HEIDELBERGER JAHRBÜCHER
2004 48 Herausgegeben von der Universitätsgesellschaft Heidelberg
FRANK R. PFETSCH (Herausgeber)
Konflikt Mit Beiträgen von Rüdiger Bubner · Barbara Cassin · Angelos Chaniotis · Klaus Fiedler Peter Fiedler · Gerhard Frey · Jochen A. Frowein · Horst-Jürgen Gerigk Thomas Haar · Pamela Jawad · Karl-Josef Kuschel · Reinhard Mehring Subrata K. Mitra · Andreas Paul · Malte Pehl · Frank R. Pfetsch Dietrich Schubert · Nicolas Schwank · Eva Terberger · Melanie Trede Silvio Vietta · Ekkart Zimmermann
IM AUFTRAG DER UNIVERSITÄTSGESELLSCHAFT UND DES REKTORS DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG herausgegeben von Prof. Dr. Helmuth Kiesel WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT Martin Bopp · Hans Gebhardt · Helmuth Kiesel · Stefan M. Maul · Reinhard Mußgnug Veit Probst · Arnold Rothe · Volker Storch · Friedrich Vogel · Michael Wink SCHRIFTLEITUNG Dr. Klaus Kempter Universität Heidelberg, Neuphilologische Fakultät, Hauptstr. 120, 69117 Heidelberg E-Mail:
[email protected] BANDHERAUSGEBER Prof. Dr. phil. Frank R. Pfetsch Institut für Politische Wissenschaften, Universität Heidelberg Marstallstraße 6, 69117 Heidelberg E-Mail:
[email protected] Mit 43 Abbildungen, davon 27 in Farbe
ISBN 3-540-23386-5
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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Inhaltsverzeichnis FRANK R. PFETSCH Einleitung: Konflikt und Konfliktbewältigung EKKART ZIMMERMANN Vergleichende Konfliktforschung: Demokratisierung und externe Konflikte
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NICOLAS SCHWANK Der Kampf der Kulturen – das Erklärungsmuster für Konflikte im 21. Jahrhundert?
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SUBRATA K. MITRA UND MALTE PEHL Konflikt und Konfliktperzeption in Südasien: Indien im Vergleich 53 PAMELA JAWAD Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient
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RÜDIGER BUBNER Von der Streitkunst der Sophistik zum modernen Kulturkonflikt REINHARD MEHRING Konfliktdynamik des Feindbegriffs. Über Carl Schmitts Suche nach dem „wirklichen Feind“ BARBARA CASSIN Amnestie und Vergebung. Für eine Trennung von Ethik und Politik JOCHEN A. FROWEIN Konfliktbewältigung im Völkerrecht
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ANDREAS PAUL Konflikt und Konfliktmanagement aus evolutionsbiologischer Perspektive 163
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KLAUS FIEDLER UND THOMAS HAAR Einblicke in die Psychologie des Konflikts: Zwischen Trivialität und Subtilität 183 PETER FIEDLER Die Bedeutung innerpsychischer Konflikte für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen 201 EVA TERBERGER Die Regelung von Interessenkonflikten im Unternehmen – Zum Hintergrund der Diskussion um die deutsche Corporate Governance 213 ANGELOS CHANIOTIS Von Ehre, Schande und kleinen Verbrechen unter Nachbarn: Konfliktbewältigung und Götterjustiz in Gemeinden des antiken Anatolien 233 MELANIE TREDE Appell an den Kriegsgott: Ikonographische Innovationen im Dienst kultureller und politischer Rivalität 255 SILVIO VIETTA Die literarische Konstruktion von Konflikten
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HORST-JÜRGEN GERIGK Swifts „Bücherschlacht“ und was damit zusammenhängt. Zur Systematisierung literarischer Konflikte 291 DIETRICH SCHUBERT Otto Dix – das Triptychon „Der Krieg“ 1929–1932
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GERHARD FREY Gewalt oder Gewaltlosigkeit bei Konfliktlösungen: Alternativen bei Friedrich Schiller und José Rizal 333 KARL-JOSEF KUSCHEL Lessings „Nathan der Weise“ im Konfliktfeld von Judentum, Christentum und Islam
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Autorenverzeichnis Prof. Dr. phil. RÜDIGER BUBNER Philosophisches Seminar, Universität Heidelberg, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg Dr. BARBARA CASSIN Centre Léon Robin de Recherches sur la pensée antique, CNRS – Paris IV Sorbonne, 1 rue Victor Cousin, 75230 Paris Cedex 05, Frankreich Prof. Dr. phil. ANGELOS CHANIOTIS Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik, Universität Heidelberg, Marstallhof 4, 69117 Heidelberg Prof. Dr. KLAUS FIEDLER Psychologisches Institut, Universität Heidelberg, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg Prof. Dr. phil. PETER FIEDLER Psychologisches Institut, Universität Heidelberg, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg Dr. phil. GERHARD FREY Hauptstr. 237, 69117 Heidelberg Prof. Dr. iur. Dr. h. c. mult. JOCHEN A. FROWEIN Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Im Neuenheimer Feld 535, 69120 Heidelberg Prof. Dr. HORST-JÜRGEN GERIGK Slavisches Institut, Universität Heidelberg, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg THOMAS HAAR, Dipl.-Psychologe Psychologisches Institut, Universität Heidelberg, Hauptstr. 47–51, 69117 Heidelberg
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Autorenverzeichnis
PAMELA JAWAD, M.A. Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Marstallstr. 6, 69117 Heidelberg Prof. Dr. theol. Dr. h. c. KARL-JOSEF KUSCHEL Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Tübingen, Liebermeisterstr. 12, 72076 Tübingen PD Dr. phil. REINHARD MEHRING Institut für Philosophie, Humboldt-Universität, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. phil. SUBRATA K. MITRA Südasien-Institut, Abt. Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 330, 69120 Heidelberg PD Dr. rer. nat. ANDREAS PAUL Institut für Zoologie und Anthropologie, Universität Göttingen, Berliner Str. 28, 37073 Göttingen MALTE PEHL, M. A. Südasien-Institut, Abt. Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 330, 69120 Heidelberg Prof. Dr. phil. FRANK R. PFETSCH Institut für Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Marstallstr. 6, 69117 Heidelberg Prof. Dr. phil. DIETRICH SCHUBERT Kunsthistorisches Institut (Europäische Abteilung), Universität Heidelberg, Seminarstr. 4, 69117 Heidelberg NICOLAS SCHWANK, M.A. Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Heidelberg, Marstallstr. 6, 69117 Heidelberg Prof. Dr. rer. pol. EVA TERBERGER Alfred-Weber-Institut für Wirtschaftswissenschaften, Universität Heidelberg, Grabengasse 14, 69117 Heidelberg
Autorenverzeichnis
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Prof. Dr. phil. MELANIE TREDE Kunsthistorisches Institut (Ostasiatische Abteilung), Universität Heidelberg, Seminarstr. 4, 69117 Heidelberg Prof. Dr. phil. SILVIO VIETTA Institut für deutsche Sprache und Literatur, Universität Hildesheim, Marienburger Platz 22, 31141 Hildesheim Prof. Dr. EKKART ZIMMERMANN Lehrstuhl für Makrosoziologie, Technische Universität Dresden, Mommsenstr. 13, 01062 Dresden
Einleitung: Konflikt und Konfliktbewältigung frank r. pfetsch
Konflikte entzünden sich an Gegensätzen und werden im Alltagsleben umgangssprachlich mit Dissonanzen, Zwietracht und Kampf in Verbindung gebracht. Konflikte leben aus Spannungen zwischen polaren Gegensätzen, die entweder in Form von Interessen auf das gleiche Gut gerichtet sein können oder aus Gegensätzen resultieren, die unterschiedliche Empfindungen und Überzeugungen zum Ausdruck bringen: Liebe und Hass, Zwietracht und Eintracht, Krieg und Friede, gut und böse. Polare Existenzen oder Seinsweisen können zu Spannungen führen: arm und reich, unten und oben, klein und groß etc. Diese Antagonismen können zweierlei zur Folge haben: Konflikte halten die Gesellschaft zusammen, wenn sie identitätsstiftend sind, können sie aber auch sprengen, wenn sie Feindbilder evozieren. Das Thema Konflikt ist ein zentrales Thema des menschlichen Zusammenlebens. Daher kommt es, dass seit der Antike in allen Kultur- oder Geisteswissenschaften, ob literarisch, künstlerisch oder philosophisch dieses Thema auf die je eigene Weise thematisiert worden ist. Nicht von ungefähr greifen viele Beiträge dieses Bandes auf die Anfänge der abendländischen Kultur zurück und zitieren griechische Klassiker. Das Thema „Konflikt“ berührt aber, über die menschliche Sphäre hinaus, die Existenz vieler anderer Lebewesen. Es betrifft das Zusammenleben von Menschen und dasjenige von Tieren ganz allgemein und eignet sich daher wie wenige andere für einen breiten transdisziplinären Diskurs, wie er in dem vorliegenden Band unternommen wird. Im Zusammenleben der Hominiden äußern sich Konflikte in sich überlagernden Interessen oder Motiven (Positionsdifferenzen) verschiedener Individuen oder Kollektive über ein und dasselbe Gut. Interessen evozieren Gegensätze. Die Sequenz umkehrend schreibt Hegel in seiner Geschichtsphilosophie: „Interesse ist nur vorhanden, wo Gegensatz ist“. Jedoch nicht nur materielle Gegenstände sind Träger von auseinanderdriftenden Interessen; auch ideologische Großaggregate wie Weltanschauungen oder religiöse Überzeugungen und Fundamentalismen führen zu angenommenen oder tatsächlichen Konfrontationen. Dies also, das Aufeinandertreffen unvereinbarer materieller und immaterieller Gegensätze und darauf gerichtete Begehrlichkeiten,
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bestimmen das Handeln der beteiligten Parteien, die gewillt sind, solche Differenzen in ihrem Sinne auszufechten. Eben darauf kommt es an: Gegensätze müssen, um konfliktbestimmend zu sein, in Aktion umgesetzt werden. Unterschiedliche Ansichten, Bewertungen oder Interessen können latent vorhanden sein, ohne manifest zu werden. Erst, wenn sie in politische Regie genommen werden, entstehen aus Gegensätzen Konflikte. Da es Unterschiede zwischen Menschen und menschlichen Gruppen gibt, sie unterschiedlichen Kulturen und Ethnien angehören, verschiedene Sprachen sprechen und verschiedenen Religionen anhängen, macht die Umsetzung – oder auch Instrumentalisierung – solcher Verschiedenartigkeiten in Handlung das Spezifische des politischen Konfliktbegriffs aus. Antagonismen führen somit nicht unbedingt und zwangsläufig zu Konflikten. Die Gegensätze z. B. zwischen arm und reich besitzen nicht a priori die Sprengkraft von Revolutionen, wie dies im Frankreich des Ancien Régime der Fall war; dem Arm-Reich-Gegensatz zwischen Nord und Süd in der Auseinandersetzung um die neue Weltwirtschaftsordnung der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts fehlte dieses Potential. Gegensätze können bestehen bleiben, ohne politisch relevant zu werden. Erst ihre politische Inanspruchnahme, die Organisation und Mobilisierung durch Eliten, führt zum Konflikt. Von Primaten ganz allgemein war die Rede. Was macht den Unterschied von „Konflikten“ zwischen Primaten einerseits und Hominiden andererseits aus? Entgegengesetztes Begehren ist auch im Tierreich anzutreffen; nur sind solche Bestrebungen vornehmlich instinktgesteuert und auf Überleben gerichtet. Grundsätzlich aber müssen auch im Tierreich Konflikte bewältigt werden, die sich im Zusammenleben zwangsläufig ergeben. Im menschlichen Zusammenleben sind meist Interessen im Spiel, und Interessen sind auch, aber nicht nur, vernunftgesteuert. Aktionen von Tieren sind dagegen vermutlich nicht prinzipiell, aber doch überwiegend instinktgesteuert. Die Evolution hat sowohl bei den Menschen als auch bei den Tieren Grundformen hervorgebracht, die gleitende Übergänge erkennen lassen. Nun gibt es in verschiedenen Bereichen menschlicher Aktivitäten unterschiedliche Formen, um ein und dasselbe begehrenswerte Gut zu konkurrieren: es gibt den wirtschaftlichen Wettbewerb, es gibt das Spiel, es gibt die politische Auseinandersetzung, und es gibt schließlich den militärischen Kampf und die gewaltsame Vernichtung. Konflikte werden also mit oder ohne Regeln, mit oder ohne Gewalt ausgetragen und können nach dem Einsatz der Mittel unterschieden werden. „Conflict is the lifeblood of politics“ schrieb Maurice Keens-Soper in seinem Buch „Europe and the world“. Blut bedeutet Leben, und wo im zwischenmenschlichen Bereich Blut fließt, ist Konflikt involviert. Als politischer Begriff kann der Konflikt als ein Spannungszustand definiert werden, der dadurch gekennzeichnet ist, dass mindestens zwei Parteien unvereinbare Ge-
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gensätze in Bezug auf ein und dasselbe Gut haben und dieses in ähnlichem Maße begehren. Politische Konflikte beziehen sich dem Wesen des Politischen entsprechend auf öffentliche Güter, nämlich auf nationale Interessen oder Werte, wie z. B. auf das nationalstaatliche Territorium und seine Grenzen (nationale Unabhängigkeit), auf verfassungsmäßige Rechte (Selbstbestimmung) oder auf Verfügung über das Entscheidungsmonopol (politische Macht). Wenn Konflikt ein ubiquitäres und allzeit präsentes Phänomen menschlicher Existenz ist, so geht es in der Konfliktforschung nicht um die Beseitigung von konfliktinitiierenden Gegensätzen, sondern um die Frage nach der Regulierung, bestenfalls der friedlichen Beilegung von Konflikten. Nicht die Konfliktaustragung als solche steht auf der Agenda, sondern die Frage nach der Verhinderung gewaltsamer Auseinandersetzungen im Konflikt. In der politikwissenschaftlichen Literatur der deutschen Nachkriegszeit hat sich der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses im Lauf der Zeit verlagert. Während in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage nach den Ursachen im Vordergrund stand (Kriegsursachenforschung), hat sich die Forschung im Laufe der achtziger und neunziger Jahre auf den Umgang mit Konflikten konzentriert und auf das Konfliktmanagement und die Suche nach Konfliktlösungen verschoben, die ohne die Anwendung von Gewalt zustande kommen. Dies hat selbstredend mit der deutschen Geschichte zu tun. Die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs hat naturgemäß die Frage nach der Verursachung in den Vordergrund gerückt. Der Versuch der friedlichen Koexistenz der ideologisch verfeindeten Staatenblöcke und das Problem der Überwindung der weltpolitischen Spaltung in Ost und West mit nicht-militärischen Mitteln haben die Verhandlungsdiplomatie in den Vordergrund gerückt, oder, ganz allgemein, die Frage nach dem friedlichen Umgang mit Konflikten. Diese Perspektive hat lange Zeit die so genannte Kritische Friedensforschung bestimmt, deren Ziel es war, dem normativen Ziel „Frieden“ zu huldigen und den Glauben zu befördern, alle oder doch die meisten politischen Konflikte seien mit friedlichen Mitteln zu lösen. Das Erwachen kam mit den Kriegen auf dem Balkan und im Kaukasus, Kriege, die ohne militärische Intervention nicht beendet werden konnten.
Zentrale Gesichtspunkte Ein breites Spektrum von Gesichtspunkten wird in der Konfliktforschung behandelt: es reicht von der Ursachensuche und der Untersuchung der Konfliktbeteiligten über die Prozessanalyse, die Erforschung der zum Einsatz kommenden Mittel bis zur Frage der Beendigung, Lösung und Bewältigung von Konflikten. Überdies steht die normative Bewertung an: sind Konflikte positiv oder negativ zu bewerten, sind sie produktiv oder destruktiv?
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Ursachen Am Beginn der Konfliktforschung steht die Suche nach den Entstehungsursachen von Konflikten. Welche Faktoren führen zu unterschiedlichen Positionen in Bezug auf ein und dasselbe Gut? Sind es die Umstände, die Strukturen, die als Hintergrundvariablen wirken, oder sind es die Akteure und ihre Perzeptionen, die Konflikte auf den Weg bringen? Liegt es gar in der menschlichen Natur, dass über verschiedene persönliche Charaktere unterschiedliche Interessen zustande kommen, oder ist es ein kollektives Phänomen? Im Rahmen organisierter Staatlichkeit oder im Rahmen gesellschaftlicher Organisiertheit kämpfen Kollektive gegeneinander oder rivalisieren miteinander, angeleitet von bestimmten Eliten. Ist es nicht auch ein kognitives Phänomen, das dazu führt, dass die Welt in antagonistischen Kategorien wahrgenommen wird? Ist das Streben nach „Harmonie“, nach der „guten Ordnung“ seit der griechischen Antike nicht Ausdruck der Tatsache, dass Kampf, Dissens und Zwietracht bestimmende Elemente menschlicher Existenz sind?
Akteure Konflikte werden, wie gesagt, zwischen Individuen oder zwischen Kollektiven ausgetragen.Als Akteure sind sowohl einzelne Politiker, Regierungschefs oder Führer als auch Staaten und gesellschaftliche Gruppen am Werk; wer ist bzw. sind die historischen Subjekte geschichtlicher Prozesse? Nicht immer ist die eine oder andere Streitpartei klar identifizierbar; sie kann sich vielmehr oft erst während des Konfliktaustrags herstellen oder sogar erst im Nachhinein herausstellen. Konfrontation setzt Identität voraus, und im Gegenzug kommt es zur Identifizierung durch Konfrontation. Konflikt kann Einheit schaffen, kann aber auch Zwietracht säen.
Streitgegenstände Gegenstände von Konflikten können sowohl personal (Beziehungen zwischen Menschen) als auch material (auf physische Güter sich beziehend) sein; sind ökonomische Güter oder territoriale Gegebenheiten im Spiel, so bestimmen auch in diesen Fällen immer die beteiligten Akteure die Konfliktdynamik. Denn Streit und Auseinandersetzung werden in menschlichen Gemeinschaften immer von Personen geführt, und es kommt darauf an, dass die streitenden Parteien ihre Haltung ändern, soll der Konflikt gelöst werden. Es sind somit die personalen bzw. kollektiven Beziehungen, die schließlich zur Beendigung führen können, und menschliche, zumal politisch bestimmte Beziehungen sind am schwierigsten zum Ausgleich zu bringen. Es gibt verhandelbare
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und es gibt nicht verhandelbare Gegenstände. Zu den nicht oder nur schwer verhandelbaren gehören kulturwert- bzw. ideologiebestimmte Güter wie Religion, Nationalität, ethnische Zugehörigkeit, Kultur etc. Eher verhandelbar sind Güter, die interessenbestimmt sind, also vor allem wirtschaftliche Güter.
Prozessanalyse Die Palette der Austragungsmodalitäten, also Faktoren der Dynamik, reicht von kriegerischen Auseinandersetzungen bis zu gewaltfreien Verhandlungen. Dazwischen liegen Druck, Zwang, Diktat, Intervention, Embargo, Fait accompli, autoritative Entscheidungen durch Gerichte, Schiedsspruch, Resolutionen oder die Koexistenz und die Offenhaltung des Konflikts. Konflikte haben unterschiedliche Intensitäten, je nach den Mitteln, die eingesetzt werden. Der Konfliktentwicklung kann idealtypisch ein Lebenszyklus unterstellt werden, der im Stadium der Latenz beginnt, dann manifest wird, schließlich zur Krise und zur ernsten Krise führt, bis dann die höchste Stufe der Intensität, der Krieg, eintritt. Dieser Zyklus wird vor allem durch die Mittel bestimmt, die zum Einsatz kommen, und erfährt eine Steigerung durch immer größere Gewalttätigkeit. Insbesondere hängen subnationale ethnisch-kulturelle Konflikte einerseits von den Mobilisierungsmöglichkeiten ab, die politische Eliten bei solchen Gruppierungen erzeugen können, andererseits von den Reaktionen staatlicher Handlungsträger. Die Dynamik solcher Prozesse kann zur Eskalation oder Deeskalation führen, je nachdem, welche Mittel die Protagonisten solcher Konflikte einsetzen. Als Geschichts- und Gesellschaftsphänomen äußert sich Konflikt als Gegensatz zwischen unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen Formationen. Auch durch Abgrenzung nach außen, gegenüber dem Anderen, hat sich europäische Geschichte vollzogen: In der Abgrenzung gegenüber Andersartigem kann Europa auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon die Griechen versuchten, sich von den Barbaren abzugrenzen. Die seit Karl dem Großen in Europa sich anbahnende Einheit der Christenheit sah sich im Gegensatz zu Ungläubigen, Sarazenen, Heiden und Ketzern. Ab dem 10. Jahrhundert etwa kann man von der Idee des christlichen Europa in Opposition zum Islam sprechen. Im 11. und 12. Jahrhundert wurden „zur Verteidigung des Glaubens“ Kreuzzüge unternommen, an denen neben England, Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich auch italienische Städte und Fürstentümer beteiligt waren. Diese Zusammenführung zu einer „Armee Gottes“ angesichts eines gemeinsamen Feindes war das erste Gemeinschaftswerk europäischer Länder in jener Zeit. Der Begriff des Kalten Krieges, der im 13. Jahrhundert geprägt wurde, brachte das Spannungsverhältnis zwischen Muslimen und Christen zum Ausdruck. Im weiteren Verlauf der Geschichte bildeten sich im 15. Jahrhundert zwei europäische Identitäten heraus: die eine durch Ab-
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grenzung im Osten Europas gegenüber dem Islam mit dem Fall von Konstantinopel 1453 und die andere durch die Bildung westlicher Horizonte nach 1492 mit dem Aufstieg der europäischen Seemächte.1 Abgrenzung nach Osten und Öffnung nach Westen sollten fortan europäische Geschichte bestimmen. Das europäische Binnenverhältnis war über Jahrhunderte an das europäische Außenverhältnis gekoppelt. Europa war mit Beginn der Neuzeit politisch durch die Rivalität je zweier Mächte bzw. Machtbündnisse gekennzeichnet; Frankreich und Habsburg, das revolutionäre Frankreich und das restaurative Metternich-Europa, sowie im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Achsen- oder Mittelmächte und die Ententemächte. Nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich hat der Gegensatz zwischen den westlichen Demokratien und den östlichen kommunistischen Regimes den zweiten Kalten Krieg bestimmt. Gemeinsamkeit und Gegnerschaft waren und sind somit in Europa Realität, wobei Allianzen nach innen und die Abgrenzungen nach außen von Epoche zu Epoche variierten. Geschichtsphilosophische Theorien setzen an solchen Kollektivformationen an: geschichtliche Prozesse entwickelten sich „dialektisch“ zwischen „Welten“, „Reichen“,„Völkern“,„Staaten“,„Herrschaften“ oder „Nationen“ (Hegel) oder in der Stufenabfolge von „Gesellschaftsformationen“ (Marx). Wandel ist angezeigt, Fortschritt vollzieht sich in Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Ideen, Ideologien, Programmen etc. Ist das Vehikel des Fortschritts immer der Kampf zwischen polaren Gegensätzen oder bringen Reformen andere, weniger gewaltintensive Formen der Auseinandersetzung hervor? Ist nicht das historische Erbe, das Europa kennzeichnet, eine „Dialogik“ (Edgar Morin), d. h. der Dialog zwischen Pluralitäten, die Opposition zwischen alt und neu, die Auseinandersetzung zwischen Religion und Vernunft, zwischen Revolution und Reaktion, zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven? Dialogik sei, so Morin, das Herz europäischer kultureller Identität, und diese Identität lebt aus der Spannung zwischen Gegensätzen, die Wandel und Fortschritt hervorbringen. Es blieb allerdings nicht immer nur bei der „Dialogik“. Ist der Kampf der Gegensätze der Preis für „Fortschritt“?
Die Wahl der Mittel Der Zweck heiligt die Mittel, so lautet vulgarisierend die Machiavelli zugeschriebene Formel. Diese jesuitisch vertretene Interpretation meint in ihrer radikalen Form, dass jedes, also auch das verwerflichste Mittel zum Einsatz kommen kann, um nur das erwünschte Ziel zu erreichen. Im Zeitalter fortschreitender Demokratisierung sind verwerfliche Mittel nicht mehr zulässig, 1
Vgl. G. Delanty, Inventing Europe. Idea, identity, reality. Basingstoke et al.: Macmillan 1995, 47.
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gleichwohl kommen sie andernorts immer wieder zum Einsatz. Insbesondere bei gegenwärtig laufenden Regime-Transformationen von autoritären zu demokratischen wie zuvor von demokratischen zu autoritären Ordnungsmustern spielt der Mitteleinsatz eine entscheidende Rolle. Es gelingt keineswegs immer, demokratische Regeln und Verfahren zu etablieren, an die sich die politischen Eliten halten. Auch Demokratisierungsprozesse können – dies die Lehren der jüngsten Vergangenheit – zum Einsatz gewaltsamer Mittel führen.
Suche nach Bewältigung und Lösung Schließlich bestimmen Fragen nach Bewältigung, Beendigung oder „Lösung“ von Konflikten die Konfliktforschung. Wie können Konflikte im Rahmen friedlicher Beilegung gehalten und wie kann verhindert werden, dass Gegensätze mit Gewalt ausgetragen werden? Konflikte können politisch grundsätzlich in drei Formen beendet werden: es gibt einmal die einseitige Durchsetzung von Interessen in Form von Gewalt (militärische Gewalt, Diktat, Druck), es gibt zum zweiten die Möglichkeit, Konflikte offen zu halten, so dass die Gegensätze bestehen bleiben, aber nicht weiter mit politischen oder militärischen Mitteln verfolgt werden; solche oft anzutreffenden Stillhalteoptionen werden dann gewählt, wenn eine gewünschte Verhandlungslösung nicht möglich erscheint, wenn eine Partei in Erwartung besserer Bedingungen auf Zeit spielt oder wenn der Status quo als die im Augenblick beste aller Lösungen angesehen wird. Schließlich gibt es drittens die Möglichkeit, Konflikte im gegenseitigen Ausgleich, z. B. durch Kompromiss, zu beenden. Der Schiedsspruch eines internationalen Gerichts oder die Resolution eines internationalen Gremiums kann zu einer allseits akzeptierten Lösung führen. Verhandlung ist das einzige Mittel, auf nichtkriegerischem Wege zur Lösung von Konflikten zu kommen. Hierzu hat der neue Zweig der Verhandlungsforschung wichtige Beiträge geliefert. Wie, wann und mit welchen Mitteln sind Konflikte beendet bzw. gelöst? Allgemein kann formuliert werden, dass Konflikte dann beendet oder gelöst sind, wenn die Ursachen beseitigt sind, wenn „alle Ansprüche für Null erklärt worden sind“ (Kant), wenn also über die Streitgegenstände kein Dissens mehr besteht, sie somit aus der Sicht der Konfliktparteien nicht mehr existieren. Dauerhafte Lösungen von politischen Konflikten können nur erreicht werden, wenn alle involvierten Parteien freiwillig und ohne Vorbehalt einem Lösungsvorschlag zustimmen; dies kann nur erreicht werden, wenn über alle Streitgegenstände verhandelt und einvernehmlich entschieden wurde.
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Bewertung Das Spektrum der Bewertungen von Konflikten reicht von den Extremen ‚produktiv‘ bis ‚destruktiv‘, von befürwortend bis ablehnend, von gut bis böse. Ein frühes Dokument der Auseinandersetzung zwischen Machtpolitik und Ethik ist in den Dialogen von Platons Politeia nachzulesen. Thrasymachos und Sokrates streiten sich um das zentrale Thema des Verhältnisses zwischen Macht und Gerechtigkeit. Thrasymachos vertritt darin den Standpunkt, dass Gerechtigkeit nichts anderes sei als der Vorteil des Stärkeren; jede Regierung gebe sich Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil, die Demokratie demokratische, die Tyrannis tyrannische etc. Thrasymachos vertritt also den Machtgedanken gegenüber Sokrates, der in moralischen Kategorien argumentiert. Die Gegenargumente von Sokrates gipfeln in der Frage: Was geschieht, wenn sich die jeweilige Regierung täuscht und unwissend etwas Nachteiliges beschließt? Wenn der Stärkere fehlerhaft handelt, dann ist er eben nicht mehr der Stärkere. In diesem Macht-Gerechtigkeits-Dialog scheint Platon die Position des Sokrates und damit der Moral einzunehmen, während Thrasymachos die eines ersten Macht- bzw. Konflikttheoretikers vertritt. Der Konflikttheoretiker Ralf Dahrendorf hat denn auch das Lob des Thrasymachos gesungen.2 Konflikt, so lautete die Eingangsthese, resultiert aus entgegengesetzten Interessen, Anschauungen, Werten oder Trieben. Polarität ist das Vehikel, das Konflikte transportiert, zum Guten oder Schlechten. Heraklit hat solche Gegensätze weise zusammengeführt, wenn er schrieb: „Die Menschen erkennen nicht, dass alles, was sich widerspricht, dadurch mit sich in Einklang kommt.“
Die Beiträge in diesem Band Die vorliegenden Beiträge sollen das breite Spektrum der Erscheinungs- und Bearbeitungsformen von Konflikt im biologischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und künstlerischen Raum widerspiegeln. Sie zeigen zugleich, dass Konflikte in menschlichen Gesellschaften wie auch im Tierreich fast ubiquitär sind, und dass alle Human-, Geistes- und Sozialwissenschaften, sowie andere Lebenswissenschaften „Konflikt“ als zentrale Kategorie behandeln bzw. behandeln könnten. Äußerungsformen finden sich in der Literatur, in der darstellenden und audiovisuellen Kunst, auf Monumenten und in schriftlichen Überlieferungen. Die hier abgedruckten Beiträge aus verschiedenen Wissensgebieten sind nach Gesichtspunkten geordnet, die die Vielfalt der Erscheinungs- und Äußerungsformen wiedergeben sollen.
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R. Dahrendorf, Lob des Thrasymachos. In: Pfade aus Utopia. München: Piper 1986, 295. Vgl. auch Walter Reese-Schäfer, Antike politische Philosophie. Hamburg: Junius 1998, 85–92.
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Globale und regionale Konflikte In einem ersten Block werden Konflikte im politischen Raum dargestellt. Hier geht es um globale und regionale Konflikte. Der Soziologe Ekkart Zimmermann analysiert aus theoretisch vergleichender Sicht das Verhältnis von Gesellschaftsordnung, politischem Regime und Konflikt. Ausgehend von Konfliktformen, die im Spannungsfeld von Gewaltmonopol, staatlichen Grenzen und Gesellschaftsordnung angesiedelt sind, wird ein Modell diskutiert, das den Regimewandel hin zur Demokratie begleitet sieht von Spannungen, die durch geänderte Interessenlagen der Eliten in Verbindung mit fehlerhaftem Parteiensystem und Mobilisierung von Koalitionen mit Maximalforderungen zustande kommen. Als Erklärung für gewaltsame Konflikte bietet der Autor die seit langem bekannte These der Konfliktexternalisierung interner Spannungen durch nationale Politiker an, die in einem erweiterten Erklärungsmodell diskutiert wird. Der Politologe Nicolas Schwank zeichnet die Debatte um Samuel Huntingtons berühmte These vom „Kampf der Kulturen“ nach und kommt aufgrund empirischer Überprüfungen zu dem Ergebnis, dass die These sich zwar in einigen Fällen als erklärungsträchtig erweist, dass aber eine differenzierte Betrachtung angezeigt sei und insbesondere die politische Instrumentalisierung die These zu einem Kampfbegriff werden lässt. Die auf breiter empirischer Grundlage durchgeführte Überprüfung gelangt zu dem interessanten Ergebnis, dass eine gemeinsame Kultur die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Konflikte friedlich ausgetragen werden, weil die Verarbeitungsmuster innerhalb desselben Kulturkreises ähnlich sind und dadurch Vertrauen in die jeweils andere Seite aufgebaut werden kann. Zwar waren die am häufigsten anzutreffenden intra-zivilisatorischen Konflikte der vergangenen Jahrzehnte die zwischen Staaten der westlichen Hemisphäre; keiner dieser Konflikte erreichte jedoch das Stadium der Gewaltsamkeit, was die These vom demokratischen Frieden bestätigt. Die meisten inter-zivilisatorischen Konflikte fanden an den Bruchstellen zwischen westlicher und islamischer Welt statt, und diese waren in der Mehrzahl gewaltsam, eine Bestätigung der Huntington-These. Eine gemeinsame Kultur – so das Resümee – bestimmt mit darüber, ob Konflikte gewaltsam oder ohne Gewalt ausgetragen werden, ob Eskalation oder Deeskalation stattfindet. Kultur ist somit nicht die allein entscheidende Größe, sie beeinflusst aber die Dynamik der Konfliktentwicklung. Das Verdienst von Huntington besteht sicherlich darin, auf kulturelle Gegebenheiten in der Weltpolitik hingewiesen zu haben, auch wenn seine These relativiert werden muss und vor politischer Instrumentalisierung nicht gefeit ist. Die folgenden beiden Beiträge behandeln die konfliktintensivsten Regionen der Welt, nämlich den Vorderen und Mittleren Orient und die Region Südasien. Die Südasien-Spezialisten Subrata Mitra und Malte Pehl analysieren die postkolonialen Konflikte im südasiatischen, speziell im indischen
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Raum. Drei Merkmale weisen solche Konflikte in diesen insgesamt sieben Ländern aus: Demokratisierungsprozesse hätten zu Ressentiments, Protesten, ja sogar zu gewaltsamem Konfliktaustrag geführt; zweitens beriefen sich die Protagonisten subnationaler Konflikte auf das Prinzip territorialer Souveränität; der Zentralstaat verfüge heute über mehr Machtmittel und könne damit größeren Widerstand leisten; drittens gehe es bei diesen postkolonialen Konflikten um Vorherrschaft ethnischer Gruppen und um den Wunsch nach rechtlicher oder territorialer Neugestaltung entweder innerhalb des bestehenden Staatswesens oder durch Sezession. Es sind also die subnationalen ethnischen und kulturellen sowie die Konflikte um die Legitimation staatlicher Herrschaft, die das Konfliktpanorama in diesem südasiatischen Raum bestimmen. Der Beitrag beschäftigt sich weniger mit den Ursachen solcher Konflikte als vielmehr mit ihren Verlaufsformen. Warum werden einige Konfliktfälle in geregelten Verfahren ausgetragen und warum werden in anderen gewaltsame Mittel vorgezogen? Von entscheidender Bedeutung für die Eskalation von subnationalen Konflikten sehen die Autoren die Wahrnehmung und die Aktivierung durch Eliten und ihre Anhänger an. So bewirken Wert-Distanzen zwischen den nationalen und den subnationalen Eliten eine Steigerung des Konflikts, ebenso wie die Disparität in materiellem Wohlstand und die Exklusion von regionalen Eliten. Solche Unterschiede können zum Zwecke politischer Mobilisierung benutzt und in Gruppenbewusstsein transformiert werden, bis sie schließlich in politische Forderungen einmünden. In einem Fünf-Phasen-Modell der Entwicklung eines subnationalen Konflikts werden im Kontext eines akkomodierenden Staates die Bedeutungszurechnung von Werten wie Nation oder Autonomie ins Verhältnis gesetzt zur Mobilisierung vorgestellter Gemeinschaften: je höher die Bewertung ideologischer Substrate durch Eliten, umso stärker wird eine zunächst kleine Anzahl von Aktivisten mobilisiert. In den weiteren Phasen kommt es allmählich zur Beteiligung am politischen Prozess. Diese Instrumentalisierung von kulturellen Gemeinschaften lässt sich in zahlreichen empirischen Fällen im südasiatischen Raum nachweisen. Vielversprechend für die Lösung solcher Konflikte sei die Schaffung von Verhandlungsregeln, die allerdings von den Eliten akzeptiert werden müssten. Die Fälle Kaschmir und Sri Lanka zeigen indes, dass diese Bedingung oft nicht erfüllt ist. Die Politologin Pamela Jawad liefert das Panorama der konfliktträchtigsten Region dieser Welt, des Mittleren und Vorderen Orients. Politische Konflikte werden als Positionsdifferenzen um knappe Güter definiert und in fünf verschiedene Intensitätsstufen eingeteilt. Die in Schaubildern und Graphiken wiedergegebenen Auszählungen der Heidelberger Datenbank Kosimo zeigen, dass diese Region die höchste Quote gewaltsamer Konflikte aufweist, dass innerstaatliche Konflikte in den neunziger Jahren in dieser Region die zwischenstaatlichen abgelöst haben, dass die Machtwechsel in den autoritären Regimes in dieser Region durch zahlreiche Staatsstreiche erfolgten und dass
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das Ringen um internationale regionale Macht sowie um nationale Machtpositionen das vorherrschende Motiv von Auseinandersetzungen waren. Als Erklärungen für dieses Konfliktpanorama bietet die Autorin an: die langen Phasen der Fremdherrschaft mit ihren z. T. künstlich geschaffenen Grenzen, die innerstaatlich ausgetragenen Machtkämpfe um Vorherrschaft, den islamischen Fundamentalismus als politische Ideologie, das Streben ethno-kultureller minoritärer Gruppen nach Selbstbestimmung, sowie das Fehlen akzeptierter Regeln für Machtwechsel in den autoritären Staatsgebilden. Schließlich werden die Machtinteressen der Supermächte genannt, die vor allem auf die reichen Erdölressourcen gerichtet waren und sind. Vonseiten der USA kam nach dem 11. September 2001 der Kampf gegen den Terrorismus hinzu, der den Antikommunismus des Kalten Kriegs ablöste. Die einseitige Israel-Politik der Supermacht und ihr ungeschicktes Agieren im Irak hätten zu einem erheblichen Prestigeverlust in der islamisch-arabischen Welt geführt. Vor allem der weiterhin ungelöste Nahost-Konflikt zwischen Israel und der arabischen Bevölkerung wird die Konfliktforschung noch auf Jahre hinaus beschäftigen.
Konflikt zwischen Politik und Moral Der Philosoph Rüdiger Bubner versucht eine Lanze zu brechen für die sophistische Eristik, die als Kunst, Streit mit Worten zu führen, gerade die Antagonismen betont und nicht fadenscheiniger Diskurs-Harmonie frönt. Das auf Pazifizierung gestimmte „alte Europa“ und die als Friedensorganisation sich verstehenden Vereinten Nationen dürfen aus seiner Sicht nicht blauäugig als Verkünder des „ewigen Friedens“ angesehen, sondern müssen in ihrer ganzen Ambivalenz begriffen werden, die auch die Negation einschließt. Wenn es um Konflikte in ihrer extremen Form geht, nämlich die zwischen Freund und Feind, darf Carl Schmitt nicht fehlen. Der Philosoph Reinhard Mehring diskutiert den Feindbegriff von Carl Schmitt anhand seiner späteren Schriften und der Korrespondenz zwischen Ernst Jünger und Carl Schmitt. Die schon in den früheren Werken sichtbar werdende Schmitt’sche extreme Dichotomisierung von Freund und Feind wird auch in den späteren Schriften beibehalten und auf die Gegenwart projiziert. Der Begriff des Feindes müsse beibehalten werden, weil er einerseits die menschliche Identität stabilisiere; er habe aber auch das Potential zur Konfliktverschärfung. Der französischen Philosophin Barbara Cassin geht es in ihrem Beitrag um die Bewältigung von Unrechtshandlungen am Beispiel der Wahrheitsfindungskommission in Südafrika nach dem Ende der Apartheid. Wie geht eine Gesellschaft mit erlebten Unrechtshandlungen um, und wie kann diese in ein das Zusammenleben ermöglichendes System kanalisiert werden? Dieses einmalige Beispiel der Aufarbeitung von Vergangenheit beruht gerade nicht auf gerichtlich zu klärender und zu verurteilender Schuld, es geht nicht um Mo-
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ral, sondern um Versöhnung durch Wahrheitsfindung in einen diskursiv offenen Prozess der vollständigen Offenlegung (full disclosure) von Erlittenem und Zugefügtem durch die beteiligten Parteien, durch die Opfer und durch die Täter gleichermaßen. Diese Form der Vergangenheitsbewältigung ist schon in der Apologie des Protagoras angedacht. Die Philosophin nähert die Heilmittellogik des Protagoras den Leitmotiven „Heilung durch Offenbarung“ der Wahrheitsfindungskommission an.
Völkerrechtliche Regelung von Konflikten Der Völkerrechtler Jochen Frowein untersucht in seinem Beitrag die Mittel friedlicher Streitbeilegung anhand zahlreicher aktueller Fälle. Er zeigt auf, wie es einerseits in zahlreichen Fällen zu durch Verhandlung erzielter rechtlicher Beilegung von Konflikten gekommen ist; die Ostverträge der Bundesrepublik Deutschland werden zitiert und man könnte sicherlich auch die Verträge nennen, die zur friedlichen Vereinigung Deutschlands geführt haben. Auch die Streitbeilegungen durch den Internationalen Gerichtshof, durch den Internationalen Seegerichtshof und durch Schiedsgerichte werden genannt. Andererseits betont Jochen Frowein, „dass das Völkerrecht seine wichtigste Bewährungsprobe bereits nicht bestanden hat, wenn es zur Gewaltanwendung kommt.“ Der Kosovo- und der Irakkrieg sind ohne Mandatierung – oder nur mit Teilmandatierung – durch den Sicherheitsrat zustande gekommen. Der Autor stellt hier die Frage, ob nicht bei eklatanten Menschenrechtsverletzungen (Genozid) wie in Bosnien oder im Kosovo der Einsatz militärischer Mittel auch ohne Mandatierung gerechtfertigt werden könne. Dies sei allerdings sehr „prekär“.
Evolution und Konflikt Der Verhaltensbiologe Andreas Paul führt uns in die Tierwelt ein, wo Mechanismen am Werke sind, die die menschliche Spezies auch kennt: Konflikte zwischen Individuen des gleichen oder des anderen Geschlechts (Geschlechterkonflikte), Konflikte zwischen Gruppen, Konflikte zwischen Eltern und Kindern etc.; diese äußern sich in Eskalation und Deeskalation, in Kampf, Kooperation und Versöhnung. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Tierwelt von Hasen, Schimpansen, Pavianen, Springaffen, Rhesusaffen, Bartaffen, Javaneraffen und Vögeln (Trauerschnäpper, Heckenbraunellen, Spatzen) werden solche Verhaltenformen exemplifiziert. Das Darwinsche Selektionsprinzip des „Kampfes ums Dasein“, meist einseitig auf den Kampf mit Zähnen und Klauen auf Leben und Tod reduziert, lasse auch Raum für Kooperation, gegenseitige Hilfe und Altruismus. Auch in der Tierwelt gebe es zahlreiche For-
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men des „Konfliktmanagements“, das Eskalation verhindert oder entstandene Schäden zu begrenzen sucht. Friedliche Mittel der Konfliktbewältigung seien ebenfalls in der Evolution angelegt. Konflikte seien jedoch in einer auf möglichst erfolgreichen Weitergabe eigener Gene – auch auf Kosten von Artgenossen – ausgerichteten Welt unausweichlich. Kampf und Kooperation sind nur verschiedene Strategien, die durchaus zu Darwins Wettbewerb um Fortpflanzungschancen gehören.
Konflikt und Individuum In die Psychologie des Konflikts führen uns Klaus Fiedler und Thomas Haar ein. Dabei gehen sie nicht von invarianten, allen Menschen gegebenen Eigenschaften aus, aus denen sich Verhalten oder genauer: Fehlverhalten deduzieren ließe, sondern wollen strukturgegebene Regelmäßigkeiten zur Formulierung von Gesetzmäßigkeiten benutzen. Die Umwelt, die situativen Gegebenheiten werden so ursächlich zur Erklärung von Konflikten herangezogen. Die Autoren berichten von Sozialexperimenten verschiedener Forscher, die die immer wiederkehrenden Verhaltensmuster aus denselben Versuchsanordnungen herauspräparierten. So können Konflikte zwischen zufällig zusammengewürfelten Gruppen ein „Wir-Gefühl“ erzeugen, zu Ingroup- und Outgroup-Bildungen und letztlich auch zu Aggressionen führen. Diese „Realistic Conflict Theory“ kann ergänzt werden durch die „Social Identity Theory“, die im symbolischen Verhalten ruht und etwa damit rechnet, dass die Gruppenerfolge der eigenen Mannschaft zur Steigerung des Selbstwertgefühls beitragen. Weitere Studien werden zitiert, die sich auf die mentalen Gegebenheiten konzentrieren und die Wertigkeit von Begriffen und Konzepten, von Urteilen und Vor-Urteilen, von so genannten „automatischen Prozessen“ zur Erklärung der Ursachen von Konflikten heranziehen. Die Autoren wehren sich gegen die Vorstellung, dass Konflikte als Anomalien, als Verstöße gegen die Moral gekennzeichnet werden; vielmehr – so das Resümee – sind Konflikte „untrennbar mit Innovation, kulturellem Fortschritt und letztlich mit aller Evolution verbunden“. Peter Fiedler listet aus der Sicht der klinischen Psychologie verschiedene Konfliktarten auf, die eine Unterscheidung zwischen unbewussten Konflikten, sozialen Konflikten, Angstkonflikten, motivationalen Konflikten, Normkonflikten, Anspruchskonflikten und Konfliktdialektik nahe legen. Psychische Störungen werden aus der Sicht des Psychiaters aus erblichen, biologischen, psychologischen und sozialgeschichtlichen Faktoren abgeleitet. Das Unbewusste steht seit Sigmund Freud im Mittelpunkt des psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen Umgangs mit psychisch gestörten Menschen. Insbesondere werden Depressionen mit Traumata, einschneidenden Lebensereignissen, Persönlichkeitsmerkmalen, gesellschaftlichen
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Turbulenzen, biologischen oder organ-medizinischen Faktoren in Verbindung gebracht. Auf solche unbewussten, aber latent vorhandenen Konflikte psychotherapeutisch zu reagieren, müsse die Aufgabe der klinischen Betreuung sein, die den Weg zur Gesundung weise.
Konflikt und Kollektiv Die Wirtschaftswissenschaftlerin Eva Terberger beschäftigt sich mit Konflikten und deren Bewältigung in Unternehmen. Corporate Governance lautet das Zauberwort für ein Konzept zur Regelung von Konflikten im Unternehmen zwischen den verschiedenen Interessengruppen, den Unternehmenseignern bzw. Aktionären, den Managern, Arbeitnehmern und den Gläubigern, zwischen shareholder und stakeholder. Während im Corporate-GovernanceSystem der USA die Shareholder(Aktionärs-)-Orientierung vorherrscht, ist das deutsche System eher auf die Harmonisierung der Interessen aller Anspruchsberechtigten, Shareholder wie Stakeholder (Belegschaft, Management, Gläubiger), fokussiert. Während jenes durch die Ausrichtung der Unternehmenspolitik auf das Ziel der Anteilswertsteigerung eher die ökonomische Effizienz zu fördern scheint, ist das deutsche Corporate-GovernanceSystem eher auf Verteilungsgerechtigkeit ausgerichtet. Am Beispiel der spektakulären Mannesmann-Übernahme durch Vodafone wird die Problematik aufgezeigt, die beiden Systemen inhärent ist. Das Corporate-GovernanceSystem beeinflusst gleichzeitig die Effizienz in der Verwendung knapper Ressourcen und die Verteilung zwischen den beteiligten Gruppen. Da beide Bereiche nicht unabhängig voneinander geregelt werden können, kann es zu Zielkonflikten zwischen ökonomischer Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit kommen. Die Ökonomin plädiert für die Einbeziehung anderer wissenschaftlicher Disziplinen, um über die im Corporate-Governance-System gewünschte Konfliktregelung zu befinden.
Götter als Instanz der Konfliktregelung In das antike Anatolien führt uns der Althistoriker Angelos Chaniotis und schildert, wie Konflikte um Ehre, Schande und kleine Verbrechen durch Götterjustiz geahndet wurden. In Beicht- und Sühneinschriften, in Fluch- und Grabinschriften sind solche Berichte über Verbrechen und Ungerechtigkeiten sowie Normverfehlungen und über die Wiederherstellung der Gerechtigkeit in Stein gehauen überliefert. Es ging meist um Diebstahl, Ehebruch, Rache, Verleumdung, versäumte Rückzahlung von Schulden, Beleidigung, Vergiftung, Magie, Mitwisserschaft eines Verbrechens oder um Meineid. Bei scheinbarer oder tatsächlicher Abwesenheit römischer Gerichtsbarkeit wurde in
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den meist kleineren Dörfern Kleinasiens in den ersten drei Jahrhunderten nach Christus die Rolle der Justiz Göttern zugeschrieben, deren Wirken im öffentlichen Raum des Tempels meist von Priestern als Schlichter vermittelt wurde. Die Bestrafung oblag den Göttern, deren Fluch oft Generationen andauern konnte.Verschiedene Arten von Konfliktlösungen durch Einschaltung göttlicher Instanzen sind aus den Inschriften herauszulesen und geben beredtes Zeugnis über die Urheberschaft und den Gegenstand von Konflikten ab sowie über deren Bearbeitung und Lösung. Die Historikerin japanischer Kunst Melanie Trede berichtet über japanische Gebräuche, bei bevorstehenden Konflikten durch Gaben und Stiftungen den Schutz der Götter zu gewinnen. Ein Fallbeispiel eines reich illuminierten Querrollensets und einer buddhistischen Ikone aus dem Japan des 15. Jahrhunderts belegt die religiöse und kulturelle Rivalität zwischen dem Militärherrscher der Ashikaga-Dynastie,Yoshinori, und dem mit ihm verwandten, in der Ostregion herrschenden Ashikaga Mochiuji. Dieser politisch-militärische Machtkampf wurde mit Hilfe von Stiftungen als magischem Mittel ausgetragen mit dem Ziel, die Unterstützung des Kriegsgottes Hachiman für die jeweiligen Kriegsanstrengungen zu gewinnen. Während Mochiuji seine gestiftete buddhistische Ikone mit einem Fluch gegen seinen Gegner verbindet und ewigen militärischen Erfolg, blühende Nachkommenschaft und Sicherheit für die gegenwärtige und zukünftige Generation erhofft, demonstrieren Yoshinoris Querrollensets die Stärkung seines sozialen, kulturellen und politischen Ansehens. Die Kunsthistorikerin interpretiert Yoshinoris und Mochiujis Umgang mit dieser Auseinandersetzung als ein Beispiel der dichten Verflechtung von Kultur, Konflikt und Religion. Sie interpretiert die Lösungsversuche dieses Konflikts und ihre Nachwirkungen nach Hesiods Definition als Hybrid „eines guten und eines bösen Streits“, wobei der „böse“ Streit „kulturzerstörend“ ist, die „Grundlagen von Sitten und Verständigung vernichtet“ und den Krieg mehrt, der „gute“ Streit hingegen „nicht nur kulturfördernd, [sondern] sogar der eigentliche Motor der Kultur“ ist.
Literarische und künstlerische Konstruktion von Konflikt Der Literaturwissenschaftler Silvio Vietta schlägt den großen Bogen von den alten Epen des Homer und dem viel späteren Nibelungenlied über die Dramen des Aischylos (Orestie) und Shakespeares Hamlet bis zu Goethes Werther-Roman und zeigt, dass das dargestellte Konfliktgeschehen von sehr persönlichen Motiven getragen ist, die zu Hass, Rache, ja Mord und Kriegen Anlass gegeben haben. Er sieht im historischen Verlauf eine Tendenz hin zur Verinnerlichung von Konflikten, die mit dem vormodernen Bewusstseinsdrama beginnt und in der literarischen Moderne zu Dokumenten der Subjektivierung und Verinnerlichung von Konflikten führt. Eben in der literarischen
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Brechung einer individuellen Subjektivität kommen „große“ Konflikte zur Darstellung. Der Slawist und Komparatist Horst-Jürgen Gerigk unterscheidet zwischen literarisch dargestellten Konflikten und den Konflikten, die der literarische Text in seiner Umwelt auslöst; gemeint ist die Wirkungsgeschichte literarischer Texte, an denen Anstoß genommen wird. Es gibt also Konflikte als Gegenstand literarischer Texte, und es gibt den literarischen Text als Gegenstand des Konflikts. An Swifts Bücherschlacht wird dies exemplarisch gezeigt. An Hegels Begriff der „Kollision“ werden Konflikte als literarischer Gegenstand festgemacht, in der Hauptsache die Konfrontation der Innerlichkeit mit der Außenwelt im Drama. Dem epischen Helden wird sein Schicksal bereitet, der dramatische Held macht sich sein Schicksal selbst. In beiden Fällen kommt es zur Konfrontation der Innerlichkeit mit der Außenwelt. Überraschend ist Gerigks Einbringung der Lyrik Villons, Goethes und Celans. Weltweit populär wiederum lebt der „Showdown“ des amerikanischen Western von der Kollision. Im Kino-Western High Noon zeigt sich der Konflikt zwischen dem Gesetz und der Gesetzlosigkeit mustergültig greifbar. Zur Anstößigkeit führen literarische Texte dann, wenn sie etwa geltende Normen der Pietät, Moral, Ästhetik oder Politik durchbrechen. Bekannte Beispiele hierfür sind die Buddenbrooks, Les Fleurs du mal, Das Liebeskonzil oder Samjatins Roman Wir. Näher eingegangen wird auf Dostojewskijs Dämonen und Walsers Tod eines Kritikers, auf Tolstojs Auferstehung und Graham Greenes The Power and the Glory. Der Kunsthistoriker Dietrich Schubert zeigt anhand zweier Gemälde, wie die Darstellung von Krieg und Krieger zur Dämonisierung oder Heroisierung führen kann. Otto Dix’ Triptychon zeugt von den verheerenden Folgen von Kriegen, wie sie die Generation des Ersten Weltkriegs geprägt haben mag. Wilhelm Sauters Heldenschrein hingegen gibt die Heroisierung der Opfer des Weltkriegs für die Erneuerung des Reichs wieder, wie sie die NS-Führung propagierte. Um Konflikt und Konfliktbewältigung geht es dem Romanisten Gerhard Frey in seinem Vergleich zwischen Schillers Wilhelm Tell und José Rizals Noli me tangere. Beide Werke haben die Befreiung vom Joch der Fremdherrschaft zum Thema: Gessler wird zur Inkarnation Napoleons, und Crisóstomo Ibarra kämpft für die Unabhängigkeit der Philippinen von der spanischen Kolonialmacht. Die zentrale Frage ist die nach der Rechtfertigung der Anwendung von Gewalt im Kampf um eine gerechte Sache, um die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes. Ist also die Anwendung von Gewalt zur Lösung von Konflikten legitim? Die Antworten der beiden Autoren, des deutschen Klassikers und des philippinischen Freiheitshelden, differieren: während Schiller der Gewaltanwendung unter bestimmten Umständen eher positiv gegenübersteht, bleibt Rizal reserviert. Allerdings hat diese Zurückhaltung nicht verhindern können, dass er von der spanischen Kolonialmacht hingerichtet wurde.
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Schiller hatte demgegenüber einen leichteren Stand: er selbst war nicht politische Kampfpartei wie Rizal. Mit Karl-Josef Kuschel kehren wir thematisch zum Anfang des Bandes zurück: Der Kampf der Kulturen wird in Lessings Nathan der Weise in dramatischer Form mit allerdings gegensätzlicher Intention dargestellt. Es gebe – so der Autor – kein zweites Stück in der deutschen Literatur, welches das Konfliktpotential zwischen Juden, Christen und Muslimen spiegle und dabei das Modell der Versöhnung anbiete. Die „brennende Aktualität“ dieses Versöhnungsdramas wird durch die zahlreichen Aufführungen auf deutschsprachigen Bühnen nach dem 11. September 2001 belegt. Während Huntingtons Kulturthese auf Konfrontation angelegt ist und auch so politisch instrumentalisiert wurde, ruft Lessing im Zeitalter der Aufklärung in seinem Drama zur Toleranz auf. Nicht Kampf ist angezeigt, sondern Dialog und Verständnis. Lessings Nathan ist ein Gegenentwurf zur damaligen, religiös inspirierten Konflikt- und Gewaltgeschichte. Strategisch verfolgt der Bibliothekar zu Wolfenbüttel nach Kuschel die kalkulierte Aufwertung der verachteten Juden und Muslime. Die positiv dargestellte jüdische Figur und die positiv gezeichneten muslimischen Figuren gingen gegen den Trend der damaligen (wie der heutigen) Zeit an; sie seien ein Versuch, die Negativbilder zumindest zu relativieren, Stereotype abzubauen und Vorurteilen entgegenzutreten. Heute wie damals werden Religionen oft reduziert auf Negativbilder, um sie politisch instrumentalisieren zu können. Dem Islam geschehe dies heute durch die transatlantische Supermacht, wohingegen in Europa das Erbe der Aufklärung stärker zu wirken scheint und Differenzierungen allenthalben zu vernehmen sind.
Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Vergleichende Konfliktforschung: Demokratisierung und externe Konflikte ekkart zimmermann Einleitung: Ein Vergleich von Konfliktformen Die vergleichende Konfliktforschung (Zimmermann 2003) befasst sich vor allem mit Untersuchungsobjekten auf der Ebene des internationalen Systems, derjenigen von und zwischen Staaten und der Ebene nichtstaatlicher Akteursgruppen. Letztere reichen von gewaltfreien Demonstrationen bis hin zu internationalem Terrorismus. Tabelle 1 liefert einen knappen Überblick über viele dieser Formen, ohne allerdings zugleich der Vielfalt internationaler Konfliktformen gebührendes Augenmerk zu schenken. Tabelle 1. Politik und Gewalt: einige zentrale Dimensionen und Konfliktformen
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Das erste und zunächst wichtigste Kriterium ist die Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols, also der Ordnung im Innern. Als zweites wird die Ordnung von außen, an den Staatsgrenzen, in Frage gestellt. Das dritte Moment schließlich beinhaltet den möglichen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung. Im Einzelnen lassen sich die verschiedenen Konfliktformen wie folgt zuordnen: Grundsätzlich sind die Fälle, in denen das staatliche Gewaltmonopol gefährdet ist, also diejenigen auf der linken Seite in der Tabelle, ex definitione als stärkere Herausforderungen anzusehen. Das staatliche Gewaltmonopol wird bei einer Gefährdung der Gesellschaftsordnung ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen und ist im Übrigen an den Staatsgrenzen nach außen ebenfalls sicherzustellen. Bei einem Vergleich z. B. von Innerem Krieg mit bloßem ideologischem Extremismus wird somit deutlich, dass letzterer im allgemeinen „lediglich“ die Gesellschaftsordnung gefährdet, Innerer Krieg wegen der damit verbundenen Organisation der Gewalt dagegen auch das staatliche Gewaltmonopol. „Universalistische“ Befreiungsideologien mögen dagegen zur Aufhebung der eigenen Staatsgrenzen aufrufen. Das Gewaltmonopol gefährden sie als reine Ideologien jedoch nicht, wohl aber die Gesellschaftsordnung. Natürlich kann sich in dynamischer Perspektive in vielen Fällen eine Eskalation zur Gefährdung auch der jeweils anderen Dimensionen ergeben. Der antistaatliche links- wie rechtsextremistische Terrorismus gefährdet sowohl das staatliche Gewaltmonopol wie die Gesellschaftsordnung, nicht aber die Staatsgrenzen, wohingegen beim gewöhnlichen militärischen Staatsstreich die Gesellschaftsordnung nicht gefährdet ist. Einen interessanten Fall stellen freiwillige überstaatliche Zusammenschlüsse dar, gewissermaßen eine eher mehrheitsgetragene Bewegung, die die eigenen Staatsgrenzen infragestellt. Natürlich verbleiben bei einer derartigen Grobeinstufung zahlreiche Ambiguitäten: So ist etwa in autoritären Staaten je nach Handhabung der repressiven Kräfte das Gewaltmonopol in der Reaktion auf Protest und Demonstrationen gefährdet. Im Falle der Auseinandersetzungen um Irredenta ist die Gesellschaftsordnung, also vor allem die Organisationsform der Produktion, im Allgemeinen weniger gefährdet als (schon ex definitione) die Staatsgrenzen. Innerer Krieg geht meist auch mit einer Gefährdung der Gesellschaftsordnung einher, insofern als solche Auseinandersetzungen häufig gesellschaftspolitisch und kulturell-religiös aufgeladen sind. Weniger vorrangig ist die Gefährdung der Staatsgrenzen. Kommt es allerdings zusätzlich zu einer Herausforderung der Gesellschaftsordnung, so ist von einer revolutionären Situation und beim Sturz der Gesellschaftsordnung und weitergehenden Veränderungen u. U. von Revolution zu sprechen. Revolutionäre Bewegungen mit internationaler Zielsetzung (linkes oberes Feld in Tabelle 1) stellen dabei oft auch die eigenen Staatsgrenzen in Frage. Bei fast allen Konfliktformen in Tabelle 1 spielt Gewalt eine bedeutende Rolle, gelegentlich auch eine untergeordnete. So kann Protest, der weder die
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Gesellschaftsordnung noch die Staatsgrenzen noch das staatliche Gewaltmonopol gefährdet, sehr wohl auch friedfertig ablaufen (unteres rechtes Kästchen in Tabelle 1). Wie angedeutet, sind hier vielfältige Überschneidungen der Formen möglich, insbesondere im zeitlichen Verlauf. So wäre etwa der internationale Terrorismus zwischen dem ersten und zweiten Kästchen in der ersten Zeile einzuordnen und zugleich mit der Gefährdung der internationalen Ordnung sogar eine weitere vierte grundlegende Dimension zu benennen. Es geht weniger um eine vollständige Klassifikation dieser jeweiligen Herausforderungen als vielmehr darum, die analytische Nützlichkeit der genannten drei zentralen Kriterien zu erweisen (vgl. auch die Typologie bei Zimmermann 1981, 149, wo in diesem Zusammenhang stärker auf Massen und Eliten eingegangen wird). Ziel des vorliegenden Beitrags ist (1) der Versuch, die These eines Zusammenhangs von Demokratisierung und externen Konflikten, nach ihren stärksten Vertretern Mansfield und Snyder (1995a; 1995b; 1996) auch als MansfieldSnyder-These (hier M/S-These) benannt, in diese Typologien der Konfliktformen zumindest ansatzweise einzuordnen, (2) dabei gleichzeitig Formen und kausale Wege der Verbindung zwischen einzelnen Konfliktformen abzuschätzen und (3) zu weiteren Desiderata in der vergleichenden Konfliktforschung zu gelangen. Angesichts der hier gebotenen Kürze kann vieles dabei nur angedeutet werden. Dennoch sollte die theoretische und empirische Fruchtbarkeit einer solchen Vorgehensweise erkennbar werden.
Der Kern der Mansfield-Snyder-These Das Kernmodell von Mansfield und Snyder lässt sich wie folgt explizieren:
Abb. 1. Das Kernmodell von Mansfield und Snyder für die Erklärung des Zusammenhanges zwischen Demokratisierung und externen Kriegen
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Regimewandel verändert die Interessen- und Risikokalkulationen der politischen Akteure, vor allem der bisherigen politischen Eliten und ihrer Herausforderer. Diese neue Interessenlage ist nicht eingebettet in ein differenziertes und stabiles Parteiensystem, das sich neuen Forderungen gegenüber als flexibel erweist, diese in den politischen Prozess kanalisiert und ihnen die Schärfe eines Nullsummenkonfliktes nimmt. Unter diesen beiden Bedingungen sehen politisch verantwortungslose Führer, die zugleich nicht kontrolliert werden, einen starken Anreiz zu immer größeren Forderungen und zur Externalisierung interner Spannungen. Dabei gewinnen durch den kurzen Zeithorizont, unter dem die Akteure ihre Interessen sehen, extreme politische Ideologien an Bedeutung. Letztlich wird damit sowohl nach innen wie nach außen mangelnde Kompromissfähigkeit demonstriert.Wenn man so will, wäre dies die Umkehrung eines der grundlegenden Mechanismen, warum etablierte Demokratien die im Innern bewährten Tugenden der Mäßigung und Kompromissfähigkeit auch auf ihre Außenpolitik (zumindest ähnlichen Staaten gegenüber) zu übertragen suchen. Kurzum: Demokratie setzt Vertrauen voraus und gebiert dies immer wieder, Demokratisierung dagegen fördert erst einmal Misstrauen. Die theoretische und empirische Kritik gegen diese These hat u.a. folgende Einwände geliefert (s. u. a. Zimmermann 1999): 1. Aggregierte Querschnittsbetrachtungen mit Zeitverzögerung in den abhängigen Variablen treten an die Stelle echter Längsschnittperspektiven. Zugleich werden intervenierende Variablen nicht explizit gemessen. 2. Die Fälle im Untersuchungsgut sind nicht immer unabhängig voneinander, besonders bei fortdauernden und blutig umkämpften Grenzstreitigkeiten. Ferner schwächt der Einschluss weit voneinander entfernter – und damit eher unwahrscheinlicher – Konfliktpaare den theoretischen Gehalt der Analyse. 3. Die Regimeklassifikationen, besonders diejenige anokratischer1 Regimes, durch Gurr (1990) sind fraglich. 4. Der Wandel von Regimes allgemein ist erklärungskräftiger und dann auch erklärungsbedürftiger als der von autoritären zu demokratischen Regimen. 5. Zwischen Angreifer und Angegriffenen ist näher zu unterscheiden. Verortet man die M/S-These ihrem Kern nach in der Typologie der Tabelle 1, so stellt sich die Dimension der Gefährdung der Staatsgrenzen als dominant heraus, eventuell angereichert um eine Gefährdung des staatlichen Gewaltmonopols und auch der Gesellschaftsordnung, nämlich dann, wenn die angestrebte Externalisierung interner Konflikte durch die Herrscher außer Kon-
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Eine von Gurr vorgeschlagene Bezeichnung, die im Wesentlichen für Anarchie steht.
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trolle gerät. Auf jeden Fall werden aber mit der Verknüpfung externer Konfliktlinien mit internen Konflikten nahezu ex definitione auch die Staatsgrenzen gefährdet. Der externe Konfliktgegner kann sich in Ergänzung zu, an seiner Stelle oder in Verbindung mit dem internen Konfliktgegner als überlegen erweisen und eine Korrektur externer Grenzen einfordern bzw. durchsetzen. Der historische Fall des Krösus mit seinem Überschreiten des Halys liefert hier ein berühmtes Beispiel. Besonders ausgeprägt ist diese Merkmalskonstellation im Falle von Irredenta: hier liefert Hitler mit seiner Heim-insReich-Politik ein anschauliches Beispiel, freilich im Rahmen eines nichtdemokratischen politischen Systems. Mason (1995) sieht eine deutliche Verbindung zwischen nichtgestiegenen Reallöhnen und außenpolitischer Aggressivität des Nationalsozialismus. Besteht der Versuch einer Ablenkung einer auf das internationale System gerichteten revolutionären Bewegung, ist bereits ex definitione die Gesellschaftsordnung mitgefährdet. Mit der List der Geschichte könnte man das Scheitern des internationalen Kommunismus nach 1989 als einen vorrangigen solchen, freilich durch viele andere Faktoren (vgl. z. B. Kennedy 1989, Collins 1999) mitbestimmten, Fall ansehen. Der militärische Staatsstreich schließlich ist noch die unverfänglichste Konfliktform in den linken vier Kästchen. Er hat auch nur etwas mit der Erlangung der Macht, nicht aber mit deren Festigung oder Verspielen zu tun. Bei Inneren Kriegen sind Ablenkungsmanöver im Sinne von Mansfield und Snyder häufig in der Frühphase solcher Auseinandersetzungen anzutreffen (vgl. Bismarcks sozialimperialistische Politik, Snyder 1993). Je mehr allerdings eine Balance der Kräfte in einem fortdauernden Inneren Krieg anzutreffen ist, umso eher treten herbeigerufene Bundesgenossen an die Stelle einer Strategie der Ablenkung, die dann gänzlich unkontrolliert bliebe. Geht man hinüber auf die rechte Seite von Tabelle 1, so fällt auf, dass sich alle verbliebenen Konfliktformen, mit Ausnahme der Bewegungen zugunsten eines überstaatlichen Zusammenschlusses, sehr wohl im Sinne der Ablenkungshypothese von Mansfield und Snyder nutzen lassen. Proteste und Demonstrationen, die weder Staatsgrenzen noch staatliches Gewaltmonopol noch die Gesellschaftsordnung gefährden, eignen sich durch Konzentration auf ausländische Konfliktziele und Symbole immer wieder für eine solche Vorgehensweise. Hierzu lassen sich zahlreiche historische und gegenwärtige Beispiele anführen wie z. B. Proteste gegen Auflagen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IMF) anläßlich drastischer Anhebungen der Preise für Waren des Massenbedarfs (Stiglitz 2002). So können z. B. Proteste gegen die Erhöhung von Nahrungsmittelpreisen und der öffentlichen Verkehrsmittel leicht auf ausländische Botschaften und durch symbolische Aktionen im auswärtigen politischen Verkehr auf internationale Akteure (z. B. IMF) gerichtet werden. Die spiegelbildlichen („Anti-Terror“-) Maßnahmen von Lula zur Erschwerung des Lebens US-amerikanischer Touristen in Brasi-
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lien stießen sehr schnell auf die notwendige innenpolitische Popularität. Noch deutlicher wird eine solche Strategie, wenn ideologischer (religiöser) Extremismus exportiert werden soll, wie im Falle der Mullah-Herrschaft im Iran. Insgesamt ließ sich bislang die ökonomische und politische Unzufriedenheit vieler arabischer und muslimischer Massen immer noch durch Ablenkung auf außenpolitische Ziele, meist in der Auseinandersetzung mit direkten US-amerikanischen oder israelischen Angriffsobjekten, steuern. In Tabelle 1 gefährdet ideologischer Extremismus sowohl die Gesellschaftsordnung (im Iran allerdings verfolgen Herrscher und ideologische Extremisten eine gleiche Zielsetzung) wie vor allem die Staatsgrenzen. Die von Walt (1996) und früher von Huntington (1968) beschriebene ideologische Stoßrichtung revolutionärer ideologischer Regimes gegen die internationale politische Ordnung bezieht hieraus ihre Nahrung. Das ursprüngliche Verhalten der Sowjetunion vor Stalins „Sozialismus im eigenen Lande“, der französischen Revolutionsarmee nach 1789 und die außenpolitische Aggressivität der schiitischen Staats- und Religionsphilosophie im Iran (s. Walt 1996) liefern mannigfache historische Beispiele. Handelt es sich sogar um „universalistische“ Befreiungsideologien, sind zumeist ex definitione (Universalismus) auch die Staatsgrenzen gefährdet und je nach Intensität dieser Ideologien auch das staatliche Gewaltmonopol. Alle bisherigen Fälle zeigen, dass eine solche stärker am historischen Einzelfall bzw. einer Gruppe von Fällen orientierte Analysestrategie, wenn sie im Detail über die Zeit verfolgt wird, zu z. T. völlig andersgearteten Kausalketten führt, als das allgemeinere und einfachere an Huntington (1968) orientierte Modell von Mansfield und Snyder. Auch ist ihre auf große Fallzahlen angelegte paarweise Analyse als zu kurzgreifend für eine klarere, am Gestaltungstypus orientierte Konfliktanalyse anzusehen. Auf der anderen Seite erlaubt sie präzise Mehrvariablentests und statistisch genauere Befunde. Beide Strategien sind denn auch sinnvoll in weiterführenden Analysen zu verbinden. Wenn die bisherige an der paarweisen Forschung orientierte Kritik vor allem mit den Argumenten, Regimewandel als solcher sei wichtiger, und in Mehrvariablen-Analysen der Kausaleinflüsse der Trias von Demokratischem Frieden, internationalem Handel und internationalen Institutionen sei die Mansfield-Synder-These als bedeutungslose Zusatzvariable anzusehen (Russett/Oneal 2001) besticht, so ergibt sich in der Vielfalt hier skizzierter Kausalketten und historischer Illustrationen in Teilen ein erheblich anderes Bild. Auch wissen wir aus der Popularitätsforschung demokratischer Regierungen (s. z. B. Lian/O’Neal 1993), dass ein kalkuliertes Ziehen der außenpolitischen Konfliktablenkungs-Karte oft genug die Massen in ihrem Wahlverhalten und/ihren politischen Einstellungen (zumindest kurzfristig) beeinflusst (vgl. Bundeskanzler Schröder im Wahlkampf 2002 in Ostdeutschland).
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Theoretische und empirische Ergänzungen Die M/S-Externalisierungsthese interner Konflikte im Gefolge eines Demokratisierungsprozesses ist ohne Zweifel in eine Fülle weiterer Variablengruppen einzuordnen. Dazu gehören u. a.: Regime-Erbschaften und historische Hinterlassenschaften, Formen und Auswirkungen des Regime-Übergangs sowie die internationale wirtschaftliche und politische Umgebung (Zimmermann 1999, 429). Wie komplex theoretische Gedankengänge und empirische Konstellationen verlaufen können, sei abschließend an vier einflussreichen Arbeiten erläutert. McFaul (1997/98) zeigt am Beispiel Russlands unter Jelzin (analog dürfte das auch für Putin gelten), dass für die M/S-These ideale Bedingungen einer Externalisierung (verunsicherte Alt-Eliten ohne angemessene Entschädigung, unzureichende politische Institutionalisierung und weitgehend Nachbarstaaten mit [semi-]autoritären politischen Strukturen) vorlagen und dennoch die Hypothese nicht gestützt wird (die Angriffe gegen Tschetschenien und allgemein im Kaukasus ausgenommen). Dafür macht McFaul vor allem die Schwäche der jeweiligen präsidentialen Gegner (mit fehlenden Verbündeten in anderen Ländern) und das zurzeit international konkurrenzlos dominierende demokratische Herrschaftsmodell verantwortlich. Andere historische Phasen revolutionären Wandels, wie Frankreich nach 1789, die bolschewistische Revolution und auch der Nationalsozialismus, weisen dagegen eher einen internationalen Rahmen auf, der eine Externalisierung interner Konflikte begünstigt hat. Ferner ist zwischen der Chance und dem Willen der politischen Führer zu einer Externalisierung zu unterscheiden. Allgemein ergäben sich im Gefolge politischer Demokratisierung neue ideologische Spielräume und neue politische Koalitionen auch für die Außenpolitik, was nicht gegen M/S spricht, nur den Erwartungshorizont für unterschiedlich geartete Koalitionen (z. B. Handelskoalitionen) erweitert. Die Interessen und Ideen politischer Führer wie auch die Konstellationen der Innenpolitik müssten stärker in die Makroanalyse einbezogen werden. Bestenfalls fänden sich mit den beiden Kernvariablen von M/S zwei notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingungen. Auch der Fall China deutet bislang nicht in Richtung der Vorhersagen von M/S (vgl. bereits Goldstein 1997/98), vor allem wegen der starken Exportorientiertheit Chinas. Goemans und Chiozza (2000) machen im Anschluss an Bueno de Mesquita und Siverson (1995) darauf aufmerksam, dass die Fähigkeit und Neigung zu einer Externalisierung auch durch die spezifische Art des politischen Systems und die daraus folgenden Kalkulationen der jeweiligen politischen Führer beeinflusst ist (weniger Bedarf an Zustimmung, also mehr Voluntarismus in autoritären Systemen, ferner auch geringere zeitliche Eingrenzung des Amts als in Demokratien). Sie leiten daraus ab, dass sich Führer in autoritär-demokra-
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tisch gemischten Staaten stärker als in Diktaturen und Demokratien für eine Externalisierung interner Konflikte entscheiden. Ihre Datenanalyse (Polity III-Datensatz von Jaggers und Gurr 1995, ferner u. a. Daten von Singer und Small 1994) stützt diese Hypothesen bislang allerdings nicht. Bei Gleditsch und Beardsley (2004) verschiebt sich die Analyse auf das Eingreifen Dritter Parteien (hier in interne Konflikte in El Salvador, Guatemala und Nicaragua 1984–2001). Die Autoren zeigen vorwiegend an Ereignisdaten, dass Dritte Parteien nicht allein das Ergebnis, sondern auch die Eskalation und Dauer interner Konflikte beeinflussen können. Transnationale Akteure ändern somit das Ausmaß der Kooperation zwischen internen Konfliktakteuren, wobei Konsistenz in der Haltung des Dritten die Stärke und Richtung der Einflussnahme erwartungsgemäß erhöht. Transnationale Aspekte von Bürgerkriegen gewinnen angesichts wegbrechender Staatlichkeit vor allem in Schwarzafrika an Bedeutung (Mitte 2004 unmittelbar an der Elfenbeinküste, in Liberia und Sierra Leone, im Kongo und in seinen östlichen Nachbarstaaten, in Somalia und andernorts). Auch ist der Ausbruch von Kriegen stark (und als Vorhersagegröße sogar stärker!) davon abhängig, was sich in den Nachbarstaaten abspielt (Gleditsch 2003). Somit argumentieren Gleditsch und Beardsley, dass neben dem Ort auch Zeitpunkt und Verlauf interner Konflikte erhöhter Aufmerksamkeit in dynamischer Analyse bedürfen. In gewisser Weise wird damit die Externalisierungsthese allerdings im Sinne eines Anlockens externer Konfliktpartner (oder noch komplizierter: als der sich freuende Dritte), z. B. bei einer Krise, umgekehrt. Als Alternativhypothese (s. Larsen 2003) sollte dies aber eine standardmäßig zu testende Erklärungsvariante sein. Ferner bleibt zwischen dem Willen und der Fähigkeit zum Eingreifen auch bei dritten Parteien zu unterscheiden, was wiederum Nachahmungseffekte und Gleichgewichtseingriffe anderer Parteiungen auslösen kann (Gleditsch/Beardsley 2004, 400). Schließlich hat Gelpi (1997) schon vor einiger Zeit auf grundlegende Ergänzungen und Einschränkungen der Konflikt-Externalisierungshypothese hingewiesen: Erstens spiele die Struktur der Regierung eine entscheidende Rolle bei der Versuchung zu democratic diversions. Autokratische Regimes und Führer hätten Möglichkeiten, internen Dissens auch direkt zu unterdrücken, im Unterschied zu demokratischen Regimes (unterstützende Befunde in 180 Krisen zwischen 1948 und 1982). Viele der bislang häufig zitierten historischen Präzedenzfälle für die M/S-These wie die Rolle des deutschen Kaisers auf dem Weg zum Ersten Weltkrieg oder die Episode des Falklandkriegs könnten auch anders als durch die Externalisierungshypothese von Regimes unter Demokratisierungsdruck erklärt werden, nämlich durch die Konstellation des internationalen politischen Systems mit den davon zum jeweiligen Zeitpunkt
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ausgehenden Signalen oder auch durch Übergangsphasen in der relativen Machtposition einzelner Staaten (im Falle des Ersten Weltkrieges) oder durch Abschreckungsversagen im Falle Englands gegenüber Argentinien. Zweitens wiesen diese Alternativerklärungen auf die Notwendigkeit hin, andere störende oder alternative Kausalfaktoren besser zu kontrollieren und die spezifischen Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen die M/S-These gelten kann (Gelpi 1997, 278). Auch hätten seine Befunde Bedeutung für die „konträren“ Befunde dyadischer Analysen (demokratischer Frieden zwischen Demokratien, Kant 1795, Rummel 1994) und monadischer Befunde zur Rolle von Demokratien in externen Konflikten: „Democratic institutions can actually create incentives to initiate force when faced with domestic unrest. Thus I conclude that monadic theories of the democratic peace must be amended to account for the way in which democratic leaders respond to domestic unrest.“ (Gelpi 1997, 279) Auch mögen demokratische Staaten bei einer Externalisierung interner Konflikte autokratische Staaten bevorzugen (eine entfernte Parallele zum Angriff der USA auf den Irak im Jahre 2003 deutet sich hier an, wenngleich zahlreiche andere Erklärungsmomente mitspielen). Drittens bleibt immer deutlich zu unterscheiden zwischen der Initiierung externer Spannungen und der Eskalation selbiger angesichts interner politischer Gegebenheiten, eine Unterscheidung, die in vielen quantitativen und auch qualitativen Studien bislang noch nicht hinreichend getroffen worden ist. Somit könne gelten, dass „democracies are generally less likely to initiate disputes. Once a crisis has begun, however, any monadic effect of democracy on the initiation of force disappears … democratic states are willing to initiate very high levels of force in response to domestic protest and rebellion. The initiation of major force (i.e., committing more than 1,000 troops into battle) essentially corresponds to the initiation of war. Thus I find that democracies will risk war in an effort to divert attention away from domestic disturbances.“ (Gelpi 1997, 279f.) Auch dürfen Demokratien, also ein NiveauFaktor, nicht mit Demokratisierung, einem Prozess-Faktor, verwechselt werden, wenngleich sich bei jungen Demokratien in kurzfristiger Perspektive starke Überschneidungen ergeben. Viertens hatte Levy (1989) schon darauf aufmerksam gemacht, dass die Ablenkungshypothese allgemein unter mangelnder Spezifizierung leidet. Gelpi fügt hier eine zentrale Einsicht hinzu. Im Unterschied zu Autokratien kann die Externalisierung interner Konflikte in Demokratien auf deutliche interne demokratische Mängel hindeuten und somit für die Forschung wie für die internationale Konflikteinhegung wichtige (z. T. verstörende) Fragen aufwerfen. Somit haben Gelpi, aber auch Gleditsch und Beardsley die Liste der beiden notwendigen Bedingungen von M/S erweitert – oder zumindest das deutliche Neutralisieren oder Gegensteuern dieser Bedingungen durch andere aufzeigen können.
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Schlussbemerkungen Die Mansfield-Snyder-These der Konfliktexternalisierung in sich demokratisierenden Regimes steht offensichtlich in einem breiten Zusammenhang von Erklärungsfaktoren, der weit über das von M/S angeführte Erklärungspaar von unsicheren Alt-Eliten vs. fordernden Neu-Eliten und mangelnder politischer Institutionalisierung hinausgeht. Dies ist in mehrfacher Hinsicht der Fall. (1) Zunächst wurden grundlegende Konfliktformen in der vergleichenden Konflitkforschung mittels dreier zentraler Kriterien (Gefährdung des Gewaltmonopols, staatlicher Grenzen und der Gesellschaftsordnung) voneinander abgegrenzt und einige Überschneidungs- und Verlaufsformen kurz angedeutet. (2) Eine an den Variablen von M/S orientierte Analyse (s. Abbildung 1) stößt auf zahlreiche empirische und theoretische Kritikpunkte. (3) Zugleich bleibt offen, welche Konfliktformen in welcher Häufung, zeitlichen Abfolge, Verbundenheit und mit welchem Ausgang aus der Typologie (Tabelle 1) in einer an dem Modell von M/S orientierten Analyse auftreten. (4) Darüber hinaus machen Gelpi, Gleditsch und Beardsley und McFaul neben anderen eindrücklich klar, wie naiv eine allzu simple Fassung der M/SThese theoretisch wie empirisch Gefahr liefe, reale Prozesse zu übersehen. (5) Somit zeigen sich insgesamt zahlreiche Anregungen aus der erweiterten internen-externen Konfliktablenkungsthese, die freilich über den theoretischen Zusammenhang bei Mansfield und Synder („Demokratisierung“) hinausgehen und damit auch unterschiedliche Forderungen an den methodischen Design (parallelisierte Paare, Gruppen mit teilweise nichtäquivalenten Kontrollmaterialien, vgl. Cook und Campbell 1979; Problem der Endogenität und umgekehrter Kausalität) stellen. Eine uralte These der Sozialforschung – von Sumner über Simmel bis zu Mansfield und Snyder –, nämlich die der Konfliktexternalisierung interner Spannungen, weist damit der weiteren Forschung fruchtbare, allerdings auch hochgradig komplexere Perspektiven. Guido Mehlkop danke ich für kritische Anregungen.
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Der Kampf der Kulturen – das Erklärungsmuster für Konflikte im 21. Jahrhundert? nicolas schwank1 Ein Paradigmenwechsel in der internationalen Politik? Wer sie gesehen hat, wird die Bilder wohl nie vergessen: Zwei Flugzeuge fliegen am 11. September 2001 gezielt in die beiden Hochhaustürme des World Trade Centers. Die Wahrzeichen westlicher Macht und amerikanischen Wohlstands stürzen innerhalb weniger Minuten ein. Im Staub und Nebel der Türme, aber auch des brennenden Pentagons und des vierten, abgestürzten Passagierflugzeuges scheint sich die Vision von Frieden und Sicherheit in den westlichen Ländern buchstäblich in Rauch aufzulösen. Den USA, dem Inbegriff der westlichen Macht, wird an diesem Tag brutal – und medienwirksam live im Fernsehen – vor Augen geführt, dass Zerstörung und Tod auch sie treffen können. Der Schock, den der terroristische Anschlag auslöste, war groß. Das zuvor Unvorstellbare wurde tagelang fast ohne Unterlass im Fernsehen wiederholt. Zwei Fragen wurden in den Medien ständig gestellt. Erstens: Wer waren die Täter? Und zweitens: Warum wurde das getan? Die ersten Ermittlungsergebnisse verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und bestätigten die schlimmsten Befürchtungen: islamische Fundamentalisten der Terrororganisation Al Qaida hatten die zivilen Flugzeuge unter Kontrolle gebracht und sie als Terrorinstrumente missbraucht. Bereits vorher galten islamische Fundamentalisten als Urheber früherer Anschläge wie gegen das World Trade Center (1993)2, auf die US-amerikanischen Botschaften in Tansania und Kenia (1998)3 oder ein US-amerikanisches Militärschiff vor der Küste 1
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Mein besonderer Dank geht an Angel Jimenez Sanchez, der die Auswertungen aus der Datenbank programmierte, sowie an Julian Albert, der die Grafik zur Aufteilung der Welt in Kulturkreise erstellte. Christoph Trinn und Peer Böhrnsen kümmerten sich um die korrekte Zuordnung der Staaten in die Kulturkreise. Herrn Prof. Pfetsch danke ich für seine sachkundigen Ratschläge und Hinweise, mit der er die Entstehung des Textes begleitete. Ein erster Anschlag gegen das World Trade Center wurde am 26. Februar 1993 verübt und Al Qaida als einer der möglichen Drahtzieher genannt. Bei diesem Anschlag kamen fünf Menschen ums Leben. Im August 1998 kamen bei zwei gleichzeitigen Anschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania insgesamt 224 Menschen ums Leben, darunter 12 US-Bürger.
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des Jemen (2000)4, bei dem 17 Soldaten ums Leben kamen. Mit dieser Querverbindung erschien der 11. September plötzlich nicht mehr als furchtbares, aber singuläres Großereignis, sondern als Glied einer ganzen Kette von Anschlägen, als Teil einer gezielten Strategie.
Der 11. September als Beginn des Kampfs der Kulturen? Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 schien sich auf bittere Weise eine These zu bewahrheiten, die Anfang der 1990er zuerst einen Sturm der Entrüstung und nachfolgend eine breite Debatte ausgelöst hatte: der renommierte Harvard-Politologe Samuel Huntington5 hatte 1993 in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs einen Artikel veröffentlicht, der unter dem Titel „Kampf der Kulturen?“ erschien.6 Drei Jahre später erschien das wesentlich umfangreichere Buch, nun aber ohne Fragezeichen im Titel.7 Huntington, beeindruckt von den Bürgerkriegen im auseinander fallenden Jugoslawien und dem von den USA angeführten Krieg gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits, glaubte die Prototypen der Kriege der Zukunft zu erkennen, die die Weltordnung nach dem Ende des Ost-West Gegensatzes bestimmen und neu regeln sollten: Kämpfe zwischen den verschiedenen Kulturen.8 Als eine der Konfliktlinien, die am häufigsten Gewalt auslösen könnte und die zukünftige Konfliktlage am stärksten prägen würde, nannte er jene zwischen dem Islam und dem Westen.9 Als Ursachen erkannte er neben der Überbevölkerung in den islamischen Staaten vor allem eine grundsätzliche Ablehnung westlicher Ideen wie Individualismus, Liberalismus, Konstitutionalismus, Menschenrechte, Gleichheit von Gruppen und Geschlechtern und die Demokratie.10
Heftige Reaktionen auf die Huntington-These Die Diskussion um die These vom Kampf der Kulturen wurde bereits nach dem Erscheinen des ersten Artikels auf der ganzen Welt scharf und sehr aus4
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Am 17. Oktober 2000 wurden am amerikanischen Kriegsschiff USS Cole, das im Jemen Nachschub bunkerte, mehrere Bomben gezündet. Die Opfer waren ausschließlich US-Bürger. Huntington nahm damit eine Gegenposition zu Francis Fukuyama ein., der ebenfalls das Ende des OstWest-Gegensatzes als Wendepunkt in der Geschichte erkannt, aber davon ausging, dass die Zeit der ideologischen Auseinandersetzungen mit dem Sieg des Westens vorbei seien. Vgl. Fukuyama 1992. Huntington 1993. Huntington 1998. Im Deutschen ist die Sprachverwirrung groß. In der deutschen Übersetzung wird darauf hingewiesen, dass der englische Begriff „Civilizations“ mit „Kulturen“ und „culture“ mit „Zivilisationen“ übersetzt wurde. Vgl. Huntington 1998, S. 14. Im Folgenden verwende ich für das amerikanische „civilization“ die deutschen Begriffe „Kultur“, bzw.„Kulturkreis“. Die zweite wichtige Konfliktlinie sieht er zwischen dem Westen und den ost-asiatischen Ländern. Siehe dazu unten. Vgl. dazu das Interview mit Huntington zum ersten Jahrestag der Terroranschläge, Joffe 2002.
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führlich geführt.11 Die Kritiker Huntingtons standen feindselig seinen Befürwortern und Bewunderern gegenüber. Kritisiert wurde Huntington vor allem für die Pauschalität seiner Aussagen und die „handwerklichen“ Schwächen seiner Argumentation. So wurde ihm vorgeworfen, die Kulturkreise nur sehr grob abgegrenzt zu haben und zudem zu viele unterschiedliche Staaten in einem Kulturkreis zusammengefasst zu haben. Besonders hinsichtlich des islamischen Kulturkreises wurde kritisiert, dass Huntington so unterschiedliche Staaten wie Ägypten und Afghanistan gleichsetze. Zudem, so ein weiterer Vorwurf, liefere Huntington durch seine pauschalisierende These vom Kampf der Kulturen einem einfach strukturierten politischen Denken, das die Welt gerne in Gut und Böse unterscheidet, einen fruchtbaren Nährboden. Bisweilen glitt die Kritik jedoch gerade in Deutschland ins Polemische und Verbitterte ab und hinterließ den Eindruck, dass Huntington nach dem Motiv kritisiert wurde: Die These muss falsch sein, weil sie nicht wahr sein darf. Zustimmung erfuhr Huntington von der amerikanisch-konservativen Seite – und von den islamischen Fundamentalisten. Bereits während des Krieges im „desert storm“ gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits baute sich eine breite Mauer des Widerstandes gegen einen erneuten westlichen Imperialismus in den arabischen Ländern auf. Später konnte Usama bin Laden leicht darauf zurückgreifen und seinen Terror als gerechten und von Gott gewollten Kampf gegen den gottlosen und moralisch verkommenen Westen darstellen.12 Nach den Anschlägen vom 11. September erlebte der Begriff „Kampf der Kulturen“13 eine gewaltige Renaissance und wurde schnell in der hitzigen Debatte um Urheber und Gründe zum scheinbar alles erklärenden Schlagwort. Und dies, obwohl Huntington in seinem Artikel bzw. Buch von Staaten als den bestimmenden Akteuren im Kampf zwischen den Kulturen sprach. Ein offensichtlicher Widerspruch zum tatsächlichen Terror der Al Qaida, bei dem der Kampf nicht von einer breiten Masse getragen wird, sondern von einer recht kleinen Schar gut organisierter, aber gemessen an den militärischen Möglichkeiten mittelloser Fundamentalisten. Trotzdem gelten der internationale Terrorismus der Al Qaida und die Kriege der USA gegen Afghanistan und den Irak nicht nur in den Medien als Vorboten oder Bestandteil der Huntington’schen Prophezeiung: in einer Ansprache zur Verleihung des Deutschen Medienpreises warnte sogar der UNO11
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Einen hervorragenden, wenn auch inzwischen nicht mehr ganz aktuellen Überblick über die Diskussion bietet Metzinger 2000. In einer seiner letzten Videobotschaften vom Oktober 2001 rief Bin Laden die Muslime zum Krieg gegen den Westen auf und nannte als wichtigstes Ziel die USA. Auch wenn der Begriff „Kampf der Kulturen“ inzwischen eng mit den Namen Huntington in Verbindung gebracht wird, ist er nicht der Urheber. Bereits im September 1990 veröffentlichte der amerikanische Islamwissenschaftler Bernard Lewis im Atlantic Monthly einen Artikel, in dem er vom „Clash of Civilizations“ sprach.
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Generalsekretär Kofi Annan vor einem bevorstehenden Kampf der Kulturen.14 Der Kampf der Kulturen ist also, auch mehr als zehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung und einer Vielzahl an Streitschriften und Zustimmungen, aktuell und fest in den Köpfen von Medienmachern, Bürgern, Wählern und Politikern verankert. Bedeutet dies, dass nach dem Ost/West-Paradigma nun das Kulturparadigma Einzug in die internationale Politik hält? Wäre das sinnvoll? Handelt es sich bei Huntingtons Thesen um reinen Populismus, gestützt auf Einzelbeispiele? Oder hat Huntington eine Entwicklung erkannt, welche die Politik der Staatenwelt in den nächsten Jahrzehnten prägen und bestimmen wird: Der Kampf der Kulturen? In der Diskussion ist bisher der Versuch ausgeblieben, Huntingtons Aussagen auf Grund einer breiten quantitativen Datenbasis empirisch zu überprüfen. Diese Lücke soll mit dem vorliegenden Beitrag geschlossen werden. Im Folgenden werden zunächst die wesentlichen Thesen Huntingtons dargestellt und die methodischen und theoretischen Kritikpunkte erörtert. Anschließend sollen Huntingtons Kernthesen anhand empirischer Konfliktdaten überprüft und die Ergebnisse bewertet werden. Schließlich wird die Argumentationslinie vom Kampf der Kulturen anhand der terroristischen Ereignisse am und nach dem 11. September überprüft und bewertet.
Huntingtons Argumentationslinie Samuel Huntington hatte in der ersten Darlegung in Foreign Affairs seine Thesen auf 27 Seiten erläutert, in dem drei Jahre später erschienenen Buch tat er dies auf mehr als 530 Seiten. Deshalb verkürzt zwangsläufig jeder Diskussionsbeitrag Huntingtons bisweilen recht komplexe Argumente, seine Einschränkungen, aber auch seine Widersprüche. Da jedoch in der breiten Diskussion nur allzu oft der Verlockung nachgegeben wird, Huntingtons These auf den Titel des Artikels bzw. Buches zu reduzieren, soll an dieser Stelle Huntingtons Argumenten Platz eingeräumt werden.
Kulturkreise und Kernstaaten Den Ausgangspunkt für Huntingtons Überlegungen bildet der Zusammenbruch des kommunistischen Systems Ende der achtziger Jahre. Mit dem Ende der Bipolarität des Kalten Krieges seien die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zwischen den Völkern nicht mehr Ideologie, Politik oder Ökonomie. An ihre Stelle trete die Kultur. Menschen begännen sich zu fragen, woher
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Kofi Annan 2004 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des deutschen Medienpreises in BadenBaden.
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sie kommen, wer sie sind. Die Antwort suchten sie in traditionellen Werten: Herkunft, Religion, Sprache, Geschichte, Werte, Sitten und Gebräuche sowie Institutionen. Am deutlichsten aber, so Huntingtons viel kritisierter Ausgangspunkt, werde Identität durch die Abgrenzung von anderen erreicht: „Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.“15 In der Kultur erkennt Huntington eine starke Treibkraft. Sie könne einigen, aber auch auseinander dividieren. Als Beispiel für die einigende Kraft nennt er die Wiedervereinigung des vorher durch Ideologie geteilten Deutschlands, ebenso die Bemühungen der weiterhin durch unterschiedliche Systeme getrennten Staaten Koreas oder Chinas. Die trennende bzw. auseinander treibende Kraft von Kulturen glaubt er im Auseinanderbrechen der Sowjetunion, Jugoslawiens und Bosniens bzw. den Konflikten u. a. in Nigeria, Sudan oder Sri Lanka erkennen zu können.16 Aber auch den Erfolg der Europäischen Union schreibt Huntington der kulturellen Homogenität zu: „Internationale Organisationen, die auf Staaten mit kultureller Gemeinsamkeit basieren, wie etwa die Europäische Union, sind viel erfolgreicher als solche, die kulturelle Grenzen zu überschreiten versuchen.“17 Kulturkreise oder Zivilisationen definiert Huntington im Rückgriff auf das antike Griechenland:„Blut, Sprache, Religion und Lebensweise waren das, was die Griechen gemeinsam hatten und was sie von den Persern und den anderen Nichtgriechen unterschied.“18 Das wichtigste Merkmal sei aber die Religion. Denn die großen Weltreligionen wie das Christentum oder der Islam umfassen Gesellschaften aus verschiedenen Rassen und Sprachen, seien aber durch ihre gemeinsame Kultur geeint. Hingegen zeigten die Massaker im Libanon, im früheren Jugoslawien oder auf dem indischen Subkontinent, wozu Menschen, obwohl sie die gleiche Sprache sprechen oder der gleichen Ethnie entstammen, aufgrund ihres Glaubens an unterschiedliche Götter zu tun in der Lage sind.19 Obwohl Huntington überzeugt ist, dass die Kulturkreise die entscheidenden politischen Einheiten der Zukunft darstellen, nennt er auch die Grenzen dieses Konzeptes. Zum einen stellt er fest, dass Kulturen keine klar umrissenen Grenzlinien besäßen, da sich Kulturkreise überlagern und aufeinander einwirken.20 Zum anderen weist er darauf hin, dass Kulturkreise auch nicht als politische Einheiten zu verstehen sind oder mit Staaten gleichzusetzen
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Vgl. Huntington 1998, 21. Ebd., 24f. Ebd., 24ff. Ebd., 52f. Ebd., 52. Dennoch gibt er sich überzeugt, auch wenn die Grenzlinien selten scharf gezogen werden könnten, seien sie dennoch vorhanden. Vgl. Huntington 1998, 54f.
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seien. Demnach könnten Kulturen auch keine Kriege führen. Die Funktion der politischen Führung würde weiterhin von bekannten politischen Einheiten wie Stadtstaaten, Kaiserreichen, Bundesstaaten, Staatenbünden, Nationalstaaten oder Vielvölkerstaaten übernommen werden, die sich im Verlaufe der Zeit auch abwechseln und deren Regierungsformen unterschiedlich sein könnten.21 Wichtig ist in diesem Zusammenhang ebenfalls Huntingtons Vorstellung von Kernstaaten, um die sich Länder mit der gleiche Kultur gruppieren bzw. sich unterordnen. Mächtige Staaten übernehmen so die Ordnungsfunktion innerhalb ihres Kulturkreises. Sie repräsentieren aber auch ihren Kulturkreis nach außen und zwischen den anderen Kulturen, indem sie bei Verhandlungen die Führung übernehmen.22 Im Beispiel Bosnien seien dies die USA zusammen mit den europäischen Mächten und Russland gewesen. Als einzigen Kulturkreis, dem ein solcher Kernstaat fehlt, identifiziert Huntington den islamischen.23 Trotz aller Einschränkungen und Abwägungen gibt Huntington acht Kulturkreise an, die unterscheidbar seien. Allerdings zeigt er sich bei dem lateinamerikanischen und dem afrikanischen unsicher, ob es sie tatsächlich gebe. Demnach könnten als Kulturkreise gelten: 1. der sinische (im 1993 erschienen Artikel bezeichnete Huntington diese Kultur als konfuzianische, glaubt aber 1996, dass der Begriff „sinisch“ besser sei, da die chinesische Kultur durch mehr als den Konfuzianismus geprägt sei und sich auch über das chinesische Staatsgebiet hinaus erstrecke). 2. der japanische. Huntington spricht sich gegen eine Vermischung mit dem Chinesischen zu einem fernöstlichen Kulturkreis aus und betrachtet Japan als eigenen Kulturraum. 3. der hinduistische. Da der Hinduismus mehr als eine Religion sei, nämlich der Kern der indischen Zivilisation, plädiert Huntington auch hier für einen Begriff, der über das indische hinausgeht. 4. der islamische. Der islamische Kulturkreis sei im 7. Jh. n. Chr. entstanden und lasse sich in verschiedene Subkulturen, wie den arabischen, türkischen, persischen oder malaiischen unterteilen. 5. der westliche. Der westliche Kulturkreis sei um 700 bis 800 n. Chr. entstanden. Auch hier könne man zwischen den Schwerpunkten Europa, Nordund Lateinamerika unterscheiden. Zum westlichen Kulturkreis könnten aber auch andere von Europäern besiedelte Länder wie Australien oder Neuseeland gerechnet werden. 6. der lateinamerikanische. Obwohl Huntington Lateinamerika zunächst auch zum westlichen Kulturkreis zählt, kommt er aufgrund der ständestaatlich-autoritären Kultur und der Absorption von anderen, in Europa 21 22 23
Ebd., 56. Ebd., 415. Ebd., 54.
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und Nordamerika nicht vorhandenen ursprünglichen Kulturen in Lateinamerika zur Auffassung, Lateinamerika als eigenen, wenn auch sehr stark westlichen geprägten Kulturkreis zu sehen. 7. der afrikanische. Hier ist sich Samuel Huntington unsicher, ob es einen solchen überhaupt gibt, da der Norden des Kontinents und die Ostküste zum islamischen Kulturkreis zu zählen und im Übrigen durch den europäischen Imperialismus viel von der ursprünglichen Kultur zerstört worden sei. Doch aufgrund der in Afrika zu findenden Stammesidentität und einem zunehmend sich entwickelten Gefühl einer afrikanischen Identität ist zumindest in den Karten, die Huntington in seinem Buch abdruckt, ein afrikanischer Kulturkreis eingezeichnet. 8. der christlich-orthodoxe/russische. Anders als die sieben vorher genannten lässt Huntington diesen bei seinem Überblick über die verschiedenen Kulturkreise aus, erwähnt ihn jedoch in einem späteren Kapitel über die Kernstaaten. Aber angesichts der engen zeitlichen Nähe zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dem Erscheinen des Buches gibt sich Huntington noch unschlüssig, wie genau er diesen Kulturkreis abgrenzen soll. Sicher ist er sich jedoch hinsichtlich der engen Kontakte zu anderen orthodox geprägten Staaten wie Georgien und der Ukraine, aber auch hinsichtlich der engen Beziehungen zu Bulgarien, Griechenland und Zypern. Als fraglich sieht er den Zusammenhalt mit den muslimisch geprägten ehemaligen Sowjetrepubliken an.
Der Westen und der Rest Die wichtigsten und größten Konflikte werden sich zwischen dem Westen und den übrigen Kulturkreisen abspielen. Der Westen, der als einzige aller Kulturen „einen wesentlichen und manchmal auch verheerenden“ Einfluss auf jede andere Kultur gehabt habe,24 müsse sich mit der bitteren Erfahrung abfinden, dass er an Geltung und Einfluss immer stärker verliere, während andere Kulturen, besonders die islamische und die sinische, an Einfluss und Macht gewännen. Der Westen würde aber weiterhin versuchen, seine Vormachtstellung zu verteidigen und seine Interessen dadurch durchzusetzen, dass er seine Anliegen als die Interessen der Weltgemeinschaft definiert. Die sinischen Länder Ostasiens würden aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke immer selbstbewusster die Loslösung vom Westen betreiben und seien nicht länger bereit, sich beispielsweise in Fragen der Menschenrechte das Wertediktat des Westens gefallen zu lassen.25
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Ebd., 291ff. Ebd., 292ff.
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Bruchlinienkriege und die „blutigen Grenzen des Islam“ Als dominierenden Konflikttypus der Zukunft sieht Huntington Konflikte zwischen kulturellen, vornehmlich religiösen Gruppierungen: die so genannten Bruchlinienkonflikte. Sie können zwischen Staaten, zwischen nichtstaatlichen Gruppierungen und zwischen Staaten und nichtstaatlichen Gruppen ausbrechen. Bruchlinienkriege hätten mit den bisherigen Kriegen das hohe Maß an Gewalt, die lange Dauer und den ideologischen Gegensatz gemeinsam. Eine der Veränderungen zum bisherigen Konfliktbild sieht Huntington in der Gefahr einer schnellen Ausbreitung der Kriege. Da die Konfliktparteien jeweils Teil einer größeren Gemeinschaft seien, würden bei interkulturellen Konflikten andere Gruppen ihren Brüderländern26 zu Hilfe eilen und dies zu einer raschen Ausbreitung der Konflikte führen. Eine der bekanntesten Zitate aus dem Foreign-Affairs-Artikel wurde das von den „blutigen Grenzen des Islam“. Keine andere Kultur, so Huntington, sei Anfang der 1990er Jahre so vielfältig in gewaltsame Konflikte verwickelt gewesen wie die muslimische. Er sah dafür drei wesentliche Gründe.27 Erstens sei der Islam in „kriegsgewohnten, nomadischen Beduinenstämmen entstanden“, und so von Beginn an „eine Religion des Schwertes“ gewesen. Im Koran fänden sich nur wenige Gewaltverbote. Zudem sei der muslimischen Lehre die Vorstellung von Gewaltfreiheit fremd. Zweitens sei der Islam eine Religion, die ihre missionarische Tätigkeit, im Gegensatz zum christlichen Westen, nicht über den Seeweg, sondern über den Landweg ausgeübt habe. So seien lange Konfrontationslinien zwischen Muslimen und Nichtmuslimen entstanden. Drittens sei der Islam, noch mehr als das Christentum, eine „absolutistische Religion“. Der Islam verschmelze Religion und Politik und ziehe eine klare Trennlinie zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Da andere Kulturen diese Trennung nicht so deutlich vollzogen hätten, gelinge es nicht-muslimischen Minderheiten grundsätzlich besser, sich in vorhandene Strukturen zu integrieren. Als Beispiele nennt Huntington die wirtschaftlich besonders erfolgreichen Chinesen in Südostasien, die er den Muslimen in den Konfliktregionen Indonesiens und auf den Philippinen gegenüberstellt. Als eine weitere aktuelle Ursache sieht Huntington die Bevölkerungsexplosion in den muslimischen Ländern. Das riesige Reservoir an beschäftigungslosen Männern im Alter zwischen 15 und 30 sei eine natürliche Quelle der Instabilität, die zu einem Großteil die Gewalt in den achtziger und neunziger Jahren erkläre.
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Huntington verwendet das Wort „kin-countries“, das in der deutschsprachigen Ausgabe als eigener Begriff stehen bleibt. Hier soll der Begriff mit „Brüderländern“ übersetzt werden. Vgl. Huntington 1998, 428ff.
Der Kampf der Kulturen – das Erklärungsmuster für Konflikte im 21. Jahrhundert?
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Die Staaten der Welt und ihre Zuordnung in die Kulturkreise: Afrikanisch: Angola, Äquatorialguinea, Äthiopien, Benin, Botswana, Burkina Faso, Burundi, Elfenbeinküste, Gabun, Gambia, Ghana, Guinea, Guinea-Bissau, Kamerun, Kenia, Kongo, DR, Kongo, Rep., Lesotho, Liberia, Madagaskar, Malawi, Mosambik, Namibia, Ruanda, Sambia, Sao Tomé u. Principe, Sierra Leone, Simbabwe, Südafrika, Swasiland, Togo, Uganda, Zentralafrikanische Republik Hinduistisch: Indien Islamisch: Afghanistan, Ägypten, Albanien, Algerien, Aserbaidschan, Bahrain, Bangladesch, Brunei, Dschibuti, Eritrea, Indonesien, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Katar, Kirgisistan, Komoren, Kuwait, Libanon, Libyen, Malaysia, Malediven, Mali, Marokko, Mauretanien, Niger, Oman, Pakistan, Sahara, Westsahara, Saudi Arabien, Senegal, Somalia, Sudan, Syrien, Tadschikistan, Tschad, Tunesien, Türkei, Turkmenistan, Usbekistan, Vereinigte Arabische Emirate, (Abu Dhabi, Adschman, Dubai, Fudschaira, Ras al Chaima, Schardscha, Umm al Kaiwain), Vereinigte Arabische Liga, Japanisch: Japan Lateinamerikanisch: Argentinien, Belize, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay, Venezuela, Orthodox: Armenien, Bulgarien, Georgien, Griechenland, Mazedonien/Makedonien, Moldau (Moldova), Rumänien, Russische Föderation, Ukraine, Weißrussland Sinsich: China, VR, Korea, Nord- (DVR), Korea, Süd- (Rep.), Laos, Singapur, Südvietnam, Taiwan, Nordvietnam Westlich: Andorra, Australien, Belgien, Dänemark, DDR, Deutschland (BRD, seit 1990 + DDR), Estland, Faraöer-Inseln, Finnland, Frankreich, Grönland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Kanada, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Monaco, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, San Marino, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Tschechoslowakei, Ungarn, Vatikanstadt (Heiliger Stuhl), Vereinigte Staaten von Amerika, Sonstige: Antigua u. Barbuda,Aruba, Bahamas, Barbados, Bhutan, Bosnien-Herzegowina, brit.Virgin Islands, Cook Inseln, Dominica, Fidschi, Grenada, Guyana, Haiti, Israel, Jamaika, Jugoslawien, BR, Kambodscha, Kap Verde, Kasachstan, Kiribati, Marshallinseln, Mauritius, Mikronesien, Mongolei, Myanmar, Nauru, Nepal, Niederländische Antillen, Nigeria, Niue, Palau, Papua-Neuguinea, Philippinen, Salomonen, Samoa, Seychellen, Sri Lanka, St. Kitts u. Nevis (St. Christoph und Nevis), St. Lucia, St. Vincent u. Grenadien, Suriname, Tansania, Thailand, Tonga, Trinidad u. Tobago, Tuvalu, Vanuatu, Zypern
Abb. 1. Die Welt aufgeteilt in Kulturkreise28. Quelle: eigene Darstellung 28
Bei der Zuordnung der Staaten in die entsprechenden Kulturkreise wurde versucht, den Vorgaben Huntingtons so weit wie möglich zu entsprechen. Als Vorlage dienten die Angaben, die der Autor im Text vornimmt, sowie die Übersichtsgrafik im Buch auf den Seiten 30f. Jene Staaten, bei denen die Angaben nicht eindeutig oder falsch waren (z. B. wird in der Karte Israel als muslimischer Staat gekennzeichnet) wurden in die Kategorie „Sonstige“ eingeteilt.
