirt) durch Erhitzen von CuI oder Cu/I 2 in rotem Phosphor auf 300-500°C synthetisieren. Unter ihnen enthält gemäß Fig. 179 (CuI)3P12 Röhren aus P 2 -verknüpften P10Käfigen, (CuI)8P12 Röhren aus P 4 -verknüpften P 8 -Cunean-Käfigen und (CuI)2P14 Röhren aus P 2 -verknüpften P12-Käfigen. Die P10-Käfige setzen sich im Sinne der Fig. 179 a aus zwei, durch drei Bindungen miteinander verknüpften P 5 -Ringen in Twistform (grau unterlegt) zusammen. Ihre Verknüpfung über P2Gruppen führt hierbei zu einer Verdrillung des fast linearen Strangs • • • ^ P 1 ^ P 1 ^ P 1 0 , welcher nur aus miteinander kondensierten P5- und P6-Ringen aufgebaut ist (bzgl. eines P6-Rings vgl. Fig. 179 a, linke Seite, fett ausgeführte P-Atome). Alternativ läßt sich der [PJ^-Strang in (CuI)3P12 auch durch Anellierung von P 7 -Norbornanfragmenten über zwei gemeinsame P-Atome zu P12-Einheiten beschreiben, welche beidseitig mit P12-Einheiten über jeweils drei P—P-Bindungen zur Kette [ P 1 ^ verknüpft vorliegen. Durch Behandeln von (CuI)3P12 und (CuI)8P12 mit einer wässerigen KCN-Lösung (1-molar) konnte CuI aus beiden Verbindungen herausgelöst und zwei neue molekulare Allotrope des Phosphors als wasserunlösliche Feststoffe (dunkelrotbrauner Phosphor) freigelegt werden, deren Eigenschaften deutlich von jenen des roten Phosphors abweichen (A. Pfitzner, 2004).
Phosphor-Kationen Feste Phase Bisher ließen sich keine Salze mit Phosphor-Kationen Pm+ isolieren (Entsprechendes gilt für Salze mit As-, aber nicht mit N-, Sb- sowie Bi- bzw. mit Chalkogen- sowie Halogen-Kationen (Ausnahme F; s. dort)). Die Ursache ist in der hohen Reduktionskraft niedrigwertigen Phosphors und der ausgeprägten Elektrophilie kationischen Phosphors zu suchen. So entstehen bei der Oxidation von P4 mit S 2 0 6 F 2 in Fluorsulfonsäure anstelle von Salzen mit Phosphorkationen solche mit Schwefelkationen (S. 554) als Folge der Reduktion des Schwefels in S 2 0 6 F 2 mit P4. Selbst das hypothetische Salz P^"SbjF^ mit dem
2. Der Phosphor
755
sehr reduktionsstabilen Anion Sb2F14 würde - wie sich abschätzen lässt - gemäß P^SbjF^ (0 PF3 (g) + SW 3 (0 + SW s (fl) + P4 (0 + ca. 200 kJ unter Keduktion von Sb(V) zu Sb(III) exotherm zerfallen (die entsprechende Zersetzung von N^ SbjF^ ist demgegenüber trotz der Bildung von 2N 2 ein endothermer Prozess: A.ffr ca. + 100 kJ/mol). Auch würde P^ als starke Lewis-Säure das besonders reduktionsstabile Anion AlCl4~ im hypothetischen Salz P^" AlCl4~ dehalogenidieren, wobei gebildetes P5Cl anschließend in P4 und PC13 zerfiele. Nur mit Gegenionen sehr niedriger Oxidationsstufe sowie extrem kleiner LewisBaszität ((KO)3AlFAl(OK)3~ mit R = (CCF3)3 ?) sollten hiernach Salze mit Phosphorkationen zugänglich sein Gasphase. Die Ionisierung des durch Laserbestrahlung über rotem Phosphor erzeugten Phosphordampfes oder die chemische Ionisation von Prot z. B. durch He-Ionen jeweils im Massenspektrometer liefert Hinweise auf die Existenz von Kationen P+ (n bis 91). Hierbei erscheinen jeweils größere Massenpeaks für die Kationen mit einer ungeraden P-Atomzahl, was - in Übereinstimmug mit ab-initio Berechnungen - auf eine schwerere (leichtere) Isolierbarkeit der stabileren (instabileren) P„-Spezies mit einer geraden (ungeraden) P-Atomzahl deutet. Als Beispiele sind nachfolgend die - berechneten - Strukturen einiger ,,ungeradzahliger" Phosphorkationen (positive Ladung jeweils delokalisiert) wiedergegeben: trigonal-planares P3+ (D3h-Symmetrie; 27i-Aromat mit kurzen PP-Abständen von 2.14 Ä), quadratisch-pyramidales P^ (C4v-Symmetrie; vgl. V-förmigen Bau von N^, S. 657), überkappt-trigonal-prismatisches P^ (C2v-Symmetrie), röhrenförmiges P^ (DM-Symmetrie; formal ein P(P4)^-Komplex, vgl. Ag(P4)^, S. 752). Im Sinne der Wade-Mingos-Kegeln ist P^ als nido-, P^ als arachno-Cluster zu klassfizieren (vgl. S. 1059).
p3+
p — p+ p5
- ^ p +^ * p7
f-f
>
p9+
Phosphor-Anionen. Phosphide Von Phosphor existieren viele, als Zintl-Phasen (S.925) aufzufassende salzartige Phosphide MmP„ (M z. B. Alkalimetall, Erdalkalimetall, Lanthanoid), in welchen - extrem formuliert - Phosphoranionen P™~ vorliegen. Darstellung Sie lassen sich aus weißem bzw. rotem Phosphor durch Keduktion mit den betreffenden Metallen M oder aus einfachen Metallphosphiden durch Oxidation z. B. mit Halogenen bei normalen oder erhöhten Temperaturen sowie in Ab- oder Anwesenheit von Solvenzien wie Ammoniak (fl), Tetrahydrofuran, Monoglyme, Dimethylformamid gewinnen und weisen u. a. folgende Zusammensetzung auf: P- (« = 1-8, o o ) , P2~, P5~, P f - , P ^ , P j f , Pfi", P?6", P?9", P 3 f , P42"", P46"> [P4~]„, [P7 ]„, [P 1 J„. Die Anionen lassen sich u.a. zur Synthese von Komplexen mit Oligophosphid-Liganden nutzen (z. B. Bildung von {Cp2(CO)2Fe}3P7. {(Bu3P)2Ni}4P14 aus Cp(CO) 2 FeBr oder (Bu3P)2NiCl2 und Li3P; Cp = C5H5, Bu = C4H9). Beispielsweise kennt man Alkaliphosphide folgender Stöchiometrien: LP N P P -
LiP NaP K -
-
L
-
-
N
-
K4P6
K3PV
K
K
C
C
-
-
Na 3 P n K ^
Li -
Li Na -
Kb Cs
-
-
-
-
KP,°. 3 KW,°, 3
-
Kb
Li
,3 ,3 KP ,3 Kb Cs ,,33 N a
,, ,, Cs , , , , C ,3 C ,, Die in prächtigen Kristallen (Nadeln, Tafeln, Prismen) erhältlichen Produkte sind schwarz (z.B. M 3 P, M'P, MjP 6 ), gelb (z.B. M^P 7 , C S 2 P 4 • 2NH 3 ), orangefarben ( M j P n , M ^ P 2 1 ) oder rot bis dunkel- oder braunrot (z.B. LiP5, M'P 7 , M 2 P 1 6 , M'P 10 3, M ' P ^ , M'P 15 ). Die Verbindungen mit niedermolekularen Anionen (z.B. M 3 P, M 4 P 6 , M 3 P 7 , M^P^) liydrolysieren leicht unter Bildung von Phosphorwasserstoffen (s. dort), die Verbindungen mit hochmolekularen Anionen sind - mit Ausnahme der hydrolyseempfindlichen Phosphide M'P-hydrolysestabil. Einige Phosphide lösen sich in fl. N H oder H 2 N C H 2 C H 2 N H 2 . K
Strukturen Die Metallphosphide enthalten isolierte Phosphor-Ionen P o d e r anionisch geladene Ketten, Ringe, Käfige, Röhren bzw. Schichten aus Phosphoratomen. So haben etwa die Phosphid-Ionen P 2 " , P 3 ~, P 4 ~, ... (allgemeine Formel: PJ," +2)_ ) einen (linearen oder auch verzweigten) kettenförmigen Bau. Sie leiten sich formal vom dreifach geladenen Monophosphid : P : b z w . vom vierfach geladenen Diphosphid : P — P d u r c h Anlagerung einfach geladener Phosphor-Anionen :PI" (isoelektronisch mit S) an freie Phosphidelektronenpaare ab [:P:]3"
Phosphid (3 — )
[:P—P :]4"
Diphosphid (4 — )
[:P—P—P:]S_
Triphosphid (5 — )
[:P—P—P—P:]6_
Tetraphosphid (6 —)
[(:P—)3P—P(—P:)^"
Octaphosphid (10 — )
756
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Monophosphid P 3 " liegt etwa in Alkali- und Erdalkaliphosphiden Li 3 P, Na 3 P, K 3 P, Mg 3 P 2 , Ca 3 P 2 , Sr 3 P 2 , Ba 3 P 2 , Diphosphid P2" in CaP und SrP, Tri- und Pentaphosphid P3" und P5" in LaP 2 , Tetraphosphid P6" in CeP 2 , verzweigtes Octaphosphid (vgl. Formel) in Ca 5 P 8 und Polyphosphid [ P i n LiP, NaP und KP vor. Die unverzweigten Phosphid-Ionen P s i n d mit Sulfid-Ionen S2m gleicher Atomzahl isoelektronisch und wie diese gebaut (gewinkelte Ketten, vgl. S.556). Zum Beispiel bildet das in LiP, NaP bzw. KP vorliegende Polyphosphid analog Polysulfid eine schraubenförmige Atomkette (,,helicaler" Bau). Darüber hinaus kennt man - ähnlich wie im Falle der Chalkogene (s. dort) - mit schwarzblauem P2" (isoelektronisch mit O3", S 3 ) auch ein Phosphid-Radikal (isoliert als K 4 P 3 ; PP-Abstände 2.183 Ä, PPP-Winkel 118.1°). Ein planarer gleichseitiger Pm"-Ring liegt dem Diammoniakat von Cs 2 P 4 zugrunde (PP-Abstände 2.15 Ä, PPP-Winkel ca. 90°), planare gleichseitige P2"-Ringe enthalten die Phosphide K 4 P 6 , Rb 4 P 6 und Cs 4 P 6 . Der relative kurze PP-Abstand von 2.15 A spricht hier für einen teilweisen Mehrfachbindungscharakter der PP-Ringbindungen (ber. für Einfachbindung: 2.2 Ä, für Doppelbindung: 2.0 Ä), die gleichlangen PP-Bindungen für eine gleichmäßige Verteilung der negativen Ladung über die 4 oder 6 Ringatome. Auch in Bariumphosphid Ba 2 P 6 = BaP3 liegen P2" -Sechsringe vor, die aber zum Unterschied von ersteren eine gewellte (Sessel-)Konformation aufweisen (Lokalisierung der 4 negativen Ringladungen in 2-, 3-, 5- und 6-Stellung des Ringes) und die in 1- und 4-Stellung zu eindimensional-unendlichen Ketten verknüpft sind (c). In den homologen Phosphiden SrP3 bzw. CaP 3 (a, b) sind demgegenüber gewellte Phosphorsechsringe mit Phosphorketten bzw. Phosphorketten mit Phosphorketten zu zweidimensional-unendlichen Schichten verbunden 6m I
I
I
(a) CaP3
I
I
(b) SrP3
(c) BaP3
Isolierte P3"-Käfige liegen in den Alkalimetallphosphiden M 3 P 7 (M1 = Li bis Cs) sowie Erdalkaliphosphiden S r ^ 4 und B a ^ 4 vor, isolierte3"-Käfige in den Phosphiden M l 3 P 1 x (M1 = Na, Cs, NR 4 ). Die Struktur von P3" (d) leitet sich vom isoelektronischen Tetraphosphortrisulfid P 4 S 3 (S. 788) durch Ersatz zweibindiger Schwefelatome durch gleichfalls zweibindige, einfach negativ geladene Anionen P " ab (zur Valenztautomerie von P3" vgl. S. 772), während P3" (e) aus zwei (basisgeöffneten) PP 3 -Tetraedern aufgebaut ist (obere Tetraeder fett ausgeführt), welche durch drei negativ-geladene P-Atome verknüpft sind. Zwei P3"- bzw. P3"-Käfige liegen - über eine PP-Einfachbindung verknüpft - in [Li(MH 3 ) 4 ] 4 P 1 4 (f) bzw. [EtMe 3 N] 4 P 2 2 (g) vor. Weitere Phosphide, die anionische Phosphorkäfige enthalten, sind L i 2 P ^ und Na 2 P 1 6 (zwei über eine P 2 -Gruppe verknüpfte P 7 -Käfige; (h)), M 3 P 2 x und MjP m 6 (M1 = Li, Na, K; zwei über eine oder zwei P 7 -Gruppen verknüpfte P 7 -Käfige; (i, k)) bzw. M 3 P 1 9 (M1 = Li, Na, K; zwei über eine P5--Gruppe verknüpfte P 7 -Käfige; (l)). Phosphide mit P2"-Käfigen (vgl. Ausschnitt aus (n); isoelektronisch mit P 4 S 4 bzw. mit P3"-Einheiten (vgl. Ausschnitt aus (n)) sind bisher unbekannt. In RbP 7 und CsP7 sind P 7 -Käfige zu eindimensional unendlichen Röhren der Zusammensetzung [P7 verknüpft (m). Eine etwas verwickeltere, zu einer helicalen Kettenstruktur führende Verknüpfungsart von P 7 -Käfigen (d), in welchen eine P—P-Bindung des P 3 -Rings aufgebrochen ist (vgl. Mitte von (i)), 6
m Die Phosphid-Ionen der Verbindungen M n P 3 (M11 = Ca, Sr, Ba) leiten sich vom schwarzen Phosphor (Fig. 174a, S.747) durch Herausnahme eines Viertels der Phosphoratome ab. Gewellte Phosphor-Sechsringe liegen auch in LiP 5 vor. Diese sind zu eindimensional unendlichen Bändern kondensiert (die Phosphoratome 2 und 3 sowie 4 und 5 gehören jeweils zwei P 6 -Ringen gemeinsam an; vgl. Pschwarz, S. 747). Die Phosphorbänder sind ihrerseits über Phosphoratome zu einem Raumnetzverband verknüpft. Bezüglich LiP 5 und NaP 5 in Lösung mit monomeren P 5"-Ionen (P-Ringe; gleichlange PP-Bindungen mit Mehrfachbindungscharakter) vgl. Formel (g) auf S. 785 sowie Formel (d) auf S. 774.
2. Der Phosphor
L .X W X / /
I
\ P
V
v
x x p
»
P
\{ I \{ I
(E) P N
(d) P
P" (H)
P
-
P
\ 7 >
LA
P
P"
P
^
/ - P P
' AP A
/
, r \
/ rpx
\ /;
P"
(i) P l i ( n =1); (k) P £ (n = 2)
iV
KJ
(g) P 22
P—P
/
\
]
(F) P iV
P —p
p^p—P
-p-p JV / \
757
p
x
V
p
(I) P iV
liegt den Phosphor-Anionen in den Verbindungen LiP7 und NaP 7 zugrunde. Ein KP 7 existiert unter den Metallphosphiden der Stöchiometrie MTP7 nicht. Die Metallphosphide der Zusammensetzung MTP15 (M1 = Li bis Cs) enthalten fünfeckige Phosphidröhren der Formel [Pf5]oo, welche an die Röhren des violetten Phosphors (Fig. 175, S.748) erinnern. In ihnen (n) sind abwechselnd P 7 -Einheiten (vgl. Mitte von (i)) und P 8 -Käfige miteinander verbunden. [P[" 5 ]^-Röhren liegen - neben [P 7 ]^-Röhren auch in Rubidium- und Cäsiumphosphid^M 2 [P 7 , P f 5 ] = M 1 ! ^ vor (die Verbindungen KP 103 und PBP103) enthalten kompliziert gebaute Phosphid-Ionen).
Neben den erwähnten salzartigen Phosphiden der stark elektropositiven Metalle gibt es wie im Falle der homologen Nitride (S. 658) auch hochmolekulare kovalente Phosphide wie BP (S. 1124), B 12 P n (n = 2, 1.8; S. 1046), SiP2 und metallartige Phosphide wie Fe3P, Fe 2 P, Ni 2 P (,,metallreiche Phosphide" M > 1 P mit P der Koordinationszahl 6 bis 9: wasserunlöslich, elektrisch leitend, hoch schmelzend, thermostabil, hart), CrP, MnP, MoP (,,Metallmonophosphide" MP mit trigonal-prismatisch und oktaedrisch koordiniertem P), M P , MP 3 , MP 4 , MP 7 usw. (,,metallarme Phosphide" M < x P mit P2-Inseln in FeP 2 , RuP 2 , 0sP 2 , PtP 2 , P4-Ringen (planar) in CoP 3 , NiP 3 , RhP 3 , PdP 3 , IrP 3 , Pn-Ketten in PdP 2 , NiP 2 , CdP 2 , BaP3, V„-Doppelketten in Z n P ^ 4 , C d P ^ 4 , HgPbP 14 un^„-Schichten in CuP 2 , AgP 2 , CdP 4 ; elektrisch halbleitend, niedrig schmelzend, geringere thermische Stabilität und Härte).
2.1.6
Phosphor in Verbindungen
Wie der Stickstoff, vermag auch Phosphor lückenlos alle Oxidationsstufen von — 3 bis + 5 einzunehmen, wie folgende Verbindungsreihe zeigt PH 3
P2H4
(PH),
P°4
H3P02
H4PA
H3P303
H4PA
H3P04.
Hierbei kann er folgende Koordinationszahlen betätigen Eins (z.B. P = P , H C = P ) , zwei (gewinkelt in H — P = C H 2 , [ N C — P — C N ] ) , drei (pyramidal in PH 3 , P 4 ; planar in P(Si*Pr 3 ) 3 ), vier (tetraedrisch in P H 4 , P0C1 3 , P 0 3 - , planar in (Cp 2 HZr) 4 P), fünf (trigonal-bipyramidal in PF 5 , PPh 5 ; quadratisch-pyramidal in [Co 4 (C0) 10 (^i 4 -PPh) 2 ]), sechs (oktaedrisch in PF 6 ", UP; trigonal-prismatisch in Rh 4 P 3 ), sieben (zweifach-überkappt-trigonal-prismatisch in Ta 2 P), acht (kubisch in Ir 2 P), neun (dreifach-überkappttrigonal-prismatisch in Ti 3 P, Fe 2 P; überkappt-quadratisch-antiprismatisch in [Rh 9 (C0) 2 1 P]2-). Vergleich von Phosphor mit Stickstoff (siehe Überblick, S. 309). Die gleichwohl vorhandenen chemischen Unterschiede zwischen Stickstoff und Phosphor kommen zum einen dadurch zustande, dass der Phosphor eine weit geringere Tendenz zur Ausbildung von p^p^-Bindungen aufweist als der Stickstoff (vgl. die analogen Verhältnisse im Falle der Elementhomologen Sauerstoff und Schwefel (S. 557) bzw. Kohlenstoff und Silicium (S. 928)). So kommt es, dass Stickstoffverbindungen mit p^p^-Bindungen wie N 2 , (NH) 2 oder N 2 0 3 ihr Analogon in der Phosphorchemie fast ausschließlich in Form mehrfachbindungsfreier
758
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
oligo- oder polymerer Moleküle finden: P 4 bzw. P„ (S. 746), (PH) n (s. u.), ( P 2 0 3 ) 2 (S. 786). Nur bei erhöhter sterischer Abschirmung (im Falle von R P = C R ' 2 genügen sperrige Gruppen R') bzw. bei mesomerer Stabilisierung der p ^ - B i n d u n g e n sind „ungesättigte" Phosphorverbindungen mit p ^ - g e b u n d e n e m Phosphor selbst unter Normalbedingungen in kondensierter Phase mehr oder weniger polymerisationsstabil Auch bei sehr niedrigen Drücken und hohen Temperaturen lassen sich -ungesättigte Phosphorver bindungen wie P = P (S. 750), P = N (S. 813), H — C = P („Phospha-ethin", das Phosphor-Analogon zur Blausäure H — C = N ; CP-Abstand 1.54 Ä, ber. für Dreifachbindung 1.57 Ä; S.820) erzeugen. Als Beispiele seien genannt: die Phospha-alkene (a) (R z. B. C 6 H 5 , Cl; R' z. B. C 6 H 5 , Me 3 Si), die Phospha-alkine (b) (R z.B. Me 3 C, Me 3 Si), das Imino-phosphan (Phospha(III)-azen; vgl. S. 816) (c), das Phospha-diazonium-Ion (d) sowie Diphospha-ethen (e) (Ar jeweils Supermesityl 2,4,6-/Bu 3 C 6 H 2 ), das Phospha-benzol (f) (vgl. hierzu S.820), das Pentaphospha-cyclopentadienid-Ion (g) (vgl. S.774), das Diimino-phosphoran (h) sowie Trimethylen-phosphoran (i) (in letzteren drei Verbindungen sind die 7i-Elektronen mesomer über die fünf P-Atome, die zwei PN- bzw. drei PC-Bindungen verteilt.)
..
/R'
R—P=cf R' (a) RPCR 2
. :P=C—R'
(Me 3 Si) 2 N—P=N(SiMe 3 )
[:P^N—Ar]+
Ar—P=P—Ar
(b) PCR'
(c) R 2 NPNR
(d) [PNAr] +
(e) P 2 Ar 2
/ E \ -y e > : X - f (f) PC 5 H 5
(g) [ P 5 r
^.N(SiMe3) (Me3Si)2N-p-' N(SiMe 3 ) (h) R 2 NP(NR)2
" C(SiMe 3 ) 2 ~~ (Me 3 Si) 2 C—R^f C(SiMe 3 ) 2 (i) [P(CR2)3]-
Zum anderen besteht beim Phosphor im Gegensatz zum Stickstoff die Möglichkeit zur Ausbildung größeren Koordinationszahlen (KZ > 4) (vgl. hierzu die Elementhomologen Sauerstoff/Schwefel (S. 557) bzw. Kohlenstoff/Silicium (S. 928) und das dort bezüglich der Bindungsverhältnisse Besprochene). So existieren kovalente Phosphorverbindungen wie P F oder PF6" mit den Kooradinationszahlen 5 und 6 des Zentralatoms, während die maximale Koordinationszahl von N in kovaltenen Stickstoffverbindungen 4 beträgt. In seiner Möglichkeit zur Ausbildung hochkoordinierter Zustände weist der Phosphor eine augenfällige Beziehung zu Silicium auf, wogegen Verbindungen mit Phosphor mittlerer Koordinationszahlen (KZ = 3, 4) vielfach Beziehungen zu Sticksotff und solche mit niedrig koordiniertem Phosphor (KZ ^ 3) Beziehungen zu Kohlenstoff erkennen lassen. Im Sinne der letztgenannten Schrägbeziehung besitzt Phosphor zum Unterschied vom leichteren Gruppenhomologen Stickstoff eine ausgesprochene Tendenz zur Bildung von Elementketten, -ringen und -netzwerken, wie u.a. aus den allotropen Phosphormodifikationen P„, den Phosphanen P n H m (s.u.), den Organylphosphanen (siehe P„R m , unten), den Polyphosphiden P™~ (S. 755) bzw. einer Reihe niederer Sauerstoffsäuren des Phosphors (S. 809) hervorgeht. Tatsächlich ist Phosphor nach Kohlenstoff das Element mit der am stärksten ausgeprägten Fähigkeit zur Bildung homonuklearer Element-Element-Bindungen
2.2
Wasserstoffverbindungen des Phosphors 51,63
2.2.1
Überblick
Systematik Phosphor bildet eine große Anzahl von Wasserstoffverbindungen (Phosphane; ,,Phosphorhydride"; veralteter, doch meist noch gebrauchter N a m e Phosphine). Sie haben die Zusammensetzung PreHre + m (n = ganzzahlig, m = 2, 0, — 2, — 4, — 6 ...), wie der Tab. 83 entnommen werden kann, in welcher die bisher bekannten Phosphorwasserstoffe mit dreibindigem Phosphor zusammengestellt sind, wobei zweifellos viele Phosphorhydride bisher 63
Literatur M Baudler: ,Ketten- und ringförmige Phosphorverbindungen - Analogie zwischen Phosphor- und KohlenErgebnisse stoffchemie" , Angew. C h e m 94 (1982) 520-539; Int. Ed. 21 (1982) 492; ,,Polyphosphorverbindungen-neue und Perspektiven", Angew. C h e m 99 (1987) 429-451; Int. E d 26 (1987) 419; M. Baudler, K. Glinka: ,,Monocyclic andPolycyclicPhosphanes", Chem. R e v 93 (1993) 1623-1667; ,,Open-Chain PolyphosphorusHydrides (Phosphanes)" Chem. R e v 94 (1994) 1273-1297; S. Böcker, M. Häser: ,,Covalent Structures of Phosphorus: A Comprehensive Theoretical Study", Z. Anorg. Allg. C h e m 621 (1995) 258-286; M. Peruzzini, I. de los Rios, A. Romerosa, F. Vizza: ,,Metal-Assisted P-H Bond Formation: A Step towards the Hydrogenation of White Phosphorus", Eur. J. Inorg. Chem. (2001) 593-608.
2. Der Phosphor
759
noch nicht erschlossen wurden. Man kennzeichnet die Phosphane, deren grundlegende Erforschung der deutschen Chemikerin Marianne Baudler (1921-2003; Alfred-Stock-Gedächtnispreis 1986) zu verdanken ist, in Analogie zu den Borwasserstoffen (Borane, s. dort) durch die Angabe der Zahl« der Phosphoratome (dem Namen Phosphan vorangestelltes griechisches Zahlwort) und der Wasserstoffatome n + m (dem Namen Phosphan in Klammern beigefügte arabische Zahl), z.B. Triphosphan(5) für P 3 H 5 , Heptaphosphan(3) für P 7 H 3 , Heptaphosphan(5) für P 7 H 5 (bezüglich einer weiterreichenden Nomenklatur der Phosphane vgl. nachfolgende Formelbilder sowie Anh.VIII). Die Phosphane entstehen u. a. bei der Hydrolyse von Metallphosphiden sowie der thermischen und photochemischen Zersetzung von Diphosphan P 2 H 4 und höheren Phosphanen als sauerstoffempfindliche, thermisch - mit Ausnahme von P H _ disproportionierungslabile Verbindungen, deren Flüchtigkeit und Selbstentzündlichkeit mit steigendem Phosphorgehalt abnimmt, während ihre Ähnlichkeit mit Phosphor in gleicher Richtung wächst. Von den vielen in Tab.83 aufgeführten Phosphanen P„H„ + m konnten bisher nur die Verbindungen P H , P2H4, P 3 H 5 , P 5 H 5 , P 7 H 3 (Isomerengemisch) und (PH)X in Substanz isoliert werden. Die übrigen wiedergegebenen Phosphane wurden nur (weitgehend aufgetrennt oder angereichert) in Phosphangemischen isoliert und massenspektrometrisch sowie (zum Teil) NMR-spektroskopisch charakterisiert. Die Löslichkeit der Phosphane nimmt mit wachsendem P- und sinkendem H-Gehalt in allen denkbaren Lösungsmitteln rasch ab. In gleicher Richtung erniedrigt sich die Flüchtigkeit sowie die Kristallisationsneigung drastisch. Viele Phosphane sind infolgedessen bislang keinen NMR-spektroskopischen Strukturaufklärungen in der Lösungsphase (günstige Solvenzien z.B. Benzol-, 1-Methylnaphthalin) oder gar röntgenstrukturanalytischen Untersuchungen in der festen Phase zugänglich.
Eine den Pentahalogeniden PX 5 entsprechende Wasserstoffverbindung PH S („Phosphoran", ,,^,5-Phosphan") mit fünfbindigem Phosphor existiert nicht. Versucht man, sie durch Hydridolyse von PC15 mittels LiAlH 4 zu gewinnen, so erhält man statt ihrer die Zerfallsprodukte PH 3 + H 2 . Dagegen kennt man eine Reihe von Verbindungen, in denen die Wasserstoffatome des Phosphorans teilweise oder vollständig durch andere Gruppen ersetzt sind z.B. H 3 PF 2 , H 2 PF 3 und HPF 4 (S. 780), H 2 PO(OH), HPO(OH) 2 und PO(OH) 3 (S. 791), PX 5 (X z.B. F, Cl, OPh, Ph). H 4 PF sowie H 3 PO sind unbekannt. Ähnlich wie Phosphoran P H mit fünfbindigem Phosphor (2PH-Bindungen mehr als in stabilem Phosphan P H mit dreibindigem Phosphor) ist auch PH („Phosphen", ,^ 1 -Phosphan", „Phosphanyliden") mit einbindigem Phosphor (2PH-Bindungen weniger als in PH 3 ) nicht isolierbar. Es lässt sich jedoch in der Gasphase als instabiles Zwischenprodukt nachweisen (vgl. Tab. 83). Tab. 83
Bisher isolierte (fett) und nachgewiesene Phosphane.
Summenformel
Phosphane (isoliert, nachgewiesen)
P„H„ +2
PH
P„LL„
PH»)
p„p„ - 2
P2H4
P3HS
P„H„ + n
P4H6
P5H7
P6H8
P7H9
P6H6
P7H7
P3H3
P4H4
PSHS
P4H2
P5H3
P6H4
P7H5
n
bekannt m 2
P8HI0
P9H11
1-9
P8H8
P9H9
3-10
0
P1^10
P8H6
P9H7
PIOH8
P11H9
4-12
-2
P„H„_4
P5H
P
IM T,1,1 P 8 H 4
P9H5
P 1O H 6
PuH,
PI2H8
P13H9
5-13
-4
P„H„ - 6
P7H
P
P9H3
P10H4
PUH 5
PI2H6
PI3H7
PI4H8
P15H9
7-15
-6
P„H„ -S
P1OH2
PHH 3
P12H4
PI3H5
PI4H6
P15H7
PI6H8
17
10-17
-8
P„H„ - 1 0
P12H2
PI3H3
P14H4
PI5H5
PI6H6
P17H7
PI8H8
P19H9
12-20
-10
20
13 20
-12
15 21
-14
17, 19 22
-16
19 22
-18
P„H„ - 1 2
Pi3H
P14H2
PI5H3
PI6H4
P17H5
PI8H6
PI9H7
P„H„ - 1 4
P15H
PI6H2
P17H3
PI8H4
PI9H5
P20H6
P21H7
P„H„ - 1 6
P17H
PI9H3
P20H4
P2IH5
22
P„H„ - 1 S
PI9H
P2IH3
22
P
2QH2
P1^10
^20^10
a) Monophosphan(1) („Phosphen") :PH ( r P H = 1.43 Ä; Triplett-Grundzustand, vgl. N H , S. 686) - gewinnbar aus Wasserstoff und Phosphor bei hohen Temperaturen oder durch Schockwellenzersetzung von P H / A r - G e m i s c h e n - existiert nur in der Gasphase als kurzlebiges Teilchen Polyphosphan (1) (PH)„ (gelb, nicht flüchtig) - gewinnbar durch Hydrolyse von Lithiumphosphid LiP bzw. durch Hydridolyse von C 1 3 P = O (C1 3 PO + 3 H ~ — 3 C r + H 3 P O — 3 C F + H 2 0 + -J(PH)J - ist unter Normalbedingungen metastabiL b) Isomerengemisch.
760
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Strukturen Die Phosphane P„Hn + m (m = 2,0, — 2, — 4...) enthalten in der Regel pyramidalen Phosphor mit dreia-Bindungen („gesättigte Phosphorhydride", „Phosphane" im engeren Sinn). Den Phosphanen der Zusammensetzung P„Hn + 2 liegt ein Bau mit Phosphorketten (catenaPhosphane) zugrunde, z.B.:
H
H H—P
H
I
H
H
H
H
H
H
H
I
I
I
I
I
I
P
P
P
P
P
P—H
H
H—P
I
P
I
H
H
I
H
I
H
H
I
I
H
H
(PH) Diphosphan(4)
Triphosphan(5)
n-Tetraphosphan(6)
Polyphosphan
Die verbleibenden Phosphane enthalten isolierte bzw. miteinander kondensierte PhosphorRinge, und zwar sind die Phosphane P„H„ wie etwa P 5 H 5 monocyclisch (cyclo-Phosphane), die Phosphane 2 wie etwa P 7 H 5 bicyclisch (bicyclo-Phosphane) und die Phosphane P„H„_ 4 wie P 7 H 3 käfigartig tricyclisch gebaut: P
H
H H | ^P—L-P
\
:
P —P P H \ I X \ P H / H H
I H H
P5H5 Pentaphosphan (5) (Cyclopentaphosphan)
/
-
j H^P
\ rH/
K
P
/ H
P P7H3 Heptaphosphan (3) (Tricyclo[2.2.1.0 2 ' 6 ]heptaphosphan)
P7H5 eptaphosphan (5) (Bicyclo[2.2.1]heptaphosphan)
Auch den Phosphanen P„Hn + m (m = — 6, — 8, —10 ...) liegen - isolierte oder miteinander verknüpfte - Phosphor-Käfige zugrunde, die sich aus Phosphanringen mit gemeinsamen (,,kondensierten1', ,,anellierten") Phosphoratomen aufbauen (im Falle von P 7 H 5 z.B. zwei miteinander über drei P-Atome kondensierte P 5 -Ringe). Die Verknüpfung der Phosphankäfige kann ihrerseits über P—P-Bindungen oder gemeinsame P-Atome erfolgen (conjuncto-Phosphane). Bezüglich weiterer Einzelheiten vgl. S. 770. Wie im Falle der Stickstoffwasserstoffe ist auch bei den höheren Phosphorwasserstoffen eine Reihe von Isomeriemöglichkeiten gegeben. So bildet etwa das acyclische Tetraphosphan(6) P 4 H 6 zwei Konstitutionsisomere, nämlich unverzweigtes n-P4H6 und verzweigtes ?-P4H6, wobei für unverzweigtes Tetraphosphan H 2 P—*PH—*PH—PH 2 - ähnlich wie für die stereochemisch vergleichbare Weinsäure HOOC—*CHOH—*CHOH—COOH seinerseits drei Konfigurationsisomere möglich sind, nämlich meso-«-P4H6 mit entgegengesetzt konfigurierten enantiomeren Chiralitätszentren und die hierzu Diastereomeren, (D)- und ( L ) - H - P 4 H 6 , mit gleichkonfigurierten Chiralitätszentren (vgl. S. 406). H / S H ITP>H
2
2
meso- bzw. (R,S)-P
H2P/-H
H / > H
H"P>H2
H,P
(D)- bzw. (R,R)-
2
"PH, H- P / PH,
H
(L)- bzw. (S,S)-P
-P
In entsprechender Weise wie die acyclischen Phosphane bilden auch die cyclischen Phosphane Konstitutions- und Konfigurationsisomere. So könnte etwa Hexaphosphan (6) P 6 H 6 als Cyclohexaphosphan oder als konstitutionsisomeres Phosphino-cyclopentaphosphan existieren. Tatsächlich ließ sich bisher nur das Cyclopentaphosphan P 5 H 4 — P H nachweisen, während vom Cyclohexaphosphan lediglich Derivate P 6 R 6 mit R = Ph, Cl, Br erhalten wurden. Ähnlich wie von Hexaphosphan (6) sind etwa für Octaphosphan(4) zwei Konstitutionsisomere denkbar und in diesem Falle auch nachweisbar
2. Der Phosphor H H -P "PH
HP
i
HP"
L
HP. v
761
PH
/I
\> P - P H
^PH
HP' HP'
2
HP-P H
pH p6H6
P8H4 Octaphosphane(4)
Hexaphosphane(6)
Andererseits wurde im Falle des Heptaphosphans (3) P 7 H 3 neben dem oben wiedergegebenen Isomeren mit symmetrischer Anordnung der Wasserstoffatome zusätzlich ein Konfigurationsisomeres mit unsymmetrischer Wasserstoffanordnung (zwei PH-Bindungen gleich-, eine PH-Bindung entgegengesetzt gerichtet) nachgewiesen. Von den möglichen Konfigurationsisomeren der cyclischen und polycyclischen Phosphane (bzw. Phosphanderivate) ist jeweils dasjenige mit maximaler anti-Anordnung der freien Elektronenpaare sowie Wasserstoffatome bzw. PH 2 -Gruppen am stabilsten (vgl. die obigen Strukturformeln für Cyclopentaphosphan(5) und Bicycloheptaphosphan(5)). Es bildet sich im Allgemeinen bevorzugt.
Zur Veranschaulichung der konfigurationsisomeren Phosphane ^-P 4 H 6 (s. oben) wurde die energetisch weniger bevorzugte ekliptische Konformation gewählt. Tatsächlich bevorzugen acyclische Phosphane ähnlich wie Azane (S. 678) eine gestaffelte Konformation mit gaucheStellung benachbarter freier Elektronenpaare und - nachrangig - trans-Stellung benachbarter PH-Gruppen. In diesem Sinne haben etwa meso-, (D)- und (L)-«-P4H6 die nachfolgend veranschaulichten Konformationen, während für z-P5H7 ein energieärmeres und ein energiereicheres Konformeres mit einem bzw. keinem Paar trans-orientierter PH-Gruppen existieren (in den nachfolgenden Newman-Projektionsformeln mit Sicht entlang der PP-Bindung (vgl. S.678) sind die freien Elektronenpaare durch Striche symbolisiert):
Phosphorwasserstoffe, deren dreibindige Phosphoratome außer durch er- auch durch ^-Bindungen miteinander verknüpft sind („ungesättigte Phosphane", „Phosphene"), stellen - anders als die ungesättigten Stickstoffwasserstoffe (Azene) - die seltene Ausnahme dar. Als Beispiel seien der - bisher nur in Form von Derivaten bekannte - PhosphorwasserstoffP 2 H 2 („Diphosphen") sowie der - in deprotonierter Form (S. 774) z. B. durch Reaktion von P4 mit LiPH 2 in Tetrahydrofuran gewinnbare - acide Phosphorwasserstoff P H und der bisher unbekannte Phosphorwasserstoff P H angeführt: H H—P=P—H
Diphosphen (Diphosphaethen)
H
P
P
/ \ p p—p
Pentaphosphol (Pentaphosphacyclopentadien)
P = P
Triphosphiren (Triphosphacyclopropen)
Stabilität Thermodynamische Aspekte (i) Abgesehen von den Grundkörpern E H (vgl. S. 281) sind die Phosphor- wie die Stickstoffwasserstoffe endotherme Verbindungen. Ähnlich wie bei den Polyazanen ist aber auch bei den Polyphosphanen der Zerfall in die Elemente vielfach gehemmt. Thermodynamisch etwas vorteilhafter als der Zerfall ist die Disproportionierung der Elementwasserstoffe E n H n + m in E H und EJC. Letzterer Prozess wird bei einigen Stickstoffhydriden beobachtet (S. 661) und ist für die Zersetzung der Phosphorhydride von großer Bedeutung. Allerdings erfolgt die Eliminierung von P H aus den Phosphanen in der Regel anders als die NH-Eliminierung aus Azanen nicht intramolekular unter Ausbildung von n-Bindungen, sondern intermolekular unter Ausbildung von a-Bindungen:
762
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
—N—N— H
—N—N— +
NH2
H—NH2
—P P— I + I H PH2
—
+ PH
D i p h o s p h a n geht z. B. d u r c h derartige K o n d e n s a t i o n s p r o z e s s e auf d e m Wege ü b e r p h o s p h o r reichere u n d w a s s e r s t o f f ä r m e r e acyclische u n d cyclische P h o s p h a n e ( S . 7 6 2 u n d 768f.) letztendlich in die t h e r m o d y n a m i s c h stabilsten P r o d u k t e des Systems, M o n o p h o s p h a n P H u n d P h o s p h o r P x , über. - (ii) Die t h e r m o d y n a m i s c h e Stabilität der Cyclophosphane P„H n sinkt in der Reihe C y c l o p e n t a p h o s p h a n (n = 5) > C y c l o t r i p h o s p h a n (n = 3), C y c l o h e x a p h o s p h a n (n = 6) > C y c l o t e t r a p h o s p h a n (n = 4), übrige C y c l o p h o s p h a n e (vgl. hierzu den f ü r n = 8 b e s o n d e r s stabilen Schwefelring S„ bzw. den f ü r n = 6 b e s o n d e r s stabilen C y c l o a l k a n r i n g (CH 2 )„). D e m g e m ä ß b e v o r z u g e n monocyclische P h o s p h a n e P„H„ v o n n = 6 a n statt eines B a u s m i t -gliedrigem R i n g einen k o n s t i t u t i o n s i s o m e r e n B a u m i t seitenkettensubstituiertem P h o s p h a n r i n g (vgl. z.B. die k o n s t i t u t i o n s i s o m e r e n H e x a p h o s p h a n e ( 6 ) auf S.768). A u s gleic h e m G r u n d e werden polycyclische P h o s p h a n e jeweils a u s der m a x i m a l möglichen A n z a h l v o n C y c l o p e n t a p h o s p h a n r i n g e n gebildet. D a r ü b e r h i n a u s e n t h a l t e n die käfigartigen polycyclischen P h o s p h a n e gegebenenfalls Cyclotri- u n d / o d e r Cyclohexa-, nicht j e d o c h Cyclotetraund Cycloheptaphosphanringe Kinetische Aspekte (i) Die thermische Zersetzung von P 2 H 4 und anderen Phosphorhydriden führt stets zu Gemischen, die unterschiedliche, von der Art der Edukte und der Reaktionsbedingungen abhängige Mengen an Phosphanen verschiedener Formel, Konstitution sowie Konfiguration enthalten. Maßgebend für die Bildung eines Phosphans in kleinerer oder größerer Ausbeute sind in der Regel neben thermo dynamischen vor allem kinetische Gründe. Und zwar ist naturgemäß die aufgefundene Menge eines Phosphans bestimmter Konstitution und Konfiguration im Phosphangemisch umso größer, je rascher es aus den Edukten hervorgeht und je langsamer es durch Weiterreaktion mit sich selbst und anderen im Gemisch vorhandenen Phosphanen verbraucht wird. So sinkt der Anteil an acyclischen Phosphanen P „ H „ + 2 in P 2 H 4 -Thermolysaten ab n > 5 u.a. deswegen drastisch, weil die Geschwindigkeit der Cyclopentaphosphanbildung größer ist als die der Phosphorkettenverlängerung. Infolgedessen überwiegen in solchen Thermolysaten von n = 5 an zunächst monocyclische Phosphane P „ H „ und von n = 7 an polycylische Phosphane P „ H „ + M ( m = —2, —4, —6, ... vgl. hierzu auch S.768 f.). (ii) Der (NMR-spektroskopisch mögliche) Nachweis von meso- und ( D , L ) - H - P 4 H 6 (s. oben) veranschaulicht eindrucksvoll die vergleichsweise hohe kinetische Inversionsstabilität des dreibindigen pyramidalen Phosphors (vgl. hierzu S. 672 und 763), was eine Isolierung optisch-aktiver Enantiomerer von bestimmten PhosphanDiastereomeren ermöglichen sollte, falls diese ausreichend disproportionierungsstabil wären. Allerdings nimmt die Inversionsbarriere der Phosphoratome in acyclischen Phosphanen mit der Anzahl von PPBindungen im Molekül ab Eigenschaften Die Phosphane P„H„ + m wirken als mehr oder weniger starke Reduktionsmittel und können deshalb nur unter Ausschluss von Luft gehandhabt werden. Auch kommen ihnen saures Verhalten zu, wobei die Säurestärke der Phosphane mit wachsendem n)m-Verhältnis zunimmt. Allerdings kann die Reaktion: Phosphan ^ Phosphid(p —) + p H + in der Regel nicht ohne weiteres verifiziert werden, da sowohl deren Deprotonierung als auch die Protonierung der entsprechenden Phosphide meist rasche Zersetzungsreaktionen nach sich ziehen N a c h f o l g e n d wird z u n ä c h s t auf d a s Monophoshan eingegangen. Es schließt sich die Bes p r e c h u n g der acyclischen, der mono-, di- u n d oligocyclischen P h o s p h a n e an.
2.2.2
Acyclische gesättigte Phosphane63
Monophosphan
PH 3 63-64
Darstellung Ähnlich wie sich C h l o r o d e r Schwefel m i t L a u g e u n t e r Disproportionierung zur Stufe des Chlorwasserstoffs u n d der H y p o c h l o r i g e n Säure bzw. der Stufe eines Polyschwe-
64
Physiologisches Eingeatmetes P H (MAK-Wert 0.15 m g / m bzw. 0.1 ppm) bewirkt Blutdruckabfall, Erbrechen, Krämpfe, Lungenödeme, Koma. Es ist ab Konzentrationen von 2 ppm wahrnehmbar.
2. Der Phosphor
763
felwasserstoffs und der Thioschwefelsäure umsetzen (Cl2 + H 2 0 -> HCl + HClO; 2S 8 + 3 H 2 0 -> 2H 2 S 7 + H 2 S 2 0 3 ), disproportioniert der Phosphor in Natron- oder Kalilauge in die Stufe des Monophosphans und der Phosphinsäure, die ihrerseits bei höheren Temperaturen auf dem Wege über Phosphonsäure weiter in Monophosphan und Phosphorsäure disproportionieren kann: 2P4 + 1 2 H 2 0
4PH 3 + 4H 3 + P0 3
2PH 3 + 6 H 3 P 0 2
4PH 3 + 3H 3 ]P0 4
Zur technischen Darstellung von P H behandelt man weißen Phosphor entweder bei etwas erhöhter Temperatur mit der berechneten Menge Natronlauge in höher siedenden Alkoholen (P4 + 3 NaOH + 3 H 2 0 ^ 3 NaH 2 PO 2 + P H ) oder oberhalb 250 °C im Autoklaven in Phosphorsäure mit der berechneten Menge Wasser (2P 4 + 1 2 H 2 0 -> 5PH 3 + 3H 3 PO 4 ). Im Übrigen stehen für die Gewinnung des Phosphans P H die schon beim homologen Ammoniak N H (S.661) besprochenen Methoden zur Verfügung, nämlich die Darstellung aus den Elementen (Erhitzen von Phosphor und Wasserstoff unter hohem Druck auf 300 °C oder Einwirkung von nascierendem Wasserstoff auf Phosphor bzw. Phosphorverbindungen), die Protolyse von Phosphiden (z. B. Ca3P2> Zn 3 P 2 , AlP) mit Wasser und die Hydridolyse von Phosphorhalogeniden (z.B. PC13) mit Lithiumalanat in Ether: + 6H20
P4 + 6H 2 ^ 4PH,;
Ca,P 2
-3Ca(OH)2
+ 3 LiAlHL
> 2PH,;
4PC1,
U 4PH,.
-3LiAlCl4
Das nach den besprochenen Methoden gewonnene PH ist meist durch Diphosphan verunreinigt es lässt sich durch fraktionierende Destillation und Kondensation leicht von P H abtrennen. In reinster Form (ohne P 2 H 4 und höhere Phosphane) erhält man P H im Laboratorium durch Verdrängung aus Phosphoniumiodidmit Kalilauge, wobei PH 4 I seinerseits durch Reaktion von weißem Phosphor mit Iod in Wasser erhalten wird | P 4 + I2
+ 4H20 -HI,
^
-H3PO4
+
> PH4+r
+OH~ -I-,
-H20
> PH 3 -
Physikalische Eigenschaften. Monophosphan ist ein farbloses, giftiges 64 , knoblauchartig, ,,nach Carbid" riechendes Gas (dass sein Geruch demjenigen gleicht, den man beim Eintragen von Calciumcarbid CaC 2 in Wasser beobachtet, rührt daher, dass CaC 2 stets Spuren Ca 3 P 2 enthält, sodass dem entstehenden geruchslosen - Acetylen C 2 H 2 Monophosphan P H beigemengt ist). P H (Smp./Sdp. - 1 3 3 . 8 / - 87.7 °C) ist im flüssigen Zustand zum Unterschied von N H nicht assoziiert ist. In Wasser ist P H bei Normaldruck nur wenig löslich (ca. 0.01 mol pro Liter H 2 O); die Lösung reagiert neutral. Besser löst sich P H in flüssigem Ammoniak N H , Schwefelkohlenstoff CS2 oder Trichloressigsäure C1 3 CCO 2 H. Struktur Das PH-Molekül ist wie N H trigonal-pyramidal mit Phosphor an der Spitze und einem HPHWinkel von 93.42° gebaut (VPH = 1.412 Ä, C3v-Symmetrie). Der HPH-Winkel ist damit wesentlich kleiner als der HNH-Winkel in Ammoniak (107.3°). Bezüglich einer Erklärung hierfür vgl. S. 140 und 365. Die Energiebarriere für die PH"Inversion ist mit ca. 155 kJ/mol wesentlich höher als die Inversionsbarriere für N H (24.5 kJ/mol, S. 672).
Chemische Eigenschaften Monophosphan zersetzt sich wie Ammoniak bei erhöhter Temperatur in Umkehrung seiner Bildung aus den Elementen in Wasserstoff und Phosphor, eine Reaktion die etwa zum Dotieren von Halbleiter-Silicium mit Phosphor oder zur Abscheidung von Phosphorfilmen auf Oberflächen genutzt werden kann. Die Blitzlichtphotolyse bzw. Schockwellenzersetzung von P H unter vermindertem Druck führt u. a. zu den kurzlebigen Radikalen P H und PH. Chemisch unterscheidet sich P H von N H vor allem durch sein stärkeres Reduktionsvermögen und seinen schwächeren basischen Charakter. Redox-Verhalten. Die verglichen mit N H stärker reduzierenden Eigenschaften von P H beziehen sich sowohl auf die Reduktionskraft für den Vorgang PH 3 5P 4 + 3 H + + 3 © (e0 = - 0 . 0 6 3 im sauren, - 0 . 8 9 V im alkalischen Milieu; zum Vergleich: N H 3 -> J N 2 + 3 H + + 3 ©; e0 = +0.278/-0,74 V) als auch auf die Reduktionsgeschwindigkeit. Aus letzterem Grunde entzündet sich reines Monophosphan im Gegensatz zum Ammoniak an der Luft bereits bei 150°C unter Verbrennung zu Phosphorsäure:
764
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
PH 3 + 2 0 2
H 3 P 0 4 + 1270kJ.
Auch liefert es beim Erhitzen mit Schwefel leicht Schwefelwasserstoff sowie ein Gemisch von Phosphorsulfiden (S. 788). P H reduziert Ag + - und Cu 2 + -Ionen in wässerigen Lösungen von AgN0 3 oder CuS0 4 zu Metall (im Gemisch mit Metallphosphid), wogegen N H mit beiden Ionen Komplexe (Ag(NH3)^~, Cu(NH 3 ) 4 + ) bildet. Führt man in einen mit P H gefüllten Glaszylinder einen vorher in rauchende Salpetersäure eingetauchten Glasstab ein, so verbrennt P H mit Flammenerscheinung, während N H mit Salpetersäure nur unter Salzbildung (NH 4 N0 3 ) reagiert.
Monophosphan kann andererseits als schwaches Oxidationsmittel wirken und setzt sich etwa mit Natrium in flüssigem Ammoniak unter Bildung von Natriumdihydrogenphosphid und Wasserstoff um (PH 3 + Na ->• NaPH 2 + ^ H 2 ) . Säure-Base-Verhalten Die verglichen mit N H schwächer basischen Eigenschaften von PH 3 (p^ B -Werte der Base-Dissoziation EH 3 + HÖH EH 4 + O H " gleich 4.75 (E = N) bzw. ca. 27 (E = P)) erkennt man daran, dass der Gleichgewichtszustand der Salzbildung mit Halogenwasserstoffen E H j + HX
EH 4
der bei Ammoniak ganz auf der rechten Seite der Reaktionsgleichung liegt, beim Monophosphan weitgehend nach links verschoben ist und dass die Phosphonium-Salze PH 4 (tetraedrisch gebautes PH 4 -Ion, PH-Abstand 1.414 Ä) in wässeriger Lösung hydrolytisch zu Phosphanund Halogenwasserstoffsäuren zersetzt werden (PH 4 + H 2 0 PH 3 + H 3 0 + ) . Die Beständigkeit der Salze in festem Zustand nimmt vom Chlorid zum Iodid hin zu. Beim Sublimieren erfolgt - ähnlich wie im Falle der Ammoniumsalze - in Umkehrung der obigen Bildungsgleichung völlige Dissoziation in die Komponenten E H und HX (Sblp. von PH 4 Cl/ Br/I = -28/30/80°C). Monophosphan ist wie Ammoniak eine extrem schwache Säure ( -Wert für PH PH + H + ca. 29); beide Verbindungen dissoziieren demgemäß in Wasser nicht unter H 3 0 +-Bildung. In flüssigem Ammoniak löst sich P H , das etwas saurer als N H ist, demgegenüber unter teilweiser Dissoziation: PH 3 + NH 3 PH 2 + NH 4 . Die Wasserstoffatome lassen sich auch durch Reaktion von P H mit starken Basen (NaNH 2 , LiBu) durch Alkali- oder Erdalkalimetalle unter Bildung von (Hydrogen-)Phosphiden ersetzen, z.B.: + LiBu
P H3
— BuH
+ LiBu
>
L i P H2 Dihydrogenphosphid
— BuH
+ LiBu
"
Li 2 PH 2 Hydrogenphosphid
-BuH
>
Li 3 3P Phosphid
Im Falle völliger Substitution gelangt man so zu Phosphiden wie Na 3 P oder Ca 3 P 2 (vgl. S. 755). Monophosphan P H stellt nach oben Gesagtem eine sehr schwache Brönsted-Base dar, kann aber in Komplexen eine beachtliche Lewis-Basizität entwickeln (S. 1794). Beispielsweise bildet es mit BF3 das Addukt H P ^ B F ^ auch sind eine Reihe von Phosphan-Metallkomplexen bekannt, z.B. [Cr(C0) 2 (PH 3 ) 4 ], [CO(CO) 2 (NO)(PH 3 )], [Ni(PF 3 ) 2 (PH 3 ) 2 ], [CuCl(PH 3 )]. Starke Komplexbildungstendenz weisen nicht nur :PH 3 und seine Derivate :PR 3 auf (vgl. S.818), sondern auch die durch Deprotonierung aus PH„R 3 _„ erhältlichen Ionen PR 2 , P R u n d P ( B i l d u n g von Phosphanido-, Phosphanylideno- und Phosphido-Komplexen). Verwendung Monophosphan dient zur Herstellung von lichtemittierenden Dioden, zur Dotierung von Silicium (S. 1424) und zur Synthese organischer Wirkstoffe (Feuerschutzimprägnierung, Insektizide usw.)
Höhere acyclische Phosphane P„H„ +2 Die kettenförmigen Phosphane P„H„ + 2 (bekannt mit n = 1 -9; vgl. Tab. 66) zeigen eine mit wachsendem n zunehmend ausgeprägte Tendenz zur Disproportionierung (vgl. S. 762). Infolgedessen konnten bisher nur die Homologen bis n = 3 ( P H , P2H4, P 3 H 5 ) rein isoliert werden, während die höheren Homologen
2. Der Phosphor
765
wegen ihrer Hyperreaktivität nur - mehr oder weniger angereichert - in Phosphangemischen nachgewiesen (n = 4 - 9 ) bzw. nicht aufgefunden wurden (n > 9 ) . Bezüglich der nach vollständiger Deprotonierung acyclischer Phosphane verbleibenden Metallphosphide sowie ihrer Komplexe vgl. S.755 und 752. Diphosphan P 2 H 4 lässt sich durch Hydrolyse von Calciumphosphid darstellen: 2CaP + 4 H 2 0
2Ca(OH) 2 + P 2 H 4 .
Es entsteht darüber hinaus gewöhnlich als Nebenprodukt der Monophosphangewinnung (S. 762). Insbesondere bei der Zersetzung von Phosphiden (z.B. Ca 3 P 2 ), die außer P 3 "-Ionen in unterschiedlichem Maße auch P4"-Ionen enthalten (z. B. in Form von CaP) bilden sich auch geringe Mengen Diphosphan, das sich aber wegen seines höheren Schmelz- und Siedepunktes (—99 bzw. + 63.5°C, extrap.) leicht durch Kühlung als farblose Flüssigkeit vom gasförmigen Monophosphan abtrennen lässt. , in welchem ein Wasserstoffatom durch die P H - G r u p p e ersetzt ist (rPP = 2.219, r PH = 1.451 A, * HPH 93.3°, * HPP 95.2°). Das Molekül ist gauche- konformiert (C 2 - Symmetrie; S.678). Die PP-Bindungsenergie beträgt 183 kJ/mol. Eigenschaften Diphosphan ist thermo- und photolabil. Bereits oberhalb — 30°C disproportioniert P 2 H 4 in merklichem Maße in Monophosphan und farblose bis gelbe, flüssige bis feste höhere Phosphane P n H n + m (m = 2, 0, —2, — 4, ...) bis herab zu elementarem Phosphor (s.u.): " - j )
P
A
-
P„H„ + m + ( n - m) PH 3 .
Diphosphan ist zum Unterschied von Monophosphan selbstentzündlich und bedingt die Selbstentzündlichkeitdes rohen, P 2 H 4 -haltigen Monophosphans. Gelegentlich zu beobachtende Explosionen von rohem Monophosphan gehen auf die Anwesenheit von - im Zuge der PH-Synthesen ebenfalls gebildetem Wasserstoff zurück, der bei Sauerstoffzutritt ein - durch das spontan entflammbare Diphosphan gezündetes - Knallgasgemisch liefert. Die Oxidation von P 2 H 4 führt gemäß: P 2 H 4 + 3.50 2 P205 + 2 H 2 0 letztendlich zu P 2 0 5 (isolierte Zwischenprodukte: H 4 P 2 0 2 , P 2 0 3 ). Diphosphan weist wie Monophosphan keine basischen und sauren Eigenschaften in Wasser auf. In flüssigem Fluorwasserstoff als starker Säure lässt sich P 2 H 4 unter Bildung eines Diphosphonium-Salzes P 2 H 5 + X" protonieren: P 2 H 4 + 2 H F P 2 H + H F 2 . Das Ion H 2 P—PH3 zersetzt sich jedoch unter Mitwirkung von H F langsam gemäß P 2 H^"HF 2 + 2 H F PH 4 H F 2 + PH 3 F 2 . In analoger Weise bewirken HCl, HBr und HI eine Spaltung der PP-Bindung des Diphosphans. Mit starken Basen wie Lithiumbutyl LiBu oder Lithium-dihydrogenphosphid LiPH 2 lässt sich P 2 H 4 in inerten Lösungsmitteln (Tetrahydrofuran C 4 H 8 O, Dimethoxyethan MeOCH 2 CH 2 OMe) (Hydrogen-)Diphosphiden deprotonieren: P 2 H 4 + LiBu LiP 2 H 3 + BuH. Allerdings ist das gebildete Lithium-trihydrogendiphosphid selbst bei tiefen Temperaturen (— 78 C) in Gegenwart von Diphosphan instabil und reagiert rasch mit weiterem unter Phosphor-Kettenaufbau nach LiP 2 H 3
+ P2H4
LiP 3 H 4
+P 2 H 4
—PH
LiP 4 H 5
—PH
+P 2 H 4
LiP 5 H 6
—PH
+P 2 H 4
usw.
—PH
zunächst zu höheren acyclischen und anschließend zu cyclischen Hydrogenphosphiden weiter (vgl. hierzu Schwefelkettenaufbau und -abbau; S. 554). Die Reaktion kommt zu einem gewissen (vorläufigen) Stillstand, wenn Phosphorhydrid-Anionen mit vergleichsweise kleiner Nucleophilie bezüglich P 2 H 4 entstanden sind. Erste nachweisbare Produkte der Umsetzung von LiBu und P 2 H 4 sind u. a. LiP 7 H 8 (a) und daraus hervorgehend - LiP 7 H 4 (b) sowie LiP 8 H 5 (c). Bei weiterer Zugabe von LiBu zur Reaktionslösung über das Molverhältnis LiBu : P 2 H 4 = 1 : 8 hinaus, verwandeln sich LiP 7 H 4 und LiP 8 H 5 bei tiefer Temperatur ( — 78 0 C) unter Phosphor-Kettenabbau zunächst in LiP 5 H 4 (d), dann in LiPH 2 , LiP 2 H 3 sowie LiP 3 H 4 und bei höherer Temperatur unter Phosphor-Kettenumwandlung in Li 3 P 7 (S. 771) sowie Li 2 P 1 4 H 2 (e): p
TT
X
H 2 H
2
P
J\ > \
P
T T
PH2
P H
(a) LiP 7 H 8
2
J\
H P ^ P
7> H P ^
p
pfl
\ /
h
P R
(b) LiP 7 H 4 (R=H)
HP^ Nh \
/
\
/
H P
P H
(d) LiP 5 H 4
H P
H P
p
N
P
J\J\ p
T
3) in mehreren konstitutions- und stereoisomeren Formen existieren, wobei die Zahl denkbarer isomerer Phosphorwasserstoffe P„H„ + 2 mit der P-Atomzahl rasch wächst (4, 6, 19 für « = 4, 5, 6). Die 4 möglichen Isomeren des Tetraphosphans(6) P 4 H 6 (3 stereoisomere n- und 1 hierzu konstitutionsisomeres i-P 4 H 6 ) wurden bereits auf S.760 abgehandelt. Von den beiden Konstitutionsisomeren des Pentaphosphans(7) P 5 H 7 hat das i-PentaphosphanH2F—*PH—P(PH2)2 ein Asymmetrie-Zentrum und bildet somit zwei Enantiomere (R- und S-i-P 5 H 7 ; vgl. nachfolgende Formeln sowie S. 760). Das n-Pentaphosphan H 2 P—*PH— ( * } PH—*PH—PH weist andererseits zwei asymmetrische Zentren (zweites und viertes PAtom) und ein ,,pseudoasymmetrisches" Zentrum (drittes P-Atom) auf. Letzteres ist, falls die beiden Reste * P H — P H gleich konfiguriert sind, achiral, falls sie ungleich konfiguriert sind, chiral (r- bzw. s-konfiguriert; vgl. S. 325). Demgemäß existieren von n-P 5 H 7 , wie nachfolgende Fischer-Projektionsformeln zum Ausdruck bringen, drei Diastereomere, nämlich ein Enantiomerenpaar (R,R-«-P 5 H 7 + S,S-nP 5 H 7 ; drittes P-Atom ist achiral) und zwei meso-Formen (RrS-«-P 5 H 7 = SsR-«-P 5 H 7 und RsS-nP 5 H 7 = SrR-«-P 5 H 7 ; vgl. gestrichelte Molekül-Spiegelebene in nachfolgenden Formeln). Entsprechend der ungleichen bzw. gleichen Konfiguration benachbarter Phosphoratome bezeichnet man die betreffenden drei Diastereomeren auch als erythro,threo-, erythro,erythro- und threo,threo-«-Pentaphosphan. Insgesamt sind also für Pentaphosphan (7) 6 Isomere (4 isomere n- und 2 isomere /-Pentaphosphane) denkbar
PH? I (Dp-H
-
P H , H2P
H9 P
(bzw. erythro, threo-) n-P5H7
meso-1- bzw. (RrS)
PCD
/Px
PH2
S-
R
(D)- bzw. (R,R)- | (L)- bzw. (S,S)-
H2 P
meso-2- bzw. (RsS)-
(threo, threo-) n-P5H7 (erythro, erythro-) n-P5H7
i-P5H7
Von den vier Konstitutionsisomeren des Hexaphosphans($) ^^H8 hat das unverzweigte n-Hexaphosphan H 2 P—*PH—*PH—*PH—*PH—PH vier Asymmetriezentren und kann - wie sich ableiten lässt (vgl.
2. Der Phosphor
767
S.325) - 6 Diastereomere, nämlich vier Enantiomerenpaare und zwei meso-Formen, also insgesamt 10 Stereoisomere bilden, während man von den einfach-verzweigten Isomeren H 2 P—P (PH 2 )—*PH—*PH—PH 2 (zwei diastereomere Enantiomerenpaare) sowie H 2 P—*PH—*P(PH 2 )—*PH—PH (vgl- n-Pentaphosphan (7)) jeweils 4 Stereoisomere und vom doppelt-verzweigten Isomeren H 2 P—P(PH 2 )—P(PH 2 )—PH 2 keine Stereoisomeren erwartet (Isomerenzahl insgesamt: 10 + 4 + 4 + 1 = 19). Tatsächlich entstehen im Zuge der P 2 H 4 - oder P 3 H 5 -Thermolyse immer Isomerengemische einzelner Phosphane P„H„ + 2, wobei jedoch mit wachsendem n die Menge weniger verzweigter zugunsten stärker verzweigter Isomerere abnimmt und schließlich unmessbar klein wird. So konnten zwar von P 5 H 7 noch alle Isomeren aufgefunden werden, aber von dem oben erwähnten Phosphan P 6 H S bisher nur Isomere mit verzweigter P 6 -Kette und von Heptaphosphan(9) P 7 H 9 nur noch die beiden Diastereomeren eines der Isomeren mit maximal-verzweigter P 7 -Kette, nämlich H 2 P—*P(PH 2 )—*P(PH 2 )—*PH—PH (das ebenfalls doppelt verzweigte P 7 H 9 -Isomere H P — * P ( P H 2 ) — * P H — * P ( P H 2 ) — P H entsteht wohl nur in nicht nachweisbarer Menge, wurde aber als Lithiumsalz LiP 7 H s nachgewiesen (vgl. Formel (a) auf S. 765). Offensichtlich werden hiernach P„H„ + 2 Tsomere, die mindestens sechs P-Atome in geradliniger Kette enthalten (z.B. n-P 6 H 8 oder 2-P7H9 = H 2 P—P(PH 2 )—PH—PH—PH—PH) rasch unter PH-Eliminierung in Cyclopentaphosphane umgewandelt (s. oben thermodynamische Bevorzugung der Bildung verzweigter Phosphane). Unter Berücksichtigung des Sachverhalts, dass nur Isomeren mit höchstens fünf P-Atomen in geradliniger Kette eine gewisse Lebensdauer zukommt, erwartet man für nachgewiesenes Octaphosphan(lO) P 8 H J 0 zwei achirale Konstitutionsisomere (a), für nachgewiesenes Nonaphosphan(ll) PoH,, zwei Konfigurationsisomere (b) und für bisher nicht nachgewiesenes Decaphosphan(l2) P I O H J 2 nur eine achirale Verbindung mit der Konstitution (c) (letztere Phosphane stellen PH-Derivate von 2-P 4 H 6 dar). Höhere acyclische Phosphane sind - bei Gültigkeit der 5-P-Atome-Regel - nicht denkbar. Bezüglich möglicher Konformerer der acyclischen Phosphane vgl. S. 741. ,H H, P —P I HO P
H, P ,
"P-PHO I PH,
H-P HO P
HO P„
,PHO P —H I PH,
"P-PHo I PH,
HO P — P I HO P
,PHO
H
H
HO P —P I HO P
HO P«
P— PHO I PH,
HO P —P I HO P
(b) P9H1
(a) PsHi,
-PH, " P - PH, I PH,
(c) P10H1
und Pentaphosphane spricht zudem für eine kinetische Bevorzugung der Bildung verzweigter Phosphane. So ist die Weiterreaktion des auf dem Wege Diphosphan -> Tetraphosphan zwischendurch gebildeten Triphosphans PH PH in -P durch Substitution eines von 4H-Atomen der PH -Gruppen gemäß (1a), in 2-P4H6 durch Substitution nur eines H-Atoms gemäß (1b) möglich: H
H
I
I
hH 2 P - PH 2
I
- PHo
H H n n -P44 H, 6
I (a)
H
H
+H 2 P - PH 2
- PH,
P'
I
H.
H
I H P3H 5
(b)
'
-pI
-pI
(1)
H H i-P44Hn 6
Bei gleicher Substitutionsgeschwindigkeit sollten hiernach n- und 2-P4H6 im Molverhältnis 4: 1 entstehen (gefundenes Verhältnis 2: 1). Die PH-Eliminierung erfolgt hiernach mit H-Atomen sekundärer P-Atome (1b) rascher als mit H-Atomen primärer P-Atome (1a). Das Isomerenverhältnis wird allerdings auch durch den PH-Lieferanten beeinflusst. So ist der Anteil an 2P4H6 in P3H5-Thermolysaten (P 3 H 5 anstelle von P 2 H 4 als PH-Überträger auf P 3 H 5 ) stets kleiner als in P 2 H 4 -Thermolysaten. Derivate Von den acyclischen Phosphanen sind sowohl einige anorganische Derivate (z. B. P 2 Hal 4 ,2-P 4 F 6 (S. 779); PH(PHNH 2 ) 2 ) sowie organische Derivate (z.B. R 2 P—PH—PR 2 RHP—PR—PHR, RHP—PR—PR—PHR, P(PH'Bu) 3 , ('Bu 2 P) 2 P—P(P'Bu 2 ) 2 ) bekannt. Die partiell organosubstituierten acyclischen Phosphane sind thermostabiler als die Grundkörper, insbesondere wenn die Phosphorkette raumerfüllende Substituenten wie die tert-Butylgruppe ('Bu = CMe 3 ) trägt. Strukturen der Organylphosphane lieferen wertvolle Einsichten in Konstitution, Konfiguration und Konformation der betreffenden nicht isolierbaren Grundkörper. Allerdings wird die Konfiguration und Konformation existierender Isomerer mit wachsender Sperrigkeit der Organylsubstituenten in zunehmendem Maße durch sterische Einflüsse bestimmt. So beobachtet man eine Bevorzugung der trans-Konformation sperriger benachbarter Gruppen anstelle der gauche-Konformation benachbarter freier Elektronenpaare (S. 770, 773). Auch wandelt sich das im Zuge seiner Synthese als symmetrisches Diastereomeres gebildete -Tetraphosphan P ( P H B u ) 3 (gleich konfigurierte chirale-PHBu-Gruppen) bereits bei - 78 °C langsam in ein 1 : 3 Gleichgewichtsgemisch von symmetrischen and asymmetrischen Diastereomeren um (zwei PH Bu-Gruppen
768
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
gleichkonfiguriert, eine — PHHBu-Gruppe spiegelbildlich konfiguriert). Interessanterweise lassen sich die Konstitutionsisomeren H 3 P—PH sowie H 3 P — P — P H des Di- und Triphosphans H P — P H sowie H 2 P — P H — P H nach Ersatz aller H-Atome durch andere Gruppen isolieren: R 3 P—PR sowie R 3 P—P—PR 2 (z. B. «Bu2P—P—P«Bu2 + Hal 2 «Bu2HalP—P—P«Bu2 + H a P ; «Bu2P—P—P«Bu2~ + RHal B PR B B RP B Hal ). Thermisch oder photochemisch zersetzen sich die Verbindungen R 3 P—P—PR in R 3 P und (R2P)„P„.
2.2.3
Cyclische gesättigte Phosphane
Monocyclische Phosphane PnH„ Mit Ausnahme von P5H5 konnten bisher monocyclische Phosphane P„H„ (bekannt mit n = 3 — 10) nur in Phosphangemischen nachgewiesen werden Cyclotriphosphan(3) P3H3 ließ sich aus den oben erwähnten Phosphangemischen gaschromatographisch in kleinen durch Spuren anderer Phosphane verunreinigten - Mengen als thermolabile, rasch in P5H5 übergehende Verbindung mit cis,trans-Konfiguration der HAtome isolieren Cyclotetraphosphan(4) P4H4 soll bei der Elektrolyse von weißem Phosphor in Essigsäure neben anderen Phosphanen entstehen und ist - laut ab-initio Berechnungen - planar gebaut Cyclopentaphosphan(5) P5H5 wird durch thermische Zersetzung von Phosphangemischen mit einem hohen Gehalt an P3H5 und P4H6 bei — 20 °C im ziehenden Hochvakuum als Hauptprodukt neben kleinen Anteilen des Phosphans P6H6 erhalten, wobei letztere Verbindung strukturell kein Cyclohexaphosphan(6) mit Sesselkonformation, sondern - energetisch vor cyclo-P6H6 bevorzugtes - konstitutionsisomeres Phosphanylcyclopentaphosphan¥flA—PH darstellt. Durch Extraktion mit aromatischen Kohlenwasserstoffen und anschließender Entfernung ebenfalls gelöster flüchtiger Hydride im Vakuum kann Cyclopentaphosphan, welches halbsesselförmig (bzw. twistartig) gebaut und fluktuierend (S. 760) ist, in Form einer praktisch reinen verdünnten, relativ beständigen Lösung erhalten werden (letztere ist zudem - in undurchsichtiger Weise - durch Methanolyse des Cyclotetraphosphans P4(SiMe3)4 gewinnbar). H
H 'H
1
i
I P3H3
Cyclotriphosphan(3) Triphosphiran
H
H
A P
4
H
H
P^
4
Cyclotetraphosphan(4) Tetraphosphetan
H I
i" P5H5
Cyclopentaphosphan(5) Pentaphopholan
H P \
.P^u
« P6Hs
Cyclohexaphosphan(6) Hexaphosphinan
Während der pH 5 -Ring weitestgehend spannungsfrei ist, betragen die berechneten Ringspannungsenergien für P3H3/P4H4/P6H6 ca. 28/18/> 0 kJ/mol (zum Vergleich: C3H6/C4H8/C6H12 ca. 110/110/0 kJ/mol; S3/S4/S5/S6/S7/S8 ca. 93/84/58/24/21/0 kJ/mol). Der P3-Ring in P3H3 wird zusätzlich durch eine nichtklassische Mehrzentrenbindung stabilisiert (Entsprechendes gilt für die -Ringe des weißen Phosphors), während der P4-Ring in P4H4 eine Destabilisierung erfährt, falls er nicht all-trans konfiguriert ist (vgl. bicyclische Phosphane). Die PP-Bindungsahstände sind in P4H4 und hypothetischem P6H6 alle gleich und entsprechen PP-Einfachbindungen (2.21 Ä), während die PP-Bindung in P3H3 und P5H5 mit cis-ständigen H-Atomen geringfügig verlängert ist Die nachgewiesenen Cyclooligophosphane P„H„ mit n> 5 besitzen offensichtlich wie P6H6 Phosphanylseitenketten. Unter Berücksichtigung der e r w ä h n t e t - P - A tom-Regel kann P5H5 maximal fünf PH2-Substituenten unter Bildung von P5(PH2)5 = P10H10 aufnehmen. Hiernach sind monocyclische Phosphane P„H mit 10 nicht denkbar Was die Bildung von (Hydrogen-)Cyclophosphiden betrifft, so wurde das Cyclopentaphosphid LiP5H4 bereits auf S. 765 angesprochen. Es ist in Lösung bei tiefen Temperatur aus P2H4 und LiBu rein erhältlich und disproportioniert oberhalb — 30 °C gemäß 2LiP5H4 -> Li2HP7 + P2H4 + P H (möglicherweise verläuft die Reaktion über das Phosphid Li2P5H3, welches sich wohl in das Cyclotriphosphanderivat P3H(PHLi)2 mit weiter voneinander entfernten negativen Ladungen umlagert). Hingewiesen sei in diesem Zusam menhang auf die vollständig deprotonierten Cyclophosphide (S. 756), P4~ (S. 756) sowie Komplexe mit -, -, -, und -Ringen (S. 752). Derivate Röntgenstrukturanalytisch aufgeklärte organische und anorganische Derivate PnRn (n = 3, 4, 5; R = Alkyl, Phenyl, Fluorphenyl, Silyl; n = 6: R = Phenyl, Cl, Br) der Cyclophosphane P„H bilden sich durch Enthalogenierung von RPC12 mit Li, Na, Mg, LiH (Strukturen analog P„H„; raumerfüllende und elektronegative Reste R führen zu einer Faltung des in P4H4 planaren P4-Rings). Unter ihnen sind die Cyclopentaphosphane ¥SRS relativ am stabilsten. Cyclophosphane anderer Ringgröße wandeln sich
2. Der Phosphor
769
infolgedessen in diese um, wobei die Umwandlungsgeschwindigkeit mit der Raumerfüllung von R (H < Me < Et < iPi< iBu) sinkt. Sehr sperrige Substituenten führen andererseits zu einer Destabilisierung der P5-Ringe und Stabilisierung kleinerer Ringe. Von Interesse im Zusammenhang mit Komplexen der Cyclophosphane ist die Verbindung Ni(PiBu) 6 , in welcher das Cyclohexaphosphan P6iBu6 Nickel hexagonal-planar umgibt
Bicyclische Phosphane P„Hn_2 Aus der Gruppe der bicyclischen Phosphane P„H„_2 (bekannt mit n = 4 — 12) ließ sich bisher keine Verbindung aus den oben genannten Phosphangemischen in Reinsubstanz isolieren. Sie gehen strukturell wie die Formeln (a) - (g) belegen - aus einer Anellierung 65 von P3-, P4- und P 5 -Ringen hervor (eine Ringverknüpfung über eine PP-Bindung ist nicht bevorzugt). So stellen schmetterlingsförmiges Bicyclotetraphosphan(2) P4H2 (a), halbsesselförmiges Bicyclopentaphosphan(3) P5H3 (b) und sesselförmiges Bicyclohexaphosphan(4) P6H4 (c) Kombinationen von cyclischem P3H3 mit cyclischem P3H3, P4H4 bzw. P5H5 dar, wobei die Stellung der P 3 -ringgebundenen H-Atome im ersten Fall exo,exo bzw. exo,endo bzw. endo,endo, im zweiten und dritten Fall exo bzw. endo sein kann (wiedergegeben ist jeweils die energiegünstigere exo-Konfiguration). Das wannenförmig gebaute P6H4 (c') ist energiereicher und existiert allenfalls in kleiner Gleichgewichtskonzentration neben sesselförmig gebautem (c). Energetisch we niger begünstigt ist die Anellierung von cyclischem P4H4 mit cyclischem P3H3, P4H4 und P5H5, da die P4-Ringe in den betreffenden Bicyclen nicht die bevorzugte all-trans-Konfiguration einnehmen können. Demgemäß sind P6H4 und P 7 H 5 nicht gemäß (d) und (e), sondern gemäß (c) und (f) gebaut. Energetisch besonders begünstigt ist die Anellierung zweier -Ringe über zwei oder drei gemeinsame P-Atome unter Bildung von Bicycloheptaphosphan(5) P,H5 (f) mit Norbornan-Gerüst6 5 sowie Bicyclooctaphosphan(6) PSH6 (g) mit Pentalen-Gerüst (in letzterem Falle sind Strukturen mit exo,endo- oder endo,endoGerüsten (g') energiereicher und existieren höchstens in kleinen Gleichgewichtskonzentrationen neben exo,exo-P8H6). Höhere BicyclophosphaneP^ln_2(n = 9 — 12) leiten sich wohl von den erwähnten Phosphanen durch Substitution von H-Atomen gegen Phosphanyl-Gruppen ab
p
H
(a) P 4 H 2
\
n H ( c ) P6H4
H (c) P 6 H 4
(b) P 5 H 3
P
T?
P ^ Pp' HhX\ P
H N h
(e) P 7 H 5
J R ^p^
^
P ^ h
P ^ P
B X h
(f) P 7 H 5 (Norbornan-Gerüst)
P
über:
H
. ^ P r
(d) P 6 H 4
H
ennuoex^endo-
/^ k ^ / ^ L — P ^
H
H
(g) exo, exo-P8H6
V H
p
P:/ H^ H'
/ H
VP r
N
H
H
(g ) endo, endo- P 8 H 6 (Pentalen-Gerüst)
Was die Bildung von (Hydrogen-)Bicyclophosphiden betrifft, so wurden die Bicyclopentaposphide LiP7H4 und LiP 7 H 3 —PH bereits auf S. 765 angesprochen. Sie sind in Lösung bei tiefen Temperaturen metastabil und gehen bei höheren Temperaturen in Anwesenheit von LiBu in LiP5H4 über. Die Bicyclotetraphosphide M j P 4 H (M1 = Li, Na, K) bilden sich in guter Ausbeute durch Reaktion des weißen Phosphors mit Naphthaleniden M 1 C10H8 in Dimethoxyethylen MeOCH 2 CH 2 OMe bei tiefen Temperaturen als Deprotonierungsprodukte von P4H2 (a) mit endo-H-Konfiguration. Bei Raumtemperatur zerfallen die gelösten Phosphanide hauptsächlich in M2P16 (S. 757). Derivate Von allen aufgeführten Bicyclophosphanen (a) - (g), ausgenommen (e), existieren organische - und zum Teil auch anorganische - röntgenstrukturanalytisch aufgeklärte Derivate PnR„_2. Sie bilden sich gezielt durch Metathese aus bicyclischen Phosphiden und RHal sowie ungezielt durch Thermolyse von Phosphanen PnR„+m sowie Enthalogenierungen von Halogenophosphanen RPC12 bzw. RPC12/PC13 bzw. PClj/P^R,, bzw. RPC12/P4 mit Mg, Li, Na, LiH. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang eine
65 Abkürzungen Anellierung von lat. anellus = kleiner Ring steht für Kombinationen von Ringen aus Elementatomen über gemeinsame Atome nor (Herkunft unbekannt) steht für Fehlen einer CH 2 - oder isoelektronischen (z. B. PH) G r u p p e homo von griech. homos = gemeinsam, gleichartig steht für Hinzufügen einer CH 2 - oder isoelektronischen Gruppe; Me, E t iPr, Bu, i'Bu, (Bu, cHex, Ph stehen für Methyl CH 3 , Ethyl Cfi5, iso-Propyl C H M „ Butyl C 4 H 9 , iso-Butyl CH 3 CH 2 CHMe, tert-Butyl CMe 3 , cyclo-HexylC6H11, Phenyl C6H5; Cp* = C5Me5; M e ^ = 2,4,6-(Bu 3 C 6 H 2 .
770
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Überführung von P4 in P4Mesf gemäß: P4 + LiMes* LiP4Mes*;LiP4Mes* + Mes*Br P4Mesf + LiBr 65 . Hergestellt wurde etwa P4R2 (Derivat von (a)) mit R = N(SiMe3)2, Cp*, Mes* bzw. P4HR mit R = SnMe3, SnPh3, Sn(cHex)3; P5R3 (b) mit R = Si/Bu3; P6R4 (c) mit R = iPr, tBu, Cp*; P7R5 (f) und P8R6 mit R = Me, Et, /Pr65 Sperrigere Substituenten führen andererseits zu einer Destabilisierung der P5- und Stabilisierung der P4- und P3-Ringe, welche dann zudem auch über einzelne PP-Bindungen miteinander verknüpft sein können. Als Beispiele seien genannt P6fßu4 (es existiert auch ein Konstitutionsisomeres mit P6H4-Gerüst (c)), P7fßu5, P8*Bu6 und P9fßu7 (die Struktur von P9H7 ist noch unbekannt).
Oligocyclische (käfigartige) Phosphane P n H n + m Oligocyclische Phosphane PnHn+m (m = — 4, — 6, ....) lassen sich wie die mono- und bicyclischen Phosphane PnHn und P n H n— durch Thermolyse von Diphosphan oder Gemischen niedriger Phosphane darstellen (S.765). Als weitere Methode der Erzeugung bietet sich die Protolyse von (Hydrogen-)Oligophosphiden (S.755, 765) oder geeigneten Oligophosphanderivaten an. Mit der Protolyse ist allerdings häufig eine Zersetzung der thermo- und baselabilen (Hydrogen-)Oligophosphide verbunden. Bisher ließ sich aus der Gruppe der oligocyclischen Phosphane nur P7H3 isolieren (s.u.), andere Verbindungsbeispiele jedoch in Gemischen nachweisen Die Klärung der Strukturen vieler Phosphane auf direktem Wege ist aus dem auf S. 759 erwähnten Gründen sehr erschwert oder bisher noch nicht möglich. Strukturuntersuchungen an Metallphosphiden Mn+mPm (S. 755) sowie an Phosphanderivaten^Rn+m (S. 767, 770, 773) mit mono-, di- bzw. oligocyclischen Pn-Gerüsten eröffnen jedoch die Möglichkeit zu experimentell fundierten Strukturaussagen auch für die zugrunde liegenden Phosphane PnHn+m. Nach bisherigen Erkenntnissen besteht für die Mehrzahl letzterer Phosphane eine enge Verwandtschaft ihrer Pn-Gerüste. Dem Bau dieser Gerüste liegen folgende Strukturprinzipien zugrunde: (i) Das dominierende Strukturelement in den mono-, bi- und oligocyclischen Phosphanen ist der energetisch vor P„-Ringen anderer Größe - bevorzugte P5-Ring. Aufgrund besonderer Spannungsverhältnisse können auch P3- und P6-Ringe (ca. 30 kJ/mol mehr Spannungsenergie als der P5-Ring) auftreten66. P4- und P7-Ringe (erheblich höhere Ringspannung in oligocyclischen Phosphanen) spielen nur eine untergeordnete Rolle (ii) Die bevorzugte Verknüpfung von Pn-Ringen besteht in der - zu Pn-Käfigen führenden - Anellierung über zwei oder auch drei P-Atome (eine zu Pn-Bändern oder -Schichten führende Verknüpfung der Ringe über PP-Bindungen ist nicht bevorzugt). (iii) Die begünstigte Veränderung bzw. Erweiterung offener und geschlossener Pn-Gerüste erfolgt durch intermolekulare Atomverknüpfung bzw. durch Angliederung von ^PH- oder — PH—PH—-Einheiten an die P-Gerüste oligocyclischer Phosphane unter Bildung neuer P5-Ringe. (iv) Phosphane PnHn+m enthalten bei steigender Zahl von P-Atomen in zunehmendem Maße conjunctoPhosphangerüste, d. h. sie bauen sich aus käfigartigen Phosphanen des oben besprochenen Typus auf, die durch intermolekulare Atomverknüpfung oder (häufiger) über zwei gemeinsame P-Atome miteinander verknüpft sind. Nachfolgend werden die oligocyclischen Phosphane PnHn+m (m = — 4, — 6, — 8, — 10)
66 Durch Mehrfach-Anellierung von P 5 -Ringen kann sich eine erhebliche Spannungsenergie aufbauen, die gegebenenfalls durch zusätzlichen Einbau von P 3 - und/oder P 6 -Ringen in das Gerüst kondensierter P5--Ringe oder durch Umorganisation des P5--Ringgerüstes in ein Gerüst kondensierter P 3 - oder P 6 -Ringe gemindert wird. Beispielsweise liegen dem polymeren Phosphor in seiner thermodynamisch stabilsten Form (schwarzer Phosphor) anellierte P6--Ringe zugrunde, während die P5--Ringe enthaltende Form (violetter Phosphor) instabiler ist. Auch baut sich die niedermolekulare (thermodynamisch instabilste) Form des Phosphors (weißer Phosphor) nicht aus anellierten P 5 -, sondern P 3 -Ringen auf (vgl. S. 753). Schließlich lässt sich der P 6 -Ring des Cyclohexaphosphans, das normalerweise nur als energieärmeres Phosphanylcyclopentaphosphan P 5 H 4 — P H existiert, durch Überbrückung mit einer PH-Gruppe stabilisieren, vgl. P 7 H 5 (f).
2. Der Phosphor
771
der Reihe nach und anschließend die conjuncto-Phosphane behandelt, wobei die Konfigurationsisomeren mit unterschiedlicher Anordnung der H-Bindungen nicht besprochen werden Tricyclische Phosphane P„H„_4 (bekannt mit n = 5-13). Die dehydrierende PP-Verknüpfung oder die Erweiterung durch PH- bzw. P 2 H 2 -Gruppen führt etwa, ausgehend von P4H2 (a), zu weißem Phosphor P4, (S. 746), zu energetisch ungünstigerem PSH (h) sowie zu energetisch günstigerem P6H2 (i). Auch erhält man, ausgehend von P7H5 (f) bzw. P8H6 (g'), nach intramolekularer PP-Atomknüpfung die Tricyclophosphane P,H 3 (j) mit Nortricycloan-Gerüst (s. oben) bzw. PSH4 (k) mit Bisnoradamantan-Gerüst, des weiteren nach Erweiterung um eine PH-Gruppe das P 8 H 4 -Isomere (k') bzw. das Phosphan P 9 H 5 (l) und nach Erweiterung um eine pH 2 -Gruppe das P 9 H 5 -Isomere (1'). P10H6 (m) ist ein Produkt der Anellierung von P7H5 (f) mit dem Cyclus P 5 H 5 und damit bereits ein conjuncto-Phosphan. Das Phosphan P8H4 (k) enthält (wie übrigens auch P^Hj, s. unten) einen P^-Atomkäfig, der nur aus anellierten P5-Ringen besteht. Ein entsprechendes, nur aus anellierten P 6 -Ringen bestehendes Phosphan P10H6 (m') mit Adamantan-Gerüst, das aus P 9 H 5 (l) durch Eingliederung einer PH-Gruppe hervorgeht, ist unbekannt. Die in P6H2 (i), P7H3 (j), P8H6 (k) und P9H3 (l) vorliegende weniger hevorzugte Anellierung von P3- und P6 mit P 5 -Ringen wird durch die käfigartigen P^-Strukturen begünstigt. 66 Konstitutionsisomere oligocyclischer Phosphane treten bei vergleichbarem Energiegehalt der P n -Gerüste auf; in den erwähnten Fällen ist (k) und (l) etwas energiereicher als (k') und (1'). (Hydrogen-)Tricyclophosphide sind bisher nur mit dem P 7 -Gerüst (j) bekannt (s. oben). H P
H HP
/
PH
HF
\
\
PH
,PH HP
>
V
H
,PH
HP
/ ^ P H
\
HP' (h) P 5 H
(j) P7H3 (Nortricyclan)
(i) P6H2
(k) P 8 H 4 (Bisnoradamantan)
(k') P8H4 (Homonorbornan) H
H
-PH P
tPH
IP H HP
X
P
/
\
PH \
HP'
HP \
PH
-P H
HP'
„PH
/P H
/
PH
HP
? PH
HP'' PH
(l) P9H 5 (Noradamantan)
(m) P10H6
(l') P9H 5 (Brexan)
(m') P10H6 (Adamantan)
Zur Darstellung von Heptaphosphan(3) P,H 3 (j), des einzigen bisher in Substanz isolierten Tricyclophosphans führt man das im Sinne von 7P 4 + 12Na 3P 4 + 6LiPH 2
(Solvens
> 4Na 3 P 7
9P 2 H 4 + 3LiPH 2
>2Li 3 P 7 + 4 P H 3
9P 2 H 4 + 3LiBu
—20
° ' Li 3 P 7 + 14PH 3
(Solvens) —20
° > Li 3 P 7 + 11PH 3 + 3BuH
(Solvens
gewinnbare Phosphid M^P 7 ( S o l v e n z MeOCH 2 CH 2 OMe) mit Me 3 SiCl gemäß M^P 7 + 3Me 3 SiCl P7 (SiMe 3 ) 3 + 3 M'Cl in das Trimethylsilyl-Derivat über und behandelt letzteres schonend mit Methanol: P 7 (SiMe 3 ) 3 + 3MeOH P 7 H 3 + 3Me 3 SiOMe. Der - auch im Zuge der P 2 H 4 -Thermolyse (S. 765) erh ä l t l i c h e Phosphorwasserstoff P 7 H 3 (2 Konfigurationsisomeremit gleich- oder gegengerichteten P—HBindungen; vgl. S. 760) fällt als hellgelber, in allen organischen Lösungsmitteln unlöslicher, bei ca. 60 °C sublimierbarer, sich ab ca. 300 °C zersetzender, einigermaßen luftstabiler und bei längerem Einwirken von Wasser in verschiedene Phosphorsäuren übergehender Festkörper an Durch starke Basen wie LiBu oder LiPH 2 lässt sich P 7 H 3 unter Bildung von (Hydrido-)Heptaphosphiden teilweise oder vollständig deprotonieren: P 7 H 3 + nLiPH 2 -> Li„P 7 H 3 _„ + n P H 3 (LiP 7 H 2 und Li 2 P 7 H: hellorangefarhen; gewinnbar auch aus P 7 H 3 + Li 3 P 7 bzw. Li 3 P 7 + Säure bzw. P 2 H 4 + BuLi). Dilithiumhydrogenheptaphosphid Li 2 P 7 H und Lithiumdihydrogenheptaphosphid LiP 7 H 2 zersetzen sich bei Raumtemperatur u.a. unter Bildung der Phosphide Li 2 P 16 , Li 3 P 21 und Li 4 P 26 (Struktur vgl. Formeln (h), (i) auf S. 757). Wie aus 31 P-NMR-spektroskopischen Untersuchungen des Heptaphosphid-TrianionsV 7 in Lösung folgt, ordnen sich bei Raumtemperatur die P—P-Bindungen des P 7 r-Ions unter gleichzeitiger
772
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Wanderung der negativen Ladung und damit die den P 7 -Käfig bildenden, miteinander kondensierten Phosphorringe (ein Dreiring, drei Fünfringe) rasch um, z.B.:
Insgesamt existieren 1680 Tautomere des nicht-starren (fluktuierenden) P 7 "-Ions, die sich in keiner Eigenschaft außer in der Numerierung der P-Atome unterscheiden. Die Aktivierungsenthalpie AH + des allgemein als „Valenztautomerie" bezeichneten Umordnungsprozesses beträgt ca. 60 kJ/mol (vgl. hierzu auch die Cope-Umlagerung und die Valenztautomerie des Bullvalens C 1 0 H 1 0 , Lehrbücher der Organischen Chemie). Valenztautomerie beobachtet man auch im Falle von P 7 H°" (2 Tautomere), nicht jedoch + im Falle von und 4 P P 7 H 2 ließ sich isolieren). Höhercyclische Phosphane PnHn+m (m = — 6, — 8, ...). Die Angliederung einer P 2 H 2 -Gruppe an P7H3 (j), P8H4 (k) und P9H5 (l) führt zu tetracyclischen Phosphanen P„H„_6 (bekannt mit n = 7-13), nämlich zu P9H3 (n) mit Deltacyclan-Gerüst, P10H4 (o) sowie P n H 5 (p) (P9H3 folgt auch aus P9H5 (1') durch Knüpfung einer PP-Bindung). Das Phosphan P n H 3 (r) mit einem Ufosan-Gerüst aus der Gruppe der pentacyclischen Phosphane P„H„_8 (bekannt mit « = 1^—17) lässt sich aus den Phosphanen P7H5 (f) durch Angliederung von zwei miteinander zu einer HPPPPH-Kette verknüpften P 2 H 2 -Gruppen herleiten (bzgl. einer anderen P n H 3 -Strukturdeutung vgl. P3f auf S. 756). P n H 3 lässt sich in Form von (Hydrogen-)Decaphosphiden M^P11 und (^N + ) 2 HP 1 " 1 isolieren. Die zur gleichen homologen Phosphangruppe PnHn—8 zu zählenden Verbindungen P12H4 (s) und P13H5 (t) leiten sich von P8H4 (k) und P9H5 (l) durch Angliederung zweier P 2 H 2 -Gruppen a b P14H6 (u) ist ein Produkt der Anellierung von P n H 5 (p) mit dem Cyclus P5H5 und damit eigentlich den conjuncto-Phosphanen (s. u.) zuzurechnen. Weitere (höhere) Phosphane P ^ ^ mit m = — 6, — 8 stellen wohl Phosphan-Substitutionsprodukte der besprochenen Spezies dar (z. B. P12H6 fc')) oder sind den nun zu behandelnden conjuncto-Phosphanen (ebenfalls z. B. P12H6) zuzurechnen. H
\
r
p
/PH
PH
HP
(n) P9H3 (Deltacyclan)
X
PH P^ P / \ / P ^ PH
\ HP
^PH^P —P
(r) P11H3 (Ufosan)
P
/ PHo PH
HPv
s / PH
(p) P11H5
(O) P10H4
(P') P12H6
H
PH
A-, "P\
v
f vf p^
P
;PH
H
^ P
P HP HP
l\
r
\
l-l P ^ (s) P12H4
PH
PH
/\
PH
HP-
/
PH
HP-""
PH (t) P13H5
HR
P
\
-PH H
(U) Pi4H 6
Conjuncto-Phosphane Hierzu kann man - wie erwähnt - die tri-, tetra- und pentacyclischen Phosphane P10H6 (m), P12H6 (Anellierung von P9H5 (i) mit cyclo-P5H5) und P14H6 (n) rechnen. Das zur Gruppe der ,,hexacyclischen Phosphane" PnHn—10 (bekannt mit « = 12-20) zu zählende Phosphan P14H4 (v) stellt strukturell eine Verknüpfung zweier Moleküle P7H5 (f) über drei PP-Einfachbindungen dar (es ließe sich auch vom bisher unbekannten Phosphan P10H4 durch Anellierung zweier P 2 H 2 -Gruppen herleiten). Es existiert offensichtlich auch eine isomere P14H4-Form, der das auf S. 765 wiedergegebene H 2 P^-Gerüst zugrunde liegt (Anellierung von P7H5 (f) mit P9H3 (n)). Ein Beispiel für ein ,,heptacyclisches Phosphan" P„Hn—12 (bekannt mit « = 13-20) ist die Verbindung P18H6 (Anellierung von P n H 5 (p) mit P9H5 0')), Beispiele für ,,octacyclische Phosphane" PnHn_ 14 (bekannt mit « = 1^—21) sind die Verbindungen P16H2 (Anellierung zweier Moleküle P9H3 (n); vgl. P2^ auf S. 757), P18H4 (x) (Anellierung von P n H 5 (p) und P9H3 (n)) und P20H6 (y, y') (Anellierung von P n H 5 (p) mit P9H5 (i) bzw. zweier Moleküle P9H3 (n)), ein Beispiel für ein ,,nonacyclisches Phosphan" VnH„—16 (bekannt mit « = 17-22) ist die Verbindung P19H3
2. Der Phosphor
773»
(vgl. Struktur des Ions Pl9 auf S. 757), ein Beispiel für ein „decacyclisches Phosphan" P„H„_18 (bekannt mit n = 19-22) die Verbindung P21H3 (vgl. Struktur des Ions P2f auf S. 757). H
H
H
H
A P"
PH PH \
/^.P.
PlP
/
HP.
/P—PH
\
P.P
P /
( w )
H
/ HP
P I
8
H
6
( m =
P P (x) Pi8H 4 (m = - 1 4 )
H
P,
.
- 1 2 )
H
P"
/
P/
H
A
"P H
\
PH
^PH
(v) P 1 4 H 4 (m = -10)
HP' / / HP
„P
|P H HP^
HP
P_-P
,PH
PH (y ) P 2 OH 6 (m = - 1 4 )
(y) P 2 o H 6 (m = - 1 4 )
Derivate Organische Derivate P„Rn+m (m = — 4, — 6 . . . ) wurden von allen oben aufgeführten Phosphanen isoliert und röntgenstrukturanalytisch geklärt oder in Produktgemischen nachgewiesen (bzgl. P5R vgl. P 5 Hal^, S.780). Ihre Darstellung erfolgt nach den im Zusammenhang mit den cyclischen Phosphanen diskutierten Methoden (s. oben). Bekannt sind insbesondere Verbindungen mit R = Me, Et (in vielen Fällen) und R = ;Pr (in fast allen Fällen; von P6H2 ist nur das Derivat P6Cp* synthetisiert worden 6 6 Besonders viele Derivate kennt man von P7H3 (j): R z. B. Me, E t *Pr, Bu ®u, EMe3 und EPh3 mit E = Si, Ge, Sn, SkBu3, EiBu2 mit E = P, As, Sb. Die oligocyclischen Organylphosphane P„R„+m weisen in den einzelnen Verbindungsklassen (n, m = konstant) bei Variation von R im Bereich weniger sperriger Alkylgruppen (Me, E t *Pr) gleiche Phosphorgerüste auf. Infolgedessen kann ein Strukturwechsel auch bei Ersatz von R durch Wasserstoff ausgeschlossen werden Sperrige Substituenten führen andererseits zur Stabilisierung ungewöhnlicher Strukturen, sodass Phosphane P„R„+m mit R = iBu vielfach (aber nicht immer) andere als die Pn+m-Gerüststrukturen aufweisen (vgl. hierzu etwa das P3- und P4-Ringe enthaltende P 1 0 / B U 6 sowie das einen P7-Ring enthaltende P 1 ^ ^ U 5 ) .
JL / p^PR
RP—p
RP
|np-pr P P-P
p—pP PrPR
RP^P
/
R
V z1 V > R P
RP
R
R
Rp-pR P I O
t Bu s
P111 Bu 5
Nur am Rande sei bemerkt, dass sich die P-Atome der oligocyclischen Organophosphane wie die von Monophosphanenmit dreibindigem Phosphor oxidativ angreifen lassen: ^P: + lA 0 2 bzw. '/8S8 -> ^P—O bzw. ^P—S (z. B. Bildung von P6«Bu4O, P7«Bu5O, P8«Bu6O, P3«Bu3S). Die Labilität gegenüber Luftsauerstoff nimmt mit steigendem P-Gehalt der Verbindungen und zunehmender Raumerfüllung der P-Gruppe ab
2.2.4
Ungesättigte Phosphane (Phosphene)
Konstitutionsisomer mit monocyclischen gesättigten Phosphanen sind acyclische ungesättigte Phosphane (,,Phosphene"), konstitutionsisomer mit bicyclischen gesättigten Phosphanen monocyclische ungesättigte Phosphane (,,Cyclophosphene") oder acyclische doppelt-ungesättigte Phosphane (,,Phosphdiene") usw., wie nachfolgende Beispiele lehren
• 774
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
A
H HP
iH+
"PH
"(a) [P 3 H 2 ]""
Ä HP—PH
HP—PH 2
(a) P3H3
(a'') P3H3
(c) [ P 3 ] "
\ PH
+2H+
HP =
/ \ P= P
P=P
V V
(c'') P 3 H
I
I
/ H,P
H
H
+ H+
W p _ p //
P (d') P 5 H
(d) [P 5 ] -
\ PH,
(b") P4H4
(b') P4H4
L P—P _
(c') P 3 H
P=P
HP—PH HP—PH
"(b) [P4H 2 ]""
H P
+ H+ P= P = P
P=P / HP
(d")P5H
In jedem Falle sind die gesättigten Phosphane (a', b', c', d') energieärmer als die entsprechenden ungesättigten (a", b", c", d"), sodass nur erstere Verbindungen unter normalen Bedingungen existieren und Phosphene (z. B. H P = P H , H P (c')) höchstens als reaktive Intermediate nachweisbar oder in der Tieftemperaturmatrix isolierbar sind. Mit der Deprotonierung der betreffenden cyclischen Verbindungen (-> ,,Phosphenide") werden allerdings die ungesättigten Phosphanformen (a, b, c, d) energetisch stabiler und lassen sich dann gegebenenfalls sogar isolieren. Auch nach Ersatz von H-Atomen gegen raumerfüllende organische Reste werden Phosphene ,,metastabiler" und lassen sich gegebenenfalls in Substanz isolieren. Nachfolgend sei zunächst auf Pentaphosphorcyclopentadienid, dann auf einige Phosphenid- und Diphosphenderivate eingegangen Pentaphosphorcyclopentadienid (Pentaphospholid) p (d; D 5h -Symmetrie) lässt sich in Form von verdünnten M'Pj-Lösungen gewinnen. Salze M'Pj bilden sich etwa bei der Einwirkung von Natrium in siedendem Diglyme ( = MeOCH 2 CH 2 OCH 2 CH 2 OMe) bzw. von Lithiumdihydrogenphosphid LiPH 2 in siedendem Tetrahydrofuran auf weißen Phosphor oder - vorteilhafter - durch Einwirkung von Kaliumdihydrogenphosphid KPH 2 in siedendem Dimethylformamid (DMF, Me 2 NCHO) auf roten Phosphor (Molverhältnis P rot : KPH 2 ca. 2 : 1). In letzterem Falle entstehen praktisch nur die Polyphosphide K P und K 2 P 7 H im Molverhältnis 2.5 : 1, von denen K 2 P H 7 bei Anwendung geringer Solvensmengen größtenteils ausfällt, sodass weitgehend reine Lösungen von K P in D M F erhalten werden. Die hohe Bildungstendenz von beruht offensichtlich auf einer merklichen Mesomeriestabilisierung des -Systems (6 -Elektronen system; vgl. S. 758). Die roten, extrem oxidationsempfindlichen, verdünnten KP/DMF-Lösungen (c ca. 5 x 10 r 2 mol/l) sind bei Raumtemperatur über Wochen beständig, zersetzen sich aber beim Konzentrieren oder bei Zugabe unpolarer Lösungsmittel unter Bildung P-reicherer, gesättigter Phosphide (vorzugsweise 16, K3P21). Ähnlich wie das „hydridisostere" Cyclopentadienid C 5 H 5 vermag auch Pentaphosphacyclopentadienid P5 als r| 5 -Ligand in Übergangsmetallkomplexen zu wirken (z.B. Bildung von [M(CO) 3 (T| 5 -P 5 )]r mit M = Cr, Mo, W und von [Mn(CO) 3 (r| 5 -P 5 )]; zur Struktur vgl. Fig.178 auf S. 752). In der Existenz von P5 und r| 5 -P 5 -Komplexen dokumentieren sich somit enge verwandtschaftliche Beziehungen („Schrägbeziehung") zwischen der Phosphor- und Kohlenstoffchemie. Derivate von Phospheniden. Lösungen mit Salzen MJP3 des Triphosphaazid-Ions (c) wurden bisher nicht gewonnen. Demgegenüber konnte das Triphosphenid-Ion P 3 Hj (a) in Form des violetten Salzes Na(THF)^P 3 R*~ (THF = Tetrahydrofuran; R* = SkBu3) isoliert werden (gewinnbar u.a. durch Reaktion von PC13 mit NaR* oder (P3R*)„ mit NaR*, s. u.). Es weist ein planares, w-förmig gebautes SiPPPSiGerüst mit fast gleich langen PP-Bindungen auf (PP-Abstände im Mittel 2.10 Ä; PPP-Winkel 104.2°; Na liegt in der P 3 -Ebene und ist an die äußeren P-Atome ionisch gebunden). Erwartungsgemäß verwandelt sich P 3 R*" bei Protonierung in cyclo-P3HR* mit der Struktur (a'). Die Oxidation führt zu R*P3—P3R* (vgl. Struktur von «Bu2P3—P3«Bu2, S. 770) sowie zu P6R4* (Derivat von P6H4 (c) auf S. 769). Das Tetraphosphenid-Ion P 4 H 2 " (b) ließ sich in Form des tiefroten Salzes [Na(THF)+] 2 P 4 R* 2 _ isolieren (gewinnbar aus p + 2NaR* in THF; cis-konfiguriertes Tetraphosphan-Gerüst). Das Ion P 4 R* 2_ steht gemäß 2 P R * ^ ^ P 8 R * ^ mit seinem [2 + 2]-Cycloaddukt, dem Cyclotetraphosphan P4(PR*)4", im Gleichgewicht. Letzteres liegt in THF-Lösung auf der linken, in iBuOMe-Lösung auf der rechten Seite. Die Oxidation von P 4 R* 2_ führt zu P4R* (Derivat von P4H2 (a) auf S. 769), die Protolyse nicht zu einem Derivat von P4H4 (b), sondern unter PP-Bindungsspaltung gemäß P 4 R* 2_ + 2 ^ + -> V„(PR*)„ zu den Phosphanen R*PH 2 sowie (P3R*)n (n möglicherweise 2 oder 3; vgl. Struktur von ^ ^ 2 (i) auf S. 771 bzw. P9H3 (n) auf S. 772). Derivate RP = PR des Diphosphens (,,Diphosphaalkene") gewinnt man hauptsächlich durch Dehalogenierung von RPC12 z. B. mit Li, NaC 10H8 U«Bu, L i C H ( S i ^ ) 2 , L i C ( S i ^ 3 L i S i ( S i ^ ) 3 , LiN(SiMe 3 ) 2 , GeC oder durch Kondensation von RPC und RPH des Weiteren durch Umwandlung von Diphosphaalkenen R P ^ + a,PR
— 4C1
RP
PR
— 2HC1
RPC1, + H,PR;
RP
PR
+ HX — R'H
RP
PX
2. Der Phosphor
775»
Beispiele der auf diese Weise erhältlichen und in Substanz isolierten, meist gelben bis roten, trans-konfigurierten, planaren oder nahezu planaren Diphosphaalkene mit sterisch überladenen Resten R sind etwa: (Me 3 Si) 3 CP=PC(SiMe 3 ) 3 , Mes*P=PMes* (Me^ = 2,4,6-«Bu3C6H2, «Bu = C M , ; bei Bestrahlung in die cis-Form umwandelbar), Mes*P=PPh (PhP=PPh ist bereits oligomerisierungslabil), Cp*P=PCp* (Cp* = C5Me5), Mes*P=PX (X z. B. Cl, NiPr 2 , P«Bu2, O B u , S«Bu), X P = P X (X z. B. N(SiMe2iBu)2). Die PP-Abstände betragen hierbei 2.00-2.04 Ä (ber. für P = P 2.00 A), die PPP-Winkel um 105°. Die Diphosphaalkene sind sehr reaktiv und addieren z. B. HHal, Hal2, LiR, Chalkogene (vgl. Schema: Bildung von (a), (b)), cycloaddieren Carbene, 1,3-Diene (vgl. Schema: Bildung von (c), (d)), lassen sich in andere Diphosphene umwandeln (s. oben) und reagieren mit Komplexfragmenten M L zu Diphosphenkomplexen (vgl. Schema), wobei M L sowohl ,,end-on" (e) als auch,,side-on" (f) und darüber hinaus nicht nur einmal, sondern auch zweimal (g) oder dreimal (h) gebunden sein kann ( R P = P R kann in den Komplexen sowohl in der trans- als auch cis-Form vorliegen; nur erstere Formen sind im Schema wiedergegeben). Auch lassen sich Diphosphenealkylieren(z. B. BildungvonMes*MeP=PMes* + ; Reduktion zum grünen Radikal Mes*MeP=PMes* möglich). ,C1
R
+C1,
2R—PR
\
.Cl p
CT
Cl
\
+ % s8
(a) R 2 P 2 C1 2
RPC1,
R
P
Ä
P
\
+CC1, \
R
RPS,
P = P
V
•O [2+4]-Cycloadd.
R
Komplexbildung
I R \ p = p ^
N J
L„M (e) R2P2-ML„
2R—Pj!
\ R
H1 /8 S 8
[2+1]-Cycloadd.
(c) R2P2CC1 2
~
P
(b) R2P2S
.+C1,
/
p
r/
R
\
(d) R2P2(C 5 H 6 )
R P = P S
R
L„M
\ /
P I =P
/ N
ML „
\
R
ML „ (f) R2P2"ML„
xML „
X
R
ML „ (g) R2P2-2ML„
(h) R2P2" 3ML„
Schema Einige Reaktionen von Diphosphaalkenen.
2.3
Halogenverbindungen des Phosphors 51,67
Überblick Systematik P h o s p h o r bildet Halogenide des Typus PX 3 , P 2 X 4 u n d PX 5 ; darüber hinaus sind die Halogenide P 3 X s (X = I ) , P 4 X 6 (X = F), P 4 X 2 (X = Cl, Br), P 6 X 6 (X = Cl, Br) u n d P 7 X 3 (X = Br, I) b e k a n n t (Tab. 84) sowie die Phosphor-Halogen-Kationen PX^ (X = F, Cl, Br, I), P2XS+ (X = Br, I), P 3 X 6 + (X = I) u n d P 5 X 2 + (X = Br, I). Sie leiten sich von den acyclischen Phosphanen P„H„ + 2 (n = 1 - 4 ) , von den cyclischen u n d oligocyclischen Phosphanen P„H„
6 J Literatur. L. Kolditz: ,, Halides of Phosphorus, Arsenic, Antimony, and Bismuth", Adv. Inorg. Radiochem. 7 (1965) 1 - 2 6 ; M . Webster: ,,Addition Compounds of Group V Pentahalides", Chem. R e v 66 (1966) 87-118; R . R . Holmes: ,,Ionic and Molecular Halides of the Phosphorus Family", J. Chem. Educ. 40 (1963) 125-130; J.F. Nixon: ,,Recent Progress in the Chemistry of Fluorophosphines", Adv. Inorg. Radiochem. 13 (1970) 363-469; R. Schmutzler: ,Fluorides of Phosphorus", Adv. Fluorine C h e m 5(1965) 31-285; A. V. Kirsanow, C . K . Gorbatenko, N . G . Feschtschenko: „Chemistry of Phosphorus Iodides", Pure Appl. C h e m 44 (1975) 125-139; G . A . Fisher, N . C . N o r m a n : , , The Structures of the Group 15 Element(III) Halides and Halogenoanions", Adv. Inorg. C h e m 41 (1994) 233-271; W.-W. d u Mont, F. Ruthe: ,,Iodophosphonium salt structures: homonucluear cation-anion interactions leading to supramolecular assemblies", Coord. Chem. R e v 189 (1999) 101-133.
• 776 Tab.84
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele") Phosphorhalogenidea
e)
und -pseudohalogenidef) (A.fff in kJ/mol).
Verbindungstypus Fluoride
Chloride
Bromide
Iodide
PX3a »-f) Phosphor trihalogenide (Trihalogen phosphane
PF3e) Farbloses Gas Smp. —151.5 °C Sdp. — 101.2°C —946.3 k
PC13 Farblose Flüssigk Smp. —93.6°C Sdp. 76.1 °C AH{ = —319.9 kJ
PBr3 Farblose Flüssigk Smp. — 41.5°C Sdp. 173.2°C AH{ = — 198.9 kJ
PI3 Rote Kristalle Smp. 61.2°C Sdp 200 /Zers —45.6 k
P2X4 Diphosphor tetrahalogenide (Tetrahalogen diphosphane
P2F 4 Farbloses Gas Smp. —86.5°C Sdp. — 6.2°C
P2C14 Farblose Flüssigk Smp. — 28°C Sdp ~180°C
B (Als Zwischen produkt nach gewiesen
2 4 Hellrote Krist. Smp. 125.5°C AHt = — 82.73 kJ
P X C»,D) Phosphor pentahalogenide (Pentahalogen phosphorane
PF Farbloses Gas Smp. —93.7°C Sdp. — 84.5°C —1596.8 k
PC1S Farblose Kristalle Smp. 167°Cg) Sblp. 150 °C — 444 k
PB Rotgelbe Kristalle Zers. 84°C — 46 k
PI " Schwarzbraune Krist Zers. 41 °C
b)
D l b)
a) Gemischte Phosphortrihalogenide PX„X 3 _ „ (gewinnbar durch Reaktion von PX 3 und PX 3 ; nur im Falle X = F isolierbar): PF 2 Cl (Smp. —164.8°, Sdp. -4-7.3°C); PFC1 2 (Smp. — 144.0°, Sdp. 13.85°C); PF 2 Br (Smp. — 133.8°, Sdp. - 1 6 . r C ) ; PFBr 2 (Smp. — 115.0°^ Sdp. 78.4°C); PF 2 I (Smp. —93.^, Sdp. 2 6 . 7 ° C ) . - b) Man kennt auch P3I5, P4F6, P6C16, P6Br6, P4C12, P4Br2, P7C13 und P7Br3 sowie die Kationen PXJ (X = F-I), P2X+ (X = Br, I), P3X+ (X = I) und P5X2+ (X = Br, I). - c) Gemischte Phosphorpentahalogenide P X X - „ (gewinnbar durch Reaktion von PX„X 3 _„ mit X 2 bzw. von P F mit B X ) : PF 4 Cl (Smp. — 132°, Sdp. — 43.4°C); PF3C12 (Smp. — 124°, Sdp. 2.5 °C); PF2C13 (Smp. —61°, Sdp. 50.4°C); PFC1 4 (Smp. — 30.5°, Sdp. 105.9 °C); PF 3 Br 2 (Zers. 135 °C), PFBr 4 (Zers. 87°C). -d)Phosphorpolyhalogenide PX> 5 : u.A. PBr 7 = PBr 4 + Br 3 ; PBr 9 = PBr + BrJ; PC1J = PC14+IC12 ; PBrCl 5 I = P C l + B r I C P ; P B r J = PBr 4 + IBr 2 ; PBr 5 ClI = PBr + B r I C P ; = - e) Teilhalogenierte Phosphorhydride: HPF2 (Smp. — 124.0°, Sdp. — 64°C; Gewinnung z.B.: PF 2 I + HI + Hg ^ HPF 2 + Hgl 2 ); H 2 P 2 F 2 (farbloses Gas; Gewinnung: PF 2 I + PH 3 F 2 P—PH 2 + HI);HPF 4 (Smp. S; — 89°,Sdp. — 39°C; G e w i n n u n g : H 3 P 0 3 + 4 H H P F 4 + 3 H 2 0 ; PF 5 + Me 3 SiH H P F 4 + Me 3 SiF); H 2 PF 3 ( S m p ss — 51°, Sdp. 3.8°C; Gewinnung: H Z P ^ 2 H 0 ; PF 5 + 2 M e 3 S n H — H 2 P F 3 + 2Me 3 SnF); H 3 PF 2 (Gewinnung im Gemisch mit P H 4 F~ • « H F aus P 2 H 4 und fl. HF; 100 % Zersetzung in 2Wochenbei — 78 °C). Teiliodierte P h o s p h a n e H „ P I 3 - „ ( " = 1,2) wurden im Gleichgewichtsgemisch mit P H und PI 3 nachgewiesen. - f) Phosphorpseudohalogenide PX 3 : P(CN) 3 (Smp. 203 °C); P ( N C 0 ) 3 (Smp. —2°, Sdp. 169.3°C); P(NCS) 3 (Smp. —4°, Sdp. 120°C bei 1.3mbar); P F ( N C 0 ) 2 (Smp. — 55°, Sdp. 98.7°C); PF 2 (NC0) (Smp. — 108°, Sdp. 12.3°C); P C l ( N C 0 ) 2 (Smp. — 50°, Sdp. 134.6°C); PC1 2 (NC0) (Smp. — 99°, Sdp. 104.5°C); P F ( N C S ) (Smp. — 95°, Sdp. 90.3 °C); P Q 2 ( N C S ) (Smp. — 76°, Sdp. 148 °C). - g) 930mbar.
(n = 6), P„H„_ 2 (n = 4) und P„H„_ 4 (n = 7) oder vom Phosphoran P H durch Ersatz aller Wasserstoff- gegen Halogenatome ab bzw. stellen (formal) X + -Addukte an bekannte oder unbekannte Halogenphosphane dar. Daneben existieren gemäß Tab. 84 auch gemischte Tri- und Pentahalogenide PXmX^ (m+ n = 3 und 5), Polyhalogenide PX < S , teilhalogenierte Wasserstoffverbindungen H m PX n sowie Pseudohalogenide PX3 (X u.a. CN, NC0, NCS). Darüber hinaus bildet Phosphor Halogenidoxide des Typus POX 3 (,,Phosphorylhalogenide"), [POX],. und [ P O 2 X ] d i e in ihrer Zusammensetzung den Nitrosyl- sowie Nitrylhalogeniden N0X3> N 0 X und N 0 2 X entsprechen. Sie werden als Derivate der Phosphorsäure P 0 (0H) 3 , der Metaphosphonsäure [ P 0 ( 0 H ^ und der Metaphosphorsäure [ P 0 ( 0 H ^ bei diesen Säuren zusammen mit anderen Sauerstoff-Halogen-Verbindungen des Phosphors besprochen. Bezüglich der ,,Thiophosphorylhalogenide" PSX 3 vgl. S. 802. Strukturen Die Trihalogenide PX3> deren Beständigkeit wie die der Pentahalogenide mit steigender Masse des Halogens abnimmt (Tab. 84), sind trigonal-pyramidal (P an der Pyramidenspitze, C3v-Symmetrie), die Pentahalogenide PX 5 trigonal-bipyramidal (P im Zentrum, D3h-Symmetrie; vgl. S. 777) gebaut, während den ,,niederen Phosphorhalogeniden" P 2 X 4 („Dihalogenide", trans-konformiert) und P 6 X 6 („Monohalogenide", Sessel-konformiert) eine Struktur mit PP-Einfachbindungen zukommt. Bzgl. der Strukturen anderer Phosphorhalogenide vgl. Formeln (a)-(h) auf S. 780. Die PX-Abstände entsprechen in allen Halogenverbindungen des Phosphors Einfachbindungen (ber. für PF/PCl/PBr/PI 1.74/2.09/2.24/2.43 Ä; die kurzen PF-Abstände weisen auf zusätzliche elektrovalente PF-Bindungsanteile).
2. Der Phosphor
N
X
rJÄ] r2[Ä] £XPX
PF 3 1.546 97.4°
X X ^ |Xr, :P—X X ^ |R 2 X
x - -P—PR-X • R2 \
x PC13
PBr 3
2.039 100.1
2.22 101.0
PI 3 2.43 102°
777»
P2F4
P2I4
PF
PC
PF C
1.587 2.281 99.1
2.48 2.21 102°
1.577 1.534 90°/120°
2.124 2.020 90°/120°
1.591 1.539/2.001 89.3 /122.2
Die aus trigonal-bipyramidal gebauten Phosphoranderivaten PR 5 (R = anorganischer bzw. organischer Rest) durch geringe RPR-Winkelverkleinerungen und -Vergrößerungen hervorgehende quadratisch-pyramidale Struktur (D 3h - und C4v-Symmetrie; vgl. hierzu nachfolgende Formeln (b) und (a) sowie auch Pseudorotation von PR 5 , S. 782) ist meist um etwa 20-30 kJ/mol energiereicher. Verbindungen P R sind deshalb in der Regel trigonal-bipyramidal gebaut, wobei die axiale PR-Bindung immer länger ist als die äquatoriale. Sind jedoch vier Reste R in der Weise miteinander verbunden, dass Phosphor das Zentrum zweier kleiner Ringe, d.h. das Zentrum eines ,,Spirocyclus" wird, so kann die Konformation (a) aus Ringspannungsgründen die energetisch bevorzugte werden (z.B. ist MeP(0CH 2 CH 2 0) 2 quadratischpyramidal strukturiert). Bilden andererseits drei Reste zusammen mit Phosphor einen kleineren Bicyclus, so beobachtet man gelegentlich auch die Konformation (c), die aus (b) durch RPR-Winkelveränderungen hervorgeht, die dem Übergang (b) (a) gerade entgegengesetzt sind:
Die Bevorzugung einer Gruppe R in trigonal-bipyramidalen Phosphoranderivaten P R R 5 _ n für einen axialen (apicalen) Platz, die so genannte „Apicophilie"68 wächst in der Reihenfolge (Me = CH 3 ; Ph = C 6 H 5 ): Ph < Me < NMe 2 < 0 M e < SMe < C K 0 ^ < CF 3 < H < F . Sperrigere Gruppen und/oder elektropositivere Gruppen und/oder Gruppen, die als 7T-Donator wirken, bevorzugen äquatoriale Plätze. Entsprechendes gilt allgemein für trigonal-bipyramidal gebaute Moleküle E R R 5 _ „ ( R kann auch ein freies Elektronenpaar sein). Ist der Phosphoranphosphor Teil eines vieroder fünfgliederigen Rings, so betätigt der Phosphor - unabhängig von der Apicophilie seiner fünf Bindungsnachbarn eine axiale und eine äquatoriale Ringbindung Der wiedergegebenen Apicophilie-Reihe ist zu entnehmen, dass etwa die Wasserstoffatome in HPF 4 und H 2 PF 3 oder die Chloratome in PClF4, PC12F3 und PC13F2 oder die Methylgruppen in MePF 4 und Me 2 PF 3 oder die Aminogruppen in (R 2 N)PF 4 und (R 2 N) 2 PF 3 äquatorial gebunden sind. Eine besonders hohe Apicophilie besitzt Fluor, eine besonders niedrige haben Organylgruppen. Infolgedessen ist z.B. MePF 4 mit apicaler Methylgruppe um etwa 160 kJ/mol energiereicher als MePF 4 mit äquatorialem Methyl Nachfolgend werden zunächst Halogenderivate von Monophosphan (Phosphor(III)-halogenide), dann solche von Oligophosphanen ( P h o s p h o r ( < III)-halogenide) und von Phosphoran (Phosphor(V)-halogenide) und im Anschluss hieran Pseudorotation und andere Ligandenaustauschprozesse bei Phosphorpentahalogeniden und anderen Elementhalogeniden besprochen. Technische Bedeutung haben insbesondere PC1 3 , PC15 und P 0 C 1 3 erlangt. Phosphor(lll)-halogenide Phosphortrifluorid PF3 wird am besten durch Fluorierung von PC13 mittels ZnF 2 oder AsF3 gewonnen. Es stellt ein farbloses, in kleiner Konzentration geruchloses Gas dar (vgl. Tab. 84 und zur Struktur oben) und ist wie C 0 giftig, da es gleich diesem mit Hämoglobin einen Komplex bildet, der die Sauerstoffatmung 68 apex (lat.) = Spitze.
• 778
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
unterbindet (S. 499). Von Wasser wird es nur langsam, von Alkalien dagegen rasch unter Bildung von Phosphonsäure bzw. Phosphonaten hydrolysiert (vgl. PC13). Im Gegensatz zum AsF 3 wirkt es nur als sehr schwache Lewis-Säure, bildet aber mit wasserfreiem NMe 4 F~ (siehe S. 450) in Acetonitril das NMe 4 Salz des farhlosen Fluorokomplexes PF 4 (pseudo-trigonal-bipyramidal; Abstände PFax/PFä = 1.74/ 1.60 Ä; £ F ax PF ax /F äq PF äq = 168.3/99.9°; in Lösung fluktuierend; Zers. 150 °C in NMe 3 , MeF, P F ) . PF 4 hydrolysiert im Alkalischen über POF 2 und HPO 2 F~ letztendlich zu HPO^ und addiert H + bzw. H F unter Bildung von HPF 4 bzw. HPF5 (vgl. S. 780). Als äußerst schwache Brönsted-Base lässt sich PF 3 nur durch extrem starke Säuren wie SbF 5 /HF protonieren (PF3 + SbF5 + 2HF -> HPF^ SbFg • HF). Andererseits ist P F eine sehr starke Lewis-Base, die mit vielen Lewis-Säuren stabile Komplexe bildet (z.B. F 3 P->BH 3 ) und z.B. in Metallcarbonylen das CO zu vertreten vermag (Näheres S. 1794).
Phosphortrichlorid PC13. Die technische Darstellung von PC13 erfolgt durch direkte Umsetzung von trockenem Chlorgas mit gasförmigem weißem Phosphor in einem Brenner: iP4 + l | C l 2
PCI3 + 320kJ.
Der Phosphor entzündet sich dabei von selbst und verbrennt mit fahler Flamme, während in die gekühlte Vorlage ein Gemisch von Phosphortrichlorid PC13 (Hauptprodukt) und Phosphorpentachlorid PC15 destilliert. Um letzteres zu entfernen, fügt man zum Destillat etwas weißen Phosphor hinzu und destilliert erneut (6PC15 + P 4 -> 10PC13). Die technische Gewinnung von PC13 erfolgt auch durch Einleiten von Chlor in eine P4-haltige PC13Lösung. Hierbei wird P4 kontinuierlich zugegeben, gebildetes PC13 kontinuierlich abdestilliert Eigenschaften. Phosphortrichlorid (Struktur S. 777) ist eine farhlose, stechend riechende, bei 75°C siedende und bei — 93.6°C erstarrende Flüssigkeit (Dichte = 1.57 g / c m ; MAK-Wert 3 m g / m bzw. 0.5 ppm). Von Wasser wird PC13 sehr leicht unter Bildung von Phosphonsäure und Salzsäure zersetzt und raucht daher an feuchter Luft stark (geringe Mengen H 2 O führen PC13 in (POCl)x, eine paraffinähnliche feste Masse, über): PC13 + 3HOH -> HPO(OH) 2 + 3HCl. Ähnlich wie durch OH lässt sich das Chlorid von PC auch leicht durch andere Gruppen aus tauschen: PC13 + 3 Y " (bzw. 3HY) PY 3 + 3 C P (bzw. 3HCl). So wird PC13 etwa durch Fluorid F " in P F , durch Alkohole ROH in P(OR) 3 , durch Thioalkohole RSH in P(SR) 3 , durch Ammoniak in P(NH 2 ) 3 , durch Amine R 2 NH in P(NR 2 ) 3 , durch Cyanid in P(CN) 3 bzw. durch Metallorganyle MR in PR 3 überführt. Die Umsetzung mit Carbonsäuren wird zur Synthese von Carbonsäurechloriden RCOCl genutzt: PC13 + 3RCOOH H 3 PO 3 + 3RCOCl.
Phosphortrichlorid hat ausgeprägte reduzierende Eigenschaften. So wird es durch viele Oxidationsmittel (z.B. Chlorat, Schwefeltrioxid, Chromtrioxid) in Phosphorylchlorid POC13 (S. 802) übergeführt. Selbst molekularer Sauerstoff wirkt langsam oxidierend: 2PC13 + 0 2 -> 2POC13. Mit Schwefel reagiert es unter Bildung von Thiophosphorylchlorid PSC13 (S. 802), mit Chlor unter Bildung von Phosphorpentachlorid PC15 (s. unten). Schwächer ausgeprägt ist die oxidierende Wirkung von PC13. Beispielsweise wird es von Arsen oder Antimon zu Phosphor reduziert Phosphortrichlorid stellt eine Lewis-Base dar und weist infolgedessen ganz allgemein eine starke Tendenz zur Bildung von Trichlorphosphan-Komplexen wie Cl 3 P->BBr 3 , Cl 3 P->PtCl 4 oder Ni(PCl 3 ) 4 auf (vgl. S. 1794). Es kann aber auch als Lewis-Säure fungieren, wie die Komplexverbindungen PC oder M PC zeigen Das farhlose Ion :PC14 ist in Form des Salzes Et 4 N + PCl 4 aus Methylenchlorid, das Et 4 N + Cl" und PC13 in gleichen Anteilen enthält, kristallisierbar. Es hat pseudotrigonal-hipyramidale Struktur (äquatoriales freies Elektronenpaar) mit zwei unterschiedlich langen axialen PCl-Bindungen (1.40/1.04 Ä), aber gleichlangen äquatorialen PCl-Bindungen (2.04 Ä; * ClaxPCIax/CläqPCläq = 171.4/95.7°; die Winkel ClaxPCläq betragen für das weiter/näher entfernte axiale Cl-Atom ca. 90/98°). Weniger unsymmetrisch gebaut sind die farhlosen Ionen :PBr 4 und insbesondere :PBr 2 (CN) 2 (PBrax = 1.18/1.14Ä bzw. 1.12/ 1.12 Ä), symmetrisch gebaut das Ion PF^ (s. oben). Die diskutierten Strukturen muten wie Moment-
2. Der Phosphor
779»
aufnahmen einer nucleophilen Substitution am dreibindigen Phosphan an: R 2 PX + Nu~ -> R 2 PNu + X " .Das Nucleophil nähert sich hiernach dem Phosphor etwa in Richtung auf die PX-Bindung, wobei sich jene verlängert und ihren Winkel zu den beiden PR-Bindungen verkleinert (der RPR-Winkel ändert sich im Zuge der Substitution praktisch nicht). Im Übergangszustand sind die sich lösende und die sich bildende Bindung um 12-15 % länger als im Ausgangs- bzw. Endzustand der Substitution. Wie sich berechnen lässt, treten unsymmetrische lineare Gruppen X—E • •• X X- •• E—X mit doppeltem Stabilitätsminimum - wie sie in PX 4 , aber auch in Verbindungen mit H-Brücken oder in Trihalogeniden Xj~ (s. dort) auftreten - immer bei weniger stabilen Addukten aus Lewis-Basen X~ und Lewis-Säuren E X auf (große mittlere Länge von r x _ E und rE...x). Verwendung PC13 (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab) ist Ausgangsprodukt für Phosphonsäure, Di- und Trialkylphosphite, Hydroxyethandiphosphonsäure, PC15, POC13, PSC13 und viele andere Phosphorverbindungen (Öladditive, Weichmacher, Flammschutzmittel, Insektizide). Phosphortribromid PBr3 bildet sich bei der Umsetzung von weißem Phosphor mit flüssigem Brom Phosphortriiodid PI wird am Besten aus Iod und weißem Phosphor in trockenem reinem Kohlenstoffdisulfi gewonnen (vgl. Tab. 84) und bzgl. der Strukturen S. 777). Die Lewis-Acidität der Phosphortrihalogenide sinkt in der Reihe PF3 > PC13 > PBr3 > PI3. Doch bildet selbst PBr3 noch Komplexe (z. B. gelhes Me3P->PBr3; dimer über Br-Brücken). In gleicher Richtung wächst die Lewis-Basizität: z.B. Bildung von PX2+ (X = Br, I) als kurzlebige Intermediate bei der Reaktion von Ag + Al(OR) 4 " (R = C(CF) 3 ) mit PX3 (s.u.). Für gemischte bzw. teilhydrierte Phosphortrihalogenide vgl. Tab.84.
Phosphor(< lll)-halogenide Phosphor(II)-halogenide P2X4 (Tab. 84; Strukturen S. 777). P2F4 entsteht durch Enthalogenierung von PF2I mit Hg (2PFI + 2Hg -> P2F4 + Hg2I2) als stabiles farhloses Gas (bzgl. PF2I vgl. Tab. 84). P2F4 dissoziiert im Gegensatz zu N2F4 (S. 703) erst bei vergleichsweisen hohen Temperaturen und niedrigen Drücken gemäß F2P—PF2 2PF2 (Dissoziation ab ca. 350°C, noch nicht vollständig bei 900°C). Das durch Abschrecken des P2F4-Gases von 900 auf ca. — 200 °C gewonnene Kondensat enthält neben P F und P2F4 auch PF2-Radikale sowie P(PF) 3 (s. unten). Mit Wasser erfolgt nach 2F2P—PF2 + H 2 0 -> 2 P H F + F 2 P—O—PF rasch Hydrolyse, mit HI entstehen PHF 2 und PF2I. P2C14 bildet sich bei der Cokondensation von PC mit Cu-Dampf oder bei der elektrischen Durchladung eines Gemisches aus PC und H 2 als farhlose Flüssigkeit. P2C14 ist zersetzlich (P2C14 -> PC13 + '/«(PCl)*), wenn auch weit weniger als C (S. 697). B konnte bisher nur in Lösung als zersetzliches Produkt der Enthalogenierung von PBr3 mit Mg oder P4 bzw. der Reaktion von (Et2N)4P2 mit HBr nachgewiesen werden. P2I4 (stabiler als P2C14 und P2Br4) liegt neben gelöstem PI3 in kleiner Gleichgewichtskonzentration vor: 2PI 3 ^ P2I4 + I2 (vgl. 2SX2 ^ S2X2 + X2; S. 567). Man erhält das Tetraiodid durch Reaktion von Prot bei 180°C bzw. PweiB bei Raumtemperatur mit I2 (in letzterem Falle bildet sich zunächst PI3, das anschließend - etwas langsamer — von P4 reduziert wird: 4PI 3 + % P4 -> 3 P2I4). Auch gemäß 8PH 3 + 5I2 -> P2I4 + 6PH 4 I ist P2I4 zugänglich. Es fällt in Form oxidations- und hydrolyseempfindlicher roter Kristalle an und reagiert mit Schwefel unter Addition von S-Atomen an die freien Elektronenpaare der P-Atome ziegelrotes S; orangerotes ). Phosphor(II/I)-halogenide P„X„+2 stellen bisher wenig untersuchte Verbindungen d a r Farhlos-flüssiges P A (b) (n = 4; Smp. — 66°C, Zers. > 10 °C) e n t s t e h e wie e r w ä h n t in kleiner Ausbeute durch P2F4Thermolyse, darüber hinaus auch durch Reaktion von P(SnR3)3 (R = Butyl C4H9) mit PBrF2 (P(SnR3)3 + 3PBrF2 -> P(Pp) 3 + 3RSnBr; bzgl. PBrF2 vgl. Tab. 84). P3I5 (a) (n = 3) ist bisher nur in Lösung nachgewiesen worden. Es bildet sich durch mehrwöchige Reduktion von PI3 mit Zn in PSC13. Phosphor(I)-halogenide P„X„. Das Halogenid P6C16 bildet sich durch Reduktion von PC13 mit LiH bei — 40 °C in Tetrahydrofuran (THF) neben P H durch Reduktion von PBr3 mit reaktivem Mg bei — 60°C in THF neben P4 und P2Br4. Die erhaltenen Lösungen (0.01 molar) sind hellgelh und bei Raumtemperatur nur einige Stunden haltbar. Die monocyclischen P6X6-Moleküle weisen sesselförmigen Bau auf (c). P6C16 reagiert mit LiPh glatt zu P6Ph6, das sich in P5Ph5 umlagert. Die Hydrolyse führt nach P6X6 + 12H 2 0 -> 2PH 3 + 4H 3 PO 3 + 6HX vollständig zu Monophosphan und Phosphorsäure. P2C12, ein Chlorderivat von Diphosphen H P = P H , ließ sich komplexchemisch in Form von {(CO)5W}3P2C12 stabilisieren Phosphor( < I)-halogenide. Beispiele für hicyylische Halogenphosphane PX„ — sind das durch vorsichtige Bromierung von P4 mit Br2 in CS2-Lösung zugängliche P4Br2 (d) und das daraus durch Reaktion mit Me3SnCl gewinnbare P4C12 (d). In beiden Fällen entstehen jeweils Isomere mit exo,exo- und exo,endoKonfiguration. Unter den tricyclischen Halogenphosphanen P„X„—4 ließen sich P,X3 (e) mit X = Br, I in Lösung nachweisen
• 780
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
XP XP X ,P
X ,P
PX, X
PX, PX 2
(b) P4F 6 (X = F)
(a) P j X 5 (X = F, I)
X
X
X
X
\/
K
\ X
p
PX
(c) P 6 X 6 (X = Cl, Br)
X p—© p ^/ > x /J Xx
sK
I
\
PX
PX
I
P—PX (d) P 4 X 2 (X = Cl, Br) (e) P 7 X 3 (X = Br, I)
x
PX 2 + Z" + AgX) die Kationen P2X5+ (f), P3X6+ (g) oder P5X^ (h) als Folge der Reaktionen: PX
PX
l'.X.
P,X4 + PX,+
PX+
PX
l'.x.
P2X3+
Analog PX^" entstehen offenbar kurzlebige Kationen aus P2X4 (X = I) und AgZ. Die Kationen P X (Näheres unten), P2X5h und P3X^ sind Glieder der homologen Reihe [P„X„+3] + (n = 1, 2, 3; Oxidationsstufen von Phosphor: + 5, + 3, + 2.33), die Kationen P X und P2X3+ solche der Reihe [P„X„+ J + (n = 1 , 2 ; Oxidationsstufen + 3, + 2) und die Kationen P5X2+ solche der Reihe [P„X„—3] + (n = 5; Oxidationsstufe + 0.6; bisher keine Beispiele für Kationen der Reihe [P„X„—1]+). Sowohl Pentabromdiphosphonium PBs (f) als auch Pentaioddiphosphonium P2l$ (f) sowie Hexaiodtriphosphonium P3I PF4 Sb 3 F^ 6 . In den Fluorphosphoranen HPF4, H 2 PF 3 und H 3 PF 2 (Tab. 84) sind äquatoriale Fluoratome durch HIAtome ersetzt. Die Verbindungen vermögen wie P F als Lewis-Säuren und -Basen zu wirken (z.B. HPF 4 + F " -> H P F 5 ; H 2 PF 3 + F " -> trans-H 2 PF 4 ; H 3 PF 2 + F " -> statt H3PF3 u.a. PF6", PH 3 ; HPF 4 + 2 S b F -> H P F + Sb 2 F^; H 2 PF 3 + SbF5 ^ H 2 P F + SW 6 ;H 3 PF 2 + SbF5 ^ H 3 PF + SW 6 ). In Anwesenheit von Basen wie Me 3 N zersetzen sich die Phosphorane unter Abspaltung von HF, das sich an die Base und ein unversehrtes Molekül Phosphoran addiert (z. B. 2HPF 4 + NMe 3 -> PF M NH HPF PF M NH HPF ).
Phosphorpentachlorid PC15. Die technische Darstellung von PC15 erfolgt in mit Blei ausgekleideten Türmen, in welchen man PC13 (von oben) und Cl2 (von unten) einander entgegenführt:
2. Der Phosphor PC1 3 + C12
781»
PCl 5 + 1 2 4 k J .
PC1 5 sammelt sich am Boden an u n d wird d o r t (mit einer Schnecke) ausgetragen. Physikalische Eigenschaften PC15 stellt im reinen Zustand eine weiße, gewöhnlich aber wegen teilweiser Spaltung in PC13 und Cl2 grünlich weiße Masse dar (MAK-Wert 1mg/m 3 ). Beim Erhitzen unter Normaldruck sublimiert Phosphorpentachlorid bei 159 °C, ohne zu schmelzen. Der Schmelzpunkt kann nur im geschlossenen Rohr unter dem eigenen Druck der Dissoziationsprodukte PC13 und Cl2 bestimmt werden und liegt dann bei 160.5 °C. Als endotherme Reaktion nimmt die Spaltung in Phosphortrichlorid und Chlor mit steigender Temperatur zu. Bei 180 °C sind rund 40%, bei 250 °C rund 80% des Phosphorpentachlorids dissoziiert, und bei 300 °C besteht der Dampf fast völlig aus den Dissoziationsprodukten. Dementsprechend nimmt der bei niedriger Temperatur nahezu farblose Dampf mit steigender Temperatur immer mehr die Farbe des Chlors an. In einer Atmosphäre von Chlorgas oder Phosphortrichlorid-Dampf verdampft Phosphorpentachlorid gemäß dem Massenwirkungsgesetz (Verschiebung des Bildungsgleichgewichts nach rechts) nahezu unzersetzt. Strukturen Phosphorpentachlorid zeigt die Erscheinung der Bindungsisomerie. So ist PC15 im gasförmigen Zustand trigonal-bipyramidal gebaut (S. 777, bezüglich der Pseudorotation von PC15 vgl. S. 782). Im festen, kristallisierten Zustand liegt PC15 in ionischer Form als [PC14] + [PCl 6 ]" vor, wobei das PC14 -Ion (isoelektronisch mit SiCl4) tetraedrisch, das PClg-Ion (isoelektronisch mit noch unbekanntem SC16) oktaedrisch gebaut ist. Der PCl-Abstand beträgt im PCl 4 -Ion 1.97, im PClg-Ion 2.04 Ä (zum Vergleich PC13: 2.04 und PC15: 2.12/2.02 Ä; S. 777). Scheidet man PCl 5 -Gas rasch an einem mit flüssigem Stickstoff gekühlten Glasfinger ab, so besteht der erhaltene Festkörper aus PCl 5 -Molekülen, die sich bei Erwärmen auf Raumtemperatur in [PC14] + [PCl 6 ]" umlagern. In unpolaren Lösungsmitteln löst sich PC15 teils monomer (z.B. in Benzol C 6 H 6 , Kohlenstoffdisulfid CS2), teils dimer (z.B. in Kohlenstofftetrachlorid CC14). Im dimeren Molekül (PC15)2, das auch in der Gasphase untergeordnet vorliegt, sind die Phosphoratome über zwei Chlorbrücken miteinander verknüpft (jedes P ist oktaedrisch von 6 Cl umgeben; die beiden Cl-0ktaeder haben eine gemeinsame Kante). I polaren Lösungsmitteln wie Acetonitril MeCN oder Nitrobenzol P h N 0 2 löst sich PC15 ionisch als [PC14] + [PCl 6 ]" bzw. - bei sehr kleiner Konzentration - auch als [PC14] + C L . Chemische E i g e n s c h a f t e n Wegen der leichten Abspaltbarkeit von Chlor wird P h o s p h o r p e n t a chlorid vielfach als Chlorierungsmittel benutzt. A n der L u f t zieht Phosphorpentachlorid Wasser an u n d geht in Phosphorylchlorid bzw. - auf dem Wege über rasch weiter hydrolysierende Zwischenstufen - letztendlich in Phosphorsäure sowie Chlorwasserstoff über u n d raucht daher an feuchter L u f t P C L5
+ H2O
— 2HC1
P0CL3
+H2O
^ P0(0H)CL — HCl
+H2O 2
^ P 0 ( 0 H ) , C21 — HCl
+H2O
^ P 0 ( 0 H ) 3 .3 —HCl
Ähnlich wie mit Wasser reagiert PC15 mit vielen anderen Stoffen unter Substitution des Chlors. So wird es etwa durch Fluorid F~ in PFg , durch Ammoniak N H in P(NH 2 ) 4 Cl" und andere PhosphorStickstoff-Chlor-Verbindungen (S.814), durch Anilin PhNH 2 in Q 3 PNPh, durch Hydrazin N 2 H 4 in Q 3 PN—NPC1 3 , durch Phosphorpentaoxid bzw. -sulfid P 2 O s bzw. P2S5 in P0C1 3 bzw. PSC13 überführt. Die Umsetzung mit Säuren gemäß: Ac0H + PC15 -> AcCl + P0C1 3 + HCl wird zur Synthese von Säurechloriden genutzt (Ac z.B. RC0, R 2 P 0 , RP0(0H)). Wie P F stellt auch PC1 5 eine Lewis-Säure dar u n d bildet z. B. mit Chloriddonatoren Chlorokomplexe PCl^. A u ß e r d e m wirkt PC1 5 als Lewis-Base u n d verbindet sich mit vielen lewissauren Chloridakzeptoren zu Phosphonium-Salzen gemäß: PC1 5 + MC1„ -> PC1 4 [MCl n + (MC1„ z. B. BC1 3 , AlCl 3 , TiCl 4 , SnCl 4 , PC1 5 (vgl. festes PC1 5 ), SbCl 5 , N b C l 5 ) . Verwendung PC15 (Weltjahresproduktion: Zig Kilotonnenmaßstab) dient vor allem als Chlorierungsmittel in der organischen Chemie sowie zur Gewinnung von seinerseits in Kunststoffe verwandelbares Phosphornitriddichlorid PNC12 (S. 814). Phosphorpentabromid PB entsteht durch Bromierung von PB mit überschüssigem Brom in Form rotgelber, hydrolyseempfindlicher Kristalle (Tab.84), die sich aus Ionen PBr4 Br~ aufbauen. Die Verbindung zersetzt sich bereits oberhalb von 35°C in PBr 3 und Br 2 . Zum Unterschied von P F und PC15 bildet sie mit Metallbromiden keine Bromokomplexe PBr^ , sondern wird von Br~ reduziert: PB B PB B Phosphorpentaiodid PIS liegt in Lösung in Form von PL/L-Gemischen und in fester Phase als Cokristallisat von PL und I 2 ohne wesentliche Charge-Transfer-Bindungsbeziehungen vor. Letztere werden
• 782
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
erst zwischen Lewis-basischeren Phosphanen und Iod beobachtet und verstärken sich bei gleichzeitiger Verlängerung und zunehmender Abionisation von Iodid mit der Phosphanbasizität; 2.715 Ä (I2), 2.829 A (Me 3 NI 2 ), 3.005 Ä (Ph 3 AsI 2 ), 3.161 Ä (Ph 3 PI 2 ), 3.326 Ä (/BU 3 PI + I")). Das blassgelbe lTetraiodphosphonium-Ion PI4 entsteht als zersetzliches Hexafluoroarsenat gemäß: 2I 2 + AsF^ + PI 3 PI+AsF6" + I 3 ; PI+AsF6" PF 3 + AsF 3 + 2I 2 (instabiler ist PI + SbF6"). Gemischte Phosphor(V)-halogenide. Bei einer Reihe gemischter Pentahalogenide PX 5 -nX!n lassen sich die bei PC15 im gasförmigen und kristallinen Zustand beobachteten Bindungsisomeren bei Zimmertemperatur getrennt isolieren. So erhält man z.B. PC14F, PC13F2, PC12F3, PClF 4 , PBr 4 F, PBr 2 F 3 bei der Darstellung in Form von Gasen oder Flüssigkeiten (Tab. 84), deren Moleküle trigonal-bipyramidal gebaut sind (Fluorid in axialer Position). Bei mehrtägigem Stehen in kondensierter Phase verwandeln sie sich in ionisch aufgebaute isomere Festsubstanzen z.B.: PC1 4 F" (Smp. 1770C), PBr 4 F~ (Smp. 87°C), PC1+PF" (Sblp. 1350C), PBr+PF" (Sblp. 1350C). Die Vorgänge sind in der Wärme reversibel. PBr 4 Cl hat den Bau PB C
Pseudorotation und andere Ligandenaustauschprozesse 69 Intramolekulare Vorgänge T r i g o n a l - b i p y r a m i d a l gebaute Moleküle E X (z.B. PF 5 , PC15, AsF 5 ) stellen im allgemeinen n i c h t - s t a r r e (fluktuierende) Moleküle dar, in welchen sich die Gruppen X in der nachfolgend dargestellten Weise umordnen. An der Bewegung nehmen zwei axiale (apicale) und zwei ä q u a t o r i a l e Reste teil (im Schema durch © und (D sowie (O 3 ) 4 P 4 O ö = P 4 0 1 8 , das sich in Lösung oberhalb — 35°C unter 0 2 -Entwicklung in Phosphorpentaoxid zersetzt: P 4 0 1 8 -> P 4 O 10 + 4O 2 . Mit k a l t e m Wasser setzt sich Phosphortrioxid langsam unter Bildung von Phosphonsäure um: P 4 O ö + 6 H 2 0 -> 4H 3 PO 3 , welche nicht wieder zu P 4 O ö entwässert werden kann. Einwirkung von heißem Wasser führt in heftiger und wenig übersichtlicher Reaktion zur Bildung von rotem Phosphor, Phosphorwasserstoffen, Phosphonsäure und Phosphorsäure. Mit HCl reagiert P 4 O ö unter Bildung von Phosphonsäure und Phosphortrichlorid: P 4 O ö + 6HC1 -> 2P(OH) 3 + 2PC13, mit Cl 2 und Br 2 zu Phosphorylhalogeniden, mit I 2 im geschlossenen Rohr zu P 2 I 4 . P 4 0 6 wirkt auch als Komplexligand und vermag etwa CO in Ni(CO) 4 unter Bildung von Ni(CO) 4 _„ (P4Oö)„ (n = 1, 2, 3) zu verdrängen. Auch bildet sich mit BH 3 ein Addukt P 4 0 6 (BH 3 ) (BH 3 an P geknüpft), das analog P 4 0 7 dimerisiert (-> P 8 0 1 2 (BH 3 ) 2 ). Diphosphorpentaoxid P 2 0 s (,,Phosphorpentaoxid", exakter: „Tetraphosphordecaoxid"). Darstellung Verbrennt man Phosphor bei genügender Luft- oder Sauerstoffzufuhr, so entsteht unter außerordentlicher Wärmeentwicklung Phosphorpentaoxid als weißer Rauch P 4 + 5 O 2 ->• P 4 O 30 + 2986.0 kJ. Technisch erfolgt die Darstellung durch Verbrennung von weißem Phosphor mit sorgfältig getrockneter Luft in wassergekühlten Brennkammern. Von gleichzeitig gebildeten niederen Phosphoroxiden lässt sich durch Sublimation im Sauerstoffstrom bei Rotglut befreien Etwa 85 % des aus Apatiten gewonnenen weißen Phosphors werden auf diese Weise in P 4 O 10 übergeführt, das seinerseits zum allergrößten Teil mit Wasser in Phosphorsäure verwandelt wird. Physikalische Eigenschaften (Struktur: Fig. 180). Phosphorpentaoxid bildet bei Raumtemperatur ein weites, schneeartiges geruchloses Pulver (MAK-Wert 1 mg/m), das nach vorheriger Bestrahlung mit grünem Lichtschein leuchtet. Durch Erhitzen kann es verflüchtigt (Sblp. 358.9 °C) und bei langsamer Abkühlung
2. Der Phosphor
787»
des Dampfes an kälteren Stellen in Form stark lichtbrechender, hexagonaler Kristalle (Dichte = 2.30 g/ cm 3 ) wieder verdichtet werden, die unter Druck (5 bar) bei 422 °C unter Bildung einer farblosen Flüssigkeit von nur geringer Viskosität schmelzen. Säure-Base-Verhalten Die charakteristischste Eigenschaft des P h o s p h o r p e n t a o x i d s ist sein außerordentliches Bestreben, sich mit W a s s e r begierig zu M e t a p h o s p h o r s ä u r e (hauptsächlich T e t r a m e t a p h o s p h o r s ä u r e ( H P 0 3 ) 4 = H 4 P 4 0 1 2 ) u n d weiter auf d e m Wege ü b e r P o l y p h o s p h o r s ä u r e n zu O r t h o p h o s p h o r s ä u r e H 3 P 0 4 zu vereinigen; schematisch: P4O10
+ 2HO ^
H4P4012
+2HO
2H4P207
+2HO ^
4H3P04,
weshalb es in B e r ü h r u n g m i t L u f t s o f o r t feucht wird u n d bald zu einem sirupösen Gemisch von P o l y p h o s p h o r s ä u r e n zerfließt (Näheres vgl. S. 807). Es ähnelt in diesem Bestreben zur B i n d u n g von Wasser d e m b e n a c h b a r t e n Schwefeltrioxid S 0 3 . ist eines der wirksamsten wasserentziehenden Mittel, das man kennt (Wasserdampfdruck über bei 20 °C < 1 0 6 mbar), und wird deshalb in Exsiccatoren und Trockenrohren zum Entfernen auch der geringsten Spuren von Wasserdampf benutzt. Auch zur Wasserabspaltung aus chemischen Verbindungen (z.B. zur Darstellung von Säure-Anhydriden aus Säuren: 2 H N 0 3 -> N 2 0 5 + H 2 0 (S. 715); H2S04 S 0 3 + H 2 0 (S. 573); 2 H C l 0 4 C1 2 0 7 + H 2 0 (S.487) oder zur Gewinnung von Nitrilen aus Säureamiden: R — C 0 (NH 2 ) -> R — C = N + H 2 0 ) wird es vielfach verwendet. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Bildung des „Kohlensuboxids" C302 bei der Entwässerung von Malonsäure C H 2 ( C 0 0 H ) 2 mittels P 4 O 1 0 (S.901). Spaltet man die P—O—P-Bindung von P 4 ^ 0 mit E t h e r R 2 0 statt mit Wasser H 2 0 , so erhält man Ester der - im Falle der P 4 O 1 0 /H 2 0-Umsetzung nur untergeordnet gebildeten - Iso-tetrametaphosphorsäure H 4 P 4 0 1 2 (vgl. S. 807): P 4 O 1 0 + 2 R 2 0 -> R 4 P 4 0 1 2 . A l k o h o l e R 0 H führen gemäß der Gesamtgleichung P4 O 1 0 + 6 R 0 H phorsäure. Ein der Solvoly aktionsschema wird auch f aufgefunden. Vgl. hierzu auch die solvolytische Spaltung des Sulfids P 4 S 10 (S. 789). 10
10
Redox-Verhalten. I m Gegensatz zu N 2 O s ist ( P 2 O s ) 2 wegen der h o h e n Affinität von P u n d 0 k e i n 0 x i d a t i o n s m i t t e l ; d e m e n t s p r e c h e n d wird es z.B. von Kohlenstoff erst bei sehr h o h e r T e m p e r a t u r zu elementarem P h o s p h o r reduziert (vgl. P h o s p h o r d a r s t e l l u n g ) . M i t Metalloxiden wie N a 2 0 oder B a 0 reagiert es beim E r w ä r m e n heftig u n t e r P h o s p h a t b i l d u n g . Metallfluoride wie C a F 2 verwandeln es bei h o h e n T e m p e r a t u r e n in P h o s p h o r p e n t a f l u o r i d P F 5 , Metallchloride wie N a C l in Phosphorylchlorid ( P 4 0 1 0 + 6 N a C l ->• 2 P 0 C 1 3 + 2 N 3 P 0 ) . Thermisches Verhalten Erhitzt man h e x a g o n a l kristallisiertes (P 2 0 5 ) 2 (,,H-Form") in einem abgeschlossenen System 24 Stunden lang auf 450 °C, so verwandelt sich das anfangs flüssige Pentaoxid über glasiges (P2°5)* (Smp. 565 °C) und o r t h o r h o m b i s c h kristallisiertes ( P ^ ^ (,,0-Form", Smp. 562°C, Sdp. 605°C, Dichte = 2.72 g / c m ) letztlich in eine weitere unter den Reaktionsbedingungen stabile o r t h o r h o m b i s c h e Modifikation ( P ^ ^ („0'-Form", Smp. 580°C, Sdp. 605°C, D i c h t e 2.89 g / c m ) . Die polymeren Formen reagieren mit Wasser erwartungsgemäß viel langsamer als das dimere (P 2 0 5 ) 2 (zunehmende Hydrolysebeständigkeit ). Bei sehr hohen Temperaturen geht (P in I
0
0
I
I
^
I O ^P. I ^ o ^ o ' I o P O o o r " I 0 1
/
o
- - r " I o I
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o
(a) (P 2 O 5 ) x
Fig. 181
O \ o' P o
o^ >o O
-
o
^ 4PS(0R) 2 (SH) + 2H 2 S und somit anders als P ^ j 0 (Bildung der Mono- und Diester, S. 787) unter alleiniger Bildung von Diestern, da die primär mitentstehenden Monoester PS(0R)(SH) 2 reaktionsfähiger als ihre Sauerstoffhomologen P 0 ( 0 R ) ( 0 H ) 2 sind und gemäß PS(0R)(SH) 2 + R 0 H PS(0R) 2 (SH) + H 2 S weiterreagieren. Die Reaktion ist deshalb wichtig, weil Dialkyl- und Diaryl-dithiophosphorsäuren die Grundlage für viele Hochdruckschmiermittel, Öladditive und Flotationsmittel bilden. Mit Ammoniak setzt sich P 4 S 10 bei erhöhter Temperatur gemäß 3P 4 S 10 + 20NH 3 -> 4P 3 N 5 + 30H 2 S unter Bildung eines Phosphornitrids P 3 N 5 (vgl. S.812) um. Als Zwischenstufen dieser Reaktion lassen sich durch Einwirkung von flüssigem NH auf 10 Ammoniumsalze der Tetrathiophosphorsäure PS (SH)3 sowie ihrer Amide PS (SH) 2 (NH 2 ), PS(SH)(NH 2 ) 2 und PS(NH 2 ) 3 isolieren. Verwendung. P4S wird zur Herstellung von Insektiziden ge nutzt und dient als Flotationshilfsmittel und Schmierölzusatz. Tetraphosphortriselenid P 4 Se 3 , gewinnbar aus den Elementen, kristallisiert aus CS2 in orangeroten, bei 246°C schmelzenden und 360-400°C siedenden Nadeln. Es lässt sich analog P 4 S 3 mit I 2 in ß- und aP 4 Se 3 I 2 verwandeln (vgl. oben; Halogenidierung zu P 4 Se 3 Cl 2 und P 4 Se 3 Br 2 möglich) und bildet mit NbC den Komplex S (NbC ). Tetraphosphortetraselenid S lässt sich wie Tetraphosphorpenta selenid S nicht aus den Elementen synthetisieren (Phosphor-Selen-Schmelzen liefern hier nur polymere Produkte). Man erhält P4Se4 analog P 4 S 4 durch Reaktion von o:-P4Se3I2 mit (Me 3 Sn) 2 Se bei Temperaturen unter — 30°C. 0berhalb — 30°C polymerisieren P 4 Se 4 . Das Pentaselenid P4Se5 entsteht bei der Einwirkung von Br2 auf P4Se3 in CS2 bei 0°C als Reaktionsnebenprodukt und lässt sich aus CS2 in tiefroten Nadeln gewinnen Diphosphorpentaselenid S bildet sich beim Schmelzen stöchiometrischer Mengen roten Phosphors und grauen Selens. Es kristallisiert aus CS2 in schwarzen Nadeln. Bezüglich der Strukturen der Phosphorselenide vgl. Fig. 180m-p.
2.5
Sauerstoffsäuren des Phosphors 51,73
2.5.1
Überblick
Systematik Phosphor bildet Sauerstoffsäuren der allgemeinen Zusammensetzung H 3 PO„ (,,Orthosäuren", n = 2, 3, 4, 5 und 6), HPO„_X (wasserärmere ,,Metasäuren", n = 3 und 4) und H 4 P 2 0„ (,,Disäuren", n = 4, 5, 6, 7 und 8) sowie zahlreiche Polyphosphorsäuren u.a. der Stöchiometrie H„ + 2 P„0 3 „ + x mit drei und mehr Phosphoratomen je Molekül. Die Bezeichnungen der niedermolekularen Säuren und die ihrer Salze gehen aus Tab. 85 hervor, in welcher die Verbindungen nach steigender 0xidationsstufe des Phosphors angeordnet sind. In den Phosphorsäuren und Phosphat-Ionen, die wie z. B. H 3 P 0 2 = H 2 P 0 ( 0 H ) oder H 3 P 0 3 = H P 0 ( 0 H ) 2 (s. unten) P—H-Gruppen enthalten, ist der p h o s p h o r g e b u n d e n e Wasserstoff einerseits aufgrund der Elektronegativität von P (2.06) und H (2.20; vgl. S. 146), andererseits aufgrund der Ergebnisse quantenmechanischer Berechnungen sowie spektroskopischer Untersuchungen (Messun gen der nichtlinearen optischen Koeffizienten an Einkristallen von LiH 2 P0 3 ) und chemischer Einsichten (in heißem Alkali entwickeln H 3 P 0 2 und H 3 P 0 3 Wasserstoff, vgl. S.793) negativ polarisiert. Demgemäß kommt ihm tatsächlich die 0xidationsstufe — 1 zu, womit sich etwa die 0xidationsstufen von H 3 P 0 2 und H 3 P 0 3 zu jeweils + 5 ergeben, was mit dem Befund in Einklang steht, dass die Säurestärken
1 3 Literatur. A.D.F. Toy, ComprehensiveInorg. Chem. Band 2 (1973)468-529; C.N. Rao, S. Natarajan, A. Choudhury, S. Neeraj, A.A. Ayi: ,, Aufbau Principle of Complex Open-Framework Structures of Metal Phosphates with Different Dimensionalities", Acc. Chem. R e s 34 (2001) 80-87; M. Binnewies, H. Schnöckel: „The Homologues of Nitrosyl and Thionitrosyl Halides. Triatomic 18e Molecules Containing N, P, As or Sb in the Central Position in Comparison to Related Isoelectronic Compounds", Chem. R e v 90 (1990) 321-330; ULLMANN (5. Aufl.): „Phosphoric Acid and Phosphates", A18 (1991) 465-503; S. Mann: „Biomineralisation: Ein neuer Zweig der Bioanorganischen Chemie", Chemie in unserer Zeit 20 (1986) 69-76; K. Dehnicke, A.-F. Shihada: „Structural and Bonding Aspects in Phosphorus Chemistry - Inorganic Derivatives of Oxohalogeno Phosphoric Acids", Struct. B o n d 28 (1976) 51-82; D. Gleisberg: „Phosphate und Umwelt", Chemie in unserer Zeit 82 (1988) 201-207. I.I. Creaser, J . 0 . Edwards: „Peroxophosphates", Topics Phosphorus Chem. 7 (1972) 379-435. Vgl. Anm. 76.
• 790
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Tab. 8 Ox.stufe
Sauerstoffsäuren des Phosphors.
Formel
Säuren des Typus H PO Name Salze
Säuren des Typus
+ ,,0"
+ ,,1"
H 3 PO 2
Phosphinsäurea) Phosphor(I)-säure
Phosphinatea) Phosphate(I)
+ ,,2"
+ ,,3"
H3PO3C)
Phosphonsäurea) Phosphor(III)-säure
Phosphonatea) Phosphate(III)
+ ,,4"
Formel
Name
H4P2O2
Hypodiphosphinsäureb) Diphosphor(0)-säure
4P 2 0, Salze Hypodiphosphinate Diphosphate(0)
H4P2O3 Diphosphinsäureb) unbekannt Diphosphor(I)-säure
Diphosphinate Diphosphate(I)
H4P2O4
Hypodiphosphonsäurea) Diphosphor(II)-säure
Hypodiphosphonate Diphosphate(II)
H 4 P 2 O/>
Diphosphonsäure^ Diphosphor(III)-säure
Diphosphonate Diphosphate(III)
H 4 P 2 O/«> Hypodiphosphorsäure Diphosphor(IV)-säure
Hypodiphosphate Diphosphate(IV)
+5
H3PO4C)
Phosphorsäure Phosphor(V)- säure
Phosphate Phosphate(V)
H4P2O,«>
Diphosphorsäure Diphosphor(V)-säure
Diphosphate Diphosphate (V)
+ 5"
H3PO5S)
Peroxophosphorsäure Peroxophosphor(V)säure
Peroxophosphate Peroxophosphate(V)
H4P2O5
Peroxodiphosphorsäure Peroxodiphosphor(V)säure
Peroxodiphosphate Peroxodiphosphate (V)
a) Früher hießen H 3 P 0 2 = H 2 P 0 ( 0 H ) Hypophosphorige Säure (Salze: Hypophosphite), H 3 P 0 3 = P H 0 ( 0 H ) 2 Phosphorige Säure (Salze: Phosphite), H 4 P 2 0 4 = ( H 0 ) ( 0 ) H P — P H ( 0 ) ( 0 H ) c ) Hypodiphosphorige Säure (Salze: Hypodiphosphite) und H 4 P 2 O s = ( H 0 ) ( 0 ) H P — O — P H ( 0 ) ( 0 H ) c ) Diphosphorige Säure (Salze: Diphosphite). Vorstehende N a m e n sollten nur noch für Derivate der Säuren in ihren tautomeren F o r m e n H P ( 0 H ) 2 , P ( 0 H ) 3 , ( H 0 ) 2 P — P ( 0 H ) 2 und ( H 0 ) 2 P — O — P ( 0 H ) 2 verwendet werden. - b) N a m e n nicht eingeführt. Die Säuren H 4 P 2 0 2 = H P 0 ( 0 H ) ( P ^ j ) bzw. H 4 P 2 Ö 3 = P 0 ( 0 H ) 2 ( P H ) 2 können als,,Phopshidophosphonsäure" (,,Phosphanylphosphinsäure") bzw. „Phoshidophosphorsäure" (,,Phosphanylphosphonsäure") bezeichnet werden. W ä h r e n d P 0 ( 0 H ) 2 ( P H 2 ) und P 0 ( P H 2 ) 3 bisher u n b e k a n n t sind, existiert eine ,,Diphosphidophosphorsäure" (,,Diphosphany/phosphinsäure") H 5 P 3 0 2 = P 0 ( 0 H ) ( P H 2 ) 2 (0xidationsstufe von P: — 0.33). - c) M a n kennt auch die von den 0 r t h o s ä u r e n H 3 P 0 3 u n d H 3 P 0 4 a b g e l e i t e t e n ( p o l y m e r e n ) M e t a s ä u r e n ( H P ^ J , , und ( H P 0 3 ) , . - d) Neben symmetrisch gebauter H 4 P 2 0 5 a ) mit P—O—P- bzw. H 4 P 2 0 6 a ) mit P—PGruppierung kennt m a n unsymmetrisch gebaute isomere Säuren H 4 P 2 O s = ( H 0 ) ( 0 ) H P — P 0 ( 0 H ) 2 (Diphosphor(II,IV)säure) mit P—P- bzw. H 4 P 2 0 6 = ( H 0 ) ( 0 ) H P — O — P 0 ( 0 H ) 2 (Diphosphor(III,V)-säuren) mit P—O—P-Gruppierung. e) M a n kennt darüber hinaus noch höhere Phosphorsäuren H ^ ^ P ^ , ^ sowie zugehörige höhere „ H y p o p h o s p h o r s ä u r e n " H ^ ^ O ^ ^ . - ^ Die Verbindungen enthalten Peroxogruppen — O — O — mit der 0xidationsstufe — 1 (statt sonst — 2) des Sauerstoffs. - g) M a n kennt auch eine Diperoxophosphorsäure H 3 P 0 6 (Salze Diperoxophosphate).
von H 3 P0„ vergleichbar sind (n = 2; pK s = 1.23, n = 3; pK s = 2.00; n = 4: pK s = 2.16). Per definitionem kommt jedoch dem an Nichtmetalle gebundenen Wasserstoff - zum Teil entgegen den wahren Bindungsverhältnissen - immer die 0xidationsstufe + 1 zu. Strukturen Der Aufbau der Monophosphorsäuren H 3 PO n (n = 1-4) lässt sich am einfachsten wie bei den Sauerstoffsäuren des Chlors (S. 152) oder Schwefels (S. 577) vom einfachen Ion des Zentralatoms dem Phosphid-Ion P ( a ) - aus ableiten, woraus durch Anlagerung von 1, 2, 3 und 4 Sauerstoffatomen an die vier freien Elektronenpaare die Anionen (b), (c), (d) und (e) entstehen: :0 I :P:
(a) P 3 _
:0
(b) PO 3 "
:0
(c) PO|"
:0 I :0
(d) PO3"
:0 I :0
3 -
(1)
I :0 (e) PO 3 "
Von diesen Anionen sind diejenigen mit freien Elektronenpaaren am Phosphor (a-d) in wässeriger Lösung unbeständig, weil der Phosphor in diesen Verbindungen ein großes Bestreben zeigt, W a s s e r s t o f f - I o n e n des Wassers an die freien Elektronenpaare anzulagern. Löst man also z.B. [P0 2 ] 3 ~ oder [P0 3 ] 3 ~ in Wasser auf, so vollzieht sich sofort die Umsetzung: [P02]3"+ 2H20 [ H 2 P 0 2 ] " + 2 0 H ~ bzw. [ P 0 3 ] 3 ~ + H 2 0 -> [HP0 3 ] 2 ~ + 0 H " . Das Gleichgewicht dieser Reaktion liegt dabei ganz auf der rechten Seite. Es gelingt daher nicht, in Umkehrung der Reaktion etwa durch Einwirkung von Lauge auf das P h o s p h o n a t - I o n [ H P 0 3 ] 2 ~
2. Der Phosphor
791»
das P-gebundene letzte (dritte) Wasserstoffatom der zugrunde liegenden Phosphonsäure H 3 P 0 3 zu neutralisieren (bei Wasserausschluss ist natürlich auch das dritte H-Atom durch Metalle wie Na ersetzbar). Die P h o s p h o n s ä u r e H 3 P 0 3 ist mit anderen Worten trotz ihrer drei Wasserstoffatome zum Unterschied von der dreibasigen Phosphorsäure H 3 P 0 4 in wässriger Lösung nur eine zweibasige Säure. Ebenso fungiert die P h o s p h i n s ä u r e H 3 P 0 2 trotz ihrer drei Wasserstoffatome in wässeriger Lösung nur als einbasige Säure, da auch hier die direkt an P gebundenen H-Atome nicht acid sind. Analoges gilt vom Phosphid-Ion P . Bringt man z. B. Calciumphosphid mit Wasser zusammen, so lagern sich an drei in stark saurer Lösung sogar in alle vier - Elektronenpaare des Phosphors Wasserstoff-Ionen an, so dass P h o s p h o r w a s s e r s t o f f P H bzw. das P h o s p h o n i u m - I o n [ P H ] + entsteht. Somit geht die obige Anionenreihe (1) in die folgende Reihe (2) mit t e t r a e d r i s c h koordiniertem Phosphor über: H I H—P—H I H
H I
:0—P—H "
Phosphonium-Ion (Td-Symmetrie)
:0
I
I
:0
I H
"
Phosphanoxid (C3v-Symmetrie)
:0
:0 I
:0 I H
:0
"
Phosphinat (C2v-Symmetrie)
I H
"
(2) I
:0
Phosphonat (C3v-Symmetrie)
Phosphat (Td-Symmetrie)
Man erkennt daraus, dass eine lückenlose Reihe vom [ P H ] + bis zum [P0 4 ] 3 ~ besteht und dass die Ladung des Ions bei jedem Schritt - entsprechend dem jeweiligen Ersatz eines positiv geladenen Wasserstoff-Ions H + durch ein neutrales Sauerstoffatom O - um je eine negative Einheit zunimmt. Den Anionen H 2 P 0 2 , H P 0 3 ~ , PO 3 " entsprechen die Säuren H [ H 2 P 0 2 ] , H 2 [ H P 0 3 ] und H 3 [ P 0 4 ] , bzw. - da die aciden H-Atome nicht ionogen, sondern an Sauerstoff gebunden sind als Konstitutionsformeln geschrieben (unter Hinzunahme von P 0 (bisher nur P0, HP0, RH P0)): 0H 0=P^H H Phosphinsäure
/H 0=P^-H H Phosphanoxid
0H 0H H Phosphonsäure
0H 0H 0H Phosphorsäure
Die Peroxophosphorsäuren H 3 PO„ (n = 5,6) enthalten ein oder zwei Sauerstoffatome mehr als die Phosphorsäure H 3 P 0 4 . Da der Phosphor im Phosphat-Ion kein freies Elektronenpaar mehr aufweist, kann die Bindung des fünften bzw. sechsten Sauerstoffatoms nur durch eines oder zwei der vier Sauerstoffatome des Phosphat-Ions erfolgen:
.. :0
:0 I
.. :0
—O:
I :0
:0 I
..
..
.. :0
I :0
I :0
Peroxophosphat
Phosphat
:0 I
I I
Diperoxophosphat
Auch in den Diphosphorsäuren H 4 P 2 O n (n = 4-8) bleibt die K o o r d i n a t i o n s z a h l 4 des Phosphors gewahrt (tetraedrisch koordinierter Phosphor): 2-
00 HPPH 00 Hypodiphosphonat Diphosphat(II)
>-
30 0 HPOPH 0 0 Diphosphonat Diphosphat(III) 3-
00 HPPO 00 Diphosphat (II,IV)
,-
-.4 4 -—
00 OPPO 00 Hypodiphosphat Diphosphat (IV)
0 0 OPOPO 0 0 Diphosphat Diphosphat (V)
0 0 HPOPO 0 0 Diphosphat (III,V)
0 0 0 P 0 0 P 0 0 0 Peroxo-diphosphat (V)
Entsprechend den wiedergegebenen Komplexformeln der Säureanionen ist die Hypodiphosphonsäure H 4 P 2 0 4 zweibasig, die Diphosphonsäure H 4 P 2 0 5 zweibasig und die isomere Diphosphor (II,IV)-säure dreibasig, die Hypodiphosphorsäure H 4 P 2 0 6 vierbasig und die isomere Diphosphor(III,V)-säure dreibasig, die Diphosphorsäure H 4 P 2 0 7 sowie die Peroxodiphosphorsäure H 4 P 2 O s vierbasig.
• 792
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
stellt das erste K o n d e n s a t i o n s p r o d u k t der Orthophosphorsäure Die Diphosphorsäure [ 3 PO 4 dar: 2H 3 PO 4 H 4 P 2 0 1 + H 2 O. Höhere Kondensationsprodukte sind die kettenförmigen wie Tri- und Tetraphosphorsäure (Anionen: Oligo-(Poly-)phosphorsäuren H, 1 + +1 0 3 P—O—PO 2 —O—PO 3 _, O 3 P—O—PO 2 —O—PO 2 —O—POf ) bzw. ringförmigen Oligometaphosphorsäuren (HPO 3 ) n (cyclo-Oligophosphorsäuren) wie Tri- und Tetrametaphosphorsäure (siehe Formeln; charakteristisches Strukturelement: P—O—P-Gruppen). Neben diesen Säuren gibt es auch sauerstoffärmere Hypopoly- und Hypometaphosphorsäuren H n + 2 P n 0 2 n + 2 und (HPO 2 ) n wie Hypodiphosphonsäure, Hypotriphosphorsäure (Anion: O 3 P—PO 2 —PO3_) bzw. Cyclohexametaphosphorige Säure (Anion: (PO 2 ) 6 ; vgl. Formeln; charakteristisches Strukturelement: P—P-Gruppen). Man kennt auch Säuren, die sowohl POP- als auch PP-Gruppierungen enthalten, zum Beispiel: [ 0 3 P — P O 2 — O — P O 2 — P O ] 6 _ (P4O6—); [ O 2 H P - O - P O 2 - P O 3 ] 4 _ (HP 3 O._). 3O2P
02 0 2 P^ / o
P0 2
I <X
,0
I
\
/ .P0 2
02i\
02
o
6 -
O2P
PO,
I o 2 P^
vo2 02
Trimetaphosphat
Tetrametaphosphat
Hexametaphosphit
P3O93-
P4O14-
PöOi6-
Die Zusammensetzung der ,,Metasäuren" (HPO 2 ) n und (HPO 3 ) n entspricht formal der vom phosphorhomologen Stickstoff abgeleiteten Salpetrigen Säure HNO 2 und Salpetersäure H N O (deren Orthoformen H 3 N O 3 und H 3 N O 4 im Gegensatz zu H 3 PO 3 und H 3 PO 4 unbeständig sind). Diese Übereinstimmung ist aber nur äußerlich; denn die S t r u k t u r der polymeren Metasäuren des Phosphors und ihrer Salze ist von der der entsprechenden monomeren Stickstoffsäuren und ihrer Salze ganz verschieden und entspricht cyclischen Formeln (s. oben). Die monomeren Metasäuren HPO 2 = HOPO und HPO 3 = HOPO 2 sowie ihre Derivate XPO und XPO 2 sind nur unter extremen Bedingungen erhältlich (s. dort). Darstellung U n t e r den Sauerstoffsäuren des P h o s p h o r s , die fast alle a u c h im f r e i e n Z u s t a n d b e k a n n t sind, sind die Phosphonsäure u n d insbesondere die Phosphorsäure sehr wichtig. Beide Säuren k ö n n e n über ihre A n h y d r i d e dargestellt werden ( P 2 0 3 + 3 H 2 0 -> 2 H 3 P O 3 ; P 2 O s + 3 H 2 0 -> 2 H 3 P O 4 ) . D u r c h K o n d e n s a t i o n u n t e r geeigneten Bedingungen (s. n a c h f o l g e n d e U n t e r k a p i t e l ) lässt sich H 3 P O 3 in Diphosphonsäure H 4 P 2 0 5 bzw. H 3 P O 4 in Diphosphorsäure H 4 P 2 0 7 (oder Poly- bzw. M e t a p h o s p h o r s ä u r e n ) ü b e r f ü h r e n , d u r c h O x i d a t i o n geht H 3 P O 4 in Peroxodiphosphorsäure H 4 P 2 0 8 (hieraus d u r c h Hydrolyse Peroxophosphorsäure H4PO5) ü b e r Phosphinsäure H 3 P O 2 entsteht d u r c h D i s p r o p o r t i o n i e r u n g v o n weißem P h o s p h o r (P 4 + 6 H 2 0 -> P H 3 + 3 H 3 P O 2 ) , HypodiphosphorsäureH4P206 durch O x i d a t i o n von rotem P h o s p h o r (f Pw + 2 O 2 + 2 H 2 0 -> H 4 P 2 0 6 ) , Hypodiphosphonsäure H 4 P 2 0 4 durch H y d r o l y se v o n D i p h o s p h o r t e t r a i o d i d . Technisch wichtig sind H 3 P O 4 , H 3 P O 3 u n d H 3 P O 2 . Nachfolgend sind Potentialdiagramme (vgl. Anh.VI) einiger Oxidationsstufen des Phosphors für pH = 0 bzw. 14 wiedergegeben, denen zu entnehmen ist, dass die O x i d a t i o n s k r a f t der Phosphorsauerstoffsäuren bzw. ihrer Anionen - wie im Falle anderer Elementsauerstoffsäuren - in s a u r e r L ö s u n g s t ä r k e r ist, während die Reduktionskraft in alkalischer Lösung größer ist (stärkstes Oxidationsmittel unter den aufgeführten Verbindungen: Hypodiphosphorsäure, gefolgt von Phosphor und Phosphorsäure; stärkstes Reduktionsmittel: Hypodiphosphat gefolgt von Phosphor und Phosphinat): pH = 0
— 0.933 +4 +0.380 -H4P2O6-
r
— 0.502
r — 0.499
— 0.276
— 0.097 _ 2
II— P , H a
— 0.508
±0
0.006
—0.063 — 3
PH
— 0.412
pH = 14
— 2.18
POJ-
— 1.73
— 0.061 — 1.12
HPO,2-
—1.57 — 1.49
— 0.9 — 2.05
— 0.
— 0.89 PH
2. Der Phosphor
793»
Wie aus dem Diagramm zudem folgt, kann Phosphor sowohl in saurer als auch alkalischer Lösung in die Stufen Phosphor ( — III) einerseits und Phosphor ( +1) bzw. Phosphor ( + III) bzw. Phosphor ( + V) andererseits disproportionieren
2.5.2
Phosphinsäure H 3 P 0 2
Darstellung. Beim Erwärmen mit Wasser disproportioniert weißer P h o s p h o r u.a. (vgl. S.751) zu einer tieferen (Phosphorwasserstoff) und einer höheren 0xidationsstufe (Phosphinsäure): P4 + 6 H 2 0 ^
PH 3 + 3H+P0 2 .
Entfernt man die entstehende Phosphinsäure durch Salzbildung aus dem Gleichgewicht, d. h. kocht man weißen Phosphor nicht mit Wasser, sondern mit Natronlauge N a 0 H oder Kalkmilch Ca(0H) 2 , so verschiebt sich das Gleichgewicht nach rechts, sodass die entsprechenden Salze - NaH 2 P0 2 bzw. Ca (H 2 P0 2 ) 2 - isolierbar sind. Das im Zuge der Umsetzung zusätzlich neben H 2 gebildete Phosphonat kann als unlösliches Salz CaHPO a abgetrennt werden. Durch Umsetzung des Calciumsalzes mit Schwefelsäure gewinnt man inder Technik dann die freie Säure: Ca(H 2 P0 2 ) 2 + H 2 S 0 4 -y CaS0 4 + 2 H 3 P 0 2 . Beim Eindampfen der wässerigen Lösung kristallisiert sie in Form farbloser Blättchen (Smp. 26.5 °C) aus. Ihre Isolierung erfolgt darüber hinaus durch Extraktion der wässerigen Lösung mit Diethylether. Auch durch 0xidation von P H mit I 2 in Wasser kann die freie Säure (neben H 3 P 0 3 als Hauptprodukt) gewonnen werden: PH
2I
2H
P0
4HI.
Eigenschaften Säure-Base-Verhalten Phosphinsäure ist eine mittelstarke einbasige Säure (p^s = 1.23) und bildet Phosphinate M H 2 P 0 2 , die alle in Wasser leicht löslich sind. Als sehr schwache Base bildet sie mit starken Säuren das Phosphonium Ion P(0H) (H P 0 K ca. 0.02) - Redox-Verhalten. H 3 P 0 2 wirkt wesentlich s t ä r k e r r e d u z i e r e n d als Phosphonsäure, in welche sie übergeht: H 3 P 0 2 + H 2 0 H 3 P 0 3 + 2 H + + 2 © (vgl. Potentialdiagramm, oben). So reduziert sie sich z.B. beim E r w ä r m e n auf 130-140°C selbst zu Phosphorwasserstoff: P0
2H P 0
2H P 0
die dabei entstehende Phosphonsäure disproportioniert bei stärkerem Erhitzen weiter in Phosphorwasserstoff und Phosphorsäure. Gold, Silber, Quecksilber, Nickel, Cobalt usw. werden sowohl durch die freie Säure als auch durch deren Salze aus den Lösungen ihrer Salze gefällt. Von der Phosphonsäure unterscheidet sie sich durch ihr Verhalten gegen Kupfersulfatlösung indem sie Kupfersulfat nicht nur zu metallischem Kupfer, sondern zu ,,Kupferhydrid" CuH (s. dort) reduziert. In stark alkalischer Lösung reduziert Phosphinsäure - und zwar mit steigendem pH-Wert zunehmend rasch auch die Protonen des Wassers zu Wasserstoff: H2P02 + 0 H "
H P 0 2 t + H2.
Mechanistisch erfolgt diese Redox-Reaktion auf dem Wege einer nucleophilen Substitution von Hydrid durch Hydroxid 0 H " (H0:~ + 0 2 H P — ( H 0 ) 0 2 H P ~ + :H"), wobei im Zuge seiner Bildung mit Wasser unter -Entwicklung reagiert (H 0 H ). Struktur. Im t e t r a e d r i s c h gebauten H 2 P 0 2 - I o n (P in der Mitte des Tetraeders) beträgt der P0-Abstand 1.51 Ä (ber. für P0-Einfach-/Doppelbindung 1.76/1.56 Ä), der PH-Abstand ca. 1.5 Ä, der Winkel 0 P 0 120° (NH + -Salz) bzw. 109° (Mg2 + -Salz), der Winkel HPH 92°.
• 794
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Verwendung Die Salze von H 3 P 0 2 (Weltjahresproduktion: Kilotonnenmaßstab) - und zwar insbesondere das Na-Salz - dienen zur stromlosen Abscheidung von phosphorhaltigen Nickelschichten aus NiCl 2 - oder NiS0 4 - und NaH 2 P0 2 -haltigen Lösungen auf Metallen (Bedingungen: pH 4-6; 90°C) und Kunststoffen sowie anderen nichtleitenden Materialien (Bedingungen: pH 7-10; 25-50°C). Derivate Die Säure H 3 P 0 2 lässt sich durch zwei t a u t o m e r e F o r m e n beschreiben, in welchen entweder ein Wasserstoff an Phosphor und zwei Wasserstoffe an Sauerstoff oder zwei Wasserstoffe an Phosphor und ein Wasserstoff an Sauerstoff gebunden vorliegen: 0H I
II
0H Hypophosphorige Säure (Phosphonige Säure)
0H I H Phosphinsäure
Das Tautomeriegleichgewicht liegt praktisch vollständig auf der Phosphinsäure-Seite (das Verhältnis der Konzentrationen HP(0H) 2 zu H 2 P 0 ( 0 H ) ist kleiner 10 ~ 12 ); man kennt jedoch von beiden Formen 0rganylderivate, nämlich Hypophosphorigsäure-ester (,,Phosphonigsäure-ester") RP(0R) 2 und Phosphinsäure-ester R 2 P 0 ( 0 R ) . Das HP(0H) 2 -Tautomere lässt sich in Komplexen stabilisieren (Herausfangen des Gleichgewichtspartners bei Zugabe geeigneter Komplexpartner).
2.5.3
Phosphonsäure H 3 P 0 3
Darstellung Die P h o s p h o n s ä u r e wird bequem durch Umsetzen von P h o s p h o r t r i c h l o r i d bzw. P h o s p h o r t r i o x i d mit Wasser dargestellt: PC13 + 3 H 2 0
H 3 P 0 3 + 3HCl
bzw.
P406 + 6 H 2 0
4H3P03.
In der Technik versprüht man hierbei PC13 bei 190°C in Wasserdampf, wobei die Reaktionswärme zur Abdestillation von gebildetem Chlorwasserstoff und überschüssigem Wasser genutzt wird Eigenschaften. Die reine Phosphonsäure H 3 P 0 3 bildet farblose, in Wasser sehr leicht lösliche Kristalle (Dichte = 1.65 g/cm 3 ) vom Schmelzpunkt 73.8 °C. - Säure-Base- Verhalten. Als zweibasige Säure dissoziiert H 3 P 0 3 in zwei Stufen (pK x = 2.00, pK 2 = 6.59) und bildet zwei Reihen von Salzen primäre Phosphonate [ H P 0 3 ] (Hydrogenphosphonate) und sekundäre Phosphonate M 2 [ H P 0 3 ] (Phosphonate). Von diesen sind die Alkaliphosphonate in Wasser leicht, die anderen schwer löslich. Die primären Phosphonate gehen beim Erwärmen unter vermindertem Druck in Diphosphonate über: 2 H 2 P 0 3 -> H 0 2 P — O — P 0 2 H + H 2 0 . - Redox-Verhalten. Charakteristisch für die Phosphonsäure ist ihr starkes R e d u k tionsvermögen, da sie das Bestreben hat, in die höhere 0xidationsstufe der Phosphorsäure überzugehen: H 3 P 0 3 + H 2 0 H 3 P 0 4 + 2 H + + 2 © (vgl. Potentialdiagramm, oben). So reduziert sie sich z.B. beim Erhitzen im trockenen Zustande unter gleichzeitigem Übergang in Phosphorsäure selbst zu Phosphorwasserstoff: H3P03 + 3H3P03
H3P + 3 H 3 P 0 4 ,
führt Halogene in Halogenwasserstoffe, Schwefelsäure in Schweflige Säure über und fällt aus Lösungen von Salzen edlerer Metalle (z.B. Silber) die Metalle aus. An der Luft oxidieren sich Phosphonate nicht, Phosphonsäure nur langsam zur Stufe der Phosphorsäure. Durch starke R e d u k t i o n s m i t t e l (z.B. naszierenden Wasserstoff) wird Phosphonsäure, deren oxidierende Eigenschaften nur schwach sind (H 3 P0 3 + 6 H + + 6 Q H 3 P + 3 H 2 0 ; e0 = —0.284V) in Monophosphan überführt (vgl. hierzu auch die obige Eigenreduktion zu Phosphorwasserstoff). Verglichen mit der homologen Salpetrigen Säure ist die Phosphonsäure ein stärkeres Reduktions- und schwächeres 0xidationsmittel (vgl. Potentialdiagramm, oben). Struktur. Im,,Phosphonat-Ion" H P 0 3 ~ sind die H- und 0-Atome tetraedrisch um das P-Atom gruppiert. In der kristallisierten, durch H-Brücken vernetzten Phosphonsäure H P 0 ( 0 H ) 2 betragen die P0-Abstände 1.48 (1 x)/1.54Ä (ber. für P0-Einfach-/Doppelbindung 1.76/1.56 Ä).
2. Der Phosphor
795»
Verwendung Phosphonsäure dient zur Herstellung von basischem Bleiphosphonat (PVC-Stabilisator), von Aminomethylenphosphonsäure, von Hydroxyethandiphosphonsäure sowie als Reduktionsmittel. Derivate Die Säure H 3 P 0 3 lässt sich wie die Säure H 3 P 0 2 durch zwei tautomere, als Phosphorige und Phosphonsäure bezeichnete F o r m e n beschreiben, in welchen die Wasserstoffatome entweder nur an Sauerstoff oder an Sauerstoff (a) und Phosphor (b) gebunden sind:
I
H
OH (a) Phosphorige Säure
f
i
HO — P — O H
° - R °
H
O (b) Phosphonsäure
X o'
A 'O
(c) Metaphosphonsäure
HO
\)
(d) Metaphosphorige Säure
Tatsächlich liegt das Tautomeriegleichgewicht praktisch ganz auf der Phosphonsäure-Seite (b) (K ca. 1010). Man kennt jedoch von beiden Formen 0rganylderivate, nämlich Phosphorigsäure-ester P ( 0 R ) 3 und Phosphonsäure-ester R P 0 ( 0 R ) 2 , von denen die ersteren in die letzteren überzugehen vermögen. P(0Ph) 3 wird als Stabilisator (Antioxidans) Kunststoffen, Gummi und Schmierölen zugesetzt. P(0Me) 3 und P(0Et) 3 sind Edukte für Insektizide und tierärztliche Produkte, RP0(0H) 2 -Derivate finden praktische Verwendung in Reinigungsmitteln und Kühltürmen zur Unterbindung der Kalkabscheidung. Das Tautomere (a) lässt sich in Komplexen stabilisieren (Herausfangen des Gleichgewichtspartners bei Zugabe geeigneter Komplexpartner). Während im Falle der Stickstoff(III)-säure nur die wasserärmere Metaform H N 0 2 , nicht jedoch die wasserreiche 0rthoform N 0 existiert ( H N 0 N 0 ), liegt das analoge Gleichgewicht im Falle der Phosphor (III)-säure unter normalen Bedingungen ganz auf der Seite der 0rthoform H 3 P 0 3 (HP0 2 + H 2 0 -> H 3 P0 3 ). Die (monomere) Metaform H P 0 2 lässt sich ihrerseits durch zwei tautomere, als Metaphosphon- und Metaphosphorige Säure zu bezeichnende Formen (c) und (d) beschreiben, wobei wiederum von beiden Formen Derivate erzeugbar sind. Die Säure H P 0 2 (d?) existiert nur bei sehr hohen Temperaturen und niedrigen Drücken und entsteht etwa durch Hydrolyse von PC13 bei 1000 °C. Halogenderivate X — P = 0 der Metaphosphorigen Säure (Ersatz von 0 H durch X = F, Cl, Br) sowie Chalkogenderivate X — P = Y (Ersatz von 0 durch Y = S) lassen sich bei hohen Temperaturen und niedrigen Drücken gewinnen und in der Matrix bei tiefen Temperaturen isolieren^. Interessanterweise kommen den betreffenden ,,Phosphorylhalogeniden" sogar negativere Bindungsenthalpien zu als den entsprechenden „Nitrosylhalogeniden" (&Ht ( N 0 F / P 0 F ) = - 6 5 . 7 / - 4 0 4 . 4 kJ/mol; A# f (N0Cl/ P0Cl) = +51.7/ -215.1 kJ/mol; A# f (N0Br/P0Br) = + 82.1/+ 10.8 kj/mol); zum Unterschied von letzteren weisen sie aber eine ausgesprochene Tendenz zur Oligomerisierung auf. Die Moleküle X — P = 0 sind ähnlich wie die isovalenzelektronischen Moleküle SiF2 und S0 2 gewinkelt gebaut (z. B. Winkel an Si/P/S in SiF 2 /P0F/ S0 2 = 100/110/119°; P0/PF-Abstände in P 0 F ca. 1.46/1.58 Ä). Arylderivate ArP0 2 der Metaphosphonsäure (,,Aryldioxophosphorane"; Ersatz von H durch Ar) sowie Chalkogenderivate ArPY 2 (Ersatz von 0 durch Y = S, Se) lassen sich u. a. durch Chalkogenierung von Diphosphenen gewinnen: 2ArP0 2 + 4 0 2 (bzw. 2ArPY 2 ). ArP0 2 (Ar = 2,4,6-«Bu3C6H2) ArP=PAr + 4 0 3 (bzw. | S s , | S e s ) bildet sich hierbei als mit Me0H abfangbares Intermediat ArP0(0H)(0Me)), ArPS lässt sich iso lieren (planarer Phosphor mit CPS/SPS = 117/126°).
2.5.4
Phosphorsäure H 3 P ^ 5 1 ' 7 3 ' 7 4
Darstellung Zur technischen Darstellung von Phosphorsäure, die eine der am längsten bekannten und wichtigsten Phosphorverbindungen ist, dienen als Ausgangsmaterial insbesondere Apatite Ca 5 (P0 4 ) 3 (F,0H,Cl) (vgl. Vorkommen von Phosphor; Weltjahresproduktion: 100 Megatonnenmaßstab). Ihre Überführung in Phosphorsäure erfolgt durch ,,nassen Aufschluss" mit Schwefelsäure (,,Aufschluss-Phosphorsäure") und durch ,,trockenen Aufschluss" mit Koks
7
4 Physiologisches. H 3 P 0 wirkt weniger ätzend als H 2 S 0 4 und erst bei höheren Temperaturen oxidierend. Insbesondere sind von wässrigen H 3 P 0 4 - L ö s u n g e n keine gesundheitsschädigenden Wirkungen bekannt. Der Mensch enthält Phosphorsäure in F o r m von Phosphorsäureestern, Phospholipiden und -proteinen sowie Nucleinsäuren (insgesamt ca. 700 g P) und benötigt ca. 0.8-1.2 g Phosphor pro Tag (Aufnahme durch die Nahrung).
• 796
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
u n d Quarz im elektrischen 0 f e n auf dem Wege über weißen P h o s p h o r (vgl. Darstellung von Phosphor), welcher in H 3 P 0 4 (,,thermische Phosphorsäure") ü b e r f ü h r t wird. Aufschlussphosphorsäure Der Calciumphosphat-Anteil des gemahlenen Apatits reagiert mit Schwefelsäure gemäß Ca3(P04)2 + 3H2S04
3CaS04 + 2H3P04,
wobei m a n das entstehende, je nach dem Verfahren in unterschiedlicher F o r m als Gips C a S 0 4 • 2 H 2 0 (,,Dihydratprozess", Aufschluss bei 80 °C) oder als C a S 0 4 • ^ H 2 0 („Hemihydratprozess", Aufschluss bei ca. 95 °C) anfallende Calciumsulfat abfiltriert u n d die zurückbleibende nicht sehr reine 3 0 - 5 0 %ige Phosphorsäurelösung auf über 7 0 % konzentriert. Im Zuge des „nassen Aufschlusses" verflüchtigt sich der Fluorid-Anteil in Gegenwart von Kieselsäure als SiF4, der Carbonat-Anteil als C 0 2 . Weitere Apatitkomponenten (z. B. Eisen, Aluminium, Uran, Kieselsäure) gehen entweder in Lösung oder werden zusammen mit CaS0 4 während des Aufkonzentrierens ausgefällt (vorhandenes wird in Gegenwart von Si und N als N Si mitgefällt). Die auf diese Weise erhältliche, noch unreine Phosphorsäure-Lösung (Verunreinigungen u.a.: Kupfer, Eisen, Aluminium, Magnesium, Arsenit, Sulfat, Fluorid, organische und wasserunlösliche Anteile) lässt sich durch Fällung der störenden Ionen (z.B. Cu 2 + als CuS, AsO3~ als As 2 S 3 , S0 4 ~ als BaS0 4 ) oder Extraktion von H 3 P 0 4 mit Lösungsmitteln wie Methanol, Butanol, Tri-n-butylphosphat weiter reinigen, sodass sie günstigenfalls sogar Lebensmittelqualität erreicht. Thermische Phosphorsäure Der aus Apatiten gewonnene weiße P h o s p h o r (vgl. S. 744) wird mit Luftüberschuss zu Phosphorpentaoxid v e r b r a n n t : P 4 + 5 0 2 -> P 4 O 1 0 . D i e Verbrennungsgase, die das Pentaoxid in F o r m von R a u c h enthalten, werden d a n n in 7 5 - 8 5 % i g e r Phosphorsäure absorbiert P 4 O 1 0 + 6 H 2 0 -»• 4 H 3 P 0 4 , wobei die d a d u r c h bedingte Konzentration der Säure durch kontinuierliche Wasserzugabe ausgeglichen wird (vgl. Absorption von S 0 3 in H 2 S 0 4 , S.586). M a n gewinnt so 8 5 % i g e , recht reine Lösungen, aus denen m a n das als H 3 A s 0 3 enthaltene Arsen mit H 2 S als A s 2 S 3 ausfällen k a n n . M e h r als 9 0 % des insgesamt erzeugten P h o s p h o r s werden in dieser Weise zu thermischer Phosphorsäure weiterverarbeitet Beim Eindampfen wässeriger Lösungen beginnt sich die Phosphorsäure P 0 zu Diphosphorsäure H 4 P 2 0 7 und höheren Phosphorsäuren (S. 804) zu kondensieren, sobald die Zusammensetzung H 3 P 0 4 • H 2 0 erreicht ist Reine Phosphorsäure kristallisiert aus konzentrierter wässeriger Phosphorsäure nach Zugabe der berechneten Menge aus P h y s i k a l i s c h e Eigenschaften u n d S t r u k t u r Phosphorsäure bildet bei gewöhnlicher Temperatur farblose, wasserklare, harte, geruchlose, in Wasser äußerst leicht lösliche Kristalle, die bei 42.35 °C schmelzen und die Dichte 1.8683 g/cm 3 bei 25 °C besitzen (Smp./Dichte für D 3 P0 4 ,46.0°C/1.9083 g/cm 3 ). Geschmolzene Phosphorsäure unterliegt einer langsamen Autodehydratisierung (2H 3 P0 4 H 4 P 2 0 7 + H 2 0), wobei der Smp. bis auf 34.6°C bei einem Gleichgewichtsanteil von 6.5% Diphosphorsäure absinkt (aus der Schmelze kristallisiert unter Umkehrung des Gleichgewichts nur reine Phosphorsäure aus). In den Handel kommt H 3 P 0 4 gewöhnlich als sirupöse 85 % ige Lösung (Dichte 1.6870 g / c m , Smp. 21.1 °C, Sdp. 158 °C), da sich stärker konzentrierte Lösungen infolge ihrer Viskosität nicht mehr abhebern lassen. Für diese Viskosität der konzentrierten Phosphorsäure sind wie bei der wasserfreien Phosphorsäure intermolekulare Wasserstoffbrücken zwischen den Sauerstoffatomen der H 3 P0 4 -Moleküle verantwortlich. Aus der sirupösen Phosphorsäure kristallisiert das Halbhydrat H 3 P 0 4 • 0.5H 2 0 (Dichte 1.7548 g/cm; Smp. 29.30°C) aus. Struktur. Das den Salzen der Phosphorsäure H 3 P 0 4 zugrunde liegende P0^~-Ion ist wie die isoelektronischen Ionen SiO4", S O u n d Cl0 4 tetraedrisch aufgebaut. Die in den vier Fällen gefundenen E0Abstände von 1.63 (E = Si), 1.55 (P), 1.51 (S) und 1.46 Ä (Cl) sind als Folge zusätzlicher elektrovalenter Bindungsanteile kürzer als E0-Einfachbindungen (ber. für Einfachbindung: 1.83,1.76,1.70 bzw. 1.65 Ä). Wasserfreie Phosphorsäure 0 P ( 0 H ) 3 : Wasserstoffverbrückte Schichtstruktur; P—0-Abstand 1.52, P—0H-Abstand 1.57, O—H-Abstand 1.0, H 0 ••• H-Abstand 2.53 Ä, (H0)P(0H)-Winkel 111°.
2. Der Phosphor
797»
C h e m i s c h e Eigenschaften Säure-Verhalten Phosphorsäure H 3 P O 4 ist eine d r e i b a s i g e m i t t e l s t a r k e S ä u r e und bildet dementsprechend drei Reihen von Salzen primäre Phosphate (Dihydrogenphosphate) M ' E ^ P O ^ sekundäre Phosphate (Hydrogenphosphate) M 2 H P O 4 und tertiäre Phosphate {Phosphate) M 3 P O 4 . Die Dissoziation der Säure erfolgt in drei Stufen: + H+ H3PO4-——
+ H+ . + H+ H2PO4 - — H P O 2 _ T — —
PO3_
= 2.161; p K 2 = 7.207; p K 3 = 12.325). Aus den p7£ s -Werten ergibt sich für den Zusammenhang zwischen pH-Wert und Phosphationengehalt einer Phosphorsäure- oder Phosphatlösung das untenstehende, der Einfachheit halber auf p ^ s - W e r t e 2, 7 und 12 bezogene Bild (Fig. 182; vgl. auch Fig. 71 auf S.211). Man ersieht aus dem Diagramm, daß beispielsweise in einer Phosphorsäurelösung bei einem pH-Wert — 0.5 nur undissoziierte Phosphorsäure H 3 PO 4 vorhanden ist, während bei einem pH-Wert 2 die Hälfte der Phosphorsäuremoleküle als H 3 PO 4 und die andere Hälfte als H 2 PO 4 vorliegt. Mit zunehmendem pH-Wert der Lösung (also bei Zusatz von Lauge) nimmt das Molverhältnis H 3 PO 4 : H 2 PO 4 infolge Verschiebung des Gleichgewichts nach H 2 PO 4 ab, bis bei einem pH-Wert 4.5 (angezeigt durch den Indikator Methylrot) praktisch nur H 2 PO 4 -Ionen vorliegen. Weiterer Zusatz von Lauge führt zur Bildung von HPO2_-Ionen (pH 6: 90% H 2 PO 4 + 10% HPO2_; pH 8: 10% H 2 PO 4 + 9 0 % HPO2_) und schließlich - nachdem bei einem pH-Wert 9.5 (angezeigt durch den Indikator Phenolphthalein) praktisch das gesamte Phosphat in Form von HPO2_-Ionen vorliegt, zur Bildung von PO3_-Ionen (pH 12: 50 % HPO2_ + 50 % PO3_; pH 14.5:100 % PO3_). Wie weiterhin aus dem Diagramm ersichtlich ist, reagieren wässerige Lösungen von Phosphorsäure mittelstark sauer, von primären Phosphaten schwach sauer (pH 4.5), von sekundären schwach basisch (pH 9.5) und von tertiären stark basisch. Letztere sind nach dem Diagramm nur bei einem pH-Wert 14.5, also in stark alkalischer Lösung ohne Hydrolyse auflösbar. In Wasser (pH 7) erfolgt weitgehende Hydrolyse: TO3_ + HOH HPO2_ + OH", wobei die Lösung alkalisch wird. Ein geeignetes Puffergemisch (vgl. S.201) ist nach Fig. 182 ein Gemisch von primärem und sekundärem Phosphat, welches im pH-Gebiet 6 - 8 (90 % H 2 PO 4 + 10 % HPO2_ bis 10% H 2 PO 4 + 90% HPO2_) gut puffert. Base-Verhalten Auch im g e s c h m o l z e n e n Zustande leitet die wasserfreie Phosphorsäure gut den elektrischen Strom, was auf die Bildung von ,,Phosphatacidium-Ionen" P ( O H ) 4 gemäß der ,,Autoprotolyse" 2 H PO
PO
PO
zurückzuführen ist (vgl. die Eigendissoziation der wasserfreien Salpetersäure unter Bildung von Nitratacidium-Ionen H 2 N O 3 , S. 733, und der wasserfreien Schwefelsäure unter Bildung von Sulfatacidium-Ionen H 3 S O 4 , S. 589). D a s Phosphatacidium-Ion P ( O H ) 4 (tetraedrischer
Fig. 182 Abhängigkeit der Ionenkonzentration vom pHWert in einer Phosphorsäure (Phosphat)-Lösung.
• 798
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Bau) bildet sich auch beim Mischen von Phosphorsäure mit starken Säuren u n d k a n n z.B. in Salzen P ( 0 H ) 4 (X = ClO 4 , AsF ö , SbF ö ) isoliert werden, die in Nitromethanlösung den elektrischen Strom gut leiten Wegen der in der Schmelze zusätzlich erfolgenden langsamen ,,Autodehydratisierung" 2 H 3 P 0 4 ? ± H 4 P 2 0 7 + H 2 0 (s.o.), die ihrerseits Folgereaktionen wie H 4 P 2 0 7 + H 2 0 H s O + + H3P2C>7; H3P207- + H 3 P 0 4 H 2 P 2 03" + H 4 P 0 4 auslöst, ist geschmolzene Phosphorsäure ionenreich und enthält im Gleichgewicht je Kilogramm (ca. 10mol) H 3 P 0 4 ca. 0 . 2 8 m o ^ O + , 0.28 m o ^ P 2 C > 3 ~ , 0.26 mol P 0 und 0.54 mol P 0 (die Ionenkonzentration ist fast 30mal höher als in reiner S 0 ). Redox-Verhalten. Z u m Unterschied von der homologen Salpetersäure ist die Phosphorsäure in wässeriger Lösung praktisch k e i n 0 x i d a t i o n s m i t t e l ( H 3 P 0 4 + 2 H + + 2 © H3P03 + H 2 0 ; s 0 = — 0.276 V; vgl. Potentialdiagramm, S. 792), da die Affinität des P h o s p h o r s zu Sauerstoff wesentlich größer als die des Stickstoffs ist u n d dementsprechend umgekehrt die P h o s p h o n s ä u r e ein gutes Reduktionsmittel darstellt (S.794). Dagegen greift w a s s e r f r e i e Phosphorsäure in der H i t z e (oberhalb 400°C) selbst edle Metalle wie A u u n d Pt an. Verwendung Phosphorsäure (Weltjahresproduktion: Zig Megatonnenmaßstab) dient hauptsächlich als Ausgangsprodukt für Mono-, Di-, Oligo- und Polyphosphate, welche insbesondere als Düngemittel (S. 799), aber auch als Wasch-, Lebens-, Futter-, Zahnpasta-, Reiniger-, Wasserbehandlungs-, Flammen schutzmittel usw. (s. u.) Verwendung finden. Phosphorsäure als solche wird zur Metallbehandlung eingesetzt (Korrosionsschutz der Metallteile von Werkzeugen, Autos, Kühlschränken, Waschmaschinen durch Eintauchen der Teile in 90 °C heiße, Mn-, Fe-, Zn-ionenhaltige H 3 P0 4 -Lösungen; die gebildeten Zinkphosphat-Überzüge sind ca. 0.6 |im dick). Darüber hinaus nutzt man H 3 P 0 4 zum Polieren von Aluminiumteilen und zur Stabilisierung tonhaltiger Böden. Vielen Getränken (Limonaden, Colas, Malzbieren) verleiht H 3 P 0 4 herbsauren Geschmack. Salze u n d P h o s p h a t d ü n g e r Allgemeines Löslichkeiten Die primären Phosphate (Dihydrogenphosphate) M ' H 2 P 0 4 lösen sich alle in Wasser, während von den sekundären Phosphaten (Hydrogenphosphaten) M2HP04 bzw. tertiären Phosphaten (Phosphaten) M 3 P 0 4 nur die Alkalisalze in Wasser, die übrigen (M 1 = Metalläquivalent) lediglich in Mineralsäuren löslich sind (mit A u s n a h m e der auch in Säuren unlöslichen Phosphate der vierwertigen Metalle Ti, Zr, Hf, Sn, Ce, Th, U). Die natürlich v o r k o m m e n d e n Phosphate sind durchweg tertiäre Phosphate. Die unlöslichen Phosphate entstehen aus den löslichen durch doppelte Umsetzung Analytisch wichtig sind: der auf Zusatz von Silbernitrat zu Phosphorsäure entstehende gelbe Niederschlag von ,,Silberphosphat " (2HP03~ + 3Ag + Ag 3 P0 4 + H 2 P 0 4 ), der bei Zugabe von Magnesiumsalzen, Ammoniak und Ammoniumsalz (,,Magnesiamixtur") ausfallende weiße, kristalline Niederschlag von ,,Ammonium-magnesium-phosphat" (HP03~ + Mg 2 + + NH 3 MgNH 4 P0 4 ) und der in salpetersaurer Lösung auf Zusatz von Ammoniummolybdat (NH 4 ) 2 Mo0 4 gebildete gelbe Niederschlag von ,,Triammonium-dodecamolybdophosphat" (NH 4 ) 3 [P(Mo 3 O 1 0 ) 4 ] (vgl. S. 1598). Für den Kreislauf des Phosphats (s.u.) ist andererseits die Bildung von unlöslichem Calciumphosphat Ca 3 (P0 4 ) 2 (,,Phosphorit"; Löslichkeitsprodukt 10~ 29 ) aus P 0 4 ~ - und Ca 2 +-Ionen bei pH-Werten um 7 von Bedeutung, das sich langsam in den weniger löslichen ,,Hydroxylapatit" Ca 5 (P0 4 ) 3 (0H) umwandelt und schließlich - in Anwesenheit von Fluorid - in noch unlöslicheren ,,Fluorapatit" Ca 5 (P0 4 ) 3 F übergeht. Mit vielen Übergangsmetallen bildet die Phosphorsäure gleich ihren Salzen und Estern Phosphat-Komplexe, was man technisch zur Extraktion von Metallionen aus wässerigen Lösungen ausnutzt Thermisches Verhalten Beim Glühen gehen die sekundären Phosphate H P 0 3 ~ unter Abspaltung eines Mols Wasser je 2 Mole P h o s p h a t in Diphosphate (Pyrophosphate) P 2 0 7 ~ u n d die primären Phosphate H 2 P 0 4 unter analoger Wasserabspaltung über die Stufe von Oligophosphaten H 2 P „ ( z . B . Diphosphate H 2 P 2 C>3~, Triphosphate H 2 P 3 OFG, Tetraphosphate H 2 P 4 0 ? 3 ) in acyclische Polyphosphate bzw. cyclische Polyphosphate (Metaphosphate) PnO3~ (z.B. Trimetaphosphate P3C>4~, Tetrametaphosphate P 4 0 | 2 ) über (vgl. S.804): 2HP03-
^
P207-+H20;
«H2P04
-
H 2 P . 0 5 ^ + (« — 1 ) H 2 0 -
P Ä
+nH20.
2. Der Phosphor
799»
Analog verhalten sich die Ammoniumderivate ( N H 4 ) P O 2 u n d ( N H 4 ) 2 P 0 4 solcher Phosphate (Abspaltung von Wasser u n d zusätzlich A m m o n i a k ) . Einzelverbindungen Von technischer Bedeutung sind neben Di-, 0ligo- und Polyphosphaten (s. weiter unten) Natrium-, Kalium-, Ammonium- und Calciumphosphate (Weltjahresproduktion: Zig Megatonnenmaßstab). Die Natriumphosphate (mit oder ohne Hydratwasser) gewinnt man durch Zufügen thermischer oder nachgereinigter Aufschluss-Phosphorsäure zu einer Sodalösung oder zu Natronlauge 2H3P04 + Na2C03
p H 4,5
> 2NaH2P04 + C02 + H20;
H3P04
+2Na0H
pH 95
> Na2HP04
H3P04
+ Na2C03
pH 9 5
'
H3P04
+ 3Na0H
pH
14 5
Na2HP04
' > Na3P04
+2H0; + C02 + H20; +3H0.
Das Salz N a 3 P 0 4 ist aufgrund seiner basischen Wirkung Bestandteil von Metallreinigern, Farbbeizen, Fettlösern, das Salz N a 2 H P 0 4 dient wegen seiner puffernden Wirkung als Emulgator sowie Stabilisator in Lebens- und Futtermitteln (Käse, Milchpulver, Fleisch, Stärke, Puddingpulver, Mehlspeisenprodukte), das Salz N a H 2 P 0 4 wird aufgrund seiner sauren Wirkung zur Phosphatierung von Stahloberflächen, zur pH-Regulierung von Kesselwasser und als Bestandteil in Farbgrundierungen sowie Brause-Abführtabletten genutzt. Das besonders häufig verwendete ,,Dinatriumhydrogenphosphat-Dodecahydrat" N a 2 H P 0 4 • 12H 2 0 (meist geringfügiger Na0H-Einschluss) bildet farblose Säulen oder Tafeln, welche an der Luft unter Bildung eines Dihydrats N a 2 H P 0 4 • 2 H 2 0 verwittern und bei 40 °C schmelzen. Das bei dessen Umsetzung mit Ammoniumchlorid gemäß N a 2 H P 0 4 + NH 4 C1 -> N a ( N H 4 ) H P 0 4 + NaCl entstehende und auch mit dem Urin in Grammengen pro Tag ausgeschiedene ,,Natrium-ammonium-hydrogenphosphat" (,,Phosphorsalz") N a ( N H 4 ) H P 0 4 kristallisiert aus wässriger Lösung in Form farbloser, monokliner Kristalle als Tetrahydrat aus. Es geht beim Erhitzen in Natriumphosphat [NaP0 3 ]. c über (s.o.) und dient in der qualitativen Analyse zur Herstellung charakteristisch gefärbter ,,Phosphorsalzperlen" zwecks qualitativer Erkennung von Metalloxiden, z.B. x N a ( N H 4 ) H P 0 4 + yCoO -> x N a P 0 3 -yCoO (blau + x N H 3 + x H 2 0 (vgl. ,,Boraxperlen", S.1109). Die kostspieligeren Kaliumphosphate gewinnt man analog den Natriumphosphaten und nutzt sie u. a. zur Absorption von H 2 S (K 3 P0 4 ) und als Korrosionshemmer im Autokühlwasser (K 2 HP0 4 ). Die Ammoniumphosphate (mit oder ohne Hydratwasser) ( N H ) H 2 P 0 4 und (NH 4 ) 2 H P 0 4 (aus N H und H 3 P 0 4 ; letzteres Phosphat hat bei Raumtemperatur bereits einen merklichen NH 3 -Partialdruck) dienen außer zu Düngezwecken (s.u.) zur Tierernährung sowie zum Flammenschutz (Zusatz zu Feuerlöschmitteln, Papieren, Textilien, Anstrichen usw.; ihre Wirkung beruht wohl auf der Bildung von schlecht brennbarem Ammoniak N H sowie von Phosphorsäure H 3 P 0 4 , welche die Entwicklung flüchtiger brennbarer Stoffe aus Cellulose hemmt). Unter den Calciumphosphaten ist ,,Calciumhydrogenphosphat" CaHP0 4 (aus CaO und H 3 P 0 4 ) besonders wichtig; es wird außer zu Düngezwecken (s.u.) z.B. als Bestandteil im Tierfutter, als Putzmittel in fluoridfreien Zahnpasten und in Scheuermitteln sowie als Säuerungsmittel in Backpulver und dergleichen verwandt. „Calciumdihydrogenphosphat" Ca(H 2 P0 4 ) 2 (aus C a 0 und H 3 P0 4 ) sowie entfluorierter Apatit Ca 5 (0H)(P0 4 ) 3 (gewinnbar durch Erhitzen von Apatit auf 1500°C in Gegenwart von Si0 2 und H 2 0 ) dienen zur Verbesserung der Streufähigkeit von Tafelsalz, Kristallzucker, Backpulver, Düngemitteln usw Phosphorhaltige Düngemittel. Die grüne Pflanze b r a u c h t zum Wachstum u n d Gedeihen außer Licht, Luft, Wärme u n d Wasser (S. 502) eine Reihe von Nährsalzen, in denen vor allem die Nichtmetalle Stickstoff, Phosphor, Schwefel u n d die Metalle Kalium, Calcium, Magnesium sowie Eisen enthalten sein müssen. Von diesen Stoffen müssen nach der Ernte im allgemeinen nur Stickstoff (S. 669), Kalium (S. 1283) u n d P h o s p h o r - gelegentlich auch Calcium (S. 1250) - in F o r m von Düngemitteln (Ammonium-, Kalium-, Calciumsalze, Nitrate, Phosphate) dem Boden wieder zugeführt w e r d e t 5 , die übrigen Grundlagen sind stets in jedem Boden reichlich vorhanden. So k o m m t es, dass Phosphate als Düngemittel (Weltjahresproduktion: Zig Meg a t o n n e n m a ß s t a b ) eine wichtige Rolle spielen. U n d zwar verwendet m a n zur D ü n g u n g Calcium-, Ammonium- oder Nitrophosphate: 75 Geschichtliches Als Dünger verwendet man: Chilesalpeter seit 1830, Superphosphat seit 1850, Kali seit 1860, Thomasmehl seit 1878, Kokerei-Ammoniumsulfat seit 1890, Kalkstickstoff seit 1903, Norgesalpeter seit 1905, Ammoniumsalzeaus synthetischem Ammoniak seit 1913, Rhenaniaphosphat seit 1916 (vgl. bei den betreffenden Elementen).
• 800
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Calciumphosphate. D a s in der N a t u r in F o r m des C a r b o n a t - A p a t i t s C a 3 ( P 0 4 ) 2 • C a C 0 3 u n d Fluor-Apatits 3 C a 3 ( P 0 4 ) 2 - C a ( 0 H , F , C l ) 2 v o r k o m m e n d e tertiäre Calciumphosphat C a 3 ( P 0 4 ) 2 ist in Wasser praktisch unlöslich u n d wird von Pflanzen nicht ohne weiteres aufgenommen. Es muss daher erst in das wasserlösliche primäre Calciumphosphat umgewandelt werden. Dies geschieht auf nassem Wege durch Aufschließen des R o h p h o s p h a t s mit einer durch Vorversuche ermittelten Menge an halbkonzentrierter Schwefelsäure: Ca3(P04)2 + 2 H 2 S 0 4
Ca(H2P04)2 + 2CaS04.
D a s dabei entstehende Gemisch von primärem Calciumphosphat u n d Gips ( C a S 0 4 • 2 H 2 0 ) h e i ß „Superphosphat" u n d enthält - umgerechnet - typischerweise 1 6 - 2 2 Gew.-% wasserlösliches P 2 0 5 . Zur Erzielung eines höheren Phosphatgehalts schließt m a n das Calciumphosp h a t vorteilhaft statt mit Schwefelsäure mit Phosphorsäure auf Ca3(P04)2 + 4 H 3 P 0 4 ^
3Ca(H2P04)2.
M a n erhält so „Doppelsuperphosphat" mit ca. 35 Gew.-% P 2 0 5 u n d „Tripelsuperphosphat" mit über 46 Gew.-% P 2 O s . Der Gipsgehalt des einfachen Superphosphats fällt hier weg. In der Technik versetzt man zur Erzeugung von Superphosphat auf nassem Wege gemahlenen Apatit (> 30% P 2 0 5 ) in Mischaggregaten mit 70%iger H 2 S0 4 , wobei in rascher Reaktion unter SiF4- und C0 2 -Abgabe eine flüssige Aufschlussmischung aus H 3 P 0 4 und CaS0 4 entsteht. Anschließend lässt man den erstarrten und zerkleinerten Aufschluss mehrere Wochen ,,reifen", wobei - zunächst nach §Ca 3 (P0 4 ) 2 + 2 H 2 S 0 4 -> f H 3 P 0 4 + 2CaS0 4 - gebildete Phosphorsäure langsam mit verbleibendem Apatit abreagiert -jCa 3 (P0 4 ) 2 + f H 3 P 0 4 -> Ca(H 2 P0 4 ) 2 . Letzterer Prozess entspricht der Doppelund Tripelsuperphosphatdarstellung, wobei in der Technik gemahlener Apatit mit 52-54 %iger ungereinigter Aufschlussphosphorsäure versetzt wird Auch auf trockenem Wege kann der Aufschluss von Phosphaten erfolgen, indem man ein Gemisch von Phosphat mit Soda Kalk und natürlichen Alkalisilicaten bei 1100-1200 °C im Drehrohrofen sintert. Das so entstehende Glühphosphat, in dem die Phosphorsäure im Wesentlichen in Form von Mischkristallen 3CaNaP0 4 • Ca 2 Si0 4 vorliegt, kommt - zu Pulver vermahlen - z.B. als „Rhenaniaphosphat" (seit 1916) in den Handel. Es enthält kein wasserlösliches Phosphat, wird aber durch organische Säuren, wie sie von den aufsaugenden Wurzelhaaren der Pflanzen ausgeschieden werden, zersetzt, sodass es als Düngemittel Verwendung finden kann. Gleiches gilt von dem bei der Eisenerzeugung als Nebenprodukt anfallenden „Thomasmehl" (S. 1641). In der Praxis bewertet man solche wasserunlöslichen Phosphordünger nach dem Grad der Löslichkeit in 2%iger Zitronensäurelösung. Infolge ihres Gehaltes an wasserlöslichem Phosphat eignen sich die Superphosphate vor allem für schnellwachsende Pflanzen, die ein starkes Bedürfnis für leicht aufnehmbare Phosphorsäure haben Thomasmehl und Rhenaniaphosphat werden von den Pflanzen naturgemäß langsamer aufgenommen und vom Regen weniger leicht ausgewaschen. Daher streut man z.B. Thomasmehl bereits im Herbst und Winter aus, während man Superphosphate erst im Frühjahr auf die Felder gibt. Ammoniumphosphate Unter den drei möglichen Ammoniumphosphaten spielt für Düngezwecke das Diammoniumphosphat (NH 4 ) 2 HP0 4 als Festdünger die Hauptrolle; das Monosalz N H 4 H 2 P 0 4 ist zu stickstoffarm, und das Triammoniumphosphat geht an der Luft von selbst in das Diammoniumsalz über: (NH 4 ) 3 P0 4 -> (NH 4 ) 2 HP0 4 + NH 3 , da die dritte Säurestufe der Phosphorsäure sehr schwach ist (S. 797). Die Herstellung des Diammoniumphosphats erfolgt in der Technik durch Einleiten von Ammo niak in Phosphorsäurelösung: H 3 P 0 4 + 2 N H 3 -> (NH 4 ) 2 HP0 4 . Es bildet den Bestandteil einiger wichtiger Mischdünger: „ Leunaphos" ((NH 4 ) 2 HP0 4 + (NH 4 ) 2 S0 4 ), ,,Nitrophoska" ((NH 4 ) 2 HP0 4 + (NH 4 ) 2 S0 4 + K N 0 3 ) , „Hakaphos" ((NH 4 ) 2 HP0 4 + C0(NH 2 ) 2 + KN0 3 ). Darüber hinaus verwendet man wässerige Lösungen von ,,Ammoniumpolyphosphat" (NH 4 P0 3 ). c als Flüssigdünger (Gewinnung aus Polyphosphorsäuregemischen mit gasförmigem N H bei 230-240 °C bzw. aus Phosphorsäure mit Ammoniak bei 300 C). Nitrophosphate. Ähnlich wie die Ammoniumphosphate enthalten auch die Nitrophosphate neben Phosphor (als Phosphat) Stickstoff (als Nitrat) für Düngezwecke. Zur Herstellung wird in der Technik Apatit mit 60 %iger Salpetersäure bei 45-80°C aufgeschlossen (vgl. den zu Superphosphaten führenden ApatitAufschluss mit H 2 S 0 4 bzw. H 3 P0 4 ): Ca 3 (P0 4 ) 2 + 6 H N 0 3 3Ca(N0 3 ) 2 + 2 H 3 P 0 4 . Das gebildete Gemisch wird in der Regel nicht direkt, sondern nach Behandlung mit Ammoniak und Kohlendioxid (-> N H 4 N 0 3 / C a C 0 3 / C a H P 0 4 ; ,Carbonitric-Verfahren") oder mit Ammoniumsulfat (-> N H 4 N 0 3 / CaS0 4 /CaHP0 4 ; ,>Sulfonitric-Verfahren") zur Düngung verwendet.
2. Der Phosphor
801»
Derivate 73 Ersetzt man in der Phosphorsäure Wasserstoffatome durch organische Reste R, so gelangt man je nach der Anzahl substituierter H-Atome zu primären, sekundären oder tertiären Phosphorsäureresten PO(OH) 2 (OR), PO(OH)(OR) 2 , PO(OR) 3 , ersetzt man andererseits ein, zwei oder alle drei Hydroxylgruppen durch einwertige anorganische Reste X wie H, Hal, OOH, SH, N H P H , so kommt man etwa zu (Mono-, Di-, Tri-) Hydrido-, Halogeno-, Peroxo-, Mercapto-, Amido-, Phosphidophosphorsäuren PO(OH) 3 _,X„ (n = 1-3; Anionen [PO4_„X„] H 4 P 4 0 1 2 . Man kennt dabei sowohl eine Sessel- wie eine Wannenform des P 4 0 4 -Ringgerüsts (b), in dem alle PO-Abstände praktisch gleich groß sind:
2. Der Phosphor 0 1
OH
O O
!
I
O"/ o
,
,P —O \
o-
^
(Spaltung 2 , 3 ) \
O
Iso-tetrametaphosphorsäure (a)
O
'
/I"J
O
OH
\/
+2H 2 O (Spaltung 1 , 2 )
°-J
p
HO^"/ OH
O
O Tetraphosphordecaoxid
807
HO
O
Tetrametaphosphorsäure (b)
Weiterhin entsteht bei der P 4 0 10 -Hydrolyse auch eine i s o m e r verzweigt-cyclische Isotetrametaphosphorsäure H 4 P 4 0 1 2 . Sie leitet sich von der Trimetaphosphorsäure H 3 P 3 0 9 (sesselförmiger P 3 0 3 -Ring) durch Austausch einer OH-Gruppe gegen einen Phosphorsäure-Rest H 2 PO 4 ab. Gemäß Formel (a) enthält sie außer zwei zweibindigen Mittel-Einheiten und einer einbindigen End-Einheit noch eine dreibindige Verzweigungs-Einheit, die sich nicht „abhydrolysieren" lässt. Die Hydrolyse des TetrametaphosphatRings (PO^) 4 in alkalischer Lösung erfolgt langsamer als die des Trimetaphosphat-Rings ( P O ^ . Durch Einwirkung von Wasser wird sowohl die Tetrametaphosphorsäure als auch die Iso-tetrametaphosphorsäure H 4 P 4 0 1 2 in Tetraphosphorsäure^6V4013, dann unter hydrolytischem Abbau in Diphosphorsäure H 4 P 2 0 7 und letztlich in Monophosphorsäure H 3 P O übergeführt. Iso-tetrametaphosphorsäure geht darüber hinaus über Iso-tetraphosphorsäure 0 1 3 (s. oben) bzw. Trimetaphosphorsäure H 3 P 3 0 9 = (HPO 3 ) 3 in Triphosphorsäure H 5 P 3 0 1 0 , Diphosphorsäure H 4 P 2 0 7 und schließlich Monophosphorsäure H 3 PO 4 über
Polyphosphorsäuren Polyphosphate. Unter den höheren bis hochmolekularen unverzweigten Polyphosphaten MjH 2 P n 0 3 n + 1 (n > 50, meist 500-10000) sind zu nennen: das ,,Graham'sche Salz", das ,,Maddrell'sche Salz" und das ,,Kurrol'sche Salz". Sie haben alle die gleiche Formel Na„H 2 P„0 3 n + 1 (zwei endständige H-Atome sind nur wenig acid). Neben Polyphosphaten mit einwertigen Gegenionen (z.B. Alkalimetalle, N H 4 , Ag + ) kennt man auch solche mit zwei- oder dreiwertigen Gegenionen (z.B. Erdalkalimetalle, Pb 2 + , Cd 2 + , Al 3 + , Fe 3 + ). Hochmolekulare verzweigte Polyphosphate („Ultraphosphate") liegen etwa den Salzen Ca ii (vgl. hierzu Bandsilicate S i 4 0 h , S.964) und N d P 5 0 1 4 oder den Phosphatgläsern zugrunde. Das Graham'sche Salz entsteht beim Erhitzen von NaH 2 PO 4 auf über 600 °C und anschließendem A b s c h r e c k e n der Schmelze in Form einer klar durchsichtigen, hygroskopischen glasigen Masse. Sie besteht aus einem Gemisch linearer Polyphosphate neben wenig ( ~ 10%) ringförmigen Oligophosphaten Na„P„0 3 „ (n = 3-8). Als ,,Calgon" dient es - z.B. in Waschmitteln - zur Wasserenthärtung durch Ionenaustausch (S. 527), da die Anionen H 2 P„0 3 ~ + 1 Kationen mit höherer Ladung als N a + (z.B. Ca 2 + Ionen) fester als N a + binden. Bei 580°C geht es in Kurrol'sches Salz über (s. unten). Das Maddrell'sche Salz erhält man durch Erhitzen von NaH 2 PO 4 (oder von Na 2 H 2 P 2 0 7 ) auf 250 °C oder durch Tempern (längeres Erhitzen) von Kurrol'schem Salz bei 380 °C als kristallines lineares Polyphosphat. Oberhalb 300 °C geht die Niedertemperaturform in die Hochtemperaturform und oberhalb 400 °C die letztere in Trimetaphosphat N a 3 P 3 0 9 über. Das Kurrol'sche Salz entsteht beim Erhitzen von NaH 2 PO 4 auf über 600°C und anschließendem l a n g s a m e n A b k ü h l e n der Schmelze in Form kristalliner Plättchen (AForm; Dichte = 2.85 g/cm 3 ). Beim Zerreiben oder beim Liegen an feuchter Luft wird es in feine, asbestartige Fasern (B-Form; Dichte = 2.56 g / c m ) aufgespalten. Die Plättchen gehen beim Erhitzen auf etwa 380°C in Maddrell'sches Salz (Dichte = 2.67 g/cm), die Fasern in Natriumtrimetaphosphat Na 3 P 3 0 9 (Dichte = 2.52 g / c m ) über. Wie die beiden anderen kondensierten Polyphosphate besitzt auch das K u r r o l 'sche Salz Kationen-Austauschvermögen. Wenn man Mischungen von NaH 2 PO 4 und NaH 2 As0 4 schmilzt und die Schmelze abkühlt, resultieren Mischkondensate von „Phosphat" und „Arsenat" (,,Arsenatophosphate") mit einer statistischen Verteilung von P O - und As0 4 -Tetraedern. In ihnen sind die As0 4 -Tetraeder der Angriffspunkt der Hydrolyse, sodass die Arsenatophosphate in wässeriger Lösung schnell zu Monoarsenaten und Polyphosphaten zerbrechen. Auch cyclische Arsenatphosphate sind bekannt. Erhitzt man N a H 2 A s 0 4 für sich allein, so entstehen Langketten-Polyarsenate, deren Struktur der des Graham-, Maddrell- und Kurrol-Salzes ähnelt. Man kennt auch Mischkondensate von „Phosphat " mit „Sulfat" SO 4 ~, ,,Silicat" SiC>4~, „Vanadat" VO 4 ~ und „Chromat" C r 0 4 ~ . Strukturen Die unverzweigten Polyphosphate enthalten Ketten —O—PO 2 —O—PO 2 —O—PO 2 —, in welchen PO 4 -Tetraeder über gemeinsame O-Atome miteinander verknüpft sind. Die - spiralig um Achsen angeordneten - Ketten können sich wie folgt unterscheiden (vgl. Silicate, S. 964): (i) Zahl der PO 4 -Tetra-
• 808
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Natriumpolyphosphat Natriumpolyphosphat Natriumpolyphosphat Kaliumpolyphosphat (a) (Maddrell) (b) (KurrolA) (c) (KurrolB) (d)
Calciumpolyphosphat (e)
Fig. 183 Strukturen von Polyphosphaten (P in Mitte der wiedergegebenen Tetraeder; Pfeillänge = Identitätsperiode). eder pro Identitätsperiode (z. B. zwei, drei, vier im Falle des Kalium-, Natrium-, Calciumpolyphosphats; vgl. Fig. 183d, a - c , e). - (ii) Konformation der Kette (z.B. Kurrol'sche Salze A und B; vgl. Fig. 183b, c). - (iii) Kettenlänge (z.B. « ca. 10000 im Falle von a- und ß-Form, 200-600 im Falle von y- und -Form des Calciumpolyphosphats).
Phosphate in der Natur 7 3 Der Kreislauf des Phosphors unterscheidet sich von den Kreisläufen anderer lebensnotwendiger Nichtmetalle wie Sauerstoff (S. 502), Schwefel (S. 547), Stickstoff (S. 654), Kohlenstoff (S. 878) dadurch, dass er keine Redoxreaktionen beinhaltet und sich nur auf der Stufe des Phosphats vollzieht (neuere Studien schließen allerdings nicht aus, dass in geringerem Ausmaße auch niedrigere Oxidationsstufen des Phosphors am Kreislauf beteiligt sind). Auch bilden sich keine flüchtigen Elementverbindungen, sodass die Atmosphäre am Phosphatcyclus in der unbelebten und belebten Natur nicht beteiligt ist. Der anorganische Phosphatkreislauf, der sich in Jahrmillionen vollzieht, besteht im Herauslösen von Phosphaten aus Vulkanund Sedimentgestein („Verwitterung"), im Transport wassergelösten Phosphats zum Meer, im Ausfällen der Phosphate als Phosphorit, Hydroxyl- und Fluorapatit (,,Sedimentierung") und schließlich in der Bildung neuer Landmassen aus dem Meer. Der biologische Phosphatkreislauf vollzieht sich auf dem Lande innerhalb von Jahren und setzt mit der Aufnahme von vorhandenem oder dem Boden zugesetztem H 2 PO 4 durch Pflanzen oder Mikroorganismen ein. Von dort gelangt er über die Nahrung in Menschen, Tiere, Vögel, Insekten und durch Verwesung der Lebewesen wieder zurück in den Boden. In analoger Weise wandert das in Wasser gelöste Phosphat in Wochen bis Tagen über das Phytoplankton (z. B. Algen), die Pflanzenfresser (Zooplankton) und Fleischfresser (z.B. Fische) wieder - nach Verwesung der betreffenden Organismen - zurück in Flüsse, Seen und Meere. Das Meer enthält pro Tonne ca. 90 mg H 2 P O 4 , HPO2" und PO3" im Molverhältnis von ca.7 : 1 : 0.1. Wegen der raschen Aufnahme des Phosphats durch das Phytoplankton nimmt die Phosphatkonzentration in Richtung Wasseroberfläche ab. „Überdüngte" Gewässer (großer Zufluss von Phosphaten aus Dünge- und Waschmitteln) führen zu übermäßigem Wachstum u. a. von sauerstoffverbrauchenden Algen mit der Folge, dass z. B. die sauerstoffatmenden Fische absterben (Gegenmaßnahme: Zugabe von AI 3 + zur Fällung des Phosphats). Phosphat in der Biosphäre Phosphat ist für lebende Organismen in Form von ,,Hydroxylapatit" für den Aufbau der Knochen und Zähne wichtig (S. 744); auch spielt Phosphat in Form von,,Phosphorsäureestern" eine herausragende Rolle bei Prozessen der Gen- und Proteinsynthese, der Energieübertragung (s.u.), des Stoffwechsels, der Stickstoffixierung (S. 1664) und der Photosynthese (S. 1232). Besonders wichtig als biologischer Energiespeicher für letztere Prozesse ist das Adenosintriphosphat (ATP), ein Adenosinester des Hydrogentriphosphats H P 3 0 ( z u r Struktur vgl. Fig.341 auf S.1693). Die bei seiner durch Enzyme und Mg 2 + katalysierten Hydrolyse zu Adenosindi- und -monophosphat freigesetzten Energiemengen (pH 7.4, 10" 4 mol/l, Mg2 + ): O AdOPO _ O _ AMP
AGr - 4 3 . 5 kJ + H 2 O; - H 2 P 2 O J "
O O O AdOPOPOPO O O O ATP
AGr — 40.9 kJ + H 2 O; — H 2 P O ;
O O AdOPOPO _ O O _ ADP
ermöglichen den Ablauf zahlreicher biologischer Vorgänge (vgl. Lehrbücher der Biochemie).
2. Der Phosphor
809»
Einen Monophosphatdiester enthält Desoxyribonucleinsäure (DNA), die den genetischen Informationsspeicher der Organismen darstellt (Phosphat verknüpft in ihr die aus Adenin, Cytosin, Thymin bzw. Guanin und Desoxyribose zusammengesetzten ,,Nucleoside" (vgl. Adenosin, S.915) zu Strängen, wobei jeweils zwei Stränge über H-Brücken verknüpft sind und eine „Doppelhelix" bilden (vgl. Lehrbücher der Biochemie). Nur jeweils einen Strang bilden die ähnlich strukturierten Ribonucleinsäuren RNA (Ribose anstelle von Desoxyribose; vgl. S. 1693), welche Syntheseprodukte der DNA darstellen und selbst als Proteinerzeuger wirken. Weitere phosphathaltige Wirkstoffe sind ,,Phosphocreatin" ( = Phosphorsäureamid; zur ATP-Regenierung), „Uridintriphosphat" ( = Triphosphatmonoester; zur Glykosesynthese), ,,Nicotinamid-adenindinucleotid." ( = Diphosphatdiester; zum Citronensäureabbau zu Bernsteinsäure), ,,Nicotinamid-adenindinucleotid-2-phosphat" ( = Diphosphatdiester und Phosphatmonoester; zur Photosynthese in Gegenwart von Chlorophyll).
Derivate kondensierter Phosphorsäuren Derivate kondensierter Phosphorsäuren leiten sich ähnlich wie jene der Phosphorsäure (S.801) durch Ersatz von Wasserstoffatomen, Hydroxylgruppen oder Sauerstoffatomen gegen ein- oder zweiwertige Reste ab. Nachfolgend sei auf kondensierte Thio- und Selenophosphorsäuren sowie auf deren Halogenderivate kurz eingegegangen Kondensierte Thio- und Selenophosphorsäuren Thio- und Selenooligophosphaten (Y = S, Se) kommen Strukturen wie den Oligophosphaten (Y = O) zu. Demgegenüber weisen Oligometathiobzw. -selenophosphate (PY3~)„ im Unterschied zu den Oligometaphosphaten (Y = O), die bevorzugt mit sechs- bzw. achtgliederigen P^O^-Ringen existieren (n = 3, 4; s. dort), viergliederige Ringe auf (n = 2; vgl. Formelbild sowie Strukturen von Si0 2 und SiS2). Auch planares PS3~ (n = 1; Gegenion Ph 4 As + ) ist isolierbar. Die Phosphate (PS4~)2 und (PS5~)2 leiten sich von (PS3~)2 durch Einschieben weiterer S-Atome in die PSP-Gruppen ab (vgl. Formeln). (PSe4~)2 ist analog (PS4~)2 gebaut (ein (PO4~)2 existiert nicht). P2S;!~ sowie P6S?2" besitzen andererseits die gleiche Struktur wie P 2 Oj" (S. 810) und P60?2" (S. 811). Statt des P6-Ringes enthalten P5Sj0~ und P4Sg~ einen fünf- bzw. viergliederigen Ring aus P-Atomen (vgl. Formeln). Beispiele für Ringe, die neben P—P-Gruppen auch Chalkogenatome enthalten stellen etwa die Selenophosphate P3Seg~ (Formel) oder P8Se18~ ( = Se6P3—Se—PSe2—Se—PjSe^) dar. Die Darstellung der Anionen erfolgt u. a. durch Einwirkung von Sulfiden oder Seleniden M2Y„ auf weißen Phosphor. im+3) -
s2 S, \
, Sm ß / \ / -P P, / \ / \ S S Mi' s m/m
=
1
/1
1 /3
l /2
/
\ / (S 3
/3
2
7
2
8
2 10
P
4S8
Se
\
/
Se2P
m = 1 W 2) m 2 P S 5 10
2
Se
PS,
S, P
2/2 p Sc2 Pp Sc^ Pp Sc 2 S P Pc2 2 6
Se
\
P
Se2
J P
6S12
P^SeJ
Halogenderivate kondensierter Chalgenophosphorsäuren. Wie Phosphorsäure H 3 PO 4 bilden in gleicher Weise höhere Phosphorsäuren Halogenderivate. So leiten sich P 2 0 3 F 4 (,,Pyrophosphorylfluorid", farblose Flüssigkeit, Smp. 0.1 °C, Sdp. 72.0°C, gewinnbar aus POF3 + O2 in einer elektrischen Entladung) sowie P203C14 („Pyrophosphorylchlorid", ölige Flüssigkeit, Smp. - 16.5°C, Sdp. 215°C; aus PC15 + P2Os) von der Diphosphorsäure (HO) OP PO(OH) ab und (PO F) (Nebenprodukt der -Gewinnung sowie (PO Cl (aus PC O) von der Cyclotetraphosphorsäure PO(OH) und der Polyphos phorsäure — PO(OH)—O—PO(OH)—O— ab (jeweils Ersatz aller OH-Gruppen durch Halogenatome). Als Halogenderivate höherer Thiophosphorsäuren seien genannt: P2S4F4 (Sdp. 60 °C bei 13 mbar; gewinnbar durch Fluoridierung von P4S10; Struktur: F2(S)PSSP(S)F2), P2S6Br2 (Smp. 118°C; gewinnbar durch Bromierung von P4S7 in C S ; Struktur: Br(S)P(S2)2P(S)Br mit zentralem bootkonformiertem sechsgliederigem P2S4-Ring), P2S5Br4 (Smp. gewinnbar durch Bromierung von P4S7 in CS). Man kennt auch P4S3I2 sowie P4Se3I2 (vgl. S. 788) und P2S2I4 (Smp. 94°C; aus P2I4 und S8 in CS; Struktur,(S)P—P(S)I 2 ).
2.5.6
Niedere Phosphorsäuren
Als niedere Phosphorsäuren bezeichnet man Säuren mit Phosphor in der Oxidationsstufe 5. Unter ihnen wurden die Phosphorsäuren PO (Phosphonsäure), PO (Phosphinsäure), (Phos phidophosphonsäure) und H 5 P 3 0 2 (Bis(phosphido)phosphorsäure) bereits behandelt (S. 794, 793, 804). Nachfolgend wird auf niedere Di- und .ffexaphosphorsäuren eingegangen.
• 810
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Hypodiphosphonsäure H 4 P 2 0 4 (,,Diphosphor(II,II)-säure"; früherer Name Hypodiphosphorige Säure) bildet sich bei der Hydrolyse von Diphosphortetraiodid P214 in Kohlenstoffdisulfid bei 0 0C. Sie ist in wässriger Lösung bei pH = 7 in Abwesenheit von Sauerstoff beständig und bildet ein schwer lösliches Bariumsalz BaH 2 P 2 0 4 . Bei pH < 7 disproportioniert sie in Phosphor und Phosphon- bzw. Phosphorsäure. Durch Sauerstoff wird sie zu Diphosphor(II,IV)-säure (s. unten) sowie Hypodiphosphorsäure H 4 P 2 0 6 (s. unten) oxidiert:
o o
o o
II II H—P—P—H I I OH OH
+i02
>
Hypodiphosphonsäure
o o
II II H—P—P—OH I I OH OH
+io2
>
Diphosphor(II,IV)-säure
II II HO—P—P—OH I I OH OH Hypodiphosphorsäure
Diphosphonsäure H 4 P 2 O 5 (,,Diphosphor (III,III)-säure"; früherer Name: Diphosphorige Säure). Salze der Diphosphonsäure erhält man durch Erhitzen von Phosphonaten H 2 PO 3 auf 150 0 C im Vakuum: 2H 2 PO 3 ^ H 2 P 2°5_ + H 2O. Die freie Säure (Smp. 38 0C, Zers. 130 0C) lässt sich aus dem Bariumsalz mittels Schwefelsäure gewinnen. Auch bei der Reaktion von Phosphonsäure mit Phosphortrichlorid entsteht sie, sofern man den gebildeten Chlorwasserstoff zur Verschiebung des Gleichgewichts bindet:
5H3PO3
+
O 0 II II 3H—P—O—P—H + 3 HCL 1 I OH OH
PCI3
Diphosphonsäure
Verwendet man statt PC13 Phosphortribromid oder -iodid, so bildet sich nicht die Diphosphor (III,III)säure (P—O—P-Gerüst), sondern eine isomere Diphosphor(II,IV)-säure (P—P-Gerüst; Strukturformel s. oben). Die Diphosphonsäure hydrolysiert in neutraler wässriger Lösung langsam unter Bildung von Phosphonsäure H 4 P 2 0 5 + H 2 O 2H 3 PO 3 (T1/2 ca. 1000 h). Rasche Hydrolyse erfolgt in alkoholischer bzw. saurer Lösung (z.B. pH = 3, T1/2 = 8 h). Hypodiphosphorsäure H 4 P 2 O 6 (,,Diphosphor (IV,IV) -säure") entsteht bei der Oxidation von fein verteiltem roten Phosphor mit einer wässerigen Natriumchlorit-Lösung bei 15-18 0C: £P„ + 2NaCl0 2 + 2 H 2 0 ^ H 4 P 2 0 6 + 2NaCl. Beim Neutralisieren der erhaltenen Lösung mit Soda N CO kristallisiert das ziemlich schwerlösliche ,,Natriumsalz" Na 2 H 2 P 2 0 6 • 6H 2 O in monoklinen Tafeln (bei pH 10: Dekahydrat) aus. Das Salz kann auch durch Oxidation von rotem Phosphor mit Wasserstoffperoxid in stark alkalischer Lösung mit guter Ausbeute gewonnen werden. Etwas schwerer löslich ist das ,,Bariumsalz" BaH 2 P 2 0 6 , unlöslich das „Bleisalz" Pb 2 P 2 0 6 und ,,Thoriumsalz" ThP 2 0 6 . Aus dem Ba-Salz lässt sich mittels verdünnter Schwefelsäure (Ausfällung von schwerlöslichem Bariumsulfat) eine wässrige Lösung der freien Säure herstellen: Ba
SO
BaSO
ebenso aus dem Na-Salz durch Ionenaustauscher. Beim Eindampfen der Lösung kristallisiert die vierbasige (pK 1/2/3/4 = 2.19/2.81/7.27/10.03), stärker als H 3 PO 3 reduzierend wirkende Säure wasserhaltig in Form zerfließlicher Kristalle der Zusammensetzung H 4 P 2 0 6 • 2 H 2 0 = [ H 3 0 ] 2 H 2 P 2 0 6 (Smp. 62 0C) aus. Trocknen des Hydrats im Vakuum über Phosphorpentaoxid führt zur wasserfreien Verbindung H 4 P 2 0 6 (Smp. 73 0C), die auch durch Reaktion des Pb-Salzes mit H 2 S erhältlich ist (Pb 2 P 2 0 6 + 2H 2 S 2PbS + H 4 P 2 0 6 ). Die Diphosphor(IV,IV)-säure (HO) 2 OP—PO(OH) 2 ist nicht beständig, sondern wandelt sich allmählich in die mit ihr isomere Diphosphor (III,V)-säure (HO) HPO—O—PO (OH)2 um und disproportioniert zugleich in Diphosphor- und Diphosphonsäure (T4/2 = 180 Tage bei pH 0 und Raumtemp.): 0 0
O
2 HO—P—P—OH 1
I
O
• H—P—O—P—OH ( H O )
I
I
O bzw.
O
O
O
HO—P—O—P—OH + H—P—O—P—H I
I
I
I
OH OH OH OH OH OH OH OH Hypodiphosphorsäure Diphosphor (III,V)-säure Diphosphorsäure Diphosphonsäure Die isomere Diphosphor(III,V)-säure entsteht auch gemäß PC13 + 2 H 2 0 + H 3 PO 4 H 4 P 2 0 6 + 3 HCl in Wasser bei 50 0C, das zugehörige Trinatriumsalz gemäß Na 2 HPO 4 • 12H 2 0 2.5H 2 0 Na 3 HP 2 0 6 + 15.5H 2 O bei 150°C.
2. Der Phosphor
811»
Hexametaphosphorige Säure (HP0 2 ) 6 (,,Cyclohexaphosphor(III)-säure" H 6 P 6 0 1 2 ) existiert in Form von ,,Alkalimetallhexametaphosphaten(III) (6P-P)" M 6 P 6 0 1 2 (M = Na, K, Rb, Cs). Die - u.a. durch Oxidation von rotem Phosphor mit Hypochloriten MOC1 in stark alkalischer Lösung gewinnbaren - Salze enthalten das Anion P60®2 , mit P 6 -Ring in Sesselkonformation (D3d-Symmetrie; vgl. S. 792).
2.5.7
Peroxophosphorsäuren
Die Salze der vierbasigen Peroxodiphosphorsäure H 4 P 2 0 8 (p-fi^ = - 0 . 3 ; pK 2 = 0.5; p ^ 3 = 5.18; pK 4 = 7.67), einem Derivat der Diphosphorsäure, lassen sich analog den Peroxo-disulfaten M 2 S 2 0 s (S. 600) durch a n o d i s c h e O x i d a t i o n von P h o s p h a t e n gewinnen: 2PO 4 ~ -> P2Og~ + 2 Q . Hieraus entsteht die dreibasige Peroxomonophosphorsäure H 3 P 0 (p^i = 1.1; pK 2 = 5.5; p ^ 3 = 12.8) analog der Peroxomonoschwefelsäure H 2 SO 5 (S. 601) durch Hydrolyse. Durch Umsetzung von P 2 0 5 mit Wassers t o f f p e r o x i d ist sowohl H 3 PO 5 als auch Diperoxomonophosphorsäure H 3 P 0 6 erhältlich: H4P20s + H 2 0 ^ H 3 P ^ H 3 P O ;
P 2 0 5 + 2(3)H 2 0 2 + 1(0)H 2 0 -
2H 3 PO 5 (H 3 PO 5 + H 3 PO 6 ).
Die Säuren sind unbeständig und gehen leicht unter Sauerstoffabspaltung in Phosphorsäure über; demgemäß wirken sie als Oxidationsmittel. Auch ,,Peroxophosphonsäure" OPH(OH)(OOH), ein Isomeres der Phosphorsäure H 3 PO 4 = OP(OH) 3 , ist bekannt (vgl. Peroxosalpetrige Säure H N O , S. 739).
2.6
Stickstoffverbindungen des Phosphors 51,77
2.6.1
Überblick
P h o s p h o r bildet Stickstoffverbindungen, in welchen der Phosphan- bzw. P h o s p h o r a n p h o s p h o r P(III) bzw P(V) mit Amino- bzw. Iminogruppen oder einem Stickstoffatom verknüpft ist, wobei die P-gebundenen Amino- u n d Iminogruppen ihrerseits an weitere Phosphanylbzw. Phosphoranyl-Reste gebunden sein können: ^P—NT / ^ Aminophosphane
-N:
Aminophosphonium-Ionen ©
P—N; V Aminophosphorane
I
©
•••N
^ P = N
JP—NL /
N-"
Iminophosphane
Iminophosphorane
Diiminophosphorane
:P=N: Nitridophosphan
\ ©
©
Nitridophosphorane
Die Aminoverbindungen werden auch als ,,Phosphazane", die Iminoverbindungen als „Phosphazene", die Nitridoverbindungen als ,,Phosphazine" bezeichnet (jeweils Phosph(III)-,
77
Literatur. H . R . Allcock: ,Phosphorus Nitrogen Compounds", Acad. Press, New York 1972. - Phosphornitride. W. Schnick: „Festkörperchemie mit Nichtmetallnitriden", Angew. C h e m 105 (1993) 846-858; Int. E d 32 (1993) 806; R. Marchaud, W. Schnick, N. Stock: ,,Molecular, Complex Ionic, and Solid-State PON Compounds", Adv. Inorg. C h e m 50 (2000) 193-235; E. Kroke: ,Binäre Stickstoffverbindungen der Hauptgruppenelemente durch Hochdrucksynthese", Angew. C h e m 114 (2002) 81-85; Int. E d 41 (2002) 77. - Phosphoramide, -imide. S.S. Krishnamurphy, A.C. San: ,,Cyclophosphazenes", Adv. Inorg. Radiochem. 21 (1978) 41-112; A. Schmidpeter, K. Karaghiosoff: „Azaphospholes", in H.W. Roesky: „Rings, Clusters and Polymers of Main Group and Transition Elements", Elsevier, Amsterdam 1989, S. 308-343; R. Keat: ,,Phosphorus(III)-Nitrogen Heterocycles and Heterocyclophosph(III)azanes" sowie C.W. Allen: ,,Cyclophosphazenes with Five- and Six-Coordinate Phosphorus", jeweils in I. Haiduc, D.B. Sowerby: ,,The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles", Acad. Press, London 1987, S. 467-658; E. Niecke: „Aminophosphane - unkonventionelle Hauptgruppenelement-Verbindungen", Angew. C h e m 103 (1991) 251-270; Int. E d 30 (1991) 217; A.H. Cowley, R. A. Kemp:,,Synthesis andReaction Chemistry of Stable Two-Coordinate Phosphorus Cations (Phosphenium-Ions) ", Chem. R e v 85 (1985) 367-382; K. Dehnicke, F. Weller: ,,Phosphorane imimato complexes of main group elements", Coord. Chem. R e v 158 (1997) 103-170; K. Dehnicke, M. Krieger, W. Massa:,,Phosphorane iminato complexes of transition metals", Coord. Chem. R e v 182 (1999) 19-66; A.J. Elias, J.M. Shreeve: „PerfluorinatedCyclic Phosphazenes", Adv. Inorg. C h e m 52 (2001) 335-358; H. Nakazawa:,, Transition Metal Complexes Bearing a Phosphenium Ligand", Adv. Organomet. C h e m 50 (2004) 108-144; V. Chandrasekhar, V. Krishnan: ,,Advances in the chemistry of chlorocyclophosphazenes", Adv. Inorg. C h e m 53 (2002) 159-212.
• 812
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
P h o s p h ( V ) - a z a n e , -azene, -azine). D a P h o s p h o r m a x i m a l n u r vier k o v a l e n t e B i n d u n g e n ausi i bilden k a n n (S. 153), stellen zwar D i i m i n o p h o s p h o r a n e [ — N — P — N — — N — P — N — ] , nicht a b e r M o n o i m i n o p h o s p h o r a n e —N~ N — ] P h o s p h a z e n e d a r (vgl. S 0 2 , S O ); tatsächlich werden sie ebenfalls zu den P h o s p h a z e n e n gezählt. E b e n s o sind N i t r i d o p h o s p h o r a n e keine P h o s p h a z i n e ^ P = N , s o n d e r n I s o p h o s p h a z e n e ^ P — N . (In den I m i n o - u n d N i t r i d o p h o s p h o r a n e n bildet P h o s p h o r vier k o v a l e n t e u n d eine elektrovalente, also insgesamt f ü n f B i n d u n g e n aus; in d e n A m i n o p h o s p h o r a n e n liegen 2z2e- n e b e n 3z4e-Bindungen vor.) Strukturen Zweizähliger Phosphor ist in den Iminophosphanen gewinkelt, dreizähliger in den Aminophosphanen pyramidal (P an der Pyramidenspitze) bzw. in den Diiminophosphanen planar, vierzähliger in den Aminophosphonium-Ionen sowie den Iminophosphoranen tetraedrisch und fünfzähliger trigonalbipyramidal (selten quadratisch-pyramidal) von Bindungspartnern koordiniert (es existieren auch Aminophosphorane mit der Koordinationszahl sechs). Sticksto hat in den Aminen einen planaren oder fast planaren, in den Iminen einen gewinkelten Bau. Die PN-Abstände der Amino-, Imino- und NitridoVerbindungen sind in der Regel kürzer als die für PN-Einfach-/Doppel-/Dreifachbindungen berechneten Längen von 1.80/1.60/1.50 Ä, da P mit N außer durch kovalente zusätzlich durch elektrovalente Bindungen verknüpft ist (für Einzelheiten s. unten). N a c h f o l g e n d werden z u n ä c h s t n u r aus P h o s p h o r u n d Stickstoff zusammengesetzte Nitride, d a n n Amino- u n d Iminophosphorane sowie -phosphane b e h a n d e l t Technisch wichtig: , , C y c l o " und ,,Polyphosphazene" (—X2P—N—)„.
2.6.2
Phosphornitride
Phosphor(V)-nitrid P 3 N S . Bei der Ammonolyse v o n PC1 5 oder (PNC1 2 ) 3 (s. u.) m i t N H C l bildet sich bei 7 8 0 ° C im L a u f e v o n 2 Tagen im abgeschlossenen R o h r ein G e m e n g e v o n a- u n d j8-P 3 N 5 , wogegen bei der dreitägigen t h e r m i s c h e n Kondensation v o n P ( N H 2 ) ^ I ~ (s.u.) bei 8 2 5 ° C in einer Q u a r z a m p u l l e mit einer Ö f f n u n g f ü r entweichendes A m m o n i a k n a c h r a s c h e m A b k ü h l e n einphasiges a-P 3 N 5 als feinkristallines, beiges in gängigen M e d i e n sowie heißen S ä u r e n u n d Basen unlösliches Pulver (Dichte = 2.77 g / c m ) entsteht, d a s sich a b 850°C u n t e r N 2 -Eliminierung zersetzt (s. unten): (PNC1 2 ) 3 + 2 N H 4 C 1
780°C -8HQ
> a-, j8-P 3 N 5 b z w . 3 P ( N H 2 ) 4 + R
825 °C -4NH3 -3NH4I
> o:-P 3 N 5
1500°C 110 kbar
> y-P3N5.
a-P 3 N 5 verwandelt sich bei 110 k b a r u n d 1500°C (bei h o h e m D r u c k ist P 3 N 5 a u c h o b e r h a l b 8 5 0 ° C t h e r m o s t a b i l ) in k u r z e r Zeit ( M i n u t e n ) in die H o c h d r u c k p h a s e y-P 3 N 5 , welche n a c h A b s c h r e c k e n der P r o b e auf R a u m t e m p e r a t u r u n d n a c h E n t s p a n n u n g auf N o r m a l d r u c k als feinkristallines Pulver (Dichte = 3.65 g / c m ) ausfällt. Strukturen a-P3N5 bildet ein dreidimensionales Netzwerk aus ecken- und kantenverknüpften PN4-Tetraedern, wobei zwei Fünftel der N-Atome durch drei P-Atome planar (Winkelsumme 360°), die anderen drei Fünftel durch zwei P-Atome gewinkelt ( ^ P N P 142-171°) koordiniert sind (PN-Abstände 1.51-1.74 Ä). Und zwar treten Zweier-Einfachketten (a) auf (vgl. hierzu S. 964), in welchen PN 4 -Tetraeder abwechselnd über Kanten und Ecken verbunden sind. Die Verknüpfung der Ketten (a) erfolgt über gemeinsame N-Atome mit PN 4 -Tetraedern. Die Kristallstruktur von ß-P3Ns (offensichtlich eine geordnete Stapelvariante von a-P3N5) ist noch nicht im Detail bekannt y-P3N5 bildet eine dreidimensionale Raumstruktur aus PN 4 -Tetraedern (ein Drittel; PN-Abstände 1.59-1.70 Ä) sowie aus verzerrten PN 5 -Pyramiden (zwei Drittel; PN-Abstände 1.66-1.77 Ä; P in Pyramidenmitte), wobei vier Fünftel der N-Atome durch drei P-Atome planar (Winkelsumme 360°), ein Fünftel durch zwei P-Atome gewinkelt ( > 111°) koordiniert sind. Stäbe aus trans-kantenverknüpften PN 5 -Einheiten sind hierbei über Ecken zu Schichten verknüpft (b), welche mit - parallel zu den PN 5 -Stäben orientierten - Einer-Einfach-Ketten (S. 964) eckenverknüpfter PN 4 -Tetraeder über gemeinsame N-Atome verbunden sind. Die mit der Druckbehandlung von a-P 3 N 5 erfolgende Volumenabnahme von 32% bewirkt also eine Erhöhung der Koordinationszahl eines Teils der P-Atome von 4 auf 5 bzw. eines zusätzlichen Teils der N-Atome von 2 auf 3 (in der Hochdruckphase y-Si3N4 sowie in Nitridosilicaten MYbSi 4 N 7 mit M = Sr, Ba ist N mit vier Si-Atomen tetraedrisch koordiniert; entsprechendes gilt wohl für eine Hochdruckphase von HPN 2 für P-Atome). Nitridophosphate(V). Durch Umsetzung von P3N5 und Li 3 N bei hohen Temperaturen (600-700°C) entstehen - je nach dem Molverhältnis der Elemente P und N - die Nitridophosphate Li 7 PN 4 , Li12P3N9,
2. Der Phosphor
(a)
-P 3 N 5
ib) -P 3 N 5
ic')
HP4N 7
813»
ic'')
Fig. 184 Ausschnitte aus den Kristallstrukturen (a) von a-P 3 N s (Zweier-Einfachketten kanten- und eckenverknüpfter PN 4 -Tetraeder), (b) von y-P 3 N s (eckenverknüpfte Stränge kantenverknüpfter verzerrter PN 5 -Pyramiden), (c) HP 4 N 7 (kantenverzweigte (c') und eckenverzweigte (c") Zweier-Einfachketten. (Bzgl. weiterer Einzelheiten vgl. Text.) Li10P4N10 oder LiPN2. Die salzartig aufgebauten, als Li + -Ionenleiter wirkende Verbindungen enthalten die Ionen PN"> P3N12_> P4N1o~ bzw. [PN2"]X, welche wie die isoelektronischen Teilchen P O " , P3°9_ (vgl a-Wollastonit, S. 963), P 4 0 10 bzw. Si0 2 (Cristobalitform, vgl. S. 952) aufgebaut sind. Als weitere Nitridophosphat-Ionen seien genannt (Alkali- bzw. Erdalkalimetallgegenionen; gewinnbar u. a. durch thermische Reaktionen von Metallamiden oder -aziden mit bei erhöhten Drücken): PN (Ketten eckenverknüpfter PN4-Tetraeder, vgl. Polyphosphate /J-Wollastonit), [P4Nf ].,. (s. HP4N7, unten), [P^lf].,. (Raumnetzstruktur aus eckenverknüpften PN4-Tetraedern; planare NP3-, gewinkelte PN 2 -Gruppen). Die konjugierten Säuren der erwähnten Nitridophosphate, die ,,Hydrogennitridophosphate" sind ebenfalls zum Teil bekannt. So lässt sich reines und kristallines „Phospham" HPN 2 = P(NH)N („Phosphor(V)imidnitrid") durch heterogene Druckammonolyse von P3N5 bei 6 kbar und 550 °C im Laufe von 14 Tagen gewinnen (P3N5 + NH 3 -> 3HPN 2 ). Es enthält wie dessen Lithiumsalz LiPN2 das polymere, analog Si0 2 (Cristobalitform) strukturierte Gerüst [PN^]^ wobei die H-Atome kovalent an die Hälfte der N-Atome gebunden sind. Das Tetraphosphor(V)-imidhexanitrid HP4N7 = P(NH)N 6 entsteht gemäß: 4P3N5 + NH4C1 3HP4N7 + HCl bei 820°C sowie gemäß: 2(H 2 N) 2 SPNP(NH 2 ) 3 HP4N7 + 2H 2 S + bei 750°C, und zwar im letzteren Falle einphasig als mikrokristallines, in allen Medien, Säuren und Basen unlösliches farbloses Pulver, das unter Sauerstoffausschluss bis 800 °C stabil ist und oberhalb 800 °C unter NH3-Eliminierung in P3N5 übergeht. Dem Nitrid liegt eine Raumnetzstruktur zugrunde, die in zwei verschiedene offen-verzweigte Zweier-Einfachketten (c') und (c") separierbar ist, deren Hauptstränge durch eckenverknüpfte PN4-Tetraeder gebildet werden, wobei die Verzweigung in einem Falle durch Kanten-, in anderem Falle durch Eckenverknüpfung eines PN4-Tetraeders erfolgt. Die alternierend angeordneten Stränge sind über gemeinsame N-Atome, welche teils mit zwei, teils mit drei P-Atomen koordiniert sind, miteinander verknüpft (polymeres „Tetraphosphor(V)-hexanitrid-oxid" P4ON6, gewinnbar aus polymerem „Phosphornitridoxid " PNO und N H bei 850 °C, enthält wie isoelektronisches P4(NH)N6 neben ecken- auch kantenverknüpfte PN -Tetraeder). Man kennt auch ,,Nitridosodolithe" M7[P12N24]C12 (M11 z.B. Co, Ni, Zn), deren (CP-haltige) Baueinheit P12N12~ wie die isoelektronische Baueinheit Al6Si6C>24 des Zeoliths Na 8 [Al 6 Si 6 0 24 ]Cl 2 (,,Sodalith"; vgl. S. 971) aufgebaut ist. Phosphor(III)-nitrid PN. Oberhalb 800 °C zersetzt sich P3N5 unter Stickstoffentwicklung gemäß P3N5 -> 3PN + N2 in gasförmiges monomeres Phosphor(IIf-nitrid PN (,,Phosphazin", „Nitridophosphan" P = N ; Bindungsabstand 1.491 A; ber. für Dreifachbindung 1.50 Ä; isovalenzelektronisch mit SiO), welches hinsichtlich seines Zerfalls inP 2 und N 2 bei 800 °C noch metastabil ist (PN -> ^P2 + JN 2 + 98 kJ), aber bei niedrigen Temperaturen in farbloses, auch aus Phosphortrichlorid und Ammoniak bei höheren Temperaturen erhältliches polymeres ,,Phosphor(III)-nitrid" der angenäherten Formel (PN)X unbekannter Struktur übergeht. Sonstige PN-Verbindungen. Man kennt darüber hinaus hochschmelzende gelbe bis braune Nitride mit Stöchiometrien zwischen PN und P3N5. Auch existieren noch weitere - ebenfalls nur aus Phosphor und Stickstoff zusammengesetzte - Phosphorazide der Stöchiometrie P N = P(N3)3 („Phosphortriazid"), PN15 = P(N3)5 („Phosphorpentaazid") und P3N21 = [PN(N3)2]3 (trimeres „Phosphornitriddiazid"). Sie las-
• 814
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
sen sich durch Reaktion der Chloride PC13, PC15 bzw. (PNC12)3 mit Natriumazid als explosive Verbindungen gewinnen. Von P(N3)5 leiten sich die Azidokomplexe [P(N3)4] + und [P(N3)6] " ab, wobei letzteres Ion auch als Salz N+ P(N3)6" = PN23 (91 Gew.% N!) existiert.
2.6.3
Imino- und Nitridophosphorane (Phosph(V)-azene, -azine)
Iminophosphorane^Y—N — stellen N-Analoga der Phosphorsäure und ihrer Derivate ^P—O ^
^
e
sowie der Alkylidenphosphorane ^P—CC Nitridophosphorane ^ P = N Isomere der Phosphazene —P—N— dar. Insbesondere die „Phosphornitrid-dichloride" (—C12P—N—)„ (n = 3, 4, ..., oo) und ihre Derivate sind von technischer Bedeutung. Cyclische und polymere Iminophosphorane (—X2P—N—)„ (X = anorganische oder organische Reste). Darstellung. Durch Erhitzen von PC15 mit NH 4 Cl im Autoklaven auf 120°C oder in sym-Tetrachlorethan (Sdp. 146.3 °C), Chlorbenzol (Sdp. 132°C) bzw. 1,3-Dichlorbenzol (Sdp. 179°C) auf 120-150°C bilden sich gemäß PC15 + NH4C1 ^ V „ ( N P ^ + 4HC1 als Hauptprodukte das cyclische trimere bzw. tetramere Phosphornitrid-dichlorid (,,Hexachlorcyclotriphosphazen", ,,Octachlorcyclotetraphosphazen") (NPC12)3 bzw. (NPC12)478: C 2
P
f
^
t
a/: C l ^ . . ^ ,
^
..
N
trimeres
tetrameres Phosphornitridchlorid
Cl 2
polymeres
Untergeordnet entstehen darüber hinaus cyclische Verbindungen größerer Ringgliederzahl (n > 4) sowie acyclisches ( N P ^ r Phosphornitrid-dibromide erhält man gemäß PBr3 + NaN 3 -> VnCNPBr^ + N a B + N2 (n = 3, 4, 5). Die erwähnten kettenförmigen Polyphosphazene (NPC bilden sich in hoher Ausbeute bei mehrstündigem Erhitzen von (NPC auf 150-300°C. Cyclophosphazene (X2PN)Ä kleinerer Ringgliederzahl (n = 2) entstehen durch Dimerisierung von Nitridophosphoranen X2P—N, die sich - als Isomere der Phosphazene XP—NX - im Zuge der Photolyse X 2 PN 3 + hv -> X 2 PN + N2 als reaktive, di-, tri- und polymerisierende, durch MeOH, Me 2 NH, Me3SiCl, PhNCS abfangbare Intermediate bilden: 2X 2 PN -> (NPX2)2 (nach Berechnungen ist Singulett-Isophosphazen über 150 kJ/mol energieärmer als Phosphazen HP—NH und 25 kJ/mol energieärmer als H 2 PN im Triplettzustand; vgl. H 2 N = N und energieärmeres H N = N H ; S.688). Die beiden phosphorgebundenen Cl-Atome der cyclischen und acyclischen Phosphornitrid-dichloride (NPC12)„ können gegen zahlreiche andere einwertige Reste X wie F, Br, OH, SH, SCN, N H , NR 2 , N3, Organyl ausgetauscht werden. Angeführt seien etwa die Difluoride (NPF2)„ (bis mindestens n = 17 bekannt), gemischte Chlorbromverbindungen N3P3Br„Cl6_„ (Isomere im Falle n = 2, 3, 4) oder die beim Versetzen von (NPC12)3 mit Wasser über das Dihydroxid [NP(OH) 2 ] 3 durch Protonenverschiebung erhältliche farblose, hydrolyselabile und deprotonierbare ,,Trimetaphosphimsäure"\ HO
OH
n
P ^N: HO^|
P HO^
|
7
Os^
HN"" ^ N H ^OH
^
HO
P ^OH
trimeres Phosphornitriddihydroxid 8
OH
P
O^
I
I
p
p
"
/ O
+3H+
OH
^N"" H
Trimetaphosphimsäure
-
"
1 ,0
oN O"
N
"O
Trimetaphosphimat
Geschichtliches Die Darstellung von (NPC1 2 )„ erfolgte erstmals 1834 durch J. Liebig sowie F. Wöhler aus PC15 und N H und wurde 1924 durch R. Schenk und G. Römer methodisch verbessert. (NPF 2 ) n wurde erstmals 1956, (NPBr 2 ) n 1960 synthetisiert.
2. Der Phosphor
815»
Strukturen Der sechsgliederige Ring der Verbindung (NPC12)3 ist fast planar gebaut (Sesselkonformation mit angenäherter D^-Symmetrie; Entsprechendes gilt für die Derivate (NPX2)3). Die - gleich langen PN-Abstände sind mit 1.58 Ä vergleichsweise kurz (vgl. Überblick S. 811). Die Winkel PNP/NPN betragen 131.4/118.4° (PCl-Abstand 1.97Ä, >ClPCl 102°). Dem achtgliederigen Ring der Verbindung (NPC12)4 liegt eine Sattelform zugrunde (S4-Symmetrie), wobei die P-Atome in einer Ebene liegen und die N-Atome alternierend ober- und unterhalb dieser Ebene (PN-Abstände 1. 56 Ä, PNP/NPN-Winkel 135.6/120.6°; zum Vergleich (PNF2)4: 1.54Ä, 140.4/123.1°). Man kennt bei Derivaten (NPX2)4 zudem Sessel-, Boot- und Kronenformen Höhergliederige Ringe der Verbindungen (NPX2)n (n > 4) sind ebenfalls nicht planar strukturiert, während Verbindungen (NPX2)2 einen ebenen PNPN-Ring aufweisen. Die kettenbildenden Atome der Polyphosphazene (NPC um 15 000) sind wie im Falle des Schwefels (S. 552) oder der Polyphosphate (S. 808) spiralig angeordnet Eigenschaften Die Schmelzpunkte der/arbloi-kristallinen Phosphornitrid-dichloride (NPC12)„ steigen und fallen abwechselnd bei wachsendem n (z. B. (NPCl2)3/4/5/6/7/8: Smp.112.8/122.8/41.3/92.3/293/58°C; Sdp. 256.5/ 328.5/224/262/293°C; letzte drei Sdp. bei 13 mbar). Die Cyclophosphazene sind vergleichsweise redoxstabil. Das N-Atom wirkt basisch gegenüber starken Brönsted-Säuren HY wie HClO 4 , HF: (NPX2)„ + HY HN„P„X2tY~ (pi^B für n = 3 und X = NEt 2 /Et/Ph/OEt = 8.2/6.4/1.5/- 0.2). Auch bilden viele LewisSäuren Cyclophosphazen-Komplexe (z.B. [PtCl2(f/2-N4P4Me8)], [CuCl(f/4-N6P6X12] + mit X = NMe2). führenden Ammonolyse von Phosphorpentachlorid ist weitgehend aufgeklärt. Bei Einwirkung von Ammoniak im Überschuss bei niedrigen Temperaturen (Eintragen von PC15 in flüssiges N H ) entsteht unter orid P(NH2)4Cl (S. i 2N
2N
PCI,
[ P a < N R ) ] a 2
- NH 4 C1
2N ^
-NH4C1
[PCI,(NH,),]CI 2
2N ^
-NH4C1
[PCI(NH,)JCI
^
[P(NH,)JCL
-NHCl
Da alle Substitutionsreaktionen sehr rasch ablaufen, lässt sich nur das Endglied der Reihe isolieren. Es bilden sich in kleinen Ausbeuten u.a. [(H2N)3PNP(NH3)3]Cl sowie PN(NH 3 ) 3 wohl als Folge der Ammonolyse von zunächst gebildetem [Cl 3 PNPCl 3 ]Cl (s. u.) bzw. der Deprotonierung von [P(NH 2 ) 4 ]Cl. Bei Einwirkung von Ammoniak im Unterschuss bei hohen Temperaturen entsteht durch Kondensation des zunächst gebildeten Aminotrichlorophosphonium-chlorids [PCl 3 (NH 2 )]Cl (s. oben) mit Phosphorpentachlorid die Verbindung [Cl3NPCl3]Cl, die ihrerseits weiter mit [PCl 3 (NH 2 )]Cl zu [Cl 3 PNPCl 2 NPCl 3 ]Cl reagiert (isoliert als farblose PC1,T-Salze). PCL —
PC (NH -2HC1
C
——> [C1 3 P=N—PCL]Cl —
PC (NH
-
C
-—>
-2HC1
[ ^ N - P ^ - P a ] C l .
Analog bilden sich durch Kondensation noch längere Ketten [C13P—N—(PC12—N)„_ 3—PCl3]Cl, welche mit Ammoniak unter Ringschluss in Phosphornitrid-dichloride ( P N C l ^ übergehen, z.B.: [C13P—N—PC12—N—PC13]C1 + NH 3 ^
[C12P—N—PC12—N—PC12—N] + 3HCl.
Lässt man Ammoniak und Phosphorpentachlorid im Molverhältnis von etwa 2:1 bei höheren Temperaturen miteinander reagieren, so erhält man gemäß 2NH 3 + PC15 -> '/„(NPNH)^ + 5HCl „Phospham" (NPNH)„ (S. 813). Verwendung Die kautschukartigen Eigenschaften des hochpolymeren Phosphornitrid-dichlorids (,,anorganischer Kautschuk") sind wie beim normalen Kautschuk oder beim plastischen Schwefel (S. 545) auf die Kräfte zurückzuführen, die bei der durch Dehnung des Stoffes bewirkten Parallelrichtung der Ketten wirksam werden. Ersetzt man im polymeren Phosphornitrid-dichlorid das Chlor durch andere Reste (z. B. OR, N R , R) oder durch kettenverbindende Gruppen (z. B. —NR—, —O—), so resultieren hydrolysebeständige Materialien, die gummielastisch (zum Teil bis - 90 °C) bis glashart sind, zu Fasern, Geweben, Folien, Schläuchen sowie Röhren (z. B. Erdöl) verarbeitet werden und zum wasserabstoßenden bzw. flammenhemmenden Imprägnieren anderer Stoffe dienen (Polymere des Typs (NPR)., mit R = Organylrest sind isoelektronisch mit den Siliconen (OSiRj).,, vgl. S.992). Polymere Phosphornitride NPX 2 mit Substituenten X wie OCH 2 CF 3 greifen organische Gewebe nicht an; aus ihnen lassen sich infolgedessen künstliche Herzklappen und andere Organersatzteile herstellen. Oligophosphazene wie NP(NHCH COOEt zersetzen sich im Organismus unter Bildung einigermaßen verträglicher Stoff (Aminosäuren, Phosphate, Ammoniak) und werden deshalb zu chirurgischem Nähmaterial verarbeitet. Monomere Iminophosphorane R3P—NR' (R, R' = anorganische, organische Reste, „Phosphazene" in weiterem Sinn) lassen sich u. a. durch Reaktion von Phosphanen PR 3 mit Aziden R'N 3 (R3P + R'N 3 -> R 3 PNR' + N2; ,,Staudinger Reaktion") oder von Phosphoranen R 3 PHal 2 mit Aminen R'NH 2 (R3PHal2 + R'NH 2 -> R 3 PNR' + 2HHal) gewinnen und zeichnen sich durch kurze PN-Abstände um
• 816
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
1.6Ä aus (vgl. Überblick S.811). Man kennt „Diphosphazene"^^—N—PR'' (R" z.B. Hal, OPh, Organyl) und davon ableitbare Kationen des Typus R 3 P—N—PR" (,,Diphosphazenium-Kationen") mit nicht linearer PNP-Gruppierung, in welchen R' der Phosphazene R 3 P—NR die Gruppen PR'' bzw. PR3+ darstellen. Als Salze mit den betreffenden Kationen seien genannt [(H 2 N) 3 PNP(NH 2 ) 3 ] + C F (Produkt der Ammonolyse von PC15, s. oben), [Ph 3 PNPPh 3 ] + C P (das voluminöse Kation wird zur Stabilisierung zersetzlicher Anionen wie etwa NS" mit n = 3,4 genutzt (S. 611) sowie [(Me 2 N) 3 PNP(NMe 3 ) 3 ] + X~ (das Kation zeichnet sich durch besonders geringe Basizität aus; das Fluorid ist in organischen Medien löslich und dient als Salz mit extrem reaktivem ,,nacktem" Fluorid für synthetische Zwecke). Diiminophosphorane R'N—PR—NR" (R, R', R" = anorganische, organische Reste) werden meist durch Reaktion von Iminophosphanen R ' N = P R (s. unten) und Aziden R"N 3 gewonnen: R P = N R ' + R"N 3 -> R'N—PR—NR" + N 2 . Als Verbindungsbeispiele seien genannt: Me3SiP(NMes*)2, (Me3Si)2NP(NSiMe3)2, (Me3Si)2CHP(NSiMe3)2, HalP(NMes*)2 (Mes* = 2,4,6-«Bu3C6H2). Die PN-Abstände in RP(NR') 2 sind gleich lang und vergleichsweise kurz (z.B. in RP(NSiMe3)2 mit R = (Me3Si)2N 1.515Ä; ^NPN/PNSi: 143.3/146.8°). Bromid lässt sich in BrP(NMes*)2 mit dem Donor D = p-Dimethylaminopyridin NC5H5(NMe2) in Methylenchlorid unter Bildung des donorstabilisierten ,,Bis(imino)phosphonium"-KationsP(NMes)+ verdrängen:BrP(NMes*) 2 + 2D [D 2 P(NMes*) 2 ] + Br~ (PN-Abstände 152.7Ä; ^ N P N 135.9°; vgl. hierzu D2PS + , S.803).
2.6.4
Iminophosphane (Phosph(lll)-azene)
Für die Darstellung der reaktiven Iminophosphane RP=NR' (,,Phosphazene" im engeren Sinne; R, R' = anorganische oder organische Reste bzw. Teile eines Ringsymstems) haben vor allem thermische Eliminierungen gemäß: R' RP—NR' |
|
-
M X
>•
/
P=N -
R
X M
(MX = LiHal, HHal, Me3SiHal) präparative Bedeutung. Die ungesättigten Verbindungen weisen ein planares zentrales Atomgerüst auf und sind in der Regel trans-, in Ausnahmefällen fast linear oder cis konfiguriert. Die PN-Bindungslängen hängen von den Substituenten R und R' ab und liegen im Bereich 1.5-1.6 (vgl. Überblick, S. 811), die RPN/PNR'-Winkel betragen normalerweise 100-115/115-150° (z. B. trans-HP=NH (ber.)/ArP=N«Bu/Me 2 NP=NMes*/ClP=NMes*: PN-Abstände 1.55/1.56/1.54/1.50 ^ R P N 100/100.6/115.9/112.4°; ^ P N R ' 118/122.7/140.7/154.8 (Mes* = 2,4,6-«Bu3C6H2); cis-HPNH ist 6.3 kJ/mol energiereicher als trans-HPNH (Inversions-/Rotationsbarriere 62.9/184.4kJ/mol)). Die Iminophosphane lassen sich, falls die Substituenten sperrig sind, unter normalen Bedingungen isolieren anderenfalls stabilisieren sie sich durch Dimerisierung, und zwar unter [2 + 1]-Cycloaddition (R z.B. Organylgruppen) oder [2 + 2]-Cycloaddition (R z.B. Aminogruppen): RP
NR RP=NR'
R P
N R
Cycloadd
— Cycloadd
RP |
NR | P R
Unter Addition bilden die Iminophosphane mit Säuren HX Aminophosphane RXP—NHR', mit Halogenen X2 Iminophosphorane RX 2 P—NR, mit Chalkogenen Y„ Iminophosphanchalkogenide Y—PR—NR, mit Aziden RN 3 (N2-Eliminierung) Diiminophosphorane RN—PR—NR', mit Verbindungen, die Mehrfachbindungen enthalten, Cycloaddukte. Darüber hinaus lassen sich elektronegativere Reste R wie Halogene oder Aminogruppen nucleophil substituieren, das Chlor in ClP=NMes* mit AlCl3 abionisieren (Bildung eines blassgelben,,Phosphannitrilium-Kations" Mes*N=P + , der ersten stabilen Verbindung mit PN-Dreifachbindung; PN-Abstand 1.475 Ä, * C N P = 177.0°; vgl. Überblick). Das P-Atom der Iminophosphane (Phosphazene) wirkt schwach Lewis-acid (z.B. R P = N R ' + H~ -> RHP—NR'~ -> Folgereaktion), das N-Atom Lewis-basisch (z. B. R P = N R ' + AlCl3 ^ RP=NR'AlCl 3 Folgereaktion). Erwähnt seien auch Phosphapentazole (Ersatz von N in R N gegen P), z. B.: GaCl 3 -Addukte von RN3P2 (R = N(SiMe3)2). Iminophosphan-Komplexe enthalten Komplexpartner M L (L = Ligand) teils „end-on" (r/1) über Phosphor oder Stickstoff, teils ,,side-on" über das re-System gebunden.
2.6.5
Aminophosphane, -phosphorane (Phosph(lll und V)-azane)
Aminophosphane Typische ,,Phosph(III)-azane" sind etwa R 2 NPX 2 , (R2N)2PX, (R2N)3P (X = Halogen). Sie lassen sich u. a. durch Einwirkung von R 2 NH auf PX3 gewinnen und weisen verkürzte PN-Bindungslängenauf (z. B. 1.628 Ä im,,Monoaminophosphan" Me2NPX2; vgl. Überblick, S. 812), wobei die Rotation der planaren R 2 N-Gruppen um die PN-Bindungen gehemmt ist (z. B. Rotationsbarriere in Me2NPCl2:
2. Der Phosphor
817»
35 kJ/mol; in (Me2N)PhPCl: 50 kJ/mol). Die „Diaminophosphane" (R2N)2PX können in CH2C12 oder flüssigem S O mit Halogenidakzeptoren in ,,Diaminophosphenium-Kationen" (R 2 N) 2 P + verwandelt werden (z.B. (;Pr2N)2PCl +AlCl 3 ^ (;Pr 2 N) 2 P+AlCl7: planares C 2 N—P—NC 2 -Gerüst mit gewinkeltem Phosphoratom (114.8°) und kurzen PN-Abständen (1.613 Ä). Man kennt auch ,,MonoaminophospheniumKationen" R 2 NPX + (X = Halogen, Pseudohalogen, Organyl). Das ,,Triaminophosphan" (Me2N)3P stellt eine wichtige Ausgangsverbindung der Phosphorchemie dar und reagiert etwa mit Halogenen Sauersto Schwefel zu (Me 2 N) 3 PHal + HaP, (Me2N)3PO, (Me2N)3PS, mit Chloramin, Iodmethan zu (Me 2 N) 3 PNH 2 + Cr, (Me 2 N) 3 PMe + I~, mit Phenylazid zu (Me2N)3PNPh, mit Phosphortrichlorid zu (Me2N)2PCl, Me2NPCl2, mit Diboran zu (Me2N)3PBH3 und mit Cadmiumiodid zu {(Me2 N)3P}2CdI2. Das farblose ,, Tetraammonium-phosphonium-Kation" P(NH2)^ (tetraedrischer Phosphor) liegt etwa den durch Ammonolyse von PC15 (S. 815) oder von [P(NH 2 ) 3 SMe] + I~ (gewinnbar aus (NH2)3PS und Mel) erhältlichen Salzen P(NH2)4+X~ (X = Cl, I) zugrunde. Das Methylderivat P(NMe 2 ) 4 + F" ist in organischen Medien löslich und dient als starkes Fluoridierungsmittel (vgl. S. 450). Setzt man PX3 nicht mit R 2 NH, sondern mit RNH 2 um, so bilden sich cyclische Aminophosphane (RNPX) 2 mit viergliederigem PNPN-Ring oder P4(NR)6 (R z. B. Me) mit P 4 N 6 -Adamentangerüst (vgl. S. 784). Setzt man (iBuNPCl)2 mit Magnesium in siedendem Tetrafuran um, so entsteht polycyclisches P4(N«Bu)4, das sich von a-P4S4 durch Ersatz der S-Atome durch NiBu-Gruppen ableitet. Aminophosphorane. Beispiel: ,,Phosph(V)-azan" (C1 3 P—NM^ mit viergliederigem PNPN-Ring.
2.7
Organische Verbindungen des Phosphors 5 1 , 7 9 , 8 0 , 8 1
Überblick Bisher kennt man kein unter Normalbedingungen isolierbares, nur aus Phosphor und Kohlenstoff zusammengesetztes Phosphorcarbid¥mCn, doch lässt sich ,,1,4-Diphospha- 1,3-butadiin" P = C — C = P durch Vakuumblitzthermolyse erzeugen, indem man verdünntes CH3—CH2—PC12-Gas (10~ 4 mbar) kurzzeitig 75
Literatur. HOUBEN-WEYL: ,Organische Phosphorverbindungen" Bd. 12 (1963/64), E1/E2 (1982); A.J. Kirby, S.G. Warren: „ The Organic Chemistry of Phosphorus", Elsevier, Amsterdam 1967; K.B. Dillon, F. Mathey, J.F. Nixon: ,,Phosphorus: The Carbon CopyWiley, Chichester 1998; F. Mathey: ,,Phosphororganische Chemie: Panorama und PerspektivenAngew. C h e m 115 (2003) 1616-1643; Int. E d 42 (2003) 1578; R. Appel, F. Knoll. I. Ruppert: ,,Phospha-alkene und Phospha-alkine, Genese und Charakteristika ihrer (p-p)n-MehrfachbindungAngew. Chem. 93 (1981) 771-784; Int. E d 20 (1981) 731; R. Appel, F. Knoll: ,Double Bonds between Phosphorus and Carbon Adv. Inorg. C h e m 33 (1989) 259-361; M. Regitz, P. Binger: „Phosphaalkine - Synthesen, Reaktionen, KoordinationsverhaltenAngew. C h e m 100 (1988) 1541-1565; Int. E d 27 (1988) 1484; M. Regitz: ,,Phosphaalkynes: New Building Blocks in Synthetic Chemistry", Chem. R e v 90 (1990) 191-213; F. Mathey: ,,Expanding the Analogy between Phosphorus-Carbon and Carbon-Carbon Double Bonds", Acc. Chem. R e s 25 (1992) 90-96; L. Weber: „The Chemistry of Diphosphenes andtheir Heavy Congeners: Synthesis, Structure, and Reactivity", Chem. R e v 92 (1992) 1835-1906; L. Weber: ,,Phosphaalkenes with Inverse Electron Density", Eur. J. Inorg. Chem. (2000) 2425-2441;,,Phosphorchemie weiter im Aufwind: cyclische Vierringsysteme mit vier n-Elektronen", Angew. C h e m 108 (1996) 2779-2782; Int. Ed. 35 (1996) 2618; ,,Phosphorheterocyclen: von Laborkuriositäten zu Liganden in hocheffizienten Katalysatoren", Angew. C h e m 114 (2002) 583-592; Int. E d 34 (2002) 436; R. Streubel: „Phosphaalken-Cyclooligomere von Dimeren zu Hexameren - erste Schritte auf dem Wege zu Phosphor-Kohlenstoff-Käfigverbindungen", Angew. C h e m 107 (1995) 478-480; Int. E d 34 (1995) 436; J.F. Nixon: „Phosphaalkynes, RC=P": New Building Blocks in Inorganic and Metalorganic Chemistry", Chem. Soc. R e v 24 (1995) 319-328; „Recent developments in organometallic chemistry of phospha-alkynes R ^ s P " , Coord. Chem. R e v 145 (1995) 201-258; G. Bertrand: „ Ylidische viergliederige Vier-nElektronen-X5-Phosphorheterocyclen: elektronische Heterocyclobutadien-Isomere", Angew. C h e m 110 (1998) 282-293; Int. E d 37 (1998) 270; C. Chuit, C. Reye: „Hypercoordinate Pn, Pm, and PIV Phophorus Derivatives with
Intramolecular Coordination by Donor Groups", Eur. J. Inorg. Chem. (1998) 1847-1857; L.Weber: „Recent developments in the chemistry of metallophosphaalkenes", Coord. Chem. R e v 249 (2005) 741-764; ,,The Quest for Isophosphaalkynes (Isophosphacyanides) C=P—R - Still an Elusive Class of Compounds", Eur. J. Inorg. Chem. (2003) 1843 1856. 80 Geschichtliches Phosphororganische Verbindungen wurden in der lebenden Natur erstmals 1811 durch N.-L. Vauquelin nachgewiesen (Lecithin aus Gehirnsubstanz) sowie im Laboratorium 1820 durch J.L. Lassaigne synthetisiert. Als einige wenige weitere Meilensteine in der Entwicklung der phosphororganischen Chemie seien genannt: die Michaelis-Abusov-Reaktion (A. Michaelis, 1898; A.E. Abusov, 1906: P(OR) 3 + R'Hal ^ R'PO(OR) 2 + RHal), die Wittig-Reaktion(G. Wittig, 1953; Nobelpreis 1979: R 3 P — C R 2 + R 2 C O ^ R 3 P O + R ' 2 C = C R 2 ; vgl. R.W. Hoffmann Angew. C h e m 113 (2001) 1457-1462; Int. Ed. 40 (2001) 1411); erstmalige Synthese eines isolierbaren Phosphabenzols (2,4,6-PC 5 H 2 Ph 3 : G. Märkel 1966; P C 5 H 5 : A.J. Ashe III 1971), Phosphalkene R P = C ( B u ( S i M e 3 ) mit R = Me, Ph; G. Becker, 1976; Diphosphene (Mes*P=PMes* mit Mes* = 2,4,6-fBu 3 C 6 H 2 ; M. Yoshifuji et. al., 1981), Phosphaalkine ( ( B u C = P ; G. Becker 1981; erster experimenteller Hinweis auf H C = P : T.E. Grier 1961). 1 8 Physiologisches Viele phosphororganische Verbindungen wirken toxisch und teilweise tödlich. Sie werden demgemäß als Herbizide und Pestizide oder leider auch als Nervengase genutzt, welche zu biologischen Störungen, zur Paralyse, zum Tode führen können.
• 818
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
einer Temperatur von 950°C aussetzt (u.a. Bildung von P = C H sowie P = C ' ) und das Reaktionsgas rasch auf — 200 °C abschreckt. Das hierbei gebildete dimere PC lässt sich durch Reaktanden, die gleichzeitig mit PC ausgefroren wurden, abfangen und dadurch sichtbar machen. Anders als Phosphorcarbide kennt man eine große Anzahl phosphororganischer Verbindungen P„Rp (R = Alkyl — C H und Derivate, Alkyliden = C H und Derivate, Alkylidin = CH und Derivate, Aryl —C6H5 und Derivate). Unter ihnen wurden die Oligophosphororganyle (m > 1) mit Ketten, Ringen, Käfigen aus miteinander einfach oder doppelt verknüpften P-Atomen bereits beschrieben (vgl. S. 767, 768, 769, 773). In den nachfolgend zu behandelnden Monophosphororganylen PR kommen dem Phosphor die Koordinationszahlen 1 - 6 zu, wie nachfolgendes Formelschema zum Ausdruck bringt (auch Verbindungen P R , in welchen einige Reste R anorganischer Natur sind, werden zu den phosphororganischen Verbindungen gezählt). Zur Klassifizierung des jeweils vorliegenden gebundenen Phosphors bezeichnet man dessen Koordinationszahl auch mit a, die Zahl der vom Phosphor ausgehenden Bindungen (einschließlich Elektrovalenzen) mit /l (vgl. Formelschema; Phosphor bildet maximal vier kovalente Bindungen aus; siehe Iminophosphorane, S.814). Größere Bedeutung haben insbesondere Phosphane und Phosphoniumsalze erlangt: R
I® "P"
:p—R
r '
Phosphanidene (Phosphinidene) 1
n
R
R
l R R Phosphane (Phosphine)
Phosphanyle (Phosphinyle) 2 2_p
!-P
3
3
-P
4 4
P=CR',
3
- P
'"CR',
Bis(alkyliden)phosphorane (Phosphonium-dimethylide) 3 5 -P
3
-P
- P
R
R
K l ^
R R', C '
:P=CR'
Phosphaalkene Phosphaalkine (Alkyüden-/Alkylidinphosphorane)
R
P—CR',
Alkylidenphosphorane (Phosphonium-methylide) 4 5 -P
/
R Phosphoniumsalze
0
/J
/ 1«N R
R R
I R R
R^ ^ R R R
Pentaorganylphosphorane (Phosphorpentaorganyle) 5 5 _
P
R'
R
N R R
Hexaorganylphosphate (V) 6
6_p
Organylphosphane und -phosphoniumsalze Die organischen Phosphane werden in Analogie zu den organischen Aminen je nach der Zahl substituierter H-Atome in P H als „primäre", ,,sekundäre" bzw. ,,tertiäre Phosphane" RnPH3_n (n = 1, 2 bzw. 3) unterschieden. Ihre Darstellung erfolgt u. a. aus PC13 durch Reaktion mit RCl/Na bzw. RMgBr (PC13 + 1/2/3 RMgBr ^ RPC12/R2PCl/R3P +1/2/3 MgBrCl), aus P H durch Addition an Olefine (PH3 + 3 H 2 C = C H R ' P(CH2—CH2R')3) sowie aus R 3 PO durch Reduktion (z. B. R 3 PO + Si2Cl6 ^ PR3 + Si2OCl6). Eigenschaften Die farblosen organischen Derivate des Phosphans sind wie P H trigonal-pyramidal gebaut (z.B. selbstentzündliches „Trimethylphosphan" Me3P: farblose Flüssigkeit, Sdp. 37-39°C, PC-Abstand 1.843 Ä, CPC-Winkel 98.9°; luftstabiles „Triphenylphosphan" Ph3P: farblose Festsubstanz, Smp. 79-81 °C; „Methylphosphan" MePH2: farbloses Gas, Sdp. — 14°C; „Dimethylphosphan" Me2PH: farblose Flüssigkeit, Sdp. 20°C). Raumerfüllende Reste R können zu einer Planarisierung des Phosphors führen (z. B. planares (;'Pr3Si)3P). Die tertiären Phosphane R3P lassen sich z. B. mit H 2 0 2 zu Phosphanoxiden R 3 PO oxidieren. Die Brönsted-Basizität von R„PH3_„ ist von der des Grundkörpers P H (pKB ca. 27) stark verschieden (z.B. MePH 2 : 14, Me2PH: 10.1, Me3P: 5.3), die Brönsted-Acidität sehr gering (die mit stark basischen Anionen wie R oder NR'f erhältlichen Anionen R2P~ und RP2~ bilden mit den Gegenionen meist oligomere Strukturen aus; ein „nacktes" Phosphanid liegt in K(Krone) + ArPH~ mit Ar = 2,6(CF vor). Organische Phosphane zeigen darüber hinaus mehr oder weniger große Lewis-Basizität und bilden als gute Liganden in der Regel leicht Phosphan-Komplexe M(PR3)„,82 Und zwar führen Phosphane in 82
Literatur. C.A. McAuliffe, W. Levason: ,,Phosphine, Arsine and Stibine Complexes of the Transition Elements", Elsevier, Amsterdam 1979; O. Stelzer: ,,Transition Metal Complexes with Phosphorus Ligands", Topics Phosphorus Chem. 9 (1977) 1-229; R. Mason, D.W. Meek: ,,Die Vielseitigkeit tertiärer Phosphane in der Koordinations- und Organometallchemie" Angew. C h e m 90 (1978) 195-206; Int. E d 17 (1978) 183; C.A. McAuliffe: ,,Phosphorus, Arsenic, Antimony and Bismuth Ligands", Comprehensive Coord. Chem. 2 (1987) 989-1066; G. Huttner, K. Knoll: „RP-verbrückte Carbometallcluster: Syntheses, Eigenschaften und Reaktionen", Angew. Chem 99 (1987) 765-783; Int. E d 26 (1987) 743; F. Mathey: ,,Die Entwicklung einer carbenartigen Chemie von Phosphiniden-Ubergangsmetallkomplexen", Angew. C h e m 99 (1987) 285-296; Int. E d 26 (1987) 275; G. Huttner, K. Evertz: „Phosphinidene
2. Der Phosphor
819»
der Reihe P(OPh)3 < PF3 < PH 3 < PPh 3 /PMe 3 < P ( O M ^ P«Bu3 zu zunehmend stärkeren Kovalenzen und in der Reihe P«Bu3 < P a 3 / P M e 3 < P ( O M ^ < PH3 < P(OPh)3 < P F zu zunehmend stärkeren Elektrovalenzen zwischen M und P, wobei ihre Sperrigkeit in Richtung PH3 < P F < P(OMe)3 < PMe3 < P(OPh)3 < PPh 3 < PtBu3 wächst. Ein Maß der Sperrigkeit eines komplexgebundenen Phosphans ist der Winkel (,,Kegelwinkel", engl, „cone angle") einer Hohlkugel, in welche das Fragment MPR 3 gerade hineinpasst (Metallatommitte = Kegelspitze). Der Kegelwinkel hängt etwas vom Metallatomradius ab und beträgt für Ni-gebundene Phosphane P R (in Klammern R) 87 (H), 104 (F), 107 (OMe), 118 (Me), 145 (Ph), 160 (;Pr), 182(iBu), 212 (Mes). Über ihre elektronischen und sterischen Effekte vermögen die Phosphane P R (R = anorganischer oder organischer Rest, der gegebenenfalls weitere PR-Gruppen enthält) den Ablauf von Reaktionen an Metallzentren von M(PR)„ zu steuern. Diese Eigenschaft wird in der Technik und im Laboratorium vielfach genutzt (vgl. S.415, 1320). Wie der Grundkörper bilden organische Phosphane ,,quartäre" Phosphoniumsalze R 4 P + X~ ( R P + RHal R 4 P+HaP; R z. B. Me, Bu, Ph; man kennt auch (Me 3 E) 4 P + X" mit E = Si, Ge, Sn), die als wertvolle Fällungsreagenzien für große Anionen dienen (Entsprechendes gilt für die Arsoniumsalze R 4 As + Hal~ und Stiboniumsalze R 4 Sb + Hal~). Technisch wichtig ist auch „Tetrakis(hydroxymethyl)phosphoniumchlorid" P(CH 2 OH) 4 + CP (PH3 + 4 C H 2 = 0 + HCl ^ P(CH2OH)4+C1~) als Bestandteil für Mittel zur feuerfesten Imprägnierung von Baumwolltextilien. Von Bedeutung sind darüber hinaus Phosphoniumsalze R 3 PCH 2 R' + Hal~ als Vorstufen für Alkylidenphosphorane (s.u.). Raumerfüllende Gruppen R führen nicht nur zur Planarisierung des PR-Phosphors, sondern auch zu einer Stabilisierung von Phosphanyl-Radikalen P R . So bildet sich etwa gewinkeltes PR' (R' = CH(SiMe3)2; ^ C P C 103.9°) beim Schmelzen oder Verdampfen des Diphosphans R ' P — P R (PPAbstand mit 2.31 Ä länger als bei anderen Diphosphanen). Phosphandiyl-Radikale (,,Phosphanidene"; „Phosphene") PR ließen sich bisher nur als Triplett-Intermediate z. B. als Folge der Thermolyse von Cyclophosphanen (PR)„ erzeugen und durch geeignete Abfangreaktionen nachweisen (z. B. PMe: im Triplett-Zustand (dPC = 2.270 Ä) um ca. 140 kJ/mol energieärmer als im Singulett-Zustand (dPC = 2.249 Ä). Isolierbar sind Phosphaniden-Komplexe L„MPR wie (CpMe)2WPMes*, die sich allerdings leicht in Folgeprodukte umwandeln Phosphenium-Kationen R P + (gewinkelt, Singulett-Grundzustand, erhältlich aus R 2 PHal und AlHal3) werden mit raumerfüllenden Gruppen isolierbar (z. B. iBu(C 5 Me 5 )P + ) und stellen wie die isoelektronischen Silylene Si Komplexliganden dar
Phosphaalkene und Phosphaalkine Da die Bindung — P = C ^ hoch reaktiv ist, werden Phosphaalkene R P = C R nur nach Abschirmung der Doppelbindung durch raumerfüllende Gruppen R, R' (z. B. MesP=CPh 2 ; Mes = 2,3,5-Me3C6H2, Ph = C6H5) oder nach mesomerer Stabilisierung dieser Bindung durch elektronenliefernde Gruppen R' (z. B. PhP=CH—NMe 2 ) isolierbar. Die Darstellung der Phosphaalkene kann in einfacher Weise durch Reaktion von RP(SiMe3)2 mit Carbonsäurederivaten wie R'COCl erfolgen (Nutzung der Oxophilie des Siliciums im zweiten Reaktionsschritt; erstmalige Phophaalkensyntheses auf diesem Wege80): UmlageXL
Die Bildung der Phosphaalkene durch ,,Doppelbindungsverschiebung" gelingt auch ausgehend von Vinylphosphanen, z. B. RHP—CMe=CH 2 ^ RP=CMe 2 . Weitere wichtige Methoden zur Phosphaalkengewinnung bestehen in der Kondensation von Phosphanen und Aldehyden (RPH CHR R P = C H R sowie der basenkatalysierten Eliminierung von HCl aus Chlorphosphanen (RClP—CHR' -> R P = C R + HCl). - Eigenschaften. In den Phosphaalkenen R P = C R (RPC-Gruppierung gewinkelt; P=C-Abstände typischerweise 1.6-1.7 Ä; ber. für PC-Einfach-/Doppel-/Dreifachbindung 1.87/1.67/ 1.57 ist der Phosphor normalerweise positiv, der Kohlenstoff negativ polarisiert (P ä+ =C' 5 ~); trägt der Kohlenstoff Aminoreste, so findet man eine inverse PC-Bindungspolarisation (P ä ~=C' 5+ ). Die Addition von HX (X = Hal, OR, N R ) führt demgemäß im Falle „normaler" {„inverser") Phosphaalkene zu R X P — C H R (zu RHP—CXR). Die Chalkogenierung mit 0 3 , S8, Se8, liefert R Y P = C R (Y = O, S, Se). Hinsichtlich Cycloadditionen verhalten sich die Doppelbindungen — P = G ^ und —P=P— ähnlich {„Schrägbeziehung"). So entstehen [2+ 1]-Cycloaddukte mit Carbenen oder Schwefel (Bildung
Complexes and their Higher Homologues", Acc. Chem. R e s 19 (1986) 406-413; H. Schmidbaur: ,,Phosphor-Ylide in der Koordinationssphäre von Übergangsmetallen. Eine Bestandsaufnahme", Angew. C h e m 95 (1983) 980-1000; Int. Ed. 22 (1983) 907; A. Cotton, B. Hong: ,,Polydentate Phosphines: Their Syntheses, Structural Aspects, and Selected Applications", Progr. Inorg. C h e m 40 (1992) 179-289; K.A.Bunten, L.Chen, A.L.Fernandez, A.J.Poe: ,,Cone angles: Tolman's and Plato's", Coord. Chem. R e v 233/234 (2002) 41-52.
• 820
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
von Verbindungen mit PCC- oder PCS-Dreiringen), [2 + 2]-Cycloaddukte als Folge der Phosphaalkenthermolyse („Kopf-Kopf-" bzw. „Kopf-Schwanz"- Dimere mit PPCC- bzw. PCPC-Vierringen), [2 + 3]Cycloaddukte mit Aziden (Bildung von PCNNN-Fünfringen), [2 + 4]-Cycloaddukte mit Verbindungen wie CH 2 =CMe—CMe=CH 2 (Bildung von PCCCCC-Sechsringen). In Phosphaalken-Komplexen sind die Komplex-Fragment M L wie im Falle von Diphosphaalkenen (vgl. S. 774) teils ,,end-on" an das P-Atom, teils ,,side-on" an die PC-Doppelbindung gebunden (Gleichgewicht zwischen beiden Formen im Falle von MesP=CH 2 x Pt(PPh3)2). Wie Diphosphaalkene koordinieren Phosphaalkene ML-Fragmente nicht nur einmal, sondern auch zwei- oder dreimal. Doppelbindungen des Typs — P = C ^ enthalten auch Phosphaaromaten, d. h. ringförmige Kohlenwasserstoffe mit (4n + 2) re-Elektronen. Als Beispiele seien genannt: das Phosphirenylium-Kation (a) die Phosphole (c) und (d) sowie die Phosphinine (e), (f) und (g) (die durch Ecken symbolisierten C-Atome tragen in der Regel Substituenten): ®
_ p
P:
p _
0P
"V
:p
-P'
1 Phosphirenylium-kation (a)
Phosphete
Phosphole
(b)
(c)
Triphosphole (d)
Phosinin
Diphosphinin
Triphosphinin
(e)
(f)
(g)
Das dreizählige P-Atom der Phosphole ist in Abhängigkeit von R (aber auch von a-Ringsubstituenten) mehr oder weniger pyramidal (z.B. beträgt die Winkelsumme an P in (c) für R = CN/CH 2 Ph/2,4,6« B U 3 C 6 H 2 290/302/332°). Mit der Planarität des betreffenden P-Atoms wächst die Aromatizität des Phosphols (671-Aromat) mit der Folge einer PC-Abstandsverkürzung Phospholide, die aus dem Phosphol durch Deprotonierung des dreizähligen P-Atoms (R = H) hervorgehen, verhalten sich naturgemäß hocharomatisch und bilden mit M L Phospholid-71 -Komplexe (vgl. hierzu Komplexe mit dem P5-Ion, S. 774). Die Pyramidalisierung der beiden P-Atome der Phosphete (b) (tiefrote diamagnetische Feststoffe) verhindert eine signifikante Beteiligung der n-Elektronenpaare der P-Atome an einer 6re-Delokalisierung, sodass die Verbindung einen Singulett-Diradikalzustand einnimmt. Das unsubstituierte Phosphinin PC 5 H 5 (e) weist wie homologes Pyridin NC 5 H 5 hohe Aromatizität auf. Entsprechendes gilt für Phosphinine mit zwei und mehr P-Atomen (die Aromizität von (g) ist höher als die von Benzol). Anders als in Pyridin wirkt das freie Elektronenpaar von Phosphinin (e) nicht Brönsted-basisch. Die re-Elektronen der Phosphinine entwickeln aber gegenüber Metallfragmenten M L eine hohe Lewis-Basizität: Bildung von Phosphinin-71 -Komplexen (vgl. hierzu Komplexe mit P6, S. 752). Als Lewis-Säure addiert Phosphinin OrganylAnionen an das P-Atom unter Störung der Aromatizität Metastabiler als die Phosphaalkene sind die Phosphaalkine RC=P. Sie lassen sich demgemäß selbst mit wenig raumerfüllenden Gruppen R isolieren. Z.B. ist sogar H C = P in Ether unterhalb — 20°C monatelang haltbar (Polymerisation bei Lösungsmittelabwesenheit zu einem schwarzen Feststoff); auch lassen sich Salze mit den Anionen C = P " , O—C=P~ (Homologe von Cyanid C = N ~ bzw. Cyanat O — C = N ~ ) gewinnen. Die Darstellung der Phosphaalkine kann analog der der Phosphaalkene (s. oben) durch Reaktion von P(SiMe3)3 mit Carbonsäurederivaten wie RCOCl auf dem Wege einer Kondensation, Umlagerung und Eliminierung erfolgen (erstmalige Phosphaalkinsynthese auf diesem Wege80): .0 Me3Six
+ a — c N^
[ M e j3 S i
,0],, ,
I Umtagsa-ung
r
P — SiMe 3 ,,
„. /
Me3Sr
,, „.„> RM 2 C—PX. Die Phosphaalkine cycloaddieren wie die Phosphaalkene geeignete Reaktanden (z.B. Bildung von [2 + 1]-Cycloaddukten mit Carbenen, Silylenen, Phosphinidenen, von [2 + 2]-Cycloaddukten mit Phosphaalkenen, von [2 + 3]-Cycloaddukten mit Aziden, Diazoalkanen, Nitriloxiden, von [2 + 4]-Cycloaddukten mit Butadien und seinen Derivaten).
2. Der Phosphor
821»
Ein hochinteressanter Aspekt der Phosphaalkinchemie ist die große Vielfalt thermisch- oder metallinitiierter Oligomerisierungen von R C = P . Im Falle von i B u C = P (das am besten studierte Phosphaalkin) führt etwa die Thermolyse bei 95 °C zu den Tetrameren (m), (o) und (p), bei 180 °C zu den Tetrameren (l) und (m). Offensichtlich erfolgt zunächst eine Dimerisierung unter Bildung von (h) sowie (i) (das Tetrahedran soll nach Berechnungen etwas stabiler sein als das Diphosphet). Das nur als Intermediat auftretende Dimere (h) lässt sich in den Koordinationssphären von Co, Ir, Rh isolieren (CpM(C 2 H 4 ) 2 + 2 i B u C = P -> CpM(f/4-P2C2iBu2) + 2C 2 H 4 ; es lassen sich mit anderen Komplexfragmenten auch Kopf-Kopf-Dimere stabilisieren), das Dimere (i) in der Koordinationssphäre von Zr (Cp2ZrCl2 + Mg + 2 i B u C = P Cp2Zr(f/2-C2«Bu2) + MgQ 2 ; Zr überbrückt die CC-Kante des Tetraeders). Die Kombination von (h) mit (h) oder (i) könnte dann die Tetrameren (l), (m) und (p) liefern (das Tetramere (o) lagert sich thermisch in (p) um, (p) photochemisch in (o)):
Diphosphet Diphosphatetrahedran (h)
Triphosphin
Tetraphosphacuban
(k)
(l)
(i)
barrelen (m)
Tetraphosphasemibullvalen
(n)
(o)
(p)
Das Trimere (k) bildet sich aus i B u C = P in Anwesenheit von Cl 3 V=NiBu, das Tetramere (n) in Anwesenheit von Zr(C 8 H 8 ) 2 . Ebenso ließen sich viele weitere mit (l)-(p) isomere Tetramere, aber auch ein Penta- und ein Hexameres von i B u C = P unter geeigneten Bedingungen erzeugen. Die Phosphaalkine R P = C bilden Phosphaalkin-Komplexe mit ,,end-on" (r) oder ,,side-on" (s) gebundenen Komplexfragmenten ML„, wobei letztere auch zweimal (t, u) oder dreimal (v) gebunden sein können ML. ML. RC=P—"MLn (r) RCP-ML„
I
ML.
ML.
t
RC = P:
RC=P—-ML,,
(S) R C P - M L n
(t) RCP-2ML„
RC — — P : y \ ML„ (u) RCP-2ML„
RC — — P X ML„
-ML.
(v) RCP-3ML„
Organylphosphorane Tetraorganylphosphonium-halogenide [R 3 P—CH 2 R'] + X " (R insbesondere Ph) bilden durch HX-Entzug mit starken Basen wie LiBu oder NaNH 2 Alkylidenphosphorane („Phosphan-Ylide") R 3 P—CHR' (der PC-Abstand beträgt in Ph 3 P—CH 2 1.66 A^; vgl. hierzu S. 819). Letztere spielen bei den Wittig-Reaktionenso zur Synthese von Olefinen aus Aldehyden oder Ketonen R 2 C = O z. B. gemäß R 2 C = 0 + Ph 3 P—CHR' -> Ph 3 PO + R 2 C = C H R ' eine Rolle. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang das gelbe Alkylidenphosphoran Ph 3 P—C—PPh 3 mit nichtlinearer Diphosphaallen-Gruppierung ^P—C—P^ sowie die Bis(alkyliden)phosphorane (,,Phosphan-Bisylide") R 2 C—PR—CR 2 , die u.a. durch Addition von Carbenen CR an Phosphaalkene RP CR entstehen können und ein planares zentrales Atomgerüst mit ver kürzten C-Bindungen enthalten Weisen Phosphonium-Verbindungen R 4 P + X~ keine Gruppierungen mit a-ständigem Wasserstoff auf, so können sie mit Lithiumorganylen LiR zu Pentaorganylphosphoranen P R abreagieren (z. B. ,,Pentaphenylphosphoran": farblose Kristalle vom Smp. 125°C; trigonal-bipyramidaler Bau mit PCaxial/ PC äquat = 1.99/1.85 Ä; Phosphoran PPhR 2 (OR) 2 mit R 2 = —Me 2 CCHMeCMe 2 — und (OR) 2 = —OCH 2 CH 2 0—: quadratisch-pyramidaler Bau mit axial angeordneter Ph-Gruppe). Beispiele für Hexaorganylphosphate(V) PR6~ sind PhPF5~, Ph2PF4~, Ph2HPF3~, Tris(phenylen)phosphat P(C6H4—C6H4)3~ mit oktaedrisch koordiniertem Phosphor
• 822
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
3
Das Arsen, Antimon und Bismut 83
3.1
Die Elemente Arsen, Antimon, Bismut83-84,85
Nachfolgend werden zunächst Vorkommen, Darstellung, Eigenschaften und Verwendung von Arsen Antimon und Bismut, dann allotrope und ionogene Formen dieser Elemente besprochen. Bezüglich der Geschichte und Physiologie von Arsen, Antimon und Bismut vgl. Anm8^85_
3.1.1
Vorkommen
Als Nichtmetalle kommen Stickstoff und Phosphor in der Lithosphäre nur a n i o n i s c h (in Form von Nitraten und Phosphaten) vor. Der vom Stickstoff zum Bismut hin zunehmende metallische Charakter äußert sich beim A r s e n bereits darin, dass es nicht nur wie ein Nichtmetall a n i o n i s c h (in Form von Metallarseniden), sondern wie ein Metall auch k a t i o n i s c h polarisiert (in Form von Arsensulfiden und -oxiden) auftritt. Das gleiche gilt für das höhere Elementhomologe, das A n t i m o n , während das Bismut, das nur noch m e t a l l i s c h e Eigenschaften besitzt, in der Natur ausschließlich k a t i o n i s c h (in Form von Sulfiden und Oxiden) vorkommt. In der Natur kommt Arsen gediegen nur gelegentlich vor, z. B. als Scherbencobalt (Fliegenstein) und vergesellschaftet mit Antimon als Allemontit. Unter den Metallarseniden ist das verbreitetste der Arsenkies (Giftkies, Arsenopyrit, Misspickel) Fe[AsS] ( = „FeAs 2 • FeS 2 "), ein gemischtes Arsenid-Sulfid (PyritStruktur). Ganz entsprechend zusammengesetzt sind Glanzcobalt Co[AsS] und Arsennickelkies (Gersdorjfit) Ni [AsS]. Es gibt aber auch schwefelfreie Arsenide, z. B. Arsenikalkies (Löllingit) Fe [As 2 ], Weißnickelkies (Chloanthit) Ni[As 2 _ 3 ], Rotnickelkies (Nickelin) Ni[As], Rammelsbergit Ni[As 2 ], Speiscobalt (Smaltin, Skutterudit) Co[A2 2 _ 3 ]. In der Natur vorkommende Arsenchalkogenide sind die „Sulfide" Realgar (Rauschrot) As 4 S 4 und Auripigment (Rauschgelb) As 2 S 3 , ferner Arsensilberblende (Proustit) Ag 3 AsS 3 ( = „3Ag 2 S • A S 2 S 3 " ) , Enargit Cu 3 AsS 4 ( = „3Cu 2 S • As 2 S 5 ") und Tennantit (lichtes Fahlerz)
83 Literatur. I.D. Smith: ,,Arsenic, Antimony and Bismuth", Comprehensive Inorg. Chem. 2 (1973) 547-683; C.A. McAuliffe: „Arsenic, Antimony and Bismuth", Comprehensive Coord. C h e m 3 (1987) 237-298; GMELIN: ,,Arsenic", „Antimony", „Bismuth", Syst.-Nr. 1 7 18, 1 9 ULLMANN (5. Aufl.): ,,Arsenic and Arsenic Compounds", ,,Antimony and Antimony Compounds", ,,Bismuth, Bismuth Alloys, and Bismuth Compounds", A3 (1985) 113-141, 55-76, A4 (1985) 171-189; N.C. Norman (Hrsg.): ,,Chemistry of Arsenic, Antimony and Bismuth", Blackie Acad. and Professional, London 1998. Vgl. auch Anm. 87, 89, 92. 8* Geschichtliches (vgl. Tafel II). Die Isolierung elementaren Arsens (ca. 1250) schreibt man bisweilen Albertus Magnus (1193-1280) zu. Die Erzeugung von Antimon wird in einem im 15. Jahrhundert erschienenen Buch „Triumphwagen des Antimons" (Autor möglicherweise der Benediktinermönch Basilius Valentinus), die des Bismuts in Büchern von Georgius Agricola (1494-1555) sowie Theophrastus Bombastus Paracelsus (1493-1541) beschrieben. Tatsächlich waren letztere beide Elemente bereits in der Antike gewinnbar (elementares Bismut wurde in Deutschland erstmals um 1400 erzeugt). Die Namen der schon im Altertum z.B. in Form des medizinisch verwendeten gelben Auripigments AS2S3 bzw. des kosmetisch genutzten Grauspießglanzes Sb2S3 bekannten Elemente Arsen und Antimon (Symbole As, Sb) leiten sich vom persischen Namen az-zarnikh (zar = Gold) bzw. von der griechischen Bezeichnung arsenikon für AS2S3 sowie von der lateinischen Bezeichnung antimonium bzw. stibonium für Sb2S3 ab. Der frühere Name „Wismut" (bis 1979) tauchte schon 1472 auf und bezog sich möglicherweise auf den ersten Ort der Nutzung (Ausbeutung) ,,in den Wiesen" am Schneeberg (Erzgebirge). Agricola latinisierte den Namen zu „bismutum", wovon sich die heutige Bezeichnung „Bismut" (Symbol Bi) ableitet. 5 8 Physiologisches Das essentielle Element Arsen findet sich in allen organischen Geweben (z.B. menschliches Blut: ca. 0.008 Gew.-%) und wird bevorzugt in Haut und Haaren, gebunden an SH-Gruppen des Keratins abgelagert (es ist dort in Leichen bei As-Vergiftungen noch nach Jahrzehnten nachweisbar). Biologisch wirkt es wohl als Inhibitor für freie SH-Gruppen bestimmter Enzymsysteme und bewirkt eine Steigerung der Hämolysevorgänge, Vermehrung der Blutzellenbildung, Hemmmung von Oxidationsreaktionen, Senkung des Grundumsatzes und Erhöhung des Kohlenhydratstoffwechsels („Arsenikesser"). Elementares Arsen und schwerlösliche As-Verbindungen (z. B. Sulfide) sind nahezu ungiftig, leicht resorbierbare As(III)-Verbindungen wie AsH 3 , As 2 0 3 hoch toxisch und krebserregend (TRKWert 0.1 mg/m); As(V)-Verbindungen wirken nach Reduktion zu As(III)-Verbindungen giftig. Akute Arsen-Intoxikationen haben blutige Brechdurchfälle, Graufärbung der Haut, Kollaps und Atemlähmung Arsen-Inhalationen Schleimhautreizung („Arsenschnupfen"), Lungenödeme, Leber- und Nierenschädigung chronische Arsen-Vergiftungen Hautkribbeln, Kopfschmerzen, polyneutritische Erscheinungen und Tumorbildung zur Folge (vgl. R. Sur, H. Hajimirajha, J. Bergerov, L. Dunemann: „Arsen Metabolismus in Menschen", Chemie in unserer Zeit 37 (2003) 248-257). Die Verbindungen des Antimons wirken - ins Blut gespritzt - ähnlich giftig wie entsprechende Arsenverbindungen. Da sie aber schlechter resorbiert werden, sind akute Sb-Vergiftungen seltener als As-Vergiftungen. Zudem rufen Sb-Vergiftungen einen starken Brechreiz hervor, wodurch sie nach Einnahme rasch wieder ausgeschieden werden Elementares Bismut gilt als nichttoxisch. Seine Verbindungen haben - wie seit alters her bekannt ist - adstringierende, antiseptische und diuretische Wirkung.
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
823
(Cu, Fe, Zn) 3 AsS 3 _ 4 (selten). Als Verwitterungsprodukt von Arsenerzen findet sich schließlich noch das „Oxid" As 2 Ö 3 als Arsenolith und als Claudetit. Das Antimon findet sich in der Natur in analogen Formen wie das Arsen. Das verbreitetste Erz unter den Antimonchalkogeniden ist der Grauspießglanz (Antimonglanz, Antimonit, Stibnit) Sb 2 S 3 . Andere „Sulfide" sind der Tetraedrit (dunkles Fahlerz, Antimonfahlerz) (Cu,Zn,Fe,Ag,Hg) 3 (Sb,As,Bi)S 3 _ 4 , die Antimonsilberblende (Pyrostilpnit, Feuerblende) Ag 3 SbS 3 ( = ,,3 Ag 2 S • Sb 2 S 3 "), der Bournonit CuPbSbS 3 ( = ,,Cu 2 S^2PbS^Sb 2 S 3 "), der Wolfsbergit (Kupferantimonglanz, Chalkostibit) CuSbS 2 ( = ,,Cu 2 S • Sb 2 S 3 "), der Zinckenit (Bleiantimonglanz)Pb 6 Sb 14 S 4 S 27 ( = ,,6PbS • 7Sb 2 S 3 "), der Jamesonit Pb 2 Sb 2 S 5 ( = ,,2PbS • Sb 2 S 3 "), der Boulangerit P b 5 S b 4 S u ( = ,,5PbS • 2Sb 2 S 3 "), der Stephanit (Melan( = 8Ag 2 S • glanz, Sprödglaserz) Ag 5 SbS 4 ( = ,,5Ag 2 S • Sb 2 S 3 "), der Polybasit (Mildglanzerz)Ag16Sb2S11 Sb 2 S 3 ) und der Silberantimonglanz AgSbS 2 ( = ,,Ag 2 S • Sb 2 S 3 "). Als Zersetzungsprodukt des Grauspießglanzes tritt das „Oxid" S b 2 0 3 als Weißspießglanz (Valentinit, Antimonblüte) und als Senarmontit auf. In Form des ,,Sulfid-oxids" Sb 2 S 2 O ( = ,,2Sb 2 S 3 • S b 2 0 3 " ) kommt dieses Oxid auch als Rotspießglanz (Kermesit, Pyrostibit, Antimonblende) in der Natur vor. Unter den Metallantimoniden seien erwähnt: der Breithauptit NiSb (isomorph mit NiAs), der Ullmannit NiSbS (isomorph mit Pyrit FeS 2 ) und der Dykrasit (Antimonsilber) Ag 3 Sb. Gelegentlich findet sich Antimon auch gediegen als Element, meist in isomorpher Mischung mit Arsen (Allemontit). Das Bismut kommt in der Natur nicht in größeren Mengen vor. Es wird hauptsächlich in Südamerika (Mexiko, Peru, Bolivien) und Spanien gefunden, und zwar sowohl gediegen als Element wie auch kationisch in Chalkogeniden, so im ,,Sulfid" Bi 2 S 3 (Bismutglanz, Bismutin), ,,Selenid" Bi 2 Se 3 (Selenbismutglanz) und „Oxid" B i 2 0 3 (Bismutocker, Bismit) vor. Wie Arsen und Antimon kommt es weiterhin gelegentlich in Form von ,,Doppelsulfiden" vor, z. B. als Galenobismutit PbBi 2 S 4 ( = ,,PbS • Bi 2 S 3 "), Lillianit Pb 3 Bi 2 S 6 ( = ,,3PbS • Bi 2 S 3 "), Silberbismutglanz (Argentobismutit, Schapbachit) AgBiS2 ( = ,,Ag 2 S • Bi 2 S 3 "), Kupferbismutglanz (Emplektit) CuBiS 2 ( = ,,Cu 2 S • Bi 2 S 3 ") und Kupferbismutblende (Wittichenit) Cu 6 Bi 2 S 6 ( = ,,3Cu 2 S • Bi 2 S 3 "). Bekannt ist auch noch ein gemischtes „Tellurid-Sulfid" in Form von Tellurbismut (Tetradymit) Bi 2 Te 2 S ( = ,,2Bi 2 Te 3 • Bi 2 S 3 ") und ein Silicat in Form von Eulytin Bi 4 (Si0 4 ) 3 . Ein anionisches Vorkommen in Form von Bismutiden analog den Arseniden und Antimoniden beobachtet man beim Bismut nicht Isotope (vgl. Anhang III). Natürlich vorkommendes Arsen besteht zu 100% aus dem Isotop 33 As (für NMR-Untersuchungen). Unter den künstlich gewonnenen Isotopen werden 33As (K-Einfang; T1/2 = 80.3 Tage), As ( ß ß + -Strahler; T1/2 = 17.9 Tage) und 3® As (ß"-Strahler; T1/2 = 26.5 Stunden) für Tracer-Experiments genutzt Natürlich vorkommendes Antimon besteht zu 57.3 %> aus dem Isotop I | . Sb und zu 42.7 % aus dem Isotop I " Sb (für NMR-Studien). Als wichtige künstlich gewonnene Isotope seien 131 Sb(ß ß + -Strahler;r 1 / 2 = 2.80 Tage), Sb(ß "-Strahler;! 1 / 2 = 60.4Tage)und I|3 Sb (ß "-Strahler; T1/2 = 2.71 Jahre) genannt; sie werden für Verbindungsmarkierungen genutzt Natürlich vorkommendes Bismut besteht zu 100 % aus dem Isotop 2 0 3 Bi (für NMR-Untersuchungen). Es stellte bisher das schwerste der stabilen Elementnuklide dar; tatsächlich zerfällt es mit T1/2 = 19 X 10I8 Jahre, also extrem langsam, sodass also die natürlichen Pb-Isotope die schwersten stabilen Elementnuklide darstellen. Die künstlich dargestellten Isotope 20® Bi (K-Einfang; T1/2 = 6.3 Tage) und 2 .0 Bi (ß"-, A-Strahler; T1/2 = 5.01 Tage) werden für Tracerexperimente genutzt
3.1.2
Darstellung
Die technische Darstellung des Arsens erfolgt durch Erhitzen von Arsenkies oder Arsenikalkies auf 650-700°C unter Luftabschluss in liegenden Tonröhren, wobei Arsen absublimiert und in kalten Vorlagen verdichtet wird: FeAsS -> FeS + As;
FeAs 2 ^ FeAs + As.
Die Befreiung des so erhaltenen Arsens von sowie As2S3-Verunreinigungen erfolgt durch Sublimation. Eine weitere wichtige Quelle für Arsen stellt A s 2 0 3 dar (Nebenprodukt der Arsengewinnung aus FeAsS sowie der Blei- und Kupfergewinnung; Röstprodukt von A S 2 S 3 ) , das mit Aktivkohle bei 700-800°C zu elementarem Arsen reduziert wird: 2 A s 2 0 3 + 3C
-> 4 A S +
3C02.
Zur Gewinnung h o c h r e i n e n Arsens für die Halbleitertechnik (vgl. S. 1421) wird es aus Lösungen in flüssigem Blei sublimiert (Pb hält den Schwefel in Form von PbS zurück) bzw. aus geschmolzenem Arsen bei hohen Temperaturen auskristallisiert bzw. in Arsan AsH 3 umgewandelt, welches nach dessen Reinigung bei 600 °C in Arsen und Wasserstoff zersetzt wird.
• 824
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Metallisches Antimon wird technisch nach mehreren Verfahren aus Sb 2 S 3 gewonnen. Sulfiderze mit 4 0 - 6 0 % Sb-Gehalt verschmilzt man mit Eisen in Tiegeln oder Flammöfen bei 550-600°C („Niederschlagsarbeit"), wobei sich der Schwefel mit dem Eisen verbindet: Sb 2 S 3 + 3Fe
2Sb + 3FeS.
Sulfide mit geringerem Sb-Gehalt werden geröstet, wobei Sb 2 S 3 unter Abdestillation von leicht flüchtigem A s 2 0 3 in das beständige, nichtflüchtige Tetraoxid Sb 2 0 4 übergeht, das dann in Flammöfen durch Glühen mit Koks oder Holzkohle in Gegenwart von Alkalicarbonat oder -sulfat als Flussmittel zu Metall reduziert wird („Röstreduktionsarbeit"): Sb 2 S 3 + 5O 2
Sb 2 0 4 + 3S0 2 ;
Sb 2 0 4 + 4C
2Sb + 4CO.
Erfolgt das Abrösten bei begrenzter Luftzufuhr, so entsteht statt des Tetraoxids das in der Hitze flüchtige Trioxid Sb 2 0 3 , das in Kondensationseinrichtungen niedergeschlagen wird. Das so erhaltene Rohantimon enthält meist noch Schwefel, Arsen, Kupfer, Blei und Eisen. Um diese Beimengungen zu entfernen, schmilzt man es mit Soda und Natriumnitrat, wobei die Verunreinigungen oxidiert werden und sich in der Schlacke ansammeln Grauspießglanzerze, welche größere Mengen an mineralischen Beiprodukten („Gangart") enthalten, werden vor der Verarbeitung auf Antimon so weit erhitzt, dass das verhältnismäßig leicht schmelzende Antimonsulfid (Smp. 547 °C) auf schräger Unterlage ausfließt („Seigerarbeit"). Das so ,,ausgeseigerte" Antimonsulfid (92-98 0% Sb 2 S 3 ) wird seit altersher „antimonium crudum" genannt.
Zur technischen Darstellung des Bismuts kann man von den oxidischen oder von den sulfidischen Erzen ausgehen. Die oxidischen Erze werden in Tiegeln oder Flammöfen mit Kohle zu Bismut reduziert (Reduktionsarbeit): 2Bi 2 0 3 + 3C -> 3 C 0 2 + 4Bi. Die sulfidischen Erze werden wie beim Antimon nach dem N i e d e r s c h l a g s v e r f a h r e n (Bi2S3 + 3Fe -> 2Bi + 3FeS) oder dem R ö s t r e d u k t i o n s v e r f a h r e n (Bi2S3 + 4 j 0 2 ->• Bi 2 0 3 + 3S0 2 ; 2Bi 2 0 3 + 3C ->• 4Bi + 3C0 2 ) verarbeitet. Das so erhaltene R o h b i s m u t wird von Beimengungen wie Arsen, Antimon, Blei, Eisen, Schwefel durch oxidierendes Schmelzen befreit; Kupfer lässt sich durch Schmelzen mit Natriumsulfid (Überführung in Kupfersulfid), Silber bzw. Gold durch Extraktion des geschmolzenen Bismuts mit Zinn beseitigen (vgl. S. 1454).
3.1.3
Physikalische Eigenschaften und Strukturen
Festes Arsen, Antimon, Bismut (vgl. Tafel III) existieren wie Phosphor in mehreren kristallinen allotropen Modifikationen sowie in amorphen Formen (vgl. Fig. 185). Die beständigsten Modifikationen sind hierbei die hexagonal-rhomboedrisch kristallisierten („graues" oder „metallisches Arsen Antimon Bismut"; Dichten 5.72, 6.69, 9.80g/cm3). Die ungiftigeKristalle (Smp./Sdp. für As: 817°C (27.5bar)/616°C (Sblp.); für Sb: 631/1635°C; für Bi 271.3/1580°C; in Schmelze und Gas liegen As„, % bzw. Bi4 vor, vgl. Fig. 185) sind glänzend-stahlgrau (As), -silberweiß (Sb), -rötlichsilberweiß (Bi) und leiten den Strom als Halbmetalle (As, Sb) bzw. als Metall (Bi; elektrische Leitfähigkeit 9.36 x 103 ß " 1 cm~'). Auffallend ist die große Sprödigkeit der Kristalle: sie lassen sich in einer Reibschale leicht pulverisieren, weshalb man sie auch als „Sprödmetalle" bezeichnet. Die Strukturen von grauem As, Sb und Bi gleichen einander, sie zeigen eine gewisse Verwandtschaft zur Struktur des schwarzen Phosphors (S. 747) und sind identisch mit der des rhomboedrischen Hochdruck-Phophors (S. 747). Und zwar liegen parallel übereinander angeordnete Atomdoppelschichten vor die durch miteinander kondensierte sesselförmige sechsgliedrige Ringe gebildet werden (vgl. Fig. 186a). Die Packung der Doppelschichten ist außerordentlich dicht, sodass die drei nächstbenachbarten Atome einer darüber (bzw. darunter) liegenden Doppelschicht von einem gegeben As-, Sb- bzw. Bi-Atom nicht sehr wesentlich weiter entfernt sind als die drei nächstbenachbarten Atome innerhalb der gleichen Dop pelschicht (vgl. Fig.186a). Es müssen aber zwischen den Doppelschichten noch Kräfte wirksam sein, die zugleich für die hohe Lichtreflexion (den Glanz) und das elektrische Leitvermögen verantwortlich
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
825
abschrecken
(orthorhombisch)
(rhomboedrisch)
(amorph)
Sb
[Sb 4 ] fest (unbekannt)
Hochdruckmodifikationen
flüssig
Sb d
1635 °C
-Sb,
Sb
gasförmig (10% 80% 10% b.Sdp.)
" Sdp.
abschrecken fest (rhomboedrisch)
fest (amorph) Bi d
[Bi 4 ] fest (unbekannt)
flüssig
Bi d
1580 °C
-Bi
Bi
gasförmig
" Sdp. ( Sb4 -> Bi4 zunehmend leichter - in Diarsen As2 (As-As-Abstand = 2.10 Ä), Diantimon Sb2 bzw. Dibismut Bi2 und schließlich in As-, Sb-, und Bi-Atome übergehen (zitronengelber As4-Dampf spaltet ab 800 °C in As2; vollständige Spaltung in As2 und beginnende Spaltung in As ab 1700 °C; bezüglich der Zusammensetzung von As-, Sb- und Bi-Dampf beim Sdp. vgl. Fig. 185).
3.1.4
Chemische Eigenschaften und Verwendung
Bei gewöhnlichen Temperaturen verändert sich kristallines Arsen, Antimon bzw. Bismut an der Luft nicht. Beim Erhitzen verbrennt Arsen mit bläulicher Flamme unter Verbreitung eines
86
Mischpolymerisate Arsen. In dem bei der Reduktion von As-Verbindungen in wässeriger Lösung entstehenden „braunen Arsen" sind ein Teil der Valenzen des Arsens durch OH-Gruppen abgesättigt. - Antimon. So genanntes „explosives Antimon" entsteht bei der Elektrolyse von SbCl 3 , SbBr 3 oder Sbl 3 in salzsaurer Lösung bei tiefen Temperaturen. Es ist glasartig, amorph und geht beim Ritzen, Pulvern oder schnellen Erhitzen auf 200 °C unter Aufglühen und Versprühen explosionsartig in graues Antimon über. Das behandelte Antimon ist wie graues Sb aufgebaut, doch ist der Schichtabstand etwas größer, die Schichtübereinanderlagerung etwas anders, die Schichtausdehnung begrenzt, die Schichtrandvalenzen mit Halogen (bis zu 20 Atom-%) abgesättigt. Bei der Umwandlung zur kristallinen Phase verdampft die Hauptmenge des Halogens als SbHal
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
827
k n o b l a u c h a r t i g e n G e r u c h s zu einem weißen R a u c h von A s 2 0 3 u n d As 2 O s , Antimon m i t bläulich-weißer F l a m m e zu S b 2 0 3 u n d h ö h e r e n Oxiden sowie Bismut m i t bläulicher F l a m m e zu gelbem B i 2 0 3 ( o b e r h a l b 300°C ist die Oxidation von As m i t P h o s p h o r e s z e n z v e r b u n d e n ) . In gleicher Weise vereinigen sich die Elemente m i t Fluor bzw. Chlor schon ohne vorherige Erw ä r m u n g u n t e r Feuererscheinung (Bildung von AsF 5 , AsCl 3 , SbF 5 , SbCl 5 , BiF 3 , B i Q 3 ) . E b e n s o reagieren sie mit den übrigen Halogenen u n d Chalkogenen; dagegen vereinigen sie sich nicht u n m i t t e l b a r m i t Stickstoff oder P h o s p h o r . In nichtoxidierenden Säuren wie Salzsäure oder v e r d ü n n t e r Schwefelsäure lösen sich die Elemente As, Sb u n d Bi entsprechend ihrer Stellung in der S p a n n u n g s r e i h e nicht As + 3 H 2 0 n H 3 As0 3 + 3H + + 3 © £0 = + 0.248 V 5H + + 5©£ 0 = + 0.373 V + 2 S b + 3 H 2 0 n S b 2 0 3 + 6H + 6© = + 0 . 1 5 2 V 2Sb + 5H 2 0 n S b 2 0 5 + 10H+ + 10© = + 0.360 V Bi + H 2 0 + 2H + + 3 © = + 0.320 V 2Bi + 5 H , 0 n Bi205 + 10H + + 10© = + 1 V In oxidierenden Säuren ( H N O , H S O usw.) lösen sich As u n d Sb - je n a c h der Säurek o n z e n t r a t i o n - u n t e r Bildung von Arseniger - bzw. A n t i m o n i g e r Säure oder Arsen- bzw. A n t i m o n s ä u r e , Bi u n t e r Bildung von Bismut(III)-Salzen BiX 3 (X = Säureäquivalent). I n Alkalihydroxid-Schmelzen bilden sich Arsenit, A n t i m o n i t bzw. Bismutit. Ähnlich wie Phosphor entwickeln auch Arsen, Antimon und Bismut in der diatomaren FormE2 hinsichtlich bestimmter Lewis-saurer Komplex-Fragmente M L (L = geeigneter Ligand) Lewis-basische Eigenschaften und bilden Komplexe5i,83 mit zwei- oder dreifach side-on verknüpftem M L (z.B. {(Ph3P)2Pd}2AS2, {(CO)5W}3E2 mit E = As, Sb, Bi, {(CO)3Co}2As2, {(C5H5)(CO)2MO}2Sb2). Als Beispiele für Komplexe mit monoatomarem Pentel E seien N 4 W = A s und N 4 W = S b mit N 4 = N(CH 2 CH 2 NSiMe 3 ) 3 genannt (vgl. S. 752). Auch kennt man Sandwich-Komplexe mit cyclo-As„- und -Sb„-Liganden (z. B. ( C O ) 3 C O A S 3 , (C 5 H 5 )(CO) 2 MoSb 3 , (CO) 2 NbAs 4 , (C5Me5)FeAs5, {(C5H5)Mo}2As5, { ( Q M S ) M ) 2 A s 6 ; vgl. S. 752). Erwähnt seien schließlich Komplexe mit As6 in Dewar-Benzolform (z. B. {(C5Me5)Co}2As6), mit AS7 in der Nor bornadienform (z.B. (CO) 3 CrAs'~) sowie mit As8 in der Cyclooctatetraenform (z.B. {C5H3iBu2Nb}2Ass). Die Verbindungen lassen sich auch als Komplexe mit Anionen As 3 ~, As 2 ~, As 3 ~, usw. beschreiben.
3.1.5
Verwendung, Legierungen
Verwendung. Arsen (Weltjahresproduktion: Zig Kilotonnenmaßstab) nutzt man als Legierungsbestandteil (z.B. in Bi-Legierungen für Flintenschrot, Letternmetall, Bleiakkumulatoren; in CuSn-Legierungen für Spiegel) und zur Herstellung von GaAs- bzw. InAs-Halbleitern (für Leucht- und Tunneldioden, Laserfenster, IR-Strahler, Halleffekt-Geräten). Arsenverbindungen (insbesondere As 2 0 3 ) dienen als Unkraut-, Schädlingsbekämpfungs- sowie Holzkonservierungsmittel (siehe bei As 2 0 3 , H 3 As0 4 ). Arsenpräparate in der Medizin haben heute nur noch untergeordnete Bedeutung (vgl. organische As-Verb.). - Antimon (Weltjahresproduktion: Zig Kilotonnenmaßstab) wird hauptsächlich für Legierungen verwendet, da es die Eigenschaft besitzt, weiche Metalle wie Zinn oder Blei bedeutend zu härten. Einige wichtige BleiAntimon-Legierungen (Hartblei, Letternmetall, Lagermetalle, Platten für Pb-Akkus) und Zinn-AntimonLegierungen (Britanniametall, Lagermetalle) werden beim Blei (S. 1006) und Zinn (S. 1006) behandelt. Sb wird darüber hinaus wie As zur Herstellung von Halbleitern verwendet (AlSb, GaSb, InSb für IRund Halleffekt-Geräte sowie Dioden). - Bismut (Weltjahresproduktion: Kilotonnenmaßstab) wird zur Herstellung leichtschmelzender Legierungen sowie gelegentlich als Zusatz zu Britanniametall (s. dort) und zu Lagermetallen (s. dort), gebundenes Bismut in pharmazeutischen Präparaten mit adstringierender, antiseptischer und diuretischer Wirkung verwendet. Von den leichtschmelzenden Legierungen seien hier erwähnt: das ,,Rose'sche Metall" (2 Gewichtsteile Bi, 1 Teil Pb, 1 Teil Sn) vom Schmelzpunkt 94°C, das „Wood'sche Metall" (4 Teile Bi, 2 Teile Pb, 1 Teil Sn, 1 Teil Cd) vom Schmelzpunkt 70°C und die ,,Lipowitz-Legierung" (15 Teile Bi, 8 Teile Pb, 4 Teile Sn, 3 Teile Cd) vom Schmelzpunkt 60 °C (,,Eutektikum", S. 1404). Alle diese Legierungen schmelzen schon in heißem Wasser und können z. B. für elektrische Sicherungen und Sicherheitsverschlüsse verwandt werden. Zur Anfertigung von Abgüssen (Münzen, Klischieren von Holzschnitten usw.) verwendet man zweckmäßig die bei 130 °C schmelzende Legierung aus 1 Teil Bi, 1 Teil Pb und 1 Teil Sn, die infolge ihrer Ausdehnung beim Erstarren auch die feinsten Konturen der Vorlage scharf wiedergibt. Weiterhin dient Bi als Wärmeübertragungsmittel in der Kerntechnik, als Katalysator in der Kunstfaserproduktion sowie im Bereich der Photo- und Thermoelektrizität.
• 828
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
3.1.6
Allotrope und ionogene Formen von Arsen, Antimon, Bismut. Pentelide 83 ' 87
Allotrope Alle isolierten Formen elementaren Arsens (gelbe, graue, schwarze kristalline Modifikationen, schwarze amorphe Form), Antimons (graue kristalline, schwarze amorphe Form; kubisch-primitive sowie hexagonal-dichtetste Hochdruckform) und Bismuts (graue kristalline Form; kubisch-innenzentrierte Hochdruckform) wurden bereits in Zusammenhang mit den physikalischen Eigenschaften der betreffenden Elemente abgehandelt. Weitere Modifikationen wie Sb4, Bi4 mit tetraedisch-molekularem oder wie E„ mit röhrenförmig-polymerem Bau (vgl. Phosphor) sollten sich unter besonderen Bedingungen (z. B. als Gäste in geeigneten Wirtssubstanzen) isolieren lassen. Tatsächlich konnten durch Aufdampfen von Sb4 aus der Gasphase (330°C, 4 x 10"11 mbar) auf gekühlte Oberflächen von MoS2 bzw. AuSb2 übereinanderliegende Schichten aus nebeneinander angeordneten Sb4-Molekülen (Tetrantimon, Bau analog P4, As4) erhalten werden. Bei Vorliegen nur weniger Schichten (bis zu drei) bleibt die neue „Modifikation" des Antimons selbst bei Raumtemperatur metastabil. Anderenfalls wandelt sie sich rasch in polymeres Antimon um. Fig. 186b auf S. 825 gibt zu Vergleichszwecken gefundene und berechnete Element-ElementAbstände in N4, P4, As4, Sb4 und Bi4 wieder.
Kationen Darstellung Wie von Phosphor sind auch von Arsen bisher keine Verbindungen mit kationischem As bekannt (von Stickstoff existieren Salze mit X~ z. B. Sb 2 Fü, S. 657). Der im Vergleich zu P und As verstärkte metallische Charakter des Antimons und insbesondere des Bismuts dokumentiert sich darin, dass es im Falle von Sb erste Hinweise auf die Existenz von Sbj~ sowie [Sb "] x gibt, des weiteren mit Sb8 (GaCl4)2 ein Salz mit dem Antimon-Kation Sb8 + synthetisiert wurde (aus SbCl3 und GaCl 3 /Ga + GaCl 4 ~ in Benzol) und im Falle von Bi eine Reihe von Verbindungen mit niedrigwertigen Bismut-Kationen Bi nämlich Bi + , Bi + , Bi2+, Bi2+ und erhalten werden konnten (z. B. [Bi^+][AlCl4~]3; [Bi+] und 2+ 2+ [Bi ] im Subbromid Bi34Ir3Br37, [Bi ][AlCl7], [ B i + ] [ ^ + ] [ H f C l * ; bezüglich der auf relativistische Effekte zurückgehenden Bildungstendenz des Bismut-Monokations Bi+ vgl. S. 340). Die Salze entstehen durch Reduktion von Bismuttrihalogeniden mit Bismut bei höheren Temperaturen (um 250 C) in An wesenheit von Lewis-Säuren wie AK 3 , BiX3, Z Ä 4 , Hffi 4 usw. als Halogenidionen-Akzeptoren. Strukturen Das Pentabismut-Monokation Bi^ (a) bildet eine quadratische Pyramide, das rotbraune Pentabismut-Trikation Bi3+ (b) eine trigonale Bipyramide, das Hexabismut-Dikation Bij + (c) ein Oktaeder, das schwarze Octabismut-Dikation Big+ (d) wie auch das schwarzrote Octaantimon-Dikation Sbg+ (Sb anstelle Bi in (d)) ein quadratisches Antiprisma und das schwarze Nonabismut-Pentakation Bi, + (e) ein dreifach-überkapptes trigonales Prisma (bezüglich der aus den,, Wade-Clusterregeln" folgende Strukturen, vgl. Anm. 31 auf S. 926). Das Clusterkation Bi9+ ist fluktuierend: Unter Einebnung und Quadratisierung der fett ausgeführten Bi4-Untereinheit in (e) geht das dreifach-überkappte trigonale Bi6-Prisma in ein einfach-überkapptes quadratisches Bi8-Antiprisma (f) über, welches sich seinerseits auf verschiedenen Wegen in (e) zurückverwandeln kann. Die mit Bi9+ isoelektronischen Anionen E," (E = Si, Ge, Sn, Pb; jeweils 40 Außenelektronen) besitzen die Struktur (f). In diesem Zusammenhang seien auch die metallzentrierten (,,endohedralen") Käfige Pd@Bi|^ (pentagonal-antiprismatische Anordnung der Bi-Atome) sowie Rh@Bi7Br8 (pentagonal-bipyramidale Anordnung der Bi-Atome mit „exohedral" gebundenen BrAtomen) und das Kation [Bi4Te4]4+ (abwechselnd Bi und Te in Würfelecken) erwähnt.
(b)Bi|+
87
(e) B i | +
(f) Bi| +
Literatur. D. Corbett: ,,Polyatomic Zintl Anions of the Post-Transition Elements", Chem. R e v 85 (1985) 383-397; ,,Homopolyatomic Ions of the Post-Transition Elements-Synthesis, Structures and Bonding", Progr. Inorg. C h e m 21 (1976) 140-149; ,,Diverse Naked Clusters of the Heavy Main-Group Elements. Electronic Regularities and Analogies", Structure and Bonding 87 (1997) 157-193; R. Gillespie, J. Passmore: ,,Hompolyatomic Cations of the Elements", Adv. Inorg. Radiochem. 17 (1975) 49-87.
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
829
Anionen. Arsenide, Antimonide, Bismutide In Anwesenheit geeigneter Kationen (Alkalimetall-, Erdalkalimetallkationen, gegebenenfalls donorstabilisiert z. B. mit Ammoniak N H , Ethylendiamin H 2 NCH 2 CH 2 NH 2 , Cryptanden (vgl. S. 1321)) ließen sich bisher folgende Anionen des Arsens, Antimons und Bismuts (s. unten) gewinnen bzw. nachweisen (bezüglich der nachgewiesenen Anionen des Stickstoffs und Phosphors vgl. S. 856 und 755): Isolierte Pentelide: E5' in M3E, M I ^ Acyclische Pentelide:E\ ~ in CaAs, Ca u Sb 10 , Ca u Bi 10 ; E®" in Sr3As4; E®" in SrSb3, BaSb,; E1°_ in Ca2As3; [E"]„ in BaAs2, MSb, CaSb2; Bi=Bi 2 " in grünblauem K[crypt] 2 Bi 2 (dBiBi = 2.838 Ä); Bi—Bi—Bi3" (gewinkelt, isovalenzelektronisch mit O3) in [Bi3 x 2Cr(CO) 3 ] 3 ~; AsAsAs7- (linear, isovalenzelektronisch mit I3~) in Sr 13 NbAs u . Cyclische Pentelide: E^j" (planar) in Ca u Sb 10 , Ca u Bi 10 ; Ej" (twistförmig) in [Li(NH 3 )^] 3 [Sbj~ x 2Li(NH 3 )+]; (planar, Te^+-analoge Struktur, s. dort) in [K(crypt)]2Sb4, [K(crypt)]2Bi4. Käfigartige Pentelide: E 3_ (P3~-analoge Struktur, s. dort) in Be3As14, [Na(crypt)] 3 Sb 7 (es existieren auch P7_„, A S 3 ~ , A S 6 S 2 ~ , A S 5 S 2 " ) ; E L F (P^-analoge Struktur, s. dort) in Na 3 As u , Na 3 Sb u . Netzartige Pentelide: ([P 3 ~]„-analoge Struktur, s. dort) in SrAs3, BaSb3. Die erwähnten Pentelide werden in Richtung Arsenide, Antimonide, Bismutide deutlich metallartiger (z.B. sind LiBi bzw. NaBi Supraleiter unterhalb 2.47 bzw. 2.22K). Die Darstellung der meist gelben, roten bis schwarzen „salzartigen" Pentelide" MmE„ erfolgt durch Zusammenschmelzen von Alkali-, Erdalkali- und - gelegentlich - anderen elektropositiven Metallen mit E = As, Sb, Bi u. a. in flüssigem Ammoniak N H , in Ethylendiamin H 2 NCH 2 CH 2 NH 2 , in cryptandenhaltigen Medien (vereinzelt auch durch Behandeln ternärer Phasen mit den zuletzt erwähnten Medien). Neben den,,salzartigen" kennt man auch einige „kovalente" Pentelide (z. B. GeAs: Smp. 737 °C; GeAs2: Smp. 732°C; SnAs: Supraleiter bei 3.5K; III/V-Verbindungen wie GaAs mit ZnS-Struktur: Halbleiter, S. 1199) und eine große Anzahl metallartiger Pentelide wie M E mit planaren E4-Ringen in einer verzerrten Re0 3 -Struktur (z. B. (Co,Rh,Ir)(As,Sb)3; CoAs3 kommt als Mineral Skutterudit vor), M E mit E2-Inseln in einer mehr oder weniger verzerrten FeS2-Struktur (z. B. (Fe,Ru,Os,Ni,Pd,Pt)(As,Sb)2, CrSb2, AuSb2, PtBi2), ME mit NiAs-Struktur (z. B. (Ti,Mn,Co,Ni)As; (Ti,V,Cr,Mn,Fe,Co,Ir,Ni,Pd,Pt) Sb) oder NaClStruktur (z. B. (Sc,Y,Ln,An)(As,Sb)).
3.1.7
Arsen, Antimon und Bismut in Verbindungen
Gegenüber elektropositiven Partnern betätigen die schweren Pentele E hauptsächlich die Oxidationsstufe — 3 (z. B. Na3E), gegenüber elektronegativen Partnern die Oxidationsstufen + 3 (z. B. EF3, H 3 As0 3 , Sb(OH)3, Bi203) und + 5 (z. B. EF5, H 3 As0 4 , HSb(OH) 6 , KBiO3). Die fünfwertige Stufe von As und Bi bildet sich hierbei weniger leicht als jene von P oder Sb; bzgl. einer Erklärung vgl. S. 311). Man kennt aber auch Verbindungen mit As, Sb, Bi in Oxidationsstufen zwischen — 3 und + 3 (z. B. As2H4, As2I4, Sb2H4, Sb2I4, BiBr) und in der Oxidationsstufe + 4 (z. B. As 2 0 4 , Sb 2 0 4 ). Die am häufigsten anzutreffenden Koordinationszahlen sind drei (pyramidales E in EH3, EC13; trigonal-planares E in PhAs{Cr(CO)5}2), vier (tetraedisches E in EPh^, wippenförmiges E in AsF4~, Ph2EBr2~), fünf (trigonal-pyramidales E in EF5(g), quadratisch-pyramidales E in As2Brg~, SbF^", SbPh5, Bi2Clg~, BiPh5) und sechs (oktaedrisches E in A B S B B B ). Seltener beobachtet man die Koordinationszahlen eins (E in SiAs4~, GeAs4~), zwei (E in Arsa-, Stiba-, Bismabenzol C5H5E), sieben und höher (zweifach-überkapptquadratisch-antiprismatisches As in [Rh10As(CO)22]3~). Bindungen Die Tendenz zur Ausbildung von Mehrfachbindungen nimmt in Richtung N, P, As, Sb, Bi ab (C5H5As ist polymerisationslabiler als C5H5P), ebenso die Tendenz zur Bildung von Element-Element-Einfachbindungen (As2H4 ist thermolabiler als P2H4). Demgegenüber nimmt die Tendenz zur Element-Clusterbildung zu
3.2
Wasserstoffverbindungen des Arsens, Antimons, Bismuts 83 ' 88
Die Zahl zugänglicher bzw. nachweisbarer Pentelwasserstoffe nimmt gemäß folgender Zusammenstellung in Richtung Phosphorwasserstoffe, ausgehend sowohl von den Wasserstoffverbindungen des Stickstoffs als auch Bismuts, zu: 88
Physiologisches AsH 3 ist so giftig, dass ein paar Atemzüge in arsanhaltiger Luft zum Tode führen können (MAK-Wert 0.05mg/m). Entsprechendes gilt für SbH 3 (MAK-Wert 0.5mg/m 3 ). Vgl. hierzu auch Anm,8 5 .
• 830
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
N H , N2H2, N3H5, N4H6, N2H2, AsH 3 , As 2 H 4 , As 3 H 5 , AsH<j;
N3H3,
N4H4, Sffl 3 , Sb2H4;
(ca. 100 Spezies); BiH 3 .
Hierin kommt die hohe Fähigkeit des Phosphors zur Bildung von Elementketten, -ringen, -käfigen usw. zum Ausdruck (vgl. Chalkogenwasserstoffe, S. 626). Nachfolgend werden ,,Arsane,,Stibane" und Bismutane näher besprochen. Darstellung Monoarsan, -stiban, -bismutan. Anders als die exothermen Verbindungen NH 3 (AH{ = — 46 kJ/mol) und P H (A# f = — 5 kJ/mol), stellen AsH3, S ^ 3 und BiH3 zunehmend endotherme Verbindungen dar 66 kJ + As + 1.5H 2 ±5 AsH 3 ; 145 kJ + Sb + 1.5H 2 ±5 S M 3 ; 278 kJ + Bi + 1.5H 2 ±5 BiH 3 . Eine Darstellung aus den Elementen erfolgt demgemäß zweckmäßig mit aktiviertem Wasserstoff, indem man etwa auf lösliche As-, Sb-, Bi-Verbindungen naszierenden Wasserstoff (z. B. aus Zink und Schwefelsäure) einwirken lässt (E = As, Si, Bi): E(OH) 3 + 6H
EH 3 + 3H 2 O.
Von dieser, im Falle von Bi-Verbindungen wegen der Zersetzlichkeit von BiH3 nicht praktikablen Bildungsweise, die der Erzeugung von N H beim Nachweis von Nitraten mittels Zink in alkalischer Lösung entspricht (s. dort), macht man bei der ,,Marsh'schen Probe" auf Arsen Gebrauch (wichtig bei Vergiftungsfällen). Zu diesem Zweck gießt man durch ein Trichterrohr die auf As zu prüfende Lösung in eine mit H2SO4/Zn gefüllte Woulf sche Flasche (Fig. 187). Ist Arsen vorhanden, so bildet sich Arsan, das nach Anzünden des gebildeten Gases an der Oberfläche einer in den Gasstrom gehaltene Porzellanschale unter Abscheidung eines glänzenden Arsenspiegels zerfällt. Statt dessen kann man auch (Fig. 187) das Austrittsrohr mit einer Verengung versehen und hier auf Rotglut erhitzen. Arbeitet man unter stets gleichen Reaktionsbedingungen, so kann man aus Größe und Dicke des im Rohr abgeschiedenen Spiegels angenähert auf die Menge des vorhandenen Arsens schließen. Außer Arsen bildet auch Antimon und gegebenenfalls Bismut bei der geschilderten Arbeitsweise einen Metallspiegel. Der Sb- und Bi-Spiegel unterscheidet sich vom As-Spiegel durch seine Unlöslichkeit in NaClO-Lösung, der Bi-Spiegel vom Sb-Spiegel durch seine Unlöslichkeit in NH4Sn-Lösung.
Darüber hinaus entstehen AsH 3 , SbH 3 und BiH3 bei der Einwirkung von hydridischem Wasserstoff (LiAlH 4 , NaBH 4 ) auf Trihalogenide E X oder von protischem Wasserstoff (HCl, H2SO4) auf Pentelide wie Mg 3 E 2 , Zn3E2: EX 3 + 3 H "
Mi3iE2 + 6 H +
EH 3 + 3X";
2EH 3 + 3M 2 + .
Letztere Methode eignet sich besonders zur Herstellung größerer Mengen von Arsan (Zn3As2/ H2SO4), erstere zur Herstellung von Stiban (SbCl 3 /NaBH 4 ), während beide Wege für die Gewinnung von Bismutan ungeeignet sind. Die beste Methode zur Darstellung von BiH3 ist die Disproportionierung des durch Hydrierung von MeBiCl2 (Smp. 242 0 C) mit LiAlH 4 gewinnbaren Bismutans MeBiH 2 (Sdp. extrapol. 72°C) bei — 45°C: 3MeBiH 2
Me3Bi + 2BiH 3 .
Höhere Arsane, Stibane, Bismutane. Als Nebenprodukt entsteht bei der Protolyse von Zn3As2 das bei Raumtemperatur rasch in AsH3 und AsH — 45°C. Redox-Verhalten. Bei Anwesenheit von genügend Luft verbrennt Arsan mit fahlblauer Flamme zu H2O und As0 3 , Stiban mit fahlgrüner Flamme zu H 2 0 und Sb 2 0 3 ; bei mangelnder Luftzufuhr oder beim Abkühlen der Flamme verbrennt nur der Wasserstoff, sodass es zur Ausscheidung von As bzw. Sb kommt (vgl. H S ; S. 558): 2EH 3 + 3O 2
E 2 0 3 + 3H 2 O bzw. 2EH 3 + 1.50 2
2/nE„+3H2O.
AsH 3 sowie SbH3 (Entsprechendes würde für BiH3 gelten) wirken in wässriger Lösung stark reduzierend (AsH 3 /SbH 3 + 3 H 2 0 As(OH) 3 /Sb(OH) 3 + 6 H + + 6 Q ; e0 = + 0.008/ — 0.180V) und fällen z.B. aus AgNO -Lösung metallisches Silber aus
Mit festem AgNO 3 reagieren AsH 3 und SbH3 dagegen unter Bildung von Silberarsenid und -antimonid (AsH 3 /SbH 3 + 3Ag + -> Ag3As/Ag3Sb + 3 H ) . Die Silbersalze bilden mit überschüssigem AgNO 3 die Doppelsalze Ag 3 As-3AgNO 3 (gelb) und Ag 3 Sb-3AgNO 3 (braungelb), die beim Befeuchten mit Wasser unter Abscheidung von metallischem Silber bzw. schwarzem Ag3Sb zerlegt werden („Gutzeit'sche Arsenprobe"): Ag 3 As-3AgNO 3 + 3 H 2 0 As(OH) 3 + 3HNO 3 + 6Ag). - Säure-Base-Verhalten. Im Gegensatz zu N H und P H besitzen Monoarsan und -stiban praktisch keine Brönsted-Basizität. Arsoniumsalze A s H X " (X = Br, I) bilden sich noch beim Zusammenkondensieren von AsH 3 und HBr bzw. HI bei — 160°C, Stiboniumsalze S b H X " (X = SbF6, AsF6) nur in der Supersäure H F / M F (die farblosen, luftund hydrolyseempfindlichen Salze AsH4+AsF6", AsH4+SbF6", zerfallen ab —40/—75/ — 70°C). Die Brönsted-Acidität von AsH 3 und insbesondere SbH 3 ist andererseits größer als die von N H und P H , sodass Arsan und Stiban von starken Basen wie N H oder CH3" deprotoniert werden. In Wasser findet jedoch noch keine Dissoziation gemäß AsH 3 /SbH 3 + H 2 0 AsH 2 ~/SbH + H 3 0 + statt. 2 Ähnlich wie P H und seine Derivate (s. dort) bilden auch E H , EH2~, EH ~, E 3 _ (E = As, Sb) sowie entsprechende - auf S. 855 näher behandelte - organische Derivate ER5l„ Komplexe59,82 mit ML„ (M = Metall; L = geeigneter Ligand).
• 832
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
3.3
Halogenverbindungen des Arsens, Antimons, Bismuts 83 ' 89
3.3.1
Überblick
Systematik. Von Arsen, Antimon und Bismut sind Trihalogenide EX3 (alle Kombinationen) und Pentahalogenide E X ( X = F, Cl; kein BiCl5), darüber hinaus Dihalogenide E X (As2I4, Sb2I4), Monohalogenide EX (Asl, BiBr, Bil) und andere niedrigwertige Halogenide (Bi6Cl7, Bi6Br7, Bi14I4, Bi18I4) bekannt (vgl. Tab. 87). Strukturen. Alle Trihalogenide E X der Pentele N, I, As, Sb, Bi liegen in der Gasphase (NBr3 und NIj sind nicht verdampfbar) als molekulare, pyramidale Spezies mit E an der Pyramidspritze vor, wobei die XEX-Winkel (90°-110°) mit abnehmender Masse von E und zunehmender Masse von X wachsen (vgl. S. 318). Auch in der festen Phase sind - abgesehen von Tab.87 Arsen-, Antimon-. Bismuthalogenide E X (Kenndaten der Reihe nach Smp [°C]/Sdp. [°C]/ AH{ [kJ/mol]). a)
EX„
,, + 1" EX
+2
+3
+5
EX 2
EX 3
EX 5
Fluoride
Chloride
b)
b)
b)
Biaii,1" Metallisch
b)
Bromide b
schwarz
b)
Iodide
(AsBr)6 » als As 6 Br 6 • 2Br BiBr1JS7, BiBrb) Metallisch schwarz
(AsI)6b> (AsI) r (?) als As 6 I 6 • 2! Gelbes Pulv. Bi Metallisch schwarz
b)
A S Dunkelrot Smp. 137°
Nicht isolierbar
AsC AsB As Farblose Flüssigkeit^ Farblose Kristalle Farblose Flüssigkeit^ -16.2°/130.2° / - 3 0 5 . 0 kJ 31.1°/221°/-197.0 kJ - 6 . 0 ° / 6 2 8 ° / - 9 5 9 . 5 kJ SbCl 3 SbBr 3 d) SbF3 Farblose Kristalle Farblose Kristalle Farblose Kristalle - 2 9 0 ° / ~ 3 4 5 ° / - 9 1 5 . 5 kJ 73.4°/223°/-382.2 kJ 96.0°/288° / - 2 5 9 . 4 kJ B1F3 BiC BiB Gelbe Kristalle Farblose Kristalle Farblose Kristalle 219 /462 / - 276 k 649°/900°/- 900 kJ 233.5°/441°/- 379 kJ
As Rote Kristalle 140.4 400 / - 58.2k
AsC As Farblose Substanz Farbloses Gas - 7 9 . 8 ° / - 5 3 . 2 ° / - 9 4 8 . 9 kJ Zers - 50 SbF5" SbCl5'> Farbloses Öl Gelbe Flüssigkeit 8.3°/141°/-908.8 kJ 2.8°/140° / — 438.5 kJ
As AlC Zers. - 78 °C
AsB AlB /As Zers. - 78 °C SbBr4+ SbBr6" Sb(OTeF s ) 6 - stabil
Sb Rubinrote Tafeln 170.5°/401°/-100.4 kJ Bi Schwarzbraune Subst. 408.6°/~ 5 4 2 ° / - 150 kJ
Bi Farblose Kristalle 151°/230°/- 887.0 kJ a) Oxidationsstufe. - b) Moleküle EX (alle Kombinationen) entstehen durch Blitzlichtphotolyse aus E X in der Gasphase bei niedrigen Drücken und zerfallen gemäß 2 E X E 2 + X 2 . In entsprechneder Weise sind Moleküle E X zugänglich. - c) M a n kennt auch Bil 0 2 7 5 = Bi 1 4 I 4 und Bil 0 2 2 2 = Bi 1 8 I 4 . - d) Gemischte Trihalogenide. AsX 3 und AsX' 3 reagieren nur untergeordnet zu (nicht isolierbaren) Halogeniden AsX 3 _„X„; SbBrI 2 (Smp. 88°C) soll gemäß E t S b B r 2 I 2 ->• EtBr + SbBrI 2 gewinnbar sein. - e) Dichten von AsF 3 /AsCl 3 = 2.666/2.205g/cm 3 bei 0°C, von SbCl 3 3.14g/cm 3 bei 20°C. - f) Gemischte Pentahalogenide: AsCl 5 _„F„ (n = 1 - 4 , s. Text); SbFCl 4 (Smp. 83°C), SbCl 3 2 5 F 1 7 5 (Smp. 50°C), S W 2 ^ (Smp. 68°C), SbCl 2 F 3 (Smp. 82°C), S b Q 1 3 3 F 3 6 7 . - g) Liegt der Verbindung ( N H 4 ) 2 S b B r 6 = [NH 4 + ] 4 [Sb m Br3_][Sb v Br 6 ~ ] z u g r u n d e ' '
85
Literatur. L. Kolditz: ,,Halides of Arsenic and Antimony", in G u t m a n n : ,,Halogen Chemistry", 2 (1967) 115-168; R. Bohra, H.W. Roesky: ,,Compounds of Pentacoordinated Arsenic(V)", Adv. Inorg. C h e m 28 (1984) 203-254; J.F. Sawyer, R . J . Gillespie: ,,The Stereochemistry of Sb(III) Halides and Some Related Compounds", Progr. Inorg. C h e m 34 (1985) 65-113; M . R u c k : , , Vom Metall zum Molekül - ternäre Subhalogenide des Bismuts", Angew. Chem. 113 (2001) 1222-1234; Int. E d 40 (2001) 1182. Vgl. auch A n m . 6 7 .
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
BiF 3 -Struktur
Bil 3
PF 3 AsF 3 SbF 3
PC13 AsCl 3 SbCl 3
PI 3 Asl3 SbI 3
BiF3
BiCl3
PBr 3 AsBr 3 SbBr 3 BiBr 3
Bil 3
( « = Bi in, O = I oberhalb, O = I unterhalb Zeichenebene)
(BiI 3 )*
(BiF)*
Bil 3
833
F
(SbF 5 ) x
F
(BiF s )*
Fig. 188 Strukturen fester Arsen-, Antimon- und Bismuttrihalogenide sowie des flüssigen Antimonund festen Bismutpentafluorids (in fester Phase liegt SbF5 tetramer vor; vgl. S. 1751).
NIj (S. 702), BiF3 und Bil3 - diskrete pyramidale Moleküle erkennbar Bismuttrifluorid (ßForm) besitzt wie TlF 3 , YF3 und LnF 3 eine verzerrte UCl3-Struktur (vgl. S. 1970), in welcher Bi 3+ -Kationen jeweils dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch von neun F " -Anionen umgeben sind (Fig.188). Eine ,,Fluorkappe" ist hierbei (möglicherweise als Folge der stereochemischen Wirksamkeit des freien Elektronenpaars) von Bi etwas weiter entfernt als die verbleibenden acht F-Atome (Koordinationszahl von Bi: 8 + 1). Analoge Strukturen weisen auch die Trichloride und -bromide des Antimons und Bismuts (sowie - näherungsweise - des Arsens und Phosphors) im Festzustand auf; nur sind die Elementatome an drei Nachbarn stärker, an fünf schwächer gebunden, während das neunte Halogenatom praktisch keine Bindungsbeziehung zum betreffenden Elementatom ausbildet (Koordinationszahl von E: 3 + 5). Das Verhältnis der mittleren EX-Abstände der fünf schwach und drei stark gebundenen Halogenatome wächst mit abnehmender Masse des Elementatoms und zunehmender Masse des Ha logenatoms (Übergang zum Molekülgitter mit diskreten EX3-Molekülen). Im festen Bismuttriiodid ist das Bi-Atom regulär-oktaedrisch von sechs I-Atomen umgeben (vgl. Fig. 188; Koordinationszahl von Bi: 6; keine stereochemische Wirksamkeit des freien Elektronenpaars). Es zentriert 2/3 der oktaedrischen Lücken jeder übernächsten Schicht einer hexagonal-dichtesten I " -Packung. Bei den homologen, analog Bil3 strukturierten Iodiden Sbl3, Asl 3 , PI 3 (Entsprechendes gilt für SbF3, AsF3, PF3) besetzen die Elementatome die oktaedrischen Lücken in der Weise asymmetrisch, dass sie jeweils dreien der sechs Halogenatome näher benachbart sind (Koordinationszahl von E: 3 + 3). Das Verhältnis der mittleren EX-Abstände der drei stärker und drei schwächer gebundenen Iod-Atome wächst mit abnehmender Masse des Ele mentatoms (Übergang zum Molekülgitter mit diskreten EI3- (bzw. EF3-) Molekülen). Dies lässt sich mit der Abnahme des Elementradius und /oder der Zunahme der stereochemischen Wirksamkeit des freien Elektronenpaars erklären. Bezüglich der Strukturzusammenhänge vgl. Fig.188. Die Pentahalogenide haben in der Gasphase (PBr5 und AsCl5 sind nicht verdampfbar) eine trigonal-bipyramidale Struktur mit E in der Mitte der Bipyramide. In der flüssigen Phase bilden P F , AsF5, SbF5, BiF5, PC15 und SbCl5 diskrete Moleküle und SbF 5 Kettenpolymere (SbF5)„ (rc = meist 5-10), in denen jedes Sb-Atom oktaedrisch von sechs F-Atomen umgeben
• 834
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
ist und je zwei cis-ständige F-Atome eines mittleren Oktaeders mit den beiden links und rechts angrenzenden Oktaedern geteilt werden (vgl. Fig.188). Selbst im Dampfzustand ist SbF5 bei nicht allzu hohen Temperaturen oligomer (bei 152°C liegt (SbF5)3, bei 252°C (SbF5)2 vor). In analoger Weise ist flüssiges BiF5 gebaut, nur mit einer trans-Verknüpfung der BiF6Oktaeder (Fig. 188). In der festen Phase sind P F , AsF5 und wohl auch AsCl5 monomer, SbF5 tetramer (Schließung der in Fig.188 wiedergegebenen SbF5-Kette zum Ring), BiF5 polymer (Fig. 188) und SbCl5 möglicherweise dimer. PC15 bildet andererseits ein Ionengitter PCl^PCl^ (vgl. S.781). Bezüglich der Strukturen niedrigwertiger Bismuthalogenide vgl. S.838. Darstellung, Eigenschaften Die Darstellung der Halogenide von As, Sb, Bi erfolgt durch Halogenierung der Pentele Dehalogenierung von Pentelhalogeniden sowie Halogenidierung von Pentelchalkogeniden, wobei in letzterem Falle Elementoxide mit Halogenwasserstoffen oder Pentelhalogenide mit geeigneten Elementhalogeniden umgesetzt werden (vgl. hierzu S.494). Bezüglich einiger Kenndaten der Pentelhalogenide vgl. Tab. 87. Die Bildungstendenz von AsX„, SbX„ und BiXÄ nimmt wie die von PXÄ in Richtung Fluoride > Chloride > Bromide > Iodide ab (vgl. A// f von E X , Tab.87). In Übereinstimmung mit der Beobachtung, dass sich die höchsten Oxidationsstufen von Elementen der 4. und 6. Periode weniger leicht als solche von Elementen der 3. und 5. Periode bilden (vgl. hierzu S. 311, 465), existieren zwar PC15 und SbCl5, während AsCl5 sehr zersetzlich und BiCl5 unbekannt ist. Als Säuren und Basen wirken die Tri- und Pentahalogenide als Halogenidakzeptoren (z. B. Bildung von EXT, EXj~, EX^~, EXS~), die Pentahalogenide auch als Halogeniddonatoren (z.B. Bildung von EX4" mit E = As, Sb; Sbl^ sowie BiX^ bisher unbekannt). Nachfolgend sei der Reihe nach auf Tri-, Penta- sowie niedrigwertige Halogenide und darüber hinaus auf entsprechende Halogenidoxide (u. a. EOX, EOX3, E0 2 X) eingegangen. Ein abschließendes Unterkapitel befasst sich noch mit schwach koordinierenden Anionen, zu denen das Hexafluoroarsenat und -antimonat EX6" zählen, und welche als Gegenanionen die Stabilisierung hochacider Kationen sowie deren Addukt mit schwachen Donoren ermöglichen
3.3.2
Trihalogenide EX3
Darstellung Die zwölf Trihalogenide AsX3, SbX3 und BiX3 (X jeweils F, Cl, Br, I) lassen sich aus den Elementen gemäß Gleichung (1a) gewinnen (z. B.Verbrennung von As im Cl2-Gas), wobei sich die Methode zur Darstellung der Trifluoride wegen der leicht erfolgenden Weiterfluorierung zu Pentafluoriden (s. unten) weniger eignet. Besonders einfach erhält man Trichloride aus den Elementoxiden durch Halogenidierung (1b), indem man trockene Halogenwasserstoffe über die erhitzten Oxide E 2 0 3 leitet (z. B. HCl über As 2 0 3 bei 180-200°C; im Falle des Antimons verwendet man anstelle von Sb 2 0 3 auch den in der Natur vorkommenden Grauspießglanz Sb2S3), die Oxide E 2 0 3 in den konzentrierten Halogenwasserstoffsäuren auflöst (insbesondere Synthese von BiX3) oder die Trihalogenide EC13 mit Bortribromid bzw. -iodid behandelt (1c) (insbesondere zur Synthese von SbBr3 bzw. Sbl3): (a
E+1.5X2
(b
EX3;
(X = Cl, Br, I)
E 2 0 3 + 6HX
(c
2EX 3 + 3H 2 O;
(X = F, Cl, Br)
SbCl3 + BX3
SbX3 + BC13.
(1)
(X = Br, I)
Man muss konz. HX verwenden, da die Trihalogenide von H 2 O umgekehrt hydrolysiert werden (s. unten). So führt die Reaktion von As 2 0 3 mit verd. HCl nur zu einem Gleichgewicht (1b). Verwendet man dagegen einen genügenden Überschuss an konz. HCl, so kann man das im Gleichgewicht befindliche AsCl3 (zusammen mit Salzsäuredämpfen) durch Abdestillieren aus dem Gleichgewicht entfernen, sodass schließlich Arsenige Säure vollständig in AsCl3 übergeht. Man benutzt diese Methode zur analytischen Abtrennung des Arsens von Antimon und Zinn Eigenschaften Bezüglich einiger Kenndaten (Farbe, Smp., Sdp. A.fff, Dichte) der Trihalogenide vgl. Tab. 87, bezüglich ihrer Strukturen den vorstehenden Überblick. Bis auf rotes Asl 3 , rubinrotes Sbl 3 , gelbes BiBr3 und schwarzbraunes Bil3 sind die Trihalogenide farblos. BiF3 und Bil3 schmelzen - wohl als Folge ihrer ,,ausgeglichenen" Kristallstrukturen - sehr hoch ( > 400°C), die übrigen Trihalogenide haben zum
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
835»
Teil sehr niedrige Schmelzpunkte (AsF3 und AsCl3 sind sogar flüssig, SbCl3 bildet als „Antimonbutter" eine durchscheinende, kristallin-blätterige, weiche Masse). Mit Wasser reagieren die Trihalogenide mehr oder weniger rasch unter Hydrolyse letztendlich zu E 2 0 3 bzw. H3EO3 (Umkehrung von (1b); AsCl3 ist eine an Luft rauchende Flüssigkeit; SbCl3 löst sich in wenig Wasser anders als PC13 und AsCl3 klar auf; BiF3 und Bil3 sind wasserunlöslich und werden erst beim Kochen angegriffen). Als Hydrolysezwischenprodukte bilden sich Halogenidoxide EOX, wie z. B. farbloses AsOCl (in Substanz gewinnbar nach As 2 0 3 + A s C ^ -> 3AsOCl; im Gegensatz zu monomerem NOCl (S. 726) polymer: [—AsCl—O—]J, farbloses SbOCl bzw. 2SbOCl-Sb 2 0 3 = Sb 4 0 5 Cl 2 (es wechseln sich Sb 6 0 6 Cl 2+ - bzw. Sb 4 0 2+ -Schichten mit CP-Schichten ab) oder BiOX (Schichtstrukturen; BiOF: farbl. Krist.; BiOCl/BiOBr farbl. Krist: Zers. 575/560°C, AHt = — 367/ — 297kJ/mol; BiOI: ziegelrotes Pulver; Zers. 300°C). Redox-Verhalten. Die Trifluoride EF3 und Trichloride EC13 (ohne BiCl3) lassen sich zu Pentahalogeniden E X halogenieren (AsCl3 nur mit Cl-Atomen bei tiefer Temperatur), C12O wirkt auf AsCl3 bzw. SbCl3 gemäß EC13 + 2C120 -> EO2C1 + 3 Cl2 unter Bildung von EO2Cl, O3 auf AsCl3 in inerten Lösungsmitteln unter Bildung von AsOCl3 ein (s. u.). Säure-Base-Verhalten. Die Trifluoride EF3 sind Lewis-Säuren sowie -Basen (die Lewis-Acidität wächst in Richtung PF3 < AsF3 < SbF3 < BiF3) und bilden sowohl mit Donorfluoriden wie M'F (M1 = Alkalimetall) als auch mit Akzeptorfluoriden wie SbF5 anionische bzw. kationische Komplexe des Typus EF^, EFj", B i F ^ (s. u.) bzw. AsF^, SbF^, sodass sich etwa bei Zugabe von KF oder SbF5 zu flüssigem EF3 (E = As, Sb) die elektrische Leitfähigkeit wesentlich erhöht. Auch flüssiges EF3 selbst besitzt wegen Autoionisation gemäß 2 E F 3 E F ^ + EF4~ elektrisches Leitvermögen (EF^ isovalenzelektronisch mit GeF2; EF4~ isovalenzelektronisch mit SeF4). Die EF^-Kationen werden hierbei durch EF3 stabilisiert: EF^ -nEF^. Kationen des Typus SbF^" • SbF3 = S ^ F ^ (Struktur: F2Sb—F—SbF2; pyramidale Sb-Atome und symmetrische SbFSb-Brücken; * SbFSb ca. 150°C) und 2SbF+ -SbF 3 = Sb3F2+ (Struktur: F2Sb—F—SbF—F—SbF2; pyramidale Sb-Atome und asymmetrische SbFSb-Brücken SbFSb nahe 180°C) treten u.a. in Sb2F8, Sb 3 F u , Sb4F14, Sb7F29, Sb8F30, Sb u F 43 auf (Gegenionen: SbF6", Sb 2 Fü). Die Lewis-Acidität von SW 3 dokumentiert sich in der Bildung des Doppelsalzes (NH4)2[SbF3(SO4)], das unter dem Namen ,,Antimonsalz" als Beize in der Färberei verwendet wird. Ähnlich wie die Trifluoride wirken auch die Trichloride EC13 (Entsprechendes gilt für EBr3 und EI3) als Lewis-Säuren und bilden mit Donorchloriden wie MJCl anionische Komplexe des Typus EC14~, EClj~ und E C l ^ , während kationische Komplexe des Typus ECl^ unbekannt sind. Demgemäß ist die Eigendissoziation 2EC13 ECl^ + ECl^ vernachlässigbar klein. Von Interesse im Zusammenhang mit kationischen Komplexen ist z. B. die Verbindung SbCl3-dipy, die in Nitrobenzol gemäß SbCl3bipy SbCl2(bipy)+ + C P dissoziiert ist (bipy = Dipyridyl), sowie das Addukt SbCl3 [15-Krone-5], das mit SbCl5 in S b a [15-Krone-5] 2+ 2SbCl6~ (pentagonal-pyramidales Sb) übergeführt werden kann (15-Krone-5 = (—CH 2 CH 2 0—) 5 ). Bezüglich der Wirkung von E X als Komplexliganden für Metallionen und Aromaten vgl. S. 1794, 1204. Verwendung. AsF3 wird zur Gewinnung hochsiedender Fluoride gemäß RmECl„ + n/3AsF3 -> RmEF„ + n/3AsCl3 genutzt (Abdestillation von gebildetem AsCl3), SW 5 zur Gewinnung niedrig-schmelzender Fluoride (,,Swarts-Reaktion", z. B. C2C16 ^ C2C14F2; SiCl4 ^ SiCl4_„F„, CF3PC12 ^ CF3PF2; Abdestillation des Fluorids). AsCl3 und SbCl3 dienen als nichtwässrige Lösungsmittel (Flüssigkeitsbereiche: —16 bis + 130°C bzw. 73 bis 223°C) für CP-Übertragungen. Beide Halogenide sind Ausgangsprodukte für viele arsen- und antimonhaltige Stoffe, da sich das Verbindungschlor leicht durch andere Gruppen wie OH, NR ersetzen lässt (Bildung von Estern EC 3 (OR) und Amiden EC 3 (NR ). Halogenokomplexe. Die Trihalogenide E X (E = As, Sb, Bi; X = F, Cl, Br, I) bilden mit Halogeniden M + X~ (M + u.a. Alkali-, % Erdalkalimetallkation, Organylnichtmetallkation wie R 4 N + , R 4 P + ) eine faszinierende Vielzahl ein- und mehrkerniger Halogenoarsenate(III), -antimonate(III) und -bismutate(III) (,,Halogenoarsenite", ,,-antimonite", ,,-bismutite") EmX^~. Letztere sind - wohl als Folge eines gewissen „Symmetriebewusstseins" der Anionen - vergleichsweise regelmäßig gebaut, wie aus Fig. 189 hervorgeht, welche die Strukturen einiger Halogenokomplexe wiedergibt (bei gleicher Zusammensetzung findet man vielfach mehrere Strukturmöglichkeiten verwirklicht, vgl. Fig. 189e, m, n und k, l). Bedeutung für die Zusammensetzung der komplexen Anionen (E- zu X-Verhältnis, Nuklearität) und deren Strukturen haben - abgesehen vom Verhältnis der eingesetzten Eduktmengen - die Art des Zentralelements und des Halogenliganden sowie die Raumerfüllung des Gegenkations, wobei einerseits die Partner in den mehrkernigen Fluorokomplexen bevorzugt über eine, in den Chloro-, Bromo- sowie Iodokomplexen vielfach über zwei oder gar drei gemeinsame Halogenatome verbrückt sind, andererseits Bismut(III) in seinen Halogenokomplexen die Koordinationszahl sechs bevorzugt Unter den einkernigen Komplexionen EX+ n (n = 1, 2, 3) ist das Anion E X wippenförmig, d.h. pseudo-trigonal-bipyramidal gebaut (vgl. Fig.189a; z.B. MJAsX4, NaSbF4/SbF3, weitere Verbindungsbeispiele wohl nur mit sehr raumerfüllenden Kationen zugänglich). Die Anionen EX" haben eine quadratisch-pyramidale, d.h. pseudo-oktaedrische Gestalt mit E unterhalb der Basisfläche (Fig.189b, z.B. M2SbF5, K2SbCl5), die Anionen EX^" eine oktaedrische Struktur (Fig.189c; keine wesentliche stereo-
• 836
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
X
X X.
X-
/ \
X'
\
X X N
X-• ^ X
X
x
X
'/-K!
E
X
(a) EX 4
(c)
(b) EX 1
*
EX s6"
X x-
X
X—X X—X \ / !\ / X - •|-E— X—|-E/ \! / \ x—X X—X
X X—E
\\
X
(1) E 2 x r
(h) E 2 X
(g) E 2 X f r
X X / !\/ v
\ / x
X (f) E 2 X ! -
X
(e) E4X
(d) E 2 X 7
X X
X
X x.\ / x ^ ^ X r X'
\ X/
E r ^ A - x
I ,-X —-E^—X'
X
X (l) E3X f 2
-E—X I
1
,x-
I
-X
- X "
pE-
x-
X
-;E-
X
1
I
(m) E4X
f i
(n) E4X fo"
o
(o) E S X 2 V
Fig. 189
v < / ! / T \ i , x X-ErX —7—X-;E-X
X
(k) E3X f 2
0
X
-X
(p) ( E X 4 )
(r) ( E X f )
Strukturen von Halogenoarseniten, -antimoniten, -bismutiten ( • = E; O = X).
chemische Wirksamkeit des freien Elektronenpaars; z.B. [Co(NH 3 ) 6 ]SbCl 6 , (NH4)4(SbmBr6)(SbvBr6), Rb3BiX6 mit X = F, Cl, Br, I). Die mehrkernigen niedermolekularen Komplexionen EmX^" (1 < m < oo) gehen aus den einkernigen Spezies durch Verknüpfung über eine, zwei oder drei gemeinsame Halogenatome bei gleichzeitiger Verminderung der Ladung um eine, zwei oder drei Einheiten hervor (,,Ecken"-, „Kanten"-, Flächenverknüpfung von EX+„)• Eckenverknüpftes E X liegt etwa in CsSb2F7 mit dem kettenförmigen Ion Sb2F7" = SbF~ -SbFj vor (Fig. 189 d; man kennt auch MISb3F10 bzw. MJSb4F13 mit den Kettenanionen SbF4" -2SbF3 = F 3 Sb—F—SbF—F—SbF 3 " bzw. SbF4~ -3SbF3 = F 3 Sb—F—SbF—F—SbF—F—SbF 3 "; kantenverknüpftes E X ergäbe formal E2X6 = 2EX 3 (s oben)). Eckenverknüpftes EXj~ enthalten [Co(NH3)6]Sb2F9 mit dem kettenförmigen Ion Sb2F^" = F4Sb—F—SbF4~ und M4Sb4F16 (M = K, Rb, Cs, Tl, NH 4 ) mit dem ringförmigen Ion Sb4Fl~ = (SbF4~)4 (Fig.189e), kantenverknüpftes EXj~ (Bu4N)2As2X8 (X = Cl, Br, I), Na2Sb2F?, (Ph4P)2Sb2Br8 und [ B i i ; + ] [ B i X H [ B i 2 X n (X = Cl, Br) mit den Ionen E2Xg" = (EX4~)2 (Fig. 189f; die freien - stereochemisch wirksamen - Elektronenpaare weisen in entgegengesetzte Richtungen; flächenverknüpftes EXj~ ergäbe formal E2X6 = 2EX 3 (s. oben)). Eckenverknüpftes findet sich in (MeNH^BijX^ (X = Cl, I) mit dem Ion ffi2Xn_ (Fig.189g), kanten-
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
837»
verknüpftes E X z. B. in (NH4)4Bi2Br10 mit dem Ion Bi2Xj0 = (BiXj )2 und flächenverknüpftes EX^ z. B. in (Rb, Cs)3As2X9 (X = Cl, Br), (Me4N)3Sb2Br9, (Et2NH2)3Bi2X9 (X = Br, I) mit den Ionen E 2 X 9 " (Fig.189i; die freien Elektronenpaare sind stereochemisch wirksam). Letztere Salze lassen sich auch im Sinne von E X ^ - E X beschreiben. In gleicher Weise existieren Addukte E ^ ^ - « E X 3 0 = 2, 3, 4) mit den Kettenionen E3Xj2" = (EX4")3 (vgl. Fig.189k; z.B. (Bu4N)3Bi3I12) oder E5X18 = X 3 E(X) 3 EX(X) 3 EX(X) 3 EX(X) 3 EX 3 (z.B. (Ph4P)3Bi5I18). Die Addition von E X an EX 3 ~-EX 3 kann allerdings auch zu einem käfigartigen Ion E 3 Xjj führen (Fig.1891; z.B. in (R3NH)3As3X12 mit R/X = Et/Br, Me/I). Ein käfigartiges Ion Sb3ljj" mit drei über drei Flächen verknüpfte Sbl 6 -Oktaedern (vgl. Cs^O-j, S. 1285) liegt dem Salz [ C u ( C H C N ^ 2 ^ 2 I 1 1 zugrunde ( S b ^ entsteht formal aus Sb2I^" (Fig. 189i) durch Anlagerung von Sbl^" an die beiden nach oben gerichteten sowie die beiden brückenauch Kantenverknüpfungen zu mehreren ständigen I-Atome von Sb2I9~). In analoger Weise kann E X -Oktaedern ausbilden. Als Beispiele seien Anionen E4Xj^ = (EX4~)4 genannt (teils isostrukturell mit Se4Cl16: vgl. S.629 und Fig.189m, z.B. (S5N5)4As4Cl16/4AsCl3, teils isostrukturell mit Te4I16: vgl. S. 632 und Fig.189n, z.B. [Mg(CH 3 CN) 6 ] 2 Bi 4 Cl 16 , (Cp2Fe)4Bi4Br16), des weiteren Anionen E6X22" (Fig. 189o; z. B. (Cp2Fe)4Sb6I22; (Et4P)4Bi6I22). Die Ionen Fig. 189 h,n,o gehören zu einer homologen Reihe des Formeltypus [E„X3n+4]4~ (n ^ 1) und leiten sich von E6X22~ u. a. dadurch ab, dass man EX 3 -Moleküle vom Verbindungsrand wegnimmt oder an diesen addiert. Beispiele sind E5Xj^ in (R4P)Bi5I19, E4Xj^" (s. oben), E3XJ^ (bisher unbekannt), E2Xjo (s. oben), E,X2^ (bisher unbekannt), ESX2^ in (Et3NH)4As8I28, (Ph4P)4SbI28. Als weitere niedermolekulare Halogenokomplexe seien genannt B^Xj^ in (pyH)6Bi4Cl18 (zwe^ 2 X 10 -Einheiten (Fig. 189 h) mit zwei gemeinsamen axialen X-Atomen) und Sb5Xjf in (Me4N)3Sb5I18 (käfigartiger Bau). Die mehrkernigen hochmolekularen Komplexionen (EXj)^ bzw. (EXj - )^ mit kantenbzw. eckenverknüpften E X -Ionen enthalten Salze (pyH)SbCl 4 , (Et2NH2)BiCl4, (2-Picolinium)BiX4 mit X = Br, I (vgl. Fig.189p; BiF4~ bildet in (NH4)BiF4 über gemeinsame Kanten und Flächen anellierte BiF9-Polyeder) bzw. (Piperdinium)2BiBr5 (Fig. 189o), darüber hinaus viele andere Salze wie z. B. M3Sb2X9 mit (X = F, Cl), G 3 f f i 2 Q „ (Ph4P)Sb3I10 mit den Ionen (E 2 X 9 ~) a und (EjXjO),,, denen Baugruppen vom Typ Fig. 189n zugrunde liegen.
3.3.3
Pentahalogenide EX5
Arsenpentahalogenide. Das Pentafluorid AsF5 ist u. a. aus den Elementen als farbloses Gas gewinnbar (Tab. 87; trigonal-bipyramidaler Bau mit AsF al/äq = 1.711/1.656Ä). Es ist eine starke Lewis-Säure und bildet mit Donorfluoriden Hexafluoroarsenate wie M + [AsF 6 ]~ ,SF3+ [AsF 6 ]~ oder AsCl^ [.AsF6]~ (AsF6~, oktaedrisch, isoelektronisch mit SeF6 und GeF;;"). Mit starken Fluroridakzeptoren erhält man Salze mit dem tetraedischen Kation AsF^ (AsF^PtF,r entsteht aus AsF5 und F2 an einem auf Rotglut erhitzten Pt-Draht). Das Pentachlorid AsCl5 erhält man durch photochemische Chlorierung von AsCl3 bei — 105 °C als oberhalb — 50°C in AsCl3 und Cl2 zerfallende Substanz (Tab. 87): —105°C, hv
AsCL + CL
—50°C
' AsCL.
AsC ist somit viel instabiler als das leichtere Homologe PC sowie das schwerere Homologe SbC Stabiler sind Doppelverbindungen mit dem oktaedrischen AsCl,T- bzw. tetraedischen AsCl^-Ion, z. B.: PCl4+[AsCl6 ] " , Et 4 N+[AsCl 6 r, [AsCl 4 ] + SbCl6-, [AsClJ+AlCl^Beim Zusammenbringen von [AsCl 4 ] + und [ A s Q J " erhält man bei Raumtemperatur AsCl3 und Cl2: [AsCl 4 ] + [ A s C l J " 2{AsCl5} 2AsCl 3 + Cl2. AsBr5 und Asl5 existieren nur in Form der tetraedisch gebauten Ionen [AsBrJ + (gewinnbar aus AsBr3/Br2 und AsF5 bzw. AlBr3) sowie [Asl 4 ] + (gewinnbar aus AsI 3 /ICl und AlQ 3 ). Die bei tiefen Temperaturen metastabilen Salze zersetzen sich oberhalb — 78 °C irreversibel (in letzterem Falle gegebenenfalls explosionsartig) nach: AsBr4+AsF6~ 2Br 2 + 2AsF3; 3AsI4+ AlCl4~ 3I2 + 2AsI 3 + AsCl3 + 3AlQ 3 . Stabiler als AsCl5 ist das Arsenhalogenidoxid AsOCl3, das aus AsCl3 und 0 3 in CH2C12 als oberhalb — 25 °C nach 3 AsOCl3 -> AsCl3 + Cl2 + As 2 0 3 Cl 4 zerfallende Substanz entsteht. Die Verbindung ist in CH2C12-Lösung wie POC13 monomer, in der festen Phase dimer: Cl3As(O)2AsCl3 (trigonal-bipyramidales As mit O in äquatorialer sowie axialer Stellung; AsO äq/al = 1.724/1.899 Ä). Das zu AsOC ho mologe, durch Fluorierung eines Gemischs von AsCl3 und As 2 0 3 erhältliche AsOF3 (Sdp. 25.6°C) ist polymer. Von AsOF3 leiten sich die Halogenokomplexe AsOF4~ (dimer mit oktaedrischer As-Koordination: F 4 As(O) 2 AsF 4 ") und AsOF5~-AsF 5 = F 5 As—O—AsF*" ab. Dichloroxid wirkt auf AsCl3 gemäß AsCl3 + 2C1 2 0 -> AsO2C1 + 3 Cl2 unter Bildung von As0 2 Cl ein, das zum Unterschied vom homologen monomeren Nitrylchlorid NO 2 Cl (s. dort) oligomer ist und sich ab 130°C zersetzt. Antimonpentahalogenide. Das Pentafluorid SbF5 ist durch Fluoridierung von SbCl5 mit H F als farblose, ölige Flüssigkeit gewinnbar (Tab. 87; zur Struktur vgl. Überblick). SbF5 ist eine der stärksten Lewis-Säuren (vgl. Supersäuren, S. 250) und bildet als sehr starker Fluoridakzeptor Hexa- und Heptafluoroantimonate MSbF 6 (M = Li—Ls)undM 2 SbF 7 (M = K—Cs,NMe 4 )mit den oktaedrisch und pentagonal-bipyramidal
• 838
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
gebauten Ionen [SbF 6 ]~ (isoelektronisch mit S n F ^ T e F 6 , IF<J"; AsF6~ ist thermolabiler) und [SbF 7 ] 2 ~ (isoelektronisch mit T e F f , IF7; AsF 2 ~ ist unbekannt). Analog F~ vermag sich SbF5 an SbF6" unter Bildung der Komplexe M + [SbF 6 -BSWJ]" mit kettenförmigen Anionen wie Sb 2 Fü = [F 5 Sb—F—SW 5 ] _ und S 16 = [F 5 Sb F SbF4 F SW s ] anzulagern. Die starke Lewis-Acidität von SW s dokumentiert sich weiterhin in der Bildung der farblosen Addukte SbF 5 -S0 2 = F 5 Sb—OSO (Smp. 57°C) oder S W s - N O (Zers. > 150°C), die geringe Lewis-Basizität von SbF6~, SbjF^ bzw. SbjF^ in der Existenz von Salzen wie 02+ [SbF 6 "], S 2 + [Sb 2 F^] 2 , Me 3 C + [SbF,T], B r + [ S b ^ ] . Das Pentachlorid SbCl5 entsteht bei der Behandlung von SbCl3 mit Cl2: SbCl3 + Cl2
SbCl5 + 5.82kJ.
Es stellt eine in reinem Zustande eigelbe rauchende Flüssigkeit dar (vgl. Tab. 87 und zur Struktur den Überblick), welche bei 140 °C unter beginnender Zersetzung in SbCl3 und Cl2 siedet. Man verwendet es daher in der organischen Chemie als kräftiges Chlorierungsmittel, wobei es durch Zuleiten von Chlor immer wieder regeneriert werden kann. Mit kleinen Mengen Wasser bildet SbCl5 Hydrate wie SbCl5 • H 2 0 und SbCl 5 -4H 2 0; von überschüssigem Wasser wird es zu Antimonsäure und Salzsäure hydrolysiert. Mit zahlreichen Chloriddonatoren wie MCl oder PC15 vereinigt es sich zu HexachloroantimonatenM + [SbCl 6 ]~ oder PCl 4 + [SbCl 6 ]", mit starken Chloridakzeptoren wie SbF5 zu Tetrachloridoantimon-Salzen SbC S 11 (oktaedrisches SbCl6 -, tetraedisches SbCl4 -Ion). SbBr5 existiert nur in Form des tetra+ edisch gebauten Ions [SbBr 4 ] , das dem gemäß 2Sb(0TeF 5 ) 3 + 2Br 2 -> SbBr^ Sb(0TeF5)6~ gewinnbaren Salz zugrunde liegt. Salze mit dem Anion [SbBr 6 ]~ sind ebenso unbekannt, wie Sbl5 und davon abgeleitete Ionen [Sbl 4 ] + und [SW 6 ]~. Was die Halogenidoxide betrifft, so entsteht bei der Umsetzung von SbCl3 mit C120 in Analogie zur entsprechenden Reaktion von AsCl3 blassgelbes, polymeres, sich bei 300 °C zersetzendes Sb0 2 Cl. Von SbOF3 leiten sich die Halogenokomplexe Sb0F4~ (trimer über 0-Brücken mit oktaedrischer Sb-Koordination) und Sb0F 2 ~-SbF 5 = F 5 Sb—O—SbF 2 ~ ab. Bismutpentahalogenide. Als einziges Pentahalogenid des Bismuts lässt sich BiF5 durch Fluorierung von BiF3 mit F2 bei 500°C gewinnen (vgl. Tab.87 und zur Struktur den Überblick). BiF5 stellt ein extrem starkes Fluorierungsmittel dar und bildet mit Fluoriddonatoren M F thermostabile Hexa und Heptafluorobismutate MBiF 6 (M = Li—Ls)undM 2 BiF 7 (M = Na—Cs,NMe 4 ) mit den oktaedrisch und pentagonalbipyramidal gebauten Ionen [BiF 6 ]~ und [ B i F 7 ] 2 S a l z e mit den Ionen BiF^ sind ebenso wie solche mit den Ionen BiX6~ bzw. BiX^ (X = Cl, Br, I) unbekannt. Arsen(V)-chloridfluoride AsCls_„F„ (Tab.87). Chlorierung von AsF3 mit Chlor ergibt trigonal-bipyramidal gebautes, sublimierbares AsCl 2 F 3 (C 2v -Symmetrie; äquatorial gebundene Cl-Atome), das in polaren Lösungsmitteln und gegebenenfalls beim längeren Stehen in die ionogene Form AsCl4 AsF^ (Smp. 130 °C) mit tetraedrisch gebautem Kation und oktaedrisch gebautem Anion übergeht (vgl. gemischte P(V)-halogenide). Beim Sublimieren des Salzes bildet sich zunächst trigonal-bipyramidales AsC und As (AsCl 4 F ist nach Abtrennung von AsF5 mit K F als KAsF 6 bei tiefen Temperaturen isolierbar; C 3v -Symmetrie; axiales F), dann - bei längeren Sublimationswegstrecken - wieder das molekulare Halogenid AsCl 2 F 3 durch F/Cl-Austausch zurück (AsCl+AsFg AsCl 4 F + AsF5 2AsCl 2 F 3 ). Zugleich führt der F/Cl-Austausch zu trigonal-bipyramidalem AsCff 4 (C 2v -Symmetrie; äquatoriales Cl; isolierbar bei tiefen Temperaturen). AsCl 3 F 2 (D 3h -Symmetrie; trigonal-bipyramidal; axiale F-Atome; isolierbar bei tiefen Temperaturen) entsteht beim Überleiten von AsCl 2 F 3 -Gas über CaCl 2 . AsCl 4 F zersetzt sich in fester Phase oberhalb - 1 0 0 ° C , AsCl 3 F 2 bzw. AsClF4 in flüssiger Phase oberhalb - 9 0 bzw. - 75 °C u.a. unter AsCl + AsFg + 4AsCl 3 /Cl 2 ). Bildung von AsCl 4 AsFg (z.B. 6AsCl 4 F Antimon(V)-chloridfluoride SbCl„F s _„ (vgl. Tab.87). Setzt man SbF5 eine kleine Menge SbCl 5 zu, so nimmt die Viskosität des Pentafluorids als Folge der mit dem F/Cl-Austausch verbundenen Spaltung von SbFSb-Brücken ab. Auch steigt die elektrische Leitfähigkeit als Folge der Bildung ionischer Spezies. Solche Mischungen sind wirksamere Fluoridierung- und Fluorierungsmittel als SbF5 (z.B. S0C1 2 -> S0F 2 ; P0C1 3 -> P0C1 2 F; C4C16 -> C4C12F6; letztere Verbindung lässt sich mit Permanganat in Trifluoressigsäure C F 3 C 0 0 H überführen). SbCl 4 F (gewinnbar aus SbCl 5 und AsF3) und SbCl 3 F 2 (gewinnbar aus SbCl 5 und HF) bilden wie SbCl 3 , 2 5 F 1 > 7 5 = 3;Sb 4 Cl 13 F 7 Tetramere analog SW 5 (Fig.188; Ersatz terminaler F-Atome durch Cl-Atome), wo gegen SbCl2 F 3 (aus SbCl 5 + HF) und S b C l 1 3 3 F 3 6 7 = i S b j C ^ F n (aus SbCl 4 F + SbF5) im Sinne von Sba 4 + Sb 2 Cl 2 F 9 und SbCl 4 + Sb 2 F n ionisch gebaut sind (Anionenstruktur: ClF 4 SbFSbF 4 Cl bzw. F 5 SbFSbF 5 mit schwach gewinkelter SbFSb-Gruppe).
3.3.4
Niedrigwertige Halogenide EX 4AsI3 + 2As (die Zersetzung erfolgt im offenen System bereits ab 150°C). In analoger Weise wie As2I4 entsteht Sb2I4 in geschmolzenem Antimontriiodid nach 4SbI 3 + 2Sb i? 3Sb2I4 bei 230°C, konnte aber bisher nicht isoliert werden (in der Kälte Verschiebung des Gleichgewichts nach links). Die Monohalogenide (AsX)6 = As6X6 (X = Br, I; Strukturen wohl analog sesselförmig gebautem P6X6, S. 779) konnten bisher nur als Halogenidaddukte [As 6 X 8 ] 2 " in Form der Salze (Ph4P)2As6Br8 und [(triphos)NiI]2As6I8 gewonnen und isoliert werden (bzgl. der Strukturen vgl. Fig. 190). Während Monohalogenide des Antimons noch unbekannt sind, kennt man solche des Bismuts. Und zwar entstehen die Halogenide (BiX1167)6 = Bi6X, (X = Cl, Br) beim langsamen Abkühlen (2 Wochen) einer Bi/BiX3-Schmelze von 325 auf 270 °C, das Chlorid (BiCl143)7 = Bi7Cl10 durch langsames Abkühlen einer Bi/BiQ3-Schmelze von 500 °C auf Raumtemperatur, die Halogenide BiX (X = Br, I) durch Gasphasentransport (S. 1409) von Bi mit HgX2 in einer mit wenig Argon gefüllten Ampulle von 272 nach 165 °C (xBi + HgX2 -> 2BiX + HgBi^) und die Subhalogenide Bi14I4 sowie Bi1sI4 nebeneinander beim Abkühlen von Bil-Gas (aus Bi + Bil3). Bi6X7 weist hierbei die Zusammensetzung Bij + [BiX 2 ~][Bi 2 X 8 ~] = Bij + [Bi 3 X 14 ] 5 ~, die Zusammensetzung Bi9+[B5C12(J5~ auf (vgl. S.828). In den diamagnetischen, hochmolekularen Monohalogeniden BiX (Molverhältnis Bi zu X exakt 1) sind gemäß Fig. 190 Bi-Atome zu eindimensionalunendlichen Zick-Zack-Ketten verknüpft. Jedes Kettenatom ist zusätzlich mit einem exoständigen BiAtom verbunden. Erstere Bi-Atome (Oxidationsstufe: 0) sind pyramidal von jeweils drei Bi-Atomen umgeben, die verbleibenden Bi-Atome (Oxidationsstufe: + 2) weisen quadratisch-pyramidalen Bau auf und haben jeweils einen Bi- und vier X-Nachbarn (das freie Elektronenpaar ist im Falle aller Bi-Atome stereochemisch wirksam). Hochmolekularer Bau liegt auch Bi14I4 bzw. Bi18I4 zugrunde (Bi-Sechseckwabennetze mit 7 bzw. 9 nebeneinander liegenden Bi-Atomketten, wobei die Bi-Randatome, welche nur zwei Bi-Nachbarn haben, zusätzlich mit jeweils zwei I-Atomen abgesättigt sind, vgl. Fig. 190).
3.4
Chalkogenverbindungen des Arsens, Antimons, Bismuts 83
3.4.1
Überblick
Systematik. Von Arsen, A n t i m o n u n d Bismut (E) existieren, wie aus Tab. 88 h e r v o r g e h t hochmolekulare Di-, Tri-, Tetra- u n d Pentachalkogenide E 2 Y 2 = E Y (einige Verbindungsbeispiele), E 2 Y 3 (alle Kombinationen), E 2 Y 4 = E Y einige Beispiele u n d E 2 Y S (einige Beispiele), darüber hinaus niedermolekulare Verbindungen E4Y„ (E # Bi; n = 3 bis 6). Die Trioxide E 2 0 3 stellen Anhydride der Arsenigen Antimonigen sowie Bismutigen Säure H 3 E O 3 (des Arsen-, Antimon-, Bismuttrihydroxids E(OH) 3 ) dar, die Pentaoxide E 2 0 5 Anhydride der Arsen-, Antimon u n d Bismutsäure H 3 EO 4 , die Tetraoxide E 2 0 4 gemischte Anhydride von H 3 E O 3 u n d H 3 E O 4 (E203 + 3 H 2 0 2H 3 EO 3 ; E 2 0 5 + 3 H 2 0 2H 3 EO 4 ; E 2 0 4 + 3 H 2 0 H 3 E O 3 + H 3 EO 4 ).
• 840
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Tab. 88 Hochmolekulare und niedermolekulare (kursiv) Arsen-, Antimon-, Bismutchalkogenide (Kenndaten der Feststoffe: Smp [°C], A.fff [kJ/mol], Dichte [g/cm3], Z = Zersetzung). a)
Oxide
Sulfide
< +3
-
Av C 4 31415
Selenide bc
'>
AS J
Orangegelb BiO, + 3
AstSe3^ rot
bis rot
-
schwarz
A Gelb 320° / — 1 6 9 kJ 3.49 g/cm 3
•
Sb203 Farblos 655° / —690 kJ 5.79 g/cm 3
Sb 4 0 6
S Schwarz 546° / — 1 6 0 kJ 4.64 g/cm 3
B Gelb 825 /— 573 k 8.5 g/cm 3
-
B Braunschwarz 850°/—143 kJ 6.78 g/cm 3
AsTe d) Smp. 362°
AsSe Smp. 300° BiS
AsjOJ AS40* Farblos 313° / — 655 kJ 279° / —657 kJ 4.23 g/cm 3 3.98 g/cm 3
570° 5.20 g/cm 3
Telluride
SbTe
BiTe d)
A S Braun 380°/Halbleiter 4.80 g/cm 3
A T Grau 360 /Halbleiter 6.25 g/cm 3
-
S S Grau 612 /Halbleiter 5.81 g/cm 3
S T Grau 620 /Halbleiter 6.50 g/cm 3
-
B S Schwarz 706 /Halbleiter 7.50 g/cm 3
B T Grau 585 /Halbleiter 7.64 g/cm 3
-
-
Schmelze, Gas
,, + 4"
A^O/> Farbl.
Sb204 Gelb
B Dunkel
-f) -
Sb 2 S 4 Gelb
+ 5
A^Os Farbl. 315°Z 4.32 /
Sb 2 O s Gelb 300°Z 3.78
B Braun 150 °Z 5.10 g/cm 3
A^Ss Gelb 95°C ?
,,Sb 2 S5 " Orange 135°C 4.12 g/cm 3 -
B Grau
AsjSe 5 ,,Sb 2 S5 "? Schwarz
-
-
a) Oxidationsstufe. - b) Neben a- und ß-Äs 4 S 4 (Smp./Sdp. 307/565°C) kennt m a n auch konstitutionsisomeres y-As 4 S 4 . - c) As lässt sich sukzessive durch P ersetzen. - d) M a n kennt auch As 8 Te 3 , Sb 2 Te, Bi2Te, Bi7Te. - e) Die durch Abschrecken des mit viel N 2 vermischten D a m p f e s über A s 2 0 5 bei 730°C auf 1 2 K erhältliche Tieftemperaturmatrix enthält m o n o molekulare Spezies As 4 O sl7lsl9lll) (Strukturen analog P 4 O 6/7/8/9/10 , vgl. S.785). - ^ Verbindungen der Zusammensetzung Äs 4 S 7 , AS4S8 = Äs 2 S 4 , Äs 4 S 9 sind bisher unbekannt; es existieren jedoch Äs 2 P 2 S 7 (monomer) und As 2 P 2 S 8 (polymer).
Strukturen Die niedermolekularen Chalkogenide weisen den gleichen Bau wie entsprechend zusammengesetzte Chalkogenide des Phosphors auf (S. 785), die hochmolekularen Chalkogenide vielfach Schichtstrukturen (für Einzelheiten s. unten). Die Arsen(Illj-säureH3As03 lässt sich wie die unbekannte Arsen(I)Säure H 3 As0 2 (vgl. H3PO2, S. 793) und die ebenfalls unbekannte Arsen(-I)-säure H 3 AsO (vgl. H 3 PO, H 3 NO; S. 801, 719) durch zwei tautomere Formen beschreiben, während für die Arsen(V)-säure H 3 As0 4 nur eine Form existiert (vgl. hierzu Phosphorsäuren und das dort über Oxidationsstufen Besprochene). OH
O
I
I
H—As—H ^
OH
O
I
I
I
H—As—H I
H—As—OH ^ "
H Arsinige Säure
Arsanoxid
OH I
H—As—OH I
I
HO—As—OH ^ "
H Arsonige Säure
Arsinsäure
O I
I
HO—As—OH I
H Arsenige Säure
Arsonsäure
Das Tautomeriegleichgewicht liegt im Falle der Arsen(III)-säure H 3 As0 3 und wohl auch der Arsen(I)sowie Arsen(-I)-säure) ganz auf der Seite der Arsenigen bzw. Arsonigen bzw. Arsinigen Säure (da Phosphor ausgesprochen zur Bildung einer PO-Gruppe tendiert, kommen den Phosphor(III, I,-I)-säuren die Formen HPO(OH) 2 , H 2 PO(OH) und H 3 PO zu). Von allen wiedergegebenen Säureformen kennt man organische Derivate („Ester"; vgl. S. 843, 855, 856). Die Sauerstoffsäurendes Antimonsund BismutsH 3EO3 und H 3 EO 4 existieren in wässeriger Lösung - falls überhaupt - nur in wasserreicheren Formen als H 3 Sb0 3 -H 2 0 = H[Sb(OH) 4 ], H 3 Bi0 3 -3H 2 0 = H[Bi(OH) 4 (H 2 O) 2 ] und H 3 EO 4 -H 2 0 = H[E(OH) 6 ]. Man kennt jedoch in jedem Falle Salze der betreffenden Säuren. Darstellung M a n gewinnt die Chalkogenide meist aus den Elementen bei erhöhten Temperaturen sowie durch Chalkogenidierung (S. 649) geeigneter Ausgangsverbindungen (z. B. Hydrolyse von Halogeniden, Anhydridbildung der Säuren). Die Darstellung der Sauerstoffsäuren k a n n durch Auflösen der Oxide in Wasser - gegebenenfalls in Anwesenheit von Oxidationsmitteln - erfolgen.
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
841»
H
pH= 0 + 0.94
HNO2
+ 1.45
H3PO4
— 0.276
H3PO3
— 0.502
H3As04
+ 0.560
As
+ 0.581
N O
Sb205 Bi205
+ 2
±0
n2
11
Eigenschaften Redox-Verhalten. Nachfolgend sind Potentialdiagramme der Oxidationsstufen + 5, + 3, + 0 und — 3 der Pentele N, P, As, Sb, Bi in saurer und alkalischer Lösung wiedergegeben. Wie aus ihnen hervorgeht ist die Oxidationskraft der Pentelsauerstoffsäuren ähnlich wie die der Chalkogen- und Halogensauerstoffsäuren (S. 638, 463) in saurer Lösung größer (stärkstes Oxidationsmittel Bi2Os, gefolgt von H N O ) , die Reduktionskraft in alkalischer Lösung (stärkstes Reduktionsmittel P4, gefolgt von H P O 3 ) . Eine Disproportionierung nullwertiger Pentele ist nur im Falle von P4, eine Disproportionierung dreiwertiger Pentele nur im Falle von H N O bzw. N02~ möglich. In den übrigen Fällen erfolgt umgekehrt Komproportionierung
+ 0.28
NH +
N O
— 0.063
PH
NO2
+ 0.41
por
— 1.12
HPO|"
— 1.73
— 0.71
As Sb(OH)
— 0.66
Bi(OH)
— 0.452 B
P4 + 0.234 A
— 0.608 As
AsO 1"
SM,;
+ 0.212 S
— 0.510
Sb(OH) 6 -
— 0.59
Bi
+ 0.317 B
— 0.97
Bi(OH) 6 "
( Sb(III)) zunimmt und mit wachsender Kernladung (wichtig bei P(III) -> As(III)) sowie zusätzlich wachsendem relativistischem Effekt (vgl. S. 340; wichtig bei Sb(III) Bi(III)) abnimmt.
Säure-Base-Verhalten. Die Acidität der Sauerstoffsäuren nimmt innerhalb der Penteligen und Pentelsäuren mit steigender Ordnungszahl des Pentels ab, wobei Pentelsäuren stärker sind als entsprechende Pentelige Säuren. Für die Basizität gilt das Umgekehrte (vgl. hierzu S. 247 und das bei den Phosphorsäuren Besprochene). Nachfolgend sei auf Oxide und Sulfide sowie zugehörige Säuren zunächst des Arsens dann des Antimons und schließlich des Bismuts eingegangen. Einem Teil der betreffenden Spezies kommt unter den Verbindungen des Arsens, Antimons und Bismuts wegen ihres natürlichen Vorkommens und ihrer praktischen Verwendungsmöglichkeiten besonderes Interesse zu. Bezüglich der Selenide und Telluride von As, Sb, Bi vgl. Tab. 88. Unter ihnen sind die Verbindungen E2Y3 als Halbleiter (S. 1421) von einiger Bedeutung (die Bandlücken nehmen ab in Richtung As > Sb > Bi hinsichtlich eines bestimmten Chalkogens und in Richtung S > Se > Te hinsichtlich eines bestimmten Pentels; durch geeignete Dotierung erhält man n- oder p-Halbleiter). Bezüglich der Halogenidoxide vgl. bei den Halogenverbindungen von As, Sb und Bi
3.4.2
Oxide und Sauerstoffsäuren des Arsens
Diarsentrioxid A s 2 0 3 (,,Arsentrioxid", „Arsenik") kommt in der Natur niedermolekular als kubischer Arsenolith (,,Arsenikblüte") und hochmolekular als monokliner Claudetit (2 Formen) vor. - Darstellung A s 2 0 3 entsteht bei der Verbrennung von Arsen an der Luft oder durch Oxidation mit verdünnter Salpetersäure sowie durch Hydrolyse von Arsentrichlorid: 2As + 1^0 2 ->• A s 2 0 3 +657.4kJ
bzw.
2AsCl 3 + 3 H 2 0 ->• A s 2 0 3 + 6HCl.
Die technische Darstellung erfolgt durch Abrösten arsenhaltiger Erze: 2FeAsS + 5O 2 -> F e 2 0 3 + 2 S 0 2 + A s 2 0 3 .
• 842
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Hierbei verflüchtigt es sich („Hüttenrauch") u n d wird in lange, gemauerte Kanäle ( „ G i f t f ä n g e " ) geleitet, in denen sich die zunächst noch unreine Substanz zu einem weißen Pulver verdichtet. Die Reinigung durch Sublimation liefert je nach der Temperatur, bei der die Kondensation erfolgt, ein lockeres weißes Pulver („Giftmehl") oder ein farbloses, glasiges P r o d u k t („Arsenikglas"). In den H a n d e l gelangt Arsentrioxid gewöhnlich in der letztgenannten, durchsicht i g e n amorphen F o r m (Dichte = 3.70 g/cm 3 ). Bewahrt m a n diese längere Zeit auf, so wird sie allmählich porzellanartig undurchsichtig, weil sie sich in ein Agglomerat regulär-oktaedrischer Kriställchen verwandelt. Besser erhält m a n diese kubische F o r m des Arsentrioxids, wenn m a n die a m o r p h e F o r m in Wasser oder Salzsäure löst u n d wieder auskristallisieren lässt. Bei dieser Kristallisation beobachtet m a n im D u n k e l n ein deutliches Leuchten: „Tribolumineszenz" (die Erscheinung der Tribolumineszenz beobachtet m a n häufig, wenn sich Kriställchen aneinander reiben u n d dabei zerbrechen: tribo von griech. = ich reibe). Physikalische Eigenschaften (Tab. 88). Arsentrioxid ist im festen, flüssigen und dampfförmigen Zustand farb- und geruchlos. Seine Löslichkeit in Wasser ist mäßig (0.1 mol/l). Es stellt ein starkes Gift dar 8 5 , 9 0 . Beim Erhitzen auf 180 °C in Anwesenheit von Spuren Wasser geht die bei 278 °C im metastabilen Zustande schmelzende kubische Modifikation („Arsenolith"; AHt = — 656.9 kJ/mol; Dichte = 3.890 g/cm) in eine andere, um 2.1 kJ/mol energiereichere, bei 313°C schmelzende monokline Modifikation („Claudetit"; AHf = — 654.8 kJ/mol; Dichte = 4.230 g/cm) über, die ihrerseits bei 465 °C siedet: Kondensation < 250 0 C 278 0 C (AS2Ö3)2 fest (kubisch)
465 0 C (AS2Ö3)2 flüssig
180 0 C (Spuren H 2 O)
1
As2Ü3 gasförmig
> 250 0 C 0
(As2Ö3)x fest (monoklin)
> 800 0 C
(As 2 Ö3) 2 gasförmig
313 C
(As2O3)„ glasig
langsam
(As2O3) 2 fest (monoklin)
Die monokline Form entsteht direkt, wenn man die Kristallisation des Arsentrioxids nicht bei gewöhnlicher Temperatur, sondern oberhalb von 180 °C vornimmt. Erhitzt man z. B. Arsentrioxid in einem geschlossenen Glasrohr am unteren Ende auf 400 C, so befindet sich nach dem Erkalten im unteren vorher erhitzten Teil glasiges, im mittleren monoklines, im oberen kubisches Arsentrioxid. Der Siedepunkt liegt bei 465 °C. Im offenen Gefäß sublimiert Arsentrioxid ohne zu schmelzen, weil dann der Dampf so schnell entweicht, dass sein Partialdruck die Schmelzpunktsdampfdrücke (28 mbar bei 278 °C, 67 mbar bei 313 °C) nicht erreicht. Kondensiert man gasförmiges Arsentrioxid unterhalb/oberhalb 250 °C, so bildet sich kubisches/glasiges As 2 0 3 ; letztere Form verwandelt sich bei Raumtemperatur langsam in die kubische Modifikation Strukturen. Bis 800 °C entspricht die Dampfdichte von A s 2 0 3 der Molekülformel As 4 0 6 (P 4 0 6 -Struktur; vgl. S. 785). Oberhalb dieser Temperatur findet zunehmende Dissoziation statt, und bei 1800°C besitzen die Moleküle die Formel As 2 0 3 (Struktur: W-förmiges 0 = A s — O — A s = O ; vgl. Formel (a) auf S. 713). Auch die Kristalle der kubischen Form sind aus As 4 0 6 -Einheiten (AsO-Abstand 1.78 Ä; ber. für Einfachbindung 1.87 Ä) aufgebaut, während die monokline Form hochmolekular ist und aus Schichten besteht, die sich aus pyramidalen, über gemeinsame O-Atome verbrückten AsO 3 -Einheiten aufbauen, wobei die As-Atome der miteinander kondensierten AsO 3 -Pyramiden sowohl ober- wie auch unterhalb der Schichten lokalisiert sein können. Monoklines As 2 0 3 besitzt in einer Form (Claudetit-I) die Struktur Fig. 191 a in einer anderen Form (Claudetit-II) die Struktur Fig. 191 b, während die Struktur Fig. 191 c bisher nur für A aufgefunden wurde Chemische E i g e n s c h a f t e n Arsentrioxid ist leicht (leichter als die homologen Oxide P 2 0 3 u n d S b 2 0 3 ; vgl. Potentialdiagramm, S. 841) zum Element reduzierbar. Erhitzt m a n es z. B. in einem Glühröhrchen mit Kohle oder mit Kaliumcyanid, so scheidet sich das durch R e d u k t i o n entstehende Arsen 90 Physiologisches Schon weniger als 0.1 g A s 2 0 3 können vom Magen aus tödlich wirken, falls es nicht durch Erbrechen oder durch Reaktion mit frisch gefälltem Eisenhydroxid oder Magnesiumoxid unschädlich gemacht wird (bzgl. des As-Nachweises vgl. S. 830). Durch regelmäßige kleinere Dosen kann der menschliche Organismus an das Gift gewöhnt werden; in diesem Falle werden bis zu 0.5 g auf einmal vertragen („Arsenikesser").
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
843»
• As oberhalb O As unterhalb x O bzw. S in Papierebene As 2 0 3 (Claudetit I) (a)
Fig. 191
As 2 0 3 (Claudetit II) (b)
As 2 S 3 (c)
Strukturen von monoklinen A s 2 0 3 (2 Formen) sowie As 2 S 3 .
2AS203 + 3C
4AS + 3 C 0
2
AS203 + 3KCN
2As+3KOCN
im kälteren Teil des Glasröhrchens als schwarzer Arsenspiegel ab (,,Arsenprobe nach Berzelius"). Ein Gemisch von A s 2 0 3 und Mg verbrennt bei Entzündung äußerst heftig mit heißer, intensiv weißer Flamme: A s 2 0 3 + 3Mg
2As + 3MgO + 1149.3 kJ.
Andererseits lässt sich Arsentrioxid auch zur fünfwertigen Stufe oxidieren, z.B. mit konzentrierter Salpetersäure (S. 732). Schwefel vermag A s 2 0 3 nicht zu oxidieren. In Wasser ist Arsentrioxid mäßig löslich (0.104 mol/l bei 25 °C). Die Lösung hat süßlich metallischen Geschmack und rötet blaues Lackmuspapier eben noch deutlich, enthält also eine schwache Säure (,,Arsenige Säure"): AS203 + 3 H
2
2H 3 As0 3 .
0
In gleicher Weise reagieren Alkohole mit A s 2 0 3 zu Estern der Arsenigen Säure: AS 2 0 3 + 6ROH -> 2As(OR) 3 + 3 H O . In basischer Lösung steigt die Löslichkeit von A s 2 0 3 wegen der Bildung von ,,Arseniten" (s.u.; in entsprechender Weise entstehen in alkalischer alkoholischer Lösung Arsenitester, z. B.: A s 2 0 3 + 2ROH + 4NaOH 2N2A^2(OR) + 3H 2 O). In saurer Lösung nimmt andererseits die Löslichkeit von A s 2 0 3 mit sinkendem pHWert ab und erreicht in 3-molarer HCl-Lösung (pH ca. - 0.5) ein Minimum (0.075 mol/l bei 25 °C). In stärker salzsaurer Lösung nimmt sie wegen der Bildung von Chlorarseniten wieder zu (As(OH) 3 + 3HC1 AsCl 3 + 3 ^ O ; AsCl 3 + H C H + + AsCl^; vgl. Gewinnung von AsCl 3 , S. 834). Ähnlich wie durch Chlorid lässt sich das Oxid-Ion in A s 2 0 3 auch durch Sulfid ersetzen (vgl. Oxosysteme, S. 508): AS203 + 3H2S
^
+
Mit der Anhydrosäure S O reagiert A s 2 0 3 als Anhydrobase unter Bildung von ,,Arsen (III)sulfat" As 2 (SO 4 ) 3 . Verwendung. Arsenik findet vielseitige Verwendung zum Vertilgen von Mäusen, Ratten, Fliegen, zum Konservieren von Häuten, Fellen, Vogelbälgen und in der Glasfabrikation als Läuterungs- und Entfärbungsmittel. Arsenige Säure H 3 As0 3 ist nur in wässriger Lösung, aber nicht in freiem Zustand bekannt. Dampft man die wässerige Lösung von A s 2 0 3 (s.o.) ein, so scheidet sich nicht die Säure, sondern ihr Anhydrid As 2 0 3 in Form kubischer Kristalle der Molekulargröße As 4 0 6 (s. oben) ab. Säure-Base-Verhalten. Arsenige Säure besitzt etwa die Stärke der Borsäure: = 9.23 für H 3 A s 0 3 H 2 A s 0 3 + H + . Ihr kommt im Gegensatz zur homologen Phosphonsäure HPO(OH) 2 die Konstitution As(OH) 3 zu (s. oben). Demgemäß wirkt sie als dreibasige Säure, sodass sich von ihr primäre, sekundäre und tertiäre Arsenite A s ( O H ) 2 0 " , As(OH)C)2_ und AsO3_ (pyramidaler Bau) ableiten. Die - durch Säuren leicht zersetzbaren - Alkali- und Erdalkaliarsenite leiten sich meist von der Form A s ( O H ) 2 0 "
• 844
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
(z.B. KH 2 AsO 3 , Ba(H 2 As0 3 ) 2 ), die Schwermetallarsenite von der Form AsO 3 ~ (z.B. Ag 3 As0 3 , Pb 3 (As0 3 ) 2 ) ab. Alkalimetallarsenite sind gut, Erdalkalimetallarsenite weniger gut, Schwermetallarsenite praktisch nicht wasserlöslich. Kondensierte Säureanionen (,,Diarsenite" A s 2 0 4 " , „Triarsenite" A s 3 0 usw.) bilden sich in alkalischen Medien nicht. Kondensation erfolgt jedoch beim Erhitzen primärer und sekundärer Arsenite, z.B.: « M ' H 2 A s 0 3 -> (M'As0 2 ) N + n H 2 O (M1 = Alkalimetall). In den „Metaarseniten" M ' A s 0 2 bestehen die durch die Kationen zusammengehaltenen Anionenketten aus AsO ^Pyramiden mit gemeinsamen O-Atomen: —O—As(O~)—O—As(O~)—O—As(O~)—. Wie die oben erwähnte Bildung von Chloroarseniten aus A s 2 0 3 in stark salzsaurer Lösung andeutet, verhält sich Arsenige Säure in wässeriger Lösung amphoter. Ihre Basedissoziation ist allerdings viel geringer als ihre Säuredissoziation: p.fiTB ca. 14 für As(OH) 3 As(OH) 2 + OH~ (Bildung von Spezies wie As (OH) (HSO 4 ) 2 oder As(OH)(HSO 4 ) + in konzentrierter H 2 SO 4 und von Spezies wie As(HSO 4 ) 3 oder As(HSO 4 ) 2 + in Oleum). Redox-Verhalten. Die Arsenige Säure wirkt wie Arsentrioxid oxidierend und reduzierend, wobei sie in Arsen bzw. Arsensäure übergeht (vgl. Potentialdiagramm, oben): H 3 A s 0 3 + 3H+ + 3 Q As
As + 3 H 2 O As 2H
(e0 = + 0 . 2 4 0 V); 0.560 V).
Die Oxidationswirkung ist dabei stärker, die Reduktionswirkung schwächer als die der homologen Phosphorsäure (e0 = —0.502 bzw. —0.276 V). So wird z.B. Arsenige Säure aus salzsauren Lösungen durch Zinn(II)-chlorid (Sn 2 + ^ Sn 4 + + 2 Q ; e 0 = + 0.154 V) als braunes Arsen ausgefällt („Bettendorf'sehe Arsenprobe"). Gleiches erfolgt durch Kupfer in HCl-Lösung (Cu + C P -> CuCl + Q ; e 0 = + 0.137 V). Naszierender Wasserstoff(H -> H + + Q; e0 = —2.1065 V) reduziert noch weiter bis zu Arsenwasserstoff ( H 3 A s 0 3 + 6 H + + 6 Q -> AsH 3 + = —0.180 V) („Marsh'sche Arsenprobe", S. 830; in analoger Weise wird H 3 A s 0 3 durch NaBH 4 in AsH 3 umgewandelt). Umgekehrt führen Oxidationsmittel wie Iod (I 2I 0.5355 V), Salpetersäure (NO 4H NO 2 H O; + 0.959 V), C r 2 0 ( + 1.38 V), H 2 0 2 ( + 1.763 V) oder Ozon ( + 2.075 V) die Arsenige Säure in Arsensäure über. Die Reaktion zwischen Iod und Arseniger Säure wird zur iodometrischen Bestimmung des Arsengehalts von Arseniklösungen benutzt H 3 A s 0 3 + H 2 0 + I2
H3As04 + 2 H + + 2I".
(1)
Da es sich um eine Gleichgewichtsreaktion handelt (ähnliche Potentiale der beiden Redoxpaare), muss die entstehende Säure dabei durch Hydrogencarbonat (H + + HCO 3 -> H 2 0 + C O ) aus dem Gleichgewicht entfernt werden (zum Mechanismus vgl. S. 473; bei der stärker reduzierenden homologen Phosphonsäure PO ist die Reaktion auch ohne Hydrogencarbonat-Zusatz schon quantitativ). Die Ein wirkung von Salpetersäure auf Arsenige Säure benutzt man zu Darstellung von N 2 0 3 (S. 712). Verwendung. Lösungen von Natriumarsenit (Analoges gilt für Ca 3 (As0 3 ) 2 , Na 2 As0 2 (OMe) bzw. Me 2 AsO(OH)) dienen zur Vernichtung von Unkraut und Pflanzenschädlingen sowie zur Dämmung des Wachstums von Wasserpflanzen. Die giftige Farbe „Schweinfurter Grün" Cu 2 AsO 3 (Ac) ist eine Verbindung aus Kupferarsenit Cu 3 (As0 3 ) 2 und Kupferacetat CuAc 2 . Auch sekundäres Kupferarsenit C u H A s 0 3 („Scheeles Grün") war früher als Farbe in Gebrauch.
Diarsenpentaoxid As 2 0 5 (,,Arsenpentaoxid"). Darstellung. As 2 0 5 kann nicht wie P 2 O s durch Verbrennung des Elements an der Luft erhalten werden (2As + 2j02 -> As 2 O s + 925.49 kJ), da die Oxidation hier nur bis zum Trioxid A s 2 0 3 führt. Dies wird dadurch bedingt, dass das exotherme Gleichgewicht A s 2 0 3 + 0 2 As 2 O s + 268.08 kJ bei der mit der As 2 0 3 -Bildung verknüpften hohen Verbrennungstemperatur (AH{ = — 657.41 kJ/mol) bereits ganz auf der linken Seite liegt. Bei niedrigeren Temperaturen (z.B. 200°C) ist die Oxidation zu As 2 O s selbst bei hohen Drücken (3000 bar) gehemmt (vgl. hierzu SO 2 -Oxidation, S.583). Arsenpentaoxid lässt sich jedoch durch Entwässern von Arsensäure (Erhitzen auf 300°C bzw. Behandeln mit P 2 O s bei 10~ 2 mbar und 50°C) gewinnen. 2H As
A
3H O.
(2)
Eigenschaften (Tab. 88). A s 2 0 5 fällt gemäß (2) als weiße, feinpulverige, an feuchter Luft unter Bildung von H 3 A s 0 4 (Umkehrung von (2)) zerfließliche Masse an, die durch längeres Tempern bei 600 °C unter Sauerstoffdruck (1600 bar) in kleine nadelige Kriställchen übergeführt werden kann. Arsenpentaoxid ist zum Unterschied von monomolekularem Stickstoffpentaoxid N 2 0 5 sowie von dimolekularem Phosphorpentaoxid (P 2 0 5 ) 2 hochmolekular. Während Stickstoff in N 2 0 5 trigonal-planar von 3 und Phosphor in ^ O 1 0 tetraedrisch von 4 O-Atomen umgeben ist, befindet sich Arsen in (As 2 0 5 ). c
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
845»
zur Hälfte im Zentrum von Sauerstoffoktaedern (im Mischoxid PAs0 5 durch P ersetzt) zur Hälfte im Zentrum von Sauerstofftetraedern (im Mischoxid AsSb0 5 durch Sb ersetzt). Und zwar sind AsO 6 -Oktaeder in cis-Stellung über Ecken zu Oktaederketten verknüpft. Jeder Oktaederstrang ist von vier weiteren, parallel verlaufenden Strängen in der Weise umgeben, dass zwischen den Strängen Sauerstofftetraeder resultieren, deren Zentren von Arsenatomen besetzt sind. Beim Erhitzen auf 300 °C zerfällt Arsenpentaoxid in Arsentrioxid und Sauerstoff: 268.1 k
A
A
und wirkt dementsprechend zum Unterschied von viel beständigerem Phosphorpentaoxid als Oxidations mittel (z. B. Oxidation von HCl zu Cl2). Unter Sauerstoffdruck lässt es sich jedoch bis in die Nähe seines Smp. (740 °C) unzersetzt erwärmen. Wie As 2 0 3 wird auch As 2 0 5 durch Erhitzen mit Kohle leicht zu Arsen reduziert
Arsensäure H 3 As0 4 . Darstellung. Die von Arsenpentaoxid abgeleitete Arsensäure H 3 As0 4 erhält man durch Oxidation von Arsen oder Arsentrioxid mit konzentrierter Salpetersäure: 3AS20
3
+ 4HNO
3
+ 7 H
2
0
6H3As04 + 4NO.
Sie scheidet sich bei starkem Einengen der wässerigen Lösung in Form kleiner, zerfließlicher Kristalle der Zusammensetzung H 3 A s 0 4 • \ H 2 O (Smp. 36.14 °C) ab. Bei niedriger Temperatur (— 30°C) ist noch ein höheres Hydrat H 3 A s 0 4 • 2H 2 O erhältlich. Beim Erhitzen auf 100°C geht sie in As 2 O s • f H 2 O, beim Erhitzen auf 300°C in As 2 0 5 über. Säure-Base-Verhalten. Die Arsensäure ist eine dreibasige, mittelstarke Säure: H3As04 ^ H + + H2As04
3H+ + AsO^
und etwa so stark wie Phosphorsäure ( p ^ = 2.19, pK 2 = 6.94, p ^ 3 = 11.50). Dementsprechend leiten sich von ihr primäre (MH 2 AsO 4 ), sekundäre ( M H A ^ 4 ) und tertiäre (M 3 AsO 4 ) Salze (Arsenate) ab. Der AsO-Abstand im tetraedrisch gebauten As0 4 ~-Ion beträgt 1.74 (ber. für AsO-Einfachbindung 1.87 In ihren Löslichkeitsverhältnissen entsprechen die Arsenate im Allgemeinen den Phosphaten. So fällt z. B. bei Zusatz von Ammoniumchlorid, Ammoniak und Magnesiumsalz zu einer Arsenatlösung das mit dem Ammonium-magnesium-phosphat (S. 798) isomorphe weiße, kristalline „Ammonium-magnesium-arsenat" NH 4 MgAs0 4 aus (HAs0 4 ~ + NH 4 + Mg 2 + -> NH 4 MgAs0 4 + H + ), das analog ersterem beim Glühen in Magnesiumdiarsenat übergeht (2NH 4 MgAs0 4 -> Mg 2 As 2 0 7 + 2 N H 3 + H 2 O) und sich damit ausgezeichnet zur gewichtsanalytischen Bestimmung der Arsensäure eignet. Mit Ammoniummolybdat entsteht in stark salpetersaurer Lösung ein gelber, feinkristalliner Niederschlag der Zusammensetzung (NH 4 ) 3 [As(Mo 3 O 1 0 ) 4 ] (vgl. S.1598). Das Silbersalz Ag 3 As0 4 ist zum Unterschied vom gelben Ag 3 PO 4 rotbraun. Dehydratisierung der primären Arsenate MH 2 As0 4 führt wie im Falle der homologen primären Phosphate MH 2 PO 4 (vgl. S. 798) zu kondensierten „Poly"- und ,,Metaarsenaten" (Strukturen analog Poly- und Metaphosphaten, S. 807), die viel weniger hydrolysestabil als die kondensierten Phosphate sind Redox-Verhalten. Die Arsensäure unterscheidet sich von der Phosphorsäure charakteristisch durch ihr Oxidationsvermögen (vgl. Potentialdiagramm, oben). So führt sie z. B. Schweflige Säure in Schwefelsäure über und macht in Umkehrung von (1) aus angesäuerter Kaliumiodidlösung Iod frei Verwendung. H 3 A s 0 4 wird als Mittel zur Holzkonservierung sowie Baumwollkapselentblätterung eingesetzt. Diarsentetraoxid As 2 0 4 („Arsendioxid") bildet sich im Autoklaven durch 14-tägige Reaktion von As 4 0 6 mit Sauerstoff (50-500bar) bei 260°C in Form hygroskopischer, zu H 3 As0 3 und H 3 As0 4 hydrolysierender, farbloser Kristalle As 2 0 4 = As m As v 0 4 . Das Oxid ist hochmolekular und besteht aus Schichten, die sich aus pyramidalen As m 0 3 - und tetraedrischen As v 0 4 -Einheiten mit gemeinsamen O-Atomen aufbauen (vgl. Fig. 191: die Hälfte der As-Atome in As 2 0 3 ist mit einem zusätzlichen O-Atom verknüpft). Bezüglich der niedermolekularen Oxide As 2 0 7 8 9 vgl. Tab. 88.
3.4.3
Sulfide und Thiosäuren des Arsens
Tetraarsentrisulfid As 4 S 3 wird n a t ü r l i c h i n Form von ,,a- undß-Dimorphit" (Umwandlungspunkt 130 °C) aufgefunden und bildet sich k ü n s t l i c h beim Zusammenschmelzen von Arsen und Schwefelim richtigen Mengenverhältnis. Die Struktur entspricht der von P4S3 (C3v-Symmetrie; analog gebaut ist As4Se3). Mit Schwefel reagiert As 4 S 3 in CS2 zu As 4 S 4 und As 4 S 5 (s. unten).
• 846
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
Tetraarsentetrasulfid As 4 S 4 („Realgar", ,,Rauschrot", „rote Arsenblende", „Rubinschwefel", „Sandarach"). Darstellung. As 4 S 4 kann durch Zusammenschmelzen von Arsen und Schwefel im entsprechenden Mengenverhältnis gewonnen werden Technisch stellt man As 4 S 4 durch Sublimieren eines Gemenges von Arsenkies FeAsS (FeAsS FeS + As) und Schwefelkies FeS 2 (FeS2 FeS + S) her: 4As + As 4 S 4 + 269.2 kJ. Er bildet eine rote, glasige Masse (,,Rotglas") und gibt beim Verreiben ein orangefarbenes Pulver. Beim Erhitzen geht das rote a-As 4 S 4 in schwarzes $-As4S4 über (Ump. 267 0C), das bei 318 0 C schmilzt und bei 565 0 C unzersetzt siedet. Der Dampf besteht im wesentlichen aus As 4 S 4 Molekülen; bei höheren Temperaturen (10000C) enthält er zusätzlich As 2 S 2 . Die Struktur des Realgars As 4 S 4 (a) entspricht der des Schwefelstickstoffs N 4 S 4 , nur bilden in diesem Falle die vier S-Atome wie in a-P4S4 (S. 785) das Quadrat und die vier As-Atome das Tetraeder (analog gebaut ist As 4 Se 4 ). Der AsSAbstand beträgt 2.237, der AsAs-Abstand 2.569 Ä (ber. für AsS-/As As-Einfachbindungen 2.25/2.42 Ä). Die As 4 S 4 -Struktur lässt sich auch im Sinne der Formel (b) von einem As4-Tetraeder ableiten, bei dem in vier der sechs As—As-Bindungen Schwefel eingelagert ist. Außer a- und ß-As 4 S 4 (D2d-Symmetrie) kennt man noch y-As 4 S 4 mit ß-P4S4 Struktur (c) (Cs-Symmetrie; gewinnbar durch Abschrecken einer As4S4-Schmelze; Umkristallisation aus CS2).
Eigenschaften. Mischungen mit Salpeter setzen sich beim Erhitzen unter starker Wärmeentwicklung und blendendweißer Lichterscheinung zu Arsenik und Schwefeldioxid um (As 4 S 4 + 140 2 A s 2 0 3 + 4S0 2 ). Bei der Behandlung von As 4 S 4 mit Piperidin entsteht das Piperidiniumsalz des Ions As 4 Sg" (e), das sich von As 4 S 4 (a) durch Ersatz einer AsAs-Gruppe gegen zwei AsS "-Reste ableitet (analog gebaut ist As 4 Seg"). Es geht beim Ansäuern mit Salzsäure in As 4 S 5 (d) über: As 4 Sg" + 2H + As 4 S 5 + H 2 S. Von M F (M = As, Sb) wird As 4 S 4 in flüssigem Schwefeldioxid zu As 3 S 4 oxidiert (isoliert in Form von gelbem [As 3 S J + [ S ^ 6 ] " ) . Die Struktur des Kations entspricht der des isoelektronischen Moleküls As 4 S 3 (Ersatz eines As-Atoms des As 3 -Dreirings durch S + ). Analog gebaut ist As 3 Se 4 . Verwendung. Rotglas wird hauptsächlich in der Gerberei zur Enthaarung von Fellen (weißes Handschuhleder), in kleineren Mengen in der Malerei und bei Feuerwerksätzen (Weißfeuer) verwendet. Tetraarsenpentasulfid As 4 S 5 bildet sich durch Sulfurierung von As 4 S 3 mit Schwefel, sowie bei der Behandlung von As 4 S 4 zunächst mit Piperidin, dann mit Salzsäure (s. oben) und besitzt die Struktur (d) (analog ist ß-P4S5 gebaut; C2v-Symmetrie; vgl. S.785). Diarsentrisulfid As 2 S 3 („Auripigment", ,,Rauschgelb", ,,gelbe Arsenblende", ,,Orpigment"; häufig kurz ,,Arsentrisulfid" genannt). Darstellung. As 2 S 3 lässt sich durch Zusammenschmelzen von Arsen und Schwefel in dem der Formel entsprechenden Mengenverhältnis darstellen: 2 As + 3S As 2 S 3 + 169 kJ. Auch entsteht es beim Einleiten von Schwefelwasserstoff in eine saure Lösung von Arseniger Säure: 2As(OH) 3 + 3H 2 S As 2 S 3 + 6 ^ 0 (beim Einleiten von H 2 S in eine nicht angesäuerte As(OH) 3 -Lösung fällt As 2 S 3 nicht aus, sondern bildet eine intensiv gelbe, kolloide Lösung; vgl. S. 166). Das in der Technik durch Sublimieren von Arsenik und Schwefel erhaltene ,,Operment" (,,Gelbglas") enthält nur geringe Mengen Trisulfid und besteht im wesentlichen aus unverändertem Trioxid; daher ist es zum Unterschied vom reinen Trisulfid (s. unten) giftig. - Eigenschaften. Arsentrisulfid As 2 S 3 stellt eine zitronengelbe Verbindung dar, die bei 170 0 C in eine rote Modifikation übergeht, bei 327 0 C zu einer roten Flüssigkeit schmilzt und bei Ausschluss von Luft bei 710 0 C siedet. Es sublimiert wie A s 2 0 3 (s. dort) bereits weit unterhalb des Schmelzpunktes. Der Dampf besteht aus As 4 S 6 -Molekülen, die die gleiche Gestalt wie die As 4 0 6 -Moleküle (S. 842) besitzen (AsS-Abstand 2.25 Ä; ber. für Einfachbindung 2.25 Ä). Kristallisiertes As 2 S 3 bildet wie das monokline A s 2 0 3 ein Schichtengitter (vgl. Fig. 191 c; analog gebaut ist As 2 Se 3 ). Unter dem Namen ,,Königsgelb" (reines Arsentrisulfid) und „Operment" (verballhornt aus Auripigment) wird es als Malerfarbe verwendet. Das in der Natur vorkommende Auripigment weist eine schöne goldglänzende Farbe auf. An der Luft brennt As 4 S 6 unter Bildung von As 4 0 6 (As 4 S 6 + 9 0 2 A s 4 0 6 + 6S0 2 ). Da Arsentrisulfid in Wasser und Säuren unlöslich ist, wird es von der Magensäure nicht gelöst, so dass es vom menschlichen Organismus nicht in nennenswerten Mengen aufgenommen wird und daher auch nicht giftig wirkt. Leichtlöslich ist es in Alkalisulfid und Amm o n i u m s u l f i d l ö s u n g e n unter Bildung von Thioarseniten (s. unten). Diarsenpentasulfid As 2 S 5 (häufig kurz ,,Arsenpentasulfid" genannt). Leitet man bei Zimmertemperatur in eine stark salzsaure Lösung von A r s e n s ä u r e in raschem Strome Schwefelwasserstoff ein, so fällt
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
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alles Arsen als hellgelbes Pulver der Zusammensetzung As 2 S 5 aus: 2 H 3 A s 0 4 + 5H 2 S -> As 2 S 5 + 8 H O . Das rasche Einleiten von H 2 S ist erforderlich, damit die primär gemäß H 3 A s 0 4 JJ^S -> H 3 A s 0 3 S + H 2 O entstehende ThioarsensäureH 3 AsO 3 S weiter zu H 3 AsS 4 (2H 3 AsS 4 -> 3H 2 S + As 2 S 5 ) sulfuriert wird, bevor sie gemäß H A ^ ^ ^ ^ H 3 A s 0 3 + S zerfällt und damit zur Bildung von A S 2 S 3 + 2S an Stelle von As 2 S 5 Veranlassung gibt: H 3 A s 0 3 + 3H 2 S 3 H 2 0 + H 3 AsS 3 (2H 3 AsS 3 3H 2 S + As 2 S 3 ). Das bei 100°C in As 2 S 3 und Schwefel zerfallende As 2 S 5 ist in Wasser und Säuren unlöslich. In A l k a l i s u l f i d l ö s u n g e n i s t es analog dem Arsentrisulfidleicht unter Bildung von Thioarsenaten löslich (s. nachfolgend). Thioarsenite und Thioarsenate. Arsentrioxid und Arsenpentaoxid setzen sich als Säureanhydride leicht mit Alkalien unter Bildung löslicher A r s e n i t e und A r s e n a t e um: AS 2 0 3 + 6OH~
2AsO3_ + 3 H O ;
A s 2 0 5 + 6OH~
2As03_ + 3 ^ O .
Noch stärker ausgeprägt ist dieser ,,saure C h a r a k t e r " bei den entsprechenden S u l f i d e n . So lösen sich diese z.B. in S u l f i d l ö s u n g e n ganz entsprechend unter Bildung von Thioarseniten AsS 3 _ und Thioarsenaten AsS 4 _ auf (mit Alkalien M J OH entstehen ,,Oxothioarsenite" bzw. ,,Oxothioarsenate" AsOS3_, As0 2 S3_ bzw. AsOS3_, As0 2 S3_, AsO,S3_): 2AsS3_ + 3 H S ;
AS2S3 + 6SH~
As 2 S 5 + 6 S H ~
2AsS3_ + 3 ^ S .
Behandelt man A r s e n t r i s u l f i d mit s c h w e f e l h a l t i g e n Sulfidlösungen (z. B. „gelbem Schwefelammon", d.h. Polysulfidlösungen), so bilden sich infolge Anlagerung von Schwefel nicht T h i o a r s e n i t e , sondern Thioarsenate AS2S3 + 6 S H - + 2 S
2AsS3_+
3 ^ S .
Der AsS-Abstand im tetraedrischen Thioarsenat-Ion AsS3_ beträgt 2.22 Ä und entspricht damit einer Einfachbindung. Das AsS3_-Ion bildet wie das AsO3_-Ion eine trigonale Pyramide (As an der Spitze). Vom Thioarsenit leiten sich Polythioarsenite [AsS 2 ] x ab (Struktur: —S—AsS—S—AsS—S—AsS—; auch geschlossen zum 6 gliederigen Ring), vom Thioarsenat Metathioarsenate [AsS 3 ]„ mit sechs- und achtgliederigen As„S„-Ringen (n = 3, 4; Sessel- bzw. Kronenform; analog [AsSe 2 ] „ [ A s S e ^ j J . Als weitere Thioarsenite seien genannt As 8 Sj 3 (K-, Rb-Salz: As 3 S 3 -Ringe enthaltende Doppelkette; Cs-Salz: As 4 S 4 Ringe enthaltende Schicht), SAsS^ (Alkalimetallsalze: abgeleitet von S s durch Ersatz eines S-Atoms gegen eine SAs-Gruppe), A s 2 ( s e s s e l f ö r m i g e r As(S 2 ) 2 As-Ring; die As-Atome tragen exoständige SAtome), AS 2 S 4 _ (planarer As(S) 2 As-Ring; die As-Atome tragen exoständige S-Atome in cis-Stellung). Die aus den Thioarseniten und Thioarsenaten bei der Umsetzung mit HCl in Et 2 O entstehnden etherischen Lösungen der f r e i e n S ä u r e n H 3 A s S 3 undH 3 AsS 4 sindnicht sehr b e s t ä n d i g , sondern zerfallen schon bei tiefen Temperaturen unter S c h w e f e l w a s s e r s t o f f a b s p a l t u n g und Bildung der „Anhydrosulfide" A S 2 S 3 und As 2 S 5 : ^
3H
2
S + AS2S3;
2H3AsS4
3H2S + As2S5.
Der Vorgang entspricht der - weniger leicht erfolgenden - Abspaltung von Wasser aus den wässrigen Lösungen der S a u e r s t o f f s ä u r e n unter Bildung der Anhydride A s 2 0 3 und A s 2 0 5 : 2 H 3 A s 0 3 1) mit Ketten, Ringen, Käfigen aus miteinander einfach oder doppelt verknüpften As-, Sbbzw. Bi-Atomen. - Stabilitäten In der dreiwertigen Pentelstufe erniedrigt sich die EC-Bindungsenergie mit zunehmender Ordnungszahl des Pentels E (Analoges gilt für die EH- und EE-Bindungsenergie). Sie beträgt für EMe3 314(N), 267(P), 229(As), 214(Sb), 141 kJ/mol (Bi) und für EPh3 280(P), 267(As), 244(Sb), 177 kJ/mol (Bi). Obwohl die EPh-Bindungen im Mittel stärker sind als die EMe-Bindungen, werden sie durch Säuren in der Regel rascher als letztere gemäß: ^E—R + HX -> ^E—X + H—R gespalten (kinetischer Effekt). In der fünfwertigen Pentelstufe ändert sich die Stabilität von E R wie folgt: NR 5 (unbekannt) « P R 5 > AsR 5 < SbR5 > BiR5 (bezüglich einer Erklärung vgl. S.311; z.B. AsMe5/SbMe5/ BiMe5: Zersetzung um 100°C/Zersetzung über 100°C/Zersetzung unterhalb Raumtemperatur). Für Verbindungen R„EX5_„ (X = H, Halogen) erhöht sich die Stabilität mit der Zahl der Organylgruppen (z. B. R4BiCl und R3BiCl2 gewinnbar, R2BiCl3 und RBiCl4 nicht) und mit abnehmender Ordnungszahl des Halogens. - Die praktische Bedeutung von EmR„ ist wegen der schwierigen Handhabung und hohen Toxizität vieler Verbindungen gering (das Interesse an den pharmakologischen Wirkungen einiger Arsenorganyle ist nach Entdeckung der Antibiotika geschwunden). Arsenorganyle spielen als Liganden in katalytisch wirksamen Komplexen sowie als Komponenten des MOCVD-Verfahrens (metal-organic chemical vapor deposition) eine gewisse Rolle.
Organylarsane, -stibane, -bismutane und Derivate R„EX3-n In Analogie zu N H und P H leiten sich von AsH3, SbH3 und BiH3 organische Verbindungen R„EH3-„ ab, die als primäre (n = 1), sekundäre (n = 2) und tertiäre (n = 3) Arsane, Stibane und Bismutane bezeichnet werden. Die Darstellung von R„EH3_„ sowie der Halogenderivate R„EHal3_„ erfolgt hauptsächlich durch Organylidierung von EHal3 (bzw. E 2 0 3 ) mit Grignard-Verbindungen RMgBr bzw. anderen R Überträgern (z.B. LiR, A^R5, PhSi(OEt)3, CpSiMe3), durch Hydrierung von R„EHal3_n bzw. R„EO(OH)2_„ (s. u.), durch Substitution von R in E R gegen Halogen (Einwirkung von Hal2, HHal, EHal3), durch Direktsynthese (z. B. 2As + 3 M e B -> Me2AsBr + MeAsBr2) bzw. durch Zersetzung fünfwertiger Verbindungen R^EHalj^ (s. weiter unten) EHal3 ER
nRMgB
——> R„EHal3_„;
- «MgBrHal
+ nHHal -nRHal
> R,EHal/REHal,;
REHal.
LiAl
REHal 2 /R,EHal 3
-RHal
> R,EHal/REHal,.
Auch lassen sich die aus R 2 EH mit Na in THF erzeugbaren Natriumverbindungen R 2 ENa gemäß Hal EN ER NaHal weiter umsetzen Eigenschaften Bezüglich einiger Kenndaten von H-haltigen und -freien Methyl-, Phenyl- sowie Cyclopentadienylarsanen, -stibanen und -bismutanen vgl. Tab.89. Die Hydride R„EH3_„ (« = 1, 2, 3) sind (i) mehr oder weniger luftempfindlich ( R E H , REH 2 > EMe3 > EPh3; BiR > S b R > AsR3; SbMe3 und BiMe3 verhalten sich pyrophor), (ii) giftig93 (flüchtige > nicht flüchtige Spezies; ClHC=CH—AsCl 2 , gewinnbar aus AsCl3 und H C = C H , wurde im 1.Weltkrieg als Kampfgas,,Lewisit" eingesetzt), (iii) meist wasserbeständig und (iv) thermostabil (ER) bis -labil (REH 3 _ n ; Dismutierung und Zerfall, z.B.: 3Me3-„BiH„ ^ {«BiH3 + (3-n)BiMe3} «Bi + 3/2n H 2 + (3-n)BiMe3; Cp3Bi ^ Cp2 + ^ ( C p B ^ ) . Siewir-
52
Geschichtliches D u r c h Erhitzen von Arsenik mit Kaliumacetat erhielt der französische Chemiker und Apotheker Louis Claude Cadet de Gassicourt (1731-1799) 1760 gemäß As 2 0 3 + 4 C H 3 C O 2 K (CH 3 ) 2 As—O—As(CH 3 ) 2 + 2K 2 CO 3 + 2 C 0 2 mit dem äußerst unangenehm riechenden, selbstentzündlichen, flüssigen Bis(dimethylarsanyl)oxid (Me 2 As) 2 O (,,Kakodyloxid"; Smp. - 25°C, Sdp. 120°C; Dimethylarsanyl Me 2 As = „Kakodyl" von kakados (griech.) = stinkend) erstmals eine arsenorgansiche Verbindung (zugleich erste metallorganische Verbindung). Die Reaktion, bei der auch andere Organoarsen-Verbindungen entstehen wie widerlich riechendes giftiges ,,Dikakodyl" Me 2 As—AsMe 2 (,,Cadet'sche Flüssigkeit"), dient heute zum analytischen Nachweis von Arsen und Essigsäure („Kakodyloxid-Probe"). 93 Physiologisches Flüchtige Arsen-, Antimon- und Bismutorganyle sind giftig85. Vergiftungserscheinungen in Räumen, deren Tapeten in früheren Zeiten Schweinfurter G r ü n Cu 2 (AsOJXCHJCOJ enthielten, wurden durch AsMe 3 verursacht, das als Stoffwechselprodukt tätiger Schimmelpilze (Penicillium brevicaule) entsteht.
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
855»
ken als extrem schwache Brönsted-Basen (die Reaktion mit starken Säuren führt zur Abspaltung von H 2 bzw. RH) sowie schwache Brönsted-Säuren (Bildung von R 2 EM bei Einwirkung von MNR 2 bzw. MR, aber auch von Alkalimetallen M auf R 2 EH). Sie stellen keine Lewis-Säuren dar (keine Bildung von ER~ aus ER 3 + R~), bilden aber als gute Lewis-Basen Onium-Verbindungen ER^ sowie Komplexe L„MER3 ( R E H sowie R E H wirken insbesondere in deprotonierter Form als Liganden). Die Komplexe werden in der Technik zum Teil (E = As) als Liganden in katalytisch wirksamen Katalysatoren verwendet (z. B. zur Olefinhydrierung, -hydroformylierung, -carbonylierung; zur Isoprenisomerisierung). Entsprechend der Abnahme der Basizität in Richtung PR 3 > AsR3 > SbR3 > BiR3 sinkt die Komplexbildungstendenz in gleicher Richtung (Bismutan-Komplexe sind selten, z. B. (CO)5CrBiPh3). Besonders stabile Komplexe erhält man naturgemäß mit mehrzähnigen Liganden wie ,,o-Phenylen-bis(dimethylarsan)" Me2As—C6H4—AsMe2. Die Oxidation von E R führt mit Sauerstoff bzw. Halogenen u. a. zu R 3 EO bzw. R 3 EHal 2 , die Reduktion mit Alkalimetallen zu R 2 EM. Die Halogenide R„EHal3_„ (« = 1,2) vermögen als Lewis-Säuren Halogenide von Donoren aufzunehmen (die Acidität wächst in Richtung R„AsHal3_„ < R„SbHal3_„ < R„BiHal3_„ und in Richtung R 2 EHal < REHal 2 ) und als Lewis-Basen Halogenid an Akzeptoren abzugeben: Hal - Hal"
+Hal R^
|
Hal
R
Hal (pseudo-trigonal-bipyramidal)
(meist donorstabilisiert; vgl. S. 835)
Die Reduktion von R„EHal3_„ mit Alkalimetallen führt auf dem Wege über Verbindungen mit E—EBindungen (S. 857) zu Alkalimetallsalzen wie R 2 EM, die Oxidation mit Hal2 zu R„EHal5_„. Die Halogenide hydrolysieren auf dem Wege über wenig charakterisierte Hydroxide R„E(OH)3_„ (« = 1,2) unter Bildung von Kondensationsprodukten R 2 E — 0 — E R (vgl „Kakodyloxid"93) und (REO),. Die Ester R„E(OR)3_„ der betreffenden Hydroxide (Arsonige, Stibonige Säuren RE(OH) 2 , Arsinige, Stibinige Säuren R 2 EOH) entstehen durch Alkoholyse von R„EHal3_„. In einigen Fällen erhält man die Ester auch durch Oxidation von ER mit Sauerstoff. Strukturen Die Spezies R ^ E X ^ (E = As, Sb, Bi) weisen pyramidalen Bau auf mit E an der Pyramidspitze (z.B.: ^ C E C in AsR 3 /SbR 3 /BiR 3 (R = para-ClC 6 H 4 ) = 102/97/93°; chirale Moleküle sind konfigurationsstabil). In Cyclopentadienylverbindungen R 2 ECp (Cp = C5H5) erfolgen im Sinne von (a) 1,2-Umlagerungen der R2E-Reste um die f/'-gebundenen Cp-Reste (trifft für alle Cp-Reste in ECp3 zu; die Umlagerungsgeschwindigkeit wächst in Richtung AsCp3 < SbCp3 < BiCp3). Im Kation Cp 2 E + liegen die Cp-Reste gemäß (b)»/5-gebunden vor, wobei der W i n k e l mit wachsendem Raumbedarf der substituierten Cp-Reste zunimmt (z. B. (C5Me?)2Sb+/(C5H5«Bu3)2Sb+: a = 154/179°, vgl. S. 1037). Ph 2 SbF bildet ein Kettenpolymeres (c) mit pseudo-trigonal-bipyramidalem Sb- und axialen F-Atomen (SbFSb-Winkel 140°).
Ph \ ER,
Ph / ^F Sb' "Sb
Ph \
Ph I Sb
/
Ph H
H
Ph
H
(a) CpER 3 (E = As, Sb, Bi)
(c) [Ph2SbF]x
(b) Cp 2 E+
Organylarsorane, -stiborane, -bismorane und Derivate R„EX5_„ Die Darstellung der organischen Arsorane, Stiborane und Bismorane sowie ihrer Halogenderivate R„EHal5_„ (E = As, Sb, Bi; die Halogenderivate R2BiHal3 und RBiHal4 sowie Wasserstoffderivate R„EH5_„ sind noch unbekannt) erfolgt durch Addition von Halogenen oder Organylhalogeniden an R„EHal3_„ (anstelle von RHal dienen auch andere Organylierungsmittel) sowie Organylidierung der fünfwertigen Halogenverbindungen z. B. mit Lithiumorganylen: + Hal, o d + RHal
_ (« = 3,2,1)
,
+ LiR; - LiHal
_
(« = 4,3,2,1)
( K
,
n = 33 44); '
ER
Eigenschaften Bezüglich einiger Kenndaten von Pentamethyl- bzw. Pentaphenylarsoran, -stiboran, -bismoran vgl. Tab. 89. Die Verbindungen R„EHal5_„ mit fünfwertigem As, Sb, Bi thermolysieren mehr oder
• 856
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
weniger leicht unter Eliminierung von Organylgruppen (ER5) bzw. Halogen oder Organylhalogenid (Umkehrung der Bildung von R ^ E H a l j J zu Arsanen, Stibanen, Bismutanen R „ E H a l ^ mit dreiwertigen Pentelen, d. h. unter Reduktion (Stabilitäten: AsR 5 > SbR 5 >> BiR5; E(Aryl)5 > E(Alkyl)5). Die Luftempfindlichkeit von E R ist deutlich geringer, die Wasserempfindlichkeit größer als die von E R (z. B. AsM M A OH MeH). Die Pentaorganyle wirken sowohl als Lewis-Säuren wie -Basen und bilden mit Donoren bzw. Akzeptoren für Organylanionen Hexaorganylarsenate(V), -antimonate(V), -bismutate(V") E R bzw. Tetraorganylarsonium, -stibonium, -bismutonium ER" (z. B. EPh 5 + LiPh -> Li+EPh^; EPh 5 + BPh 3 /Cl 2 /HCl -> Ph4E + BPh4~ /CV + PhCl/PhH): -
ER
ER 6 .
In entsprechender Weise lassen sich Halogenide R^EHalj^ mit Halogendonatoren oder -akzeptoren in R„EHal6~_„ oder R„EHal4+_„ überführen ( R E H a l liegt bereits ionogen vor). Die quartären Arsoniumhalogenide R 4 As + Hal~ dienen wie die entsprechenden Phosphoniumsalze (S. 819) als wertvolle Fällungsreagenzien für große Anionen (wichtig: Ph 4 As + Hal~) sowie als Edukte für die zu Wittig-Reaktionen befähigten Alkylidenarsane („Arsen-Ylide") R 3 As—CR (z. B. Ph 3 AsCH 3 + Br~ + NaNH 2 ^ Ph 3 As—CH 2 (Smp. 74°C) + NaBr + N H ) . Es lassen sich auch Alkylidenstiborane und -bismorane^^L—CR erzeugen. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Verbindung MePh 2 As—C—AsPh 2 Me (gewinkelt) und (Me3Si)2C—As(Ph)—C(SiMe3)2 (planar). Die Hydrolyse von E R und R 4 EHal führt zu Tetraorganylarsonium, -stibonium, -bismutoniumhydroxidenRfi+OH" (z. B. EMe 5 + H 2 0 Me 4 E+OH~ + MeH; R E + H a P + H 2 0 R 4 E+OH~ + HHal), die von R 3 EX 2 , R E X und R E X (E = As, Sb) in mehr oder weniger reversiblen Reaktionen zu organischen Derivaten RjEO, R 2 EO(OH) (amphoter) und REO(OH)2 (polymer für E = Sb, Bi) der unbekannten Arsan-, Stiban-, Bismutanoxide H 3 EO, der unbekannten Arsin-, Stibin-, Bismutinsäuren EO(OH) und der unbekannten Arson-, Stibon-, Bismutonsäure HE(OH) (organische Derivate der Arsonsäure bilden sich auch durch Einwirkung von RHal („Meyer-Reaktion") oder ArN^Cl" („BartReaktion") auf A S 2 0 3 in alkalischer Lösung, d. h. auf Arsenit: AsC>3~ + R—Br -> R A s O + Br~). Verwendung Substituierte Arylarsonsäuren werden in begrenztem Umfang zur Behandlung der Spätstadien der Schlafkrankheit eingesetzt (,,Atoxyl" p-H 2 NC 6 H 4 AsO(OH)(ONa) wurde früher zur Bekämpfung der Trypanosomen, der Erreger der afrikanischen Schlafkrankheit, genutzt (H.W. Thomas 1905)). Die betreffenden Säuren dienen zudem als Herbizide, Fungizide, Bakterizide (gegen Amöbenruhr). Auch findet die mäßig starke Phenylarsonsäure PhAsO(OH) 2 als Fällungsreagens für vierwertige Metallionen wie Sn(IV), Zr(IV), Th(IV) Verwendung Strukturen Die Verbindungen E R (E = As, Sb, Bi) sind teils trigonal-bipyramidal (d), teils quadratischpyramidal (e) strukturiert, wobei die axialen Bindungen E-Cax in ersteren Fällen (D3h-Symmetrie) länger, in letzteren Fällen (C4v-Symmetrie) kürzer sind als die äquatorialen (basalen) Bindungen E-Cäq (z. B. EC ax /EC äq in SbMe 5 2.264/2.140 Ä, in BiMe5 2.30/2.27 Ä, in SbPh 5 2.115/2.216 Ä, in BiPh5 2.221 /2.321 Ä). Der Energieunterschied zwischen der TBP- und der QP-Struktur ist gering (laut Berechnung für gasförmiges SbMe 5 ca. 7 kJ/mol), sodass Pentaarylstiborane sowie -bismorane zum Teil TBP-Konformation aufweisen (z. B. festes SbPh5 - Vi C6H12, Sb(/>-Tol)5, Bi(/>-Tol)5), zum Teil QP-Konformation (festes SbPh5, BiPh5; BiPh5 bildet in Lösung eine Mischung beider Konfomeren). Auch verhalten sich die Pentaorganyle fluktuierend (vgl. Berry-Pseudoreaktion, S. 782). Die von E R abgeleiteten Ionen E R bzw. E R weisen tetraedischen bzw. oktaedrischen Bau auf. Chirale Arsonium- und Stiboniumionen sind konfigurationsstabil R
R
R \ I /E—R
I
R (d) E M e 5 , A s P h 5
R R^ ^
R R (e) SbPh 5 , BiPh 5
R
I Sb R
R
I/
R
Sb R
(f) [R 4 SbF] x (R z.B.Me)
C K ^
I/
R
C K
I
R
R
/Cl
Sb
(g) [R 2 SbCl 3 ] 2 (R z.B.Me, Ph)
Die Halogenide R4EHal sind gemäß R E + H a l ~ ionisch gebaut (Hal = Cl, Br, I), gelegentlich aber auch polymer (Hal = F) wie im Falle von Me 4 SbF (f). R3EHal2 und wohl auch viele Halogenide R2EHal3 weisen trigonal-bipyramidale Struktur (d) mit axial gebundenen Hal-Atomen auf. Die Verbindungen M SbC und P SbC sind im Kristall dimer (g), in Lösung monomer Farbe von Bismoranen. Erwähnenswerterweise ist BiPh5 im Unterschied zum farblosen SbPh5, AsPh 5 und PPh 5 violett bei quadratisch-pyramidalem Bau bzw. orangefarben bei trigonal-bipyramidalem Bau
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
857»
Tab. 89 Kenndaten einiger Verbindungen EmR„ (zum Vergleich EH 3 ) des Arsens, Antimons und Bismuts (E) (K = Kristall, Fl. = Flüssigkeit, Z = Zersetzung, RT = Raumtemperatur).
E„R,
Farbe
E = As Smp./Sdp. [°C] a) b)
EH3 MeEH 2 MejEH EMe 3 EPh 3 ECp 3 d) EM EP M EM P EP R^—ER' 1
Farbl. Gas Farbl. Gas Farbl. Fl. Farbl. Fl. Farbl. K. Hellgelbe K. Farbl Fl. Farbl K. Farbl Fl. Farbl K. Blassgelbe K.
— 117/ —62.5 —143/2 — 136/37 — 87.3/52 60.8/233 49/—6/100 139.5 —6/165 127 186/-
_
+ + + + — — +
-
-
+ — — + + + -
-
Farbe
E = Sb Smp./Sdp [°C] a) b)
Farbl Gas Farbl Gas Farbl Fl. Farbl Fl. Farbl K. Gelbe K. Farbl Fl. Farbl K. Gelbe Fl Gelbe K. Orangef. K.
— 88.5/—17.0Z — /41.0 Z 30/678CJ —62/80.6 53.5 230 56 — 19/127 171 17.5/160 122 210/-
_
+ + + + + + — — + +
-
-
+ +
+ + +
+
-
Farbe
E = Bi Smp./Sdp [°C] a) b)
Farbl Gas Farbl Fl. Farbl Fl. Farbl Fl. Farbl K. Rote K.c> Violette K. Orangef. K. g l Rote Fl Orangef. K. Rote K.
ZRT/16.8 C ) Z — 45/72.0 c) Z — 15/103c> —68/109 77.6/242 RTZ RTZ RTZ — 12.5/RTZ 100 Z / 219 Z/ -
a) L u f t e m p f i n d l i c h k e i t . - b) W a s s e r e m p f i n d l i c h k e i t . - c) E x t r a p o l i e r t . - d) C p = C 5 H 5 ; fluktuierend. s i c h bei 15 ° C r e v e r s i b e l ^ F l u k t u i e r e n d s e l b s t b e i — 9 5 ° C . - g) Bei t r i g o n a l - b i p y r a m i d a l e m B a u violett p y r a m i d a l e m B a u . - h) T h e r m o c h r o m . - i) R = 2 , 6 - M e s 2 C 6 H 3 ; P 2 R 2 ist farblos.
+ + + + + + + + + + +
_ + + + + + + +
+
- e) V e r w a n d e l t bei q u a d r a t i s c h -
(Tab. 89). Nach quantenmechanischen Berechnungen halten sich die Elektronen im obersten elektronenbesetzten Molekülorbital (HOMO) von quadratisch-pyramidal- bzw. trigonal-bipyramidal-gebautem hypothetischem - BiH 5 (C 4v - bzw. D 3h -Symmetrie) bevorzugt am Wasserstoff (Liganden-MO), im untersten elektronenleeren Molekülorbital (LUMO) bevorzugt am Bismut auf (Bismut-MO mit vorwiegend 6 s und 6p Charakter). Die langwelligste Elektronenanregung von BiH 5 entspricht somit gemäß BiH 5 + hv -> BiH 4 H + einer Ladungsübertragung (charge-transfer) auf Bismut. Der HOMO/LUMOEnergieabstand liegt für beide BiH 5 -Konformationen außerhalb des sichtbaren Bereichs im Ultravioletten (in Richtung BiH 5 , SbH 5 sowie in Richtung BiH 5 , BiF5 vergrößert sich der HOMO/LUMO-Abstand). Relativistische Effekte (vgl. S. 340) führen zu einer LUMO-Absenkung und damit insgesamt zu einer HOMO/LUMO-Energieannäherung, was Farbe für BiH 5 und organische Bismorane zur Folge hat. Der HOMO/LUMO-Energieabstand ist für quadratisch-pyramidale Bismorane kleiner, das Ausmaß der relativistischen HOMO/LUMO-Energieannäherung größer als für trigonal-bipyramidale, sodass Bismorane mit C4V-Symmetrie tiefer farbig sind als solche mit D 3h -Symmetrie. Wachsende elektronenschiebende Effekte der Bismoran-Substituenten (Ph < Me) führt naturgemäß ebenfalls zur HOMO/LUMO-Energieannäherung und damit zur Farbvertiefung (trigonal-bipyramidal gebautes BiPh 5 /BiMe 5 : orangefarben violett).
Höhere gesättigte Organylarsane, -stibane, -bismutane Während von Phosphor sehr viele Wasserstoffverbindungen P„Hn+m (m = 2, 0, — 2, — 4, ...) erzeugt und nachgewiesen werden konnten (S. 758), ist die Zahl charakterisierter Arsen-, Antimon- und Bismutwasserstoffe (AsH 3 , A S 2 H 4 , A S 3 H 5 , SbH 3 , Sb2H4, BiH3) klein. Entsprechendes gilt nicht für die deutlich thermostabileren Organylderivate E„Rn+m der „höheren" Arsane, Stibane und Bismutane E„Hn+m (E = As, Sb, Bi; m = 0, — 2, — 4, ...). Ihre Darstellung erfolgt ähnlich wie die der höheren Organylphosphane (s. dort) u. a. auf dem Wege einer Enthalogenierung (Reduktion) geeigneter organylgruppenhaltiger Vorstufen mit Alkali-, Erdalkali-, Zinkgruppenmetallen und anderen Reduktionsmitteln wie Na 2 S 2 0 4 in organischen Medien oder flüssigem Ammoniak. Hierbei entstehen aus Monohalogeniden R 2 EHal gemäß 2R 2 EHal + 2M
R 2 E—ER 2 + 2MHal
(R z.B. Me, Ph; E = As 93 , Sb, Bi; M = Li, N a ViMg) Diarsane, Distibane und Dibismutane, aus Gemischen von Mono- und Dihalogeniden R 2 EHal/REHal 2 acyclische Verbindungen R 2 E(ER),ER 2 ^ = 1, 2, 3 ...), aus Dihalogeniden REHal 2 cyclische Spezies (ER) (p = 3, 4, 5, 6, ...; wachsender Raumbedarf von R führt zur Bildung kleinerer Ringe), aus Gemischen von Di- und Trihalogeniden REHal 2 /EHal 3 oligocyclische (käfigartige) Verbindungen. Das durch Reduktion von ArAsO(OH) 2 (Ar = 3-Nitro-4-hydroxyphenyl) in Wasser mit Na 2 S 2 0 4 bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hergestellte Verbindungsgemisch (AsAr)p (p = 5, 6, 7) wurde früher als Salvarsan ( = ,,heilendes Arsen") gegen den Erreger der Syphilis eingesetzt (P. Ehrlich, 1909). Zu höheren Arsanen, Stibanen und Bismutanen führen darüber hinaus viele weitere Methoden, z. B. die Oxidation der Hydride R 2 EH, R E H bzw. der Anionen R 2 E~, REH~, RE 2 ~ mit Sauerstoff, Halogenspendern wie ClCH 2 CH 2 Q und anderen Oxidationsmitteln (z. B. 5MeEH 2 + 5R 2 Hg -> (EMe)5 + 10RH + 5Hg mit E = As, Sb); des weiteren liefern Komproportionierun-
• 858
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
gen wie Me2AsCl + HAsMe 2 -> Me2As—AsMe2 + HCl höhere Pentelane. Einige neben acyclischen Verbindungen R 2 E(ER) p ER 2 (p = 0, 1, 2, ...) auf diese Weise erzeugte cyclische Spezies E„Rn+m sind in nachfolgendem Formelschema wiedergegeben monocyclisch undpolymer für m = 0: (h), (i), (k), (l), (m); bicyclisch für m = - 2: (n), (o), (p); tricyclisch für m = - 4 (q), (r) (Dsi = CH(SiMe3)2). R I
E ^ E
R
R
E C ^ 1 \--E-— E
- E O
Me N Me N N
R
z.B. AS31BU3, Sb3Dsi3, B13DS13 (h)
z.B. As4 tB u 4 , Sb41BU4, Bi4Dsi4 (1) ER r\ JE-
^ER
REs.
RE' I RE-
E
R ER I "ER
Me N
z.B. A s s Ph 6 , Sb 6 Ph6 (l)
R
RE
'
\®E
,E—ER R
RE—Ev R
Sby Dsi 5 (o)
AS41 B U 2 (n)
z.B. A s 5 M e 5 , Sb 5 1 Bu 5 (k)
E
A s s t B u s , Bi 8 {Sn(SiMe 3 )3}6 (P)
As—As> Äs—As,s As—As
"Me Me
^>Me
( A s Me), (m)
ER 1
A s 7 ( S i M e 3 )3 (q)
R E ^ J ^ RE
I ^ER E
Sb8 DSI4 (r)
Eigenschaften Bezüglich einiger Kenndaten von Tetramethyl- sowie Tetraphenyldiarsan, -distiban und -dibismutan vgl. Tab. 89. Zentrum der chemischen Reaktion der höheren Arsane, Stibane und Bismutane sind die schwachen, in Richtung As—As > Sb—Sb > Bi—Bi schwächer werdenden E—E-Bindungen. Demgemäß führt die Umsetzung von Me2As—AsMe2 mit Natrium, dem Acetylen R C = C R (R = CF3) oder dem Carbonyl (CO) M Mn(CO) zur Spaltung der AsAs-Bindung (Bildung von NaAsM (Me 2 As)RC=CR(AsMe 2 ), (CO)4Mn(AsMe2)Mn(CO)4); auch liegen Diarsane As2R4 mit voluminösen Organylgruppen wie R = CH(SiMe)2 gespalten als Arsanylradikale AsR2 vor. Die Reaktivität der E—EBindungen zeigt sich auch darin, dass sich cyclische Verbindungen (ER), bestimmter Ringgröße in Lösung - nach bisher unbekannten Mechanismen (vgl. Schwefelringe, S. 554) - rasch in ein Gleichgewichtsgemisch von Cyclen unterschiedlicher Gliederzahl bzw. in Polymere umwandeln (z. B. (AsMe): /> = 3, 4, 5; (SbEt)p: p = 4, 5, x; (Sbpara-Tol): /> = 6, 5; (AsiBu): /> = 3, 4, 5; (SbiBu): p = 4, 5; B ^ C H ^ M e ^ : p = 3,4, 5; B ^ C H ^ M e ^ ^ : p = 3, 4). Rote bis schwarze Polymere (AsMe).,, (SbR)^ bilden sich aus gelben (ER)-Lösungen u.a. nach Abkondensieren des Lösungsmittels acyclische Verbindungen R 2 E(ER),ER 2 (E = As, Sb) in Lösung durch Reaktion von (EMe)5 mit ^ - E ^ . Ähnlich wie Monoarsane sind die höheren organischen Arsane gute Liganden und bilden Komplexe wie (CO)3M(f/3As5Me5) (M = Cr, Mo, W) oder {(CO)3Fe}2(f/2-As4Me4). Entsprechendes gilt für höhere Stibane und wohl auch Bismutane Strukturen Die Dipentelane Me2E—EMe2 (E = As, Sb, Bi) sind in Lösung sowohl gauche- wie transkonformiert (s) und in der Festphase über schwache Bindungsbeziehungen zu Ketten verknüpft (t). Me I .Me —E Me
Me
Me gauche-
trans- E 2 M e 4 (s)
Me / Me
E - - E Me
Me I .Me E-
/ Me
E 2 M e 4 im Kristall (t
>
Die angesprochenen Wechselwirkungen werden auch bei höheren Arsanen, Stibanen und Bismutanen beobachtet. Sie nehmen bei wachsendem Raumbedarf der E-gebundenen Organylgruppen ab und sind etwa zwischen den (trans-konformierten) Dipentelanen Ph2E—EPh2 sehr klein, zwischen den (AsMe)4Ringen so groß, dass im Sinne des Formelbildes (m) einige intramolekulare Bindungen gleich stark den intermolekularen Bindungen werden. Ist das Verhältnis d^Jd^...^ der Abstände intra- und intermolekularer Bindungen kleiner ca. 1.4, so bezeichnet man die zwischenmolekularen Beziehungen als van-derWaals-Bindungen, ansonsten als Sekundär-Bindungen. Die Ausbildung letzteren Typs von Bindungen ist mit einer bathochromen Verschiebung der Verbindungsfarbe verbunden. Z.B. sind Me2Sb—SbMe2/ Me2Bi—BiMe2 in Lösung oder in der Schmelze blassgelb\rot, als Festkörper (Smp. 17.5/- 12.5°C) dem-
3. Das Arsen, Antimon und Bismut
859»
gegenüber rot/violett (As2Me4 sowie E2Ph4 sind nicht thermochrom). Bezüglich der Strukturen einiger höherer Organylarsane, -stibane und -bismutane, in welchen die Organylgruppen bevorzugt trarcs-Position zueinander einnehmen, vgl. die Formelbilder (h)-(r) (MeC(CH2E)3 mit E = As, Sb weist E3-Ringe mit all-cis-Konfiguration der Organylnachbarn auf).
Ungesättigte Organylarsane, -stibane, -bismutane Die Titelverbindungen sind hinsichtlich einer Oligomerisierung nur dann metastabil, wenn die vom Pentel ausgehenden Bindungen wie im Falle der,,Diarsaethene" („Diarserce") (u),,,Distibaethene" (,,Distibene") (x), ,,Dibismaethene" (,,Dibismuterce") (z), ,,Arsaethene" (,,Alkylidenarsane") (v), ,,Stibaethene" („Alkylidenstibane") (y), ,,Arsaethine" (,,Alkylidenarsane") (w) sterisch abgeschirmt oder wie im Falle der ,,Arsa"-, „Stiba"-, ,,Bismacyclopentadienide" (bb) bzw. „Arsa", ,,Stiba", ,,Bismabenzole" („Arsenine", ,,Stibinine", „Bismine") (dd) Teil eines aromatischen Systems sind. Eine Stabilisierung der ungesättigten Systeme kann darüber hinaus durch Komplexbildung erfolgen (z. B. (CO)4Fe(7i-DsiSb=SbDsi), mit Dsi = CH(SiMe3)2, Cp(CO)Rh(rc-PhAs=CH2). ..
As=As R-" "
/Ph :As^C—R'
W
Ph (R = Mes, iPr) (v) RAsCR' 2
(R = Tsi, Btp, Dmp) (u) As 2 R 2
(R = Mes*) (w) AsCR'
^OH R
S b = Sb "
(R = Tbt, Btp, Dmp) (x) Sb 2 R 2 .. Bi = R
Sb=c^ R
n E' I Ph (aa) PhEC 4 R 4
Cl (cc) ECl(C 5 H 6 )
:Sb=c—R' Mes*
(R = Mes*CO) (y) RSbCR' 2
+2Li j - L i P h (unbekannt) SbCR'
j-HCl
Li
/ R Bi "
(R = Tbt, Dmp) (z) Bi 2 R 2
für Abkürzungen vgl. S.917
(E = N, P, As, Sb, Bi) (bb) [ E C 4 R 4 T (dd) EC5H5
Die Darstellung der ungesättigten Systeme erfolgt, ausgehend von gesättigten Vorstufen, durch Eliminierung u.a. von HX, MX, Me3SiX (X = Halogen, Sauerstoffrest; z.B. (Me3Si)2As—C(O)Mes* -> (Me3Si)As=C(OSiMe3)Mes* -> As=CMes* + Me3SiOSiMe3). Zur Gewinnung der aromatischen Systeme (bb) setzt man Phosphole, Arsole, Stibole, Bismole (aa) (erzeugbar gemäß Cp2ZrC4Me4 (mit ZrC4Fünfring) + PhECl2 -> (aa) + Cp2ZrCl2) mit Lithium in Me2NCH2CH2NMe2 um, zur Gewinnung der aromatischen Systeme (dd) eliminiert man HCl mit Basen aus (cc) (erzeugbar gemäß: H C = C — C = C H + Bu2SnH2 ^ C5H6SnBu2; C5H6SnBu2 + EC13 ^ (cc) + Bu2SnCl2). Eigenschaften, Strukturen Die Farbe der oxidations- und hydrolyselabilen Diarsene, Distibene, Dibismutene RE=ER (trarcs-konfiguriert), die nur bei geeignet großem Raumbedarf von R metastabil sind (vgl. MeAsAsMe (m)), vertieft sich in Richtung RP=PR, RAs=AsR, RSb=SbR, RBi=BiR (R = 2,6M e ^ ^ ^ j : farblos, blassgelb, orangefarben, rot; vgl. Tab. 89). In gleicher Richtung verlängert sich der EE-Abstand (R = 2,6-Mes2C6H3: 1.985, 2.276, 2.656, 2.833 A), wobei die Doppelbindungen jeweils ca. 0.2Ä kürzer sind als die betreffenden EE-Einfachbindungen); auch verkleinert sich der REE-Winkel (R = 2,6-Mes2C6H3: 103.7, 98.5, 94.1, 92.5°), was auf wachsenden s-Charakter der an E lokalisierten freien Elektronenpaare deutet Aus der Gruppe der acyclischen Spezies RE=CR 2 konnten eine Reihe von Arsaethenen, aber nur wenige Stibaetherce und bisher kein Bismaetherc in Substanz isoliert werden (E=C-Abstand in (v) ca. 1.83 Ä, in (y) 2.078 Ä). Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die isolierbaren Allene Mes*P=C=AsMes* und Mes*As=C=AsMes* (gewinkelt) sowie die Butadiene R'(Me 3 SiO)C=Sb—Sb=C(OSiMe 3 )R' mit R' = Mes, Mes*). Cyclische Spezies mit dem Strukturelement —E=CR'— ließen sich mit E = As, Sb, Bi verwirklichen. So kennt man außer Pyridin und Phosphabenzol (S. 820) oxidations- und hydrolyseempfindliche Arsa-, Stiba- und Bismaberczole C5H5E (dd), deren sechsgliedrige Ringe mit steigender Ordnungszahl des Pentels zunehmend verzerrt werden (Winkel CNC/CPC/CAsC/CSbC/CBiC = 117/ 101/97/93/90°; Abstände NC/PC/AsC/SbC/BiC = 1.37/1.73/1.85/2.05/2.17Ä; CC-Abstände ca. 1.40Ä); auch steigt ihre Thermolabilität in gleicher Richtung: Arsabenzol ist bei Raumtemperatur wie Phosphabenzol und Pyridin stabil, Stiba- sowie Bismabenzol polymerisieren leicht und liegen in Lösung als Gleichgewichtsgemisch aus Monomeren und Dimeren vor (außer Arsabenzol kennt man auch ein Arsarcaphthalirc
• 860
XIV. Die Stickstoffgruppe („Pentele")
sowie -anthracen). In Phosphol, Arsol, Stibol und Bismol (aa) sind die Pentelatome - anders als im Phenylpyrol C 4 H 4 NPh mit planarem N-Atom - pyramidal; die Verbindungen sind demgemäß nicht aromatisch. Doch kommen ihnen vergleichsweise kleine Inversionsbarrieren zu. Die Überführung der Spezies (aa) in (bb) ist mit einer Ringaromatisierung verbunden. Unter den Spezies E = C R ' lässt sich das Arsaethin As=CMes* (w) in Form blassgelber, bei 116°C schmelzender Kristalle isolieren (AsC-Abstand = 1.657 Ä; AsCR'-Winkel = 175.9°), während sich As=CiBu bei Raumtemperatur tetramerisiert (vgl. S.821) und A s = C M e nur in Lösung bei — 60°C haltbar ist. Das Arsacyanid C=As" lässt sich in Form eines Addukts [(CF 3 ) 3 B—C=As]" mit B(CF3)3 isolieren Stiba- und Bismaethine sind bisher unbekannt.
Kapitel XV
Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Zur Kohlenstoffgruppe („Tetrele"; 14. Gruppe bzw. IV. Hauptgruppe des Periodensystems) gehören die Elemente Kohlenstoff (C), Silicium (Si), Germanium (Ge), Zinn (Sn) Blei (Pb) und Eka-Blei (Element 114). Sie werden zusammen mit ihren Verbindungen unten (C), auf S. 918 (Si) sowie S. 1002 (Ge, Sn, Pb) und im Kap. XXXVII (Eka-Pb) besprochen. Am Aufbau der uns zugänglichen Erdhülle (Erdrinde, Wasser- und Lufthülle) beteiligen sich die Elemente der Kohlenstoffgruppe mit 0.02 (C), 26.3 (Si), 1.4 x 10~ 4 (Ge), 2 x 10~ 4 (Sn) und 12 x 10~ 4 Gew.-% (Pb), entsprechend einem Massenverhältnis von rund 100 : 130000 : 1 : 1 : 6. Wie in den anderen Hauptgruppen (mit Ausnahme der Sauerstoffgruppe) macht man also die Beobachtung, dass die Elemente der zweiten Achterperiode in der Erdhülle häufiger sind als die der ersten, während bei den Elementen der nachfolgenden Perioden die Häufigkeit stark abnimmt. In keiner Gruppe des Periodensystems ist die Verschiedenheit der Glieder einer chemischen Familie so ausgeprägt wie in dieser IV. Hauptgruppe. So hat das Anfangsglied, der Kohlenstoff, in seinen physikalischen und chemischen Eigenschaften kaum noch Ähnlichkeit mit dem Endglied, dem Blei. Dies hängt mit der starken Zunahme des metallischen Charakters vom Nichtmetall C zum Metall Pb zusammen, da die diagonale Trennungslinie zwischen Nichtmetallen und Metallen der Hauptgruppenelemente - die im Periodensystem von links oben nach rechts unten verläuft (S. 202) - die Kohlenstoffgruppe in der Mitte durchschneidet. Je weiter man sich von der IV. Hauptgruppe nach links oder nach rechts entfernt, um so geringer werden dementsprechend die Unterschiede in den Eigenschaften der zu einer Gruppe gehörigen Elemente, wie etwa die einander so ähnlichen Alkalimetalle Li, Na, K, Rb, Cs, Fr in der I. und die einander so ähnlichen Halogene F, Cl, Br, I, At in der VII. Hauptgruppe des Periodensystems zeigen.
1
Der Kohlenstoff 1 ' 2
Der Kohlenstoff besitzt vergleichbare Affinitäten zu elektropositiven und elektronegativen Elementen. Diese Fähigkeiten, die bei den Nachbarelementen viel einseitiger ausgebildet sind (Li, Be, B hauptsächlich Affinität zu elektronegativen, N, O, F hauptsächlich Affinität zu 1
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862
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
elektropositiven Elementen), sind bei ihm zu harmonischer Vollendung vereint und prädestinieren damit dieses Element zum Träger des organischen Lebens mit seinen vielseitigen Wandlungen der Oxidationsstufen und Verbindungsformen. Hinzu kommt die Allgegenwart des gasförmigen Kohlendioxids, die den Pflanzen (und damit auch der Tierwelt) die Möglichkeit für den Aufbau von Kohlenstoffverbindungen im Ablauf der ,,Assimilation" gibt, zum Unterschied vom nichtflüchtigen Siliciumdioxid, das infolge seines polymeren Charakters (S. 952) nicht für eine analoge Assimilation zur Verfügung steht und daher als Träger des anorganischen „Lebens" zur ,,Petrifizierung" (Gesteinsbildung) führt. Zum näheren Vergleich des Kohlenstoffs mit seinem nächsthöheren Homologen, dem Silicium, vgl. S. 828.
1.1
Das Element Kohlenstoff 1 ' 2
1.1.1
Vorkommen
Kohlenstoff findet sich in der Natur sowohl elementar in Form des Diamanten (Fundstätten: Kongogebiet, Goldküste, Süd- und Westafrika, Brasilien, Sibirien) und des Graphits (Fundstätten: Sri Lanka, Madagaskar, Korea, Zimbabwe, Norwegen, Ostsibirien; geringere Mengen bei Passau in Deutschland) als auch gebunden. In letzterem Zustande kommt er teils im Mineralreich (,,Lithosphäre") in Form von Carbonaten, teils im Pflanzen- und Tierreich („Biosphäre"), in der Luft („Atmosphäre") und im Wasser („Hydrosphäre") in Form von Carbonaten, Kohlendioxid sowie organischen Verbindungen vor. die Himmelssphäre, die zur Erde fiel", Angew. C h e m 104 (1992) 113-133; Int. Ed. 31 (1992) 111; F. Diedrich, Y. Rubin: „Strategien zum Aufbau molekularer und polymerer Kohlenstoffallotrope", Angew. C h e m 104 (1992) 1123-1146; Int. E d 31 (1992) 1101; F.M. McLafferty (Hrsg.): „Fullerenes", Acc. Chem. R e s 25 (1992) 97-175; J.R. Browser: „Organometallic Derivatives of Fullerenes", Adv. Organomet. C h e m 36 (1994) 57-94; W.E. Billups,W.E. Ciufolini (Hrsg.): „Buckminsterfullerenes", VCH, New York 1993; H.W. Kroto, J.E. Fischer, D.E. Cox (Hrsg.): ,,The Fullerenes", Pergamon Press, Oxford 1993; H. Aldersly-Williams: ,,The Most Beautiful Molecule", Aurum Press, London 1995; P.W. Fowler, D.E. Manolopoulos: „An Atlas of Fullerenes", Clarendon Press, Oxford 1995; H. Terrones, M. Terrones, W.K. Hsu: ,,Beyond C60: Graphite Structures for the Future", Chem. Soc. R e v 24 (1995) 341-350; H . H . Stephens, M.L.Green: ,, Organometallic Complexes of Fullerenes", Adv. Inorg. C h e m 44 (1996) 1 - 4 3 ; R.F. Curl: , Ausbruch der Fullerenchemie: Hypothese und Experiment", H.W. Kroto: ,,Symmetrie, Weltall, Sterne und C60", R . M . Smally: ,,Das Entdecken der Fullerene" (Nobelpreisvorträge), Angew. C h e m 109 (1997) 1636-1673; Int. Ed. 36 (1997) 1594; C. Thilgen, A. Herrmann, F. Diederich: „ Die kovalente Chemie der höheren Fullerene C 7 0 und jenseits davon", Angew. C h e m 109 (1997) 2362-2374; Int. E d 36 (1997) 2286; K.-H.Homans: „Fulleren- und Rußbildung - Wege zu großen Teilchen in Flammen", Angew. C h e m 110 (1998) 2572-2590; Int. E d 37 (1998) 2434; A. Hirsch (Hrsg.): „Fullerenes and Related Structures", Topics Curr. C h e m 199 (1999) 1-234; N.Martin, J.L. Segura: ,,[60] Fullerene dimers", Chem. Soc. R e v 29 (2000) 13-25; Ch. A. Reed, R . D . Bolskar: ,,Discrete Fulleride Anions andFullerenium Cations", Chem R e v 100 (2000) 1075-1120; A. Hirsch: , ,Neue Käfige und ungewöhnliche Gäste: Die Fullerenchemie bleibt spannend", Angew. C h e m 113 (2001) 1235-1237; Int. E d 40 (2001) 1195; M.Bühl, A.Hirsch: „ Spherical Aromaticity of Fullerenes", Chem. R e v 101 (2001) 1153-1184; K. Lee, H. Song, J.T. Park: „ [ 6 ^ Fullerene-Metallcluster Complexes: Novel Bonding Modesand Electronic Communication", Acc. Chem. R e s 36 (2003) 78-86; L.T. Scott:,, Methoden zur chemischen Synthese von Fullerenen", Angew. C h e m 116 (2004) 5102-5116. Int. Ed. 43 (2004) 4994; E. Nakamura, H. Isobe: ,,Functionalized Fullerenes in Water. The First 10 Years of Their Chemistry, Biology and Nanoscience". Acc. Chem. R e s 36 (2003) 807-815. -Kohlenstoff-Nanoröhren. M.S. Dresselhaus, G.Dresselhaus, P.C. Eklund: ,,Science of Fullerenes and Carbon Nanotubes", Accad. Press, New York 1996; T.W. Ebbessen: ,,Carbon Nanotubes: Preparation and Properties", CRC-Press, Boca Raton, Florida 1997; P. M.Ajayan: ,,Nanotubes from Carbon", Chem. R e v 99 (1999) 1787-1799; M.Terrones, W.K.Hsu, H.W.Kroto, D . R . M . W a l t o n : ,,Nanotubes: A Revolution in Materials, Science and Electronics", Topics Curr. C h e m 199 (1999) 189-234; M.Ouyang, J.-L. Huang, C. M.Lieber: „Fundamental Electronic Properties and Applications of Single-Walled Carbon Nanotubes", Acc. Chem. R e s 35 (2002) 1018-1025; A.Hirsch: „Funktionalisierung von einwandigen Kohlenstoffnanoröhren", Angew. C h e m 114 (2002) 1933-1939; Int. E d 41 (2002) 1853; K. Balasubramanion, M. Burghard: „Funktionalisierte Kohlenstoff-Nanoröhren", Chemie in unserer Zeit 39 (2005) 16-25; J. Sloan, A.I. Kirkland, J.L. Hutchison, M . L . H . Green: „Integral atomic layer architectures of 1D crystals inserted into single walled carbon nanotubes", Chem. Commun. (2002) 1319—1333. - Sonstige Kohlenstoffformen. S. Szafert, J.A. Gladysz: „ Carbon in One Dimension: Structural Analysis of the Higher 2
ConjugatedPolymers", Chem. R e v 103 (2003) 4175-4206. - Kohlenstoff-Verbindungen. Vgl. Anm. 11,12, 17, 21, 24. Geschichtliches Kohlenstoff war schon zu prähistorischen Zeiten als Holzkohle oder R u ß bekannt. Die Element- und Kohlenstoffnatur des „Graphits" (vom griech. graphein = schreiben) erkannte 1779 C.W. Scheele, die des „Diamanten" (vom griech. diaphanes = transparent und adamas = unbezwingbar) 1796 S.Tennant. 1985 und 1991 wurden mit den „Fullerenen" (u.a. R.F. Curl, H.W. Kroto, R . M . Smally 8 1 und „Kohlenstoff-Nanoröhren" (S. Ijima) weitere Kohlenstoffmodifikationen aufgefunden. Den (französischen) Namen „carbone" für Kohlenstoff (vom lat. carbo für Holzkohle) prägte 1789 A.L. Lavoisier. Die Verbindungen des Kohlenstoffs waren von großer Bedeutung für die Entwicklung der Bindungstheorien, z.B. Benzolstruktur (F. Kekule, 1858), Tetraedermodell (J.N. van't Hoff, 1890), Nickeltetracarbonyl (L. Mond, 1890), Ferrocen- und Dibenzolchromstruktur (G. Wilkinson, E.O. Fischer, ab 1952).
1. Der Kohlenstoff
863
Im Mineralreich treffen wir den Kohlenstoff in der Hauptsache in Form von Carbonaten, den Salzen der Kohlensäure H 2 C 0 3 an. Wichtige derartige Carbonate sind: C a l c i u m c a r b o n a t CaC0 3 („Kalkstein", „Marmor", „Kreide"), welches ganze Gebirge bildet, C a l c i u m m a g n e s i u m - c a r b o n a t CaC0 3 • MgC0 3 („Dolomit"), M a g n e s i u m c a r b o n a t MgC0 3 („Magnesit"), E i s e n c a r b o n a t FeC0 3 („Eisenspat"), M a n g a n c a r b o n a t M n C 0 3 („Manganspat") und Z i n k c a r b o n a t ZnC0 3 („Zinkspat"). Der Gesamtgehalt der Lithosphäre an Kohlenstoff beträgt 2.9 x 10 16 t. Im Pflanzen und Tierreich bildet der Kohlenstoff einen grundwesentlichen Bestandteil aller 0rganismen. Daher nennt man die Kohlenstoffverbindungen auch „organische Verbindungen". Da die Zahl der bis jetzt bekannten, definierten - natürlichen und künstlichen - organischen Verbindungen (viele Millionen) im Verhältnis zur Zahl der Verbindungen aller übrigen Elemente (einige 100000) sehr groß ist, pflegt man die Kohlenstoffchemie als „Organische Chemie" von der „Anorganischen Chemie" abzutrennen und gesondert zu behandeln, obwohl anorganische und organische Molekülchemie bezüglich Darstellung, Aufbau und Eigenschaften der Einzelverbindungen nicht wesensverschieden und viele ,,anorganische Elemente" für die Lebensvorgänge von tiefgreifender Bedeutung sind. Als Produkte der Umwandlung urweltlicher p f l a n z l i c h e r und tierischer 0rganismen finden sich in der Natur die Kohlen, die Erdöle und die Erdgase3. Von den insgesamt in der Biosphäre vorhandenen 2.7 x 10ii t Kohlenstoff entfallen mehr als 99 % auf die Pflanzenwelt („Flora") und weniger als 1 % auf die Tierwelt („Fauna"). Der Gehalt der Luft an Kohlendioxid beträgt zwar durchschnittlich nur 0.03 Vol.-%. Wegen der großen räumlichen Ausdehnung der Atmosphäre übersteigt aber der in dieser Form vorhandene Kohlensto (6.7 x 10ii t) den im Tier- und Pflanzenreich enthaltenen (s. oben) um mehr als 100%. In noch stärkerem Maße gilt dies vom Meerwasser, das durchschnittlich 0.005 Gew.-% Kohlendioxid enthält, entsprechend einer Gesamtmenge von 2.7 x 10i 3 1 Kohlenstoff, d.h. dem H u n d e r t f a c h e n des im Tier- und Pflanzenreich gespeicherten Kohlenstoffvorrats Die zusammengenommen in der Biosphäre, Atmosphäre und Hydrosphäre vorhandene Kohlenstoffmenge macht weniger als 7i 0 0 0 des Kohlenstoffgehalts der Lithosphäre aus. Deranorganischgebundene Kohlenstoff(Lithosphäre + Atmosphäre + Hydrosphäre) verhält sich mengenmäßig zum organisch gebundenen (Biosphäre) wie 100000 : 1. Isotope (vgl. Anh.III). Natürlich vorkommender Kohlenstoff hat die Isotopenzusammensetzung ^ C (98.90%) und ^ C (1.10%), neben Spuren von ^ C (ß~-Strahler, t i / 2 = 5730 Jahre). Letzteres Isotop lässt sich künstlich aus " N herstellen (S. 1910). Es ist spurenweise in Form von C 0 2 in der Atmosphäre enthalten und bildet die Grundlage für die Erforschung organischer Reaktionsmechanismen mittels M CMarkierung und für die Radiokohlenstoff-Datierungsmethode (S. 1914). Das Isotop ^ C eignet sich zum NMR-spektroskopischen Nachweis.
1.1.2
Gewinnung, Physikalische Eigenschaften, Strukturen, Verwendung
Überblick Systematik. Kohlenstoff kommt in mehreren Modifikationen vor. So kennt man zwei hochmolekulare Formen C^,: farbloser Diamant der Dichte 3.514 g / c m mit Raumstruktur und graumetallisch-glänzender Graphit der Dichte 2.26 g / c m mit Schichtstruktur. Darüber hinaus existieren eine Reihe niedermolekularer, farbiger Formen C„ mit kleinerer Dichte als der von Graphit, die man als Fullerene (n = gerade; u.a. C 2 0 , C o , C o , C 7 6 , C 7 8 , C 8 4 , C o , C 9 4 ;
3
Kohle ist ein aus C, 0 , H, N und S bestehendes kompliziertes Gemisch kohlenstoffreicher Verbindungen (Braunkohle: 6 5 - 7 5 % C, Steinkohle: 7 5 - 9 0 % C, Anthrazit: > 90 % C), das durch Erhitzen unter Luftabschluss zu gasförmigen („Kokereigas"), flüssigen („Teer") und festen Produkten („Koks") ,,verkokt" werden kann (vgl. S.263). Die Weltvorräte an Kohle werden auf über 10 Billionen Tonnen geschätzt, die bei Annahme einer laufenden Wachstumsrate des Verbrauchs noch rund 250 Jahre ausreichen. Hauptvorkommen: Rußland, USA. Erdöl besteht aus einer Vielzahl höherer, gerad- und verzweigtkettiger Kohlenwasserstoffe CJH y und wird durch Rohöldestillation in Fraktionen zerlegt: ,,Leichtbenzin" (30-100°C), „Schwerbenzin" (100-200°C), „Leichtöl" (200-250°C), „Diesel", „Heizöl" (250-350°C). Die Weltvorräte an Erdöl werden auf über 90 Milliarden Tonnen geschätzt, die bei Annahme einer laufenden Wachstumsrate des Verbrauchs rund 40 Jahre lang ausreichen. Hauptvorkommen: Naher und Mittlerer 0sten (Saudiarabien, Kuwait, Iran, Libyen, Irak), Rußland (0stsibirien), USA (Alaska), Mexiko, N o r d s e e Erdgas besteht aus den niedrigen Homologen der gesättigten Kohlenwasserstoffe ( C H , C 2 H 6 , C 3 H 8 , C 4 H 1 0 , C 5 H 1 2 , wobei das „Methan" C H meist mit 80% überwiegt), neben unterschiedlichen Mengen an H 2 S, C 0 2 , N 2 , bisweilen auch He. Die Weltvorräte werden auf mehr als 50 Billionen m 3 (70 Milliarden Tonnen) geschätzt, die bei Annahme einer laufenden Wachstumsrate des Verbrauchs rund 60 Jahre ausreichen. Hauptvorkommen Rußland (Westsibirien, Südural), Ukraine, USA (Alaska), Kanada.
864
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
hohlkugelförmiger Molekülbau) und Kohlenstoff-Nanoröhren (,,carbon-tubes"; n = groß, aber endlich röhrenförmiger Molekülbau) bezeichnet. Unter den hochmolekularen Kohlenstoffmodifikationen C^ existiert neben dreidimensionalem Diamant und zweidimensionalem Graphit möglicherweise noch eine eindimensionale Kohlenstoffform, in die sich Graphit bei Temperaturen um 4000 °C und Drücken um 100 kbar umwandeln soll (bei Temperaturen um 3000°C und Drücken um 150 kbar verwandelt sich Graphit in Diamant, s. unten). Bei Temperaturen um 1000 °C und Drücken größer 650 kbar geht Graphit auf dem Wege über Diamant in „metallischen Kohlenstoff" über (ähnlich verhalten sich unter diesen Bedingungen auch Phosphor, Schwefel, Selen, Iod und viele andere Nichtmetalle). Auch unter den niedermolekularen Kohlenstoffmodifikationen C„ kennt man neben den Fulleren-Hohlkugeln und Kohlenstoff-Nanoröhren weitere, vielfach nur in der Gasphase bei hohen Temperaturen existierende Formen C„, nämlich Ketten aus C-Atomen (n = 2-10), Ringe aus C-Atomen (n = 7-36), anellierte Ringe aus C-Atomen (n = 21-61). Vom Graphit abgeleiteter graphitischer Kohlenstoff („mikrokristalliner Kohlenstoff") liegt im „Retorten-'', „Pyro-'', „Folien-'', „Membran-'', „Faserkohlenstoff', im „Koks", „Ruß'', in den „Holz-" und ,,Tierkohlen'' sowie in den „Aktivkohlen" vor. Im Ruß, in der Holz- sowie der Tierkohle sind neben mikrokristallinem Graphit auch amorphe Bereiche vorhanden, die viele Beimengungen enthalten (insbesondere Sauerstoff und Wasserstoff), sodass man hier auch von einem „Mischpolymerisat" mit Kohlenstoff als Hauptkomponente sprechen kann. Die einzelnen in ihren Erscheinungsformen recht verschiedenartigen graphitischen Kohlenstoffsorten unterscheiden sich voneinander in der Größe der Graphitkristalle sowie der gegenseitigen Anordnung der als „Graphenschichten" bezeichneten Kohlenstoffschichten (letztere sind in schlecht kristallisierten Kohlenstoffen wie Ruß zwar parallel gestapelt, aber im Übrigen regellos gegeneinander verschoben und verdreht („turbostratische Ordnung"). Die Dichte der graphitischen Kohlenstoffsorten variiert zwischen 1.85 (Ruß) und 2.26 g/cm 3 (Graphit), die Verbrennungsenthalpie zwischen 34.03 (Ruß) und 32.79 kJ/g (Graphit), die Farbe zwischen schwarz (Ruß) und grau (Graphit). Zum Vergleich Diamant: 3.51 g / c m , 32.95 kJ/g, farblos.