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Als besonders gefährlich stuft Huntington das Verhältnis des Islams mit dem Westen ein. Hier gehe es, angesichts einer leidvollen gemeinsamen Vergangenheit und der Ausschließlichkeit der beiden monotheistischen Grundreligionen, um zwei Fragen. Erstens: Wer beherrscht wen? Und zweitens: Welche Lebensform ist richtig und welche ist falsch? Er verweist auf die Zahl von 28 innerstaatlichen Konflikten zwischen Muslimen und Nichtmuslimen zur Mitte der Neunziger Jahre, von denen elf Konflikte mit orthodoxen Christen und sieben solche des westlichen Christentums in Afrika und Südostasien waren.29 Als Gefahr für zwischenstaatliche Konflikte zwischen den beiden Kulturkreisen erkennt er eine Entwicklung, nach der immer mehr westlich orientierte muslimische Regierungen von solchen ersetzt würden, die für ein Wiedererstarken des Islam eintreten. Dort, wo noch immer pro-westliche Regierungen etabliert seien, stünden sie unter erheblichem innenpolitischem Druck oder seien wie Kuwait, Saudi-Arabien oder die Golf-Scheichtümer vom Westen militärisch oder wie Ägypten und Algerien wirtschaftlich abhängig30. Allerdings hält Huntington das Risiko von Territorialkonflikten zwischen islamischen und westlichen Staaten für eher gering. Er glaubt dagegen, dass zukünftige Konflikte des Westens mit dem Islam um „interkulturelle Fragen, wie Waffenweiterverbreitung, Menschenrechte und Demokratie, Kontrolle der Ölquellen, Migration, islamistischer Terrorismus und westliche Intervention“, geführt würden31.
Eine Neugestaltung der Weltordnung? Samuel Huntington hat seinem Buch den Untertitel „Eine Neugestaltung der Weltordnung“ gegeben. Diese skizziert er am Ende des Buches, wenn er die Möglichkeit eines zunächst begrenzt verlaufenden Bruchlinienkrieges entwirft, der durch die Intervention der USA zu einem Kulturkrieg eskaliert, an dessen Ende die USA gemeinsam mit Europa, Russland und Indien dem Block aus China, Japan und dem größten Teil des Islam gegenüberstehen.32 Um dieses Szenario zu vermeiden, rät Huntington zu Folgendem: In einer zukünftigen multipolaren und multikulturellen Weltordnung kann jede Intervention durch Kernstaaten in Konflikte mit anderen Kulturen den Frieden gefährden. Deshalb müssen Kernstaaten, wie die USA, auf jegliche Art von Intervention verzichten. Als zweiter Schritt schlägt er das Prinzip der gemeinsamen Vermittlung vor, der zufolge die Kernstaaten, die ja die Ordnungs- und Repräsentationsfunktion innerhalb ihrer Kultur innehaben, bei aufgetretenen Konflikten miteinander verhandeln, um Bruchlinienkriege zu verhindern.33 29 30 31 32 33
Vgl. Huntington 1998, 344ff. Ebd., 343. Ebd., 340. Ebd., 502ff. Ebd., 521.
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Folgerichtig fordert Huntington eine neue Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates. Er schlägt eine Struktur vor, in der USA, Russland, Japan, Indien, Afrika, Lateinamerika, die muslimische Welt und die EU je einen Sitz haben. Die nicht-staatsbezogenen Sitze (Afrika, Lateinamerika, die muslimische Welt und die EU) sollten durch Rotationsverfahren innerhalb der Kulturkreise besetzt werden. Damit wären die acht Sitze auf sieben Kulturkreise verteilt, mit doppelter Vergabe an den Westen (USA und EU). Dies wäre allerdings, nach Huntingtons Ansicht entsprechend der Verteilung von Bevölkerung, Wohlstand und Macht in der Welt, repräsentativ. Auf den letzten Seiten seines Buches warnt Huntington noch vor den Gefahren eines heraufziehenden Kampfes zwischen den Kulturen. Nur eine auf Kulturen basierende internationale Ordnung und das Bemühen der führenden Politiker und Intellektuellen der großen Weltkulturen, einander zu verstehen und miteinander zu kooperieren, sei ein sicherer Schutz vor solchen Kriegen. Eindringlich ermahnt er aber die beiden westlichen Pole zu einer engen Zusammenarbeit: „Im Kampf der Kulturen werden Amerika und Europa gemeinsam marschieren müssen oder sie werden getrennt geschlagen.“34
Die Kritik am „Kampf der Kulturen“ Huntington löste, wie erwähnt, mit seinem Artikel in der Foreign Affairs eine Welle der Empörung und Kritik aus.35 Wissenschaftler auf der ganzen Welt warnten vor einer vereinfachten Sichtweise, die die Welt in gut und böse teilt. Andere, wie der ehemalige US-Außenminister Kissinger bezeichneten Huntingtons Buch jedoch als „eines der wichtigsten Bücher überhaupt seit dem Ende des Kalten Krieges“.36 Die Diskussion, die, wie bereits erwähnt, teilweise sehr emotional geführt wurde, brachte aber auch einige schwerwiegende methodische und fachliche Probleme der Thesen Huntingtons zum Vorschein, von denen zwei hier kurz dargestellt werden sollen.
Die Einteilung der Welt in Kulturkreise Einer der häufigsten und am massivsten vorgebrachten Kritikpunkte am „Kampf der Kulturen“ ist die von Huntington vorgenommene Einordnung der Welt in verschiedene Kulturkreise. Als unklar und nicht konsequent wird der Abgrenzungsweg durch einerseits religiöse (islamische, hinduistische und orthodoxe Kultur) und ökonomisch-soziologische (westliche, japanische Kul34 35
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Ebd., 530. Nach Angaben der Herausgeber von Foreign Affairs war die Reaktion auf Huntingtons Artikel so stark wie kaum auf einen Beitrag jemals zuvor. Vgl. The Economist, The Man in the Bagdad Cafe 1996. Vgl. ebd.
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tur) Kriterien bezeichnet.37 Auf Unverständnis stößt auch Huntingtons Ignoranz gegenüber dem Judentum und dem Buddhismus.38 Beide Religionen erwähnt er eher beiläufig, ordnet sie aber nicht explizit einem Kulturkreis zu. Bezweifelt werden auch die Grenzlinien und die Zuordnung bestimmter Länder zu bestimmten Kulturen. Herausgegriffen sei an dieser Stelle die Diskussion um die Zweiteilung Europas in westlich und orthodox. Fraglich sei, ob es richtig ist, das nicht slawische Griechenland zusammen mit Polen und Rumänien als einen Kulturkreis zu sehen.39 Aber auch die feine Unterscheidung zwischen sinischer und japanischer Kultur (mit Japan als einzigem Staat) einerseits und die grobe Einordnung des gesamten Islams in eine Kultur lässt Kritiker daran zweifeln, ob die Unterscheidungsmerkmale sinnvoll sind.40
Konfliktkonstellationen: der Vergleich mit der Wirklichkeit Einen weiteren Kristallisationspunkt der Kritik bilden die Beispiele, mit denen Huntington seine These zu untermauern versucht. Er lasse die Unterstützerkreise und die Koalitionsbildung vollkommen außer Acht, die oftmals quer zu den Kulturkreisen verliefen. Beim Staatszerfall Jugoslawiens erkenne Huntington zwar selbst die Unterstützung der USA für die bosnischen Muslime als Abweichung von seiner These,41 aber das halte ihn nicht davon ab, den offenkundigen Widerspruch zu leugnen. Wäre der Zusammenbruch Jugoslawiens ein Beweis für den Kampf der Kulturen gewesen, dann hätten die westlichen und orthodoxen Bündnismächte die Pläne von Milosevics und Tudjman unterstützen müssen, die beide Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien aufteilen wollten.42 Aber auch der zweite Golfkrieg könne nicht als Beleg für die These gelten. Zwar habe sich Saddam Hussein durchaus kräftig und bewusst der Kulturkampf-Rhetorik bedient, sei aber höchstens in einzelnen Bevölkerungskreisen auf Verständnis gestoßen.43 Die Beteiligung vieler muslimischer Staaten wie Ägypten, Türkei, Marokko und Syrien an der unter US-amerikanischen Oberbefehl stehenden Interventionstruppe habe gezeigt, dass ein Kampf der Kulturen, wie ihn Huntington sieht, eben nicht wahrscheinlich ist.44 Das führt einen anderen Autor zum bissigen Kommentar, dass der zweite Golfkrieg nur für zwei Menschen ein Aufeinanderprall der Kulturen gewesen sei: für Saddam Hussein und für Samuel Huntington.45
37 38 39 40 41 42 43 44 45
Kurth 1994. Schluchter 2003; Smith 1997. Müller 1998b. Ebd. Vgl. Huntington 1998, 460. Vgl. Müller 1998a. Tibi 1995. Weeks 1993. Ajami 1993.
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Auf Unverständnis stößt ebenfalls, dass Huntington die innerkulturellen Konflikte ausblendet.Wenn Kultur ein so stark einigendes Element sei, dass es auch die Ost/West-Konfrontation überwinden könne (wie beim Beispiel der Wiedervereinigung Deutschlands), wie sei es dann zu erklären, dass sich mit Taiwan und der VR China und noch deutlicher zwischen Nord- und Südkorea Staaten des gleichen Kulturkreises bis auf die Zähne bewaffnet gegenüberstehen?46
Hat Huntington doch Recht? Trotz aller berechtigten Kritik ist Huntingtons These populär und scheint durch den Irak- und Afghanistankrieg ihre Bestätigung zu erfahren. Doch hält seine Behauptung auch einer breiter gefassten empirischen Untersuchung stand? Wie viele Konflikte werden tatsächlich zwischen Kulturen ausgetragen? Welche Kultur ist am häufigsten in Konflikte involviert? Bei dem Vorhaben, Huntingtons These empirisch zu überprüfen, gilt es vor allem zwei schwerwiegende methodische Probleme zu überwinden: 1. Die Auswahl der Analyseebene. Huntington argumentiert sowohl mit inner- als auch mit zwischenstaatlichen Konflikten. Seine Schlussfolgerung und seine Warnung bezieht er dann aber auf zwischenstaatliche Konflikte. Bei der vorliegenden Untersuchung wurden deshalb nur internationale Staatenkonflikte analysiert. 2. Die Abgrenzung der Kulturen. Obwohl Huntington Staaten als die wesentlichen Akteure im internationalen System begreift und die Handlungsfähigkeit von Kulturen über die Kernstaaten verwirklicht sieht, sucht der Leser eine klare Zuordnung aller Staaten zu ihrem Kulturkreis vergebens. Auch die im Buch abgedruckte Übersichtskarte verzichtet auf Ländergrenzen und ist an einigen Stellen, wie der Markierung des israelischen Staatsgebietes als Teil des islamischen Kulturkreises, schlicht falsch. Für die hier vorgenommenen Auswertungen wurde, basierend auf den von Huntington getroffenen Aussagen und aufgrund der im Buch abgedruckten Übersichtskarte eine Zuordnung der Staaten in Kulturkreise vorgenommen.47 Dort, wo Huntington offensichtlich irrte, wurde die Korrektur eigenständig durchgeführt. Israel, das nach Huntingtons eigenen Ausführungen nicht dem westlichen Kulturkreis zuzuordnen ist, aber auch nicht, wie in der Karte ausgewiesen, dem islamischen Staaten zugeordnet werden kann, wurde in eine gesonderte Region „Sonstige“ eingetragen.Auch wurden jene Staaten, die sich einem Kulturkreis keinesfalls eindeutig zuordnen ließen, wie bspw. die Karibik oder die Philippinen, ebenfalls der Kategorie „Sonstige“ zugeteilt. 46 47
Müller 1998a. Vgl. oben, Abb. 1.
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Als empirische Datenbasis wurde die im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes neu erstellte und bis Ende 2003 aktualisierte Konfliktdatenbank KOSIMO 2 zu Grunde gelegt. Eines der herausragenden Merkmale des KOSIMO-Ansatzes ist es,48 dass in der Datenbank nicht nur Kriege verzeichnet werden, sondern auch nicht gewaltsame Konflikte, die sich im Zeitraum seit 1945 ereignet haben. Damit kann ein umfassendes und detailliertes Abbild der Wirklichkeit gezeigt werden und der Frage nachgegangen werden, welche Konflikte bei gleicher Ausgangslage gewaltsam eskalieren, während andere gewaltlos bleiben.49 Als weiteres Auswertungskriterium wurde die Konfliktkonstellation für staatliche Akteure gewählt, d. h. die Frage: in welchen Konflikten standen sich Staaten feindlich gegenüber? Für den zweiten Golfkrieg ergibt diese Auswertung beispielsweise, dass die USA zusammen mit Großbritannien dem Irak konfrontativ gegenüberstanden. Nicht berücksichtigt werden hingegen die 44 Unterstützerstaaten, die den USA logistisch oder militärisch beigestanden haben und in der Datenbank als nicht direkt beteiligte Unterstützungskräfte geführt werden.
In welchen Kulturkreisen gibt es die meisten Konflikte? Die Frage, die zuerst untersucht werden soll, lautet ganz allgemein: welche Kulturen führen wie viele Konflikte? Die erste Auswertung zeigt für die Anzahl aller Konflikte im Zeitraum zwischen 1945 und 2003, unabhängig von der Intensität, die diese Konflikte erreicht haben, d. h. unabhängig von der Frage, ob der Konfliktaustrag gewaltsam oder friedlich war. Insgesamt konnten in der Datenbank 333 zwischenstaatliche Konfliktkonstellationen und damit 666 Konfliktbeteiligte festgestellt werden. Die Abbildung 2 zeigt die Verteilung der Häufigkeit nach den verschiedenen Kulturkreisen. Hier lassen sich, gemessen an der Häufigkeit ihrer Teilnahme, drei unterschiedliche Gruppen bilden. Die Kultur, die mit Abstand am häufigsten in zwischenstaatliche Auseinandersetzungen involviert war, ist die westliche mit 187 Konfliktbeteiligungen. Deutlich weniger, aber ebenfalls über 100 Konflikte sind dem islamischen Kulturkreis mit 144 Auseinandersetzungen zuzuordnen. Für Huntington müsste diese Erkenntnis zumindest ein wenig überraschend sein, da er ja vor allem vom Islam als konfliktreicher Kultur spricht und den Westen eher als Ziel bzw. Opfer interkultureller Provokationen sieht. Tatsächlich aber handelt es sich bei den Konflikten mit westlicher Beteiligung
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KOSIMO wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes unter der Leitung von Frank R. Pfetsch an der Universität Heidelberg in den Jahren 1987 bis 1991 entwickelt. Vgl. hierzu Pfetsch/Billing 1994. Anzumerken ist jedoch, dass sich die Datenbank noch in einigen Teilen im Aufbau befindet, der bestehende Kerndatensatz aber als plausibel bezeichnet werden kann und im Vergleich zur endgültigen Version nur geringfügige Abweichungen zu erwarten sind.
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Abb. 2. Beteiligung der Kulturen an zwischenstaatlichen Konflikten seit 1945
zu einem großen Teil um Dekolonialisierungskonflikte, während bei den islamischen es sich oftmals um Grenzkonflikte handelt. In der zweiten Gruppe befinden sich Kulturen, die zwischen vierzig und achtzig Konfliktbeteiligungen aufweisen. Diese Gruppe wird angeführt vom lateinamerikanischen (77), gefolgt von den Staaten, die keinem Kulturkreis eindeutig zugeordnet werden konnten (67) und den orthodoxen Staaten (64). Staaten des sinischen Kulturkreises waren mit 57 Auseinandersetzungen in etwa genauso oft an Auseinandersetzungen beteiligt wie afrikanische (53). Der Gruppe, die am wenigsten an zwischenstaatlichen Konflikten beteiligt waren, gehören dem japanischen (10) und dem hinduistischen Kulturkreis an. Wobei diese mit jeweils nur einem Staat repräsentiert sind. Der Hinduismus ist also der Kulturkreis, der sich am seltensten überhaupt an zwischenstaatlichen Konflikten beteiligt hat. Ein Kritikpunkt, der an Huntingtons These oftmals geäußert wurde, ist, dass er in seiner Untersuchung die Konflikte unberücksichtigt lässt, die innerhalb eines Kulturkreises ausgetragen werden50. Bei einer Überprüfung zeigt sich, dass dieser Einwand berechtigt ist. Der Anteil der Konflikte, die zwischen Parteien desselben Kulturkreises ausgetragen werden, liegt bei knapp 43 Prozent. 50
Vgl. z. B. Müller 1998a.
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Besonders hoch ist dieser bei lateinamerikanischen Staaten mit 56 von insgesamt 77, das entspricht etwa 72 Prozent. Dieser hohe Anteil ist mit der Geographie des Kulturkreises zu erklären: es gibt nur eine direkte territoriale Grenze zu einem anderen Kulturkreis (zum Westen: die Grenze Mexiko – USA). Für den Islam und den Westen liegt der Anteil an Konflikten innerhalb eines Kulturkreises mit 47 Prozent bzw. 44 Prozent nur geringfügig höher als beim Durchschnitt aller Kulturen (43 Prozent). Doch Huntington formulierte seine Thesen besonders im Hinblick auf gewaltsame Konflikte. Wie sieht die Verteilung also bei den seit 1945 ausgetragenen zwischenstaatlichen Kriegen aus?
In welchen Kulturkreisen werden die meisten Kriege geführt? Abbildung 3 zeigt eine ähnliche Auswertung, diesmal jedoch konzentriert auf jene Konflikte, die gewaltsam ausgetragen wurden. Durch einen Vergleich der beiden Auswertungen kann analysiert werden, welche Kulturgruppe in der Lage ist, ihre Konflikte auf einem friedlichen Weg zu lösen. Insgesamt konnten für das Kriterium „gewaltsamer Konfliktaustrag“51 76 Konstellationen mit 152 Beteiligten festgestellt werden. Ähnlich wie in der ersten Auswertung lassen sich auch hier verschiedene Gruppen der Häufigkeitsbeteiligung bilden. Eine erste mit über 40 Konfliktbeteiligungen, eine zweite zwischen 25 und 30 und eine dritte mit weniger als 15 Beteiligungen an gewaltsamen Konflikten. Jedoch weicht die Zusammensetzung dieser Verteilungsgruppen von den obigen ab. Die Grafik zeigt, dass in der Tat der islamische Kulturkreis der mit den meisten gewaltsamen Auseinandersetzungen ist: insgesamt 43 Mal waren muslimische Staaten an Konflikten hoher Intensität beteiligt. Mit deutlichem Abstand folgen die westlichen Staaten. Ihr Anteil an den gewaltsamen Konflikten beträgt 27. Besonders bemerkenswert ist hier, dass kein einziger gewaltsamer Konflikt innerhalb des Kulturkreises ausgetragen wurde.52 Mit 25 gewaltsamen Konflikten weist der sinische Kulturkreis ebenfalls eine hohe Anzahl auf, die genauso hoch ist wie die der Gruppe „Sonstige“. Der hohe Anteil der Sonstigen an Kriegen resultiert u. a. aus der Einordnung der Staaten Israel oder Kambodscha zu dieser Gruppe. Hingegen sind Lateinamerika mit 12 und besonders Afrika mit 8 niedrig repräsentiert. Hinzuweisen ist an dieser Stelle jedoch noch einmal auf die Tatsache, dass ein Großteil der afrikanischen Staaten dem muslimischen Kulturkreis zugeordnet wurde und für die Analyse nur zwischenstaatliche Konflikte bewertet wurden. Gemessen an der
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Für die Auswertung wurden Konflikte einbezogen, die mindestens einmal auf der KOSIMO-Intensitätsstufe „ernste Krise“ oder „Krieg“ geführt werden. In beiden Fällen muss Gewalt mindestens regelmäßig über einen längeren Zeitraum festgestellt werden. Dieses Phänomen wird in der Forschung unter dem Label des „demokratischen Friedens“ diskutiert. Die These hierzu lautet, dass Demokratien untereinander keine Kriege führen.
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Abb. 3. Verteilung der gewaltsamen Konflikte nach Kulturkreisen
Staatenzahl pro Kultur weist der hinduistische, mit Indien als einzigem zugeordnetem Staat, mit sechs gewaltsamen Konflikten einen hohen Wert auf. Die orthodoxe Kultur war seit 1945 an fünf gewaltsamen Konflikten beteiligt und führte kein einziges Mal Krieg gegen Angehörige derselben Kultur. Die Begründung für das friedliche Abschneiden der japanischen Kultur liegt auf der Hand: Japan, als einziger Staat in diesem Kulturkreis und ohne eigentliche Armee, hat seit 1945 keinen gewaltsamen Konflikt ausgetragen.
Gewaltsame Konflikte zwischen den Kulturen Wie steht es mit der Huntington-These? Welche Kulturen kämpfen tatsächlich gegeneinander?53 Abbildung 4 zeigt die am häufigsten zu beobachtende Konstellation in gewaltsamen Konflikten seit 1945 und vergleicht diese mit der Anzahl aller beobachteten Konflikte. Ein Vergleich beider Säulen lässt zudem erkennen, inwieweit die Kulturen in der Lage sind, Konflikte friedlich auszutragen. Demnach wurden mit zehn die meisten gewaltsamen Konflikte zwischen muslimischen Staaten und dem Westen geführt. Darunter fallen die Unabhängigkeitskriege von Algerien, Syrien und Marokko (jeweils gegen Frank53
Aus Gründen der Übersichtlichkeit muss auf eine vollständige Darstellung aller Konfliktkonstellationen verzichtet werden. Bis auf die Konstellation afrikanisch vs. westlich, sonstige vs. sonstige und hinduistisch-sinische, die jeweils einen gewaltsamen Konflikt seit 1945 aufweisen, sind alle übrigen Aufeinandertreffen von Kulturen friedlich geblieben.
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Abb. 4. Konflikte zwischen den Kulturen seit 1945
reich); für den Zeitraum ab 1990 zählen darunter aber auch die Kriege der USA gemeinsam mit Großbritannien gegen den Irak und gegen Afghanistan. Wichtig ist hier, nicht nur auf die Anzahl der Kriege zu sehen: denn immerhin wurden 21 Konflikte zwischen dem Islam und den Westen friedlich ausgetragen. Ebenfalls zehn Kriege fanden zwischen Staaten des Islam gegen Staaten ohne Kulturkreiszuordnung statt. Das sind vornehmlich jene Kriege, die zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten ausgetragen wurden.Aber es gibt eine gleiche hohe Anzahl von Konflikten, die ohne Waffeneinsatz blieben. Darunter fällt z. B. auch der Konflikt zwischen Israel und Jordanien um die Trinkwasserversorgung. Allerdings finden die meisten dieser gewaltfreien Konflikte im asiatischen Raum statt. Die weiteren zwischen-kulturellen Konfrontationen weisen eine weit geringere Häufigkeit an gewaltsamen Konflikten auf. Die innerislamische (Islam vs. Islam), die Konfliktlinie sinisch vs. andere und sinisch vs. westlich haben jeweils sechs, die innersinische (sinisch vs. sinisch) und die hinduistisch vs. islamische weisen jeweils fünf Kriege auf. Vier Kriege konnten für die innerlateinamerikanische Konfliktkonstellation, sowie für lateinamerikanisch vs. westlich und afrikanisch vs. islamisch gezählt werden. Jeweils zwei gewaltsame Auseinandersetzungen gab es bei der Konstellation islamisch vs. orthodox, afrikanisch vs. andere und orthodox vs. sinisch. Noch etwas geringer, mit jeweils nur einem gewaltsamen Konflikt, fällt die Anzahl der Kriege zwischen
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orthodox und westlich, afrikanisch vs. afrikanisch, afrikanisch vs. westlich,54 andere vs. andere und hinduistisch vs. sinisch aus. Aufschlussreich ist ein Vergleich zwischen der Anzahl der friedlich verlaufenen Konflikte und die der Kriege in einer bestimmten Konstellation. Hier wird deutlich, dass es in der Regel zwar eine Vielzahl von innerkulturellen Konflikten gibt, die aber zu einem ganz überwiegenden Teil friedlich ausgetragen werden. Dies zeigt sich besonders deutlich bei den innerafrikanischen Konflikten, bei denen 14 von 15 Konflikten, das entspricht in etwa 93 Prozent, friedlich blieben und bei den innerlateinamerikanischen, bei denen dieses Verhältnis bei 86 Prozent liegt. Selbst die innerislamischen Konflikte blieben in 28 Fällen, das sind 82 Prozent aller Konflikte, friedlich. Unübertroffen ist jedoch die Fähigkeit der westlichen Länder, ihre zwischenstaatlichen Konflikte gewaltfrei zu lösen: alle 41 innerkulturellen Konflikte des Westens blieben ohne Einsatz von Waffen. Der hohe Anteil an friedlich gelösten Auseinandersetzungen, aber auch die hohe Anzahl an Konflikten zwischen Parteien des gleichen Kulturkreises lassen darauf schließen, dass es zwischen den Kulturen eine besondere Art des Konfliktaustrags zu geben scheint. Staaten artikulieren ihre Positionsdifferenzen gegenüber Staaten des gleichen Kulturkreises in jedem Falle häufiger. Möglicherweise deshalb, weil die gemeinsame Kultur eine Basis für eine vertrauensvolle Kommunikation bietet, in der Interessensgegensätze schneller artikuliert werden als zwischen Parteien unterschiedlicher Kulturen, in der aber auch schneller und effektiver gewaltlose Austragungsmuster gefunden werden können.
Ein Paradigmenwechsel in der internationalen Politik? Die empirische Auswertung bestätigt in einigen wichtigen Punkten Huntingtons Thesen: Tatsächlich weist der Islam die höchste Anzahl an gewaltsamen Konflikten auf. Zudem ist die häufigste gewaltsame, zwischenkulturelle Konfliktlinie jene zwischen dem Islam und dem Westen. Auch die Anzahl der Kriege zwischen dem Westen und dem ost-asiatischen Raum (sinischer Kulturkreis) ist hoch. Bedeutet das, dass Huntington Recht hat? Muss zukünftig in der internationalen Politik wieder in Lagern (diesmal nach Kulturkreisen) gedacht werden und müssen nicht den Beziehungen der westlichen und islamischen Staaten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden? Dürfen Staaten wirklich nicht mehr in Konflikte anderer Kulturen intervenieren? Nicht unbedingt. Denn erstens hat Huntington für seine Untersuchung eine Einteilung der Welt in Kulturkreise vorgenommen, die nur er selbst so verwendet.55 Die ent54
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Diese und die nachfolgenden Konstellationen konnten aus Platzgründen nicht mehr in der Grafik angezeigt werden. Vgl. Anm. 29.
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sprechenden Kulturen hat er nur sehr grob voneinander abgrenzt und ist dabei außerdem selektiv vorgegangen: Während er Japan nicht dem ost-asiatisch/sinischen Kulturkreis zuordnen möchte und er dem alten Kaiserreich deshalb einen eigenen Kulturkreis zuspricht, übersieht er die Unterschiede in anderen Kulturen, wie beispielsweise im Islam, wo er so unterschiedliche Staaten wie Ägypten und Afghanistan zusammenfasst. Damit muss Huntington sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er die Kulturkreise so definiert, dass sie seine These stützen. Zweitens ist Kultur keineswegs der alleinige konfliktgenerierende Faktor. Die am häufigsten gezählten Konfliktgegenstände sind für die islamischwestlichen Konflikte die staatliche Selbstständigkeit und für inner-islamische Konflikte Grenzverläufe. Drittens: Die KOSIMO-Daten bieten die einzigartige Möglichkeit, zwischen gewaltlosen und gewaltsamen Konfliktaustrag zu unterscheiden, und zeigen, dass der Großteil der relevanten Konflikte friedlich ausgetragen wird. Neben der Bestätigung, dass der Islam an vielen gewaltsamen Konflikten beteiligt ist, konnte auch gezeigt werden, dass nicht alle Konfliktsituationen zwangsläufig zum Ausbruch von Gewalt führen. Dies gilt auch für die islamisch-westlichen und die sinisch-westlichen Konflikte. Der Kampf zwischen den Kulturen ist also keineswegs ein Automatismus oder eine Zwangsläufigkeit der Geschichte, die unabänderlich auf die Welt zukommt. Es ist eher eine Frage der Interpretation, wie man die Konflikte wahrnehmen möchte. Aber die These vom Kampf der Kulturen wird durch die empirischen Daten auch nicht falsifiziert. Die Anzahl der inter-kulturellen Gewaltkonflikte ist zu groß, als dass man die Bedeutung unterschiedlicher Lebensweisen für ein erhöhtes Eskalationsrisiko bei zwischenstaatlichen Konflikten leugnen kann. Das Argument, dass gewaltsame Konflikte zwischen unterschiedlichen Kulturen wahrscheinlicher sind als Kriege innerhalb eines Kulturkreises, gewinnt an Gewicht, wenn man einen Begründungsansatz für das empirisch belegte Gesetz des demokratischen Friedens umkehrt: Demokratien können ihre Konflikte untereinander deshalb friedlich lösen, weil sie Vertrauen in die Konfliktaustragungsmodalitäten des Gegners haben. Sie wissen, dass Äußerungen und Provokationen auch in der Hitze des Gefechtes fallen und vertrauen darauf, dass der Verhandlungsweg, wenn er auch langwierig ist und ins Stocken geraten kann, doch der ist, der langfristig den meisten Gewinn abwerfen wird. Bei unterschiedlichen Kulturen fehlt dieses Vertrauen, die Lösungswege der gegnerischen Partei werden argwöhnisch betrachtet und Verhandlungen können schneller als Weg in eine Sackgasse empfunden werden. Zusammengefasst kann die empirische Auswertung dahingehend interpretiert werden, dass die Zugehörigkeit der Konfliktparteien zu einem Kulturkreis durchaus Einfluss auf die Frage hat, ob der Konflikt friedlich oder gewaltsam gelöst wird. Verwiesen sei an dieser Stelle noch einmal auf das Ergebnis der innerwestlichen Auseinandersetzungen: alle 41 Konflikte seit 1945
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blieben ohne Gewalteinsatz. Und ein Drittel der westlich-islamischen Konflikte eskalierte zum Krieg. Aber festzuhalten gilt auch: es gibt keinen Determinismus. Zwischenkulturelle Auseinandersetzung muss nicht zwangsläufig zum Krieg führen. Bleibt zum Schluss die Frage, ob der 11. September 2001 und die nachfolgenden Terroranschläge als Beginn des Kampfs der Kulturen gelten können. Huntington selbst hat seine Bruchlinienkriege als Massenbewegungen charakterisiert, bei denen sich immer mehr Akteure der jeweiligen Kulturgruppe den Konfliktparteien anschließen. Dies lässt sich jedoch für den Terrorismus von Al Qaida nicht nachvollziehen. Die Anschläge wurden von einer kleinen Gruppe von Fundamentalisten verübt, ihre Gewaltaktionen wurden von keinen anderen Staaten der islamischen Welt als Beginn eines Kampfes gegen den Westen aufgefasst. Ebenso blieb die Solidarisierung bzw. Unterstützung zwischen den islamischen Staaten sowohl im Krieg gegen Afghanistan als auch gegen den Irak aus. Auch Huntington selbst spricht terroristischen Gruppierungen das Potential ab, einen dauerhaften Konflikt führen zu können. Ein wirklicher Kampf der Kulturen würde jedoch entstehen, wenn Regierungen islamischer Staaten oder Gesellschaften sich offen hinter die Anschläge stellen würden.56 Danach sieht es derzeit jedoch nicht aus. Das harte amerikanische Vorgehen gegen Afghanistan und den Irak hat jeder Regierung klar gemacht, dass eine offene oder auch nur eine von den USA für möglich gehaltene Unterstützung von Al Qaida oder anderen Terrorgruppierungen unweigerlich Krieg mit dem Ziel der Bekämpfung des Regimes bedeutet. Die Politik Pakistans und die Hinwendung des libyschen Staatschef Ghaddafi zum Westen zeigen, dass diese Lektion von den meisten Staatslenkern verstanden worden ist. Dennoch müssen die Anschläge des internationalen Terrorismus, egal ob sie in New York, Washington, Djerba, Istanbul oder Madrid ausgeführt werden, ernst genommen werden. Sie haben einen kulturellen bzw. religiösen Hintergrund, und sie sind Ausdruck der Ablehnung einer fremden Kultur. Die, gemessen an der Größe der Gruppe, für deren vorgebliche Ziele die Anschläge durchgeführt wurden, geringe Anzahl der beteiligten Attentäter lässt aber den Al-Qaida-Terrorismus eher als einen „Kampf der Fundamentalisten“ als einen „Kampf der Kulturen“ erscheinen.57 Man möchte warnend hinzufügen: noch. Denn eine der wichtigsten Funktionen des Terrorismus ist die der Erregung von Aufmerksamkeit und die der Aussendung von Botschaften. Die Antwort, die der Westen, und vornehmlich die USA, derzeit gibt, 56 57
Vgl. Joffe 2002. Bemerkenswerterweise bediente sich Osama bin Laden bei seiner Kriegserklärung an die USA vom August 1996 einer Argumentation, die auf einen Kampf der Kulturen hinausläuft. Bin Laden beschuldigt die USA und ihre Verbündeten unter dem Deckmantel der Vereinten Nationen einen Kreuzzug gegen die muslimische Welt geführt zu haben und dabei mehrere Massaker an der islamischen Bevölkerung verübt zu haben. Bin Laden 1996.
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scheinen jedoch nur wenig dazu geeignet, den Fundamentalismus dauerhaft zu stoppen. Besonders der Wiederaufbau des zerstörten Afghanistan und des Irak gehen langsamer voran als gewünscht. Gerade aber nicht vorhandene bzw. zerstörte Staatsstruktur bietet jeder islamisch-fundamentalistischen Organisation ein fruchtbares Feld, auf dem sich die Saat von Hass und Wut gegen die USA und den Westen ausbreiten kann.58 Huntington hat, dieses Verdienst kommt ihm zu, auf das Potential der interkulturellen Konflikte hingewiesen. Doch einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik bedeutet dies nicht. Konflikte innerhalb einer Kultur sind, das haben die Auswertungen ergeben, fast genauso häufig wie Konflikte zwischen Kulturen. Die meisten der zwischenkulturellen Konflikte bleiben jedoch friedlich. Darüber dürfen Ausnahmen wie der internationale Terrorismus nicht hinwegtäuschen.
Literatur Ajami F (1993) The Summoning. Responses to Samuel P. Huntington. In: Foreign Affairs 72 : 2–9 Fukuyama F (1992) The end of history and the last man. New York: Vintage Huntington SP (1993) The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs 72 : 22–49 Huntington SP (1998) Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München, Wien: Europa Verlag Kurth JR (1994) The Real Clash. In: The National Interest 9 : 3–15 Lewis B (1990) The Roots of Muslim Rage. In: Atlantic Monthly 266 : 47–60 The Economist (1996) The Man in the Bagdad Cafe, 23–30 Metzinger UM (2000) Die Huntington-Debatte. Die Auseinandersetzung mit Huntingtons Clash of Civilizations in der Publizistik. Köln: SH-Verlag Müller H (1998a) Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington. Frankfurt am Main: Fischer Müller H (1998b) Der Kampf der Kulturen findet nicht statt. In: HSFK-Standpunkte 11 Münkler H (2002) Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Pfetsch FR, Billing P (1994) Datenhandbuch nationaler und internationaler Konflikte. BadenBaden: Nomos Schluchter W (2003) Kampf der Kulturen? In: Schluchter W (Hrsg.) Fundamentalismus, Terrorismus, Krieg. Weilerswist: Velbrück 2003 Smith T (1997) Dangerous Conjecture. In: Foreign Affairs 76 : 163–164 Tibi B (1995) Zivilisationskriege und Kulturdialoge. Für eine neue Wissenschaft der Islamologie. In: Universitas 50 : 459–470 Weeks AL (1993) Do Civilizations hold? (Responses to Samuel Huntington). In: Foreign Affairs 72 : 24–25 58
Vgl. hierzu auch die Debatte um Ursachen und Wirkungen des Internationalen Terrorismus, z. B. in Münkler 2002.
Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Konflikt und Konfliktperzeption in Südasien: Indien im Vergleich subrata k. mitra und malte pehl Konflikte um unterschiedliche Interessen oder Werte und der daraus resultierende politische Wettbewerb sowie die gelegentlich ebenfalls darin begründete politische Gewalt, sind weltweit anzutreffende Phänomene. In postkolonialen Kontexten, wie etwa in den Staaten der Region Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Nepal, Bhutan, Malediven) treten zu den aus westlichen Ländern bekannten Arten von Konflikten in neuerer Zeit insbesondere solche um ethnische oder kulturelle Identität sowie Konflikte um die Legitimität staatlicher Herrschaft hinzu. In Indien stellt die Gleichzeitigkeit von Demokratie und teilweise gewaltsamem Konfliktaustrag ein zusätzliches Paradoxon dar. So hat die Demokratisierung der indischen Gesellschaft gleichzeitig Ressentiments, Protest und zum Teil einen gewaltsamen Konfliktaustrag seitens marginalisierter Gruppen, die sich auf diese Art Gehör verschaffen, mit sich gebracht. Die Wahrnehmung der Kluft zwischen demokratischer Rhetorik und der materiellen Realität hat diese Tendenzen noch verstärkt. Anders als bei europäischen Konflikten vergangener Jahrhunderte finden sich jedoch die Protagonisten solcher Konflikte – gleich, ob sie sich gegen andere nicht-staatliche Akteure wenden, oder aber die Autorität des Staates selbst in Frage stellen – in heutiger Zeit Staatswesen gegenüber, deren Anspruch auf territoriale Integrität lange als unumstößlicher Grundsatz des Völkerrechts etabliert galt. Diese Staaten können teilweise erhebliche Ressourcen mobilisieren und sind bereit, diesen Anspruch nach außen wie nach innen aufrecht zu erhalten. Im Gegensatz zu zahlreichen Befreiungsbewegungen der ausgehenden Kolonialzeit konzentrieren sich heutzutage in Südasien wie in anderen Regionen der Welt solche Konflikte allerdings nicht mehr allein auf den Widerstand gegen eine, wie auch immer geartete, Fremdherrschaft. Die neueren Konflikte haben zunehmend die Vorherrschaft einer bestimmten ethnischen Gruppe oder Kultur innerhalb eines Staates, die Anfechtung der Legitimität staatlicher Herrschaft sowie den Wunsch nach deren rechtlicher oder territorialer Neugestaltung, entweder innerhalb des bestehenden Systems oder durch Sezession, zum Gegenstand.1 1
Zum Wandel der Konfliktgegenstände in der Region Südasien siehe Pfetsch 2002.
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Abb. 1. Indien und die Region Südasien
Der vorliegende Beitrag befasst sich weniger mit der Frage der Ursachen als vielmehr mit den Verläufen dieser Konflikte insbesondere in den Staaten Südasiens. Er soll als kritische Auseinandersetzung mit ausschließlich strukturalistischen Theorien über Konflikte in postkolonialen Staaten und als deren Ergänzung, sowie als erster Anstoß für weitere Forschungsarbeiten in diesem Bereich dienen. Dabei bildet die Wahl der Mittel des Konfliktaustrags einen Schwerpunkt der Diskussion. Die Region Südasien wird, anders als in zahlreichen kulturalistischen und strukturalistischen Theorien, nicht als Erklärungsvariable, sondern primär als Untersuchungsgegenstand angesehen.
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Die Kernfrage hierbei lautet, warum es in der Region trotz scheinbar ähnlicher struktureller Faktoren in manchen Situationen zur gewaltsamen Austragung von Konflikten außerhalb etablierter geregelter Verfahren kommt, in anderen jedoch nicht. Auf der Grundlage eines handlungstheoretischen Modells soll erklärt werden, warum in den Ländern der Region, zum Teil sogar trotz etablierter demokratischer politischer Systeme, gewaltsame politische Auseinandersetzungen weiter bestehen. Des Weiteren soll erklärt werden, weshalb Menschen politische Gruppen unterstützen, die ausdrücklich das Mittel des gewaltsamen Konfliktaustrags einsetzen und welche Rolle hierbei ihre Wahrnehmung dieser Gruppen, ihrer eigenen Ziele und die öffentliche Wahrnehmung des Staates spielt. Es wird davon ausgegangen, dass die Perzeption der Unterstützer und der Führungseliten sowie die vorhandenen strukturbedingten Handlungsmöglichkeiten für die Entwicklung eines Konflikts und dessen Lösungsmöglichkeiten von entscheidender Bedeutung sind. Abschließend wird ein Modell vorgestellt, welches den idealtypischen „Lebenszyklus“ solcher Bewegungen, mit denen sich viele der Staaten der Region konfrontiert sehen, veranschaulichen soll. Die Darstellung dieser Modelle wird anhand empirischer Beispiele gegenwärtiger und vergangener Konflikte in der Region Südasien erläutert.
Perzeption und Mobilisierung in Gruppenkonflikten Zunächst soll die Untersuchung von Gruppen und Gruppendynamiken subnationalistischer Bewegungen und Konflikte noch vor der Betrachtung der individuellen Einstellung zu Konflikten und zur Verregelung von Konflikten auf demokratischem Wege erfolgen. Hierbei stellen sich, wie bei allen Formen kollektiven Handelns, einige grundlegende Fragen im Bezug auf die Kosten eines solchen Prozesses zur Schaffung einer kollektiven Identität. Wie später noch gezeigt wird, basieren die exemplarisch ausgewählten Bewegungen auf bestimmten kontextabhängigen Mobilisierungsgrundlagen. Verschiedene Autoren nehmen die Annahme, dass politische Eliten die Unterschiede zwischen Individuen zur Schaffung von Gruppen und Kategorien mittels Inklusion und Exklusion nutzen als Grundlage für ihre Theorien ethnischer Konflikte.2 Der theoretische Sprung von rational agierenden Individuen zur Schaffung von Gruppen auf der Grundlage tatsächlich oder vermeintlich gemeinsamer Merkmale, welche die soziale Basis der Mobilisierung für Bewegungen bilden, ist jedoch nicht problemlos möglich. Neben der Formulierung einer Agenda ist es ferner notwendig, diese Agenda über konventionelle Mechanismen politischer Auseinandersetzung hinaus in die Öffentlichkeit zu
2
Siehe etwa Banton 1977 oder Hardin 1998 für diese Annahmen.
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tragen. Dies kann jedoch Sanktionen seitens der etablierten politischen Akteure nach sich ziehen. Nachdem die Agenda somit im Grenzbereich demokratischer politischer Verfahren etabliert worden ist, müssen anschließend Unterstützer gewonnen werden, um die keimende Bewegung zu einer bedeutsamen politischen Kraft werden zu lassen. Wie Mancur Olson eindrucksvoll gezeigt hat, nimmt die Bereitschaft der Konsumenten eines öffentlichen Gutes, zu dessen Bereitstellung einen Beitrag zu leisten, mit zunehmender Gruppengröße immer mehr ab.3 Die Konstruktion einer Nation oder einer ethnisch definierten Gruppe oder eines Heimatterritoriums für solche oder andere „imagined communities“ (Anderson) ist insofern ein solches öffentliches Gut, als Menschen von seinem Konsum nicht ausgeschlossen werden können, wenn ein Individuum dieses erst einmal für eine Gruppe oder sich selbst bereitgestellt hat.4 Eine Konsequenz dieser allgemeinen Schlussfolgerung ist, dass ein solches öffentliches Gut nur dann zur Verfügung gestellt werden wird, wenn es von einem politischen Akteur als privates Gut gesehen wird, also als so wertvoll eingeschätzt wird, dass es sich um seiner selbst willen lohnt, dieses Gut bereitzustellen. Daher werden Führungseliten subnationaler Bewegungen solche Ziele wie beispielsweise die nationale Identität oder die Nation als nicht verhandelbar darstellen, um so Menschen davon zu überzeugen, dass sich eine Unterstützung dieser Ziele, unabhängig von den dadurch entstehenden Nachteilen, lohnt. Die Kosten für die Herstellung einer subnationalen Identität und für ihre öffentliche Vertretung werden regelmäßig von wenigen getragen. Bei erfolgreicher Etablierung eines Handlungsrahmens für diese identitäre Bewegung, beispielsweise in Form eines eigenen Territoriums, profitieren jedoch alle potentiellen Angehörigen dieser subnationalen Identität von ihr. Daher stellt sich die Frage, ob eine Erklärung auf der Grundlage einer Zweckrationalität zur Analyse der Gründung einer solchen subnationalen Bewegung ausreichen kann. Eine Beteiligung an deren Erschaffung wäre aus der Sicht der Theorie kollektiven Handelns irrational. Eine rationalistische Erklärung für scheinbar irrationales Verhalten versucht Leslie Green auf der Grundlage der Arbeiten von Riker und Ordeshook5 zu liefern.6 Die entscheidende Größe ist bei der Erklärung nach Green der Konsumtionswert einer bestimmten Handlungsalternative, also der Umstand, dass Akteure einem Handeln einen Wert an sich zuschreiben, während andere eine Handlungsalternative nur unter dem Gesichtspunkt der Errei3 4 5
6
Olson 1968, 35. Siehe wiederum Olson 1968, 35, zur Definition eines öffentlichen Gutes. Riker/Ordeshook 1973 konzeptualisieren Rationalität individuellen Handelns basierend auf der Annahme, dass Individuen ihren eigenen Erwartungsnutzen zu maximieren suchen und dabei kollektive Ergebnisse aus der Annahme individueller instrumenteller Rationalität folgen und nicht primär aus kultureller Konditionierung. Green 1982 stellt einen frühen Versuch dar, Theorien rationalen Handelns auf diese Problematik anzuwenden.
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chung eines anderen Ziels betrachten. Diese Entscheidungsnormen ähneln den Annahmen über die Motivation politischer Akteure, welche im Rahmen der noch zu erläuternden primordialen oder emotionalen Paradigmen diskutiert werden. Greens Analyse liefert jedoch keine Erklärung dafür, dass bestimmte potentielle Mitglieder einer Gruppe mit subnationalistischer Identität durch nationalistische Gefühle angetrieben werden, andere jedoch nicht. Die fehlende Bestimmtheit der auf instrumenteller Rationalität beruhenden Erklärungen, wie sie etwa Alan Carling beklagt,7 eröffnet möglicherweise auch neue Blickwinkel auf Aspekte der Entscheidungsfindung, welche neue Einblicke in die Problematik kollektiven Handelns im Zusammenhang mit solchen Phänomenen des Subnationalismus liefern können. Hierzu gehören Konzepte wie politisches Unternehmertum, die Wahrnehmung von Risiko und der strategische Einsatz von Informationen über die Vergangenheit,8 also die Beschwörung der Geschichte von Gruppenkonflikten. Das Handeln von Subnationalisten kann dabei unter dem Gesichtspunkt von Gruppenzielen, wie auch unter dem individueller Strategien zur Erreichung eines maximalen Nutzens betrachtet werden. Immer wenn sich Individuen auf Grund ihrer Gruppenzugehörigkeit als diskriminiert ansehen, liegt es nahe, dass sie versuchen werden als Gruppe zu handeln, um die Diskriminierung zu beseitigen. So wurde etwa das territoriale Ziel der nationalistischen Bewegung von Sikhs in Indien in den achtziger Jahren (der Staat „Khalistan“) als Instrument zur Verteidigung gegen eine perzipierte Unterdrückung der Sikhs durch höherkastige Hindus wahrgenommen. Gruppenhandeln, welches ein solches Diskriminierungsmuster beseitigen soll, wird wiederum typischerweise eine Gesellschaft zum Ziel haben, in der Menschen nur als Individuen im Wettbewerb miteinander stehen, aber nicht mehr primär als Mitglieder von Gruppen (Carling). Wenn das Gruppenziel eines eigenen subnationalen territorial definierten Herrschaftsbereichs erst einmal erreicht worden ist, verliert das vorher wichtige übergeordnete Ziel der Nation oder der nationalen Identität im politischen Alltag häufig stark an Bedeutung, da in dem neuen politischen Gebilde ein garantierter Schutz der kulturellen Identität für die Subnationalisten besteht. Nach der Errichtung eines eigenen Bundesstaates in Südindien für die Gruppe der Tamilen zum Beispiel bestand der politische Alltag in Tamil Nadu in der Folgezeit hauptsächlich aus einem Wettbewerb um Macht und Einfluss zwischen verschiedenen Gruppen von Tamilen, deren Interessen nicht mehr primär kulturell oder ethnisch definiert wurden. Der politische Alltag wird in dieser Phase eines Konflikts von der Bildung von Koalitionen zwischen verschiedenen Gruppen, von politischer Akkommodation und von der Herstellung von Konsens über wichtige gesellschaftspolitische Themen 7 8
Carling 1991, 340. Siehe die Diskussion bei Green/Seher 2003 zum Thema der Rolle von Vorurteilen im Rahmen der Forschung zu ethnischen Konflikten.
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bestimmt. Daher werden an diesem Punkt Brüche innerhalb subnationalistischer Bewegungen wahrscheinlich, ebenso wie eine Banalisierung ihrer übergeordneten kulturellen Bestrebungen, die nun in Regeln und Verfahren und anderen Aspekten alltäglichen politischen Handelns Eingang finden. Verschiedene Forschungsergebnisse legen nahe, dass subnationalistische Führungseliten zur Erreichung ihrer Ziele, etwa der Durchsetzung einer nationalen Identität zum Nachteil einer anderen, oft gemischte Strategien mit geringem Risiko bei geringem Ertrag und hohem Risiko mit hohem Ertrag verfolgen.9 Auf der Grundlage dieser Annahmen lassen sich für die zukünftige Forschung die folgenden Hypothesen formulieren: – Je größer die Distanz zwischen den Werten der Eliten ist, welche den Staat politisch dominieren, und denen der Subnationalisten, desto größer wird die Bedeutung, die diesen Werten seitens der Subnationalisten zugemessen wird und zu deren Realisierung ein eigenes Territorium angestrebt wird. Als Beispiel mag der Konflikt zwischen tamilischen Hindus und buddhistischen Singhalesen in Sri Lanka dienen, der durch die Marginalisierung der Tamilen im Rahmen der demokratischen Institutionen entstanden ist, die zur Förderung buddhistischer Werte und der singhalesischen Sprache instrumentalisiert wurden. – Je größer die Disparität in materiellem Wohlstand zwischen einem Gebiet mit einer kulturell homogenen Bevölkerung und dem Rest der Bevölkerung eines Staates ist, desto stärker wird das Ressentiment gegenüber den Formen der Diskriminierung, welche diese Disparitäten zu verursachen scheinen.Verarmte Stammesangehörige, die sich gegen die Ausbeutung ihrer Mineralvorkommen durch nicht-tribale Bevölkerungsteile wehren, wie etwa im Falle der Bewegung für einen neuen indischen Bundesstaat „Jharkhand“, stehen stellvertretend für dieses Phänomen. – Je stärker die Exklusion regionaler politischer Eliten aus den Reihen der nationalen politischen Elite ist, desto wahrscheinlicher entstehen subnationalistische Bestrebungen. Sind eine oder gar mehrere der genannten Bedingungen gegeben, werden die folgenden Faktoren als hinreichende Bedingungen für die Transformation subnationalistischer Aspirationen in eine politische Bewegung für ein eigenes Territorium vermutet: – Die Schwächung zentraler Kontrolle erhöht die Erfolgschancen subnationaler Bewegungen und verschafft den Subnationalisten vermehrten Zulauf. – Die symbolische oder materielle Unterstützung durch Nachbarstaaten kann bei der Integration disparater subnationalistischer Elemente helfen.
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Für das Beispiel einer solchen gemischten Strategie auf lokaler Ebene siehe den Beitrag von Mitra 1991a.
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Hierfür mag die Unterstützung der ostpakistanischen Bewegung für ein unabhängiges Bangladesch durch in Indien lebende Bengalis in den sechziger und frühen siebziger Jahren als Beispiel dienen. – Ein soziales Netzwerk, das zur Koordination der Führungspersönlichkeiten und zur Generierung materieller Ressourcen für die Bewegung genutzt werden und das überdies Gruppenmitglieder sanktionieren kann, die eine Unterstützung versagen, kann eine Integration weiter erleichtern. Der Effekt dieser Faktoren ist kumulativ, d. h. die Wahrscheinlichkeit einer verstärkten subnationalen Bestrebung steigt mit dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer der genannten Faktoren, sie sinkt jedoch, wenn einige der Faktoren nicht auftreten. Von der Formulierung der genannten Annahmen über Phänomene auf Gruppenebene soll der Blick nun auf die Untersuchung der Entscheidungsebene des Individuums und seine Motivation für oder gegen einen geregelten Konfliktaustrag gewendet werden.
Politische Gewalt und Deinstitutionalisierung von Konflikten Wenn man die Erklärungsversuche für politische Gewalt und die scheinbar zunehmende Deinstitutionalisierung, also die Verlagerung von ethnisch, kulturell oder religiös eingefärbten Konflikten außerhalb etablierter politischer Verfahren, in Indien und Südasien allgemein betrachtet, so liegt es nahe, sie in strukturalistische, kulturalistische und akteursorientierte Ansätze einzuteilen. Dies ergibt sich aus den Schlüsselvariablen, die zur Erklärung herangezogen werden (Kultur, Sozialstruktur, Individuum oder Führungseliten). In Anlehnung an Gurr und Harff 10 ist jedoch auch eine Einteilung einerseits in das rationalistische Paradigma, andererseits in das sozialpsychologisch-emotionale Paradigma vorstellbar. Letztere Unterscheidung bezieht sich auf die Motivationsstruktur, die den einzelnen Akteuren, welche sich für die Ziele einer subnationalistischen Bewegung einsetzen, im Rahmen der Erklärungen unterstellt wird. Gurrs ursprüngliche Formulierung einer Theorie über die Gründe für Protest und regelwidriges Verhalten11 ging davon aus, dass ein Gefühl relativer Deprivation im Bezug auf Ressourcen, auf die Menschen Anspruch zu haben meinen, zum konfliktuellen Verhalten gegenüber dem Staat führe. Gurr nahm dabei an, dass die Transformation persönlicher Wut in politisches Handeln wesentlich von der individuellen Perzeption der Ungerechtigkeit der bestehenden Situation und nur nachrangig vom politischen Kontext abhänge, welcher kollektives Handeln möglich und lohnenswert macht. Da die Beurteilung der Moralität eine Angelegenheit individueller Wahrneh10 11
Gurr/Harff 1994, 78. Gurr 1974.
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mung ist, kann ein Gefühl relativer Deprivation schon aus der bloßen Wahrnehmung der Vorenthaltung materieller Ressourcen oder kultureller oder autonomer religiöser Identität entstehen. Letzteres ist im Kontext postkolonialer Staaten besonders wichtig, da hier die politischen Institutionen häufig stellvertretend für Werte stehen, die für die Menschen fremd erscheinen oder mit politischen Eliten identifiziert werden, denen bei der Unabhängigkeit von den Kolonialherren die Macht übertragen wurde. Jene Autoren, die sich unter anderem mit primordialen Gruppen, wie zum Beispiel Kasten oder Stammesverbänden, oder mit Klassen beschäftigen (so zum Teil auch Ted Gurr), konzeptualisieren die Herausforderungen gegenüber dem Staat in Form der Wahrnehmung, die von den Mitgliedern einer Protestgruppe geteilt wird, und der emotionalen Aufarbeitung von Missständen. Solche Gefühle entstehen demnach etwa durch die Wahrnehmung von als diskriminierend empfundenen Regeln. Die Vertreter dieses Ansatzes meinen, die Mitglieder einer Gruppe, deren vorgestellte Gemeinschaftlichkeit auf einer als gemeinsam empfundenen Benachteiligung beruht, nähmen als einzige Möglichkeit, eine Situationsveränderung herbei zu führen, die Infragestellung der bestehenden Regeln der Konfliktaustragung durch einen Akt der Rebellion wahr. Jene Autoren, die soziale Klassen als Erklärungsvariablen für politische Veränderungen und Konflikte in Südasien, wie in Indien, heranziehen, haben vielfach versucht, Konfliktverhalten anhand der gesellschaftlichen Struktur Südasiens zu erklären. Zur selben Schule gehören solche Ansätze, die hauptsächlich Kasten als Motor sozialer Konflikte betrachten. Diese werden entweder als Instrument der Herausforderung von Autorität, oder aber als Instrument der Dominanz von Angehörigen höherer Kasten, die ihre traditionellen Privilegien zu verteidigen suchen, aufgefasst.12 Beide Strömungen haben eine Reihe empirischer Untersuchungen begründet. Die Diskurse, die sich aus beiden bezüglich Indiens ergeben haben, standen allerdings lange Zeit mehr oder weniger unverbunden nebeneinander, anstatt einen kumulativen Beitrag zum Verständnis des Problems der Regierbarkeit und der Rolle des Staates als Schöpfer von für die Bevölkerung akzeptablen Regeln des Konfliktaustrags zu leisten. So blieb die Heranziehung der Erklärungen aus dem Bereich des sozialpsychologisch-emotionalen Paradigmas oberflächlich betrachtet die glaubwürdigste Vorgehensweise in der Analyse scheinbar irrationalen Handelns, wie etwa der Selbstverbrennung von Studenten aus Protest gegen die Erhöhung von Quoten für Angehörige niederer Kasten. Angesichts des unbefriedigenden Standes bisheriger Erklärungen für konflikthaftes Verhalten außerhalb der existierenden Arenen und Regelwerke soll hier davon ausgegangen werden, dass politisch Handelnde, wie die Anhänger von Gruppen subnationalistischer Prägung, entsprechend ihren Präferenzen 12
Frankel/Rao 1991 beziehen sich wesentlich auf einen solchen Analyserahmen. Siehe zu demselben Ansatz auch Das 1990 und Wilson 1994.
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handeln und in erster Linie nach einem Machtanteil streben. So wie ein nicht verregelter Wettbewerb um Macht einen Hobbesschen Naturzustand schafft, ermöglichen Institutionen durch effektive Beschränkungen dieses Wettbewerbs einen zivilisierten Umgang mit Konflikten und damit auch Regierbarkeit. Politische Systeme, in denen ein hohes Maß an Ordnung herrscht, indizieren am ehesten ein hohes Maß an Schutz für Leben und Eigentum. Im Umkehrschluss liegt mangelnde Ordnung dann vor, wenn eine hohe Zahl von Todesopfern durch Gewalt oder Unruhen auftritt, und eine große Anzahl illegaler Streiks oder Straftaten gegen das Eigentum festzustellen sind. Um ein handlungstheoretisches Modell von Regierbarkeit und staatlicher Verregelung von Konflikten zwischen Gruppen oder Individuen darzustellen, wird unterstellt, dass Menschen die Verregelung sozialen Handelns, wie etwa des Konflikthandelns, akzeptieren, wenn sie dies als vorteilhaft ansehen. Der erwartete Nutzen durch die Regelbefolgung muss also den von einer Regelverletzung erwarteten Nutzen übersteigen. Eine Einschätzung der Regierbarkeit lässt sich sinnvoll aus solchen Umfragedaten über die Perzeption der Regierbarkeit des Landes und der Konfliktregelungsmechanismen gewinnen, die der Staat für die Anerkennung ethnisch, kulturell oder religiös geprägter Forderungen in Indien vorhält, sowie aus Aggregatdaten über die objektive Lage in einem Gebiet, für deren Diskussion hier kein Raum ist.13 Deren Bedeutung für den Einzelnen kann mit Bezug auf die Präferenzen von individuellen subnationalistischen Akteuren anhand folgender idealtypischer Situation zweier Spieler auf der Grundlage des bekannten Gefangenendilemmas14 verdeutlicht werden. Beide Handelnde versuchen, die Handlungsoptionen des jeweils anderen Spielers zu erraten und durch eine entsprechende Strategie ihren eigenen erwarteten Nutzen zu erhöhen. Es wird angenommen, es handele sich bei dem ersten Akteur um den Angehörigen und Vertreter einer oben beschriebenen subnationalistischen Bewegung, welcher sich innerhalb eines bestimmten Territoriums etwa in der Indischen Union einem zweiten Akteur gegenüber sieht, der wiederum die politisch dominierende soziale Gruppe innerhalb dieses Territoriums (etwa eines der indischen Bundesstaaten) repräsentiert. Beide gehören nach eigener Wahrnehmung unterschiedlichen Gruppen an, die ihrer Auffassung nach anhand von ethnischen, religiösen oder sonstigen kulturellen Eigenschaften unterscheidbar sind, und die im Wettbewerb um die politische Macht oder Vorherrschaft im genannten Territorium stehen. Es ergeben sich für die beiden Konfliktgegner in der vorgestellten Konstellation die Alternativen, den Machtkonflikt innerhalb des etablierten politischen Verfahrens auszutragen: im Falle Indiens also mit demokratischen Mit13
14
Für die Diskussion solcher Umfragedaten zur Problematik der Regierbarkeit siehe Mitra 1999b, 108f., für Aggregatdaten zur Regierbarkeit in Indien siehe Mitra 2003, 673. Zu diesem Konzept siehe Axelrod 1984.
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teln, oder unter Verletzung dieses Verfahrens in der Hoffnung auf Maximierung des eigenen erwarteten Nutzens. Ferner wird angenommen, dass ein externer Akteur, der indische Staat, die Nichteinhaltung demokratischer Spielregeln beim Konfliktaustrag unterschiedlicher Gruppen sanktionieren kann. Der Einfachheit halber nehmen wir im Fall der Regelbefolgung, beispielsweise des Konfliktaustrags im Rahmen demokratischer Verfahren,15 eine Symmetrie der Nutzen, also des jeweils gewonnenen Macht- oder Einflussanteils an. Dies muss jedoch nicht unbedingt der Fall sein. Gerade in Situationen, in denen der erste Akteur Angehöriger einer Minderheit innerhalb eines Territoriums ist, welches numerisch von Mitgliedern einer anderen Mehrheitsgruppe dominiert wird, welcher auch der zweite Akteur angehört, wird eine Gleichwertigkeit der zu erwartenden Nutzen gerade nicht anzunehmen sein. In einfachen Gefangenendilemma-Situationen ist bekanntlich grundsätzlich ein nicht-kooperatives Verhalten der beiden Akteure, also der Politiker, die durch ihre Wahl einer Handlungsalternative den geringsten erwartbaren Nutzen zu maximieren trachten, zu erwarten. Übertragen auf ein Spiel zwischen zwei Spielern, deren Handlungsoptionen aus regelkonformem oder nicht-regelkonformem Konfliktaustrag bestehen, würde dies bedeuten, dass die Option, den Konflikt außerhalb demokratischer Verfahren auszutragen, grundsätzlich als attraktivere Variante erscheinen müsste. Auch hier besteht jedoch eine wichtige Einschränkung. Häufig sind die etablierten demokratischen Verfahren so ausgestaltet, dass sie einer der Parteien mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Vorteil verschaffen. Unter Berücksichtigung der realitätsnahen Annahme des Vergleichs der erwarteten Nutzen durch die Spieler16 ist zu erwarten, dass Angehörige einer Mehrheitsgruppierung in einem demokratischen Entscheidungsfindungssystem den Nutzen der Regelbefolgung ganz anders einschätzen als Angehörige einer numerischen Minderheit in dem selben System. Dies wird umso mehr der Fall sein, wenn der wichtigste Konflikt in dieser Unterscheidung der beiden ethnisch, religiös oder kulturell definierten und unterschiedlich großen Gruppen begründet ist. Die Angehörigen der Mehrheit könnten, anders als die der numerischen Minderheit, sehr wohl geneigt sein, ihre Interessen im Rahmen der demokratischen Verfahren zu verfolgen, da ihnen so aller Wahrscheinlichkeit nach die prozessualen Vorteile einer Mehrheitsdemokratie, einschließlich der Möglichkeit, die demokratische Legitimität der Ergebnisse behaupten zu können, zufielen. Noch schwerer ist die Wahrscheinlichkeit des geregelten Konfliktaustrags einzuschätzen, wenn Akteure den Regelbruch als um seiner selbst willen
15
16
Zu der grundlegenden Variante wie auch der formalisierten Darstellung eines Spiels um Regeln siehe Mitra 1999a. Für die grundsätzliche Illustration verschiedener Formen von Gefangenendilemmata siehe Brams 1985, 139-164. Zu dieser Konzession an die Realitätsnähe deduktiv gewonnener Modelle unter dem Begriff „subjective expected utility“ und dessen Einschränkungen siehe Jones 1999, 40ff.
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nützlich betrachten. Dies ist dann wahrscheinlich, wenn die Regel oder das Verfahren etwa gegen eine tief verwurzelte Glaubensüberzeugung verstößt. Hier wird der Akt des Verstoßens gegen eben jene Regel selbst eine große Befriedigung für den betroffenen Spieler darstellen. Eine solche Lage kann sich dann ergeben, wenn Führungseliten subnationaler Bewegungen davon ausgehen, dass ihnen aufgrund einer bestimmten Identität das Herrschaftsmonopol über ein bestimmtes Territorium zustehe, eine andere (Mehrheits-)Gruppierung innerhalb des größeren Gebietes diesen Anspruch jedoch zurückweist. Die Akzeptanz demokratischer Verfahren zur Lösung dieses Selbstbestimmungskonflikts erscheint den Mitgliedern der subnationalistischen Gruppe dann oft als inakzeptabel, weil diese Mitbestimmung von NichtGruppenangehörigen ihrer Ansicht nach einer Preisgabe des häufig als heilig betrachteten Gebietes gleich käme. Gleichzeitig hätte ein solcher Regelverstoß um seiner selbst willen natürlich auch Kosten, etwa die zu erwartende Sanktion seitens der Organe zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung. Würden aber zahlreiche Gruppenangehörige die Regel aus dem selben Grund verletzen, nähme die Wahrscheinlichkeit einer übermäßigen Sanktion ab (jail bharo, eine Strategie, die Gefängnisse mit Regelverletzern, etwa Teilnehmern an nicht genehmigten Demonstrationen, zu überfüllen, kann hierfür als Beispiel dienen).17 Für den Subnationalisten ergibt sich wiederum bei regelkonformem Konfliktaustrag der Vergleich zwischen den Kosten und Nutzen. Kosten entstehen einerseits im Wesentlichen in Form von sozialer Meidung durch Mitglieder der eigenen sozialen Gruppe gegenüber „Verrätern“ (also denjenigen, die demokratische, aber von den meisten Gruppenmitgliedern als illegitim betrachtete Verfahren vorziehen), falls der gegnerische Akteur ebenfalls die Regeln einhält. Für eine ausführliche Darstellung dieser KostenNutzen-Abwägung sei auf die einschlägige Literatur verwiesen. Es bleibt aber die Tatsache festzuhalten, dass, wenn die Befriedigung, die der Angehörige einer subnationalistischen Gruppe aus der Ablehnung der demokratischen Verfahren des von ihm als illegitim angesehenen Staates zieht, größer ist als der Nutzen aus der Regelbefolgung, sich die Verlagerung von Konflikten zwischen einzelnen Gruppen oder zwischen Gruppen und dem Staat in nichtdemokratische Arenen als vorstellbar, machbar und gar wahrscheinlich erweist. So könnte es zum Beispiel für militante Anhänger der sikhistischen Khalistan-Bewegung im Konfliktverlauf lohnenswerter erschienen sein, den indischen Staat gewaltsam anzugreifen als durch Kooperation mit ihren Gegenspielern beispielsweise vermehrt Zugang zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor ihres Bundesstaates zu erhalten. In einer solchen Situation werden zweckrational handelnde subnationalistische Akteure wahrscheinlich ein solches nicht-demokratisches Konflikthandeln vorziehen. 17
Siehe Mitra 1992 für eine Beschreibung von Protestbewegungen dieser Prägung im indischen Bundesstaat Orissa.
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Nachdem die Überlegungen eines idealtypischen Angehörigen einer subnationalen Gruppierung im Bezug auf die Vorzüge geregelten oder ungeregelten Konfliktverhaltens bei Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen oder mit dem Staat selbst nun also dargestellt wurden, soll anschließend versucht werden, den typischen Verlauf von subnationalistisch geprägten Konflikten zu untersuchen. Wie ein idealtypischer Lebenszyklus einer subnationalen Bewegung auf Grund der postulierten Annahmen über die Mobilisierung von subnationalen Interessen aussehen kann, soll daher Gegenstand der nun folgenden Ausführungen sein.
Ein zyklisches Modell subnationaler Bewegungen Um eine Bewegung zu begründen, müssen subnationalistische Führungseliten für die Menschen Handlungsoptionen schaffen, die zuvor nicht wahrgenommen worden sind. Es mag zunächst nicht als realistische Handlungsmöglichkeit erscheinen, einen übermächtigen Gegner wie den Staat herauszufordern, um einen unerwünschten Zustand mangelnder Anerkennung zu verändern. Sobald jedoch die oben beschriebenen nicht verhandelbaren Ziele erfolgreich auf die politische Agenda gesetzt worden sind, ändert sich fundamental die Perspektive der betroffenen potentiellen Gruppenmitglieder. Hier soll nun untersucht werden, wie politische Unternehmer subnationaler Prägung soziale Unzufriedenheit und kulturelle Symbole zu einer Bewegung mit dem Ziel eines eigenständigen Territoriums als Heimat der sozialen Gruppe zusammenfügen. An dieser Stelle ist es hilfreich, den Unterschied zwischen der ethnographischen Verwendung der Konzepte Kaste, Stammesgesellschaft, Ethnie, Sprache oder Religion und dem politischen Gebrauch dieser Kategorien durch die Akteure selbst festzustellen, mit dessen Hilfe die Mobilisierung erfolgt. Die Phasen, die eine politische Bewegung, welche auf einem Kulturnationalismus basiert, aller Wahrscheinlichkeit nach durchläuft (in idealtypischer Form und im Kontext eines für diese Art Herausforderung empfänglichen Staates), sind in Grafik 1 dargestellt. Die im Folgenden noch darzustellenden Beispiele (siehe Tabelle 1, unten) veranschaulichen, dass subnationalistische Bewegungen entgegen gelegentlicher Behauptungen keine inhaltsleeren Hüllen sind.18 Dennoch ersetzen spezifische politische Forderungen, die sich auf ganz genau definierte Ziele richten, meist erst nach einiger Zeit die eher abstrakten und wenig greifbaren Ziele der Anfangsphase. In dieser Anfangsphase werden die Ziele der Gruppe als aus sich selbst heraus wertvoll dargestellt. Dies ist wichtig zu beachten, da zu Beginn einer subnationalistischen Bewegung die Führungseliten den Unter-
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Kedouri 1960, 81.
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Grafik 1. Idealtypische Entwicklungsphasen einer subnationalistischen Bewegung im Kontext eines akkommodierenden Staates
stützern meist kaum materielle Vorteile im Gegenzug für eine Unterstützung anbieten können. In der Frühphase einer Bewegung ist Kultur also gleich Politik. Erinnerungen an in der Vergangenheit gemeinsam erlittene Diskriminierung und die Hoffnung auf eine zukünftige Zustandsänderung münden in eine symbolische Behauptung von Identität. Warum fällt es Anführern solcher Bewegungen aber häufig so schwer, spezifische Ziele in der Sprache der Alltagspolitik zu formulieren? Häufig sehen sich diese mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, eine kulturelle Vision und ein Gefühl der Identität, welche von wenigen Personen erdacht worden sind, einer breiten Personengruppe nahe bringen zu müssen, die eher mit der Sprache einer Politik des „quid pro quo“ vertraut ist. Die subnationalen Eliten wissen durchaus, dass der konventionelle politische Diskurs und die existierenden politischen Institutionen so organisiert sind, dass diejenigen, die den vorherrschenden ideologischen Konsens und die herkömmlichen Mechanismen der Entscheidungsfindung und der öffentlichen Diskussion von Forderungen in Frage stellen, von der Politik systematisch ausgeschlossen wer-
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den.19 Aus dem Blickwinkel des Agenda-setting betrachtet, besteht die rationale Vorgehensweise für Anführer subnationalistischer Bewegungen daher darin, zu Protest oder anderen unkonventionellen Mitteln der Politik zu greifen, um sich und ihren Gruppen Gehör zu verschaffen. Sobald auf die eine oder andere Weise Schlüsselelemente solcher subnationalistischer Forderungen durch die Anführer erfolgreich auf die Agenda gesetzt worden sind, werden sie zu einer wichtigen Quelle an Werten, auf die sich die Menschen auf dem in Frage stehenden Territorium beziehen können. In der Folgezeit bestimmen diese Konfliktgegenstände auf der Agenda dann oft den politischen Diskurs auf dem Territorium, indem sie ein Vokabular für den politischen Diskurs vorhalten. Die politische Taktik der nationalistischen tamilischen Partei Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) in der Folge ihrer politischen Offensive auf der Grundlage von gemeinsamer Kultur in Madras in den sechziger Jahren liefert einen Einblick in einen solchen symbolischen Gebrauch von Kultur als Instrument der Massenmobilisierung. Die DMK benutzte kulturelle Symbole, die den Bewohnern der tamilischen Gebiete (Tamilnad) gemein waren, wie etwa die gemeinsame Sprache oder die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit aller Tamilen. Gleichzeitig prangerte sie jedoch auch die soziale Dominanz der brahmanischen Kasten über die nicht-brahmanischen Kasten und die damit einhergehende wirtschaftliche Ungleichheit dieser Gruppen an.20 Sobald also subnationalistische Themen erfolgreich auf die politische Agenda gesetzt worden sind und deren öffentliche Befürwortung als mögliche Handlungsoption erscheint, tritt eine neue Gruppe von Politikern auf den Plan, die als Bindeglied zwischen den kulturellen Symbolen, welche mit diesen Themen in Verbindung stehen, und den etablierten politischen Strukturen und Prozessen fungiert. An dieser Stelle spielen auch die oben angesprochenen geopolitischen Faktoren eine Rolle, so etwa die Berichterstattung internationaler Medien oder die Innen- und Außenpolitik der Staaten Europas und Nordamerikas, welche Auswirkungen auf bestimmte Subnationalismen in Südasien haben können. Ein Brief, der eine moralische Unterstützung des damaligen Präsidenten George Bush senior für die nordamerikanischen Unterstützer der sikhistischen Khalistan-Bewegung enthielt, erhöhte so den Druck auf die indische Regierung, zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen, da Indien zu dem Zeitpunkt um eine Verbesserung der Beziehungen zu den Staaten des Westens bemüht war. Der erste politische Durchbruch ergibt sich für subnationale Bewegungen dann, wenn unternehmerisch denkende Politiker sich den Kulturnationali-
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Bachrach/Baratz 1962, 947-952, diskutieren dieses Agenda-setting als Machtinstrument im Konflikt zwischen politischen Gruppen. Für eine genaue Darstellung dieser Agitationen siehe Hardgrave 1969, 401.
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sten anschließen und ihnen zu einer Artikulation ihrer kulturellen Ziele mit Hilfe politischer Begrifflichkeiten verhelfen. Oftmals stellen die Anführer der Bewegungen an diesem Punkt ihre Agenda als unerledigte Angelegenheit der Geschichte dar, und neue politische Institutionen werden geschaffen oder existierende neu ausgerichtet. Im Zusammenhang mit der schon erwähnten Khalistan-Bewegung in Indien versuchten die Anführer der Bewegung traditionelle Institutionen, wie etwa die sarbat khalsa (eine Versammlung „getaufter“ Sikhs), das Konzept der Sikh Panth (der Sikh-Gemeinschaft als einer Art Körperschaft) oder die Autorität des Akal Takhat Jathedar (eines hohen Priesters) zu erneuern. Der Hindunationalismus in Indien wiederum hat der rituellen Mobilisierung der Gläubigen im Rahmen von rath yatras (Prozessionen von heiligen Triumphwagen) eine spezifisch politische Note verliehen, wie auch der Kar Seva, der Gesamtheit derjenigen Mitglieder der vorgestellten Gemeinschaft aller Hindus, die Arbeit für religiöse Zwecke leisten, um ihrem Glauben durch konkrete Taten zu Schutz und Durchsetzung zu verhelfen.21 Bezeichnenderweise setzten und setzen sich die Führungseliten beider Bewegungen aus Akteuren religiöser Eliten wie auch eher konventionellen Politikern zusammen, einschließlich ehemaliger Minister und Parlamentsmitglieder. Eine Quasi-Anerkennung der Identität und der Andersartigkeit bestimmter Gruppen durch den Staat verhilft der Forderung nach einer territorialen Heimat für diese Gruppe ebenfalls zu einer glaubwürdigen historischen Grundlage. Eine territoriale Heimstatt für alle Sikhs blieb seit der Unabhängigkeit Indiens lange eine immer wieder erhobene Forderung. Die bloße Existenz dieser Forderung sollte dabei als Beweis für ihre historisch begründete Berechtigung dienen. Mehrere Faktoren befördern gelegentlich die Gewährung einer solchen Quasi-Legitimität für subnationalistische Bestrebungen. Solche Forderungen sind im Allgemeinen in Staaten erfolgreich, die durch internationalen Druck zu Kompromissen gezwungen werden können oder die zu Konzessionen bewegt werden können, weil aus einer nationalen Tradition des Kompromisses, dem multi-ethnischen Charakter der Staatsbevölkerung oder der unvollendeten Staatenbildung heraus dies allgemein als akzeptabel und nicht als Zeichen eines schwachen Staates gilt. Wenn die Bewegung schließlich so viel Unterstützung erhält, dass die Machtübernahme oder die Teilhabe an der Macht im Rahmen eines nationalen Staates ein mögliches und nicht unwahrscheinliches Ergebnis darstellen, überschreitet sie eine bedeutsame Schwelle. An diesem Punkt wird sie auch von solchen Gruppen Unterstützung erwarten können, die eine zweigleisige Strategie verfolgen, also einerseits ihren Nutzen durch konventionelle politische Parteien zu mehren suchen, andererseits aber auch die Zusammenarbeit
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Siehe Mitra 1991b für eine Darstellung der religiös-politischen Dynamiken in Indien.
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mit den Subnationalisten suchen. Durch eine solche Strategie wird das Risiko, durch ein Nichtengagement zu verlieren, durch ein Engagement in beide Richtungen abgemildert. Douglass North hat in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag zum Verständnis politischer Transaktionen durch die Heraushebung von Regeln und Verfassungen bei der Zuweisung von Gütern geleistet.22 Für den politisch Handelnden ist die richtige Bewertung der unterschiedlichen Nutzen oder Güter sowie der Risiken der konventionellen oder der nationalistischen politischen Handlungsoption, eine wichtige Einflussgröße bei der Bestimmung des erwarteten Nutzens, nicht einfach. North verweist auf die Komplexität der menschlichen Umgebung und die Schwierigkeiten des Akteurs bei der Dekodierung dieser Umgebung mit den begrenzten Mitteln geistiger Konstrukte, also Ideen, Theorien und Ideologien.23 Während Green also, wie oben erwähnt, konventionelle Politik und Subnationalismus als dichotomisch begreift, scheinen beide tatsächlich in komplexen Kombinationen zu ko-existieren. Die scheinbar fehlende Verbindung zwischen Theorie und Erfahrung liefert Robert Axelrod. Er führt das Konzept subjektiver Wahrscheinlichkeiten in die Analyse der Politik ein und analysiert so die Akteurswahrnehmung einer gleichzeitigen Existenz zweier Sets von Normen. Etablierte Normen besitzen schon durch ihre bloße Existenz innerhalb einer sozialen Situation Einfluss, und in Anlehnung an den soziologischen Rechtsbegriff gelten sie nur insoweit, als Individuen sich dementsprechend verhalten und ein nicht regelkonformes Verhalten gewöhnlich bestraft wird.24 Somit ist die Frage der Existenz einer Norm (etwa der demokratischen Konfliktregulierung) für Axelrod eher eine Frage des Grades, nicht aber eine in Form eines Entweder-Oder. Anhand von Simulationen demonstriert Axelrod, wie Akteure Spielregeln in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation auch verändern, um mittels dieser Veränderung als politischer Ressource ihre Interessen besser durchsetzen zu können. Auf der Basis der Einsichten von North und Axelrod können wir somit die Domäne des erwarteten Nutzens, der mit der subnationalistischen Handlungsoption verbunden wird, erweitern. Der Anwendungsbereich erstreckt sich folglich nicht mehr nur auf Politikergebnisse im Sinne von Verteilungsergebnissen, sondern auch auf die institutionelle Komponente, also das dem Spiel in einem politischen System zugrunde liegende Regelwerk selbst. Zuerst wird den risikofreudigeren Akteuren, die die Bewegung schon früh unterstützen, die Tragweite dieses Unterschieds bewusst werden. Mit der Verbreitung von Informationen wird dies jedoch auch den Akteuren, die eine ge-
22 23 24
North 1990, 3. Ebd., 96. Axelrod 1986, 1097.
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mischte Strategie verfolgen und weniger risikofreudig sind, nicht verborgen bleiben. An diesem Punkt wird nun der Erfolg der subnationalistischen Alternative zur konventionellen Politik im Rahmen geregelter Verfahren so attraktiv, dass die Machbarkeit des damit verfolgten Ziels politisch getestet werden wird. Dieser Test erfolgt durch Forderung des Hauptziels der subnationalistischen Bewegung in Form der Errichtung eines spezifischen Territoriums für die Gruppenangehörigen. Diese neuen Staaten, wie etwa Tamil Nadu nach seiner Gründung als indischer Bundesstaat, werden von Befürwortern wie auch Gegnern der Bewegung zumindest vorläufig als institutionelle Garantie auf Schutz der jeweiligen kulturellen Identität betrachtet. Die Natur des politischen Wettbewerbs und die ideologische Position subnationaler Bewegungen ändern sich entscheidend nach der Schaffung einer autonomen politischen Arena in Form eines politisch selbst verwalteten Heimatterritoriums. In diesem veränderten makropolitischen Kontext sind konventionelle Parteien nun gezwungen, als Vertreter nationalistischer Ideen aufzutreten oder aber jeden Rückhalt zu verlieren. In gleichem Maße wird ein Solidaritätsgefühl der Menschen in seiner Bedeutung reduziert, wo nun altgediente Vertreter subnationalistischer Ideen gegeneinander antreten. Politisches Entscheidungshandeln kehrt somit auch hier zu den eher konventionellen Fragen der Zuweisung von materiellen Gütern an verschiedene Gruppen zurück. Wieder einmal liefert der tamilische Nationalismus vergangener Jahre eine gute Illustration für diese letzte Phase der Banalisierung kultureller Ideale, welche einfach in die Kernwerte und -strukturen der neuen politischen Arena integriert werden. Nach der Einführung des universellen Erwachsenenwahlrechts wurde Madras (heute Chennai) im Zuge des sich verstärkenden Wettbewerbs um Wählerstimmen zunehmend tamilisiert. Selbst die Kongresspartei, eigentlich eine Bastion des Säkularismus, war gezwungen, mit Hilfe von regionalen kulturellen Symbolen Wahlkampf zu betreiben. Letztlich erschien, nachdem der tamilische Nationalismus zur dominanten Form der Politik in Tamil Nadu geworden war (die Namensänderung des Bundesstaates von Madras in Tamil Nadu war hierbei auch bedeutsam), die wichtigste Frage nicht mehr die des Status tamilischer Kultur, sondern welche Gruppe innerhalb der tamilischen Gemeinschaft die Regierung stellen sollte. Dies soll nicht bedeuten, dass notwendigerweise alle subnationalistischen Bewegungen alle oben beschriebenen Phasen durchlaufen müssen. Auch soll nicht behauptet werden, dass die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs von Subnationalismus in allen Ländern gleichermaßen hoch ist. Die Bereitschaft des Staates, auf Forderungen solcher Herausforderer einzugehen, kann von Kontext zu Kontext unterschiedlich sein. Der Staat könnte beispielsweise zu extremer Repression greifen und dazu auch bestimmte dominante Eliten rekrutieren. Die gewaltsame Unterdrückung des bengalischen Aufstands in Ostpakistan und der anschließende Bürgerkrieg, der mit der Unabhängigkeit Bangla-
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deschs 1971 endete, wies eine solche Koalition aus westpakistanischen Eliten und lokalen Eliten in Ostpakistan auf und mag daher zur Veranschaulichung des Gegenbeispiels dienen. Die Reaktion des Zentralstaats ist mithin eine bedeutende Variable im jeweiligen Kontext für den Lebenszyklus einer subnationalistischen Bewegung. Im Vergleich mit anderen Regionen fallen andere Faktoren ebenfalls ins Auge, so etwa die Beziehung zwischen Gesellschaft und Wirtschaft oder zwischen Gesellschaft und Staat. In Staaten wie Sri Lanka oder Indien ging der Industrialisierung die Einführung der Demokratie und damit die Beteiligung weiter Bevölkerungskreise an der politischen Entscheidungsfindung voraus. Dies versetzte Gruppen mit zahlreichen Beschwerden angesichts von Missständen in die Lage, Forderungen nach eigenen Territorien aufzustellen, ohne hierfür schwerste Verfolgungen erwarten zu müssen. Subnationalismus konnte in solchen Systemen zu einem nicht unerheblichen Problem für Regierungen werden. Andererseits lieferte die Existenz demokratischer Verfahren die Möglichkeit von Verhandlungen über eine einvernehmliche Lösung. Die Stärke und die Widerstandsfähigkeit der jeweiligen demokratischen Institutionen können die Varianz zwischen Indien und Sri Lanka im Bezug auf den Umgang mit dem jeweiligen tamilischen Nationalismus in beiden Ländern erklären helfen.
Subnationalistische Bewegungen und Konflikte in Südasien Attentate, wie die auf den Präsidenten Sri Lankas, Premadasa, im Jahr 1993 oder die auf die indische Premierministerin Indira Gandhi und ihren Nachfolger und Sohn Rajiv Gandhi, sind Beispiele für die Bedeutung der nach wie vor aktuellen Frage nach Stabilität und Legitimität der politischen Systeme in den postkolonialen Staaten Südasiens. Die Bewegungen, denen die Attentäter in den genannten Fällen entstammen, wurden und werden von den jeweiligen Regierungen lediglich als Bedrohung der inneren Sicherheit und als Herausforderung für die Einheit des Staates betrachtet. Die Anhänger subnationalistischer Bewegungen jedoch betrachten ihr Handeln und ihre Forderungen, etwa nach politischer Kontrolle über ein bestimmtes existierendes oder noch zu konstituierendes politisches Territorium, als legitim aufgrund der von ihnen behaupteten Identität, die sich aus der Affinität zu einer bestimmten Sprache, Religion, Ethnie oder Region speist. Politische Führer, die im Namen solcher subnationalistischen Bewegungen agieren, stützen sich wie bereits gesehen häufig sowohl auf den Appell an ein Nationalgefühl wie auch auf materielle Interessen, um eine solche Bewegung ins Leben zu rufen. Dabei bestimmt der politische Kontext jeweils das Mischungsverhältnis beider Aspekte. Einflussfaktoren für den relativen Erfolg einer solchen Bewegung und ihrer Entwicklung sind unter anderem die Stär-
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ke des Ressentiments in der potentiell unterstützenden Bevölkerung gegenüber der Zentralregierung, die Bedeutung einer eigenen abgegrenzten kulturellen oder anders definierten Identität sowie eine geo-strategisch günstige Ausgangslage, welche den Führungspersönlichkeiten die effektive Nutzung der vorgenannten Ressourcen ermöglicht. Wie ebenfalls oben dargestellt werden Theorien über interethnische und subnationalistische Konflikte im Allgemeinen häufig in solche unterschieden, die Konflikte unter dem Gesichtspunkt instrumenteller oder Zweck-Rationalität untersuchen, und solche, die primordiale oder sozialpsychologische, auf Emotionen basierende Kategorien verwenden.25 Ausgehend von diesen Grundannahmen bildet die Vorstellung von einer imaginären politischen Gemeinschaft, welche als abgegrenzt und souverän vorgestellt wird, eine empirische Verknüpfung zwischen den rationalistischen und primordial-sozialpsychologischen Ansätzen in der Erforschung solcher Konflikte. Subnationale Bewegungen, wie die hier vorzustellenden, werden politisch auf der Grundlage einer gemeinsamen vorgestellten kulturellen Identität erschaffen, da selbst die Mitglieder der kleinsten Nation die meisten anderen Mitglieder nicht treffen oder gar kennen lernen werden.26 Die Rhetorik eines kulturell oder ethnisch aufgeladenen Nationalismus versucht, diese implizite Verbindung zwischen vorgestellter Gemeinschaft und deren sozialer Verankerung zu instrumentalisieren, und so den politischen Einfluss zu schaffen, der notwendig ist, um ihrer Forderung nach Herrschaftsgewalt über ein eigenes Gebiet einen konkreten territorialen Ausdruck zu verleihen. Die Variablen, wie Tabelle 1 sie verdeutlicht, hängen wesentlich vom räumlichzeitlichen Kontext des Konflikts ab. So wurde im Indien der fünfziger und sechziger Jahre die tamilische Sprache als Konfliktgegenstand selbst, in der Form ihrer umstrittenen Anerkennung als Amtssprache, gleichzeitig im Wege der Instrumentalisierung tamilischer Populärkultur zum wesentlichen Transportmechanismus des Ziels einer territorialen Neuordnung des Staatswesens. Ein solches Muster der Überführung als marginalisiert begriffener Kulturen in einen Forderungskatalog gegenüber dem Staat tritt in verschiedenen Konfliktkonstellationen subnationalistischer Prägung auf. Insgesamt ist das kulturell, ethnisch oder religiös geprägte Mobilisierungsmuster solch subnationalistischer Bewegungen gegenüber postkolonialen Staaten also dem der nationalen Befreiungsbewegungen der ausgehenden Kolonialzeit nicht unähnlich. Während die Herrschaftsträger in der Kolonialzeit jedoch nie den Versuch machten, eine kulturelle Affinität zu den Unterstützern der sie konfrontierenden Nationalbewegungen zu behaupten, sehen sich die Subnationalisten einer nationalisierten
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Gurr/Harff 1994, 78. Anderson 1983, 15.
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Tabelle 1. Ausgewählte Beispiele subnationalistischer Bewegungen und Identitäten Abstrakte Motivation
Territoriales Ziel
Basis sozialer Mobilisierung
Tamilischer Nationalismus
Souveränes Tamil Eelam Tamilische Populärkultur (Sri Lanka, fortdauernd) Tamil Nadu (Indien, erreicht)
Sikh-Identität
Souveränes Khalistan (Indien, nicht erreicht)
Sikh-Religion, Regionalsprache „Punjabi“, Gurmukhi-Schrift, gurdwaras
Kaschmirische Identität
Souveränes Kaschmir
Islam, kaschmirische Kultur
Naga-Nationalismus
Autonomes Nagaland (Indien, erreicht)
Tribale Netzwerke, christliche Mission
Mizo-Nationalismus
Autonomes Mizoram (Indien, erreicht)
Tribale Netzwerke, christliche Mission
Gorkha-Identität
Autonomes Gorkhaland (Indien, erreicht)
Tribale Netzwerke
Stammeskultur in der Region Jharkhand
Autonomes Jharkhand (Indien, erreicht)
Tribale Netzwerke
Kultur und deren Trägern gegenüber, von denen sie sich abzugrenzen suchen, die sie aber gleichzeitig unter Umständen als Teil einer übergeordneten Gemeinschaft (hier: Indien) betrachten. Sozialstrukturelle und kulturbedingte Aspekte von Konfliktkonstellationen, etwa verstanden als Handlungskorridor, sind angesichts der dargestellten Bedeutung daher in der Analyse keineswegs vollständig zu bestreiten. Andererseits bleibt die Analyse und Erklärung von Konfliktverhalten ohne die Berücksichtigung der Akteursperspektive, auch und gerade im Vergleich verschiedener solcher Bewegungen und Konflikte miteinander, zwangsläufig unvollständig. In ihrer Analyse interethnischer Kooperation verweisen Fearon und Laitin zu recht auf die relative Seltenheit ethnischer Konflikte, gemessen an der hohen Zahl sich ethnisch definierender Gruppen und ihrer räumlichen Nähe zueinander in verschiedensten regionalen Kontexten.27 Die Zahl der potentiell gewaltsamen Konflikte auch in der Region Südasien erscheint immens, gemessen an der Bedeutung des postkolonialen Staatswesens als Verwalter finanzieller Ressourcen, als über die Jahrzehnte attraktiver Arbeitgeber, als Anbieter staatlich geförderter Bildungs- und Ausbildungsprogramme und als die Institution, welche symbolisch, wie auch über den symbolischen Gehalt hinaus, bedeutsame Indivi27
Fearon/Laitin 1996, 716.
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dual- und Gruppenrechte vorhält. Umso mehr, als Indien wie auch Südasien insgesamt, über zahllose Gruppen verfügt, die sich selbst über Sprache, Religion oder Ethnizität definieren oder definiert werden. Die zentrale Frage, die sich dem außenstehenden Beobachter nun stellt, ist, warum trotz der Vielzahl potentieller gewaltsamer Konflikte in der Region Südasien, und insbesondere in Indien, nur in einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Fällen die betroffenen Gruppen einen nicht demokratisch verregelten und daher häufig gewaltsamen Austrag eines Konflikts mit dem Staat oder mit anderen sozialen Gruppen einer geregelten Austragung im Rahmen der Möglichkeiten des politischen Systems vorziehen. Anhand von zwei Fallbeispielen wird die Bedeutung der bereits oben genannten Hypothesen bezüglich der Faktoren deutlich, die als Katalysatoren und Motoren zur Herausbildung von subnationalistischen Bestrebungen führen. Im Fall des tamilischen Nationalismus sowohl in Sri Lanka als auch in Indien ergeben sich trotz ähnlicher Ausgangslagen in beiden Ländern zwei völlig unterschiedliche Ergebnisse. Während die Hochphase nationalistischer Rhetorik in Indien lange abgeebbt ist und lediglich bei anstehenden Wahlen eine Neuauflage erlebt, heutzutage jedoch mehr in Form der Betonung der tamilischen Geschichte und der errungenen Leistungen in Tamil Nadu als in Form der Herabwürdigung anderer indischer Subkulturen und Aufrufen zu Gewalt und zivilem Ungehorsam erscheint, bleibt der Konflikt in Sri Lanka weitgehend ungelöst. In Tamil Nadu hat die Alltagspolitik, welche das Thema des Status tamilischer Kultur im Verhältnis zu anderen indischen Kulturen banalisiert hat, inzwischen Raum gegriffen. Im Unterschied zu der Frühphase der tamilisch-subnationalistischen Bewegung ist Kultur nicht mehr gleichbedeutend mit Politik. Die tamilische Kultur ist nach dieser ersten und einer weiteren Phase der Instrumentalisierung zum Zweck der Errichtung des vormals nicht selbständigen Bundesstaates Tamil Nadu zu einem Epiphänomen im politischen Diskurs geworden. Obwohl sich ein Großteil des politischen Diskurses in der Tat eines kulturbezogenen Vokabulars und der entsprechenden Symbolik bedient, liegt der Akzent der verschiedenen miteinander im Wettbewerb stehenden tamilischen Regionalparteien heute nicht mehr auf der Betonung der Kultur als Konfliktgegenstand im politischen Wettbewerb, sondern auf der Frage, welche Gruppierung die bessere Politik macht beziehungsweise welche Fehlentwicklungen die gerade jeweils regierende Partei zu verantworten hat. Im Gegensatz hierzu besteht der Konflikt um die Anerkennung der Gleichwertigkeit tamilischer Kultur in Sri Lanka oder gar einer Unabhängigkeit tamilischer Siedlungsgebiete vom Staat selbst, unvermindert fort. Hier hat die Tatsache, dass den tamilischen Bestrebungen, anders als Indien, ein unnachgiebiger Staat gegenüber stand, zu einem anderen Konfliktverlauf beigetragen. Auch schon bei der Herausbildung des subnationalistischen Konfliktpotentials zeigt sich die Bedeutung der Hypothese, dass die Distanz zwischen den Werten, die staatliche Institutionen symbolisieren
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(Buddhismus), und den von den Subnationalisten vertretenen (Hinduismus) sowie die Exklusion der subnationalistischen Eliten (Tamilen) von der nationalen politischen Elite (Singhalesen), entscheidend zur Herausbildung eines subnationalistischen Konflikts beitragen. Auch die geopolitischen Unterschiede beider Konfliktsituationen wirken sich auf den Konfliktverlauf aus, da den Subnationalisten zum Zeitpunkt des tamilischen Nationalismus in Indien kaum ausländische Unterstützung zukam, im Falle der Tamilen in Sri Lanka jedoch in hohem Maße von außen in den Konflikt eingegriffen wurde, sei es in Form der indischen Intervention zu einem relativ späten Zeitpunkt oder aber schon früh durch finanzielle Unterstützung der Tamil Tigers durch die weltweite tamilische Diaspora. Der Vergleich der Konflikte im Punjab (Khalistan-Bewegung) und in Kaschmir, innerhalb Indiens selbst, ist auch aufschlussreich in Bezug auf die Validität der genannten Hypothesen. Während die subnationalistischen Spannungen seit den späten achtziger Jahren allgemein stark abgenommen haben, ist dies in Kaschmir nicht der Fall. Zwar ist der indische Staat den Forderungen sowohl der kaschmirischen als auch der sikhistischen Subnationalisten entgegen gekommen, indem dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir eine verfassungsrechtlich besondere Stellung gemäß Artikel 370 der indischen Verfassung zugebilligt wird und bereits 1966 auf Druck durch Sikh-nationalistische Bestrebungen der Bundesstaat Punjab, in dem sowohl sikhistische wie auch hinduistische Bevölkerungsgruppen gemeinsam gelebt hatten, in zwei nach ethnischen und linguistischen Kriterien unterschiedene Bundesstaaten (Punjab und Haryana) aufgeteilt wurde. Im Fall des Konflikts um den Punjab trugen die Kombination der Mittel Repression und Kompromiss sowie das Fehlen internationaler Unterstützung für einen souveränen Staat der Sikhs zu einem dem oben aufgezeigten Modell entsprechenden Konfliktverlauf bei. Im Fall Kaschmirs sind dem indischen Staat allerdings Einschränkungen seiner Handlungsoptionen auferlegt. Die Beteiligung Pakistans im Rahmen des Konflikts, die verfassungsrechtliche Sonderstellung, die Kaschmir durch die indische Regierung schon früh zugesichert wurde und heute den Verhandlungsspielraum einschränkt, sowie die Fragmentierung der Identität der Kaschmiris und die daraus erwachsende Meinungsvielfalt erschweren den Umgang mit dem Konflikt.
Schlussfolgerungen Aus den hier getroffenen Aussagen über Konflikte und Konfliktverläufe in Südasien eindeutige Lehren zu ziehen, ist verhältnismäßig schwierig. Ziel des Beitrags ist vielmehr das Aufzeigen einer möglichen zukünftigen Forschungsrichtung mit Blick auf die stärkere Berücksichtigung der Akteursperspektive. Wenn politische Akteure der Auffassung sind, dass die vom Staat
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vorgehaltenen demokratisch legitimierten Verfahren des Konfliktaustrags für ihre Interessendurchsetzung ungeeignet sind, wie etwa eine reine Mehrheitsdemokratie im Falle einer territorial abgrenzbaren und religiös, ethnisch oder kulturell definierten Minderheit und ihrer Chancen auf eine Beteiligung an der Machtausübung in diesem politischen Territorialverband, so ist eine zunehmende Heranziehung paralleler nicht-demokratischer Handlungsformen beim Versuch der Interessendurchsetzung zu erwarten. Der Staat wird damit im besten Fall zu einem Epiphänomen, von dem keine Hilfe bei der Konfliktlösung zu erwarten ist, im schlimmsten Fall jedoch selbst zum Gegner, welcher systematisch die Bestrebungen von subnationalistischen Minderheitsgruppierungen durch die Bevorteilung der Mehrheit im Rahmen demokratischer Verfahren unterminiert. Daher wird der Staat in solchen Situationen gegebenenfalls darauf angewiesen sein, einen Teil des von diesen Akteuren vertretenen Wertekanons in die Verfassung aufzunehmen, um seine Legitimität in den Augen solcher Gruppierungen nicht vollends einzubüßen. Dies würde den Nutzen des Verlassens des demokratischen Rahmens zur Austragung von Konflikten verringern. Am Fall der Schaffung sprachlich vereinheitlichter Bundesstaaten in Indien in den fünfziger Jahren lässt sich dies beispielhaft sehen, bei der teilweise die Werte sprachnationalistischer identitärer Bewegungen in staatliche Strukturen überführt wurden.28 Regierungen können sich unter dem Eindruck solcher oder ähnlicher Bewegungen daher einen vergrößerten Handlungsspielraum und zusätzliche Legitimität verschaffen, indem sie Maßnahmen zur Herstellung der inneren Sicherheit strategisch einsetzen. Sie können Reformpolitik betreiben, welche den Wert der Einhaltung demokratischer Verfahren erhöht und können durch die Aufnahme von Werten in die Staatsverfassung, welche bestimmten Bevölkerungsteilen besonders wichtig sind, die moralische Basis demokratischer Verfahren und des Rechts selbst stärken und den psychologisch definierten Nutzen der Regelverletzung bei der Konfliktaustragung vermindern. Wie bereits sichtbar geworden ist, spielt die Wahrnehmung der einzelnen Akteure eine herausragende Rolle, insbesondere bei der Frage, ob sich der jeweilige Akteur für die Austragung eines Konflikts innerhalb oder außerhalb demokratischer Spielregeln entscheidet. Dies hängt wiederum von seiner Wahrnehmung der Spielregeln als legitim und damit akzeptabel oder als illegitim ab. In Konfliktfällen, in denen es nicht so sehr um die Umsetzung bestimmter Politiken geht, welche die Interessen etwa einer Minderheit in einem Gebiet umzusetzen helfen sollen, sondern vielmehr lediglich um die bloße Verdrängung einer politisch dominierenden Elite von der Macht, bestehen jedoch einige Einschränkungen des gezeigten Modells. In Fällen also, in denen den Akteuren eine konventionelle Politik des „quid-pro-quo“ nicht als 28
Siehe Dasgupta 1970 für eine ausführliche Darstellung des Konflikts, der dieser territorialen Neuordnung indischer Bundesstaaten voran ging.
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Option erscheint, sondern im Gegenteil die Vermeidung des Zwangs zu sozialer Interaktion das oberste Ziel der Gruppe bildet, dem die Verdrängung einer dominierenden Elite aus einem bestimmten Territorium dienen soll, ist ein Spiel der oben dargestellten Art gar nicht vorstellbar. Aus dieser Erkenntnis lässt sich weiter ableiten, dass demokratische Verfahren, basierend auf regelmäßigen Wahlen und einer Demokratisierung weiter Gesellschaftsbereiche, durch die Rekrutierung neuer Eliten zur Legitimität politischer Institutionen beitragen. Das Funktionieren dieses Mechanismus hängt jedoch davon ab, ob es zwischen den etablierten Eliten, welche die Politik in einem gegebenen Territorium dominieren und den aufstrebenden Eliten, beispielsweise subnationalistischer Ausrichtung, eine personelle Schnittmenge gibt oder nicht. Wenn dies nicht der Fall ist, erscheint ein geordneter Machttransfer wenig wahrscheinlich. Solche Konflikte, in denen es ausschließlich um die vollständige Verdrängung alter Herrschaftseliten aus einem bestimmten Territorium hinaus unter Beibehaltung der territorialen Integrität geht, sind zwar nicht selten, bilden aber im Rahmen des hier vorrangig untersuchten Phänomens Subnationalismus nur einen kleinen Ausschnitt. Wie anhand des aufgezeigten handlungstheoretisch orientierten, hier aber nicht formal dargestellten Modells deutlich geworden ist, kann gerade in Gesellschaften, die eine Vielzahl von sozialen Gruppen aufweisen, welche sich selbst über Identitätsmerkmale wie etwa Sprache, Religion oder gemeinsame Abstammung definieren, die Erfahrung der Benachteiligung durch die einseitige Ausgestaltung von Spielregeln zur Abwendung von geregelten Formen des Konfliktaustrags hin zu nicht-demokratischen Formen führen. Wenn der Staat auf Dauer nicht in der Lage ist, für benachteiligte Gruppen Verfahren bereit zu stellen, mit deren Hilfe diese ihre Interessen zumindest teilweise durchsetzen können, so kann dies unter Umständen sogar die Infragestellung der Legitimität des Staates selbst zur Folge haben. Zuvor wurden die Rolle der Perzeption von Nutzen politischen Handelns und die Frage angesprochen, wann eine Handlung in der Wahrnehmung eines politischen Akteurs subnationalistischer Ausrichtung einen Wert an sich haben kann und wie dies beim Verständnis der Überwindung der Probleme kollektiven Handelns im Rahmen politischer Mobilisierung helfen kann. Zuletzt wurde ein Modell des idealtypischen Lebenszyklus’ einer subnationalistischen Bewegung vorgestellt. Abschließend können wir hypothetisch einen Zusammenhang zwischen Intensität und Dauerhaftigkeit von Subnationalismus einerseits und dem räumlich-zeitlichen Kontext des jeweiligen politischen Systems andererseits annehmen. Unter dieser Annahme wäre zu erwarten, dass liberale demokratische Systeme den geringsten Grad an Subnationalismus und dass autoritäre Regimes, deren Wirtschaft und Gesellschaft einer späten Modernisierung unterliegen, den höchsten Grad zu gewärtigen hätten.29 Diese Hypothesen 29
Rogowski 1985, 383.
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könnten den theoretischen und komparativen Rahmen für eine vergleichende Analyse der zahlreichen Fälle liefern, die in Einzelfall- und Vergleichsstudien untersucht worden sind. Die hier gemachten theoretischen Annahmen und Ausführungen verstehen sich als komplementär zu den empirischen Ergebnissen aus anderen Studien, die sich mit ethnisch determinierter Politik befassen. Paul Brass etwa geht von einer Instrumentalisierung von kultureller Gemeinschaft zum Zweck politischer Mobilisierung aus, indem Unterschiede zwischen Menschen subjektive und symbolische Bedeutung erlangen und in ein Gruppenbewusstsein transformiert werden, bevor sie in politische Forderungen übersetzt werden.30 Die Entstehung ethnonationalistischer oder religiös-nationalistischer Gruppen und die damit oft einhergehenden Konflikte seien daher auch inhärent in sozialem Wandel in allen heterogenen Gesellschaften und nicht nur ein Abbild kultureller Gegebenheiten oder primordialer Gefühle.31 Unter dem Banner des kulturellen Nationalismus werden ethnische Identitäten oftmals erst erschaffen und wieder neu erschaffen, um bestimmten sozialen oder ökonomischen Interessenlagen zu entsprechen.32 Welche Lösung gibt es also für die Herausforderung des Subnationalismus auf Grund der hier angestellten Analyse? Gegenüber der Annahme, dass die Ausbreitung substantieller Rationalität nach westlichen Maßstäben in Bezug auf Ziele und Werte sowie die Schaffung demokratischer politischer Institutionen und die kulturelle Homogenisierung von Gesellschaften das Auftreten von subnationalistischen Bewegungen reduzieren werden, ist Skepsis angebracht. Eins der besten Gegenbeispiele solch linearen Denkens in modernisierungstheoretischen Bahnen liefert Sri Lanka, welches als erstes südasiatisches Land demokratische politische Institutionen erhielt. Gerade das Funktionieren partizipatorischer Demokratie dort hat aber zur Entfremdung der Bevölkerungsgruppen geführt, welche dann den Boden für subnationalistische Bestrebungen bereiten konnte. Der Vorschlag von Ernst Haas, welcher auf der Annahme eines multikulturellen Staates basiert, der Verhandlungsregeln für Gruppenbestrebungen bereit hält, scheint vielversprechender (Haas nennt dies die „Rationalisierungs-Formel“).33 Die Verantwortung für einen geregelten Konfliktaustrag liegt letztlich jedoch bei den Akteuren selbst, da Regeln stets nur Anleitungen zum Handeln sein können, wie auch Sozialstrukturen lediglich einen groben Handlungsrahmen vorgeben. Wie die immer noch schwelenden Konflikte in Kaschmir und Sri Lanka veranschaulichen, verstärkt das Angebot von Gesprächen in Verbindung mit der nicht verhandelbaren Einschränkung, dass die territoriale Integrität des Staates 30 31 32 33
Brass 1974, 27. Melson und Wolpe, 1970, 1129. Newman 1991, 456. Haas 1993.
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nicht in Frage gestellt werden darf, nur die Ausweglosigkeit aus einer Gewaltspirale.
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Konflikt und Konfliktperzeption in Südasien: Indien im Vergleich
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient1 pamela jawad Die Region des Vorderen und Mittleren Orients (VMO)2 wird vielfach als „Wiege der Zivilisation“ bezeichnet, da sich hier verschiedene Hochkulturen entwickelten, die ersten Städte, Gesetzesbücher und Alphabete entstanden und die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam hier ihren Ursprung haben. Spätestens seit den Ereignissen des 11. September 2001 ist diese Region erneut Brennpunkt der Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit geworden. Die Mehrzahl der Attentäter stammte aus diesem geographischen Großraum, der aufgrund seiner Energieressourcen von enormer Bedeutung für die Weltwirtschaft ist. Die fortwährende Instabilität durch die anhaltende Gewalt im Irak, der noch immer ungelöste Nahostkonflikt, innenpolitische Spannungen zwischen den Bevölkerungen und ihren Regierungen, zunehmender religiöser Fundamentalismus und das Streben nach Massenvernichtungswaffen stellt die westliche Welt derzeit vor große sicherheitspolitische Herausforderungen wie kaum eine andere Region.3
1 Konfliktbegriff Politische Konflikte werden hier als „Interessengegensätze (Positionsdifferenzen) um nationale Werte von einiger Dauer und Reichweite zwischen mindestens zwei Parteien (organisierte Gruppen, Staaten, Staatengruppen, Staatenorganisationen), die entschlossen sind, sie zu ihren Gunsten zu entscheiden“4, verstanden. Nationale Werte bzw. Konfliktgegenstände sind Territorium, Sezession, Dekolonisation, Autonomie, System/Ideologie, nationale Macht, regionale Vorherrschaft, internationale Macht, Ressourcen und Sonstiges.
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Die Autorin dankt Angel Jimenez Sanchez, dem Datenbank-Administrator des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK), für einige Auswertungen der Datenbank KOSIMO 2.0. Der Begriff „Orient“ stammt aus dem Lateinischen [sol] oriens, was „aufgehend[e Sonne]“ bzw. „Osten“ bzw. „Morgen[land]“ bedeutet und im Gegensatz zum das Abendland bezeichnenden „Okzident“ steht. Bezog sich der Begriff in der Antike noch vornehmlich auf den Bereich der vorderasiatischen Hochkulturen, so umfasste er seit dem Mittelalter weitgehend die islamischen Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas und weitete sich mit der Expansion des Islam auch auf den Mittleren Osten aus. Vgl. Jaeger 2004. HIIK 2003, 2; in Anlehnung an Pfetsch 1991, 8.