Die Gewinnung von Kohlenstoff erfolgt aus natürlichem Vorkommen(-> Diamant, Graphit), des Weiteren durch Graphitumwandlung unter Druck und Temperatur (-> Diamant) bzw. Graphitverdampfung im elektrischen Lichtbogen, im Hochfrequenzofen oder durch Laserstrahlen (-> Fullerene, Kohlenstoff-Nanoröhren) und schließlich durch thermische Zersetzung von Kohle, Erdöl, Erdgas sowie partielle Verbrennung von Kohlenwasserstoffen (-> graphitischer Kohlenstoff, Kunstgraphit). Graphit und graphitischer Kohlenstoff' 2 Struktur und Bindungsverhältnisse Graphit setzt sich aus übereinandergelagerten ebenen Kohlenstoffschichten („Graphenschichten") zusammen, die ihrerseits aus miteinander anellierten C 6 -Ringen (Kantenlänge 1.4215 Ä) bestehen. Die ausgezogenen Linien in Fig. 192a geben von oben gesehen - das ,,Wabennetz'' einer solchen Kohlenstoffschicht wieder. Die über bzw. unter dieser Ebene gelegene nächste Sechseckebene (gestricheltes Wabennetz in Fig.192 a) ist so angeordnet, dass über und unter der Mitte eines jeden Sechsecks sowie über und unter jedem zweiten Kohlenstoffatom der Ausgangsschicht ein Kohlenstoffatom der oben und unten benachbarten Schicht zu liegen kommt. Dasselbe wiederholt sich bei der folgenden Schicht, sodass in summa eine ,,Schichtenstruktur'' entsteht (Schichtabstand 3.354 A) welche - von der Seite gesehen - das in Fig. 192 c wiedergegebene Aussehen hat. Jedes Kohlenstoffatom ist im Graphit sp2-hybridisiert und bildet mit drei seiner vier Außenelektronen drei lokalisierte u-Bindungen zu seinen drei Atomnachbarn aus. Die ,,vierten'' Valenzelektronen der Kohlenstoffatome sind in delokalisierten re-Molekülorbitalen untergebracht, die aus einer Kombination der an der Hybridisierung nicht beteiligten, zu den sp 2 Hybridorbitalen senkrecht orientierten p-Atomorbitalen der Kohlenstoffatome resultieren (vgl. hierzu die Bindungsverhältnisse des Ethylens sowie Ozons, S. 369 und 370). Somit sind die Kohlenstoffatome des Graphits wie in Fig. 192 b schematisch veranschaulicht, sowohl durch a- als auch n-Bindungen miteinander verknüpft. Die Valenzstrichformel in Fig. 192 b stellt dabei nur eine von vielen denkbaren G r e n z s t r u k t u r e n dar. Erst aus der durch Kombination aller Grenzstrukturen resultierenden M e s o m e r i e f o r m e l folgen die Bindungsver-
1. Der Kohlenstoff
865
Fig. 192 Graphit: (a) Sechseckanordnung der Kohlenstoffatome innerhalb einer Graphenschicht (ausgezogene Linien: Ausgangsschicht; gestrichelte Linien: darunter- bzw. darüber befindliche Schicht). (b) Valenzstrichformel einer Graphenschicht (eine von mehreren möglichen Grenzstrukturen). (c) Kristallstruktur (hexagonaler oder a-Graphit).
hältnisse des Graphits - also etwa die G l e i c h a r t i g k e i t aller CC-Bindungen (Bindungsordn u n g jeweils 1^) - in der richtigen Weise (CC-Abstand: 1.415 Ä; ber. f ü r Einfachbindung: 1.54, f ü r Doppelbindung: 1.34 A). Die Graphenschichten werden durch van-der-Waals-Kräfte u n d schwache ^-Wechselwirkungen zusammengehalten, was den relativ großen Schichtabstand sowie eine leichte Spalt- u n d Verschiebbarkeit längs der Graphenschichten bedingt. Die in Fig. 192 wiedergebene Graphitform, bei der jede dritte Schicht in ihrer Lage der ersten entspricht (Schichtenfolge A, B; A, B;...), ist die stabile und gibt die Struktur der gewöhnlich vorkommenden Form des Graphits wieder („hexagonaler- oder a-Graphit"). Daneben existiert noch eine andere Form (rhomboedrischer oder ß-Graphit), bei der erst jede vierte Schicht in ihrer Lage der ersten gleicht (Schichtenfolge A, B, C; A, B, C ; . . . ) und die häufig in fein gemahlenem (scherbeanspruchtem) Graphit anwesend ist. Solche Bereiche der rhomboedrischen Struktur können neben statistischen Stapelfehlern durch mechanische Deformation von hexagonalen Kristallen entstehen und durch Hitzebehandlung wieder verschwinden. Eine Graphitform, bei der alle übereinanderliegenden Kohlenstoffschichten lagegleich sind (Schichtenfolge A; A;...), ist nicht bekannt (vgl. hierzu aber die Struktur des isoelektronischen Bornitrids BN, S. 1113). Eigenschaften (vgl. Tafel III). Natürlicher G r a p h i t bildet eine graue, undurchsichtige, schuppige leicht spaltbare Masse (Dichte 2.26 g / c m ) , die sich fettig anfühlt, schwachen Metallglanz aufweist u n d stark abfärbt. Er ist ein geruch- u n d geschmackloser Stoff, der unter 127 bar bei 3750°C schmilzt u n d bei 3370°C unter Bildung eines C n - D a m p f e s (n hauptsächlich 3, aber auch 2, 4 . . . , untergeordnet 1; Atomisierungsenergie: 7 1 7 k J / m o l ) sublimiert. 3750 o C/127 bar
C, < flüssig
3370 o C)
> C«, (
fest (Graphit)
[C=C=C=C
C=C=C
C=C
C]
gasförmig
Offensichtlich wandelt sich Graphit bei höheren Temperaturen unter Druck auf dem Wege zur Schmelze in eine Modifikation um, welche Polycarbin-Bauelemente des Typs — C = C — C = C — C = C — enthalten. Nachgewiesen wurde bisher farbloser „Chaoit" (gewinnbar durch Sublimation von Pyrographit (s.u.) oberhalb 2000 0 C) sowie ,,Carbon (VI)" (gewinnbar neben Chaoit durch Erhitzen von Graphit mit Laserstrahlen auf 2300 0 C in Argonatmosphäre). Die delokalisierten 7i-Elektronen bedingen eine metallische L e i t f ä h i g k e i t des (stark diamagnetischen) Graphits parallel zu den Kohlenstoffschichten („zweidimensionales Elektronengas"). Die spezifische elektrische Leitfähigkeit des Graphits beträgt hierbei 2.6 x10 4 Q _ 1 cm" 1 . Sie nimmt - wie bei Metalleitern üblich - mit steigender Temperatur ab (negativer Temperaturkoeffizient). Senkrecht zu den Schichten ist die Leitfähigkeit um den Faktor 104 kleiner. Sie nimmt hier in einer für Halbleiter
866
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
typischen Weise mit steigender Temperatur zu (positiver Temperaturkoeffizient). Letzterer Effekt ist allerdings nur schwach ausgeprägt. Der metallische Charakter des Graphits zeigt sich außer in der elektrischen Leitfähigkeit auch in seiner guten Wärmeleitfähigkeit, seiner starken L i c h t a b s o r p t i o n sowie seinem metallischen Glanz
Naturgraphit Die Aufbereitung von natürlichem Graphit (Weltjahresproduktion: Megatonnenbereich) aus gemahlenem, graphithaltigem Gestein mit 25 bis über 50 Gew.-% Kohlenstoff erfolgt durch Flotation (Öle als Medien) sowie Behandlung des C-haltigen Flotationsanteils mit einer Sodaschmelze Verwendung. Wegen seiner Beständigkeit gegenüber Hitze und Temperaturwechsel sowie wegen seiner guten W ä r m e l e i t f ä h i g k e i t dient Naturgraphit zur Herstellung feuerfester Produkte (z.B. Tiegel zum Schmelzen von Metallen). Wegen seiner chemischen W i d e r s t a n d s f ä h i g k e i t verwendet man ihn für Schutzanstriche (z.B. für Hochöfen, Kessel). Die Eigenschaft, elektrisch zu leiten, benutzt man bei der Herstellung von Bürsten und in der Galvanoplastik, die Eigenschaft, a n z u f ä r b e n , bei der Herstellung von Bleistiften (Variierung der Bleistifthärte durch Tonzusatz). Schließlich wird Graphit wegen der leich ten Spalt- und Verschiebbarkeit der ihn aufbauenden Kohlenstoffschichten (in reiner Form oder mit Fetten vermischt) als Schmiermittel verwendet. Auf der Fähigkeit, schnelle N e u t r o n e n abzubremsen, beruht seine Verwendung als Moderator und Reflektor in Kernreaktoren Kunstgraphit (Elektrographit; Weltjahresproduktion einschließlich graphitischen Kohlenstoff: 10 Gigatonnenbereich) entsteht durch Pyrolyse von Kohlenstoffverbindungen bei sehr hoher Temperatur. In der Praxis werden weniger gut kristallisierte Kohlenstoffe (insbesondere Petrolkokse, s. unten) bei Temperaturen von 2600-3000 °C im elektrischen 0fen ,,graphitiert". Zu diesem Zweck wird etwa Petrolkoks zunächst auf 1300-1400 °C erhitzt, wobei flüchtige Bestandteile entweichen, dann - nach Mahlung mit Bindemitteln wie Pech ( = Bestandteil des Teers3) zu einer in der Wärme plastischen Masse angeteigt, mittels Strangpressen geformt und bei 800-1300°C v o r g e b r a n n t , wobei das Bindemittel verkokt und die einzelnen Kokskörnchen verbindet. Die hierbei gebildeten „Kunstkohlenstoffe" lassen sich bereits vielseitig verwenden (z.B. als Elektroden für Bogenlampen oder als Innenauskleidung für Hochöfen). Zur eigentlichen G r a p h i t i e r u n g wird im Falle des ,,Acheson-Verfahrens" als wichtigstem Graphitierungsverfahren ein bis zu 20 m langes Bett aus den erhaltenen Kunstkohlenstoff-Formkörpern in pulverisierten Koks eingebettet und mit Sand abgedeckt. Durch diese Koks-Packung wird zur Erwärmung auf die gewünschte hohe Temperatur elektrischer Strom geleitet. Beim ,,Castner-Verfahren" wird die Wärme ausschließlich in den zwischen Elektroden eingespannten Kohlenstoff-Formkörpern selbst durch Widerstandsheizung erzeugt. Verwendung. Kunstgraphit dient wegen seiner elektrischen Leitfähigkeit und chemischen Widerstandsfähigkeit in großem Umfange als Material für E l e k t r o d e n u.a. in Elektrostahlöfen (Fe-Gewinnung), Carbidöfen (CaC2-, SiC-Gewinnung), Reduktionsöfen (z.B. Zn-, PGewinnung), wässerigen Elektrolyseanlagen (z. B. Erzeugung von H 2 , Cl 2 , N a 0 H , H 2 0 2 ) und Schmelzflusselektrolyseanlagen (z. B. Erzeugung von Alkali- und Erdalkalimetallen, Aluminium, Landthanoiden, Fluor). Auch zur elektrischen W i d e r s t a n d s h e i z u n g (z.B. Tamman-0fen) sowie zur Herstellung von Apparateteilen in der E l e k t r o t e c h n i k (Lichtbogenkohle, Röhrenanoden, Mikrophongrieß, Stromabnehmerkohlen und Bürsten) wird er genutzt. Der kleine Wärmeausdehnungskoeffizient, die Nichtbenetzbarkeit durch Metalle sowie die Korrosionsbeständigkeit macht ihn für G i e ß f o r m e n (z.B. zum Guss von Mg, Al, Fe, Cu), als Auskleidungsmaterial für Öfen, zur Metallherstellung (s. oben) sowie im chemischen A p p a r a t e b a u (Wärmeaustauscher, Pumpen, Ventile) besonders geeignet. Schließlich verwendet man ihn wie Naturgraphit (s. oben) für Moderatoren und Reflektoren im K e r n r e a k t o r . Graphit-Folien entstehen durch Verpressen von ,,Blähgraphit", der durch thermische Zersetzung von Graphithydrogensulfatnitrat (gewinnbar durch 0xidation von Flocken- oder Pyrographit mit Schwefelsäure und Salpetersäure) erzeugt wird. Zur Herstellung von Graphit-Membranen trocknet man ein Gel (S. 169) von Graphitoxid auf einer polierten 0berfläche, reduziert mit Wasserstoff bei 500°C und graphitiert die Membran oberhalb 2500 °C. Verwendung finden die Folien und Membranen in Maschinenund Apparatebau, in der Metallurgie, Elektrotechnik, Meerwasserentsalzung. Koks (ca. 98 %iger Kohlenstoff; Weltjahresproduktion: 100 Megatonnenmaßstab) entsteht als Rückstand beim starken Erhitzen („Verkokung") von Steinkohlen in feuerfesten Retorten Gaskoks wird bei der Heizgasherstellung, also beim Erhitzen „gasreicher" Kohlen („Gaskohlen") gewonnen (vgl. S.263) und ist meist locker, sodass man ihn in der Regel nur zu Feuerungszwecken verwendet Hüttenkoks entsteht beim Erhitzen ,,gasarmer" Kohlen („Kokskohlen") und ist verhältnismäßig dicht und fest, sodass er in 4
Der Name „Bleistift" rührt daher, dass man früher einmal mit einem aus Blei ( + Zinn) gegossenen Stift schrieb, der ebenso wie Graphit die Eigenschaft besitzt, grau abzufärben. Die Verwendung des Graphits zum Schreiben hat ihm seinen Namen gegeben: graphein (griech.) = schreiben.
1. Der Kohlenstoff
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Hochöfen (S. 1638) zu gebrauchen ist. Durch Verkokung der Rückstände der Erdöldestillation entsteht der Petrolkoks, der zum Unterschied von vielen anderen Koksarten sehr gut graphitiert und deshalb hauptsächlich zur Herstellung von Kunstgraphit (s. oben) dient. Bei der Heizgasfabrikation und Koksgewinnung scheidet sich der Retortenkoks (Retortengraphit) in dichten, festen Massen ab, indem die beim Erhitzen der Steinkohle entweichenden kohlenstoffhaltigen Gase an den sehr heißen (1500 °C) Retortenwänden teilweise unter Kohlenstoffbildung zerfallen (vgl. hierzu auch Rußbildung). Retortengraphit ist zum Unterschied vom gewöhnlichen Graphit sehr hart, da in ihm die submikroskopischen Kriställchen (ca. 40 Ä Durchmesser) dicht und regellos miteinander verwachsen sind, sodass keine regelmäßig orientierten größeren Graphenschichten wie beim Graphit vorliegen, längs derer ja allein eine leichte Spaltung und Parallelverschiebung möglich ist. Verwendung. Wie Graphit, leitet auch der Retortengraphit gut den elektrischen Strom, weshalb er zur Herstellung von Kohlestiften für Bogenlampen und von Elektroden benutzt wird Kohlenstoff-Fasermaterial (vgl. hierzu S. 967). Durch kontrollierte Pyrolyse organischer Fasern (z. B. Fasern aus Polyacrylnitril oder Mesophasen-Pech) lassen sich ,,Kohlenstoff-Fasern" herstellen (Weltjahresproduktion: Kilotonnenmaßstab). Stehen hierbei die Fasern während der Thermolyse unter Zugspannung, so richten sich die Graphenschichten parallel zur Faserachse aus. Bei hoher Temperatur (2500-3000°C) entstehen „Graphitfasern", in denen die Graphitstruktur bei Verwendung von Polyacrylfasern allerdings noch nicht gut ausgebildet ist. Da die Verknüpfung der C-Atome in Faserrichtung über die festen CC-Bindungen innerhalb der Schichten erfolgt, weisen die erwähnten Fasern eine sehr hohe Zugfestigkeit und einen hohen E l a s t i z i t ä t s m o d u l auf. Bezogen auf ihre Masse sind sie fester als Stahldrähte. Pyrolysiert man anstelle von Kunststoffasern ungeschäumte bzw. geschäumte organische Polymere, so erhält man in ersterem Falle sehr harten und spröden, nur mit Diamantwerkzeugen bearbeitbaren Glaskohlenstoff, in letzterem Falle mechanisch leichter bearbeitbaren Schaumkohlenstoff. Verwendung. Das Kohlenstoff-Fasermaterial wird mit Kunststoffen bzw. Kunstkohlenstoff zu Verbundwerkstoffen verarbeitet, die u. a. beim Bau von Flugzeugen, Skiern und Tennisschlägern Verwendung finden. Ihre Anwendung im Automobilbau ist geplant. Glas- und Schaumkohlenstoff findet Verwendung in der Metallurgie, Halbleiterindustrie, Medizin, Luft- und Raumfahrt, Gießereitechnik usw. Pyrokohlenstoff (früher Glanzkohlenstoff) wird durch Zersetzung von Kohlenwasserstoffen bei Temperaturen oberhalb 700 °C an glatten Oberflächen (z. B. glasiertem Porzellan) bei niedrigem Gasdruck (z. B. 10 mbar) gewonnen (,,Chemical Vapor Deposition, CVD; s. unten). Seine Feinstruktur ist der der analog - aber bei höheren Drücken erzeugten - Ruße (s. unten) ähnlich. Alle Kohlenstoffschichten sind mehr oder weniger parallel zur Abscheidungsfläche ausgerichtet. Erfolgt die C-Abscheidung bei ca. 2000 °C und graphitiert man bei ca. 3000 °C nach, so erhält man „Pyrographit". Verwendung. Pyrokohlenstoff dient zur Imprägnierung des (porösen) Elektrographits („Veredelung der Graphit-Formkörper"). Wegen ihrer hohen Biokompatibilität finden Pyrokohlenstoffkörper darüber hinaus in der Medizin als Herzklappen sowie -ventile, als Knochenplatten und als Prothesen Verwendung. Mit P y r o k o h l e n s t o f f beschichtete Keramikröhrchen werden als h o c h o h m i g e W i d e r s t ä n d e verwendet. Wegen der hervorragenden parallelen Ausrichtung der Kohlenstoffschichten und der damit verbundenen extremen Anisotropie der Leitfähigkeit für den elektrischen Strom und für die Wärme, verwendet man P y r o g r a p h i t für R a k e t e n m o t o r e n und für den Hitzeschild von Raumfahrzeugen, aber auch als Brems- und Kupplungsscheiben für Flugzeuge. Durch Scherbeanspruchung bei mehr als 3000 °C lässt sich die Orientierung der Schichten nochmals verbessern. Der hierdurch gebildete „hochorientierte Pyrographit" (HOPG), in dem die Normalen der einzelnen Kohlenstoffschichten nicht mehr als 1° voneinander abweichen, wird für R ö n t g e n m o n o c h r o m a t o r e n verwendet. Ruß (,,carbon black"; Weltjahresproduktion: Gigatonnenmaßstab) entsteht aus Kohlenwasserstoffen entweder durch unvollständige Verbrennung (,, Verbrennungsruß") oder thermische Zersetzung („Spaltruß"; „thermal black"). Unter den Verbrennungsrußen (Flamm-, Gas- und Furnace-Ruße) entfällt der größte Produktionsanteil auf den „Furnace-Ruß" (,furnace black"; C-Gehalt um 95 %), der durch Verbrennung von Erdöl bei ungenügendem Luftzutritt und Abschrecken der kohlenstoffhaltigen Verbrennungsgase (z.B. durch Einspritzen von Wasser) gewonnen wird. Der „deutsche Gasruß" entsteht durch Abkühlen des in einer leuchtenden A n t h r a c e n ö l f l a m m e gebildeten Kohlenstoffs an gekühlten Eisenflächen (vgl. hierzu auch Bunsenbrenner, S. 890). Die Ausgangsprodukte der Spaltruß-Gewinnung sind Methan, Erdgas und Acetylen. In letzterem Falle erhält man den so genannten „Acetylenruß" der zu 98-100 %> aus Kohlenstoff besteht. Die Ruße lassen im Elektronenmikroskop lockere Aggregate von sehr kleinen kugelähnlichen Teilchen erkennen (mittlerer Kugeldurchmesser 50-1000 A). Diese Teilchen entstehen dadurch, dass sich bei der hohen Verbrennungstemperatur (kurzzeitig ca. 2000 °C) entstandene polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe an Kondensationskeimen mit ihren breiten Flächen anlagern, um dann - mehr oder weniger unregelmäßig - zusammenzukondensieren. (Arbeitet man bei erniedrigtem Druck, so nimmt
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XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
die Zahl der Kondensationskeime ab und infolgedessen der Teilchendurchmesser zu; vgl. Pyrokohlenstoff, oben, bei dem die Wand als Kondensationskeim wirkt.) Die röntgenographisch erfassbaren, kohärent streuenden (kristallisierten) Bereiche haben sehr kleine Abmessungen von etwa 30 Ä in Schicht- und 20 Ä senkrecht zur Schichtrichtung. Wegen ihres hohen Zerteilungsgrades entwickeln die Ruße eine große massenbezogene ä u ß e r e O b e r f l ä c h e (ca. 80-100 m 2 /g; bei nachträglicher Aktivierung bis zu 1000 m 2 /g). Verwendung. Ruß dient im großen Umfang als verstärkender Gummifüllstoff für stark beanspruchte technische Gummiartikel (Autoreifen, Förderbänder usw.). Ferner findet er Anwendung als Schwarzpigment für Lacke, Druckfarben, Tusche usw. Etwa 95 % der Rußproduktion werden von der Autoreifenindustrie verbraucht Aktivkohlenstoffe (häufig unkorrekt als Aktivkohlen bezeichnet) stellen m i k r o k r i s t a l l i n e , p o r e n r e i c h e Kohlenstoffsorten dar, die eine außerordentlich große innere O b e r f l ä c h e entwickeln und deshalb ähnlich wie andere oberflächenreiche Stoffe (z.B. Kieselgur, S.962) als wertvolle ,,Adsorptionsmittel'' für chemische Stoffe dienen 5 . Sie lassen sich durch verhältnismäßig gelindes Erhitzen von organischen Stoffen wie Holz, Kokosschalen, Torf, Steinkohle (früher auch Knochen, Blut, Zucker usw.) darstellen. Die für die Verwendung als Adsorptionsmittel erforderliche große O b e r f l ä c h e n e n t w i c k l u n g (Porenstruktur) des Kohlenstoffs erreicht man dabei z.B. dadurch, dass man vor dem Erhitzen Fremdstoffe wie Zinkchlorid hinzusetzt, die das Zusammensintern der Kohle verhindern und nachträglich leicht herausgelöst oder verflüchtigt werden können, oder dadurch, dass man die Oberfläche des Kohlenstoffs nachträglich durch Überleiten von Wasserdampf (C + H 2 0 -> CO + H 2 ), Luft (C + \ 0 2 CO) oder kohlendioxidhaltigen Gasen (C + CO 2 -> 2CO) bei 700-900 °C „anoxidiert" und hierbei Poren hineinbrennt („Aktivierung"). Gute Aktivkohlenstoffe haben scheinbare Oberflächen von mehr als 1000 m 2 /g (erzielbare Porenradien von < 10 bis > 50 Ä) und können bis zu 50% ihrer Masse an organischen Substanzen aufnehmen. Verwendung. Aktivkohlenstoffe (im Handel mit Korngrößen von < 0.1 mm bis > 5 mm je nach Anwendungszweck) werden u.a. zur Entfuselung von Spiritus, zur Entfernung von Farbstoffen und Verunreinigungen aus Lösungen (z.B. zur Entfärbung von Rohrzuckerlösungen, Geschmacksverbesserungen von Flüssigkeiten, zur Rückgewinnung verunreinigter Lösungsmittel in der Industrie), zur Reinigung von Gasen 6 , in zunehmendem Maße auch zur Luftzerlegung (S. 499) sowie in der Medizin zur Entgiftung und Entgasung des Darmkanals verwendet. Darüber hinaus benutzt man H o l z k o h l e auch für metallurgische Zwecke (z. B. Raffination von Kupfer) und als Bestandteil des „Schwarzpulvers" („Schießpulver''). Als Schießpulverbestandteil verwendet man die bei relativ niedriger Temperatur hergestellte Holzkohle aus dem Holz des Faulbaumes (frangula alnus). Diamanti'2 Struktur und Bindungsverhältnisse Die Struktur des D i a m a n t e n unterscheidet sich von der des Graphits dadurch, dass die beim G r a p h i t freibeweglichen vierten Elektronen der Kohlenstoffatome einer Ebene mit den vierten Elektronen der beiden benachbarten Ebenen abwechselnd nach oben u n d unten - zu E l e k t r o n e n p a a r - B i n d u n g e n zusammentreten, wobei die n-Bindungen des Graphits verschwinden. Dies f ü h r t zu der aus Fig. 193 ersichtlichen ,,Wellung'' (Sesselform der Sechsringe), Parallelverschiebung u n d engeren Packung der ursprünglichen Graphitebenen; denn n u r auf diese Weise findet jedes Kohlenstoffatom einer 5
6
Feste Stoffe sind befähigt viele Gase oder gelöste Stoffe an ihrer Valenz-ungesättigten Oberfläche anzureichern. Man nennt diese Verdichtung an der Oberfläche „Adsorption" (adsorbere (lat.) = an sich ziehen), den zu adsorbierenden Stoff „Adsorptiv", den adsorbierenden Stoff „Adsorbens" und den adsorbierten Stoff „Adsorbat". Die Adsorption beschränkt sich auf die Bildung einer einmolekularen Oberflächenschicht (unterhalb ihrer krit. Temp. können Gase aber auch höhermolekulare Adsorptionsschichten bilden). Daher nähert sich bei gegebener Temperatur die je Flächeneinheit des Adsorbens adsorbierte Stoffmenge a mit steigendem Druck einem bestimmten Sättigungswert ama, nämlich dem der maximalen Oberflächenbesetzung a/ama = kc/(1 + kc) („Langmuir'sche Adsorptionsisotherme"; c = Konzentration bzw. Partialdruck des Adsorbens; A; = temperaturabhängige Konstante). Für kleine Konzentrationen c (kc ^ 1) geht die Gleichung über in a/ama = k • c („Henry'sches Gesetz''), sodass die adsorbierte Stoffmenge einfach proportional der Konzentration des Stoffes ist; für große Konzentrationen c (kc^> 1) wird a/am^ = k, d.h. konstant. Nach einer Faustregel werden Gase um so leichter adsorbiert, je leichter sie zu verflüssigen sind, also je höher ihr Siedepunkt liegt. Die Auswertung der N 2 -Adsorptionsisothermen bei 77 K wird zur Bestimmung spezifischer Oberflächen genutzt (Brunauer-Emmett-Teller-(BET-)Methode). Auf der Fähigkeit viele g i f t i g e G a s e bevorzugt aus der Luft zu adsorbieren, beruht die Verwendung der Aktivkohlenstoffe in Gasmasken. Der Gasmaskeneinsatz enthält hinter einem zum Zurückhalten feinzerstäubter N e b e l t e i l c h e n dienenden C e l l u l o s e f i l t e r u.a. eine Schicht von A k t i v k o h l e n s t o f f e n zur Adsorption g i f t i g e r G a s e aus der Luft. K o h l e n m o n o x i d wird von den Gasmaskenfiltern nur dann zurückgehalten, wenn sie besondere O x i d a t i o n s m i t t e l (z.B. Silberpermanganat A g M n 0 4 oder ein Oxid-Peroxid-Gemisch von Mangan, Silber, Cobalt und Kupfer) enthalten, welche das Kohlenoxid zu adsorbierbarem K o h l e n d i o x i d oxidieren. Aktivkohlenstoffe dienen auch zur Rauchgasentschwefelung (S. 570) und darüber hinaus zur Entfernung von N O aus Rauchgas (S.711).
1. Der Kohlenstoff
869
Fig. 193 Kristallstruktur des Diamanten: (a) Kubischer Diamant. (b) Hexagonaler Diamant. Die Schraffierung von Ebenen im Diamantengitter erfolgte nur zwecks leichteren Vergleichs mit dem Graphitgitter der Fig. 192. In Wirklichkeit ist die Diamantstruktur zum Unterschied von der Graphitstruktur naturgemäß keine Schichtenstruktur, sondern eine dreidimensionale, durch ^-Bindungen zusammengehaltene Netzstruktur, in der alle Kohlenstoff-Abstände gleich groß sind.
Ebene in der darüber- bzw. darunterliegenden Ebene einen Bindungspartner, während im Graphit (Fig. 192) jedes zweite Kohlenstoffatom einer gegebenen Ebene über und unter einer Sechseckmitte der benachbarten Ebene liegt. Da jedes Kohlenstoffatom jetzt vier h o m ö o p o l a r e Valenzen b e t ä t i g t ( s p 3 - H y b r i d i s i e r u n g ) , ist jedes K o h l e n s t o f f a t o m t e t r a e d r i s c h - i m Abstand von je 1.5445 Ä, entsprechend einer CC-Einfachbindung - von vier anderen Kohlenstoffatomen umgeben, wie aus Fig. 193 hervorgeht, während es im Graphitgitter im Abstand von 1.4210 Ä t r i a n g u l a r von drei anderen C-Atomen umgeben ist. Der mittlere Abstand der in Fig. 193 a schraffierten Ebenen voneinander beträgt im Diamanten nur noch 2.05 Ä (an Stelle von 3.35 Ä im Graphit). Wie im Falle des Graphits kennt man auch beim Diamanten neben der normalen Form („kubischer Diamant", Schichtenfolge A, B, C; A, B, C;...; vgl. Fig. 193 a) noch eine zweite Form („hexagonaler Diamant", Schichtenfolge A, B; A, B;...; Fig. 193 b), die sich von der normalen Diamantform unterscheidet wie das Wurtzitgitter vom Zinkblendegitter (vgl. hierzu S. 1494). Man hat die hexagonale Diamantform („Lonsdaleit") in winzigen Kriställchen in Meteoriten und bei Schockwelleneinwirkung auf Graphit gefunden.
Eigenschaften (vgl. Tafel III). In Form des reinen Diamanten bildet der Kohlenstoff äußerst harte, jedoch ziemlich spröde, farblose, glänzende, wasserklare, geruch- und geschmacklose, sehr stark lichtbrechende und -dispergierende Kristalle der (vergleichsweise hohen) Dichte 3.514 g / c m , die nach Umwandlung in Graphit unter 127 bar bei 3750 °C (Punkt 1 der Fig. 194) oder ohne Umwandlung z. B. unter 130000 bar bei 3800°C (Punkt 2 der Fig. 194) schmelzen7. Diamant besitzt die höchste Wärmeleitfähigkeit aller bekannten Substanzen (fünfmal höher als die von Kupfer) und einen der niedrigsten Ausdehnungskoeffizienten. Das Fehlen der reBindungen macht den Diamanten zum N i c h t l e i t e r und bedingt seine Festigkeit und a u ß e r o r d e n t l i c h e H ä r t e nach allen drei Richtungen des Raumes hin. Erhitzt man Diamanten unter L u f t a b s c h l u s s auf über 1500°C, so gehen sie unter geringer Wärmeentwicklung in G r a p h i t über (der bei Zimmertemperatur metastabile Diamant ist unter diesen Bedingungen - vgl. Fig. 194 - instabil): ^Diamant
C Graphit + O " kJ.
Bei Anwesenheit geringer Beimengungen können die Diamanten statt farblos auch gelb (N auf C-Plätzen), blau (B auf C-Plätzen), violett oder grün aussehen. Auch tiefschwarze polykristalline Diamanten (,,Car1
Das Gewicht von Diamanten wird in „Karat" angegeben: 1 Karat = 0.2 g (ursprünglich das Gewicht eines getrockneten Johannisbrotkerns). Der größte je aufgefundene Diamant ist der ,,Cullinan" mit 3106 Karat = 621.2 g.
870
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele") — Temperatur [°C] 600 500 400
Diamant
©
300 2 Q 200 100
(Graphit metastabil)
© Graphit
©
(T
gasförmiger -"Kohlenstoff
0 1000 12000 3000 4000 5000 6000 °C i metastab. -«— Diamant —— instab.
Fig. 194 Zustandsdiagramm des Kohlenstoffs (Tripelpunkte: Graphit/Schmelze/Dampf © bei 3750°C/127 bar, Grpahit/Diamant/Schmelze © bei 3800°C/130000 b a r Umwandlung Graphit -> Diamant durch Schockwellen durch Temp./Druck ®, durch Temp./Druck/Katalysator © , durch CVD ©; Existenzbereich von Modifikationen mit C-Atomketten ®.
bonados") kommen vor. Wegen des lebhaften Farbenspiels und hohen Glanzes sind die geschliffenen reinen Diamanten („Brillanten") als besonders k o s t b a r e Edelsteine geschätzt. Die meisten gefundenen Diamanten 95 %) eignen sich aber nicht zur Verarbeitung auf Schmuckstücke, sondern dienen technischen Zwecken: zum Schleifen besonders harten Materials (insbesondere des Diamanten selbst), in Form von Bohrerspitzen zum Bohren besonders harter Gesteine, in Form von Trennscheiben zum Schneiden von Glas, als Achsenlager für Präzisionsapparate, als Ösen zum Ziehen feinster Drähte harter Metalle. Gewinnung Natürliche Diamanten (Weltjahresproduktion: 10 Tonnenmaßstab) 7 gewinnt man aus diamanthaltigem zerkleinertem Gestein („Kimberlit") durch Auswaschen und Leiten der Diamantfraktion über eingefettete Bänder, an denen die Diamanten haften bleiben. Die Verwandlung von Graphit in künstliche Diamanten ist seit 1955 bekannt. Wie aus den Kristallstrukturen von Diamant und Graphit hervorgeht (Fig. 192 und 193) hat der Diamant eine höhere Dichte als der Graphit. Zur Umwandlung in Diamant muss daher der Graphit einem h o h e n D r u c k ausgesetzt werden. In Übereinstimmung mit dem Zustandsdiagramm des Kohlenstoffs (Fig. 194) konnte man Graphit z.B. bei 1000 bis 2000°C und Drücken über 300000bar (Schockwellen, Punkt 3 in Fig. 194) oder bei 3000 °C und 130000 bar (Punkt 4 in Fig.194) in Diamant umwandeln (auf ähnliche Weise dürfte der natürlich vorkommende Diamant entstanden sein). Praktisch arbeitet man jedoch in Anwesenheit von Katalysatoren (Fe, Co, Ni, Mn, Cr, Legierungen und Carbiden dieser Metalle) bei 1500-1800°C und 53000-100000 bar (Punkt 5 in Fig.194). Die „Katalysatorwirkung" der Metalle beruht darauf, dass sich der Graphit mit einem dünnen Film von geschmolzenem Metall überzieht, in welchem der im oben genannten Zustandsbereich thermodynamisch instabile Graphit leichter löslich ist als der stabile Diamant, sodass sich Graphit bis zur Sättigung auflöst und Diamant aus der für ihn übersättigten Lösung ausfällt. Heute werden auf diese Weise schon jährlich über 100 Millionen Karat, also über 20 Tonnen künstliche Diamanten (Durchmesser bis zu 1 mm) für industrielle Zwecke (hauptsächlich Herstellung von Schleifscheiben für die Bearbeitung sehr harter Werkstoffe) erzeugt. Auch Größen bis über 5 mm sind schon erhältlich. Selbst farbige, insbesondere N-haltige gelbe künstliche Diamanten von Schmuckqualität werden gewonnen. Diamant kann man in Form dünner Schichten durch chemische Abscheidung aus der Gasphase he mical Vapor Deposition; CVD) auch bei Normaldruck und darunter als metastabile Phase herstellen (Punkt 6 in Fig. 194). Hierzu werden kohlenstoffhaltige Gase, z. B. Methan, in Gegenwart von Wasserstoff bei 1000-2000 °C oder in Plasmaentladungen zersetzt und die Zersetzungsprodukte auf geeignete Flächen kondensiert. Je nach Reaktionsbedingungen scheidet sich kristalliner Diamant oder ein amorpher, aber sehr harter Film von wasserstoffhaltigem ,,diamantartigem Kohlenstoff" ab („diamond-like carbon"). Die CVD-Synthese beruht auf den Reaktionen CH 4 £> C Graphit + 2H 2 (rasche Gleichgewichtseinstellung) und CH 4 £> C Diamant + 2H 2 (langsame Gleichgewichtseinstellung). Gebildete Graphitkeime werden wieder rasch hydriert, Diamantkeime - zunächst recht selten erzeugt - werden andererseits durch Hydrierung langsamer verkleinert als durch Aufwachsvorgänge vergrößert
Fullerene 1,2 Strukturen Ersetzt man in einer Graphenschicht (a) einige C 6 - durch C 5 -Ringe, so erzwingen letztere eine Krümmung der zuvor ebenen Schicht (vgl. (b), (c), (d)):
1. Der Kohlenstoff
(a)
(b)
871
(d)
(c)
Verknüpft man ausschließlich C 5 -Ringe über gemeinsame Kanten, so gelangt man bei Kombination von zwölf derartigen Einheiten zu einem kugelähnlichen Molekül C 2 0 , in welchem die Kohlenstoffatome an den zwanzig Ecken eines dreißigkantigen Pentagondodekaeders (e) mit der Molekülsymmetrie I h lokalisiert sind (vgl. S. 157, 182). Bei ,,Hinzukondensieren" von C 6 -Ringen bleibt der käfigartige Bau des C 20 -Moleküls erhalten; es ändert sich jedoch die Größe, Form, Spannung und - gegebenenfalls - Symmetrie der Käfigoberfläche, die dann Baumotive u. a. des Typs (b), (c) und (d) aufweist. Das kleinste bisher aus Graphit unter geeigneten Bedingungen (s. unten) gewonnene und isolierte, nur aus C-Atomen zusammengesetzte Kugelmolekül stellt C 6 0 dar (die beschriebene Isolierung von C 3 6 ließ sich nicht reproduzieren, bzgl. C 2 0 s. unten). In dieser Kohlenstoffmodifikation besetzen die einzelnen Atome die sechzig Ecken des im Formelbild (f) wiedergegebenen Polyeders aus miteinander kondensierten C 5 - und C 6 -Ringen (Molekül in Richtung einer fünfzähligen Drehachse gesehen). Ihm kommt als ,,eckenabgestumpftes Pentagondodekaeder" ebenfalls I h -Symmetrie zu. Man bezeichnet C 6 0 zu Ehren des amerikanischen Ingenieurs und Architekten Richard Buckminster Fuller (189^—1983), der geodätische Kuppeln nach dem Bauprinzip (f) konstruierte, als Buckminsterfulleren oder Ih-Fulleren-608.
•
I h -Fulleren-20 C2o (Pentagondodekaeder)
(e)
8
I h -Fulleren-60 C 6 0 (Buckminsterfulleren)
(f)
(g)
Geschichtliches Eine Möglichkeit für die Existenz eines ,,hohlen Moleküls" aus ,,zusammengerollten Graphitschichten" sah 1966 erstmals D . E . H . Jones. Kurze Zeit darauf (1970) sagten E.K. Osawa und Z. Yoshida eine besondere (aromatische) Stabilität des gemäß (f) strukturierten Moleküls C 6 0 voraus (das eckenabgestumpfte Dodekaeder wird als archimedischer halbregulärer Körper bereits von Leonardo da Vinci erwähnt). Die Bildung von C 6 0 in kleinen, nicht isolierbaren Mengen (Laserbestrahlung von Graphit im He-Strom) wiesen 1985 erstmals H.W. Kroto, J.R. Heath, S.C. O'Brien, R.F. Curl und R.E. Smalley in USA nach, die Gewinnung wägbarer C 6 0 -Mengen (Graphitverdampfung im elektrischen Lichtbogen) erfolgte 1990 erstmals durch W. Krätschmer und F. Fostiropolous in Deutschland, die mit L.D. Lamb und D . R . Huffman (USA) zusammenarbeiteten. Es folgte 1991 die Isolierung von C 7 0 , C 7 6 , C 7 8 und C 8 4 (Nobelpreise für R.F. Curl, H.-W. Kroto, R . M . Smalley, 1996). Die Bezeichnung niedermolekularer, vom Pentagondodekaeder durch Hinzufügen von C 6 -ringbildenden C-Atomen abgeleiteter Kohlenstoffformen kann durch den Namen Fulleren erfolgen, dem man die Molekülsymmetrie voran-, die C-Atomzahl nachstellt.
872
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
In Buckminsterfulleren (f) liegen Baueinheiten des Typs (b) und (c) bzw. (d) so miteinander verknüpft vor, dass alle C 5 -Ringe des Pentagondodekaeders (e) durch C 6 -Ringe voneinander getrennt sind. Die Packung der resultierenden C 60 -Hohlkugeln im Kristall ist bei Raumtemperatur kubisch-innenzentriert und unterhalb — 24 °C kubisch-einfach (die C 60 -Moleküle ordnen sich dann so an, dass die Mitte einer Baueinheit des Typs (d) eines Moleküls neben die Mitte einer Baueinheit des Typs (b) oder (c) eines benachbarten Moleküls zu liegen kommt). Der resultierende Kohlenstoffcluster ist unter den bisher aufgefundenen hochsymmetrischen, ungeladenen Clustermolekülen der „rundeste". Dies zeigt sich etwa darin, dass sich die C 60 -Teilchen im Kristallverband bei Raumtemperatur wie Kreisel ca. 100 Millionen mal in der Stunde drehen (die Rotation friert bei — 24 0 C ein). Die Struktur des aus miteinander kondensierten zwölf C 5 - und zwanzig C 6 -Ringen aufgebauten C 60 -Clusters erinnert hierbei an das Oberflächenmuster eines Fußballs (vgl. (g); Molekül in Richtung einer dreizähligen Drehachse gesehen). Die einzelnen Ringe des sechzigeckigen und achtzigkantigen ,,32 Flächners" sind planar, die Kohlenstoffatome alle äquivalent. Demgegenüber treten zwei Bindungsarten auf: längere, durch einfache Striche in (g) gekennzeichnete Bindungen innerhalb der C 5 -Ringe (ca. 1.45 Ä) und kürzere, durch doppelte Striche hervorgehobene Bindungen zwischen den C 5 -Ringen (ca. 1.39 Ä). Der Radius einer C 60 -Kugel beträgt 3.51 Ä (Durchmesser 7.02 Ä), die Entfernung zwischen Kugelmittelpunkten in C 60 -Kristallen 10.02 Ä, der kleinste CC-Abstand zwischen C 60 -Einheiten ca. 3.2 Ä (zum Vergleich: Abstand der Schichten im Graphit: 3.35 Ä). Außer C 6 0 wurden noch weitere Fullerene8 aus Graphit unter geeigneten Bedingungen gewonnen und isoliert, z.B.: C 7 0 , C 7 6 , C 7 8 , C 8 4 , C 9 0 und C 9 4 (laut Massenspektrum existieren in der Gasphase alle Fullerene Cn mit geradzahligem n zwischen C 3 0 bis C > 6 0 0 ) . Das Rugbyball-ähnliche D5h-Fulleren-70 (12 C 5 -, 25 C 6 -Ringe) leitet sich von I h -Fulleren-60 (f) durch Hinzufügen zusätzlicher fünf C 6 -Ringe entlang eines Clusterumfangs ab. Hierdurch verformt sich der C 60 -Fußball länglich und nimmt D 5 h Symmetrie an (Formel (h); Molekül in Richtung einer zweizähligen Drehachse gesehen; die fünfzählige Drehachse verläuft in der Papierebene von unten nach oben durch die Mitten gegenüberliegender Bau einheiten des Typs (c)). Das Ellipsoid-ähnliche D2-Fulleren-76 (12 C 5 -, 28 C 6 -Ringe) stellt entsprechend seiner Molekülsymmetrie D 2 eine chirale (/) Kohlenstoffform dar (vgl. S.406), welche in enantiomere Modifikationen aufspaltbar sein sollte (Formel (i); Molekül in Richtung einer zweizähligen Drehachse gesehen; eine zweite C 2 -Drehachse verläuft hierzu senkrecht in der Papierebene von unten nach oben durch die Mitte gegenüberliegender Baueinheiten des Typs (d)). Von C 7 8 existieren konstitutionsisomere Kohlenstofformen: C2v-Fulleren-78 (zwei unterschiedliche Formen) und D3-Fulleren-78 (jeweils 12 C 5 -, 29 C 6 -Ringe). Moleküle einer der C 2V -Formen sind Feuerwehrhelm-ähnlich und besitzen gemäß Formel (k) eine aus einer Baueinheit (d) gebildete stark gekrümmte und eine aus einer Baueinheit (a) bestehende fast ebene Seite (die zweizählige Drehachse verläuft in der Papierebene von unten nach oben durch die Mitten gegenüberliegender Baueinheiten des Typs (d) und (a)). Moleküle der D 3 -Form sind entsprechend ihrer Symmetrie chiral und bilden demgemäß Enantiomere (Formel (l); die dreizählige Drehachse verläuft in der Papierebene von unten nach oben durch die Mitten gegenüberliegender Baueinheiten des Typs (b)). Auch von Fulleren-84, -90 und -94 existieren achirale und chirale Isomere.
D 5h -Fulleren-70
D 2 -Fulleren-76
C 2v -Fulleren-78
(h)
(i)
(k)
D 3 -Fulleren-78 (1)
Bindungsverhältnisse. Beim Ersatz von C 6 -Ringen in Graphitschichten durch C 5 -Ringe ändert sich im Prinzip nichts am Bindungszustand der Kohlenstoffatome: Von jedem (sp2-hybridisierten) C-Atom gehen nach wie vor drei lokalisierte a-Bindungen in der Kohlenstoffatomebene aus, und alle Kohlenstoffatome sind zusätzlich durch delokalisierte n-Bindungen miteinander verknüpft, wobei die p„-Orbitale senkrecht zur Kohlenstoffatomebene ausgerichtet
1. Der Kohlenstoff
873
sind (zu den a - B i n d u n g e n steuert jedes C - A t o m drei Valenzelektronen, zu den n-Bindungen eines bei). Allerdings unterscheidet sich das 7t-System der Fullerene d a d u r c h wesentlich von dem des Graphits oder der ,,aromatischen" Kohlenwasserstoffe (z.B. Benzol, S.888), dass sich ersteres nicht zwei- sondern dreidimensional im R a u m e ausdehnt (,,dreidimensionale Aromatizität"). Die n-Bindungen der Fullerene sind weniger delokalisiert als die des Graphits, die o-Bindungen ,,gespannter", sodass Fullerene hinsichtlich G r a p h i t u . a . deshalb thermodynamisch instabil sind (s.u.). Auch bedingt die f ü r einzelne Fullerene unterschiedliche Spannung im o-Bindungsbereich u n d unterschiedliche Elektronendelokalisation im n-Bindungsbereich, dass Fullerene bestimmter Molekülgröße u n d -struktur thermodynamisch auffallend stabiler als andere sind (stabil sind z.B. C o , C o , C 7 6 , C 7 8 mit den Strukturen (g) - ( l ) ) . Dies sei nachfolgend näher ausgeführt: q-Bindungsbereich. Da die Verknüpfung zweier „aromatischer" C 5 -Ringe über eine gemeinsame Kante zu beachtlichen Spannungen im a-Bindungsbereich führt, ist die thermodynamische Stabilität der aus C 5 - und C 6 -Ringen aufgebauten Fullerene dann vergleichsweise hoch, wenn keine zwei C 5 -Ringe aneinander grenzen (,,Fünfeckregel"); ,4solated pentagon rule; IP-Regel). Das kleinste Fulleren, in welchem keine zwei C 5 -Ringe aneinander grenzen, stellt Buckminsterfulleren C 6 0 (f) dar. Da es zudem ein n-System hoher Delokalisation aufweist (s. u.), kommt ihm unter allen Fullerenen eine herausragende Stabilität zu. Das Fulleren C 2 0 (m), das ausschließlich aus miteinander kondensierten C5-Ringen besteht (vgl. auch (e)), ist andererseits hinsichtlich Graphit thermodynamisch relativ instabil und bildet sich demgemäß nicht wie C 6 0 und höhere Fullerene beim Abschrecken von Graphitdampf (s. unten). Es lässt sich jedoch aus C 20 H20, einem Kohlenwasserstoff, in welchem die Ecken eines Pentagondodekaeders (e) mit CHGruppen besetzt sind, durch Bromierung mit anschließender thermischer Eliminierung von Br2 und HBr aus den gebildeten Produkten C 2 0 H 0 _ 3 Br 1 4 _ 1 t in der Gasphase erzeugen, massenspektroskopisch nachweisen (T1/2 > 0.4 ms) und photoelektronenspektroskopisch eindeutig als neue Spezies neben bisher bekannten C 20 -Isomeren mit anellierten Ringen (n) oder einem Ring (o) von Kohlenstoffatomen identifizieren / C - C , C r' >
/ / c=c
C=C r
f W I
%
'c-c
c-cf c
C— c (m) C 2 q (vgl.e)
f
c
c=c C'
(n) C 2 q (Corannulen)
c^C-C^a9
C
r
%
£
C V
c-'
(o) C M
Für C 60 , C 70 und C 76 erfüllt nur eine der vielen denkbaren Molekülkonstitutionen (vgl. Formeln (g), (h), (i)) die Fünfeckregel, für kohlenstoffreichere Fullerene wächst aber die Zahl ,,erlaubter" Konstitutionen drastisch mit der Zahl der Kohlenstoffatome im Molekül. So sind etwa für C 7S fünf, die Fünfeckregel erfüllende Strukturisomere denkbar. Tatsächlich wurden bisher nur drei Formen aufgefunden (s. oben), was damit zusammenhängt, dass sich vier der fünf möglichen Isomeren leicht ineinander umwandeln können (kleine Umlagerungsbarrieren). Man isoliert infolgedessen nur die spannungsärmste, thermodynamisch stabilste Form dieser vier Isomeren (k) sowie zusätzlich zwei etwas gespanntere Formen Noch größere Spannungen in cr-Bindungsbereich der Fullerene bewirkt ein Ersatz von C 6 -Ringen des Graphits nicht nur durch C 5 -Ringe (,,klassische Fullerene"), sondern zusätzlich durch C 4 -, C 7 -Ringe usw. („nichtklassische Fullerene"). Ihre Bildung durch Abschrecken von Kohlenstoffdämpfen ist daher nicht zu erwarten. Ein kurzlebiges Fulleren C62 mit einem C 4 -Ring neben C 5 - und C 6 -Ringen konnte durch Thermolyse eines -Derivats in der Gasphase erzeugt und massenspektrometrisch nachgewiesen werden 7t-Bindungsbereich. Die 7i-Elektronendelokalisation lässt sich wie im Falle des Graphits mittels einer Mesomerieformel, die aus einer Kombination denkbarer Grenzstrukturen unterschiedlichen Gewichts resultiert (S. 137), veranschaulichen. Eine ,,gewichtige" Grenzstruktur des Buckminsterfullerens stellt etwa die Valenzstrichformel (g) dar. Sie bringt die aus Berechnungen folgende größeren-Elektronendichte der (kürzeren) Bindungen zwischen und kleinere n-Elektronendichte der (längeren) Bindungen in den C 5 -Ringen zum Ausdruck. Besser als in dieser Weise durch die Valenzbond-Methode lässt sich die 7i-Bindungsdelokalisation der Fullerene, d.h. der auf ,,dreidimensionaler Aromatizität" beruhende Anteil der Fullerenstabilität, durch die Molekülorbital-Methode beschreiben. Und zwar kommt den C„-Molekülen immer
874
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Fig. 195 MO-Energieniveauschema besetzter 7i- und leerer n*-MOs von C 6
Fig. 196 Zweidimensional unendlich vernetzte C 60 -Fullerene.
dann hoher aromatischer Charakter zu, wenn alle bindenden 7t-Molekülorbitale mit jeweils zwei Elektronen besetzt sind (,,abgeschlossene Elektronenschalen"), die bindenden n-MOs energiearm sind („starke n-Elektronendelokalisation") und der Energieunterschied zwischen dem obersten elektronenbesetzten Orbital (HOMO) und untersten elektronenleeren Orbital (LUMO) deutlich ist. Derartige Fullerene stellen etwa die Modifikation C 6 0 , C 7 0 , C 7 6 , C 7 8 , C 8 4 mit den „magischen" Zahlen 60, 70, 76, 78, 84 dar, aber auch kohlenstoffärmere und -reichere Formen wie C 2 q, C24, C28, C32, C50, C90, C 9 4 ... . Beispielsweise führt die Kombination der sechzig p^-Atomorbitale von Buckminsterfulleren zu sechzig Molekülorbitalen, von denen dreißig bindenden Charakter haben und mit den sechzig 7t-Molekülelektronen vollständig besetzt sind, während die verbleibenden dreißig antibindenden 7t*-Orbitale elektronenleer bleiben (Fig. 195). Der Energieabstand zwischen fünffach-entartetem HOMO und dreifach-entartetem LUMO beträgt ca. 2 eV (Fig. 195). Eigenschaften Die luft- und wasserstabilen Fullerene bilden je nach Typ und Kristallausmaß gelbbraune bis schwarzbraune, graphitweiche Kristalle, die erst bei hohen Temperaturen sublimieren (C 6 0 /C 7 0 ab ca. 300/350 0 C im Hochvak. und ab 600/650 0 C bei Normaldruck; Smp. von C 6 0 > 360°C), wenoger dicht als Graphit sind (z.B.1.65 g / c m für C 6 0 ) und sich in Wasser nicht, in organischen Medien wie Cyclohexan, Benzol, Toluol, Tetrachlormethan, Schwefelkohlenstoff bzw. in Amin-haltigem Wasser mäßig lösen (in Grammengen pro Liter; z.B. 5 g C 6 0 pro Liter B e n z o l ) I n sehr dünnen Schichten (Filmen) erscheinen sie gelb bis gelbgrün Verdünnte Lösungen von C 6 0 sind als Folge von n 7t*-Elektronenübergängen (S. 175) purpur- bis violettrot, von C 7 0 tieforangerot, von C 7 6 hellgelbgrün, von C 2v -C 78 kastanienbraun, von D 3 -C 7 8 goldgelb und von C 8 4 olivgrün. Die Elektronenaffinität von C 6 0 liegt mit ca. — 2.7 eV zwischen der von Schwefelatomen (—2.07 eV) und Iodatomen (— 3.063 eV). Das Elektron wird hierbei in ein LUMO eingebaut (vgl. Fig. 195; insgesamt kann C 6 0 bis zu 6 Elektronen in den LUMO-Zustand aufnehmen, S. 883). Die Ionisierungsenergie von C 6 0 beträgt ca. 7.6 eV (zum Vergleich: C-/Si-/Ge-/Sn-Atome: 11.26/8.15/7.90/7.34 eV). Im Kristallverband tritt eine schwache Wechselwirkung zwischen den 7t-Elektronen benachbarter C 60 -Moleküle ein, die der zwischen dem 7t-System benachbarten Graphitschichten gleicht (s. dort). Dies führt, wie auf S. 1421 noch zu besprechen sein wird, zur Ausbildung eines 7t-Valenzbandes (hervorgegangen aus den HOMO-Zuständen) und 7t-Leitungsbandes (hervorgegangen
9
Ebene Moleküle (,,Annulene") weisen aromatischen Charakter auf, sofern sie (4n + 2) 71-Elektronen aufweisen (2, 4, 10, 14 71-Elektronen im Falle « = 0, 1, 2, 3; vgl. S. 888), sphärische Moleküle (,,Fullerene"), wenn ihnen 2(n + 1) 2 71-Elektronen zukommen (2, 8, 18, 32, 50, 72, 98 71-Elektronen im Falle « = 1, 2, 3, 4, 5, 6). Abgeschlossene Elektronensysteme der Fullerene haben somit gleich viele Elektronen wie Atome mit abgeschlossenen Elektronenschalen (2, 6, 10, 14, 18, 22 Elektronen im Falle der s-, p-, d-, f-, g-, h-Schale; energetisch günstig sind somit Systeme mit 2, 2 + 4 = 8, 2 + 6 + 10 = 18 Elektronen usw.). Abweichungen von der idealen Elektronenzahl bedingen Fullerenverzerrungen. So weist das Fulleren C 6 0 (60 71-Elektronen) zwei unterschiedliche Bindungslängen auf (für C60 + oder C e r w a r t e t man gleichlange CC-Bindungen). Auch kommen den Fullerenen C 2 0 bzw. C 8 0 (20 bzw. 80 71-Elektronen), für die ähnlich wie für C 6 0 Strukturen mit I h -Symmetrie möglich sind, nur C 2 - bzw. D 2 -Symmetrie zu (das C 8 0 -Gerüst des endohedralen Fullerens S c 3 N 6 + @ C 6 0 (vgl. Formel (q)) mit 86 71-Elektronen weist I h -Sym80 metrie a u f 0 ™ Physiologisches Fullerene sind wohl - ähnlich wie Graphit und Diamant - nicht sehr giftig (ob sie cancerogen sind, wird derzeit überprüft). Eine gewisse Gefahr stellt Singulett-Sauerstoff (S. 510) dar, der sich an Fullerenoberflächen in Anwesenheit von Licht und Triplett-Sauerstoff bildet.
1. Der Kohlenstoff
875
aus den LUMO-Zuständen) mit einer Bandlücke von nur 1.5 eV (Bandbreiten ca. 0.5 eV). Als Folge hiervon wirkt C 6 0 - ähnlich wie Graphit senkrecht zu den Schichten - richtungsunabhängig als Halbleiter. Nach Aufnahme von bis zu drei Elektronen wird C 6 0 zum metallischen Leiter (bei tiefen Temperaturen zum Supraleiter), nach weiterer Aufnahme von drei Elektronen zum Nichtleiter. Erhitzt man Fullerene unter Luftabschluß auf über 1500 °C, so verwandeln sich diese unter Wärmeabgabe in Graphit, z.B.: 60 C 6 0 fl - , C Graphit + 38.78 kJ ; 7 C 7 0 (Q - , C Graphit + 36.50 kJ. Unter hohem Druck und erhöhter Temperatur pofymerisiert C 6 0 (Ausbildung kovalenter Bindungen zwischen C 60 -Einheiten, die zu C 4 -Ringen führen; vgl. Fig. 196). Je nach den Reaktionsbedingungen entstehen hierbei zwei- oder dreidimensional vernetzte Strukturen (Fig. 196). Bereits beim Verreiben von C 6 0 , d.h. durch „tribochemische" Bearbeitung (griech. tribein = reiben) entsteht in Anwesenheit von KCN das als Polymerisationsvorstufe deutbare hantelförmige Dimer C 6 0 = C 6 0 . Die Polymerisationsneigung wächst bei den ,,gespannteren" Fulleren C < 6 0 so stark an, dass sich letztere Spezies unter Normalbedingungen nicht mehr isolieren lassen, es sei denn, man mindert die Spannung durch Addition geeigneter Reaktanden an einigen Doppelbindungen. So konnte etwa C 50 C1 10 isoliert und strukturanalytisch charakterisiert werden. Die C 60 -Polymeren zeichnen sich durch sehr große Härte aus. Es sei hier noch erwähnt, dass Laserbestrahlung von C 6 0 bzw. C 7 0 zu Fullerenen C 1 2 0 bzw. C 1 4 0 führt.
Gewinnung Will man Graphit in Fullerene umwandeln, so muss man diesen durch starkes Erwärmen zunächst unter Bildung kleiner Kohlenstoffcluster (C2, C 3 , C 4 usw.) verdampfen. Beim anschließenden Abkühlen des Clusterdampfes bilden sich dann Fullerene als Zwischenstufen, deren weitere Umwandlung in Graphit durch thermisches Abschrecken verhindert wird (Überführung in den metastabilen Zustand). In der Praxis erfolgt die Verdampfung von Graphit durch Widerstandsheizung. Hierzu schickt man durch zwei separierte oder in Kontakt stehende Graphitstäbe in einem abgeschlossenen, mit Helium oder Argon von 100-200 mbar Druck gefüllten Gefäß elektrischen Strom (in ersterem Falle Ausbildung eines elektrischen Lichtbogens). Gebildete Fullerene setzen sich dann zusammen mit Ruß (s. oben) und Kohlenstoff-Nanoröhren (s. unten) an den Gefäßwänden ab. Aus dem Ruß lassen sich die Fullerene mit siedendem Benzol, Toluol, Cyclohexan, Tetrachlorkohlenstoff oder anderen organischen Medien als braunrote Lösung extrahieren oder im Hochvakuum bei 400 °C und darüber absublimieren. Die Aufspaltung des Fullerengemischs in einzelne Kohlenstoffmodifikationen erfolgt mit Vorteil durch Chromatographie (Vortrennung in Aktivkohle/SiO2-haltigen Säulen; Feinreinigung in Säulen mit Polystyrolgel oder durch HPLC; vgl. S. 10). Unter günstigsten Bedingungen erhält man auf diese Weise C 6 0 , C 7 0 und höhere Fullerene in 14%iger Gesamtausbeute, bezogen auf gebildeten Ruß; der Hauptanteil besteht dabei aus den - auch im Handel erhältlichen - Formen C 6 0 und C 7 0 , die im Molverhältnis ca. 5 : 1 entstehen. Im Extrakt eines mit siedendem 1,2,4-Trichlorbenzol (Sdp. 214°C) behandelten Rußes wurden auch höhere Fullerene mit bis zu 200 Kohlenstoffatomen nachgewiesen Die auch in rußenden Flammen (insbesondere Benzolflammen) anzutreffenden Fullerene bilden sich auf dem Wege über C„-Schichtfragmente, die aus kleineren linearen C„-Bruchstücken ( C = C , C = C = C , C—C—C—C usw.) durch ,,Cycloadditionsprozesse" entstehen und durch ,,Abrollprozesse" in die „hohlen" Kohlenstoffmodifikationen übergehen. Bei den Schichtfragmenten handelt es sich hierbei weniger um Graphitbruchstücke (miteinander kondensierte C 6 -Ringe), als vielmehr um Fullerenausschnitte (miteinander kondensierte C 6 - und C 5 -Ringe; vgl. z. B. Formel (n)), da sich erstere - wie leicht gezeigt werden kann unter Verminderung der Zahl valenzmäßig ungesättigter C-Atome am Schichtrand in letztere umlagern können, was insgesamt die Systemstabilität erhöht. Nach massenspektrometrischen Untersuchungen enthält Kohlenstoffdampf (erzeugt durch Laserbestrahlung) Cn-Cluster mit n bis über 600. Hierbei ist«im Bereich bis ca. 24 (lineare und schichtförmige C„-Fragmente) sowohl gerad- wie ungeradzahlig, im Bereich ab ca. 36 (Fullerene) nur noch geradzahlig (Cluster mit ca. 25 bis 35 C-Atomen bilden sich nur in verschwindend kleinen Mengen). Auf ähnlichen Wegen wie Fullerene entstehen auch Heterofullerene, z. B. aus BN-haltigem Graphit die borhaltigen Verbindungen C 60 _„B„ (n = 1 — 6), die als Lewis-Säuren ein Molekül N H pro B-Atom aufzunehmen imstande sind. Es konnten auch stickstoffhaltige Spezies C^N^ (x = 1, 2, 4, 6; C 5 9 N dimerisiert in kondensierter Phase: C 5 9 N—NC 5 9 ) sowie C 7 0 N 2 , sauerstoffhaltige Spezies C^O^ (x = 1,2) sowie C 7 0 O und andere Heterofullerene (z.B.Ti s C 1 2 ) gewonnen werden. In Anwesenheit von Alkali-, Erdalkali-, frühen Übergangsmetallen bzw. von Übergangsmetalloxiden sowie Edelgasen bilden sich darüber hinaus Fullerene, in deren Hohlraum die betreffenden Metall- sowie Edelgasatome eingeschlossen vorliegen. Durch Beschuss dünner Fullerenschichten auf einer Kathode mit energiereichen Kationen N + bzw. P + ließen sich des weiteren Fullerene mit N- und P-Atomen im Käfiginneren gewinnen. Man be-
876
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
zeichnet derartige ,,Einschlussverbindungen" als endohedrale Fulleren-Komplexe (vgl. Formeln (p), (q), (r)) und unterscheidet sie so von den exohedralen Fulleren-Komplexen (z. B. ( P 4 ) 2 C 6 0 , ( S S ) 2 C 6 0 , N a 3 C 6 0 ) , in welchen sich eine Nichtmetallgruppe oder das Metall außerhalb des Fullerenkäfigs aufhält. Erstere Komplexe werden durch das Symbol zwischen der Formel der eingeschlossenen Spezies und dem betreffenden Fulleren C„ gekennzeichnet, z. B.: M@C 2 S mit M = Ti, Zr, Hf, U; La@C„ mit n = 60, 70, 74, 82; B a @ C 7 4 ; M @ C S 2 mit M = Sc, Y, La, Lanthanoide; S c 2 @ C „ mit N = 66, 82, 84; L a 2 @ C S 0 ; M 2 @ C S 0 m i t M = C e , T b , L a ; M 2 @ C S 2 m i t M = Sc, Y , L a ; L a 3 @ C „ m i t n = 1 0 6 , 1 1 2 ; S c 3 N @ C „ m i t
n = 68, 78, 80 (q); S c 2 C 2 @ C S 4 (r) 4= S c 2 @ C S 6 ; E g @ C „ mit Eg = Edelgas; H 2 @ C „ ; H e 2 @ C „ ; N @ C „ mit n = 60 (p), 70; P@C 6 0 . Die Metalle geben hierbei an die Fullerene Elektronen ab (z. B. L a 2 @ C S 0 = 2 L A S C 3 N @ C s o = S c 3 N 6 + @ C ® 0 (q) (analog: Y 3 N @ C S 0 , L n 3 N @ C S 0 mit Ln = Gd—Lu), die Nichtmetalle übernehmen jedoch keine Elektronen von den Fullerenen ( N @ C 6 0 = N @ C 6 0 (p)). Mehratomige Einschlüsse führen im Fullereninneren kreisförmige Bewegungen a u s
(p) N @ C S o
(q) S c 3 N @ C 8 0
(r) S c 2 C 2 @ C 8 4
Kohlenstoff-Nanoröhren Strukturen N e b e n R u ß , u n g e o r d n e t e n K o h l e n s t o f f c l u s t e r n ( , , K o h l e n s t o f f z w i e b e l n " ) u n d Fullerenen werden im weiter o b e n beschriebenen F u l l e r e n - G e n e r a t o r a u c h , , K o h l e n s t o f f - N a n o röhren" gebildet 2 . Die einzelnen R ö h r e n bestehen typischerweise aus 1 - 5 0 i n e i n a n d e r geschob e n e n H o h l z y l i n d e r n aus g e b o g e n e n G r a p h e n s c h i c h t e n , d e r e n E n d e n häufig d u r c h „ h a l b e " Fullerenmoleküle (enthalten jeweils sechs C 5 - R i n g e ) abgeschlossen sind. Meistens h a b e n diese mehrwandigen Kohlenstoff-Nanoröhren (,,multi-walled carbon nano tubes", M W N T ) einen äußeren D u r c h m e s s e r v o n einigen zig N a n o m e t e r n (nm) bei einer L ä n g e v o n einigen M i k r o m e t e r n (|im), w o b e i der H o h l r a u m d u r c h m e s s e r des innersten Zylinders 1 - 3 n m b e t r ä g t . In G e g e n w a r t v o n Ü b e r g a n g s - oder L a n t h a n o i d m e t a l l e n als K a t a l y s a t o r e n entstehen a u c h einwandige Kohlenstoff-Nanoröhren (,,single-walledcarbon nanotubes", S W N T ) , d e r e n D u r c h m e s ser meist 1 - 2 n m bei einer L ä n g e v o n m e h r e r e n |im b e t r ä g t (s). Sie lagern sich als Folge v o n van-der-Waals- u n d | t - B i n d u n g s - A t t r a k t i o n e n zu bis zu 100 |tm langen Bündeln (,,ropes") trig o n a l - d i c h t g e p a c k t e r Stränge aus h i n t e r e i n a n d e r a n g e o r d n e t e n Einzelröhren z u s a m m e n . Bei den einwandigen Röhren spielt die Orientierung des Kohlenstoff-Netzwerks relativ zur Röhrenachse eine wesentliche Rolle. Die offenen Nanoröhren können durch einen Zick-Zack-Rand (,,Zick-Zack-Röhren"; (t)) bzw. einen Armsesselrand (,,Armsesselröhren") begrenzt sein. In erstem Falle erfolgt eine Wicklung der auf S. 865 in Fig. 192a wiedergegebenen Graphenschicht von unten nach oben, im zweiten Falle von rechts nach links (Winkel zwischen den Achsen der in (t) bzw. (u) schraffierten anellierten C 6 -Ringe mit der Röhrenachse 30° bzw. 0°). Es gibt aber auch Orientierungen zwischen beiden Möglichkeiten (,,Helicale Röhren", z. B. (v)), wodurch die betreffenden Moleküle chiral werden (Winkel zwischen der Achse der in (v) schraffierten anellierten C 6 -Ringe mit der Röhrnachse im Bereich > 0° bis < 30°). Bei mehrwandigen Röhrengebilden sind die einzelnen Röhren teils achiral, teils chiral. Bindungsverhältnisse In den Kohlenstoff-Nanoröhren liegen wie im Graphit sp 2 -hybridisierte C-Atome vor, doch sind die CC-Bindungen wegen der Krümmung der Schichten schwächer und demgemäß reaktiver als die von Graphit. Der gegenseitige Abstand der ineinander gestellten Röhren (3.40 Ä) ist etwas größer als der der Graphenschichten in Graphit (3.35 Ä). Eigenschaften Einwandige - zur Zeit intensiv erforschte - Kohlenstoff-Nanoröhren zeichnen sich durch sehr große mechanische Festigkeit aus. Bei Röhrenbündeln wurde eine Zugfestigkeit von 37GPa, bei Einzelröhren zum Teil eine solche von 68 GPa aufgefunden (bisher größter Wert für ein Material). Darüber
1. Der Kohlenstoff
877
(s) Linie entspricht mittlerem Ausmaß einer Kohlenstoff-Nanoröhre
RöhrenAchse
(t) Zick-Zack Röhre
(u) Armsessel-Röhre
(v) Helicale Röhre
hinaus weisen die Kohlenstoff-Nanoröhren eine sehr hohe Elastizität auf (bei starker Beanspruchung knicken die Röhren unter Verformung der Wand ein). Des weiteren kommt den Nanoröhren elektrisches Leitvermögen zu; und zwar zeigen alle Armsesselröhren metallisches Verhalten, während Zick-Zack- oder Helicale Röhren teils metallische Leiter, teils Halbleiter sind. Bei der Synthese werden etwa dreimal so viele halbleitende Nanoröhren wie metallisch leitende erhalten. Bei mehrwandigen Nanoröhren überlagern sich halbleitendes und metallisches Verhalten der Einzelröhren. Die Enden der Nanoröhren haben im elektrischen Feld ein gutes Elektronen-Emissionsvermögen. Entsprechend ihrer elektrischen Leitfähigkeit sind die Röhren gute Wärmeleiter Gewinnung. Mehrwandige Kohlenstoff-Nanoröhren werden - wie erwähnt - meist mit Apparaturen gewonnen, die denen für die Herstellung von Fullerenen entsprechen (S. 875). Die Röhren sind in den Ablagerungen zusammen mit Ruß, schlecht geordnetem Kohlenstoff und Fullerenen enthalten. Für die Herstellung einwandiger Kohlenstoff-Nanoröhren verwendet man hohle Graphitstäbe als Kathode, die mit einem Pulvergemisch aus Graphit und Übergangsmetallen wie Fe, Co, Ni und zusätzlich Lanthanoiden wie Y, La, Gd, Nd gefüllt werden. Wesentlich weniger Nebenprodukte erhält man bei der Verdampfung von auf 1200 °C vorgeheizten Preßlingen aus Graphitpulver und feinteiligen Metallen mit intensiven Laserstrahlen. Die hierbei in der Gasphase gebildeten Spezies werden - nach Verlassen des Reaktors - entweder abgeschieden oder aus dem Gasstrom herausgefiltert. Eine weitere Möglichkeit zur Gewinnung einwandiger Röhren besteht in der thermischen Zersetzung von Kohlenwasserstoffen (z. B. Methan, Ethylen, Acetylen) an sehr kleinen katalytisch wirkenden Metallteilchen. Letztere werden meist auf keramischem Material aufgetragen, können aber auch in der Gasphase durch Thermolyse geeigneter metallorganischer Verbindungen erzeugt werden Zur Reinigung extrahiert man aus dem abgeschiedenen Material die Fullerene mit Toluol oder Schwefelkohlenstoff und löst die Metalle in Säuren auf bzw. trennt letztere durch Mikrofiltration ab. Ungeordneter Kohlenstoff ist reaktiver als die Kohlenstoff-Nanoröhren; er kann demzufolge durch Oxidation mit heißer Salpetersäure entfernt werden, wobei man allerdings auch vorhandene Kappen an den Enden der Nanoröhren zerstört und durch sauerstoffhaltige Endgruppen wie COOH ersetzt
1.1.3
Chemische Eigenschaften
Allgemeines Redox-Reaktionen. Kohlenstoff ist ein reaktionsträges Element, das erst bei verhältnismäßig hohen Temperaturen oder bei sonstiger Energiezufuhr mit anderen Elementen in Reaktion tritt und von nichtoxidierenden Säuren und Basen nicht angegriffen wird. Hierbei ist Diamant noch reaktionsträger als Graphit, die Fullerene oder die Kohlenstoff-Nanoröhren. So vereinigt sich z.B. der W a s s e r s t o f f mit Kohlenstoff nur dann zum Acetylen C 2 H 2 , wenn m a n zwischen Kohleelektroden in einer Wasserstoffatmosphäre einen Lichtbogen brennen lässt 226.9 kJ + 2 C + H 2
C2H2
(die Bindungsenthalpie AH { von Kohlenwasserstoffen C„H m ist teils negativ wie bei Methan C H 4 , teils positiv wie bei Acetylen C 2 H 2 ) .
878
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Von den H a l o g e n e n reagiert das reaktionsfähige Fluor bereits bei gewöhnlicher Temperatur. So kommt Ruß im Fluorgas ins Glühen und verbrennt bei Gegenwart überschüssigen Fluors zu Kohlenstofftetrafluorid CF 4 : C + 2F 2 ->CF 4 + 925.3 kJ. Dagegen vereinigt sich Kohlenstoff mit Chlor nur unter ähnlichen Versuchsbedingungen wie bei der oben erwähnten Acetylensynthese unter Bildung von Hexachlorethan C2C16 und Hexachlorbenzol C6C16. Das dem Kohlenstofftetrafluorid entsprechende Kohlenstofftetrachlorid CC14 muss auf anderem Wege (z. B. Chlorieren von Kohlenstoffdisulfid: CS 2 + 2C12 -> CC14 + 2S) gewonnen werden. Mit S a u e r s t o f f (S. 896) und Wasserdampf (S. 896) reagiert Kohlenstoffje nach der Sauerstoff-(Wasserdampf-)Menge und Temperatur unter Bildung von Kohlenmonoxid CO oder Kohlendioxid C O (die wiedergegebenen Reaktionsenthalpien beziehen sich hier wie in anderen Fällen auf Graphit, der um 1.899 kJ/mol C energieärmer als Diamant und um 38.8 kJ/ mol energieärmer als Buckminsterfulleren ist): C+j02 CO + ^ 0 2 C+
CO +110.60 kJ CO 2 + 283.17 kJ
0 2 ^ CO 2 + 393.77 kJ;
131.38 kJ + C + CO +
H 2 O(g) ^ CO + H 2 O(g) -> CO 2 +
90.19 kJ + C + 2 ^ O ( g H
H2 H 2 + 41.19 kJ
CO 2 + 2H 2 .
Dass bei der Verbrennung des Kohlenstoffs zu Kohlenoxid weit weniger W ä r m e entwickelt wird als bei der weiteren Verbrennung des Kohlenoxids zu Kohlendioxid, rührt daher, dass zur Bildung des g a s f ö r m i g e n Kohlenoxids aus dem festen Kohlenstoff eine Sprengung der Kohlenstoffbindungen des Graphitgitters erforderlich ist. Der hierfür erforderliche Energieaufwand wird der bei der Bildung des Kohlenoxids freiwerdenden Energie entnommen, sodass die abgegebene Energiemenge klein ist oder wie im Falle der Einwirkung von Wasserdampf auf Kohlensto sogar Energie zugeführt werden muss Bei der Weiteroxidation des g a s f ö r m i g e n Kohlenoxids zu g a s f ö r m i g e m Kohlendioxid fällt diese Trennungsarbeit fort, sodass hier Energie freigesetzt wird.
Beim Überleiten von Schwefeldampf über glühende Holzkohle bildet sich Kohlenstoffdisulfid (,,.Schwefelkohlenstoff") CS 2 ; von den Elementen der Stickstoff- und Kohlenstoffgruppe verbindet sich der Stickstoff unter den Bedingungen der Acetylensynthese mit Kohlenstoff zu „Dicyan" C 2 N 2 , das Silicium bei 2000°C zu Siliciumcarbid SiC (,,Carborund "): 89.76 kJ + C + i S 8
CS 2 ;
309.2 kJ + 2C + N 2
C2N2;
Si + C
SiC + 65.3 kJ.
Auch die Vereinigung mit Metallen geht erst bei hoher Temperatur vor sich. Unter diesen Metall-Kohlenstoff-Verbindungen (,,Carbide", s.u.) ist das Calciumcarbid CaC 2 (S. 1247) besonders wichtig, welches das Acetylid-Ion C 2~ enthält. Redox-Reaktionen bestimmen auch den Kreislauf des Kohlenstoffs. Er ist dadurch charakterisiert, dass Kohlenstoff bzw. kohlenwasserstoffhaltige Verbindungen von Luftsauerstoff zu Kohlendioxid oxidiert werden (normale und stille Verbrennungen in der freien Natur, enzymatische „Verbrennungen" in den Organismen), worauf C O durch Assimilation wieder in kohlenwasserstoffhaltige Verbindungen verwandelt wird. Diese werden als solche oder in Form von Kohle, Erdöl, Erdgas (gebildet nach Ablagerung der Biomassen unter Luftabschluss) wieder oxidiert.
Säure-Base-Reaktionen Eine gewisse Reaktionsfähigkeit entfaltet Kohlenstoff gegenüber einigen Lewis-sauren Komplexen L n M der Übergangsmetalle, die sich an Graphit oder Fullerene unter Bildung von Kohlenstoff-Komplexen („Graphit- und Fullerenkomplexen") anzulagern vermögen (s. unten). Auch sind Komplexe C(ML„)m des Kohlenstoffs („Carbidokomplexe") bekannt 8).
1. Der Kohlenstoff
879
Graphitverbindungen 1 Unter besonderen Bedingungen vermag der Graphit unter Erhalt der Graphenschichten mit einer Reihe chemischer Stoffe (Halogene, Alkali- und Erdalkalimetalle, oxidierende Säuren, Elementhalogenide) zu kovalent oder ionisch gebauten Graphitverbindungen zu reagieren. Kovalente Graphitverbindungen Erhitzt man gut kristallisierten G r a p h i t mit F l u o r auf ca.700°C, so entsteht durch Aufsprengung der Kohlenstoffebenen in der Hauptsache Kohlenstofftetrafluorid CF 4 (s. oben). Erwärmt man aber nur auf 400-600°C, so bleiben die Kohlenstoffschichten erhalten, und jedes Kohlenstoffatom bindet mit seinem freien vierten Elektron kovalent ein Fluoratom, sodass im Grenzfall - unter Addition von F2 an alle C=C-Doppelbindungen - eine Verbindung der Zusammensetzung (CF),. entsteht („Graphitfluorid"). Die turbostratisch (S.864) geordnete Verbindung enthält gemäß Fig.197a gewellte Kohlenstoffschichten, mit sp3-hybridisierten, einfach mit drei Kohlenstoffatomen und einem Fluoratom verknüpften C-Atomen (CC-Abstand: 1.47 Ä; CF-Abstand: 1.4 Ä). Die C—F-Bindungen sind abwechselnd nach oben und unten gerichtet (Fig. 181). Der Schichtabstand variiert bei einzelnen Präparaten von 5.80 bis über 6.15 Ä und ist somit wesentlich größer als im Graphit (3.35 Ä). Da am Schichtrand und an Schichtdefekten zusätzlich Fluoratome gebunden sein können, ergibt sich eine Verbindungszusammensetzung von maximal CF Die hydrophobe Verbindung ist im reinen Zustande farblos (weiß durchsichtig), fühlt sich wie Talk an und leitet zum Unterschied von Graphit erwartungsgemäß den elektrischen Strom nicht mehr. Graphitfluorid verhält sich chemisch inert (z.B. gegen Wasser, Säuren und Basen). Bei raschem Erhitzen auf höhere Temperaturen verpufft es unter Abgabe von CF 4 , C 2 F 4 und anderen Kohlenstofffluoriden sowie Bildung von schwarzem flockigem Kohlenstoff; mit Fluor geht es bei höheren Temperaturen in CF4 über. Graphitfluorid findet als ausgezeichnetes Trockenschmiermittel Anwendung, das auch unter Weltraumbedingungen seine Wirksamkeit nicht verliert Bei weniger gründlicher Hochtemperatur-Fluorierung von Graphit erhält man schwarze bis graue, elektrisch leitende Produkte der Zusammensetzung CF0 7 _ 0 9 , bei Raumtemperatur-Fluorierung (F 2 /HF) schwarze, elektrisch leitende Fluoride CF 0 2 5 _ 0 30 . Letzteres „Graphitsubfluorid" der ungefähren Zusammensetzung (C 4 F) x enthält gemäß Fig. 197 b noch die planaren Graphenschichten des Graphits. Sie finden als Elektroden in Knopfzellen hoher Energiedichte praktische Anwendung (Gegenelektrode: Lithium). Analog der Bildung von Graphitfluorid (CF bei der Umsetzung von Graphit mit Fluor erhält man durch Oxidation von in konz. H 2 S 0 4 bzw. HNO s suspendierten G r a p h i t s a l z e n (s. unten) mit Chlordioxid oder D i m a n g a n h e p t a o x i d ein „Graphitoxid", dessen Zusammensetzung letztendlich der Formel C s 0 4 H 2 nahekommt (bei maximaler Oxidation entsteht Mellitsäure C ^ O j 2 H 6 , s.S.901). Die Verbindung enthält OH-Gruppen mit schwach saurem Charakter und wird daher auch als „Graphitsäure" bezeichnet. Beim Erhitzen verpufft sie bei 200-320 °C unter Abgabe von CO, C O und H 2 0 zu einem äußerst lockeren Graphitoxid mit geringem Sauerstoffgehalt. Elektrovalente Graphitverbindungen Während im Falle der oben besprochenen kovalenten G r a p h i t v e r b i n d u n g e n die im Graphit eingelagerten chemischen Stoffe (Fluor, Sauerstoff) durch E l e k t r o n e n p a a r b i n d u n g e n mit Kohlenstoff verknüpft sind, bilden sich durch Einlagerung chemischer Stoffe, die als Elektronendonatoren bzw. -akzeptoren zu wirken vermögen, unter gleichzeitigem L a d u n g s a u s tausch nach (summarisch): - c X
x
+
q
— ' (häufig n = 8)
KC'L
bzw.-c,— X
' K C L + e .
(häufig n = 24)
(B) (C4F)X
Fig. 197
Strukturen der Graphitfluoride (CF)X (a) und (C 4 F) (b).
880
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Graphit-Intercalationsverbindungen mit anionischem oder kationischem Kohlenstoff (ionische Verknüpfung der eingelagerten Stoffe mit Kohlenstoff). Dabei unterscheidet man je nachdem, ob nach jeder Graphenschicht oder nach jeweils zwei, drei, vier ... Graphenschichten eine Einlagerungsschicht (Intercalationsschicht) folgt, eine 1., 2., 3., 4 ,,Stufe" der Graphit-Intercalationsverbindung (vgl. Fig. 198b). Elektronendonatoren. Mit geschmolzenem oder dampfförmigem Kalium, Rubidium oder Cäsium reagiert der Graphit spontan zu goldgelben Alkalimetallgraphiten der Stöchiometrie M C , mit Lithium zu goldgelbem LiC 6 (Schichtfolge jeweils C, M; C, M ; . . . vgl. Fig. 198 b,1. Stufe) und mit Natrium zu tiefviolettem NaC 6 4 (man kennt auch NaC 3 2 , NaC 1 2 0 ). In ihnen liegen die Kohlenstoffatome der C-Schichten übereinander und die Alkalimetall-Ionen befinden sich zwischen den C-Schichten jeweils über und unterhalb der Kohlenstoffsechseckmitten (Fig. 198a). Der Abstand der Kohlenstoffschichten vergrößert sich durch die Einlagerung der Alkalimetalle von 3.35 Ä im Graphit auf 5.40 Ä (K), 5.61 Ä (Rb) bzw. 5.75 Ä (Cs). Die pyrophoren, schwach paramagnetischen Verbindungen sind spröde und haben metallisches Leitvermögen, das in Schichtrichtung etwa 30-mal und senkrecht hierzu etwa 10-mal größer ist als das von Graphit in entsprechenden Richtungen. Beim Erhitzen zerfallen die - in grober Näherung durch die Formel M + Cg bzw. Li + Cg beschreibbaren - Verbindungen in die Komponenten; von Wasser werden sie heftig zersetzt. Mit M X wie Ti(OR) 4 , MnCl 2 , FeCl 3 , CoCl 2 , CuCl 2 , ZnCl 2 reagiert Kaliumgraphit in Tetrahydrofuran möglicherweise gemäß «KC 8 + MX„ M C « + nKX zu ,,Graphit-Komplexen" MC 8 „ (« = Übergangsmetall-Wertigkeit). Man kennt neben dieser 1. Stufe auch höhere Stufen der Alkalimetallgraphite (Fig. 198 b). Die 2. Stufen M C 4 (Schichtfolge C,C,M; C,C,M;...) sind stahlblau., die 3. Stufen MC 3 6 (Schichtfolge C,C,C,M; C,C,C,M;...) und die höheren Stufen sind schwarz. Mit Kalium sind alle Stufen bis zur 11. Stufe gewinnbar. Die Packung des Alkalimetalls ist in den höheren Stufen weniger regelmäßig. Auch bildet sich aus Graphit und geschmolzenem Kalium die Verbindung KC 4 , in welcher Kaliumdoppelschichten zwischen jeder Graphenschicht eingelagert sind. Ähnliche Verbindungen wie mit den Alkalimetallen können auch mit den Erdalkalimetallen Ca, Sr, Ba und mit den Lanthanoiden Eu, Yb und Sm dargestellt werden. Elektronenakzeptoren. Vielfältiger als die Zahl der Donatorverbindungen ist die Zahl der Graphitverbindungen mit Elektronenakzeptoren. So reagieren etwa Brom und Chlor spontan mit Graphit zu C 1 6 X 2 (.Halogengraphit, 2. Stufe), in welchem die Intercalationsschichten X 2 -Anionen und X 2 -Moleküle (Verhältnis noch unbekannt) enthalten. Man kennt auch höhere Graphitstufen C„Br2 (n = 24, 28, 32, 40, 56), aber keine Intercalationsverbindung des Tods (Fluor bildet mit Graphit kovalente Verbindungen, s. o.). Durch vorsichtige O x i d a t i o n von G r a p h i t in konz. Schwefelsäure mit Oxidationsmitteln wie HNO 3 , C r 0 3 oder (NH 4 ) 2 S 2 0 8 erhält man unter Einlagerung von HSO 4 -Ionen sowie H 2 SO 4 -Molekülen zwischen die Graphitschichten und Aufweitung des Schichtenabstandes (von 3.35 auf 7.98 Ä) ein blaues Graphitsalz der Zusammensetzung C 2 4 HSO 4 • 2.4H 2 SO 4 (Graphithydrogensulfat, 1. Stufe; bei Verwendung von 80%iger H 2 SO 4 entsteht die 2. Stufe). Behandlung von Graphit mit anderen starken Säuren (z.B. HClO 4 , CF 3 SO 3 H, H N O , H 2 SeO 4 , H 3 PO 4 ) in Gegenwart von Oxidationsmitteln liefert andere ionische Graphitsalze (Perchlorat, Nitrat, Hydrogenselenat, Hydrogenphosphat). Auch bei der elektrochemischen Oxidation von Graphitanoden in Anwesenheit starker Säuren bilden sich Graphitsalze. Die Salze (1. Stufe stahlblau, höhere Stufen dunkel bis schwarz) werden wie alle Akzeptorverbindungen des Graphits von Wasser und von feuchter Luft leicht angegriffen und haben eine im Vergleich mit Graphit erhöhte elektrische Leitfähigkeit (,,synthetic metals"). Graphiteinlagerungsverbindungen (Intercalate in engerem Sinne) entstehen auch mit Elementfluoriden wie (Cl,Br)F3, (Si,Ge,Ti,Xe)F4, (I,P,As,Sb,Nb,Ta)F5, mit Elementchloriden wie (Be,Mn,Co,Ni,Pd,Cu,Zn,Cd,Hg)Cl 2 , (B,Al,Ga,In,Tl,Y,Ln,Cr,Fe,Co,Rh,Au,I)Cl 3 , (Zr,Hf,Re,Ir,Pd,Pt)Cl 4 , (Sb,Mo,U)Cl 5 , (W,U)C16 und Elementbromiden wie CuBr 2 , (Al,Ga,Au)Br 3 . Bei der Herstellung ist teilweise Halogen als Oxidationsmittel notwendig. Die intercalierten Halogenide, die vielfach nicht in erster M . 9 2 6 ÄH
oooo oooo O O Q Q oooo oooo oooo oooo oooo oooo oooo 1.
2. Stufe
3.
Graphitschicht • Kohlenstoff
) Alkalimetall (a)
Alkalimetall (b)
Fig. 198 Alkalimetallgraphite. (a) Schicht von M C (M = K, Rb, Cs); (b) Seitenansicht einer 1., 2. und 3. Graphitstufe.
1. Der Kohlenstoff
881
Stufe (meist blau), sondern nur in zweiter oder noch höherer Stufe existieren, bilden teils Strukturen mit intakten (nicht oxidierten) Graphenschichten (z. B. Einlagerung von dichtest-gepackten Mo 2 Cl 10 -Molekülen oder von (FeClj^-Schichten), teils Strukturen mit ,,geringfügig" oxidierten Graphenschichten (z.B. C2+7AlCl4 -2AlCl 3 , C2 2 + GeF2", C 2 + 4 PFg). Großes Interesse findet das blaue Intercalat C s AsF 5 (1. Stufe), dessen elektrische Leitfähigkeit in Schichtrichtung sehr hoch ist (so groß wie die von Kupfer, 20-mal so groß wie die von Graphit), sodass also eine große Anisotropie der Leitfähigkeit resultiert. C s AsF 5 enthält gemäß der Formulierung C 24 AsFg • «AsF 5 (« x 1.4) neben AsF 5 -Molekülen noch nach 1.5AsF 5 + Q -> AsF^ + 0.5AsF 3 gebildete AsFg -Ionen und AsF 3 -Moleküle. Weitere Intercalate des Graphits sind mit Elementoxiden wie S O , N 2 0 5 , C1 2 0 7 oder mit Metallnitraten wie Cu(NO 3 ) 2 , Zn(NO 3 ) 2 zugänglich
Fullerenverbindungen 1 Ähnlich wie Graphit vermögen auch Fullerene unter Erhalt ihrer Strukturen mit vielen chemischen Reaktanden zu kovalent und ionisch gebauten Fullerenverbindungen bzw. -komplexen zusammen zu treten. Kovalente Fullerenverbindungen Wasserstoffverbindungen Setzt man C 6 0 mit nascierendem Wasserstoff (Li in fl. N H bzw. Me 3 COH: ,,Birch-Reduktion") oder mit Dihydroanthracen in 120-fachen Überschuss bei 350°C um, so entsteht unter Farbaufhellung von violett über braun, rot, gelb auf dem Wege über Hydride im Bereich C 6 0 H 1 S bis C 6 0 H 3 6 letztendlich das farblose Fullerenhydrid C 6 0 H 3 6 (Summenformel CH0.6), das sich durch geeignete Dehydrierungsmittel wieder zu C 6 0 zurückverwandeln lässt. In C 6 0 H 3 6 liegen alle Doppelbindungen von C 6 0 bis auf je eine in jedem der 12 C 5 -Ringe hydriert vor (vgl. hierzu C 6 0 F 4 S , unten). In entsprechender Weise erfolgt eine Hydrierung anderer Fullerene sowie auch Heterofullerene (z. B. C 5 9 N -> C 5 9 NH; kann zu C 5 9 N~ deprotoniert werden). Auch lassen sich an Fullerene Borhydride wie BH 3 oder Metallorganyle wie LiR oder RMgBr zu Produkten addieren (z.B. C 6 0 + BH 3 / LiR -> HC 60 BH 2 /L^Cg 0 R), die zu H-haltigen C 6 „-Fullerenen hydrolysiert werden können (z. B. HC 6 0 BH 2 /LiC 6 0 R CÖOH 2 /C 60 HR). Fullerenhydride entstehen auch durch Hydrierung von Fullerenen mit Diimin. Halogenverbindungen Behandelt man C 6 0 mit gasförmigem Fluor, so bildet sich auf dem Wege u.a. über letztendlich C C Ce0F2, C 6 0 F 6 , C6oFlÖ, C ^ 1 S , 6oF36, ^ ^ 4 6 , C 6 ^ 4 S C60F>4S (in entsjorechender Weise lassen sich andere Fullerene C„ fluorieren). Tatsächlich ist das Fullerenfluorid C 6 0 F 4 8 (isoliert als schwarzviolette Verbindung C 6 0 F 4 8 x 2 Mesitylen) das Endprodukt der Fluorierung von C 6 0 . Die weitere Fluorierung führt zum ,,Aufbre4hen" des Käfigs, aber nicht zum vollständig fluorierten Fulleren C 6 0 F 6 0 . Interessanterweise bildet sich beim mehrtägigen Erhitzen von C 6 0 mit NaF/F 2 bei 275°C von über 20 Millionen möglichen isomeren Fluoriden C 6 0 F 4 8 nur ein Konstitutionsisomeres, bestehend aus einem chiralen Diastereomeren (D-Symmetrie; zwei Enantiomere: R,R- sowie S,S-Form) und einem achiralen Diastereomeren (S6-Symmetrie; R,S-meso-Form; vgl. P 4 H 6 , S. 760). Im gebildeten Fluorid C 6 0 F 4 s (Summenformel CF 0 s ) sind gemäß Fig. 199a, b alle Doppelbindungen von C 6 0 bis auf je eine in 6 der 12 vorliegenden C 5 -Ringe fluoriert, wobei jeweils 3 der 6 ungesättigten C 5 -Ringe entgegengesetzte Seiten von C 6 0 einnehmen (bezüglich Einzelheiten vgl. Legende der Fig.199a, b). Die 48
Fig. 199 Kovalente (a, b) und heterovalente (c) Fullerenverbindungen. (a, b) Sicht auf eine Seite der C 60 F 48 -Isomeren. Die auf der Rückseite von (a) bzw. (b) liegenden ungesättigten C 5 -Ringe nehmen hinsichtlich der drei wiedergegebenenen eine Lückenstellung ein, wobei die Doppelbindungen auf der Rückseite den Gang wie in (b) bzw. (a) haben (D-Symmetrie; chirales Diastereomeres) oder wie in (a) bzw. (b) (S 6 -Symmetrie, achirales Diastereomeres). - (c) Schicht von M 3 C 6 0 .
882
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
F-Atome bedecken die C 60 -Oberfläche vollständig und schirmen die 6 Doppelbindungen hinsichtlich einer Fluorierung effektiv ab. In C 6 0 F 2 0 („Saturnen") bilden die kohlenstoffgebundenen F-Atome einen Ring um den C 6 „-Käfig, in C 6 0 F 1 8 liegt nur eine Halbkugel des C 60 -Käfigs fluoriert vor, wobei das C-Gerüst der fluorierten C-Atome eingeebnet ist, sodass C 6 0 F 1 8 der Gestalt einer halben Wassermelone gleicht. C 6 0 lässt sich auch chlorieren und bromieren (Bildung von Fullerenchloriden und -bromiden wie C 6 0 X 6 , C o X , C 6 0 X 2 4 , C60X2S, aber nicht iodieren (I 2 bildet mit C 6 0 ein Intercalat). Entsprechendes gilt für andere Fullerene (z. B. C-^Xj 0 , C o ^ s ) - Mit C 50 C1 10 konnte sogar ein Fullerenhalogenid synthetisiert werden, dessen halogenfreie Muttersubstanz C 5 0 nocil unbekannt ist. Sauerstoffverbindungen In Analogie zu Graphitoxiden und -säuren existieren auch Fullerenoxide und -säuren. So führt die UV-Bestrahlung einer Lösung von C 6 0 in sauerstoffhaltigem Benzol zum Oxid C 6 0 O, in welchem ein O-Atom die gemeinsame Kante zweier C 6 -Ringe in C 6 0 überspannt (vgl. Reaktionsschema unten). Auf entsprechendem Wege bildet sich C 7 0 O. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass Fullerene die Bildung von Singulettsauerstoff aus Triplett-Sauerstoff im Licht katalysieren, da ihre ersten angeregten Singulett- und Triplettzustände energetisch nahe beieinander liegen (Energiedifferenz um 40 kJ/mol). Ein Derivat der Säure C 6 0 (OH) 2 entsteht beim Behandeln von C 6 0 mit Osmiumtetraoxid O s 0 4 in Anwesenheit des Donors 4-1ert-Butylpyridin iBuC 5 H 4 N. Im Produkt C 6 0 O 2 OsO 2 (NC 5 H 4 iBu) 2 sind zwei O-Atome des oktaedrisch von 4 O-Atomen und 2 Liganden koordinierten Osmiums mit zwei benachbarten C-Atomen verknüpft, welche die gemeinsame Kante anellierter C 6 -Ringe bilden. Eine wässerige Lösung von NaOH + Spuren B u 4 N + O H ~ führt violettes C 6 0 (Benzollösung) in Anwesenheit von Sauerstoff letztendlich in die braunen wasserlöslichen Fullerensäuren („Fullerole") C 6 0 (OH) 2 4 i 2 5 > 2 6 über. Fullerole C 60 (OH)„ entstehen auch durch Hydroborierung von C 6 0 und Behandeln der gebildeten Produkte mit wässrigem N a O H / H 2 0 2 . Cycloaddukte. Die den zwei anellierten C 6 -Ringe in Fullerenen gemeinsame [6,6]-Doppelbindung reagiert bevorzugt mit geeigneten Reaktanden wie Carbenen, Silylenen, Arinen, Diazoalkanen, organischen Aziden, Butadien und seinen Derivaten unter Bildung von C„-Addukten (eine zweite Cycloaddition erfolgt meist mit einer Doppelbindung der entgegengesetzten Fullerenhemisphäre). Die Reaktivität der [6,6]-Doppelbindungen hinsichtlich Additionen hängt hierbei sehr stark von der Krümmung des Fullerens ab: ihre Erhöhung führt zu einer stärkeren „Pyramidalisierung" der sp 2 -hybridisierten C-Atome und damit zu einer erhöhten Cycloadditionsbereitschaft. Dies zeigt sich deutlich im Falle von Fulleren-70 (vgl. hierzu Formel (h) auf S. 872), bei dem die [6,6]-Doppelbindungen an den Polen reaktiver sind als die im „flacheren" Äquatorbereich. Beispiele für die Cycloadditionen von C 6 0 gibt das Reaktionsschema wieder. Die dort aufgeführten [2 + 3]-Cycloaddukte verlieren thermisch N 2 und gehen hierbei in Produkte C 6 0 X mit X = NR, CR 2 über, in welchen sich X an die [6,6]- bzw. [6,5]-Doppelbindungen anellierter C 6 -/C 6 - bzw. C 6 -/C 5 -Ringe addiert (vgl. [2 + 1]-Cycloaddukte) oder sich in diese Bindungen einschiebt (auf dem Wege der Addition geeigneter organischer Diazide mit Azidgruppen an unterschiedlichen C-Atomen lässt sich nach deren Thermolyse der C 6 0 -Käfig öffnen, mit He bzw. H 2 füllen und gegebenenfalls durch thermische Eliminierung des Addenden wieder schließen (z. B. Bildung von He@C 6 0 , H 2 @C 6 0 ). - N2
Komplexe. Fullerene vermögen als rc-Liganden Komplexfragmente M L (M z. B. Re, Os, Ir, Ni, Pd, Pt; L = geeigneter Ligand) anzulagern. Z.B. setzt sich Pt(PEt 3 ) 4 in Benzol bei Raumtemperatur gemäß rnPt(PEt3)4 + C 6 0 -> [(Et 3 P) 2 Pt] m C 6 0 + 2mPEt 3 (m = 1 bis 6) mit C 6 0 zu Fullerenkomplexen um. Die Liganden addieren sich side-on (tj2) an die gemeinsame Doppelbindung anellierter C 6 -Ringe, wobei die sechs (E P) Pt-Gruppen in -C Pt(PE den -Cluster oktaedrisch umgeben Entsprechende Komplexe sind mit Ni(PEt 3 ) 2 und Pd(PEt 3 ) 2 bekannt. Ir(CO)Cl(PR 3 ) 2 liefert mit Fulleren-
1. Der Kohlenstoff
883
60 [(^ 2 ,f/ 2 -C 60 {Ir(CO)Cl(PR 3 ) 2 } 2 ] (zwei Konfigurationsisomere mit Liganden auf gegenüberliegenden Seiten von C 60 ), mit Fulleren-70 [> 2 -C 70 {Ir(CO)Cl(PR 3 ) 2 } 2 ] (PR 3 = PMe 2 Ph). In [>3-f/2,f/2,f/2C60){M3(CO)9}0 mit M = Ru, Os ist M 3 mit den drei Doppelbindungen eines C6-Rings in C 6 0 koordiniert. Elektrovalente Fullerenverbindungen. Ähnlich wie Graphit lassen sich Fullerene elektrochemisch bzw. chemisch unter Erhalt der C„-Gerüststrukturen zu Metallfulleriden MmCn reduzieren (z.B. mit Alkali-, Erdalkalimetallen); weniger leicht erfolgt eine Oxidation zu Fullerensalzen CnXm: Cn + mQ
j± C r
bzw.
C„ ^ C™+
+mQ.
Demgemäß wirkt C 6 0 als schwaches Oxidationsmittel (e0- Werte für C 6 0 + Q + 1.50 V für C 6 0 Cg0 + Q; Ionisierungsenthalpie ca. 7.6 eV). In Massenspektrometern erzeugte Ionen Cg0 und C 7 0 vermögen Helium aus He-Molekularstrahlen im Käfiginneren aufzunehmen. Die gebildeten endohedralen Fulleren-Komplexe He@C + können sich zu H entladen Im Falle der Reduktion von C 6 0 oder C 7 0 kann m alle Werte von 1 bis maximal 6 annehmen (vollständige Besetzung des untersten elektronenleeren, dreifach-entarteten Zustands mit Elektronen; vgl. Fig. 195, S. 874). So erhält man weinrote Alkalimetallbuckminsterfulleride (M + )mC%„ bei der Einwirkung von dampfförmigem Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium, Cäsium auf C 60 -Filme oder beim Zusammenschmelzen von C 6 0 mit den betreffenden Alkalimetallen M bei ca. 400 °C: C 6 0 + mM -> (M + ) m C ^ . Hierbei werden die gebildeten Alkalimetallkationen zunächst (bis m = 3) in tetraedrische Lücken des kubisch-dicht gepackten Fullerids-60 eingelagert (vgl. Fig. 199 c, die eine mit C 60 -Kugeln dichtest-gepackte Schicht der Fulleride M 3 C 6 0 wiedergibt exohedrales^ + G,g0 ist von endohedralem M + @C 60 (S. 876) zu unterscheiden). Die weitere Aufnahme von Alkalimetall führt dann zu einer Wandlung der C 60 -Packung. So besetzen etwa in M'6 C 6 0 die Alkalimetallkationen verzerrt-tetraedrische Lücken einer kubischinnenzentrierten Fullerid-Packung. In anderen Fulleriden C l i e g e n etwa wie in Na 2 RbC 6 o bzw. in RbC 6 0 bzw. in [Ba(NH 3 ) 9 ] C 7 0 • 7NH 3 oder in Na 4 C 6 0 Kettenpolymere des Typs — (C^")—(C^")— bzw. = (Cg 0 )=(Cg 0 )= bzw. — (C 2 ^)—(C 2 ^)— oder Schichtpolymere des Typs ^C(Cg")—(C£")C^ vor. „Dotiert" man C 6 0 (elektrischer Halbleiter mit einer Bandlücke von ca. 1.5 eV; vgl. S. 874, 1421) mit wachsenden Mengen Alkalimetall, so steigt die elektrische Leitfähigkeit zunächst bis zur Zusammensetzung M 3 C 6 0 an (metallischer Leiter; maximale Leitfähigkeit; 10/20/500/100/4 ü - 1 c m - 1 für M = Li/Na/ K/Rb/Cs; zum Vergleich Cu: 595900 ß " i cm"i). Bei weiterer Dotierung nimmt die elektrische Leitfähigkeit wieder ab, um bei voller Dotierung (Zusammensetzung: M 6 C 6 0 ) wieder sehr gering zu sein (Halbleiter mit einer Bandlücke von ca. 1 eV). Die Fulleride M 3 C 6 0 stellen hierbei die ersten aus kleinen molekularen Einheiten bestehenden Metalle dar, deren elektrische Eigenschaften in allen Raumrichtungen gleich sind. Der Grund für den Gang der elektrischen Leitfähigkeit liegt in der Besetzung des untersten elektronenleeren, dreifach-entarteten Molekülzustands („Leitfähigkeitsband", vgl. S. 1421) mit der Hälfte der möglichen Elektronen (maximale elektrische Leitfähigkeit) und mit maximaler Elektronenzahl (keine metallische Leitfähigkeit). Ersichtlicherweise hängt die metallische Leitfähigkeit außer vom Metallgehalt zudem vom Metallionenradius ab: Cäsium vermindert aufgrund seiner Größe die Packungsdichte der C 60 -Käfige so stark, dass ihre gegenseitige, für wirkungsvolle Leitfähigkeit wesentliche elektronische Wechselwirkung deutlich geringer ist (aus gleichem Grunde weist auch Ph 4 P + Cg0, gewinnbar aus elektrochemisch reduzierten Ph 4 PCl/C 60 -Lösungen, verschwindende Leitfähigkeit auf). Eine auffallende Eigenschaft der Alkalimetallbuckminsterfulleride M 3 C 6 0 ist ihr supraleitender Zustand (S. 1425), der sich beim Abkühlen der Proben zudem bei vergleichsweise hohen Temperaturen ausbildet, nämlich im Falle von K 3 C 6 0 unterhalb 19.3 K, von Rb 3 C 6 0 unterhalb 28 K, von RbCsC 60 unterhalb 33 K und von Rb 2 7T12 2 C 6 0 unterhalb 48 K (zum Vergleich Alkalimetallgraphit KC S < 0.55 K). Somit wächst die Sprungtemperatur mit zunehmendem Radius der Kationen M + in M 3 C 6 0 , d.h. bei abnehmender Wechselwirkung der Cg"-Cluster untereinander; vgl. S. 1422). Die Buckminsterfulleride weisen unter den bisher bekannten molekularen Supraleitern die weitaus höchsten Sprungtemperaturen auf. Bei Fulleriden-70 wurde bisher noch keine Supraleitung beobachtet
Verbindungen der Kohlenstoff-Nanoröhren Wie Graphit und Fullerene reagieren Kohlenstoff-Nanoröhren mit vielen Reaktanden unter Erhalt ihrer Strukturen zu kovalent gebauten Verbindungen (die Bildung elektrovalenter Verbindungen der Nanoröhren ist bisher weniger eingehend untersucht worden). Da die typischen Durchmesser der einwandigen Kohlenstoff-Nanoröhren (SWNT) größer sind als die der Fullerene, ist ihre Reaktivität sogar geringer als die letzterer. Probleme für das Studium des Reaktionsverhaltens bereiten des weiteren die schlechte Lösbarkeit oder Dispergierbarkeit der Kohlenstoff-Nanoröhren sowie deren Bündelform (s. oben). Durch exohedrale Aggregatbildung mit Tensiden wie Natriumdodecylsulfat können die SWNTs jedoch unter „Entbündelung" in die wässerige Phase gebracht werden. Lösungsvermittelnd wirken auch viele Stoffe,
884
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
die aromatische Gruppen enthalten. So bilden sich stabile SWNT-Anilinlösungen, aus denen die Röhren selbst nach Zusatz organischer Solvenzien wie Aceton, Dimethylformamid oder Tetrahydrofuran nicht ausfallen. Auch viele Linearpolymere führen, indem sie sich um die SWNTs herumwickeln, zu einem Aufbrechen der Röhrenbündel und - je nach Art der Seitenketten der Polymeren - zu mehr oder weniger großer Löslichkeit der SWNTs in Wasser bzw. organischen Medien. Die kovalente Seitenwandfunktionalisierung der einwandigen Kohlenstoff-Nanoröhren erfolgt durch die gleichen Reaktanden wie die der Fullerene (s. oben). So lassen sich die SWNTs zwischen 150-600°C fluorieren, wobei mit dem Fluorierungsgrad die elektrische Leitfähigkeit der Röhren sinkt (bei 250 °C fluorierte Röhren sind Isolatoren). Durch Behandlung mit Hydrazin bei Raumtemperatur lassen sich die alkohollöslichen ,,Nanoröhrenfluoride" wieder defluorieren; auch kann Fluor durch Behandlung letzterer mit LiR oder RMgBr in (chloroformunlösliche) ,,organylsubstituierte Nanoröhren" umgewandelt werden. Die Reaktion mit starken sauerstoffübertragenden Oxidationsmitteln (z. B.HNO3)> wie man sie zur Reinigung der SWNTs benutzt (s. dort), führt zur Absättigung der SWNT-Enden sowie ,,eingebrannter" Löcher in den SWNT-Seiten mit Carboxylgruppen. Die so erhältlichen ,,Nanoröhrensäuren" bilden im alkalischen Milieu (— COOH + OH~ —COO~ + H 2 O) kolloide Dispersionen. Unter sehr drastischen Bedingungen der Oxidation werden die langen SWNTs in kürzere, durch COOH-Endgruppen abgesättigte, 100 bis 300 nm lange Röhren gespalten (300 nm lange, 1.4 nm dicke Röhren bestehen noch aus ca. 50000 C-Atomen bzw. 25000 C 6 -Ringen). Die Seitenwände der SWNTs lassen sich des weiteren durch Addition von Organylradikalen oder Cycloaddition von Carbenen bzw. organischen Aziden (vgl. Fullerene) funktionalisieren. Die unter Freisetzung von N 2 erfolgende Umsetzung von Azidokohlensäureestern ROC(O)N 3 (->Nitrene ROC(O)N + N 2 ) führt etwa zu ,,nitrensubstituierten Nanoröhren", die in M SO unter Bildung schwarzer Tinten löslich sind Der vergleichsweise große Hohlraum der SWNTs erlaubt die Einlagerung von Metallen (z. B. Cs, Au, Pt) bzw. von Salzen (z. B. Nitrate) unter Bildung von endohedralen Aggregaten. So lassen sich etwa in den Kapillaren der SWNTs Gold- oder Platindrähte erzeugen; auch können eingelagerte Nitrate M(NO 3 )„ nach thermischer Zersetzung zu Oxiden M2nO„ an Ort und Stelle zum Metall reduziert werden. Besonderes Interesse haben SWNTs mit eingelagerten Fullerenen oder endohedralen Metallfullerenen (z. B. Sm@C 82 ) wegen ihrer guten elektrischen und magnetischen Eigenschaften gefunden. Beim Tempern der als „Schoten" (,,pea pods") bezeichneten Verbindungen entstehen neue konzentrische endohedrale Röhren mit einem Durchmesser von 0.7 nm. Die Einlagerung von Wasserstoff in SWNTs zu dessen Speicherung ist offensichtlich nicht möglich
1.1.4
Kohlenstoff-Ionen. Carbide
Überblick Kationischer Kohlenstoff liegt etwa den Graphitsalzen C 2 4 HSO 4 • 2.4H 2 SO 4 in Form von [C 24 j^-Ionen zugrunde (vgl. S. 880). Auch werden in der Ionenquelle eines Massenspektrometers Fullerene C„ durch Teilchenbeschuss leicht in Mono- und Dikationen C+ und C1 + übergeführt. Insgesamt ist die Tendenz zur Bildung kationischen Kohlenstoffs viel kleiner als die zur Bildung anionischen Kohlenstoffs. Letzterer liegt in Verbindungen des Kohlenstoffs mit den elektropositiven Metallen der I., II. und III. Hauptgruppe sowie mit einigen Lanthanoiden und Actinoiden vor
Carbide11 Unter Carbiden versteht man Verbindungen des Kohlenstoffs mit Metallen und mit Nichtmetallen geringerer Elektronegativität, Verbindungen also, bei denen der Kohlenstoff den elektronegativen Partner darstellt. Entsprechend den drei chemischen Bindungsarten unterscheidet man dabei drei Arten von Carbiden MXCj,; salzartige, kovalente, metallartige Carbide. Sie sind allgemein bei hohen Temperaturen (2000 °C) aus Element bzw. Elementverbindung (insbesondere Oxide) und Graphitkohlenstoff sowie Kohlenstoffverbindungen (z. B. Kohlenwasserstoffe) darstellbar (die Gewinung aus Alkalimetallen und Acetylen bzw. Fullerenen erfolgt bei niedriger Temperatur). Die hydrolyselabilen salzartigen Carbide enthalten den Kohlenstoff u.a. in Form von C ( „ M e t h a nide"), C 2 ~ („Acetylide") oder C4~ („Allenide"). Weitere Kohlenstoffanionen leiten sich vom Graphit sowie von den Fullerenen ab (z.B. [C s ] „ CJ0" mit m = 1 bis 6, C ; vgl. S.880, 883). Die Methanide (A14C3 und Be2C) ergeben bei der Hydrolyse Methan
11 Literatur. E . K . Storms: ,,Die hochschmelzenden Carbide", Academic Press, New York 1967; W.A. Frad: ,,Metal Carbides", Adv. Inorg. Radiochem. 11 (1968) 153-247; H.A. Johansen: „Recent Developments in the Chemistry of Transition Metal Carbides and Nitrides", Survey Progr. Chem. 8 (1977) 57-82; U. Ruschewitz: „Binary and ternary carbides of alkali and alkaline-earth metals", Coord. Chem. R e v 244 (2003) 115—136.
1. Der Kohlenstoff 4H
4M
885
CH
(M = Äquivalent eines Metalls) und enthalten im Gitter isolierte Methanid-Ionen [:C :] 4 ~. Die Acetylide besitzen je nach der Wertigkeit des Metalls die Zusammensetzung „M'C" = M 2 C 2 (M1 z.B. = Li, Na, K, Rb, Cs; Cu, Ag, Au), „M"C 2 " (M11 z.B. = Mg, Ca, Sr, Ba; Zn, Cd, Hg, Eu, Yb) und „M ra C 3 " s M1.,11 (C 2 ) 3 (M111 z.B. = Al, La, Ce, Pr, Tb). Sie ergeben bei der Hydrolyse Acetylen: 2H
2M
(M = Metalläquivalent) und enthalten im Gitter isolierte Acetylid-Ionen [ : C = C : ] 2 ~ . (CC-Abstände 1.19-1.24 Ä entsprechen damit erwartungsgemäß einer Dreifachbindung (ber. 1.20 A). Ihre Gewinnung kann etwa durch Umsetzung von Acetylen mit Alkalimetallen in flüssigem Ammoniak oder mit Erdalkalimetallen bei 500 °C erfolgen (bezüglich des technisch als Acetylenquelle bedeutsamen Calciumcarbids CaC 2 vgl. S. 1247). Die Allenide (z. B. Li 4 C 3 und Mg 2 C 3 ) enthalten im Gitter isolierte AllenidIonen [ C = C = C ] 4 ~ (CC-Abstände um 1.26 Ä) und hydrolysieren zu Propin C 3 H 4 (M = Metalläquivalent): 4H
4M
Es gibt eine Reihe von Lanthanoid- und Actinoid-Carbiden der Zusammensetzung M C (gewinnbar aus M 2 0 3 und C im elektr. Ofen), bei denen das Metallatom nicht wie in den oben erwähnten Fällen zwei-, sondern dreiwertig ist (z. B. M = Y, La, Ce, Pr, Nd, Sm, Tb, Er, Yb, Lu) und die keine Isolatoren, sondern metallische Leiter darstellen. Bei diesen beträgt der CC-Abstand 1.28-1.30 Ä, entsprechend einem Zwischenzustand zwischen dreifacher (1.20 Ä) und zweifacher Bindung (1.34 Ä). Man muss hier annehmen, dass die Metallatome M teilweise ein drittes Elektron an das CO-isoelektronische Anion C 2 ~ abgeben, sodass ein NO-isoelektronisches Anion C e n t s t e h t , aber teilweise auch Elektronen einem Leitungsband zuführen. Demgemäß führt die Hydrolyse zu einem komplexen Kohlenwasserstoffgemisch (H 2 , C 2 H 2 , C 2 H 4 , C 2 H 6 . . .C 6 H 10 ). Analoges gilt für M1.,11^ = M™(C2)3 mit dreiwertigen Metallen (z. B. M = La, Ce, Pr, Tb, U). Zu den hydrolysestabilen kovalenten Carbiden, die von Elementen etwa gleicher Elektronegativität wie Kohlenstoff gebildet werden, gehören hochmolekulare, harte hydrolysestabile Spezies wie das Siliciumcarbid SiC (S.984) und die Borcarbide B 12 C 3 , B 13 C 2 sowie B 24 C (S. 1046), aber auch niedermolekulare, flüchtige Spezies wie Schwefel- oder Selencarbid CS2 oder CSe2 (S.900, 903). Bei den von den Übergangsmetallen gebildeten metallartigen Carbiden (,,interstitielle" oder ,,Einlagerungscarbide") sind die Kohlenstoffatome in die oktaedrischen Lücken der dichtesten Kugelpackung der Metallatome eingelagert (auf Metallatome eines dichtest gepackten Metalls entfallen oktaedrische Lücken). Voraussetzung ist dabei, dass die Radien der Metalltome und damit die Lücken groß genug sind, um die Kohlenstoffatome aufnehmen zu können. Das ist der Fall bei Metallradien von 1.35 A und mehr (also etwa bei den Metallen der IV., V. und VI. Nebengruppe des Periodensystems; vgl. Anh.IV). Sind alle oktaedrischen Lücken mit C-Atomen gefüllt, so resultiert - unabhängig von der Wertigkeit des Metalles M - die Zusammensetzung MC (M z.B. = Ti, Zr, Hf; V, Nb, Ta; Mo, W; Th, U, Pu; in der Regel kubisch-dichtest, aber auch hexagonal-dichtest (z. B. M = Mo, W) gepackt); bei Ausfüllung nur der Hälfte der Lücken ergibt sich die Formel M 2 C (M z. B. = V, Nb, Ta; Mo, W; hexagonal-dichtest gepackt). Bei den metallischen Boriden, Siliciden und Nitriden treten an die Stelle des Kohlenstoffs Bor-, Silicium- bzw. Stickstoffatome in das Metall ein, sodass sich naturgemäß - unabhängig von den Wertigkeiten - die gleichen Formeln ergeben wie bei den Carbiden: z.B. TiB, TiC, TiSi, TiN bzw. VB, VC, VSi, VN bzw. CrB, CrC, CrSi, CrN bzw. Mo 2 C, Mo 2 N. Vgl. hierzu auch metallartige Hydride (S. 282). Alle Carbide dieser Art zeichnen sich durch hohe Schmelzpunkte (3000-4000 °C), große Härte (zwischen der Härte von Topas und Diamant), Hydrolysestabilität, metallischen Glanz und metallische Leitfähigkeit aus. Der Einbau von Kohlenstoff in das Metall erhöht somit dessen Schmelzpunkt und Härte (Verwendung z.B. für Schneidewerkzeuge). Bei Metallen mit einem Radius < 1.35 A (z.B. den Anfangsgliedern der VI., VII. und VIII. Nebengruppe des Periodensystems; vgl. Anh. IV) wird die Metallstruktur beim Eintritt des Kohlenstoffs verzerrt, und die Koordinationszahl der C-Atome gegebenenfalls erhöht. Die nächsten Metallatome in Carbiden M 3 C, M 3 C 2 usw. (M = Cr, Mn, Fe, Co, Ni; z.B. Cr 7 C 3 , Mn 3 C, Mn 5 C 2 , Fe 3 C) umgeben hierbei den Kohlenstoff in der Regel trigonal-prismatisch (vgl. die analog gebauten Boride, Silicide, Germanide, Phosphide, Arsenide, Sulfide, Selenide). Eine neue Gruppe von Carbiden sind die - formal aus den Fullerenen durch Ersatz einiger Kohlenstoffgegen Metallatome hervorgehenden - Metallocarbohedrane. So bilden sich z. B. bei der Laserverdampfung von Ti in Anwesenheit von C H , C 2 H 4 , C 2 H 2 oder C 6 H 6 (He-Atmosphäre) Ti s C 12 -Moleküle, die anders als C 2 0 (S. 873) thermostabil sind (Th-Symmetrie, Ti an den Ecken eines Würfels innerhalb des vorliegenden verzerrten Pentagondodekaeders). T bildet Addukte T 8D mit Ti-gebundenen Do noren D wie N H , H O , MeOH. Man kennt darüber hinaus M 8 C 1 2 mit M = V, Zr, Hf sowie eine Reihe von Verbindungen ZrmC„.
886
1.1.5
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Kohlenstoff in Verbindungen 1 2
D e r Kohlenstoff n i m m t im P e r i o d e n s y s t e m der Elemente als Mittelglied einen bevorzugten Platz ein: Li
Be
B
C
N
O
der 1. A c h t e r p e r i o d e
F
W ä h r e n d n a c h links hin (B, Be, Li) die Affinität z u m Sauerstoff, n a c h rechts hin (N, O, F) die Affinität z u m Wasserstoff wächst ( B 2 0 3 wesentlich beständiger als N 2 0 3 ; N H 3 wesentlich beständiger als B H 3 ) , besitzt der Kohlenstoff gleich große Affinität zu elektropositiven und elektronegativen Elementen, wie die Stabilität der beiden Endglieder C O u n d C H u n d zahlreicher H - u n d O-haltiger Zwischenglieder m i t Oxidationsstufen v o n — 4 bis + 4 des K o h lenstoffs zeigt: CO2 Kohlendioxid
HCOOH Ameisensäure
HCHO Formaldehyd
CH3OH Methanol
CH4 Methan
Koordinationszahlen In Verbindungen mit elektronegativeren bis nicht allzu elektropositiven Bindungspartnern betätigt Kohlenstoff die Koordinationszahlen eins (z.B. C = O , C = N R ) , zwei (linear in C>=C=O, S = C = S , H — C = C — H , (CO) 3 Ni—C=O; gewinkelt in R 3 P = C = C = P R 3 , CX 2 ), drei (planar in C O Q 2 , H C 0 2 H , Ph 3 C + , CH 3 ; pyramidal in P h 3 C T ) und vier (tetraedrisch in CH 4 , CC14; bzgl. planarem vierbindigem C s. unten). Bei elektropositiveren Partnern tritt Kohlenstoff auch mit den Koordinationszahlen fünf (Me 2 Al(^-CH 3 ) 2 AlMe 2 , C 2 B 4 H 6 , Os 5 C(CO) 1 3 HL 2 ), sechs (C 2 B 1 0 H 1 2 , (LAu) 6 C2 + ), sieben ( [ L i ^ - C H ) ^ , S. 1155) und acht auf (Co s C(CO)2 s , Be 2 C). Bindungen An nicht allzu elektropositive Bindungspartner ist der Kohlenstoff kovalent gebunden, wobei er die Bindungsordnungen 1, 2 und 3 betätigt (z.B. ^C—F, ^ C = O , — C = N ) . Seine Bindigkeit beträgt nur unter extremen Bedingungen eins (z.B. CH, CX bei hohen Temperaturen). Zweibindig tritt er in ,,Carbenen" C X (gewinkelt) in Form reaktiver Zwischenstufen (X z. B. H, Hal) oder isolierbarer Spezies (X z. B. NR 2 ) aufi2. Auch kennt man pyramidale kurz- und planare langlebige ,,Organylradikale'' CX 3 (X z. B. H in erstem, Ph in letztem Falle) mit dreibindigem Kohlenstoff (bzgl. der Bindungsverhältnisse in C H und C H vgl. S. 931). In der Regel ist Kohlenstoff in seinen kovalenten Verbindungen vierbindig und sp 3 -, sp 2 - bzw. sp-hybridisiert: Hybrid) Elektronegativität Struktur) Bindungswinkel CH-Dissoziationsenergie [kJ/mol]
sp 3 /2.20 tetraedrisch/109.5° C 2 H 6 : 410
sp 2 /2.75 planar/120° C 2 H 4 : 452
—c= sp/3.30 linear/180° C 2 H 2 : 523
=c= sp linear/180°
Da s-Elektronen stärker vom Atomkern angezogen werden als p-Elektronen, wächst die Elektronegativität des Kohlenstoffs hinsichtlich Partnern, wenn an deren Bindung anstelle von sp 3 -Hybriden sp 2 oder gar sp-Hybride beteiligt sind. Demgemäß steigt etwa die Acidität in Richtung C 2 H 6 , C 2 H 4 , C 2 H 2 . Auch erhöht sich die CH-Dissoziationsenergie (bzw. Bindungsenergie) als Folge der wachsenden Elektronegativitätsdifferenz AEN = E N - E N (vgl. S.141) in gleicher Richtung. Die tetraedische Koordi12 Literatur. Vierbindiger tetraedrischer Kohlenstoff. E.W. Meijer: , ,Jacobus Henricus van't Hoff und sein Einfluss auf die Stereochemie in den Niederlanden in den letzten hundert Jahren'', Angew. Chem 113 (2001) 3899-3905; Int Ed. 40 (2001) 3783. - Vierbindiger planarer Kohlenstoff. K. Sorger, P. v. R. Schleyer Planar and inherently non-tetrahedral tetracoordinate carbon: a status report'', J. Mol. Struct. (Theochem) 338 (1995) 317-346; G.Erker: ,,Using bent metallocenes for stabilizing unusual coordination geometries at carbon", Chem. Soc. R e v 28 (1999) 307-314; W. Siebert, A. Gunale: „Compoundscontaining aplanar-tetracoordinatedcarbon atom as analogues of planarmethane'', Chem. Soc. R e v 28 (1999) 367-414; R. Choukroun, P. Cassoux: ,,Planar Tetracoordination of Carbon in Croups 4 and 5 Organometallic Chemistry'', Acc. Chem. R e s 32 (1999) 492-502; D.Röttger, G.Erker: ,,Verbindungen mit planar tetrakoordiniertem Kohlenstoff', Angew. Chem 109 (1997) 840-856; Int. E d 36 (1997) 812. - Zweibindiger Kohlenstoff(Carbene). A. J. Arduengo, III, R. Krafczyk: ,,Auf der Suche nach stabilen Carbenen'', Chemie in unserer Zeit 32 (1998) 6-14; M.Regitz: ,,Nucleophile Carbene: eine unglaubliche Renaissance'', Angew. Chem 108 (1996) 791-794; Int E d 35 (1996) 725; W.A. Herrmann, Ch. Köcher: „N-Heterocyclische Carbene'', Angew. Chem 109 (1997) 2257-2282; Int. E d 36 (1997) 2162; A.J. Arduengo, III: ,,A New Lookingfor Stable Carbens; the Difficulty in Starting'' Acc. Chem. R e s 32 (1999) 913-921; D. Bourisson, O.Guerret, F.B.Gabbai, G.Betrand: ,,Stable Carbenes'', Chem. R e v 100 (2000) 39-91; C.J. Carmalt, A.H. Cowley: ,, The Reactions of stable Nucleophilic Carbenes with Main Group Compounds'', Adv. Inorg. Chem 50 (2000) 1-32; W. Kirmse: ,,Carbene Chemistry'', Acad. Press, New York 1971; „Carbene, Carbenoide und Carben-Analoge'', Verlag Chemie, Weinheim 1969.
1. Der Kohlenstoff
887
nation des Kohlenstoffs in Verbindung CX 4 wurde 1874 erstmals von van't Hoff postuliert, wogegen LeBel im gleichen Jahr die Koordination von C in CX 4 als quadratisch-pyramidal mit C an der Pyramidenspitze beschrieb, die - wie heute bekannt ist - nicht vorliegt (Verbindungen CX 2 Y 2 sollten nach LeBel 2 Isomere liefern, die sich nicht auffinden ließen; vgl. hierzu aber Propellan, S. 888). Es ist demgegenüber gelungen, Verbindungen mit planarer Koordination eines C-Atoms zu realisieren12, u.a. dann, wenn zwei seiner Reste (donorhaltige) Metallatome darstellen, die mit den C-Atom über einer Dreizentrenbindung verknüpft sind (vgl. hierzu auch S. 360). Hinsichtlich elektropositiveren Bindungspartnern (Metallen) vermag der Kohlenstoff auch höher als vierbindig aufzutreten, indem er wie im Falle von A1 2 (CH 3 ) 6 , [ B e ^ H j ) ^ , [ L i ^ C H j ) ^ (s. dort) Mehrzentren-Zweielektronenbindungen zu den Metallatomen hin ausbildet. Eine entsprechende Erhöhung seiner Bindigkeit gegenüber elektronegativeren Partnern, die bei den schwereren Gruppenhomologen möglich ist, wird bei Kohlenstoff nicht beobachtet (vgl. hierzu chemische Unterschiede zwischen C und Si; S. 928). Die Tendenz zur Ausbildung von Elementclustern (Ketten, Ringe, Käfige) ist für Kohlenstoff größer als für alle anderen Elemente (vgl. hierzu S. 928 und die Unterkapitel über Wasserstoff-, Halogen-, Chalkogen- und Stickstoffverbindungen des Kohlenstoffs, weiter unten).
Wasserstoffverbindungen des Kohlenstoffs13
1.2
Überblick. Kohlenstoff bildet zahlreiche ketten- und ringförmige (,,acyclische" und ,,cyclische''') Wasserstoffverbindungen der allgemeinen Zusammensetzung C„H2n + m (m = 2, 0, — 2, — 4,...) mit vierbindigem Kohlenstoff. Sie sind Gegenstand organischer Lehrbücher und sollen an dieser Stelle nur insoweit behandelt werden, als sie für das Verständnis einiger Unterkapitel des Lehrbuchs (z. B. Metallorganische Verbindungen) von Bedeutung sind. Die acyclischen Kohlenwasserstoffe („Aliphaten"!4), die gerad- oder verzweigtkettig sein können, teit man ein in „gesättigte" Kohlenwasserstoffe („Alkane", ,,Paraffine"; m = 2; n bis über 1 Million z. B. in (—CH 2 —CH 2 —) x ), in welchen die Kohlenstoffatome nur durch einfache Bindungen miteinander verknüpft und alle anderen Valenzen mit Wasserstoff abgesättigt sind, sowie in wasserstoffärmere ,,ungesättigte'' Kohlenwasserstoffe ( m = 0, 2, — 4, — 6,...), in denen eine oder mehrere Doppelbindungen („Alkene", „Olefine"') oder Dreifachbindungen („Alkine", „Acetylene") vorkommen z.B.: H I H— C — H H
Methan CH 4
/H
\
H
/
C = C
\
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
H
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
I
H— C— C—H I I H H
I
H
H
H Ethen, Ethylen C 2 H 4
H— C —C —C— H I I I H H H
Ethan C 2 H 6 H
H
I I H—C—C=C I H Propen C 3 H
H —C — C— C— C—H I I I I H H H H Butan C4H 10
Propan C 3 H H / H
H
H
H
/
c
=
c
—
c
=
H—C = C — H
c
H
H Butadien C 4 H
Isobutan C 4 H 1( H
H
\
H—C—C—C— I I I H CH 3 H
Ethin, Acetylen C 2 H 2
I
H—C—C=C—H I H Propin C3H 4
1 3 Physiologisches Benzol - eingeatmet oder über die Haut aufgenommen - ist ein starkes Gift (20000 ppm wirken nach 5 - 1 0 Minuten tödlich), das bei kurzer Einwirkung zu Schwindel, Erbrechen, Bewusstlosigkeit und bei langer Einwirkung zu Schädigungen des Knochenmarks, der Leber, der Nieren, des Bluts (Leukämie) führen kann und auch carcinogen wirkt. Die Toxizität der Methylbenzole (z. B. Toluol, Mesitylen) ist - verglichen mit Benzol - gering (z.B. MAK-Wert von Toluol 380 mg/m 3 = 100 ppm). Die Einwirkung von Dämpfen der übrigen Kohlenwasserstoffe (z.B. Propan, Butan, Pentan, Hexan, Octan, Cyclopentadien) führt zu Schwindel, Kopfschmerzen, Reizung der Augen und der Luftröhre, Übelkeit, narkotischen Symptomen und schließlich zu Schädigung der Nerven, Leber, Nieren (MAK-Werte im Bereich 50-1000 ppm). 14 Der Name ,,aliphatische Verbindungen'' rührt daher, dass die Fette - aleiphar (griech.) = Fett - wichtige Beispiele dieser Verbindungsklasse sind. Der Name,,Adamantan'' gehtauf adamas (griech.) = Diamant zurück. Die Kenntnisse der cyclischen Benzolderivate hat von aromatisch riechenden Naturstoffen ihren Ausgang genommen, weshalb man die zugehörigen Ringverbindungen allgemein als,,aromatische Verbindungen'' bezeichnet: aroma (lat.) = Wohlgeruch.
888
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Die Verbindungsformeln lassen sich dadurch vereinfachen dass man die CC-Bindungen durch Striche symbolisiert, die C-Atome durch Punkte oder als Ecken zwischen den CCBindungen andeutet und die H-Atome sowie die CH-Bindungen weglässt (die Zahl der HAtome entspricht hierbei 4 abzüglich der von einem C-Atom ausgehenden CC-Bindungen). Das Lehrbuch schließt sich diesem Brauch an. Obige Kohlenwasserstoffe mit CC-Bindungen lassen sich dann etwa wie folgt erfassen:
= C H
2 6
n—C4H1Q
C3H0
i—C4H1,C 2 H 4
C
3H6
C
4H6
C2H2
C
3Hd
Die CH-Abstände der Alkane, Alkene und Alkine betragen um 1.06 Ä, die CC-Abstände für CC-Einfach-/Zweifach-/Dreifachbindungen ca. 1.55/1.34/1.20 Ä. Bei ,,Konjugation" von Mehrfachbindungen (S. 137) wie z.B. im Falle des Butadiens: CH
CH
CH
CH
CH
CH
CH
CH
liegen die CC-Abstände in Zwischenbereichen. Bezüglich der Geometrie von sp 3 -, sp 2 - und sp-hybridisierten C-Atomen vgl. S. 886, bezüglich der n-Bindungsverhältnisse in planarem Ethylen und linearem Acetylen S. 369 und bezüglich der (gestaffelten) Konformation von Ethan S. 678. Die cyclischen Kohlenwasserstoffe können ebenfalls gesättigt („Cycloalkane") oder ungesättigt sein („Cycloalkene", „Aromaten"14) und darüber hinaus gemäß nachfolgendem Formelschema aus einem oder mehreren anellierten C„-Ringen bestehen:
Cyclohexan C6H,
Norbonan C7H1
Adamantan CioHi,
Tetrahedran C4H4
Prisman C6H6
Cuban C«H«
Propellan C5H,,
Cyclopentadien C,H
3CH 4 + 4A13 + ; CaC 2
, 2H+
> C 2 H 2 + Ca 2 + ; Mg 2 C 3
, 4H +
> C 3 H 4 + Mg 2 +.
Physikalische Eigenschaften Die Kohlenwasserstoffe stellen meist farblose, süßlich bis aromatisch riechende, mehr oder weniger giftige, in Wasser schlecht und organischen Medien gut lösliche Verbindungen dar (bezüglich farbiger Alkene vgl. S. 175). Sie sind mit wenigen C-Atomen je Molekül (z. B. CH 4 , C 2 H 6 , C 3 H S , C 4 H 1 0 , C 2 H 4 , C 2 H 2 ) gasförmig („niedere Kohlenwasserstoffe"), mit größerer Zahl von C-Atomen je Molekül („höhere Kohlenwasserstoffe") flüssig oder fest (vgl. Tab.90) und weisen teils positive, teils negative Bildungsenthalpien AHf auf (z.B. CH 4 : - 74.898; C 2 H 6 : - 84.724; C 2 H 4 : +52.318; C 2 H 2 : + 226.90; C 6 H 6 (g): + 82.982 kJ/mol). Chemische Eigenschaften Eine wichtige Eigenschaft der Kohlenwasserstoffe ist ihre unter starker Wärmeentwicklung erfolgende Verbrennung zu Kohlendioxid u n d Wasser: C m H„ + (m + i)O2
^ m C O 2 + f H 2 O + Energie.
D a h e r dienen gasförmige Kohlenwasserstoffe - als solche (Acetylen, Methan, P r o p a n , Butan) oder im Gemisch mit anderen Gasen (in F o r m von Heizgas, Kokereigas) - sowie flüssige Kohlenwasserstoffe (Heizöl, Benzin, P e t r o l e u m technisch in ausgedehntem M a ß e als Heizu n d Treibstoffe (O 2 -haltige Kohlenwasserstoffdämpfe sind bei höheren Temperaturen explosiv). Ihre Synthese aus Wasserstoff u n d Kohle (,,Kohlehydrierung") bzw. Wasserstoff u n d Kohlenoxid (,,Fischer-Tropsch-Verfahren"; S. 899) wird in großtechnischem M a ß s t a b durchgeführt. Auch im Laboratorium bedient man sich von jeher der Heizwirkung der kohlenstoffhaltigen Brenngase im „Bunsen-Brenner" (Fig. 200). Bei diesem verbrennt ein Luft-Brenngas-Gemisch, in einer auf dem oberen Rande des Brennrohrs aufsitzenden Flamme mit dunklem Innenkegel und bläulichem Außenkegel. Das Leuchten bei ungenügender Luftzufuhr rührt von angeregten Kohlenstoffteilchen, die durch unvollständige Verbrennung (CmH„ + j02 -> mC + f H 2 O ) oder thermische Zersetzung von Kohlenwasserstoffen (CmH„ -> mC + \H2) entstanden sind. Die Verbrennung erfolgt am Rande des Innenkegels, wo sich die Ausströmungsgeschwindigkeit des Gases (welche die Flamme von unten nach oben zu treiben sucht und die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Verbrennung (welche die Flamme dem frischen Gas entgegen in das Brennerrohr hineinzuziehen trachtet) gerade die Waage halten. Die vom Heizgas am Brennerfuß beim Ausströmen aus der Düse seitlich angesaugte Luft („Primärluft") reicht nun nicht aus, um das ganze Heizgas zu verbrennen. Der unverbrannt gebliebene, hauptsächlich aus Kohlenoxid und Wasserstoff bestehende Rest, der sich mit Kohlendioxid und Wasserdampf im „Wassergasgleichgewicht" (S.896) befindet (CO + H 2 0 +± CO 2 + H 2 ), bildet den Außenkegel der Flamme. Seine Verbrennung erfolgt am Rande des Außenkegels mit der von außen kommenden Luft („Sekundärluft"). Die Temperatur der Bunsen-Flamme ist naturgemäß an den beiden Kegelrändern, den eigentlichen Verbrennungszonen, am höchsten und beträgt maximal etwa 1550 °C. Wegen des Gehaltes an Kohlenoxid und Wasserstoff und des Fehlens von Sauerstoff wirkt der innere Teil des Außenkegels nahe dem heißen Außenrande des Innenkegels stark reduzierend („Reduktionszone"), während der äußere Rand des Außenkegels wegen des hier vorhandenen überschüssigen Luftsauerstoffs starke Oxidationswirkung zeigt (,,Oxidationszone"). Die Kohlenwasserstoffe wirken in der Regel nur als sehr schwache H+ -liefernde Brönsted-Säuren bzw. -liefernde Lewis-Basen, z.B.
890
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Verbrennung mit Sekundärluft
Fig. 200
Tab. 90 Kenndaten von Kohlenwasserstoffen (in Klammern Molekülsymmetrie).
Kohlenwasserstoff Außenkegel Name (Symm.) Formel (sauerstoff-freies Heizgas) Methan (Td) CH4 Verbrennung C Ethan (D 3 d ) mit Primärluft C Propan (C 2v ) Butan (C 2 h ) 30 Innenkegel C z-Butan (C 3v ) 4 ^ 30 (Heizgas + Luft) Pentan C5H32 Hexan QH34 Heptan C7H36 Schornstein Octan C8H38 C Ethylen (D ) C Propen (C ) Düse C Butadien (C ) Acetylen (D r o h ) C C Cyclopentan (C ) 5 H 30 Gas C Cyclohexan (C ) 6 H 32 Cyclopentadien (C ) C 5 H 3 Brennerfluss C Benzol ( D h ) C Toluol (C s ) 6 H 5 C H 3 Mesitylen (C 3 h ) C6H3(CH3)3
Bunsen-Brenner.
CH 4
^ ^
CH3" + H +
bzw.
CH 4
^ ^
Smp. [X]
Sdp. [°C]
Dichte [g/cm 3 ]
-182.5 -183 -187.7 -135 -159 -130 - 95 - 90.7 - 57 -169 -185 -109 - 81 - 94 - 80 - 85 5.5 - 95 - 45
-161.5 - 88 - 42 0.5 - 11.7 36 68.7 98.4 126 -104 - 47.7 4.5 - 84 49 83 40 80.15 111 165
0.424
(Sdp.)
0.5003 0.579 0.551 0.6262 0.66 0.681 0.703
(Sdp.) (Sdp.) (Sdp.) (20 (20
0.5139 0.65 0.6181 0.746 0.81 0.802 0.879 0.866 0.864
(20 (Sdp.) (Sdp.) (20 (20 (20 (20 (20 (20
CH3++H".
Hierbei wächst die Brönsted-Acidität (in Klammern p7£s-Werte) (i) mit abnehmendem negativierendem induktivem Substituenten-Effekt (Me 2 CH 2 (44) < MeCH 3 (42) < C H (40)), (ii) mit zunehmendem positivierendem mesomerem Substituenten-Effekt (PhCH 3 (35) < Ph 2 CH 3 (33) < Ph 3 CH (31)) sowie (iii) mit zunehmendem s-Charakter des vom Kohlenstoff für die CH-Bindung genutzten Hybridorbitals (H 3 C—CH 3 (42) < H 2 C = C H 2 (36) < H C = C H (25)). Ersichtlicherweise ist eine Deprotonierung selbst von vergleichsweise saurem Acetylen in Wasser praktisch unmöglich und muß demgemäß in inerten Lösungsmitteln mit starken Basen wie NaH oder LiMe erfolgen (die von allen Kohlenwasserstoffen erzeugbaren konjugierten Basen stellt man in der Regel durch Reaktion von Halogenderivaten mit elektropositiven Metallen gemäß ^C—Hal + 2M ]5CM + MHal dar). Cyclopentadien C 5 H 6 (14), dessen Deprotonierung zur Ringaromatisierung führt (vgl. Formel auf S.888), reagiert demgegenüber bereits im wässerigen Milieu mit Basen. Auch Nitromethan O 2 N C H 3 (10), das sich von C H durch Ersatz eines H-Atoms gegen einen stark elektronenziehenden Substituenten ableitet, löst sich im wässerigen Alkalien unter Salzbildung auf Die Effekte, die eine Erniedrigung der Brönsted-Acidität von Kohlenwasserstoffen bewirken, haben umgekehrt eine Erhöhung von deren Lewis-Basizität zur Folge. So führt die H"-Eliminierung aus Cycloheptatrienyl zur Ringaromatisierung (vgl. Formel auf S. 888). Demgemäß liegt C 7 H 7 Hal als Salz vor, das zudem von Wasser ohne Zersetzung gelöst wird. Ganz analog dissoziieren die „Tritylhalogenide" Ph 3 CHal in S 0 2 (fl.) unter Bildung von mesomeriestabilisierten Trityl-Kationen Ph 3 C + und HalogenidAnionen X B e s o n d e r s instabil ist das Methyl-Kation CH 3 . Es lässt sich nicht nur durch Substitution der H-Atome gegen Phenyl-Gruppen ( - • PhCH 2 , Ph 2 CH + , Ph 3 C + ), sondern auch gegen Methyl-Gruppen (-• M e C H 2 , Me 2 CH + , M e 3 C + ) stabilisieren (die Stabilisierung beruht in ersteren Fällen auf Konjugation der Phenyl-rc-Elektronenpaare, in letzteren Fällen auf Hyperkonjugation der Methyl-cr-Elektronenpaare mit dem elektronenleeren p-Atomorbital des zentralen Kohlenstoffs). Die -Eliminierung aus Kohlenwasserstoffen kann gemäß ^C—H + M e ^ B ^ H g B r g ) + C B 3 3 H B e + MeH unter Bildung des „nichtkoordinierenden" (praktisch nicht basischen) Anions CB 33 H 6 Bv^ (vgl. S. 1090) neben dem Carbokation erfolgen. Auf diese Weise ließ sich das Kation Me 3 C + (planares C 4 -Gerüst) in Form eines bei Raumtemperatur stabilen Salzes erhalten und röntgenstrukturanalytisch charakterisieren.
1.3
Halogenverbindungen des Kohlenstoffs 1,15
Überblick. Der Kohlenstoff bildet eine große Anzahl von Halogenverbindungen, die sich von den weiter oben behandelten Kohlenwasserstoffen CWH2b + m (S. 887) durch teilweisen oder vollständigen Ersatz der Wasserstoffatome durch Fluor, Chlor, Brom und/oder Iod ableiten.
1. Der Kohlenstoff Tab.91
Kohlenstoffhalogenide (in Klammern Symmetrie).
Verbindungstypus a
b)
CX 4 >' Tetrahalogenide (T d ) X 1 x'l
X X
C2X6" „Trihalogenide" (D 3 d ) x^ ^x x—c—c—x x ' ^x C2X4 „Dihalogenide" (D 2 h )
X X C2X2«> „Monohalogenide" ( D ^ J X—C=C—X COX 2 g ) Dihalogenidoxide (C 2 v ) x
\ x^
891
Fluoride
Chloride
Bromide
Iodide
CF 4 Farbloses G a s Smp. —183.5, Sdp. — 128.5°C 3 (Sdp.) e = 1.96 g/cm &Ht = 679.9 kJ
CC14 Farblose Flüssigkeit Smp. —22.9, Sdp. 76.6 °C B = 1.594 g/cm 3 &Ht = 106.7 kJ (g)
CB Blassgelbe Kristalle Smp. 90.1, Sdp. 189.5°C 3 (100°) e = 2.961 g/cm &Ht = 139.3 kJ (fl)
C
C2F6"> Farbloses G a s Smp. —106.3, Sdp. — 7 9 ° C e = 1.590 g / c m (Sdp.)
C 2 C1 6 Farblose Kristalle Smp. 187, Sblp. 186 °C 2.091 g/cm
Gelbe Kristalle Sblp. 200°C/Zers. 2.823 g/cm
C2F4"> Farbloses G a s Smp. —142.5, Sdp. — 76.3 °C B = 1.519 g / c m (Sdp.)
B C 2 C1 4 Farblose Flüssigkeit Blassgelbe Kristalle Smp. —19, Smp. 56.5, Sdp. 121.1 "C Sdp. 227 °C e = 1.6227 g / c m (Sdp.)
C2I4 Gelbe Prismen Smp. 192°C 2.983 g/cm
C2F2
C 2 C1 2 Farbloses G a s Smp. — 66 °C
Gelbes Gas Smp. — 25 °C
R I2ID T_ 2 Festsubstanz Smp. 82 °C
COC Farbloses G a s Smp. —127.8, Sdp. 7.6 °C B = 1.392 g/cm 3
COB Farblose Flüssigkeit Smp. — 80 °C, Sdp. 64.5°C 2.52 g/cm
COF 2 Farbloses G a s Smp. —114, Sdp. — 83.1 °C e = 1.139 (— 144°)
Hellrote Kristalle Smp. 171, Sblp. 130°C/Zers. 4.32 g/cm &Ht = 160 kJ (fl)
B
B
a) Gemischte Tetrahalogenide, z.B. Freone CF2C12 (farbloses Gas, Sdp. — 29.8°C), CF3C1 {farbloses Gas, Sdp. — 81.1 °C). - b) Teilhalogenierte Methane, z.B. CH3C1 (farbloses Gas, Smp. — 97.7°C, Sdp. - 2 4 . 2 ° C ) , CH2C12 (farblose Flüssigkeit, Smp. - 9 5 . r C , Sdp. 40°C, Dichte = 1.3266 g/cm 3 ), CHC13 (farblose Flüssigkeit,Smp. — 53.5°C,Sdp. 61.7°C, Dichte = 1.4832 g/cm 3 ). - c) Man kennt darüber hinaus teilhalogenierte Ethane und Ethene sowie auch höhere Alkane und Alkene C„X 2 „ t 2 , C„X2„. - d) Man kennt auch eine polymere Form ( C F ^ (Teflon). - e) In polymeren Formen als (CF). (Graphitfluorid, S. 879), in trimerer Form als Hexahalogenbenzole C 6 F 6 (farblose Flüssigkeit, Smp. 5.3°C, Sdp. 80.5°C, Dichte = 1.6184 g / c m ) , C6C16 (farblose Nadeln, Smp. 230°C, Sblp. 322°C, Dichte = 1.5691 g / c m ) , C 6 Br 6 (gelbe Nadeln, Smp. 327°C), C 6 I 6 (rotbraune Nadeln, Smp. 350°C, Z.). - 0 Man kennt auch I(—C=C)„—I mit n = 3 , 4 . - g) Man kennt auch gemischte Carbonyldihalogenide, z.B. COFC1 (Sdp. — 42 °C), COFBr (Sdp. — 20.6 °C).
Einige von M e t h a n , E t h a n , Ethylen u n d Acetylen abgeleitete Perhalogeno-Verbindungen der S u m m e n f o r m e l CX 4 („Tetrahalogenide"), C 2 X 6 („Trihalogenide"), C 2 X 4 („Dihalogenide"), C 2 X 2 (,,Monohalogenide") sind in Tab. 91 z u s a m m e n mit Kohlensäuredihalogeniden COX2 wiedergegeben. E r w ä h n t seien des weiteren Halogenide der Fullerene (S. 881) sowie der Kohlenstojf-Nanoröhen (S.884). Darstellung und Eigenschaften einiger technischer Produkte Das tetraedrisch gebaute Tetrafluormethan CF4 (Td-Symmetrie), ein chemisch inertes Gas (vgl. Tab. 91), wird in der Technik durch Fluorierung von Graphit (Elektrolyse von MF oder M F an Graphitanoden) oder Fluoridierung von Chlorfluormethanen CF2C12 bzw. CF 3 Cl (s. u.), im Laboratorium auch durch Fluoridierung von Kohlendioxid C O oder Phosgen COCl 2 mit Siliciumtetrafluorid gewonnen. Das als Lösungsmittel in Labor und Technik verwendete, charakteristisch riechende Tetrachlormethan CC14 (Td-Symmetrie; vgl. Tab. 91) entsteht durch vollständige Chlorierung von Methan CH 4 oder Schwefelkohlenstoff CS 2 . CC14 ist wie andere Chlorverbindungen toxisch und krebserregend 15 . Tetrachlormethan dient als Zwischenprodukt der technisch in großen Mengen gemäß CC14 + nHF CF„C14 _„ + nHCl (Katalysator SbCl 4 F) gewonnenen Freone CF„C14 „ (n = 1, 2, 3; vgl. Tab.91). Letztere stellen ideale Kühlmittel und Aerosoltreibgase dar (Verwendung in Kühlschränken, für Sprays), da sie niedrige Schmelzpunkte, hohe Dichten, geringe Viskositäten, kleine Oberflächenspannungen aufweisen und auch unentzündlich, geruchlos, chemisch inert, thermisch stabil und ungiftig sind. Empfindlich sind sie allerdings gegen kurzwellige Strahlung, welche sie u.a. unter Bildung von Chloratomen zersetzt. Da diese Photolyse in der Stratosphäre abläuft, wohin die Freone (z.B. aus Sprays) gelangen, und weil die Cl-Atome dort den Zerfall des - als Energiefilter wesentlichen
15 Physiologisches D i e t e c h n i s c h w i c h t i g e n Chlorverbindungen sind alle m e h r o d e r w e n i g e r toxisch u n d krebserregend: M A K - W e r t f ü r CC1 4 65 m g / m 3 = 10 p p m , f ü r C H C 1 3 50 m g / m = 10 p p m , f ü r C H 2 C 1 2 360 m g / m 3 = 100 p p m , f ü r 3 3 3 C H 3 C l 150 m g / m = 50 p p m , f ü r C 2 C 1 6 10 m g / m = 1 p p m , f ü r C 2 C 1 4 345 m g / m = 50 p p m , f ü r C F „ C 1 4 _ „ u m 5000 m g / m 3 = 1000 p p m , f ü r C O C l 2 0.4 m g / ^ 0.1 p p m
892
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
- O z o n s katalysieren (vgl. Ozonloch S. 518), wird die Produktion derartiger Chlorfluorkohlenwasserstoffe (CFKW) eingestellt. Anders als die Tetrahalogensilane SiX 4 (X = F, Cl, Br, I), die als Lewis-Säuren wirken (z. B. SiF 4 + 2 F " -> SiF§"), aber nicht als Lewis-Basen, verhalten sich Tetrahalogenmethane CX 4 nicht als Lewis-Säuren, aber als Lewis-Basen, z.B.: CI 4 + A g [ A l ( O R ) 4 ] C I + [Al(OR) 4 ]" + AgI (CH 2 C1 2 , Raumtemp., Lichtausschluss; R = C(CF 3 ) 3 ). Es bilden sich hierbei die mit BX 3 isoelektrische Kationen C X 3 , deren Aciditität h i n s i c h t l i c h " in Richtung CF 3 > CC13+ > CBr 3 > CI 3 abnimmt (Zunahme des Ausmaßes von RP„-Rückbindungen; für BX 3 trifft die umgekehrte Reihenfolge zu; s. dort). Tetrafluorethylen C2F4 (planar; D 2h -Symmetrie; vgl. Tab.91) wird in der Technik in großen Mengen gemäß CHC13 + 2 H F CHClF 2 + 2HCl; 2CHClF 2 C 2 F 4 + 2HCldurchpartielle Fluoridierung von Chloroform (Katalysator: SbCl 4 F) auf dem Wege über Chlorfluormethan CHClF 2 gewonnen und nachfolgend zu Polytetrafluorethylen (C 2 F 4 ) x („Teflon") polymerisiert. Es ist ähnlich wie CF 4 (und andere Perfluoralkane) gegen Säuren, Basen und Redoxmittel bis 600 °C stabil und dient als wasser- und kohlenwasserstoffunlösliches Material mit geringen Reibungskoeffizienten u. a. als Schutzüberzug für Küchengeräte, Rasierklingen und Kugellager. Carbonyldifluorid COF2 (isoelektronisch mit B F , C O p l a n a r e r Bau; C 2v -Symmetrie; Abstände CO/ CF = 1.174/1.312 Ä; OCF/FCF-Winkel 126.0/108.0°) lässt sich durch Fluoridierung von Phosgen COC12 (s. u.) mit NaF in Acetonitril oder durch Fluorierung von Kohlenmonoxid mit AgF 2 oder F 2 gewinnen. Es dient zur Darstellung fluor-organischer Verbindungen. Mit den schweren Alkalimetallfluoriden reagiert es in Acetonitril als Lewis-Säure gemäß COF 2 + F " ->OCF 3 ; von Fluor wird es oxidiert: COF 2 + F 2 -> F 3 C—OF. Das ebenfalls hydrolyseempfindliche, toxischei 5 Carbonyldichlorid COCl2 („Phosgen"; isovalenzelektronisch mit BC13; planar; C 2v -Symmetrie; Abstände CO/CC1 = 1.167/1.746 Ä; Winkel OCCl/ClCCl = 124.3/111.3°) wird in großen Mengen durch katalytische Vereinigung von Kohlenmonoxid CO und Chlor Cl2 dargestellt^. Die Verbindung dient als Chloridierungsmittel für Metalloxide (z. B. Sn0 2 + 2COC12 -> SnCl 4 + 2 C 0 2 ) und u. a. als Ausgangsstoff für die Synthese von Polyurethanen (Zwischenprodukte: Isocyanate). Analog COC12 dient Carbonyldibromid COBr2 als Bromidierungsmittel für Oxide wie V 2 0 5 , MoO 3 , Re 2 0 7 , Sm 2 0 3 , U 0 3 (Bildung von VOBr 2 , MoO 2 Br 2 , ReOBr 4 , SmBr 3 , UOBr 3 ).
1.4
Chalkogenverbindungen des Kohlenstoffs 1,17
1.4.1
Überblick
Systematik Der Kohlenstoff bildet Oxide der Zusammensetzung CO„ (n = 1 - 4 ; C O und C O sind kurzlebige Spezies) sowie C„0 2 (n = 1, 3, 5 ^ 0 2 ist sehr kurzlebig), darüber hinaus Graphitoxide (S. 879), Fullerenoxide (S. 882) und Kohlenstoff-Nanoröhrenoxide (S. 884). Unter den Sulfiden, Seleniden und Telluriden des Kohlenstoffs stellen CY (kurzlebig) und CY2 (Abnahme der Metastabilität in Richtung CS 2 > CSe2 > CTe2) Homologe von CO und C O dar. Des weiteren existieren die Sulfide C 2 S 2 (kurzlebig), C 3 S 2 C 3 S 8 , C 4 S 6 , C 6 S 1 0 , 16 Der Name Phosgen leitet sich von seiner früheren Darstellung aus CO und Cl 2 im Sonnenlicht ab: phos (griech.) = Licht; genes (griech.) = geboren durch. 17 Literatur. Sauerstoffverbindungen ULLMANN (5. Aufl.): „Carbondioxide", „Carbonmonoxide", A5 (1986) 165-183, 203-216; Th.Kappe, E. Ziegler: „Kohlensuboxid in der präparativen organischen Chemie", Angew. Chem 86 (1974) 529-542; Int. E d 13 (1974) 491; A. Behr: ,Kohlendioxid als alternativer C^Baustein: Aktivierung durch Übergangsmetallkomplexe", Angew. Chem 100 (1988) 681-698; Int. E d 27 (1988) 661; D.M.Kern: „The Hydratation of Carbon Dioxide", J.Chem. Educ. 37 (1960) 14-23; S.L. Wells, J.M. DeSimone: „Die CO2-Technologie: ein wichtiges Instrument für die Lösung von Umweltproblemen", Angew. Chem 113 (2001) 534-544; Int. E d 40 (2001) 518; R.Ludwig, A.Kornath: ,,Lehrmeinung widerlegt: Kohlensäure überraschend stabil", Angew. Chem 112 (2000) 1479-1481; Int. E d 39 (2000) 1421. - Schwefelverbindungen ULLMANN (5. Aufl.): „Carbonsulfide", A5 (1986) 185-195; D. Coucouvanis: "The Chemistry of the Dithio- acid and i,i-Dithiolate Complexes", Progr. Inorg. Chem. 11 (1970) 233-371; R. Eisenberg: ,,Structural Systematics of 1,1- and 1,2-Dithiolate Chelates", Progr. Inorg. Chem. 12 (1971) 295-369; M.Dräger, G.Gattow: „Chalkogenkohlensäuren und ihre Anionen", Angew. Chem 80 (1968) 954-965; Int. Ed. 7 (1968) 868; E.K. Moltzen, K.J.Klabunde: „Carbonmonosulfide: A Review", Chem. R e v 88 (1988) 391-406; K.J.Klabunde, E. Moltzen, K. Voska: „ Carbon Monosulfide Chemistry. Reactivity and Polymerization Studies", Phosphorus, Sulfur and Silicon 43 (1989) 47-61. - Komplexe K . K . Pandly: ,,Reactivities of COS, CS2, C02 with transition metal complexes", Coord. Chem. R e v 140 (1995) 37-114; T. Kanaka: „Carbondioxide Fixation Catalizedby Metal Complexes", Adr. Inorg. Chem 43 (1995) 409-433. I. S. Butler: „Transition-Metal Thiocarbonyls and Selenocarbonyls", Acc. Chem. R e s 10 (1977) 359-365; P.V. Janeff: ,,Thiocarbonyl and Related Complexes of the Transition Metals", Coord. Chem. R e v 23 (1977) 183-221; A.N. Acharya, A. Das, A.C. Dash: „ Carbonato Complexes: Models for Carbonic AnhydraseAdv. Inorg. Chem 55 (2004) 128-200.
1. Der Kohlenstoff
893
C 6 S 1 2 , C 9 S 9 , (CS„)X sowie gemischte Chalkogenide CYY' (Y = S, Se, Te; Y ' = O, S, Se, Te) u n d C 2 O S (kurzlebig). Die - auch nachfolgend zum Teil gewählten und üblichen - Namen Kohlenmonoxid, -dioxid, -suboxid, -disulfid usw. für CO, C O , C 3 0 2 , CS2 usw. sind nicht korrekt, weil ja in der Tat keine Chalkogenide der „Kohlen", sondern solche des „Kohlenstoffs" vorliegen. Da Kohlenstoff elektronegativer als Schwefel, Selen und Tellur ist (Elektronegativitäten:C/S/Se/Te = 2.50/2.44/2.48/2.01) stellen zwar die Verbindungen von C mit O, aber nicht jene mit S, Se und Te Chalkogenide, sondern korrekter Carbide dar. Darstellung Die Oxide CO, C O , C 3 0 2 und C 1 2 0 9 lassen sich aus den auf S. 903 behandelten zugehörigen Säuren durch Wasserentzug gewinnen H 2 CO 2
H 2 0 + CO;
Ameisensäure
H4C304
H 2 CO 3
H 2 0 + CO 2 ;
Kohlensäure
2H20 + C302;
Malonsäure
H6C 12012
3H20 + C1209.
Mellitsäure
Eine analoge Dehydratisierung von C n (OH) 2n (perhydroxylierte Cycloalkane mit n = 4, 5, 6; vgl. S. 905) sollte gemäß C„(OH)2„ -> CnO„ + nH2O zu Kohlenoxiden (CO)„ führen, ist aber bisher nicht gelungen (auch (CO)2 = C 2 0 2 ist anders als C 2 S 2 oder C 2 OS unbekannt). Ein weiterer wichtiger Zugang zu Kohlenstoffchalkogeniden besteht in der Chalkogenierung von Kohlenstoff oder Kohlenstoffverbindungen (z.B. C -> CO, C O : CH 4 -> CS2; CH2C12 -> CSe2) bzw. in der Dechalkogenierung von Kohlenstoffchalkogeniden (z.B. CS2 -^CS, C 2 S 3 ). Eigenschaften Bezüglich der Strukturen der Kohlenstoffchalkogenide und ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften siehe bei den betreffenden Einzelverbindungen Nachfolgend werden die Kohlenstoffoxide, -sulfide, -selenide u n d -telluride besprochen, unter denen CO, C O u n d CS 2 technische Bedeutung haben. Bezüglich der Kohlenstoffchalkogensäuren u n d der Carbonylhalogenide vgl. S. 903 u n d 892.
1.4.2
Kohlenstoffdioxid (Kohlendioxid) CO 2 17 ' 18
Vorkommen Kohlendioxid C O kommt in der Natur sowohl frei als auch gebunden vor. Infreiem Zustande bildet es einen Bestandteil der Luft (0.03 Vol.-%; vgl. S.515) und des Meerwassers (ca. 0.005 Gew.% = 0.0005 Vol.-%; vgl. S. 526) sowie vieler Mineralquellen („Sauerbrunnen", „Säuerlinge", ,,Sprudel"); auch strömt es in einigen Gegenden (besonders in der Nähe von Vulkanen) aus Rissen und Spalten des Erdbodens aus. In gebundenem Zustande findet es sich in ungeheuren Mengen vor allem in Form von Calciumcarbonat CaCO 3 und Magnesiumcarbonat MgCO 3 . Darstellung Technisch gewinnt m a n Kohlendioxid durch Verbrennen von Koks mit überschüssiger Luft (vgl. CO-Darstellung, S.896) bzw. durch Kohlenoxid-Konvertierung (S.262): C + 02
C O 2 + 393.77 kJ
bzw.
C O + H 2 0 -> C O 2 + H 2 + 41.19 kJ,
darüber hinaus als N e b e n p r o d u k t beim Kalkbrennen
(S. 1243):
178.44 kJ + C a C O 3 -> C a O + C O 2 . In beiden Fällen ist das Kohlendioxid mit Fremdgasen vermengt. In reiner Form erhält man CO 2 ,
i 8 Physiologisches Kohlendioxid, das im lebenden Organismus für Carboxylierungen und für das C O / H C O J - P u f f e r system benötigt wird, kreist im Körper - gebunden als Carbamat (S.906) an die terminalen Aminogruppen der Hämoglobinketten der roten Blutkörperchen (,,Erythrocyten") - in verhältnismäßig großen Mengen (vom Menschen werden täglich ca.3501 C O ausgeatmet); die Bindung des über die Lunge zu den Muskeln transportierten Sauerstoffs erfolgt durch Koordination an das Hämoglobineisen, vgl. S. 1663). Es ist in nicht allzu hohen Konzentrationen ungiftig (MAK-Wert 9000 m g / m = 5000 ppm). Bis zu 5 Vol.-% C O in der Atemluft sowie C O in „Kohlensäurebädern" bzw. in Getränken erweitern die Blutgefäße und regen dadurch den Kreislauf an (,,Hyperventilation"; starke Durchblutung der Haut). 8 - 1 0 Vol.-% C O in der Atemluft rufen Kopfschmerzen, Schwindel, Blutdruckanstieg, Erregungszustände, über 10Vol.-% Bewusstlosigkeit, Krämpfe, Kreislaufschwäche, über 15Vol.-% apoplexieähnliche Lähmungen hervor. Noch größere C O - M e n g e n führen rasch zum Tod (Verdrängung des hämoglobingebundenen Sauerstoffs durch C O ; vgl. S. 1662).
894
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
indem man es in Türmen einer über Koks herabrieselnden Natrium- oder Kaliumcarbonatlösung bzw. wässerigem Ethanolamin HOCH 2 CH 2 NH 2 entgegenleitet, welche das Kohlendioxid bindet: K 2 CO 3 + CO 2 + H 2 O ?± 2KHCO 3 ,
RNH 2 + CO 2 + H 2 O ?± R N H 3 H C 0 3
und beim Kochen (Umkehrung der vorstehenden Reaktionen) wieder abgibt. Auch die natürlichen Gasquellen werden vielfach zur Kohlendioxidgewinnung ausgenutzt. Im Laboratorium setzt man das Kohlendioxid als Anhydrid der Kohlensäure (H 2 CO 3 H 2 0 + CO 2 ) zweckmäßig aus den Salzen der Kohlensäure, den Carbonaten, durch Einwirkung von Säuren in Freiheit (z.B. Zersetzung von Kalkstein oder Marmor CaCO 3 durch Salzsäure im Kipp'schen Apparat):
CaCO 3 + 2HC1
CaCl 2 + H 2 0 + C 0 2 .
Physikalische Eigenschaften Kohlendioxid ist ein farbloses, nicht brennbares, die Atmung und Verbrennung nicht unterhaltendes, geruchloses Gas. Sein Litergewicht (1.9768 g bei 0 0 C und 1 atm) ist etwa anderthalb mal so groß wie das der Luft. Daher kann man z. B. C0 2 -Gas wie eine Flüssigkeit aus einem Becherglas in ein kleineres Becherglas „umgießen" und hierbei etwa eine in letzterem brennende Kerze auslöschen. Wegen seiner hohen Dichte sammelt sich C O weiterhin dort, wo es entweicht (z. B. in Gärkellern, Grotten, Brunnenschächten usw.), am Boden an, was wegen der erstickenden Wirkung von C0 2 reicher Lufti8 beachtet werden muss. Bekannt ist die ,,Hundsgrotte" von Neapel, in der z.B. Hunde wegen des am Boden entströmenden Kohlendioxids ersticken (am Boden befindet sich eine 50 cm hohe Gasschicht mit etwa 70% C 0 2 , 24% N 2 und 6% 0 2 ) , während (aufrecht gehende) Menschen dort ungehindert atmen können. Bei den Löschapparaten macht man von der erstickenden Wirkung des Kohlendioxids zur Löschung von Bränden Gebrauch. Schüttet man z.B. auf ein in einer Wanne brennendes Petroleum-Benzol-Gemisch einen Löffel festes C O , so erlischt die Flamme sofort.
Sblp.
Smp.
Kohlendioxid lässt sich leicht verflüssigen, da seine kritische Temperatur (31.00 0C) relativ hoch liegt, wie aus dessen Zustandsdiagramm (Fig. 201) hervorgeht (kritischer Druck 76.262 bar, kritische Dichte 0.464 g/cm). So kann man es beispielsweise bei 0 0 C schon durch einen Druck von 34.7, bei — 20°C durch einen Druck von 19.6 und bei — 50 0 C durch einen Druck von 6.7 bar zu einer farblosen, leichtbeweglichen Flüssigkeit (Dichte = 1.101 g / c m bei — 37 0C) verdichten.Kühltman flüssiges Kohlendioxid in einem geschlossenen Glasgefäß ab, so erstarrt es zu einer eisähnlichen Masse (Dichte = 1.56 g/cm3 bei — 78.5 0C), welche bei — 56.7 0 C unter einem Eigendruck von 5.3 bar schmilzt. Bei Atmosphärendruck sublimiert festes Kohlendioxid bei — 78.48 0C, ohne zu schmelzen. 1 Liter Wasser löst bei 20 0 C 0.9 Liter, bei 15° 1 Liter und bei 0 0 C 1.7 Liter Kohlendioxid von Atmosphärendruck. Mit steigendem Druck nimmt die Löslichkeit zu. So gehen unter 25 bar Druck bei 20 0 C 16.3 Liter C O in Lösung. Die entstehende Lösung reagiert schwach sauer (s. unten). Bei 0°C und 45 bar bildet sich kristallines C O ' 8 H 2 0 . Kohlendioxid absorbiert Licht gemäß seiner Farblosigkeit nicht im sichtbaren Bereich des Spektrums, wohl aber im Infrarot. Dies ist für den Wärmehaushalt der Erdoberfläche deshalb bedeutsam, weil die Wärmeabstrahlung der Erde in den Weltraum infolge der Absorption der infraroten Wärmestrahlen durch den CO-Gehalt der Atmosphäre verhindert wird, während die sichtbaren Sonnenstrahlen ungehindert die Erdoberfläche erreichen können. Vgl. hierzu ,,Treibhauseffekt", S. 523. Die Struktur des mit dem Azid-Ion N 3 isoelektronischen linearen CO-Moleküls (16 Valenzelektronen, vgl. Tab. 46, S. 358) lässt sich durch folgende Mesomerieformel beschreiben: :O
O: (a)
:O (b)
(c)
1. Der Kohlenstoff
895
Hierbei haben allerdings die Grenzformeln (a) und (c) nur geringes Gewicht. In Übereinstimmung mit dieser Formel entspricht der CO-Abstand von 1.1632 Ä einer kovalenten Doppelbindung (ber. für C—0Einfachbindung 1.43 Ä, für C=O-Doppelbindung 1.23 Ä, für C=0-Dreifachbindung 1.10 Ä). Die CODissoziationsenergie beträgt 531.4 kJ/mol.
Kohlendioxid kommt in verflüssigter Form in Stahlflaschen - unter einem Druck von 57.5 bar bei 20 °C (Dichte = 0.766 g/cm 3 ) - , und in fester Form als Trockeneis in den Handel. Öffnet man das Ventil einer mit der Öffnung schräg nach unten gerichteten Stahlflasche, so fließt das flüssige Kohlendioxid aus. Die dabei unter starkem Wärmeverbrauch (Verdampfungsenthalpie A// beim Sblp. = + 25.2 kJ/mol) sofort einsetzende Verdunstung eines Teils der Flüssigkeit kühlt den restlichen Teil rasch bis auf den Kondensationspunkt von — 78.5 °C ab, sodass man eine schnee-artige Masse (,,Kohlensäureschnee") erhält. Die sehr hohe Sublimationsenthalpie dieses Schnees (573.2 kJ/kg bei — 78.5 °C) macht ihn - zweckmäßig im Gemisch mit Flüssigkeiten (z. B. Petrolether, Alkohol oder Aceton) - als Kältemittel geeignet. Chemische Eigenschaften Redox-Verhalten. Kohlendioxid ist eine sehr beständige Verbindung, die erst bei sehr hohen Temperaturen (unter Atmosphärendruck bei 1205 °C zu 0.032, bei 2367 °C zu 21.0, bei 2606°C zu 51.7 und bei 2843 °C zu 76.1 %) in Kohlenmonoxid und Sauerstoff bzw. bei noch höheren Temperaturen in Kohlenstoff und Sauerstoff zerfällt: 283.17kJ + C 0 2
C0 + ^02;
393.77 kJ + C 0 2
C + 02.
Dementsprechend ist C 0 2 ein sehr schwaches - die Verbrennung und Atmung nicht unterhaltendes - 0xidationsmittel, während umgekehrt C 0 bzw. C bei hoher Temperatur (Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit) starke Reduktionsmittel darstellen. Nur starke Reduktionsmittel wie Wasserstoff, Koks, Phosphor, Magnesium, Natrium, Kalium können in der Hitze Kohlendioxid zu Kohlenoxid bzw. Kohlenstoff reduzieren. Mischt man etwa Kohlensäureschnee mit der gleichen Masse Magnesiumpulver und entzündet das Gemisch, so verbrennt es unter starker Lichterscheinung und Abscheidung von Kohlenstoff: C 0 2 + 2Mg -> C + 2MgO + 810.69 kJ. Die bei der Reaktion mit Wasserstoff und mit Koks sich einstellenden Gleichgewichte 41.19 kJ + C 0 2 + H 2 ^ C 0 + H 2 0(g)
und
172.58 kJ + C 0 2 + C
C0 + C0
spielen als ,,Konvertierungsgleichgewicht" (S. 897) und,,Boudouard-Gleichgewicht" (S. 897) bei vielen technischen Prozessen eine Rolle. Bei der Umsetzung von C 0 2 mit Alkalimetallen entstehen gemäß 2M + 2 C 0 2 -> M 2 C 2 0 4 0xalate (S.908). Auch beim ,,C02-Kreislauf" in der Natur spielen RedoxProzesse (Assimilation, Atmung) eine Rolle (S. 878).
Säure-Base-Verhalten. Die wässerige Lösung des Kohlendioxids rötet Lackmus schwach, reagiert also etwas sauer. Das kommt daher, dass sich Kohlendioxid mit Wasser in geringem Umfange zu „Kohlensäure" H 2 C 0 3 umsetzt (vgl. S. 906). Kohlendioxid und Carbonat zeigen nicht nur Brönsted-, sondern auch Lewis-Säure-Base-Verhalten. So bilden sie etwa Kohlendioxid- und Carbonat-Komplexe, in welchen C 0 2 als einzähniger Ligand (z. B. F — C O ) , C 0 2 bzw. CO 3 ~ als zweizähniger (r)2) Ligand (d, e) und C 0 3 ~ als verbrückender (n) Ligand (f) wirkt (in einigen C0 2 -haltigen Mg-Komplexen finden sich Mg—0=C=0—Mg-Brücken):
/
/ \ O
\
0
/
L„M
' \
/
ML„ \
,
(z.B. { ( C 6 H „ ) 3 P } 2 N i C 0 2 )
(z.B. (Ph 3 P) 2 NiC0 3 • C 6 H 6 )
o o (z.B. {Cl(Me 2 NC 3 H 6 NMe 2 )Cu} 2 C0 3 )
(d)
(e)
(f)
Häufig reagieren Verbindungen M L auch unter Einlagerung von C 0 2 in ML-Bindungen; z.B. Bildung von Li0C(0)CR, BrMg0C(0)CR, Al0C(0)CR, (P P) RuH0C(0)H, Ph 0 C ( 0 ) N H R Me 3 Si0C(0)CNR 2 , Me 3 Sn0C(0)CNR 2 aus LiR, BrMgR, R 3 Al, (Ph 3 P) 4 RuH 2 , PhB(NHR) 2 , Me 3 SiNR 2 , Me 3 SnNR 2 .
896
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Verwendung Kohlendioxid (Weltjahresproduktion 300 Megatonnenmaßstab) dient als Schutzgas (Inertgas) bei chemischen Prozessen und in Feuerlöschgeräten, als Treibgas in Sprays und der Schaumstoffherstellung, als Kühlmittel in Labor, Reaktoren, Kunststoffindustrie, Kältemaschinen, als Säure zur Herstellung erfrischender Getränke und zur Neutralisation alkalischer Abwässer, als Flüssigkeit zum Transport von Kohle in Pipelines und zur Hochdruckextraktion von Naturstoffen. Großtechnisch wird es zur Synthese des Düngemittels Harnstoff (S. 672) und von Methanol, cyclischen Carbonaten, Salicylsäure sowie Soda verwendet. In der Medizin nutzt man es gegen Herz- und Kreislaufstörungen. Erwähnt sei ferner der zum Schneiden und Schweißen von Stoffen in Technik und Medizin genutzte ,,CO 2 -Laser" (S. 179).
1.4.3
Kohlenstoffmonoxid (Kohlenmonoxid, Kohlenoxid) C 0 1 ^ 9
Darstellung Im Laboratorium gewinnt m a n Kohlenoxid als „ A n h y d r i d " der H C O O H durch Eintropfenlassen letzterer in wasserentziehende konzentrierte bei über 100°C: HCOOH
Ameisensäure Schwefelsäure
CO
Technisch erzeugt m a n C O in großem U m f a n g bei der Umsetzung von Kohlenstoff mit L u f t in F o r m von Generatorgas sowie bei der Umsetzung von Kohlenstoff oder Kohlenwasserstoffen mit Wasserdampf in F o r m von Synthesegas (= Wassergas, Spaltgas; vgl. S.262): 2C + 0 2 / 4 N 2 Luft
2CO + 4N2;
C (bzw.CHJ + H 2 0
Generatorgas
CO + H 2 Wassergas
(bzw.CO-f 3H2). Spaltgas
Zur Darstellung von Generatorgas (,,Luftgas"; durchschnittliche Zusammensetzung 70% N 2 , 25% CO, 4% C O etwas H 2 , CH 4 , O 2 ) wird in großen Öfen (,,Generatoren") Luft von unten her durch eine 1 - 3 m hohe Koksschicht geleitet. Im unteren Teil der Schicht verbrennt der Kohlenstoff, da hier Luftüberschuss vorhanden ist, unter starker Wärmeentwicklung zu Kohlendioxid (1). Hierbei erhitzt sich die Koksschicht auf über 1000 °C. Das gebildete C O setzt sich dann bei dieser hohen Temperatur im darüber liegenden, noch unverbrauchten Teil der Kohlenschicht mit Kohlenstoff zu Kohlenoxid im Zuge des ,,Boudouard-Gleichgewichts" um (2), sodass sich bei Koksüberschuss und hohen Temperaturen insgesamt die Reaktion (3) abspielt C + 02 172.58 kJ + CO 2 + C
CO 2 + 393.77 kJ 2CO
(1) (2)
2C + 0 2 ^ 2CO +221.19 kJ.
(3)
Zur Herstellung von Wassergas (durchschnittliche Zusammensetzung 50% H 2 , 40% CO, 5% CO 2 , 4 - 5 % N 2 , etwas C H ) leitet man Wasserdampf über stark erhitzten Koks. Dabei erfolgt die endotherme Reaktion (4). Das gebildete Kohlenmonoxid kann sich bei niedrigen Temperaturen mit weiterem Wasserdampf zu Kohlendioxid gemäß (5) umsetzen (,,Kohlenoxid-Konvertierung"), sodass bei Wasserdampf1 9 Physiologisches Die Giftwirkung von CO (MAK-Wert 33 m g / m 3 = 30 ppm) beruht zur Hauptsache auf der Störung bzw. Unterbindung des Atmungsprozesses. In der Lunge bindet das rote Hämoglobin40 des Blutes normalerweise den eingeatmeten Luft-Sauerstoff unter Bildung von hellrotem Disauerstoff-Hämoglobin (,,Oxyhämoglobin") und gibt ihn an den Stellen geringeren Sauerstoffpartialdruckes (z. B. in den Muskeln an das Myoglobin) wieder ab (vgl. S. 1662): 0 2 + Hämoglobin O 2 -Hämoglobin. Befindet sich CO in der Luft, so wird bevorzugt nicht der Sauerstoff, sondern das Kohlenoxid vom Hämoglobin gebunden, da die Affinität des letzteren zu CO etwa 300-mal größer als die zu 0 2 ist: CO + Hämoglobin CO-Hämoglobin. Dementsprechend ist Kohlenoxid in der Lage, aus dem 0 2 Hämoglobin den Sauerstoff unter Bildung von Kohlenoxid-Hämoglobin (,, Carboxyhämoglobin") zu verdrängen: O 2 Hämoglobin + CO CO-Hämoglobin + O 2 . Schüttelt m a n etwa Blut mit Luft, die 0.1 % CO enthält, so werden 5 0 % des Blutfarbstoffs in CO-Hämoglobin umgewandelt; bei einem CO-Gehalt von 0 . 3 % sind es bereits 7 5 % . Fallen aber 6 0 - 7 0 % des Hämoglobins infolge CO-Bindung für die O 2 -Versorgung aus, so tritt beim Menschen der Tod ein (bei 0.3 % CO nach 15 Minuten). D a es sich bei letzterer Umsetzung um eine umkehrbare Reaktion handelt, bei der keine Zerstörung des Hämoglobin-Gerüsts erfolgt, kann das CO-Hämoglobin durch Einwirkung eines großen 0 2 -Überschusses gemäß dem Massenwirkungsgesetz wieder in O 2 -Hämoglobin umgewandelt werden. Hiervon macht man bei CO-Vergiftungen Gebrauch (Sauerstoffbeatmung). Bezüglich des Nachweises von CO vgl. S.488.
1. Der Kohlenstoff
897
überschuss und weniger hohen Temperaturen neben der Reaktion (4) in Anwesenheit geeigneter Katalysatoren auch als Summe von (4) und (5) die Reaktion (6) stattfinden kann (vgl. S. 261 f): 131.38 kJ + C + CO+
H 2 0 ( g ) ?± CO + H 2 H 2 0 ( g ) ? ± C O + H 2 +41.19 kJ
(4) (5)
90.19 kJ + C + 2H 2 O (g) ^ CO 2 + 2H 2 .
(6)
Das - vom Druck unabhängige - „Konvertierungsgleichgewicht" (5), dessen Gleichgewichtskonstante K = [ C O ] [ H 2 ] / [ C O ] [ H 2 0 ] bei 830°C den Wert 1.0 besitzt, verschiebt sich mit steigender Temperatur nach links, da es sich um eine exotherme Reaktion handelt. Unterhalb 830 0 C ist also das Kohlenoxid, oberhalb 830 0 C der Wasserstoff das stärkere Reduktionsmittel. Führt man daher die Umsetzung von Koks mit Wasserdampf bei verhältnismäßig niedrigen Temperaturen durch, so erhält man in der Hauptsache Kohlendioxid und Wasserstoff, während bei hohen Temperaturen ( > 1000 0C) Kohlenoxid und Wasserstoff entstehen. Die Mengenverhältnisse von Kohlenoxid und Kohlendioxid bei den verschiedenen Temperaturen entsprechen dabei, solange noch überschüssiger Koks vorhanden ist, im Gleichgewichtszustand zugleich dem Boudouard-Gleichgewicht (2), da ja bei Gegenwart von Kohlenstoff selbstverständlich auch dieses Gleichgewicht erfüllt sein muss Das Spaltgas (Zusammensetzung CO + nH 2 mit « ^ 2 ) entsteht aus Kohlenwasserstoffen (Erdgas, Erdöl) mit Wasserdampf in endothermer Reaktion: 206.2 kJ + CH 4 + H 2 0 ?± CO + 3H 2 ;
151.0 kJ +
—CH 2 —
+ H 2 0 ?± CO + 2H 2 .
Bezüglich Einzelheiten vgl. S. 261, bezüglich der Gleichgewichtslagen beider Reaktionen das beim Wassergas Gesagte A u c h durch Komproportionierung bereits erwähnten Reaktion (2): C + CO2
von Kohlenstoff u n d Kohlendioxid nach der weiter oben
2CO
(2)
lässt sich Kohlenmonoxid gewinnen. Sie f ü h r t bei jeder Temperatur zu einem bestimmten Gleichgewicht, das unter dem N a m e n „Boudouard-Gleichgewicht 66 b e k a n n t ist, da es 1905 von dem französischen Chemiker O . L . B o u d o u a r d (1872-1923) erforscht wurde. U n d zwar verschiebt sich das Gleichgewicht, da es sich u m eine endotherme u n d mit Volumenvermehrung verbundene Reaktion handelt, mit steigender Temperatur u n d fallendem Druck nach rechts u n d umgekehrt (vgl. die Fig.202). Bei 400°C liegt es praktisch ganz auf der Seite des Kohlendioxids u n d bei 1000 °C praktisch ganz auf der Seite des Kohlenmonoxids. Dementsprechend erhält m a n bei der Umsetzung von überschüssigem Koks mit Luft (oder Metalloxiden) bei tiefen Temperaturen vorwiegend C O bei hohen Temperaturen vorwiegend CO. Bei Zimmertemperatur ist die Reaktionsgeschwindigkeit allerdings bereits so gering, dass das Kohlenoxid obwohl es sich nach der Lage des Gleichgewichts (2) vollkommen in Kohlensto u n d Kohlendioxid disproportionieren sollte - als metastabiler Stoff vollkommen beständig ist.
100
80
60
o o 40
20
— Temperatur
^
Fig. 202 Volumenprozente Kohlenoxid und Kohlendioxid im Boudouard-Gleichgewicht bei 1.013 bar Druck. (Längs der Kurve befinden sich bei den einzelnen Temperaturen die angegebenen Volumenprozente CO und CO bei Gegenwart von C miteinander im Gleichgewicht; in dem mit „CO" bezeichneten Feld bildet sich CO (aus CO und C), in dem mit „ C O " bezeichneten Feld zerfällt CO (in C O und C) jeweils bis zu dem durch die Kurve bei der betreffenden Temperatur gegebenen Volumenverhältnis C O /CO.)
• 898
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Bei Verwendung eines Luftüberschusses (völlige Verbrennug des Kohlenstoffs zu Oxiden) wird das Verhältnis von Kohlenoxid zu Kohlendioxid infolge der Abwesenheit von freiem Kohlenstoff naturgemäß nicht mehr durch das Boudouard-Gleichgewicht (2), sondern durch das CO2-Dissoziationsgleichgewicht 283.17 kJ + CO 2 +± CO + jO 2 bedingt. Da in diesem Falle das Gleichgewicht auch bei hohen Temperaturen noch weitgehend auf der linken Seite liegt, erhält man hier auch bei hohen Temperaturen praktisch nur CO Zur Abtrennung von Kohlenoxid bringt man das CO-haltige Generator-, Wasser- oder Spaltgas unter Druck mit einer salzsauren Lösung von Kupfer(I)-chlorid zusammen, wobei dem Gasgemisch das Kohlenoxid entzogen wird (Bildung von CuCl(CO) • 2H 2 O); bei vermindertem Druck gibt die Lösung das CO wieder ab. Auch kann man zunächst Kohlenstoff mit Luft zu Kohlendioxid verbrennen (S. 893), dieses von Luftstickstoff befreien und dann gemäß C + CO 2 2CO (Boudouard-Gleichgewicht, s. oben) durch Überleiten über erhitzten Koks in reines CO überführen. Entsprechend der vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten von Generator- und Synthesegas (s.u.) ist es aber vielfach gar nicht nötig, das Kohlenoxid aus diesem Gase zu isolieren Physikalische Eigenschaften Kohlenoxid ist ein farb- und geruchloses, die Verbrennung nicht unterhaltendes, aber selbst brennbares giftigesi9 Gas, das entsprechend seiner Molekülmasse (Mx = 28) etwa so schwer wie Luft (Mr ä; 29) ist. Bei — 191.50 °C wird es flüssig, bei — 205.06 °C fest. Eine Verflüssigung bei gewöhnlicher Temperatur ist auch durch noch so hohen Druck nicht möglich, da seine kritische Temperatur bei — 140.21 °C liegt (kritischer Druck: 34.979 bar; kritische Dichte: 0.3010 g/cm). Obwohl CO das Anhydrid der Ameisensäure HCOOH ist und aus dieser durch Wasserentzug gewonnen werden kann (s. oben), löst es sich nur spärlich in Wasser (0.35 lpro Liter H 2 O bei 0 °C). Bezüglich der Löslichkeit in Alkalien s. unten. Der CO-Abstand von 1.06 ^ im festen Kohlenmonoxid (isoelektronisch mit : N = N : ) und die hohe Dissoziationsenergie (1077.10 kJ/mol) sprechen in Übereinstimmung mit der Elektronenformel : C = O : für die Anwesenheit einer Dreifachbindung (ber. 1.10 Ä). Im gasförmigen CO-Molekül beträgt der COAbstand 1.1282 Ä. Die CO-Dissoziationsenergie beträgt 1070.3 kJ/mol. Bezüglich eines MO-Schemas für CO vgl. S. 1789. Chemische Eigenschaften Oxidation von K o h l e n m o n o x i d Kohlenoxid verbrennt an der L u f t mit charakteristischer bläulicher Flamme u n d starker Wärmeentwicklung zu Kohlendioxid (für die glatte Verbrennung ist ein gewisser Feuchtigkeitsgehalt der L u f t erforderlich): CO+^02
C O 2 + 283.17 kJ.
A u ß e r mit Sauersto vereinigt sich C O in der Hitze auch mit vielen anderen Nichtmetallen so z. B. mit Schwefel (Bildung von Kohlenoxidsulfid COS) oder mit Chlor (Bildung von Phosgen C O C ). Wichtig ist die Oxidation von giftigem C O zu nichtgiftigem C O an einer Pt-Oberfläche bei ca. 400 °C im Autoabgas-Katalysator (S. 711). Die Reaktion erfolgt hierbei auf dem Wege einer Adsorption von C O sowie dissoziativen Adsorption von (CO CO a d s + O a d s + 260 kJ), der Vereinigung der adsorbierten Spezies (CO a d s + O a d s -> CO 2>ads . + 44 kJ; £ a = 100 kJ/mol) u n d der Desorption von C O (21 kJ + C O 2 a d s ^ C O 2 ; vgl. hierzu auch Mechanismus der NH 3 -Synthese). D a eine vollständige Besetzung der PtOberfläche mit C O eine A d s o r p t i o n von 0 2 unterbindet, muss die Katalyse bei Temperaturen durchgeführt werden ( > ca. 250°C), welche zur teilweisen Desorption von C O führen. Selbst bei vollständiger Besetzung der Pt-Oberfläche mit O - A t o m e n vermag diese noch zusätzliche CO-Moleküle zu adsorbieren Wegen des starken Bestrebens zur Vereinigung mit Sauerstoff dient C O in der Technik bei erhöhter Temperatur (größere Reaktionsgeschwindigkeit) als als Reduktionsmittel. M a n vergleiche hierzu z.B. den Hochofenprozess (S. 1637). Von großtechnischer Bedeutung ist ferner die R e d u k t i o n von Wasser zu Wasserstoff: C O + H 2 0 -> C O 2 + H 2 (Kohlenoxid-Konvertierung mit Fe/Cr- bzw. Co/Mo-Katalysatoren; vgl. S.262). Auch zum Nachweis von CO nutzt man dessen Reduktionsvermögen: Die Reduktion von I 2 0 5 durch CO zu I 2 bei 170 °C dient zur quantitativen Bestimmung von Kohlenoxid (S.488), während die bereits bei Raumtemperatur erfolgende Reduktion von Pd2+ aus wässrigen Salzlösungen (Pd2 + + H 2 0 + CO -> Pd + 2 H + + C O ) und die hierbei durch Metallabscheidung bedingte Dunkelfärbung der Lösung (oder eines mit der Lösung getränkten Filterpapier-Streifens) als empfindlicher qualitativer Nachweis auf Koh-
1. Der Kohlenstoff
899
lenmonoxid genutzt wird. Der qualitative und quantitative Nachweis von C 0 erfolgt heute vielfach gaschromatographisch oder IR-spektroskopisch. R e d u k t i o n von K o h l e n m o n o x i d . Hinsichtlich starker R e d u k t i o n s m i t t e l wie Alkalimetall wirkt C 0 als 0 x i d a t i o n s m i t t e l (Bildung v o n ( C 0 M ) 2 , ( C 0 M ) ö als Salze von Dihydroxyacetylen, H e x a h y d r o x y b e n z o l , S. 905). Von g r o ß e r technischer B e d e u t u n g ist insbesondere die U m s e t z u n g v o n Kohlenoxid mit Wasserstoff ( W i r k u n g des 0 x i d s als Oxidationsmittel). Leitet m a n ein Gemisch von C 0 u n d H 2 (,, Wassergas", ,,Synthesegas") ü b e r geeignete Katalysatoren, so entstehen je n a c h den Versuchsbedingungen (Mischungsverhältnis, D r u c k , Temperatur, Katalysator) teils Alkohole, teils Kohlenwasserstoffe. So erhält man z.B. unter Verwendung von Chromoxid-haltigem Zinkoxid als Katalysator bei 320-380 °C und 350 bar (Hochdruckverf.) bzw. von Zink- und Chromoxid-haltigem Kupferoxid bei 230-280 °C und 50-100 bar (Niederdruckverf.) nahezu ausschließlich Methanol: C 0 + 2H2
C H 3 0 H (fl.) + 128.20 kJ,
von dem man durch Dehydrierung zum Formaldehyd H C H 0 kommt, der in großer Menge für die Kunststoffherstellung gebraucht wird (gemäß TO + 3 N H 3 -> CH 3 NH 2 + H 2 0 + N 2 + H 2 lässt sich C 0 bei 350-400 °C an Zeolithen in Methylamin umwandeln). Die zur Methanol-Synthese erforderliche Apparatur entspricht weitgehend der Ammoniak-Syntheseapparatur (S. 664). Bei geringer Abwandlung des Katalysators (Herstellung unter Zusatz von Alkali) entstehen neben dem Methanol in größeren Mengen auch höhere Alkohole; auch lässt sich die Hydrierung bei Verwendung eines Rh-haltigen Katalysators in Richtung Glykol lenken: n C 0 + 2«H 2
C „ H 2 „ + 1 0 H + (n —1)H 2 0;
2CO + 3H 2
CH20H—CH20H.
Bei gleichzeitiger Anwesenheit von 1-Alkenen bilden sich bei 300 bar/120-180°C und Verwendung von Co 2 (C0) s als Katalysator Aldehyde (Oxosynthese, vgl. S.1695): R C H = C H 2 + C 0 + H 2 R C H 2 C H 2 C H 0 , die zu höheren Alkoholen R C H 2 C H 2 C H 2 0 H weiter hydriert werden können (gemäß H C = C H + Me0H + C0 C ^ C ^ C 0 M e lässt sich bei 100-190°C/30 bar/Ni Acrylsäuremethylester synthetisieren, der zu Acrylsäure C H 2 = C H — C 0 0 H hydrolysiert werden kann). Beim Arbeiten unter geringem Druck (maximal 50 bar) entstehen unter Verwendung von Eisen-haltigen Katalysatoren bei 220-350°C sauerstofffreie gesättigte und ungesättigte aliphatische Kohlenwasserstoffe und 2n („Fischer-Tropsch-Synthese"): n C 0 + ( 2 n + 1 ) H 2 -> C„H2„ + 2 + n H 2 0 ,
nC0 + 2 n H 2
C„H2„ + n H 2 0 .
Die Primärprodukte dieser heute noch in Afrika durchgeführten Synthese sind gewöhnlich rund 20% Methan C H , rund 10% leichte Kohlenwasserstoffe (Propan C 3 H 8 , Butan C 4 H 1 0 , Propen C 3 H 6 , Buten C 4 H 8 ), rund 40% bis 200°C siedende Kohlenwasserstoffe („Benzin"), rund 20% bis 320 °C siedende Kohlenwasserstoffe („Dieselöl") und rund 10% feste Kohlenwasserstoffe („Paraffin"; bei Verwendung von Ru-haltigen Katalysatoren entsteht bevorzugt Polymethylen (CH 2 )„). Durch „Crackung", d.h. Zersetzungsdestillation der Reaktionsprodukte kann die Ausbeute an niedermolekularen Treibstoffen weiter verbessert werden. Für n = 1 nimmt die Gleichung die Form: CO + 3H 2 CH 4 + H 2 0 ( g ) + 206.24 kJ an. Diese Methanbildung verläuft unter dem katalytischen Einfluss von Nickel glatt bei 250-300°C. In Umkehrung dieser Reaktion lässt sich aus Methan (bzw. aus Kohlenwasserstoffen in Form von Erdgas oder Erdöl) und Wasserdampf Synthesegas erzeugen (vgl. S.263, 897). Der Bildungsmechanismus der Alkohole C„H2„ + 1 0 H sowie Kohlenwasserstoffe C„H2„ + 2 bzw. C„H2„ an der Katalysator-Metalloberfläche ist wohl folgender (vgl. NH 3 -Synthese aus N 2 und H 2 an der Fe0berfläche, S. 664): Reduktion von adsorbiertem C 0 durch adsorbierte H-Atome und reduktive Ablösung der an der 0berfläche gebundenen Produkte C0 MC0 MCH0 MCH [M] + CH 4 ; [ M C H 0 ] ^ [ M 0 C H 3 ] C H 3 0 H . Einschiebung von C 0 in MC-Bindungen mit anschließender Reduktion der gebundenen Teilchen und erneuter C0-Insertion usf.: MCH MC0CH [ M C H C ^ ^ ^ ^ [MC„H 2 „+^] (-> C„H2„, C„H2„ + 2 ) bzw. [MC0C„H 2 „+^] (->C„H 2 „+ 1 0H). Säure-Base-Verhalten von K o h l e n o x i d C 0 wird als , , A n h y d r i d " der Ameisensäure von Alkalilaugen M 0 H bei 1 5 0 - 1 7 0 °C u n d 3 - 4 b a r D r u c k u n t e r Bildung von Alkaliformiaten, den Alkalisalzen der Ameisensäure, a u f g e n o m m e n : C0
M0H
HC00M.
I n analoger Weise bilden sich bei E i n w i r k u n g von M 0 C H 3 Acetate C H 3 C 0 0 M .
• 900
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Recht reaktionsfähig ist Kohlenmonoxid hinsichtlich vieler Verbindungen L„M niederwertiger Übergangsmetalle M, an die es sich unter Bildung von Kohlenoxid-Komplexen („Metallcarbonylen") L n M(CO) m anzulagern vermag. Derartige Koordinationsverbindungen haben wir bereits bei der Abtrennung von CO aus Generator- und Wassergas im Kupfercarbonyl [(H 2 O) 2 ClCuCO] und im Zusammenhang mit der Giftwirkung 19 von CO im Carboxyhämoglobin, einem Eisenkomplex des Kohlenoxids, kennengelernt. Mit Metallzentren ist CO dabei in der Regel als einzähniger, endständiger (tj1) Ligand über den Kohlenstoff nicht-verbrückend, verbrückend (symmetrisch oder asymmetrisch) sowie zweifach-verbrückend verknüpft (vgl. a,b,c). Weniger häufig wirkt CO als zweizähniger Ligand, wobei das n-Elektronenpaar des Kohlenstoffs sowie ein n-Elektronenpaar (häufigerer Fall, z. B. (d)) bzw. ein n-Elektronenpaar des Sauerstoffs (z.B. (r| 5 -C 5 H 5 ) (CO) 2 W—C=0—AlPh 3 ) als Koordinationsstellen fungieren. (Näheres zum Bindungsmechanismus und über weitere Verbindungsbeispiele siehe S. 1787.)
9,
°
III
II
o
/ \ L„M—ML„
L „ M ^c| ^ M L „ ML
(z.B. Ni(CO) 4 , ClCuCO,
(z.B. Fe 2 (CO), =
(z.B. ^ 6 ( C O ) 1 6 =
(z.B. {L(CO) 2 Mn} 2 CO;
CO-Hämoglobin)
(CO^Fe(CO^Fe(CO^
[(CO) 2 Rh] 6 (CO) 4 )
L = /i-Ph 2 PCH 2 PPh 2 )
(a)
(b)
(c)
(d)
c
l L M
o
c
#
I
L„M/
c :
: ML„
Im Komplex H 3 B — C = O ist Kohlenmonoxid mit einem Hauptgruppenelement verknüpft. Ähnlich wie C O vermag sich auch CO in ML-Bindungen von Verbindungen M L einzuschieben, z. B. CH 3 Mn(CO) 5 + CO CH 3 C(O)Mn(CO) 5 ; 3BR 3 + 3CO [—R 3 CB—O—] 3 . Verwendung Kohlenmonoxid dient als Brenngas, zur Reduktion von Erzen, zur Wasserstoffgewinnung aus Wasser (Kohlenoxid-Konvertierung), darüber hinaus zur Synthese von Methanol, Kohlenwasserstoffen (Fischer-Tropsch-Verfahren), Carbonsäuren und Estern (Oxosynthese, Hydroformylierung), aromatischen Aldehyden, reinsten Metallen (durch Zersetzung von Metallcarbonylen, gewinnbar aus Metallkomplexen und CO), zur Reinigung von Ni (S. 1710).
1.4.4
Kohlenstoffdisulfid CS2, Kohlenstoffoxidsulfid COS 17 ' 20
Vorkommen COS findet sich in sauren Erdgasen, aus denen es in den Propan-Anteil der Flüssiggase übergeht. Wegen seiner Giftigkeit 20 muss es durch Waschen mit Aminen oder mithilfe von Molekularsieben entfernt werden. COS wurde auch in der Venus-Atmosphäre aufgefunden. Darstellung Man gewinnt Kohlenstoffdisulfid (,,Kohlendisulfid", „Schwefelkohlenstoff") CS2 technisch aus Erdgas und Schwefel bei ca. 600 °C in Anwesenheit von Katalysatoren (Kieselgel, A1203), Kohlenstoffoxidsulfid („Kohlenoxidsulfid") COS durch Erhitzen von Kohlenoxid und Schwefel bzw. von Schwefeltrioxid und Schwefelkohlenstoff (bis ca. 1955 wurde C S durch Überleiten von Schwefeldampf über Holzkohle oder Koks bei 750-1000°C dargestellt): CH4 + fS8
CS2 + 2H2S;
CO + ±S8
COS;
3S0 3 + CS2 ^
COS + 4SO,.
Physikalische Eigenschaften Zum Unterschied von gasförmigem, exothermem, feuerlöschendem, ungiftigem Kohlendioxid C O ist Kohlenstoffdisulfid C S flüssig, endotherm, feuergefährlich und giftig20 (Smp./Sdp. - 111.6/+ 46.25°C, Dichte = 1.263 g/cm3, A# f (g) = + 117.4 kJ/mol). Die Verbindung riecht in reinem Zustand etherisch, wegen beigemengten Verunreinigungen gewöhnlich aber widerwärtig. Hinsichtlich seiner physikalischen Daten nimmt gasförmiges, exothermes leicht entzündliches, giftiges20 Kohlenoxidsulfid COS eine Mittelstellung zwischen C O und C S ein (Smp./Sdp. - 138.5/-50.2°C, - 142.2 kJ/mol). Das übelriechende Gas COS soll in völlig reinem Zustand geruchsfrei sein Chemische Eigenschaften Lichteinwirkung löst eine Zersetzung von C S aus, verbunden mit einer Gelbfärbung und dem Auftreten eines unangenehmen Geruchs. Bei hohen Drücken geht es in schwarzes polymeres (CS2)X über (gelbe bis orangefarbene „Kohlenstoffpolysulfide" (CS„)X (n = 4-9) entstehen auch gemäß H2CS3 (S.908) + SmCl2 ' ^ ( C S J , + 2HCl). An Luft verbrennt C S mit „kühler", Papier nur
20 Physiologisches. CS 2 wirkt auf das Nervensystem stark toxisch (MAK-Wert 30 mg/m 3 = 10 ppm). Fortgesetzte CS 2 Aufnahme durch die Haut oder durch Atmung führt zu Lähmungen, Muskelschwund, Krämpfen, Sehstörungen, Kopfschmerzen und schließlich zu tödlichen Lähmungen des Zentralnervensystems. Ählich toxisch wie CS 2 ist COS.
1. Der Kohlenstoff
901
langsam verkohlender Flamme (Selbstentzündung bereits um 100°C, z. B. an heißen Dampfrohren), mit Wasser setzt sich C S erst ab 200 °C auf dem Wege über COS zu C0 2 um: CS 2 + 30 2
C0 2 + 2S0 2 ;
CS2 + 2 H 2 0
C0 2 + H2S.
In entsprechender Weise wird C S von Halogenen oxidiert bzw. von Laugen hydrolysiert. Schwefelkohlenstoff ist hinsichtlich der Bildung von Kohlenstoffdisulfid-Komplexen wesentlich reaktiver als Kohlendioxid. Hierbei weisen CS- und C0 2 -Komplexe ähnliche Strukturen auf; z. B. ist (Ph3P)2PtCS2 analog (R 3 P) 2 PtC0 2 gebaut (vgl. Formel auf S. 895). Auch Einschubreaktionen von C S in Einfachbindungen verlaufen leichter als solche von C 0 Verwendung. Schwefelkohlenstoff CS2 (Weltjahresproduktion Megatonnenmaßstab) dient u. a. als Lösungs- und Extraktionsmittel (z. B. von Ölen aus Pressrückständen), zur Gewinnung von CC14 (s. dort), zum Vulkanisieren des Kautschuks, als Flotationsmittel und insbesondere zum Herstellen der Viskose für die Faser- und Folienbereitung, zur Darstellung von Cellophan. Kohlenoxidsulfid COS nutzt man u.a. zur Synthese von Thiosäuren, substituierten Thiazolen und Thiocarbonaten, gegebenenfalls zur Bekämpfung von Ratten und Mäusen
1.4.5
Sonstige Kohlenstoffoxide und -sulfide
Kohlenstoffoxide C 3 0 2 , C 5 0 2 , C 12 0 9 . Das übelriechende, bei — 112.5°C schmelzende und bei + 6.5°C siedende, aus Malonsäure CH 2 (C00H) 2 bei 140 °C in Anwesenheit von P 4 0 10 hervorgehende farblose Trikohlenstoffdioxid („Kohlensuboxid") 0 = C = C = C = 0 (linear, D„h-Symmetrie; C0/CC-Abstände = 1.16/1.28 Ä; AH( = + 97.8 kJ/mol) polymerisiert bei Raumtemperatur unter Farbvertiefung schließlich zu einem braunroten Farbstoff unveränderter Zusammensetzung ( C j O ^ - ^ mit Poly-apyronstruktur (s.u.), der bei 500°C in Kohlenstoff und Kohlendioxid zerfällt. Mit Wasser, Chlorwasserstoff bzw. sekundären Aminen vereinigt es sich zu Malonsäure, Malonsäuredichlorid bzw. Malonsäurediamid: C ? 0 2 + 2HX CH 2 (C0X) 2 (X = 0 H , Cl, NR 2 ). Ähnlich wie Kohlensuboxid lässt sich das aus Mellitsäure in geschlossenem Rohr bei 160 °C in Anwesenheit von CH 3 C0Cl erzeugbare farblose, sublimierbare kristalline Mellitsäureanhydrid C6(C00H)6^ C1A + 3 H 0 . CO 2 H HO2 C
CO 2 H
O-CO OC.
OH
\ O
HO2 C
CO 2 H CO 2 H
Poly -
- pyron
CO
Mellitsäure
OC O-CO
CO
Mellitsäureanhydrid
Tris(diazo)cyclohexantrion
Bei Durchströmen eines erhitzten Rohrs geht Kohlensuboxid in das besser durch Thermolyse des wiedergegebenen Tris(diazo)triketons gewinnbare - bei — 90 °C feste und oberhalb — 90 °C zersetzliche - gelbe Pentakohlenstoffdioxid 0 = C = C = C = C = C = 0 (linear) über: C 6 0 3 (N 2 ) 3 -> C 5 0 2 + C 0 + 3N 2 (Reaktion irreversibel). Anders als C 3 0 2 und C 5 0 2 ist das 0xid C 2 0 2 wie dessen isoelektronische Spezies N4 sowie N 2 C0 nur kurzlebig (1 s). Es lässt sich durch Neutralisation der im Massenspektrometer gemäß N 2 /C0 + e~ N4h, N C 0 , C 2 0^ erzeugten Ionen mit C H bzw. Xe neben N4 und N 2 C0 gewinnen (alle drei Moleküle sind gewinkelt-kettenförmig, vgl. S. 656) und nach Reionisation mit 0 2 im Massenspektrometer nachweisen Kohlenstoffoxide CO3, C0 4 . Bestrahlen einer Lösung von 0 3 in flüssigem C0 2 führt zu Kohlenstofftrioxid C 0 (C0 C0 ), das sich in gasförmigem Zustande rasch in C 0 und zersetzt Kohlen stofftetraoxid C0 4 lässt sich im Massenspektrometer durch Neutralisations-Reionisations-Technik (S. 68) erzeugen und nachweisen (Bildung von C O durch Ionisation eines C0 2 /0 2 - bzw. CO2/03-Gasgemischs). Letztere beiden 0xide enthalten wohl im Sinne von 0=C(—O—O—) bzw. C(—O—O—)2 DioxiranRinge Kohlenstoffsulflde CS, C2S2, C2OS, C3S2. Unter den Sulfiden ist zum Unterschied vom metastabilen, gasförmigen Kohlenmonoxid das entsprechende Kohlenstoffmonosulfid CS, das sich aus C S in einer Glimmentladung (0.1 mbar) bildet und bei — 190°C ausgefroren werden kann, in der Gasphase unbeständig und zerfällt innerhalb einer Minute gemäß 3 CS -> C3S2 + S unter Bildung von Kohlenstoffsubsulfid C3S2 (braunrote Flüssigkeit, Smp. — 0.5°C). Dieses entspricht dem Kohlensuboxid C 3 0 2 (s. oben) und
• 902
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
polymerisiert bei Raumtemperatur langsam. Mit Chalkogenen oder Halogenen reagiert CS z. B. zu CS2, CSSe, CSTe, CSC12, CSBr2. Ähnlich wie von CO (vgl. S. 900) kennt man auch von CS „Metallkomplexe", in denen Kohlenstoffmonosulfid über Kohlenstoff an ein, zwei oder drei Metallzentren verknüpft ist oder über Kohlenstoff und Schwefel zwei Metallzentren verbrückt (vgl. S. 1812; Entsprechendes gilt für CSe und CTe). Durch photochemisch induzierte Dimerisierung von CS mit CS bzw. mit CO bildet sich in einer Tieftemperatur-Argonmatrix Dikohlenstoffdisulfid (,,Ethen- 1,2-dithion") S = C = C = S bzw. Dikohlenstoffoxidsulfid (,,Ethen-1 -on-2-thion") 0=C=C=S (beide Moleküle im Triplett-Grundzustand und linear; ein CO-Dimeres ist unbekannt). Das für die Photoreaktion benötigte CS wird mit Vorteil durch Mikrowellenentladung in einem CS/Ar-Gemisch (1 :100) erzeugt und als solches oder zusammen mit dem gleichen Volumen eines CO/Ar-Gemischs (1 :5) auf ein 10 K kaltes Csl-Fenster aufgedampft. Kohlenstoffsulfide C3Ss, C4S6, C6S10, C6S12, C9S9. Ausgangsverbindung der meisten Titelverbindungen ist das durch chemische (Alkalimetalle) oder elektrochemische Reduktion aus C S erhältliche Dianion o:-C3Sj~ (a), das sich thermisch zu ß-C3Sj~ isomerisiert. Möglich erscheint, dass die Reduktion zunächst zu Tetrathiooxalat C ^ " führt (vgl. C0 2 ), welches mit C S zu a-C3Sj~ reagiert, wobei abgegebenes S 2_ von CS unter Bildung von CS aufgenommen wird (die Dianionen lassen sich zur Säure protonieren a-CjSj - mit Zn 2+ zu Zn(C3S5)2~ komplexieren):
+4e~(0 °C) * s 4CS12
o
-csf-
130 °C
(a)«-C3S|+SOCI2/
+S 2 C1 2 |
(i)
8 verläuft die Neutralisation in steigendem Ausmaß auch gemäß: C0 2 + OH"
HC03~ (langsam); HC03~ + O H "
CO^" + H 2 Ö (rasch).
Durch Entwässern einer CO-Lösung (Verdampfen oder Gefrieren des Wassers) lässt sich die mit C0 2 im Gleichgewicht stehende Kohlensäure H 2 CÖ 3 = C0(0H) 2 ebensowenig wie die Orthokohlensäure H 4 CÖ 4 = C(0H) 4 oder die Dikohlensäure H 2 C 2 O s = (HO)OC—O—CO(OH) isolieren, da hierbei wegen der Überschreitung der Löslichkeit das Anhydrid C O entweicht. Auf anderem Wege (s. unten) lässt sich Kohlensäure H 2 C 0 jedoch in Substanz herstellen. Von der Ortho- und Dikohlensäure sind Ester bekannt, z.B.: C(0Et) 4 (Sdp. 150°C), (EtO)OC—O—CO(OEt) (Sdp. 93°C) (zum Vergleich: C0(0Et) 2 , Sdp. 126°C), aber keine Salze. Auch die Peroxomono- und -dikohlensäure H 2 CÖ 4 = C 0 ( 0 H ) ( 0 0 H ) und (H0)0C C 0 ( 0 H ) lassen sich als solche nicht aus konzentrierten wässerigen Lösungen isolieren. Von ihnen sind aber ebenfalls Ester (z. B. (RO)OC—O—O—CO(OR) mit R = Cyclohexyl Q H ^ ) und darüber hinaus Salze bekannt (s.u.). Beständiger als Kohlensäure sind ihre Aminoderivate in Wasser (vgl. S. 672), hydrolyseempfindlich ihre Halogenderivate: / 0=CN
OH
° OH
Kohlensäure
= C
/ \
NH,2
° OH
Carbaminsäure
= C
/ \
NH 2 0
NH 2 Harnstoff
/ \
Hai Hai
Carbonylhalogenide
Als zweibasige Säure bildet die Kohlensäure zwei Reihen von Salzen Hydrogencarbonate („primäre Carbonate"; „saure Carbonate";,,Bicarbonate") M'HCOj und Carbonate („sekundäre Carbonate"; „neutrale Carbonate") M 2 CÖ 3 . Alle Hydrogencarbonate sind bis auf das Natriumhydrogencarbonat N a H C 0 3 in Wasser leicht löslich. Von den normalen Carbonaten lösen sich nur die Alkalicarbonate leicht, alle übrigen schwer in Wasser, weshalb sich Kohlendioxid leicht nachweisen lässt (z.B. durch Einleiten in eine Ba(0H) 2 -Lösung: Ausfällung von BaCO). Beim Erhitzen gehen die Hydrogencarbonate unter Kohlendioxidabspaltung in normale Carbonate über: 2 M H C 0 3 M 2 CÖ 3 + H 2 0 + C O ; umgekehrt kann man durch Einleiten von Kohlendioxid in wässerige Carbonatlösungen Hydrogencarbonate erhalten (S. 1249). Ansäuern von Carbonatlösungen führt zu Kohlendioxid-Entwicklung, da die primär in Freiheit gesetzte Kohlensäure H 2 C 0 in H 2 0 + C O zerfällt, sodass bald die Löslichkeit des Kohlendioxids in Wasser überschritten wird. Bezüglich des reversiblen Übergangs von C O aus der Luft über das Meer in Carbonate vgl. „CO 2 -Kreislauf' in der Natur (S.878). Salze der bisher unbekannten einbasigen Peroxokohlensäure H 2 C 0 (Peroxocarbonate) bilden sich etwa beim Sättigen einer bis auf —15 °C gekühlten 30%igen Wasserstoffperoxid-Lösung mit festem Alkalibicarbonat M H C O (z. B. H 2 0 2 -Addukt von K H C O oder RbHCO), Salze der ebenfalls unbekannten zweibasigen Peroxodikohlensäure H 2 C 2 0 6 (Peroxodicarbonate) durch Elektrolyse konzentrierter Lösungen von Alkalicarbonat M 2 C 0 bei hoher Stromdichte und niedrigen Temperaturen an der Anode: 2 C 0 3 "
1. Der Kohlenstoff
907
-> C20;;~ + 2 Q (z. B. K 2 C 2 0 6 ; das fälschlicherweise als „Percarbonat" bezeichnete Handelsprodukt ist ein Wasserstoffbrückenaddukt von H 2 0 2 : Na 2 CO 3 x 1.5H 2 0 2 ). Die Salze zersetzen sich bereits unterhalb von Raumtemperatur langsam unter -Abgabe Strukturen Das durch die Mesomerieformel (o) beschreibbare Carbonat-Ion CO3~ (24 Valenzelektronen, vgl. S. 358) ist planar gebaut mit OCO-Winkeln von 120° und drei gleich langen, einem Zustand zwischen einfacher und doppelter Bindung entsprechenden CO-Abständen (1.30 Ä; ber. für Einfach/Doppelbindung: 1.43/1.25 Ä). Auch das Peroxocarbonat-Ion CO2(OOH)~ (p) bzw. Peroxodicarbonat-Ion C20;;~ (q) der Salze KHCO 4 • H 2 0 2 bzw. K 2 C,0 6 enthalten planare C-Atome mit kürzeren C—O- und längeren C—OO-Bindungen (ca. 1.24 und 1.38 Ä bzw. ca. 1.27 und 1.31 Ä) sowie mit typischen O—O-Abständen von ca. 1.46 Ä. Das Ion CO2(OOH)~ bildet im Kristall Ketten •••• OCO—OO—H •••• OCO—OO—H ••••, die über H 2 0 2 zu Schichten verknüpft sind: ^ C = O - H O O H - O = ( X , das Ion C2C>1 ~ Inseln (q), in welchen planare über eine OO-Bindung verknüpfte CO3-Einheiten einen COOC-Diederwinkel von 93° aufweisen
:o:
:o:
:o:
> C \ ~ •o. -o:
A - . :o. .o-
H O O — C ' /. . / :o.
C
\
.o:
/
(o) CO3z
(q) C2O62 -
(p) HCO 4
Reine Kohlensäure G e w i n n u n g D u r c h Einwirkung von H C l auf N a 2 C O 3 bei — 35°C in Dimethylether lässt sich farbloses kristallines Kohlensäure-Etherat H 2 C O 3 • OMe 2 vom Smp. — 47 °C gewinnen, das sich oberhalb + 5 °C heftig in C O , H O u n d Me 2 O zersetzt. E r w ä r m t m a n Mischungen von winzigen, auf — 195°C gekühlten, glasartigen Kügelchen, bestehend aus K H C O 3 sowie H C l in Methanol, im H o c h v a k u u m (HV) auf ca. — 120°C, so bildet sich - nach „Zusammenschmelzen" der Kügelchen - gemäß K H C O 3 + H C l -> H 2 C O 3 + K Q Kohlensäure H 2 C O 3 , welche nach A b k o n d e n s a t i o n von M e O H u n d H C l bei ca. — 100°C im H V als farblose, feste Kohlensäure verbleibt. Sie verflüchtigt sich ab ca. — 80 °C im H V u n d k a n n an mit flüssigem Stickstoff gekühlten Stellen wieder kondensiert werden ( „ U m k o n d e n s i e r e n " von H 2 CO 3 ). Kohlensäure entsteht auch in einer CO 2 -haltigen Eismatrix (— 250°C) bei Energieeinstrahlung (z. B. Beschuss mit Protonen). Eigenschaften Feste Kohlensäure (farblos) besteht aus einem Netzwerk miteinander über H-Brücken verknüpfter H2CO3-Moleküle, gasförmige Kohlensäure aus einem Gemisch von H 2 CO 3 -Monomeren und -Dimeren (vgl. Formel (c) mit OH-Gruppen anstelle von C-gebundenen H-Atomen). H 2 CO 3 wirkt nicht nur als Brönsted-Säure (s. oben), sondern auch als Brönsted-Base: o = c .
/
OH +H
+
HO=C
/
OH "
HO — C
/
OH
OH
OH
H
/ HO—C. \
OH OH
C(OH)3+
Isolierbare Salze mit dem mesomeriestabilisierten planaren Kation entstehen etwa beim Lösen des Esters CO(OSiMe3)2 in Supersäuren (HF/AsF 5 , HF/SbF 5 ). Die wasserfreie, reine Kohlensäure ist hinsichtlich ihres Zerfalls in H 2 O und C O vergleichsweise metastabil. Die Zerfallsbarriere beträgt ca. 185 kJ/mol, die Zerfallshalbwertszeit bei 25 bzw. 125°C65.7 Millionen Tage bzw. 8 Tage (vgl. Zerfallsübergangsstufe (r)). Dieses Verhalten ändert sich drastisch in Wasser: bereits in Anwesenheit nur eines H2O-Moleküls beträgt T (25°C) nur noch 10 Stunden; zwei H 2 O-Moleküle verkürzen 1/2 auf 2 Minuten, d. h. um den Faktor 50 Milliarden (vgl. Übergangszustände (s) und (t)):
o = c
/
\
o=c,;
+H 2 O
(r) '
, 0 ••••H
o=c:
O—H H
(s) H
sehr | langsam C O , + H2O
mäßig | rasch C O , + 2H,O
+ H ,O
, 0 — H ••• O o=c.; (t)
• O' \
' H sehr
rasch
C O , + 3H 2 O
• 908
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Da die H2CO3-Zersetzung zur Bildung von H 2 O führt, nimmt die Zerfallsgeschwindigkeit der Säure zu (,, Autokatalysator"). Bedeutung Feste bzw. gasförmige Kohlensäure ist offensichtlich ein Bestandteil stratosphärischer Wolken der oberen Atmosphäre interstellarer Eispartikel, extrasolarer Körper sowie auch der Marsoberfläche und/oder Marsatmosphäre. Auch wird Kohlendioxid nach Umwandlung in Kohlensäure zwischen Blut und Gewebe oder Blut und Lunge ausgetauscht. Die vergleichsweise langsam erfolgende Hydration von CO wird durch das Enzym,,Carboanhydrase" katalysiert, wodurch physiologisch ausreichende Geschwindigkeiten der Austauschprozesse erreicht werden (ein Enzymmolekül katalysiert die Umwandlung von 36 Millionen C O - in H 2 CO-Moleküle pro Minute).
1.5.3
Einige weitere Kohlenstoff-Chalkogensäuren
Ameisen-, Essig-, Oxalsäure (vgl. Tab.92 und Lehrbücher der Organischen Chemie) sowie auch Oxalate sind - wie viele andere Carbonsäuren - in der Natur weit verbreitet (z. B. HCOOH im Ameisengift, in Brennnesseln, CH 3 COOH als aktivierte Essigsäure im Stoffwechsel, bei Gärungs- und Fäulnisprozessen, H 2 C 2 0 4 als Säure im Blut und Harn, als „Kleesalz" KHC 2 0 4 x H 2 C 2 0 4 x 2H 2 O im Sauerklee (Oxalis), als Mg-Salz in einigen Gräsern, als Ca-Salz in Blättern, Wurzeln, Rinden und Nierensteinen). Die Gewinnung von HCOOH (klare, flüchtige, stechend riechende und verätzend wirkende Flüssigkeit; Smp./ Sdp. 8/101 °C) erfolgt u. a. durch Hydratisierung von CO, die von CH3COOH („Eisessig"; klare, stechend riechende und verätzend wirkende Flüssigkeit; Smp./Sdp. 16.5/117.9°C) hauptsächlich durch Methanolcarbonylierung (S. 899) sowie Acetaldehydoxidation und die von H 2 C 2 0 4 (ätzend wirkende, bei Einnahme zu Durchfall, Erbrechen, Nierenschäden, Krämpfen, Koma, Tod führende farblose Kristalle;. Smp. 189.5°C, Zers.; Smp./Sdp. des Dihydrats 101.5/150°C) durch katalytische Oxidation u.a. von Glykolen, Olefinen, Acetylenen, Acetaldehyd mit konz. H N O bzw. durch Schmelzen von HCOONa mit Alkali: CO
+H;0
>
H C O O H ; CO
+ C H
°
H
, CHC 3 OOH
CHCHO; HOCH—CHOH 3 . 2 2
+ 4 ° > HOOC—COOH — 2H 2 0
Eigenschaften Charakteristisch für HCOOH, CH 3 COOH, H 2 C 2 0 4 ist der saure Charakter (pKs = 3.75, 4.75, 1.23/4.19; lösliche Alkali- und Erdalkaliformiate und -acetate, unlösliches Calciumoxalat) sowie das Reduktions- und Oxidationsvermögen (z. B. Entfärbung einer KMn0 4 -Lösung durch HCOOH, H 2 C 2 0 4 ; Auflösen von Mg, Zn, Fe durch CH 3 COOH). Konz. H S O reagiert mit HCOOH bzw. H 2 C 2 0 4 unter Bildung von CO bzw. CO + C O - Verwendung HCOOH: Fungizid (für Tabak, Getreide); Solvens (für Nitrocellulosen, Celluloseacetat); CH3COOH: Säuerungs- und Konservierungsmittel; Solvens; Herstellung von Na-, Pb-, Al-, Zn-Salzen (als Hilfsmittel in der Textil- und Lederindustrie sowie Färberei und Medizin); H 2 C 2 0 4 : Analytik (Alkali-, Manganometrie; Ca-Bestimmung als Oxalat); Trennung der Lanthanoide (s. dort); Reduktionsmittel (Beizen von Wolle, Bleichen von Strohgeflechten); Verseifen von Küpenfarbstoffen; Aufschließen von Stärke; Entfernung von Rost- und Tintenflecken; Herstellen von Schutzschichten auf Aluminium; Galvanisierungen. Thio-, Selenokohlensäure. Die mittelstarke Trithiokohlensäure H2CS3 (rotes, bei Raumtemperatur zersetzliches Öl; Smp. — 29.9°C) sowie TriselenokohlensäureH2CSe3 (dunkelrotes, oberhalb — 10°C zersetzliches Öl) lassen sich durch Umsetzen von HCl mit BaCS3 sowie BaCSe3 in Ether gewinnen, wobei die Salze beider Säuren, die „Trithio-" sowie ,,Triselenocarbonate" CS3~ sowie CSe3~, aus den betreffenden Kohlenstoffdichalkogeniden und Chalkogenid erhältlich sind CY2 + Y 2 "
CY 3 ~;
CY2~ + 2H+
H2CY3 (Y = S, Se).
Trithiocarbonate entstehen auch bei der Einwirkung von wässerigem Alkali auf CS neben Carbonaten 2 S33~ ++ CO dukte stellen ; „„„,w;„ch - 6OH -> 2CS C O " ++ 3H 3H22O O. D„„w Reaktionszwischenprodukte stellen hi„rl hierbei,,Dithiocarbonate" COS2~ dar, die bei der Umsetzung von C S mit Lauge in Alkoholen ROH in Form der ,,Xanthogenate" CS 2 OR- (Alkyldithiocarbonate) isolierbar sind. Analog S2~, OH~ und OR~ lassen sich an C S auch andere Basen addieren. So bilden sich mit Amiden NR 2 „Dithiocarbamate" CS 2 NR 2 , mit Ammoniak N H über NH + CS 2 NH 2 und NH + S = C = N " schließlich bei 160 °C,, Thioharnstoff' CS(NH 2 ) 2 (entsprechend aus C S „Selenoharnstoff" CSe(NH 2 ) 2 ), mit Phosphanen PR 3 charakteristisch gefärbte Addukte (das rote E P-Addukt dient als empfindlicher CS -Nachweis):
S Dithiocarbonat
Xanthogenate
Dithiocarbamate
NH Thioharnstoff
NH Selenoharnstoff
1. Der Kohlenstoff
909
Neben der Trithiokohlensäure existiert eine Tetrathioperoxokohlensäure H 2 CS 4 = CS(SH)(SSH), die aus (NH 4 ) 2 CS 4 mit HCl in Dimethylether bei — 78 °C als freie Säure in Form von gelben Nadeln (Smp. — 36.5 °C) darstellbar ist und sich schon bei der Darstellungstemperatur, schneller beim Erwärmen zu H 2 S, C S und S s zersetzt. Die zugehörigen ,,Tetrathioperoxocarbonate" CS4" bilden sich beim Auflösen von Sg in CS^-Lösungen: C S + i s s CS^". Enolsäuren und Thioderivate. Mit Alkalimetallen reagiert CO in fl. N H zu gelben Salzen MO—C=C—OM (,,Alkalimetall-Carbonyle") des - hinsichtlich einer Isomerisierung in Glyoxal 0 = C H — C H = 0 labilen - Dihydroxyacetylens HO—C=C—OH, mit fl. Kalium (63 °C) zum farblosen Salz K 6 C 6 0 6 des Hexahydroxybenzols C6(OH)s (Gewinnung durch Hydrolyse von K 6 C 6 0 6 ; Struktur vgl. S. 905). Das Thioderivat C6(SH)6 bildet sich bei der Protolyse von C 6 Sj" (gewinnbar aus C6C16). Bezüglich der Synthese der 0xokohlenstoffsäuren und ihren Anionen 6; Struktur S. 905) vgl. Lehrbücher der Organischen Chemie. Die protonierbaren Thioderivate C3S3~ (beige) und C4S4~ (gelb) der Dianionen C 3 0 3 ~ und C 4 0 4 " gewinnt man aus Tetrachlorcyclopropen C3C14 bzw. aus Quadratsäure
1.5.4
Fette und Kohlenhydrate
Fette und Kohlenhydrate sind neben Eiweißstoffen (S. 914f) und Wasser sowie Phosphat (bei Wirbeltieren) Hauptbestandteile der lebenden Organismen. Die zahlreichen, wasserunlöslichen, festen, halbfesten bis flüssigen natürlichen Fette der Pflanzen, Tiere und der Menschen bestehen im Wesentlichen aus gemischten Estern des Polyalkohols Glycerin und höheren gesättigten sowie ungesättigten Carbonsäuren („Fettsäuren") mit vielfach gerader Anzahl von C-Atomen: 3 R C 0 0 H + CH 2 0H—CHOH—CH 2 0H Carbonsäuren
Glycerin
CH 2 0Ac—CHOAc'—CH 2 0Ac" + 3H 2 0 Fette
(Ac = RCO; R unterschiedlich)
Der Name Kohlenhydrate wird als Sammelbezeichnung für die als Naturstoffe weitverbreitete Klasse von Polyhydroxyaldehyden und -ketonen („Aldosen",,,Ketosen") der Zusammensetzung CHOH—(CH0H) m — CHO und (meist) CH 2 0H—(CH0H) m — — CO—CH 2 0H genutzt, die man unter dem Begriff Monosaccharide zusammenfasst, sowie auch für höhermolekulare Verbindungen, die sich durch Hydrolyse in Monosaccharide überführen lassen. Entsprechend der Anzahl n von C-Atomen unterteilt man die Monosaccharide (Bruttoformel C^H^O,, = C(H20)„ = ,,Kohlenstoffhydrate") in ,,Triosen" (n = 3), „Tetrosen" (4), „Pentosen" (5), „Hexosen" (6) usw. Typisches Beispiel für eine Aldose („Aldohexose") ist die „Glucose" CHOH—(CH0H) 4 —CHO (vier chirale Zentren), welche hauptsächlich als Halbacetal (sesselkonformierter sechsgliederiger Ring) vorliegt (Reaktion einer Carbonyl-Gruppe mit der HydroxylGruppe am fünften C-Atom). Ein Beispiel für eine Ketose („Ketohexose") bietet die „Fructose" CHOH—(CH0H) 3 —CO—CHOH, die ebenfalls ein Acetal bildet, und zwar sowohl mit sechs- als auch fünfgliederigem Ring (s. u., Saccharose). In Oligosacchariden sind 2-10 Monosaccharid-Moleküle unter H 2 0-Austritt etherartig zu größeren Kohlenhydrat-Molekülen vereinigt. Ein Beispiel bietet das Disaccharid „Saccharose". Wegen des süßen Geschmacks zählt man die wasserlöslichen Mono- und Oligosaccharide zu den Zuckern und grenzt sie von den wasserunlöslichen, aus sehr vielen Monosacchariden zusammengesetzten Polysacchariden ab (man bezeichnet Glucose/Saccharose z. B. als Trauben-/Rohrzucker). CH 2 OH
CH 2 OH
HO
HO OH (
= CH)
T
CH 2 OH
OH
OH Glucose (Traubenzucker)
HO
CH 2 OH OH
OH
(Glucose) + (Fructose) Saccharose (Rohrzucker)
Die Kohlenhydrate spielen in der Natur eine vielfältige Rolle. Die Pflanzen produzieren etwa durch Photosynthese (S. 1232) große Mengen einerseits des Polysaccharids „Cellulose" als Gerüstsubstanz (Cellulose - z. B. in Holz - stellt mengenmäßig die größte Biomasse der Erde dar), andererseits des Polysaccharids „Stärke" und einer Reihe von Zuckern (z. B. Saccharose, Glucose) als Energiespeicherstoffe. Der tierische Organismus benötigt das Polysaccharid „Glykogen" als Energiereservestoff. Zucker sind des weiteren unentbehrlich als Bestandteile der Nucleinsäuren (S. 914), Glykolipide, Glykoproteine usw. (in der Immunologie schreibt man den Kohlenhydratanteilen wichtige Erkennungsfunktionen bei Anti gen-Antigen-Reaktionen zu). Aufgrund ihrer vielen Hydroxylgruppen stellen Mono- und Oligosaccharide
• 910
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
- in teildeprotonierter Form - wertvolle Komplexliganden für Metall- und Halbmetallkationen dar. Derartige „Zuckerkomplexe" besitzen auch biochemische Bedeutung.
1.6
Stickstoffverbindungen des Kohlenstoffs 1,21
1.6.1
Überblick
Kohlenstoff bildet binäre Nitride der Zusammensetzung CN, nämlich ,, Cyan" CN (nur in der Gasphase bei hoher Temperatur stabil), ,,Dicyan" (CN)2 (a) und ,,Paracyan" („Polycyan") (CN)^ (f), ferner kohlenstoffreichere Nitride C„(CN)2n+m, die sich wie (b), (c), (d) von den Kohlenwasserstoffen C„H2n+m (vgl. S. 887) durch vollständige Substitution der H-Atome gegen CN-Gruppen ableiten, und kohlenstoffärmere Nitride wie nieder- oder hochmolekulares C3N4: N = C — N = C = N — C = N (in der Matrix isoliert) sowie (g). Darüber hinaus existieren eine Reihe wichtiger Cyanverbindungen XCN (X z.B. H, Organyl, Halogen, HO, HS, HSe, H N ) 2 2 . N = C —
C = N
NC
(a) (CN) 2 NC
„CN *CN
(c) C 5 N4
NC—C=C—CN
NC
CN
C=C X
NC
Me 2 N
CN
/
\
NMe 2
(d) C 6 N 4 (TCNE) (e) C 2 (NMe 2 ) 4 (TDAE)
(b) C 4 N 2 (allgemein C2„(CN)2 mit n = 0 bis 8 isoliert)
^N
=
(f) (CN),
NMe ,
Me 2 N s
c=c
N
C
N^N
N^N
'
l
l
(g) C 3 N 4
21 Literatur. Kohlenstoffnitride, Cyanoverbindungen. H. Montigand, B. Tanguy, G. Demazeau, I. Alves, S. Courjault: ,,CSNS: Dream or reality? Solvothermal synthesis as macroscopic samples of the CSN4 graphitic form", J. Material Science 35 (2000) 2547-2552; ULLMANN: „Cyanamides", ,,Cyanates", ,,Cyano Compounds", ,,Cyanuric Acid and Cyanuric Chloride", A8 (1987) 139-200; A.G. Sharp: „The Chemistry of Cyano Complexes of the Transition Metals", Acad. Press, London 1976; L. Malatesta, F. Bonati: „ Isocyanid Complexes of Metals", Wiley, New York 1969; A.H. Norburg: ,, Coordination Chemistry of the Cyanate, Thiocyanate, and Selenocyanate Ions", Adv. Inorg. Radiochem. 17 (1975) 231-386; A.A. Newman: „Chemistry and Biochemistry of Thiocyanic Acid and its Derivatives", Acad. Press, London 1973; M. Winnewisser: „Interstellare Moleküle und Mikrowellenspektroskopie I", Chemie in unserer Zeit 18 (1984) 1-16; T.L. Cairns, B.C. McKusik: „Cyanokohlenstoff-Chemie", Angew. C h e m 73 (1961) 520-525; E. Kroke, M. Schwarz: „Novelgroup 14 nitrides", Coord. Chem. R e v 248 (2004) 493-432; E. Kroke, M. Schwarz: ,,Novel group 14 nitrides", Coord. Chem. R e v 248 (2004) 493-532. - Aminoverbindungen. N. Wiberg: „ Tetraaminoäthylene als starke Elektronendonatoren" Angew. C h e m 80 (1968) 809-822; Int. Ed. 7 (1968) 766; R.W. Hoffmann: ,,Reaktionen elektronenreicher Olefine", Angew. C h e m 80 (1968) 823-835; Int. Ed. 7 (1968) 754; D. Bonrisson, O. Guerret, F.B. Gabbai, G. Bertrand: „Stable Carbenes", Chem. R e v 100 (2000) 39-91. - Aminosäuren, Proteine. P. Cintas: „Die Chiralität lebender Systeme: Hilfe von Kristallen und Oligopeptiden", Angew. C h e m 114 (2002) 1187-1193; Int. E d 41 (2002) 1139; E. Gazit: ,Korrekt gefaltete Proteine - ein metastabiler Zustand?" Angew. C h e m 114 (2002) 267-269; Int. E d 41 (2002) 257; R. Glockshuber: ,Prionen: Neuartige, immer noch rätselhafte Erreger", Nachr. aus der Chemie 49 (2001) 454-461. -Evolution des Lebens J.M. Smith, E. Szathmary: ,,EvolutionsProzesse, Mechanismen, Modelle", Spektrum Acad. Verlag, Heidelberg 1996 (Originaltitel: ,,The major transitions in evolution", Freeman, Oxford 1995), K. Severin: „Heiße Steine oder kalte Suppe? Neue Untersuchungen zum endogenen Ursprung von organischen Verbindungen auf der Erde", Angew 112 (2000) 3735-3736; Int. E d 39 (2000) 3589; G. Kreisel, C. Wolf, W. Weigand, M. Dörr: „ Wie entstand das Leben auf der Erde?", Chemie in unserer Zeit 37 (2003) 306-313; G. Wächtershäuser in E.-L. Winnacker (Hrsg.) ,, Unter jedem Stein liegt ein Diamant; Struktur - Dynamik - Evolution", Hirzel, Stuttgart 2000, S. 15-25; J. Müller, H. Lesch: „ Woher kommt das Wasser auf die Erde?" Chemie in unserer Zeit 37 (2003) 242-247; E. Eschenmoser, N. Hall: „The quest for the chemical roots of life", Chem. Commun. (2004) 1247-1252. 22 Herkunft. Die Bezeichungen Cyan, Dicyan, Paracyan für CN, (CN) 2 , (CN)X oder Cyanid für C N " , Blausäure für HCN, Halogencyane für HalCN, Cyanat für O C N " , Cyanamid für H 2 N C N beziehen sich auf die Fähigkeit von CN~ mit Eisensalzen tiefblaue Komplexverbindungen (Berliner-, Turnbulls-Blau, s. dort) zu bilden: kyaneos (griech.) = stahlblau; cyanus (lat.) = Kornblume. Die Namen Knallsäure/Isoknallsäure/Fulminate rühren vom explosionsartigen Zerfall der Teilchen HCNO/CNOH/CNO~ unter Knall und Aufblitzen beim Erhitzen: fulmen (lat.) = Blitz. Die Namen Rhodanwasserstoffsäure/Rhodanid HSCN/SCN~ gehen auf die Rotfärbung von Fe 3 + in Anwesenheit von SCN~ zurück: rhodon (griech.) = Rose.
1. Der Kohlenstoff
911
Unter den kohlenstoffreicheren Nitriden wirkt farblos-kristallines Tetracyanoethylen (TCNE) (NC) 2 C=C(CN) 2 (d) bezüglich Ethylen als elektronenreiches Olefin (Nutzung als Oxidationsmittel; bildet CT-Komplexe mit Elektronenakzeptoren); es verhält sich damit umgekehrt wie Tetrakisfdimethylaminojethylen (TDAE) (Me 2 N) 2 C=C(NMe 2 ) 2 (e), das hinsichtlich H 2 C = C H 2 als elektronenreiches Olefin wirkt (Nutzung als Reduktionsmittel; bildet CT-Komplexe mit Elektronenakzeptoren wie TCNE): TCNE Ü s ; TCNE~
Ü s ; TCNE";
TDAE Ü s ; TDAE+
Üs;
TDAE 2 +
(Das Gleichgewicht (R 2 N) 2 C=C(NR 2 ) 2 2(R 2 N) 2 C liegt im Falle R = Me auf der linken, im Falle R = ;'Pr auf der rechten Seite, vgl. S. 904). Die Existenz von kohlenstoffärmeren Nitriden der Zusammensetzung C 3 N 4 wird vermutet. Sie sollen wie Paracyan (CN), mit (Doppel-)Kettenstruktur (f) hochmolekular sein und eine Graphit-verwandte Schichtstruktur (g) bzw. eine Si3N4-, ZnS- oder Zn 2 Si0 4 -verwandte Raumstruktur aufweisen. Eine (noch wasserstoffhaltige) Verbindung der ungefähren Formel C 3 N 4 wohl des Baus (g) entsteht offenbar durch Thermolyse von Cyanursäureamid in Anwesenheit von Hydrazin (s. u.): (H 2 NCN) 3 -> C 3 N 4 + 2NH 3 . Nachfolgend werden einige CN-haltige Verbindungen XCN (X = H, Hal, Pseudohal, wie z. B. CN, OH, N H ) besprochen. Anschließend sei kurz auf a-Aminosäuren sowie Nucleobasen eingegangen, welche wichtige biochemische Grundbausteine der Proteine und Gene darstellen, ferner auf die Evolution des Lebens
1.6.2
Kohlenstoffnitride, Cyanverbindungen 21
Kohlenstoffnitride (CN)B (« = 1,2, x). Das linear gebaute Dicyan N = C — C = N („Cyanogen"; D ^ - S y m metrie; CN/CC-Abstände 1.15/1.38 Ä) wird in der Technik durch Oxidation von Blausäure HCN mit Sauerstoff in Anwesenheit eines Silberkatalysators bzw. mit Chlor an aktiviertem Kohlenstoff bzw. mit Stickstoffdioxid, im Laboratorium durch Oxidation von Cyanid CN mit Kupfer(II) in wässriger Lösung gewonnen + i 0 2 , Cl, bzw. N O ,
2 H C N —^—H—i
i
— H 2 O, 2HCl bzw. N 0 / H 2 0
„ (CN) 2 ;
4CN~
+2Cu2
+
— 2CuCN
> (CN) 2 .
Das farblose, giftige23 Gas (Smp. — 27.9 °C; Sdp. — 21.17 °C; AHf = + 297 kJ/mol; MAK-Wert 22 mg/ m 3 = 10 ppm) ist in reinem Zustande bis nahe 800 °C metastabil. In Anwesenheit geringer Mengen an Verunreinigungen polymerisiert es jedoch gewöhnlich bei 300-500 °C zu dunkelgefärbtem, festem Paracyan (CN), (s. o.), welches seinerseits oberhalb 800 °C unter Depolymerisation in Dicyan, oberhalb 850 °C zunehmend auch in Cyanradikale CN zerfällt. Dicyan verbrennt in Sauerstoff unter starker Wärmeentwicklung zu C O und N 2 (es können Temperaturen bis zu 4800 °C erreicht werden). Kräftige Reduktionsmittel (z. B. Pd/H 2 ) führen es in C H 3 N H 2 über. Als,,Pseudohalogen" (vgl. S. 684) disproportioniert (CN) 2 analog Chlor in alkalischer Lösung (Bildung von Cyanid CN~ und Cyanat OCN~): (CN) 2 + 2 O H "
C ^ + OCN"+H20
(£0 = + 0 . 3 7 V für (CN) 2 + 2 H + + 2 Q ^ 2HCN; e0 = —0.65 V für (CN) 2 + 2 H 2 0 2HOCN + 2 H + + 2 Q). In Wasser zersetzt es sich nur äußerst langsam (Bildung von Blausäure HCN, Isocyansäure HNCO, Harnstoff CO(NH 2 ) 2 , Oxalsäurebis(amid) [CO(NH 2 )] 2 ). Um 71.2 bzw. 272 kJ energiereicher als Dicyan sind dessen Isomere, d a Cyanisocyan bzw. d a Diisocyan: :N=C—C=N: Dicyan
:N=C—N=C: Cyanisocyan
:C=N—N=C: Diisocyan
:N=C—C=N^Ö: Dicyanoxid
Sie lassen sich in der Gasphase als reaktive Zwischenprodukte geeigneter Eliminierungsreaktionen spekt roskopisch nachweisen und in der kondensierten Phase polymerisieren (Cyanisocyan ist unterhalb — 30 °C, Diisocyan bei — 260 °C metastabil). Erwähnt sei in diesem Zusammenhang isolierbares Dicyanoxid, ein gemischtes Pseudohalogen. Hydrogencyane22. Der Cyanwasserstoff kommt in zwei tautomeren, miteinander im Gleichgewicht stehenden Formen v o r Blausäure oder Cyanwasserstoff HCN und Isoblausäure oder Isocyanwasserstoff 23 Physiologisches Blausäure H C N ist sowohl als solche als auch in deprotonierter Form CN sowie in Form vieler Derivate XCN hochgiftig (MAK-Wert für H C N = 11 mg/m 3 = 10ppm, für C N " = 5 m g / m für (CN) 2 = 2 2 m g / m ) . Die Toxizität beruht wie die des Kohlenoxids auf der Blockierung von Eisen im Hämoglobin sowie der Cytochromoxidase durch C N " (tödliche Dosis = 1mg CN~ pro kg Körpergewicht; Gegenmittel: N a N O 2 zusammen mit N a 2 S 2 0 3 intravenös gespritzt).
• 912
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
CNH. Das Gleichgewicht liegt völlig auf der Seite der Blausäure; doch lassen sich beide Molekülarten in Form von Komplexen (z.B. (CO) 5 WNCH und (CO) 5 WCNH) sowie in Form organischer Derivate (,,Nitrile", ,,Isonitrile") isolieren: H—C=N: Blausäure
< ^
: C=N—H Isoblausäure
R—C=N: organische Nitrile
:C=N—R organische Isonitrile
Blausäure lässt sich im Laboratorium leicht durch Ansäuern von Metallcyaniden wie NaCN oder Ca(CN) gewinnen (NaCN HCN N ). Die technischen Darstellungsprozesse beruhen auf der Hochtemperatur-Umsetzung von Methan und Ammoniak in Anwesenheit von Katalysatoren und gegebenenfalls Sauerstoff (HCN hat sich wohl während der Erdevolution auf analogen Wegen gebildet): CH 4 + N H 3
1200°C, Pt
:
(Degussa-Verf.)
1200°C/2bar, Pt/Rh
> H C N + 3 H 2 ; CH 4 + N H 3 + l i 0 2
—-—>
(Andrussow-Verf.)
HC^3HO.
Der linear gebaute Cyanwasserstoff. (C„ v -Symmetrie; HC/CN-Abstände 1.066/1.156 Ä; Smp. —13.4 C; Sdp 25.6 C) wirkt in Wasser schwächer sauer als Fluorwasserstoff: HCN CN (Ks = 2.1 x 10" 9 ) und stellt eine äußerst schwache B a s e d a r : H — C = N + H + H — C = N — H + (linear). Blausäure ist sowohl als solche wie in deprotonierter Form hochgiftig23. Blausäure bildet mit Luft hochexplosive Gemische und zersetzt sich in wässeriger Löung sehr langsam unter Bildung von Ammoni umformiat (HCN + 2 H 2 0 NH 3 + HCOOH NH 4 + HCO 2 "). In flüssigem Zustand liegt die Säure in dimerer Form (HCN) 2 (a) als Iminoessigsäurenitril vor, welche sich unter weiterer Addition von HCN auf dem Wege über Aminomalonsäuredinitril (HCN) 3 (b) leicht in Diaminomaleinsäuredinitril (HCN) 4 (c) und darüber hinaus in Anwesenheit von Cyanid CN~ unter dem Einfluss von Licht mit kleiner Ausbeute in Adenin (HCN) 5 (d) verwandeln kann: NH 2 HN
H2N
HCN S
C—CN H
Ä
7
H
CN ±H™
^
(a) (HCN) 2
2 ^
/ -
C N
II H
(b) (HCN) 3
c
2
N ^ C N
(c) (HCN) 4
C^ +
H C
N
^ H C
n
F V
\ H
^
N ' H (d) (HCN) S
Man nimmt an, dass Adenin sowie Guanin unter den lebensnotwendigen Nucleobasen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin (vgl. S. 164) im Zuge der ,,präbiotischen Evolution" ursprünglich auf diese Weise aus Cyanwasserstoff entstanden sind. Das - für die Cyanidlaugerei (S. 1453) erforderliche - Natriumcyanid kann technisch durch Überleiten von Ammoniak über geschmolzenes Natrium und Glühen des gebildeten Natriumamids (N NH NaNH 2 + 7 2 H 2 ) mit Kohle gewonnen werden (,,Castner-Keller-Verfahren"): 2NaNH Natriumamid
+ C
> Na 2 CN 2
— 2H 2
Natriumcyanamid
2NaCN. Natriumcyanid
Diese Art der Darstellung von NaCN ist aber rückläufig, weil man NaCN und andere Cyanide bequemer durch Neutralisation von HCN erhalten kann. Als,,Pseudohalogenid" bildet das mit CO, N 2 , C 2 ~, NO + isoelektronische Cyanid C N (CN-Abstand 1.16 Ä) lösliche Alkalisalze (NaCN, KCN, RbCN mit NaClund CsCN, TlCN mit CsCl-Struktur), ein unlösliches Silbersalz (AgCN) sowie Cyano-Komplexe. In letzteren fungiert das CN~-Ion als ein-, zwei- oder sogar dreizähniger Komplexligand. Als einzähniger Ligand ist er stets über das Kohlenstoffatom an Metallzentren koordiniert (z.B. Fe(CN)g~ / 4 ~; vgl. S.1650). Zweizähnig wirkt er etwa in AgCN (lineare Ketten . - AgCNAgCN - •; S. 1459), Fe 2 (CN)g (vgl. S. 1650) und Ni(CN • BF 3 ) 4 , dreizähnig in CuCN • N H 3 (Schichtpolymere mit Cu 2 CNCu-Einheiten). Man verwendet Cyanwasserstoff (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab) insbesondere zur Herstellung von Methylmethacrylat, darüber hinaus zur Darstellung von NaCN, (ClCN) 3 . Cyanid (Weltjahresproduktion: Hektotonnenmaßstab) dient u.a. zur Herstellung komplexer Cyanide (z.B. Fe(CN)g~'4~) sowie zur Gewinnung von Ag und Au aus minderwertigen Erzen (leicht erfolgende Oxidation von M = A g , A u i n Anwesenheit von C N " : 4 M + 8 C N " + 0 2 + 2 H 2 0 -> 4 M ( C N ) 2 + 4OH~; s. dort). Halogencyane XCN stellen farblose, flüchtige, linear gebaute „Pseudohalogenanaloga" der Interhalogene XX' dar (CN-Abstände ca. 1.16 Ä), die - insbesondere in Anwesenheit von HX - zur Trimerisierung unter Bildung von Cyanursäurehalogeniden (XCN) 3 neigen (CN-Abstände ca. 1.34 Ä):
1. Der Kohlenstoff H
o_ c ^
X =
c ^
Hal, OH, NH 2
OH
N
o
N. C'
X =
3X—C=N
913
I
NH
HN. C
X
O
Cyanursäurehalogenide
Cyanursäure
,,Chlorcyan" ClCN (Smp. — 6.9°C, Sdp. 13.0°C), ,,Bromcyan" BrCN (Smp. 51.3 °C, Sdp. 61.3°C) und „Iodcyan" ICN (Sblp. 146 °C) entstehen aus NaCN und Chlor sowie Brom bzw. Hg(CN) 2 und Iod, ,,Fluorcyan" FCN (Smp. — 82°C, Sdp. — 46. °C) bildet sich durch Thermolyse von (FCN) 3 , das durch Fluoridierung von trimerem ClCN mit NaF erhalten wird Halogenisocyane C = N — X sind unbekannt: es lassen sich jedoch linear gebaute Kationen X — C = N — X + , welche die Isohalogencyangruppierung enthalten, gewinnen: H — C = N — H + AsFg + 2F 2 F — C = N — F + A s F g + 2 H F (in flüssigem HF; Zersetzung der HF-Lösung bei Raumtemperatur gemäß F C = N F + AsFg + 2 H F -> F 3 C—NH 2 F + AsFg ); As As (in CFC ). Hydroxycyane. Ersetzt man in der Blausäure bzw. der Isoblausäure den Wasserstoff durch eine Hydroxylgruppe, so gelangt man zur Cyansäure HOCN (Tautomeres: Isocyansäure OCNH) bzw. zur Isoknallsäure CNOH (Tautomeres Knallsäure HCNO) 2 2 : HO—C = N Cyansäure
^— "
O=C=NH;
C = N—OH
Isocyansäure
Isoknallsäure
^
-
HC=N—O. Knallsäure
Das Wasserstoff-Tautomeriegleichgewicht liegt in ersterem Falle auf der Seite der Isocyansäure, in letzterem Falle auf der Seite der Knallsäure. Nach Berechnungen sinkt die thermodynamische Stabilität der Isomeren in Richtung Isocyansäure Cyansäure Knallsäure Isoknallsäure Die mittelstarke Isocyansäure HNCO (farblose Kristalle; Smp. 86.8°C; Sdp. 23.5°C; = 1.2 x 10" 4 CN-Abstand ca. 1.20 Ä; HNC/NCO-Winkel ca. 125°/180°) entsteht neben Spuren der Cyansäure HOCN (maximal 3 %) beim Versetzen von Natriumcyanat mit HCl (NaOCN + HCl NaCl + HNCO/HOCN). Sie trimerisiert leicht zu Cyanursäure (HNCO) 3 (siehe obige Gleichung, X = OH), aus der sie durch Pyrolyse wieder zurückgewonnen werden kann. Darüber hinaus bildet sich Isocyansäure in reversibler Reaktion auch bei der Thermolyse von Harnstoff: ( H N ^ C ^ HNCO + N H . Die Salze der Cyanund Isocyansäure, die Cyanate OCN (CN-Abstand ca. 1.21 Ä; 0 C N ~ isovalenzelektronisch mit C 0 2 , N 3 ) , gewinnt man im Laboratorium durch Oxidation von Cyaniden CN~ mit PbO oder PbO 2 , in der Technik durch trockenes Erhitzen von Harnstoff und Soda: C 0 ( N H 2 ) 2 + N a 2 C 0 3 -> 2 N a 0 C N + 2 H 0 . Das dem „Pseudohalogenid" O C N " zuzuordnende ,,Pseudohalogen" OCN—NCO entsteht als thermolabile Spezies bei Bestrahlung von 0xalsäurediazid in Argon bei 10 K: (N ) 0 C C 0 ( N 0 C N N C 0 2N (die isomeren Pseudohalogene 0 C N 0 C N und N C 0 0 C N sind unbekannt). Die schwache, zersetzliche, linear gebaute Knallsäure HCNO (,,Formonitriloxid"; giftiges 23 Gas; organische Derivate:,,Nitriloxide" RCNO) kann u. a. aus wässerigen Fulminat-Lösungen mit Schwefelsäure in Freiheit gesetzt werden (CN0~ + H + -> HCNO). Von ihren Salzen, den Fulminaten CNO (isovalenzelektronisch mit OCN"), die früher als Initialsprengstoffe verwendet wurden, bildet sich AgCNO (,,Knallsilber") in verwickelten Reaktionen aus Salpetersäure, Ethanol und metallischem S i l b e ^ . Sie lagern sich beim Erwärmen in Cyanate um. Vergleichende Untersuchungen an Cyanaten und Fulminaten führten Wöhler und Liebig 1824 zur Entdeckung der Erscheinung der Isomerie (vgl. S.325). Die Isoknallsäure HONC (,,Carboxim"; organische Derivate: „Fulminate" RONC; richtiger: „Isofulminate") lässt sich nur in der Tieftemperaturmatrix z.B. durch Bestrahlen von Dibromformoxim B r 2 C = N 0 H gewinnen. Bei längerer Belichtung geht gebildetes HONC in die isomere Isocyansäure HNCO über. Das „Pseudohalogenid" C N 0 ~ lässt sich zum ,,Pseudohalogen" ONC—CNO entladen. Thiohydroxycyane. Die Thiocyansäure H S — C = N (,,Rhodanwasserstoffsäure") konnte wie die Cyansäure HOCN nicht in reiner Form isoliert werden, dagegen die Isothiocyansäure H N = C = S („Isorhodanwasserstoffsäure"), ein kristalliner, unterhalb 0 °C metastabiler Feststoff (Zerfall in HCN und H 2 C 2 N 2 S 3 ). Das den Salzen zugrundeliegende, linear gebaute farblose, mäßig toxische23 Thiocyanat SCN~ (,,Rhodanid", CN-Abstand 1.15 Ä) lässt sich durch Sulfurierung von Cyanat mit Schwefel gewinnen (man kennt auch ,,Selenocyanat" SeCN~ (CN-Abstand 1.12Ä) und ,,Tellurocyanat" TeCN~). Thiocyanat bildet lösliche Alkali- und Erdalkali- sowie schwerlösliche Kupfer-, Silber-, Gold-, Cadmium-, Quecksilber- und Bleisalze (das SCN~-Ion verhindert die Iodaufnahme in der Schilddrüse, sodass sich bei übermäßigem Verzehr von Kohl (SCN-haltig) ein „Kohlkropf" ausbilden kann). Als Ligand wirkt SCN" in Thiocyanato-Komplexen teils einzähnig (z.B. —SCN in [(NH 3 ) 5 CoSCN]2 + , —NCS in [(NH 3 ) 5 CoNCS]2 + ), teils zweizähnig (z.B. " N C S in {(SCN) 4 Re} 2 (NCS) 2 , —NCS— in
• 914
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
{(PR 3 )ClPt} 2 (SCN) 2 ) oder gar dreizähnig (z.B. > C N — in {NCSHg} 2 SCN{Co(SCN) 4 }). Analoge Verhältnisse findet man in Cyanato- und Selenocyanato-Komplexen. Die auftretende tiefrote Färbung beim Vereinigen wässeriger Fe 3 + - und SCN-haltigen Lösungen dient zum Nachweis beider Ionen: Fe 3 + + 3SCN" -> Fe(SCN)322. Thiocyanat lässt sich als „Pseudohalogenid" (S. 684) zum farblosen „Pseudohalogen" Dirhodan N=C—S—S—C=N oxidieren (2AgSCN + Br2 2AgBr + (SCN)2), das oberhalb seines Smp. (—7°C) zu rotem Pararhodan (SCN)X polymerisiert (man kennt auch gelbes ,,Diselenocyan" (SeCN)2 und rotes ,,Paraselenocyan" (SeCN)^). Man verwendet die Thiocyanate MSCN (M = Na, K, NH 4 in der Phototechnik (Tönen, Sensibilisieren), Galvanotechnik (Glanzbildner für CuBäder), Metallurgie (Extraktion und Trennung von Zn, Hf, Th, Lanthanoide), Textilindustrie (Hilfsmittel zum Färben, Bedrucken, Polyacrylherstellung), chemischen Industrie (Herstellung von organischen Thiocyanaten, Isothiocyanaten (Senfölen), Herbiziden, Fungiziden), analytischen Chemie (Fe 3 +-Nachweis). Aminocyane. Ersetzt man in der Blausäure bzw. Isoblausäure den Wasserstoff durch eine Aminogruppe, so gelangt man zum Cyanamid H2NCN (Tautomeres: Carbodiimid) bzw. Isocyanamid (Tautomere: DiazomethanH2CNN, Imidoknallsäure HCNNH; s. Lehrbücher der organischen Chemie): NH Isocyanamid
HN=C=NH; Carbodiimid
Cyanamid
HC NH Imidoknallsäure
Diazomethan
Die Tautomerie liegt vollständig auf der Cyanamid- bzw. Diazomethanseite (es existieren jedoch organische und anorganische Derivate des Carbodiimids, des Isodiazomethans sowie der Imidoknallsäure). Im Laboratorium entsteht Cyanamid H2 NCN in Form farbloser, wasserlöslicher Kristalle (Smp. 46 °C; NC/CN-Abstände 1.31/1.15 Ä) durch Ammonolyse von Chlorcyan (NH 3 + ClCN H 2 NCN + HCl). In der Technik erhält man es aus Kalkstickstoff (Calciumcyanamid) CaCN 2 , der aus Calciumcarbid und Stickstoff bei ca. 1000°C gewonnen wird: CaC 2 + N 2 -> CaCN 2 + C (Näheres S. 1247). Er enthält das linear gebaute Cyanamid-Ion N = C = N 2 _ (isovalenzelektronisch mit den 16-Elektronenteilchen CO 2 , N 2 O, N O + , N 3 , N 2 F + , OCN", CNO", COF + , FCN, FC 2 , C f " , B N d a s als „Pseudochalkogenid" durch Säuren (z.B. Kohlensäure) in den „Pseudochalkogenwasserstoff" H 2 NCN überführt wird: CaCN
CO
NCN
CaCO
(Man kennt auch das „Pseudochalkogen" N = C — N = N — C = N . ) Cyanamid ist in wässeriger Lösung bei pH = 5 am stabilsten und verwandelt sich unterhalb pH = 2 und oberhalb pH = 12 unter Wasseraufnahme in Harnstoff (H 2 NCN + H 2 0 CO(NH2)2; analog entsteht m i m 2 S Thioharnstoff CS(NH)2), bei pH = 7-9 unter Dimerisierung farbloses, bei 211 °C schmelzendes Dicyandiamid („Cyanoguanidin") (H 2 N) 2 C=NCN. Letztere Verbindung geht in geschmolzenem Zustand unter NH 3 -Druck quantitativ in farbloses, bei 345 °C unter Zersetzung schmelzendes Cyanursäureamid („Melamin") (H 2 NCN) 3 über (X = N H in obiger Gleichung), welches sich seinerseits bei 5-stündigem Erhitzen auf 450 °C in Melem (NH umwandelt NH 2 H, N — C = N
NH,
N^N
X2 H,N
H ,N
/
\.
X3
X3
211 ° c "
450 °C* H, N
NH2 H
Dicyandiamid, Cyanoguanidin
Cyanursäureamid, Melamin
2
N ^
^N^
^N^
"-NH2
Melem
Die Pyrolyse von Melamin bei 1800 °C und 25 kbar führt in Anwesenheit von Hydrazin zum schichtförmigen Trikohlenstofftetranitrid C3N4 (nicht rein), dem möglicherweise der auf S. 910 wiedergegebene Bau (g) zukommt oder - wahrscheinlicher - eine Struktur analog (g), in welcher jedoch alle Melamindurch Melemeinheiten ersetzt sind
1.6.3
a-Aminosäuren, Proteine, Nucleobasen, Nucleotide2i
Unter a-Aminosäuren versteht man im engeren Sinne ca. 20 farblose Verbindungen des Typus RC*H(NH 2 )—COOH (L-konfiguriert; meist zwitterionisch gebaut: RCH(NH 3 + )—COO"), welche durch Polykondensation unter Bildung von Peptidbindungen gemäß:
1. Der Kohlenstoff
915
H2N—CHR—CO—OH+H2N—CHR'—CO—OH ^ H2N—CHR—CO—NH—CHR'—CO—0H + H20
die lebensnotwendigen ,,Polypeptide" (Kondensationsgrad bis 100) sowie „Proteine" („Eiweißstoffe"; Kondensationsgrad weit über 100; rel. Molmassen bis zu mehreren Millionen) ergeben (nachfolgende Zusammenstellung gibt Gruppen R der a-Aminosäuren und im Falle von Prolin die gesamte Säure wieder; Asparagin - und Glutaminsäure: R = HOCOCH 2 und HOCO(CH 2 ) 2 ): H
Glycin
PhCH2
Phenylalanin HOCHMe
Threonin
Me
Alanin
HOCH2
Serin
H2NCOCH2
Aspargin
Me2CH
Valin
HSCH2
Cystein
H2NC0(CH2)2
Glutamin
Me2CHCH
Leucin
HOC6H4CH2
Tyrosin
H2NCNH(CH2)2
Arginin
EtMeCH
Isoleucin MeSCH2CH2 Methionin
H2N(CH2)4
Lysin
H N ^ N
W H
Histidin
\
CH2
QQ H
Tryptophan CH2
^ ^ — C O O H
olin (R = 0 )
Die biochemische Funktion der Proteine wird hierbei bestimmt (i) durch die Aufeinanderfolge („Sequenz") der einzelnen a-Aminosäuren (,,Primärstruktur"), (ii) durch die auf H-Brücken des Typs ^ N — H - - O = C ^ zurückgehende rechtsgängige Schraubenanordnung (,,a-Helix") oder Faltung (,,/?Faltblatt"; ,,Sekundärstruktur") und (iii) durch die Bildung zusätzlicher Bindungsbeziehungen (z. B. Disulfidbrücken) der Stränge aus a-Aminosäuren (,,Tertiärstruktur"), darüber hinaus (iv) durch die Verclusterung mehrerer (häufig vier) gemäß (i), (ii) und (iii) strukturierten Polykondensate („Quartärstruktur"). Man unterscheidet zwischen annähernd kugelförmigen, wasserlöslichen, enzymatisch wirksamen ,,Sphäroproteinen" („globulären Proteinen"), des weiteren faserigen, wasserunlöslichen, strukturbildenden ,,Skleroproteinen" („Gerüst"-, „Skelett"-, ,,fibrilären Proteinen") und schließlich ebenfalls enzymatisch wirkenden „konjugierten Proteinen"; letztere weisen zusätzlich essentielle Nichtproteinkomponenten wie Chlorophyll auf (vgl. Lehrbücher der Biochemie; höhere Organismen enthalten ca. 100 000 bis 1 000 000 verschiedene Proteine). Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die „Prionen", die anders als die bekannten Krankheitserreger (Viren, Bakterien, Parasiten) nicht mit Genen ausgestattet sind, sondern nur aus einem Eiweißstoff mit Unterschieden in der Tertiär- und Quartärstruktur bestehen. Die Prionen können sich im Körper spontan bilden oder von außen (z. B. über die Nahrung) in den Körper gelangen, wo sie das vorliegende wasserlösliche Natur- in wasserunlösliches Prioneneiweiß umwandeln, was dessen Abscheidung (z. B. im Gehirn) und als Folge hiervon eine meist tödlich endende Krankheit (z. B. BSE, Creutzfeld-Jakob-Krankheit) bedingt. Zu den Nucleobasen zählen neben Uracil die auf S. 164 wiedergegebenen stickstoffhaltigen Ringverbindungen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin. Sie sind die wesentlichen Bestandteile der „Gene", welche als Datenträger die Vermehrung der Lebewesen und die Synthese der oben erörterten Proteine bewirken (vgl. Lehrbücher der Biochemie). In den „Nucleotiden" („Nucleinsäuren"), dem Material der Gene, sind die einzelnen Nucleobasen mit jeweils einem Zuckermolekül (Pentose; vgl. S. 909) zu Einheiten verknüpft („Nucleoside"), die ihrerseits esterartig mit Phosphorsäure zu Nucleotid-Monomeren verbunden sind (vgl. S. 1693). Die „Primärstruktur" der Nucleinsäuren stellt sich dann als polymerer Strang mit einem Zucker-Phosphorsäure-„Rückgrat" dar, an dem die Nucleobasen als Seitengruppen hängen. Die auf S. 164 wiedergegebene, zur Stabilisierung der „Sekundärstruktur" wesentlichen „Watson-CrickBasenpaarungen" Thymin/Adenin bzw. Cytosin/Guanin bewirken eine Parallelanordnung korrespondierender, schraubenartig konformierter Nucleotidstränge („Watson-Crick-Doppelhelix", z.B. in Genen).
1.6.4
Evolution des Lebens21
Obwohl es an Hypothesen über den - 3.5 bis 3.8 Milliarden Jahren zurückliegenden - „Ursprung des Lebens", dem diepräbiotische Bildung geeigneter organischer Moleküle geringer Komplexität vorausgehen musste, nicht mangelt, ist man auch heute von einer allgemein akzeptierten Theorie der „Evolution des Lebens" noch weit entfernt. Im Jahre 1953 konnte Stanley A. Müller - damals ein Doktorand bei H. Urey (Chicago) - zeigen, dass bei der elektrischen Durchladung einer Atmosphäre aus Methan, Ammoniak, Wasserstoff und Wasser signifikante Mengen an - lebensnotwendigen - Aminosäuren sowie anderer niedermolekularer Moleküle entstehen. Dieser Sachverhalt hat zu der populären, bereits 1920 von A.I. Oparin und J.B.S. Haldane formulierten Vorstellung geführt, dass urzeitliche Ozeane einer ,,nährreichen Suppe" (,, Ursuppe") geglichen haben. Die Möglichkeit, dass die Erde zur Zeit des Ursprungs des Lebens eine reduzierende Atmosphäre hatte, wird jedoch angezweifelt. Man nimmt heute an, dass die Erde damals eine neutrale Atmosphäre aus N2 und C O besaß (S. 515). Nach neueren Vorstellungen von C. Huber und G. Wächtershäuser soll sich die präbiotische Bildung einfacher, die Evolution des Lebens einleitender Moleküle in heißen Vulkanen und ozeanischen Schloten an oxid- und sulfidhaltigen, als Energielieferanten und Katalysatoren wirkenden Gesteinen vollzogen
• 916
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
haben. Die als ,,black smokers" bezeichneten Schlote beförderten in präbiotischen Zeiten heißes schwefelwasserstoffhaltiges Wasser aus dem Erdinneren nach oben, wobei sich die im Wasser enthaltenen Oxide oder Sulfide u. a. des Eisens, Mangans, Kupfers, Zinks an den Wänden in Form poröser, heißer Schichten absetzten. FeS konnte dann etwa Schwefelwasserstoff zu Wasserstoff reduzieren: FeS + H2S -> FeS2 + H 2 . Auch wurde Kohlendioxid durch FeS oder Fe 3 0 4 zu organischen Hydroxo-, Oxo- oder Carboxylatoverbindungen reduziert: 7FeS + 7H2S + 4C0 2 (CH 2 COOH) 2 + FeS2 + 4H 2 O und Fe 3 0 4 /CO 2 /H 2 O (350 °C, 10bar) u.a. CH 3 CH 2 OH, CH 3 CHO, CH 3 COOH, welche möglicherweise Vorprodukte der Fette und Kohlenhydrate waren (heute werden letztere Stoffe von Pflanzen durch Kohlendioxidassimilation erzeugt, S. 1232). Schließlich entstand wohl durch Reduktion von Stickstoff an FeS Ammoniak: 3 FeS + 3H 2 S + N2 -> 3FeS2 + 2NH 3 , welches im Sinne der oben erwähnten Müller'schen Reaktion in Aminosäuren, den Vorprodukten der Proteine, sowie auf dem Wege über HCN in Nucleobasen (S. 912) und darüber hinaus in Nucleotide umgewandelt wurde (heute wird das für Lebewesen notwendige Ammoniak zur einen Hälfte von freilebenden Bodenbakterien (z. B. Azobakter, Closterium, Klebsiella, Rhodospivillum) und symbiotisch mit grünen Pflanzen verknüpften Bakterien (z.B. Rhizobien) durch Stickstoffassimilation erzeugt, und zur anderen Hälfte nach Haber-Bosch synthetisiert (S. 662)). Die Bildung von Ammoniak aus Stick stoff an amorphen FeS-Fällungen bei 80 °C konnte inzwischen von G. Kreisel und W. Weigand im Laboratorium nachvollzogen werden Die weiteren Reaktionsschritte von den durch präbiotische Synthese erzeugten einfachen Molekülen zu den komplexen biologischen Strukturen hin ließen sich bisher nur sehr unzureichend simulieren, so dass Fragen wie folgende nach wie vor unbeantwortet blieben: Wie konnten informationstragende Biopolymere entstehen, obwohl die Hydrolyse solcher Verbindungen auf der geologischen Zeitskala rasch verläuft? Haben Mineralien oder Metallionen die Bildung der Biopolymeren katalysiert? Wie und zu welchem Zeitpunkt wurden homochirale Biomoleküle erzeugt? Was waren die ersten Moleküle, die in der Lage waren, sich selbst zu reproduzieren, und die dann einer molekularen Evolution unterworfen wurden
1.7
Metallorganische Verbindungen24-25
Verbindungsbestandteile Verbindungen mit direkter Metall-Kohlenstoff-Bindung werden als „Metallorganische Verbindungen" („Organometall-Verbindungen", ,,Metallorganyle") bezeichnet (bei Einbeziehung von Nichtmetallen spricht man von,,Elementorganylen"; bei Verknüpfung von Metallorganylen mit Biomolekülen von,,Biometallorganylen"). Verbindungen, die nur Metalle und Kohlenstoff enthalten, werden zu den auf S. 884 behandelten ,,Carbiden" gezählt Bestandteile der Metallorganyle sind einerseits (ligandenfreie oder ligandenhaltige) Metall- oder Halbmetallatome (Se, Te, P—Bi, Si—Pb, B—Tl, M n , M1, Nebengruppenmetalle, Lanthanoide, Actinoide) und andererseits (gesättigte oder ungesättigte, unsubstituierte oder substituierte) Kohlenwasserstoffe (Alkane, Alkene, Alkine, Aromaten), des weiteren Kohlenwasserstoffreste, die sich von den Kohlenwasserstoffen durch H-Abstraktion ableiten, und schließlich „Derivate" der Kohlenwasserstoffreste wie Silyle SiR3, Germyle GeR 3 , Aminyle N R (,,Metallorganische Verbindungen in weiterem Sinne"). Anliegen der Metallorganischen Chemie ist das Studium der Synthesen, Strukturen, physikalischen und chemischen Eigenschaften der Metallorganischen Verbindungen
2* Literatur. COMPR. ORGANOMET. CHEM. I/II/III: (vgl. Vorwort); I. Haiduc, J.J. Zuckerman: ,,Basic Organometallic Chemistry", deGruyter, Berlin 1985; A.J. Pearson: ,,Metallo-Organic Chemistry", Wiley, New York 1985; A.W. Parkins, R.C. Poller: ,,An Introduction to Organometallic Chemistry", Macmillan, London 1986; P.P. Power: ,,Principles of Organometallic Chemistry", Chapman and Hall, London 1988; Ch. Elschenbroich: ,, Organometallchemie", 5. Aufl., Teubner, Wiesbaden 2005; S. Patai, Z. Rappoport, Y. Apeloig (Hrsg.): ,,The Chemistry of Metal-CarbonBond" (bisher 5 Bände), ,,The Chemistry of organic M compounds" (M bisher Se, Te, P, As, Sb, Bi, Si, Ge, Sn, Pb, Ag, Au), Wiley, New York ab 1982; F.G. A. Stone, R. West (Hrsg.): ,,Advances in Organometallic Chemistry", jährlich erscheinende Bände, Acad. Press, New York, ab 1964; K. Severin, R. Bergs, W. Beck: ,,Biometallorganische Chemie - Übergangsmetallkomplexe mit a-Aminosäuren und Peptiden", Angew. C h e m 110 (1998) 1722-1743; Int. E d 37 (1998) 1634. Vgl. hierzu auch Kapitel über Metallorganyle bei den einzelnen Elementen. 5 2 Geschichtliches Erste metallorganische Verbindung: Kakodyloxid (Me 2 As) 2 O (L. Cadet, 1760); erster Olefinkomplex: Zeisesches Salz Na[PtCl 3 (C 2 H 4 )] (W.C. Zeise 1827); erster Metallcarbonylkomplex: [Pt(CO)Cl 2 ] 2 (M.P. Schützenberger, 1868); erstes binäres Metallcarbonyl: Ni(CO) 4 (L. Mond, 1890); Sandwichkomplexe: Cr(PhPh) 2 (F. Hein, 1919); Ferrocen FeCp 2 (P. Pauson, S.A. Miller, 1951); Dibenzolchrom Cr(C 6 H 6 ) 2 (E.O. Fischer, 1955); erster Carbenkomplex (CO) 5 WCMe(OMe)(E. O.Fischer 1964); Mehrfachdecker-Sandwichkomplex Ni2Cp3+ (H. Werner, 1972); erster Carbinkomplex (CO) 4 ICrCR (E.O. Fischer, 1973); Metallorganyle mit MM-Mehrfachbindungen (u.a. Dsi 2 Sn=SnDsi 2 : M.F. Lappert, 1976; Mes 2 Si=SiMes 2 : R. West, 1981; M e s * C = P : G. Becker, 1981; R S i = S i R : N. Wiberg/A. Sekiguchi, 2002/2004); Metallorganyle M^R,, mit Clustern M^, aus Metallatomen (ab ca. 1990).
1. Der Kohlenstoff
917®
Raumerfüllende Kohlenwasserstoffreste wie beispielsweise CHMe2 iso-Propyl (/Pr)
CMe3 tert-Butyl (fBu)
CH2CMe3 Neopentyl
C7Hn 1-Norbornyl 1-Adamantyl (S. 888) (S. 888)
CH2SiMe3 Monosyl (Msi)
C5Me5 Pentamethylcyclopentadienyl (Cp*)
werden in der Chemie als Schutzgruppen zur Stabilisierung Elementorganischer Verbindungen genutzt. Letzteres gilt in besonderem Maße für folgende Reste: Me 3 C x Me3 Si Me3 Si^ Me3 Si^ \ Me33C—Si— Me3 Si—CMe3 Si—Si— H—C — / / Mea Si Me3C Me3 Si Me3 Si Disyl (Dsi, Dis)
Trisyl (Tsi, Tris)
R = Me Et p iPr Ph Mes Tip
Supersilyl (R*, Ssi)
Hypersilyl (Hsi)
(Xylyl, Xyl) (Diethylphenyl, Dep) (Di-/-propylphenyl, Dip, Dipp) (Terphenyl, Ter) (Dimesitylphenyl, Dmp) (Bis(tri-/-propylphenyl)phenyl, Btp)
Me Et iPr /Bu Ph Dsi
(Mesityl, Mes) (Triethylphenyl, Tep) (Tri-/-propylphenyl, Tip, Trip (Supermesityl, Mes*) (Triphenylphenyl, Tpp) (Tridisylphenyl, Tbt)
Verbindungstypen Eine organische Gruppe kann mit einem Metall- oder Halbmetallzentrum über ein, zwei, drei, vier und noch mehr C-Atome verknüpft sein; die Gruppe wirkt dann als Mono-, Di-, Tri-, Tetrahapto-Ligand usw. (charakterisiert durch die Haptizität rf,r\2, r| 3 , r| 4 , usw.). Andererseits kann eine organische Gruppe gleichzeitig zwei, drei, vier und noch mehr Metall- oder Halbmetallzentren binden (charakterisiert durch die Metallbindungszahl usw.). Alkyl-, Vinyl- sowie Arylreste (s. oben) stellen typische Monohapto-Liganden dar (Cyclopentadienyl ist an Metalle vielfach pentahapto gebunden, s. unten). Von allen Hauptgruppenmetallen und -halbmetallen sowie einigen Nebengruppenmetallen existieren Methylderivate MMe n (Stöchiometrie häufig analog M H ) . Die besonders elektropositiven Alkali- und schwereren Erdalkalimetalle bilden salzartige Methylderivate, die leichteren Erdalkalimetalle sowie die Metalle und Halbmetalle der Borgruppe verbrückte, ionisch bis kovalente Methylderivate, die Metalle und Halbmetalle der Kohlenstoff-, Stickstoff- und SauL„M-CR3
L N M=CR 2
[ W ( C H 3 )6,
[(CO) 5 W = C R ( O R ) ,
Si(CH3) 4 ]
Cp 2 MeTa =
[Cl 3 Pt(
(c)
(d)
CR
CR
CR 2 II CR,
L„M
CH2]
[(CO)isFe 5 C, (CO)i7 R u 6 C]
(b)
(a) L„M
L„M
III
-C2H4)]
[Cl 3 Pt(
Z
//
CR2
CR
(e)
(L„M)MC
L„M=CR [(CO) 4 ICr = CMe, CB u O ) 3 W = C P h ]
1 N
[Ni( ^ - C 3 H 5 ) ]
-C2Ph2)]
(f)
1
CR2 || CR2
CR2
[(CO) 3 Fe(
4
-C4H6)]
(h)
(g)
L„
M
V [CpCo(
-C4Ph4)]
(i)
[Fe(
5
-CSH5)2]
(k)
[Cr(
6
-C6H6) 2 ]
(l)
[(CO) 3 V(
7
-C7H7)]
(m)
[U(
8
-C8H8)2]
(n)
Fig. 203 Kohlenwasserstoffkomplexe (aus Gründen der Übersichtlichkeit sind in den Formeln der letzten Reihe die Kohlenstoffatome durch Ecken symbolisiert).
• 918
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
erstoffgruppe unverbrückte, kovalente Methylderivate Stabiler als die Methyl- sind meist die Phenylderivate instabiler die Alkylderivate mit -ständigem Wasserstoff, die gemä -Eliminierung
L„M—C—C—H
L„M—H + ^ C = C C
Hydrometallierung
unter ß-Eliminierung zerfallen können. Die Zersetzung lässt sich vielfach umkehren; demgemäß gewinnt man metallorganische Verbindungen vielfach durch „Hydrometallierung", z. B. Hydroborierung (S. 1069), Hydrosilierung (S. 987), Hydrostannierung (S. 1030). Der regio- und stereospezifische Verlauf der Hydrometallierung ist ein besonderer Vorteil dieser Synthesemethode In analoger Weise wie sich Methyl C H und seine Derivate CR 3 mit Metallen M bzw. - allgemein Fragmenten L„M (L = geeigneter Ligand) zu ,,Methylkomplexen" vereinigen können (vgl. Fig.203a), vermögen die wasserstoffärmeren Teilchen C H , CH, C und deren Derivate ,,Carben-", ,,Carbin-" und ,,Carbido-Komplexe" zu bilden (vgl. Fig.203b, c, d sowie analoge Komplexe von N R , NR 2 , NR und N, S. 668). Bezüglich weiterer Einzelheiten über Carben- und Carbin-Komplexe siehe S. 1829, 1832 (die Carbido-Komplexe können als molekulare Ausschnitte der metallartigen Metallcarbide beschrieben wer den). Komplexe des Kohlenmonoxids, das ^ n 2 - sowie ^ 3 -koordiniert sein kann, und Komplexe einiger von CO abgeleiteter Monohapto-Liganden (z.B. CNR, C N " ) werden auf S. 1759 und 1813 behandelt). Typische Beispiele für Di- bis Octahapto-Liganden sind die n-gebundenen Ethylene R 2 C = C R 2 (T|2), Acetylene R C = C R (r| 2 ), Allyle R 2 C—CR—CR 2 (r| 3 ), Butadiene R 2 C = C R — C R = C R 2 (t| 4 ), Cyclobutadiene C 4 R 4 (r| 4 ), Cyclopentadienyle C 5 R 5 (r| 5 ), Benzole C 6 R 6 (r| 6 ), Cycloheptatrienyle C 7 R 7 (r| 7 ) und Cyclooctatetraene CSRS (r| s ) (vgl. F i g . 2 0 3 - n ) . Metallorganyle des Typs k, l, n (des Typs i, m) werden auch als ,,Sandwich-Verbindungen" (,,Halbsandwich-Verbindungen") bezeichnet. Bezüglich Einzelheiten vgl. Kap.XXXII, Unterkap. 3.3.3, 3.3.4, 3.3.5).
2
Das Silicium2 6
W ä h r e n d der Kohlenstoff der Träger des organischen Lebens ist (S. 861), k a n n das homologe Silicium als Träger des anorganischen ,,Lebens" bezeichnet werden. Allerdings empfinden wir das anorganische Geschehen k a u m als Leben, da wir als ,,Kinder des Kohlenstoffs" hinsichtlich der Mannigfaltigkeit u n d Schnelligkeit biochemischer U m s e t z u n g e n verwöhnt sind, u n d sich das anorganische Leben im Vergleich hierzu in ganz anderen Zeitdimensionen abspielt. Z u d e m schließt die im Gegensatz zur Metastabilität der meisten Kohlenstoffverbindungen gegen Sauerstoff u n d Wasser sowie zur Flüchtigkeit des m o n o m e r e n Kohlendioxids stehende Sauerstoff- und Wasserlabilität vieler Siliciumverbindungen sowie der Nichtflüchtigkeit des polymeren Siliciumdioxids einen der Assimilation und A t m u n g entsprechenden Kreislauf des Silicium aus, sodass letzteres in der N a t u r durch silicatische Gesteinsbildung charakterisiert ist, während alle anderen Verbindungsformen des Siliciums der Experimentierkunst des Chemikers vorbehalten sind u n d fast durchweg leichter Oxidation u n d Hydrolyse unterliegen. Bezüglich eines Vergleichs von Kohlenstoff u n d Silicium als Energieträger der Weltwirtschaft vgl. S. 923.
2.1
Das Element Silicium26-27,28
2.1.1
Vorkommen
Das Silicium ist nach dem Sauerstoff das meistverbreitete Element, und zwar besteht der uns zugängliche Teil der Erdrinde zu mehr als ^ (26.3 %) seiner Masse aus Silicium. Da der Sauerstoff die Hälfte (48.9 %) der Masse der Erdkruste ausmacht, ist damit das Silicium etwa so häufig wie alle übrigen Elemente zusammengenommen (4 von 5 Atomen der Kruste sind Si bzw. O). 26 Literatur. E . G . Rochow: „Silicon", Comprehensive Inorg. Chem., Band 1 (1973) 1323-1467; E.A.V. Ebsworth: ,,Volatile Silicon Compounds", International Series of Monographs on Inorganic Chemistry, Band 4, Pergamon, Oxford 1963: ,,Silicium Chemie", Fortschr. Chem. F o r s c h 9/1 (1967/68) 1 - 2 0 5 ; ,,Silicon Chemistry", Topics Curr. C h e m 50 (1974) 1 - 1 6 5 und 51 (1974) 1-127; GMELIN: „ S i l i c o n S y s t . - N r . 15; ULLMANN: „Silicon", A M (1993) 721-748; ,,Silicon CompoundsA24 (1994) 1 - 5 6 ; COMPR. COORD. CHEM. I/II: „Silicon" (vgl. Vorwort); G. Wenski, G. Hohl, P. Storck, I. Crössmann: ,,Die Herstellung von Reinstsiliciumscheiben", Chemie in unserer Zeit 37 (2003) 198-209; M. Sumper, N. Kröger: ,,Silica formation in diatoms: the function of Long-chainpolyamines and silaffines",
2. Das Silicium
919
Silicium findet sich wegen seiner großen Sauerstoffaffinität zum Unterschied vom homologen Kohlenstoff nie elementar, sondern nur gebunden in Form von Salzen verschiedener, sich vom Anhydrid Si0 2 ableitender Kieselsäuren mSi02 • nH2O (Silicate). Besonders weitverbreitet sind im Mineralreich Magnesium-, Calcium-, Eisen- und Aluminiumsilicate (S. 962f). Auch das Siliciumdioxid Si0 2 kommt in der Natur in verschiedenster Form (Seesand, Kieselstein, Quarz, Bergkristall, Amethyst usw.) vor (S. 950). Im Pflanzen- und Tierreich ist Silicium ebenfalls anzutreffen. Die G r ä s e r und H a l m e verdanken z.B. ihre Schärfe, die das Stumpfwerden von Sensen und Sicheln verursacht und zu Hautverletzungen führen kann, sehr harten SiO 2 -Kriställchen. Niedere Lebewesen (Diatomeen, Kieselalgen) bauen seit Jahrmillionen formenschönste, von organischer Materie durchdrungene, auf Wasser schwimmende Kieselsäuregerüste26 mit feinsten Rillen, Vertiefungen und Kanälen auf. Ablagerungen solcher zerfallener Skelette bilden die Kieselgur- oder Infusorienerde. Isotope (vgl. Anh.III). Natürlich vorkommendes Silicium besteht aus den Isotopen 24Si (92.23%), 24Si (4.67 %) und F^Si (3.10 %), wobei sich 22 Si für den NMR-spektroskopischen Nachweis eignet. Das künstlich gewonnene Isotop F^Si (ß"-Strahler t I/ 2 = 650 Jahre) dient zur Isotopenmarkierung, das durch Neutroneneinfang gebildete kurzlebige Isotop F4Si (ß"-Strahler; T1/2 = 2.62 Stunden) zur quantitativen Si-Bestimmung durch Neutronenaktivierung (S. 1910).
2.1.2
Darstellung2 6
Normales Silicium Technisch lässt sich Silicium in kompakten Stücken durch Reduktion von Quarz mit Kohle bei hohen Temperaturen (um 2000 °C) im elektrischen Ofen (Lichtbogenreduktionsofen, S. 745) darstellen: 690.36kJ + Si0 2 + 2C -> Si + 2CO. Die Reduktion des Quarzes zu technischem Silicium (Si98 bzw. Si99 mit 98.5 bzw. 99.7 Gew.-% Si) erfolgt auf dem Wege: Si0 2 + C -> SiO + CO (vgl. Boudouard-Gleichgewicht, S.897), SiO + 2C SiC + CO und 2SiC + Si0 2 -> 3Si + 2CO. Da einerseits der eingesetzte Quarz möglichst vollständig reduziert werden soll, andererseits eine durch überschüssigen Kohlenstoff hervorgerufene Bildung von Siliciumcarbid SiC (S. 984) unerwünscht ist, muss die Beschickung (der ,,Möller") des elektrischen Ofens sorgfältig berechnet werden. Das im elektrischen Lichtbogen aus Quarz und Kohlenstoff (eingesetzt in Form von Koks, Anthrazit, Holzkohle, Torfkoks) gebildete flüssige Silicium (Smp. 1410 °C) sammelt sich am Boden des Ofens an und wird alle ein bis zwei Stunden abgestochen. Auch durch - technisch bisher nicht genutzte - elektrochemische Reduktion von porösen, aus SiO 2 -Pulver gepressten Kugeln lässt sich Silicium in geschmolzenem CaCl 2 bei 850°C in umweltfreundlicher Weise (keine CO 2 -Bildung!) erzeugen. Zur Herstellung von Ferrosilicium (in Form von FeSi 90 bzw. FeSi 75 bzw. FeSi 45: Legierungen aus ca.90 bzw. 75 bzw. 45% Si und 10 bzw. 25 bzw. 55% Fe; vgl. S.924) gibt man der Beschickung aus Quarz und Kohle noch Eisenschrott oder -späne zu und verwendet statt der vorgebrannten Kohle elektroden ,,Söderberg-Elektroden" (vgl. S. 744; der Fe-Mantel der Söderberg-Elektroden, welcher Fe an das Si abgibt, stört im letzteren Falle nicht). Zur Gewinnung von „Calciumsilicium" (Calciumdisilicid CaSi 2 ; ca.60% Si, 40% Ca) reduziert man Si0 2 mit Koks in Anwesenheit von Calciumcarbid: 2Si0 2 + 2C + CaC 2 CaSi 2 + 4CO.
Im Laboratorium verwendet man Magnesium oder Aluminium als Reduktionsmittel: Si0 2 + 2Mg -> Si + 2MgO + 292.7 kJ;
3Si0 2 + 4A1 ^ 3Si + 2A1 2 0 3 + 618.8 kJ.
J. Mater. Chem 14 (2004) 2059-2065; P. Jutzi:,, Silicon Chemistry: From the Atom to Extended Systems", Wiley-VCH, Weinheim 2003. Vgl. Anm.29, 32, 34, 35, 37, 39, 45, 58, 64, 72, 77, 80-83. 2 Geschichtliches Erstmals dargestellt wurde das elementare Silicium (in einer amorphen Form) 1824 durch J. J. Berzelius: Reduktion von Si0 2 mit Kohlenstoff in Anwesenheit von Eisen und anschließendes „Herauslösen" von Fe aus dem gebildeten Eisensilicid mittels Salzsäure (FeSi, + 2 H Q H 2 + FeCl 2 + nSi) bzw. Reduktion von SiF4 (in Form von K 2 SiF 6 ) mit metallischem Kalium. Der Name Silicium leitet sich vom lateinischen Namen silex bzw. silicis für Kieselsteine ab. Auch die Bezeichnung Kieselsäure erinnert an diesen Zusammenhang (die engl. Bezeichnung ,,silicon" soll mit der Endung ,,on" die Ähnlichkeit von Si mit C und B - engl. ,,carbon", ,,boron" - hervorheben). 24 Physiologisches. Silicium ist für den tierischen und menschlichen Organismus in elementarer Form ungiftig und übt auf ihn keine Wirkung aus; in gebundener Form ist es als Spurenelement essentiell (vgl. Anm. 46 auf S.955). Der menschliche Körper enthält etwa 20 mg/kg silicatisches Silicium (Haare: 0.01-0.36; Nägel: 0.17-0.54 Gew.-% Si; Ersatz der täglich ausgeschiedenen 5 - 3 0 mg Si durch Nahrungsaufnahme). Der Ersatz eines oder mehrerer Kohlenstoffatome in Pharmaka durch Siliciumatome (,,Sila-Pharmaka") kann - wie erste Forschungsergebnisse zeigen - zu spezifischen positiven oder negativen Wirkungsänderungen führen. 7
• 920
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Da die Reaktion beim Entzünden des Gemischs unter starker Wärmeentwicklung stürmisch verläuft, muss man sie durch Zumischen eines Überschusses an Quarzsand oder an Magnesium- bzw. Aluminiumoxid mäßigen. Ein Überschuss an Mg ist bei der Reaktion zu vermeiden, da sonst Dimagnesiumsilicid Mg 2 Si entsteht: Si0 2 + 4 Mg -> Mg 2 Si + 2 M g 0 . Man erhält bei erster Darstellungsweise, braunes, pulverförmiges reaktives Silicium, welches durch Auflösen in geschmolzenem Aluminium und Erkaltenlassen dieser Lösung in oktaedrisch kristallisiertes Silicium verwandelt werden kann (das reaktive Silicium besteht aus sehr kleinen, geringfügig durch Fremdsubstanzen insbesondere Sauersto verunreinigten Siliciumkristallen). Direkt erhält man kristallisier tes Silicium, wenn man bei der zweiten Gewinnungsmethode überschüssiges Aluminium zur Reaktion des Quarzes verwendet, sodass sich das ,,aluminothermisch" (S. 1142) gebildete Silicium gleich im Aluminiumüberschuss auflösen kann. Die Trennung von Aluminium und auskristallisiertem Silicium erfolgt hier wie im vorigen Fall mit Salzsäure, welche das Aluminium löst und das Silicium ungelöst zurücklässt. Statt Siliciumdioxid kann auch Siliciumtetrafluorid (in Form des Salzes SiF4 • 2KF = K 2 [SiF 6 ]; S.946) mit überschüssigem Aluminium bei Rotglut oder Siliciumtetrachlorid SiC mit Zinkdampf umgesetzt werden, wobei Si in schönen Kristallblättchen entsteht: 3SiF4 + 4A1
3Si + 4AlF 3 + 1172.7kJ;
SiCl4(g) + 2Zn(g) ^ Si + ZnCl 2 + 19.3kJ.
Hochreaktives Silicium erhält man durch Umsetzung von CaSi2 (S. 890) mit HCl, Cl 2 (20-40 °C), SbCl3 oder SnCl 4 , z.B.: CaSi2 + 2HCl
2Si + H 2 + CaCl 2 ,
CaSi2 + SnCl4
2Si + SnCl2 + CaCl 2
oder durch Reduktion von SiCl4 mit einer „Lösung" von Na in geeigneten aromatischen oder ungesättigten Kohlenwasserstoffen (vgl. S. 1295): SiCl4 + 4 Q -> Si + 4 C P . Reinstes Silicium (z.B. zur Verwendung als Halbleiter, speziell in Transistoren und integrierten Schaltkreisen) gewinnt man durch thermische Reduktion von reinstem Silicochloroform HSiCl 3 (gewinnbar nach Si + 3HC1 -> HSiCl 3 + H 2 , destillative Reinigung) mit Wasserstoff bei 1000°C(Haupterzeugungsmethode) oder durch Pyrolyse von reinstem Silan SiH4 (gewinnbar nach 3SiF4 + 2Na 3 AlH 6 -> 3SiH 4 + 2 N 3 A f f 6 ) bei 800 °C): HSiCl 3 + H 2
Si + 3HCl
bzw.
SiH4
Si + 2 H 2 .
Die Abscheidung des Siliciums erfolgt hierbei an dünnen, sehr reinen Siliciumstäben, die man zu Stäben von 10-20 cm Durchmesser anwachsen lässt. Für die Reinigung des so gewonnenen Siliciums nutzt man den Sachverhalt, dass Beimengungen in geschmolzenem Silicium leichter löslich sind als in festem. Beim Kristallziehen („Czochralski-Ziehen" ,,CZ-Verfahren", entdeckt von J. Czochralski, 1916) taucht man in das in einem bis zu 300 kg fassenden Quarztiegel bei ca. 1420 °C aufgeschmolzene Silicium einen SiImpfkristall und zieht ihn so langsam aus der Schmelze, dass kontinuierlich weiteres Silicium an dem wachsenden, schließlich bis zu 30 cm dicken, 2 m langen und 265 kg schweren Stab auskristallisiert. Beim tiegelfreien Zonenschmelzen (,,Floating-Zone-Verfahren", ,,FZ-Verfahren"; entdeckt von W.G. Pfann, 1952) werden in einem vertikal justierten, argongefüllten Edelstahlzylinder oben ein Rohsiliciumstab und unten ein Si-Impfkristall in Halterungen eingespannt, sodass sie wie Stalaktit und Stalagmit einander gegenüberstehen. Man schmilzt nun das untere Stabende mittels eines flachen, ringförmigen Hochfrequenz-Induktors und sorgt dafür, dass sich eine Brücke aus geschmolzenem Material zwischen Stab und Keim ausbildet. Über diese Schmelzzone, die nur durch die große Oberflächenspannung des flüssigen Siliciums und die elektrodynamischen Kräfte des Hochfrequenzfeldes gehalten und stabilisiert wird, lässt sich nach und nach Silicium vom Vorratsstab zum Keim transportieren, indem man den Si-Rohstab und dem aus dem Keim hervorgehenden 10 cm dicken Si-Reinstab synchron nach unten führt. Das gegebenenfalls durch mehrmaliges Kristallziehen oder Zonenschmelzen gereinigte Silicium enthält < 10~9 Atom-% an Verunreinigungen ( < 1 Fremdatom unter 1010 Si-Atomen). Heute erfolgt 95% der Weltproduktion nach dem magnetischen CZ-Verfahren (MCZ-Verfahren), wobei sich die magnetischen Felder günstig auf den Temperaturausgleich in der Schmelze auswirken und den Sauerstofftransport zum Reinstsiliciumstab reduzieren (ausgehend vom Quarztiegel gelangt der Sauerstoff in Form von SiO in die Schmelze: Si0 2 -> 2Si0). Aus den Reinstsiliciumstäben werden ansschließend durch spezielle Sägetechniken ca. 0.2-0.4mm dicke Siliciumscheiben (,, Wa/er") geschnitten, die für die Herstellung von Halbleiterbauelementen (vgl. S. 923) eingesetzt werden. Die zur späteren Nutzung notwendige Erhöhung der geringen Leitfähigkeit des Siliciums erfolgt durch Dotierung mit Bor, Aluminium Gallium (Bildung von n-Typ-Halbleitern) bzw. Phosphor, Arsen, Antimon (Bildung von p-Typ-Halbleitern; vgl. S. 1423f). Hierzu setzt man dem Silicium
2. Das Silicium
921
im Falle des Kristallziehens vorlegiertes Material zu bzw. führt das Zonenschmelzen in Anwesenheit von Spuren flüchtiger Verbindungen der betreffenden Elemente (z. B. PH3) durch. Auch wandelt man einige Si-Atome in Reinstsilicium nachträglich durch Beschuss mit thermischen Neutronen in P-Atome um (vgl. S. 1910).
2.1.3
Physikalische Eigenschaften und Strukturen
Das reine kristallisierte Silicium („a-Silicium", „Silicium-I") bildet dunkelgraue, undurchsichtige, stark glänzende, harte, spröde Oktaeder der Dichte 2.328 g/cm 3 , welche bei 1414°C unter Volumenminderung schmelzen (vgl. Fig. 204) und bei 2477 0 C sieden (Six ist also wesentlich leichter als C x zu verflüchtigen). Silicium leitet als Halbleiter etwas den elektrischen Strom, wobei die Leitfähigkeit mit steigender Temperatur zunimmt (Näheres vgl. S. 1421; flüssiges Silicium ist ein guter elektrischer Leiter). Die Struktur ist die gleiche wie die des kubischen Diamanten (SiSi-Abstand: 2.352 Ä; ber. für Einfachbindung 2.34 Ä). Neben der unter normalen Bedingungen stabilen Form des Siliciums kennt man noch einige Hochdruckmodifikationen dieses Elements. Die unter steigender Druckbelastung erhältlichen Formen weisen hierbei - erwartungsgemäß - wachsende Dichten auf (vgl. hierzu Hochdruckmodifikationen von P, Sb, Bi, Ge, Li—Cs). Zugleich nimmt im Kristallverband die Koordinationszahl KZ nächster Si-Nachbarn von 4 (,,halbleitendes Silicium") bis letztendlich 12 (,,metallisches Silicium") zu. Zunächst verwandelt sich kubisches Silicium-I {a-Silicium, q = 2.328 g/cm3) mit Diamant-Struktur und tetraedrisch-koordinierten Si-Atomen (KZ = 4; SiSi-Abstand: 2.352 A) ab 130 kbar gemäß Fig. 204 in tetragonales Silicium-II (/J-Silicium; £ = 3.286 g/cm) mit ß-Zinn-Struktur (S. 1005) und verzerrt-oktaedrisch-koordinierten SiAtomen (KZ = 6; SiSi-Abstände: 4-mal 2.431, 2-mal 2.585 Ä). Es geht bei der Druckentlastung in ein metastabiles kubisches Silicium-III (y-Silicium; £ = 2.559 g / c m ) mit verzerrt-tetraedrisch-koordinierten Si-Atomen über (KZ = 4; SiSi-Abstände: 1mal 2.306, 3mal 2.392 Ä), das sich seinerseits beim Erhitzen auf200- 600 0 C teils in Silicium I (a-Silicium) mit kubischer, teils in Silicium IV ( 1000°C), da die primär gebildete dünne SiO2-Schicht den weiteren Angriff des Sauerstoffs erschwert. Die Oxidationsschicht entsteht bereits beim Lagern an der Luft und verringert die Reaktivität des Elements nach dessen mechanischer Verkleinerung sehr stark („Passivierung", vgl. Aluminium). Das durch Reduktion von SiCl4 mit Na in aromatischen Kohlenwasserstoffen entstehende amorphe, hochreaktive Silicium entzündet sich demgegenüber von selbst an der Luft. Mit Fluor vereinigt sich Silicium schon bei Zimmertemperatur unter Feuererscheinung (Si + 2F 2 -> SiF 4 + 1616.0 kJ), mit den übrigen Halogenen beim Erhitzen (bezüglich der Reaktion von Si mit RC1 vgl. S. 988). Amorphes, hochreaktives Silicium setzt sich mit überschüssigem Chlor bereits bei Raumtemperatur zu Chlorsilanen Si„Cl2n+2 (Ketten), Si„Cl„ (Ringe) und Si„Cl2„_2 (Bicyclen; z. B. Si10Cl18) um. Schwefel verbindet sich bei 600°C mit Silicium zum Sulfid SiS2 (AH{ = —207 kJ/mol), Stickstoff bei 1400 °C zum Nitrid Si3N4 (A# f =—744.0 kJ/mol), Kohlenstoff bei 2000 °C zum Carbid SiC (AH{ = — 65.3 kJ/mol). Viele Metalle gehen beim Erhitzen mit Silicium im elektrischen Schmelzofen in „Silicide" (z. B. Ca2Si, CaSi, CaSi2) über (s. unten). Mit Kupferoxid als Katalysator reagiert Siliciumpulver selbst mit Stickstoff bereits unter vergleichsweise milden Bedingungen (ca. 600 °C) zum vielseitig nutzbaren und mit Wasserdampf bei hohen Temperaturen (1000 °C) zu Ammoniak sowie Siliciumdioxid hydrolysierbaren Nitrid S ab 3Si + 2N 2
Si3N4 + 744.0kJ;
Si3N4+6H20
3Si0 2 + 4 M , .
(2)
Demgemäß ,,verbrennt" mit CuO versetztes Si-Pulver an der Luft zu Si0 2 und Si3N4.
Mit Wasser setzt sich Silicium in exothermer Reaktion - Kohlenstoff demgegenüber in endothermer Reaktion - zum Dioxid und Wasserstoff um: Si + 2 H 2 0
Si0 2 + 2H 2 + 339.5kJ;
90.2kJ + C + 2 ^ 0 - ^
CO2 + 2H 2 .
(3)
Allerdings ist Silicium trotz seines stark negativen Normalpotentials (Si + 2 H 2 0 Si0 2 + 4 H + + 4 © ; s0 — — 0.909 V) in allen Säuren praktisch unlöslich, da das primär - selbst mit heißen Säuren - durch Wassereinwirkung gemäß (3 a) gebildete, in Säure unlösliche Si0 2 den weiteren Angriff der Säure verhindert (der endotherme Prozess (3 b) ist naturgemäß nur bei hoher Temperatur durchführbar). In heißen Laugen, die Si0 2 anzugreifen vermögen (Si0 2 + 2OH~ -> Si0 3 ~ + H2O), löst sich Silicium demgegenüber leicht und exotherm unter Bildung von Silicat und Wasserstoff(451 je kg Si). Entsprechendes gilt auch für HNO 3 -haltige Flusssäure HF, in welcher der stabile SiF^"-Komplex entsteht. Auch wird das erwähnte amorphe, hochreaktive Silicium von Wasser bei gewöhnlicher Temperatur quantitativ unter Bildung von Kieselsäure und Wasserstoff angegriffen: Si(amorph) + 3H 2 0 -> H 2 Si0 3 + 2H 2 (analog erhält man mit Alkoholen ROH oder Carbonsäuren RCOOH Ester Si(OR)4 oder Anhydride Si(OAc ). Noch reaktiver als amorphes, hochreaktives Silicium sind die durch Verdampfen von Silicium erhältlichen Triplett-Siliciumatome (s. oben), die in der Argon-Tieftemperaturmatrix mit Elementen (selbst
2. Das Silicium
923
N2), Elementwasserstoffen (z.B. CH 4 , SiH4, H O , N H , C 2 H 4 , C 2 H 2 , C 5 H 6 , C6H6) und vielen anderen Stoffen (z. B. CH 2 O, HCN, C H O H , CH 3 OCH 3 , CH 3 Hal) reagieren.
2.1.5
Verwendung, Chips
Technisches Silicium (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab) dient als Legierungsbestandteil von Gusslegierungen des Aluminiums, Kupfers, Titans und Eisens (für Magnete, Werkzeug- und Federstähle) sowie als Ausgangsmaterial für chemische Verbindungen (vgl. etwa Silicone, S. 992). Ferrosilicium (Weltjahresproduktion: Megatonnenbereich) wird wie Calciumsilicium in großen Mengen als Desoxidationsmittel bei der Stahlherstellung gebraucht. Darüber hinaus setzt man Ferrosilicium bei der Metallgewinnung (z. B. Cr 2 0 3 + Ferrosilicium -> Ferrochrom) und für silicothermische Prozesse ein. Hochreines Silicium (Weltjahresproduktion: 10 Kilotonnenmaßstab) findet in der Elektronik als Halbleiterelement (S.1421) oder in Solarzellen einen ständig wachsenden Anwendungsbereich. Man nutzt die Halbleiterwirkung des dotierten Siliciums u.a. beim Bau von ,,Transistoren", ,,integrierten Schaltkreisen" (Halbleiter-Verstärkerelementen) sowie ,,Gleichrichter"- und ,,Leuchtdioden" (Umformung von Wechsel- in Gleichstrom, von Strom in Licht und umgekehrt, S.1425). Zur arbeitsaufwendigen und kostspieligen Herstellung der hierzu benötigten miteinander verbundenen Schaltelemente aus Defektund Überschuss-Halbleitern (,,pn-Leitern" sowie ,,npn-Leitern"; vgl. S.1425) verfährt man im Prinzip so, dass man dünne n-Siliciumplättchen durch Erhitzen in Sauerstoff oder Wasserdampf oberflächlich anoxidiert und mit einer lichtempfindlichen Photolackschicht (,,Photoresist") überzieht. Dann belichtet man letztere durch eine Schablone, wodurch die Photoschicht an den bestrahlten Stellen für bestimmte Mittel löslich wird. Dort legt man das n-Silicium frei (Lösen der Photoschicht, Abätzen der SiO2-Schicht mit HF) und macht es nach Ablösen der restlichen Photoschicht (aber nicht der verbleibenden Si Schicht) durch Dotierung mit geeigneten Stoffen (Abscheidung von Borgruppenelementen aus der Gasphase) p -halbleitend, sodass insgesamt eine strukturierte p-Halbleiterschicht resultiert. In analoger Weise (Anoxidation, Photolackbeschichtung, Schablonenbelichtung, Lösung und Abätzen, Abscheidung von Stickstoffgruppenelementen bzw. von Metallen wie Al bzw. von Nichtmetallverbindungen wie SiC, SiN) erzeugt man gezielt anders strukturierte Schichten, welche n-halbleitend, leitend (Verknüpfung der nund p-Regionen) sowie nichtleitend sind. Hierdurch kann man überaus viele pn-Dioden und npn-Transistoren mit |im- bis sub-|im-Strukturierung hoher Präzision in großer Packungsdichte auf kleinen Halbleiterscheibchen (Chips) zu Schaltkreisen integrieren („Speicherkapazitäten": > 1 6 Bytes pro Chip). Amorphes Silicium könnte in naher Zukunft nach den Vorstellungen des deutschen Forschers N. Auner neben dem nicht unbegrenzt in Form von Kohle, Erdöl bzw. Erdgas verfügbaren Kohlenstoff (vgl. S. 862) als Energieträger der Weltwirtschaft in wachsendem Maße bedeutungsvoll werden (die Energiedichte [kJ/cm 3 ] ist für Kohlenstoff und Silicium nahezu gleich). Es würde solarthermisch in sonnenreichen, unbevölkerten Wüstenländern aus konventionellen Sanden (80-90 % a-Quarz) nach zu entwickelnden ,,kohlenstoffunabhängigen" Verfahren (vgl. S. 920) gewonnen, dann unproblematisch zu bevölkerten Orten hintransportiert. Dort könnte man ihm durch Oxidation mit Luft oder Wasser gemäß (1a), (2a) bzw. (3 a) die gespeicherte Energie entziehen. Hierbei würde - anders als im Falle der Nutzung von Kohlenstoff als Energieträger, der ja ebenfalls bei Fehlen natürlicher Quellen aus seinem Dioxid regeneriert werden müsste - die Bildung des umweltschädigenden Klimagases C O vermieden. Auch entstünde die als Basissubstanz vieler Stoffe genutzte hochdisperse Kieselsäure Si0 2 (s. dort) und das als Keramikmaterial geschätzte Nitrid Si3N4 (s. dort). Zudem ließe sich Si3N4 gemäß (2b) zu Ammoniak hydrolysieren, das nicht nur einen technisch wichtigen Rohstoff darstellt, sondern seinerseits in Stickstoff und Wasserstoff spaltbar ist. Der - auch direkt aus amorphem Silicium und Wasser zugängliche - Wasserstoff ist nach Expertenmeinung der eigentliche Energieträger der Zukunft ,,vor Ort" (da sein in flüssiger Form zu erfolgender Transport mit großen Unkosten und Gefahren (Knallgasexplosion!) verbunden ist, empfiehlt sich die solarthermische Gewinnung von H 2 aus H 2 O in sonnenreichen, unbevölkerten Wüstenländern weniger; die bisherige H 2 -Erzeugung aus Kohle, Erdöl, Erdgas ist mit einer CO2-Bildung verknüpft, vgl. S.262).
2.1.6
Silicium-Ionen. Silicide
Überblick Zum Unterschied vom Kohlenstoff (s. dort) sind vom Silicium bisher keine elektrovalenten Verbindungen mit kationischem Silicium bekannt. Kationen Si^" (n bis über 100) bilden sich jedoch aus Siliciumdampf in den Ionenquellen eines Massenspektrometers (vgl. S. 62). Andererseits existieren eine Reihe von Me-
• 924
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
tallsiliciden MmSi„ (M insbesondere Alkali- und Erdalkalimetalle), in welchen - extrem formuliert - anionisches Silicium Si"_ vorliegt und die man zu den Zintl-Phasen zählt (vgl. S.925). Silicide2 6 -29 Man kennt u. a. folgende binäre Alkali- und Erdalkalimetallsilicide („salzartige Silicide"): LiS NaSi KSi RbSi CsSi
L112S17
NanSin ^12S17
Rb^Si^ Cs^Si^
_
—
(N S ) (K S ) (R S ) CS
Mg2Si Ca2Si Sr2Si B Si
C S SS BS
BS
CaSi SrSi BaSi
CaS SrS BaS
Es existieren darüber hinaus siliciumarme Silicide Li22Si5, Li10Si3, Li13Si4, Li14Si6, siliciumreiche Silicide, MJ6S25, MgSi44, M5-12S136 (M1 = Na, K, Rb, Cs) sowie ternäre Silicide wie BaMg2Si2 oder Ba4Li2Si6 mit zwei unterschiedlichen s-Block-Elementen. Bis auf blaues Li14Si6 sind sie metallisch grau bis silberhell, hochschmelzend (z.B. Ca2Si/CaSi/CaSi2: Smp. = 920/1220/1033°C) und leiten den Strom mäßig bis schlecht. Sie lassen sich aus den betreffenden Elementen unter N2- und 0 2 -Ausschluss bei höheren Temperaturen oder durch thermischen Abbau von MJSi (-> siliciumreiche Silicide) gewinnen und enthalten u.a. Silicid-Ionen des Typs Si 4_ (isolierte Ionen, z.B. in M 2 Si), Si2" (Hanteln, z.B. in BaMg2Si2 bzw. in MIISi3 neben Si4~), Si^" (Tetraeder, z. B. in MJSi mit M1 = Na bis Cs sowie in BaSi2), (an einer Seite geöffnete Tetraeder, z. B. in Ba3Si4), Si' _ (planare, gleichseitige Si5-Ringe, z. B. in Li12Si7 neben Si4"-Sternen), Si™" (planare, gleichseitige Si6-Ringe, z. B. in Ba4Li2Si6), Si," (überkappte quadratische Antiprismen, z. B. in Cs4Si9 bzw. in M}2Si17 neben Si4~-Tetraedern), [Si 2_ ] x (planare Zick-Zack-Ketten, z. B. in M n Si), [Si~] x (gewellte Sechsringschichten, z. B. in CaSi2; dreidimensionaler Si-Verband, z. B. in LiSi; SrSi2, vgl. S. 656). Bezüglich weiterer Einzelheiten zur Struktur der angesprochenen Silicide vgl. ZintlPhasen (unten), bezüglich ihrer Protolyse (Bildung von Silanen) S. 940 und 941, bezüglich ihrer Oxidation (Überführung von Ca2Si in reaktives Silicium [Si]* mit Chlorwasserstoff, in Siloxen [SijH^OH^]., mit Salzsäure, in Siliciumnitrid Si2_3N mit Ammoniumbromid) S. 920, 941 und 982. Neben den erwähnten mehr oder weniger hydrolyseempfindlichen ,,salzartigen" Siliciden der Alkaliund Erdalkalimetalle gibt es wie im Falle der homologen Carbide (S. 884) auch „kovalente" Silicide wie B 12 Si n (n = 1 - 4 ; vgl. S. 1046) sowie hydrolysebeständige, den Strom mehr oder weniger leitende, weniger hoch als analoge Carbide oder Boride schmelzende, spröde „metallartige" Silicide von fast allen Übergangsmetallen (Ausnahmen: Ag, Au, Zn, Cd, Hg; auch Metalle ab der III. Hauptgruppe bilden keine Silicide). Sie werden durch Zusammenschmelzen der Elemente und vereinzelt durch Coreduktion von Si0 2 und Metalloxiden mit Kohlenstoff oder Aluminium dargestellt und weisen die Zusammensetzungen M„Si bzw. MSi„ (n im Bereich 1 bis 6) auf, z.B.: M s Si (M = Cu), M 3 Si (M = V, Cr, Mo, Mn, Fe, Pt, U), M 2 Si (M = Zr, Hf, Ta, Ru, Rh, Ir, Ni, Ce), M 3 Si 2 (M = Hf, Th, U), M S (M = Ti, Zr, Hf, Fe, Ce, Th, Pu), MSi 2 (M = Ti, V, Nb, Ta, Cr, Mo, W, Re). Uran zeigt eine besonders große Verbindungsvielfalt und bildet Beispiele für wesentliche Silicid-Typen, nämlich: U 3 Si mit isolierten Si-Atomen (Cu 3 Au-Legierungsstruktur; elektrisch analog U 3 Si gut leitende Legierungen sind auch V3Si, Cr 3 Si, Mo 3 Si mit ß-Wolfram-, Fe3Si mit kubisch-innenzentrierter, Mn 3 Si mit kubisch-flächenzentrierter Struktur), U 3 Si 2 mit Si2-Inseln (analog z.B. Hf 3 Si 2 , Th 3 Si 2 ), USi mit Si-Ketten (analog z.B. TiSi, ZrSi, HfSi, ThSi, CeSi, PuSi), o:-USi2 mit einem Si-Raumverband (analog z.B. a-ThSi 2 ), ß-USi 2 mit planar-hexagonalen Si Schichten (analog bei anderen Actinoiden und auch Lanthanoiden). Wegen ihrer niedrigen Schmelzpunkte und ihrer Sprödigkeit eignen sich Silicide weniger als Hartstoffe (vgl. Anm. 76 , S.985). Wegen ihrer Zunderbeständigkeit werden sie aber als Oxidationsschutzschichten auf hochschmelzenden Legierungen verwendet. MoSi 2 dient als Werkstoff für elektrische Heizleiter (Betrieb bis 1600 °C an der Luft möglich).
29
Literatur. B. Atonsson, T. Lundström, S. Rundquist: „Borides, Silicides, Phosphides", Methuen, London 1969; H. Schäfer, B. Eisenmann, W. Müller: „Zintl-Phasen: Übergangsformen zwischen Metall- und Ionenbindung", Angew. C h e m 85 (1973), 742-760; Int. E d 12 (1973) 694; H. Schäfer, B. Eisenmann: „On the Transition between Metallic and Ionic Bonding: Compounds of the Non-Noble Metals with the Metalloids and Concepts to Understand their Structures", Reviews in Inorg. C h e m 3 (1981) 29-101; J.D. Corbett: , ,Polyanionische Cluster und Netzwerke der frühen p-Metalle im Festkörper: jenseits der Zintl-Grenze", Angew. C h e m 112 (2000) 682-704; Int. E d 39 (2000) 670; T.F. Fässler, S.D. Hoffmann: „Endohedrale Zintl-Ionen: intermetalloide Cluster", Angew. C h e m 116 (2004) 6400-6406; Int. E d 43 (2004) 6242.
2. Das Silicium
2.1.7
925
Zintl-Phasen26-29
Bei der Kombination der links im Periodensystem stehenden Alkalimetalle u n d Erdal kalimetalle M n (I., II. H a u p t g r u p p e ) mit rechts stehenden Elementen E ( I I I . - V I . H a u p t g r u p pe) ergeben sich vielfach Halbleiter M m E n (M = M 1 , Vi M n ) mit Elementteilstrukturen, die einen heteropolaren Aufbau der Verbindungen im Sinne von Mm+E™~ nahelegen. D e m g e m ä ß verhalten sich etwa Elementatome E in Verbindungen der Zusammensetzung M ' E strukturell wie Elementatome der nächsthöheren Elementgruppe u n d mithin so, als wären sie durch A u f n a h m e eines Alkalimetallelektrons in Anionen übergegangen Z. B. bilden Tl-Atome in NatriumthallidNaTl eine Diamantstruktur [Tl"].,, in deren Lücken die Na + Ionen eingebettet sind (analoge Diamantstruktur - zum Teil verzerrt - besitzen auch die Al-, Ga-, In-, Tl-Atomanordnungen in LiAl, LiGa, LiIn, NaIn, SrAl2, CaIn 2 , SrIn2, SrTl2, BaTl2). Im Natriumsilicid NaSi bilden die Si-Atome negativ geladene, mit den P4-Tetraedern des weißen Phosphors isoelektronische [Si ~]4- Tetraeder, deren Ladungen durch die zugeordneten vier Na + -Ionen kompensiert werden (analoge Tetraederstrukturen besitzen viele andere Alkalimetallverbindungen M J E von Elementen E der IV. Hauptgruppe, z. B. NaGe, NaSn, NaPb, KSi, KGe, KSn, KPb, RbSi, RbGe, RbSn, RbPb, CsSi, CsSn, CsPb). Auch die Schichtstruktur des schwarzen Phosphors (genauer: des As^-analogen Hochdruckphosphors, S. 747) kann von P-isoelektronischem Si" ausgebildet werden. Z. B. enthält Calciumdisilicid CaSi2 derartige [Si Schichten. Unter den Verbindungen M J E von Elementen der V. Hauptgruppe bilden etwa die Sb-Atome in Natriumantimonid NaSb negativ geladene, mit Tellurketten Te., isoelektronische [Sb "].,Ketten (analoge P-, As- und Sb-Struktur in LiP, NaP, KP, LiAs, KSb, RbSb, CsSb), von Elementen der VI. Hauptgruppe die Se-Atome in Natriumselenid NaSe = Na2Se2 negativ geladene, mit Brommolekülen Br2 isoelektronische [Se—Se] 2- -Hanteln (analog O-, S-, Se-, Te-Struktur in M 2 0 2 , M2S2, K2Se2, Na2Te2). Bezüglich weiterer Verbindungen zwischen Alkali- und Erdalkalimetallen und B (S. 1048), C (S. 884), Si (S.924), Ge/Sn/Pb (S.1007), N (S.658), P (S.755), As/Sb/Bi (S.829), O (S. 508), S (S. 556), Se/Te/Po (S. 624) vgl. bei den jeweiligen Elementen. M a n bezeichnet die angesprochenen Verbindungen aus Alkali- bzw. Erdalkalimetallen u n d Elementen der I I L - V L - H a u p t g r u p p e - falls es sich bei letzteren u m ein Metall oder Halbmetall handelt - als „Zintl-Phasen". Hierunter versteht m a n ganz allgemein intermetallische Verbindungen mit stark heteropolaren Bindungsanteilen zwischen den Legierungspartnern, deren Struktur im Einklang mit einer ionischen Bindungsformulierung steht, wobei die strukturbestimmende Bindigkeit der A t o m - , , A n i o n e n " untereinander aus der auf S. 133 behandelten (8-N)-Regel folgt („Regel von Eduard Zintl" in der durch W. K l e m m sowie H . Schäfer erweiterten Fassung). So ergeben sich etwa in Ca2Si, BaMg2Si2, CaSi sowie CaSi2/BaSi2 die Atombindigkeiten von Si 4- (isoelektronisch mit Edelgasen), S (isoelektronisch mit Halogenen), S (isoelektronisch mt Chalkogenen sowie Si" (isoelektronischmit Pentelen) nach der (8-N)-Regel (N = Zahl der Atomaußenelektronen = 8, 7, 6 sowie 5) zu null, eins, zwei sowie drei. Dementsprechend liegt Silicium (vgl. Fig. 205 a, b, c, d, e) in Ca2Si als isoliertes Si4~-Ion neben Ca 2+ vor (anti-PbCl2-Struktur), während es in BaMg2Si2-Hanteln (vergleichbar mit Cl2-Molekülen), in CaSi Zick-Zack-Ketten (vergleichbar mit den Elementketten in polymerem Schwefel, Selen, Tellur) sowie in CaSi2 gewelle Sechsringschichten (vergleichbar mit den Elementschichten im grauen Arsen, Antimon, Bismut) bzw. in BaSi2 Siliciumtetraeder (vergleichbar mit weißem Phosphor) bildet. Die unterschiedliche Struktur der Siliciumbaueinheiten analog zusammengesetzter Silicide CaSi2 und BaSi2 geht hierbei auf Gittereffekte zurück. Letztere sind auch dafür verantwortlich, dass die dreibindigen Anionen Si" im ebenfalls formgleichen SrSi2 einen dreibindigen Netzverband bilden, der bei den mit Si" isoelektronischen Elementen der V. Hauptgruppe bisher nur bei polymerem Stickstoff (S. 656) beobachtet wurde. Auchplanare Anordnungen der Si-Zickzack-Ketten in CaSi zum Unterschied vom helicalen Bau der S.,-, Se.,- und Te^-Ketten geht auf Gittereffekte zurück. Bei vielen binären Zintl-Phasen 30 ergeben sich - anders als im Falle der bisher besprochenen - bei ionischer Formulierung keine ganzzahligen, sondern gebrochene Formalladungen für die Atome des elektronegativen Legierungsteils. Dies rührt teils daher, dass wie im Falle von Ca5Si3 (Formalladung — 10/3 pro Si) nebeneinander unterschiedliche anionische Baueinheiten vorliegen (isolierte Si4_ - neben hantel3 0 Es sind auch ternäre Zintl-Phasen bekannt, die neben elektropositiven Alkali- bzw. Erdalkalimetallen gleichzeitig zwei verschiedene elektronegative Partner enthalten (der zweite elektronegative Partner kann auch ein Element der I. bzw. II.Nebengruppe sein). Letztere bilden meist komplexe Anionen miteinander (z.B. SiAs®"-Tetraeder in Ba4SiAs4, Te3Si—SiTe®~-Baueinheiten in K6Si2Te6 bzw. CuSb®"-Einheiten (linear) in K 5 CuSb 2 .
• 926
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele") :Si: (a) [ S i 4 l (in M 2 S i )
(e) [Si"] 4
(d) [Si"] x (b) [ S i | " ] (in BaMg 2 Si 2 )
(in M
Si)
(in C aSi 2)
(in M ' S i , BaSi $ Si
Si—Si
(f) [Si 4 6 "] (in Ba3Si 4 )
Fig. 205
(in Ba 4 Li2Si 5)
(h) [ S i | - ] (in Lii2 Si 7)
:Si|
Si
iSi:
(i) [Si 9 4 - ] (in C s 4 Si 9 )
Siliciumbaueinheiten in einigen Siliciden.
artigen Si 2 "-Ionen), teils daher, dass wie im Falle von Ba3Si4 (Formalladung — 3/2 pro Si) die anionische Baueinheit Atome unterschiedlicher Bindigkeit und damit unterschiedlicher Ladung enthält (zwei- und drei-bindige Si-Atome; vgl. Fig.205 f). Auch dann, wenn die Bindungssituation in der anionischen Baueinheit nicht durch die ,,Oktettregel" ,,(8-N)-Regel";N = Elementhauptgruppe), sondern durch andere Elektronenabzählregeln zu beschreiben ist, ergeben sich gebrochene Formalladungen für die Atome der betreffenden Bindungseinheit. So stehen von den 34 Außenelektronen des gleichseitigen planaren Si^-Ringanions in Ba4Li2Si10 (Formalladung — 6/10 pro Si; «< D6h-Symmetrie) 24 Elektronen für 6^-Bindungen und sechs n-Elektronenpaare zur Verfügung (Fig.205g), während die verbleibenden 10 Elektronen - entsprechend der ,,Aromatenregel" (,, (4n + 2)-Regel";n = ganze Zahl, vgl. S. 888) - ein aromatisches 107i-Elektronensystem bilden (n = 2). Analoge Ringstrukturen besitzen die mit Si^0- isovalenzelektronischen Ionen Ge^ 0- , PJ" und AsJ" in Ba4Li2Ge10, K4P6, Rb4P6, Cs4P6, Rb4As6. Des weiteren kommt dem gleichseitig-planaren Ring-Anion Si®~ (vgl. Fig.205h; «< D a -Symmetrie), das in Li12Si7 (Formalladung 7/12 pro Si) neben Si4~-Sternen vorliegt, ein aromatischem 6re-Elektronensystem (n = 1 ) zu (mögliche Ionenverbindungsformel: [ L i + ] 9 [ L i + ] 5 [ S i 4 - ] 2 ) . Mit Si®~ isoelektronische Ge^-Ringe liegen in Li u Ge 6 vor. Schließlich ist die Struktur des überkappt-antiprismatischen Si9~-Clusteranions in Cs4Si9 (vgl. Fig. 205i; Formalladung — 4/9 pro Si; C4v-Symmetrie) über die - für Elektronenmangelverbindungen gültige ,, Wade'sche Clusterregel" (,, (2n + m)-Regel"; n = Zahl der Clusteratome, m = gerade Zahl) ableitbar (die nach Abzug der neun n-Elektronenpaare = 18 Elektronen von den vorhandenen 40 Außenelektronen verbleibenden 22 Elektronen reichen nicht für Zweielektronen-Zweizentren-Bindungen zwischen allen benachbarten Si-Atomen aus, sodass also Elektronenmangel herrscht) 31 . Analoge Clusterstrukturen bilden auch die mit Si9" isoelektronischen Ionen Ge 9 ", Sn9~ und Pb9~ in Rb 4 Ge 9 , Cs4Ge9, M52(Sn9)(Sn4)2, Rb 4 Pb 9 , Cs4Pb9. Ausnahmen beobachtet man auch dann, wenn die Elektronegativitätsdifferenz der Legierungspartner in M M ' gering ist (M = Li bzw. Mg und M' = Element der III. bzw. schweres Element der IV. und V. Hauptgruppe) oder wenn der Anteil eines Legierungspartners besonders hoch ist. So enthalten etwa 3
i Nach den Wade'schen Regeln führen im Falle eines neutralen oder geladenen nackten Elementclusters (2n + m) Clusterelektronen ( = Summe der Außenelektronen aller Clusteratome, abzüglich zwei Elektronen (n-Elektronenpaar) für jedes Atom) zu geschlossenen Clustern (,,closo-Cluster"), falls m = 2 ist. Hierbei besetzen 5, 6, 7, 8, 9, 10 Clusteratome die Ecken einer trigonalen Bipyramide, eines Oktaeders, einer pentagonalen Bipyramide, eines Dodekaeders, eines dreifach-überkappten trigonalen Prismas, eines zweifach-überkappten quadratischen Antiprismas. Bei m = 4 („nido-Cluster") fehlt eine Ecke, bei m = 6 („arachno-Cluster") fehlen zwei Ecken des closo-Clusters (bezüglich Einzelheiten vgl. S. 1060). Dem Clusterion Si^ - k o m m t hiernach gemäß seiner 22 = (2n + m) = 2 x 9 + 4 Clusterelektronen eine nido-Struktur zu (zweifach-überkapptes quadratisches Antiprisma abzüglich einer Kappe = überkapptes quadratisches Antiprisma; ebenfalls gewonnenes closo-Sij~ ist verzerrt-dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch gebaut). In analoger Weise ergibt sich für das auf S. 828 behandelte Kation Bi^ (14 Clusterelektronen, m = 4) eine nido-Struktur (Oktaeder - 1 Kappe = quadratische Pyramide), für Bij + (12 Clustelektronen, m = 2) eine closoStruktur (trigonale Bipyramide; die mit Bij + isovalenzelektronischen Ionen G e j ~ , Sn^ - , Pbj~ haben analogen Bau), für Bi^+ (16 Clusterelektronen, m = 4) eine nido-Struktur (pentagonale B i p y r a m i d e 1 Kappe = verzerrtes Oktaeder), für B (22 Clusterelektronen 6) eine arachno-Struktur (zweifach-überkapptes quadratisches Antiprisma Kappen quadratisches Antiprisma).
2. Das Silicium
927
die alkalimetallreichen Lithiumsilicide Li22Si5 bzw. Li10Si3 (Formalladungen —22/5 bzw. — 10/3 pro Si) isolierte Si-Atome und die Silicide Li14Si6 bzw. Li13Si4 (Formalladungen —14/6 bzw. —13/4 pro Si) Si2-Hanteln (in Li13Si4 zusammen mit Si-Atomen). In den alkalimetallarmen Siliciden M^Si^, MgSi44 bzw. Mi12Si136 (M1 = Na, K, Rb, Cs) liegen wie in elementarem Silicium dreidimensionale Si-Raumnetzverbände vor, deren Lücken Alkalimetallionen besetzen (,,Clathratstrukturen"), vgl. S. 530).
Die Bindungen zwischen den elektropositiven und elektronegativen Verbindungspartnern der Zintl-Phasen stellen Übergänge zwischen der Metall- und Ionenbindung dar. Die Verbindungen mit den Halbmetallen der VI. Hauptgruppe sind in ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften den typischen Salzen aus Alkali- bzw. Erdalkalimetallen und Nichtmetallen der VI. und VII. Hauptgruppe noch sehr ähnlich. Die Legierungen mit Elementen der V. Hauptgruppe erhalten mit wachsender Ordnungszahl des Elements zunehmend metallisches Aussehen und Leitvermögen. Dieser Gang setzt sich bei den intermetallischen Phasen mit Elementen der IV. und III. Hauptgruppe verstärkt fort. Insbesondere in letzteren Fällen stellt eine ionische Verbindungsformulierung natürlich eine extreme Bindungsbeschreibung dar Der für alle Zintl-Phasen typische negativierte Bindungszustand eines Legierungspartners dokumentiert sich nicht nur in der Verbindungsstruktur, sondern u. a. auch in der Mischkristallbildung einiger ZintlPhasen mit ,,echten" Salzen (z.B. enthält Sr3SnO = Sr2Sn • SrO isolierte Sn4~- neben O 2 "-Ionen) bzw. in der Löslichkeit mancher Zintl-Phasen in polaren Medien wie flüssigem Ammoniak (z. B. Bildung von Na(NH3)+-Kationen und Pb^-Anionen aus Na4Pb9 in fl. N H ) oder in der - für Salze typischen, für Legierungen atypischen - Volumenverminderung bei der Bildung aus den Elementen sowie der hohen hierbei freiwerdenden Bildungsenthalpie
2.1.8
Silicium in Verbindungen26^2
Oxidationsstufen und Koordinationszahlen Gebundenes Silicium ist im allgemeinen vierwertig, wobei es meist die Oxidationsstufe + 4 wie in SiH 4 , SiF4, SiO 2 , Si 3 N 4 oder SiC, seltener die Oxidationsstufe — 4 wie in Ca 2 Si aufweist. Zweiwertig tritt es mit der Oxidationsstufe + 2 u. a. in den Verbindungen SiH 2 , SiF2, SiCl 2 , SiO oder SiS auf, die nur bei hohen Temperaturen zugänglich sind und unterhalb 1000°C disproportionieren. Mit der Matrixtechnik kann man sie bei tiefen Temperaturen isolieren (bezüglich bei Raumtemperatur isolierbarer Silylene SiX 2 vgl. S.931). Entsprechendes gilt für drei- und einwertiges Silicium der Oxidationsstufen + 3 und + 1 (z. B. Bildung von SiH und Si neben Si durch Photolyse von Si in der Argon-Tieftemperaturmatrix). Bei spiele für drei-, zwei- und einwertiges Silicium mit den Oxidationsstufen — 3 , - 2 und — 1 sind etwa die „Silicide" BaMg 2 Si 2 , CaSi und CaSi 2 : -4
Ca 2 Si
-3
BaMg 2 Si 2
-2
-1
±0
CaSi
CaSi 2
Si
+1
(SiCl)x
+2
+3
+4
SiO
Si2 Cl 6
S/0 2
Als Koordinationszahlen betätigt Silicium in seinen Verbindungen eins (z.B. in matrixisoliertem :Si=O), zwei (linear in matrixisoliertem 0 = S i = O ; gewinkelt in gasförmigem :SiX2), drei (planar in R 2 Si=Y; pyramidal in SiX3), vier (tetraedrisch in SiX 4 , Quarz Si0 2 , Silicium-I; wichtigste Koordinationsgeometrie), fünf (trigonal-bipyramidal in PhSi (1,2-O2C6H4)2 ; quadratisch-pyramidal in FSi (1,2-O2C6H4)2 ), sechs (oktaedrisch in SiF2", Stishovit Si02> Silicium-II), sieben (dreifach-überkappt-tetraedrisch in HS(o-C 6 H 4 CH 2 NMe 2 ) 3 ), acht (kubisch in Mg2Si, hexagonal-bipyramidal in Silicium-V; vierfach-überkappt-tetraedrisch in H2Si {o,o-C 6 H 3 (CH 2 NMe 2 )} 2 ), neun (überkappt-quadratisch-antiprismatischin fisSiCo^CO)^".), zehn (pentagonal-prismatisch in Cp*2Si, kompliziert in TiSi2, Q S 2 ) , zwölf (näherungsweise antikuboktaedrisch in Silicium-VII). 32 Literatur. H. Schmidbaur: , Kohlenstoff und Silicium", Chemie in unserer Zeit 1 (1967) 184-188; H. Bürger: ,, Anomalien in der Strukturchemie des Siliciums- wie ähnlich sind homologe Elemente?", Angew. Chemie 85 (1973) 519-532, Int. E d 12 (1973) 474; R. Janoschek: ,,Kohlenstoff und Silicium - wie verschieden können homologe Elemente sein?" Chemie in unserer Zeit 21 (1988) 128-138; H. Bock: ,,Grundlagen der Siliciumchemie: Molekülzustände Silicium enthaltender Verbindungen", Angew. C h e m 101 (1989) 1659-1682; Int. E d 28 (1989) 1627; L. Vilkov, L.S. Khaikin: ,,Stereochemistry of Compounds Containing Bonds between Si, P, Cl and N or O", Topics Curr. C h e m 53 (1975) 25-70. P. Jutzi: ,,Die klassische Doppelbindungsregel und ihre vielen Ausnahmen", Chemie in unserer Zeit 15 (1981) 149-154; H. Bürger, R. Eujen: ,,Low Valent Silicon", Topics Curr. C h e m 58 (1974) 1 - 4 1 .
• 928
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Vergleich von Silicium und Kohlenstoff2 6 32 Allgemeines Bezüglich ihrer Bindungsverhältnisse und Chemie weisen Kohlenstoff und Silicium sowohl Analogien als auch Diskrepanzen auf Analogie besteht z.B. in der s 2 p 2 -Elektronenkonfiguration beider Atome im Grundzustand ( 3 P 0 -Grundterm; vgl. S.96) und in der jeweils etwa gleich großen Energiedifferenz zwischen s- und p-Valenzorbital (5.3 bzw. 5.4 eV; vgl. Tab. 9 auf S. 94). Auch bilden Kohlenstoff und Silicium in der Regel analog zusammengesetzte Verbindungen (z.B. EH 4 , E 2 H 6 , EX 4 , EO, E O ) , die hinsichtlich ihrer Eigenschaften zudem in mancher Beziehung verwandter sind, als analog zusammengesetzte Verbindungen der rechts von Si/C stehenden Elementpaare N/P, O/S und F/Cl. Zum Beispiel weisen die Wasserstoffverbindungen N H , H O , HF innerhalb der Hydride E H , EH 2 , EH von Elementen der V., VI. und VII. Hauptgruppe anomal hohe Schmelz- und Siedepunkte auf (vgl. S. 160), wogegen in der IV. Hauptgruppe CH 4 hinsichtlich dieser Eigenschaft nicht aus der Reihe der homologen Wasserstoffverbindungen E H herausfällt (Sdp. für CH 4 /SiH 4 /GeH 4 /SnH 4 /PbH 4 = - 1 6 1 . 5 / - 112.3/ — 88.4/- 52.5/- 13 °C). Auch nimmt in der V. und VI. Hauptgruppe die Dissoziationsenergie DE der EEEinfachbindungen beim Übergang von H 2 N — N H bzw. HO—OH zu dem schwereren Homologen H 2 P — P H bzw. HS—SH entgegen der Regel zu (vgl. S. 310), während sich diese im Falle der Wasserstoffverbindungen H E — E H der Elemente der IV. Hauptgruppe - der Erwartung entsprechend - in Richtung H C " C H , HSi—SiH 3 erniedrigt (DE für C 2 H 6 /Si 2 H 6 /Ge 2 H 6 ca. 370/310/250 kJ/mol).
Des weiteren besitzt Silicium analog Kohlenstoff eine ausgesprochene Tendenz zur Bildung von Elementketten-, -ringen und -netzwerken wie u. a. aus den polymorphen Siliciummodifikationen Si„ (S. 921), den Siliciden Si£" (S. 924), den Silanen S i J ^ (S. 940) und ihren Organylderivaten (S. 994), den Halogensilanen Si^X^ (S. 944) und einer Reihe niedrigwertiger Sauerstoffsäuren des Siliciums hervorgeht Die Diskrepanzen der Eigenschaften von Kohlenstoff- und Siliciumverbindungen gehen andererseits - wie bei den Verbindungen der links und rechts von C/Si im Periodensystem stehenden Elementpaare B/Al, N/P, O/S, F/Cl - u. a. auf die deutliche Erniedrigung der Elektronegativität (S. 146), die Verringerung der Hybridisierungswilligkeit des s- Valenzorbitals (S. 365), die Abnahme der Neigung zur Ausbildung von n-Bindungen (S. 932) sowie die Zunahme der Möglichkeit zur Ausbildung von Dreizentren-Vierelektronen-Bindungen beim Übergang vom leichteren zum schwereren Element zurück. Als Folge hiervon unterscheiden sich gesättigte Silane ^SiX, hypovalente Silane SiXÄ (« = 3, 2, 1) 33 , ungesättigte Silane ^Si=SiC, —Si=Si—, sowie hyperkoordinierte Silane SiXÄ (« = 5, 6, 7, 8) 33 und ihre schweren Homologen hinsichtlich der strukturellen, elektronischen und chemischen Eigenschaften auffallend von den homologen Kohlenstoffverbindungen (hypervalente C-Verbindungen mit elektronegativen Resten X sind unbekannt). In der Tat ist es eher das von Kohlenstoff und seinen Verbindungen abweichende Verhalten des Siliciums und seiner Verbindungen, das siliciumhaltige Massengebrauchsgüter wie Halbleiter (S. 923), Silicate (Beton, Ton, Keramik, Gläser, Wasserglas) bzw. Silicone nützlich machen. Wie nachfolgend näher erläutert wird, können die Diskrepanzen zwischen Kohlenstoff- und Siliciumverbindungen im einzelnen so eingreifend sein, dass sich die Gruppenverwandtschaft beider Elemente gegebenenfalls nur noch schwer erkennen lässt. Tatsächlich fällt aber jeweils lediglich eine besonders starke Eigenschaftsänderung ins Auge, die sich - schwächer ausgeprägt, doch vielfach sogar gleichsinnig- bei den schwereren Homologen des Siliciums fortsetzt
Gesättigte Verbindungen Das Silicium der Silane SiX4 ist zwar analog dem Kohlenstoff der Alkane CX 4 tetraedrisch (bzw. bei ungleichen Substituenten X verzerrt-tetraedrisch) koordiniert, doch führt der beim Übergang von CH- zu SiH-Bindungen aufgrund der Tatsache, dass die Elektronegativität von Wasserstoff (2.20) zwischen der von Kohlenstoff (2.50) und Silicium (1.74) liegt, zur Umkehr (!) der Bindungspolarität. Methan C H und Silan SiH 4 mit den charakteristischen Gruppierungen und S weisen demzufolge unter schiedliche Reaktivitäten auf (z.B. Wasserstoffentwicklung bei Einwirkung der Säure H + nur in letzterem Falle). Ganz allgemein ist der Übergang von CX- zu SiX-Bindungen mit 33
hypo (griech.) = unter, weniger als gewöhnlich; hyper (griech.) = über, mehr als gewöhnlich.
2. Das Silicium
929
einer deutlichen Änderung der Bindungspolaritäten verbunden (Polaritätsumkehr für X = H, B, Ge, P, As, Te, I, At). Sie hat im Falle elektronegativerer Elemente X vergleichsweise kurze SiX-Bindungsabstände, hohe SiX-Bindungsenergien, große SiXSi-Bindungswinkel sowie kleine X-Basizitäten in Verbindungen mit SiX- oder SiXSi-Gruppierungen bzw. große XH-Aciditäten in Verbindungen mit SiXH-Gruppierungen zur Folge So vergrößern sich die Bindungswinkel a an N und O beim Übergang von den Methyl- zu den Silylverbindungen des Stickstoffs bzw. Sauerstoffs (pyramidales Trimethylamin (CH3)3N mit a = 110.6°; planaresTrisilylamin (SiH 3 ) 3 Nmita = 120°; gewinkelterDimethylether(CH 3 ) 2 Omita = 111.5°; gewinkelter Disilylether (SiH3)2O mit a = 144.1°). Des weiteren ist die Bindungsenergie der SiN-, SiO- bzw. SiFEinfachbindung (ca. 335, 444, 595 kJ/mol) größer als die der CN-, CO- bzw. CF-Einfachbindung (ca. 305, 358, 489 kJ/mol) und die Länge ersterer Bindungen kleiner, als es - trotz Berücksichtigung der Schomaker-Stevenson-Korrektur (S.147) - der Summe der kovalenten Radien der an den Bindungen beteiligten Atome entspricht. Schließlich stellt Trisilylamin (SiH3)3N eine schwächere Base als Trimethylamin (CH N, Silanol SiOH eine stärkere Säure als Methanol COH dar Man hat zur Erklärung des auffallendes Gangs der betreffenden Elementeigenschaften beim Übergang von den vierwertigen gesättigten Kohlenstoff- zu analogen Siliciumverbindungen die beim Kohlensto nicht gegebene - Möglichkeit zur Betätigung von d-Atomorbitalen der Valenzschale beim Silicium und damit zur Ausbildung von djvBindungen neben ^-Bindungen zwischen Si und X herangezogen („Doppelbindungen" mit (7- und re-Bindungsanteil). Die Mesomerieformel [a GeH2
119.8
> 2 8 5 kJ > 105 kJ
:SnH 2
91.1
+ 100 k
.
• SnH 2
114.9
k
90.5
109.8
• 932
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Die Resonanzstabilisierung ist bei Singulett-Carbenen größer als bei Singulett-Silylenen und bedingt bei ersteren zum Teil sogar einen Singulett-Molekülgrundzustand (:CF2, :C(OR)2, :C(NR2)2). Elektropositive Substituenten bewirken eine Triplett-/Singulett-Energieaufspaltung bei den Triplett-Carbenen und eine entsprechende Verkleinerung bei den Singulett-Silylenen. Allerdings führen nur sehr elektropositive Substituenten zu Silylenen mit Triplett-Molekülgrundzustand (SiLi2, Si(BeH)2, Si(SiR3)2 mit raumerfüllenden Gruppen R). Ganz allgemein wird ein Kohlenwasserstoff nach H-Substituition gegen F, OR, NR2 siliciumwasserstoffähnlicher und ein Siliciumwasserstoff nach H-Substituition gegen SiR3 kohlenwasserstoffähnlicher. Eine hohe mesomere Stabilisierung erfahren die Spezies :EH 2 (E = C bis Pb) nach Ersatz beider H-Atome gegen Aminogruppen. Verbindungen wie :E(NR2)2 (R = raumerfüllend) oder :E(—NR—CH 2 —CH 2 —NR—) bzw. :E(—NR—CH=CH—NR—) sind aus diesem Grunde unter Normalbedingungen isolierbar (vgl. S. 997). Auch die Substitution von H-Atomen in CH 2 durch zweibindige Reste mit freiem Elektronenpaar wie O bzw. NR führt - anders als die entsprechende Substitution der H-Atome in SiH2, GeH2, SnH2, PbH 2 - zu isolierbarer Spezies, nämlich zu Kohlenmonoxid : C = O : bzw. Isonitrilen : C = N R .
Ungesättigte Verbindungen. Kohlenstoff und Silicium unterscheiden sich durch ihre unterschiedliche Neigung zur Mehrfachbindungsbildung (pj)^-Bindungsbildung). Sie ist im ersten Falle sehr hoch, im zweiten sehr gering (ungesättigte Si-Verbindungen sind noch instabiler als entsprechende P-Verbindungen; die Stabilität sinkt in Richtung ungesättigter Ge-, Sn- und Pb-Verbindungen noch weiter; vgl. S. 1038). So kommt es, dass ungesättigten monomeren Verbindungen des Kohlenstoffs wie Ethylen H 2 C—CH 2 , Ketonen R 2 C—O, Kohlendioxid O—C—O, Calciumcarbid [Ca 2 + ] [ : C = C : 2 ] in der Chemie des Siliciums unter normalen Bedingungen mehrfachbindungsfreie polymere Produkte gegenüberstehen: Polysilylen (—H2Si—SiH2—)x, Silicone (—R2Si—O—)x, Siliciumdioxid (Si0 2 ) x , Calciumdisilicid [Ca2 + ] x [ ^ S i - S £ 2 ] x . Stabilitätsverhältnisse. Nur bei niedrigen Drücken und hohen Temperaturen lassen sich ungesättigte Siliciumverbindungen wie Si=O, Si=S in der Gasphase als thermodynamisch unter diesen Bedingungen stabile Produkte erzeugen (s. dort). Wegen ihrer großen Tendenz zur ,,Assoziation" (s.o.) bleiben sie aber auch bei äußerst raschem Abschrecken der Gase nicht als solche erhalten. Dementsprechend entstehen ungesättigte Siliciumverbindungen wie Disilene ^Si=Si^, Disiline — Si=Si—, Silene , Siline — Si=C—, Silanimine " S i = N — und Silanone " S i = O sowie deren Gruppenhomologen (z.B. ^Si=GeC, —Si=Ge—, "Si=P—, "Si=As—, " S i = S , "Si=Se) unter Normalbedingungen in der Regel nur als reaktive, durch geeignete Abfangreaktionen nachweisbare Zwischenprodukte (S. 998, 1000), die nach ihrer Erzeugung in Abwesenheit von „Fängern" augenblicklichpolymerisieren (häufig dimerisieren). Eine Isolierung instabiler ungesättigter Siliciumverbindungen ist allenfalls bei sehr tiefen Temperaturen in einer Matrix möglich (vgl. S.953, 955). Auch lassen sich bei hoher sterischer Abschirmung der p„p„Bindungen ungesättigte Siliciumverbindungen wie etwa die nachfolgend aufgeführten Substanzen unter Normalbedingungen in kondensierter Phase als metastabile Produkte erhalten (bezüglich der Ab kürzungen vgl. S.917): Mes
Mes
Me
\
S i = Si Mes^
®u
^Mes
Si = fBu^
Me^
Mes
\ N
Si=C
/
SiMe®u2
\ i M e
3
/ R* 2 MeSi
2
X
Mes
As
Si =
^SwPr3
SiMeR* 2
Si / Dsi 2 i'PrSi
Tbt^
Si; PrDsi 2 %
/ Si
Sn ^Tip
Tip
\ S
p
/
®u2Me S i ^
Tip
Tip^
Tip
\
Si =
\
/ Si
tB u 2 M e Si.
Si = Ge
Si = Mes*
SF %
/
Mes^
Si= P Mes^
Mes
\
Tip
\
SitBU3
Mes
\ Si =
Tbt^
Se
2. Das Silicium
933
Ähnlich wie ungesättigte Siliciumverbindungen sind auch viele ungesättigte Kohlenstoffverbindungen unter Normalbedingungen thermodynamisch gegen ,,Polymerisation" instabil (z.B. H2C=CH2/H2Si=CH2 £(C 2 H 4 )„/(CSiH 4 )„ + 108/160 kJ). Entsprechendes gilt - von wenigen A u s n a h m e n abgesehen (z. B. N = N , C = O , 0 = C = O ) - ganz allgemein f ü r ElementElement-Gruppierungen mit p j ^ - B i n d u n g e n : Letztere gehen unter Energiegewinn in a-Bindungen über, es sei denn, sie würden zusätzlich - wie etwa im Falle des Benzols C 6 H 6 stabilisiert. Z u m Unterschied von den ungesättigten Siliciumverbindungen sind die ungesättigten Kohlenstoffverbindungen jedoch bezüglich einer Polymerisation kinetisch stabil. Die auf S. 135 erwähnte Doppelbindungsregel hat also im allgemeinen keine thermodynamischen, sondern kinetische Ursachen (z. B. 2sa f ü r die Dimerisierung von H 2 C = C H 2 / H 2 S i = S i H 2 über 160/nur ca. 35 kJ/mol). Eine thermodynamische Stabilisierung ungesättigter Siliciumverbindungen dürfte in keinem Falle möglich sein (selbst Silabenzole dimerisieren). Die Dissoziationsenergien von H 2 C = C H 2 in 2 Moleküle Triplett-Methylen CH2 bzw. von H 2 E = E H 2 (E = Si, Ge, Sn, Pb) in 2 Moleküle Singulett-Tetrelylen :EH 2 nehmen in der Reihe Ethen > Disilen > Digermen > Distannen > Diplumben weit drastischer ab als die von H 3 C—CH bzw. H 3 E—EH 3 in Radikale C H und E H in Richtung Ethan, Disilan, Digerman, Distannan, Diplumban (vgl. Tab.94; das Gleichgewicht H 2 Pb=PbH 2 £> 2PbH 2 sollte bei Raumtemperatur bereits auf der rechten Seite liegen). Paradoxerweise sind die Dissoziationsenergien der EE-Doppelbindungen in H 2 E = E H 2 (E = Si, Ge, Sn, Pb) sogar kleiner als die der EE-Einfachbindung in H 3 E—EH, während für H 2 C = C H und H 3 C—CH bekanntlich (und der Erwartung entsprechend) das Umgekehrte gilt; Doppelbindungsabstände verkürzen sich demgegenüber einheitlich in Richtung Einfach-, Doppelbindung (vgl. Tab.94). Die Ursache für die starke Abnahme der EE-Dissoziationsenergie beim Übergang von Ethen zu Disilen bzw - stärker - zu Digermen, Distannen, Diplumben ist hierbei eine Folge der Stabilitätszunahme der Dissoziationsprodukte E H beim Übergang von C H zu SiH2 und darüber hinaus GeH 2 , SnH2, PbH 2 (S. 930). Wegen der vergleichsweise höheren Stabilität des Difluorsilylens SiF2 dimerisiert letzteres Teilchen bereits nicht mehr unter Ausbildung einer SiSi-Doppelbindung, sondern über Fluorbrücken (dies gilt verstärkt für GeF2, SnF2, PbF2; vgl. hypovalente Verbindungen, oben). Die Isomerisierung der Ditetrelene EH zu HE EH ist im Falle CH / S Si en dotherm, im Falle von H 2 Ge=GeH 2 etwa thermoneutral und im Falle von H 2 Sn=SnH 2 /H 2 Pb=PbH 2 exotherm; doch sind die Isomerisierungsbarrieren für alle Ditetrelene signifikant (Tab.94). Strukturverhältnisse Während EthenH2C=CH2 eine ,,klassische Struktur" mit planarem ^C=CC-Gerüst aufweist (,,Knickwinkel", ,,Faltungswinkel", engl. „ fold angle" cp = 0°; planare C-Atome; D2h-Symmetrie), kommt DisilenH2Si=SiH2 - laut ab initio Studien eine ,,nichtklassische Struktur" mit transabgeknickten SiH 2 -Gruppen zu (cp ca. 34° in (g); pyramidale Si-Atome; C2h-Symmetrie). In Richtung Digermen H 2 Ge=GeH 2 (cp ca. 46°). Distannen H 2 Sn=SnH 2 (cp ca. 50°), Diplumben H 2 Pb=PbH 2 (cp ca. 53°) verstärkt sich der ,,nichtklassische Bau" der Ditetrelene und erhöht sich damit die zur Molekülplanarisierung aufzuwendende Energie (vgl. Tab.94). Auch nach Substitution der H-Atome durch andere Reste verbleibt Ethen in der Regel klassisch strukturiert. Disilenderivate sind meist, Digermen-, Distannen-, Diplumbenderivate immer nichtklassisch gebaut. Raumerfüllende Substituenten R führen gegebenenfalls zu EE-Bindungsverlängerungen in R 2 E = E R 2 (E = C bis Pb) und zu Verdrillungen der ER2Gruppenum die EE-Bindung (,, Verdrillungswinkel", ,,Twistwinkel", engl. „twist angle" x in der Newman-
Tab. 94 Strukturen und energetische Kenndaten (berechnet) von Ditetrelenen H 2 E=EH 2 (E = C bis Pb; in Klammern Werte für H 3 E—EH 3 ; d = Bindungsabstand; cpjz = Faltungs-/Torsionswinkel; DE = Dissoziationsenergie für H 2 E = E H 2EH 2 ; •®,plan = Planarisierungsenergie Eisom = Isomerisierungsenergie für EH HE EH Aktivierungsenergie
Bau (Symmetrie) d E = E ( E _ E ) [Ä] cp/z [°] D E e = e ( e _ e ) [kJ/mol] £ p k l l [kJ/mol] ELSOM / £ a [kJ/mol]
H2C=CH2
H2Si=SiH2
H2Ge=GeH2
H2Sn=SnH2
H2Pb=PbH2
planar (D 2Il ) 1.34 (1.53) 0/0 671 (376) 0 >> 2 4 / > 7 2
nicht planar ( C a ) 2.14 (2.34) 34/0 224 (309) 7 24/72
nicht planar (C2Il) 2.21 (2.41) 46/0 137 (263) 23 Ä: 0/54
nicht planar (C^,) 2.58 (2.83) 50/0 94 (232) 42 — 9/ X~ + ^ S i = Y + Nu~ -> X~ + ^SiNu—Y~ (Substitution mit Nachbargruppenhilfe) werden beobachtet. Die Koordinationstendenz des vierbindigen Siliciums ist mit dessen Möglichkeit zur Betätigung von d-Valenzorbitalen erklärt worden (Kohlenstoff fehlen in der Valenzschale d-Atomorbitale). Eingehende quantenmechanische Berechnungen ergaben indes keine wesentliche d-Atomorbitalbeteiligung an den Bindungen des Siliciums in hypervalenten Verbindungen. Im Sinne des auf S. 365 Besprochenen beschreibt man infolgedessen die Bindungsverhältnisse wie folgt: Die axialen Bindungen in trigonalen Bipyramiden, die zur Basis wirkenden Bindungen in quadratischen Pyramiden sowie alle Bindungen in Oktaedern stellen Dreizentren-Vierelektronen-Bindungen dar, die äquatorialen Bindungen in trigonalen Biypramiden und die axiale Bindung in quadratischen Pyramiden Zweizentren-Zweielektronen-Bindungen. Die „Hypervalenz" versteht sich dann als Summe kovalenter und elektrovalenter Bindungen, die im Zuge der Donoraddition an SiX4 bzw. X 2 Si=Y oder Y = S i = Y (eine der Si=Y-Bindungen ist deutlich elektrovalenter Natur) zunimmt. Man spricht hier wohl besser von „Hyperkoordination" als von Hypervalenz. Die Koordinationstendenz des elektronegativ substituierten vierwertigen Siliciums, die beim elektronegativ substituierten vierwertigen Kohlenstoff nicht gegeben ist (elektropositiv substituierter Kohlenstoff kann seine Koordinationszahl über vier hinaus erweitern), erklärt sich dann damit, dass Siliciumatome deutlich elektropositiver und größer als Kohlenstoffatome sind. Auch wird die Koordinationstendenz im Falle des Siliciums dadurch begünstigt, dass bei diesem Element - anders als im Falle von Kohlenstoff - Bindungsstärken weniger von der Art bindungsbeteiligter Hybridorbitale (p, sp3, sp2, sp) abhängen (s. oben).
34 Literatur. L. H. Sommer: ,,Stereochemistry, Mechanism and Silicon", McGraw-Hill, New York 1965; R . J . P Corriu, C. Guerin: ,Nucleophilic Displacement at Silicon: Recent Developments and Mechanistic Implications", Adv. Organometal. C h e m 20 (1982) 265-312; R.J.P. Corriu, M. Henner: ,,The Siliconium Ion Question", J. Organometal. C h e m 74 (1974) 1 - 2 8 ; R.J.P. Corriu, C. Guerin: , Nucleophilic Displacement at Silicon. Stereochemistry and Mechanistic Implications", J. Organometal. C h e m 198 (1980) 231-320; J. Chojnowski, W. Stanczyk: ,,Dissoziative Pathways in Substitution: Silicon Cations R3Sz +, R^Si^ Neopentasilan Si(SiH 3 ) 4 ), fünf im Falle n = 6 und acht im Falle n = 7. Enthalten Silane Siliciumatome, die wie im Falle des Heptasilans SiH(SiH 3 )(Si 2 H 5 )(Si 3 H 7 ) mit vier verschiedenen Resten verknüpft sind (,,asymmetrische,s", ,,chirales" Si-Atom; vgl. S.406), so existieren zusätzlich isomere Silane unterschiedlicher Konfiguration (Enantiomere, Spiegelbildisomere, optische Antipoden). Die bevorzugte Konformation der höheren Silane ist wie die der höheren Alkane die gestaffelte (vgl. S. 678; trans-Stellung der beiden SiH3Gruppen in Si 4 H 10 ), wie folgende Keil- und/oder Newman-Projektionen von Di-, Tri- und Tetrasilan veranschaulichen (in Klammern jeweils Molekülsymmetrie; SiH 4 kommt T d -, i-Si 4 H 10 C3v-Symmetrie zu): H
Disilan S 35
(D
H
Trisilan S
(C
Tetrasilan S
(C
Literatur. G. Schott: ,,Oligo- und Polysilane und ihre Derivate", Fortschr. Chem. Forsch. 9 (1967) 60-101; B. J. Aylett: „Silicon Hydrides and their Derivatives" Adv. Inorg. Radiochem. 11 (1968) 249-307; E. Wiberg, E. Ambergen ,,Hydrides of the Elements of Main Group I—IV" Elsevier, Amsterdam 1971; J.E. Drake, Ch. Riddle: „ Volatile Compounds of Hydrides of Silicon and Germanium with Elements of Groups V and VI", Quart. R e v 24 (1970) 263-277; E. Hengge: „Siloxen und schichtförmig gebaute Siliciumverbindungen", Fortschr. Chem. Forsch. 9 (1967) 145-164; A. Weiß, G. Beil, H. Meyer:,,The TopochemicalReactionof CaSi2 to a Two-DimensionalSubsiliceous AcidSi6H3(OH)3 (= Kautzky's Siloxene"), Z. Naturforsch 34b (1979) 25-30; J.M. Jasinski, R. Becerra, R. Walsh: „Direct Kinetic Studies of Silicon Hydride Radicals in the Gas Phase", Chem. R e v 95 (1995) 1203-1228; R.S. Grev: „Structure and Bonding of the Parent Hydrides and Multiply Bonded Silicon and Germanium Compounds", Adv. Organomet. Chem 33 (1991) 125-170. 36 Geschichtliches Monosilan SiH 4 im Gemisch mit SiHCl 3 wurde erstmals 1857 von F. Wöhler und H. Buff als Produkt der Protolyse von Aluminiumsilicid mit Salzsäure erzeugt, Disilan Si 2 H 6 im Gemisch mit SiH 4 und höheren Silanen 1902 von H. Moissan und S. Smiles durch Protolyse von Dimagnesiumsilicid. Den erstmaligen intensiveren Ausbau der Siliciumwasserstoffchemie (ab 1916) verdanken wir dem deutschen Chemiker Alfred Stock (1876-1949).
2. Das Silicium
937
Das Endglied der acyclischen Silane Si„H2n + 2 mit n — oo stellt das Polysiliciumdihydrid (,,Polysilen", ,,Polysilylen") (Sffl 2 ) x dar (vgl. Formel (a), S.941); es entspricht formal dem Polyethylen ( C ^ C H ; ) . , der Kohlenstoffchemie. Die cyclischen Silane Si„H2„ enthalten ebenfalls tetraedrisch koordinierte Si-Atome, z.B.: H? / ( / H2Si
H2Si—SiH2 \
I H 2 Si
SiH 2
Cyclotrisilan Si 3 H 6
HjSi-iJiH,
I
H 2 Si SiH 2
Si H 2 \
Cyclotetrasilan Si 4 H 8
H ^ ^ N f f l ,
/
Si H2 Cyclopentasilan Si 5 H 10
I H 2 Si
I SiH 2
Si H2 Cyclohexasilan Si 6 H 1 2
Allerdings ließen sich bisher nur S ^ H 0 und S i g H 2 in Substanz isolieren, während von den übrigen Cyclosilanen lediglich Derivate erhalten wurden (z.B. Si„Me2„; nachgewiesen bis n = 35). Der Verlauf der Ringspannungsenergie Es cyclischer Verbindungen (EH 2 )„ mit der Ringgröße n ist für Kohlenstoff und Siliciumim B e r e i c h = 3, 4, 5 unterschiedlich:^ [kJ/mol] = 117/113/klein (E = C) und 159/62/klein (E = Si) (E s verschwindet für n = 6 und wächst für n > 6 wieder an). Der unerwartet niedrige Wert von Es im Falle des Cyclopropans (CH 2 ) 3 erklärt sich dabei wie folgt: Die EE-Bindungsenergie sinkt in Richtung (EH 2 ) 4 -> (EH 2 ) 3 als Folge der wachsenden ,,E„-Ringspannung" gleichermaßen für E = C und Si; die Abnahme wird aber im Falle von E = C durch eine Zunahme der Energie der EH-Bindungen kompensiert. Dieses Anwachsen beruht darauf, dass Kohlenstoff für seine CH-Bindung im Falle von (CH 2 ) 4 näherungsweise sp 3 -Hybridorbitale, im Falle von (CH 2 ) 3 aber stärker bindende sp 2 -Hybridorbitale betätigt (sp 3 - und sp 2 -Hybridorbitale führen beim Silicium zu vergleichbar starken Bindungen, s. oben). Die Bestimmung der Ringspannungsenergie erfolgt nach folgender Reaktion: (EH 2 )„ + H 3 E—EH 3 -> « H 3 E — E H — E H 3 + Spannungsenergie („homo- oder isodesmotische" Gleichung). Konformationen Cyclohexasilan kommt nach Strukturberechnungen analog dem Cyclohexan Sesselkonformation zu, wobei die Twist- bzw. Bootkonformation nur 8 bzw. 10 kJ/mol energiereicher ist, sodass S i g H 2 wie C6H12 (S. 414) unter Normalbedingungen pseudorotiert; entsprechendes gilt für Cyclopentasilan, das wie Cyclopentan in einer Twist- und einer - praktisch energiegleichen - Halbsesselform existieren kann (nachfolgend bedeutet • = SiH 2 , in Klammern jeweils Molekülsymmetrie):
Halbsessel (C s )
Twist (C 2 )
Sessel (D 3 d )
Twist (D 2 )
Boot (C 2v )
Cyclotetrasilan ist nach ab-initio-Kalkulationen gefaltet (C 2v -Symmetrie; Faltungswinkel ca. 3 ° ) , Cyclotrisilan naturgemäß planar (D 3h -Symmetrie). Die Inversionsbarriere beträgt für Si 4 H 8 nur ca. 7 kJ/mol, für S ^ H o nur ca. 8 kJ/mol, für Si 6 H 1 2 > 8 kJ/mol. Unter den oligocyclischen Silanen Si„H 2 n + m (m = — 2, — 4, — 6, ...) konnte bisher nur das Endglied mit n — o , m -> — oo, nämlich das,,Polysiliciumhydrid" (,,Polysilin",,,Polysilylin") (SiH)^ isoliert werden. Bezüglich seines Baus vgl. S.941, bezüglich der Struktur des Silylens SiH2> Disilens Si 2 H 4 und Disilins Si 2 H 2 vgl. S. 930 und 942. Monosilan SiH4 Darstellung Eine M e t h o d e der Technik zur E r z e u g u n g des einfachsten Siliciumwasserstoffs, des , , M o n o s i l a n s " , besteht in der Zersetzung v o n Dimagnesiumsilicid m i t Säuren u n t e r L u f t ausschluss Mg2Si + 4 H +
-> 2 M g 2 + + S i H 4 .
Besonders günstige A u s b e u t e n (75 % ) erzielt m a n m i t flüssigem Ammoniak als R e a k t i o n s m e d i u m u n d Chlor- oder Bromwasserstoff (in F o r m v o n N H 4 C l , N H 4 B r ) als Säure. Bei der Protolyse entsteht im allgemeinen ein G e m i s c h m e h r e r e r Silane („Rohsilan"), aus welchem M o n o s i l a n d u r c h f r a k t i o n i e r e n d e Destillation e n t f e r n t w e r d e n m u s s . Weitere technische D a r s t e l l u n g s v e r f a h r e n b e r u h e n auf der Dismutation der - ihrerseits aus SiCl 4 , H 2 u n d Si zugänglichen - Chlorsilane S i H C l 3 u n d SiH 2 C1 2 (z.B. 2 S i H 2 C 1 2 SiH4
• 938
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
+ SiCl4) sowie auf der Hydrierung von SiCl4 mit Lithiumhydrid in einer LiCl/KCl-Schmelze bei 400 °C: SiCl4 + 4H~ -> SiH 4 + 4 Q - . Kombiniert man in letzterem Falle die Hydrierung mit einer Schmelzflusselektrolyse von LiCl, wobei man eine Wasserstoff-umspülte Kathode benützt, so bildet sich auf dem Wege über Lithiummetall laufend neues Lithiumhydrid nach (Li -> Li + + ©; Li + jH2 LiH), so dass insgesamt folgende Bruttoreaktion abläuft: SiCl4 + 2H 2 -> SiH 4 + 2C12 oder - falls das erzeugte Chlor zur SiCl 4 -Gewinnung aus Si eingesetzt wird: Si + 2H 2 -> SiH 4 . Auch bei der Umsetzung etherischer Lösungen von Siliciumtetrachlorid (bzw. Kieselsäureestern Si(OR)4) und Lithiumalanat (S.1149) entsteht SiH 4 (Ausbeute 100%): SiCl4 + LiAlH 4 SiH 4 + Li AlCl 4 . Die Umsetzung kann zur SiH 4 -Gewinnung im Laboratorium dienen, ähnlich wie die Protolyse von Alkali- und Erdalkalimetallsiliciden. Eigenschaften Das tetraedrisch gebaute Monosilan SiH 4 (SiH-Abstand = 1.481 Ä; AH{ = + 34 kJ/mol) ist ein farbloses Gas, das bei — 112.3°C zu einer farblosen Flüssigkeit kondensiert und bei — 184.7°C erstarrt (SiD 4 : Smp. — 186.4°C, Sdp. — 112.3 °C). Unter Luft- und Feuchtigkeitsausschluss ist es thermisch bis ca. 300 °C stabil. Bei höheren Temperaturen tritt Zerfall in Silicium und Wasserstoff ein (£ a = 230 kJ/mol; einleitende Reaktionsschritte: SiH 4 -> SiH 2 + H 2 ; SiH 4 -> SiH 3 + H (Nebenreaktion); Reaktionsnebenprodukt u. a.: SiH4 + SiH 2 Si 2 H 6 ): SiH4
Si(f) + 2H 2 + 34.3 kJ.
Man nutzt die SM 4 -Thermolyse technisch zur Gewinnung von reinstem Silicium (zur Herstellung von Halbleitern und Solarkollektoren) sowie zur Abscheidung von Siliciumfilmen auf Fremdmaterialien. Redoxverhalten. An der Luft verbrennt SiH 4 mit heftigem Knall zu Siliciumdioxid und Siliciumnitrid: SiH4 + 2O 2
Si0 2 + 2 H 2 0 + 1430 kJ;
3SiH 4 + 2N 2 + 6O 2
Si 3 N 4 + 2 H 2 0 + 1336 kJ.
Chlor führt es in Siliciumtetrachlorid über (SiH4 + 4C12 -> SiCl4 + 4HCl), Brom bzw. Iod- bei vorsichtiger Reaktionsführung - in Monohalogensilane (SiH4 + X 2 -> SiH 3 X + HX; s. unten). Ähnlich wie gegenüber Sauerstoff und den Halogenen (SiH4 verhält sich hierbei reaktiver als C H ) wirkt es auch gegenüber anderen Stoffen als kräftiges Reduktionsmittel (z.B. K M n 0 4 -> M n 0 2 ; Fe3+ -> Fe 2 + ; Cu 2 + -> Cu) und vermag bei höheren Temperaturen sogar Alkalimetalle zu hydrieren (SiH4 + 2M -> MSiH 3 + MH) bzw. sich an Doppelbindungen zu addieren (,,Hydrosilierung"; z.B. SiH4 + M e 2 C = 0 Me 2 CH—OSiH 3 ). Säure-Base-Verhalten Wasser zersetzt Monosilan - bei Gegenwart von Basen wie NaOH - zu Kieselsäure und Wasserstoff; Analoges gilt für Alkohole SiH4 + 2 H 2 0
Si0 2 + 4H 2 + 464 kJ;
SiH 4 + 4ROH
Si(OR)4 + 4H 2 .
Die Reaktionen werden durch eine Addition der Basen OH oder OR an die sehr schwache Lewis Säure SiH 4 eingeleitet, z.B.: H O " + SiH4 + H 2 0 HO—SiH 3 —H"•••H—OH -> HO—SiH 3 + H — H + OH~. Auch Hydrid W vermag sich an SiH4 zu addieren; gebildetes Sffl^ (massenspektrometrisch nachgewiesen) zerfällt allerdings augenblicklich unter H 2 -Eliminierung in SiH 3 (bzgl. SiH 3 s. unten). Dementsprechend entsteht bei der Umsetzung von Monosilan mit Alkalimetallen M in aprotischen Medien (s. oben) neben Alkalimetallhydrid immer auch mehr oder weniger Wasserstoff: Si MSi MH; Si MH MSi Gegenüber nicht allzu starken wässerigen Säuren ist SiH4 in Abwesenheit von Spuren Alkali (z. B. aus Glasapparaturen) beständig. Sehr starke Säuren vermögen demgegenüber aus SiH 4 auf dem Wege über das sehr labile Kation SiHj ( = H 2 -Addukt von planarem SiH 3 ) Wasserstoff in Freiheit zu setzen: S S H. Derivate Halogenderivate. Durch Einwirkung von Halogenen (s. oben) oder von Halogenwasserstoffen (z.B. Umsetzung von SiH4 mit HCl in Gegenwart von AlCl 3 als Katalysator bei 25°C in Monoglyme oder Einleiten eines SiH4/HCl-Gasgemisches in eine NaCl/AlCl3-Salzschmelze) lassen sich die Wasserstoffatome von Si der Reihe nach durch Halogenatome austauschen SiHt4
+ HX
> SiH,X D —TT ri?
+ HX
TTri?> SiH,X, —
+ HX
> SiHX, T J* ri? —
+ HX
TT— >n?SiX 4 .
2. Das Silicium
939
Die ,,Monohalogensilane" SiH 3 F (Smp./Sdp. - 1 2 2 / - 76°C; A# f = - 355 kJ/mol), SiH 3 Cl (Smp./Sdp. - 1 1 8 / - 3 0 . 4 ° C ; A # f = - 1 3 6 kJ/mol), SiH 3Br (Smp./Sdp. - 94/1.9 °C; Aff f = - 6 4 kJ/mol)und SiH 3 I (Smp./Sdp. - 57/45.6°C; AH{ = - 2 kJ/mol) entstehen auch beim Leiten von SiH 4 über festes Silberhalogenid: SiH4 + 2AgX -> SiH3X + HX + 2Ag. Des weiteren werden die ,, teilchlorierten" Silane SiH3Cl, SiH 2 Cl 2 (Smp./Sdp. - 1 2 2 / + 8 . 3 ° C ) und SiHCl 3 (Smp./Sdp. - 128.2/+31.5°C) gemäß Si + 3HC1 -> SiHCl 3 + H 2 ; 2SiHCl 3 SiCl4 + SiH2C12, SiCl4 + 3H 2 ^ SiH3C1 + 3HCl in Gegenwart von Katalysatoren gewonnen. ,,Silico-Chloroform" SiHCl 3 lässt sich mit Basen (z. B. NR 3 ) in polaren organischen Lösungsmitteln bis zu einem Gleichgewicht deprotonieren: R 3 N + HSiCl 3 R 3 NH + + SiCl 3 , wobei das gebildete SiCl 3 -Ion reduzierende und substituierende Eigenschaften aufweist (z.B. SiCl3 + C13C—CC13 SiCl4 + C1 2 C=CC1 2 + C P ; SiCl3 + RC1 ^ RSiCl 3 + C P ) . Das ,,Iodsilan" SiH 3 I stellt ein sehr starkes Silylierungsmittel dar und ist so ein wertvolles Reagens für die Synthese von Silylverbindungen (z.B. HgS (H3Si)2S; Ag2Se (H3Si)2Se; Li2Te (H3Si)2Te, AgCN H 3 SiCN; s. auch nachfolgend). Chalkogenderivate. Alle teilhalogenierten Silane werden wie die vollhalogenierten Silane (S.944) durch Wasser rasch zersetzt. Die hierbei zunächst gebildeten Hydrolyseprodukte H 3 SiOH („Silanol"), H 2 Si(OH) 2 („Silandiol") bzw. HSi(OH) 3 („Silantriol") sind allerdings instabil und kondensieren unter Wasseraustritt zu Siloxanen des Typus (H3Si)2O (,,Disiloxan"), (H2SiO)„ (,,Prosiloxane"; n > 4) bzw. (HSi 1.5)11 (,,Silsesquioxane", ,,Hydridosphärosiloxane", n = 8,10,12 ...): 2H 3 Si—X
+ 2 H
° , 2HS—OH
- 2HX
+ 2H,0 -2HX
HSiX,
+ 3H20
H 2 Si(OH) 2
-H,0 -H20
HSi(OH),
> H 3 Si—O—SiH 3 , > i(H 2 SiO)„ > ;r(HSiO, ,)„.
Das Disiloxan (H 3 Si) 2 O stellt ein bei Zimmertemperatur und Sauerstoffausschluss unverändert haltbares, farbloses Gas dar (Smp. - 144°C; Sdp. - 15.2°C; SiO-Abstand 1.634 Ä; SiOSi-Winkel 144.1°; vgl. S. 929), während die Siloxane (H2SiO)n und (HSiOj 5)n als farblose, entsprechend ihrem Polymerisationsgrad « schwer- bis unflüchtige Feststoffe auftreten. Dem durch Hydrolyse von H 2 SiI 2 mit hydratisiertem PbO zugänglichem, zur Zersetzung unter H 2 -Abspaltung neigenden Tetrameren (H 2 SiO) 4 sowie den durch vorsichtige Hydrolyse von HSiX 3 (X = O C H , Cl) in kleinen Ausbeuten zugänglichen Octameren (HSiOi 5 ) s ( S m ^ 250°C; Oh-Symmetrie), Decameren (HSiOi 5 )j 0 (D5h-Symmetrie) usw. kommen die auf S.992 wiedergegebenen Strukturen zu (R = H). Ganz entsprechend den Sauerstoffderivaten lassen sich auch Silanderivate der Sauerstoffhomologen gewinnen, z.B.: ,,Disilylsulfan" (H3Si)2S (Smp./Sdp. - 70/59 °C), ,,Disilylselan" (H 3 Si) 2 Se (Smp./Sdp. - 68/85 °C), ,,Disilyltellan" (H3Si)2Te. Pentelderivate. Wie mit H 2 O gehen die Silylhalogenide auch mit Wasserstoffverbindungen des Stickstoffs Kondensationsreaktionen ein, z.B.: + 4NH, - 3N
N(SiH 3 ) 3 ;
4H 3 SiI
5N2H4
J *
- 4N
• N 2 (SiH 3 ) 4 .
Das ,,Trisilylamin" N(SiH 3 ) 3 stellt eine leicht bewegliche farblose, selbstentzündliche und leicht hydrolysierbare Flüssigkeit vom Smp. - 105.6°C und Sdp. + 52°C dar (SiN-Abstand 1.738 Ä, SiNSi-Winkel 119.6°; vgl. S. 929). Analoges gilt für ,,Disilylamin" NH(SiH 3 ) 2 (Smp./Sdp. - 132/36°C) und ,,Tetrasilylhydrazin" (SiH 3 ) 4 (Smp./Sdp. - 24/109 °C). Die Umsetzung von N H mit HSiCl 3 führt zur Bildung einer mit Blausäure HCN formelgleichen, farblosen ,,Silico-Blausäure", die zum Unterschied vom monomeren Kohlenstoffhomologen hochpolymer ist: (HSiN^. Entsprechend den Stickstoffderivaten lassen sich auch Silanderivate der Stickstoffhomologen gewinnen, z.B.: ,,Trisilylphosphan" P(SiH3)3 (Sdp. 114°C), ,,Trisilylarsan" As(SiH3)3 (Sdp. 120 °C), ,,Trisilylstiban" Sb(SiH3)3 (Sdp. 255 °C), Si(PH 2 ) 4 (aus SiCl4 + Li[Al(PH 2 ) 4 ]; Smp. - 25°C; verbrennt an Luft explosionsartig). Kohlenstoffderivate. „Monosilylmethan" C H S f f l 3 (Sdp. - 53°C), ,,Disilylmethan" CH 2 (SiH 3 )2 (Sdp. 15°C), ,,Trisilylmethan" CH(SiH 3 )3 (Sdp. 61 °C) und ,,Tetrasilylmethan" C(SiH 3 ) 4 (Sdp. 86.5°C) lassen sich u.a. durch Hydrierung von CH 3 SiCl 3 , CH 2 (SiCl 3 ) 2 , CH(SiH 2 Br) 3 und C(SiH 2 Br) 4 mit Lithiumalanat LiAl gewinnen •nH-
^C—SiH 3 +
nX-,
Die luft- und hydrolysestabilen Silylmethane gehen beim Erhitzen auf über 1000 °C in wasserstoffhaltiges Siliciumcarbid (S. 984) über. Vgl. hierzu auch organische Verbindungen des Siliciums (S. 985).
• 940
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Alkalimetallderivate. Die durch Einwirkung von Monosilan auf Alkalimetalle M in aprotischen Lösungsmitteln wie Monoglyme MeOCH 2 CH 2 OMe oder Hexamethylphosphorsäuretriamid PO(NMe 2 ) 3 gemäß M + SiH4
MSiH3+iH2
erzeugbaren, sehr hydrolyse- und luftempfindlichen Alkalimetallsilyle haben NaCl-Struktur mit Alkalimetallkationen M + und pyramidal gebauten Silylanionen SiH 3 (Inversionsbarriere ca. 110 kJ/mol). Sie stellen ausgezeichnete Silanidierungsmittel dar und eignen sich demgemäß zur Synthese von Silylverbindungen (z.B.Mel MeSiH 3 ;CH 2 C1 2 CH 2 (SiH 3 ) 2 ;GeH 3 C1 ^ GeH 3 SiH 3 ;Si 2 H 5 Br ^ Bevorzugt verwendet man hierzu Kaliumsilyl KSiH 3 . Komplexe. Siliciumwasserstoffe vermögen als Liganden in Metallkomplexen zu wirken. Beispiele sind die Monosilan-Komplexe [Mo(i| 2 SiH 4 )(CO)(R 2 PCH 2 CH 2 PR 2 )] sowie [(R 3 P) 2 H 2 Ru(^-SiH 4 )R^ 2 (PR 3 ) 2 ]. Eingehend untersucht wurden insbesondere Metallkomplexe mit organischen Derivaten der Siliciumwasserstoffe (vgl. S. 1836).
Höhere gesättigte Silane Si„H 2 „ +m Darstellung. Die acyclischen Silane Si„H2n + 2 (n > 1; bzgl. der Strukturen vgl. S.936) bilden sich neben Monosilan bei der Protolyse von Alkali- und Erdalkalimetallsiliciden (bevorzugt Mg2Si). Zur Erzielung höherer Ausbeuten an ersteren gibt man zweckmäßig Mg2Si-Pulver rasch zu erwärmter 20 %iger Phosphorsäure. Das hierbei erhältliche Gemisch flüchtiger Silane besteht - von SiH 4 abgesehen - aus ca. 40 % Si 2 H 6 (Disilan), 8% Si 3 H s (Trisilan), 7% Si 4 H 10 (Tetrasilan), 3% Si 5 H 12 (Pentasilan) und 3% Silane Si 6 H 14 (Hexasilan) bis Si 15 H 32 (Pentadecasilan). Die einzelnen Glieder eines solchen Silangemisches lassen sich durch fraktionierende Vakuumdestillation oder gaschromatographisch voneinander trennen; im letzteren Falle gelingt auch der Nachweis und die Trennung von Isomeren (unverzweigte und verzweigte Ketten). Der Anteil der verzweigten Isomeren (iso) wächst auf Kosten der linearen (normalen) Isomeren mit zunehmender Zahl der Si-Atome z.B. Si 4 H 10 : 96% normal, 4% iso, Si 6 H 14 : 61% normal, 39% iso; S i s H l s : 12% normal, 88% iso. Bezüglich der Protolyse von CaSi2 vgl. weiter unten. Ähnlich wie Monosilan lassen sich die höheren acyclischen und auch cyclischen Silane Si„H2n + 2 und SinH2„ (bzgl. der Strukturen vgl. S.937) ferner durch Hydridierung höherer Halogensilane (S.948) mit Lithiumalanat darstellen. So entsteht etwa Disilan Si 2 H 6 aus Si2Cl6 gemäß 2Si 2 Cl 6 + 3LiAlH 4
2 Si 2 H 6 + 3LiAlCl 4
(90%ige Ausbeute), Trisilan Si 3 H s aus Si3Cl8 (60%ige Ausbeute), Isotetrasilan i-Si 4 Hi 0 und Neopentasilan neo-S^Hj 2 aus SiCl3SiCl(SiCl3)2 und Si(SiCl3)4 (Umsetzung in Ether bei — 100 °C), Cyclopentasilan S ^ H j 0 aus Si 5 Br 10 (75 %ige Ausbeute) und Cyclohexasilan SigHi 2 aus Si 6 Br 12 (65 %ige Ausbeute). Durch Hydridierung von kettenförmigem (SiBr 2 ), bzw. von schichtförmigem (SiBr), mit Lithiumalanat erhält man festes blassgelbes ,,Polysilen" (SiH 2 ), bzw. festes ockerfarbenes ,,Polysilin" (SiH),. Den Verbindungen kommt (idealisiert) eine Kettenstruktur (a) bzw. Schichtstruktur (b) zu. Aus einem Raumnetzverband irregulär miteinander verknüpfter SiH-Einheiten (c) besteht demgegenüber das durch Entbromierung von HSiBr 3 mit Mg in Ether erhältliche, feste zitronengelbe Polysilin: HSiBr 3 + §Mg ^ i(SiH), + §MgBr ? . S und höhere Silane bilden sich darüber hinaus in guter Ausbeute aus Monosilan Si durch Energieeinwirkung wie stille elektrische Entladungen. Auf diese Weise sind auch gemischte Si/Ge-Hydride darstellbar, wobei man ein SiH 4 /GeH 4 -Gemisch einsetzt. Eigenschaften ,,Disilan" Si 2 H 6 (rsiH = 1.492 Ä, r sisi = 2.331 Ä) ist wie Monosilan ein farbloses Gas, ,,Tri-", „Tetra-", „Penta-" und „Hexasilan" sowie „Cyclopenta-" und „-hexasilan" stellen farblose FlüsTab. 95
Höhere Silane (nicht aufgeführt: (SiH 2 ), und (SiH),; A# f in kJ/mol).
Si„H 2 n + m
n = l
Catenasilane 2)
S Si 2 H 6 Farbloses Gas Farblose Flüssigk Smp. — 129.4 °C Smp. — 117.4°C 52.9 Sdp. — 14.8 °C Sdp 80 k 121 k
Cyclosilane (m = 0)
n = 3
= n-Si 4 H 1 0 » i-Si 4 H 1 0 » Farblose Flüssigkeiten Smp. — 89.9° — 99.4°C Sdp 108.1 101.7 A H , = + 1 7 5 b ) 180 kJ b)
=
=
n-Si s H 12a> Farblose Flüssigk Smp. — 72.2 °C Sdp. + 153.2°C AH, = + 226 kJ b)
n-Si 6 H 1 4 » Farblose Flüssigk Smp. — 44.7 °C Sdp 193.6 268 k
Si s H 1o Farblose Flüssigk Smp. — 10.5°C Sdp 194.3
Si 6 H 1 2 Farblose Flüssigk Smp 16.5 Sdp 226
a) n = normal = unverzweigte Kette; i = iso = verzweigte Kette. - b) berechnet. - c) extrapoliert.
2. Das Silicium
941
sigkeiten dar (Tab. 95). Die Verbindungen sind wie SiH 4 gegen Luft und wässeriges Alkali instabil (z. B. 2Si0 2 + 3 H 2 0 + 1743 kJ; 2Si0 2 + 7H 2 + 759 kJ). Die thermische Beständigkeit der acyclischen und cyclischen Silane Si n H 2n+m nimmt mit wachsender Zahl « der Siliciumatome ab. Si 2 H 6 zerfällt bei Raumtemperatur noch sehr langsam (in Jahren), Si 3 H 8 langsam, Si4H 10 rasch. Die knapp unterhalb 300 0 C einsetzende Si 2 H 6 -Thermolyse (Ea = 203 kJ/mol) führt zunächst zu Silylen (Si 2 H 6 SiH 4 + SiH 2 ), das sich in Si—H-Bindungen einschiebt (z. B. Si 3 H 8 ), wobei sich die gebildeten höheren Silane ihrerseits in SiH 4 und noch höhere Si Silane zersetzen. Demgemäß führt die Si 2 H 6 -Thermolyse letztlich zu Wasserstoff, Monosilan, Oligosilanen sowie Polysiliciumhydriden (SiHJ x (n = 2.5 bis 0.2). Letztere setzen sich an den Wänden der Pyrolysegefäße als farblose, an der Luft entzündliche, hydrolysierbare, pulverförmige Feststoffe ab. Der Wasserstoffgehalt der Verbindungen nimmt hierbei mit zunehmender Wandtemperatur ab
Derivate. Von den acyclischen und cyclischen Silanen leiten sich eine Reihe von Verbindungen ab, in welchen der Wasserstoff teilweise (z.B. Si 2 H 5 X) oder vollständig durch Halogen (S.948) oder andere anorganische bzw. organische Reste ersetzt ist. Eine interessante Verbindung Si 6 H 3 (OH) 3 mit SiH- und SiOH-Gruppierungen entsteht bei der Behandlung des aus gewellten Schichten miteinander kondensierter sechsgliederiger Si-Ringe und Ca-Schichten aufgebauten Calciumdisilicids CaSi 2 (S.924) mit wässriger Salzsäure: 3CaSi 2 + 6HC1 + 3 H 2 0
i[Si 6 H 3 (OH) 3 ] x
+
3CaCl 2 + 3H 2 .
Sie trägt den - durch H. Kautsky eingeführten - Namen „Siloxen"35 und stellt eine feste gelbe bis gelbgrüne, photolumineszierende, in allen Lösungsmitteln unlösliche, luft-, wasser- und lichtempfindliche, höchst oberflächenaktive blättchenförmige Substanz dar, die reduzierend wirkt (z.B. Cu 2 + Cu, Ag + Ag). Ihre Struktur leitet sich von der des schichtförmigen Polysilins (b) dadurch ab, dass die 0 Hälfte - bzw. bei niedriger Darstellungstemperatur ( < 0 C) auch viel weniger als die Hälfte - aller H-Atome gegen OH-Gruppen ersetzt sind. Offensichtlich entsteht Siloxen gemäß [CaSi 2 ] x + 2xHCl xCaCl 2 + (SiH) 2x (b) auf dem Wege über Polysilin (SiH)^, wobei dessen H-Atome im Zuge der Polysilinbildung gegen mehr oder weniger OH-Gruppen ersetzt werden ^Si—H + H 2 0 ^Si—OH + H 2 (vgl. Reaktion von CaGe 2 mit HCl, S. 1010). Siloxen reagiert mit zahlreichen Verbindungen wie Wasser, Bromwasserstoff, Iod unter Erhaltung des zweidimensionalen Makromolekül-Gerüstes [Si 6 ] x , z.B.: [Si 6 H 3 (OH) 3 ] x + H 2 0 ^ H 3 ( O H ^ + HB [Si 6 H 3 (OH) 3 ] x + 1 2
[Si 6 H 2 (OH) 4 ] x + H 2 , • [Si 6 H 2 Br(OH) 3 ] x + H 2 , • [Si 6 H 2 I(OH) 3 ] x + HI.
Bei Lagerung von Siloxen tritt in geringem Umfange Kondensation benachbarter Schichten ein: ^Si—OH + HO—Si^ ^Si—O—Si^ + H 2 O. Das gebildete Wasser führt dann [Si 6 H 3 (OH) 3 ] x gemäß der ersten Reaktionsgleichung in gelbes [Si 6 H 2 (OH) 4 ] x über, dessen Molekülschichten ihrerseits (leichter als die Siloxenschichten) unter Wasseraustritt kondensieren. Erschöpfende Chlorierung von Siloxen führt zu Hexachlor-disiloxan: [Si 6 H 3 (OH) 3 ] x + 12*C12 3*Cl 3 Si—O—SiCl 3 + 6xHCl, vollständige Alkoholyse zu Dikieselsäureestern: [Si 6 H 3 (OH) 3 ] x + 18xROH 3x(RO) 3 Si—O—Si(OR) 3 + 12xH 2 . Entsprechend wässriger reagiert alkoholische Salzsäure mit Calciumdisilicid: 3CaSi 2 + 6HC1 + 3ROH ^[Si 6 H 3 (OR) 3 ] x + 3CaCl 2 + 3H 2 . Ist R = Decyl C 1 0 H l ß , so lässt sich die gebildete, analog Siloxen [Si 6 H 3 (OH) 3 ] x strukturierte gelbgrüne Verbindung gemäß [Si 6 H 3 (OR) 3 ] x + 6 H 2 0 [Si 6 (OH) 6 ] x
• 942
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
+ 3H 2 + 3ROH in ein ,,Polysiliciummonohydroxid" verwandeln (alle Wasserstoffe in (b) durch OHGruppen ersetzt).
Silylen Zur Erzeugung von Silylen SiH 2 kondensiert man Spuren von Silicium-Atomgas (gewinnbar durch Erhitzen von Si auf ca. 1400°C im Hochvakuum, vgl. S.922) und Wasserstoff zusammen mit viel Argon auf 10 K kalte Flächen. Hierbei reagieren die „heißen" Si-Atome im Triplett-Zustand ( 3 P-Zustand, vgl. S. 922) während ihrer raschen Abkühlung mit den H 2 -Molekülen unter Bildung von angeregtem TriplettSilylen 3 SiH 2 ( 3 B r Zustand; vgl. S.931), das teilweise nochmals H 2 unter Bildung von Monosilan SiH 4 addiert, teilweise in Singulett-Silylen *SiH2 ('A^Grundzustand) übergeht. Letzteres ist in der Tieftemperaturmatrix bei 10 K metastabil und - wie auf S.931 bereits besprochen - gewinkelt gebaut (C 2v Symmetrie; r siH = 1.52 Ä; :£ HSiH = 92.8°). Beim Aufwärmen der Matrix reagiert es mit ebenfalls gebildetem SiH 4 unter a-Addition zu Si 2 H 6 ( H S — H + :SiH 2 -> H 3 Si—SiH 2 —H; Orbitalsymmetrie-erlaubter Prozess) bzw. mit sich selbst unter Polymerisation (xSiH 2 (SiH 2 ) J . Nach Berechnungen besitzt das Silylen eine deutliche Tendenz zur Addition von H + , H' bzw. H~ unter Bildung des Silyl-Kations SiH 3 , Silyl-Radikals SiH 3 bzw. Silyl-Anions SiH 3 (bezüglich anorganischer Derivate des Silylens wie etwa SiHal 2 , SiChalk 2 vgl. S.949, 953, bezüglich organischer Derivate S.995).
Ungesättigte Silane Darstellung, Eigenschaften Zur Erzeugung von hochlabilem Disilen H 2 Si=SiH 2 kondensiert man Spuren von Silicium-Atomgas (gewinnbar durch Erhitzen von Si auf knapp 1400°C im Hochvakuum, vgl. S. 922) und Monosilan SiH4 zusammen mit viel Argon auf ein 10 K kaltes Fenster. Hierbei bildet sich auf dem Wege über Triplett-Silylsilylen (3Si + SiH4 -> 3HSi—SiH3) Singulettsilylsilylen 'HSi—SiH 3 = : SiH(SiH3), das sich beim Bestrahlen (X > 570 nm) in energieärmeres (trans-abgewinkeltes) Disilen Si2H4 umlagert (D2h-Symmetrie; dSSi = 2.14 Ä, ^ = 34°, T = 0; vgl. Tab. 94 auf S. 943). Kurzwelligeres Licht (A = 334 nm) verwandelt Disilen in der Argontieftemperaturmatrix in Triplett-Silylsilylen zurück; zudem entstehen Disiliciumdihydrid Si2H2 und Wasserstoff, die sich beim Bestrahlen (X = 405 nm) wieder zu Si2H4 vereinen:
H
/ H Si=Si^"H
> 570 nm
Si—SL H
h ,
= 334 nm
h,
.
h ,
H
= 334 nm
'
= 405 nm
Si:
\ W
H
+H,
H
Disiliciumdihydrid (E rel . = +114 kJ)
Disilen (E reL = 0 kJ/mol)
Singulett-Silylsilylen (E reL = +24 kJ/mol)
:Si
(in der Argontieftemperaturmatrix bei 10 K) Tatsächlich weist - das ebenfalls hochlabile - Si2H2 nach ab initio Berechnungen bzw. nach schwingungsspektroskopischen Untersuchungen der bei 10 K in Ar gebildeten Spezies die wiedergegebene ,,Schmetterlingsstruktur" auf (C2v-Symmetrie; rfSiSi = 2.216Ä). Offensichtlich addieren sich Protonen also nicht an die n-Elektronenpaare eines (noch unbekannten) Disilicids :Si=Si: 2 ~ (vgl. die Protonierung von isoelektronischem Acethylid :C C: zu linearem HC CH), sondern an dessen beide -Elektronenpaare Trans-abgewinkeltes Disilin H S i = S i H (C2h-Symmetrie; SiSiH = 123.8°) um 19kJ/mol energiereicher als H-verbrücktes Disiliciumdihydrid Si2H2 (organische Derivate Si2R2 von Si2H2 weisen - laut Berechnung - bei nicht allzu voluminösen Resten R im Grundzustand die Struktur :Si=SiR 2 , ansonsten die trans-abgewinkelte Struktur RSi=SiR auf; vgl. S.999). Die ungesättigten Siliciumwasserstoffe Si2H4 bzw. Si2H2 sind - anders als ihre Kohlenstoffhomologen C 2 H 4 bzw. C 2 H 2 - hinsichtlich ihrer Umwandlung in gesättigte Siliciumwasserstoffe kinetisch instabil. Demgemäß polymerisiert Disilen xSi 2 H 4 -> (Si2H4)x. Auch kann Disilin z. B. unter Tri- oder Tetramerisierung in - seinerseits labiles - triprismo-Hexasilan Si6H6 oder hexahedro-Octasilan Si8H8 übergehen. Hexasilabenzol Si6H6, ebenfalls ein Trimeres von Si2H2, isomerisiert unter Energieabgabe in triprismoHexasilan; letzterer Sachverhalt veranschaulicht, dass die reaktive Gruppierung ^ S i = selbst nach Einbau in ein aromatisches System hinsichtlich der Gruppierung ^ S i ^ thermodynamisch instabil bleibt. HSi
HSi- ^ - i S i H ^ I
r
|
HSi-| —
HSi^—- SiH^
SiH
H .Si.
H
SiH 4x
H neg.
Si
2H 2
3x
»
I
H neg.
Si HSi
:
SiH
SiH
HSii
H S i ^ — SiH
H neg.
I HSi
SiH Si H
2. Das Silicium
943
„Derivate". Der Ersatz einer SiH 2 -Gruppe in H 2 Si=SiH 2 gegen Y = CH2, NH, PH, O, S usw. bzw. einer SiH-Gruppe HSi=SiH gegen Z = CH, N, P usw. führt zu weiteren Grundkörpern ungesättigter Siliciumverbindungen. Da ihr gemeinsames Strukturmerkmal ein ungesättigtes Siliciumatom ^ S i = bzw —Si= ist, kann man sie im weitesten Sinne auch als Silene bzw Siline bezeichnen. Sie sind unter Normalbedingungen nicht isolierbar, lassen sich aber analog Si2H4 und Si2H2 durch Reaktion von Si-Atomen mit geeigneten Reaktanden bzw. auf anderen Wegen erzeugen und in einer Tieftemperaturmatrix isolieren, (z. B. entsteht Silaethen H 2 Si=CH 2 aus Si und C H photochemisch auf dem Wege über Methylsilylen HSi—CH3, Iminosilan H 2 Si=NH ^ HSi—NH ? bzw. Nitridosilan H S i = N ^ S i = N H aus Si und NH 3 sowie durch Photolyse von H3SiN3 oder Phosphiminosilan aus Si und P H photochemisch auf dem Wege: HSi—PH H 2 Si=PH oder in der Tieftemperaturmatrix). Eingehende ab initio Kalkulationen, verbunden mit Studien der Spezies in der Gasphase oder Tieftemperaturmatrix haben Einblicke in ihre Struk turverhältnisse und Reaktionsweisen verschafft. Die Tab. 96 fasst einige Kenndaten für H 2 Si=CH 2 (Silen im engeren Sinne; auch als Methylensilan, Silaethen bezeichnet), H 2 Si=NH (Silanimin, Iminosilan) H 2 Si=PH (Silanphosphimin, Phosphiminosilan), H 2 Si=O (Silanon, Oxosilan) und H 2 Si=S (Silanthion, Thiooxosilan) sowie - zum Vergleich - für H 2 Si=SiH 2 (s. S.933) zusammen. Hiernach kommen den ungesättigten Silanen H 2 Si=Y bis auf Disilen planarer Bau zu, wobei die Abstände der SiY-Doppelbindungen um ca. 0.2Ä kürzer sind als die der entsprechenden Einfachbindungen. Die Dissoziation der SiY-Doppelbindungen ist weniger energieaufwendig als die der CY-Doppelbindungen, aber energieaufwendiger als die der SiY-Einfachbindungen (Ausnahme: Disilin, vgl. S. 933). Die Isomerisierung der Silene in Silylene ist endotherm bis thermoneutral und kinetisch gehemmt, die Dimerisierung stark exotherm und nur wenig gehemmt Hx
Isomerisierung
,r / ,Si—Y
Si=Y H
H
H
S
=Y
m^riswrnng
H2Sl-Y
Si
Si
H
Der dreifach ungesättigten Spezies H S i = C H (Silin in engerem Sinne; auch als Methylinsilan oder Silaethin bezeichnet) kommt trans-gewinkelte Struktur zu (Cs-Symmetrie; dSic = 1.665 Ä, > HSiC/ SiCH = 123.9/149.5°; E (Linearisierung) = 38 kJ/mol; £ (Isomerisierung in :Si=CH 2 ) = - 138 kJ/mol), der Spezies H S i = N (Silannitrid, Nitridosilan, Silablausäure) eine gewinkelte Struktur zu (Cs-Symmetrie).
Tab. 96 Strukturelle und energetische Kenndaten (berechnet) ungesättigter Tetrelverbindungen H 2 E = Y (E = C H , SiH2 NH, PH, O, S, Se, Te; in Klammern Werte für H 3 E — Y H ; d = Bindungsabstand; DE = Dissoziationsenergie für H 2 E = Y -> H2E + Y; i?isom = Isomerisierungsenergie für H 2 E = Y -> H E — Y H ^ d i m = Dimerisierungsenergie 2 H 2 E = Y -> (—H2E—Y—)2; £ a = Aktivierungsenergie)a). S
CH
Bau (Symmetrie) rlSi rÄF , )
planar (C
Winkel SiYH [°] DE Si kJ/mol £ i s o m / £ [kJ/mol] E J E ^ [kJ/mol]
S
S
NH
S
PH
S O
H2Si=S
nichtplanar (C )
planar (C )
planar (C )
planar (C )
1.57 (1.72)
2.06 (2.26)
1.51 (1.65)
1.95 (2.15)
122
2.14 (2.34)" Cl
125
94
-
-
500 (370)
224 (309)
610 (415)
385 (265)
746 (387)
538 (312)
10 (170)
33/72
- 62.2/230
-55/170
- 3 1 5 (40)
neg./klein
neg./klein
neg./klein
as 0 (240) - 460/ s; 0
as 0 (230) - 280/a; 0
1.70 (1.89)
)
Si
planar (C
a) Bezüglich entsprechender Daten für H 2 E = E H 2 (E = C bis Pb) vgl. Tab. 94 auf S. 933. - b) H 2 Si=Se: 2.08 (2.29)Ä; H 2 Si=Te: 2.29 (2.51) Ä. (Analoges gilt für die Abstände in H 2 C = Y ^ = O bis Te): 1.20-1.95 Ä); H 2 G e = Y : 1.63-2.37 Ä; H 2 S n = Y : 1.80-2.54 Ä; H 2 P b = Y : 1.85-2.59 Ä. Ebenso nehmen die Doppelbindungsabstände für H 2 E = E H 2 bzw. H 2 E = Y H (Y = N bis Bi) mit wachsender Ordnungszahl sowohl von E wie Y zu (vgl. Tab. 94). - c) Trans-abgewinkelte Struktur mit pyramidalen Si-Atomen: (p/z = 34/0° (vgl. Tab.94). - d) Linearisierungsenergie für SiNH/SiPH = 25/ > 125 kJ/mol. - e) DE S l = Y für H 2 Si=Se/H 2 Si=Te: 479/402 kJ/mol. (Analoges gilt für DE von H 2 C = Y ^ = O bis Te): 791-375 kJ/mol); für H 2 G e = Y : 617-374kJ/mol, für H 2 S n = Y : 534-346kJ/mol, für H 2 P b = Y : 460-313 kJ/mol. Ebenso nehmen die Dissoziationsenergien für H 2 E = E H 2 bzw. H 2 E = Y H (Y = N bis Bi) mit wachsender Ordnungszahl sowohl von E wie Y ab (vgl. Tab. 94).
• 944
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Halogenverbindungen des Siliciums 2 6 , 3 5 , 3 7
2.3 Überblick
Systematik. Silicium bildet Halogenide der Zusammensetzung Si„X 2 „ +2 (n = 1 , 2 , 3, 4, . . . ) , Si„X2n(n = 1,4, 5, 6, x) u n d SiBXB ( n = x ) , welche sich von den entsprechenden Silanen (S. 936) durch Ersatz aller Wasserstoff- gegen H a l o g e n a t o m e ableiten (vgl. Tab.97). Tab.97
Siliciumhalogenide (AH, in kJ/mol).
Verbindungstypus
Fluoride
SiX 4 Siliciumtetrahalogenide
Si 2 X„ Disiliciumhexahalogenide
Bromide
Iodide
SiC Si Farblose Flüssigk Farbloses Gas Smp. — 90.2°/1.75 bar Smp. — 70.4 °C Sdp. 57.57 °C Sblp. — 95.5°C AHf = — 663 kJ AHf = — 1615 kJ
SiBr 4 a) Farblose Flüssigk Smp. 5.2 °C Sdp. 152.8 °C — 415 k
Si Farblose Kristalle Smp. 120.5 °C Sdp. 287.5°C AHf = — 110 kJ
Si 2 Cl„ Farblose Flüssigk Smp. 2.5°C Sdp. 146°C
S B Farblose Kristalle Smp. 95 °C Sdp. 265°C
S
S 3 C1 8 '» Farblose Flüssigk Smp. — 76 °C Sdp. 216 °C
S B Farblose Kristalle Smp. 46 °C
S
Si N u r Gasphase
S
Farbloses Gas Smp. —18.7°/1.02 bar Sblp. — 19.1 °C
Chloride
Blaßgelbe Kristalle Smp. 250 °C
S
S
Trisiliciumoctahalogenide
Farblose Flüssigk. Smp. — 1.2 °C Sdp. 42.0 °C
(SiX 2 )„; n = 1
Si
SiC N u r Gasphase
SiB N u r Gasphase
(SiX 2 )„; n = 4, 5, 6
N u r Gasphase
( S i ^ )4.S.«
(SiBr2 )4,5,„
(Sil2 )4,5,6
Blassgelbe Feststoffe (SiC Blassgelber Feststo
Gelbe Feststoff (SiB Gelber Feststo
Dunkelgelbe Feststoff (Si Gelbroter Feststoff
[SiCl],
SiB Dunkelgelber sto
Si Orangeroter sto
(SiX 2 )„; n = groß
Si Polysiliciummonohalogenide
(Si Farbl. Feststoff Si Farbloser Feststo
Gelber Feststoff
Fest-
?
Fest-
a) Es existieren auch gemischte Halogenide SiX„X'4_„(X = F, Cl, Br, I; n = 1, 2, 3; gewinnbar aus SiX 4 /SiX 4 ) sowie SiBrCl 2 F und SiBr 2 ClF. Die Verbindung SiFClBrI (Smp. 85 °C), die in zwei optisch-aktiven Formen auftreten sollte, ist ebenfalls bekannt. - b ) Es existieren auch höhere Siliciumfluoride Si„F2„ + 2 (nachgewiesen bis n = 14), z.B. Si 4 F 1 0 : farblose Kristalle, Smp. 68 °C, Sdp. 85.1 °C. - c) Es existieren auch höhere Siliciumchloride Si„Cl2„ + 2 (isoliert bis n = 6). Eingehender untersucht: ,,Dodecachlorneopentasilan" Si(SiCl 3 ) 4 : farblose Kristalle, Smp. 345°C und ,,Tetradecachlorhexasilan" (Si(SiCl 3 ) 3 (Si 2 Cl 5 ): farblose Kristalle, Smp. 320°C, Sblp. 120°C (Hochvakuum). - d) Es existieren auch höhere Siliciumbromide Si„Br2„ + 2 , z.B. Si 4 Br 1 0 : farblose Kristalle, Smp. 84°C, Sdp. 95°C (Hochvakuum).
Strukturen Acyclische und cyclische Perhalogensilane. Die,,Siliciumtetrahalogenide" SiX4, deren Beständigkeit mit steigender Masse des Halogens abnimmt (Tab.97), sind tetraedrisch gebaut (Si im Tetraederzentrum; Td-Symmetrie), wobei der SiF-Abstand in SiF4 mit 1.55 Ä einem Zustand zwischen einfacher 37
Literatur. E. Hengge:,,Inorganic Silicon Halides", in V. Gutmann (Hrsg.): „Halogen Chemistry", Band 2, Academic Press, London 1967, S. 169-232; M. Schmeisser, P. Voss: ,,Darstellung und chemisches Verhalten von Siliciumsubhalogeniden" Fortschr. Chem. F o r s c h 9 (1967) 165-205; J.L. Margrave, K . G . Sharp, P.W. Wilson: „The Dihalides of Group IVB Elements", Fortschr. Chem. F o r s c h 26 (1972) 1 - 3 5 ; P. L. Timms: ,,Low Temperature Condensation of High Temperature Species as a Synthetic Method", Adv. Inorg. Radiochem. 14 (1972) 121-171; D. Naumann: ,,Fluor and Fluorverbindungen", Steinkopff, Darmstadt 1980, S. 78-83; J.L. Margrave, P.W. Wilson:,,SiF 2 , a Carbene Analogue. Its Reactions and Properties", Acc. Chem. Res. 4 (1971) 145-152; G. Urry: „Systematic Synthesis in Polysilane Series", Acc. Chem. R e s 3 (1970) 306-312; M. Binnewies, K. Ing: „The Formation of a Solidfrom the Reaction SiCl4(g) - Si02(s) + 2Cl2(g)", Eur. J. Inorg. Chem. (2000) 1127-1138; C.S. Liv, T.-L. Hwang: „Inorganic Silylenes. Chemistry of Silylene, Dichlorsilylene and Difluorsilylene", Adv. Inorg. Radiochem 29 (1985) 1-40.
2. Das Silicium
945
und doppelter Bindung entspricht (ber. für Si—F: 1.81 Ä). Die Bindungsverkürzung wird offensichtlich durch den hohen polaren Charakter der SiF-Bindung verursacht (kovalente + elektrovalente Bindung, S.929). Letzterer Effekt wirkt sich erwartungsgemäß im Falle von SiCl4, SiBr4 und Sil4 weniger stark aus (ber. für Si—Cl/Si—Br/Si—I: 2.16/2.31/2.40 Ä). Länger als die SiF-Bindungen in Siliciumtetrafluorid sind die SiF-Abstände in dessen Fluorid-Addukten, trigonal-bipyramidalem SiF5~ (rfSiF(äql/SiF(a^ ca. 1.59/ 1.65 .Ä.) sowie oktaedrischem SiF^" (rfSiF ca. 1.69 Ä). Die ,,Siliciumtrihalogenide" Si2X6 weisen eine gestaffelte Konformation wie Si2H6 auf (D3d-Symmetrie; dSiSi ca. 2.32 Ä; ber. 2.34Ä; entsprechend sind wohl höhere Siliciumhalogenide SinX2n+2 mitn = 3 , 4 , . . . strukturiert). Zenrales Bauelement der cyclischen ,,Siliciumdihalogenide" (SiX2)4 (X = Cl, Br) ist einplanarer fast quadratischer Si4-Ring (D4h-Symmetrie), X
X
I , M
I X
X. 2.32 ^ X X-^Si—Si—X
X
F
d = 1.55 Ä
Cl
= 2.09 Ä = 2.18 Ä = 2.43 Ä
Br I
^X
1.50 2.00 2.30 2.40
Ä Ä Ä Ä
\\
2.3/ AÄ . X 2.37
^Si X X /
/
V — S i N" X^
Sil V x
••
S id x
X
X
X d= 1.60 Ä
: 112° 113° ?
= 2.11 Ä = 2.29 Ä = 2.52 Ä
= = = =
100° 102° 103° 1 04°
dessen SiSi-Abstände (3.372Ä) etwas länger sind als im planaren (SiMe2)4 (2.363 Ä), wogegen die Cyclosilane (SiX2)56 nichtplanare Si5- bzw. Si6-Ringe enthalten. Die polymeren ,,Siliciumdi-" und ,,Siliciummonohalogenide" (SiX2)x und (SiX)x leiten sich strukturell von kettenförmigem (SiHJ.,, raumvernetztem (SiH)^ bzw. schichtförmigem (SiH)^ (S.941) durch Ersatz der Wasserstoff- gegen Halogenatome ab. Dihalogensilylene. Die monomeren, nur bei hoher Temperatur in der Gasphase oder bei tiefer Temperatur in der Matrix existierenden monomeren ,,Siliciumdihalogenide" SiX2 liegen im Grundzustand als gewinkelte Singulett-Spezies vor (C2v-Symmetrie). Die SiX-Abstände sind hierbei größer als in entsprechenden Tetrahalogeniden SiX4, die XSiX-Winkel nehmen in Richtung SiF2 -> Sil2 geringfügig zu (vgl. Zusammenstellung). Der Übergang in den angeregten Triplettzustand (AES^T für SiF2/SiCl2/SiBr2/SiI2 = 57.6/ 53.5/42.7/41.0 kJ/mol) ist mit einer geringfügigen SiX-Abstandsverkürzung sowie einer deutlichen Winkelaufweitung verbunden. (vgl. S.931). N a c h f o l g e n d werden zunächst Halogenide des vierbinden Siliciums, nämlich Siliciumtetrahalogenide SiX 4 (Silicium(IV)-halogenide), Disiliciumhexahalogenide Si 2 X 6 (Silicium(III)-halogenide) sowie höhere Siliciumhalogenide (Silicium(< III)-halogenide), d a n n Halogenide des zweibindigen Siliciums, nämlich Dihalogensilylene SiX 2 , b e s p r o c h e n Technische Produkte sind insbesondere SiliciumtetrachloridSiCl4 u n d die von SiF 4 abgeleiteten Hexafluorosilicate SiF;?". Bezüglich der m o n o m e r e n Halogenidoxide u n d -sulflde des Siliciums vgl. A n m . 4 ^ 4 4 . Siliciumtetrahalogenide (Tetrahalogensilane) SiX4 Siliciumtetrafluorid S f f 4 . Darstellung. Siliciumtetrafluorid ist durch Synthese aus den Elementen (Si + 2 F 2 SiF 4 + 1615 kJ) sowie - bequemer - durch Einwirkung von H y d r o g e n f l u o r i d auf S i l i c i u m d i o x i d gemäß: Si02 + 4 H
SiF 4 + 2 ^ 0
(1)
bei Gegenwart w a s s e r z i e h e n d e r Mittel (Verschiebung des Gleichgewichtes (1) zugunsten der SiF 4 -Bildung) zugänglich. In der Praxis verfährt m a n zweckmäßig so, dass m a n auf ein Gemisch von gepulvertem C a l c i u m f l u o r i d (Flussspat) CaF2 und Q u a r z s a n d S i 0 2 konzentrierte S c h w e f e l s ä u r e einwirken lässt, wobei letztere zunächst Hydrogenfluorid bildet (CaF 2 + H 2 S 0 4 -> C a S 0 4 + 2 H F ) u n d d a n n als wasserentziehendes Mittel die obige U m s e t z u n g (1) zwischen S i 0 2 u n d H F begünstigt. Sehr reines SiF 4 k a n n im L a b o r a t o rium aus BaSiF 6 durch Erhitzen im V a k u u m auf 3 0 0 - 3 5 0 °C gewonnen werden (BaSi Ba Si ). Auch auf Silicate, d.h. die Salze der sich vom Anhydrid Si0 2 ableitenden Kieselsäuren, wirkt Hydrogenfluorid unter Bildung von gasförmigem S i l i c i u m t e t r a f l u o r i d ein. Hierauf beruht einerseits die ä t z e n d e W i r k u n g der Flusssäure auf Glas (S.449), andererseits die Entfernung von Silicium aus Si-
• 946
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
licaten durch ,,Abrauchen mit Flusssäure" zwecks nachfolgender analytischer Bestimmung der in den Silicaten enthaltenen Metalle
Eigenschaften (vgl. Tab. 97). Siliciumtetrafluorid ist ein farbloses, an feuchter Luft infolge Hydrolyse stark rauchendes Gas von stechendem und erstickendem Geruch (bezüglich einiger Kenndaten vgl. Tab. 97, bezüglich der Struktur S. 945). Als stark exotherme Verbindung (Tab. 97) ist Siliciumtetrafluorid sehr b e s t ä n d i g und bei Ausschluss von Feuchtigkeit recht r e a k t i o n s t r ä g e . Dagegen wird es in Umkehrung der Bildungsgleichung (1) von Wasser leicht unter Abscheidung gallertartiger Kieselsäure und Bildung von F l u s s s ä u r e hydrolytisch zersetzt, wobei sich die Flusssäure mit noch unverändertem Siliciumtetrafluorid zu Hexafluorokieselsäure H 2 SiF 6 vereinigt (SiF4 + 2HF -> H 2 SiF 6 ): 3SiF4 + 2 H 2 0
Si0 2 (aq) + 2H 2 SiF 6 .
(2)
In der Gasphase erhält man bei SiF4-Überschuss gemäß 2SiF4 + H 2 0 -> F3Si—O—SiF3 + 2HF u.a. ,,Hexafluordisiloxan (farbloses Gas; Smp. — 47.8°C, Sdp. — 23.3°C; Darstellung zweckmäßig nach: 3SiF4 + Si0 2 -> 2Si 2 OF 6 ). SiF4 ist nicht nur hinsichtlich HF, sondern allgemein gegenüber Verbindungen mit freien Elektronenpaaren eine starke Lewis-Säure (Bildung von trigonal-bipyramidalen bzw. oktaedrischen Donoraddukten SiF4(D) bzw. SiF 4 (D) 2 wie SiF 4 (NH 3 ) bzw. SiF 4 (NH 3 ) 2 ).
Hexafluorokieselsäure H 2 Sff 6 . Die - auch technisch - auf dem obengenannten Wege (2) durch Einwirkung von Siliciumfluorid auf Wasser oder als Nebenprodukt des schwefelsauren Aufschlusses von kieselsäurehaltigem Fluorapatit (Ca 5 (PO 4 ) 3 F + 5H 2 SO 4 -> 5CaSO 4 + 3H 3 PO 4 + HF; Si0 2 + 6 H F ^ H 2 S i F 6 + 2 ^ O ) zugängliche Hexafluorokieselsäure H 2 SiF 6 (,,Kieselfluorwasserstoffsäure") ist in reinem, wasserfreiem Zustande ebensowenig bekannt wie die freie Hexafluoro-aluminiumsäure H 3 AlF 6 oder Hexafluoro-phosphorsäure H P F , da sie gleich letzteren unter HF-Abspaltung zerfällt. Stellt man sie durch Einwirkung konzentrierter Schwefelsäure auf ihre Salze (,, Hexafluorosilicate") wasserfrei dar: BaSiFö + H 2 SO 4 -> BaSO 4 + H 2 SiF 6 , so erfolgt weitgehender Z e r f a l l unter Bildung von Siliciumt e t r a f l u o r i d und F l u o r w a s s e r s t o f f (H 2 SiF 6 -> SiF4 + 2HF). In wässriger L ö s u n g (H 2 SiF 6 + 2 H 2 0 -> 2 H 3 0 + + SiFg~) treten dagegen keine merklichen Mengen freier Flusssäure auf, sodass die Lösung Glas nicht ätzt. Kühlt man konzentriertere Lösungen ab, so scheidet sich unter anderem ein D i h y d r a t der Fluorokieselsäure - als Oxoniumsalz (H 3 O) 2 SiF 6 - in Form farbloser Kristalle vom Schmelzpunkt 19 °C ab. Beim Eindampfen wässriger Fluorokieselsäurelösungen entweicht sowohl S i l i c i u m t e t r a f l u o r i d als auch F l u o r w a s s e r s t o f f . Ist die Lösung 13.3 %ig, so enthält der Dampf gerade 2 H F auf 1 SiF4, sodass die Fluorokieselsäure scheinbar unzersetzt destilliert. Bei größeren Konzentrationen geht mehr SiF4, bei kleineren mehr HF in den Dampf über. Dampft man daher eine k o n z e n t r i e r t e Fluorkieselsäurelösung ein, so reichert sich die zurückbleibende Lösung an H F an und vermag daher Glas zu ätzen und Siliciumdioxid aufzulösen. Aus einer v e r d ü n n t e n Fluorokieselsäurelösung scheidet sich beim Eindampfen umgekehrt Siliciumdioxid aus, da sich hier das S i l i c i u m t e t r a f l u o r i d anreichert, welches von Wasser hydrolysiert wird
Die Fluorokieselsäure ist eine starke Säure, welche mit Hydroxiden oder Carbonaten unter Bildung von F l u o r o s i l i c a t e n M 2 [SiF ö ] reagiert (technisch werden u.a. das Na-, K-, Mg-, Zn- und Cu-Salz gewonnen). Die Fluorosilicate (bzgl. der Struktur vgl. S. 945) - die auch durch direkte Vereinigung der Komponenten zugänglich sind (SiF4 + 2MF -> M 2 [SiF 6 ]) - sind meist wasserlöslich. Schwerlöslich sind die Fluorosilicate der Alkalimetalle (außer Lithium) und das B a r i u m - f l u o r o s i l i c a t . Die Fluorokieselsäure und ihre Salze sind giftig und werden als bakterien- und insektentötende Mittel angewandt, z.B. MgSiFö zum Holzschutz Siliciumtetrachlorid SiCl4. Die Darstellung von SiCl4 neben HSiCl 3 (S. 938) erfolgt in der Technik aus Silicium und gasförmigem Chlorwasserstoff oberhalb 300°C (höhere Temperaturen begünstigen die SiC -Bildung): Si + 4HC1 -> SiCl4 + 2H 2 ;
Si + 3HC1 -> HSiCl 3 + H 2 .
2. Das Silicium
947
Z u m Teil wird SiCl 4 auch durch Erhitzen von Silicium oder Ferrosilicium im Chlorstrom gewonnen (Nebenprodukte: höhere Siliciumchloride, s. unten); auch entsteht es aus S i 0 2 , Kohlenstoff u n d Chlor bzw. SiC u n d Chlor bei 1400°C. Eigenschaften (vgl. Tab. 97). SiCl 4 stellt eine farblose, Hydrolyse SiCl 4 + 4 H 2 0
bewegliche, an feuchter L u f t infolge
Si(OH) 4 + 4 H C l
rauchende Flüssigkeit (g = 1.49 g / c m ) von stechendem Geruch d a r (bzgl. einiger Kenndaten vgl. Tab. 97, bzgl. der Struktur S. 945). D u r c h vorsichtige Hydrolyse mit feuchtem Ether entstehen - wohl auf dem Wege über H O S i C l 3 als erstem, in der Gasphase auch direkt nachweisbarem P r o d u k t - kettenförmige Perchlorsiloxane Cl—(SiCl 2 O)„—SiCl 3 (n = 1 - 6 ) 3 8 . 2 Ähnlich wie durch O H oder O " lässt sich das Chlorid in SiCl 4 durch andere Nucleophile substituieren. So f ü h r t die Alkoholyse zu Kieselsäureestern Si(OR) 4 u n d die Ammonolyse in Ether bei - 60°C zu Chlorsilazanen wie z.B. C l 3 S i — N H — S i C l 3 oder ( S i C l 2 N H ) 3 bzw. in SiCl 4 bei - 50°C zu Tetraaminosilan S i ( N H 2 ) 4 u n d in N H (fl.) bei - 85°C zu Diaminoiminosilan S i ( N H ) ( N H 2 ) 2 (vgl. S. 983). Bei Einwirkung von SiX 4 (X = F, Br, I) auf SiCl 4 erfolgt ein Halogenidaustausch bis zu einem bestimmten Gleichgewicht, bei Einwirkung von N a N 3 Bildung von Si(N Das Halogenid in Tetrachlorsilan SiCl4 und anderen Halogensilanen ^Si—X wird zum Unterschied von Halogenid in Tetrachlormethan CC14 und anderen Halogenalkanen ^C—X sehr leicht im Zuge einer assoziativ-aktivierten nucleophilen Substitution am Silicium (S. 398) ersetzt, obwohl CX-Bindungen weniger fest als SiX-Bindungen sind (vgl. Tab.21, S. 143): N u : " + ^Si—X
{Nu—Si—X}"
Nu—Si^ + X~
(Nu~ z.B. OH~, NH 3 , X"). Die Formulierung von Zwischenstufen wie NuSiCl 4 wird durch die Isolierbarkeit von SiCl4-Donoraddukten wie SiCl 4 (D) (trigonal-bipyramidal), SiCl 4 (D) 2 (oktaedrisch) und SiCl2(D)4 + 2 C P (oktaedrisch) gestützt (entsprechende Addukte sind für CC14 unbekannt). Die LewisAcidität der Halogensilane R„SiX4_„ hängt hinsichtlich einer bestimmten Lewis-Base („Donor") sowohl vom Halogen X ab (sinkende Acidität in Richtung SiF4 > SiCl4 > SiBr4 > Sil 4 ; letztere Tetrahalogenide SiX4 bilden anders als SiF4 mit MX keine beständigen Halogenokomplexe S Ä 4 " ) als auch von den Resten R. Organylgruppen (einschließlich Wasserstoff) vermindern die Additionstendenz (sinkende Acidität in Richtung SiX4 > RSiX 3 > R 2 SiX 2 > R 3 SiX > R4Si), Silylgruppen erhöhen sie. Aus letzterem Grunde bildet etwa Me3SiSiCl3 mit a,a'-Bipyridyl einen Komplex, MeSiCl3 nicht; auch lagert sich etwa a,a'-Bipyridyl oder 1,10-Phenanthrolin (S. 1321) nicht an das endständige Silicium von Cl3Si—SiCl2—SiCl3 (ein Silylsubstituent), sondern an das mittelständige Silicium (zwei Silylsubstituenten), wobei letzteres in den Komplexen Si3Cl8 (dipy) und Si3Cl8 (phen) oktaedrisch koordiniert ist (axial gebundene SiQ 3 -Gruppen). Ursache für den Silylgruppeneffekt ist möglicherweise die hohe Dehnbarkeit der SiSi-Bindungen (vgl. iBu 3 Si—SkBu 3 , S, 994), wodurch lange axiale SiSi-Bindungen gebildet werden können Verwendung. Siliciumtetrachlorid (Weltjahresproduktion: Zig Kilotonnenmaßstab) wird neben HSiCl 3 zur Herstellung von Halbleitersilicium sowie zum Silicieren metallischer Gegenstände benutzt. Auch ist es Ausgangsprodukt für die Synthese von hochdispersem Kieselgel, von Kieselsäureestern (besonders wichtig ist das bei - 77 °C schmelzende und bei 168.5 °C siedende ,, Tetraethoxysilan" Si(OEt)4 als Bindemittel für keramische Massen, zur Modifizierung von Siliconen, zur Oberflächenbehandlung von Glas) und von organofunktionellen Siliciumverbindungen. Siliciumtetrabromid SiBr4 und Siliciumtetraiodid Sil 4 (vgl. Tab.97 und S.945), bilden sich bei der Einwirkung von Brom oder Bromwassersto bzw Iod oder Iodwassersto auf erhitztes Silicium (Ferrosili cium) neben höheren Siliciumhalogeniden (s. unten).
38
Sauerstoff reagiert mit SiCl 4 bei k n a p p 1000°C zu monomerem Siliciumoxiddichlorid O = S i C l 2 (,,Silicophosgen"; isoelektronisch mit NPC1 2 ): 2SiCl 4 + 0 2 2SiOCl 2 + 2C1 2 , das unter den Reaktionsbedingungen in lineare, cyclische und käfigartige Perchlorsiloxane wie Si„0„_ t C l 2 „ + 2 und (SiOCl 2 ) m (m = 3, 4, 5 . . . ; isoelektronisch mit Perchlorcyclophosphazenen) übergeht. Setzt m a n SiCl 4 /N 2 -Gemische der Glimmentladung aus, so bilden sich - möglicherweise über Siliciumimiddichlorid C l 3 S i N = S i C l 2 - Perchlorsilazane wie N(SiCl 3 ) 3 oder [Cl 2 Si—N(SiCl 3 )] 2 ; in einem durch Mikrowellen erzeugten Gasplasma erhält m a n zusätzlich N 2 (SiCl 3 ) 4 .
• 948
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Disiliciumhexahalogenide (Hexahalogendisilane) Si 2 X 6 Disiliciumhexachlorid Si 2 Cl 6 , eine farblose, hydrolyseempfindliche und luftbeständige Flüssigkeit (vgl. Tab. 97 und S. 945) entsteht bei der Umsetzung von Ferrosilicium mit Chlor bei erhöhter Temperatur neben anderen Siliciumchloriden (s. unten). Durch vorsichtige Hydrolyse mit feuchtem Ether lässt sie sich in Siloxane des Typus Cl 3 Si—SiCl 2 —O— (SiCl 2 —SiCl 2 —O)„—SiCl 2 —SiCl 3 (n = 0, 1, 2) umwandeln. Katalytische Mengen Trimethylamin NMe 3 führen zu ihrer Disproportionierung 4Si 2 Cl 6
Si 5 Cl 12 + 3SiCl 4
bzw.
5Si 2 Cl 6
Si 6 Cl 14 + 4SiCl 4
wohl auf dem Wege Si 2 Cl 6 + NMe 3 SiCl 2 (NMe 3 ) + SiCl4; Si 2 Cl 6 + 3(4)SiCl 2 (NMe 3 ) Si 5 Cl 12 (Si 6 Cl 14 ) + 3(4)NMe 3 . Si 2 Cl 6 findet als Reduktionsmittel für Phosphanoxide R 3 PO (R = organischer Rest) Verwendung: R 3 PO + Cl 3 Si—SiCl 3 ^
R 3 P + Cl 3 Si—O—SiCl 3 .
Die unter milden Bedingungen (25 °C, H C Q 3 ) erfolgende Reaktion verläuft auf dem Wege Cl 3 Si—PR+ + O—SiCl 3 Cl 3 Si—O—SiCl 3 R 3 P = 0 + Cl 3 Si—SiCl 3 RP—O—SiCl 3 + + SiCl3 PR (assoziative nucleophile Substitutionsreaktionen am Silicium sowie Phosphor als Substitutions zentren). In analoger Weise lässt sich schwefel- oder stickstoffgebundener Sauerstoff mit Si 2 Cl 6 entfernen. Disiliciumhexafluorid Si2F6 (vgl. Tab.97 und S.945) ist u.a. durch Fluorierung von Si 2 Cl 6 oder Si 2 Br 6 mit F2 bzw. durch Fluoridierung von Si 2 Cl 6 mit ZnF 2 als farbloses Gas darstellbar. Das Fluorid geht hydrolytisch auf dem Wege über (HO) 3 Si—Si(OH) 3 in Kieselsäure und Hexafluorokieselsäure über: Si 2 F 6 + 6 H 2 0
Si 2 (OH) 6 + 6 H F
H 2 + H 2 SiF 6 + Si(OH) 4 + 2 ^ O .
Disiliciumhexabromid Si 2 Br 6 (vgl. Tab.97 und S.945) bildet sich bei erhöhter Temperatur durch Einwirkung von Bromwasserstoff auf Silicium oder Brom auf Calciumdisilicid als farbloser Feststoff, Disiliciumhexaiodid Si 2 I 6 (vgl. Tab.97 und S.945) bei erhöhter Temperatur durch Einwirkung von Silber auf Siliciumtetraiodid oder Iod auf Silicium als blassgelber, bei 250 °C in Sil 4 und (SiI)x zerfallender Festkörper (S ist das instabilste der Siliciumhexahalogenide).
Höhere Siliciumhalogenide Si„X 2 n + m Beim Abschrecken von gasförmigem, aus Si und SiF4 bei 1250 °C im Vakuum zugänglichen Difluorsilylen (s. unten) auf — 196°C polymerisiert SiF2 zu farblosem, wachsartigem Polydifluorsilylen (SiF2)x (,,Perfluorpolysilan"; vgl. S. 949). Letztere, auch durch Entbromierung von SiBr2F2 mit Mg in Et 2 O gewinnbare Verbindung thermolysiert oberhalb von 200 °C und entzündet sich an der Luft. Sie ist mithin chemisch weit instabiler als die homologe Kohlenstoffverbindung ( C F ^ (,,Teflon"). Hierbei führt die Zersetzung von (SiFj)., bei 200-350 °C im Vakuum zufarblosen Perfluoroligosilanen Si^2»+2 (nachgewiesen bis n = 14; z. B. Si2F6, Si3F8, Si4F10; vgl. Tab. 97) sowie farblosem, oberhalb 400°C explosionsartig zerfallendem auch durch Entbromierung von SiBr3F mit Mg in Et 2 O gewinnbarem raumvernetzten Perfluorpolysililin (SiF)x (vgl. S.941). X
Abschrecken S i P 2 7T77 TA^R? 1250 —196 C
200-350°C
(Si^
(N
+2)(SiF^
—
-
Vakuum
•
*SI„F 2 „+ 2
+ 2(SiF)J1.
Ein gelbes, luftempfindliches schichtförmiges (SiF)^ (S. 941) bildet sich durch Fluoridierung von schichtförmigem (SiCl), bzw. (SiBr), (s.u.) mit SbF3. Beim raschen Abkühlen von gasförmigen, bei hohen Temperaturen aus Si und SiX4 (X = Cl, Br, I) erhältlichen Dihalogensilylenen SiX2 (s. u.) erhält man Polydihalogensilylene (SiX2)x („Perhalogenpolysilane"; vgl. Tab. 97 sowie S. 949; in (SiCl^-Kristallen, die sich beim Sublimieren von Si4Cl8 (s. u.) bilden, liegen •••SiClj—SiCl2—SiCl2—SiQ2--- Zick-Zack-Ketten mit planarem Si^-Gerüst v o r rfSiSi = 2.414 Ä, > SiSiSi/ClSi^^ = 114.6/111.0°). Beim Erhitzen von ( S i X ^ entstehen wasser- und luftempfindliche raumvernetzte Polyhalogensilyline (SiX)x: 3(SiX 2 ), xSiX 4 + 2(SiX^ (vgl. Tab.97 sowie S.949; (SiCl), und (SiBr)^ sind auch durch Entbromierung von SiBr3Cl und SiBr4 mit Mg in Et2O erhältlich). Schichtförmige Halogenide (SiX^ (X = Cl, Br) entstehen bei der Einwirkung von Iodchlorid bzw. Brom auf eine Suspension von CaSi2 in CC14, z.B.: CaSi2 + 4ICl ^ ^(SiCl^-H CaCl2 + 2I 2 . Schreckt man SiX2-Gas (X = Cl, Br) in Anwesenheit von SiX4 ab, so bilden sich unverzweigte und verzweigte Perhalogenoligosilane Si„X2„+2 (isoliert bis n = 6(X = Cl) bzw. n = 4(X = Br); vgl. Tab. 97). Die Chlorsilane Si„Cl2„+2 entstehen ungezielt auch durch Chlorierung von CaSi2 bzw. bei der elektrischen Durchladung von SiCl4 in Gegenwart von Silicium (Elektroden) und gezielt durch Photolyse von H g ( S „ Q 2 n ^ ^ (z.B.: Hg(Si2Cl5)2 -> Hg + Si4Cl10) bzw. durch basenkatalysierte Disproportionierung von Si2Cl6 (-• Si5Cl12 = Si(SiCl3)4 und
2. Das Silicium
949
Si4Cl14 s Si(SiCl3)3(Si2Cl5)). Schließlich führt der AK 3 -katalysierte Ph/X-Austausch (X = Cl, Br, I) in Perphenylcycosilanen Si„Ph2„ (S. 994) durch HX gemäß: Si„Ph2„ + 2«HX -> Si„X2„ + InPhH zu Perhalogen-cyc/o-oligosilanen SiBX2(1 (isoliert für « = 4, 5, 6; vgl. Tab.97 auf S.944).
Dihalogensilylene (Siliciumdihalogenide) SiX 2 Gasförmiges Difluorsilylen SiF2 (A.fff = — 587 kJ/mol; zum Vergleich CF 2 ; — 182 kJ/mol) wird sowohl durch thermische Komproportionierung aus SiF4 und elementarem Silicium bei 1100-1400 °C im Vakuum (0.1-0.2 mbar) als auch durch thermische Disproportionierung von Si 2 F 6 bei 700 °C gewonnen: SiF4 + Si
2SiF 2 ;
Si 2 F 6 t± SiF2 + SiF4.
In entsprechender Weise bilden sich Dichlor-, Dibrom- und Diiodsilylen SiCl 2 , SiBr2 und Sil 2 (vgl. S. 945). SiF2 ist in verdünnt-gasförmigem Zustand bei Raumtemperatur kurze Zeit haltbar (T1/2 für CF 2 /SiF 2 unter vergleichbaren Bedingungen ca. 1 s/0.001 s; bezüglich der relativen Stabilität von Dihalogeniden der Elemente der IV. Hauptgruppe vgl. S. 931). Das sehr reaktive, beim Abschrecken in polymeres SiF2 übergehende monomere SiF2 reagiert mit zahlreichen anorganischen oder organischen Verbindungen unter Einschiebung („Insertion") in ( S i C y j , teils mit SiCl4 unter Insertion in SiCl-Bindungen (SiCl4 + (n — 1)SiCl 2 -> Si„Cl 2n+2 ). In analoger Weise wie im Falle von SiF2 entstehen beim Abschrecken von SiCl 2 -Gas in Gegenwart von BC13, CC14, SiCl4 oder PC13 durch Insertion in die Element-Chlor-Bindung Chloride, z. B. C12B—SiCl2—Cl, C13C—SiCl2—Cl, Cl 3 Si—SiCl 2 —Cl, C12P—SiCl2—Cl (vgl. SiF2, oben).
2.4
Chalkogenverbindungen des Siliciums 2 6 , 3 9
Silicium bildet Chalkogenide der Zusammensetzung SiY2 (Y = O, S, Se, Te) und SiY (nur bei hohen Temperaturen stabil. Man kennt darüber hinaus gelbe bis braune Oxide SiO„ (n < 1 und 1 -2).
39
Literatur. ULLMANN (5. Aufl.): ,,Silica", A M (1993) 583-660; G. Lehmann, H . U . Baumbauer; ,,Quarzkristalle und ihre FarbenAngew. C h e m 85 (1973) 281-289; Int. E d 12 (1973) 283; A. Haas: „Chemie der Silicium-SchwefelVerbindungen", Angew. C h e m 77 (1965) 1066-1075; Int. Ed. 4 (1965) 1014.
• 950
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Siliciumdioxid
SiO226'39'40'41
Vorkommen Das Siliciumdioxid ist in der Natur weit v e r b r e i t e t und findet sich hier sowohl in krist a l l i s i e r t e r wie a m o r p h e r F o r m Kristallisiert kommt es in acht verschiedenen, bei Raumtemperatur stabilen bzw. metastabilen Modifikationen vor: als „ßuarz" 4 0 a ) (g = 2.648 g / c m ) , ,,Cristobalit"40b) (e = 2.334 g / c m ) , ,,Tridymit"40°) ( e = 2.265 g/cm 3 ), ,,Coesit"40D> ( e = 2.911 g/cm 3 ), ,,Stishovit (Q = 4.387 g / c m ) „Keatit"40F> ( e =3.010 g / c m ) , ,,Melanophlogit"4^ und „faseriges SiO2"40H> (ß = 1.97 g / c m ) . (Vgl. hierzu die künstlich erzeugten SiO 2 -Formen „Silicalit", „Clathrasil" und „Dodecasil".) Amorph liegt Si0 2 wasserfrei als,,Kieselglas" (natürlich als „Lechatelierit" an Orten des Blitzeinschlags in reine Quarzsande; ^ = 2.19 g / c m ) und wasserhaltig als ,,Opal" sowie in ,,Sinter"- und ,,Tufferden" (z. B. „Kieselgur"400, ,Kieselsinter", „Kieseltuff") vor. Auch das im Gewebe vieler P f l a n z e n zur Verstärkung bestimmter Bauteile (z. B. Bambusstangen, Grashalme, Dornen, Stacheln, Palmenblätter) eingelagerte und in n i e d e r e n O r g a n i s m e n (Kieselalgen40'), Schwämmen, Napfschnecken usw.) in Form von Skeletten abgelagerte Si ist amorpher Natur Die häufigste Erscheinungsform von Si0 2 ist der Quarz. Natürliche transparente Abarten des kristallinen Quarzes sind z. B.,,Bergkristall" (wasserklar), „Rauchquarz" (braun),,,Amethyst"40T) (violett), „Citrin" (gelb; nach Glühen braunrot), „Rosenquarz" (rosa). Sie dienen u. a. als Schmucksteine. Als n i c h t t r a n s p a r e n t e Abarten seien genannt: ,,Milchquarz", „Saphirquarz", „Morion", „Katzenauge", „Tigerauge", „Falkenauge", „Eisenkiesel", „Gangquarz". Weiterhin findet sich kristalliner Quarz als Gemengebestandteil zahlreicher G e s t e i n e (z.B. Granit, Gneis, Sandstein, Quarzsand). F e i n k r i s t a l l i n (kryptokristallin) kommt Si0 2 als „Chalcedon" und dessen Abartenvor, z.B. in Formder grauen, t r ü b e n M i n e r a l e „Hornstein", „Feuerstein", „Silexstein", der f a r b i g e n , ebenfalls als Schmucksteine dienenden Minerale ,,Carneol" (gelb bis tiefrot), „Chrysopras" (lauchgrün), „Jaspis" (braun bis rotbraun), „Heliotrop" (rot gefleckter Jaspis), d e r g e s c h i c h t e t e n M i n e r a l e „Achat", „Onyx" sowie der Gesteine „Kieselschiefer", ,,Lydit". Gewinnung. K ü n s t l i c h lassen sich Q u a r z k r i s t a l l e mittels des , , H y d r o t h e r m a l v e r f a h r e n s " d u r c h U m k r i s t a l l i s a t i o n v o n S i 0 2 aus ü b e r h i t z t e m Wasser z ü c h t e n (nach d e m H y d r o t h e r m a l v e r f a h r e n lassen sich auch kleine Kristalle v o n S m a r a g d , A p a t i t , G l i m m e r u n d R u b i n erzeugen). H i e r z u e r w ä r m t m a n einen m i t Wasser gefüllten D r u c k a u t o k l a v e n , der im u n t e r e n Teil feinteiligen N a t u r q u a r z ( 3 - 5 m m D u r c h m e s s e r ) , im oberen Teil - a n geeigneten Vorricht u n g e n a u f g e h ä n g t e - Q u a r z - I m p f k r i s t a l l e enthält, in der Weise, dass die T e m p e r a t u r des überhitzten, u n t e r h o h e m D r u c k (800 b a r ) stehenden Wassers u n t e n ca. 400 °C u n d oben ca. 380 °C b e t r ä g t (unter den D r u c k - / T e m p e r a t u r v e r h ä l t n i s s e n ist Wasser bereits im überkritischen Bereich (vgl. S. 528) u n d liegt d e m g e m ä ß als D a m p f vor). H i e r d u r c h gelangt die im u n t e r e n Teil des A u t o k l a v e n gebildete g e s ä t t i g t e wässerige S i 0 2 - D a m p f l ö s u n g d u r c h K o n v e k t i o n in d e n o b e r e n kälteren Autoklaventeil, w o sich S i 0 2 in F o r m v o n Q u a r z a n den I m p f k r i s t a l l e n
40
Geschichtliches. a) Der Name Quarz leitet sich ab vom westslawischen „kwardy" (polnisch „twardy") = hart. Er tritt in der Natur in zwei enantiomorphen Kristallformen auf, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten und von denen die eine die Ebene des polarisierten Lichts nach links („Linksquarz"), die andere nach rechts dreht (,,Rechtsquarz"). b) Der Cristobalit (1884 entdeckt durch von Rath) ist nach seinem ersten Fundort, dem Berg San Cristobal in Südmexiko, benannt c) Der Name Tridymit leitet sich von tridimoi (griech.) = Drillinge ab, da bei Tridymit (1861 entdeckt durch von Rath) häufig 3 Kristalle verwachsen sind d) L. Coes, der Entdecker der nach ihm benannten SM 2 -Modifikation, erhielt 1953 den - in Flusssäure viel langsamer als Quarz löslichen - Coesit bei 250 °C und 35000 bar. Später (1960) wurde der Coesit auch in der Natur (Meteorkrater) aufgefunden. Beim Erhitzen auf 1200 °C bei Atmosphärendruck geht er in die normale SM 2 -Form über e) S.M. Stishov, der Entdecker der nach ihm benannten SM 2 -Modifikation, gewann 1961 den wie GeO 2 , S n 0 2 und P b 0 2 im Rutil-Typ (TM 2 ) kristallisierenden Stishovit bei 1300°C und 120000 bar. Später wurde der - gegen Flusssäure beständige, in Wasser leichter als Quarz l ö s l i c h e Stishovit auch in der Natur (Meteorkrater) aufgefunden. Bei 400 °C und Normaldruck geht der Stishovit in die normale SM 2 -Form über ^ P.P. Keat, der Entdecker der nach ihm benannten SM 2 -Modifikation, stellte den Keatit 1954 aus Kieselgel (s. dort) und Wasser bei 380-585°C und über 40000 bar d a r g) Melanophlogit-Kristalle sind bisher nur in sizilianischen Schwefellagerstätten beobachtet worden. Sie enthalten - eingelagert in den Hohlräumen der Kristallstruktur - stets Kohlenwasserstoffe. Ab 900 °C und Normaldruck geht Melanophlogit in Cristobalit über h) Das in der Natur nicht auftretende faserige Siliciumdioxid bildet sich durch vorsichtige Oxidation von Siliciummonoxid SiO (S. 953) und zersetzt sich an feuchter Luft rasch zu Kieselgel. i) Kieselgur entstammt dem Kieselgehalt vorzeitlicher Infusorien (Aufgusstierchen) und Diatomeen (Kieselalgen). k) Der Name Amethyst rührt daher, dass er den Griechen als Talisman diente, a(a) = Vereinigung, methy (griech.) = Wein.
41
Physiologisches Langfristiges E i n a t m e n v o n k r i s t a l l i n e n SM 2 -Stäuben führt beim Menschen nach 20 und mehr Jahren (bisweilen - bei Vorliegen sehr hoher SM 2 -Konzentrationen - aber auch in sehr viel kürzerer Zeit) zur ,,Silicose", einer S t a u b l u n g e n e r k r a n k u n g („Pneumokoniose") mit meist tödlichem Ausgang. Bösartigerweise schreitet die bisher nicht wirksam behandelbare Erkrankung auch nach Ausschaltung der Exposition fort. Auch a m o r p h e SM 2 -Stäube führen zur Silicose, die aber nach Ausschaltung der Exposition wieder abklingt (vgl. Anm 4 6 , S.955).
2. Das Silicium
951
aus der wässerigen Dampflösung abscheidet, die ja nunmehr - entsprechend ihrer niedrigeren Temperatur - ü b e r s ä t t i g t ist (die Löslichkeit von Si0 2 in Wasser nimmt mit dessen Temperatur stark zu. Sie ist jedoch selbst bei 400°C noch nicht übermäßig groß). Beträgt die Wachstumszeit 1 - 2 Monate, so werden Kristalle von 0.5-1 kg Gewicht erhalten. Die Weltjahresproduktion des auf diese Weise gezüchteten Quarzes erreichte 1980 etwa 300000 kg. Auch C r i s t o b a l i t wird s y n t h e t i s c h hergestellt. Hierzu erhitzt man Quarzsand in Drehrohröfen in Anwesenheit von Alkaliverbindungen als Katalysatoren (,,Mineralisatoren") auf ca.1500°C. Die gewonnenen Cristobalitgemische enthalten 8 5 - 9 0 % Cristobalit neben 15-10% Quarzglas. Die technische Umwandlung von Quarz bzw. Cristobalit in reinen Tridymit bereitet demgegenüber noch Schwierigkeiten. Bezüglich der künstlichen Gewinnung von Coesit, Stishovit, Keatit und faserigem Siliciumdioxid vgl. die Anmerkungen 406 ' f ' g ' h . Physikalische Eigenschaften Die bei A t m o s p h ä r e n d r u c k und bei Raum- bzw. höherer Temperatur thermodynamisch stabilen Si02-Normaldruck-Modifikationen sind a-Quarz („Tiefquarz"), ß-Quarz (,,Hochquarz"), ß-Tridymit (,,.Hoch-Tridymit") und ß-Cristobalit (,,HochCristobalit"). Die Umwandlungspunkte liegen, wie Fig. 206 zeigt, bei folgenden Temperaturen: 573 °C)
a-Quarz < (trigonal)
870°C)
ß-Quarz < (hexagonal)
1470°C)
ß-Tridymit < (hexagonal)
1705°C)
ß-Cristobalit < (kubisch)
2477°C )
Schmelze
120000 bar) Stishovit40e. Bezüglich der Dichten der Normal- und Hochdruckformen vgl. Vorkommen. Die Löslichkeiten in Wasser betragen bei Raumtemperatur: Quarz 2.9
Cristobalit 6.0
Tridymit 4.5
Coesit >2.9
Stishovit 11
Quarzglas 39 mg/l H 2 0
Strukturen Die Si-Atome des kubischen /J-Cristobalits (Hoch-Cristobalit) nehmen dieselben Lagen ein wie die C-Atome im Diamanten (Fig. 193 a, S. 869). Zwischen je zwei Si-Atomen ist dabei auf nur wenig gewinkelter Verbindungslinie je ein O-Atom eingelagert (vgl. Fig.207a). Alle Si-Atome sind somit von 40-Atomen, alle O-Atome von 2Si-Atomen umgeben, was zu der Formel Si0 2 führt. Die vier um jedes Si-Atom angeordneten O-Atome bilden die Ecken eines Tetraeders, in dessen M i t t e l p u n k t sich das Silicium befindet. Jeder SiO4-Tetraeder ist dabei mit vier anderen SiO4-Tetraedern über gemeinsame Sauerstoffatome verbunden. Im Falle des ß-Cristobalits ergibt sich dann der in Fig. 207 bveranschaulichte Raumverband e c k e n v e r k n ü p f t e r Tetraeder. Der t e t r a g o n a l e a-Cristobalit (Tief-Cristobalit) unterscheidet sich vom besprochenen -Cristobalit nur durch eine geringfügige Verschiebung der Atomlagen verbunden mit einer kleinen Veränderung der Bindungswinkel (s. unten). Der hexagonale ß-Tridymit (Hoch-Tridymit) unterscheidet sich bezüglich der Lage seiner Si-Atome vom kubischen ß-Cristobalit wie der hexagonale Diamant vom kubischen Diamant hinsichtlich der C-Atome (vgl. Fig. 193 b,S. 869; Si anstelle von C). Zwischen den Si-Atomen befindet sich - und zwar auf gerader Linie - ein O-Atom (analog gebaut wie ß-Tridymit ist Eis, vgl. S. 529). Wiederum ähnelt die Struktur des r h o m b i s c h e n a-Tridymits (Tief-Tridymit) weitgehend der des ß-Tridymits (geringfügige Änderung der Atomlagen und der Bindungswinkel, s. unten). In analoger Weise wie beim Cristobalit und Tridymit liegt auch im Falle des Quarzes ein Raumverband von eckenverknüpften SiO4-Tetradern vor (miteinander verknüpfte links- bzw. rechtsgängige helicale SiO 4 -Tetraederstränge 4 ^ ) . Trigonaler a-Quarz (Tief-Quarz) u n d h e x a g o n a l e r /J-Quarz (Hoch-Quarz) unterscheiden sich nur geringfügig in ihren Atomlagen und Bindungswinkeln. Die SiO-Abstände und SiOSi-Bindungswinkel haben im Quarz, Cristobalit und Tridymit folgende Werte: SiO2 -Form SiO-Abstand [Ä] SiOSi-Winkel
a-Quarz
ß-Quarz
a-Cristobalit
ß-Cristobalit
a-Tridymit
ß-Tridymit
1.61 144°
1.62 153°
1.60-1.61 147°
1.58-1.69 151°
1.54-1.71 ~ 140°
1.53-1.55 180°
Fig. 207 Ausschnitt aus der Struktur des ß-Cristobalits: (a) Valenzstrichformel (die Si—O—Si-Gruppen sind übersichtlichkeitshalber linear gezeichnet; tatsächlich beträgt der Si—O—Si-Winkel 151°); (b) Anordnung der Si -Tetraeder
2. Das Silicium
953
Die gefundenen SiO-Abstände (Mittelwert: 1.6 Ä) unterschreiten den berechneten SiO-Einfachbindungsabstand (1.81 Ä) und die SiOSi-Winkel (Mittelwert: 150°) überschreiten den Tetraederwinkel (109.5°) erheblich. Bezüglich einer Diskussion des Sachverhalts vgl. S.929. Auch die Struktur des Coesits 40d (monoklin), Keatits40f (tetragonal) und Melanophlogits40g (kubisch) besteht aus einem Raumverband e c k e n v e r k n ü p f t e r T e t r a e d e r . Charakteristische Strukturmerkmale sind - anders als die Si 6 0 6 -Ringe im Falle von Cristobalit und Tridymit - bei Coesit: Si 4 O s - und Si 8 O l e Ringe, bei Keatit: Si 5 O 10 -, Si 7 0 1 4 - und Si 8 0 1 6 -Ringe und bei Melanphlogit (Struktur analog H 2 O in Edelgashydraten 8 E • 46H 2 O): S ^ O j 0 - und Si e O 12 -Ringe, die große polyedrische Hohlräume einschließen. In faserigem Siliciumdioxid40H (rhombisch) sollen als einziger SiO 2 -Modifikation kantenverknüpfte SiO 2 -Tetraeder vorliegen (Struktur analog SiS2 (S.954), nicht bestätigt). Im analog T i 0 2 (Rutil, S. 126) kristallisierenden Stishovit (tetragonal), sind abweichend von allen übrigen SiO 2 -Formen, deren strukturbestimmendes Bauelement der Tetraeder ist, die Si-Atome o k t a e d r i s c h mit sechs O-Atomen koordiniert. Chemische Eigenschaften I n Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t seinem h o c h m o l e k u l a r e n C h a r a k t e r ist Siliciumdioxid S i 0 2 (AH{ = — 911.6 k J / m o l ) - vor allem in kristallisiertem Z u s t a n d e - ein ziemlich r e a k t i o n s t r ä g e r Stoff. So wird es v o n S ä u r e n a u ß e r v o n Flusssäure k a u m angegriffen, u n d a u c h wässrige A l k a l i l a u g e n wirken selbst beim K o c h e n n u r l a n g s a m auf d a s S ä u r e a n h y d r i d S i 0 2 ein (beim S c h m e l z e n m i t A l k a l i h y d r o x i d e n entstehen j e d o c h rasch A l k a l i s i l i c a t e , weshalb m a n in Q u a r z g e r ä t e n kein Alkali schmelzen darf): Si02
+
6HF
H2SiF6 + 2H2O;
S i 0 2 + 2 N a O H -> N a 2 S i 0 3 + H 2 O .
F r i s c h h e r g e s t e l l t e s , a m o r p h e s , wasserhaltiges Siliciumdioxid ist r e a k t i o n s f ä h i g e r u n d löst sich beispielsweise in L a u g e n auf. B e w a h r t m a n es einige Zeit auf o d e r t r o c k n e t m a n es o d e r erhitzt m a n es auf h ö h e r e T e m p e r a t u r , so verliert es diese Alkalilöslichkeit, e s , , a l t e r t " . Die ,,Alterung" b e r u h t auf einer K o n d e n s a t i o n der im frischen P r o d u k t n o c h a n w e s e n d e n S i l a n o l g r u p p e n S i — O H zu chemisch beständigeren D i s i l o x a n g r u p p e n S i — O — S i (vgl. S. 939). Verwendung Hauptverbraucher für Quarz-Kiese, -Sande und -Mehle (Jahresweltproduktion: Zig Megatonnenmaßstab) ist die Glas-, Gießerei-, Wasserglas-, Siliciumcarbid-, Email- und keramische Industrie. Quarzmehle dienen als Scheuer-, Schleif- und Poliermittel. Eine große Rolle spielt Quarz darüber hinaus wegen seines ,,piezoelektrischen Effekts"42 als Steuerquarz in der Hochfrequenz- und Ultraschalltechnik („Schwingquarz", „Quarzuhr"). Synthetische Cristobalit-Sande und daraus hergestellte Mehle dienen wie auch Quarz, besondere Quarzarten (z. B. Tripolit, Novaenlit), Kieselgur und Kieselerde als Füllstoffe für keramische Fliesenmassen (S.969) und als Füllstoffe für Straßenmarkierungsfarben, Putze sowie Siliconkautschuk Siliciummonoxid SiO26 Erhitzt m a n Siliciumdioxid m i t Silicium (Molverhältnis 3 : 1 ) im V a k u u m auf 1250°C u n d h ö h e r , so verflüchtigt sich d a s Silicium als kurzlebiges, gasförmiges, CO-isosteres Siliciumm o n o x i d SiO (&H f = — 9 9 . 6 k J / m o l ) 4 3 , welches bei l a n g s a m e m A b k ü h l e n in U m k e h r u n g der Bildungsgleichung leicht wieder D i s p r o p o r t i o n i e r u n g in S i 0 2 u n d Si erleidet (vgl. d a s analoge B o u d o u a r d - G l e i c h g e w i c h t : 172.6 kJ + C O 2 + C 2 C O , S.897): 7 1 3 . 4 k J + S i 0 2 + Si
2SiO(g),
4 2 Unter „Piezoelektrizität" versteht man die Erscheinung einiger Stoffe wie Quarz, Turmalin, Zinkblende, Weinsäure oder Seignettesalz, sich bei Druck oder Zug auf bestimmten gegenüberliegenden Kristallflächen elektrisch entgegengesetzt aufzuladen (piezo (griech.) = pressen). 3 4 Matrixisoliertes monomeres SiO, SiO 2 , SiOX 2 , SiOS. Zur Erzeugung und Isolierung von Siliciummonoxid SiO ( Si(OEt)4 + 2 H S ; S ^ + 2NH 3 Si(NH)2 + 2H 2 S. Ingleicher Weisewie SiS2 wird auch die faserige Modifikation des Siliciumdioxids (S. 953) zum Unterschied von der gewöhnlichen durch Wasser zu Kie selsäure hydrolysiert. Entsprechend verhalten sich Siliciumdiselenid SiSe2 (farblose, asbestähnliche Fasern vom SiS 2 -Typ h.Ht = - 29 kJ/mol) und Siliciumditellurid SiTe2 (tiefrote, plättchenförmige Kristalle vom Cdl 2 -Schichtentyp). Von SiS2 leiten sich Thiosilicate wie SiS4" (Tetraederstruktur) oder Si4S4" (Adamantanstruktur, vgl. S. 888) a b Außer SiS2 kennt man ein dem Siliciummonoxid SiO (S. 953) entsprechendes Siliciummonosulfid SiS44, das in monomerer Form beim Erhitzen von SiS2 und Si im Vakuum auf 850 °C entsteht und sich an gekühlten Flächen in polymerer Form als rotes Glas (SiS)x niederschlägt (isoelektronisch mit P^, das ebenfalls in einer glasigen Form existiert).
2.5
Sauerstoffsäuren des Siliciums. Silicate26-45,46
2.5.1
Überblick
Silicium bildet wie seine rechten Periodennachbarn - Phosphor, Schwefel u n d Chlor - ein t e t r a e d r i s c h g e b a u t e s sauerstoffhaltiges Ion der Zusammensetzung E O 4 ~ , das Silicat-Ion (Monosilicat) S i O 4 " :
44
45
46
Matrixisoliertes monomeres SiS, S B 2 , SiSX 2 . Zur Erzeugung und Isolierung von Siliciummonosulfid SiS (rf sis = 1.93 Ä; Bindungsenergie BE s i s = 616 kJ/mol) leitet m a n H 2 S-Spuren im Vakuum über 1500 K heißes Silicium und kondensiert das gebildete extrem verdünnte SiS-Gas mit viel Argon auf mit flüssigem Helium gekühlte Flächen (vgl. A n m , 4 2 ). Scheidet m a n SiS zusammen mit COS, C l 2 oder H C l a b und bestrahlt die Matrix, so bildet sich Siliciumdisulfid S = S i = S (linear; D„ h -Symmetrie; d s i s = 1.91 Ä; BE s i s = 533 kJ/mol), Siliciumdichloridsulfid S = S i C l 2 (planar, C 2 v Symmetrie; dsislsia = 1.92/2.02 Ä; > ClSiCl = 107°) oder Siliciumchloridhydridsulfid S = S i H C l (planar; C s -Symmetrie; d s i s / s i c l / s i H = 1.92/2.04/1.46 Ä; HSiCl/HSiS = 106/128°). Literatur. R . K . Iler: ,,The Chemistry of Silica, Solubility, Polymerization, Colloid Surface Properties, and Biochemistry", Wiley, New York 1979; G . Lagaly: ,,Crystalline Silicid Acids and their Interface Reaction", Adv. Colloid Interface Science 11 (1979) 105-148; ULLMANN: „Tale", A26 (1994); ,,Silicates" A23 (1993) 661-719; F. Libeau: ,,Die Systematik der Silicate", Naturwiss. 49 (1962) 481-491; ,,Structural Chemistry of Silicates" Springer, Berlin 1985; B.O. Mysen: ,,Structure and Properties of Silicate Melts", Elsevier, Amsterdam 1988; W. Eitel (Hrsg.): „Silicate Science", Bd. I - V I I I , Acad. Press, New York 1964-1976; W.A. Deer, R . A . Howie, J. Zussman: ,,An Introduction to the Rock-Forming Minerals", Langmans, L o n d o n 1966; B. Mason: ,,Elements of Mineralogy", Freeman, San Francisco 1968; C. R ö h r : , , A s b e s t e " , Chemie in unserer Zeit 32 (1998) 64-72; C. Rüssel, D . Ehrt:,,Neue Entwicklungen in der Glaschemie", Chemie in unserer Zeit 32 (1998) 126-135; H.P. Rieck: ,Natriumschichtsilicate und Schichtkieselsäuren" Nachr. Chem. Tech. L a b 44 (1996) 699-704. Physiologisches Silicium ist in gebundener F o r m als Kieselsäure und deren Derivate ein essentielles Element, das für den A u f b a u von strukturbildenden Materialien und/oder für metabolische Prozesse der Organismen benötigt wird. So enthalten viele marine Organismen (Kieselalgen = Diatomeen, Silicoflagellate, Radiolaren, Schwämme) u . a . nadel-, kugel-, scheibchenförmige Skelette aus kondensierten Kieselsäuren Si0 2 • nH 2 O, die nach A u f n a h m e von Si(OH) 4 aus dem Meerwasser aufgebaut werden. Z.B. produzieren die im Meer-, Brak- oder Süßwasser angesiedelten Diatomeen formkontrollierte Strukturen aus nanostrukturierten, mit Polysacchariden und Proteinen assoziierten polykondensierten Kieselsäuren von atemberaubender Schönheit (vgl. Lehrbücher der Biologie). Der Mangel an Kieselsäuren f ü h r t andererseits zu Wachstumsstörungen (z. B. gestörte Knochen-, H a a r - oder Federbildung). Allerdings ist bisher nur sehr wenig darüber bekannt, wie Silicium auf molekularer Ebene von den Zellen transportiert, verarbeitet und genutzt wird. Alle synthetischen amorphen Kieselsäuren Si0 2 • n H 2 O gelten im Unterschied zu den kristallisierten SM ^Modifikationen (vgl. Anm.41, S.950) als ungiftig (MAK-Wert: 4 m g / m ) . Giftig sind demgegenüber einige Silicate. Sie rufen Staublungenerkrankungen hervor, die der „Silicose" (Anm.41) verwandt sind, z.B. im Falle von Asbest (Techn. Richtkonz.: 0.1 mg/m 3 ),,Asbestose", im Falle von Talk (MAK-Wertt: 2 m g / m 3 ) , , T a l k o s e " . Auch kann silicatisches Silicium im Überschuss beim Menschen u. a. Hämolyse von Erythrocyten und als Folge hiervon Zellveränderungen hervorrufen. - Literatur. R. Tacke: ,,Bioaktive Siliciumverbindungen", Chemie in unserer Zeit 14 (1980) 197-207; „Meilensteine in der Biochemie: von der Grundlagenforschung zu biotechnologischen Anwendungen", Angew. C h e m 111 (1999) 3197-3200; Int. E d 38 (1995) 3015; R. Tacke, H . Linhoh: ,,Bioorganosilicon Chemistry", in S. Patai, Z. R a p p o p o r t (Hrsg.): ,,The Chemistry of Organic Silicon Compounds", Wiley, New York 1989, S. 1143-1205; J . D . Birchall: „The Essentiality of Siliconin Biology", Chem. Soc. R e v 24 (1995) 351-357; D. Volkmer: ,,Von Biomineralien zu biomimetrischen Materialien: Der Weg ist das Ziel", Chemie in unserer Zeit 32 (1998) 6 - 1 9 .
• 956
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
..
:0:
|
..
..
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| ..
..
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| ..
: 0.. — C jl — O..:
: 0..— S| — O..:
: .. 0 — P| — O..:
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:0:
Perchlorat
Sulfat
Phosphat
:0:
.. | .. :0—Si—O: .. | .. :0:
Silicat
Es leitet sich von der relativ schwachen, vierbasigen „Siliciumsäure" H 4 Si0 4 = Si(OH)4 (,,Monokieselsäure", ,,Orthokieselsäure" S. 959), dem einfachsten Glied der „Kieselsäuren66, ab. Die Monokieselsäure besitzt - anders als die Perchlorsäure H C l 0 4 (S. 471), Schwefelsäure H 2 SO 4 (S. 583) oder Phosphorsäure H 3 PO 4 (S. 795) - eine große Neigung zur Wassera b s p a l t u n g (die H 2 O-Abspaltung ist im Falle von HCl0 4 , H S O und H 3 PO 4 ein endothermer, im Falle von H 4 Si0 4 ein exothermer Prozess). Der H 2 O-Austritt erfolgt hierbei nicht wie im Falle der Orthokohlensäure H 4 CO 4 = C(OH) 4 intramolekular (H 4 CO 4 H 2 CO 3 + H 2 0 -> CO 2 + 2 H O ; vgl. S. 906), sondern i n t e r m o l e k u l a r , d.h. zwischen verschiedenen Molekülen; denn Silicium besitzt eine weit geringere Neigung zur Ausbildung von p^-Doppelbindungen als Kohlenstoff (S. 932). Als erstes K o n d e n s a t i o n s p r o d u k t tritt so die ,,Dikieselsäure" H 6 Si 2 0 7 auf (vgl. die entsprechende Kondensation der Phosphorsäure H 3 PO 4 zu Diphosphorsäure H 4 P 2 0 7 ; S. 805):
Weitere K o n d e n s a t i o n unter Wasseraustritt führt über ,,Tri"- und ,,Tetrakieselsäure"
sowie über ,,Oligokieselsäuren" zu ,,Polykieselsäuren". Formales Endprodukt der Kondensation ist polymeres Siliciumdioxid (Si0 2 ) x (S.950). Parallel mit der Molekülvergrößerung unter Wasseraustritt nimmt die Löslichkeit der Kieselsäuren ab. Säuert man daher die Lösung eines Orthosilicats an, so bleibt die Lösung zunächst klar, um dann - j e nach ihrer Konzentration mehr oder minder rasch - zu einer Gallerte zu gelatinieren (S. 961). Allerdings erfolgt die Wasserabspaltung - anders als im Falle der Phosphorsäure (S. 805) - nicht geordnet, indem etwa im Sinne der Fig. 208 zunächst k e t t e n f ö r m i g e Polykieselsäuren (H 2 Si0 3 ) x entstünden, die dann durch weitere Kondensationsprozesse auf dem Wege über b a n d f ö r m i g e Polykieselsäuren [ H g S ^ O ^ ] x und schichtförmige Polykieselsäuren [H 2 Si 2 0 5 ] x schließlich in Siliciumdioxid [Si0 2 ] x (Raumnetzstruktur) übergingen. Vielmehr wickeln sich - in u n g e o r d n e t e r Folge - neben kettenverl ä n g e r n d e n auch kettenschließende (ringbildende) und kettenverzweigende Kondensationsprozesse ab. Es bilden sich infolgedessen uneinheitlich gebaute amorphe Polykieselsäuren, die sowohl aus einbindigen Endeinheiten H 3 Si0 4 und zweibindigen Mitteleinheiten H 2 Si0 4 als auch aus dreibindigen Verzweigungseinheiten HSi0 4 und insbesondere vierbindigen Doppelverzweigungseinheiten aufgebaut sind (Näheres vgl. S. 962). Kristallisierte Polykieselsäuren etwa des Schichttypus [H 2 Si 2 0 5 ] x (Fig.208) sind jedoch auf anderem Wege zugänglich (vgl. S.961).
Während es schwierig ist, die Kondensation der freien Kieselsäure in eine vorgegebene Richtung zu lenken und bei bestimmter Kondensationsstufe aufzuhalten, ist dies aber wohl möglich, wenn die OH-Gruppen der Kieselsäuren teilweise oder vollständig durch OM-Gruppen (M = Metalläquivalent) ersetzt sind, welche sich nicht am Kondensationsprozess beteiligen. In den
2. Das Silicium
/
(HO) 2 Si1 \
(HO) 2 Si
C>
\
(HO) 2 Si
/
/ O
(HO) 2 Si
\ /
(HO) 2 Sii
/
O
(HO) 2 Si
O,
\
Si(OH) 2
X Kette [H 2 Si0 3 ] x
X X
/
2
-O-Si(OH)
x
\
x
X
\
X
x
X O
Si(OH) 2
-O-Si(OH)
Si(OH) 2
\
(HO)Si-
X
\ (HO)Si- O - S i ( O H ) \
x x x x x \ \ x x (HO)Si- -O-Si(OH)
(HO)Si-
/
-O-Si(OH)
(HO)Si—O—Si(OH)
x
/ \ (HO)Si- -O-Si(OH) \
(HO)Si- -O-Si(OH) / \
(HO)Si—O—Si(OH)
Si(OH) 2
\
X X
\Si(OH)
(HO)Si-O-Si(OH)
Si(OH) 2
\ o.
/
957
x
[SiO n * [Suo « r ] / [Si 2 o f - L
Gerüst- bzw. Tectosilicate
[Ai,Si
Olivine, Granate Thortveitit Beryll (« = 6) Pyroxene Amphibole Asbest, Kaolinit, Talk, Pyrophyllit, Glimmer Feldspäte, Zeolithe
5"L
(vgl. (vgl. (vgl. (vgl. (vgl. (vgl.
S. 963) S. 963) S. 963) S. 964) S. 964) S. 965)
(vgl. S. 970)
a) Natürliche Trisilicate [ S i 3 0 J 0 ] sind selten, höhere acyclische Silicate unbekannt. - b) Es sind Cyclosilicate m i t « = 3, 4, 6 und 8 bekannt. - c) Man kennt auch Bandsilicate anderer Zusammensetzung (vgl. S. 964).
Die E i g e n s c h a f t e n der Silicate werden wesentlich durch den Bau des anionischen Verbindungsteils geprägt. So zeigen etwa Silicate mit K e t t e n - und B a n d s t r u k t u r (Tab. 98) gute S p a l t b a r k e i t parallel zur Ketten- und Bandrichtung (u. a. Faserstruktur) und Silicate mit S c h i c h t s t r u k t u r leichte Spaltbarkeit längs der Schichten (_Blattstruktur), w ä h r e n d Silicate mit Insel-, G r u p p e n - , R i n g - o d e r G e r ü s t s t r u k t u r (Tab.98) im Allgemeinen kompakte Kristalle bilden. Ebenso erklärt sich die grap h i t ä h n l i c h e W e i c h h e i t der in Tab.98 aufgeführten Schichtsilicate Talk, Pyrophyllit bzw. Kaolinit (Härte nach Mohs 4 7 = 1 bzw. 1.5 bzw. 2) aus der leichten Verschiebbarkeit der Schichten gegeneinander 47
Die H ä r t e eines Stoffes wird üblicherweise durch die qualitative „Härteskala" von Friedrich Mohs (1773-1839) beschrieben, die folgende, nach steigenden Härtegraden geordnete Minerale umfasst (in Klammern jeweils Härtegrad): Talk M g 3 ( 0 H ) 2 [ S i 2 0 5 ] 2 (1), GipsCaSO 4 • 2 H 2 O (2), KalkspatCaCO 3 (3), Flussspat CaF 2 (4), ApatitCa 5 (PO) 4 ) 3 (OH,F,Cl) (5), Kalifeldspat K [ A l S i 3 0 8 ] (6), Quarz Si0 2 (7), Topas A l 2 F 2 [ S i 0 4 ] (8), Korund A1 2 0 3 (9), Diamant C (10). Jedes aufgeführte Mineral ritzt das vor ihm stehende und wird von dem ihm folgenden geritzt. Bis zur ,,Ritzhärte" 2 lassen sich Materialien mit dem Fingernagel, bis Härte 5 mit dem Messer ritzen. Stoffe ab der Härte 6 ritzen Fensterglas.
2. Das Silicium
959
(vgl. S. 966) und die q u a r z ä h n l i c h e H ä r t e der Feldspäte (Härte nach Mohs47 = 6 bis 7) aus der Raumstruktur ihres Silicatgerüsts. Auch das Quellungs- und A d s o r p t i o n s v e r m ö g e n vieler Schichtsilicate wie Kaolinit oder Glimmer (Tab.98) geht auf die besondere Verbindungsstruktur zurück (Einlagerung von Wasser sowie anderer Stoffe zwischen den Silicatschichten; vgl. S.968, 970). Die Silicate enthalten von seltenen Ausnahmen abgesehen gewinkelte SiOSi-Gruppierungen Allerdings ist der SiOSi-Winkel sehr flexibel und passt sich infolgedessen den strukturellen Erfordernissen leicht an. So beträgt etwa der [O 3 Si—O—SiO 3 ] 6 "-Winkel in Nd 2 Si 2 0 7 133°, in Gd 2 Si 2 0 7 159° und in Sc 2 Si 2 0 7 sogar 180° (vgl. hierzu Diphosphate P 2 0 4 " S.805). Ganz allgemein wird die S t r u k t u r der Silicate ganz wesentlich durch die Wechselwirkung der [Si0 4 ]-Tetraeder bzw. des - aus miteinander kondensierten [Si0 4 ]-Tetraedern bestehenden - Tetraederverbandes mit den Kationen bedingt, die ihrerseits eine für sie geeignete Sauerstoffkoordination anstreben Ähnlich wie von Phosphor, von dem neben der Phosphorsäure H 3 PO 4 und deren Kondensationsprodukten noch sauerstoffärmere,,niedere Phosphorsäuren" wie z. B. Phosphonsäure H 3 PO 3 = HPO(OH) 2 , Phosphinsäure PO PO(OH) oder Hypodiphosphonsäure (HO)(O)HP PH(O)(OH) existieren, kennt man auch beim Silicium außer der Siliciumsäure (Kieselsäure) H 4 Si0 4 = Si(OH)4 niedere Siliciumsäuren wie etwa H 4 Si0 3 = HSi(OH) 3 (Silantriol), H 4 Si0 2 = H 2 Si(OH) 2 (Silandiol), H 4 SiO = H 3 SiOH (Silanol) oder H 6 Si 6 0 3 = H 3 Si 6 (OH) 3 (Siloxen; enthält Si—Si-Bindungen). Diese bereits auf S.939, 941 besprochenen „Säuren" kondensieren wie die Kieselsäure leicht und lassen sich infolgedessen nicht, oder nur unter besonderen Bedingungen isolieren. Letzteres gilt auch für die organisch s u b s t i t u i e r t e n niederen Siliciumsäuren R„Si(OH)4_„ (« = 1, 2, 3), deren Kondensationsprodukte (Silicone) als Kunststoffe geschätzt sind (S.992). Nachfolgend werden zunächst die K i e s e l s ä u r e n (Monokieselsäure, kristallisierte Polykieselsäuren, Kieselsole u n d -gele), d a n n in der N a t u r v o r k o m m e n d e „Salze" der Kieselsäuren ( n a t ü r l i c h e S i l i c a t e ) u n d schließlich einige t e c h n i s c h e S i l i c a t e (Alkalisilicate, Gläser, Tonwaren) behandelt.
2.5.2
Kieselsäuren2645
Monokieselsäure H 4 S i 0 4 Vorkommen Monokieselsäure („Orthokieselsäure") H 4 Si0 4 = Si(OH)4 findet sich in praktisch allen natürlichen Gewässern sowie in den Körperflüssigkeiten der Tiere und Pflanzen in kleiner Konzentration. So enthalten etwa Flüsse meist 5-75 mg gelöstes Si0 2 pro Liter (cH s i o ca. 10"4 bis 10"3 mol/l), Meerwasser 2 - 14mg Si0 2 pro Liter (cH s i o ca. 10"5 bis 10"4 mol/l), menschliches Blut 1 mg Si0 2 pro Liter (cH4sio4 = 1.7 x 10"5 mol/l). Die Gesamtmenge an Si(OH)4 in den Weltmeeren beträgt etwa 9.6x1012 Tonnen. Das durch biologische Prozesse dem Wasser entzogene Si0 2 (jährlich fast 1010 Tonnen durch Kieselalgen) wird durch Auflösen einer entsprechenden SiO2-Gesteinsmenge laufend ersetzt (es löst sich hauptsächlich amorphes, durch Verwitterung einiger Silicate gebildetes Si0 2 ) Darstellung Die Monokieselsäure ist nur in g r o ß e r V e r d ü n n u n g (c H S i 0 < 2 x 1 0 " 3 m o l / l entsprechend 120 m g S i 0 2 p r o Liter Wasser) längere Zeit in Wasser bei R a u m t e m p e r a t u r k o n d e n s a t i o n s b e s t ä n d i g . M a n erhält derartige verdünnte Lösungen i m L a b o r a t o r i u m durch A u f l ö s e n von SiO 2 , wobei m a n mit Vorteil a m o r p h e s , durch Abscheidung von S i 0 2 aus der Gasphase erhältliches S i l i c i u m d i o x i d verwendet, da dessen Löslichkeit (ca. 1 2 0 m g S i 0 2 pro Liter H 2 O bei 25 °C) viel größer als jene von kristallisiertem oder glasigem S i 0 2 ist (vgl. S. 950; gasförmiges S i 0 2 = SiO/^O 2 bildet sich durch SiO 2 -Verdampfung sowie aus Monosilanen wie SiH 4 , SiCl 4 , SiHCl 3 in der Knallgasflamme): Si
(fest
2H
Si
(gelöst).
(1)
D u r c h Sättigen von Wasser mit K i e s e l g e l (S.962) bei 9 5 - 1 0 0 ° C lassen sich auch konzentriertere Kieselsäurelösungen gewinnen, die etwa 400 m g S i 0 2 pro Liter H 2 O enthalten (c H4SiG4 c a . 7 x 10 "2 mol/l) u n d kurze Zeit haltbar sind. Weitere M e t h o d e n zur Erzeugung von H 4 S i 0 4 Lösungen bestehen in der H y d r o l y s e m o n o m e r e r S i l i c i u m v e r b i n d u n g e n SiX 4 wie SiCl 4 : Si
4H
Si
4H
• 960
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
(zur Abtrennung von HCl wird der Lösung Ag 2 O zugesetzt) sowie in der P r o t o l y s e von M o n o s i l i c a t e n SiO f wie Na 2 Si0 4 • 9H 2 O, Mg 2 SiO 4 , Ca 2 (0H)(HSi0 4 ), Mg 3 Al 2 (Si0 4 ) 3 : S i O + 4H +
H4Si04.
In analoger Weise lässt sich DikieselsäureH6Si207 = (H0) 3 Si—O—Si(0H) 3 durch Hydrolyse des Hexaacetats (Ac0) 3 Si—O—Si(0Ac) 3 oder Protolyse von Disilicaten S i 2 0 e r z e u g e n . Eigenschaften Die nur in verdünnter Lösung (s. oben) bekannte, in reiner Form wohl sirupöse Kieselsäure (A# f = 1482kJ/mol) ist eine s c h w a c h e S ä u r e ( p ^ = 9.51, pK 2 = 11.74) und liegt in neutraler Lösung demgemäß praktisch undissoziiert in Form von H 4 S i 0 4 = Si(0H) 4 vor. Die Bildung eines Hydraten H4 S i 0 4 • H O erfolgt nicht. Mit F l u o r w a s s e r s t o f f reagiert die Kieselsäure zu H 2 SiF 6 (Si(0H) 4 + 6 H 2 H + S i F + 4 ^ 0 ) , mit o - D i h y d r o x y b e n z o l o - ^ 4 ( 0 H ^ (Catechol) zu einem Komplex Si(o-C 6 H 4 0 2 )i~, in welchem Si oktaedrisch von 60-Atomen umgeben ist. Entsprechende Komplexe entstehen auch mit den —CH(OH)—CH(OH)— Gruppen von Zuckern bzw. Zuckeralkoholen in alkalischer Lösung, wobei die Bildungstendenz derartiger Komplexe so groß sein kann, dass sich amorphe Polykieselsäuren (s. unten) rasch auflösen (Transportform von Si verkieselnder Organismen? 46 ). Mit M o l y b d a t M o O 4 " bildet sich das Heteropolysäure-Anion SiMo 1 2 O 4 0 o (vgl. S. 1598; die SiMo! 2 O 4 0-Bildung dient zum analytischen Nachweis von Monokieselsäure). Die charakteristischste Eigenschaft der Kieselsäure ist ihre Neigung zur (intermolekularen W a s s e r a b s p a l t u n g unter Bildung von a m o r p h e m S i l i c i u m d i o x i d (Umkehrung von (1)). Die Kondensationsreaktion erfolgt hierbei so lange, bis die H 4 SiO 4 -Konzentration den der Wasserlöslichkeit von amorphem Si0 2 entsprechenden Wert (ca.120 mg/l H 2 0 ; c H4sio4 ~ 10 3 mol/l; s. oben) erreicht hat. Die verbleibende verdünnte H 4 SiO 4 -Lösung ist dann in Bezug auf Quarz (Löslichkeit 2.9 mg/l H 2 0 ) zwar ü b e r s ä t t i g t , aber m e t a s t a b i l . Die Geschwindigkeit der Kondensation von H 4 S i 0 4 (cH4Sio4 > 10 3 mol/l) erhöht sich mit der K o n z e n t r a t i o n und T e m p e r a t u r der H 4 SiO 4 -Lösung und wird durch deren A c i d i t ä t stark beeinflusst. Am beständigsten sind Lösungen bei einem pH-Wert um 2. Sowohl bei g r ö ß e r e n als auch k l e i n e r e n pH-Werten wächst die Kondensationsgeschwindigkeit. Die Wasserabspaltung wird bei pH > 2 durch Deprotonierung, bei pH < 2 durch Protonierung eines Si -Moleküls eingeleitet Si(OH)
OH
(HO) Si
O;
Si(OH)
(HO) SiOH
Das im ersten Falle gebildete Trihydrogensilicat-Ion (HO) Si setzt sich dann mit einem weiteren Si(0H) 4 -Molekül unter OH "-Substitution um: (H0) 3 Si0" + Si(0H) 4 ^ (H0) 3 Si0Si(0H) 3 + OH". In analoger Weise erfolgt im zweiten Falle eine Substitution von Wasser, schematisch: (H0) 3 Si0H + Si(0H) 3 (0H 2 ) + jtH0) 3 Si(|i-0H)Si(0H)J + H 2 0 (H0) 3 Si0Si(0H) 3 + H 3 0 + . Einen starken katalytischen Effekt auf die Kieselsäurekondensation bei niedrigem pH-Wert übt auch HF aus Die H 4 SiO 4 -Kondensation, die bei pH = 2 - 3 und Raumtemperatur in Abhängigkeit von der H 4 Si0 4 Konzentration in Tagen bis Stunden, bei pH = 8 - 9 in Minuten bis Sekunden abläuft, erfolgt im Einzelnen in der in Fig.210 veranschaulichten Weise über Dikieselsäuremoleküle H 6 Si 2 0 7 , cyclische Kieselsäuren (insbesondere (H 2 Si0 3 ) 4 ) und käfigartige Kieselsäuren zu kugelförmigen Polykieselsäuren (H 6 Si 2 07 ist in Wasser kondensationslabiler als H 4 SiO 4 ). Letztere bestehen aus einem SiO2-Gerüst, das
C
H4Si04 Mono-
H6Si207
H8Si4012
H/„Si„0/;
Di-
Tetracyclo-
Polykieselsäure
Fig. 210 Veranschaulichung der Kondensation von Mono zu Polykieselsäure (jeweils 4 0 Atome umschließen ein nicht sichtbares - Si-Atom).
2. Das Silicium
961
sich im Wesentlichen aus unregelmäßig miteinander verknüpften SiO4-Doppelverzweigungseinheiten aufbaut (S. 957) und welches durch eine Schicht HO-gruppenhaltiger Kieselsäureeinheiten begrenzt wird. (Durchmesser des etwa 100 oder mehr SiO2-Einheiten umfassenden Polykieselsäuremoleküls ca. 20A oder mehr, s. unten.) Man bezeichnet die erhaltene Lösung als ,,Kieselsol" (s. unten). Die Polykieselsäure ist gegen weitere Kondensation instabil und vereinigt sich in der in Fig. 211 veranschaulichten Weise unter Verknüpfung der Kieselsäurekugeln über S auerstoffbrücken zu einer w e i t m a s c h i g e n a m o r p h e n Kieselsäure (,,Kieselgel "; s. unten). Letztere verfestigt sich (,,altert") noch durch Ausbildung zusätzlicher SiOSi-Verknüpfungen in der Nähe der ersten Verbindungsstelle (vgl. Fig. 211).
O = Polylkieselsäure (vgl. Fig.210)
X K r y XY Kieselsol
frisches Kieselgel
/
\JsJr'
gealtertes Kieselgel
Fig.211 Zweidimensionales Modell des Übergangs eines Kieselsols in ein Kieselgel.
Aufgrund der (van der Waals) Abstoßungskräfte zwischen den kugelförmigen Polykieselsäuren, nähert sich ein Polykieselsäuremolekül bevorzugt dem Ende eines bereits vorliegenden Aggregats von Polykie selsäuren, was letztlich zu der in Fig. 211 wiedergegebenen weitmaschigen Verknüpfung der Polykieselsäurekugeln führt. In der Natur finden sich etwa in Form der Opale (S. 950) oder der SiO2-Ablagerungen der Organismen auch amorphe Kieselsäuren, in welchen eine regelmäßige dichte Packung von kugelförmigen Polykieselsäuren vorliegt Außer durch gegenseitige Verknüpfung zu Polykieselsäureaggregaten (s. oben) vergrößern sich die kugelförmigen Polykieselsäuren auch durch Ankondensation weiterer, aus dem hydrolytischen Abbau kleiner Polykieselsäuren stammender Monokieselsäuremoleküle, falls letzterer Prozess - wie etwa im alkalischen Milieu - rascher als ersterer verläuft. Dementsprechend lassen sich unter geeigneten Bedingungen Sole mit Kieselsäuremolekülen bis zu 1500 A Durchmesser herstellen. Da die Aggregationstendenz der Polykieselsäurekugeln mit ihrem Durchmesser abnimmt, sind derartige Kieselsole über Jahre beständig. Polykieselsäuren Kristallisierte Polykieselsäuren Wie dem Besprochenen zu entnehmen ist, lässt sich die Kondensation der Monokieselsäure weder bei bestimmten Kondensationsstufen aufhalten, noch zu einer kristallinen Endstufe führen. Es bilden sich in jedem Falle amorphe Polykieselsäuren (Kieselgele, s. oben und unten). Behandelt m a n jedoch A l k a l i m e t a l l s c h i c h t s i l i c a t e (S. 965) wie M 2 S i 2 O s (M = Li, N a , K), N a 2 S i 4 0 9 5 H 2 O (in der N a t u r als , , M a k a t i t " ) , N a 2 S i 8 0 1 7 • XH 2 O oder N a 2 S i 1 4 0 2 9 • 1 1 H 2 O (in der N a t u r als ,,Magadiit") mit Salz- oder Schwefelsäure bei 0°C, so bilden sich unter A u s t a u s c h d e r A l k a l i m e t a l l - K a t i o n e n geg e n P r o t o n e n blättchenartig ,,kristallisierte Polykieselsäuren" u.a. der Zusammensetzung H 2 S i 2 0 5 , H 2 S i 4 0 9 , H 2 S i 8 0 1 7 • x H 2 O , H 2 Si 1 4 0 2 9 • 5.4 H 2 O (in der N a t u r als ,,Silhydrit"). In ihnen liegen parallel übereinander angeordnete - gegebenenfalls durch Wasserschichten voneinander getrennte - Polykieselsäureschichten etwa des in Fig. 208 (S. 957) wiedergegebenen Typus H 2 Si 2 0 5 vor (die Schichten sind stark gefaltet). Letztere neigen - zum Teil bereits bei Raumtemperatur - zur Kondensation unter H 2 O-Abspaltung (Bildung von SiOSi-Brücken zwischen den Schichten; vgl. Disiloxen, S.939). Bei Temperaturen über 11000C gehen die kristallisierten Polykieselsäuren in Cristobalit über, z. B. H 2 Si 2 0 5 2Si0 2 + H 2 O. Die Protonen der erstaunlich sauer reagierenden Verbindungen (p^ s im Bereich 1 -3) lassen sich durch Alkali- und Erdalkalimetall-Kationen austauschen. Besonders charakteristisch ist die Fähigkeit der Schichtpolykieselsäuren zur Einlagerung (,,Intercalation", vgl. S. 968) Sauerstoff- und Stickstoff-haltiger Stoffe (z. B. Alkohole, Alkyl- und Arylamine, Pyridin, N-Oxide, S-Oxide) zwischen die Kieselsäureschichten (die Bindung erfolgt über OHO- bzw. OHN-Wasserstoffbrücken). Kieselsole, d.h. wässrige Lösungen der in Fig.210 veranschaulichten, kugelförmig gebauten a m o r p h e n P o l y k i e s e l s ä u r e n , entstehen beim Ansäuern wässriger Lösungen von Natriumsilicat N a 4 S i 0 4 (,,Natronwasserglas", S.974) auf dem Wege über Monokieselsäure (vgl.
• 962
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
S.959). Technisch verfährt m a n hierbei so, dass m a n verdünnte Wasserglaslösungen ( S i 0 2 Gehalt < 1 0 % ) rasch über K a t i o n e n a u s t a u s c h e r in der protonierten F o r m (S. 527) leitet u n d das anfallende, hinsichtlich eines Übergangs in Kieselgel (s. unten) noch sehr instabile Kieselsol durch A l k a l i s i e r e n (Molverhältnis S i 0 2 : N a 2 O ca. 100 : 1) sowie E r w ä r m e n auf 60°C stabilisiert. Die Alkalizugabe bewirkt eine teilweise Deprotonierung der Polykieselsäuremoleküle, die sich infolgedessen negativ aufladen. Die hierdurch bedingte gegenseitige Abstoßung der Moleküle hemmt die weitere Kondensation zu Kieselgel. Das anschließende E r w ä r m e n des alkalisierten Kieselsols bezweckt eine Vergrößerung der Polykieselsäureteilchen, wodurch sich ihre „Gelierungs"-Stabilität weiter erhöht. Man verfährt zweckmäßig in der Weise, dass man zunächst einen Teil der Lösung auf 60°C erhitzt und hierzu dann langsam den Rest der Lösung fügt. Hierdurch lässt sich ein weiterer Aufwachsprozess der bereits vergrößerten Polykieseläuremoleküle erreichen (vgl. S.961). So gewonnene, je nach der Teilchengröße farblos klare bis milchig trübe Kieselsole sind - selbst bei 50 %igem SiO 2 -Gehalt jahrelang ohne Veränderung haltbar. Gelierung tritt insbesondere beim Ansäuern, Konzentrieren, E i n f r i e r e n sowie Zugeben von E l e k t r o l y t e n ein (vgl. nachstehendes Unterkapitel). Verwendung Kieselsole dienen in der Textilindustrie als Verfestiger für Wollfäden sowie als Schmutzabweiser für Gewebe und in der keramischen Industrie als Bindemittel. Auch als Bindemittel für Katalysatoren (z.B. bei der Acrylnitrilsynthese), zur Herstellung rutschfester Bohnerwachse, als Poliermittel für Halbleiterelemente u.a.m. werden sie verwendet. Kieselgele Stabilisiert m a n das durch Ansäuern einer wässrigen Lösung von Natronwasserglas erhältliche Kieselsol (s. oben) nicht durch Alkalisieren, so erstarrt es leicht zu einer g a l l e r t a r t i g e n M a s s e (,,Kiesel-Hydrogel"). In ihr liegt ein durch zahlreiche wassergefüllte Poren durchsetztes Polykondensat kugelförmiger Polykieselsäuren vor (vgl. Fig. 211, S. 961). Aus dem Hydrogel erhält m a n durch T r o c k n e n bei erhöhter Temperatur das „Kiesel-Xerogel" (von griech. xeros = trocken) bzw. als besondere F o r m davon das ,,Kiesel-Aerogel". Technisch verfährt man u.a. so, dass man ein in einer Mischdüse durch kontinuierliches Zusammenfügen von verdünnter Schwefelsäure und Natronwasserglaslösung bei erhöhter Temperatur erzeugtes Kieselsol auspresst (Bildung eines stückigen Hydrogels) bzw. in die Luft versprüht (Bildung eines p e r l f ö r m i g e n Hydrogels). Das Hydrogel wird anschließend zur Entfernung des bei der Wasserglasneutralisation entstandenen Natriumsulfats mit saurem Wasser (Bildung eines engporigen Hydrogels) bzw. mit alkalischem Wasser (Bildung eines weitporigen Hydrogels) gewaschen. Die Trocknung der Hydrogele führt unter Schrumpfung zum Xerogel bzw. - nach Austausch der Porenflüssigkeit durch ein organisches Medium wie Alkohol zum Aerogel Verwendung. Die Kiesel-Xerogele und -Aerogele haben ein ähnliches A d s o r p t i o n s v e r m ö g e n wie die Aktivkohlen, die ja ebenfalls eine oberflächenreiche Struktur aufweisen (spez. Oberfläche des weit-/engporigen Kieselgels 200-400/600-800 m 2 /g). Daher finden sie Verwendung zur A d s o r p t i o n v o n Dämpfen (z.B. von Benzin, Benzol, Ether, Alkohol usw. aus der Luft von Celluloid-, Kunstseide-, Lack- und Sprengstoff-Fabriken), zum Trocknen von Gasen, Flüssigkeiten und festen Stoffen (z.B. in Exsiccatoren), zur Reinigung und E n t f ä r b u n g von Flüssigkeiten und Fetten, als T r ä g e r m a t e r i a l für Katalysatoren, als desodorierendes, desinfizierendes und austrocknendes Streupulver, zur E n t g i f t u n g von Tabakrauch, zur G e l a t i n i e r u n g der Elektrolyte in galvanischen Elementen und Akkumulatoren, für c h r o m a t o g r a p h i s c h e Trennungen, als M a t t i e r u n g s m i t t e l in Farben, Lacken, Kunststoffen, Klebestoffen und Zahncremes usw. Bei Trocknungsvorgängen verwendet man mit Cobaltdichlorid imprägniertes ,,Blaugel", das durch Farbumschlag nach rosa {blaues CoCl 2 + 6 H 2 0 -> rosa CoCl 2 • 6H 2 O), ein Nachlassen der Trocknungswirkung anzeigt Gegenüber dem n a t ü r l i c h e n Kiesel-Xerogel, der Infusorienerde (Kieselgur, S. 950), die z. B. als Verp a c k u n g s m a t e r i a l für Säureballons und zum A u f s a u g e n von Nitroglyzerin (,,Gurdynamit") verwendet wird, haben die k ü n s t l i c h e n Kieselxerogele den Vorteil, dass man ihre Struktur durch Wahl der Herstellungsbedingungen willkürlich beeinflussen und so dem jeweiligen Verwendungszweck anpassen kann.
2.5.3
Natürliche Silicate26-4s
Entsprechend den auf S. 957 erläuterten Bauprinzipien (vgl. Tab. 98) k a n n m a n bei den in der N a t u r v o r k o m m e n d e n S i l i c a t e n zwischen solchen mit b e g r e n z t e r u n d u n b e g r e n z t e r Anionengröße unterscheiden. Z u r ersten Sorte zählen die I n s e l - , G r u p p e n - u n d Ringsilicate, zur zweiten die K e t t e n - , B a n d - , S c h i c h t - u n d G e r ü s t s i l i c a t e .
2. Das Silicium
963«
Die Sauerstoffatome der Silicate nehmen häufig dichteste Packungen mit Silicium in tetraedrischen Lücken ein. Die Silicat-Gegenionen besetzen je nach ihrer Größe tetraedrische Lücken (z.B. Li + , Be 2 + , Al 3 + ), oktaedrische Lücken (z.B. Na + , Mg 2 + , AI3 + , + , Fe( + ) oder Lücken der Koordinationszahl 8 (z.B. K + , & 2 + ).
Insel-, Gruppen- und Ringsilicate Beispiele für natürliche Inselsilicate (,,Nesosilicate" vgl. Fig.209, S. 858) mit MonosilicatBaugruppen SiC>4~ sind ,,Phenakit" Be 2 [Si0 4 ], „Forsterit" Mg 2 [Si0 4 ], „ Olivin" (Mg,Fe) 2 [ S i O J , „Fayalit" Fe 2 [Si0 4 ], „Granate" (engl. ,,garnets") M 3 M 2 n [ S i 0 4 ] 3 (M" = Mg2 + , Ca 2 + , Fe 2 + , Mn 2 + ; M"^ = AI3 + , Fe 3 +,V 3 +, Cr3 + ) und ,,Zirkon" Zr[Si0 4 ]. In ihnen sind die SiO4-Tetraeder in der Weise angeordnet, dass die Be2 + -Ionen im Phenakit jeweils von 40-Atomen tetraedrisch, die Mg2 + - und Fe 2 +-Ionen im Forsterit, Olivin und Fayalit jeweils von 6 O-Atomen oktaedrisch, die M"- bzw. MUI-Ionen in den Granaten von 8 bzw. 6 O-Atomen dodeka- bzw. oktaedrisch und die Zr4 + -Ionen im Zirkon von 8 O-Atomen dodekaedrisch umgeben sind48. Härte, Schmelzpunkt und Stabilität (z.B. gegen Wasser) der Inselsilicate wächst mit der Ladung der Kationen. So wandelt sich der wasserunlösliche Olivin durch Wasseraufnahme langsam in andere Silicate wie Serpentin Mg 6 (OH) 8 [Si 4 O 1 0 ] (S. 965) um, wogegen Zirkon völlig wasserstabil ist. Verwendung. Kristallisierte Stücke von Olivin (z. B.,,Chrysolith" (blassgrün)), Granaten (z. B.,,Grossular" C a 3 A 2 S i 3 0 1 2 (gelbrot), „Almandin" bzw. „Karfunkel" F e j A j S i j O ^ (rubinrot),,,Andradit" Ca 3 Fe 2 Si 3 0 1 2 (farblos, grün oder schwarz), ,,Uwarowit" Ca 3 Cr 2 Si 3 0 1 2 (smaragdgrün), ,,Goldmanit" Ca 3 V 2 Si 3 0 1 2 (dunkelgrün), ,,Pyrop" Mg 3 Al 2 Si 3 0 1 2 (rot in Anwesenheit von Spuren Cr),,,Spessartin" Mn 3 Al 2 Si 3 0 l 2 (gelb)) sowie Zirkon (ähnlich hart wie Diamant; z. B. „Hyazinth" (gelbrot),,, Jargon" (farblos)) sind als Schmucksteine geschätzt. Granate dienen zudem als Lager für Uhren usw. Die gelblich bis grünen Forsterit-reichen Olivine (Lagerstätten u.a. in Norwegen und Spanien) finden Verwendung bei der Herstellung feuerfester Forsteritsteine, hochfeuerfester Mörtel und Stampfmassen, als Zuschlag zum Erz in Hochofenprozessen sowie als Wärmespeicher in elektrischen Nachtspeichergeräten. Als Fluorid-haltiges Nesosilikat sei noch der durchsichtige bis durchscheinende, meist farbige (gelbe bis rote, blaue, grüne oder violette), als Edelstein geschätzte, oberhalb 1350°C in SiF 4 und Sillimanit Al[AlSi0 5 ] (S. 965) zerfallende „Topas" Al 2 (OH,F) 2 [Si0 4 ] (Bau aus Al0 4 F 2 -Oktaedern und SiO ^Tetraedern mit gemeinsamen F- und O-Atomen) erwähnt.
Beispiele für natürliche Gruppensilicate („Sorosilicate") mit Disilicat-Baugruppen Si2 (Fig.209, S.858) bieten ,,Thortveitit" S c 2 [ S i 2 0 7 ] (wichtigstes Sc-haltiges Mineral), „Barysilit" P b 3 [ S i 2 0 7 ] und ,,Hemimorphit" (,,Kieselgalmei") Zn 4 (OH) 2 [Si 2 C) 7 ] (man kennt auch Gruppensilicate mit Tri- und Tetrasilicat-Baueinheiten Si 3 0fo und Si 4 02° ; letzteres Silicat aus Ag2O und Si0 2 bei 500-600°C und 2-4.5 bar 0 2 nur künstlich in Form von Ag 1 0 [Si 4 O 1 3 ] gewinnbar). Beispiele für natürliche Ringsilicate (,,Cyclosilicate") mit Cyclotri- und -hexasilicat-Baugruppen (SiO(")„ (Fig.209, S.858) sind ,,a-Wollastonit" C a 3 [ S i 3 0 9 ] (vgl. hierzu Kettensilicate), ,,Benitoit" BaTi[Si 3 0 9 ], ,,Beryll" Al 2 Be 3 [Si 6 0 1 8 ] (wichtigstes Be-haltiges Mineral), ,,Dioptas" C u 6 [ S i 6 0 1 8 ] • 6H 2 O sowie die farbenreichen ,,Turmaline"49. Verwendung. Als Schmucksteine dienen Berylle (z.B. in Form des ,,Aquamarins" (meerwasserblau), ,,Heliodor" (leuchtend gelb bis grünlich gelb), „Smaragds" (tiefgrün), Dioptase (smaragdgrün) und Turiiialine (schwarz, braun, blau, grün, rot oder farblos).
4f Im Berylliumsilicat bzw. in den Magnesiumeisensilicaten liegt angenähert eine hexagonal-dichteste Packung von Sauerstoff-Ionen vor, deren tetraedrische Lücken zu mit Silicium besetzt sind. Im Falle von B e 2 [ S i 0 4 ] besetzen zusätzlich Beryllium-Ionen j der Tetraederlücken, im Falle von (Mg, F e ) 2 [ S i 0 4 ] Magnesium- und Eisen-Ionen j der Oktaeder-Lücken. 4^ Turmaline (von Singhalesisch turamali = Bezeichnung für rote Edelsteine): zum Beispiel ,,Dravit" Na{Mg3Al 6 (OH) 4 (B0 3 ) 3 [Si 6 0 2 8 ]} (braunschwarz, braun bis grün), „Schörl" Na{FeII(Al,Fe r a ) 6 (OH) 4 (B0 3 ) 3 [Si 6 0 1 8 ]} (farblos bis tiefgrün, rot, blau). In den Turmalinen wechseln Schichten aus nebeneinanderliegenden [Si 6 0 1 8 ]-Ringsilicatbaueinheiten mit Borat-haltigen Schichten ab, die den Mg(+- und AI 3+ -haltigen Schichten im Talk (S.968) und Kaolinit (S.965) verwandt sind. Silicat- und Borat-haltige Schichten sind abwechselnd über gemeinsame Sauerstoffatome zu Einheiten verknüpft. Die - anionisch geladenen - Schichtpaare werden durch Kationen (Na + oder Ca(+) zusammengehalten (vgl. Glimmer, S.969).
• 964
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Ketten- und Bandsilicate („Inosilicate") Silicate mit ketten- bzw. bandförmigen Baueinheiten (,,Inosilicate") sind in der Natur weit verbreitet. Beispiele für Minerale mit kettenförmigen Polysilicat-Baueinheiten der Zusammensetzung [SiO3~] (Fig.209, S.958) bieten etwa der „ß-Wollastonit" Ca[Si0 3 ] und die Gruppe der „Pyroxene", z.B. ,,Enstatit" Mg[Si0 3 ], ,,Diopsid" CaMg[Si0 3 ] 2 (Pyroxen in engerem Sinne), ,,Spodumen" Li AI [SiO 3 ] 2 . In ihnen sind die durch Metallionen zusammengehaltenen [SiO3~]-Ketten derart angeordnet und gefaltet, dass sich akzeptable Sauerstoffpolyeder für die Kationen ergeben (z.B. Oktaeder für Magnesium im Enstatit und Diopsid, sowie für Calcium im ß-Wollastonit). Als Beispiele sind in der Fig. 212 b bzw. c die Konformationen der Silicatketten in den Pyroxenen bzw. in ß-Wollastonit veranschaulicht. Zu den Mineralen mit den auf S. 958 schon erwähnten und in Fig. 212e nochmals veranschaulichten bandförmigen Polysilicat-Baueinheiten der Summenformel [ S i 4 0 f ^ ] zählt die Gruppe der „Amphibole", z.B. „Tremolit" Ca 2 Mg 5 (OH) 2 [Si 4 0 X 1 ] 2 (Amphibol im engeren Sinne), ,,Anthophyllit" (Mg,Fe") 7 ( O H ^ S ^ O ^ ] ^ „Aktinolith", ,,Amosit" und ,,Hornblenden" wie ,,Krokydolith" (letztere Minerale leiten sich von Tremolit durch Ersatz eines Teils von Si gegen Al und eines Teils von Ca, Mg gegen Na, Fe11, Fe111 ab). In den Amphibolen sind jeweils zwei Si 4 0 11 -Bänder über Metallhydroxidbänder zu anionisch geladenen Doppelbändern kondensiert (vgl. Talk, S.968), die ihrerseits durch Kationen zusammengehalten werden Es treten in natürlichen Silicaten aber auch andere Bandstrukturen als die in Fig.212e wiedergegebenen auf. So können etwa zwei [SiO§"]-Ketten so zu einem Band zusammentreten, dass nicht - wie in Fig. 212e veranschaulicht - jedes übernächste, sondern - wie in Fig.212d wiedergegeben - jedes Si-Atom der einen Kette mit einem Si-Atom der zweiten Kette über ein O-Atom verbrückt ist. Dann entsteht ein Band der Zusammensetzung [Si 2 05~]. Derartige Bänder, in welchen die Hälfte aller Si- durch Al-Atome so ersetzt sind, dass jedes Si-Atom über Sauerstoff nur mit Al-Atomen und jedes Al-Atom über Sauerstoff nur mit Si-Atomen verknüpft ist, liegen in ,,Sillimanit" A1 2 0 3 • Si0 2 = Al[AlSiO s ] vor (die AI3 + -Ionen besetzen oktaedrische Lücken zwischen den O-Atomen der parallel angeordneten [AlSiOs]-Bänder). Noch weitergehenderen Ersatz der Si-Atome in den [Si 2 05~]-Bändern durch Al-Atome findet man im ,,Mullit", der die Zusammensetzung 3A1 2 0 3 - 2 S i 0 2 bis 2A1 2 0 3 • Si0 2 aufweist. Gemäß F. Liebau erfolgt die Klassifizierung der Polysilicatketten nach der Zahl der SiO4-Tetraeder pro Identitätsperiode (,,Periodizität" der Kette) als Einer-, Zweier-, Dreierketten- usw. (vgl. Fig. 212 a, b, c). Darüber hinaus unterscheidet man entsprechend der Anzahl der über Si—O—Si-Brücken zu Bändern miteinander verknüpften Polysilicatketten (,,.Multiplizität" der Ketten) zwischen Einfach-, Doppel-, Dreifachketten usw. (vgl. z.B. Fig.212a bis c oder d bis f), wobei die in Fig.212d, e, f
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X
< > X < > X < >
< (a)
| Einer-
(b) ZweierEinfachketten
Fig. 212
(c)
\
Dreier-
(e)
(d)
X
© Zweier-
Einer-
Doppelketten
Strukturen von Einfach- und Doppelketten in Silicatmineralen.
I Dreier-
2. Das Silicium
965«
wiedergegebenen Doppelketten Vierer-, Sechser-, Achterringe ( = acht-, zwölf-, sechzehngliederige Ringe) enthalten. Hiernach enthalten Pyroxene Zweier-Einfachketten (Fig. 212b), jö-Wollastonit-Dreier-Einfachketten (Fig.212c), S i l l i m a n i t und Mullit Einer-Doppelketten (Fig.212d) und A m p h i b o l e ZweierDoppelketten (Fig. 212e). Man kennt darüber hinaus auch Silicate mit Vierer-Einfachketten (z. B.,,Krauskopfit"), Fünfer-Einfachketten (z.B. „Rhodonit"), Sechser-Einfachketten (z.B. „Stokesit"), SiebenerEinfachketten (z.B. ,,Pyroxferroit"), Neuner-Einfachketten (z.B. „Ferrosilit III"), Dreier-Doppelketten (z.B. „Xonolith", Fig.212f) und Zweier-Dreifach-, -Vierfach- bzw. -Fünffachketten (z.B. synthetische Bariumsilicate der Formel B a 4 [ S i 6 0 1 6 ] , B a 5 [ S i s 0 2 1 ] bzw. B a 6 [ S i 1 0 O 2 6 ] ) . Auch Silicate mit verzweigten Ketten sind bekannt. Silicate mit Einer-Einfachketten (Fig.212a) existieren nicht. Bezüglich der Klassifizierung von Silicatschichten vgl. S.967. Verwendung. Unter den Inosilicaten, die aufgrund ihres Baus meist langgestreckte, teilweise faserige, stengelige, strählige oder nadelige Kristalle bilden, haben Wollastonit, Sillimanit, Mullit sowie einige Amphibole t e c h n i s c h e s Interesse. Der in Schiefer verbreitete weiß bis leicht grünlich perlmuttglänzende, oberhalb 1126°C in o-Wollastonit (Smp. 1544°C, vgl. S.963) übergehende /?-Wollastonit C a [ S i 0 3 ] (Hauptlagerstätten in Finnland, USA, Mexico, Indien, Kenia, Südafrika) dient u.a. als R o h s t o f f für k e r a m i s c h e Erzeugnisse sowie als F ü l l s t o f f 5 3 für Anstrichstoffe, Gieß- und Pressmassen sowie Baustoffe. Er lässt sich synthetisch durch Zusammenschmelzen von feingemahlenem CaO und S i 0 2 (äquimolekulares Gemisch) bei 1400 °C und Tempern der erhaltenen abgeschreckten, glasigen a-WollastonitSchmelzmasse bei 800-1000 °C gewinnen. Der gelblichgraue bis graugrüne, durchscheinende Sillimanit Al(AlSiO 5 ) (Hauptlagerstätten in Australien, Indien, Südafrika, Russland) findet hauptsächlich zur Herstellung von F e u e r f e s t b a u s t o f f e n (,,Sillimanitsteinen") und hochtemperaturbeständigem M ö r t e l Verwendung. Vor seiner Verarbeitung wird er einem Vorbrand bei 1550°C unterworfen, wobei er in temperaturwechselbeständigen ,,Sintermullit" ( = Mullitnadeln in einer SiO 2 -Glasmatrix) übergeht. A1 2 0 3 • S i 0 2 A1 2 0 3 • ^ S i 0 2 + j S i 0 2 (bei 1810°C zerfällt Mullit in ein A1 2 0 3 /SiO 2 -Gemisch, das bei 1860°C schmilzt). Mullit (farblos), der in der Technik aus Kaolin (S. 967) und calciniertem Aluminiumoxid im Lichtbogenofen bei hohen Temperaturen synthetisiert wird, dient ebenfalls für h o c h f e u e r f e s t e B a u s t o f f e , ferner als R o h s t o f f für Elektroporzellan sowie als Trübungsmittel für Emaillen, als Poliermittel und als Füllstoff in Kunststoffen und Lacken. Aus den hitzebeständigen, unbrennbaren, faserigen, verspinnbaren Amphibolen (Anthophyllit, Amosit, Tremolith, Aktinolith und Krokydolith; Hauptvorkommen in der Kap-Provinz, Transvaal, Finnland, USA, Westaustralien), die auch als „Amphibolasbeste"5° bezeichnet werden, stellt man wie aus ,,Serpentinasbesten" (vgl. S. 967) Spinn- und Webwaren, Asbestpappen und -papier sowie Verbundwerkstoffe her (Beispiele für Amphibolasbeste sind etwa Anthophyllit, Amosit, Krokydolith ( = Blauasbest)). Schichtsilicate
(„Phyllosilicate")
Typische Beispiele für Minerale mit s c h i c h t f ö r m i g e n Polysilicat-Baueinheiten (,,Phyllosilicate") sind der „Serpentin" M g 3 ( O H ) 4 [ S i 2 C ) 5 ] 5 ° und der „Kaolinit" A l 2 ( O H ) 4 [ S i 2 0 5 ] , deren Strukturen F i g . 2 1 3 veranschaulicht. Ersichtlicherweise liegen in ihnen Silicatschichten [ S i 2 O ( o ] x des in F i g . 2 0 9 ( S . 8 5 8 ) wiedergegebenen Typs vor, in welchen die ,,freien" Sauerstoffatome der zweidimensional-unendlich miteinander verknüpften SiO 4 -Tetraeder einheitlich nach einer Seite (in Fig. 213 a nach unten) ausgerichtet sind. Sie gehören zusammen mit Hydroxidgruppen einer - unterhalb der erwähnten S i 2 0 5 - S c h i c h t ( , , T e t r a e d e r s c h i c h t " ) liegenden - , , O k t a e d e r s c h i c h t " an, deren Zentren vollständig mit Magnesium- bzw. zu § mit Aluminium-Ionen besetzt sind. D a im ersten Falle pro S i 2 0 5 - B a u e i n h e i t drei, im zweiten Falle zwei [ O , O H ] - O k t a e d e r mit K a t i o n e n gefüllt sind, spricht m a n bei Serpentin auch von einem , , t r i o k t a e d r i s c h e n " , bei Kaolinit von einem , , d i o k t a e d r i s c h e n " Schichtsilicat. Die einzelnen, übereinander angeordneten Serpentin- bzw. Kaolinitschichten lassen sich (formal) auch als Kondensationsprodukte von Kieselsäureschichten H 2 S i 2 0 5 ( t e t r a e d r i s c h koordiniertes Silicium; vgl. F i g . 2 0 8 , S . 9 5 7 ) mit M g ( O H ) 2 - bzw. A l ( O H ) 3 - S c h i c h t e n ( o k t a e d r i s c h koordiniertes M a g n e s i u m bzw. Aluminium, vgl. S . 1 2 3 1 bzw. 1157) beschreiben: 3Mg(OH)2 + H 2 S i 2 0 5 2Al(OH)3
+H2Si205
-
Mg3(OH)4[Si205] + 2H2O, Al2(OH)4[Si205]
+2H2O.
5° Asbest von asbestos (griech.) = unauslöschlich, unzerstörbar; Serpentin von serpens (lat.) = Schlange (Name bezieht sich auf die schlangenhautartige Färbung).
• 966
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
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53 Die - meist billigen - anorganischen Füllstoffe (,,Füllmittel", ,,Streckungsmittel", ,,Extender", ,, Verschnittmittel"; Brechungszahl meist < 1.7) setzt man u. a. Papieren oder Werk-, Kunst-, Lack-, Anstrich-, Klebstoffen zur Volumenund/oder Gewichtserhöhung sowie zur Produktverbilligung und Eigenschaftsverbesserung (Härte, Festigkeit, Elastizität, Dehnbarkeit, optische Eigenschaften) zu. Sie bilden - anders als anorganische Pigmente (Brechungszahl meist > 1.7) - nicht den Minder-, sondern den Hauptbestandteil der betreffenden Produkte. Wichtige natürliche und synthetische anorganische Füllstoffe (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab) sind Carbonate (insbesondere Kalk), Quarz, Silicate (Talk, Ton, Glimmer, Kieselerde, Aerosole, Glaskörper), Sulfate (insbesondere Gips, Schwerspat), Aluminiumhydroxid, Fasern (insbesondere Glasfasern), Ruße (siehe bei den einzelnen Stoffen).
• 970
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
ederplätzen im Pyrophyllit oder Talk durch dreiwertige Aluminiumatome ersetzt sind. Im ersteren Falle spricht man von einem „montmorillonitischen", im letzteren Falle von einem,,beidellitischen Ladungstyp". Verwendung. Die Glimmer, die zusammen mit Kaolinit, Serpentin (Antigorit), Talk und Pyrophyllit sowie den glimmerartigen Silicaten (s. oben) zu den „Tonminerale^ gezählt werden, sind zu etwa 3.5 % am Aufbau der festen Erdkruste beteiligt. Besonders häufig ist Biotit, der durchscheinende bis undurchsichtige dunkel gefärbte, metallisch-perlmuttglänzende, gut spaltbare Tafeln bildet. Technische Bedeutung haben insbesondere der Phlogopit (Lagerstätten z.B. in Madagaskar, Kanada, Russland) und der Muskovit (weit verbreitet; europäische Lagerstätten z.B. in Spanien, Frankreich und Norwegen). Beide Glimmer bilden wie Biotit durchscheinende tafelige, leicht spaltbare Kristalle. Phlogopit ist meist rotbraun, gelegentlich gelbgrün oder rot. Sie werden hauptsächlich als Füllstoffe5 3 für Lacke, Farben und Kunststoffe, darüber hinaus als I s o l i e r m a t e r i a l verwendet. Reiner „Fluormuskovit" K l A l j F ^ A l S i j O j „ ] } wird synthetisch hergestellt und dient als Elektroisoliermaterial. Der Montmorillonit Na 0 33(^1! 6 7 M g 0 . 3 3 ) ( 0 H ) 2 [ S i 4 0 1 0 ] } (dioktaedrisch, montmorillonitischer Ladungstyp), das Hauptmineral des „Bentonits", stellt neben Kaolinit (S. 967) und Illit (s. oben) einen wichtigen Rohstoff für keramische M a t e r i a l i e n 6 9 dar. Er dient darüber hinaus zur Herstellung von Gießereisanden und Bleicherden, als Zusatz zu Spülmitteln für Erdölbohrungen und in der Eisenerzindustrie zur Pelletierung. Durch Auslaugen mit Mineralsäuren veredelter (gebleichter) Bentonit findet bei der Raffination von Pflanzenölen und -fetten Verwendung. Die Zwischenschichtkationen der Minerale der Montmorillonit/Beidellit-Reihe54 lassen sich ohne weiteres durch andere K a t i o n e n austauschen. Auch lagern sich in die Zwischenschichten leicht Wassermoleküle und andere Stoffe unter Vergrößerung des Schichtabstandes ein (,,innerkristalline Quellung"). Dementsprechend findet man in der Natur wasserhaltigen Montmorillonit ( c a . 4 H 2 0 pro 0.33 Na + )54. Beim Erhitzen auf 100-200°C geben die Minerale das Quellungswasser ab. Der Vermiculit (Mg(H 2 0) 6 • 2 H 2 0 ) 0 3 3 { ( M g , F e n l , A l ) 3 ( 0 H ^ [ ^ 2 5 S i 2 . 7 5 O 1 0 ] } (trioktaedrisch, beidellitischer Ladungstyp; Lagerstätten in Südafrika, Montana (USA), AAustralien, Kenia), ein bronzefarbenes bis farbloses, gut spaltbares Mineral, dient in der B a u t e c h n i k zur Wärme- und Schallisolation, in der Verpackungsbranche als stoß- und wärmeschützender, bei Gefäßbruch flüssigkeitssaugender Füllstoff und in der Metallurgie (auf den Metallschmelzen schwimmend) als Wärmeisolator zur Zwischenlagerung der Schmelzen bis zum Gießen. Man verwendet ihn hierbei in der oberflächenreichen, lockeren ,,expandierten" (geblähten) Form, die sich beim kurzzeitigen Erhitzen bis auf 1500 °C bildet. Die hierdurch erzielbare 15-30fache Volumenvergrößerung beruht auf der plötzlichen Verdampfung des Zwischenschichtwassers, das nicht schnell genug aus den großen Vermiculit-Kristallblättchen entweichen kann. Farblose ,,Glimmerblättchen", auf die Titandioxid-Hydrat gefällt wurde, dienen nach einer Hitzebehandlung als Perlglanz- bzw. Interferenzpigmente6s. Gerüstsilicate
(„Tectosilicate")
Ähnlich wie im Falle der band- und schichtartigen Silicate (S. 9 6 4 und 965) können die vierwertigen S i l i c i u m a t o m e auch im Falle der R a u m n e t z s t r u k t u r des Siliciumdioxids teilweise (bis zu 50 A t o m - % ) durch dreiwertige A l u m i n i u m a t o m e ersetzt werden (,.,Gerüst", ,,Tectosilicate")5 5, und auch hier ist der E i n b a u jedes Aluminiumatoms mit dem Auftreten einer n e g a t i v e n L a d u n g verknüpft. Zur Ladungsneutralisation sind dementsprechend K a t i o n e n erforderlich, die geeignete H o h l r ä u m e der betreffenden Alumosilicate (Aluminosilicate) b e s e t z e n . So ist zum Beispiel in den „Feldspäten66 K [ A l S i 3 0 8 ] ( , , K a l i f e l d s p a t " , , , O r t h o klas"56, „Mikroklin", , , S a n i d i n " ,,Adular"), N a [ A l S i 3 O g ] (,,Natronfeldspat", ,,Albit") sowie C a [ A l 2 S i 2 0 8 ] ( , , K a l k f e l d s p a t " , „Anorthit"56) jedes v i e r t e bzw. jedes z w e i t e Sili-
54 Zur Montmorillonit/Beidellit-Reihe (,,Smectite66) zählen neben dem Montmorillonit z.B. auch: „Beidellit" (Ca,Na) 0 3 {A1 2 (0H) 2 [A1 0 5 Si 3 5 0 1 0 ] } (dioktaedrisch, beidellitischer Ladungstyp), ,,Nontronit" Na 0 3 3 {Fe 2 '(0H) 2 [Al0 33Si3 6 7 O 1 0 ] } (dioktaedrisch, beidellitischer Ladungstyp), ,,Saponit" (Ca,Na) 0 3 3 {(Mg,Fe") 3 (0H) 2 [ A l ^ ^ S i 3 . 6 ^ 1 0 ] } (trioktaedrisch, beidellitischer Ladungstyp), ,,Hectorit" Na 0 3 3 { ( M g , L i ) 3 ( 0 H , F ) 2 [ S i 4 0 1 0 ] } (trioktaedrisch, montmorillonitischer Ladungstyp). Die Minerale liegen in der Natur hydratisiert vor 55 Sind alle Siliciumatome in [SiOj]^ durch Aluminiumatome ersetzt, so liegt das hochpolymere Anion [Al0 ^ der 2 wasserfreien Aluminate vor (S.1162). In gleicher Weise entsprechen die verschiedenen Kieselsäuren Si(0H) 4 , (H0) 3 Si—O—Si(0H) 3 usw. wasserhaltigen Aluminaten des Typs [Al(0H) 4 ]", [(H0) 3 A1—O—Al(0H 3 ]2" usw. (S. 1158). Die Siliciumatome in [SiOj]., lassen sich auch gegen andere Atome als Al austauschen. So bildet z.B. ,,Borphosphat" B P 0 4 sowohl eine Quarz- als auch eine Tridymit- und Cristobalitstruktur, in welchen die SiAtome des Si0 2 alternierend durch B- und P-Atome ersetzt sind (S. 1109). 56 Der 0rthoklas spaltet senkrecht zu einer Kristallfläche, der Anorthit schräg dazu: orthos (griech.) = aufrecht, klasma (griech.) = Bruchstück, an (griech.) = Verneinung.