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Im Gegensatz zu dem in der Konfliktforschung häufig verwendeten quantitativen Ansatz, bei dem Kriege beispielsweise erst berücksichtigt werden, wenn sie zu über 1.000 kriegsbedingten Todesopfern geführt haben,5 erlaubt dieser qualitative Konfliktbegriff auch die Erfassung von nicht gewaltsamen Konflikten, die (noch) nicht zu Todesopfern geführt haben. Der komparative Vorteil dieses Ansatzes, mit dem sowohl gewaltsame als auch nicht gewaltsame politische Konflikte zwischen und innerhalb von Staaten erforscht werden können, besteht in der Berücksichtigung von Interessengegensätzen bereits vor der Eskalation zu gewaltsamen Austragungsmodi über den zeitlichen Verlauf hinweg. Dies ermöglicht einen tieferen Einblick in Eskalations- und Deeskalationsdynamiken und trägt zur Krisenfrüherkennung bei.6 Die Konflikte werden dabei anhand der tatsächlich beobachtbaren Gewalt bzw. der Art, Dauer und Häufigkeit der von den Konfliktparteien eingesetzten Maßnahmen des Konfliktaustrags in die fünf Intensitätsstufen Krieg, ernste Krise, Krise, manifester Konflikt und latenter Konflikt eingeteilt.7 Dies erlaubt eine strikte Trennung zwischen gewaltsamen Konflikten und jenen, die ohne den Einsatz physischer Gewalt ausgetragen werden. Die Stufen „latenter“ und „manifester Konflikt“ stellen nicht gewaltsame Konflikte niedriger Intensität dar. Die Krise ist eine mittlere Intensitätsstufe des Übergangs zwischen gewaltsamen und nicht gewaltsamen Konflikten, welche einzelne oder kurzzeitige gewaltsame Zusammenstöße wie Grenzscharmützel, Aufstände, Putsche oder einzelne Terroranschläge umfasst. Die Stufen „ernste Krise“ und „Krieg“ bezeichnen Konflikte hoher Intensität, bei denen es zu regelmäßigen, organisierten Kampfhandlungen kommt. Tabelle 1 zeigt einen Überblick über die einzelnen Intensitätsstufen sowie ihrer Definitionen und nennt beispielhaft jeweils typische Schlüsselereignisse.
2 Region des Vorderen und Mittleren Orients Im Zentrum dieses Beitrags stehen Konflikte in der Region des Vorderen und Mittleren Orients (VMO). Regionen sind jedoch nie scharf geschnitten und lassen sich nur schwer abgrenzen, insbesondere dann, wenn sie sich wie im Falle des VMO nicht durch einen geographischen Kontinent definieren las5
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Vgl. u.a. das Correlates of War Project von J. David Singer und Melvin Small (Singer 1979; Singer und Small 1972), http://www.umich.edu/~cowproj/. Vgl. Jawad/Schwank 2004. Mit der Programmierung des relationalen Datenbanksystems KOSIMO 2.0 im Jahre 2003 hat das HIIK den bisherigen Datensatz KOSIMO 1 vollständig überarbeitet, aktualisiert und erweitert. Diesbezüglich wurden methodische Veränderungen vorgenommen, welche die Konfliktdefinition, die Konfliktgegenstände und die Intensitätenskala betreffen. Bis 2003 wurden nur vier Intensitätsstufen erfasst. Die neue Datenbank ermöglicht die tagesgenaue Erfassung der von den Konfliktparteien und anderen Akteuren ergriffenen Maßnahmen. Darüber hinaus werden umfangreiche Strukturdaten über die staatlichen und nicht staatlichen Akteure berücksichtigt. Vgl. HIIK 2003, 8.
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Tabelle 1. Übersicht der Intensitätsstufen. Quelle: nach HIIK 2003 Gewaltgrad
Int.grupp.
Int.stufe
1
nicht gewaltsam
Schlüsselereignisse zwischenstaatlich
Schlüsselereignisse innerstaatlich
Eine Positionsdifferenz um definierbare Werte von nationaler Bedeutung ist dann ein latenter Konflikt, wenn darauf bezogene Forderungen von einer Partei artikuliert und von der anderen Seite wahrgenommen werden.
Positionsdifferenzen; Erhebung von Forderungen um nationale Werte, die von der Gegenseite zurückgewiesen werden
Positionsdifferenzen, Erhebung von Forderungen um nationale Werte, die von der Gegenseite zurückgewiesen werden
Ein manifester Konflikt beinhaltet den Einsatz von Mitteln, welche im Vorfeld gewaltsamer Handlungen liegen. Dies umfasst beispielsweise verbalen Druck, die öffentliche Androhung von Gewalt oder das Verhängen von ökonomischen Zwangsmaßnahmen.
Forderungen verbunden mit Drohungen
Forderungen verbunden mit Drohungen
Eine Krise ist ein Spannungszustand, in dem mindestens eine der Parteien vereinzelt Gewalt anwendet.
Grenzscharmützel, kurzzeitige gewaltsame Zusammenstöße
Aufstände, Rebellionen, Putsche, einzelne Terroranschläge
Ernste Krise
Als ernste Krise wird ein Konflikt dann bezeichnet, wenn wiederholt und organisiert Gewalt eingesetzt wird.
Regelmäßige, organisierte gewaltsame Zusammenstöße
Regelmäßige gewaltsame Zusammenstöße der Konfliktparteien jedoch mit deutlichen Kampfpausen, Guerillakrieg, zahlreiche und fortgesetzte Terroranschläge
Krieg
Kriege sind Formen gewaltsamen Konfliktaustrags, in denen mit einer gewissen Kontinuität organisiert und systematisch Gewalt eingesetzt wird. Die Konfliktparteien setzen, gemessen an der Situation, Mittel in großem Umfang ein. Das Ausmaß der Zerstörung ist nachhaltig.
Systematischer Einsatz von Gewalt innerhalb eines geschlossenen Zeitraums
Bürgerkrieg, Einsatz aller verfügbaren Mittel, Bildung von Kriegsökonomien
Latenter Konflikt
Definition
Niedrig
2
Mittel
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4
gewaltsam
Intensitätsbezeichnung
Manifester Konflikt
Krise
Hoch
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sen, sondern eine Landbrücke zwischen drei Kontinenten – Afrika, Asien und Europa – bilden. Aufgrund Regionen konstituierender Faktoren – wie regionale Konfliktzusammenhänge, Selbstwahrnehmung und -positionierung einzelner Staaten sowie transnationaler Bindungen politischer, soziokultureller und wirtschaftlicher Art – soll der VMO hier die 15 Staaten des Nahen Ostens8, die fünf nordafrikanischen Staaten des Maghreb9 sowie auch Afghanistan umfassen, das ansonsten üblicherweise zur Region des Mittleren Ostens10 gezählt wird. Obwohl der Sudan zu 70 Prozent islamisch, ethnisch zu 40 bis 50 Prozent arabisch und sprachlich zu 50 Prozent arabisch geprägt ist, soll er aufgrund seines regionalen Konfliktzusammenhangs mit den afrikanischen Staaten südlich der Sahara nicht in den VMO einbezogen werden. Häufig werden in der Literatur auch noch der Kaukasus, Zentralasien und manchmal sogar Südasien zur Region des Vorderen und Mittleren Orients gerechnet. Davon wird hier jedoch abgesehen, da der Kaukasus sich – anders als Afghanistan – nicht in einen im weitesten Sinne nah- bzw. mittelöstlichen, sondern in einen postsozialistisch-europäischen Handlungsraum einordnen lässt. Pakistan ist zwar in Afghanistan involviert und sein Atomprogramm profitiert von saudischer Finanzhilfe, dennoch ist es im Konfliktzusammenhang und in historisch kolonialer Verbindung mit Indien zu sehen. Die Bevölkerung Zentralasiens ist zwar mehrheitlich islamischen Glaubens, Russland übt hier jedoch weit größeren Einfluss aus als der Nahe Osten.11 Die „islamische Welt“ beschränkt sich also nicht auf die so definierte Region des VMO, da hierzu auch zahlreiche Staaten Afrikas und Asiens zu zählen sind; dennoch ist es eben dieser geographische Raum, der nicht zuletzt durch die Ereignisse des 11. September 2001 in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt ist. In deren Folge wurden die Operationen „Enduring Freedom“ in Afghanistan und „Iraqi Freedom“ im Irak im Rahmen des von US-Präsident George W. Bush ausgerufenen „Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ durchgeführt. Vor diesem Hintergrund wuchsen die Vorurteile auf beiden Seiten. Während im Westen die undifferenzierte Wahrnehmung der Region als Hort militanter Islamisten und unkontrolliert zirkulierender Massenvernichtungswaffen zunahm, fühlte sich die „islamische Welt“ mit einem wachsenden ver8
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Der politisch-geographische Begriff „Naher Osten“ bezeichnet den Großraum, der folgende Länder Nordostafrikas und Südwestasiens umfasst: Ägypten, Israel, Jordanien, Syrien, Libanon, Türkei, Irak, Iran sowie die Länder der Arabischen Halbinsel Saudi-Arabien, Jemen, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Katar, Bahrein und Kuwait. Der Begriff „Maghreb“ (arabisch: Westen) bezeichnet den Westen der arabisch-muslimischen Welt, der heute Marokko, Algerien und Tunesien einschließt. Im weiteren Sinne werden darunter geographisch und kulturell auch Libyen und Mauretanien zum sogenannten „Großen Maghreb“ gefasst. Die Region des „Mittleren Ostens“ umfasst neben Afghanistan die südasiatischen Länder Pakistan, Indien, Nepal, Bhutan und Bangladesch. Vgl. Perthes 2004, 3f.
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meintlichen westlichen Imperialismus konfrontiert. Die Debatte um den von Samuel P. Huntington geprägten Begriff des „Kampfes der Kulturen“ wurde neu entfacht.12 Allerdings wies Bassam Tibi bereits 1998 in seinem Werk „The Challenge of Fundamentalism“ zu Recht darauf hin, dass nicht der Islam als Religionsgemeinschaft selbst eine Bedrohung darstelle, sondern dass der islamische Fundamentalismus als politische Ideologie eine ernste Herausforderung für die Weltpolitik bedeutet.13 Unstreitig ist, dass die Region des VMO, die heute zu den „Unruheherden der Welt“ gehört, zentral für die Sicherheit und Stabilität der Welt ist. Dies verdeutlicht die Karte in Abbildung 1, welche die Anzahl der seit 1945 im VMO pro Staat gewaltsam ausgetragenen Konflikte zeigt. Die meisten dieser Konflikte sind historisch begründet und gehen zurück auf die langen Phasen der Fremdherrschaft, die in der Literatur häufig auch für den Verlust der zivilisatorischen Vormachtrolle gegenüber dem Westen und für den Niedergang der einstigen Drehscheibe der Kultur, des Fortschritts und der Kunst verantwortlich gemacht werden.14 Nach dem Mongo-
Abb. 1. Karte gewaltsamer Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient 1945–2003. Quelle: eigene Auswertungen der HIIK-Datenbank KOSIMO 2.0 12 13 14
Huntington 1993 und 1996; siehe auch Beitrag von Nicolas Schwank in diesem Band. Tibi 1998. Vgl. Lewis 2002.
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lensturm im 13. Jahrhundert folgte eine lange Zeit des Kampfes um die Vorherrschaft zwischen Türken und Persern, der die Dominanz des Osmanischen Reiches zur Folge hatte. Zwar beeinflusste die osmanische Herrschaft die soziokulturelle Entwicklung der arabischen Gesellschaften, doch viele der heutigen Dispute resultieren aus dem geheimen Sykes-Picot-Abkommen von 1916, mit dem Großbritannien und Frankreich die Region unter sich aufteilten. Damit wurde nicht nur ein Verrat an den Arabern begangen, denen Großbritannien für ihre Unterstützung gegen die mit Deutschland verbündeten Türken Unabhängigkeit zugesagt hatte; vielmehr wurden nach dem Ersten Weltkrieg mitunter künstliche Staatsgebilde wie der Irak, aber auch Länder geschaffen, die wie der Libanon, Jordanien, Kuwait und die kleineren Scheichtümer am Golf keine weiter zurückreichenden historischen Wurzeln und damit eine nur geringe politische Existenzberechtigung aufweisen konnten. Hiermit wurde u.a. der Grundstein für den arabischen Kampf gegen Israel, für den syrischen Anspruch auf den Libanon und für den Konflikt des Irak mit Kuwait gelegt.
3 Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient Im VMO existiert kein Staat, in dem nicht zumindest ein Konflikt seit 1945 gewaltsam ausgetragen worden ist bzw. der nicht an zumindest einem gewaltsamen Konflikt beteiligt war. Die blutigste Bilanz weisen dabei der Irak und der Iran mit jeweils zehn Konflikten auf, die in ihrem Verlauf mit Mitteln physischer Gewalt ausgetragen worden sind, gefolgt von Ägypten, Israel, Syrien und dem Jemen mit jeweils sieben (vgl. Abb. 1). Die in den Jahren 1945 bis 2003 gezählten VMO-Konflikte dauerten durchschnittlich 19 Jahre, davon waren sechs Jahre gewaltsam und drei davon mit hoher Intensität ausgetragen worden. Besonders hervorzuheben sind hierbei die mit der Staatsgründung Israels verbundenen Konflikte, die seit fast 60 Jahren andauern, mitunter immer noch gewaltsam ausgetragen werden und von einer dauerhaften Beilegung weit entfernt scheinen. Obwohl die Regionen Afrika und Asien gemessen an der Anzahl der gewaltsam ausgetragenen Konflikte noch vor dem VMO liegen (siehe Abb. 2), und der VMO im Vergleich zu allen anderen Regionen sogar die geringste durchschnittliche Anzahl an Konflikten insgesamt, d. h. gewaltsame und nicht gewaltsame Konflikte zusammengenommen, aufweist, stellt er mit den meisten Gewaltkonflikten pro Staat die Weltregion mit der höchsten Konfliktquote dar. Die langfristige Trendanalyse der Konfliktzahlen für den VMO zeigt in Abbildung 3, dass die Anzahl der im jeweiligen Jahr laufenden Interessengegensätze seit 1945 von 17 mehr oder weniger kontinuierlich auf 33 im Jahr 2003 gestiegen ist. Dies entspricht auch dem globalen Trend, wonach weltweit die
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Abb. 2. Anzahl der gewaltsamen Konflikte in den Weltregionen 1945–2003. Quelle: KOSIMO 2.0
Abb. 3. Konflikte niedriger, mittlerer und hoher Intensität im VMO 1945–2003. Quelle: KOSIMO 2.0
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Anzahl der ausgetragenen Konflikte von 75 im Jahr 1945 auf 214 im Jahr 2003 zugenommen hat. Im Jahr 2001 erreichte die Verlaufskurve für den VMO mit insgesamt 35 Konflikten ihren bisherigen Höchstwert. Besonders auffallend sind die sprunghaften Zunahmen in den Jahren zwischen 1947 und 1949 von 17 auf 21 Konflikte, zwischen 1964 und 1967 von 19 auf 24 und zwischen 1974 und 1979 von 21 auf 30. Für den letztgenannten beachtlichen Anstieg sind vor allem der 1975 ausgebrochene Bürgerkrieg im Libanon, der Schiitenkonflikt in Bahrain, der 1976 beginnende Unabhängigkeitskampf der West-Sahara in Marokko, der politische Umsturz im Iran (1977–1979) und seine Folgen, der Ausbruch des Bürgerkriegs in Afghanistan 1978 und der innerkurdische Konflikt im Irak verantwortlich.
3.1 Inner- und zwischenstaatliche Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient Insgesamt wurden im VMO seit 1945 mehr zwischenstaatliche als innerstaatliche Konflikte ausgetragen. Die Verlaufskurven in Abbildung 4 zeigen, dass die Anzahl zwischenstaatlicher Auseinandersetzungen bis 1994 stets über der Anzahl innerstaatlicher Konflikte lag. Dies entspricht auch dem weltweiten Trend, der zeigt, dass die Anzahl der innerstaatlichen Konflikte diejenige der zwischenstaatlichen Konflikte erstmals 1990 übertraf. Während der Höchstwert der Auseinandersetzungen zwischen Staaten im VMO bei 19 Konflikten in den Jahren zwischen 1986 und 1988 lag, erreichte
Abb. 4. Inner- und zwischenstaatliche Konflikte im VMO 1945–2003. Quelle: KOSIMO 2.0
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die Anzahl der Konflikte innerhalb von Staaten ihr vorläufiges Maximum mit ebenfalls 19 Auseinandersetzungen im Jahr 2003. Betrachtet man jedoch ausschließlich die Konflikte hoher Intensität, d. h. ernste Krisen und Kriege, so liegt die Zahl der mit hoher Intensität geführten Auseinandersetzungen innerhalb von Staaten seit 1960 mindestens ebenso hoch wie die Zahl der zwischen Staaten ausgetragenen Konflikte. Eine Ausnahme stellte der Zeitraum zwischen den Jahren 1989 und 1992 dar, als zwischenstaatliche Auseinandersetzungen hoher Intensität vorübergehend wieder das Konfliktgeschehen im VMO dominierten. Die Islamische Revolution im Iran, der Ausbruch des Bürgerkriegs in Afghanistan 1978, die Eskalation des Nahostkonflikts zwischen Israel und den Palästinensern 1978, die Eskalation des Konflikts mit den Moslembrüdern in Syrien 1979, der Beginn des gewaltsamen innerkurdischen Konflikts im Irak 1979 sowie der Beginn des Kurdenkonflikts im Iran 1979 sind für den enormen Anstieg innerstaatlicher gewaltsamer Konflikte in den Jahren zwischen 1977 und 1979 verantwortlich. Die Beendigung des innersyrischen Konflikts mit den Moslembrüdern im Februar 1982, die Deeskalation des innerkurdischen Konflikts im Irak 1984 auf die Intensitätsstufe einer Krise, die Deeskalation des iranischen Kurdenkonflikts von der Intensität eines Bürgerkriegs auf eine Krise 1985 und die Deeskalation des Palästinenserkonflikts vom Krieg zur Krise 1983 sorgten für den darauf folgenden Abfall der innerstaatlichen Konflikte hoher Intensität in den Jahren zwischen 1982 und 1985.
Abb. 5. Inner- und zwischenstaatliche Konflikte hoher Intensität im VMO 1945–2003. Quelle: KOSIMO 2.0
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Seit 1945 sind im VMO sieben zwischenstaatliche Kriege geführt worden gegenüber vierzehn innerstaatlichen Kriegen. Drei zwischenstaatliche Kriege wurden im Kontext des Nahostkonflikts zwischen Israel und verschiedenen arabischen Staaten ausgetragen (der Unabhängigkampf gegen eine Allianz arabischer Staaten, der 1948/1949 und 1967 als Krieg ausgetragen wurde, der Sinai-Krieg mit Ägypten 1973 und der Krieg mit Syrien 1973). Im Suezkrieg kämpfte Ägypten gegen Großbritannien und Frankreich (1956). Die jüngsten der sieben zwischenstaatlichen Kriege stellen die drei Golfkriege dar. Der erste Golfkrieg wurde zwischen dem Irak und dem Iran (1980–1988), der zweite zum einen zwischen dem Irak und Kuwait, zum anderen zwischen dem Irak und einer US-geführten multinationalen Allianz geführt (1990/1991), und der dritte Golfkrieg wurde zwischen einer US-geführten Allianz und dem Irak (2003) ausgetragen. Die innerstaatlichen Kriege wurden in Afghanistan zum einen im Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen und Regierungstruppen, die von der Sowjetunion unterstützt wurden (1978–1994), zum anderen zwischen den Taliban und der Nordallianz (1994–2001), in Algerien um die Unabhängigkeit (1954–1960), im Irak zwischen der islamistischen Gruppierung der Ansar al-Islam und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) (2003) sowie zwischen der Regierung und den Kurden (1947–1961, 1963, 1970–1974 und 2003), im Iran mit den Kurden (1980–1984), in Israel mit den Palästinensern (1981/1982 und 2001/2002) sowie mit der Hisbollah (1982, 1988, 1993 und 1996), im Jemen im Bürgerkrieg des Nordjemens (1962–1968) sowie um die Unabhängigkeit des Südjemens (1967), im Libanon mit religiösen Gruppierungen (1975/1976 und 1978–1983), in Jordanien mit Palästinensern (1970), im Oman um die Sezession von Dhofar (1970–1973) und in Syrien mit der Moslembruderschaft (1982) ausgetragen. Das inner- und zwischenstaatliche Konfliktgeschehen hoher Intensität weicht im Vorderen und Mittleren Orient vom globalen Trend ab. Während weltweit die mit hoher Intensität innerhalb von Staaten ausgetragenen Dispute seit 1945 durchgehend über der Anzahl der zwischenstaatlichen Konflikte hoher Intensität lagen, nahmen im Gegensatz dazu die zwischenstaatlichen Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient kontinuierlich von fünf im Jahr 1945 bis 56 im Jahr 2003 zu.15
3.2 Putsche und Putschversuche im Vorderen und Mittleren Orient Die Herrschaftsstrukturen im VMO basieren im Wesentlichen auf autoritären Regimes mit geringer demokratischer Legitimation und Regierungen, die sich meist aus Mitgliedern derselben Familie, Herkunftsregion oder Religionsgemeinschaft zusammensetzen. In manchen Staaten dominieren sogar
15
Vgl. HIIK 2003, 5.
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die ethnischen oder religiösen Minderheiten, wie z. B. ehemals im Irak, wo über 60 Prozent der Bevölkerung zwar schiitischen Glaubens sind, die Regierung jedoch traditionell von Sunniten gestellt wurde und ihre Mitglieder unter Saddam Hussein insbesondere aus der Gegend um seine Geburtsstadt Tikrit stammten. Trotz der daraus resultierenden politischen Spannungen sind Revolutionen, die von einer breiten Masse der Bevölkerung getragen werden, im VMO so gut wie unbekannt.16 Eine Ausnahme stellt die Islamische Revolution im Iran von 1979 dar. Regimewechsel in der überwiegend nicht demokratischen Region erfolgten daher häufig in Form von Putschen und Staatsstreichen. Abbildung 6 zeigt, dass insbesondere die sechziger Jahre durch derartige Ereignisse geprägt waren. Die höchste Anzahl der Putsche und Putschversuche ereignete sich 1963, als insgesamt zehnmal Regierungen gestürzt werden sollten – fünfmal davon in Syrien, dreimal im Irak und je einmal im Iran und in Jordanien. Von den insgesamt 77 Putschen und Putschversuchen im VMO seit 1945 fand mit 20 die Mehrzahl in Syrien statt, gefolgt vom Irak mit 15, dem Jemen mit acht und Afghanistan mit sieben. Dies veranschaulicht die Karte in Abbildung 7.
Abb. 6. Anzahl der Putsche und Putschversuche im Vorderen und Mittleren Orient 1945–2003. Quelle: eigene Auszählungen verschiedener Konfliktbarometer-Jahrgänge
16
Vgl. Jaeger 2004, 179f.
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Abb. 7. Karte der Putsche und Putschversuche im Vorderen und Mittleren Orient 1945–2003. Quelle: eigene Auszählungen verschiedener Konfliktbarometer-Jahrgänge
Seit 1997 haben keine Putsche mehr in der Region stattgefunden. Die letzten Umsturzversuche fanden 1996 in Bahrain und Katar statt. Ob dieser Trend angesichts der neuerlichen Unruhe im VMO anhalten wird, bleibt abzuwarten. Zahlreiche Regimes stehen insbesondere nach dem Dritten Golfkrieg stark unter Druck.
3.3 Gegenstände der Konflikte im Vorderen und Mittleren Orient In den insgesamt 81 im VMO ausgetragenen Grundkonflikten waren interne Herrschaftskonflikte um Machtpositionen am häufigsten Gegenstand der Auseinandersetzungen. Dabei lag das Ringen um internationale Macht noch vor nationaler Macht, gefolgt von Territorium und Ideologie bzw. System. Eine nähere Betrachtung der Verteilung der Konfliktgegenstände über die Intensitätsgruppierungen, wie in Abbildung 8 veranschaulicht, zeigt jedoch, dass die mit hoher Intensität ausgetragenen Konflikte am häufigsten um die Gegenstände nationale Macht und Ideologie bzw. System geführt wurden. Klassische zwischenstaatliche Konfliktgegenstände, wie die Rivalität um internationale Macht und Territorium, folgen erst nach Disputen um Ressourcen, Autonomie und Sezession. Letztere, d. h. Autonomie- und Sezessionskonflikte wurden überwiegend auf mittlerer Intensitätsstufe ausgetragen, während vor allem Territorialkonflikte und Konflikte um internationale
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Abb. 8. Häufigkeit der Konfliktgegenstände im VMO nach Intensitätsgruppierung seit 1945. Quelle: KOSIMO 2.0
Macht, aber auch Ressourcenkonflikte zu einem überwiegenden Teil ohne den Einsatz physischer Gewalt blieben. Über den Zeitverlauf betrachtet, dominierten in unterschiedlichen Phasen jeweils andere Konfliktgegenstände das Konfliktgeschehen im VMO. Bis 1993 war dies eindeutig internationale Macht, die dann von nationaler Macht abgelöst wurde. Die Anzahl innerstaatlicher Machtkonflikte stieg im Zeitraum zwischen den Jahren 2000 und 2002 von 16 auf 27. Territorialdispute lagen in den Jahren zwischen 1967 und 1992 in ihrer Häufigkeit vor System- bzw. Ideologiekonflikten, die wiederum seit 1992 stark zugenommen haben. Die Dekolonisierung war im Jahre 1968 im Vorderen und Mittleren Orient abgeschlossen. Ressourcen- und Autonomiekonflikte haben seit 1999 zugenommen. Insgesamt ist bei der Betrachtung dieser Trends zu berücksichtigen, dass Interessengegensätze meist um mehr als einen Gegenstand ausgetragen werden. Dies trifft vor allem auf Ressourcen zu, die selten einziger Streitgegenstand waren, jedoch im VMO voraussichtlich noch weiter an Bedeutung gewinnen werden. Dies betrifft vor allem Wasser, das in der Region ein knappes Gut ist.
4 Der Vordere und Mittlere Orient nach dem Dritten Golfkrieg Während des Kalten Krieges war auch die Region des Vorderen und Mittleren Orients Schauplatz des Tauziehens zwischen den Vereinigten Staaten und der
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Sowjetunion. Militärisch durch die Supermächte hochgerüstet, fungierten verschiedene Staaten gleichsam als Stellvertreter. Dies wurde im israelischarabischen Konflikt deutlich, in dem Israel von den Vereinigten Staaten und einzelne arabische Staaten von der Sowjetunion unterstützt wurden. Aber auch der Erste Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran (1980–1988) lässt sich in diesem Kontext betrachten. Wie häufig bei Stellvertreter-Kriegen standen am Ende eine Patt-Situation sowie hohe menschliche und materielle Verluste. Sowohl der Irak als auch der Iran waren zum Zeitpunkt des durch die Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstands ausgeblutet. Dennoch strebte der Irak nach regionaler Führung und setzte auf ein umfangreiches ziviles und militärisches Aufbauprogramm, das vom Westen finanziell unterstützt wurde. Die westlichen Nationen erachteten das Saddam-Regime als das „kleinere Übel“ und als Gegengewicht zum Iran. Trotz dieser Unterstützung war der Irak stark verschuldet und darauf angewiesen, hohe Einnahmen aus dem Export von Erdöl zu erzielen. Vor diesem Hintergrund warf der Irak Kuwait vor, durch Überproduktion den Weltmarktpreis für Erdöl bewusst zu drücken und zudem Erdöl von irakischen Ölfeldern zu fördern. Darüber hinaus forderte er von Kuwait und Saudi-Arabien die Streichung seiner Kriegsschulden mit dem Argument, dass er auch in ihrem Interesse als „arabisches Bollwerk“ gegen den Iran agiert habe. Als der Irak am 2. August 1990 Kuwait überfiel, war die arabische Staatengemeinschaft wie so oft gespalten. Insbesondere Ägypten, Syrien, Marokko und die kleineren Golfstaaten stellten sich auf die Seite Kuwaits sowie Saudi-Arabiens und unterstützten die US-geführte Allianz im Zweiten Golfkrieg 1991. Das saudische Königshaus gestattete den Vereinigten Staaten die Truppenstationierung auf ihrem „heiligen Boden“. Die Interessen der Vereinigten Staaten in der Region ließen sich bis zum Ende des Kalten Krieges auf die Formel „Israel – Öl – Anti-Kommunismus“ bringen.17 Der letzte Pfeiler wurde mit dem Zweiten Golfkrieg 1991 durch das Ziel der Bekämpfung der Produktion und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen ersetzt. Nach dem 11. September 2001 kam der Kampf gegen den Internationalen Terrorismus hinzu. Im Gegensatz zur Situation von 1990, als der lokale Akteur Irak den regionalen Status quo ändern wollte, kam nach dem 11. September 2001 die regionalpolitische Herausforderung von außen.18 Hatten sich nach den Terroranschlägen in New York und Washington D.C. noch alle arabischen Staaten mit Ausnahme des Irak der internationalen Allianz gegen den Terrorismus angeschlossen, wurde das Agieren der Vereinigten Staaten im Zweistromland danach in der arabischen Welt weitgehend als Bedrohung empfunden und fand auch in der internationalen Staatengemeinschaft keine vergleichbar breite Unterstützung wie noch zwölf Jahre zuvor. Ausgehend vom Irak planten die 17 18
Vgl. Jaeger 2004, 186. Vgl. Perthes 2002, 7.
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Vereinigten Staaten, den VMO grundlegend neu zu ordnen. Beginnend mit der am 20. März 2003 gestarteten Operation „Iraqi Freedom“, deren erklärtes Ziel der Sturz von Saddam Hussein und dessen Regime war, sollte der Irak und im Anschluss daran – in Anlehnung an die aus dem Kalten Krieg in anderem Kontext bekannte Dominotheorie – die gesamte Region demokratisiert werden. Da Demokratisierungsmaßnahmen und Transitionsprozesse eine gewisse Zeit brauchen, kann und soll das Erreichen des grundlegenden Ziels der USPolitik hier nicht beurteilt werden. Über die Vorgehensweise und deren aktuelle Folgen für die gesamte Region sind Aussagen möglich. Insbesondere die jüngst bekannt gewordenen Misshandlungen irakischer Gefangener in US-geführten Haftanstalten im Irak und Vermutungen über ähnliche Fälle in Afghanistan haben die an Menschenrechten und Demokratie ausgerichtete Argumentation der Vereinigten Staaten über ihre Absichten kompromittiert, vor allem in der „islamischen Welt“. Dies nährte den ohnehin wachsenden Widerstand im Irak gegen die Besatzungstruppen und gab ihm weiteren Zulauf. Auch ein Jahr nach dem Ende des so genannten Dritten Golfkrieges war es nicht gelungen, ein Gefühl der Sicherheit der irakischen Bevölkerung zu vermitteln.19 Stattdessen wurden elementare Fehler beim Wiederaufbau und beim Nationbuilding gemacht, deren Folgen sich in der aktuellen Situation manifestierten.20 Die instabile Lage im Irak und der wachsende Zorn auf die Vereinigten Staaten führten zu Unruhe im VMO. Hinzu kam eine überraschende Wendung in der US-Politik in Bezug auf den Nahostkonflikt. Bei einem Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon am 14. April 2004 unterstützte US-Präsident George W. Bush dessen einseitigen Abtrennungsplan von Palästinensergebieten. Der Plan sah vor, die jüdischen Siedlungen im Gazastreifen zwar zu räumen, jedoch einige im Westjordanland dauerhaft zu behalten und ein Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge in Gebiete, die heute israelisch sind, auszuschließen. Der Schritt bedeutete eine Abkehr von der im Mai 2003 vom so genannten Nahost-Quartett (Vereinigte Staaten, Vereinte Nationen, Europäische Union und Russland) vorgelegten „Roadmap“, einem Zeitplan für die friedliche Lösung der israelisch-palästinensischen Konfrontation. Diese Entwicklung stieß international auf Kritik, insbesondere beim Generalsekretär der Vereinten Nationen und der Europäischen Union. Die Vereinigten Staaten gaben damit ihre Rolle als „ehrlicher Makler“ auf bzw. büßten diese ein. Dies ist besonders problematisch, da nur die einzig verbliebene Supermacht über ausreichend Druckpotential verfügt, um zwischen den Konfliktparteien effektiv zu vermitteln.
19 20
Vgl. Jawad 2004. Vgl. ICG 2003c.
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Während die geänderte US-Nahostpolitik das Misstrauen verstärkte, weckten die US-Neuordnungsversuche Befürchtungen unter den autoritären Regimes der Region. Sie waren besorgt, die Demokratisierungsbestrebungen könnten auch ihre Regierungszeit beenden. Libyen und der Iran lenkten wohl nicht zuletzt wegen dieses Drucks ein und öffneten ihre Länder Ende 2003 verstärkt internationalen Waffeninspektoren. Dieser positive Effekt ist jedoch mit Vorsicht zu betrachten, da zwischen den wenig demokratisch legitimierten Regierungen und ihren Bevölkerungen differenziert werden muss. Während die herrschende Elite an ihrem Machterhalt interessiert ist, wuchsen in der Bevölkerung politisch motivierte Unruhen. Insbesondere die Regierungen der mit den Vereinigten Staaten verbündeten Länder, vor allem Saudi-Arabien und Ägypten geraten zunehmend unter Druck. Saudi-Arabien hatte 1991 zu seinem Schutz die dauerhafte Stationierung von US-Truppen auf seinem Boden zugelassen, was in den Augen gläubiger Muslime im Widerspruch zu seiner Selbststilisierung als Hüter der Heiligen Stätten von Mekka und Medina stand. Insbesondere in Zusammenhang mit dem Dritten Golfkrieg wuchs der Druck auf das saudische Königshaus – einerseits durch Reformkräfte, andererseits durch islamistische Gruppierungen, die zur Durchsetzung ihrer Ziele auch terroristische Anschläge verübten.21 Außerdem problematisch für die Herrscherfamilie war die Tatsache, dass sich die Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 zunehmend von ihrem Verbündeten distanzierten, da die Mehrzahl der Attentäter aus Saudi-Arabien stammten. Dies machte das Land, in dem sich ein Viertel der weltweiten Erdölreserven befindet, für die Vereinigten Staaten zu einem zunehmend unsicheren Verbündeten am Golf. Seine Rolle als „energiepolitischer Wächter“ hatte Riad durch seine Zusicherung erhalten, im Gegenzug für den Schutz des Landes durch die Vereinigten Staaten im Rahmen der OPEC-Verhandlungen ausgleichend auf den Erdölpreis einzuwirken. Wie einflussreich die Rolle des VMO bei der Gestaltung des Ölpreises ist, wurde spätestens mit der Ölkrise von 1973 und 1974 deutlich, die enorme wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Auswirkungen auf die westlichen Industrienationen hatte. Die arabischen Mitglieder der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), d. h. die in der Organisation der arabischen erdölexportierenden Länder (OAPEC) zusammengeschlossenen Staaten, hatten versucht, durch die bewusste Drosselung der Erdölfördermenge Einfluss auf den Nahostkonflikt zu nehmen und Israel zum Rückzug aus den im Sechstagekrieg von 1967 eroberten Gebieten zu zwingen. Innerhalb eines Jahres verdreifachte sich der Erdölpreis. Deckte Europa bis 1973 noch etwa 75 Prozent seines Rohölbedarfs aus den OAPEC-Ländern, so sank dieser Anteil bis heute auf insgesamt ein knappes Drittel. Europa stützte
21
Vgl. HIIK 2003, 41f.
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sich verstärkt auf britisches, norwegisches und russisches Öl, während die Vereinigten Staaten strategische Ölreserven anlegten und zunehmend Felder in Mittel- und Südamerika sowie in Alaska favorisierten.22 Dennoch bleibt die Sicherung des freien Zugangs zu den Erdölquellen der Golfregion und die Verhinderung des Ausbaus der Monopolstellung eines Erdölförderstaates ein elementarer Bestandteil des Sicherheitsinteresses der Supermacht, weshalb sich die Vereinigten Staaten nach dem 11. September zunehmend auf den Irak konzentrierten. In Ägypten, das sich in der arabischen Welt durch den Separatfriedensvertrag mit Israel von 1979 vorübergehend ins Abseits befördert hatte, gewannen radikal-islamistische Gruppierungen wie die Moslembrüder oder die alWaad-Gruppe nach dem Dritten Golfkrieg an Einfluss.23 Diese Entwicklung, d. h. die Verbreitung von islamistischem Aktivismus, findet sich auch in Algerien und Marokko.24 Trotz politischer Reformen hatte das ägyptische Regime öffentliche Unterstützung eingebüßt, war dadurch jedoch noch nicht als destabilisiert zu betrachten. Über ideologische und programmatische Trennlinien hinweg war den unterschiedlichen politischen Kräften in diesen Staaten die ablehnende Haltung gegenüber dem US-Interventionismus gemeinsam.25 Das durchaus westlich orientierte Königshaus in Jordanien befand sich in einer kritischen Situation. Das Königreich liegt geographisch zwischen zwei in der Region maßgeblichen Krisengebieten – Israel und dem Irak. Etwa 60 Prozent der jordanischen Bevölkerung ist palästinensischer Abstammung, weshalb nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Oktober 2000 islamistische Strömungen zunahmen. Die katastrophale Lage im Irak führte nicht nur zu einem zunehmenden Anti-Amerikanismus in der Bevölkerung, sondern gefährdete die Regierung wirtschaftlich, da Jordanien vom Handel mit dem Irak stark abhängig ist.26 Sowohl Syrien als auch der Iran fürchteten, auf der Interventionsliste der Vereinigten Staaten nach dem Irak zu folgen. Beide gerieten zudem durch eine befürchtete „Umzingelung“ durch US-freundliche Regimes bzw. Staaten, in denen US-Truppen stationiert sind, unter Druck. Syrien, seit 1979 auf der USListe terrorismusfördernder Staaten, dessen regierende Baath-Partei zwar in Konkurrenz zum ehemaligen Baath-Regime in Bagdad stand, wurde zunächst bezichtigt, nicht nur Anhängern Saddam Husseins Zuflucht gewährt zu haben, sondern auch dessen Massenvernichtungswaffen versteckt zu halten.27
22 23 24 25 26 27
Vgl. Jaeger 2004, 183. Vgl. HIIK 2003, 35f. Vgl. ICG 2004a, 1. Vgl. ICG 2003d, 19. Vgl. ICG 2003e. Vgl. ICG 2004c, 4.
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Der Iran verhielt sich während des Irakkrieges insgesamt zurückhaltend, obwohl er im Nachkriegsirak durchaus seinen Einfluss geltend zu machen versuchte; das Regime stimmte Ende 2003 internationalen Waffeninspektionen zu. Dennoch halten die Spannungen innerhalb des Landes zwischen den Reformkräften um Regierungschef Sayed Mohammed Khatami sowie der reformwilligen Bevölkerung einerseits und den konservativen Mullahs um Staatsoberhaupt Ajatollah Sayed Ali Khamenei andererseits an.28
5 Schlussbetrachtung Der Überblick über das Konfliktpanorama im Vorderen und Mittleren Orient seit 1945 verdeutlicht, dass sich eine Neuordnung und Befriedung der Region als ausgesprochen schwierig darstellt. Dieser geographische Raum hat nicht nur die weltweit höchste Konfliktquote, d. h. die meisten Konflikte pro Staat, darüber hinaus dauern viele der heute noch gewaltsam ausgetragenen Dispute schon seit einigen Jahren an. Bei neun der zwölf gewaltsamen Auseinandersetzungen im Jahr 2003 fällt der Beginn noch in die Zeit des Kalten Krieges, in sechs von ihnen reichen die Wurzeln bis zum Ersten Weltkrieg zurück. Insbesondere der Nahostkonflikt ist hier zentral, der nach wie vor von einer dauerhaften Lösung weit entfernt ist. Problematisch sind dabei die jüngsten Entwicklungen, wonach die Vereinigten Staaten mit der Unterstützung der einseitigen Vorschläge des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon zu den besetzten Palästinensergebieten sowie mit der damit verbundenen Abkehr von der „Roadmap“ ihre Rolle als „ehrlicher Makler“ aufgegeben bzw. eingebüßt haben. Angesichts der andauernden Gewalt im Irak, der Misshandlungsvorwürfe gegen Angehörige der Streitkräfte sowie der allgemein instabilen Situation in der Region bzw. der Unruhe in den Bevölkerungen ist die Zwischenbilanz der Regierung von US-Präsident George W. Bush ernüchternd. Es bedarf intensiver vertrauensbildender Maßnahmen, deren Erfolgsaussichten aufgrund des nun tiefsitzenden Misstrauens in der arabischen Welt jedoch fraglich sind. Insofern mögen eine stärkere Internationalisierung des Wiederaufbaus, eine rasche Souveränitätsübergabe und erste Wahlen die Nachkriegssituation verbessern. Der Irak und auch Israel werden die Konfliktforschung wohl noch einige Zeit beschäftigen. Doch nicht nur die Machtkämpfe im Irak, sondern auch der allgemeine Anstieg der internen Machtkämpfe in den Staaten der Region sollte beachtet werden, da diese Auseinandersetzungen häufig gewaltsam ausgetragen werden.
28
Vgl. HIIK 2003, 39.
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6 Literatur Brogan P (1990) Die Unruhe der Welt, Die Enzyklopädie der Krisen und Konflikte unserer Zeit. Wien u.a.: Zsolnay Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) (Hrsg.) (2004) Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, Ergänzungsband I. Hamburg u.a.: E.S. Mittler & Sohn Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (Hrsg.) (1992–2003) Konfliktbarometer. Heidelberg: HIIK Huntington S (1993) The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs 72 : 22–49 Huntington S (1996) The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster International Crisis Group (ICG) (2003a) Dealing with Iran’s Nuclear Program. Amman/Brüssel: ICG Middle East Report 18 International Crisis Group (ICG) (2003b) Iran: Discontent and Disarray. Amman/Brüssel: ICG Middle East Briefing International Crisis Group (ICG) (2003c) Iraq: Building a new Security Structure. Bagdad/Brüssel: ICG Middle East Report 20 International Crisis Group (ICG) (2003d) The Challenge of Political Reform: Egypt after the Iraq War. Kairo/Brüssel: ICG Middle East Briefing International Crisis Group (ICG) (2003e) The Challenge of Political Reform: Jordanian Democratisation and Regional Instability. Amman/Brüssel: ICG Middle East Briefing International Crisis Group (ICG) (2004a) Islamism in North Africa I: The Legacies of History. Kairo/Brüssel: ICG Middle East and North Africa Briefing International Crisis Group (ICG) (2004b) Islamism in North Africa I: Egypts Opportunity. Kairo/Brüssel: ICG Middle East and North Africa Briefing International Crisis Group (ICG) (2004c) Syria Under Bashar I: Foreign Policy Challenges.Amman/Brüssel: ICG Middle East Report 23 International Crisis Group (ICG) (2004d) Syria Under Bashar II: Domestic Policy Challenges. Amman/Brüssel: ICG Middle East Report 24 Jaeger K (2004) Der Nahe und Mittlere Osten. In: BAKS (Hrsg.) Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, 175–196 Jawad P (2004) Der Irak nach dem Dritten Golfkrieg. In: Wunder S, Tobergte C (Hrsg.) Sicherheitspolitische Analysen zum Dritten Golfkrieg. Baden-Baden: Nomos Jawad P, Schwank N (2004) Relational Databank System on Political Conflicts COSIMO 2.0: Manual. Heidelberg: HIIK Lewis B (2002) Der Untergang des Morgenlandes, Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor. Bergisch Gladbach: Lübbe Perthes V (2002) Der Nahe und Mittlere Osten 1990/91 und 2001/2: Ein vergleichender Lagebericht. Berlin: SWP-Arbeitspapier 5 Perthes V (2003) After the Iraq War: Repercussion in the Levante. Paper presented to the GCSP/RAND Workshop on The Middle East in the Shadow of Afghanistan and Iraq, Geneva, 4–6 May 2003. Berlin: SWP Working Paper 9 Perthes V (2004) Europas und Amerikas „Greater Middle East“, Stichpunkte für den transatlantischen Dialog. Berlin: SWP-Aktuell 5 Pfetsch F (Hrsg.) (1991) Konflikte seit 1945: Daten – Fakten – Hintergründe. Die Arabisch-Islamische Welt. Freiburg (Breisgau) u.a.: Ploetz Pfetsch F, Rohloff C (2000) National and International Conflicts, 1945–1995. New empirical and theoretical approaches. London et al.: Routledge Saikal A, Schnabel A (Hrsg.) (2003) Democratization in the Middle East: experiences, struggles, challenges. New York u.a.: United Nations University Press
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Von der Streitkunst der Sophistik zum modernen Kulturkonflikt rüdiger bubner I. Angesichts der großen Bemühungen der Politologie in der Konflikt- bzw. Friedensforschung bleibt einem Philosophen nur, an einige Grundbestände des historischen menschlichen Sozialverkehrs zu erinnern. Jene Forschungsbemühungen stehen deutlich unter dem Eindruck des letzten Weltkrieges und seiner Folgen. Man kann seither die verwegene These hören, dass Kriege seltener würden oder überhaupt verschwänden, wenn die führenden Personen sich bei ihren schicksalsträchtigen Entscheidungen nur der wissenschaftlichen Ergebnisse annähmen und den zuständigen Forschern lauschten. Noch im Zusammenhang des jüngsten Irakkrieges sind solche Stimmen im unbeteiligten Deutschland laut geworden. Nun sollen hier keine anthropologischen Fakten ins Feld geführt werden. Darüber wissen wir zu wenig. Denn Natur und Kultur greifen in unserem eigenen Fall immer ineinander; die Menschennatur ist von Haus aus formbar. Es gibt also im Kleinen wie im Großen Erziehungserfolge in Richtung auf Zivilisierung. Aber Umbrüche in ältere Verhaltensdispositionen zu Kampf und Machtausübung sind ebenfalls zu beobachten. In dieser Beweglichkeit liegt einer der nicht zu hintergehenden Ausgangspunkte für die folgende Betrachtung. Konkreter auf die Neuzeit bezogen lässt sich eine bekannte Dialektik feststellen. Die Organisation des Friedens nach innen verwandelt alle Bürger zu Teilnehmern eines Staates mit Machtmonopol. Dafür gibt es unterschiedliche Vorschläge. Der bekannteste ist das Hobbessche Modell des Leviathan. Auf der Basis des Gesellschaftsvertrags erwächst eine artifiziell mythologische Vorstellung vom Staat. Aber schon Bodin hat angesichts der Glaubenskriege in Frankreich eine ähnliche Lösung vorgeschlagen, wobei die Legitimationsgrundlage eine andere gewesen ist. Die Souveränität des Herrschers wurde nicht wie seit Hobbes üblich auf den vorgängigen Gesellschaftsvertrag gegründet, sondern im gottähnlichen Absolutismus als solchem verankert. Der in dem Zusammenhang oft genannte Machiavelli, der etwa noch ein halbes Jahrhundert früher wirkte, ist an rechtlicher Staatsetablierung nicht eigent-
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lich interessiert, obwohl das mitunter behauptet wird. Seine humanistischen Menschenstudien dienen der Aufklärung eines Regelkanons für Machtgewinn und Machterhalt unter den stadtpolitischen Zeitbedingungen der noch nicht eingerichteten Nationalstaaten. Das verlangte damals die Weltklugheit. Nun kommt die Dialektik auf, das, was für die Innenpolitik erreicht wurde, für die Außenpolitik als aussichtslos zu erklären. In dem Maße, wie für überschaubare Landstriche und Personenkreise Ordnung durchzusetzen ist, in dem Maße können die Außenverhältnisse der Staaten nicht beherrscht werden und müssen daher dem Naturzustand überlassen bleiben. Ordnung lässt sich nur regional realisieren, während die universale Dimension weiter in prinzipieller Kontingenz verharrt bis hin zur Kriegsgefahr und Unterwerfung. Wie das späte 18. Jahrhundert sich aus der spannungsreichen Dialektik theoretisch zu winden hofft, und zwar durch ein außenpolitisch instrumentiertes sowie weltumspannendes Vertragssystem zwischen etablierten Staaten zugunsten des Ewigen Friedens (Kant) – darauf komme ich noch zurück.
II. Im Lichte der eingangs erwähnten Grundtatsache des historischen Sozialverkehrs unter Menschen, der zwischen Zivilisierungstendenzen und Gewaltausbrüchen pendelt, kann eine Disziplin lehrreich sein, welche die antiken Sophisten unter dem Titel der Eristik entwickelt hatten. Eristik ist die Kunst, Streit mit Worten zu führen. Man möchte annehmen, Streit bricht überall und jederzeit von selber aus, wenn Anlässe sich bieten oder zumindest eine der beteiligten Seiten streitlustig ist. Unter der Annahme kommt der Streit wie das Wetter zustande. In der Tat sind Blitz, Donner, Wolkenausbrüche und Selbstentzündungen alte Natursymbole für das Geschehen. Aber offensichtlich kann man den Streit kultivieren, wie die Sophisten vorführen. Damit wird die herkömmliche Opposition der Kulturleistung im Dienste des Friedens und der unbeherrschten Ausbrüche wilder Natur hinfällig. Im Streit sind wir nicht wie Tiere, während wir als Bürger Freunde werden, sondern der menschengemachte Streit, der geplant, gesteuert, gesteigert, gemildert, storniert oder abgebrochen werden kann, ist ebenso wie die ideale Bürgertugend einer am Reden geschulten Technik verdankt. Eristik meint also nicht das Aufeinanderschlagen der Schwerter, das Ziehen des Gewehrhahns oder das Abwerfen der Bombe, sondern vielmehr eine sprachlich basierte und rhetorisch gehegte Interaktionsform. Das Talent dazu nimmt alle Spielarten an von den herausfordernden Widerworten über verbale Schaukämpfe vor Publikum bis zur Massenpropaganda. Die frühen Beispiele finden sich in allerlei Varianten besonders im Text der Platonischen Dialoge. Bekanntlich ist die Vorstellung irrig, dass Sokrates als Redeführer strategisch ohne Wenn und Aber der Sachklärung zustrebt. Oft nimmt er sei-
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ne Rolle zurück, macht sie kleiner als sie ist, und überlässt den sophistischen Großrednern die Szene, um dann deren Verfahren wie ein Übersophist zu dekouvrieren. Kurz gesagt, ohne fixe Rollenverteilung entfalten die Dialoge, die unter dem Namen des Sokrates überliefert sind, breites Anschauungsmaterial für eristische Effekte. Die bis in die heutige Kommunikationstheorie weitergereichte Dialog-Ideologie der harmonischen, auf Gleichberechtigung der Partner bauenden oder diese gar befördernden sowie rückhaltlos der Aufklärung verpflichteten Konsensorientierung scheint weniger als die halbe Wahrheit zu sein. Im Studium jener paradigmatischen Gespräche um einige zeitbedingte und viele zeitlose Inhalte gewinnt der Leser am meisten, wenn er die eingebauten Ambivalenzen beachtet.1
III. Die Erinnerung an die antike Eristik diente mir nur als Paradefall. Leicht ist zu sehen, wie das Grundproblem sich über die Zeiten und wechselnden Kontexte hinweg durchhält. Jedem werden aus historischen Kenntnissen passende Vergleiche aus nachantiker Zeit bis in die neueste Gegenwart einfallen.Was mich im Folgenden beschäftigt, ist eine in der Spur der Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in dessen zweiter Hälfte verbreitete volkspädagogische Pazifizierungsstimmung. Ein Schlagwort lautet: solange geredet wird, wird nicht geschossen. Die darin gelegene absolute Präferenz, unter allen Umständen den Krieg zu vermeiden, wäre früheren Epochen nicht begreiflich gewesen.Wo Gott noch im Letzten als der gnädige Friedensstifter angerufen wurde, lebten die Menschen ihren Antagonismus aus. Man braucht gar nicht Clausewitz zu zitieren, um zu wissen, dass Kriege in menschliche Auseinandersetzungen stets eingegriffen haben, als Mittel der Auseinandersetzung durchgestanden und je nach Sieg oder Erschöpfung auch wieder beendet werden. Krieg und Frieden schweben gleichsam auf den beiden Schalen der einen immer schwankenden welthistorischen Waage und sind beide in zahllosen Situationen zum Greifen nahe. Jedenfalls wird keine einseitig tabuisiert. Der so genannte Kalte Krieg, der die Nachkriegsjahrzehnte beherrschte, war unter anderem ein Ausdruck der Bevorzugung des Nicht-Kriegs in mitunter explosiven Weltlagen, und insoweit war er, wie wohl erinnerlich, ein lange währender Sonderfall. Internationale Zusammenschlüsse wie die UNO verdanken sich dem allgemeinen Pazifizierungsimpuls, obwohl die interne Eristik wieder und wieder den casus belli berührt hat. Gerade für die Jahrzehnte des Kalten Krieges gilt 1
Ein plastisches Exempel bieten die anonymen Dissoi Logoi (zwistige Doppelreden) bei H. Diels/W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker II, § 90.
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das. Sogar die Einigung Europas diente, ausgehend von der Montanunion, dem überall akzeptierten Gedanken, die Kriegsmacht Deutschlands auf Dauer zu bändigen. Der Kriegsverhinderungspolitik werden menschheitlich formulierte Deklarationen von allgemeiner Freundschaft und Versöhnung übergeworfen. Aber die internationale Solidarität ist nicht das Erste, sondern die Konfliktvermeidung, auf die alle Beteiligten sich verständigt haben. Keineswegs liegt die Sache umgekehrt. Der Pazifismus bricht nicht als neu entdeckter oder endlich favorisierter Urtrieb sich Bahn. Er begleitet nur mit Worten den Nicht-Krieg innerhalb der internationalen Verhältnisse. Erst als dieses neu-westliche Paradigma unter den unerwarteten, erfolgreichen Schlägen des globalen Terrorismus zusammenbrach, wurden die Augen von Millionen erbarmungslos geöffnet. Zunächst hielten viele diesen Kulturbruch für eine Rückkehr des „Mittelalters“, jedenfalls für eine Regression in die Vormoderne. Entsprechend versprach man sich von verstärkter Modernisierung eine sanfte Kur. Aufklärung, Journalismus, Diskussionsrunden, Einsetzen von Experten mit Sprach- und Religionskenntnissen, Unterstützung durch Wohltaten, Hilfsangebote und natürlich die Mobilisierung der gesamten Kompetenz professioneller Konfliktforscher schien die einzig passende Antwort zu sein. Bis zum Entsetzen des westlichen „juste milieu“ der amerikanische Präsident namens der verletzten Souveränität seines Landes und mit allen Mitteln einer Hegemonialmacht zum Kriege schritt. Ich werde mich hüten, die heiklen Fragen hier erneut anzugehen, die mit der Einschätzung von Terrorismus, mit der Legitimation der Guerillakämpfer, mit dem Thema des gerechten Krieges, seiner Begründung, sichtbaren Eröffnung, Zielsetzung, propagandistischen Vertretung, offiziellen Beendigung und der darauf folgenden, extrem schwierig gewordenen Normalisierungsbemühung zusammenhängen. Der zweite Irakkrieg ist nicht mein Gegenstand, sondern das gewaltige Indiz, dass die westliche Pazifizierungsdoktrin auf existentielle Grenzen stößt. Wir haben das noch nicht wirklich begriffen. Wir ahnen ebenso wenig, was in der Sache noch bevorsteht. Wir mögen uns offiziell exkulpieren – Beteiligte sind wir allemal. Dass alles Unheil letztlich auf amerikanische Arroganz zurückgehe, meinen viele. Und sie meinen, ohne dieselbe werde weiterhin der Friede permanieren, den die aus allen Fenstern wehenden Regenbogenfahnen nun „pace“ (in unerwarteter Annäherung an päpstliche Verlautbarungen) taufen, weil der pazifistische Klassiker „make peace, not war“ sprachlich inkorrekt erscheint. Der Abbruch des Fortschritts im Ausgleich konträrer Interessen und in der Diplomatie von Kriegsvermeidung demonstriert unwiderruflich, dass die Eristik sich fürs Erste erschöpft hat. Ich meine damit die Verlagerung feindlicher Handlungen auf die Ebene des Wortstreits, die durchaus wirksame Erhebung der im Untergrund hausenden Konflikte ins Verbale. Die Grenze wurde gesetzt durch die Verweigerung, diesem Paradigma zu folgen. Die Verweigerung kann ihrerseits nicht wieder als negatives Argument, also eristisch und im
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Sprachaustausch erfolgen. Es bedarf dazu einer höheren Legitimation. Der fundamentalistische Islam, wie man ihn im Westen denunziatorisch nennt, zieht die existentielle Grenze einer nicht weiter artikulierten Verweigerung der Fortsetzung der herkömmlichen Partizipation an Gesprächen. Sein Gott verbietet ihm die Teilhabe am westlichen Paradigma! Was immer man davon hält, ob wirklich die Fronten der mittelalterlichen Kreuzzüge gegen Ungläubige sich umkehren, oder ob wir vielmehr einem Phänomen der immanenten Ambivalenz der Moderne gegenüberstehen, sei dahingestellt. Jene Minimalbeschreibung des Aussetzens eristischer Kampfformen dürfte akzeptabel sein.
IV. Im säkularen Zeitalter unserer westlichen Orientierung ist eine Berufung auf Gott natürlich ganz unpassend. Also interpretieren wir den geschehenen Kulturbruch für unsere Zwecke als unerwarteten, ja kaum erklärlichen Schlag des Schicksals. Lange Zeit war nicht absehbar, dass die Verbreitung des westlichen Paradigmas wegen seiner auf private Vorteile und allgemeinen Gewinn gegründeten Sogwirkung hätte an eine Grenze stoßen sollen. Manch einer will im Nachhinein zwar vorher klüger gewesen sein. Das ist eine Frage wechselnder Einschätzung. Die gerade macht aber das Schicksalhafte des Umschlags aus, der vom aufklärerischen Ideal des Kulturdialogs zur dezisionistischen Guerillataktik blutiger, und deshalb aufsehenerregender Verletzungen geführt hat.2 Seit die Neuzeit die von Reisenden vermittelte Begegnung mit „wilden“ Völkern literarisch rezipierte und ästhetisch sich anzueignen begann, war der koloniale Eroberungs- und Ausbeutungstrieb stets begleitet von missionarischen Anstrengungen um Bekehrung, Belehrung und Austausch geistiger Güter. Wo Kapitalismus und Christentum derart Hand in Hand arbeiteten, wie oft geschildert worden ist, schien sich ein doppelter Sieg über die Welt allmählich auszubreiten. Die Ideologie der religiösen Grenzverwischung hatte in Lessings Ringparabel des weisen Nathan längst Schulbuchcharakter angenommen. Das Toleranzedikt von Nantes (1598) gilt nicht länger als öffentliche Duldung privater Glaubenshaltungen bei Trennung von Loyalität und Intimität, d. h. als Milderung eines bleibenden Dilemmas. Toleranz tendierte zur vermeintlich menschenfreundlichen Einladung für schlechthinnige Permissivität.3 Die prinzipielle Austauschbarkeit von absolut gesetzten Beziehungen aufs Absolute und die bürgerliche Indifferenz gegenüber dem existentiell Wichtigsten im menschlichen Leben erschien nach dem „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm) wie eine willkommene Entspannung. 2 3
Aus der steigenden Literaturflut sei hervorgehoben: H. Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 22004. Dazu neuerdings ausführlich R. Forst, Toleranz im Konflikt, Frankfurt/Main 2004.
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Nun heißt es plötzlich wieder Form anzunehmen, Stellung zu beziehen, das Eigene gegen das Fremde festzuhalten und zu verteidigen. Da schüttelt sich der verbreitete Wohlstandshedonismus in rätselhaftem Unwohlsein. Er wundert sich zutiefst, weil alles doch so gut gemeint gewesen ist. Wieso gibt es Gruppen und Kulturzonen, die sich der Kooperation verweigern? Aus dem vorkriegerischen Kampftraining der verbalen Eristik kann man lernen, dass die Bereitschaft, weithin nachzugeben, falls sich der Opponent ebenso nachgiebig verhält, einseitig bleibt und gar nichts nutzt, sondern Schaden erzeugt. Es hängt eben alles von der Mitwirkung der Anderen ab, über die ich meinerseits nie verfüge. Die Werte des Ausgleichs und der Verständigung pflegen allgemein und nicht einseitig genannt zu werden und sind deshalb anzupreisen. Gern offeriert der Tolerante Kurse zur Beförderung der Toleranz, in der Hoffnung, der Widerspenstige werde seine Sturheit aufgeben, wenn er denn einsieht, dass die verkündeten Werte auch die seinen sind oder zumindest sein könnten. Die Paradoxie besteht nur darin, dass solcher Universalismus unilateral propagiert wird. Also steht er unvermeidlich im Verdacht des Imperialismus oder dessen Verschleierung. Eine Weile bleibt das Problem ungenannt oder unentdeckt. Es verbirgt sich unter der Oberfläche internationaler Dauerkonferenzen im Dienste der einen Welt mit einem kohärenten Katalog von Werten und einer unbestrittenen Liste von Agenda. Dennoch ist die Einseitigkeit dieser Überwältigung durch das westliche Paradigma im Kern nie zum Verschwinden zu bringen. Der Islamismus in seinen mehrfachen Formen demonstriert uns das täglich.
V. Unterhalb des Niveaus militärischer Auseinandersetzungen wird man sich in Zukunft an die Härte gewöhnen müssen, eine identifizierbare Position als die eigene anzunehmen, sie gegen mannigfaltige Attacken festzuhalten, sie offensiv zu vertreten und auf erbitterten Widerstand gefasst zu sein. Den Widerstand hatte man im Gefolge des postrevolutionären Neomarxismus ebenfalls westlich integriert und für eine besonders attraktive, gar folkloristische Begleiterscheinung des Verständigungsideals angesehen. Kritik gehört zur Aufklärung, aber Integration war das letzte Ziel aller Demonstrationsmärsche. Dieses innerwestliche Medientheater der letzten Jahrzehnte verschärft sich neuerdings zum clash of civilizations. Als Samuel Huntington diese Formel in die Diskussion warf, standen Kohorten von Besänftigern auf, um dem Publikum den Wahn auszutreiben, es gehe zwischen Kulturen wirklich um ernste Differenzen.Vielmehr sei ein liberaler Kulturbegriff gefordert, der weit genug gefasst werden müsse, um eurozentrische Vorurteile oder Präferenzen abzubauen, damit jeder kulturellen Eigenart ihr relatives Recht zuteil werde – in einem solchen Rahmen schmelzen Konfrontationen zu Podiumsdebatten.
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Davon erleben wir permanent mehr, als unserem Auffassungsvermögen gut tut. Das eristische Potential des vormilitärischen Umgangs miteinander muss also entgegen der pazifistischen Bildungstendenz wieder hervorgeholt, aufgerüstet und energisch in Anwendung gesetzt werden. Da wir nicht wissen, wie die Dinge sich weiter entwickeln, sehr wohl aber eingestellt sein müssen auf Verschlechterung des politischen Weltklimas, kann die Parole der realistisch antizipierbaren Zukunft keinesfalls lauten: zurück zum altvertrauten Dialog zwischen den Kulturen. An den Rändern des christlich-katholischen Kerneuropas beginnt der organisatorische Zusammenhalt aus Kräften der in Brüssel zentrierten, supranationalen Transferagentur zu zerfransen. Die früheren Einflusszonen der Sowjetunion, vor allem im Süden, suchen eigene Wege. Die Türkei bietet aus bekannten Gründen den Testfall, ob nach religiös motivierten Kriegszügen bis Wien (1683), einer autoritativ verordneten Laizierung durch Kemal Atatürk (1920/30), der späteren Mitwirkung in der Nato sowie einer inzwischen aufgebrochenen Spannung zum islamischen Osten das vereinte Europa sich über den Bosporus bis Anatolien und zur irakischen Grenze erweitert. Hier ist nichts geklärt und deshalb wird nur halblaut gemurmelt. Die vom „alten Europa“ im Gegenzug gegen amerikanische Dominanz nach dem Ende des Systemdualismus zum ideellen Weltregiment erkorene UNO bleibt, was sie immer war: ein bunter Haufen ganz unterschiedlicher Staaten, deren Eigeninteresse schwankende Bündnisse diktiert, die unter Druck leicht zerfallen. Da keine Legitimation der „Union“ außer der unlimitierten Beteiligung so genannter „souveräner Staaten“ mit menschenrechtlichen Bekenntnissen als Zierat vorliegt, kann kein Machtmonopol gemäß der klassischen Theorie des Leviathan errichtet werden. Also ragt am East River in New York ein babylonischer Turm einer systematischen Sprachverwirrung empor, die zwischen guten und bösen Worten, Partizipation und Verweigerung, Lüge und Drohung, Beschlüssen und deren Nichtachtung operiert. Eine eristische Präparation erscheint dafür höchst angemessen. Seit etwa einer Dekade wird die aus der Besinnung nach dem letzten Weltkrieg hervorgegangene UNO in Bezug gesetzt zum Ideal eines „Ewigen Friedens“. Der gleichnamige Entwurf des Philosophen Kant erscheint einigen inzwischen als sein Hauptwerk. Das wird kein Kenner unterschreiben. Jedenfalls soll die Staatengemeinschaft im Namen des kritischen Philosophen auf den Weg geschickt werden, der Pazifizierungsstimme ein realistisches Fundament zu geben. Dabei handelt es sich um ein Missverständnis. Kants Idee zur Lösung des irdischen Rätsels, wie den periodischen Friedensphasen, die wir aus bisheriger Geschichtserfahrung kennen, strukturell Ewigkeit zu verleihen sei, beruht auf einem speziellen Typ von Verträgen zwischen gleich organisierten Staaten unter Beibehaltung von deren Pluralität. Im globalen Leviathan wäre nämlich
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der künftige Weltdespotismus im Zeichen der Menschenrechte zu befürchten. Diese Verkehrung guter Absichten verhindert indes die weise Natur (natura daedala rerum) durch die Tendenz zur Annäherung trotz existentem Antagonismus. Der dauerhafte Friede ist also keinem alles überbietenden Machtzentrum zuzutrauen. So weit wie Kants „Natur“ sind wir historische Menschen noch lange nicht. Das Publikum möchte die UNO als Gegengewicht zum Hegemonialstatus Amerikas sehen. Wenn der amerikanische Imperialismus Bedenken hervorruft, dann wäre der Gegner dessen in Gestalt der UNO nicht nur impotent im Blick auf das tatsächliche Machtverhältnis. Er wäre auch kein Friedensengel, sondern realisierte nur eine neue Variante großräumiger Konflikte, wie die Welt sie schon früher gesehen hat. Auf dem Riesenforum wird unablässig eristisch debattiert werden. Man sollte Kant schon studieren, bevor man ihn als Mentor zeitgemäßer Friedensforschung in Anspruch nimmt.4
4
Vgl. insgesamt D. Senghaas, Zu irdischen Frieden, Frankfurt a. M. 2004.
Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Konfliktdynamik des Feindbegriffs. Über Carl Schmitts Suche nach dem „wirklichen Feind“ reinhard mehring Beobachter oder Akteur? Die Schrecken des Krieges hat kaum jemand so eindringlich visualisiert wie Francisco Goya. Seine Serie von Radierungen „Los Desastres de la Guerra“ zieht uns über Dutzende von Blättern in Greuel des Metzelns und Massakrierens hinein, die kaum noch politische Hemmungen und Ziele zu kennen scheinen.
Abb. 1. Francisco Goya, Desastres 16: Se aproreachan – Sie ziehen ihren Nutzen daraus
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Goya antwortet hier auf die Erfahrung des spanischen Widerstandes gegen die napoleonische Besatzung. Carl Schmitt deutete diesen „Guerilla-Krieg“ als den ersten modernen Volkskrieg und Auftritt des Partisanen als politisches Subjekt, mit dem die nationalistische Radikalisierung von Feindschaft und Krieg in der Moderne begann (Schmitt 1963, 11ff.). Goyas Radierungen zeigen Schrecken des Krieges jenseits der „konventionellen Hegungen“ des neuzeitlich-„klassischen“ Kriegsrechts: einen Krieg des Quälens, Folterns, Schlachtens, der sich als Lebensform und höllisches Geschäft gegen seine politischen Motive zu verselbständigen scheint. Goya malte auch einige große Gemälde von diesem Krieg, die politische Motive herausstellen; „Die Erschießung vom 3. Mai 1808 im Manzanarestal“ ist wohl das bekannteste. Er sah im Krieg aber nicht nur ein politisches Geschehen, sondern schaute auch ethisch-anthropologisch in die Höllen dessen, was Menschen einander zufügen und erleiden. Den Staat visualisierte er als einen ungeheuren Koloss und Giganten und antwortete damit auf eine Tradition der Visualisierung des Staates als Makroanthropos.1 Mit einem seiner späten „Schwarzen Gemälde“, Duelo a garrotazos (1820–1823; Duell mit Knüppeln; Abbildung 2) genannt, malte er sich ein Phantasma vom agonalen Schlachten direkt auf den Gips seines Hauses. Zwei bärtige Riesen versinken bis zu den Knien in einer apokalyptischen Landschaft und prügeln mit Stöcken und Keulen im Licht der verdunkelten Sonne verzweifelt aufeinander ein. Das Gemälde wirkt wie ein Fanal vom Bürgerkrieg, den Thomas Hobbes mit seinem Titelkupfer vom Leviathan zu bannen suchte. In den „neuen Kriegen“ der marodierenden Banden, Kindersoldaten und Warlords blitzen solche Saturnalien heute an allen Rändern der Erde wieder auf. Das Fernsehen liefert die Bilder frei Haus, und
Abb. 2. Goya, Duelo a garrotazos (Duell mit Knüppeln) 1
Dazu vgl. Bredekamp 1999, 136f.
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die Kriegshistoriker beschreiben sie plastisch. Kein Bild der Hölle scheint heute übertrieben. Jedes Phantasma wurde blutige Realität. Auch deshalb ist die politische Ikonologie wieder aus dem Reservat der Kunstgeschichte aufgestiegen. Die Macht der Bilder wird heute allenthalben beschworen. Carl Schmitt hat sie früh erahnt und in seinem Hobbes-Buch 1938 schon ernsthaft die Frage gestellt, ob das „Bild“ vom Leviathan, das Titelkupfer des Buches, stärker wirkte als Hobbes’ rationalistische Konstruktion des Staates und den liberalen „Sinn“ des Werkes verkehrte. Näher betrachtet ist keineswegs klar, wo Schmitt stand: auf der Seite des liberalen Staates oder der totalitären Mythopolitik.Vieles spricht dafür, dass ihm der „Sinn“ des politischen Symbols, die Einheit, wichtiger war als die liberale Reservation des Individuums. War Schmitt primär ein Beobachter oder Akteur? Suchte er eine Beobachteroder eine Teilnehmerperspektive einzunehmen? Der Textbefund scheint zwar eindeutig. Immer wieder hat Schmitt die Standortgebundenheit seines Denkens betont und einen Teilnahmestandpunkt prätendiert. Er fasste ihn aber verfassungsrechtlich auf und nahm für sich in Anspruch, geltendes Recht nur in Richtung auf seine funktionale Stabilisierung ausgelegt zu haben. Nach 1945 trat er verstärkt als Beobachter auf und profilierte sich als letzter Historiker des „klassischen“ Völkerrechts und erster Theoretiker eines poststaatlichen, „globalen“ Völkerrechts. Die Eigenart seiner Theoriebildung lag dabei in der „existentiellen“ Rückfrage hinter das Kriegsgeschehen und den leitenden Kriegsbegriff auf den impliziten Feindbegriff. Schmitt meinte: „Die einzige konkrete Kategorie des Existentialismus habe ich gefunden: Freund und Feind.“ (Schmitt 1991, 199) Ging er dabei historisch und analytisch vor, oder setzte er einen eigenen Feindbegriff ideologisch voraus? Abstrahierte er geschichtliche Feindbegriffe, so lässt sich von einer analytisch-beschreibenden Theoriebildung sprechen; setzte er dagegen einen eigenen Feindbegriff normativ-praktisch und konstruktiv voraus, so hatte sein Werk primär einen politisch-praktischen Sinn. Schmitt wäre dann tatsächlich der Ideologe und Propagandist von Feindschaft und Krieg gewesen, den viele in ihm sahen. Schmitt folgte nach 1936 dem Brandherd der NS-Außenpolitik, als er sich verstärkt völkerrechtlichen Fragen zuwandte. Dabei begann er die theoretische Vertiefung seiner tagespolitischen Interventionen 1938 mit einer Besprechungsabhandlung „Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“, die den Abschied vom „nichtdiskriminierenden“, ein Recht zum Kriege anerkennenden Kriegsbegriff des „klassischen“, auf dem Souveränitätsprinzip der Einzelstaaten basierenden Völkerrechts der „Westlichen Hemisphäre“ zuschrieb. Später suchte er eine Erklärung für diese Wendung in den geopolitischen Interessen und der „maritimen Existenz“ der angelsächsischen Welt. Diese Wendung vom „nichtdiskriminierenden“ zum „diskriminierenden“ Denken entdeckte er auch im Feindbegriff wieder. Er meinte, dass die juridische Diskriminierung des Rechts zum Krieg zu einer Verschärfung der Feind-
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schaften führt, weil Kriege dann legitimatorisch aufwendiger werden und eine besondere ideologische Verpönung des Gegners und Verzerrung zum Feind erfordern. Stets betonte er den engen Zusammenhang zwischen den Kriegs- und Feindbegriffen. Der Feindbegriff erschien ihm dabei als eine „existentielle“ Voraussetzung des Kriegsbegriffs. Dieser Übergang von der analytisch-beschreibenden Kriegstheorie in die existentialisierende Kriegsphilosophie ist eng mit dem Namen von Clausewitz2 verbunden und heute wieder verstärkt aktuell. Für Schmitt hatte der Krieg „seinen Sinn in der Feindschaft“ (Schmitt 1991, 63). Und er stellte nach 1945 die beunruhigende Frage, ob die Entwicklung der Kriegstechnik neue Feindschaften und Feindbegriffe provozierte. Gibt es einen „Primat des Politischen“ über der Technik? Dieser Primat ist fragwürdiger noch als der Primat der Politik über Wirtschaft oder Militär. Sind Menschen die Herren des Krieges? Hat Krieg noch einen „humanen“ Sinn? Oder verklären die Feindbegriffe technische Entwicklungen nur apologetisch? Dominiert Kriegstechnik die Feindschaften und damit auch das humane Selbstverständnis? Das sind zentrale Fragen von Schmitts Spätwerk. Kriegsgeschichtlich breit behandelt er sie vor allem in seinen späten Monographien „Der Nomos der Erde“ und „Theorie des Partisanen“; sie sind die wichtigsten „Weiterführungen“ seiner „Antwort“ auf die Herausforderungen am Ende der „Epoche der Staatlichkeit“. Seine anderen späten Monographien entwickeln dagegen zumeist nur kryptisch verrätselte Selbstdeutungen des früheren Werkes. Wichtige theoretische Reflexionen des resultierenden Feindbegriffs finden sich dabei aber auch in „Ex Captivitate Salus“ sowie im Nachwort der „Politischen Theologie II“. Hasso Hofmann3 hat vor Jahrzehnten schon Schmitts homogenisierende Selbstdeutung in Frage gestellt. Während Schmitt nach 1945 betonte, dass er durchgängig einen „nichtdiskriminierenden“ Feindbegriff vertrat, der Feindschaft nicht ideologisch propagierte, wies Hofmann auf politische Positionswechsel, Inkonsequenzen und Inkompatibilitäten zwischen dem „Begriff des Politischen“ und der „Theorie des Partisanen“ hin. Schmitt sprach von „konventioneller“, „relativer“ und „wirklicher“, von „totaler“, „absoluter“ und in seinem „Glossarium“ auch von „wahrer“ Feindschaft. Seine Begriffe überschneiden sich semantisch und legen keine klare Ordnung nahe. Die historische Differenzierung lässt auch keine eindeutige normative Orientierung an einem „nichtdiskriminierenden“ Feindbegriff erkennen. Diese Inkonsistenzen gehen aber nicht nur auf politische Interessen und die entwicklungsgeschichtliche Dynamik der Theoriebildung zurück, sondern resultieren auch einer methodischen Ambiguität und doppelten Blickrichtung des Werkes zwischen historischer Analyse und philosophischer Systematik.
2 3
Dazu Schmitt 1967. Dazu vgl. Hofmann 1965.
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Diese doppelte Blickrichtung erörtere ich am Spätwerk in drei Ansätzen: Nach 1945 erneuerte Schmitt zunächst (1.) sein existentialphilosophisches Postulat identitätskonstitutiver Feindschaft. Mit seiner „Theorie des Partisanen“ fragte er dann (2.) mehr analytisch nach der „Herausforderung“ der jüngsten Geschichte „des Politischen“ für die normative Selbstauffassung des Menschen. Was hier davon interessiert, ist Schmitts Blick auf die Rationalität und Rationalisierung von Identität als Movens der Feindbilder und Feindschaften. Diese Sicht der menschlichen Rationalität als Konfliktfaktor ließe sich zwar systematisch weiter verdeutlichen (3.). Abschließend aber illustriere ich Schmitts Suche nach der humanen „Gestalt“ der Gegenwart nur (4.) am Gespräch mit Ernst Jünger. Ich möchte Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung im Kontext des gegenwärtigen Diskurses nicht voreilig kritisieren oder aktualisieren, sondern etwas spezialistisch nur auf eine methodische Ambiguität des Spätwerks aufmerksam machen, das Feinddenken dabei als ein Existential menschlicher Rationalität und Identität sehen und Schmitts ständige reflexive Auseinandersetzung mit Feindbildern am Gespräch mit Jünger exemplifizieren. Ohne Schmitts Feindbildern zuzustimmen, werbe ich für eine systematische Rezeption seines Feinddenkens. Mag Schmitt auch nach 1945 bestimmte Feindbilder geradezu paranoisch pflegen, sieht er doch systematisch das stete Problem reflexiver Kontrolle der Feindbilder. Feindbilder schematisieren die soziale Wirklichkeit. Sie changieren zwischen einer angemessenen Wahrnehmung und Konstruktion des sozialen Handelns. Was dabei aus einer Beobachterperspektive überspannt scheint, ist den Akteuren ein Movens ihres sozialen Handelns: die ideologische Radikalisierung von Feindschaften. Aus der Perspektive der Teilnehmer ist sie als handlungsleitende Idealisierung ein Aspekt sozialer Beziehungen, weshalb sich Konfliktforschung nicht auf die bloße Beschreibung zurückziehen kann, sondern immer mit der Radikalisierung qua Rationalisierung von Feindschaft rechnen muss. Aus der Auseinandersetzung mit Schmitt ergibt sich deshalb die Rückfrage an die Konfliktforschung, ob sie sich auf eine Beobachterperspektive beschränken kann oder nicht auch die Eigenart ideologischer Radikalisierung qua Rationalisierung als „objektive Möglichkeit“ (Max Weber) prognostisch berücksichtigen sollte.
Existentielle Forderung des Feindes Schmitt verstand sich nach 1945 als ein „Besiegter“. Die Bundesrepublik blieb ihm fremd.4 Politisch-theologisch fühlte er sich eher im autoritären Spanien heimisch, wie jetzt der Briefwechsel mit Álvaro d’Ors belegt. Postum erschien eine Kladde nachgelassener „Aufzeichnungen der Jahre 1947 bis 1951“, die Schmitt vermutlich selbst zur Veröffentlichung bestimmt hat. Dieses „Glossa4
Zur kritischen Sicht der Bundesrepublik auch bei Schmitts Schülern jetzt eindrucksvoll Günther 2004.
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rium“ gibt vielfältige Einblicke in seine Lage und Erfahrungsauslegung nach 1945. Zwei Stränge historischer Deutung des Nationalsozialismus verfolgte er hier: einen rechtsgeschichtlichen und einen geistesgeschichtlichen: „Der eine Schlüsselbegriff: die Legalität; der andere: das Genie; beides zusammen ergibt die volle Antwort.“ (Schmitt 1991, 58) Die rechtsgeschichtliche Herleitung des Nationalsozialismus publizierte er nach 1945 in verschiedenen Varianten und diagnostizierte dabei eine „Aufspaltung“ des Rechtsbegriffs in eine Antithese von Legalität und Legitimität als Schlüssel zur Selbstpreisgabe Weimars, zur „legalen Revolution“ und Machtübernahme Hitlers. Den anderen Strang, die geistesgeschichtliche Deutung des Genie-Gedankens als Schlüssel zum Führermythos, erörterte er dagegen beinahe nur im nachgelassenen Werk. Rechtstheoretisch argumentierte Schmitt oft mit dem Rationalitätsgebot der Konsistenz. Deutlich ist das beispielsweise in der Schrift „Legalität und Legitimität“ von 1932. Das rechtssystematische Konsistenzgebot wandte er aber auch auf die Politik an. So meinte er im „Glossarium“: Hitler „hat zwei verschiedene Kriege zu führen versucht (tölpelhaft, das für durchführbar zu halten): einen nicht diskriminierenden Krieg gegen den Westen und einen diskriminierenden gegen Russland und die slawischen Völker.“ (Schmitt 1991, 117, vgl. 187). Er scheint hier anzunehmen, dass schon der widersinnige Versuch, zwei verschiedene Arten von Krieg zu führen, die Kriegsführung schwächte. Im „Glossarium“ ist Schmitt erneut auf der Suche nach einem Feind, gegen den er seine Orientierung gewinnen kann: „Wir müssen den Feind in uns selbst erzeugen, um nicht im Leeren zu stehen.“ (Schmitt 1991, 115) Schmitt findet ihn vor allem im „assimilierten“ Juden: „Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind“ (Schmitt 1991, 18). Er wittert „jüdischen Geist“ hinter allem und jedem und sondiert die unterschiedlichsten Entwicklungen verschwörungstheoretisch unter dem Gesichtspunkt „jüdischer“ Herrschaft. Überall macht er „Juden“ als Drahtzieher aus:5 „Sie reden zwar viel von Eliten, / doch ahnen die meisten es kaum: es gibt nur noch Isra-Eliten / im großplanetarischen Raum.“ (Schmitt 1991: 255) Schmitt reflektiert darauf auch „elitentheoretisch“. „Don Capiscos [elitentheoretisches] Handorakel“ endet mit einem Dilemma der Elitenforschung: „Elite sind diejenigen, deren Soziologie keiner zu schreiben wagt.“ (Schmitt 1991, 181) Ähnlich spekulativ argumentiert Schmitt bei seinen geistesgeschichtlichen Filiationen. Beinahe stets profiliert er eine bestimmte Perspektive durch einen Autor. Manchmal hat man den Eindruck, dass diese Blickwinkel mehr über Schmitt besagen als über seine Referenzautoren. Der pandämonische Maskentanz führt ihn zur Frage nach der eigenen Identität und zur Formel vom Feind als „eigne Frage als Ge5
Die jüngst veröffentlichten frühen Tagebücher belegen neben dem intensiven Umgang mit jüdischen Freunden bereits Antisemitismus, den Schmitt selbst als „jüdischen Komplex“ (Schmitt 2003, 226) bezeichnet.
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stalt“ (vgl. Schmitt 1950b, 79ff.): als leibhaftig begegnendes, Gestalt gewordenes Selbsträtsel. Das Kaleidoskop diverser Referenzautoren wird ihm zur Facettierung der eigenen Frage, zur spektralen Spiegelung eigener Überlegungen und Probleme. Die Idee einer Stabilisierung der Identität durch Feindbilder dominiert deshalb nach 1945 zunächst die Frage nach dem „wirklichen Feind“. Schmitt postuliert die Notwendigkeit von Feindschaft in praktischer Absicht und nimmt eine Entdeckung der eigenen Identität in der Auseinandersetzung mit dem Feind an. Für seine anerkennungstheoretische Auffassung von Feindschaft lehnt er sich dabei bis in die Formulierungen an Hegel an; im „Nomos der Erde“ spricht er von einem „Sinnwandel der Anerkennung“ in der Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff und macht die ersten Anfänge und „Einbruchstellen“ möglicher Wiederkehr des diskriminierenden,„gerechten“ Krieges dabei in Kants Begriff vom „gerechten Feind“ aus. Universalistische normative Konzeptionen können die Feindschaft nicht aus der Welt schaffen, meint Schmitt, sondern verschärfen das Problem nur. Schmitt kennt nach 1945 keine „gerechten“ Kriege mehr, sondern nur „gehegte“ Kriege. Die Anerkennung der Identitätsfunktion des Feindes ist ihm dabei eine Bedingung der Möglichkeit von Hegung.
Analyse des gewandelten Feindbegriffs Während Schmitt nach 1945 also zunächst die Forderung von Feindschaft der Bestimmung eines konkreten Feindes vorauszusetzen scheint, argumentiert er 1963 in seiner „Theorie des Partisanen“ etwas anders. Die Entwicklung „vom wirklichen zum absoluten Feind“ bringt er dort mit einem „technischen Aspekt“ in Verbindung. Die letzte Abkehr von allen überlieferten Hegungen und „absolute“ Entrechtung und „Entwertung“ des Feindes schreibt er nun zwar der revolutionären (marxistischen) Geschichtsphilosophie zu, betrachtet deren Utopien dabei aber als einen bloßen ideologischen Reflex der „Zertrümmerung“ überlieferter sozialer Strukturen infolge der Entwicklung der Technik. Wenn die Strukturen zerstört sind, bleibe eben nur noch die Ideologie. Dieses Zusammenwirken von Geschichtsphilosophie und moderner Technik sieht Schmitt später auch in einem Prozess der „legalen Weltrevolution“ am Werk, in dem eine moderne Ideologie des „Fortschritts“ die „Superlegalität“ oberster Normen, wie der Grund- und Menschenrechte, quasi automatisch und beschleunigt durchsetzt. Das ist Schmitts letzter diagnostischer Befund: ein rechtstheoretischer Kommentar zur „Globalisierung“. Schmitt sieht die Welt nach 1945 auf dem Weg in einen Weltstaat: „Die Weltpolitik kommt an ihr Ende und verwandelt sich in Weltpolizei – ein zweifelhafter Fortschritt.“ (Schmitt 1979, 329) Diese politische Einheit der Welt scheitere aber am fehlenden „Patriotismus der Gattung Mensch“ (Schmitt 1979, 336f.). Die Menschheit als solche lasse sich nicht organisieren und erfinde deshalb
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neue Differenzen und Diskriminierungen, um ihre idealen Geltungsansprüche gegen andere zu profilieren. Wiederholt führt Schmitt aus (Schmitt 1950c, 108; 1950a, 72f.; 1954, 8ff.), dass die politische Organisation der Menschheit ihr Selbstverständnis nur in einer Übermenschen-Ideologie finden könne, deren Wirklichkeit und Wahrheit der Rassismus sei. Die Idee der Menschheit als solche konstituiere nichts. Sie postuliere deshalb einen „Übermenschen“, der seine „Gestalt“ nur in der Abgrenzung von „Untermenschen“ finde.6 Schmitt betrachtet den modernen Rassismus also als eine Folge des universalistischen Humanismus und distanziert sich von dieser Antwort. Er spricht auch von einer „letzten Gefahr“, dass die Entwicklung der modernen „Vernichtungsmittel“ den „moralischen Zwang“ entzündet, dass die Entwicklung der Waffentechnik besondere Rechtfertigungen durch Feindbegriffe provoziert. Die „suprakonventionelle Waffe supponiert den suprakonventionellen Menschen“ (Schmitt 1963, 95) meint Schmitt und zitiert Hegel: Die Menschheit bedurfte des Schießpulvers, „und alsbald war es da“ (Schmitt 1950a, 299); die Waffen seien „das Wesen der Kämpfer selbst“ (Schmitt 1938, 131; 1963, 95). Waffentechnik prägt den Menschen. Ernst Jünger meinte: „Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind. […] Er hat uns erzogen zum Kampf, und Kämpfer werden wir bleiben, solange wir sind.“ (Jünger 1938, 2) In der „Theorie des Partisanen“ wendet Schmitt diesen Gedanken auf die Feindbegriffe im „Atomzeitalter“ und den Typus des modernen „Industrie-Partisanen“ (Schmitt 1963, 81) an. Er diagnostiziert und prognostiziert dabei nicht nur gegenwärtige Entwicklungen, die heute im Weltterrorismus offenkundig sind, sondern wertet sie auch normativ. Er sieht es als eine besondere Gefahr an, dass die Entwicklung der Waffentechnik zu neuen Diskriminierungen und Kriminalisierungen führt. Dabei denkt er nicht nur an die offenkundige Tatsache, dass besonders schwere und abstoßende Verbrechen moralisch verpönt werden und zu einer starken Disqualifizierung von Tätergruppen führen, sondern denkt darüber hinaus auch an einen tiefgreifenden Wandel im humanen Selbstverständnis. Wenn bestimmte Personengruppen intensiv entwertet werden, bleibt das nicht ohne Folgen für die moralische Klaviatur des Menschen insgesamt. Diese Überlegungen scheinen heute nur zu aktuell. Sie warnen vor der Rückwirkung technischer Entwicklungen auf das menschliche Selbstverständnis. Moderne Industriegesellschaften stoßen sich selbst in einen „Abgrund der totalen Entwertung“ (Schmitt 1963, 95), meint Schmitt, wenn sie die Humanität in ihrem normativen Eigensinn nicht unabhängig von ihren technischen Entwicklungen zu bestimmen suchen. Zerstört sich die „wehrhafte Demokratie“ selbst, wenn sie ihre liberalen Errungenschaften der „Sicher-
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Schmitt 1979, 339; Schmitt zitiert hier Koselleck 1979.
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heit“ aufopfert?7 Unter dem Druck der „technischen Realisation“ (Ernst Forsthoff) ist es heute, so sieht es Schmitt, überaus schwer, ein humanes Verhältnis zum Anderen, Fremden auszubilden und Feindschaft so zu begrenzen, dass Konflikte trotz der „realen Möglichkeit“ ihres gewaltsamen Austrags nicht zur generellen Infragestellung einer gemeinsamen Basis reziproker Anerkennung und eines Konsenses über den weiteren Umgang führen. Weil eine solche Basis unter dem vielfältigen Druck stets fragil und prekär ist, bleibe der „gehegte Feind“ eine stete „Frage“: „Jeder Zwei-Frontenkrieg wirft die Frage auf, wer denn nun der wirkliche Feind sei. Ist es nicht ein Zeichen innerer Gespaltenheit, mehr als einen wirklichen Feind zu haben? Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. Wenn die eigene Gestalt eindeutig bestimmt ist, woher kommt dann die Doppelheit der Feinde? Feind ist nicht etwas, was aus irgendeinem Grunde beseitigt und wegen seines Unwertes vernichtet werden muß. Der Feind steht auf meiner eigenen Ebene. Aus diesem Grunde muß ich mich mit ihm kämpfend auseinandersetzen, um das eigene Maß, die eigene Grenze, die eigene Gestalt zu gewinnen.“ (Schmitt 1963 : 87– 88)
Diese Idee politischer Profilierung einer eigenen „Gestalt“ und „Daseinsweise“ leitete vermutlich schon Schmitts früheren Verfassungsbegriff. Freilich hatte er nach 1945 viele Gründe, seinen Feindbegriff zu revidieren und dessen Fragwürdigkeit zu betonen. Ob er sich dabei erneut in überspannte Feindschaften verstieg, muss hier offen bleiben. Zum theoretischen Problem einer Moderierung von Feindschaft aber trägt sein Hinweis auf die Problematik reflexiver Begrenzung von Feindschaft etwas bei. Schmitt entdeckt die Eigenlogik „ideologischer“ Rationalisierungen von Feindschaft als Motor der Konfliktverschärfung und sieht einen Zwang zur apologetischen Sanktionierung von Entwicklungen im Interesse der Selbstauffassung des Menschen als Akteur und Herr seiner Lebensbedingungen. Max Weber schon betonte die Eigenlogik diverser Rationalisierungen als Movens der Religionsgeschichte. Er kannte dabei nicht nur eine „Theodizee“ des Leidens, sondern auch eine Theodizee des Glücks.„Das Glück will ‚legitim‘ sein“ (Weber 1978, 242), meinte Weber und sah darin einen mächtigen Faktor der Geschichte. Analog ließe sich für Schmitt von einer „politischen Theodizee“ der modernen Wirtschaft und Technik sprechen. Schmitt sah, dass Menschen die Eigenlogik moderner Funktionssysteme im Interesse ihrer humanen Selbstauffassung als Akteure negieren und unter dem Rationalisierungsdruck diversester Anforderungen leicht das humane „Maß“ verlieren.
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Dazu vgl. Schild 2003.
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Zur Rationalisierung des Feindbegriffs als Konfliktfaktor Schmitt postulierte die Notwendigkeit von Feindbegriffen und mahnte nach 1945 die reflexive Kontrolle und „Hegung“ von Feindschaften an. Dabei meinte er, dass die Formulierung von Feindbildern und Feindbegriffen im Prozess der Identitätsbildung mit der menschlichen Rationalität gegeben ist. Menschen rationalisieren ihre Erfahrungen handlungsleitend und formulieren komplexe Deutungssysteme von rationalem Eigensinn. Sie fixieren ihr Handeln in Systemen der „Lebensführung“,8 die bei einem Minimum an pragmatischer Bewährung nicht leicht als „irrational“ oder „ideologisch“ abqualifiziert werden können. Der Vorwurf der „Irrationalität“ eines Deutungssystems trifft zunächst nur interne Inkonsequenzen und Rationalisierungsdefizite im System. Im Ganzen irrational oder „unvernünftig“ kann ein System der Lebensführung in schwacher Lesart heißen, wenn es an der Aufgabe der Bewältigung elementarer Orientierungsaufgaben komplett scheitert und kein Überleben ermöglicht. In starker Lesart mag es irrational heißen, wenn hohe Standards kultureller Differenzierung nicht etabliert sind. Obwohl schon der „gesunde Menschenverstand“ abweichende Orientierungen gerne leichthin als „irrational“,„unvernünftig“ oder „ideologisch“ abwertet, lassen sich solche Urteile nur schwer rechtfertigen. Schwerlich sind Feindbilder und Feindbegriffe als solche „unvernünftig“. Dissonanz, Konkurrenz, Feindschaft gehört zum Leben. Konflikte gibt es nicht nur über divergierende Interessen, sondern auch um das knappe Gut der Lebens- und Weltanschauung. Nicht alles geht auf dem Markt der Deutungssysteme. Schmitts Spätwerk reflektiert dies dilemmatisch. Noch seine letzten größeren Publikationen thematisieren es am Feindbegriff. Das „Nachwort“ der „Politischen Theologie II“ liest trinitarische Spekulationen als „metaphysische Formeln“ des humanen Selbstverständnisses und entdeckt eine „Stasiologie“ der Feindschaft im trinitarischen Dogma (vgl. Mehring 2001, 110ff.). Zuletzt zitiert Schmitt noch das „Wort eines sterbenden Machthabers, der auf dem Sterbebett von seinem geistlichen Berater gefragt wird: ‚Verzeihen Sie Ihren Feinden?‘ und der mit bestem Gewissen antwortet: ‚Ich habe keine Feinde; ich habe sie alle getötet.‘ “9 Obwohl Schmitt nach 1945 ausdrücklich seine Machtlosigkeit betont (vgl. Schmitt 1954a, 7), lässt sich dieses Wort auch auf sein Werk beziehen. Es ist das Schlusswort eines Theoretikers, der alle Einwände und Gegenargumente meint entkräftet zu haben (vgl. Schmitt 1963, 76) und dies beispielhaft in seiner Replik auf die „Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie“ vorführt. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer reflexiven 8
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Nach Nietzsche und Dilthey findet sich dieser Gedanke in der philosophischen Anthropologie ausgeführt. Eine Anwendung auf die deutsche Geistesgeschichte gibt Plessner 1935. Schmitt 1979, 339; dazu vgl. schon Schmitts Eintrag ins „Glossarium“ vom 23. 9. 1948: „Ich sterbe nicht, denn mein Feind lebt noch“ (Schmitt 1991, 199); vgl. auch Brief vom 24. 1. 1974 an Álvaro d’Ors: „Ich möchte mein ‚Nunc dimitiis’ beten. Aber meine Verfolger lassen mich nicht sterben.“ (Schmitt 2004, 266)
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Öffnung der Frage nach dem Feind scheint er dabei erneut dogmatisch preiszugeben.
Jünger und Schmitt über Feindbilder Verdeutlichen wir am Beispiel des Briefwechsels mit Ernst Jünger exemplarisch, wie Schmitt die humane „Gestalt“ zeitdiagnostisch zu bestimmen suchte.10 Diese Korrespondenz belegt zwar, wie schon das „Glossarium“, erneut erhebliche politische, persönliche und intellektuelle Differenzen zwischen beiden, ist aber dennoch auch ein Zeugnis kongenialer freundschaftlicher Verständigung. Greifen wir ein Thema heraus, das beide im Zweiten Weltkrieg auf der Suche nach einem Bild vom Menschen zeigt, das die Schrecken des Krieges aufnimmt und demnach eine humane Perspektive entwickelt. Schmitt unterhielt sich mit Jünger öfters über Hieronymus Bosch. Jünger sah Parallelen zwischen Boschs Blick in die Hölle und dem Zweiten Weltkrieg. Schmitt wies ihn auf die Forschungen des Berliner Kunsthistorikers Wilhelm Fränger hin, mit dem er in Berlin Umgang hatte und auch nach 1945 erneut in Korrespondenz trat.11 Im Frühjahr 1943 ließ Schmitt sich während einer Vortragsreise im Madrider Prado Boschs „Garten der Lüste“ zeigen, um Fraengers chiliastische Interpretation zu prüfen. Früher schon sprach er der politischen Mythologie und Ikonologie große Bedeutung zu. Intensiv nahm er Sorels Lehre vom Mythos auf und sah das Erfolgsrezept des Marxismus nicht zuletzt darin, dass Marx „mit den Mitteln der Hegelschen Dialektik“ ein „Bild von einem Gegner“ schuf, „auf das alle Affekte von Haß und Verachtung sich häufen konnten. Ich glaube, die Geschichte dieses Bildes vom Bourgeois ist ebenso wichtig wie die Geschichte des Bourgeois selbst.“ (Schmitt 1926, 87) Stets fragte Schmitt nach der wirkungsgeschichtlichen „Legende“ eines Namens, Autors und Werks, sprach von einer Art dialektischem Bild, das emblematisch lesbar ist, schätzte die barocke Repräsentation und nahm Bilder als Verdichtungen diskursiver Aussagen. Maler spielten in seinem intellektuellen Kosmos zwar nicht die zentrale Rolle, die Dichter für ihn hatten. Dennoch
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Zu Jüngers „dichterischer Vision“ humaner Gestalten als Antwort auf Max Webers Diagnose der Moderne vgl. Kiesel 1994. Brief vom 4. 8. 1943 und vom 28. 11. 1943 an Jünger (Jünger 1999, 164, 174). Der Kontakt ist vermutlich zustande gekommen, denn Fraenger erkundigte sich am 30. 6. 1947 bei Schmitt nach Jüngers Adresse, um ihm sein Bosch-Buch zu schicken (Schmittiana Bd. VII, 315). Im Nachlass Schmitts befinden sich elf Briefe und zwei Postkarten Fraengers aus den Jahren 1943 bis 1951. Er enthält auch einen Brief Schmitts von 1950. Zwei Briefe Fraengers an Schmitt von 1944 und 1947 sind in den Schmittiana VII (313–315) abgedruckt. Die Fraenger-Gesellschaft dokumentiert auf ihrer Website einen Brief Schmitts vom 5. Januar 1947 an Fraenger, in dem Schmitt eine Wiederaufnahme der Gespräche über Bosch wünscht. Fraenger war ab 1938 Dramaturg an dem von Heinrich George geleiteten Schiller-Theater. Die damalige Korrespondenz mit Schmitt „klammert jeglichen Bezug auf konkrete politische Verhältnisse aus“ (Weckel 2001, 136–138). Schmitt spielt auf Fraengers Deutung in einem Text vom April 1947 (Schmitt 1950c, 82) an.
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strebte er auch zum bildlichen Ausdruck seiner Überlegungen. Brieflich tauschte er sich darüber mit Jünger aus. Üblicherweise wird Jüngers Neigung zu Bildern mit ästhetizistischem Amoralismus und Dandytum in Verbindung gebracht. Sie hing aber auch mit seiner Geschichtsphilosophie zusammen. So las Jünger die Bilder von Bosch und Breughel als eine „Projektion […] jenseits der Moderne“, die sich der modernen Unterscheidung von Ethik und Ästhetik nicht fügt. „Ebenso wie die Bilder von Bosch für uns nicht mehr Wirklichkeit, sondern Maßstab sind, wäre der Dualismus Gott-Satan ein Freund-Feind-Verhältnis, an dessen Betrachtung ein überlegener Maßstab gewonnen werden kann“, meinte er schon am 13. Dezember 1933 zu Schmitt. Aus dem Kaukasus schrieb er später am 23. Dezember 1942 von der Ostfront: „Hier in den verschlammten Wäldern hatte ich weniger Anregungen als Einsichten; der Einblick in das Reich des Schmerzes ist hier vielleicht am unmittelbarsten, am deutlichsten. Die Verbindung von mechanischen Vorgängen, als Auskristallisierungen der puren Gewalt, mit den Schmerzen als ihrem passiven Korrelat, erinnert stark an gewisse Bilder von H. Bosch, der diese Einsichten sehr klar gesehen hat. Der Krieg gegen Ungläubige ist in dieser Hinsicht noch einseitig, vor allem, da es ja eigentlich nur sich um Andersgläubige handelt; der Krieg zwischen Atheisten setzt allem die Krone auf. Schade, dass Bosch nicht malen konnte, was ich gestern sah, vom winzigen Körbchen einer Drahtseilbahn aus, in dem ich über einen Flusslauf schaukelte, während unter mir im Tale Schwärme von gefangenen Trägern entlangschleichen,Verwundete ausgeladen wurden, Pferde in den Fluß stürzten und der Feuerstrahl von schweren Geschützen die Luft zerriß. Aus einem zerstörten Brückenpfeiler, den ich passierte, lugte ein Artillerist heraus, um die Feuerbefehle nach unten zu rufen, ganz wie eine der Gestalten, die man bei Breughel aus Zelten oder Eierschalen lugen sieht. Zugleich erklang aus dem Tohuwabohu dieses Kessels das ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ aus dem Lautsprecher-Wagen einer Propaganda-Kompagnie. Derartiges geht über die besten Erfindungen früherer Utopisten weit hinaus.“ (Jünger 1999, 152f., vgl. 117)
Die Schlachtbeschreibung dient hier, um eine Unterscheidung Herfried Münklers (Münkler 2003, 85) aufzunehmen, nicht mehr der „Geschehensanalytik“, sondern einer bloßen „Episodennarration“; sie bietet kein Gesamtbild mehr, keine strategischen Aufschlüsse und keine politische Wertung; sie urteilt nicht über Freund und Feind, sondern verweist mit der impressiven Subjektivität nur auf die moralische Integrität und „Authentizität begrenzter Augenzeugenschaft“ (Münkler 2003: 88). Jünger beweist sich als moralischer Betrachter, indem er seinen Blick von jeder politisch und militärisch dienstbaren Sinnstiftung frei macht. Der Visualisierung des Leidens liest er eine moralische Wertung ab: ein Gegenbild und eine Umwertung der „Lautsprecher“12 der „Propaganda-Kompagnie“. Den erhöhten Beobachterposten suchte er immer wieder. Sein Blick auf den Krieg als Hölle klingt wie ein Dementi seiner früheren Begrüßung der feindlichen Bomber über den Dächern von
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Schmitt gebraucht dieses Wort nach 1945 häufig abschätzig.
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Paris und geschieht doch in der gleichen Absicht, Distanz zu gewinnen, um richtig zu sehen und zu werten. Schmitt setzt seine geschichtliche Erfahrung noch weniger direkt in Bilder und Wertungen um. Anders als Jünger ist er nicht als Beobachter und „abenteuerliches Herz“ in der Welt unterwegs, sondern setzt mehr auf den wissenschaftlichen Zugang und die diskursive Analyse.13 Er sucht nicht die unmittelbare Verdeutlichung lebensweltlicher Erfahrungen durch bildliche Darstellungen und vergegenwärtigt sich den „Symbolismus der Situation“ (Jünger 1999, 115, 129) meist lieber durch Dichter, visualisiert aber dennoch seine Positionen und Begriffe auch emblematisch. Bilder dienen ihm nicht nur der Visualisierung, sondern auch der Verdichtung begrifflicher Analysen und deren Transposition in eine Wertung. Seit seinen Jugendtagen ist ihm die Kunst ein Organon seiner Lebens- und Weltanschauung. Quaritsch (Quaritsch 1989) nennt den „Ästhetizismus“ eine seiner „Grundprägungen“. Christian Meier erinnert sich: „Er konnte Begriffe, scheint mir, regelrecht sehen, sie stellten Realitäten für ihn dar.“ (Meier 1988, 605) Meier zitiert auch aus einem Brief vom 29. Mai 1968: „Mein ‚Lernen‘ vollzieht sich auf dem Wege der Entdeckung von Mythen.“ (Meier 1988, 554) Schmitt sieht sich hier als eine Art politischer Hermeneut, der kollektive Mythen und Selbstverständnisse expliziert. Spätestens seit seiner pseudonymen Mitarbeit an Franz Bleis „Bestiarium der modernen Literatur“14 interessiert ihn dabei an der politischen Ikonologie vor allem die Animalisierung, wie sie seit Urzeiten gepflegt und mit den politischen Fabeln der Neuzeit erneut literarisch wurde. Mit Jünger sinnt er damals auch über eine Visualisierung seiner „weltgeschichtlichen Betrachtung“ des Kriegsgeschehens nach, die die geopolitische und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung der „Elemente“ herausstellt. Den mythischen Bildern für Land und Meer fügt er dabei angesichts des Luftkriegs einen Vogel hinzu. Einen Besuch in Berlin macht er Jünger im November 1940 schmackhaft, indem er die Schrecken des Krieges mythisch bannt: „Wenn Sie im Januar nach Berlin kommen, sind Sie bei uns eingeladen. Das entomologische Institut ist nur einige Schritte von unserer Wohnung entfernt. Das inbrünstige Geheul, mit dem der Behemoth nachts den grossen Vogel Zitz begrüßt, wird Sie nicht stören.“ (Jünger 1999, 106)
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In seinem Festschriftbeitrag für Ernst Jünger betont Schmitt diesen Unterschied zwischen Jüngers ikonographischem „Denken in Polaritäten“ und seinem eigenen „konkret-geschichtlichen Denken“ (Schmitt 1995, 531, vgl. 544). Blei 1922, vgl. Blei 2000; dazu schon den Jugendbrief vom 20. 1. 1912 an die Schwester (Schmitt 2000, 154): „Sonst gehe ich jede freie Minute in den zoologischen Garten. Achte mal bitte darauf, welchen Tiergesichtern die Gesichter der Menschen gleichen, mit denen Du zu tun hast. Das ist sehr wichtig, und nicht bloßer Spaß. Die meisten Menschen haben Vogelgesichter. Vornehme alte Damen sehen meist aus wie Papageien. Du musst ganz ernst vergleichen, nicht etwa Witze machen wollen.“
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Schmitt mythisiert hier sein Theorem vom geschichtlichen Zusammenhang zwischen der „maritimen Existenz“ und den neuen, diskriminierenden Formen und Techniken der Kriegsführung. Jünger nimmt dies direkt auf: „An großen Vögeln kenne ich nur den Greif, den Phoenix und den Rukh. Der von Ihnen citierte Vogel Zitz ist mir unbekannt. Sollten die Juden ihn neben Leviathan und Behemoth, die Land und Meer beherrschen, als Gebieter der Lüfte vorausgeahnt haben? Wie alle Zeiten, die seitdem gewesen sind, will man ja auch die unsere in der Bibel beschrieben finden; so sollen die Flieger die Heuschrecken der Apokalypse sein.“ (Jünger 1999, 107)
Schmitt bestätigt dies noch im November 1940 und meint: „Den Vogel Ciz oder Bar-Juchne kenne ich von den Talmudisten und Cabalisten her, die ihn vielleicht aus Persien übernommen haben. Es ist in der Tat das große Lufttier, das dem Seetier Leviathan oder dem Landtier Behemoth entspricht. Es ist so gewaltig, dass, wenn er im Fluge ein Ei fallen lässt, 1000 Libanon-Cedern zerschmettert werden und 1000 Flüsse aus den Ufern treten.“ (Jünger 1999, 109)
Schmitt veröffentlicht damals in der Deutschen Kolonialzeitung auch einen Auszug aus seiner Schrift „Land und Meer“ unter dem Titel „Behemoth, Leviathan und Greif“15 und versinnbildlicht hier mit dem Greif noch eine „Herrschaftsform“. In weniger flüchtigen literarischen Formen äußert er sich aber damals schon vorsichtiger. „Land und Meer“, der eigenen Tochter Anima „erzählt“, präsentiert sich 1942 als eine bloß historische, „weltgeschichtliche Betrachtung“ für einen intimen Adressatenkreis und distanziert sich so deutlich von dem politischen „Beitrag zum Reichsbegriff“, den Schmitt mit „Völkerrechtliche Großraumordnung“ von 1939 bis 1941 noch in verschiedenen Auflagen gab; „Land und Meer“ endet aber mit der klaren politischen Prognose, dass sich der Weltkrieg im Element der Luft an der Lufthoheit entscheiden wird. Schmitt kündigt Jünger am 10. Dezember 1942 das Büchlein an, indem er auf dessen Geschichtsphilosophie verweist: „Dort ist am Ende gesagt, dass die Geschichte der Menschheit nach antiker Lehre ein Gang durch die 4 Elemente ist. Wir sind jetzt im Feuer. Was hat Ihnen Prometheus im Kaukasus
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Schmitt 1943 ist eine gekürzte Fassung der letzten vier Kapitel von „Land und Meer“ (Schmitt 1942a, 63ff.). In der zweiten Auflage von 1954, der auch die Ausgabe von 1981 folgt, sind einige antisemitische Anklänge entschärft. 1942 schreibt Schmitt beispielsweise, und so auch im Auszug der Deutschen Kolonialzeitung: „Disraeli war ein Abravanel […] des 19. Jahrhunderts, ein Eingeweihter, ein Weiser von Zion. Von ihm sind viele zielsichere Suggestionen und Formulierungen ausgegangen, die von Nichtjuden gierig aufgesogen wurden.“ (1942, 67) 1954 entschärft Schmitt die verschwörungstheoretische Referenz an die sog. „Protokolle“ der „Weisen von Zion“. Nun heißt es: „Disraeli war ein Abravanel […] des 19. Jahrhunderts. Manches, was er über die Rasse als Schlüssel der Weltgeschichte und über Juden- und Christentum gesagt hat, ist von Nichtjuden und Nichtchristen eifrig propagiert worden.“ (Stuttgart 1954, 56; ebenso: Köln 1981, 95). An eine jüdische Weltverschwörung glaubte Schmitt unabhängig von der historischen Kontroverse um die Echtheit der Protokolle: „Denn Juden bleiben immer Juden. Während der Kommunist sich bessern und ändern kann. Das hat nichts mit nordischer Rasse usw. zu tun. Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind. Es hat gar keinen Zweck, die Parole der Weisen von Zion als falsch zu beweisen.“ (Schmitt 1991, 18)
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gesagt? Was man ‚Nihilismus‘ nennt, ist Verbrennung im Feuer. Der Drang, sich in Krematorien verbrennen zu lassen, ist ‚Nihilismus‘. Die Russen haben dieses Wort erfunden. Aus der Asche entsteht dann der Vogel Phönix, d. h. ein Reich der Luft.“ (Jünger 1999, 151)
Spricht Schmitt hier allgemein von der Feuerbestattung oder spielt er gar auf den Holocaust an? Zuvor stellte er gegenüber Jünger klar: „Die Luft ist übrigens nicht etwa durch die Luftwaffe und Flugzeuge als neues Element erschienen; das der Luftwaffe zugeordnete Element ist nicht die Luft sondern das Feuer.“ (Jünger 1999, 121) Der „große Vogel“ bleibt damals zweideutig: Ist er ein Bote der Vernichtung oder der Erlösung? Weil die Lage unklar ist und die Frage nach dem „neuen Nomos der Erde“ noch keine positive Antwort fand, bleibt auch das Bild von der neuen Herrschaft offen. Das mag ein Grund dafür sein, weshalb Schmitt in „Land und Meer“ zwar abermals ausführlich vom Walfisch erzählt, aber nur hypothetisch auf den „großen Vogel“ zu sprechen kommt, und weshalb er sein Büchlein auch nicht mit einer Visualisierung des „großen Vogels“ eröffnet, wie es nach seinen Auslegungen des Titelkupfers vom „Leviathan“ vielleicht nahe lag. In seinem Hobbes-Buch hatte er den „Fehlschlag“ des Symbols konstatiert. Ein solcher Fehlschlag drohte auch einer Visualisierung des Luftkriegs durch einen „großen Vogel“. In „Land und Meer“ meint Schmitt: Es liegt nahe „zu glauben, dass jetzt nicht nur eine neue dritte Dimension erreicht, sondern sogar ein drittes Element hinzugetreten ist, die Luft als ein neuer Elementarbereich menschlicher Existenz. Zu den beiden mythischen Tieren Leviathan und Behemoth würde dann noch ein drittes, ein großer Vogel, hinzutreten. Aber wir dürfen mit solchen folgenreichen Behauptungen nicht vorschnell umgehen. Denkt man nämlich daran, mit welchen technisch-maschinellen Mitteln und Energien die menschliche Macht im Luftraum ausgeübt wird, und stellt man sich die Explosionsmotoren vor, durch die die Luftmaschinen bewegt werden, so erscheint einem eher das Feuer als das hinzutretende, eigentlich neue Element menschlicher Aktivität.“ (Schmitt 1942a, 74f.)