2. Das Silicium
971«
c i u m a t o m und im f e l d s p a t a r t i g e n A l u m o s i l i c a t , , N e p h e l i n " N a [ A l S i 0 4 ] (häufig z u s a m m e n m i t ,,Cancrinit"
N a 6 C a 2 [ ( A l S i 0 4 ) Ö ( C O 3 ) 2 ] ) s o w i e ,,Leucit''
K [ A l S i 2 0 6 ] jedes z w e i t e bzw.
jedes d r i t t e S i l i c i u m a t o m durch A l u m i n i u m ersetzt. Die glasklar farblosen bis mattgrauen Feldspäte, die durch Einschlüsse z.T. grün, rot, braun usw. gefärbt sein können, sind mit ca. 6 0 - 6 4 G e w . - % am Aufbau der festen Erdkruste beteiligt und stellen deshalb eine besonders wichtige Mineralgruppe dar (ca. 40 % der Erdkruste besteht als Albit/Anorthit-Mischkristallen, den so genannten ,,Plagioklasen''). Als wichtiger Gemengebestandteil finden sie sich insbesondere im G r a n i t (grobkörnig, gesprenkelt) neben Quarz und Glimmer sowie im B a s a l t (feinkörnig, dunkel) neben Pyroxenen und anderen Silicaten. Den - auch synthetisch zugänglichen - Feldspäten liegt ein dreidimensional unendliches Gerüst eckenverknüpfter [(Al, Si)O 4 ]-Tetraeder zugrunde, näherungsweise vergleichbar mit dem des Coesits S i 0 2 ( S . 9 5 7 ) 5 7 . Charakteristische Strukturuntereinheiten sind Ringe aus vier derartigen Tetraedern, welche über gemeinsame Sauerstoffatome zu - ihrerseits verbundenen Zickzackbändern verknüpft sind Verwendung N a t r o n , Kali- und Kalkfeldspat (europäische Lagerstätten in Deutschland, Norwegen, Italien, Frankreich) finden hauptsächlich als Rohstoff in der G l a s - und K e r a m i k i n d u s t r i e Verwendung. Darüber hinaus dienen sie als milde S c h l e i f m i t t e l , als F ü l l s t o f f e für Lacke, Farben, Kleber, Gummi, Kunststoffe, als S t r a ß e n s c h o t t e r , als r e f l e k t i e r e n d e K ö r n u n g in der Straßendecke usw. Nephelin (weit verbreitet; wichtige Lagerstätten in Kanada, Norwegen, Russland) und Leucit (Lagerstätten u. a. in U S A und Italien) werden als Rohstoffe zur Glas- und Keramikherstellung genutzt. E i n e a n d e r e w i c h t i g e G r u p p e d e r G e r ü s t s i l i c a t e sind die m e i s t farblosen
-
Ca[Al2Si40
basit''
22
] • 6H2O,
,,Mordenit''
Na2[Al2Si20O24] -7H2O
N a 2 [ A l 2 S i 3 O 2 0 ] • 2 H 2 O , in w e l c h e n d a s Verhältnis 1.5
beträgt5®.
In
a u f der Erde weit verbreiteten
, , Z e o l i t h e " 5 8 wie e t w a , , F a u j a s i t ' ' N a 2 C a [ A l 2 S i 4 0 1 2 ] 2 • 1 6 H 2 O ,
ihnen
liegen
Polyeder,
Schichten
von
Silicium
oder
und
zu Aluminium
Ketten
aus
,,Cha-
,,Natrolith'' 6, 6 . 5 b z w .
eckenverknüpften
[ ( A l , S i ) O 4 ] - T e t r a e d e r n v o r , die z u e i n e m p o r e n r e i c h e n , v o n l a n g e n K a n ä l e n
durchzo-
g e n e n , a n i o n i s c h e n R a u m n e t z w e r k v e r b u n d e n sind. I m I n n e r e n d e r P o r e n u n d K a n ä l e b e f i n d e n sich die W a s s e r m o l e k ü l e 6 ° s o w i e die Kationen
(Alkali-, Erdalkali- bzw. andere
I o n e n ) . Ä h n l i c h e S i l i c a t g e r ü s t e wie d e n Z e o l i t h e n liegen e i n e r R e i h e v o n A l u m o s i l i c a t e n zugrunde, deren H o h l r ä u m e aber zum Unterschied von ersteren zusätzlich mit A n i o n e n besetzt s i n d . A l s B e i s p i e l e seien die „ U l t r a m a r i n e " 6 . wie e t w a d e r n a t ü r l i c h v o r k o m m e n d e ,,Lasurit''
( , , L a p i s lazuli'';
„Lasurstein")
N a 4 [ A l 3 S i 3 0 2 2 ] S n g e n a n n t ( e n t h ä l t blaueS3
S . 5 5 6 ) u n d d e r h i e r m i t v e r w a n d t e ,,Sodalith''
Na4[Al3Si3 0
22
blaue
-Ionen,
] C l (enthält Cl~-Ionen). Al-
kalimetallkationhaltige, dehydratisierte Zeolithe nehmen beim Behandeln mit Alkalimetalld ä m p f e n z u s ä t z l i c h e A l k a l i m e t a l l a t o m e M u n t e r B i l d u n g v o n M ^ + - C l u s t e r wie N a . + , K | + , C s | + a u f . A u c h m i t N a " b e l a d e n e Z e o l i t h e sind b e k a n n t . 57 Ähnlich wie Coesit verwandelt sich der Kalifeldspat unter Druck bei hohen Temperaturen (120000 bar, 900°C) in eine Form mit [(Al,Si)O 6 ]-Oktaedern statt [(Al,Si)O 4 ]-Tetraedern. 5f Literatur. L. Puppe: ,,Zeolithe - Eigenschaften und technische Anwendungen'', Chemie in unserer Zeit 20 (1986) 117-127; J.M. Thomas: ,,New Light on the Structure of Alumosilicate Catalysts'', Progr. Inorg. Chem. 35 (1987) 1-49; W. Höldrich, M. Hesse, F. Naumann: ,, Zeolithe: Katalysatoren für die Synthese organischer Verbindungen'', Angew. Chem 100 (1988) 232-251; Int. E d 27 (1988) 226; K. Seff: ,,Structural Chemistry inside Zeolithe A'', Acc. Chem. Res. 9 (1976) 121-128; C.K. Hersh: ,,Molecular Sieves'', Reinhold, New York 1961; D.W. Breck: „Zeolithe Molecular Sieves: Structure, Chemistry and Use'', Wiley, New York 1974; R.M. Barrer:,,Zeolithes and Clay Minerals as Sorbents and Molecular Sieves'', Acad. Press, London 1978; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Zeolites'', A28 (1995); X. He, D. Antonelli: ,Synthesen und Anwendungen von übergangsmetallhaltigen mesoporösen Molekularsieben'', Angew. Chem 114 (2002) 222-238; Int. E d 41 (2002) 214; P. Behrens: ,,Löcher in chemisch variabler Umgebung: mesoporöse Metalloxide'', Angew. Chem 108 (1996) 561-564; Int. E d 35 (1996) 515. 5^ In der Natur kommen etwa 40 verschiedene Zeolith-Typen vor. Darüber hinaus kennt man noch etwa 100 künstlich gewonnene Zeolith-Formen der allgemeinen Formel (M + ,M(+ 5 ^ [Al0 2 ) ^(SiO^] • z H 2 O(M + ,M( + = Alkali-, Erdalkali-Ion). Sie unterscheiden sich im Si/Al-Verhältnis, das von 1 in Zeolith A N a 1 2 [ ( A l 0 2 ) 2 2 ( S i 0 2 ) 1 2 ] • 27H 2 O über 1.2 bis 3 in Zeolithen X bzw. Y (z.B. N a 4 3 [ ( A l 0 2 ) 4 3 ( S i 0 2 ) 5 3 ] • 132H 2 O bzw. N a 2 8 [ ( A l 0 2 ) 2 8 ( S i 0 ( ) 6 8 ] • 125H 2 O), um 5 in künstlichen Mordeniten (z. B. Na f 7 [(Al0 2 ) 8 7 ( S i 0 2 ) 3 9 3 ] • 24H 2 O), 10-100 in Zeolithen der Reihe Zeolithe Secones Mobile (ZMS) (z.B. ZMS-5 (Na 0 3 H 3 J 8(Al0 2 ) 4 . 2 (Si0 2 ) 2 3 6 ] -250H 2 O) bis oo in Silicalit Si0 2 reicht. Mit dem Si/Al-Verhältnis steigt die Thermo- und Säurestabilität an. 6° Die Zeolithe ( = Siedesteine) tragen den Namen daher, dass diese beim Erhitzen das ,,zeolithisch'' gebundene Wasser ohne Zerfall des Alumosilicatgerüsts abgeben und daher wie siedende Steine aussehen: zeo (griech.) = ich siede; lithos (griech.) = Stein. 62 Der Name Ultramarin rührt von seinem überseeischen Fundort: ultra (lat.) = jenseits; mare (lat.) = Meer.
• 972
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Im F a u j a s i t sind die [(Al,Si)0 4 J-Tetraeder in der Weise miteinander verknüpft, dass die Siliciumbzw. Aluminiumatome die Ecken eines Kuboktaeders (,,ß-Käfige"; genauer: abgestumpfter 0ktaeder) einnehmen (vgl. Fig.216; Fettdruck). Die Kuboktaeder sind ihrerseits in der in Fig.216b veranschaulichten Weise mit den sechseckigen Flächen über hexagonale Prismen miteinander verbunden und umschließen große, durch weite Kanäle (,,Fenster") erreichbare Hohlräume (,,ai-Käfige"). In einem anderen, künstlich gewonnenen Zeolith (Zeolith A, s. unten) sind die Kuboktaeder mit den quadratischen Flächen über Würfel verknüpft (Fig. 206a) und umschließen kleine Hohlräume. Bei den Ultramarinen baut sich das Alumosilicatgerüst aus Kuboktaeder-Baueinheiten auf (vgl. Fig. 206, Fettdruck), die nach den drei Raumrichtungen aneinander gereiht sind, wobei die quadratischen Flächen jeweils zwei Käfigen gemeinsam angehören
Fig. 216 Ausschnitte aus der Struktur von Zeolith, A, X bzw. Y sowie Faujasit (wiedergegeben sind Verbindungslinien der Silicium(Aluminium)-Atome der eckenverknüpften [(Al,Si)0 4 ]-Tetraeder.
Verwendung und Gewinnung „Zeolithe66 (Weltjahresproduktion insgesamt: Megatonnenmaßstab), die bei hohen Temperaturen „getrocknet" wurden, nehmen begierig Wasser, aber auch kleine Moleküle wie C 0 2 oder H 2 0 auf und eignen sich demgemäß als Adsorptionsmittel (Trockenmittel für Erdgase, Luft, Lösungsmittel, Innenräume von Doppelfenstern Reinigungsmittel für die Abtrennung unerwünschte Gasbestandteile). Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Zeolithe ist ihre Austauschfähigkeit gebundener Ionen gegen andere Ionen, was ihren Einsatz als Ionenaustauscher ermöglicht. So besitzen etwa Alkalimetallzeolithe („Zeolith A", ,,Permutite", ,,Sasil")62 wasserenthärtende Wirkung: N a 2 [ A l 2 S i 4 0 1 2 ] • « H 2 0 + Ca2 + ?± C a [ A l 2 S i 4 0 1 2 ] • « H 2 0 + 2Na + (Austausch der Natrium- gegen Calcium-Ionen des Wassers63; Regenerierung der Austauscher durch Behandlung mit NaCl-Lösung). Sie werden z. B. in Waschmitteln genutzt (50 %iger Ersatz des Phosphats, vgl. S. 806). Eine weitere Verwendungsmöglichkeit der Zeolithe, die sich von anderen Adsorptionsmitteln durch ihre gleichmäßige Porenstruktur unterscheiden, betrifft Trennprozesse. So enthalten entwässerte Zeolithe Hohlräume bestimmten Durchmessers mit Zugangsöffnungen ebenfalls definierten Durchmessers durch die Moleküle passender Größe und Gestalt eindringen können, um dann in den Hohlräumen durch elektrostatische oder van der Waals'sche Kräfte festgehalten zu werden, während sperrige Moleküle nicht einzutreten vermögen und kleinere Moleküle zwar leicht eindringen, aber ebenso leicht wieder entschlüpfen können. Auf diese Weise lassen sich Zeolithe als Molekularsiebe zur Trennung von Molekülen verschiedener Größe und Gestalt einsetzen, also z. B. zur Trennung von geradkettigen Aliphaten (adsorbierbar in Ca2 +-ausgetauschtem Zeolith A) von verzweigtkettigen Aliphaten oder von Aromaten (nicht adsorbierbar). Auch ist es durch mehrstufige Luftbelastungs-Desorptions-Zyklen möglich, sauerstoffangereicherte Luft für Kläranlagen oder für Stahlwerke herzustellen (N 2 wird in Ca2 +-ausgetauschtem Zeolith A oder X stärker als 0 2 festgehalten). Selbst die Trennung von H 2 , HD und D 2 sowie von o62 Von permutare (lat.) = austauschen sowie von Sodium-^4luminium-Silicate. 63 In analoger Weise wird das Adsorptionsvermögen des Ackerbodens für Kalium- und Ammoniumsalze, das für die Düngung von großer Bedeutung ist, dadurch bedingt, dass die im Boden vorhandenen Tonminerale Calcium gegen Kalium und Ammonium auszutauschen vermögen, sodass statt der wertvollen Kalium- und Ammoniumsalze die beim Austausch freiwerdende Calcium-Verbindung durch den Regen ausgewaschen wird
2. Das Silicium
973«
und p-H 2 hat man mithilfe geeigneter Molekularsiebe erreicht. Das Adsorptionsvermögen der erwähnten Zeolithe für Moleküle nimmt in der Reihe H 2 0 > NH 3 > CH 3 OH > C ^ S ^ ^ j S > C O > N 2 > CH 4 ab. Es lassen sich nicht nur mesoporöse Molekularsiebe auf Silicatbasis, sondern auch solche mesoporöser Übergangsmetalloxide synthetisieren5f. In einer Reihe von Fällen werden die in Zeolith-Hohlräume eingedrungenen Moleküle an anwesenden Zeolith-Kationen zudem verändert. Eine derartige Wirkung der Zeolithe als Katalysatoren nutzt man etwa zur Isomerisierung unverzweigter in verzweigte Aliphaten für Treibstoffzwecke (Pd- bzw. Pt-haltiger Zeolith Y), zum Cracken oder Hydrocracken (unter H 2 -Mitwirkung) von Erdöldestillaten für die Treibstoffherstellung (Lanthanoid-haltige Zeolithe X oder Y, die gegebenenfalls auch Pd oder Pt enthalten), zur Umwandlung von Methanol in Kohlenwasserstoffe oder von Benzol in Ethylbenzol bzw. Toluol in p-Xylol (Zeolithe der ZSM-Reihe). Die in Laboratorium und Technik genutzten Zeolithe werden in der Praxis hauptsächlich synthetisch gewonnen. So entsteht beispielsweise der „Zeolith A'' aus Wasserglas, Aluminat und Natriumhydroxid in Wasser (eingesetzt im geeigneten Molverhältnis) durch Kristallisation des zunächst aus der Lösung fallenden Al-haltigen Kieselsäuregels bei 7 0 - 1 0 0 °C. In analoger Weise erhält man die Zeolithe X, Y, ZSM-5 sowie synthetische Mordenite5 9 . Die Na-Ionen der Na + -haltigen Zeolithe lassen sich nachträglich durch andere Ionen wie K-, NH 4 -, Ca-, Lanthanoid-, Ni-, Co-, Pt-, Pd-Ionen austauschen. Die als Pulver (Kristalldurchmesser ca. 1000 Ä) anfallenden künstlichen Zeolithe werden nach Zusatz von Bindemitteln (Kaolin, Montmorillonit) in Granulate verwandelt und anschließend im Luftstrom bei Temperaturen bis zu 500 °C getrocknet. Die Zeolithe A, X und Y haben die in Fig.216 wiedergegebenen Strukturen (A: Porenöffnung 4.1 Ä, Volumen der Poren: 151Ä 3 ; X bzw. Y: Porenöffnung: 7.4 A, Volumen der Poren: 775 Ä 3 ), die Zeolithe der ZSM-Reihe eine komplizierte, durch sich kreuzende Kanalsysteme ausgezeichnete Struktur (Porendurchmesser 6 A), ähnlich der von praktisch Al-freiem „Silicalit'' (erzeugbar hydrothermal aus Tetrapropylammoniumsilicat). Ähnliche Gashydratstruktur wie die Si -Modifikation „Melanophlogit'' (S.953) mit großen polyedrischen Hohlräumen haben auch die „Clathrasile" sowie ,,Dodecasite''. Die Ultramarine N a ^ . J A l j ^ S i j + ^OjjjS,, (,,Na-reich'' im Falle x = 0, ,,Si-reich'' im Falle x > 0) enthalten - in Zeolith-Hohlräumen eingelagert - u.a. gelbgrünes S 2 , blaues S 3 , rotes S 4 (vgl. S.556) bzw. Gemische dieser Sulfid(1 — )-Ionen und sind je nach Zusammensetzung blau, grün, rot oder violett. Sie dienen als physiologisch unbedenkliche Buntpigmente in der Kunststoff-, Lack-, Farben-, Leder-, Papier-, Textil- und Kosmetik-Industrie in Form von ,,Wäscheblau'' als Komplementärfarbe zum verbliebenen gelblichen Ton der Wäsche). Zur Herstellung von blauem Ultramarin wird feinteiliger Metakaolinit ( = b e i 5 0 0 - 6 0 0 °C entwässerter Kaolinit) zusammen mit wasserfreier Soda, eisenfreiem Quarzmehl, Schwefel und Holzkohle mehrere Tage auf 7 5 0 - 8 0 0 °C erhitzt, wobei farbloses Ultramarin N a 3 [ A l 3 S i 3 0 1 2 ] • j N a 2 S m entsteht, der durch vieltägige Oxidation des Polysulfids(2 —) mit Luft zu Schwefeldioxid und Trisulfid(1 —) in Ultramarin-Blau N a 4 [ A l 3 S i 3 0 1 2 ] S 3 übergeht. In ähnlicher Weise erhält man Ultramarin-Grün, -Rot und - Violett
2.5.4
Technische Silicate 2 6 ' 4 5 ' 6 4
Nachfolgend werden Alkalisilicate, Gläser sowie Tonwaren besprochen, die als technische Silicate in großem Umfange synthetisiert werden. Bezüglich der ebenfalls synthetisch gewonnenen Zeolithe s. oben, bezüglich Zement S. 1257, bezüglich Kalksandsteinen S. 1256. 64 Literatur. Gläser, Glasfasern. G.H. Frischat: ,,Glas - Strukturen und Eigenschaften'', Chemie in unserer Zeit 11 (1977) 65-74; H. Scholze: ,,Glas, Natur, Struktur und Eigenschaften'', Springer-Verlag (2. Aufl.), Berlin 1977; A. Paul: ,,Chemistry of Glasses'', Chapman and Hall, London 1982; H. Rawson: ,,The Properties and Application of Glass'', Elsevier, Amsterdam 1981; P. Phillips: ,,The Encyclopedia of Glass'', Crown, New York 1981; G. Nolle: „Technik der Glasherstellung'', Harri Deutsch Verlag, Frankfurt 1979; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Glass'', A12 (1989) 365-432; J.G. Mohr, W.P. Rowe: ,,Fiberglass'', Van Nostrand, New York 1978; K.A.F. Schmidt: „Textilglas für die Kunststoffverstärkung'', Zechner und Hüthig, Speyer 1972; Ch. Rüssel, D. Ehrt: ,,Neue Entwicklungen in der Glaschemie'', Chemie in unserer Zeit 32 (1998) 126-135. Glaskeramik, Cermets. P.W. McMillan:,,Glass-Ceramics'', Acad. Press, New York 1979; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Glass Ceramics'', A12 (1989) 433-448; ,,Ceramic MetalSystems'', ,,Electronic Cereals and Cereal'', ,,Cereal and Cereal Products'', A6 (1986) 55-78, 79-92, 93-137; A.M. Dietzel: ,, Emaillierung'', Springer-Verlag, Berlin 1981. Keramik. F. Aldinger, H.-J. Kalz: ,, Die Bedeutung der Chemie für die Entwicklung von Hochleistungskeramiken'', Angew. Chem 99 (1987) 381-391, Int. E d 26 (1987) 371; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Ceramics General Survey'', ,,Advanced Structural Products'' A6 (1986) 1-42, 43-53; ,,Construction Ceramics'' A7 (1986) 425-460; „Ferroelectrics", A10 (1987) 309-321; „Magnetic Materials'', A16 (1990) 1-51; W.D. Kingery, H.K. Bowen, D.R. Uhlmann: „Introduction to Ceramics'', Wiley (2. Aufl.), New York 1976; H. Salmang, H. Scholze: „Die physikalischen und chemischen Grundlagen der Keramik'', Springer-Verlag (5. Aufl.) Berlin 1968; HANDBUCH DER KERAMIK: „Kapitel über Tonkeramik, Oxidkeramik, Nichtoxidkeramik'', Verlag Schmid GmbH, Freiburg; B. Cockayne, D.W. Jones (Hrsg.): „Modern Oxid Materials'', Acad. Press, London 1972.
• 974
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Alkalisilicate Reine Alkalisilicate der Formel M 4 SiO 4 , M 2 SiO 3 , M 2 S i 2 0 5 und M 2 S i 4 0 9 lassen sich durch Zusammenschmelzen von reinem Quarzsand und Alkalicarbonat bei etwa 1300°C im Molverhältnis 1 : 2 , 1 : 1 , 2 : 1 und 4 : 1 darstellen: Si0 2 + 2M 2 CO 3 ->• M 4 S i 0 4 + 2 C 0 2 , Si0 2 + M 2 CO 3 ^ M 2 S i 0 3 + C O ,
2 S i 0 2 + M 2 CO 3 M 2 S i 2 0 5 + CO 2 , 4 S i 0 2 + M 2 CO 3 ^ M 2 S i 4 0 9 + CO 2 .
Die beim Erstarren der Schmelze zunächst glasig anfallenden Produkte können durch längeres Tempern unterhalb ihres Schmelzpunktes zur Kristallisation gebracht werden (analog lassen sich Erdalkalimetallsilicate synthetisieren, vgl. S. 963, 964, 965). Auf die besprochene Weise entstehen etwa die Inselsilicate Li 4 Si0 4 und Na 4 Si0 4 (Smp. 1018°C), die Kettensilicate Li 2 SiO 3 , Na 2 Si0 3 (Smp. 1089°C) und K 2 S i 0 3 (Smp. 976°C), die Schichtsilicate Li 2 Si 2 0 5 , Na 2 Si 2 0 5 (Smp. 874 °C) und K 2 S i 2 0 5 (Smp. 1045 °C) sowie das (strukturell noch ungeklärte) Polysilicat S In der Technik werden Natrium- und Kaliumsilicate der Zusammensetzung M 2 O • «Si0 2 (n ca. 1, 2, 3 und 4) in Form klarer, glasiger (s. unten), durch Eisen-Verunreinigungen mehr oder minder blau, grün, gelb oder braun gefärbter Brocken erhalten (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab). Man bezeichnet sie wegen ihrer Wasserlöslichkeit als „Wassergläser". In den Handel kommen praktisch ausschließlich ,,flüssige Wassergläser'' (,,Flüssiggläser''), die durch Auflösen der ,,festen Wassergläser'' („Festgläser") in überhitztem Wasser (z.B. 150°C bei 5 bar Druck) gewonnen werden (am verbreitetsten ist „Natronwasserglas" mit einem Molverhältnis Na 2 O : Si0 2 = 1:3.4 bis 3.5). Eigenschaften Die Wassergläser reagieren infolge teilweiser Hydrolyse der Alkalisilicate alkalisch (silicatreiche Wassergläser) bis sehr alkalisch (silicatarme Wassergläser). Sie enthalten neben Alkali- und Hydroxid-Ionen Monosilicat-Ionen H S i O H 2 S i O u n d H 3 S i 0 4 sowie cyclische und raumvernetzte Polysilicat-Ionen. Hierbei wächst der Monosilicatanteil mit zunehmender Alkalität und Verdünnung der Lösung. Aus den silicatarmen Wasserglaslösungen lassen sich unter geeigneten Bedingungen Hydrate von Na 3 HSi0 4 , Na 2 H 2 Si0 4 und NaH 3 Si0 4 auskristallisieren (im Handel sind das sogenannte „Sesquisilicat'' Na 3 HSi0 4 • 5H 2 O und die so genannten ,,Metasilicate'' Na 2 H 2 Si0 4 • 5H 2 O (Smp. 72°C) und Na 2 H 2 Si0 4 • 8H 2 O (Smp. 47°C)). Verwendung. Die silicatreichen Wassergläser stellen einen „mineralischen Leim'' dar und dienen - insbesondere in Form von Natrium-(Natron-)wasserglas - zum Verkitten von Glas- und Porzellanbruchstücken, zum Imprägnieren und Leimen von Papier, zum Beschweren von Seide, zum Strecken von Seife, zum Konservieren von Eiern, als Flammschutzmittel für Holz und Gewebe usw. Darüber hinaus werden sie zu Kieselsolen (S.961), Kieselgelen (S.962) und Zeolithen (S.971) verarbeitet. Silicatreiches Kaliumwasserglas wird überwiegend als Bindemittel für Fernsehröhren-Leuchtstoffe, Mineralfarben, Anstrichmittel, Putzmittel sowie zur Herstellung von Schweißelektrodenüberzügen benutzt. Die silicatarmen Wassergläser dienen zur Herstellung von Wasch- und Reinigungsmitteln (z. B. für Geschirrspülmaschinen).
Gläser64 Unter einem „Glas" im weiteren Sinne versteht man ganz allgemein eine amorphe, d.h. ohne Kristallisation erstarrte (metastabile), beim Erwärmen nur allmählich erweichende unterkühlte Schmelze („eingefrorene Flüssigkeit''), deren Atome zwar eine Nahordnung, aber keine gerichtete Fernordnung besitzen (Fig.217b; S.975). Die Fähigkeit, glasartig zu erstarren, besitzen viele Elementoxide, eine Reihe von Elementsulfiden, einige Elementfluoride und sogar Metalle. Da es sich beim glasigen Zustand nur um einen metastabilen Zustand handelt, der in den beständigen (energieärmeren) kristallinen Zustand überzugehen sucht, „entglasen" (kristallisieren) Gläser bei längerem Erwärmen („Tempern") auf Temperaturen unterhalb ihres Erweichungspunktes bisweilen auch beim langen Stehen bei Raumtempe ratur - unter Trübung (vgl. Fig.217a).
2. Das Silicium
975«
Zur Glasbildung kommt es in der Regel dann, wenn die Geschwindigkeit der „Kristallkeimbildung66 ( = Bildung eines aus wenigen Formeleinheiten bestehenden Kristalliten, vgl. S. 1430) und/oder des „Kristallwachstums66 ( = Längenzuwachs eines Kristalls pro Zeiteinheit) in einer Schmelze unterhalb ihres Schmelzpunktes klein ist, verglichen mit der Abkühlgeschwindigkeit des geschmolzenen Stoffes. Häufig bestimmt die Kristallwachstumsgeschwindigkeit überwiegend die Glasbildung, da in Form von Verunreinigungen in der Schmelze sowie von aktiven Stellen der Gefäßwände meist genügend Keime vorliegen, an welchen die Kristallisation einsetzen kann. Die Wachstumsgeschwindigkeit beim Schmelzpunkt extrem klein, wächst mit zunehmender Unterkühlung der Schmelze und nimmt nach Durchlaufen eines Maximums bei weiterer Temperaturerniedrigung bis zu unmessbaren kleinen Werten ab. Naturgemäß muss zur erfolgreichen Überführung einer Schmelze in den Glaszustand der Temperaturbereich der endlich großen Kristallwachstumsgeschwindigkeit rasch durchschritten werden Die maximalen Kristallwachstumsgeschwindigkeiten können sehr unterschiedlich sein. Sie liegen im Falle technischer Gläser, die durch einfaches Erstarrenlassen geeigneter Glasschmelzen gewonnen werden, in der Regel deutlich unter 10 Jim pro Minute. Derart geringe maximale Kristallwachstumsgeschwindigkeiten weisen z.B. saure 0 x i d e der Zusammensetzung A 2 0 3 (z.B. B 2 0 3 , A1 2 0 3 , A s 2 0 3 , S b 2 0 3 ) , A 0 2 (z.B. SiO 2 , GeO 2 ) und A 2 0 5 (z.B. P 2 0 5 , A s 2 0 5 ) auf, nicht dagegen Verbindungen der Formel A 0 , A 0 3 , A 0 4 und A 0 5 , technische Bedeutung hat nur das auf S. 951 besprochene SiO 2 -Glas („Quarzglas"). Die Gewinnung optischer Spezialgläser mit maximalen Kristallwachstumsgeschwindigkeiten von über 100 m pro Minute bietet bereits fertigungstechnische Schwierigkeiten (Gefahr des Glasspringens bei allzu rascher Abkühlung). Äußerst kleine Probekörper lassen sich jedoch ohne Sprunggefahr extrem rasch abkühlen und können deshalb auch bei sehr hohen maximalen Kristallwachstumsgeschwindigkei ten, wie sie etwa den Metallen zu eigen sind, in den glasigen Zustand übergeführt werden (z. B. Herstellung von ,,metallischen Gläsern", ,,Chalkogenidgläsern"). Die Eigenschaft, aus dem Schmelzfluss glasig-amorph zu erstarren, zeigen darüber hinaus die in Schmelzen gebildeten Produkte s a u r e r 0 x i d e wie Siliciumdioxid, Bortrioxid, Aluminiumtrioxid oder Phosphorpentaoxid, die ein dreidimensionales Netzwerk ausbilden (,,Netzwerkbildner"), mit b a s i s c h e n 0 x i d e n wie Natrium-, Kalium-, Magnesium-, Calcium-, Blei(II)- oder Zinkoxid. Derartige erstarrte Schmelzmischprodukte nennt man auch Glas im e n g e r e n S i n n e . Der H a u p t b e s t a n d t e i l eines solchen Glases ist in der Regel S i l i c i u m d i o x i d , das wie im Quarzglas ( F i g . 2 1 7 b) ein ungeordnetes dreidimensionales Netzwerk eckenverknüpfter [ S i 0 4 ] - T e t r a e d e r bildet und dessen Disiloxanbrücken S i 0 S i durch Anlagerung der von den basischen 0 x i d e n gelieferten 0 x i d - I o n e n O 2 " teilweise gespalten („getrennt") sind ^ S i — O — S £ + 0 2 " ^ S i — O " + " O — S i ^ (vgl. F i g . 2 1 7 c ) . M a n nennt daher die erwähnten basischen Metalloxide bzw. die entsprechenden Metallkationen (Na + , K + , Mg2 + , Ca2 + , Pb2 + , Zn2 + ) auch ,,Trennstellenbildner". J e mehr Trennstellen vorhanden sind, desto niedriger liegen Erweichungs- und Schmelzpunkt eines Glases. Einwertige Kationen bewirken dabei eine größere Erweichungs- und Schmelzpunktabsenkung als äquivalente Mengen zweiwertiger Trennstellenbildner, da die Ionenbindungen im ersteren Falle naturgemäß schwächer als im letzteren Falle sind ( ^ S i — 0 ~ 2 M + ~ 0 — S i ^ statt ^ S i — O " M 2 + " 0 — S £ ) .
(a)
(b) • = Silicium
(c) o = Sauerstoff
= Alkalimetallion
Fig. 217 Zweidimensionale Strukturmodelle von a) kristallinem Quarz, b) Quarzglas, c) Alkalisilicatglas mit Trennstellen im Netzwerk
• 976
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Die vierwertigen Silicium-Ionen der ,,Silicatgläser'' können teilweise (oder sogar ganz) durch andere netzwerkbildende Ionen wie dreiwertiges Bor, dreiwertiges Aluminium oder fünfwertigen Phosphor substituiert sein. Man bezeichnet letztere Ionen auch als ,,Netzwerkwandler'', weil sie die negative Ladung des Netzwerks erhöhen (B. + , AI3+) oder erniedrigen (P5+) und demgemäß pro Netzwerkwandler einen Trennstellenbildner verbrauchen oder eine zusätzliche Trennstelle schaffen. Solcherart abgewandelte „Silicatgläser" (,,Borosilicatgläser'', „Alumosilicatgläser",,,Phosphosilicatgläser'') zeichnen sich häufig durch besonders breite Erweichungsintervalle aus 65 Glassorten und ihre Verwendung Wichtige Glasarten sind Flach- und Behälterglas (Normalglas), Spezialgläser hoher chemischer Resistenz, optische Gläser (für Linsen, Brillen, Lichtleitfasern usw.), elektrotechnische Spezialgläser, Lötgläser, Keramikgläser (z.B. hochtemperaturwechselbeständige, ferroelektrische, photosensitive Keramikgläser). Ein sehr einfach zusammengesetztes Glas ist das Natron-Kalk-Glas, das so genannte ,,Normalglas'', welches die Zusammensetzung Na 2 O • CaO • 6 S i 0 2 (12.9% Na 2 O, 11.6% CaO, 75.5% S i 0 2 ) besitzt. Das gewöhnliche Gebrauchsglas, wie „Fensterglas", „Tafelglas", „Flaschenglas'' und „Spiegelglas", kommt dieser Zusammensetzung meist nahe. Gute, d. h. chemisch genügend widerstandsfähige NatronKalk-Gläser sollen in ihrer Zusammensetzung der Gleichung i = 3 (n2 + 1) entsprechen, in welcher i die Molzahl des Siliciumdioxids und n die Molzahl des Natriumoxids je Mol Calciumoxid bedeutet. Wird also das Molverhältnis Natriumoxid zu Calciumoxid vergrößert, so muss dementsprechend auch der Siliciumdioxid-Anteil größer gemacht werden. Die Zusammensetzung des Normalglases ist ein Spezialfall der Formel (n = 1). Das Na2O/CaO-Verhältnis der in der Technik hergestellten Gläser bewegt sich etwa in den Grenzen n = 0.6 bis 1.8. 66 Schwerer schmelzbar als die Natron-Kalk-Gläser sind die Kali-Kalk-Gläser, bei denen das Natriumoxid durch Kaliumoxid ersetzt ist. Da die Kaligläser bei gleichem Molverhältnis von Alkali zu Kalk leichter von Wasser angegriffen werden als entsprechend zusammengesetzte Natrongläser, verwendet man hier gemäß der Gleichung i = 4(fc 2 + 1) einen größeren SiO 2 - G e h a l t , z.B. auf ein Molverhältnis fc = K 2 O/CaO = 1 acht anstatt sechs Mole Siliciumdioxid (K 2 O • CaO • 8 SiO 2 ). Ein bekanntes KaliKalk-Glas ist z. B. das „böhmische Kristallglas'', das zu feineren, namentlich geschliffenen Gegenständen Verwendung findet. Auch chemische Geräte, z.B. die schwer schmelzbaren Verbrennungsrohre zur organischen Elementanalyse, werden aus Kaliglas angefertigt. Jedoch wird das Kaliglas für diese Zwecke von dem anders zusammengesetzten Supremaxglas (s. unten) weit übertroffen. Das zu optischen Zwecken dienende ,,Kronglas'' ist ebenfalls ein Kali-Kalk-Glas. Gläser können auch Natrium- und Kaliumoxid nebeneinander enthalten. Ein solches Natron-Kali-Kalk-Glas, das bis 400-450°C verwendbar ist, ist z.B. das „Thüringer Glas'' (Erweichungstemperatur 550-600°C). Die Widerstandsfähigkeitdes Glases gegen Wasser, Säuren und Alkalilaugen sowie gegen Temperaturdifferenzen wird stark erhöht, wenn man einen Teil des Siliciumdioxids durch Bor- und Aluminiumoxid ersetzt („Bor-Tonerde-Gläser"). Das Boroxid verringert vor allem den Ausdehnungskoeffizienten des Glases und damit dessen Empfindlichkeit gegen rasches Erhitzen und Abkühlen und macht das Glas widerstandsfähiger gegen Wasser und Säuren; das Aluminiumoxid setzt die Sprödigkeit herab und vermindert die Gefahr des „Entglasens" (Kristallisierens). Ein sehr bekanntes Glas dieser Art ist das „Duran-Glas" (74.4% SiO 2 , 8 . 5 % A1 2 0 3 , 4 . 6 % B 2 0 3 , 7 . 7 % Na 2 O, 3 . 9 % BaO, 0 . 8 % CaO, 0.1 % MgO; Erweichungstemperatur 600-700°C). Es war ursprünglich für Geräte des chemischen L a b o ratoriums bestimmt, hat sich allmählich aber auch im Haushalt für Geräte zum Kochen und Backen auf freiem Feuer eingebürgert. Ähnliche Zusammensetzungen und Eigenschaften haben „Jenaer Glas'', „Pyrexglas", „Silexglas", „Resistaglas", „Duraxglas". Wichtig für den Chemiker ist noch das „Supremaxglas" (56.3% SiO 2 , 20.1 % A1 2 0 3 , 8 . 9 % B 2 0 3 , 8 . 7 % MgO, 4 . 8 % CaO, 0 . 6 % K 2 O, 0 . 6 % Na 2 O; Erweichungstemperatur oberhalb von 1000 °C), welches sich für Verbrennungsrohre und sonstige chemische Geräte eignet, die hohen Temperaturen (bis 800 °C) ausgesetzt werden sollen. Ersetzt man im Kali-Kalk-Glas das Calciumoxid durch Bleioxid, so erhält man das leicht schmelzbare „Kali-Blei-Glas" („Bleikristallglas''). Es zeichnet sich durch starkes Lichtbrechungsvermögen und hohe Dichte (3.5 bis 4.8 g/cm3) aus und wird für geschliffene Gebrauchs- und Luxusgegenstände
65 Neben den anorganischen gibt es auch organische, auf ganz anderer Basis aufgebaute Gläser, z.B. das durch Polymerisation von Methacrylsäuremethylester CH 2 =CMe—COOMe gewonnene „Plexiglas". 66 Calciumoxid-freie Alkalisilicatgläser sind wasserlöslich (vgl. S.974). Alkali-reichen Kalkgläsern wird durch Wasser ein Teil des Alkalis aus der Oberfläche herausgelöst. Die hierdurch gebildete, an Si0 2 und CaO reiche Oberflächenschicht schützt dann das darunterliegende Glas vor weiterer Wassereinwirkung. Daher pflegt man neue chemische Glasgeräte zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit mit Wasser „auszudampfen". In gleicher Weise wirken Säuren. Besonders stark werden Gläser von Laugen angegriffen, die das Si0 2 des Glases herauslösen.
2. Das Silicium
977«
sowie für die Trichter der Fernseh-Bildröhren (Front aus Sr- und Ba-haltigem Glas) verwendet. Ein anderes Kali-Blei-Glas ist das ,,Flintglas'', das vor allem als optisches Glas (für Linsen, Prismen) Verwendung findet. Besonders bleireich und etwas borsäurehaltig ist der „Strass", der in seinem Lichtbrechungsvermögen dem Diamanten gleicht und daher zur Nachahmung von Edelsteinen dient. Durch entsprechende Variation der Bestandteile (z.B. durch Einführung von Zn0, S b 2 0 3 , P 2 0 5 usw.) können Spezialgläser mit ganz bestimmten, für Spezialzwecke geeigneten Eigenschaften gewonnen werden. So enthält z.B. das ,,Uviolglas'', das die ultravioletten Strahlen bis herab zur Wellenlänge 253 nm hindurchgehen lässt, Bariumphosphat und Chromoxid. Die bei Atomenergie-Arbeiten verwendeten Schutzgläser enthalten zur Absorption langsamer Neutronen neben Borosilicaten Cadmiumoxid und Fluoride sowie zur Absorption von y-Strahlen Wolframphosphat. Zu erwähnen sind hier auch die „Glaskeramiken66 wie ,,Cordierit'' 2 M g 0 - 2 A l 2 0 3 • 5SiO 2 , „Hochspodumen'' L i 2 0 • A1 2 0 3 • 4 S i 0 2 oder ,,Hocheukryptit'' L i 2 0 • A1 2 0 3 • 2SiO 2 , die sich durch Biegezugfestigkeit und besonders hohe Temperaturwechselbeständigkeit auszeichnen. Man verwendet sie u. a. für astronomische Spiegel, Überzüge von Geschossspitzen und Mahlkugeln, für Haushaltsgeschirr (Handelsnamen,,Zerodur'',,,Pyroflam''), Herdkochflächen. Glaskeramiken bilden sich aus Gläsern entsprechender Zusammensetzung durch nachträgliche zur Teilkristallisation führende Wärmebehandlung (Bildung von in Glas eingebetteten Mikro kristallen) und unterscheiden sich von Tonkeramiken (s. u.) dadurch, dass sie porenfrei, d. h. gasdicht sind Eine wichtige Produktgruppe sind schließlich Glasfasern51, die z.B. in Form von ,,Textilfasern" (aus Calcium-aluminiumborsilicat-Schmelzen und anderen Glasschmelzen gezogene und versponnene Fäden Weltjahresproduktion; Megatonnenmaßstab) zur Verstärkung von Kunststoffen u. a. für den Gebäude-, Fahrzeug- und Bootsbau sowie zur Herstellung von Glasfasergeweben für Dachabdeckungen, Teppichrückseiten, elektrische Schaltungen, unbrennbare Vorhangstoffe genutzt werden. In Form von ,,Glaswolle''' verwendet man Glasfasern zum Wärme-, Schall- sowie Brandschutz im Bauwesen und zählt letztere deshalb auch zu den Mineral-Dämmstoffen (Weltjahresproduktion: 100 Megatonnenmaßstab), zu deren Vertretern ferner die ,,Steinwolle'' (aus Ton-, Mergel-, Basalt-, Diabasschmelzen), ,,Schlackenwolle'' (aus Schmelzen von Schlacken metallurgischer Prozesse, z.B. Hochofenschlacke) und ,,keramische Wolle'' (aus Kaolin-, Al 2 SiO 5 - und anderen Schmelzen) gehören. Herstellung und Verarbeitung Die ersten Gläser wurden wahrscheinlich in Ägypten um 3400 v.Chr. hergestellt. Als,,Rohstoffe'' zur heutigen technischen Glasdarstellung dienen Quarzsand für SiO 2 , Soda N a 2 C 0 3 bzw. Natriumsulfat N a 2 S 0 4 + Koks für N a 2 0 (Na 2 C0 3 Na20 + C02; Na2S04 + C ^ N a 2 0 + S 0 2 + C0), Pottasche K 2 C 0 3 für K 2 0 , Kalk C a C 0 3 für Ca0, Mennige P b 3 0 4 für PbO ( P b 3 0 4 -> 3 P b 0 + i 0 2 ) , Borax N a 2 B 4 0 7 für B 2 0 3 , Kaolinit A l 2 ( 0 H ) 4 [ S i 2 0 5 ] oder Feldspat M'[AlSi 3 O s ] für A1 2 0 3 . Die nach bestimmten Gewichtsverhältnissen zusammengesetzte Mischung der Rohstoffe (,,Glassatz'') verarbeitet man in unterschiedlich großen Schmelzgefäßen zu Glas. Zur Herstellung von Massengläsern arbeitet man kontinuierlich und führt den Glassatz 300000 kg fassenden ,, Wannöfen'' aus Feuerfestmaterialen (Auskleidung mit Steinen aus Zirkon und Mullit) zu. Dieser wird im vorderen 0fenteil (,,Schmelzwanne'') bei 1200-1650 °C ,erschmolzen''. Es folgt dann im hinteren 0fenteil (,,Arbeitswanne'') eine „Läuterung" (Beseitigung von Gaseinschlüssen durch Zusatz gasabgebender Stoffe wie N a 2 S 0 4 , K N 0 3 ) sowie ,,Homogenisierung'' (zusätzliches Einblasen von Luft oder Wasserdampf) der Schmelze bei 1300-1550 °C. Nach Austritt aus dem 0fen kühlt man die Glasschmelze auf die für ihre Weiterverarbeitung zu Fertigprodukten benötigte Temperatur ab. Die 0fenkapazitäten betragen bis zu 600 t Glas pro Tag. Als weiterer Glasschmelzofen sei der „Hafenofen'' genannt, in welchem Glassätze für Spezialgläser in mehreren „Glashäfen'' aus Tonmaterial mit 150-500 kg Fassungsvermögen diskontinuierlich erschmolzen werden Die Eigenschaften der Glasschmelze, beim Erkalten allmählich immer zäher zu werden, bis völliges Erstarren eingetreten ist, gestattet die „Verarbeitung" des Glases durch „Biegen" von Glasrohren, durch „Blasen" von Glas vor der mit der Lungenkraft des Bläsers betriebenen „Glasmacherpfeife'' oder der mit Pressluft arbeitenden „pneumatischen Pfeife'' (Weingläser, Vasen, Beleuchtungsartikel, Glasröhren, Glühlampenkolben usw.), durch „Auswalzen" (Schaufensterscheiben) oder durch „Pressen'' in Formen (Teller, Schüsseln, Biergläser, Glasdachziegel, Flaschen, Konservengläser usw.)67. Eine nachträgliche Bearbeitung der festen Glasoberfläche kann auf mechanischem Wege durch Schleifen {„Rauhschleifen" mit Quarzsand, ,,Feinschleifen'' mit Schmirgelpapier,,,Polieren'' mit Poliermitteln) und durch
67 Wichtig ist ein langsames Abkühlen geblasener Glaswaren, da sonst starke Spannungen auftreten können. Bekannt sind die ,,Bologneser Tränen'', die infolge Abschreckung große Spannungen aufweisen und daher beim Abzwicken der Glastropfenspitze mit einer Zange zu einem staubfeinen Glaspulver zerfallen. Mit ,,Bologneser Flaschen'', die nur innen solche Spannungen aufweisen, kann man etwa unbesorgt einen Nagel in eine Holzplatte einhämmern, während ein in die Flasche fallengelassenes kleines spitzes Steinchen zur augenblicklichen Zertrümmerung der ganzen Flasche führt
• 978
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
M a t t i e r e n mit dem Sandstrahlgebläse oder auf chemischem Wege durch Ätzen (mit Flusssäure) erfolgen Färbung. Färbungen von Gläsern können durch Farbpigmente6f wie M e t a l l o x i d e („Oxidfärbung") oder durch M e t a l l e (,,Anlauffärbung'') hervorgerufen werden. So kann man z.B. bei der Oxidfärbung erreichen: V i o l e t t durch Nickel(II)-oxid, B l a u v i o l e t t durch Mangan(III)-oxid, Blau durch Cobalt(II)oxid, Blaugrün durch Eisen(II)-oxid (Moselweinflaschen), Grün durch Chrom(III)- oder Kupfer(II)oxid, Braun durch Eisen(III)-oxid und Braunstein (Rheinweinflaschen), Gelb durch Silber(I)-oxid, Orange durch Uran(VI)-oxid, R o t durch Kupfer(I)-oxid. Schwache, durch Verunreinigungen hervorgerufene nichterwünschte F ä r b u n g e n lassen sich bisweilen durch Zumischen von Oxiden, welche die K o m p l e m e n t ä r f a r b e liefern, wieder beseitigen. So kann man beispielsweise schwache E i s e n f ä r b u n gen durch Zusatz von B r a u n s t e i n (,,Glasmacherseife'') aufheben. Besonders künstlerische Färbungen rufen die Oxide verschiedener seltener Erdmetalle hervor (S. 1940). Die erforderlichen Mengen an Zusatzstoffen bei der Glasfärbung schwanken zwischen einigen Gramm und einigen Kilogramm je 100 kg Glas Die A n l a u f f ä r b u n g durch Metalle entsteht nicht wie die Oxidfärbung schon in der geschmolzenen Glasmasse, sondern erst bei nochmaligem halbstündigem Anwärmen des - farblosen - geblasenen Gegenstandes auf 450-500°C („Anlaufen des Glases''). Bekannt ist die leuchtendrote, auf kolloidales Gold zurückzuführende Farbe des „Goldrubinglases'' (S. 1469). Ähnlich ist die Farbe des „Kupferrubinglases''. Kolloidales Silber färbt gelb, kolloidales Selen r o s a r o t . Die Kunst der Glasfärbung ist alt und hatte in der Gotik einen besonders hohen Stand, wie die prachtvollen Kirchenfenster dieser Zeit zeigen Trübung Für manche Zwecke, z.B. für Beleuchtungskörper, ist es erforderlich, das Glas zu trüben („Milchglas", „Alabasterglas", „Opalglas", „Nebelglas"). Eine solche Trübung erreicht man dadurch, dass man kleine feste Teilchen in das Glas einlagert, welche eine andere Lichtbrechung als dieses aufweisen. Als Trübungsmittel eignen sich z.B C a l c i u m p h o s p h a t Ca 3 (PO 4 ) 2 , Z i n n d i o x i d S n 0 2 und K r y o l i t h Na 3 AlF 6 . Ein sehr wichtiges getrübtes Glas ist z. B. die „Emaille" (eingedeutscht: das „Email''), die zum Schutze („Blechemaille", „Gussemaille" für Geschirre, Behälter, Öfen, sanitäre Einrichtungen, Schilder) oder zu D e k o r a t i o n s z w e c k e n („Schmuckemaillen") auf Metalle aufgeschmolzen wird. Besonders wichtig ist das „Emaillieren" von Eisen. Es erfolgt in der Weise, dass man die gut gereinigten Gegenstände durch Eintauchen oder Aufspritzen mit einem durch feines Vermahlen eines Alkali-Borsäure-Tonerde Glases mit Wasser hergestellten - Brei („Schlicker'') überzieht und nach dem sorgfältigen Trocknen die pulverige Schicht in einem glühenden Emaillier-Muffelofen zu einem glänzenden Überzug zusammen schmilzt. Es wird teils einmal, teils mehrmals emailliert. Als Trübungsmittel wird meist Titan- oder Z i r c o n i u m d i o x i d verwendet, zur Anfärbung6f u.a. Oxide von Co, Cu, Cr, Mn.
68 Zu den Pigmenten (lat: pigmentum = Malerfarbe) zählen Stoffe mit meist hoher Brechungszahl ( > 1.7), die im Anwendungsmedium praktisch unlöslich sind. Die mengenmäßig wichtigste Klasse stellen die natürlichen und synthetischen anorganischen Farbpigmente dar („Pigmente" im engeren Sinne; Weltjahresproduktion: Fünf Megatonnenmaßstab). Ihre Einsatzgebiete sind Lacke, Anstrich-, Bau- und Kunststoffe, Papier, Glas, Emaille, Keramik, Zement, Beton, Druckfarben. Man zählt zu ihnen Weißpigmente Rutil T i 0 2 (besonders wichtig), Zink-Weiß ZnO, Lithopone ZnS/BaSO, früher zudem Blei-Weiß 2PbCO3/Pb(OH)2; hinzu kommen weife Füllstoffe53 wie Kalk, Gips, Silicate (Kaolin, Talk, Glimmer), Zirkonerde. Schwarzpigmente Ruß C (als Pflanzen- oder Knochen-Schwarz), EisenoxidSchwarz F e 3 0 4 , Spinell-Schwarz Cu(Fe, Cr) 2 0 4 , Eisen-Mangan-Schwarz (Fe, Mn) 2 0 3 . Buntpigmente Gelb: Limonit („gelber Ocker'') FeOOH, Cobalt-Gelb K 3 [Co(NO 3 ) 6 ], Cadmium-Gelb CdS, Chrom-Gelb PbCrO 4 , Antimon-Gelb Pb(Sb0 3 ) 2 , Blei-Zinn-Gelb Pb 2 Sn0 4 , Nickel-Rutil-Gelb (Ti,Ni,Sb)O 2 ; Orangefarben: Chrom-Orange PbCr0 4 • PbO, Auripigment As 2 S 3 ; Rot: Hämatit (,,roter Ocker'') F e 2 0 3 , Zinnober HgS, Mennige Pb 3 0 4 , Cadmium-Rot Cd(S,Se), Molybdat-Rot Pb(Cr,Mo,S)O 4 , Realgar As 2 S 3 ; Blau: Cobalt-Violett Co 3 (PO 4 ) 2 bzw. Co 3 (As0 4 ) 2 , Azurit 2CuCO 3 • Cu(OH)2 • «H 2 O, Ultramarin-Blau (vgl. S.971), Cobalt-Blau CoAl 2 0 4 , ManganBlau Ba 3 (Mn0 4 ) 3 /BaSO 4 , Berliner-Blau Fe III [Fe II Fe III (CN) 6 ] 3 , Smalte-Blau K 2 CoSi0 4 , Ägyptisch-Blau CaCuSi 4 O 10 , Coelin-Blau CoO • «SnO 2 ; Grün: Chromoxid-Grün Cr 2 0 3 , Spinell-Grün (Co,Ni,Zn)TiO 4 , Malachit-Grün 2Cu(CO 3 ) • Cu(OH)2, Grünspan Cu(OAc)2 • Cu(OH)2 • «H 2 O, Schweinfurter-Grün Cu(OAc)2 • 3Cu(As0 2 ) 2 , Cobalt-Grün CoZnO2; Braun: Eisenoxidmischungen (,,brauner Ocker''). - Weitere Pigmente sind Korrosionsschutzpigmente (zum Schutz von Metalloberflächen, z. B. P b 3 0 4 , SrCrO 4 , Zn 3 (PO 4 ) 2 , ZnO); Glanzpigmente Al, Cu, Messing (für Metalleffekte), T i 0 2 auf Glimmer (für Perlglanz- oder Interferenzeffekte; vgl. G. Pfaff: ,,Perlglanzpigmente'', Chemie in unserer Zeit 31 (1997) 6-16); Luminophore (für Oszillographen, Leuchtstoff- und Fernsehröhren usw.), Magnetpigmente (y-Fe 2 0 3 , F e 3 0 4 , Cr0 2 für Cassetten- und Videobänder).
2. Das Silicium
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Tonwaren (Tonkeramik) Unter „Tonwaren66 oder „tonkeramischen Erzeugnissen66 6® versteht man technische Produkte, welche durch Glühen (,,Brennen''') von feinteiligen, meist feuchten, geformten Tonen bei Temperaturen von 1000-1500°C hergestellt worden sind. Besondere Bedeutung für die Keramikerzeugung haben hierbei die Tonminerale Kaolinit A l 2 ( 0 H ) 4 [ S i 2 0 5 ] (weiß; vgl. S. 967) und Illit (K,H 3 0) ) ,{Al 2 (0H) 2 [Si 4 _ ) ,Al^O 1 0 ]} ^ = 0.7-0.9; S. 969). Letzterer ist wegen seines Fe-Gehaltes (Fe teilweise anstelle von Al) meist gelb, rotbraun bis braun. Genannt seien darüber hinaus die aluminiumhaltigen Tonminerale Halloysit (S.966) und Montmorillonit (S.970) sowie das magnesiumhaltige Tonmineral Talk (S. 968). Ein besonders wertvoller Ton ist Kaolin {„Porzellanerde"), der zur Hauptsache aus Kaolinit besteht und zur Herstellung von Porzellan (s. unten) dient. Weniger rein sind die gewöhnlichen keramischen Tone, die zur Herstellung von Steinzeug und Steingut (s. unten) verwendet werden; sie enthalten neben Kaolinit mehr oder weniger Illit, Quarz, Glimmer, Humus usw. Sind die Tone sehr eisenhaltig, so werden sie beim Brennen braun bis rot; aus ihnen stellt man das gewöhnliche Töpfergeschirr und die Terrakotten (s. unten) her. Ton, der darüber hinaus durch Sand verunreinigt ist, heißt Lehm; er dient zur Herstellung von Ziegeln (s. unten). Ton allein ist zur Herstellung von Tonwaren noch nicht geeignet, da er beim Brennen zu stark „schwindet ''. Das Schwinden lässt sich durch Vermischung mit „Magerungsmitteln" (z.B. gebranntem Ton in Körner- oder Pulverform, Quarzsand oder -mehl) vermeiden. Eine Erniedrigung der Sintertemperatur wird durch Zusatz von „Flussmitteln" (insbesondere Feldspat - und hier meist 0rthoklas K[AlSi 3 O s ] - sowie gelegentlich Kalkspat CaC0 3 ) erreicht.
Beim Brennen der geformten (bzw. gegossenen70 und vorgetrockneten Keramikmasse geben die Tonminerale (Kaolinit, Illit) ab 450 °C zunächst das ,,hydroxidisch gebundene'' Wasser ab, wobei sie unter Volumenverminderung (bis zu 20 %) und Porenbildung u. a. in amorphes Siliciumdioxid SiO 2 , kristallinen Korund A1 2 0 3 und amorphen, schuppenförmigen Mullit 3 A1 2 0 3 • 2 S i 0 2 übergehen (vgl. Thermolyse von Kaolinit, S.967). Um 950°C bildet sich durch Feldspatverflüssigung eine Schmelzphase in der sich u. a. amorphes und quarzkristallines Si0 2 sowie amorpher Mullit lösen und in Form von Cristobalit S i 0 2 und kristallinem, nadelförmigem Mullit 3A1 2 0 3 • 2 S i 0 2 wieder ausscheiden. Darüberhinaus bildet das Kaliumoxid aus Feldspat oder Illit mit Si0 2 ein Glas, das nach Abkühlen des keramischen Erzeugnisses die kleinen Keramikteilchen ( > 0.2 mm bei,,Grobkeramik'', < 0.2 mm bei,,Feinkeramik '') verkittet. Eine Steigerung der Brenntemperatur und eine Verlängerung der Brenndauer bewirken insgesamt eine Abnahme der Porosität und eine Zunahme der mechanischen Festigkeit des Tonwarenprodukts. Die aus Ton gefertigten grob- und feinkeramischen Erzeugnisse lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen: in solche mit wasserdurchlässigem (porösem) und in solche mit wasserundurchlässigem (dichtem) ,Scherben''. Erstere bezeichnet man als „Tongut'' {„Irdengut''), letztere als „Tonzeug" {„Sinterzeug"). Innerhalb jeder dieser beiden Hauptgruppen kann man dabei entsprechend dem Verwendungs-
6^ Keramiken sind in der Regel kristalline, thermisch und chemisch stabile nichtmetallische anorganische Festkörper, die durch Hochtemperaturprozesse gebrauchsfertig gemacht werden. Ihre Eigenschaften werden in entscheidender Weise durch ihre vom Herstellungsverfahren abhängige Mikrostruktur bestimmt. Man unterteilt Keramiken in tonsowie in sonderkeramische Werkstoffe (letztere mit geringem oder verschwindendem Tonmineralgehalt, z.B.: Oxidkeramik wie Be0, Mg0, A1 2 0 3 , Z r 0 2 U 0 2 , ThO2 , Y 2 0 3 , T i 0 2 ; Elektro- und Magnetkeramik wie BaTiO 3 , M " F e 2 0 4 ; Nichtoxidkeramik wie Si 3 N 4 , SiC, B 4 C, BN). Innerhalb beider Gruppen unterscheidet man zwischen grob- und feinkeramischen Erzeugnissen (Gefügebestandteile kleiner oder größer 0.2 mm) und in beiden Fällen zwischen porösen und dichten Keramiken. Im Bereich zwischen Keramik und Metall liegen die Cermets (Keramik-Metall-Verbundwerkstoffe wie z.B. Emaille), zwischen Keramik und Glas die Glaskeramiken (s.bei Glas). Literatur H.-P. Baldus, M. Jansen: ,,Moderne Hochleistungskeramiken - amorphe anorganische Netzwerke aus molekularen Vorläufern'', Angew. Chem. 109 (1997) 338-354; Int. Ed. 36 (1997) 328; R. J.P. Corriu:,Keramiken undnanostrukturierte Materialien aus molekularen Vorstufen'', Angew. Chem 112 (2000) 1432-1455; Int. E d 39 (2000) 1376. 70 Durch Zusatz von Soda (Natriumcarbonat) und/oder flüssigem Wasserglas (Alkalisilicat-Lösung) lassen sich Tone ,,verflüssigen". Die Wirkung der Zusätze beruht auf der Fällung der zwischen den Schichten der Tonminerale eingelagerten und diese zusammenhaltenden Mg2 + - und Ca2 + -Ionen, verbunden mit dem Auseinandergleiten der Tonmineralschichten
• 980
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
zweck unterscheiden zwischen Geschirr (Tonwaren mit geringer Scherbenstärke) und Baustoffen (dickwandige Tonwaren). Tongut Unter den Baustoffen aus Tongut sind zu nennen: die nicht weiß brennenden Ziegeleierzeugnisse (Mauerziegel, Hohlziegel, poröse Ziegel, Dachziegel usw.) und die weiß oder hellfarbig brennenden feuerfesten Erzeugnisse (Schamottesteine, Sillimanitsteine, Dinassteine usw.). Zur Darstellung der Ziegeleierzeugnisse, insbesondere der Mauerziegel, verwendet man als Rohmaterial Lehm, dem man, wenn er nicht schon genügend Sand enthält, solchen als Magerungsmittel beimengt. Die Mischung wird unter Zusatz von etwas Wasser zu einem gleichmäßigen Teig (,,Ziegelgut'') verarbeitet und dann durch einen mit einem viereckigen „Mundstück" versehenen eisernen Zylinder in Form eines Stranges herausgepresst, aus dem durch eine Abschneidevorrichtung („Tonschneider") die Ziegel herausgeschnitten werden. Das Brennen dieser Formlinge erfolgt bei 960-1180°C im Ringofen (S. 1243). Stark eisenoxidhaltiger Lehm ergibt dabei rote, kalkreicher Lehm gelbe Ziegel. Stärker gebrannte und daher dichtere und festere Ziegelsteine heißen „Klinker'' (S. 981). Besonders leichte, poröse Ziegel erhält man durch Zumischen organischer Stoffe (z.B. von Sägespänen), welche beim Brennen oxidiert werden und dabei Poren hinterlassen. Spezifisch leichte „Blähprodukte" entstehen auch beim Brennen bestimmter Tone, die während des Erhitzens „Blähgase" wie C O , CO, 0 2 , S 0 2 , H 2 (aus anwesenden organischen Verbindungen, Carbonaten, Sulfaten) entwickeln (Verwendung als Betonzuschläge, in Wärmeisolierschichten). Unter feuerfesten Erzeugnissen versteht man in der Keramik Stoffe, welche Temperaturen bis zu etwa 1700°C ohne Deformation ertragen. Stoffe, die auch darüber hinaus noch beständig sind, heißen hochfeuerfest. Zu den gebräuchlichsten feuerfesten Baustoffen gehören die „Schamottesteine''. Man erhält sie durch Brennen einer Mischung von rohem, plastischem Ton („Bindeton") und stark gebranntem, grobkörnig zerkleinertem, feuerfestem Ton („Schamotte") bei 1450 °C. Der Gehalt an Tonerde A1 2 0 3 geht nicht über die Zusammensetzung A1 2 0 3 • 2 S i 0 2 (46 % A1 2 0 3 + 54 % SiO 2 ) hinaus; der Erweichungspunkt liegt meist bei 1700-1750°C. Verwendung finden die Schamottesteine vor allem zur Auskleidung von Feuerungen (S.1486, 1642), Hochöfen (S.1638) und Winderhitzern (S. 1640). Durch Vermehrung des Tonerdegehaltes über die Zusammensetzung A1 2 0 3 • 2 S i 0 2 hinaus kann man die Erweichungstemperatur der Schamottesteine weiter erhöhen. So erweichen z.B. die durch Brennen natürlicher Aluminiumsilicate der Zusammensetzung ,,A1 2 0 3 • SiO 2 '' (z.B. Sillimanit, S.965) bei hoher Temperatur (Bildung von Mullit ,,3 A1 2 0 3 • 2SiO 2 '') gewonnenen „Sillimanitsteine'' („Mullitsteine") erst bei 1850°C und die noch tonerdereicheren, durch Brennen von geschmolzener Tonerde mit 1 0 % Ton als Bindemittel erzeugten und als Futter für Zement-Drehrohröfen (S. 1257) dienenden „Dynamidonsteine" erst bei 1900°C. Umgekehrt nimmt durch Zusatz von Quarz („Quarzschamottesteine") die Erweichbarkeit zu. Besonders großen Siliciumdioxidgehalt haben die „Dinassteine''. So enthalten die „Ton-Dinassteine'', welche bei 1350°C zu erweichen beginnen und oberhalb von 1650°C schmelzen, 8 0 - 8 3 % Si0 2 und 2 0 - 1 7 % A1 2 0 3 . Sie entstehen beim Brennen eines Gemisches von Quarzsand und Ton und wurden unter anderem als säurefeste Steine für Glover- und Gay-Lussac-Türme (s. dort) verwendet. Noch kieselsäurereicher ( 9 6 - 9 8 % S i 0 2 ) sind die „Kalk-Dinassteine", bei denen der Quarz durch 1 - 2 % Kalk gebunden ist. Sie sind feuerfester (Schmelzpunkt 1700-1750 °C) als die Ton-Dinassteine und dienen unter anderem zur Auskleidung von Siemens-Martin-Öfen (S. 1642). Zu dem aus Tongut bestehenden Geschirr gehören die nicht weiß brennenden Töpfereierzeugnisse (Blumentöpfe, irdenes Haushaltsgeschirr, Majolika, Fayence, Ofenkacheln usw.) und das weiß brennende Steingut Zur Herstellung des gemeinen Töpfergeschirrs verwendet man gewöhnlichen Töpferton, welcher leicht schmelzbar ist und daher nur bei niedriger Temperatur (950-1050°C) gebrannt werden darf. Die Formgebung erfolgt auf der Töpferscheibe. Da die gebrannte Masse („Scherben'') wegen der niedrigen Brenntemperatur nicht dicht, sondern porös ist, muss das Geschirr für die meisten Gebrauchszwecke mit einer Glasur versehen werden. Dies geschieht durch Eintauchen der getrockneten Formlinge in eine Bleiglasurmischung, welche beim Brennen ein Bleiglas (S. 976) ergibt. Blumentöpfe bleiben unglasiert. Kochtöpfe, die über freiem Feuer benutzt werden sollen, bestehen aus besserem, d.h. feuerfesterem Ton und werden bei höherer Temperatur (1100 °C) gebrannt. Die Glasur wird meist durch zugesetzte Metalloxide gefärbt. So enthält beispielsweise die bekannte kastanienbraune Glasur Eisenoxid und Braunstein als Färbungsmittel. M a j o l i k a (abgeleitet von der Balearen-Insel Mallorca) und Fayence (abgeleitet von der oberitalienischen Stadt Faenza) werden zum Unterschied vom gewöhnlichen Töpfergeschirr nicht in einem Feuer, sondern zweimal gebrannt. Als Ausgangsmaterial dient hier ein stark calciumcarbonathaltiger Ton. Der hohe Kalkgehalt (30-35 %) verhindert beim Abkühlen infolge starken Schwindens das Rissigwerden der Glasur. Zur Formgebung verwendet man meist Gipsformen. Die getrockneten Formlinge werden zunächst bei 900 bis 1000 °C vorgebrannt („geschrüht'') und dann nach Aufbringen des Glasurgemisches (einer wässerigen Aufschlämmung von feingemahlenem und durch Zusatz von Zinndioxid weiß und undurchsichtig gemachtem Bleiglas) bei 900°C fertiggebrannt („glattgebrannt ''). In ähnlicher Weise werden die Ofenkacheln gewonnen.
2. Das Silicium
981«
Als Ausgangsmaterial zur Gewinnung von Steingut dient ein feuerfester, eisenoxidarmer und daher fast weiß brennender,,Steingut-Ton'', der mit Siliciumdioxid (für besseres Steingut: Quarz; für weniger gutes Steingut: Sand) und - zur Erzielung eines weißen Scherbens - mit geschlämmtem Kaolin vermischt wird. Je nach der Art des verwendeten Flussmittels (Kalkspat oder Feldspat) erhält man beim anschließenden Brennen entweder leichteres und weicheres ,,Kalk-Steingut'' oder schwereres und härteres „Feldspat-Steingut'' {„Hart-Steingut'', „Halbporzellan''). Wie die vorher betrachteten Töpfereierzeugnisse werden auch die Steingut-Formlinge zweimal gebrannt, zuerst unglasiert im „Rohbrand'' {„Biskuitbrand'') bei hoher Temperatur {Kalk-Steingut: 1100-1200°C; Feldspat-Steingut: 1200-1300°C), dann glasiert im „Glattbrand'' {„Glasurbrand'') bei niedrigerer Temperatur (900-1000°C). Spülbecken, Badewannen, Waschtische, Klosettschüsseln usw. bestehen aus Feldspat-Steingut. Die farbige Verzierung von Gebrauchsgeschirr erfolgt meist durch „Unterglasurmalerei", indem man die Farben auf den rohgebrannten Scherben aufbringt und diesen nach dem Glasieren glattbrennt. Beispiele für unglasiertes Steingut sind: Tonzellen, Tonfilter, Diaphragmen, Tonpfeifen. Tonzeug Das Tonzeug weist zum Unterschied vom Tongut nicht einen porösen, sondern einen dichten Scherben auf, da es beim Brennen stärker erhitzt wird als das Tongut. Je nachdem, ob der Scherben nicht durchscheinend oder durchscheinend ist, unterscheidet man Steinzeug und Porzellan. Die Rohmaterialien zur Herstellung von Steinzeug sind die gleichen wie beim Steingut, nur ist im allgemeinen der Feldspatgehalt der Ausgangsmasse größer als dort. Gebrannt wird wie beim Steingut zweimal, wobei Temperaturen bis zu 1450°C angewendet werden. Die gewöhnlichen Steinzeug-Gegenstände erhalten meist nur eine „Salzglasur", indem man einfach in das Brenngewölbe Kochsalzeinstreut; das Natriumchlorid setzt sich dann bei der hohen Brenntemperatur mit Wasserdampf zu Chlorwasserstoff und Natriumoxid um, welches mit den Silicaten des Scherbens einen dünnen Überzug von Natriumaluminium-silicat bildet. Feineres Steinzeug wird mit einer „Feldspatglasur" überzogen. Unter den aus Steinzeug hergestellten Baustoffen seien genannt: Klinker, Fliesen, Kanalisationsrohre usw. Die Klinker dienen wegen ihrer großen Festigkeit und Härte für Pflaster, Wasserbauten, Pfeiler usw. Unter den Fliesen sind die „Mettlacher Platten'' besonders bekannt. Die Kanalisationsrohre werden auf Strangpressen stehend gepresst Zum Geschirr aus Steinzeug gehören Spülwannen, Viehtröge, chemische Geräteteile (säureund alkalifeste Gefäße, Turills, Kühlschlangen, Druckfässer, Chlorentwickler usw.), Haushaltsgegenstände {Trinkkrüge, Einmachtöpfe usw.), F e i n t e r r a k o t t e n {Vasen, Schalen, Kunstgegenstände usw.). Das bekannte graue, blau bemalte altdeutsche Geschirr ist z.B. ein Steinzeuggeschirr. Die Rohmaterialien für die Herstellung von Porzellan7i sind: Kaolin {Tonsubstanz), Q u a r z (Magerungsmittel) und Feldspat {Flussmittel). Verwendet man einen größeren Gehalt an Kaolin und einen geringeren an Quarz und Feldspat 50 % Kaolin, ~ 25 % Quarz, ~ 25 % Feldspat), so erhält man beim Brennen das „Hartporzellan". Bei Verringerung des Ton- und Vermehrung des Quarzund Feldspatgehaltes 2 5 % Kaolin ~ 4 5 % Quarz, ~ 3 0 % Feldspat) entsteht „Weichporzellan". Infolge des größeren Flussmittelgehaltes kann das Weichporzellan bei niedrigerer Temperatur (1200-1300°C) gebrannt werden als das Hartporzellan (1400-1500°C). Die niedrigere Brenntemperatur bedingt ihrerseits eine wesentlich größere Verzierungsfähigkeit des Weichporzellans im Vergleich zum Hartporzellan, da die meisten Porzellanfarben zwar die Brenntemperatur des Weich-, nicht aber die des Hartporzellans aushalten. Dementsprechend bestehen die farbenprächtigen PorzellanKunstgegenstände aus Weichporzellan Zur Herstellung des Hartporzellans werden die - ausgesucht reinen - Rohmaterialien miteinander nass vermahlen, und die breiige Masse in Filterpressen abgepresst und mechanisch durchgeknetet. Die Formgebung erfolgt entweder auf der Drehscheibe oder durch Gießen; im letzteren Falle muss die Masse durch Zusatz von etwas Soda in einen gießfähigen Zustand übergeführt werden. Die geformten oder gegossenen Gegenstände werden in warmen Räumen getrocknet und nach Beseitigung eventueller Naht stellen und Anbringen von Henkeln, Verzierungen usw. bei rund 900 °C ,,rohgebrannt'' {„verglüht''). Hierauf überzieht man den gewonnenen porösen Scherben durch Eintauchen in einen dünnflüssigen Glasurbrei {wässerige Suspension von Feldspat, Marmor, Quarz und Kaolin) mit einer dünnen Glasurschicht und brennt die Gegenstände in einem zweiten, wesentlich stärkerem Feuer (1400-1500°C) fertig {„Garbrand'', „Glattbrand''), wobei sie dicht und durchscheinend werden. Die farbige Verzierung des Hartporzellans kann durch „Scharffeuerfarben" oder durch „Muffelfeuerfarben" erfolgen. Bei der Scharffeuerverzierung werden die Farben entweder auf den fertig glasierten und gebrannten Ge-
7i Das italienische Wort porcellana bezeichnet eigentlich eine Art weißer Meeresmuschel. Erst sekundär wurde dieses Wort auf das ursprünglich aus China und Japan über Italien importierte keramische Erzeugnis übertragen, weil man glaubte, dass dieses aus der pulverisierten Substanz der weißglänzenden Schalen solcher Muscheln hergestellt werde. Porzellan war den Chinesen schon um das Jahr 600 bekannt. In Europa wurde weißes Porzellan erstmals in Meißen seit 1710 auf Grund planmäßiger Versuche des Physikers Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (1651-1708) und des Alchemisten Johann Friedrich Böttger (1682-1719) farbrikmäßig hergestellt.
• 982
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
genstand aufgebracht und im Scharffeuer eingebrannt (,,Aufglasur-Scharffeuerfarben'') oder auf den vorgebrannten unglasierten Scherben aufgetragen und nach Überziehen mit der Glasurmischung scharfgebrannt („Unterglasur-Scharffeuerfarben''). Wegen der hohen Brenntemperatur des Hartporzellans halten nur verhältnismäßig wenige Metalloxide diesem Scharffeuerverfahren stand. Dazu gehören vor allem das Cobaltoxid und das Thenards-Blau (S. 1689) für Blau („Zwiebelmuster''), das Chromoxid für Grün, das Eisenoxid für Braun und das Uranoxid für Schwarz. Die Muffelfeuerfarben bestehen aus einem Gemisch von feinverriebenem Bleiglas und feingemahlenem F a r b k ö r p e r (Metalloxid oder Metall), das mit Terpentinöl angerührt und mit dem Pinsel oder als Abziehbild auf das glasierte Porzellan aufgetragen wird. Das Einbrennen erfolgt bei 600-900°C in Muffelöfen. Wegen der niedrigen Brenntemperatur ist die Auswahl an Muffelfeuerfarben wesentlich größer als die an Scharffeuer farben. Die Muffelfeuerfarben liegen aber zum Unterschied von den Scharffeuerfarben nur oberflächlich auf der Glasur und sind daher leichter abnutzbar Zum Weichporzellan gehören das chinesische und das j a p a n i s c h e Porzellan und ihre europäischen Nachbildungen: das dem chinesischen Porzellan entsprechende französische „Sevres-Porzellan" (40% Tonsubstanz, 2 4 % Quarz, 3 6 % Feldspat) und das dem japanischen Porzellan nachgebildete deutsche „Seger-Porzellan'' (25% Tonsubstanz, 4 5 % Quarz, 30 % Feldspat). Das Seger-Porzellan bildet heute das Vorbild für alle neueren Weichporzellane
2.6
Nitride und Carbide des Siliciums26-?2
Überblick Silicium bildet mit Stickstoff ein dem homologen, noch ungenügend charakterisierten Kohlenstoffnitrid C 3 N 4 (S. 910) formelmäßig entsprechendes, hochmolekulares Nitrid Si 3 N 4 und mit Kohlenstoff ein strukturell elementarem Kohlenstoff sowie Silicium entsprechendes hochmolekulares Carbid SiC. Beide Verbindungen sind als Nichtoxidkeramiken7 3 Bedeutung von großer technischer Ein dem homologen Kohlenstoffnitrid (CN), (S. 910) formelmäßig entsprechendes, hydrolyseempfindliches Siliciummononitrid [SiN]x bildet sich beim Erhitzen des aus Si2Cl6 und NH3 zugänglichen Disiliciumtris(imid) [Si^NH^].,. Ein weiteres, hochmolekulares siliciumreiches Nitrid [Si„N]x (n im Bereich 2 - 3 ) wird durch Umsetzung von gepulvertem CaSi2 mit NH 4 Br bei leicht erhöhter Temperatur als braune, hydrolyseempfindliche, wohl schichtförmig gebaute Substanz erhalten. Schließlich kennt man ein Azid Si(N3)4, das sich aus SiCl4 und NaN3 als explosives stickstoffreiches Nitrid der Summenformel SiN12 gewinnen lässt Nachfolgend sei auf das Trisiliciumtetranitrid Si 3 N 4 , auf Nitridosilicate sowie deren Protonierungsprodukte sowie auf Siliciumcarbid näher eingegangen. Bezüglich weiterer - nicht binärer - Stickstoff- und Kohlenstoffverbindungen des Siliciums vgl. das im Zusammenhang mit den Silanen und Halogensilanen (S. 939, 947) Besprochene sowie insbesondere nachfolgendes Kapitel ( S . 9 8 5 ) über Organische Verbindungen des Siliciums. Trisiliciumtetranitrid S i 3 N 4 . Die Darstellung von ,,Trisiliciumtetranitrid'' S i 3 N 4 („Siliciumnitrid'' im engeren Sinne) erfolgt in der Technik durch Einwirkung von molekularem Stickstoff auf Silicium-Pulver bei 1 1 0 0 - 1 4 0 0 ° C (Nitridierungs-Verfahren; Eisen wirkt katalytisch) bzw. auf ein Siliciumdioxid/Kohlenstoff-Pulvergemisch (Carbothermisches ReduktionsVerfahren) oder durch Reaktion von Ammoniak mit Siliciumverbindungen S i X 4 wie z . B . SiCl 4 (DiimidVerfahren''):
7( Literatur. H. Lange, G. Wötting, G. Winter: ,,Siliciumnitrid - vom Pulver zum keramischen Werkstoff, Angew. Chem 103 (1991) 1606-1625; Int. E d 30 (1991) 1579; W. Schnick, H. Huppertz: „Nitridosilicates - A Significant Extension of Silicate Chemistry'', Chem. Eur. J. 3 (1997) 679-683; (gemeinsam mit weiteren Autoren): ,,Oligonary Nitrides and Oxonitrides of Si, P, Al and B in Combination with Rare Earth or Transition Metals as well as Molecular Precursor Compounds with Nitrido Bridges M—~N—Si (M = Ti, Zr, Hf, W, Sn)'', Z. Anorg. Allg. Chem 629 (2003) 902-912; J . R . O'Connor, J. Smittens: ,,Silicon Carbide, a High Temperature Semiconductor'', Pergamon Press, Oxford, 1960; E. Fitzer, D. Heyer:,, Gasphasenabscheidung von Siliciumcarbid und Siliciumnitrid - Ein Beitrag der Chemie zur Entwicklung moderner Siliciumkeramik'', Angew. Chem 91 (1979) 316-325; Int E d 18 (1979) 295; ULLMANN: „Silicon Carbide'', A23 (1993) 749-759; E. Kroke, M. Schwarz: ,,Novelgroup 14 nitrides'', Coord. Chem. Rev. 248 (2004) 493 532. 73 Man zählt Keramiken aus Si3N4, SiC, B 4 C, BN zu den Nichtoxidkeramiken. Sie sind hinsichtlich Festigkeit und Härte den Oxidkeramiken überlegen, nicht jedoch hinsichtlich der Sauerstoffbeständigkeit. Bezüglich Keramik vgl. Anm. 69.
2. Das Silicium
3Si
+ 2N,
U Si,N 4 + 750kJ; 3 4
+2N,
3SiO,/6C ;=
^
— 6CO
2
Si 3 N 4 ;
3SiCL
+ 4NH 3
^
-12HC1
983«
Si 3 N 4 .
Im letzteren Falle bildet sich bei Raumtemperatur zunächst das hydrolyseempfindliche, polymere ,,Siliciumbis(imid)" [Si(NH) 2 ] x , welches unter NH3-Abspaltung bei 900-1200°C in amorphes, und dann bei 1300-1500 °C in kristallines Si 3 N 4 übergeführt wird. Zur Herstellung von Si 3 N 4 -Fasern (vgl. Anm. 51 ) oder -Beschichtungen bewährt sich zudem die Pyrolyse von versponnenen oder aufgetragenen Massen bei 800-1400 °C, die Polysilazane ^[R 2 SiNR]„ enthalten Eigenschaften Das farblose, bei 1900 °C unter Zersetzung schmelzende Siliciumnitrid Si 3 N 4 (AHt = — 750 kJ/mol) bildet sich nebeneinander in einer a-Form (Dichte 3.18 g/cm3) und einer dichteren (oberhalb 1500°C bevorzugt entstehenden) ß-Form (Dichte 3.20 g/cm), deren Strukturen den Strukturen der beiden Formen von Phenakit Be 2 Si0 4 (S. 963) entsprechen (hexagonal-dichteste Packung von Nbzw. O-Atomen; § der Tetraederlücken mit Si-Atomen bzw. Be- und Si-Atomen besetzt). Die ß-Form, die aus der a-Form bei etwa 1650 °C hervorgeht, weist in einer Raumrichtung Kanäle mit einem Durchmesser von ca.0,15 nm auf, die dichtere und deshalb erwünschtere, aus der ß-Form nicht erhältliche a-Form enthält keine Kanäle. Siliciumnitrid wird bei hohen Temperaturen von Sauerstoff oberflächlich unter Bildung einer schützenden SiO 2 -Haut angegriffen. Gegen Schmelzen von Metallen ist es teils inert (z.B. Al, Sn, Pb, Cu, Ag, Zn, Cd), teils unbeständig (Fe, Co, Ni, V, Cr). Mit Ausnahme von Flusssäure ist Si 3 N 4 gegen Säuren beständig. Heiße starke Basen greifen Si 3 N 4 unter NH3-Bildung an. Außer den hexagonalen Normaltemperaturformen a- und ß-Si3N4 kennt man noch eine kubische, bei Drücken oberhalb 150 kbar und Temperaturen oberhalb 2000 K entstehende Hochtemperaturmodifikation des Nitrids mit Spinellstruktur (S. 1162): c-Si3N4 = Si[Si 2 N 4 ] (kubisch dichteste Packung der N-Atome mit 5 aller Si-Atome in £ der tetraedrischen und § aller Si-Atome in 5 der oktaedrischen Lücken). Verwendung. Siliciumnitrid ist wegen seiner hohen Festigkeit bis zu 1300 °C korrosions- und verschleißbeständig, besitzt große Härte und geringe Dichte und ist als ,,Siliciumnitridkeramik" 73 im chemischen Apparatebau, in der Verschleißtechnik, bei der Metallbearbeitung, in der Energietechnik und vor allem im Maschinen-, Motoren- und Turbinenbau von Interesse (Verwendung als Kugellager, Mühlenauskleidung, Schneidkeramik, für Gleitringdichtungen, Ventile, Gasturbinenräder). Die gewünschte Keramik kann hierbei durch Sintern der gepressten Formteile aus Si3N4-Pulver bei erhöhter Temperatur und Druck erfolgen (gegebenenfalls Zusätze von MgO, Y 2 0 3 , Z r 0 2 usw. zwecks Verbesserung der Sintereigenschaften) oder auch durch Formgebung von Si-Pulver mit nachfolgender Nitridierung. Da Siliciumnitrid als Isolator wirkt, kann man Si3N4-Schutzschichten in elektrischen Bauelementen nutzen. Protonierte Nitridosilicate. Entsprechend der Hydrolyse von SiCl4 zu Siliciumtetrahydroxid Si(OH)4 (Tetrahydroxysilan, Kieselsäure) führt die Ammonolyse von SiCl4 (Einleiten von NH3 in SiCl4 bei — 50 °C) zu ,,Siliciumtetraamid" Si(NH2)4 (,,Tetraaminosilan", ,,Tetraamidokieselsäure"), welches bei erhöhter Temperatur unter Kondensation (NH3-Abspaltung) über Zwischenprodukte wie Si(NH)(NH2)2 in ,,Siliciumbis(imid)" Si(NH)2 (,,Diiminosilan", ,,Diimidokieselsäure") übergeht. Das erwähnte ,,Siliciumdiamidimid" Si(NH)(NH2)2 („Diaminoiminosilan", ,,Diamidoimidokieselsäure") bildet sich beim Eintropfen von SiCl4 in fl. NH3 bei — 85 °C als polymere farblose Substanz unbekannter Struktur: SiCl4
+ 8NH, — 4NH4C1
Si(NH,)4
A -NH3
> {Si(NH)(NH,),j 2 2
600°C
• Si(NH),.
-NH3
Das mit Si0 2 isoelektronische, hochmolekulare Bis(imid) Si(NH)2 unbekannter Struktur fällt als amorphe, nicht schmelzbare, pulverförmige, farblose Substanz an, die sich bei 900 °C unter NH3-Abspaltung auf dem Wege über polymeres farbloses Disiliciumdinitridimid Si2N2(NH) in amorphes Trisiliciumtetranitrid Si3N4 (s. oben) verwandelt:74 2Si(NH) 2
— NH
• Si2N2(NH)
X 3
> 2Si 3 N 4 .
— NH
Kristallines Si2N2(NH) entsteht durch,,Ammonothermalsynthese" aus Silicium und Ammoniak bei 6 kbar/ 600°C gemäß: 2Si + 3NH3 Si2N2(NH) + 4H2 (dem zugleich als Reaktionsmedium dienenden NH3
74 Im Prinzip gilt das Besprochene auch für die zu Tetramethylsilan (Si(CH3)4 führende ,,Methanolyse" von SiCl4 (wegen der Reaktionsträgheit von CH4 setzt man dessen Lithiumderivat ein: SiCl4 + 4LiCH 3 Si(CH3)4 + 4LiCl, vgl. S. 1266): die Thermolyse von Si(CH3)4 führt unter CH4-Eliminierung über „Zwischenkondensate" wie [ S ^ C H ^ C H ^ (vgl. S. 985) letztendlich zu Siliciumcarbid SiC.
• 984
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
werden - bezogen auf Si - 10 mol% KNH 2 als Mineralisator zugesetzt). Der Bau von Si2N2(NH) stellt eine Variante der Wurtzit-Struktur (S. 1494) dar (strukturverwandt mit Si2N2(NH) sind die unten aufgeführten Verbindungen Si2N2(NLi) und Si 2 N 2 0). Nitridosilicate. Nur mit reaktiven und thermostabilen Metallnitriden lässt sich reaktionsträges Si3N4 in Nitridosilicate verwandeln. Eine hervorragende Methode zur Darstellung von Nitridosilicaten besteht demgegenüber in der Umsetzung von Siliciumbis(imid) (s. oben) mit - unter 1600°C schmelzenden Metallen bei hohen Temperaturen, z. B. 5Si(NH) 2 + 2M 6Si(NH) 2 + 3M
1500-1650°C
> M2Si5N8 + N2 + 5H 2 ;
(M = Ca, Sr, Ba, Eu) 1650 (m
c
p
s
n
>M
(M = Ce, Pr, Sm, Nd)
3
^ 1 ^ ^
2
+ 6H 2 .
Außer den wiedergegebenen Nitridosilicaten konnten auch Verbindungen der Zusammensetzung LiSi2N3 (Salz von Si2N2(NH)), MSiN 2 (M = Be, Mg, Mn, Zn), Ba5Si2N6, BaSi7N10, MYbSi 4 N 7 (M = Sr, Ba, Eu) synthetisiert werden. Nitridosilicate zeigen eine größere Strukturvielfalt als Silicate (S.962), da die Si-Atome unter Normalbedingungen nicht nur tetraedrisch (a), sondern auch oktaedrisch (b) von N-Atomen koordiniert, die SiN4-Tetraeder nicht nur eckenverknüpft (c), sondern auch kantenverknüpft (d) und die N-Atome nicht nur ein- oder zweifach (c), sondern auch drei- oder vierfach (e, f) von Si-Atomen koordiniert sein können (Winkel SiNSi in Si2N-/Si3N-/Si4N-Einheiten: 113-172°/120°/109.5"; Abstände SiN im Falle ein-/ zwei-/drei-/vierfach koordinierten Stickstoffs: 1.80-1.82Ä/1.64-1.76Ä/1.70-1.80Ä/1.86-1.96Ä); auch können Nitridosilicate mit N-Atomen koordinierte Si—Si-Gruppen (g) enthalten.
N
N
N
N
N
I
N j / N
I
1
.Si. J N (a)
JSi^ N N^j^N N (b)
Si
N^
^
XL ,Si, N ^ p N ^ J ^ N N ^ N N (c)
^N (d)
Si
/N, ^Si (e)
Si
Si
XT
I
\
/N. JXSi Si (f)
XT
zN
N—Si-Si—N / \ N N (g)
Die Synthese eines Inselnitridosilicats SiN4~ dürfte sich wegen dessen hoher Ladung schwer realisieren lassen, demgegenüber sollten Gruppen-, Ring-, Band-, Ketten und Schichtnitridosilicate (vgl. S. 962f) zugänglich sein. Mit dem Nitridosilicat Ba5Si2N6, das isolierte Anionen Si2N1°~ enthält (kantenverbrückte SiN4-Tetraeder des Typs (d)), konnte ein erstes Gruppensilicat erzeugt werden. Die übrigen bisher gewonnenen Nitridosilicate weisen Si^iy-Raumnetzverbände auf und sind demgemäß hart und thermisch wie chemisch stabil. Dabei gibt es in der Regel keine strukturellen Analogien zwischen den SiN- und Si0-Netzwerken der Gerüstnitridosilicate und Gerüstsilicate (S. 970). Beispielsweise bestehen die Gerüste Si 5 N 4 " und SijN^" (vgl. Reaktionsgleichungen) aus einem dreidimensionalen Netzwerk eckenverknüpfter SiN4-Tetraeder, wobei im Sinne von (c) und (e) 5 0 % N-Atome zwei, 5 0 % drei Si-Atome (M 2 Si 5 N 8 ) bzw. 8 0 % zwei, 2 0 % drei Si-Atome verknüpfen (M I 3 II ^^ 11 ). Im Nitridosilicat BaSi7N10 liegt ein Si7N10Netzwerk aus ecken- und kantenverknüpften SiN4-Tetraedern (c, d), in den Nitridosilicaten MYbSi 4 N 7 ein Si4N7-Netzwerk aus eckenverknüpften SiN4-Tetraedern mit NSi2- und NSi4-Gruppen (c, f) und im „reduzierten", aus Sr und Si(NH)2 bei 1630 °C zugänglichen Nitridosilicat SrSi6N8 ein Netzwerk aus SiN4-Tetraedern und N3Si—SiN3-Gruppen (c, g) vor. Darüber hinaus ließen sich auch Oxonitridosilicate bzw. Oxonitridoaluminiumsilicate synthetisieren, deren dreidimensionale Netzwerke aus eckenverknüpften Si(0,N)4-Tetraedern (Gruppenbezeichnung ,,Sione") bzw. (Si,Al)(0,N)4-Tetraedern (Gruppenbezeichnung ,,Sialone") aufgebaut sind (Ersatz eines Teils der N-Atome gegen O-Atome bzw. der N- sowie Si-Atome gegen 0 - sowie Al-Atome). Beispiele sind etwa das mit S (NH) isoelektronische Sion S oder das - als inverser Spinell (S. 1162) strukturierte - Sialon Si 2 Al0N 3 . Erwähnt sei in diesem Zusammenhang das rubinrote Sion Ce16Si1506N32, in welchem ein dreidimensional vernetzter Verband eckenverknüpfter SiN 6 -0ktaeder (b) und Si(0,N)4-Tetraeder vorliegt.
Siliciumcarbid SiC. Zur technischen Darstellung von SiC erhitzt man ein Gemisch von Quarzsand und überschüssigem Koks (meist Petrolkoks oder Anthracit) im elektrischen 0fen auf 2200-2400°C. Hierbei entsteht in endothermer Reaktion kein elementares Silicium (S.919), sondern hexagonales n-Siliciumcarbid (,,Acheson-Verfahren"'): 625.1 kJ + S i 0 2 + 3C -> SiC + 2 C 0 . Kubisches ß-Siliciumcarbid bildet sich bevorzugt bei Temperaturen unterhalb 2000°C z.B. durch thermische Zersetzung von Methylchlorsilanen Me„SiCl4_„ an einem auf 1000-1200°C
2. Das Silicium
985«
erhitztem Wolfram- oder Kohlenstofffaden unter Abscheidung aus der Gasphase (Chemical Vapor Deposition = CVD), z.B.: CH 3 SiCl 3 -^SiC + 3HCl. Auch durch thermische Zersetzung von Permethylpolysilen (SiMe 2 ) x (gewinnbar aus Me 2 SiCl 2 und Natrium) gelangt man zu ß-SiC oder - falls man von versponnenem (SiMe 2 ) x ausgehe zu ß-SiC-Fasermaterial. Eigenschaften Technisches Siliciumcarbid („Carborundum"15) ist wegen vorhandener Verunreinigungen dunkel gefärbt {hellgrün/dunkelgrün/schwarz/grau im Falle von 99.8/99.5/99/< 99%igem SiC), während reines Siliciumcarbid (A.fff = — 65.3 kJ/mol; Zersetzung oberhalb 2700°C unter Abgabe von Si-Dampf) farblos ist. Wie der Kohlenstoff und das Silicium bildet auch das Siliciumcarbid ein Diamantgitter (s. dort; abwechselnd C- und Si-Atome), wobei man wie im Falle des Diamanten eine hexagonale Modifik a t i o n a-Form; Wurtzitstruktur) und eine kubische Modifikation (ß-Form; Zinkblendestruktur) kennt. Der Abstand SiC beträgt 1.90 Ä, ist also das arithmetische Mittel aus den Abständen CC im Diamanten (1.54 Ä) und SiSi im kristallisierten Silicium (2.34 Ä). Siliciumcarbid ist chemisch ähnlich inert wie Siliciumnitrid und wird von Sauerstoff in Abwesenheit von Basen erst oberhalb 1000 °C oxidiert und von den meisten Säuren (einschließlich HF, ausschließlich H 3 PO 4 ) nicht angegriffen. Chlor reagiert andererseits bereits bei 100°C: SiC + 2C12 ^ SiCl 4 + C. Verwendung. Siliciumcarbid (Weltjahresproduktion: fast Megatonnenmaßstab), das wegen seiner Härte zu den „Hartstoffen"16 gezählt wird, hat ähnliche Werkstoffeigenschaften wie Siliciumnitrid (s. oben) und wird für metallurgische Zwecke, für Schleif- und Poliermittel sowie als Keramikmaterial („Siliciumcarbidkeramik"; vgl. Anm. 69 , zur Herstellung von feuerfesten Steinen (,,Carborundumsteine"), Tiegeln, Rohren sowie Maschinen-, Motoren- und Turbinenteilen genutzt. In Form von „Silit" findet Siliciumcarbid zur Herstellung von Heizwiderständen (,,Silitstäbe") Verwendung. SiC-beschichtete Kohlenstofffasern sind zur Verstärkung von Kunststoffen und Metallen geeignet (vgl. Anm.51).
2.7
Organische Verbindungen des Siliciums 2 6 , 7 7 , 7 8 , 7 9
Überblick Eine in Technik und Laboratorien wichtige Verbindungsklasse stellen die siliciumorganischen Verbindungen Si^R^, dar, die sich durch Austausch der Wasserstoffatome H gegen organische Reste bzw. organische und zugleich anorganische Reste ableiten. Sie weisen im Sinne des Formelschemas vielfach nur ein zentrales Si-Atom auf (n = 1), wobei die Reste R dieser Organylmonosilane über Einfach- oder Mehrfachbindungen mit dem ein- bis sechszähligen, ungeladenen oder geladenen Si-Atom verknüpft sein können.
7 5 Der Name Carborundum rührt daher, dass SiC so hart wie Korund (Ä1 2 0 3 ) ist und Kohlenstoff(lat. = carbo) enthält. 76 Bezüglich der Hartstoffe vgl. Anmerkung 24, S. 1602. 77 Literatur. HOUBEN-WEYL: ,,Organosiliciumverbindungen", 13/5 (1980); GMELIN: ,,Organic Silicon Compounds", SystNr. 15; ULLMANN: ,,Silicones", A24 (1993) 57-93; S. Patai, Z. Rappoport, Y. Apeloig (Hrsg. der Serie: ,,The Chemistry of Functional Groups"): ,,The chemistry of organic silicon compounds", Vol. 1 (Part 1, 2), Vol.2 (Part 1, 2, 3), Vol. 3 Wiley, Chichester 1989, 1998, 2001; N. Auner, J. Weis (Hrsg.): ,,Organosilicon Chemistry" Vol. 1 bis 5, Wiley-VCH, Weinheim 1994, 1996, 1998, 2000, 2003; Ch. Elschenbroich: ,,Organometallchemie", 5. Aufl., B.G. Teubner, Wiesbaden 2005; COMPR. ORGANOMET. CHEM. I/II/III: „Silicon" (vgl. Vorwort); P. Jutzi: ,,Die vielen Facetten der Organosiliciumchemie", Nachr. aus der Chemie 53 (2005) 1116-1120; A.G. McDiarmid (Hrsg.): ,,Organometallic Compounds of Group IV Elements", 2 Bände, Marcel Dekker, New York 1968, 1972; E.-W. Colvin: ,,Silicon in Organic Synthesis", Butterworth, London 1981; I. Flemming: ,,Some Uses of Silicon Compounds in Organic Synthesis", Chem. Soc. Rev. 10 (1981) 83-112; H.U. Reissig: ,,Siliciumverbindungen in der organischen Synthese", Chemie in unserer Zeit 18 (1984) 46-53; J.M. Burriak: , ,Organometallic chemistry on silicon surfaces: formation of functional monolayers bound through Si— C-bonds", Chem. Commun. (1999) 1051-1060; ,,Organometallic Chemistry on Silicon and Germanium Surfaces", Chem. R e v 102 (2002) 1271-1308; G. Koerner, M. Schulze, J. Weis: „Silicone- Chemie und Technologie", Vulkan-Verlag, Essen 1989; E. G. Rochow: „Silicon and Silicones", Springer Verlag 1987; W. Noll: ,,Chemie und Technologie der Silicone", VCH, Weinheim 1968. Vgl. auch Anm. 80-83. 78 Geschichtliches Die ersten organischen Siliciumverbindungen erhielten C. Friedel und J.M. Crafts 1863 gemäß: 2SiCl 4 + nZnR 2 2R„SiCl4_„ + nZnCl2. Die gewonnenen Organochlorsilane R 2 SiCl 2 hydrolysieren unter Bildung von Ölen (Me 2 SiOX (A. Ladenburg 1872) oder Festkörpern (Ph2SiO)^ (F.S. Kipping, 1901), welche von Kipping als Silicone (von Polysilicoketonen) bezeichnet wurden. Die Ausarbeitung einer rationellen Synthese der als Siliconvorstufen benötigten Organochlorsilane gelang 1943 E.G. Rochow und E. Müller: 2MeCl + Si/Cu (300°C) u. a. Me2SiCl2. Als weitere Meilensteine der Organosiliciumchemie seien die erstmaligen Synthesen u.a. folgender in Substanz isolierbarer, auf die Kohlenstoffanalogie des Siliciums weisender gesättigter, ungesättigter und komplexgebundener Si-Spezies erwähnt: das Silaethen (Me 3 Si) 2 Si=C(Bu(OSiMe 3 ) (A.G. Brook, 1979), das Disilen Mes2Si=SiMe% (Mes = 2,4,6-Me 3 C 6 H 2 ; R. West, 1981), das Silanimin (Bu 2 Si=N(Si(Bu 3 ) (N. Wiberg, 1988), der Sandwichkomplex CpJSi (Cp* = Me5C5; P. Jutzi, 1989), das Tetrahedran ((Bu3Si)4Si4 (N. Wiberg, 1993), das Silylen R2Si (R 2 = —(BuNCH=CHN(Bu—; R. West, 1994), das Tetrasilacyclobuten ((BuMejSi^Si,, (M. Kira, 1996), das
• 986
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele") R
R—Si:
R ^
Silyline (Silantriyle)
-
R
R
R
R Silylanionen
(Silanyle)
-
+
-
>
Si R^ | R R Silane (Monosilane)
Silylradikale
Silylene (Silandiyle)
-
R
R
— R
Si R
Silylkationen
-
R
1
J R ">1 R _ Silylenaddukte
2-
Si= z
:Si=Y
Silene (Y z.B. CR'2, NR) -
R 1 R. 1 "Si—R R" 1 R _
-
Siline (Z z.B. CR, N) -
R. R"
R 1 l/R 1 R
R
_
Silanaddukte
(R = organische Reste bzw. organische + anorganische Reste bzw. organische Reste + Donoren) D a r ü b e r hinaus existieren Organyloligound -polysilane Si„R p (n > 1) mit Ketten, Ringen, Käfigen, Schichten aus miteinander einfach oder mehrfach verknüpften Si-Atomen. Von technischer und praktischer Bedeutung sind insbesondere die Silicone (S. 992). Nachfolgend werden - in Anlehnung an die Einteilung der Siliciumwasserstoffe (S. 939) - zunächst Organylmonosilane und ihre Derivate (einschließlich der Silyl-Radikale, -Kationen, -Anionen, ihrer D o noraddukte) sowie die Silicone, dann Organyloligosilane (höhere Organylsilane), des weiteren Organylsilylene (einschließlich ihrer Donoraddukte) und schließlich ungesättigte Silane behandelt.
Organylmonosilane und Derivate 80 Silane R„Sffl 4 _„. D a r s t e l l u n g D e r für die Gewinnung der Titelverbindungen erforderliche Aufbau von SiC-Bindungen erfolgt meist nach 3 M e t h o d e n Oxidative Addition von Organylhalogeniden R H a l an elementares Silicium in Anwesenheit von Kupfer als Katalysator ( z . B . Si + 2 R C 1 -> R 2 SiCl 2 ; ,,Direktverfahren" von Rochow/Müller, s. unten), nucleophile Substitution von siliciumgebundenem Halogenid durch Organylanionen (z. B. SiCl 4 + 4 L i R -> R 4 Si + 4 L i C l ; , , M e t a t h e s e r e a k t i o n " ) , Insertion ungesättigter Kohlenstoffverbindungen in SiH-Bindungen von Silanen, ausgelöst durch Photonen oder katalysiert
19
80
Silylkation Mes3Si+ (Gegenion B(C 6 F 5 ) 4 ; J.B. Lambert, 1997), das Tetrasilabutadien Tip2Si=SiTip—SiTip=SiTip2 (Tip = 2,4,6-iPrC6H2, M. Weidenbruch, 1997), der Silylenkomplex (R 3 P) 2 Pt=SiMe% (T.D. Tilley, 1998), das Trisilacyclopropen ((Bu2MeSi)4Si3 (A. Sekiguchi, 1999), die Disiline R*MeSi—Si=Si—SiMeR* (R* = Si(Bi3; N. Wiberg, 2002) und Dsi 2 ;PrSi=Si/PrDsi 2 (Dsi = CH(SiMe3)2; A. Sekiguchi, 2004), der Silylinkomplex [Cp*(dmpe)HMo=SiMes]+ (Gegenion B(C 6 F 5 )~; dmpe = Me 2 PCH 2 CH 2 PMe 2 ; T.D. Tilley, 2003). Physiologisches. Organosiliciumverbindungen verhalten sich - abhängig von der Hydrolysebeständigkeit, Löslichkeit, Art der Si-gebundenen Reste - nicht bis sehr toxisch. Die - auch kosmetisch - genutzten Silicone sind wohl physiologisch unbedenklich, doch wird dies neuerdings in Frage gestellt Arylsilatrane ArSiX 3 (X 3 = (—OCHjCH^N) sind zum Teil doppelt so giftig wie Strychnin oder Blausäure. Literatur. Silane R„SiX4_„. G. Fritz: „Organometallic Synthesis of Carbosilanes", Topics Curr. Chem 50 (1974) 43-127; ,,Carbosilanes", Angew. Chem 99 (1987) 1150-1171; Int. E d 26 (1987) 1111; U. Klingebiel: ,,SiliconNitrogen Heterocycles", G. Fritz, J. Härer: „Silicon Phosphorus Heterocycles"; V. Chvalovsky: ,,Silicon-Oxygen Heterocycles (Cyclosiloxanes)", I. Haiduc: ,,Silicon Sulfur Heterocycles" in I. Haiduc, D.B. Sowerby (Hrsg.): ,,The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles", Acad. Press 1987, S. 221-359; M. Veith: „Special Siloxamides Metal Movements in a Crystalline Molecular Box", Eur. J. Inorg. Chem. (2000) 1883-1899; K. Bock, U. Klingebiel: „Silylhydrazines: Lithium Derivatives, Isomerisms and Rings", Adv. Organomet. Chem 40 (1996) 1-45; P.D. Lickiss: „The Synthesis and Structure of Organosilanols" Adv. Inorg. Chem 42 (1995) 147-262; W. S. Sheldrick, M. Wachhold: ,,Chalcogenidometalates of the heavier Group 14 and 15 elements" Coord. Chem. Rev. 176 (1998) 211-322; G. Fritz, P. Scheer: „ Silylphosphanes: Developments in Phosphorus Chemistry", Chem. Rev 100 (2000) 3341-3401; P.D. Lickiss, C.M. Smith: „Silicon derivatives of metals of groups 1 and2" Coord. Chem. Rev 145 (1995) 75-124; J. J. Zuckerman: ,,The Direct Synthesis of Organosilicon Compounds", Adv. Inorg. Radiochem. 6 (1964) 383-432; W. Büchner:,Novel Aspects of Silicone Chemistry", Organomet. Chem. Rev. 9 (1980) 409-431; R. Schliebs, J. Ackermann, U. Damrath: „Chemie und Technologie der Silicone", Chemie in unserer Zeit 21 (1987) 121-127, 23 (1989) 68-99; R.H. Baney, M. Itoh, A. Sakakibar, T. Suzuki: „Silsesquioxanes", Chem. R e v 95 (1995) 1409-1430; J.M. Mark: „SomeInteresting Thingsabout Polysiloxane", Acc. Chem. R e s 37 (2004) 946-953; V. Chandrasekhar, R. Boomishankar, S. Nagendran: ,,Recent Developments in the Synthesis and Structure of Organosilanols", Chem. R e v 104 (2004) 5847-5910; B.R. Yoo, I.N. Jung: ,Synthesis of Organosilicon Compounds by New Direct Reactions", Adv. Organomet. Chem 50 (2004) 145-179; R.W. J.M. Hanssen, R.A. van Santen, H.C.L. Abbenhuis: „The Dynamic Status Quo of Polyhedral Silsesquioxane Coordination Chemistry", Eur. J. Inorg. Chem. (2004) 675-683; V.Y. Lee, A. Sekiguchi: ,,Si-, Ge-, andSn-CenteredFree Radicals: From Phantom Species to Grams-Order-Scale Materials", Eur. J. Inorg. Chem. (2005) 1209-1222. - Silyl-Radikale/-Anionen/-Kationen SiR3'~/+: Ch. Chatgilialoglu: „Structural and Chemical Properties
2. Das Silicium
987«
durch Radikale, Lewisbasen, Metallkomplexe (z. B. HSiCl3 + RCH=CH 2 ^ RCH2—CH2—SiCl3; ,,Hydrosilierung", ,,Hydrosilylierung" nach Speier; vgl. unten bei Silyl-Anionen und -Radikalen): ,
+2RX Addition
-
• R 2 SiX 2 + ...; ^Si—X
+MR, - M R
:
Substitution
_
_
• ^Si—R; ^Si—H —
Insertion
^
.
I
I
|
|
^Si—C—C—H.
Die Herstellung von R„SiH4_„ (kommerziell erhältlich) kann durch Metathese sowie Insertion im „Eintopfverfahren" erfolgen, während die durch das Direktverfahren erzeugten Halogensilane RllSiHal4_ll noch durch Austausch von H a P gegen (Metathese) weiter umgewandelt werden müssen. Eigenschaften Die Silane R^SiH^ (tetraedrisch koordiniertes Silicium) sind meist vergleichsweise thermo-, luft- und hydrolysestabile Substanzen und werden demgemäß (wie auch die entsprechenden Organyle der Gruppenhomologen) zu den,,sanften Metallorganylen" gezählt. Die hohe Stabilität der SiC-Bindungen dokumentiert sich etwa darin, dass z. B. das - für 'H-, 13C- und 29Si-NMR-Studien als Standard verwendete - ,,Tetramethylsilan" (TMS) SiMe„ (farblose Flüssigkeit, Smp./Sdp. - 99.0/26.6°C, Dichte 0.648 g/cm3) erst oberhalb 700°C thermolysiert. Es bilden sich hierbei u.a. „Carbosilane", d.h. mono- und polycyclische Verbindungen mit Atomgerüsten, die alternierend aus Si- und C-Atomen bestehen (freie Valenzen an Si durch Methylgruppen, an C durch H-Atome abgesättigt). Des weiteren lässt sich,, Tetraphenylsilan" SiPh4 (farblose Kristalle; Smp./Sdp. 237/430°C) an der Luft unzersetzt destillieren. Ähnlich schwierig wie die homolytische Spaltung von SiC-Bindungen durch Wärmezufuhr ist deren heterolytische Spaltung durch Säuren oder Basen (Arylgruppen werden leichter als Alkylgruppen abgespalten; starke Säuren wie CF3CO2H, CF3SO3H, AlCl3 sind wirksamer als Basen wie F O R ) . Besonders leicht (z. Teil 1012-mal rascher) erfolgen Spaltungen des Typs R 3 Si—CH 2 —CH 2 —X + O H " R 3 Si—OH + CH 2 =CH 2 + X " (,,ß-Effekt"; X = elektronegativer Rest; das in der Banane aus (PhCH2O)2MeSiCH2CH2Cl hydrolytisch freigesetzte Ethylen fördert deren Reifung). Vergleichsweise rasch erfolgen auch metallotrope 1,2-Verschiebungen in Cyclopentadienylsilanen unter Spaltung und zugleich Bildung von SiC-Bindungen, z. B.:
H
SiMe3
H Wegen derHReaktionsträgheit der SiC-Bindungen (Normalfall) beteiligen sich in teilorganylierten Silanen R„SiX4_„ (n = 1-3; X = elektronegativer Rest) praktisch nur die SiX-Gruppen an chemischen Reaktionen. So lassen sich die H-Atome (X = H) in den ,,Methylsilanen" MeSiH3, Me2SiH2 und MeSiH3 (farblose Gase; Smp./Sdp. = - 1 5 6 . 5 / - 5 7 . 5 ° C , - 1 5 0 / - 2 0 ° C , - 135.9/6.7°C) in heißen Säuren und Basen gegen OH-Gruppen ersetzen ^Si—H + H 2 0 -> ^Si—OH + H 2 . Der inerte Charakter der Triorganylsilylgruppen R 3 Si b e w i r k e insbesonders bei Vorliegen sperriger Organylreste R (vgl. S.917) - eine verbindungsstabilisierende Schutzwirkung. So wächst etwa die Thermostabilität von Tetrazen N4H4 (S. 692) nach Überführung in (Me3Si)4N4 stark an; auch lässt sich das extrem instabile Silanimin H 2 Si=NH (S. 943) nach Überführung in iBu 2 Si=N(SkBu 3 ) isolieren. Der wasserabweisende („hydrophobe") und fettaffine (,,lipophile") Charakter der R3Si-Gruppen sowie deren Eigenschaften, nur schwache zwischenmolekulare Bindungen auszubilden, hat andererseits zur Folge, dass Wasserstoffverbindungen von Elementen der V. - VII. Hauptgruppe nach ihrer Silylierung wasserunlöslich of Silyl Radicals", Chem. Rev. 95 (1995) 1229-1251; R. Damramer, J.A. Haukin:,,Chemistry and Thermochemistry of Silicon - containing Anions in the Gas Phase", Chem. R e v 95 (1995) 1137-1160; K. Tamao, A. Kawadi: ,,Silyl Anions", Adv. Organomet. Chem 37 (1995) 1-58; C.A. Reed: ,,The Silylium Ion Problem, RSi+. Bridging Organic and Inorganic Chemistry", Acc. Chem. R e s 31 (1998) 325-332; H. Bock, B. Solouki: ,,Organosilicon Cations", Chem. Rev 95 (1995) 1161-1190; J.B. Lambert, L. Kania, S. Zhang: ,Modern Approaches to Silylium Cations in Condensed Phase", Chem Rev 95 (1995) 1191-2201; H.-W. Lerner: ,Silicon derivatives of group 1, 2, 11 and 12 elements", Coord. Chem. Rev 249 (2005) 781-798. - Silan-Donoraddukte R„SiX4_„ mD: S.N. Taudura, M.G. Voronkov, N.V. Alekseev: ,,Molecular and Electronic Structure of Penta- and Hexacoordinate Silicon Compounds", Topics Curr. Chem 131 (1986) 99-189; C. Cumit, R.J.P. Corriu, C. Reye, J.C. Young: „ Reactivity of Penta- and Hexacoordinate Silicon Compounds and Their Role as Reaction Intermediates", Chem. Rev 93 (1993) 1371-1448; R. Tacke, M. Plüm, B. Wagner: ,,Zwitterionic Pentacoordinate Silicon Compounds", Adv. Organomet. Chem 44 (1999) 221-275; R. Tacke, O. Seiler: „Higher-Coordinate Silicon Compounds with SiOs and Si06 Skeletons", in P. Jutzi, U. Schubert (Hrsg.): „Silicon Chemistry. From the Atom to Extended Systems", Wiley-VCH, Weinheim 2003, S. 325-337. - Silan-Metall-Komplexe: B.J. Aylett: „Some Aspects of Silicon-Transition-Metal Chemistry", Adv. Inorg. Radiochem 25 (1982) 1-133; F. Höfler: „Silicon-Transition-Metal-Compounds", Topics Curr. Chem. 50 (1974) 129-165; Z. Lin: , ,Structural and bonding characteristics in transition metal-silane complexes", Chem. Soc. Rev 31 (2002) 239 245.
• 988
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
(wenn auch nicht hydrolysestabil), aber gut in organischen Medien löslich sind und sich vergleichsweise leicht verflüchtigen lassen (der hydrophobe Charakter ist eine wesentliche Eigenschaft der Silicone (s. u.); nicht unzersetzt verdampfbare niedermolekulare Zucker werden nach Trimethylsilylierung flüchtig). Halogensilane R„SiHal4_„. Von den sehr hydrolyseempfindlichen organischen Halogensilanen R„SiHal4_„ (tetraedrisches Silicium) werden ,,Trimethylchlorsilan" Me 3 SiCl {farblose Flüssigkeit; wird als Trocknungsmittel genutzt; Smp./Sdp. — 58/57.3 °C), ,,Dimethyldichlorsilan" Me2SiCl2 ( f a r b l o s e Flüssigkeit; Smp./Sdp. — 76/70.0°C), ,,Methyltrichlorsilan" MeSiCl 3 (farblose Flüssigkeit; Smp./Sdp. — 90/65.7°C) und ,,Methyldichlorsilan" MeHSiCl 2 ( f a r b l o s e Flüssigkeit; Sdp. 40.7°C) technisch in großer Menge nach dem Direktverfahren von Rochow/Mülleri8 durch oxidative Addition von Methylchlorid an technisches Silicium bei Gegenwart von 0.5-3 Gew.% Kupfer als Katalysator (Ca, Mg, Zn, Al sowie As, Sb oder Bi als Promotoren) bei 280-320°C in Fließbett- oder Wirbelschichtreaktoren hergestellt (80 % Me 2 SiCl 2 , 10-15 % MeSiCl 3 , 3 - 4 % Me 3 SiCl, 3 - 4 % MeHSiCl 2 ; die Me2SiCl2-Ausbeute lässt sich durch nachträglichen Me/Cl-Austausch im Sinne von Me 3 SiCl + MeSiCl 3 ^ 2Me 2 SiCl 2 , die MeHSiCl 2 -Ausbeute durch Zusatz von HCl- zum MeCl-Gas steigern): 2Si + 4MeCl
—
280-320°C
> 2Me,SiCl, bzw. MeSiCL, Me3SiCl, MeHSiCL.
Weitere Verbindungen (Me 2 HSiCl, Me4Si, SiQ 4 , HSiCl 3 , MeEtSiCl 2 , chlor- und methylhaltige Di- und Trisilane usw.) entstehen nur in untergeordnetem Ausmaße Die katalytische Wirkung des mit dem Siliciumpulver innig vermengten Kupferpulvers beruht offenbar auf der Bildung des Silicids Cu3Si (Diffusion von Cu in die Si-Partikel), dessen durch Kupfer aktivierte (negativierte) Si-Atome mit Methylchlorid unter Bildung von Silylenen (hauptsächlich MeSiCl, daneben Me2Si, SiCl2) abreagieren, welche ihrerseits mit MeCl weiterreagieren, z. B.: MeSiCl
Me 2 SiCl2 +
•Si Cu Cu Si Cu Si I : Si
Si Cu Si Cu Si Cu Si Si :
•Si Cu Si Cu Si Cu Si •
Zur Katalysatorgewinnung setzt man meist Kupferoxid Cu2O ein, das durch MeCl zunächst in Kupferchlorid CuCl verwandelt wird, welches seinerseits gemäß 4 C u C l + Si -> 4 C u + SiCl4 zu Kupfer weiterreagiert. Die Isolierung der Prozessprodukte erfolgt durch aufwendige fraktionierende Destillation. ,,Phenylchlorsilane" werden ebenfalls durch Direktsynthese gewonnen (Reaktionstemperatur 500 °C; Hauptprodukte Ph2SiCl2 und PhSiCl3 im Molverältnis ca. 3 zu 1). Technisch nutzt man auch Metathesereaktionen, z. B. zur Herstellung von ,,Methylphenylchlorsilanen" (PhCl + HMeSiCl 2 -> PhMeSiCl 2 + HCl; MeSiCl 3 + PhMgBr ^ PhMeSiCl 2 + MgBrCl), darüber hinaus H2PtCl6-katalysierte Hydrosilierungen, z. B. zur Herstellung von ,funktionalisierten Organylchlorsilanen ^Si—R (R z. B. C H = C H R ' , CH 2 CH 2 CH 2 X mit X = SH, N H , O C O C R = C H 2 ) . Chalkogen- und Pentelsilane R„SiX4_„ (X = chalkogen- bzw. pentelhaltiger Rest). Darstellung Die Organylhalogensilane R„SiHal4_„ setzen sich mit Wasserstoffverbindungen E H bzw. EH 3 von Elementen E der VI. und V. Hauptgruppe vielfach leicht unter Halogenwasserstoffeliminierung zu den Titelverbindungen um SiHal4
(4
)EH /EH
Si(EH)4
/ Si(EH 4
(4
)HHal
Die H-Atome der Produkte können vollständig oder teilweise durch Organyl- bzw. andere Gruppen substituiert sein. Auch kann man höhere Elementwasserstoffe sowie Organylderivate einsetzen. Schließlich kondensieren die Produkte häufig unter Bildung mehrkerniger Chalkogen- und Pentelsilane. So setzen sich ,,Methylchlorsilane" Me^SiCl^ mit Wasser auf dem Wege über ,,Silanole" Me^S^OH)^ zu ,,Hexamethyldisiloxan" Me 3 Si—O—SiMe 3 ( f a r b l o s e Flüssigkeit, Sdp. 100°C), ,,Cyclosiloxanen" ( M e 2 S i O ) ^ = 3, 4 ....) bzw. ,,Polysiloxan" (Me2SiO)^ oder (Me 2 SiO um (vgl Silicone, S. 992). Entsprechend führt die Alkoholyse zu „Silanolestern" R ll Si(OR)^ ll , die Einwirkung von Schwefelwasserstoff u. a. zu ,,Hexamethyldisilthian" Me 3 Si—S—SiMe 3 bzw. ,,Cyclosilthianen" (Me 2 SiS),, die Einwirkung von Ammoniak u. a. zu ,,Hexamethyldisilazan" Me 3 Si—NH—SiMe 3 bzw. „ Cyclosilazanen" (Me 2 SiNH), usw. - Strukturen Die Titelverbindungen enthalten tetraedrisch koordiniertes Silicium; die SiOSi-Winkel sind, wie auf S.929 besprochen, außergewöhnlich groß (normalerweise um 145°) und flexibel (Disiloxane R 3 SiOSiR 3 mit raumerfüllenden Resten R wie Ph, iBu weisen lineare SiOSi-Gruppen auf). Unter den cyclischen Derivaten (R 2 SiY), (Y = O, S, NH usw.) sind vier-, sechs- bzw. achtgliederige Ringe planar (a), sesselförmig (b) bzw. u. a. kronenförmig (c) konformiert.
2. Das Silicium
t
I
-Y
-Si-
\ / Si —
-Si-
-Si,
- S / /\
-Si-
I
(b)
(a)
o
O
\/ Si
,Si
/
.Si-
Y/
Y
-Si
-
0
/
1
(c)
989«
\ (e)
(d)
Die elektrostatische Abstoßung der negativ-polarisierten O-Atome in Cyclodisiloxanen (R2SiO)2 (d) führt hierbei zu einer Ringverzerrung mit der Folge, dass sich die chemisch nicht miteinander verbundenen Si-Atome bis zum Abstand einer SiSi-Einfachbindung annähern. Derartige ,,Phantombindungen" (Symbol: Si— R 2 Si(O) 2 SiR 2 . Säure-Base-Verhalten Bezüglich der Aciditätserhöhung und Basizitätserniedrigung beim Übergang von kohlenstoffhaltigen Verbindungen wie R 3 EOH, (R 3 E) 2 NH, (R 3 E) 3 N (E = C) zu siliciumhaltigen Verbindungen (E = Si) vgl. S.929. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang das aus Natriumamid und Hexamethyldisilazan leicht erhältliche, unzersetzt destillierbare und in organischen Medien lösliche ,,Natrium-bis(trimethylsilyljamid" NaN(SiMe3)2 (,, Wannagat-Salz"), das mit Elementhalogeniden leicht unter Austausch von Halogenid gegen das Anion N(SiMe3)2~ reagiert. Wegen seiner Raumerfüllung nutzt man es gerne zur Stabilisierung von niedrigwertigen Elementen (z. B. Co[N(SiMe 3 ) 2 ] 2 ) oder Elementclustern (z. B. Al12[N(SiMe3)2]6~). Erwähnt sei des weiteren das Salz [Me 3 SiOZnMe] des Trimethylsilanols, das formal Silanolat Me3SiO~ enthält (nicht richtig als,,Siloxid" bezeichnet). Es geht beim Erhitzen auf hohe Temperaturen in technisch nutzbares ZnO über, sodass also das Zinksilanolat als Vorläufer (engl.,.precursor") für Zinkoxid wirkt Silyl-Anionen Ähnlich wie von SiH4 leiten sich von den organischen Siliciumverbindungen Metallsilyle MSiR3 ab (z. B. LiSiMe 3 , LiSiPh3, NaSkBu 3 , Mg(SiMe3)2, Al(SiMe3)3, Li2Si(SiMe«Bu2)2). Die Alkalimetallsilyle M J SiR 3 lassen sich u. a. durch Spaltung von SiH- oder SiSi-Bindungen mit M J H oder von SiHal-Bindungen mit M1 in Dimethoxyethan, Tetrahydrofuran, Benzol und ähnlichen Lösungsmitteln KSiMe 3 + Me3SiH; «Bu3SiBr + 2Na darstellen: Me,SiH + KH KSiMe, + H,: , + KH -> NaSkBu 3 + NaBr. Sie enthalten pyramidal gebaute Silyl-Anionen SiR3~, welche isoelektronisch mit Phosphanen PR 3 sind, wie letztere eine hohe Inversionsbarriere aufweisen (über 100 kJ/mol) und als Nucleophile wirken (z. B.: NaSkBu 3 + SiCl4 -> iBu3Si—SiCl3 + NaCl). Silylanionen R 3 Si~ eignen sich damit hervorragend zur Synthese von Silylverbindungen, Dianionen R 2 Si 2 zur Synthese ungesättigter Si-Ver bindungen (z.B. R 2 Si 2 ~ + R 2 SnCl 2 ^ R 2 Si=SnR 2 + 2 C P ; 2R 2 : GaCl, R2Si=Ga=SiR2" + 3 C F ; vgl. S. 1038, 1205). Auch bilden sie wie Phosphane mit geeigneten Übergangsmetall-Komplexfragmenten M L (L = Ligand) Silyl-Metallkomplexe L„M—SiR3 oder L„M—SiR 2 —M^. Beispiele sind etwa (Ph3P)(CO)4Mn—SiMe3, (CO) 4 Fe(—SiMe 2 CH 2 CH 2 SiMe 2 —), (CO)4Os(SiMe3)2, (CO) 4 Co—SiR 3 , (PF 3 ) 4 Rh—SiMe 3 , Ti(SiPh3)4. Silylkomplexe stellen auch Zwischenprodukte der H2PtCl6-katalysierten Hydrosilierung dar, die - schematisch - wie folgt verläuft: L„Ptn + ^ C = < X + R 3 SiH L„PtnCC=CO + R 3 SiH ^ L„(R 3 Si)Pt I V HpC=CO ^ L„(R 3 Si)Pt IV QC—CH) ^ L„Ptn + ^(R 3 Si)C—CHC (bzgl. der radikalinduzierten Hydrosilierung s. unten).
tBu
/THF
M6^
tBu
/ ^ • N a ^ — NMe
tBu—^Si • ••Na tBu
\
THF
NaSi*Bu 3 (THF) 2
®u
/
N Me2
NaSitBu3 (pmdta)
/
®u
\ ® u — Si tB u KSi tBu 3 (C 6 H 6 ) 3
fBu
\
/ °Si~—®u
'"Na"'
\
Si:.'
®u
/
,JBu
,Na..
®U
(NaSi* Bu 3 ) 2
Tatsächlich existieren die Silyl-Anionen in der Regel nicht in freiem Zustand, sondern sind mit den Gegenionen verknüpft, die ihrerseits gegebenenfalls Donoren tragen (freie Silyl-Anionen existieren in der Gasphase). So enthält aus Tetrahydrofuran (THF) kristallisiertes NaSkBu 3 x 2THF tetraedrisch ko-
• 990
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
ordiniertes Si und trigonal-planar koordiniertes Na, wobei zwei derartige Moleküle (vgl. Formelbild auf S.989) lose über CH3 ---Na-Kontakte zu Paaren verknüpft sind; aus Pentamethyldiethylentriamin (PMDTA) oder Benzol (C6H6) kristallisiertes NaSkBu 3 x PMDTA oder KSkBu 3 x 3C6H6 weist keine derartigen Kontakte auf (Si wie M tetraedrisch koordiniert), während donorfreies NaSkBu 3 über Na verbrückte Dimere mit der Koordinationszahl 5 (!) des Siliciums bildet (vgl. Formelbilder auf S.989 und Alkalimetallorganyle, S. 1296). Silyl-Kationen SiR^. Da Silicium weniger elektronegativ (elektropositiver) als Kohlenstoff ist, wirken zwar Silyl-Anionen deutlich basischer (nucleophiler) als Organyl-Anionen, doch sollten dann umgekehrt Silyl-Kationen weniger sauer (weniger elektrophil) als Organyl-Kationen sein. Trotzdem fand man lange Zeit keine Hinweise auf die Existenz trigonal-planar gebauter ,,Silylium-Ionen" SiR3+ in kondensierter Phase (freie Silyl-Kationen existieren in der Gasphase). Lange bekannt sind demgegenüber aus R 3 SiHal und Donoren zugängliche tetraedrisch bzw. trigonal-bipyramidal gebaute „Silicenium-Ionen" R 3 SiD + bzw. R 3 SiD^ in kondensierter Phase (vgl. Formelbilder sowie hypovalente Silane, S. 930). Ein Weg zu R 3 Si + Kationen besteht in der Abstraktion von oder R aus Silanen ^Si—H oder ^Si—R mit Ph3C + oder verwandten Kationen z.B.: R 3 Si—H + Ph3C+
R 3 Si + + Ph 3 CH.
(1)
Tatsächlich ist es durch Reaktion der Trimesitylsilylverbindung Mes 3 Si—R (R = —CH 2 CH=CH 2 ) mit (Et 3 SiCH 2 )Ph 2 C + B(C6F5)4~ in nicht basischem Medium gelungen, erstmals ein Silylium-Salz, Mes3Si + B(C6F5)4~, in kondensierter Phase zu gewinnen (vgl. Formelbild; die Isolierbarkeit beruht auf der sterischen Überladung des Silylium-Ions und der Abwesenheit nucleophiler (Lewis-basischer) Gruppen im Kation und Anion). Weniger überladene Kationen wie Me 3 Si + oder Et 3 Si + (Gewinnung gemäß (1)) werden selbst von Benzol, Toluol oder Methylenchlorid koordiniert; auch können a- und re-Bindungen innerhalb des Kations gegebenenfalls als „Donoren" wirken (vgl. Formelbilder; Gewinnung der Kationen jeweils gemäß (1)). Kationen Me 3 SiD + mit schwachen Donoren wie C6H6 oder C6H5CH3 wirken als starke Elektrophile und vermögen z. B. P(SiMe3)3, As(SiMe3)3, Et2O unter Bildung der Kationen (Me 3 Si) 4 P + , (Me3Si)4As + , (Me3Si)OEt2+ zu silylieren (eine analoge Reaktion mit N(SiMe3) erfolgt - möglicherweise sterisch bedingt nicht).
Silyl-Radikale SiRj. Die Thermolyse von Disilanen erfolgt in der Regel unter Bildung von - ihrerseits weiterreagierenden - pyramidal gebauten Silyl-Radikalen SiRj ( C S i C in SiMe3 112°; Organylradikale C R sind im Gegensatz hierzuplanar strukturiert; vgl. S. 930). Z.B. spaltet Hexamethyldisilan bei 400°C in zwei Trimethylsilyl-Radikale auf, die sich u.a. wie folgt stabilisieren: Me3Si—SiMe3 ^ 2 S i M e j -> Me3SiH + CH 2 =SiMe 2 Me 3 Si=CH 2 —SiMe 2 —H. Anders als Hexaphenylethan Ph3C—CPh3 neigt Hexaphenyldisilan Ph3Si—SiPh3 bei Raumtemperatur in organischen Lösungsmitteln nicht zur Spaltung der EE-Bindung, da SiPhj durch Mesomerie anders als CPhj unzureichend stabilisiert wird. Zusätzliche sterische Stabilisierung der Silylradikale kann jedoch eine Disilanspaltung ermöglichen. So dissoziiert etwa Hexamesityldisilan bei — 60 bis — 32°C reversibel in geringem Ausmaß nach: - 6 0 bis — 32°C
80 kJ + Mes3Si—SiMes3
2SkBuj zu Folgeprodukten der Tri-tert-butylsilyl-Radikale führt. Die auch durch Photolyse von Hg(SiR3)2 oder R3SiH/iBuOOiBu-Mischungen erzeugbaren mehr oder weniger instabilen Silylradikale stabilisieren sich u. a. durch Abstraktion von Atomen oder Atomgruppen (z. B. H, Hal, OR) aus der chemischen Umgebung bzw. durch Addition an ungesättigte Systeme (z. B. an Alkene, Aromaten, Cyclopentadien, Acetonitril, Azide). Eine wichtige Rolle spielen Silylradikale etwa bei der radikalinduzierten Hydrosilierung von Olefinen, der folgende Radikalkettenreaktion zugrunde liegt
2. Das Silicium SiR; + ^ C = ( X + H—SiR 3
R 3 Si^C—CC + H—SiR 3
991«
R 3 S i ^ C — C 0 ! + SiR 3 .
Auch sind Silylradikale vorzüglich zur Gewinnung von Metallsilylen geeignet, z.B.: hv + Hg(SiMe3)2 + 2Li/ THF 2LiSiMe 3 + Hg; hv + Hg(SiMe3)2 + Mg/DME Mg(SiMe 3 ) 2 + Hg: hv + Hg(SiMe3)2 + Fe(CO) 5 (M Si Fe(CO) H CO. Silan-Donoraddukte R„SiX4_„(D)m. Wie auf S. 935 bereits angedeutet wurde, vermögen Silane (hier: R„SiX4_„) unter Erhöhung der Koordinationszahl des Siliciums von 4 auf 5 oder 6 (in Ausnahmefällen 7 oder 8) Donoren D wie Halogenid, Ether, Amine unter Bildung anionischer, neutraler oder kationischer hyperkoordinierter Silane zu addieren (Ladungen sind in nachfolgender Gleichung nicht berücksichtigt): R„SiX4_„ ± ü > R„SiX4_„(D) —
R„SiX4_„(D)2 —
R„SÄ^„(D^ —
R„SÄ^„(D) 4 .
Hinsichtlich bestimmter Silane R ^ S i X ^ (X = elektronegativer Rest) wächst hierbei die Lewis-Basizität der Donoren in der Regel in Richtung Cl", B r " < Ether < Amine < F " ( < R~); hinsichtlich bestimmter Donoren erhöht sich andererseit die Lewis-Acidität der Silane mit der Zahl und Elektronegativität der Substituenten X. Zusätzlich bestimmen die Raumerfüllung der Donoren und Silansubstituenten die Adduktstabilitäten Den Tetraorganylsilanen(n = 4 in R„SiX4_„) kommt besonders geringe Lewis-Acidität zu. Offensichtlich bilden sich aber Anionen Si in mehr oder weniger großer Gleichgewichtskonzentration beim Versetzen von SiR 4 -Lösungen mit Alkalimetallorganylen M R in Anwesenheit von Donoren, welche die Kationen M + koordinativ stabilisieren, z.B. (THF = Tetrahydrofuran, HMPA = Hexamethylphosphortriamid (M N) PO): Ph
I Ph
Ph,
+LiPh ~Ph
I
Ph
I
"
Si — Ph
(THF/HMPA)
Ph'
\Si/
Me
O D O
Ph
Ph
Me
LiMe ' (THF)
Li(HMPA)4+ SiPh5
|
Me
Me j
Me
^SiT
Li(THF) 4 + SiMe 3 Ar 2
In Anwesenheit von HMPA im Überschuss liegt letzteres Produkt selbst bei 20 °C in T H F undissoziiert vor Von Tri-, Di- und Monoorganylsilanen (n = 3, 2, 1 in R„SiX4_„) sind zahlreiche Addukte bekannt. Einige Verbindungsbeispiele fasst das Formelschema zusammen. Anionische, neutrale bzw. kationische pentakoordinierte Silane sind in der Regel trigonal-bipyramidal gebaut (f, g, h) (Organylgruppen in äquatorialer Stellung; vgl. aber das Bipyridyladdukt Me3Si(bipy), S. 990) und nur sehr selten quadratischpyramidal (i). Letztere Verbindung stellt einen von vielen im Normalfalle wie M HN CH SiMe trigonal-bipyramidal gebauten - wasserlöslichen und -beständigen zwitterionischen Komplexen 80 dar. Anionische und neutrale hexakoordinierte Silane weisen oktaedrischen Bau auf (k, l). In den hepta- bzw. oktakoordinierten Silanen (m) und (n) ist Si von 3 C + 1H bzw. von 2C + 2H tetraedrisch koordiniert
NMe , Ph Ph
© CH 2 NHMe 2
|
O
> i — F |
F
(f) Ph 2 SiF3
(g) {Me 2 NCH 2 C 6 H4}MeSiF 2
(k) {Me 2 NCioH6}SiF 4 -
(l) {Me 2 NCioH6}2SiCl 2
(h) {(Me 2 NCH 2 ) 2 C 6 H 3 }HPhSi +
(m) {Me 2 NCH 2 C6H4} 3 SiH
(i) (C 6 H 4 O 2 ) 2 SiCH 2 NHMe 2
Me2
Me2
Me 2
Me 2
(n) {(Me 2 NCH 2 ) 2 C6H3} 2 SiH 2
• 992
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
(der Übersichtlichkeit halber nicht korrekt wiedergegeben), während die Amindonoren die Tetraeder flächen überkappen und lose mit dem Si-Atom verknüpft sind. Analoges gilt für andere Komplexe mit 7- bzw. 8fach koordiniertem Si. Bezüglich der Bindungsverhältnisse in den hyperkoordinierten Silanen vgl. S. 935.
Silicone 80 Die Kondensation der Orthokieselsäure Si(OH) lässt sich nur schwer bei bestimmten Zwischenstufen des Polykondensationsvorgangs aufhalten (S. 960). Es liegt nahe, solche Zwischenstufen bestimmter Molekülgröße und Konfiguration dadurch zu gewinnen, dass man nicht von der Orthokieselsäure, sondern von Verbindungen ausgeht, in welchen einzelne OH-Gruppen des Si(OH) 4 -Moleküls durch organische Reste R ersetzt sind, welche sich - da die SiC-Bindung thermisch sehr stabil und auch chemisch nicht besonders reaktiv ist (S. 987) - am Kondensationsvorgang nicht beteiligen. In der Tat gelingt es so, durch Kondensation von Silandiolen R 2 Si(OH) 2 in An- oder Abwesenheit gewisser Mengen an Silanolen RjSiOH oder Silantriolen RSi(OH) 3 ring-, ketten- oder raumvernetzte Siloxane bestimmten Kondensationsgrades aufzubauen (R vielfach Methyl oder Phenyl). Sie werden heute ganz allgemein als „Silicone" 78 bezeichnet und spielen wegen ihrer Temperatur-, Sauerstoff- und Wasserbeständigkeit sowie ihrer Gasdurchlässigkeit und Stromundurchlässigkeit als anorganische Kunst-, Werk- und Hilfsstoffe (Öle, Kautschuk, Harze) eine bedeutsame technische Rolle. Die zur Darstellung der Silicone erforderlichen Ausgangsverbindungen R 3 SiOH, R 2 Si(OH) 2 und RSi(OH) 3 werden durch Hydrolyse der entsprechenden Halogenverbindungen R 3 SiCl, R 2 SiCl 2 und RSiCl 3 gewonnen. Somit gliedert sich die Siliconherstellung in die auf S. 988 bereits behandelte Synthese von Organylchlorsilanen sowie die Hydrolyse der Organylchlorsilane, wobei die spätere Nutzanwendung der Silicone die Verfahrensweise der Hydrolyse bestimmt Hydrolyse von Organylchlorsilanen (Siliconherstellung). Wie auf S. 939 bereits angedeutet wurde, führt die Kondensation der - durch Hydrolyse von R 3 SiCl, R 2 SiCl 2 und RSiCl 3 gebildeten - Silanole im Falle von Silanolen K3SiOH zu Disiloxanen (2R 3 SiOH R 3 Si—O—SiR 3 + H 2 O). Silandiole R 2 Si(OH) 2 kondensieren andererseits zu Polysiloxanen (R 2 SiO)„, die bei kleiner Gliederzahl (n = 3, 4, 5 . . . ) als Ringe, bei großer Gliederzahl als Ketten vorliegen (vgl. Formeln). Die Kondensation von Silantriolen RSi(OH) 3 liefert schließlich Polysiloxane (RSiO 1 5 )„, die bei kleiner Gliederzahl (n = 8 , 1 0 , 1 2 , . . . ) Käfige, bei großer Gliederzahl Schichten bilden R2
„Si
R2 S i .
Si R 2
o
Si R 2 \
R2 S i '
0 1
R2 S i .
(R 2 SiO)3
/
o /
R
\
Si
vSi
Si
,0
„Si
„Si
R ~"o„R „o'' R x o_R „,o R x x Si^
Si
0
o
o
„Si.
.Si.
I
1
„Si.
0 1
0 1
„Si
I
o
R
R2
(R 2 SiO) x
o
R
\
Si
R2
(R 2 SiO) 4
R
\
Si
Si R2
R
„Si — O '
R2
Si
I
I
I
R O^ R „O R O . R „ , a v
Si
^O-Si
I 01
-o'
Si
I oI
„Si
Rxn
R /
Si
I o I
(RSiO L 5 ) x
(RSiOi.5)8
Durch Beimischung von SiOH zu Si(OH) kann die Kettenlänge der Polysiloxane (R SiO) nach Belieben begrenzt werden, da R 3 SiOH einen Kettenabbruch herbeiführt: HO
Si
Si
Si
OH
Si
In analoger Weise lässt sich die Ausdehnung und Vernetzung der Polysiloxane (RSiO 1 durch Beimischung von R 3 SiOH und R 2 Si(OH) 2 zu RSi(OH) 3 nach Belieben variieren. Silanole R 3 SiOH fungieren hierbei als monofunktionelle Endgruppen R 3 SiO (Kurzzeichen M), Silandiole als difunktionelle mittlere Kettenglieder (Kurzzeichen D) und Silantriole RSi(OH) 3 sowie Kieselsäure Si(OH) 4 als tri- und quadrifunktionelle Verzweigungsstellen (Kurzzeichen T bzw. Q). Die oben wiedergegebenen Siloxane werden
2. Das Silicium
993«
demgemäß durch die Symbole D 3 für (Me 2 SiO) 3 ,D 4 für (Me 2 SiO) 4 , D„ für (Me2SiO)„, T s für (MeSiO 1 5 ) s und Tn für (MeSiO t 5)n charakterisiert. Durch geeignete Mischung der drei Komponenten kann man den mittleren Kondensationsgrad,,einstellen" und auf diese Weise ganz ,,nach Maß" leichtflüssige, ölige, kautschukähnliche oder harzige Silicone mit charakteristischen Eigenschaften aufbauen Die Herstellung linearer hochmolekularer Polydimethylsiloxane erfolgt über oligomere cyclische und acyclische Siloxane. Letztere erhält man durch Hydrolyse von Me 2 SiCl 2 in der Flüssig- oder der Dampfphase (Bildung von Salzsäure bzw. gasförmigem Chlorwasserstoff) bzw. durch Methanolyse von Me 2 SiCl 2 (Bildung von Methylchlorid): «Me 2 SiCl 2 + n H 2 0 -> (Me2SiO)n + 2«HCl; «Me 2 SiCl 2 + 2«MeOH -> (Me2SiO)„ + 2nMeCl + nH2O (das nach MeOH + HCl -> M e ^ H 2 O zurückgewonnene oder das direkt gebildete MeCl wird mit Si durch Direktsynthese wieder zu Me 2 SiCl 2 umgesetzt). Häufig wird das erhaltene Gemisch von Oligodimethylsiloxan durch Behandlung mit KOH bei 160 °C in Octamethylcyclotetrasiloxan (Me 2 SiO) 4 umgewandelt, das nach destillativer Feinreinigung und Zugabe von Endgruppen-liefernden Substanzen (z. B. Me 3 SiOSiMe 3 ) in Anwesenheit von KOH oder von Säure bei erhöhter Temperatur ,,polymerisiert" wird. Die direkte Umwandlung der durch Hydrolyse von Me 2 SiCl 2 gebildeten acyclischen Oligodimethylpolysiloxane HO—(SiMe 2 O)„—SiMe 2 —OH kann in Anwesenheit von Katalysasatoren wie (NPC12)^ erfolgen. Verzweigte hochmolekulare Polysiloxane werden im Prinzip wie die linearen Polysiloxane hergestellt; man setzt nur ein Organylchlorsilangemisch aus R 3 SiCl, R 2 SiCl 2 und RSiCl 3 ein. Die durch unvollständige Hydrolyse von Organylchlorsilanen erhältlichen Oligosiloxane mit SiCl-End gruppen sind wichtige Ausgangsprodukte für Siliconcopolymere (z.B. Polyether/Silicon-Copolymere). Technische Siliconprodukte und ihre Verwendung Die erwähnte Wärme-, Luft- und Wasserstabilität sowie die wasserabweisenden, gasdurchlässigen und stromisolierenden Eigenschaften der Silicone (Weltjahresproduktion von Ölen, Kautschuk, Harzen: Megatonnenmaßstab) werden auf vielfältige Weise genutzt: Siliconöle stellen meist acyclische Silicone des Typs Me 3 Si—O—[SiMe 2 —0]„—SiMe 3 dar (statt einiger SiMe2-Gruppen können auch SiMePh- oder SiPh2-Gruppen eingebaut sein) und weisen je nach Kondensationsgrad unterschiedliche Viskositäten auf (Stockpunkte zwischen — 60 bis — 35°C = Temperaturen, bei denen die Öle in einem genormten Rohr gerade zu fließen aufhören). Die temperaturbeständigen Öle zeichnen sich durch geringe Flüchtigkeit, kleine Temperaturkoeffizienten der Viskosität, Feuersicherheit, hohe Resistenz gegen Säuren und Laugen, hohen elektrischen Widerstand, niedrige Oberflächenspannung aus; auch sind sie geruch- und geschmacklos sowie physiologisch indifferent. Man verwendet sie als Schmiermittel, Brems- und hydraulische Flüssigkeiten, Wärmeübertragungsmittel, Transformatorenöle, Lackverlaufs- und Glanzverbesserungsmittel, Bestandteile von Hautcremes und Schutzpolituren. „Siliconölemulsionen" dienen als Formentrenn- und Entlüftungsmittel, zur Hydrophobierung und Griffverbesserung von Textilien, als Entschäumer. ,,Siliconpasten" und -„fette" (Mischungen von Siliconölen und Kieselsäuren bzw. Li- oder Ca-Seifen) stellen Spezialschmiermittel dar. Siliconkautschuke (-elastomere, -gummis) werden in Form von kaltvulkanisierendem bzw. heißvulkanisierendem Kautschuk hergestellt. Der „kaltvulkanisierende Einkomponentensiliconkautschuk" besteht meist aus acyclischen Polysiloxanmolekülen MeX 2 Si—O—[SiMe 2 —0]„—SiX 2 Me mit funktionellen Endgruppen (,,Vernetzerkomponenten" X; z.B. organische Acylreste wie MeCO 2 ), die sich bei Einwirkung von Luftfeuchtigkeit nach X/OH-Austausch langsam vernetzen (— S Ä 2 M e + 2 H 2 0 - > —Si(OH) 2 Me + 2HX; 2—Si(OH) 2 Me —Si(OH)Me—O—Si(OH)Me— + H 2 O). Zur Verbesserung der mechanischen und elastischen Eigenschaften werden dem Kautschuk Füllstoffe (z.B. hochdisperse Kieselsäure) sowie Siliconöl, zur Kondensationsbeschleunigung Zinnverbindungen (z. B. Dibutylzinndilaurat) beigemengt. Man nutzt den Einkomponentenkautschuk als Fugendichtmasse im Bauwesen, Sanitär-, Glas-, Autobereich und als hitzebeständigen Klebstoff für Dichtungen. Beim „kaltvulkaniserenden Zweikomponentensiliconkautschuk" werden die Polymerkomponenten (meist HO—[SiMe 2 —0]„—SiMe 2 OH) und Vernetzerkomponenten (meist Si(OR) 4 ) erst vor der Verwendung miteinander vermischt. Er dient als Abformmasse in der Restaurierungstechnik, Möbelindustrie, Dentaltechnik, zum Vergießen elektronischer Bauelemente sowie zum Beschichten von Papier und Kunststofffolien (z.B. Abziehpapiere für selbstklebende Etiketten). Der „heißvulkanisierende Siliconkautschuk" besteht im Wesentlichen aus Polysiloxanmolekülen des Typs Me 3 SiO—[SiMe 2 —0] n —SiMe 3 , in welchen einige SiMe2O-Einheiten durch SiViMeO-Einheiten ersetzt sind (V Vinyl CH CH ). Die Vernetzung erfolgt bei höheren Tempera turen mit organischen Peroxiden oder mit SiH-haltigem Polysiloxan (Hydrosilierung mit Pt-Katalysato ren). Auf den besprochenen Wegen stellt man Schläuche für die medizinische Technik (z.B. Katheder, Transfusionsschläuche), Kabel für die Elektroindustrie, Dichtungen für die Automobilindustrie, Implantate für den menschlichen Körper (z. B. Herzklappenventile, Kontaktlinsen) her. Siliconharze sind verzweigte Polysiloxane. Die Bildung der polymeren festen Harze erfolgt meist durch mehrstündiges Erhitzen („Aushärten") - zwischenzeitlich hergestellter - flüssiger Siliconharze bei 180 bis 250°C. Sie dienen als Lackrohstoffe und Bindemittel sowie als Bautenschutzmittel (z.B. für Hausfassaden).
• 994
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Höhere Organylsilane (Organyloligosilane) 26,81 Darstellung Man kennt eine große Anzahl acyclischer, cyclischer und oligocyclischer höherer Organylsilane Si„R 2„+m(n> 1; m = 2, 0, — 2, — 4 , . . . ) . Sie entstehen durch Enthalogenierung organischer Halogensilane R 3 SiHal, R 2 SiHal 2 , RSiHal 3 , R 2 HalSi—SiHalR 2 , RHal 2 Si—SiHal 2 R bzw. Gemischen dieser Silane mit Alkali- oder Erdalkalimetallen unter geeigneten Bedingungen in organischen Medien gemäß: JSi—Hal + Hal—Si^ + 2M
5Si—Si^ + 2MHal
Beispielsweise bilden sich bei der Einwirkung von Na/K-Legierung in Tetrahydrofuran (THF) auf R 3 SiCl Disilane R 3 Si—SiR 3 , auf Me2SiCl2/Me3SiCl acyclische Oligo- und Polysilane S^Me^^ (n bis 100), auf R2SiCl2 cyclische Silane SinR2n (n = 3, 4, 5, 6, 7, . . . ; R z. B. Me, Ph), auf Me2SiCl2/MeSiCl3 oligocyclische Silane Si^Me^^ (z. B. Si8Me14, Si9Me16, Si10Me18, Si10Me16, Si u Me 18 , Si13Me22; alle Verbindungen farblos und flüssig bis fest), bei der Einwirkung von Na in THF auf Me2SiCl2 Polydimethylsilan (SiMe^ (farbloses Pulver, nicht schmelzbar), bei der Einwirkung von NaSkBu 3 in THF auf RBr 2 Si—SiBr 2 R mit sperrigen Gruppen R wie SkBu3 Tetrahedrane Si4R4 (orangefarbene Kristalle), bei der Einwirkung von Mg in THF auf DipCl2Si—SiCl2Dip/DipSiCl3 (Dip = 2,6-;Pr2C6H3) das Prisman Si6Dip6 (orangefarbene Kristalle), bei der Einwirkung von Na in Toluol auf RSiBr 3 mit nicht allzu sperrigen Gruppen R Cubane Si8R8 dunkelgelbe Kristalle). Strukturen Bezüglich der Strukturen einiger erwähnter und nicht erwähnter höherer Organylsilane R„Si2n+m vgl. Fig. 218 (für m = 0, — 2, — 4, — 6, — 8 liegen mono-, di-, tri-, tetra-,pentacyclische Oligosilane vor), bezüglich der Bindungsverhältnisse S. 937. Die SiSi-Abstände in diesen Silanderivaten sind innerhalb weiter Bereiche variabel; sie wachsen in der Regel mit zunehmender Sperrigkeit der Organylsubstituenten (normaler Abstand von 2.34 Ä z. B. in Me3Si—SiMe3; größter bisher aufgefundener Abstand von 2.70 Ä in B S S B ).
A Si3R« 0'Pr, fBu)
SitRs
(iPr, C H 2 / B U )
SisRg (2H + 4fBu + 2Dip)
SifiRio (iPr)
SisRi2 (iPr)
SiioRi6 (Me, SiMe3)
Sis^io (Me, Et, Ph)
Si7R12 (Me)
si^R^ (SifBu,, SiMeDsi^
(Me, Ph)
Si4R« (2fBu + 4Dep)
SigR14 (Me)
S'loRl8 (Me)
Si«»« (Dip)
(fBu, Mes, Dip, SiMe2/Bu)
Fig. 218 Strukturen einiger höherer gesättigter Organylsilane Si„R2n+m (• = SiR 2 oder SiR; in Klammern an Si gebundene Reste R; Dep = 2,6-Et2C6H3, Dip = 2,6-;PrC6H3, Dsi = CH(SiMe3)2).
81 Literatur. E. Hengge, K. Hassler: „ Silicon Homocycles (Cyclopolysilanes) and Related Heterocycles" in: ,,The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles", Acad. Press 1987, S. 191-220; E. Hengge:,,Properties and Preparations of SiSi-Linkages", Topics Curr. Chem 51 (1974) 1-127; M. Weidenbruch: ,,Cyclotrisilanes", Chem. Rev 95 (1995) 1479-1493; E. Hengge, R. Janoschek: „Homocyclic Silanes", Chem. Rev 95 (1995) 1495-1526; S. Nagase: „Polyhedral Compounds of the Heavier Group 14 Elements Silicon, Germanium, Tin, Lead" Acc. Chem. R e s 28 (1995) 469-476; A. Sekiguchi, H. Sakurai: ,,Cage Cluster Compounds of Silicon, Germanium, and Tin", Adv. Organomet. Chem 37(1995) 1-38; S. Kyushin, H. Matsomoto:,,LadderPolysilanes", Adv. Organomet. Chem 49(2003) 133-167; J.Y. Corey: ,,Dehydrocoupling of Hydrosilanes to Polysilanes and Silcon Oligomers: A 30 Year Overview", Adv. Organomet. Chem 51 (2004) 1-52.
2. Das Silicium
995«
Eigenschaften. Zum Unterschied von den höheren Alkanen, die nur kurzwelliges UV-Licht (X < 160 nm) absorbieren, liegen die Absorptionsbanden der höheren Organylsilane im langwelligen UV-Bereich und werden zudem bei wachsender Si-Atomzahl zunehmend bathochrom verschoben (Grenzwert für A im Falle acyclischer Polysilane: 350 nm). Dieser Befund deutet auf eine gewisse Delokalisierung der Elektronen im (7-Bindungsbereich der Si-Ketten, -Ringe und -Käfige. Dementsprechend gehen Cyclosilane Si^R^ durch Oxidation vergleichsweise leicht in Radikalkationen SinR2ll+ über (kleine Ringe weisen wegen der Ringspannung besonders kleine Ionisierungspotentiale auf), auch folgt aus ESR-Untersuchungen eine Delokalisation des Radikalelektrons. Entsprechendes gilt für die durch Reduktion der Cyclosilane gebildeten, in der Regel farbigen Radikalanionen Si„R2~ (z. B. blaues Si5Me10~, gelbes Si6Men~). Oxidationsund Reduktionsreaktionen können darüber hinaus zu Spaltungen der SiSi-Bindungen führen, z.B.: Si6Me12 + PC15 -> Cl(SiMe2)6Cl + PC13; Si2Ph6 + 2Na -> 2NaSiPh 3 . Ein interessantes Beispiel letzteren Reaktionstyps bietet die reduktive Spaltung einer Si-Silyl-Bindung eines silylierten Silatetrahedrans durch K, eingesetzt als KC R
Si
Si +2K, (Et 2 O, 18-Krone-6)
R S i — —SiR
-KR
"
K (Krone) +
(R = SiMe[CH(SiMe 3 ) 2 ] 2 )
R
R S i — —SiR
_
X
S:
R
Organylsilylene 2 6 , 8 2 Darstellung Ähnlich thermolabil wie das Silylen :SiH2 und seine anorganischen Derivate wie :SiHal2 (S. 949), SiChalk (S. 953) sind dessen organische Derivate :SiR 2 (gleiche oder ungleiche Organylgruppen bzw. ein organischer, ein anorganischer Rest). Sie können gemäß R 2 SiXY -> SiR 2 + X Y durch thermische oder photochemische a-Eliminierungsreaktionen als Reaktionszwischenprodukte erzeugt werden (vgl. Schema; die konzertiert verlaufenden thermischen Eliminierungen erfolgen in der Reihe R2SiHal(SiMe3), R 2 SiH(SiMe 3 ), R 2 SiOR'(SiMe 3 ) rascher). Darüber hinaus führen u. a. thermische Zersetzungen von Silylenoiden R 2 SiHalM (gewinnbar aus R 2 SiHal 2 + Alkalimetall), Photolyse von Diaziden R2Si(N3)2 sowie Cycloreversionen zu Silylenen (vgl. Schema; auch die Thermolyse bzw. Photolyse von SiR2-Addukten an Acetylen, Benzol, Anthracen liefert Silylene; bzgl. der Spaltung von Disilenen s. weiter unten). Me 3 S i ^
X
SiR 22
- Me 3 SiX (X = H, Hal, OR)
- MX (M = Li, Na, K)
Me 3 SiSiXR 2 Me 3 S k SiR ,
- Si2Me 6
Me 3 S k
:siR,
- 3N ,
(Me3Si) 2 SiR 2
(R2 S i ) ^ S i R
(R2Si)„+i
2
-(SiR2)„
- Q0H4PI14 R 2 Si(CioH4Ph 4 )
Eigenschaften Bzgl. der Strukturen und Bindungsverhältnisse der farbigen Organylsilylene :SiR 2 vgl. S. 930 (Silylenemit anorganischen Resten F, OR, N R sindfarblos). Sie sind meist nur bei niedrigen Temperaturen 82
Literatur. M. Haaf, T.A. Schmedake, R. West: „Stable Silylenes", Acc. Chem. R e s 33 (2000) 704-714; N. Tokitoh, R. Okazaki:,,Recent topics in the chemistry of heavier congeners of carbenes" Coord. Chem. R e v 210 (2000) 251-277; L. Belzner, H. Ikmels: ,,Silylene Coordinated to Lewis-Bases", Adv. Organomet. Chem 42 (1998) 1-43; C.S. Liv, T.-L. Hwang:,, Inorganic Silylenes. Chemistry of Silylene, Dichlorsilylene and Difluorsilylene", Adv. Inorg. Radiochem. 29 (1985) 1-40; Ch. Zybill: „ The Coordination Chemistry of Low Valent Silicon", Topics Curr. Chem 190 (1991) 1-45; W. Petz:,, Transition Metal Complexeswith Derivates of Divalent Silicon, Germanium, Tin, andLeadas Ligands", Chem. R e v 86 (1986) 1019-1047; M.F. Lappert, R . S . Rowe: „The Role of Group 14 ElementsCarbene Analogues in Transition Metal Chemistry", Coord. Chem. R e v 100 (1990) 267-292; Ch. Zybill, H. Handwerker, H. Friedrich: ,,Sila-Organometallic Chemistry on the Basis of Multiple Bonding", Adv. Organomet. Chem 36 (1994) 229-281; T. Kühler, P. Jutzi: „Decamethylsilicocen: Synthesis, Structure, Bonding and Chemistry", Adv. Organomet. Chem 49 (2003) 1-35; H. Nakazawa: „Transition Metal Complexes Bearing a Phosphenium Ligand", Adv. Organomet. Chem. 50 (2004) 108-144.
• 996
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
gegen Di-, Oligo- oder Polymerisation metastabil, wobei etwa die Tendenz zur Dimerisierung: mit der Sperrigkeit der siliciumgebundenen Reste R sinkt. Z.B. verwandelt sich gelbes Dimethylsilylen SiMe 2 in der Argonmatrix bereits oberhalb 10 K auf dem Wege über Me 2 Si=SiMe 2 in polymeres (SiMe2);( und tiefgelbes Di-tert-butylsilylen :SkBu 2 auf dem Wege über iBu 2 Si=SkBu 2 in cyclotrimeres (SkBu 2 ) 3 , grünblaues Dimesitylsilylen :SiMes 2 erst oberhalb 77 K in Mes 2 Si=SiMes 2 (erstmalige Disilendarstellung durch Silendimerisierung7S). Das Disilen Tbt(Mes)Si=Si(Mes)Tbt (Tbt = 2,4,6-Dsi 3 C 6 H 2 mit Dsi = CH(SiMe 2 ) 2 ) bildet umgekehrt in Lösung ab ca. 50 °C das - seinerseits weiterreagierende Silylen :Si(Mes)Tbt (Silylendarstellung durch Disilenspaltung; auch Dsi 2 Si=SiDsi 2 dissoziiert in Lösung bei Bestrahlung). Mit orangefarbenem, luft- und wasserempfindlichem, kristallinem Silylen :Si[—C(SiMe 3 ) 2 CH 2 CH 2 C(SiMe 3 ) 2 —] konnte erstmals ein dimerisierungsstabiles Silylen isoliert werden (in Lösung lagert sich das Silylen bei Raumtemperatur unter Wanderung einer SiM -Gruppe vom Czum Si-Atom in ein Silaethen um). Die instabilen Silylene :SiR 2 lassen sich vor ihrer Polymerisation mit geeigneten Reaktanden abfangen, z. B. durch Insertion in Einfachbindungen (a-Addition; vgl. hierzu auch „Direktsynthese", S.988) oder durch Cycloadditionen an Doppelbindungssysteme (vgl. Schema; die Azidaddukte zerfallen unter N2Eliminierung in Silanimine S N R ). R'
X"
;siR,
Insertion
[1+3]-Cycloadd.
+H-X (X z.B. OMe, SiEt 3 )
z.B. + R' N3
/ V
N
SiR,
V
:SiR ,
%\
2
H2 C n I ^SiR2 Me 2 C
[1+2]-Cycloadd. ' z.B. + CH 2 =CMe 2
,
[1+4]-Cycloadd.
HC
z.B. + CH 2 =CH-CH=CH 2
HC
SiR2
H2 Die zur Diskussion stehenden Spezies :SiR 2 wirken als elektrophile Silylene und vereinigen sich demgemäß mit Donoren D wie Halogenid, Ethern, Thioethern, Aminen, Phosphanen in Gleichgewichtsreaktionen unter Bildung von Silylen-Donoraddukten :SiR2(D) (Wechselwirkung des nichtbindenden Donorelektronenpaars mit dem elektronenfreien p-Orbital des Silylens, vgl. S.931). Die Addition ist mit einer hypsochromen Verschiebung der langwelligen Absorptionsbande (vgl. S.931) verbunden. Darüber hinaus wächst zugleich die Metastabilität der Silylene, die allerdings vielfach noch keine Isolierung der Addukte ermöglicht (vgl. z. B. die zur Erzeugung von :SiR 2 genutzten „Silylenoide" : S i R 2 X " , oben). In Substanz isoliert werden konnte etwa das Isonitriladdukt (a) des im Gleichgewicht mit seinem Dimeren vorliegenden Silylens :Si(Mes)Tbt (s. oben), das im ,,nackten" Zustand sehr reaktiv ist und sich sogar an eine CC-Doppelbindung des Benzols cycloaddiert. Die Adduktbildung kann auch intramolekular und dann sogar zweimal (b erfolgen (Bildung von Si (D) ). t Bu
NMe , Si Mes
Tbt Do
(Do = C E N R ) (a) Mes(Tbt)Si
Si
CD
o v
N
rNMe, (
(b) {Me 2 NC 6 H4} 2 Si
c
N\
= 1 8 0 bzw. 155°) (c) Cp^ Si
(d) Cp*Si + [B(C 6 F 5 )] -
B" C (Al") Si t Bu Ga~ Ge In ? Sn (e) (R 2 N) 2 E
N+ P+ As + Sb +
Die Donoraddukte :SiR 2 (D) wirken als nucleophile Silylene (Wechselwirkung des nichtbindenden Silylenelektronenpaars mit elektronenfreien Orbitalen des Reaktionspartners). Entsprechendes gilt für farbloses, mäßig luft-, aber sehr hydrolyseempfindliches, unter Normalbedingungen isolierbares Decamethylsilicocen :SiCp* (c), in welchem Pentamethylcyclopentadienyle Cp* = C 5 Me 5 f/5-7i-gebunden vorliegen (der Kristall enthält gewinkelte und nicht-gewinkelte Silicocenmoleküle)7S. Letzteres Silylen reagiert mit vielen Verbindungen X — Y (z. B. HHal, HOR, H N R , Hal2) - wohl auf dem Wege über Cp*SiX+Y~ unter a-Addition bei gleichzeitigem Übergang der Cp*-Reste in den r\l-(7-gebundenen Zustand. Mit der starken Trifluormethansulfonsäure HSO CF lässt sich die Bildung des Salzes Cp Si H(SO CF nachweisen. Tatsächlich reagieren jedoch starke Säuren mit :SiCp* leicht unter hydrolytischer Abspaltung eines Cp*-Restes, z. B.: SiCp2* + H B ^ ^ C p * ^ { C p * S + B ^ Cp*H + | ( C p * S i F ^ B ^ . D a s elekt-
2. Das Silicium
997«
rophile Kation t]5-Cp*Si+ (d) entsteht gemäß SiCp* + Cp*H2+ B(C6F5)4~ Cp*Si + B(QF5)4~ + 2Cp*H in CH2C12 bei — 70 °C in Form des farblosen, thermostabilen, aber luft- und wasserlabilen, in CH2C12 löslichen Salzes Cp*Si + B(C6F5)4~ (in Cp*Si + kommt Silicium formal ein Elektronenoktett zu: 2 Außenelektronen von Si 2+ , 671-Elektronen von Cp* "). Nucleophilen Charakter weisen auch nicht eigentlich zu den Organylsilylenen zu zählende Dia minosilylene :Si(NR2)2 auf, in welchen eine Silylenstabilisierung durch Wechselwirkung der nichtgebundenen Elektronenpaare der Aminogruppen mit dem unbesetzten p-Orbital der Silylene (vgl. S. 931) erfolgt: [R 2 N=Si—NR 2 R 2 N—Si—NR 2 R 2 N—Si—NR]. Sie lassen sich in Substanz isolieren, falls R raumerfüllend ist, oder wenn die NSiN-Gruppierung wie im Falle des Silylens (e; E = Si) Teil eines bevorzugt fünfgliederigen - Rings ist78 (analog (e) existieren isoelektronische Spezies mit E = Ga~, C, Ge, Sn, N + , P + , A s + ,Sb + ; vgl. bei den betreffenden Elementen). Das durch Photolyse des Silacyclopropens (M Si Si(N P mit Si-Dreiring erzeugbare und durch geeignete Reagenzien abfangbare Diami nosilylen :Si(N;'Pr2)2 bildet in 3-Methylpentenlösung ein Gleichgewicht mit (;'R 2 N) 2 Si=Si(N;Pr 2 ) 2 aus, das bei Raumtemperatur auf der Silylen-, bei 77 K auf der Disilenseite liegt. Ähnlich wie Silyle -SiR 3 (S.991) wirken auch Silylene :SiR 2 und Silyline :SiR als Komplexliganden und bilden mit Übergangsmetall-Komplexfragmenten M L (L = geeigneter Ligand wie CO, Cp = C5H5, Cp* = C S M S , R P ) Silylen und Silylin-Metallkomplexe z. B. des Typs (f), (g) und (h) (weitere Silylenkomplexe sind etwa Cp*(CO) 2 Re=SkBu 2 oder (CO) 2 Ni[=Si(«BuNCH 2 CH 2 N«Bu)]Komplexe des Typs (f) und (h) sind hierbei wie andere „Silene" R 2 S i = Y oder ,,Siline" R S i = Y (s. unten) nur bei guter sterischer Abschirmung der ungesättigten Si-Atome isolierbar und werden analog Silenen (S. 996) durch Addition von Donoren wie Tetrahydrofuran oder Hexamethylphosphorsäuretriamid PO(NM (HMPA) stabilisiert (vgl. hierzu den „Silylen-Komplex" (i) bzw. den „Siliciumatom-Komplex" (CO) F Si(HMPA) Fe(CO) ). Auch die Koordination an zwei Übergangsmetall-Komplexfragmente führt zu einer Stabilisierung polymerisationslabiler Silylene, z.B.: Cp(CO)2Fe(|i-SiMe2)2Fe(CO)2Cp.
i Pr 3 R 2.21Ä ^ P t = Si
i Pr3 P'
(f)
-Mes v Mes
(Si planar) (iPr3P)2PtSiMes2
t Bu 2.20Ä (OC) 5 Fe = S i
)
n t Bu
n
(Si planar) (g) (CO) 5 FeSi(NR 2 ) 2
Me i2/ 1 \ . p | 2.77Ä
(OC) 4 Fe
^ t M O ^ S Si—Mes
Me2
\
B ^ ^
(Si«linear) (h) Cp*(diphos)HMoSiMes
2.28Ä . Si-
^HF Me Me
(Si«tetraedisch) (i) (CO) 4 FeSiMe 2 (THF)
Ungesättigte Organylsilane2®'83 Disilene R 2 Si=SiR 2 und Disiline RSi=SiR. Anders als gesättigte Silane ^Si—Si^ („Silane" im engeren Sinne, vgl. S.994) ließen sich ungesättigte Silane des Typs ^Si=SiC („Disilene") lange Zeit hindurch nicht fassen. Erst im Jahre 1981 konnte mit Mes 2 Si=SiMes 2 eine derartige - unter Normalbedingungen metastabile - Spezies isoliert78 und damit gezeigt werden, dass die Substitution von H-Atomen in Disilen H 2 Si=SiH 2 durch raumerfüllende Reste dessen Tendenz zur Polymerisation drastisch reduziert. Inzwischen wurden knapp 50 acyclische und mehrere cyclische Disilene isoliert, darüber hinaus eine große Anzahl von Disilenen als Intermediate nachgewiesen. Dieser Sachverhalt stimulierte naturgemäß die Suche nach isolierbaren, polymerisationsmetastabilen ungesättigten Silanen des Typs — S i = S i — („Disiline"), die mit dem Nachweis und der Charakterisierung von R S i = S i R (R = (7Bu3Si)2MeSi; (Me3Si)2CH2;'PrSi) erfolgreich war.78
83 Literatur. M. Weidenbruch: ,,Some Silicon, Germanium, Tin, and Lead Analogues of Carbenes, Alkenes, andDienes", Eur. J. Inorg. Chem. (1999) 373-381; mehrere Autoren: ,,Multiple Bonded Main Group Metals and Metalloids", Adv. Organomet. Chem 39 (1996) 71-324; R. Okazaki, N. Tokitoh: ,,Heavy Ketons, the Heavier Element Congeners of a Keton", Acc. Chem. R e s 33 (2000) 625-630; ,,Recent Advances in the Chemistry of Group 14 - Group 16 Double-Bond Compounds", Adv. Organomet. Chem 47 (2001) 121-166; T.L. Morkin, W.J. Leigh: ,,Substituent Effects on the Reactivity of the Silicon-Carbon Double Bond", Acc. Chem. R e s 34 (2001) 129-136: P.P. Power: ,,%-Bonding and the Lone Pair Effect in Multiple Bonds between Heavier Main Group Elements", Chem. Rev 99 (1999) 3463-3503; M. Driess, H. Grützmacher: ,,Hauptgruppenelementanaloga von Carbenen, Olefinen und kleinen Ringen", Angew. Chem 108 (1996) 900-929; Int. E d 35 (1996) 828; B. Eichler, R. West: „Chemistry of Group 14 Heteroallenes", Adv. Organomet. Chem 46 (2000) 1-46; L.F. Grusel'nikov, N.S. Nametkin: ,,Formation and Properties of Instable Intermediates Containing Multiple p„-Bonded 4B Metals", Chem. Rev 79 (1979) 529-577; G. Rabe, J. Michl: „Multiple Bonding to Silicon", Chem. Rev 85 (1985) 419-509; R. West: „Chemie der Silicium-SiliciumDoppelbindung", Angew. Chem 99 (1987) 1231-1241; Int. E d 26 (1987) 1201; A.G. Brook, K.M. Baines: „Silenes", Adv. Organomet. Chem 25 (1986) 1-44; R.S. Grev: „Structures and Bonding in the Parent Hydrides and Multiply Bonded Silicon and Germanium Compounds: from MHn to R2M=MR2 and RM=MR!, Adv. Organomet. Chem 33
• 998
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Darstellung Metastabile Disilene R 2 S i = S i R 2 mit gleich- oder ungleichartigen Organylgruppen R bzw. mit organischen und zugleich anorganischen Resten gewinnt man hauptsächlich durch Photolyse von Trisilanen (Me 3 Si) 2 SiR 2 bzw. Cyclotrisilanen (SiR 2 ) 3 in Lösung, darüber hinaus durch Dehalogenierung von Dihalogensilanen R 2 SiHal 2 bzw. Dihalogendisilanen R 2 HalSi—SiHalR 2 u. a. mit Alkalimetallen M, Naphthaleniden MC 10 H 8 , Kaliumgraphit KC 8 oder Supersilylnatrium NaSkBu 3 in Tetrahydrofuran: Me3 Si. 2
+4M ..„, , - 4MHal
h > - 2 Si2Me6
^SiR2 Me3 S r
Si =
Si
R2
2
3
2R22 SiHal22
Si
R2 Si
+2M - .. ... , - 2MHal
/ \
SiR2
R22 HalSi-SiHalR22
(R u.a. «Bu, CH(SiMe 3 ) 2 , 2,4,6-RjC 6 H 2 (R' = Me, E t iPr, CH(SiMe 3 ) 2 ), SiMe3, SiMe;Pr,. Si;Pr3; Disilene R R ' S i = S i R ' R liegen sowohl E- wie Z-konfiguriert vor, R/R' = Ph/SiiBu3, Mes/N(SiMe3)2, (?Bu3Si)2MeSi/Cl. Als weitere, durch Enthalogenierungen oder spezielle Methoden erzeugte83, isolierbare ungesättigte Silane seien das Tetrasilabutadien (a) (R = 2,4,6-;Pr 3 C 6 H 2 ), das Trisilaallen (b) (R = —C(SiMe 3 ) 2 CH 2 CH 2 C(SiMe 3 ) 2 —), die Cyclotrisilene (c) (R u. a. SiMe 2 iBu, SiMeiBu 2 ), das Spiropentasiladien (d) (R = SiMe 2 iBu), die Cyclotetrasilene (e) (R/X u. a. SiMe2iBu/SiMe2iBu; SkBu3/I), die Cyclotetrasilendiide (e') (R = SkBu 3 , SiMeiBu 2 ; gefalteter 6re-Aromat, vgl. S.1210) und das Disilenid [ T i p S i = S i T i p ] ~ (Tip = 2,4,6-;Pr 3 C 6 H 2 ; man kennt auch [TipSi—SiTip = SiTip]"), ferner der aus (c) durch Reaktion mit Ph 3 C + gewinnbare 2re-Aromat Si3R3+ (R = SkBu 3 (2x), SiMeiBu 2 (1x); vgl. Formel (h), S. 1039) erwähnt.78 Nichtaromatisches ungeladenes Tetrasilabutadien Si 4 R 4 (e'; ^-Elektronen) ist bisher nur in komplexgebundener Form [f/4-Si4R4Fe(CO)3] (R = SiMeiBu 2 ) zugänglich. R
R
, S i — Si
// R 2Si
^ SiR ,
R , Si
R S i ^ = SiR
R2
V
Si
Si SiR ,
braunrot
grün
(a) Si4R 6
(b) Si 3 R 4
X RSi-
X -SiR
R S i ^ = r SiR
R S i ^ = SiR
R S i ^ ^ SiR
1(63)1
/ \ R S i ^ = SiR
/ \ R S i ^ = SiR
dunkelrot
dunkelrot (spiro)
rot
dunkelgrün
(c) Si 3 R 4
(d) Si 5 R4
(e) R4Si4X 2
(e') [Si4R4]-
Entsprechend den Disilenen lassen sich metastabile Disiline R S i = S i R erzeugen: R**
„C1 Si=Si
CT
V R**
R*2*Si2Cl 2 (gewinnbar aus R**SiBr 2 Cl und NaR* in THF)
+2NaC10H8 - 2NaCl
"
R
Si =
Si—R
R = R * * + C2H4
H4KCR - 4KBr, -Graphit
R'Br 2 Si-SiBr 2 R'
T R * * — S i = S i — R** (f) R**Si 2 (C 2 H 4 )
H2 C
R * * = R* 2 MeSi; R* = Si?Bu 3 R' = Dsi 2 i PrSi; Dsi = CH(SiMe 3 ) 2
CH2
Strukturen Bezüglich der Strukturen und Bindungsverhältnisse der blassgelben bis roten, oxidationsempfindlichen Disilene sowie Disiline vgl. S. 934. Die SiSi-Abstände betragen im Falle der Tetraorganyldisilene in der Regel 2.14-2.16Ä, im Falle der Tetrasilyldisilene 2.20-2.25Ä, im Falle von (a) 2.17Ä (dSi_Si = 2.32Ä, * SiSiSi = 135°, * SiSiSiSi = 51°), von (b) 2.18Ä SiSiSi = 137°) von (c) 2.14Ä (dSi_Si = 2.36Ä, > SiSiSi ca. 60°), von (d) 2.19Ä zwischen den Ringebenen 78°) und von (e)/(e') 2.17/
(1991) 12^—170; T. Tsumuraya, S.A. Batcheller, S. Masamune: „ Verbindungen mit SiSi-, GeGe- und SnSn-Doppelbindungen sowie gespannte Ringsysteme mit Si-, Ge- und Sn-Gerüsten", Angew. Chem 103 (1991) 916-944; Int. Ed. 30 (1991) 902; N. Wiberg: ,, Unsaturated Compounds of Silicon and Group Homologues. Unsaturated Silicon and Germanium Compounds of the Types R2E= C(SiR3)2 and R2E=N(SiR3) (E= Si, Ge)", J. Organomet. Chem 273 (1984) 141-177; M. Drieß: „Mehrfachbindungen zwischen schweren Hauptgruppenelementen", Chemie in unserer Zeit 27 (1993) 141-148; ,,Some Aspects of the Chemistry of Silylidenphosphoranes and -arsanesCoord. Chem. Rev 145 (1995) 1-26; J. Escudie, C. Couret, H.Ranaivonjatovo: ,,Silenes, germenes and stannenes: The French Contribution", Coord. Chem. Rev 178-180 (1998) 565-592; P. Jutzi: „ Stabile Systeme mit Dreifachbindung zu Silicium oder seiner Homologen: eine weitere Herausforderung", Angew. Chem 112 (2000) 3953-3957; Int. E d 39 (2000) 3797; L.E. Gusel'nikov: ,,Hetero-n-systems from [2 + 2] Cycloreversions: Gusel'nikov-Flowers route to silenes and origination of the chemistry of doubly bonded silicon", Coord. Chem. Rev 244 (2003) 149-240; P.P. Power:, Silicon, germanium, tin and lead analogues of acetylenesChem. Commun. (2003) 2091-2101.
2. Das Silicium
999«
2.26 Ä (nicht planare Si 4 -Ringe). Klassische Strukturen mit planarem, nicht verdrilltem G e r ü s O S i = S i C weisen nur wenige Disilene auf (trans-RR'Si=SiR'R mit R/R' = 2,4,6-;'-Pr3C6H2/iBu, ;Pr3Si/;'Pr3Si, iBu3Si/Ph, (iBu3Si)2MeSi/Cl). Meist beobachtet man nichtklassischen Bau mit trans-abgewinkelten SiR 2 Gruppen (Faltungswinkel ip im Bereich bis 20°) und/oder Verdrillungen der SiR 2 -Gruppen (Torsionswinkel T im Bereich bis 20°). Auch die bisher bekannten Disiline R S i = S i R sind nichtklassisch mit transabgewinkeltem, planar-zentralem Gerüst strukturiert (gelbes Si 2 RJ* bzw. grünes Si 2 R 2 : dSiSi) * S i S i S i = 2.07 Ä/148° (ber.) bzw. 2.06 A/137.4°). Eigenschaften Die Reaktionen der Disilene R 2 S i = S i R 2 (eingehender studiert iBu 2 Si=SkBu 2 , [(Me 3 Si) 2 CH] 2 Si=Si[CH(SiMe 3 ) 2 ] 2 , Mes 2 Si=SiMes 2 , (Bu 3 Si)PhSi=SiPh(SkBu 3 )) gleichen denen der Silene R 2 S i = C R 2 (vgl. Reaktionsschema, dort), und betreffen im Wesentlichen XY-Additionen (z. B. X Y = HÖH, HÖR, HNR 2 , LiR, Hal 2 ) und Cycloaddition des Typs [2 + 1 ] (z. B. Reaktionen mit Chalkogenen), [2 + 2] (z. B. Reaktionen mit Ketonen, Ketiminen), [2 + 3] (z. B. Reaktionen mit N 2 Ö, R'N 3 ) und [2 + 4] (z. B. Reaktionen mit organischen Dienen). Die Einwirkung von Sauerstoff 3 0 2 führt auf dem Wege über (g) und (h) zu cyclischen Dioxiden (i), von weißem Pohsphor P 4 zu Bicyclen (k) und von gelbem Arsen As4 zu Bicyclen (k) und Tricyclen (l): O
O
O
R 2 Si
O
(As) P :
P (As)
R, S i — A s ,
,SiR, As—As^
R 2 Si
SiR2
(g) R4S12O
R 2 Si
SiR2
(h) R4S12O2
O
SiR2
Mes 2 Si^
(i) R 4 S i 2 0 2
~"SiMes2
R2Si—As'
(k) Mes 4 Si 2 E 2
"~SiR2
(l) R 8 Si 4 As 4 (R = Mes)
Erwähnenswert ist des weiteren die zum Bicyclus (m) führende Photolyse von (e) (thermische Rückreaktion im Dunkeln), sowie die zum Kation (n) führende Demethylierung von (c) mit Et 3 Si + (->Et 3 SiMe); das Kation lässt sich weiter zum isolierbaren (!) Radikal (o) und ferner zum Anion (p) reduzieren. t BU2 R
2
S
^
S
iR
R
2
^ ^ RSi=SiR
(R = SiMe21 Bu) (e) Si 4 R 6
2Si
SiR 2
\ " " - < /
t BU2 +e_
RS 1 (
+
' SiR
^ ^
/
S
tBU2
\
R S ^ • ;SiR
RSi—SiR
/ RSk
S
-
\ ;SiR V
(rotbraun)
R (gelb)
R (purpurfarben)
R (grün)
(m) Si4R 6
(n) [Si4R 5 ] +
(o) Si4R5
(p) [Si4R 5 ]"
Entsprechend der Disilene liefern auch Disiline Additions- und Cycloadditionsprodukte. Abweichend von den Disilenen bildet R * * S i = S i R * * mit Ethylen C H 2 = C H 2 ein [2 + 2]-Cycloaddukt (f). Diese nach den Orbitalsymmetrieregeln von Woodward und Hoffmann (S. 402) verbotene - Reaktion dokumentiert die hohe Reaktivität der Disiline. Ähnlich wie Alkene (S. 1838) und Silene (s. unten) bilden Disilene mit geeigneten Komplexfragmenten M L Disilen-n-Metallkomplexe, z. B. P2Pt(7i-Si2Ph4) mit P2 = Ph 2 PCH 2 CH 2 PPh 2 oder (CO)4Fe(7i-Si2Cl2(SiMe«Bu2)2). Offensichtlich existieren auch Disilan-a-Metallkomplexe. So koordiniert die SiSi-(7-Bindung des Azadisilirans Si 2 Me 4 (NR) mit dreigliederigem Si2NRing an Nb im Komplex Cp 2 HNb(Si 2 Me 4 NR). Silene R 2 Si=CR 2 und Siline R S i = C R ' . Ähnlich wie Disilen H 2 Si=SiH 2 wird auch Silen (Silaethen, Methylensilan) H 2 S i = C H 2 erst nach Substitution der H-Atome durch raumerfüllende Reste polymerisationsstabil. Mit (Me 3 Si) 2 Si=C«Bu(OSiMe 3 ) konnte im Jahre 1979 erstmals ein relativ stabiles Silaethen R 2 S i = C R 2 synthetisiert werden 78 , nachdem zuvor bereits viele Verbindungsbeispiele als Zwischenprodukte erzeugt und eigenschaftsmäßig untersucht worden waren (erster Hinweis auf die intermediäre Existenz eines Silaethens, Me 2 Si=CH 2 , L.E. Gusel'nikov 1967). Inzwischen ließen sich noch einige weitere Silaethene (z. B. Me 2 Si=C(SiMe 3 )(SiMe«Bu 2 ), (Me 3 Si) 2 Si=(2-Adamantylen), darüber hinaus Silaallene R 2 S i = C = C R 2 , Silafulvene und Silaaromaten gewinnen78. Die Stabilisierung von Silin (Silaethin, Methylinsilan) H S i = C H durch Austausch der H-Atome gegen sterisch anspruchsvolle Reste dürfte schwieriger sein als die von Silen H 2 S i = C H 2 . Nach ab initio Studien wandeln sich nämlich Siline R S i = C R ' leicht in Methylensilylene : S i = C R R ' um (z. B. HSiCH SiCH 2 : AH = — 138, £ a = 25 kJ/mol). Elektronegative, siliciumgebundene Reste R wie F, Cl, O R " erniedrigen jedoch die Umlagerungstendenz R S i = S i R ' : S i = C R R ' sowohl in thermodynamischer als auch in kinetischer Sicht. Ein erster schlüssiger Hinweis auf die Existenz von Silinen, H a l S i = C H (Hal = F, Cl), erbrachte die Neutralisations-Reionisations-Massenspektrometrie (S. 68), wobei das zu neutralisierende Kation H a l S i = C H + durch Elektronenstoß gemäß Hal 2 Si(—CH 2 CH 2 CH 2 —) + e " C 2 H 4 + HHal + H a l S i = C H + + 2e~ erzeugt wurde. Hiernach könnten Verbindungen R " 0 — S i = C — R ' mit sterisch überladenen Resten R " und R' isolierbar werden.
• 1000
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Darstellung Silene R 2 S i = C R 2 können wie Phosphaalkene R P = C R 2 (S. 819) in einfacher Weise auf dem Wege (1) gewonnen werden (Nutzung der Oxophilie des Siliciums; erstmalige Synthese eines Silaethens7 8), des weiteren durch MX-Eliminierungen (X z. B. OSiMe 3 (2), Hal (3)): Me 3 Si + Cl — C
-MCI
Me 3 Si
+ o=c;
R
Me 3 Si
,R'
3
/ Hal
Hal^
Hal
R 2 Si
CR;J + MR''
- R"Hal
V
/
V
(1) R'
(2)
- MOSiMe3 Si =
^M
R—Si — C — R '
-OSiM e 3
R 2 SiCR' (OSiMe 3 )
.OM
R—Si — C — R '
s i = er
R
R
3
R—SiM
1U
.O
R—Si—Cef' / ^ r
A
c ^
R-""
R' (3)
R 2 SiCR 2
- MHal
Auch durch thermische und photochemische Cycloreversionen (z. B. R 2 Si(— CH 2 CH 2 CH 2 —) R2Si=CH2 + CH2=CH2) bzw. 1,3-Silylwanderungen (z. B. R 3 Si—R 2 Si—CR'=CC R 2 Si=CR'—C(SiR 3 )Cj vgl. auch (2)) sind Silaethene zugänglich. Strukturen Nach bisherigen Untersuchungen weisen Silene R 2 S i = C R ein planares ^Si=CC-Gerüst mit SiC-Abständen im Bereich 1.70-1.76 Ä auf, wobei raumerfüllende Reste an den Doppelbindungsatomen gegebenenfalls eine geringfügige Verdrillung um die SiC-Achse verursachen. Die Strukturen der Silene gleichen damit denen der Ethene und nicht denen der Disilene, die in der Regel trans-abgewinkelt gebaut sind (S. 934). Analoges gilt offenbar nicht für Siline R S i = C R ' , welche - laut Berechnungen nicht die lineare Struktur der Ethine, sondern den gewinkelten Bau der Disiline (S.934) aufweisen. Eigenschaften Silene R 2 S i = S i R 2 stabilisieren sich, falls die Reste R und R' nicht zu voluminös sind, durch Dimerisierung (Bildung von 1,3-Disilacyclobutanen, in Ausnahmefällen auch von 1,2-Disilacyclobutanen). Als wichtige Reaktionen der Silene seien genannt (vgl. Reaktionsschema): Additionen von Basen Insertionen in Einfachbindungen En-Reaktionen mit Alkenen, [2 + 1]-, [2 + 2]-, [2 + 3]- und Cycloadditionen an das -System ungesättigter Verbindungen (dimerisierungslabile Silaethene lassen sich auf diese Weise ,,abfangen"). Insbesondere - die zur kinetischen Stabilisierung der Silene führende - Basenaddition erfolgt in der Regel reversibel, sodass Donoren wie Ether, Amine, HalogenidIonen hinsichtlich der Silene als „Speicher" wirken. Mit geeigneten Komplexfragmenten bilden - selbst labile - Silene darüber hinaus isolierbare Silen-rn-Metallkomplexe (vgl. Schema). Ein Beispiel bietet die Verbindung Cp *(Cy 3 P)HRu(rc-Ph 2 Si=CH 2 ).
Komplexbildg. + ML.
[2 + 1]- Cycloadd.
I
\
+ R2C = N = N "
Me3 N - " - Si =
I
I
C
/ \
I
I
H
I
I
— Si — C -
H2C
/ \
Basenadd.
[2 + 2]- Cycloadd.
-Me 3 N
+ 0 = C P h2
I
— Si — C —
HO
N
/
C—
\=CR
ML.
I
I
—Si
\
H
HC=CH,
Insertion
[2 + 3]-Cycloadd. + R3 SiN=N=N'"
HCH9=CH—CH3
[2 + 4]-Cycloadd. + C H , = CH—CH=CHÖ
I
I
"
+ HO — H
En-Reaktion
I
— Si —C — O—CPh2
I
I
I
I
— Si — C — / \ R 3 SiN ,N
— Si — C —
H, C
CH, \ / HC=CH
2
2. Das Silicium
1001«
Doppelbindungen des T y p O S i = C C enthalten auch Silaaromaten. Isolierbar sind etwa das Silabenzol (q) sowie das Silanaphthalin (r) (Tbt = 2,4,6-Dsi3C6H2 mit Dsi = CH(SiMe3)2). Die aus substituierten Silolen (s) zugänglichen Silol-Anionen (t) (z.B. Me4C4SiHal(SiMe3) + M -> Me4C4Si(SiMe3)~ + MHal) enthalten pyramidale Si-Atome mit vergleichsweise geringer Ringaromatizität (vgl. isoelektronische Phosphole, S.820). Demgegenüber weisen Silol-Dianionen (u) wie Me 4 C 4 Si 2_ (Gegenionen: K(Krone) + ; gewinnbar durch Dehalogenierung von Me4C4SiCl2) aromatischen Charakter auf (CC-Bindungen anders als in (s) und (t) gleich lang). Tbt
Tbt
OSi
RX (q) RSiC 5 H 5
(r) RSiC 9 H 7
X
- R+
R
R
(s) R 2 SiC 4 H 4
(u) [ S ^ ^ f
(t) [RSiC 4 H 4 ]
Iminosilane und Nitridosilane RSi=N. Einige wichtige Darstellungswege zu Iminosilanen (Silaniminen, Silaketiminen) fasst nachfolgendes Reaktionsschema zusammen:
r
2
ClSiN
NaR' R 2 S i = C(SiMe 3 )2 R 'N
—NaCl, - N
3 (R
-MHal
= t B u ' R ' = SitBu3) - (Me 3 Si) 2 CN 2
(R = M e , R ' = S i R j )
^Si = R
¥ R S K 2S 1
N ^ R
h
_
NR' N R
N
R 2 R' N3
Die Reaktion von B ClSi mit NaS B führte erstmals zu einem isolierbaren Silanimin i B u 2 S i = N — S k B u ^ . Photolysiert man nicht Monoazide R 3 SiN 3 , sondern Diazide R2Si(N3)2 bzw. Triazide RSi(N3)3, so bilden sich gegebenenfalls Bis(imino)silane R N = S i = N R bzw. Nitridosilane R S i = N als Intermediate, die durch geeignete Reaktanden abfangbar und dadurch nachweisbar sind, z. B.: (M Si Si(N 2N M Si S NSiM 2M SiOM (M Si Si(OMe N(SiM ), PhSi(N3)3 4N 2 + PhSi=N 4N 2 + Si=NPh ( + 2«BuOH PhiBuO) 2 Si—NH 2 sowie (7BuO)2HSi—NHPh). - Strukturen iBu 2 Si=N—SkBu 3 weist ein planares C2SiNSi-Gerüst mit fast linearer SiNSi-Gruppierung auf (dSi=N = 1.568 Ä, > SiNSi 177.8°; analog gebaut ist iBu 2 Si=N—Si^h^u 2 ). - Eigenschaften Die Reaktionen der Silanimine R 2 S i = N R ' gleichen jenen der Silene R 2 S i = C R 2 (vgl. Reaktionsschema, oben) und betreffen im Wesentlichen XY-Additionen sowie Cycloadditionen. Auch existieren Komplexe der Silanimine Sonstige ungesättigte Silane Analog Silenen R 2 S i = C R 2 und Disilenen R 2 Si=SiR 2 ließ sich mit Mes 2 Si=GeMes 2 auch ein Silgermen R s y n t h e t i s i e r e n und isolieren (gewinnbar durch Photolyse des Disilagermirans Si2GeMes6) sowie ein Silstannen (iBu 2 MeSi) 2 Si=SnTip 2 (gewinnbar aus (®u 2 MeSi)2SiLi2 und TipSnCl 2 mit Tip = 2,4,6-iP^H 2 ). Als isolierbare Homologen der Iminosilane R 2 S i = N R ' sei das Phosphimino- sowie Arsiminosilan (TipiBuSi=ESi;'Pr 3 genannt (E = P, As; Tip = 2,4,6-;'PrC6H2; Gewinnung durch LiF-Eliminierung dSi=P/Si=As = 2.062/2.164 Ä; * SiPSi/SiAsSi = 112.8/110.9°; trigonal-planare Koordination des ungesättigten Si-Atoms). Erstaunlicherweise entsteht Z- und E-RR S PH (R = SkBu 3 , R' = Tip = 2,4,6-;Pr3C6H2) als,,halber" Phosphimino-Stammkörper H 2 Si=PH durch Einwirkung von LiBu auf R R ' S i F — P H in Hexan in Form gelbgrüner, in siedendem Toluol thermostabiler Kristalle (planares Gerüst 86 .
84
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85 Geschichtliches Entdeckt wurde Germanium im Jahre 1886 von dem deutschen Chemiker Clemens Winkler (1838-1904). Diesem war bei der Analyse eines bei Freiberg in Sachsen aufgefundenen silberreichen Minerals (Argyrodit) aufgefallen, dass die Summe der darin gefundenen Bestandteile stets einen Fehlbetrag von 7 % ergab, ohne dass sich bei planmäßiger Suche ein noch in Frage kommendes Element nachweisen ließ. Die eingehende Nachprüfung dieses Ergebnisses führte dann zu der Erkenntnis, dass das Mineral ein bis dahin noch unbekanntes Element enthält, dem Winkler wegen der Entdeckung in Deutschland den Namen Germanium gab (auf ähnliche Weise wie Ge wurde das Element Li durch J.A. Arfredson 1817 entdeckt, vgl. S. 1259). Elementares Germanium wurde im gleichen Jahr durch Reduktion des aus Argyrodit erhältlichen Sulfids mit Wasserstoff gewonnen. - Zinn ist in Form von Bronze (Cu/Sn-Legierung) seit ca. 3500 v. Chr. bekannt (Waffen- und Werkzeugfunde in Mesopotamien). Kupferfreies Zinn wurde offenbar in China und Japan bereits um 1800 v. Chr. gewonnen (Funde von Zinngegenständen). Der Name Zinn bzw. tin (engl.) geht auf die alten Bezeichnungen ,,Zin" (althochdeutsch) bzw. ,,tin" (altnordisch), das Symbol Sn (eingeführt von J . J . Berzelius) auf die lateinische Bezeichnung „stannum" für das Metall zurück - Elementares Blei war bereits den ältesten Kulturvölkern (z. B. in Ägypten, Vorderasien, Spanien, Mitteleuropa) um 3000 v. Chr. als Grundstoff für Gebrauchsgegenstände bekannt. Entsprechend alt ist die Kunde von Bleivergiftungen6. Der deutsche Name Blei (engl.: lead; franz.: plomb; ital.: piombo) leitet sich ab von bhlei (indogerm.) = schimmern, leuchten, glänzen, das Symbol Pb von der lateinischen Bezeichnung plumbum für das Metall. 86 Physiologisches. Germanium, ein nicht essentielles Element, ist wie Silicium ungiftig. Man findet es in manchen Pflanzen angereichert vor. - Zinn, ein für den Menschen essentielles Element, ist in pflanzlichen und tierischen Geweben weit verbreitet (Mensch: ca. 2 mg/kg). Ein Mangel kann Appetitlosigkeit, Haarausfall und Akne hervorrufen. Selbst größere Mengen an Zinnsalzen (MAK-Wert = 2 mg Sn pro m3) führen aber nur vorübergehend zu Verdauungsstörungen, weshalb man Zinngeschirr (Teller, Becher, Krüge) bedenkenlos verwenden kann (für Völker, die wie einige Indianerstämme nie mit Zinngeschirr in Berührung kamen, wirkt Zinn vergleichsweise giftig). Höhere Giftigkeit kommt dem Zinnwassersto sowie organischen Zinnverbindungen zu Sowohl elementares wie gebundenes Blei wirken für Organismen giftig (MAK-Wert: 0.1 mg pro m3; menschliches Gewebe enthält ca. 0.5mg pro kg), indem es u. a. die Synthese des Hämoglobins, des Chlorophylls, einer Reihe von Enzymen oder Proteinen hemmt. Wegen der geringen Bleiresorption treten akute Bleivergiftungen beim Menschen allerdings nur bei Aufnahme sehr hoher Bleidosen auf (Folge: Erbrechen, Koliken, Kollaps, Tod). Chronische Bleiexpositionen (Pb 2 ^Ablagerung in Knochen, Zähnen, Haaren) führen zur „Bleikrankheit" (Folge: Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Koliken, Hautblässe, Anämie, Muskelschwäche, Nierenentzündung, Ablagerung von PbS als „Bleisaum" am Zahnfleischrand). Eine längere Berührung des Menschen mit Blei oder dessen Verbindungen (Verwendung von Bleigeschirr, -farben, -glasuren; Einsatz von Bleitetraethyl im Benzin) ist daher tunlichst zu vermeiden (vielfach wird der Untergang der Römer, die Blei u.a. für Küchengeräte und Wasserrohrleitungen nutzten und bis zu 60000 Tonnen Blei pro Jahr produzierten, auf chronische Vergiftungen durch Blei zurückgeführt).
3. Das Germanium, Zinn und Blei
3.1.1
1003
Vorkommen
In der Natur kommt Germanium hauptsächlich in Form von Sulfiden (Thiogermanaten) in Gestalt seltener Mineralien wie ,,Argyrodit" Ag8GeS6 ( = ,,4Ag2S • GeS 2 ") und ,,Germanit" Cu6FeGe2S8 ( = ,,3Cu2S • FeS • 2GeS 2 ") vor. - Das schon im Altertum genutzte Zinn findet sich gediegen nur selten, gebunden häufig in Form von Oxiden und Sulfiden. Das wichtigste Zinnerz ist der ,,Zinnstein" Sn0 2 („Kassiterit"; von griech. Kassiteros = Zinn). Die Hauptfundstätten liegen auf der malaiischen Halbinsel (Kuantan), in Indonesien (Malaka, Inseln Bangka und Belitung), auf dem Hochplateau von Bolivien sowie in Russland, Thailand, China. Weiterhin kommt das Zinn noch als „Zinnkies" („Stannin") Cu 2 FeSnS 4 (= ,,Cu2S • FeS • SnS 2 ") vor.-Wie Zinn findet sich auch Blei selten gediegen. Gebunden kommt es ausschließlich in Form von Blei(II)-Verbindungen (Sulfide, Salze) vor. Das wichtigste und meistverbreitete Bleierz ist der ,,Bleiglanz" („Galenit") PbS, welcher graphitfarbene, metallisch glänzende, meist würfelförmige Kristalle bildet. Seltener ist das Vorkommen als,, Weißbleierz" („Cerussit") PbCO 3 ,,,Rotbleierz" („Krokoit") PbCrO4, ,,Gelbbleierz" („Wulfenit") PbMoO 4 , ,,.Scheelbleierz" („Stolzit") PbWO4, „Anglesit" („Bleivitriol") PbSO4 und „Boulangerit" PbjSfyS^ ( = ,,5PbS • 2Sb 2 S 3 "). Isotope (vgl. Anhang III). Natürliches Germanium 32Ge besteht aus den 4 Isotopen mit den Massenzahlen (in Klammern: Häufigkeit) 70 (20.5%), 72 (27.4%), 73 (7.8%), 74 (36.5%), natürliches Zinn 50Sn aus den 10 Isotopen mit den Massenzahlen 112 (1%), 114 (0.7%), 115 (0.4%), 116 (14.7%), 117 (7.7%), 118(24.3%), 119(8.6%), 120 (32.4%), 122 (4.6%), 124(5.6%), natürliches Blei 82Pb aus den 4 Isotopen mit den Massenzahlen 204 (1.4%), 206 (24.1 %), 207 (22.1 %), 208 (52.4%). Für NMR-spektroskopische Untersuchungen nutzt man die künstlich erzeugten Nuklide 73Ge, 115,117,119Sn, 207Pb, für Tracerexperimente die künstlich erzeugten Nuklide 76Ge (Elektroneneinfang T1/2 = 287 Tage), 71Ge (Elektroneneinfang; t = 11.4 Tage), 77Ge (ß"-Strahler f1/2 = 11.3 Sekunden), 113Sn (Elektroneneinfang T1/2 = 115 Tage), Sn (ß^-Strahler T1/2 = 27.5 Stunden), 210Pb (ß "-Strahler; z1/2 = 20.4 Jahre).
3.1.2
Darstellung
Zur Darstellung von Germanium dienen insbesondere die GeO 2 -haltigen Rauchgase der Zinkerzaufbereitung (s. dort). Zur Anreicherung von G e 0 2 löst man aus dem Flugstaub mit Schwefelsäure zunächst G e 0 2 zusammen mit ZnO heraus und fällt dann aus der H 2 SO 4 -Lösung durch Zugabe von Natronlauge bei pH = 5 ein Gemisch der Oxide G e 0 2 und ZnO (GeAnreicherung von 2 auf 10 %). Zur Abtrennung von G e 0 2 führt man GeC)2/ZnO mit Salzsäure in ein Gemisch der Chloride GeCl 4 und ZnCl 2 über, destilliert das flüchtige Tetrachlorid GeCl 4 ab (Sdp. 83.1 °C; ZnCl 2 siedet bei 756 °C), reinigt GeCl 4 durch wiederholte Destillation und hydrolysiert es schließlich zum Dioxid GeO 2 , das sich mit Wasserstoff leicht zum Germanium reduzieren lässt. Die Hochreinigung von Ge kann durch das Zonenschmelzverfahren (S. 920) erfolgen. Zur Darstellung des Zinns aus dem Zinnstein wird dieser durch Rösten von Verunreinigungen wie Schwefel und Arsen befreit und dann durch Erhitzen mit Koks in Schacht- oder Flammöfen reduziert 360 kJ + S n 0 2 + 2C
Sn + 2 C O .
Das so gewonnene Rohzinn ist in der Hauptsache noch stark durch Eisen verunreinigt. Um es von diesem zu befreien, erhitzt man es unter Luftkontakt ganz wenig über seinen Schmelzpunkt. Dabei kommt nur das reine Zinn zum Schmelzen und läuft auf einer schrägen Unterlage ab (,,Seigern"), während das Eisen in Form einer schwer schmelzbaren Legierung mit Zinn bzw. in Form von Eisenoxid zurückbleibt. Wichtig ist auch die Wiedergewinnung des Zinns aus Abfällen von verzinntem Eisenblech (,, Weißblech"). Sie erfolgt heute meist auf elektrolytischem Wege (elektrolytische Auflösung der Weißblechabfälle und elektrolytische Wiederabscheidung des Zinns). Für die technische Darstellung von Blei dient fast ausschließlich der Bleiglanz als Ausgangsmaterial. Die Verarbeitung des Bleiglanzes erfolgt dabei in der Hauptsache nach dem so genannten,,Röstreduktionsverfahren". Daneben ist auch das „Röstreaktionsverfahren" in Anwendung
• 1004
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Beim Röstreduktionsverfahren wird das Bleisulfid durch Rösten möglichst vollständig in Bleioxid P b O übergeführt, indem man bei Rotglut Luft hindurchbläst oder -saugt, wobei das einmal entzündete P b S von selbst weiterbrennt. Das so durch ,, Verblaserösten" erhaltene PbO wird im Schachtofen (Hochofen) mit K o k s bzw. dem durch Verbrennung daraus entstehenden Kohlenoxid zu B l e i reduziert: PbS + § 0 2
->• P b O + S O
PbO + C O - > P b + C O 2
(,,Röstarbeit"), (,,Reduktionsarbeit").
Beim Röstreaktionsverfahren wird der Bleiglanz unvollständig in der Weise geröstet, dass nur zwei Drittel des Sulfids in Oxid (bzw. Sulfat) übergehen, der Rest unverändert bleibt. Das entstehende Produkt wird dann unter Luftabschluss auf dem ,,Herd" weiter erhitzt, wobei sich Bleisulfid und Bleioxid (bzw. Bleisulfat) zu metallischem Blei umsetzen: 3 P b S + 3 O 2 -> P b S + 2 P b O + 2 S 0 2 ( , , R ö s t a r b e i t " ) , PbS + 2 P b O
3Pb + SO2
(,,Reaktionsarbeit").
Das nach einem dieser Verfahren erhaltene „Werkblei" enthält noch Verunreinigungen wie Kupfer, Silber, Gold, Zink, Arsen, Antimon, Zinn, Schwefel; und zwar enthält es in der Regel bis 1 % Silber und Gold sowie 1 - 2 % andere Metalle. Die Abtrennung dieser Verunreinigungen erfolgt durch Schmelzen unter Luftzutritt. Hierbei kommen Arsen, Antimon und Zinn als Bleiarsenat, -antimonat und -stannat an die Oberfläche und werden als ,,Antimonabstrich" abgezogen, während Kupfer mit Blei eine verhältnismäßig schwer schmelzende Legierung bildet, die sich gleichfalls abscheidet und dabei allen Schwefel aus dem Blei aufnimmt. Die Entsilberung des Werkbleis, die für die Silbergewinnung von großer Bedeutung ist, wird beim Silber besprochen (S. 1453). Auch auf elektrolytischem Wege kann Werkblei gereinigt werden Scheidet man Blei aus Salzlösungen (z. B. Nitrat- oder Acetatlösungen) elektrolytisch (Pb2 + + 2 Q -> Pb) oder durch Zink (Pb 2 + + Zn -> Pb + Zn2 + ) ab, so setzt es sich in Form einer verästelten kristallinen Masse („Bleibaum") oder auch schwammartig („Bleischwamm") ab (vgl. hierzu Überspannung).
3.1.3
Physikalische Eigenschaften und Strukturen
Germanium („a-Germanium") ist ein grauweißer, in Form von Oktaedern ausgezeichnet kristallisierender, sehr spröder Feststoff(Dichte = 5.323 g/cm3) vom Schmelzpunkt 937.4°C und Siedepunkt 2830°C. Seine Struktur entspricht der des ebenfalls kubisch kristallisierenden Diamanten (GeGe-Abstand: 2.445 Ä). Es leitet als Halbleiter wie Silicium den elektrischen Strom (Diamant/Graphit ist ein Isolator/Halbmetall, -Zinn ein Halbmetall -Zinn wie Blei ein Metall). Durch Einwirkung sehr hoher Drücke (120000 bar) ist noch eine spezifisch dichtere, elektrisch leitende tetragonale Hochdruckmodifikation des Germaniums („ß-Germanium"; Dichte = 5.88 g/cm) synthetisierbar, die beim Erwärmen in das normale kubische Germanium übergeht und die die gleiche Struktur wie das metallische /J-Zinn (s.u.) besitzt (GeGe-Abstände: 2.533 und 2.692Ä). Neben /^-Germanium kennt man als weitere, unter bestimmten Bedingungen (Druck, Temperatur) erhältliche, metastabile Modifikationen „y"- sowie „ P b ( H C O 3 ) 2 . Gegenüber Säuren wie Schwefelsäure, Salzsäure oder Flusssäure, welche mit Blei schwerlösliche Salze (Bleisulfat, Bleichlorid, Bleifluorid) bilden, ist Blei beständig, da sich auf der Oberfläche sogleich ein schwerlöslicher, schützender Überzug bildet (Pb + H 2 S O 4 -> P b S O 4 + H 2 ) . Säuren, bei denen dies nicht der Fall ist, greifen Blei an; im Falle oxidierender Säuren (Salpetersäure) erfolgt dabei die Auflösung unter Bildung von Blei(II)-Salz leicht und direkt, im Falle nichtoxidierender Säuren (Essigsäure) bei Zutritt von Luftsauerstoff. In heißen Laugen löst sich Blei unter Bildung von Plumbiten.
3.1.5
Verwendung, Legierungen
Eine breite Anwendung findet Germanium (Weltjahresproduktion: Hundert Kilotonnenmaßstab) in der Transistortechnologie sowie für optische Geräte (Fenster, Prismen, Linsen; Ge ist für infrarotes Licht durchlässig). Darüber hinaus nutzt man es u. a. für Speziallegierungen, Supraleiter, Dehnungsmessstreifen und in Form von Magnesiumgermanat als Leuchtstoff. Wegen seiner Beständigkeit an feuchter Luft und gegen schwache Säuren sowie Alkalilaugen wird Zinn (Weltjahresproduktion: 200 Kilotonnenmaßstab) als Material für Teller, Kannen und Becher sowie zum Überziehen anderer Metalle verwendet, die in dieser Hinsicht weniger beständig sind. So wird vor allem Eisenblech verzinnt, um es vor dem Rosten zu schützen (vgl. S. 1644); es heißt dann „Weißblech". Die Verzinnung wird einfach in der Weise ausgeführt, dass man das mit verdünnter Schwefelsäure gereinigte Eisenblech in geschmolzenes Zinn eintaucht Während reines Zinn heute nur noch wenig benutzt wird, sind Zinnlegierungen vielfach in Gebrauch. Wichtige Zinnlegierungen sind z.B. die Bronzen, das Britanniametall, das Weichlot und zahlreiche Lagermetalle. Lagermetalle („Babbitt-Metalle", benannt nach dem Metallurgen I. Babbitt) sind Legierungen, aus denen die Achsenlager für Maschinenwellen usw. hergestellt werden. Ihr Hauptbestandteil kann Zinn oder Kupfer oder Blei sein. Die Zinn- oder Weißguss-Lagermetalle (über die Blei- und KupferLagermetalle s.u. bzw. S.1438) enthalten 5 0 - 9 0 % Zinn, 7 - 2 0 % Antimon und meist einige Prozente Kupfer. Das Weichlot oder Schnelllot besteht aus 4 0 - 7 0 % Zinn und 6 0 - 3 0 % Blei. Man benutzt es wegen seiner leichten Schmelzbarkeit (den niedrigsten Schmelzpunkt von 181 °C besitzt eine Legierung von 6 4 % Sn und 3 6 % Pb) zum Löten, d.h. zum metallischen Verbinden von Metallteilen (zur besseren Schmelzbarkeit wird dem Lot gegebenenfalls Cd, Ga, In oder Bi zugesetzt). Zum Löten von Gefäßen wie Konservendosen, die zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln dienen, dürfen wegen der Gesundheitsschädlichkeit des Bleis nur Lote mit höchstens 1 0 % Blei verwendet werden. Unter Britanniametall versteht man Legierungen von 8 8 - 9 0 % Zinn, 1 0 - 8 % Antimon und 2 % Kupfer. Sie dienen zur Herstellung von Gebrauchsgegenständen wie z. B. Tischgeschirr, aber auch als Metall für Orgelpfeifen. Die Bronzen sind Kupfer-Zinn-Legierungen und werden beim Kupfer besprochen (S. 1438). Für supraleitende Magneten verwendet man die Legierung Nb 3 Sn. Die Verwendung von Blei (Weltjahresproduktion: 10 Megatonnenmaßstab) beruht insbesondere auf seiner beachtlichen Korrosionsbeständigkeit gegenüber Mineralsäuren, Atmosphärilien und Salzen. Von Bedeutung für seine Anwendung sind darüber hinaus seine leichte Verformbarkeit, sein niedriger Schmelzpunkt, seine hohe Dichte und seine geringe Härte. So dient es z.B. zur Herstellung von Behältern und Röhren für aggressive Flüssigkeiten, als Akkumulatorenmaterial, als Kabelummantelung, als Heizbad-
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1007
Flüssigkeit, als Verbundmaterial für Metalle, zur Herstellung von Flintenschrot. Im Strahlenschutz wird es zur Absorption von Röntgen- und Gammastrahlen eingesetzt. Wichtig ist das Blei ferner als Elektrode in Bleiakkumulatoren sowie als Ausgangsstoff einer Reihe von Bleiverbindungen (z.B. Bleitetraethyl, Bleilegierungen). Unter den wichtigeren Bleilegierungen seien erwähnt das Letternmetall und die Blei-Lagermetalle. Das Letternmetall (Schriftmetall) enthält gewöhnlich 7 0 - 9 0 % Blei, daneben Antimon und meist auch etwas Zinn. Die Blei-Lagermetalle enthalten gewöhnlich 60-80 % Blei und als härtenden Bestandteil Antimon (bzw. Antimon und Zinn) oder geringe Mengen Alkali- oder Erdalkalimetall. So besteht z.B. das bei der Bundesbahn für Achsenlager allgemein verwendete ,,Bahnmetall" aus Blei mit einem Zusatz von etwa 0 . 7 % Calcium, 0 . 6 % Natrium und 0.04% Lithium. Zum Unterschied von dem als ,, Weichblei" bezeichneten reinen Blei nennt man das durch Antimonzusatz gehärtete Blei auch „Hartblei".
3.1.6
Allotrope und ionogene Formen von Germanium, Zinn, Blei
Überblick Allotrope. Gemäß dem auf S. 1004 Besprochenen bilden Germanium, Zinn und Blei verschiedene hochmolekulare, polymorphe Modifikationen, die sich in der Anordnung ihrer Atombestandteile im Raum unterscheiden Niedermolekulare allotrope Modifikationen dieser Tetrele sind unbekannt (vgl. hierzu die Periodennachbarn As, Sb, Bi, S. 828; in der Gasphase existieren niedermolekulare Tetrelspezies). Denkbar wäre es allerdings, dass - in Analogie zur Bildung von negativ-geladenen (,,nulldimensionalen") Ge9Dimeren (e) und eindimensionalen Ge9-Polymeren (f) durch Oxidation von Ge9~ - eine Weiteroxidation der Ketten (f) zu einem neutralen zweidimensionalem Ge9-Polymeren (g) führt (s. u.), das wie entsprechende Si9-, Sn9-, Pb9-Polymere als polyallotrope Modifikation klassifiziert werden könnte. Möglich erscheinen auch die Synthese eines neutralen dreidimensionalen E4-Polymers, in welchem E4-Tetraeder die Atompositionen des Diamantgitters einnehmen. Bzgl. komplexgebundenen E-Atomen und E2-Molekülen vgl. S. 1008. Kationen Wie von Silicium sind auch von Germanium bisher keine Verbindungen mit kationischem Element bekannt (von Kohlenstoff existieren Graphitsalze der Zusammensetzung C^X", vgl. S.880). Kationen Ge,f entstehen jedoch aus Germaniumdampf in der Ionenquelle eines Massenspektrometers. Als Folge des sich in Richtung Si -> Pb verstärkenden metallischen Charakters der Elemente bilden sich offensichtlich von Zinn und Blei niedrigwertige Kationen Sn™+ bzw. Pb™+ noch unbekannter Clustergröße durch Reduktion von Zinn bzw. Bleidichlorid mit Zinn bzw. Blei in geschmolzenem SnCl2 bzw. PbCl2 oder NaAlCl4. Bezüglich kationischen Zinns und Bleis in wässriger Lösung vgl. S. 1020, 1024. Anionen. In anionischer (richtiger anionisch polarisierter) Form existieren Germanium, Zinn und Blei (E) in den als Zintl-Phasen (S. 925) zu klassifizierenden aus den Elementen gewinnbaren Metallgermaniden, -stanniden und -plumbiden MmE„ (M insbesondere Alkali- und Erdalkalimetall).
Germanide, Stannide, Plumbide 84 Die Alkali- und Erdalkalimetallgermanide, -stannide und -plumbide enthalten wie entsprechende Silicide (vgl. Fig. 205a-i auf S. 926) Inseln E 4 " (z. B. in Mg2E, Ca2E, Sr2E, Ba 2 E), Hanteln (z. B. in BaMg 2 Ge 2 sowie in Sr5Sn3, Ba5Sn3, Ba5Pb3 neben Sn 4 - bzw. Pb 4 - ), Zick-Zack-Ketten [ E 2 - ] x (z. B. in CaGe, SrGe, CaSn, SrSn, BaE), gewellte Sechsringschichten [ E - ] x (z. B. in CaGe2, SrGe2, BaGe2), Tetraeder E4~ (z. B. in NaE, KE, RbE, CsE, SrGe2, BaGe2), Bicyclen E j " (z. B. in Ba3Ge4), sechs- undfünfgliedrige Aromaten Ej 0 _ (z. B. in Ba4Li2Ge10) und E ' _ (z. B. in Li u Ge 6 ), überkappt-quadratische Antiprismen E 9 " (z. B. in Rb 4 Ge 9 , K 4 Pb 9 , Rb 4 Pb 9 , Cs4Pb9 sowie in K 12Sn17, Rb12Sn17, Cs12Sn17 neben 2 S n 4 - bzw. 2 P b 4 - ) . Von Ba5Ge4 (s. o.) kennt man eine a- und - oberhalb ca. 360°C - eine ß-Phase, wobei nur letztere analog Ba3Si4 gebaut ist (vgl. S. 926), wogegen in ersterer die Hälfte aller Ge 4 - -Bicyclen zu Strängen miteinander verknüpfter G -Monocyclen polymerisiert vorliegt
Durch Reduktion von Germanium, Zinn oder Blei (E) mit Alkalimetallen in flüssigem Ammoniak (Sdp. - 33.4°C) bzw. mit K, Rb, Cs in 18-Krone-6(—CH2CH20—)6 bei 40°C oder durch Extraktion erstarrter Na/E bzw. K/E-Schmelzen geeigneter Zusammensetzung (z. B. NaSi^ 7, NaPfy 7_20) mit Ethylendiamin (en) H2NCH2CH2NH2 oder 2,2,2-Cryptand (crypt) N(CH2CH2OCH2CH2OCH2CH2)3N in Anwesenheit organischer Lösungsmittel wie Toluol (tol) entstehen Lösungen von - z. Teil isolierbaren - Salzen aus donorstabilisierten Kationen M + und farbigen, freien Zintl-Ionen E 2 sowie E , - ' 3 - ' 4 - (man kennt auch
• 1008
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Fig. 219 Germanium-, Zinn- und Bleibaueinheiten in einigen Germaniden, Stanniden und Plumbiden (in der durch Quadrate symbolisierten Ge9-Verbänden sind die übersichtlichkeitshalber nicht gezeichneten Ge5-Kappen abwechselnd ober- und unterhalb der Ge4-Fragmente lokalisisert).
E'nEgZ„ mit E'/E = Ge/Sn und Sn/Pb, n = 0-9). Die experimentell gefundenen Strukturen letzterer Clusteranionen mit Elektronenmangel sind mithilfe der ,, Wade'schen Clusterregel" Z e = „(2n + m)-Regel" ableitbar (2n + m = Clusterelektronenzahl, Ze = Gesamtaußenelektronenzahl von E™abzüglich eines Elektronenpaars für jedes der n Clusteratome; m = 2, 4, 6 bei closo-, nido-, arachno-Clusterstruktur; vgl. Anm. 31 auf S.926). E j " (m = 2) kommt etwa in rotem [Na(crypt)]2Sn5 oder rotem [Na(crypt)]2Pb5 trigonal-bipyramidaler Bau (a), also eine closo-Struktur zu, E 9 " (m = 2) bzw. E , " (m = 4) besitzen in tiefrotem [K(crypt) + ] 6 Ge 9 ~Ge 9 ~ • 2.5en, dunkelrotem [Na(crypt)]4Sn9, braunem [K(18-Krone-6] 4 Sn 9 , dunklem [K(crypt)] 4 Pb 9 oder schwarzrotem [K(18-Krone-6)] 4 Pb 9 • en • tol dreifach-überkappt-trigonal-prismatischen Bau (c), also eine closo-Struktur, bzw. überkappt-quadratisch-antiprismatischen Bau (d), also eine nido-Struktur. Ebenfalls denkbare Salze mit closo-strukturiertem, oktaedrisch gebautem Anion E j " (b) sind bisher unbekannt (s. aber unten, Komplexe). In diesem Zusammenhang seien auch die in Salzen aufgefundenen Clusteranionen TlSn8~ (dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch) und TlSn9~ (zweifachüberkappt-quadratisch-antiprismatisch) erwähnt. Die milde Oxidation von E9~ führt zu Radikalen E 9 " wie etwa rotem [K(crypt)] 3 Ge 9 • 0.5en, dunkelrotem [K(crypt)] 3 Sn 9 • 1.5en oder dunkelbraunem [K(crypt)] 3 Pb 9 • 0.5en mit Strukturen, die als verzerrte dreifach überkappte trigonale Prismen (c) oder als verzerrte überkappte quadratische Antiprismen (d) interpretierbar sind (vgl. hierzu das flukturierende Verhalten des Kations B (S. 828); auch die isoelektronischen Anionen sind nicht-starre Teilchen). Im Falle der Reduktion von Ge9~ erhält man auch Salze mit zwei-, drei- oder sehr vielen Ge9-Einheiten, wie sie etwa in dunkelrotem Cs2[K(crypt)]4Ge18 (e), in dunkelgrünem [Rb(crypt)] 6 Ge 27 und in blassgrünblauem {[K(18-Krone-6)] 2 Ge 9 • en}., (f) vorliegen. Die Oxidation von Pb9~ mit Ph3PAuCl liefert in H2NCH2CH2NH2 (en) das closo-Anion E ^ (zweifach überkappter Anticubus; Gegenion K(18-Krone-6) + ). Einige isolierte bzw. als solche noch nicht zugängliche, Lewis-basisch wirkende Zintl-Ionen E™~ ergeben mit Lewis-sauren Komplexfragmenten M L (L = geeigneter Ligand) isolierbare Germanium-, Zinn- sowie Blei-Komplexe. So existiert Pb4~ (planar) als Salzbestandteil von schwarzem, kronen- und en-haltigem K 4 [Pb 5 {Mo(CO) 3 } 2 ] (Addition von Mo(CO) 3 auf beiden Ringseiten) sowie E^" als Bestandteil von rotem Ge 6 [Cr(CO) 3 ]^ sowie tiefrotem Sn6[Cr(CO)5];;~ (Addition von Cr(CO)5 an jedes Clusteratom); auch bildet E9~ (d) Komplexe des Typs Sn 9 [Cr(CO) 3 ] 4 " sowie Pb 9 [Cr(CO) 3 ] 4 ~ (Cr(CO)3 überkappt die freie Quadratfläche). Darüber hinaus sind die mit Sb2 und Bi2 (vgl. S.827) isoelektronischen Spezies Sn2~ und Pb2~ in Form von Salzen mit den Anionen Sn 2 [Cr(CO) 5 ] 3 ~ und Pb 2 [W(CO) 5 ] 4 ~ isolierbar (kurze EE-Abstände weisen auf Mehrfachbindungsanteile; drei Liganden koordinieren side-on mit E 2 ", ein Ligand im Falle des P -Komplexes zusätzlich end-on). Ferner liegt G in Komplexen (diphos) 2 CM=Ge—Ge=MCl(diphos) 2 end-on gebunden von (M = Mo, W; lange GeGe-, kurze MGeAbstände; vgl. S. 1037). Schließlich kennt man Salze mit den Anionen E[Fe(CO) 4 ] 3 ~ und E[Cr(CO) 5 ]^ (E = Sn, Pb; planar EM 3 "-Zentren mit EM-Mehrfachbindungsanteilen (4z67ie-Systeme; vgl. N03~), welche wie die Ge- und Sn-käfigzentrierten Anionen [Ni12(|i12-Ge)(CO)22]2~, [Ni12(|i12-Sn)(CO)22]2~ und N 10 10-Ge)(CO)20 Komplexe von Tetrelatomen darstellen
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1009
Erwähnt sei noch das beim Vereinigen der Lösungen von K(crypt P und Pt(PP in Toluol erhältliche dunkelbraune, luftstabile Salz [K(crypt) + ] 2 • P t @ P b ^ , dessen ikosaedrisch gebautes Anion closo-Pb1^ mit 26 = 2n + 2 Clusterelektronen von einem Pt(0)-Atom zentriert und demgemäß zu den intermetalloiden Clustern zu zählen ist. Offensichtlich stabilisiert das mit dem Pb12~-Cluster in keiner chemischen Bindungsbeziehung stehende Pt-Atom (analog Ni in Ni@Pb10~) das Clusterion. Entsprechendes gilt wohl allgemein: die Grenze für ,,ungefüllte" Cluster der schweren Homologen M der III., IV. und V. Hauptgruppe ist mit n = 10 erreicht.
3.1.7
Germanium, Zinn und Blei in Verbindungen
Gegenüber elektropositiveren Partnern betätigen Germanium, Zinn und Blei negative Oxidationsstufen (bis — 4, z. B. in Mg2E), gegenüber elektronegativeren Partnern positive, und zwar hauptsächlich + 4 (z. B. EF 4 , E 0 2 ) und + 2 (z. B. EF 2 , EO). Wie das ausschließliche Vorkommen von Pb(II)-Verbindungen in der Natur zeigt (s2-Elektronenkonfiguration) ist beim Blei zum Unterschied von Zinn die zweiwertige Stufe die beständigere; die vierwertige Stufe (s°-Elektronenkonfiguration) wirkt stark oxidierend und geht - wenn man von bleiorganischen Verbindungen absieht - leicht in die zweiwertige über. Beim Zinn und insbesondere Germanium werden umgekehrt die E(II)-Verbindungen leicht zu den E(IV)-Verbindun gen oxidiert. Dementsprechend tritt Ge und Sn in der Natur gleich C und Si nur vierwertig auf (die Chemie des Germaniums gleicht noch deutlich der von Silicium). Darüber hinaus sind Ge-, Sn-, Pb Verbindungen in Zwischenoxidationsstufen bekannt Als Koordinationszahlen betätigen Germanium, Zinn und Blei eins (im matrixisoliertem EO), zwei (linear in matrixisoliertem 0 = E = O , gewinkelt in gasförmigem EHal2), drei (planar in matrixisoliertem F 2 Ge=O sowie in R2SnCr(CO)5 mit R = CH(SiMe3)2; pyramidal in gasförmigem ER 3 ), vier (tetraedisch in EHal 4 , pyramidal in :Epc mit pc = Phtalocyanin, wippenförmig in [:GeF 2 ] x und [:SnF 2 ] J , fünf (trigonal-bipyramidal in R2 EHal3~, quadratisch-pyramidal in F Ge (1,2-O2C6H4)2~ und Cl Sn (1,2-S2C6H3Me2~), sechs (oktaedrisch in E F ^ i n festem PbS, PbSe), acht (dodekaedrisch in Sn(NO3)4, Pb(O2CMe)4, quadratisch-antiprismatisch in Sn(pc)2, Pb(O2CC6F5)2(MeOH)2, hexagonal-bipyramidal in Ph2Pb(O2CMe)3~), neun (dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch in festem SnCl2, SnBr2, PbCl2, PbBr2), zehn (z. B. in Pb3(PO4)2, zwölf (z.B. in festem Pb (NO3)2, Pb SO). Ähnlich wie ungesättigte Si-Verbindungen sind auch ungesättigte Ge-, Sn- und Pb-Verbindungen nur bei hoher sterischer Abschirmung der p^-Bindungen als metastabile Produkte isolierbar (vgl. S.997). Folgende Typen von Doppelbindungen konnten bisher auf diese Weise stabilisiert werden ^e=EC (E = Ge, Sn, Pb)
^E=CC (E = Ge, Sn, Pb)
^E=NC (E = Ge, Sn)
^E=PC (E = Ge)
^E=YC (E = Ge, Sn; Y = S, Se, Te)
Wie Silicium kommt auch Germanium, Zinn und Blei eine Tendenz zur Clusterbildung („Catenisierung") zu. Wegen der Abnahme der EE-Bindungsstärken in Richtung C -> Pb (Dissoziationsenergien für C2/Si2/Ge2/Sn2/Pb2 = 607/327/274/195/81 kJ/mol), sinkt die Stabilität der Elementketten und -ringe mit wachsender Masse des Tetrels. Die Elemente Ge, Sn, Pb neigen jedoch zur Bildung käfigartiger Cluster.
3.2
Wasserstoffverbindungen des Germaniums, Zinns, BieiS84'87
Überblick. Die Zahl zugänglicher bzw. nachweisbarer Tetrelwasserstoffe nimmt in Richtung Kohlenwasserstoffe (in unübersehbarer Vielfalt bekannt), Silicium-/Germaniumwasserstoffe (weniger als 50/20 Spezies bekannt), Zinn-/Bleiwasserstoffe (SnH 4 , Sn 2 H 6 , P b H 4 bekannt) drastisch ab. Anders als die exotherme Verbindung C H 4 (AH{ = — 75 kJ/mol) und entsprechend der endothermen Verbindung SiH 4 (AH{ = + 3 4 kJ/mol) stellen GeH 4 , SnH 4 und PbH 4 - und zwar in wachsendem Ausmaße - endotherme Verbindungen dar: 91 k J + Ge + 2 H 2 ± ? G e H 4 ;
163 k J + Sn + 2 H 2
SnH 4 ;
278 k J + Pb + 2 H 2
Eine Gewinnung aus den Elementen kann demgemäß nur mit nascierendem Wasserstoff erfolgen (vgl. Bildung von AsH 3 , SbH 3 , BiH 3 ).
87
Literatur. E. Wiberg, E. Amberger: ,Hydrides", Elsevier, Amsterdam 1971, S. 639-680.
PbH4.
oder
atomarem
• 1010
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Germaniumwasserstoffe Darstellung. Germane Ge„H2„+2 (nachgewiesen bis Ge9H20) lassen sich wie die -analog strukturierten- Silane SinH2n+2 (s. dort) durch Protolyse von Germaniden, z. B. durch Einwirkung von Bromwasserstoff (in Form von NH 4 Br) auf Dimagnesiumgermanid (s. oben) in flüssigem Ammoniak, gewinnen Mg2Ge + 4HBr
GeH4 + 2MgBr 2 .
Hierbei bilden sich ,,Monogerman" GeH4 (Hauptprodukt),,,Digerman" Ge2H6 (1 mol auf 5 - 6 mol GeH4) und geringe Mengen ,,Trigerman" Ge3H8, „Tetragerman" Ge4H10 sowie ,,Pentagerman" Ge5H12 (Germanausbeute insgesamt ca. 1/3 der Theorie). Die Protolyse von Calciumdigermanid mit konzentrierter Salzsäure führt andererseits bei — 30°C im Laufe von 12h gemäß [CaGe2]^ + 2xHCl -> x C a ^ [GeH]^ zu ,,Polygermin" [GeH]^ (bzgl. der Struktur vgl. blattförmiges Polysilin, S.941). Reines Monogerman ist in hoher Ausbeute durch Hydrierung von Germaniumtetrachlorid mit Lithiumalanat in etherischer Lösung zugänglich; ebenso entsteht es (neben Ge2H6) bei der Hydrierung von Germaniumdioxid mit Natriumboranat in schwach saurer wässeriger Lösung GeCl4 + LiAlH4
GeH 4 + LiAlQ 4 ;
Ge0 2 + NaBH 4 ^ GeH4 + NaBO 2 .
Die höheren Germane sind am bequemsten durch elektrische Entladung in zirkulierendem GeH4-Gas bei 0.5 bar gewinnbar. So ergab eine typische Umsetzung z. B. 2 0 % Ge2H6, 3 0 % Ge3H8, 6 % Ge4H10, 0.4% Ge5H12, 0.12% Ge6H14, 0.10% Ge7H16, 0.04% Ge8H18 und Spuren Ge9H20. Auch Isomere von Ge4H10 und Ge5H12 ließen sich dabei abtrennen, jedoch konnten keine cyclischen Germane nachgewiesen werden. Bezüglich des nur in der Gasphase stabilen ,,Germylens" GeH2 vgl. S. 930. Eigenschaften. GeH„ (Smp./Sdp. = — 164.8/— 88.1 °C, AHt = + 90.9 kJ/mol) ist ein farbloses, bis 285°C thermostabiles Gas; Ge2H6 (Smp./Sdp. = —109/+ 29°C; AHf = + 137 kJ/mol), Ge3H8 (Smp./ Sdp. = — 105.6/+110.5°C; AÄf = + 194kJ/mol) und die höheren Germane (Sdp. von Ge4H10/ Ge5H12 = 176.9/234°C) stellen farblose, leicht bewegliche bis ölige Flüssigkeiten, Polygermin [GeH]^ einen blassroten, im Infraroten photolumineszierenden Festkörper dar. Verglichen mit den Silanen ist die Sauerstoffempfindlichkeit der Germane geringer (GeH4 entflammt bei ca. 170°C, Ge2H6 bei ca. 100 °C); auch sind sie schwächere Reduktionsmittel und wesentlich stabiler gegen Hydrolyse (GeH4 ist z. B. gegen 20%ige Alkalilauge beständig). In flüssigem Ammoniak reagiert GeH4 als Säure (GeH4 + NH3 -> N H + G ^ 3 " ) . Gegenüber Alkalimetallen wirkt GeH4 als Oxidationsmittel und entwickelt Wasserstoff(z. B. GeH4 + Na -> NaGeH3 + 1 /2H2). Letztere Reaktionen deuten darauf, dass der Wasserstoff in Germanium weniger hydridisch ist als der in Silanen (Elektronegativitäten für C/Si/Ge = 2.50/1.74/2.02). Offensichtlich wächst die Acidität in der Reihe C H , SiH4, GeH4 (sinkt die Basizität in der Reihe CH", SiH3~, GeH3~) ähnlich wie im Falle der isoelektronischen Spezies N H , PH4+, AsH4+ ( N H , PH3, AsH3). Derivate. Neben reinen Germanen sind auch gemischte farblose ,,Siliciumgermaniumwasserstoffe" wie H 3 Si—GeH 3 , HS—GeH 2 —SiH 3 oder H 3 Ge—SiH 2 —GeH 3 durch elektrische Durchladung von SiH4/ GeH4-Gasgemischen gewinnbar. „Halogengermane" GeH^X,, wie GeH3Cl, GeH2Cl2, GeHCl3 ( f a r b l o s e Flüssigkeiten) entstehen durch Einwirkung von Halogenwasserstoffen auf GeH4, während die Reaktion von Alkalimetallen mit GeH4 Alkalimetallgermyle MGeH 3 liefert (farblose Festsubstanzen; KGeH 3 und RbGeH 3 mit NaCl-Struktur, CsGeH3 mit TlI-Struktur; pyramidales GeH^-Ion, Winkel HGeH 92.5 °C). Insbesondere ,,Iodgerman" GeH3I und ,,Kaliumgermanid" KGeH3 sind wichtige Edukte für die Herstellung von Germylverbindungen. Besonders eingehend untersucht ist Trichlorgerman HGeCl3 (farblose Flüssigkeit, Smp./Sdp. — 71/75.2°C; C3v-Symmetrie; ^ ClGeCl 108°). Man gewinnt es aus Ge und HCl neben GeCl4 bzw. aus GeS und HCl (man kennt auch die Homologen HCC13 (S. 891), HSiCl3 (S. 938), HSnCl3, aber kein HPbQ 3 ). HGeCl3 stellt eine starke Säure dar und bildet mit Ethern Salze des Typs [R 2 0—H—OR 2 ] + [GeQ 3 ] " mit dem nucleophilen Ion GeCl3~ (z.B. RHal + GeCl3~ RGeCl 3 + H a r ) . Es führt Alkene R 2 C = C R 2 bzw. Alkine R C = C R in R 2 HC—CR 2 (GeCl 3 ) bzw. RHC=CR(GeCl 3 ) über, wirkt gemäß HGeCl3 ^ HCl + GeCl2 darüber hinaus als Quelle für GeCl2 (s. u.), gemäß HGeCl3 -> GeCl3 + H + + Q als Quelle für GeCl3-Radikale. Erwähnt sei des weiteren das ,,Iminogerman" H 2 Ge=NCF 3 , das durch Einwirkung von CF 3 NO auf GeH4 entsteht (Addition von HI unter Bildung von IG NHCF ). Zinnwasserstoffe Darstellung. „Monostannan" S ^ 4 lässt sich durch Protolyse von Dimagnesiumstannid Mg2Sn mit Salzsäure sowie durch chemische oder elektrochemische Reduktion von Sn(II)-Salzlösungen mit naszierendem oder atomarem Wasserstoff gewinnen: Sn4"+4H+
SnH4;
Sn 2+ + 6H
SnH4 + 2H + .
Bei allen diesen Reaktionen entweicht in der Hauptsache Wasserstoff H2, dem geringe Mengen Stannan SnH4 beigemengt sind. Mit 80-90 %iger Ausbeute entsteht SnH4 durch Hydridierung von Zinntetrachlorid mit etherischen Lösungen von Lithiumalanat bei — 30 °C:
3. Das Germanium, Zinn und Blei SnCl4 + 4LiAlH 4
1011
SnH4 + 4LiCl + 4AlH 3 .
Die Reaktion verläuft auf dem Wege über ,,Zinnalanat" SnH4 • 4AlH 4 = Sn(AlH4)4, das sich bei — 60 °C isolieren lässt und oberhalb — 40°C in Monostannan (bzw. Zinn sowie Wasserstoff) und Aluminiumwasserstoff zerfällt. Bei der Hydridierung von Zinndichlorid SnCl2 in Wasser mit Natriumboranat NaBH 4 entsteht auch ,,Distannan" Sn2H6 neben Monostannan in kleiner Ausbeute. Noch höhere Stannane sind bisher unbekannt Eigenschaften SnH4 (Smp./Sdp. = — 146/52.5°C), ein stark giftiges farbloses Gas, ist in reinen Gefäßen bei Normaltemperatur tagelang haltbar. Beim Erwärmen auf 150 °C zersetzt es sich rasch unter Bildung eines Zinnspiegels (thermolabiler ist Sn2H6): SnH4
Sn + 2H 2 + 163 kJ.
Gegen 15 %ige NaOH-Lösung und verdünnte Säuren ist SnH4 beständig. SnH4 wirkt stärker reduzierend als GeH 4 , wie überhaupt die Reduktionskraft von E H mit steigender Masse des Tetrels wächst (vgl. Potentialdiagramme, S. 1017). Ähnlich wie von GeH4 kennt man auch von SnH4 teilhalogenierte Spezies, z. B. SnCl2 + HCl ^ HSnCl3 (liefert in Et2O ein Etherat, s. HGeCl3). Bleiwasserstoffe Monoplumban PbH4 (Sdp. — 13 °C) entsteht in geringen Mengen durch Reduktion von Pb z.B. bei der Einwirkung von kathodisch entwickeltem (atomarem) Wasserstoff auf zerstäubtes Blei: Pb + 4H -> PbH4. Leitet man das - zur Hauptsache aus Wasserstoff bestehende - gasförmige Reaktionsprodukt durch ein erhitztes Rohr, so scheidet sich ein Bleispiegel ab: PbH4 -> Pb + 2H 2 + > 278 kJ. In Analogie zum Monobismutan BiH3 (S. 830) lässt sich PbH4 auch durch Disproportionierung von Dimethylplumban oberhalb — 50 °C als sich rasch zersetzendes Zwischenprodukt gewinnen: 2M Pb
M P
Ein Diplumban P
Pb
ist unbekannt
3.3
Halogenverbindungen des Germaniums, Zinns, Bleis84
3.3.1
Überblick
Systematik. Von Germanium, Zinn und Blei existieren Monohalogenide EX (bisher GeCl, GeBr), Dihalogenide E X (alle Kombinationen) und Tetrahalogenide E X (alle Kombinationen bis auf PbBr 4 und Pbl 4 ), darüber hinaus höhere Germaniumchloride GeBCl2„+2 und das höhere Zinnchlorid Sn2C^ (vgl. Tab. 99). Strukturen Die Monohalogenide GeX (X = Cl, Br) bilden in der Gasphase bei hohen Temperaturen Monomere, in kondensierter Phase bei Raumtemperatur Polymere, welche in Toluol unlöslich sind, aber nach Zusatz von Donoren wie NPr3 löslich werden (Bildung von (D)XGe—GeX(D)?). Alle Dihalogenide E X der Tetrele C, Si, Ge, Sn, Pb (,,Dihalogentetrefylene") liegen in der Gasphase als molekulare gewinkelte
X X \ / Polymeris.
X
X
X
X
"
E = C, Si
X
X
Polymeris.
"X"
X'
E = Ge, Sn, Pb
X
X
(B) EX 2
(a) ( E X 2 ) X
(c) (EX 2 ) x
—F
X'
-X k
(alle Kombinationen bis auf SnF 4 und PbF 4 ; PbBr 4 , PbI 4 unbekannt) (d) E X 4
/
F F \/
X
E
/\ F F F \/ E F
— F
F F
/\
F \/ E
/
E
/\
F F
F F /
(e) ( E F 4 ) X
/
EF \/ E
F
/
F F \/ F
/\ F
/\
F F /
F F \/
/\ F F F(E = Sn, Pb)
• 1012
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Tab. 99 Germanium-, Zinn-, Bleihalogenide E X (Kenndaten der Reihe nach Smp [°C]/Sdp. [°C]/Ai^ [kJ/mol]; Ox. = Oxidationsstufe). Ox.
EXH
Fluoride
Chloride
Bromide
Iodide
+ 1
EX
-
GeCla)
Orangeroter Feststoff 60° Zers.
GeBra)
Dunkelroter Feststoff 90 Zers
-
+ 2
EX2b)
GeF2 Farblose Kristalle Smp. 110 "C SnF2 Farblose Kristalle Smp. 213°/Sdp. 853° PbF2 Farblose Kristalle Smp. 818°/Sdp. 1290°
GeC Blassgelber Feststoff 0) SnC Farblose Kristalle 247°/623° /— 325 kJ PbC Farblose Kristalle 498°/954° /— 360 kJ
GeB Gelbe Kristalle Smp. 122°CC) SnBr2 Farblose Kristalle Smp. 216°/Sdp. 619° PbB Farblose Nadeln Smp. 373°/Sdp. 916°
Ge Orangegelbe Kristalle Smp. 448°/AH—92 kJ Sn Rote Nadeln Smp. 316°/Sdp. 720°
,, + 3" , , E X "
E 2 F/>
W
-
-
+ 4
GeCl4 Ge Farblose Flüssigkeit^ Farbloses Gas h) Sblp. — 36.6°/Smp. — 15° — 49.5°/83.1° /— 531 kJ Sn SnC Farblose Flüssigkeit Farblose Kristalle Sblp. 705 °C — 33.3°/114.1"/512 kJ Pb PbC Gelbes Ol Gelbe Kristalle Smp. — 15°/Zers. 50° Smp 600
GeB Farblose Kristalle Smp. 26.1°/Sdp. 186.5° SnBr4 Farblose Kristalle Smp. 33.0°/Sdp. 203.3° PbB Existenz unsicher
Ge Orangefarbene Krist. 146°/356° /—142 kJ Sn Farblose Kristalle Smp. 144.5°/Sdp. 346°
EX4
f)
Pb Goldglänzende Krist. Smp. 412°/Zers. 950°
a) Zur Darstellung leitet man HCl- bzw. HBr-Gas bei einem Druck von 10~ 2 mbar über 1550°C heißes Germanium (Ge + H X GeX + V2Hj) und kondensiert gebildetes GeX-Gas zusammen mit Toluol auf — 196°C kalte Flächen (H 2 wird kontinuierlich abgezogen). In dem auf Raumtemperatur erwärmten Toluol ist GeX unlöslich. - b) Man kennt viele gemischte Dihalogenide EXX'. - c) Bei erhöhten Temperaturen (ab ca. 150 °C) Disproportionierung in GeCl 4 und Ge bzw. höhere Germaniumchloride. - d) Sn 2 F 6 enthält im Sinne von SnF 2 • SnF 4 keine SnSn-Bindungen, sondern Zinn(II)- und Zinn(IV)-Atome. Entsprechendes gilt für Ge 5 F 12 = 4GeF 2 • GeF 4 bzw. Sn3F8 = 2SnF 2 • SnF 4 bzw. Pb 3 F 8 = 2PbF 2 • PbF 4 . - e) Die thermische Stabilität hinsichtlich einer Disproportionierung C13E—EC13 EC12 + EC14 sinkt in der Reihe C2C16 (thermisch sehr stabil), Si2Cl6 (bei Abwesenheit von Katalysatoren thermisch metastabil), Ge 2 Cl 6 (Zerfall oberhalb Raumtemperatur), Sn 2 Cl 6 (Zerfall weit unterhalb Raumtemperatur), Pb 2 Cl 6 (unbekannt). Ge 2 Cl 6 (Smp. 41 °C, farblos) läßt sich analog Si2Cl6 gewinnen, Sn 2 Cl 6 (farblos) durch Reaktion von Sn 2 (OAc) 6 (Ac = CH 3 CO) mit flüssigem Chlorwasserstoff bei — 100°C. - ^ Man kennt viele gemischte Tetrahalogenide EX„X4„ (z.B. Sdp. von GeClF 3 /GeCl 2 F 2 /GeCl 3 F = —20.3/ — 2 . 8 / 3 7 5 C ) . - g ) Dichte von GeCl 4 (30°C) 1.844g/cm3, von SnCl 4 (20 °C) 2.234 g/cm3. - h) Bei 4 bar.
Singulett-Spezies (b) vor (vgl. S.930; Winkel X E X 95-100°). Der Übergang in die kondensierte Phase ist mit einer Polymerisation unter Ausbildung von —E—E — -Ketten (a) bzw. — E — X — E — X — -Ketten (c) verbunden. In letzteren liegen trigonale :EX3-Pyramiden vor (einschließlich des freien Elektronenpaares pseudo-tetraedische Koordination von E), welche über gemeinsame X-Atome verbrückt sind. Die eindimensionalen Ketten (c) lagern sich über schwächere bis ähnlich starke weitere EXE-Kontakte zu zwei- oder dreidimensionalen-,,Clustern" zusammen, in welchen die E-Atome mehr oder weniger verzerrt-wippenförmig bzw. oktaedrisch bzw. dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch von X koordiniert sind (siehe Einzelverbindungen). Alle Tetrahalogenide EX 4 der Tetrele C, Si, Ge, Sn, Pb (,, Tetrahalogentetrelane") bilden in der Gasphase molekulare tetraedische Spezies (d) mit E in der Tetraedermitte. Diese bleiben in kondensierter Phase sofern man von SnF 4 und PbF4 absieht - erhalten: Bildung von,,Inselstrukturen" (dichteste Kugelpackung der Halogenatome, in der 1 /8 aller tetraedischen Lücken mit E in der Weise besetzt sind, dass E-Atome durch mindestens 2 Halogenatome voneinander getrennt sind). SnF 4 und PbF 4 bilden,,Schichtstrukturen" (SnF4-Struktur), wobei SnF6- bzw. PbF6-Oktaeder über gemeinsame äquatoriale F-Atome im Sinne von (e) zu planaren Schichten verknüpft sind. Darstellung, Eigenschaften Die Gewinnung der Halogenide von Ge, Sn, Pb erfolgt - gegebenenfalls bei erhöhter Temperatur - durch Halogenierung der Tetrele mit Halogenen oder Halogenwasserstoffen, durch Dehalogenierung der Tetreltetrahalogenide sowie durch Halogenidierung von Oxiden, Sulfiden usw. Die Reaktion von Ge mit H B r bei 1 0 " 2 mbar (Analoges
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1013
gilt für HCl) führt bei steigender Temperatur zunächst zu GeBr 4 (Umsetzung kinetisch gehemmt), dann - ab ca. 200 °C - zu GeBr 2 und schließlich - ab ca. 1000 °C - zu G e B r gemäß: Ge + n H B r -> GeBr„ + n/2H 2 . Bezüglich einiger Kenndaten der Tetrelhalogenide vgl. Tab. 99. Die Bildungstendenz von E X (E = Si, Ge, Sn, Pb) nimmt in Richtung Fluoride > Chloride > Bromide > Iodide ab, die Stabilität der zweiwertigen Stufe E X in Richtung C X 2 PbX 4 ~ + X 2 ) bisher unbekannt. Nachfolgend sei zunächst auf Dihalogenide, dann auf Tetrahalogenide von Ge, Sn, Pb eingegangen (bezüglich einiger E(I)- und E(II-IV)-Halogenide vgl. Tab. 99.
3.3.2
Dihalogenide EX2
Darstellung. Die Dihalogenide des Germaniums, Zinns und Bleis (E) werden durch Halogenierung der Tetrele mit Halogenen oder Halogenwasserstoffen (1a,b), durch Dehalogenierung der Tetreltetrahalogenide E X mit E oder anderen Reduktionsmitteln (1c) sowie durch Halogenidierung der Monooxide EO mit Halogenwasserstoffen (1d) hergestellt: E + X2
>EX < (a
^ (b
L
E + 2HX; E X
^ ^ E X ; EO + 2HX (c
HO
EX-
(1)
(d
Unter den Germaniumdihalogeniden lässt sich farbloses GeF2 aus GeF4 und Ge oberhalb 150 °C (1 c) oder aus Ge und HF bei 225 °C (1 b) gewinnen. GeCl2 bildet sich in der Gasphase auf dem Wege (1 c) gemäß 146 kJ + Ge (0 + GeCl4 (g) 2GeCl2 (g) ab 300°C (quantitativen Umsatz bei 650 °C) und scheidet sich aus der Gasphase als blassgelber Feststoff ab. Das Dichlorid entsteht auch, wenn man HGeCl3 auf 70 °C erhitzt: HGeCl3 GeCl2 + HCl (bei 20 °C Rückreaktion). Gelbes GeBr2 ist aus Ge + HBr bei 400°C (1 b) bzw. aus GeBr4 + Zn (1 c), orangegelbes Gel2 aus Gel4 + H3PO2 (1 c) gewinnbar. Unter den Zinndihalogeniden bildet sich farbloses SnF2 beim Eindampfen einer Lösung von SnO in 40%iger Flusssäure (1 d). Farbloses SnCl2 wird technisch durch Lösen von Zinnspänen in Salzsäure dargestellt (1 b); es kristallisiert wasserhaltig als SnCl2 • 2H2O („Zinnsalz") in klaren Kristallen vom Smp. 40.5°C aus. Wegen der leicht eintretenden Hydrolyse kann man das Hydrat nur durch Erhitzen im HCl-Strom bei Rotglut entwässern. Direkt erhält man wasserfreies SnCl2 als weiße, fettglänzende Masse beim Erhitzen von Sn im Chlorwasserstoffstrom (1 b). Farbloses SnBr2 und rotes Snl2 sind durch Halogenierung von Zinn mit Halogenen (1 a) bzw. Halogenwasserstoffen (1 b) zugänglich. Die Bleidihalogenide sind in kaltem Wasser alle schwerlöslich farbloses PbF2, PbCl2 bzw. PbBr2 sowie goldglänzendes Pbl2 fallen demgemäß aus Pb(II)-Salzlösungen auf Zusatz der entsprechenden Halogenid-Ionen aus (1 d): Pb 2+ + 2 X "
PbX 2 .
Das in rhombischen Nadeln oder Prismen kristallisierende PbCl2 erstarrt beim Abkühlen der Schmelze (Smp. 498°C) zu einer hornartigen Masse („Hornblei"). Entsprechendes gilt für PbBr2. Strukturen In kristallinem GeF2 lagern sich die exoständigen F-Atome einer GeF2-Spirale des Typus (c) so an Ge-Atome einer zweiten GeF2-Kette an, dass jedes Ge-Atom pseudo-trigonal-bipyramidal von 2 axialen und 2 äquatorialen F-Atomen sowie 1 äquatorialem freiem Elektronenpaar umgeben ist. Insgesamt resultiert eine ,,Raumstruktur" aus wippenförmigen, über gemeinsame F-Atome verknüpften GeF4Einheiten. Die Struktur von festem GeCl2 ist bisher unbekannt GeBr2 soll eine verzerrte Gel2 eine nichtverzerrte „Cdl2-Schichtstruktur" haben (oktaedrische Umgebung von Ge mit Iodatomen; in GeBr2 verhindert offensichtlich die stereochemische Wirksamkeit des freien Elektronenpaars die Bildung eines unverzerrten GeB -Oktaeders).
• 1014
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Im kristallinen SnF2 liegen die Ketten des Typus (c) geschlossen in Form gewellter achtgliedriger (—Sn(F)—F—) 4 -Ringe vor, die ihrerseits über F-Brücken in der Weise zu einer,,Raumstruktur" (verzerrte Rutilstruktur) verknüpft sind, dass jedes Sn-Atom in den Genuss einer verzerrt-oktaedrischen Koordination mit F-Atomen kommt. In festem SnCl2 sind Ketten des Typus (c), derart zusammen gelagert, dass insgesamt eine verzerrte ,,PbCl2-Raumstruktur"(vgl. S. 1970) mit verzerrter dreifach-überkappt-trigonal-prismatischer Koordination der Sn-Atome resultiert. Für SnBr2 gilt offensichtlich Entsprechendes. Snl2 besitzt eine einmalige „Raumstruktur": -j aller Sn-Atome sind unverzerrt oktaedrisch von Iodatomen koordiniert (parallel angeordnete Ketten kantenverknüpfter SM6-Oktaeder), § aller Sn-Atome überkappttrigonal-prismatisch (Doppelketten aus kantenverknüpften Ketten flächenverknüpfter Sn7-Einheiten; erstere Ketten und letztere Doppelketten über gemeinsame I-Atome verknüpft). Die Bleidihalogenide PbF2, PbCl2 und PbBr2 weisen die „PbCl2-Raumstruktur" (S. 1970) auf, in welcher Pb verzerrt-dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch von 9 Halogenatomen koordiniert vorliegt, wobei die Pb -Polyeder über gemeinsame Flächen miteinander kondensiert vorliegen (Pb nimmt oberhalb 316° die CaF2-Raumstruktur an mit der Koordinationszahl 8 der Pb-Atome). Pbl2 kristallisiert in der ,,Cdl 2 -Schichtstruktur" (Koordinationszahl 6 der Pb-Atome). Bezüglich der PbClF-Struktur vgl. S. 1943. Eigenschaften Bezüglich einiger Kenndaten (Farbe, Smp., Sdp., Afl,, Dichte) der Dihalogenide vgl. Tab. 99. Thermisches Verhalten. Die Beständigkeit der Oxidationsstufe + 2 nimmt in der IV. Hauptgruppe von C bis Pb hin stark zu, die der Oxidationsstufe + 4 umgekehrt ab, sodass die Disproportionierung 2EX 2 ^ E + E X der Bleidihalogenide (E = Pb) bereits ein endothermer Prozess ist. Das Gleichgewicht der exothermen Disproportionierung der Germanium- und Zinndihalogenide (E = Ge, Sn) liegt bei wachsenden Temperaturen zunehmend auf der Seite der Dihalogenide. Letztere sind demgemäß in der Gasphase - gegebenenfalls teilweise in di- oder trimerer Form - bei hohen Temperaturen thermodynamisch stabil. Z.B. verdampft [GeFJ., im Vakuum unter Bildung von GeF 2 (dGeP = 1.723Ä; ^ FGeF = 97°) und (GeF 2 ) 2 ; auch weist die Dampfdichte von SnCl2 in der Nähe des Siedepunktes (623 °C) auf teilweise Assoziation der SnCl2-Monomeren hin (oberhalb 1100 °C liegen nur SnCl2-Moleküle vor); schließlich siedet [ P b F J j bei 1290°C unter Bildung von monomerem PbF 2 . Bei Raumtemperatur sind die Germanium- bzw. Zinndihalogenide kinetisch stabil. Bei erhöhter Temperatur disproportionieren [ G e F J . , / [ G e C y ^ G e B r J . , in kondensierter Phase um 150°C, [ G e l J , ab 540°C in Germanium (gegebenenfalls Subhalogenide) und Germaniumtetrahalogenide. Redox-Verhalten. Die hervorstechendste Eigenschaft des Zinn(II)-chlorids ist sein d. h. die Neigung des zweiwertigen Zinns in die vierwertige Stufe überzugehen: Sn 2+
Sn 4+ + 2 Q
Reduktionsvermögen,
(e0 = +0.154 V).