Nicht zufällig spricht Schmitt damals in unterschiedlicher Weise von verschiedenen mythologischen Vögeln. Erwähnt er gegenüber Jünger die jüdische Überlieferung vom Vogel Ciz und das Kommen des Phönix’ und spricht er in der Kolonialzeitung imperialer vom Vogel Greif, so lässt er den Namen des kommenden „großen Vogels“ in „Land und Meer“ doch ganz offen. Der Vogel Greif, mit dem Körper eines Löwen, ist ein kluges Fabeltier der Vernichtung, das im Mittelalter auch als Symbol für Christus stand. „Christus ist Löwe, weil er herrscht und die Kraft besitzt: Adler, weil er nach der Auferstehung in den Himmel steigt“ (Isidor von Sevilla).16 Der Phönix17 (Abbildung 3) dagegen verkörpert mehr den Aspekt der Auferstehung als den der gewaltigen Herrschaft. An der entscheidenden Stelle in „Land und Meer“ legt Schmitt 16 17
Angaben nach Duve 1997, 268f. Duve 1997, 509f.
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Abb. 3. Joost van den Vondel, Der Vogel Phoenix
sich nicht fest, sondern lässt die Frage nach der kommenden Herrschaft offen und spricht weder den Aspekt der Gewalt noch den des Heils mythologisch an. Damit meidet er hier, am „exoterischen“ Ort, die politisch-theologische Stellungnahme. Dennoch signalisiert er, wie stets, Aussicht auf Zukunft, auf einen neuen „Nomos der Erde“: „Auch hier sind Götter und walten, / Groß ist ihr Maß.“ (Schmitt 1942a, 76) Bildliche Darstellungen spielen in Schmitts Publikationen, wie angedeutet, kaum eine Rolle.18 Er sah in der Visualisierung nämlich nicht nur einen bibliophilen Schmuck, sondern auch eine „ideelle Gefahr“. Erst die Neuausgabe von 1982 zum Hobbes-Buch bringt ein Bild auf dem Schutzumschlag: eine alte Radierung „Der angespülte Fisch“ nach Hendrik Goltzius (Abbildung 4). Nimmt man ernst, welches Gewicht Schmitt solchen Darstellungen gab, so 18
Ausnahmen sind beispielsweise die Artikel „Beschleuniger wider Willen“ (Schmitt 1942b) und „Welt großartigster Spannung“ (Schmitt 1954b), bei denen die Bildauswahl aber evtl. auf die jeweilige Redaktion zurückging.
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Abb. 4. Hendrik Goltzius, Der angespülte Fisch; Buchumschlag
sucht er hier Hobbes’„Fehlgriff“ zu revidieren und den „Fehlschlag“ des politischen Symbols zu verwinden, indem er nun endlich die wirkliche Bedrohung durch das Seeungeheuer Leviathan zeigt. Der abgebildete kleine Wal wirkt aber reichlich niedlich und stellt für die Fischer keine Bedrohung dar. Dieses Ungeheuer ist schon geschlachtet. So sah Schmitt auch die Lage des modernen Staates. Ernst Jünger, ein letzter Dichter und Sammler, pflegte engen Umgang mit Tieren. Für seine Entwicklung vom „Stoßtruppführer“ zum „subtilen“ Jäger ließe sich psychologisch von „Sublimierung“ sprechen. Schmitt mokierte sich nach 1945 über Jüngers „subtile Jagden“ immer wieder und las den Abstand des Menschen vom Tier theologisch. Früh schon wies er auf die „ideelle Gefahr“ hin, die vom „Pluralismus“ politischer Mythen ausging (Schmitt 1926, 89): die Gefahr einer Übersetzung des politischen Mythos in den theologischen „Polytheismus“. Politisch schätzte er zwar Mythen als „Grundlage einer neuen Autorität, eines neuen Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hierarchie“ (Schmitt 1926, 89); theologisch aber fürchtete er eine Schwächung des Monotheismus durch politische Mythologie.19 So grenzte Schmitt im „Glossarium“ das Christentum auch vom Naturzustand bei Hobbes ab:
19
Dagegen Marquard 1991.
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„Geheimnisvolle Grausamkeit dieser Mysterienwelt. Der Etat d’esprit grausamer noch als der Etat de nature des Hobbes. Hier tötet der Sohn den Vater, das Junge tötet das Alte; Zeus tötet den Chronos; Chronos den Uranos. Der ewige, biologisch selbstverständliche Vorgang spiegelt sich in den Mysterien. Diese enthüllen, verhüllend, nur den Kern der Dinge. Dem gegenüber ist die Vater-Religion des Christentums die wahre Friedensreligion: Bleiben im Vaterhaus; Rückkehr des verlorenen Sohnes; Himmelfahrt Christi; Christus selbst ist der verlorene Sohn. Es ist aber nicht davon die Rede, dass der verlorene Sohn einige Kumpane seines Luderdaseins mit nach Hause nahm. Wie soll nun der edle verlorene Sohn einen von uns mitnehmen zum Vater? Kehren wir also zur Natur zurück!“ (Schmitt 1991, 148)
Schmitt verwarf diese Folgerung, las das Erlösungsgeschehen aber seinerseits undogmatisch als einen politischen Mythos. Einerseits betonte er den Unterschied des Christentums zur höllischen „Mysterienwelt“; andererseits aktualisierte er die biblische Geschichte sehr eigenwillig. Brechen wir hier ab. Es ging nicht um die moralische Integrität von Schmitts Spätwerk, sondern um die Klärung seiner Perspektive. Dabei wurde gezeigt, dass Schmitt zwischen einem historisch-analytischen und einem existentialphilosophischen Zugang pendelte. Methodisch ist es sinnvoll, derart die Betrachtungsweisen zu wechseln und über die historische Analyse nicht die philosophischen Fragen zu vergessen, die die normative Wertung begründen. Schmitt legte sich nicht auf eine Betrachtungsweise fest; er argumentierte nicht einseitig als Historiker, Jurist oder Philosoph, sondern verwies aus der Perspektive des Individuums, das sich normativ verstehen will, auf das „Existential“ steter Abgrenzung und Feindbestimmung im Identitätsprozess und leuchtete dabei die historisch-politischen Kontexte aus, in denen Identität sich bildet. Er verwies auf das Problem einer Fixierung der menschlichen „Gestalt“ und eines humanen „Maßes“ in der geschichtlichen Dynamik und sah die menschliche Rationalität und Reflexivität dabei als einen Faktor der Dynamisierung an. Das Existential der Feindschaft gründete er letztlich in der „exzentrischen Positionalität“ und Rationalität des Menschen. Der Briefwechsel mit Jünger illustriert diese Suche nach „Maß“ und „Gestalt“ im Spiegel der Kunst. Bilder vom Feind sind stets doppeldeutig: Stabilisieren sie auch die menschliche Identität, wirken sie doch zugleich handlungsleitend und konfliktverschärfend.
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Amnestie und Vergebung. Für eine Trennung von Ethik und Politik barbara cassin „How to turn human wrongs into human rights“ (anonymes Graffito)
Trennung und Vermischung Ich möchte mit einem Satz beginnen, dessen Sinn zu ergründen ich einfach nicht müde werde, einen Satz von Plutarch, der ein Gesetz Solons kommentiert, welches verbietet, schlecht über die Toten zu reden: „Es ist etwas Politisches, dem Hass seine Dauer zu nehmen“ (Leben des Solon, 21). Der Hass und das Böse, genauer: eine Inszenierung des Hasses durch ein Reden, ein Schlecht-Reden, ist, versteht man den Satz recht, nicht etwas Ethisches, sondern etwas Politisches. Der Film von André Van In über die „Wahrheits- und Versöhnungskommission“1 schildert in der ersten Szene die Ermordung eines gewissen Mbeki. Die Kommissionsbeauftragte Yasmin Sooka leitet die Verhandlung. Die Mutter und die Witwe bezeugen, was sie gesehen haben: Leichenteile von Mbeki überall in der Garage. Die Witwe sagt schließlich: „Wie könnte ich diesem grausamen Mörder vergeben?“ Yasmin Sooka antwortet sehr leise etwa folgendermaßen: „Diese Leute fordern zwar die Amnestie, aber Sie sind nicht verpflichtet, Ihnen zu vergeben“. Sie sind keineswegs verpflichtet, ihnen zu verzeihen, wir aber, wir werden sie begnadigen. Von dieser Entkoppelung von Vergebung und Amnestie möchte ich ausgehen, weil sie in meiner Sicht trotz aller Theatralik eines der außergewöhnlichsten Merkmale der „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ darstellt. Sie führt uns mitten in das Problemfeld, an die Grenzlinie zwischen Ethischem und Politischem, der ich zu folgen versuchen möchte.
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Dieser Film Die Wahrheitskommission, der durch seine Schlichtheit und sein Verständnis der Tatsachen beeindruckt, wurde von André Van In am 11. Juni 2003 im Saal Dussan in der Ecole Normale Supérieure gezeigt; einige Szenen wurden am 13. Juni kommentiert, namentlich von Alain Badiou und Antoine Garapon, aber auch von Ilan Lax, Yasmin Sooka, Charles Villa-Vicencio, selbst „Schauspieler“ in diesem Film.
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Diese Trennung ist tatsächlich vom Gesetz her für die Kommission vorgeschrieben. Das für die Kommission bestimmende Gesetz verzichtet auf moralische Unterscheidung. Ich zitiere Paragraph 52 der Vorrede von Desmond Tutu: „Wir sagen nicht, dass bestimmte Taten moralisch gerechtfertigt sind und andere nicht. Der Artikel des Gesetzes über schwere Verletzung der Menschenrechte trifft keine moralische Unterscheidung. It does not deal with morality, it deals with legality. [Es handelt nicht von Moral, es handelt von Legalität]. Eine schwere Verletzung ist eine schwere Verletzung, gleichgültig, welche Person sie begeht, und aus welchem Grund sie begangen wird. Alle perpetrators [Kriminelle] sind gleich vor dem Gesetz“.2 Vor dem Gesetz gibt es keinen Unterschied zwischen den Verfechtern der Apartheid und den Oppositionellen des ANC; denn das Gesetz befaßt sich nicht mit Moral, sondern mit Legalität. Aber diese Trennung von Moral und Legalität läßt sich nur schwer aufrechterhalten. Fortgesetzt dringt die Moral in den Bericht der Kommission ein und, mit der Moral, die Religion. Die Kommission wirkt in ihren Fällen, ihrer Funktionsweise, ihren Wirkungen wie ein juristisch-politisch-ethischreligiöses Konglomerat. Alles in dem Bericht bestätigt dies, angefangen bei der Häufigkeit des Begriffspaares politically and morally responsible, oder accountable, dem man überall im Zusammenhang mit den perpetrators begegnet (zum Beispiel in Bezug auf Winnie Mandela, den Pan African Congress, die Inkatha Freedom Party) bis hin zur Person von Desmond Tutu selbst, dem Vorsitzenden der Kommission und anglikanischem Erzbischof, der ein Buch schrieb mit dem Titel Keine Zukunft ohne Vergebung (Albin-Michell 1999). Die Begriffsverwirrung wird ganz deutlich in der Festlegung der Aufgaben durch die Kommission selbst. „Die allererste und wesentliche Aufgabe der Kommission besteht darin, die moralischen, politischen und rechtlichen Folgen der Apartheid“ (II, § 65) zu untersuchen. Dieses Vorgehen soll lediglich die Möglichkeit schaffen, to deal with, to come to terms with, sich mit der Vergangenheit und Geschichte Südafrikas „zu befassen“ und sie „auf sich zu nehmen“. Diese Verwischung der Grenzen zeigt sich in Kapitel V des Berichts mit dem Titel „Versöhnung“ in einem Unterabschnitt, der wirklich äußerst knapp und unklar ist und von der Reconciliation without forgiveness handelt [Versöhnung ohne Vergebung]. Dort liest man, dass diese „schwache und begrenzte Form der Vergebung zuweilen das realistischste Ziel ist, zumindest zu Beginn des Friedensprozesses“ (V, § 94). Dann folgen zwei knappe Zeugnisse von Versöhnung ohne Entschuldigung und ohne Vergebung, die zu tun haben mit black on black violence in den townships. Sie enden mit dem Satz: „ Alles wie gehabt“. 2
Ich werde die „Vorrede“ des Berichts der Kommission (1998) zitieren, erschienen unter dem Namen von Desmond Tutu, wie sie seinerzeit in der überregionalen Presse erschien, wobei ich ab jetzt lediglich die Nummer des Paragraphen angebe und den Bericht selbst mit der Angabe des Kapitels und des Paragraphen. Es ist das Resümee, das das Wesentliche enthält.
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Das Ende dieses Kapitels V liefert die Gesamtzusammenfassung des Berichts (V, § 150 und 151): „Die Versöhnung schließt nicht notwendigerweise die Vergebung ein; dies bedeutet ein Minimum an Willen, miteinander zu koexistieren und an der friedlichen Bewältigung der bestehenden Differenzen mitzuarbeiten“. „Die Versöhnung erfordert es, dass alle Südafrikaner die moralische und politische Verantwortung für die Entwicklung einer Kultur der Menschenrechte übernehmen“. Ich weise hin auf das beständige Oszillieren: einerseits Betonung der Begriffstrennung, andererseits immer wieder das Symptom der Überschneidung. Die Konfusion der Begriffsbereiche geht „rechtlich“ an der Sache vorbei; denn die Kommission does not deal with morality, sondern with legality. Der Hauptgrund für diese Konfusion liegt allerdings im Wesenskern der Apartheid selbst. Tatsächlich ist die Apartheid ein Verbrechen gegen die Menschheit (Entschließung der UNO von November 1973), und die Kommission übernimmt in dieser Hinsicht lediglich die internationale Auffassung (II, § 71). Nun aber sind die Verbrechen gegen die Menschheit, um den Titel des Werkes von Antoine Garapon zu zitieren, der seinerseits einen Satz von Hannah Arendt aufnimmt, „Verbrechen, die man weder bestrafen noch vergeben kann“: nicht „vergeben“, nicht aber nicht „amnestieren“ kann; es sind per definitionem in vollkommener Begriffsvermischung und Zirkularität gleichzeitig rechtswidrige und unmoralische Taten. Desmond Tutu spricht von der „Immoralität der Apartheid, die dazu beigetragen hat, dass die moralischen Werte untergingen“ (§ 70). Nachdem er darauf hingewiesen hat, dass die Apartheid als eine „Häresie“ und „Sünde“ verurteilt worden sei, liefert er den Beweis, dass die Trennung Moral/Legalität seiner Meinung nach unhaltbar ist. Unmittelbar nachdem er auf diese Trennung, die für die Kommission bestimmend ist, aufmerksam gemacht hat, ergreift er das Wort in eigenem Namen: „I cannot be asked to be neutral [man kann nicht von mir verlangen, dass ich neutral bin]. Sie ist ein zutiefst bösartiges System [evil, nicht aber wrong oder bad]“. Die Apartheid ist nicht einfach ein Unrecht, ein Irrtum, der strafbare Handlungen und Verbrechen erzeugt, oder ein schlechtes, weil dysfunktionales System, wie einige Anhörungen, unter anderem die von De Klerk, glauben machen wollten. Sie ist vielmehr das Böse (evil). Hier haben wir es unmittelbar mit Moral zu tun. Es liegt daher im Wesen dieser Vergangenheit, die die Apartheid darstellt, begründet, dass man im Angesicht der durch die Kommission vertretenen Legalität die Karten zwischen Politik und Moral mischt und dadurch dazu verleitet wird, die Rangordnung von Amnestie und Vergebung durcheinander zu werfen. Was ich meinerseits dagegen versuchen möchte, ist, in diesem Wirrwarr den Faden des rein Politischen herauszufinden. Im Gegensatz zu den Behauptungen, die man immer wieder hört, bin ich der Meinung, dass die Trennung von Ethik und Politik, und das heißt, ihre scharfe Abgrenzung, eine weitaus geringere Gefahr darstellt als ihre Vermischung. So ist der Begriff des „ge-
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rechten Krieges“ nie so grauenhaft wie in dem Fall, in welchem man ihn zu einem politisch-moralischen Begriffspaar macht, wobei dann das Ethische dazu herhält, als Alibi für das Politische zu dienen. Zum Beispiel spricht ein Vergleich zwischen der behutsamen Verwendung des Begriffs „gerechter Krieg“ in dem Bericht der Kommission mit der berühmten Rede von Bush vom 12. September 2001 für eine Abgrenzung. Bush: „Amerika ist einig. Die freiheitsliebenden Nationen stehen auf unserer Seite. Es wird ein gigantischer Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Aber das Gute wird siegen. Danke“. Dem folgte am 14. September: „Unser Gegenschlag muß vernichtend, von Dauer und wirksam sein“. Ganz anders ist die Haltung der Kommission, wenn sie den „gerechten Krieg“ beurteilt, den die Aktivisten der Anti-Apartheid geführt haben (also gegen das „Verbrechen gegen die Menschheit“). Sie nimmt die Formulierungen der Genfer Konvention auf – ein gerechter Krieg setzt sich ein gerechtes Ziel, das mit gerechten Mitteln erreicht werden soll –, in denen „gerecht“ auf einer rechtlichen Definition der Menschenrechte basiert: „Ein gerechter Krieg rechtfertigt nicht schwere Verletzungen der Menschenrechte bei der Verfolgung eines gerechten Zieles“, oder: „killing [Töten] ist die extremste Verletzung der Menschenrechte“ (II, § 71 und 83). In diesem Zusammenhang begreift man, warum in der Sicht der Kommission auch die Verfechter einer gerechten Sache um Amnestie ersuchen oder verurteilt werden müssen. Andererseits begreift man, dass in der Sicht der Großmacht das Ziel „null Tote“ nicht eine Wunschvorstellung von Spitzentechnikern ist, sondern eine Forderung, die allerdings unerfüllbar bleibt, um einen gerechten Krieg führen zu können. Politik und Ethik können offensichtlich das gleiche Ziel anstreben – „gut leben“ sagte Aristoteles, doch die Politik ist ein strukturiertes Gebilde, die Ethik aber nicht, was die gemeinsame Welt anlangt.3 Ich würde gerne den Versuch machen, ein Bild von der Kommission zu entwerfen, indem ich sie, politisch gesehen, mit griechischen Augen betrachte, das heißt: mit einem aristotelischen Blick auf die Politik und, noch genauer: in der sophistischen Variante Griechenlands, so wie sie unmittelbar in der Politik des Aristoteles wirksam ist als faszinierender Gegenpol zu den Dialogen Platons. In dieser Sicht und unter diesem Blickwinkel möchte ich kurz auf die historischen Vorgaben eingehen.
Rückblick: der Augenblick des Verhandlungsbeginns Die politische Konstellation bietet einen nur äußerst begrenzten Handlungsspielraum: 1993 wird in den Sunset Clauses in der Postambel der neuen Übergangsverfassung das zukünftige Parlament dazu verpflichtet, auf die nationa3
Vgl. Nikomachische Ethik, I, 1, 1094 a 25–30.
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le Versöhnung hinzuwirken. An folgendem Punkt setzt der deal ein: „Wie kann vernünftiger Weise ein friedlicher Übergang von der Repression zur Demokratie sicher gestellt werden?“, oder, anders ausgedrückt: wie kann das „Blutbad“, das alle Welt voraussagte, verhindert werden? Die Antwort lautete: eine Verhandlungslösung anstreben, auf „das Wunder einer Verhandlungslösung“ setzen (§ 22). Die Verhandlung beginnt mit der Wahl des richtigen Zeitpunkts. Diese Wahl ist als solche höchst politisch. Sie stellt unter Umständen einen politischen Fehler dar, stellt aber auf jeden Fall eine Entscheidung dar, die unter politischen Gesichtspunkten getroffen wird. Der richtige Zeitpunkt schließt im vorliegenden Fall die Option Nürnberg aus: eine Siegerjustiz kommt nicht in Frage, da es noch keinen Sieger und noch keinen Besiegten gibt (§21). Anders gewendet: dieser richtige Zeitpunkt und die Wahl des Zeitpunktes entscheiden gleichzeitig über eine wiederherstellende Gerechtigkeit. Der Bericht stellt ganz konkret die Frage, was getan werden muss, um den Ablauf der ersten allgemeinen demokratischen Wahlen (also: ein Wähler, eine Stimme) und der darauf folgenden Kommissionssitzungen abzusichern, das heißt, gleichzeitig die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn die unmittelbare Folge dieser Wahlen und Sitzungen darin besteht, diejenigen Ordnungskräfte zu richten und zu verurteilen, die allein in der Lage sind, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. „Es kann gar kein Zweifel daran bestehen“, sagte Tutu,„dass die Sicherheitskräfte die Verhandlungslösung sabotiert hätten“, wenn es keine Amnestie gegeben hätte. Dass der deal, das negotiated settlement notwendig war, ist auf eine doppelte Möglichkeit der Erpressung zurückzuführen: „Ich habe dich in der Hand, und du hälst mich am Schlafittchen“. Die noch nicht besiegt wurden, fordern Amnestie. Die noch nicht Sieger sind, können nicht umhin, sie den anderen zu gewähren. Man kann die Wahl des richtigen Zeitpunktes in Zweifel ziehen – man hätte den Kampf ja fortführen können – hält man sich indessen daran, sind die gesetzlichen Bedingungen für die Amnestie, politisch betrachtet, meiner Meinung nach ausgezeichnet.
Die Bedingungen für die Amnestie: ein weiterer Handlungsspielraum Die Amnestiebedingungen sind im Gesetz vom Juli 1995 festgelegt, durch das die Kommission eingesetzt wurde. Zuallererst wird eine blanket amnesty, eine Amnestie der „Decke“, also eine generelle Amnestie, abgelehnt, wie sie gleichermaßen von den Kräften der Apartheid und vom ANC gefordert wurde. Dies bedeutet indessen, selbst wenn von personal amnesty die Rede ist, keinen Rückgriff auf die Amnestie ad personam. Tatsächlich wird nicht der Einzelne amnestiert, sondern die Tat selbst, und zwar jede für sich. Es handelt sich um eine Gerechtigkeit „bit by bit [Stück für
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Stück]“, wie Tina Rosenberg sich ausdrückt, die Charles Villa-Vicenzio4 zitiert. Es geht also weder um eine generelle noch um eine Amnestie für den Einzelnen, sondern um eine Amnestie für das Konkret-Besondere. Das Besondere ist und bleibt also die Richtschnur für die Kommission. Darum genau geht es in der Politik: es geht in ihr weder um das Singuläre noch um das Universelle, sondern um das Konkret-Besondere. Es lässt sich zunächst festellen, dass das Gesetz (Abschnitt 20) von „Unterlassung oder Gesetzesübertretung“ spricht. Für eine Unterlassung kann es eine Amnestie geben: es gibt Gesetzesübertretungen und Verbrechen der Unterlassung. Eine der Grundvoraussetzungen des Gesetzes besteht darin, dass es keinen Mitläufer der Apartheid, keinen bystander gibt: niemand kann einfach behaupten, er habe nichts gewusst – erst recht nicht nach der Kommission. Die beiden gesetzlichen Voraussetzungen dafür, dass für eine Tat Amnestie gewährt wird, sind folgende: 1) es muß eine Tat, eine Unterlassung oder eine Übertretung sein, „die in Verbindung mit einem politischen Ziel [associated with a political objective] im Zusammenhang mit den Konflikten der Vergangenheit“ zwischen dem 1. März 1960 und dem firm cut-off date des 10. Mai 1994 steht, 2) wer Amnestie beantragt, „muss eine vollständige Offenlegung [full disclosure] aller relevanten Fakten bringen“. Beide Bedingungen implizieren, dass die Kommission ihrerseits aus zwei Gründen die Amnestie ablehnen kann. Sie kann zu dem Schluss kommen, dass die Tat nicht politisch motiviert war. Und sie kann zu dem Schluss kommen, dass keine full disclosure stattgefunden hat. Es scheint, als sei hier der Handlungsspielraum sehr gering, er ist aber beachtlich im Verhältnis zu einer im Vorhinein gewährten generellen Amnestie. Dies soll im Folgenden genauer untersucht werden.
„Associated with a polical objective“ Zur ersten Bedingung: die Tat muss „im Zusammenhang mit einem politischen Ziel“ stehen (Abschnitt 20, § 1b des Gesetzes, der in § 3 dahingehend präzisiert wird, dass die „Tat, die im Zusammenhang mit einem politischen Ziel“ steht, „auf Anraten geschah, geplant wurde, einer Führung oder einem Befehl unterstand oder im Auftrag begangen wurde“). Ronald Slye behandelt in seiner Untersuchung „Justice and Amnesty“5 ausführlicher eine Reihe von Beschlüssen – über Gewährung oder Ablehnung der Amnestie –, die auf den ersten Blick inkohärent wirken. Es kam darauf an, zwischen allgemeinem Recht und Politik zu unterscheiden (grosso modo durch Anwendung des Auslieferungsrechts): die meisten Gefangenen waren tatsächlich eifrig bemüht, eine Amnestie zu beantragen, was für sich bereits den geringen Prozentsatz in 4 5
Villa-Vicencio 2000, 75. In: Villa-Vicencio/Verwoerd 2000, 174–183.
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letzter Instanz gewährter Amnestien erklärt. Von daher wurde eine „Person, die im Namen einer politischen Ideologie getötet oder gefoltert hat, derjenigen vorgezogen, die identische oder geringere Verbrechen aus nicht-politischen Beweggründen begangen hat“ (S. 181). Anders ausgedrückt: um Amnestie zu erlangen, muss man zu einer „well established political organization“ gehören oder im Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten in der Hierarchie des Staates handeln, in dessen Dienst man steht. Amnestie wird also nicht allein gewährt, sondern umfassend gewährt, wenn es um die Ausführung eines Befehls geht. Diese erste Bedingung steht in vollem Widerspruch zu der Option Nürnberg (man denke nur an „Eichmann, einen Experten“) und entspricht dem Gesetz über den Befehlsnotstand, das in Argentinien derart in Verruf geriet. Der Sinn dieser Bedingung ist nach meiner Meinung folgender: es gibt keine politische „Idiotie“. Aber bei der Amnestie geht es um Politik. Das Verbrechen gegen die Menschheit hat nichts zu tun mit der Moral Kants – Autonomie des Subjekts und Universalität des moralischen Gesetzes – sondern mit der aristotelischen Politik; denn es gibt kein politisches Einzelgängertum: es geht immer um ein „Wir“, eine weness, um Pluralitäten, Gemeinschaften, Gemeinsamkeit. Der private Mensch ist nicht politisch; ebenso hat keiner das Recht, sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen, selbst dann nicht, wenn er sich zurecht gegen Inhumanität auflehnt. Die erste Bedingung beleuchtet, auch wenn sie vielschichtig und in den Auswirkungen ihrer Anwendung widersprüchlich ist, zumindest ganz klar die Abgrenzung von Politik und Moral.
„Full disclosure“ Die zweite Bedingung ist die full disclosure, die vollständige Enthüllung (Abschnitt 20, §1 c des Gesetzes). Diese Bedingung ist philosophisch beeindruckend, oder: beeindruckend für einen Philosophen. Sie ähnelt einer Übertragung des griechisch-heideggerschen Verständnisses von Wahrheit ins Politische: aletheia, Unverborgenheit, Offenlegung, Enthüllung, „außerhalb des Vergessens“, wie Mallarmé in Crise de vers sagte. Sie hat zwei Hauptmerkmale. Zunächst ist sie das Kernstück des deals mit der Vergangenheit: dealing with the past means knowing what happend (§ 28), „sich mit der Vergangenheit befassen“ und das heißt: wissen, was geschehen ist trotz der unauffindbaren Körper und tonnenweise vernichteter Archive. Von daher gelangt man zu der einzigartigen und hervorragenden Definition von Amnestie: „Freiheit für Wahrheit“ (Freedom was granted in exchange of truth“, § 29). Die eigene Freiheit des Täters wird gewährt im Austausch gegen die Wahrheit, die mitgeteilt, vergemeinschaftet, der Gemeinschaft zugänglich gemacht wird, von ihr oder den Gemeinschaften angeeignet werden kann, aus denen sich die große Gemeinschaft des Regenbogenvolkes zusammensetzt.
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Ein solches Vorgehen nutzt tatsächlich optimal den äußerst beschränkten Handlungsspielraum, der der Kommission zur Verfügung steht. Es ermöglicht in zweifacher Hinsicht ein Verfahren der Umwandlung, auf das ich nunmehr näher eingehen will.
„How to turn human wrongs into human rights“: die zweifache metabole Aus den Bestimmungen des Amnestiegesetzes ergibt sich die Antwort oder ein Teil der Antwort auf das unübersetzbare Graffito, das, abwechselnd in Schwarz und Weiß, auf der Mauer des Hauses von Desmond Tutu in Kapstadt stand: How to turn human wrongs into human rights. Dieses Verfahren bewirkt, dass man vom Bösen zum Guten gelangt, das heißt: vom Verbrechen zum Wissen, durch das die Wunden der Vergangenheit geheilt und die Zukunft aufgebaut werden kann. Andererseits stößt man vom Einzelfall zum Kollektiven, zum Gemeinsamen vor. Die einfache Anwendung eines gesetzlichen Verfahrens bewirkt so die radikale Verwandlung der bösen Tat eines Einzelnen in ein politisches Gut. Man kann sehr wohl von metanoia sprechen – ja, man muss es – das heißt: von Sinnesänderung, von Reue (metanoia: man ändert seinen nous, seinen Sinn; es findet eine „Umkehr“ in ethisch-religiösem Sinn des Begriffs statt). Doch ich bin der Meinung, dass man auch, oder vielmehr zuallererst davon sprechen sollte, was Protagoras die metabasis oder metabole, den Übergang von einem Zustand in einen anderen, die Transformation eines weniger guten in einen besseren Zustand nannte. Der gleiche Unterschied wie zwischen metanoia und metabole, der subjektiven Sinnesänderung und objektiven Verwandlung der Zustände, lässt sich analog zwischen Vergebung und Amnestie, Ethik und Politik machen. Zur Verdeutlichung des Begriffs der metabole gibt es einen grundlegenden Text: die Apologie des Protagoras aus dem Munde von Sokrates im Theätet von Platon (166–167). Ich gehe kurz auf den Kontext ein. Der Theätet ist ein Dialog „über das Wissen“. Der Satz des Protagoras „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ durchzieht den Dialog. Er verbietet die Objektivität des Wissens, also der Wissenschaft. Sokrates macht sich zunächst lustig über sie: wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, warum hast du dann, Protagoras, nicht gesagt, dass das Schwein oder der Pavian das Maß aller Dinge ist? Er nimmt sich dann aber selbst in die Kritik. Protagoras hätte, sagt Sokrates an seiner Stelle, sofort eingewandt, dass Relativismus weder Rationalismus noch Subjektivismus noch Willkür impliziere. Er ist vielmehr die vernunftgemäße und objektivierbare Entscheidung für ein Besseres, eine genuin politische Entscheidung:
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„Man muss die Transformation eines Zustandes oder eines Befindens in einen anderen bewirken [metableteon d’epi thatera], denn der eine Zustand ist besser als der andere [ameinon gar he hetera hexis]. Genauso muß man zum Beispiel in der Erziehung [en tei paideiai] einen Wechsel von dem einen zu dem besseren Zustand bewirken [epi ten ameinoi]; der Arzt nun erreicht dies durch Arzneien [pharmakois], der Sophist durch Reden [logois]“ (Theätet, 167a).
In diesem Sinne muss man verstehen, was zuweilen nicht ohne Herablassung „Gerechtigkeit des Übergangs“ genannt wird, die Versöhnung zum Ziel hat im Unterschied zur „gerechten“ Gerechtigkeit, also der strafenden Gerechtigkeit. Der Übergang ist eben jene Transformation „von einem weniger guten in einen besseren Zustand“: er verwandelt wrong in right und das Singuläre des geheimen Schreckens in ein Kollektives, das gemeinsam wieder angenommen und wieder versöhnt werden kann.
Die politische Natur der Wahrheit Wenn man die Verteidigung des Amnestieverfahrens durch Protagoras weiter verfolgt, ergeben sich weitere aufschlussreiche Berührungspunkte. Der erste besteht in der politischen Definition, ja der politischen Natur der Wahrheit. Die Wahrheit der Kommission „Wahrheit und Versöhnung“ ist keine Wahrheit ihrem Ursprung nach, sondern eine Wahrheit, die sich vom Ergebnis her bestimmt. Sie ist nicht je schon vorhanden im Unterschied zur heideggerschen aletheia, die nur zu erscheinen braucht, sie ist vielmehr an eine Konstellation, an ein Verfahren des Konstruierens gebunden. Gelegenheit, Gunst der Stunde: der richtige Zeitpunkt des Verhandelns und, ihm folgend: der Augenblick des Umschwungs, den die Amnestie bewirkt, ist nichts anderes als das, was die Griechen kairos nannten, ein Spalt in der linearen und räumlichen Zeit, in der kein Panzer Schutz bietet, das Körpergerüst bloßliegt, eine Öffnung zwischen Kette und Schuss, wo der Schütze beim Weben durchschießt, kurz: ein unwägbarer Zeitpunkt der Heterogenität, die man zu nutzen verstehen muss – und wo Protagoras in Theorie und Praxis ein Meister war.6 Diese günstige Wahrheit ist eine konstruierte Wahrheit. Die Kommission hat mit vier Wahrheitsbegriffen gearbeitet, die im Übrigen aus der Rhetorik stammen:7 1. die faktische oder forensische Wahrheit des Tribunals, auf die sich die Amnestie stützt, 2. die persönliche und narrative Wahrheit der Anhörungen und Berichte, 3. die soziale Wahrheit, eine Wahrheit des Dialogs, an der perpetrators und Opfer gemeinsam teilhaben, 4. die heilende (healing) Wahrheit, die Wahrheit der wieder gut machenden Gerechtigkeit, die das 6 7
Vgl. dazu Onians 1999, Kapitel 3; Cassin 1995, 460–470. Vgl. den vollständigen Bericht, TRC Report, vol. I, Kapitel 5, §§ 29–45.
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Fundament für die rainbow nation bildet. Dies sind die Phasen oder die Grundrisse für die Konstruktion einer effizienten Wahrheit, die Schluss macht mit der simplifizierenden Unterscheidung von subjektiver, „falscher“, und objektiver,„richtiger“ Wahrheit. Diese Ergebnis-Wahrheit ist streng durch ihre Wirkung definiert, durch das Ergebnis, das sie bewirkt: es ist eine Wahrheit, die genügt, um einen Konsens über die Vergangenheit herzustellen, sonst nichts: „We believe we have provided enough of the truth about our past for there to be a consensus about it“ (§ 70),„genügend Wahrheit für“. Es ist keine ontologische Wahrheit; denn es ist eine Wahrheit im Nachhinein. Es ist ebenso wenig eine epistemologische Wahrheit, weil sie „multidimensional“ und „pluralisch“ ist, ebenso wenig aber eine historische Wahrheit: „Es ist nicht die Aufgabe der Kommission, die Geschichte dieses Landes zu schreiben“ (II, § 162). Es ist eine politische Wahrheit: sie ist nicht singulär, lediglich relativ, nicht universal, gültig für alle und für allezeit, sondern eine „besondere“ Wahrheit, die auf dem Konsens in einem bestimmten Augenblick einer Gemeinschaft beruht, zu deren Entstehung sie beiträgt – ich möchte erneut den Akzent auf diese politische Dimension des Besonderen legen, die sich unterscheidet von dem individuellen ethischen Gewissen und dem Universalen, die vielmehr zwischen kantischer Gesetzgebung und der Allmacht westlicher Werte steht. Die Kommission spielt als prozesshafte Institution, welche die disclosure ins Werk setzt, die Rolle, die Protagoras dem sophistischen Arzt gibt. In der Apologie des Protagoras heißt es weiter (Theätet, 167a): „Der Arzt führt die Wende, die Transformation eines weniger guten in einen besseren Zustand durch Heilmittel herbei, der Sophist durch Reden. Aber keineswegs kann man jemanden, der Falsches meint, dazu bringen, dass er später Richtiges meint […] In meiner Sicht sind die einen Meinungen besser als die anderen, aber keineswegs wahrer [beltio men hetera ton heteron, alethestera de ouden].[…] Die weisen und guten Redner aber bewirken, dass ihnen die den Städten nützlichen Dinge richtiger erscheinen als die schädlichen [ta khresta anti ton poneron dikaia dokein einai poiein]. Denn was einer jeden Polis gerecht und gut erscheint, das ist es auch für sie, solange sie es so verfügt [nomizei] Aber der Weise bewirkt, dass statt der schädlichen Dinge die nützlichen gerecht und schön sind und erscheinen.“
Das Wahre ist das Wahrere, und das Wahrste ist das Beste, das heißt: das Beste für, das Nützlichste, das Nutzbarste (khresta, von khraomai, „sich bedienen“ gehört derselben Wortfamilie an wie kheir, die „Hand“ und wie khremata, die Reichtümer“). Kurz: die „Wahrheit“ der Kommission ist die „Versöhnung“.
Das Element der Sprache: von Aristoteles und Gorgias zu Austin und Freud Der zweite Berührungspunkt: die Sprache als Element im Sinne einer elementaren Kraft wie Wasser und Feuer. Der Wechsel von einem weniger guten
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zu einem besseren Zustand vollzieht sich im und durch das Reden. Die Kommission als sophistischer Arzt: dies gibt dem allgemeinen Charakter dieser Verbindung ihren vollen Sinn: „Rhetorik und Recht“. Folgende drei Aspekte sind unauflöslich miteinander verbunden: Sprache als gemeinsame Welt, in der sich das Politische jedes Menschen zeigt; Sprache als wirksame Kraft, als Performanz, Sprache als Therapie. Sprache als gemeinsame Welt verweist eindeutig auf Aristoteles und sein Nachwirken bei Hannah Arendt: „Der Mensch ist seiner Natur nach ein politisches Wesen, […] politischer als alle anderen Tiere, weil er das einzige Lebewesen ist, das logos besitzt“ (Politeia, V, 1, 1253a). Die Kommission ist aristotelisch in dem Sinne, dass sie alle, die vor ihr erscheinen, rehumanisiert, indem sie ihnen das Wort erteilt. Sie erteilt denen das Wort, die es nicht bekamen, den Opfern: es gilt, den „Pavianen“, den „Hunden“, die die Schwarzen während der Apartheid waren, wieder ein menschliches Antlitz zu geben (V, § 35). Ebenso gilt es, die perpetrators zu rehumanisieren, ihnen die Möglichkeit zu geben, durch das Wort „wieder menschlich zu werden“ (V, § 33). Schließlich gilt es, diejenigen zu rehumanisieren, die meinten, sie könnten beiseite stehen, ohne etwas zu wissen in einer bystander complicity von Mitläufern, die nichts mit alledem zu tun haben (II, § 188): die Reformierte Kirche von Stellenbosch zum Beispiel, die bekennt, dass „sie geschwiegen habe statt ihr Schweigen zu brechen (speak out)“ (V, § 55). Alle die, die sich so vor einander aussprechen, werden zu philoi, fellows. Doch die Kommission geht weiter hinsichtlich der eigentlichen Sophistik. Sie ist der Überzeugung, dass die Sprache Wirklichkeit konstruiert, dass sie Performanz ist.„Es ist gang und gäbe, unter Sprache nur Worte, aber nicht Taten zu sehen […]. Die Kommission möchte in dieser Hinsicht einen anderen Standpunkt einnehmen. Language, discourse and rhetoric, does things [Sprache, Diskurs und Rhetorik erzeugen Dinge]: Sprache entwirft soziale Kategorien, gibt Anordnungen, überredet, rechtfertigt, erklärt, begründet, entschuldigt. Sie konstruiert die Wirklichkeit. Sie setzt die einen gegen die anderen in Bewegung“ (III, § 124). Man kann gar nicht umhin, hier Parallelen zum Lobpreis der Helena zu ziehen, wie ihn Gorgias im 5. Jahrhundert vor Christus formulierte: „Die Rede ist ein machtvoller Herrscher, die mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper die göttlichsten Taten vollbringt. Denn sie vermag Angst zu nehmen, Schmerzen zu vertreiben, Freude zu erregen und das Mitleid zu verstärken …“ (82 B 11 D.K., § 8). Die Kommission steht, indem sie sich einer sakramentalen Sprache („Dies ist mein Leib“) bedient, auf diese Weise in direkter Verbindung zu der Geschichte des schöpferischen Bewusstseins von Gorgias bis Austin (How to do things with words?). Was die Sprache erschafft, ist die Wirklichkeit politischer Lebewesen, jener gemeinsamen Welt, die das Andere der Natur ist: Kultur, Politik, Künste, all das, was die Griechen paideia nannten.
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Und schließlich: Sprache heilt. Sie hat eine kathartische und therapeutische Wirkung. „Das Verhältnis zwischen der Macht der Rede und der Verfassung der Seele ist dasselbe wie zwischen dem der Heilmittel und der Natur der Körper. Ebenso wie das eine Heilmittel [pharmakon] dem Körper diesen und jenen Saft entzieht und die Krankheit zum Stillstand bringt, rauben andere Heilmittel ihm das Leben; so verhält es sich auch mit den Reden: einige betrüben, andere bezaubern, flößen Furcht ein, stärken den Mut der Zuhörerschaft, andere dagegen betören und verhexen seine Seele durch schlechte Überredung“ (Lobpreis der Helena, § 14). Wir wollen erneut die Heilmittellogik des Gorgias den Leitworten der Kommission annähern: „Revealing is healing“ auf den Aktendeckeln der Prozesse, die sie führt, „Healing our land“ auf den Hinweistafeln für die öffentlichen Sitzungen. Die Kommission verfolgt so den Weg diskursiver Therapie, die von der Sophistik bis zur Psychoanalyse reicht und sich in fast zwanghafter Metaphorik hinsichtlich der Apartheid ergeht als einer Krankheit des Gesellschaftskörpers mit Syndromen, Symptomen, Verletzungen, keimtötenden Mitteln, Medikamenten. Sprechen, reden, tell the story, tell your story, full disclosure sind die ständige Begleitmusik eines Unterfangens individueller und kollektiver Heilung („personal and national healing“, „Healing through truth telling“ V, § 5), bei dem die Wahrheit zum „Hauptingrediens des Antiseptikums der Gemeinschaft“ wird (V, § 12).
Der Bürgerkrieg der Worte Eine wichtige Folge dieses Sprachprinzips ist die Verantwortung gegenüber der Wortwahl. Im Kapitel „Vergewaltigungen“ äußert sich die Kommission über die Sicherheitskräfte folgendermaßen: „They failed to exercise proper care in the words they used“ [Sie ließen es an der angemessenen Wahl der Worte fehlen, die sie benutzten]“ (II, § 99). Oder wie der Psychologe de Ridder berichtet: Frühere Rekruten äußerten beharrlich und eindringlich, dass „die Gegenwart die Grundlagen der Bedeutung [the foundations of meaning] vernichtet habe, die es ihnen ermöglicht haben würde, mit ihrer traumatischen Erfahrung fertig zu werden“ (V, 26). Man kann dies mit Hilfe des Thukydides begreifen. Thukydides analysiert den Bürgerkrieg von Kerkyra (Korfu) mit den Worten, mit denen er die Pest von Athen beschreibt (3, 69–86, und 2, 47–53). Die Anomie im Bürgerkrieg ging, sagt Thukydides, so weit, dass man den normalen Gebrauch der Sprache veränderte: „Man änderte vollkommen den normalen Sinn der Worte bei der Rechtfertigung der Taten, die man begangen hatte“ (3,82). Es gibt so etwas wie den Bürgerkrieg der Worte, und die Apartheid hat den Sinn der Worte verändert. Sie nannte zum Beispiel unterschiedslos „Terroristen“ diejenigen, die
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sich terroristischer Akte schuldig gemacht hatten, wie die, welche mit legalen und friedlichen Mitteln gekämpft hatten (II, § 90). Ebenso erfand sie „eine einzige Kategorie von Menschen, die umgebracht werden müssten“ (II, § 90). Nannte man die Menschen bei ihrem richtigen Namen „friedliche Kämpfer in den Grenzen der Legalität“, erkannten die Rekruten ihre Tat nicht wieder. Kapitel V,„Versöhnung“, bringt eine subtile Analyse der diskursiven Strategien der Apartheid. Die Apartheid kriminalisierte politische Taten, das heißt: sie entpolitisierte sie, um sie unter das common law fallen lassen zu können (die allererste Bestimmung des Amnestiegesetzes verbot diese Willkür durch die strikte Vereinbarung über die Requisiten der „Politizität“ einer amnestierbaren Tat). Man sprach nicht von „Boykotteuren“ und „Demonstranten“, sondern von „Hooligans“ und „Gaunern“, nicht von Massenprotesten, sondern von Gräueltaten Einzelner – man denke daran, wie in Frankreich, mehr oder weniger in der gleichen Weise, kurz vor den Präsidentschaftswahlen zu wiederholten Malen die Reportage über den Rentner gebracht wurde, der in seinem Häuschen überfallen worden war. Es war tatsächlich „von allergrößter Bedeutung, den Opfern der Gewalt alle nur erdenkliche öffentliche Aufmerksamkeit zu schenken. Die menschliche Dimension muss als Hauptfaktor ins Spiel gebracht werden, um Mitgefühl und Verurteilung zu bewirken“ (V, § 20). Der Diskurs der Apartheid war folglich ein schlechtes Heilmittel, das nur einseitig das Element des Giftes im pharmakon anwandte:„Nach Meinung der Kommission war die Art von Rhetorik, die die Politiker und die Mitarbeiter der Sicherheitskräfte benutzten, reckless [unbedacht], inflammatory [provokatorisch] und verleitete zu illegalen Taten“ (II, § 90). Dies machte es ganz im Sinne des Euphemismus der „Endlösung“ den Verantwortlichen möglich zu behaupten, dass sie nie den Befehl zum Töten gegeben hätten: eliminieren, take out, wipe out, eradicate heißt nicht kill. Es habe nur misunderstanding, Übereifer, Pannen, Übellaunigkeit der Untergebenen gegeben. Worauf die Kommission erwiderte: „Man kann den Schluss ziehen, dass diese Worte dazu gemacht waren, um genau das zu sagen, was sie sagten [exactly what they said]“ (II, § 97). Und sie liefert das Gegengift mit der Definition des Rassismus, wie sie knapper und präziser nicht sein könnte: „Der Rassismus ist eine systematische ideologische Doktrin, die den „anderen“ als wesenhaft anders definiert. In Südafrika war dies das rhetorische Fundament von Apartheid und getrennter Entwicklung“ (II, § 83).8
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Der Bürgerkrieg der Worte ist in den Zeugenaussagen des Genozids in Rwanda sehr deutlich: „Ich muss eine ganz wichtige Beobachtung näher ausführen: der Genozid hat den Sinn bestimmter Worte in der Sprache derer, die entkamen, verändert; er hat rundweg anderen Worten ihren Sinn genommen, und wer zuhört, muss auf der Hut sein vor diesen Sinnverdrehungen“ (Zeugenaussage von Sophie Umubteyi, wiedergegeben bei Hatzfeld 2002, 209). Ich verweise vor allem auf Klemperer 1975.
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Das ironische Gerüst Der dritte Berührungspunkt mit Protagoras hat mit dem zu tun, was ich die Selbstblockierung der Amnestierung nennen möchte: das ironische Gerüst, in dem ein Sichherausreden unmöglich ist. In genauem Wortsinn liegt „Ironie“ vor, wenn beispielsweise in ein und demselben sokratischen Dialog der Antwortende die Rolle des Fragenden und der Fragende die Rolle des Antwortenden übernimmt. Genau dies geschieht in der Kommission. Die Amnestie funktioniert so, dass sie den perpetrator dazu verpflichtet, die Rolle der Staatsanwaltschaft oder der Anklage zu übernehmen. In einem normalen Prozess sagt der Angeklagte so wenig wie möglich aus. In der Kommission muss er so viel wie möglich aussagen: kraft der Bestimmung der full disclosure ist alles, was er nicht aussagt (und was zwangsläufig bekannt werden wird, weil alle das gleiche Interesse haben, auszusagen) nicht amnestierelevant. Die Kriminellen, ob zivile oder juristische Personen (Firmen, Universitäten, Zeitungen, Parteien), sind keine Angeklagten, die man vor die Gerichte zerrt und denen man Geständnisse entreißt, sondern Antragsteller, „Bittsteller“, die sich selbst stellen und deren Interesse darin besteht, alles zu sagen, die Wahrheit zu „enthüllen“. In diesem Zusammenhang benutzt die Kommission den Begriff „Ironie“ mit folgendem Sinn: „Die Kommission muss offen zugeben, dass ihr Erfolg zum großen Teil darauf zurückzuführen ist, dass die Sicherheitskräfte in großem Umfang die Möglichkeit der Amnestie im Tausch für die full disclosure genutzt haben. Tatsache ist, dass sie den Mantel des Schweigens vorgezogen hätten. Die Ironie der Wahrheit [the ironic truth] besteht aber darin, dass sie vor der Kommission um der Fülle der Enthüllungen willen erschienen [fullness of disclosures], die von einem Menschen kamen, der oft als Erz-Schuft der Apartheid, wie beispielsweise Herr Eugène de Kock, charakterisiert wurde (II, § 32). Ebenso erging es ihr bei den Schwierigkeiten, die sie mit dem Erlass Corbett hatte, der die Untersuchungsverfahren der Kommission an die der Strafverfahren angleichen wollte, indem er einen Apparat der Nachprüfung forderte (cross examinations, confrontations): Die beiden Antragsteller auf Amnestie, die anfangs die Kommission bei ihrer Arbeit gelähmt hatten, beantragten auf letztlich höchst ironische Weise Amnestie für eben jene Tat, deren Behandlung sie lange Zeit in der Kommission erfolgreich verhindert hatten, und zwar für die Ermordung des politischen Aktivisten Siphiwe Mthimkulu“ (II, § 51). Im Unterschied zu Nürnberg ist die Kommission nicht ein Tribunal: sie ist vielmehr souverän. Den Vorsitz hat nicht ein Richter inne, sondern ein Nobelpreisträger. Sie strengt keinen Prozess an, sie verhängt keine Strafen: sie hört Zeugenaussagen an und gewährt Amnestien. Die Kommission verfügt auch hier wieder über kein anderes Mittel als das agonistische Szenario, oder genauer: es bedient sich des Zen, der es möglich
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macht, die Kräfte des anderen zu eigenem Nutzen einzusetzen. Die full disclosure bezieht ihre Kraft aus der Kraft der perpetrators, die in Katastrophenstimmung endete, sich von Grund auf verwandelte und der Ironie preisgegeben war: ihr Interesse deckt sich mit dem der neuen Gemeinschaft, die sich zu bilden versucht. Durch ihre Enthüllungen, durch welche sich die gemeinsame Vergangenheit bildet, werden die perpetrators in gewisser Weise zu Gründungsvätern, die, im etymologischen Sinn, eigentlich Urheber, ja wie Väter Erzeuger von Verbrechen sind. Jean-François Lyotard nannte diese Umkehrung „die Stärke des Schwachen“, vorzüglich die der Sophistik, der Rhetorik, der Sprache.
Ein Szenario, bei dem ein Ausweichen vor den Augen des anderen unmöglich ist Ein solches Szenario macht seiner Struktur nach jedes Ausweichen unmöglich. Einen Fluchtweg gibt es nicht: selbst wer dagegen ist, ist dafür. Dies entspricht genau der Definition des Politischen im Protagoras des Platon, nicht dagegen im Theätet. Im Mythos des Protagoras stattet Epimetheus, der Nicht-Vorausschauende, jedes Tier mit einer Eigenschaft aus, die ihm das Überleben ermöglicht; für die Menschen bleibt nichts. Um seinem Bruder beizustehen, stiehlt Prometheus bei den Göttern mit dem Feuer entekhnon sophia sun puri, handwerkliches Wissen, technische Intelligenz. Doch die auf diese Weise ausgestatteten Menschen überleben dennoch nicht: entweder zerstreuen sie sich oder lassen sich von den Tieren umbringen, oder sie schließen sich zusammen und töten sich gegenseitig, weil ihnen noch etwas fehlt: die tekhne politike, die politische Befähigung.. Daraufhin sendet Zeus Hermes mit einem zusätzlichen Geschenk, aber nicht mehr das handwerkliche Können und das Feuer, sondern aidos und dike, die „Scheu“ und die „Gerechtigkeit“. Genauer betrachtet, meint aidos die Rücksicht, die Scham, das Ernstnehmen des Blicks des anderen Menschen und dike die öffentliche Norm für eben das Verhalten, das auf die gegenseitige Achtung hinweist (deiknumi, „zeigen“). Zeus ordnet an, dass alle ohne Ausnahme an diesen Vorzügen teilhaben sollen und fügt hinzu:„Wer nicht daran teilhat, den töte man als Krankheit der Stadt“ (322 d). Dieser Mythos dient der Rechtfertigung dafür, dass alle Bürger Athens das gleiche Rederecht, die isegoría, haben und auf diese Weise demokratische Beratungen ablaufen können. Aber dieser Mythos basiert auf einem Paradox: alle besitzen die politische Befähigung, die aber, die sie nicht haben, werden getötet. Protagoras berichtet folgendermaßen von diesem Paradox: „Es geht um Gerechtigkeit und, allgemeiner, um politische Tugend, wenn ein Mensch, von dem man weiß, dass er ungerecht ist, kommt und öffentlich die Wahrheit über sich selbst sagt. In diesem Fall erachtet man das, was man durchaus als gesunden Menschenverstand
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betrachtete, nämlich die Wahrheit zu sagen, als Torheit, und man sagt, dass alle bestätigen müssen, gerecht zu sein, ob sie es nun sind oder nicht, oder auch, dass derjenige, der nicht gegen die Gerechtigkeit handelt, ein Tor ist aus dem Gedanken heraus, dass es niemanden gibt, der nicht gemeinsam in gewisser Weise mit allen die Gerechtigkeit teilt, weil er sonst nicht zur Schar der Menschen gehört“ (323 b–c).
Wenden wir uns wieder der Kommission und den perpetrators zu. Man bekennt offen, ein politisches Verbrechen begangen zu haben, und bittet um Amnestie. Gleichzeitig erklärt man, auch wenn es verrückt klingt, dass man unschuldig ist: diese Erklärung macht gerecht, rehumanisiert, man wird ein Glied einer im Entstehen begriffenen Gemeinschaft. Oder man weigert sich zuzugeben, dass man ein politisches Verbrechen begangen hat, ja dass es, wie im Fall De Klerk, überhaupt politische Verbrechen gegeben habe. Man lehnt es ab, Amnestie zu beantragen, und behauptet, immer gerecht gehandelt zu haben: auch dieses Beharren stellt noch eine Verbeugung vor dem Recht dar, das im Entstehen begriffen ist. Man erklärt, dass man immer ein Mitglied der Gemeinschaft geblieben sei, vor der man seine Erklärung abgibt. Ob man nun erklärt, gerecht oder ungerecht gewesen zu sein: man anerkennt auch durch diese Erklärung noch die Gerechtigkeit und die Gemeinschaft. Darin liegt die selbstblockierende Kraft eines Szenarios, in dem es kein Ausweichen gibt. Der Hebel dieses Szenarios ist derselbe: aidos, das Wissen um den Blick des anderen, der gemeinschaftsbildend ist und Gerechtigkeit stiftet. Die Scham, shame und contempt, ist das politische Gefühl schlechthin, so wie die Rede ein Element des Politischen ist. Die full disclosure ist tatsächlich eine public disclosure, die einem ganzen Land durch die Wiederholungssendungen am Sonntagabend bekannt wird.„Man hatte die Sorge, dass die Amnestie Straflosigkeit zur Folge haben könnte. Wir meinen, dass diese Auffassung abwegig ist. Der Antragsteller ist gezwungen, seine Aussagen im grellen Licht der Öffentlichkeit zu machen [full glare of publicity]. Versuchen wir uns vorzustellen, was das bedeutet. Für die Familie des Antragstellers bietet sich dadurch die Möglichkeit zu erfahren, dass ein scheinbar anständiger [decent] Mensch ohne Gewissensskrupel gefoltert hat. Dies kostet also etwas. Die öffentliche Enthüllung [public disclosure] führt zu öffentlicher Schande [results in public shaming]“ (35). Dies ist die einzige Bestrafung bei der Amnestie – und André Van In filmt genau den Augenblick vor der öffentlichen Anhörung der hohen Verantwortungsträger der Apartheid, in dem die schwarzen Frauen auf der Bank unter sich munkeln: „Es ist ein Flop, ihre Frauen und Kinder sind nicht bei ihrer Anhörung erschienen“. Aber wie Desmond Tutu hinzufügte: in der Demokratie hat man keine Wahl. Wenn man nicht die Folter anwendet, dann bleibt nur die Schande. „Einem Gerichtshof bleibt, wenn man die Zeugen zu zufriedenstellenden Antworten bewegen will, nur das Mittel der Beschämung [charge them with contempt]“ (§ 47). Diese Beschämung gehört inhaltlich nicht zum Bereich der Sünde, der Reue und der Bitte um Vergebung, sie ist
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nicht ethisch-religiös. Sie hat es zu tun mit öffentlicher Ordnung, mit dem Blick des anderen, mit der Berücksichtigung der Sichtweisen in Bezug auf etwas: sie ist politisch.
„Full“ oder die Bedeutung des Besonderen in der Politik Ich möchte schließen mit der Relevanz des full dieser full disclosure. Damit der Wechsel der Zustände, der durch das Amnestieverfahren in Gang gesetzt und das politische Gefühl des aidós vorangetrieben wurde, zur Wahrheit einer gemeinsam geteilten Vergangenheit werden kann, bedarf es des full, des vollständigen full. Letztlich ist nämlich hier die Dimension des Politischen angesiedelt als der Dimension des Besonderen im Unterschied zur ethisch-religiösen Subjektivität und Universalität des Gesetzes und der Moral. Full hat es unmittelbar zu tun mit der Gerechtigkeit bit by bit, der Gerechtigkeit Stück für Stück, der Gerechtigkeit der unermüdlichen Schaffer, wie die Kommission die Kommissionsmitglieder nannte. Die full disclosure ist kein ganz persönliches und gleichsam unaussprechbares Bekenntnis nicht aneigenbarer Verfehlungen durch einen anderen („one confess only one’s own sins“, 73). Sie ist ebenso wenig eine globale Enthüllung, also die allgemeine und spezifische Wahrheit über die Apartheid. Sie kommt vielmehr einem lückenlosen Bericht gleich, einer besonderen Wahrheit unter einem bestimmten Blickwinkel, einer Geschichte (story telling), aus der eine Perspektive und Komposition hervorgehen kann. Die full disclosure hat es mit konkreter Fülle zu tun, die mittels der Fragestellungen erzielt und erjagt wird („Und wie geschah das? Und was haben Sie wirklich gesehen? Und was haben Sie noch gesehen? Und was haben Sie selbst dann noch gesehen?“ fragen die Kommissionsmitglieder immer wieder nach) – wie eine Erkundung des Geländes auf dem des anderen, um so Stück für Stück den Rassismus des „anderen“ zu Fall zu bringen. Die full disclosure wird daher in Frage gestellt durch die evasiveness, beispielsweise durch diejenige De Klerks, das heißt: durch die ritualisierten Plattitüden, die lauter verfehlte Gelegenheiten darstellen, den Versöhnungsprozess voran zu bringen (II, § 4,8). Es ist keineswegs ausgemacht, dass hier nicht eine der Hauptgefahren für eine Politik lauert, die ganz auf die Sprache setzt. Diese Gefahr wäre umso bedrohlicher, wenn sie unmittelbar ihren Ursprung in dem Rang, der Person und der Rolle dessen hätte, der Verbrechen gegen die Menschheit verübt hat. So spricht Hannah Arendt von „Eichmanns heldenhaftem Kampf mit der deutschen Sprache, in dem er regelmäßig unterliegt“, und sie weist darauf hin, dass, als Eichmann beim besten Willen kein anderes Wort einfiel, er sich folgendermaßen entschuldigt habe: „Amtssprache ist meine einzige Sprache“. „Doch“, so fügt sie mit Nachdruck hinzu, „die Amtssprache war eben gerade deshalb seine Sprache geworden, weil er von Haus
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aus unfähig war, einen einzigen Satz zu sagen, der kein Klischee war“9. De Klerk, der allerdings kein solcher Erfüllungsgehilfe wie Eichmann war, stehen, wenn er Rechenschaft über ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ablegen muss, möglicherweise auch nur Klischees zur Verfügung. Aber die Klischees eines perpetrators werden der full disclosure nicht gerecht. Ich möchte einige Sätze aus dem schwierigen, doppeldeutigen Roman von J.M. Coetzee, Schande, zitieren, um verständlich zu machen, was ich meine, wenn ich von der politischen Bedeutung des Besonderen und der Unterscheidung zwischen dem Ethischen und dem Politischen spreche.10 David Lurie, ein Professor in mittleren Jahren der Universität Kapstadt, erscheint vor einer Untersuchungskommission – nicht vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission, sondern vor einer Untersuchungskommission, die von dieser politisch korrekten Universität gebildet wurde, um die Anschuldigung sexueller Belästigung zu prüfen, die eine seiner Studentinnen gegen ihn vorgebracht hat. Diese Kommission ist ebenso wie die Wahrheits- und Versöhnungskommission kein Tribunal. Sie hört, übrigens getrennt, die Parteien an und spricht Empfehlungen und nicht Urteile aus. Coetzee macht deutlich, wie man die „Kommission“, um diesen Begriff hier zu verwenden, blockiert, wenn man der Forderung nach full disclosure nachkommt, indem man nicht auf Einzelheiten eingeht, und wie die „Kommission“ fortgesetzt in der Gefahr steht, zwischen Ethik und Politik hin-und her zu schwanken. David Lurie erscheint vor der Kommission: „Ich habe meinen Standpunkt dargelegt. Ich bin schuldig“. „Schuldig in welchem Sinne?“ „Schuldig im Sinne der Anklage.“ „Wir bewegen uns im Kreis, Professor Lurie“ (S.65).
„Schuldig im Sinne der Anklage“ ist eine durch ihre Allgemeinheit neutralisierte full disclosure. Farodia Rassool, Universitätsbeauftragte für Fragen der Diskriminierung, fordert daraufhin: „Ich möchte einen Einwand gegen diese Antworten von Professor Lurie vorbringen, die ich im Grunde genommen als ausweichend ansehe. Aber wenn wir ihn darauf festzunageln versuchen, was er nun wirklich akzeptiert, bekommen wir nur subtilen Spott. Das deutet für mich darauf hin, dass er die Anklagepunkte nur pro forma akzeptiert“ (67).
Lurie ist bereit, sich zu erklären: „Nun gut“, sagt er, „lassen Sie mich beichten. Die Geschichte beginnt eines Abends, das Datum habe ich vergessen, aber es liegt nicht lange zurück. Ich ging durch den alten Collegepark, und zufälligerweise tat das auch die betreffende junge Frau, Melanie Isaacs. Unsere Wege kreuzten sich. Wir sprachen miteinander, und in diesem Augenblick geschah etwas, das ich, weil ich kein Dichter bin, nicht zu beschreiben versuchen will. Möge es genügen, wenn ich sage, dass Eros ins Spiel kam. Danach war ich ein anderer Mensch“ (69f.). 9 10
Arendt 2004, 124f. Coetzee 2000.
Amnestie und Vergebung. Für eine Trennung von Ethik und Politik
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Bewegen wir uns hier im geheimsten, tiefsten Bereich des Subjektiven – also des Nichtmitteilbaren – oder im Klischeehaften, dem Eros, dem allgemeinsten aller Klischees? In dem einen wie dem anderen Fall bleibt das full auf der Strecke. Faroda Rassool interveniert aufs Neue: „Wir bewegen uns wieder im Kreis, Herr Vorsitzender. Ja, er sagt, dass er schuldig ist, aber wenn wir Genauigkeit im Detail wollen, läuft sein Geständnis plötzlich nicht mehr auf den Missbrauch einer jungen Frau hinaus, sondern auf einen Drang, dem er nicht widerstehen konnte, und von dem Schmerz, den er verursacht hat, ist keine Rede, und auch nicht von der langen Geschichte der sexuellen Ausbeutung, in die das einzuordnen ist“ (70f.).
Mit Recht verlangt sie einen anderen Weg, dem full zu entsprechen, hört aber immer nur neue Klischees („Missbrauch: auf das Wort hat er gewartet. Mit einer vor Selbstgerechtigkeit bebenden Stimme gesprochen“, 71). Wie soll die Fülle des Besonderen erzeugt und erschlossen werden? Die Kommission wurde nicht müde, dieses Problem in einer Anhörung nach der anderen und Stück für Stück anzugehen. Hier wird klar, wie die „Kommission“ in der Sicht Coetzees in ein ethischreligiöses Wirrwarr abgleitet. Es handelt sich um das letzte Telefongespräch zwischen Manas Mathabane, dem Vorsitzenden der Kommission, und Lurie: „Wenn du zu verstehen gibst, dass du die Erklärung unterschreibst, die als Bitte um Strafmilderung eingestuft wird, dann ist der Rektor bereit, sie in diesem Geist anzunehmen.“ „Ich welchem Geist? „Einem Geist der Reue.“ „Manas, wir haben das Thema Reue doch gestern schon behandelt. Ich habe euch gesagt, was ich davon halte. Das mache ich nicht. Ich bin vor einem amtlich eingesetzten Untersuchungsausschuss erschienen, vor einer juristischen Einrichtung. Vor diesem säkularen Tribunal habe ich mich schuldig bekannt, ein säkulares Geständnis abgelegt. Dieses Geständnis muss ausreichen. Reue ist weder Fisch noch Fleisch. Reue gehört zu einer anderen Gedankenwelt, zu einem anderen Universum.“ „Du bringst Dinge durcheinander, David. Dir wird nicht der Befehl erteilt zu bereuen. Was in deinem Inneren vor sich geht, ist dunkel für uns als Mitglieder eines säkularen Tribunals, wie du es nennst, falls nicht als Mitmenschen. Man verlangt von dir, eine Erklärung abzugeben.“ „Ich soll eine Entschuldigung liefern, die ich vielleicht nicht ernst meine?“ „Das Kriterium ist nicht, ob du es ernst meinst. Das geht nur dein eigenes Gewissen etwas an, wie ich meine. Das Kriterium ist, ob du bereit bist, deinen Fehler öffentlich zuzugeben und Schritte zur Wiedergutmachung zu unternehmen.“ „Jetzt betreiben wir wirklich Haarspalterei. Ihr habt mich angeklagt, und ich habe mich im Sinne der Anklage schuldig bekannt. Das ist alles, was ihr von mir braucht.“ „Nein. Wir wollen mehr. Nicht viel mehr, aber mehr.“(77f., Hervorhebung durch die Verf.).
Ein öffentliches Schuldeingeständnis mit dem Ziel der Wiedergutmachung – sonst nichts, oder: unter Umständen aufrichtiges Bedauern und Reue? Politik und/oder Ethik? Wo stehen wir in diesem Wirrwarr? Ich für meinen Teil bin wie der alte Professor für die Kraft eines Vorgehens, das die Bereiche der Rede unterscheidet und das ich gewissermaßen auf griechisch zu beschreiben
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versucht habe, wo das „ein wenig mehr“ nur etwas Säkulares und Laizistisches wäre, eine full disclosure, eine öffentliche Erklärung, aber nichts mehr. Übersetzung aus dem Französischen: Gerhard Frey
Literatur Arendt H (2004) Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München/Zürich: Piper, 13. Aufl. Cassin B (1995) L’Éffet sophistique. Paris: Gallimard Coetzee JM (2000) Schande. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer Hatzfeld J (2002) Dans le nu de la vie. Récits des marais rwandais. Paris: Seuil Klemperer V (1975) LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam 1975 Onians RB (1999) Les Origines de la pensée européenne. Trad. B. Cassin, A. Debru et M. Narcy. Paris: Seuil Villa-Vicencio C (2000) Restorative justice: dealing with the past differently. In: Villa-Vicenzio C, Verwoerd W (Hrsg.), 68–74 Villa-Vicencio C, Verwoerd W (Hrsg.) (2000) Looking back, reaching forward. Reflections on the Truth and Reconciliation Commission of South Africa. Rondebosch: UCT Press
Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Konfliktbewältigung im Völkerrecht jochen a. frowein Einleitung Der vorliegende Band beschäftigt sich mit dem Problem Konflikt und Konfliktbewältigung. Rechtsordnungen sind dafür da, um auftretende Konflikte zwischen Menschen, Staaten oder sonstigen Einheiten zu bewältigen. Gäbe es keine Konflikte, so wäre eine Rechtsordnung unnötig. Die Völkerrechtsordnung unterscheidet sich in ihrer Bedeutung für die Konfliktbewältigung nicht von nationalen Rechtsordnungen, obwohl häufig diese Meinung besteht. Anders als in der nationalen Rechtsordnung ist der durch Polizei und Gerichtsvollzieher repräsentierte staatliche Zwang, der letztlich die Beachtung der Rechtsordnung erzwingt, im Völkerrecht nicht vorhanden. Man muss sich aber klar machen, dass keine staatliche Rechtsordnung allein darauf beruht, dass sie notfalls erzwungen wird. Vielmehr werden die meisten rechtlichen Probleme und Konflikte gelöst, indem sich die Beteiligten freiwillig oder nach einer gerichtlichen Klärung an die Rechtsordnung halten. Dasselbe gilt im Völkerrecht. Auch in der Völkerrechtsordnung ist es ganz normal, dass Staaten sich auch im Konfliktfall an die Völkerrechtsnormen halten. Freilich ist zuzugeben, dass die Fälle, in denen das nicht geschieht, immer besonders spektakulären Charakter haben. Das gilt besonders, wenn es zur rechtswidrigen Gewaltanwendung kommt. Der vorliegende Beitrag versucht, den völkerrechtlich nicht besonders informierten Leser über Verfahren und Regeln der völkerrechtlichen Konfliktbewältigung aufzuklären. Der Verfasser hofft damit, einen Beitrag dazu leisten zu können, die nach seiner Auffassung nicht selten vorhandene Rechtsblindheit bei der Erörterung dieser Probleme zu überwinden.
Die friedliche Streitbeilegung Die friedliche Streitbeilegung durch Verhandlung Wenn Streitigkeiten zwischen Staaten auftreten, so ist im Normalfall der erste Schritt die Aufnahme von Verhandlungen zur Bewältigung der Streitigkeit. Art. 33 der Satzung der Vereinten Nationen enthält eine ausdrückliche Ver-
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pflichtung zur friedlichen Streitbeilegung für alle Streitigkeiten, deren Fortdauer die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte. Nach dieser Bestimmung der Satzung bemühen sich die Parteien durch Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung, Inanspruchnahme regionaler Einrichtungen oder Abmachungen oder durch andere friedliche Mittel eigener Wahl um eine Beilegung. Die Zahl von Streitigkeiten, die oft erst nach längerer Zeit durch Verhandlungen und den förmlichen Abschluss eines Vertrages beigelegt worden sind, ist groß. Für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kann man die durch die sozial-liberale Koalition von 1970 bis 1972 abgeschlossenen Verträge im Rahmen der neuen Ostpolitik als eine besonders intensive Beilegung von Streitigkeiten durch Vertrag nennen.1 Bis zum Abschluss des Moskauer und Warschauer Vertrages bestand insbesondere Uneinigkeit zwischen den Parteien über die Bedeutung der nach 1945 entstandenen Grenzen in Osteuropa. Durch den Moskauer und den Warschauer Vertrag wurde klargestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland das Gewaltverbot in vollem Umfang auf diese Grenzen, insbesondere die Oder-Neiße-Grenze und die innerdeutsche Grenze, bezieht. Gleichzeitig konnte die Bundesrepublik Deutschland ihr Ziel, eine friedliche Wiedervereinigung zu erreichen, im Rahmen dieser Verträge klar zum Ausdruck bringen. Ein besonders gutes Beispiel ist auch die in dem Prager Vertrag von 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei getroffene Regelung hinsichtlich des Münchener Abkommens. Die Tschechoslowakei hatte dieses Abkommen immer als nichtig betrachtet. Die Bundesrepublik Deutschland wollte sicherstellen, dass keine Konsequenzen für die Wirkung deutschen Rechts und deutscher Rechtsakte nach Abschluss des Münchener Abkommens auftreten könnten und lehnte daher die Qualifizierung als „nichtig“ lange ab. Die Lösung lag darin, dass Art. I des Prager Vertrages bestimmt: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik betrachten das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig.“ Durch die Verknüpfung des Begriffes der Nichtigkeit mit der besonderen vertraglichen Regelung wurde es möglich, problematische Konsequenzen der Nichtigkeit abzuwehren.2 Art. II bestimmt ausdrücklich: „Dieser Vertrag berührt nicht die Rechtswirkungen, die sich in Bezug auf natürliche oder juristische Personen aus dem in der Zeit vom 30. September 1938 bis zum 9. Mai 1945 angewendeten Recht ergeben.“ 1
2
Der Verfasser war als Mitglied der Außenministerdelegationen in Moskau und Warschau an den Verhandlungen beteiligt. Der Verfasser hatte diesen Vorschlag in einer Sitzung des völkerrechtswissenschaftlichen Beirates des Auswärtigen Amtes gemacht.
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Ein eindrucksvolles Beispiel für die Beilegung einer seit Jahrzehnten bestehenden Streitigkeit zwischen den beiden größten Seemächten, den USA und der damaligen Sowjetunion, ergab sich in der Phase, in der die Sowjetunion ihre Politik grundlegend änderte.Am 23. September 1989 wurde in einem bindenden Protokoll eine gemeinsame Interpretation der Völkerrechtsnormen über die friedliche Durchfahrt von Schiffen zwischen den USA und der Sowjetunion abgeschlossen. Bis dahin hatte die Sowjetunion kontinuierlich die Auffassung vertreten, dass Kriegsschiffe ein Recht zur friedlichen Durchfahrt nur nach vorheriger Anmeldung haben. Ziffer 2 der getroffenen Regelung lautet:3 „All ships, including warships, regardless of cargo, armament or means of propulsion, enjoy the right of innocent passage through the territorial sea in accordance with international law, for which neither prior notification nor authorization is required.“
Die Streitbeilegung durch den Internationalen Gerichtshof Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen mit 15 Richtern, ist historisch der Nachfolger des Ständigen Internationalen Gerichtshofes, der in der Völkerbundszeit gegründet worden war. Während der Internationale Gerichtshof in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nur mit einer geringen Zahl von Streitigkeiten zwischen Staaten befasst war, hat sich diese Lage vollständig verändert. Seit den 80er Jahren hat der Gerichtshof zunehmend häufig sehr komplizierte Streitigkeiten zwischen Staaten zu entscheiden.4 Seine Urteile werden ganz überwiegend beachtet. Freilich gibt es unerfreuliche Ausnahmen. So haben die Vereinigten Staaten das Urteil, das die bewaffnete Intervention in Nicaragua betraf, nicht beachtet, weil sie der Meinung waren, dass es an einer Zuständigkeit des Gerichtshofes fehle. Die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes wird durch Verträge oder durch eine konkrete Einigung über die Unterbreitung eines Streitfalles (Kompromiss) hergestellt. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass ein Staat sich der so genannten Fakultativklausel gemäß Art. 36 Abs. 2 des Statuts unterwirft. Er erkennt dann für alle in der Erklärung umschriebenen Streitigkeiten die Zuständigkeit des Gerichts gegenüber jedem Staat, der eine entsprechende Erklärung abgibt, an. Eine Partei, die keinen Richter im Gerichtshof hat, kann einen ad-hoc-Richter bestimmen. Die Bundesrepublik Deutschland ist mehrfach Partei vor dem Internationalen Gerichtshof gewesen. Zunächst hat sie bereits im Jahre 1969 vor ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen in einem Streit mit den Niederlanden 3 4
International Legal Materials 28 (1989), 1445–1447. Zum IGH vgl. M. Schröder, in: Vitzthum 2001, 587–595; Frowein, in: R.-J. Dupuy, A Handbook of International Organisations, 1998, 153–206.
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und Dänemark durchsetzen können, dass der deutsche Festlandsockel in der Nordsee erheblich größer ist, als diese beiden Staaten anerkennen wollten.5 Es ging dabei vor allem um die Frage, ob eine für Deutschland sehr ungünstige Abgrenzungsregel (Äquidistanzprinzip), die in einem von Deutschland wegen dieser Regel nicht ratifizierten Vertrag festgelegt war, dennoch zur Anwendung kommen konnte. Der Gerichtshof entschied zutreffend, dass Deutschland diese Regel nicht anzuerkennen brauche. Zur Zeit ist die Bundesrepublik Deutschland Partei vor dem Internationalen Gerichtshof in einem Streit, den das Fürstentum Liechtenstein angestrengt hat. Es geht darum, dass die Bundesrepublik Deutschland nach Auffassung Liechtensteins seine Rechte verletzt hat, weil sie 1945 in der Tschechoslowakei enteignetes liechtensteinisches Vermögen nicht als liechtensteinisches Vermögen behandelt hat.6 Die Bundesrepublik Deutschland hat in einem wichtigen Verfahren gegen die Vereinigten Staaten erreicht, dass der Gerichtshof die Verletzung der Rechte aus der Konsularkonvention festgestellt hat. Nach dieser Konvention muss jeder Staat bei Verhaftung eines Ausländers den betreffenden Konsul benachrichtigen, um einen Beistand zu ermöglichen.7 Das hatten die Vereinigten Staaten in zwei Verfahren nicht getan, in denen die Todesstrafe ausgesprochen worden war. Leider hatte Deutschland das Verfahren außerordentlich spät eingeleitet. Deswegen kam es zur Hinrichtung der beiden Betroffenen, worin aber jedenfalls im zweiten Fall eine Verletzung der Rechte durch die USA gesehen werden muss. Der Internationale Gerichtshof ist auch in einer Vielzahl von Streitigkeiten über Landgrenzen und über Seegrenzen angerufen worden. Zum Teil handelte es sich um Fälle, bei denen Gewalt bereits angewendet worden war. Das gilt etwa für das Urteil vom 3. Februar 1994, in dem der Gerichtshof eine Territorialstreitigkeit zwischen Libyen und Tschad entschied, die zu bewaffneten Auseinandersetzungen geführt hatte und erhebliche Gefahren für weitere Auseinandersetzungen enthielt.8 Beide Parteien haben das Urteil des Internationalen Gerichtshofs beachtet. Das gilt für eine Vielzahl anderer Grenzstreitigkeiten. Der Internationale Gerichtshof ist auch immer wieder in spektakulären Fällen angerufen worden, in denen Staaten Gewalt angewendet hatten. Das gilt für den bereits erwähnten Nicaragua-Fall.9 Es gilt auch für die Klage Serbiens gegen die NATO-Staaten in Bezug auf die Intervention im Kosovo 1999.10 Verschiedene Verfahren betrafen die Gewaltanwendung im Persischen 5 6
7 8 9 10
International Court of Justice Reports 1969, 3. Der Verfasser vertritt Deutschland in den Verfahren zusammen mit C. Tomuschat und P. M. Dupuy neben dem Rechtsberater des Auswärtigen Amtes. International Court of Justice Reports 2001; International Legal Materials 40 (2001), 1069. International Court of Justice Reports 1994, 14. International Court of Justice Reports 1986, 14. Das Verfahren ist noch anhängig.
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Golf. Für die Möglichkeiten, die sich bei derartigen Verfahren ergeben, ist die Klage des Iran gegen die Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit dem Abschuss eines iranischen Zivilflugzeuges mit vielen Passagieren durch ein amerikanisches Kriegsschiff bedeutsam. Nachdem der Internationale Gerichtshof seine Zuständigkeit bejaht hatte, traten die USA in Verhandlungen mit dem Iran ein und zahlten eine erhebliche Schadensersatzsumme (ca. 132 Millionen US $) für die Verluste durch den Abschuß.11 Nicht selten bieten internationale Gerichtsverfahren den Ausgangspunkt für Vergleiche, die Staaten dann vorziehen, wenn sie kein Interesse an einer weiteren öffentlichen Auseinandersetzung haben, bei der naturgemäß auch bisher nicht bekannte Einzelheiten öffentlich werden können. Der Internationale Gerichtshof hat in den letzten 25 Jahren gezeigt, dass er ein unersetzlicher Bestandteil der Konfliktregelung im Völkerrecht ist. Man darf hoffen, dass seine Bedeutung in nächster Zeit weiter zunehmen wird.
Die Streitbeilegung bei zwischenstaatlichen Handelsstreitigkeiten Seitdem im Jahre 1994 die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet worden ist, besteht eine verbindliche Form der Streitbeilegung in diesem Zusammenhang, die sich als sehr wirksam erwiesen hat. Die Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten, die am 15. April 1994 vereinbart worden sind, sehen im Gegensatz zu dem früheren GATT-System eine verbindliche und unabhängige Streitentscheidung vor. Der erste Schritt wird mit Konsultationen zwischen den Parteien eingeleitet. Dann kann die Zusammensetzung eines Panels beantragt werden, das einen Bericht annimmt. Die wichtigste Neuerung des Verfahrens besteht darin, dass ein automatisches Rechtsmittel in Art. 17 der Vereinbarung festgelegt worden ist, das an das ständige Berufungsgremium eingelegt wird. Dieses Berufungsgremium setzt sich aus sieben Personen zusammen, von denen jeweils drei in einem Fall entscheiden.12 Die Rechtsprechung des Berufungsgremiums hat bereits heute große Bedeutung für die Beilegung von Streitigkeiten in schwierigen Handelskonflikten zwischen Staaten gezeigt. Die häufigsten Parteien vor dem Streitbeilegungsverfahren sind die Vereinigten Staaten und die Europäische Union. Es gibt aber auch immer wieder Streitigkeiten mit der Beteiligung von anderen Ländern. Die Bedeutung des Verfahrens mag man daran ersehen, dass im Jahre 2003 die Vereinigten Staaten verurteilt wurden, weil von Präsident Bush eingeführte Stahlimportzölle gegen die Regeln der WTO verstießen. Es erschien zunächst zweifelhaft, inwieweit die USA den Spruch des Berufungsgremiums anerkennen würden. Nach wenigen Wochen wurden die Stahlzölle aber ersatzlos von den USA aufgehoben. Dabei dürfte eine wesentliche Rolle 11 12
International Legal Materials 35 (1996), 550ff. Jackson 1998, 59–100.
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gespielt haben, dass die Europäische Union rechtlich zu Gegenmaßnahmen berechtigt war, wenn die USA an den rechtswidrigen Zöllen festgehalten hätte.13 Mit dem Streitbeilegungssystem im Rahmen der WTO steht erstmalig auf einem wichtigen Gebiet des Völkerrechts eine automatisch wirksame und grundsätzlich bindende Gerichtsbarkeit zur Verfügung. Zwar haben die Staaten noch die Möglichkeit, einen Spruch des Berufungsgremiums im Konsens außer Kraft zu setzen. Dieses ist aber bisher nie geschehen und wird wohl nicht praktisch werden. Deswegen ist der im Jahre 1994 eingeleitete Schritt auf eine umfassende und bindende Streitbeilegung im Rahmen von zwischenstaatlichen Handelsstreitigkeiten von erheblicher Bedeutung.
Die Streitbeilegung durch Schiedsgerichte Die Streitbeilegung durch Schiedsgerichte unterscheidet sich von den bisher dargelegten Verfahren vor allem dadurch, dass die Parteien in der Lage sind, ihre Schiedsrichter selbst zu wählen. Das übliche Verfahren in derartigen Fällen ist, dass jede Partei einen Schiedsrichter bestimmt und diese sich dann auf eine dritte Person als Vorsitzenden einigen. Wenn keine Einigung zustande kommt, wird der Vorsitzende durch den Präsidenten eines der internationalen Gerichte, der vertraglich damit betraut worden ist, ernannt. Häufig sind in Verträgen auch Klauseln enthalten, die bei Streitigkeiten die Bildung eines Schiedsgerichts durch einseitige Anrufung einer Partei ermöglichen. Auch hier sind durchweg Bestimmungen enthalten, die bei Nichtmitwirkung der anderen Seite die Möglichkeit der Ernennung durch neutrale Instanzen ergeben. Ad hoc vereinbarte Schiedsgerichte haben Grenzstreitigkeiten, aber auch Streitigkeiten anderer Art entschieden.14 Zum Teil sind Schiedsgerichtsverfahren auch für Streitigkeiten zwischen Privaten und Staaten eingerichtet worden. Das gilt insbesondere für Streitigkeiten im Bereich von Auslandsinvestitionen. Hier ist das Verfahren vor dem International Centre for the Settlement of Investment Disputes (ICSID) besonders bedeutsam. In einer Vielzahl von Schiedssprüchen haben nach diesem Verfahren errichtete Schiedsgerichte über Investitionsstreitigkeiten mit zum Teil sehr hohen Streitsummen entschieden. Die Entscheidungen werden durchweg beachtet.15
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International Legal Materials 43 (2004), 410–479. Eine ausgezeichnete Zusammenstellung von Schiedsgerichtsentscheidungen in: The Permanent Court of Arbitration, International Arbitration and Dispute Resolutions, 1999; vgl. auch Schröder, in: Vitzthum 2001, 583–587. Vgl. etwa International Legal Materials 43 (2004), 259.
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Der Internationale Seegerichtshof Der in Hamburg ansässige Internationale Seegerichtshof ist ein im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vorgesehener Gerichtshof, der Streitigkeiten zwischen Staaten, aber auch zwischen Privaten und Staaten auf der Grundlage dieses Abkommens zu entscheiden hat. Besonders wichtig ist dabei seine Zuständigkeit, bindende einstweilige Maßnahmen schnell zu beschließen. Hierfür ist er in den letzten Jahren immer wieder angerufen worden. Dabei ging es meistens um die Beschlagnahme von Schiffen. Dagegen hat sich der Gerichtshof bisher nicht mit Seegrenzen oder anderen Problemen des Seerechts zu befassen gehabt.16
Die Streitbeilegung in verdichteten Gemeinschaften Es sollte in diesem Zusammenhang auch betont werden, dass in stärker verdichteten Gemeinschaften wie der Europäischen Union oder dem System der Europäischen Menschenrechtskonvention gerichtliche Zuständigkeiten vorhanden sind, die weit über die hinausgehen, die im allgemeinen Völkerrecht existieren. Im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechtes können zwischenstaatliche Streitigkeiten über das Recht der Gemeinschaftsverträge durchweg gerichtlich beigelegt werden. Zu derartigen Streitigkeiten kommt es allerdings deswegen nicht, weil die rechtlichen Probleme im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft zwischen Privaten und den Staaten auftreten. Hierfür gibt es umfassende Zuständigkeiten der Gerichte der Europäischen Gemeinschaft.17 Im Rahmen des Grundrechtskataloges der Europäischen Menschenrechtskonvention sind ebenfalls die meisten Streitigkeiten solche, an denen Private sich auf ihre Rechte gegenüber einem Staat berufen. Es ist aber auch möglich, dass ein Staat gegen einen anderen Staat wegen der Verletzung der Konventionsrechte ein Verfahren anstrengt. Dieses hat es vor allem in einigen spektakulären Fällen gegeben. Ein besonderes Beispiel war die Klage Irlands gegen Großbritannien wegen der Behandlung von Personen, die des Terrorismus verdächtig waren, in Nordirland. In jüngster Zeit hat es Verfahren von Zypern gegen die Türkei gegeben.18 Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften oder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden im Normalfall ganz unproblematisch beachtet.
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Die Regelungen für den Gerichtshof finden sich in Teil XV und Anlage VI des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen. Zum Rechtsschutz im System der Europäischen Union siehe Oppermann 1999, 267–290. Zur EMRK Frowein/Peukert 1996; Grabenwarter 2003.
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Die Behandlung gewaltsamer Konflikte Das Gewaltverbot Art. 2 Ziffer 4 der Satzung der Vereinten Nationen enthält zum ersten Mal in der Geschichte des Völkerrechts ein umfassendes Gewaltverbot. Nach dieser Bestimmung unterlassen alle Mitglieder in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt. Der Sicherheitsrat ist nach Kapitel VII der Satzung das Organ, das gewaltsame Konflikte, wenn sie ausbrechen, mit den besonderen Sanktionsmitteln in den Artikeln 40 bis 43 notfalls auch mit Gewaltanwendung beenden soll. Das System der Charta funktionierte von Anfang an nur unvollkommen. Während des Kalten Krieges war nicht daran zu denken, dass der Sicherheitsrat Sanktionen gegen einen der Blöcke verhängen könnte. Nach Beendigung des Kalten Krieges unter Veränderung der Weltlage ist die Möglichkeit des Sicherheitsrates, wirksam einzugreifen, erheblich gewachsen. Die Schöpfer der Satzung waren sich darüber klar, dass die Festlegung des Gewaltverbotes allein zur Beseitigung der Gewalt nicht ausreicht, sondern legten in Kapitel VII die besonderen Reaktionsmöglichkeiten der Völkerrechtsgemeinschaft fest. Es ist nicht zu bezweifeln, dass trotz dieses Systems die Zahl von gewaltsamen Konflikten zwischen Staaten, vor allem aber auch zwischen bewaffneten Einheiten innerhalb von Staaten, durchaus beachtlich ist. Man kann sich fragen, ob man unter diesen Umständen überhaupt von einer Wirksamkeit des Gewaltverbotes sprechen kann. Es sollte aber nicht verkannt werden, dass bereits in der Notwendigkeit, Gewaltanwendung zu begründen, ein gewisser Faktor zur Beschränkung liegt. Da nur die Selbstverteidigung gemäß Art. 51 Gewaltanwendung ohne Autorisierung des Sicherheitsrates rechtfertigen kann, dürfte das Gewaltverbot durchaus eine gewisse Wirkung auf das Verhalten der Staaten haben.
Das Recht zur Selbstverteidigung Art. 51 bestimmt, dass die Charta im Falle eines bewaffneten Angriffs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung nicht beeinträchtigt, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Nach der Formulierung des Artikels 51 muss ein bewaffneter Angriff (armed attacks) vorliegen, um die Selbstverteidigung auszulösen. Der militärische Angriff auf einen anderen Staat ist der wichtigste Fall, der hier geregelt ist. Nicht eindeutig ist, ob der Angriff bereits begonnen haben muss. Eine verbreitete Auffassung, die auch in der Praxis immer wieder Unterstützung ge-
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funden hat, geht davon aus, dass bei Vorliegen eindeutiger Angriffsvorbereitungen Selbstverteidigungsmaßnahmen von dem Staat ausgelöst werden können, der angegriffen werden soll. Freilich kann nicht bezweifelt werden, dass hier eine gefährliche Grauzone geschaffen werden kann. Staaten neigen teilweise dazu, das Recht zur präventiven Selbstverteidigung weit auszudehnen. So hat der amerikanische Präsident Bush in seiner Verteidigungsdoktrin die Möglichkeit einer präemptiven Selbstverteidigung bei der Feststellung von Gefahren behauptet. Eine derartige Praxis würde mit dem System der UN-Charta nicht zu vereinbaren sein. Der amerikanisch-britische Angriff auf den Irak im Jahre 2003 kann allerdings richtigerweise nicht als ein Beispielsfall für diese Doktrin angesehen werden. Entscheidend ist nämlich, dass die USA und Großbritannien gegenüber dem Sicherheitsrat mit Schreiben vom 21. März 2003 eine eingehende Rechtfertigung der Militäraktion vorgelegt haben. Sie haben dabei auf die Resolutionen des Sicherheitsrates Bezug genommen, die nach ihrer Auffassung bei einem Verstoß des Irak gegen seine Abrüstungsverpflichtungen auch einen militärischen Einsatz zulassen. Dabei haben sie besonders auf die ursprüngliche Ermächtigung Bezug genommen, die im Jahre 1990 die Befreiung von Kuwait mit militärischer Gewalt autorisierte und die Auffassung dargelegt, dass diese Ermächtigung weiter gelte.19 Die von den USA und Großbritannien hier vertretene Rechtsauffassung wird von einer großen Zahl von Völkerrechtlern – sicherlich der Mehrheit der deutschen Völkerrechtler – nicht für zutreffend gehalten. Meines Erachtens ergibt sich dies bereits ganz deutlich aus der Waffenstillstandsresolution 687, die hervorhebt, nur der Sicherheitsrat könne eine neue bewaffnete Aktion gegen den Irak rechtfertigen. Auf der anderen Seite ist es von Bedeutung, dass die USA und Großbritannien sich auf die Sicherheitsratsresolution berufen haben. Sie haben nicht etwa ein allgemeines Recht auf präemptive Selbstverteidigung in Anspruch genommen. Das zeigt, dass für die Weiterentwicklung des Völkerrechts der Irak gerade nicht als ein Fall angesehen werden kann, in dem die Grenzen der Selbstverteidigung verschoben worden sind. Nach dem 11. September 2001, als von Terroristen gekaperte Flugzeuge als Waffen gegen überwiegend zivile Ziele in New York und Washington eingesetzt wurden, hat der Sicherheitsrat indirekt ein Recht der USA auf Selbstverteidigung angenommen. In zwei Resolutionen hat er das Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der Satzung in Resolutionen betont, die die terroristischen Akte mit besonderer Schärfe verurteilten.20 Es kann nicht bezweifelt werden, dass der Sicherheitsrat hier in einstimmigen Resolutionen die von den USA sofort angekündigten 19
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Es handelt sich um die Resolution des Sicherheitsrates 678 aus dem Jahre 1990; die Rechtfertigung findet sich in UN Doc. S/2003/351 vom 21.3.2003. Res. 1368 (2001); 1373 (2001).
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Selbstverteidigungsmaßnahmen im Auge hatte, falls festgestellt werden könnte, dass die Urheber des oder der terroristischen Anschläge vom Territorium eines fremden Staates aus agierten. Jedenfalls dann, wenn dieser fremde Staat nicht bereit oder in der Lage ist, weitere Gefahren von Angriffen zu bekämpfen, muss damit eine Verteidigungsmaßnahme auch auf dem Territorium dieses fremden Staates möglich sein. Das ist die Rechtsgrundlage für die amerikanische Aktion in Afghanistan gegen Al Qaida und Taliban.
Das System des Kapitels VII Kapitel VII der UN-Satzung sieht Maßnahmen vor, die der Sicherheitsrat treffen kann, um die Bedrohung oder den Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung zu unterbinden. Dabei sind nach Art. 41 Sanktionsmaßnahmen, vor allem wirtschaftlicher Art, möglich. Gemäß Art. 42 kann der Sicherheitsrat auch militärische Zwangsmaßnahmen treffen. Dabei geht die Satzung nach ihrem Wortlaut zunächst davon aus, dass dem Sicherheitsrat gemäß Art. 43 Streitkräfte zur Verfügung gestellt werden. Dazu ist es nie gekommen. Die Vorstellung, die am Ende des zweiten Weltkrieges herrschte, dass Staaten bereit sein könnten, das Leben ihrer Soldaten dem Sicherheitsrat anzuvertrauen, hat sich als illusorisch erwiesen. Eine genaue Analyse der Satzung zeigt aber, dass der Sicherheitsrat auch Staaten ermächtigen kann, mit ihren Truppen Einsätze zur Wiederherstellung des Friedens durchzuführen.21 Die letzte Möglichkeit ist 1990/91 beim Golfkrieg nach der Besetzung Kuwaits durch den Irak genutzt worden. Der Sicherheitsrat hat die Koalition der dazu bereiten Staaten ermächtigt, Gewalt gegen den Irak zur Befreiung von Kuwait einzusetzen. Auf dieser Grundlage ist Kuwait befreit worden. Dagegen hat es bei dem militärischen Einsatz gegen den Irak im Jahre 2003 nach jedenfalls ganz überwiegender Meinung an einer derartigen Ermächtigung des Sicherheitsrates gefehlt.22
Intervention im Fall des extremen Notstandes Der Fall des Kosovo 1999 war das ungewöhnliche Beispiel eines Eingreifens einer regionalen Verteidigungsorganisation (NATO) in einem Konflikt von außen ohne jede Mandatierung oder Autorisierung durch den Sicherheitsrat. Insofern war klar, dass der Einsatz rechtlich als prekär angesehen werden musste. Allerdings wäre es meines Erachtens voreilig, daraus unmittelbar auf die Rechtswidrigkeit zu schließen. Es fragt sich vielmehr, ob es in extremen Fällen bei Nichthandeln des Sicherheitsrats die Möglichkeit einer Rechtfertigung eines bewaffneten Eingreifens aus notstandsähnlichen Erwägungen ge21 22
Zu dem System von Kap. VII siehe Frowein/Krisch, in: Simma 2002. Dazu Frowein 2003.
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ben kann. Erwägungen dieser Art sind in der völkerrechtlichen Literatur immer wieder angestellt worden.23 Wenn ein Staat genozidartige Maßnahmen vornimmt, so erscheint ein Einsatz mit Waffengewalt, der das Ziel hat, den Genozid zu beenden, idealtypisch dann als gerechtfertigt, wenn er ohne weitere Verluste möglich ist und unmittelbar die Begehung des Genozids verhindern. Freilich wird ein derartiger Fall in der Wirklichkeit kaum jemals vorliegen. Der Kosovo-Einsatz hat gezeigt, dass die Verluste, gerade bei der zu schützenden Zivilbevölkerung, auch bei der Verwendung modernster Präzisionswaffen hoch bleiben. Insofern muss die Rechtfertigung ohne Mandat des Sicherheitsrates als äußerst prekär angesehen werden. Im Ausnahmefall kann sie meines Erachtens nicht ausgeschlossen werden. Es bleibt abzuwarten, ob der Internationale Gerichtshof im Zusammenhang mit den anhängig gemachten Verfahren hier zu einer Erklärung kommen wird. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, weil voraussichtlich bereits die Zulässigkeit der Verfahren verneint werden wird.24
Völkerrecht und Regeln der Konfliktaustragung Für die bewaffnete Austragung von Konflikten gibt es heute außerordentlich detaillierte Regelungen, deren Einhaltung freilich immer bedroht ist. Hier sind zunächst die vier Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949 zu nennen, die den Schutz der Verwundeten, der Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung zum Gegenstand haben.Von besonderer Bedeutung sind weiter die Zusatzprotokolle von 1977, wobei im vorliegenden Zusammenhang vor allem das erste Zusatzprotokoll wesentlich ist. Das erste Zusatzprotokoll enthält im Rahmen des Schutzes der Zivilbevölkerung die ausdrückliche Festlegung, dass zivile Objekte weder angegriffen, noch zum Gegenstand von Repressalien gemacht werden dürfen. Zivile Objekte sind alle Objekte, die nicht militärische Ziele im Sinne von Art. 52, Abs. 2 sind. Danach gelten als militärische Ziele nur solche Objekte, die aufgrund ihrer Beschaffenheit, ihres Standortes, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt.25 Abs. 2 des Art. 53 enthält eine Vermutungsregel, wonach im Zweifelsfall vermutet wird, dass ein in der Regel für zivile Zwecke bestimmtes Objekt, wie beispielsweise eine Kultstätte, ein Haus, eine sonstige Wohnstätte oder eine Schule, nicht dazu verwendet wird, wirksam zu militärischen Handlungen beizutragen. Es ist klar, dass auch die hier gegebene Umschreibung erhebli23 24 25
Doehring 2004, 444–449. Das Verfahren ist noch anhängig. Zum Kriegsrecht M. Bothe, in: Vitzthum 2001, 642–679.
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chen Spielraum lässt. Dennoch muss meines Erachtens gesagt werden, dass die Bombardierung von Brücken, die weitab vom konkreten Kampfgeschehen lagen und keine unmittelbare Rolle für militärische Transporte hatten, im Kosovo-Konflikt völkerrechtlich nicht gedeckt war. Dasselbe gilt meines Erachtens für die Bombardierung von Elektrizitätswerken, die vor allem die zivile Stromversorgung aufrechterhielten. Hier erscheint es notwendig, die Klärung des militärischen Zieles weiter zu führen. Es sollte aber auch darauf hingewiesen werden, dass Einsätze in der letzten Zeit nicht selten mit sehr genauer Beratung erfolgt sind. Es ist bekannt, dass die USA, obwohl sie nicht an das erste Zusatzprotokoll gebunden sind, eine genaue Klärung der Zielqualität vornehmen.
Völkerrecht und Bewältigung von beendeten Konflikten Konflikte der letzten Jahre haben die besonders wichtige Rolle des UN-Sicherheitsrates bei der Bewältigung von Konfliktfolgen gezeigt. Durch bindende Resolutionen nach Kapital VII hat der Sicherheitsrat in erheblichem Umfang dazu beigetragen, die Folgen von Konflikten zu überwinden. So hat er etwa nach der Befreiung von Kuwait die Grenze zwischen Kuwait und dem Irak durch eine auf Kapitel VII gestützte Frieden sichernde Resolution bestätigt und damit geklärt, welche territoriale Lage hier Grundlage der Friedensbewahrung ist.26 In zunehmendem Umfang hat der Sicherheitsrat eine zeitweilige Verwaltung von Gebiet durch besonders eingesetzte UN-Organe festgelegt. Das gilt für Bosnien-Herzegowina in begrenztem Umfang, sehr viel weiter gehend für Kosovo und Ost-Timor. Der Sicherheitsrat hat jeweils die Grundlage dafür geschaffen, dass besondere Repräsentanten des Generalsekretärs in weitem Umfang Rechtsetzungs-,Verwaltungs- und Judikativfunktionen wahrnehmen. Obwohl ein anderer Weg kaum zur Verfügung stehen dürfte, muss die hier geschaffene Regelung auch in ihrer ganzen Problematik erkannt werden. Die Rechtsetzung durch einen Vertreter des Generalsekretärs wirft jedenfalls in einer Reihe von Fällen erhebliche Probleme hinsichtlich der Rechtsgarantien der Rechtsunterworfenen auf. Für das Kosovo ist etwa Strafrecht rückwirkend verändert worden, was gegen grundlegende rechtsstaatliche Garantien verstößt.27 Der Sicherheitsrat hat auch durch auf Kapitel VII gestützte Resolutionen das Problem der Reparationen für rechtswidrige Gewaltanwendung festgelegt. So hat er die Ersatzleistungen für Schäden, die der Irak angerichtet hat, durch die Einrichtung einer Entschädigungskommission geregelt. Hier sind inzwischen Millionen Dollar auf dieser Grundlage an die Geschädigten ausgezahlt worden. Ebenso hat der Sicherheitsrat durch Beschlüsse nach Kapitel 26 27
Vgl. Res. 687 (1991); 692 (1991). Frowein/Krisch, in: Simma 2002, 743ff.
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VII die Bestrafung von Kriegsverbrechen sowohl für das ehemalige Jugoslawien als auch für Ruanda festgelegt. Die eingesetzten internationalen Strafgerichte haben inzwischen in einer ganzen Reihe von Fällen Urteile gesprochen. Personen sind zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden, weil sie während der Konflikte Kriegsverbrechen begangen hatten. Mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes, dessen Grundlage ein ratifizierter Vertrag ist, steht jetzt ein derartiges Tribunal für alle denkbaren Konfliktfälle zur Verfügung.28
Der interne Konflikt Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die Abgrenzung zwischen internationalen und internen Konflikten häufig Schwierigkeiten macht. Interne Konflikte können erhebliche Auswirkungen auf die Nachbarstaaten haben und damit die Gefahr einer Ausweitung des bewaffneten Konflikts hervorrufen. In diesem Fall ist das Völkerrecht eindeutig betroffen. Aber auch bei dem rein internen Konflikt gibt es seit langem bestimmte Regelungen des Völkerrechts, die zur Anwendung kommen. Insbesondere die gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Rot-Kreuz-Konventionen, die einen Mindeststandard des humanitären Völkerrechts auch für den internen Konflikt festlegen, sind hier Ausgangspunkt einer bedeutsamen Entwicklung gewesen. Diese Artikel 3 legen fest, dass im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter hat, jede der am Konflikt beteiligten Parteien folgende Mindestregelungen anzuwenden hat: Nicht am Konflikt unmittelbar beteiligte Personen werden mit Menschlichkeit behandelt,Verwundete werden geschützt; grausame Behandlungen und Folterung, Festnehmen von Geiseln, Beeinträchtigung der persönlichen Würde, erniedrigende und entwürdigende Behandlung sowie Verurteilung und Hinrichtung ohne vorhergehendes Urteil eines ordentlich bestellten Gerichts, das die von den zivilisierten Völkern als unerlässlich anerkannten Rechtsgarantien bietet, sind verboten. Besonders wichtig ist, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz den am Konflikt beteiligten Parteien auch im internen Konflikt seine Dienste anbieten kann. Der Sicherheitsrat hat in den letzten Jahren in zunehmendem Maße die Regeln des Kapitels VII auf interne Konflikte, in denen massive militärische Gewalt angewendet wurde, unproblematisch angewendet. Er hat Resolutionen gegen Bürgerkriegsparteien gefasst. Er hat auch Sanktionen speziell gezielt für Rebellenorganisationen festgelegt. Damit ist anerkannt, dass der militärisch ausgetragene interne Konflikt eine Friedensbedrohung im Sinne von Kapitel VII der UN-Satzung ist.29 Da es der Sinn des Kapitels VII ist, die Menschheit vor den Schrecken des Krieges zu bewahren, erscheint diese vom Sicherheitsrat vorgenommene Ausweitung konsequent. Gewiss konnte man 28 29
Ebd., 743. Ebd., 723f.
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sie sich in der Phase des Kalten Krieges nicht vorstellen, aber sie entspricht den Möglichkeiten, die sich heute ergeben.
Schluss Das Völkerrecht hat in Gestalt der Mittel der friedlichen Streitbeilegung eine Vielzahl von Möglichkeiten der Konfliktbehandlung. Diese Möglichkeiten werden von Staaten in weit größerem Umfang genutzt als das im allgemeinen Bewusstsein ist.Vor allem gerichtliche und gerichtsähnliche Verfahren sind in den letzten Jahrzehnten als besonders wirksame Verfahren der Konfliktbewältigung auch dort genutzt worden, wo das bis dahin nicht der Fall war. Die Behandlung des bewaffneten Konflikts ist naturgemäß immer besonders problematisch und schwierig. Man kann davon ausgehen, dass das Völkerrecht seine wichtigste Bewährungsprobe bereits nicht bestanden hat, wenn es zur Gewaltanwendung kommt. Immerhin sollte nicht übersehen werden, dass auch bei der Gewaltanwendung in erheblichem Umfang Völkerrechtsnormen bedeutsam sind. Man kann nur hoffen, dass deren Wirksamkeit weiter gesteigert werden kann. Der Bericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz über die Gefangenen im Irak zeigt einerseits schwere Verletzungen des Genfer Rechts, andererseits aber auch, dass derartige Verletzungen, schon bevor sie allgemein bekannt geworden waren, von einem unabhängigen Organ scharf gerügt worden waren.30
Literatur Doehring K (2004) Völkerrecht. Heidelberg: C. F. Müller, 2. Aufl. Frowein JA, Peukert W (1996) Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar. Kehl: Engel, 2. Aufl. Frowein JA (2003) Issues of Legitimacy around the United Nations Security Council. In: Frowein JA u. a. (Hrsg.) Verhandeln für den Frieden. Liber Amicorum Tono Eitel. Berlin: Springer 1996 Grabenwarter C (2003) Europäische Menschenrechtskonvention. München: Beck Jackson JH (1998) The World Trade Organization. London: Royal Inst. of International Affairs Oppermann T (1999) Europarecht. München: Beck, 2. Aufl. Simma B (Hrsg.) (2002) The Charter of the United Nations. A commentary. München: Beck, 2. Aufl. Vitzthum W Graf u. a. (Hrsg.) (2001) Völkerrecht. Berlin/New York: de Gruyter, 2. Aufl. 30
Der Bericht, der zunächst geheim war, datiert vom Februar 2004.
Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Konflikt und Konfliktmanagement aus evolutionsbiologischer Perspektive andreas paul Kampf findet immer statt, wo mehrere nach gleichem Ziele streben; bei den Affen vergeht aber sicher kein Tag ohne Streit und Zank. ALFRED E. BREHM 18831
Einleitung „Kein Tag ohne Streit und Zank“: das mag übertrieben sein – selbst wenn man zugeben muss, dass viele Primaten nicht eben konfliktscheu sind. Auch dass „Kampf immer stattfindet, wo mehrere nach gleichem Ziele streben“, ist nicht ganz richtig: Manche Konflikte lassen sich auch anders lösen – oder zumindest so weit entschärfen, dass Eskalationen vermieden werden können. Dass aber Konflikte zum Leben dazugehören, ist wohl eine Binsenweisheit. Nur ist es vielleicht nicht ganz so offensichtlich, dass dies eine unausweichliche Folge eines einfachen biologischen Prinzips ist. Charles Darwin hatte es, inspiriert von Robert Malthus, mit seinem berühmten Elefantenbeispiel deutlich gemacht. Elefanten gehören nicht zu den Tieren, die sich durch eine besonders schnelle Vermehrung auszeichnen. Im Gegenteil: Sie werden erst spät – im Alter von acht bis zehn Jahren – geschlechtsreif, haben eine Tragzeit von fast zwei Jahren und bringen im Durchschnitt nur alle vier Jahre ein einziges Junges zur Welt. Und dennoch müsste es, rechnete Darwin 1859 vor, im „Verlauf von 740 bis 750 Jahren etwa 19 Millionen Elefanten als Abkömmlinge eines Paares geben“.2 Diese „erstaunlich rasche Vermehrung“, zu der sogar eine sich so langsam reproduzierende Art wie der Elefant in der Lage ist, führte zu einer ebenso logischen wie unerbittlichen Schlussfolgerung: „Der Kampf ums Dasein ist die notwendige Folge des stark entwickelten Strebens aller Lebewesen, sich zu vermehren“, da sonst „kein Land das Erzeugte zu ernähren imstande wä1 2
Brehm 1883, 48. Darwin 1963 [1859], 103; die Daten, die in Darwins Berechnung eingingen, waren nicht alle ganz richtig, am prinzipiellen Ergebnis ändert dies aber nichts.
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re.“3 Und dass dieser „Kampf ums Dasein am heftigsten zwischen Individuen derselben Art“ toben musste, war ebenfalls klar: Schließlich sind sie es, die im Allgemeinen auch dieselben Bedürfnisse und Ansprüche an ihre Umwelt haben.4 Um Missverständnissen vorzubeugen, erklärte Darwin auch gleich, was er mit dem berüchtigten Schlagwort vom „Kampf ums Dasein“ meinte: „Es sei vorausgeschickt, dass ich die Bezeichnung ‚Kampf ums Dasein‘ in einem weiten metaphorischen Sinne gebrauche, der die Abhängigkeit der Wesen voneinander, und was noch wichtiger ist: nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch seine Fähigkeit, Nachkommen zu hinterlassen, mit einschließt.“5 Keine Rede also von einem unerbittlichen Kampf aller gegen alle,„mit Zähnen und Klauen, blutigrot“, bei dem nur der Stärkste überlebt. In Darwins „Kampf ums Dasein“ ist für Kooperation, gegenseitige Hilfe und Altruismus durchaus Platz, und Darwin war sich sehr wohl darüber klar, dass „sociale Thiere einander manche kleinen Dienste“ leisten6 und womöglich sogar „ein Gefühl der Liebe zueinander“ empfinden.7 Aber in einer Welt, in der der evolutive Erfolg eines Gens nur davon abhängt, dass es sich selbst nützt – und nicht etwa seinem Träger oder gar dem „Gemeinwohl“,8 einer Welt, in der die Maximierung der eigenen genetischen Fitness das Lebensprinzip ist, auf das alle Organismen von Natur aus eingestellt sind,9 sind Konflikte vorprogrammiert: Konflikte zwischen Individuen, Konflikte zwischen Gruppen, Konflikte zwischen Geschlechtspartnern,10 Konflikte zwischen Eltern und Kindern11 und sogar Konflikte zwischen Genen ein und desselben Genoms.12 Konflikte aus evolutionsbiologischer Perspektive zu betrachten, soviel wird aus dieser Aufzählung deutlich, ist ein weites Feld, das hier nur ansatzweise beackert werden kann. Konflikte haben den Gang der Evolution in vieler Hinsicht beeinflusst und beispielsweise wohl auch dazu beigetragen, dass das menschliche Gehirn dreimal größer ist als das unserer nächsten lebenden Verwandten, der Schimpansen.13 Insofern mag man Konflikte durchaus – frei nach Goethe – als Kraft bezeichnen, die stets das Böse will und doch auch Gutes schafft. Die destruktive Kraft von Konflikten, deren Unausweichlichkeit daher rührt, dass Lebewesen Ressourcen brauchen – um zu leben, um zu 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Ebd., 102. Ebd., 116f. Ebd., 101. Darwin 1992 [1871], 110. Ebd., 112. Hamilton 1963. Voland 2000. Trivers 1972. Trivers 1974. Hurst 1992. Dunbar 1998.
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wachsen, um sich fortzupflanzen – und dabei verbrauchen, ist freilich nicht zu übersehen: „Die furchtsamsten Tiere“, bemerkte Darwin,„welche nicht mit irgend welchen speziellen Waffen ausgerüstet sind, lassen sich während der Zeit der Liebe in verzweifelte Kämpfe ein. Zwei männliche Hasen hat man gesehen, welche solange mit einander fochten, bis einer getötet war.“14 Der Konflikt der beiden Hasen hat seine Ursache zweifellos darin, dass hier zwei „nach gleichem Ziele streben“ – und nur einer es erlangen kann. Häsinnen, genauer gesagt: ihre Eizellen, sind für Hasen eine Ressource, um die es sich zu kämpfen lohnt. Aber Konflikte entstehen nicht nur dort, „wo mehrere nach gleichem Ziele streben“; sie können ihre Ursache auch darin haben, dass zwei etwas Ähnliches wollen, aber nicht genau „nach gleichem Ziele streben“, und die Folgen solcher Konflikte können ebenso dramatisch sein wie der Tod des Hasen.
Geschlechterkonflikte Wenn im Frühjahr die weiblichen Trauerschnäpper (Fidecula hypoleuca) aus ihrem Winterquartier heimkehren, suchen sie unter den bereits im Brutgebiet ansässigen Männchen einen Partner, der über ein Revier mit einer geeigneten Bruthöhle verfügt. Finden sie einen, der ihnen zusagt, gehen sie eine Paarbindung mit ihm ein. Gemeinsam zeugt das Paar Junge und zieht diese auch gemeinsam auf. Trauerschnäpper entsprechen, so scheint es, dem Bild, das wir uns von der Natur gerne machen: harmonisch, heil und gesund. Aber gar so heil, wie sie auf den ersten Blick aussieht, ist die Welt der Trauerschnäpper nicht. Sobald das Weibchen die Eier gelegt hat, ist der „Gatte“ nämlich auffällig häufig „aushäusig“: Er singt an einer anderen, noch unbesetzten Bruthöhle, die einige hundert Meter, manchmal sogar mehrere Kilometer von der entfernt ist, in der seine Partnerin brütet. Und manch einem Männchen gelingt es, nicht nur ein zweites Revier erfolgreich gegen Rivalen zu verteidigen, sondern auch ein zweites, später eintreffendes Weibchen zu erobern, mit dem es ebenfalls Junge zeugt. Die Beziehung zu diesem zweiten Weibchen ist allerdings eine rein sexuelle: An der Aufzucht der Jungen, die es mit seiner „Geliebten“ zeugt, beteiligt sich das Männchen nämlich kaum oder gar nicht. Welche Konsequenzen das Verhalten des Männchens für die Beteiligten hat, haben Rauno Alatalo und seine Arbeitsgruppe in der Umgebung von Uppsala untersucht.15 Aus der Sicht eines weiblichen Trauerschnäppers ist es das Beste, einzige Partnerin eines monogamen Männchens zu sein: Monogam verpaarte Weibchen ziehen mehr Junge auf als Weibchen eines Polygamisten. Die eigentliche Verliererin ist die „Geliebte“ oder – in der nüchternen Fach14 15
Darwin 1992 [1871], 565. Alatalo/Lundberg 1990.
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sprache, der jeder Anthropomorphismus verdächtig ist, das „sekundäre Weibchen“. Sekundäre Weibchen ziehen im Durchschnitt 40 Prozent weniger Junge auf als monogam verpaarte Weibchen. Und ebenso ist klar, wer der eigentliche Profiteur ist: das polygame Männchen, das im Schnitt immerhin 60 Prozent mehr Nachkommen hat als ein Monogamist. Die Verhältnisse bei den Trauerschnäppern demonstrieren einen für Arten mit sexueller (zweigeschlechtlicher) Fortpflanzung typischen Geschlechterkonflikt: Männchen und Weibchen brauchen einander zwar zur Fortpflanzung, verfolgen aber doch ganz unterschiedliche Reproduktionsstrategien – was fast zwangsläufig, auf jeden Fall aber regelmäßig, zu Interessenkonflikten führt.16 Für den männlichen Trauerschnäpper sind befruchtungsfähige Eizellen die Ressource, die seinen Reproduktionserfolg begrenzt. Für seine Partnerin gilt das Umgekehrte: Männliche Gameten sind im Überfluss vorhanden. Der Reproduktionserfolg des weiblichen Trauerschnäppers hängt vom Zugang zu gänzlich anderen Ressourcen ab, nämlich jenen, die zur erfolgreichen Aufzucht des Nachwuchses notwendig sind: eine gut geschützte Bruthöhle, reichlich Nahrung und männliche Hilfe bei der Brutpflege.Was für das Männchen also „gut“ ist, weil es seiner genetischen Fitness dient, ist für das Weibchen „schlecht“: Es erleidet eine Fitnesseinbuße, wenn es „nur“ sekundäres Weibchen neben einem primären Weibchen ist. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Für Weibchen (oder Frauen) muss es durchaus nicht grundsätzlich nachteilig sein, eine unter mehreren (oder gar vielen) in einem „Harem“ zu sein: Es gibt Alternativen, die noch schlechter sind.17 Ein Einzelfall sind die Trauerschnäpper jedoch nicht: Ähnliche Befunde liegen auch von anderen Vogelarten und von Menschen vor.18 Dass der Konflikt zwischen den Geschlechtern freilich auch ganz andere Ergebnisse zeitigen kann, zeigen Untersuchungen an Heckenbraunellen (Prunella modularis) im Botanischen Garten der Universität Cambridge.19 Auch bei diesen Vögeln haben manche Männchen mit zwei Partnerinnen Junge – und damit einen deutlich höheren Reproduktionserfolg als jedes monogam verpaarte Männchen. Und auch hier sind die Weibchen, die sich ein Männchen teilen müssen, die Verlierer – und zwar beide. Denn obwohl das polygame Heckenbraunellenmännchen anders als der Trauerschnäpper beiden Weibchen bei der Aufzucht ihrer Jungen hilft, ziehen beide im Durchschnitt weniger Junge auf als monogam verpaarte Weibchen. Es gibt allerdings auch Heckenbraunellenweibchen, die sich mit mehreren Männchen paaren – wo16
17 18 19
Ausdrücke wie „Strategie“, „Interesse“ oder „Interessenkonflikt“ verwenden Evolutionsbiologen, ohne damit implizieren zu wollen, dass Tiere von ihren reproduktiven „Interessen“ wüssten oder diese gar bewusst und planvoll verfolgen würden (auch Menschen tun dies für gewöhnlich nicht). Orians 1969. Voland 2000. Davies 1992.
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bei die Konstellation „ein Weibchen, zwei Männchen“ in der Cambridge-Studie die weitaus häufigste war. Dass eine solche Ménage-à-trois nicht im Interesse der Männchen ist, liegt auf der Hand: Jeder Rivale gefährdet den eigenen Fortpflanzungserfolg, und tatsächlich ergaben genetische Vaterschaftstests, dass beide Männchen in einer solchen Konstellation Junge zeugten und somit beide als Ergebnis im Durchschnitt weniger Junge hatten als monogam verpaarte Männchen. Aus der Sicht der Weibchen ergibt eine solche Konstellation aber durchaus Sinn: Polyandrische Weibchen ziehen im Durchschnitt nicht nur mehr Junge auf als Weibchen in einem polygynen System, sondern sogar mehr als monogam verpaarte Weibchen. Ursache hierfür ist, dass beide Männchen bei der Aufzucht der Jungen helfen – wobei sie ihren jeweiligen Beitrag davon abhängig machen, wie hoch ihre Vaterschaftswahrscheinlichkeit ist. Offenbar bedienen sie sich dabei einfacher Hinweise – etwa der Häufigkeit, mit der sie sich mit dem Weibchen gepaart haben. Angesichts der unterschiedlichen Fitnesserträge, die sich aus den verschiedenen Paarungssystemen für die Geschlechter ergeben, ist zu erwarten, dass beide Parteien ihre Interessen mit allen Mitteln versuchen durchzusetzen – auch auf Kosten ihres Partners oder ihrer Partnerin. Dabei kommen ganz unterschiedliche Verhaltensstrategien zum Einsatz. Männliche Trauerschnäpper täuschen ihre Partnerinnen, die aufgrund der weit auseinanderliegenden Bruthöhlen nicht erkennen, dass ihr Partner ein „Doppelleben“ führt.20 Polygynen Heckenbraunellenmännchen steht diese Option nicht offen, da die Weibchen in enger Nachbarschaft leben. Aus der Sicht einer weiblichen Heckenbraunelle ist Polygynie jedoch ebenfalls nicht erstrebenswert und führt daher zu heftigen Aggressionen zwischen den Weibchen. Um zu verhindern, dass der Streit eskaliert und eines der Weibchen womöglich seinen Brutplatz aufgibt, kann ein polygynes Männchen nur eines tun: sich zwischen die streitenden Weibchen stellen. Polyandrie wiederum ist aus männlicher Sicht nicht erstrebenswert. Versucht sich ein zweites Männchen im Revier eines Paares einzunisten, führt dies daher zu heftigen, mitunter tödlich verlaufenden Kämpfen zwischen den Männchen.Weibchen haben dagegen mehr als einen Grund, auch fremde Männchen zur Paarung aufzufordern und damit wider die Interessen ihres primären Männchens zu handeln. Sie gewinnen nicht nur einen zweiten Brutpflegehelfer, sondern vermindern auch das Risiko, die ganze Brut zu verlieren: Unverpaarte Heckenbraunellenmännchen neigen nämlich dazu, Gelege zu zerstören. Auf diese Weise sichern sie sich die Chance, an einem erneuten Reproduktionsversuch des Weibchens zu partizipieren. Infantizid – das Töten arteigenen, unselbstständigen Nachwuchses – durch Männchen und multiple Paarungen von Weibchen mit mehreren Männchen sind Resultate des Geschlechterkonfliktes, die vor allem von Primaten be20
Alatalo et al. 1990, Kilpimaa et al. 1995.
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kannt sind,21 aber auch bei Vögeln offenbar weiter verbreitet sind, als lange Zeit vermutet wurde.22 Infantizid ist allerdings kein Mittel, zu dem nur Männchen greifen. Auch für Weibchen kann Infantizid ein Mittel zur Konfliktlösung darstellen – wenn ihr Aufzuchtserfolg gefährdet ist. Ein instruktives Beispiel dafür liefern Haussperlinge (Passer domesticus), auch bekannt als Spatzen. Spatzen sind oft monogam, viele Männchen begatten aber auch zwei oder drei Weibchen. Bei der Brutpflege helfen die Männchen allerdings ebenso wie die Trauerschnäpper nur ihrem primären Weibchen – mit dem Effekt, dass sekundäre Weibchen signifikant weniger Junge aufziehen als primäre Weibchen. Auch die primären Weibchen haben aber ein Problem: Manchmal wird ihr ganzes Gelege zerstört oder die gerade geschlüpften Jungen werden getötet. Täter sind die sekundären Weibchen, die auf diese Weise versuchen, in den Genuss männlicher Hilfe zu kommen.23 Was ein Spatzenweibchen empfindet, das zu solch drastischen Maßnahmen greift, um seine Interessen durchzusetzen, wissen wir natürlich nicht. Es als „eifersüchtig“ zu bezeichnen, ist insofern also zweifellos anthropomorph. Aus funktioneller Sicht ist der Begriff jedoch gerechtfertigt: Definiert man Eifersucht als einen emotionalen Zustand, der durch die Gefährdung einer als wichtig erachteten Beziehung hervorgerufen wird und der zu Verhaltensweisen motiviert, die das Ziel haben, diese Gefahr abzuwenden,24 wird man nicht nur Menschen, sondern auch Spatzen, Heckenbraunellen und andere Tiere eifersüchtig nennen können. Nicht nur frustrierte Spatzenweibchen bringen gelegentlich die Jungen von Rivalinnen (und ihres Sexualpartners) um; ähnlich gelagerte Fälle kennt man auch von Krallenaffen, Zwergmungos, afrikanischen Wildhunden und „staatenbildenden“ Insekten, und sie deuten auf ein gemeinsames Muster hin.25 Alle diese Arten leben in Gruppen, in denen sich (a) üblicherweise nur das ranghöchste Weibchen fortpflanzt und die sich (b) durch kooperative Aufzucht auszeichnen, d. h. die Aufzucht der Jungen wird entweder (wie bei den sozialen Insekten) von speziellen Kasten übernommen, oder sämtliche (oder zumindest einige) Gruppenmitglieder fungieren als Brutpflegehelfer. Dafür, dass sich in diesen Gruppen üblicherweise nur das dominante Weibchen fortpflanzt und sich damit auch die gesamte Brutpflege auf die eigenen Jungen konzentriert, sorgt es selbst: Es unterdrückt die Fortpflanzung potenzieller Rivalinnen durch chemische Botenstoffe (Pheromone) oder setzt sie durch ständige Aggressionen so unter chronischen Stress, dass die weibliche Fortpflanzungsphysiologie lahmgelegt wird. Gelegentlich versagen diese Mechanismen der reproduktiven Unterdrückung jedoch, und in solchen Fällen 21 22 23 24 25
van Schaik/Janson 2000. Veiga 2000; Birkhead 2000. Veiga 1990. Symons 1979; Daly et al. 1982. Digby 2000.
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kommt es regelmäßig zum Infantizid: Eier von Rivalinnen werden gefressen, Neugeborene getötet. Nicht alle diese Fälle sind das Resultat eines Geschlechterkonfliktes, aber sie stützen die evolutionäre Theorie der Eifersucht.26 Basierend auf den unterschiedlichen Reproduktionsstrategien der Geschlechter sagt diese Theorie voraus, dass Weibchen (oder Frauen) „eifersüchtig“ reagieren sollten, wenn durch die Gefährdung einer Beziehung die für ihren Reproduktionserfolg entscheidende Schlüsselressource gefährdet ist: materielle Güter, die für die erfolgreiche Aufzucht der eigenen Jungen notwendig sind. Sexuelle Untreue ihres Partners ist für Weibchen (Frauen) dagegen per se kein Grund, eifersüchtig zu sein, da ihr Reproduktionserfolg dadurch in keiner Weise beeinträchtigt wird. Besteht allerdings Gefahr, dass sich der Partner, dessen Hilfe oder auch nur pure Anwesenheit für die erfolgreiche Aufzucht der Nachkommen von Bedeutung ist, von seiner gegenwärtigen Partnerin ab- und einer anderen zuwendet, ist weibliche Eifersucht zu erwarten. Für den männlichen Teil der Welt stellt sich die Sache anders dar: Jeder weibliche Seitensprung kann den männlichen Reproduktionserfolg zumindest potenziell empfindlich schmälern, so dass zu erwarten ist, dass für Männchen (Männer) jedes Anzeichen für sexuelle Untreue ihrer Partnerin ein hinreichender Grund ist, eifersüchtig zu sein. Emotionale Untreue der Partnerin gefährdet den männlichen Reproduktionserfolg dagegen nicht unmittelbar und sollte daher zu weniger starken Reaktionen führen. Verschärft wird der Geschlechterkonflikt durch zwei weitere Faktoren: innere Befruchtung und Unsicherheit über den Zeitpunkt des Eisprungs. Für die Entwicklung und Versorgung einer befruchteten Eizelle bietet innere Befruchtung zweifellos Vorteile, und dies dürfte auch der Grund sein, warum sie nicht nur bei landlebenden Tieren, sondern auch bei einer ganzen Reihe wasserlebender Tiere entstanden ist. Aber wie so oft handelt man sich mit einem Vorteil auch eine Menge potenzieller Probleme ein. Eine Frau, die ihrem Liebhaber am Morgen danach eröffnet, „Ich verlasse dich. Von nun an hängt das Schicksal unseres gerade gezeugten Kindes von dir ab!“, ist schlecht vorstellbar, während der umgekehrte Fall – die „Don-Juan-Methode“ – nicht nur möglich ist, sondern dem Vernehmen nach gar nicht so selten sein soll.27 Die vollständige Abhängigkeit des Ungeborenen von der Mutter ist aber nicht das einzige Problem, das mit innerer Befruchtung verbunden ist. Hinzu kommt, dass ein Mann sich nie sicher sein kann, dass er tatsächlich der Vater der ihm zugeschriebenen Kinder ist: „Pater semper incertus“, wussten schon die alten Römer. Bei Menschen und vielen anderen Primaten tritt dieses Problem verschärft auf: Man kann Frauen nicht ansehen, wann sie ihren Eisprung haben. 26 27
Symons 1979; Daly et al. 1982. Letztlich verfahren die Männchen der weitaus meisten Säugetierarten nach diesem Prinzip, wenngleich hierfür auch noch andere Ursachen als die innere Befruchtung ausschlaggebend sind (vgl. Paul 2002).
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Ursache dafür ist, dass im Gegensatz zu anderen Tieren die meisten Primatenweibchen auch außerhalb ihrer fruchtbaren Tage sexuellen Aktivitäten nicht abgeneigt sind.28 Damit erhöht sich die Vaterschaftsunsicherheit beträchtlich – was aus evolutionsbiologischer Perspektive schwerlich ohne Folgen für das Verhalten von Männchen (Männern) bleiben kann. Unterstützung für die evolutionäre Theorie der Eifersucht kommt aus vielen Bereichen. Beispiele aus der Tierwelt wurden oben angesprochen und ließen sich beliebig erweitern. Um das Bild zu vervollständigen, hier nur noch einige zusätzliche Hinweise. Bei vielen Vögeln sind die Männchen um ihr Weibchen scheinbar rührend besorgt und folgen ihm buchstäblich „Schritt auf Tritt“ – allerdings nur in der Zeit zwischen Befruchtung und Eiablage. Manche Insekten und Krebse gehen noch einen Schritt weiter, um Fremdbefruchtungen zu verhindern: Sie klammern sich nach der Paarung solange am Weibchen fest, bis dieses die Eier abgelegt hat. Rauchschwalben bedienen sich falscher Warnrufe, wenn sie Hinweise darauf haben, dass ihre Partnerin „fremdgeht“ – mit dem Effekt, dass diese jeden versuchten Seitensprung sofort abbricht.29 Mantelpavianmännchen verhindern dies schon im Vorfeld, indem sie Weibchen, die sie ganz offenbar als ihren Besitz betrachten, durch (meist allerdings nur angedeutete) Nackenbisse zwingen, nur ihnen zu folgen.30 Subtiler gehen Berberaffen vor, die anders als Mantelpaviane in einer hochgradig promisken Gesellschaft leben. Dennoch entsprechen auch männliche Berberaffen der Erwartung. Nach erfolgter Paarung „lausen“ sie nämlich regelmäßig ihre Partnerin. Scheinbar eine nette Geste, denn was Affen aus dem Fell des Gelausten entfernen, sind nach Analysen japanischer Forscher tatsächlich zum überwiegenden Teil die Eier („Nissen“) von Läusen. Aber darüber hinaus hat Lausen noch einige bemerkenswerte physiologische Effekte: Das Herz des Gelausten schlägt langsamer, in seinem Gehirn werden Beta-Endorphine freigesetzt, und seine Bewegungsunruhe wird vermindert.31 Offenbar handelt es sich also um eine Methode, das Weibchen so lange wie möglich an sich zu binden und seine polygamen Neigungen zu unterlaufen.32 Experimentelle Befunde an Springaffen stützen die Theorie ebenfalls. Springaffen sind kleine südamerikanische Primaten, die in Familiengruppen leben und sich durch ein für Säugetiere bemerkenswert hohes Maß an väterlicher Hilfe bei der Aufzucht der Jungen auszeichnen. Auch die Bindung zwischen den Geschlechtspartnern ist ungewöhnlich eng: Werden sie voneinander getrennt, äußert sich dies in einer deutlich vermehrten Ausschüttung des
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Ihre Paarungsbereitschaft zeigen die Weibchen vieler Primatenarten durch eine Sexualschwellung an, die jedoch kein zuverlässiger Indikator für den Ovulationszeitpunkt ist. Møller 1990. Kummer 1992. Boccia et al. 1989; Keverne et al. 1989; Goosen 1980. Todt et al. 1995.
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Stresshormons Cortisol.33 Trotz der engen Paarbindung sind Springaffen beiderlei Geschlechts Seitensprüngen aber nicht abgeneigt. „Eifersüchtig“ reagieren in solchen Fällen aber nur die Männchen; die Weibchen haben offenbar keinen Grund, einen Seitensprung ihres Partners als Bedrohung ihrer Beziehung zu betrachten.34 Eines machen die Beispiele deutlich: Männchen tendieren generell dazu, Weibchen eifersüchtig zu überwachen und ihre sexuelle Freiheit einzuschränken. Weibchen reagieren auf polygame Tendenzen ihrer Partner dagegen nur dann mit Eifersucht, wenn dies die Aufzucht ihrer Jungen beeinträchtigt. Dasselbe Muster findet sich – kulturunabhängig – beim Menschen, was an der These der „Gender studies“, Geschlecht sei eine „soziale Konstruktion“, zumindest gewisse Zweifel wecken sollte. Sexuelle Eifersucht ist trotz gegenteiliger Bekundungen in allen menschlichen Kulturen anzutreffen und gehört somit wohl zur biologischen Grundausstattung des Menschen.35 Kaum zu bezweifeln ist auch, dass eine gesellschaftliche Realität wie die weit verbreitete „doppelte Sexualmoral“, die sexuelle Freiheiten von Frauen weitaus stärker (und mit manchmal nur grausam zu nennenden Mitteln) beschneidet als die von Männern, einen biologischen Ursprung hat – was nicht bedeutet, dass sie deshalb „schicksalhaft“ und unabwendbar wäre.36 Freilich: Der Geschlechterkonflikt als solcher ist unabwendbar, und seine evolutionären Spuren haben sich tief in die menschliche Psychophysiologie eingegraben. Psychologische Studien unterstützen durchgängig die Erwartung der evolutionären Theorie der Eifersucht: Männer fühlen sich subjektiv erheblich stärker durch die Vorstellung belastet, ihre Partnerin habe Sex mit einem anderen, während bei Frauen eher emotionale Untreue ihres Partners Eifersucht erzeugt.37 Dieser Unterschied schlägt sich auch in Reaktionen des autonomen Nervensystems nieder: Hautwiderstand und Pulsfrequenz verändern sich bei Frauen eher, wenn sie sich vorstellen, dass ihr Partner ihnen emotional untreu ist, während bei Männern die Vorstellung sexueller Untreue ihrer Partnerin für deutlich stärkere Ausschläge sorgt.38 Solche physiologische Reaktionen scheinen noch harmlos. Aber welche kaum zu kontrollierenden Urgewalten und welches Leid diese als evolutionäre Anpassung an den Geschlechterkonflikt entstandene Emotion entfachen kann, lässt sich erahnen: Sexuelle Eifersucht ist weltweit eines der Hautmotive männlicher Gewalt.39
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Mendoza/Mason 1986. Anzenberger 1993; Cubicciotti/Mason 1978. Brown 1991; Daly et al. 1982. Daly et al. 1982; Vogel 1992; Smuts 1995. Z. B. Geary et al. 1995; Wiederman/Kendall 1999. Buss et al. 1992. Daly/Wilson 1988.
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Konfliktmanagement Geschlechterkonflikte scheinen nicht nur unabwendbar, sondern auch unauflösbar: Beide Parteien versuchen offenbar mit allen Mitteln, das für ihre eigene genetische Fitness bestmögliche Ergebnis zu erzielen – auch auf Kosten des jeweils Anderen. Aber gar so düster ist das Bild vielleicht doch nicht: Mit den Weibchen seiner Gruppe versöhnt sich ein dominantes Javaneraffenmännchen nach einem Streit – mit anderen erwachsenen Männchen tut es dies dagegen nie.40 Ob Affenmännchen und -weibchen, wie Darwin spekuliert hatte, „ein Gefühl der Liebe zueinander“ empfinden, sei dahingestellt, aber eines seiner Argumente kommt hier klar zum Ausdruck: „die Abhängigkeit der Wesen voneinander“. Geschlechtspartner mögen keine 100prozentig übereinstimmenden Interessen haben – aber sie sind voneinander abhängig. Und Wesen, die voneinander abhängig sind, werden einen Selektionsvorteil haben, wenn sie Mittel und Wege finden, Konflikte nicht eskalieren zu lassen – und damit eine nützliche Beziehung aufs Spiel zu setzen –, sondern sie zu entschärfen oder einen entstandenen Schaden zu begrenzen oder zu reparieren. Und dies gilt selbstverständlich nicht nur für (potenzielle) Geschlechtspartner, sondern für alle Lebewesen, die, aus welchen Gründen auch immer, in enger Gemeinschaft miteinander leben und aufeinander angewiesen sind. In enger Gemeinschaft mit anderen zu leben kann in vielerlei Hinsicht vorteilhaft sein. In einer Gruppe genießt der Einzelne erhöhten Schutz vor Raubfeinden, der Nahrungserwerb kann durch gemeinschaftliche Suche oder Jagd erleichtert werden, Ressourcen können erfolgreicher gegen konkurrierende Artgenossen verteidigt werden, und nicht zuletzt erleichtert das Leben in Gruppen auch soziales Lernen. Umsonst ist dies alles aber nicht, denn Gruppenleben vervielfacht auch die Anzahl möglicher Konflikte, da jedes Gruppenmitglied zugleich auch Konkurrent ist. Ein Affe, der allein lebt, kann in aller Ruhe seine Frucht verzehren; einer, der mit anderen zusammenlebt, muss einen Teil seiner Energie darauf verwenden, die ergatterte Nahrung gegen seine Genossen zu verteidigen. Und dieser Konkurrenzdruck wächst, je größer die Gruppe ist. Konflikte mit Gewalt zu lösen, birgt freilich Risiken: Einen Kampf kann man verlieren, und selbst wenn dies nicht der Fall ist, besteht das Risiko, verletzt zu werden. Verlierer ziehen oft weitere Aggressionen auf sich und zeigen oft deutliche Anzeichen von Angst – möglicherweise aufgrund der Unsicherheit, Opfer neuer Attacken zu werden. Stresssymptome sind aber auch bei Siegern nachgewiesen: Sowohl Affen als auch Ziegen kratzen sich häufiger, nachdem sie einen Artgenossen attackiert haben.41 Einen möglichen Grund, warum sich auch Aggressoren offenbar nicht immer wohl in ihrer 40 41
van Schaik/Aureli 2000. Aureli et al. 2002.
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Haut fühlen, hat Frans de Waal so formuliert: „One sometimes cannot win a fight without losing a friend.“42 Zumindest für Primaten ist die Formulierung gerechtfertigt: Primaten – nichtmenschliche und menschliche – brauchen Freunde, da sie mehr als die meisten anderen Tiere von sozialer Unterstützung abhängig sind.43 Auch die Beschädigung einer nutzbringenden Beziehung gehört also zu den möglichen Kosten, wenn Konflikte mit aggressiven Mitteln ausgetragen werden. Um die Kosten von Konflikten zu minimieren, sind in der Evolution Verhaltensweisen entstanden, die man in ihrer Gesamtheit als Konfliktmanagement bezeichnet: Verhaltensweisen, deren Funktion darin besteht, Eskalationen zu verhindern und/oder entstandene Schäden zu begrenzen oder zu reparieren.44 Zwei Formen des Konfliktmanagements kennt die Verhaltensforschung schon lange: Rangordnungen und Kommentkämpfe. Komment- oder Turnierkämpfe sind stark ritualisierte Formen der Auseinandersetzung, bei denen die Gegner einander, wie es scheint, „ritterlich verschonen“: Zähne oder andere potenziell gefährliche Waffen kommen nicht zum Einsatz. Da derartige Formen der Auseinandersetzung bei Tierarten verbreitet sind, die über potenziell gefährliche Waffen verfügen, glaubten Verhaltensforscher lange, dass hier eine angeborene innerartliche Tötungshemmung zum Ausdruck komme: Schließlich sei doch, so das Argument von Konrad Lorenz, „das Töten von Artgenossen im Sinne der Arterhaltung höchst unzweckmäßig.“45 Das ist es in der Tat. Nur ist der Darwinsche Selektionsprozess kein Mechanismus, der das Wohl der Art im Auge hätte. Eine angeborene Hemmung, die Tieren (oder Menschen) das Töten von Artgenossen „im Dienste der Arterhaltung“ verbietet, gibt es nicht, wie angesichts der erwähnten Fälle von Infantizid deutlich geworden sein sollte. Allerdings hat die Selektion genetische Programme begünstigt, die Tiere (und Menschen) in die Lage versetzen, Chancen und Risiken eines Kampfes einzuschätzen und ihr Verhalten entsprechend auszurichten. Kommentkämpfe dienen dem Ziel, die Kampfstärke eines Gegners einzuschätzen und Eskalationen dann zu vermeiden, wenn die potenziellen Kosten eines Kampfes in keinem Verhältnis zu seinem potenziellen Nutzen stehen.46 Demselben Prinzip liegen Rangordnungen zu Grunde – für Konrad Lorenz noch „ein Ordnungsprinzip, ohne das sich ein organisiertes Gemeinschaftsleben höherer Tiere offenbar nicht entwickeln kann“,47 und das in „vieler Hinsicht segensreich“ sei.48 Rangordnungen oder Hierarchien sind nach dieser 42 43 44 45 46 47 48
de Waal 1993, 133. Harcourt/de Waal 1992. Aureli/de Waal 2000. Lorenz 1955, 105. Maynard Smith/Price 1973. Lorenz 1963, 66. Ebd., 68.
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auch heute noch verbreiteten Vorstellung entstanden, weil sie dem sozialen Frieden dienen und letztlich allen Mitgliedern einer Gemeinschaft zum Vorteil gereichen. Entsprechend finden sich in der älteren Literatur vielfach stark anthropomorph gefärbte Rollenzuschreibungen, nach denen ranghohe Tiere nicht nur „Rechte“ hätten, sondern auch „Pflichten“: Sie würden Streit schlichten, die Schwachen in Schutz nehmen und so weiter. Aber dieses romantische Bild hat Risse bekommen. Richtig ist, dass ranghohe Tiere tatsächlich oft Streit schlichten – aber keineswegs immer die Schwachen in Schutz nehmen. Häufig ist das Gegenteil der Fall. Richtig ist in gewisser Weise auch, dass Rangordnungen dem sozialen Frieden dienen: In einer etablierten Rangordnung werden Konflikte meist ohne kämpferische Auseinandersetzungen geregelt. Nur hat ein rangtiefes Individuum rein gar nichts davon, dass es rangtief ist. Es profitiert allenfalls davon, dass es sich nicht auf Kämpfe einlässt, die es nicht gewinnen kann. Rangordnungen und Kommentkämpfe sind also nicht im Interesse eines wie immer gearteten übergeordneten Zieles (das „Gemeinwohl“) entstanden, sondern weil Individuen ein ausgeprägtes Eigeninteresse daran haben, Konflikte möglichst kostengünstig zu regeln.49 Der Deeskalation im Vorfeld möglicher Konflikte dient auch das bereits erwähnte „Lausen“ der Primaten, das den „Gelausten“ aufgrund seiner physiologischen Wirkungen friedlich stimmt und die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs senkt. Primaten setzen dieses Mittel gezielt ein, um Konflikte, wie sie beispielsweise in Gedrängesituationen oder durch Konkurrenz um Nahrung entstehen, abzupuffern.50 Andere Interaktionsformen dienen – neben anderen Funktionen – demselben Ziel: Männliche Berberaffen benutzen gezielt Jungtiere als „soziale Werkzeuge“, um Spannungen mit anderen Männchen abzupuffern,51 Bonobos beiderlei Geschlechts bedienen sich hierzu sexueller (auch homosexueller) Handlungen,52 und weibliche Japanmakaken paaren sich ebenso wie viele andere Primatenweibchen mit möglichst vielen Männchen, um – mitunter tödliche – männliche Aggressionen gegen ihre Kinder abzuwenden.53 Inwieweit deeskalierende Maßnahmen tatsächlich dazu führen, Häufigkeit und Intensität aggressiver Auseinandersetzungen zu vermindern, ist aber noch keineswegs immer klar, und dies gilt in besonderem Maße für Rangordnungen. Rangordnungen sind nie statisch, und ein erheblicher Teil der Aggressionen, die man bei freilebenden Primaten beobachtet, dient offenbar einzig und allein dem Zweck, bestehende Machtverhältnisse zu zementieren bezie-
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Vgl. Hand 1986; Paul 1998; Preuschoft/van Schaik 2000. Judge/de Waal 1997, Koyama 2000. Paul et al. 1996. de Waal 1987; Bonobos (Pan paniscus), oft auch irreführend „Zwergschimpansen“ genannt, sind die etwas grazilere Schwesterart der Schimpansen (Pan troglodytes). Soltis et al. 2000.
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Abb. 1. Bei Konflikten zwischen männlichen Berberaffen spielen Jungtiere, die als soziale Vermittler eingesetzt werden, eine wichtige Rolle. Foto: Andreas Paul
hungsweise in Frage zu stellen.54 Hinzu kommt, dass gerade Konflikte um sozialen Status oft mit beispielloser Härte ausgetragen werden.55 Auch in dieser Hinsicht erhält das von Lorenz im Zusammenhang mit Rangordnungen gebrauchte Adjektiv „segensreich“ einen reichlich bitteren Nachgeschmack. Hinweise für aktive Schadensbegrenzung nach aggressiven Auseinandersetzungen gibt es für verschiedene Säugetierarten; systematisch untersucht wurde diese Form des Konfliktmanagements bislang aber fast nur an Primaten, für die mittlerweile eine Vielzahl von methodisch ausgefeilten Studien vorliegen. Der generelle Tenor dieser Untersuchungen lautet: Primaten sind in der Lage, sich nach einem Streit zu versöhnen, indem sie kurz nach der Auseinandersetzung wieder Kontakt aufnehmen und freundliche Interaktionen austauschen.56 54 55
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Walters/Seyfarth 1987; Silk 2002. Z. B. de Waal 1986; ähnliches gilt für territoriale Konflikte bei so unterschiedlichen Tieren wie Schimpansen und Ameisen, vgl. Wrangham/Peterson 1996; Hölldobler/Wilson 2001. Aureli/de Waal 2000; Aureli et al. 2002; de Waal 1991, 2000.
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Dass der Begriff „Versöhnung“ angemessen und die an ihn geknüpfte Erwartung gerechtfertigt ist, lässt sich experimentell nachweisen: Bietet man zwei Javaneraffen in geringer Entfernung jeweils ein Fläschchen mit süßem Sirup an und provoziert dann einen Streit zwischen ihnen, traut sich der Unterlegene kaum noch neben dem Dominanten zu trinken. Erlaubt man beiden aber im Anschluss an den Streit freundliche Interaktionen auszutauschen, schwindet die ängstliche Zurückhaltung des Unterlegenen ebenso wie die aggressive Stimmung des Dominanten: Der emotionale Zustand der Beteiligten hat sich verändert, ihre kurzfristig gestörte Beziehung ist wieder im Lot.57 Natürlich finden nicht nach jedem mit aggressiven Mitteln ausgetragenen Konflikt Versöhnungen statt. Wer sich mit wem wie häufig versöhnt, ist von Art zu Art sehr unterschiedlich. Die durch ausgesprochen despotische (d. h. streng asymmetrische) Rangbeziehungen gekennzeichneten Rhesusaffen (Macaca mulatta) und Japanmakaken (Macaca fuscata) sind beispielsweise sehr viel weniger versöhnungsbereit als die nahe verwandten Bartaffen (Macaca silenus) oder Tonkeana-Makaken (Macaca tonkeana), die sich durch einen vergleichsweise egalitären Dominanzstil auszeichnen.58 Auch für Japanmakaken hat es allerdings längerfristige Konsequenzen, wenn sich zwei Streithähne nicht versöhnen: Noch zehn Tage nach einer Auseinandersetzung scheint ihre Beziehung – gemessen an der Abnahme freundlicher und der Zunahme aggressiver Interaktionen – „vergiftet“, während sich nach einer Versöhnung eine solche Verschlechterung der Beziehung nicht einstellt.59 Warum sich verschiedene, noch dazu nahe miteinander verwandte Arten in ihrer Versöhnungsbereitschaft und ihrem gesamten Konfliktmanagement unterscheiden, ist bislang nicht vollständig klar. Klar ist allerdings, dass jede Kontaktaufnahme nach einer aggressiven Auseinandersetzung auch das Risiko birgt, dass der Konflikt erneut aufflammt. Damit können die potenziellen Kosten eines Versöhnungsversuches höher sein als der Nutzen einer erfolgreichen Versöhnung, und es erscheint zumindest plausibel, dass das Risiko einer erneuten Attacke in einer despotischen Gesellschaft höher ist als in einer vergleichsweise egalitären Gesellschaft. Unterschiede in der Versöhnungshäufigkeit zwischen Individuen derselben Art lassen sich prinzipiell mit dem gleichen Argument erklären: Ob es sich lohnt, sich zu versöhnen, hängt von der Art der Beziehung ab, die zwei Individuen haben. Aus Darwins Theorie lässt sich hier eine eindeutige Vorhersage ableiten: Wesen, die voneinander abhängig sind, sollten eine erhöhte Versöhnungsbereitschaft zeigen. Diese auch als „Valuable Relationship Hypothesis“ bekannte Hypothese wird durch zahlreiche Befunde gestützt.60 Ein Bei57 58 59 60
Cords 1992. Thierry 2000; zum Begriff des „Dominanzstils“ siehe de Waal 1989. Koyama 2001. Aureli et al. 2002.
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spiel sind die zu Beginn dieses Abschnitts erwähnten Javaneraffen. Weibchen sind für männliche Javaneraffen als potenzielle Sexualpartnerinnen zweifellos wertvoll, andere Männchen dagegen offenbar nicht. Daraus den Schluss zu ziehen, dass männliche Primaten generell wenig Neigung zeigen, sich mit anderen Männchen zu versöhnen, ist jedoch nicht gerechtfertigt. Schimpansenmännchen versöhnen sich nämlich durchaus miteinander, und zwar deutlich häufiger, als es Schimpansenweibchen tun. Auch dies ist mit der „Valuable Relationship Hypothesis“ erklärbar: Die Männchen einer Schimpansengruppe sind im Gegensatz zu den Weibchen nicht nur miteinander verwandt, sie kooperieren auch miteinander, während die Weibchen ein eher einzelgängerisches Leben führen.61 Genau das entgegengesetzte Muster findet sich bei Javaneraffen und vielen anderen Arten, die in sogenannten „female-bonded“Gruppen leben: Die Weibchen einer Gruppe sind miteinander verwandt, kooperieren miteinander und zeigen ein hohes Maß an Versöhnungsbereitschaft. Am direktesten gestützt wird die „Valuable Relationship Hypothesis“ aber durch experimentelle Befunde: Javaneraffen, die während eines Experimentes zur gemeinsamen Beschaffung von Nahrung lernen, dass ihr Kooperationspartner über ein für diesen Zweck besonders wertvolles Werkzeug verfügt, versöhnen sich mit diesem deutlich häufiger als in der Zeit vorher.62 Nicht zu Unrecht wird man einen Affen, der sich so verhält, einen Opportunisten nennen können. Aber dieser Opportunismus hat auch eine positive Seite: Konfliktmanagement ist etwas, was Primaten lernen können. Genau dies zeigt auch ein Experiment, das de Waal und Johanovicz mit den für ihren besonders ruppigen und wenig versöhnlichen Umgangsstil bekannten Rhesusaffen durchgeführt haben: Vergesellschaftet man junge Rhesusaffen mit Bärenmakaken (Macaca arctoides), übernehmen sie zumindest bis zu einem gewissen Grad deren sehr viel freundlichere Umgangsformen und versöhnen sich deutlich häufiger.63
Konflikt und Kooperation: ein darwinischer Rückblick Den „Darwinismus“ als Irrtum des Jahrhunderts zu bezeichnen, hat eine gewisse Tradition, und gerade in den letzten Jahren ist es Mode geworden, Zweifel an Darwins zentraler Theorie, der Theorie der Evolution durch natürliche (und sexuelle) Selektion, zu äußern: Nicht Egoismus, gnadenloser Kampf und das „Recht des Stärkeren“, heißt es vielfach, seien die eigentlichen Triebkräfte der Evolution, sondern Kooperation und gegenseitige Hilfe.64 Aber diese Kri61
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Neuere genetische Analysen zeigen, dass die Kooperationsbereitschaft männlicher Schimpansen offenbar nur wenig mit Verwandtschaftsnähe zu tun hat. Cords/Turnheer 1993. de Waal/Johanovicz 1993. vgl. Kropotkin 1902.
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tik hat Darwin und seine Theorie gründlich missverstanden.Vielleicht war es die Beiläufigkeit, mit der Darwin von der „Abhängigkeit der Wesen voneinander“ sprach, dass dies geschah, und sicher war auch es die Rigidität, mit der „Sozialdarwinisten“ Darwins vermeintliche Ideen in Misskredit brachten (die sie in Wirklichkeit ebenso gründlich missverstanden hatten).65 Darwin selbst sah seine Theorie keineswegs als „Heilsbotschaft“, und seine Nachfolger tun dies, trotz manch gegenteiliger Verdächtigungen, auch nicht. Freilich: Konflikte sind in Darwins Welt, die alles andere als heil ist, unausweichlich, und die Verhaltensstrategien, die die Natur zur Konfliktbewältigung hervorgebracht hat, haben eine entsprechend alte evolutionäre Geschichte. Dass allerdings der dummdreiste Draufgänger nicht zu den Erfolgsrezepten der Natur gehört, wissen Evolutionsbiologen schon lange:66 Gewalt ist keineswegs grundsätzlich die ultima ratio der Konfliktbewältigung – auch nicht aus evolutionsbiologischer Sicht. Kein Zweifel auch, dass Kooperation und gegenseitige Hilfe ebenso reale wie weit verbreitete Phänomene in der Natur sind. Im Widerspruch zu Darwins Theorie steht dies jedoch nicht. Denn selbstverständlich sind diese Phänomene nicht um ihrer selbst willen entstanden: In Darwins „Kampf ums Dasein“ – der in erster Linie ein Wettbewerb um Fortpflanzungschancen ist – haben sie einen Selektionsvorteil. Dass Kooperation, gegenseitige Hilfe, Versöhnungsbereitschaft und andere positiv belegte Verhaltensweisen jedoch an den persönlichen Interessen der Beteiligten orientiert sind, hatte Darwin geahnt: „Diese Gefühle und Dienste erstrecken sich aber durchaus nicht auf alle Individuen derselben Species, sondern nur auf die derselben Gemeinschaft.“67 Ob dies in der heutigen Welt noch biologisch angepasst ist, mag man bezweifeln: Nicht alles, was seine Existenz dem Darwinischen Selektionsprozess verdankt, ist heute noch in dem Sinne nützlich, dass es die genetische Fitness der Handelnden maximiert. Ganz neu ist diese Einsicht nicht: Die Dronte ist ausgestorben, weil sie an eine Welt angepasst war, die plötzlich, als die ersten Seefahrer auf Mauritius landeten, nicht mehr existierte.
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Einblicke in die Psychologie des Konflikts: Zwischen Trivialität und Subtilität klaus fiedler und thomas haar Was erwartet die breite Leserschaft eines solchen interdisziplinären Buches von dem Thema „Psychologie des Konflikts?“ – Ganz im Sinne der üblichen Rolle, die die Psychologie in der Öffentlichkeit und in der populären Literatur spielt, erwartet man wohl in erster Linie Erklärungen für alle bekannte, bedeutsame, unüberwindliche, pathologische Konflikte, die uns alle bewegen: Kampf der Geschlechter, religiöse oder militärische Auseinandersetzungen, Interessenkonflikte in Sachen Geld, Macht und Ehre, Konflikte in Partnerschaften oder vielleicht den seelischen Kampf zwischen „Über-Ich“ und „Es“ im Unbewussten. Dabei erwartet genau genommen niemand wirklich von der Psychologie eine nachhaltige Klärung oder Lösung solcher Konflikte oder eine Erziehung zum besseren Umgang oder ein Werkzeug zur gerechten und effektiven Konfliktlösung. Vielmehr wissen alle, dass es ein Patentrezept zur Lösung dieser „ewigen“, niemals endenden Konflikte nicht geben wird und nicht geben kann und dass, wenn eines dieser Probleme wirklich einmal gelöst wird, sofort ein anderes nachwächst. Was man von Psychologen wirklich verlangt, ist daher in erster Linie Interpretation und Kommentar, eine Umschreibung der Phänomene in psychologisch anmutenden Begriffen wie „Wettstreit der Gefühle“, „Ressentiments gegenüber fremden Rassen“, „Intoleranz“, „Hass“, „Unvereinbarkeit der Ziele“, oder „mangelnde Selbstkontrolle“. Dass besonders Gefühle und unkontrollierbare emotionale Impulse unter diesen Begriffen vorkommen, ist kein Zufall und passt ebenfalls zum öffentlichen Bild der Psychologie. Eine wissenschaftliche Erklärung des menschlichen Verhaltens in solchen Konflikten – etwa vergleichbar einer Kausalerklärung in der Physik – ist dabei kaum vorstellbar. Bestenfalls soll eine treffende verbale Analyse eine „Illusion der intellektuellen Kontrolle“ erzeugen, die beruhigend wirken kann. Diese Erwartungshaltung soll in dem vorliegenden Kapitel nicht erfüllt werden. Wir werden uns nicht mit brennenden politischen (Irak) oder ökonomischen (Globalisierung) Konflikten beschäftigen, die historisch einzigartig sind und im Zentrum des Interesses stehen. Stattdessen werden wir versuchen darzulegen, dass es bei aller Einzigartigkeit der brisantesten Konflikte durchaus nomologische Gesetzmäßigkeiten gibt, die sich auch kausal er-
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klären und überprüfen und sogar systematisch beeinflussen lassen. Um sie zu erforschen, benötigt man oft keine weltbewegenden, existentiellen Probleme, die aus ethischen und pragmatischen Gründen ohnehin nicht experimentell kontrolliert und systematisch untersucht werden können. Vielmehr sind die Strukturen, die hinter den meisten Konflikten stehen und die dafür verantwortlich sind, dass sie wie Pilze immer wieder nachwachsen und oft so schwer zu überwinden sind, oft auch in kleinen, unbedeutenden Konflikten zu erkennen, die man ganz leicht in experimentellen Spielen herstellen und simulieren kann. Realitätsnähe ist gar nicht unbedingt erforderlich, um Konflikte theoretisch zu analysieren und empirisch zu erforschen. Wie sich dabei herausstellt, erweisen sich Persönlichkeitsfaktoren wie Intoleranz, emotionale Zustände wie Hass und Misstrauen oder egoistische Tendenzen wie Geldgier und Leidenschaft dabei gar nicht als notwendige Bedingungen. Hinreichend sind schon viel subtilere Bedingungen in der Umwelt, in den sozialen Strukturen und in der kognitiven Ausstattung des Menschen. Auch ohne schwerwiegende Konfliktquellen wie Ressentiments, Frustrationen, Fremdenhass, knappe Ressourcen oder unvereinbare Ideologien entstehen Konflikte als ganz normale Folge sozialer und ökologischer Strukturen immer wieder und nach festen Gesetzen, unabhängig von Emotionen, existentiellen Bedrohungen und von der Persönlichkeit der Beteiligten. Hierin steckt etwas sehr Pessimistisches und etwas sehr Optimistisches. Einerseits muss man sich damit abfinden, dass konfliktgenerierende Strukturen ein völlig normaler Teil der Realität sind. Andererseits verlieren Konflikte bald ihren schlimmen und bedrohlichen Charakter, wenn man ihre Normalität und Natürlichkeit erst einmal erkannt und verstanden hat. Im verbleibenden Teil dieses Artikels wollen wir diese zugegebenermaßen etwas abstrakten Aussagen durch psychologische Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen der Konfliktforschung konkretisieren und illustrieren. Nach einer kurzen Vorbemerkung über reale Interessenkonflikte, deren Bedeutung wir keineswegs bestreiten wollen, wenden wir uns den subtileren, aber interessantesten Konflikten zu, die im Grunde gar keine manifeste Ursache haben, sondern mehr im symbolischen Verhalten entstehen, als Teil des Bemühens um soziale Identität. Danach wenden wir uns dem Schlüsselbegriff des Dilemmas zu und verdeutlichen, dass die soziale, ökonomische, politische und ökologische Welt voller Dilemmata steckt, die zwangsläufig Konflikte generieren. Andere Strukturen, die ständig gegensätzliche Perspektiven und Weltsichten erzeugen und damit unweigerlich zu Konflikten führen, sind Informationsgefälle, das menschliche System der Informationsverarbeitung, Regeln der Sprache und Kommunikation sowie die Art und Weise, wie Menschen – ob Experten oder Laien – Hypothesen testen, wobei verschiedene Menschen zugleich Bestätigung für verschiedene Hypothesen finden. – All diesen Forschungsthemen gemeinsam ist die Einsicht, dass es für viele Konflikte völlig normale, strukturelle Gründe gibt. Erkennt man diese Gründe,
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sind Konflikte zwar nicht aus der Welt, aber sie verlieren vielleicht den größten Teil ihres feindseligen und bedrohlichen Charakters.
Reale Konflikte und wie sie entstehen Natürlich wollen wir nicht von der Hand weisen, dass in der Psychologie auch die Erforschung realer Konflikte eine lange Tradition besitzt. Gerade dann, wenn Menschen Verhaltensweisen an den Tag legen, die einen erschrecken und die Frage aufdrängen, wie Menschen zu so etwas fähig seien. Diese Frage impliziert schon einen Fokus auf die Person, auf das „Böse“ im Menschen, das bei manchen Personen überhand nimmt. Gerade wenn man über die Taten von Soldaten während des Zweiten Weltkriegs nachdenkt oder – viel aktueller – Fotos von Folter und Misshandlung während des Irak-Kriegs im Fernsehen sieht, ist man schnell versucht, die Ursache für solches Verhalten in den beteiligten Personen zu sehen. So kommt man schnell zu der Aussage, dass man solche Taten verhindern könne, indem man die Täter bestraft bzw. wegsperrt. So sprechen Politiker wie der amerikanische Präsident George W. Bush schnell von einigen „schlechten Äpfeln“, von denen man nicht auf die Qualität der restlichen Äpfel schließen sollte. Man sollte hingegen die „schlechten Äpfel“ aussortieren, damit nicht auch der Rest der Äpfel im Fass faul wird. Die empirische Psychologie zeichnet allerdings ein anderes Bild und legt den Fokus verstärkt auf bestimmte Faktoren in der Umwelt, die jeden Apfel gleichermaßen verderben können. So schreibt zum Beispiel Philip Zimbardo (Professor für Psychologie an der Stanford University) folgendes als Reaktion auf George W. Bush: „The situational analysis says the barrel of war is filled with vinegar that will transform good cucumbers into sour pickles and will always do it to make the majority of good people, men and women, into perpetrators of evil …“ (E-mail by courtesy of Social Psychology Network, May 2004). Extreme Einflüsse in unserer Umwelt können jeden Menschen dazu bringen, andere Menschen zu schädigen. Die in den 60er Jahren durchgeführten Studien von Stanley Milgram (2001) zeigten den Einfluss von Autoritäten. Versuchsleiter als Autoritäten in einem psychologischen Labor konnten normale Bürger als Testpersonen dazu bringen, vermeintlich starke Elektroschocks einer weiteren Testperson zu verabreichen, die in Wirklichkeit tödlich gewesen wären. Sie taten dies, obwohl die andere Testperson unter Schmerzen schrie und danach verlangte, das Experiment abzubrechen. Der einzige Druck vonseiten des Versuchleiters waren Aufforderungen wie „Es ist erforderlich, dass Sie weitermachen.“ Fünfundsechzig Prozent der Teilnehmer gaben Elektroschocks bis zur maximalen Stärke von 450 Volt. Ein weiteres bekanntes Beispiel für den extremen Einfluss der Situation auf das menschliche Konfliktverhalten ist das „Stanford Prison Experiment“, das
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von Philip Zimbardo und Kollegen Anfang der 70er Jahre durchgeführt wurde (Haney/Banks/Zimbardo 1973). Im Keller des Psychologischen Instituts der Stanford University wurde ein Gefängnis nachgebaut, in dem 20 Versuchsteilnehmer (zufällig zugeteilt) entweder als Gefängniswärter oder als Gefangene zwei Wochen verbringen sollten. Schon nach wenigen Tagen begannen die Wärter die Gefangenen schlechter zu behandeln und später sogar zu missbrauchen (Gefangenen wurde ihre Kleidung abgenommen, Bettwäsche und Matratzen wurden konfisziert, Gefangene wurden in Einzelhaft gesperrt …). Nach sechs Tagen musste das Experiment abgebrochen werden, da es die Gefangenen nicht mehr aushielten (Eine ausführliche Dokumentation findet sich im Internet unter „http://www.prisonexp.org/german/indexg. htm“). Als letztes Beispiel sollen die Studien von Muzafer Sherif dargestellt werden, die er mit seinen Kollegen vor 50 Jahren durchführte (z. B. Sherifet al. 1961). Während eines Summer-Camps im Robbers Cave State Park, Oklahoma, nahm eine Gruppe 11-jähriger Jungen unwissentlich an einer Studie teil. Auf dem Gelände des Parks wurden zwei Camps errichtet und die Jungen zufällig einem der beiden Camps zugeordnet. Beide Gruppen wurden dazu angehalten, ihrer Gruppe einen Namen zu geben, den sie auf T-Shirts und Kappen druckten und so als Mitglieder einer Gruppe zu erkennen waren. Die beiden Gruppen (die „Klapperschlangen“ und die „Adler“) konkurrierten während des Camps in verschiedenen sportlichen und spielerischen Wettkämpfen, bei denen die Gewinner jeweils ausgezeichnet wurden und Preise erhielten. Durch diese verschiedenen Wettkämpfe angestachelt, standen sich die Jungen der beiden Gruppen sehr schnell feindlich gegenüber, und es kam bald zu Beschimpfungen, Schlägereien und Plünderungen der Hütten. Um diesen künstlich hergestellten, aber inzwischen realen Konflikt zwischen den beiden Gruppen aufzulösen, wurde unter anderem versucht, die Jungen zu Aktivitäten ohne Wettbewerbscharakter (z. B. Gemeinsames Anschauen eines Films) zusammenzubringen. Dies verstärkte den Konflikt allerdings nur noch. Die Lösung lag letztlich darin, übergeordnete gemeinsame Ziele einzuführen, die nur durch Kooperation beider Gruppen erreicht werden konnten. So wurde z. B. eine Autopanne des Versorgungswagens inszeniert. Der Wagen war so schwer, dass er nur mit Hilfe aller Jungen ins Camp gezogen werden konnte. Die aus den Ergebnissen dieser und ähnlicher Studien von Muzafer Sherif (1966) abgeleiteten Erkenntnisse werden gemeinhin als „Realistic Conflict Theory“ bezeichnet (z. B. Levine/Campbell 1972). Diese besagt in ihren Kernzügen, dass die Konkurrenz um wertvolle, aber begrenzte Ressourcen zu Konflikten zwischen Gruppen führt. Lösen kann man solche Konflikte nur durch übergeordnete Ziele, die ausschließlich durch Kooperation zwischen den Gruppen erreicht werden können. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass Sherif unter Konflikten nicht nur offen gezeigte Aggressionen versteht, sondern auch subtilere Formen, wie Vorurteile und negative Stereotype. Er
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sieht Vorurteile und Stereotype als Vorzeichen von physischer und psychischer Gewalt zwischen den Konfliktparteien. So weit haben wir dargestellt, dass reale Konflikte zwischen Gruppen sehr schnell entstehen können und dass es dafür nicht besonders aggressive, gewalttätige oder „böse“ Menschen braucht. Es sind vielmehr Einflüsse aus unserer Umwelt, wie Ressourcen-Knappheit, die räumliche Situation in einem Gefängnis und die Anwesenheit von Autoritäten, die Konflikte entstehen lassen und fördern können. Die bisher dargestellten Einflüsse waren vielleicht noch recht offensichtlich. Deshalb wollen wir den Rest des Kapitels dazu nutzen, einige Beispiele von subtileren Faktoren zu betrachten, die einen starken Einfluss auf das Entstehen von Konflikten haben.
„Wir“ sind besser als „die“ Betrachtet man die Ursachen von Konflikten, wie sie in der „Realistic Conflict Theory“ von Sherif (1966) beschrieben werden, so scheint uns das Verhalten der beiden Gruppen eigentlich gar nicht so irrational. Wenn es darum geht, dass eine begrenzte Ressource verteilt wird, so erscheint es sinnvoll, um den eigenen Anteil zu kämpfen. Da die andere Gruppe ein realer Konkurrent ist, ist es nachvollziehbar, dass man eine negative Einstellung gegenüber Mitgliedern dieser Gruppe entwickelt, die sicherlich teilweise auch auf realen negativen Erfahrungen beruht. Der Kampf um Ressourcen und eine Historie von Auseinandersetzungen zwischen Gruppen sind sicherlich hinreichend, um einen Konflikt zwischen Gruppen entstehen zu lassen. – Aber sind es auch notwendige Voraussetzungen? In ihren Studien Anfang der 70er Jahre stellten Henri Tajfel und Kollegen (z. B. Tajfel et al. 1971) soziale Gruppen in den Fokus, die keinerlei gemeinsame Historie von Auseinandersetzungen besaßen und nicht um irgendwelche Ressourcen kämpften: sogenannte „minimale Gruppen“. Mitglieder von minimalen Gruppen werden zufällig ihrer Gruppe zugeteilt und außer der Information, dass es noch eine zweite Gruppe gibt, der sie nicht angehören, wissen sie nichts über die Mitglieder ihrer eigenen oder der anderen Gruppe. Die beiden Gruppen stehen auch nicht im Wettbewerb zueinander. Um die Gruppen einzuteilen, wurden Teilnehmer etwa gebeten, sich eine Serie von Dias anzuschauen, auf denen eine unüberschaubar große Anzahl von Punkten abgebildet war. Die Teilnehmer mussten die Anzahl der Punkte auf den Dias schätzen. Daraufhin wurden sie – angeblich aufgrund einer Analyse ihrer Schätzleistung, tatsächlich aber nach Zufall – in die Gruppe der „Unter-“ bzw.„Überschätzer“ eingeteilt. Ohne die Mitglieder der eigenen Gruppe zu kennen, wurden sie nun aufgefordert, Wert-Punkte auf Personen der eigenen und der anderen Gruppe zu verteilen, die später von diesen Personen in Geld umgetauscht werden konnten. Den Teilnehmern wurden jeweils verschiedene
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Möglichkeiten vorgegeben, wie sie die Wert-Punkte zwischen einem Mitglied ihrer eigenen und einem Mitglied der anderen Gruppe aufteilen konnten. Sie mussten sich jeweils für eine der Möglichkeiten entscheiden. Es zeigte sich, dass viele Versuchsteilnehmer mehr Wert-Punkte den unbekannten Mitgliedern der eigenen Gruppe zuteilten als den Mitgliedern der anderen Gruppe. Das taten sie, obwohl sie persönlich keinen Vorteil davon hatten, da sie die Mitglieder der eigenen Gruppe (die ja in Wirklichkeit gar nicht existierte), nicht kannten und nie kennen lernen würden. Darüber hinaus zeigte sich, dass es den Teilnehmern anscheinend wichtiger war, die Differenz der WertPunkte zwischen den Mitgliedern der beiden Gruppen zu maximieren, als den maximalen Profit für die Mitglieder der eigenen Gruppe zu erhöhen. Es scheint wichtiger, dass man relativ mehr als die anderen bekommt, auch wenn man dabei absolut vielleicht nicht das Maximale rausholt. Aus diesen Befunden, die eine generelle Bevorzugung der eigenen Gruppe (Ingroup) gegenüber der anderen Gruppe (Outgroup) zeigen (Ingroup Bias), entwickelten Henri Tajfel und John Turner in den 80er Jahren die „Social Identity Theory“ (z. B. Tajfel/Turner 2001). Diese Theorie versucht zu erklären, warum die eigene Gruppe bevorzugt wird, obwohl es dafür keine offensichtliche Ursache gibt wie in der „Realistic Conflict Theory.“ Grundsatz der „Social Identity Theory“ ist, dass jeder Mensch danach strebt, eine positive soziale Identität zu haben: Wir wollen uns in einem positiven Licht sehen. Weiterhin postuliert die Theorie, dass es zwei Quellen gibt, die unser Selbstwertgefühl beeinflussen: Die „persönliche Identität“ und die „soziale Identität“. Persönliche Leistungen und Erfolge führen dazu, dass wir uns gut fühlen – aber auch Erfolge von bedeutsamen sozialen Gruppen, denen wir angehören, scheinen einen Einfluss auf unser Selbstwertgefühl zu haben. Wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft als Vize-Weltmeister aus Japan heimkehrt, so kann das eine ganze Nation in Feierstimmung versetzen – eine 1 : 5-Niederlage gegen Rumänien hingegen erzeugt Katzenjammer. Persönliche Erfolge und Erfolge der eigenen sozialen Gruppe sind also ein wichtiger Faktor, um ein positives Selbstwertgefühl aufrecht zu halten. Anders herum greifen Misserfolge unser positives Selbstwertgefühl an. Passiert das, so haben wir einige Möglichkeiten, um diesen Angriff abzuwehren. An dem Fußballbeispiel lässt sich das schön zeigen.Wenn Deutschland das WM-Finale gegen Brasilien verliert, so kann man den Blick einfach vom Sieger nach unten richten („downward comparison“) und sich mit England, den Niederlanden oder Frankreich vergleichen, die ja alle schlechter abgeschnitten haben. Schwieriger wird es nach einer deutlichen Niederlage gegen Rumänien. Hier kann man zum einen versuchen, die eigene Gruppe zu verlassen: Während „wir“ Vize-Weltmeister geworden sind, sind es eindeutig „Rudis Rumpelfüßler“, die schmählich gegen Rumänien verloren haben. Wenn das nicht hilft bzw. wenn man die eigene Gruppe nicht verlassen kann (z. B. Geschlecht, Nationalität, Alter), dann muss man nach anderen Dimensionen suchen, auf
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denen man besser abschneidet. So kann man zum Beispiel feststellen, dass Deutschland zurzeit wirtschaftlich besser dasteht als Rumänien (aber was hätten die Fußball-Fans in Rumänien tun sollen, wenn das Ergebnis anders herum gelautet hätte?). Dies soll nur verdeutlichen, wie schwer es uns fällt, eingestehen zu müssen, dass unsere Gruppe auf einer relevanten Dimension schlechter abschneidet als eine andere Gruppe. Da das Abscheiden unserer Gruppe so wichtig für unser eigenes Wohlempfinden ist und da unsere Gruppe folglich immer besser sein muss als „die anderen“, sind wir äußerst motiviert zu zeigen, dass „wir“ besser sind als „die“. Daraus resultieren zwangsläufig Konflikte zwischen Gruppen. Denn wir können einfach nicht alle gleichzeitig besser sein! Es sei noch angemerkt, dass es uns dabei ganz egal ist, ob unsere oder die andere Gruppe absolut gesehen erfolgreich ist. Wichtig ist, dass unsere Gruppe erfolgreicher ist als die andere bzw. die andere Gruppe weniger erfolgreich ist als unsere Gruppe. Selbst wenn es uns schlecht geht und wir nichts dagegen tun können, sind wir folglich motiviert, dafür zu sorgen, dass es den anderen noch schlechter geht – auch so können wir unseren Selbstwert wieder aufrichten. Die „Social Identity Theory“ und die Erkenntnisse aus Studien mit „minimalen Gruppen“ verdeutlichen, dass Vergleiche zwischen Gruppen, und seien sie noch so spielerisch und rein symbolisch, eine bedeutende Grundlage von Bewertungen und Vorurteilen und damit für Konflikte sein können. „Echte“ Wettbewerbssituationen – wie der Kampf um begrenzte Ressourcen – sind nicht notwendig, um Konflikte auszulösen. Als eine mögliche Lösung, um einen solchen Vergleich zwischen zwei Gruppen zu verhindern, wird der Prozess der Re-Kategorisierung gesehen (z. B. Gaertner et al. 1989). Wenn man es schafft, dass sich die Mitglieder zweier konkurrierender Gruppen als eine Einheit betrachten, dann existieren keine Gruppen mehr, die miteinander konkurrieren. Das kann man leicht dadurch erreichen, indem man eine höhere Ebene der Kategorisierung einführt. Menschen in Baden-Württemberg und in Bayern, die häufig im konkurrierenden Vergleich stehen (z. B. hinsichtlich ihrer Bildungssysteme), könnten sich auf höherer Ebene als Süddeutsche sehen. Hier fällt einem aber sofort ein Problem dieser Lösung auf, denn auf der höheren Ebene konkurrieren jetzt die Süddeutschen gegen die Norddeutschen. Da wir den sozialen Vergleich als Grundlage unseres Selbstwerts nutzen, können wir das Problem nur verschieben, aber nicht vollständig lösen. Das konnten Thomas Kessler und Amélie Mummendey (2001) von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena zeigen. Sie untersuchten die Kategorisierung von Deutschen in „Ost-“ und „Westdeutsche“ in einer dreijährigen Langzeitstudie Mitte der 90er Jahre. Sie verglichen die Konfliktbereitschaft von Personen, die sich selbst primär als Ost- bzw. Westdeutsche sehen, mit Personen, die sich primär als Deutsche sehen. Sie fanden heraus, dass Personen, die sich eher als Ost- bzw. Westdeutsche sehen, eine höhere Bereitschaft zu Protesten gegen die jeweils andere Gruppe zeig-
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ten als Personen, die sich als Deutsche wahrnehmen. Auf der anderen Seite zeigten Personen, die sich eher als Deutsche sehen, ein höheres Ausmaß an Ausländerfeindlichkeit (Xenophobie) als Personen, die sich eher als Ost- bzw. Westdeutsche sehen. Durch die Re-Kategorisierung auf nationaler Ebene löst sich der Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschen zwar auf. Wenn man genauer hinsieht, hat sich der Konflikt aber nur auf eine höhere, internationale Ebene verschoben.
Können wir die Welt nur mit unseren Augen sehen? Wir haben gerade verdeutlicht, dass die Einteilung unserer sozialen Welt in Gruppen eine hinreichende Grundlage für Konflikte sein kann, und wir haben dafür eine motivationale Erklärung gegeben. Im folgenden Abschnitt wollen wir eine weitere Ursache für Konflikte zwischen Gruppen geben. Wir wollen verdeutlichen, dass die Wahrnehmung eines Konflikts und des Verhaltens der Konfliktparteien stark von der Perspektive abhängt, mit der wir die Dinge betrachten. Wir wollen dazu insbesondere Situationen heranziehen, denen ein starkes Konfliktpotential inhärent ist, so genannte Dilemma-Situationen. Zu Beginn möchten wir als Beispiel eine Studie von Myron Rothbart und William Hallmark (1988) von der University of Oregon anführen. In ihrem Experiment wurde den Versuchsteilnehmern ein fiktiver Konflikt zwischen den beiden fiktiven Nationen „Takonia“ und „Navalia“ beschrieben. Beide Nationen teilen sich eine Insel, auf der sich wertvolle Bodenschätze befinden. Um sich gegen Übergriffe der jeweiligen anderen Nation zu wehren, haben beide Nationen mit der militärischen Aufrüstung begonnen. Die Versuchsteilnehmer wurden zufällig einer der beiden Nationen zugeordnet. Ihre Aufgabe bestand darin, als „Bürger“ ihrer Nation den Erfolg verschiedener politischer Maßnahmen hinsichtlich der Lösung dieses Konfliktes zu bewerten. Es zeigte sich, dass Aufrüstung und Drohungen als die effektivere Maßnahme zur Lösung des Konflikts gesehen wurde als eine Politik der Abrüstung und Schlichtung – allerdings nur, wenn man die möglichen Maßnahmen der eigenen Nation betrachtete. Wurden hingegen die möglichen Maßnahmen der anderen Nation bewertet, so ergab sich genau das umgekehrte Muster, nämlich dass in diesem Fall eine Politik der Abrüstung und Schlichtung als effektiver wahrgenommen wurde als Aufrüstung und Drohungen. Allein die Betrachtung eines Konflikts von verschiedenen Seiten kann also zu einer ganz anderen Beurteilung derselben Situation führen. Wir sind erstaunlicherweise durchaus bereit, bestimmte Maßnahmen in einem Konflikt durchzuführen, die wir auf uns angewandt als wirkungslos beurteilen würden. Der in der Studie beschriebene Konflikt ist ein Beispiel für ein so genanntes „soziales Dilemma“. Die einzelnen Konfliktpersonen oder -parteien müs-
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sen zwischen ihren eigenen Interessen und denen aller Personen bzw. Parteien abwägen. In einem Dilemma hat man die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen, die entweder besser für die eigenen Ziele (Verrat) oder besser für Ziele aller Personen bzw. Parteien (Kooperation) sein können. Es handelt sich um ein Dilemma, weil, wenn alle Personen bzw. Parteien ihre eigenen Ziele verfolgen würden, jeder Einzelne am Ende schlechter dastünde, als wenn alle die gemeinsamen Ziele verfolgt hätten. Allerdings ist der Gewinn für den Einzelnen höher, wenn er sich als einziger nicht an die Regeln hält, die anderen aber kooperieren. Solche Dilemma-Situationen lassen sich häufig in unserer Welt finden. So ist es zum Beispiel eine gute Strategie, bei der Steuererklärung ein wenig zu schummeln (z. B.„schwarz“ verdientes Geld nicht anzugeben), solange die meisten anderen das nicht tun und daher der Staat trotzdem genügend Geld hat (und jeder von den Leistungen des Staates profitiert). Falls zu viele Bürger ihr Geld an der Steuer vorbei schleusen, ist am Ende zu wenig Geld für den Staat da. Wie gesagt, beinhalten solche Dilemmata schon an sich Konfliktstoff. Das lässt sich auch grafisch in einer Auszahlungsmatrix darstellen (s. Tabelle 1). Hier sieht man schon, dass es in vielen Situationen besser sein kann, sich nicht kooperativ zu verhalten. Die mittlere Auszahlung und auch der maximale Gewinn sind höher, wenn man nicht fair spielt als wenn man kooperiert. Wenn es aber für beide Parteien besser ist, nicht zu kooperieren, und beide auch so handeln, dann kommen beide Parteien schlechter dabei weg. Man kann dieses Konfliktpotential auch an der zuvor genannten Studie verdeutlichen. Ich kann mich zwar dafür entscheiden, zu kooperieren und beispielsweise keine weiteren Waffen als Drohpotential zu produzieren. Aber was passiert, wenn die andere Konfliktpartei mich verrät und trotzdem weiter Waffen baut? Vielleicht sollte ich daher lieber auch weiter Waffen produzieren, um dieses Risiko zu vermeiden. Wenn die anderen aber ähnlich denken, sind beide Nationen in einer Spirale der Aufrüstung gefangen. Ein wichtiger treibender Motor hinter einer solchen Entscheidung ist sicherlich das Bild, das wir von der anderen Konfliktpartei haben. Wir versuTabelle 1. Auszahlungsmatrix für eine typische Dilemma-Situation Optionen von Person 2 Kooperieren
Nicht kooperieren
Kooperieren
12 / 12
0 / 18
Nicht kooperieren
18 / 0
6/6
Optionen für Person 1
Anmerkung: Die erste Zahl in den Zellen ist die Auszahlung für Person 1, die zweite Zahl die Auszahlung für Person 2.
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chen, das Verhalten der anderen Seite zu interpretieren und daraus Vorhersagen für die Zukunft abzuleiten. So ist es für uns vielleicht klar, dass wir nur deshalb aufrüsten, weil die anderen es ja auch tun und wir uns nur verteidigen wollen. Genauso klar ist für uns aber auch, dass die andere Seite deshalb aufrüstet, weil sie aggressiv ist und unser Land erobern möchte. Die Interpretation von Verhaltensweisen, das Zuschreiben von Gründen für bestimmte Taten nennt man „Attribution“. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Menschen nicht unbedingt wie Wissenschaftler denken, wenn es darum geht, Gründe für Verhalten zu finden, sondern dass sie bei Attributionen bestimmten „Verzerrungen“ unterliegen. Gerade wenn es darum geht, unser eigenes Verhalten zu erklären, so finden wir meist andere Gründe, als wenn wir dasselbe Verhalten bei anderen zu erklären versuchen. Es hat sich zum Beispiel gezeigt, dass wir unser Verhalten hauptsächlich durch äußere Ursachen in der Umwelt erklären, also eine situationale Erklärung angeben. Das Verhalten anderer Personen erklären wir hingegen meist durch Ursachen innerhalb der Person, wir geben also eine dispositionale Erklärung. Wenn wir in einem Streit einmal die Kontrolle verlieren und zum Beispiel laut werden und den anderen beschimpfen, dann liegt das daran, dass wir schlecht geschlafen haben, gerade unter Stress stehen oder einfach nur auf eine Beleidigung des anderen reagiert haben. Wenn wir aber vom anderen beschimpft werden, dann kommen wir schnell zu der Erkenntnis, dass der andere eine aggressive Person ist, selbst wenn wir dieses Verhalten provoziert haben. Diese Verzerrung, die Ursachen für unser eigenes Verhalten in der Situation und die Ursachen für das Verhalten anderer in der Person zu sehen und zwar nicht nur die Ursachen für negatives Verhalten – nennt man den „Akteur-Beobachter-Fehler“ (Jones/Nisbett 1972) – eine permanente Konfliktquelle. Ein Problem bei diesen unterschiedlichen Attributionen liegt darin, dass man innere Ursachen in der Person gleichzeitig als sehr stabil ansieht. Das heißt, wenn wir eine Person als aggressiv beurteilen, dann erwarten wir, dass sie sich auch in anderen Situationen aggressiv verhalten wird. In einem Dilemma würde das bedeuten, dass ich eine aggressive Verhaltensweise (ein Verrat, z. B. ein Vertragsbruch) von der anderen Konfliktpartei auf die Partei als solche übertrage („die sind aggressiv“) und zwar unabhängig davon, ob ich dieses aggressive Verhalten vielleicht selber provoziert habe. Das kann dazu führen, dass sich der Konflikt mit der Zeit immer weiter hochschaukelt. Zur Erklärung des „Akteur-Beobachter-Fehlers“ sind mehrere Ursachen gefunden worden, von denen die beiden wichtigsten im Folgenden beschrieben werden sollen. Das ist vor allem deshalb interessant, weil sich aus der Erforschung der Ursachen auch Lösungsansätze für diese Problematik erschließen. Die eine Erklärung besagt, dass wir natürlich viel mehr Informationen über uns selbst, unser Verhalten und die Gründe dafür haben als andere Personen. Dadurch fällt es uns leichter, auch andere Gründe neben unserer Persönlichkeit für unser Verhalten zu finden. Wir wissen zum Beispiel, wie wir
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uns in anderen Situationen verhalten haben. Wenn wir uns in einem Streitgespräch aggressiv verhalten, wir aber gleichzeitig wissen, dass wir gerade sehr unter Stress stehen und wir uns in den meisten anderen Situationen besser unter Kontrolle haben, so werden wir die Ursachen für unser aggressives Verhalten in der spezifischen Situation suchen.Von anderen Personen wissen wir hingegen nicht, wie es ihnen gerade geht und wie sie sich in anderen Situationen verhalten. Die zweite Erklärung ist, dass wir bei der Wahrnehmung von eigenem und fremdem Verhalten auf zwei ganz verschiedenen Dinge fokussieren. Beim Verhalten anderer Personen ist die andere Person im Fokus unserer Wahrnehmung, und situationale Faktoren sind im Hintergrund (man spricht daher von „Figur“ und „Grund“). Bei unserem eigenen Verhalten stehen dagegen nicht wir selbst, sondern unser Umfeld steht im Fokus der Wahrnehmung. Beide Erklärungen zeigen, dass diese „Verzerrung“, die eine weitere Ursache für Konflikte sein kann, gar keine motivationalen Ursachen braucht. Es sind Gegebenheiten in der Wirklichkeit, die dazu führen: Wir wissen mehr über uns als über jeden anderen Menschen und sehen die Welt mit unseren Augen. Welche Lösungsansätze lassen sich aus diesen Befunden ableiten? Zum einen ist es wichtig, dass wir in einem Konflikt Informationen über die andere Partei und deren Verhalten sammeln. Wir sollten auch Erklärungen für das Verhalten von der anderen Partei einfordern. Zum anderen sollten wir versuchen, mental die Fronten zu wechseln und die Konflikt-Situation aus den Augen der anderen Partei zu betrachten. Dies ist wohl der vielversprechendste Ansatz, der aber – so einfach er klingt – gar nicht so leicht durchzuführen ist. Der bekannte Entwicklungspsychologe Jean Piaget führte schon Mitte des letzten Jahrhunderts (Piaget 1954) die „Kompetenz zur Perspektiven- und Rollenübernahme“ als wichtigen Schritt in der kognitiven Entwicklung eines Kindes an. Kinder müssen lernen, dass ihre Sichtweise der Welt nicht die einzige und damit richtige ist (Egozentrismus). Piaget sprach davon, dass diese egozentrische Sichtweise der Welt auch bei Erwachsenen ständig neu überwunden werden muss. Die Weiterentwicklung der Kompetenz zur Perspektiven- und Rollenübernahme wird durch den Austausch von Meinungen, durch Widerspruch und Konflikte angeregt. Dies kann zum Beispiel dadurch erreicht werden, dass sich die Konfliktparteien immer wieder – am besten unter der Leitung eines Mediators – zusammen an einen Tisch setzen, um die Sichtweisen der jeweiligen Gegenpartei kennen zu lernen.
Konflikte im Kopf – ein Abbild interpersonaler Konflikte Wir haben in den letzten beiden Abschnitten zwei wichtige Gründe angeführt, warum es zwischen Gruppen immer wieder zu Konflikten kommt: Schon die bloße Einteilung unserer Welt in (bedeutungsfreie) Kategorien
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oder Gruppen führt zu wertenden Vergleichsprozessen, die eine Entwicklung von Vorurteilen und Stereotypen begünstigen. Und wir schließen von Verhaltensweisen der anderen Personen auf stabile Eigenschaften innerhalb dieser Person. Eigentlich sollten wir als intelligente und denkende Menschen in der Lage sein, uns von solchen falschen oder ungewollten Betrachtungsweisen unserer Konfliktpartner zu lösen. Warum hören wir nicht einfach damit auf, fremdes Verhalten anders zu erklären als unser eigenes und berücksichtigen nicht auch äußere Umstände für die Erklärung des Verhaltens anderer Personen? Die Antwort ist, dass unser kognitives System leider nicht so gebaut ist. Auch wenn wir uns dagegen wehren wollen, so ist das gar nicht so leicht, weil wir es teilweise automatisch tun, also ohne bewusste Kontrolle. Wie das funktioniert und ob wir vielleicht doch etwas dagegen tun können, darauf gehen wir im folgenden Abschnitt ein. Zunächst soll zum besseren Verständnis auf ein in der Psychologie verbreitetes Gedächtnismodell eingegangen werden, das der Idee von automatischen Prozessen zugrunde liegt: Gemeint ist ein assoziatives Netzwerkmodell des Gedächtnisses (z. B. Greenwald et al., 2002). Assoziative Netzwerkmodelle gehen davon aus, dass Gedächtnisinhalte als Knoten in einem Netzwerk von Assoziationen repräsentiert sind. Die assoziativen Verbindungen können unterschiedlich stark sein, wobei eine Verbindung durch häufige Aktivierung gestärkt wird. Durch die Aktivierung eines dieser Knoten oder Konzepte im Gedächtnis werden andere Konzepte mitaktiviert, die mit dem aktivierten Konzept verbunden sind. Aktivieren kann man ein Konzept, indem man es einer Person als Reiz präsentiert oder eine Person über ein bestimmtes Konzept nachdenken lässt. Wenn ich also zum Beispiel als Anhänger eines Fußballvereins (z. B. des Hamburger Sportvereins) einem Anhänger eines Lokalrivalen (z. B. des FC St. Pauli) begegne und ich ihn (z. B. aufgrund seiner Kleidung) dem anderen Verein zuordnen kann, so wird automatisch (d.h. ohne bewusstes Zutun) das Konzept „St. Pauli“ in meinem Kopf aktiviert. Wenn nun mit diesem Konzept verschiedene andere Konzepte und Eigenschaften verknüpft sind (z. B. „politisch links“, „radikal“, „alternativ“), so werden diese automatisch mitaktiviert. Neben sehr konkreten gibt es auch eher abstrakte Konzepte in einem solchen Netzwerk. Ein besonders bedeutsames für die Konfliktforschung ist das der Valenz, wobei man zwischen „negativer Valenz“ und „positiver Valenz“ unterscheiden kann. So kann es sein, dass mit dem Konzept „St. Pauli“ auch eine negative Bewertung automatisch mitaktiviert wird. Messen kann man die Stärke solcher Verknüpfungen mittels Reaktionszeitverfahren. Die zugrunde liegende Logik ist folgende: Wenn ich wissen will, ob eine Verknüpfung zwischen zwei Konzepten besteht, so aktiviere ich das eine Konzept (z. B. durch die Darbietung eines Begriffs) und schaue nach, ob dadurch auch das andere Konzept aktiviert wurde. Das zweite Konzept wurde dann mitaktiviert, wenn man schneller auf dieses Konzept reagieren (d. h. er-
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kennen und aussprechen) kann als wenn das erste Konzept nicht dargeboten wurde. Je stärker die Verknüpfung zwischen beiden Konzepten, desto schneller die Reaktion. Solche subtilen Voraktivierungen („Priming“) können Wahrnehmung, Denken und Verhalten stark beeinflussen. Wenn ich gerade den Begriff „aggressiv“ gelesen habe, werde ich einen „Rempler“ in der Fußgängerzone eher als Angriff interpretieren und entsprechend reagieren als wenn ich den Begriff „ungeschickt“ gelesen habe. In den letzten Jahren hat man sich in der Sozialpsychologie vermehrt mit diesen Netzwerken und den automatischen, meist unbewussten Aktivierungen beschäftigt. Zwei Befunde sollen hier die Anwendung auf die Konfliktforschung verdeutlichen. Sabine Otten und Dirk Wentura (1999) führten zur automatischen Bewertung von Gruppen einige Studien durch. Sie untersuchten den oben beschriebenen „Ingroup Bias“ aus der „Social Identity Theory“. Sie ordneten Versuchsteilnehmer zufällig einer von zwei minimalen Gruppen zu. Diese Zuordnung reichte aus, um durch die Aktivierung des Konzeptes der „Ingroup“ (durch visuelle Darbietung des Gruppennamens) automatisch positive Assoziationen auszulösen. Auf der anderen Seite wurden durch die Aktivierung des Konzeptes der „Outgroup“ automatisch negative Assoziationen ausgelöst. Das bedeutet, dass die Einteilung unserer sozialen Welt in eigene und fremde Gruppen (in „wir“ und „die“) mit einer automatischen positiven Bewertung der „Ingroup“ und einer negativen Bewertung der „Outgroup“ einhergeht. Das Motiv der Selbstaufwertung, das für die „Social Identity Theory“ zentral ist, wird nicht benötigt. Nun stellt sich aber die Frage, ob die automatische Aktivierung von Konzepten überhaupt relevant für unser späteres bewusstes Urteil und letztendlich auch für unser Handeln ist. Tatsächlich geht man in neueren theoretischen Modellen davon aus, dass automatisch aktivierte Konzepte aus unserem Gedächtnis unsere Denkprozesse (z. B. Wahrnehmung, Interpretation, Schlussfolgerung) und damit auch unsere Entscheidungen und unser Verhalten beeinflussen. John Bargh und Kollegen von der New York University (Bargh/Chen/Burrows 1996) konnten das in einigen Studien eindrucksvoll demonstrieren. In diesen Studien wurden bei den Versuchsteilnehmern verschiedene Konzepte aktiviert, ohne dass es ihnen bewusst war (durch die sehr kurze Darbietung bestimmter Begriffe unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle). Danach wurde ihr Verhalten bei bestimmten Aufgaben beobachtet. In einer Studie wurde entweder das Konzept „unhöflich“ oder das Konzept „höflich“ mittels einer „Scrambled Sentence“-Aufgabe aktiviert. Bei einer solchen Aufgabe sollen durcheinander präsentierte Wörter zu geordneten Sätzen zusammen gefügt werden. Um ein bestimmtes Konzept zu aktivieren, werden in diesen Sätzen verschiedene Synonyme für dieses Konzept verwendet (z. B.„manierlich“ und „anständig“ für „höflich“). Später in der Studie unterbrachen mehr Teilnehmer in der „Unhöflich“-Bedingung (67 Prozent)
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den Versuchsleiter während einer Unterhaltung als Teilnehmer in der „Höflich“-Bedingung (38 Prozent). In einer anderen Studie zeigte sich, dass Versuchsteilnehmer langsamer einen Gang entlanggehen, wenn vorher das Konzept „ältlich“ („elderly“) aktiviert wurde. Diese Beispiele zeigen, dass in der Tat die automatische Aktivierung von Konzepten einen starken Einfluss auf unser Verhalten haben kann. Das einfache Lesen von Begriffen reicht aus, um das tatsächliche Verhalten in eine bestimmte Richtung zu leiten. Es stellt sich die Frage, ob das immer so ist und ob wir uns dagegen wehren können. Interessant wird es besonders in Situationen, in denen die automatisch ausgelösten Gedanken und Handlungstendenzen unseren bewussten Einstellungen und Entscheidungen widersprechen. Mit dieser Fragestellung haben sich zum Beispiel Neil Macrae und Kollegen von der University of St. Andrews beschäftigt (z. B. Macrae/Bodenhausen/Milne 1998). Sie konnten zeigen, dass wir tatsächlich in der Lage sind, den Einfluss unserer automatischen Assoziationen zu kontrollieren, wenn sie unseren bewussten Vorstellungen widersprechen. Allerdings müssen wir dazu erst einmal feststellen, dass ein Konflikt zwischen den automatischen Assoziationen und unseren bewussten Vorstellungen besteht. Macrae und Kollegen haben herausgefunden, dass wir das besonders dann tun, wenn wir uns unserer selbst und damit unserer Einstellungen bewusst sind (hoher Selbst-Fokus). Das ist zum Beispiel in Situationen der Fall, in denen eine Kamera auf uns gerichtet ist – aber auch dann, wenn wir vor einem Spiegel stehen. In solchen Situationen gelingt es uns,„unerwünschte“ automatische Assoziationen und deren Folgen zu unterdrücken. Allerdings hat dieses Unterdrücken einen Preis. Sobald wir die Aufmerksamkeit wieder von uns selbst abwenden, schwindet auch die Kontrolle, und es kommt sogar zu einem „supression rebound effect“. Das heißt, unsere automatischen Assoziationen haben nun einen stärkeren Einfluss auf unsere Denkprozesse und unser Verhalten als sie gehabt hätten, wenn wir sie nicht unterdrückt hätten. Was lässt sich aus diesen Befunden ableiten? Generell kann man sagen, dass eine Vielfalt unserer Verhaltensweisen automatisch abläuft, ob wir wollen oder nicht. Die Folgen automatischer Prozesse stimmen nicht immer mit unseren bewussten Einstellungen überein. Wir können uns aber gegen den Einfluss automatischer Assoziationen bis zu einem gewissen Grade wehren, indem wir uns zum einen ihres Einflusses bewusst werden. Zum anderen sollten wir versuchen, uns bei wirklich wichtigen Entscheidungen Zeit zu nehmen und bewusst über die Gründe und Folgen unserer Entscheidungen nachdenken. So ganz können wir uns vom Einfluss dieser automatischen Prozesse wahrscheinlich nicht befreien. Es ist wichtig anzumerken, dass wir durch bewusste Entscheidungen den Einfluss automatischer Prozesse auf unser Verhalten zwar verringern können. Aber das bedeutet nicht, dass bewusst getroffene Entscheidungen automatisch besser sind als die nicht bewusst getroffenen.
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A-priorische Elemente in menschlichen Konflikten Eine ständige, allgegenwärtige Quelle von Konflikten besteht darin, dass Wahrnehmungen und Urteile niemals rein datengetrieben („bottom-up“) sind, sondern stets auch von Vorwissen und a-priorischen Theorien („top-down“) beeinflusst werden.„Wär’ das Auge nicht sonnenhaft, es könnte sie nicht erblicken“ – so hat Goethe die Kant’sche Weisheit interpretiert, wonach keine verstehende Wahrnehmung möglich ist, wenn der Betrachter nicht bereits ein Konzept von dem wahrzunehmenden Objekt besitzt. Die moderne kognitive Psychologie ist voller Bestätigung für diese Erkenntnis. Nicht einmal die simpelste Wahrnehmung kommt ohne Theorie bzw.Vorwissen aus. Den Buchstaben „a“ zu lesen, setzt abstraktes Wissen darüber voraus, welche Formen dieser Buchstabe annehmen kann. Ein geübter Leser hat den Buchstaben zig-tausendfach gelesen, wobei jede Wahrnehmung ein Unikat war, ein etwas anderes Abbild auf der Netzhaut hinterlassen hat, bedingt durch unterschiedliche Handschrift, Drucktypen, Farbe, Größe, Abstand, kursiv, fett, Majuskeln etc. Selbst diese elementare Wahrnehmungsleistung erfordert also ein abstraktes Konzept darüber, welche graphemischen Muster als „a“ oder aber als „c“ oder „e“ zu verstehen sind. Dasselbe gilt für das Wiedererkennen von Gesichtern, das Erkennen einer Drohung, eines Risikos, und erst recht für das Einschätzen absichtlicher Handlungen – Beleidigungen, Aggressionen, Hilfeleistungen – oder Persönlichkeitsmerkmalen. All diesen bedeutsamen Wahrnehmungen ist gemeinsam, dass der Wahrnehmende mit einer auf Vorwissen beruhenden Hypothese an das wahrgenommene Geschehen herangeht. Unterscheiden sich die Hypothesen verschiedener Subjekte, so unterscheiden sich auch ihre Wahrnehmungen, weil das Ergebnis stets eine Wechselwirkung ist zwischen den wahrgenommenen „Daten“ und der „Theorie“ des Wahrnehmenden. Wie sich Hypothesen dabei oft selbst bestätigen, wurde von Mark Snyder und William Swann (1978) eindrucksvoll experimentell demonstriert und seither in Hunderten von Studien genauer aufgeklärt. Snyder und Swann gaben ihren Versuchsteilnehmern die Aufgabe, im Gespräch mit anderen Personen herauszufinden, ob ihr Diskussionspartner extravertiert oder – in einer anderen experimentellen Bedingung – introvertiert ist. Dazu konnten sie aus einer größeren Liste diejenigen Interview-Fragen auswählen, die ihnen für die Lösung dieser Aufgabe am besten geeignet erschienen. Diejenigen Teilnehmer, welche die Extraversionshypothese zu testen hatten, gelangten mehrheitlich zu dem Eindruck, dass ihr Gegenüber in der Tat extravertiert sei. Hingegen glaubten diejenigen, die nach Introversion gefragt waren, zumeist, ihr Gegenüber sei introvertiert. Je nach Ausgangshypothese gelangten sie also zu gegensätzlichen Wahrnehmungen und Beurteilungen. Wie eine Analyse der ausgewählten Interviewfragen ergab, hatten die Teilnehmer in der Extraversions-Bedingung zumeist Fragen nach Parties, Witzen und Sozialkontakten ge-
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stellt und somit dem Gesprächspartner reichlich Gelegenheit gegeben, sich extravertiert darzustellen, während in der Introversions-Bedingung vor allem Themen wie stille Stunden, Alleinsein und Besinnung angesprochen wurden, die den Gesprächspartner zu introvertiertem Verhalten einladen. Wie man sieht: unterschiedliche Ausgangshypothesen führen ganz systematisch zu konfliktierenden Wahrnehmungen – ohne dass irgendeine böse Absicht, eine feindselige Motivation oder emotionale Ressentiments im Spiel sein müssten. Man kann nicht einmal sagen, dass die Art und Weise, wie Menschen „ihre eigenen“ Hypothesen testen und dabei die Hypothesen anderer vernachlässigen, irrational sei. Mithilfe der Informationstheorie lässt sich mathematisch zeigen (Klayman/Ha 1987; Oaksford/Chater 1994), dass eine gezielte Informationssuche, die sich an der aktuellen Hypothese orientiert, sehr funktionell ist. Wenn ein Polizist einen Verbrecher verhört, ist er selbstverständlich an anderen Informationen interessiert als wenn ein Personalchef einen Bewerber auf einen Job interviewt oder wenn ein junger Mann einer geliebten Frau Zeichen ihrer Wertschätzung entlocken will. Dass verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Hypothesen und Ausgangspunkten zu gegensätzlichen Wahrnehmungen und Erkenntnissen gelangen – alle nach bestem Wissen und Gewissen – ist eine ständige, völlig normale Konfliktquelle. Auch ohne reale Interessengegensätze, Feindschaft oder Ressentiments können die Ergebnisse solcher völlig redlichen, fairen, rationalen Überprüfung subjektiver Hypothesen zu ganz erheblichen Auseinandersetzungen führen: vor Gericht, in Partnerschaften, zwischen politischen Parteien oder zwischen Wissenschaftlern, die von verschiedenen Theorien überzeugt sind.
Auf den Standpunkt kommt es an Was für unterschiedliche Hypothesen und Vorerwartungen gilt, trifft ebenso für die Perspektive, den Blickwinkel oder die Distanz zu, mit der verschiedene Subjekte dasselbe Geschehen betrachten. Wie Trope und Libermann (2003) eindrucksvoll gezeigt haben, entstehen viele Entscheidungskonflikte dadurch, dass aus großem zeitlichen Abstand getroffene Handlungspläne – z. B. ein großes Fest zu organisieren – immer mehr an Attraktivität verlieren und aus kurzer Distanz, wenn der Termin herannaht, zu unangenehmen Pflichten werden können. Trope und Libermann zeigen mithilfe vieler empirischer Befunde, dass Entscheider aus großer Distanz in erster Linie mit der ganzheitlichen Bewertung von Zielen („desirability“) befasst sind, während aus kurzer Distanz immer mehr die Details der Machbarkeit („feasibility“) sichtbar werden. Dasselbe gilt übrigens nicht nur für zeitliche Distanz, sondern auch für räumliche oder soziale Distanz. Andere Menschen und Gruppen werden eher global bewertet, und es werden ihnen dispositionale Eigenschaften zugeschrieben, während für die Beurteilung der eigenen Person oder Gruppe viel
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mehr Details der Situation und äußere Umstande herangezogen werden. Diese Diskrepanz zwischen Selbstbeurteilung von Akteuren und Fremdbeurteilung von Beobachtern wurde oben bereits erwähnt. In jedem Falle stellen verschiedene Blickwinkel, Perspektiven, Distanzen oder Positionen eine natürliche Quelle von „ökologisch bedingten“ Konflikten dar, die nicht mit gegensätzlichen Interessen, Motiven und Emotionen zu tun haben, sondern einzig und allein mit der Relativität der Wahrnehmungsposition.
Abschließende Bemerkung Konflikte werden gewöhnlich als Anomalien betrachtet, als Verstöße gegen die guten Sitten der Moral und gegen die Harmonie des friedlichen Zusammenlebens. Um solche Verstöße zu erklären, werden in der Regel Erklärungskategorien herangezogen wie fehlerhaftes Verhalten, mangelnde Moral oder fehlende Kontrolle und Überwachung – oder gar kriminelle Motive und pathologische Ursachen. Ohne solche abnormalen, antisozialen Konfliktquellen in Abrede zu stellen – sie sind uns allen leider wohl bekannt – haben wir diese völlig unstrittige Wahrheit in diesem Kapitel als gemeinhin bekannt und deshalb wenig interessant einfach ausgeklammert. Stattdessen haben wir versucht, einen etwas anderen Akzent zu setzen. Konflikte entstehen auch ohne Feindschaft und Verstöße gegen Ordnung und Moral aus ganz natürlichen psychologischen und ökologischen Gründen: um ein positives Selbstkonzept zu wahren, weil die Umwelt voller Dilemmata steckt, weil unkontrollierte, quasi-automatische Prozesse das Bewusstsein in bestimmte Bahnen lenken, weil Menschen nicht passiv wahrnehmen und denken, sondern aktiv Hypothesen testen, und weil es so viele Wahrheiten wie Standpunkte und Perspektiven gibt. Wollte man all diese „unschuldigen“, moralisch unbedenklichen, normalen Konflikte aus der Konfliktforschung ausklammern, entstünde ein sehr verarmtes Bild der Psychologie des Konfliktes – als ob die Bewältigung von Konflikten allein eine Sache des Verachtens, Ausgrenzens und Verurteilens von unvernünftigem und asozialem Verhalten wäre. Konflikte sind vielmehr allgegenwärtig und stellen eine stete Anforderung an soziale Intelligenz und menschliche Kommunikation dar. Eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung dieser Anforderungen besteht gerade darin, Konflikte nicht als ihrem Wesen nach böse, feindlich und unnötig zu verstehen, sondern als natürlichen Folge von Strukturen der sozialen und ökologischen Umwelt, woraus immer wieder Interessenvielfalt, Pluralismus, Wettbewerbe und Unsicherheiten im Umgang mit Innovationen und neuen Gruppierungen entstehen, die am Anfang per definitionem Minderheiten sind. Eine Innovation, die nicht zu Anfang von einer abweichenden Minderheit getragen würde und im Konflikt mit traditionellen Regeln stünde, gibt es nicht (Moscovici 1976). Insofern sind Konflikte untrennbar mit Innovation, kulturellem Fortschritt und letztlich mit aller Evolution verbunden.
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Die Bedeutung innerpsychischer Konflikte für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen peter fiedler 1 Blick in die Geschichte: psychoanalytische und psychodynamische Konzepte Zur Erneuerung des klinischen Denkens und Handelns im psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen Umgang mit psychisch gestörten Menschen im 20. Jahrhundert hat als eine wesentliche Quelle die Lehre Sigmund Freuds, die Psychoanalyse, beigetragen. In ihr wie in vielen psychodynamischen Theorien seiner Nachfolger stehen die Begriffe „Unbewusstes“ und „Konflikt“ für ein Verstehen psychischer Störungen sehr im Mittelpunkt. Die seelischen Leiden der Menschen werden als Ergebnis unbewusster Konflikte und als Folgen von traumatisierenden Kindheitserfahrungen aufgefasst. Freuds Verdienst war es, die Idee des Unbewussten, die schon von Philosophen wie Leibniz, Schopenhauer, Carus, von Hartmann und Nietzsche, von Psychologen wie Herbart und Pierre Janet entwickelt worden war, vorangetrieben und in einer Synthese formuliert zu haben, die ihm in kurzer Zeit Berühmtheit und Popularität einbrachte.
1.1 Unbewusste Konflikte Freud stellte den zu seiner Zeit dominierenden organmedizinischen Auffassungen psychischer Störungen als (Geistes-)Krankheit eine ausdrücklich psychologische und dialektische Auffassung gegenüber: Neurosen wurden als das Ergebnis eines Kontrasts, eines Spannungsungleichgewichts aufgefasst, kurz: als nicht gelöster Konflikt zwischen widersprüchlichen menschlichen Bedürfnissen gesehen. Das gestörte Individuum erwarb damit, wenn man so will, das Recht auf eine eigene Psyche, ein eigenes Innenleben. Diese Psyche war nicht nur verständlich, sie war auch grundsätzlich dieselbe bei Gesunden und Kranken: Die Konfliktdynamik des Unbewussten folgt allgemeinen Gesetzen. Für den Gesunden spiegelt sich das eigene Unbehagen in einer beginnenden psychischen Störung wider. Der Patient beginnt seinerseits, wieder nach seiner eigenen, verständlichen Vernunft zu leben, und fordert damit das
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Recht, angehört zu werden. Als einen möglichen Ort für solche selbstfindenden Gespräche gibt es seither eine offizielle Institution: die Psychotherapie. Trotz einer primär psychologischen Untersuchung des Konfliktgeschehens wies Freud der biologischen Struktur die grundlegendere Bedeutung gegenüber sozial-gesellschaftlichen Anforderungen an das Individuum zu. So wird denn die Dialektik zwischen individuellen Triebbedürfnissen und sozialen Anforderungen und Reglementierungen, die nach Freud den Ausgangspunkt für Neurosen bildet, als Konflikt zwischen biologisch immer gleichen Trieben und der je gegebenen Existenz zivilisatorischer Einschränkungen persönlicher Freiheiten aufgefasst.
1.2 Soziale Konflikte Verschiedene Faktoren haben schließlich dazu beigetragen, die Sichtweise einer biologisch gegebenen, den historischen Determinationen entzogenen „menschlichen Natur“ in Frage zu stellen – wie dies noch typisch gewesen war für die Psychologie und Psychiatrie des 19. Jahrhunderts und wie sie als solche die Grundlagen für Freuds Psychoanalyse abgaben. Mit ihrer Rezeption psychoanalytischen Denkens waren die Entwicklung der Soziologie, die Entstehung der kulturellen Ethnologie und die Entwicklung der Psychologie entscheidende Faktoren für die Erschütterung der individualistischen biologischen Schemata. Im Laufe der 1930er Jahre führten Studien der Frankfurter Schule über die Familie und Aufsätze Horkheimers allmählich zu einer Revision einiger Grundsätze der Psychoanalyse Freudscher Prägung, vor allem in Arbeiten von Erich Fromm und in den Frühschriften von Karen Horney. Zur Schule der so genannten Neo-Freudianer gehörte neben Fromm und Horney vor allem Sullivan, dessen Interpersonelle Theorie der Psychiatrie (1953) bis in die Gegenwart hinein rezipiert wird. Die Neo-Freudianer, die sich in den 1940er Jahren in den USA zusammenschlossen, bestritten die Freudsche Triebkonflikttheorie. Sie behaupteten, neurotische Störungen seien das Ergebnis widersprüchlicher sozialer und gesellschaftlicher Anforderungen. Damit brachten sie den sich nach Kultur, Epoche und Gesellschaftsschicht jeweils relativierenden Charakter der Widersprüche und der individuellen Leiden wieder zur Geltung. Innerhalb der Nachfolgegeneration der Neo-Analytiker wird die Besonderheit psychischer Störungen und abweichenden Verhaltens nicht mehr nur als inneres Leiden der Menschen gesehen, sondern als soziale Rolle oder als Ergebnis von Rollenkonflikten. Das Rollenverhalten und vorhandene RollenKonflikte können nur in Begriffen der Kommunikation und Interaktion gefasst werden. Diese existieren nicht an sich, sondern sind immer Teil einer Struktur zwischenmenschlicher Beziehungen. Damit hatte sich eine ausdrücklich sozialpsychologische und soziologische Sichtweise psychischer
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Störungen etabliert. Die Neoanalytiker bezeichneten sich weiterhin als Psychoanalytiker, firmieren und publizieren gelegentlich bis heute und in Anlehnung an Sullivan gern unter der Bezeichnung „Interpersonelle Psychotherapie“ (Anchin/Kiesler 1980).
1.3 Konfliktangst Der Gedanke, dass die objektive Lage, in der sich ein Individuum befindet, Ursache und nicht Folge seiner subjektiven Seins- und Denkweise ist, wird in den 1960er und 1970er Jahren am klarsten in der neoanalytisch geprägten Antipsychiatriebewegung aufgegriffen (Jervis 1975). Psychische Störungen ließen sich danach auch als Ausdruck oder Widerspiegelungen von gesellschaftlichen Widersprüchen begreifen, die vor allem in zwischenmenschlicher Angst ihren Niederschlag finden. Der Unterschied zwischen normaler Angst und einer Angst als Leitsymptom psychischer Störungen wird darin gesehen, dass sich Letztere aus einem ungelösten und nicht klar wahrgenommenen Konflikt zwischen widersprüchlichen Ansprüchen ergibt – und zwar vorrangig durch den Konflikt zwischen Anpassungs- und Freiheitsanspruch, zwischen Unsicherheit in Bezug auf ein Akzeptieren gesellschaftlicher Anforderungen und Zwänge bei gleichzeitig vorhandener Tendenz zur Verweigerung. Im Sinne dieses Denkansatzes wären unter zwei Konstellationen neurotische Störungen nicht zu erwarten: einerseits bei vollkommenem Konformismus und bei völliger Anerkennung der Unterdrückung sowie andererseits, wenn die persönliche Freiheit ständig und engstirnig voran gestellt wird, ohne volles Bewusstsein der Unterdrückung, die dazu bestimmt wäre, sie zu verhindern. Die Neurose selbst ist also keine klar begrenzbare und auch keine homogene Realität. Neurotisierende Faktoren wirken auf das gesamte Leben des Individuums ein, womit sie existenzielle Bedeutung erlangen. Neurotische Auffälligkeiten sind mithin Ausdruck einer weitergehenden Situation allgemeinen Unbehagens, an dem Menschen leiden: Da sie von der gesamten Lebensgeschichte des Einzelnen nicht zu trennen sind, sind sie auch Teil der kollektiven Probleme, in der sich der Einzelne verstrickt findet.