Zweiwertiges Blei ist zu einer analogen Reduktionswirkung nicht befähigt, da umgekehrt die vierwertige Stufe ein starkes Oxidationsmittel ist (P P 1.698 V), wogegen zweiwertiges Ger manium noch leichter als zweiwertiges Zinn in die vierwertige Stufe übergeht (G G e0 = _ 0.370 V). Als Folge der Reduktionstendenz fällen wässrige Lösungen von SnCl2 die Metalle Gold, Silber und Quecksilber aus den Lösungen ihre Salze. In gleicher Weise reduzieren saure wässerige SnCl2Lösungen Fe(III) zu Fe(II), AsO^ zu AsO 3 ", Cr0 4 ~ zu Cr3 + , Mn0 4 " zu Mn 2+ , S 0 2 zu H2S, I 2 zu I " . Durch Luftsauerstoff wird SnCl2 in salzsaurer Lösung zu Zinn(IV) oxidiert: SnCl2 + 2HC1 + \02 -> SnC O. Als Folge der starken Reduktionskraft von Ge(II) werden saure Lösungen von Ge sogar in Abwesenheit von Sauerstoff oxidiert: Ge(II) + 2H + -> Ge(IV) + H 2 . Die Halogenierung der Germanium- und Zinndihalogenide führt zu Tetrahalogeniden (z.B. GeF2 + I 2 -> GeF 2 I 2 ; 2GeF 2 + SeF4 -> 2GeF 4 + Se; GeCl2 + Br2 -> GeBr2Cl2). Butadien bzw. Acetylen addieren sich an Gel 2 unter Bildung von I 2 G e ( — C H — C H = C H — C H — ) bzw. I 2 Ge(—CH=CH—) 2 GeI 2 ; in RCl-Bindungen vermag sich GeCl2 unter Bildung von RGeC einzuschieben Säure-Base-Verhalten. In Wasser hydrolysieren die Germaniumdihalogenide - wohl auf dem Wege über Addukte GeX 2 (OH 2 ) - gemäß: GeX 2 + 2 H 2 0 Ge(OH)2 + 2HX, wobei sich HX an GeX 2 anlagern kann: GeX 2 + HX i? HGeX 3 (in Substanz zugänglich aus wasserfreiem HX und GeX 2 ; vgl. Darstellung sowie oben). In Anwesenheit von Halogenid entstehen in wässrigen GeX2-Lösungen Trihalogenokomplexe G ^ X (der stabile Dioxankomplex GeCl2 • Dioxan dient als Quelle für GeCl2). Entsprechendes wie für Germaniumdihalogenide (H2O-Adduktbildung, Hydrolyse, Addition von X " ) gilt für Zinndihalogenide (alle Halogenokomplexe [SnXX'X"]~ mit X/X'/X" = Cl, Br, I wurden nachgewiesen). Allerdings erfolgt die Hydrolyse einer konzentrierten wässrigen SnCl2-Lösung erst beim Verdünnen, wobei sich die zunächst klare Lösung infolge Ausscheidung von basischem Salz trübt: SnCl2 + H 2 0 £> Sn(OH)Cl + HCl (exakte Formel des in farblosen Plättchen ausfallende Salzes: Sn21Cl16C)6(OH)14 = 8SnCl2 • 7 Sn(OH)2 • 6SnO). Auch sinkt die Wasserlöslichkeit der Sn(II)-Halogenide von SnCl2 (84 g pro 100 g H2O bei 0°C) zu Snl2 (0.96 g pro 100 g H2O bei 0 °C) drastisch (SnF2 ist schwerlöslich in Wasser). Unter den Bleidihalogeniden ist das Difluorid nahezu unlöslich in kaltem Wasser, während bei den übrigen Halogeniden die Löslichkeit in Richtung von etwas löslichem Chlorid zu Iodid hin abnimmt
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1015
Mit der Bildung von Donoraddukten :EX 2 • D (E = Ge, Sn) wächst die Basizität des freien Elektronenpaares, sodass diese als Lewis-basische Liganden in Komplexen zu wirken vermögern. So addieren etwa die Addukte :SnX 2 (NMe 3 ) mit X = Cl, Br, I Bortrifluorid unter Bildung von (F 3 B)SnX 2 (NMe 3 ). Auch vermag :SnCl3~ sogar Phosphanliganden von Übergangsmetallzentren zu verdrängen. Verwendung. SnF2 wird manchen Zahnpasten und anderen Zahnpflegemitteln zur Fluoridierung und Karies-Prophylaxe der Zähne zugesetzt SnCl2 dient als Reduktionsmittel, und zwar in der analytischen Chemie (Iodometrie, Bestimmung von Fe(III), Nachweis von As nach Bettendorf, Reagenz auf Bi, Au, Pt, Re), in der anorganischen Chemie (elektrolytische Beschichtung mit Zinn, stabilisierendes Agens für die Silberspiegelherstellung) sowie in der organischen Chemie (Beize für Wolle, Reservierungsmittel für Wolle, Seide usw. gegen Säurefarbstoffe, Aktivierung von Alizarin-Färbungen, Beschweren von Seide, Herstellung von Lackfasern, Reduktion von Nitro-, Azo- und Diazonium-Verbindungen, in Tintenentfernungsmitteln). PbF2 wird als Aufdampfsubstanz in der Optik, zur Herstellung von Spezialgläsern PbCl2 als Flussmittel und Lot sowie zur Herstellung von Bleichromat genutzt Halogenokomplexe. Die Dihalogenide E X (E = Ge, Sn, Pb; X = F, Cl, Br, I) bilden mit Halogeniden M + X ~ (M + z.B. Alkalimetall-Kationen, Ammonium-Ionen, donorstabiliserte Übergangsmetall-Kationen) viele kristallisierbare Halogenogermanite, -stannite, -plumbite E m X£". Isolierte trigonal-pyramidale Anionen E X (f) enthalten Salze M E X mit großen Kationen M + , z.B.: [ C ^ H ^ N j O J t G e C y • H O , CsSnCl3, K 2 SnCl 4 • H 2 0 = K 2 [SnCl 3 ][C1] • H O , [Co(en) 3 ]SnCl 5 = [Co(en) 3 ][SnCl 3 ][C1] 2 . Im „Zinnsalz" SnCl2 • 2H 2 O finden sich Doppelschichten miteinander verbrückter :SnCl2(OH2)-Pyramiden, die sich mit Schichten aus H2O-Molekülen abwechseln. Auch das Sn 2 F 5 -Ion im Salz Na 2 Sn 2 F 5 (gewinnbar aus wässrigen NaSnF 3 -Lösungen) weist trigonal-pyramidale SnF3-Einheiten auf, die über ein gemeinsames F"-Ion verbrückt sind (g). Man kennt auch Salze mit dem analog strukturierten Sn 2 Clf-Ion. Isolierte wippenförmige Anionen EX 4 " (h) liegen dem Salz [Co(NH 3 ) 6 ]SnCl 5 = [Co(NH 3 ) 6 ][SnCl 4 ]Cl zugrunde. Die Salze Na4Sn3I10, [KSnFJ^ sowie [NH 4 SnBr 3 • H 2 0 ] x enthalten SnX4-Einheiten mit gemeinsamen X "-Ionen, die allerdings gemäß (i) und (k) nicht wippenförmig, sondern quadratisch-pyramidal (E an der Pyramidenspitze) konformiert sind. X. X;-.X _ 'X
X; L
(f) [ E X 3 ] -
x:''x
'•X
•.x
(g) [ E 2 X 5 ] -
X I
"E:
X^l . XJ
E, A
X.\
.
-X'
E, d :
".'•x;:. \ /.X -X' •X'
(i) [E3X10f
(h) [EX 4 ] 2
E,
1
4-
E \ /X.\..\ / x : . . \ v.x •••X'
1
.X
.X
(k) [ E X 4 ] x
NH 4 SnBr 3 • H O enthält über Br~-Ionen zu Ketten verknüpfte quadratisch-pyramidale EX5-Einheiten (Sn in der Pyramide etwas oberhalb der Br4-Basis). Oktaedrische Anionen EX^" liegen den Salzen Cs4SnBr6 sowie ß 4 P f f i 6 (X = Cl, Br) zugrunde. Auch enthalten viele Salze der Zusammensetzung MEX 3 mit Perowskit-Struktur (S.1527) eckenverbrückte EX-Oktaeder, die als Folge der stereochemischen Wirksamkeit des freien Elektronenpaares von E meist verzerrt sind. Beispiele sind etwa: MGeX 3 (M = Rb, Cs; X = Cl, Br, I), CsSnX 3 (X = Cl, Br), CsPbX 3 (X = Cl, Br, I). CsSnI3 und RbRbI 3 enthalten Doppelketten kantenverknüpfter EI6-Oktaeder. Einfach- oder zweifach-überkappte trigonal-prismatische E X - bzw. EX-Einheiten liegen den Hydraten 2SnBr 2 • H O , 3 SnBr 2 • H O , 6SnBr 2 • 3H 2 O, 3RbBr 2 • 2H 2 O zugrunde (Kappen teils Br~-Ionen, teils H2O-Moleküle).
3.3.3
Tetrahalogenide EX4
Germaniumtetrahalogenide (vgl. Tab. 99) lassen sich wie Zinn- und Bleitetrahalogenide durch Halogenierung der zugrunde liegenden Tetrele mit Halogenen sowie durch Halogenidierung der Tetreldioxide mit konzentrierten Halogenwasserstoffsäuren darstellen E+ 2X
(a
• EX;
E 0 2 + 4HX
(b
• EX 4 + 2H 2 O.
(2)
GeF4, das analog SiF4 auch durch Erhitzen von BaGeF 6 auf 700 °C als farbloses, an der Luft rauchendes Gas entsteht, reagiert mit Wasser zu Ge0 2 und „Hexafluorogermaniumsäure" H 2 GeF 6 . Aus einer mit K F versetzten wässrigen GeF4-Lösung kristallisiert das farblose „Hexafluorogermanat" K 2 [GeF 6 ] aus (GeF-Abstand in oktaedrischem GeF;;~ 1.77 Ä, in GeF 4 1.67 Ä). Auch sonst ist GeF 4 wie SiF4 eine starke Lewis-Säure Farbloses, flüssiges GeCl4 wird durch Wasser oder Säuren auf dem Wege über Verbindungen GeCl4-„(OH)„ (bzw. deren Kondensate) langsam unter Bildung von wasserhaltigem Ge0 2 hydrolysiert und raucht daher an feuchter Luft. Mit Chloriden bildet GeCl 4 Chlorokomplexe des Typus GeCl;;~. Beim
• 1016
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
homologen SiCl4 kennt man solche Komplexe nicht. GeCl4 ist Ausgangsverbindung für viele organische Germaniumverbindungen (vgl. S. 1029). Farbloses GeBr4 und orangefarbenes Gel4 (beides Feststoffe) werden durch Wasser leichter zersetzt als GeCl 4 . Das Tetraiodid beginnt oberhalb des Schmelzpunktes (146 °C) in Ge und zu zerfallen Zinntetrahalogenide (vgl. Tab.99) werden durch direkte Vereinigung des Zinns mit dem entsprechenden Halogen gewonnen (2a). Chlor und Brom reagieren schon bei gewöhnlicher Temperatur (zur technischen Darstellung von SnCl4 verwendet man Weißblechabfälle), Iod bei gelindem Erwärmen. Mit Fluor setzt sich Zinn bei Raumtemperatur nicht merklich um; dagegen erfolgt bei 100°C Reaktion unter Feuererscheinung. Einfacher gewinnt man SnF 4 durch Eintragen von SnCl4 in wasserfreie Flusssäure: SnC 4H Sn 4HCl Das Tetrachlorid SnCl4 bildet eine farblose, an Luft stark rauchende, nach dem Entdecker A. Libavius (155^—1616) früher auch „Spiritus fumanus libavii" (rauchender Geist des Libavius) genannte Flüssigkeit. Beim Zusammenbringen mit wenig Wasser oder beim Stehenlassen an feuchter Luft geht SnC in eine halbfeste, kristallisierte Masse der Zusammensetzung SnCl4 • 5H 2 O (,,Zinnbutter"; Smp. ca. 60°C) über. Die wässerige SnCl4-Lösung ist weitgehend hydrolytisch gespalten: SnCl4 + 2 H 2 0 £> Sn0 2 + 4HCl. Das dabei entstehende Sn0 2 bleibt kolloidal in Lösung. Leitet man in konzentrierte wässerige SnCl4-Lösung Chlorwasserstoff ein, so bildet sich gemäß SnCl4 + 2HC1 ^ H 2 [SnCl 6 ] „Hexachlorozinnsäure" H 2 [SnCl 6 ], die aus Lösung in Form blätteriger Kristalle der Zusammensetzung H2SnCl6 • H O (Smp. 19.2°C) auskristallisiert. Unter den Salzen der Säure (,,Hexachlorostannate") ist vor allem das Ammoniumsalz (NH 4 ) 2 [SnCl 6 ] (,,Pinksalz") erwähnenswert. Auch Chlorokomplexe des Typus SnCl5~ (isoelektronisch mit SbClj) sind bekannt. In analoger Weise wie HCl vermögen sich viele andere Donoren wie z. B. Ammoniak, Phosphorwasserstoff, Phosphorpentachlorid, Phosphorylchlorid und Schwefeltetrachlorid an SnCl4 anzulagern. Wegen seines Lewis-Säure-Charakters verwendet man SnCl4 als Friedel-Crafts-Katalysator für homogene Alkylierungs- und Cyclisierungsreaktionen. Darüber hinaus ist SnCl4 Ausgangsprodukt vieler organischer Zinnverbindungen (vgl. S. 1029). Das Pinksalz dient in der Färberei als Beizmittel Das Tetrafluorid SnF4 stellt einen farblosen Festkörper dar (zur Struktur vgl. S. 1014), der in wässeriger Lösung mit HF oder MF zu „Hexafluorozinnsäure" H 2 [SnF 6 ] bzw. „Hexafluorostannaten" M 2 [SnF 6 ] abreagiert. Ähnlich wie SnF4 und SnCl4 bilden farbloses, festes SnBr4 und Snl4 mit Halogeniden der Alkalimetalle ,,Hexahalogenostannate" M 2 [SnX 6 ] und mit Donoren D Komplexe des Typus SnX 4 (D) sowie SnX 4 (D) 2 (cis- und trans-Konfiguration). Bleitetrahalogenide (vgl. Tab. 99). PbCl4 ist ein unbeständiges, an feuchter Luft rauchendes Öl, das oberhalb 50 °C in PbCl2 und Cl2 zerfällt. Umgekehrt kann PbCl2 - allerdings nur als Chlorokomplex - Chlor unter Bildung von Pb(IV)-chlorid aufnehmen, indem man in eine Suspension von PbCl2 in Salzsäure unter Eiskühlung C einleitet und das in der Lösung dabei als Chlorokomplex gebildete PbC durch Zusatz von NH4Cl als zitronengelbes ,,Ammonium-hexachloroplumbat(IV)" (NH 4 ) 2 [PbCl 6 ] abscheidet. Es zersetzt sich beim Eintragen in gekühlte konzentrierte Schwefelsäure unter Bildung des gewünschten Bleitetrachlorids: (NH 4 ) 2 [PbCl 6 ] + H2SO4 (NH4)2SO4 + H2PbCl6 ( ^ 2HC1 + PbCl4). Das in konz. H2SO4 unlösliche PbCl4 scheidet sich hierbei als Öl ab, das stark oxidierende Eigenschaften besitzt (Pb 4+ + 2 Q Pb 2+ ; £0 = + 1.70V). Mit C12O setzt sich PbCl4 gemäß PbCl4 + C120 PbOCl2 + 2C12 unter Bildung eines - formal dem homologen Phosgen COC12 entsprechenden - violetten ,,Bleidichloridoxids" PbOCl2 um, das sich ab 90 °C zu PbCl2 und j 0 2 zersetzt. Gelbes PbF4 (Struktur analog SnF4), das aus PbF 2 und F2 oberhalb von 250 °C in Form tetragonaler Nadeln darstellbar ist (2a), bildet Fluorokomplexe PbF5~ und PbF;;". Die Existenz von PbBr4 ist unsicher. Pbl4 lässt sich nicht synthetisieren (vgl. hierzu Tll 3 ).
3.4
Chalkogenverbindungen des Germaniums, Zinns, Bleis 8 4 8 8
3.4.1
Überblick
Systematik Von Germanium, Zinn und Blei (E) existieren gemäß Tab. 100 auf S. 1018 Monosowie Dichalkogenide EY sowie EY 2 (Y = O, S, Se, Te), darüber hinaus Oxide Sn 3 0 4 und Pb 3 0 4 , die im Sinne der Formulierung E 2 E I V 0 4 Tetrele unterschiedlicher Oxidationsstufen enthalten. Entsprechendes gilt für die Oxide Pb12019,18,17. 88
Literatur. W. S. Sheldrick, M. Wachhold: ,,Solvothermal Synthesis of Solid State Chalcogenidometalates", Chem 109 (1997) 214-234; Int. E d 36 (1997) 206.
Angew.
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1017
Strukturen Alle Germanium-, Zinn- und Bleichalkogenide sind hochmolekular und bilden Raum- sowie Schichtstrukturen (vgl. Tab. 100 und Einzelverbindungen). Bezüglich niedermolekularer, in der Tieftemperaturmatrix isolierter Chalkogenide vgl. Anm. 89 .
Eigenschaften Säure-Base-Verhalten. Die Mono- und Dioxide des Germaniums, Zinns rund Bleis stellen Anhydride der in Substanz nicht isolierbaren Hydroxide E(OH)„ = H„EO„ (n = 2, 4) dar. Die Acidität der amphoteren Verbindungen sinkt in Richtung Ge(OH)„, Sn(OH)„, Pb(OH)Ä sowie E(OH) 4 , E(OH) 2 . Für die Basizität gilt das Umgekehrte. Von den Di- bzw. Tetrahydroxiden leiten sich isolierbare Tetrel-Salze sowie Tetrelate und von diesen Schwefel-, Selen- und Tellurderivate ab. - Redox-Verhalten. Wie aus nachfolgenden Potentialdiagrammen hervorgeht, welche Redoxpotentiale einiger wichtiger Oxidationsstufen der Tetrele bei pH = 0 und 14 wiedergegeben, ist die Oxidationskraft der Spezies im Sauren größer als im Alkalischen (stärkstes Oxidationsmittel PbO2), die Reduktionskraft im Alkalischen größer als im Sauren (stärkstes Reduktionsmittel HCO2~, gefolgt von Sn(OH)3~). Entsprechend ihrem starken Reduktionsvermögen disproportionieren zweiwertige Verbindungen des Zinns (Stannate(II)) im alkalischen Medium in Stannate(IV) und fein verteiltes Zinn, während sich Zinn(II)-Salze in saurem Milieu durch Komproportionierung aus Zinn und Zinn(IV) bilden. Im Falle von Blei, das im vierwertigen Zustand ein viel stärkeres Oxidationsmittel als vierwertiges Zinn ist, erfolgt auch im alkalischen Milieu keine Disproportionierung. Zweiwertiges Germanium disproportioniert andererseits auch in saurem Milieu, doch ist die Disproportionierungsgeschwindigkeit klein. pH = 14
pH = 0 CO, Si Ge Sn Pb
-0.106
CO
-0.517
-0.909 -0.370
•Ge2
S -0.225
-0.154
G S
•Sn2
• 1.698 P2
c
-0.125
P
0.132
CH 4
CO2-
SiH 4
Si
GeH 4
GeO 2
SnH 4
Sn(OH)2
—-—PbH4
Pb(OH)2
0.102 -0.3 -1.071
-1.01
HCO
-1.07
-1.69
2-
S G
Ge(OH) -0.93 0.28
Sn(OH) Pb(OH)
H,CO
-0.91 -0.54
-0.4 -0.73 1.1
CH Si Ge
S
Sn
P
Pb
Nachfolgend werden die Oxide und Sulfide, zugehörige Säuren und Basen sowie davon abgeleitete Tetrel(II,IV)-Salze und Tetrelate(II,IV) von Ge, Sn, Pb besprochen, denen wegen ihres natürlichen Vorkommens und ihrer praktischen Bedeutung (vgl. z. B. Bleiakkumulator, Unterkapitel 3.4.5) zum Teil besonderes Interesse zukommt. Bezüglich der Selenide und Telluride, unter denen SnSe, SnSe2, PbSe und insbesondere PbTe als Halbleiter genutzt werden (PbTe findet zudem in photoelektrischen Zellen und Wärmefühlern Verwendung) vgl. Tab. 100, bezüglich sonstiger binärer Ge-, Sn-, Pb-Verbindungen A n m 9 0 .
89 Zur Erzeugung und Isolierung von Germaniummonoxid GeO (r Ge0 = 1.62 Ä; Bindungsenergie B E 0 e 0 = 654 kJ/mol) bzw. Germaniummonosulfid GeS (rGeS = 2.01 Ä; BE GeS = 547 kJ/mol) leitet man O 2 - oder H2S-Spuren im Vakuum über 1500 K heißes Germanium und kondensiert das gebildete, sehr verdünnte GeO- bzw. GeS-Gas mit viel Argon auf mit flüssigem Helium gekühlte Flächen. In Anwesenheit von O-Atomen bildet sich aus GeO Germaniumdioxid C)=Ge=O (linearer Bau, Dmh-Symmetrie; r G c 0 = 1.62 Ä; BE GeD = 495 kJ/mol). Kondensiert man GeO zusammen mit F 2 oder GeS zusammen mit COS, XeF 2 oder Cl2 und bestrahlt anschließend die Tieftemperaturmatrix, so bildet sich Germaniumdifluoridoxid O=GeF 2 (planar; C2v-Symmetrie; rGeS/GeF = 1.62/1.70 Ä; > FGeF = 100°C), Germaniumdisulfid S = G e = S (linear; Dmh-Symmetrie; r 0 . s = 2.01 Ä; BE GeS = 435 kJ/mol), Germaniumdifluoridsulfid S=GeF 2 (planar;C 2v -Symmetrie; rGeS/GeF = 2.02/1.71 A; > FGeF = 98°C)oder Germaniumdichloridsulfid S=GeCl 2 (planar; C2v-Symmetrie; rGcS/GcC1 = 2.03/2.16 Ä; *• ClGeCl = 105°C). 90 Beispiele für Pentelide von Ge, Sn, Pb sind etwa Ge3N4 (farblos, Bau analog Si3N4, aus Ge + NH3 bei 700 °C oder Ge(NH)2 bei 400 °C), Ge3N2 (dunkelbraun, gewinnbar durch Erhitzen des aus Gel 2 + N H zugänglichen Imids GeNH auf250-300 °C), GeP (NaCl-Struktur Halbleiter, Supraleiter 4.2 K), GeAs, Sn3N4 (schwarz), Sn4P3 (Raumstruktur), SnP (NaCl-Struktur), SnP3 (Schichtstruktur, Halbleiter wie SnP, Sn4P3, Thermolyse zu Sn4P3), SnAs, S n ^ , PbN6 = Pb(N3)2 (farblos, explosiv). Tetrelazide E(N3)4 = EN12 sind bisher nur für E = Si bekannt; es existieren aber Azidokomplexe E(N3)2~ (E = Ge, Sn, Pb).
• 1018
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Tab. 100 Germanium, Zinn und Bleichalkogenide (Smp./Sdp./Sbpl. in [°C], A/^ in [kJ/mol]; Raumstrukturen: Si0 2 (Quarz), Ti0 2 (Rutil), NaCl; Schichtstrukturen: P (schwarzer Phosphor), As^ (graues Arsen), PbO (vgl. S.1023), Cdl 2 ). a)
Oxide
Sulfide
Selenide
Telluride
+ 2
GeO Gelb, Zers. 700°Cb) Struktur
Ge Grauglänzend, Smp. 530° -Struktur
GeS Schwarzbraun, Smp. 667° -Struktur
GeTe Dunkel, Smp. 725° As^-Struktur
SnO Blauschwarzc), Zers. 250° AHf— 286.0 kJ; PbO-Strukt.
Sn Blaugrau, Smp. 882° Sdp. 1230°; NaCl-Struktur
SnS Graublau, Smp. 667° -Struktur
SnT Dunkel NaCl-Struktur
Pb Rot*>, Smp./Sdp. 897/1470° AH f — 219.5 kJ; PbO-Strukt.
Pb Schwarz, Smp. 1114° Sdp. 1281°; NaCl-Struktur
PbS Grau, Smp. 1065° NaCl-Struktur
PbT Silbergrau, Smp. 917° NaCl-Struktur
+ 2.6
S
-
-
-
+ 4
GeO, Farblosg), Smp. 1086° AHf— 551.4 kJ; Ti02-Strukt.
Ge Farblosh), Smp. 800° Raumstruktur
GeS Orangef., Smp. 707° Raumstruktur
GeT
Sn Farblos, Smp./Sblp. 1630/1800° AHf— 581.1 kJ; T ß 2 - Strukt.
Sn Goldglänzend, Zers. 600° AHf — 198 kJ; Cdl2- Strukt
SnS Dunkel, Smp. 625° Cd -Struktur
SnT Existenz fraglich
Pb Schwarzbraun'', Zers. 290° AHf— 277.6 kJ; TiO2-Strukt.
Pb Tiefrote'k) Cd -Struktur
PbS Instabil PbS
PbT Instabil PbT
P
Se
Se
a) Oxidationsstufe. - b) Sublimiert bei 700 °C im Vakuum. - c) Stabile a-Form; metastabile ß - F o r m Rot. - d) Stabile Form: Dichte 9.355g/cm3; metastabile F o r m Gelb, AH— 217.5 kJ/mol, Dichte 9.642g/cm3; verzerrte PbO-Struktur (vgl. S. 1024). - e) Pulverform; in kristallisierter Form silberglänzend (PbS) bzw. schwarzglänzend (PbSj). - f) E 3 0 4 = E ^ E ^ xPb 3 0 4 ; Rot, Smp. 8 3 0 X ^ / ^ — 7 1 8 . 9 kJ, Raumstruktur (S. 1026). Man kennt außer P b 3 0 4 = Pb 1 2 0 1 6 auch die dunkelbraunen bis schwarzen Oxide Pb 1 2 0 1 7 , Pb 1 2 0 1 8 (Dichte 10.04g/cm3) und Pb 1 2 0 1 9 . Offenbar existieren analoge Sn n Sn IV -Oxide unter denen Sn 3 0 4 am besten charakterisiert ist. - g) Stabile Rutilform; metastabile Quarzform: Farblos, Smp. 1115°C. - h) Stabile a-Form; metastabile /?-, y- und (5-Form (vgl. bezüglich der Strukturern S. 1019. i) S t a b i l e - F o r m : Dichte 9.634g/cm3; metastabile/?-Form(gewinnbar bei 300°C und 40000 b a r Schwarz, Dichte9.773 g/ cm3). - k) Nur unter Druck haltbar; zerfällt bei Normalbedingungen in PbS und S. Noch instabiler sind offenbar PbSe 2 und PbTe2 (vgl. hierzu PbX 4 mit X = Cl, Br, I).
3.4.2
Oxide und Sulfide, Säuren und Basen des Germaniums
Germaniummonoxid GeO (Tab. 100), das zum Unterschied vominstabilen homologen SiO recht beständig ist, entsteht durch Komproportionierung von Ge und Ge0 2 bei 1000 °C als gelbes, oberhalb 700 °C in Umkehrung der Bildung disproportionierendes Sublimat, falls man das bei hohen Temperaturen gebildete monomere, gasförmige GeO89 rasch abkühlt: Ge+Ge0 2 fc> 2GeO. Das sich von GeO ableitende ,,Germaniumdihydroxid" Ge(OH)2, das nur in Lösung zu existieren scheint und bei 650°C zu GeO entwässert wird, reagiert deutlich sauer („Germanige Säure" H 2 Ge0 2 ). Die aus GeCl2 und LiOR gewinnbaren Ester Ge(OR)2 sind bei sperrigem R in monomerer Form isolierbar (z. B. R = 2,4,6-iBu 3 C 6 H 2 : gelbe Verbindung, Winkel OGeO = 92°). In analoger Weise sind aus GeCl2 • Dioxan und LiNR 2 monomere Imidoderivate Ge(NR2)2 („Bisaminogermylene") der ,,Germanigen Säure" herstellbar (R z. B. «Bu, SiMe3: gelbe bis orangefarbene Verbindungen; (NR2)2 = —«BuNCH2—CH2N«Bu— oder — «BuNCH=CHN«Bu (vgl. S. 997); farblose Feststoffe, die mit Ni(CO)4 unter Verdrängung von CO zu Ni{Ge(NR 2 ) 2 } 3 abreagieren). GeO und Ge(OH)2 verhalten sich amphoter und lösen sich in starken Säuren bzw. Basen unter Bildung von Germanium(II)-Salzen (z. B. Ge(OH)2 + 2HCl0 4 -> Ge(Cl0 4 ) 2 + 2H 2 O; GeO + 3HC1 -> GeCl2 + HCl + H2O) bzw. Germaniten (schematisch: Ge(OH)2 + O H " Ge(OH)3"). Germaniumdioxid Ge0 2 (vgl. Tab. 100) entsteht aus den Elementen, beim Rösten von Germaniumdisulfid (das seinerseits beim Erhitzen von feingepulvertem Germanit C FeG in sauerstofffreiem Gasstrom als Sublimat erhalten wird) oder durch Behandlung von Ge bzw. GeS2 mit konzentrierter Salpetersäure
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1019
als feuerbeständiges weißes, bei starkem Erhitzen allmählich erweichendes Pulver. Es kristallisiert sowohl in einer mit Siliciumdioxid Si0 2 (tetraedisch koordiniertes G e Quarz-Struktur) als auch einer mit Zinndioxid Sn0 2 (oktaedrisch koordiniertes G e Rutil-Struktur) isomorphen Modifikation, darüber hinaus einer durch Abschrecken einer Ge -Schmelze erhältlichen glasigen Form 1116 1033
Ge (Rutilform
\
1086
Ge
Abschrecken
Ge
(Quarzform)
(flüssige Form
Ge (glasige Form
Die Quarzform ist zum Unterschied von der Rutilform etwas in Wasser löslich (ca. 0.4 g in 100 g H2O bei 20 °C). Die Lösung, die möglicherweise,,Germaniumtetrahydroxid" Ge(OH)4 enthält, reagiert deutlich sauer („Germaniumsäure" H 4 Ge0 4 ; = 9.03, pK2 = 12.33). Ge0 2 verhält sich amphoter, wobei der saure den basischen Charakter überwiegt (Ge0 2 löst sich nur in sehr starken Säuren, dagegen leicht in Basen). Die beim Auflösen von Ge0 2 in wässrigen Basen entstehenden Germanate, die auch beim Zusammenschmelzen von Ge0 2 mit Oxiden erhalten werden können, entsprechen in ihrer Zusammensetzung und Struktur weitgehend den Silicaten (S. 962). So kennt man z. B. Orthogermanate mit isolierten Ge0 4 ~Einheiten (z. B. Na 4 Ge0 4 , Ca 2 Si0 4 , Be 2 Ge0 4 , Zn 2 Ge0 4 ; lösliches Na 4 Ge0 4 bildet in wässriger Lösung Salze mit den Anionen GeO(OH)3~, GeO 2 (OH) 2 ~, {[Ge(OH) 4 ] 8 (OH) 3 } 3 "), Digermanate mit Ge 2 0?T-Inseln (z.B. Sc 2 Ge 2 0 7 ), Cyclogermanate mit Ge 3 Oj~-Ringen (z.B. BaTiGe 3 O s ), Metagermanate mit [GeO^-^-Ketten und Metadigermanate mit Ge 2 0 2 ~-Bändern. Auch Hexahydroxogermanate wie Fe[Ge(OH) 6 ] sind bekannt. Die diesen Salzen entsprechenden Germaniumsäuren existieren nicht als definierte reine Verbindungen, da sie wie die Siliciumsäuren in wässriger Lösung nur als Gemische unterschiedlichen Kondensationsgrades vorliegen (vgl. S. 960). Unter den formal als Germanium(IV)-Salzen zu klassifizierenden Verbindungen seien die aus Ge0 2 und HX hervorgehende Germanium(IV)-halogenide GeX 4 (vgl. S.1015) sowie das aus GeCl4 und SO3 bei 160 °C zugängliche instabile Germanium(IV)-sulfat Ge(SO4)2 erwähnt Germanium(IV)-acetat Ge(OAc) 4 ( f a r b l o s e Nadeln, Smp. 150°C) entsteht durch Einwirkung von TlOAc auf GeCl 4 . Germaniummonosulfid GeS (Tab. 100) lässt sich durch Reduktion von GeS 2 mit Wasserstoff (GeS2 + H2 -> GeS + H2S), mit Germanium (GeS 2 + Ge -> 2GeS) oder mit Phosphinsäure bzw. durch Einleiten von Schwefelwasserstoff in eine wässrige Ge 2+ -haltige Lösung ( G e 2 + + H 2 S -> GeS + 2 H ; analog: Ge 2+ + H2Se -> GeSe + 2 H ) in Form grauschwarzer, metallisch glänzender Plättchen gewinnen (Schichtstruktur analog schwarzem Phosphor, S. 747). GeS ist zum Unterschied von instabilem homologen SiS recht beständig Germaniumdisulfid GeS2 (Tab. 100) fällt als farbloser Niederschlag beim Einleiten von Schwefelwasserstoff in eine stark saure Germanium(IV)-Salzlösung aus (analog Bildung von GeSe2 aus Ge(IV) + H2Se). Es entsteht auch aus den Elementen bei 1100 °C unter Druck. Das bei Normalbedingungen stabile a-GeS2 bildet - anders als das kettenförmige, aus kantenverknüpften SiS4-Tetraedern aufgebaute SiS2 - eine Raumstruktur mit eckenverknüpften GeS4-Tetraedern. Es wandelt sich bei höheren Temperaturen in ßGeS2 um (bei Raumtemp. metastabil), das eine Schichtstruktur kanten- und eckenverknüpfter GeS4-Tetraeder aufweist. Bei Temperatur- und Druckeinwirkung erhält man y-GeS2 mit Cristobalit-ähnlicher Struktur (vgl. S. 952) sowie S-GeS2. Letztere Form entsteht auch durch Polykondensation des Anions Ge4S?0~ (c) unter sauren Bedingungen. Es besitzt ebenfalls Raumstruktur, die näherungsweise aus der Struktur der y-Form dadurch folgt, dass man die Ge-Atome durch Ge4S6-Käfige mit P 4 0 6 -Struktur (c) ersetzt. Von der hypothetischen Thiogermaniumsäure H 4 GeS 4 , deren Thioanhydrid GeS 2 ist, leiten sich eine Reihe von Thiogermanaten ab. So kennt man Salze mit den Inselionen Ge2S7~ (a), Ge2S^~ (b), Ge4Sj0~ (c) sowie dem Kettenion [GeS 2 -]^ (d).
S
S
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Ge S^ | ^
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(a) z.B. Na 6 Ge 2 S 7
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(b) z.B. Tl 4 Ge 2 S 6
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S ^
I
• Ge^
I
s
(c) z.B. Ba 2 Ge4S 1
S" 11 Ge
S" 11 Ge
S|" 1 Ge
S"
S"
S"
1 ^^
1 S^
1 ~
(d) z.B. Na 2 GeS 3 , PbGeS 3
Man kennt auch Homologe der Ionen (a), (b), (c) und (d), z. B.: Sn2S7 , Ge2Se^ Sn2Te2~, Ge4S 10 , Ge4TeJ0 , GeS2 , GeTe2 . Das nach Ersatz der exoständigen Sulfidionen in (c) durch Bromid resultierende Ge 4 S 6 Br 4 entsteht nach: 4GeBr 4 + 6H 2 S -> Ge 4 S 6 Br 4 + 12HBr in AlBr3-haltigem Schwefelkohlenstoff CS,.
• 1020
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
3.4.3
Oxide und Sulfide, Säuren und Basen des Zinns
Zinnmonoxid SnO (Tab. 100) entsteht in Form eines Hydrates SnO • * H 2 0 (x < 1) beim Versetzen einer Sn(II)-Salzlösung mit wenig Alkalihydroxid oder wässrigem Ammoniak als farbloser, flockiger, in Wasser sehr schwer löslicher Niederschlag. Beim Erwärmen unter Luftabschluss (z. B. im C0 2 -Strom) wird es bei 60-70°C zu blauschwarzem SnO (,,a-Zinn(II)oxid") dehydratisiert. Erhitzt man eine Suspension von SnO • xH 2 O in wässerigem Ammoniak in Anwesenheit von Phosphinat auf 90-100°C, so bildet sich rotes, bezüglich a-SnO metastabiles SnO (,,/?-Zinn(II)-oxid"), das sich beim Erwärmen bzw. unter Druck bzw. durch Impfen mit a-SnO in die stabilere a-Form umwandelt. Beim Erhitzen auf 250-425 °C disproportioniert a-SnO über verschiedene gemischt-valente Oxide, unter denen Sn 3 0 4 = Sn"Sn I V 0 4 (vgl. Pb 3 0 4 , unten) am besten charakterisiert ist, in Zinn und Zinndioxid: 2SnO Sn + Sn0 2 (vgl. GeO, oben). An Luft verbrennt es ab 300°C zu Sn0 2 . Blauschwarzes a-SnO besitzt die gleiche Schichtstruktur wie rotes PbO (vgl. S. 1023). Jedes Sn-Atom liegt hierbei an der Spitze einer quadratischen Pyramide, deren Basis jeweils vier O-Atome bilden (e). Hierbei sind die SnO4-Pyramiden (e) so über gemeinsame OO-Kanten verknüpft, dass die O-Atome eine quadratische Packung bilden (Sn abwechselnd ober- und unterhalb der Sauerstoffschicht). Die Struktur von ß-SnO ist mit der von a-SnO verwandt. Zinn(II)-oxid (hydratisiert oder nicht hydratisiert) löst sich sowohl in Säuren als auch in Alkalilaugen, zeigt also amphoteren Charakter (Bildung von Zinn(II)-Salzen bzw. Stannaten(II) (,,Stanniten"): SnO + 2 H SnO + OH " + H 2 0
^Sn2++H2O
bzw.
Sn(OH)2 + 2H++ ^ S n 2 + + 2 H 2 O ,
[Sn(OH) 3 ]"
bzw.
Sn(OH)2 + OH "
[Sn(OH) 3 ]".
Wässerige Zinn(II)-Lösungen enthalten je nach Salz- sowie Protonenkonzentration unterschiedliche Mengen verschiedener mono- und polynuklearer kationischer bzw. anionischer Spezies (vgl. hierzu auch S. 1158). In stark saurem Milieu liegen Sn(OH2)3+- sowie SnOH(OH2)^-Ionen (f), in weniger saurem Milieu bevorzugt Sn3(OH)4+-Ionen (g) vor (in einem Würfel sind vier nicht benachbarte Ecken durch OHGruppen, drei Ecken durch Sn(II)-Atome besetzt; eine Würfelecke bleibt unbesetzt). In stark alkalischem Milieu existieren die Anionen Sn(OH)3" (f) und Sn2O(OH)4" = (HO)2Sn—O—Sn(OH)2~. Viele basische Sn(II)-Salze, die sich unter geeigneten Bedingungen aus Sn(II)-Lösungen fällen oder aus Sn(II)-oxid und Säuren gewinnen lassen, enthalten das Sn3(OH)4+-Ion, viele Stannate(H) das mit As(OH)3 isovalenzelektronische Sn(OH)3~-Ion oder dessen Kondensationprodukt, das Sn2O(OH)4~-Ion. Aus Sn3(OH)4+haltigen Lösungen lässt sich bei vorsichtiger pH-Erhöhung das Zinnoxid-Hydrat Sn6C)4(OH)4 = 6SnO • 2H2O (h) fällen: 2Sn3(OH)4+ + 4OH" Sn6C>4(OH)4 + 2H2O (in (h) sind die Sn04-Pyramiden (e) so über gemeinsame OO-Kanten verknüpft, dass die O-Atome an den Ecken eines Würfels lokalisiert sind und die Sn-Atome die 6 Würfelflächen überkappen). Reines ,,Zinndihydroxid" Sn(OH)2 lässt sich nicht aus Sn(II)-Lösungen ausfällen; es entsteht jedoch gemäß 2R 3 SnOH + SnCl2 -> Sn(OH)2 + 2R 3 SnCl (R = Organischer Rest) in aprotischen Lösungsmitteln (Struktur unbekannt). In entsprechender Weise lassen sich durch Umsetzung von SnCl2 mit Alkalisalzen von Alkoholen ROH oder Aminen R2NH (R = Organischer Rest, Silylgruppe) Derivate Sn(OR)2 und Sn(NR2)2 des Zinndihydroxids gewinnen. Diese sind normalerweise dimer (SnOSnO- bzw. SnNSnN-Vierringe), bei Vorliegen sehr sperriger Reste R auch monomer (R z. B. 2,4,6-«Bu3C6H2 in Sn(OR)2 bzw. «Bu oder SiMe3 in Sn(NR2)2).
SnO 4 -Einheit in (e) [SnO] x
SnO 3 -Einheit in (f) Sn(OH2)3+, Sn(OH) 3
Sn (g) S n 3 ( O H ) f
(h) Sn6 O 4 (OH) 4
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1021
Als Beispiele für Zinn(II)-Salze seien genannt Farbloses ,,Zinn(IT)-perchlorat" Sn(Cl0 4 ) 2 (gewinnbar gemäß Cu(Cl0 4 ) 2 + Sn(Amalgam) Sn(Cl0 4 ) 2 + Cu), farbloses „Zinn(II)-sulfat" SnSO4 (gewinnbar gemäß CuSO4 + Sn(Amalgam) ^ SnSO 4 +Cu), basisches ,,Zinn(II)-nitrat" [Sn3(OH)4](NO3)2, ,,Zinn(II)-phosphate" wie Sn3(PO4)2, Sn(HPO4), Sn(H2PO4)2, SnP 2 0 7 , Sn(PO3)2, Sn(HPO3) sowie Zinn(II)-Salze organischer Säuren wie „Zinn(II)-formiat", ,,-acetat", ,,-oxalat" Sn(HCO2)2, Sn(OAc)2, SnC 2 0 4 . „Nacktes" Sn 2+ liegt dem aus SnF 2 und SbF5/AsF5 zugänglichen Salz [Sn 2+ ][SbF 6 ~] 2 • 2AsF 5 zugrunde. Beispiele für Stannate(II) sind etwa ,,Oxohydroxostannate" Na 2 [SnO(OH) 4 ], Na 4 [Sn 4 O(OH) 10 ] = und Ba[SnO(OH)] 2 (enthält polymere Ionen [—O—Sn(OH)—]^ mit 2Na[Sn(OH) 3 ] • SnO3-Pyramiden). Die Stannate(II) kommen auch in wasserfreier Form vor. Man verwendet die Zinn(II)Salze organischer Säuren (Acetat, Oxalat, Oleat, Stearat) zum Härten von Siliconelastomeren sowie insbesondere zur Herstellung von Polyurethanschäumen. Von der reduzierenden Wirkung der Stannate Sn(OH)3~ macht man technisch z. B. in der Küpenfärberei Gebrauch.
Zinndioxid Sn0 2 (Tab. 100) kommt in der Natur als tetragonal im Rutil-Typ kristallisierter Zinnstein (Kassiterit) vor; daneben vermag es noch rhombisch und hexagonal aufzutreten. Technisch wird S n 0 2 durch Verbrennen von Zinn im Luftstrom hergestellt. Es stellt ein in Wasser, Säuren und Alkalilaugen unter Normalbedingungen unlösliches weißes Pulver dar, das oberhalb von 1800 °C sublimiert und durch Glühen mit Koks (S. 1003) oder durch Erhitzen im Wasserstoffstrom zu metallischem Zinn reduziert wird. Zinndioxid weist wie Zinnmonoxid (S. 1020) amphoteren Charakter auf und reagiert demgemäß sowohl mit Säuren (z. B. heißer verdünnter Schwefelsäure) zu Zinn(IV)-Salzen als auch mit Basen (z.B. einer Schmelze von Natriumhydroxid oder -oxid) zu Stannaten(IV): S n 0 2 + 2H 2 SO 4
Sn(SO 4 ) 2 ;
Sn0 2 + N a 2 0
Na 2 Sn0 3 .
Aus der schwefelsauren Lösung lässt sich das farblose, hygroskopische ,,Zinn(IV)-sulfat-Dihydrat" Sn(SO 4 ) 2 • 2H 2 O auskristallisieren. Weitere Beispiele isolierbarer „Salze" sind etwa das stark nitrierend wirkende farblose ,,Zinn(IV)-nitrat" Sn(NO 3 ) 4 (gewinnbar gemäß SnCl 4 + 4XNO 3 -> Sn(NO 3 ) 4 + 4ClX mit X = Cl, Br, N 0 2 ) und das farblose, kristalline ,,Zinn(IV)-phosphinat" Sn(H 2 PO 2 )4 (gewinnbar gemäß SnO + j 0 2 + 4H 3 PO 2 ^ Sn(H 2 PO 2 ) 4 + 2H 2 O). Aus der konzentrierten wässerigen Lösung der NaOH/SnO2-Schmelze kristallisiert andererseits,,Natrium-hexahydroxostannat" Na 2 [Sn(OH) 6 ] (,,Präpariersalz") als wasserlösliches Salz aus. Es enthält das oktaedrisch gebaute [Sn(OH) 6 ]2--Ion, das dem Hexachlorostannat SnCl2- (s.o.) entspricht. Analoge Zusammensetzung und Struktur besitzt das gut kristallisierte ,,Kaliumhexahydroxostannat" K 2 [Sn(OH) 6 ] (Bau analog Brucit Mg(OH) 2 , S. 1229: Ersatz von f bzw. ^Mg2 + durch K + bzw. ^ 4 + ). Durch Umsetzung mit löslichen Calcium-, Strontium- oder Blei-Salzen lassen sich hieraus „Calcium-", „Strontium-" und „Bleihexahydroxostannate" M"[Sn(OH) 6 ] gewinnen. Es existieren aber auch wasserfreie Stannate wie etwa die „Orthostannate" K4Sn04, Mg 2 Sn0 4 und Zn 2 Sn0 4 (letztere beiden mit Spinellstruktur) oder die ,,Metastannate" Li 2 SnO 3 , Na 2 SnO 3 , (in letzterem Stannat sind quadratisch-pyramidale SnO5-Einheiten über jeweils zwei gemeinsame Basissauerstoffatome zu Ketten verknüpft; Pyramidenspitzen abwechselnd ober- und unterhalb der 0 4 -Basisflächen). Die den Hexahydroxostannaten entsprechende Zinnsäure H 2 [Sn(OH) 6 ] = Sn0 2 • 4H 2 O ist in freiem Zustande nicht bekannt. Versetzt man Alkalihexahydroxostannat-Lösungen mit der doppelt-äquivalenten Menge Säure, so fallen weiße, voluminöse Zinndioxid-Hydrate Sn0 2 • xH2O aus (x < 2), die den Charakter von Gelen (S. 962) besitzen und auch durch Hydrolyse von Zinn(IV)-Salzen zugänglich sind. Das Hydrat Sn0 2 • 2 H 2 0 = Sn(OH) 4 ist unbekannt, doch lässt sich durch Trocknen der Gele bei 110°C das Hydrat S n 0 2 • H 2 0 = SnO(OH)2 gewinnen. Die weitergehende Dehydratisierung führt schließlich bei 600 °C zu kristallinem S n 0 2 (vgl. Kieselsäuren, S. 960). Parallellaufend mit der Wasserabspaltung werden die Verbindungen mehr und mehr in Säuren und Basen unlöslich. Früher nannte man die frischen, wasserreichen, niedermolekularen Niederschläge ,,a-Zinnsäure" (,,gewöhnliche Zinnsäure"), die gealterten, wasserarmen, hochmolekularen Niederschläge „ß-Zinnsäure" (Metazinnsäure). Zinndioxid (Weltjahresproduktion: zehn Kilotonnenmaßstab) findet technisch ausgedehnte Verwendung zur Herstellung weißer Glasuren und Emaillen (S. 978), da es Glasflüsse milchigweiß trübt und chemisch sowie thermisch sehr widerstandsfähig ist. Auch dient es als Grundstoff für Farbpigmente von Gläsern und Glasuren (Sn / für Gelb-, Sn /C für Rosa-, Sn /S für Blaugrautöne). Dünne Sn0 2 -Schichten ( < 0.1 |im) auf Glasoberflächen (Bildung durch Aufdampfen von SnCl 4 ) erhöhen den Abriebwiderstand des Glases, dickere Schichten (0.1-1.0 |im) führen zu schillernden Interferenzfarben, noch dickere Filme eignen sich - da sie IR-Licht reflektieren und für sichtbares Licht durchlässig sind - zur Fensterwärmeisolierung. Mit Sb- oder F-Ionen dotierte, elektrisch leitende SnO2-Schichten nutzt man für Elektroden, elektrolumineszierende Geräte, enteisbare Windschutzscheiben usw. Zinn/Vanadiumoxid bzw. Zinn-/Antimonoxid werden als Katalysatoren bei Oxidationen organischer Verbindungen ein-
• 1022
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
gesetzt (z.B. Bildung aromatischer Carbonsäuren aus Alkylaromaten, von Acrylnitrit aus Propen). Das Präpariersalz Na 2 Sn(OH) 6 wird in der Färberei zur Vorbereitung von Textilien für die Aufnahme von Beizfarbstoffen verwendet. Man nutzt es darüber hinaus zur stromlosen oder galvanischen Verzinnung sowie als Flammschutzmittel Zinnmonosulfid SnS (Tab. 100; NaCl-Struktur) fällt beim Einleiten von Schwefelwasserstoff Salzlösungen als dunkelbrauner Niederschlag aus: Sn 2 + + S 2 "
in
Zinnie-
SnS,
der sich zum Unterschied vom Zinn(IV)-sulfid SnS 2 (s. u.) in ,,farblosem Schwefelammon" (S. 560) oder Alkalihydrogensulfid nur bei Gegenwart von Schwefel (Übergang von SnS in SnS 2 ) löst: SnS + S + S2~ -> SnS2~- Beim Schmelzen von Zinn mit Schwefel kann Zinn(II)-sulfid als blaugraue, kristalline Masse erhalten werden. Im Wasserstoffstrom ist es unzersetzt sublimierbar. Zinndisulfid SnS2 (Tab. 100, CM2-Struktur) wird technisch durch Erhitzen von Zinn oder Zinnamalgam mit Schwefelblume in Gegenwart von Salmiak NH4Cl dargestellt: Sn + 2S -> SnS2. Auch aus nicht zu stark sauren Zinn(IV)-Salzlösungen fällt beim Einleiten von SchwefelwasserstoffSnS2 aus (analog Bildung von SnSe2). Man erhält das Disulfid aus den Elementen in Form goldglänzender, durchscheinender Blättchen, durch Fällung als gelbbraunes Pulver. Ähnlich wie sich Sn0 2 mit Alkalioxiden zu Stannaten(IV) vereinigt (s.oben), ergibt SnS2 mit Alkalisulfiden Thiostannate(IV): Sn
N
N
Sn
Jedoch erfolgt die Umsetzung leichter als dort, sodass sie bereits in wässeriger Lösung durchgeführt werden kann. In wasserhaltigem Zustande besitzen die ,,Trithiostannate" die Zusammensetzung M2SnS3 • 3 H 2 0 = M 2 [Sn(SH) 3 (OH) 3 ], welche der Formel M 2 [Sn(OH) 6 ] der wasserhaltigen Stannate entspricht. Auch wasserhaltige,, Tetrathiostannate" M4SnS4 • 2 H 2 0 = M 4 [Sn(SH) 4 (OH) 2 ] sind bekannt. Viele wasserfreie Thiostannate enthalten isolierte Anionen mit SnS4-Tetraedern, wie z. B. die Salze mit den Anionen Sn2S«" = S3SnSSnS3~ und Sn2Y4" = Y 2 Sn(Y) 2 SnY 2 ~ (Y = S, Se, Te; vgl. (a) und (b) auf S. 1019, Sn statt Ge). Das Anion [SnS3~]x (z. B. in Na2SnS3) weist andererseits über gemeinsame S-Atome zu einer Raumstruktur verbrückte SnS6-Oktaeder auf. Ähnliches trifft für [Sn2Sj~]x (z. B. in K 2 Sn 2 S 5 , Tl2Sn2S5) zu. Die Anionen [Sn3S,~]x (z.B. in Rb2Sn3S7 • 2H 2 O kommt andererseits Schichtstruktur zu; die Schichten bauen sich aus netzartig miteinander über gemeinsame S2-Kanten verknüpfte Sn3S10-Fragmente (i) mit verzerrt-trigonal-bipyramidalen SnS5-Gruppen auf (die gemeinsamen S-Atome dürfen hier wie auch in (k) und (l) nur zur Hälfte gezählt werden; analog gebaut ist [enH2]Sn3Se7 • 0.5en mit en = H 2 NCH 2 CH 2 NH 2 ). Die Anionen [Sn5Sj.f ] x (z. B. in (Cs4Sn5S12 • H O ) enthalten miteinander über gemeinsame S2-Kanten zu Schichten verknüpfte Sn5S16-Fragmente (k), welche formal aus den Sn3S10Fragmenten (i) hervorgehen und neben trigonal-bipyramidalen SnS5-Gruppen auch oktaedrische SnS2Gruppen aufweisen (die erwähnten Thiostannate sind hydrothermal aus Rb2CO3/SnS2/H2S bzw. Cs2CO3/ SnS2 in H2O bei 150°C gewinnbar). Die Ionen [Sn4Sj~]x (z. B. in [iBu 4 N] 2 Sn 4 S 9 ) bestehen aus Schichten miteinander über Sn(IV) verknüpften Sn6S18-Fragmenten (l) und enthalten trigonal-bipyramidale SnS3Gruppen sowie tetraedrische Sn -Gruppen (rechts unten angedeutet).
(i) z.B. in Rb2Sn 3 S 7
3.4.4
(k) z.B. in Cs 4 Sn 5 S
(l) z.B. in (R 4 N) 2 Sn 4 S 9
Oxide und Sulfide, Säuren und Basen des Bleis
Bleimonoxid PbO (Tab. 100) wird technisch durch Oxidation von geschmolzenem Blei durch darüber geblasene Luft oberhalb 600°C dargestellt: Pb + j 0 2 -> PbO. Geschmolzenes PbO ist rot und erstarrt beim Erkalten zu einer rotgelben, kristallin blätterigen Masse („Bleiglätte"), die sich durch H 2 , C, CO oder KCN in der Hitze leicht zum Metall reduzieren lässt. PbO kommt in der Natur sowohl in einer gelben rhombischen Form (,,Massicotit") als auch in
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1023
einer roten tetragonalen Form (,,Lithargit") vor (Bleiglätte stellt eine Mischung beider Formen dar): 1.6 kJ + PWrot
488°C
(Lithargit)
PbO,gelb
897°C
(Massicotit)
Pb (flüssige Form)
Die bei gewöhnlicher Temperatur stabile Modifikation ist die rote. Jedoch lässt sich auch die gelbe Modifikation unterhalb des Umwandlungspunktes als metastabile Verbindung erhalten, da die Umwandlungsgeschwindigkeit gering ist. Erwärmt man z. B. Bleicarbonat oder Bleinitrat vorsichtig, so erhält man das Blei(II)-oxid als gelbes zartes Pulver (,,Massicot"): P b C 0 3 -> PbO + C 0 2 . Es wurde früher als Farbe benutzt. Bei längerem Kochen mit Wasser wandelt sich das gelbe Oxid in das rote um, da letzteres als stabile Modifikation den geringeren Dampfdruck besitzt und damit in Wasser schwerer löslich als das gelbe ist, sodass die mit gelbem Oxid gesättigte wässrige Lösung in Bezug auf das rote Oxid übersättigt ist. Rotes PbO besitzt wie blauschwarzes SnO Schichtstruktur. Innerhalb jeder Schicht (m) bilden die Sauerstoffatome eine quadratische Kugelpackung, in deren durch jeweils vier O-Atome gebildeten Mulden die Blei(II)-Ionen liegen und zwar abwechselnd oberhalb und unterhalb der Sauerstoffebene. Jedes Bleiatom liegt mithin an der Spitze einer quadratischen Pyramide mit einer Basis aus jeweils vier Sauerstoffatomen (vgl. Formel (e) auf S. 1020; PbO-Abstand = 2.30 Ä). Die PbO-Struktur lässt sich auch als FluoritStruktur deuten, in der jede übernächste Sauerstoffschicht fehlt. Ähnlich rotem ist gelbes PbO gebaut. Die vier PbO-Abstände sind allerdings hier nicht identisch (2.21 Ä und 2.49 Ä).
\y \ y \y \ / Pb
Pb
Pb
Pb
X \ oX \ oX X oX \o
o
/
o.
Pb
X X
X
o
\ x \ x Pb
Pb
\
v / \o / \ o.
o.
\ / o
x
Pb
' \ PbX \ •
\ X \ , o
o
O
(n) Pb6O Baueinheit aus Pb6O(OH)4+ (6OH-Gruppen über den Dreiecksflächen der äußeren beiden Tetraeder)
(m) PbO
Beim Versetzen einer Blei(II)-Salzlösung mit Alkalilauge fällt das Hydrat PbO • x H 2 0 (x < 1) als weißer Niederschlag aus. Durch vorsichtige Hydrolyse einer Blei(II)-acetatlösung erhält man ein kristallines Produkt der Zusammensetzung 6 P b O - 2 H 2 0 = P b 6 0 4 ( 0 H ) 4 (x = i in obiger Formel; Struktur analog Sn 6 0 4 (OH) 4 , S. 1020). Reines Pb(OH) 2 (x = 1) konnte bisher noch nicht dargestellt werden. Durch Reaktion von PbCl2 mit Alkalisalzen von Alkoholen ROH oder Aminen R 2 NH (R = Organischer Rest, Silylgruppe) lassen sich aber rote Derivate Pb(OR) 2 (R z. B. 2,4,6-/Bu3C6H2) und Pb(NR 2 ) 2 (R z. B. SiMe3) herstellen. Beim Erwärmen auf 100 °C geht PbO • xH 2 O in rotes PbO über; bei niedrigeren Temperaturen entsteht dagegen gelbes PbO. Blei(II)-oxid-Hydrat ist in Wasser etwas löslich; die wässrige Lösung zeigt alkalische Reaktion. Die Dissoziationskonstante entspricht etwa der des Ammoniaks Als Base löst sich das Oxid-Hydrat leicht in Säuren unter Bildung von Blei(II)-Salzen. Wesentlich schwächer ausgeprägt ist der saure Charakter. Daher ist Blei(II)-oxid-Hydrat nur in konzentrierten Laugen unter Bildung von Plumbaten(II) (,,Plumbiten") löslich: PbO + 2 H +
P b 2 + + H 2 O bzw. Pb(OH) 2 + 2 H +
Pb2++ 2 ^ O ,
PbO + O H " + H 2 0
[Pb(OH 3 )]" bzw. Pb(OH) 2 + O H "
[Pb(OH) 3 ]".
• 1024
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Entsprechend der Zunahme der Stabilität der zweiwertigen Stufen mit wachsendem Gewicht der Kohlenstoffgruppenelemente ist das Reduktionsvermögen von Blei(II)-Salzen und Plumbaten(II) wesentlich kleiner als das der entsprechenden Zinn(II)-Verbindungen (vgl. Potentialdiagramme auf S. 1017). Wässerige Blei(II)-Lösungen enthalten - je nach Salz- und Protonenkonzentration - unterschiedliche Mengen verschiedener mono- und polynuklearer, kationischer, neutraler und anionischer, zum Teil hydratisierter Spezies (vgl. S.1020): Pb2 + , Pb(OH) + , B 4 ( O H ) 4 + , Pb 3 (OH)2 + , Pb 6 O(OH)£ + , Pb(OH) 2 , Pb(OH) 3 (fett: wichtigere Spezies). In saurem Milieu (bis etwa pH = 6) liegen im Falle 0.1 molarer Lösungen insbesondere Pb2+- und Pb 4 (OH) 4 + -Ionen vor (in den Pb 4 (OH) 4 + -Ionen besetzen die Pb(II)Ionen und OH~-Gruppen abwechselnd die Ecken eines Würfels). Bei mittleren pH-Werten (ca. 6 - 1 2 ) dominiert das Pb 6 O(OH)g + -Ion (n), das in Form von basischem Blei(II)-perchlorat [Pb 6 O(OH) 6 ] ( C l 0 4 ) 4 isolierbar ist (drei flächenverknüpfte Pb-Tetraeder; das mittlere Tetraeder ist mit einem O-Atom zentriert, das somit 4Pb-Atome bindet; über den insgesamt sechs freien Dreiecksflächen der beiden äußeren Tetraeder liegt jeweils eine Hydroxidgruppe, welche somit mit 3 Pb-Atomen verknüpft ist). In stark alkalischem Milieu (ab etwa pH = 12) existieren Pb(OH) 3 -Ionen (Struktur analog Sn(OH) 3 Ionen; vgl. Formel (f) auf S. 1020). Bleimonoxid (Weltjahresproduktion: fünfhundert Kilotonnenmaßstab) findet als Zusatz zu Glas, keramischen Glasuren und glasartigen Emaillen Verwendung, da es Gläser schwerer, thermisch weniger leitfähig, stärker glänzend und stabiler macht. Darüber hinaus nutzt man es in Bleiakkumulatoren als solches oder im Gemisch mit Blei („Bleischwarz") für die Herstellung der Batterieplatten ( = netzartige Träger, auf die eine PbO/H 2 SO 4 -Paste aufgebracht wurde; vgl. S. 1026). Bezüglich der Verwendung von Pb(NO 3 ) 2 als NO-Lieferant und von Pb-Salzen als Farbpigmente s. unten. Wichtig sind Pb(NO 3 ) 2 sowie Pb(OAc) 2 auch zur Darstellung von Bleichemikalien nach „Nassverfahren", die Verbindungen PbCN 2 , Pb 3 (PO 4 ) 2 , PbSiO 3 , P b C r 0 4 als Korrosionsschutzpigmente 91 und P b ( C l 0 4 ) 2 sowie Pb(BF 4 ) 2 zur elektrolytischen Abscheidung von Blei auf Metallteilen zwecks Verbesserung der Korrosionsbestän digkeit und der Gleiteigenschaften. Viele Mischoxide wie PbO • T i 0 2 (ferroelektrisch bis 490 °C, Perowskitstruktur) oder PbO • Nb 2 O s (ferroelektrisch bis 560 °C) haben hohe Curie-Temperaturen, was sie als Hochtemperatur-Ferroelektrika wertvoll macht Blei(II)-nitrat Pb(NO 3 ) 2 . Das gut wasserlösliche Blei(II)-nitrat wird technisch durch Auflösen von Blei oder Bleioxid in heißer verdünnter Salpetersäure gewonnen. Es kristallisiert in großen wasserklaren Kristallen und zersetzt sich beim Erhitzen gemä Pb(NO 3 ) 2
PbO + 2 N 0 2 + | 0 2
unter Abspaltung von Stickstoffdioxid und Sauerstoff. Daher kann man es zur Darstellung von Stick stoffdioxid (S.713) und als Sauerstoffüberträger für Zündmischungen benutzen. Blei(II)-sulfat PbSO 4 (Smp. 1170°C) findet sich in der Natur oft in schön ausgebildeten, großen, rhombischen, in reinem Zustande glasklaren (,,Bleiglas") Kristallen als Anglesit (Vitriolbleierz). In Wasser ist die Verbindung nahezu unlöslich, sodass sie durch Versetzen einer Blei(IT)-Salzlösung mit verdünnter Schwefelsäure oder einem löslichen Sulfat erhalten werden kann: Pb2+ + SO2~ -> PbSO 4 (Verwendung zum „Nachweis und zur quantitativen Bestimmung von Blei"; es lösen sich 42.5 mg pro Liter bei 25 °C; ähnlich unlöslich ist PbSe ). Erheblich besser löst sich Bleisulfat in konzentrierten starken Säuren (Salzsäure, Salpetersäure, Schwefelsäure), z. B.: PbSO 4 + H 2 SO 4 -> Pb(SO 4 H) 2 . Daher enthielt die nach dem Bleikammerverfahren früher hergestellte und in Bleipfannen konzentrierte Schwefelsäure des Han dels Bleisulfat, das beim Verdünnen größtenteils wieder ausfällt. Auch in konzentrierten Alkalilaugen löst sich Bleisulfat, wobei Alkali-hydroxoplumbite (s. unten) entstehen. Blei(II)-carbonat PbCO 3 kommt in der Natur als Cerussit (Weißbleierz) vor Technisch erhält man es durch Einleiten von Kohlendioxid in eine verdünnte Bleiacetatlösung oder durch Versetzen einer Bleinitratlösung mit Ammoniumcarbonatlösung in der Kälte als wasserunlöslichen Niederschlag: Pb2+ + CO2~ -> PbCO 3 . Fällt man Bleisalzlösungen in der Wärme mit Alkalicarbonat, so entstehen basische Bleicarbonate PbCO 3 • xPb(OH) 2 . Ein solches basisches Bleicarbonat ist z.B. das als Anstrichfarbe geschätzte „Bleiweiß", welches gewöhnlich die Zusammensetzung 2PbCO 3 • Pb(OH) 2 besitzt, sich im Misthaufen
9i Die in Verbindung mit Lacken auf Metallen als Anstriche oder Grundierungen aufgebrachten Korrosionsschutzpigmente sollen die Metallkorrosion (von lat. corrodere = zernagen) unterbinden (passiver Korrosionsschutz). Dies kann nach verschiedenen Mechanismen erfolgen, etwa durch Passivierung (z.B. Bildung von Oxidschutzschichten durch Einwirkung starker Oxidationsmittel wie Chromate, P b 3 0 4 oder durch anodische Oxidation), durch kathodische Schutzwirkung (Aufbringen von reduzierend wirkenden Stoffen wie Zinkstaub, Blei(II)-Verbindungen), durch Schutzschichtbildung (Aufbringen von Chromat-, Phosphatschichten).
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1025»
gemäß 3Pb + 1.50 2 + 2 C 0 2 + H 2 0 -> 2PbCO 3 ' Pb(OH) 2 bildet und in der Natur als Hydrocerussit vorkommt. Da es von allen weißen Farben den schönsten Glanz, die größte Deckkraft und das beste Haftvermögen aufweist, lässt es sich trotz seiner Giftigkeit und seiner Empfindlichkeit gegenüber Schwefelwasserstoff (Bräunung infolge Bildung von Bleisulfid) als Ölfarbe nicht ganz verdrängen. Blei(II)-chromat PbCr0 4 stellt ebenfalls eine wichtige Farbe (,,Chromgelb") dar. In der Natur findet es sich in gelblichroten Kristallen als Rotbleierz (Krokoit, Kallochrom). Technisch wird es durch Versetzen einer Bleiacetatlösung mit Kaliumdichromatlösung als gelbes Pulver gewonnen: 2 P b 2 + + Cr 2 02~ + H 2 0
2PbCr04 + 2 H + .
Da Farbe und Glanz von anderen gelben Präparaten nicht erreicht werden, ist Bleichromat trotz seiner Giftigkeit und des Nachteils der Nachdunklung (vgl. Bleiweiß) eine wichtige gelbe Malerfarbe. Fällt man Blei(II)-Salzlösungen nicht mit saurer, sondern mit neutraler oder schwach alkalischer Chromatlösung, so erhält man basisches Bleichromat der ungefähren Zusammensetzung PbCr0 4 • PbO, welches leuchtend rot ist und als ,,Chromrot" in der Ölmalerei Verwendung findet. Blei(II)-acetat Pb(CH 3 CO 2 ) 2 (wasserlöslich) lässt sich technisch durch Auflösen von Bleioxid in Essigsäure gewinnen: PbO + 2CH 3 CO 2 H -> Pb(CH 3 CO 2 ) 2 + H 2 O. Wegen seines süßen Geschmacks heißt es auch „Bleizucker". Es ist stark giftig. Verwendet man bei der Darstellung mehr Bleioxid, als der Bildungsgleichung für Bleizucker entspricht, so erhält man basische Acetate wie Pb(CH 3 CO 2 ) 2 • Pb(OH) 2 und Pb(CH 3 CO 2 ) 2 • 2Pb(OH) 2 , deren wässerige Lösungen als ,,Bleiessig" bezeichnet werden.
Bleidioxid P b 0 2 (Tab. 100), das zum Unterschied von den homologen Dioxiden SiO 2 , G e 0 2 und Sn0 2 keine Struktur mit EO4-Tetraedern, sondern ausschließlich mit EOÖ-Oktaedern bildet und unter Normalbedingungen mit Rutilstruktur kristallisiert, entsteht ganz allgemein bei der Oxidation von Blei(II)-Salzen. Die Oxidation wird in der Technik auf elektrolytischem Wege an der Anode oder auf chemischem Wege durch starke Oxidationsmittel wie Chlor, Brom oder Hypochlorit durchgeführt: Pb2++ 2 H 2 0
Pb02 + 4 H + + 2 © ,
P b 2 + + 2 H 2 0 + C12
Pb02 + 4 H + + 2 C 1 " .
Die elektrolytische Abscheidung benutzt man z. B. zur ,,quantitativen Bestimmung von Blei", indem man eine schwach salpetersaure Bleinitratlösung unter Verwendung einer mattierten Platinschale als Anode und eines spiralförmigen Platindrahts als Kathode elektrolysiert. Die technische Darstellung auf chemischem Wege erfolgt durch Oxidation von Bleiacetatlösungen mit Chlorkalk als Oxidationsmittel. Geht man zur Darstellung von einer Verbindung des vierwertigen Bleis aus, so bedarf es natürlich keines Oxidationsmittels; so wird z.B. das Bleidioxid technisch auch durch Behandeln von Mennige (s. unten) mit verdünnter Salpetersäure gewonnen P b 2 [ P b 0 4 ] + 4 H N O 3 -> 2Pb(NO 3 ) 2 + Pb(OH) 4 (-> P b 0 2 + 2H 2 O). Neben dem auf diese Weise gewinnbaren a-Pb0 2 existiert noch schwarzes ß-Pb0 2 , das aus a-Pb0 2 bei 300 °C und 40000 bar entsteht a-Pb0 2 besitzt stark oxidierende Wirkung (vgl. Potentialdiagramme auf S. 1017) und geht beim Erhitzen unter O2-Abspaltung auf dem Wege über schwarzes Pb12Ow, schwarzes Pb 12 0 17 und rotes Pb 3 0 4 (s. unten, schließlich in rotgelbes PbO (s. oben) über: (58.6 kJ + Pb0 2 -> PbO + A 0 2 ): Pb02(s P b ^ )
293 °C
> ^1^19
351 °C
> ^1^17
374°C
>
605°C
> PbO^Pb^OJ.
Unter Sauerstoffdruck (1400bar) entsteht bei 580-620°C darüber hinaus schwarzes Pb 2 0 3 = Pb 12 0 18 .
In Wasser ist Bleidioxid praktisch unlöslich. Es zeigt aber wie Zinndioxid (S. 1021) schwach amphoteren Charakter. Demgemäß löst es sich etwas in Säuren unter Bildung von Blei(IV)Salzen und reagiert mit Alkali- oder Erdalkalioxid-Schmelzen in der Hitze unter Bildung von Plumbaten(IV), schematisch: Pb02 + 4H+
P b 4 + + 2H 2 O;
P b 0 2 + O 2 " (oder 2 O 2 " )
PbO2- (oder PbO4").
• 1026
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Als Beispiele für Blei(IV)-Salze seien genannt Farbloses, feuchtigkeitsempfindliches ,,Blei(IV)-acetat" Pb(OAc) 4 (Smp. 175-180 °C), das durch Lösen von Mennige P b 3 0 4 in heißem Eisessig ( P b 3 0 4 + 8CH 3 CO 2 H 2Pb(CH 3 CO 2 ) 2 + Pb(CH 3 CO 2 ) 4 + 4H 2 O) oder durch elektrolytische Oxidation einer Blei(II)-acetatlösung gewonnen wird und ,,Blei(IV)-sulfat" Pb(SO 4 ) 2 , das sich durch Einwirkung von Schwefelsäure auf Blei(IV)-acetat oder bei der Elektrolyse von Schwefelsäure zwischen Blei elektroden an der Anode als gelbliches Pulver bildet. Pb IV (SO 4 ) 2 (isomer mit Pb"S 2 O s ) hydrolysiert in Wasser auf dem Wege über farbloses basisches Blei(IV)-sulfat unter Abscheidung von Bleidioxid: Pb(SO 4 ) 2 + 2 H 2 0
Pb(OH) 2 (SO 4 ) + H 2 SO 4 ^ P b 0 2 + 2 H 2 S O 4 .
Es übertrifft an Oxidationsvermögen noch PbO 2 . Gleiches gilt von den den Hexachloroplumbaten entsprechenden ,,Trisulfatoplumbaten" M 2 [Pb(SO 4 ) 3 ], Aus der heißen Lösung von Pb in konzentrierter Kalilauge kristallisiert wasserhaltiges Plumbat(IV) K 2 P b 0 3 • 3 H 2 0 = K 2 [ P b ( O H ) 6 ] aus. Es enthält wie andere „Hexahydroxoplumbate" M2[Pb(OH)6] oder M n [Pb(OH) 6 ] das oktaedrisch gebaute [Pb(OH) 6 ]2~-Ion. Die diesen Plumbaten zugrundeliegende Säure H 2 [Pb(OH) 6 ] ist unbekannt Wasserfreie Plumbate(IV), nämlich „Metaplumbate" M 2 P b 0 3 und M n P b 0 3 sowie „Orthoplumbate" M 2 P b 0 4 entstehen durch Erhitzen von P b 0 2 (oder PbO an der Luft) mit Metalloxiden, Metallhydroxiden oder Metallsalzen einer Oxosäure im stöchiometrischen Verhältnis. Ein besonders wichtiges Orthoplumbat stellt „Mennige" PbUPbivo 4 = P b 3 0 4 dar (s.u.). Man verwendet Bleidioxid als Oxidans zur Herstellung von Chemikalien und Farbstoffen, als Reibmasse in Zündhölzern (s. dort), in der Feuerwerkerei, als Elektrode in Akkumulatoren (s. dort), zur Härtung von Sulfidpolymeren Bleitetraacetat wird in der organischen Chemie als starkes, selektiv wirkendes Oxidationsmittel genutzt
Mennige P b 3 0 4 (Tab. 100) entsteht als leuchtend rotes, wasserunlösliches Pulver beim Erhitzen von feinverteiltem Bleioxid an der Luft auf 450-500°C: 3PbO + P b 3 0 4 + 61.5 kJ. Beim Erhitzen färbt sie sich dunkel, beim Erkalten kehrt die ursprüngliche Farbe wieder zurück. Oberhalb von 550°C zersetzt sich P b 3 0 4 unter Sauerstoffabspaltung in PbO. P b 3 0 4 kann formal als ein Blei(II)-plumbat(IV) Pb 2 [ P b 0 4 ] aufgefasst werden. Dementsprechend wird es durch Salpetersäure in Blei(II)-nitrat und Bleidioxid zerlegt (s. oben). In P b 2 [ P b 0 4 ] bildet der Pbiv0 4 Teil Ketten von PbO 6 -Oktaedern mit gemeinsamen, gegenüberliegenden Kanten, wobei die Ketten ihrerseits durch dreifach von Sauerstoff koordinierte (pyramidale) Pb2 +-Ionen miteinander verbunden sind. Im ebenfalls bekannten ,,Bleisesquioxid" P b 2 0 3 = P b [ P b 0 3 ] (s. oben) sind Pb w O 6 -Oktaeder zu Schichten verknüpft, die durch Pb2 +-Ionen miteinander verknüpft sind. Demgegenüber leiten sich die Strukturen der Oxide P b 1 2 O j 9 und P b 1 2 0 1 7 (s. oben) wie die Struktur des Oxids PbO = P b ^ O j 2 von der Fluoritstruktur dadurch ab, dass offensichtlich in übernächsten Oxidschichten die O2~ -Ionen teilweise oder vollständig fehlen Mennige (Weltjahresproduktion: zig Kilotonnenmaßstab) wird im Gemisch mit Leinöl oder anderen organischen Bindemitteln in ausgedehntem Maße zum Schutzanstrich von Eisen gegen Rosten in der Atmosphäre und im Meer verwendet. Neuerdings dient als Korrosionsschutz9i zudem Ca 2 PbO 4 . Mennige wird darüber hinaus zur Herstellung von Bleigläsern (vgl. S.976), Kitten und keramischen Glasuren, von Vulkanisierungsmitteln sowie als Farbstoff in der Malerei, in Kautschuk und Kunststoffen verwendet. Bleimonosulfid PbS (Tab. 100; NaCl-Struktur) kommt in der Natur in großen Mengen als ,,Bleiglanz" („Galenit") - oft in großen, bleigrauen, metallglänzenden, leicht spaltbaren, regulären Kristallen (Würfeln, Oktaedern) - vor (analog: PbSe als „Clausthalit", PbTe als „Altait"). Als schwer lösliche Verbindung fällt PbS beim Einleiten von Schwefelwasserstoff in Pb(II)-Salzlösungen als schwarzer Niederschlag aus: Pb 2+ + S2~ -> PbS (analog: Pb 2+ + Se 2 _ -> PbSe). Die Reaktion ist sehr empfindlich, sodass selbst Spuren von Pb(II) in Wasser durch die Dunkelfärbung mit H2S erkannt werden können. PbS wirkt wie PbSe und PbTe als Eigenhalbleiter und Photohalbleiter (Verwendung in photographischen Lichtmessern). Bleidisulfid PbS2 (Tab. 100; Cd 2 -Struktur) bildet sich aus Bleimonosulfid und Schwefel bei hohem Druck (PbS + S £> PbS 2 ) und zerfällt unter Normalbedingungen in Umkehrung der Bildung in PbS und Schwefel (PbS und PbT sind instabiler und bisher unbekannt).
3.4.5
Der Bleiakkumulator („Bleiakku")
Aufbau des Pb-Akkus. Der bis jetzt immer noch gebräuchlichste Akkumulator ist der im Jahre 1859 von Gaston Plante (1834-1889) entwickelte „Bleiakkumulator" (vgl. S. 239). Er besteht in geladenem Zustande aus zwei, in wässerige Schwefelsäure (2.5- bis 4-molare „Akkumulatorensäure", Dichte 1.15-1.22 g/cm3) eintauchenden, stromführenden, gitterförmigen Bleigerüsten, von denen das eine mit schwammförmigem Blei, das andere mit Bleidioxid ausgefüllt ist. Die „Aktivmassen" (Pb, Pb0 2 ) müssen in poröser Form
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1027»
vorliegen, um eine gute Durchdringung mit der Schwefelsäure und damit eine hohe reaktive Oberfläche von Elektrode und Elektrolyt zu gewährleisten. Auch nutzt man besonders reines Pb, an welchem sich infolge von Überspannung kein H2 entwickelt (Spuren Gold oder Platin machen den Bleiakku wegen Erniedrigung der Überspannung unbrauchbar; an reinem Pb erfolgt 3 - 5 % H2-Entwicklung pro Monat bei 20 °C). Darüber hinaus verwendet man nichtstöchiometrisches schwarzes PbO 2-x , welches anders als P b 0 2 den Strom leitet. Verbindet man die beiden Elektrodenplatten leitend miteinander, so fließt wegen der vorhandenen Spannung von etwa 2 V unter gleichzeitiger Bildung von PbSO 4 ein Elektronenstrom von Pb zu PbO 2-x (Fig. 220), wobei sich - vereinfacht - die chemischen Vorgänge (1) und (2) abspielen (H 2 SO 4 beteiligt sich an den betreffenden Reaktionen und muss mithin zur Aktivmasse hinzugezählt werden; die wiedergegebenen Potentiale e0 beziehen sich auf die sehr kleine Pb 2+ -Konzentration in Anwesenheit von schwerlöslichem PbSO 4 ) :
- Elektronenstrom Pb
— 2 Volt — Z b O j
Ef^fE|5fZH2SO4:
Pb + S O J "
PbSO 4 + 2 ©
+4
+2
P b O , + 4H +
SO2
Pb + P b 0 2 + 2H 2 SO 4
PbSO 4 + 2H 2 O
- 2 © Entladung
(e0 = - 0 . 3 5 6 V )
(1)
(e0 = + 1.685 V) (2)
2PbSO 4 + 2 H 2 0 + Energie
(3)
Ladung
2H++SO|" Z Z Z : Fig. 220
Schema des Bleiakkumulators.
Die gemäß der £ M K von 0.356 + 1.685 = 2.041 V pro Molumsatz freiwerdenden elektrischen Energie von 2 x 2.041 = 4.082 Faradayvolt (394 kJ) kann zur Leistung von Arbeit nutzbar gemacht werden, z. B. zur Durchführung von Elektrolysen, zum Antrieb von Motoren, für Beleuchtungszwecke, für den Notbetrieb von Computern, Telefonzentralen, Rechenzentren, zum Starten von Kraftwägen. Da beim Entladen des Akkumulators, wie aus der Gesamtgleichung (3) hervorgeht, Schwefelsäure verbraucht wird und Wasser entsteht, sinkt während des Entladungsvorganges die Säurekonzentration. Daher lässt sich der Ladungszustand des Bleiakkus durch Kontrolle der Säuredichte (z. B. mithilfe eines Schwimmers) verfolgen. Laden des Pb-Akkus. Im entladenen Zustande des Pb-Akkus sind beide Elektrodenplatten mit feinstkristallinem PbSO 4 bedeckt, dessen Löslichkeit etwas höher als die von grobkristallinem PbSO 4 ist. Zur Wiederaufladung legt man an die Elektroden eine äußere Spannung von mehr als 2 V in umgekehrter Richtung derart an, dass man die vorher positive Pb02-Platte mit dem positiven, die negative Pb-Platte mit dem negativen Pol der äußeren Stromquelle verbindet (man macht damit die PbO 2 -Platte zur Anode, die Pb-Platte zur Kathode). Dabei kehren sich die chemischen Prozesse (1) und (2) um, sodass insgesamt gemäß (3) das in geringen Mengen gelöste PbSO 4 an den Gitterelektroden wieder in Blei und Bleidioxid verwandelt wird. Ist alles PbSO 4 verbraucht, so wird bei weiterer Energiezufuhr das Wasser elektrolytisch unter kathodischer Bildung von Wasserstoff ( 2 H + + 2 © H 2 ) und anodischen Entwicklung von Sauerstoff(2H 2 0 0 2 + 4 H + + 4 © ) zersetzt („Gasen" des Pb-Akkus). Da für diese Elektrolyse eine höhere Spannung erforderlich ist als für das Laden des Akkus, macht sich das Ende der Aufladung durch eine deutliche Steigerung der Klemmspannung bemerkbar. Um das zu Knallgasgemischen führende - natürlich (s. oben) oder durch Überladung hervorgerufene - ,,Gasen" des Akkus zurückzudrängen, nutzt man heute abgeschlossene Pb-Akkus, in welchen der an der positiven Elektrode gebildete Sauerstoff an der negativen Elektrode wieder zu Wasser reduziert wird (O 4H 2H O), wodurch sich zu gleich der Anteil der H2-Bildung an dieser Elektrode erniedrigt. Gebildeter Wasserstoff entweicht über ein Druckventil. Der Sauerstofftransfer zwischen den Elektroden im Elektrolyten kann dadurch erleichtert werden, dass ein ,,fester Elektrolyt" in Form von H 2 SO 4 -getränktem porösem Siliciumdioxid oder Vlies genutzt wird (Pb-Akkus werden dadurch in jeder Lage betreibbar). Betrieb des Pb-Akkus Zur Überwindung des Leitungswiderstandes der Säure wird sowohl bei der Ladung als auch bei der Entladung elektrischer Energie verbraucht (Umwandlung von elektrischer in Wärme energie). Schon aus diesem Grunde ist daher die zum Laden eines Pb-Akkus erforderliche Energiemenge stets größer als die beim Entladen freiwerdende. In gleicher Richtung wirken andere Vorgänge (z. B. das ,,Gasen", die Entnahme zu großer Entladungsstromstärken). In der Praxis rechnet man mit einem Energieverlust von 2 0 - 2 5 % . Die Güte und Lebensdauer eines Pb-Akkus ist aus verschiedenen Gründen begrenzt. So verwandelt sich mit der Betriebsdauer kleinkristallines PbSO 4 zunehmend in grobkristallines, welches für die Ladereaktion nicht mehr zur Verfügung steht, da infolge von dessen verminderter Löslichkeit (kleinere
• 1028
X V . D i e Kohlenstoffgruppe ( „ T e t r e l e " )
P b 2 + - K o n z e n t r a t i o n ) die Elektrolyse des Wassers vor der von P b S O 4 erfolgt ( A b n a h m e der Energiespeicherfähigkeit eines P b - A k k u s ) . D e s weiteren korrodiert das stromleitende P b - G i t t e r dadurch, dass es mit wachsender Betriebszeit des P b - A k k u s zunehmend in P b verwandelt wird Begrenzung der Zahl von Lade- j Entlade-Cyclen). Andere Akkumulatoren M i t Sn und S n 0 2 lässt sich kein dem B l e i a k k u m u l a t o r entsprechender Zinnakkumulator aufbauen, da hierzu die Oxidationsstufe von S n 0 2 nicht ausreicht. Bezüglich anderer A k k u mulatoren sowie der in neuerer Zeit an Interesse gewinnenden , , B r e n n s t o f f z e l l e n " vgl. S . 2 3 8 und 269. Bei der Verwirklichung z. B . des Vorganges C + 0 2 -> C O in einer galvanischen Zelle ließe sich der „freie A n t e i l " der dabei entwickelten W ä r m e m e n g e von 395 kJ/mol quantitativ in Arbeit umwandeln, während a u f dem U m w e g e über eine W ä r m e k r a f t m a s c h i n e nur 20 % der W ä r m e in Arbeit übergehen.
3.5
Organische Verbindungen des Germaniums, Zinns, Bleis 9 2 ' 9 3 ' 9 4
Überblick D i e R e s t e R der germanium-, zinn- und bleiorganischen Verbindungen E^R,, ( E = G e , Sn, P b ) k ö n n e n wie im F a l l e der siliciumorganischen Verbindungen Si n R p (s. dort) über Einfachoder Mehrfachbindungen mit einem ein bis sechszähligen (gegebenenfalls auch höherzähligen), ungeladenen oder geladenen zent ralen Tetrelatom (n = 1) verknüpft sein (vgl. hierzu F o r m e l s c h e m a a u f S. 9 8 6 : E anstelle von Si). D e s Organylgermane, -stannane, -plumbane (n > 1) weiteren existieren höhere gesättigte oder ungesättigte mit Ketten, Ringen, Käfigen miteinander verknüpfter („catenierter"), R - t r a g e n d e r oder - in Ausnahmefällen - R-freier E - A t o m e . In R i c h t u n g silicium-, germanium-, zinn-, bleiorganischer Verbindungen wächst die Tendenz zur Ausbildung h o h e r K o o r d i n a t i o n s z a h l e n von E und damit die Strukturvielfalt der Substanzen. In gleicher R i c h t u n g nimmt die S t ä r k e sowohl der E E - B i n d u n g e n wie auch E C - B i n d u n g e n a b und sinkt die Bildungstendenz ungesättigter Verbindungen. Von technischer und praktischer Bedeutung sind insbesondere Zinnorganyle. D a s als Antiklopfmittel in großer M e n g e produzierte Bleitetraethyl
92 Literatur. HOUBEN-WEYL: ,,Metallorganische Verbindungen: Ge, Sn", ,,Metallorganische Verbindungen, Pb" 13/6 (1978), 1 3 p (1975); GMELIN: „Organogermanium Compounds", ,,Organotin Compounds", ,,Organolead Compounds", Syst.-Nr. 45,46,47; S. Patai, Z. Rappoport (Hrsg. der Serie: ,,The Chemistry of Functional Groups"): ,,The chemistry of organic germanium, tin and lead compounds", Vol.1, Vol.2 (Part 1, 2), Wiley, Chichester 1995, 2002; Ch. Elschenbroich: ,,Organometallchemie", 5. Aufl., B.G. Teubner, Wiesbaden 2005, S. 199-246; COMPR. ORGANOMET. CHEM. I/II/III: „Germanium", „Tin", ,,Lead" (vgl. Vorwort); M. Lesbre, P. Mazerolles; J. Satge: ,,The Organic Compounds of Germanium", Wiley, London 1971; K. C. Molloy, J . J . Zuckerman: ,,Structural Organogermanium Chemistry", Adv. Inorg. Radiochem. 27 (1983) 113-156; A.G. Davis: ,,Organotin chemistry", VCH, Weinheim 1997; A.G. Davies, P.J. Smith: ,,Recent Advances in Organotin Chemistry", Adv. Inorg. Radiochem 23(1980) 1-77; M. Pereyre, J.P. Quintard, A. Rahm: ,,Tin in Organic Synthesis", Butterworth, London 1987; K. Das, S.W. Ng, M. Gielen: ,,Chemistry and Technology of Silicon and Tin", Oxford Univeristy Press, Oxford 1992; J . M . Buriak: ,,Organometallic Chemistry on Silicon and Germanium Surfaces", Chem. R e v 102 (2002) 1271-1308. Vgl. auch Anm. 94, 95, 96, 97, 98. 93 Geschichtliches Lange Zeit hindurch blieb das von C. Winkler im Jahre 1897 aus GeCl 4 und ZnEt 2 synthetisierte Tetraethylgerman GeEt 4 die einzige germaniumorganische Verbindung. Eingehende Studien ab 1925 deckten dann viele chemische Analogien von Germanium- mit Siliciumorganylen auf (vgl. hierzu die in Anm. 78 auf S.985 aufgelisteten „Meilensteine" siliciumorganischer Verbindungen). Die erste zinnorganische Verbindung Diethylzinndiiodid Et 2 SnI 2 , erhielt E. Frankland bereits im Jahre 1849 durch Reaktion von Sn mit EtI. Unabhängig hiervon stellte C.J. Löwig 1852 Polydiethylstannylen [SnEtJ,, durch Einwirkung von EtI auf Na/Sn dar. Hierbei bilden sich, wie kurze Zeit später gefunden wurde, auch Et 3 SnI, SnEt 4 und Et 3 SnSnEt 3 . Eingehend werden Zinnorganyle seit 1900 untersucht. Inzwischen kennt man eine große Zahl gesättigter Zinnorganyle, unter denen einige in der Technik und der Pharmakologie genutzt werden. Auch höhere, zweiwertige sowie ungesättigte Zinnorganyle sind synthetisiert worden. Bleiorganische Verbindungen (z. B. Et 3 PbI oder E^PbPbEtj) beschreibt in den Jahren 1852-1853 erstmals C.J. Löwig (gewonnen auf ähnlichem Wege wie die zinnorganischen Verbindungen). Sie werden ab 1915 eingehender untersucht 9* Physiologisches Organogermane R^GeX^,, sind bis auf wenige Ausnahmen nicht giftig. Mit Siliciumorganylen vergleichbare Verbindungen verhalten sich dabei weniger toxisch als erstere (z. B. ist PhGeX 3 100-mal ungiftiger als PhSiX 3 ; X = (—OCH 2 CH 2 ) 3 N). Von Interesse ist die Antitumorwirkung einiger komplex zusammengesetzter ,,Spiroverbindungen". Die Toxizität der Organostannane R„SnX 4 _„ wächst mit dem Organylierungsgrad n und abnehmender Kettenlänge von R. Besonders giftig sind Zinnorganyle, welche Me 3 Sn + bilden können (MAK-Wert = 0.1 mg Sn pro m3), weniger giftig etwa Verbindungen wie (Octyl) 2 Sn(Maleat) 2 . Die R 3 Sn-haltigen Verbindungen schädigen u.a. das die Nervenfasern („Axone") umgebende und für deren Funktion wichtige „Myelin" (von griech. Myelos = Mark). Die Toxizität der Organoplumbane R„PbX 4 _„ ist deutlich größer als die der entsprechenden Organostannane (MAK-Wert = 0.075 mg Pb pro m3). Besonders giftig sind Lieferanten für Kationen R 3 Pb + bzw. R 2 Pb 2 + , welche u. a. die oxidative Phosphorylierung bzw. die Funktion der SH-haltigen Enzyme blockieren.
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1029»
PbEt 4 wird heute wegen seiner Giftigkeit in der Regel nicht mehr den Autokraftstoffen beigemengt. Bezüglich der Geschichte und der Physiologie der Ge-, Sn-, Pb-Organyle vgl. Anm. 93 - 94 . Nachfolgend werden zunächst Organylmonotetrelane ^E^), dann höhere gesättigte Organyltetrelane (Organyloligotetrelane ^ E — E d e s weiteren Organyltetrelylene Q.E:) und schließlich ungesättigte Organyltetrelane („Tetrelene" ^ E = ; ,,Tetreline" — E = ) - mit Derivaten - besprochen.
Organylgermane, -stannane, -plumbane und Derivate 9 2 , 9 5 Tetraorganylgermane, -stannane, -plumbane ER 4 werden analog den Tetraorganylsilanen SiR4 (s. dort) durch Direktsynthese (1), Metathese (2) sowie Hydrogermierung, -stannierung, -plumbierung („Hydrotetrelylierung") (3) im Laboratorium sowie in der Technik (Sn-Verbindungen) dargestellt, z. B. (X = Halogen): E + nRX
R„EX4-„;
EX 2 + R X ^
(E = Ge/Cu, Sn, Pb)
EX 4 + 4RMgX ^
REX 3 :
4NaPb + 4 R X ^ - + PbR 4 + 3Pb + 4NaX;
(E = Ge, Sn)
ER 4 + 4MgX 2 ;
R 3 EH + CH 2 =CH 2 R' ^
(R = Me, Et)
2PbX 2 + 4RMgX ^
(E = Ge, Sn, Pb)
(1)
{2PbRj ^
PbR 4 + Pb;
(2)
- 4MgX 2
R 3 ECH 2 CH 2 R';
(E = Ge, Sn, Pb)
R 3 EH + H C = C R ' ^
R3ECH=CHR'.
(3)
(E = Ge, Sn, Pb)
Die Produkte der Direktsynthese (1 a, b) müssen noch durch Metathese in E R umgewandelt werden, wobei man für (2a) auch andere R " -Überträger wie LiR, A R 3 , NaR nutzen kann (z. B. Me2GeCl2 + 2LiR Me 2 GeR 2 + 2LiCl; 3SnCl4 + 4AlR 3 + 4NaCl 3SnR 4 + 4NaAlCl 4 ; Me3SnCl + RBr + 2Na Me 3 SnR + 2NaX; Me2PbI2 + 2LiBu -> Me2PbBu2 + 2LiI). Zur Darstellung der Tetraorganylplumbane durch das Direktverfahren (1) nutzt man auch die Elektrolyse von RMgX in einer Etherlösung unter Verwendung einer Bleianode (4R~ + Pb -> PbR 4 + 4 Q ) . Auch setzt man zur Metathese (2) anstelle von PbCl4 das Tetraacetat Pb(OAc)4 ein. Hingewiesen sei auf die Reaktion (2c): während normalerweise die Komproportionierung Pb(0) + Pb(IV) -> 2Pb(II) energetisch bevorzugt ist (vgl. Bleiakkumulator), kehren sich die Verhältnisse im Falle von PbR 2 um. Eigenschaften. Die tetraedisch gebauten Tetraorganyltetrelane (monomer, Td-Symmetrie) stellen ungiftige (GeR 4 ), giftige (SnR 4 ) bzw. sehr giftige (PbR 4 ) farblose Flüssigkeiten oder Feststoffe dar, z. B. (jeweils Smp./Sdp.): GeMe4 (-88/43.4°C); SnMe4 (-54.8/78°C); PbMe4 (-27.5/110°C); GePh4 (235.7/ >400°C); SnPh4 (226/> 420°C); PbPh4 (28/>270°C). Die Verbindungen sind wie SiR 4 unter Normalbedingungen hydrolysestabil, luftunempfindlich (nach Zündung Verbrennung zu Ge0 2 , Sn0 2 , PbO, C O , H O ) und thermostabil (die gemäß ER 4 -> E R j + R' einsetzende Thermolyse erfolgt in der Reihe Si Ge Sn Pb sowie mit zunehmender Stabilität von R, also in Richtung Ph < Me < Et < ;'Pr leichter; z. B. zersetzt sich SiMe4 um 700 °C, S n M 4 um 400°C). Leichter als in SiR 4 - und in Richtung GeR 4 < SnR 4 < PbR 4 sowie für ^E—R in Richtung R = Bu < Ar < Et < Me < Vi < Ph < Bz < Allyl < CH2CN < COOMe zunehmend leichtem lassen sich die EC-Bindungen durch Halogene X 2 sowie Halogenwasserstoffe HX (4a), des Weiteren durch Tetrahalogenide E X und andere Lewis-Säuren (4b) spalten (die Reaktionen von GeR 4 mit HX oder E X müssen durch Lewis-Säure katalysiert werden): ER 4 + nX 2 (HX) ^
95
R4-„EX„ + nRX (RH);
ER 4 + E X ^
R 3 EX + REX,
Literatur. I. Haiduc, D.B. Sowerby (Hrsg.): ,,The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles" (Beiträge von I. Haiduc, M. Dräger, P.G. Harrison, M. Veith, B. Mathiasch), Acad. Press, London 1987, S. 361-416; F. Colomer, R. J.P. Corriu: „Chemical and Stereochemical Properties of Compounds with Silicon- and Germanium-Transition Metal Bonds", Topics Curr. Chem 96 (1981) 79-107; M. Veith: „Cage Compounds with Main-Group Metals", Chem. Rev. 90 (1990) 3-16; „Alkyl- and ArylsubstitutedMain-Group Metal Amides", Adv. Organomet. Chem 31 (1990) 264-300; K.C. Molloy: „Organotin Heterocycles", Adv. Organomet. Chem 33 (1991) 171-234; M.A. Paver, C.A. Russel, D.S. Wright ,,Struktur und Bindung bei metallorganischen Anionen schwerer Elemente der 4. und 5. Hauptgruppe", Angew. Chem 107 (1995) 1679-1688; Int. E d 34 (1995) 1545; P.P. Power: „Persistent and Stable Radicals of the Heavier Main Group Elements and Related Species", Chem. Rev 103 (2003) 789-809; V.Y. Lee, A. Sekiguchi: „Si-, Ge-, and Sn-CenteredFree Radicals: From Phantom Species to Grams-Order-Scale Materials", Eur. J. Inorg. Chem. (2005) 1209-1222.
• 1030
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Gute Abgangsgruppen lassen sich sogar durch Lithiumorganyle substituieren (z. B. Sn(CH=CH 2 ) 4 + 4LiPh SnPh4 + LiCH=CH 2 ). Ähnlich wie Halogene vermögen andere Nichtmetalle die EC-Bindungen zu spalten. Vergleichsweise leicht - und in Richtung R 3 SiCp < R 3 GeCp < R 3 SnCp < R 3 PbCp rascher - erfolgen darüber hinaus metallotrope 1,2-Verschiebungen in Cyclopentadienyltetrelanen R 3 ECp (Cp = C5H5) unter Spaltung und gleichzeitiger Neubildung von EC-Bindungen (vgl. Formelbild auf S. 987). Halogengermane, -stannane, -plumbane R„EX4_W lassen sich durch Direktsynthese (1), Teilhalogenierung von ER (4) oder durch Addition von E X an ungesättigte organische Verbindungen (vgl. S. 988) gewinnen. Unter ihnen sind die Stannane und Plumbane, falls R nicht sehr raumbeanspruchend ist - anders als die monomeren, tetraedisch gebauten Silane oder Germane (Koordinationszahl von Si, Ge = vier) in fester Phase über Halogenbrücken anelliert und besitzen im Falle „starker" EXE-Brücken vergleichsweise hohe Schmelzpunkte. Die Tendenz zur EXE-Brückenbildung wächst hierbei in der Reihe RnGeX4-n « R„SnX4-n < RnPbX4-n und RnECl4-n < RnEF4-n wobei Zinn und Blei in R n EX 4-n insbesondere die Koordinationszahlen fünf (trigonal-bipyramidale EX5-Einheiten) und sechs besitzen (oktaedrische EX6-Einheiten). So bilden Me 3 SnF (Zers. bei 375 0 C vor Erreichen des Smp.) und Me3SnCl (Smp. 38 0 C, Sdp. 152 0 C) Kettenpolymere des Typs (a) mit SnXSnX-Zick-Zack-Ketten ( > EFE/EClE = 140°/1520), Ph 3 SnF (Zers. bei 357 0 C vor Erreichen des Smp.) Kettenpolymere (a) mit linearer SnFSnF-Kette ( * E F E = 180°), Ph3SnCl (Smp. 144 0 C) und Ph3SnBr (Smp. 128 0 C) Monomere, Ph3PbCl und Ph3PbBr Kettenpolymere. Me2SnF2 (Zers. 400 0 C vor Erreichen des Smp.) kommt die Schichtstruktur (b) zu (vgl. hierzu Struktur von SnF 4 , S. 1011), während Me2SnCl2 (Smp. 100 o C) und Ph2SnCl2 die Bandstruktur (c) aufweisen (analog ist Ph2PbCl2 gebaut, doch sind PbClPb-Brücken symmetrisch). Die Halogenide R„EX4-n sind luftstabil, hydrolysestabil und mehr oder weniger thermostabil (die Verbindungen RPbX 3 nähern sich in ihrer Zersetzlichkeit den Tetrahalogeniden PbX 4 an, doch sind MePbBr3 und MePbI 3 zum Unterschied von PbBr4 und Pbl 4 noch zugänglich). Die Organyltetrelhalogenide stellen wichtige Edukte für die Herstellung anorganischer und organischer Derivate der Tetraorganyltetrelane dar
Germane, Stannane, Plumbane RWEH4_ „entstehen insbesondere durch Hydrierung der Halogenide R „EX4-n mit NaBH 4 in Wasser oder LiAlH4 in Ether als luftempfindliche Substanzen, deren Zersetzlichkeit mit abnehmender Zahl « der Organylgruppen wächst und sich der Instabilität von E H annähert (z. B. ist Me3SnH bei Raumtemperatur unbegrenzt haltbar, während SnH4 unter gleichen Bedingungen langsam zerfällt; Me3PbH zersetzt sich bereits bei — 40 0 C, Plumbane R 3 PbH mit längeren Alkylresten R sind thermostabiler). Wichtige Reaktionen der Verbindungsklasse stellen die Hydrogermolyse, -stannolyse und -plumbolyse sowie die Hydrogermierung, -stannierung und -plumbierung (Hydrogermylierung, -stannylierung, -plumbylierung) dar. In ersterem Falle erfolgt die Spaltung der cr-Bindung einer Verbindung A—B (5a), in letzterem Falle die Spaltung einer n-Bindung eines Alkens ^ C = C C (5b): R 3 E—H + A—B
• R 3 E—A + H—B; (a
R 3 E—H + / C = C C
• /(R 3 E)C—CH^
(5)
(b
Besonders gut untersucht sind die Hydrostannolysen und Hydrostannierungen (Stannane sind wohlfeiler als Germane und weniger giftig sowie beständiger als Plumbane). Im Zuge der Hydrostannolyse kann der zinngebundene Wasserstoff teils „protisch" reagieren (z. B. Ph3SnH + LiPh Ph3SnLi + HPh; analog verhalten sich Ph3GeH und Ph3PbH; 4R 3 SnH + Ti(NR 2 ) 4 Ti(SnR 3 ) 4 + 4HNR 2 ), teils aber auch „hydridisch" (z. B. R 3 SnH + RCO 2 H RCO 2 SnR 3 + H2; R 3 SnH + zC=0 /CH—OSnR 3 ; analog verhalten sich R 3 GeH, R 3 PbH, anders HEC13: ^ /(C13E)C—OH) oder,,radikalisch" (z. B. Bu3SnH + R X R 3 SnX + RH; analog verhalten sich R 3 GeH, R 3 PbH). Letztere Reaktionen verlaufen in Anwesenheit - bei R 3 PbH auch in Abwesenheit - von Radikalstartern im Zuge einer Radikalkettenreaktion (R 3 Sn + R X R 3 SnX + R'; R' + R 3 SnH R 3 Sn' + RH) und stellen eine bequeme Methode zur Überführung von Halogeniden R X in Kohlenwasserstoffe dar. Mithilfe der Hydrostannierung können CC-Mehrfachbindungen chemoselektiv, stereo- und regiospezifisch gemäß (5 b) sowohl ohne Katalysator als auch in Anwesenheit von Radikalen (häufig Bildung von cis-/trans-Isomergemischen) oder von Lewis-Säuren wie H2PtCl6 bzw. Pd(PPh3)4 hydriert werden (vergleiche hierzu Hydrosilierung), z.B.: P h C H = C H — C H = 0 + R 3 SnH, dann + H 2 0
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1031»
P h C H — C H — C H = O ; R 3 SnH + P h C = C H trans-PhCH=CHSnR 3 ; R S n H + C H 2 = C H — C = N CH—CH(SnR 3 )—C=N (ohne Katalysator), (R 3 Sn)CH 2 —CH 2 —C=N (mit Radikalstarter), R 2 SnH 2 + H C = C — C H — C = C H ^ R 2 Sn(—CH=CH—CH — C H = C H — ) (die Hydroplumbierungen erfolgen bereits bei Temperaturen unterhalb 0 °C und sind zum Teil stark lösungsmittelabhängig, z. B. Bu3PbH + CH 2 =CH—CN (Bu 3 Pb)CH 2 —CH—CN (in Et2O), CH—CH(PbBu 3 ) —CN (in BuCN). Germanole, Stannanole, Plumbanole R„E(OH)4_„. Die Hydrolyse der Halogenide R„GeX4-„ ist - anders als im Falle von R„SiX4-„ - nicht nur für X = F, sondern auch für X = Cl, Br, I reversibel (die Hydrolyseneigung nimmt in Richtung X = F < C l < B r < I zu). Die gebildeten Germanole R„Ge(OH)4_„ kondensieren wie die entsprechenden Silanole unter Bildung von Germoxanen wie R 3 Ge—O—GeR 3 (bzgl. der Bindungsverhältnisse vgl. S.929), (—R 2 Ge—O—(acyclisch und cyclisch; wegen Hydrolyseempfindlichkeit-anders als Silicone (S. 992)- nicht als Kunststoffe geeignet), (RGeO 1 Die durch Hydrolyse von R„SnX4_„ gewinnbaren Stannanole R„Sn(OH)4_„ weisen amphoteren Charakter auf und bilden mit starken Säuren hydratisierte Stannyl-Kationen (z. B. Me3SnOH + H + + H 2 0 -> Me3Sn(OH2)^; mit großen Anionen fällbar; trigonal-bipyramidaler Bau mit H2O in axialen Positionen), mit starken Basen Stannate (z.B. 1/n (RSnO)„ + 2OH~ + H 2 0 - > R 2 Sn(OH^"; oktaedrischer Bau). Die Tendenz der Stannanole zur Kondensation unter Bildung von Stannoxanen wächst mit abnehmendem Organylierungsgrad; sie ist insgesamt geringer als die der entsprechenden Germanole. Ähnlich wie zinngebundene F-Atome bilden auch zinngebundene O-Atome starke Brücken aus. Demgemäß ist R 3 SnOH in Lösung dimer, in fester Phase analog Me 3 SnF (a) polymer; auch lagern sich die aus R 2 Sn(OH) 2 hervorgehenden Polystannanone —R 2 Sn—O—R 2 Sn—O—R 2 Sn—O- zu Doppelketten zusammen (trigonal-bipyramidales Zinn mit R in äquatorialen Positionen), wogegen die aus RSn(OH) 3 hervorgehenden Stannonsäuren RSnO(OH) über SnOSn-Brücken vernetzte Polymere bilden (die Stannonsäure TsiSnO(OH) mit dem voluminösen Rest Tsi C(SiM ist im Sinne der Formulierung TsiSnO(OH) trimer mit zentralem S -Sechsring). Die durch Hydrolyse von Pb 4 erhältlichen Plumbanole Pb(OH) weisen wie die Stannanole amphoteren Charakter auf und bilden Plumbyl-Kationen sowie Plumbate. Beispielsweise existiert R 2 Pb(OH) 2 im pH-Bereich 8-10, während bei pH < 5 R2Pb:;q+, bei pH 5 - 8 [R 2 Pb(OH)] 2 + und bei pH > 10 R2Rb(OH)3~ vorliegt. Plumbanole zeigen keine Kondensationsneigung; die Bildung von Plumboxanen erfolgt nur bei Wasserentzug Die Alkoholyse der Halogenide R„EX4_„ in Anwesenheit von N R führt zu Estern R„E(OR)4_„ (Bau von Me3SnOMe und Me 3 PbOMe analog Me 3 SnF (a)). Sehr reaktives Et 3 PbOMe addiert sich an CH 2 =CH—CN unter Oxyplumbierung, wobei gebildetes MeOCH 2 —CH(PbEt 3 )—CN zu E PbOM MeOCH CH CN methanolisierbar ist (Addition von MeOH an Doppelbindungen mit Et 3 PbOMe als Katalysator). Die Reaktion von R„EX4-„ mit Schwefelwasserstoff ergibt mehr oder weniger kondensationsfreudige Thiole R„E(SH)4-„ (z. B. Bildung von sesselförmig gebautem (Ph2SnS)3 bzw. (Ph2PbS)3), die Reaktion mit Alkalimetallamiden führt zu Amiden R„E(NR2)4_„ (bezüglich der Bindungsverhältnisse der Verbindungen N(EMe 3 ) 3 , P(EMe3)3 vgl. S. 929). Germyl-, Stannyl-, Plumbyl-Anionen E R . Alkalimetallgermanide, -stannide, -plumbide M E R (R z. B. Me, Et, B u iBu, Ph, Mes, Bz, SiMe3; anstelle Alkali- auch Erdalkalimetalle) lassen sich analog den Silaniden MSiR 3 (S. 989) u. a. durch Spaltung von EH-Bindungen durch Alkalimetallhydride bzw. durch Spaltung von ER-, EHal-, EE-Bindungen durch Alkalimetalle in flüssigem NH3, Ethern, Benzol, Hexamethylphosphortriamid und ähnlichen Medien darstellen, z. B. R E H + MH -> M E ^ H2; EPh4 + 2Na NaEPh3 + NaPh, 2R 3 EHal + 4Na ^ { R 3 E — E R + 2Na + 2NaHal} 2 N a E R + 2NaHal (in Anwesenheit von Quecksilber bilden sich gemäß 2R 3 EHal + 2Na + Hg Hg(ER) 2 + 2NaHal Quecksilberverbindungen Hg(ER 3 ) 2 ). Die „Salze" M E R enthalten pyramidal gebaute Anionen ER~. Die Lage des Gleichgewichts + E R " hängt u.a. von der Solvatationskraft des Lösungsmittels für M + ab. Für NaSnPh3 wird etwa in flüssigem Ammoniak vollständige Dissoziation angenommen. Die Brönsted-Basizität der Anionen ER~ sinkt wie die der isoelektrischen Pentelane E'R 3 (E' = Element der V. Hauptgruppe) mit wachsender Ordnungszahl der Elemente: Brönsted-Basizität
Si
Ge
Sn
Pb
sodass Germane R 3 GeH hinsichtlich flüssigem NH3 und Plumbane hinsichtlich wässerigem Ammoniak bereits als Protonendonatoren wirken (die Basizität ist für die geladenen Spezies größer als für die un geladenen). Offensichtlich lassen sich auch Dianionen E R ~ wie z. B. Li2Ge(SiiPt3)2 • THF (im Kristall dimer) gewinnen. Als gute Lewis-Basen reagieren die Alkalimetallgermyle, -stannyle, -plumbyle MER 3 mit Elementhalogeniden als Nucleophile (z. B. NaGePh3 + Me3SnCl -> Ph3Ge—SnMe3 + NaCl; NaSnPh, + Me3GeCl ^ Ph3Sn—GeMe3 + NaCl; Ph 3 PbMgBr + Ph 3 PbBr ^ Ph3Pb—PbPh3 + MgBr2). Ähnlich wie E'R 3 (E' = As, Sb, Bi) bilden auch die Anionen ER~ (E = Ge, Sn, Pb) als gute Liganden mit Übergangsmetallfragmenten M L Germyl-, Stannyl- bzw. Plumbyl-Komplexe, z. B. 2GePh3- + (R3P)2PdCl2 (R3P)2Pd(GePh3)2 + 2 C P ; SnPh3~ + Ni(CO)4 (CO)3Ni(SnPh3)~ + CO; PbP Pt(PR (R P) Pt(PbP 2PP
• 1032
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Germyl-, Stannyl-, Plumbyl-Radikale ERj. Die Spaltung von Disilanen, Digermanen, Distannanen, Diplumbanen gemäß R3E
ER 3 ^ 2 E R 3
in pyramidal gebaute paramagnetische Silyl-, Germyl-, Stannyl-, Plumbyl-Radikale E R (Radikale C R j sind planar, S.931) erfolgt thermisch nur dann glatt, wenn die Reste sehr - und in Richtung Disilan bis Diplumban wegen des wachsenden Radius von E zunehmend - raumbeanspruchend sind. So dissoziieren etwa Si2Mes6 ab — 60°C und Ge 2 Mes 6 ab — 12°C (S. 990), während Pb2Mes6 bis zum Zersetzungspunkt (ca. 300°C) diamagnetisch bleibt (Mes = 2,4,6-Me 3 C 6 H 2 ). Entsprechend dissoziationsstabil ist Sn2Mes6, doch bildet Sn2Ar6 mit den sperrigen Gruppen Ar = 2,4,6-Et 3 C 6 H 2 ab 100 °C Stannyl-Radikale. Die durch Photolyse von Hg(ER 3 ) 2 oder von Mischungen R 3 EH/iBuOOiBu erzeugbaren reaktiven Germyl-, Stannyl- und Plumbyl-Radikale E R mit nicht allzu raumerfüllenden Resten R stabilisieren sich u. a. mehr oder weniger rasch durch Dimerisierung (SnMe 3 bildet diffusionskontrolliert Sn2Me6), durch Abstraktion von Atomen oder Atomgruppen aus der chemischen Umgebung (vgl. z. B. Hydrostannierung, S. 1030) bzw. durch Addition an Verbindungen mit Mehrfachbindungen. Als Konsequenz der vergleichsweise hohen Inversionsbarriere der Radikale E R erfolgen radikalische Reaktionen chiraler Verbindungen R R ' R " E H unter Konfigurationserhalt (z. B. RPhGe*—H + CC14 («Bu 2 0 2 , 80°C) ^ RMePhGe*—Cl + H C a 3 ; R = Naphthyl C8H9). Germyl-, Stannyl-, Plumbyl-Kationen ER^ bilden sich aus R 3 E X in Supersäuren sowie durch Abstraktion von aus R 3 EH mit Ph 3 C + bzw. von Cl" aus R 3 ECl mit Ag + in nicht-basischen organischen Solvenzien wie C ^ O j , Me 2 SO, (Me 2 N) 3 PO, z. B.: R 3 SnH + H S 0 3 F
(HSO,F)
R 3 SnCi + Ag+Clor
3-U
— H2
R 3 Sn+SO 3 F~; R S n H + Ph 3 C+X~
— AgCl
• R 3 Sn+X~;
— Ph3CH
• R,&+ao;
Die hierbei erhältlichen Kationen liegen allerdings nicht in ,,freier" Form vor, sondern sind mehr oder weniger schwach mit einem oder zwei Gegenionen oder Solvensmolekülen koordiniert und dann tetra edrisch oder trigonal-bipyramidal strukturiert (E in der Polyedermitte; „maskierte" Stannyl-Kationen N(SnMe3)4+ bzw. P(SnMe3)4+ bilden sich durch Umsetzung von N(SnMe 3 ) 3 bzw. P(SnMe 3 ) 3 mit Me 3 SnOSO 2 CF 3 in Toluol). Offensichtlich führt jedoch die Reaktion von Mes 3 GeR bzw. M e s S n R (R = —CH 2 CH=CH 2 ) mit (Et 3 SiCH 2 )Ph 2 C + B(C6F5)4~ zu Salzen Mes3E+ B(C6F5)4~, welche trigonal-planare, (praktisch) unkoordinierte Kationen Mes 3 Ge + bzw. Mes 3 Sn + enthalten. Entsprechendes gilt für das gemäß G e R + Ph 3 C + -> GeR3+ + Ph 3 C' zugängliche, sehr elektrophile Kation GeR3+ (R = SiMe«Bu2; Gegenion B(C6F5)4~; mit CH 3 CN Bildung von R 3 Ge—NCCH 3 , mit LkBu Bildung von R 3 Ge«Bu; in der Gasphase sind freie Germyl-, Stannyl-, Plumbyl-Kationen lange bekannt). Insbesondere beim Blei besteht wohl die Möglichkeit, unter geeigneten Bedingungen lineare, mit HgR 2 isoelektronische Dikationen E R 2 + zu gewinnen Hyperkoordinierte Germane, Stannane, Plumbane R„EX4_B(D)m (früher hypervalente Tetrelane). Ähnlich wie Silane R„SiX4-„ (X = Halogen) vermögen auch Germane, Stannane, Plumbane R„EX 4 _„ unter Erhöhung der Koordinationszahl des Zentralelements Donoren D wie Halogenid, Ether, Amine unter Bildung anionischer, neutraler oder kationischer Komplexe R„EX4_„(D)m anzulagern. Wieder kommt den Tetraorganyl-Verbindungen E R besonders geringe Lewis-Acidität zu; doch bilden sich Anionen ER5~ wie dort in mehr oder weniger großer Gleichgewichtskonzentration beim Versetzen von ER-Lösungen mit Alkalimetallorganylen MR, sofern das Kation M + ausreichend donorstabilisiert wird. Bezüglich dieser Problematik sowie der Struktur von Komplexen R„EX4_„(D)m (n = 3, 2, 1) vgl. das bei den hyperkoordinierten Silanen R 4 SiX 4 _„(D) m Gesagte (S. 935). Verwendung Zinnorganyle (Weltjahresproduktion: 50 Kilotonnenmaßstab) werden in großen Mengen als PVC-Stabilisatoren genutzt (Hemmung der durch Einwirkung von Wärme, Licht, Sauerstoff verursachten Verfärbung und Versprödung von PVC; man setzt u. a. Bu 2 SnX 2 mit X = SCH2COO;'C8H17 ein). Darüber hinaus dienen sie zur Vulkanisierung von Siliconen; auch werden sie (z. B. (QH^^SnOH, (Bu3Sn)2O, Bu 3 SnOOC—C U H 23 , Ph 3 SnOOC—CH 3 ) als Biozide u. a. gegen Pilz-, Motten- und Milbenbefall sowie gegen Fäulnis u. a. zur Konservierung von Schiffsrümpfen eingesetzt. Me2SnCl2 wird zudem zum Aufbringen dünner Sn0 2 -Schichten auf Glas genutzt (Hydrolyse bei 400-500°C). Eine Verwendung von Bleiorganylen (z. B. als Antiklopfmittel, Kunststoffadditive oder Biozide) verbietet sich aufgrund der hohen Toxizität der Bleiverbindungen.
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1033»
Höhere Organylgermane, -stannane und -plumbane92 96 Darstellung Ähnlich wie von Silicium, so kennt man auch von Germanium und Zinn eine große Anzahl acyclischer, cyclischer und oligocyclischer höherer Tetrelane E„R2n+m (E = Ge, Sn; n > 1; m = 2, 0, - 2 , — 4, ...), wobei auch Ge- und Sn-Cluster mit ,,nackten" Tetrelatomen neben ER-Gruppen existieren (n > 2n + m). Von Blei sind bisher nur wenige höhere Plumbane PbnR2n+m synthetisiert worden, was verwundert, da Bleiclusteranionen (S. 1008) leicht zugänglich sind. Man gewinnt die Titelverbindungen meist durch Dehalogenierung organischer Halogengermane, -stannane bzw. -plumbane R 3 EX, R 2 EX 2 , REX 3 , R 2 XE E X R , RX 2 E EX 2 R sowie Gemischen dieser Verbindungen mit Alkali-, Erdalkalimetallen, Alkalimetallnaphthaleniden, -organylen, -silylen unter geeigneten Bedingungen in flüssigem Ammoniak, organischen Medien oder ohne Lösungsmittel. Die Reduktion erfolgt im Sinne von (6 a,b) auf dem Wege über Metallgermanide, -stannide bzw. -plumbide. Letztere, auf den weiter oben beschriebenen Wegen (S.1031) zugänglichen Verbindungen M—E^ lassen sich auch als solche mit Halogenverbindungen ^E—X gemäß (6b) zu Spezies kuppeln (,, Würtz-Reaktion"), deren E-Atome unterschiedliche organische Reste tragen oder unterschiedliche Tetrele darstellen. Da Metallorganyle (Analoges gilt für Metallsilyle) sowohl als Nucleophile als auch Dehalogenierungsmitttel zu wirken vermögen, führt die Einwirkung von R (bzw. SiR3~) auf Halogenide E X , EX 2 , EX (vgl. S. 1011) gegebenenfalls direkt zu höheren Organyl-(Silyl-)germanen, -stannanen, -plumbanen. Eine weitere Möglichkeit zum Aufbau von EE-Gruppierungen besteht in der (durch Amine katalysierbaren Dehydrierung (7a) organischer Germane, Stannane, Plumbane R 3 EH, R 2 EH 2 usw. und in der Desaminierung (7b) sowie in der Pyrolyse (s. unten) höherer Germane, Stannane, Plumbane. ^E—X + 2M + X — E ^
— MX
> {^E—M + X—E^}
(a ^
^E—H + H—E^
— HL
^
>
.
^
E
.
—
E
(
6
)
(b -
U ^E—E^
R ( E R ) „ + H + H N R (E = Sn). Die Reaktion von GeCl4, SnQ 4 , PbCl^ mit M E R führt zu verzweigten Oligotetrelanen E(ER (in analoger Weise erhält man aus EX und LiER nach Methylierung der zu nächst gebildeten Germanide, Stannide, Plumbide M E ( E R ) 3 verzweigte Spezies des Typs MeE(ER) 3 ). Das Silanid NaSkBu 3 verwandelt R Q 2 & — G e Q 2 R in THF in das Tetrahedran Ge 4 R 4 (R = SkBu3; Sn4R4 bzw. Pb 4 R 4 sind bisher unbekannt), das Diamid Sn[N(SiMe 3 ) 2 ] 2 in THF in das Prisman Sn6R6 (R = SkBu 3 ). Li oder Mg führen RGeCl 3 in THF in Prismane Ge 6 R 6 (R = 2,6-;PrC6H3, CH(SiMe3)2) und Cubane Ge8R8 (R = CMeEt 2 , CMe2iPr, 2,6-Et2C6H3) über. Die Pyrolyse des Cyclotristannans (SnR2)3 liefert die Zinnclusterverbindungen Sn 8 R 8 , Sn10R10, Sn5R6 und Sn7R10 (R = 2,6-Et2C6H3), die Pyrolyse von Sn3R4 den Cluster Sn8R6 (R = SkBu 3 ). Durch Reduktion von RSnCl mit K in THF bzw. von RGeCl mit KC 8 in THF erhält man Sn 8 R 4 (R = 2,6-Mes2C6H3)bzw. Ge 6 R 2 (R = 2,6-Dip 2 C 6 H 3 mitDip = 2,6-iPrC6H3); die Reaktion von ,,GeBr" in Toluol/NPr3 mit LiR führt zu den Clustern Ge 8 R 6 und Ge9R3~ (R = N(SiM ), die Reaktion einer Lösung von G in NCH CH NH mit BiP zum Cluster Ge9(EPh2)2~ (E = Bi, zugänglich auch mit E = P, As, Sb), die Umsetzung von PbHsi2 (Hsi = Si(SiMe3)3) mit P H bzw. mit (Ph3PCuH)6 in Pentan bzw. Toluol bei tiefen Temperaturen wohl auf dem Wege über HPbHsi zu den Clustern Pb12Hsi6 und Pb10Hsi6. Bzgl. weiterer Gewinnungsmethoden vgl. auch Eigenschaften
96
Literatur. A. Sekiguchi, H. Sakurai: ,,Cage Cluster Compounds of Silicon, Germanium and Tin", Adv. Organomet. Chem 37 (1995) 1-38; R. Sita: ,,Structure/Property Relationships of Polystannanes", Adv. Organomet. Chem 37 (1995) 189-244; S. Nagase: ,,Polyhedral Compounds of the Heavier Group 14 Elements Silicon, Germanium, Tin, Lead", Acc. Chem. R e s 28(1995)469-476; H. Gilman, W.H. Atwell, F.K. Cartledge:,,CatenatedOrganic Compounds of Silicon, Germanium, Tin and Lead", Adv. Organomet. Chem. 4 (1966) 1-94; P. Braunstein, X. Morise: ,,Dehydrogenative Coupling of Hydrostannanes Catalyzed by Transition-Metal Complexes", Chem. R e v 100 (2000) 3541-3552; A. Schnepf:,,Neuartige Verbindungen der Elemente der 14. Gruppe: ligandenstabilisierte Cluster mit „nackten" Atomen", Angew. Chem 116 (2004) 680-682; Int. E d 43 (2004) 664.
• 1034
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Strukturen Bezüglich der Strukturen einiger erwähnter und nicht erwähnter höherer Organyltetrelane R„E2n+m (E = Ge, Sn, Pb) sowie einiger Halogen- und Alkalimetallderivate vgl. Fig. 221 (für m = 0, — 2, — 4, — 6, — 8 liegen mono-, di-, tri-, tetra-, pentacyclische Oligotetrelane vor), bezüglich der nicht wiedergegebenen monocyclischen Verbindungen Fig. 218 auf S. 994 (Ge, Snanstelle von Si). Die EE-Abstände in den betreffenden Spezies sind innerhalb weiter Bereiche variabel; sie wachsen in der Regel mit zunehmender Raumerfüllung der R-Hülle um den E^-Clusterkern (normale AbständerfSiSi/GeGe/snsn/PbPb= 2r« , = 2.34/2.44/2.80/2.92Ä; dSnSn z. B. in Tip«Bu2Sn—Sn«Bu2Tip 3.034Ä).
Ge
Ge-
-Ge.
G e 3 R 6 (rot) (u.a. Dep, Mes, JBu)
Sn ,Sn-
- Sn.
Sn3R6 (tiefrot)
Pb3R6 (d'rot)
(u.a. Dep, Tip, Phen)
(Dep)
Tvk Ge81 Bu8Cl4
(blaßgelb)
SnioDepio
(orangef.)
Sn8Dmp4
(pupurf.)
Pb.
Ge8 * Bu8X 2
(X = Cl, Br; gelb)
Sn 5 Dep 6
(tiefblau)
Ge 9 (BiPh2)2
(tiefrot)
x
Sn 5 Me2Dep6
(zitronengelb)
Bu S^BuDepj
(orangerot)
TstT Ge6Dip6, Ge6Dsi6/Sn6R 6 *
E8R8a'
(Ge/Sn: gelb/rot)
(orangef./tiefblau)
E6[Cr(CO)5 ] V (Ge/Sn: rot)
Ge6(2,6-Dip 2 C6H3) 3
Get>Hsi 3
Pbi2Hsi 6
PbioHsi 6
(d'braun)
(d'braun)
(orangef.)
(orangef.)
E8R 6 b)
(Ge/Sn: d'rot)
Fig.221 Strukturen einiger höherer gesättigter Organylgermane, -stannane, -plumbane E„R2„+m (E = Ge, Sn, Pb; • = E R , ER; o = „nacktes" E-Atom mit ungebundenem Elektronenpaar; R = Organyl- und andere Reste; Dep = 2,6-Et 2 C 6 H 3 , Dip = 2,6-iPr 2 C 6 H 3 , Tip = 2,4,6-;'Pr3C6H2, Phen = Phenanthrenyl, Dsi = CH(SiMe 3 ) 2 , R * = SkBu 3 , Hsi = Si(SiMe 3 ) 3 , D m ^ 2,6-Mes 2 C 6 H 3 , Bsa = N(SiMe3)2). - a) G j ( C M e ^ „ ^ ( C M , i i ^ ) , , Sn8Dep8. - b) Ge 8 Bsa 6 , Sn8R6*, darüber hinaus [Sn 8 R**] 2 ~. Bindungsverhältnisse (i) Während die Reste R in den dreigliederigen Ringen (GeR 2 ) 3 und (SnR 2 ) 3 die erwarteten Positionen einnehmen, weicht die Orientierung der Substituenten in (PbR 2 ) 3 um 37° von den idealen Positionen ab (vgl. Fig.221). Dieser Befund weist auf eine unvollständige Hybridisierung des äußeren - relativistisch kontrahierten (S. 340) - 6s-Orbitals mit den drei 6p-Orbitalen des Bleis hin: drei Plumbylene Pb werden schwach über Wechselbeziehungen der elektronenbesetzten s-Orbitale einer Einheit mit dem elektronenleeren p-Orbital einer anderen Einheit verknüpft (rfPbPb = 3.18Ä). - (ii) In den in Fig.221 wiedergegebenen Tetrelclusterverbindungen E 5 R 8 , E 6 R 10 , E 8 R 12 , E 8 R 10 , E n R n (n = 4, 6, 8, 10) sind die E-Atome durch Zweizentren-Zweielektronen-Bindungen verknüpft. - (iii) Der punktierte Abstand in Sn5Dep6 (Fig.221) ist mit 3.367Ä deutlich größer als die übrigen SnSn-Abstände (2.84-2.87 Ä); offensichtlich stehen die beiden ,,nackten" Sn-Atome in einer Singulett-Diradikal-Beziehung (Sn5Dep6 geht aus Sn 5 Me 2 Dep 6 formal durch Abspaltung zweier Methylradikale hervor). - (iv) In
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1035»
den in Fig. 221 wiedergegebenen Tetrelverbindungen E 6 R j " , E 6 R 2 , E 8 R 6 , E 8 R 4 , E 9 R 2 ~, E9R3~ reichen die Clusterelektronen nicht für die Bildung von Zweizentren-Zweielektronen-Bindungen zwischen allen EEPaaren aus: es liegen Elektronenmangelverbindungen vor. Gemäß den ,, Wade'schen Regeln" (S. 926, 1060) kommen hierbei den nackten Clustern E6R^~ und E 6 R 2 mit (2n + 2) Clusterelektronen closo-Strukturen (Oktaeder), dem Cluster E9R3~ mit (2n + 4) Clusterelektronen eine nido-Struktur (überkapptes quadratisches Antiprisma) zu. Weniger einsichtig sind die Bindungsverhältnisse von E 8 R 6 (kubisch), Sn8Dmp4 (rhombisch-prismatisch), Ge 9 Hsif (dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch; analog gebaut Sn9R3 (R = 2,6-Tip2C6H3); in Sn10R3+ (R = 2,6-Mes2C6H3) liegt überkapptes Sn9R3 vor), Pb12Hsi6 (ikosaedrisch), P b ^ s ^ (vgl. Fig. 221). Eigenschaften Die gemäß Fig. 221 gelben bis roten, aber auch blauen bis schwarzen höheren Organyltetrelane sind in der Regel Feststoffe (Smp./Sdp. für Ge2Me6: — 40/140°C; Ge2Ph6: 346°C/Zers.; Sn2Me6: 23/182°C; Sn2Ph6: 237°C/Zers. 280°C; Pb2Me6 und Pb2Ph6: thermolabil). Ihre Thermostabilität sinkt in Richtung Organyl-oligosilane, -germane, -stannane, -plumbane. Bezüglich der Spaltung von E 2 R 6 in Radikale E R vgl. S. 1032. Von Interesse ist die thermo- oder photochemisch induzierte Cycloreversion einiger Cyclotrigermane und -stannane (8 a) oder Hexasila- und Hexagermaprismane (8 b), darüber hinaus die thermische Disproportionierung des Diplumbans Pb2Ph6 (-• PbPh4 + PbPh2; Pb2Ph6 + PbPh2 -> P P PbP PbP P 2PbP ). x2
R , E-
*
x
ER,
- ER,
RE
ER
RE
ER
R,E = ER,
(a)
(ER 2 ) 3
( E R 2 ) 2
\ R
RE
A, h
(8)
•"(bT
RE
(ER)6
(ER) 6
Auch die Luftempfindlichkeit sinkt in Richtung Germane, Stannane, Plumbane. So wird Sn2Me6 an Luft - anders als unzersetzt destillierendes Ge2Me6 - langsam, Pb2Ph6 rasch oxidiert (Bildung von Me3SnOSnMe3, Ph3PbOPbPh3; Sn2Me6 entzündet sich beim Sdp.) Halogene X 2 bzw. Alkalimetalle M führen zur Spaltung von EE-Bindungen (z. B. (ER)„ + X 2 oder 2M X(ER)„X oder M(ER)„M; Na 2 Sn 8 R*). Halogenwasserstoffe vermögen Ge8«Bu8 + X 2 Ge8«Bu8X2 (vgl. Fig. 221); Sn 8 R* + 2Na (Ge«BuCl)4 + 4PhH). Ditetrelane R E — E R 3 EPh-Bindungen zu spalten (z.B. (Ge«BuPh)4 + 4HC1 (E = Ge, Sn, Pb) eignen sich zur Synthese von Übergangsmetallkomplexen, z.B.: Sn2Me6 oder Pb2Ph6 + Pt(PPh3)4 trans-(Ph 3 P) 2 Pt(ER) 2 + 2PPh3; Sn2Me6 + Co2(CO)8 ^ 2(CO) 4 Co(SnMe 3 ).
Organylgermylene, -stannylene, -plumbylene und Derivate92'9? Darstellung Die Organyltetrelylene E R und R E X (E = Ge, Sn, Pb; X = Hal, OR, N R ) lassen sich wie die Organylsilylene SiR 2 und RSiX (S.995) durch thermische, photochemische oder chemische a-Eliminierung von X Y aus R 2 E X Y und REX 2 Y gemäß (9a) erzeugen (z. B. Dehydrierung von R 2 EH 2 (XY = H2) mit HgiBu2 Dehalogenierung von R 2 EHal 2 (XY = Hal2) mit Alkalimetallen Methanolabspaltung aus R 2 EH(OMe) (XY = MeOH), R3ECl-Abspaltung aus R E — R 2 E C l (XY = R 3 ECl), Salzeliminierung aus R 2 EHalM (XY = MHal)). Darüber hinaus führt die Substitution von X~ in E X durch R (Organyl-, Silylanionen usw.) gemäß (9b,c) zu E R und R E X (wegen des Fehlens geeigneter Edukte SiX 2 ist letztere Darstellungsmethode für Silylene ungebräuchlich): E X Y (oder R E X Y)
— XY (a)
:
R 2 E (oder REX); EX 2
MR; — M X (b
'
REX
MR; — M X (c
'
E R . (9)
Eigenschaften Erst im Falle hoher sterischer Abschirmung von E in den farbigen, diamagnetischen Tetrelylenen durch raumerfüllende Reste R werden E R und R E X isolierbar. Beispiele sind etwa EDsi2 (Dsi = CH(SiMe3)2; * CGeC/CSnC/CPbC = 107/97/103.6°), EMes* (Mes* = 2,4,6-«Bu3C6H2; * CGeC/ CSnC/CPbC = 108.0/103.6/?), E D m p (Dmp = 2,6-Mes2C6H3; * CGeC/CSnC/CPbC = 114.4/114.7/ 97 Literatur. J. Barrau, G. Riwa: ,,Stable germanium analogs of carbenes, imines, ketones, thiones, selenons, tellons", Coord. Chem. Rev 178-180 (1998) 593-622; M. Veith:,, Ungesättigte Moleküle mit Hauptgruppenmetallen", Angew. Chem 99 (1987) 1-14; Int. E d 26 (1987); J. Satge: „Reactive Intermediates in Organogermanium Chemistry", Pure Appl. Chem 56 (1984) 137-150; W.P. Neumann: ,,Germylenes and Stannylenes", Chem. Rev 91 (1991) 311-334; M. Veith, D. Recktenwald: ,,Structure and Reactivity of Monomeric Molecular Tin(II) Compounds", Top. Curr. Chem 104 (1982) 1-55; J.W. Connolly, C. Hott:,,Organic Compounds of Divalent Tin andLead", Adv. Organomet. Chem 19 (1981) 123-153; M. Driess, H. Grützmacher: ,,Hauptgruppenelementanaloga von Carbanen, Olefinen und kleinen Ringen", Angew. Chem 108 (1996) 900-929; Int. E d 35 (1996) 828; P. Jutzi, N. Burford: „Structurally Diversen-Cyclopentadienyl Complexes of the Main Group Elements", Chem. Rev 99 (1999) 969-990; P. Jutzi: , ,Sandwich-artige Cyclopentadienylkomplexe von Hauptgruppenelementen", Chemie in unserer Zeit 33 (1999), 342-353.
• 1036
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
114.5°), E[—C(SiMe 3 ) 2 CH 2 CH 2 C(SiMe 3 ) 2 —] (^CGeC/CSnC = 91.0/86.7°) und BtpEHal (Btp = 2,6Tip2C6H3 mit Tip = 2,4,6-;Pr3C6H2; * CGeCl/CSnI/CPbBr = 101.3/102.7/95.4°). Allerdings sind die nach EX 2 + 2 L i D s w EDsi2 + 2LiX (E/X = Ge/N(SiMe3)2, Sn/Cl, Pb/Cl) zugänglichen „Bis(disyl)tetrelylene" EDsi2 (E = Ge/Sn/Pb: gelbe/rote/purpurfarbene Kristalle mit Smp. 180/136/44°C) mit den weniger voluminösen Resten Dsi = CH(SiMe3)2 nur in der Gas- und Lösungsphase monomer, in der festen Phase dagegen dimer: Dsi 2 E=EDsi 2 . Die Stabilisierung der Tetrelylene E R / R E X erfolgt durch Di-, Oligo- bzw. Polymerisation unter Bildung von Ditetrelenen R 2 E = E R 2 / R X E = E X R (vgl. nachfolgendes Unterkapitel), von Cyclotetrelanen oder Polytetrelanen (ER)„/(REX)„ oder (ER)^ (n = 3, 4, 5,...; vgl. vorstehendes Unterkapitel, z. B. (EDep2)3) des weiteren unter Bildung von X-verbrückten Tetrelylenen (REX)„ z. B. des Typs (a), (b), (c), (d) (Btp = 2,6-Tip2C6H3, Tip = 2,4,6-;Pr3C6H2, D m ^ 2,6-Mes2C6H3): H Btp
C
Sn Sn W V (a) (RSnH) 2
Btp
BtP
Br
D m p — Sn
Sn—Dmp
Btp
Cl (b) (RSnCl) 2
Pb
Pb — Btp Br
(c) (RPbBr) 2
Pb
B t P / Cl \
/ Pb Btp (d) (RPbCl) 3 Cl
In Richtung Silylene, Germylene, Stannylene, Plumbylene, d. h. mit wachsender Ordnungszahl von E, sowie mit zunehmender Elektronegativität der tetrelgebundenen Reste wächst die Tendenz der Tetrelylene zur Oligomerisierung über EXE-Brücken (zunehmende Raumerfüllung von R erniedrigt insgesamt die Oligomerisationsneigung). So stabilisiert sich etwa DmpGeCl unter Bildung von (Dmp)ClGe=GeCl(Dmp), DmpSnCl unter Bildung von (b), HsiSnCl unter Bildung von (HsiSnCl)4 mit Sn4-Ring (der Hypersilylrest Hsi = Si(SiMe3)3 ist elektropositiver als Dmp). Außer in der beschriebenen Weise kann die Stabilisierung der Tetrelylene z. B. auch durch Disproportionierung (z. B. 2PbR 2 -> Pb + PbR 4 ) oder durch intramolekulare Umlagerungen wie (10) erfolgen (analog (10) reagiert Ge(Hsi)2, während SnHsi und PbHsi umlagerungsstabil sind): (Me 3 Si) 3 Ge
(SiMe 3 ) 2 Ge
OM^Si^Ge. Ge
-D--
(Me3Si)3Ge^
Ge
SiMe 3
-0--
^ S i ^ G e ^
Ge 3 (SiMe 3 ) 6
/
\
(Me3Si)2Ge
Ge 3 (SiMe 3 ) 6
(10) ^(SMe^
Ge 3 (SiMe 3 ) 6
Die oligomerisierungslabilen Germylene und Stannylene lassen sich wie die entsprechenden Silylene (S. 995) mit geeigneten Reaktanden abfangen, wodurch ihre intermediäre Existenz sichtbar wird, z. B.: R2 Sn R 2 S n/(
"'
+R' X = R 3 SnH, RHal
x R 2 R'SnX
:SnR2
•S_J W
•
H2C
/
\
CH2
\ / HC=CH
(11)
R 2 Sn(C 4 H 6 )
Die Spezies E R sowie R E X wirken als elektrophile Germylene, Stannylene, Plumbylene und vereinigen sich demgemäß mit Donoren D zu Tetrelylen-Donoraddukten ER 2 (D) sowie REX(D) mit ähnlichen Strukturen, wie sie Silylen-Donoraddukte aufweisen (vgl. Formeln (a) und (b) auf S. 996). Auch die oben wiedergegebenen Oligomeren (a)-(d) stellen derartige Donoraddukte dar. Über eine vorgelagerte Adduktbildung verläuft auch die Substitution von X in R E X durch andere Reste, z.B.: Organylierung von BtpPbBr mit LiR unter Bildung von BtpPbR mit R = M e «Bu, Ph; Germylierung von DmpECl (E = Ge, Sn) mit LiGe«Bu3 unter Bildung von DmpEGeiBu 3 ; Hydrierung von BtpSnCl mit LiAlH4 unter Bildung von (a) (BtpPbBr wird von LiAlH4 reduziert: 2BtpPbBr + 2H~ 2BtpPbH + 2Br~ BtpPbPbBtp + 2Br~ + H2). Die Donoraddukte :ER 2 (D) sowie :ERX(D) wirken wie die Silylenaddukte (S. 996) als nucleophile Germylene, Stannylene, Plumbylene. Entsprechendes gilt für die gemäß EHal2 + MgCp2 (oder 2NaCp)
ECp2 + MgHal2 (oder 2 NaHal)
erzeugbaren und isolierbaren farblosen bis gelben Verbindungen Germanocen, Stannocen und Plumbocen ECp2 (kinetische Stabilität GeCp2 < SnCp2 < PbCp2, Smp. Zers./105/138°C). Die Cyclopentadienylringe Cp = C5H5 sind hierbei im Sinne des Formelbildes (e) re-gebunden („Sandwich-Komplexe"), wobei aber die Achsen der beiden Ringe nicht wie im Ferrocen FeCp2 einen Winkel o: von 180°, sondern < 180° bilden (152/144/135°). Somit ist das freie Elektronenpaar stereochemisch wirksam. Mit wachsendem Raumbedarf der Cp-Reste (Substitution von • = H durch Me/Ph) nähert sich der Winkel in zunehmen-
3. Das Germanium, Zinn und Blei
1037»
dem Maße dem Wert von 180° (ECpf: 158/155/151°, ECp^: ?/180°/?; Cp* = C 5 Me 5 , Cp' = QPh 5 ); auch werden die Metallocene in gleicher Richtung thermostabiler (z. B. ist SiCpf anders als SiCp2 isolierbar).
(e) C p * E
(g) [Cp*E] +
(f) C p * E X
(h) [Cp 2 Pb]
Die hydrolyse- und luftempfindlichen, festen Metallocene ECp 2 , ECpf und ECp2 liegen bis auf polymeres PbCp2 (h) monomer vor. Die Bindungen zwischen E und Cp sind vergleichsweise polar; demgemäß lässt sich Cp" leicht von ECp2 verdrängen, z.B.: ECp2 + EHal2 2CpEHal bzw. ECp2 + HHal CpEHal + CpH; PbCp2 + THF CpPb(THF) + Cp" (Bildung von ,,Halbsandwich-Komplexen" (f)); ECp2 + 2HOR E(OR) 2 + 2CpH. Mit H B F lassen sich die Metallocene ECp* in die mit GaCp*, InCp*, TlCp* isoelektronischen Kationen ECp* + (g) überführen, in welchen E formal ein Elektronenoktett zukommt (2 Außenelektronen von E 2 + , ^-Elektronen von Cp"; gemäß BtpPbMe + B(C6F5)3 BtpPb + B M e ( ^ ) 4 " konnte zudem ein Cp-freies Kation RPb + erzeugt werden). Bezüglich der mit den Cp-Komplexen verwandten E(II)-Arenkomplexe wie etwa Sn(C6H6)2 + vgl. S. 1204. Ähnlich wie Silicocene reagieren Germanocene und Stannocene mit geeigneten Reagenzien unter oxidativer Addition, z. B. SnnCp2 + Mel Cp2(Me)SnIVI (Übergang von rj5- in rj^gebundenes Cp). Oxidative Additionen an PbCp2 erfolgen wegen der geringen Tendenz von Pb zum Übergang in die vierwertige Stufe in der Regel nicht (PbCp2 reagiert mit Mel gemäß PbCp2 + Mel ^ CpPbl + CpMe). Die Polymerisation von Plumbocen PbCp2 im Sinne von (h) (man kennt auch eine hexamere Form; in der Gasphase ist PbCp2 monomer) deutet auf einen elektrophilen Charakter des Plumbocens und dokumentiert die hohe Koordinationstendenz von Pb(II). Demgemäß lässt sich an PbCp2 Cyclopentadienid Cp" unter Bildung der Anionen PbCp3", Pb2Cp5", Pb4Pb9" addieren (man kennt auch SnCp3"), welche Ausschnitte aus (PbCp2)x repräsentieren. Die elektrische Leitfähigkeit von PbCp2-Lösungen in THF könnte ebenfalls auf eine derartige ,,at"-Komplexbildung zurückgehen: PbCp2 + THF CpPb(THF) PbC Nucleophilen Charakter weisen - nicht eigentlich zu den Organyltetrelylenen zu zählende - Diaminotetrelylene E(NH2)2 auf, in welchen die Tetrelylenstabilisierung durch Mesomerie erfolgt (vgl. hierzu Diaminosilylene, S. 997). Sie lassen sich in Substanz isolieren, falls die NEN-Gruppierung Teil eines - bevorzugt einfach-ungesättigten fünfgliederigen - Rings ist, z. B. wie in E(—NR—CH=CH—NR—) mit R = tBu, Mes. Allerdings nimmt die Stabilität letzterer Verbindungen hinsichtlich eines Zerfalls in E und R N = C H — C H = N R in Richtung der Tetrelylene mit E = Ge, Sn, Pb ab (Pb-Verbindungen sind bisher unbekannt). Auch sinkt in gleicher Richtung die Tendenz zur oxidativen Addition geeigneter Reaktanden (z. B. addiert das Germylen zusätzlich R N = C H — C H = N R , das Stannylen nicht; die Austauschbarkeit von zinngebundenem RNCH CHNR gegen NCH CHNR weist aber auf zwischen zeitlich gebildete Addukte hin). Ähnlich wie Tetrelyle E R (S. 1032) wirken auch Tetreldiyle (Germylene, Stannylene, Plumbylene) :ER 2 und Tetreltriyle :ER" (Germyline, Stannyline, Plumbyline) als Komplexliganden und bilden mit Übergangsmetall-Komplexfragmenten M L geeigneter Ligand) Tetrelylen- und Tetrelylin-Metallkomplexe, die bei guter sterischer Abschirmung der ungesättigten Tetrelatome isolierbar werden. Beispiele für ersteren Komplextyp sind etwa (CO) 5 Cr=EDsi 2 (E = Ge, Sn, Pb), (Et 3 P) 2 M=GeBsa 2 (M = Ni, Pt), (CO) 5 M=SnMes(CH 2 CMe 2 Ar) (M = Mo, W), Beispiele für letzteren Komplextyp (i)-(m)(Dsi = CH(SiMe3)2, Bsa = N(SiMe3)2, D m ^ 2,6-Mes2C6H3, Btp = 2,5-Tip2C6H3 mit Tip = 2,4,6-/Pr3C6H2, Cp = C5H5). In den Komplexen (i)-(m) sind die Gruppierungen M = E — R fast linear und die Abstände M = E vergleichsweise kurz. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang die Verbindungen transClP 2 M=Ge—Ge=MP 2 Cl (P2 = Et 2 PCH 2 CH 2 PEt 2 ; M = Mo, W; vgl. S. 1008) mit ,,end-on" komplexierten Ge2-Einheiten (vgl. hierzu ,,side-on" komplexiertes As 2 sowie Sb 2 , S. 827).
\ ^ MM== G G qe OC OC
)C
(Btp) Dmp
Hai
M=Gq
— Cp (
(Cr, Mo, W W))
(i) [Cp(CO) 2 MGeR]
(k) [(R 3 P) 4 HalMGeR]
A)
Cl
W ^
Sn
Dmp
|\ Me3P
PMe3
(l) [(R 3 P) 4 ClWSnR]
Br
M=Pb |\
Me3P
Btp (Mo, W )
PMe3
(m) [(R 3 P) 4 BrMPbR]
• 1038
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Metallkomplexe von E R bzw. ER mit weniger raumerfüllenden Resten R werden dann zugänglich, wenn die Tetrelylene bzw. Tetrelyline donorstabilisiert sind oder Brücken zwischen zwei Übergangsmetall-Komplexfragmenten bilden, z.B.: (CO s )Cr—GeMe 2 (THF), (CO) 4 Fe—Sn«Bu 2 (THF), (CO) 4 Fe—PbBu 2 (THF), (CO)3Fe(f/-GeMe2)3Fe(CO)3, (CO)3Co(f/-SnMe2)2Co(CO)3, (CO)4Fe(f/PbBu 2 )Fe(CO) 4 (es wurden Gleichgewichte wie (CO)„M(>7-ER)2M(CO)„ + 2D 2(CO)„M—ER(D) aufgefunden). In diesem Zusammenhang seien noch donorstabilisierte und -freie Germanium-, Zinnund Bleiatom-Komplexe erwähnt: (CO) 4 Fe—Ge(py) 2 —Fe(CO) 4 , (CO)5Cr—Sn(py)2—Cr(CO)5, Cp(CO) 2 Mn=Ge=Mn(CO) 2 Cp, Cp(CO) 2 Mn—Pb—Mn(CO) 2 Cp, [CpFe(CO) 2 ] 3 Pb.
Ungesättigte Organylgermane, -stannane, -plumbane und Derivate 9 2 , 9 7 , 9 8 Digermene, Distannene, Diplumbene R 2 E=ER 2 . Die Darstellung der Ditetrelene R 2 E = E R läuft in der Regel auf eine Dimerisierung (12a) intermediär erzeugter Ditetrelylene E R hinaus. Allerdings sind Ditetrelene nur bei guter sterischer Abschirmung der Doppelbindung durch die Reste R isolierbar, wobei letztere jedoch weder überaus voluminös noch ungenügend raumerfüllend sein dürfen, da ansonsten die
E2R4
E3R6
So existiert etwa PbR 2 mit R = 2,4,6-[(Me 3 Si) 2 CH] 3 C 6 H 2 (Tbt) bzw. 2,4,6-;Pr3C6H2 (Tip) bzw. 2,4,6Et3C6H2 (Tep) im Kristall monomer bzw. dimer bzw. trimer (in Anwesenheit des Donors D = MgBr 2 (THF) 4 bleibt PbTep monomer und PbMes2 dimer: T e p P ^ - D ) P b T e p , (D)Mes2PbPbMes2(D)). Sind die Reste R in E R weniger voluminös, so stabilisieren sich die Tetrelylene durch Bildung größerer cyclischer Verbindungen (ER)„ oder von Kettenpolymeren (ER)., (E = Ge, Sn) bzw. durch Disproportionierung in E und E R (E = Pb). Zur Gewinnung der Ditetrelene E 2 R 4 setzt man im Sinne des Besprochenen E(II)-Verbindungen EX 2 (X = elektronegativer Rest, z. B. Hal, N(SiMe3)2) mit MR (M = Li, Na, MgHal) in organischen Medien wie THF um. Des weiteren dehalogeniert man E(IV)-Verbindungen R 2 EX 2 mit Alkali- oder Erdalkalimetallen sowie Lithiumnaphthalenid LiC10H8 oder Supersilylnatrium NaSkBu 3 in organischen Solvenzien. Hierbei kann die E2R4-Bildung gemäß (12a) durch Dimerisierung intermediär gebildeter Tetrelylene ER 2 erfolgen. Bei R 2 EX 2 mit weniger raumerfüllenden Gruppen beobachtet man auch andere Reaktionsfolgen, z.B.: 2 R E X 2 + 2M R 2 EXM + MX + R 2 EX 2 ^ R 2 X E — E X R + 2MX; R 2 X E — E X R + 2M R2X^EMVMX R 2 E = E R + 2 M X (analog: «R 2 EX 2 + 2 « M R2XE(ER)„_2EXR + 2 M + (2n-2)MX -> (ER)„ + 2«MX). Schließlich lassen sich Cyclotritetrelane gemäß (12a,b) thermo- oder photochemisch in - hinsichtlich einer Umwandlung in ( E R ) 3 metastabile oder instabile - Ditetrelene (ER 2 ) 2 umwandeln Auf den betreffenden Wegen konnten bisher über zehn Digermene Ge 2 R 4 und knapp zehn Distannene Sn2R4 sowie Diplumbene Pb 2 R 4 erzeugt und strukturanalytisch charakterisiert werden. Für einige Beispiele vgl. Fig. 222a,b,c,d,e (als erstes Ditetrelen E 2 R 4 wurde das im Kristall dimere Dsi 2 Sn=SnDsi 2 1976 durch M.F. Lappert aus SnCl2/NaN(SiMe3)2 erzeugt). Weitere isolierte ungesättigte Germane und Stannane sind u.a. die in Fig.222f,g,h,i,k wiedergegebenen Verbindungen (Ge 3 RJ ist ein 2re-Aromat). Strukturen Bezüglich der Struktur- und Bindungsverhältnisse der farbigen, oxidationsempfindlichen Digermene, Distannene und Diplumbene vgl. S. 933. Die GeGe-/SnSn-/PbPb-Doppelbindungsabstände liegen im Bereich ca. 2.20-2.50/2.70-3.00/3.00-3.60Ä (vgl. Fig.222), und sind damit teils kürzer (Ge), teils sogar länger (Sn, Pb) als die entsprechenden Einfachbindungsabstände (2rGe/Sn/Pb = 2.44/2.80/2. 92 Ä). 9S
Literatur. J. Barrau, J. Escudie, J. Satge: ,,Multiple Bonded Germanium Species. Recent Developments", Chem. Rev. 90 (1990) 283-319; J Satge: ,,Multiply Bonded Germanium SpeciesAdv. Organomet. Chem 21 (1983) 241-287; T.T. Tsumuraya, S.A. Batcheller, S. Masamune: „Verbindungen mit SiSi-, GeGe- und SnSn-Doppelbindungen sowie gespannten Ringsystemen mit Si-, Ge- und Sn-Gerüsten", Angew. Chem 103 (1991) 916-944; Int. E d 30 (1991) 902; J. Escudie, H.Ranaivonjatovo: „Doubly Bonded Derivatives of Germanium", Adv. Organomet. Chem 44 (1999) 114-174; P. Jutzi: „n-Bonding to Main Group Elements", Adv. Organomet. Chem 26 (1986) 217-295; J. Escudie, H. Ranaivonjatovo, L. Rigu: ,,Heavy Allenes and Cumulenes E=C=E' and E=C=C=E' (E = P, As, Si, Ge; Sn; E' = C, N, P, As, O, S) Chem. Rev 100 (2000) 3639-3696; P.P. Power: „n-Bonding and the Lone Pair Effect in Multiple Bonds between Heavier Main Group Elements", Chem. R e v 99 (1999) 3436-3503; M. Weidenbruch: ,Dreifachbindungen bei schweren Hauptgruppenelementen: Acetylen- und Alkylidin-Analoga der Gruppe 14 Angew. Chem. 115 (2003) 2322-2324, Int. Ed. 42 (2003) 2222; P.P. Power: „Silicon, germanium, tin and lead analogues of acetylenes", Chem. Commun. (2003) 2091-2101.
3. Das Germanium, Zinn und Blei Dsi^
^ Dsi
Dsix
xDsi
Ti
px
Tip 2 Ge
Ge/Pb (2.11/3.05 Ä) (b) E 2 R 4
R.
Dep/Tip/i Pr3 Si (2.21/2.21/2.30 Ä) (c) Ge 2 R4
Mes/MesF/Hsi (2.70/2.83/2.83 Ä) (d) Sn 2 R4
XR
R* Ge
(R = R*) +Ph 3 C + ,-Ph 3 CR*
,R* Ge
GeTip 2 R*Ge / = ' GVe R *
(2.35 Ä) (f) Ge 4 R 6
,R Sn=Sn XHsi R/
R/
xTip
/TiP
Ge—Ge
Hsi.
E=E
TipX
Ge/Sn/Pb (2.22/2.77/4.13 Ä) (a) E 2 R 4
Ge=Ge
/Tip
TiPs
E=E
/©\
/ A
R * G e — G e R * R*2Sn
R*/Ge t Bu3/Hsi (2.24/2.26/2.26 Ä) (g) Ge 3R 4
Hsiy P b = P bX
R/
(2.32 Ä) (h) [Ge 3 R 3 ] +
J T
^
156° N SnR|
(2.68 Ä) (i) Sn 3 R4
Hsi
Mes/Mes„F/Tip (2.90/3.54/2.99 Ä) (e) Pb 2 R 4 25°
Sn
1039»
R* \
R
/
R*
A
R*Sn^SnR* (2.59 Ä) (k) Sn 3 R4
Fig.222 Ungesättigte Germane, Stannane, Plumbane (in Klammern jeweils Abstand E = E [Ä], Synthesen von (k): Ge2Tip4 -> Ge2LiTip3 -> Ge2BrTip3; Ge2LiTip3 + Ge2BrTip3 -> (f); GeCl2/NaR* -> (GeClR*) 2 (g) ** (h); SnX2/NaR* (i) (k)). Abkürzungen: Dsi = CH(SiMe3)2, Tip = 2,4,6;Pr3C6H2, Dep = 2,6-Et2C6H3, Me^ = 2,4,6-Me3C6H2; M e ^ 2,4,6-(CF3)3C6H2, Hsi = Si(SiMe3)3, R* = SkBu 3 .
Besonders kurz sind die SnSn-Doppelbindungen in Sn 3 R*, besonders lang die PbPb-Bindung in Pb2Dsi4 (vgl. Fig.222i,k,a). Die Ditetrelene bilden keine klassischen Strukturen mit planaren, nicht verdrilltem Gerüst aus, sondern haben nichtklassischen Bau. Die Faltungs- und Twistwinkel (vgl. Gleichung (12), linke und rechte Formel) liegen für Ge2R4/Sn2R4/Pb2R4 nach bisherigen Untersuchungen im Bereich q> ca. 0-50/20-50/30-70° und t ca. 0-40/0/0° (in (R 3 Si) 2 Ge=Ge(SiR 3 ) 2 und Sn 3 R* (Fig.222k) sind die Doppelbindungen planar und praktisch nicht verdrillt, in Sn2Hsi4 (Fig. 222d) ausnahmsweise nur verdrillt (t = 62.2°); gegenseitige Verdrillung der SnR*-Gruppen findet man in Sn 3 R* (Fig. 222i)). Eigenschaften Einige Digermene Ge 2 R 4 (z. B. Ge2Dsi4) und alle Distannene Sn2R4 sowie Diplumbene Pb2R4 erfahren in Lösung eine thermische Spaltung gemäß (12a) in Tetrelylene. Tbt(Mes)Ge=Ge(Mes)Tbt (Tbt = 2,4,6-[(Me 3 Si) 2 CH] 3 C 6 H 3 ) zerfällt in Lösung bis zu einem Gleichgewicht in das Germylen Ge(Mes)Tbt, dessen Dimerisierung sowohl E- wie Z-konfiguriertes Digermen liefert. Dep 2 Ge=GeDep 2 (Fig.222c) lagert sich in Lösung gemäß (12a,b) in (GeDep2)3 um. Bezüglich der Thermolyse von Sn 3 R* vgl. Fig. 222i,k. Die undissoziierten Digermene reagieren mit geeigneten Edukten zu Produkten, welche denen entsprechender Umsetzungen der Disilene entsprechen. (vgl. S. 999). Digermine, Distannine, „Diplumbine" R E = E R . Die Reduktion von REHal (E = Ge, Sn, Pb; R = 2,6Dip2C6H3 = Ar' bzw. 2,6-Tip2C6H3 = Ar*; Dip = 2,6-;PrC6H3, Tip = 2,4,6-;Pr3C6H2) mit Alkalimetallen in Ethern wie THF führt zu „Ditetrelinen" R E E R sowie deren Reduktionsprodukten, den Radikalanionen R E E R " sowie Dianionen R E E R 2 " (Gegenionen z.B. Li + , Na + , K + , Na(THF) + , K(THF) + , K(Krone)(THF)^; die Dianionen sind isoelektronisch mit RE'E'R, E' = As, Sb, Bi). Die farbigen, neutralen Ditetreline enthalten im Sinne der Formeln (n), (o), (p) ein planares, trans-abgewinkeltes CEECGerüst, wobei die CEE-Winkel in Richtung Ge 2 R 2 > Sn2R2 >> Pb 2 R 2 abnehmen und die GeGe-/SnSn-/ PbPb-Abstände etwa der Bindungsordnung 2/2 — 1/1 entsprechen. Bezüglich der Struktur- und Bindungsverhältnisse vgl. S.933. Die Reduktion der Ditetreline ist - bei Erhalt des planaren zentralen Gerüsts mit einer deutlichen CEE-Winkelverkleinerung um bis zu 32° verbunden, während sich die EE-Abstände weniger ändern. Die Alkalimetallkationen der „Salze" (M + ) 2 E 2 R 2 " sind im Sinne des Formelbildes (q) durch Phenylringe der Gruppen R koordiniert.
\
Ar*
Ar'
Ar' Ge
_
\
Ge
\
Ar'
\
S n = Sn \
.Pb Ar'
(orangerot)
(pupurfarben)
dGeGe = 2 . 2 8 5 Ä
dSnSn = 2.668 Ä
£ CGeGe = 128.7° (n) Ge 2 Ar 2
£ CSnSn = 125.2° (o) Sn 2 Ar 2
'
.
Pb" \
Ar*
(dunkelgrün) d PbPb = 3.188 Ä £ CPbPb = 94.3° (p) Pb 2 Ar 2
(q) [E 2 Ar 2 ]
• 1040
XV. Die Kohlenstoffgruppe („Tetrele")
Germene, Stannene, „Plumbene" R 2 E = C R 2 . Die Darstellung instabiler und metastabiler Germene R 2 G e = C R 2 sowie Stannene R 2 S n = C R 2 kann nach den gleichen Methoden erfolgen wie die der Silene R 2 S i = C R 2 (S. 1000). Darüber hinaus erhält man die betreffenden Spezies sowie Plumbene R 2 P b = C R 2 durch Vereinigung von Tetrelylenen E R (vgl. S. 1035) mit Carbenen C R ( R E : + : C R -> R 2 E = C R 2 ; R 2 z. B. —«BuB—C(SiMe 3 ) 2 —B«Bu—, —;'PrN—CH 2 CH 2 —N;Pr—). Beispielsweise ließen sich die metastabilen Verbindungen (r), (s) und (t) gewinnen, welche ein planares zentrales ^E=CC-Gerüst (r), planare, gegeneinander verdrillte ^E—/CC-Gruppen ( s ) ( T = 36 und 31°) bzw. stark trans-abgewinkelte =C^-Gruppen (t) e n t h a l t e s t ca. 70°). In letzteren Verbindungen hat hiernach die Ylid-Grenzformel der Mesomerie ^E—CC] vor der Doppelbindungs-Grenzformel Vorrang. Demgemäß liegen die EC-Abstände mit 2.38 und 2.54 A im Einfachbindungsbereich, während die EC-Abstände der Tetrelene (r) (1.80 Ä für die Ge-Verbindung) sowie (s) (1.83 und 2.03 Ä) deutlich kürzer sind. Entsprechendes gilt auch für das isolierbare Germaallen T i p G e = C = C ( i B u ) P h (dGs = 1.78 Ä). Die Reaktionen der isolierten und intermediär erzeugten Germene und Stannene entsprechen jenen analoger Silene (S. 1000). i Pr
t Bu RN
E=C;
/
E = c
x
R
R/E = Mes/Ge, Tip/Sn (r) R 2 E C R j
/
B
\
E=C
C(SiMe 3 )2
B/ t Bu
X
i Pr
R/E = Bsa/Ge, Dsi/Sn (s) R 2 E C R j
R/E = Tip/Sn, Tip/Pb
(t) R 2 ECR 2
(Tip = 2,4,6-i Pr 3 C 6 H 2, Bsa = N(SiMe 3 ) 2 , Dsi = CH(SiMe 3 ) 2 ) (v) [GeC 4 Ph 4 ] z ' (u) RGeC 5 H 5
(Bsa = N(SiMe 3 ) 2 , Dsi = CH(SiMe 3 ) 2 , Tip = 2,4,6-;'Pr 3 C 6 H 2 , Tbt = 2,4,6-Dsi 3 C 6 H 2 )
Bisher unbekannt sind Tetreline R E = C R ' (E = Ge, Sn, Pb). Offensichtlich bildet sich jedoch durch Thermolyse von R G e — C ( S i M e 3 ) = N = N das Germin R G e = C S i M e 3 als reaktive Zwischenstufe (R = 2,6-(;Pr 2 NCH 2 ) 2 C 6 H 3 ; abfangbar durch Alkohole). Doppelbindungen des Typs ^ E = C C enthalten auch Germaaromaten wie das isolierbare Germabenzol (u) (Tbt = 2,4,6-[(Me 3 Si) 2 CH] 3 C 6 H 2 ; man kennt auch ein 2-Germanaphthalin mit einer GeTbt-Gruppe) sowie das Germol-Dianion (v) und das entsprechende Stannol-Dianion (Sn statt Ge in (V)) (die Monoanionen sowie die Neutralverbindungen verhalten sich nicht aromatisch). Sonstige ungesättigte Germane, Stannane, Plumbane Analog den Ditetrelenen ^ E = E C und Tetrelenen ^ E = C C ließen sich mit Mes 2 Ge=SiMes 2 und Mes 2 Ge=SnTip 2 auch ein Germasilen (S. 1001) und Germastannen erzeugen und isolieren Iminogermane und -stannane R 2 E = N R ' (E = Ge, Sn; für E = Pb unbekannt) werden meist durch Reaktion von Aziden R'N 3 mit Germylenen oder Stannylenen erzeugt (R NR ). Isolierbare Spezies stellen etwa (Dsi G N) SiMes (Dsi CH(Si Me 3 ) 2 ), R 2 G e = N M e s ( R = Mes(Me 3 Si)N), R 2 G e = N D i p (R = Dip(Me 3 Si)N; Dip = 2,6-;Pr 2 C 6 H 3 ), R 2 S n = N D i p (R = N(SiMe 3 ) 2 ) und Dsi 2 E=NSkBuN 3 mit E = Ge, Sn dar (jeweils planares E-Atom; Abstände GeN/SnN im Bereich 1.68-1.70/1.90-1.92Ä; Winkel ENR' 120-140°). Darüberhinaus kennt man noch die isolierbaren Phosphiminogermane (Mes) 2 RGe=PMes* (R = iBu, Mes; M e ^ = 2,4,6iBu3C6H3; d a ^ = 2.14 Ä, :£ GePC ca. 111°), welche durch Salzeliminierung aus Vorstufen gewonnen werden 2.05 A 2.18 3.40
Tbt
Tbt
Ge=Y
r '
TbtPb—STbt). Verbindungen ( T b t ) R E = Y mit weniger raumbeanspruchenden Resten R wie Mes, 2,6-Et2C6H3 (E = Ge, Sn) oder 2,4,6-;Pr3C6H2 (E = Sn) sind dimerisierungslabil.
Kapitel XVI
Die Borgruppe („Triele")
D i e B o r g r u p p e („Triele"; 13. G r u p p e bzw. I I I . H a u p t g r u p p e des P e r i o d e n s y s t e m s ) u m f a s s t die E l e m e n t e Bor Thallium
( B ) , Aluminium
( A I ) , Gallium
( G a ) , Indium
( I n ) u n d Thallium
(Tl) und
Eka-
(Element 115). Sie werden z u s a m m e n m i t ihren Verbindungen unten (B), a u f S. 1137
(Al) und S. 1178 ( G a , In, Tl) sowie im K a p . X X X V I I
(Eka-Bor) besprochen. A m
d e r E r d r i n d e e i n s c h l i e ß l i c h W a s s e r - u n d L u f t h ü l l e s i n d sie m i t 1 x 1 0 (Ga), 1 x 10
(In), 5 x 10
Aufbau
(B), 7.7 (Al), 1.6 x 10
(Tl) G e w . - % beteiligt, entsprechend einem M a s s e n v e r h ä l t n i s v o n
r u n d 1 0 0 : 1 0 0 0 0 0 0 : 1 6 0 : 1 : 5. A u c h h i e r b e o b a c h t e t m a n a l s o w i e b e i d e n m e i s t e n a n d e r e n E l e m e n t h a u p t g r u p p e n , d a s s d a s zweite E l e m e n t h o m o l o g e wesentlich h ä u f i g e r in der E r d h ü l l e v o r k o m m t als a l l e ü b r i g e n ( b e z ü g l i c h d e r ü b e r a u s g e r i n g e n H ä u f i g k e i t v o n B o r v g l . S . 1 9 2 1 ) . Gelegentlich wurden an Stelle der Elemente Gallium, Indium und Thallium auch die Elemente Scandium, Y t t r i u m und L a n t h a n (aus der I I I . Nebengruppe) zur Borgruppe (III. Hauptgruppe) gerechnet, da B und Al zu diesen Elementen ebenfalls große chemische Verwandtschaft besitzen. D a j e d o c h die drei Außenelektronen beim G a , In und Tl wie beim B und Al einer s- (2 Elektronen) und einer p-Schale (1 Elektron) entstammen, während sie beim Sc, Y und L a einer d- (1 Elektron) und einer s-Schale (2 Elektronen) angehören, ist die Einordnung von G a , In und Tl als Hauptgruppen- und von Sc, Y und L a als Nebengruppen-Elemente atomtheoretisch mehr gerechtfertigt als die andere Zuordnung (vgl. S. 1513).
1
Das Bor 1 ' 2 ' 3
1.1
Das Element Bor
1.1.1
Vorkommen
B o r findet sich in der N a t u r wegen seiner großen Affinität zu Sauerstoff nie in freiem, sondern nur in Sauerstoff-gebundenem Zustand, in F o r m von Borsäure H 3 B 0 3 oder Salzen von Borsäuren (Boraten) der allgemeinen F o r m e l H „ _ 2 B „ 0 2 „ _ t sowie Borosilicaten ( S . 8 5 8 ) . 1
2
3
Literatur N.N. Greenwood: „Boron", Comprehensive Inorg. Chem 1 (1973) 665-991 und Pergamon Press, Oxford 1975; GMELIN: „Boron", ,,Boron Compounds", Syst.-Nr. 13; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Boron and Boron Alloys", ,,Boron Compounds", A4 (1985) 281-293, 309-330; L.E. Muetterties: ,,The Chemistry of Boron and its Compounds", Wiley, New York 1967; R. J. Brotherton, A.L. McCloskey, H. Steinberg (Hrsg.): ,,Progress in Boron Chemistry", 3 Bände, Pergamon Press, New York 1964-1970; G. Gaule:: „Boron", 2 Bände, Plenum Press, New York 1970/1966; R. Thompson: ,,Boron and its Temperature Resistant Compounds", Endeavour 29 (1970) 34-38; COMPR. COORD. CHEM. I/II: „Boron" (vgl. Vorwort); E.G. Jemmis, Jayasree: ,,Analogies between Boron and Carbon", Acc. Chem. R e s 36 (2003) 816-824; J.H. Morris, H.J. Gysling, D. Reed: ,,Electrochemistry of Boron Compounds", Chem. R e v 85 (1985) 51-76; H. Nöth, B. Wrackmeyer: , ,NMR Spectroscopy of Boron Compounds", N M R Basic Principles and Progress, Vol. 14, Springer, Berlin 1978. Vgl. auch Anm. 6, 7, 16, 19, 21, 22, 24, 26, 32, 34. Geschichtliches Das Bor wurde 1808 von Louis-Joseph Gay-Lussac und Louis Jacques Thenard in Frankreich und zur gleichen Zeit unabhängig davon durch Sir Humphrey Davy in England als Produkt der Reduktion von Borsäure H 3 B 0 3 mit Kalium entdeckt. Reinere Proben erhielt 1892 H. Moissan durch Reduktion von B 2 0 3 mit Magnesium (bzgl. der Bormodifikationen vgl. S. 1044). Der englische Name „boron" für Bor deutet auf das Vorkommen des Elements im Borax (bereits in der Antike bekannt) und seine Ähnlichkeit mit Kohlenstoff (engl. carbon). Physiologisches Bor, das spurenweise in allen Organismen vorkommt (z.B. 3.1/43/95mg pro kg Roggen/Bohnen/ Mohn als Trockensubstanz, ca. 0.2 mg pro kg im Menschen) ist für die Tiere und den Menschen nicht essentiell und nicht toxisch, aber für viele Pflanzen als Spurenelement zum Wachstum unentbehrlich (Bormangel verursacht z.B. die Trockenfäule der Rüben). Einige Borverbindungen (z.B. Diboran) sind für den Menschen giftig Literatur. W. Kliegel: ,,Bor in Biologie, Medizin und Pharmazie", Springer, Heidelberg 1980.
1. Das Bor
1043
Das wichtigste Bormineral ist der „Kernit" Na 2 [ B 4 0 6 ( 0 H ) 2 ] • 3 H 2 0 = ,,Na 2 B 4 0 7 • 4H 2 0''; er kommt - zusammen mit „Borax" (,,Tinkal'') Na 2 [ B 4 0 5 ( 0 H ) 4 ] • 8 H 2 0 = ,,Na 2 B 4 0 7 • 1 0 H 2 0 ' ' - insbesondere in Kalifornien, aber auch in der Türkei und in Argentinien in riesigen Lagern vor und bildet das wichtigste Ausgangsmaterial für die Industrie der Borsäure und ihrer Salze. Andere wirtschaftlich wichtige Borate sind: ,,Prohertit'' N a C a B 5 0 9 - 5 H 2 0 , „Ulexit'' NaCaB 5 0 9 • 8 H 2 0 , ,,Colemanit'' C a 2 B 6 0 1 1 • 5 H 2 0 , „Meyerhofferit'' CajBgOjj • 7 H 2 0 , „Pandermit'' („Priceit'') C a 5 B 1 2 0 2 3 • 5 H 2 0 , (bezüglich der Strukturen vgl. S. 1108). Erwähnt seien hier ferner der „Szajbelit'' („Acharit'') M g B 2 0 5 der ,,Boracit'' M g 3 B 7 0 1 3 C l sowie die farbenreichen „Turmaline" (S.963) mit einem Borgehalt von etwa 10%. Isotope (vgl. Anh.III). Natürlich vorkommendes Bor hat die Isotopenzusammensetzung (19.10 — 20.31 %) und ' ' B (80.90-79.69 %). Beide Isotope sind in Form isotopenreiner Verbindungen im Handel. Sie eignen sich zum NMR-spektroskopischen Nachweis. Der Neutroneneinfangquerschnitt von B ist fast 1 Millionen mal höher als der von ^ B . Diesen Sachverhalt nutzt man in Kernreaktoren („Brennstäbe'') und in der Nuklearmedizin („Krebstherapie''4).
1.1.2
Darstellung
Kristallisiertes oder glasiges Bor hoher Reinheit ( > 99.9%) lässt sich durch Reduktion von Bortrichlorid BC13 und Bortribromid BBr 3 mit Wasserstoff bei 1000-1400°C an Wolframoder Tantaldrähten sowie durch thermische Zersetzung von Bortriiodid BI 3 bei 800-1000°C oder Diboran B 2 H 6 bei 600-800°C an Tantal-, Wolfram- bzw. Bornitrid-0berflächen darstellen (für die Reduktion von Bortrifluorid: 1628 kJ + 2BF 3 + 3H 2 -> 2 B + 6HF würden Reaktionstemperaturen von über 2000 °C benötigt; die entsprechende Reduktion von Bortriiodid bereitet Schwierigkeiten): 2 5 6 k J + 2BCl 3 (g) + 3 H 2 -> 2B(Q + 6HCl; 44kJ + 2BI3(g)
1 9 6 k J + 2 B B r 3 ( g ) + 3 H 2 ^ 2B(Q + 6 H B r ;
^ 2 B ( Q + 3I 2 (g);
B2H6
- ^ 2 B ( Q + 3H 2 + 3 6 k J .
Hierbei hängt der Zustand des sich bildenden Bors (kristallisiert in einer der nachfolgend beschriebenen Formen oder auch amorph-glasig) wesentlich von der gewählten Temperatur der 0berflächen ab. Man nutzt die Gasphasenabscheidung (chemical vapor deposition, CVD) von Bor aus BC13/H^Gemischen an 1200-1300°C heißen Wolfram- oder (besser) Kohlenstoffäden zur Synthese von Borfasern, die zur Verstärkung von Bauteilen in Flugzeugen, Raumkapseln, Sportgeräten usw. dienen.
Amorphes Bor geringerer Reinheit erhält man als braunes Pulver (Dichte = 1.73 g/cm) durch Reaktion von Dibortrioxidmit metallischem Magnesium („Moissan'sches Bor''; analog wirken z.B. Li, Na, Ca, Al, Fe reduzierend): B 2 0 3 + 3Mg
2B + 3MgO + 533 kJ
(vgl. die analoge Gewinnung von Silicium, S.919). Es lässt sich durch Auskochen mit verdünnter Salzsäure und Auswaschen mit Wasser von den gleichzeitig gebildeten Beimengungen befreien und enthält 9 8 % Bor. Aus einer Platinschmelze kristallisiert es bei 800-1200 °C als reines Bor (a-rhomboedrisch, s. unten), aus geschmolzenem Aluminium nur in Form der Aluminiumverbindungen AlB 1 2 (,,quadratisches Bor'') bzw. AlB 1 0 aus. 4
Zur 10B-Neutroneneinfang-Krebstherapie (insbesondere bei Gehirntumoren) spritzt man Lösungen geeigneter 10B-Clusterverbindungen wie B ^H^X 2 - (X z.B. 0 H , SH, NH2; vgl. S. 1088) in den Tumor. Die durch die Neutronenbestrahlung aus 10B erzeugten, in entgegengesetzte Richtungen schießenden, nicht radioaktiven Nuklide 7Li und 4He (Reichweite ca. 5.5 und 9 |xm; vgl. S. 1911) zerstören dann das umliegende kranke (und gesunde) Gewebe Literatur M.F. Hawthorne: „Die Rolle der Chemie in der Entwicklung einer Krebstherapie durch die Bor-Neutroneneinfangreaktion'', Angew. Chem 105 (1993) 997-1033; Int. E d 32 (1993) 950; M.F. Hawthorne, A. Maderna: „Applications of Radiolabeled Boron Clusters to the Diagnosis and Treatment of Cancer'', Chem. Rev 99 (1999) 3421-3503; D. Gabel: ,,Bor-Neutroneneinfangtherapie von Tumoren'', Chemie in unserer Zeit 31 (1997) 235-240; A.H. Soloway, W. Tjarks, B. A. Barnum, F.-J. Rong, A.F. Barth, I.M. Codogni, J.G. Wilson: ,,The Chemistry of Neutron Capture Therapy'', Chem. Rev 98 (1998) 1515-1562; D. Gabel, Y. Endo: ,,Boron Clusters in Medical Applications'', in M. Driess, H. Nöth: ,,Molecular Clusters of Main Group Elements'', Wiley-CH, Weinheim 2004, S. 95-125.
1044
XVI. Die Borgruppe („Triele")
In analoger Weise entsteht 96%iges Bor durch Reduktion von Bortrichlorid mit Zink bei 900 °C (2BC13 + 3Zn -> 2B + 3ZnCi 2 ) und feinverteiltes 95%iges Bor durch Schmelzelektrolyse, z.B. von KBF 4 in einer KF/KCl-Schmelze bei 800°C (BF 4 + 3 Q B + 4F").
1.1.3
Physikalische Eigenschaften und Strukturen
Bor liegt im Periodensystem der Elemente auf der Grenze zwischen Metall (Be) und Nichtmetall (C), wodurch seine physikalischen Eigenschaften bedingt sind. Der Schmelzpunkt des ß-rhomboedrischen Bors beträgt ca. 2250°C, der Siedepunkt ca. 3660 °C. Es leitet den elektrischen Strom nur schlecht; die elektrische Leitfähigkeit (0.56x 10~ 6 £i~ 1 c m - 1 bei 0°C) nimmt aber mit steigender Temperatur rasch (zwischen 20 und 600 °C auf das Hundertfache) zu („Halbleiter", S. 1421). Die Härte des kristallisierten Bors übertrifft die des Korunds und kommt etwa der des Borcarbids gleich. Reine
Bormodifikationen
Von B o r sind neben der undurchsichtigen schwarzen glasig-amorphen Form (g = 2 . 3 4 - 2 . 3 5 g/ c m 3 ) vier allotrope kristalline Modifikationen b e k a n n t rotes durchscheinendes ,,a-rhomboedrisches Bor" (g = 2.46 g / c m ; entdeckt 1958), dunkelgraues ,,ß-rhomboedrisches B o r " (q = 2.35 g / c m ; entdeckt 1957), schwarzes ,,a-tetragonales Bor" (g = 2.31 g / c m ; bekannt seit 1943) und rotes ,,ß-tetragonales Bor" (g = 2.36 g / c m ; entdeckt 1959). Zum Unterschied von den rhomboedrischen Bormodifikationen sowie vom -tetragonalen B o r bildet sich das reine a-tetragonale Bor, das möglicherweise nur in Anwesenheit von Fremdatomspuren existiert und somit keine ,,reine" Bormodifikation darstellt, nur auf den erhitzten Oberflächen B 2 4 C und -nitrids B 2 4 N , welche die gleiche Struktur wie a-tetragonales B o r des Borcarbids besitzen ( , , E p i t a x i e " ) . Letztere Verbindungen entstehen bei der Reduktion von Borhalogeniden mit Wasserstoff (s. oben) in Gegenwart von Spuren Methan C H oder Stickstoff N 2 . Die unter Normaldruck bei allen Temperaturen thermodynamisch allein stabile Modifikation ist das ß-rhomboedrische Bor. Sie geht aus amorphem B o r unter Abgabe von 3.7 kJ/mol hervor: amorphes B o r — ß-rhomboedrisches Bor + 3.7 k J . Neben den erwähnten Normaldruckmodifikationen des Bors existiert noch eine dunkle, pechartige, in dünner Schicht tiefrote Hochdruckmodifikation, die sich aus normalem Bor bei 100000 bar und 1500-2000 °C bildet. Strukturen Alle Borarten enthalten das B o r in F o r m von B 12 -Ikosaedern (Fig. 223 a), die in den kristallisierten Modifikationen in geordneter Weise direkt oder über Boratome bzw. Boratomgruppen verknüpft sind und in der glasigen Borform in ungeordneter Weise neben Ikosaederfragmenten vorliegen Vergleichsweise einfach ist die Struktur des a-rhomboedrischen Bors, in welchem die Bj 2 -Baueinheiten (mittlerer BB-Abstand 1.76 Ä) näherungsweise eine kubisch-flächenzentrierte Packung einnehmen übereinanderliegende dichtest-gepackte 2-Kugelschichten; Schichtfolge ABCABC ...; vgl. S.116). Jedes Ikosaeder ist hierbei mit 6 anderen Ikosaedern innerhalb einer dichtest-gepackten B j 2-Kugelschicht durch geschlossene BBB-Dreizentrenbindungen (gestrichelt in Fig. 224a; BB-Abstand 2.05 Ä), darüber hinaus mit je 3 weiteren Ikosaedern der jeweils darunter und darüber liegenden Ikosaederschicht durch normale kovalente B—B-Bindungen (Abstand 1.71 Ä) verknüpft. Die der kubisch-flächenzentrierten B 1 2 Packung zugrunde liegende rhomboedrische Elementarzelle (vgl. Fig. 224a) umfasst nur ein einzelnes B 12 -Ikosaeder (jede der 8 B 12 -Einheiten an den Ecken der Elementarzelle gehört zugleich 8 Zellen an und darf nur zu gezählt werden; bezüglich der Relation zwischen kubisch-flächenzentrierter Packung und rhomboedrisch-primitiver Elementarzelle vgl. Legende von Fig.224). Die Raumausnutzung beträgt in a-Bor, der dichtesten Bormodifikation (s.o.), 3 7 % (zum Vergleich: 74%ige Raumnutzung in einer dichtesten Kugelpackung). Die Struktur des ß-rhomboedrischen Bors, das man u. a. durch Erhitzen von a-rhomboedrischem Bor auf 1200 °C erhalten kann, ist dagegen recht kompliziert. Die rhomboedrische Elementarzelle dieser Modifikation umfasst 105 Boratome, welche sich auf Bj 2 -Ikosaeder, zwei B 2S -Einheiten und ein einzelnes B-Atom verteilen. Die (zum Teil leicht verzerrten) B t2 -Ikosaeder besetzen die 8 Ecken sowie die 12 Kantenmitten der Zelle, das Boratom das Zellen-Zentrum (vgl. Fig.224b). Die B 2S -Einheiten, die aus je drei sich gegenseitig partiell durchdringenden Bj 2 -Ikosaedern bestehen (Fig.223b) und eine zentrale B 1 0 -
1. Das Bor
(a) B12-Ikosaeder
(b) B28-Einheit
1045
(c) B10-Einheit
Fig. 223 (a) B 12 -Ikosaeder; (b) B 28 -Einheit in ß-rhomboedrischem Bor (die durch das mittlere B-Atom und die mittlere vordere Dreiecksfläche verlaufende Gerade (nicht gezeichnet) ist identisch mit der langen Raumdiagonale der ß-rhomboedrischen Elementarzelle); (c) Zentrale 0 -Einheit der B 28 -Einheit.
• = Bi -rhomboedrisches Bor (a)
-rhomboedrisches Bor (b)
Fig.224 Elementarzellen des a- und ß-rhomboedrischen Bors (bei flächenzentriert-kubischer B 12 -Packung wäre der in (a) wiedergegebene Winkel statt 58.06° exakt 60°).
Einheit aus drei miteinander kondensierten B 5 -Ringen mit einem zentralen, 9 fach koordinierten Boratom aufweisen (vgl. Fig.223 c), sind auf beiden Seiten des einzelnen, 6 fach koordinierten (oktaedrischen) Boratoms (je drei B-Atome jeder Bi 0 -Einheit) längs der langen Raumdiagonalen der Elementarzelle angeordnet (Fig. 224b). Damit folgt der Elementarzelleninhalt des ß-rhomboedrischen Bors, wie gefordert, zu: 8 x ± B 1 2 (an Ecken) + 12 B 1 2 (auf Kanten) + B 2 8 — B — B 2 8 (im Inneren) = 105 Boratome 5 . Die dritte Bormodifikation, das a-tetragonale Bor, enthält gemäß Fig.225 a B 12 -Ikosaeder sowie BAtome, die jeweils vier Ikosaeder derart miteinander verknüpfen, dass jedes B 12 -Ikosaeder von zwei B-Atomen und jedes B-Atom von vier B 12 -Ikosaedern umgeben ist. Die tetragonale Elementarzelle (Fig. 225a) enthält 50 B-Atome; die sich auf 4 B 12 -Ikosaeder sowie 2 B-Atome (eines im Zellenzentrum,
5
Die Struktur von ß-rhomboedrischem Bor lässt sich auch wie folgt beschreiben: B84-Baueinheiten nehmen näherungsweise eine kubisch-flächenzentrierte Packung ein, wobei die der Packung zugrundeliegende rhomboedrische Elementarzelle (vgl a-rhomboedrisches Bor und Fig.224a; • = B 8 4 ) längs der langen Raumdiagonalen zwei, über ein einzelnes B-Atom verknüpfte Bx0-Einheiten (Fig. 223c) enthält (B 8 4 + B 1 0 + B + B 1 0 = 105 Boratome). B 8 4 besteht seinerseits aus einem größeren B 60 -Käfig mit Fullerenstruktur (S. 870) und einem innenliegenden B 12 -Käfig mit Ikosaederstruktur (Fig.223a). Beide Käfige sind über 12B-Atome miteinander verknüpft, die oberhalb der BAtome des B 12-Käfigs und unterhalb der B5-Ringmitten des B 60 -Käfigs lokalisiert sind (B 60 + 12B + B 1 2 = 84 Boratome).
1046
XVI. Die Borgruppe („Triele")
8 zu je | zählende B-Atome an den Zellenecken) verteilen. Die Ikosaeder sind räumlich so miteinander vernetzt, dass jedes Ikosaeder (Borabstände innerhalb des Ikosaeders 1.79-1.85 A) mit 10 anderen Ikosaedern durch kovalente Einfachbindungen (BB-Abstände 1.66-1.86 Ä) direkt verbunden ist, während die beiden restlichen (axialen) Ecken jedes Ikosaeders über je ein B-Atom mit einem elften und zwölften Ikosaeder verbunden sind Die vierte Bormodifikation, das /J-tetragonale Bor, weist je Elementarzelle 190 Boratome auf, die sich auf 8 B 12 -Ikosaeder, 4 B21-Zwillingsikosaeder und 10 einzelne Boratome verteilen.
Bormodifikationen mit Heteroatomen Von den reinen Bormodifikationen mit B 12 -Ikosaedern leiten sich einige Bauformen ab, die außer Bor (Hauptbestandteil) zusätzlich geringe Mengen eines anderen Elements enthalten. Dem tetragonalen Borcarbid B 2 4 C liegt die gleiche Struktur wie dem a-tetragonalen Bor zugrunde (Ersatz der isolierten B-Atome durch C-Atome; Fig.225 a; auf der Oberfläche von B 2 4 C wächst a-tetragonales Bor epitaktisch auf). Die Elementarzelle des rhomboedrischen Borcarbids B 1 3 C 2 ist in Fig.225b wiedergegeben. Wie in arhomboedrischem Bor (Fig. 224 a) besetzen in ihr B x2 -Ikosaeder die Ecken der rhomboedrischen Zelle; darüber hinaus befindet sich im Inneren der Zelle eine lineare CBC-Einheit längs der langen Raumdiagonale (vgl ß-rhomboedrisches Bor), wobei jedes C-Atom außer mit dem zentralen B-Atom der CBCGruppe mit zwei B x 2-Ikosaedern über CB-Zweizentren-Zweielektronenbindungen verknüpft ist. Eine analog gebaute, reine Bormodifikation (Ersatz von C durch B) ist bisher unbekannt. Von B 1 3 C 2 = B 1 2 (CBC) leiten sich,,kohlenstoffreiche Borcarbide" (Grenzstöchiometrie: B 1 2 C 3 ) dadurch ab, dass Boratome in den CBC- und/oder Bx2-Baueinheiten durch Kohlenstoffatome ersetzt werden. Im schwarzen, rhomboedrischen, aus den Elementen gewinnbaren Siliciumborid a-Siß 3 (SiB2.8_4.0 = Si3.0_4.2B12) ist die CBCEinheit des Carbids B12(CBC) durch eine SiSi-Einheit vertauscht; zusätzlich sind in B12-Ikosaedern einige B- gegen Si-Atome ersetzt. Demgegenüber liegen im bernsteinfarbenen, oxidationsunempfindlichen, orthorhombischen, aus den Elementen in Ga-Schmelzen erzeugbaren /f-SiB3 (Si10_08B3.0_3.2 = Si4B12) Schichten dichtest-gepackter, untereinander v e r k n ü p f t e t 12-Käfige vor, die sich mit Schichten aus gefalteten Si4-Bicyclen vom Typus SiJ" (S. 926) abwechseln, wobei die Si4-Einheiten untereinander (Bildung parallel angeordneter (Si4)x-Zick-Zack-Stränge) und mit den B 12-Käfigen verbunden sind. Die Elementarzelle des aus den Elementen synthetisierbaren dunkelfarbigen Borids SiB6 (SiB 57 _ 61 = Si21 _2.0B12) e n t h ä l t 12-Ikosaeder (20 B3-Flächen), B15-Ikosahexaeder (26 B 3 -Flächen) sowie 8 Einzelatome (Si + B), wobei die BAtome der Polyeder teilweise gegen Si-Atome vertauscht sind, und im Ikosahexaeder, das anstelle von 3 pentagonalen B6-Pyramiden des Ikosaeders 3 hexagonale B7-Pyramiden mit Si an der Spitze aufweist, zum Teil 1 - 3 Pyramidenspitzen unbesetzt vorliegen (in der ternären Phase BeB3A1X finden sich ausschließlich intakte Ikosahexaeder mit Be-Pyramidenspitzen). Das Natriumborid Na2B29 = (Na + 2.5B)B 12 baut sich aus B12-Ikosaedern und Na- sowie B-Atomen, das Berylliumborid BeB12 aus B12-Ikosaedern und Be-Atomen und das Aluminiumborid a-AlB12 aus B12-Ikosaedern und Al-Atomen auf (ß-AlB12 stellt keine reine binäre Phase dar). Das Bornitrid B24N hat die gleiche Struktur wie a-tetragonales Bor (Ersatz der
8.73 Ä (a)
-tetragonales Bor (E = B) bzw. tetragonales Borcarbid B 2 4 C oder Bornitrid B 2 4 N (E = C oder N)
•
=B
i2
(b) rhomboedrisches Borcarbid B 1 3 C 2 bzw. Borsilicid, -phosphid, -arsenid, -sulfid, -oxid (statt CBC: SiSi, PP, AsAs, S, OBO)
Fig. 225 (a) Elementarzelle des a-tetragonalen Bors sowie von B 1 4 C und B 1 4 N (in Richtung der c-Achse (5.03 Ä) gesehen; B 11 -Ikosaeder abwechselnd oberhalb (fett) und unterhalb der Papierebene); (b) B 1 3 C 2 .
1. Das Bor
1047
einzelnen B-Atome durch N-Atome), während im Borphosphid B 1 2 P 2 , Borarsenid Bj 2 As 2 , Borsulfid B 1 2 S bzw. Boroxid B 12 (OBO) CBC-Einheiten von B 12 (CBC) durch P2, As 2 , S bzw. OBO substituiert sind (im Phosphid und Arsenid zum Teil Leerstellen; Grenzstöchiometrie: B 1 2 Pi s , B ^ A S j 8 ).
1.1.4
Chemische Eigenschaften
B o r ist bis etwa 4 0 0 ° C chemisch recht reaktionsträge und oberhalb etwa 1 2 0 0 ° C außerordentlich reaktiv. Beim Erhitzen an der Luft oder in Sauerstoff entzündet sich amorphes B o r bei 7 0 0 ° C und verbrennt zu Boroxid B 2 0 3 . Mit Chlor, Brom und Schwefel vereinigt es sich in der Hitze zu Borchlorid BC1 3 (oberhalb 400 °C), Borbromid B B r 3 (oberhalb 700 °C) bzw. Borsulfid B 2 S 3 . Bei Temperaturen oberhalb 9 0 0 ° C bindet es Stickstoff unter Bildung von B N . Auch die Vereinigung mit Metallen erfolgt erst bei hohen Temperaturen (S. 1048), doch bilden sich mit fast allen Metallen Boride (s. u.). Von siedender Flusssäure und Salzsäure wird B o r nicht angegriffen. Heiße konzentrierte Salpetersäure und Königswasser oxidieren fein verteiltes B o r zu Borsäure H 3 B O 3 . Konzentrierte Schwefelsäure wirkt erst bei 2 5 0 ° C , Phosphorsäure bei 8 0 0 ° C ein. Bei Rotglut reduziert B o r Wasserdampf, bei sehr hohen Temperaturen selbst Kohlenoxid und Siliciumdioxid. Bor ist also bei sehr hohen Temperaturen ein starkes Reduktionsmittel. Dem entspricht auch sein negatives Reduktionspotential (e 0 = —0.890 im sauren, —1.24 V im basischen Milieu). Beim Schmelzen mit Alkali wird B o r unter H 2 -Entwicklung in Alkaliborate übergeführt (S. 1108). Ähnlich inert wie B ist das Carbid B 4 C, das etwa von geschmolzenem K C l 0 3 und von H N O nicht angegriffen wird und mit Cl 2 sowie 0 2 unterhalb 1000 °C nur langsam reagiert.
1.1.5
Verwendung
Bor wird technisch überwiegend in gebundener Form genutzt. Verwendung finden insbesondere Borsäure H3BO3, Dibortrioxid B 2 0 3 , Borax N a 2 B 4 0 7 • «H 2 O, Ammonium- und Kaliumborate MB 5 O s • « H 2 0 (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab, bezogen auf B 2 0 3 ) in der Glas- und Keramikindustrie (S. 976), in der Waschmittelindustrie (S. 1110), zur Herstellung von Fluss- und Lötmassen, Imprägnierungsmitteln, Herbiziden, Düngemitteln usw. Darüber hinaus nutzt man die hohe Temperatur- und chemische Beständigkeit sowie Härte von Metallboriden M B und -carbiden wie B 4 C sowie B 2 4 C (vgl. S.1046) für Schleifzwecke und für Bauteile in der chemischen Industrie, der Raumfahrttechnik:, für Brems- und Kupplungsbeläge, Panzerungen, kugelsicheren Westen usw., den hohen Neutroneneinfangquerschnitte von 10B in Kernreaktoren (Brennstäbe z. B. aus 10 B C) und in der Nuklearmedizin (vgl. Anm. 4 ). In elementarer 4 Form dient amorphes Bor als Additiv in pyrotechnischen Mischungen sowie Raketentreibstoffen. Kristallisiertes Bor hoher Reinheit findet in der Halbleitertechnik Anwendung (Herstellung von Thermistoren; Dotierung von Si-Halbleitern). Durch Borfasern verstärkte Kunststoffe oder Leichtmetalle werden im Flug-, Raumfahrt- und Sport-Sektor eingesetzt.
1.1.6
Bor-Ionen. Boride
Überblick Bor tritt zum Unterschied von seinen Gruppenhomologen in Wasser nie als Kation E 3 + auf, sodass sich seine wässrige Chemie weitgehend von der der letzteren unterscheidet. Anders als vom Kohlenstoff, seinem rechten Periodennachbarn, kennt man vom Bor bisher auch keine Verbindungen mit mehratomigen Kationen In seinen Verbindungen mit Nichtmetallen - also Borverbindungen des Wasserstoffs (S. 1054), der Halogene (ohne At; S. 1097), der Chalkogene (ohne Po; S. 1104), der Pentele (ohne Sb, Bi; S. 1111) oder des Kohlenstoffs (S. 1125) - ist Bor allerdings mehr oder weniger positiv polarisiert. In seinen Verbindungen mit den übrigen Elementen (Halbmetalle, Metalle) liegt Bor negativ polarisiert vor. Unter diesen Boriden (bekannt von allen Metallen und Halbmetallen mit Ausnahme von K, Rb, Cs, Cd, Hg, In, Tl, Sn, Pb, Sb, Bi, Te, Po, At) enthalten die - bei nicht zu hohem Metallgehalt nähe-
1048
XVI. Die Borgruppe („Triele")
rungsweise noch als Zintl-Phasen (S. 925) aufzufassenden - Alkali- und Erdalkalimetallboride nachfolgende Zusammenstellung) - extrem formuliert - mehratomige Anionen B™~: Li2B6, Li3BM; Be5B, Be4B, Be2B, BeB12; Li5B4-5.
Na3B20, N a ^ ; MgB2, MgB 4 ; CaB 6 ;
SrB 6 ;
MmB„ (vgl.
BaB 6 .
Boride 6 Entsprechend der isoelektronischen Verwandtschaft von B mit C enthalten die Boride LiB bzw. MgB2 kohlenstoffanaloge Boratomnetze (s. unten), während die borärmeren Boride Be„B (n = 4, 2) isolierte Boratome aufweisen und sich die borreichen Alkali- und Erdalkalimetallboride, in welchen den B-Atomen weniger als eine negative Ladung zukommt, aus miteinander verknüpften Boratomkäfigen des Typus (a) bis (e) aufbauen.
Oktaeder (a)
pentagonale Bipyramide (b)
Dodekaeder (c)
2fach überkapptes Antiprisma (d)
Ikosaeder
Kuboktaeder
(e)
(f)
Ähnlich wie im Falle der Carbide, Silicide, Nitride, Phosphide (s. dort) kennt man außer diesen salzartigen auch kovalente und metallartige Boride, die sich allerdings weniger auffällig in ihren Eigenschaften unterscheiden, sodass eine Abgrenzung sinnvollerweise unterbleibt. Darstellung Die Erzeugung der ,,Metallboride" erfolgt u. a. durch Erhitzen von Gemischen aus Metall und Bor, aus Metalloxid und Bor, aus Metalloxid und Borcarbid sowie aus Metalloxid und Reduktionsmitteln (insbesondere C, Mg, Al, aber auch Na, Ca, H2) auf hohe Temperaturen (1000-2000°C) oder durch anodische Reduktion von Metalloxid/Boroxid-Gemischen (Metallboraten) in geeigneten Schmelzen, z.B.: Sc,0, + 6B
1800°C — B203
• 2ScB,;
Eu 2 0 3 + B, 2 C,
1600°C — 3CO
• 2EuB 6 ;
V 2 0, + B 2 0 , + 8C
• 2VB.
-8CO
Auf diese Weise konnten von fast allen Metallen (für Ausnahmen s. oben binäre Boride gewonnen werden (bisher über 200 Verbindungsbeispiele), deren Zusammensetzungen in weiten Grenzen variieren wie folgende Beispiele (geordnet nach fallendem M/B-Verhältnis) zeigen: M 5 B, M 4 B, M 3 B, M 5 B 2 , M 7 B 3 , M2B, MjB 3 , M 3 B 2 , M 4 B 3 , MB, M 3 B 4 , M 2 B 3 , M B , M 2 B 5 , MB 3 , M B , M 3 B 14 , M B , M 3 B 20 , MB 10 , MB 12 , M 2 B 29 , MB 66 (Fettdruck: bevorzugte Typen mit über 75%igem Anteil an den Boriden). Die elektropositiveren Metalle (u. a. Alkalimetalle, Erdalkalimetalle, Metalle der III. Nebengruppe, Lanthanoide, Actinoide) bilden bevorzugt borreichere Boride, die übrigen (weniger elektropositiven) Metalle bevorzugt metallreichere Boride (MB -Boride existieren von Metallen beider Sorten). Eigenschaften Die den Carbiden ähnlichen Metallboride sind im Allgemeinen hart und besitzen oft bemerkenswerte Eigenschaften (z. B. hohen Schmelzpunkt, beachtliche elektrische Leitfähigkeit; MgB2 wird unterhalb 39 K (!) supraleitend). Ihre chemische Widerstandsfähigkeit gegen Oxidation wächst mit dem Borgehalt. Nur die Boride stark elektropositiver Metalle (z. B. MgB 2 ) werden leichter oxidiert und von Wasser oder Säuren angegriffen (Mg ist eine gebräuchliche Ausgangsverbindung zur Herstellung von Boranen und Übergangsmetallboriden). In den übrigen Fällen wächst die Säurebeständigkeit der Metallboride mit steigender Ordnungszahl der Metalle innerhalb einer Periode oder Gruppe
6
Literatur B. Aronsson, T.L. Lundström, S. Rundquist:,,Borides, Silicides, andPhosphides", Methuen, London 1965; N.N. Greenwood, R.V. Parish, P. Thornton: „ Metal Borides", Quart. R e v 20 (1966) 441-464; V I . Matkovich (Hrsg.): ,,Boron and Refractory Borides", Springer-Verlag, Berlin 1977; ULLMANN (5. Aufl.): ,,Boron Carbide, Boron Nitride, and Metal Borides", A4 (1985) 295-307; G. Schmid: ,,Metall-Bor-Verbindungen - Probleme und Aspekte", Angew. Chem 82 (1970) 920-930; Int. E d 9 (1970) 819; R. Telle:,,Boride - eine neue Hartstoffgeneration", Chemie in unserer Zeit 22 (1988) 93-99; B. Albert: ,,The Structure Chemistry of Boron-Rich Solids of the Alkali Metals", Eur. J. Inorg. Chem. (2000) 1679-1685.
1. Das Bor
1049
Strukturen Boride mit niedrigem Borgehalt (M/B-Verhältnis > 2). Metallboride mit höherem Metallgehalt wie M 4 B (M z. B. Be, Mn), M 3 B (M z. B. Tc, Re, Co, Ni, Pd), M 5 B 2 (M z. B. Pd), M 7 B 3 (M z. B. Tc, Re, Ru, Rh), M 2 B (M z. B. Be, Ta, Mo, W, Mn, Fe, Co, Rh, Ni) enthalten isolierte Boratome in (bis zu dreifach-metallüberkappten) trigonal-prismatischen, in tetragonal-antiprismatischen oder in kubischen Lücken zwischen Metallatomschichten (z. B. hat Ni3B Cementit-, Be2B Antifluoritstruktur; s. dort). Boride mit mittlerem Borgehalt (2 > M/B-Verhältnis > |-). In dem Maße in dem der Borgehalt wächst treten die Boratome zu „ein"- oder „zweidimensionalen Netzen" zusammen, nämlich zu „Hanteln" (z. B. Cr5B3, M 3 B 2 mit M = V, Nb, Ta), zu „gewinkelten Ketten" (g) (z. B. M 4 B 3 mit M = Ti, V, Nb, Ta, Cr, Mo, W, Mn, Fe, Co, Ni; MB mit M = Ti, Zr, Hf, V, Nb, Ta, Cr, Mo, W, Mn, Tc, Re, Fe, Co, Ni), zu „verzweigten Ketten" (h) (z. B. Ru14B8), zu ,,Doppelketten" (i) (z. B. M 3 B 4 mit M = V, Nb, Ta, Cr, Mn) oder zu „planaren (in einigen Fällen auch gewellten) Schichten" (l) (z. B. MB 2 mit M = Mg, Al, Sc, Y, Ti, Zr, Hf, V, Nb, Ta, Cr, Mo, W, Mn, Tc, Re, Ru, Os, U, Np, Pu und M 2 B 5 mit M = Ti, Mo, W). Die Boratome sind hierbei häufig in überkappten trigonal-prismatischen Lücken zwischen Metallatomschichten lokalisiert (Koordinationszahl der B-Atome einschließlich der M- und/oder B-Atomkappen 9; vgl z.B. Fig.226a; BB-Abstände im Bereich 1.70-1.85Ä). Im Falle der Diboride M B (analoges gilt für M 08 B 2 ), die zu den am besten elektrisch leitenden, härtesten und höchst schmelzenden Boriden zählen, liefern die Metallatome formal die für die Ausbildung des Graphitnetzes erforderlichen Elektronen (B isoelektronisch mit C). Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch die mechanisch stabilen, elektrisch leitenden, Li-aufnehmenden und -abgebenden Monoboride LiB 0 ^ 1 0 = Li5B4_5, deren B-Atome „lineare Ketten" (k) bilden, ummantelt von Li-Atomen. Der mittlere BB-Abstand liegt bei letzteren Boriden [Li + ] 125 _ 100 [e~] 0 2 5 _ 0 0 0 [ B m i t 1.59Ä im Bereich kurzer BB-Doppelbindungen (isoelektronisch mit [B - ].,-Ketten ist Polycarbin [ — C = C — C = C — ~ = C = C = C = C = ] , das als Kohlenstoffmodifikation nicht existiert). In den weiter oben erwähnten Monoboriden MB mit gewinkelten B-Atomketten verhalten sich die Boratome formal analog Chalkogenatomen (B 3 _ isoelektronisch mit S, Se, Te).
^B
B
B
B
I
(g) z.B. in M 4 B 3 , MB
B^ =
B = B = B = B = B =
B
I
I
I
I I
I
V
I
—C
V
/cv
V
C— B
V
/cv
C
c
I
I B—
I (l) z.B. in MB 2 , M 2 B 5
I
I
I I
I
(i) z.B. in M 3 B 4
C B / \ / \ B—C C — — B
I
I
B
(h) z.B. in Ru 1 4 B 8
(k) z.B. in LiB
I
I
(m) z.B. in CaB 2 C 2
/cx
— B
V I
I B—B
/C\
V
B-
I
(n) z.B. in LaB 2 C 2
(MgB 2 C 2 enthält B 2 C 2 -Wabennetz)
Ersetzt man in Erdalkalimetalldiboriden M n B 2 die Hälfte der B- gegen C-Atome und reduziert zugleich den Anteil der M n -Atome auf die Hälfte, so gelangt man zu isoelektronischen Carbaboriden (Boracarbiden) der Zusammensetzung M n B 2 C 2 . Tatsächlich weist der anionische Teil von LiBC sowie MgB2C2 wie der von MgB 2 eine wabennetzförmige Schichtstruktur auf, wogegen die Schichten von CaB2C2 im Sinne von (m) aus miteinander kondensierten B2C2-Vier- und B4C4-Achtringen bestehen (die gleiche Struktur besitzt LaB 2 C 2 , doch enthalten die Schichten nicht abwechselnd B- und C- Atome, sondern gemäß (n) abwechselnd B2- und C2-Baueinheiten). Boride mit hohem Borgehalt (M/B-Verhältnis < enthalten Bor in Form „dreidimensionaler Netzwerke" („Raumstrukturen"). So entspricht die Struktur der Hexaboride M B (M z. B. Ca, Sr, Ba, Sc, Y, La, Zr, Lanthanoide, Actinoide) der CsCl-Struktur, in welcher B6-Oktaeder (a) und Metallkationen die Stellen der Chlorid- und Cäsium-Ionen einnehmen. Die B6-Oktaeder sind dabei untereinander über ihre sechs Ecken nach allen drei Richtungen des Raumes mit je sechs anderen B6-Oktaedern zu einer starren Raumstruktur vernetzt, in deren polyedrischen Lücken die Metallionen eingebettet sind (vgl. Fig. 226b; intra-/ interpoly-edrische BB-Abstände 1.76/1.71 Ä; die Koordinationszahl von M beträgt 24). Aufgrund der
1050
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Metall O
Bor
(a) z.B. MgB 2 , AlB 2 , ScB 2
(b) z.B. CaB 6 , SrB 6 , BaB s
(c) z.B. MgB 4 , CaB 4 , SrB 4
(d) Na 3 B 20
Fig. 226 (a) Struktur der Boride M B mit M = Mg, Al, Sc usw. (abwechselnd Metall- und Boratomschichten). - (b) Struktur der Boride M B mit M = Ca, Sr, Ba. - (c) Struktur der Boride M B mit M = Mg, Ca, Sc usw. (Projektion). - (d) Struktur des Borids Na3B20 (Projektion).
Unbeweglichkeit des Bornetzes sind die Kristallgitterkonstanten der Hexaboride unabhängig vom Metallionendurchmesser etwa gleich; auch zeigen die Hexaboride einen sehr kleinen Ausdehnungskoeffizient. Formal gehen auf jedes B6-Oktaeder der Hexaboride zwei Elektronenladungen vom Metallatom über, welchem dann 14 = 2n + 2 Gerüstelektronen zukommen (2 von jedem B-Atom + 2e~; jeweils 1 Borelektron wird für die kovalente Bindung zum B-Atom eines benachbarten B-Oktaeders benötigt: n = Zahl der Clusterelektronen). Gemäß den ,, Wade'schen Regeln" (vgl. S.926, 1060) kommt damit den B6-Einheiten eine closo-Struktur ( = Oktaeder) zu. Die Erdalkalimetallhexaboride [M 2 + ][B;;~] stellen demgemäß entsprechend ihrem Bau „salzartige" Nichtleiter, die Boride [M 3 + ][e~][B;;~] sowie [M 4 + ][e~] 2 [B;;~] demgegenüber ,,metallartige" Leiter dar. Gleiche Struktur wie die Boride M n B 6 (M n = Ca, Sr, Ba) hat das Borid Li2B6 ( = „Triborid" LiB3), nur besetzen jeweils zwei Lithiumkationen statt eines Erdalkalimetallkations die Lücken zwischen dem Raumnetzverband aus B6-Oktaedern. Offensichtlich lassen sich Paare schwererer Alkalimetallkationen aus Platzgründen nicht mehr in den Lücken zwischen den B6-Oktaedern unterbringen, weshalb man keine Boride M B mit M = Na bis Cs kennt. Doch existieren Carbaboride M J B 5 C (M1 = Na, K), die mit M n B 6 isoelektronisch sind und die gleiche Struktur wie letztere Boride aufweisen (vgl. Fig. 226b, B 5 C anstelle von B6 mit statistisch verteilten CAtomen). Bei den Tetraboriden M B (M z. B. Mg, Ca, Sc, Y, La, Mo, W, Lanthanoide, Actinoide) liegen im Sinne von Fig.226c Stränge miteinander verknüpfter B6-Oktaeder vor, die über ^B—BC^-Gruppen zu einem Raumnetzwerk verbunden sind (jede B2-Gruppe verbrückt in Ebenen senkrecht zu den Oktaedersträngen jeweils vier B6-Oktaeder; CrB4 und UB 4 haben andere Strukturen; vgl. auch SiB3—12, S. 1046). In Li3B14 (m Pentaborid) bzw. Na3B20 (m Heptaborid) besteht das Boratomraumnetzwerk aus miteinander verknüpften anionischen B8- und B 10-Käfigen (c, d) in ersterem und anionischen B6- und B7-Käfigen (a, b) in letzterem Falle (Alkalimetallkationen in den Lücken des Boratom-Raumnetzes). Hierbei sind in Na3B20 gemäß Fig. 226 d die B6-Oktaeder sowie trigonalen B7-Bipyramiden zu - senkrecht zur Papierebene verlaufenden - Strängen verbunden, welche ihrerseits über BB-Zwei- sowie Dreizentren-Zweielektronenbindungen zu einem Raumverband verknüpft sind
1. Das Bor
1051
Die Dodecaboride MB 12 von Nebengruppenmetallen (M z.B. Sc, Y, Zr, Lanthanoide, Actinoide) besitzen einen kubischen Bau nach Art der NaCl-Struktur, bei dem anionische B 12 -Kuboktaeder (f) und Metallkationen die Stellen der Chlorid- und Natriumionen einnehmen, wobei die B 12-Cluster ihrerseits durch kovalente Bindungen untereinander verknüpft sind. Demgegenüber leiten sich die Decaboride von Hauptgruppenmetallen von den einfachen Bormodifikationen ab und enthalten Packungen anionischer 12 Ikosaeder (e), deren Lücken durch Metallatome (M z.B. Li, Na, Be, Al, Si, aber auch B, C, P, As) gefüllt werden (z.B. Na2B29 = (2Na + 5B)(B 12 ) 2 , BeB12, AlB30, AlB 2 , oc-AlB 12, Li2B12C2 = (2Li + CC)(B 12 ), LiB13C2 = (Li + CBC)(B 12 ); Näheres S. 1046). Verwendung Viele Diboride stellen äußerst harte, chemisch indifferente, nicht flüchtige, hitzebeständige Stoffe dar mit hohen Schmelzpunkten (z. B. > 3000°C im Falle ZrB 2 , Hffi2, NbB 2 , TaB2) und elektrischen Leitfähigkeiten, welche häufig die der Metalle übersteigen (z. B. ist TiB 2 fünfmal leitfähiger als Ti). Man verwendet sie deshalb für Ofenauskleidungen, Turbinenschaufeln, Hitzeschilder, Raketenspitzen, Hochtemperaturreaktoren, Schmelztiegel, Verdampfungsgefäße, Pumpenlaufräder, Thermoelementverkleidungen. Denkbar wäre die Nutzung als Hochtemperaturelektroden sowie die von MgB 2 als Supraleiter
1.1.7
Bor in Verbindungen
Das Bor verwirklicht insbesondere in seinen Wasserstoff- und organischen Verbindungen (S. 1054, 1126) eine singuläre Vielfalt von Bindungssituationen. Oxidationsstufen. Bor ist in seinen Verbindungen mit elektronegativeren Bindungspartnern überwiegend dreiwertig und weist die Oxidationsstufe + 3 auf (z.B. in B 2 H 6 , B F 4 , B 2 0 3 , BN). Zweiwertig tritt es mit der Oxidationsstufe + 2 u. a. in den Verbindungen B 2 F 4 , B 2 (OH) 4 , B 2 (NMe 2 ) 4 , einwertig mit der Oxidationsstufe + 1 in B 4 C1 4 , B 6 (NMe 2 ) 6 sowie in - instabilen, nur bei hohen Temperaturen stabilen und bei sehr tiefen Temperaturen in der Matrix metastabilen - ,,Borylenen" (,,Borandiylen") wie BF, BCl, B 2 O auf. Man kennt aber auch Verbindungen, in denen Bor keine ganzzahlige positive Oxidationsstufe zukommt (vgl. höhere Borane). Analoges gilt - mit umgekehrtem Vorzeichen der Oxidationsstufen - für Verbindungen des Bors mit elektropositiveren Bindungspartnern (vgl. Metallboride). Koordinationszahlen Bor betätigt in seinen Verbindungen die Koordinationszahlen eins (z. B. in matrixisoliertem B F), zwei (linear in gasförmigem 0 = B — B = O , gewinkelt in gasförmigem BF 2 ), drei (trigonalplanar in BF 3 , B (OR) 3 , B (NR 2 ) 3 , B 2 C1 4 ), vier (tetraedrisch in BF 4 , H 3 BNMe 3 , B 4 C1 4 ), fünf (quadratischpyramidal in B 5 H 9 , B 6 H1"), sechs (pentagonal-pyramidal in B 6 H 1 0 , B 7 H 1 _ , B 1 2 H l 2 ; oktaedrisch in ß-rhomboedrischem B o t B 1 0 4 ) , sieben (z.B. in B ) , acht (kubisch in Be 2 B, antikubisch in Ni 2 B), neun (dreifach überkappt-trigonal-prismatischin R e ^ ) . Besonders häufig treten die Koordinationszahlen drei und vier auf
Bindungen mit einwertigen Gruppen X. Als Element der dritten Hauptgruppe des Periodensystems besitzt das Bor drei Außenelektronen. Seine Verbindungen mit einwertigen Gruppen X haben infolgedessen die Zusammensetzung BX 3 (planare Moleküle mit sp2-hybridisiertem Bor und XBX-Winkeln von 120°). In ihnen kommt dem Boratom nur ein Elektronensextett zu. Daher erstrebt es auf drei verschiedenen Wegen eine Valenzabsättigung unter Ausbildung eines Elektronenoktetts: durch pwp^-Bindungen, durch Dreizentrenbindungen, durch Adduktbildung (i) Der erste Weg, die Ausbildung von Ti-Bindungen, wird z.B. bei den Borhalogeniden, Borsäureestern und Borsäureamiden, also Verbindungen BX 3 mit freien Elektronenpaaren an X (X z.B. gleich F, OR oder N R ) eingeschlagen, bei welchen gemäß dem Schema (X z.B. F)
ein freies p-Elektronenpaar des Halogens, Sauerstoffs oder Stickstoffs zur Auffüllung des vierten, noch unbesetzten p-Orbitals am Boratom dient. Da sich alle drei Substituenten X
1052
XVI. Die Borgruppe („Triele")
in Resonanz (vgl. S. 137) an dieser Bindungsbeziehung beteiligen, beobachtet man somit im Mittel einen Bindungsgrad 1 ^ zwischen sp2-hybridisiertem Bor (Koordinationszahl 3) und X. Dies kommt in einer Verkürzung der Bindung im Vergleich zu dem für eine einfache BX-Bindung zu erwartenden Wert zum Ausdruck: Bindungslänge in
B—F BF 3
B—Cl BC13
B—Br BBr 3
B—O B(OM^
B—N B(NHM^
B—C BMe 3
gefunden (A) berechnet j B - X aus Radien j B = X
1.30 1.46 1.26
1.73 1.81 1.61
1.87 1.96 1.76
1.38 1.48 1.28
1.41 1.52 1.32
1.56 1.59 1.39
ii) Im Falle des BX 3 -Moleküls BH 3 , in welchem zum Unterschied vom B F eine Valenzstabilisierung infolge fehlender freier Elektronenpaare an X nicht möglich ist, hilft sich das Boratom durch Zweielektronen-Dreizentren-Bindungen (S. 359), indem gemäß HX h
/
/H B
H/
B
/H X
H
H \ Ä / H B B
zwei Wasserstoffatome als Brücke zwischen zwei Boratomen ihr Elektronenpaar nicht nur mit einem, sondern noch mit einem zweiten Boratom teilen (S. 164). Auch zwischen drei Boratomen ist eine solche Dreizentrenbindung möglich (S. 1060). Letzterer Fall findet sich namentlich bei den höheren Borwasserstoffen (S. 1073), beim elementaren Bor (S. 1044), bei den Metallboriden (S. 1048) und einer Reihe von Borsubverbindungen, d. h. Verbindungen, in denen die Oxidationsstufe des Boratoms unter (lat. sub) der Zahl 3 liegt (S. 1102, 1107, 1121). Eine ebenfalls denkbare Dimerisierung von BMe 3 und anderen Bortriorganylen unterbleibt wohl aus sterischen Gründen. (iii) Statt durch innermolekularen (intramolekularen) Valenzausgleich wie in (i) und (ii) kann die Achterschale für das Boratom in BX 3 -Molekülen auch außermolekular (intermolekular) durch Anlagerung von Donormolekülen D mit freiem Elektronenpaar und Ausbildung einer a-Bindung (Übergang der sp2- in eine sp3-Hybridisierung) erreicht werden:
(D z.B. = N R , OR 2 , OR~, F " , H~; die Wiedergabe des Bindungssymbols ist dann vertretbar, wenn die betreffende koordinative Bindung leichter als die übrigen d-Bindungen spaltbar ist). Dementsprechend sind die Borverbindungen BX 3 Lewis-Säuren, wobei die LewisAcidität etwa der Halogenide BX 3 gegenüber Lewis-Basen in der Richtung BF 3 < BC13 < BBr 3 zunimmt, da in gleicher Richtung die Neigung der Halogenatome zur Ausbildung von 7r-Bindungen mit dem Boratom abnimmt, sodass die Elektronenpaarlücke am Bor im Falle des Borfluorids durch die in (i) behandelte 7i-Rückbindung am stärksten ,,ausgefüllt" wird. B(OR) 3 und B(NR 2 ) 3 sind aus dem gleichen Grunde wesentlich schwächere Lewis-Säuren als die Borhalogenide BX 3 , da die B—O- und B—N-Bindung in weit stärkerem Maße als die B—F-Bindung zu p^p^-Bindungen neigt (allerdings spielen hier auch induktive und sterische Effekte eine Rolle; bzgl. eines Vergleichs der Lewis-Acidität von B F und BH 3 vgl. S. 253). Da in den aus BX 3 und D gebildeten Addukten B X 3 D wegen Erreichung der Achterschale am Bor keine zusätzlichen 7r-Bindungen mehr erforderlich sind, entsprechen hier
1. Das Bor
1053
die Längen der Bindungen zwischen sp -hybridisiertem Bor (Koordinationszahl 4) und dem Werte einer Einfachbindung (z.B. rBF in BF4 = 1.43 Ä; rBFfBO in BF 3 (OMe 2 ) = 1.40/ 1.50 Ä). Auch durch Dimerisierung (bzw. Oligo- oder Polymerisierung) einer Borverbindung BX 3 , deren Gruppen X noch freie Elektronenpaare aufweisen, lässt sich die Bor-Elektronenschale vervollständigen:
Bezüglich der hier möglichen Gleichgewichte zwischen monomeren (intramolekular durch pÄp^-Bindung abgesättigten) und dimeren (intermolekular durch 1.85 Ä, sofern die an der Bindung beteiligten B-Atome 4 bzw. 5 Bornachbarn haben bzw. durch H verbrückt sind.
Der räumlichen Anordnung sowohl der H- als auch der B-Atome liegen in den Polyboranen einfache Strukturprinzipien zugrunde. So befindet sich von dem mit jedem B-Atom verknüpften Wasserstoffatom ein endständiges H-Atom jeweils auf der Außenseite des Boratomkäfigs, wobei die Verlängerung der B—H-Bindung auf das Käfigzentrum weist. Man bezeichnet es als ,,exo"-Wasserstoffatom. Die Bindungen der - teils symmetrisch, teils asymmetrisch zwischen den B-Atomen lokalisierten - Brückenwasserstoffatome bzw. von weiteren mit Bor verknüpften endständigen H-Atomen (,,endo"-Wasserstoffatome) verlaufen demgegenüber tangential zur Oberfläche des Boratomkäfigs (Fig. 227). Sie befinden sich - wie oben angedeutet - an den Öffnungen der Boratomkäfige und vertauschen in der Regel rasch ihre Plätze (fluktuierende H-Atome).
[B4H4] ~ (Td)
Tetraeder
[B9H9] " (C2V)
[B5H5]
(O3h)
trigonale Bipyramide (Hexaeder)
dreifach Uberkapptes trigonales Prisma (Tetradekaeder)
[B
10H10]
[B6H6r (Ob) Oktaeder
(D4d)
zweifach Uberkapptes quadrat. Antiprisma (Hexadekaeder
[ B 8 H 8 r (Da,)
[B7H7] " (D5h)
pentagonale Bipyramide (Dekaeder)
[B
n
H
n
Dodekaeder
r (Cjv)
[B12H12 r
Oktadekaeder
(ih)
Ikosaeder
0 =
BH
Fig.229 Deltapolyeder mit 4 - 1 2 Ecken sowie zugleich Strukturen der closo-Hydridoborate B„Hl (n = 6 - 1 2 ; B3H3~, B 4 H 4 ~, B 5 Hj~ sowie B>12H>~12 existieren nur in Form von Derivaten).
1. Das Bor
1059
Die Boratome der Polyborane besetzen andererseits die Ecken solcher Polyeder („Deltapolyeder"; vgl. Fig. 229), die wie das Tetraeder (4 Ecken), die trigonale Bipyramide (5 Ecken), das Oktaeder (6 Ecken), die pentagonale Bipyramide (7 Ecken), das Dodekaeder (8 Ecken), das dreifach-überkappte trigonale Prisma (9 Ecken), das zweifach-überkappte quadratische Antiprisma (10 Ecken), das Oktadekaeder (11 Ecken) oder das Ikosaeder (12 Ecken) nur von Dreiecksflächen begrenzt sind. Und zwar besetzen nach der im Jahre 1971 aufgefundenen Wade'schen Regel (exakter: Regel von K . Wade, R . E . Williams, R.W. Rudolph) in Hydriden des Typs BnHn+2 (c/oso-Borane 11 ) die Boratome alle Ecken von Deltapolyedern, in Hydriden des Typs Bn H n + 4 (mWo-BoraneU) alle bis auf eine Ecke, in Hydriden des Typs Bn H n + 6 (arachnoB o r a n e u ) alle bis auf zwei Ecken, in Hydriden B„H n + 8 (hypho-BoraneU) alle bis auf drei Ecken usw. Entsprechende Boratomgerüste wie die Borane B„H n + m (m = 2, 4, 6, 8 , . . . ) haben deren Protonierungs- und Deprotonierungsprodukte (closo-Borane B„H n + 2 sind nur deprotoniert als BnH~+1 und BnHl~ bekannt). So leiten sich im Sinne der Fig. 229 und 230 die closo-Hydridoborate B„Hj;~ von den unveränderten Deltapolyedern ab. Das nido-Tetraboran(8) B4HS (analog B 4 Hf) bzw. arachno-Triboran(6) B3H9 (analog BjH^) resultiert aus einer trigonalen Bipyramide (1 bzw. 2 Ecken frei), das nido-Pentaboran(9) B5H9 (analog BjH^") bzw. das arachno-Tetraboran(10) B4H10 (analog B4H,;") aus einem Oktaeder (1 bzw. 2 Ecken frei), das nido-Hexaboran(10) B6HJ0 (analog B6H^", B6HjJ) bzw. das arachno-Pentaboran(11) B 5 H U (analog B5Hj~0, B 5 H 9 ") aus einer pentagonalen Bipyramide (1 bzw. 2 Ecken frei), das arachno-Hexaboran(12) B6H12 (analog B6Hjj) bzw. das hypho-Hydridopentaborat B5Hj2 (B5H13 unbekannt) von einem Dodekaeder (2 Ecken bzw. 3 Ecken frei), das nido-Octaboran(12) BSHJ2 bzw. das arachno-Hydridoborat B7Hj2 von einem dreifach-überkappten-trigonalen Prisma (1 bzw. 2 Ecken frei), das nido-Nonaboran(13) B9HJ3 (instabil, analog B9H12) bzw. das arachno-Octaboran(14) BSH14 von einem zweifach-überkapptenquadratischen Antiprisma, das nido-Decaboran(14) BJ0HJ4 (analog Bj^l1"3, B j ( ^ljj) bzw. das arachno-Nonaboran(15) B,,Hj5 (analog B ^ ^ , B9Hj^) bzw. das hypho(?)-Octaboran(16) BSHJ6 von einem Oktadekaeder (1 bzw. 2 bzw. 3 Ecken frei) und das nido-Undecaboran(15) B U H J5 (analog B 1^14";1'2/t2^) von einem Ikosaeder (1 bzw. 2 Ecken frei).
B
5
H
9 >
B
5
H
8
,
B
5
H
1 0
B4H10J
B
4
H
9
B
6
H
10>
2fach-überk. Antiprisma
Fig. 230
B
6
H
9 >
B
6
H
1 1
B
5
H
11>
B
5
H
10>
pentagonale Bipyramide
Oktaeder
Oktadekaeder Q
= Boratom
B
5
H
9
B
6
H
1 2
Dodekaeder
Ikosaeder
(_) = leere Polyederecke
Boratomgerüste einiger nido- und arachno-Borane, -Hydridoborate und -Boran-Kationen.
11 closed (engl.) = geschlossen; nidus (lat.) = Nest; arachno (griech.) = Spinne; hypho (griech.) = Netz; prae (lat.) = vor; hyper (griech.) = vor; conjunctus (lat.) = verbunden.
1060
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Die angesprochene Wade'sehe Regel lässt sich auch in Form einer Elektronenabzählregel zur Vorhersage der Strukturen von Elektronenmangelverhindungen nutzen. Und zwar kommt einem Elektronenmangelverband aus n Atomen, der durch (2n + 2), (2n + 4), (2n + 6) bzw. (2n + 8) Elektronen zusammengehalten wird, eine eloso-, nido-, araehno- bzw. hypho-Struktur mit einem geschlossenen oder zunehmend geöffneten Polyatomkäfig zu. Dabei steuert jedes Hauptgruppenelement (v + l — 2)-Gerüstelektronen bei (Nehengruppenelemente liefern (v + l — 12)-Gerüstelektronen). Hierbei bedeuten v = Anzahl der Valenzelektronen der betreffenden Elementatome, / = Anzahl der von den zusätzlichen Resten bzw. Liganden L des Elementatoms beigesteuerten Elektronen (/ = 1 im Falle L = H, 2 im Falle L = Lewis-Base wie R 2 0 , R 3 N). Demgemäß liefert etwa eine BH-Gruppe 3 + 1 — 2 = 2, eine BH2-Gruppe 3 + 2 — 2 = 3, eine CH-Gruppe 4 + 1 — 2 = 3 und ein N-Atom 5 + 0 — 2 — 3 Gerüstelektronen. In den Polyboranen BnHn+4 bzw. B„H„+6, die man formal aus (n — 4) BH- und 4 BH2-Gruppen bzw. (n — 6) BH- und 6 BH2-Gruppen zusammensetzen kann, stehen dann insgesamt (« — 4) x 2 + 4 x 3 = 2 n + 4 bzw. (n — 6) x 2 + 6 x 3 = 2n + 6 Elektronen für die Borkäfige zur Verfügung, sodass erstere Hydride zu den nido-, letztere zu den araehnoBoranen zu zählen sind. In analoger Weise haben gemäß der Elekronenabzählregeln die Carhorane (S. 1090) B10C2H12, B3C2H7 bzw. B7C2H13 eine eloso-, nido- bzw. araehno-Struktur, die Heterohorane (S. 1094) B^H^S sowie B10CPH11 eine eloso-Struktur und die Hydridohorate (S. 1084) B 1 2 H 1 2 ~ bzw. B 3 H ^ eine eloso bzw araehno-Struktur (negative Ladungen sind den Gerüstelektronen zuzurechnen). Des Weiteren bleibt gemäß der Wade'schen Regel bei der Deprotonierung der Borane (z. B. B5H9 -> B5H8~) oder beim Ersatz zweier H-Atome der Borane durch einen Lewis-basischen Donor D (z.B. B4H10 -> B4H8 • D) die eloso-, nido-, araehno-, hypho-Struktur des Boratomgerüstes erhalten, während sich der Boratomkäfig bei Addition eines Donors D öffnet (z. B. B4H8 • D -> B4H8 • 2D). Ganz allgemein gilt nach der durch D . M . P. Mingos erweiterten Wade'schen Regel („WadeMingos'sche Regel"), dass (2n + m) Clusterelektronen für m = 2 zu eloso-Strukturen und für m = 4, 6, 8, . . . bzw. m = 0, — 2, usw. zu eloso-Clustern führen, in welchen ein, zwei, drei . . . Clusteratome der Deltapolyeder fehlen (nido, araehno, hypho-Strukturen) bzw. ein, zwei, . . . Flächen der Polyeder durch zusätzliehe Clusteratome überkappt sind ( h y p e r e l o s o - , hyperpräeloso-Strukturen Conjuncto-Borane. Eine Reihe von Borwasserstoffen bestehen aus zwei oder mehreren ungeladenen sowie geladenen eloso-, nido- bzw. araehno-,,Grundhoranen", die miteinander über BB-Bindungen verknüpft oder über gemeinsame B-Atome miteinander kondensiert sind. Man bezeichnet diesen Typ von Boranen, in welchen - anders als in den Grundboranen - einige B-Atome wasserstofffrei sein können, als conjunctoBorane11. Die Verknüpfung der neutralen oder geladenen Grundborane erfolgt vielfach durch eine BBEinfachbindung. ^B—H + H—B^ ^B—B^ + H 2 . Beispiele sind BSH1S s B 4 H 9 —B 4 H 9 (1,1-, 1,2- oder 2,2'-Verknüpfung möglich; vgl. Fig. 228), B,H17 = B 4 H 9 —B s h 8 (1,2'-Verknüpfung), B 1( JI 16 s B5H8—B5H8 (1,1-, 1,2- oder 2,2-Verknüpfung; vgl. Fig.228), B1(JI1S s B5H8—B5H10, B 1 ^1 0 " s B 6 H 5 —B 6 H^, B2(JI26 s B10H13—B10H13 (11 Isomere möglich; vgl. Tab.101 auf S.1074), B 30 H 3S /B 4 ^I 50 s B10H13—(B10H12)n—B10H13 (n = 1, 2; viele Isomere möglich), B20H1S- s B 10 H 9 —B 10 H^ (1,1-, 1 2'- oder 2,2-Verknüpfung; vgl. Fig. 228), B ^ I ^ " s B 12 H U —B^H^", B22H24" s B 1 0 H 1 3 —B,!!^. Die Verknüpfung erfolgt aber auch über BHB-Dreizentrenbindungen wie im Falle von B6H14 = H6B3(,u-H)2B3H6 (Fig. 228), (Fig-228), photo-^tfils = B 1 Ä ( l ^ 1 ^ J^oH« = B K 1 H 9 ( ; u - H ) B 1 0 H 9 , B2^H23" = B^HutnL
H)B12
11
4S
45
-
H
11 12
-H)B12
10
-H)B12
10
-H)B12
11
oder über
BBB-Dreizentrenbindungen
(•) wie im Falle von B,H13 s B5H8 • B2H5 (Fig.228), B 1 0 H 9 :B 1 0 H^ (Fig.228), B15H23 s B6H10 • i-B9H13, B22tl22 = B 10 H 12 : B12H10 (Fig. 228). Viele eonjuneto-Borane weisen gemeinsame B-Atome auf (in Klammern jeweils Grundborane; vgl. Fig. 228), nämlich zwei gemeinsame B-Atome: B12H16 (B6H10/ (Struk" BsH12)^1^19 Ü 1 5 a n a l o ^ 1 ^ 1 _ s X B1^1S ( B 1 ^ 1 4 ^ H 1 0 ) ^ 1 ^ 2 0 tur noch unbekannt; analog gebaut B^H^), B16H20 (B10H14/B8H12), B1SH22 (B10H14/B 10H14; anti- und synIsomer; analog B^H-^, B1SH20); vier gemeinsame B-Atome: B20H16 ( f o r m a l 10H14/B10H14). Conjuneto-Boranemit drei gemeinsamen B-Atomen sind noch unbekannt (es existiert hier das Addukt B20H16 • 2MeCN). ;
Bindungsverhältnisse Die Borwasserstoffe zählen zu den ,,Elektronenmangel-Verhindungen" (,, eleetron defieient eompounds"), da in ihnen mehr Atome kovalent miteinander verknüpft sind, als Elektronenpaare vorhanden sind. Nach W. N. Lipscomb lassen sich die Bindungsverhältnisse der Borane in einfacher Weise durch B H - und BB-Zweielektronen-Zweizentren- sowie B H B - und BBB-Zweielektronen-Dreizentrenbindungen (S. 354, 360) beschreiben, welche - im Sinne des auf S. 343 Besprochenen - Molekülorhitale bedingen, die an Stellen zwischen z w e i Atomen (B und H
1. Das Bor
1061
bzw. B und B) oder drei Atomen (B, B und H bzw. B, B und B) lokalisiert sind. Die Zweizentrenbindungen resultieren aus der Kombination eines sp3-Hybridorbitals eines Boratoms mit dem 1s-Orbital eines Wasserstoffatoms (,,BH-Einfachbindung") oder dem sp3-Hybridorbital eines zweiten Boratoms (,,BB-Einfachbindung"):
Die Dreizentrenbindungen gehen aus der Überlappung je eines sp3-Hybridorbitals zweier Boratome untereinander und gleichzeitig mit dem ls-Orbital eines Wasserstoffatoms (,,BHBDreizentrenbindung") bzw. mit einem sp3-Hybridorbital eines dritten Boratoms (,,geschlossene BBB-Dreizentrenbindung") bzw. mit einem p-Atomorbital eines dritten Boratoms („offene BBB-Dreizentrenbindung") hervor:
Bindungsmechanismus
Bindungssymbol
H ß BHBDreizentrenbindung
geschlossene BBBDreizentrenbindung
offene BBBDreizentrenbindung
Eine Berechtigung für die Annahme eines Vorliegens lokalisierter Zwei- und Dreizentrenbindungen folgt u. a. aus der Additivität der Bindungsenergien. Letztere sind vergleichsweise hoch und betragen für die Zweizentrenbindungen BB 332 sowie BH 382 kJ/mol und für die Dreizentrenbindungen BBB 380 sowie BHB 441 kJ/mol (zum Vergleich CC: 345, CH: 416; BC: 372; HH 436 kJ/mol).
Mit den wiedergegebenen Symbolen für die Zwei- und Dreizentrenbindungen ergeben sich etwa folgende, auf die Papierebene projizierte Valenzstrichformeln für die Borwasserstoffe B4H10, B5H11? B 6 H 12 , B 5 H 9 , B6H10 und B10H14, welche die Bindungsverhältnisse der betreffenden Borane wiedergeben, während die in Fig. 227 und 228 genutzten Strukturformeln bzw. Projektionsformeln die räumliche Anordnung bzw. die Konnektivitäten der B-Atome aufzeigen12. Wie ersichtlich, setzt sich das arachno-^ ^H10 aus den Boranen B H , H 2 B — B H und B H zusammen, die über vier BHB-Dreizentrenbindungen so untereinander verknüpft sind, dass jedem H-Atom formal eine Helium- und jedem B-Atom eine Neonelektronenschale zukommt. Auch leiten sich arachno-B5H12 und -B6H12 von arachno-^^H10 durch Ersatz von einem oder zwei (gegenüberliegenden) Brückenwasserstoffatomen durch BH2-Gruppen ab (mit dem H/BH2-Austausch erfolgt eine geringfügige Umorganisation der H-Positionen). Der Übergang B4H10/B5H11/B6H12 ist mit einer Verlängerung der zentralen BBBindung (1.705/1.742/1.821 Ä), einer Verkürzung der BHB-Abstände der zentralen B4-Gruppe (1.856/ 1.821/1.699 Ä) und einer Öffnung des zentralen B4-Schmetterlings (Vergrößerung des BBBB-Diederwin12 Zur Rationalisierung der Strukturen und Bindungsverhältnisse in Boranen kodifiziert man letztere durch die „styxZahl" (die styx im griech. Mythos = ein Fluss in der Unterwelt, bei dem die Götter ihre unverbrüchlichen Eide schwören): s = Zahl der BHB-, ? = Zahl der BBB-, j = Zahl der BB-Bindungen und x = Zahl der BH 2 -Gruppen. Beispiele (in Klammern stjx): B 2 H 6 (2002), B 4 H 10 (4012), B 5 H 9 (4120), B ^ (3203), B 6 H 10 (4220), B 6 H 12 (4302), B10H14 (4620).
1062
XVI. Die Borgruppe („Triele")
B
4
H
B5H1
1 I
H—B
B
Hi
B—H
6
H
1
YX? r
H —B
h ^ b ^ H H B^Hn
BcHo
B
1 0
H
1 4
kels: 117.1/138.9/167.4°) verbunden. Bei den übrigen Polyboranen ist ein Aufbau aus Grundboranen weniger leicht erkennbar. Bei der Aufstellung der Boran-Valenzstriehformelni3 sind folgende Regeln zu beachten: 1.Von jedem B-Atom müssen vier Bindungen ausgehen (Oktettregel; die offene Dreizentrenbindung B — B — B liefert für das mittlere B-Atom nur eine Bindung). - 2. Unmöglieh ist eine Kombination offener BBB-Dreizentrenhindungen mit BB-Zwei- bzw. geschlossener BBB-Dreizentrenbindung (a, b); auch dürfen sich offene BBB-Dreizentrenbindungen nieht kreuzen (c). - 3. Möglieh ist die Kombination zweier BHB-Dreizentrenhindungen (d) sowie eine gesehlossene BBB-Dreizentrenhindung mit einer BHB- bzw. geschlossenen BBB-Dreizentrenbindung (e, f); auch kann eine geschlossene BBB-Dreizentren- mit einer BB-Zweizentrenbindung verknüpft werden (g), wobei die an den Bindungen beteiligten B-Atome in der Regel sp2hybridisiert sind (vgl. hierzu Formelbilder auf S. 1061).
(b) -unmöglich
(e)
(f) möglich
13 Hilfreich für die Aufstellung der Valenzstrichformeln neutraler oder geladener Borane sind neben den erwähnten Regeln folgende beiden Zusammenhänge: Summe der Valenzorbitale 2VO = 3t + 2y;
Summe der Valenzelektronen 2 V E = 2t + 2y
(t = Zahl der 3z2e-, j = Zahl der 2z2e-Bindungen). Z. B. beträgt im Falle von B4H10 die 2VO = 4 x 4 (B) + 10 x 1 (H) gleich 26, die 2 V E = 4 x 3 (B) + 10 x 1 (H) = 22, womit die Valenzstrichformel 2VO — 2 V E = t = 26 — 22 = 4 Dreizentren-Zweielektronen-Bindungen (BHB-Bindungen) und y = 2VE/2 — t = 22/2 — A = 7 Zweizentren-Zweielektronen-Bindungen (BH-, BB-Bindungen) aufweist. Entsprechend ergeben sich für die Borane B 5 H 11 ^H 12 /B 5 H 9 / B 6 H 1 0 ^ 1 ^ 1 4 5/6/5/6/10 3z2e- sowie 8/9/7/7/10 2z2e-Bindungen (vgl. Formelbilder) und für das Hydridoborat B3H8" ( 2 V 0 = 3 x 4 + 8 = 20; 2 V E = 3 x 3 + 8 x 1 + 1 = 18) zwei 3z2e- und sieben 2z2e-Bindungen (vgl. Formel auf S. 1076).
1. Das Bor
1063
Aus der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, eine geeignete Valenzstrichformel für ein Boran beliebiger Zusammensetzung unter Berücksichtigung der besprochenen Regeln aufzustellen, lässt sich auf die Existenz oder Nichtexistenz des betreffenden Borans schließen. Kann man für ein Boran eine geeignete Valenzstrichformel aufzeichnen, so spielt noch die „Spannung" der einzelnen Bindungen eine wichtige Rolle hinsichtlich der Verbindungsstabilität. So erniedrigt sich etwa die Stabilität in der Reihe der Borane B 2 H 6 , B 4 H 1 0 , B 3 H 9 , da sich der BHB-Winkel in gleicher Richtung vom Idealwert (80° wie in B 2 H 6 ) zunehmend entfernt. B 4 H X 0 zersetzt sich infolgedessen zum Unterschied von B 2 H 6 bereits bei Raumtemperatur, während B 3 H 9 selbst bei tiefen Temperaturen nicht isolierbar ist. Analoges wie für B 3 H 9 gilt für die Borane B 3 H 7 und B 4 H 8 , in welchen Boratome gleichzeitig über BHB- und geschlossene BBB-Dreizentrenbindungen verknüpft sind, was zwar erlaubt ist, aber zu „Bindungsspannungen" führt:
B
2
H
6
B
4
H
1 0
B 3 H 9
B 3 H 7
B
4
H
8
Eine Reihe von Boranen wie etwa oder lässt sich durch mehrere Valenzstrichformeln beschreiben. Diese sind dann als Grenzformeln - ähnhch wie etwa die beiden möglichen Formeln des Ozons ( 0 = 0 — O und O — O = 0 ) - zu einer Mesomerieformel zusammenzufassen, z.B.: H
H
H
H
Die Anzahl der möglichen Grenzformeln für ein bestimmtes Boran (bzw. auch Boranat) nimmt mit der Zahl der Boratome und insbesondere mit der Symmetrie des Borhydrids rasch zu und beträgt etwa für B 1 0 H 1 4 bereits 24 und für B 12 H2 2 sogar 70. In letzterem Falle beschreibt man die Bindungsverhältnisse des Borwasserstoff-Moleküls vorteilhafter durch delokalisierte Molekülorbitale (vgl. Spezialliteratur, Anm ). Die Atome der neutralen Borwasserstoffe tragen reale Ladungen zwischen ca. +0.1 bis —0.1. Endständige H-Atome sind stets negativ, brückenständige H-Atome dagegen schwach positiv geladen. Letztere lassen sich infolgedessen häufig durch Basen abspalten. Unter den B-Atomen sind solche, die von vielen B-Atomen umgeben sind (insbesondere die apicalen), negativ, die übrigen meist positiv polarisiert. Nachfolgend wird zunächst das Diboran behandelt. Es schließt sich die Besprechung der Polyborane sowie der Heteroborane (Carbaborane usw.) an.
1.2.2
Diboran(6) B 2 H 6 , Tetrahydridoborat BH4"2'7
Im Folgenden werden Darstellung und Eigenschaften zunächst von B 2 H 6 , dann von B H ^ besprochen. Im Zusammenhang hiermit kommen auch die Borane B H 3 (instabil), B H 5 (instabil), B 2 H 4 (instabil), die Borate B 2 Hg" (nicht isoliert), B 2 H f (Protonierungsaddukt von B 2 H 2 6 ~, Hydridaddukt von B 2 H 4 ) sowie die Donoraddukte B H 3 • D, B H 2 • 2 D + und B 2 H 4 • 2 D zur Sprache. Darstellung von B2H6 Das Anfangsglied B 2 H 6 der isolierbaren Borane entsteht mit nahezu quantitativer Ausbeute durch Hydridolyse bei der Umsetzung von BC1 3 mit etherischer LiAlH 4 -Lösung (S. 1150) sowie beim Eintropfen von B F ' 0 E t 2 in eine Lösung von N a B H 4 (S. 1072) in Diglym:
1064
XVI. Die Borgruppe („Triele")
4BCl 3 + 3LiAlH 4
2 ( B H 3 ) 2 + 3LiAlCl 4 ,
4BF 3 + 3NaBH 4 -> 2(BH 3 ) 2 + 3NaBF 4 . Für die teehnisehe Gewinnung von Diboran eignet sich die Hydridolyse von Bortrifluorid mit Natriumhydrid bei 180°C: 2 B F 3 ( g ) + 6NaH(f) -
(BH 3 ) 2 (g) + 6NaF(f).
Besonders einfach lässt sich B 2 H 6 im Lahoratorium durch Protolyse von Boranaten BH 4 mit nichtoxidierenden Säuren gewinnen (S. 1072); in entsprechender Weise zersetzt Iod (bzw. auch BHal3, vgl. S. 1072) BH 4 zu B 2 H 6 : 2BH 4 + 2H +
(BH 3 ) 2 + 2H 2
oder
2BH 4 + 1 2
(BH 3 ) 2 + 2 I " + H 2 .
Diboran entsteht als endotherme Verbindung erst bei höheren Temperaturen aus den Elementen (Hydrogenolyse). Die oberhalb 800 °C beginnende B 2 H 6 -Bildung (Reaktionszwischenprodukt: BH 3 ) verläuft aber selbst bei 1000°C noch sehr langsam (ca. 0.06 ml B 2 H 6 pro Stunde aus 50 mg Borpulver). Demgegenüber erhält m a ^ H 6 mit 30 %iger Ausbeute bei der Umsetzung von BBr 3 und H 2 in einer elektrischen Glimmentladung 36kJ + 2B,_ rhomboedrisch + 3H 2 ^ B 2 H 6 ;
2BBr 3 + 6H 2 ^ (BH 3 ) 2 + 6HBr.
Eigenschaften und Verwendung von B 2 H 6 Diboran B 2 H 6 (AH{ = + 3 6 kJ/mol) ist ein farhloses, giftiges Gas 4 , welches bei — 92.49 °C zu einer farblosen Flüssigkeit kondensiert und bei —164.85 °C erstarrt (B 2 D 6 : Sdp. — 93.35°C). Das Hydrid riecht eigentümlich widerlich und verursacht, eingeatmet, Kopfschmerzen und Übelkeit. Bezüglich der Molekülstruktur vgl. Fig.227, S.1056. Unter den Umsetzungen des hydrolyseempfindliehen und an der Luft entzündliehen Diborans B 2 H 6 , dessen chemisches Verhalten zum Teil durch die Eigenschaften des der Verbindung zugrundeliegenden Monoborans bedingt werden, seien nachfolgend die Thermolyse, Spaltungsreaktionen, Suhstitutionsreaktionen, die Hydrohorierung und Redoxreaktionen besprochen. Thermolyse Bei Raumtemperatur liegt praktisch kein Monoboran(3) B H (planar, dBH = 1.19 A) im Gleichgewicht mit Diboran B 2 H 6 vor. Und selbst bei erhöhter Temperatur (200-300°C) sowie stark vermindertem Druek spaltet B 2 H 6 nur zu einem äußerst geringen Bruchteil in B H auf. Der Partialdruck beträgt bei 1 0 m b a r nur 1 0 m b a r (300 °C). Etwas höhere Partialdrücke (bis zu 10 mbar) lassen sich dadurch erzeugen, dass man die Boranaddukte B H • CO bzw. BH 3 • PF 3 (S. 1066) gasförmig bei niedrigen Drücken durch erhitzte Röhren leitet. Oberhalb 300 °C beobachtet man langsame, oberhalb 400 °C rasche Zersetzung des Borans in die Elemente 164 kJ + B 2 H 6
2BH 3 ;
BH 3 ^ ±BX + |H2 + 100 kJ.
Man nutzt die pyrolytisehe Zersetzung von verdünntem, gasförmigem Diboran bei 600-800 °C zur Gewinnung von reinem Bor (Abscheidung an Ta-, W- bzw. BN-Oberflächen) bzw. zur Herstellung von Borfilmen auf festen Oberflächen bzw. zur Dotierung von Halbleitermaterial.
Gasförmiges Diboran ist unter normalem Druck bis ca. 50°C metastabil und zersetzt sich oberhalb dieser Temperatur im Wesentlichen zu H 2 , B 4 H 1 0 , B 5 H 9 , B j H ^ , B 1 0 H i 4 sowie höhermolekularen, festen, gelben Borwasserstoffen (BH Ä l ) x . Untergeordnet bilden sich zudem BÖH 10 , B 6 H 1 2 , BgHi 2 und B 9 H 1 5 . Unter besonderen Reaktionsbedingungen lässt sich die B2H6-Pyrolyse so leiten, dass wahlweise eines dieser Hydride als Hauptprodukt entsteht oder dass sich zusätzlich weitere Borwasserstoffe bilden. Im Zuge der Thermolyse von B 2 H 6 entsteht - falls der B 2 H 6 -Druck nicht verschwindend klein ist (s. o.) — zunächst nach (1) thermolabiles Tetraboran(10) B 4 H 1 0 , das sich in Anwesenheit von B 2 H 6 nach (2) rasch in - seinerseits weiter thermolysierendes - Pentaboran(11) B j H j t verwandelt:
1. Das Bor 2 B 2 H 6 ^ B 4 H 1 0 + H 2 + 14 kJ B4H10 + iB2H6
B ^ ^ H ^
9 kJ
1065
(Reaktionsord. 1.5; £ a ca. 100 kJ/mol),
(1)
(Reaktionsord. 1
(2)
£ a ca. 100 kJ/mol).
Der Zerfall von Diboran (6) unter Bildung von Tetraboran (10) wird hierbei durch die Umwandlung von B 2 H 6 = (BH 3 ) 2 in nicht isolierbares { B 3 H 9 } = (BH 3 ) 3 , welches auf dem Wege über ebenfalls nicht isolierbares { B 3 H 7 } in B 4 H 1 0 übergeht (vgl. S. 1076, 1133): |B 2 H 6 ^
{BH3}
{B3H9}
{B3H7}
+ {BH 3 }
B4H10 .
(3)
Den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt stellt die Wasserstoffabspaltung aus B 3 H 9 oder - nach neueren Ergebnissen - der konzertiert verlaufende Übergang { B H 3 } + B 2 H 6 { B 3 H 7 } + H 2 dar14. Wegen der Reversibilität aller Teilreaktionen (3) vermindert sich die Geschwindigkeit des Zerfalls (1) in Anwesenheit von Wasserstoff; auch verwandelt sich B 4 H 1 0 in Anwesenheit eines überaus großen Wasserstoffüberschusses unter Umkehrung von (1) in B 2 H 6 . Wesentlich rascher als die Abspaltung von Monoboran aus B 4 H ! 0 (Bildung von { B 3 H 7 } ) erfolgt eine Eliminierung von Wasserstoff. Das hierbei gebildete, nicht isolierbare { B 4 H S } (S. 1135, 1175) reagiert mit überschüssigem B 2 H 6 rasch unter Bildung von Pentaboran (11) B 5 H S o m i t wickelt sich der Zerfall von Tetraboran (10) in B2H6-Anwesenheit (Summengleichung (2)) in zwei Teilschritten ab: B4H10 ^
{B 4 H„} ^
^
+ {BH 3 }
(4)
BSH11
( i ^ H 6 - A b w e s e n h e i t reagiert das B 4 H S -Intermediat hauptsächlich gemäß 2 B 4 H S -> B j H n + { B 3 H 5 } unter Bildung von isolierbarem B j H n und kurzlebigem, in polymere Borane übergehendemB 3 H 5 ; vgl. S. 1133). Wieder sind die einzelnen Reaktionsschritte (4) reversibel. Demgemäß lassen sich durch leichtes Erwärmen gasförmiger B 4 H 10 /D 2 -Gemische in Abwesenheit von B 2 H 6 die B 4 H 10 -Wasserstoffatome sukzessive durch Deuterium ersetzen: B 4 H 1 0 -> { B 4 H S } + H 2 ; { B 4 H S } + D 2 -> B 4 H S D 2 usw. Auch vermindert sich die Geschwindigkeit des Zerfa1ll0s (2) in Anwesenheit von Wasserstoff, und es entsteht aus bei großem Wasserstoffüberschuss unter Umkehrung der Reaktionen (2) und (1) B 2 H 6 (zwischenzeitliche Bildung von ). Im Zuge des weiteren Zerfalls von Pentaboran(11) B 5 H ! t in Anwesenheit von B 2 H 4 und B 4 H ! 0 (aus B 2 H 6 -Thermolyse) entstehen die erwähnten höhermolekularen, nichtflüchtigen Borwasserstoffe sowie darüber hinaus die thermostabilen Borane und (zwischenzeitlich wohl auch und B 6 H 1 2 ) . Den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt aller Folgereaktionen des Pentaborans B 5 H n stellt die Albspaltung von Monoboran { B H 3 } dar (Rückreaktion von (4)). Gebildetes { B 4 H S } reagiert dann mit sich selbst bzw. anderen Boranteilchen in verwickelter Weise zu den erwähnten nichtflüchtigen und flüchtigen Boranen. So erfolgt die Bildung von Pentaboran (9) B 5 H 9 aus B j H n nicht direkt durch H 2 -Eliminierung (B ), sondern in mehreren Schritten unter gle1ichzeitiger Bildung von 3 B 5 H 1 1 -> 2 B S H , + 2 ^ B 2 H 6
(Reaktionsord. 1; £ a ca. 75 kJ/mol).
(5)
(u.a.: B ^ ^ {B 4 H„} + { B H 3 } ; 2 { B 4 H S } - B 5 H 9 + { B 3 H 7 } ; { B 3 H 7 } + { B 4 H S } - B 5 H 9 + B 2 H 6 ). Einzelheiten des Mechanismus der Bildung von Hexaboran (10) B 6 H j 0 und Hexaboran (12) B 6 H 1 2 sind noch unbekannt. Der Zerfall von Hexaboran (10) BgHj 0 in Anwesenheit von B 2 H 6 , B 4 H 1 0 , B5ÜH (letztere Borane aus der B 2 H 6 -Thermolyse; B 5 H 9 hat keinen Einfluss auf die B 6 H 10 -Thermolyse) führt vielstufig zur Bildung von Decaboran(14) B 1 0 H 1 4 , der Zerfall von Hexaboran (12) BgHi 2 unter Eliminierung von { B H 3 } zum bereits erwähnten Pentaboran(9) B 5 H 9 : B6H10 + 2B2H6 ^ B10H14 + 4 H B6H12 -> B S H , + { B H 3 }
(Reaktionsord. 1.5; £ a ca. 100 kJ/mol); (Reaktionsord. 1 £ a ca. 75 kJ/mol).
(6) (7)
Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt zum Decaboran B 1 0 H 1 4 ist die Bildung des instabilen Triborans { B 3 H 7 } aus B 2 H 6 bzw. des instabilen Tetraborans { B 4 H s } aus B 4 H ! 0 oder B 5 H ! l (vgl. (3) sowie (4) bezüglich der Bildung des Tri- und Tetraborans und (1), (2) sowie (5) bezüglich der Reaktionsordnungen und Aktivierungsenergien). Beide Teilchen reagieren mit B 6 H 1 0 unter Bildung des Nonaborans (15) n!4 Der postulierte Mechanismus führt in Übereinstimmung mit dem Experiment zu einem (über weite Druck- und Temperaturbereiche gültigen) Geschwindigkeitsgesetz: — dcB2Hö = RG^ = k'CBH3CB2H6 mit K = Konstante des Gleichgewichts j B 2 H 6 150 °C
BJ0H16 conjuncto-Decaboran(16)") FarbL Krist.; Smp. ca. 81 °C + 146 kJ/mol, Zers. > 170 °C
BJ0H18 conj.-Decaboran(18) Farbl. Festkörper
11
BJJHJ5 nido-Undecaboran(1S) Farbl. Krist.; Zers. 0°C
-
-
12
BUH1( conj.-Dodecaboran(16) Farbl. Krist.; Smp. 66 °C; stabil
-
-
13
-
BJ3H19 conjuncto-Tridecaboran(19) Gelbe Krist.; Smp. 43.5°C
-
14
BJ4H18 conj.-Tetradecaboran(18) Gelbe Krist.; Zers. 100°C
B14H20 conj.-Tetradecaboran(20) Gelbe Krist.; stabil R T
ßi4H22 conj.-Tetradecaboran(22) Farbl. Krist., Smp. 25°C, Zers.
15
-
-
B15H23 conj.-Pentadecaboran(23) Farbl. Krist.
16
B16H20 conj.-Hexadecaboran(20) Farbl. Krist.; Smp. 1 0 8 - 1 1 2 ° C
-
-
18
B1SH22 Gelbe Krist.;
conj.-Octadecaboran(22)!) Smp. 180°C
-
20
-
B20H2„ conjuncto-Icosaboran(26)g) Farbl. Krist.; Smp.8»
B20H16 conj.-Icosaboran(16) FarbL Krist., Smp. 199°C
a) Struktur u n b e k a n n t b) 1,1'-(B 4 H 8 ) 2 (farbl Fl., Zers > - 30°C), 2,2'-(B 4 H 8 ) 2 (farblos), 1,2'-(B 4 H 8 ) 2 (bisher unbek a n n t ) ^ c) n-B 9 H 15 ; J-B,H 15 (Zers. - 30°C). - d) 1,2'-(B 4 H 9 )(B 5 H 8 ). - e) 1,1'-(B 5 H 8 ) 2 ; 1,2'-(B 5 H 8 ) 2 (Smp. 18.4°C) und 2,2'-(B 5 H 8 ) 2 (Smp. ca. — 21 °C); es existiert auch arachno-R 1(^I16 als ZP. - fy anti-B 18 H 22 ; syn-B1sH22 (gelbe Nadeln; es existieren 2 Enantiomere; Smp. 125-128°C). - g) Es existieren 11 Konstitutionsisomere, wovon 4 Enantiomerenpaare bilden (insgesamt 15 Isomere); S m p [ X ] für n,n'-(B 10 H 13 ) 2 : 139-142 (1,2), 114-115 (1,5), 178-179 (2,2), 109-111 (2,5), 154-155 (2,6'), 9 7 - 9 8 (5,5), 198-199 (6,6'). Darüber hinaus existieren B , , ^ = B 10 H 13 —B 10 H 12 —B 10 H 13 (gelbe, wachsartige Substanz ; insgesamt 546 Isomere denkbar) und B 40 H 50 = B 10 H 13 —B 10 H 12 —B 10 H 12 —B 10 H 13 .
mit der Boratomzahl der Borane, wobei die arachno-Borane acider sind als die nido-Borane: B 5 H 9 (sehr schwache Säure) < B6H10 < B10H14 < B16H20 < B18H22 (starke Säure); B 4 H 10 < B5H11 < B6H12; B 6 H 10 < B 4 H 10 . Die schwache Säure B 6 H 10 wirkt umgekehrt als Brönsted-Base (Anlagerung eines Protons an die BB-Bindung unter Übergang in eine BHB-Bindung). U n t e r den Borwasserstoffen zeichnen sich das Pentaboran(9)
B5H9 und das
Decaboran(14)
B 1 0 H 1 4 durch besondere Stabilität aus. Sie wurden aus diesem Grund eingehend untersucht
1. Das Bor
1075
und sollen nachfolgend - zusammen mit Tetraboran(lO) B4H10, dem zweiteinfachsten Boran, sowie anderen Polyboranen, Hydridopolyboraten und Polyborankationen - besprochen werden. Bezüglich organischer Derivate der Polyborane vgl. auch S. 1132. Tri- und Tetraborane Unter den nachfolgend formulierten Tri- und
Tetraboranen:
hypercloso-^U3,
closo-B3H5, nido-B3H7, arachno-B3H9,
hypercloso-RtU^
closo-B4H6, nido-B4H8, arachno-B 4 H l0 , hypho-B4Hl2,
ist B 4 H 10 in Substanz isolierbar, während die verbleibenden Borane nur als instabile Reaktionszwischenprodukte - z. B. im Zuge der B 2 H 6 - bzw B 4 H 10 -Thermolyse (vgl. S. 1064) - gebildet werden oder in Form von Derivaten (z. B. B 4 iBu 4 , B 4 H 2 iBu 4 , B 4 H 4 iBu 4 ) bzw. Donoraddukten isolierbar sind (z. B. B 3 H 9 -> B 3 H 7 • D, B 3 H 6 • 2D + , B 3 H 4 • 3D + ; B 4 H 8 ^ B 4 H 8 • D, B 4 H 7 • 2 D + ; B4H12 B 4 H 8 • 2D; D = H " , OR 2 , NR 3 , PR 3 usw.). Nachfolgend wird arachno-Tetraboran(lO) B 4 H l0 eingehender diskutiert. Im Zusammenhang hiermit kommen die Hydridoborate B^H8~, B 4 H f und B4H9~ sowie einige Donoraddukte der Tri- und Tetraborane zur Sprache. Bezüglich der Strukturen und Valenzstrichformeln der nicht isolierbaren neutralen und geladenen Tri- und Tetraborane sowie ihrer Organylderivate vgl. S. 1132. Darstellung. Arachno-B4Hl0 entsteht aus B 2 H 6 beim mehrtägigen Lagern unter Druck bei Raumtemperatur in 30%iger Ausbeute 2B 2 H 6 ^B 4 H10 + H 2 + 14 kJ. Vorteilhafter wird B 4 H 10 durch Thermolyse von Diboran im ,,Heiß-Kalt-Reaktor" ( + 120°C/— 78°C; S. 1073) in 95%iger Ausbeute gewonnen. Eine weitere günstige Synthese von B 4 H 10 besteht in der Umsetzung von N a B H (S. 1073) und NaB 3 H 8 (s. unten) mit C H I in 1,2-Dichlorethan bei Raumtemperatur (100%ige Ausbeute): NaBH 4 + NaB 3 H 8 + 2CH 3 I
B 4 H 10 + 2CH 4 + 2NaI.
Auch die Reaktion von NaB 3 H 8 mit wasserfreiem HCl oder von Et 4 N + B 3 H 8 ~ mit BC13 bzw. AlCl3 führt zu hohen 10-Ausbeuten Eigenschaften Luftstabiles und hydrolyseempfindliches arachno-B4Hl0 (Charakterisierung: Tab. 101; Formel: Gl. (2); Struktur: Fig. 227, S. 1056) ist bei Raumtemperatur thermisch zersetzlich und zerfällt hauptsächlich in H 2 , BJH^ sowie polymere Borane, untergeordnet zudem in B 2 H 6 , B6H12 sowie B 10 H 14 . Der einleitende Thermolyseschritt besteht in einer -Eliminierung unter Bildung von in Substanz nicht iso lierbarem ra'rfo-Tetraboran(8) B 4 H 8 (B 4 H 10 -> B 4 H 8 + H 2 : Formel: vgl. Gl. (1)), das hauptsächlich gemäß 2B 4 H 8 B5H11 + {B 3 H 5 } weiterreagiert (S. 1056). H H
hypho-B4H7 • D
hypho-B4H8-2D
1076
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Von B4H8 sind Donoraddukte B4H8 • D (endo-und exo-Form) zugänglich (Gl. 1). So reagiert D = CO mit B4H10 bei 80-110°C nach B4H10 + CO -> B4H8 • CO + H 2 in der Gasphase zu einem Gleichgewichtsgemisch der Addukte endo- und exo-B4H8 • CO (Molverhältnis ca. 2 : 1 ) , welches zur Synthese anderer, auch aus B5H11 und D zugänglicher Addukte B4H8 • D (D z. B. NH3, PH3, SMe2, PF 2 X mit X = H, F, Cl, NMe 2 , iBu) genutzt werden kann (die PF 2 X-Addukte liegen bevorzugt endo-konformiert vor). Auch das Deprotonierungsprodukt von B 4 H 8 , das Heptahydrido-nirfo-tetraborat B 4 Hf (Formel: Gl. (1); Struktur: S. 1079) ist zugänglich und liegt dem durch Reaktion von B5H9 mit NH3 gewinnbaren farblosen, unterhalb 0 °C haltbaren Salz BH2(NH3)^B4H ~ zugrunde. Die Addition eines Donors an B4H8 • D bzw. B4H7" führt zu den hypho-Spezies B4H8 • 2D bzw. B4H7 • D~ (D z. B. PMe3; Formeln: Gl. (1)), wobei sich B4H8 • 2D durch Hydridakzeptoren wie BH ) in das Kation B4H7 • 2 D + verwan10 deln lässt Ähnlich wie das aus den Grundboranen BH3 + BH3 hervorgehende Diboran B2H6 lässt sich auch B4H1( welches sich aus den Grundboranen BH • BH3 aufbaut (S. 1055), durch Einwirkung von Donoren D im Zuge einer symmetrischen oder asymmetrischen Spaltung unter Verkleinerung des Boratomgerüsts in seine Boranbestandteile auftrennen. In der Regel werden in ersterem Falle zwei donorstabilisierte Borwasserstoffkomponenten (BH3 + B3H7), seltener drei (BH3 + B2H4 + BH3) freigesetzt, während in letzterem Falle donorstabilisierte Kationen B H bzw. B ^ ^ neben Anionen B3H8~ bzw. BH4~ entstehen können (vgl. Gl. (2)):.
symmetrische Spaltung
D—B—H I
H-B-D
H
x
+2 H
V
'
ß
D
(2)
H H \ / h
'
%
arachno-B3H Durch symmetrische Spaltung (2) sindsomit außer den auf S. 1066 bereits erwähnten Addukten BH3 • D und B2H4 • 2D (z. B. B4H10 + 3PF 3 -> 2BH 3 (PF 3 ) + B2H4(PF3)2) auch Addukte B 3 H, • D des nur in dimerer Form B6H14 (S. 1057) existierenden nirfo-Transborans(7) B 3 H, erhältlich (z. B. Reaktion von B4H10 mit N R , PR 3 , R 2 O, R 2 S, H " , H a P , NCS"). Letzteres Boran (vgl. hierzu S. 1133) entsteht gemäß Gl. (3) als Zwischenprodukt der über aracAno-Triboran(9) B3H9 = (BH3)3 (vgl. hierzu S. 1133) führenden Thermolyse von Diboran (BH3)2 (S. 1064): H H \ / HS :Bnido-B3H7
(nicht isolierbar)
arachno- B3H9
(nicht isolierbar)
^
H H \ / h
-
h ;
-B;
arachno- B3H (isolierbar)
arachno-B3H7 (unbekannt)
Die asymmetrische Spaltung (2) von B4H10 führt zu den auf S. 1067 erwähnten Kationen BH2 • 2D + (z. B. Reaktion von B4H10 mit NH3). Die Kationen B3H6 • 2D + werden andererseits durch Übertragung von BH2+ (B2H6 BH2+BH4~; B4H10 ^ BH 2 + B 3 H,n auf B2H4 • 2D gewonnen, z.B.: B2H4(PMe3)2 + B4H10 -> B3H6(PMe3)^B3H8~. In diesem Zusammenhang sei auch das Kation B3H4 • 3D + erwähnt, das gemäß 2B 2 H 4 (PMe 3 ) 2 + Ph3C+ ^ B3H4(PMe3)3+ + BH3(PMe3) + Ph3CH auf mehrstufigem Wege entsteht und ein
1. Das Bor
1077
dreifaches Donorsubstitutionsprodukt des durch zweifache Deprotonierung aus B 3 H 9 gemäß Gl. (3) formal gebildeten Anions B 3 H 7 ~ darstellt (Ersatz je eines an jedem B-Atom gegen PMe 3 ). Die Einwirkung von auf B 4 H 10 führt auf dem Wege sowohl einer symmetrischen als auch asymmetrischen Spaltung neben BH4~ zu Octahydrido-aracAno-triborat BjHf (früher: „Triboranat"; Formel: Gl. (3)), das formal durch einfache Deprotonierung aus B 3 H 9 hervorgeht. B3H8~, welches zum Unterschied von BH4~ ein etherlösliches Salz bildet, ist auch durch Einwirkung von Natriumamalgan auf B 2 H 6 (S. 1070) sowie - besser - durch Reaktion von BH4~ mit B 2 H 6 bei höheren Drücken (NaBH 4 + B 2 H 6 -> NaB 3 H 8 + H 2 ; ca. 90%ige Ausbeute) sowie aus BH^ und I 2 in Diglyme gewinnbar (3NaBH 4 + I 2 -> NaB 3 H 8 + 2NaI + 2H 2 ). Es stellt ein nichtstarres (fluktuierendes) Teilchen dar (S. 383): brücken- und endständige Wasserstoffatome vertauschen gemäß Gl. (4) rasch ihre Rolle:
±8 kJ
H H \ / B
+ 8KJ
•BH,
usw
(4)
B / \ H H Die Alkalimetallsalze M'BjHg sind thermostabiler als B 4 H 10 . NaB 3 H 8 zerfällt in Lösung bei 80-100°C in NaBH 4 und B 5 H 9 (5B 3 H 8 " -> 2B 5 H 9 + 5BH4~ + H 2 ) und bei 160°C weiterin Na 2 B 12 H 12 (2BH4~ + 2B 5 H 9 -> B12H12 + 7H 2 ). Die Protolyse von B3H8~ mit HHal führt auf dem Wege über instabiles B 3 H 9 und dessen Dehydrierungsprodukt B 3 H 7 (vgl. Gl. (3)), zu Substitutionsprodukten B 3 H 7 Hal" des Triborats: HHal - H 2 . Letztere lassen sich auch durch Hydridabstraktion aus B 3 H 8 mit Halogenen wie Br 2 , I 2 erzeugen: B3H8~ + Hal 2 -> {B 3 H 7 + HHal + H a F } -> B 3 H 7 HaP + HHal. Setzt man B3H8~ mit Iod in inerten Medien bei — 40°C um, so lässt sich das Dimere B 6 H 14 (S. 1057) von intermediär gebildetem B 3 H 7 gewinnen. Aus M + B3H8~ (M + = Na + , Tl + , NMe^) und geeigneten Komplexpartnern L , M H a ^ lassen sich durch Metathese Hydridotriborat-Komplexe wie Be(B 3 H 8 ) 2 , (CO) 4 MnB 3 H 8 , (CO) 4 CrB 3 H 8 , Cr(B 3 H 8 ) 2 , Cp(CO)FeB 3 H 8 , (Ph 3 P) 2 CuB 3 H 8 , ClCuB 3 H 8 gewinnen, in welchen B3H8" im Sinne von L„M(^—H) 2 B 3 H 6 über zwei seiner H-Atome an das M-Atom gebunden vorliegt (vgl. hierzu Hydridomono- und -diboratkomplexe S. 1084; in dem aus (CO) 4 MnB 3 H 8 bei 180 °C oder Bestrahlung unter CO-Eliminierung erhältlichen Komplex (CO) 3 MnB 3 H 8 sind 3H-Atome brückenständig an Mn gebunden). Zum Unterschied von B 2 H 6 vermag B 4 H 10 als Säure zu wirken (Gl. (5)): H I -B-
H
^ B
H
;B
K -BI H
H I
B; B— / \ H H
H
arachno-B4H10
+ 1 /2 B2H6 - 1 /2 B2H6
arachno-B4H9
hypho-B5H12
(5)
Allerdings ist der saure Charakter nur außerordentlich schwach, sodass man zur Verschiebung des Säuregleichgewichts nach rechts sehr starke Basen wie NaH, KH, LiCH 3 benötigt. Es bildet sich hierbei unter Erhalt des Boratomgerüsts das bei Raumtemperatur instabile Nonahydrido-aracAno-tetraborat B4H9", welches sich als starke Base durch flüssiges HCl reprotonieren lässt und mit B 2 H 6 in Ether bei 1079) ab— 35°C unter Erweiterung des Boratomgerüsts gemäß Gl. (5) zum hypho-Pentaborat^^(S. reagiert, dessen NBu^- bzw. PMePh3+-Salze bei Raumtemperatur einigermaßen beständig sind, während das K + -Salz im Vakuum wieder langsam B 2 H 6 unter Rückbildung von B4H9~ abgibt. Die Einwirkung der schwächeren Base NH 3 auf B 4 H 10 führt nur zu einem Gleichgewicht B 4 H 10 + NH 3 £> N H B4H9~, wobei nicht umgesetztes NH 3 und B 4 H 10 langsam, aber irreversibel zu BH 2 (NH 3 )^ B3H8~ (vgl. Gl. (2)) abreagieren.
Penta- und Hexaborane Unter den nachfolgend formulierten Penta- und Hexaboranen closo-BjH,, nido-B5H9, arachno-BjH^, hypho-B5H13, nido-B6H10, arachno-R6H12,
conyuncto-B6H14
1078
XVI. Die Borgruppe („Triele")
sind B 5 H 7 und B 5 H 13 nur in Form von Derivaten (B 5 H 3 R 4 , B 5 H^) isolierbar, die übrigen Borane jedoch in Substanz. Sie werden nachfolgend, zusammen mit einigen von den betreffenden Boranen abgeleiteten Penta- und Hexaboran-Ionen (B5H8~, BjH^, B 5 H 9 ~, B 5 H^; B6H9~, B 6 H7, sowie -Donoraddukten (B 5 H 9 • 2 D ) besprochen (bzgl. B 5 H 7 , B 5 H ~ , B 6 H ~ sowie ihren Organylderivaten vgl. S. 1084, 1136). Mrfo-Pentaboran(9) B 5 H 9 . Darstellung Nido-B5H9 entsteht beim Durchleiten von gasförmigem, mit Wasserstoffverdünntem DiboranB2H6 (Molverhältnis H 2 : B 2 H 6 = 5 : 1 ) durch ein auf 250°C erwärmtes Rohr (Verweildauer im Rohr ca. 3 s; der zugesetzte Wasserstoff unterdrückt die Bildung höherer Polyborane insbesondere die von B10H14), darüber hinaus im Heiß-Kalt-Reaktor ( + 180°C/—80°C; S.1073) sowie aus Hydridotriborat B3H8~ und Hal2 bzw. HHal bei 100°C (in letzterem Falle erfolgt die Bildung über B 3 H 7 HaP, vgl. S. 1077): 6H
5Bu,N +
- 5HHal
, + 9H2+5Bu4N+Har
Eigenschaften.Das bis 200 °C stabile, an Luft entzündliche und in heißem Wasser hydrolysierende nido-B5H9 (Charakterisierung: Tab. 101; Formel: Gl. (6); Struktur: Fig.227, S. 1056) wirkt wie B 4 H 10 als schwache Säure und lässt sich in etherischer Lösung bei — 78 °C gemäß Gl. (6) mit sehr starken Basen wie LiH, NaH, KH, LiCH 3 unter Erhalt des Boratomgerüsts zum Octahydrido-rarfo-pentaborat BjH^ deprotonieren (Abspaltung eines Brückenwasserstoffs; die verbleibenden Brückenwasserstoffe wechseln rasch ihre Stellung). Das bei Raumtemperatur mit großen Gegenkationen wie PPh^, AsPh^ monatelang haltbare Anion ist in Lösung instabil (Zerfall in B H 7 , B 3 H 8 und B 9 H 14 sowie B 1 ^ 1 4 ) . Es lässt sich als starke Base durch flüssiges HCl reprotonieren und mit B 2 H 6 in Ether bei — 78 °C unter Erweiterung des Boratomgerüsts gemäß Gl. (6) zum arachno-Hexaborat B6H^ und darüber hinaus langsam zum hypho-Heptaborat B 7 H 14 (s. unten) umsetzen. Letzteres Hydridoborat zerfällt rasch unter BH4~-Eliminierung in B 6 H 10 (B B H + B 6 H 10 ). In entsprechender Weise vermögen sich offenbar auch andere Borane mit B 5 H 8 zu vereinigen (z. B. B 5 H 8 + ] BH ). { B 1 0 H 1 7 }
H^
B^
|H
BF
+BH,
H
0 ,BH H
(6)
arachno- BgHjj
Nido-B5H8~ setzt sich mit Trimethylchlorsilan Me 3 SiCl (Analoges gilt für R 3 GeCl, R S n C l , R 3 PbCl, B Q 3 , R B C l , R 2 PCl) zu einem Silylderivat des Pentaborans(9) um, in welchem die Me 3 Si + -Gruppe die Stellung eines Brückenwasserstoffs H + eingenommen hat (vgl. B5H8~ • BH 3 in Gl. (6)); hieraus bildet sich dann in der Wärme oder basenkatalysiert ein 4: 1 Gleichgewichtsgemisch von Me 3 SiB 5 H 8 -Isomeren mit apical und basal gebundener Me 3 Si-Gruppe (zur Numerierung vgl. Fig. 230, S. 1059). B5H8~ + Me 3 SiCl
^-Me^iBjH
[1-Me 3 SiB 5 H 8
2-Me 3 SiB 5 H 8 ].
In entsprechender Weise reagieren (Ph 3 P) 2 CuCl, (Ph3P)2AgCl, (Ph 3 P) 2 CdCl 2 , (diphos)MHal 2 usw. mit B5H8~ unter Bildung von Hydridopentaborat-Komplexen L„MB 5 H 8 , in welchen das Metall des Komplexfragments L„M in der /^-Position verbleibt. Ähnlich wie B 2 H 6 und B 4 H 10 vermag auch B 5 H 9 unter asymmetrischer und symmetrischer Spaltung Donoren zu addieren. So reagiert Ammoniak N H mit B 5 H 9 langsam (in Wochen) in Ether bei — 80 °C unter Verkleinerung des Boratomgerüsts (asymmetrische Abspaltung von BHH) zum nido-Tetraborat B4H7~ (S. 1075): BJH9 + 2NH 3 -> BH 2 (NH 3 )^B 4 H 7 ~. In diesem Zusammenhang sei auf den verwandten Bau der geladenen und neutralen Borane B 4 H f , B 5 H 9 sowie B6H+0 hingewiesen, deren 4, 5 bzw. 6 BH-Gruppen gemäß Fig. 231 die Ecken einer trigonalen, quadratischen und pentagonalen Pyramide einnehmen, wobei die 3, 4 bzw. 5 B-Atome der Pyramidenbasis durch Wasserstoff verbrückt sind. Viele Möglichkeiten einer Produktbildung durch symmetrische Spaltung von unter Erhalt des Atomgerüstes sind denkbar: so könnte gemäß Fig.231 die Einwirkung eines Donors zu 2-B 5 H 9 • D bzw. dessen Umlagerungsprodukt 1-B 5 H 9 • D, die Einwirkung von zwei Donoren zu Folgeprodukten dieser beiden Addukte, nämlich zu 2,4-B 5 H 9 • 2D, 2,2-B 5 H 9 • 2 D bzw. 1,2-B 5 H 9 • 2D führen. Isoliert wurden bisher nur Donoraddukte B 5 H 9 • 2D und zwar des Typus 2,2-B 5 H 9 • 2 D (2D = Me 2 NCH 2 CH 2 NMe 2 ) und 1,2-BJH • 2 D (D = PMe 3 sowie andere Phosphane). Letztere Verbindung stellt hierbei ein Derivat des noch unbekannten hypho-Pentaborats B 5 H ^ dar (Ersatz von PMe 3 durch H " ) , dessen Protonierungsprodukt, Dodecahydrido-AypAo-pentaborat B 5 H j " 2 (Fig.231) durch Reaktion von B4H9~ mit B H (S. 1077) bzw. von B5H11 mit (S. 1079) gewinnbar ist.
1. Das Bor
1079
2-B 5 H 9 -D
1-B 5 H 9 -D
2,4-B 5 H 9 - 2D
2,2-B 5 H 9 -2D
1,2-B 5 H 9 -2D
(kein Beispiel)
(kein Beispiel)
(kein Beispiel)
(z.B. B 5 H 9 (tmeda))
(z.B. B 5 H 9 (PMe 3 ) 2 )
Fig. 231 Strukturen von nido-B4H7 , -B 5 H 9 und -BsH^sowie von hypho-B5H12 und einigen denkbaren B5H9-Donoraddukten ( • = H; = H-Brücke).
den B-Atomen der Pyramidenbasis unter Substitution von Wasserstoff angegriffen wird, reagieren Elektrophile mit dem negativierten B-Atom der Pyramidenspitze. So führt die elektrophile Halogenierung von B5H9 mit C12/A1C13 bzw. Br2 oder I2 zu ,,i-Halogen-pentaboranen(9)'\ welche sich thermisch - oder besser basenkatalysiert - in 2-Halogen-pentaborane (9) umwandeln lassen, die ihrerseits wieder in 1-Stellung halogeniert werden können usw. Entsprechendes gilt für die elektrophile Alkylierung von B5H9 mit RCl/AlCl3. Die Reduktion von B5H9 mit Alkalimetallen (eingesetzt als MC10H8) führt in Ether glatt zum arachnoBorat B 5 H 9 " (s. unten). In Anwesenheit von PtBr 2 geht B5H9 unter katalytischer Oxidation (Dehydrierung) in B10H16 über: 2B 5 H 9 BsH8—B5H8 + H2 (S.1083). In entsprechender Weise lassen sich B5H9/B2H6 bzw. B5H9/B4H10-Gemische zu B7H13 = B5H8—B2H5 bzw. B9H17 = B5H8—B4H9 kuppeln (Anm. 17 , S. 1080). Arachno-Pentaboran(ll) B 5 H l r Darstellung. BjH^ entsteht durch Thermolyse von B2H6 im „Heiß-KaltReaktor"( + 120°C/- 30°C; S. 1073) in 70%iger Ausbeute: 2B 2 H 6 B„H1( + 2H 2 . Auch gemäß B4H10 + KH (in Et2O, - 78°C) ^ KB 4 H 9 + Hi 22,: KB 4 H 9 +|B 2 H 6 (in Et2O, - 35°C) ±2 t KCl wird Pentaboran(11) in bis zu 70%iger Ausbeute, des weiteren gemäß B5H9 + 2Na (als NaC10H8) Na2B5H9; Na2B5H9 + 2HCl (in Butan, — 78°C) -> B 5 H U + 2NaCl in ca. 40%iger Ausbeute gewonnen. Da B5H9 ein Handelsprodukt darstellt, stellt letztere Methode den einfachsten und sichersten Weg zu BjH^ dar. - Eigenschaften Arachno-B 5 H u (Charakterisierung: Tab. 101; Formel: Gl. (7); Struktur: Fig.227 auf S. 1056) ist bei Raumtemperatur thermolabil und zersetzt sich hauptsächlich in H 2 , B2H6 (Molverhältnis 2 : 1 ) undpolymere Borane (ca. 50 %; bezüglich des einleitenden Thermolyseschritts B5H111> B4H8 + BH3 vgl. S. 1065). Hinsichtlich der starken Base KH wirkt BjH^ gemäß Gl. (7) sowohl als Brönsted- als auch Lewis-Säure und geht durch H+-Abspaltung bzw. H~-Anlagerung unter Erhalt des Boratomgerüsts in Borwasserstoff-Anionen über. 10
11
B4H9~ + j B 2 H 6 einigermaßen stabil. Das Protonierungsprodukt von B5H12, das hypho-Boran B 5 H 13 ist unbekannt (BjH^ + H + -> BjH^ + H 2 ). Mrfo-Hexaboran(lO) B 6 H l0 (Charakterisierung: Tab. 101; Formel: Gl. (8); Struktur: Fig.227 auf S. 1056) lässt sich auf folgendem Wege gewinnen: 1-BrB 5 H 8 (s.o.) + H~ (in Et 2 O, - 7 8 ° C ) ^ 1-BrB 5 H 7 " + H2; 1-BrB 5 H 7 "+^B 2 H 6 (in Et 2 O, - 7 8 ° C ) ^ 1 - B r B 6 H r 0 ( > - 3 5 ° C ) ^ B 6 H 10 + Br~ (75%ige Ausbeute). Reines B 6 H 10 ist bis 75 °C thermostabil und zersetzt sich oberhalb 75 °C auf radikalischem Wege (Bildung von B 5 H 9 ). Die Verbindung lässt sich gemäß Gl. (8) unter Erhalt des Boratomgerüsts zu Nonahydrido-nidohexaborat B 6 H^ deprotonieren (Formel: Gl. (8); wachsende Stabilität der Salze mit wachsender Raumerfüllung der Kationen: Li + < Na + < K + < NBu4+ < PPh4+) und zum Mrfo-hexaboran(ll)-Kation B6Hj+j (Formel: Gl. (8); Struktur: Fig. 231) protonieren. Die Basizität des Borans B 6 H 10 dokumentiert sich auch in seiner Fähigkeit, andere Borane unter Bildung höherer Polyborane zu addieren, z. B.: B 6 H 10 + jB 2 H 6 -> { B 7 H u } + H 2 ; {B 7 Hu} ^ 6 H 1 0 -> B13H19 + H 2 ; B6H10 + B8H12 -> B M H 22 ; ^^10 -> B, 5 H, 3 + H,. H B-
-B,H
H
H
nido- BjHj!
)H
(8)
H -B- H H
nido-BjH10
H9 nido-B66H.
Arachno-Hexaboran(l2) B 6 H l2 (Charakterisierung: Tab.101; Formel S.1062; Struktur Fig.228 auf S. 1057) entsteht analog B 6 H 10 auf dem Wege: B 5 H 9 + H " (in Et 2 O; - 78 °C) B 5 H 8 + H 2 ; B 5 H f +- |B t B ,2 H 6, (in Me 2 O, - 7 8 ° C ) B ^ l ; B ^ + H C l (fl. HCl; - 1 1 0 ° C ) ^ B 6 H 1 2 + C l " (70%ige Ausbeute). B ^ ist bei Raumtemperatur thermostabil und zersetzt sich bei leicht erhöhter Temperatur unter -Entwick lung in B 2 H 6 und B 5 H 9 (Molverhältnis 1 : 2): B 6 H 1; , + BH 3 t B 2 H 6 ) . Die Stabilität des durch Deprotonierung aus B 6 H 12 bzw. durch BH 3 -Addition an B5H„ erhältliche Undecahydrido-arachno-hexaboranats B6Hj"l (Formel: Gl. (6)) erhöht sich mit wachsender Raumerfüllung der Gegenkationen. Die zu B 6 H 12 führende Protonierung von B6H17 ist offensichtlich mit einer Umorganisation des Boratomgerüsts verbunden Con/«nc/o-Hexaboran(l4) B 6 H l4 (Charakterisierung: Tab. 101; Struktur: Fig. 228 auf S. 1057) bildet sich, wie erwähnt (S. 1077), im Zuge der Reaktion von B3H8~ mit I 2 oder HI in Kohlenwasserstoffen bei - 40 °C, z. B.: 2B 3 H 8 " + 2I 2 2{B 3 H 7 } + 2 I " + 2HI , + 2 r +2HI.
Hepta-, Octa- und Nonaborane Aus der Gruppe bisher isolierter Borane B 7 H l3 , B 8 H l2/l4/l6/l8 , B 9 H l3/l5/l7 (abgeleitete Hydridoborate:BnH12, B8H13, B 9 H u , B 9 H 14 , B9H~3; Boran-Addukte: B 8 H 12 • D, B 9 H 13 • D) werden nachfolgend B 7 H 13 , B 8 H 12 und B 9 H 15 besprochen. Bezüglich der verbleibende Borane vgl. Anm. 17 (bezüglich B 7 H 7 ", B 8 H 8 ~ und B 9 H 9 ~ vgl. S. 1084). Con/«nc/o-Heptaboran(l3) B 7 H l3 (Charakterisierung: Tab. 101; Struktur: Tab. 228 auf S. 1057) entsteht im Zuge der PtB -katalysierten dehydrierenden Kupplung von Pentaboran(9) und Diboran(6) in Decan
17 Bezüglich der Charakterisierung nachfolgend aufgeführter Borane vgl. Tab. 101 auf S. 1074, bzgl. der Strukturen Fig. 227/228 auf S. 1056/1057. Das Ajyho(?)-Octabüran(l6) B s H l6 (Struktur unbekannt) entsteht im „Heiß-KaltReaktor" ( + 140°C/-20°C; vgl. S. 1073) aus B5H9 und B2H6, das con/'«nc(o-Octaboran(l8) B s H l8 durch Reaktion von B 3 H 7 (THF) mit B F bei - 4 5 ° C (— 2,2'-B4H9—B4H9; 30% Ausbeute). B8H18 bildet sich zudem durch PtBr2katalysierte Tieftemperatur-Dehydrierung von B4H10 (-• 1,1'-B4H9—B4H9; Zersetzung > - 30°C; 1,2'-B4H9—B4H9 ist bisher unbekannt). Auf gleichem Wege erhält man auch con/«nc(o-Octaboran(l7) B,H l7 aus B4H10 und B5H9 (-• 1,2'-B4H5—B5H8; 60% Ausbeute). Das wasserstoffärmere ni'rfo-Nonaboran(l3) BjHl3 erhält man demgegenüber neben B6H10, B8H12 und B18H22 (Hauptprodukte) sowie kleineren Mengen B10H14 durch Pyrolyse von B9H13(SMe2) (s. oben) bei 55 °C als nachweisbare Reaktionszwischenstufe (die Instabilität des Borans beruht offensichtlich auf sterischer Behinderung der vier Brückenwasserstoffe; vgl. Fig.227, S. 1056). Wesentlich thermostabiler als B9H13 ist dessen Deprotonierungsprodukt, das Dodecahydrido-ni'do-nonaborat B9HJ~2, das sich durch Einwirkung starker Basen wie NR"OH~ auf BjHj^SMeJ bereitwillig bildet und sich strukturell von B9H13 durch Fehlen eines brückenständigen H-Atoms ableitet (vgl. Fig.227 auf S. 1056).
1. Das Bor
1081
bei Raumtemperatur: B 5 H 9 + B 2 H 6 -> B 5 H 8 ^B 2 H 5 + H 2 (zur Unterdrückung der Reaktion 2B 5 H 9 -> B 5 H 8 —B 5 H 8 + H 2 arbeitet man mit einem 5fachenB 2 H 6 -Überschuss). Das bei Raumtemperatur nur mäßig stabile Heptaboran zerfällt bei 40 °C in 3 h unter Rückbildung von B 5 H 9 und B 2 H 6 (radikalischer Mechanismus unter H-Atomaufnahme aus der chemischen Umgebung?). Die Deprotonierung von B 7 H 13 ist offensichtlich mit einer Umlagerung des B-Atomgerüsts verbunden: dem gemäß B6H9~ + jB 2 H 6 -> B7H12 bei — 78 °C in Ether erhältlichen Dodecahydrido-arachno-heptaborat B 7 H^ kommt wohl eine dem arachno-BjHü (Gl. (6)) vergleichbare Struktur mit verzerrt-hexagonal-pyramidalem Atomgerüst zu (Anlagerung von BH 3 an die BB-Bindung in B6H9~, analog der Anlagerung von BH 3 an B5H8~; vgl. Gl. (6)). Mrfo-Octaboran(12) BSH12 (Charakterisierung: Tab. 101; Struktur: Fig. 227 auf S. 1056) lässt sich mit Vorteil aus ;'-B9H15 (s. unten) bei — 45°C in Pentan gewinnen: 2;'-B9H15 -> B 8 H 12 + B10H14 + 2H 2 . Das flüssige, zu B 6 H 10 , B(OH) 3 und H 2 hydrolysierende Boran ist oberhalb seines Smp. von ca. — 20°C thermolabil, lässt sich aber durch Bildung von Addukten BSH12 • D (D z.B. Et 2 O, Me 3 N, CH 3 CN) stabilisieren. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang Tridecahydrido-arachno-octaborat B8Hj~3 (D = H~; Gegenkationen z.B. Na + , NMe+), das sich gemäß NMe+BgH^ + HCl (fl. HCl, — 78°C) zu thermolabilem arachno-Octaboran(14) BSH14 (Charakterisierung: Tab. 101, Struktur Fig. 227 auf S. 1056) protonieren lässt (B 8 H 14 zerfällt zu 6 % bei — 30 °C in B 8 H 12 + H 2 ). ^rachno-Nonaboran(15) B 9 H 15 (Charakterisierung: Tab. 101; Struktur: Fig.227 auf S. 1056) existiert in zwei konfigurationsisomeren Formen als n- und i-B9H15. Das thermostabilere Boran n-B9H15 entsteht u. a. durch Reaktion von B 2 H 6 mit B 5 H U (Molverhältnis 1 0 : 1 ) bei Raumtemperatur unter Druck von 25 bar sowie bei der Cothermolyse von B4H10/B6H10, das thermolabilere Boran ;'-B9H15 durch Protonierung des Borats B 9 H 14 bei — 78°C mit fl. HCl. Der Zerfall von ;-B 9 H 15 oberhalb — 30°C in B 8 H 12 und B 10H14 (s. unten) erfolgt wohl auf dem Wege über das Boran B 9 H 13 als Intermediat (7-B9H15 -> B 9 H 13 + H 2 ), das in Form von B 9 H 13 • D abfangbar ist (s. unten). Das für die Darstellung von ;'-B9H15 benötigte, vergleichsweise thermostabile Tetradecahydrido-arachno-nonaborat B,,Hi4 (Struktur: Fig.232 auf S. 1082), das mit LiBu in T H F weiter zu hoch reaktivem Tridecahydrido-arachno-nonaborat B9Hl^ deprotonierbar ist, erfolgt auf dem Wege: B 10 H 14 (KOH, MeOH) ^ B ^ H ^ B 9 H 14 + B(OMe) 3 + H 2 (85 %ige Ausbeute; Näheres vgl. bei B10H14) oder gemäß: 2LiBH 4 + 2B 5 H 9 -> LiB 9 H 14 + LiB 3 H 8 + 2H 2 . Die Deprotonierung sowohl von n- als auch von i-B 9 H 15 führt zum gleich gebauten Anion B 9 H 14 . Die Alkalimetallsalze von B 9 H 14 reagieren mit B 5 H 9 unter Bildung von B U H 1 4 (s. unten) und stellen hervorragende Ausgangsstoffe für die Synthese von Metallaboranen dar (S. 1095). Von B 9 H 14 leiten sich die Donoraddukte B 9 H 13 • D (Ersatz von H~ in B 9 H 14 durch D wie S R , PR 3 , CO) ab. Sie sind z.B. wie folgt erhältlich: B 10 H 14 + 2SR 2 -> B 10 H 12 (SR 2 ) 2 + H 2 (S. 1083); B 10 H 12 (SR 2 ) 2 + 3EtOH (am Sdp.) ^ B 9 H 13 (SR 2 ) + B(OEt) 3 + SR 2 + H 2 .
Deca-, Undeca- und noch höhere Borane Nachfolgend werden die Borane B 10 H 14 , B 1 ^I 16 sowie B n H 1 5 und im Zusammenhang hiermit die Hydridoborate B H R , B ^ H J ^ , B 10 H 14 , B 1 0 H J 4 , B ^ 5 , B H , B ^ H ^ , B ^ H ^ sowie die Donoraddukte B10H13 • D, B10H12 • 2D 2 ~, B 10 H 14 • D, B U H 13 • D~ besprochen. Die Borane B ^ H ^ ^ sind alle vom con/uncto-Typ (Charakterisierung: Tab. 101 auf S. 1074; Struktur: Fig.228 auf S. 1057; bzgl. ihrer Darstellung vgl. Anm. l s , bzgl closo-B10HL0~, closo-B^HLJ und closo-B12HJ2 sowie anderer closo-Borate vgl. S. 1084). 1 0
3
1
1
U
1 4
Mrfo-Decaboran(14) B 1 ( JI 1 4 . (Charakterisierung: Tab.101; Formel: Gl. (10); Struktur: Fig.227 auf S. 1056). Darstellung. B 10 H 14 lässt sich durch Pyrolyse von B 2 H 6 bei 160-200 °C in Gegenwart katalytischer Mengen einer Base wie Dimethylether in guter Ausbeute als - bis über 150 °C thermostabiles, luft- und hydrolyseunempfindliches, mit grüner Flamme brennendes, aufgrund seines hohen Dipolmoments (3.4 Debye) in Wasser und Alkohol lösliches - Boran gewinnen.
I 8 C-B12H16: Oxidation von nido-B6H10 mit FeCl 2 in Me 2 O bei — 78°C (reversibel deprotonierbar zu B H j 5 ) ; c-B 13 H 19 : Reaktion von arachno-B 7 H„Br" mit nido-B 6 H J0 in Me 2 O bei —78 bis 25°C (B 6 H 9 Br + H~ ->• B 6 H 8 B r ~ + H 2 ; B 6 H 8 Br~ + BH3 ->• B 7 H n Br~; ByHjjBR" + B 6 H 10 B j 3 H j 9 + H2 + Br~; reversibel deprotonierbar zu B^H^); c-B14H18: Hydrolyse von nido-B16H20 in Hexan bei 60 °C (B 16 H 20 + 6 H 2 0 Bj^Hj^ + 2H 3 BO 3 + 4H 2 ); C -B 14 H 20 : Protolyse von c-B 14 H 21 bei — 78°C (B6H9~ + B 8 H j2 B J 4 H 2 " i ; BJ4H2"j + H + ->• B^H^ + Hj); c-B^H^: Kurze Einwirkung von nidoB 8 H j j auf nido-B6HJ0 im Molverhältnis 1 zu 3 bei — 23°C (reversibel deprotonierbar zu B„H^); C-B^H^: Einwirkung von nido-R6Hj0 auf arachno-i-B 9 H J5 ; c-B 16 H 20 : Thermolyse von nido-B8HJ2 bei 25 °C; C-B^H^ in der anti-Form Thermolyse von arachno-B 9 H J3 (SMe 2 ), Protonierung von nido-BnHj4 in Dioxan bzw. Dehydrierung von nido-B9Hj2; in der syn-Form: chromatographische Abtrennung aus einem im Zuge des hydrolytischen Abbaus von [H 3 0 + ] 2 B 20 H1 8 ~ (Fig.228, S.1057) erhaltenen Gemischs der B J8 H 22 -Isomeren (reversibel deprotonierbar zu BJ8H21 und Bj8H20~); C-B2(^I16: Pyrolyse von nido-B J0 H J4 bei 350°C in Anwesenheit von BMe 2 (NHMe) als Katalysator C-B20H26, c-B3^H38, C-B4^I5^: Thermolyse von nido-B J0 H J4 bei 185°C (bzw. bei 100°C in Anwesenheit von Me 2 S als Katalysator), darüber hinaus durch Photolyse oder Radiolyse von nido-Bj0Hj4. 1 2
1082
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Säure-Base-Verhalten. B10H14 stellt eine mittelstarke Säure dar (pK t = 2.7), die sich in wässrig-alkoholischen Medien wie eine einbasige Säure titrieren lässt. Die Protonenabstraktion führt gemäß Gl. (10) unter Erhalt des Boratomgerüstes zu gelbem Tridecahydrido-rnWö-decaborat B10H1~3, das seinerseits von sehr starken Basen (LiH, NaH) in organischen Medien langsam weiter zu farblosem Dodecahydrido-rnWödecaborat B10H12~ deprotoniert wird:
Das B 1 0 H - I o n ist in wässriger Natronlauge nicht stabil, sondern verwandelt sich langsam unter Verkleinerung des Boratomgerüsts (Herausspaltung des B-Atoms 6 von B10H14) in das farblose (seinerseits protonier- und deprotonierbare) NonaboratB9 H14 (vgl. Nonaborane und bezüglich der Struktur Fig. 232): B1OH14
+
OH"+2H 2 C>
B9H14 + B(OH) 3 + H 2 .
Der ,,basische Abbau" erfolgt über das OH~-Addukt B10 H 13 (OH) 2_ (s. unten), das bei 0H~-Überschuss rasch aus B 10Hi3 entsteht und langsam - beim Ansäuern rasch - unter H2- und B(0H) 3 -Eliminierung in das erwähnte Ion B9H14 zerfällt. Der umgekehrte Vorgang, die Erweiterung des Boratomgerüsts von B10H14 um ein B-Atom, lässt sich durch Einwirkung von BH4" auf B 10H14 bei 90 0 C in Monoglyme erzwingen. Sie führt - möglicherweise auf dem Wege B 10H14 + B ^ B 1 0 H" + {BH 3 } + H2 {B^H^} + H 2 B ^ H " + 2H 2 - zum nidoUndecaboratB ^H^ (vgl. Fig. 232 und unten) und darüber hinaus zum closo-DodecaboratB 1 2 H ( S . 1086): B10H14 + B H
B11H14+2H2;
BnH14 + B H
B12Hi2 + 3 H 2 .
Im Zuge letzterer Reaktionsfolgen wirkt B 10H14 hinsichtlich B H gewissermaßen als Lewis-Säure, wobei der offene B10H14-Käfig durch Einlagerung von B-Atomen letztendlich in einen geschlossenen Käfig übergeht Offensichtlich reagiert B 10H14 als Lewis-Säure gemäß Gl. (11) auch mit Lewis-basischen Donoren D unter Bildung von AdduktenB 10H14 • D, die allerdings unter Aufnahme eines weiteren Donormoleküls und H2-Eliminierung in AddukteB 10H12 • 2D übergehen. In entsprechender Weise lassen sich durch Reaktion vonB 10H"3 (s. oben) mit D AddukteB 10H13 • D" gewinnen, die sich von B10H12 • 2 D durch Austausch eines Donors D gegen H " ableiten (das oben erwähnte Ion B 10 H 13 OH 2_ ist ein Beispiel für diesen AdduktTyp). Stärkere Donoren D' verdrängen schwächere Donoren D aus B10H12 • 2 D auf dem Wege über B 10 H 12 DD' unter Bildung von B10H12D2 (abnehmende Donorstärke in Richtung Pyridin > R 3 N > R 2 S). Die gemischten Addukte B 1 ^ 1 2 D D stellt man hierbei mit Vorteil durch Einwirkung von D' auf B10H13 • D " dar.
O = B-Atom • = H-Atom D =Donor arachno-[B9H14]
(C s )
arachno-[B10H14]
Fig. 232 Strukturen von arachno-B9H14, arachno-B10H214 und B 10H12 • 2 D (in Klammern Molekülsymmetrie).
(C 2v )
nido-[BnH14\~ (C s )
(10)
und nido-B n H 14 sowie der A d d u k t e 10H13 • D
1. Das Bor
1083
Von besonderem Interesse im Zusammenhang mit den erwähnten Addukten B10H12 • 2 D sind die Umsetzungen der Acetonitril- oder Dimethylsulfan-Addukte (D = CH 3 CN, Me 2 S) mit Triethylamin NEt 3 bzw. mit Acetylen H C = C H , die unter Schließen des offenen B10H12 • 2D-Käfigs in ersterem Falle zu Salzen des closo-Decaborats B 1 0 H^ (S. 1086), in letzterem Falle zu closo-Dicarbadodecaboran B10C2H12 führen (B10H10~ entsteht auch durch direkte Einwirkung von NEt 3 auf B 10H14): B 10 H 12 (CH 3 CN) 2 + 2NEt 3 ^ [NHEt 3 + ] 2 B 1 0 H1"+2CH 3 CN; B 10 H 12 (SMe 2 ) 2 +C2H2 B10C2H12 + 2Me 2 S + H 2 . Redox-Verhalten. Mdo-B 10 H 14 lässt sich durch starke Reduktionsmittel wie Na oder K unter Öffnung des Boratomgerüsts auf dem Wege über das purpurrote RadikalanionB 10H17 in farbloses Tetradecahydridoarachno-decaborat B1 0 H^ überführen (Struktur: Fig. 232): R 1 0 H 1 4 -±5L> R 1 0 H 1 -4
*
purpurrot
R 1 0 H124 _ • farblos
Das auch durch Anlagerung von H " (aus BH4" in wässerigem Milieu) an B ^H^ oder B 10H14 erhältliche Ion B10H?4" (B 1 0 H" + H " B 1 p H 1 " ; B 10 H 14 + 2 H " ^ B 1 0 H" + H " B10H?4" + H 2 ) lässt sich mit HCl in Alkohol zum Pentadecahydrido-arachno-decaborat B10H^ protonieren (Struktur: B10H14 • D, Gl. (11), mit D = H "); es zerfällt leicht unter H2-Abspaltung in B10H13 und wandelt sich bei weiterer Protonierung - über das nicht fassbare ,,arachno-Decaboran (16) " B10H16 (Struktur unbekannt) - in nido-Decaboran(14) um
2- + H + * B H - + H 10 15
B10H14
i-K,
B10H13 (bezüglich con/uncto-B 10H16 und -B^H^ s. unten). Das Borat B 1 0 H 1 4 " stellt formal das Bis(hydrid)-Addukt des in Substanz unbekannten closo-Decaborans(12) B10H12 dar; es geht aus dem Addukt B10H12 • 2 D (vgl. Gl. (11)) durch Ersatz neutraler Donoren gegen H " hervor. Substitutionsreaktionen. Die elektrophile Halogenierung von B10H14 mit Cl2/AlCl3 bzw. Br 2 oder I 2 führt unter Substitution von Wasserstoff zu Halogendecaboranen(14) B 10 H 14 _ n X n (n = 1-4), wobei X die Position 1 - 4 einnimmt (vgl. Fig. 227 auf S. 1056). Entsprechendes gilt für die elektrophile Alkylierung mit RCl/AlCl3. Bei der nucleophilen Alkylierung mit Metallorganylen werden demgegenüber bevorzugt die Wasserstoffatome der Positionen 5 - 1 0 durch Organylgruppen unter Bildung von Organyldecaboranen(14) B 10H14_nRn (« = 1,2, aber auch 3 - 6 ) substituiert. So führt die Einwirkung von LiEt auf B10H14 im Molverhältnis 1 :1 ausschließlich zu 6-B 10 H 13 Et, während viele andere Lithiumorganyle LiR zu Gemischen von 5- und 6-B 10 H 13 R führen (RMgBr setzt sich mit B10H14 hauptsächlich unter Deprotonierung zu B10 H 13 MgBr und nur untergeordnet unter Substitution zu 6-B 10 H 13 R um). An das Borat B 10 H^ (vgl. Gl. (10)) lagert sich R " ähnlich wie andere Donoren (s. oben) unter Bildung von Addukten 6-B 10 H 13 R 2_ an, die sich in 6-B 10 H 13 R umwandeln lassen (6-B 10 H 13 R 2_ + 2 H + ^ 6-B 1 0 H 1 4 R" + H + 6-B 10 H 13 R + H2). Conjuncto-Decaboran(16) und -(18) B 10 H 16/18 . Von den drei möglichen, vergleichsweise thermostabilen, farblosen con/uncto-B10H16-Isomeren (Charakterisierung: Tab. 101; Strukturen: Fig. 228 auf S. 1057) bildet sich luftstabiles 1,1'-B 5 H g —B 5 H 8 im Zuge der elektrischen Entladung eines B5H9/H2-Gemischs, luftempfindliches 1,2'-B 5 H g —B 5 H 8 durch PtBr2-katalysierte Dehydrierung aus B 5 H 9 und luftempfindliches 2,2'B 5 H 8 —B 5 H 8 durch Metathese aus KB 5 H 8 und 2-BrB 5 H 8 in Pentan (bzgl. arachno-B10H16 siehe oben). 1,1'-(B5H8)2 liefert mit Iodwasserstoff HI bei Raumtemperatur B 5 H 9 und B 5 H 8 I (Spaltung der B—B-Bindung), mit Iod I 2 bei 150 0 C B10H14 in quantitativer Ausbeute (Umorganisation des B 10-Gerüsts). 1,2'-
1084
XVI. Die Borgruppe („Triele")
und 2,2'-(B 5 H 8 ) 2 lassen sich mit starken Basen (KH, LiMe) bei niedrigen Temperaturen in Ether zu conjuncto-Boraten l,2'- und 2,2'-B 5 H s —B 5 Hf deprotonieren (bzgl. isomerem arachno-B^H^ siehe oben), wobei das 2,2 -B in Ether nach Zugabe von und Protonierung des gebildeten Produkts (2,2'-B 5 H 8 —B 5 H 7 • BH 3 ?) inn-B9H15 und B 10H14 übergeht. Umgekehrt addiert 1,2- (B5H8)2 in T H F Hydrid H " (aus BHEt3~) unter intermediärer Bildung des Borats B^H^, das im Zuge der Protonierung in n-B9H15 und BH 3 zerfällt. Darüber hinaus führt die Behandlung von 1,2- (B 5 H 8 ) 2 mit BH 3 (NEt 3 ) in Decan bei 100°C zu [NHET+]2B12H12- in hoher Ausbeute. Das conjuncto-Boran B l 0 H l 8 = B 5 H 8 —B 5 H 10 entsteht im „Heiß-Kalt-Reaktor" ( + 1 4 0 ° C / - 2 0 ° C ; S. 1073) als Produkt der Cothermolyse von B 5 H 9 und B 2 H 6 in kleiner Ausbeute Mrfo-Undecaboran(l5) BjjH l5 . Die Gewinnung von farblosem, stark sauer wirkendem, in Toluol löslichem, oberhalb 0 °C unter H2-Eliminierung zerfallendem nirfo-Undecaboran(l5) BjjH l5 (Charakterisierung: Tab. 101, Struktur: Fig. 227 auf S. 1056) läuft auf eine Protonierung von Tetradeca-nirfo-Undecaborat(l5) BjjHü mit HCl (fl.) bei - 78°C hinaus. Letzteres Anion erhält man u.a. durch Reaktion von B 10 H 14 mit BH4~, von B ^H^ mit BH 3 (OEt 2 ), von B 5 H 9 mit und - vorteilhafterweise - von BH4~ mit BF 3 (OEt) 2 : B10H14 + NaBH 4 ^ N a B „ 1 ^ + 2 ^ ; 11B 5 H 9 + 5KH
N
->
a
B
-
>
NaB„H 14 + H2 + Et2O;
17NaBH 4 + 20BF 3 (OEy -> 2NaB 11 H 14 + 15NaBF 4 + 2 0 H 2 + 20Et 2 O.
In wässerig-alkalischer Lösung wird B „H^ zu Trideca-nirfo-undecaborat BjjHf^ und dieses mit LkBu in T H F zu Dodecahydrido-nirfo-undecaborat BuHlf deprotoniert (ein weiterer Protonenentzug unter Bildung von B nHJf, einem in Undecaborat-Komplexen vorliegenden Liganden (S. 1095), ist nicht möglich). Das Boratomgerüst der nido-Verbindungen 11 15 leitet sich vom geschlossenen 12-Ikosaedergerüst durch Abspaltung einer B-Kappe ab; es verbleibt ein vasenförmiges B„-Boratomgerüst mit einer pentagonalen - nachfolgend wiedergegebenen - Clusteröffnung, aus 5BH-Gruppen und zusätzlich (ihre Stellung rasch wechselnde^ endo- sowie brückenständigen H-Atomen: H | H^B^H H B W
H
H^
^B
B
H
B /
.B^
H
1 1
H
H
1 2
(vgl. obere B-Atome 7,8,9,10,11 in B n H 1 5 )
Die neutralen Addukte BjjH l3 • D mit exoständigem Donor bilden sich durch Protolyse von 11 14 in Anwesenheit von Donoren, welche offensichtlich das intermediär aus B„H^ erzeugte Boran B„H^ „abfangen" (B U H 14 + H + -> B^H^ -> „B^H^" + H 2 ). Bei 170°C erfolgt eine Umlagerung des zunächst gebildeten 7-B u H 1 3 • D in stabiles 1- bzw. 2-B u H 1 3 • D, mit Basen wie NaH, LkBu in Ether oder Kohlenwasserstoffen eine Deprotonierungzu Addukten BjjH l2 • D". B U H 14 wird durchOxidationmit Sauerstoff in die nido-Verbindung OB^H^, mit Wasserstoffperoxid in das BoratB 2 2 H2 2 ~ (S. 1057) übergeführt. B ^ H ^ sowie B ^ H ^ verwandeln sich bei 80°C in B ^ f (S.1086; B ^ H ^ -> B n H J f + H " ; B ^ H ^ -> 11
11
).
Hydrido-c/oso-polyborate B„H;;~ Überblick Von den erwähnten sowie einigen unbekannten höheren Boranen B„Hn+m (m = 2, 4, 6 , . . . ) leiten sich eine Reihe, durch einfachen oder mehrfachen Protonenentzug hervorgehende höhere Hydridoborate (häufig kurz „Hydroborate", früher auch „Boranate" genannt) ab: Borane
+ Ht < '
Hydridoborate(l —)
+Ht < '
Hydridoborate(2 —)
B„H„+2 (Tab. 101)
[B„H„+]- (n = 6 - 1 1 )
[B„H„] 2 - (« = 6 - 1 2 )
B„H„+4
[B„H„+ 3 ]- (« = 1,4-6,9-12,18)
[B„H„+ 2 ] 2 - (n = 10,11,13,18)
"
B„H„+6
"
[B„H„+ 5 ]- (« = 2 - 1 0 )
[B„H„+ 4 ] 2 -(« = ,,2'',5,9,10,18)
B„H„+S
"
[B„H„+ 7 ]-(« = 5,14)
[B„H„+ 6 ] 2 -(-)
Darüber hinaus existieren wasserstoffärmere Hydridoborate: B 2 0 H 1 8 , B 2 0 H 1 9 ~ , B 2 0 H J 8 ~ , B 2 2 H 2 ^ , B 2 4 H 2 3 ~ , B 2 4 H 2 ^ , B 4 8 H 4 5 - (neben B U H 14 und B ^ H ^ existiert auch B „H^f). Bezüglich der Darstellung und Eigen-
1. Das Bor
1085
schaften der nido-, arachno und hypho-Hydrido-borate sei auf die vorausgehenden Unterkapitel verwiesen Unter den Hydridoboraten sind die farblosen bis gelben Hydrido-c/oso-borate (n = 6 - 1 2 ) besonders interessant, da sie geschlossene polyedrische Boratomgerüste mit quasi-aromatischen Bindungscharakter enthalten (,,dreidimensionale bzw. 12H>~12, denen laut ab-initio Kalkulationen zum Teil eine hohe relative thermodynamische Stabilität zukommen soll (B17Hj7~ > B 16 HJ6 > B 12 HJ2 > B 14 HJ4 > B15H?5~ > B13H?3~), vgl. nachfolgenden Abschnitt Strukturen von B^Hj; - ' 1- ' 0 sowie B J ! " ^ undBBH„+2. Der Bau der zweifach-negativ geladenen closo-Spezies B„H (n = 6 - 1 2 ) gehtaus Fig.229 auf S. 1058 hervor, wonach die B-Atomedie Eckenvon Deltapolyedern einnehmen, nämlich eines Oktaeders (B 6 HJ~), einer pentagonalen Bipyramide (B,H 7 ~), eines Dodekaeders (BsHg~), eines dreifach-überkappten trigonalen Prismas (B^H, - ), eines zweifach-überkappten quadratischen Antiprismas (B 10 Hj0), eines Oktadekaeders ( B j j H j f ) bzw. eines Ikosaeders (B12Hj-2"). Die zugehörigen monoprotonierten, einfach-negativ geladenen Spezies sind analog strukturiert, wobei das zusätzliche Proton einer B-Dreiecksfläche der Deltapolyeder überkappt (vgl. unten, Formel (o); im Falle von B u Hr 2 überkappt H + eine BB-Kante). Das Proton wandert rasch - auf dem Wege über BB-Kanten um die B n -Gerüste herum (Umlagerungsbarriere z.B. 10kJ/mol im Falle von B6H7~). Die Strukturen der Polyeder bleiben auch bei der Oxidation der Dianionen zu Radikalmonoanionen er halten. Ungeladene closo-Borane B„H n+2 und hypercloso-Borane B„H„ («jeweils 6 - 1 2 ) sind nur in Form von Derivaten bekannt Wie aus Fig.233 hervorgeht, liegen den supraikosaedrischen Hydridoboraten B 1 3 Hj3, B 1 4 HjJ und B 15 Hj^, die ebenfalls nur in Form von Derivaten aufgefunden wurden (vgl. z.B.S.1090, 1094, 1096), ähnlich wie (n = 6 - 1 2 ) deltapolyedrische Boratomgerüste zugrunde.Hierbei besetzen die B-Atome im Falle von B 10 HJ0, B 1 2 Hjf und B 14HJ4 die Ecken eines zweifach-überkappten quadratischen, pentagonalen und hexagonalen Antiprismas. Der Übergang zu den entsprechenden, um eine BH-Gruppe reicheren Hydridoboraten B^HJJ, B13H!3~ und B 15H15 ist dann jeweils mit dem Ersatz eines überkappenden B-Atoms durch eine -Gruppe verbunden
BH B
12
H
12
( I
h)
B
(Ikosaeder)
13
H
B14H14 (D6d) (Ikosatetraeder)
1 3
(Dokosaeder)
B
15
H
15
(Ikosahexaeder)
Fig.233 Strukturen (berechnet) der supraikosaedrischen Hydridoborate BnHn mit n = 13, 14, 15 (zum Vergleich ist die B 12 HJ2-Struktur wiedergegeben). Vgl. hierzu auch S. 1787.
Darstellung von B„Hj; . Das Natriumsalz von Hexahydrido-c/oso-hexaborat B 6 HJ entsteht in Diglyme wie folgt aus NaBH 4 und B 2 H 6 neben Na 2 B 10 H 10 und Na 2 B 12 H 12 im Molverhältnis 2 zu 1 zu 15: NaBH 4 + B 2 H 6
90 C
> NaB 3 H 8 + H2;
2NaB 3 H 8
162 C
> Na 2 B 6 H 6 + 5H 2 .
NB lässt sich nach Abtrennung von weniger löslichem NB 10 10 und NB 12 12 aus wässeriger Lösung als thermostabiles farbloses Salz Cs 2 B 6 H6 ausfällen (5 % Ausbeute). Fluktuierendes Heptahydrido-c/oso-heptaborat B 7 H," sowie fluktuierendes Octahydrido-c/oso-oktaborat B s Hg" (Na-Salze) bilden sich durch Luftoxidation von Na 2 B 9 H 9 (s. unten) in Monoglyme bei 70°C und lassen sich aus wässriger Lösung als farblose Salze Cs 2 B 7 H 7 (stabil bis 400 °C) sowie Cs 2 B 8 H 8 (stabil bis 600 °C) gewinnen (durch Metathese entstehen hieraus Salze mit Gegenkationen wie NBu^, PMePh3+, Zn(NH 3 ) 4 + , Cd(NH 3 ) 4 + ; die Ausbeute an B 7 H 7 ~ ist wegen seiner Hydrolyseempfindlichkeit klein). Nicht fluktuierendes Nonahydridocloso-nonaborat B 9 H 9 " erhält man beim halbstündigen trockenen Erhitzen von RbB 3 H 8 bzw.
1086
XVI. Die Borgruppe („Triele")
CsB 3 H 8 auf 230 °C in 9- bzw. 7%iger Ausbeute und beim zweistündigen Erhitzen von Na 2 B 12 H 12 auf 240 °C in 30%iger Ausbeute nach Fällen des gebildeten Hydridoborats als farbloses Rb 2 B 9 H 9 (stabil bis 600°C) aus wässrig-ethanolischer Lösung (Umwandlung in Salze mit anderen Gegenkationen wie K + , Cs + , SMe3+, Zn(NH 3 ) 4 + möglich). Decahydrido-c/oso-decaborat B 1 0 H^ und Dodecahydrido-c/oso-dodecaborat B 12 H1J werden am besten durch folgende Reaktionen in 80-100%>iger Ausbeute gewonnen:
B1oH14 + 2NEt 3
[ N H E t + l A o H ^ + H (S. 1083), (NEU
5B 2 H 6 + 2NaBH 4 - — ^
Na 2 B 12 H 12 + 13H 2
(S. 1072).
Darüber hinaus wurden eine Reihe anderer Darstellungsmethoden aufgefunden (z. B. B10H10 -Bildung durch Thermolyse von NEt4+BH4~ oder BH 3 (NEt 3 )/B 2 H 6 bei 180-185°C). Von beiden Hydridoboraten sind eine Reihe farbloser Salze bekannt. Die wasserlöslichen Salze M 2 B 10 H 10 und -unlöslichen Salze M 2 B 12 H 12 mit M = K, Rb, Cs sind bis über 600 °C stabil; die Tl-Salze beider Anionen sind wasserunlöslich. Fluktuierendes Undecahydrido-c/oso-undecaborat B^H^" stellt man durch einstündiges trockenes Erhitzen von Cs 2 B u H 13 auf 250-270°C dar (Cs 2 B u H 13 -> C s ^ ^ H ^ + H 2 ). Nach Umkristallisieren aus Wasser erhält man CsjB^H^ (hieraus andere Salze) in ca. 70%iger Ausbeute. Andere Synthesen gehen von B ^ H ^ (-> B u H ? r + H " bei 80°C) oder B u H 13 (SMe 2 ) aus (B u H 1 3 (SMeJ + 2«Bu" B u H ? r +2«BuH + Me 2 S bei Raumtemperatur). CsjB^H^ ist bis 400°C stabil und disproportioniert bei 600°C in 1 h in Cs2B10H10 und C S B H . Hydrido-closo-borate B„H;|~ mit mehr als 12B-Atomen (n > 12) sind bisher unbekannt, obwohl derartige supra-ikosaedrischen Spezies nach Berechnungen zumindest bis n = 22 stabil sein sollen (z. B. Stabilität: B10H10~ < B 1 7 Hjf < B12H12~). Nicht zugänglich sind auch Hydridoborate B „ H m i t weniger als 6B-Atomen (n < 6; vgl. S.1132f). 2
1 2
1 2
Säure-Base-Verhalten von B„Hj;~. Die Hydrido-closo-Borate(2 —) B„H;;~ lassen sich in inerten Medien mit Ausnahmen von B 1 2 Hjf zu isolierbaren Hydrido-c/oso-Boraten(1 —) B„H"+ j monoprotonieren (fällbar mit großen Kationen wie PPh^). Die Basizität von B„H;|~ nimmt hierbei mit steigendem n ab (B12H12~ geht - wohl auf dem Wege über nicht isolierbares B^H^ - in B24H23~ über: 2 B 1 2 H 1 2 + H + -> B 12 Ho + B12H?2~ B 12 Hn + H 2 + B 1 2 Hjf -> B24H23~ + H 2 ; s. unten). Beim Versuch, B^H,^ zu closoBoranen B„Hn+2 zu protonieren, erhält man ausschließlich Zersetzungsprodukte der betreffenden neutralen Spezies. Umgekehrt wären die nicht zugänglichen Borate B 5 H B 4 H 5 ~ , B3H4~ bzw. B2H3~ als sehr starke Basen wohl leicht zu B 5 H 7 , B 4 H 6 , B 3 H 5 bzw. B 2 H 4 protonierbar. B U H 12 lagert überschüssige Säure HX bzw. anwesende Basen wie H 2 0 , EtOH, py unter Bildung von B 11H3X , B U H u O H , BUH^OET , B u H 12 py~ an; bzgl. der Struktur letzterer Verbindungen vgl. S. 1084). In Wasser sind die Hydrido-closoborate innerhalb eines weiten pH-Bereichs mit Ausnahme von B 7 H 7 ~ stabil (im Neutralen langsamer, im Sauren rascher Abbau unter Bildung von H 3 B 0 3 und H 2 ), wobei Salze M 2 B 6 H 6 aufgrund der vergleichsweise hohen Basizität von B 6 Hj;" (s. oben) in Wasser teilweise hydrolysieren: B
6
H + H 2 0 ^ B6H7- + O H " (p^ s = 7.0).
Die H 2 0-Beständigkeit von B n Hl ist nur kinetisch bedingt, da thermodynamisch gesehen eine glatte Hydrolyse zu Borsäure und Wasserstoff erfolgen sollte. Die den Ionen B10H10 und B 12 Hj^ zugrunde liegende Säure [H 3 0] 2 B 10 H1 0 ~ {farblose Festsubstanz; Smp. 202-206°C/Zers„ Sdp. 80°C; > 200 °C Zers. u. a. in B, 4 Hl 0H0 und Auch gegen Lewis-Säuren verhalten sich die Hydridocloso-borate bis auf B ^H^" vergleichsweise inert. B^HH reagiert mit BH 3 (NEt 3 ) - wohl auf dem Wege über B^H^" • BH 3 (Addition von B H an jene, auch von Protonen bevorzugte B—B-Bindung unter Ausbildung einer BBB-Dreizentrenbindung) - gemäß BH (NEt - H 2 + NEt 3 unter Erweiterung des Boratomgerüsts. Andererseits führt 11 11 12 12 H B
H B
HgPh
nvr
AVi
B—V/^BH HBr—\—B ¥
(o) [B 6 H 7 ]"
-B—W^BH HB^i—B N^/^Cu,Ag)Au) Ph3 P M — B
H
H
(p) [PhHgB 6 H 6
MPPh3
(r) [Cd(B6H6) 2 ] z-
(s) [(R3PM) 2 B 6 H 6 ]
1. Das Bor
1087
die Reaktion von (Ph 3 P) 3 AgCl mit B6H;;~ letztendlich unter Öffnung des Boratomgerüsts zum Addukt hypho-B6H10(PPh3)2 (Fig.231, S. 1079). Lewis-saures Verhalten entwickeln auch geeignete Komplexfragmente M L hinsichtlich B„H;|~ und reagieren unter Bildung von Hydrido-c/oso-Polyborat-Komplexen. Als Beispiele seien die aus MHal und gewinnbaren Komplexe PhHg -B (p), Cd B 6 H 6 ) t (r) und [(Ph3P)M]2(u-bis-f/3-B6H6 (s) erwähnt (M = Cu, Ag, Au; der Ag-Komplex zersetzt sich unter Ag-Abspaltung zu hypho-B6H10(PPh3)2, s. oben). In ihnen überkappen die sauren Metallatomzentren wie das Proton in (o) eine B 3 -Dreiecksfläche unter Erhalt des Boratomgerüsts. In anderer Weise bildet Cp2Ni (Cp = C 5 H J ) mit B 6 H ; ; ~ unter Erweiterung des Boratomgerüsts die Anionen CpNiB6H,T und Cp3Ni3B6H6~, deren NiB 6 - bzw. Ni3B6-Clustergerüst dem B7- bzw. B-Gerüst der closo-Boranate B 7 H 7 ~ bzw. B J H J " entspricht.
Redox-Verhalten von B„H;;~. Die elektrochemische Oxidation von BnHl~ führt zu kurz- bis langlebigen RadikalanionenB^l'n", die in Form ihrer Dimeren auch durch chemische Oxidation zugänglich sind. So reagiert B6Hj;~ in CH2C12 mit Dibenzoylperoxid unter Bildung von Dodecahydrido-con/uncto-dodecaborat B12H1F (isomer zu closo-B 12 H1f), das zu conjuncto-B n H1i und -B12H1O deprotonierbar ist (Struktur: ®12H1(T = H 5 B 6 —B 6 HJ"; die zusätzlichen Protonen in B ^H^" und B1 2 H^ sind über B 3 -Dreiecksflächen der -Clustereinheiten lokalisiert). Bei Lufteinwirkung verwandelt sich in M SO, MeCN, CH2C12 oder H 2 O teilweise in das langlebige Radikal Octahydrido-c/oso-octaborat B 8 H 8 "; auch führt Luft BJHJ " , gelöst in EtOH, T H F oder Monoglyme, in B8H8~/B8H8~ und darüber hinaus in B 7 H 7 ~ sowie B6Hj;~ über (vgl. Darstellung). Die Oxidation von B ^H^" mit „harten" Kationen wie Fe 3 + oder Ce 4+ führt auf dem Wege über B ^H^" zu dessen Dimerem Docosahydrido-con/uncto-docosaborat B ^ H ^ (Struktur: Fig.228 auf S. 1057), während Oxidationsmittel mit,,weichem" Zentrum wie Halogene oder Me 2 SO zum H "-Entzug führen (z.B. B u H ? r + MejSO ^ B ^ H ^ S M ^ ) " + O H " ) . Farblose (Na + ,Cs + ,NMe^")-Salze des Tricosahydrido-con/uncto-tetracosaborats BmH2^ ( = H 1 ^ 1 ^ - H ) B 1 ^ 1 1 ) entstehen in kleiner Ausbeute durch elektrochemische Oxidation von B 12H12 in Acetonitril, durch chemische Oxidation von 12 12 mit FeC in Acetonitril oder durch Thermolyse von 12 12 bei 100 °C in Anwesenheit von Oxalsäure (als Hauptprodukt der Thermolyse bildet sich B48H45, vgl. S. 1084). Die Untereinheit B 12 H U findet sich auch in Tetracosahydrido-con/uncto-docosaborat B22H|J~ = H 13 B 10 —B^H^", das durch Oxidation von BU H 14 (S. 1084) in saurer Lösung mit C 6 H 6 /H 2 0 2 entsteht. Das Decaboranat B10H10~ lässt sich durch Oxidation mit Fe 3 + oder Ce 4+ in wässeriger Lösung zum gelben, in vielen Salzen vorliegenden trans-Octadecahydrido-con/uncto-icosaborat B-J^RL^ oxidieren (2B10H10~ + 4Fe 3 + -> B20H18~ + 4Fe 2 + + 2 H ; Struktur: Fig. 228 auf S. 1057). Durch Oxidation von 1,2'-B20H18~ (s. u.) erhält man «s-B-J^!^ (Struktur: Fig.228 auf S.1057; Umwandlung in trans-B20H18~ bei Raumtemperatur), durch Bestrahlung sowohl von trans- wie cis-B20H18~ farblosesphoto-B-J^I^ (Struktur: Fig. 228 auf S. 1057; Rückumwandlung in trans-B20H18~ bei 100°C). Starke Reduktionsmittel wie Natrium in NH 3 (fl.) führen trans-B 20H18~ in farbloses 2,2'-Octadecahydrido-con/uncto-icosaborat B - ^ ^ über (B20H18~ + 2e~ B20HJ8~; Struktur Fig.228 auf S.1057). 2,2'-B20H?8~ lässt sich reversibel zum farblosen Anion 2,2/-B2^^!^ = H 9 B 1 ^ - H ) B 1 ^ H protonieren, das sich zunächst zu 1,2-, dann zu 2,2'-B20H19~ isomerisiert. Die Deprotonierung von B20H19~ führt somit nach kurzer/mittlerer/langer Reaktionszeit zu 2,2'-/1,2'-/1,1'-B20H18~ (letzteres Borat stellt das stabilste der 3 Isomeren dar). Derivate von B„Hj;~ (n = 2 — 5). Bezüglich organischer Derivate von B„H2~ (n = 2 - 5 ) sowie deren Protonierungs- bzw. Dehydrierungsprodukten B„H n+2 bzw. B„H„ vgl. S.1132f, bezüglich der Halogenide B 4 Hal 4 S. 1102. Derivate von B 6 H J ~ . Die Wasserstoffatome des in Form von Salzen isolierbaren, pseudoaromatischen Hydridocloso-Hexaborats B 6 H j " (t) lassen sich ähnlich wie die des aromatischen Benzols C 6 H 6 (vgl. Lehrbücher der Organischen Chemie) durch Elektrophile El + (eingesetzt z. B. als Hal 2 , (CN) 2 , (SCN), (SeCN) 2 , RHal) auf dem Wege über Zwischenprodukte (u), die dem H + -Addukt (o) von B 6 H j " gleichen, substituieren. Die Intermediate verwandeln sich hierbei unter El/H-Umlagerung in (v) (elektronenziehende Substituenten) bzw. in (w) (elektronenschiebende Substituenten):
El B+E1+
oder
HB
(T) [B6H 6 R
(u) [B6H6E1]-
(v) z.B. ^ ^ H a l ] "
H
H \ X B—VZ—BU HB——V—B'
H (w) z.B. ^ ^ R ]
• 1088
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Der weitere Ersatz der H-Atome gegen El (B 6 Hj;" + nElHal -> B6H7_„E1~ + nHal~; n = 1 - 6 ) erfolgt entsprechend, ausgehend von deprotonierten Hexaboraten (B 6 H 7 _ n El~ -> B ^ H ^ E R + H + ). Da die Acidität mit wachsender Elektronegativität und Zahl der Substituenten zunimmt (z. B. p.fiTs für B6H6E1+ = 9.60 (El = «-Bu), 8.85 (Me), 7.00 (H), 5.35 (Cl)), lässt sich B 6 H^" zwar vollständig halogenieren, aber nur teilweise (dreifach) alkylieren. Was die Halogenverbindungen betrifft, so liefert die Teilchlorierung und -bromierung eis- und trans- sowie mer- und/ae-Isomere, die Teiliodierung nur das transund mer-Isomere. Die Perhalogenhexaboranate B6Hal^~ können elektrochemisch zu relativ stabilen Radikalanionen B 6 H a R (gelbgrün/orange/tiefblau für Hal = Cl/Br/I) oxidiert werden, aber nicht darüber hinaus zu hypereloso-Hexaboran B 6 Hal 6 . Als weiteres Beispiel für B 6 Hj;"-Derivaten seien genannt: die Chalkogenverbindungen B 6 H 5 S 3 " und B 6 H 5 Se 3 ~ (gewinnbar aus B 6 H 5 SCN 2 ~ und B 6 H 5 SeCN 2 ~) sowie die Stiekstoffverbindungen B 6 H 5 (NO 2 ) 2 ~/(B 6 H 5 ) 2 N=0 3 " (gelb/blau; gewinnbar durch Nitrierung von B 6 H^" mit N O ) bzw. H 5 B 6 — N = N — B 6 H 2 " (gewinnbar durch Reduktion von B 6 H 5 NO^ mit Al. Derivate von B 7 H 7 B S H ; J ~ , B ^ 9 " , B n H J F . Ähnlich wie von B 6 Hj~ lassen sich auch von B„H2~ (n = 7, 8, 9, 11) Perhalogenderivate B„Hal~ gewinnen, nämlich B 7 Br 2 ~ durch Bromierung von B 6 H 5 —B 6 H 5 mit N-Brom-succinimid, B8C18~ durch Chlorierung von B 8 H 8 ~ mit Q 2 , B 9 Hal 9 ~ und B ;l Hal 9 ~ (Hal = Cl, Br, I) durch Halogenierung mit N-Halogen-succinimid. Sie lassen sich zu Radikalanionen B n Hal'~ (B9Hal9~ in Form von Salzen isolierbar) u n d - m i t Ausnahme von B ;lHal1;~ - weiter zu hypereloso-Boranen B„Hal„ oxidieren (B ;l Hal; ; ~ dimerisiert nicht wie B H 1 ~ , sondern zerfällt irreversibel). Auch Teilhalogenierungen werden beobachtet, z. B. Bildung von 1-B 9 H 8 Hal (Hal = Cl, Br, I) durch Halogenierung von B 9 H 9 ~ mit N-Halogen-succinimid, von B ; l H 2 Br 9 ~ bzw. B ; l H 7 Br 4 ~ durch Bromierung von B H L ~ mit BrO~ oder Br 2 , von B ; l H C 1 1 0 durch Chlorierung von B H L ~ mit Cl2. ; L
;
; L
; L
;
;
Derivate von B u H J F . Im Zuge elektrophiler Substitutionen lassen sich die Hydrido-eloso-Borate B H I bzw. B 1 2 H J F durch Halogenein Halogenderivate B ^ H ^ ^ H a l 2 - bzw. B ^ H ^ ^ H a l 2 - (Hal = Cl, Br, I; n = 1 bis 10 bzw. 12), durch P h N = N + in Azoderivate, durch R C O + in Aeylderivate überführen usw. (B10HL0 wird leichter als B 12 HJ2 angegriffen). Dabei erlaubt die Strukturformel von B 10HL0 (Fig. 229 auf S. l058), nach der 2 apicale und 8 äquatoriale Stellungen vorhanden sind, die Existenz von 2 isomeren Mono-, 6 isomeren Di-, 13 isomeren Trisubstitutionsprodukten usw. (gewisse Paare von Isomeren sind allerdings durch Umordnung der Boratome des B 10-Käfigs leicht ineinander umwandelbar; auch bildet sich nur 1-B 10 H 9 Hal). Beim hochsymmetrischen B H J F (Fig.229 auf S. 1058; nur gleichwertige Positio(in den Stelnen) sind es weniger Stellungsisomere, z. B. 1 Mono-und 3 isomere Disubstitutionsprodukte lungen 1,2 bzw. 1,7 bzw. 1,12). Einwirkung von Fluorwasserstoff auf B H J F führt unter nueleophiler Substitution vonH~ durch F~ zu Fluorderivaten B 12 H 12 _„Fj~ (n bis 12). Die IonenB10HalJO" bzw. B J 2 HalJJ sind wie die unsubstituierten Ionen stabil gegen Säuren, Basen, Oxidationsmittel sowie Wärme (keine Bildung von kypereloso-B 10Hal10 und -B 12 Hal 12 ). Von besonderem Interesse ist die zu inneren Diazoniumsalzen 1,10-B j ^H s (^J 2 und 1,12-B J2 H J0 (N 2 ) 2 führende Reaktion von B 10HJ0 und B 12 HJ2 zunächst mit N a N O dann mit NaBH 4 . Ein Ersatz von N 2 ist durch CO möglich: 1,10-B10H8(N2)2/1,12B12H10(N2)2 + 2CO 1,10-B 10 H 8 (CO) 2 /1,12-B 12 H 10 (CO) 2 + 2N 2 ). Erwähnt sei des weiteren die in Stufen erfolgende Bildung von Perhydroxo-dodeeaborat B J 2 (OH)JJ durch Einwirkung von 30 %igen H 2 0 2 auf Cs 2 B 12 H 12 . Letztere Verbindung lässt sich mit PhCH 2 Cl in den Benzylester B J 2 (OCH 2 Ph)!r überführen (Ikosaeder-Symmetrie), der zum pupurfarbenen Radikalion B12 (OCH 2 Ph) 12^ sowie darüber hinaus zum hypereloso-BoranB 12 (OCH 2 Ph)12 (D3d-Symmetrie), dem bisher einzigen Beispiel einer Verbindung B 12 X 12 , oxidiert werden kann. Die Oxidation des durch MeI/AlMe3 erzeugbaren Permethyl-dodeeaborats B12MeJ2~ mit Ce 4+ liefert das blaue Radikalanion B 1 2 M e J ^ , das anders als B 1 2 H J ^ nicht dimerisiert (hypereloso12M 12 ist unbekannt). 1
0
0
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2
Derivate von B-J^LJ^/4_. Eingehend untersucht wurde auch die Chemie der Hydrido-eony'uneto-icosaborate und B H J ~ (vgl. Anm. l s ), da Derivate des Ions mögliche Kandidaten für die NeutroneneinfangKrebstherapie mit 10B (S. 1043) sein könnten. Erwähnt sei nur die Bildung von B 20 H 16 (CO) 2 ~ durch Reaktion von r m4~ (1 ;_Tcomer) mnt Oxalsäurechlorid* 2 0
8
2[ l , 1 -B
I O H
8
( C O ^
BI
0
H 8 (CO)]
2. Das Aluminium 1089
1.2.4
Heteroborane 1 ' 7 ' 19
Überblick Systematik. Die,,Heteroborane'' (,,Carba-'', ,,Sila-'', ,,Aza-'', ,,Phospha-'', ,,Thia-'', ,,MetallaBorane'' usw.) zählen wie die Borane zu den Elektronenmangelverbindungen und leiten sich von diesen durch Ersatz von BH- oder BH2-Gruppen gegen isoelektronische Elementgruppen E H ab (E = C, Si, N, P, S, M usw.). Wie bei den Boranen unterscheidet man auch bei den Heteroboranen zwischen ,,closo-Heteroboranen'' mit (2n + 2) Gerüstelektronen, die eine Käfigstruktur von B- und E-Atomen aufweisen,,,nido-Heteroboranen'' mit (2n + 4) Gerüstelektronen, die eine geöffnete Käfigstruktur besitzen und „arachno-'' bzw. „hypho-Heteroboranen" mit (2n + 6) bzw. (2n + 8) Gerüstelektronen, denen noch offenere Strukturen zukommen (vgl. hierzu S. 1060). In ihnen besetzen die B- und E-Atome alle Ecken in Dreieckspolyedern bzw. alle bis auf eine, zwei oder drei Ecken. Nomenklatur Zur Bezeichnung der neutralen Heteroborane stellt man dem Namen des zugrundeliegenden Borans (S. 1054) die Anzahl sowie Art der Heteroatome voraus, die Anzahl der H-Atome als Zahl in Klammern hintan (z. B. für C 2 B 4 H s , abgeleitet von nido-B 6 H 1 0 : „Dicarba-nido-hexaboran (8)''). Strukturverhältnisse Nichtmetallatome nehmen im Heteroboranpolyeder bevorzugt Ecken mit niedrigen, Metallatome solche mit hohen Koordinationszahlen ein. Dementsprechend sind Isomerisierungen in der Regel mit einer Erniedrigung (Erhöhung) der Koordinationszahl der Nichtmetallatome (Metallatome) verbunden. Auch suchen Nichtmetallatome im Heteroboran bevorzugt entfernte Ecken auf (im Falle isomerer closo-Dicarbaborane ist das mit benachbarten Kohlenstoffatomen am instabilsten). Wie im Falle der Borane tragen die Atome der Carbaborane Wasserstoffatome (oder Substituenten), und zwar jeweils ein exoständiges H-Atom sowie an der Käfigöffnung zusätzlich ein endo- und/oder brückenständiges H-Atom. Wasserstoffbrücken existieren hierbei nur zwischen BB-, nicht aber zwischen
19 Literatur. Carbaborane. R . N . Grimes: ,,Carboranes'', Acad. Press, New York 1970; ,,Carbon-rich Carboranes and their Metal Derivatives'', Adv. Inorg. Radiochem. 26 (1983) 55-117; R.E. Williams: ,,Coordination Number Pattern Recognition Theory of Carborane Structure'', Adv. Inorg. Radiochem l8 (1976) 67-142; T. Onak: ,,Polyhedral Organoboranes'', Comprehensive Organomet. Chem. 1 (1982)411-457; G. A.Olah,K. Wade,R.E. Williams (Hrsg.): ,, Electron Deficient Boron and Carbon Clusters'', Wiley, New York 1991; R.E.Williams: ,, Early Carboranes and their Structural Legacy'', Adv. Organoment. Chem 36 (1994) 1-55; P.C. Andrews, M.J. Hardie, C.L. Raston: ,,Supramolecular assemblies formedfrom o-, m-, andp-carborane'', Coord. Chem. Rev. l89 (1999) 169-198; C.A. Reed: ,,Carboranes: A New Classof Weakley Coordinating Anionsfor Strong Electrophiles, Oxidants, andSuperacids'', Acc. Chem. R e s 3l (1998) 133-139; B. Wrackmeyer:,, Carborane - Wenn Kohlenstoff und Bor sich treffen'', Chemie in unserer Zeit 34 (2000) 288-299; A. Berndt, M. Hoffmann, W. Siebert, B. Wrackmeyer: ,,Carboranes: From Small Organoboranes to Clusters'', in M. Driess, H. Nöth (Hrsg.): ,,Molecular Clusters of Main Group Elements'', WileyVCH, Weinheim 2004, S. 267-309; C.A. Reed: ,,Carborane acids: New,,strong yetgentle' acidsfor organic andinorganic chemistry'', Chem. Commun. (2005) 1669-1677. - Sonstige Nichtmetallborane. P. Paetzold: ,,Five and Six-Coordinate Nitrogen in Azaborane Clusters'', Eur. J. Inorg. Chem. (1998) 143-154; N.S. Hosmane, J.A. Magnire: ,,Syntheses, Structures, Bonding and Reactivity of Main Group Heterocarboranes'', Adv. Organomet. Chem 30 (1990) 99-150; P Paetzold: ,,Borane Clusters with Group 15 and Group 16 Heteroatoms: Survey of Compounds and Structures''; L. Wesemann, N.S. Hosmane: ,,Heteropolyboranes With the Heavier Group 14 Elements'', jeweils in M. Dries, H. Nöth (Hrsg.): ,,Molecular Clusters of Main Group Elements'', Wiley-VCH, Weinheim 2004, S. 322-356: S. 310-321; H. Wadepohl: „Hypoelektronische Dimetallaborane'', Angew. Chem l l 4 (2002) 4394-4397; Int. E d 4l (2002) 4220; J.D. Kennedy et al.: ,,An approach to megalo-boranes. Mixed and multiple Cluster fusion involving iridaborane and platinaborane cluster compounds. Crystal structure determinations by conventional and synchrotron methods'', Inorg. Chim. Acta 289 (1999) 95-124. - Metallaborane. R.N. Grimes: ,,Metallocarboranes and Metalloboranes'' und L. J. Todd: ,,Heterocarboranes'', Comprehensive Organomet. Chem 1 (1982) 459-542, 543-553; K.P. Callahan, M.K Hawthorne: ,,Ten Years of Metalloboranes'', Adv. Organomet. Chem l 4 (1976) 145-186; C.E. Housecroft, T.P Fehlner: ,,Metalloboranes: Their Relationship to Metal-Hydrocarbon Complexes and Clusters'', Adv. Organomet. Chem 2l (1982) 57-112; R . N . Grimes: ,,Structure and Stereochemistry in Metalloboron Cage Componds'', Acc. Chem. R e s l l (1978) 420-427; N . N . Greenwood, I.M. Ward: ,,Metalloboranes andMetal-Boron Bonding'', Chem. Soc. Rev. 3 (1974) 231-271; N . N . Greenwood: ,,The Synthesis, Structure and Chemical Reactions of Metalloboranes'', Pure Appl. Chem 49 (1977) 791-802; C.E. Housecroft: „Boron Atoms in Transition Metal Clusters'', Adv. Organomet. Chem 33 (1991) 1-50; J.D. Kennedy: „The Polyhedral Metalloborans: Metalloborane Clusters with Seven Vertices and Fewer (Part I), with Eight Vertices and More (Part II)'', Progr. Anorg. Chem 32 (1984) 519-679, 34 (1986) 211-434; R.N. Grimes (Hrsg.): „Metal Interactions with Boron Clusters'', Plenum Press, New York 1982; C.E. Housecroft: „Boranes and Metalloboranes'', Horword, Chichester 1990; N.N. Greenwood: „The concept of boranes as Ligands'', Coord. Chem. R e v 226 (2002) 61-70; N.S. Hosmane, J.A. Maguire: „Recent Advances in the Chemistry of Metallacarboranes'', Eur. J. Inorg. Chem. (2003) 3989-3999.
• 1090
XVI. Die Borgruppe („Triele")
BC- und CC-Gruppen. Nichtmetalle der Stickstoffgruppe sind in Heteroboranen zum Teil, solche der Sauerstoffgruppe immer wasserstofffrei. Metallatome sind in der Regel nicht mit Wasserstoff, sondern mit anderen exoständigen Liganden (Sulfanen, Phosphanen, Kohlenmonoxid usw.) koordiniert. Die positive Ladung, d.h. die Acidität der H-Atome verringert sich in den Reihen BHB > CH > BH und NH > CH, die negative Ladung der B-Atome mit der Anzahl von Nichtmetall-Bindungsnachbarn. Bindungsverhältnisse Die Bindungsabstände nehmen in Carbaboranen mit der Koordinationszahl der Bund C-Atome zu; auch vergrößern sie sich - da B-Atome größer als C-Atome sind - i n der Reihe CC/CB/ BB (ca. 1.45/ 1.65/1.70 Ä für KZ = 5; 1.65/1.72/1.77 Ä für KZ = 6; - / - / 1 . 8 6 Ä für KZ = 7). Für Carbaborane (Analoges gilt für closo-Borane) lassen sich vielfach neben,,nicht-klassischen" closo-, nido- und arachno-Strukturen (KZ der B- und C-Atome > 4) auch ,,klassische" Strukturen formulieren, in welchen den B-Atomen die Bindigkeit drei, den C-Atomen die Bindigkeit vier zukommt. Tatsächlich wurden in einigen wenigen Fällen Konkurrenzen zwischen klassicher und nicht-klassischer Struktur aufgefunden So existiert das Carbaboran C 4 B 6 R 1 0 (Organylderivat des unbekannten, von B 1 0 H 1 4 abgeleiteten nidoCarbaborans C 4 B 6 H 1 0 ) sowohl mit klassischer Adamantan- als auch nicht-klassischer nido-Struktur.
Besonders eingehend untersuchte Heteroborane, von denen - einschließlich ihrer Derivate, die nachfolgend nicht berücksichtigt wurden - bisher viele tausend Verbindungsbeispiele bekannt sind, stellen die Carbaborane dar. Sie enthalten bis zu 6 C-Atome (besonders häufig 2 C-Atome) und werden nachfolgend zunächst besprochen, dann andere Nichtmetallaborane und schließlich Metallaborane (vgl. auch heteroatomhaltige Bormodifikationen, S. 1046). Carbaborane („Carborane") 1 9 C/oso-Carbaborane. Die closo-Carbaborane leiten sich von den closo-Boranaten B „ d u r c h Austausch von B H - gegen CH-Gruppen ab und haben die Formeln CB„_iH^ (n = 6 - 1 2 ) bzw. C 2 B„_ 2 H„ (n = 5 - 1 2 ) . Unter den neutralen Dicarbaboranen ist das gasförmige, bei 25°C stabile Dicarba-c/oso-pentaboran(5) C 2 B 3 H S (Smp./Sdp. —126.4/—3.7°C), dessen Molekül eine trigonale Bipyramide mit den zwei C-Atomen an den beiden Spitzen bildet (1,5-C 2 B 3 H 5 ; das isomere 1,2-C 2 B 3 H 4 mit benachbarten C-Atomen existiert nicht), isoelektronisch mit dem bisher unbekannten Boranat B 5 H ^ . Dicarba-c/osohexaboran(6) C 2 B 4 H 6 , von oktaedrischer Struktur, kommt in zwei isomeren Formen vor: als symmetrisches 1,6-C 2 B 4 H 6 (Smp./Sdp. — 30/+ 22.7 °C) mit den beiden C-Atomen in trans-Stellung und als asymmetrisches 1,2-C 2 B 4 H 6 (instabil in Bezug auf 1,6-C 2 B 4 H 6 ) mit den beiden C-Atomen in cis-Stellung des Oktaeders. Von B6HG~ leitet sich darüber hinaus ein negativ geladenes ,,Monocarba-closo-hexaborat" CB 5 Hg ab, das sich zum neutralen ,,Monocarba-closo-hexaboran(7)" CB 5 H 7 protonieren lässt (das „überzählige" H-Atom ist über einer B 3 -Dreiecksfläche lokalisiert). Dicarba-c/oso-heptaboran(7) C 2 B S H 7 bildet wie B 7 H 7 ~ einepentagonale Bipyramide mit den beiden C-Atomen in nichtbenachbarten Stellungen der Äquatorialebene (2,4-C 2 B 5 H 7 ; die isomeren Formen, 1,2-, 1,7-, bzw. 2,3-C 2 B 5 H 7 mit höherkoordinierten bzw. benachbarten C-Atomen existieren nicht). Man kennt auch ein trigonal-bipyramidal gebautes ,,Monocarba-closo-heptaborat" CBgH^ mit äquatorial lokalisiertem C-Atom. Den Carbaboranen Dicarba-c/oso-octaboran(8) C 2 B 6 H 8 (isoliert als 1.7-C 2 B 6 H s ), -nonaboran(9) C 2 B 7 H 9 (isoliert als 1,6C 2 B 7 H 9 ) und -undecaboran(11) C j B g H j j (isoliert als 2 , 3 - ^ 6 ^ ^ ) kommen wie B s H 7 " , B g H l " und BuHFR die Strukturen eines Dodekaeders, dreifach-überkappt-trigonalen Prismas und Oktadekaeders zu (vgl. S. 1058). Entsprechendes gilt für ,,Monocarba-closo-octaborat" CB 7 Hg , „-nonaborat" CB s Ht/ und ,,-undecaborat" C B ^ H ^ D a s vonB 1 0 H73 abgeleiteteDicarba-c/oso-decaboranC 2 B 8 HJ 0 (zweifach-überkappt-antiprismatisch) existiert in zwei isomeren Formen als 1,6- und 1 , 1 0 - C 2 B s H l o (vgl. Fig.234; die Isomeren 1,2-, 2,3-, 2,4-, 2,6- und 0 mit benachbarten oder höherkoordinierten C-Atomen sind unbekannt). Das von B 1 2 H73 abgeleitete Dicarba-c/oso-dodecaboran(12) C 2 B 1 0 H 1 2 existiert gemäß seiner Ikosaeder-Struktur (vgl. Fig.234) in drei isomeren Formen als 1,2- oder ortho-C 2 B 1 0 H 1 2 (Smp. 320 °C), als 1,7- oder meta-C 2 B 1 0 H 1 2 (Smp. 265°C) und als 1,12- oder para-C 2 B 1 0 H 1 2 (Smp. 261 °C). Von B 1 0 H 7 3 und B 1 2 H 7 3 leiten sich darüber hinaus negativ geladene „Monocarba-closo-deca-" und ,,-dodecaborate" CB,Hi„ und C B ^ H ^ ab (Fig.234). Die Halogenderivate 7,8,9,10,11,12-CHB 1 1 H 5 Xg sowie C H B ^ X ^ (X = Cl, Br, I) dienen als extrem schwach koordinierende Anionen (vgl. S.252, 1128) zur Isolierung von Kationen hoher Labilität (z. B. Ag(C0) 2 ) oder höchster Lewis-Acidität (z. B. R 3 S i + ) . Die in Substanz isolierbaren (!) konjugierten Säuren H ( C H ^ ^ ^ 5 X 6 ) sowie H C H B ^ X n ) sind demgemäß superstark. Die leicht gemäß Et 3 SI + CHB^CL^ + KCl (fl.) ^ Et 3 SiCl + K(CHB 1 1 C1 11 ) zugängliche Säure H ( C H ^ i ^ i ) stellt die bisher stärkste isolierbare Supersäure dar (z. B. C 6 H 6 - > C 6 H%, C 6 0 -> C 6 0 H + ). Das mit dem Borat B 1 3 H7 3 (unbekannt) isoelektronische Dicarba-c/oso-tridecaboran(13) C 2 B J J H 1 3 ist nur in Form eines Substitutionsproduktes bekannt (bzgl. der Struktur vgl. Fig. 233 auf S. 1085). Von B„H7O mit n > 13 bzw. n < 5 abgeleitete Dicarbacloso-borane C 2 B„_ 2 H„ lassen sich nicht als solche, aber in Form von Substitutionsprodukten synthetisieren (vgl. S. 1133f).
1. Das Bor
Fig.234
„Closo-Heteroborane",
1091
abgeleitet v o n B 1 0 u n d B 1 2 H f 2 (in Klammern Molekülsymmetrie).
Darstellung 1 ^ Closo-Carbaborane werden durch Pyrolyse oder elektrische Durchladung von nido- sowie arachno-Boranen in Anwesenheit von Acetylen gewonnen; auch entstehen sie durch Umsetzung dieser Borane mit C 2 H 2 bei erhöhter Temperatur oder in Anwesenheit von Katalysatoren. So liefert die Thermolyse des nido-Carbaborans 2,3-C 2 B 4 H 8 bzw. die Reaktion des nido-Borans B 5 H 9 mit C 2 H 2 bei 500-600 0 C die closo-Carbaborane 1,5-C 2 B 3 H 5 , 1,6-C 2 B 4 H 6 und 2,4-C 2 B 5 H 7 . Die höheren Carbaborane C 2 B 6 H 8 , C 2 B 7 H 9 , C ^ g H ^ 0 und C ^ p H ^ werden andererseits am besten aus 1,2-C 2 B 1 0 H 1 2 durch Einwirkung starker Basen bei erhöhter Temperatur gewonnen. Das hierzu benötigte 1,2-C 2 B 1 0 H 1 2 entsteht dabei in hohen Ausbeuten aus nido-B^H^ 4 und C 2 H 2 in Anwesenheit von Donatoren D wie CH 3 CN, Et 2 S, RNH 2 : B10H14 +
2 D
B10H12D2 + H2;
b
10H12D2
+ C2H2
1,2-C
2 B 10H12
+
2 D
+ H2.
Das 1,7-Isomer bildet sich aus der 1,2-Verbindung durch thermische Umlagerung in der Gasphase bei ca. 470 0 C, das 1,12-Isomer aus der 1,7-Verbindung durch kurzzeitiges Erhitzen auf 700 0 C. Bezüglich der closo-Clusterexpansion mit Diboran vgl. weiter unten. Eigenschaften Den farblosen, flüchtigen closo-Carbaboranen kommt aufgrund ihres quasi-aromatischen Bindungscharakters (,,dreidimensionale Aromatizität"; vgl closo-Boranate B „ u n d Fullerene C n ) hohe Thermostabilität (meist bis 400 0 C) zu. Besonders eingehend sind die gegen Wasser, Säuren, Alkalien und Oxidationsmittel ähnlich wie B 12 HH0 außerordentlich stabilen Dicarba-c/ösö-dodecaborane(12) C 2 B 1 0 H 1 2 (vgl. Fig. 234) untersucht worden. Wie bereits erwähnt, lagert sich das thermodynamisch weniger stabile 1,2-C 2 B 1 0 H 1 2 bei erhöhter Temperatur unter sukzessiver Vergrößerung des Abstands zwischen den C-Atomen über das stabilere Isomer 1,7-C 2 B 1 0 H 1 2 in das thermodynamisch stabilste Isomer 1,12-C 2 B 1 0 H 1 2 um. Hierbei handelt es sich um eine intramolekulare, in Einzelheiten noch unklare Umgruppierung der Bindungsbeziehungen im - bis 630 0 C zersetzungsstabilen - C 2 B 10 -Gerüst (möglich erscheint der reversible Übergang ,,Ikosaeder Kuboktaeder"; tatsächlich kommt dem Tetracarbaboran (SiM mit CSiM -Gruppe kuboktaedrische Struktur zu). Wie im Falle von H0 lassen sich auch im Falle der Dicarbadodecaborane die Wasser stoffatome ohne Zerstörung der Käfigstrukturen teilweise oder vollständig gegen Halogen, Alkyl, Acyl
• 1092
XVI. Die Borgruppe („Triele")
und anderen Gruppen elektrophil substituieren (vgl. hierzu die elektrophile aromatische Substitution). Die schwach sauren CH-Gruppen können darüber hinaus durch starke Basen wie LiR, RMgBr deprotoniert werden. Bei der Umsetzung des hierbei gebildeten Dilithiumsalzes von 1,2-C 2 Bi 0 H 1 2 mit einem Moläquivalent Brom bildet sich intermediär ein - durch organische Diene und Ene abfangbares - Carbaboran C 2 B 1 0 H 1 0 (vergleichbar dem aus C 6 H 4 LiBr erzeugbaren 1,2-Dehydrobenzol C 6 H 4 ):
In protonenaktiven Lösungsmitteln reagieren starke Basen mit 1,2- und 1,7-C 2 B 1 0 H 1 2 unter Verkleinerung des Carbaborangerüsts (,,basischer Abbau"), z. B.: closo-1,2-C2Bx n H n + E ^ + 2EtOH nido7,9-C 2 B 9 Hi 2 + B(OEt) 3 + H 2 . Der umgekehrte Weg, die Erweiterung des Carbaborangerüsts ist durch Einwirkung von Diboran auf closo-Borane C 2 B„_ 2 H„ (n < 12) möglich, z.B.: closo-1,6C 2 B 7 H 9 + ^B 2 H 6 closo-1,6-C 2 B 8 H 10 + H 2 . Durch Reduktion mit Alkalimetallen lässt sich C 2 B 1 0 H 1 2 in nido-C2B 1 0 Hf 2 überführen MWö-Carbaborane. Die nido-Carbaborane leiten sich von den Boranen B„H„ + 4 bzw. von deren Deprotonierungsprodukten durch Austausch von BH 2 - oder B H - gegen CH-Gruppen ab. So entsprechen etwa dem nido-Hexaboran(10) B 6 H 1 0 mit pentagonal-pyramidalem Bau (S. 1080) die Carba-nido-hexaborane CB5H 9 /C 2 B 4 H 8 /C 3 B 3 H 7 /C 4 B 2 H 6 (vgl. Fig.235; von CB 5 H 9 , C 2 B 4 H 8 und C 3 B 3 H 7 leiten sich Anionen mit weniger Brückenprotonen ab, z.B.: C 2 B 4 H f , C 2 B 4 H2"). Auffallenderweise besitzt das Di-
Fig.235 ,,Nido-Heteroborane", külsymmetrie).
abgeleitet von B 6 H 1 0 , B 9 H 1 3 , B 1 0 H 1 4 , B 1 ^ 1 5 (in Klammern Mole-
1. Das Bor
1093«
fluorderivat C 4 B 2 H 4 F 2 mit BF-Gruppen - anders als C 4 B 2 H 6 - klassischen Bau: F B ( — C H = C H — ) 2 B F . Da B 6 H l 0 nur 4 durch CH-Reste ersetzbare BH 2 -Gruppen enthält, existiert kein neutrales Carbahexaboran mü mehr als vier C-Atomen. Entsprechend der elektronischen Verwandtschaft von BH mit CH + muss das ,,Pentaearbahexaboran (6)" einfaeh-positiv geladen sein: C 5 BH^ (für die Struktur des in Form von Derivaten zugänglichen Kations vgl. Fig.235; Q B H g leitet sich von B 6 H F i g . 2 3 1 auf S. 1079, durch Tausch von fünf B H - gegen CH-Gruppen ab). In analoger Weise müsste das ,,Hexaearbahexaboran (6) " zwei positive Ladungen tragen: C 6 W\ + (bisher auch in Form von Derivaten unbekannt). Weitere isolierte nido-Carbaborane (allgemeine Zusammensetzung C fl B„_ fl H„ +4 _ fl ) sind u.a.: das von nido-Tetraboran(8) B 4 H 8 abgeleitete Carba-nido-tetraboran CB 3 H 7 (ähnlich wie B 4 H 8 nur in Form von Derivaten bekannt, vgl. S. 1136), das von nido-Pentaboran(9) B 5 H 9 (S. 1135) abgeleitete 1,2-Dicarba-nidopentaboran C 2 B 3 H 7 , die von nido-Octaboran(12) B 8 H 9 2 abgeleiteten Carba-niWo-octaborane C 2 B 6 H 1 0 / C 4 B 4 H 8 , die von nido-Nonaboran(13) B 9 H I 3 (bzw. B v g l . S. 1180) abgeleiteten Carba-nido-nonaborane CB 8 HJ 2 /C 2 B 7 H x x (für Strukturen v o n C 2 B 7 H 9 9 vgl. Fig. 235; von C 2 B 7 H 9 9 leiten sich die Anionen C 2 B 7 Hj" 0 und C 2 B 7 a b ) , die von nido-Decaboran(14) B 9 0 H 9 4 (S. 1181) at)geleiteten Carba-rnWodecaborane CB 9 HJ" 2 /C 2 B 8 H 1 2 (für Strukturen vgl. Fig. 235) und die von nido-Undecaboran(15) B 1 1 H 1 5 (bzw. B l9 Hj~ 4 , B 9 9 H^4; vgl. S. 1184) abgeleiteten Carba-mWo-undecaborane CB 10 HJ" 3 /C 2 B 9 H 1 3 (von CB 1 0 Hj" 9 leiten sich die Anionen CB 1 0 H24/CB 1 0 H34, von C 2 B 9 H 1 3 die in zwei isomeren Formen existierenden Anionen C 2 B 9 H ) 2 ab; für {Strukturen vgl. Fig.235) 2 0 Darstellung Man erhält die nido-Carbaborane durch Umsetzung von Boranen mit Aeetylen unter milden Bedingungen (bei schärferen Bedingungen entstehen die eloso-Carbaborane, s.o.). So bilden sich z.B. aus B 5 H 9 und C 2 H 2 in der Gasphase bei 215 0 C die B 6 H 10 -Derivate C B 5 H 9 und 2,3-C 2 B 4 H 8 , aus B 4 H 1 0 und C 2 H 2 bei 2 5 - 5 0 0 C in der Gasphase die nido-Carbaborane C 2 B 3 H 7 (B 5 H 9 -Derivat) sowie CB 5 H o und C 2 B 4 H 8 (B 6 H 10 -Derivate). Auch durch Abbau von closo-Carbaboranen mit starken Basen können nido-Carbaborane entstehen. So ergibt das eloso-Carbaboran C 2 B l 0 H l 2 bei der Behandlung mit Methylat in Methanol das nido-Carbaboran C 2 B 9 H l 3 (B^E^-Derivat). Eigenschaften Die nido-Carbaborane sind thermolabiler und weniger beständig gegen Hydrolyse und Luftoxidation als die eloso-Carbaborane. Bei der Pyrolyse oder UV-Bestrahlung wandeln sie sich ganz allgemein in die stabileren eloso-Carbaborane um. So geht das nido-Carbaboran C 2 B 9 H l 3 beim Erhitzen auf 100 0 C unter H 2 -Entwicklung in das eloso-Carbaboran C 2 B 9 H l ü über und das nido-Carbaboran 2,3-C 2 B 4 H 8 in die eloso-Carbaborane 1,5-C 2 B 3 H 5 , 1,6-C 2 B 4 H 6 sowie 2,4-C 2 B 5 H 7 . Ähnlich wie nidoBorane lassen sich auch die (neutralen und anionischen) nido-Carbaborane deprotonieren, z.B.: C2B4H8C2B4H7 -C2B4H2 ; c2B7Hl9^C2B7H10^C2B7H2 ; C B 1 0 H l 3 C B i o H 2 4 CT^H^ . Die aus den Anionen 7,8- und 7,9-C 2 B9H l 2 (Fig.235) durch Abstraktion des Brückenwasserstoffs mit Basen hervorgehenden Anionen 7,8- und 7,9-C 2 B 9 H)4 sind ähnlich gute n-Komplexliganden wie das Cyclopentadienyl-Anion C5H5" (s. weiter unten). Arachno- und hj^ho-Carbaborane. Von den araehno-Boranen B„H i + 6 leiten sich die araehno-Carbaborane (allgemeine Zusammensetzung C n B^^H n + 6 4 a ) durch Austausch der B H - gegen isoelektronische CHbzw. CH 2 -Gruppen ab. Doch sind liier nur wenige Verbindungen bekannt C B 8 H j 4 / C 2 B 7 H 1 3 (abgeleitet
= BH-Gruppe = CH-Gruppe N/S-Atom = H-Atom in 9-Stellung BH-Gruppe
Fig.236 Araehno-Carbaborane, abgeleitet von B 9 H l 5 , B l 0 H l 6 bzw. B 9 H l B , B l 0 H 2 4 (in Klammern Molekülsymmetrie).
20 Interessanterweise existiert das ,,Tetracarbadodecaboran(10)" C 4 B 6 Me 4 Et 6 in einer „klassischen" Struktur mit C 4 B 6 Adamantan-Gerüst (Bildung aus nido-Carbaboran(5) C 2 B 3 Me 2 Et 3 durch Reduktion mit Kalium und anschließender Oxidation mit Iod) und in einer „nicht-klassischen" Struktur mit C4B6-nido-Gerüst (Bildung aus ersterer Verbindung beim Erhitzen).
• 1094
XVI. Die Borgruppe („Triele")
von B 9 H I 4 ; vgl. Fig.236) bzw. C 2 B 8 H 14 /CB 9 H7 4 (abgeleitet von B 1 0 H - 4 ; vgl. Fig.236). Von Interesse ist in diesem Zusammenhang das kohlenstoffreiche arachno-CarbaboranC 6 B 6 H 1 2 , das sich formal von supraikosaedrischem B 1 4 H - 4 (unbekannt), vermindert um zwei B-Ecken, ableitet. Ihre Darstellung kann durch Clusterabbau von closo- oder nido-Carbaboranen erfolgen, z. B. closo-1,6C 2 B S H 1 0 + 0 H ~ + 2 H 2 0 -> arachno-1,3-C 2 B 7 H~ 2 + B(OH) 3 oder nido-1,7-C2B9H1"2 + 6 H 2 0 -> arachno-1,3-C 2 B 7 H 1 3 + 2 B ( 0 H ) 3 + 5H + + 6 Q (Oxidationsmittel: Chromsäure). Aus der Gruppe der hyphoCarbaborane kennt man bisher die Verbindung C 3 B 4 H 1 4 , die aus B 4 H 1 0 und Propin C H = C M e im Heiß-Kalt-Reaktor entsteht
Sonstige Nichtmetallaborane 1 9 Die Boratome der Borane und Hydridoborate lassen sich außer durch Kohlenstoff auch durch andere Elemente E der Kohlenstoffgruppe (Tetrele) sowie zudem durch Elemente der Stickstoff- und Sauerstoffgruppe (Pentele, Chalkogene) austauschen, die man unter dem Namen „Nichtmetallaborane" zusammenfasst und dadurch von den Metallaboranen (s. unten) abgrenzt (Ersatz von B H bzw. BH~ durch SiH, N, 0 + und Homologe bzw. von BH durch Si, N + und Homologe). Beispiele für Tetrela-, Pentela- und Chalkogenaborane, die - mit Ausnahme einiger Sila- und Phosphaborane - keine Substituenten aufweisen, sind in Tab. 102, ihre Strukturen in den Fig. 234, 235 und 236 wiedergegeben. Ersichtlicherweise handelt es sich hauptsächlich um closo- und nido-, darüber hinaus um arachno- und sogar hypho-Nichtmetallaborane mit 9 (in einem Falle 8) bis 12 (E + B)-Atomen (zwei Sorten E-Atome finden sich in nido-EAs2B8H8 mit E = S, Se). Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Verbindung nido-Oxaboran O B U H 1 2 , sowie arachno-S^H^, die sich von einem mono- sowie digekappten 13-Eck-Supraikosaeder (S. 1085) ableiten. Des weiteren kennt man Heterocarborane wie z. B closo-ECB^H^ (E = P, As, Sb; abgeleitet von closo-CB^H^, Fig.234), nido-NQBgH^ (abgeleitet von nido-QBjH^, Fig.235), nido-ECB9H7 (E = P, As; abgeleitet von CB 1 0 H n , Fig.235). Tab. 102 Verbindungsbeispiele neutraler und negativ geladener Nichtmetallaborane (bezüglich der Struktur vgl. Fig. 234/235/236 für closo-/nido-/arachno-Verbindungen). Silaborane und Homologe
Azaborane und Homologe
Closo (SiMe)2B10H10, (SiMe)B„H„, (Fig.234) EB„H?r (E = Ge, Sn, Pb),
NB9H10/EB9H9~ (E = N, P),
nido
NB 9 H 1 2 /NB 9 H„,
N B J J H U / E B J J H ü
( E
=
N
b i s
Thiaborane und Homologe SB9H9, EB11H11 (E = S, Se, Te) B i ) ,
PB 1 ^ 1 1 Me (SiMe)B10Hj2 (Fig.235) (EMeJB 10 H 12 (E = Si, Ge, Sn)
arachno
-
NB8H13, N2B9H13,
SB8H9 , SB9Hn/SB9H10, SB10H12/EB10H„ (E = S, Se, Te), SB^H^ , E2B9H9 (E = S, Se) S2B7H9, SBgH^,
,
N 2 B 8 H1 2 , N B ^ H - ,
(Fig.236) hypho
NB10H13/EB10Hr2 (E = N, P, As), N B ^ r , (PMe)B1^1 2 , E2B9Hr0/E2B9H^" (E = As, Sb)
-
-
Darstellung. Die Bildung der Azaborane und Azacarbaborane, d.h. die „Einführung" von NH-Gruppen in Borane und Carbaborane gelingt z. B. durch Reaktion letzterer mit Natriumnitrit N a N 0 2 . Auch lässt sich das nido-Gerüst von N B 1 0 H 3 durch Einwirkung von B H bei erhöhten Temperaturen zum closoGerüst schließen: NB 1 0 H 1 3 + BH 3 • NEt 3 -> E ^ N H + N B j 2 H 2 . Die closo-1,2-Phospha-, Arsaund Stibacarbaborane E C B 1 0 H 1 entstehen aus den Halogeniden E X und n i d o - C B 1 0 H ( D e p r o t o n i e rungsprodukt von C B 1 0 H J / 3 , Fig. 235). Sie lassen sich um 500 °C (um 600 °C) in die 1,7- (die 1,12-) Isomeren umlagern. Der Abbau von closo-1,2- und 1 , 7 - E C B 1 0 H 1 mit Basen in protonenaktiven Lösungsmitteln führt wie im Falle von 1,2- und 1,7-C 2 B 1 0 H 1 2 zu nido-Verbindungen (7,8- und 7,9-ECB 9 H ] / 1 ). Bei der Umsetzung von nido-B 1 0 H 1 4 mit Ammoniumpolysulfid bildet sich das Thiaboran arachno-SB9Hj/2 ( B 1 0 H 1 4 + S-~ + 4 H 2 0 0 SB 9 H 12 + B ( 0 H ) 4 + 3 H ) , das bei 200°C unter H 2 -Eliminierung in die deprotonierte Form von nido-SB9Hübergeht. Eigenschaften Die erwähnten Heteroborane und -carbaborane stellen wie die Carbaborane farblose Verbindungen oder Salze dar, deren thermische und hydrolytische Stabilität in Richtung closo-, nido-, arachno-Heteroboran sinkt. Auch können sie sowohl als Protonendonatoren wie -akzeptoren wirken (z.B. sind N B ^ H 2 sowie S B 1 0 H 1 2 Säuren, N B 1 0 H - ^ sowie SB 1 0 H-0 Basen) und vermögen hinsichtlich ML„ (M = Metall, L = geeigneter Ligand) als Komplexliganden aufzutreten (s.u.).
1. Das Bor
1095«
Metallaborane (Hydridopolyborat-Komplexe) 19 Die pentagonalen Öffnungen der nido-Anionen B ^ H 4 " , CB 1 0 H f " , N B 1 0 H 2 " , SB10H2o~, 7,8- bzw. 7,9C 2 B 9 H 2 " usw. (vgl. Fig. 235) sind strukturell und elektronisch mU dem Cyclopentadienid C5H$ vergleichbar (,,isolobal"; jeweils senkrecht zum planaren fünfgliedrigen Ring angeordnete, mit 6 Elektronen gefüllte ,,71-Orbitale"; vgl. Fig. 237 und Isolobalprinzip auf S. 1379). Demgemäß bilden die (weniger negativ geladenen) Anionen analog C 5 H^ = Cp~ Sandwich-Komplexe, wie M. F. Hawthorne und seine Arbeitsgruppe 1965 entdeckten. Z. B. entsprechen dem Komplex FeCp 2 (,,Ferrocen"; vgl. Fig. 203, S. 917), in welchem Eisen eine Edelgasschale mit 18 Außenelektronen zukommt (6 Elektronen von Fe 2 + , 2 x 6 Elektronen von Cp"), die Komplexe [ C p F e ^ B ^ J ] " und [ F e ^ ^ H ^ ) 2 ] 2 " (Fig.237; vgl. hierzu auch S. 1850f).
Fig.237
Die Liganden C 5 H 5 sowie C 2 B 9 H2o und ihre Komplexe.
Die betreffenden zweiwertigen Eisenkomplexe lassen sich auch als closo-Verbindungen mit (2n + 2) Gerüstelektronen beschreiben (vgl. Fig.237), die sich vom closo-Carbaboran C 2 B 1 0 H 1 2 durch Ersatz einer BH- durch die „isolobale" F e C p " - bzw. Fe(C 2 B 9 H^)2"-Gruppe ableiten. Da gemäß dem auf S. 1060 Besprochenenjedes Hauptgruppenelement (v + l — 2) und jedes Nebengruppenelement (v + l — 12) Elektronen zum Käfiggerüst beisteuern (v = Anzahl der Valenzelektronen der betreffenden Elemente = 3/ 4/8 für B/C/Fe; / = Anzahl der von den zusätzlichen Liganden der Elemente beigesteuerten Elektronen = 1/5 für H/Cp), stehen dem FeC 2 B 9 -Gerüst des C p F e ( ^ ^ ^ ^ 1 1 ) " - I o n s , das formal aus einem FeCp-Rest v + l — 12 = 8 + 5 — 12 = 1), zwei CH-Gruppen (v + l — 2 = 4 + 1 — 2 = 3) und neun BH-Gruppen (v + l —2 = 3 + 1— 2 = 2) zusammengesetzt ist, nach der ,,Elektronen-Abzählregel" (S. 1060) insgesamt 26 Gerüstelektronen unter Hinzurechnung der negativen Ladung zur Verfügung 26 Elektronen werden nun exakt für eine closo-Verbindung mit 12 Polyederatomen benötigt (2n + 2 = 2 x 1 2 + 2 = 26). Closo-Strukturen liegen auch anderen Komplexen des Typus [M"(CBgEI^ 1 ) 2 ] " ~ 4 mit Metallionen, die wie Fe (II), Co (III), Ni(IV), Pd(IV) 6 Außenelektronen oder wie Fe (III), Cr (III), Ti(II) weniger als 6 Außenelektronen (5,3,2) besitzen, zugrunde. Den nido bzw arachno-Verbindungen mit Metall-Bor-Clustern (Ersatz von BH- oder BH -Gruppen durch Fragmente M L ) kommen - wie den nido- bzw. arachno-Boranen (S. 1060) - (2n + 4) bzw. (2n + 6) Gerüstelektronen zu. Hat infolgedessen ein Metall wie Ni(II), Pd(II), Au (III), Cu(II), Au (II) in SandwichKomplexen [ M " ( C 2 B 9 H 1 J 2 ] " " 4 mehr d-Außenelektronen (8,9) als Fe(II) (6), so bildet sich eine „offenere" Struktur aus. Das Metall liegt dann etwa in 7,8-C 2 B 9 Hi"-Komplexen nicht mehr zentrisch über dem fünfgliederigen Ring des Liganden, sondern ist in Richtung der drei B-Atome mehr oder weniger stark „versetzt" (Hg (II) mit 10 d-Außenelektronen ist in (Ph 3 P)Hg(C 2 B 9 H 1 1 ) nur noch mit einem B-Atom des fünfgliedrigen Rings kovalent verknüpft). Darstellung Aus Boranaten und Heteroboranaten. Ein wichtiges Verfahren zur Erzeugung von metallhaltigen Heteroboranen besteht in der Umsetzung von Polyboranaten und Heteropolyboranaten mit Metallhalogeniden MX„, bzw. L m MX„ (L z.B. R 3 P, CO, C 5 H 5 ) oder mit Metallcarbonylen, z.B.: 2nido-C 2 B 9 H i " + FeCl 2 nido-NB 1 0 Hf 2
+ (Ph 3 P) 3 RhCl
nido-C2B9 H 2 "
+ Mo(CO) 6
— 2C1"
• c l o s o - F e ^ B ^ ! x)2
(Luft) ) closo-Fe(C B H ) < 2 9 11 2 (Na
> closo-(Ph3P)2HRh(NB!0Hx+ C r + P P h 3 ; (
(Ph 3 P) 2 (CO)IrCl
closo^CO^Mo^B^ J2-
+ 3CO;
nido-(Ph 3 P) 2 (CO)Ir(B 5 H 8 )
+ Cl".
• 1096
XVI. Die Borgruppe („Triele")
(Bezüglich der Strukturen der erzeugten Komplexe vgl. das oben Besprochene sowie Fig.237, 238.) Ahnlich wie FeCl 2 reagieren viele andere Metallhalogenide mit 2i unter Bildung von - häufig oxidier- oder reduzierbaren - Sandwich-Komplexen M " ( C ^ H i i ) " " 4 (M" u.a. Ti(II, III), V(II, III), Cr (III), Mn(II), Fe (II, III), Co (II, III), Ni (II, III, IV), Pd(III, IV), Cu (II, III), Au (II, III), Al (III)). Eine Modifikation des Verfahrens besteht darin, dass man die benötigten nido-Heteropolyboranate zunächst aus closo-Heteropolyboranaten durch Reduktion (z.B. closo-C 2 B 10 H 12 + 2 e " -+nidoC 2 B 1 0 H 2 " ) oder durch Clusterabbau mit Basen (vgl. S. 1094) erzeugt. Auf diese Weise gelangt man in ersterem Falle nach Einführung des Metalls zu einem vergrößerten „supraikosaedrischen" closo-Cluster (z.B. C 2 B 1 0 H 1 2 mit 12 Ecken CpCoC 2 B 1 0 H 1 2 mit 13 Ecken (CpCo) 2 C 2 B 1 0 H 1 2 mit 14 Ecken; vgl. Fig. 238 und S. 1085), in letzterem Falle nach Einführung der Metalle zu einem gleichgroßen closoCluster (z.B. CpCoC 2 B 1 0 H 1 2 (CpCo) 2 C 2 B 9 H 1 1 ) oder nach Oxidation des BH-ärmeren Borans zu einem verkleinerten closo-Cluster (z.B. C p C o C 2 B ^ ^ CpCoC 2 B 8 H 1 0 ; vgl. Fig.238).
Cp2Co2C2B10H1, Fig. 238
CpCoC2B8H10
(CO^FczCzBsHg
Metallaborane und -carbaborane.
Aus Boranen und Heteroboranen. Metallhaltige Heteropolyborane werden darüber hinaus durch Umsetzung von Polyboranen und Heteropolyboranen mit geeigneten Metallverbindungen gewonnen. Beispielsweise setzt sich etwa Fe(CO) 5 bei erhöhter Temperatur mit B 5 H 9 unter Ersatz von BH gegen Fe(CO) 3 zu (CO) 3 FeB 4 H 8 und mit C 2 B 3 H 5 unter Clustererweiterung zu (CO) 3 FeC 2 B 3 H 5 sowie {(CO) 3 Fe} 2 C 2 B 3 H 5 um (vgl. Fig. 238). Es lassen sich zusätzlich zur apicalen BH-Gruppe in B 5 H 9 auch BH-Gruppen der Basis durch Komplexfragmente ersetzen, wie die Beispiele [(CO 3 )Fe] 2 B 3 H 7 und [(CO 3 )Ru] 3 B 2 H 6 lehren. Letzterer Komplex enthält bereits mehr Metall- als Boratome und lässt sich deshalb ebensogut als Bora-Metallcluster beschreiben Eigenschaften Übergangsmetallsubstituierte Borane und Nichtmetallaborane stellen in der Regel farbige, flüchtige Verbindungen oder nichtflüchtige Salze dar. Die den ,,Metallocenen" MCp 2 entsprechenden closo-Verbindungen M"(C^gH^ 1 ) n "4 sind in der Regel stabiler als erstere. Dementsprechend vermag der C 2 B 9 H^-Ligand anders als der Cp"-Ligand vergleichsweise hohe und niedrige Oxidationsstufen der Metalle zu stabilisieren (z.B. Ni(IV), Cu(III), Ti(II), Zr(II), Hf(II)). Auch lassen sich in metallgebundenen C 2 B 9 H 2 " die H-Atome ohne Zerstörung des closo-Komplexes elektrophil substituieren (z.B. durch Halogen). 11
1. Das Bor
1.3
1097«
Halogenverbindungen des Bors 1,21
Überblick („Bor(III)-Halogenide"), Systematik. Bor bildet gemäß Tab.103 Halogenide des Typs BX 3 B 2 X 4 („Bor(II)-Halogenide"') und (BX)„ (,,Bor(I)-halogenide"; n = 4, 7, 8, 9; Halogenide mit« = 10, 11, 12 existieren wohl nur als kurzlebige Intermediate) sowie Fluorverbindungen der Zusammensetzung B„F„ + m (m bisher = 2, 4), nämlich neben B F und B 2 F 4 , ferner B 3 F 5 , B 8 F 1 2 , ( = (B 4 F 6 ) 2 ) und B 1 0 F 1 2 . Darüber hinaus kennt man Halogenoborate der Zusammensetzung BX 4 , B 2 X j " , (BX)~ (n = 6-12), (BX)*~ (n = 6 - 1 2 ) sowie teilhalogenierte Borane und Hydridoborate (vgl. S. 1063, 1077, 1079, 1087f). Auch existieren bei höheren Temperaturen monomere Bormonohalogenide BX („Borylene"). Bezüglich der Halogenidoxide vgl. S. 1107. Tab. 103
Borhalogenide (AH { in kJ/mol).
Verbindungstyp
Fluoride
Chloride
Bromide
Iodide
BX/> Bortrihalogenide (Trihalogenborane)
BF 3 Farbloses Gas Smp. - 128.4°C Sdp. - 99.9°C (g -1136.0 k
BCI3 Farbloses Gas Smp. -107.3 °C Sdp. 12.5 °C (g -403.8 k (fl) -427.2 kJ
BBr3 Farblose Flüssigk Smp. - 46°C Sdp. 91.3 °C (g -205.6 k (fl) = -239.7 kJ
BI 3 Farblose Krist Smp. 49.9 °C Sdp. 210 °C (g 71.1 k (fl) = + 31 kJ
B2X4 Dibortetrahalogenide (Tetrahalogendiborane(4))
B2F4"> Farbloses Gas Smp. - 56°C Sdp. - 34.0 °C (g -1440.1 k
B2C14 Farblose Flüssigk Smp. -92.6°C Sdp. 66.5 °C (fl) -523.0 k
B 2 Br 4 Farblose Flüssigk Smp. ca. 1 °C Zers. Raumtemp.
B2I4 Gelbe Kristalle Smp. 94-95 °C Zers. > 100 °C \Hf ca. - 80 kJ
(BX)„ Bormonohalogenide
(BF), Bisher nur als Verbindungs gemisch
(BCl)„ 4, 8, Gelbe bis dunkelrote Kristalle
(BBr)„ 4, 7, 8, Gelbe bis dunkel rote Kristalle
(BI)„ 8, Dunkelbraune Kristalle
a) Gemäß BX3 + BX, ±5 BX2X' + BXX2 bilden sich auch gemischte Borhalogenide (X, X' = Halogen; vgl. S. 1098), darüber hinaus teilhalogenierte Borane (X = Halogen, X' = Wasserstoff; vgl. S. 1068). Beispiele für letzteren Verbindungstyp BHF2 (Sdp. -118°C), BHC12 (Sdp. 0.2°C), BHBr2 (Dismutationsneigung: — BH/BBr3), BHI2 (noch unsicher), BH2C1 (instabiles Zwischenprodukt der Umsetzung von B2H6 + HCl; als BHjC^SMej) isolierbar), B2H5F (instabiles Zwischenprodukt der Umsetzung von B2H6 + HF), B2H5C1 (Smp./Sdp. - 143.4/- 78.5°C bei 18 mbar), B2H5Br (Smp./ Sdp. - 104/10°C), BJHJI (Smp. - 110°C). - b) Es existieren auch B3F5 (farblose Substanz, Smp. ca. - 50°C, Zers.), B8F12 (gelbe Flüssigkeit), B10F12 (/arblose Kristalle) und andere Fluoride. - c) B4C14 (fahlgelbe Kristalle, Smp. 95 °C, Sblp. 30°C/31 mbar), BSC1S (pupurrote Kristalle, Smp. 185°C), B,C^ (orangefarbene, sublimierbare Kristalle, Smp. > 350°C). - d) B4Br4 (tiefgelbe, sublimierbare Kristalle, Smp. 108°C/Zers.), B7Br7 (dunkelrote, nicht sublimierbare, bis über 250 °C thermostabile Kristalle), B8Br8 (nicht näher charakterisiert), B,Br9 (dunkelrote, sublimierbare Kristalle). dunkelbrauner Feststoff), dunkelbrauner Feststoff).
Strukturen Die Bor(III)-halogenide haben als Abkömmlinge des Monoborans B H trigonal-planaren Bau (vgl. nachfolgende Zusammenstellung). Zum Unterschied von B H und den elementhomologen Aluminium(III)-halogeniden (S. 1151) sind sie - gleich den Bortriorganylen (S. 1127) - nicht di- oder polymer, sondern monomer. Dass aber auch hier wie im Falle der Aluminiumhalogenide Halogenbrücken wirksam werden können, erkennt man daraus, dass z.B. Mischungen von BC13 und BBr 3 bei Raumtemperatur rasch und reversibel ihr Halogen unter Bildung gemischter Borhalogenide austauschen (in festem BF 3 liegen schwache intermolekulare Wechselwirkungen vor (trigonal-bipyramidales Bor mit drei kurzen Ab21
Literatur. A.G. Massey: ,,The Halides of Boron", Adv. Inorg. Radiochem. 10 (1967) 1-152; J.S. Hartman, J.M. Miller: ,,Adducts of the Mixed Trihalides of Boron", Adv. Inorg. Radiochem 21 (1978) 147-177; W.A. Sharp: ,,Fluoroboric Acids and Their Derivatives", Adv. Fluorine Chem 1 (1960) 68-128; P.L. Timms: ,, Chemistry of Boron and Silicon Subhalides", Acc. Chem. Res. 6 (1973) 118-123; A.G. Massey: ,, The Subhalides of Boron", Adv. Inorg. Radiochem 26 (1983) 1 -54; G. Olah: „Friedel-Crafts and Related Reactions", 4 Bände, Interscience, New York 1963; J.A. Morrison Chemistry of the Polyhedral Boron Halides and the Diboran Tetrahalides", Chem. Rev 91 (1991) 35-48.
• 1098
XVI. Die Borgruppe („Triele")
ständen (1.29 Ä) zu den äquatorialen und zwei langen Abständen (2.70 Ä) zu den axialen F-Atomen; Analoges gilt für die übrigen Trihalogenide in einer Edelgasmatrix):
CVC1 + er
/Br B b / xBr
Cl
\
e r
B;
^Br
B
Br
ci
'Br
CK
/J N
x
B
x
Br
+
Cl \
B
/Br x
Br
Analoges ist der Fall beim Vermischen anderer Borhalogenide. Bei der Zusammengabe von BF 3 , BC13 und BBr 3 bzw. BC13, BBr 3 und BI 3 erhält man u.a. die Verbindungen BFClBr und BClBrI. Isolieren lassen sich alle diese gemischten Borhalogenide nicht, da sie untereinander im reversiblen Gleichgewicht stehen, doch ist ihre Existenz schwingungs- und kernresonanzspektroskopisch sichergestellt. Auch andere Borverbindungen BY 3 tauschen mit Borhalogeniden B X 3 ihre Substituenten Y und X aus. So reagieren B F und B ( O R ) 3 in der Gasphase miteinander unter Bildung von BF 2 (OR) und B F ( O R ) 2 , und B 2 0 3 setzt sich mit B F bzw. BC13 beim Erwärmen zu Trihalogenboroxinen (BXO) 3 um (S. 1107). Die Bor(II)-halogenide B 2 X 4 (isovalenzelektronisch mit C 2 0 4 " , N 2 0 4 ) leiten sich strukturell vom nicht isolierbaren - Diboran(4) B 2 H 4 ab und weisen demgemäß eine BB-Einfachbindung auf (vgl. nachfolgende Zusammenstellung). Die Moleküle sind im Kristall planar gebaut, während in flüssiger oder gasförmiger Phase die beiden BX 2 -Hälften um 90° gegeneinander verdreht vorliegen (Rotationsbarriere 7.5 kJ/mol für B 2 C1 4 , 12.8 kJ/mol für B 2 Br 4 ). Die BX-Abstände entsprechen wie im Falle der Trihalogenide B X 3 einem Zwischenwert zwischen einfacher und doppelter Bindung (vgl. S.1051). B 3 F 5 leitet sich von durch Ersatz eines F-Atoms gegen die B F -Gruppe ab X I B / \
X
X X D3h-Symmetrie BX 3 (gasf.)
F Cl Br I
r B X [Ä] 1.30 1.75 1.87 2.10
X
\
X
/ B — B a)
X
X -Symmetrie (fest
rBB/Bx
[A]
a [ ^
/X B—B CaSO 4 + 2HF), welcher dann unter der wasserentziehenden Wirkung von Oleum fluorierend auf das Boroxid, die Borsäure bzw. die Borate einwirkt: B 2 0 3 + 6HF
2BF 3 + 3H 2 O;
H2C> + SO3 ^ H 2 SO 4 .
Bessere Ausbeuten erhält man durch den Zweistufenprozess: N a 2 B 4 0 7 + 12 HF Na 2 O • 4 B F 3 + 6H 2 O; Na 2 O • 4 B F 3 + 2 H 2 S O 4 ^ 2NaHSO 4 + H 2 0 + 4 B F 3 . Auch aus Borsäure und Fluorsulfonsäure ist B F zugänglich: 3 H S O 3 F + H 3 BO 3 ^ B F + 3 H 2 S O 4 . Im Laboratorium lässt sich B F bequem durch Thermolyse von Diazonium-tetrafluoroboraten darstellen, z.B.:
1. Das Bor P h — N = N + BF 4
1099«
PhF + N 2 + BF 3 .
Bortrifluorid kommt als Druckgas oder als Diethylether-Addukt 125 °C) in den Handel.
BF '
Eigenschaften B F ist ein farbloses, erstickend riechendes Gas (vgl. Tab. 103; M A K Wert = 3 m g / m ) . Es wirkt als starke Lewis-Säure und vereinigt sich mit Donatoren D wie Wasser, Alkoholen, Ethern, Thioethern, Ammoniak, Aminen, Cyanverbindungen, Phosphanen, Carbonsäuren, Ketonen, Aldehyden, Fluoridionen usw. leicht zu Addukten (Bortrifluorid-Komplexen): BF
BF
Hierbei wirkt das Borzentrum als harte Säure und bildet deshalb mit N- oder O-haltigen Donoren stabilere Komplexe als mit P- oder S-haltigen. Substituenten am Donor-Zentrum, welche dieses durch induktive Effekte elektronenärmer oder durch sterische Effekte sperriger machen, vermindern die D -> BBindungsstärke. Infolgedessen sinkt die Stabilität von Amin- oder Etheraddukten etwa in der Donorreihenfolge NMe 3 > Me 2 NCl > MeNCl 2 > NC13 (elektronischer Einfluss) bzw. C 4 H S O (THF) > M e 2 0 > E t 2 0 > 'Pr 2 O (sterischer Einfluss). Kein BF 3 -Addukt bildet Fluorwasserstoff in Abwesenheit basischer Lösungsmittel wie Wasser oder Alkohole. Andererseits kann das Metallatom geeigneter Metallkomplexe ML„ hinsichtlich B F als Lewis-Base wirken (z. B. Bildung von Cp 2 H 2 W(BF 3 ), (Ph 3 P) 2 (CO)ClIr (BF 3 ) 2 ). In analoger Weise wie B F wirken auch die anderen Trihalogenide BX 3 wie ganz allgemein Bor (III)Verbindungen als Lewis-Säuren, wobei die Adduktstabilität hinsichtlich eines bestimmten nicht zu sperrigen Donors meist in folgender Reihe der Bor(III)-Verbindungen sinkt (vgl. S. 1052): BI 3 > BBr 3 > BC13 > BH 3 > B(CF) 3 > B(C 6 F 5 ) 3 > B F > BPh 3 > BMe 3 > B(OR) 3 > B(NR 2 ) 3 . In den Addukten D - > B F tragen die dem Donoratom ( „ L i g a t o r " ) benachbarten Atome stärkere positive Partialladungen als in den Donoren D selbst. Die Addition protonenaktiver Donatoren wie Wasser, Alkohole, Ammoniak, Amine an B F ist demgemäß mit einer Erhöhung der Brönsted-Acidität von D verbunden. So stellt etwa das Wasseraddukt B F ' H 2 0 ( , , H y d r o x y t r i f l u o r o b o r s ä u r e " ) , das sich wasserfrei als farblose, ölige, zersetzliche Flüssigkeit (Smp. 6 . 0 ° C ) isolieren lässt, eine starke Säure dar (s.u.), welche ein weiteres Wassermolekül unter Bildung einer farblosen, flüssigen Verbindung B F ' 2 H 2 O (,,Oxonium-hydroxytrifluoroborat") anlagert, die unterhalb des Schmelzpunktes ( 6 . 2 ° C ) als Hydrat, oberhalb als Oxoniumsalz vorliegt H\
H 2 O ' ' H\ , o0 - > BB FF
+ H
2° >
H Bortrifluorid-Hydrat
/O
> 6 2°C B F 3 < < 6.2°C ' > H ,3 Q + H O B F37 .
H
Bortrifluorid-Dihydrat
Oxonium-hydroxotrifluoroborat
In analoger Weise bilden Alkohole oder Carbonsäuren 1 : 1 - und 2 : 1-Komplexe. Die gleichen Gründe, die eine Aciditätserhöhung protonenaktiver Donatoren in Anwesenheit von BF 3 bedingen, haben eine Steigerung der Organylierungs- und Acylierungstendenz organischer Verbindungen R X bzw. RCOX (X u.a. Hal, OH, OR) durch B F zur Folge: R X + BF 3 ^ R + + X B F 3 ;
RCOX + B F
RCO++XBF3.
Bortrifluorid ist demgemäß in der Lage, organische Reaktionen, die über ,,präformierte" Kationen des Typs R + oder R C O + ablaufen, zu katalysieren. Beispiele derartiger „Friedel-Crafts-Reaktionen", die zudem durch Lewis-Säuren wie BC13, AlCl 3 , FeCl 3 , SbCl 5 , SnCl 4 , ZnCl 2 beschleunigt werden, stellen im engeren Sinne Alkylierungen und Acylierungen von Aromaten dar (z. B. C 6 H 6 + R X bzw. AcX -> C 6 H 5 R bzw. C 6 H 5 A C + HX) und im weiteren Sinne Veresterungen von Carbonsäuren, Polymerisation von Alkenen, Isomerisierung von Alkenen und substituierten Alkanen, Cracken von Kohlenwasserstoffen, Nitrieren und Sulfonieren aromatischer Verbindungen (in letzteren Fällen Bildung von NO 2 bzw. HSO+ gemäß: HNO 3 + B F ^ NO 2 + HOBF 3 ; H 2 SO 4 + B F -> HSO + + H O B F 3 ) . Durch Wasser im Überschuss wird B F unter Substitution von Fluorid gegen Hydroxid in Borsäure und Fluorwasserstoff zerlegt, wobei H F seinerseits mit B F zu Tetrafluoroborsäure H B F abreagiert (vgl. Hydrolyse von S i F , S . 9 4 6 ) :
• 1100
XVI. Die Borgruppe („Triele") BF3 + 3HOH 3 x |
H F + BF3 4BF3 + 3HOH
B(OH)3 + 3HF
(1)
HBF
(2)
B(OH)3 + 3HBF4.
(3)
D i e Hydrolyse (1) stellt eine Gleichgewichtsreaktion dar (vergleichbare Stärke der Bindungen B — F sowie B — O H ) und lässt sich unter wasserentziehenden Bedingungen umkehren (vgl. Darstellung von B F ) . D a die B — C l - und insbesondere B — B r - sowie B — I - B i n d u n g e n viel schwächer als die B — F - B i n d u n g e n sind, erfolgt die Hydrolyse von BC1 3 , B B r 3 und B I 3 einsinnig in R i c h t u n g B ( O H ) 3 , und zwar in letzteren Fällen mit explosionsartiger Heftigkeit. (Aus gleichen G r ü n d e n lassen sich nur von B F , nicht aber von BC1 3 , B B r 3 , B I 3 Addukte mit protonenaktiven D o n a t o r e n wie H 2 O , R O H , R N H 2 gewinnen.) Von Metallhydriden oder -organylen ( L i H , L i R , R M g B r ) wird B F in ( B H 3 ) 2 oder B R
übergeführt.
Verwendung von B F bzw. BF 3 -Addukten (Weltjahresproduktion: zig Kilotonnenmaßstab): Als FriedelCrafts-Katalysator, als Flussmittel, als Räuchermittel, zur Herstellung anderer Borverbindungen, in Neutronenzählkammern (man nutzt 1 0 B F ) . Tetrafluoroborsäure H B F - D a r s t e l l u n g D i e durch Zusammentritt von Borfluorid und F l u o r wasserstoff gemäß (2) entstehende und in U m k e h r u n g von (1) technisch
durch Einwirkung
von 5 0 % i g e r Flusssäure a u f Borsäure gemäß B ( O H ) 3 + 4 H F -> H B F + 3 H 2 O gewinnbare HBF
„Fluoroborsäure"
k a n n nur in wässriger Lösung erhalten werden, worin sie als
Oxoniumsalz H 3 0 [ B F ] vorliegt, das isolierbar ist. Ihre Metallsalze, die , , F l u o r o b o r a t e " M B F lassen sich durch Auflösen der betreffenden Metalloxide, -hydroxide oder - c a r b o n a t e in wässeriger F l u o r o b o r s ä u r e oder - im Falle der Alkali- und Erdalkaliverbindungen - durch direkte Vereinigung von Metallfluoriden und Bortrifluorid erzeugen. Eigenschaften Die wässrige Fluoroborsäure stellt eine farblose, giftige, stark ätzende Flüssigkeit dar, die stark sauer wirkt und Glas nicht angreift. Die Fluoroborate zeigen hinsichtlich ihrer Kristallstrukturen und Löslichkeiten weitgehende Analogie mit den P e r c h l o r a t e n . Hierin äußert sich der analoge Aufbau von Perchlorat- (a) und Fluoroborat-Ion (e), der auch in den ähnlichen Schmelzpunkten von H 3 0 [ C l 0 4 ] ( + 50 0 C) und H 3 0 [ B F J ( + 52 0 C) zum Ausdruck kommt: :Ö:
:Ö:
:Ö:
:Ö—Cl—Ö: , 1 :0:
:Ö—S—F: 11 :0:
(a) C I O 4
(b) S O 3 F -
|
|
: Ö — P•— F : 1 :F:
:Ö: | : F — C•— F : 1 :F:
:F: | :F—B—F: 1 :F:
(c) P 0 2 F 2
(d) C O F 3
(e) B F 4
|
Gleiches wie vom Perchlorat-Ion gilt auch vom isoelektronischen Fluorosulfat- (b) (S. 591), Difluorophosphat- (c) (S. 803) und Trifluorocarbonat-Ion (d), von denen sich wie im Falle (a) und (e) starke Säuren ableiten (Fluoroschwefelsäure, Difluorophosphorsäure, Trifluormethanol) und die alle wie (a) und (e) tetraedrische Struktur besitzen Die Stabilität der Fluoroborate M [ B F ] nimmt mit der Größe des Kations M + zu: NaBF 4 zersetzt sich bei 384 0 C, CsBF 4 schmilzt unzersetzt bei 550 0 C. Die zum Unterschied vom B F sehr hydrolyseempfindlichen Homologen BC1 4 , BBr 4 und B F können überhaupt nur mit großen Kationen isoliert werden In wässriger Lösung ist Fluoroborsäure H B F (genauer: Oxoniumtetrafluoroborat H 3 0 + B F 4 ) gemäß H B F + H 2 O ?± HBF 3 (OH) + HF teilweise hydrolysiert, wobei das Gleichgewicht auf der linken Seite liegt (K = 2.3 • 1 0 " 3 bei 25 0 C). Die dabei gebildete ,,Hydroxo-fluoroborsäure" HBF 3 (OH) = B F • H O (s.o.) ist ebenfalls eine starke Säure, wenn auch nicht ganz so stark wie H B F . Sie bildet Salze des Typus M [ B F 3 ( O H ) ] , die u.a. auch aus Borfluorid B F und Metallhydroxid MOH synthetisierbar sind. Die weitere Hydrolyse von H B F (OH) zu HBF 2 (OH) 2 (farblose, sirupöse Flüssigkeit, Smp. 4 0 C), HBF(OH) 3 und HB(OH) 4 ( = wässrige Borsäure, S. 1105) findet nur in sehr geringem Ausmaße statt. Die Hydrolyseprodukte, deren Acidität mit dem Hydrolysegrad sinkt, werden auch bei der Darstellung der Fluoroborsäure aus Borsäure und Flusssäure (s. oben) als Zwischenstufen gebildet. Die Reaktion
1. Das Bor
HBF
+ H,0 + HF
HBF(OH)
+ H,0 + HF
HBF 2 (OH) 2
+ H,0 + HF
HBF(OH) 3
+ H,0 + HF
1101«
HB(OH) 4
lässt sich also von beiden Seiten her verwirklichen Die Lewis-Basizität von B F 4 ist äußerst gering. In der Tat wirkt B F 4 als eines der schwächsten Komplexliganden, doch sind einige, leicht in die Komponenten dissoziierende rf-TetrafluoroboratMetallkomplexe bekannt (in A g ( M e 2 p y ) 2 B F verknüpft B F 4 Ag(Me 2 py) 2 -Ionen zu Ketten). Verwendung Die Fluoroborsäure ermöglicht als starke Säure Reaktionen, die unter der katalytischen Wirkung von Protonen ablaufen (z.B. Bildung von Carbonsäuren aus Alkenen, Wasser und Kohlenmonoxid: + H 2 0 + CO -> ]^CH — C^COOH). Fluoroborate werden als Flussmittel bei der galvanischen Metallabscheidung und als Flammschutzmittel genutzt. Bortrichlorid B C 1 3 . D a r s t e l l u n g BC1 3 k a n n direkt aus den Elementen B + 1.5 C l 2 -> BC1 3 + 4 2 7 . 5 k J . I n der Technik a u f ein glühendes Gemisch von Dibortrioxid B 2 0 3 + 3 C + 3C1 2
gewonnen werden:
stellt m a n es durch Einwirkung von Chlor
und Kohle
bei 530 °C dar:
2BC13 + 3 C O .
I m Laboratorium lässt sich BC1 3 z . B . durch Chloridierung erzeugen: B F 3 + A l C l 3 BC1 3 + A l F 3 .
von B F mit A l C l 3 bei 1 5 0 - 2 0 0 ° C
E i g e n s c h a f t e n Bortrichlorid ist ein farbloses, an feuchter L u f t stark rauchendes G a s (vgl. Tab. 103). Charakteristisch ist seine große Empfindlichkeit gegenüber Wasser, durch welches es unter Substitution von C gegen O H sofort zu Borsäure und Salzsäure zersetzt wird BC1 3 + 3 H 2 0
B(OH)3 + 3HCl.
I n entsprechender Weise führt die Einwirkung von A l k o h o l e n R O H zu Borsäureestern B ( O R ) 3 , von Aminen R 2 N H zu Borsäureamiden B ( N R 2 ) 3 , von T h i o a l k o h o l e n R S H zu T h i o borsäureestern B ( S R ) 3 , von wasserfreier Perchlorsäure (bei — 7 8 ° C ) zu Bortriperchlorat B(Cl04)3. Die R e a k t i o n e n mit Wasser, Alkoholen, Aminen usw. verlaufen über Addukte D -> BC1 3 der D o n a t o r e n D an das Bortrichlorid, das wie die anderen Bortrihalogenide bestrebt ist, sein Außenelektronensextett zu einem Oktett zu ergänzen; derartige Addukte werden im Falle nicht-protonenaktiver D o n a t o r e n isolierbar, z. B.: C I I C l — B + :N—R I I C
C R'= H, Me C
>
I I C 1 — B X 2 B — O R + R X (langsam). Die Anlagerungsverbindungen sind erwartungsgemäß beständiger gegen Wasser als das freie Bortrichlorid, da bei ihnen die für die primäre Anlagerung des Wassers erforderliche vierte Koordinationsstelle des Bors besetzt ist. So kann beispielsweise die - besonders stabile - Additionsverbindung BC13 • NMe 3 (Me = Methyl; farblose Kristalle von Smp. 243 °C) aus Wasser umkristallisiert oder mit Wasser gekocht werden, ohne dass eine Hydrolyse der BCl-Bindungen erfolgt (vgl. auch die H 2 O-Beständigkeit von NaBF oder NaBH ). Bei der Anlagerung eines Chlorid-Ions C an das BC -Molekül entsteht ein dem Tetrafluoroborat-Ion B F entsprechendes ,,Tetrachloroborat-Ion" BC1 4 . Solche Tetrachloroborate sind aber - wie erwähnt - nur in Form von Salzen mit großem Kation beständig (Et = Ethyl; py = Pyridin): [NEt4]Cl+BCl3 ^
[NEt4][BC14];
Auch gemischte Tetrahalogenoborate wie
BF C
[pyH]C1 + BC13
[pyH][BC1 4 ],
existieren
Verwendung von BC13 (Weltjahresproduktion: mehrere 1001): In der Halbleitertechnik (Dotierung mit Bor), zum Herstellen von Bor sowie von Borverbindungen, für Friedel-Crafts-Reaktionen (s.o.). Bortribromid BBr 3 (farblose, stark rauchende Flüssigkeit; Tab. 103) lässt sich analog BC13 durch Halogenierung von B 2 0 3 mit Br 2 in Gegenwart von Kohlenstoff (technischer Prozess) oder durch Umhalo-
• 1102
XVI. Die Borgruppe („Triele")
genidierung von B F mittels AlBr 3 (Laborprozess), Bortriiodid Bl 3 {farblose, blätterige, hygroskopische Kristalle, Tab.103) am bequemsten durch Iodierung von NaBH 4 gemäß NaBH 4 + 2I 2 -> Nal + BI 3 + 2H 2 darstellen. Beide Trihalogenide zerfallen bei Wärme- oder Lichteinwirkung und bilden ,,Tetrabromoborate" BBr 4 und ,,Tetraiodoborate" B F , die allerdings nur in Gegenwart großer Gegenionen stabil sind. BBr 3 dient wie BC13 in der Halbleitertechnik, zur Gewinnung von Bor und Borverbindungen sowie darüber hinaus zur Etherspaltung ( E t 2 0 + BBr 3 -> EtBr + BBr 2 (0Et) usw.).
Bor(ll)-halogenide Dibortetrachlorid B 2 C1 4 . Darstellung. B 2 C1 4 kann aus BC13 durch Chlorentzug mittels Quecksilber oder Kupfer unter gleichzeitiger Energiezufuhr gewonnen werden: 2BCl 3 + 2Hg
B 2 Cl 4 + Hg 2 Cl 2 ;
2BC13 + 2CU
B 2 Cl 4 + 2 Q i a .
Gute Ausbeuten an B 2 C1 4 erzielt man mithilfe einer Mikrowellendurchladung von BQ 3 -Gas in Anwesenheit von flüssigem Quecksilber oder durch Cokondensation von Cu-Atomen (erzeugt durch Cu-Verdampfung in einem ,,Klabunde"-Metallatom-Reaktor) mit BC13. Eigenschaften Das sehr reaktionsfreudige Dibortetrachlorid (farblose Flüssigkeit; vergleiche Tab.103 sowie für Struktur S. 1098) zersetzt sich bereits oberhalb 0°C nach B 2 C1 4 ->£(BCl)„ + BC13 (s. unten) und bildet mit Donatoren :D Addukte des Typus B 2 C1 4 • 2 D (D z.B. NMe 3 , OEt 2 , H 2 S, Cl"; F a 2 " ist isoelektronisch mit C2C16). In Sauerstoff verbrennt es zu B 2 0 3 und BC13 (3B 2 Cl 4 + § 0 2 -> B 2 0 3 + 4BC1 3 ), mit Wasserstoff reagiert es unter Bildung von HBC12, Wasser zersetzt es zu Borsäure (B2C14 + 6 H 2 0 - > 2 B ( 0 H ) 3 + H 2 + 4HCl), Ethylen führt es unter Sprengung der B—B-Bindung in 1,2-Bis (dichlorboryl)-ethan C1 2 B—CH 2 —CH 2 —BC1 2 über, mit Phosphortrichlorid reagiert es zu einem oktaedrisch gebauten closo-Diphosphahexaboran P 2 B 4 C1 4 (P-Atome benachbart). Durch Dimethylaminolyse von B 2 C1 4 (ebenso durch Dehalogenierung von (Me 2 N) 2 BCl mit Alkalimetallen) ist das flüssige, sehr beständige Dimethylamino-Derivat B 2 (NMe 2 ) 4 zugänglich, aus dem durch Substitutionsreaktionen zahlreiche andere Diborverbindungen, z.B. die Hypodiborsäure B 2 ( 0 H ) 4 (durch Hydrolyse), ihre Ester B 2 ( 0 R ) 4 (durch Alkoholyse) oder das Chlorid B 2 Cl 2 (NMe 2 ) 2 (durch Umsetzung mit BC13) darstellbar sind (s. dort). Die Fluoridierung von B2C14 mit SbF3 führt zu gasförmigem Dibortetrafluorid B2F4, die Bromidierung mit BBr 3 ebenso wie die mikrowellenenergetische Zersetzung von BBr 3 zu flüssigem, bei Raumtemperatur zersetzlichem Dibortetrabromid B 2 Br 4 und die mikrowellenenergetische Zersetzung von BI 3 zu festem, bei Raumtemperatur zersetzlichem Dibortetraiodid B 2 I 4 (Charakterisierung: Tab.103; Struktur: S. 1098): 3B 2 Cl 4 + 4SbF 3 (BBr 3 )
3B 2 F 4 (B 2 Br 4 ) + 4SbCl 3 (BQ 3 );
2BX3
'/„(BX)„ + BX 3 (8 % B2F4 pro Tag bei Raumtemperatur; die Zersetzungsstabilität von Diborverbindungen sinkt in der Reihe B2(NMe2)4 > B 2 (0Me) 4 > B 2 (0H) 4 > B2F4 > B2C14 > B 2 Br 4 > B 2 I 4 » B2H4). Auch hinsichtlich vieler anderen Reaktanden verhalten sich die Diborane B 2 X 4 analog B2C14.
Bor(l)-halogenide Tetrabortetrahalogenide B 4 X 4 . Das tetraedrisch gebaute Tetrachlorid B4C14 (Tab. 103) entsteht in geringen Mengen als Nebenprodukt bei der Herstellung von B2C14 (s. o.) in Form gelber, an der Luft selbstentzündlicher, erst oberhalb 200 °C zersetzlicher Kristalle. B4C14 lässt sich durch BBr 3 auf dem Wege über isolierbare Bromidchloride B4BrCl3, B4Br2Cl2 und B 4 Br 3 Cl letztendlich zum tetraedrisch gebauten Tetrabromid B 4 Br 4 (Tab. 103) bromidieren. In analoger Weise führen Lithiumorganyle zu einer Substitution von Chlor in B4C14 gegen 0rganylgruppen, z.B. B4C14 + nLiEt -> B4Et„Cl4_„ + nLiCl (n = 1, 2, 3); B4C14 + LkBu -> B 4 iBu 4 (vgl. S. 1135). PC13 bildet mit B4C14 ein leicht in die Bestandteile dissoziierendes Addukt, PMe3 neben dem Addukt BCl3(PMe3) das hypercloso-Boran B7Cl5(PMe3)2 (a). Heptaborhepta-, Octaborocta-, Nonabornonahalogenide B 7 X 7 , B S X S , B 9 X 9 . Die dodekaedrisch gebauten Halogenide BsCls/BsBrs/BsIs sowie die dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch gebauten Halogenide B9Cl9/B9Br9/B9I9 (Charakterisierung Tab. 103) bilden sich durch thermische Disproportionierung von C / B / «B2X4
nBX3 + B„X„ (X = Cl, Br, I)
1. Das Bor
1103«
(ob die hierbei gebildeten Verbindungsgemische - wie früher vermutet - neben B 8 X 8 und B 9 X 9 auch B 10 X 10 , B U X U und B12X12 enthalten, wird angezweifelt). B 8 X 8 und B 9 X 9 lassen sich reversibel auf dem Wege über mehr oder weniger stabile Monoanionen B 8 X 8 " und B 9 X 9 " (besonders stabil blaues B 9 I 9 ~) reversibel zu Dianionen B 8 X 8 " und B 9 X 9 ~ reduzieren, welche ihrerseits durch Halogenierung von B 8 H 8 ~ und B 9 H 9 ~ synthetisierbar sind. Tatsächlich besteht der derzeit beste Weg zu B 9 X 9 in der Oxidation der durch Halogenierung von B 9 H 9 ~ gewinnbaren Anionen B 9 X 9 ~ mit Tl(OCOCF) 3 . B 8 Br 8 und B 9 Br 9 bilden sich auch über teilbromierte Zwischenstufen durch Bromidierung von B8C18 und B 9 Q 9 mit BBr 3 bei höherer Temperatur. Eine partielle Methylierung von B9C19 bzw. B 9 Br 9 erfolgt mit SnMe 4 (man kennt auch B 9 Q 8 H, B9C17H2). Die Reduktion von B 9 Br 9 mit HI l i e f e r t 9 B r 9 H und B 9 Br 9 H 2 (die H-Atome überkappen B3Dreiecksflächen). Das wohl pentagonal-bipyramidal gebaute Bromid B 7 Br 7 (Tab. 103) entsteht offensichtlich bei der Oxidation des durch Bromierung von C zugänglichen Heptaborats B (S. 1088). PMe, BF,
F, B B
A
V/ B
B C1
B B ^
BF,
F, B C 1
F2 B
B.
f
2
\
B I
/BF2
B f
BF,
2
F, B
B
PMe3 (a) B7Cl5(PMe3)2
(B) B 8 FI 2
(C) BIOFI2
Halogenborylene und niedere Borfluoride Beim Überleiten von B F über granuliertes Bor in einem Graphitrohr bei 1900-2000 °C/0.1-1 mbar erhält man in Analogie zur Gewinnung von SiF 2 (S. 949) gemäß BF 3 + 2 B
3BF
kurzlebiges, gasförmiges, „monomeres Bormonofluorid" (Fluorborylen BF), welches - in Anwesenheit von Inertgas durch rasches Abkühlen auf die Temperatur des flüssigen Heliums in den metastabilen Zustand (Tieftemperaturmatrix) überführt werden kann. Das mit CO isoelektronische B F weist - anders als die oben diskutierten ,,oligomeren Borylene" - eine s 2 -Außenelektronenkonfiguration des Bors auf. Der BF-Bindungsabstand (1.265 Ä) und die BF-Bindungsenergie (755 kJ/mol) entsprechen im Sinne der Mesomerie [B—F: B = F B = F : ] einer BF-Doppelbindung (r BF in BF 3 = 1.34Ä; B E B F in B F = 645 kJ/mol). Durch Cokondensation von BF- und BF 3 -Gas bilden sich bei —196 °C durch BFInsertion in BF 3 -Bindungen ,,höhere Borfluoride": BF3
BF
> B2F4
BF
> B 3 p5
BF
• B4F6
BF
* noch höhere Borfluoride.
Cokondensation von B F und SiF 4 führen zur BF-Insertion in SiF-Bindungen (z.B. Bildung von F 3 SiBF 2 ), Cokondensation von BF und Ethylen sowie Acetylen zu - ihrerseits weiterreagierenden Cycloaddukten C 2 H 4 B F (,,B-Fluorboriran") und C 2 H 2 B F (,,B-Fluorboriren", vgl. S.1131). Das auf dem Wege über B 2 F 4 entstehende Triborpentafluorid B 3 F S (Tab. 103; Struktur F 2 B — B F — B F 2 ) disproportioniert bereits bei — 30 °C langsam gemäß 2 B 3 F 5 -> B 2 F 4 + B 4 F 6 in Tetraborhexafluorid B 4 F 6 , das nur in dimerer Form als (B 4 F 6 ) 2 = B S F 1 2 („Octabordodecafluorid"; Tab. 103) existiert. Seine Struktur leitet sich von der B 2 H 6 -Struktur durch Ersatz aller H-Atome gegen BF 2 -Gruppen ab (4 endständige, 2 brückenständige mit Bor verknüpfte BF 2 -Gruppen), wobei die zentrale B 4 -Gruppierung - anders als die planare BH 2 B-Gruppe in B 2 H 6 - nicht planar ist (vgl. Formelbild (b)). Durch Donatoren lässt sich (B 4 F 6 ) 2 wie (BH 3 ) 2 bereitwillig symmetrisch spalten: (B 4 F 6 ) 2 + 2 D -> 2 B ( B F ) 3 • D (D z. B. O R 2 , N R 3 , CO; man kennt ein analog (BF BCO gebautes Chlorid (BC BCO). Aus dem Tieftemperaturkon densat von BF konnte bisher farbloses, kristallines Decabordodecafluorid B 1 0 F j 2 aus dem - wohl aus vielen Fluoriden B„F n+m bestehenden - Reaktionsgemischs isoliert werden. Es baut sich aus einem verzerrttetraedrischen B 4 -Käfig auf, wobei jedes B-Atom mit einer BF 2 -Gruppe verknüpft ist und zwei gegenüberliegende Tetraederkanten durch BF 2 -Gruppen überbrückt vorliegen (vgl. Formelbild (c); D 2d -Symmetrie). Auch ein kurzlebiges, gasförmiges Chlorborylen BC1 (Atomabstand 1.716 Ä; Erzeugung durch rasches Leiten von B 2 C1 4 -Dampf durch ein 1000 °C heißes Rohr) und Bromborylen B B (Atomabstand 1.87 Ä) sind bekannt
• 1104
XVI. Die Borgruppe („Triele")
1.4
Sauerstoffverbindungen des Bors 1,22
B o r bildet Oxide und Sauerstoffsäuren der Zusammensetzung B 2 0 3 , B O , B 2 O sowie H 3 B 0 3 , H 2 B 0 2 , H B O . Sie enthalten formal drei- zwei- bzw. einwertiges B o r . Von der - besonders wichtigen - , , B o r (III)-säure"
H 3 B O 3 , die wie die Kieselsäure (Schrägbeziehung) zur K o n -
densation neigt, leiten sich eine große Anzahl von Boraten (S. 1108) ab. Bezüglich des borreichen
Oxids B 1 3 0 2 (härter als B o r c a r b i d ) vgl. S. 1147.
Boroxide Dibortrioxid B 2 0 3 (häufig kurz , , B o r t r i o x i d " ) . D a r s t e l l u n g Glasiges erhält m a n durch Glühen
von Borsäure
als farblose,
B203
(„Boroxidglas")
bei R o t g l u t erweichende, schlecht kris-
tallisierende M a s s e ( q = 1.83 g / c m ; M A K - W e r t = 16 mg S t a u b / m ) , kristallisiertes (Smp. 4 7 5 ° C , Sdp. 2 2 5 0 ° C ; £ = 2 . 5 6 g/cm 3 ; AHf = 1273.6 kJ/mol) durch langsame ratisierung
von Borsäure
B203 Dehyd-
bei 1 5 0 - 2 5 0 ° C :
190.5 k J + 2 ^ B O
^
B203 + 3^0(g).
Strukturen Das kristalline Dibortrioxid bildet ein dreidimensionales Netzwerk aus sich kreuzenden Zickzackketten von eckenverknüpften planaren BO 3 -Einheiten des Typus (a).
Neben dieser Normaldruckmodifikation B 2 0 3 - I (hexagonal) existiert noch eine Hochdruckmodifikation B 2 0 3 - I I (orthorhombisch), erhältlich bei 400 0 C und 22000 bar, welche aus einem Netzwerk eckenverknüpfter B0 4 -Tetraeder besteht. Im B 2 0 3 - I ist jedes B von 3 O-Atomen und jedes O von 2 B-Atomen, in B 2 0 3 - I I jedes B- von 4 O-Atomen und f O- von 3, |O- von 2 B-Atomen umgeben. B 2 0 3 verdampft erst bei sehr starkem Erhitzen. Der Dampf besteht oberhalb 1000 0 C ausschließlich aus monomolekularen B 2 0 3 -Molekülen des Typus (b) ( 0 = B — O linear, B—O—B gewinkelt), in denen die B—O-Bindungen mit 1.36 Ä einem Zwischenzustand zwischen einfacher (ber. 1.47 Ä) und doppelter (ber. 1.27 Ä) und die B=O-Bindungen mit 1.20 Ä einem Zwischenzustand zwischen doppelter (ber. 1.27 Ä) und dreifacher Bindung (ber. 1.16 Ä) entsprechen. Eigenschaften Dibortrioxid ist sehr hygroskopisch und geht unter Wasseraufnahme leicht wieder in Borsäure, durch Umsetzung mit Alkoholen in der Wärme in Borsäureester B ( O R ) 3 über. In Laugen löst es sich zu Boraten (S. 1108). Als sehr beständige Verbindung wird Dibortrioxid durch Kohle selbst bei Weißglut nicht reduziert. Erst bei Gegenwart von Stoffen wie Chlor oder Stickstoff, die an die Stelle des Sauerstoffs treten können, wirkt die Kohle ein: B 2 0 3 + 3 C + 3C1 2 2BC1 3 + 3CO (S. 1101). Mit Fluorwasserstoff liefert Dibortrioxid Bortrifluorid: B 2 0 3 + 6 H F - > 2 B F 3 + 3H 2 O (S. 1098). Verwendung. B 2 0 3 (Weltjahresproduktion: 50 Kilotonnenmaßstab) wird u.a. zur Herstellung von Borhalogeniden sowie Borosilicatgläsern (Pyrex) genutzt. Borsuboxide Bor bildet außer dem Bor (III)-oxid noch ein wohldefiniertes Bor(II)-oxid ( B 0 ) x . Seine Struktur ist bisher unbekannt, doch dürfte es neben B—O—B- auch B—B-Bindungen enthalten. Bei 1300-1500 0 C verdampft es zu (BO) 2 -Molekülen der Struktur [ Ö = B — B = Ö < - > : O = B — B = O : ] . Man kann es u. a. durch vorsichtiges Erhitzen von B 2 (OH) 4 auf 250 0 C (0.5 mbar) oder durch starkes Erhitzen von B 2 0 3 mit B gemäß 211 kJ + B 2 0 3 + B(Q 1.5 B 2 0 2 (g) erhalten. Chloridierung mit BC13 führt zu C1 2 B—BC1 2 . Das durch Reduktion von B 2 0 3 mit Bor oder Lithium bei über 50 kbar und 1200-1800°C
22
Literatur ULLMANN (5. Aufl.): ,,Boric Oxide, Boric Acid, and Borates", A4 (1985) 263-280; J.B. Farmer: ,,Metal Borates", Adv. Inorg. Radiochem 25 (1982) 187-237; G. Heller: ,,Darstellung und Systematisierung von Boraten", Fortschr. Chem. Forsch 15 (1970) 206-280; ,,A Survey of Structural Types of Borates and Polyborates", Topics Curr. Chem 131 (1986) 39-98; I. Haiduc: ,,Boron-Oxygen Heterocycles", in I. Haiduk, D.B. Sowerby: ,,The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles", Acad. Press, London 1987, S. 109-141; H. Binder, M. Hein: ,,Chalcogeno boronhydrides", Coord. Chem. Rev 158 (1997) 171-232.
1. Das Bor
1105«
erhältliche Bor(I)-oxid (B 2 O) x (isoelektronisch mit Graphit) besitzt Graphitstruktur mit statistisch verteilten B- und O-Atomen (vgl. ( B N ) J .
Borsauerstoffsäuren Borsäure H 3 BO 3 . Darstellung. H 3 B O kommt in freiem Zustande in den Wasserdampfquellen (,,Soffionen" oder,,Fumarolen") vor, die in Mittelitalien (Toskana) dem Erdboden entströmen. Die Dämpfe werden in künstlich angelegten Lagunen kondensiert und die genügend angerei cherten Borsäurelösungen in eisernen, durch die Soffionen erwärmten Pfannen eingedampft, wobei sich die Borsäure in perlmutterglänzenden Blättchen ausscheidet. Auch als Mineral (,,Sassolin") findet sich die Borsäure in Italien bei Sasso (Toskana). Seitdem aber riesige Mengen von Kernit N a 2 B 4 0 7 • 4H 2 O und Colemanit C a ^ g O ^ • 5H 2 O in Kalifornien, große Lager von Proberit NaCaB s O 9 • 5H 2 O in Chile und erhebliche Mengen von Pandermit C a 5 B 1 2 0 2 3 • 9H 2 O in Kleinasien aufgefunden worden sind, hat die toskanische Borsäurefabrikation ihre frühere Bedeutung verloren. Die Calciumborate lassen sich durch Kochen mit Sodalösung aufschließen, wobei sich schwerlösliches Calciumcarbonat abscheidet; aus der filtrierten Lösung kristallisiert dann beim Erkalten Borax N a 2 B 4 0 7 • 10H 2 O aus. Durch Behandeln mit Salz- oder Schwefelsäure kann dieser Borax in Borsäure B(OH) 3 übergeführt werden: N a 2 B 4 0 7 + 2H + + 5 H 2 0 -> 4H 3 BO 3 + 2Na + . Auch sonst entsteht Borsäure ganz allgemein bei der Hydrolyse von Borverbindungen BX 3 (X z.B. = H, Halogen, OR, N R ) . Eigenschaften, Struktur Reine Borsäure B(OH) 3 (Smp. 170.9 °C) kristallisiert in schuppigen, weißglänzenden, durchscheinenden, sich fettig anfühlenden, sechsseitigen Blättchen der Dichte 1.48 g/cm3. Sie ist in Wasser unter Bildung von antiseptisch wirkendem ,,Borwasser" (s.u.) gut löslich (19.5 g/l bei 0 °C, 39.9 g/l bei 20 °C). Beim Erhitzen geht die Orthoborsäure H 3 BO 3 unter Wasserabspaltung zunächst in Metaborsäure HBO 2 (3 Modifikationen) und dann in glasiges, wasserhaltiges Dibortrioxid B 2 0 3 (s. oben) über: H 3 BO 3 3
3
< 130°C — H20
> ct-HBO
2
130-150°C Tage
> ß-HBO 2 2
> 150°C Wochen
" ?-HBO 2 2
500°C -^H20
> 4B203. 2
3
Die „Orthoborsäure" H 3 B O 3 bildet im Einklang mit der schuppigen Ausbildung ihrer Kristalle eine zweidimensionale Schichtenstruktur, deren einzelne, in Fig. 239 veranschaulichten Ebenen (Schichtenabstand 3.181 Ä) durch Ausbildung linearer, unsymmetrischer O—H • • • O-Wasserstoffbrücken (O—H 0.88, H - O 1.84 A) zustandekommen (BO-Abstand = 1.361 Ä, entsprechend einem Zwischenwert zwischen einfacher und doppelter Bindung; ber. 1.47 bzw. 1.27 Ä). Unter den,,Metaborsäuren" enthält a-HBO 2 (HBO 2 -III; orthorhombisch; Smp. 176.0°C; e = 1.784 g/ c m ) ringförmige Moleküle (HBO 2 ) 3 (,,trimere Metaborsäure"; vgl. Formel (a)), denen der planare „Boroxin"-Ring B 3 0 3 zugrunde liegt. Die einzelnen „Trihydroxyboroxin"-Moleküe, deren B-Atome alle die Koordinationszahl 3 aufweisen, sind über Wasserstoffbrücken zu einer zweidimensionalen Schicht struktur verknüpft (Fig.239). ß-HBO 2 (HBO 2 -II; monoklin; Smp. 200.9 °C; e = 2.045 g/cm3) bzw. y-HBO 2 ( H B O - I ; kubisch; Smp. 236 °C; ^ = 2.486 g/cm) bilden kettenförmige bzw. raumnetzartige Moleküle ( H B O ^ („polymere Metaborsäuren") mit den Koordinationszahlen 3 und 4 der B-Atome in ersterem Falle (vgl. Formel (b)) bzw. 4 aller B-Atome (vgl. Formel (c); schematisch). Wie im Falle von a-HBO 2 sind auch in ß- und y-HBO 2 Wasserstoffbrücken wirksam. Erhitzt m a ^ 0 3 in Anwesenheit von H 2 ODampf ( < 0.2mbar) auf 800-1100°C, so entsteht gasförmige ,,monomere Metaborsäure" HBO2 = H O — B = O mit linearer OBO Gruppe 23 . Trimere Metaborsäure (HBO 2 ) 3 existiert in der Gasphase nur untergeordnet ( < 1 % ) neben HBO 2 .
23 Oxoboran HB=O und Derivate XB=O, X B = S (linear) sind hinsichtlich ihrer cyclischen Trimeren thermodynamisch und kinetisch instabil. In einer Tieftemperaturmatrix isoliert und/oder in der Gasphase bei hohen Temperaturen nachgewiesen wurden u. a. HBO, FBO, ClBO, BrBO, HOBO, MeBO, HBS, FBS, ClBS, BrBS, MeBS. Eine Isolierung von Derivaten XBO und XBS mit sehr sperrigen Resten X ist möglich; X z.B. 2,4,6-Dsi3C6H2 mit Dsi = CH(SiMe3)2 (vgl. hierzu Methylen-und Iminoborane XB=CH 2 , XB=NH, S. 1130,1119). Die kurzzeitige Existenz von T b t B = 0 sowie TbtB=S (Tbt = 2,4,6-[(Me 3 Si) 2 CH] 3 C 6 H 2 ) ließ sich durch die Bildung von Abfangprodukten (Addition von H 2 O, MeOH; [2 + 3]- bzw. [2 + 4]-Cycloaddition von 2,4,6-Me 3 C 6 H 2 —C=N—O bzw. CH 2 =CMe—CMe=CH 2 ) nachweisen
• 1106
XVI. Die Borgruppe („Triele")
a -Metaborsäure
Orthoborsäure
Fig. 239 Struktur der 0rtho- und a-Metaborsäure (zur besseren Übersicht sind die H 3 B 0 3 - und trimeren a-HB0 2 -Moleküle abwechselnd fett und dünn gedruckt).
Die in verdünnter wässriger Lösung vorliegende 0rthoborsäure wirkt als sehr schwache, einbasige Säure. Und zwar fungiert sie nicht als H + -Donor (Brönsted-Säure), sondern als 0 H " -Akzeptor (Lewis-Säure) und setzt sich mit Wasser unter Bildung des TetrahydroxoboratIons B ( 0 H ) i ins Gleichgewicht: B(0H)3 + H0H
H + + B(0H) 4 -
bzw.
B(0H)3 + 2 H 2 0 ^ H 3 0 + + B(0H)4 .
(1)
Ihre Säurestärke (p^ s = 9.25) entspricht etwa der des Cyanwasserstoffs. Dementsprechend sind die Salze der Borsäure (Zusammensetzung: M H 2 B 0 3 • H 2 0 = M [ B ( 0 H ) 4 ] ) stark hydrolytisch gespalten (B(0H) 4 B ( 0 H ) 3 + 0H~). Durch Zusatz mehrwertiger Alkohole wie Mannit kann die Borsäure in komplexe Säuren von der Stärke etwa der Essigsäure übergeführt werden (Verschiebung des Säuregleichgewichtes nach rechts; Erhöhung des pK- Wertes von 9.25 um 4 Einheiten auf 5.15): > C — O H + HO >c—o
H + HO:
OH + H O — C < OH + H O — C
V - ° w •—n/ >C—O
0
-
c
12) enthalten wässrige H 3 B0 3 -Lösungen ausschließlich das Ion B ( 0 H ) 4 . Bei mittleren pH-Werten (pH = 4-12) existieren neben B(0H) 3 -Molekülen und B ( 0 H ) 4 - I o n e n auch die Ionen [ B 3 0 3 ( 0 H ) 4 ] " , [ B 3 0 3 ( 0 H ) 5 [ B 4 0 5 ( 0 H ) 4 ] 2 " , [ B 5 0 6 ( 0 H ) J " , die formal Kondensationsprodukte von B ( 0 H ) 3 und B ( 0 H ) 4 darstellen und sich von der,,Cyclotriborsäure" H 3 B 3 0 6 = B 3 0 3 ( 0 H ) 3 (in wässriger Lösung nicht existent, aber in Substanz isolierbar, p ^ s = 6.84; vgl. Formel (a)), der ,,Bicyclotetraborsäure"^^^01 = B 4 0 5 ( 0 H ) 2 (unbekannt; Formel (l), abzüglich 20 -Gruppen) sowie der,,Bicyclopentaborsäure" H 5 B 5 O 1 0 — H [ B 5 0 6 ( 0 H ) 4 ] (unbekannt; vgl. Formel (m) abzüglich 2 0 H " -Gruppen) ableiten + 2H20 B303(0H)3 ^ = t H
3
0
+
±2H20 + B303(0H)4 ^ ^ 2 H 3 0 + + B303(0H)2".
(2)
Bei niedrigen pH- Werten (pH < 4) liegt im Wasser ausschließlich das Molekül B ( 0 H ) 3 vor. 0 H " -Addukte höherer 0ligoborsäuren bzw. von Polyborsäuren (in Substanz isolierbar, vgl. Formel (b), (c)) bilden sich in Wasser nicht Wie aus den Formeln (a), (b), (c) der Metaborsäure und den Formeln (k), (l), (m), (n) von Boraten hervorgeht, kommt dem mit dem organischen ,,Triazin"-Ring (d) isoelektronischen planaren ,,Boroxin"-Ring (d') eine hohe Bildungstendenz zu (B0-Abstand in N a B 0 2 = 1.36 A; ber. für B0-Einfach-/ Doppelbindung, 1.47/1.27 Ä):
(d) Triazine
(d') Boroxine
(e) Tetraoxadiborinane
(f) Trioxadiborolane
Er ist auch in Form anderer Derivate B 3 0 3 X 3 bekannt (Substituenten X am Bor z.B. H, 0rganyl, Halogen, O " , 0 R , N 2 " , NR 2 ), welche ganz allgemein aus Bor(III)-oxid und den entsprechenden Boranderivaten B X 3 gewinnbar sind: B 2 0 3 + B X 3 © OH /B BC HO | | OH B I OH (k) [B 3 0 3 (0H) 5 ] 2 -
OH le O—B—O / I \ HO—B O B—OH \ I© / O—B—O I OH (1) [B 4 0 5 (0H) 4 ] 2 OH i
HO
O^ HO. |©
OH
\
/
B—O O—B-OH / \ /n ©\ O Be O \ «
HO—B—O
X®XO
0 1
/
/ x
O—B
HO (m) [B 5 0 6 (0H) 6
HO OH
]3-
^o ©| OH
I©
U
(n) [B 6 0 7 (0H) 6 ]
( r Y Y N ^ O O—B / \ / Cu Cu \ / \ / \ B—O O O—B / \ / \ / O Cu Cu \ B—O O O—B
O
/
B—O
\
(k V v
O I
OH U
6 -
OH
1
J
[CU4O{B20O32(OH)8}]6 = —0-B(0H)-0— (o)
\ / \
O O
1. Das Bor
1109«
N a C a [ B 5 0 6 ( 0 H ) 6 ] • 5 H 2 0 und das Hexaborat-Ion (n) im „Aksait" M g B 6 0 1 0 • 5 H 2 0 = M g [ B 6 0 7 ( 0 H ) 6 ] • 2 H 2 0 . Als Beispiele sehr kleiner und großer Oligohydroxoborate seien das DiboratIon [ B 2 0 ( 0 H ) 6 ] 2 " , das etwa im Mineral „Pinnoit" M g B 2 0 4 • 3 H 2 0 = M g [ B 2 0 ( 0 H ) 6 ] angetroffen wird, und das Ikosaborat-Ion [B 2 0 O 3 2 (0H) 8 ~] 1 2 ~ (o), das der künstlich hergestellten Verbindung Na 5 H { C u 4 0 [B 2 0 O 3 2 ( 0 H ) 8 ] } zugrunde liegt, genannt. Neben den 0ligohydroxoboraten kennt man auch eine Reihe wasserfreier ,,Oligoborate", z.B. das Diborat M g 2 B 2 0 5 (,,Suanit"), das Triborat CaAlB 3 0 7 (,,Johachidolit"), das Tetraborat L i 6 B 4 0 9 (jeweils gleiches Grundgerüst wie in den entsprechenden Hydroxoboraten). Polyborate. Den Polyboraten liegt zum Teil das durch Wasserabspaltung aus der 0rthoborsäure B ( 0 H ) 3 über ,,0rthodiborsäure" (H0) 2 B—O—B(0H) 2 zustande kommende Anion (p) der,,Orthopolyborsäure" — B ( 0 H ) — O — B ( 0 H ) — O — B ( 0 H ) — O — zugrunde (Beispiele: L i [ B 0 2 ] , C a [ B 0 2 ] 2 , S r [ B 0 2 ] 2 ) . Unter Druck verwandeln sich derartige ,,Metaborate" in neue Modifikationen, in denen die B-Atome teilweise oder vollständig von vier 0-Atomen umgeben sind (z. B. Koordinationszahl des Bors in Ca [ B 0 2 ] 2 - I : 3; in Ca[B0 2 ] 2 -II/-III: 3 und 4; in C a [ B 0 2 ] 2 - I V : 4). Vielfach liegen den (hydroxygruppenhaltigen und -freien) Polyboraten aber miteinander kondensierte Inselborate (s.o.) zugrunde, z.B.: L i 2 B 4 0 7 mit dem polymeren Tetraborat B 4 0 2 " (r);,,Colemanit"Ca 2 [B 6 O a a ] • 5 H 2 0 = 2 C a [ B 3 0 4 ( 0 H ) 3 ] • H 0 mit dem polymeren Triborat [ B 3 0 4 ( 0 H ) 3 ] 2 " (s) und ,,Kernit" N a 2 [ B 4 0 7 ] • 4 H 2 0 = Na 2 [ B 4 0 6 (0H) 2 ] • 3 H 2 0 mit dem polymeren Tetraborat [ B 4 0 6 ( 0 H ) 2 ] 2 " (t) (in letzteren drei Formeln sind die Brückensauerstoffatome zwischen zwei Inselboraten je zur Hälfte dem einen und dem anderen Inselborat zuzurechnen).
Die bei hohen Drücken und Temperaturen synthetisierten Borate Ln 4 B 6 O a 5 = 2 L n 2 0 3 • 3 B 2 0 3 (Ln = Dy, Ho) und a - L n 2 B 4 0 9 = L n 2 0 3 • 2 B 2 0 3 (Ln = Eu, Gd, Tb, Dy) weisen Netzwerte aus eckenund kantenverknüpfte B0 4 -Gruppen auf (eine Kantenverknüpfung von B0 4 -Tetraedern erfolgt wegen des kleinen Radius von Bor offensichtlich nur unter Druck). Heteroborate. Man kennt auch eine Reihe von Boraten, die neben B andere Nichtmetalle oder Halbmetalle enthalten. In ihnen liegen selbst in Fällen, in denen wie in,,Bortriperchlorat" B (Cl0 4 ) 3 dieses Heteroatom wenig basisch ist, keine Bor-Kationen vor. Dementsprechend ist auch das beim Erhitzen von Borsäure mit Phosphorsäure oder von Bortrioxid mit Phosphorpentaoxid gemä B(0H)3 + H3P04 ^ BP04 + 3 H 2 0
bzw.
B 2 0 3 + P205
2BP04
entstehende ,,Borphosphat" B P 0 4 kein Salz, sondern als kovalente Verbindung mit dem Siliciumdioxid S i 0 2 in seiner Quarz-, Tridymit- und Cristobalit-Modifikation isostrukturell (Ersatz von Si—O—Si durch die isovalenzelektronische Gruppe B—O—P). Analoges gilt für das ,,Borarsenat" BAsO 4 . Bezüglich der Borosilicate vgl. S.958. Borax N a 2 B 4 0 7 • 1 0 H 2 0 (Struktur s. oben) wurde früher unter dem Namen Tinkal aus Tibet in großer Menge nach Europa eingeführt. Heute wird die weitaus überwiegende Menge Borax aus Kernit N a 2 B 4 0 7 • 4 H 2 0 (Lösen in heißem Wasser unter Druck und Auskristallisierenlassen) oder aus Calciumboraten (s. oben) gewonnen. Größter Borax-Produzent ist Kalifornien. Borax bildet in reinem Zustande große farblose, durchsichtige, an trockener Luft oberflächlich verwitternde Kristalle, welche beim Erhitzen auf 350-400 0 C in wasserfreies Natriumtetraborat N a 2 B 4 0 7 (Smp. der a-Form 743 0 C) übergehen (vgl. Formel (r)). Die glasartige Schmelze des Tetraborats vermag viele Metalloxide unter Bildung charakteristisch gefärbter Borate aufzulösen (vgl. die ebenfalls charakteristisch gefärbten Metallaluminate (S. 1164), Metallsilicate (S. 963) und Metallphosphate (S. 798)). Hiervon macht man in der analytischen Chemie zum ,,Nachweis von Metalloxiden" Gebrauch (,,Boraxperle"). Auch die Verwendung von Borax beim Löten beruht auf dieser Boratbildung, indem Borax in der Hitze die 0xidhaut der zu lötenden Metalle beseitigt und so eine saubere 0berfläche schafft Große Mengen Borax (Weltjahresproduktion: Megatonnenmaßstab) werden in der Keramik-, Emaille-, Porzellan- und Glasindustrie z. B. zur Herstellung leichtschmelzender Glasuren (Emaille; s. dort) oder besonderer Glassorten mit geringerem Ausdehnungskoeffizienten (für Laborgeräte, optische Gläser) verbraucht. In der Wäscherei diente es früher zur Enthärtung des Wassers (,,Kaiserborax"), heute als Aus-
• 1110
XVI. Die Borgruppe („Triele")
gangsmaterial für die Gewinnung von „Perboraten'' (s.u.). Man nutzt es ferner zur Herstellung von Dünge-, Flammschutz- und Korrosionsschutzmitteln sowie in der Metallurgie als Fluss-, Schweiß- und Lötmasse. Peroxoborate. Löst man Orthoborsäure in Wasserstoffperoxid, so bildet sich u. a. unter Austausch der OH- gegen die OOH-Gruppe Orthoperoxoborsäure B (OH) 2 (OOH), die sich wie B (OH) 3 mit Wasser zum „Trihydroxohydroperoxoborat-lon'' umsetzen kann: B(OH) 3 + H 2 0 2 + H 2 0 H 3 0 + + B(OH) 3 (OOH)~. Auch entsteht durch Zugabe von Wasserstoffperoxid zu einer Lösung von Borsäure in Natronlauge („Natriummetaborat-Lösung''; dargestellt aus Borax bei 90°C nach: N a 2 B 4 0 7 + 2NaOH 4NaBO 2 + O) auf dem Wege NaBO
NaBO
„Natriumperoxoborat'' („Natriumperborat'') Na 2 [B 2 (O 2 ) 2 (OH) 4 ] • 4H 2 O, dem das Peroxoanion [ ( H O ) 2 B ( — O — O — ) 2 B ( O H ) 2 ] 2 _ mit sechsgliederigem, sesselförmigem B 2 (O 2 ) 2 -Ring zugrunde liegt (vgl. Formel (e)). Viele Wasch- und Bleichmittel für Wolle, Seide, Stroh, Elfenbein usw. enthalten Natriumperborat (Weltjahresproduktion: fast Megatonnenmaßstab). Auch in der Kosmetik (als Bleichmittel für Haare) und als Desinfektionsmittel finden Perborate Verwendung. Im Gemisch mit wasserstoffperoxidzersetzenden Stoffen dienen Perborate zur Bereitung von Sauerstoffbädern.
1.5
Schwefelverbindungen des Bors 1 , 2 4 , 2 5
Borsulfide25. Dibortrisulfid B 2 S 3 entsteht durch Vereinigung von Bor mit Schwefel bei 900 0 C oder durch thermische Schwefelwasserstoffabspaltung aus Borthiin (HSBS) 3 gemäß 2B + fS8
B2S3
bzw.
§(HSBS) 3
B 2 S 3 + H2S
als blassgelbes, schwer zu kristallisierendes, meist glasig anfallendes, bei 320 0 C erweichendes und bei 700 0 C im Vakuum sublimierendes Produkt, das von Luft in der Wärme oxidiert und von Wasser leicht hydrolysiert wird (B 2 S 3 + 6 H 2 0 2 B (OH) 3 + 3 H S ) . Als weiteres (borärmeres) Borsulfid entsteht farbloses, hydrolyseempfindliches Bordisulfid B S 2 beim Erhitzen eines Gemisches von B 2 S 3 und S 8 in einem evakuierten Quarzrohr auf 300 0 C. Es scheidet sich an kühleren Rohrstellen ab und zwar bei Temperaturen < 100 0 C in oktamerer Form (BS 2 ) 8 (Smp. 115 0 C, Zers.), bei Temperaturen > 120 0 C in polymerer Form (BS 2 ) X . Ein (borreicheres) Dodecaborsulfid B 1 2 S (möglicherweise auch B 1 2 S B ; vgl. S. 1046) bildet sich durch rasches Erhitzen von Bor und Schwefel auf 1600-1700 0 C. Vgl. auch die Thioborate, S.1111. Strukturen. B 2 S 3 besitzt anders als B 2 0 3 keine Raumnetz-, sondern eine Schichtstruktur, wobei sich die einzelnen Schichten aus viergliederigen Dithiadiboretan-Ringen (a) und sechsgliederigen TrithiatriborinanRingen (b) aufbauen, die über einzelne S-Atome miteinander verknüpft sind (trigonal-planare B-Atome; BS-Abstände ca. 1.81 Ä; Schichtabstände 3.55 Ä). Und zwar hat jeder B 2 S 2 -Ring zwei B 3 S 3 -Nachbarn, jeder B 3 S 3 -Ring einen B 2 S 2 - und zwei B 3 S 3 -Nachbarn. (BS 2 ) 8 setzt sich demgegenüber aus fünfgliederigen Trithiadiborolan-Ringen (c) zusammen, wobei jeweils vier B 2 S 3 -Einheiten über S-Atome zu einem porphinartigen Cyclus verbunden sind (d): ( B 2 S 3 ) 4 S 4 = B 8 S 1 6 . Analog sind in (BS 2 ) X B 2 S 3 -Ringe über SAtome untereinander zu unendlichen Ketten verknüpft
Dithiadiboretane (a)
Trithiatriborinane (b)
Trithiadiborolane (c)
B8Si6
(d)
24 Literatur B. Krebs: ,,Thio- und Selenoverbindungen von Hauptgruppenelementen - neue anorganische Oligomere und PolymereAngew. Chem 95 (1983) 113-134; Int. Ed. 22 (1983) 113; W. Siebert:,,Boron-Sulphur andBoron-Selenium Heterocycles'', in I. Haiduc, D.B. Sowerby: ,,The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles", Acad. Press, London 1987, S. 143-165; O. Conrad, C. Jansen, B. Krebs: ,,Bor-Schwefel- und Bor-Selen-Verbindungen. - Von Prinzipien einzigartiger Molekülstrukturen zu neuartigen Polymermaterialien'''', Angew. Chem 110 (1998) 3396-3407; Int. E d 37 (1998) 3208; O. Conrad, B. Krebs: „Inorganic Rings in Thio- and SelenoboratesPhosphorus, Sulfur, Silicon 124/125 (1997) 37-49. 25 Man kennt auch die Borselenide B 2 Se 3 und (BeSe2)x sowie Seleno- und Telluroborate, die analogen Bau wie die entsprechenden Bor-Schwefel-Verbindungen aufweisen.
1. Das Bor Das bei hohen Temperaturen gebildete monomere B 2 S 3 ( S = B — S — B = S ; V-förmig mit lässt sich in der Tieftemperaturmatrix isolieren.
1111«
BSB ca. 120°)
Thioborsäuren, Thioborate. Während eine ,, Orthothioborsäure" H 3 BS 3 = B(SH) 3 unbekannt ist, lassen sich die ,,Metathioborsäuren"(HBS 2 ) 2 = H 2 B 2 S 4 (,,Dimercaptodithiodiboretan" (a) mit B-gebundenen SHGruppen; Smp. ca. 120°C) und (HBS 2 ) 3 = H 3 B 3 S 6 (,,Trimercaptotrithiotriborinan" (b) mit B-gebundenen SH-Gruppen; Smp. 144°C) und die Thiosäure H 2 B 2 S 3 (,,Dimercaptotrithiodiborolan" (c) mit B-gebundenen SH-Gruppen; zersetzliche, unter Kondensation in (BS 2 ) 8 übergehende Verbindung). Die Säuren lassen sich durch Reaktion von H 2 S mit den Halogenoderivaten B 2 S 2 Hal 2 , B 3 S 3 Hal 3 und B 2 S 3 Hal 2 der Thiosäuren (Ersatz von SH gegen Hal) synthetisieren, wobei letztere ihrerseits aus BHal 3 und H 2 S oder H2S-liefernden Edukten wie HgS, (Me 2 SiS) 23 bzw. aus BHal 3 und H 2 S 2 in Schwefelkohlenstoff zugänglich sind «BHal 3 + nH 2 S ^ B„S„Hal„ + 2«HHal (n = 2, 3); 2BHal 3 + 2H 2 S 2 ^ B 2 S 3 Hal 2 + 4HHal + 8 (z. B. B3S3C13: Zers. 60°C; B 3 S 3 Br 3 : Smp. 99°C, Zers. 120°C; B 3 S 3 I 3 : Smp. 140°C; Zers. 170°C; B2S3C12: Sdp. 48°C bei 12mbar; B 2 S 3 Br 2 : Sdp. 66°C bei 12mbar; B 2 S 3 I 2 : Sdp. 85°C bei 0.15mbar). Als Derivate der erwähnten Thiosäuren (einschließlich H 3 BS 3 ) seien genannt Säureester und -thioester B(SR) 3 , B 2 S 2 (YR) 2 , B 3 S 3 (YR) 3 und B 2 S 3 (YR) 2 (Y = 0 , S); (z.B. ^ 3 ( 0 M ^ 3 : Smp. 27.5°C) sowie Säureamide B(NR 2 ) 3 , B 2 S 2 (NR 2 ) 2 , B 3 S 3 (NR 2 ) 3 und B 2 S 3 (NR 2 ) 2 (z.B. B 3 S 3 (NMe 2 ) 3 : Smp. 118°C; B 2 S 3 (NH 2 ) 2 : Smp. 32°C, Sdp. 110°C bei 0.1 mbar). Von der 0rthothioborsäure leiten sich die ,,Orthothioborate" M 3 B S 3 sowie M 5 B S 4 mit trigonal-planaren BS 3 - bzw. tetraedrischen BS 4 -Gruppen, von der Metathioborsäure die,,Metathioborate" (MBS 2 ) 3 mit trigonal-planaren BS 3 -Gruppen ab (M = Metalläquivalent, z.B. Alkalimetall, 1/2 Erdalkalimetall). Daneben existieren P b 2 B 2 S 5 (enthält adamantanartige B 4 S®"-Anionen mit tetraedrischen BS 4 -Gruppen), Ag 3 B 5 S 9 (enthält ein Anion aus 10 miteinander verknüpften BS 4 -Tetraedern) und TlBS 3 (enthält ein kettenförmiges Anion mit BS 4 -Tetraedern, die über S—S-Bindungen sowie gemeinsame S-Atome verknüpft sind). Man gewinnt die Thioborate durch Zusammenschmelzen der Elemente oder der zugrundeliegenden binären Sulfide. Die Thioborsäuren sowie die Borate mit dreifach koordinierten B-Atomen sind wasserlabil und hydrolysieren zu 0rthoborsäure und Schwefelwasserstoff.
1.6
Stickstoffverbindungendes Bors 1,7,26
Überblick Zwei benachbarte Kohlenstoffatome weisen zusammen ebenso viele Elektronen auf (4 + 4 = 8) wie eine Gruppe aus einem Bor- und einem Stickstoffatom (3 + 5 = 8). Somit sind CC- und BN-Gruppierungen miteinander isoelektronisch, und man gelangt durch Tausch von CC-Paaren in gesättigten sowie ungesättigten Kohlenstoffverbindungen gegen BN-Paare zu isoelektronischen gesättigten sowie ungesättigten Bor-Stickstoff-Verbindungen. Es entsprechen dann etwa den Molekülen Ethan, Ethen, Ethin oder Benzol die Moleküle,, Amminboran", ,,Aminoboran", ,,Iminoboran" oder ,,Borazin" (vgl. S.1112; bezüglich der wiedergegebenen Valenzstrichformeln s. weiter unten). Um die Verwandtschaft mit den Alkanen, Alkenen und Alkinen anzuzeigen, bezeichnet man die Amminborane auch als „Borazane", die Aminoborane als,,Borazene" und die Iminoborane als „Borazine". Unter letzteren versteht man heute ausschließlich die Trimerisierungsprodukte der Aminoborane, die man auch ,,Borazole" nannte. Der Benennung von Verbindungen mit ^BN^- und — BN—-Gruppen 26 Literatur. ULLMANN (5. Aufl.): ,,Boron Carbide, Boron Nitride, and Metal Borides", A4 (1985) 295-307; B. Blaschkowski, H. Jing, H.-J. Meyer: ,,Nitridoborate der Lanthanoide: Synthesewege, Strukturprinzipien und Eigenschaften einer neuen VerbindungsklasseAngew. Chem 114 (2002) 3468-3483; Int. Ed. 41 (2002) 3322; K. Niedenzu:,,BoronNitrogen-Compounds", Acad. Press, New York 1965; P. Paetzold: „Darstellung, Eigenschaften und Zerfall von Boraziden", Fortschr. Chem. Forsch 8 (1967) 437-469; E. Wiberg: ,,Das anorganische Benzol B3N3H6 und seine MethylhomologenNaturwiss. 35 (1948) 182-188, 212-218; J.C. Sheldon, B.J. Smith: „The Borazoles", Quart. Rev. 14 (1960) 200-219; E.K. Mellon, jr., J.J. Lagowski: „The Borazines", Adv. Inorg. Radiochem. 5 (1963) 259-305; A. Meller: ,,Preparative Aspects of Boron-Nitrogen Ring Compounds" und ,,The Chemistry of Aminoboranes", Fortschr. Chem. Forsch 15 (1970) 146-190 und 26 (1972) 37-76; W. Maringgele: ,,Boron-Nitrogen-Heterocycles", in I. Haiduc, D.B. Sowerby: ,,The Chemistry of Inorganic Homo- and Heterocycles", Acad. Press, London 1987, S. 17-101; J.J. Lagowski:,, Metal Derivatives of the Borazines", Coord. Chem. Rev 22 (1977) 185-194; R.N. Grimes: ,,Metal Sandwich Complexes of Cyclic Planar and Pyramidal Ligands Containing Boron", Coord. Chem. Rev 28 (1979) 47-96; P. Kölle, H. Nöth: „The Chemistry of Borinium andBorenium Ions", Chem. Rev 85 (1985) 399-418; H. Nöth: ,,Die Chemie von Amino-imino-boranen", Angew. Chem 100 (1988) 1664-1684; Int. E d 27 (1988) 1603; P. Paetzold: ,Jminoboranes", Adv. Inorg. Chem 31 (1987) 123-170; M. Müller, P. Paetzold: ,,Tri-tert-butylazadiboriridine: a molecule with a basic boron-boron bond", Coord. Chem. Rev 176 (1998) 113-134.
• 1112
XVI. Die Borgruppe („Triele")
H I
H I
\
I
/ C
H—C—C—H I
H
H
Ethan (rcc=1.54Ä)
H
H
I I H—B 1400°C) und gegebenenfalls CaCl 2 als Flussmittel lässt sich das BN-Netz in Ab- oder Anwesenheit von Reduktionsmitteln zu Nitridoboraten B N " , B 3 N ^ , B N 3 " , B 2 N 4 ~, BN*" (x = 2, 4, 6) abbauen, formal: + N3~ BN*7+B3Nr
B 3 N 3 H 6 + 6H 2 ; Triglyme
3NaBH 4 + 3NH 4 Cl — —
> B 3 N 3 H 6 + 3NaCl + 9H 2 .
Bequemer ist es, aus BC13 und N H C l das ,,B-Trichlorborazin" B 3 N 3 H 3 C1 3 (90%ige Ausbeute) zu synthetisieren und dieses dann mit NaBH 4 zu hydrieren (über 9 0 % Ausbeute):
• 1116
XVI. Die Borgruppe („Triele")
3BCL + 3NH.C1
-9HC1 C 6 H 5 Cl, 140-150°C
C
• 3 H , — 3C1" (C4H9)20
B3N3H6.
Derivate Durch Methylierung (statt Hydrierung) von C1 3 B 3 N 3 H 3 mittels MeMgBr erhält man das ,,BTrimethylborazin" Me 3 B 3 N 3 H 3 , (Smp. 31.4 0 C, Sdp. 129 0 C), durch Umsetzung von BC13 mit NH 3 MeCl (statt mit NH 4 Cl) und Hydrieren des dabei entstehenden „N-Trimethyl-B-trichlorborazins" ^ ^ N 3 M e 3 das „N-Trimethylborazin" H 3 B 3 N 3 Me 3 (Smp. — 7.5°C, Sdp. 133 0 C). Das aus BMe 3 und N ^ M e unter Abspaltung von Methan MeH erhältliche „Hexamethylborazin" Me 3 B 3 N 3 Me 3 schmilzt bei 97.1 0 C und siedet bei 221 0 C. -3NC1, 6C Physikalische Eigenschaften Borazin (Borazol) stellt eine farblose, wasserklare, leichtbewegliche Flüssigkeit von aromatischem Geruch dar, welche bei 55.0 0 C siedet, bei — 57.92 0 C erstarrt und die Elektronenkonfiguration und planare Sechsringstruktur des Benzols C6H6 besitzt (D3h-Symmetrie; trigonalplanare B- und N-Atome; NBN- und BNB-Winkel 120 0 C). Da die physikalischen Eigenschaften (z.B. Dichte, Schmelzpunkt, Siedepunkt, kritische Temperatur, Verdampfungsenthalpie, Troutonkonstante, Parachor, Oberflächenspannung) des Borazins (ANf = —531.4 kJ/mol) weitgehend mit denen des isoelektronischen Benzols übereinstimmen, wird es auch als ,,anorganisches Benzol" bezeichnet. Der BNAbstand im Borazin beträgt 1.436 Ä (CC-Abstand im Benzol: 1.397 Ä) und liegt damit erwartungsgemäß wie beim hexagonalen a-Bornitrid (s. oben) zwischen den Werten für eine Einfach- (1.54 Ä) und eine Doppelbindung (1.37 Ä); die NH- und BH-Abstände entsprechen mit 1.02 bzw. 1.20 Ä Einfachbindungen. In analoger Weise gleichen die physikalischen Eigenschaften der Methylhomologen des Borazins (z.B. der beiden ,,anorganischen Mesitylene" Me 3 B 3 N 3 H 3 und H 3 B 3 N 3 Me 3 und des ,,anorganischen Mellithols" Me 3 B 3 N 3 Me 3 ) weitgehend denen der isoelektronischen Methylbenzole. Ein dem Borazin B 3 N 3 H 6 entsprechendes „Borphosphin" B 3 P 3 H 6 oder ,,Alazin" A1 3 N 3 H 6 existiert nicht, da Phosphor und Aluminium (2. Achterperiode) zum Unterschied vom Bor (1. Achterperiode) zur Ausbildung von pjD^-Bindungen weniger befähigt sind, sodass beide Verbindungen nur in polymerer, doppelbindungsfreier Form auftreten. Man kennt jedoch sperrig substituierte Borphosphine (S.1125) und Alazine (S. 1148). Chemische Eigenschaften Im Unterschied zu Benzol C 6 H 6 und seinen Derivaten neigen Borazin B 3 N 3 H 6 (a) und seine Derivate zu Additionsreaktionen und lagern an ihre 7t-Bindungen leicht (bereits bei 20 °C) 3 Mole H X wie Wasser, Methanol, Chlor- oder Bromwasserstoff unter Bildung 7t-bindungsfreier ,,anorganischer Cyclohexane" (b) an (der Wasserstoff von H X wandert erwartungsgemäß zum negativ polarisierten N-Atom, der X - R e s t zum positiv polarisierten B-Atom). Offensichtlich ist also die „Aromatizität" der Borazine schwächer als die der Benzole ausgeprägt. Bei 100 °C eliminieren die Additionsverbindungen (b) ihrerseits 3 Mole H 2 unter Bildung der,,rearomatisierten" Borazine (c). Letztere stellen formal Produkte einer nucleophilen Substitution borgebundenen Hydrids H~ durch X ~ dar. In analoger Weise lassen sich Chlorid oder Bromid in B-Trihalogenborazinen (c) rasch durch andere Nucleophile N u " wie O H " , O R " , S C N " , C N " , N 0 2 , R " , SiR 3 " ersetzen (c'). Benzole neigen demgegenüber weniger zur nucleophilen, sondern umgekehrt zur elektrophilen Ringsubstitution (vgl. Lehrbücher der organischen Chemie), während die Tendenz der Borazine wiederum für elekt rophile Substitutionen unter Ringerhalt viel kleiner als die der Benzole ist
1. Das Bor
1117«
Bei der Thermolyse von B 3 N 3 H 6 (5 Tage, 380°C) entstehen u.a. ein bei 29 0 C schmelzendes „anorganisches Naphthalin" H 8 (d) und ein bei 60 0 C schmelzendes ,,anorganisches Biphenyl" B 6 N 6 H 1 0 (e), also Verbindungen, die wie das ,,anorganische Benzol" B 3 N 3 H 6 Ausschnitte aus dem hexagonalen a-Bornitrid repräsentieren. Die Photolyse von Borazin liefert u. a. ein Isomeres des anorganischen Diphenyls (e) mit BB- statt NB-Verknüpfung und dazu das anorganische Naphthalin (d). Analog dem Benzol bildet auch Borazin (in Form von Hexaorganyl-Derivaten) Metall-Komplexe (vgl. S. 917, 1837f). So entspricht etwa (C 6 Me 6 )Cr(CO) 3 der Komplex (B 3 N 3 Me 6 )Cr(CO) 3 (f) (gewinnbar aus (CH 3 CN) 3 Cr(CO) 3 und B 3 N 3 Me 6 ). Allerdings ist der komplexgebundene B 3 N 3 Me 6 -Ligand anders als das freie Borazin und im Unterschied zu komplexgebundenem C 6 Me 6 nichtplanar (CrB/CrNAbstände 2.31/2.22 Ä). Dies ist zum Teil eine Folge der unterschiedlichen Atomradien von Bor und Stickstoff (0.82/0.77 Ä), aber zum Teil wohl auch eine Folge des schwächeren aromatischen Charakters von Borazinen Amminborane. Das ,,anorganische Ethan" H 3 B — N H und seine Derivate X 3 B — N R 3 („Amminborane"; C 3v -Molekülsymmetrie; tetraedrische B- und N-Atome) lassen sich im Allgemeinen bequem aus den Komponenten B X 3 (X z.B. H, Organyl, Halogen) und N R (R z.B. H, Organyl) gewinnen und stellen meist farblose, kristalline Feststoffe dar, z.B.: „Amminboran" H3B NH 3 (Smp. 114°C, Zers.; rBN = 1.56 A; BN-Dissoziationsenergie = 176 kJ/mol; Rotationsbarriere ca. 12 kJ/mol; festes H 3 B — N H enthält Diwasserstoffbrücken, vgl. S.164); „Trimethylaminboran" H 3 BNMe 3 (Smp. 94°C, Sdp. 171 0 C); ,,Trimethylamintrimethylboran" M 3 B N ^ (Smp. 128 0 C). Bezüglich der NR-Addukte von Bortrihalogeniden vgl. S. 1099 und 1101. Außer diesen acyclischen Amminboranen kennt man auch eine Reihe cyclischer Verbindungen (—X 2 B—NR 2 —) n , nämlich Derivate des,,anorganischen Cyclobutans" (h) (z. B. (H 2 BNMe 2 ) 2 : Smp. 73.5 0 C, Sdp. 95 0 C; (Cl 2 BNMe 2 ) 2 : Smp. 142 0 C; gewinnbar durch Dimerisierung von Aminoboranen), das sesselkonformierte ,,anorganische Cyclohexan" (H 2 BNH 2 ) 3 (i) und seine Derivate (z.B. (H 2 BNH 2 ) 3 : Smp. 97.8 0 C; (H 2 BNMe 2 ) 3 : Smp. 95 0 C, Sdp. 80°Cbei 8 mbar; gewinnbar durch Hydrierung von (XHBNH 2 ) 3 (b) mit NaBH 4 bzw. durch Trimerisierung von H 2 BNMe 2 ) und das ,,anorganische Polyethylen" (H 2 BNH 2 ) X (k) (gewinnbar durch Erhitzen von H 2 BNH 2 ' BH 3 (g)). H2 H2B
H2
H2 H 2 B^
BH2
/BH 2
H
N H2
(g) B 2 NH 7
(h) B 2 N 2 H 8
A-Sb HOB H2
:NH2
H2
H2
/ N
H2
NX
N
B
B
B
H2
H2
H2
(i) B 3 N 3 H 12
(k) (BNH 4 ) X
Aminoborane. W i e die cyclischen Borazine zeigen auch die acyclischen
,,Aminoborane"
X 2 B = N R 2 (C 2 v -Molekülsymmetrie; trigonal-planare B - und N - A t o m e ) , die u . a . aus A m m i n b o r a n e n ( s . o . ) gemäß X 3 B — N R -> X 2 B = N R 2 + R X in der W ä r m e gewinnbar sind, bezüglich ihrer Strukturen
und physikalischen
Eigenschaften
den isoelektronischen Alkenen (vgl. S . 1 1 1 2 ) . Chemisch
bemerkenswerte Analogien zu
sind die BN-Verbindungen aber wie-
derum wesentlich reaktionsfreudiger als die entsprechenden CC-Verbindungen. So ist das , , a n o r g a n i s c h e Ethylen" stabilisierter F o r m
H 2 B = N H 2 ( R o t a t i o n s b a r r i e r e ca. 100 kJ/mol) m o n o m e r nur in B H 3 -
als A d d u k t B H 2 N H 2 • B H 3
(g) oder in F o r m von Derivaten
wie
C l 2 B = N M e 2 , sonst nur polymerisiert als Cyclohexan- oder Polyethylen-Analoges (i, k) erhältlich Acyclische Aminoborane. In verschiedenen Fällen sind acyclische Aminoborane sowohl in der monomeren „Ethylen" als auch in der dimeren ,,Cyclobutan"-Form isolierbar. So wandelt sich etwa die monomere, flüssige, hydrolyseempfindliche Verbindung C l 2 B = N M e 2 (Smp. — 43 0 C) beim Stehenlassen in die dimere, feste, hydrolysebeständige Verbindung (—C1 2 B—NMe 2 —) 2 um, die ihrerseits durch Erwärmen wieder rückwärts in die monomere Verbindung übergeführt werden kann. Im Gaszustand der dimeren Verbindung (—H 2 B—NMe 2 —) 2 liegt ein reversibles Gleichgewicht zwischen monomerer und dimerer Form vor. In einigen Fällen verwandeln sich Aminoborane auch in die Cyclotrimeren. Cyclische Aminoborane. Polymerisationsstabiler als die acyclischen Aminoborane sind die weiter oben behandelten ringförmigen Borazine ( X B N R ) 3 (,,anorganische Benzole", ,,1,3,5-Triaza-2,4,6-triborinane"), die wie die Derivate des ,,anorganischen Cyclobutadiens" ( X B N R ) 2 („7,3-Diaza-2,4-diboretidine") und ,,anorganischen Cyclooctatetraens" ( X B N R ) 4 (,,1,3,5,7-Tetraaza-2,4,6,8-tetraborocane") zur Klasse der cyclischen Aminoborane zählen (vgl. Fig. 241). Sie lassen sich durch Oligomerisierung von Iminoboranen (s.u.) gewinnen.
• 1118
XVI. Die Borgruppe („Triele")
V - i / \ / B
Diazaboracyclopropane
/
V / /
II II N—B,
—B.
\
1,3-Diaza2,4-diboretidine
•N'
1,2,4-Triaza3,5-diborolidine
\ N/
\ B /
B
N
/ Borazine 1,3,5-Triaza2,4,6-triborinane
1,2,4,5-Tetraza3,6-diborinane
'BN
1,2,4,6-Tetraza3,5,7-triborepane
—N \
N=N
N— /
1,4-Dihydrotetrazaborole B=N B
N
1,3,5,7-Tetraza2,4,6,8-tetraborocane
Fig. 241 Bor-Stickstoff Heterocyclen (wiedergegeben ist jeweils nur eine von mehreren möglichen mesomeren Grenzstrukturen)2 ? . Die (XBNR) 2 -Ringe haben bei nicht allzu sperrigen Resten X und R rhombisch-planaren Bau (C 2v Molekülsymmetrie; rBN ca. 1.45 BNB/NBN-Winkel ca. 85/95°), die (XBNR) 4 -Ringe wannenförmige Konformation (S 4 -Moiekülsymmetrie; rBN abwechselnd ca. 1.40 und 1.46 Ä; die kurzen BN-Bindungen verlaufen senkrecht zur Symmetrieachse, vgl. Formel (r) S. 1120). Bezüglich der Struktur der (XBNR) 3 Ringe s. weiter oben (S. 1112). Während die Borazine ein aromatisches System mit 4 n ^ 2 = 67i-Elektronen besitzen (n = 1), gilt Entsprechendes nicht für die Diazadiboretidine (^-Elektronen) bzw. Tetrazatetraborocane (^-Elektronen). Erstere Ringverbindungen lassen sich demgemäß zu Dianionen ( X B N R ) 2 - (^-Elektronen) reduzieren. Eine Oxidation von ( X B N R ) 2 bzw. ( X B N R ) 4 zu Dikationen ( X B N R ) 2 + (4 n+2 = 2 Ti-Elektronen;« = 0 ) und ( X B N R ) 2 + (^-Elektronen) ist noch nicht gelungen. Ähnlich wie die Borazine vermögen auch Diazadiboretidine als 7i-Komplexliganden zu wirken (z.B. Bildung von (/PrBN/Pr) 2 Cr(CO) 4 ). Derivate Man kennt eine Reihe von Verbindungen, die sich von den cyclischen Aminoboranen durch Austausch einiger NR- oder BX-Ringglieder gegen andere Gruppen ableiten. So existieren die sauerstoffhaltigen Borazine OH und NO (Ersatz von NH in durch O; gewinnbar durch Reaktion von B 2 H 6 mit NO; bezüglich des Endglieds B 3 0 3 H 3 vgl. S. 1106). Auch sind silicium- oder phosphorhaltige Borazine wie B 2 SiN 3 Me 5 Ph 2 oder B 2 PN 3 Me 5 Cl erhältlich (Ersatz von BMe in B 3 N 3 M e 6 durch SiPh 2 bzw. PCl). Darüber hinaus kennt man auch Boramide mit mehr als einer borgebundenen Aminogruppe (z. B. farbloses, flüssiges ,,Bis(dimethylamino)borchlorid'' (Me 2 N) 2 BCl sowie ,,Tris(dimethylamino) boran'' B(NMe 2 ) 3 , das Methylderivat des in Substanz nicht isolierten Amids B(NH 2 ) 3 der Borsäure B(OH) 3 ) und solche mit mehr als einer stickstoff gebundenen Borylgruppe (z.B. „ Tris (diorganylboryl) amine'' (R 2 B) 3 N). Schließlich existieren Borylderivate anderer Stickstoffwasserstoffe, nämlich des Hydrazins (z.B. polymere ,,Bis(boryl)hydrazine'' R 2 B — N H — N H — B R ) , des Diimins (,,.Azoborane'', z.B. polymeres ,,Bis(diphenylboryl)diimin'' P h 2 B — N = N — B P h 2 ; monomeres ,,Bis(di-tert-butylboryl)-diimin'' /BU 2 B—N=N—B/BU 2 ) oder der Stickstoffwasserstoffsäure (z.B. monomeres ,,Diphenylborazid'' P h 2 B — N = N = N , trimeres ,,Dichlorborazid'' C 1 2 B — N = N = N ) . Zu dieser Klasse von Verbindungen zählen auch die folgenden, in Fig. 241 wiedergegebenen drei-, fünf-, sechs- und siebengliederigen cyclischen Aminoborane: „Diazaboracyclopropane'' (^-Elektronen), „7,2,4-Triaza-3,5-diborolidine'' (aromatisches 671-Elektronensystem; 7i-Komplexligand), ,,7,2,4,5-Tetraza-3,6-diborinane'' (^-Elektronen), „1,2,4,6-Tetraza-3,5,7-triborepane'' (^-Elektronen; bisher unbekannt)2 ? . 27 Zur Nomenklatur stickstoffhaltiger bzw. stickstofffreier Borheterocyclen nach ,,Hantzsch-Widman'' charakterisiert man (i),gesättigte'' 3-, 4-, 5-, 6-, 7-, 8-gliederige Ringe durch die Suffixe -iridin (N-frei: -iran), -etidin (N-frei: etan), -olidin (N-frei: -olan), -inan, -epan, -ocan und (ii) maximal konjugierte ,,ungesättigte'' 3-, 4-, 5-, 6-, 7-, 8-gliederige Ringe durch die Suffixe -iren, -et, -ol, -inin, -epin, -ocin (hydrierte Doppelbindungen werden in letzteren Fällen durch Präfixe wie Dihydro-, Tetrahydro- angezeigt). Für Beispiele vgl. Fig.241 (oben), Fig.242 (S. 1131), ferner S.1107, 1110, 1121, 1125. (XB=O) 3 , (XB=PX) 3 , (XA1=NX) 3 usw. (S.1107, 1125, 1148) bezeichnet man auch als „Boroxine'', ,,Borphosphine'', ,,Alazine'' usw.
1. Das Bor
1119«
Iminoborane Die Darstellung der Iminoborane X B = N R (X, R = H, Organyl) erfolgt u. a. gemäß Xv
/R
(bis über 500 0 C)
;B=N: Har
X—B=N—R
v SiMe.
(bis 300 0 C)
R/ ;B—N=N=N X'
durch Gasphasenthermolyse geeigneter Amino- und Azidoborane. Aminoiminoborane R 2 N — B = N — R lassen sich aus Aminoboranen auch durch Eliminierung von Halogenwasserstoff mit Basen wie LiNR 2 ( N R z.B. N t Bu(SiMe 3 )) gewinnen: (R 2 N)HalB=NHR -> R 2 N — B = N — R + HHal. Eigenschaften Bezüglich der Strukturen (s.u.) und physikalischen Eigenschaften bestehen deutliche Parallelen zwischen den Iminoboranen und den isoelektronischen Acetylenen. Chemisch sind erstere erwartungsgemäß wesentlich reaktiver als letztere. So treten die Iminoborane X B = N R wie die Aminoborane X 2 B = N R 2 (s. o.) normalerweise nicht monomer, sondern oligo- oder polymer auf. Allerdings wächst die kinetische Stabilität hinsichtlich ihrer Oligo- bzw. Polymerisierung mit der Sperrigkeit der bor- und stickstoffgebundenen Substituenten X und R. Dementsprechend ist das ,,anorganische Acetylen" H B = N H extrem polymerisationslabil 28 , und die Metastabilität, d.h. die Temperatur, bei der Iminoborane noch gehandhabt werden können, steigt für Iminoborane in folgender Richtung: M e B = N M e / E t B = N E t (Me = C H , Et = CH 2 Me; langsame Polymerisation bei - 9 0 ° C ) , /BuB=N/Bu (/Bu = CH 2 CHMe 2 ), /PrB=N/Pr (zPr = CHMe 2 ), /BuB=NtBu/ t m p B = N t B u (/Bu = C M 3 ; tmp = 2,2,6,6-Tetramethylpiperidyl Me 4 C 5 H 6 N; handhabbar bei C), (M Si CB NSiM B Si NSiM (stabil bis 300 C). Strukturen. Iminoborane sind wie die isoelektronischen Acetylene linear gebaut und weisen kurze, für BN-Dreifachbindungen charakteristische BN-Abstände (S. 1112) auf, z.B.: 1.221 A (M
Si S
Bu
C
1.25Ä N — B = N — /Bu
((
N = tmp = 2,2,6,6-Tetramethylpiperidyl).
Ähnlich wie in organischen Inaminen J ^ N — C = C — / N = C = C — ] ist auch in ,,anorganischen Inaminen" [ ^ N — B = N — ^ N = B = N — ] die zentrale BN-Einfachbindung aufgrund der möglichen nElektronenresonanz etwas verkürzt, die BN-Dreifachbindung etwas verlängert (Bezugswerte für B—N/ B = N / B = N : 1.58/1.37/1.22 Ä) 2 9 . Oligomerisierung. Die thermische Stabilisierung der Iminoborane X B = N R erfolgt, falls die Substituenten X und R wie im Falle von M e B = N M e , E t B = N E t , /BuB=N/Bu /PrB=N/Pr nicht zu sperrig sind, auf dem Wege über Cyclodimere (l) (vgl. Diazadiboretidine, oben) und Bicyclotrimere (m) (,,D ewar-Borazine", Derivate des ,,anorganischen Dewar-Benzols") unter Bildung von Cyclotrimeren (n) (vgl. Borazine, oben; im Falle von E t B = N E t und /BuB=N/Bu entstehen zudem polymere Produkte):
28 Matrixisoliertes monomeres HB=NH. Gasförmiges „Iminoboran" H B = N H entsteht als Produkt der Photolyse von „Amminboran" H 3 B — N H (vgl. Gleichung (1)) und lässt sich vor seiner Polymerisierung in Anwesenheit von viel Inertgas durch rasches Abkühlen auf die Temperatur des flüssigen Heliums als metastabile Substanz in einer Tieftemperaturmatrix isolieren. Es hat - laut Schwingungsspektrum - linearen Bau mit starker BN-Bindung (Abstand - laut ab initio Berechnung -1.196 Ä). Für die Dimerisierungsbarriere der Reaktion 2 H B = N H (—HB=NH—) 2 + 386 kJ berechnen sich 96.3 kJ/mol. 29 Bei Betrachtungen der Bindungsabstände ist zu berücksichtigen, dass sich der Atomradius mit abnehmender Koordinationszahl der Atome verkleinert. Er muss somit in Verbindungen ^ N — B = N — (zweizähliges Bor) kleiner sein als in Amminboranen ^ B — N ^ (vierzähliges Bor ca. 0.88 Ä) oder in Bororganylen ^B—C^ (dreizähliges Bor; ca. 0.82 Ä).
• 1120
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Sind demgegenüber die Reste X und R sperrig, so bleibt die thermische Oligomerisierung der Iminoborane wie im Falle von /BuB=N/Bu oder tmpB=N/Bu beim Cyclodimeren (l) stehen. In Einzelfällen (z.B. Oligomerisierung von /PrB=N/Bu) bilden sich statt der Borazine die Dewar-Borazine (m) als Thermolyseendprodukte 30 . Da die Cyclodimeren (l) in Abwesenheit von Iminoboranen nicht in Cyclotrimere übergehen, lassen sie sich bei ausreichender katalytischer Beschleunigung der Iminoboran-Dimerisierung (z. B. mit /BuCN) selbst im Falle wenig sperriger Iminoborane (z. B. /PrB=N/Pr) als Reaktionsendprodukte erhalten. Sie können ihrerseits einer reversiblen Dimerisierung zu Cyclotetrameren (r) der Iminoborane („Tetrazatetraborocane") unterliegen, wobei möglicherweise die Aminoborane (o) und (p) als Zwischenstufen gebildet werden. Z.B. liegt das Gleichgewicht: 2(/PrBN/Pr)2 (/PrBN/Pr)4 bei 20°C auf der rechten, bei 100 0 C auf der linken Seite; es stellt sich jedoch bei Raumtemperatur sehr langsam ein (sperrige substituierte Iminoborandimere wie (/BuBN/Bu)2 dimerisieren nicht, weniger sperrig substituierte Iminoborantetramere wie BuBNMe spalten nicht in Iminoborandimere auf).
Reaktivität Iminoborane [ X B = N R X 3 B N M e 3 > X 3 BAsMe 3 > X 3 BSbMe 3 , die der cyclischen Komplexe (X 2 BEMe 2 )„in Richtung (X BNM (X BPM (X BAsM (X BSbM (das Stibinoboran BSbM zeigt keine Oligomerisierungstendenz 33 Phosphinoborane.33 Acyclische Phosphinoborane X 2 B P R 2 gewinnt man durch Eliminierung von R X aus Phosphanboranen X 3 B P R 3 oder - einfacher - durch Metathese aus Borhalogeniden X 2 BHal und Lithiumphosphiden LiPR X 2 BHal + L i P R
X 2 B P R 2 + LiHal.
(1)
Sie neigen wie die Aminoborane zur Oligomerisierung (H 2 BPMe 2 tri- und tetramerisiert bei Raumtemperatur in einigen Stunden vollständig). Trägt Bor organische oder elektronenliefernde bzw. Phosphor sperrige organische oder elektronenziehende Gruppen, so werden die Phosphinoborane polymerisationsstabil (z.B. Me 2 BPH 2 : Smp. ca. 50°C; Ph 2 BPPh 2 : Smp. 234°C; (Me 2 N) 2 BPEt 2 : farblose Flüssigkeit). P-Substituenten R, die wie Mesityl = Mes oder tert-Butyl = 'Bu sperrig bzw. wie Li elektronenschiebend sind, führen zu einer Planarisierung des Phosphors und damit zu einer planaren X 2 BPR 2 -Molekülstruktur mit kurzen BP-Abständen (z.B. Mes 2 B=PMes 2 bzw. Mes 2 B=PMes[Li(OEt 2 ) 2 ]: r BP = 1.839 bzw. 1.823 Ä; Faltungswinkel ca. 0°). B-Substituenten X, die wie N R 2 elektronenliefernd sind, bewirken als Folge der Auffüllung des p-Orbitals des Bors mit Elektronen lange BP-Abstände und damit eine starke Pyramidalisierung des Phosphors (z.B.: tmpClB—PHMes: r BP = 1.948 Ä; Faltungswinkel 71°; tmp = 2,2,6,6-Tetramethylpiperidyl Me 4 C 5 H 6 N, vgl. S. 1119). Bor kann auch mehrere Phosphinogruppen tragen wie im Falle des aus BC und NaPH zugänglichen Tetraphosphinoborats N B(PH (Umwandlung in das Diborat Na[(H 2 P) 3 B—PH 2 —B(PH 2 ) 3 ] und das Boranaddukt N [ B ( P H • BH 3 ) 4 ] möglich). Cyclische Phosphinoborane (XBPR)„ werden mit Vorteil durch Metathese aus Bordihalogeniden XBHal 2 und Lithiumphosphiden LiHPR gewonnen, schematisch:
1. Das Bor »XBHal 2 + » L i 2 P R
(XBPR) n + 2wLiHal.
1125« (2)
Man setzt hierzu 2 Moläquivalente LiHPR ein, wobei zunächst gemäß (1) das acyclische Phosphinoboran XHalB—PHR gebildet wird, das in Anwesenheit der Base LiHPR Halogenwasserstoff eliminiert (möglicherweise geht XHalB—PHR in einigen Fällen über monomere Phosphiminoborane X B = P R in die oligomeren Verbindungen (XBPR)„ über). Sind hierbei die Substituenten X und/oder R sehr sperrig (z.B. Mesityl und 1-Adamantyl bzw. 2,2,6,6-Tetramethylpiperidyl und Mesityl), so entstehen nach (2) ,,Diphosphadiboretane" (XBPR) 2 (b), anderenfalls ,,Borphosphine" ( X B P R ) 3 (c). Erstere Verbindungen (nicht-aromatische 47i-Elektronensysteme) enthalten einen planaren viergliederigen B 2 P 2 -Ring mit planaren B- und pyramidalen P-Atomen sowie langen, für Einfachbindungen sprechenden BP-Abständen (rBP = 1.92-1.97 Ä; C 2h -Gerüstsymmetrie), letztere Verbindungen (aromatische 67i-Elektronensysteme) einen planaren sechsgliederigen B 3 P 3 -Ring mit planaren B- und P-Atomen und verkürzten BP-Abständen (rBP um 1.84 Ä: D 3h -Gerüstsymmetrie). Somit weisen die cyclischen dimeren „Phosphiminoborane" (XBPR) 2 (keine n-Bindungskonjugation) die typischen Strukturmerkmale acyclischer Phosphinoborane auf (Entsprechendes gilt für die Diphosphaborirane (a) mit dreigliederigen BP 2 -Ringen), während die trimeren Phosphiminoborane ( X B P R ) 3 (71-Bindungskonjugation) die typischen Merkmale aromatischer Systeme zeigen (der durch „Aromatisierung" erzielbare Energiegewinn ermöglicht die Einebnung der P-Atome).
Diphosphaborirane (a)
Diphosphadiboretane (b)
Borphosphine („Triphosphatriborine") (c)
In Übereinstimmung hiermit sind die Diphosphadiboretane sehr hydrolyseempfindlich, wogegen die Borphosphine nur langsam mit Wasser reagieren (Verbindungen des Typs (b) werden leicht von Sauerstoff oxidiert und von Methyliodid in Phosphoniumsalze verwandelt). Man kennt auch polycyclische „nicht aromatische" Phosphinoborane wie (/Bu 2 NB) 2 P 2 (zwei dreigliederige BP-Ringe mit gemeinsamer langer PP-Kante) oder (/Pr 2 NB) 3 P 2 (trigonal-bipyramidales B 3 P 2 Gerüst; P-Atome in axialen, B-Atome in äquatorialen Positionen; nur BP- keine BB-Clusterbindungen). Niedrigwertige Bor-Phosphor-Verbindungen, die neben BP- auch BB-Bindungen enthalten, sind bisher wenig intensiv bearbeitet worden. Beispiele: Bis(phosphan)diborane(4) R 3 P — B 2 H 4 — P R , Heteroborane wie B 4 P 2 C1 4 (oktaedrisches B 4 P 2 -Gerüst mit benachbarten P-Atomen, vgl. S. 1102), B 3 P 2 (Nz'Pr 2 ) 3 (trigonalbipyramidales B 3 P 2 -Gerüst mit P an den Pyramidenspitzen und borgebundenen N/Pr2-Gruppen), P B ^ H ^ P M e und P B ^ H ^ M e (S. 1094), phosphorhaltige Bormodifikationen B 1 2 P 1 8 _ 2 0 (S. 1046).
1.8
Kohlenstoffverbindungen des Bors1
Borcarbide. Das Borcarbid B 4 C (Phasenbreite: B 13 C 2 bis B 12 C 3 ) entsteht aus den Elementen bei 2500 0 C. In der Technik wird es im elektrischen Lichtbogenofen aus Dibortrioxid und Koks bei 2400 0 C in Aboder Anwesenheit von Mg bzw. Al gewonnen (grobkörniges Produkt im Falle des ersteren, feinkörniges Material im Falle des letzteren Prozesses): 2 B 2 0 , + 7C
B 4 C + 6CO;
2 B 2 0 3 + 6Mg (4Al) + C
B 4 C + 6MgO (2A1 2 0 3 )
2400 0 C,
Es bildet schwarzglänzende Kristalle (Smp. Sdp. > 3500°C; bezüglich der Struktur vgl. S. 1046) mit diamantähnlichen mechanischen Eigenschaften. B 4 C wird von geschmolzenem Kaliumchlorat und von Salpetersäure nicht angegriffen und reagiert mit Chlor und Sauerstoff unterhalb 1000°C nur langsam. Man verwendet das grobkörnige Material als Schleifmittel sowie zur Herstellung von Metallboriden (S. 1048), das feinkörnige Material zur Herstellung von Panzerplatten oder in Kernreaktoren zur Abschirmung von Neutronen. Bezüglich B 24 C sowie auch B 12 Sij_ 2 vgl. S. 1046. Carbidoborate. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang die linearen, mit C 3 " , C 0 2 , CN 2 ", N3~, NO^, BO isoelektronischen Spezies und (WCB/BN = 1.44/1.38 Ä; dCB/BC = 1.44 Ä; vgl. auch B 4 C), die den aus den Elementen zugänglichen Verbindungen Ca 3 Cl 2 CBN = [Ca 2 + ] 2 [CaCl 2 ][CBN 4 "] sowie A13BC3 = [ A l 3 + ] 2 [ C 4 " ] [ C B C 5 " ] zugrunde liegen.
• 1126
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Sonstige Bor-Kohlenstoff-Verbindungen. Wichtige Verbindungen mit BC-Bindungen sind auch die Carbaborane (S. 1090) sowie die nachfolgend zu besprechenden organischen Borverbindungen.
1.9
Organische Verbindungen des Bors 34,35
Überblick Die im Laboratorium und in der Technik vielfach genutzten „Organischen Borverbindungen" leiten sich in der Regel vom Monoboran BH 3 und dessen anorganischen Derivaten BH„X 3 _„ (,,Borane") X z. B. Hal, OR, N R ) sowie von Donoraddukten BH„X 3 _„ • D (,,Borate"; D z. B. H " , OR 2 , NR 2 , R ) des Monoborans und seiner Derivate durch Ersatz der H-Atome gegen gesättigte bzw. ungesättigte Organylreste R a b (R z. B. Alkyl, Alkenyl, Alkinyl, Aryl). Organylabstraktionaus B R führt formal zu,,Borylradikalen" B R sowie ,,Borylenen" B R ' , Halogenidabstraktion aus R 2 BHal zu den ,,Borylkationen" B R , Protonabstraktion aus R 2 BH zu den,,Borylanionen" B R " . Darüber hinaus zählt man zur Klasse der Titelverbindungen Produkte, die aus einer Substitution von zwei bzw. drei H-Atomen des Monoborans sowie seiner Donoraddukte gegen Alkyliden- bzw. Alkylidinreste = C R bzw. = C R resultieren. Letztere Verbindungen lassen sich auch als Produkte eines Tauschs von C- gegen B-Atome in ungesättigten Kohlenstoffverbindungen interpretieren. Und zwar führt der Ersatz eines C-Atoms in ^ C = ( X bzw. — C = C — (freie Valenzen durch Wasserstoff oder organische Reste abgesättigt) gegen ein isoelektronisches B " -Ion zu den ,,Borata-alkenen" und ,,-alkinen", von dem sich - nach Abspaltung eines borgebundenen Hydrids oder Organylanions - die ,,Bora-alkene" und ,,-alkine" ableiten, wobei dem Bor in ersteren Verbindungen ein Elektronenoktett, in letzteren ein Elektronensextett zukommt 36 . In analoger Weise leiten sich dann die Organylmonoborane und -monoborate als borhaltige Kohlenwasserstoffe von den Alkanen ^ C — C ^ durch Tausch eines C-Atoms gegen B (,,Borata-alkane") oder eines CH-Fragments gegen B ab (,,Bora-alkane"). R.
R—B Borene, Borylene (Borandiyle)
Borylradikale (Boranyle)
Boraalkane (Borane) "
R—B—R Borylkationen (Borenium-Ionen)
Borylanionen (Borenate)
R—
,B— C
R I B
B
=C^
Boraalkene (Alkylidenborane)
B=CBoraalkine (Alkylidinborane)
" ;b=C:
R—B=C-
Borataalkine Borate Borataalkene (R = organische Reste bzw. org. + anorg. Reste bzw. org. Reste + Donoren)
3* Literatur Allgemeine. HOUBEN-WEW,: ,,Organoborverbindungen", 13/3 (1982-1984); GMELIn: Syst.-Nr 13, Bd.1-5; Ch. Elschenbroich: „Organoborverbindungen" in „Organometallchemie", 5. Aufl., Teubner, Wiesbaden 2005; T.P. Quak: ,,Organoborane Chemistry", Acad. Press, New York 1975; N. Steinberg, R.J. Brotherton, W.G. Woods:,,Organoborane Chemistry", 3 Bände, Wiley, New York 1964-1966; COMPR. ORGANOMET. CHEM. I/II/III: „Boron" (vgl. Vorwort). Speziell: A. Berndt: ,,Klassische und nichtklassische Methylenborane", Angew. Chem 105 (1993) 1034-1068; Int. Ed. 32 (1993) 985; J.J. Eisch: „Boron-Carbon Multiple Bonds", Adv. Organomet. Chem 39 (1996) 355-392; A. Berndt, M. Hofmann, W. Siebert, B. Wrackmeyer: ,,Carboranes: From Small Organoboranes to Clusters", in M. Driess, H. Nöth: „Molecular Clusters of the Main Group Elements", Wiley-VCH, Weinheim, 2004, S. 267-309; G. Pawelke, H. Bürger: „Perfluoralkylborates: congeners of perfluoralkanes", Coord. Chem. Rev 215 (2001) 243-266; G. C. Fu: „The Chemistry of Borabenzenes", Adv. Organomet. Chem 47 (2001) 101-120. - Komplexe H. Braunschweig: „ Übergangsmetallkomplexe des Bors", Angew. Chem 110 (1998) 1882-1899; Int. Ed. 37 (1998) 1786; H. Braunschweig, M. Colling: ,,Transition metal complexes of boron - Syntheses, structures and reactivity", Coord. Chem. Rev 223 (2001) 1-52; G.E. Herberich: „Boron-Ring Systems as Ligands to Metals", Comprehensive Organomet. Chem 1 (1982) 381-410; S. Aldridge, D.L. Coombs: ,,Transition metal boryl and borylene complexes: substitution and abstraction chemistry", Coord. Chem. Rev 248 (2004) 535-560; H. Braunschweig: „Borylenes as Ligands to Transition Metals", Adv. Organomet. Chem 51 (2004) 192-263; H. Braunschweig, M. Colling: „ The Chemistry of Borylene Complexes", Eur. J. Inorg. Chem. (2003) 393-403; A.H. Cowley: ,,From group 13 - group 13 donor-acceptor bonds to triple-decker cations", Chem. Commun. (2004) 2369-2375. 35 Geschichtliches Durch Übertragung der Methylgruppe des von Sir Edward Frankland (1825-1899; Prof. für Chemie in London) erstmals synthetisierten Quecksilberdimethyls HgMe2 auf Borhalogenide erzeugte Frankland mit BMe3 im Jahre 1860 erstmals eine organische Borverbindung. Frankland führte den Begriff,,Organometallic und - aufgrund von Studien an Metallorganylen - das Konzept der „Valenz" („combining power") ein. 36 Nomenklatur „Bora" bezeichnet den Ersatz eines CH-Fragments gegen B, „Borata" den CH-Austausch gegen BH ". „Homo" steht in der Borchemie für das Einschieben einer CR-Gruppe (R = Organyl, Silyl usw.) in eine B—BBindung eines cyclischen oder käfigartigen Borans.
1. Das Bor
1127«
Nachfolgend werden zunächst die erwähnten und im Schema zusammengefassten rganischen Derivate des Monoborans behandelt. Anschließend kommen organische Derivate der höheren Borane zur Sprache, d. h. bororganische Verbindungen, die sich von Borwasserstoffen B n H n+m sowie den hieraus durch Deprotonierung hervorgehenden Hydridoboraten durch Ersatz von H-Atomen gegen Organylgruppen und zum Teil zusätzlich von B-Atomen durch C-Atome - ableiten (vgl. hierzu auch Carbaborane, S. 1090).
Organische Derivate des Monoborans Organylborane R„BH3_„. Darstellung Der Aufbau von BC-Bindungen erfolgt meist durch nucleophile Substitution von borgebundenem Halogenid oder Alkoholat X~ durch Organylanionen R („Metathese") sowie durch Insertion von Alkenen oder Alkinen — C = C — in BH-Bindungen (,,Hydroborierung"; Näheres S.1069): _ ^B—X
+ M R , —MX _ ^ OB—R; Metathese
_ ^B—H
+^C=CC Hydroborierung
^ ^ „ OB^c—CHC.
Das „Direktverfahren", nämlich die oxidative Addition von R X an elementares Bor, hat wegen der Reaktionsträgheit des Bors keine Bedeutung für die Synthese bororganischer Verbindungen. Sowohl Metathese wie Hydroborierung eignen sich zur Darstellung von Tri-, Di- oder Monoorganylboranen R„BH3_„ (Umsetzung von BHal 3 , B(OR) 3 mit LiR, RMgBr, ZnR 2 , HgR 2 , AlR 3 , SnR 4 bzw. von BH 3 mit ungesättigten Kohlenstoffverbindungen in Ethern). Organylborhydride sind darüber hinaus durch Organylierung von BH 3 (z.B. BH 3 + BMe 3 -> BH 2 Me + BHMe 2 ) sowie durch Hydridierung von Organylborhalogeniden (s. unten) mit Metallhydriden wie LiH, LiAlH 4 zugänglich (z. B. R„BHal 3 _„ + (3 - «)LiH R B H 3 _ n + (3 - n)LiHal). Physikalische Eigenschaften Die Bortriorganyle B R stellen hydrolysestabile, oxidationsempfindliche (zum Teil selbstentzündliche), mehr oder weniger giftige farblose Gase (z.B. BMe 3 : Smp./Sdp. —160/ — 20.5°C; rfBC = 1 . 5 6 A 4 ) , Flüssigkeiten (z.B. BEt 3 : Smp./Sdp. — 92.9/95.4°C; Dichte 0.6774g/cm3) oder Feststoffe dar (z. B. BPh 3 : Smp. 142°C; dBC= 1.57 Ä), wobei die Moleküle B R - anders als BH 3 - monomer vorliegen und planaren Bau aufweisen. Bor kann hierbei auch in gesättigte Ringe eingebaut sein, z.B. PhB(—CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 —) („Borolan"), HB(—CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH —) („Borinan"), EtB(—CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 CH 2 —) („Borepan"; in letzteren beiden Fällen sind nur C-Methylderivate bekannt). Darüber hinaus kennt man Polyborylderivate ungesättigter Kohlenwasserstoffe, z. B. (Me 2 B) 2 C=C(BMe 2 ) 2 , M e 2 B — C = C — B M e 2 , C 6 (BMe 2 ) 6 . Die Organylborhydride R„BH 3 _„ haben - anders als BR 3 - dimere Strukturen, wobei stets H-Verbrückung vorliegt (z.B. ffl3 • ffl2Me: Sdp. —78.5°C; B ^ M e • ffi2Me: Smp./Sdp. — 124.9/+4.9°C; B H M e • BHMe 2 : Smp./Sdp. — 122.9/+45.5°C; BHMe 2 • BHMe 2 : Smp./Sdp. — 72.5/+68.5°C). Thermisches Verhalten Bortriorganyle ohne ß-Wasserstoffatom (z. B. BMe 3 , BPh 3 ) zeigen hohe Thermostabilität, während solche mit ß -Wasserstoffatom um 200 °C in Umkehrung der Hydroborierung zerfallen („Dehydroborierung"). Redox-Verhalten. Die Oxidation der Triorganyle B R führt mit Sauerstoff oder Wasserstoffperoxid zu Estern R„B(OR) 3 _„ ( « = 2, 1, 0; s. unten). Durch Titration der gemäß ^ B — R + Me 3 NO ^ B — O R + NMe 3 freigesetzten Amine NMe 3 mit Säure lässt sich die Zahl vorhandener BR-Bindungen in RBX 3 _„ quantitativ bestimmen. Mit Halogenen reagieren Bororganyle B R zu BHal 3 und RHal, mit Silber(I)-oxid bzw. Chromat z ^ O j und R — R bzw. R'—COOH. Durch Reduktion mit Alkalimetallen lassen sich die Triorganyle BAr 3 in Radikalanionen BArj" überführen, die mit ihrem Dimeren (BAr 3 ) 2 im Gleichgewicht stehen (BPh 3 ~ ist isoelektronisch mit CPhj; im Falle von BMes 3 ~ liegt das Gleichgewicht auf der Radikalanionenseite). Säure-Base-Verhalten Säuren vermögen BC-Bindungen bei erhöhten Temperaturen zu spalten: ^ B — R + HX -> ^ B — X + H R (sehr wirksam sind Carbonsäuren R — COOH). Basen (Donoren) bilden mit B R tetraedrisch gebaute Addukte B R • D (D z.B. H~, R O , N R , R " ) . Ihre Stabilität sinkt hinsichtlich eines bestimmten Donors (i) mit abnehmender Elektronegativität von R, also in Richtung B(CF 3 ) 3 • D > B(CH 3 ) 3 • D bzw. B(C 6 F 5 ) 3 • D > B(C 6 H 5 ) 3 • D, (ii) mit zunehmender Sperrigkeit von R, also in Richtung BH 3 • D > BMe 3 • D > BEt 3 • D > BBu 3 • D > B;Bu 3 • D > B,sBu3 • D > B«Bu3 • D (ijsj iBu = CHCHM 2 /CHEtMe/CMe 3 ), da die Adduktdissoziation mit einem Platzgewinn der betreffenden R-Reste verbunden ist. Selbst bezüglich des kleinen Hydrid-Ions D = nimmt die Lewis-Acidität in der wiedergegebenen Boran-Reihenfolge deutlich ab, sodass etwa LiBHEt 3 (,,Superhydrid") ein stärkerer Hydrid-Donator ist als LiBH 4 . Umgekehrt wirkt „1,8-Bis(dimethylboryljnaphthalin" (a) als starker Hydrid-Akzeptor („Hydridschwamm"), da hier zwei räumlich benachbarte Lewis-saure Borzentren zur Bindung eines H"-Ions beitragen (das 1,8-Bis(dimethylamino)naphthalin (b) stellt aus gleichen Gründen einen „Protonenschwamm" dar):
• 1128
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Verwendung von BR 3 als Polymerisationskatalysatoren, Bakteriostatika und Chemotherapeutika, Antioxidantien, Kraftstoffzusätze, Raketentreibstoffe, Neutronenabsorber (in der Nuklearmedizin). Tetraorganylborate BR 4 ". Unter den Addukten B R • D sind solche mit D = R " von besonderem Interesse. Das nach NaBF 4 + 4PhMgBr NaBPh 4 + 4MgBrF gewinnbare, thermostabile, wasserlösliche „Tetraphenylborat'' Na + BPh 4 " („Kalignost'' = Kalium erkennend) bildet mit großen Kationen M + wie K + , R b + , Cs + , Tl + , Cp 2 Co + schwerlösliche Salze M B ^ 4 . Man nutzt es zur gravimetrischen Bestimmung von Kaliumionen. Tetraorganylborate BR 4 " dienen auch zur thermischen Erzeugung von Bortriorganylen (z. B. NH^BPh 4 " NH 3 + P M + BPh 3 ) sowie von Tetraorganylaluminaten A l R " (NaBR 4 + AlR 3 BR 3 + NaAlR 4 ). Die Borate BR 4 " sind thermo- und oxidationsstabiler als die zugehörigen Borane B R . So wird ,,Tris(trifluormethyl)boran'' B(CF 3 ) 3 erst nach Addition von CF 3 " oder von anderen Donoren zugänglich. Man gewinnt ,,Tetrakis(trifluormethyl)borat'' B(CF 3 )^ durch Reaktion der leicht zugänglichen ,,Tetracyanoborate'' B(CN) 4 " mit ClF 3 in flüssigem Fluorwasserstoff bei Raumtemperatur auf dem Wege über nachweisbare Zwischenprodukte M + B(CF 3 ) n (CN) 4 _ n : M+B(CN)"+4ClF3
(HF/fl.)
M + B(CF 3 ) 4 " + 2C12 + 2N 2 (M u. a. Li, K, Cs, NH 4 , Ag).
Die in HF, H O , Et 2 O, THF, MeCN, Me 2 CO löslichen, in C H ^ 2 , CHC13, C 6 H 14 unlöslichen, selbst gegen F 2 , Na sowie verd. Mineralsäuren oxidations-, reduktions- sowie hydrolysestabilen Salze M + B(CF 3 ) 4 " zersetzen sich thermisch ab ca. 185/260/320/425°C im Falle M = Li,/Ag/K/Cs unter Abgabe von seinerseits weiterreagierendem Difluorcarben CF 2 , z. B. (500 o C) K + B F 4 " + 2C 2 F 4 . Als weitere Donoraddukte von B(CF 3 ) sei das farblose, flüssige, bei 9 0 C schmelzende Carbonyl (CF 3 ) 3 B(CO) erwähnt und hinsichtlich des Bindungsabstands CO [Ä], der Dissoziationsenergie DE B _ C O [kJ/mol] und der Zersetzungstemperatur ZT B _ CO [ 0 C ] mit anderen bekannt gewordenen Borancarbonylen verglichen: CO d/DE/ZT
F 3 B(CO) 2.89/7.6/-200
(CF 3 ) 3 B(CO)
H 3 B(CO)
(F 3 B) 3 B(CO)
B^H^CO),
Bi^IO(CO) 2
1.58/112/0
1.54/141/20
1.52/-/20
-/-/200
1.54/-/400
K + B(CF
Zur Gewinnung setzt man 3 ) 4 " mit konz. H 2 SO 4 um, wobei das durch „Hydrolyse" einer CF 3 Gruppe gebildete (CF 3 ) 3 B(CO)-Gas der Suspension entweicht und durch fraktionierende Kondensation bei — 110 o C als farbloser Feststoff isoliert werden kann. Das Carbonyl reagiert mit Donoren teils unter Austausch von CO gegen D (z. B. + CH 3 CN (CF 3 ) 3 B(NCCH 3 ); + HF/Co2(CO)8 ^ Co(CO) 5 + (CF 3 ) 3 BF"), teils unter Addition an den Carbonylkohlenstoff (z. B. + H 2 0 (CF 3 ) 3 B—C(OH) 2 (CF 3 ) 3 B—COOH + H + ; F~ (fl. SO 2 ) (CF 3 ) 3 B—C(O)F). Anders als B(CF 3 ) 3 ist ,,Tris(pentafluorphenyl)boran'' B(C 6 F 5 ) 3 isolierbar. Es stellt ebenfalls eine starke Säure dar und addiert z. B. C 6 F 5 " unter Bildung von ,,Tetrakis-(pentafluorphenyl)borat'' B(C 6 F 5 ) 4 " sowie vielen anderen Donoren unter Bildung von Addukten (C 6 F 5 ) 3 B • D (D u. a. auch :P(C 6 F 5 ) 3 oder :Alfa 5 -C 5 Me 5 )). B(CF 3 ) 4 " und B(C 6 F 5 ) 4 " zählen wie z. B. auch 1-CB^HgX" (X = Cl, Br in den S t e l l u n g e n - 1 2 ; vgl. closo-CB^H^ auf S. 1090) und A1[OC(CF 3 ) 3 ] 4 (S. 257) zu den extrem schwach koordinierenden Anionen, welche die Isolierung von Kationen höchster Lewis-Acidität gestatten (z. B: lässt sich protoniertes Benzol in Form des kristallinen, bis 400 0 C stabilen Salzes C6H^CB^HgClg" erhalten), ferner die Isolierung besonders labiler Kationen ermöglichen (z. B. lässt sich Ag(CO)^ aus Ag + B(CF 3 ) 4 bei einem CO-Druck von 9 bar gewinnen). Organylborhalogenide R„BHal3_„. Darstellung Halogenide R n BHal 3 _ n entstehen u. a. durch Metathese aus Trihalogeniden und Metallorganylen (vgl. BR 3 ) sowie durch nucleophile Substitution borgebundener Reste durch Halogenid, z. B.: BCL + SnPh 4
+ Ph4 wSnClw Metathese
Ph BC13
: B — X + BHaL
(X = H, R, OR, NR 2 ) nucl. Subst.
:B—Hal + BXHaL.
Auch elektrophile Borierungen von Aromaten (z. B. ArH + BC13 ArBCl 2 + HCl in Anwesenheit von AlCl 3 ), Haloborierungen (z.B. H C = C H + BC13 C1 2 B—CH=CH—Cl) oder Diborierungen (z.B. H 2 C = C H 2 + B2C14 —> C1 2 B—CH 2 —CH 2 —BC1 2 ) führen zu Organylborhalogeniden. - Eigenschaften, Ver-
1. Das Bor
1129«
wendung. Die Organylborhalogenide R„BHal 3 _„ sind hydrolyse- und mehr oder weniger oxidationsempfindlichefarblose Gase (z. B. MeBF 2 : Smp./Sdp. - 130.4/- 62.3°C; Me 2 BF: Smp./Sdp.: - 147.3/- 42.2°C; MeBQ 2 : Smp./Sdp. - 127/11.5°C; Me 2 BCl: Sdp. 4.9°C), Flüssigkeiten (z. B. MeBBr 2 : Sdp. 60°C; Me 2 BBr 2 : Sdp. 32°C; PhBF 2 : Smp./Sdp. - 36.2/-85°C; e = 1.087 g/cm3; PhBCl 2 : Smp./Sdp. 7/75 °C, e = 1.202g/cm3) sowie Feststoffe dar (z. B. Ph 2 BF: Sdp. 42°C/100 mbar; Ph 2 BCl: Sdp. 25°C/100 mbar; Ph 2 BBr: Sdp. 153 °C/ 9mbar). Die Moleküle R n B H a l ^ sind wie B R und BHal 3 monomer und planar gebaut (z.B. d B _ c [Ä]/rfB_Hal [ Ä ] / * C B H a l [Ä] im Falle von MeBF 2 : 1.605/1.30/120.4; Me 2 BF: 1.55/1.29/121.5; PhBF 2 : 1.55/1.33/122, PhBQ 2 : 1.52/1.72/121). Die Organylborhalogenide, die analog den Bortriorganylen mit Donoren Addukte RBHal 3 _„ • D bilden können, haben als Edukte für die Synthese anderer Borverbindungen R„BX 3 _„ (Substitution von H a P gegen X~ = H~, H a P , OH~, OR~, NR2~, R'~ usw.) sowie höherer Organylborane mit BB-Bindungen (Enthalogenierung mit Alkalimetallen) große Bedeutung. Organylborhydroxide R„B(OH) 3 _„, Homologe, Derivate Die ,,Boronsäuren" RB(OH) 2 z. B. ,,Methylboronsäure": farblose Kristalle) und ,,Borinsäuren" R 2 BOH (z.B. ,,Dimethylborinsäure": farblose Flüssigkeit; ,,Diphenylborinsäure", Smp. 267°C) sowie deren Ester RB(OR) 2 und R 2 B O R entstehen u.a. durch Hydrolyse oder Alkoholyse von RBC12 und R 2 BCl, die Ester zudem durch Oxidation von B R mit Sauerstoff. Die Säuren lassen sich in der Wärme oder in Abwesenheit von P 4 0 1 0 als wasserentziehendem Mittel leicht zu „Tetraorganyldiboroxiden" R 2 B O B R (z.B. ,,Tetramethyldiboroxid" Smp./Sdp. - 3 7 . 3 / 43°C) bzw.,,Triorganylboroxinen" (RBO) 3 = R B 3 0 3 (R anstelle von OH in Formel (a) auf S. 1126; z. B. ,,Triorganylboroxid": Smp./Sdp. -37/79.3°C) dehydratisieren. In analoger Weise führt die Reaktion von R 2 BHal bzw. RBHal 2 mit Schwefelwasserstoff letztendlich zu den Thioverbindungen R 2 B S B R bzw. (RBS) 2 3 (z. B. (EtBS) 2 , (PhBS) 3 ). Die Boronsäuren sowie ihre Ester - und zwar insbesondere cyclische Ester - sind für die organische Chemie als Überträger von R auf X bzw. von B(OR) 2 auf Y in Verbindungen X Y wie HO—OH, H 2 N—OH, R—Hal usw. von Bedeutung:
R—B
.0/
+H202/NH20H/R'Hal
(OH) /' R—OH/R—NH2/R—R' + Hai — B O
1,2-Dioxyboryl B(1,2-O 2 C 6 H 4 ) = B(Catechol) wirkt als guter Ligand und findet sich in einer Reihe von Borylkomplexen wie z.B. Cp 2 NbH 2 (Bcat), Cp 2 WH(Bcat), (CO) 5 Mn(Bcat), (CO) 5 Re(Bcat), (M P) Co(Bcat), (M P) Rh(Bcat), (M P) Rh(Bcat), (M P) IrClH(Bcat), (P P) Pt(Bcat Organylboramide R b B(NH 2 )3_ b , Homologe, Derivate Bezüglich einiger Diorganyl- sowie Monoorganylborylderivate von Stickstoffwasserstoffen (z. B. R B — N C R B — N H — N H — B R , R B — N = N — B R 2 ; R 2 B — N = N = N , R 2 B = N — , ( R B = N R ) 3 vgl. u.a. S.1115f). Es sei des weiteren auf Boryl- und Borylenderivate von Phosphorwasserstoffen wie R 2 B—PC oder ( R B = P R ) 3 verwiesen (S. 1123). Borylkationen BR^ (,,Borenium-Ionen) ließen sich bisher nicht in Form von Salzen R 2 B + X ~ durch Reaktion von B 2 BHal und Halogenidakzeptoren gewinnen, bilden sich jedoch in Anwesenheit von Elektronendonatoren in Form der „Boronium-Ionen" R 2 B • 2 D + (Ergänzung des Bor-Elektronenquartetts in BR^ zum Elektronenoktett). So erhält man gemäß Ph 2 BCl + AgCl0 4 + dipy X^
Ph2B(dipy)+Cl04~ + A g C l X
., H a l
Ph
Ni
(X= Cp*, Hal)
Ph
N?