2 Wege in die Gegenwart: Konflikt in der Klinischen Forschung Außerhalb und in gewisser Konkurrenz zur hermeneutisch und phänomenologisch arbeitenden Psychoanalyse hatten sich die in der Psychologie und Psychiatrie empirisch forschenden Wissenschaftler daran gemacht, ihrerseits die Tragfähigkeit des Konflikt-Konzeptes als Erklärungsmöglichkeit für psychische Störungen zu untersuchen. Auch in der klinischen Forschung meint der Konfliktbegriff immer innerpsychische Konflikte. Äußere Konflikte, wie der Streit zwischen Menschen, werden unter den Kategorien der äußeren Be-
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lastungen oder Stressoren eingereiht. Diese können gelegentlich zwar ihrerseits in innere Konflikte einmünden und bei Betroffenen deutlich traumatisierende Wirkungen entfalten. Innere Konflikte können jedoch auch bei Abwesenheit traumatisierender oder belastender Erfahrungen zur Notwendigkeit Anlass geben, innerpsychische Möglichkeiten zu ihrer Bewältigung oder Überwindung zu entwickeln und einzusetzen – und dabei zu Fehlentwicklungen führen.
2.1 Motivationale Konflikte Es ist nun die besondere konflikthafte Widersprüchlichkeit von Lösungsperspektiven, die für die Erklärung psychischer Störungen als eine wichtige Möglichkeit angesehen werden. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff „motivationaler Konflikt“ eine zentrale Rolle (Grawe 1998). Bei motivationalen Konflikten handelt es sich unter anderem (a) um Konstellationen zwischen den Bedürfnissen und Interessen eines Menschen einerseits und den subjektiv erkannten realen Entfaltungsmöglichkeiten andererseits (Realkonflikte), weiter (b) um Konflikte zwischen internalisierten sozialen Ansprüchen und Normen (Normkonflikte) sowie schließlich (c) um Konflikte zwischen den eigenen Handlungsmöglichkeiten und eigenen oder übernommenen Idealvorstellungen über/von sich selbst, die als Konflikte zwischen unterschiedlichen Anteilen des Selbst (Aktualselbst, Fremdselbst, Idealselbst), gelegentlich auch als (narzisstische) Anspruchskonflikte angesehen werden. Da Konflikte eine Inkompatibilität motivationaler Konzepte andeuten, können alle jene Erlebnisse konfliktverursachend sein, die Dissonanzen zwischen der Bedürfnislage und ihrer aktuellen Verwirklichung beinhalten. In diesem Zusammenhang bedeuten Ambivalenz oder Ambiguitätstoleranz die Fähigkeit, innere Widersprüche zu tolerieren und damit letztlich doch zu einer handlungsfähigen Gewichtung und Bewertung zu gelangen. Die Fähigkeit zur Ambivalenz bzw. Ambiguitätstoleranz ist also eine Fähigkeit zur Bewältigung motivationaler Konflikte. Intoleranz gegenüber Ambiguität oder das rigide Verharren in Ambivalenz erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass es zu bedrohlich erlebten emotionalen Irritationen kommt bis hin zur Handlungsunfähigkeit und einem Hilflosigkeitserleben. Darin wird die Virulenz motivationaler Konflikte für die Entwicklung oder Aufrechterhaltung psychischer Störungen vermutet.
2.2 Konzeptvielfalt in der Forschung Insgesamt hat es sich als nicht ganz einfach erwiesen, innere Konflikte in der empirischen psychologischen Forschung nachzuweisen und einen Zugang zu
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den motivationalen Konflikten zu gewinnen. Das hängt einerseits damit zusammen, dass recht unterschiedliche und divergierende Begriffe und Hypothesen in Forschungsarbeiten untersucht wurden. So wurden für das Erleben einer Verletzung von Konsistenz, Kongruenz oder Harmonie innerhalb der menschlichen Psyche unterschiedlichste Konflikt-Theorien ausgearbeitet, die teilweise bis heute in der klinischen Forschung wichtig sind. Zwei häufig verwendete Konzepte stammen von Heider (1977) und Festinger (1965). Heiders Anliegen war die Entwicklung eines Modells der Verarbeitung von Informationen/Einstellungen bzw. der Relationen im kognitiven System des wahrnehmenden Subjekts. In seinen zentralen Annahme postuliert er ein so genanntes Konsistenzprinzip, nach dem kognitive Imbalancen Unruhe auslösen und dazu motivieren, Balance und Konsistenz herzustellen.Wenn zwei innere Einstellungen oder Motive eines Menschen miteinander in relevanter Verbindung stehen, werden sie entweder konsonant oder dissonant erlebt. Dissonanz wird gewöhnlich als störend erlebt und motiviert die Person zur Reduktion von Dissonanz. Das letztgenannte Postulat steht im Mittelpunkt der so genannten Dissonanztheorie von Festinger (1965). Aus zahlreichen Studien lässt sich folgern, dass ein (menschliches) Bedürfnis vorhanden ist, ein konsistentes Bild von sich selbst und der Welt zu entwickeln und zu bewahren, um Stabilität, Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit zu gewährleisten und um auf die Komplexität der Welt reagieren zu können. Subjektiv bedeutsame Dissonanz, Ambivalenz oder Ambiguität wird nicht nur als unangenehm erlebt, sondern führt gelegentlich zu deutlichen Veränderungen im emotionalen Erleben, die sich experimentell als erhöhte Erregung nachweisen ließen. Die Vermutung liegt nahe, dass bei extremen Schwierigkeiten, bedeutsame Konflikte lösen zu können, psychische Störungen die Folge sein könnten. Dies wird gegenwärtig mit der Frankfurter Konfliktdiagnostik (Lauterbach 1996) untersucht, die auf Heiders und Festingers Theorien aufbaut und auf die wir später eingehen werden. Für experimentelle Studien wurde auch noch eine formalisierte Konfliktdifferenzierung von Lewin (1935) aufgegriffen – weil sich diese gut untersuchen ließ. In ihr werden drei Konfliktarten unterschieden: (a) ein so genannter Annäherungs-Annäherungs-Konflikt zwischen zwei attraktiven Zielen; (b) ein so genannter Vermeidungs-Vermeidungs-Konflikt zwischen zwei unattraktiven Zielen, von denen eines jedoch gewählt werden muss; sowie (c) ein Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt gegenüber nur einem Zielobjekt. Von Tierexperimenten ausgehend wurden zahlreiche Untersuchungen mit Menschen durchgeführt, aus denen sich zunehmend Hinweise ergaben, dass sich Schwierigkeiten im Umgang mit Konflikten lebensgeschichtlich verfestigen können. Bei Menschen mit erhöhter Vulnerabilität können bedeutsame, jedoch nicht oder kaum lösbare Konflikte in depressive Verfassungen einmünden. Diese Beobachtungen haben Seligman (1975) zur Ausarbeitung seiner weithin beachteten „Depressionstheorie der gelernten Hilflosigkeit“ geführt.
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Andererseits erwies es sich als schwierig, zwischen kurzfristig oder langfristig wirkenden motivationalen Konflikten zu unterscheiden. Offensichtlich werden viele akut als belastend erlebte Konflikte von vielen Menschen rasch wieder vergessen (Lehr 1965). Manche Perioden des Lebens werden als besonders konfliktträchtig erachtet, wie die Adoleszenz oder der Übergang in den Ruhestand. Auf empirischer Basis andererseits zeigte sich auch, dass selbst diese einfachen zeitlichen Zuordnungen von einem Mehr an Konflikten zu bestimmten Lebensabschnitten sehr gut an Einzelfällen, aber kaum sinnvoll an größeren Stichproben allgemeingültig nachzuweisen sind.
2.3 Konflikte und die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit Es kam eine weitere Schwierigkeit hinzu. Nicht immer ließen sich in der Forschung die erhofften Zusammenhänge zwischen motivationalen Konflikten und psychischen Störungen nachweisen. Konflikte können zwar die lebensgeschichtliche Entwicklung stören, indem sie innere Unruhe, Entscheidungsnöte und Hilflosigkeiten provozieren. Andererseits scheint ein gewisses Maß an motivationalen Konflikten geradezu als Voraussetzung für eine günstige Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung der Persönlichkeit. Sowohl menschliches Wachstum und eine gesunde Entwicklung als auch das Leiden an einer psychischen Störung können gleichermaßen Folge von motivationalen Konflikten sein (Emmons/King 1988). Ein Umgang mit Konflikten kann womöglich mehr zum Wohlbefinden beitragen, als dass das Vorhandensein von Konflikten zu negativem Befinden beiträgt. Dies gilt (wenn man Einzelfallanalysen in Betracht zieht) mitunter selbst für lang andauernde, eventuell bereits als chronifiziert zu betrachtende Konflikte. Im Umkehrschluss bedeutet dies natürlich nicht, dass motivationale Konflikte und vor allem ihre innerpsychischen Lösungsmöglichkeiten nicht zugleich erheblich zu einem besseren Verständnis psychischer Störungen beizutragen vermögen. Lediglich die Anforderungen an die klinische Forschung änderten sich mit einer zunehmend akzeptierten Positivierung der innerpsychischen Konfliktdynamik. Angesichts motivationaler Konflikte können das Treffen einer Entscheidung oder die Wahl eines Kompromisses sowohl positive wie zugleich ungünstige Wirkungen entfalten. Dasselbe gilt für indirekte Lösungen wie „Aus dem Felde gehen“, Verdrängen, Bagatellisieren oder Ablenkung – sowie für viele weitere Abwehrmechanismen, die in der Psychoanalyse vorgedacht und häufig vorschnell als ungünstig für die menschliche Entwicklung angesehen worden waren. Natürlich sind viele Konflikte sehr vage formuliert oder gar nicht bewusst und damit nicht so ohne Weiteres einer rationalen Entscheidungsfindung zugänglich. Jedoch: Selbst die bisherige Vermutung, dass unbewusste Konflikte ein Potenzial zur Entwicklung psychischer Störungen bereitstellen, geriet etwas ins Wanken: Man kann unbewusste Konflikte z. B. „zufällig“ lösen, ohne
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dass sie selbst wie die psychologische Mechanismen ihrer Lösung je bewusst werden müssen.
3 Blick in die Zukunft: empirische Analyse der Konfliktdialektik Aber was ist nun eine im Lebenslauf „gesunde“, was eine „ungesunde“ Konfliktverarbeitung? Und weiter ergeben sich Fragen danach, welche Maßnahmen Individuen treffen können, Konflikte zu vermeiden oder einzugrenzen – oder aber auch wann es sinnvoll sein könnte, Konflikte bewusst zu suchen und sich ihnen klar zu stellen. Eine sorgsame Analyse der individuellen Dialektik im Umgang mit Konflikten gilt heute als wesentlich, will man auf dem Weg zur Erklärung psychischer Störungen voran kommen. Leider fehlen nach wie vor hinreichende Erkenntnisse, um Aussagen über die Spezifika und Wirkungen der intrapsychischen Lösung wie Nichtlösung motivationaler Konflikte zu machen. Während – wie eingangs beschrieben – konflikt- und störungsspezifische Spekulationen viele Seiten füllen, steckt die empirische Erforschung der Zusammenhänge zwischen Konfliktdialektik und psychischen Störungen nach wie vor in den Anfängen. Ein Grund hierfür ist darin zu sehen, dass testpsychologisch gut überprüfte Instrumente zur Konfliktdiagnostik, die der angedeuteten Vielfalt dialektisch möglicher Konfliktlösungsmuster zumindest jeweils teilweise entsprechen, erst seit wenigen Jahren zur Verfügung stehen. Kaum vorhanden sind prospektive Studien, mit denen Entwicklungen und Wechselwirkungen zwischen Konfliktdynamik und psychischen Störungen nachgewiesen wurden. Besser abgesichert sind Aussagen zum gemeinsamen Auftreten von motivationalen Konflikten und bestimmten Störungsbildern, auf die wir nachfolgend eingehen möchten.
3.1 Normkonflikte Bereits früh und wiederholt untersucht wurden bei psychischen Störungen die für das Freud’sche Denken zentralen Normkonflikte zwischen eigenen Bedürfnissen und sozialen Anforderungen. Normkonflikte hängen eng mit emotionalen Befindlichkeiten wie Scham und Schuld zusammen, und vor allem letztere werden für die Entwicklung von depressiven Störungen als bedeutsam angesehen. Die Ergebnisse der Forschungstradition, in der diese Zusammenhänge untersucht wurden, nehmen sich bis heute recht widersprüchlich aus. Einerseits sind im Kindesalter Schuld und Scham erzeugende Konflikte viel seltener und für die Entwicklung psychischer Störungen als weniger gravierend anzusehen wie im Erwachsenenalter (Resch 1996). Im Erwachsenenalter ließen sich zwar wiederholt Zusammenhänge zwischen Schuld/ Scham und Depression finden, jedoch bei weitem nicht in allen Studien. Zu-
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meist überwogen Schamgefühle, die eher auf eine besondere Empfindsamkeit und – daraus resultierende – Depressionsneigung hinweisen (Kocherscheid 2002). Und die bei Depressiven ebenfalls beobachtbaren Schuldgefühle korrelieren eher mit den Persönlichkeitsmerkmalen Gewissenhaftigkeit und Rigidität, was auf Normkonflikte hindeuten könnte. Inwieweit Letztere tatsächlich eine Bedeutung für die Störungsentwicklung haben, ist noch unklar.
3.2 Anspruchskonflikte Häufiger als Normkonflikte wurden bis heute Anspruchskonflikte zwischen der aktuellen Sicht seiner selbst (Real-Selbst) und den eigenen oder übernommenen Idealvorstellungen über/von sich selbst (Ideal-Selbst) untersucht, zumal es dazu inzwischen eine Reihe guter Erhebungsinstrumente gibt. Das sich in Diskrepanzen zwischen Real- und Ideal-Selbst ausdrückende Nichterreichen von Wünschen und Hoffnungen ist einer Reihe von Studien zufolge eng mit Gefühlen der Enttäuschung, Niedergeschlagenheit und Depression assoziiert – und im Falle einer manifesten Störung häufig auch mit dem Gefühl der Scham (Berger 2003). Leider lassen sich aus diesen und ähnlichen Querschnittsstudien kaum Rückschlüsse auf die entwicklungsgeschichtliche (ätiologische) Bedeutung des Konfliktgeschehens für die Depression ziehen. Andererseits konnte die Anspruchsforschung ein neues eigenes Licht auf die Erforschung der Normkonflikte lenken: Während Real-Ideal-Konflikte mit Niedergeschlagenheit und Depression zusammenhängen, führen Diskrepanzen zwischen dem RealSelbst und den Soll-Vorgaben anderer (Fremd-Selbst) zu Emotionen aus dem Bereich der Angst – vor allem dem der sozialen Ängstlichkeit, was eindeutiger auf Normkonflikte hindeutet (Higgins 1987; Bruch et al. 2000).
3.3 Konflikt-Dialektik Interessanterweise zeigt sich mit Blick auf die zuletzt genannten Befunde, dass die Ausprägung oder Schwere von Depression bzw. sozialer Angst eng mit moderierenden Variablen zusammenhängt, deren Wichtigste die Zugänglichkeit und die subjektive Relevanz des Konfliktes darstellen (Higgins 1999). Insbesondere die „Zugänglichkeit“ zu bestimmten Diskrepanzen macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, sich eingehender als bisher mit den psychologischen Mechanismen einer dialektischen Konfliktverarbeitung zu befassen. Der seit dem 19. Jahrhundert gebräuchliche und von Freud und Nachfolgern benutzte Begriff des „Unbewussten“ hatte für viele Forscher den Blick etwas verstellt. Auch das Konzept „Zugänglichkeit“ ist gleichermaßen viel zu grob gewählt. Vor einigen Jahrzehnten wurde zur Überwindung dieses Problems das Konstrukt der „Ambiguitätstoleranz“ eingeführt und in seinen unterschiedli-
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chen Facetten untersucht. Eines der am gründlichsten voruntersuchten Instrumente zur Analyse der Konfliktdialektik stellt gegenwärtig die Frankfurter Konfliktdiagnostik dar (Lauterbach 1987). Mithilfe dieses computerisierten Instrumentariums fand sich, dass die Ambiguitätsintoleranz eine wichtige Moderatorvariable für Zusammenhänge zwischen Stimmung und Konflikten darstellt, insbesondere bei negativen Affekten und nachweisbar wiederum bei unterschiedlichen psychischen Störungen, wenngleich nicht bei allen (Hoyer 1992). Gefunden wurden Zusammenhänge zwischen konfliktbedingten Ambivalenzen bei Alkohol-/Drogenproblemen, Essstörungen, Depression und Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis, aber auch bei nicht klinischen Gruppen wie Frauen mit unerwünschter Schwangerschaft sowie bei wenig erfolgreichen Leistungssportlern (Lauterbach 1999).
3.4 Konflikt-Themen und ihre Valenzen Inzwischen werden im Zusammenhang mit motivationalen Konflikten auch die konkreten inhaltlichen Themen dieser persönlichen Konflikte einbezogen und berücksichtigt, die in der Frankfurter Konfliktdiagnostik die wesentlichsten Elemente darstellen (Lauterbach 1987). Dieses in vielfältiger Hinsicht sehr differenzierte Verfahren ermöglicht neben der Einschätzung einer globalen Konfliktbelastung ausdrücklich die von uns oben geforderte Beachtung der positiven und negativen Valenzen von konfligierenden Themen und Motiven. Und genau in diesem Zusammenhang finden sich inzwischen auch Ergebnisse, die eindeutig gegen das schlichte und globale Postulat der Zusammenhänge von Konfliktbelastung und psychischer Gestörtheit sprechen. So finden sich beispielsweise bei depressiven Patienten im Unterschied zu Gesunden zwar weniger positive Zusammenhänge zwischen der positiven Bewertung und Konflikthaftigkeit persönlicher Themen. Andererseits gilt offensichtlich sowohl für depressive Patienten als auch für nicht depressive Kontrollprobanden gleichermaßen: Je höher der Konfliktwert eines Themas ist, desto positiver wird es bewertet (Berger 2003). Werden Konfliktthemen und ihre emotionale Valenz beachtet, findet sich eine Vielfalt von Zusammenhangsmustern mit einer großen Varianz und Unterschiedlichkeit zwischen einzelnen Personen. Globale Aussagen zu Zusammenhängen zwischen persönlich relevanten Konflikten und psychischen Störungen sollten zukünftig also nur mit selbstkritischer Zurückhaltung und mit Vorsicht postuliert werden.
3.5 Auf dem Weg zur Neuropsychologie von Konflikten Inzwischen hat noch eine weitere, neue Epoche der Erforschung von Konflikten begonnen, in der es zunehmend besser möglich erscheint, der Konfliktregulation in unserem Gehirn auch noch direkter mittels bildgebender Verfah-
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ren auf die Spur zu kommen. Begründen lässt sich diese Hoffnung mit einer Reihe von Experimenten (Singer 2003), aus deren Ergebnissen bereits heute ableitbar scheint, dass sich unser Gehirn in einem fortlaufenden Prozess der Homöostase-Erhaltung befindet. Offensichtlich werden verschiedene neuronale Erregungsmuster in räumlich voneinander getrennten Hirnarealen kontinuierlich auf Kompatibilität geprüft. Und falls sie sich widersprechen, scheinen diese „Konflikte“ einem kompetitiven Prozess ausgesetzt, in dem es einen Sieger geben kann. Oder aber, so lässt sich auch vermuten, in dem sie sich in rigiden Bahnungen festfahren, wie sich dies z. B. aus neurophysiologischen Untersuchungen bei Zwangsstörungen rückschließen lässt (Moll et al. 1999).
4 Resümee In den vergangenen Jahrzehnten hat das Wissen über die Ursachen und Hintergründe der Entwicklung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen enorm zugenommen. Sie umfassen hereditäre, biologische, psychologische und sozial-gesellschaftliche Aspekte, und sie unterscheiden sich sehr differenzierbar von Störung zu Störung. Auch wenn der innerpsychische Konflikt im letzten Jahrhundert lange Zeit im Mittelpunkt vieler Erklärungsmodelle stand, dürfte heute weithin akzeptiert werden, dass der „Konflikt“ nur eine (bescheidene) neben vielen anderen, möglicherweise erheblich bedeutsameren Perspektiven darstellt, psychische Störungen von Menschen zu verstehen und zu erklären. Dies gilt insbesondere für die in dieser Arbeit häufig erwähnte Depression, auch wenn an diesem Störungsbild bis heute die meisten klinischen Studien zur Konfliktdynamik durchgeführt wurden. Depression ist nicht gleich Depression. Neben Konflikten können für die Entwicklung dieser weit verbreiteten psychischen Erkrankung vielfältige weitere Faktoren mitverantwortlich zeichnen: Traumata, einschneidende Lebensereignisse, Persönlichkeitsmerkmale, sozial-gesellschaftliche Turbulenzen oder ausschließlich biologische Faktoren (wie z. B. bei Lichtmangel-Depression); oder sie kann die unglückliche Folge einer anderen organ-medizinischen Erkrankung sein (wie z. B. sehr gelegentlich nach eine Hirnhautentzündung). Inwieweit Konflikte in der Depressionsentwicklung eine eigene oder zusätzliche Rolle spielen, das ist nach wie vor unklar. Vernachlässigen darf man diese Perspektive jedoch nicht. Denn für viele Patienten könnte das psychotherapeutische Bearbeiten von gravierenden und bisher ungelösten Konflikten eine besondere Möglichkeit der Gesundung darstellen, insbesondere dann, wenn die Depression auf intrapsychische Konflikte eindeutig zurückgeführt werden kann.
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Die Regelung von Interessenkonflikten im Unternehmen – Zum Hintergrund der Diskussion um die deutsche Corporate Governance eva terberger I. Die deutsche Corporate Governance in der Kritik Corporate Governance ist ein in der ökonomischen Wissenschaft verbreiteter Anglizismus, der mit zwei Worten das komplexe Steuerungs- und Kontrollsystem zu greifen sucht, welches das Zusammenspiel der verschiedenen Interessengruppen im Unternehmen, der Eigner, Manager und Arbeitnehmer, aber auch der Gläubiger, regelt. Noch vor wenigen Jahren hätte in Deutschland lediglich ein wirtschaftswissenschaftlich geschultes Publikum mit dem Ausdruck Corporate Governance etwas anzufangen gewusst, nicht aber die breite Öffentlichkeit. Dies hat sich grundlegend gewandelt. Seit der Einsetzung einer „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“1 im September 2001 weiß ein am politischen Tagesgeschehen interessierter Bürger nicht nur, dass eine griffige deutsche Übersetzung für „Corporate Governance“ fehlt; er vermutet ebenfalls, dass mit dem deutschen Corporate Governance System etwas im Argen liegt oder lag, denn sonst hätte es kaum besagter Regierungskommission bedurft. Die Probleme der deutschen Corporate Governance wurden jedoch im Vergleich zu denjenigen des Gesundheits- und Rentensystems oder des Arbeitsmarktes zunächst als weniger gravierend und von nicht so grundlegender Bedeutung wahrgenommen. Von letzteren wurde nahezu jedes Mitglied der Gesellschaft berührt, während Corporate Governance in erster Linie Anleger und Führungskräfte in der Wirtschaft anzugehen schien, nicht aber breite Bevölkerungsschichten. Insofern wurde die Arbeit der Corporate Governance Kommission – im Gegensatz zu derjenigen anderer Regierungskommissionen – vor allem von wirtschaftlich Interessierten verfolgt. Bereits im Februar 2002 hatte die Kommission einen deutschen Corporate Governance Kodex2 1
2
Zu Entstehung, politischen Zielsetzungen sowie Zusammensetzung der Kommission vgl. www.bmj.bund.de\Themen\Handels-undWirtschaftsrecht\CorporateGovernance. Vgl. www.ebundesanzeiger.de sowie www.corporate-governance-code.de.
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erarbeitet, der – nach eigenen Angaben der Kommission – alle wesentlichen Kritikpunkte an der Corporate Governance deutscher börsennotierter Unternehmen adressiert, darunter vor allem eine „mangelhafte Ausrichtung auf Aktionärsinteressen“ und „mangelnde Transparenz der Unternehmensführung“.3 Der Kodex fasst die gesetzlichen Regelungen zur Corporate Governance übersichtlich zusammen und gibt darüber hinausgehende Empfehlungen (Soll-Vorschriften) sowie Anregungen (Sollte- und Kann-Vorschriften). Eine Lösung der Probleme schien gefunden, die im Sommer 2002 mittels des Transparenz- und Publizitätsgesetzes im Aktiengesetz verankert wurde. Seither haben börsennotierte Unternehmen gemäß § 161 AktG in ihrer jährlichen Rechnungslegung eine Erklärung abzugeben, ob bzw. inwieweit die Unternehmensführung den Empfehlungen des Kodex entspricht – eine Neuregelung nach der Formel „befolge oder erkläre (comply or explain)“, die vornehmlich in der Wirtschaftspresse ein öffentliches Echo fand.4 Doch mit der Wahrnehmung, die Probleme seien durch den Corporate Governance Kodex gelöst, ist es seit dem Jahre 2003 genauso vorbei wie mit der Wahrnehmung, Corporate Governance sei kein Thema für den „kleinen Mann“. Wesentlicher Auslöser für diesen Umschwung der öffentlichen Meinung war die Einleitung des Prozesses um die Erfolgsprämien in Millionenhöhe für ehemalige Mannesmann-Manager, die vom Mannesmann-Aufsichtsrat im Zuge der Übernahme des Konzerns durch Vodafone genehmigt wurden.5 Wenn der deutschen Staatsanwaltschaft die Verdachtsmomente ausreichend erschienen, um u. a. gegen einen der mächtigsten Männer der deutschen Wirtschaft, den Vorstandssprecher der Deutschen Bank und ehemaligen Mannesmann-Aufsichtsrat Josef Ackermann, Anklage wegen Untreue zu erheben, so verwundert es nicht, wenn die Medien das Thema der Entlohnung von Managern aus einer Perspektive aufgreifen, die einen Verteilungskampf zwischen Führungskräften und anderen Interessengruppen im Unternehmen suggeriert, der – nicht nur nach dem Empfinden für soziale Gerechtigkeit, sondern vielleicht sogar nach den Buchstaben des Gesetzes – zu Unrecht zugunsten der ohnehin Reichen und Mächtigen entschieden wurde.6 Dass dies besonders in Zeiten einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung, in der von breiten Bevölkerungsschichten Verzicht zur Bewältigung der Finanzierungsprobleme des Sozialsystems eingefordert wird, Zündstoff liefert, ist kaum verwunderlich. Dieser Zündstoff scheint so gewaltig zu sein, dass er allein durch „Nachbesserungen“7 im Deutschen Corporate Governance Kodex, die bereits im Frühjahr 2003 zur Erhöhung der Transparenz der Managemententlohnung vorgenommen wurden, nicht entschärft werden kann. Vielmehr 3 4 5 6 7
www.corporate-governance-code.de. Vgl. z. B. Börsenzeitung, 27. 2. 2002. Vgl. etwa Boenisch/Dohmen 2004. Vgl. etwa Hamburger Abendblatt, 12. 5. 2004. Vgl. o.V., Handelsblatt, 15. 5. 2003.
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schalteten sich sowohl der Bundespräsident8, als auch der Bundeskanzler in die Diskussion um die Managemententlohnung ein, letzterer in seiner Regierungserklärung vom 18. März 2004 mit den Worten: „Das mag zwar nach Recht und Gesetz sein, es ist aber nicht nach Moral und Anstand.“9 Diese Fokussierung der Debatte auf die Managemententlohnung zeichnet jedoch ein verzerrtes Bild von den Problemen der deutschen Corporate Governance, und dies nicht nur, weil sich die Anklage im Mannesmann-Prozess als unhaltbar erwiesen hat. Bei der Diskussion um die deutsche Corporate Governance geht es nicht um einen reinen Verteilungskonflikt. Stünde ausschließlich die Frage nach einem Zuviel für die eine Partei, das den Verzicht der Gegenpartei unmittelbar nach sich zieht, im Zentrum, so wäre dies kein Problem, das nach ökonomischem Fachwissen verlangt.Vielmehr wären – neben Juristen, die die gesetzliche Zulässigkeit der vorgenommenen Zahlungen prüfen – Experten der philosophischen oder politologischen Fachdisziplin gefordert, die sich mit der Frage von sozialer Gerechtigkeit oder gar „Moral und Anstand“ auseinandersetzen. Die Corporate Governance bestimmt jedoch nicht nur, wer wie viel an den in einem Unternehmen zu verteilenden Vorteilen partizipieren darf, sondern sie legt auch fest, wer auf die Geschäftspolitik in welcher Weise Einfluss nimmt, und dies hat wiederum Auswirkungen darauf, wie viel es überhaupt zu verteilen gibt. Weil die Corporate Governance ein institutionelles Regelwerk ist, das nicht nur über die Verteilung, sondern auch über die Effizienz der Verwendung knapper Ressourcen bestimmt, sind Interessenkonflikte, die sich in der Corporate Governance auftun, ein Thema, mit dem sich Ökonomen beschäftigen, wenn auch erst seit einer für die Wissenschaft vergleichsweise kurzen Zeit. Wäre die Diskussion über die deutsche Corporate Governance in einem vergleichbaren wirtschaftlichen Umfeld, aber vor 30 Jahren, aufgekommen, so hätten sich Ökonomen vermutlich kaum oder zumindest ganz anders zum Thema Corporate Governance geäußert. Ökonomen hätten sich um die Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung gekümmert, die zwar als ursächlich angesehen worden wäre für die Schärfe, mit der Verteilungskonflikte zutage treten, da es an steigendem Wohlstand fehlt, an dem potentiell jede Gruppe partizipieren kann. Nicht aber wäre der Umkehrschluss gezogen worden, dass die Art, wie der Konflikt um die Verteilung geregelt wird, auch ursächlich für die Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung sein könnte – eine Interessenkonflikte negierende Sichtweise, die, wie zu zeigen sein wird, auch aus der gegenwärtigen Diskussion um die deutsche Corporate Governance noch nicht verschwunden ist. 8 9
Vgl. www.bild.t-online.de, 23. 2. 2004: Rau kritisiert deutsche Manager. Zitiert aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 18. 3. 2004 in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.3.2004.
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In den letzten 30 Jahren hat sich die ökonomische Theorie jedoch so weiterentwickelt,10 dass man erstmals behaupten kann, dass Ökonomen über einen Argumentationsrahmen verfügen, um Konflikte zwischen verschiedenen Interessengruppen strukturiert zu analysieren. Dies am Beispiel der Diskussion um die deutsche Corporate Governance zu verdeutlichen und dabei gleichzeitig aufzuzeigen, warum den Problemen der deutschen Corporate Governance ein Platz in der Diskussion um die Schwäche der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland gebührt, ist das Ziel dieses Beitrags. Gleichzeitig soll aber, nicht zuletzt durch die Behandlung dieser Thematik vor dem Hintergrund der theoretischen Entwicklung, deutlich werden, wo die Grenzen dessen liegen, was Ökonomen zur Diskussion um (Verteilungs-) Konflikte beitragen können.
II. Von Harmonie zu Konflikt in der ökonomischen Theorie – Auswirkungen auf die Sicht von Corporate-Governance-Problemen 1. Der Preismechanismus auf vollkommenen Märkten – Garant für Interessenharmonie auch bei der Steuerung von Unternehmen „In every society, conflicts of interest among the members of that society must be resolved. The process by which that resolution (not elimination!) occurs is known as competition. Since by definition, there is no way to eliminate competition, the relevant question is what kind of competition shall be used in the resolution of the conflicts of interest. In more dramatic words designed to arouse emotional interest,‚What forms of discrimination among the members of that society shall be employed in deciding to what extent each person is able to achieve various levels of his goals’?“11 Diese bewusst emotionale Formulierung, die durchaus geeignet wäre, um auf das Thema Corporate Governance hinzuführen, wählt der Ökonom Alchian im Jahr 1965, um darauf hinzuweisen, dass Interessenkonflikte und ihre Regelung im thematischen Zentrum der ökonomischen Wissenschaft stehen sollten. Wenige Zeilen später lässt der Autor jedoch die provozierende Äußerung folgen: „Economists are, I think, too prone to examine exchange as a cooperative act …“12 Die ökonomische Theorie machte es dem Wirtschaftswissenschaftler jedoch leicht, über den bis zum Überlebenskampf gehenden Konflikt, der für den Einzelnen mit Wettbewerb verbunden sein mag, hinwegzusehen und stattdessen in der Interaktion konkurrierender Wirtschaftsakteure ein Muster des harmonischen Miteinanders zu entdecken. Schon der klassische Öko-
10 11 12
Vgl. Terberger 1994. Alchian 1965, 816. Ebd.
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nom Adam Smith13 prägte die Metapher von dem Marktmechanismus als unsichtbarer Hand, die für eine Koordination der jeweils nach eigenem Vorteil strebenden Wirtschaftssubjekte zum Wohle aller sorgt. Mit der neoklassischen Gleichgewichtstheorie vollkommener Märkte erhielt dieses Vertrauen auf die koordinierende Kraft von Preisen am Markt ihr mathematisch ausformuliertes Fundament,14 auf das sich nicht nur die wirtschaftspolitischen Empfehlungen vergangener Jahrzehnte zur Liberalisierung von Märkten, sondern auch die Überzeugung von Ökonomen gründete, dass sie zum Thema Konflikt wenig zu sagen hätten bzw. sagen müssten. Der Preismechanismus auf perfekt funktionierenden Märkten sorgt dafür, so wurde für das Modell vollkommener Märkte bewiesen, dass – unabhängig von der anfänglich gegebenen Verteilung knapper Ressourcen – durch Tausch zwischen den Wirtschaftssubjekten eine effiziente Allokation dieser Ressourcen herbeigeführt wird, bei der niemand mehr besser gestellt werden kann, ohne jemanden anderen schlechter zu stellen. Ist es (politisch) gewünscht, die sich ergebende Verteilung zu ändern und eine Gruppe von Wirtschaftssubjekten auf Kosten einer anderen besser zu stellen, so lässt sich dies durch eine Umverteilung der Anfangsausstattungen, z. B. mittels eines entsprechenden Steuersystems, erreichen, die – nach Tausch – zu einem anderen, aber ebenfalls effizient allozierenden Marktgleichgewicht führt.15 Welcher Reichtum dem einzelnen „zusteht“, ist eine Frage, zu der die ökonomische Wissenschaft unter den Bedingungen dieser Modellwelt nichts mehr beitragen kann und muss, denn für eine effiziente Verwendung dessen, was vorhanden ist, ist Sorge getragen. Die Verteilung wird zu einem rein politischen und ethischen Problem. Auf diese Sichtweise der Welt, bei der Preise auf (vollkommenen) Märkten das harmonische Zusammenspiel von nach Eigennutz strebenden Wirtschaftssubjekten sicher stellen, wird, ohne dies explizit zu machen, auch in der Diskussion um die deutsche Corporate Governance rekurriert, wenn undifferenziert und ohne Einschränkungen die Forderung nach einer Orientierung der Geschäftspolitik deutscher Unternehmen am Shareholder Value16 erhoben wird. Der Shareholder Value ist nichts anderes als der Preis oder Marktwert der Eigentumsanteile an einem Unternehmen, die im Falle einer Aktiengesellschaft in Form von Aktien verbrieft sind, die an der Börse gehandelt werden können. Eine Unternehmenspolitik, die die Maximierung des Marktwertes des Unternehmens verfolgt, ist dann im Interesse aller an einem Unternehmen Beteiligten, wenn Preise, in diesem Fall Preise von Unternehmensanteilen, tatsächlich die beste Verwendung der unter dem Dach der Unternehmung gebündelten knappen Ressourcen widerspiegeln. Jede andere 13 14 15 16
Vgl. Smith 1776. Vgl. Arrow/Debreu 1954, Debreu 1959. Vgl. Sohmen 1992. Vgl. Wagner 1997.
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Unternehmenspolitik würde das, was insgesamt zu verteilen ist, schmälern, so dass alle, seien es Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Manager oder Eigner, für die marktwertmaximierende Geschäftspolitik votieren müssten, da jeder hiervon potentiell nur profitieren kann. Auch die Entlohnung für Manager, die für Kurswertsteigerungen sorgen, ist aus dieser Perspektive immer gerechtfertigt, denn sie entspricht auf reibungslos funktionierenden ManagerArbeitsmärkten dem der Leistung entsprechenden Preis.17 Dass Manager über ihr Gehalt einen Teil des gemehrten Unternehmensvermögens für sich vereinnahmen, sollte, aus dem Blickwinkel dieser Modellwelt betrachtet, keine Disharmonie erzeugen, denn alle anderen Interessengruppen stehen mindestens ebenso gut wie vorher oder gar besser da. Versucht man, aus der neoklassischen Perspektive das Argument Ackermanns im Mannesmann-Prozess zur Rechtfertigung der an den ehemaligen Mannesmann-Manager geflossenen Prämien zu beleuchten,„die Prämie habe sich am Erfolg Essers und dem damit verbundenen Anstieg der Mannesmann-Aktie orientiert“18, so spielt die neoklassische Theorie hier insofern herein, als der Marktwert der Aktien als Erfolgsmaßstab herangezogen wird. Unter der Bedingung, dass dieser Preis die Vermögensmehrung im Unternehmen korrekt widerspiegelt und sie auf die Leistung des Managements zurückgeht, hat Esser eine angemessene Entlohnung für seine Leistung erhalten. Eine mangelnde Ausrichtung am Aktionärsinteresse, die bei deutschen Unternehmen laut Corporate-Governance-Kommission beklagt wird, könnte man ihm nicht vorwerfen, genau so wenig wie eine mangelnde Ausrichtung am Unternehmensinteresse insgesamt. Natürlich könnte es sein, dass solche Prämien den Abstand zwischen dem Wohlstand anderer Interessengruppen und demjenigen der Manager vergrößern, und dies könnte von manchen Individuen als Beeinträchtigung empfunden werden; doch für solche Empfindungen, seien sie aus einem Gefühl der sozialen Gerechtigkeit geboren oder aber auf Neid begründet, ist in den Präferenzen der Wirtschaftssubjekte in der Modellwelt vollkommener Märkte kein Platz. Die Auseinandersetzung mit dem theoretischen Konzept vollkommener Märkte verdeutlicht, wie es in die Corporate-Governance-Diskussion als Argumentationshintergrund einfließt, und erst das Wissen um den Annahmenrahmen dieser Modellwelt lässt erkennen, ob sie als Argumentationshintergrund geeignet ist. Auch wenn man die Annahme akzeptiert, dass nur der individuelle Wohlstand, nicht aber Einkommensdifferenzen auf das Wohlbefinden des einzelnen Individuums Einfluss nehmen, so führt die Orientierung am Shareholder Value nur dann zwingend zur Interessenharmonie aller Beteiligten, wenn der Preismechanismus am Markt perfekt funktioniert. Doch darauf kann dann, wenn an den Aktienkurs gekoppelte Erfolgsprämien für 17 18
Vgl. Fama 1980. Vgl. Financial Times Deutschland, 11. 2. 2004.
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nötig erachtet werden, um Manager an eine den Wert des Unternehmens steigernde Geschäftspolitik zu binden, nicht vertraut werden, denn derartige Entlohnungssysteme weisen nur dann einen potentiellen Vorteil gegenüber einem festen Gehalt auf, wenn die harmonische Modellwelt der Neoklassik zugunsten einer Welt verlassen wurde, in der Konflikte zwischen verschiedenen Interessengruppen, in diesem Fall zwischen Managern und Aktionären, denkbar sind, die es durch anreizorientierte Entlohnungssysteme zu mildern gilt. Um das Argument, das im Mannesmann-Prozess vorgetragen wird, ausreichend zu würdigen, muss insofern die Perspektive um Interessenkonflikte erweitert werden.
2. Informationsprobleme und Marktversagen – Die Bereicherung der ökonomischen Theorie um Interessenkonflikte auch bei der Steuerung von Unternehmen Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es eine wichtige Strömung in der ökonomischen Theorie, welche die einseitige Fokussierung auf den Tausch als kooperativen Akt, die Alchian bereits 1965 moniert, aufgibt.19 Diese Veränderung wurde maßgeblich durch die Infragestellung einer Annahme getragen, mit der die neoklassische Theorie arbeitet und die sich für ihre Ergebnisse als entscheidend erweist: Alle Tauschpartner bzw. Marktteilnehmer, so die Annahme der Neoklassik, verfügen über den gleichen Informationsstand. Wird diese Annahme aufgehoben und durch die realistischere Annahme ersetzt, dass besser und schlechter informierte Marktteilnehmer existieren, tritt das Konfliktpotential, das der Tauschakt beinhaltet, in den Vordergrund. Bei ungleich verteilter Information stehen Preis und Leistung nicht mehr automatisch in einem ausgewogenen Verhältnis. Vielmehr könnte die besser informierte Partei versuchen, ihren Informationsvorsprung zum eigenen Vorteil auszunutzen, auch wenn dies zu Lasten des Tauschpartners bzw. anderer Marktteilnehmer geht – ein Verhalten, das unter dem Namen Moral Hazard inzwischen in die Alltagssprache Eingang gefunden hat. Die schlechter informierten Transaktionspartner werden zwar versuchen, sich hiervor zu schützen, aber dies ist einerseits mit Aufwand verbunden, der prohibitiv hoch sein kann, und setzt andererseits wiederum Informationen voraus. Die Folge ist, dass Tausch nicht mehr reibungslos vonstatten geht. Preise spiegeln nicht mehr „wie von selbst“ den „wahren“ Wert eines Gutes wider; vielmehr muss durch aufwendige Verträge, Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen dafür gesorgt werden, dass Leistung und Gegenleistung möglichst genau spezifiziert und vereinbarungsgemäß geleistet werden, bevor Preise ihre koordinierende und harmonisierende Kraft entfalten können.20 19 20
Vgl. Terberger 1994. Stiglitz 1987.
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Erstmals wurde das Problem ungleich verteilter Information in der ökonomischen Literatur am Beispiel des Gebrauchtwagenmarktes diskutiert,21 auf dem es einem Käufer schwerlich möglich ist, die Qualität eines angebotenen Fahrzeugs zu erkennen, so dass er Gefahr läuft, eine „Zitrone“ zu erwerben. Im Extremfall, wenn das Problem ungleich verteilter Information gravierend ist und ihm nicht durch die Transaktion absichernde Regelungen begegnet wird – im Falle des Gebrauchtwagenerwerbs käme hier eine Garantie des Verkäufers in Frage –, kommt gar keine Transaktion zustande; der Markt bricht zusammen. Offensichtlich sind derartige Probleme nicht bei jeder Transaktion gleichartig ausgeprägt. Es gibt Güter, die sich relativ reibungslos handeln lassen, und es gibt Märkte, bei denen man von ausgeprägten Informationsproblemen ausgehen kann. Hierzu zählen zweifelsohne Finanz- und Arbeitsmärkte. Erwirbt ein Investor eine neu emittierte Aktie, so besteht die Gegenleistung für den gezahlten Kurswert in dem Recht auf Einflussnahme sowie zukünftige Dividenden. Letztere werden durch die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung, aber auch durch die im Unternehmen verfolgte Geschäftspolitik beeinflusst, auf die der einzelne Aktionär nur begrenzten Einfluss nehmen kann. Einem Gläubiger geht es ganz ähnlich: Er vergibt heute einen Kredit und muss sich dabei ein Urteil darüber bilden, wie der Schuldner zukünftig sein Versprechen auf Zins- und Tilgungszahlungen erfüllen wird; und dies hängt bei verschuldeten Unternehmen wiederum von zukünftigen unternehmerischen Entscheidungen ab, die nicht vom Gläubiger, sondern vom Schuldner zum eigenen Vorteil getroffen werden können.22 Auf Arbeitsmärkten wird die Entlohnung für einen Arbeitnehmer oder auch Manager vereinbart, ohne vorher genau abschätzen zu können, welche Arbeitsleistung als Gegenleistung erbracht wird, und häufig ist die Kontrolle und die Beurteilung des Werts einer Leistung sogar im Nachhinein schwierig oder gar unmöglich.23 Könnte den aus asymmetrisch verteilter Information erwachsenden Problemen nicht begegnet werden, so kämen auf Finanz- und Arbeitsmärkten vermutlich viele Transaktionen gar nicht zustande. Müsste ein Kapitalgeber fürchten, das Gegenüber könnte mit dem Geld auf Nimmerwiedersehen verschwinden, so wäre kein Gläubiger und kein Eigenkapitalgeber zur Kapitalüberlassung bereit. Müssten die Eigner eines Unternehmens, die aufgrund mangelnden Know-hows einen Management-Spezialisten einstellen, damit rechnen, dass dieser seinen Wissensvorsprung vor allem dazu ausnutzen wird, sich möglichst viel vom Unternehmensvermögen anzueignen, statt dieses zu mehren, so würden sie vermutlich – trotz fehlenden Know-hows – auf eine Delegation der Geschäftsführung verzichten. Mit anderen Worten, es gibt 21 22 23
Akerlof 1970. Jensen/Meckling 1976. Spence 1973.
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Mechanismen, die dazu geeignet sind, Informationsprobleme auf Finanzund (Management-)Arbeitsmärkten zu mildern, wenn auch nicht zu beseitigen, und zu diesen Mechanismen zählt das System der Corporate Governance. Es bestimmt die Rechte und Pflichten der verschiedenen Interessengruppen, die auf die Geschicke eines Unternehmens Einfluss nehmen oder von ihnen abhängen. Dadurch wird die Unsicherheit darüber, was Kapitalgeber als Gegenleistung für ihre Kapitalüberlassung erhalten, was Manager als Gegenleistung für ihr Gehalt bieten, reduziert, denn den Handlungsspielräumen der einzelnen Vertragsparteien sind Grenzen gesetzt. Die Leitung einer Aktiengesellschaft obliegt zwar dem Vorstand in eigener Verantwortung, doch er wird bestellt, kontrolliert und gegebenenfalls abberufen durch den Aufsichtsrat, der neben den in Deutschland durch das Mitbestimmungsgesetz vorgeschriebenen Arbeitnehmervertretern aus Mitgliedern besteht, die von der Hauptversammlung als Organ, in dem die Aktionäre ihr Einflussrecht ausüben, gewählt wurden. Das Management muss mindestens einmal im Jahr vor der Hauptversammlung Rechenschaft ablegen, indem es den Jahresabschluss des Unternehmens vorlegt, der nach den gültigen Rechnungslegungsvorschriften aufgestellt, extern geprüft und publiziert werden muss. Doch nicht nur die Einflussrechte des Managements werden durch die Corporate Governance begrenzt, sondern auch die Rechte der Aktionäre als Unternehmenseigner. Ihre Möglichkeiten zur Ausschüttung von Unternehmensvermögen sind z. B. begrenzt, denn übermäßige Entnahmen schädigen die Gläubiger des Unternehmens, denen bei Kapitalgesellschaften ausschließlich das Unternehmensvermögen für die Erfüllung ihrer Forderungen haftet. Sind die Ansprüche der Gläubiger gefährdet, so sorgt das Insolvenzrecht für eine Neuverteilung von Einflussrechten und Pflichten, die der neuen Situation der Gläubiger Rechnung trägt, die nun – wie vorher ausschließlich die Eigner – im Risiko stehen. Dieser rudimentäre Streifzug durch das System der Corporate Governance sollte verdeutlicht haben, wie komplex das Regelgeflecht ist, das man unter diesem Namen zusammenfasst. Nicht nur die Unternehmensverfassung, sondern das gesamte institutionelle Umfeld eines Unternehmens, von den Rechnungslegungsnormen über die Insolvenzordnung bis hin zu arbeitsrechtlich relevanten Regelungen haben auf die Steuerung und Kontrolle im Unternehmen direkt oder indirekt Einfluss.Auch das weitere Umfeld, wie etwa die Rahmenbedingungen, unter denen Aktien gehandelt oder aber Kredite vergeben werden, müssen berücksichtigt werden. Und nicht zuletzt können nicht nur gesetzliche Regelungen, sondern auch die vereinbarten Entlohnungssysteme oder gar soziale Normen wie etwa „Moral und Anstand“ Auswirkungen zeigen. Versucht man, die Rechtfertigung der Management-Prämien im Zuge der Übernahme von Mannesmann aus diesem neuen Blickwinkel zu beleuchten, so gestaltet sich die Würdigung sehr viel komplexer.
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Zum einen ist festzustellen, dass aus informationsökonomischer Perspektive die Koppelung der Entlohnung von Managern an den Aktienkurs, sei es über Aktienoptionsprogramme oder Erfolgsprämien auf Aktienkurssteigerungen, ein sinnvolles Instrument sein kann, um potentielle Interessenkonflikte zwischen Managern und Aktionären zu mildern. Weil es schwierig ist, die Leistung von Managern direkt zu kontrollieren, werden Anreize im Entlohnungssystem gesetzt, die dafür sorgen sollen, dass Manager aus eigenem Interesse das tun, was auch im Interesse der Aktionäre ist. Deshalb sind solche Entlohnungssysteme auch als ein Baustein des Corporate-Governance-Systems zu betrachten. Zum anderen kann jedoch aus informationsökonomischer Perspektive nicht mehr gefolgert werden, dass eine Steigerung des Shareholder Value immer dem Wohle aller dient bzw. zumindest niemandem schadet, denn es ist nicht davon auszugehen, dass ein Corporate-Governance-System jeglichen Spielraum zu eigennützigem Handeln einer Interessengruppe zu Lasten einer anderen beseitigt. Steigende Preise der Aktien eines Unternehmens können, aber müssen nicht dadurch zustande gekommen sein, dass ein fähiger Manager eine schlechtere Geschäftspolitik durch eine bessere ersetzt hat. Abgesehen von externen Einflüssen, die von der Firmenpolitik unabhängig sind, wie z. B. eine bessere Konjunkturlage, könnte die Marktwertsteigerung auch auf unzulänglichen Informationen der Marktteilnehmer beruhen, die kurzfristige Gewinnsteigerungen, die durch Kürzungen von Forschungs- und Entwicklungsetats zustande kamen oder bilanzpolitisch bedingt sind, als Effizienzsteigerung durch die Einsparung überflüssiger Kosten fehlinterpretierten. Kurswertsteigerungen könnten auch darauf beruhen, dass Handlungsspielräume zum Vorteil von Aktionären, aber zum Nachteil anderer Interessengruppen genutzt wurden. Die Berücksichtigung von Interessenkonflikten lässt insbesondere Kurswertsteigerungen, die wie im Falle Mannesmann im Rahmen von feindlichen Unternehmensübernahmen erzielt werden, in einem völlig neuen Licht erscheinen. Keineswegs immer werden solche Marktwerterhöhungen in der ökonomischen Literatur als besondere Leistung des Managements des übernommenen Unternehmens interpretiert. Wichtige Vertreter der ökonomischen Fachdisziplin halten die genau gegenteilige Interpretation für angemessen.24 Attraktive Übernahmekandidaten sind nach ihrer Auffassung solche Unternehmen, deren Management eine schlechte, im Sinne einer nicht an der Zielsetzung der Unternehmenseigner orientierte Geschäftspolitik betreibt. Hohe Übernahmepreise würden deshalb geboten, weil mit der erfolgreichen Übernahme ein Austausch des Altmanagements gegen ein neues Management geplant ist, das für eine Änderung der Geschäftspolitik im Sinne der Aktionäre sorgen wird. Drohende Unternehmensübernahmen sind demnach ein 24
Vgl. Jensen 1986.
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Instrument des Kapitalmarkts, das Manager diszipliniert und an der Verfolgung eigener Interessen zu Lasten der Aktionäre hindert. Sollte diese Interpretation im Falle Mannesmann und Vodafone zutreffen, so wäre die Argumentation, mit der die Prämien an Esser verteidigt werden, kaum zu halten. Nicht als Prämie für eine besondere Leistung wären sie zu interpretieren, sondern als so genannter „golden parachute (goldener Fallschirm)“, der eine sanfte Landung des Altmanagements bei seiner Entlassung ermöglicht. Dies ist aus Effizienzgesichtspunkten nicht unbedingt negativ zu beurteilen, wenn hierdurch die Übernahme und Implementierung einer überlegenen Geschäftspolitik erleichtert wird. Doch es gibt andere Auffassungen zu den Ursachen von Kurssteigerungen im Rahmen von feindlichen Unternehmensübernahmen, die letztere in einem weniger positiven Licht zeichnen – und die Autoren, die diese Positionen vertreten, beziehen sich auf den gleichen theoretischen Hintergrund wie diejenigen, die Übernahmen als Instrument zur Disziplinierung eigennütziger Manager darstellen. Kurswertsteigerungen, so wird der Disziplinierungsthese entgegengehalten, könnten darauf beruhen, dass die neuen Mehrheitseigner beabsichtigen, Ansprüche von Altgläubigern durch eine Erhöhung des Verschuldungsgrades zu verwässern, implizite Vereinbarungen mit langjährigen Arbeitnehmern, wie etwa eine nach „alter“ Corporate Culture übliche Pensionszusage kurz vor der Pensionierung, außer Kraft zu setzen oder aber Minderheitsaktionäre auszubeuten.25 Es könnte auch von dem Management der übernehmenden Unternehmung einfach ein zu hoher Übernahmepreis geboten werden, weil das Management seinen Einflussbereich vergrößern will. Bei jeder dieser der Disziplinierungsthese widersprechenden Interpretationsvarianten stehen wiederum Interessenkonflikte im Zentrum der Argumentation. Jedoch werden durch die Übernahme nicht Interessenkonflikte zwischen Alteignern und Altmanagern gemindert, sondern die Übernahme wird von den Neueignern angestrebt, um Lücken im System der Corporate Governance zu nutzen und anderen Interessengruppen etwas wegzunehmen. Die verkaufenden Aktionäre partizipieren an dieser Vermögensverschiebung zu Lasten Dritter. Sollte diese Interpretation zutreffen, so hätte der Mannesmann-Manager Esser durch den zunächst unternommenen Versuch zur Abwehr der Übernahme die Interessen von potentiell durch die Übernahme Geschädigten verteidigt und vielleicht hierfür eine Belohnung verdient. Die Argumentation, die Kurssteigerung sei das Zeichen der außergewöhnlichen Managementleistung, die entlohnt werden müsse, führt jedoch auch nach dieser Interpretation in die Irre. Die Frage, wie die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone zu bewerten ist, kann hier nicht weiterverfolgt werden. Sie bot Anlass, den Facettenreichtum der Argumente zu illustrieren, die in der um Konflikte berei25
Shleifer/Summers 1988.
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cherten ökonomischen Theorie eine Rolle spielen und gerade den Corporate Takeover zu einem der schillerndsten Phänomene und Instrumente der Corporate Governance werden lassen, das sowohl der Effizienzsteigerung dienen als auch genutzt werden könnte, um sich Vorteile auf Kosten anderer Interessengruppen anzueignen; und jede Mischung aus diesen beiden Extremen ist ebenfalls denkbar. Wo in diesem Spektrum der Einzelfall tendenziell eher anzusiedeln ist, lässt sich ohne Detailwissen nicht beurteilen; dazu gehört auch Hintergrundwissen darüber, wie das Corporate-Governance-System eines Landes, in dem die Übernahme stattfindet, ausgestaltet ist. Trotz der vielen Details, die ein Corporate-Governance-System ausmachen, trotz der Komplexität, die durch die informationsökonomische Perspektive in die ökonomische Argumentation Einzug hielt, und trotz der Vorsicht gegenüber Effizienzaussagen, die angesichts der Vielfalt von Interessenkonflikten geboten erscheint, weisen die Aussagen, die nicht nur Ökonomen, sondern auch Politiker zum System der deutschen Corporate Governance abgeben, in eine erstaunlich einheitliche Richtung.
III. Das deutsche Corporate-Governance-System – Von Stakeholder- zu mehr Shareholder-Orientierung Neben den Aktionären als Shareholdern einer Unternehmung partizipieren vor allem drei andere Interessengruppen am Unternehmenserfolg im weiteren Sinne, nämlich die Arbeitnehmer, das Management und die Gläubiger, wenn auch jeweils in ganz unterschiedlicher Form. Diesen letztgenannten Gruppen, die gemeinhin als Stakeholder bezeichnet werden, wird in der deutschen Corporate Governance ein weit gewichtigerer Einfluss zugestanden als in anderen Ländern, wie etwa den USA oder England, weshalb das deutsche System auch als Stakeholder-orientiert, das der letztgenannten Länder als Shareholder-orientiert bezeichnet wird.26 Diese Einordnung lässt sich an zahlreichen Details festmachen. Die starke Stellung der Arbeitnehmer wird nicht nur durch den ausgeprägten Kündigungsschutz und das flächendeckende Tarifsystem gesichert, sondern vor allem auch durch das System der Arbeitnehmermitbestimmung, das auf der Welt einmalig ist. Eine mindestens ebenso einflussreiche Rolle wie den Arbeitnehmern kommt der Stakeholder-Gruppe der Gläubiger zu. Ihre starke Stellung ist zum einen in gesetzlichen Vorschriften verankert. In der deutschen Rechnungslegung nach dem Handelsgesetzbuch dominiert das Prinzip des Gläubigerschutzes, das seinen Ausfluss in dem Gebot einer vorsichtigen Bewertung des Unternehmensvermögens findet, wodurch nicht nur der Informationsfunktion der Rechnungslegung, sondern auch der Möglichkeit zu 26
Vgl. Franks/Mayer 1994.
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Ausschüttungen an die Aktionäre entsprechend enge Grenzen gesetzt werden. Die Rechnungslegungsvorschriften sowohl in den USA als auch in England dagegen sind genauso wie die International Accounting Standards weit stärker auf das Informationsinteresse von Investoren am Kapitalmarkt ausgerichtet und geben der fairen – im Sinne von zutreffenden – Präsentation der Lage des Unternehmens den Vorzug. Das deutsche Insolvenzrecht galt bis zu seiner Reform im Jahr 1999 als weit weniger schuldnerfreundlich als etwa dasjenige der USA und stärkte dementsprechend ebenfalls die Position der Gläubiger. Der Blick auf gesetzliche Vorschriften zeigt jedoch nur oberflächlich, worauf sich der Einfluss der Gläubiger auf die Steuerung und Kontrolle deutscher Unternehmen gründet. Erst wenn berücksichtigt wird, wer die wichtigsten Gläubiger von Unternehmen sind, offenbart sich, wie tief die Stellung der Gläubiger im deutschen Corporate-Governance-System verwurzelt ist. Die Hauptfinanzierungsquelle für deutsche Unternehmen bilden Bankkredite27, wobei die meisten Unternehmen mit einer Bank, ihrer Hausbank, in besonders enger Beziehung stehen. Die Hausbank großer börsennotierter Unternehmen ist in der Regel eine der Großbanken, die seit ihren Gründungszeiten eng mit der deutschen Industrie verflochten sind. Großbanken treten häufig nicht nur als Kreditgeber eines Unternehmens auf, sondern halten auch Aktienpakete – eine Doppelrolle, die den Banken durch das deutsche Universalbankensystem gestattet ist. Die Rolle der Bank als wichtigster Kreditgeber und gegebenenfalls Miteigner eines Unternehmens findet in aller Regel auch in dem Aufsichtsratsmandat eines Bankvorstandes seinen Niederschlag. Der Bankeinfluss wird abgerundet durch das Depotstimmrecht, das Banken als Vertreter zahlreicher Kleinaktionäre auf der Hauptversammlung auftreten lässt. Diese Bündelung von Einfluss auf Nicht-Bank-Unternehmen bei den deutschen Großbanken wurde seit Jahrzehnten unter dem Stichwort „Macht der Banken“ diskutiert und ist eines der zentralen Merkmale, das neben den wechselseitigen Unternehmensbeteiligungen und den damit einhergehenden personellen Verflechtungen in den Leitungs- und Kontrollorganen deutscher Unternehmen zur Prägung des Schlagworts „Deutschland AG“ beigetragen hat. Dieses Netz von Verflechtungen, in dem die Großbanken wichtige Knotenpunkte bilden, stärkt auch die Stellung des Managements. Die Interessen des Managements gehen tendenziell eher mit denjenigen der Banken konform als mit denjenigen von Aktionären, etwa wenn es um die Präferenz für die Einbehaltung von Gewinnen zwecks Stärkung der vor Insolvenz schützenden Unternehmenssubstanz geht. Ohne dass die Gruppe der Kleinaktionäre dies verhindern könnte, kann das Management einer Aktiengesellschaft bis zu 50 Prozent des erzielten Jahresüberschusses einbehalten, wenn der Aufsichtsrat 27
Vgl. Krahnen/Schmidt 2004.
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dies mitträgt. Da in den Aufsichtsräten deutscher börsennotierter Unternehmen neben den Arbeitnehmervertretern bekanntermaßen nicht nur Bankmanager, sondern auch ehemalige Manager dieses Unternehmens sowie aktive oder ehemalige Manager anderer Nicht-Bank-Unternehmen prominent vertreten sind, kann es kaum erstaunen, dass diese Zustimmung in der Vergangenheit gerne gegeben wurde. Auch die in Deutschland verbreiteten Großaktionäre, unter denen sich Bank- und Nicht-Bank-Unternehmen, aber auch Unternehmerfamilien finden, werden hier kaum ein Gegengewicht bilden, da sie typischerweise ein weit weniger ausgeprägtes Interesse an Ausschüttungen hegen als ein Kleinaktionär. Dessen Einflussmöglichkeiten sind in Deutschland ausgesprochen schwach ausgeprägt, zumal es sich für ihn häufig nicht lohnt, die gesetzlich gegebenen Möglichkeiten des Einflusses zu nutzen, da der hieraus zu erwartende Vorteil in keinem Verhältnis zu dem Aufwand steht, der damit verbunden wäre. Die Puzzlestücke, aus denen sich die deutsche Corporate-GovernanceLandschaft zusammensetzt, ergeben ein Bild, das die charakteristischen Züge eines von Unternehmensinsidern kontrollierten Systems trägt, in dem Banken eine dominante Rolle spielen. Den Teilnehmern des Wertpapiermarktes dagegen, die nicht eng mit einem einzelnen Unternehmen verbunden und deshalb als Outsider zu bezeichnen sind, kommt weder als Kontrollinstanz noch als Finanzierungsquelle eine bedeutende Funktion zu – zwei Rollen, die nicht unabhängig voneinander zu sehen sind. Die Abwägung der konfliktären Interessen von Shareholdern und Stakeholdern fällt, darüber sind sich Experten weitgehend einig, im System deutscher Corporate Governance zugunsten der Stakeholder aus, doch dies ist nicht per se negativ zu beurteilen. Es gibt Stimmen, die überzeugend argumentieren, vergangene Erfolge der deutschen Wirtschaft seien nicht zuletzt diesem System zu verdanken.28 Unter den herrschenden wirtschaftlichen Bedingungen jedoch, so die heutige Mehrheitsmeinung, weist es Schwächen auf. Zum einen ist ein System, das für einschneidende Veränderungen in der Geschäftspolitik ein hohes Maß an Konsens zwischen allen StakeholderGruppen verlangt, weniger geeignet als ein Shareholder-orientiertes System, um flexibel auf Veränderungen im wirtschaftlichen Umfeld zu reagieren, und dies scheint sich unter den Bedingungen eines gestiegenen internationalen Wettbewerbs nachteilig auszuwirken.29 Zum anderen, und dieses Argument beherrscht nicht nur die ökonomische, sondern auch die politische Diskussion, wäre es zu bevorzugen, wenn Unternehmen nicht so stark auf die Bereitstellung von Finanzierung durch Banken angewiesen wären, sondern einen leichteren Zugang zu Wertpapierfinanzierung hätten, insbesondere zu risikotragendem Eigenkapital, das für die Finanzierung von Innovationen, für die 28 29
Gerschenkron 1962. Vgl. Holopainen 2002; Gehrig 2003.
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Möglichkeiten der Entwicklung junger, wachstumsträchtiger Unternehmen geeigneter ist als Kreditfinanzierung. Der Zugang zu nationalen und internationalen Kapitalmärkten kann jedoch nur eröffnet werden, wenn externe Investoren bereit sind, ihre Mittel in deutschen Unternehmen anzulegen. Dies ist dauerhaft und in größerem Stil nur dann zu erwarten, wenn sich Anleger gegenüber den Unternehmensinsidern nicht im Nachteil fühlen. Müssen sie befürchten, dass sie gegenüber denjenigen, die das Geschehen im Unternehmen bestimmen, im Informationsnachteil sind, dass sie die Leitungsorgane nur unzulänglich kontrollieren können und dass Interessenkonflikte um die aus einem Unternehmen fließenden Vorteile im Zweifel zugunsten der Stakeholder entschieden werden, so ist die Rolle eines externen Shareholders unattraktiv. Dies erkennend, hat die deutsche Politik seit Beginn der 1990er Jahre versucht, mittels zahlreicher neuer Gesetze einen Wandel herbeizuführen.30 Um nur die wichtigsten Reformen zu nennen: Durch vier Finanzmarktförderungsgesetze, von denen das erste im Jahr 1990, das vierte 2002 in Kraft trat, wurden neue gesetzliche Rahmenbedingungen für den Wertpapierhandel geschaffen. Damit existieren in Deutschland seit 1994 erstmals ein Verbot des Insiderhandels sowie eine staatliche Institution zur Überwachung des Wertpapierhandels – Rahmenbedingungen des Wertpapiermarktes, die in den USA bereits 60 Jahre früher etabliert wurden. 1998 wurden durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich nicht nur die Informationspflichten für börsennotierte Unternehmen erhöht, Einfluss sichernde Mehrstimmrechtsaktien abgeschafft und personelle Verflechtungen durch Herabsetzung der Höchstgrenze für die durch eine Person wahrgenommenen Aufsichtsratsmandate abgebaut, sondern auch die Möglichkeiten zur Verfolgung einer Shareholder-value-orientierten Unternehmenspolitik mittels Aktienoptionsprogrammen für Führungskräfte oder mittels Ausschüttung von liquiden Mitteln durch den Rückkauf eigener Aktien des Unternehmens erweitert. 1999 wurde ein reformiertes, schuldnerfreundlicheres Insolvenzrecht in Kraft gesetzt, das die Anreize zur Rettung von Unternehmen für Gläubiger und Eigner zu verstärken sucht. 2002 wurden Unternehmensübernahmen erstmals gesetzlich geregelt. Und nicht zuletzt wurde die „Kommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ eingesetzt, um mangelnde Transparenz für externe Anleger zu beseitigen und der Kritik entgegenzuwirken, das deutsche System sei aktionärsfeindlich. Die Ziele der Reformen sind eindeutig: Die Regelung von Interessenkonflikten im Unternehmen soll zugunsten der externen Anteilseigner verändert werden, weil man sich davon eine erhöhte Bereitschaft zur Bereitstellung von Eigenkapital und dadurch wiederum einen Beitrag zur Überwindung der
30
Vgl. Krahnen/Schmidt 2004.
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Wachstumsschwäche erhofft, genauso wie von den Reformen des Arbeitsmarktes. Doch ist der erhoffte Wandel eingetreten? Hat tatsächlich eine grundsätzliche Verschiebung der Einfluss- und Kontrollrechte im Unternehmen zugunsten von Shareholdern und zu Lasten von Stakeholdern stattgefunden, der letztlich das, was an alle zu verteilen ist, mehren soll? Gewisse Verschiebungen zugunsten einer Shareholder-value-orientierten Unternehmenspolitik und eine Zunahme der Bedeutung des Kapitalmarktes lassen sich nicht leugnen. Als ein Zeichen hierfür wurde u. a. die erfolgreiche Übernahme von Mannesmann durch Vodafone gedeutet. Doch von einem Systemwandel hin zu einem kapitalmarktorientierten System nach dem Vorbild der USA kann bisher nicht die Rede sein, denn Bankendominanz und Insiderkontrolle sind noch immer die hervorstechenden Züge des deutschen Finanz- und Corporate-Governance-Systems.31 Dies dürfte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass diejenigen Interessengruppen, die zu Beginn des Veränderungsprozesses den dominierenden Einfluss hatten, sicherlich nicht bereit waren und sind, ihre Position im „Verteilungskampf“ freiwillig aufzugeben, und dies aus gutem Grund. Es lässt sich nämlich, selbst wenn eine neue Verteilung von Einflussrechten zu einer Effizienzsteigerung führt, nicht sicherstellen, dass alle Interessengruppen mindestens gleich gut oder gar besser gestellt werden als vorher. Insofern wird jede Interessengruppe ihre Ausgangsposition verteidigen, den Veränderungsprozess so weit wie möglich zu den eigenen Gunsten beeinflussen und die Handlungsspielräume, die neue Gesetze belassen, im eigenen Interesse ausfüllen.32 Nicht umsonst wird im deutschen Gesetz zur Regelung von Unternehmensübernahmen nicht nur der Minderheitenschutz gestärkt, sondern es erlaubt auch – mit Zustimmung des Aufsichtsrates – Abwehrmaßnahmen des Managements. Der Corporate Takeover als Instrument zur Disziplinierung des Managements wird so zwar geschwächt, die Position der Stakeholder des angegriffenen Unternehmens jedoch gestärkt. Nicht von ungefähr wurden die ersten Aktienoptionsprogramme, die in deutschen Unternehmen aufgelegt wurden, kritisiert, da manche mehr dazu geeignet schienen, das Management kurzfristig zu bereichern als eine langfristige Bindung an die Aktionärsinteressen zu bewirken. Und daran, dass Banken und Ex-Manager in den Aufsichtsräten von börsennotierten Aktiengesellschaften prominent vertreten sind, konnten die neuen Gesetze auch nichts ändern, denn über die personelle Besetzung der Mandate enthalten sie keine Bestimmungen. Die Empfehlungen des Corporate Governance Kodex’ werden von der Mehrheit deutscher börsennotierter Unternehmen nicht ausnahmslos umgesetzt,33 obwohl die 31 32 33
Vgl. Hackethal/Schmidt/Tyrell 2003. Vgl. Terberger 2003. Werder/Talaulicar/Kolat 2003.
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Nicht-Entsprechungen gemäß § 161 AktG erklärt werden müssen, was darauf schließen lässt, dass nicht erklärungspflichtige Abweichungen von den Anregungen, die der Kodex gibt, noch weiter verbreitet sind. Allerdings deutet die mit der Größe und Internationalisierung des Unternehmens zunehmende Umsetzung der Kodex-Empfehlungen darauf hin, dass der Wettbewerb um die Gunst internationaler Investoren seine eigene, von Regelungen mit Gesetzeskraft unabhängige Kraft bei der Veränderung der deutschen Corporate Governance entfaltet. Sollte man daraus, dass das deutsche Stakeholder-orientierte System weitgehend intakt ist, folgern, dass ein Wandel der deutschen Corporate Governance „zum Guten“ noch aussteht? Die Antwort, so ist hoffentlich deutlich geworden, ist nicht einfach. Ein Wandel erscheint nötig, um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu erhöhen, doch dafür müssten nicht nur Manager, sondern auch andere Stakeholder u. U. verzichten, während die erzielbaren Vorteile zunächst den Aktionären zugute kämen.
IV. Das erstrebenswerte Corporate-Governance-System – Eine Frage nicht nur für die ökonomische Fachdisziplin Interessengruppen mit Einfluss wehren sich gegen Veränderungen, die ihnen zum Nachteil gereichen – eine Einsicht, die allzu offensichtlich ist und dennoch lange brauchte, um in der ökonomischen Theorie Fuß zu fassen, weil die vorherrschende neoklassische Theorie davon ausging, dass Veränderungen, die die Effizienz erhöhen und damit das insgesamt zu Verteilende mehren, letztlich alle besser stellen können. Dies ist jedoch, wie inzwischen auch die ökonomische Disziplin mehrheitlich vertritt, nicht immer zu leisten, da durch eine anschließende Umverteilung des gemehrten Wohlstands die Anreize, die zur Erzielung dieses Mehrs gesetzt wurden, wiederum zerstört werden können. Die Regelung der Rechte und Pflichten im System der Corporate Governance scheint ein gutes Beispiel für diese Problematik zu sein. Regelungen, die der ökonomischen Effizienz förderlich sind, können nicht unabhängig von den Regelungen gewählt werden, die die Verteilung des Erwirtschafteten bestimmen. Ein Corporate-Governance-System, das den Shareholdern die wesentlichen Einfluss- und Kontrollrechte zugesteht, scheint heute bezüglich der Effizienz einem stärker an den Interessen der Stakeholder orientierten System überlegen. Doch eine Shareholder-orientierte Corporate Governance wird immer mit der Gefahr einhergehen, Handlungsspielräume zu Lasten anderer Interessengruppen, der Stakeholder, zu nutzen.34 Die Diskussion über den Kompromiss zwischen Stakeholder- und Shareholder-Interessen, der durch die Konfliktregelung eines Corporate-Governance-Systems gewünscht 34
Vgl. Tirole 2001, 32.
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ist, kann deshalb nicht allein in der ökonomischen Disziplin ausgetragen werden, sondern verlangt immer auch die Einbeziehung der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, nach „Moral und Anstand“, für die andere Fachdisziplinen eher zuständig erscheinen.
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Von Ehre, Schande und kleinen Verbrechen unter Nachbarn: Konfliktbewältigung und Götterjustiz in Gemeinden des antiken Anatolien angelos chaniotis L’ira tua formidabile e pronta colga l’empio, o fatal punitor (Verdi, Macbeth, 1. Akt, Finale)
1 Theodikie in der antiken Mentalität Im späten 5. Jh. präsentierte der Sophist Kritias in seinem Satyrspiel Sisyphos folgendes Szenario von der Entstehung des Glaubens an die Götter. Am Anfang lebten die Menschen wie Tiere, ungeordnet und dem Stärksten untertan. Weder wurden die Tugendhaften belohnt noch die Bösen bestraft. Dann vereinbarten sie Gesetze, die offene Gewalttaten ahndeten, aber geheime Verbrechen nicht verhinderten. Um auch die heimlichen Übeltäter abzuschrecken, erfand ein Schlauer die Götterfurcht. Er führte göttliche Mächte ein, die alles sahen und hörten. Zur besseren Wirkung ließ er seine Phantasiegötter im Himmel wohnen, weil die Menschen über Himmelserscheinungen wie Blitz und Donner erschraken und sich über andere nützliche wie Sonne und Regen freuten.1 Nicht so viele griechische Denker gingen so weit und instrumentalisierten die Religion, indem sie die Entstehung des Götterglaubens mit der Hoffnung einer effektiveren Durchsetzung von Recht und Ordnung in Verbindung brachten. Zahlreicher waren jene, wie Diagoras von Melos, die einfach ihren Glauben verloren, weil sie beobachteten, wie viele Verbrecher unbestraft blieben.2 Babrius erzählt die witzige Geschichte eines Bauern, der resigniert beobachtete, dass die Götter nicht einmal jene bestrafen können, die ihr eigenes Vermögen rauben. Dieser Bauer verlor nämlich ein Werkzeug und verdächtigte andere Landarbeiter des Diebstahls. Als sie ihre Unschuld beteuerten, brachte er sie alle zur Stadt, um sie zu vereidigen – eine verbreitete Praxis in einer Zeit, die Fingerabdrücke, DNA-Analysen und andere Ermittlungsme1 2
Zitiert von Sextus, Mathem. 9.54 (TragGrFr p. 771–773 ed. Nauck). Suda, s.v. Diagoras.
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thoden nicht kannte. Als sie alle die Stadt betraten, hörten sie einen Herold, der laut eine Belohnung in Höhe von 1000 Drachmen für jenen versprach, der Informationen über den Dieb geben konnte, der Wertsachen aus Apollons Heiligtum gestohlen hatte. Als der Bauer dies hörte, realisierte er, dass, wenn der Gott nicht einmal wusste, wer seinen eigenen Tempel beraubt hatte, er auch den Dieb seines Werkzeugs nicht ermitteln würde.3 Weder Kritik noch Verzweiflung zerstörten jedoch den Glauben, dass die Götter Verbrechen und Ungerechtigkeit ahnden. Dass ein ungerechter Mensch zu seinen Lebzeiten unbestraft bleiben kann, war und bleibt eine universelle Erfahrung. Aber dann konnte die Hoffnung, dass ihn im Leben nach dem Tod seine gerechte Strafe erwartet, die Frustration der Gerechten vermindern, auch wenn dies die Ungerechten nicht unbedingt entmutigte. Bereits die frühesten Zeugnisse über die Jenseitsvorstellungen kolonisieren die Unterwelt mit sündigen Menschen, deren Bestrafung ein Exemplum statuieren sollte.4 Ein gewisser Sinn für Gerechtigkeit konnte auch durch die Idee befriedigt werden, dass im Falle des Ausbleibens einer Bestrafung für einen Straftäter zumindest dessen Verwandte für seine Taten bezahlen mussten.5 Die kollektive Haftung ist keineswegs beschränkt auf die Blutrache im archaischen Griechenland, die erbliche Schuld in der Tragödie oder die rächenden Dämonen im Volksglauben. Wir begegnen ihr noch in öffentlichen Dokumenten der klassischen Zeit, z. B. im attischen Gesetz gegen die Tyrannen.6 Noch im frühen 3. Jh. v. Chr. fragte die Stadt Dodona das dortige Orakel des Zeus danach, „ob der Gott das Gewitter wegen der Unreinheit irgendeines Menschen bringt“.7 Die Idee der Theodikie war in der antiken Mentalität fest verankert. Einem besonderen Aspekt ist dieser Aufsatz gewidmet, nämlich dem Glauben an das Eingreifen und der Mitwirkung der Götter in Konflikten des täglichen Rechtes.
2 Epigraphische Zeugnisse zur antiken Theodikie Kleinasien stellt den geographischen Raum dieser Untersuchung dar. Die zeitliche Betrachtung erstreckt sich über die ersten drei Jahrhunderte nach Christus. Aus Kleinasien fehlen uns Papyri und somit auch eine grundlegende Quelle für die Konflikte und Delikte des Alltags. Dafür haben wir aber ein reiches epigraphisches Material, das nicht nur das Leben in den großen Städten wie Milet und Ephesos, sondern auch in den kleinsten Dörfchen beleuchtet. 3 4 5 6 7
Babrius, fab. 2.; vgl. Versnel 1991, 78. Sourvinou-Inwood 1995, 70. Lloyd-Jones 1983, 35, 90f.; Parker 1983, 198–205; Burkert 1996, 108–113. Aristoteles, Athenaion Politeia 16.10, Demosthenes 23.62. Supplementum Epigraphicum Graecum XIX 427.
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Eine für die Konflikte des Alltags besonders wichtige Gruppe von Zeugnissen sind die in Lydien und Phrygien gefundenen „Beicht-“ oder „Sühneinschriften“.8 Es handelt sich um eine Gruppe von ca. 150 Inschriften, die ursprünglich in Tempeln aufgestellt waren und Geständnisse verschiedener Vergehen enthalten. Das Geständnis wurde durch göttliche Bestrafung erzwungen, durch Tötung der Tiere, Erkrankung, Unglück oder Tod. Die Mehrzahl der Sühneinschriften betreffen Sakrilegien, Verstöße gegen Reinheitsvorschriften, Verletzungen des Eigentums der Tempel, Beleidigungen der Götter – also Konflikte zwischen Menschen und Göttern. Es gibt jedoch ca. 40 Texte, die auch Delikte des profanen Strafrechtes betreffen: Diebstahl, Ehebruch, versäumte Rückzahlung von Schulden an Privatpersonen oder an den Tempel, Beleidigung, Vergiftung, Magie oder Mitwisserschaft eines Verbrechens. Im Grenzbereich zwischen sakralem und profanem Delikt liegt der Meineid.9 Aus den längeren Texten wird deutlich, dass eine Person, wenn sie absichtlich oder unabsichtlich ein Vergehen beging oder eine Norm verletzte und dachte, dass die Götter sie dafür verfolgten, den Tempel aufsuchte und um Hilfe bat. Durch Orakel, göttliche Boten, Träume und Visionen offenbarte der Gott den Grund seines Zorns und teilte mit, wie die Wiedergutmachung erreicht werden konnte. Nur wenige Texte stellen jedoch die Ereignisse in ihrer chronologischen Reihenfolge dar. Kürzungen und schwerfällige Formulierungen erschweren oft das Verständnis. Ein Beispiel unter vielen betrifft einen Konflikt zwischen einer Frau und der Tempelverwaltung (Lydien, 118 n. Chr.):10 „Trophime, Tochter des Artemidoros, des sogenannten Kikinnas, wurde vom Gott zu einem Dienst aufgefordert, wollte aber nicht geschwind kommen; aus diesem Grund bestrafte sie der Gott und machte sie wahnsinnig. Sie fragte nun Meter Tarsene (‚die göttliche Mutter von Tarsos‘) und Apollon Tarsios und Mes Artemidorou Axiottenos (d. h. den Mondgott Mes von Axiotta, dessen Kult von einem Artemidoros gestiftet worden war), der Koresa beherrscht. – Und der Gott befahl mir, mich für den Götterdienst einzuschreiben“.
In der Mehrzahl der Texte erscheint der Sachverhalt Sünde – Bestrafung – Wiedergutmachung als eine Angelegenheit zwischen Menschen und Gott, ohne Einschaltung anderer Instanzen. Die Dinge sind jedoch wesentlich komplexer. Das Eingreifen von Priestern kann in vielen Texten erkannt werden, und zwar auch in den Texten, die Konflikte unter Menschen und nicht zwischen Menschen und Göttern betreffen. In vielen Beichtinschriften – so auch im gerade zitierten Text – beobachten wir einen Subjektwechsel von der ersten zur dritten Person („Trophime wurde aufgefordert …; der Gott befahl 8
9 10
Von der sehr umfangreichen Bibliographie zitiere ich nur einige der jüngsten Untersuchungen, in denen weitere Literatur zu finden ist: Petzl 1994, 1997 und 1998; Ricl 1995 und 1997; Klauck 1996; Chaniotis 1997 und 2004. Chaniotis 1997. Petzl 1994, Nr. 57.
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mir …“). Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Beichten – vor allem jene von Personen, die längere Texte nicht schreiben konnten – von Priestern niedergeschrieben wurden. Darüber hinaus waren die Priester jene, die die Befehle der Götter deuteten und vermittelten. Die Rolle der Priester wurde in der Forschung kontrovers diskutiert. So hat Joseph Zingerle vor achtzig Jahren die These vertreten, dass in den Tempeln Prozesse in profanen Angelegenheiten stattfanden, ja, dass die Priester keine Hemmungen hatten, den Göttern beim Vollzug der Todesstrafe etwas nachzuhelfen.11 Diese Thesen ließen sich aufgrund des damals bekannten Materials nicht beweisen und fanden in der Forschung wenig Resonanz; Georg Petzl, Verfasser eines Corpus der Beichtinschriften schloss allerdings nicht aus, dass Priester als Richter fungierten (s. u. § 3).12 Eger bemerkte, dass es keine Hinweise auf Prozesse in den Tempeln gibt. Auf der anderen Seite vermutete er, dass Klagen von Personen, denen Unrecht angetan worden war, an die Priester eingereicht wurden und dass die Priester die Schuldigen (oder bloß Angeklagten oder Verdächtigten) verfluchten, die Zeichen des göttlichen Willens deuteten und die Konfliktparteien berieten.13 Marijane Ricl, Verfasserin eines Corpus dieser Texte, kam zu dem Ergebnis, dass die Priester nicht aus eigener Initiative handelten, sondern durch die Opfer von rechtswidrigen Taten dazu aufgefordert wurden einzugreifen. Ihre Tätigkeit bestand darin, die Konfliktparteien zu vereidigen und die bekannten oder unbekannten Täter zu verfluchen.14 Meine eigenen Untersuchungen haben die Ansichten von Eger und Ricl bestätigt.15 In dieser Arbeit geht es nicht um die Rekonstruktion der in diesen Heiligtümern durchgeführten Rituale und Verfahren, sondern um die Bedeutung der Beichtinschriften als Zeugnisse für die Konflikte des Alltags und deren Bewältigung. Diese Texte versteht man besser, wenn man sie nicht isoliert betrachtet, sondern in einem Zusammenhang mit einer Gruppe magischer Texte (Fluchinschriften), die Henk Versnel sehr treffend als „Gebete für Gerechtigkeit“ bezeichnet hat.16 Solche Texte kennen wir beispielsweise aus Knidos (2.–1. Jh. v. Chr.). Im dortigen Heiligtum der Demeter kamen Texte zu Tage, in denen Frauen Personen verfluchen, indem sie den dort verehrten Göttern „weihen“, d. h. sie der göttlichen Strafe überlassen. Ein Beispiel:17 „Ich weihe an Demeter und Kore den Verleumder, der behauptet hat, dass ich ein Gift gegen meinen eigenen Mann zubereitet habe. Ich wünsche mir, dass er zusammen mit seiner ganzen Familie brennend zum Heiligtum der Demeter kommt und dort ein Geständnis macht“.
11 12 13 14 15 16 17
Zingerle 1926. Petzl 1988 und 1994, 8–11. Eger 1939. Ricl 1995. Chaniotis 1997 und 2004. Versnel 1991, 68–75, 81–93; 1999, 127; 2002, 48–50. Blümel 1992, Nr. 150; für den vollständigen Text s. u. S. 249.
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Was in diesem Text auffällt, ist die Bedeutung von Ehre und Schande: Verleumdung ist das Unrecht, das dieser Frau angetan worden war. Ferner fällt der Wunsch auf, dass der Schuldige seine Schuld öffentlich gesteht. Die verletzte Ehre der Frau wird nur durch den Ehrverlust ihres Verleumders wiederhergestellt. Die Verletzung der Ehre und die Rolle der Öffentlichkeit sind Leitmotive der folgenden Seiten. Solche Gebete für Gerechtigkeit sind weit verbreitet; wir finden sie von Kleinasien bis Britannien. Sie sind eng verwandt mit Gelübden von Personen, die die Götter um Hilfe in verschiedenen Angelegenheiten des Alltags bitten, darunter auch um Unterstützung in rechtlichen Konflikten und in finanziellen Angelegenheiten; so etwa das Gelübde einer Frau: Sie „machte ein Gelübde bei Mes Axiottenos: ‚Wenn ich die Anteile von der Mutter erhalte‘. Nachdem ich sie erhalten habe, weihte ich die Stele für die Dinge, wofür ich das Gelübde gemacht hatte“.18 Ein nicht erfüllter Wunsch konnte das Gefühl von Ungerechtigkeit und von Ehrverlust verstärken. Die Idee, dass Straftaten von den Göttern verfolgt werden, kommt schließlich bei einer weiteren Gattung von Inschriften vor, bei denen wir sie eigentlich nicht unbedingt erwarten: bei Grabinschriften. Einige Texte fordern die Götter auf, ein bestimmtes Vergehen (Mord, Vergiftung, Diebstahl) zu verfolgen oder Rache zu nehmen, da der Verstorbene nicht mehr dazu in der Lage war. Ein Beispiel finden wir in einer Inschrift aus Daskyleion.19 Ein Ehepaar stellte eine Grabstele mit der Darstellung von gehobenen Händen (Gestus der Fürbitte) auf und forderte Rache für den Tod ihres Sklaven; der Sklave war vor seiner Zeit, also unerklärlich und unnatürlich gestorben (sie „… weihten diese Stele für den vor seiner Zeit verstorbenen Sklaven, indem sie die Sonne und alle Götter als Zeugen anrufen, damit sie für uns Rache nehmen“).20 In diesem konkreten Fall wurzelt der Rachegedanke in der Frustration, die aus der Unfähigkeit entsteht, den für ein Unrecht Verantwortlichen zu identifizieren und zu bestrafen. Sehr häufig ist er aber vor dem Hintergrund von Ehrverletzung und Gesichtsverlust zu sehen.
3 Priester als Schlichter in Konflikten zwischen Göttern und Sterblichen Eine Beichtinschrift aus Lydien schildert uns eine für die unter den wachsamen Augen der Götter lebenden Gemeinden Anatoliens charakteristische Konfliktsituation (191 n. Chr.):21 18 19 20 21
Supplementum Epigraphicum Graecum XLI 1012 Z. 4–10. Supplementum Epigraphicum Graecum XLIV 1050 Z. 3–11. Weitere Beispiele in Chaniotis 2004, 9–10. Petzl 1994, Nr. 36.
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„Für Mes Labanas. Elpis hat den Mes Labanas verachtet; sie bestieg sein Podium ohne vorherige Waschung und untersuchte seine Tabletts (Holztafeln mit Texten?). Nachdem der Gott sie verfolgt hatte, erstatteten die Erben (die Wiedergutmachung, d. h. die Inschrift), indem sie ihn preisen. Im 276. Jahr, im Monat Peritios. – Lobend erstatten wir die Stele auch dem Mes Axiottenos. – ‚Mein Podium hat sie besudelt‘„.
Elpis hatte eine Reinheitsvorschrift verletzt und dies mit ihrem Leben bezahlt. Die Härte der Strafe, die auf den ersten Blick in keinem Verhältnis zum Vergehen steht, erklärt sich aus der Bedeutung der Normen für den Zusammenhalt kleiner dörflicher Gemeinden. Die letzten Worte des Textes zitieren den Orakelspruch des Gottes, der den Grund seines Zorns erklärt. Die Wiedergutmachung erfolgte durch die Aufstellung der Inschrift. Im Lichte solcher Texte kann man die Rolle der Priester in diesen Orten verstehen. Sie waren Deuter der Götterjustiz. Sie gaben den kleinen und großen Tragödien des Alltags Sinn, indem sie diese als Strafe der Götter darstellten. Wenn eine Person zum Heiligtum kam, krank, verzweifelt, verarmt, verwaist, von Unglück verfolgt, um sich nach dem Willen der Götter zu erkundigen und zu erfahren, wie sie dem Unglück ein Ende setzen könnte, waren die Priester bereit zu helfen. Während der Gespräche versuchten sie, die mögliche Ursache des göttlichen Zorns zu ermitteln. Und so wie die menschliche Natur sich darstellt, ist es zweifelhaft, ob es ihnen schwer fiel, eine Unrechtstat zu finden. Da ihre Klienten in der Nähe der Heiligtümer lebten, waren Verletzungen religiöser Normen unvermeidlich. Ein Kind warf beispielsweise eine Weihung im Heiligtum um, ein anderes betrat das Heiligtum mit beflecktem Kleid.22 Und wenn der verzweifelte Klient gar keine Ahnung hatte, wie er den Zorn der Götter provoziert hatte, bestand immer die Möglichkeit, dass er für die Verfehlungen eines Verwandten oder der Vorfahren büßte. Und sollte die Familie seit Generationen Vorbild der Unschuld gewesen sein, wie konnte man ausschließen, dass eines ihrer Mitglieder etwas unabsichtlich oder unwissentlich verbrochen hatte? Auch hierfür hatten die Priester ein Rezept: die pauschale Entsühnung von Verfehlungen, „von denen man weiß (oder sich bewusst ist) und von denen man nicht weiß“ (ex eidoton kai me eidoton).23 Ich brauche nicht zu erwähnen, dass sich das Leben auch weiterhin mit seinen kleinen Desastern fortsetzte. So kamen viele Personen zum Heiligtum zurück, nachdem sie festgestellt hatte, dass die erste Beichte nicht genug war. Einige hörten erst in ihrem Grab damit auf, ihre Sünden zu beichten. Einige appellierten an mildernde Umstände: „Ich habe es nicht gewusst“; „ich tat es unabsichtlich“. Ein Mann, der bestraft wurde, weil er das Keuschheitsgebot gebrochen hatte, entschuldigte sich: „Aber (ich schlief) mit meiner eigenen
22 23
Petzl 1994, Nr. 78 und 55. Petzl 1994, 60f.; Ricl 1995, 68; Chaniotis 2004, 35.
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Frau“.24 Diese Entschuldigungen sind Bitten nicht um Milderung der ohnehin bereits vollzogenen Strafe, sondern um eine leichtere Wiedergutmachung. Manchmal wurden diese Bitten erhört. „Im 251. Jahr, am 2. des Monats Panemos. Die Götter haben dem Eudoxos gestattet, den Meineid für seine eigene Frau zu löschen, da [obwohl] die Eide der Tarsene nicht gelöscht werden. Weil Sardion einen falschen Eid geleistet hatte, aus diesem Grund, da sie noch nicht volljährig war, löschte Eudoxos die Meineide durch Zahlung von 9 Obolen, stellte eine Inschrift auf und dankt“.25
Auf der gleichen Inschrift wird die gültige Regelung zitiert: Für das Löschen eines Eides war der hohe Betrag von 175 Denaren zu zahlen; die mildernden Umstände – die meineidige Frau war minderjährig – erlaubten ihrem Mann, sich mit dem lächerlichen Betrag von 9 Obolen (etwas mehr als ein Tageslohn) mit den Göttern zu versöhnen. Die Rolle der Priester war also die von Vermittlern in einer Konfliktsituation zwischen zornigen Göttern und sündigen Sterblichen. Diese Rolle ist auch im längsten relevanten Text zu erkennen, in einer Beichtinschrift, in der die Sünden, die Bestrafung und die Entsühnung eines gewissen Theodoros geschildert werden (Silandos, 235 n. Chr.).26 Im Text werden abwechselnd die Geständnisse des Theodoros und die Orakel eines Gottes (Mes eher als Zeus) zitiert, die sich auf die Entsühnung beziehen. Theodoros, ein Tempelsklave, verstieß wiederholt gegen das Verbot des Geschlechtsverkehrs und beging sogar Ehebruch mit einer verheirateten Sklavin. Er wurde blind und suchte den Tempel auf. Durch Orakel klagte ihn der Gott an und begründete die Strafe. Nach Geständnis seiner Vergehen führte Theodoros ein Sühneritual durch. Der Gott wurde dann nach seinem Rat gefragt und begnadigte den Theodoros: Theod.: Weil ich von den Göttern zur Vernunft gebracht wurde, von Zeus und vom Großen Mes Artemidorou, (habe ich die Inschrift aufgestellt). Gott: Ich habe Theodoros an seinen Augen für die Verfehlungen bestraft, deren er sich schuldig gemacht hatte. Theod.: Ich hatte Geschlechtsverkehr mit Trophime, der Sklavin des Haplokomas und Frau des Eutychis, im Praetorium. Gott: Er nimmt die erste Verfehlung mit einem Schaf, einem Rebhuhn, einem Maulwurf weg. Zweite Verfehlung. Theod.: Als ich Sklave der Götter von Nonnos war, hatte ich Geschlechtsverkehr mit der Flötenspielerin Ariagne. Gott: Er nimmt weg mit einem Choiros [Flussfisch oder Ferkel?], einem Thunfisch, einem Fisch. Theod.: Bei der dritten Verfehlung hatte ich Geschlechtsverkehr mit der Flötenspielerin Aretousa.
24 25 26
Chaniotis 1997, 360f.; z. B. Petzl 1994, Nr. 55, 58, 68, 78, 111. Petzl 1994, Nr. 58. Petzl 1994, Nr. 5; Ricl 1995, 72f.; Chaniotis 1997, 357–360 und 2004, 27–30.
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Gott: Er nimmt weg mit einem Huhn, einem Spatz, einer Taube. Ein Kypros [Messeinheit] Getreide und Gerste, ein Prochus Wein, ein Kypros reiner Gerste für die Tempeldiener, ein Prochus. Theod.: Ich hatte Zeus als meinen Rechtsbeistand. Gott: Ich habe ihn geblendet für seine Taten. Da er aber jetzt die Götter gnädig stimmte, nehmen sie seine Sünden weg. Gefragt vom ‚Senat‘ (synkletos) bin ich ihm gnädig, wenn meine Stele errichtet wird, an dem Tag, den ich bestimmt habe. Du sollst das Gefängnis öffnen. Ich lasse den Gefangenen frei, nach einem Jahr und 10 Monaten.
Auf den ersten Blick scheint uns so etwas wie das Protokoll einer Gerichtsverhandlung vorzuliegen. Nach Georg Petzl fand tatsächlich ein Prozess im Tempel statt, Theodoros wurde verurteilt und in den Kerker geworfen. Nach Ender Varinliogˇ lu ist der Gebrauch des Wortes Gefängnis (phylake) symbolisch zu verstehen;27 die Blindheit des Theodoros sei die Strafe, durch welche ihm die Götter seine zügellosen sexuellen Aktivitäten einschränkten. Ein neuer (noch unveröffentlichter) Text hat die Frage beantwortet: Er erwähnt einen „Senat der Götter“ (synkletos theon); der Prozess fand also im Himmel, nicht im Tempel statt. Das Heiligtum hatte nicht als Gerichtshof fungiert, sondern die Priester hatten die Orakelsprüche des Gottes vermittelt und Rat gegeben, wie der göttlichen Strafe ein Ende gesetzt werden konnte. In der Beichte des Theodoros geht es um einen Konflikt zwischen einem Sterblichen und den Göttern, der unter Vermittlung der Priester beigelegt wird. Es stellt sich nun die Frage, ob und wie die Priester im Auftrag der Götter auch in Konflikten des täglichen Rechtes eingriffen.
4 Alltagskonflikte und Götterjustiz Ein typischer Konflikt in einer kleinen dörflichen Gemeinde ist der Streit um entlaufene Tiere (Kula, 114 n. Chr.):28 „Groß ist (göttliche) Mutter Anaitis, die Herrscherin von Azita, und Mes Tiamou und ihre Macht. (Angelegenheit des) Hermogenes und Apollonios, Sohn des Apollonios, des sogenannten Midas, aus dem Ort Syrou Mandrai. Drei Schweine des Demainetos und des Papias aus Azita irrten umher und mischten sich mit den Schafen des Hermogenes und des Apollonios – ihr fünfjähriger Sklave hütete sie. Diese führten die Schweine weg. Als nun Demainetos und Papias die Schweine forderten, gestanden Hermogenes und Apollonios (dies) nicht, aus irgendeiner Ungefälligkeit …“.
Wären die Tiere irgendwie (z. B. mit einem Stempel) als Eigentum des Demainetos und des Papias gekennzeichnet, so wäre der Streit von den profanen Behörden des Dorfes leicht beizulegen; dies war hier offenbar nicht der Fall. In dieser Konfliktsituation wandten sich nun die beiden Männer, genau wie 27 28
Varinliogˇlu 1989, 37–39. Petzl 1994, Nr. 68.
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der Bauer in Babrius’ Fabel, an das lokale Heiligtum. Sie nahmen keine Vereidigung ihrer Gegner vor, sondern sie verfluchten sie: „… Und nun ist das Szepter der Göttin und des Herren des Tiamos, aufgestellt worden …“
Der Ausdruck „das Szepter aufstellen“ kommt in einigen Varianten in den Inschriften Lydiens vor und bezieht sich auf die Aufstellung des Symbols der göttlichen Macht in einem Heiligtum anlässlich einer Verfluchung.29 Die Aufstellung des Szepters hatte eine doppelte Funktion: künftige Straftaten zu verhindern (s. u. S. 248) und Straftäter zu informieren, dass sie früher oder später – und wenn nicht sie, dann ihre Familie, ihre Tiere, ihre Habe – Opfer des göttlichen Zorns würden. Das Vergehen wurde der Götterjustiz übergeben. „… und da sie (immer noch) nicht gestanden, zeigte die Göttin ihre Macht. Und nachdem die Gattin des Hermogenes und sein Kind und auch Apollonios, der Bruder des Hermogenes, gestorben waren, sühnten sie die Götter. Und nun bezeugen wir ihre Macht und preisen sie zusammen mit den Kindern. Im 199. Jahr“.
Auch nach der Verfluchung weigerten sich Hermogenes und Apollonios, die Tiere zurückzugeben, bis persönliche Schicksalsschläge, die als göttliche Strafe gedeutet wurden, sie dazu zwangen. Wichtig ist hier die Erwähnung einer wiederholten Weigerung; sie kann nur vor den Priestern geäußert worden sein, denn die Kläger hatten ja ihre Forderung schon einmal vergeblich gestellt. Ein Text aus Ayazvoran betrifft einen ähnlichen Fall (3. Jh. n. Chr.). In einem Rechtsstreit über Schafe wurde das Urteil gefällt, der Kläger müsse durch Eid die Richtigkeit seiner Behauptungen bekräftigen:30 „[Lücke] – Hermogenes Valerios, Sohn des Apollonios, hatte sich dem Kaikos und Tryphon für deren Kleinvieh eingesetzt. Es wurde das Urteil gefällt, Hermogenes solle einen Eid leisten, er habe seine Pflicht gegenüber den Schafen nicht vernachlässigt. Ohne Kenntnis (des Sachverhaltes? oder ohne Kenntnis der Macht der Götter) schwor Hermogenes beim Gott …“.
Der Eid war ein falscher und der Meineidige wurde durch Tötung seines Rindes und seines Esels bestraft – richtiger: weil er von Unglück verfolgt wurde, dachten alle, dass er einen Meineid geleistet hatte. Trotz dieser Schäden beharrte der Mann auf seinem Eid – wir begegnen erneut der wiederholten Weigerung eines Geständnisses. Erst als auch seine Tochter starb, löschte er endlich den (Mein)eid, sicher durch Entrichtung der vorgesehenen Gebühr: „… Der Gott zeigte die ihm eigene Machtfülle und bestrafte den Hermogenes und fügte ihm Schädigungen zu, indem er ihm sein Vieh tötete – einen Ochsen und einen Esel. Als Hermo-
29
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Robert 1983, 518–520; Strubbe 1991, 44f.; Petzl 1994, 4 und 89f.; Versnel 1991, 76, und 2002, 64; Ricl 1995, 69. Petzl 1994, Nr. 34.
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genes im Ungehorsam verharrte, tötete er dessen Tochter. Da löste er den Schwur. Wir, Apphias und ihre Kinder, Alexandros, Attalos, Apollonios und Amion, haben die Stele errichtet und auf ihr die Manifestation der Macht des Gottes schriftlich festgehalten, und von jetzt ab lobpreisen wir ihn“.
Die Formulierung „seine Aussagen wurden von den Prozessgegnern überprüft“ (also als falsch bloßgestellt) in einem sehr fragmentarischen Text bezieht sich sicher auf einen Meineid in einem Rechtsstreit. Die Mitwirkung von Priestern bei Vereidigungen ist ein in der griechischen und römischen Antike bekanntes Phänomen. Ein Volksbeschluss aus Pednelissos in Pisidien bezeugt die Mitwirkung des Kultpersonals bei Rechtskonflikten, und zwar im Zusammenhang mit Vereidigungen und Verfluchungen. Diese Handlungen fanden sicher im Heiligtum statt; so erklärt sich auch die gelegentlich bezeugte Zahlung von Gebühren an die Götter und ihre Priester.31 Am deutlichsten zeigt sich die Rolle der Heiligtümer im Zusammenhang mit der Beilegung von Konflikten in jenen Fällen, in denen das Opfer einer rechtswidrigen Tat den Täter nicht bei einer städtischen Behörde anzeigte, sondern zum Heiligtum ging, dort eine Klageschrift (pittakion) abgab und die Götter um Eingriff bat. Eine Beichtinschrift aus Silandos oder Saittai belegt dieses Verfahren. Es scheint, dass Hermogenes und Nitonis gegen Artemidoros falsche Anschuldigungen in Bezug auf Wein (bei einer Transaktion?) erhoben hatten. Artemidoros sah sich mit Gesichtsverlust konfrontiert. Seine Reaktion bestand darin, einen „Zettel“ (pittakion) an die Götter einzureichen, d. h. eine Schreibtafel mit einer Klageschrift den Priestern zu übergeben. Jedes Unglück, das seinen Beleidigern widerfahren würde, würde dann als göttliche Strafe verstanden. In der Tat wurde Hermogenes gezwungen, sich mit den Göttern zu versöhnen; ob er sich auch mit Artemidoros versöhnte, verrät uns der Text nicht, aber es ist davon auszugehen, dass mit dem öffentlichen Schuldbekenntnis der Konflikt beendet wurde:32 „Dem Mes Axiottenos. Weil Hermogenes, Sohn des Glykon, und Nitonis, Tochter des Philoxenos, Artemidoros beleidigten in Bezug auf den Wein, hat Artemidoros einen Zettel eingereicht. Der Gott hat Hermogenes bestraft, und er hat gesühnt, und von nun an führt er gute Gedanken“.
Die Sühne des Hermogenes setzt natürlich voraus, dass er von Artemidoros’ Handlung, d. h. vom Deponieren der ‚Klageschrift‘ wusste. Wie? Artemidoros selbst hat ihn vielleicht in Kenntnis gesetzt („Du wirst es mir teuer bezahlen …“); oder Hermogenes war Zeuge einer öffentlichen Zeremonie gewesen; oder er wurde über die ‚Klageschrift‘ von den Priestern informiert, die sie erhalten hatten. So oder so richtete sich Artemidoros’ Pittakion an die Öffentlichkeit. Es konnte gar nicht anders sein: Das Ziel war ja, die Ehre des Ar31 32
Sokolowski 1955, Nr. 79. Petzl 1994, Nr. 60.
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temidoros zu retten. Auf die Rolle von Ehre, Schande und Öffentlichkeit werden wir noch zurückkommen. Auch ein anderer Text, der nicht ausdrücklich das Einreichen eines Pittakion erwähnt, ist ähnlich zu verstehen:33 „Groß ist Mes Artemidorou, der über Axiotta herrscht, und seine Macht. Tatia, Tochter des Nikephoros, aus Mokada, hatte an Gaius und Apphia, seine Gattin, aus Mokada, Bronzegeld ausgeliehen, indem sie im voraus sagte ,[eine Frist] ich leihe aus‘. Gaius ließ nun seine Schulden ihr gegenüber unbezahlt. Da nun das Darlehen an Tatias nicht zurückgezahlt wurde, hat sie gegen ihn den Gott angerufen. Groß ist nun …“ (der Rest des Textes ist nicht erhalten).
Pfleger des Kultes dieser Götter, Deuter ihres Willens und Verfechter der Idee einer Theodikie waren die Priester, die sehr selten in den relevanten Texten zum Vorschein kommen. Nur indirekt können wir ihre Eingriffe erkennen: die Deutung der Orakel, der Versuch der Schlichtung, die Durchführung von Eideszeremonien und Verfluchungen. Diese Rolle ergab sich aus dem Glauben an die Theodikie. Ebenso wichtig war jedoch auch die Tatsache, dass in den dörflichen Gemeinden Kleinasiens die Heiligtümer die wichtigsten Orte des öffentlichen Lebens waren. Als Orte der Öffentlichkeit waren sie für die Beilegung von Konflikten, die mit Ehre, Schande und Gesichtsverlust (s. § 5) zu tun hatten, prädestiniert. Die vorhin zitierten Texte gehen von der Voraussetzung aus, dass Götter in Konflikten des Alltags eingriffen und nicht als letzte, sondern als einzige Instanz die Konflikte beendeten. Man ist geneigt, von „göttlichen Urteilen“ und von einer Götterjustiz zu sprechen. In der Tat wird das Eingreifen der Gottheit in den Inschriften Anatoliens oft mit einem Strafprozess verglichen. Der Grabräuber wird mit Ausdrücken bedroht wie etwa „er soll gegenüber den Göttern einer Strafe verfallen sein“ (enochos esto theois),„er soll von den unterirdischen Göttern gerichtet werden“ (dikas tinein) oder „er soll vom Gott gerichtet werden“ (pros ton theon krisin echein).34 Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass die Reaktion der Götter in einigen Fällen nicht jene von unbeteiligten, objektiven Richtern war, sondern die Rache von Geschädigten. Dies war das Ergebnis einer oft in antiken Fürbitten an die Götter angewandten Überzeugungsstrategie. Das Opfer von Unrecht versuchte manchmal nicht Mitleid, sondern den Zorn der Götter zu erwecken. Dies wurde dadurch erreicht, dass der Konflikt mit einem Sterblichen auf die Gottheit übertragen wurde, die Gottheit zum Geschädigten gemacht wurde. Wie diese Strategie funktionierte, zeigt uns eines der „Gebete für Gerechtigkeit“ aus Lydien. Es handelt sich um eine 8 × 5 cm große Bleitafel, die mit einem Nagel an einer Konstruktion (Wand, Tafel, Balken) befestigt war, wie aus einem kleinen Loch oben hervorgeht:35 33 34 35
Petzl 1994, Nr. 79. Chaniotis 1997, 360. Supplementum Epigraphicum Graecum XXVIII 1568 und XL 1049; Versnel 1991, 74; 1999, 145; 2002, 55.
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„Ich weihe der Mutter der Götter alle goldenen Sachen, die ich verloren habe, damit sie sie sucht und alles offenbart und jene bestraft, die sie haben, gemäß ihrer eigenen Machtfülle, damit sie nicht belächelt wird“.
Der anonymen Frau ging es nicht um Rückerstattung der gestohlenen Sachen, sondern um Rache. Sie schenkte der Göttin die Wertsachen – was ihr eigentlich leicht fiel, da sie sie ohnehin nicht mehr besaß – in der Erwartung, dass die Göttin aktiv wurde und ihr (d. h. der Göttin) Vermögen zurückholte, damit sie (die Göttin) nicht lächerlich erschiene. Zusammen mit den gestohlenen Gegenständen wird auch der eigene Gesichtsverlust von der Frau auf die Göttin übertragen. Die Göttin sollte jetzt beleidigt sein und unter Handlungszwang stehen. Diese Überzeugungsstrategie kennt man im Übrigen ebenfalls aus antiken magischen Texten. Ein magischer Papyrus empfiehlt beispielsweise, den Zorn einer Gottheit gegen eine Frau im Kontext von Liebeszauber dadurch zu erwecken, dass man die unwillige Frau der Verleumdung heiliger Riten beschuldigt:36 „Ich gehe, zu melden die Verleumdung durch die verbrecherische und frevle NN; hat sie doch verleumderisch von deinen heiligen Geheimnissen geredet, den Menschen zur Kenntnis. Die NN ist es, die es gesagt hat – nicht ich bin es, die so sagte:‚Ich sah, wie die größte Göttin das himmlische Gewölbe verließ und auf der Erde sandalenlos, Schwert tragend, einen unziemlichen Namen rief‘. Die NN ist es, die sagte: ‚Ich sah die Göttin Blut trinken‘ usw.“
Die durch die Entweihung der heiligen Mysterien geschädigte und zornige Göttin soll dann im Sinne des Verfluchers handeln: „Gehe zur NN und nimm von ihr den Schlaf und gib ihr Brand der Natur, Züchtigung ihrer Sinne und rasende Leidenschaft und vertreibe sie von jedem Ort und jedem Haus und führe sie zu mir, dem NN“.
Diese Überzeugungsstrategie, die Übertragung eines Konfliktes auf die Gottheit, erklärt, warum auch ein besonderes Zessionsverfahren angewandt wurde: Eine Konfliktpartei trat nämlich ihre Forderung (z. B. nicht zurückgezahlte Darlehen oder gestohlene Sachen) an die Götter ab, in der Hoffnung, dass die Götter die Forderung beim Schuldner oder Dieb geltend machen werden.37 So in einem Text aus Ayvatlar (118 n. Chr.). Apollonios hatte dem Skollos ein Darlehen in Höhe von 20 Denaren gegeben:38 „Als dann Apollonios das Geld von Skollos zurückforderte, leistete Skollos einen Eid gegenüber den vorher genannten Göttern (Mes Tiamou und Meter Atimis), dass er innerhalb einer Frist das zusammengekommene Kapital zurückgeben werde. Da aber Skollos das Versprechen nicht einhielt, trat Apollonios (seine Forderung) der Göttin ab. Nachdem nun
36 37 38
Papyri Magicae Graecae IV 2471–9. Für diese Strategie s. Graf 1996, 163–166. Chaniotis 1997, 364f. und 2004, 16–19; vgl. Versnel 2002, 53f. Petzl 1994, Nr. 54; Chaniotis 2004, 16f.
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Skollos durch den Tod bestraft wurde, stellten die Götter nach seinem Tod ihre Forderung. Seine Tochter Tatias löschte nun die Eide [d. h. bezahlte den geschuldeten Betrag] und jetzt, nachdem sie gesühnt hat, preist sie Meter Atimis und Mes Tiamou“.
Geschädigt durch die versäumte Rückzahlung war nun die Göttin, die vermutlich zum Schluss den geschuldeten Betrag erhielt. Der Gewinn von Apollonios war nicht von materiellem Wert, aber trotzdem nicht weniger wichtig: Rache.
5 Gesichtsverlust als Konfliktursache Eine Beichtinschrift aus Kula ist für die Natur alltäglicher Konflikte aufschlussreich (156 n. Chr.).39 Im Dorf wurde das Gerücht verbreitet, Jucundus sei von seiner Schwiegermutter Tatias durch Gift (oder Zaubermittel) in den Wahnsinn getrieben worden. Die beschuldigte Frau verteidigte sich gegen diese Verleumdung, indem sie im Tempel, also öffentlich, ihre Verleumder verfluchte. „Im 241. Jahr, am 2. Tag des Monats Panemos. Groß sind Artemis Anaitis und Mes Tiamou. Jucundus war wahnsinnig geworden, und von allen wurde das Gerücht verbreitet, seine Schwiegermutter Tatias habe ihm ein Gift gegeben; und Tatias stellte das Szepter auf und legte im Tempel Verwünschungen nieder …“.
Tatias Fluch ist im Prinzip ein salvatorischer bzw. Unschuldseid – ein in der damaligen Rechtssprechung gängiges Verfahren.40 Sollte ihre Unschuldbeteuerung falsch sein, dann würde ihr Eid einem Meineid gleichkommen. Der Meineid war kein Vergehen, das die profane Justiz verfolgte; die Menschen erwarteten aber, dass die Götter – die angerufenen Zeugen bei der Eidesleistung und Rächer bei der Verfluchung – den Meineidigen bestrafen würden. Genau diese Strafe traf Tatias – davon waren ihre Mitbürger überzeugt –, als ihr Sohn ums Leben kam; dieses Familienunglück war für sie der Beweis, dass Tatias trotz ihres Schuldbewusstseins eine ungerechte Verfluchung vorgenommen hatte; die Mitglieder ihrer Familie mussten (nach ihrem Tod?) den Fluch rückgängig machen: „… (Tatias) legte im Tempel Verwünschungen nieder, als ob sie Genugtuung gegen die Verleumdung gebe, obwohl sie sich (ihrer Unschuld) bewusst war. Aus diesem Grund haben die Götter sie mit einer Strafe bestraft, der sie nicht entkommen konnte. Auch ihr Sohn, Sokrates, als er am Eingang (des Tempelbezirks) vorbeiging, der zum Hain führt, mit einer Sichel in der Hand, mit der man Weinstöcke schneidet, ist diese auf sein Bein gefallen und so starb er durch eintägige Bestrafung. Groß nun die Götter von Azitta haben verlangt, dass das Szepter und die Verfluchungen, die im Tempel durchgeführt wurden, rückgängig gemacht werden. Und die Kinder von Jucundus und Moschion, die Enkel von Tatia, namentlich Sokrateia und Moschas und Jucundus und Menekrates, machten sie rückgängig, und stimm39 40
Petzl 1994, Nr. 69; Versnel 2002, 64f. Chaniotis 1997, 372.
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ten die Götter für alles gnädig, und von nun an preisen wir die Götter, nachdem wir ihre Macht auf einer Stele aufgezeichnet haben“.
Das soziologische Interesse des Textes ist unmittelbar evident.„Alle“ beobachteten Tatias’ Handlungen, alle sprachen darüber. Unter diesem öffentlichen Druck in einer face-to-face-society, in einem kleinen Dorf, wo jeder jeden kannte, verlor Tatias das Gesicht. Ihr drohte die soziale Isolation; schlimmer noch: das Stigma der Hexe. Dies veranlasste sie, etwas zu unternehmen. Vermutlich kannte sie die Personen, die das Gerücht verbreitet hatten. In dieser Konfliktsituation mit ihren Nachbarn und Mitbürgern – nicht zuletzt aber auch mit ihrem Schwiegersohn und mit der eigenen Familie – gab es nur einen einzigen Weg, den Klatsch zu widerlegen und zu stoppen, der mit leiser Stimme ums Dorf ging: Umso lauter in einer öffentlichen Zeremonie, wieder unter den Augen „aller“, die Urheber der Verleumdung zu verfluchen. Dies war der Beweis ihrer Unschuld. Die Anwesenheit von Zuschauern und Zeugen war wichtig bei dieser Zeremonie, nicht nur als Form der sozialen Kontrolle41 – zumal in einer Magie-Klage –, sondern auch für die zu erwartende Manifestation der göttlichen Macht. Der wichtigste öffentliche Ort in Kula, an dem Tatias ihre Unschuld beteuern konnte, war wohl das Heiligtum. Was könnte nun Tatias hiermit bewirken? Der Verleumder würde aus Angst vor dem Fluch veranlasst werden, ähnlich wie in Knidos (s.o.) die Verleumdung zurückzunehmen und der Frau Genugtuung geben; oder ein Unglück des Verleumders oder seiner Familie würde als seine gerechte Strafe gedeutet werden und der Klatsch gegen Tatias würde aufhören. Es kam anders. Wie in einer antiken Tragödie die eintägige Handlung zeigen soll, dass die Götter innerhalb eines Tages den mächtigsten Mann erniedrigen können, so vollzog sich auch in diesem Fall die Strafe innerhalb eines Tages und manifestierte die unfehlbare Gerechtigkeit und die Macht der Götter. Der Tod Tatias’ und ihres Sohnes kam einem göttlichen Urteil gleich, das den Konflikt endgültig und unwiderruflich beendete. Tatias mag unschuldig gewesen sein; wichtig für die kleine Gemeinde war nur, dass sie jetzt ohne die Unsicherheit von Verleumdung und Klatsch konfliktfrei und in Harmonie mit den Überlebenden leben konnte. Auch in diesem Text begegnen wird dem Ausdruck „das Szepter aufstellen“. Das Vergehen wurde in einer feierlichen Verfluchungszeremonie im Heiligtum der Götterjustiz übergeben. Es ist wohl davon auszugehen, dass auch das Niederlegen der Flüche im Tempel und ihr Löschen durch die Enkel Tatias’ öffentliche Zeremonien waren. Die Rolle der Öffentlichkeit tritt auch in einem Text, der einen Familienstreit betrifft, deutlich zum Vorschein (Nea Kome bei Kula, 146 n. Chr.):42 41 42
Versnel 2002. Petzl 1994, Nr. 47.
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„Groß sind die Götter, die das Neue Dorf (Nea Kome) beherrschen. Im 231. Jahr. Menophila ärgerte sich über ihren Sohn, Polychronios, und machte ein Gelübde bei den Göttern, damit sie ihr Genugtuung geben. Und nachdem er bestraft worden war und die Götter gnädig gestimmt hatte, befahl ihr (der Gott), die Machtfülle der Götter aufzuzeichnen“.
Der Grund des Streites ist nicht bekannt, aber aus dem Hinweis auf Zorn und Genugtuung können wir erschließen, dass es auch hier primär um ein verletztes Ehrgefühl ging. Der Konflikt zwischen Mutter und Sohn konnte offenbar nicht innerhalb der Familie gelöst werden, und Menophila wandte sich an die Götter des Dorfes. Ein Unglück des Sohnes wurde von ihm als göttliche Strafe verstanden; durch nicht näher erläuterte Rituale (Opfer?, Weihung?, öffentliche Beichte?) versöhnte sich Polychronios mit den Göttern, vermutlich auch mit seiner Mutter. Die Tatsache, dass Menophila einen Befehl der Götter erhielt, diesen Vorfall auf einem Stein aufzuzeichnen und im Heiligtum aufzustellen, zeigt, dass die Priester über diesen Streit (von ihr?) informiert waren. Man denkt natürlich an das Einreichen eines Pittakion, wie im Falle des um seine Ehre verletzten Artemidoros (S. 242) oder der anonymen Frau, die Opfer von Diebstahl geworden war (S. 244). Schauen wir uns letzteren Text noch einmal an: „Ich weihe der Mutter der Götter alle goldenen Sachen, die ich verloren habe, damit sie sie sucht und alles offenbart und jene bestraft, die sie haben, gemäß ihrer eigenen Machtfülle, damit sie nicht belächelt wird“.
Auch hier ist die Rolle der Öffentlichkeit deutlich. Der Dieb (oder die Diebin) sollte bekannt werden (wortwörtlich: „in die Mitte gebracht werden“) und die Leute sollten nicht über die Unfähigkeit der Göttin lachen, die gestohlenen Sachen ausfindig zu machen. Noch deutlicher als im Falle der Tatias und des Artemidoros war die Verfasserin dieses Textes primär um ihre Ehre besorgt. Der Diebstahl bedeutete nicht nur den Verlust von Wertsachen, sondern auch von Ansehen, denn jemand freute sich über ihr Unglück – diesem Moment der Schadenfreude begegnen wir auch in einem anderen Text. Aus diesem Grund wollte die anonyme Frau Rache. Ihre Handlung konnte eigentlich nur dann wirksam sein, wenn der Dieb wusste, dass er nun göttliches Eigentum besaß, dadurch ein Sakrileg begangen hatte und von der zornigen Göttin verfolgt wurde. Die Wirksamkeit des Pittakion setzt seine Publizität voraus; seine Verfasserin rechnet mit der Existenz von Zuschauern, die einfach abwarten, über wen sie lachen sollten: den bestraften Dieb, sein Opfer oder die untätige Göttin. Die Konflikte, denen wir in diesen Texten begegnen, sind vor dem Hintergrund der Rolle von Ehre und Schande in kleinen Gemeinden zu deuten. Das Ende des Konfliktes ging mit der Wiederherstellung der Ehre der geschädigten Person einher, und dies erklärt die Rolle der Öffentlichkeit.
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6 Öffentlichkeit und Effektivität der Götterjustiz Ein Text aus dem Dorf Tazenon katoikia (210 n. Chr.) berichtet von einer anderen Konfliktsituation als bei den bisher zitierten Texten. Er bezeugt die öffentliche Verfluchung von Straftätern durch eine Gemeinde; das Delikt war Einbruch in das Haus zweier Vollwaisen, Diebstahl von Dokumenten und anderen Sachen und heimtückisches sowie böswilliges Handeln (der dolus des römischen Strafrechtes):43 „Dem Mes Petraites und dem Mes Labanas. Als Metrophanes und Flavianus, Söhne des Philippikos, von ihren Eltern als Waisenkinder allein gelassen wurden und einige Menschen aus dem Dorf ihnen nachstellten und von ihrem Haus heimlich Urkunden und andere Sachen nahmen und die Waisen von Gläubigern hinweggerissen wurden, hat das Dorf der Tazenoi dies missbilligt und das Szepter aufgestellt gegen diejenigen, die den bösen Anschlag gegen sie verübt hatten. Und der Gott verfolgte sie und bestrafte sie und tötete die Menschen, die Böses gegen sie im Sinne hatten. Der Gott verlangte nun, dies auf eine Stele aufzuzeichnen und seine Macht zu preisen, weil … [der Rest des Textes ist nicht erhalten]“.
In diesem Fall sah sich eine ganze Gemeinde mit einer unfassbaren Ungerechtigkeit konfrontiert. Einige Personen waren auf illegalem Weg in Besitz von Urkunden (wohl Hypotheken) gekommen und nutzten sie gegen zwei Vollwaisen. Die gesamte Gemeinde war empört, aber hatte offenbar keine anderen Mittel, gegen diese Ungerechtigkeit einzugreifen, als die feierliche Verfluchung der Täter. Die öffentliche Zeremonie diente dazu, die Schurken darüber zu informieren, dass sie von den Göttern verfolgt wurden. Dennoch kamen sie nicht zur Vernunft: Ihr Tod wurde als Strafe aufgefasst – und verriet eindeutig ihre Identität. Ein anderer Straftäter war einsichtiger. Eine Gemeinde hatte alle, die Kleider von einem öffentlichen Bad stehlen würden, prophylaktisch verflucht:44 „Groß ist Mes Axiottenos, König in Tarsi. Weil das Szepter aufgestellt wurde, wenn jemand etwas vom Bad stiehlt …“.
Ein Dieb missachtete diese Warnung, aber gerade wegen der Kenntnis der Verfluchung sah er sich später dazu gezwungen, das gestohlene Gut an das Heiligtum zurückzubringen: „… Als nun ein Kleidungsstück gestohlen wurde, bestrafte der Gott den Dieb und führte ihn nach einiger Zeit dazu, das Kleidungsstück zum Gott zu bringen und (die Tat) zu gestehen. Der Gott befahl nun durch einen Engel, das Kleidungsstück zu verkaufen und seine Macht in einer Inschrift zu schildern. Im 249. Jahr.“
Das Kleidungsstück wurde nicht an seinen Besitzer zurückerstattet, sondern verkauft; der Erlös ging gewiss an die Kasse des Heiligtums, vermutlich 43 44
Petzl 1994, Nr. 35; Versnel 1999, 131f. Petzl 1994, Nr. 3.
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weil das Opfer des Diebstahls sein gestohlenes Eigentum dem Gott überlassen hatte. Die kurze Vorstellung einer kleinen Auswahl epigraphischer Zeugnisse von Alltagskonflikten erlaubt, einige gemeinsame Merkmale zu erkennen. Ihre Protagonisten waren die Bewohner meist kleiner Dörfer in Kleinasien. Sie waren die Opfer von Unrecht – oder sie glaubten es: von Verleumdung, Betrug, Diebstahl, Nicht-Erstattung eines Darlehens. In einigen Fällen wussten sie, wer der Täter war, in anderen nicht. Keiner dieser Texte erwähnt eine Meldung an profane Behörden – sie ist aber nicht auszuschließen (absence of evidence is not evidence of absence). Oft ging es nicht primär um materiellen Verlust, sondern um Gesichtsverlust. Folglich erhofften die Opfer nicht die Rückgabe von Eigentum, sondern Rache, die öffentliche Erniedrigung der Täter. Diese Motive treten in vier Texten, die nicht zur Gattung der Beichtinschriften gehören, besonders deutlich hervor. Der erste Text ist ein „Gebet für Gerechtigkeit“ aus Knidos, die Klagen einer frustrierten – vielleicht streitsüchtigen oder unter leichten Verfolgungswahn leidenden – Frau:45 „Ich deponiere im Heiligtum der Demeter und der Kore denjenigen, der gegen mich behauptet hat, ich bereite Gifte gegen meinen Mann. Er möge innerlich brennend mit allen seinen Angehörigen zu Demeter hinaufsteigen und beichten, und nicht mögen ihm zuteil werden eine leicht versöhnliche Demeter und Kore und nicht die Götter, die bei Demeter sind. Für mich aber soll es recht und gut und frei sein, mit ihm – meinem Mann – unter einem Dach zu leben und ihn auf jede nur mögliche Weise zu umarmen. Ich deponiere im Heiligtum der Demeter auch denjenigen, der die schriftliche Klage gegen mich eingereicht oder dies aufgetragen hat; nicht mögen ihm zuteil werden eine leicht versöhnliche Demeter und Kore und nicht die Götter bei Demeter, sondern er möge innerlich brennend mit allen Seinigen zu Demeter hinaufsteigen. Ich, Hagemone, deponiere den Armreif, den ich in den Gärten des Rhodokles verloren habe, im Heiligtum der Demeter und der Kore und aller Götter und Göttinnen. Wenn der Finder ihn wieder zurückgibt und dafür den Finderlohn erhält, dann möge alles recht und gut und frei sein für mich, die ich den Armreif wiederbekomme, und für ihn, der ihn zurückgibt. Wenn er ihn aber nicht zurückgibt, dann mögen ihm ungnädig sein Demeter und Kore und alle Götter und Göttinnen bei Demeter und Kore, und wenn der Armreif gar verkauft ist, dann soll ihn das schlechte Gewissen von Demeter und Kore quälen. Ich deponiere im Heiligtum der Demeter und der Kore auch denjenigen, dem ich mehr bezahlt habe über das Gewicht hinaus, das ich verlangt hatte. Herrin, für mich möge alles recht und gut sein. Ich deponiere im Heiligtum der Demeter und der Kore auch denjenigen, der mein Haus in Unfrieden bringt, ihn und alles Seinige; für mich aber möge alles recht und gut und frei sein, in jeder Weise“.
Hegemone lebte im Streit mit ihrer Umgebung: mit ihrem Mann und ihrer Familie, weil sie der Magie verdächtigt wurde; mit ihren Nachbarn, die schriftliche Klagen gegen sie eingereicht hatten; mit dem unbekannten Finder des Schmuckes, den sie verloren hatte; mit dem Hersteller und Verkäufer einer Schmucksache, den sie des Betrugs beschuldigte. Ihren Frieden hoffte sie 45
Blümel 1992, Nr. 150; vgl. Versnel 1991, 72–75, und 1994.
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dadurch zu erreichen, dass sie einen umso erbitterten Konflikt zwischen ihren Widersachern und den Göttern provozierte, den Konflikt von der Welt der Sterblichen auf die Welt der Götter verlagerte. Die gleiche Strategie verwendete auch der Verfasser eines Bindezaubers gegen seine Widersacher in Amorgos:46 „Herrin, Demeter, Königin, zu deinen Füßen falle ich, dein Sklave. Ein gewisser Epaphroditos hat meine Sklaven angenommen, er hat sie falsch instruiert, er hat ihnen Ideen gegeben, er hat sie beraten, er hat sie verdorben, er zeigte Schadenfreude, er hat sie beflügelt (ermutigt), er hat ihnen die Idee gegeben, wegzulaufen, er hat meine junge Sklavin verführt, um sie sich, gegen meinen Willen, zur Frau zu nehmen. Aus diesem Grund ist sie zusammen mit den anderen (Sklaven) weggelaufen. Herrin, Demeter, ich, der all das erleiden musste und keine andere Unterstützung habe, wende mich an dich, damit du mit mir Erbarmen zeigst, so dass ich mein Recht finde.Veranlasse, dass jener, der sich so mir gegenüber verhalten hat, keine Befriedigung/keinen Erfolg hat, weder beim Stehen noch beim Gehen, weder im Körper noch im Sinne; ihm sollen weder die Sklaven noch die Sklavinnen dienen, weder jung noch alt. Setzt er ein Plan um, soll er ihn nicht durchführen können. Möge dieser Bindezauber seinen Haushalt ergreifen. Niemals soll er das Weinen eines Kindes hören, niemals soll er einen Tisch der Freude decken. Weder Hund soll bellen, noch Hahn krähen. Sät er, so soll er dann nicht ernten; weder Erde noch Meer sollen ihm Früchte tragen. Er soll keine Freude kennen, sondern sowohl er als auch seine ganze Habe in übler Weise vernichtet werden“.
Der Autor dieses Textes, gekränkt durch die Schadenfreude seines Gegners, in seiner Ehre verletzt, wollte nicht Wiedergutmachung, sondern Rache. Dass er sich an eine Göttin wandte, bedeutet nicht unbedingt, dass er nicht auch eine Klage wegen seiner entlaufenen Sklaven eingereicht hatte. Andere Personen wandten sich an profane Behörden in solchen Situationen, wie der Jude Andronikos nach einem Streit (Herakleopolites in Ägypten, 135 v. Chr.):47 „An den Politarchen Alexandros und das Politeuma (die jüdische Gemeinde) von Andronikos, einem Angehörigen des Politeuma. Am 13. des gegenwärtigen Monats fing Nikarchos, zugehörig zu den Hafenbewohnern, absichtlich auf der Straße einen Streit an. Er beschimpfte mich lange und unziemlich, dann beschuldigte er mich auch grundlos in Anwesenheit einiger Personen, sowohl von Mitgliedern des Politeuma (also Juden) als auch von Nichtjuden. Daher bitte ich, ihn vorzuladen und eine Entscheidung gegen ihn zu treffen“.
Die besonderen Umstände des Streites fallen sofort auf: Es geht nicht allein um grundlose Beschimpfung – der Grund des Streites wird nicht einmal genannt; es geht darum, dass Andronikos auf der Straße, also in der Öffentlichkeit, beschimpft wurde; schlimmer noch: in Anwesenheit der eigenen Leute und von Fremden. Die Bedeutung von Ehre als Ursache von Konflikten – ein weit verbreitetes Phänomen, das auch die vorhin zitierten Texte aus Amorgos und Ägypten ex46 47
Inscriptiones Graecae XII 7, 1; Versnel 1999. Cowey/Maresch 2001, 35–39 Nr. 1.
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emplifizieren – ist einer der Schlüssel für das Verständnis der Götterjustiz. Der Angst vor der eigenen Erniedrigung – und der Hoffnung auf Erniedrigung des Gegners – verdanken wir also die Existenz der Beichtinschriften und der relevanten Texte. Sie waren an die Öffentlichkeit gerichtet, auf nicht vergänglichem Material aufgezeichnet, öffentlich aufgestellt. Das Heiligtum war der privilegierte öffentliche Raum, die Götter die unfehlbaren Vollstrecker der Strafe. Der Glaube, dass das Gebet für Gerechtigkeit effektiv war, beruhte ausschließlich auf den schriftlichen Berichten vollzogener Strafen, auf den Beichten jener, die bereits bestraft worden waren, auf den dankbaren Weihungen jener, deren Wünsche in Erfüllung gegangen waren. Aus diesem Grund verlangten die Priester die Aufstellung der Inschriften. Gerade in diesen Orten waren die Götter die nächsten Vertreter einer administrativen Gewalt. Die einfachen Menschen, die häufig vom Tempel in der einen oder anderen Form abhängig waren (als Tempelsklaven, Sklaven und Freigelassene der Priester, Pächter des heiligen Landes, Mieter von Häusern, die dem Tempel gehörten, Schuldner der Tempelbank), wandten sich an die Götter, um eine gute Ernte zu wünschen, das Heil ihrer Tiere, die Heilung von Krankheit, gesunden Nachwuchs, eine gute Heirat. Die Tempel waren für sie Banken, Arbeitgeber, Krankenhäuser und offenbar auch Ansprechpartner in den Fragen des täglichen Rechtes. Als ich mich vor zehn Jahren zum ersten Mal mit diesem Thema befasste, war ich von der Arbeitshypothese ausgegangen, die Tempeljustiz in Lydien und Phrygien lasse sich aus einer Krise der römischen Verwaltung erklären, die die relativ abgelegenen und durch Bergketten von den großen Verwaltungszentren isolierten Gegenden besonders stark traf. Diese Annahme ließ sich nicht bestätigen, nicht zuletzt, weil die literarischen und juristischen Quellen uns für die Frage, wie effektiv die römische Verwaltung im Bereich der Rechtssprechung war, im Stich lassen. Wir kennen die Menschen, die sich an den Tempel wandten, um Recht und Genugtuung zu finden, weil sie diese Angelegenheiten auf Inschriften schilderten. Wir werden aber nie erfahren, wie viele ihrer Landsleute sich doch an den Komarchos, den Eirenarches, die Magistrate der nächsten Stadt, den Statthalter wandten, weil uns andere Quellen (vor allem die Papyri) fehlen. Es besteht die Gefahr, Verwaltungslücken dort zu sehen, wo es vielleicht nur Quellenlücken gibt. Leider können wir auch in diesem Punkt nur mit Indizien operieren. Es lässt sich zunächst einmal ein gewisses Misstrauen gegenüber den römischen Behörden spüren. Schwer fiel auch das Fehlen einer effektiven polizeilichen Gewalt ins Gewicht, das die Opfer von Straftaten oft auf sich gestellt sein ließ. Die ständige Zunahme von Verwünschungen gegen Grabschänder in Kleinasien, vor allem im 3. Jh., verrät die Überzeugung, dass nur der Gott effektiv bestrafen und beschützen konnte. Der Kult von Gottheiten, die Gerechtigkeit und Verfolgung der Verbrecher personifizieren, verbreitet sich in derselben Zeit: Dikaiosyne (Gerechtigkeit), das Götterpaar Hosion kai Dikaion (Recht
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und Frömmigkeit), Nemesis (Göttin der Strafe), Helios Pantepoptes (die alles sehende Sonne), Dikes Ophthalmos (das Auge der Gerechtigkeit), Mes Dikaios (der gerechte Mes).48 Die Überzeugung, dass der Gott früher oder später den Ungerechten bestraft, wird sehr prägnant in einer Grabinschrift aus Iulia Gordos formuliert:49 „Es gibt eine Göttin der Strafe; also beachte die Gerechtigkeit“. Das sichere Wissen von der göttlichen Strafe setzt jedoch die schmerzliche Erfahrung voraus, dass der Mensch gegenüber der Ungerechtigkeit oft machtlos ist. Diese Indizien reichen jedoch nicht aus, um die Götterjustiz aus einer schwachen Verwaltung zu erklären. Nicht in der Ohnmacht der römischen Verwaltung, sondern in der Macht der Tempel in den kleinen dörflichen Gemeinden und in der Wirkungsmacht von verletzten Ehrgefühlen in kleinräumigen face-to-face-Gemeinden haben wir die Erklärung für die Götterjustiz zu suchen. Die Priester traten als Beschützer von Normen, Recht und Ordnung auf. Ihr einziges Mittel, der Fluch, erscheint vielleicht uns aufgeklärten Zeitgenossen weniger wirksam als er tatsächlich war. Denn durch die feierliche, öffentliche Verfluchung erfuhr der Straftäter, dass die Götter ihn verfolgten, und wurde veranlasst, den Tempel aufzusuchen, um seine Tat zu gestehen und die Sache wieder gutzumachen wie z. B. der Kleiderdieb im vorhin zitierten Text oder aber um seine Unschuld zu beteuern (wenn er glaubte, dass der Fluch unberechtigt war). Dieses Mittel war deswegen wirksam, weil die gewöhnlichen, kleinen oder großen Schäden des Alltags als Strafe der Götter aufgefasst wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dem Urheber eines Konfliktes tatsächlich etwas zustieß. Wenn eine Sichel auf das Bein fiel, ein Esel oder ein Familienmitglied starb, die Ernte schlecht war, eine Erkrankung eintrat, eine (unverheiratete) Tochter ihre Jungfräulichkeit verlor, wusste er, dass eine Verfehlung zu gestehen und zu sühnen war. Manchmal bedurfte es etwas Mühe, bis er den Weg zum Geständnis fand. Aber dann, wenn wiederholte Schäden seine Unnachgiebigkeit doch brachen, wuchs der Glauben der einfachen Menschen an die göttliche Strafe umso mehr. Wir verstehen jetzt auch die Existenzberechtigung der Sühneinschriften: Sie waren der Beweis für die Effektivität der Götterjustiz. Es wäre jedoch verfehlt, die Götterjustiz als Folge einer konsequenten Verdummung der einfachen Menschen zu sehen. Die Tempel waren in dieser Zeit die Bewahrer einer strengen moralischen Ordnung und Vermittler von Verhaltensnormen in abgelegenen Gebieten. Die Sühneinschriften enthalten nicht nur harte, oft sinnlos erscheinende Strafen, sondern auch moralische Lehren, die Gebote des Gottes.50 In einigen Fällen hören wir von harter Be48 49 50
Versnel 1991, 70f. mit Anm. 44–47; Ricl 1991, 1992a, 1992b; Petzl 1998; Chaniotis 2004, 10f. Supplementum Epigraphicum Graecum XXX 1480. Chaniotis 1997, 376f.
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strafung – sogar mit dem Tod – für anscheinend lächerliche Verletzungen von Kultregelungen. Dabei ging es allerdings nicht um die konkrete Tat, sondern um die Verletzung der Normen. Wenn eine Frau mit beflecktem Kleid den Tempel betrat und ein Mann Fleisch von nicht geopferten Ziegen aß, demonstrierten diese Personen durch den Bruch der Ritualvorschrift einen Mangel an Bereitschaft, Normen zu respektieren und die Macht der Götter zu achten. Sie verletzten die Ehre der Götter. Das gemeinsame Merkmal dieser Texte – Beichtinschriften, Gebete für Gerechtigkeit, Gelübde, Grabinschriften mit Bitten um Rache – besteht darin, dass die Bestrafung eines Urhebers von Ungerechtigkeit, der der Justiz der Sterblichen entkommen war, den Göttern überlassen wurde. Es ging also um ungelöste Konflikte unter den Sterblichen, die nun der Strafe der Unsterblichen unterlagen. Ein weiteres gemeinsames Merkmal vieler Texte war die Rolle von Ehre, Schande und Gesichtsverlust. Meine Ausführungen haben hoffentlich gezeigt, dass die Opfer der Ungerechtigkeit eine besondere Überzeugungsstrategie anwandten, um die Götter auf ihren ungelösten Konflikt aufmerksam zu machen: Sie übertrugen den Konflikt auf die Götter, sie machten die Götter nicht zu Richtern, sondern zur Konfliktpartei. Ich zitiere eine von Bertolt Brechts Geschichten vom Herrn Keuner: „Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: ‚Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten, je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann könnten wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott‘“. Es gab viele Gründe, warum die Leute der anatolischen Dörfer Götter dringend brauchten.
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Appell an den Kriegsgott: Ikonographische Innovationen im Dienst kultureller und politischer Rivalität melanie trede 1 Ars donandi: Geschenke als konfliktlösendes Instrument Gaben und Stiftungen jeglicher Art wurden schon früh als Mittel zur Konfliktbewältigung eingesetzt. Den treffenden Ausdruck „ars donandi“ prägte bereits im sechsten Jahrhundert Gregor, Bischof von Tours, in seiner Frankengeschichte Decem Libri Historiarum. Darin geht er auf den erfolgreichen Versuch König Sigiberts in den Jahren 566/569 ein, bei dem er die feindlichen (und zunächst siegreichen) Awaren durch „die Kunst, Geschenke zu machen“ zum Freundschaftsbund für sich gewann.1 In Japan ließ nur zwei Jahrzehnte später (589) der japanische Prinz Shôtoku (574–622) buddhistische Statuen aus edlen Hölzern schnitzen und einem Tempel stiften, um seinen Erzfeind Mononobe no Moriya zu bekämpfen.Auf dem Schlachtfeld soll es dann einem Vasall Prinz Shôtokus durch die Anrufung der buddhistischen Gottheiten gelungen sein, den Gegner zu töten.2 Ein ähnlich dramatisches Beispiel ist auch aus der koreanischen Geschichte bekannt: der gesamte umfangreiche buddhistische Kanon wurde während der Koryo-Zeit (918–1392) zwei Mal in je über 81.000 Holzdruckplatten geschnitzt und Tempeln gestiftet. Damit verbunden war jeweils die Bitte an die buddhistischen Gottheiten, ausländische Invasionen zu verhindern.3 Somit wurde die älteste noch erhaltene und größte Sammlung chinesischer Übersetzungen buddhistischer Schriften geschaffen, die heute im Tempel Haein-sa im Kaya-Gebirge (Provinz Nord-Kyongsang) aufbewahrt wird.
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Hannig 1988, 11. Ich danke Matthew McKelway für den Hinweis zu dieser Episode. Zu bildlichen Darstellungen dieser Legende siehe auch Tokyoto bijutsukan 2001, 287. Das erste Mal entstand das Mammutwerk zwischen 1011 und 1087 zur Prävention der Invasion durch die Kitan. Fünf Jahre nach deren Zerstörung im Jahre 1232 durch die Mongolen gab König Kojong (reg. 1213–1259) das „Tripitaka Koreana“ erneut in Auftrag. Die zwischen 1237 und 1251 hergestellten und noch erhaltenen Druckplatten sollten die Mongolenattacken abwehren. Siehe hierzu den reich illustrierten Aufsatz von Kim 1993; den Hinweis verdanke ich Burglind Jungmann.
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Ein etwa gleichzeitiges und für diesen Aufsatz wesentliches Beispiel ist der Bau des Saishôshitennôin (Kloster der Allerhöchsten Vier Himmelsgötter) im Jahre 1207 in der Hauptstadt Kyoto. Kaiser GoToba (1180–1239, reg. 1183–1198) ließ das Kloster nach seiner Abdankung errichten und folgte dabei nicht nur den architektonischen Stiftungstraditionen seiner kaiserlichen Vorfahren, sondern verband damit auch rachevolle Gebete, mit denen er göttliche Hilfe zur Unterdrückung des gerade errichteten Militärregimes des MinamotoKlans im Kantô-Gebiet heranziehen wollte. Edward Kamens, der diesen Fall eingehend untersuchte, fand eine Kopie des Jôkyûki (Dokumente der JôkyûÄra), in dem GoTobas wichtigstes Motiv für den Klosterbau mit der Drohung gegen die Militärherrscher „Kantô chôboku (Unterwerft die Kantô-Region)!“ festgehalten ist.4 Sowohl Prinz Shôtoku als auch die koreanischen Könige und Kaiser GoToba bedachten buddhistische Gottheiten und Institutionen mit kostbaren Geschenken oder gar Neubauten und initiierten damit zwar keinen Geschenkaustausch, der mit einer materiellen oder immateriellen Gegengabe eines gleichwertigen Partners unmittelbar rechnen konnte. Diesen Stiftungen liegt aber auch der Gedanke des do ut des zugrunde, denn mit ihren Gaben und den begleitenden Gebeten erhofften sich die Stifter von den Gottheiten im Gegenzug Erfolg im Krieg gegen den Widersacher oder Protektion vor feindlichen Invasionen.5 Die Funktion von Gaben an Götter kann daher mit derjenigen an Menschen durchaus verglichen werden. Stiftungen an Tempel und Schreine hatten daher ebenso einen Tauschwert, wie ihn Krzysztof Pomian den von Menschen gesammelten Objekten zuschreibt: sie sind nicht so sehr von praktischem Nutzen, dafür aber definiert sich ihr Wert nach wissenschaftlichen, ästhetischen, materiellen und in unserem Falle konfliktbewältigenden Gesichtspunkten.6 Der Stifter erwartet dabei eine meist klar definierte Gegenleistung der göttlichen Instanz: Protektion des eigenen Landes und Volkes, Schutz der Familie, Kindersegen, politische Legitimation u. a. m.
2 Gaben an den Kriegsgott Hachiman In den folgenden Seiten stelle ich ein spektakuläres Zeugnis des Glaubens an einen bildmagischen Effekt in der Lösung eines politischen und militärischen Konfliktes vor. Es ist ein Fallbeispiel aus der japanischen Malereigeschichte 4 5
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Kamens 1997, 168ff. Ich danke Joshua Mostow für den Hinweis zu diesem Fall. Marcel Mauss zitiert in seinem berühmten Essay „Sur le don“ den Gedanken der Austauschbarkeit zwischen Geschenken an Menschen und an Gottheiten im Zusammenhang mit Beispielen der Kultur auf den Trobriand-Inseln in Papua-Neuguinea: „Die Gaben an die Menschen und an die Götter haben auch den Zweck, den Frieden zu erkaufen.“ Mauss 1990, 45. Doris Croissant verdanke ich den Hinweis auf Mauss’ Schrift. Pomian 1990, 10.
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des fünfzehnten Jahrhunderts, das die Ursprungslegenden der Kaiserin Jingû und ihres später mit der Gottheit Hachiman identifizierten Sohnes, Kaiser Ôjin auf vier Sets von Querrollen wiedergibt. In der Forschung sind diese insgesamt neun Querrollen in erster Linie wegen ihrer ästhetischen Qualität als Meisterwerk gewürdigt worden. Die Funktion dieses Werkes als Mittel zur Konfliktbewältigung wurde dagegen übersehen. Entdeckungen in alten Auktionskatalogen und von Querrollenfragmenten aus einer deutschen Privatsammlung lassen auch Analysen der politischen Zeitgeschichte und die Intentionen des Auftraggebers in einem anderen Licht erscheinen. Der sechste Militärherrscher der konfliktreichen Ashikaga Dynastie (1392–1573),Yoshinori (1394–1441, reg. 1428–1441), stiftete nämlich im Jahre 1433 die mit kalligraphierten Texten und kostbaren Bildern versehenen Querrollen, die je zwischen elf und zweiundzwanzig Meter lang sind, und verteilte die exklusiven Gaben an drei geographisch weit auseinander liegende Schreine, die dem damals als Kriegsgott verehrten Hachiman geweiht waren.7 Eines der vier Sets stiftete Yoshinori dem strategisch wichtigen, jedoch entfernt angesiedelten Usa Hachimanschrein in der Präfektur Ôita auf der südlichen Insel Kyûshû. Ein anderes weihte er dem einflussreichen, kultisch zentral gelegenen Iwashimizu Hachimanschrein im Süden der Hauptstadt Kyoto.8 Während das erste dieser beiden Sets bereits vor dem neunzehnten Jahrhundert verloren ging und das zweite 1947 verbrannte,9 sind die beiden anderen Querrollensets im südöstlich von Osaka gelegenen Konda Hachimanschrein noch erhalten. Dieser Schrein liegt am historischen Grabtumulus des seit dem neunten Jahrhundert mit dem Kriegsgott Hachiman identifizierten mythischen Kaisers Ôjin, der – den frühen japanischen Geschichtsschreibungen zufolge – im frühen dritten Jahrhundert u. Z. regiert haben soll.10
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Zur Genese des Hachimankults und der Rolle Hachimans als staatsschützende Gottheit siehe Repp 2002. Usa war der Ursprung des Hachimankultes und gilt als das alte kultische Zentrum der Hachimanverehrung. Der Iwashimizu Hachimanschrein wurde mit der Etablierung Kyotos als Kaiserhauptstadt im Jahre 859 gegründet und war zur Zeit Yoshinoris im fünfzehnten Jahrhundert das politisch bedeutsamste Zentrum des Hachimankultes. Beide Schreine bestehen noch heute. Das verlorengegangene Usa Set wird in dem von Kurokawa Harumura (1799–1866) kompilierten und von Kurokawa Mayori (1829–1906) erweiterten Standardwerk zu japanischen Querrollen von der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, dem Teisei zôho Kôko gafu (Abhandlung zu alten japanischen Malereien, verbesserte und erweiterte Ausgabe), erwähnt (das Zitat ist auch in Matsubara 1996, 105, Anm. 7 aufgeführt). Schwarzweißfotos der Iwashimizu Version sind abgebildet in Bunkachô 1983, Nr. 6. Hachiman soll sich laut Jôwa engi (Berichte aus der Jôwa Ära) zwar bereits im Jahre 584 als Inkarnation Kaiser Ôjins ausgegeben haben, aber diese Identifikation ist generell erst nach der Gründung des Iwashimizu Hachimanschreins im Jahre 859 anerkannt. Martin Repp zieht eine konservativere Datierung gegen Ende der Heian-Zeit (zwölftes Jahrhundert) vor, siehe Repp 2002, 179. Passagen zu Kaiser Ôjin finden sich im 712 edierten Kojiki (Aufzeichungen Alter Begebenheiten) und dem 720 datierten Nihon shoki (Annalen Japans). Maßgebliche Übersetzungen sind Phillippi 1968, 272–286, und Aston 1988, 254–271.
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3 Die Ursprungslegenden der Kaiserin Jingû und des Konda Grabtumulus Eines der beiden erhaltenen Sets besteht aus zwei Querrollen und beschreibt in Text und Bild die Vorgeschichte und Wunderkräfte des Kriegsgottes Hachiman.11 Wegen des narrativen Schwerpunktes der ersten Rolle, der auf seine Mutter, Kaiserin Jingû, liegt, und um dieses Werk vom zweiten Set abzusetzen, tragen beide Querrollen den Titel „Ursprungslegende der Kaiserin Jingû“ [im Folgenden: Jingûrollen]. Die erste der beiden Rollen erzählt denn auch von den militärischen Erfolgen Jingû kôgôs, die nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes in schwangerem Zustand eine Invasion Koreas unternimmt. Mit göttlicher Hilfe, kaiserlichen Ratgebern, und übermenschlicher Kraft führt sie ihr Vorhaben zum Erfolg und zwingt die Unterworfenen zu jährlichen Tributen an das japanische Kaiserreich. Als Resultat wuchs am Arm ihres Säuglings ein Kriegsschild, das den Kaiser zum Kriegsgott prädestinierte und ihm das postume Epithet „Homuta“ oder „Honda“ (Armschutz eines Bogenschützen) eintrug, dem phonetisch abgewandelten Konda.12 Die bildliche Erzählung fährt in der zweiten Rolle fort, die mirakulösen Erscheinungen des Kriegsgottes an wesentlichen Orten des Hachimankultes auszuführen und endet mit einer Apotheose der zentralen Hachimanschreine Usa und Iwashimizu, die mit breit angelegten, grandiosen Landschaften aus der Vogelperspektive den Betrachter von ihrer göttlichen Kraft überzeugen. Dieser narrative Inhalt und seine bildliche Interpretation wurden auch auf den beiden verloren gegangenen Sets von Usa und Iwashimizu behandelt. Das zweite noch erhaltene Set im Kondaschrein erzählt in drei Querrollen die Geschichte des am Kondaschrein gelegenen Grabtumulus Kaiser Ôjins (im Folgenden: Tumulusrollen).13 Nachdem in der ersten Rolle der Tod Ôjins, der Bau des Tumulus und die Begräbniszeremonie in einem weniger narrativen als dokumentarischen Stil erzählt und dem Textstil gemäß steif verbildlicht werden, konzentrieren sich die beiden anderen Rollen auf das Mäzenatentum und die Pilgerschaften bedeutender kaiserlicher Mäzene sowie illustrer Adliger, Mönche und Einsiedler. Hachiman orakelt jedem von ihnen das Gelingen geplanter und aus anderen Quellen bekannter Unternehmungen; so verdankt etwa Prinz Shôtoku in dieser Version Hachiman die erfolgreiche Unterwerfung Moriyas. Hachiman wird also als Beschützer von Kaisern, Aristokratie und buddhistischem Klerus gefeiert.
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Diese Querrollen sind vollständig in Farbe abgebildet in Emakimonoshû 1991. Nach diesem Namen ist der Hachimanschrein in Osaka benannt, in dem die beiden Querrollensets noch erhalten sind. Diese Querrollen sind zweimal vollständig farbig publiziert in Emakimonoshû 1991 und in Komatsu 1995. Ein 1922 vom Kondaschrein herausgegebener Band reproduzierte bereits die Bilder in Schwarzweißabbildungen, siehe Naka 1922.
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Sowohl die Jingû- als auch die Tumulusrollen gelten heute als „wichtige Kulturgüter“ des Staates Japan, nicht zuletzt wegen des gesicherten, hochrangigen Mäzenatentums eines Ashikaga Shoguns und ihres historischen Wertes als eine datierte Malerei, aber auch wegen des guten Erhaltungszustands und der exzellenten künstlerischen Ausführung.14 Eine Signatur der Maler fehlt auf allen Rollen und so konzentrierte sich die kunsthistorische Literatur vor allem auf die Identifizierung des Meisters. Aizawa Masahiko schlug überzeugend das Atelier des in buddhistischer Malerei versierten Mönchsmalers Awataguchi Ryûkô (?1414–1438?) vor, während der ebenso unsignierte, meisterhaft kalligraphierte Text der Hand des Aristokraten Sesonji Yukitoyo (?–1453) zugeschrieben wird.15
4 Zitate, Intentionen und Motivationen Wie ähnlich die von Yoshinori in Auftrag gegebenen Sets angelegt waren, belegen Vergleiche von Schwarzweißfotos der verbrannten Kyotoer Rollen mit den noch erhaltenen im Kondaschrein. Wenn auch von anderer Hand gemalt, stimmen die Szenen in vielen Details überein. Neben dem identischen Stiftungsdatum am Ende der Querrollen (dem 21. Tag des 4. Monats im 5. Jahr der Eikyô-Ära, also 1433) und der Chiffre des Auftraggebers Yoshinori, sind die Kyotoer und die Tumulusrollen auch auf dem für Querrollen ungewöhnlichen und kostspieligen Material Seide ausgeführt.16 Bei den Tumulusrollen schimmern auf der Rückseite der Seide angebrachte Goldfolien durch das Gewebe hindurch, die den einzelnen Szenen einen mystischen Glanz verleihen.17 So hat Yoshinori nicht nur mit materiellem und künstlerischem Aufwand seinem ehrgeizigen Auftrag ästhetische Bedeutung verliehen, sondern auch durch die Anzahl der gestifteten Querrollensets und ihrer geographische Streuung si-
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Die Rollen wurden schon 1910 zu Nationalschätzen deklariert und nach der Neuregelung des Gesetzes zum Schutz von Kunst und Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg zu Wichtigen Kulturgütern umbenannt. Aizawa 1995, war der erste, der den Maler unserer Rollen mit Awataguchi Ryûkô in Verbindung bringt. Aizawas stilkritischer Untersuchung folgte Matsubara 1995, 103, der aber die Möglichkeit der nächsten Awataguchi-Generation nach Ryûkô vorzieht. Matsubara 1995, 96f., ist der einzige Kunsthistoriker, der sich auch ausgiebig mit der Identifikation des Kalligraphen auseinandersetzte und Sesonji Yukitoyo als Möglichkeit aufbrachte. Allerdings sind von diesem nur aus Quellen bekannten Vertreter des „japanischen Stils“ (wayô) in der fünfzehnten Generation der traditionsreichen aristokratischen Sesonji-Kalligraphen keine Schriftstücke erhalten, und so muss die Identität des Textschreibers vorläufig im Dunkeln bleiben. Bis zu diesem Bildauftrag Yoshinoris sind nur zwei weitere auf Seide gemalte Querrollensets in der japanischen Kunstgeschichte bekannt: das Ippen hijiri-e (Bilder des Heiligen Ippen) von 1299 and das auf 1309 datierte Kasuga gongen kenki-e (Bilder des Ursprungs und der Wundertaten der Kasuga Gottheiten). Diese so genannte urahaku Technik war üblicherweise der malerischen Darstellung buddhistischer Ikonen auf Seide vorbehalten. Da von der Awataguchi Schule einige solcher Werke bekannt sind, liegt die Zuschreibung der Querrollen an diese Schule auch aus diesem Grunde nahe; siehe Aizawa 1987.
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chergestellt, dass Hachiman seine Ambition nicht übersehen konnte. Diese für einen Ashikagaherrscher große Querrollenproduktion wirft folgende Fragen auf: Was war die Motivation Yoshinoris im sechsten Jahr seiner Herrschaft kostspielige und extravagante Bilder in so großer Zahl zu stiften? Warum wählte er die Hachiman-Gottheit als Bildsujet und warum widmete er die Querrollen drei verschiedenen, Hachiman geweihten Schreinen? Und schließlich: welche visuellen Hinweise können uns über diese Probleme Aufschluss geben? Yoshinori selbst gibt in seinem Kolophon am Ende der Tumulusrollen dem Betrachter unmissverständlich zu verstehen, wie und warum diese Rollen überhaupt entstanden sind: „Ich pilgerte letztes Jahr zu diesem Schrein und betrachtete die drei illuminierten Querrollen der Ursprungslegende des Schreins. Viele Dinge waren ungeordnet, und die Bilder waren nicht perfekt. Ich fügte daher die in den alten Rollen fehlenden Teile hinzu und ergänzte sie durch eine neue Kopie. Damit die wundertätigen Kräfte der Vergangenheit zum Ausdruck gebracht und ein Modell für die Zukunft erstellt wird, widme ich diese Rollen ehrerbietig der verehrten Gottheit und bitte um eine baldige Inaugenscheinnahme.“
Yoshinoris dezidiertes und abschätziges ästhetisches Urteil über die vorgefundenen Bilder der Schreingeschichte ist für ein Kolophon auf einem japanischen Werk des frühen fünfzehnten Jahrhunderts äußerst ungewöhnlich. Zwei Aspekte dieses Kolophons interessieren uns hier besonders: Zum einen hat Yoshinoris pejorative Beurteilung offensichtlich eines zum Ziel: die von ihm persönlich in Auftrag gegebenen neuen Bilder als vollständiger, richtiger und besser der Gottheit zu empfehlen und mit ihnen neue Standards für die Zukunft zu setzen.18 Zum anderen aber war es Yoshinori wichtig, dass Hachiman die Rollen baldmöglichst zur Kenntnis nehmen möge. Wie so häufig in der Geschichte gestifteter Objekte bleiben die wahren Motive ihrer Entstehung jedoch unausgesprochen.19 Der Grund von Yoshinoris Anliegen bringt uns zum Thema dieses Bandes: wie wir sehen werden, diente nämlich – ähnlich wie Kaiser GoTobas Stiftung des Saishôshitennôin-Klosters – die Stiftung von Hachimanrollen der Beschwörung der Gottheit um Beistand in seinem 18
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Tempeln und Schreinen gewidmete Objekte waren in erster Linie der Gottheit geweiht, aber genauso wie Yoshinori die bereits vorhandene illuminierte Legende bei seinem Schreinbesuch ansehen konnte, war es illustren politischen und gesellschaftlich hochrangigen Figuren möglich, Zugang zu den wohlgehüteten Schätzen zu erlangen. Wie die Geschichte bewies, war nach 1433 die von Yoshinori gestiftete Schreinlegende die einzige, die von Malern im Auftrag wichtiger Mäzene kopiert und verbreitet wurde. Zwei Kopien sind komplett erhalten (im Kondaschrein und im Tokyo Nationalmuseum), zwei weitere sind aus Quellen bekannt (eine davon kopiert von Kano Tan’yû) und einzelne Szenen sind aus Kopierbüchern von Malschulen des neunzehnten Jahrhunderts bekannt (aufbewahrt z. B. in der Tokyo-Universität für Kunst und Musik). Kamei Wakana analysiert beispielsweise die politischen und persönlichen Motive Ashikaga Yoshiharus (1511–1550, r. 1521–1546), die Legenden des Kuwanomidera Tempels von Tosa Mitsumochi (?1522–1564?) während seines Exils malen zu lassen und sie 1532 dem gleichnamigen Tempel zu stiften; siehe Kamei 1995 und Kamei 2003, 141–152.
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militärisch-politischen Konflikt, nämlich Yoshinoris Machtkampf gegen seinen Neffen Ashikaga Mochiuji (1398–1439). Doch bevor wir auf diesen Konflikt genauer eingehen, soll uns eine Analyse der erhaltenen Querrollen dabei helfen, die visuelle Umsetzung von Yoshinoris politischen Ambitionen mit den Unterschieden in Einklang zu bringen, die sich aus dem Vergleich des Modells mit seiner Vorlage ergeben. Bisher war von der Forschung vermutet worden, dass zwei in einer Querrolle montierte Rollenfragmente im Nationalmuseum von Tokyo zu dem von Yoshinori im Kolophon erwähnten Vorläufermodell gehörten.20 Zu diesen zwei Szenen sind nun vier weitere hinzugekommen, die in einem Auktionskatalog von 1940 publiziert sind, beziehungsweise in einer deutschen Privatsammlung aufbewahrt werden.21 Diese insgesamt sechs Szenen verbindet neben vergleichbaren Proportionen von Figuren und kalligraphisch umrissenen Konturen, der skizzenhaft aufgetragenen Architektur und den fehlenden Wolkenbändern am oberen und unteren Bildrand auch die identische Materialbeschaffenheit.22 Wie genau sich der federführende Meister von Yoshinoris Tumulusrollen an seine Vorbilder hielt, wird anhand dreier Vergleiche deutlich.23 Das dritte Bild der ersten Rolle zeigt den Bau des Grabtumulus.24 Auf beiden Versionen beginnt das Bild mit den hinter Bergen hervorkommenden und mit Werkzeugen ausgerüsteten Arbeitern, die dann unter Aufsicht von kaiserlichen Beamten vor weißblau gestreiften Vorhängen Erde schaufeln, sie auf den Grabhügel hinauftragen und feststampfen (Abb. 1 und 2). Ganz links, am Ende des aufzurollenden Bildes, sehen wir dann die Arbeiter aus rotschwarzen Lackschalen eine Mahlzeit einnehmen (Abb. 3 und 4). Auch wenn die Tumulusrollen einige Landschaftselemente hinzufügen und der Malstil eine deutlich professionellere Hand verrät, so sind doch die Ähnlichkeiten der Bildkomposition und der Posen jeder der dargestellten Figuren frappierend. 20
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Kamiyama 1991, 145; Matsubara 1995, 92. Matsubara gesteht zwar auch die Möglichkeit einer Kopie des Vorläufermodells ein, die aber trotzdem ins vierzehnte Jahrhundert datiert werden kann. Ob die erhaltenen Szenen nun ein Original oder eine Kopie darstellen, ist für unsere Belange unwichig. Es zählt allein, dass sie vor 1433, dem Produktionsjahr von Yoshinoris Rollen, entstanden sind. Nach diesem Datum sind nur noch Kopien von Yoshinoris Rollen bekannt, was sowohl auf die Aura dieses Werkes und seines Mäzens als auch auf die Vernachlässigung der Vorgängerrollen im Schrein selbst schließen lässt. Ich bedanke mich an dieser Stelle beim Metropolitan Fund in Kyoto und dem Culture Communication Fund, Amsterdam/Tokyo, für ihre großzügige Unterstützung meines Projektes. Des Weiteren gilt mein besonderer Dank dem deutschen Privatsammler, dessen Querrolle dieses Forschungsprojekt initiierte. Jede der sechs Szenen ist mit leichten Farben auf Papier gemalt, an einigen Stellen ist die von zeitgenössischen Beispielen kaum bekannte Technik dicht gestreuten Silbers zur Definition von Erdboden verwendet, und die in allen Fragmenten locker aufgetragenen Goldpartikel sind wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt aufgestreut worden. Bei der folgenden Analyse unterstelle ich die in der jüngsten Forschung gängige Meinung, der Auftraggeber spiele bei besonderen Bildproduktionen wie der unsrigen eine wesentliche Rolle in der Gestaltung der Ikonographie. Siehe hierzu etwa Phillips 2001, 108–117 und Kamei 2003. Das Fragment des Vorläufermodells ist eines von drei Szenen, die in einer deutschen Privatsammlung aufbewahrt werden.
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Der Vergleich mit zwei weiteren Szenen bekräftigt diese Beobachtung.25 Die vierte Szene der zweiten Querrolle zeigt den Bergasketen En no gyôja des achten Jahrhunderts mit seinen beiden Begleitfiguren, dem „vorderen und hinteren Teufel“, die mit ihren üblichen Attributen Wasserflasche, Axt und Wedel ausgestattet sind (Abb. 5 und 6).26 Wir sehen in dem Vorbild En no gyôja aus dem Innenraum der Verehrungshalle, vor dem Sanctum sanctorum des Schreins auf Tatamimatten sitzend, fast frontal den Betrachter anblicken. Das rechts daneben angedeutete Schreingebäude weist auf Hachimans unmittelbares Erscheinen hin. Wenn man das Bild weiter aufrollt, sieht man dann den vom Orakel bestätigten En no gyôja mit seinen Begleitern nach Tang-China aufbrechend aus der Szene abtreten. Wieder hat die Tumulusrolle, abgesehen von wenigen Veränderungen in der Architektur, der Farbgebung und der Position der zweiten Figurengruppe, alles vom Modell kopiert. Vergleichbar sind die Ähnlichkeiten zwischen Modell und Tumulusrollen auch in der darauf folgenden Episode, die die Pilgerschaft des Mönches Gyôki (668–749) zum Kondaschrein erzählt.27 Kurzum: es besteht kein Zweifel, dass diese Fragmente zu dem von Yoshinori im Kolophon erwähnten Vorläufermodell gehören.
5 Des Kaisers neue Kleider: Ikonographische Innovationen Ganz anders aber gehen Yoshinoris Tumulusrollen mit Szenen um, die unmittelbar die Gegenwart des Kaisers darstellen: deutlich weichen die Tumulusrollen hier vom Vorläufermodell ab. Gleich die erste Szene der ersten Querrolle, die einen Besuch beim sterbenden Kaiser Ôjin zeigt, belegt dieses Phänomen: Die in der Vorläuferrolle ungeordnet nebeneinander herlaufenden höheren und niederen Höflinge vor dem Kaisertor werden zu einer hierarchisch gegliederten Prozession von Aristokraten, die auf ein Tor mit einer ganzen Anzahl von im Modell nicht dargestellten Wächtern in Kriegerrüstung hinschreiten (Abb. 7 und 8). Die offensichtlich Ranghöchsten der Prozession werden in den Tumulusrollen zusätzlich mit Schwertern ausgestattet. In der neuen Version wird noch ein weiteres Gebäude vor der eigentlichen Residenz des Kaisers eingefügt, und wir sehen wiederum die Prozession auf diese Architektur zuschreiten. Mit dieser architektonischen Erweiterung wird die Aura des Kaiserpalastes erhöht, eine Tendenz, die in der letzten Sequenz der Szene besonders deutlich wird (Abb. 9 und 10). Nicht nur die Anzahl von Höflingen und Hofdamen hat sich vervielfacht und ihre Anordnung folgt einer klaren 25
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Diese beiden Szenen sind zu einer Querrolle montiert und gehören seit 1940 dem Tokyo-Nationalmuseum. Ich danke an dieser Stelle dem dortigen Kurator für Querrollenmalerei, Matsubara Shigeru, für seine großzügige Unterstützung meines Projektes. Zur Ikonografie der Begleitfiguren, siehe Osaka Municipal Museum of Art 1999, 190. Gyôki (668–749) war ein aus Paeckche (Königreich in Korea) eingewanderter hochrangiger Mönch, der vor allem für sein Engagement für den Bau des großen Buddha im Tôdaiji in Nara (752) bekannt wurde.
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Unterscheidung von außen (ausschließlich Höflinge) und innen (nur Hofdamen und zwei engste Berater), sondern die Präsenz Kaiser Ôjins wird visuell greifbar gemacht: Das Vorläufermodell zeigt eine anikonische Darstellung des Kaisers, dessen Präsenz nur mit mystischen weißen Wolkenbändern angedeutet wird. Die Tumulusrollen fügten dagegen das von zahlreichen trauernden Hofdamen umgebene Bett Kaiser Ôjins mit weißen Vorhängen hinzu. Der Raum wird zusätzlich durch Glückverheißende Malereien auf den Schiebetüren und mit Goldlack verzierten Lackständern für die Innenraumvorhänge zu einem prächtigen Interieur ausgestattet. Auch wenn also die Gesamtkomposition in einigen Details wie etwa dem blühenden Pflaumenbaum und einzelnen Posen übereinstimmt, so nahm die Tumulusrolle doch wesentliche Ergänzungen und Verbesserungen vor. Diese bezeugen die detaillierte Kenntnis kaiserlicher Ikonographie seitens des Auftraggebers wie des Malers. Dieselbe Faszination von aristokratischem Leben wird in der langen Prozessionsszene des Kaisers Kinmei zum Kondaschrein deutlich. Prozessionen sind die sichtbarste Form von Machtdemonstrationen der herrschenden Elite, insbesondere auch im vormodernen Japan, das keine öffentlichen Plätze oder Skulpturen kannte und seine Staatshandlungen und Rituale im Palastinneren vor den Blicken Untergebener hermetisch abschirmte.28 Yoshinoris eigene Verliebtheit in zeremonielles Dekorum wird hier besonders augenfällig. Kinmeis Prozession ist mit knapp neun Metern die längste Szene des gesamten Sets, während dieselbe Szene der Vorläuferrolle nur drei Meter maß. Auch die Anordnung der Figuren und ihre Gebärden sind weitaus tiefer greifend ediert, als das in der Grabbau- und den Pilgerszenen der Fall war. So werden aus vier berittenen Wachen zehn in der Tumulusrolle, und aus dem von einem Ochsen gezogenen Wagen wird die viel ranghöher konnotierte Sänfte mit dem kaiserlichen Symbol eines Phönix auf dem Dach (Abb. 11 und 12). Die die Sänfte umgebenden Träger, Wächter und Begleitfiguren haben sich verdreifacht und bilden einen undurchdringlichen Block gegenüber den imaginären Zuschauern, die im Gegensatz zum Modell in der Tumulusrolle nicht dargestellt wurden. Das majestätische Auftreten des Kaisers sollte offensichtlich nicht durch unnötige Aufregung und niederes Volk gestört werden. Ganz anders als der geschlossene Ochsenwagen im Modell unterstreichen die die physische Präsenz des Kaisers enthüllenden, offenen Vorhänge der Tumulusrollen außerdem Yoshinoris Macht, die streng bewachte Privatsphäre des Kaisers visuell zu durchdringen. Augenscheinlich hat der Maler in dieser Szene nicht nur das Modell der Schreinlegende zum Kopieren und Edieren herangezogen, sondern er bediente sich auch anderer Querrollen aus höfischem Kontext.29
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Siehe hierzu auch Kuroda/Toby 1994, 2–15. Ein zwischen den Jahren 1157–79 von Kaiser GoShirakawa in Auftrag gegebenes Querrollenwerk, das die Festivitäten und Zeremonien am Kaiserhof im Laufe eines Jahres illustriert (Nenjû gyôji emaki), mag mit seinen Darstellungen kaiserlicher Prozessionen Pate gestanden haben (siehe Komatsu [Hrsg.] 1977, 71–81).
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Abb. 2. Konda Tumulusrolle, 1433, Konda Hachimanschrein. Dritte Szene der ersten Rolle: Bau des Tumulus, Detail; Foto: Melanie Trede
Abb. 4. Konda Tumulusrolle, 1433, Konda Hachimanschrein. Dritte Szene der ersten Rolle: Bau des Tumulus, Detail; Foto: Melanie Trede
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Abb. 1. Konda Tumulusrolle, 14. Jh., deutsche Privatsammlung. Bau des Tumulus, Detail; Foto: I. L. Klinger
Abb. 3. Konda Tumulusrolle, 14. Jh., deutsche Privatsammlung. Bau des Tumulus; Foto: I. L. Klinger
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Abb. 6. Konda Tumulusrolle, 1433, Konda Hachimanschrein. Vierte Szene der zweiten Rolle, En no gyôja vor dem Konda Hachimanschrein; Foto: Melanie Trede
Abb. 7b. Konda Tumulusrolle, 14. Jh., deutsche Privatsammlung. Prozession zu Kaiser Ôjin, Foto: I. L. Klinger (Abbildungen von rechts nach links zu betrachten)
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Abb. 5. Konda Tumulusrolle, 14. Jh., Tokyo Nationalmuseum. En no gyôja vor dem Konda Hachimanschrein; Foto: Melanie Trede
Abb. 7a. Konda Tumulusrolle, 14. Jh., deutsche Privatsammlung. Prozession zu Kaiser Ôjin, Foto: I. L. Klinger
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Abb. 8b. Konda Tumulusrolle, 1433, Konda Hachimanschrein. Erste Szene der ersten Rolle: Prozession zu Kaiser Ôjin, Foto: Melanie Trede (Abb. von rechts nach links zu betrachten)
Abb. 10. Konda Tumulusrolle, 1433, Konda Hachimanschrein. Erste Szene der ersten Rolle: Kaiser Ôjins Sterbegemach, Foto aus: Emakimonoshû 1991
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Abb. 8a. Konda Tumulusrolle, 1433, Konda Hachimanschrein. Erste Szene der ersten Rolle: Prozession zu Kaiser Ôjin, Foto: Melanie Trede
Abb. 9. Konda Tumulusrolle, 14. Jh., deutsche Privatsammlung. Kaiser Ôjins Sterbegemach, Foto: I. L. Klinger
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Abb. 12. Konda Tumulusrolle, 1433, Konda Hachimanschrein. Zweite Szene der zweiten Rolle: Prozession des Kaisers Kinmei zum Konda Hachimanschrein, Detail. Foto aus: Emakimonoshû 1991
6 Mutmaßungen über einen Kunstmäzen Die ikonographischen Innovationen der Tumulusrollen verdeutlichen also gegenüber den erhaltenen Fragmenten des Vorläufermodells Yoshinoris Faszination im Umgang mit offizieller Zeremonie, aristokratischem Protokoll und höfischer Etikette. Gegenüber früheren Erklärungsversuchen liegt meiner Meinung nach hierin eine wichtige Motivation zur Herstellung der Bildrollen. Einige Autoren mutmaßten, Yoshinori habe sich bei Hachiman für seine Ernennung zum Hofrang eines Sadaijin, dem Minister zur Linken, im Jahre 1432 bedankt.30 Yoshinoris Vater wurde zwar auch zum Sadaijin ernannt und Yoshinori war entsprechend stolz auf diesen Rang, was sich aus seiner Signatur in den Hachimanrollen, die als Teil seines Namens den Titel „Sadaijin“ enthält, ablesen lässt. Aber Hofränge wurden nicht mehr auf Gnade des Kaisers hin vergeben, sondern die Shogune selbst waren maßgeblich an den zuvor dem Kaiser vorbehaltenen Entscheidungen beteiligt.31 Nach einer anderen Theorie ging es Yoshinori darum, einen männlichen Erben zu produzieren. Er ging auf Pilgerreisen zu Tempeln und Schreinen, um mit göttlicher Hilfe gegen seine Angst vorzugehen, wie sein Bruder kin30 31
Diese Theorie vertreten Anonym 1938, 285, und Nara National Museum 1975, 93. Imatani 1992, 48–54.
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Abb. 11. Konda Tumulusrolle, 14. Jh., zweite Szene der zweiten Rolle: Prozession des Kaisers Kinmei zum Konda Hachimanschrein, Detail. Foto: Auktionskatalog Tokyo bijutsu kurabu, Dezember 1940
derlos zu sterben. Der Iwashimizu Hachimanschrein war zwar unter den besuchten Schreinen, aber Hachiman galt anders als der Bodhisattva Avalokitesvara nicht als fruchtbarkeitserzeugende Gottheit. Yoshinori pilgerte denn auch 1431 zum Kokawadera Tempel, der Avalokitesvara gewidmet ist und ließ 1434 nach der Geburt seines Sohnes Yoshikatsu die dortigen Tempellegenden entweder ausborgen oder kopieren.32 Der dritte Erklärungsversuch bezieht sich auf die ungewöhnliche Ernennung Yoshinoris zum Shogun im Jahre 1428. Als sein Vorgänger und Bruder Yoshimochi (1386–1428, reg. 1394–1428) in jenem Jahr kinderlos und ohne designierten Nachfolger starb, sollte Yoshinori dieses Amt übernehmen. Offiziell ließ man aber die Hachiman-Gottheit am Iwashimizu Hachimanschrein in Kyoto über die Nachfolge einer der vier jüngeren Brüder Yoshimochis orakeln. Der schon längst zu hohen Priesterehren aufgestiegene Yoshinori wurde ernannt und bedankte sich bei Hachiman mit regelmäßigen Pilgerschaften und finanzieller Patronage. So trug er die Kosten für Bauarbeiten am Kondaschrein ein Jahr vor der Stiftung der Rollen.33 Eins von Yoshinoris Motiven, den Kondaschrein zu fördern und die Schreinlegenden so luxuriös verbildlichen zu lassen, war sicherlich der Wunsch, sich selbst als einen der Wohltäter des Schreins in der Nachfolge der Kaiser Kinmei und GoReizei zu profilieren, 32 33
Brock 1995, 459. Aizawa 1995, 12.
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die so ausführlich in den Rollen gefeiert werden.34 Wenn er sich aber bei Hachiman bedanken wollte, warum erst im sechsten Jahr seiner Regierungszeit?
7 Kulturelle und politische Rivalitäten Yoshinori ist auch unter Historikern für seinen kulturellen Wettbewerb mit dem Kaiserhaus bekannt. Diese Ambitionen schlagen sich nicht nur in der visuellen Umarbeitung der Tumulusrollen nieder, sondern eine ganze Reihe von kulturellen Aktivitäten Yoshinoris zeigt diese Tendenz. Just im Jahr seiner Ernennung zum Shogun zog er bereits in eine neugebaute Residenz ein, deren Ausstattung mit zahlreichen importierten chinesischen Kunstgegenständen alle höfischen Besucher beeindruckte. So fragte sich Fushiminomiya Sadafusa, der Vater des amtierenden Kaisers, in seinem Tagebuch bewundernd, ob der Palast nicht prächtiger als das Paradies sei.35 Dem Vorbild seines Vaters Yoshimitsu (1358–1408, reg. 1368–1394) folgend, gab Yoshinori eine kaiserliche Anthologie japanischer Gedichte in Auftrag und lud im Jahre 1438 Kaiser GoHanazono in seine Residenz ein – eine ungeheure Überschreitung im protokollarischen Verkehr eines Kriegers mit dem Kaiser. Damit demonstrierte Yoshinori sein Streben nach Hegemonie über den Kaiserhof und stellte gleichzeitig seine eigenen kulturellen Errungenschaften zur Schau.Yoshinori brach zudem im gleichen Jahr in das kaiserliche Monopol von Hachimanzeremonien ein, indem er sich als offiziellen Gesandten des Kaiserhofes zu der stark politisch gefärbten, buddhistischen Zeremonie hôjôe einsetzte, die jährlich am Iwashimizuschrein stattfand.36 Die letzte Textpassage der Tumulusrollen vor dem Kolophon bekräftigt Yoshinoris Ehrgeiz, dem Kaiserhof den Rang als Erbe des Hachimankultes streitig zu machen. Die Etymologie des Namens Konda wird dort auf den Armschutz eines Bogenschützen zurückgeführt, den Kaiser Ôjin annahm, als er sich noch als Embryo im Leib der gegen die koreanischen Könige kämpfenden Mutter befand. Aus diesem Grund, so argumentiert der Text, war Hachiman schon immer die Schutzgottheit für Familien mit Pfeil und Bogen, also der Krieger, und noch konkreter: der Familien der Minamoto und ihrer 34
35 36
Die Prozession des Kaisers GoReizei (1025–1068, reg. 1045–1068) folgt auf die Szene seiner Stiftung neuer Schreingebäude und nimmt mit knapp drei Metern den zweitgrößten Raum des Querrollensets nach Kaiser Kinmeis Prozessionsszene ein. Brock 1995, 441. Die Entsendung eines kaiserlichen Vertreters wurde erstmals durch Yoshimitsu durchbrochen, der es als erster Krieger 1393 wagte, selbst als kaiserlicher Gesandter zu fungieren und damit die etablierte Tradition des höfischen Protokolls herauszufordern. Zu Yoshimitsus Politik gegenüber dem Kaiserhaus siehe die umstrittene These von Imatani Akira, der vermutet,Yoshimitsu sei bestrebt gewesen, selbst Kaiser zu werden (Imatani 1990 und Imatani/Yamamura 1992). Ashikaga-Vorläufer für den Auftrag einer Gedichtanthologie waren die Shogune Takauji (1356), Yoshiakira (1363) und Yoshimitsu (1375). Zu Yoshinoris Auftrag siehe Murao 2001, 401f.
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Nachfolger, der Ashikaga. Diese Passage zieht also eine direkte Linie zwischen dem alten Kaiserhaus und Yoshinoris Ashikaga-Familie. Yoshinoris Version der Hachimangenealogie ließ nicht nur die zeitgenössischen Kaiser sorgfältig aus, sondern eignete sich Hachiman als direkten Vorfahren der Minamoto und Ashikaga an. Er drückte damit den Wunsch aus, das Kaiserhaus zu kontrollieren, und demonstrierte seine enge familiäre Verbindung mit Hachiman. Der Akt der Querrollenstiftung an Hachiman kommt dabei einer Ahnenverehrung gleich. Denn 1432, also im Jahr vor der Stiftung der Hachimanrollen, wurde er auch zum Oberhaupt des weit verzweigten Minamoto-Klans, dem Genji no chôja, ernannt. Damit sah er sich als rechtmäßiger Nachfolger der Minamoto in ihrer Abstammung von Kaiser Seiwa offiziell bestätigt. Yoshinoris Stiftung von vier Sets von Hachimanrollen kann daher auch im Rahmen einer kulturellen und religiösen Rivalität mit dem Kaiserhof um die rechtmäßige Hachimanverehrung verstanden werden. Neben diesem Motiv Yoshinoris scheint ein weiteres bisher übersehen worden zu sein. In der letzten Textpassage der Tumulusrollen erklärt Yoshinori seinen Wunsch, mit der Schenkung der Rollen und mit Hachimans Unterstützung Frieden im Land zu stiften (kokka chingo). Dieser Wunsch ist nicht ungewöhnlich in einer Dedikationsschrift, hatte aber in den frühen 1430er Jahren eine besondere Bedeutung für Yoshinori. Yoshinori wurde seit Beginn seiner Regierungszeit als Shogun von dem in Kamakura über die Ostregionen herrschenden, entfernt mit ihm verwandten Ashikaga Mochiuji herausgefordert. Mochiuji hatte selbst auf die Ernennung zum Shogun gehofft und widersetzte sich Yoshinoris Regierung, wo er nur konnte.37 So begab sich Yoshinori allen guten Ratschlägen zum Trotz im neunten Monat des Jahres 1432 auf eine als Reise zur Besichtigung des Berges Fuji getarnte Inspektionsreise gen Osten.38 Dies war eine deutliche Machtdemonstration und Provokation gegenüber Mochiuji. Dieser stiftete möglicherweise als Antwort auf Yoshinoris Hachimanrollen dem in seinem Herrschaftsgebiet gelegenen Tsurugaoka Hachimanschrein in Kamakura 1434 eine Ikone der Diamantenen Gottheit des Großen Sieges, Daishô kongôson. Diese Ikone ist nicht mehr erhalten, dafür aber Mochiujis begleitende Widmungsschrift, die er teilweise mit seinem eigenen Blut im dritten Monat des Jahres 1434 schrieb. Sie enthält im wesentlichen vier Punkte, die Mochiuji mit seiner Stiftung verband: ewiger militärischer Erfolg (buun chôkyû), blühende Nachkommenschaft (shison han’ei), Sicherheit für die gegenwärtige und zukünfti37
38
Nur vier Monate nach Ernennung Yoshinoris zum Shogun plante Mochiuji, eine Armee gegen diesen zu entsenden (Shiryô hensanjo 1932, 548). Außerdem weigerte sich Mochiuji hartnäckig, den von Yoshinori gewählten neuen Äranamen Eikyô 1429 zu benutzen (Nagahara 1992, 339) und forderte wiederholt den von Yoshinori eingesetzten shogunalen Inspektor (Kantô kanrei), Uesugi Norizane (1410–1466), heraus. Siehe hierzu auch Tanaka 2002, 152–160. Shiryô hensanjo 1932, 609. Um diesem Zeitpunkt herum wird Yoshinori die Querrollen in Auftrag gegeben haben.
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ge Generation (gentô nisei anraku) und einen unbegrenzten Fluch gegen einen eingeschworenen Erzfeind (juso no onteki wo michô ni harai).39 Historiker sind sich einig, dass dieser Erzfeind kein anderer als Yoshinori sein kann.40 Mochiuji benutzte also die Schenkung der Ikone und seine Dedikationsschrift als bildmagisches Mittel, um sich mithilfe von Hachiman im Konflikt mit Yoshinori durchzusetzen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Yoshinori den Tsurugaoka Hachimanschrein in Kamakura überging. Wie oben erwähnt, stiftete Yoshinori je ein Set von Querrollen den wichtigsten Hachimanschreinen in Zentral- und Westjapan, nicht aber dem Tsurugaoka im Nordosten. Dieser Schrein wurde als letzter der vier maßgeblichen Hachimanschreine41 in der Mitte des elften Jahrhunderts von den Vorfahren Yoshinoris gegründet. Damit war der Schrein engstens mit der Herrschaft der Krieger verbunden, denn die erste Kriegerdynastie der Minamoto regierte in Kamakura und protegierte seitdem den Tsurugaoka Hachimanschrein. Zwei Möglichkeiten tun sich hier auf, warum Yoshinori diesem wichtigen Schrein in Kamakura keine Hachiman-Querrollen stiftete. Es mag dem nach kaiserlichem Glanz strebenden Yoshinori weniger wichtig erschienen sein, gerade diesen, seit seiner Gründung mit den Kriegern in engster Verbindung stehenden Tsurugaokaschrein zu fördern. Im Gegensatz dazu waren die drei von Yoshinori mit Hachimanrollen gesegneten Schreine sämtlich eng mit Kaiser Ôjin und dem Kaiserhof verbunden. Andererseits mag eine Stiftung an den Tsurugaokaschrein Yoshinori auch verwehrt worden sein. Dokumente des Tsurugaoka aus der Zeit deuten darauf hin, dass dies ein von den Herrschern der Ostregionen monopolisierter heiliger Bezirk war. Schenkungen sind ausschließlich von diesem Zweig des Minamoto-Klans aufgelistet. Die Analyse der Tumulusrollen und der spezifischen historischen Umstände deuten darauf hin, dass die Stiftungen Yoshinoris an die drei Hachimanschreine in Usa, Osaka und Kyoto als magische Waffe gemeint waren, die, aufgerüstet mit ikonographischen Innovationen kaiserlicher Aura, als wirkungsvolle Munition gegen den Feind Mochiuji im Osten dienen sollte.
Schlusswort Yoshinoris Querrollensets demonstrieren einen religiös motivierten, künstlerisch-kreativen Umgang mit politischen und militärischen Auseinandersetzungen, ähnlich den früheren Stiftungen buddhistischer Statuen Prinz Shôto39
40 41
Die im Tsurugaoka Hachimangû 1991, 52 (Nr. 38), abgebildete Replika der Widmungsschrift ist umgeschrieben in Kan 1980, 53, und Tanaka 2002, 158. Tanaka 2002, 157–160. Historisch wichtig war nach dem ersten Hachimanschrein in Usa außerdem der im achten Jahrhundert gegründete Tamukeyama Hachimanschrein in Nara.
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kus oder eines ganzen Klosters durch Kaiser GoToba. Auch wenn der Konflikt durch die Gaben der kostbaren Rollen Yoshinoris oder der Buddhastatue Mochiujis nicht beigelegt werden konnte, so löste er doch innovative und für die Nachwelt maßgebliche Impulse aus. Die geographischen, materiellen und numerischen Ausmaße von Yoshinoris Hachimanstiftungen sind jedenfalls sowohl innerhalb der Geschichte von Hachimanrollen, als auch im Zusammenhang mit Ashikaga-Mäzenatentum von Querrollen unerreicht. Die Hachimanrollen dienten Yoshinori außerdem als Mittel zur Stärkung seines sozialen, kulturellen und politischen Ansehens. Im Kontrast zum früheren Modell steigerte Yoshinori mit den ikonographischen Veränderungen, der materiellen Pracht und des technischen Raffinements ganz offensichtlich den kaiserlichen Anspruch seiner Tumulusrollen.Yoshinori stellte damit seine intime Kenntnis der höfischen Etikette und des zeremoniellen Protokolls unter Beweis, während er sich gleichzeitig als Mäzen des Kondaschreins und als Auftraggeber von Rollen in die Tradition früherer kaiserlicher Förderer des Schreins stellte. Sowohl Mochiuji als auch Yoshinori benutzten ihre Stiftungen als magische Mittel, um Hachimans Unterstützung in ihrer politischen Auseinandersetzung zu gewinnen. Während Mochiuji seine gestiftete Ikone unmittelbar mit einem Fluch gegen seinen Gegner verbindet, geht Yoshinori subtiler vor. Anders als ein buddhistisches Ikonenbild ermöglicht die Kombination von geschriebenem Text und visuellen Darstellungen im Querrollenformat spitzfindige Neuinterpretationen des historischen Materials, wie am Beispiel der Todesszene von Ôjin, der Prozession Kaiser Kinmeis oder der letzten Textpassage deutlich wurde. Hachiman selbst scheint jedenfalls das Querrollenformat von Yoshinori gegenüber der Ikone von Mochiuji bevorzugt zu haben: fünf Jahre nach der Stiftung der Rollen konnte Yoshinori schließlich seinen Rivalen besiegen und ihn zum Selbstmord zwingen. Man könnte versucht sein, Yoshinoris Umgang mit diesem Konflikt als Hybrid „eines guten und eines bösen Streits“ zu deklarieren, wie sie Hesiod im siebten Jahrhundert v. u. Z. definierte. Der böse Streit ist dabei „kulturzerstörend; er vernichtet die Grundlagen von Sitte und Verständigung … ‚Er mehrt nämlich den Krieg’ …’“ während der gute Streit „nicht nur kulturfördernd, [sondern] sogar der eigentliche Motor der Kultur“ ist.42 Obwohl die politische Rivalität im Falle Yoshinoris und Mochiujis letztendlich „im Bösen“ ausgetragen wurde, löste sie doch im Vorfeld religiöse und kulturelle Impulse aus.Yoshinoris Bildrollen standen nicht allein ihrer Funktion nach in der Tradition der Inanspruchnahme göttlicher Hilfe aus dem buddhistischen Pantheon, sondern sie verkörpern auch politisch und persönlich motivierte ikonographische Innovationen, die für Generationen von Malern zu maßgeblichen Vorbildern wurden. Yoshinoris im Kolophon erwähntes Ziel, mit den 42
Assmann/Assmann 1990, 11.
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Rollen „ein Modell für die Zukunft“ zu erstellen, erreichte er spielend: sie wurden kopiert, zitiert, evaluiert und schließlich in der modernen Kunstgeschichte kanonisiert. Unser Fall ist ein lebendiges Beispiel für die dichte Verflechtung von Religion, Kultur und Konflikt.
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Die literarische Konstruktion von Konflikten silvio vietta Große Konflikte – Große Literatur des Epos Die große Literatur Europas beginnt mit der Darstellung großer Konflikte. Ungefähr im 8. Jahrhundert, als die Griechen die phonetische Vollschrift erfanden, entstand auch die „Ilias“ des Homeros. Hinter dem Autorennamen verbergen sich mehrere unbekannte Autoren, das ganze Versepos von ungefähr 15.000 Versen ist aus mehreren separaten Teilen zusammengesetzt. Umso wichtiger das Zentralmotiv, welches das ganze Werk zusammenhält: der Zorn des Achill. Natürlich ist der Krieg der Achaier gegen die Trojaner, in dem sich die griechische Kolonialpolitik schon des 12. Jahrhunderts vor Christus abbildet, das literarische Hauptmotiv dieser Dichtung. Aber die literarische Konstruktion dieses Krieges läuft über ein – wir würden heute sagen – privates Motiv: eben jenen Zorn des Haupthelden des griechischen Heeres Achilleus. Das Epos beginnt ja mit einer großen Anrufung der Muse, dem Dichter den Gesang eben jenes Motivs einzugeben, der das ganze Epos strukturiert: Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus, Der zum Verhängnis unendliche Leiden schuf den Achaiern Und die Seelen so vieler gewaltiger Helden zum Hades sandte […].1
War doch dieser Zorn in der Auseinandersetzung zwischen Achilleus und dem Führer des griechischen Heeres, Agamemnon, entstanden. Agamemnon hatte sich geweigert, die Tochter des Apollopriesters Chryseis zurückzugeben und war auch nicht bereit, die schöne Briseis, eine andere Beutesklavin, an Achill auszuliefern. Dafür rächte sich der Gott Apoll mit der Pest im griechischen Lager und Achill mit seinem Entzug vom Kampf. Welches die Griechen viele Opfer kostete. Ohne den ersten griechischen Kriegshelden drangen die Trojaner fast bis an die Schiffe der Griechen vor. 1
Homer, Ilias, Verse A, 1ff. – Die Homerphilologie bereits der Aufklärung unterschied mehrere Einzelstücke aus einer epischen Tradition von Rhapsoden, die an den Höfen der griechischen Fürsten diese Heldenlieder vortrugen. Der Philologe Friedrich August Wolf nahm in diesem Sinne mindestens zwei große Autoren des Werkes an (Wolf 1795/1963). Die folgende Forschung hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt und in der „Achilleis“ eine Kernzelle der ganzen „Ilias“ gesehen.
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Auf Drängen der Griechen und in der Notsituation lässt Achill wenigstens seinen Freund Patroklos in die Schlacht ziehen. Als dieser von den Trojanern getötet wird, ist er selbst im Konflikt: Soll er seine Kampfverweigerung fortsetzen oder – in der Feldschlacht – den Freund rächen? Für das Letztere entschied sich Achill und legt mit der Tötung Hectors zugleich den Grundstein für den späteren Sieg der Griechen über die Trojaner. Der bekanntlich auch mit Odysseus’ List des Trojanischen Pferdes errungen wird. Eine Kriegsgeschichte also, die in ihrer literarischen Darstellung von sehr persönlichen Konflikten organisiert wird. Zugleich ist dieser persönliche Konflikt das eigentlich retardierende Moment im Krieg zwischen den Trojanern und Griechen. Erste Erfolge der Griechen, dann die fatalen Rückschläge, schließlich der Sieg zunächst über Hector, dann die Einnahme Trojas nach einem viele Jahre dauernden und aufreibenden Krieg. Selbst die Eingangsverse lassen keine Zweifel, dass am Ende der Sieg der Griechen stehen würde. Die Zwistigkeiten im griechischen Lager, die auf Spannungen und Konflikte im Götterhimmel, insbesondere zwischen Zeus und Apollo zurückgehen, erzwingen den langen Krieg. Dabei wirkt sich die ‚private‘ Handlungslogik des griechischen Helden Achilleus kriegsentscheidend aus. Somit schildert das Epos den für den östlichen Mittelmeerraum entscheidenden Kolonialkrieg – denn es ging dabei ja um die Beherrschung des Durchfahrtsweges des Bosporus – aus der Perspektive eines sehr persönlichen Konfliktes der Helden des griechischen Lagers. Es ist übrigens bemerkenswert, dass aus dem trojanischen Lager vergleichbare Konflikte in diesem Epos nicht berichtet werden. Interessanterweise folgt auch das große germanische Epos, das „Nibelungenlied“, einer ähnlich privaten Logik der Konflikte. Entstanden fast zweitausend Jahre nach der „Ilias“ ist es hier ein Konflikt zwischen Frauen, der handlungsentscheidend wird: der Konflikt zwischen der Königstochter Kriemhild und Brunhild. Bekanntlich ist es die Wut der Letzteren, die zur Vernichtung Siegfrieds führt, als sie erfährt, dass er und nicht ihr Ehemann Gunther sie eigentlich im Kampf überwunden hätte, worauf Kriemhild zur vernichtenden Rachetat gegen den burgundischen Hof rüstet. Die grässlichen Szenen der Niedermetzelung der Ritter aus Burgund am Hof Etzels, das ganze furchtbare Vernichtungswerk einschließlich der Entfesselung des Feuers, scheint so letztlich als Konsequenz eines ganz privaten Konfliktes, der am Eingangstor des Domes zu Worms entbrannte. Der große Krieg – das ist eines der Ergebnisse eines auch nur kursorischen Blickes auf diese alten Epen – ist immer auch ein von persönlichen Motiven in Gang gesetzter Krieg. Die persönliche Motivation ist sogar das kriegstreibende Motiv. Wir wollen ja auch nicht vergessen, dass der Dichter der „Ilias“ in dem Brautraub der Helena den eigentlich kriegsauslösenden Faktor sah.
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Das Große Drama – Mythenkonflikte Ein Blick auf die andere Großgattung der Literatur, das Drama, zeigt, dass auch hier Konflikte das Geschehen in Gang setzen und letztlich das Drama selbst sind. In Aischylos’„Orestie“ – sie wurde 458 v. Chr. auf den Dionysien in Athen uraufgeführt – ist es der Konflikt zwischen Mutter und Sohn, Männermord und Muttermord, alten und neuen Göttern, die den Kern des dramatischen Geschehens ausmachen. Dabei geht es um die tragischen Ereignisse im Hause des Agamemnon, des griechischen Heerführers vor Troja, nach seiner Rückkehr in die Heimat. Bekanntlich hatte Agamemnon bei seiner Ausfahrt des griechischen Heeres von Argos seine Tochter Iphigenie opfern wollen, um günstige Winde für die Ausfahrt der Flotte von der Göttin Artemis zu erflehen. Das Stück „Agamemnon“, das erste der Trilogie, setzt ein nach der Zerstörung Trojas mit der Rückkehr des Agamemnon in seinen Königspalast in Argos. Klytaimestra aber, die Mutter Iphigenies und Frau des Agamemnon, hat bei Rückkehr der Helden von Troja die Geschehnisse so wenig vergessen wie der Chor. Und sie hat auch nicht ihre Leidensgeschichte in der zehnjährigen Abwesenheit ihres Mannes vergessen, „wie ich kummervoll/ Hinlebte, während mein Mann vor Troja lag“. (Verse 859f.). Darüber hinaus weiß sie, dass ihr Mann eine Geliebte bei sich führt: die Trojanerin Kassandra. Klytaimestra hat sich ihrerseits mit einem Geliebten verbündet: mit Aigisthos. Er ist als Vetter Agamemnons mit der fluchbeladenen Geschichte des Hauses verbunden. Klytaimestra fühlt gegenüber ihrem heimgekehrten Mann Agamemnon nichts anderes mehr als Hass. Sie will ihn umbringen. Und dieses Mordwerk setzt sie mit allen Tücken weiblicher List in Szene. Agamemnon wird von ihr königlich und in Purpurtüchern empfangen. Die Purpurfarbe ist zugleich eine Vorausdeutung auf seinen baldigen Tod. Denn im Bad werfen Aigisthos und Klytaimestra ein Fischnetz über den Heerführer und schlachten ihn in der Wanne ab. Aus dem Palast hört man seine Todesschreie.2 Dann wird auch die Geliebte und Sklavin Agamemnons, Kassandra, getötet werden. Der Chor resümiert das Schicksal des Hauses Atreus – „In Strömen gleich entsprungnen Bluts/ Quillt fort und fort der schwarze Mord!“3 – und sagt damit zugleich das weitere Schicksal des Hauses an. Aber nun steht die Rache für den Gattenmord der Klytaimestra an. Sie wird für diese Tat ermordet werden von dem eigenen Sohn Orest zusammen mit 2
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Aischylos, Agamemnon, Verse 1343ff. An dieser Stelle sollte man erwähnen, dass Aischylos’ „Orestie“ bereits in einer Zeit politischer Instabilität zur Aufführung gelangte. Die Aufführung fiel in das Jahr 458 vor Christus. 461 war der Areopag, der seit Solon vornehmlich mit Adligen besetzt war, entmachtet worden. Damit wurde zugleich die Volksversammlung und der Rat der Fünfhundert aufgewertet. Die Einsetzung des Areopags durch Athene in Aischylos’ Schlussdrama der Trilogie als handlungsentscheidende Instanz nimmt also eher im Sinne der konservativen Politik Stellung für diese Institution. Aischylos, Agamemnon, Verse 1509f.
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dessen Schwester und ihrer Tochter Elektra. Das ist bereits die Handlung der nächsten Tragödie „Die Grabspenderinnen“. Das Ende des „Agamemnon“ zeigt den Sieg der Klytaimestra und des Aigisthos, der zugleich ein Sieg der alten weiblichen Göttermächte, der Erinnyen, über Agamemnon und die ihn stützenden Götter war. Die Gegenüberstellung des Sohnes mit der Mutter gehört zu den erschütterndsten Szenen des Dramas. Orest will seine Mutter „drachenwild empört“ ermorden, wie es der Klytaimestra selbst bereits ein Traum verkündet hat.4 In dieser Szene aber gewinnt Klytaimestra, deren „Liebesgier“ und Rachsucht der Chor unverhohlen verdammt hatte, menschliche Züge. Dem mordbereiten Orest, mit dem noch von Aigisthos blutenden Schwert in der Hand, ruft sie entgegen: „Halt ein, o Sohn! Und scheue diese Brust, o Kind, Die Mutterbrust, an welcher du einschlummernd oft Mit deinen Lippen sogst die süße Muttermilch!“5
Die „süß ernährende Muttermilch“ (eutraphés gála), die sie ihm in dieser Mordsituation noch einmal als seine eigene Nährquelle zeigt, verwirrt Orest ist in der Tat so stark, dass er nicht weiß, was er tun soll: „Was tu ich, Pylades? Scheu’ ich meiner Mutter Blut?“6
Es ist dann Pylades, der ihn zur Tat antreibt, indem er ihn an den Strafauftrag des Gottes Apoll erinnert. Noch einmal bäumt sich die Mutter auf, indem sie die Schuld von sich weg und der Schicksalsgöttin Moira zuschiebt. Klytaimestra beruft sich hier explizit auf die Moira als Ausdruck eines mutterrechtlichen Naturgesetzes. Dieses zeigt sich damit auch als ein blutiges Gesetz.7 „Es ist die Moira, liebes Kind, all dessen schuld!8
Worauf ihr Orest fast schon zynisch entgegenschleudert: „So hat Moira auch verschuldet diesen Mord.“9
Auch er weist die Schuld an dem bevorstehenden Mord der Mutter selbst und ihrer eigenen Handlung als Konsequenz zu: „Klytaimestra: So willst du mich umbringen, deine Mutter, Sohn? Orest: Mit nichten ich; nein, du ermordest selbst dich selbst!“10 4 5 6 7 8 9 10
Aischylos, Die Grabesspenderinnen, Vers 549. Die Grabesspenderinnen, Verse 896ff. Die Grabesspenderinnen, Vers 899. Siehe dazu Bachofen (1861/1978), S. 163. Die Grabesspenderinnen, Vers 910 Die Grabesspenderinnen, Vers 911. Die Grabesspenderinnen, Verse 922f.
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Die „traurige Blutschuld“ aber, die nun als Konsequenz der vorgängigen Mordtat ihren Lauf nimmt, ruft die Muttergottheiten, die Erinnyen, auf den Plan. Zwar gab Orest durch den Mord an dem Tyrannen Aigisthos und seiner eigenen Mutter die „Freiheit unsrer ganzen Stadt“ zurück, wie der Chor kommentiert („eleuthérosas pasan Argeíon pólin“ Vers 1046). Aber Orest selbst steht am Ende des Dramas mit von Mutterblut triefenden Händen da. Der Wahnsinn ergreift ihn. In diesem Zustand wähnt er die Erinnyen zu sehen, schwarzverhüllt und mit Schlangen in den Haaren. Sie treiben und hetzen ihn. Mit den Worten „Mich jagts von hinnen!“11 flieht er am Ende des Dramas vor den Verfolgerinnen. Die dritte Tragödie, die „Eumeniden“ („Die Wohlmeinenden“), trägt also das Erbe zweier Morde aus den vorgängigen Tragödien. Und hier sind es nun die neuen Götter, die in das Handlungsgeschehen eingreifen und die Blutkette der Mordtaten des Hauses der Atriden im Sinne einer rationalen Konfliktlösung zu einem friedlichen Ende führen. Diese große Aufgabe wird in Form eines zivilen Prozesses mit Anklage und Verteidigung und Abstimmung am Ende von der neuen Göttin Athene im Areopag von Athen geleitet und zu einem juristisch gültigen Spruch geführt. Dass überhaupt der Mythos und sein Erbe an Bluttaten und Blutschuld vor einem Athener Gericht verhandelt und dort zu Ende gebracht werden soll, ist ein Triumph der neuen Polisordnung und ihrer rationalen Einrichtung eines Gerichts. Dieses befindet nicht nur über die alten Götter, sondern auch über die neuen. Denn auch Athene und Apoll müssen sich ja den Regeln dieser Gerichtsbarkeit beugen; wobei allerdings Athene diese Regeln weidlich für sich nutzt und auch noch während des Prozesses zu ihren Gunsten abändert. In der in diesem Drama dargestellten Überwindung eines auf Geburt gegründeten Mutterrechts zeigt sich somit die Abkehr der griechischen Kultur von archaisch mutterrechtlichen, aber auch durch das Rachemotiv geprägten Ordnungsvorstellungen. Am Ende hat das Vaterrecht in dem über Generationen tobenden Geschlechterkampf gesiegt. Gleichzeitig fasst Athene die hasserfüllten Erinnyen mit Samthandschuhen an, um sie für die neue vaterrechtliche Ordnung zu gewinnen und in diese zu integrieren. Die Erinnyen, die ja doch Unwetter und Pest über das Land zu bringen vermögen, möchten doch, so wirbt Athene um sie, dem Land gütig gesinnt sein. Sie mögen „heimisch“ werden in der Polis und sollen dort an bevorzugter Stelle verehrt werden. Das ist kluge Politik. Und die Erinnyen nehmen das Angebot auch in Aischylos’ Drama an, der damit selbst ein Stück mythopolitischer Zeitgeschichte geschrieben hat. So endet das Drama mit seinen Blutkonflikten in einem neuen Mythos: dem Nationalmythos der Polis Athen als Führungsmacht Griechenlands, dem
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Die Grabesspenderinnen, Vers 1062.
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nun auch die Erinnyen „in stetem Blühn des Lebens Wohl, ein reich Gedeihn“ (Vers 923) wünschen. Man kann dies eine Urbanisierung des Mythos und Zivilisierung der Konfliktbewältigung nennen.
Ein unlösbarer Konflikt: Shakespeares „Hamlet“ In einer Zeit, die schwer an den Folgen der Kirchenspaltung trägt, in der die christliche Botschaft in ihrem religiösen und humanen Kerngehalt in europäischen Kriegen und Nationalegoismen mehr und mehr an Bedeutung verliert, entsteht das große englische Theater im Zeitalter der Königin Elisabeth I. Es ist zugleich eine Epoche des wissenschaftlich-weltanschaulichen Umbruchs, in der Wissenschaftler wie Kepler und Galilei für das neue kopernikanische Weltbild eintreten, die Kirche aber mit Macht das Alte zu behaupten sucht. Die Abspaltung der Anglikanischen Kirche vom Katholizismus sichert England allerdings einen gewissen politischen und auch wissenschaftlichen Freiraum. „The Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmark“ gehört zu den großen Dramen der mittleren Schaffensperiode William Shakespeares (1564– 1616). Es entstand um 1600.12 Dabei ist die entscheidende Innovation, die Shakespeare an den „Gesta Danorum“ des Saxo Grammaticus vorgenommen hat, das darin enthaltene Motiv der Rache in ein frühmodernes Bewusstseinsdrama zu überführen, das die Problematik der Wirklichkeitserkenntnis der Neuzeit in sich aufgenommen hat, mit dem das Erkennen von Wirklichkeit selbst ein zentrales Problem des Dramas wird. Die Handlung trägt alle Züge einer blutrünstigen Barocktragödie. König Hamlet, Vater des Prinzen, ist tot. Der Sohn vermutet: durch Mord. Und er ahnt: Die Mörder könnten seine Mutter und Claudius sein, der Bruder des alten Königs und nun neuer König von Dänemark, zugleich der neue Liebhaber der Königin Gertrud. Durch ein Spiel im Spiel will Hamlet seine Hypothese überprüfen. Eine Gruppe von Schauspielern spielt zu Anlass eines höfischen Festes dem Königspaar einen Giftmord vor. Scheinbar zufällig wird auch in diesem Spiel ein König im Schlaf durch eingeträufeltes Gift ermordet. Angesichts dieser Szenerie in der Fiktion springt der König auf,„aufgejagt von nassen Pulverschüssen“13, wie ein ertappter Mörder. Die heftige Reaktion von Stiefvater und Mutter verstärkt den Verdacht: Sie waren in der Tat die Mörder. Die Realität, die sie vorspielten, war Lüge. Die Hypothese, die „Fiktion“, ent12
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Der Erstdruck im so genannten Quarto I ist belegt um 1603, der viel sorgfältiger editierte Texte im Quarto II für das Jahr 1605. Eine erste Aufführung erfolgte bereits im Jahre 1602. Die spätere Edition des Textes basiert auf Quarto II, ergänzt durch die Folioausgabe aus dem Jahre 1623. Shakespeare, Hamlet, Akt III, Szene 2, Vers 260.
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hält auch hier die Wahrheit, und das Spiel im Spiel inmitten des dritten Aktes liefert den Wahrheitsbeweis. Aber welche Konsequenz soll Hamlet daraus ziehen? „Die Welt ist aus den Fugen“ – durch einen Königsmord. Aber ein neuer Königsmord, wenn auch aus gerechten Rachemotiven verübt, würde die Unordnung der Welt nur weiterführen. Hamlet kann nicht einfach den Mörder umbringen in einer Welt, in der die Königsstelle Garant einer guten Heilsordnung auf Erden ist. Das heißt: Hamlet befindet sich in einem unlösbaren Konflikt. Das ist auch der eigentliche Grund dafür, dass er nicht wirklich zur Handlung schreiten kann. Wobei seine Feinde nicht untätig bleiben. Der Diplomat und Giftmischer Claudius will seinerseits Hamlet beseitigen. Mit den Höflingen Rosenkranz und Güldenstern schickt er den Prinzen von Dänemark nach England, um ihn dort mit Hilfe eines Auftragsbriefes ‚entsorgen‘ zu lassen. Hamlet seinerseits schickt die beiden schleimigen Höflinge in jenen Tod, der ihm zugedacht war. Der Zurückgekehrte stellt sich wahnsinnig – oder er ist es tatsächlich zeitweilig in seiner inneren Zerrissenheit zwischen Rachemotiv, Reflexionshemmung, Handlungstrieb und innerer Scheu vor dem Königsmord. Die Handlungsebene ist überlagert durch eine weitere, psychologische: Hamlet ist emotional stark gebunden an seine Mutter Gertrud, die er zugleich wegen ihrer sexuellen Abhängigkeit von Claudius verachtet. Das ganze Szenario der höfischen Welt in Dänemark aber ist Symbol einer in sich verrotteten Welt, „the rotten state of Denmark“. Die Metaphorik des Kranken und der Fäulnis durchzieht das ganze Drama. Aber der Schlüssel, diese Welt wieder heil und gesund zu machen, sie ins Lot zu bringen, ist nicht mehr greifbar. Zu den tragischen Erfahrungen Hamlets und der Zuschauer, die dieses Drama sehen, gehört der Einblick in die totale Korrumpiertheit einer Welt, die die Macht hat, von höfischer Etikette bestimmt wird, hinter deren Fassade aber Fäulnis und das Verbrechen lauern. Zu den tragischen Zügen dieser Welt gehört, dass auch die unschuldige, aber gänzlich passive Ophelia, die von Hamlet geliebt wird, ebenfalls von dieser Welt vergiftet, im Wahnsinn endet. Sie ertrinkt beim Blumenpflücken und treibt umgeben von Blüten im „Glitzerstrom“14. So steht das Drama an der Kippe zweier Welten: Einerseits ist die Handlungsstruktur noch in eine ins Mittelalter zurückreichende Kosmologie mit ihrer Seinsordnung einer „great chain of being“ eingebettet, wie sie der Anglist Arthur Lovejoy zurecht genannt hat.15 Andererseits aber bricht in dieser Welt ein Bewusstseinsdrama auf, das in die Neuzeit und Moderne reicht. Die Modernität des Dramas liegt in der scharfen Pointierung der Individualität des Helden, mithin: in der Verinnerlichung der Konflikte, wie sie sich insbesondere in den sieben, zum Teil langen Monologen äußert. Der berühmteste davon ist der in Szene 1 des dritten Aktes, in dem Hamlet mit dem Selbst14 15
Hamlet, Akt IV, Szene 7, Vers 166, S. 249. Lovejoy 1933.
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mord ringt („To be, or not to be, that is the question […]“16, Vers 56). Später wird er die Chance haben, den König, der sein Verbrechen im Gebet gestanden hat, umzubringen, ohne diese Chance zu nutzen, die eben in der Tat eine neue Schuldverstrickung bedeutet hätte. Hamlets Tragik ist nicht geringer als die Geschlechtertragik der großen griechischen Tragödie: Jeder neue Königsmord ist zugleich eine Fortsetzung des Schuldzusammenhangs einer pervertierten Welt. Mentalitätsgeschichtlich aber offenbart sich in diesem Drama eine neuzeitliche Konfliktstruktur. Sie verlagert den Konflikt in die Bewusstseinsräume des Ich, in lange Reflexionen, schmerzvolle Bewusstseinsprotokolle. Das handlungsgelähmte und ausweglose Ich, das sich darin zeigt, dass es die Wirklichkeit ahnt, wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit erkennt, ist ein frühneuzeitliches Ich, das noch in einer mittelalterlichen Welt fundiert ist, seine Modernität aber gerade darin aufdeckt, dass es die gute Ordnung nicht mehr herstellen kann. Das Drama endet konsequent in einer radikalen Lösung. Alle vom Verbrechen irgendwie kontaminierten Figuren werden abgeräumt: Der korrupte Hofmann Polonius, Vater von Ophelia, wird beim Lauschangriff hinter einem Vorhang erstochen, in einer Orgie von Giftmischerei, mit der sie sich selbst in den Tod befördert, endet die königliche Familie. Die Mutter trinkt den Becher Gift, den Claudius für Hamlet vorgesehen hatte, der vergiftete Degen, mit dem Hamlet erstochen werden sollte, trifft Claudius selbst und befördert auch Hamlet in den Tod. Der Feldherr Fortinbras, der am Ende auf der Bühne steht, ist ein einsamer, von den Verbrechen am dänischen Hof unbelasteter Krieger. Er ordnet ein königliches Begräbnis für Hamlet an. Aber die Zukunftsordnung, für die er einsteht, ist seltsam ausblicklos.
Der moderne Roman – Verinnerlichung des Konfliktes Goethe und die Romantik haben Shakespeare in Deutschland wieder entdeckt, weil sie mit jenem geistesverwandt waren, insbesondere mit seinem Helden „Hamlet“. Goethes früher Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ von 1774 zeigt schon im Titel die Verlagerung der Konfliktstruktur in die Affektwelt seines Helden an17. Und das garantierte ja auch den Erfolg dieses Ro16 17
Hamlet, Vers 56, S. 134. Goethe, Werther, S. 10. Die hier benutzte Ausgabe bringt den Text im Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787. Wir zitieren aus der emotional spontaneren Erstfassung des Romans, dessen Fabel in der unerfüllten Liebe Werthers zu Lotte bekanntlich auch auf biographische Quellen verweist: Goethes unerfüllte Liebe zu der mit dem Legationssekretär Kestner verlobten Charlotte Buff während seiner Praktikantenzeit am Reichskammergericht Wetzlar im Jahre 1772 sowie das Schicksal des gemeinsamen Bekannten Kestners und Goethes, Karl Wilhelm Jerusalem, der aus Motiven unerfüllter Liebe und gesellschaftlicher Enttäuschung am 30. Oktober 1772 Selbstmord verübt hatte.