- Hal" "
(a) [Ph2B(bipy)]+
(b) Cp*BXHal
(c') [Cp*BX]+
(c")
[Cp*BX]+
(c'")
R OC7 OC (d) [Cp*B] (unbekannt)
Fe—BR 2
(e) [Cp*BA] (f) [R2BFe(CO]2Cp] (R = Ph) (A = BCl3, Fe(CO)4)
K / ^.Mn OC OC
\
> Mn
CO CO
(g) [RB{Mn(CO2)Cp'}2] (R = tBu)
OC OC
Fe
BR
(h) [RBFe(CO)2Cp*]+ (R = Mes)
• 1130
XVI. Die Borgruppe („Triele")
durch Cl"-Abspaltung aus Ph 2 BCl in Gegenwart des als Doppeldonator wirksamen a,a'-Bipyridyls das Kation Ph 2 B(bipy) + (a). Auch lässt sich CpfBHal (b) (Cp* = C 5 Me 5 ) durch Einwirkung von BHal 3 in das Kation Cpf B + überführen, in welchem die Stabilisierung im Sinne der Formulierung (c') auf eine „intramolekulare Koordination" des Borzentrums durch zwei 71 -Elektronenpaare eines Cp*-Rests bzw. im Sinne der Formulierung (c") sowie (c"') auf die Bildung eines nido-Pentacarbahexaboronium-Ions sowie - gleichbedeutend - Cp*-Halbsandwichkomplexes des Borylenkations B R + zurückgeht. Das Kation (c) existiert auch mit einfach gebundenem X = Halogen anstelle von X = Cp*: Cp*BHal 2 + BHal 3 ^ Cp*BHal + BHal";
Cp*GeMe 3 + 2BBr 3
C p * B B r + B B r " + Me 3 GeBr
Der Grundkörper C p * B H + ist bisher unbekannt. Borylradikale BR 2 , Borylene B R " (,,Boranyle", ,,Borandiyle", ,,Borene") sind als Spezies, in welchem Bor ein Elektronenquintett bzw. -quartett zukommt, nur als Intermediate nachweisbar oder in einer Tieftemperaturmatrix isolierbar. Auch das durch,,intramolekulare Elektronenkoordination" stabilisierte nido-Borylen BCp* (d) ist noch unbekannt, doch lassen sich Addukte mit Elektronenakzeptoren (e) gewinnen und isolieren (z. B. Cp*SiMe 3 + B2C14 Cp*B-»BCl 3 + Me 3 SiCl; Fe in C p * B ^ F e ( C O ) 4 ist trigonal-bipyramidal koordiniert mit apicaler Cp*B-Gruppe). BR 2 und B R vermögen in Boryl- und Borylenkomplexen als Liganden zu fungieren. Ein Beispiel für ersteren Verbindungstyp ist der Komplex (f), Beispiele für letzteren Verbindungstyp stellen die Komplexe (g) mit brückenständiger sowie (h) und (CO) 5 Cr=B—Si(SiMe 3 ) 3 mit endständiger Borylengruppe dar. Borylanionen BR^ (,,Borenate") sind als Spezies mit Elektronensextett ebenso wie die isoelektronischen Carbene C R nur in Form ihrer Dimeren isolierbar. Ein Beispiel ist etwa das in Form des Dimeren (i) existierende Anion B(OMe)Mes". Auch Donoraddukte R 2 B • D " , in welchem Bor ein Elektronenoktett zukommt, sind ebenso wie Borylanionen B X R " mit einem elektronenliefernden Substituenten X wie OMe (vgl. (i)) unbekannt (offensichtlich erlaubt die negative Ladung von B keine zusätzliche Übertragung negativer Ladung). Verbieten raumerfüllende Reste R in B R eine Dimerisierung der Anionen, so bilden sich Folgeprodukte letzterer. Z.B. führt die Enthalogenierung von sterisch-überladenem (*Bu 3 Si) 2 BHal mit Alkalimetallen zum Umlagerungsprodukt (k) des wohl intermediär entstehenden Anions B(Si/Bu3)2", in welchem Bor ein Elektronensextett zukommt. Isolierbar sind demgegenüber Borylanionen des Typs (l), deren Stabilisierung gemäß der Formulierung (m) dadurch erreicht wird, dass sich die BB-ZweizentrenZweielektronen-bindung in eine BB- -Dreizentrenbindung umwandelt und das freie Elektronenpaar des anionischen B-Atoms für eine BBB-7i-Dreizentrenbindung genutzt wird (,,Doppelaromatizität", vgl. S. 1133; isoliert wurde etwa (—CHSiMe 3 —BDur—BDur—CHSiMe 3 —)B" mit Dur = 2,3,5,6-Me 4 C 6 H). H
Mes.
> =
MeO
.OMe B
C
Mes
(i) [Mes2B2(OMe)2]
2-
tBu3 Si—B tBu2 Si
B—B
/
CH2
h2C
0
ca.
\
CH2
-385 kJ H2 C — B — C H 2
CMe2
(k) R*HBCH2- ®u 2 SiCMe 2
[B 3 C 2 H 6 ]
(l) (klassisch)
(m) (nicht klassisch)
Borhaltige Alkene und Alkine Die ,,ungesättigten" Bor-Kohlenstoffverbindungen (Abstandsbereiche B — C / B = C / C = C > 1.50/1.35/ —1.50/< 1.35 Ä) sind wesentlich polymerisationslabiler als die betreffenden ungesättigten Kohlenstoff-Kohlenstoff-Verbindungen und lassen sich nur bei sterischer Abschirmung 1.547 Ä /SIME3 tBu—B=c' 1.361 A \ i M e 3 (farbl. Fl.) Boraalken [RBCR2] 1.339 Ä /Mes Mes—B=C—B^ 1.429 Ä X D s i (gelb, Smp. 122 °C) Borataalkin [RBCR']"
^ iPr2N—B=C^ 1.391 A \
SiMe 3
Mesv
s i M e 3
M e
(farbl. Fl.) Boraalken [RBCR2] Mes tBu
1.45 Ä
/Mes ^Bu
(gelb, Smp. 148 °C) Diborataallen [(R 2 B) 2 C ]2
^B=CH2 /l.44Ä
(farblSmp. 114 °C) Borataalken [R 2 BCR 2 ]" M e
\l.86Ä/Mes ^ ca. 1.50 Ä #, B — B %
(Me 3 Si) 2 C
C(SiMe 3 ) 2
(gelb, Smp. 158 °C) 2,3-Diboratabutadien [RBCR 2 ] 2 "
der p^-Bindungen in Form von metastabilen Produkten erhalten, wobei die Boraalkene und (bisher unbekannten) Boraalkine durch intra- oder intermolekulare „Ergänzung" ihres Elektronensextetts zum
1. Das Bor
1131«
-oktett durch borgebundene Substituenten mit freiem Elektronenpaar ( X — B = C C D — B = C O eine zusätzliche Stabilisierung erfahren. Einige der bisher isolierten Boraalkene (planares — B = C ^ - G e r ü s t mit linearem Bor), Borataalkene (planares ^B=CC-Gerüst mit trigonal-planarem Bor), Borataalkine (lineares — B = C — -Gerüst), Diborataallene (lineares B = C = B - G e r ü s t mit trigonal-planarem Bor; die ^ B = - E b e n e n stehen senkrecht zueinander) und Diboratabutadiene (nicht planares C = B — B = C - G e r ü s t mit trigonal-planaren Boratomen) sind nachfolgend aufgeführt ( M e ^ 2,4,6-C 6 H 2 Me 3 ;Dsi = CH(SiMe 3 ) 2 , «Bu = ^ 3 C ; Gegenionen des Borataalkens: Li(12-Krone-4) + ; der übrigen Anionen: Li(OEt 2 ) + ; bzgl. ,,Bora" und ,,Borata" vgl. Anm. 3 6 : Die ungesättigten Borverbindungen werden ähnlich wie die ungesättigten Siliciumverbindungen (S. 997) durch Eliminierungsreaktionen synthetisiert (z.B.: iBuBF—C(SiMe 3 ) 3 ^-> i B u B = C ( S i M e 3 ) 2 + Me 3 SiF; M e ^ BCH 3 + LiNR 2 -> Li + [ M e ^ = C H 2 ] " + H N R 2 ) und setzen sich wie letztere mit protonenaktiven Stoffen zu Insertionsprodukten (z. B. — B = C C + H X -> — B X — C H Q und mit ungesättigten Verbindungen zu Cycloaddukten um (z.B. [2 + 2]-Cycloaddukt aus —B=CC/Ph 2 C='O, [2 + 3]-Cycloaddukt aus — B = C C / M e 3 S i N = N = N ) . Die - nicht allzu sperrigen - Boraalkene bilden mit Donoren erwartungsgemäß Addukte (z.B. M e — B = C ( S i M e 3 ) 2 + D -> D ( M e ) B = C ( S i M e 3 ) 2 ; D = 2,6-Dimethylpiperidin). Borhaltige Aromaten. Ersetzt man in organischen Aromaten mit (4n + 2) re-Elektronen (vgl. S.999) z.B. ,,Cyclopropenylium" und ,,Cyclobutenylium" (jeweils 27i-Elektronen, d.h. n = 0) oder „Cyclopentadienid", „Benzol" und ,,Tropylium" (jeweilsre-Elektronen, d.h. n = 1) - Kohlenstoffatome durch isoelektronische Borionen B " , so bleibt gemäß Fig.242 der (zweidimensional-) aromatische Verbindungscharakter erhalten. Dies zeigt sich etwa darin, dass (i) die Borata-Derivate des Cyclopropenyliums wie dieses drei vergleichbar lange Bindungen im dreigliederigen Ring aufweisen, dass (ii) die Borata-Derivate des Cyclobutenyliums wie dieses einen ,,gefalteten" viergliederigen Ring mit transannularer Bindung enthalten (Faltungswinkel ca. 35°; Ringinversionsbarriere ca. 35 kJ/mol) und dass (iii) den Borata-Derivaten des Cyclopentadienids, Benzols und Tropyliums wie diesen planarefünf-, sechs- bzw. siebengliederige
c
/ Cyclopropenylium
Cyclobutenylium (Homocyclopropenylium)
I
I
c — c
\
Cyclopentadienid "
I
I B
XgX / Boriren
Homoboriren (Boracyclobuten)
c — c
B^
Diborirenid
/ Homodiborirenid (1,3-Diboretan-2-id)
B-
Tropylium
I
I
I _ Boratabenzol I
C
,B
.
-B \
1,2-Diboroltriid
/c—c\
I Benzol
B
\
Boroldiid
-C
I
t V - X C ' | ( 6 7l)|
c—c
/
\
Borepin I
|(6 n)\
1(6,)!
er
B
I 1 ,2-Diboratabenzol
Borabenzol
Fig. 242 Ungesättigte Borheterocyclen (zur Nomenklatur vgl. Anm. 27, 36), z. B.: „Boriren" C2BR mit 2CR/BR = 2CMes/BMes, 2CR/BN(SiMe 3 ) 2 mit R = Et, Ph, SiMe 3 ; ,,Diboriranid" CB 2 R 3 " mit 2BR/ C R = 2BBu/CDsi; ,,.Homoboriren" C3BR5 mit CR/2CR/BR = Fluorenyliden/2CEt/BMes; „Homoboriranid" C 3 B 2 R" mit CR 2 /2CR/2BR = C(SiMe 3 ) 2 /2CDur/2BDur; „Boroldiid" CaBR~ mit 4CR/ B R = 4CH/BNMe 2 ; ,, 1,2-Diboroltriid ' C 3 B 2 R^" mit 2CR/CR(Mitte)/2BR = 2CMe/CDsi/2BDur;,,Boratabenzol" C 5 B R " mit 5CR/BR = 5CH/BPh; ,, 1,2-Diboratabenzol" C 4 B 2 R j " mit 4CR/2BR = 4CH/ 2BNMe 2 (man kennt auch Beispiele für 1,3- und 1,4-Diboratabenzol); ,,Borepin" C 6 BR, mit 6CR/ B R = 6CH/BMe ( M e ^ 2,4,6-Me 3 C 6 H 2 ; Dsi = CH(SiMe 3 ) 2 ; Dur = 2,4,5,6-Me 4 C 6 H).
• 1132
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Ringe zugrundeliegen, welche hinsichtlich Komplexfragmenten ML„ (M = Übergangsmetall, L = geeigneter Ligand) analog diesen (vgl. S. 1850, 1863, 1868) als penta-, hexa- oder heptahapto-gebundene Komplexliganden wirken können. Das von Pentaphenylboroldiid abgeleitete dunkelblaue Borol BC 4 Ph 5 stellt eine sehr starke Lewis-Säure dar (z. B. Reaktion mit Benzonitril, Diphenylacetylen). Ein ,,Borabenzol" BC 5 H 5 (vgl. Fig. 242), in welchem Bor nur ein Elektronensextett aufweist, konnte bisher nicht isoliert werden; gewinnbar ist aber ein,,Boratabenzol" in Form des mit Diphenyl C 6 H 5 —C 6 H 5 isoelektronischen Phenylanion-Addukts C 6 H 5 -> BC 5 H 5 sowie Pyridin-Addukts C 5 H 5 N-> BC 5 H 5 . Auch andere Donoren stabilisieren BC 5 H 5 in Form von D-^BC 5 H 5 (D z.B. PMe 3 , CNiBu, NMe2~, Me~, C(—NMe—CMe=CMe—NMe—)). Es gelang auch die Synthese des Boratabenzol-Grundkörpers BC 5 H 6 " = H ^ B C 5 H 5 (im Kristall liegt [Li(THF) 4 ] + [Li(BC 5 H 6 ) 2 ;T mit sandwichartig gebautem Anion vor).
Organische Derivate höherer Borane Allgemeines. Man kennt eine große Anzahl organischer Borverbindungen, die sich von den Polyboranen und deren Carbaderivaten (,,Carbaboranen") durch Austausch der Wasserstoffatome gegen Organylgruppen ableiten (auch ein Tausch zweier H-Atome gegen einen Organdiylrest unter Einbindung von BAtomen in Ringe ist möglich). Ihre Synthese erfolgt durch elektrophile und nucleophile H/R-Substitution (vgl. z.B. S.1079, 1083) sowie durch Hydroborierung von Alkenen (vgl. S.1069), des weiteren durch Organylboran-Einführung (z.B. B 3 H 7 • D + MeBH 2 —> 2-B 4 H 9 Me + D) sowie Boran/Organylboran-Austausch (z. B. B 4 H 10 + MeBH 2 -> 1-B 4 H 9 Me + B H ) . Darüber hinaus lassen sich Organylpolyborane (Analoges gilt für Organylcarbaborane) durch Enthalogenierung geeigneter Vorstufen (z.B. 2R 2 BHal + 2Na -> R 2 B—BR 2 + 2NaHal) sowie durch Hal/R-Substitution in halogenhaltigen Polyboranen (z. B. B 4 Cl 4 + 4 L k B u -> B 4 iBu 4 + 4LiCl) erzeugen. Die Stabilität der Organylpolyborane und -carbaborane ist höher als die der zugrundeliegenden Wasserstoffverbindungen. Aus diesem Grunde lassen sich Borane und Carbaborane, die in Substanz wie etwa B„H„, B„H2~, BnHn+1, C B ^ H " , C2B„_2H„ (n = 2 - 5 ) nicht zugänglich sind, vielfach nach Substitution einiger oder aller H-Atome gegen mehr oder weniger raumerfüllende Organylgruppen isolieren Nachfolgend werden nunmehr die - über ab-initio Berechnungen ermittelten - Strukturen und Bindungsverhältnisse instabiler Di-, Tri-, Tetra- und Pentaborane (einschließlich der Carbaderivate) sowie einige in Substanz isolierte Organylderivate dieser Borane vorgestellt. Bezüglich organischer Derivate isolierbarer Polyborane siehe bei letzteren Verbindungen (S. 1073f). Diborane und Carbaderivate Borangrundkörper Das nur zwei B-Atome aufweisende ,,closo"-B2H2" ist wie isoelektronisches Ethin H C = C H linear strukturiert (vgl. Formelschema). Entsprechendes gilt für die oxidierte Form von B 2 H 2 ", „hypercloso"-B 2 H 2 , die analog Sauerstoff ^-J-O einen Triplett-Grundzustand einnimmt (B bildet sich beim Abscheiden eines Gases aus B-Atomen (erzeugt durch Laserver dampfung von Bor), H 2 -Molekülen und viel Argon auf 10 K kalte Flächen neben BH, B H und B 2 H 6 ). Die protonierte Form von B 2 H 2 ", „closo"-B 2 H 4 , deren Donoraddukte isolierbar sind (S. 1076), weist einen gestajfelten Bau mit senkrecht zueinander orientierten BH 2 -Hälften auf. Das Molekül B 2 H 4 wird hierbei durch ,,Hyperkonjugation" (S. 137) der BH-Bindungselektronen mit dem leeren p-Orbital des der BH-Gruppe benachbarten B-Atoms stabilisiert (diese Wechselbeziehung ist im Formelbild für die zwei B—H-Bindungen, die in der Zeichenebene liegen, angedeutet). Die Hydridaddukte von B 2 H 2 bzw. B 2 H 4 , nämlich das mit Ethen H 2 C = C H 2 isoelektronische „nido"-B 2 H 4 " bzw. das mit Ethan H 3 C—CH 3 isoelektronische ,,arachno"-B 2 HJ", sind planar (B 2 H 4 ~) bzw. gestaffelt (B 2 HJ~) strukturiert. Keine Diborwasserstoffverbindung ist isolierbar
H — B-HB—H B 2 H 2 (D„H)
^
z
B
B H4 2
=
Dur
_
^ V
_
B, Ri
B, R,
B3 R
(R' = SiMe3; Dur = 2,3,5,6-C6HMe4) Carbaborane Die nach Ersatz von B in B 3 H 3 (c) durch C-Atome hervorgehenden isoelektronischen Verbindungen CB2H^~ (j), C 2 BH 3 und C 3 HJ stellen wie B 3 H 3 ~ 2n-Aromaten dar37 (Struktur analog B 3 H 3 ~). Isolierbar sind z.B. die organischen Derivate CB 2 R 3 " mit CR/2BR = CSiMe 3 /2BDur (Dur = 2,3,5,6-Me 4 C 6 H) sowie C 2 BR 3 mit 2CR/BR = 2CMes/BMes (vgl. Fig. 242, S. 1131). Die 27i-Aromatizität bleibt auch erhalten, wenn man in die BB- oder BC-Bindung etwa von (j) Methylen C H einschiebt. Man gelangt hierbei zur ,,Homoverbindung" von (j) (vgl. hierzu Homodiboriranid in Fig.242 auf S. 1131). Die Protonierung von CB2H3~ (j) kann am C-Atom unter Bildung des mit B3H4~ (f) isoelektronischen Carbatriborans (,,Diborcyclopropans") CB 2 H 4 (k') erfolgen (der Übergangszustand beider Formen k' ohne C—H B-Brücke ist energiegleich mit k'; k' mit planar-koordiniertem C-Atom ist um ca. 73 kJ/mol energieärmer als die entsprechende Spezies mit tetraedrisch-koordiniertem C-Atom). Allerding geht (k') unter Energieabgabe in das Carbatriboran (k) über: H i C
ca.
±H+
2 71
/(2$T
-126 kJ B
H
Me3 Si I yC\ , B M e ( C H 2 S i M e 3 )
H
(J) C B 2 H 3 ( D ^ )
R
^B H H
(k') CB2H4 (Cs)
B
H
'
H
H Dur'
(k) CB2H4 (C2V)
Dur (l) CB2R4
Isolierbar ist etwa das Derivat CB 2 R~ von (j) mit CR/2BR = CSiMe 3 /2BDur (Dur = 2,4,5,6-Me 4 C 6 H; vgl. auch Fig. 242). Das zugängliche Derivat CB 2 R 4 (l) des Carbaborans (k'), in welchem eine Borylgruppe BMe(CH 2 SiMe 3 ) als Brücke fungiert (R = Dur, R' = CH 2 SiMe 3 ), wandelt sich bereits bei — 90 °C unter Wanderung der Borylgruppe von der Position zwischen C und B in die Position zwischen B und B in ein farbloses Derivat von (k) um. Das Derivat (l) ist eine der wenigen bisher isolierten Verbindungen mitplanar-tetrakoordiniertem Kohlenstoffatom ohne Metallsubstituenten. Ein weiteres Beispiel eines Derivats von (k) ist farbloses CB 2 HR 3 mit CR/BR/BR = CSiMe 2 Dur/CH(SiMe 3 ) 2 /BDur. Tetraborane und Carbaderivate. Borangrundkörper Das Tetraboran kypercloso-R4ii4 weist wie hyperclosoB 3 H 3 keinen klassischen Bau (m"), sondern einen nichtklassischen Bau (n) auf: formal geht planares B 4 H 4 (m") unter Energiegewinn infolge von B—B-Hyperkonjugation in das gefaltete Boran (m') über und darüber hinaus unter Umwandlung der vier BB-Zwei- in vier, durch gestrichelte Dreiecke symbolisierte BBB-Dreizentrenbindungenin tetraedrisch strukturiertes B 4 H 4 (m). Energetisch günstiger als die letztere Form (m) ist die des planaren ,,Doppelaromaten" (n) 31 mit einer BBB- B 4 H 6 + B H ) . Das bereits an anderer Stelle erwähnte (S. 1075) Boran nido-B4Hs (r), die hydrierte Form von B 4 H 6 weist einen gefalteten B 4 -Ring auf. Entsprechendes gilt für das Boran arachno-B4Hw, die hydrierte Form von B 4 H 8 , das isolierbar ist und auf S. 1075 eingehend besprochen wurde. H x'-ft'x
-ßH
A j '—j -XB H
ca. - E
(m'') B4H4 (D4h)
\\
- 410 kJ
II // B' H
ca. - 2 5 kJ
( m ) B 4 H 4 (Ta)
( m ' ) B 4 H 4 (D2d)
(n) B4H4 (Cs)
H
H \
±2H + - 4 0 kJ
„ l \
-B H \
\
(p) B4H6 (D2h)
BH
/
BH (o) B4H4- (D2d)
BBC
(q) B 4 H (Dja)
H
H
(r) B4H8 (Cj)
Organylderivate Von einigen der nicht zugänglichen Tetraboran-Grundkörper (m)-(r) ließen sich Organylderivate synthetisieren und isolieren. So entstehen farblose, tetraedrisch gebaute Tetraorganylderivate B 4 H 2 R 4 des closo-Tetraborans(6) B 4 H 6 (q) (B«Bu, BCMe 2 Et, BCH 2 «Bu anstelle von BH) durch Enthalogenierung von RBHal 2 mit Na/K-Legierung in Toluol bzw. Pentan. Durch Reaktion von Li in Tetrahydropyran THP lässt sich B 4 H 2 iBu 4 „deprotonieren": B 4 H 2 iBu 4 + 2Li -> Li + B 4 HiBu 4 + LiH. Eine weitere Deprotonierung des sehr basischen, leicht zu B 4 H 2 iBu 4 protonierbaren Borats B 4 HtBu 4 gelingt nicht (siehe aber unten). Die Enthalogenierung von RBHal mit Na/K-Legierung führt in der Regel außer zu B 4 H 2 R 4 und B4HR4~ auch zu Radikalanionen B 4 R 4 ~ sowie zu gelben, tetraedrisch gebauten Derivaten B 4 R 4 (R = iBu, CMe 2 Et, CH 2 iBu) des hypercloso-Tetraborans(4) B 4 H 4 des Typus (m). Das farblose, nicht planare Derivat B 4 H/Bu 4 von nido-Tetraboran(S) B 4 H8 (r) (BiBu anstelle von BH) entsteht durch Protonierung des durch Umsetzung von B4H2iBu4~ mit K in THF/HN(SiMe 3 ) 2 auf dem Wege B 4 H 2 iBu 4 -> B 4 H 2 iBu 4 ~ -> B4H3iBu4~ gebildeten Borats B4H3iBu4~ mit HCl. Es konnten darüber hinaus auch planar gebaute Organylderivate von B 4 H 6 des Typus (p) und von B 4 H 4 des Typus (n) - aber ohne BHBBrücke - gewonnen werden. So führt die teilweise Enthalogenierung zweier Moleküle des Diborolans L ClB—CH(SiMe )—CH(SiMe )CH(SiMe )—BC1 J mit Na/K-Legierung zum gelben Boran B C1 R (vgl. 3 3 3 4 2 4 (p') mit BCl anstelle BH), das durch Austausch von C l " gegen in gelbes B 4 H 2 R 4 (p'), durch Entchlorierung in B 4 R 4 (n') umwandelbar ist. Letzteres Boran geht bei Einwirkung von Li in T H F bei — 78 °C in ein rotes Derivat B 4 R 4 ~ des closo-Borats B 4 H 4 " (o) über, das sich allerdings oberhalb — 30°C isomerisiert
(p') B4H2R4
( • = CHSiMe3) (n') B4R4
HC
CH
HB
BH
(s)C 2 B 2 H 4 (C 2v )
H,C„
HB
(t)C 2 B 2 H 4 (C 2v )
(u) C 2 B 2 H 4 (C,)
• 1136
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Carbaborane. Die nach Ersatz von B in closo-B4H4 ~ (o) durch C-Atome hervorgehenden - ebenfalls nicht isolierbaren - isoelektronischen closo-Verbindungen CB 3 Hj, C 2 B 2 H 4 (t), C 3 BH^ und C 4 H 4 + stellen wie B 4 H 4 ~ 2^-Aromaten dar 37 (Struktur analog B 4 H 4 "). Isolierbar ist etwa das hellgelbe organische Derivat CB 3 R 4 " mit CR/2BR/BR = CSiMe 3 /2BDur/BCH 2 SiMe 3 sowie C 2 B 2 R 4 mit 2CR/2BR = 2CMe/ 2«Bu, 2C«Bu/2BMe, 2CSiMe 3 /2B«Bu, 2CiBu/2BNMe 2 (Abstände B C / C " C ca. 1 . 5 0 / 1 . 7 4 I n t e r p l a narwinkel 120-130°; Dur = 2,3,5,6-Me 4 C 6 H). Die Verbindungen closo-C 2 B 2 R 4 lassen sich zu Radikalanionen C 2 B 2 R 4 ~ und gegebenenfalls zu nido-Carbaboraten C 2 B 2 R 4 ~ reduzieren (C 2 B 2 -Ringe mit zwei BCDoppelbindungen). CB3H4~ und C 2 B 2 H 4 (Organylderivate inbegriffen) mit tetraedrischen oder planaren CB 3 - und C 2 B 2 -Gerüsten stellen nur energiereiche Übergangszustände der Ringumlagerung bzw. Ringinversion dar (vgl. B 4 H 4 ~; in CB3R4~ der Konstitution L CSiMe 3 —BDur—BCH 2 SiMe 3 —BDur J vertauschen BDur- und BCH 2 SiMe 3 -Gruppen im Zuge der zwischenzeitlichen Bildung eines CB3R4~-Tetrahedrans ihre Plätze unter Bildung von CB3R4~ der Konstitution L CSiMe 3 —BDur—BDur—BCH 2 SiMe 3 J ). Außer Organylderivaten von C 2 B 2 H 4 des Typus (t) kennt man auch solche des Typus (s) oder (u) (das Carbaboran (s) ist in der wiedergegebenen Form nur ein Übergangszustand, der unter Abgabe von ca. 35 kJ/mol in energieärmeres tetraedrisch gebautes C 2 B 2 H 4 übergeht). Man gewinnt letztere durch Chlorentzug aus C l R B — C R = C R — B R C l bzw. R C = C ( B R C l ) 2 mit Alkalimetallen, erstere durch thermische Umlagerung aus (s) oder (u) (vielfach führt die Umlagerung wegen kleiner Umwandlungsbarrieren direkt zu (t)). Ein Beispiel für (s) ist etwa C 2 B 2 R 4 mit 2CR/2BR = 2CH/2BN;Pr 2 (Umlagerung bei 120°C; Abstände BB/BC/CC = 1.75/1.58/1.31 Ä), Beispiele für (u) bieten C 2 B 2 R 4 mit CR 2 /2BR = C(SiMe3)2/ 2 B B u , C(SiMe 3 ) 2 /2CDur, C(GeMe 3 ) 2 /2CDur (Abstände—B/HB—C/HB—CH/C—C ca. 1.84/1.35 und 1.54/1.62/1.47 Ä). Besondere Reaktivität weisen Organylderivate von C 2 B 2 H 4 des Typus (u) auf: sie wirken teils so, als läge ein Boracyclopropan C 2 BH 5 = L CH 2 —BH—CH 2 J vor, dessen eine CH 2 -Ringgruppe durch eine C=BH-Gruppierung ersetzt wäre (z. B. Addition von HX wie HCl, HN(SiMe 3 ) 2 an die CB-Doppelbindung unter Bildung von Borylboriranen mit gesättigtem C 2 B-Ring), teils so, als läge ein Carben vor (z.B. Addition von E R (E = P, A s ; R ' = Ph) oder von E R (E = Ge, Sn; R' = CH(SiMe 3 ) 2 , N(SiMe 3 ) 2 ) unter Bildung von ( — B R — C R — B R — ) C = E R 3 , 2 mit CP-, CAs-, CGe-, CSn-Doppelbindung, in ersten beiden Fällen ylidischer Natur). Pentaborane und Carbaderivate. Nach ab-initio Studien ist closo-BjHj" irigonal-bipyramidal gebaut (v), das einfache Protonierungsprodukt^^l verzerrt trigonal-bipyramidal (Proton über einer B3 -Fläche) und das zweifache Protonierungsprodukt B 5 H, quadratisch-pyramidal (w) (BBB-Dreizentrenbindungen in (v) und (w) durch gestrichelte Dreiecke symbolisiert). Dem Boran closo-B5H7 kommt hierbei eine von nidoB J H 9 (S. 1078) abgeleitete Struktur zu. Tatsächlich besetzen die B-Atome des durch Einwirkung von BH 3 auf die Verbindung (n') zugänglichen farblosen Tetraorganylderivats B 5 H 3 R 4 die Ecken einer quadratischen Pyramide (je zwei basale H-Atome auf der linken und rechten Molekülseite in (w) durch —CH(SiMe 3 )—CH(SiMe 3 )—CH(SiMe 3 )— ersetzt). Bezüglich der Organylderivate von nido-B5H9 und arachno-BjH, die sich- anders als B 5 H 7 in Substanz isolieren lassen, vgl. S. 1078. Ähnlich wie closo-B 5 Hj~ (v) ist auch dessen isoelektronisches Monocarbaderivat, closo-CB4Hnoch nicht in Substanz isoliert worden, während dessen Dicarbaderivat closo-C2B3H5 (S. 1090) zugänglich ist. Von beiden Carbaderivaten, den einfachsten polyedrischen closo-Carbaboranen (im Falle der gefalteten Verbindungen CB5H4~ bzw. C 2 B 2 H 4 (t) stellt die tetraedrische Form nur einen Umlagerungsübergangszustand dar) kennt man organische Verbindungen. Das farblose Derivat (x) lässt sich mit C2C16 unter Strukturerhalt zu einem blauen Neutralradikal oxidieren, das farblose Derivat (y) mit K unter Strukturänderung (Übergang der nichtklassischen in eine klassische Form) zu einem roten Dianion (z) reduzieren (beide Prozesse sind reversibel; Dur = 2,3,5,6-Me 4 C 6 H). H B
2-
H B
R'' C.
R'' C.
(x) CB4R5-
(y) C2B3R5
2-
HB
(v) B5H52 (D3h)
(w) B 5 H 7 (C2V)
(R' = Dur = 2,3,5,6-C6HMe4; R'' = SiMe3; R''' = CH2SiMe3)
(z) C 2 B3R|-
2. Das Aluminium
2
Das Aluminium 3 8 ' 3 9 ' 4 0
2.1
Das Element Aluminium38'39,40
2.1.1
Vorkommen
1137
Aluminium, das weitestverbreitete unter allen Metallen und nach Sauerstoff und Silicium das dritthäufigste aller Elemente (vgl. S. 78) kommt in der Natur wegen seiner großen Sauerstoffaffinität nicht gediegen, sondern nur in Form oxidischer Verbindungen vor. Und zwar findet man es vorwiegend in Form des Oxids A1 2 0 3 („Korund"; s.u.), der Hydroxide Al(OH) 3 („Hydrargillit") bzw. AlO(OH) („Diaspor'', „Böhmit") und in Form von Kombinationen des Oxids bzw. der Hydroxide mit anderen Metalloxiden sowie -hydroxiden. Unter letzteren Verbindungen sind an erster Stelle die zu den „Alumosilicaten" (S.958) zählenden Feldspäte sowie Glimmer (s. 970, 969) als „Erstarrungsgesteine" zu nennen, darüber hinaus als Verwitterungsprodukte41 der Feldspäte die Tone (S.970) und als Verwitterungsprodukte41 der Tone die Bauxite4 2 (die aus Hydragillit, Diaspor und Böhmit sowie Tonmineralbeimengungen bestehenden, für die technische Aluminiumherstellung besonders bedeutungsvollen grauweißen bis rotbraunen Bauxite finden sich in großen Lagern u. a. in Guinea, Australien, Brasilien, Vietnam, Indien und Jamaica). Seltenere Alumosilicate sind u.a. die Spinelle (S.1162), die Granate (S.963) und der Beryll (S.963). In geringerem Umfange kommt Aluminium auch als Fluorid AlF 3 in Kombination mit Alkalimetallfluoriden vor (z.B. „Kryolith", „Eisstein" Na 3 [AlF 6 ]; „Kryolithionit'' Li 3 Na 3 [AlF 6 ] 2 ; S. 1151)4 2 . Wichtige Feldspäte sind z. B. Kalifeldspat („Orthoklas") K [ A l S i 3 O s ] als Hauptbestandteil von Granit, Gneis, Porphyr und anderen Eruptivgesteinen Natronfeldspat („Albit'') N a [ A l S i 3 0 8 ] , Kalkfeldspat (,,Anorthit'') C a [ A l 2 S i 2 O s ] und isomorphe Gemische von Kalk- und Natronfeldspat als Hauptbestandteile von Basalt. Wichtige Glimmer sind z.B. Kaliglimmer („Muskovit'') KAl 2 (OH,F) 2 [AlSi 3 O 1 0 ], Magnesiaglimmer („Biotit'') K(Mg,Fe") 3 (OH,F) 2 [AlSi 3 O 1 0 ], Lithionglimmer („Lepidolith") (K,Li) Al 2 (OH,F) 2 [AlSi 3 O 1 0 ] (in isomorpher Mischung mit Kaliglimmer) und Lithioneisenglimmer („Zinnwaldit''): Mischkristalle von Magnesiaglimmer und Lithionglimmer. - Unter den Tonen ist der „Kaolinit'' (S. 967), ein wasserhaltiger, sich unter besonderen Verwitterungsbedingungen (erhöhte Temperatur, erhöhter Druck) aus Feldspat bildendes Alumosilicat der Zusammensetzung A l 2 ( O H ) 4 [ S i 2 0 5 ] ( C a [ A l 2 S i 2 0 8 ] + 3 H O + 2 C 0 2 -> A l 2 ( O H ) 4 [ S i 2 0 5 ] + Ca(HCO 3 ) 2 ) sowie der „Montmorillonit'' und,, Vermiculit'' (S. 938) wichtig.
38
3^
4°
41
42
Literatur. K. Wade, A.J. Banister: „Aluminium'', Comprehensive Inorg. Chem 1 (1973) 993-1064; GMELIN: „Aluminium'', Syst.-Nr. 35; ULLMANN: ,,Aluminothermic Processes'', „Aluminium'', „Aluminium Alloys'', „Aluminium Compounds'', AI (1985) 447-556; COMPR. COORD. CHEM. I/II: „Aluminium'' (vgl. Vorwort); A.J. Downs (Hrsg.): „Chemistry of Aluminium, Gallium, Indium and Thallium'', Blackie Acad. and Professional, London 1993; mehrere Autoren: „Aluminium chemistry'', Coord. Chem. Rev 228 (2002) 93-395; Vgl. auch Anm. 46, 48, 49, 57. Geschichtliches Der schon im Altertum bekannte Alaun (Doppelsalz aus A12(SO4)3 und K2SO4) hat dem Aluminium seinen Namen gegeben: alumen (lat.) = Alaun Entdeckt wurde das Element im Jahre 1827 von Friedrich Wöhler (AlCl3 + 3K AI + 3KCl; 1825 hat wohl schon H.C. Oersted Al auf dem gleichen Wege gewonnen). Die schmelzelektrolytische Herstellung von Aluminium gelang im Laboratorium erstmals R.W. Bunsen und St. Claire-Deville im Jahre 1854(NaCl/AlCl3-Schmelze); sie wird in der Technik seit 1889 nach dem 1886 entwickelten Hall-Heroult-Prozess durchgeführt (A /N Al -Schmelze). Physiologisches Das Element Aluminium (nicht essentiell für den Menschen) ist im Kontakt mit Lebensmitteln für den Menschen, der ca. 0.5mg/kg enthält toxikologisch unbedenklich (MAK-Wert = 6mg Freistaub pro m3). Hohe Gehalte an dreiwertigem Aluminium in der Nahrung (z.B. Rindfleisch bis 0.8mg/kg: der größte Teil von täglich aufgenommenen 10-40 mg Al(III) werden nicht resorbiert) können u. a. Arteriosklerose fördern, den Phosphatstoffwechsel stören und die Lebenserwartung von Hämodialysepatienten mindern; auch soll Al(III) Mitauslöser der Alzheimer-Krankheit sein Unter chemischer Verwitterung versteht man in der Geologie die Summe aller zu Veränderungen der Erdoberflächengesteine und -minerale in Kontakt mit der Atmo-, Hydro- und Biosphäre führenden Prozesse. Von Bedeutung ist etwa die in Richtung polare subtropische Klimazonen zunehmende Verarmung der Böden an Kationen wie K + , Mg 2+ , da letztere bei Zusammenwirken von Feuchtigkeit und Temperatur zunehmend rasch aus dem Gestein ,,gewaschen'' werden. In gleicher Richtung sinkt dementsprechend die Bodenfruchtbarkeit. Z.B verwittert der in kalten Klimazonen haltbare Granit ( = Quarz Si02 + Feldspäte wie K[AlSi3Os] + Glimmer wie KMg(OH)2[AlSi3O10]) in gemäßigten Zonen zum Teil zu Tonen, Lehmen, Mergeln (für die Pflanzenernährung von höchster Wertigkeit) und in zunehmend heißen Zonen unter Abnahme des Kationenanteils zunächst zu Montmorrillonit Na0 33Mg0 33Al167(OH)2[Si4O10], des weiteren zu Kaolinit Al2(OH)4[Si2030] und schließlich - unter „Auswaschen" von Si zu Bauxit A1203 (s. oben). Letzterer gehört zu den völlig unfruchtbaren Lateriten, also zu den Böden, welche die rote und braune Erde von Afrikas Steppen bilden (Laterit von lat Ziegelstein). Die Regenwälder Amerikas stehen auf ca. 20 cm dicken Erdschichten, welche lateritische Böden abdecken, wobei sich alle Mineralien in den Pflanzen befinden und einem ständigen Kreislauf unterliegen (brandgerodete Flächen veröden nach 1 - 2 Ernten). Der Bauxit hat seinen Namen daher, dass er u. a. bei Les Baux in Südfrankreich gefunden wird. - Der u. a. an der Südküste Grönlands vorkommende, technisch bedeutende Kryolith hat seinen Namen von cryos (griech.) = Eis, lithos (griech.) = Stein.
• 1138
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Stark calcium- und magnesiumcarbonathaltige Tone bezeichnet man als Tonmergel, stark durch Eisenoxid und Sand verunreinigte Tone als Lehm. Als reines Aluminiumoxid A1 2 0 3 (,, Tonerde") kommt Aluminium in Form von Korund vor (eine durch Eisenoxid und Quarz verunreinigte körnige Form des Korunds nennt man,,Schmirgel"). Gut ausgebildete und durch Spuren anderer Oxide gefärbte Al 2 0 3 -Kristalle (vgl. die in analoger Weise gefärbten S i 0 2 Kristalle; S.950) sind als Edelsteine geschätzt (vgl. S. 1161); z.B.: ,,Rubin" (rot), „Saphir" (blau), ,,orientalischer Smaragd"43 (grün), ,,orientalischer Amethyst"43 (violett), ,,orientalischer Topas"43 (gelb). Isotope (vgl. Anh.III). Natürlich vorkommendes Aluminium besteht zu 1 0 0 % aus dem Nuklid f7Al, das für NMR-spektroskopische Untersuchungen dient. Das künstlich erzeugte Nuklid f6-Al (ß + -Strahler; t 1/2 = 7.5 x 10 5 Jahre) wird für Tracerexperimente genutzt
2.1.2
Darstellung
Die technische Darstellung von Aluminium erfolgt durch Elektrolyse einer Lösung von Aluminiumoxid in geschmolzenem Kryolith. Das dabei eingesetzte Aluminiumoxid muss sehr rein sein. Dementsprechend besteht die Aluminiumdarstellung aus zwei Arbeitsgängen: der Gewinnung von reinem Aluminiumoxid und der eigentlichen Elektrolyse. G e w i n n u n g von reinem Dialuminiumtrioxid aus Bauxit Als Ausgangsmaterial für die Erzeugung reiner Tonerde dient fast ausschließlich Bauxit (s. oben). Jedoch lassen sich notfalls auch die weitverbreiteten Tone und technische Abfallprodukte wie Kohlenasche zur Gewinnung von A1 2 0 3 heranziehen. Die in der Natur vorkommenden Bauxite sind mehr oder weniger stark durch Eisenoxid und Kieselsäure verunreinigt. So enthalten die so genannten ,,roten Bauxite" meist 2 0 - 2 5 % F e 2 0 3 und 1 - 5 % SiO 2 , die ,,weißen Bauxite" nur 5 % F e 2 0 3 , aber bis zu 2 5 % SiO2, ferner beide Bauxite G a 2 0 3 in Spuren. Als Ausgangsmaterial zur Aluminiumdarstellung dienen hauptsächlich die roten Bauxite. Die Entfernung des Eisens aus ihnen kann durch alkalischen Aufschluss auf nassem oder trockenem Wege erfolgen und beruht im Prinzip darauf, dass das amphotere Al(OH) 3 zum Unterschied vom basischen Fe(OH) 3 in Laugen löslich ist (die Entfernung des Siliciums aus den derzeit noch wenig genutzten weißen Bauxiten kann durch sauren Aufschluss erfolgen und beruht im Prinzip darauf, dass das amphotere Al(OH)3 zum Unterschied vom sauren Si0 2 in Säuren löslich ist). Nasser Aufschluss Der - heutzutage praktisch ausschließlich durchgeführte - nasse Aufschluss von Bauxit erfolgt nach dem „Bayer-Verfahren". Bei diesem Verfahren wird der feingemahlene Bauxit in einem mit Rührwerk versehenen, dampfbeheizten eisernen Druckkessel („Autoklav") mit 35-38 %iger Natronlauge 6-8 Stunden lang auf (140-250°C; 5 - 7 bar Druck) erhitzt. Hierbei löst sich lediglich das Aluminium-, nicht aber das Eisenoxid auf, da in stark alkalischer Lösung das Gleichgewicht der „Salzbildung" aus Metallhydroxid und Lauge beim Aluminium ganz auf der Seite des Salzes (S. 1156), beim Eisen dagegen ganz auf der Seite des Hydroxids liegt: Al(OH) 3 + NaOH
Na[Al(OH) 4 ],
Fe(OH) 3 +NaOH ^ —
(1)
Na[Fe(OH) 4 ],
Nach Entspannung und erstmaliger Verdünnung der Lauge wird diese bei etwa 95 °C in Schwerekrafteindickern durch Dekantieren von der Hauptmenge und dann durch Feinfiltration vom Rest des Eisenoxid-Hydrats (,,Rotschlamm") befreit. Wegen der feinen Verteilung des Niederschlags ist die Filtration nicht ganz einfach. Eine Ausfällung des Aluminiumhydroxids aus der filtrierten, konzentrierten, heißen Aluminatlösung erfolgt nunmehr durch starke Ver43 Der echte Smaragd/Amethyst/Topas ist eine Abart des Berylls Be3Al2[Si6018]/ein gefärbter Quarz Si02/ein fluoridhaltiges Aluminiumsilicat Al2(F,OH)2[Si04].
2. Das Aluminium
1139
dünnung der Aluminatlauge, wodurch das Gleichgewicht (1) nach links verschoben wird (vgl. Ostwald'sches Verdünnungsgesetz, S. 197). I m gleichen Sinne günstig wirkt eine Temperaturerniedrigung ( a u f ca. 6 0 ° C ) der Lauge. Die Abscheidung des kristallisierten Hydroxids A l ( O H ) 3 als Hydrargillit bzw. Bayerit („Ausrühren") wird durch Zugabe von Hydrargillit bzw. Bayerit zu Beginn des Ausrührprozesses wesentlich beschleunigt, und zwar umso mehr, j e mehr kristalline Phase A l ( O H ) 3 zugesetzt wurde. D a s Ausrühren dauert etwa 2 - 3 Tage. D a s ausgefällte Aluminiumhydroxid wird abfiltriert, gewaschen und durch scharfes Glühen in D r e h r o h r ö f e n oder Wirbelschichtöfen bei Temperaturen von 1 2 0 0 - 1 3 0 0 ° C in wasserfreies, feuchtigkeitsbeständiges („totgebranntes"') a-Aluminiumoxid verwandelt (S. 1160; die an A l ( O H ) 3 ab-, an G a ( O H ) 3 angereicherte Lauge wird wieder dem Bauxitaufschluss zugeführt): 2Al(OH)3
-> A 1 2 0 3 + 3 H 2 O .
Die Kieselsäure des Bauxits geht beim nassen Aufschluss größtenteils in das unlösliche Natrium-aluminium-silicat N a 2 [ A l 2 S i O e ] • 2 H 2 O über: S i 0 2 + 2NaOH + A1 2 0 3 ^ H 2 0 + Na 2 [ A l 2 S i 0 6 ] , das zusammen mit dem Rotschlamm ausfällt. Die Bildung dieses Silicats führt dementsprechend zu beträchtlichen Ätznatron- und Tonerdeverlusten, welche naturgemäß mit dem Kieselsäuregehalt des Bauxits steigen. Daher bevorzugt das Bayer-Verfahren möglichst kieselsäurearme Bauxite. Auf die beim Erhitzen mit Natronlauge mitaufgeschlossene und in Lösung gegangene Kieselsäure wirkt der zum Ausfällen des Aluminiumhydroxids zugesetzte Hydrargillit natürlich nicht als Keimbildner ein Insgesamt kann das Verfahren des nassen Aufschlusses durch die schematische Gleichung Al(OH)3 + NaOH
Aufschluss> Ausfällung
(
Na[Al(OH)4]
zum Ausdruck gebracht werden. Wie daraus hervorgeht, wird die zum Aufschluss erforderliche Natronlauge bei der Ausfällung des Aluminiumhydroxids immer wieder zurückgewon nen Trockener Aufschluss Bei dem - heutzutage bedeutungslosen - Verfahren des trockenen Aufschlusses (,,Trockenverfahren") wird der staubfein gemahlene Bauxit mit der berechneten Menge gemahlener calcinierter Soda (S. 1291) unter gleichzeitigem Zusatz von gemahlenem gebranntem Kalk sorgfältig vermischt und in großen Drehrohröfen einer Generatorgasflamme entgegengeleitet („Calcinieren"). Bei diesem Glühprozess (1000 °C) geht das Aluminiumoxid des Bauxits im Wesentlichen in Natriumaluminat und teilweise auch in Calciumaluminat, das Eisenoxid in Natriumferrit und Calciumferrit über: A l 2 0 3 + Na 2 CO 3 ^ 2 N a A l 0 2 + CO 2 , F e 2 0 3 + Na 2 CÜ 3
2 N a F e 0 2 + CO 2 .
Behandelt man anschließend das abgekühlte, grünlich aussehende Sinterprodukt im Gegenstrom mit Wasser, so geht das Aluminat in Lösung: N a A l 0 2 + 2 H 2 0 -> Na[Al(OH) 4 ], während das Ferrit quantitativ zu unlöslichem Eisenhydroxid und Lauge hydrolysiert wird. Die Ausfällung des Aluminiumhydroxids aus der filtrierten Aluminatlösung erfolgt durch Einleiten von Kohlendioxid („Carbonisieren"), wodurch das Gleichgewicht (1) infolge Neutralisation der Lauge gemäß: 2NaOH + CO 2 -> Na 2 CO 3 + H 2 O nach links verschoben wird. Das erhaltene Aluminiumhydroxid wird wie beim Bayer-Verfahren bei hohen Temperaturen zum Oxid entwässert. Das beschriebene Aufschlussverfahren lässt sich in einfachster Form durch die Gleichung Aufschluss A1 2 0 3 + Na 2 CO 3 < ' 2 N a A l 0 2 + CO 2 Ausfällung wiedergeben. In der Schmelze (Aufschluss) wird das Aluminiumoxid des Bauxits mittels Soda in wasserlösliches Aluminat übergeführt; in der wässerigen Lösung (Ausfällung) wird durch Einwirkung des beim Aufschluss gewonnenen Kohlendioxids das Aluminat wieder zu Oxid und Soda zerlegt. Die so zurückgewonnene Soda geht immer wieder in den Aufschlussprozess zurück Man kann auch nach einem kombinierten Trocken- und Bayer-Verfahren (kombinierter Aufschluss) arbeiten. Bei dieser Methode wird der Bauxit wie beim Trockenverfahren aufgeschlossen und das Aufschlussgut mit heißem Wasser ausgelaugt. Die gewonnene und filtrierte Aluminatlösung wird dann wie beim Bayer-Verfahren so weit ausgerührt, dass etwa die Hälfte der gelösten Tonerde ausfällt. Den Rest der Tonerde scheidet man wie beim Trockenverfahren in Carbonisatoren vollständig aus
• 1140
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Schmelzelektrolyse des
Dialuminiumtrioxids
D a s a u f irgendeine der geschilderten Weisen gewonnene Aluminiumoxid darstellung der ,,Schmelzelektrolyseii(exakter:
wird zur Aluminium-
„ S c h m e l z f l u s s e l e k t r o l y s e " ) unterworfen44. D a
der Schmelzpunkt des Aluminiumoxids sehr h o c h liegt (2045 °C), elektrolysiert m a n dabei nicht direkt geschmolzenes reines Aluminiumoxid, sondern eine Lösung
von
Aluminiumoxid
- künstlich hergestelltem (S. 1 1 5 1 ) - K r y o l i t h N a 3 A l F 6 (Smp. 1 0 0 0 ° C ) , wobei
in geschmolzenem
sich - schematisiert - folgende Elektrodenvorgänge abspielen (Hall-Heroult-Prozess 3 9 ): A
2A13+
+ 6 ©
2A13+ + 3O2-
(Schmelze
2Al
(Kathodenprozess)
3O2-
li0
A
2 A + 1|02.
2
(Anodenprozess
+ 6 ©
Aus dem Schmelzdiagramm Kryolith-Aluminiumoxid ergibt sich, dass das am niedrigsten schmelzende („eutektische") Gemisch aus 8 1 . 5 % Na 3 AlF 6 und 18.5% A1 2 0 3 besteht und bei 935 0 C schmilzt (vgl. S. 1404). Die Technik verwendet Badzusammensetzungen mit 7 - 1 2 % A1 2 0 3 und Badtemperaturen von 9 4 0 - 9 8 0 0 C (durch Zusatz von 2 - 5 % AlF 3 , CaF 2 sowie eventuell LiF wird der Schmelzpunkt weiter erniedrigt, die Leitfähigkeit der Schmelze zusätzlich verbessert, die Energieausbeute des Prozesses erhöht und die Emission an Fluor vermindert). Die Dichte der Schmelze ist bei diesen Temperaturen etwa 2.15 g/cm3, die des geschmolzenen Aluminiums (Smp. 660.4 0 C) etwa 2.35 g/cm3, sodass das Metall bei der Betriebstemperatur schwerer als die Schmelze ist, sich unter dieser sammelt und so vor der Rückoxidation durch den Luftsauerstoff geschützt wird. Die Schmelzflusselektrolyse wird in viereckigen Eisenblechwannen durchgeführt, deren Seitenwände und Boden mit als Kathode dienenden Kohleblöcken, die durch Brennen einer Mischung aus Koks, calciniertem Anthrazit und Steinkohlenteerpech erzeugt werden, ausgekleidet sind (Fig. 243). Als Anoden
0 Kohleblock (Anode)
Schmelzelektrolyt
Isolation
flüssiges Aluminium
Kohleblöcke (Kathode)
Fig. 243 Schmelzflusselektrolytische Darstellung von Aluminium (der Schmelz ofen ist in der Praxis abgedeckt).
dienen kurze Kohleblöcke, die durch Brennen einer Mischung aus aschearmem Koks und Steinkohlenteerpech bei 1200 0 C erzeugt werden (früher: Söderberg-Elektroden, S. 745) und die an einem mit dem positiven Pol der Stromquelle verbundenen Traggerüst hängen. Der Abstand der Elektroden zu den Wänden ist größer als der zum Boden bzw. der sich bildenden Aluminiumschicht. Dementsprechend geht nach den Seitenwänden kein Strom über, sodass sich diese mit einer schützenden und zudem den Strom nicht leitenden, festen Kruste des Schmelzgemischs überziehen, während der Boden durch das sich während der Elektrolyse ansammelnde Metall geschützt bleibt, welches alle 1 - 2 Tage abgesaugt wird. Nach Maßgabe der Al-Abscheidung gibt man zur Na 3 AlF 6 -Schmelze neue Mengen A1 2 0 3 hinzu; der Na 3 AlF 6 -Verlust ist gering. Das gewonnene Al hat einen Reinheitsgrad von 99,8 bis 99,9 % (hauptsächliche Verunreinigungen: Si und Fe) und kann durch schmelzflusselektrolytische Raffination, durch fraktionierende Kristallisation oder durch Subhalogeniddestillation („Transportreaktion", S. 1409) gemäß 1200°C 2Al(fl) + A l C l 3 ( g ) ^ ^ 3 AlCl (g) 600 °C in 99.99 %iges Al übergeführt werden. 44 Dass man zur Schmelzflusselektrolyse - die zur Darstellung aller (stark elektropositiven) Hauptgruppen-Metalle des linken Teils des Periodensystems der Elemente dient - nicht wie im Falle des benachbarten Magnesiums das wesentlich niedriger schmelzende Chlorid verwendet, hat seinen Grund darin, dass geschmolzenes AlCl3 (Smp. 192.6°C) zum Unterschied von geschmolzenem MgCl2 den elektrischen Strom nicht leitet (S. 1152). Auch wässerige AluminiumSalzlösungen lassen sich zur Elektrolyse nicht verwenden, da man hierbei wegen des stark negativen Abscheidungspotentials von Al (e0 = — 1.662 V) an der Kathode nur Wasserstoff erhält.
2. Das Aluminium
1141
Zur Aluminiumelektrolyse werden Ströme bis zu 30000 A bei einer Stromdichte von 0.4 A/cm2 angewandt. Die theoretische Zersetzungsspannung für das Aluminiumoxid beträgt 2.2 V. Praktisch muss man aber zur Überwindung der Widerstände im Bade und in den Elektroden eine Betriebsspannung von 4 . 5 - 5 . 0 V aufwenden. Die überschüssige Stromarbeit wird in Wärme umgesetzt und hält das Bad flüssig, sodass eine Außenbeheizung nicht erforderlich ist. Sobald die Badspannung wesentlich steigt, muss neues Aluminiumoxid nachgefüllt werden (Nachfüllung in modernen Anlagen gegebenenfalls alle 2 Minuten). Der anodisch gebildete Sauerstoff (2) reagiert mit dem Kohlenstoff der Elektroden unter Bildung von Kohlenoxid (3) bzw. Kohlendioxid (trotz der hohen Bildungstemperatur Hauptprodukt). Der Anodenverbrauch beträgt etwa 0.5 kg pro kg Aluminium. Insgesamt ergibt sich damit für die elektrolytische Zerlegung der Aluminiumoxidschmelze die folgende Reaktionsfolge 1676.8 kJ + A1 2 0 3 2Al+li02 1|Q 2 + 3C -> 3CO + 3 3 1 . 6 kJ 1345.2kJ + A1 2 0 3 + 3C
(2) (3) (4)
2A1 + 3CO.
Die erforderliche Energiemenge der endothermen Gesamtreaktion (4) wird der bei der Elektrolyse zu geführten elektrischen Energie entnommen. Zur Darstellung von 1 t Aluminium werden 41 Bauxit, 0 . 4 - 0 . 8 1 Anodenkohle (brennt unter Bildung von CO, C O , COF 2 , C 2 F 4 langsam ab), 4 kg Kryolith, 1 5 - 2 0 kg AlF 3 und 1 3 0 0 0 - 1 6 0 0 0 kWh Strom verbraucht (Stromausbeute 8 5 - 9 5 % ) . Die Schmelzelektrolyse ist also sehr energieaufwendig
2.1.3
Physikalische Eigenschaften und Struktur
Aluminiumist ein silberweißes Leichtmetall45 der Dichte 2.699 g/cm und dementsprechend viermal leichter als Blei und achtmal leichter als Platin. Es kristallisiert in kubisch-dichtester Packung (Koordinationszahl 12; AlAl-Abstand 2.86Ä; ccp-Aluminium), schmilzt bei 660.4°C und siedet bei 2330°C. Da es zum Unterschied vom rechts benachbarten spröden Silicium sehr dehnbar ist, kann man es zu sehr feinem Draht ausziehen, zu dünnen Blechen auswalzen und zu feinsten Folien bis herab zu 0.004 mm Dicke („Blattaluminium", anstelle der früher genutzten Zinnfolien = Stanniol) aushämmern. Beim Erwärmen auf 600 °C nimmt es eine körnige Struktur an; bringt man es dann in Schüttelmaschinen, so geht es in Grießform („Aluminiumgrieß") über. Bei noch feinerer Zerteilung erhält man es als Pulver (,,Aluminiumbronze-Pulver"). Das spezifische elektrische Leitvermögen ist etwa § so groß wie das des Kupfers. Dementsprechend muss der Querschnitt einer Aluminiumleitung rund anderthalb mal so groß wie der einer gleich langen Kupferleitung gleichen Leitvermögens sein. Wegen der geringen Dichte von Aluminium wiegen solche Aluminiumleitungen aber trotzdem nur etwa halb so viel wie gleich gut leitende Kupferleitungen (Dichte 8.02 g/cm3). Das bei 205 kbar/Raumtemperatur aus ccp-Aluminium gebildete Hochdruckaluminium kristallisiert in hexagonal-dichtester Packung (Koordinationszahl 12; AlAl-Abstand 2.69 Ä; hcp-Aluminium). Der im Hochvakuum bei 1100-1200 °C entstehende Aluminiumdampf enthält praktisch auschließlich Aluminiumatome, die nach Abschrecken zusammen mit viel Argon auf 10 K als Reaktionspartner für gleichzeitig auskondensierte anorganische oder organische Verbindungen genutzt werden können (z. B. AI + nH -> AlH„ mit n = 1,2,3; AI + CH 4 HAlCH 2 ).
2.1.4
Chemische Eigenschaften
Aluminium hat ein großes Bestreben, sich zur dreiwertigen Stufe zu oxidieren und reagiert infolgedessen mit den meisten Nichtmetallen beim Erwärmen, wobei es sich mit ihnen zum Teil unter erheblicher Wärmeentwicklung vereinigt (vgl. A// r Werte bei Al-Verbindungen). A u c h bildet es mit praktisch allen Metallen intermetallische Verbindungen. Hervorzuheben sind namentlich die R e a k t i o n e n des Aluminiums mit freiem und gebundenem Sauerstoff unter Sauerstoffaufnahme (Bildung von A 1 2 0 3 ) sowie mit Wasser, Säuren und Basen unter Wasserstoffentwicklung (Bildung von A I 3 + bzw. A l ( O H ) 4 ) . Reaktion mit elementarem Sauerstoff. Trotz seines sehr großen Bestrebens, sich mit Sauerstoff zu verbinden, ist reines Aluminium an der Luft
beständig,
da es sich - im Gegensatz etwa
45 Unter „Leichtmetallen" versteht man Metalle, deren Dichten unterhalb von 5 g/cm liegen. Alle übrigen Metalle heißen „Schwermetalle". Die Dichte der Metalle variiert zwischen 0.5 (Lithium) und 22.5 (Osmium), also im Verhältnis 1:45. Von den Metalloiden B und Si abgesehen, gibt es 15 Leichtmetalle (Li, Na, K, Rb, Cs, Fr; Be, Mg, Ca, Sr, Ba; Al, Sc, Y; Ti). Sie waren alle vor 200 Jahren noch unbekannt.
• 1142
XVI. Die Borgruppe („Triele")
zum leicht korrodierenden Eisen - mit einer fest anhaftenden, zusammenhängenden, dünnen Oxidschicht bedeckt, die das darunter liegende Metall vor weiterem Angriff(,,Rosten'') schützt (vgl. S. 1644). Die Bildung einer solchen Schicht lässt sich dadurch verhindern, dass man die Oberfläche des Aluminiums anritzt oder durch Anreiben mit Quecksilber oder Quecksilberchlorid (3 HgCl2 + 2A1 -> 2AlCl 3 + 3 Hg) amalgamiert, d. h. in eine Aluminium-Quecksilber-Legierung überführt, in welcher zwischen die Aluminiumatome Quecksilberatome eingebettet sind, die als Atome eines edlen Metalls an der Luft kein Oxid bilden. Ein solches amalgamiertes Aluminiumblech oxidiert sich dementsprechend außerordentlich leicht. Beim Liegen an der Luft schießen in kurzer Zeit weiße Fasern von Aluminiumoxid-Hydrat (geglüht: ,,Fasertonerde'') empor, die das Blech wie mit einer Vegetation von Schimmel bedecken.
Die Schutzwirkung kann noch erheblich verbessert werden, indem man durch anodische Oxidation künstlich eine wesentlich dickere, harte Oxidschicht (0.02 mm) erzeugt (elektrisch oxidiertes Aluminium = „Eloxal-Verfahren"). So behandeltes (,,eloxiertes'), mit Pigmenten leicht anfärbbares Aluminium ist weitgehend beständig gegen Witterung, Seewasser, Säuren und Alkalilaugen; auch gelingt es auf diese Weise, Aluminiumdrähte und Platten für Kondensatoren (,,Elektrolyt-Kondensatoren'') elektrisch zu isolieren. Da Aluminium anodisch eine Oxidhaut bildet, die den Strom kaum durchlässt und kathodisch wieder zerstört wird, kann man mittels zweier Al-Zellen Wechselspannung in Gleichspannung verwandeln (,,Gleichrichter''). Feinverteiltes, also oberflächenreiches Aluminium explodiert in Kontakt mit flüssigem Sauerstoff und verbrennt beim Erhitzen an der Luft mit glänzender Lichterscheinung und starker Wärmeentwicklung zu Aluminiumoxid: 2Al+liO2
a-Al 2 0 3 + 1676.8 kJ.
Man benutzte diese Lichtentwicklung in der Photographie bei den ,,Vakublitzen'', bei denen in einem Glaskolben eine Al-Folie oder ein Al-Filigrandraht in reinem Sauerstoff nach elektrischer Zündung in jq Sekunde verbrennt. Reaktion mit Metalloxiden Technisch wird die große Sauerstoffaffinität des Aluminiums dazu benutzt, um geschmolzenes Eisen von darin gelöstem Oxid zu befreien (,,Desoxidation'') und es dadurch leichter gießbar zu machen, sowie um aus schwer oder mit Kohlenstoff nur unter Carbidbildung reduzierbaren Oxiden - z.B. Chromoxid (1130 kJ + C r 2 0 3 -> 2Cr + 1 \ 0 2 ) , Managanoxid (1388 kJ + M n 3 0 4 3Mn + 2O 2 ), Siliciumoxid (911.5 kJ + S i 0 2 ^ Si + 0 2 ) , Titanoxid (944.1 kJ + T i 0 2 Ti + 0 2 ) - die Metalle gemäß 2f AI + xM + i A l 2 0 3 in Freizeit zu setzen („Aluminothermisches Verfahren" von Hans Goldschmidt, 1897). Ein Gemisch von Eisenoxid (1122 kJ + F e 3 0 4 -> 3Fe + 2O 2 ) und Aluminiumgrieß dient als „Thermit" zum Schweißen und Verbinden von Eisenteilen (z. B. Eisen- und Straßenbahnschienen), da es bei der Entzündung in wenigen Sekunden unter äußerst starker Wärmeentwicklung (Temperaturen bis zu 2400 C) reines Eisen in weißglühend flüssiger Form liefert 3 F e 3 0 4 + 8A1 -> 4A1 2 0 3 + 9Fe + 3341 kJ. Das bei der aluminothermischen Reduktion von Metalloxiden gleichzeitig entstehende Alu miniumoxid (Korund), der bisweilen kleinere Rubine enthält, wird als ,,Corubin'' für Schleifzwecke verwendet (S. 1161). Die Entzündung eines Thermitgemisches erfolgt zweckmäßig durch ein Gemisch von Aluminium- oder Magnesiumpulver mit einer leicht sauerstoffabgebenden Verbindung wie Kaliumchlorat oder Bariumperoxid (,,Zündkirsche''). Man steckt in dieses Gemisch ein Magnesiumband und zündet dieses an. Die bei der Verbrennung des Magnesiums freiwerdende Wärme (Mg + j 0 2 -> MgO + 602.1 kJ) entzündet die Zündmischung, diese wiederum das Thermitgemisch.
Reaktion mit Säuren, Wasser und Basen ta nicht oxidierenden Säuren wie HCl löst sich Aluminium entsprechend seiner Stellung in der Spannungsreihe (e0 = —1.676 V im sauren,
2. Das Aluminium — 2.310 V im alkalischen Milieu) unter Wasserstoffentwicklung AI + 3 H
+
als A l ( H 2 O ) 3
+
1143
auf:
-> A l 3 + +
nicht dagegen in oxidierenden Säuren wie H N O (Bildung einer Oxid-Schutzhaut; „ P a s s i v i t ä t " des Aluminiums). Von Wasser oder schwachen Säuren (z.B. organischen) wird es in der Kälte kaum angegriffen, da in solchen Lösungen die Hydroxidionen-Konzentration groß genug ist, um das Löslichkeitsprodukt L des sehr schwer löslichen Aluminiumhydroxids ( L = c A13+ x c j ^ = 1 . 9 x 10 ~ 3 3 ) zu überschreiten, welchesdas Aluminium vor weiterer Einwirkung des Wassers oder der Säure schützt (S. 233). In stark saurer oder alkalischer Lösung kann sich die Schutzschicht nicht ausbilden, da das amphotere A l ( O H ) 3 hierin unter Bildung von Aluminiumsalz ( A l ( O H ) 3 + 3 H + ^ A I 3 + + 3 H 2 O ) bzw. Aluminat ( A l ( O H ) 3 + OH A l ( O H ) 4 ; vgl. S. 1156) löslich ist; hier kommt es daher zu dauernder Wasserstoffentwicklung. Ebenso reagiert amalgamiertes Aluminium aus oben schon erwähnten Gründen bei Zimmer temperatur lebhaft mit Wasser unter Wasserstoffentwicklung: A1 + 3 H O H -> A l ( O H ) 3 + 1 j H 2 . Von dieser trocknenden und reduzierenden Wirkung des amalgamierten Aluminiums macht man in der organischen Chemie Gebrauch (gleichmäßiger reduzierend wirkt die aus 50 % Cu, 45 % Al und 5 % Zn bestehende, leicht pulverisierbare „Devarda'sche Legierung").
2.1.5
Verwendung, Legierungen
Aluminium (Weltjahresproduktion: 20 Megatonnenmaßstab) ist leicht, ungiftig, thermisch und elektrisch gut leitend, korrosionsbeständig, nicht magnetisch, nicht funkenbildend, gut hämmer-, gieß-, schmiedund ziehbar. Wegen dieser herausragenden Eigenschaften stellt elementares Aluminium das wichtigste Nicht-Eisenmetall dar, das in der Technik verschiedenartigste Verwendung findet: in Form von ,,Pulver" als rostschützender Öl- oder Lackanstrich, im Buchdruck, zur Herstellung von Sprengstoffen, in der Feuerwerkerei; in Form von ,,Grieß' zur Gewinnung von Metallen nach dem Thermitverfahren; in Form von ,,Draht'' für elektrische Leitungen; in Form von dünnen „Überzügen" als Rostschutz für Eisengegenstände („aluminieren"), als Spiegel bei Teleskopen; in Form „kompakten Metalls'' zur Anfertigung von Röhren, Stangen, Platten, Küchengeschirr, von Kesseln für Milch, Bier, Industriestoffen usw., von Fassadenverkleidungen und von freitragenden Konstruktionen im Hausbau. Bezüglich der Verwendung von Al in der Stahlerzeugung und -verarbeitung als Desoxidationsmittel s. oben Technisch wichtige AlVerbindungen sind Al(OH) 3 , A1 2 0 3 , A1 2 (SO 4 ) 3 , AlCl 3 , NaAlO 2 , AlF 3 , Na 3 AlF 6 , Spinelle. Besondere Bedeutung besitzen die Aluminiumlegierungen mit Mg, Si, Cu, Zn, Mn. Sie werden wegen ihrer Leichtigkeit und Festigkeit bei hoher Korrosionsbeständigkeit in großem Umfang verwendet: Magnesiumlegierung ( 0 . 3 - 5 % Mg, gut schweißbar; frühere Namen „Hydronalium" und „Magnalium") im Schiffsbau, für Kühlmittelbehälter, Waffen- und Kranteile, dekorative Gegenstände; Magnesiumsiliciumlegierung (gut formbar) im Gebäude-, Transportmittel-, Brückenbau, für geschweißte Konstruktionen; Siliciumlegierung ( < 1 3 % Si; Smp. und Wärmeausdehnung niedrig; gießbar, früherer Name ,,Silumin'') für Gieß- und Schweißprozesse; Kupferlegierung ( ~ 5 % Cu, hart und gut bearbeitbar; früherer Name: „Duralumin" von durus (lat.) = hart) für Flugzeugbauteile, LKW-Ladeflächen; Zinklegierung ( 3 - 8 % Zn; sehr fest nach Wärmebehandlung und Vergütung; früherer Name „Skleron" von skleros (griech.) = hart) im Flugzeugbau; Manganlegierung ( ~ 1.2% Mn; mäßig fest, aber gut verarbeitbar; frühere Namen ,,Aluman'' und „Mangal") für Kochgeschirr, Lagertanks, Möbel, Dächer, Zeltdecken, Wärmeaustauscher. Als Legierungszusatz verbessert Al darüber hinaus die Zunderbeständigkeit der Stähle und erhöht den elektrischen Widerstand von Heizleiterdrähten.
2.1.6
Aluminium-Ionen. Aluminide
Die Möglichkeit des Aluminiums, in Aluminiumverbindungen (Fluoriden, Oxiden usw.) in Form kationischen Aluminiums A aufzutreten (in wässeriger Lösung liegen Hydrate vor), wurde bereits weiter oben erwähnt (in Al7Te10 bildet ein Teil des Aluminiums Ionen Al2+ mit AlAl-Bindung; S. 1166). Darüber hinaus existieren eine Reihe von Metallaluminiden MmAln (M = Alkali-, Erdalkalimetall), in welchen extrem formuliert - anionisches Aluminium AI™" vorliegt. Bezüglich der Zusammensetzungen und einiger Strukturen dieser Aluminide vgl. S.1183 bei Galliden, Indiden und Thalliden (die Alkalimetalle Na, K, Rb, Cs weisen nur eine begrenzte Löslichkeit in geschmolzenem Aluminium auf und bilden wie auch Beryllium mit Al keine binären Verbindungen).
• 1144
XVI. Die Borgruppe („Triele")
2.1.7
Aluminium in Verbindungen
Oxidationsstufen Die Aluminiumverbindungen leiten sich fast ausnahmslos vom dreiwertigen Aluminium ab (Oxidationsstufe des Aluminiums), doch sind unter besonderen Bedin gungen auch Verbindungen wie AlF, AlCl, A1 2 O mit einwertigem Aluminium existent (Oxidationsstufe + 1 des Aluminiums). Sie entstehen bei der R e d u k t i o n dreiwertiger F o r m e n mit Aluminium bei hohen Temperaturen ( z . B . : A l F 3 + 2A1 3 A l F ) und lassen sich bei tiefen Temperaturen isolieren. Vereinzelt existieren sie auch bei R a u m t e m p e r a t u r in F o r m metastabiler Polymerer mit AlAl-Bindungen ( z . B . A 1 4 R 4 mit R = C 5 M e 5 , S ü B u 3 ) oder sogar M o n o m e r e n (S. 1176). M a n kennt ferner Verbindungen des zweiwertigen Aluminiums (Oxidationsstufe + 2 des Aluminiums) mit AlAl-Bindungen ( z . B . A 1 2 R 4 ; R = C H ( S i M e 3 ) 2 ) und Aluminiumclusterverbindungen mit Al der Oxidationsstufe < 1. Koordinationszahlen In seinen Verbindungen betätigt Aluminium die Koordinationszahlen eins (z. B. in gasförmigem AIF, A1O), zwei (linear in matrixisoliertem 0 = A I — Cl; gewinkelt in matrixisoliertem (AIF) 2 ), drei (planar in gasförmigem A1C13), vier (tetraedrisch in AICl 4 , Al 2 Br 6 ), fünf (trigonal-bipyramidal in A H 3 (NMe 3 ) 2 ; quadratisch-planar in Me AI (BH 4 ) 2 ), sechs (oktaedrisch in AlF 3 " , A1H 3", AI (H 2 O)3 + ) und höher (z.B. sieben in Me 2 AI (15-Krone-5) + , acht in A1(BH 4 ) 4 , zwölf in elementarem A ) . Wichtig sind die Koordinationszahlen vier und sechs Vergleich von Aluminium und B o r Die unterschiedlichen chemischen Eigenschaften von B o r und Aluminium sind wie im Falle der Elementpaare Kohlenstoff/Silicium (S. 928), Stickstoff/ P h o s p h o r ( S . 7 5 7 ) und Sauerstoff/Schwefel ( S . 5 5 7 ) vornehmlich a u f die Erniedrigung der Elektronegativität, a u f die Verringerung der Bindungsbereitschaft des s-Valenzelektronenpaars, a u f die Abnahme der Neigung zur n-Bindungsbildung und a u f die Zunahme der Koordinationstendenz zurückzuführen. (Zur Schrägbeziehung Be/Al vgl. S. 1218). Die niedrige Elektronegativität des Aluminiums (1.47) im Vergleich zum Bor (2.01) ermöglicht etwa die Existenz einer - beim Bor nicht bekannten - wässerigen Kationenchemie [Al(H 2 O) 6 ]3 + . Dass die Elektronegativität dann vom Aluminium (3. Elementperiode) zu den höheren Homologen hin ( 4 . - 6 . Periode) zunächst zu- (Ga 1.82) und erst anschließend wieder abnimmt (In 1.49, Tl 1.44) - dasselbe wiederholt sich in den folgenden Hauptgruppen IV, V, und VI bei den Elementen Si bis Pb bzw. P bis Bi bzw. S bis Po - hängt mit der zwischen Al und Ga (bei den Elementen Sc bis Zn) erfolgenden Auffüllung der 3d-Schale zusammen (vgl. S. 311). Die Erhöhung der Bindungspolaritäten beim Übergang von dreibindigen Bor- zu Aluminiumverbindungen ^ E — X hat im Falle elektronegativer X-Substituenten AlXAlWinkelaufweitungen und AlX-Abstandsverkleinerungen sowie -Bindungsenergiesteigerungen zur Folge (vgl. die Verhältnisse beim Silicium, S.929). Auch vergrößert sich der EXE-Winkel beim Übergang von R 3 Si—O—SiR 3 (ca. 145°) zu isovalenzelektronischem R 3 A1—F—AlR 3 (180°), da die Bindungspolarität in gleicher Richtung wächst s-Valenzelektronenpaar. Als Folge der sinkenden Bindungsbereitschaft des s-Valenzelektronenpaars in Richtung Bor, Aluminium - und darüber hinaus - Gallium, Indium, Thallium erfolgen Komproportionierungen 2 E + E X 3 3 E X und Eliminierungen E X 3 E X + X 2 unter Bildung der betreffenden Element (I)-Verbindungen in Richtung E = B, Al, Ga, In, Tl zunehmend leichter. So sind zwar sowohl ,,Borylene'' (Borandiyle) B X als auch ,,Aluminylene'' (Alandiyle) AlX mit freiem s-Valenzelektronenpaar unter Normalbedingungen disproportionierungslabil (Verbindungen wie (BX) besitzen keine freien s-Valenz elektronenpaare, vgl. S. 1102), doch ist AlCl anders als BCl in der festen Phase bis — 90°C und in geeigneten Lösungsmitteln sogar bei Raumtemperatur metastabil (vgl. S. 1153). Auch lassen sich ,,Gallylene'' (Gallandiyle) GaX, ,,Indylene'' (Indandiyle) InX und ,,Thallylene'' (Thallandiyle) TlX mit X = Halogen unter Normalbedingungen bereits isolieren (in der Festphase erfolgt Polymerisation von E X unter Ausbildung von EXE-Brücken bei gleichzeitigem Erhalt des freien s-Elektronenpaars; vgl. hierzu das beim Silicium Besprochene). Die einwertige Stufe ist im Falle des Thalliums bereits die vorherrschende Der „inerte" Charakter des s-Valenzelektronenpaars ist im Falle einwertiger Borgruppenelemente stärker ausgeprägt als im Falle benachbarter zweiwertiger Kohlenstoffgruppenelemente. So dimerisiert AlF in der Tieftemperaturmatrix ausschließlich zum Vierring mit F-Brücken und nicht zum Molekül F A l = A l F , während Si sowohl Dimere mit SiFSiF-Ring als auch mit SiSi-Doppelbindung bilden kann (S. 930). Bindungen Die Verbindungen des Aluminiums mit einwertigen Gruppen X haben wie die des Bors die Zusammensetzung E X mit Elektronensextett des Elements. Wegen der geringeren Tendenz zur re-Bindungsbildung erfolgt aber die Valenzstabilisierung der Aluminiumtrihalogenide AlB und Al nicht wie im Falle der Bortrihalogenide intramolekular durch p„p„-Bindungen (S. 1051), sondern intermolekular durch Dimerisierung unter Ausbildung von Halogenbrücken (tetraedrische Aluminiumkoordination). Der
2. Das Aluminium
1145
Sachverhalt lässt sich durch die Mesomerieformel (a) verdeutlichen und durch die Formel (b) sinnvoll beschreiben. X
X
\
X
/
AI
\
X
X
/
\
AI
AI
/ \ / \ X
•
X
\
AI
/
X
/ \ / \
X
X
(a) Al2X6
X
X
X
X
\
X / AI
\
X AI
/
/ \ X / \X (b) Al2X6
Infolge der Bevorzugung oktaedrischer Aluminiumkoordination (s. u.) liegt AlCl 3 sogarpofymer in Form von (AlCl 3 ) ^ vor, indem jedes Aluminiumatom an sechs Halogenbrücken - statt an zwei wie bei (AlBr 3 ) 2 und (All 3 ) 2 - partizipiert (S. 1152). An die Stelle der Chlorbrücken treten im Falle des Aluminiumwasserstoffs AlH 3 (wie auch beim BorwasserstoffBH 3 , bei dem keine intramolekulare Valenzstabilisierung möglich ist),,anionische Wasserstoffbrücken". Dem dimeren (BH 3 ) 2 (KZ = 4 des Bors) steht hierbei polymeres (AlH3)^ (KZ = 6 des Aluminiums) gegenüber (S. 1147). Aus den erwähnten Gründen (keine re-Bildungs-, aber große Koordinationstendenz) entsprechen darüber hinaus den monomeren Borsäureestern B(OR) 3 di-, tri, tetra- oder polymere Aluminiumalkoxide [Al(OR) 3 ]„ (S. 1148). Auch kommt Aluminiumnitrid AlN zum Unterschied von Bornitrid BN zwar in einer Diamant- (Wurtzit-), nicht aber in einer GraphitForm vor (S. 1113), da letztere p„p„-Bindungen voraussetzt (S. 864). Aus dem gleichen Grunde existiert kein dem Borazin (Borazol) B 3 N 3 H 6 entsprechendes ,,Alazin" (,,Alazol") A1 3 N 3 H 6 ; denn zum Unterschied von den mit den Alkenen CR und Alkinen RC CR isovalenzelektronischen Aminobo ranen R 2 B = N R 2 und Iminoboranen R B = N R treten die homologen ,,Aminoalane" und ,,Iminoalane" in der Regel nicht monomer, sondern bevorzugt polymer in mehrfachbindungsfreier Form auf (S. 1166). Die Verbindungen des Aluminiums X — A 1 = Y mit zweiwertigen Gruppen Y („ungesättigte" Aluminiumverbindungen) lassen sich wie die Verbindungen X 2 S i = Y des Periodennachbarn Silicium nur bei sehr hohen Temperaturen in der Gasphase sowie niedrigen Temperaturen in der Matrix nachweisen (z. B. C l — A l = O , S. 1156) oder gegebenenfalls bei ausreichender sterischer Abschirmung des Al-Atoms durch die Reste X und Y unter Normalbedingungen isolieren. Entsprechendes gilt für die mit X 2 S i = Y isoelektronischen Donoraddukte (D)XA1=Y, wobei der gebundene Donor D in willkommener Weise das ungesättigte Al-Atom zusätzlich abschirmt Koordinationstendenz Die den Borverbindungen B X 3 nicht gegebene, den Aluminiumverbindungen AlX 3 aber offenstehende Möglichkeit zur Koordination von mehr als einem Donormolekül dokumentiert sich etwa darin, dass den monomeren Tetrafluoroboraten B F 4 (tetraedrisches B) polymere Fluoroaluminate der Zusammensetzung (AlF 4 ^ und (AlF5")^ bzw. monomeres Hexafluoroaluminat AlFentsprechen (jeweils oktaedrisch koordiniertes Al). Vgl. hierzu auch die oben erwähnten oligomeren bis polymeren Halogen-, Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen des Aluminiums. Clusterbildung. Aluminium weist wie Bor Clusterbildungstendenz auf, wobei die Zahl der Gruppen R in Clusterverbindungen E„R im Falle E = B in der Regel gleich groß oder größer, im Falle E = AI gleich groß oder kleiner ist als die Zahl der B- bzw. Al-Atome. Demgemäß kennt man keine den Polyboranen B„H n+m mit m = 4, 6, 8, . . . (vgl. S. 1053) entsprechende Polyalane Al„Hn+m, doch Verbindungen der Zusammensetzung Al„R„+m mit m = 2, 0, — 2, . . . (vgl. S. 1174).
2.2
Wasserstoffverbindungen des Aluminiums 3 8 , 4 6 , 4 7
Aluminium bildet anders als Bor nur eine isolierbare Wasserstoffverbindung der Formel A1H3 (,,Aluminiumtrihydrid", „Alan", ,,Aluman"), die zudem nicht dimer wie B H , sondern polyLiteratur. H. Nöth, E. Wiberg: ,,Chemie des Aluminiumwasserstoffs und seiner Derivate", Fortschr. Chem. Forsch. 8 (1967) 321-436; E.C. Ashby: ,,The Chemistry of Complex Alumino-hydrides", Adv. Inorg. Radiochem. 8 (1966) 283-335; E. Wiberg, E. Amberger: „Hydrides", Elsevier, Amsterdam 1971, S. 381-442; E.R.H. Walker The Functional Group Selectivity of Complex Hydride Reducing Agents", Chem. Soc. Rev. 5 (1976) 23-50; J.S. Pizeg: ,, Lithium Aluminium Hydride", Ellis Horwood, Chichester 1977. 7 4 Geschichtliches. Wie E. Wiberg und O. Stecher im Jahre 1939 fanden, setzen sich dimeres AlMe3 und H 2 in einer elektrischen Glimmentladung zu einem Gemisch der Verbindungen AlMe3, AlHMe 2 , AH 2 Me und AlH 3 um, die sich nach Art des Borans B H und seiner Methylderivate (s. dort) untereinander zu höhermolekularen Verbindungen mit Brückenbindungen vereinigen (vgl. S. 1169f). Aus diesem Gemisch lässt sich durch Einwirkung von NMe 3 das Addukt AlH 3 • NMe 3 abtrennen, das beim Erhitzen unter Abgabe von NMe 3 in ( A l H ^ übergeht (E. Wiberg, O. Stecher, 1942). Etwa zur gleichen Zeit (1940) entdeckten H.I. Schlesinger, R.T. Sanderson und A. B. Burg Aluminiumtris(boranat) Al(BH4)3 als Produkt der Reaktion von (AlMe 3 ) 2 und (BH 3 ) 2 bei leicht erhöhter Temperatur. 1947 fanden H. Schlesinger et al. mit LiAlH4 ein vielseitig als Hydrierungsmittel nutzbares Reagens. 46
• 1146
XVI. Die Borgruppe („Triele")
mer vorliegt. In Form organischer Derivate existieren allerdings auch einige höhere Alane mit AlAl-Bindungen (vgl. S.1174). Darstellung In einfacher Weise kann der Aluminiumwasserstoff (AlH 3 ) x durch Zusammengießen diethyletherischer Lösungen von Aluminiumchlorid und Lithiumalanat (s. u.) gewonnen werden (Hydridolyse von AlCl3). Unter Ausscheidung von Lithiumchlorid bildet sich hierbei zunächst eine klare Lösung von monomerem Aluminiumwasserstoff AlH 3 (als Diethyletherat): 3LiAlH 4 + AlCl3
3LiCl + 4AlH 3 ,
der sich dann als amorphes etherhaltiges, farbloses Polyalan (AlH 3 )langsam aus der Lösung abscheidet. Verwendet man einen Überschuss an LiAlH4 sowie etwas LiBH4 und erwärmt die Lösung nach Zugabe großer Anteile Benzol zum Sieden, so entsteht kristallines etherfreies, farbloses Polyalan in der Form ot-AlH3 (nach Änderung der Bedingungen bilden sich andere AlH j-Modifikationen). Besonders reinen Aluminiumwasserstoff erhält man mit 90-100%iger Ausbeute darüber hinaus durch Zersetzung des Lithiumalanats mit Chlorwasserstoff in Diethylether (Protolyse von AlH 4 ): LiAl
HC
Al
LiC
Auch aus den Elementen ist AlH 3 bei hohen Temperaturen (1100-1300 °C) zugänglich (Hydrogenolyse von Al): 300 kJ + 2A1 + 3H 2 -> 2AlH 3 (g). Bei niedrigen Temperaturen (70-150 °C) ist eine Direktsynthese von AlH 3 aus den Elementen nur bei erhöhtem Druck (100-200 bar) und in Gegenwart von Tetrahydrofuran im Autoklaven möglich, sofern man den sich bildenden Aluminiumwasserstoff mit geeigneten Aminen oder Hydriden als Alan-Aminaddukt oder Alanat abfängt (s.u. und S. 1149), z.B.: 2A1 + 2NR 3 + 3H 2 -> 2AlH 3 (NR 3 );
2Al + 2LiH + 3H 2
2LiAlH 4 .
(Bezüglich der Umwandlung des gebildeten Alanats in Aluminiumwasserstoff siehe oben.) Die Hochtemperatursynthese des Aluminiumwasserstoffs aus den Elementen besteht in der Reaktion von atomarem Aluminium (Al hat um 1200 °C einen Dampfdruck von ca. 10 ~3 mbar) mit molekularem Wasserstoff. Der sich in der Gasphase neben dem als Aluminylen A H (,,Alandiyl"; dAm = 1.648 Ä) bezeichnete Aluminium(I') -Wasserstoff bildende Aluminium( III)-Wasserstoff liegt bei kleinen Partialdrücken ( < 10" 5 mbar) als Monoalan AlH3, bei höheren Drücken (bis 10~ 3 mbar) als Dialan (AlH3)2 = A12H6 vor und lässt sich an kalten Flächen in polymerer Form ( A l H ^ abscheiden. In analoger Weise bilden sich B H , GaH3 und InH3 (s. dort), aber nicht TlH3 bei hohen Temperaturen aus den Elementen. Die besprochenen Aluminiumwasserstoffe sind auch durch Tieftemperatursynthesen zugänglich. Hierzu scheidet man Al-Atome (erzeugt durch Laserbestahlung von Aluminium) zusammen mit viel molekularem Wasserstoff an 3.5 K kalten Flächen ab; die erhaltene Tieftemperaturmatrix enthält dann hauptsächlich Aluminylen AlH, das sich unter Bestrahlung (X > 240 nm) bei 6.0 K praktisch vollständig in Monoalan AlH3 und bei 6.5 K in Dialan (AlH3)2 umwandelt. Oberhalb von 6.8 K verdampft H2 und die molekularen Aluminiumhydride Al sowie (Al A Al -H) Al wandeln sich in Polyalan (Al um. In einer Argon-Tieftemperaturmatrix dimerisiert das Hydrid AlH zu ,,Dialuminiumdihydrid" A12H2 = Al(,u-H)2Al (vgl. hierzu B2H2 = H B ^ B H , linear, S.1132; HAl=AlH ist energiereicher transabgewinkelt, diamagnetisch, mit kurzem AlAl-Abstand von 2.613 Ä und einer Dissoziationsenergie der AlAl-Bindung von ca. 42kJ/mol).
Eigenschaften Der solvatfreie Aluminiumwasserstoff (AlH 3 ) x stellt eine farblose, nichtflüchtige Verbindung dar, die beim Erhitzen im Hochvakuum oberhalb 100 °C in Aluminium und Wasserstoff zer-
2. Das Aluminium fällt. M a n kennt f ü n f kristalline
Modifikationen
c m ) und zusätzlich einige amorphe
1147
des ,,Polyalans'' (Dichte für a - A l H 3 : 1.477 g/
Formen.
Struktur Die Verknüpfung der AH 3 -Einheiten zum polymeren Aluminiumwasserstoff ( A l H ^ erfolgt wie im Falle des Diborans (BH 3 ) 2 durch anionische Wasserstoffbrücken (S. 164), nur dass beim Aluminium wegen der höheren Koordinationszahl 6 jedes Al-Atom sechs- statt zweimal den Brückenmechanismus betätigen kann und damit koordinativ von 6 H-Atomen umgeben ist. In hexagonalem a-AlH 3 ist jedes Al-Atom oktaedrisch von 6 H-Atomen umgeben, die ihrerseits als Wasserstoffbrücken (einheitliche AlHund AlAl-Abstände in den AI—H—Al-Brücken: 1.72 bzw. 3.24 Ä; AlHAl-Winkel: 141°) andere AlH 6 Oktaeder über gemeinsame Oktaederecken zu einer dreidimensionalen Struktur vernetzen (der gef. AlHbzw. AlAl-Abstand ist länger als der ber. AlH-Einfachbindungsabstand (1.55 Ä) bzw. kürzer als der AlAl-Abstand in metallischem Al (3.40 Ä). Die untersuchte AlH ^Modifikation ist näherungsweise isostrukturell mit polymerem Al (verzerrte Re -Struktur). Thermolyse. D e r außerordentlich luft- und feuchtigkeitsempfindliche polymere Aluminiumwasserstoff zersetzt sich thermisch in U m k e h r u n g der Bildung aus den Elementen oberhalb von 1 5 0 ° C : 11 k J + J M A l H ^
Al(Q + 1 . 5 H 2 .
Der Zerfall erfolgt wohl über Al-reichere, H-ärmere Zwischenprodukte Al„Hp (p < 3« bis 0), die sich aber offensichtlich jeweils rascher zersetzen als bilden und deshalb nicht isolierbar sind (vgl. das andersartige Thermolyseverhalten des Borwasserstoffs (BH 3 ) 2 , S. 1064). Isoliert werden konnten einig organische Derivate A Redoxverhalten. Als starkes Reduktionsmitel entzündet sich Polyalan in feiner Verteilung spontan an der Luft und eignet sich - namentlich in Etherlösung (s. o.) oder in F o r m der etherlöslichen „Alanate" A l H 3 • M ' H = M ' A l H 4 (s. u.) - vorzüglich zur Hydrierung anorganischer und organischer Substanzen. A u c h reagieren etherische Alanlösungen mit ungesättigten organischen Substanzen (Alkene, Alkine) unter Hydroaluminierung, z. B.: AlH 3
+ CHt^— CH^ + CHT^— CH^ U H 2 Al(CH 2 CH 3 ) ^ HAl(CH 2 CH 3 ) 2
+ CHT—CH-, ^
Al(CH 2 CH 3 ) 3 .
Reaktion mit D o n a t o r e n M i t Elektronenpaardonatoren D vereinigt sich die Lewis-Säure A l a n A l H 3 zu Additionsverbindungen A l H 3 • D und A l H 3 • 2 D (vgl. Adduktbildung des B o r a n s B H mit D ; Al ist Lewis-acider als B H ). Allerdings vermögen D o n o r e n nur dann mit dem polymeren Aluminiumwasserstoff unter , , s y m m e t r i s c h e r Spaltung'' der A l H 2 - D o p p e l brücken zu reagieren, wenn sie hinsichtlich A l H 3 Lewis-basischer als die negativ-polarisierten H - A t o m e in A l H 3 sind. Dies trifft etwa für A m i n e N R , Phosphane P R und einige E t h e r zu (bzgl. der H " - A d d u k t e vgl. Alanate). Beispielsweise bildet Trimethylamin NMe 3 die farblosen, sublimierbaren, leicht hydrolysierenden kristallinen Addukte A H 3 ( N M e 3 ) (Smp. 76 °C, tetraedrisches Al) und A H 3 ( N M e 3 ) 2 (Smp. 95 °C; trigonal-bipyramidales Al; NMe 3 in axialen Positionen), die bei 100 °C unter Abgabe von NMe 3 in Polyalan übergehen, das sich seinerseits bei diesen Temperaturen sehr langsam (s.o.) in Aluminium und Wasserstoff zersetzt: jCAlH,),
2NMe, ^ AH3(NMe3)2 20°C
— NMe, 3" AH (NMe ) ^ 3 3 +NMe 3
— NMe, , ^ j(AlH 3 ), c . 100°C
In analoger Weise erhält man mit Tetrahydrofuran Addukte AlH 3 • «THF ( A H 3 • T H F liegt dimer vor: (THF)H 2 Al(;U-H) 2 AlH 2 (THF)). Diethylether vermag ( A l H ^ nicht aufzulösen, doch sind die aus LiAlH 4 und AlCl3 in Et 2 O erhältlichen Lösungen von AlH 3 • «OEt 2 vergleichsweise lange bei Raumtemperatur metastabil Anders als Diboran (BH 3 ) 2 , das mit Donoren sowohl unter Homolyse (z. B. Bildung von BH 3 (NH 3 )) als auch unter Heterolyse (z.B. Bildung von BH 2 (NH 3 )^BH7) abreagiert, bewirken einfache Donoren im Falle von Polyalan ( A l H ^ nur eine ,,symmetrische Spaltung''. Mehrzähnige Chelatliganden wie Tetramethyltetraazacyclotetradecan (—CH 2 CH 2 NMe—) 4 ermöglichen aber auch eine ,,asymmetrische Spaltung'' von ( A l H 3 ) ( z . B. Bildung von [AlH 2 (—CH 2 CH 2 NMe—) 4 ] + AlH 4 ~; oktaedrisch koordiniertes AI im Kation mit H/H in trans-Stellung). Ist an das Zentrum der Donoren Wasserstoff gebunden (D = XH) so können die primär mit AlH3 gebildeten Addukte unter Abspaltung von H 2 in Substitutionsprodukte des Alans übergehen (AlH3 + X H ->
• 1148
XVI. Die Borgruppe („Triele")
H 3 A1—XH —> AlH 2 X + H 2 ). So sind die Mono- und Diaddukte von Dimethylamin Me 2 NH, Methylamin MeNH 2 sowre Ammoniak N H mit AlH3 wegen der leicht erfolgenden Wasserstoffeliminierung ^HA—NHC] -> ^ A — N C + H2 nur bei tiefen Temperaturen metastabil, (vgl. die entsprechende, aber langsamere H2- Abspaltung aus Addukten ^ H B — N H Q . Man stellt sie infolgedessen nicht durch Einwirkung der Amine auf Polyalan dar (die Depolymerisation von (Al erfolgt langsam), sondern durch Umsetzung der Amine mit den Lösungen von AlH 3 in Diethylether, da die Verdrängung von Et 2 O in den dort vorliegenden Addukten AlH 3 (OEt 2 ) 2 durch die basischeren Amine sehr rasch erfolgt. Erwärmt man eine Lösung von Affi 3 (NH 3 ) in Diethylether (gewinnbar aus AlH 3 und N H in Et 2 O bei — 80 °C) auf — 35 °C, so entsteht unter H 2 -Abspaltung etherunlösliches, farbloses, polymeres ,,Aminoalan'' H 2 AlNH 2 (idealisierte Struktur (b)). Im Falle der Umsetzung von AlH 3 mit M 2 N H erhält man dimeres H 2 AlNMe 2 (a). Weiteres Erwärmen von [H 2 AlNH 2 ] x auf Raumtemperatur führt unter nochmaliger H2-Eliminierung zu farblosem, polymerem ,,Iminoalan'' HAlNH (idealisierte Struktur (c)), das seinerseits bei hohen Temperaturen unter H 2 -Abspaltung in farbloses, polymeres ,,Aluminiumnitrid'' AlN (Wurtzit-Struktur, vgl. S. 1166) übergeht: Affl 3
+ NH, — 80
— H,
AH3(NH3)
, — H, , —H, , KH2AlNH2L - — 4 i [ H A l N H * — ^ ±[AlN],. 20
— 35
Die Einwirkung von Ammoniak auf AlH 3 in äquimolekularem Verhältnis führt also zum Unterschied von der entsprechenden Umsetzung mit BH 3 (S. 1066) nicht zur Bildung eines borazinhomologen ,,Alazins'' („Alazols") [HAlNH] 3 = A 3 N 3 H 6 (vgl. Formel (d)), sondern zu dessen ,,Polymerisat'' [HAlNH],,, da das Aluminium eine geringere Tendenz zur Ausbildung von -Doppelbindungen als das Bor auf weist (in analoger Weise entsteht aus Al und MeNH nicht HAlNM ), sondern HAlNM ). Ersetzt man allerdings die H-Atome am Aluminium durch Methyl-, die H-Atome am Stickstoff durch sperrige 2,6-Diisopropylphenylgruppen C 6 H 3 i'Pr 2 , so wird Alazin isolierbar (Näheres S. 1171).
H
M ß2
\
/ AI
N
\
AI
/
H
H
\
H
I I ^H/N^H^N^ AI H AI H ^ I I
2
N H \ / \ / AI AI
HAI II ttÜ
- w v
Me 2
H2
(a) [H2AlNMe2]2
|
(b) [H2AlNH2}x
H | JtH
|
H
(c) [HAlNH]x
(d) [HAlNH]3
Einwirkung überschüssigen Ammoniaks auf AlH 3 (Reaktion von fl. N H mit Li A H 4 ) ergibt auf dem Wege + 2NH, ' A H ( N H ) — H, — H, fl. Affl 3 — — NHL 4 Al(NH 2 ) 3 + H 2 3 3 2 —80 C A H 2 ( N H 2 ) ( N H 3 ) —50 C AlH(NH 2 ) 2 — 110 C —30 C ,,Aluminiumtriamid'' Al(NH 2 ) 3 , das beim Erwärmen N H abspaltet und dabei über eine Zwischenstufe [Al(NH)(NH 2 )L in AlN übergeht. Entsprechend dem Ammoniak-Addukt A NH eliminiert auch das Phosphan-Addukt A PH molekularen Wasserstoff und geht letztendlich in [AlP]., über. Die Zwischenstufe H 2 A1—PH ließ sich hier durch Addition der Lewis-Base NMe 3 an Al und zugleich der Lewis-Säure W(CO) 5 an P in Form von M A PH W(CO) stabilisieren Die Reaktion von Alan mit Alkoholen führt - auf dem Wege über Addukte - je nach dem Molverhältnis AlH3/ROH zu Mono-, Di- oder Trisubstitutionsprodukten (AlH3 + nROH -> AH 3 _„(OR)„ + nH 2 ; n = 1, 2, 3), wobei die teilsubstituierten Verbindungen leicht dismutieren ( 2 A H 2 ( O R ^ AlH3 + AlH(OR) 2 ; AlH(OR) 2 ^ A H 2 ( O R ) + Al(OR) 3 ), falls R wenig raumerfüllend ist. Die gebildeten H-haltigen Substitutionsprodukte liegen im Kristall di-, oligo oder polymer vor, und zwar teils über O R (e), teils über H (f) verbrückt, teils mit vierzähligem tetraedrischem Al (e), teils mit fünfzähligem trigonal-bipyramidalem Al (f, g); auch sind sie teils aus einer Molekülsorte aufgebaut (e, f), teils enthalten sie Mischpolymerisate aus A H 2 ( O R ) und dessen Dismutationsprodukt AlH(OR) 2 (g) (bezügl. der Strukturen von Al(OR) 3 vgl. S. 1157). Um die betreffenden Verbindungen monomer zu erhalten, bedarf es überaus raumerfüllende Reste. H
\
O
(OR)
R
-''h
H
„ > < > " (RO.
V
\
(R = tBu) (e) Al2H4(OR)2,Al2H2(OR)4
R
O
H
H
V V RA H ' ?
H
Y
(R = CHMefBu) (f) Al4H8(OR)4
X
H
R
V W
f
5
V A H? ? R (R = i Pr) (g) Al3H5(OR)4
* '
2. Das Aluminium
1149
Als Zwischenprodukte der zu Al(OH) 3 sowie AlHal3 führenden Umsetzungen von Alan mit Wasser sowie Halogenwassertsoffen: AlH3 + 3 H 2 0
Al(OH) 3 + 3H 2 ;
AlH3 + 3HHal
AlHal 3 + 3H 2 ,
treten wohl die Verbindungen AlH 2 X und AlHX 2 auf (X = OH, Hal). Die dismutationslabilen, Et 2 Ohaltigen Chloralane AlH 2 Cl und AlHCl 2 sind in etherischer Lösung aus LiAlH 4 und AlCl3 zugänglich (bzgl. donorfreier teilhalogenierter Alane vgl. Anm.4 S auf S. 1150).
Reaktion mit Akzeptoren Ähnlich wie mit Boran B H bilden Elektronenpaarakzeptoren
A
auch mit Alan AlH3 Additionsverbindungen AlH3 • nA (n = 1, 2, 3; im Falle von BH3 • «A findet man nur « = 1). Ist A = BH so bilden sich hierbei,,Alanborane" AlH3(BH3)Ä (n = 1, 2, 3) sowie (AlH3)2(BH3)4, die formelmäßig - aber nicht strukturell - mit den isolierbaren, nicht isolierbaren bzw. unbekannten Boranen (BH3)Ä (n = 2, 3, 4, 6) vergleichbar sind und als Aluminiumtetrahydrdridoborate (,,Aluminiumboranate") bezeichnet werden. In Tetrahydrofuran T H F vereinigt sich AlH3 mit B H in äquimolarer Menge bei — 20 °C zum farblosen, zwei THF-Moleküle enthaltenden, bei 80°C schmelzenden ,,Dihydridoaluminiummonoboranat" AlH3 • BH 3 • 2 T H F = ( T H F ^ H A l ^ - H ^ B H (oktaedrisches Al mit 2 T H F in trans- und 2H exo + 2HBrücke in äquatorialer Stellung; tetraedrisches B), während das farblose, dimere „Hydridoaluminium-bis(boranat)" AlH3 • 2BH 3 = HAl(BH 4 ) 2 (oktaedrisches Al; vgl. Formel (h)) als Produkt der Thermolyse von Al(BH 3 ) 3 bei 70°C entsteht: 2Al(BH 4 ) 3 [HAl(BH 4 ) 2 ] 2 + B 2 H 6 . Das farblose, flüssige ,,Aluminiumtris(boranat)" AlH3 • 3BH 3 = Al(BH 4 ) 3 (oktaedrisches Al; Formel (i); Smp. — 64.5°C, Sdp + 4 4 . 5 ° C ; AH{ + 16 kJ/mol) erhält man seinerseits durch Umsetzung von AlH3 (bzw. Al 2 Me 6 ) in Diethylether mit oder besser aus NaBH und AlC ohne Lösungsmittel AlH3 + 3BH 3
Al(BH 4 ) 3 ;
AlCl3 + 3NaBH 4
Al(BH 4 ) 3 + 3NaCl.
Das Boranat Al(BH 4 ) 3 stellt die bisher flüchtigste Aluminiumwasserstoffverbindung dar. Es verbrennt an der Luft unter starker Wärmeentwicklung (Al(BH 4 ) 3 + 6O 2 j a - A l 2 0 3 + § B 2 0 3 + 6H 2 O (fl.) + 44.50 kJ) und vereinigt sich mit der Lewis-Base NMe 3 bzw. BH4~ (Ph 3 MeP + als Gegenion) zum farblosen Addukt Al(BH 4 ) 3 • NMe 3 (verzerrt-pentagonal-bipyramidales 7fach koordiniertes Al; Formel (k)) bzw. zum farblosen Addukt Al(BH4)4~ (verzerrt-dodekaedrisches, 8fach koordiniertes Al; die B-Atome der jeweils über 2H-Brücken mit Al verknüpften BH 4 -Gruppen besetzen die Ecken eines Tetraeders mit AI im Mittelpunkt). Des weiteren reagiert Al(BH 4 ) 3 in der Gasphase mit Al 2 Me 6 zu farblosem, bei — 76 °C schmelzendem MeAl(BH 4 ) 2 (quadratisch-pyramidales, 5fach koordiniertes Al; Formel (l): 4Al(BH 4 ) 3 + Al 2 Me 6 -> 6MeAl(BH 4 ) 2 . Der Umsetzung liegt wohl ein gegenseitiger Austausch von aluminiumgebundendem Wasserstoff und Methyl zugrunde: Al(BH 4 ) 3 HAl(BH 4 ) 2 + ^ B 2 H 6 ; AlMe 3 + HAl(BH 4 ) 2 M j A H + MeAl(BH 4 ) 2 ; Me 2 AlH + -^B 2 H 6 Me 2 Al(BH 4 ) usw. In der Tat setzt sich AlH 3 mit organischen Aluminiumverbindungen AlR 3 rasch unter H/R-Austausch um. Ähnlich wie die Substitutionsprodukte des Borans B H (S. 1067) bilden sich also auch solche des Alans AlH 3 mit Elektronenpaarakzeptoren nach einem Additions-/Eliminierungs-Mechanismus Me
NMe ,
I
H
H
I
!
„AI /AI J ! / \ ^ \ ! H ]— H R-H ,H H \ I BH, H, B (H) Al 2 H 2 (BH4>4
H H2]B \
H
I
\ ! -H
\/
H:
'
R
NBH
H, B — H
vi/ ^Ai "
I -/A1H'/A---H
FL—BH2 X /
H
H, B .
.BH,
H 2
XBH,
(k) Al(BH4)3(NMe3)
(i) Al(BH4)3
(l) MeAl(BH4)2
Tetrahydridoaluminate
Darstellung Unter den Tetrahydridoaluminaten („Alanaten") MAlH4 (M = Metalläquiva-
lent) wird das Natriumalanat NaAM 4 (Smp. 183 °C) in der Technik aus den Elementen bei
höheren Temperaturen und Drücken gemäß Na + Al + 2H2
NaAlH4
(THF, 150°C, 350 bar)
• 1150
XVI. Die Borgruppe („Triele")
im Tonnenmaßstab hergestellt und in Diethylether durch doppelte Umsetzung mit LiCl in etherlösliches Lithiumalanat LiAlH4, das auch durch Umsetzung von AlCl3 oder AlBr3 mit LiH in Diethylether zugänglich ist, übergeführt: NaAlH4 + LiCl -> LiAlH4 + NaCl; AlX3 + 4LiH
LiAlH4 + 3LiX.
Zum Unterschied von Bor, das nur ein Lithiumboranat LiBH4 = LiH • BH3 bildet, kennt man beim Aluminium neben LiAlH4 = LiH • AlH3 auch ein Lithiumalanat Li3 AlH6 = 3 LiH • AlH3, das der Hexafluoro-Verbindung Li3AlF6 = 3 LiF • AlF3 entspricht. Die analoge Natriumverbindung Na3AlH6 ist mit Na3AlF6 isomorph. Eigenschaften Reines,,Lithiumalanat" LiAlH 4 (tetraedrische AlH 4 -Einheiten, welche über-tetraedrisch von H umgebene - Li + -Ionen zu einem Raumnetzverband verknüpft sind, ist weniger heterovalent gebaut als LiBH 4 , zerfällt bei 150°C (3 LiAlH 4 Li 3 AlH 6 + 2 ^ 3 ^ ) , wird von trockener Luft nicht angegriffen, ist jedoch hydrolyseempfindlich und zersetzt sich bei Berührung mit Wasser heftig und quantitativ gemäß: LiAlH 4 + 4 H 2 0 -> Li [Al(OH) 4 ] + 4 H 2 . In analoger Weise verhält es sich gegen andere protonenaktive Stoffe äußerst reaktiv. So reagiert es mit Alkoholen unter Bildung von Li[Al(OR) 4 ], mit Ammoniak unter Bildung von Li [Al(NH 2 ) 4 ], mit Stickstoffwasserstoffsäure unter Bildung von Li[Al(N 3 ) 4 ] und mit Cyanwasserstoff unter Bildung von Li[Al(CN) 4 ], Man setzt Lithiumalanat in der Regel in Form seiner Lösung in Diethylether ein (in Et 2 O liegt es als Dietherat [(Et 2 O) 2 Li(,u-H) 2 AlH 2 ] vor; Löslichkeit ca. 300 g pro kg Et 2 O) und nutzt es als vielseitiges Reduktions- und Hydrierungsmittel in der anorganischen und organischen Chemie (es wird heute allerdings vielfach durch billigere Hydrierungsmittel mit AlH-Funktionen, wie ;'Bu 2 AlH, Na [ A H 2 E t 2 ] , N a [ A l H 2 ( O R ) 2 ] ersetzt, vgl. S.1169f). Mit Elementhalogeniden E X (Analoges gilt für R m E X „ _ J reagiert es zum Teil unter Austausch von Halogenid gegen Alanat zu Elementalanaten, zum Teil unter Bildung der betreffenden Elementhydride (falls die Alanate instabil sind) oder der betreffenden Elemente (falls auch die Hydride instabil sind): E X + nLiAlH 4 4EX„ + nLiAlH4
E(AlH 4 )„ + nLiX
(E z.B.: K, Rb, Cs, Ba, Ca, Ga, In, to", Ti IV );
4EH„ + nLiAlX 4 I 4E + 2nH 2
(E z.B.: B, Si, Ge, Sn™, P, As, Sb); (E z.B.: Ag, Au, Hg, Tl, Pb, Bi).
AlCl 3 liefert mit LiAlH 4 in Ether je nach Molverhältnis der Edukte AlHCl 2 , A H 2 C l oder AlH 3 . An Mehrfachbindungssysteme A = B vermag sich Li AlH 4 zu addieren. Da nach Hydrolyse der Addukte Verbindungen HA—BH entstehen, kann man somit A = B durch Lithiumalanat hydrieren: LiAlH 4 + 4 A = B
Li [Al(A—BH) 4 ]
+ 4 H ° • 4HA—BH. — Li[Al(OH) 4 ]
So lässt sich etwa R C H = C H 2 in RCH 2 —CH 3 , R C = C H in R C H = C H 2 , R 2 C = O in R 2 CH—OH, R C O ( O R ) auf dem Weg über RCH(OH)(OR) R C H = 0 + HOR) in RCH 2 —OH, R C = N in RCH 2 —NH 2 , R N = C in RNH—CH 3 und N = O in H O N = N O H umwandeln. Auch Einfachbindungssysteme A—B werden vielfach von LiAlH 4 hydrierend gespalten. Z . B . lassen sich das Disulfid R S S R in 2 R S H und die Oxide R 2 SO, R 3 N O oder R 2 N N O in R 2 S , R 3 N oder R 2 N N H 2 neben H 2 O überführen.
2.3
Halogenverbindungen des Aluminiums 3 8 , 4 8
Überblick
Aluminium bildet Halogenide der Zusammensetzung AlX3, AK2 und AK (Aluminium (III,II,I) -halogenide) sowie gemischt-valente Verbindungen wie AlsBr7 oder Al22Br20. Allerdings
sind die ,,Subhalogenide" AlX AK3; 3A12X4 -> 2Al + 4AlX3) und können nur donorstabilisiert gewonnen werden (z. B. A12X4 = X ^ - A K 2 in Form von (D)X2A1—AlX2(D); vgl. hierzu B2X4, S. 1102). Darüber hinaus kennt man Halogenidoxide AlOX (vgl. S. 1156). 48
Literatur. C. Domeier, D. Loos, H. Schnöckel: ,,Aluminium(I')- undGallium(I)-Verbindungen: Synthesen, Strukturen, Reaktionen", Angew. Chem 108 (1996) 141-161; Int. E d 35 (1996) 129; Ch. Klemp, H. Schnöckel: ,Molecular Aluminium and Gallium Subhalides", in G. Meyer, D. Naumann, L. Wesemann (Hrsg.): ,,Inorganic Chemistry Highlights", Wiley-VCH 2002, S. 245-257.
2. Das Aluminium
1151
Aluminiumtrihalogenide AIX 3
Aluminiumtrifluorid AlF3 entsteht beim Überleiten von Fluorwasserstoff bei Rotglut über Alu-
minium oder Aluminiumoxid'.
2A1 + 6HF
2AlF3 + 3H2 oder A1203 + 6HF
2AlF3 + 3H20
als farbloses, in Wasser, Säuren und Alkalilaugen unlösliches Pulver vom Smp. 1290 °C und Sblp. 1272°C (AHr = — 1510.4kJ/mol). Löst man Aluminium in wässriger Flusssäure auf, so kristallisiert aus der Lösung farbloses AlF3 • 3H2O. Mit Alkalimetallfluoriden und Fluoriden anderer elektropositiver Metalle bildet AlF3 Komplexsalze der Formel M [AlF4], Al und Al Strukturen Den Fluoroaluminaten liegen wie auch dem Aluminiumtrifluorid AlF6-Oktaeder zugrunde, welche über gemeinsame F-Atome verknüpft sind, und zwar im Falle von AlF^" zu Ketten (Fig. 244a), im Falle von AlF4" zu Schichten (Fig. 244b) und im Falle von AlF3 zu einem Raumverband (Übereinanderlagerung der Schichten von Fig. 244b zu einer verzerrten ReO3-Struktur), während die Verbindungen M 3 AlF 6 isolierte AlFg"-Oktaeder (isoelektronisch mit SiFg", PF 6 ", ClF6+) enthalten. NaAlF4 ist somit ganz anders aufgebaut als das homologe NaBF 4 und AlF3 ganz anders als das homologe, monomere B F - Mischkristalle der in Fig.244a und b wiedergegebenen Strukturtypen kommen in der Natur vor (z. B. „Chiolith'' Na5Al3F14 = NaAlF4 • 2 N 2 A f f 5 ) . Auch in AlF3 • 3H2O ist Al 3+ oktaedrisch koordiniert, und zwar von 3 F " und 3H2O. In wässriger Lösung dissoziiert AlF3(H2O)3 teilweise unter Bildung von AlF2(H2O)+, AlF(H2O)^+ und F ". Anders als NaAlF4 und Tl2AlF5 (Fig. 244a, b) enthalten die aus AlF3 und NMe^F" in wasserfreiem Acetonitril zugänglichen Salze (NMe4)AlF4 bzw. (NMe4)2AlF5 isolierte AlF^-Ionen (tetraedrisch, isoelektronisch mit SiF4) bzw. AlF^"-Ionen (trigonal-bipyramidal, isoelektronisch mit SiF 5 ", PF 5 ), die als Lewis-Säuren leicht weiteres Fluorid sowie andere Donoren aufnehmen. Vom Typus M 3 AlF 6 leitet sich der technisch wichtige, in der Natur vorkommende Kryolith Na3AlF6 (,,Eisstein '', Smp. 1012°C), ab. In ihm sind die AlF6"-Ionen kubisch dichtest gepackt, wobei die Na + -Ionen alle Tetraeder-und Oktaederlücken besetzen.
Fig.244
Kette des [ A l F - A n i o n s in Tl 2 AlF 5 (a) und Schicht des [AlF 4 ] X -Anions in NaAlF 4 (b).
Verwendung findet hauptsächlich Kryolith als Lösungsmittel für A1203 bei der Aluminiumgewinnung (S.1140) sowie als Trübungmittel in der Glas- und Emaille-Industrie. Künstlichen Kryolith erhält man hierbei in der Technik durch Auflösen von Tonerde und Soda in wässriger Flusssäure oder heute bevorzugt - durch Einwirkung einer NH4F-Lösung (erzeugt nach: 6NH3 + H2SiF6 + 2 H 2 0 6NH 4 F + SiO2) auf Natronlauge und Aluminiumhydroxid: A1 2 0 3 + 12HF + 3 N 2 C O Al(OH) 3 + 6HF + 3 NaOH
• 2Na 3 AlF 6 + 3 C 0 2 + 6 H O ; • Na 3 AlF 6 + 6 H O .
Aluminiumtrichlorid AlCl3. Die Darstellung von wasserfreiem Aluminiumchlorid AlCl3 erfolgt in der Technik insbesondere durch Chlorierung von Aluminium oder Aluminiumabfällen mit Chlor bei 750-800 °C in Reaktionsbehältern, die mit keramischem Material ausgekleidet sind; in untergeordnetem Maße gewinnt man AlCl3 darüber hinaus durch Einwirkung von Chlor auf ein Gemisch von Aluminiumoxid und Kohlenstoff bei 800 °C:
2A1 + 3C12 ^ 2 AlCl3 + 1409 kJ; A1203 + 3C + 3C12 ^ 2AlCl3 + 3CO.
• 1152
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Das gebildete gasförmige Trichlorid wird in Kondensationskammern geleitet. Wasserfreies AlCl3 entsteht auch beim Erhitzen von Aluminium im Chlorwasserstoffstrom (2A1 + 6HC1 -> 2AlCl3 + 3H2 + 855 kJ). Wasserhaltiges Aluminiumchlorid AlCl3 • 6H 2 0 = [Al(H2O)6]Cl3 bildet sich beim Auflösen von Aluminium oder Aluminiumtrihydroxid in Salzsäure:
A1 + 3HC1 + 6H 2 0
AlCl 3 -6H 2 0 + fH 2 ;
Al(OH)3 + 3HC1 + 3H 2 0
AlCl 3 6H 2 O.
Es kristallisiert aus der sauren Lösung beim Einengen aus. In entsprechender Weise bildet sich AlCl3 • 6NH3. Physikalische Eigenschaften; Strukturen Wasserfreies Aluminiumchlorid wird als farblose (bei Verunreinigung mit Eisenchlorid gelbliche), leicht sublimierende, an feuchter Luft stark rauchende, sehr hygroskopische Masse erhalten, welche bei 128.7 0 C sublimiert und unter Druck (1700mbar) bei 192.6°C schmilzt (A//f = — 704.2 kJ/mol). Wasserhaltiges Aluminiumchlorid erhält man in Form farbloser, zerfließlicher Kristalle In kristallisiertem (AlCl 3 ) x („AlCl 3 -Struktur"; vgl. CrCl 3 ) sind § der oktaedrischen Lücken jeder übernächsten Schicht einer kubisch-dichtesten Cl"-Packung mit AI3 + -Ionen besetzt Geschmolzenes Aluminiumchlorid besteht dagegen aus dimeren (AlCl 3 ) 2 -Molekülen (s. unten), welche den elektrischen Strom zum Unterschied vom festen (AlCl 3 ) x nicht leiten. Bringt man daher festes Aluminiumchlorid zum Schmelzen, so verschwindet die Leitfähigkeit im gleichen Augenblick und umgekehrt. Zugleich erklärt der Übergang vom eng gepackten Ionen-Kristall zur locker gepackten Molekül-Schmelze die ungewöhnlich star ke Volumenvergrößerung (fast aufs Doppelte) beim Übergang vom Kristall zur Schmelze. Im kristallisierten AlCl 3 • 6 H 2 0 = [Al(H 2 O) 6 ]3 + 3C1" bzw. AlCl 3 • 6NH 3 = [Al(NH 3 ) 6 ]3 + 3 C r ist A \ o k t a e d risch von H 2 O- bzw. NH3-Molekülen umgeben (vgl. S. 1158; Cl" ist in AlCl 3 schwächer an AI3 + gebunden als F " in AlF 3 und lässt sich deshalb leichter durch Donoren verdrängen: Bildung von AlF 3 (H 2 O) 3 bzw. Al(H 2 O) 6 Cl 3 ). Oberhalb von 800 0 C zeigt wasserfreies Aluminiumchlorid eine der Formel AlCl 3 entsprechende Dampfdichte (AüTf von gasförmigem AlCl 3 = — 583.2). Unterhalb von 800 0 C bis herab zum Sublimationspunkt von 180 0 C (Smp. 192 0 C unter Druck) vereinigen sich die monomeren, trigonal-planaren Moleküle unter Betätigung von Chlorbrücken zunehmend zu Doppeltetraedern mit gemeinsamer Kante (Dimerisierungsenthalpie = 124.4 kJ/mol A12C16; Bau analog B 2 H 6 ; Abstände AlCl/AlQBrücke = 2.06/2.21 Ä; Winkel ClAlCl/AlClAl = 118/101°; vgl. hierzu die Polymerisation von BeCl 2 , S. 1221):
Beim Sublimationspunkt besteht der Dampf nur noch aus solchen A12C16-Molekülen. In etherischer Lösung entspricht die rel. Molekülmasse wegen Bildung einer Additionsverbindung AlCl 3 • OR 2 (vgl. Borchlorid, S. 1101) der monomeren Formel AlCl 3 , im nicht als Donor auftretenden Benzol dagegen der dimeren Formel (AlCl 3 ) 2 . Analog [AlCl 3 ] x geht [AlF 3 ] x bei erhöhter Temperatur zunächst in A1 2 F 6 , dann in monomeres AlF 3 über (AHf von gasförmigem AlF 3 = — 1205 kJ/mol, Dimerisierungsenthalpie = 219 kJ/mol A12F6).
Chemische Eigenschaften Die Affinität von AlCl3 zu Wasser ist so groß, dass wasserfreies AlCl3 beim Eintragen in Wasser unter Verdrängung der Q~-Ionen durch H2O-Moleküle aufzischt (Lösungsenthalpie 330 kJ/mol). Das Hydrat kann nicht durch Erhitzen zum wasserfreien Chlorid entwässert werden, da es hierbei leicht gemäß: [Al(H2O)6]Cl3 Al(OH)3 + 3 HCl + 3 HO hydrolysiert, sodass Chlorwasserstoff entweicht und Aluminiumhydroxid (bzw. Aluminiumoxid) zurückbleibt (vgl. hierzu S. 1158). Wegen dieser Neigung zur Hydrolyse kann man auch eine wässrige, sauer reagierende Lösung des Chlorids nur durch Zusatz überschüssiger Salzsäure (Verschiebung des Gleichgewichts nach links) stabil erhalten, da sonst Aluminiumhydroxid ausfällt (beim rechts benachbarten SiC kann die Hydrolyse entsprechend dem stärker sauren Charakter von Si(OH)4 auch durch Zugabe von HCl zur wässerigen Lösung nicht verhindert werden). Wie Borfluorid und Borchlorid, vereinigt sich auch Aluminiumchlorid als Lewis-Säure mit zahlreichen anorganischen und organischen Donoren zu Additionsverbindungen (D z. B. Halogenid, Ether, Sulfane, Amine, Phosphane):
2. Das Aluminium
AlCl3
+ D + D ^ ^ AlCl, • D ^ ^
1153
AlCl 3 • 2 D .
So bildet Ammoniak das Addukt [AlQ 3 (NH 3 )] (unzersetzt sublimierbar), überschüssiges Ammoniak die Komplexe AlC NH 2, 3, 6; Strukturen AlC (NH ]+ AlC AlC (NH ]+ [AlCl 4 (NH 3 ) 2 ] " , [Al(NH 3 ) 6 ] 3 + 3Q~)und Trimethylamin die Komplexe [AlQ 3 (NMe 3 )] (Smp. 156.9°C; tetraedrisches Al) und [AlCl 3 (NMe 3 ) 2 ] (trigonal-bipyramidales Al mit NMe 3 in axialen Positionen). Mit Alkylhalogenidenist AlCl 3 schwach (RX ä + • • • AlCl 3 ~) bis stark (Ph 3 C + • • • X A l Q 3 ) verknüpft. Analoges gilt für Acylhalogenide RCOX, die zudem über Sauerstoff an AlCl 3 gebunden sein können. Mit Phosphorpentachlorid bildet AlCl 3 die ionogene Verbindung [PC1 4 ] + [ A l Q 4 ] " , mit flüssigem Phosphoroxychlorid die Verbindung 4AlCl 3 • 6POC13 s [ A l ( O P Q 3 ) s ] 3 ^ [ A l C l 4 ] " ( P Q 4 isovalenzelektronisch mit C Q 4 ; A l Q 4 isovalenzelektronisch mit SiCl 4 ). Halogenreichere Chlorokomplexe als AlCl 4 werden von Aluminiumchlorid zum Unterschied von Aluminiumfluorid nicht gebildet (unter den höheren Ho mologen von AlCl 3 bildet G a Q 3 ebenfalls Tetrachloro-, InCl 3 und T l Q 3 Hexachlorokomplexe: GaCl 4 , InCl3", T l Q 3 " ) . Neben AlCl 4 existiert in Salzen mit großem Kation auch ein Anion A12C17 = [Q 3 A1—Cl—AlQ 3 ] " . Verwendung. Auf die hohe Tendenz von wasserfreiem AlQ 3 (Weltjahresproduktion: 50 Kilotonnenmaßstab) zur Bildung von Additionsverbindungen (s.o.) ist dessen - in Labor und Technik genutzte - katalytische Wirkung für Friedel-Crafts-Alkylierungen und -Acylierungen sowie für Polymerisations- und Crackprozesse zurückzuführen (z. B. zur technischen Herstellung von Ethylbenzol, Ethylchlorid, Farbstoffvorprodukten, Detergenzien, Polymeren; in der Petrochemie wird AlQ 3 heute durch Zeolithe (s. dort) verdrängt). Wasserhaltiges AlQ 3 • 6H 2 O findet in der Pharmazie und Kosmetik Verwendung und wird zur Wasseraufbereitung (Flockungsmittel) und als Textilimprägnierungsmittel genutzt. Aluminiumtribromid AlBr3 schmilzt bei 97.5 °C und siedet bei 255 °C (A# f = — 527 kJ/mol), Aluminiumtriiodid All 3 bei 189.4 °C bzw. 381 °C (A# f = — 314 kJ/mol). Beide Halogenide sind auch im kristallisierten Zustand dimer (hexagonal-/kubisch-dichteste X-Packungim Falle AlBr3/All3 ;Dimerisierungsenthalpien: 121 bzw. 102 kJ je Mol A1 2 X 6 ) und bilden mit Halogenid-Ionen Halogenokomplexe AlX 4 .
Aluminiumsubhalogenide Aluminium(I)-halogenide. Bildung, Zerfall, Stabilisierung Leitet man den Dampf von Aluminiumtrihalogeniden AlX 3 unter vermindertem Druck bei 1000 °C über metallisches - unter den Temperaturbedingungen flüssiges - Aluminium, so verflüchtigt sich das Aluminium rasch und lässt sich an kühlerer Stelle in hochreinem Zustande wieder kondensieren. Es ist dies die Folge der - bei hoher Temperatur praktisch vollständig auf der rechten Seite liegenden Gleichgewichtsreaktion 2Al(0 + A l X 3 3 A l X ( g ) A # r = + 245.3 (F), + 177.0(Cl), + 171.7(Br), + 170.1 (I)[kJ/mol A K ] , (1) bei der sich flüchtige, monomere „Halogenaluminylene" A K („Aluminiummonohalogenide") bilden, welche bei langsamer Abkühlung wieder in AlX 3 und (kristallines) Al zerfallen. Man nutzt daher diese ,,chemischen Transportreaktionen'' (vgl. S. 1409) zur Reinigung von Aluminium (vgl. den verwandten Vorgang: Si + SiQ 4 ^ 2SiQ 2 ; S. 949) oder zur Abscheidung dünner Al-Schichten auf Festkörpern. Statt wie beschrieben - im offenen System kann auch im geschlossenen System gearbeitet werden, indem man in ein langes, etwas AlX 3 enthaltendes, einseitig mit unreinem Aluminium gefülltes, evakuiertes und abgeschlossenes Rohr auf der Al-Seite stark erhitzt. Das hierbei entstehende Monohalogenid AlX diffundiert zum nicht erhitzten, kalten Rohrende, zersetzt sich dort zu reinem Aluminium und Trihalogenid AlX 3 , das dann seinerseits wieder für die Bildung von AlX am heißen Rohrende zur Verfügung steht. Die Monohalogenide können außer gemäß (1) besonders bequem durch Überleiten von Halogenwasserstoffen HX über flüssiges Aluminium bei Temperaturen um 1000°C und Drücken < 0.2mbar gewonnen werden: 2 A l © + 2HX(g)
2AlX(g) + H2(g) AHt = +6.9(F), + 40.8(Cl), + 52.3(Br), + 41.6(I) [kJ/mol AlX], (2)
Die nach (1) oder (2) erzeugten Monohalogenide sind in Anwesenheit von viel Argon bei rascher Abkühlung des Gasgemischs auf die Temperatur des flüssigen Heliums oder Stickstoffs in einer Tieftemperaturmatrix isolierbar. Im Zuge des Abschreckens dimerisieren sie untergeordnet zu (AlX) 2 . Eine Bildung von (AlX)n (n > 2) konnte bisher nicht nachgewiesen werden (vgl. (BX) n , S. 1102). An mit flüssigem Stickstoff gekühlten Flächen lassen sich die Monohalogenide in Form roter Festkörper abscheiden, die sich oberhalb —100 °C unter Disproportionierung von AlX (Rückreaktion (1)) zersetzen. Schreckt man die gemäß (2) erzeugten AlX-Dämpfe (X = Cl, Br, I) zusammen mit viel Toluol/Diethylether (Molverhältnis 3 : 1 ) auf — 190 °C ab, so erhält man nach Erwärmen der Kondensate auf über — 100 °C tiefrote
• 1154
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Lösungen, welche donorhaltige, u. a. wohl tetramere (s. unten) sowie möglicherweise donorfreie oligomere Monohalogenide AlX neben geringen Mengen AlX 3 enthalten, bei — 50 °C wochenlang haltbar sind, bei Raumtemperatur nur langsam disproportionieren (Rückreaktion (1); Stabilität: AlCl < AlBr < AlI) und von Wasser oder Methanol unter H2-Entwicklung oxidiert werden (formal: Al + + 2 H + -> Al 3+ + H 2 ). Schreckt man Gasgemische von AlBr bzw. AlI und Triethylamin auf die Temperatur des flüssigen Stickstoffs ab, so fallen aus den beim Erwärmen gebildeten gelben Lösungen innerhalb weniger Tage donorhaltige Tetraaluminiumtetrahalogenide A14X4; 4NEt 3 (X = Br, I) in Form gelber Kristalle aus (Disproportionierung von AlBr(NE 95 C). Strukturen. Nachfolgende Zusammenstellung gibt AlX-Abstände und XAlX-Winkel zusammen mit AlXBildungs- und Dimerisierungsenergien (A# f , AH DE ) der bei hohen Temperaturen im Singulett-Grundzustand thermodynamisch stabilen Monohalogenide AlX sowie ihrer - bei hohen Temperaturen nur untergeordnet vorliegenden - Dimeren (AlX) 2 wieder, wobei letzteren erwartungsgemäß keine Dialenstrukturen X A l = A l X , sondern Ringstrukturen Al(,u-X)2Al (a) zukommen (Konzentrationsverhältniss von AlF zu A12F2 bei 1200 °C ca. 1011): AlX(g), Al 2 X 2 (g)
AlF
AlCl
AlBr
All
A12F2
A12C12
Al 2 Br 2
4 i x [ Ä ] / * X A K [°]
1.655
2.138
2.295
2.56
1.888/73.9
2.479/81.8
2.680/84.7
A# f bzw. A # d e [kJ/mol]
—258
—48
—4
—66
—30
—33
bzw. —91
Entsprechend (AlX) 2 sollte auch (AlX) 3 eine Ringstruktur mit AlXAl-Brücken, (AlX) 4 analog (BX) 4 dagegen Tetraederstruktur (b) mit AlAl-Bindungen aufweisen. Den tetrameren Donoraddukten [AlX • NEt 3 ] 4 liegt kein ,,nichtklassisches'' zentrales Atomgerüst mit Al4-Tetraedern, sondern infolge der Adduktbildung mit dem starken Donor NEt 3 ein ,,klassischer'' planarer Al 4 -Ring (c) zugrunde (AlAl-/ AlBr-/AlN-Abstände = 2.643/2.417/2.094 (X = Br), 2.652/2.657/2.082 Ä (X = I)). Zwischenprodukt der im Warmen erfolgenden Zersetzung von (c) ist möglicherweise das ikosaedrisch gebaute A112X12, das sich durch AlCp* (vgl. S. 1173) in Form von A112X10 • 8 AlCp* abfangen lässt. X AI D :A1
AU
-AI X
XA1-
X
\
AI
X
AI' X
(a) (AlX)2 (Tieftemp.matrix)
D I , AI i \ D X AI
^ A l — Al' / X
A1
X
X, E -A1-ALL. X
A n
X
(b) (AlX)4 (unbekannt)
-X
(c) (AlX-D)4 (isoliert)
(e) Al2X4-2D (isoliert)
(d) (Al2X4)2 (unbekannt)
Chemische Eigenschaften Die Monohalogenide AlX sind ähnlich wie B X (S. 1102) oder SiX 2 (S.949) sehr reaktiv und können sich wie diese in a-Bindungen einschieben (z. B. AlCl + H 2 -> H 2 AlCl + 76 kJ; AlCl + HCl ^ HAlCl 2 + 214 kJ; AlH/AlCl-Abstände sowie HAlH-/ClAlCl-Winkel 1.55/2.09 Ä sowie 124/118°). Darüber hinaus lassen sich die Monohalogenide AlX an n-Bindungen addieren: Kondensiert man Gasgemische von AlCl zusammen mit 2,3-Dimethylbutadien C H 2 = C M e — C M e = C H 2 bzw. 2-Butin M e — C = C — M e und einem inerten Lösungsmittel auf eine mit flüssigem Stickstoff gekühlte Fläche, so enthält das Kondensat nach dem Erwärmen auf Raumtemperatur die Verbindungen (f) bzw. (g), die
/
a
x6
A
/C1 AK
CI
i n Af
^
C1 T ^ ^A1 er i AI.
(f) (AlCl*DMB)6
(f') AlCl-DMB
x2
-O
(h) AlF(O2)
^ °
O
(i) AlF(O2)2
\
(g) (AlCl-C2Me2)4
(g') (AlCl-C2Me2)2
\ >
AI'
^ e i ' I TAI AlCl ClAV A N^c^cy y=Lcs
""
F I ^ A l .
F I AI O-
- A'-i
,C
M r f °
o
»
(k) Al(O2)3
2. Das Aluminium
1155
Hexa- bzw. Dimere der wohl zunächst gebildeten Produkte (f') bzw. (g') darstellen (in (g) sind die AlAtome einer Einheit (g') jeweils mit der Doppelbindung einer anderen Einheit verknüpft; durch Donoren lässt sich (g) in Donoraddukte von (g') aufspalten). Die photolytisch induzierte Reaktion von AlF (bzw. AlCl oder AlBr) mit 0 2 -Molekülen in einer Argontieftemperaturmatrix liefert die Peroxo- sowie Hyperoxoverbindungen F A l 0 2 (h) sowie FAl(0 2 ) 2 (i) (bzw. ClAl0 2 , ClAl(0 2 ) 2 , BrAlO 2 , BrAl(0 2 ) 2 ), wobei F A l 0 2 (Singulett; C2v-Symmetrie, rfAlF/Al0/00 = 1.64/1.71/1.66 Ä; * 0 A l 0 = 58°) bei niedrigen, FAl(0 2 ) 2 (Triplett; C2v-Symmetrie, ^AlF/Al0/00 = 1.66/1.86/1.37Ä; > 0 A l 0 = 43.2°) bei hohen O^Konzentrationen dominiert (bezüglich der Reaktion von AlX mit 0-Atomen bzw. der Reaktion von Al- mit O 2 -Molekülen, die zum Trihyperoxid Al(0 2 ) 3 (k) führt vgl. auch Anm. 5 0 auf S. 1156). Aluminium(II)-halogenide. Während Bor(II)-halogenide (BX 2 ) 2 = X 2 B — B X 2 zugänglich sind (S. 1102), ließen sich Aluminium(II)-halogenide (AlX 2 ) 2 = X 2 A1—AlX 2 (dimere ,,Aluminiumdihalogenide"), welche ihrerseits Dimere (d) mit tetrakoordinierten Al-Atomen bilden könnten (vgl. hierzu (RGaHal) 4 , S. 1207), wohl wegen ihrer mit den Aluminium(I)-halogeniden vergleichbaren hohen Disproportionierungs labilität bisher nicht nachweisen (isolierbares (GaC liegt als Folge der verglichen mit A höheren - Stabilität von G a + gemischtvalent in Form des Salzes Ga + GaCl 4 ~ vor). Lässt man AlI-Toluol/Et 2 0Kondensate (zur Gewinnung s. oben) nach Einkondensieren von Pentan einige Monate bei — 20 °C stehen oder tropft man AlX/Et 2 0-Kondensate zu überschüssigem P h 0 M e , Ph0Et, Me 3 SiNMe 2 bzw. vereinigt A12I4 • 2 P h 0 E t mit PEt 3 und lagert die Lösungen einige Zeit lang bei — 20 bis 0°C, so entstehen donorstabilisierte Dialuminiumtetrahalogenide A12X4 • 2D (e) in Form farbloser bis gelber Kristalle (X/D u. a. I/0Et 2 , Br/Ph0Me, I/Ph0Et, Cl/Me3SiNMe2, Br/Me 3 SiNMe 2 , I/PEt3; AI—Al-Abstände im Bereich 2.52-2.55 A), die bei Raumtemperatur mehr oder weniger rasch disproportionieren: 3 A 1 2 X 4 - 2 D -> 2A1 + 4AlX 3 - D + 2D. Gemischtvalente Aluminiumsubhalogenide Die nach Erwärmen der Tieftemperaturkondensate von AlX in Toluol) Tetrahydrofuran (THF) auf Raumtemperatur erhältlichen dunkelrotbraunen Lösungen verwandeln sich bei Vorliegen von AlCl in Aluminium neben AlCl 3 • THF, bei Vorliegen von AlBr bzw. All ohne Aluminiumabscheidung u.a. in farbloses Al 5 Br 7 • 5 T H F sowie blassgelbes Al22Br20 • 12THF bzw. in farbloses A12I4 • 2 T H F (s. oben). Die Subhalogenide A12I4 • 2 T H F und Al 5 Br 7 • 5 T H F entstehen offensichtlich durch sukzessive Insertion von AlX • T H F in die AlX-Bindungen der Trihalogenide AlX 3 • THF, die sich im Zuge des Abschreckens des AlX/Toluol/THF-Gemischs durch AlX-Disproportionierung bilden. Hierbei erhält man im Sinne des nachfolgenden Formelschemas zunächst (e) (vgl. Al(II)-halogenide, oben), dann (l) (bisher Ga 3 I 5 • 3PEt 3 mit Ga anstelle von Al, vgl. S. 1194), des Weiteren (m) (bisher kein Verbindungsbeispiel) und schließlich - im Zuge der Insertion von AlX • T H F in die Al(THF)-Bindung von (n) - das Al-zentrierte, oberhalb von 100 °C zerfallende Halogenid Al 5 Br 7 • 5 T H F (n) (mittlere 0xidationsstufe von Ah +1.4). Letzteres liegt im Kristall in Form eines Salzes, gebildet durch Eigenionisation von (n), vor: 2Al 5 Br 7 • 5 T H F Al 5 Br 6 • 6THF+Al 5 Br 8 • 4 T H F ~ (dAlA1 ca. 2.54 Ä; vgl. 2PC15 PCl 4 + PCl,r). Das Galliumhalogenid Ga 5 Cl 7 • 5 0 E t 2 (S. 1194) unterliegt im Kristall keiner Eigenionisation, ebenso die aus AlCl und EC14 (E = Si, Ge) in Toluol/Ether erhältlichen, mit (n) isoelektronischen Verbindungen E(AlCl 2 • 0Et 2 ) 4 . D A
D I
+A1X-D
X^ I XX X
(D)X 2 A^ I V X X (e) Al2X4-2D
AlX3 • D
D
+A1X-D
Al | AlX 2 (D) X (l) Al3X5-3D
(D)X2 Ar
AlX(D)2 ,A1 (D)X 2 A1^ | AlX2 (D) AlX2 (D) (n) Al5X7 *5D
+A1X-D
THF I Al
AI (D)X 2 AK j AlX2 (D) AlX2 (D) (m) Al4X6 *4D
+A1X-D I (al = AlBr2 • THF) THF (o) Al22Br20'12THF
Das zentrale Strukturelement des bei Raumtemperatur labilen Halogenids Al22Br20 • 12THF (o) bildet ein (gestauchtes) Al12-Ikosaeder, wobei im Sinne der Formulierung Al 12 [AlBr 2 • THF] 1 0 • 2 T H F 10 der 12Al-Atome mit AlBr 2 • THF-Gruppen und 2Al-Atome mit THF-Molekülen verknüpft sind. Das aufgefundene Al 12 -Ikosaeder steht in Übereinstimmung mit den Wade'schen Regeln: die 1 0 x 2 (AlAlBr 2 ) + 2 x 3 (AITHF) = 26 = 2n + 2 Clusterelektronen sprechen für die Bildung eines Al12-Clusters vom closo-Typ (Ikosaeder). Für Al22Br20 • 12THF ergibt sich formal eine mittlere Al-0xidationsstufe von + 0.91, was eine Disproportionierung von 23 AlBrin Al22Br20 + AlBr 3 entspricht. Der Weg der Bildung von Al22Br20 • 12THF ist weniger einsichtig als der der Bildung von Al 5 Br 7 • 5 THF.
• 1156
XVI. Die Borgruppe („Triele")
2.4
Sauerstoffverbindungen des Aluminiums38-49
Überblick
Dem Siliciumtetrahydroxid Si(OH)4 (Kieselsäure), dem wasserärmeren Siliciumoxiddihydroxid SiO(OH)2 (Metakieselsäure) und dem noch wasserärmeren Siliciumdioxid Si0 2 (Kieselsäureanhydrid) entsprechen beim Aluminium, dem linken Periodennachbarn des Siliciums, das Aluminiumtrihydroxid Al(OH)3, das Aluminiumoxidhydroxid AlO(OH) und das Dialumi-
niumtrioxid A1203. Anders als die Sauerstoffverbindungen des vierwertigen Siliciums, bei denen nur der saure Charakter ausgeprägt ist (Bildung von Silicaten), verhalten sich die Sauerstoffverbindungen des dreiwertigen Aluminiums amphoter, wirken also sowohl sauer wie basisch (Bildung von Aluminaten und Aluminiumsalzen).
Außer Aluminium(III)-oxid A1 2 0 3 gibt es noch ein Aluminium(I)-oxid A1 2 0 (vgl. SiO) und ein Aluminium(II)-oxid AlO, die nur im gasförmigen Zustand bei sehr hohen Temperaturen stabil sind und beim Verdampfen von A1 2 0 3 oder durch Reduktion von A1 2 0 3 mit Al bei 1800 °C entstehen. Auch existieren Aluminiumoxidhalogenide AlOX, welche sich formal von AlO(OH) durch Ersatz von OH gegen Halogenid ableiten und u. a. gemäß 3 AlX 3 + A s 2 0 3 -> 3 AlOX + 2 A s X 3 bei höheren Temperaturen als farblose, hygroskopische (X = Cl, Br, I) Feststoffe gewonnen werden können, welche bei sehr hohen Temperaturen in AlX 3 und A1 2 0 3 dismutieren. In ihnen liegt AlOX zum Unterschied von den homologen Boroxidhalogeniden BOX (vgl. S. 1107) nicht trimer sondern polymer vor. Bezüglich der in einer Tieftemperaturmatrix haltbaren Aluminiumoxide A12O, AlO, Al(O 2 ) 3 sowie -halogenidoxide AlOX vgl. Anm. 5 0
Nachfolgend werden zunächst Aluminiumhydroxide und -oxide, anschließend Aluminate
und Aluminiumsalze sowie im Zusammenhang mit den Trihydroxiden einige Grundlagen der Olation und Oxolation näher besprochen. Bezüglich der Alumosilicate (Aluminosilicate) 51 vgl.
S. 958, 970.
Aluminiumhydroxide; Olation und Oxolation Aluminiumtrihydroxid Al(OH)3 kommt in der Natur kristallisiert als ,,Hydrargillit" (,,Gibb-
sit", y-Al(OH)3) und - verunreinigt mit AlO(OH), Eisenhydroxiden, Tonmineralen, Titandioxid - als ,,Bauxit" (S. 1137, 1159) vor. Als amphoteres Hydroxid löst sich Al(OH)3 sowohl in Säuren wie in Basen auf. In ersterem Falle entstehen ,,Aluminiumsalze" AI3 + , in letzterem
,,Aluminate" Al(OH)4 (Näheres s. weiter unten): Al(OH)3 + 3H ++ Al(OH) OH
OAlO = 43°), monomeres Aluminiumoxidfluorid AlOF sowie -chlorid AlOCl (lineare Moleküle 0=AI—X; 4u o/aif = 1.57/1.62 A, dAlojKca = 1.57/2.05Ä). Vgl. auch Aluminiumperoxidfluorid Al(O2)F und Aluminiumdihyperoxidfluorid Al(O2)2F, S. 1154. 51 Nomenklatur Silicate in denen Al3+-Ionen teilweise Si4+-Ionen ersetzen (Al3+ von 4 O-Atomen umgeben) bezeichnet man als,,Alumosilicate" (,,Aluminosilicate"), Silicate in denen Al3+-Kationen Silicat-Anionenladungen neutralisieren (Al3+ von 6O-Atomen umgeben) als „Aluminiumsilicate".
2. Das Aluminium
1157
(1) befindlichen Wasserstoff-Ionen) und bei Zugabe von Säuren zu Aluminatlösungen (Ab-
fangen der im Gleichgewicht (2) befindlichen Hydroxid-Ionen) als weißer Niederschlag aus (^ai(oh)3 = cap+ ' coh- = 1-9 x 10-»). Die Fällungsform ist dabei je nach Art der Fällung verschieden. Scheidet man Al(OH)3 aus Aluminatlösungen bei Raumtemperatur langsam (z. B. durch Einleiten von Kohlendioxid: 2OH~ + CO2 CO3^ + H2O) aus, so erhält man monoklines y-Aluminiumtrihydroxid y-Al(OH)3 (,,Hydrargillit", ,,Gibbsit"; AH{ = —1282 kJ/
mol) von deutlich kristalliner Beschaffenheit, während bei schneller Fällung zunächst eine metastabile
Modifikation,
das hexagonale a-Aluminiumtrihydroxid ot-Al(OH)3 (,,Bayerit",
AH{ = —1277 kJ/mol), auftritt, die sich von selbst allmählich in die energieärmere Form des Hydrargillits umwandelt. Bei der Fällung aus Aluminiumsalzlösungen (z.B. mit Ammoniak: H+ + NH3 NH4 ) entstehen zunächst amorphe Aluminiumhydroxide von wechselndem Wassergehalt, die langsam - schneller in der Wärme - auf dem Wege über a-Al(OH)3 in y-Al(OH)3 übergehen. Das gefällte Aluminiumhydroxid hat wie die kondensierte Kieselsäure S i 0 2 • aq und Zinnsäure SnO2 • aq in frischem Zustande (als amorphes Hydroxid Al(OH) 3 • x H 2 0 = A1 2 0 3 • aq) andere Eigenschaften als im,,gealterten" Zustande (als kristallisiertes Hydroxid Al(OH) 3 ). So wird letzteres viel schwerer von Säuren und Basen angegriffen als ersteres. Der Grund dafür ist einerseits die Verkleinerung der Oberfläche (vgl. S. 1430), andererseits der Abbau instabiler Fehlstellen des amorphen Netzwerkes bei der Kristallisation (vgl. S. 1764). Strukturen Kristallisiertes Al(OH) 3 besitzt eine Schichtstruktur, bei der jedes Al-Atom oktaedrisch von sechs OH-Gruppen umgeben ist und jede OH-Gruppe gleichzeitig zwei Al-Atomen angehört. Somit liegen kantenverknüpfte Al(OH) 6 -Oktaeder vor. Die a-Al(OH) 3 -Struktur lässt sich auch wie folgt beschreiben: In einer hexagonal-dichtesten Packung von OH~-Ionen ist jede übernächste Schicht zu § mit AI 3 + -Ionen besetzt (vgl. Bil 3 -Struktur auf S. 833; anstelle B i 3 + und r : A l 3 + und O H " ) . Die y-Al(OH) 3 Struktur baut sich aus entsprechenden Schichten kantenverknüpfter Al(OH) 6 -Oktaeder auf; die Schichten liegen aber nicht wie in a-Al(OH) 3 so übereinander, dass die OH-Gruppen einer Schicht in den Mulden, sondern über den OH-Gruppen der nächsten Schicht liegen (zwischen den Schichten befinden sich in o:-Al(OH)3 demgemäß oktaedrische, in y-Al(OH) 3 trigonal-prismatische Lücken). Die vom Aluminiumtrihydroxid Al(OH) 3 abgeleiteten, dem Borsäureester B(OR) 3 entsprechenden Aluminiumtrialkoholate (Aluminiumalkoxide) Al(OR) 3 sind zum Unterschied von den monomeren BorVerbindungen dimer (a), trimer (b), tetramer (c) oder polymer (z.B. Al(OEt) 3 ); auch im acac-Komplex (d) ist das zentrale Al-Atom wie in (c) oktaedrisch von 6 O-Atomen umgeben. RO
\
RO \ A1 RO7
R ,0
OR \ / ^-Al \ ^ OR
R
RO RO
(a) z.B. [Al(O<Bu)3]2
x R
A
A AR O
OR OR
RO RO
/
R
AT!
Al- OR R O' 1R I AI ! :
0-- r OR
iT
I , O^l
Me ,o-c AI' T!H o=c
Me
» A I — OR R
(b) z.B. [Al(OiPr)3]3
OR (c) z.B. [Al(OPr)3]4
(d) [Al(acac)3]
Die Aluminiumtrialkoholate werden in Wasser leicht gemäß Al(OR) 3 + 3 H 2 0 Al(OH) 3 + 3 ROH hydrolysiert und bilden mit Alkoholaten M O R Addukte M[Al(OR) 4 ], deren Anionen [Al(OR) 4 ]- wasserbeständiger sind und bei raumerfüllenden Gruppen R wie iBu = C(CH 3 ) 3 hydrolysebeständig werden sowie nur noch geringe Basizität aufweisen. Das nach Ersatz der H-Atome in [A1{OC(CH 3 ) 3 } 4 ]- durch F-Atome hervorgehende Anion [A1{OC(CF 3 ) 3 } 4 ]- zählt wegen seiner besonders geringen Basizität zu den Spezies, die dem Ideal eines nichtkoordinierenden Anions schon sehr nahe kommen, und es ließen sich mit ihm eine Reihe extrem acider Kationen sowie Addukte dieser Kationen mit schwachen Donoren stabilisieren (Näheres S. 256). Verwendung Technisch wird ,,Aluminiumhydroxid" Al(OH) 3 in großem Umfange nach dem Bayer-Prozess aus Bauxit gewonnen (S. 1138, Weltjahresproduktion: 50 Megatonnenmaßstab) und hauptsächlich in a-Aluminiumoxid sowie untergeordnet in andere Aluminium-Verbindungen (z.B. AlF 3 , Na 3 AlF 6 , AlCl 3 , NaAlO 2 ) verwandelt Feinteilige Aluminiumhydroxide lassen sich durch spezielle Fällungs- und Impfverfahren nach dem Bayer-Prozess erzeugen. Sie werden als Flammschutzmittel und Füllstoff in Teppichbodenbelägen, Kunst- und Schaumstoffen, ferner als Beizmittel in der Textilindustrie, als Bestandteil
• 1158
XVI. Die Borgruppe („Triele")
in Zahnputzmitteln, Papieren, Keramik, Schleifmitteln, Kosmetika, Schweißverhütungsmitteln, als Trägermaterial für Enzyme und als Ausgangsmaterial für Aktivtonerden genutzt. „Aluminiumalkoholate" Al(OR) 3 verwendet man in der organischen Chemie zur Reduktion von Aldehyden und Ketonen zu Alkoholen (Al(OCHMe 2 ) 3 + 3 O = C R 2 Al(OCHR 2 ) 3 + 3 O = C M e 2 ) und in der Lackindustrie u. a. zur Viskositätserhöhung und Runzelbildungsverminderung von Lacken.
Amphoterer Charakter von Al(OH)3. Löst man das Aluminiumsalz AlX 3 einer starken Säure
(Aluminiumhalogenid, -sulfat, -perchlorat) in Wasser, so bildet sich gemäß: AlX3 + 6H 2 0 -> Al(H2O)6+ + 3 X das oktaedrisch gebaute Hexaaquaaluminium-Ion [Al(H2O)6]3+ (in Form von Salzen [Al(H2O)6]X3 isolierbar), das als schwache Kationsäure (pKs = 4.97) wirkt (etwa vergleichbar stark wie Essigsäure): [Al(H2O)6]3+ ^ [Al(OH)(H 2 O) 5 ] 2+ +H + . Als Folge der Säurewirkung von Al(H2O)3 + unterliegen Aluminiumsalze schwacher Säuren (Aluminiumsulfid, -carbonat, -cyanid, -acetat usw.) der Hydrolyse. Bei sehr kleiner Konzentration (ca. 10~5 molar) lässt sich die Kationsäure [Al(H2O)6]3 + durch Zugabe von Alkali auf dem Wege [A1(H20)6]3+
pH < 6
^
+H
[Alg3y2+
3-7
^
+H
[A1JSS 2 )J + ^
+H
4-8
[AIJSSU ^
+H
5-9
+H >6
[AI®)]2-
groß
^
+H
[Al(OH) 6 ] 3
sehr groß
[Al(OH)6]3_
sukzessive bis zum stark basisch wirkenden Hexahydroxoaluminat deprotonieren (die pH-Angaben beziehen sich auf 10-5-molare Lösungen). Hierbei wirken die zwischen den Endgliedern [Al(H2O)6]3+ und [Al(OH)6]3~ liegenden Ionen amphoter. Aus den verdünnten [Al(OH)3(H2O)3]--Lösungen fällt Al(OH)3 im pH-Bereich 5-9 trotz seiner hohen Unlöslichkeit nicht aus, da die [Al(OH)3^-Bildung gehemmt ist. Konzentrieren der Lösung oder Impfen mit Al(OH)3-Kristallen fördert die Niederschlagsbildung. Bei höherer Konzentration des Aluminiumsalzes (ca. 0.1-molar) ist die Kationsäure [Al(H2O)6]3+ nur bei pH-Werten < 3 in Wasser stabil. Bei pH-Werten 3-4 bildet sich über [Al(OH)(H2O)5]2+ unter Wasserabspaltung ein - in Salzen wie [A12(OH)2(H2O)8](SO4)2 • 2H2O vorkommendem zweikerniges Komplexkation [(H2O)4Al(/z-OH)2Al(OH2)4]4+. Seine Konzentration bleibt aber klein, da es auf dem Wege über das Kation [A13(OH)4(H2O)9]5+ schließlich in das Kation [A113C)4(OH)24(H2O)12]7+ übergeht, welches in einer 0.1-molaren Aluminiumsalzlösung bei pH-Werten 4-8 praktisch ausschließlich vorliegt und in Form des Salzes Na3[Al13C>4(OH)24(H2O)12](SO4)5 gefällt werden kann. In den Kationen [Al(H 2 O) 6 ]3 + , [A1 2 (OH) 2 (H 2 O) 8 ] 4 + und [A1 3 (OH) 4 (H 2 O) 9 ]5 + weisen alle AI3 + Ionen, im Kation [ A l ^ O ^ O H ^ ^ H O ^ 2 ] 7 + alle bis auf ein vierzähliges AI3 + -Ion die Koordinationszahl 6 auf: die Aluminium-Ionen sind oktaedrisch von sechs (bzw. in einem Falle tetraedrisch von vier) Sauerstoffatomen umgeben. Zeichnet man infolgedessen für jede AlO 6 -Gruppierung ein Oktaeder (für die AlO 4 -Gruppierung ein Tetraeder), so lässt sich der Aufbau der erwähnten Ionen durch die in Fig. 245 wiedergegebenen Bilder veranschaulichen, in welchen jede freie Oktaederecke ein H 2 O-Molekül, jede mehreren Oktaedern gemeinsame Ecke eine OH-Gruppe und jede drei Okta- und einem Tetraeder gemeinsame Ecke ein O-Atom bedeuten. Hiernach bildet das [ A l ^ O ^ O H ^ ^ H O ^ 2 ^ + -Ion einen Käfig der Zusammensetzung [ A l ^ O ^ O H ^ ^ H O ^ 2 ] 4 + , in dessen Mitte ein tetraedrisch von Sauerstoff koordiniertes AI 3+ -Ion sitzt. Letzteres Kation stellt ein Beispiel der „Keggin-Ionen" dar, welche sowohl als Kationen als auch Anionen existieren (vgl. S. 1597). Sie unterscheiden sich bei gleicher Zusammensetzung (13 Metallatome) in der gegenseitigen Orientierung der drei Oktaeder innerhalb der vier aus drei Oktaedern bestehenden Untereinheiten und werden als a-, /?-, y-, ö- und e-Ionen bezeichnet. [A113C)4(OH)24(H2O)12]7+ entsteht in der a-Form aus Al(OH) 3 /H 4 Si0 4 unter hydrothermalen Bedingungen bei 300 0 C, in der e-Form durch Hydrolyse einer wässerigen AlCl 3 -Lösung mit NaOH bei 95 0 C. Erwärmt man letztere Lösung längere Zeit auf 127 0 C, so bildet sich das Kation [A130C)8(OH)56(H2O)24]18+, das sich als Sulfat fällen lässt und aus zwei 1) mit Ketten, Ringen und Käfigen (Clustern) miteinander verknüpfter Al-Atome. Von technischer und praktischer Bedeutung ist insbesondere die im Falle der Li- und Mg-Organyle weniger ausgeprägte - Neigung der Aluminiumorganyle, sich bereitwillig an Alkene und Alkine unter Hydro- sowie Carbaluminierung anzulagern. Auch könnten sie als kostengünstige Reduktions- und Alkylierungsmittel Li- und Mg-Organyle zunehmend verdrängen. Von Interesse ist des weiteren ihr Einsatz als Vorstufen in der Produktion von Halbleitern und Spezialkera miken Nachfolgend werden zunächst die Aluminiumtriorganyle sowie ihre Derivate, dann Aluminiummonoorganyle sowie ihre Derivate und schließlich Oligoaluminiumorganyle (höhere Organylalane) behandelt.
Aluminiumtriorganyle und Derivate Darstellung Man gewinnt die aluminiumorganischen Verbindungen analog den siliciumorganischen (S. 986) hauptsächlich nach drei Methoden oxidative Addition von Organylhalogeniden an Aluminium („Direktverfahren"), nucleophile Substitution von Al-gebundenem Halogenid durch Organylanionen („Metathese") und Insertion von Alkenen bzw. Alkinen in AlH-Bindungen von Organylalanen („Hydroaluminierung"), des weiteren gelegentlich durch Einwirkung von Quecksilberorganylen auf Aluminium („Ummetallierung"): 2A1 + 3 RHal
Direktverfahren
• RAlHal2/R2AlHal
Hydroaluminierung
^Al—H + ^ C = ( X
2AlR 3 + AI + 3NaCl (R = Me, Et). Somit erhält man AlR 3 nach diesem ,,Prozess der Firma Hüls" summarisch gemäß: Al + 3RCl + 3Na
AlR 3 + 3NaCl.
Methylenchlorid lässt sich mit Al sogar zu einem Dialanylderivat CH2(AlCl2)2 des Methans umsetzen. (ii) Das zur ,,Hydroaluminierung benötigte Diorganylalan R 2 AlH gewinnt man technisch aus Aluminium (aktiviert durch Zulegieren von 0.01-2 % Ti), Wasserstoff und Aluminiumtriorganylen bei 80-160 °C sowie 100-200bar und setzt es anschließend bei 80-110°C sowie 1 - 1 0 b a r mit Alkenen zu AlR 3 um, z.B. Al + §H 2 + 2AlEt 3 ^ 3 Et2AlH; 3Et 2 AlH + 3CH 2 =CH 2 ^ 3AlEt 3 (Vermehrung des eingesetzten Triorganyls um 50%). Somit erhält man nach diesem ,,Ziegler-Prozess" summarisch gemäß: AI + §H 2 + 3 Alken
AlR 3 .
Aluminiumtriorganyle (Alken z. B. Ethen CH 2 =CH 2 , Propen CH 2 =CHMe, i'-Buten C ^ C M , ) . Zu Reaktionsbeginn muss nur eine kleine Menge des zu synthetisierenden Aluminiumtriorganyls vorhanden sein (iii) Da Alkene in der Reihe CH 2 =CR 2 , CH 2 =CHR, CH 2 =CH 2 zunehmend schwerer durch Dehydroaluminierung freigesetzt und leichter durch Hydroaluminierung aufgenommen werden, lassen sich ;'-Butylgruppen in Ah'Bu3 auf dem Wege einer Dehydro- und Hydroaluminierung durch andere Organylgruppen austauschen. Diese summarisch gemäß: Al;Bu3 + 3 C H 2 = C H R
Al(CH2CH2R)3 + 3CH 2 =CMe 2
ablaufende ,,Alkenverdrängung" dient hauptsächlich zur Herstellung von Aluminiumtriorganylen mit längeren Organylketten Wegen der kommerziellen Verfügbarkeit der Aluminiumtriorganyle beschränkt sich deren Erzeugung in Laboratorien auf Spezialprodukte. Sie erfolgt im Wesentlichen durch Metathese oder Ummetallierung. Beispielsweise lässt sich die im Direktverfahren aus CH2C12 und Al erhältliche Verbindung CH2(AlCl2)2 (s. o.) durch Chlorid/Organyl-Austausch in CH2(AlClMe)2 oder CH2(AlR2)2 umwandeln (Einwirkung von AlMe3 bzw. LiR = LiCH(SiMe3)2). Auch konnte durch Ummetallierung gemäß 2A1 + 3Hg(SiMe3)2 -> Al(SiMe3)3 + 3Hg erstmals ein Aluminiumtrisilyl gewonnen werden.
2. Das Aluminium
1169»
Aus der Reihe der Derivate R„AlX 3 _„ (X = H, Hal, OR, NR 2 usw.) der Aluminiumtriorganyle AlR 3 gewinnt man die Hydride R„AM 3 _„ ebenfalls nach dem Ziegler-Prozess (s. oben; Umsetzung von Al mit Alkenen im Molverhältnis 1: 2), die Halogenide R B AlHal 3 _ B durch Direktsynthese (s. oben). Die Hydride bilden sich auch aus AlR 3 durch Dehydroaluminierung (s. oben und unten), die Halogenide sowie zudem die Alkoxide R „ A l ( O R ) 3 _ d i e Amide R„Al(NR2)3_„ und andere Derivate aus AlR 3 durch Protolyse mit HX = HHal, HOR, H N R usw. (s. unten): Al
HX
Protolyse
R 2 AlX + RH; R 2 AlX + HX
Protolyse
RAlX 2 + RH.
Eigenschaften Die Aluminiumorganyle R„AlX3_n stellen farblose, flüchtige bis hochschmelzende Feststoffe dar (vgl. Tab. 104). Die Verbindungen AlR 3 , R 2 AlH und RAlH 2 sind hochreaktiv. Sie entflammen an der Luft spontan (kurze R-Gruppen) oder nach Erwärmen reagieren mit Wasser heftig bis explosiv und attackieren Lösungsmittel mit Ausnahme von gesättigten und aromatischen Kohlenwasserstoffen (der Kontakt mit CHC13 oder CC14 kann zu Explosionen führen). Deutlich weniger reaktiv verhalten sich die Derivate R„AlX 3 _„ mit X = Hal, OR, N R usw. Nachfolgend sei auf Strukturen und einige charakteristische chemische Reaktionen sowie Verwendung der Aluminiumtriorganyle und ihrer Derivate eingegangen Tab. 104
Kenndaten einiger organischer Aluminiumverbindungen R n AlX 3 _n (X = R, H, Hal, OR, N R ) .
RAlX 3 _, Smp. [°C] AlMe3 AlEt3 AhBu3 AlPh3 AlCp3 AM iBu2
15 -58 -6 237 60 -80
Sdp. [°C] a) 8 [g/cm3] 127 194 38 (0.6) 114 (1)
0.743 0.835 0.781 0.789
»»>
2 2C> 1"
R ,AlX
3 _,
Me2AlCl MeAlCl2 Et 2 AlOMe 2 Et 2 AlOEt 2 Et 2 AlNH 2 3d, Et 2 AlNMe 2
Smp [° - 45 72.7 4.5 -57 6
Sdp [° 126 97 74 (4) 109 (10)
g/cm
»»>
0.996
2 2 3 2 3 2
0.909 0.850
66 (0.2)
a) In Klammern Druck in mbar b) Assoziationsgrad von R„AK3_„ in Kohlenwasserstoffen c) In Gasphase monomer, d) In Gasphase dimer. Strukturen Aluminiumtriorganyle AlR 3 tendieren - anders als Bor-, Gallium- und Indiumtriorganyle zur Dimerisierung über zwei AlRAl-Brückenbindungen falls R nicht allzu sperrig ist (vgl. Tab. 104). So liegt etwa AlMe 3 in fester und gelöster Phase (Kohlenwasserstoffe) dimer vor und dissoziiert erst in der Gaspahse bei höheren Temperaturen 82.9 kJ + (AlMe 3 ) 2 ^ 2AlMe 3 . AlPh3 ist im Festzustand dimer, in Lösung und in der Gasphase monomer, AlMes 3 bereits im Festzustand monomer (trigonal-planares AlC 3 -Gerüst; die Mesitylgruppen 2,4,6-Me 3 C 6 H 2 umgeben Al propellerartig). In analoger Weise bilden auch Di- und Monoorganylalane R 2 AlH und RAlH 2 Dimere bzw. Oligomere, wobei Wasserstoff wie im polymeren AlH3 die Brückenstellungen einnimmt. Z.B. ist reines flüssiges Me 2 AlH oligomer und in der Lösung (Kohlenwasserstoffe) bzw. Gasphase dimer, reines flüssiges ;'Bu2AlH trimer und in der Gasphase dimer Dimer oder trimer mit AlXAl-Brücken treten auch die Derivate Al und RAlX 2 der Aluminiumtriorganyle auf (X = Hal, OR', NR 2 usw.; vgl. die Formelbilder (g) und (h) sowie AlX 3 ). Die Brückenbildungstendenz sinkt hierbei für X in der Reihe R 2 N > R'O > Cl > Br > R C = C > Ph > Me > Et > ;'Bu > ;'Pr > «Bu und mit wachsender Raumerfüllung von R (RJAlCl mit R * = SkBu 3 ist selbst im Kristall monomer). Der AlXAl-Bindungsmechanismus lässt sich vereinfachend so beschreiben, dass sp3-Hybridorbitale der an der Brücke beteiligten Al-Atome (jedes Al steuert ein sp-Orbital bei) mit einem oder zwei Orbitalen
RCX (a) [AlMes]2
(b) AlCAl-Brücke
(c) AlXAl-Brücke
(d) [R2AlC2R]2
• 1170
XVI. Die Borgruppe („Triele")
des Brückenliganden wechselwirken (Drei- oder Zweizentren-Zweielektronen-Bindung). Die Brückenmethylgruppe in (AlMe3)2 (a) betätigt etwa ein sp3-Hybridorbital (b) und der Brückenwasserstoff in (R2AlH)3 ein s-Orbital (vgl. Diboran, S. 1055), während die Brückengruppen X = Hal, OR', NR 2 in (R 2 AlX) 23 zwei (7-Molekülorbitale (c) und die Brückenalkinylgruppe in (R 2 AlC=CR) 2 (d) ein spcr-Hybridorbital sowie ein re-Molekülorbital zur Brückenbindung beisteuern. Der Bindungsmechanismus der Brückenphenylgruppe in (AlPh3)2 (Ph-Ebene senkrecht zur AlAl-Achse ausgerichtet) liegt zwischen den Extremen (b) und (c). Dehydro-, Hydro-Carbaluminierung. Triorganylalane A ^ 3 unterliegen vergleichsweise leicht einer ,,Dehydroaluminierung": —CR—CHR2 —H + C R 2 = C R 2 (s. weiter oben), und zwar zerfallen Verbindungen AI—CH 2 —CHR 2 ab etwa 80 °C, VerbindungenAI—CH 2 —CH 2 R ab ca.120 °C. Umgekehrt lassen sich Di- oder Monoorganylalane R 2 AlH oder RAlH2 - ähnlich wie A H , (S. 1147) - durch „Hydroaluminierung" an Alkene anlagern. Die Additionen verlaufen stereoselektiv (cis) und mehr oder weniger regioselektiv (anti-Markownikov, S. 1069), sind aber weniger chemoselektiv als Hydroborierungen (neben CC- werden auch CY-Mehrfachbindungen angegriffen). Vgl. hierzu Darstellung von AlR 3 (iii) und bezüglich der Nutzung von Al das Nachfolgende Eine weitere charakteristische Reaktion der Aluminiumtriorganyle Al stellt die Einschiebung von Alkenen bzw. Alkinen in AlC-Bindungen dar („Carbaluminierung",,,Aufbaureaktion" von K. Ziegler)5S. Durch sukzessive Insertion von Ethylen lassen sich etwa gemä ^
"AI—Et + n CH 2 =CH 2
Carbaluminierung {Aufbaureaktion)
^
^
^Al—(CH2—CH2)„—Et
bei 110°C und 100 bar Al-gebundene Organylgruppen mit bis zu 200 C-Atomen synthetisieren. Begrenzend wirkt hierbei die Konkurrenz zwischen Carbaluminierung und Dehydroaluminierung (die Carba luminierung ist nicht reversibel). Die aus den Carbaluminierungsprodukten durch Verdrängung mit Ethylen bei 200-300°C erhältlichen langkettigen 1-Alkene CH 2 =CH—(CH 2 CH 2 ) n—l —Et oder durch Reaktion mit Sauerstoff und Wasser auf dem Wege über Alkoholate —O—(CH2CH2)„—Et zugänglichen unverzweigten Alkohole HO—(CH 2 CH 2 ) n —Et sind von technischem Interesse (die Alkohole mit « um 12 stellen wichtige Vorstufen für biologisch abbaubare Tenside HO 3 S—O—(CH 2 CH 2 ) n —Et dar). 1-Alkene CH CHR werden anders als CH CH nur einmal in die AlC-Bindung eingeschoben und dann bereits durch C H 2 = C H R verdrängt. Demgemäß erhält man nach —Pr + 2CH 2 =CHMe -> —CH—CHMe—Pr + CH 2 =CHMe ^Al—Pr+ CH 2 =CMe—Pr das Propendimere (,,katalytische Alkendimerisierung"; z. B. zur technischen Darstellung von Isopren CH 2 =CMe—CH=CH 2 als Crackprodukt des Propendimeren; „Good Year-SD-Verfahren"). Man nimmt bezüglich des Mechanismus der Carbaluminierung an (Analoges gilt für die Hydroalu minierung), dass zunächst Alken-rc-Addukte der Aluminiumtriorganyle (e) gebildet werden, die sich in die Produkte (f) umlagern (man beobachtet stereospezifische cis-Addition und regiospezifische Addition von Al an die weniger substituierten ungesättigten C-Atome). Für die Existenz der zwischenzeitlichen Bildung von Addukten spricht die Struktur der auf S.1154, Formel (g), behandelten Verbindung ClAl(Me CMe mit -gebundenem Alken CHR
+ "AI—R
CHR
Carbaluminierung Hydroaluminierung
Dehydroaluminierung (R
H)
j
^Al—R (e)
^
CHR
^
^
(R = H, Organyl)
"Al R (f)
Kleine Mengen AlEt3 ermöglichen in Gegenwart geeigneter Übergangsmetallverbindungen wie TiCl4 („Ziegler-Natta-Katalysatoren", vgl. S. 1532) auch eine weitergehende Polymerisation von Olefinen wie Ethen oder Propen in Lösung bei niedrigen Temperaturen und Drücken (,,Ziegler-Natta-Niederdruckverfahren")5g.
Reaktion mit Elektronendonoren Addukte Ähnlich wie der Aluminiumwasserstoff addieren auch Aluminiumtriorganyle Elektronendonoren D zu tetraedrisch gebauten Addukten AlR 3 • D (,,at-Komplexe"), die in der Reihenfolge D = Me2Te < Me2Se < Me 2 0 < AsMe3 < PMe3 < NMe3 < R zunehmend stabiler werden. So bilden sich mit Organylanionen R gemäß AlR 3 + LiR -> LiAlR 4 kohlenwasserstofflösliche Tetraorganylalanate [AlR 4 ]- (reines LiAlEt4 weist polymeren Bau auf: • • • Li(^— Et)2 Al(^— Et)2 Li(^— Et)2 • • •), die auch nach 3Na + 4AlR 3 3 NaAlR 4 + Al (R z.B. Et) zugänglich sind (vgl. hierzu die zu Al2;'Bu;;~ führende Reaktion von Ah'Bu3 mit K). An Fluorid kann sich AlR 3 sogar zweimal unter Bildung von Komplexen [R 3 A1—F—AR 3 ]~ mit linearer AlFAl-Brücke (isoelektronisch mit SiOSi) anlagern. Die Adduktbildungsstabilität von AlR 3 hängt naturgemäß nicht nur von der Lewis-Basizität des Donors, sondern auch von der - die Lewis-Acidität von A R , bestimmenden
2. Das Aluminium
1171»
- Elektronegativität der Reste R ab: Al(C 6 F 5 ) 3 ist acider als Al(C6H5)3 und bildet sogar mit Toluol einen re-Komplex; das C6F5~-Addukt [Al(C 6 F 5 ) 4 ]- zählt zu den schwach koordiniernden Anionen (S.256). Substitutionsreaktionen Im Falle protonenaktiver Donoren D = X H schließt sich der Adduktbildung mit AlR 3 - gegebenenfalls bei erhöhter Temperatur - eine Eliminierung eines Moleküls Kohlenwasserstoff an, wodurch Substitutionsprodukte R 2 AlX der Aluminiumtriorganyle entstehen, die ihrerseits wieder mit X H reagieren können (vgl. auch Darstellung von R ^ A l X ^ ) : ± :XH R3Al
XH
± :XH R3Al — XH
- RH
R2Al — X
R,Al
RAlX 2 .
- RH
X
Die Substitution der zweiten (bzw. dritten) R-Gruppe durch X erfolgt hierbei schwerer als die der ersten; auch wickelt sich der R/X-Ersatz in Richtung X H HalH, ROH, NH zunehmend langsamer ab (Me 3 AlNH 3 ist anders als Me 3 AlOH 2 bei Raumtemperatur isolierbar). U. a. entstehen mit Halogenwassersto dimere Halogenide AlHal (g), mit dem Pseudohalogenwassersto HCN tetrameres AlCN (i) (enthält lineare AlCNAl-Anordnungen), mit Alkoholen R'OH dimere oder trimere Alkoholate R 2 AlOR' (g, h), mit Ammoniak N H oder Aminen R'NH 2 /R 2 NH dimere oder trimere Amide R 2 AlNR 2 (g, h) (die Trimeren sind meist sesselförmig - selten planar - gebaut). Raumerfüllende Reste können gegebenenfalls die Oligomerisierung verhindern: so bildet etwa Al(NMe 2 ) 3 Dimere, Al{N(SiMe 3 ) 2 } 3 Monomere. Von Interesse ist des weiteren das nach patentierten Vorschriften durch vorsichtige Hydrolyse mit A12(SO4)3 • 10H 2 O aus (AlMe 3 ) 2 gewinnbare, hochkomplexe Gemisch von Methylalumoxanen (MAO), das als Cokatalysator mit Cp 2 ZrCl 2 (oder entsprechenden Metallocenylhalogeniden) in Anwesenheit von Alkenen den Alkene hervorragend polymerisierenden Katalysator C ZrM liefert (Struktur des Gegenions unbekannt). \/ -
/
AI / \
\
/ AI
X
/
\
.AI,
'
-Al—X—AlX
X
I /
I
AI
X
I
(h) [R 2 AlX]3
X'
"
(z.B. [MeAlNDip]3, Dip = 2,6-i PrC6H6) (j) [RAlY]3
(z.B. [Me2AlF]4; [Me2AlCN]4) (i) [R2AlX]4
(z.B. [Me2AlH]3; [Et2AlOMe]3; [Me2AlNH2]3; [Me2AlNMe2]3) I AU
/
I /AI ^X
J AI
^
- A I — X — AlI I
(z.B. [Ph2AlH]2; [Me2AlCl]2; [Et2AlOEt]2; [Et2AlNMe2]2) (g) [R2AlX]2
II AI
x
-AI \ X.
X \ AI
/
AI I
(z.B. [Mes*AlO]4 Mes* = 2,4,6-fBu3C6H2) (k) [RAlY]4
(z.B. [tBu3SiAlO]4; (C 5 Me 5 AlSe] 4 [C5Me5AlTe]4; [HAlN;'Pr]4; [MeAlN;Pr]4; [PhAlNPh]4) (l) [RAlY]4 • =AIR O = NR E = P, As
(z.B. [tBuAlO]6; [HAlNPr]6; [HAlN'Pr]6; [MeAlN;'Pr]6; [MeAlNPh]6; [HAlESi;Pr3]6) (m) [RAlY]6
(z.B. [MeAlNMe]7 (n) [RAlY]7
(z.B. [HAlNPr]8, [MeAlNMe]8) (o) [RAlY]s
Setzt man Donoren D = YH 2 (z. B. Amine RNH 2 ) mit A ^ 3 um, so können unter Bildung von [RAlY]„ zwei Moleküle Kohlenwasserstoff abgespalten werden, wobei der Oligomerisierungsgrad n von RAlY (2-16) von der Sperrigkeit der mit Al- bzw. mit Y verbundenen Reste sowie auch von den Darstellungs-
• 1172
XVI. Die Borgruppe („Triele")
bedingungen für RAlY abhängt. Von besonderem Interesse ist hierbei eine trimere Verbindung, das borazinhomologe Alazin-Derivat [MeAlNDip] 3 („Alazol"; Dip = 2,6-;'Pr2C6H3) der Konstitution (j), das als farblose, wasser- und luftempfindliche Substanz beim Erhitzen von AlMe3 und DipNH2 auf 170 °C entsteht (bei 110°C bildet sich zunächst [Me 2 AlNHDip] 2 ). Das Alazin weist einen planaren sechsgliederigen A13N3-Ring, gleichlange kurze AlN-Bindungen (1.78 Ä) auf, besitzt aber keinen aromatischen Charakter. Erwähnt seien des weiteren die tetrameren Derivate (l), denen eine Kubanstruktur zukommt, die man etwa auch bei den isoelektronischen Berylliumalkoholaten [RBeOR] 4 (S. 1224), des Weiteren bei Thalliumalkoholaten [TlOR] 4 (S. 1196) bzw. Platinhalogeniden [R 3 PtCl] 4 (S.1741) oder dem Lithiummethyl [LiMe] 4 (S. 1266) findet. Auffallenderweise liegt [Mes*AlO] 4 als Folge der raumerfüllenden Supermesitylgruppen 2,4,6-iBu 3 C 6 H 2 keine Kubanstruktur zugrunde; statt dessen bildet A1404 einen fast planaren achtgliederigen Ring (k). Bezüglich der Struktur einiger hexa-, hepta- und oktameren RAlYVerbindungen vgl. (m), (n) und (o). Iminoalandimere [RAlNR] 2 lassen sich mit sehr raumerfüllenden Gruppen R verifizieren Monomere R A 1 = Y sind nur in Form von Donoraddukten bekannt (S. 1274), aber wohl mit sehr raumbeanspruchenden Resten R auch als solche zugänglich. Sind Donoren ungesättigt, so erfolgt nach Addition Organylwanderung, z.B.: AlR 3 + R C = N -> A CR A CR (dimer), sodass es insgesamt zu einer Insertion der ungesättigten Grup pierung (hier N = C R ) in eine AlC-Bindung kommt. Die oben besprochene Carbaluminierung ist ein Spezialfall dieses Reaktionstyps. Die Addition von CH2(AlClMe)2 (Gewinnung s. o.) an Ketone führt nach diesem - zweimal hintereinander ablaufenden - Mechanismus im Sinne der Summengleichung R 2 C = 0 + CH2(AlClMe)2 (in Et2O) R 2 C=CH 2 + O(AlClMe)2 zum Austausch des Ketosauerstoffs gegen eine Methylengruppe (,,Carbonylolefinierung"; vgl. Wittig-Reaktion, S.821). Reaktion mit Elektronenakzeptoren. Addukte Analog AlH3 addieren auch dessen organische Verbindungen AlR 3 Elektronenakzeptoren A zu Addukten AlR 3 • A mit tetraedrischem Aluminium. Die Dimerisierung von Aluminiumtriorganylen beruht etwa auf einem derartigen Mechanismus. Die hierbei gebildeten Verbindungen (AlR3)2 stellen allerdings keine starren, sondern nicht starre (fluktuierende) Moleküle dar, deren exo- und brückenständige Organylgruppen durch reversible Spaltung einer oder beider Brückenbindungen intra- bzw. intermolekular rasch ausgetauscht werden. R
R
R
R
R
R
\ / \ / Al AI / \ / \
^ ^
R
R
R
R
R
R
\ / \ / Al AI / \ \
^ ^
R
R
R
R
R
R
\ \ / AI + AI / \ \
Demgemäß bildet sich beim Zusammengeben von A R , und AlR 3 augenblicklich ein Gemisch aus AlR 3 , R 2 AlR', RAlR 2 und AlR 3 ; auch lassen sich gemischte Aluminiumtriorganyle unter Normalbedingungen nicht in reiner Form isolieren (Ausnahme z. B. CH2(AlR2)2 mit den sperrigen Resten R = CH(SiMe3)2). Substitutionsprodukte Mischt man AlR 3 mit Metallhalogeniden oder -alkoxiden M X wie BX 3 , AlX 3 , GaX 3 , GeX 4 , SnX 4 , ZnX 2 , so erhält man auf dem Wege einer Addition der Elektronenpaarakzeptoren und Spaltung des gebildeten Addukts organische Verbindungen der betreffenden Metalle sowie Substitutionsprodukte der Aluminiumtriorganyle Al
MX
Al
MX
Verwendung. Aluminiumtriethyl (Weltjahresproduktion: Kilotonnenmaßstab) dient in Kombination mit Übergangsmetallverbindungen wie TiCl4 bzw. teilhydrolysiertem Aluminiumtrimethyl und Metallocenylhalogeniden wie Cp2ZrCl2 als Katalysator für die Olefinpolymerisation (s. o.). AlEt3 verwendet man auch als Zwischenprodukt zur Herstellung langkettiger Alkoholate (s. o.). Die Verbindungen Ah'Bu3 und ;'Bu2AlH werden als selektive Reduktionsmittel für SnCl4 genutzt (Bildung zinnorganischer Verbindungen).
Aluminummonoorganyle und Derivate Aluminylene AlR („Alandiyle"; R = Organyl) existieren wie andere monomere Aluminium(I)-Verbindungen AlX (X = Hal, OR', NR 2 usw.) in der Regel nur als reaktive Spezies (Singulett-Grundzustand; AI besitzt in :A1—R vier Außenelektronen). Die Al(I)-Verbindungen (a) lassen sich gegebenenfalls bei hohen Temperaturen in der Gasphase oder bei niedrigen Temperaturen in einer Inertgasmatrix isolieren und neigen zur Disproportionierung in metallisches und dreiwertiges Aluminium. U. a. erfolgt hierbei wohl zunächst auf dem Wege einer Dimerisierung unter Bildung von ,,Dialenen" (,,Dialuminenen") R A l = A l R (b) (sechs Al-Außenelektronen) eine Tetramerisierung unter Bildung von Tetrahedranen (c), in welchen den AlAtomen jeweils acht Außenelektronen zukommen (bzgl. des Bindungsmechanismus in (c) s.u.; die Dimerisierung von AlX erfolgt - anders als die von AlR - über AlXAl-Brücken, vgl. S. 1154):
2. Das Aluminium
4 :AlR
2 R A l = AlR
(a) AlR
(b) Al 2 R 2
^
/
1173»
R AI
\
RAl^— —AlR AI R (c) Al 4 R 4
Eine Verschiebung des Gleichgewichts (a) t> (b) t> (c) auf die Seite der Aluminylene bewirken insbesondere (raumerfüllende) Reste R, welche wie der Elektronendonor Cp* = C 5 Me 5 zusätzlich durch Elektronenrückgabe den Elektronenmangel der Alandiyle (a) lindern. Tatsächlich bildet das aus AlHal und MgCp* in Et 2 0/Toluol zugängliche (AlCp*) 4 in Lösung ,,Pentamethylcyclopentadienylaluminylen" Al(f/5Cp*) (d) in kleiner - mit zunehmender Temperatur wachsender - Gleichgewichtskonzentration. In der Gasphase liegt ausschließlich monomeres Al(f/5-Cp*) mit C5v-Symmetrie vor (rfAlc = 2.39 Ä; die Koordination des 6rc-Elektronendonors C5Me5~ an :A1+ liefert dem Aluminium formal ein Elektronenoktett). Aluminylen AlR mit dem weniger raumerfüllenden Rest Cp = C 5 H 5 liegt bei — 80°C als Tetramer (c) vor, das infolge der geringen Raumerfüllung von Cp bereits ab ca. — 60°C unter Al-Abscheidung disproportioniert, während die Spezies AlR mit den raumerfüllenderen Resten C 5 (CH 2 Ph) 5 bzw. C 5 H 2 (SiMe3)3 in Lösung monomer sind. AlR mit dem - zwar überladenen, aber nicht zur Elektronenrückgabe befähigten - Rest SkBu 3 bildet ein stabiles Tetrahedran A14R* ohne Neigung zur Dissoziation in Monomere. Entsprechendes gilt offensichtlich für das - aus sterischen Gründen nicht unter Bildung von (c) dimerisierende - Dialen Ar'Al=AlAr' (Ar' = 2,6-Dip 2 C 6 H 3 ; Dip = 2,6-;'Pr2C6H3).
(Sb)
(d) AlCp*
(e) Cp*AlBR3
(f) Cp*Al6P4
(g) Cp|Al3Z2
(h) (Cp*Al)4Ni (i) Cp*Al(C4H6)
Die Al(I)-Verbindung :AlCp* wirkt als Lewis-basisches und nucleophiles Aluminylen, das sich gegenüber Metallen des d-Blocks wie CO oder P R verhält und reduzierend wirkt. So wird AlCp* durch Addition an die Lewis-Säure B(C 6 F 5 ) 3 stabilisiert (Bildung von (e)), greift P4 nucleophil unter PP-Bindungsspaltung an (Bildung der Al(III)-Verbindung (f)), liefert mit Ni(1,5-Cyclooctadien) 2 (S. 1838) einen analog Ni(C0) 4 gebauten Ni(0)-Komplex (h) und addiert 2,3-Dimethylbutadien (Bildung der Al(III)-Verbindung (i)). Auffallenderweise reagieren Arsen und Antimon mit AlCp* zu den closo-Clustern (g) ( 2 x 3 (E) + 3 x 2 (AlCp*) = 12 = 2n + 2 Clusterelektronen; S. 1060) und nicht zu deren Dimeren (f) (als As- und Sb-Lieferanten setzt man die Cycloverbindungen (ECMe 3 ) 4 ein, die formal in 4E und 4CMe 3 (-> 2 C H 2 = C M e 2 + 2HCMe 3 ) zerfallen). Alanylkationen, -radikale, -anionen AlR^'' /_ . Die (formale) Addition von Organylkationen an das freie Elektronenpaar von :AlR führt zu instabilen Alanylkationen AlR^, welche auch durch Dehalogenidierung von R 2 AlX (X = Halogen) zugänglich sein sollten (Oxidationsstufe von Al in AlR^: + 3), die (formale) Addition von Organylradikalen bzw. -anionen an :AlR zu instabilen Alanylradikalen AlR 2 bzw. -anionen :AlR2~, deren Dimerisierungsprodukte R 2 A1—AR 2 bzw. R 2 A l = A l R 2 ~ darstellen (erstere sind bei raumerfüllendem R isolierbar (S. 1175), letztere bisher wenig untersucht; Oxidationsstufe von Al in Al /Al 2 1): +i :AÄ
+ R+
+3 — • AlR+
R * ) in das schwarzgrüne, ebenfalls bei Raumtemperatur metastabile Cyclotrialanyl-Radikal RJAlj (Al 3 -Ring mit zwei längeren Schenkeln (ca. 2.76 Ä) und einer kürzeren Basis (2.70 Ä); das Al-Atom an der Spitze der durch 5 Elektronen verknüpften 3 Al-Atome trägt 2 R*-Gruppen).
R* 4
V /
R*
R* 50°C
2
/
R*
R* —a /
\
J R*
R* AI
R* 0 ^ -R*2
2
/
R*
AI—R*
-i
0 0
^
- R2AI-
,
/ . \
R AI
, AlR*
Durch Reduktion mit Alkalimetallen in MeOCH 2 CH 2 OMe (DME) oder M j N C ^ C ^ N M , (TMEDA) lassen sich A 2 D s ^ bzw. Al 2 Tip 4 - aber nicht A 2 R * - in die dunkelblauen, extrem luftempfindlichen Dialan-Radikalanionen AlR 2 ]~ mit kurzer, für eine Ordnung von 1.5 sprechenden AlAl-Bindungslängen von 2.53 bzw. 2.47 Ä überführen (die Reduktion von Al 2 Tip 4 ist mit einer Planarisierung des R 2 AlAlR 2 -Gerüsts verbunden; diese ist im Falle von A12R4 sterisch unmöglich). Die weitere Reduktion der Radikalanionen sowie die Reduktion von A12R* führt offensichtlich zum reaktiven Alanyl-Anion R2A1~ (aus K(DME) 2 + Al 2 Dsi 4 ~ mit K erzeugtes Dsi 2 AP schiebt sich in die OMe-Bindung von D M E ein; aus A12R4 und K erzeugtes R * A P lässt sich mit Ph 3 CH zu R*AlH protonieren). Ein Dialan-Dianion [R 2 Al=AlR 2 ] 2 ~ ist wohl als Folge seiner Tendenz zur ,,Coulomb-Explosion" (S.256) schwer zugänglich und bisher unbekannt (vgl. aber [R 3 A1—AlR 3 ] 2 ", S.1170).
• 1176
XVI. Die Borgruppe („Triele")
Aluminium(I)-Organyle und Derivate Die Darstellung der luftempfindlichen, in nachfolgender Zusammenstellung aufgeführten tetrahedro-Tetraalane (AlR) 4 = A14R4 (/>: « i n Al^R^, = 1), deren Al-Atome gemäß (x) die Ecken eines regulären Tetraeders einnehmen, erfolgt (i) durch Metathese von AlX (X = Cl, Br, I) in Et 2 0/Toluol mit LiTsi, NaHsi, NaR*, MgCp*, (ii) durch Enthalogenierung von TsiAlI 2 bzw. Cp*AlCl 2 in T H F mit K oder (iii) durch Thermolyse von A12R* (gleichzeitige Bildung von R*Alj; s. o.). Al
R = C(SiMe3)3 (Tsi)
R A I — — AlR Ai^ (x) R
Si(SiMe3)3 (Hsi)
Si(Bu3 (R*)
;75-C5Me5 Ol5-Cp*)
violett
violett
gelb
orangefarben
dAlAl 2.739Ä A E ( 4 A l R ^ A14R4)
2.602Ä « — 650 kJ/mol
2.604Ä « — 650 kJ/mol
A Y
2.769Ä sa —160 kJ/mol
II
^AIL—AlR
" AT
(x.^
In A14R4 ist jedes Al-Atom an einer AI—R-Zweizentren- und an drei AlAlAl-Dreizentren-zweielektronenbindungen beteiligt (Elektronenpaare über den Flächenmitten), sodass jedem Al-Atom ein Elektronenoktett zukommt (in der Formel x' sind die 3z2e-Bindungen durch gestrichelte Dreiecke symbolisiert; die Formel x gibt demgegenüber nur die Konnektivitäten wieder). Wie aus der Zusammenstellung hervorgeht, liegen die AlAl-Abstände in Al4Hsi4 sowie A14R* im Bereich von Einfachbindungen (ber. 2.60 Ä). Die größeren Abstände in Al 4 Tsi 4 beruhen offensichtlich auf der vergleichsweise hohen Sperrigkeit der Tsi-Reste, die größeren Abstände in Al 4 Cp* auf der Elektronenrückkoordination seitens der ^-gebundenen Cp*-Reste. Mit wachsender AlAl-Bindungslänge hellt sich die Farbe der Verbindungen auf und erniedrigt sich die zur Spaltung von A14R4 in 4 AlR-Einheiten aufzuwendende Energie. Während demgemäß A14R* (kurze AlAl-Abstände) bis 180 °C metastabil ist, liegt Al4Cp4* (lange AlAl-Abstände) in Lösung teilweise und in der Gasphase vollständig in AlCp* dissoziiert vor, wobei das gebildete Aluminylen AlCp* die Reaktivität des Tetrahedrans bestimmt (bezüglich einiger Reaktionsprodukte vgl. Formeln (e), (f), (h), (i) auf S. 1173). Allen Tetrahedranen ist die hohe Oxidationsempfindlichkeit gemeinsam: So bilden etwa die Chalkogene Heterocubane R4A14Y4 (Y = O, S, Se, Te; vgl. Formel l auf S. 1171). Die Enthalogenierung des sterisch hoch-überladenen Alans Ar'AlI 2 mit KC 8 in E t 2 0 führt auf dem Wege über Ar'IAl—AllAr' (s. o.) zum Dialen („_Dialumen")(AlAr')2 = Al2Ar2 (p: « i n A l ^ = 1), das sich allerdings bisher nicht als solches (y), sondern nur in Form seines [2 + 4]-Cycloaddukts (z) mit Toluol bzw. [2 + 2]-Cycloaddukts (z') mit Bis(trimethylsilyl)acetylen isolieren ließ (letztere Addukte weisen kurze AlAl-Bindungen von 2.58 Ä bzw. 2.49Ä auf):
2Ar'AlI2
+4KC8 -4KI,-Graphit
(Ar' = 2,6-Dip2C6H3, Dip = 2,6-iPr2C6H3)
Ar' A l = AI
V
(y) Al2Ar2
bzw. Me 3 SiC=CSiMe 3 (z) Al 2 Ar 2 (C 7 H 8 )
'3 (z') Al2Ar2C2(SiMe3)2
0ffensichtlich bleibt hier eine Dimerisierung von A A zum Tetrahedran A A aus sterischen Gründen versagt. Das Dialen Ar'Al=AlAr' enthält nach ab initio Berechnungen ein trans-abgewinkeltes planares CAlAlC-Gerüst mit kurzem, für eine Doppelbindung sprechendem AlAl-Abstand und ist hinsichtlich einer Spaltung in Aluminylene A R ' vergleichsweise stabil (anders als im Falle von AlCp* erfährt AlAr' durch die Al-gebundene Gruppe keine elektronische Stabilisierung; vgl. hierzu die Stabilität von A14R* hinsichtlich einer Spaltung in AlR*). Im Zusammenhang mit den Al(I)-0rganylen sei noch erwähnt, dass AlCl und LkBu in Et 2 0/Toluol eine Verbindung liefert, die sich durch K/Na zu [ A l 6 i B u r e d u z i e r e n lässt, und dass die Enthalogenierung von ;'Bu2AlCl mit K in Hexan dunkelrotes [Al12;'Bu12]2~ liefert. Ersterem Anion kommen fast, letzterem exakt (2n + 2) Gerüstelektronen zu, sodass gemäß den Wade'schen Regeln closo-Strukturen vorliegen (Oktaeder, Ikosaeder; vgl. B ^ " , B12H?2", S.1084). Aluminium( < I)-Organyle und Derivate Darstellung Die luftempfindlichen aluminiumreichen Verbindungrn AlnRp (n > p), deren Al^-Cluster durch eine Hülle von Bis(trimethylsilyl)amino-Gruppen R = N(SiMe 3 ) 2 (Bsa) geschützt sind, entstehen beim langsamen Zutropfen von LiBsa in Hexan zu unterschiedlichwarmen Et 2 0/Toluol-Lösungen von AlX. Und zwar bildet sich aus AlCl bei — 7 °C A^Bsa^, bei 25°C Al 12 Bsa~, bei 60°C A 69 Bsa?^ und aus AlI bei 25°C Al 14 I 6 Bsa 2 ~, bei 60°C Al77Bsa20~. Tropft man andererseits MgCp* in Heptan zu einer auf — 78 °C gekühlten Lösung von AlBr in THF/Toluol (anstelle von Et 2 0/Toluol) und belässt das Reaktionsgemisch 24h bei — 30°C, so bildet sich nicht ausschließlich Al4(?/5-Cp*)4 (s. o.), sondern auch Al50(f/5-Cp*)12 in hoher Ausbeute. Die Strukturen der zentralen Al„-Cluster von Al,Bsa^ (zwei Al4-Tetraeder mit gemeinsamem Al-Atom), von Al12Bsa8~ (zwei miteinander mehrfach verknüpfte, einseitig geöffnete Al 6 -0ktaeder) und von Al 14 I 6 Bsaj~ (zweifach-überkapptes hexagonales Antiprisma) sind in Fig. 246a, b, und c veranschaulicht. Die Al„-Cluster der Spezies mit 50, 69 und 77 Al-Atomen sind gemäß Fig.246d, e und f - anders als
2. Das Aluminium
1177»
• =A1 O = AlR ® = All (a) Al7Bsa6
(b) Ali2Bsa8-
(d') Al8-Zentrum von (d)
(c) Ali4l6Bsa6"
(d'') C 120 -Hülle von (d)
(d) A\ 5 0 Cfi 2
(e) Al69Bsa 18
(e') Al12-Zentrum von (d)
(f) Al77Bsa|0
( f ) Al12-Zentrum von (f)
Fig.246 Strukturen von Al7Bsa6" (a), Al12Bsa8" (b), A 1 J 6 B s ^ (c), Al50CpF2 (d), Al69Bsa18" (e) und Al77Bsa20~ (f), des weiteren der Bau der Al8- und A 13 -Zentren (d'), (e'), ( f ) der Cluster (d), (e), (f) sowie der C120-Hülle (d") des Clusters (d) (die N(SiMe 3 ) 2 - (Bsa-) Gruppen der Cluster (a), (b), (c), (e), (f) sind übersichtlichkeitshalber nicht wiedergegeben, jedoch die C 5 Me 5 - (Cp*)-Gruppen des Clusters (d)). die mit 7, 12 und 14 Al-Atomen - nicht mehr ein-, sondern mehrschalig aufgebaut. Und zwar weist Al50CpF2 ein zentrales A 8 -Antiprisma auf (1. Schale Fig.246d'), das von 30 Al-Atomen in Form eines Ikosidodekaeders mit 12 Fünfecks- und 20 Dreiecksflächen umgeben ist (2. Schale), wobei jede Fünfecksfläche von einer (Al-?/5-Cp*)-Einheit überdacht wird; die Al-Atome dieser 3. Schale bilden ihrerseits ein reguläres Ikosaeder (Fig. 2 4 6 f ohne Al-Zentrum), die 60 Methylgruppen der 12 planaren Cp*-Reste eine Oberflächentopologie (d"), die an ein verzerrtes C 60 -Fulleren (S. 871) erinnert. Die mittleren AI—AlAbstände nehmen hierbei von Schale zu Schale zu (Al8/Al8, Al 8 /A 30 , A 3 0 /A 3 0 , A 3 0 /A 1 2 , A 1 2 /A 1 2 : mittlere Abstände 2.664/2.809/2.765/2.867/3.859 Ä). Die 1. Schale der Cluster Al69Bsa?8" bzw. Al77Bsa20" besteht aus einem Al-zentrierten zweifach-überkappten pentagonalen Prisma bzw.Antiprisma = Ikosaeder (vgl. Fig. 246e' bzw. f sowie dunkle Schraffur in Fig. 246e bzw. f), die 2. Schale aus 38 bzw. 44 Al-Atomen (vgl. helle Schraffur in Fig. 246e bzw. f) und die 3. Schale aus 18 bzw. 20 AlBsa-Gruppen. Im Gegensatz zu A 5 0 Cpf 2 nehmen hier die AI—Al-Abstände nach außen hin ab. Erwähnt sei noch eine durch Reaktion von AlCl mit SiCpf bzw. von SiCl4 und Al 4 Cpf hervorgehende Clusterverbindung SiAl14Cp£, in welcher die quadratischen Flächen eines Si-zentrierten A 8 -Würfels durch Al(rj5-Cp*)-Gruppen überkappt vorliegen. Carbaalane leiten sich formal von Hydridoalanaten (noch unbekannt) durch isoelektronischen Ersatz einiger negativ-geladenen Al- gegen ungeladene C-Atome ab. Im Unterschied zu den homologen Carbaboranen CmBnH^ (S. 1090), welche vielfach nur ein oder zwei C-Atome enthalten, ist in den Carbaalanen C^Al^H^ das Verhältnis m\n vergleichsweise groß; auch existieren letztere Spezies nur in Form von Derivaten, in welchen einige oder alle H-Atome durch andere Gruppen substituiert sind. Die Darstellung der meist farblosen, gelegentlich auch farbigen, mehr oder weniger luftempfindlichen und thermostabilen Carbaalane erfolgt in der Regel durch Hydroaluminierung von Diorganylalanylalkinen A mit Diorganylalanen R 2 AlH (und anderen Alanen) bei gleichzeitiger Eliminierung von Triorganylalanen AlR 3 , z.B.: 5Me 2 Al—C=C—Me
+ 1 1 M e
2
A l H
}
— 8 AlMe3
(AlMe)8(CR')5H CH2Me,
und
4Me 2 Al—C=C—Me
OT2Ph)
+
1 Q M e
2
A l H
,
— 7 AlMe3
(AlMe)7(CR')4H2. (( = C ^ M e )
• 1178
(a)
XVI. Die Borgruppe („Triele")
[(AlMe)8(CR')SH]
(a')
(b) [(ALH)6(AlNR3)2(CR')6]
(c) [(AlMe)7(CR')4H2]
Fig. 247 Strukturen von (AlMe) 8 (CR') 5 H mit R' = CH2Me/CH2Ph (a, a'), von (AlH) 6 (AlNMe 3 ) 2 (CR') 6 mit R' = CH2Ph/CH2SiMe3 (b) und von (AlMe) 6 (CR') 4 H 2 mit R' = C ^ M ^ c ) .
Fig.247 veranschaulicht Strukturen einiger Carbaalane in schematischer und den Bau von (AlMe) s (CR')sH (R' = CH 2 Me, CH 2 Ph) in realistischer Weise. In letzteren Verbindungen (Fig. 247 a, a') sind die Al-Atome an den Ecken eines verzerrten Würfels lokalisiert, dessen sechs Flächen durch fünf C R Gruppen und ein H-Atom überkappt werden (rfAlC/AlA1 = um 2.08/um 2.70 Ä; ber. für Einfachbindungen: 2.07/2.60 Ä). Der Al8C5-Elektronenmangelcluster weist 7 x 2 (AlMe) + 1 x 1 (AlHMe) + 5 x 3 (CR') = 30 = 2n + 4 Clusterelektronen auf, sodass ihm gemäß der Wade-Mingo'schen Regeln (S. 1060) eine «Mo-Struktur zukommen sollte, d. h. eine Struktur, die sich von einem closo-Polyeder mit 14 Ecken (zweifach-überkapptes hexagonales Antiprisma; vgl. S. 1085), abzüglich einer Ecke, ableitet. Das Experiment bestätigt die Vorhersage (vgl. Fig.247a': eine der schraffierten Prismenflächen weist 5 statt 6 Atome auf). Man kennt auch Derivate, in welchen das H-Atom in (AlMe) 8 (CR')H gegen einen Alkinylrest C = C R (R = Me, Ph) ersetzt vorliegt (dem Al8C6-Cluster k o m m e ^ x 2 (AlMe) + 5 x 3 (CR') + 1 x 1 ( C = C R ) = 32 = 2n + 4 Clusterelektronen, also «Mo-Struktur zu, d. h. eine Struktur, die sich von einem gekappten closo-Polyeder mit 15-Ecken (dreifach-überkapptes hexagonales Antiprisma, vgl. S.1085) ableitet). Der Al7C4-Cluster des Carbaalans (AlMe) 7 (CR')il 2 (Fig.247c) besitzt 5 x 2 (AlMe)+ 2 x 1 (AlHMe) + 4 x 3 (CR') = 24 = 2n + 2 Clusterelektronen, womit er eine closo-Struktur (Oktadekaeder; S.1058) aufweist. Das Experiment bestätigt wieder die Vorhersage. Die Struktur des Carbaalans (AlH) 6 (AlNMe 3 ) 2 (CR') 6 (Fig. 247b) lässt sich über die Wade-Mingos'sche Regeln weniger leicht deuten.
3 3.1
Das G a l l i u m , I n d i u m u n d T h a l l i u m 5 9 Die Elemente Gallium, Indium, Thallium^- 6 0 ' 6 1
3.1.1
Vorkommen
In der Natur findet sich Gallium nur in geringen Mengen stets vergesellschaftet mit Zink (namentlich in der Zinkblende mit bis zu 0 . 0 1 % Ga), Germanium (insbesondere in Germanit mit 0 . 1 - 1 % Ga) oder Aluminium (z. B. im Bauxit mit 0.003-0.01 % Ga). - Auch Indium kommt in der Natur selten - verge-
55
Literatur. K. Wade, A.J. Banister: ,,Aluminium, Gallium, Indium and Thallium", Comprehensive Inorg. Chem. 1 (1973) 993-1172; GMELIN: ,,Gallium", „Indium", „Thallium", Syst. N r 36, 37, 38; ULLMANN: ,,Gallium and Gallium Compounds", „Indium and Indium Compounds", „Thallium and Thallium Compounds", A12 (1989) 163-167, A14 (1989) 157-166, A26 (1994); COMPR. COORD. CHEM. I/II: „Gallium", „Indium", „Thallium" (vgl. Vorwort); A. Sheka, I.S. Chans, T.T. Mityurev: ,,Gallium", Elsevier, Amsterdam 1966; A.J. Carty, D.G. Tuck: ,,The Coordination Chemistry of Indium", Progr. Inorg. Chem 19 (1975) 243-337; A.G. Lee: „ The Chemistry of Thallium", Elsevier, Amsterdam 1971; A.J. Dows (Hrsg.): „Chemistry of Aluminium, Gallium, Indium and Thallium", Blackie Acad. and Professional, London 1993; J. D. Corbett: „Polyanionische Cluster und Netzwerke der frühen p-Metalle im Festkörper: jenseits der Zintl-Grenze", Angew. Chem 112 (2000) 682-704; Int. E d 39 (2000) 670; T.F. Fässler: „The role of non-bonding electron pairs in intermetallic Compounds", Chem. Soc. Rev 32 (2003) 80-86; J. Müller: ,,Azides of the heavier group 13 elements", Coord. Chem. Rev 235 (2002) 105-119; B. Neumüller, E. Iravani:,,Metalphosphanido and metal arsanido cage Compounds of Al, Ga, In", Coord. Chem. Rev 248 (2004) 817-834. Vgl. auch Anm. 63, 64, 67.
3. Das Gallium, Indium und Thallium
1179»
sellschaftet mit Zink - vor (angereichert in der Zinkblende). - Thallium, das weitestverteilte der Elemente Ga, In, Tl, findet sich in geringen Mengen in Form der Minerale ,,Avicennit" T1 2 0 3 , „Lorandit" TlAsS 2 ( = ,,T12S • A S 2 S 3 " ) , ,, Vrbait" TlAs 2 SbS 5 ( = ,,T12S • 2As 2 S 3 • Sb 2 S 3 ") sowie,,Crookerit" (Cu,Tl,Ag) 2 Seund vergesellschaftet mit Blei (z. B. in „Bleiglanz"), Rubidium (in Rb-haltigen Kaliummineralien), Zink (in „Zinkblende") sowie Eisen (in „Pyriten"). Isotope (vgl. auch Anh. III). Natürliches Gallium, Indium und Thallium besteht jeweils aus 2 Isotopen (homologes Aluminium ist ein Reinelement): ®Ga (60.1%), 31Ga (39.9%); ^ I n (4.3%), ^ I n (95.7%); 283Tl (29.5%),
2 0fTl 8
(70.5%),
die für NMR-Untersuchungen genutzt werden "9In ist radioaktiv: ß"-Strahler, T lß = 6 x 1014 Jahre). Die = 14.1 Stunkünstlichen Nuklide " G a (Elektroneneinfang t ^ = 70.1 Stunden), 71Ga (ß"-Strahler den), 111In (Elektroneneinfang t ^ = 2.01 Tage), " p n (metastabil = 100 Minuten) sowie 281Tl (ß~Strahler, = 3.01 Jahre) dienen in der Tracer-Technik 3?Ga sowie "^In zudem in der Medizin.
3.1.2
Darstellung
Die Darstellung von Gallium erfolgt in der Technik hauptsächlich als Nebenprodukt der Produktion von Zink (S. 1404). In den durch Aufschluss von Bauxit mit Natronlauge gewonnenen, von Fe(OH) 3 durch Filtration befreiten und dann von Al(OH) 3 durch „Ausrühren" abgereicherten Laugen des „BayerVerfahrens" verbleibt Gallium als NaGa(OH) 4 in angereicherter Menge. Letztere Laugen werden der Bauxit-Aufschlussnatronlauge solange immer wieder zugeführt, bis der Galliumgehalt der Laugen bis auf 100-125 ppm angewachsen ist. Dann erfolgt die Darstellung des Elements durch Elektrolyse der Lauge bei 4 0 - 6 0 ° C an rostfreien Eisenelektroden, wobei sich flüssiges Gallium am Gefäßboden ansammelt. Nach Waschen mit Salzsäure und Filtration durch poröse Keramiken fällt das Metall in 99.9-99.99%iger Reinheit an. Ultrareines Gallium für Halbleiter erhält man hieraus durch Vakuumdestillation, durch anodische Auflösung und kathodische Wiederabscheidung oder durch Zonenschmelzen. Die Produktion von Indium erfolgt in der Technik fast ausschließlich als Nebenprodukt der Fabrikation von Zink (S. 1404). Das in den hierbei gebildeten Schlacken oder Röstgaren vorliegende Indium wird nach Lösen in geeigneten Medien - u. a. durch Extraktion (z. B. mit Tributylphosphat) oder Fällung (z. B. als Phosphat) angereichert. Die Darstellung des Elements erfolgt dann durch Elektrolyse des Hydroxids oder geeigneter Salze. Die Gewinnung von Thallium erfolgt in der Technik aus den Röstgasen von Zn- und Pb-Sulfiden, welche Tl als T12O bzw. T12SO4 enthalten. Nach Auskochen der Gase mit verdünnter Schwefelsäure (->T1 2 SO 4 ) lässt sich Tl + durch Fällung als TlCl (gegebenenfalls nach Abtrennung von Pb 2 + als PbSO 4 ) isolieren. Reines Thallium kann dann nach Lösen von TlCl in Schwefelsäure durch Elektrolyse an PlatinGeschichtliches Entdeckt wurde Gallium im Jahre 1075 von Lecoq de Boisbaudran spektralanalytisch als Bestandteil einer bei Pierrefitte aufgefundenen Zinkblende (zwei neue violette Linien im Funkenspektrum). Im gleichen Jahre wurde es von ihm durch Elektrolyse des Hydroxids in alkalischer Lösung in elementarer Form gewonnen. Boisbaudran gab dem Element zu Ehren seines Vaterlandes Frankreich (lat. = Gallia) den Namen Gallium. Mit Gallium konnte erstmals eine von Mendelejev im Jahre 1069 getroffene Elementvorhersage („Eka-Aluminium") bestätigt werden. Auch ,,Scandium" („Eka-Bor"; gefunden 1079 von dem Schweden Nilson) und Germanium („Eka-Silicium"; gefunden 1006 von dem Deutschen Winkler) wurde von Mendelejev vorausgesagt (man bezeichnet die drei Elemente Ga, Sc und Ge wegen ihrer Benennung nach Nationen scherzhaft die,,patriotischen Elemente"). Auch Tc (Eka-Mn), Po (Eka-Te), Re (Dwi-Mn), Pa (Eka-Ta), Fr (Eka-Cs) gehören zu Mendelejevs vorausgesagten Elementen. - Das Element Indium, das 1063 als Bestandteil in einer Freiberger Zinkblende spektralanalytisch von F. Reich und Th. Richter entdeckt und durch Reduktion des Oxids mit Holzkohle in elementarer Form gewonnen wurde, hat seinen Namen von der indigoblauen Linie seines Flammenspektrums. - Die erstmalige Isolierung des von W. Crooks 1061 als Bestandteil im Bleikammerschlamm einer Schwefelsäurefabrik spektralanalytisch entdeckten Elements Thallium gelang C.-A. Lamy 1062 durch Elektrolyse des geschmolzenen Oxids. Das Element hat seinen Namen von der grünen Farbe, die seine Salze der Bunsenflamme geben: thallus (griech.) = grüner Zweig. Die grüne Spektrallinie spielt bei der Giftigkeit von Tl-Verbindungen61 in der Gerichtsmedizin (,, forensische" Chemie) und Giftkunde („Toxikologie") eine Rolle 61 Physiologisches Die Elemente Gallium und Indium (nicht essentiell für den Menschen) haben nach bisherigen Erkenntnissen keine schädigenden Wirkungen auf Mensch, Tiere und Pflanzen. - Thallium (nicht essentiell für den Menschen) und Thalliumverbindungen (Analoges gilt für den linken sowie rechten Periodennachbarn Hg sowie Pb und deren Verbindungen) sind für Menschen, Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen stark giftig (Gegenmittel beim Menschen u. a. Berliner Blau) und haben teratogene (säuglingsmissbildende) Wirkung. Bereits wenige mg Tl (MAKWert = 0.1 mg/rf, berechnet auf Tl) rufen beim Menschen schleichende Vergiftungen hervor, die zu Haarausfall, Hautveränderungen, grauem Star, Nervenschwund, Neuralgien, Psychosen und - bei größeren Dosen - zum Tod führen. Das im Organismus in Form von Tl(I)-Salzen vorliegende Thallium wird über Nieren und Darm langsam ausgeschieden (Aufenthaltshalbwertszeit ca. 14 Tage), falls es sich nicht an bestimmten Stellen abgelagert hat (Anreicherung in Haaren, Haut).
60
• 1180
XVI. Die Borgruppe („Triele")
oder rostfreien Eisenelektroden erhalten werden. Von gegebenenfalls beigemengtem Cadmium lässt sich Tl durch Herauslösen mit Quecksilber abtrennen.
3.1.3
Physikalische Eigenschaften und Strukturen
Gallium stellt ein silberweißes, hartes und sprödes Element dar, das kurz oberhalb Raumtemperatur bei 29.780°C schmilzt und bei 2403°C siedet. Es wird trotz seiner vergleichsweise hohen elektrischen Leitfähigkeit (5.77 x 1 0 4 ß ~ ' c m ~ ' ) aufgrund einer Reihe von Eigenschaften (z.B.Strukturen, Schmelzverhalten) zu den Halbmetallen gezählt. Beim Schmelzen erfolgt wie beim Silicium, Germanium, Antimon, Bismut und Wasser eine Volumenkontraktion (Dichte für festes/flüssiges Ga = 5.907/6.1 g/cm3). Gallium zeigt dabei eine große Tendenz zur Unterkühlung und kann demgemäß längere Zeit bei Raumtemperatur und darunter flüssig bleiben (s. u. bei Strukturen). Legierungen mit wenig Aluminiumgehalt sind infolge der Erniedrigung des Schmelzpunktes von Ga bei gewöhnlicher Temperatur flüssig. Indium ist ein silberweißes, bleiähnlich-weiches, beim Verbiegen wie Zinn „schreiendes" Metall (Smp. 156.61 °C, Sdp. 2070°C; Dichte 7.31 g/cm3). Thallium gleicht äußerlich (und zum Teil auch im chemischen Verhalten) seinem rechten Periodennachbarn, dem Blei: es ist weich und zäh, von bläulich-weißer Farbe, schmilzt bei 303.5°C (Blei: 327.4°C), siedet bei 1453 °C (Blei: 1751 °C), weist eine Dichte von 11.85 g/cm3 (Blei: 11.34 g/cm3) und wie dieses eine dichteste Metallatompackung mit vergleichsweise großen Metall-Metall-Abständen auf (Thallium: 3.40 Ä; Blei: 3.49 Ä; gemäß der MM-Abstände betätigt Tl - als Folge relativistischer Effekte (S. 340) nur ein Valenzelektron für Metallbindungen: Bildung von Tl + im Metallgitter). Strukturen Während die Borgruppenelemente Aluminium (kubisch-dichteste Metallatompackung: 5Ä), Indium (innenzentrierte tetragonale Metallatompackung dlnlu = 3.24Ä ( 4 x ) , 3.36 A
(a) Sicht auf Schichten A, D (b) Seitenansicht der Schichten A, B, C, D a -Gallium (orthorhombisch) (KZGA = 7)
Y-Gallium (orthorhomb., KZGa = 3, 6 - 9 )
S -Gallium (rhomboedr., KZGa = 6-10)
Gallium-II (tetragonal; KZGa = 8)
ß-Gallium (monoklin, KZGa = 8)
Gallium-III (innenzentriert-tetragonal; KZGa = 4+8)
Gallium-IV (kubisch dicht; KZGa = 1 2 )
Fig. 248 Ausschnitte aus den Strukturen von a-, ß-, y- und mjn> 1/4 (Zusammensetzung vielfach exakt oder ungefähr M 3 E, M 2 E, M 1 5 E, ME, ME 1 5 , ME 2 , ME 2 . 5 , ME 3 ; Trielide von Be sowie Aluminide von Na, K, Rb, Cs sind unbekannt). Darüber hinaus kennt man eine Reihe von Trieliden, in welchen mehrere Sorten von Kationen M + bzw. M + + (bzw. auch M + + + ) vorliegen und/oder in welchen einige Trielatome durch andere Elementatome ersetzt sind (s. unten). Die Bildungstendenz der Alkali- und Erdalkalimetalltrielide MmE„ geht wohl auf den Elektronenmangel der Triele E (Al, Ga, In, Tl, aber auch B) in der p-Außenschale zurück, der durch Elektronenübertragung von M auf die Triele mehr oder weniger behoben wird. Dabei müssen anionische Trielcluster oder -netzwerke naturgemäß mehr negative Ladungen tragen als typgleiche, isovalenzelektronische anionische Tetrelcluster oder -netzwerke (S.1007; z.B. Ge]~ -> GaJ"). Die Stabilisierung der resultierenden hohen negativen Ladungen erfordert „gute" Kristallstrukturen, in welchen die anionischen Trielcluster oder Trielnetzwerke zusammen mit den Gegenkationen bzw. Mischungen von Gegenkationonenen den zur Verfügung stehenden Raum effizient ausfüllen (Lösungen der Trielide MmE„ mit polyedrischen E„-Anionen in donorhaltigen Medien konnten wegen der hohen Ladungen der Anionen - anders als solche der Tetrelide - bisher nicht gewonnen werden; offensichtlich liegen aber in Schmelzen aus Alkalimetallen und Trielen Trielclusteranionen vor). Strukturen In den Trieliden MmE„ liegen die Trielatome teils isoliert vor (metallreiche Verbindungen), teils bilden sie kleinere bis größere Cluster oder Clusterverbände bzw. auch Ketten, Schichten oder Raumnetze Polyedrische Clusteranionen. Isoelektronisch mit den tetraedrisch gebauten Tetraclusteranionen Si 4 ~, Ge 4 ~, Sn 4 ~, Pb 4 ~ (S. 1007) sind die ebenfalls tetraedrisch strukturierten Trielclusteranionen E 4 " (a), die den M 2 E-Phasen Na 2 In und Na 2 Tl, darüber hinaus - neben anionisch geladenen E 3 -Ringen (vgl. hierzu B3~, S. 1133) - auch den M"E 7 - ( x M II E-)Phasen Sr8Al7, Sr 8 Ga 7 und Ba 8 Ga 7 zugrunde liegen. Clusteranionen E„ mit mehr als 4 Trielatomen (n > 4) weisen gemäß den Wade'schen Regeln closo-Strukturen auf, sofern (2n + 2) Clusterelektronen vorliegen (vgl. S. 1060). Da jedes Trielatom ein Elektron und der gesamte -Cluster somit Elektronen dem Cluster beisteuert (die zwei weiteren Elektronen der Triel atome bleiben als s-Elektronenpaare unberücksichtigt), kommen den betreffenden closo-Clustern jeweils (2n + 2 —n) = (n + 2) negative Ladungen zu. (Trielatetrahedrane benötigen - wie die Existenz von Verbindungen E 4 R 4 lehrt (S.1535, 1176) - nur 2« Clusterelektronen, doch sind Phasen M'E bzw. M II E 2 , die tetraedrisch gebaute Anionen E 4 " enthalten, bisher unbekannt; vgl hierzu anionische Trielatomnetz-
61 Einige strukturell charakterisierte Alkali- und Erdalkalimetalltrielide MmE„ (E = Al, Ga, In, Tl; Phasen, die nur thermoanalytisch nachgewiesen wurden, blieben unberücksichtigt). Aluminide: Li9Al4, Li3Al2, LiAl, LiAl3. -Mg17A112, Mg23Al30, Mg2Al3, MgAl2. - Ca8Al3, Ca13Al14, CaAl2, CaAl4. - Sr8Al7, Sr5Al9, SrAl2, SrAl4. - Ba4Al5, Ba7Al133, Ba3Al5, BaAl2, BaAl4. - Gallide: Li2Ga, Li3Ga2, Li5Ga4, LiGa, Li5Ga9, Li2Ga7. - Na22Ga39, Na7Ga13, NaGa 4 . K2Ga3, KGa 3 , Rb2Ga3, RbGa 3 , RbGa 7 . - CSjGa,,, CsGa3, CsGa7. - Mg5Ga2, Mg2Ga, MgGa, MgGa2, Mg2Ga5. - Ca8Ga3, Ca^Ga^, Ca5Ga3, Ca^Ga,, CaGa, CaGa2, CaGa2.4, CaGa4. - Sr8Ga7, SrGa2, SrGa4. - Ba8Ga7, Ba4Ga6 • BaH2, B a G j , BaGa4. - Indide: Li13In3, Li2In, Li3In2, Li5In4, LiI^^—Na2In, NaIn, Na^n^ 8 , Na 5 In 75 , Na 5 In 92 . - K^In^, K213In39.7, K17In41, KIn4. - Rb^n^, Rb2In3, RbIn 4 . - Cs^n^, Cs2In3, CsIn3. - Mg3In, Mg5In2, Mg2In, MgIn, MgIn3, x MgIn5. - Ca8In3, Ca2In, CaIn2. - Sr^In^, Sr5In3, Sr^In,, Sr3In5, SrIn, SrIn2, SrIn3, Sr3In11; SrIn4. - BaIn, BaIn2, BaIn4. - Thallide: Li22Tl5, Li3Tl, Li5Tl2, Li2Tl, LiTl. - Na6Tl, Na2Tl, NaTl, NaTl2. - K10T17, KTl, K J T I , , . - R b j T L , , , Rb15Tl27, Rb17Tl41. - C S T l , CSGTL,,, C S T 1 . - Mg5Tl2, Mg2Tl, MgTl. - Ca3Tl, CaTl, CaTl3. - Sr5Tl3H, SrTl, SrTl2. - BaTl2, BaTl3. 1 5
2 7
• 1184
XVI. Die Borgruppe („Triele")
werke). Trigonal-bipyramidales closo-Tlj" (b) findet sich in Na 2 K 21 Tl 19 (s. u.), oktaedrisches closo-Ga®" bzw. closo-Tl®" (c) in Ba 4 Ga 6 • BaH 2 (H~ zentrierter Tetraeder aus Ba 2 + -Ionen) bzw. Na 14 K 6 Tl 18 M (M = Mg, Zn, Cd, Hg; s. u.) und zweifach-überkapptes pentagonal-antiprismatisches closo-TlJ2~ in Na 3 K 8 Tl 13 s [ N a + ] 3 [ K + ] 8 [ T P ] [ T l 1 2 ] 1 4 p wobei in letzterer Zintl-Phase das TP-Gegenion das Tl12~-Polyeder zentriert, was zum TlJ3~-Cluster (k) führt (in Na 15 K 6 Tl 18 H liegen nebeneinander Na + -zentrierte T112"- und H + -zentrierte Tl^-Cluster, in der erwähnten Na 14 K 6 Tl 18 M-Phase M 2+ -zentrierte Tl14~-Cluster neben leeren -Clustern vor). Clusteranionen EJJ" mit zweifach-überkappt-quadratisch-antiprismatischer Struktur sind bisher unbekannt; doch finden sich entsprechend gebaute - wegen Elektronenmangels gestauchte - Cluster EJ0~ in K 8 E 10 Zn = [K + ] 8 [Zn 2 + ][E 1 0 ] 1 0 ~ (E = In, Tl), wobei das Zn 2+ -Gegenion die Polyeder zentriert, sodass also E 10 Zn s "-Cluster (i) resultieren. In ähnlicher Weise sind auch die in MT1 = M6T16 (M = K, Cs, Rb) bzw. in K10T17 vorliegenden oktaedrisch bzw. pentagonal-bipyramidal gebauten Cluster T l j " (d) bzw. T%~ (Q gestaucht, während das in La 3 In 5 aufzufindende quadratisch-pyramidale Clusteranion In®" (e) wegen seines Elektronenüberschusses nido-strukturiert ist (2n + 4 Clusterelektronen = entkapptes Oktaeder).
(a) E t (Na2In, Na2Tl)
(b) E7S(in N a ^ T l i , )
(d) E 6 i (KTl, RbTl)
(c) E f (Ba4Ga6-BaH2)
(e) E 9 f (La3In5)
]xZp
(f) E77(in K10TI7)
( g ) E9ST
(in Na2K2i Tli 9 )
(h) E 7 l (in C s 8 G a n , M 8 E n ; M = K, Rb, Cs, E = In, Tl)
E i „ Zn
(k) E 7|-
(KglnioZn, KgTlioZn)
(NasKgTliJ,
(i)
in Nai5K6Tli8H)
Die Strukturen der in Na 2 K 21 Tl 19 aufgefundenen Clusteranionen T l , " (g) bzw. der in den M 8 E U Phasen 62 (Cs 8 Ga u , K J n ^ , RbsI 11 «, Cs 8 In u , K T 1 1 , RbgTl^, C 8 T 1 1 ) aufgefundenen Clusteranionen E j f (h) sind weniger einsichtig. Das neben Tlj~ (s. o.) in Na 2 K 21 Tl 19 (s. o.) vorliegende Anion Tl 9 ~ leitet sich formal vom Anion Tl13~ (k) durch Entfernen von vier benachbarten T P -Ionen ab (z.B. rechts oben), wodurch das zuvor den Cluster zentriertende Tl-Atom freigelegt wird. E^" in M 8 E 11 resultiert formal aus closo-E(dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch) durch Überkappen der beiden Prismen-Dreiecksflächen mit T P unter - zur Anionenverzerrung führenden - Abgabe von zwei Elektronen. Tatsächlich gehören die paramagnetischen M 8 E 11 -Phasen im Sinne der Formulierung M 7 E 11 • M + • e~ zu den metallischen Salzen. Eine Bindung des überschüssigen Elektrons kann durch Ersatz eines Egegen ein isoelektronisches Hg-Atom erfolgen (H H ), das in der diamagnetischen Phase K 8 In 10 Hg eine trigonal-prismatische Position einnimmt, oder durch ein Halogenatom X = Cl, Br, I ( ^ X~), das in den diamagnetischen Phasen M 8 E 1 1 X einen Hohlraum zwischen den E^-Clusteranionen besetzt. Die Verbindung Cs 8 Tl 8 O (gewinnbar aus Cs, Tl, Cs2O bei 500 °C) enthält im Sinne der Formulierung [OCs 8 ] 6 + Tl 8 ~ zweifach mit Cs überkappte OCs 6 -Oktaeder sowie Clusteranionen Tljj" mit zweifachtrans-überkappten Tl 6 -Oktaedern (8(Tl) + 6(e~) = 14 = 2n — 2 Clusterelektronen; vgl. S. 1060). Verbände polyedrischer Trielclusteranionen. In einer Reihe von Phasen MmEn sind die Ep-Polyeder direkt oder über E-Atome bzw. E 2 -Gruppen zu zwei- oder dreidimensionalen Clusteranion-Verbänden verknüpft, deren Lücken durch die Kationen besetzt sind. So bilden closo-E -Ionen nach (formal oxidativer) Überführung in El "-Ionen Schichten miteinander über Ecken verbundener Oktaeder [E^P].,, welche etwa in den MjE 3 -Phasen62 Rb 2 Ga 3 , Rb 2 In 3 und Cs2In3 aufgefunden werden (vgl. hierzu die Raumstruktur von
3. Das Gallium, Indium und Thallium
1185»
[ B ^ ^ der Zintl-Phasen M B m i m = Ca, Sr, Ba; S. 1050). Des Weiteren findet man in der M^E,-Phase 62 Li 2 Ga 7 über Ga 2 verknüpfte Schichten miteinander verknüpfter Ga12-Ikosaeder, in den M'E-j-Phasen62 RbGa 7 , CsGa 7 über Ga zu Schichten verknüpfte Ga12-Ikosaeder sowie in den M'Ej-Phasen 62 NaGa 3 , KGa 3 , RbGa 3 , CsGa 3 , CsIn3 über E verknüpfte Schichten miteinander verknüpfter E 8 -Dodekaeder. Auch weisen die (« 2T1 + 3H 2 . Die Metastabilität der Elementwasserstoffe sinkt hiernach nicht nur innerhalb der „Thallium-Gruppe" in Richtung AlH3, GaH 3 , InH3, TlH 3 , sondern auch innerhalb der „Thallium-Periode" in Richtung PoH 2 , BiH3, PbH4, T H 3 drastisch. Triel(I)-hydride. Gallylen, Indylen und Thallylen EH (dGaH/InH/TlH = 1.663/1.845/1.870 k ; AHt (GaH/InH/ TlH) = + 239/ + 285/ + 322 kJ/mol) dimerisieren analog Aluminylen (S. 1146) zu ,,Ditrieldihydriden" (c) mit EHE-Brücken und nicht wie Borylen zu linearem, diradikalischem Diboren HB-J-BH (S. 1132). Bei Bestrahlung (X = 450 nm) lassen sich (GaH)2 sowie (InH)2 allerdings in energiereichere, nichtlineare und nichtradikalische ,,Ditrielene" H E = E H (d) überführen (Rückumwandlung durch Bestrahlung (X = 365 nm) möglich; bezüglich der Strukturverhältnisse vgl. auch Si2H4, S.934). Im Falle von (GaH)2 entsteht zudem Ga—GaH 2 mit ein- und dreiwertigem Gallium. Triel(II)-hydride. Gallyl, Indyl und Thallyl E H haben gewinkelten Bau ( ^ HGaH/HInH ca. 120°; ^GaH/InH — 1.61/1.81 Ä). Ihre Dimeren (EH2)2 sind wohl als Triel(I,III)-hydride E + EH4~ zu formulieren (Entsprechendes gilt für (AlH2)2, aber nicht für (BH2)2 = H 2 B—BH 2 , vgl. S.1132). Reaktion mit Donatoren Gallan (GaH3)„ bildet mit Elektronenpaardonoren ähnlich wie Boran (BH3)2 (S. 1066) oder Alan (AlH3)* (S. 1147) Addukte, und zwar der Zusammensetzung GaH3 • D (tetraedrischer Bau mit vergleichsweise flacher GaH3-Einheit) und GaH3 • 2D (trigonal-bipyramidaler Bau mit D in axialen Positionen). Die Addukte GaH3 • 2 D existieren allerdings nur bei tieferen Temperaturen. So entsteht etwa aus Gallan mit Trimethylamin bei — 95 °C das Addukt GaH3(NMe3)2, das bei — 20 °C unter Eliminierung von NMe3 in das thermostabile farblose Addukt GaH 3 (NMe 3 ) (Smp. 70.5 °C) übergeht. Anders als NMe3 reagiert Ammoniak mit Gallan analog Boran nicht unter symmetrischer, sondern asymetrischer Molekülspaltung, formal: Ga2H6 + 2NMe 3
2GaH 3 (NMe 3 );
Ga2H6 + 2NH 3 ^ [GaH 2 (NH 3 ) 2 ] + GaHT.
Analog NMe3 spalten andere (raumerfüllende) Donoren Gallan symmetrisch, wobei die Stabilität der Addukte GaH3 • D in der Reihenfolge D = H " > N M , , PMe3 > NPh3 > R 2 0 , R 2 S abnimmt. Die Darstellung von GaH3 • D kann hierbei durch Verdrängung von NMe3 in GaH 3 (NMe 3 ) gegen andere Donoren erfolgen (GaH 3 (NMe 3 ) + D GaH3 • D + N M , ; D z. B. Me2NH, P M „ Me2S). Hierbei wird benötigtes GaH 3 (NMe 3 ) zweckmäßigerweise nicht über (GaH3)„, sondern nach LiEH4+Me3NH+Cr
(E;0)
E = Ga, In
> EH 3 (NMe 3 ) + LiCl + H2
(3)
auf direktem Wege aus LiGaH 4 und NMe3 • HCl in Et 2 0 erzeugt. Gemäß Gl. (3) lässt sich auch InH3(NMe3) als oberhalb von — 30 °C zerfallendes Addukt des in Substanz sehr thermolabilen Indans (InH3)* (s. o.) gewinnen und durch Donoraustausch in InH3 • D sowie InH3 • 2D umwandeln (Bau analog der Gallan-Addukte; bzgl. EH4~ s. u.). So bilden sich etwa bei Einwirkung von Tricyclohexylphosphan PCy3 die farbigen, luftstabilen Addukte InH3(PCy3) bzw. InH3(PCy3)2, die in fester Phase bei + 50°C bzw. + 37°C zerfallen, aberin Lösung bei Raumtemperatur instabil sind (rfAlH/GaH/InH in EH3(PCy3) = 1.53/ 1.48/1.68Ä). Das aus dem stabilen Carben \—(Mes)N~CH=CH—N(Mes)—]C: (S.997) und InH3(NMe3) zugängliche Addukt (e) ist in fester Phase bis 115°C beständig und zerfällt in siedendem Toluol (111 °C) erst in ca. 2.5 h vollständig. Die Gewinnung eines entsprechenden Thallan-Addukts TlH3 • D mit Tl anstelle von In in (e) erscheint deshalb aussichtsreich. Ist an das Zentrum der Donoren Wasserstoff gebunden (D = XH), so können primär mit GaH3 gebildete Addukte unter Abspaltung von H2 in Substitutionsprodukte des Gallans übergehen (GaH3 + XH -> H 3 Ga—XH -> GaH 2 X + H2). So zerfällt etwa das aus GaH 3 (NMe 3 ) und Dimethylamin Me2NH bei tieferen Temperaturen erhältliche Addukt GaH 3 (NHMe 2 ) bei Raumtemperatur unter H2-Eliminierung in (H 2 Ga—NMe 2 ) 2 (bzgl. Struktur s.u.). In flüssigem Ammoniak N H aus GaH3(NMe3) zugängliches Ammingallan GaH 3 (NH 3 ) geht durch sukzessive H2-Abspaltung bei Raumtemperatur und darüber letztendlich in ,,Galliumnitrid" GaN (S. 1199) über (vgl. hierzu Zerfall von AlH3(NH3), S. 1148): H3Ga-NH3
i[H2Ga-NH2]3
±[HGa-NH],
±[GaN],.
In entsprechender Weise geht das bei tiefen Temperaturen aus GaH3(NMe3) und Phosphan P H gewinnbare Addukt GaH3(PH3) schließlich in ,,Galliumphosphid" GaP (S.1199) über Chlorwasserstoff HCl führt (Ga durch wiederholte Addition und -Eliminierung in (GaC über /„(GaH3)n
+ 2HC1
• (H2GaCl)2
+ 2HC1
• (HGaCl2)2
+2HC1
• (GaCl3)2.
3. Das Gallium, Indium und Thallium
1189»
In den als Zwischenprodukten entstehenden und durch Reaktion von GaCl 3 mit Me 3 SiH gemäß Gl. (1) zugänglichen dimeren Mono- und Dichlorgallanen nehmen nicht die Wasserstoffatome wie in Digallan, sondern die Chloratome wie in Trichlorgallan die Brückenpositionen ein (vgl. Struktur (f) mit X = Cl). Entsprechend dimer gebaut sind Verbindungen (H 2 GaX) 2 mit X = Br, OR, N R , während etwa H 2 GaNH 2 mit dem wenig raumbeanspruchenden Aminosubstituenten trimer (g) strukturiert ist. Monomeres, planares H 2 GaCl bzw. HGaCl 2 (rfGaH/Gaa ca. 1.53/2.16Ä; * HGaH/ClGaCl = 130/115°) entsteht durch Reaktion von GaCl (vgl. S. 1193) mit H 2 bzw. HCl. Ähnlich wie HGaCl 2 lässt sich Dichlorindan (als THFAddukt) durch Hydrierung von InCl3 mit Bu 3 SnH in Tetrahydrofuran erzeugen: InCl 3 + Bu 3 SnH -> HInCl 2 + Bu 3 SnCl, des weiteren durch Reaktion von InCl 3 mit NaBH 4 . Sind die Donoren ungesättigt, so erfolgt nach Addition von E H an die re-Bindung eine Wasserstoffwanderung, sodass es insgesamt zu einer Insertion (,,Hydrogallierung", ,,Hydroindierung") des ungesättigten Donors A = B kommt: ^E—H
+ A
~B,
H
A=B
^
A—B—H Q E — H z.B. GaH 3 , HInQ 2 ).
So führt etwa die Einwirkung von Ethylen C H 2 = C H 2 auf (GaHj),, bzw. (H 2 GaCl) 2 zu (Et 2 GaH) n bzw. (Et 2 GaCl) 2 oder die von R 2 C = C R 2 (R = H, Organylgruppen, CN-Reste usw.) auf HInCl 2 zu R 2 H C — C R — I n C l 2 (letztere Verbindung lässt sich mit NaBH 4 in R 2 HC—CHR 2 und HInCl 2 verwandeln: zur Hydrierung von R 2 C = C R 2 durch NaBH 4 bedarf es somit nur einer kleinen Menge InCl3 als Katalysator). Reaktion mit Akzeptoren Gallan (GaH3)„ bildet mit Elektronenpaarakzeptoren wie Boran (BH 3 ) 2 (S. 1063) oder Alan (AlH)^ (S. 1146) Addukte, und zwar der Zusammensetzung • A, GaH 3 • 2A und G f i j • 3A. So stellt etwa Digallan (a) eine Additionsverbindung von GaH 3 mit dem Akzeptor GaH 3 dar. In analoger Weise vermag GaH 3 ein, zwei oder drei BH 3 -Moleküle unter Bildung von ,,Galliumtetrahydridoboraten" (,,Galliumboranaten") zu addieren. Unter ihnen lässt sich „Dihydridogalliummonoboranat" H 2 Ga(BH 4 ) = GaH 3 • BH 3 = GaBH 6 durch Einwirkung von LiBH 4 auf H 2 GaCl synthetisieren. Es besitzt in der Gasphase die ,,Galladiboran-Struktur (h) und leitet sich demnach vom Diboran durch Ersatz einer B H - gegen eine GaH 3 -Gruppe ab (KZ Ga = 4: C2v-Symmetrie). In analoger Weise leitet sich das aus H 2 GaCl und NBu^B3H8~ zugängliche ,,Dihydridogalliumtriboranat" („Gallatetraboran") H 2 GaB 3 H s = GaB 3 H 10 (i) vom Tetraboran B 4 H 10 (S. 1075) durch Ersatz einer B H - gegen eine GaH 3 -Gruppe ab. Das Galladiboran bildet in fester Phase ein eindimensionales Polymeres — H — B H — H — G a H 2 — H — B H 2 — welches im Sinne von (k) schraubenförmig aufgewickelt ist und zusätzlich schwache H---Ga---H-Beziehungen aufweist. Oberhalb — 35°C erfolgt Zerfall des vergleichsweise flüchtigen Galladiborans (Smp. — 45 °C) nach: 2GaBH 6 ^ B 2 H 6 + 2 G a + 3H 2 (die Zerfallshalbwertszeit beträgt in der Gasphase bei einem Druck von 100 mbar ca. 2 min; gasförmiges bzw. gelöstes GaB 3 H 10 zerfällt bei Raumtemperatur nach 4GaB 3 H 1 0 —> 4GaB 2 + 2 B 2 H 6 + 1 4 H 2 bzw. 4 G a + 3B 4 H 10 + 5 H ) . ,,Hydridogalliumbisboranat" HGa(BH 4 ) 2 = GaH 3 • 2BH 3 = GaB 2 H 9 lässt sich aus GaCl 3 sowie HGaCl 2 und L i B H bei — 45 °C in Ether synthetisieren (HGaCl 2 + 2LiBH 4 HGa(BH 4 ) 2 + 2LiCl), ,,Galliumtrisboranat" Ga(BH 4 ) 3 = GaB 3 H 12 aus GaMe 3 und B 2 H 6 auf dem Wege über Me 2 Ga(BH 4 ) und MeGa(BH 4 ) 2 (2GaMe 3 + 9B 2 H 6 2Ga(BH 4 ) 3 + 6B 2 H 5 Me). Beide Verbindungen verlieren bei Raumtemperatur zunächst (BH 3 ) 2 , wonach sich resultierendes H 2 Ga(BH 4 ) zersetzt (s. o.). Dem Bisboranat kommt die Struktur (l) mit quadratisch-pyramidalem Gallium zu (KZ Ga = 5; C4v-Symmetrie; HAl(BH 4 ) 2 = AlH 3 (BH 3 ) 2 ist analog, (BH 3 ) 3 anders gebaut, vgl. S. 1149, 1133). Das Trisboranat ist wohl ähnlich Al(BH 4 ) 3 mit oktaedrischem Gallium (m) strukturiert (KZ Ga = 6; Oh-Symmetrie). Das H \
H
\
Ga
(X)H'
\
H / Ga X^ "X I I H —Ga Ga-H / "X^ \ H H
Ga ' \
(f) (H2GaX)2, (HGaX2)2 (X = Cl, Br, OR, NR2) H
H
(g) (H2GaX)3 (X = NH2) Ga
^B^ \ / ^B^ I \/ I H— G a — H
89.2°
H 1.655 A X ,
Ga
H' / H < 1.! 00 Ä
H
B
1.286 A
H
H
v
Ga —
' w H
\ X
H —
\ /!/ B —H I H
\!\
B i / / -B H H
/H nH
(i) GaH 3 B 3 H 7
H I .Ga
„
H---B I H
(l) GaH 3 2BH 3 (k) ( G a H ^ B ^ ) „
>
(h) GaH3-BH3
H B I
H/
H2 < /
H
I
Ga
'
H
J BH
(m) GaH3-3BH3
2
• 1190
XVI. Die Borgruppe („Triele")
entsprechend Ga(BH4)3 zusammengesetzte ,,Galliumtrisalanat" Ga(AlH4)3 = GaH3 • 3 AlH3 lässt sich in etherischer Lösung aus GaCl3 mit LiAlH4 gewinnen und zerfällt bei ca. 0°C unter Ausscheidung von Polyalan: Ga(AlH4)3 -> ^ ( A l H ^ + Ga + §H 2 . Als ,,komplexe" Hydride des Indiums und Thalliums seien genannt: , Jndiumtrisboranat" In(BH4)3 (gewinnbar aus InMe3 und B2H6 in Tetrahydrofuran bei — 40°C; Zerfall bei — 10°C), ,,Indiumtrisalanat" In(AM4)3 (gewinnbar aus InCl3 und LiAlH4 in Diethylether bei — 70°C, Zerfall bei — 40°C) und ,,Thalliumchloridbisboranat" TlCl(BH4)2 (gewinnbar aus TlCl3 und LiBH 4 bei — 110°C; Zerfall bei — 95°C). Von TlH leitet sich ,,Thalliummonoboranat" TlBH 4 ab (gewinnbar aus TlCl und NaBH 4 in Ether, beständig bis 40°C). GaBH 4 und InBH 4 sind unbekannt. Tetrahydridogallate, -indate, -thallate (,,Gallanate", ,,Indanate", ,,Thallanate"). Durch Behandeln von Gallium-, Indium- bzw. Thalliumtrichlorid mit Lithiumhydrid in Diethylether bei — 80 °C, — 25 °C bzw. — 15 °C bilden sich leicht nach EC13 + 4LiH
LiEH 4 + 3 LiCl
(E = Ga, In, Tl)
Lithiumgallanat LiGaH 4 , -indanat LiInH4 bzw. -thallanat LiTlH 4 in Form etherlöslicher, wasserempfindlicher Verbindungen die sich oberhalb 50°C, 0°C bzw. 0°C gemäß LiEH 4 -> LiH + E + |H2 zersetzen (TlH4~ ist somit metastabiler als isoelektronisches PbH4, vgl. S. 1011). Außer LiGaH 4 wurden eine Reihe weiterer Gallanate GaH4~ mit den Gegenkationen Na + , K + , Rb + , Cs + , Ag + , NMe4+, PMe4+, AsEt4+, Mg(OEt 2 ) 4 + , ZnCl(pmdta) + (pmdta = Me2NCH2CH2N(Me)CH2CH2NMe3) oder MgBr(OEt2)4+ synthetisiert
3.3
Halogenverbindungen des Galliums, Indiums, Thalliums 59
Überblick Systematik Die Triele Gallium, Indium und Thallium (E) bilden gemäß Tab. 105 ,,Monohalogenide" EX (X = F, Cl, Br, I), ,,Dihalogenide" der Summenformel E X (X = Cl, Br, I) und ,,Trihalogenide" EX 3 (X = F, Cl, Br, I). Hierbei stellen die Dihalogenide im Sinne der Formulierung E1 E m X 4 gemischt-valente Halogenide dar. Entsprechendes gilt für die „Sesquihalogenide" E 2 X 3 (X = Cl, Br, I) sowie weitere ,,Subhalogenide", nämlich Ga3Cl7, In5Cl9, In7Cl9, In4Br7, In5Br7 (Tab. 105). Schließlich existieren mit Ga2X4 • 2D, In2X4 • 2D, Ga3I5 • 3PEt 3 , Ga5Cl, • 5OEt 2 , Ga s I s • 6PEt 3 und Ga-yBr^ • 10THF einige donorhaltige Subhalogenide. Sie enthalten donorstabilisierte Glieder der homologen Reihen E„X n+2 (n = 2, 3, 5), E„X„ (n = 8) und E„X„—2 (n = 24). Es ist zu erwarten, dass weitere Verbindungsbeispiele dieser Reihen mit E = Ga, In aufgefunden werden.
Triel (III)-halogenide Die Darstellung der Trihalogenide E X erfolgt in einfacher Weise aus den Elementen, darüber hinaus durch Thermolyse von (NH4)3EF6 (E = Ga, In) oder Fluorierung von E 2 0 3 mit F2, BrF 3 , SF4 bei 300°C (E = Tl). Einige Kenndaten der meist farblosen Verbindungen (Ausnahmen: TlBr 3 , EI 3 ) gibt die Tab. 105 wieder, aus der auch die Strukturen von E X hervorgehen: Hiernach weisen GaF3 und InF3 wie AlF3 eine verzerrte Re0 3 -Struktur mit oktaedrischem Triel auf (KZ E = 6), während TlF3 die BiF3-Struktur mit dreifach-überkappt-trigonal-prismatisch von F~ koordiniertem Tl 3+ einnimmt (KZT1 = 9). GaCl3, GaBr 3 , Gal 3 und Inl 3 liegen in fester Phase - anders als AlCl3 und analog AlBr3 sowie All3 - in Form dimerer Moleküle (EX 3 ) 2 mit kantenverknüpften Tetraedern vor (D a -Symmetrie; KZ E = 4), wobei Gal 3 und Inl 3 im Dampfzustand bereits überwiegend monomer sind (planare EI3-Moleküle mit D^-Symmetrie; KZ e = 3). InQ 3 , InBr 3 , TlCl3 und TlBr 3 bilden demgegenüber wie AlCl3 Schichtstrukturen aus, in welchen f der oktaedrischen Lücken jeder übernächsten Schicht einer kubisch- bzw. hexagonal-dichtesten Halogenid-Packung (CrQ 3 - bzw. Bil3-Struktur) mit Triel(III)-Kationen besetzt sind (vgl. Tab. 105; KZ E = 6). T R enthält nicht drei- sondern einwertiges Thallium: Tl+I3~ (vgl. die Nichtdarstellbarkeit von Pbl 4 ; es existiert aber Tl mit dreiwertigem Tl). Die Stabilität von E X hinsichtlich einer Abspaltung von X 2 sinkt mit zunehmender Ordnungszahl sowohl des Triels als auch Halogens. Demgemäß zersetzen sich TlCl3 bzw. TlBr 3 ohne zu schmelzen bereits bei 40 °C bzw. Raumtemperatur unter Halogenabgabe in TlCl bzw. Tl+TlBr4~, während die übrigen Trihalogenide sowohl in den flüssigen als auch gasförmigen Zustand überführt werden können, wobei die in fester Phase polymeren Trielhalogenide InC und InB in Dimere und bei hohen Temperaturen in der Gasphase in Monomere übergehen (flüssiges InC leitet den elektrischen Strom). Mit Wasser bilden GaF 3 und InF3 Trihydrate EF 3 • 3H2O, wogegen TlF3 unter gleichen Bedingungen zu Tl(OH)3 und HF hydrolysiert. GaCl3 raucht wie AlCl3 an der Luft. Seine wässrige Lösung gibt beim Eindampfen wie eine wässrige AlCl3-Lösung Halogenwasserstoff ab. Analoges trifft für GaBr 3 und Gal 3
3. Das Gallium, Indium und Thallium
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Tab. 105 Gallium-, Indium- und Thalliumhalogenide EX n a) mit Strukturhinweisenb) in Klammern (Kenndaten der Reihe nach Smp. [°C]/Sdp. [°C]/A.fff [kJ/mol]; Ox. = Oxidationsstufe, R T = Raumtemperatur, Z = Zersetzung, S m p kursiv = Schmelzpunkt im abgeschlossenen Gefäß). Ox.
EX,
Fluoride
Chloride
Bromide
Iodide
+3
EX3
GaF3 (ReO,) Farblose Kristalle Sblp. 950°/- 1163kJ
GaCl3 (Al2Br6) Farblose Kristalle 77.9°/201.3°/- 525 kJ
GaBr3 (Al2Br6) Farblose Kristalle 122.5°/279°/-387 kJ
Gal3 (Al2Br6) Blassgelbe Kristalle 214°/346°/-239 kJ
M ; (Re03) Farblose Kristalle Smp. 1170°/- 1250 kJ
InC (Bi Gelbe Kristalle 586°/Sblp. 546°/537 kJ TlC (CrC Farblose Kristalle Smp 155 °/40°Z/-315 kJ
InB (Bi Farblose Kristalle 436°/Sblp. 371°/-429kJ
Inl3 (Al^rJ Gelbe Blättchen Smp. 210°/-238 kJ
TlB (CrC ?) Dunkle Kristalle RT Z / - 250 kJ
Tl (T Schwarze Kristalle Smp. 260°
Ga2Cl4 (Ga+GaCl") Farblose Nadeln 172°/535° / - 703.7 kJ
Ga2Br4 (Ga+GaBr") Farblose Kristalle Smp. 167°
Ga2I4 (Ga+Gal4_) Gelbe Kristalle Smp. 212°
„InCl," (3In+In2Cl^) Farblose Kristalle Smp. 238°
I B (I InB Farblose Nadeln Smp. 200°
I^I4 (In+Inl") Gelbe Nadeln Smp. 225°
T^Cl, (Tl+TlCl") Farblose Nadeln
T B (T TlB Beigefarb. Kristalle
G 2 a 3 (?)
Ga2Br3 (2Ga+Ga 2 Br^) Farblose Kristalle
TlF3 (BiF,) Farblose Kristalle 550°/- 650 kJ ,, + 2"
EX,
-
,, + 1.5" E2X3
1
EX
In.Clj (3In+InCl^) Farbl. Krist./Smp. 323° T^Clj (3Tl+TlCIN Gelbe Krist./Smp. 388°
Ga2I3 ( 2 A + G a 2 f ) Gelbe Kristalle
In.Br, (2In+In 2 Br^) Farblose Kristalle T^Br, (3T+TlBr36_) Beigefarb. Krist.
GaF Nur Gasphasec)
GaC (?) Dunkelrot, Z < RT
GaB (?) Dunkel, Z < RT
Ga (?) Dunkel, Z < RT
InF Nur Gasphasec)
InC (NaCl Gelbe Kristalle Smp. 225°/ — 186 kJ
InBr („NaCl") Rote Kristalle Smp. 285°/- 175 kJ
Inl („NaCl") Rote Kristalle Smp. 365°/- 116kJ
Tff (NaCl) Farblose Kristalle 322°/826°/- 325 kJo)
TlC (CsCl Farblose Kristalle 431°/720° / - 2 0 4 kJo)
TlB (CsCl Blassgelbe Krist. 460°/815° / - 1 7 3 kJo)
TB („NaCl")e) Gelbe Kristalle 442°/823°/-124 kJo)
a Weitere Halogenide: Ga3Cl7 (Ga+Ga 2 Clf), In5Cl9 ( = ,,InCl2" in Tab.), In 7 0, (6In+InC1^3Cr), In4Br7 (?), In5Br7 (3In + In 2 Br^Br~) sowie Donoraddukte EX3 «D (n= 1-3), E2X4 • 2D, Ga3I5 • 3PEt3, Ga5Cl7 • 5OEt2, In5Br7 • Br" • 4Chinuclidin (= N(CH 2 CH^ 3 CH), GasIs • 6PEt3, G a ^ r , , • 10THF (vgl. S. 1194). - b) Raumstrukturen: Re0 3 (verzerrt; KZ E = 6, vgl. AlF3), BiF3 (KZE = 9), NaCl (KZE = 6), „NaCl" (verzerrt; KZE = 5 + 2), CsCl (KZE = 8); Schichtstrukturen: BiI3/CrCl3 (hexagonal/kubisch; KZE = 6); Inselstrukturen: Al2Br6 ( K Z = 4). - c) Aff f (gasförmige Monohalogenide = -251.9 (GaF), - 203.4 (InF), - 182.4 (TlF), -67.8(TlCl), -37.7 (TlBr), + 7.1 (Tll) [kJ/mol], - d) Lösungen von GaX (X = Cl, Br, I) in Toluol/Et2O lassen sich bei - 30°C und darüber handhaben (Metastabilität Gal > GaBr > GaCl). - e) Bei 168 °C oder bei 4.7 kbar verwandelt sich gelbes TlI in eine rote Modifikation (CsClStruktur), bei 160kbar in eine metallische Form (elektr. Leitfähigkeit 10 4 ß~'cm~').
zu, während sich wässrige Lösungen der hygroskopischen Trihalogenide InCl 3 , InBr 3 sowie Inl 3 beim Eindampfen nicht zersetzen. TlCl 3 sowie TlBr 3 kristallisieren aus Wasser als Tetrahydrate TlX 3 • 4 H 2 0 aus, die sich durch SOCl 2 entwässern lassen. Die Trieltrihalogenide verhalten sich als Lewis-Säuren (GaCl 3 wird wie AlCl3 bei Friedel-Crafts-Synthesen als Katalysator genutzt) und bilden mit Donatoren Komplexe. So entstehen aus GaF 3 und InF 3 mit Fluorid in wässriger Lösung analog AlF3 (S. 1151) die Halogenokomplexe E F 4 E F j ~ , EFl~ (z. B. M 3 EF 6 mit Kryolith-Struktur), aus TlF 3 unter Wasserausschluss Fluorokomplexe wie NaTlF 4 (CaF 2 Struktur: Ersatz von 2Ca 2 + gegen Na + und Tl 3 + ) oder Na 3 TlF 6 (Kryolith-Struktur; in Wasser hydrolysiert TlF 3 , s. o.). G Ä , (X = Cl, Br, I) ergibt mit X " die Komplexe GaX 4 " (Td-Symmetrie; GaX 2 ~ und GaX 3 ~ sind unbekannt), InX 3 die Komplexe InX4~ (tetraedrisch; Td-Symmetrie), InCl 2 - (quadratisch-pyramidal; C4v-Symmetrie), I n C l ^ (oktaedrisch; Oh-Symmetrie), In2Cl9~ (zwei flächenverknüpfte InCl 6 -Oktaeder; vgl. ^ " - S t r u k t u r ) , TlX 3 die Komplexe TlX 4 ", TlCl 2 ", TlBr 2 ", TlCl 3 ~, TlBr 3 ~, T12C13-. In entsprechender
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XVI. Die Borgruppe („Triele")
Weise bilden sich aus E X mit Ethern, Aminen, Phosphanen usw. Donorkomplexe, wobei AlX 3 hinsichtlich harter Donoren Lewis-saurer ist als GaX 3 , während für weiche Donoren das Umgekehrte gilt; auch erhöht sich die Stabilität der Addukte im Falle harter Donoren wie Ether, Amine in der Reihenfolge GaCl 3 • D > GaBr 3 • D > Gal 3 • D, im Falle weicher Donor