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mans in ganz Europa: Hier leidet ein Ich an der Welt – es ist bereits die Welt des Bürgertums, wie sie Werther in der Gestalt Alberts begegnet –, der Held leidet an der Liebe und an deren Unerfülltheit, und somit leidet er immer auch an sich selbst. Der Roman schildert so die Selbstreflexion eines Gefühls, das bewusste Auskosten des Leidens. Und somit ist neu an Goethes Roman, dass er seine Wirklichkeit erstmalig und allein aus der subjektiv-emotionalen Perspektive seines Protagonisten entwirft. Die Welt des Werther und seiner Konflikte: Sie ist der Entwurf seiner Emotionalität und seiner inneren Spannungen. Dieser Konstruktion einer Welt der Emotion dienen alle Kunstgriffe des Erzählers: die intim-adressatenbezogene Briefform an den „besten Freund“ Wilhelm, die aber – ichzentriert – nur die Briefe Werthers mitteilt, nicht die Gegenbriefe. Der Briefstil erlaubt eine unmittelbare Wiedergabe der jeweiligen subjektiven Stimmungslage, wobei Goethes Roman gegenüber der Tradition eine auch im europäischen Maßstab neue Qualität der Direktheit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks setzt. Den „Werther“ mit Luhmann als „l’homme copie“ zu beschreiben, verfehlt diese innovative Qualität des Textes.18 Dabei wird in diesen Briefen eine eigene Textualität der Emotion erzeugt durch die elliptisch-appellative Syntax und durch häufige rhetorische Fragen („Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu seyn!“). Der Darstellung der Gefühlswelt dient auch die Semantik des spontanen Gefühlsausdrucks mit ihrer Häufung von Nomina,Verben und Adjektiven des Gefühls. Auch der Handlungsverlauf des Romans über den Zeitraum von einem und einem halben Jahr folgt allein der Logik des Herzens des Protagonisten: Auf eine Phase der Beruhigung nach einer offenbar abgebrochenen Liebesbeziehung zu einer gewissen Leonore, über die der erste Brief kryptisch berichtet, folgt jene Begegnung mit Lotte, die er bei einer ländlichen Tanzveranstaltung kennenlernt und die zur Projektionsfläche von Werthers Leidenschaft wird. Dass sie vergeben und mit Albert verlobt sei, wird ihm hier schon mitgeteilt. Die Unerfüllbarkeit des Liebesverlangens aber entfaltet eine eigene Steigerung der Gefühlswelt, die bereits Ende des ersten Teils und zunehmend im zweiten Teil in eine Logik der Selbstvernichtung umschlägt als jene „Krankheit zum Tode“, die Werther bis zum bitteren Ende auskostet.19 Gegen Ende des Romans ist es die angebetete Lotte, die Werther 18
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Pott 1995. Das Goethe-Kapitel ist überschrieben: „Werther als l’homme copie“ (S. 75ff.). Diese der Systemtheorie Luhmanns verpflichtete Studie betont zu Recht, dass Werther bereits einem literarischen Empfindsamkeitscode folgt. Wie Luhmann unternimmt auch Pott keine genaue Sprachanalyse und überakzentuiert dementsprechend den Nachahmungsaspekt, wenn er schreibt, dass Werther „kein Original ist, sondern eine Kopie“ (S. 83). Wenn man die langen Beschreibungen und Reflexionen beispielsweise in Richardsons Briefromanen liest, erkennt man sehr schnell den Innovationsgrad des „Werther“. Bereits im Brief vom 12. August aus der zweiten Hälfte des ersten Teils drückt sich Werther spielerisch die Pistolen von Albert an die Stirn, was dieser ausdrücklich verurteilt und vor den Gefahren einer überbordenden Emotionalität warnt, „weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreissen, alle Besin-
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beschwörend und zugleich hellsichtig seine eigene Logik des Gefühls aufdeckt, um ihn noch einmal zur Umkehr zu bewegen: „Nur einen Augenblik ruhigen Sinn, Werther, sagte sie. Fühlen Sie nicht, daß Sie sich betrügen, sich mit Willen zu Grunde richten? Warum denn mich! Werther! Just mich! Das Eigenthum eines andern. Just das! Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu besizzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht.“20
Lotte ahnt hier, dass es nicht primär das Gefühl der Liebe zu ihr, sondern die Fixiertheit auf die Steigerung seines Selbstgefühls auch und gerade durch die „Unmöglichkeit“ der Erfüllung ist, die den zu diesem Zeitpunkt schon durch Züge der Entmenschung gezeichneten Werther („Er knirrte mit den Zähnen und sah sie düster an“) entstellt und am Ende in den Tod treibt. In diesem Sinne wäre eine glückliche Lösung in der Erfüllung der Liebe, wie sie Nicolais Satire „Freuden des jungen Werthers“ von 1775 ironisch entwirft, für Werther keine Lösung gewesen. Die immanente Logik einer allein auf die Steigerung der Emotionalität gestellten Wirklichkeitssicht erfüllt sich eher in der Unmöglichkeit der Erfüllung als in ihr, auch wenn solche Steigerung der Gefühlsintensität am Ende nur noch aus der Selbstzerstörung des Ich entspringt. Die finale Handlungslogik des Romans bis hin zum Selbstmord Werthers, die sich in einer Fülle von Vorausdeutungen offenbart, ergibt sich aus einer Gefühlswelt, die, in ihrer Unerfüllbarkeit, in „Krankheit zum Tode“ umschlagen und als solche den Protagonisten vernichten muss. Werthers Roman zeigt der deutschen und man kann darüber hinaus sagen: der europäischen Literatur den Weg. Die Konflikte, die wir in den großen Dramen Heinrich von Kleists finden, in Dramen Schillers, das Faustsche Schwanken zwischen Erkenntniswille und Wissensüberdruss in Goethes großem Drama des neuzeitlichen Ich, die Roman- und Dramenliteratur des 19. Jahrhunderts und natürlich auch die Entwicklung der Gattung der Lyrik in dieser Zeit: Sie alle spiegeln die Entwicklung einer Subjektivität, die ihre eigene Innerlichkeit entdeckt und dabei eben auch die Konflikte als innere Konflikte auslebt. Ich habe diese Entwicklung der neuzeitlichen europäischen Literatur aus der Ich-Origo seit der Romantik mit dem Begriff einer „transzendentalen Texttheorie“ zu beschreiben versucht.21 Die Subjektivierung der modernen Literatur kann gar nicht mehr anders, als äußere Konflikte im Medium des li-
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nungskraft verliert, und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird.“ Goethe, Werther, S. 94. In diesem Zusammenhang und im selben Brief spricht Werther, der sich über die „vernünftigen Leute“ ironisch hinwegsetzt, von der „Krankheit zum Todte“ (S. 98). Bereits im Brief vom 8. August hatte er von sich selbst als „von dem Unglüklichen“ gesprochen, „dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmählich abstirbt“ (S. 88). So verwandelt sich denn für Werther mit dem Scheitern seines Liebesverlangens „der Schauplatz des unendlichen Lebens“ in den „Abgrund des ewig offnen Grabes“ (S. 106). Goethe, Werther, S. 220. Vietta 2001, S. 179ff.
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terarischen Textes in der Brechung der Perspektivität seiner Figuren darzustellen. Die Vorstellung, die noch der Sozialistische Realismus entwickelt hatte, dass Literatur möglichst unmittelbare „Widerspiegelung“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit sein sollte, übersah diese wesentliche Entwicklungslinie der gesamten modernen Literatur. In ihr gibt es keine krude Nachahmung einer an sich seienden Wirklichkeit, sondern nur deren Erscheinung in der Brechung subjektiver Perspektiven. Das heißt nicht, dass nicht große politische Konflikte auch Gegenstand der literarischen Beschreibung sein können. Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ von 1868/69 wäre das beste Gegenbeispiel dafür. Aber auch hier bricht sich das Geschehen in den Figuren, sind es private Erinnerungen, Korrespondenzen, Gefühle und Reflexionen, die das eigentliche Handlungsgeschehen dieses Romans ausmachen. Somit ist die literarische Moderne selbst das Dokument einer Tendenz eben jener Subjektivierung und Verinnerlichung von Konflikten, an denen das Individuum teilhat, in die es hineingerissen wird, und die eben immer nur in der Brechung einer individuellen Subjektivität erfahren und literarisch gestaltet werden kann. Diese darstellungsästhetische Dimension der Moderne ist zugleich eine politische: Zeigt sie doch an, wie und unter welchen Bedingungen Subjektivität in der Moderne überhaupt Konflikte aufnehmen und verarbeiten kann.
Literatur Aischylos (o. J.) Tragödien. Übersetzt von Johann Gustav Droysen. In einer neuen Textrevision von Müller S. Wiesbaden und Berlin Bachofen JJ (1861) Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Eine Auswahl. Hrsg. von Heinrichs H-J. Frankfurt a. M. 1978 Goethe JW (1994) Die Leiden des jungen Werthers. In: Goethe JW, Sämtliche Werke. I. Abt., Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Hrsg. von Wiethölter W. Frankfurt a. M. Homer (1957) Ilias. Griechisch und Deutsch. Übersetzt von Johann Heinrich Voss. Berlin/ Darmstadt Lovejoy AO (1933) The Great Chain of Being. Cambridge Pott H-G (1995) Literarische Bildung. Zur Geschichte der Individualität. München Shakespeare W (2003) Hamlet. Zweisprachige Ausgabe. Neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther. München, 5. Aufl. Vietta S (2001) Ästhetik der Moderne. Text und Bild. München Wolf FA (1795/1963) Prolegomena ad Homerum. Leipzig 1795. Nachdruck Hildesheim
Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Swifts „Bücherschlacht“ und was damit zusammenhängt. Zur Systematisierung literarischer Konflikte horst-jürgen gerigk Für Hildegard Schwarz, „Büchertruhe Keitum“
Vorbemerkung Der literarische Text und „seine“ Konflikte – das heißt: es geht um zweierlei. Einmal um Konflikt als literarisches Thema, also um literarisch dargestellte Konflikte – zum anderen um einen Konflikt des literarischen Textes mit der Umwelt, also um Konflikte, die dadurch entstehen, dass an dem, was literarisch dargestellt vorliegt, Anstoß genommen wird. Ein Autor kann sein Buch als Waffe benutzen, um missliebige Zeitgenossen bloßzustellen, etwa in der Form eines Schlüsselromans. So liefert Friedrich Heinrich Jacobi mit Eduard Allwills Papieren ein maliziöses Portrait des jungen Goethe. Buddenbrooks sind zwar kein Schlüsselroman im strengen Sinne. Thomas Mann macht sich aber mit ihm in seiner Heimatstadt Lübeck nachhaltig unbeliebt: man erkannte sich wieder. Er selbst vermerkt prinzipiell in Bilse und ich: „Der treffende Ausdruck wirkt immer gehässig. Das gute Wort verletzt.“1 Ein Autor kann aber auch ganz einfach öffentliche Moralvorstellungen angeblich oder tatsächlich verletzen. Man denke an den Immoralismusprozess gegen Baudelaire und Flaubert.2 Es ging um die Fleurs du mal und um Madame Bovary. Oskar Panizza sieht sich wegen seiner Darstellung der Jungfrau Maria in seinem Bühnenstück Das Liebeskonzil vor Gericht gebracht und verurteilt. Die Revision wird abgelehnt, der Autor in eine Heilanstalt gesteckt.3 Jewgenij Samjatin wird wegen eines einzigen Buches von seiner eigenen Zunft derart angeprangert und zum Schweigen gebracht, dass er 1932 die Sowjetunion verläßt und 1937 im Pariser Exil stirbt.4 Auslöser war seine anti-sowjetische Satire, der Roman Wir, der, verfasst 1920, in Rußland nicht gedruckt werden
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Thomas Mann 1961, 29. Heitmann 1970; Borchmeyer 2003. Panizza 1986. Struve 1972, 228f.
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konnte, aber ab 1924 im Ausland auf russisch, englisch und französisch erschienen ist. Bücher sind offensichtlich wie Menschen. Sie können diffamiert, verboten und auch verbrannt werden. Werden sie verbrannt, dann herrscht, wie Bertolt Brecht feststellt, die „Pyrokratie“. Kurzum: es gibt Konflikte als Gegenstand des literarischen Textes, und es gibt den literarischen Text als Gegenstand des Konflikts. Das eine Mal bewegen wir uns als Leser innerhalb der vom literarischen Text dargestellten Welt, das andere Mal wird uns der Text mit dem, was er sagt, zum Gegenstand unserer empirischen Wirklichkeit. Die empirische Wirklichkeit muss geschichtlich dafür disponiert sein, einen literarischen Text als Gegenstand eines Konflikts wahrzunehmen. Welcher Thomas-Mann-Leser nimmt heute wahr, dass die Buddenbrooks mit „Lübeck“ abrechnen? Das poetologische Zentrum dieses Romans lag und liegt ganz woanders. Das Zentrum des Konflikts zwischen einem literarischen Text und seiner Umwelt muss offenbar nicht identisch sein mit dem Zentrum des Konflikts, der als Gegenstand des literarischen Textes gestaltet vorliegt. Die anstehende Aufgabe lässt sich nun präzise benennen. Es geht um eine doppelte Systematisierung. Einmal sollen die Möglichkeiten von Konflikt als literarischem Thema erfasst werden, zum anderen die Möglichkeiten des literarischen Textes, in der empirischen Wirklichkeit einen Konflikt auszulösen. Beidemal liegt Konflikt als Phänomen in all seinen Ausprägungen vor. Was aber ist ein Konflikt? Wahrigs Deutsches Wörterbuch vermerkt zu Bedeutung und Herkunft von „Konflikt“ folgendes: Streit, Widerstreit, Zwiespalt; (verhüllend) Krieg, kriegerische Auseinandersetzung […] [< lat. conflictus „Zusammenstoß, Kampf“].5
Pointiert ausgedrückt: Die Partner eines Konflikts sind jeweils darauf aus, den anderen zu vernichten: geistig, seelisch oder physisch. Swift erzählt uns deswegen von einer „Bücherschlacht“.
Swifts „Bücherschlacht“ Jonathan Swift (1667–1745) hat in seinem ersten bedeutenden Werk, A Tale of a Tub (1704), drei Prosasatiren vereinigt: die Titelgeschichte mit einer Abschweifung über den Wahnsinn, den Bericht über die Bücherschlacht und eine Abhandlung über die Technik der Stimulierung des Geistes. Die zweite dieser Schriften richtet sich gegen die Verteidigung der Moderne in Literatur 5
Wahrig 1997, 754.
Swifts „Bücherschlacht“ und was damit zusammenhängt
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und Wissenschaft. Den aktuellen Streit über die Relevanz der antiken Bildung veranschaulicht Swift als Bücherschlacht: A Full and True Account of the BATTEL Fought last FRIDAY, Between the Antient and the Modern BOOKS in ST. JAMES’s LIBRARY.6
Wie die Bücherschlacht „am vergangenen Freitag“ ausgegangen ist, kann uns Swift allerdings nicht sagen. Das von ihm gefundene Manuskript aus dem Jahre 1697 weist Lücken auf: Schäden an mehreren Stellen „durch Unbill des Schicksals oder des Wetters“. Der Schluss fehlt: Desunt caetera. Swift ist da ganz Realist. Wie eine Schlacht zwischen Büchern ausgeht, wird niemals zu klären sein. Gedanken lassen sich nicht umbringen. Auf Friedfertigkeit kann ohnehin nicht gehofft werden. „Ein Kunstwerk ist der Todfeind des anderen und möchte kein anderes neben sich haben“, vermerkt Adorno.7 Mit seiner Bücherschlacht liefert Swift die englische Variante jener in Paris geführten Debatte darüber, ob der Gegenwartskunst der Vorrang vor ihren Modellen aus der Antike gebührt, einer Debatte, die 1687 von Charles Perrault in der Académie française durch den Vortrag seines Poème sur le siècle de Louis le Grand entfacht worden war. Perrault hat seine Auffassung vom Vorrang der Gegenwartskunst ein Jahr später in seiner Schrift Parallèle des anciens et des modernes theoretisch noch tiefer begründet. Als emanzipatorische Literaturdebatte zugunsten der Gegenwartskunst ist „La querelle des anciens et des modernes“ historisch geworden. Der Begriff „Schlacht“ tritt bei Swift als realisierte Metapher auf – dies aber so, dass nicht die Autoren miteinander kämpfen, sondern deren Bücher, die allerdings wiederum, metonymisch, mit den Namen ihrer Autoren benannt werden: Ich muss den Leser darauf hinweisen, dass er sich hüten möge, etwas auf Personen zu beziehen, was hier im buchstäblichen Sinne nur von Büchern gemeint ist. Wenn also Vergil erwähnt wird, haben wie darunter nicht die Person eines berühmten Dichters mit diesem Namen zu verstehen, sondern nur bestimmte Bogen Papier, die in Leder gebunden sind und die Werke des besagten Dichters im Druck enthalten.8
Swifts Prosasatire stellt also im systematischen Zusammenhang unserer Überlegungen einen Sonderfall dar. Sie lässt den Konflikt zwischen verschiedenen Autoren, wie er in der empirischen Wirklichkeit nur im Bewußtsein eines Kritikers oder im Bewusstsein eines Autors vorkommt, der einen anderen bekämpft, selber zum literarischen Gegenstand werden. Swift gibt den Büchern ein Bewusstsein, das er mit dem Namen ihres Autors belegt. Die Lebewesen aber, das sind die Bücher. 6 7 8
Swift 1958, 211. Adorno 1956. Swift 1958, 214; 1982, Bd. I, 254.
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Die Anregung für eine Schlacht auf dem Boden der Literatur bezog Swift, wie in der Forschung angenommen wird, aus einem Roman von Monsieur de Furetière, Nouvelle Allegorique, ou Histoire des Derniers Troubles arrivez au Royaume de l’Éloquence, erschienen 1658 in Paris. Darin wird ein Bürgerkrieg im Reich der Redekunst geschildert: „Prinz Galimathias“ rebelliert gegen die Herrschaft der „Königin Rhetorik“, deren Truppen nach den literarischen Gattungen geordnet sind: Drama, Epos, Historie etc., während die Armee des Prinzen sich aus Redefiguren zusammensetzt: Hyperbeln, Antithesen, Allusionen, Allegorien etc. Auf beiden Seiten sind namhafte Schriftsteller führend.9 Der von Swift gestaltete Konflikt nun ist in concreto der zwischen den griechisch-römischen Klassikern und seinen zeitgenössischen „Kollegen“. Solche zweifache Prämisse schafft den satirischen Raum für Späße verschiedenster Art. Aesop zum Beispiel wird an entscheidender Stelle für einen modernen Autor gehalten, weil er sich in einen Esel verwandelt hat. Die Autoren der Antike treten unter der Schirmherrschaft der Pallas Athene auf, geführt von Homer, Pindar, Euklid, Plato und Aristoteles, wobei Sir William Temple die Nachhut kommandiert, Swifts Zeitgenosse, der sich für die Alten stark gemacht hatte. Homer führt die schwere Reiterei, Pindar die leichte. Euklid ist oberster Mathematiker, Plato und Aristoteles kommandieren die Bogenschützen, Herodot und Livius das Fußvolk, Hippokrates die Dragoner. Die Modernen stehen unter dem Schutz des mythischen Nörglers Momus: Tasso, Milton, Dryden, Boileau, Descartes, Gassendi, Hobbes, Paracelsus, Perrault und Fontenelle. Am Ende noch eine bunte Menge ohne Waffen, ohne Mut, ohne Disziplin, geführt von Duns Scotus, Thomas von Aquin und Roberto Bellarmino (1542–1621), der den Katholizismus gegen den Protestantismus verteidigt hat. Momus holt sich Hilfe bei der gehässigen Göttin Kritik (Criticism). Diese haust auf dem Gipfel eines schneebedeckten Berges auf Nowaja Semlja in einer Höhle, wo sie auf zahllosen halbverschlungenen Büchern liegt. Zu ihrer Rechten sitzt ihr Vater und Ehemann, die Unwissenheit (Ignorance), blind vom Alter, zu ihrer Linken ihre Mutter, der Stolz (Pride). Und da ist auch noch ihre Schwester, die Meinung (Opinion), schnellfüßig, verblendet, starrköpfig, dabei aber unbeständig und immer im Wandel begriffen. Um die Göttin Kritik herum spielen ihre Kinder: Lärm und Unverschämtheit, Stumpfsinn und Eitelkeit, Rechthaberei, Pedanterie und Schlechtes Benehmen (Noise, Impudence, Vanity, Positivism, Pedantry, Ill-Manners). Die Göttin selbst hat Krallen wie eine Katze. Kopf, Ohren und Stimme ähneln denen eines Esels. Vorne keine Zähne. Die Augen nach innen gekehrt, als würde sie immer nur sich selbst anblicken. Sie ernährt sich ausschließlich
9
Swift 1958, Introduction, 50.
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vom Sekret ihrer eigenen Galle. Swift ist hier ganz in seinem Element, und es entsteht der Eindruck, er habe im 21. Jahrhundert geschrieben. Momus erbittet Hilfe für „unsere frommen Anbeter“, die Modernen. Die Göttin überlässt sich ihrer Wut, fliegt mit ihrem ganzen Tross „nach ihrem geliebten Britannien“, erreicht die Königliche Bibliothek, wo sich beide Heere schon zum Kampfe rüsten, und landet in einem leeren Bücherregal, „um die Aufstellung der beiden Heere zu überblicken.“ Vorher aber hat sie, Momus gegenüber, einen Monolog gehalten. Swift liefert uns hier seine Version des „literarischen Feldes“ (Pierre Bourdieu). Die „Göttin Kritik“ hat im Heideggerschen „Man“ ihren Zwillingsbruder. „Ich bin es (sagte sie), die Weisheit verleiht den Kleinkindern und Idioten; durch mich werden die Kinder klüger als ihre Eltern. Durch mich werden Gecken zu Politikern, und Schuljungen zu Richtern über die Philosophie. Durch mich debattieren die Sophisten und ziehen ihre Schlüsse bezüglich der Tiefen des Wissens; und Kaffeehaus-Klugschwätzer, von mir durchdrungen, können den Stil eines Autors verbessern und seine kleinsten Irrtümer aufspüren, ohne auch nur eine einzige Silbe seiner Sache oder seiner Sprache zu verstehen. Durch mich vergeuden Grünschnäbel ihre Urteilskraft, genauso wie ihre Erbschaft, noch bevor sie überhaupt in ihre Hände kommt. Ich bin es, die Geist und Wissen in ihrer Herrschaft über die Dichtung entthront hat und sich selber an deren Stelle setzte. Und sollen denn da ein paar emporgekommene Alte es wagen, sich mir in den Weg zu stellen?“10
Schließlich fliegt die Göttin Kritik mit Unwissenheit und Stolz (ihren Eltern), mit unsteter Meinung (ihrer Schwester) sowie ihren Kindern Lärm, Unverschämtheit, Stumpfsinn, Eitelkeit etc. direkt nach London, um den Modernen zu helfen, die, so Swift, auf sie und ihren Tross angewiesen sind. Der Streit kam auf, als die Modernen die Alten aufforderten, den höheren der beiden Gipfel des Parnass zu räumen und ihnen, den Modernen, zu überlassen. Die Schlacht selbst beginnt damit, dass Aristoteles einen Pfeil auf Francis Bacon abschießt, aber aus Versehen Descartes ins rechte Auge trifft, der daran stirbt. Vergil begegnet seinem Übersetzer Dryden, der einen Helm trägt, der ihm neunmal zu groß ist. Drydens Stimme aber entspricht seinem Gesicht und klingt schwach und fern. Dryden schlägt dem guten Alten vor, den er seinen Vater nennt, was genealogisch zumindest als entfernte Verwandtschaft bewiesen wird, als Zeichen brüderlicher Gesinnung die Rüstung mit ihm zu tauschen. Vergil stimmt dem zu, von der Göttin „Schüchternheit“ (Diffidence) umnebelt, denn seine ist aus Gold, Drydens aber nicht. Swift bedauert, dass im Manuskript der Schluß fehlt: So lässt sich über den Ausgang der Schlacht nichts sagen. Bevor die Bücherschlacht beginnt, kommt ein Disput auf: zwischen einer Spinne und einer Biene. Die Spinne beschimpft die Biene. Ihr Argument: die Biene sei nichts anderes als eine Landstreicherin „ohne Haus und Hof, ohne Besitz oder Erbe“:
10
Swift 1958, 241; 1982, Bd. I, 271.
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„Du lebst einzig vom Raub an der Natur, von Freibeuterei in Feld und Garten […]. Ich dagegen bin ein Haustier, das seine Existenzmittel von Geburt an in sich trägt. Diese große Burg hier […] ist ganz das Werk meiner Hände, und die Baustoffe dazu kommen sämtlich aus meinem eigenen Leibe.“
Die Biene repliziert, die Spinne baue ihre Burg mit „Unflat und Gift“ aus ihrer eigenen Brust, sie dagegen bringe mit großem Fleiß, sicherem Urteil und feinem Unterscheidungsvermögen „Honig und Wachs“ nach Hause. Diesem Streitgespräch hört Aesop mit unendlichem Vergnügen zu (Swift lässt sich also selber loben) und ordnet dann öffentlich die Spinne den Modernen zu, denn ihr Baustoff sei „Unflat aus den eigenen Gedärmen“ (Dirt, spun out of your own Entrails), so dass das „Gebäude“ (Edifice) letzten Endes nur ein „Gespinst“ (Cobweb) sein könne, das sich solange hält, wie man es vergisst, ignoriert oder es in einer Ecke versteckt bleibt. Gleich der Spinne nähren sich die Modernen von Insekten und Ungeziefer. Wir Alten aber, so Aesop, füllen unsere Vorratskammern mit Honig und Wachs statt mit Unflat und Gift und bescheren der Menschheit zwei der edelsten Dinge: Süße und Licht. Nach dieser begeisterten Rede Aesops schwellen die Feindseligkeiten unter den Büchern auf beiden Seiten so stark an, dass es nun zur Schlacht kommen muss. Unter den Modernen erheben sich hitzige Debatten über die Wahl ihrer Führer, und „lediglich der Furcht vor dem drohenden Feinde war es zu verdanken, daß es darüber nicht zu Meutereien kam.“11 Und die Schlacht beginnt. Paracelsus hat übrigens Stinktopf-Werfer aus den Schweizer Alpen mitgebracht … Mit seinem Bericht über die Bücherschlacht in der Königlichen Bibliothek zu London liefert Swift nicht nur seinen Kommentar zur berühmten „Querelle“ der Alten und Modernen vor dem Hintergrund der englischen Situation um 1700, sondern animiert durch seine zentrale Metapher auch dazu, jegliches Verhältnis zwischen Büchern untereinander sowie zwischen Buch und Lesern als potentiellen Konflikt anzusehen, denn es treffen ja in allen Fällen verschiedene „Diskurse“ aufeinander. Ja, wer Swifts Bücherschlacht verinnerlicht, wird vielleicht seinen eigenen Bücherschrank für immer mit neuen Augen sehen und noch heute Voltaire neben das Neue Testament stellen, Dostojewskijs Dämonen neben John Reeds Zehn Tage, die die Welt erschütterten und abwarten, ob es nicht nächtens, wenn nicht zu einer Bücherschlacht, so doch zu einem Showdown kommen könnte. Der Gedanke der „Universalbibliothek“, wie er im 19. Jahrhundert aufgekommen ist, hat die existenzielle Betroffenheit durch ein radikales Buch hier und jetzt längst zugunsten taxonomischer Souveränität, das heißt zugunsten strukturalistischer Entzauberung des literarischen Textes vergessen lassen. 11
Swift 1958, 231–235; 1982, 264–267.
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Alles anerkennen, zur Bücherwand versammeln und als Thema purer Wissenschaft „verstehen“, läuft auf einen „Stoizismus des Intellekts“ hinaus, vor dem Nietzsche so eindringlich gewarnt hat. Bücher sind kein friedliches Volk. Sie sind aber deshalb noch kein Freiwild für die Göttin Kritik mit ihrem Tross. All dies bringt Swift zur Anschauung. Ja, er sagt im Grundsätzlichen: Die Bewegung des Geistes besteht, seit es Bücher gibt, aus Bücherschlachten. Swifts Leistung ist es, diesen Sachverhalt nicht in einem Traktat benannt zu haben, sondern in einer Prosasatire, die mit ihrer suggestiven Bildlichkeit nicht nur in jede Buchhandlung, sondern in jedes Schulbuch gehört. Konflikt ist Swifts Metier. „Er spürt sich erst, wenn er einen Gegner hat“, notiert Martin Walser in seinem Swift-Essay Die notwendigen Schritte.12 Es sei nun Konflikt als Gegenstand literarischer Texte näher betrachtet und danach Konflikt als Sachverhalt zwischen den literarischen Texten und ihrer Umwelt.
Kollision Hegel nennt den Konflikt, den ein literarischer Text gestaltet, Kollision. Dieser Ausdruck wird in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, gleichsam nebenbei, zum Terminus erhoben. Im Drama findet die Kollision ihre zentrale Ausprägung: „Im Epos dürfen die Breite und Vielseitigkeit des Charakters, der Umstände, Vorfälle und Begebenheiten sich Raum verschaffen, im Drama dagegen wirkt die Zusammengezogenheit auf die bestimmte Kollision und deren Kampf am vollständigsten.“ Für Hegel ist das Drama die höchste literarische Gattung, weil an ihm Außenwelt und Innerlichkeit gleichermaßen Anteil haben: „Das Drama muß […] als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden.“ Die „dramatische Poesie“ vereinigt in sich „die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzipe der Lyrik.“13 Dem epischen Helden wird sein Schicksal gemacht, der dramatische Held macht sich sein Schicksal selbst. Er wird nämlich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die aus seiner Innerlichkeit (Herz, Gemüt, Gesinnung) hervorging und nun in der Außenwelt auf Widerstand stößt. Resultat: Kollision. Diese Art der Konfrontation der Innerlichkeit mit der Außenwelt ist, so Hegel, nur in einem bereits etablierten Staat möglich, nicht in der Vorstaatlichkeit des Epos. Dort bringt erst der Held das Gesetz, auf seinen Schultern. Die Kollision entspringt entweder der „substantiellen Natur der Zwecke“, die als Inhalt der Charaktere zur Ausführung gelangen (antike Tragödie) oder der „Subjektivität als solcher“, die sich als Inhalt der Charaktere ihr Recht verschafft (moderne Tragödie). Für die antike Tragödie macht Hegel die Antigone des Sophokles als Musterbeispiel geltend. Hier seine Begründung: 12 13
Walser 1982, 462. Hegel 1971, Bd. 2, 259.
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Der Hauptgegensatz, den besonders Sophokles […] aufs Schönste behandelt hat, ist der des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als der natürlichen Sittlichkeit. Dies sind die reinsten Mächte der tragischen Darstellung. […] Antigone ehrt die Bande des Bluts, die unterirdischen Götter, Kreon allein den Zeus, die waltende Macht des öffentlichen Lebens und Gemeinwohls.14
In der modernen Tragödie dringt die „Subjektivität des Herzens“ oder die „Besonderheit des Charakters“ auf Befriedigung. Auch Subjektivität stößt jedoch, wo sie ihr Recht verwirklichen will, auf „bürgerliche und privatrechtliche und sonstige Verhältnisse“, so dass auch an den Zwecken der Subjektivität etwas Allgemeines zum Ausdruck kommt: So meint zum Beispiel schon der Major Ferdinand in Kabale und Liebe die Rechte der Natur gegen die Konvenienzen der Mode zu verteidigen, und vor allem fordert Marquis Posa Gedankenfreiheit als ein unveränderliches Gut der Menschheit.15
Kurzum: Hegel lässt eine Subjektivität, die partikular bleibt, deren Zwecke sich also nicht „zur Allgemeinheit und umfassenden Weite des Inhalts ausdehnen“, nicht gelten. In Schillers Jugendwerken erscheine das „Pochen auf Natur, Menschenrechte und Weltverbesserung mehr nur als Schwärmerei eines subjektiven Enthusiasmus“.16 Wenn Schiller in seinem späteren Alter ein reiferes Pathos geltend zu machen suchte, so sei das deshalb geschehen, weil er „das Prinzip der antiken Tragödie auch in der modernen dramatischen Kunst“ wiederherzustellen im Sinne hatte. Man sieht deutlich, wie Hegel bei seiner Würdigung der „Subjektivität“ als Motor des Charakters in der modernen dramatischen Kunst ganz auf der Seite des antiken Prinzips bleibt, das die substantielle Natur der Zwecke voraussetzt. Das heißt: Bereits mit der gedanklichen Konzeption eines literarischen Kunstwerks fällt die erste Entscheidung über die Möglichkeit des künstlerischen Gelingens. Nicht erst das „Wie“ der handwerklichen Umsetzung entscheidet – die wiederum nicht „ohne Geist“ geschehen darf, wie Kant hinzugefügt hätte. Die Kollision aber muss vorweg schon „stimmen“, damit Wesentliches zum Ausdruck kommen kann. Hegels Überlegungen betreffen die Literaturfähigkeit von Kollision. Nicht jede empirische oder denkbare Kollision lässt sich künstlerisch befriedigend festhalten. Das Besondere der kollidierenden Charaktere muss im Dienste eines substantiellen Allgemeinen stehen. Besonderheit als solche kann kein Ziel von Darstellung sein, weil jede Besonderheit einen ihr inhärenten Zug zum Allgemeinen (Exemplarik) hat.Armut oder Grausamkeit oder Sexualität sind, jeweils als solche gesehen, kein mögliches literarisches Thema. Ihre automatische Metaphorisierung durch Darstellung impliziert sofort Koordinaten, die
14 15 16
Ebd., 330. Ebd., 344. Ebd.
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auf die substanzielle Natur von Zwecken bezogen sind, die vom Autor gemeint sein müssen. Hegels Begriff der Kollision, wie ihn seine Vorlesungen über die Ästhetik entwickelt haben, lässt sich zweifellos zu einem Zentralbegriff literarischer Wertung erheben, was die gedankliche Konstruktion eines literarischen Kunstwerks betrifft. Zwar ist dieser Begriff ganz in Hegels philosophische Begründung einer Gattungspoetik integriert, seine unbegrenzten Anwendungsmöglichkeiten aber, etwa auch auf die literarische Szenerie des 20. Jahrhunderts, liegen auf der Hand. Die Substanz der gestalteten Kollision macht den künstlerischen Rang eines literarischen Textes aus. Dass die Dichtung des François Villon von der Kollision lebt, bedarf keiner Hervorhebung. Aber auch die so genannte „reine Lyrik“ bezieht ihre Tiefenwirkung aus der Kollision mit einer mitlaufenden Möglichkeit von Gegenstimmung. So beschwört Wandrers Nachtlied („Über allen Gipfeln“) mit der friedlichen Stimmung inmitten der Natur gleichzeitig die Vorstellung des unabwendbaren Todes: Gesichtssinn, Tastsinn, Gehörssinn werden nacheinander auf eine Nullstelle gebracht. Mit dem Fazit: „Warte nur, balde / Ruhest du auch.“ Die Kollision steckt hier im erlebten Begriff der Ruhe, der den Tod mit sich führt. Die Dichtung Paul Celans hat ihre Kollision in der ihr inhärenten Auslöschung von Sinn überhaupt. „… machs Wort aus“: das ist, wie Klaus Manger pointiert hat, Celans doppelsinnige Formel für seine aus der Sprache selbst geborene Sprachnot, sein poetischer Imperativ.17 In solche Richtung zielt auch Heideggers Frage, mit der er seine Einführung in die Metaphysik beginnt: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“18 Die Frage wird von Heidegger noch weiter zugespitzt, indem er uns auffordert,„vielmehr“ in zwei Worten zu hören, nämlich als „viel mehr“. Viel mehr Nichts zu denken, lässt das Denken mit seiner Unmöglichkeit kollidieren. Doch zurück zur Literatur. Es gibt eine literarische Gattung, in der die Kollision zum Ritual gehört. Ich spreche vom Western. Die Kollision, das ist hier der „Showdown“. Webster’s New World Dictionary of the American Language gibt zwei Bedeutungen an: „1. in poker, the laying down of the cards face up. 2. a revelation or disclosure, as of the true nature of a situation.“19 Im klassischen amerikanischen Western, dessen Muster Owen Wister 1902 mit seinem Roman The Virginian: A Horseman of the Plains geliefert hat,20 ist der Showdown der Höhepunkt: als Duell des Helden mit seinem Widersacher, ausgetragen mit Schußwaffen unter Augenzeugen. Dieses Duell des WesternHelden mit seinem Widersacher ist eine nationale Angelegenheit. Erinnert sei daran, dass der Ort des klassischen Westerns die „Grenze“ ist: frontier. An der 17 18 19 20
Manger 1997 Heidegger 1983, 3. Webster 1964, 1350. Wister 1979.
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Grenze hat sich der Staat noch nicht vollendet etabliert. Die Grenze ist noch unterwegs zum Staat, denn das Gesetz wird noch bedroht von Gesetzlosigkeit, von Gewalt und Gewaltherrschaft. Solche Vorstaatlichkeit aber ist die Zeit des „Helden“ im ursprünglichen Sinne. Sie ist die Zeit des Epos, wie Hegel sagt. Das Gesetz wird in solcher Vorstaatlichkeit nicht vom Gesetzeshüter, nicht von den „Polizisten“ hergestellt, sondern vom Helden, der das Gesetz bringt. Diesen Prozess gestaltet der klassische Western. Höhepunkt dieses Prozesses ist die Kollision des Helden mit dem Exponenten der Gesetzlosigkeit, der im Showdown erschossen wird. Danach heiratet der Held, verschwindet damit sozusagen in der Bürgerlichkeit (Wisters Virginian), oder er verlässt die Stadt und reitet allein weiter in die mondhelle Nacht (Jack Schaefers Shane21). Mit einem Wort: Nachdem er das Gesetz hergestellt hat, gibt es für den Helden keine Verwendung mehr. Die historische Zeit dieser Kollision sind die achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten. Diese Zeit hat den Western-Helden und mit ihm den zentralen amerikanischen Mythos hervorgebracht. Owen Wisters The Virginian spielt genau in dieser Zeit in Wyoming. Den historischen Hintergrund liefern jene Ereignisse, die im April 1892 zum sogenannten „Johnson County War“ führten: Großrancher und Heimstättensiedler lagen miteinander im Kampf um die „freie Weide“.22 Es bleibt zu vermerken, dass aus der historischen Kollision zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit, die den Western-Helden geboren hat, bislang kein Text hervorgegangen ist, der künstlerischen Ansprüchen wirklich genügen würde. Owen Wister zog es vor, The Virginian seinem Freund Henry James nicht zu schicken. Anders aber steht es mit dem Kino-Western. Hier lassen sich mehrere nennen, die zu Recht höchstes künstlerisches Ansehen genießen. Was die in unserem Kontext nach vorn gerückte Kollision anbelangt, steht Fred Zinnemanns High Noon (USA, 1952) zweifellos an der Spitze. Der bereits entpflichtete Sheriff stellt in einem Interregnum der Vorstaatlichkeit, in die Hadleyville,„a dirty little village in the middle of nowhere“, zurücksinkt, in eigener Verantwortung das Gesetz her: als „Held“ im ursprünglichen Sinne. Der Staat etabliert sich neu im Showdown, und das mithilfe illegaler Gewalt: die Ehefrau des Sheriffs, eine Quäkerin (sic!), tötet einen der vier Schurken durch eine Schuss in den Rücken und rettet damit ihrem Mann das Leben. Das Gesetz muss für einen Moment der Gesetzlosigkeit gleich werden, um sich etablieren zu können. Die anonymen Mächte Gesetz und Gesetzlosigkeit werden in High Noon in ihrer historischen Konstellation durch Umsetzung in Handlung und Charaktere vollendet veranschaulicht. Fred Zinnemann arbeitet mit nur drei Bildern. 21 22
Schaefer 1984. Vgl. Max Westbrook, Afterword, in: Wister 1979, 318–331.
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Da ist der Schienenstrang, auf dem sich die Gesetzlosigkeit nähert; da ist die Wanduhr mit ihren Zeigern, die durchgehend an den Termin des Showdown erinnern: Zwölf Uhr mittags; und da ist der allein die verlassene Straße in der Mittagshitze entlanggehende Sheriff, der ausschließlich seinem Ehrenkodex gehorcht und sein privates Glück aufs Spiel setzt. Text und Bild und die Musik mit dem Herzschlag der Angst sind ganz auf den künstlerischen Ausdruck der Kollision von Gesetz und Gesetzlosigkeit ausgerichtet. Der Titelsong von Dimitri Tiomkin, der mehrfach wiederkehrt, benennt als innerer Monolog des Sheriffs sowohl die öffentliche Kollision des Showdown als auch die private von Liebe und Pflicht, die der öffentlichen Kollision die profilierende Folie ist.23
Anstößigkeit Anstößigkeit bezeichnet die Möglichkeit einer Beziehung zwischen einem literarischen Text und seiner zeitgenössischen oder späteren Umwelt.Verschiedene Gründe dafür, dass ein Text als anstößig empfunden wird, sind zu unterscheiden: – Ein Autor kann aus ganz privaten Gründen (erfahrene Kränkung, Eifersucht, Neid) eine Bezugsperson literarisch negativ porträtieren, ohne dass diese Gründe selbst gestaltet werden. Anstoß nehmen der Betroffene selbst oder auch dessen Sympathisanten. Voraussetzung für das Anstoßnehmen ist ein Wissen, das im literarischen Text nicht vorkommt. Das literarisch Gestaltete wird erst durch dieses Wissen als Verunglimpfung einer bestimmten Person erkannt. – Ein Autor kann aus ganz verschiedenen Gründen eine Institution literarisch angreifen: die Regierung des Staates, in dem er lebt (Samjatin: Wir), die römisch-katholische Kirche (Gide: Die Verliese des Vatikan), das Militär (Remarque: Im Westen nichts Neues) etc. Anstoß nimmt die betroffene Institution nach Maßgabe ihrer Machtmittel.Woran Anstoß genommen wird, das Anstößige, liegt im Text selber veranschaulicht vor. – Ein Autor kann gegen die geltenden Prinzipien des Zulässigen verstoßen, und das moralisch (Darstellung des Obszönen), ästhetisch (Darstellung des Ekelerregenden) oder politisch (Verunglimpfung ethnischer Minderheiten). Das Grenzen setzende Zulässige unterliegt ständig der geschichtlichen Veränderung. Wer Anstoß nimmt und das Gesetz bemühen möchte, sieht sich stets einer Variablen gegenüber. Es kommt nun darauf an, einzusehen, dass Anstößigkeit einem literarischen Text zwar eine bemerkenswerte Wirkungsgeschichte verschaffen kann, mit seinem künstlerischen Rang aber nicht das Geringste zu tun hat. Protokolle 23
Gerigk 2004.
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der Anstößigkeit liefern immer nur einem Akzidens des literarischen Textes eine Überresonanz. So karikiert Fjodor Dostojewskij in seinem Roman Die Dämonen (1872) seinen Kollegen Iwan Turgenjew in der Gestalt des „großen Schriftstellers“ Semjon Karmasinow (von russ. karmazin = „Karmesin“) als jemanden, der sich bei der „roten“ Jugend anbiedert und literarischen Kitsch produziert. Turgenjew zeigt sich indigniert und schreibt am 15. Dezember 1872 an Frau Maria A. Miljutina: „Anstatt mich zu verleumden, hätte er mir lieber das Geld zurückgeben sollen, das er sich von mir geliehen hat …“24 Martin Walser wiederum karikiert im Tod eines Kritikers (2002) den in der Bundesrepublik Deutschland weithin bekannten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in der Gestalt der „Fernseh-Larve“ André Ehrl-König als eine Mischung aus „Heiligem Franziskus“ und „Dracula“, der Lessing wie Kaugummi im Munde führt und beim Sprechen mit seinem Speichel ejakuliert. Swifts Göttin Kritik, die sich vom Sekret ihrer eigenen Galle ernährt, hat hier einen Drillingsbruder bekommen. Den gattungspoetischen Konnex zwischen Swifts Satire und Walsers Roman hat bereits Norbert Greiner offengelegt.25 Jetzt geht es um die typologische Identität der Göttin Kritik mit André EhrlKönig. Der Angriff auf eine einzelne Person, die dem Autor verhasst ist (wie das für Dostojewskij und Walser zutrifft), hätte jedoch nicht ausgereicht, um einen Konflikt hervorzubringen, der von öffentlichem Interesse ist. Im Falle der Dämonen setzte dieser Konflikt erst nach der Oktoberrevolution des Jahres 1917 ein, denn dieser Roman Dostojewskijs ist die schärfste Attacke auf die revolutionäre Bewegung in Russland, die die russische Literatur kennt. Der Sozialismus wird darin nicht als die „zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten“ gekennzeichnet, wie das Nietzsche tat,26 sondern als Gewaltpotential, das seine Visitenkarte bereits als Terrorismus in den eigenen Reihen hinterlegt hat und mit Gewissheit den totalitären Staat hervorbringen wird. So ist denn auch im Sowjetstaat niemals eine Einzelausgabe der Dämonen erschienen – bis zum Jahre 1990,27 als die Sowjetunion bereits kurz vor der Auflösung stand, die dann auch im Dezember 1991 offiziell vollzogen wurde. Bis dahin war dieser Roman im Lande der Sowjets nur im Rahmen der Gesamtausgabe verfügbar, konnte also in den öffentlichen Bibliotheken als „ausgeliehen“ zurückgehalten werden. Im Grundsätzlichen bleibt allerdings festzuhalten, dass die Dämonen im politischen Kontext nicht aufgehen.28
24 25 26 27 28
Gerigk 1995, 23. Greiner 2003, 112–117. Nietzsche 1964, Bd. 9, 90. Dostoevskij 1990. Gerigk 1997 und 2003.
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Und Martin Walsers Tod eines Kritikers wurde nicht zum Anlass eines öffentlich ausgetragenen Konflikts, weil hier ein Autor seinen ihm nicht positiv gesonnenen Kritiker zu einer literarischen Spottgestalt werden ließ, sondern weil Frank Schirrmacher am 29. Mai 2002, noch bevor der Roman erschienen war, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in einem offenen Brief an Martin Walser behauptete, dieser habe einen antisemitischen Text geschrieben. Nicht um den Mord an einem Kritiker gehe es darin, sondern um den „Mord an einem Juden“. Mit einem Wort: der Roman nutze „das Repertoire antisemitischer Klischees“ ohne Feingefühl für die Vita des Attackierten. Ja, Schirrmacher unterstellt Walser, damit zu spielen, dass die in Warschau unterbliebene Ermordung Reich-Ranickis durch die Deutschen jetzt „fiktiv nachgeholt wird.“29 Als der Roman dann wenige Tage später erschien, wurde er unaufhaltsam zum Bestseller, nicht weil darin die Medienlandschaft hohnvoll durchleuchtet wurde, sondern weil nun die böse Frage im Raume stand: Trifft der Vorwurf des Antisemitismus gegen Walser zu, oder nicht? Die Öffentlichkeit wollte sich eine eigene Meinung bilden, und der Tod eines Kritikers schnellte auf Platz 1 der Bestseller-Listen. Wer den „Skandal“ im Detail beobachtete, konnte meinen, hier habe Machiavelli persönlich das Marketing übernommen und Schirrmacher und Reich-Ranicki für Walser arbeiten lassen. Machiavelli aber wusste auch, dass für die Öffentlichkeit die Widerlegung der Behauptung, Tod eines Kritikers sei ein antisemitischer Text, nicht von Interesse sein würde. Denn tatsächlich kamen die fünfzehn Stellungnahmen zu dem, was wirklich geschah mit André Ehrl-König, zu spät: Der Ernstfall, eine Sammlung von Essays zu Martin Walsers Tod eines Kritikers, herausgegeben von Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel (2003), fand nur noch in Fachkreisen Gehör. Die Furie des öffentlichen Interesses war bereits weitergeeilt. Was zeigt sich an diesen zwei Beispielen? Konflikte zwischen einem literarischen Text und der Öffentlichkeit finden im „literarischen Feld“ (im Sinne Pierre Bourdieus30) statt, das eingelagert ist ins „Feld der Macht“ und keine künstlerische Substanz kennt, sondern nur den Kurswert eines Kunstwerks hier und jetzt. Das Feld der Macht wird von ökonomischen, politischen und religiösen Faktoren bestimmt. Sie prägen den öffentlichen Diskurs. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“. Hölderlins Schlusszeile seines Gedichts Andenken bedeutet in unserem Zusammenhang, dass die künstlerische Substanz eines literarischen Texts mit seinen möglichen Konflikten in der Öffentlichkeit gar nichts zu tun hat. Entscheidend für diese Substanz sind vielmehr die thematisch gestalteten Konflikte, die sich durch ihre automatische Metaphorisierung aller aktualisierenden Anbiederung entziehen. Wirkungsgeschichte als Skandalgeschichte eines literarischen Textes, die Spur also, die
29 30
Schirrmacher 2002, 49. Bourdieu 1997.
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er im Feld der Macht gezogen hat, steht mit der Wahrheit seines Gegenstandes zu dem,„was bleibet“, immer in einem nur mittelbaren Verhältnis. Dass Voltaire mit Candide ou l’Optimisme (1759) Leibniz zum Angriffsziel hat und damit auf die Philosophie Schopenhauers antichristlich vorausweist, ist für die künstlerische Substanz dieses Romans etwas Äußerliches. Sie hat ihr Kriterium in der unausrottbaren Zuversicht der Titelfigur angesichts der unendlichen Kette von Unglücksfällen, die ihren Lebensweg ausmachen. Ein Fall von permanenter Salutogenese! Die Spitze gegen Leibniz wird von der Veranschaulichung der Antithetik von Leiderfahrung und Optimismus aufgeschluckt. Desgleichen hat Tolstojs antiklerikale Pointe in seinem Roman Auferstehung (1899) längst ihre Schlagkraft verloren, nicht aber die Substanz des Romans. Deren Schlagkraft wurzelt in Tolstojs Philosophie der Institutionen.31 Anlässlich der Darstellung eines Gefängnisgottesdienstes hatte Tolstoj den Mummenschanz der Priester der russischen Staatskirche angeprangert und wurde deshalb im Jahre 1901 auf Beschluß des Heiligen Synods exkommuniziert. Der Hirtenbrief vom 20. bis 22. Februar 1901 mit der Verurteilung Tolstojs ist in allen Kirchen des Landes verlesen worden und wurde von drei Metropoliten, einem Erzbischof und drei Bischöfen unterzeichnet. Der Brief begann: Gott erlaubt, dass auch in unseren Tagen ein neuer Ketzer erschienen ist, der Graf Lew Tolstoj. Dieser weltberühmte Schriftsteller ist von Geburt Russe und rechtgläubig durch Taufe und Erziehung. Durch seinen Stolz verblendet, hat er sich indes frech gegen Gott, seine Gesalbten und sein heiliges Vermächtnis erhoben. Vor aller Welt hat er öffentlich die orthodoxe Kirche verleumdet, die ihn wie eine Mutter gehegt und aufgezogen hat. Seine literarische Tätigkeit und sein ihm von Gott gegebenes Talent benutzt er zur Verbreitung einer Lehre, die gegen Christus und die Kirche gerichtet ist. […]
Der Schluß dieser Abmahnung ist mit seinem Ritual des Einlenkens auf höherer Ebene eine noch größere Anzüglichkeit als ihr offensiver Beginn: Darum kann die Kirche ihn nicht länger als eines ihrer Mitglieder anerkennen, solange er nicht bereut und Versöhnung sucht. […] Wir bitten dich, barmherziger Herr, wünsche nicht den Tod dieses Sünders. Erhöre unser Gebet und erbarme dich und führe ihn zurück in deine heilige Kirche. Amen.
Tolstoj antwortete: […] Mehr als alles andere liebe ich jetzt die Wahrheit. Bis jetzt waren für mich die Wahrheit und das Christentum, so wie ich es verstehe, eins. Diese Lehre verkünde ich, und in dem Maße, wie ich mich zu ihr bekenne, lebe ich jetzt friedlich und glücklich in Erwartung des Todes.
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Dornemann 1984.
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Zu diesem Zeitpunkt war Tolstoj 72 Jahre alt. Der Heilige Synod wertete Tolstojs Antwort als Kriegserklärung. In aller Welt löste die Verurteilung Tolstojs als Ketzer Empörung aus. Die Nachricht drang bis nach Amerika, Japan, China, Indien, Südafrika. Allerdings wurde in Russland auch die Partei der Kirche ergriffen. Tolstoj erhielt Drohbriefe: Falls er den Teufel sehen wolle, brauche er nur einen Blick in den Spiegel zu werfen. In Moskau wurde er auf der Straße belästigt: „Schau, da geht der Teufel in Menschengestalt.“32 Dieser Konflikt des Romans Auferstehung mit der russischen Staatskirche gehört zwar zu dessen Wirkungsgeschichte, liegt aber als Spur des Romans im Feld der Macht auf einer völlig anderen logischen Ebene als die Entscheidung über den künstlerischen Rang dieses Werkes, das die betäubende Wirkung der Institutionen auf das Bewusstsein des Individuums zum zentralen Thema hat: die Unmöglichkeit jeglicher Institution, Transzendenz adäquat zu verwalten. Abschließend noch ein kurzes Wort zum Index librorum prohibitorum der römisch-katholischen Kirche, der von 1559 bis 1966 existierte. Nach der Öffnung der römischen Archive im Januar 1998 hat Peter Godman die ersten Schritte zu einer Geschichte des Bücherverbots hauptsächlich auf dem Gebiet der schönen Literatur unternommen und inzwischen zwei Monographien vorgelegt: Die geheime Inquisition (2001) und Weltliteratur auf dem Index (2001). Sein Fazit: Scheinbarer Glanz und tatsächliches Elend dogmatisierter Macht zeigen sich angesichts der Zensur literarischer Texte wie unter einem Vergrößerungsglas. Der Fall Graham Greene, dessen Roman The Power and the Glory (1940) am 17. November 1953 vom Heiligen Offizium mit dem Bannspruch belegt wurde, ist für Godman Musterbeispiel für das Unbehagen der Kirche gegenüber dem literarischen Kunstwerk. Das Selbstverständnis Roms wirkt sich zum eigenen Schaden aus. Seine Eminenz Kardinal Griffin, Erzbischof von Westminster, wird vom Heiligen Offizium angewiesen, Graham Greene „zu mahnen, er möge seinen Büchern einen aus katholischer Sicht konstruktiveren Tenor verleihen,“ und ihm zu raten,„keine Neuauflagen und Übersetzungen von The Power and the Glory zuzulassen“, die nicht „angemessene Berichtigungen […] nach Maßgabe der voranstehenden Bemerkungen“ aufweisen. Bernard Kardinal Griffin verfasste daraufhin zum Advent 1953 einen Hirtenbrief, in dem er, ohne Greene beim Namen zu nennen,„gewisse Tendenzen in der zeitgenössischen Literatur“ beklagte. Außerdem empfing er am 9. April 1954 Graham Greene in Audienz, um ihm die Leviten zu lesen. Im Hirtenbrief heißt es: Tatsächlich enthalten Romane, die beanspruchen, Vehikel für die Verbreitung der katholischen Lehre zu sein, Passagen, die sich durch ihre ungezügelte Darstellung unmoralischen Verhaltens für viele Leser als Quelle der Versuchung erweisen. Auch wenn es durchaus sein mag, dass solche Literatur von einer ausgesuchten Minderheit getrost gelesen werden kann, 32
Hirtenbrief und Tolstojs Antwort zitiert nach Kjetsaa 2001, 342 und 344.
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wird doch die Moral der Mehrheit so sehr durch sie gefährdet, dass ihre uneingeschränkte Veröffentlichung ganz und gar nicht wünschenswert ist. […] In letzter Zeit ist in Unserer Gemeinde häufig die Bitte um amtliche Weisung in dieser Sache an Uns herangetragen worden. Zwar widerstrebt es Uns, ein pauschales Urteil zu fällen. Wir meinen indes, dass es Uns als Hütern des Glaubens und der Moral obliegt, diese warnenden Worte auszusprechen. Wir ersuchen die betreffenden katholischen Schriftsteller, deren literarische Verdienste außer Frage stehen, inständig darüber nachzudenken, ob sich ihr Talent nicht besser einsetzen lässt, mehr im Einklang mit den erhabenen Traditionen der katholischen Literatur und weniger in Gefahr, sich als schädlich für die Moral ihrer Leser zu erweisen.33
Wie man sieht, wird hier mit der Unterscheidung zwischen einer „ausgesuchten Minderheit“ der Leser und ihrer moralisch gefährdeten „Mehrheit“ priesterlich argumentiert und zugleich die Differenz zwischen Unmoral und „literarischem Verdienst“ in Anschlag gebracht. Machtanspruch verkleidet sich in Biederkeit – und das im Namen der Armen im Geiste. Eine adäquate Auslegung des Romans wird gar nicht erst versucht.34 Poetologie bleibt auf der Strecke. Graham Greene reagiert auf die Audienz bei Bernard Kardinal Griffin mit einem französisch geschriebenen Brief vom 6. Mai 1954 an Giuseppe Kardinal Pizzardo im Heiligen Offizium: Ich möchte betonen, dass ich in meinem gesamten Leben als Katholik nie aufgehört habe, mich dem Stellvertreter Christi aufs Innigste verbunden zu fühlen, wobei diese persönliche Bindung noch durch die Bewunderung verstärkt wird, die ich für die Weisheit empfinde, mit der unser Heiliger Vater Gottes Kirche fortwährend lenkt. […] Eure Eminenz wird deshalb verstehen, wie untröstlich ich war, erfahren haben zu müssen, dass mein Buch The Power and the Glory im Heiligen Offizium auf Kritik gestoßen ist.
Das ist Unterwerfung, wenn auch mit kaum belegbarem ironischen Unterton. Nun aber setzt Greene zum Gegenangriff an, indem er unbedachte Lektüre moniert: Absicht des Buches war es, die Macht der Sakramente und die Unzerstörbarkeit der Kirche der bloß vergänglichen Macht eines im Grunde kommunistischen Staates [Mexiko 1938] gegenüberzustellen.
Und dann delegiert Greene, als Abschluss, die ihm aufgebürdete Verantwortung, ohne mit der Wimper zu zucken, an Dritte: seine Verleger. Schließlich bitte ich Eure Eminenz, zu bedenken, dass jenes Buch vor vierzehn Jahren erschienen ist und folglich die Rechte von mir auf die Verleger in verschiedenen Ländern übergegangen sind. […] Ich werde Eurer Eminenz die Namen der betreffenden Verleger übersenden. Sie allein haben das Recht zu einer Neuauflage des Buches.35
33 34 35
Godman 2001, 326–327. Vgl. Hoggart 1973; Henry 2002. Ebd., 328f.
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Damit verlief die Angelegenheit im Sande. Acht Jahre später plädierte Pietro Kardinal Ciriaci in seiner Rede vom 5. Mai 1962 vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil dafür, keine Verbote von Büchern mehr auszusprechen. Sein Argument ist „psychologischer“ Natur: Denn hier gilt das psychologische Gesetz, dass die Masse von der verbotenen Frucht angezogen wird. Wird also ein Buch als unmoralisch verdammt, hat es umso mehr Leser. Es gab sogar Verleger, die vorn auf ihre Bücher schrieben: „Verboten vom Heiligen Offizium“. Das ist eine Tatsache. Man muss sich fragen, warum sie dem Heiligen Offizium nicht gleich einen Anteil ihres Gewinns zukommen ließen, da ihnen dieses doch einen großen Dienst erwiesen hat.36
Vier Jahre später, im Jahre 1966, wurde der Index librorum prohibitorum abgeschafft. Zusammenfassend bleibt festzustellen: Ein literarischer Text, der durch Anstößigkeit auffällig wird, so dass sich eine Institution mit ihm beschäftigt, unterliegt im Fadenkreuz solcher Sicht einer Abrichtung, die seiner Substanz wesensfremd ist. Sein Stoff wird damit in die empirische Wirklichkeit hineingezogen, die er Stoff durch Integration in ein künstlerisches Gebilde ja gerade verlassen hat. Die Wirklichkeit, die ein Dichter seinen Zwecken dienstbar macht, mag seine tägliche Welt, mag als Person sein Nächstes und Liebstes sein; er mag dem durch die Wirklichkeit gegebenen Detail noch so untertan sich zeigen, mag ihr letztes Merkmal begierig und folgsam für sein Werk verwenden: dennoch wird für ihn – und sollte für alle Welt! – ein abgründiger Unterschied zwischen der Wirklichkeit und seinem Gebilde bestehen bleiben: der Wesensunterschied nämlich, welcher die Welt der Realität von derjenigen der Kunst auf immer scheidet.37
Thomas Mann ist es, der hier, in seinem Essay Bilse und ich, Stellung bezieht und damit implizit auch allen Zensoren ihr ontologisches Missverständnis vorrechnet. Nur: Er weiß genau, dass dies eine Rechnung ohne die zahllosen Leser ist, die den Wesensunterschied zwischen der Welt der Realität und der Welt der Kunst gar nicht berücksichtigen, weil sie nicht angehalten wurden, poetologisch denken zu lernen. Für alle Welt aber „sollte“ dieser Wesensunterschied gelten.
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36 37
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Otto Dix – das Triptychon „Der Krieg“ 1929–1932 dietrich schubert „Mit dem Geschwätz von der ‚reinen‘ Kunst ist man am Ende …“ (Dix, Dezember 1966)
I Überblickt man die verschiedenen Strömungen der Malereigeschichte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts (Expressionismus, Realismus, Konstruktivismus,„Neusachlichkeit“, Gegenstandslosigkeit), so ist ohne Zweifel die Malerei des an der Kunstakademie Dresden wirkenden Thüringer Arbeitersohnes Otto Dix die konfliktträchtigste gewesen, ein erbarmungsloser Realismus in der Perspektive von Nietzsches Entlarvungs-Psychologie, die Dix inspiriert hatte. Die Abstraktionen von Molzahn, Kandinsky oder Freundlich wirken dagegen wie harmlose Farben- und Formspiele. Bereits 1921 wird eines der „besten“ Dix-Gemälde (Salon I) auf der Großen Berliner Kunstausstellung zurückgewiesen, 1922 malt er in einer „schneidend kalten, scheinwerfergrellen, nichts ersparenden Veristik“ (W. Wolfradt) das Gemälde Mädchen vor Spiegel, zeigt es in der Juryfreien Ausstellung in Berlin, wo es vom Staatsanwalt der 8. Strafkammer Landgerichts I Berlin wegen „Unzüchtigkeit“ im Sinne des § 184 Ziff. 1 StGB beschlagnahmt wird,1 1923 folgt in Darmstadt ein Zugriff auf das Gemälde Salon II in der Ausstellung „Deutsche Kunst 1923“, und 1924 kommt es zum berühmten Schützengraben-Streit. Seit 1933 werden Dix’ Kriegsdarstellungen von den Nazis verfolgt, konfisziert und teils sogar zerstört.
1
Dazu die Dokumentation von Hütt 1990, 53f. und 200f.; Max Osborn schrieb in der Vossischen Zeitung am 31. 10. 1922 dazu: „Der Maler Dix ist ein grimmiger Spötter, der mit einem Fanatismus des Hohns die Eitelkeit der Welt, der Zeit und der Menschen zu geißeln liebt. Sein Mägdlein vor dem Spiegel ist nichts weniger als eine rosige Oblatenschönheit, sondern eine verruchte, alte Vettel, die vor dem Spiegel Toilette macht … hat jemand wieder die Häßlichkeit des Objekts mit künstlerischer Unschönheit verwechselt. Aber müssen Landgericht und Staatsanwalt so kunstfremden Regungen nachgeben?“ (zit. n. Hütt 1990, 202). Dix wurde schließlich – mithilfe der Sachverständigen Maler Max Slevogt und Karl Hofer – am 26. 6. 1923 freigesprochen; der Angeklagte hatte bestritten, dass sein Bild „eine unzüchtige Darstellung“ sei. Max Osborn berichtete darüber in der Vossischen Ztg. vom 4. Juli 1923. – Zu den Prozessen gegen George Grosz vgl. Neugebauer 1993.
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Kurz vor der Diktatur der Nazis stellte Otto Dix in der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin in deren Herbstausstellung 1932 ein gewaltiges Hauptwerk aus, gemalt auf vier Holztafeln, der lapidare Titel Der Krieg.2 Dix hatte seinen Stil von einem scharfen, kritischen Realismus bzw. Verismus mit – durch die jahrelange Nietzschelektüre inspirierten3 – deutlich sarkastischen Zügen nach 1925 zu einem mehr beruhigten altmeisterlichen Naturalismus gewandelt. Bereits an den beiden Eltern-Bildnissen, aber auch an den Selbstbildnissen wie dem als quasi Christophorus mit Sohn Jan auf der Schulter von 1932 (heute Privatbesitz, Abb. 1)4 kann man die Wandlung und diese neue Stil-
Abb. 1. Otto Dix: Selbstbildnis mit Jan, 1930 (Photo: Galerie der Stadt Stuttgart) 2 3 4
Katalog Herbstausstellung Preußische Akademie der Künste, Berlin 1932, No. 24 ohne Abb. Vgl. schon Schubert 1980, 54–57; Beck 1984, 1411–1415; O’Brien-Twohig 1992, 40f. D. Schmidt 1981, 120.
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position erkennen. Dabei orientierte sich Dix bewusst an der Tradition der Altdeutschen, also Dürer, Grünewald und Baldung Grien, welche er als seine ,Lehrer‘ empfand. Die Beziehungen zur Tradition konstatierte schon 1924 Willi Wolfradt in seinem vehementen Dix-Text.5 Das große Triptychon, das Dix 1932 erstmals und einzig öffentlich ausstellte, war eine Fortsetzung seines Leinwandgemäldes Schützengraben von 1923, das derart Aufsehen und Proteste gegen den unbarmherzigen Verismus auslöste, dass das Kölner Museum dieses Werk 1924 wegen des Druckes der Gegner (im Hintergrund u. a. Konrad Adenauer als Oberbürgermeister) zurückgeben musste.6 Dieses erschütternde Bild eines deutschen Schützengrabens um 1916 hatte sodann die Stadt Dresden 1928 erworben, zeigte es aber nicht in ihrer öffentlichen Galerie. Der Anblick der verwesenden Leichen in einem durch Artillerie-Trommelfeuer zerstörten Graben mit zerschossenen Soldatenleibern und mit einer Pfütze aus Blut und Wasser im Zentrum sollte die Nachkriegs-Öffentlichkeit nicht irritieren (Abb. 2). Die authentischen Photographien – etwa die 1924 in Ernst Friedrichs Buch „Krieg dem Kriege!“ publizierten – verblassten gegenüber dem großen Gemälde von Dix. Besonders die NS-Kulturpolitiker in Dresden, die im Sinne des RevancheWillens der ganzen Hitler-NS-Bewegung agierten, bemächtigten sich im Frühjahr 1933 der Leinwand Schützengraben und stellten sie im Herbst 1933 in ihre erste Entartete-Kunst-Schau im Dresdner Rathaus.7 Auch die große Arbeit Kriegskrüppel von 1920 wurde aus dem Stadtmuseum Dresden, wo sie Paul F. Schmidt erworben hatte, in diese Ausstellung gehängt. Einer der Initiatoren, der Graphiker und NS-Rektor Richard Müller,8 taufte sie (im Dresdner Anzeiger vom 23. 9. 1933)9 „Spiegelbilder des Verfalls“. In der PropagandaWanderausstellung Entartete Kunst München 1937 und folgende Stationen hingen Schützengraben und Kriegskrüppel aus Dresden; seither sind diese Werke verschollen,10 ein unersetzlicher Verlust für die Avantgarde des Realismus vor 1933 und die ganze Malereigeschichte des 20. Jahrhunderts. Dix konnte dieses Schicksal seines Hauptwerkes aus den Jahren der Weimarer Republik Schützengraben nicht ahnen, so wie er nicht voraussagen konnte, dass eine nationalistische Diktatur die unbequemen Künste verfolgen wird, ebenso wie ihre Künstler, insbesondere wenn sie links standen oder jüdischer Herkunft waren. Freilich, sein Dresdner Lehrer Richard Guhr (Bildhauer-Professor) gehörte ins Nationale Lager, er denunzierte schon 1920 den 5 6 7
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Wolfradt 1924, 943f. (und als Monographie Leipzig 1924); Schwarz 1991; Baudin 1995. Vgl. dazu Crockett 1992, 72–80; Schubert 2000; Merz 1999. Lepper 1983, 11 (Photo aus der Kölnischen Illustrierten Ztg. vom 17. 8. 1935, Schreckenskammer); Schubert 1991; Schubert 1980, 5. Aufl. 2001, 106–108. Zum Nazi-Künstler und Akademielehrer R. Müller vgl. Dresden 1990, 268f. u. 321f. (C. Bächler, G. Thiele). Vgl. auch Dresdner Nachrichten vom 22. 9. 1933; Feistel-Rohmeder 1938, 204f.; D. Schmidt 1964, 213–214 (Artikel von Richard Müller); Zuschlag 1995, 123f.; Schubert 1980, 5. Aufl. 2001, 107. v. Lüttichau, 131f.
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Abb. 2. Otto Dix: Schützengraben, 1922/23; ehemals Museum Köln (verschollen) Photo: Nationalgalerie Berlin
Expressionismus als „Judenstil“ und gab bereits 1923 das Pamphlet Die Schuld am Verfall der Künste heraus.11 Dagegen konstatierte der den Expressionismus mittragende Museumsmann Max Sauerlandt 1933: „Man kann Gemälde von den Nägeln nehmen, solange man aber an die freigewordenen Haken nicht die Künstler selbst aufhängen kann, die die Bilder gemalt haben, wird ihre Wirkung nicht aufhören.“12 Ohne Zweifel hätten die NS-Funktionäre nach 1933 auch das Triptychon von Dix beschlagnahmt und verkauft oder vernichtet. Da sie einen neuen Krieg als Revanche zur Niederlage von 1918 vorbereiteten, musste der Realismus von Dix ihnen ein Dorn im Auge sein und ihren Hass auslösen. Schon im Frühjahr 1933 sprach der Reichskommissar für Sachsen (Manfred Freiherr 11 12
Guhr 1920 und 1923. Sauerlandt 1934, 207, ND Hamburg 1948, 172.
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von Killinger) von Bildern, die den „Wehrwillen beeinträchtigen“.13 Ein Brief von Dix an seinen ehemaligen Kunsthändler Jsrael Ber Neumann reflektiert dies: „Du wirst wissen, dass ich am 8. 4. d. J. durch die nationale Regierung entlassen worden bin, ohne Pension. Als Grund wurden meine Kriegsbilder angegeben, die geeignet seien, den Wehrwillen des Volkes zu untergraben. Ich musste von Dresden fortziehen …“.14 Der Begriff, den die Nazis im Laufe der 30er Jahre für seine Kriegskunst fanden, ist entsprechend eindeutig und widerlegt alle Interpretationen, die auf eine vermeintliche Ambivalenz der Dix’schen Kriegsdarstellung bauen: „Gemalte Wehrsabotage“. So lautete der Slogan im Beiheft zur „Entarteten Kunst“ in München 1937 über den Kriegskrüppeln und einem Ausschnitt aus dem Gemälde Schützengraben (Abb. 7).15 Dazu noch später. Dix versteckte das Triptychon bei seinem Freund Bienert in dessen Fabrik in der Nähe von Dresden; 1946 hing es wieder in der 1. gesamtdeutschen Kunstausstellung Dresden („Allgemeine deutsche Kunstausstellung“, 25. August bis 29. Oktober 1946).16 Später als Leihgabe in Halle und Dresden, wurde es 1968 von der Stadt Dresden für die Galerie Neue Meister erworben. Im gleichen Jahr erhielt der alte Maler den Rembrandt-Preis der Goethe-Stiftung. Im Jahr darauf starb Dix. Inzwischen, nach Jahren der manipulierten Dominanz der Abstrakte (gegenstandslosen Materialkünste),17 erkennt man mehr und mehr, welche Kunstwerke des 20. Jahrhunderts die Fülle des Mediokren sowohl in der Abstrakten als auch in der neosachlichen Malerei überragen. Neben Picasso Gemälde Guernica von 1936 und den Triptychen von Max Beckmann seit 1932 gehört zweifellos das Kriegs-Triptychon von Dix zu diesen Jahrhundertwerken, deren Geltung Bestand haben wird.
II Dix hat mit seinem Triptychon, das er in den Jahren des Erstarkens der Nationalisten und Faschisten schuf, eine Art Fortführung seines großen Gemäl13
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Entlassungsschreiben von Killingers an Otto Dix vom 13. 4. 1933 (Archiv des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, Dix-Nachlass); D. Schmidt 1964, 213f.; G. Thiele, Die Akademie unter der Herrschaft des Faschismus, in: Dresden 1990, 149f.; Schubert 1980, 5. Aufl. 2001, 106. Dix-Brief von Frühjahr 1933 an J.B. Neumann, zit. n. Akademie der Künste 1978, 122; Schubert 1991, 275. Die NS-Journalistin Bettina Feistel-Rohmeder (1938, 204–207) schrieb angesichts der Gemälde von Dix in der Neuen Dresdner Sezession (August 1933):„Man sieht, der Fanatiker der Scheußlichkeiten, der Verhöhner des heldischen Menschen, der Dirnenmaler Dix ist im Befreiungsjahr unter die anständigen Leute gegangen; er hat sich angeglichen und malt Vaterfreuden. Die Presse haftet ihm das Ehrenzeichen der Altmeisterlichkeit an.“ Entartete Kunst – Ausstellungsführer 1937, 15. Dazu Struwe 1973, 121–140. Katalog vorhanden, vergleiche im Katalog „Stationen der Moderne“ Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 353f. Saunders 2001.
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Abb. 3. Otto Dix: Zerfallender Kampfgraben, Radierung 1924 (Photo: D. Schubert)
des auf Leinwand von 1922/23 Schützengraben geleistet18 – ein Werk, das öffentliche Konflikte auslöste. Die Leinwand war nach langen Querelen wegen ihrer extrem radikalen Darstellung von zerschossenen Kriegsopfern in einem völlig verwüsteten Graben vom Museum zu Köln dem Galeristen Nierendorf und dem Künstler zurückgegeben worden. Sie kam nicht in die Wanderausstellung „NIE WIEDER KRIEG!“ (wie Löffler noch annahm), war aber publiziert in der Broschüre Nie wieder Krieg der sozialistischen Arbeiterjugend West-Sachsens,19 stand August 1925 in Zürich in der Internationalen Kunstausstellung, wurde im Juni 1926 in Mannheim in der Galerie Tannenbaum gezeigt, und schließlich von der Stadt Dresden im November 1928 gekauft. Aber die Leinwand hing nicht in der Galerie sondern stand im Depot – bis sie die 18
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Dies ist immer gesehen worden, vgl. Dückers, 313ff.; Löffler 1986; Werckmeister 1982; Schubert 1985; Werner 1999 (Abb. 18 seitenverkehrt); ferner auch Merz 1999, 197; dessen Neuansätze der Sicht einer Sexualsymbolik sind m. E. schwer nachzuvollziehen. Nie wieder Krieg 1924; vgl. Schubert 1980, 5. Aufl. 2001, 68f.; Otto Dix – Der Krieg, 21f.
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lokalen Nazi-Größen Dresdens sogleich 1933 in ihre Schandschau Entartete Kunst im Herbst 1933 im Lichthof des Dresdner Rathauses nahmen. Dort sahen sie auch Göring und Hitler im August 1935, als diese Dresden und mit dem OB Zörner die ständige „Entartete“ im Rathaus besuchten.20 Auch in der Wanderschau München-Berlin-Leipzig-Düsseldorf 1937/38 hing die Leinwand, nun bereits in schlechtem Zustand, wie das Photo zeigt, welches Mario A. von Lüttichau publizierte.21 Seit der Station Hamburg, November 1938, fehlte Schützengraben jedoch bereits. Entgegen der Annahme von Dix selbst, die Leinwand sei von den Nazis in Berlin 1939 verbrannt worden, wissen wir inzwischen, dass sie vom Händler Bernhard Böhmer aus Güstrow 1940 für wenig Geld (200 Dollar) gekauft wurde,22 seither ist das Werk verschollen, wohl von der Roten Armee 1945 in Güstrow zerstört. Im Juli 1939 hatte Georg Schmidt in Basel erwogen, die Leinwand – wie schon Porträt der Eltern I von Dix, das Ecce Homo von Corinth und die Windsbraut Kokoschkas – für das Basler Kunstmuseum zu erwerben; aber das Kriegsbild war den Schweizern unbequem und nicht schön genug. Die Leinwand war Georg Schmidt im Juli 1939 aus Berlin für 4000 Schweizer Franken angeboten worden, wie er an Paul Westheim, Emigrant in Paris, schrieb. Böhmer kaufte sie 1940 sicher nur, um sie spekulativ mit Gewinn ins Ausland weiterzuverkaufen.23 20
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Lepper 1983, 11: Kölnische Illustrierte Ztg. vom 17. August 1935 mit Bild; Schubert, in: Rüger 1990, 148f.; Schubert 1991. Lüttichau 1987, 132f. (NS-Inventar-Nr. 16001, Titel Der Krieg); Zuschlag 1995. Dies geht aus einem Brief Böhmers an Dr. Hetsch vom 13. 1. 1940 hervor, in welchem der Händler 12 Posten aus „entarteter Kunst“ auflistete, darunter Kokoschka, Lehmbruck, Corinth, Modersohn und Dix „der Krieg“. Der Kunsthändler Böhmer hatte gute Kontakte zu Dr. Hetsch, dem Referenten der Kunstabteilung im Propaganda-Ministerium (A. Hüneke, in: Katalog Alfred Flechtheim, Düsseldorf 1987, 102). Der Briefwechsel Georg Schmidt – Paul Westheim 15./19. Juli 1939 im Archiv des Kunstmuseums Basel gibt Aufschluss zu diesem spannenden Kapitel. Schmidt: „Ich habe kürzlich mit einer ganzen Reihe deutscher, jetzt noch in Deutschland arbeitender Museumsleiter gesprochen, und sie waren alle maßlos begeistert über das, was wir in Basel da vorhaben.Auf der Liste meiner zweiten Sendung aus Berlin steht auch das Schützengrabenbild von Dix. In Berlin hatte ich es als einziges nicht zu sehen bekommen. Es ist mir für 4000 schw.fr. angeboten. Ob ich es hier noch durchbringe, ist sehr unsicher (…) Abgelehnt wurde mir eigentlich nichts Wesentliches: Dix’ Witwe aus Mannheim, Kirchners Bauernmahlzeit, Beckmanns Rugbyspieler und großes Saxophonstilleben.“ Aus Paris antwortete Paul Westheim am 19. 7. 1939 emphatisch, um den Plan des Kaufs des Schützengraben zu fördern und das Gemälde zu retten: „Dix – das Elternbild und das Schützengrabenbild sind die beiden Hauptwerke von Dix bis heute. Gar keine Frage. Auch malerisch allem überlegen, was Dix sonst geschaffen hat. Beide Bilder sind durchweg auch so aufgefasst worden, ganz abgesehen von dem Ethos, das da manifestiert ist. Im Elternbild dokumentiert Dix – sehr heutig – seine proletarische Abkunft, im Schützengrabenbild wie Barbusse, wie Renn das grauenvolle Erlebnis der Kriegsgeneration. Dix ist oft unter dieser Höhe geblieben, z. B. in dem Großstadt-Triptychon (…). Wenn Sie die Möglichkeit haben, das Schützengrabenbild zu bekommen, so würde ich sehr raten zuzugreifen. Es ist ein einzigartiges Zeitdokument und es ist auch künstlerisch bester, allerbester Dix. Manchmal – in der Luft, in der blutgeschwängerten Atmosphäre ist da etwas wie Casp. Dav. Friedrich. Ich habe das Werk in meinem Buch Helden und Abenteurer abgebildet, weil ich so ganz davon überzeugt bin (…). Es ist in jeder Hinsicht für Dix das charakteristischste Werk. Es ist mir in den letzten Wochen berichtet worden, Dix sei – aus Protest wie z. Zt. viele Intellektuelle im III. Reich! – katholisch geworden. Er hat mehrere Christophorus-Bilder gemalt und ist jetzt dabei eine ‚Versuchung des
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Jedenfalls, wie man erkennen kann, avancierte Dix’ Gemälde „Schützengraben“ zum „berühmtesten Kunstwerk der Goldenen Zwanziger“ (Crockett) bzw. wichtigsten Kriegsbild der Weimarer Zeit, berühmter und letztlich wichtiger als ein Kandinsky oder Marc, ein Schlichter oder Radziwill, ein Picasso oder Beckmann.24 Auch innerhalb seiner Radierungen von 1924, die wie 50 Momentaufnahmen der Hölle des Weltkrieges wirken, schuf Dix zwei Kompositionen, die zerschossene Schützengräben zeigen, wie er sie selbst in dreieinhalb Jahren von 1915 bis 1918 als MG-Truppführer erlebt hatte:25 Zerfallender Kampfgraben, Blatt IX der 1. Mappe (Abb. 3), und Verlassene Stellung bei Neuville, Blatt I der 2. Mappe, hier auch mit einer Pfütze aus Blut und Regen, wie sie die Zeitzeugen auf der Leinwand Schützengraben beschrieben hatten („giftige schwefelgelbe Lache“).26 Manche der Radierungen des Zyklus von 1924 wirken aber gerade wegen des Verzichts auf naturalistisches Kolorit besonders düster, pessimistisch und gespenstisch bedrückend (abgekämpfte Truppe als Ruhende Kompagnie und Sturmtrupp geht unter Gas vor, 2. Mappe, das zerschossene Langemarck, Abb. 4). „Man muss den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen“ – das war das Fazit des Malers, das er 1961 in einem Interview gab.27 Zurück zum Triptychon von 1932 (Abb. 5): Auf die verschiedenen Vorarbeiten, Zeichnungen in Blei und Rötel, die Kompositionsskizze im Museum Albstadt, das sehr summarische Aquarell von 1929 in Dresden, die großen Kartons in der Hamburger Kunsthalle kann hier nicht in allen Details eingegangen werden28 – auch wenn sie wie das Blatt im Zeppelin-Museum den bewussten, konzeptionellen Kontext der Kompositionen zwischen Mitte und Flügeln belegen.29 Diese Zeichnung (Abb. 6) muss nach der Herstellung der
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hl. Antonius‘ zu malen. D. h. das, was er sich in dem Kriegsbild abreagiert hat, versucht er jetzt – getarnt – in einer Versuchung des Antonius abzureagieren. Was aber auch beweist, wie entscheidend für Dix das Kriegsbild ist. Vermutlich ist Ihnen bekannt, dass es nicht lang im Kölner Museum verblieb. Die Reaktion, die lieber eine frisch-fröhliche Kriegsdarstellung gehabt hätte, auch die Kölner Katholiken, unterstützt von allerlei Ästheten (z. B. Meier-Graefe …) setzten bei Adenauer die Entfernung des Bildes durch. Es wurde dann ersetzt durch das Elternpaar. Später hat Posse das Bild für Dresden erworben. In Basel käme es also nun zum dritten Mal in ein Museum …“ (Archiv Kunstmuseum Basel; vgl. Kreis 1990, 62f; Schubert 1991, 279). Dazu Crockett 1992. Zum Kriegsitinerar von Dix vgl. Harth/Schubert 1985, 190; Schubert 1980, 5. Aufl. 2001, 22–24; Rüdiger 1991, 22f. Vgl. Walter Schmits 1923, der gegen das Gemälde und den Ankauf in Köln war und als Befürworter Alfred Salmony, in: Cicerone 16 (1924), 8: „Die Phosphorpfütze bildet den Farbmittelpunkt. Gedärm, Fleisch und Blut hängen umher. Ein Teil der Leichen verwest, weiße Würmer kriechen aus … In seltsam stehender Haltung haben sich Soldaten mit zerrissenem Gesicht erhalten, einen warf ’s aufgespiest auf Stützen. In den Bergen des Hintergrundes dämmert es in herrlichen Farben … Das Bild kennt keine Tendenz, nur peinlich genaue sachliche Schilderung: so ist der Krieg. Das ist gesunde Gegenwirkung gegen Vereinsromantik und Salon-Peinture …“ Dix im Interview mit Hans Kinkel 1961 (in: Kinkel 1967, 69f.; und in Schmidt 1978, 234). Lehmann 1991. Vgl. Merz 1999, 205.
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Abb. 4. Otto Dix: Das zerstörte Langemarck, Radierung 1924 (Photo: D. Schubert)
großen Kartons (1930, Kunsthalle Hamburg) entstanden sein, denn Dix zeichnet nun links neben dem rechten Flügel das wesentliche Motivgefüge des auf dem Kopf Stehenden, dessen stigmatisierte Linke ins Zentrum ragen wird, mit den bleichen parallelen Beinen nach oben und dem Gewehr mit Bajonett. Was auf den Kartons auch noch fehlte und zum letztlichen Gehalt des AntiChristlichen beiträgt, ist der Kopf mit Stacheldraht in der linken unteren Bildecke des Mittelteils. Im linken Flügel führte ein großer Hund von links unten in die Bewegungen des Ganzen ein,30 auch dies sollte Dix für die Vollendung der Tafeln ändern. Die Ideen für den rechten Flügel wurden ebenfalls verändert. Schaut man die epische Komposition in vier Stadien, mit einer total zerschossenen Stellung in der Mitte, genauer an, so wollte man in der Abfolge des 30
Die Kartons von 1930 sind gut reproduziert in: Herzogenrath/Schmidt 1991, 264 (Text von Dieter Scholz).
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Abb. 5. Otto Dix: Triptychon „Der Krieg“, Mischtechnik auf Holz 1929–1932, Gemäldegalerie Dresden (Photo Dt. Photothek Dresden)
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Abb. 6. Otto Dix: Skizze zum Triptychon, Kreide um 1930–32, Zeppelinmuseum, Friedrichshafen (Photo: Museum)
Gesehenen31 auf den Tafeln von links nach rechts Bezüge zur Passion Christi erkennen, man sprach von Kreuztragung – Kreuzigung – Kreuzabnahme – Grablegung (L. Tittel, Hans-W. Schmidt, D. Scholz). Aber diese Ableitung und Auslegung scheint mir zu eng zu sein. In erster Linie erkennt man, dass Dix durch die Hereinnahme eines Rades (statt eines Hundes im Karton) links unten im linken Flügel, unter Anspielung auf das Schicksalsrad in der Graphik des 16. Jh., den Kreislauf-Gedanken nutzte und dass er das Schicksal der Landser (es sind die Deutschen) im Rhythmus der vier Tageszeiten ausbreitet: 31
Werke der Malerei werden nicht „gelesen“ (wie es im linguistischen Trend oft fälschlich hieß) sondern gesehen, die Anschauung ist die wichtigste Kategorie. Ein Gemälde ist kein Text, sondern die Visualisierung der Vorstellungen des Künstlers, amalgamiert aus Seh-Bildern, Erinnerungs-Bildern (Gedächtnis!) und Vorstellungs-Bildern. Dix schrieb keinen Roman wie Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues“ 1929), er schuf seine gemalte Darstellung der Kriegserlebnisse, die er 1915–1918 authentisch hatte. Malerei ist im Grunde eine Form der Stummheit, die Dichtung redet, die Malerei schweigt (Ortega y Gasset 1953, 28f.). Erst die Analyse überträgt die Anschauung in Sprache/Text. Dieser kunsthistoriographische ,Text‘ ist aber nie deckungsgleich mit Form und Gehalt des Kunstwerks.
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links der Morgen mit dem Marsch an die Kampflinien, in der Mitteltafel ein nach tagelangem Trommelfeuer völlig zerstörter Unterstand in der Nähe eines Gehöftes (wie Monacu-Ferme z. B., an dem Dix im Sommer 1916 in der Somme-Schlacht eingesetzt war)32 oder eines Dorfes mit den zerschossenen Menschen, zuoberst an einem Eisenträger ein verwesender Leichnam, dessen Hand in einem Bogen, der an die Sense des Todes innerhalb eines Totentanzes erinnert, nach rechts weist , zugleich aber auch ins Rote des Horizontes der Mondlandschaft. Dort im rechten Flügel sieht man die dritte Station des Kreislaufs, nämlich das Feuer am Abend mit der Rettung eines Verwundeten durch einen Mann, dessen Antlitz sich aus dem Kreislauf appellativ herauswendet, um den Betrachter emphatisch einzubeziehen; er schleppt den Kameraden über eine Leiche hinweg. Dem Orangerot im Hintergrundsfeuer kontrastiert die Figurengruppe in gebrochenem Weiß, Blau, Gelbgrün, Grün und Braungrün, eine gewaltige Farbenkomposition zum visuellen Ausdruck des Themas.33 Hier hat Dix – gegenüber den Entwürfen in den Kartons (Kunsthalle Hamburg) – letztlich ein Selbstporträt eingefügt. Damit unterstreicht er die Zeugenschaft seiner Arbeit bzw. dass die von links nach rechts entrollten ‚Bilder‘ des Weltkrieges authentisch sind: Ich habe es selbst erlebt und gesehen, bzw. „gesehen am Steilhang von Cléry-sur-Somme“.34 Für die Komposition dieses rechten Flügels – die Alternative war die Tafel „Grabenkrieg“ (212 cm hoch, Stuttgart, Galerie der Stadt) – erfindet Dix das Selbstporträt mit der Rettung eines Verwundeten aus dem Feuer in Anlehnung an die antike ,Pasquino-Gruppe‘ (Menelaos mit der Leiche des Patroklos) in Florenz, die in einem Gipsguss auch in Dresden stand. Bereits 1980 habe ich auf diesen kunstgeschichtlichen Zusammenhang verwiesen.35 Im unteren Teil des Werkes, der Predella, erkennen wir liegende Landser, die in einem ambivalenten Zustand zwischen Schlaf und Tod ruhen, Ratten an den Schuhen. Darin den Vater von Dix zu sehen, wäre abwegig. Im Karton hatte Dix noch links und rechts der ,Kiste‘ mit den Ruhenden offene Erde mit Totenköpfen gezeichnet; dieses Motiv entfiel für die Vollendung. Die perspektivisch sich verjüngenden Bretter der Kiste rahmen nun und führen den Blick ins Dunkle unter der durchhängenden Zeltplane, die wiederum die Kreisform (eigentlich Oval) mitführt und sich komplementär zur Leiche mit Zeigegestus verhält. 32
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Vgl. den Brief von Dix von August 1916 nach der Sommerschlacht an der Somme bei Monacu-Ferme – „jetzt sind wir weit hinter dieser Hölle im Ort Maurois“ (Schubert 2002, 11). Der Ortsname ist schwer zu lesen: Mauvois – Maurois? Mauvais (so Conzelmann 1983, 147) gibt es nicht an der Somme. Während die abstrakte Malerei eines Kandinky auf der niederen Stufe der „Selbstbewegung der Formen und Farben“ (C. Einstein) verharrte, die Sprache der Farben autonomisierte, setzten Beckmann und Dix die psychodynamischen Charaktere der Farben und Formen für das höhere Ziel der „expression passionnée“ (der Expression des passions) ein.Auch Picasso in seinem Werk Guernica bewegte sich auf dieser qualitativen Ebene. Vgl. die präzisen Titel seiner Radierungen von 1924. Schubert 1980, 5. Aufl. 2001, 102; Dieter Scholz knüpfte hier an (Kat. Dix 1991, S. 266); Peters 1998, 206.
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Die Komposition der Mitteltafel wurde von Dix gegenüber den Kartons (Hamburger Kunsthalle) entscheidend konkretisiert und schrittweise während des Arbeitsprozesses vertieft; lediglich die Rhythmik des Auf und Ab in beherrschenden Schrägen war in den Kartonentwürfen schon ausgeprägt. Unter dem Zeigegestus der Leiche, unter dem Eisenträger stehen zwei Tote, ein junger mit offener zerschossener Brust, einer mit Gasmaske und dem deutschen Stahlhelm; im Karton waren noch drei Stahlhelmträger (drei Lebende?) zu sehen. Dix verzichtet auf den hinteren, auch der Kriechende unter dem Wellblech wird nun als Toter gemalt, während der Helmträger links bleibt und als noch Lebender gesehen werden könnte.36 Er wäre dann der überlebende Zeuge des Grauens, somit auch der Maler selbst, der die Hölle überlebte. Links unter dem verkohlten Holz hängt ein Toter im Drahtverhau, dessen Kopf abgerissen wurde, der Stacheldraht windet sich um seinen Kopf wie eine Dornenkrone. In einer Schrägen rechts ragen zwei bleiche, durchschossene Beine in den düsteren Himmel (eine Verbesserung gegenüber den Kartons). Der Körper dieses Toten steht auf dem Kopf, und seine linke Hand erscheint im Zentrum der Gesamt-Komposition unterhalb des Zeigegestus der alles überragenden Leiche. Damit sind die Anspielungen auf Mathias Grünewalds Kreuzigung im Isenheimer Altar (vollendet um 1515, Museum Colmar) erkennbar.37 Besonders der Zeigegestus ist (nicht Christus) der des Johannes, und die erstarrte grüne Hand im Zentrum mit dem Durchschuss als Wundmal erinnert deutlich an die Hände des gekreuzigten Christus von Grünewald, bei Dix flankiert von einem Holzbalken.38 Auf ihn schaut der Gasmaskenträger links. Aber das Ganze ist keine verdeckte Passion Christi, sondern das Gegenteil – unter Anspielung auf die Passion Christi bei Grünewald. Der Kreuzestod Christi wird von Dix dementiert. Im Kreislauf der Wiederkehr des Gleichen, wie sie schon Olaf Peters analysierte, verrecken die deutschen Soldaten bzw. sterben in einer total zerstörten Dorf- und Unterstand-Landschaft. Die Christenmenschen (Soldaten) erleiden den modernen technisierten Massentod immer wieder, Tag für Tag, ohne Erlösung aus dieser modernen Kriegshölle. 36 37
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So die Sicht von H.-W. Schmidt 1983, 115. Bereits Paul F. Schmidt erwähnte im Kontext der Leinwand Schützengraben von 1923 den Namen Grünewalds (P.F. Schmidt, Der Schützengraben, in: Die Weltbühne, No. 32, vom 7. August 1924, S. 235f.), ebenso Willi Wolfradt in seinem Text von 1924. – Birgit Schwarz (1991) meinte, die Komposition von Schützengraben von der Antonius-Versuchung des Isenheimer Altares ableiten zu können, ich kann dem nicht folgen. Zum Gemälde Schützengraben vgl. W. Schröck-Schmidt: Der Schicksalsweg des Schützengraben, im Katalog Otto Dix – zum 100. Geburtstag, Stuttgart/Berlin 1991, 161ff.; Schubert 2000. D. Scholz schrieb 1991: „Sein ausgestreckter linker Arm mit der olivgrauen Hand, die ein Wundmal vorzuweisen scheint, ist also eindeutig bestimmbar, auch in der Beziehung zu dem Holzstück, das den Mittelpunkt des Bildes markiert und als Querbalken des Kreuzes zu lesen ist“. Abgesehen davon, dass ein Gemälde zu sehen ist und nicht zu lesen (ein literarischer Text wird gelesen), geht die Suche nach Symbolen der Passion Christi zu weit. Vgl. dazu besonders Peters 1998, 207.
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Der Kreislauf ist der Kreislauf der Wiederkehr des Krieges, in immer neuen „Schlachten“ an der Aisne, an der Somme, an der Lorettohöhe, in Flandern. Das Sterben resultiert aus dem Kreislauf des Verhängnisses der Feindbilder und der Befehlsstrukturen mit dem folgenden elenden Tod im Granatenfeuer des Feindes, der französischen 28er Granaten. Christi Opfertod in der Perspektive der Erlösung der Christenmenschen ist durch den Ersten Weltkrieg in brutalster Weise auf den Kopf gestellt und dementiert worden. Christus stirbt den elenden Tod jedes Poilu oder Landsers, diese sind an Christi Stelle getreten.39 Christus triumphiert im Gemälde von Dix nicht (mehr) über den Tod, er ist egalisiert und zerschossen wie jeder Landser. Auf dialektische Weise erinnert Dix im Dementieren an den Opfertod Christi, aber nun unter der Prämisse vom Tod Gottes (Nietzsche). Der Johannesfinger zuoberst weist ja ins Leere der Wüstenei der völlig zerschossenen Landschaft. Die Dornenkrone liegt in Blut und Schlamm am Haupte eines Kriegsopfers.40 Dies sind die Folgen des modernen Nihilismus des Krieges. Es gibt keine Erlösung durch den Opfertod am Kreuz, lediglich ein Entkommen aus den Strudeln des Feuers, wie es Dix im rechten Flügel anschaulich macht und wie es ihm selbst gelang, da er das imperialistische Töten an den Fronten durch Wille, Zufälle und Glück überstand. Auch eine politische Perspektive, einen Ausweges durch Veränderung der Gesellschaft, sehen wir im Dix-Werk nicht angedeutet – wie sie Henri Barbusse mit der Vision des Korporals Bertrand in Le Feu (Paris 1916, Zürich 1918) gab: „Einer hat dennoch sein Antlitz über den Krieg erhoben, und es wird einst leuchten in der Schönheit und Bedeutung seines Mutes … Liebknecht! … Die Zukunft! Die Zukunft! Das Werk der Zukunft muss es sein, unsere Gegenwart auszulöschen, und noch mehr als man denkt – als etwas Niederträchtiges und Schändliches. Und doch war diese Gegenwart notwendig, sie war notwendig. Fluch dem Kriegsruhm, Fluch den Armeen. Fluch dem Soldatenhandwerk, das die Männer entweder zu willenlosen Opfern oder zu gemeinen Henkern macht! – Ja, Fluch ihnen …“41 Das Werk von Dix ist ohne Zweifel ein Jahrhundertwerk der Kriegsdarstellung und zugleich ein Hauptwerk, ja die Summe im Schaffen von Dix, und zwar in der gewandelten Phase seines altmeisterlichen Naturalismus, der sich nach dem kritischen Realismus (bis 1924) konkretisierte. Dieser Altmeisterstil war geprägt durch Anknüpfung an die genaue Zeichnungsweise und das Kolorit der altdeutschen Maler Baldung Grien, Grünewald, Cranach. Dix sag39
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Olaf Peters 1998, 207, schrieb treffend: „Die Mitteltafel des Triptychons Der Krieg stellt christologische Vorstellungen buchstäblich auf den Kopf … Bei Dix handelt es sich nicht mehr um die Passion des christlichen Erlösers, sondern um die alltägliche, säkularisierte Passion des Frontschweins, des unbekannten Soldaten“. Mit Dank an Christoph Türcke, Leipzig, nehme ich hier Wendungen auf, die er in einem Gespräch und brieflich im November 2003 formulierte. Barbusse 1918/1986 (orig. Le Feu, Paris 1916), 253f.
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te deshalb scherzhaft beim Dank für den Rembrandt-Preis 1968 in Salzburg,42 er sei ja ein Schüler dieser Altdeutschen, nicht Rembrandts. Die Qualität des Triptychons beruht nicht nur in der Authentizität der Kriegsabbildung, sondern vielmehr in der Deutung der symbolischen Dimension des modernen Krieges und Sterbens in der Perspektive der Diagnose Nietzsches vom Tod Gottes. Bei Nietzsche hatte der Gedanke der ewigen Wiederkehr das Ziel der Bejahung des Lebens als höchsten Wert, war eine Form des Jasagens zum Dasein. Dies ist bei Dix anders, in seinem Bild des Ersten Weltkrieges herrscht das egalisierte Töten, das schiere, sinnlose Sterben, der Nihilismus der gegenseitigen Massentötung der Soldaten im Dienste des Imperialismus. Täter und Opfer verschmelzen in der Befehlsstruktur, die Täter im linken Flügel werden zu Opfern im Granatfeuer. Das zufällige Entrinnen (von Dix als Mensch, als MG-Truppführer und als Maler) scheint die einzige Möglichkeit, dieser Hölle des Nihilismus zu entkommen – wenn er nicht wieder hinein muss in den nächsten Kampf, in den übernächsten usw. (so beschrieb es Henri Barbusse in einer signifikanten Passage am Ende des 20. Kapitels seines Le Feu).43 Und 1914–18 ist nicht der letzte Krieg gewesen, der nächste der Nazis stand bereits am Horizont. Deshalb schürten die Konservativen und die Nazis nach 1928/29 – auch in den Krieger-Denkmälern als „Helden-Ehrenmale“44 – einen Helden-Begriff und propagierten ein so genanntes „Heldentum“ in den „Stahlgewittern“ (Ernst Jünger)45 der Schützengräben von 1914–1918, die Dix in seinen fünfzig Radierungen, seiner Leinwand von 1923 und seinem Triptychon entlarvt und als lügnerisch dementiert hat. Von hier aus wird plausibel, dass die NS-Propaganda die Dix’schen Werke und Graphiken als „Wehrsabotage“ einstufen musste, als „Zersetzung des Wehrwillens“ (Abb. 7). Im Rückblick hat der alte Dix in einem Interview von 1964 den Kontrast zum „Heldenbegriff“ selbst angesprochen: „1928 fühlte ich mich reif, das große Thema anzupacken. In dieser Zeit propagierten viele Bücher ungehindert … erneut ein Heldentum und einen Heldenbegriff, die in den Schützengräben des 1. Weltkrieges längst ad absurdum geführt worden waren.“ Und in 42
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Dix’ Rede und die Laudatio von Werner Schmidt (Dresden) bei der Verleihung des Rembrandt-Preises 1968 in: Gedenkschrift zur Verleihung des Rembrandt-Preises der Goethe-Stiftung 1968, Salzburg 1968; Schubert 1980, 132. Barbusse (1918/1986), am Ende des 20. Kapitels (Im Feuer), 271, wo Barbusse am Graben 97 den alten, schwer verwundeten Ramure trifft, jedoch Joseph zum Verbandsplatz tragen will.„Wir steigen über den erstarrten Leib, der schleimig ist und wie der Bauch eines verendeten Sauriers leuchtet … Joseph hat den Kopf zurückgeneigt. Seine Augen schließen sich plötzlich, sein Mund öffnet sich ein wenig, er atmet stoßweise. ‚Mut!‘ sage ich zu ihm. Er öffnet die Augen wieder. ‚Ach‘ erwidert er. ‚Mir brauchst du das nicht zu sagen. Sieh die an, die wieder vorgehen, und auch ihr werdet wieder hineinmüssen. Für euch nimmt das noch lange kein Ende! Es gehört wirklich Mut dazu, immer wieder mitzumachen, immer wieder!‘“ Gutes Beispiel ist das lügende Kriegerdenkmal („Ihr seid nicht umsonst gefallen“) mit zwei nackten Schwerthaltern von Georg Kolbe 1935 in Stralsund, siehe Warnke 2004, 73–96. Vgl. dazu besonders Müller 1986, 219–234.
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Abb. 7. Seite aus dem Nazi-Katalog „Entartete Kunst“, München 1937 (Photo D. Schubert)
einem anderen Gespräch 1966: „Ich habe vor allem die grausamen Folgen des Krieges dargestellt. Ich glaube, kein anderer hat wie ich die Realität dieses Krieges so gesehen, die Entbehrungen, die Wunden, das Leid. Ich habe die wahrhaftige Reportage des Krieges gewählt, ich wollte die zerstörte Erde, die Leichen, die Wunden zeigen. Picasso sucht das Erlebnis zu machen, meine Bilder sind vielleicht nicht so ästhetisch, aber eindringlicher.“46
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Siehe Schmidt 1978, 244 u. 248.
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Soweit Dix selbst zu seinem Triptychon. Max Sauerlandt behandelte das Werk kurz vor seinem Tod in seinen Hamburger Vorlesungen „Die Kunst der letzten 30 Jahre“ und gab als Fazit, Dix habe alles Episodisch-Genrehafte überwunden – in einer tragisch-heroischen Gestalt, „jenseits von Klage und Anklage“.47
III Wie ein Triptychon im Rache-Geist der Nazis nach 1933 aussah, das praktisch konfliktbewusst, ja als Kontradiktion zu Dix gemalt wurde, zeigt Wilhelm Sauters Heldenschrein von 1936. Das Gemälde (Abb. 8)48 entstand zum „Heldengedenktag“ am 8. März 1936. Vor 1933 hatte Sauter relativ naturalistische bis realistische Kriegsbilder gemalt, aber mit der NS-Bewegung nahm das Heldische in seinen Figuren deutlich zu.49 Sein 4-teiliges Bild vermischt die Landser des Weltkrieges mit den brutalen Schlägern der NS-Bewegung: im Mittelteil halten SA-Leute einen Verletzten, der beinahe die Haltung von Christus am Kreuz zeigt.50 Die sprachliche Parole unterstreicht die NS-Ideologie hinsichtlich der Deutung der Kriegsopfer: „Vergesset sie nicht. Sie gaben ihr Bestes für Deutschland“. Die ältere Parole „Fürs Vaterland“ wurde von den Nazis in ihrem Sinne fortgeführt.„Gab es bisher in künstlerischer Form diese Verbildlichung der inneren Einheit des Opfers des Weltkriegs und des Kampfes um die Erneuerung des Reiches, dieser Grundidee unseres Führers?“ (E. Schindler 1936) Blickt man zurück zu Dix’ Triptychon, so wird in der Methode der Zusammenschau kontrastierender Phänomene der diametrale Gegensatz deutlich. Sauter versus Dix. Da der Dresdner Maler seine Tafeln 1932 in der Preußischen Akademie in Berlin im Oktober öffentlich ausgestellt hatte (siehe oben), war seine Sicht des Krieges 1914–18 also bekannt, und ohne Zweifel hätten die NSFunktionäre sich des Triptychons bemächtigt, wenn Dix sein Werk nicht versteckt hätte. Auf diese Weise hat sich – wenn nicht die Leinwand Schützengraben – das Jahrhundertwerk für die Nachwelt erhalten und kann seine überzeitliche Wirkung entfalten. Die Ereignisse der politischen Geschichte sind vergangen, die Kunstwerke bleiben, überdauern und fordern unser Verständnis. Ihre Präsenz hat Scho-
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Sauerlandt 1948, 142. Publiziert in: Das Bild, 6. Jg. 1936, Heft 3, 90f., und in der Ausstellung „Heroische Kunst“, München 1936 ausgestellt, vgl. E. Schindler, Heroische Kunst, in: Das Bild, 1936, Heft 7, S. 215 (als „Deutscher Altar“ bezeichnet); zu Sauter vgl. Kunst im 3. Reich 1974, 136 (K. Wolbert); Rößling 1987, 266: Heldenschrein angeblich 1942 durch Bomben zerstört. Vgl. Hinz 1974, 112; Schmidt 1983, 108ff.; der Autor hat auf die Gegensätze zu Sauter bereits hingewiesen. Zu korrigieren ist, dass Dix 1924 nicht in Moskau mit ausgestellt habe (vgl. Schubert 1980/2001, 77). Koch 1981; Schmidt 1983, 112; Heusinger von Waldegg 1987, 45f.
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Abb. 8. Wilhelm Sauter: sog.„Heldenschrein“ 1936 (verschollen, zerstört?) Photo: Das Bild, Jg. 1936
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penhauer51 als zentral betont: Im Gegensatz zur Historie, deren Leben, Geschehen und Ereignisse vergangen, verloren und tot sind und lediglich aus Zeugnissen, Urkunden, Bildern u. ä. Quellen fiktiv zu rekonstruieren sind, basiert die Kunstgeschichte auf etwas, das die Historie nicht kennt – nämlich auf dem Werk, dem Kunstwerk (different zum fotografierten Bild). Die Geschichtswissenschaft kennt zwar Quellen mit werknahem Charakter, aber das Kunstwerk ist ein von einem schöpferischen Individuum durch Imagination und Können erzeugtes Ganzes – immer mehr als Zeugnis, Quelle, Urkunde usf. Das Kunstwerk ist historisches Zeugnis in höherem Sinne: es ist ein Produkt des Geistes in der Geschichte, steht in einem Bezirk jenseits der Fakten, wirkt aber auf das Gesamtgesellschaftliche zurück, zumal wenn es ein bedeutendes Werk ist wie Dix’ Der Krieg oder Picassos Guernica von 1937.„Das Werk ist ein Werk und lebt als Werk deshalb, weil es eine Interpretation fordert und in vielen Bedeutungen wirkt“, schrieb Karel Kosík in seiner „Dialektik des Konkreten“. Und zur Historizität des Kunstwerkes: „Jedes künstlerische Werk hat in unteilbarer Einheit einen doppelten Charakter: es ist Ausdruck der Wirklichkeit, aber es bildet auch die Wirklichkeit, die nicht neben dem Werk oder vor dem Werk, sondern gerade nur im Werk existiert.“52 Die Dix’schen Kriegs-Radierungen von 1924 provozieren noch heute unsere Zeitgenossen, so wie schon 1924 die Rechtskreise den „Nationalen Opfergedanken“ vermissten und monierten, dass derart kein „deutsches Denkmal für den unbekannten Soldaten“ geliefert werde und dass die Idee des „Völkerringens“ nicht thematisiert ist. Diese Seiten der Interpretation der Schlachten von 1914–1918 wohnen auch dem Dresdner Triptychon nicht inne. Radierungen, Leinwand von 1923 und Triptychon zeigten den Grabentod in radikalem Verismus, darin haben die drei Werkkomplexe ihre Identität. Man polemisierte aber in deutschnationalen Kreisen in Opposition zu Dix’ Kunst einfach mit der Unterstellung: „Tendenz“, und Tendenzkunst könne „nicht wahr“ sein.53 Dagegen schrieb Wolfradt 192454 von Dix’ Schaffen des „getretenen Menschentums“ und „Arm in Arm, Hure und Kriegskrüppel fordern ihr Jahrhundert in die Schranken eines vernichtenden Gerichts.“
Literatur Akademie der Künste (1978) „Zwischen Widerstand und Anpassung“ – Kunst in Deutschland 1933–1945. Katalog. Berlin Badt K (1971) Eine Wissenschaftslehre der Kunstgeschichte. Köln
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Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Teil § 48, Historienmalerei; Badt 1971, 20f.; vgl. Schubert 1988, 20f. Kosík, 1973, 139; dazu Jauss 1970, 163. Strobl 1996, 96f.; Schubert 2002, 33. Wolfradt 1924, 15.
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Gewalt oder Gewaltlosigkeit bei Konfliktlösungen: Alternativen bei Friedrich Schiller und José Rizal gerhard frey Verweigerung von Konfliktlösungen und Radikalisierung Der Vergleich zwischen Schiller und Rizal versucht zu zeigen, wie Konfliktkonstellationen trotz großer historischer, ethnischer, politischer und geografischer Unterschiede zu ganz ähnlichen Lösungsansätzen führen können. In dem einen Fall bewegen wir uns im Deutschland des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, im anderen auf den Philippinen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beide Konfliktbeispiele machen eines ganz deutlich: diejenige Seite oder Partei, die eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse anstrebt, schlägt zunächst moderate Konfliktlösungen vor. Die herrschende Partei geht auf diese Lösungsvorschläge aber nicht ein. Schiller schrieb seinen Wilhelm Tell zu einer Zeit, als die Freiheit der europäischen Völker durch die Herrschaft Napoleons in Frage gestellt war. In dieser Situation war der Tell weit mehr als die Verherrlichung eines spätmittelalterlichen schweizerischen Nationalhelden. Er wurde vielmehr zur Identifikationsfigur der unterdrückten Völker, Gessler zur Inkarnation Napoleons. Der donnernde Applaus in den deutschen Theatern verwundert daher nicht. Der Tell war die Antwort auf die aktuelle politische Konfliktsituation, deren Brisanz Schiller sehr bewusst war, wenn er an von Wolzogen am 27. Oktober 1803 schreibt: „auch bin ich leidlich fleißig und arbeite an dem Wilhelm Tell, womit ich den Leuten den Kopf wieder warm zu machen denke. Sie sind auf solche Volksgegenstände ganz verteufelt erpicht, und jetzt besonders ist von der schweizerischen Freiheit desto mehr die Rede, weil sie aus der Welt verschwunden ist“ (Schiller 2004, 146).
Der Tell entstand in einer Situation, in der das „Land der göttlichen Freiheit“ (Hölderlin, zit. nach Schiller 2004, 145) unter das Joch der napoleonischen Herrschaft geraten war.„Um die Jahrhundertwende war die Landschaft Tells ein völlig ausgehungerter, verwüsteter Landstrich“ (B. Piatti, in: Schiller 2004, 145). Die Schweizer mussten trotz der napoleonischen Mediationsakte von 1803 alle Forderungen aus Paris pünktlich erfüllen. Die politische und
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ökonomische Situation schrie nach Auflehnung und zur Konfliktlösung mit Waffengewalt. Dies wird besonders deutlich im Stück selbst, wenn Wilhelm Tell sich an den Unterdrücker Gessler wendet. Dessen Regiment habe ihn, Tell, einen Mann, der „still und harmlos lebte“ (Tell 2563), aus seinem Frieden herausgeschreckt und ihn „zum Ungeheuren gewöhnt“ (Tell 2569). Mit dem Tell stellt sich Schiller wirkungsvoll der Problematik der Gewaltanwendung im Konfliktfall, und er zeigt, wie die Ausklammerung von Konflikten unweigerlich eine Radikalisierung zur Folge hat. Der großen Wirkung seines Stückes war er sich voll bewusst, wenn er an Körner am 12. April 1804 schreibt: „Der Tell hat auf dem Theater einen größeren Effect als meine andern Stücke, und die Vorstellung hat mir große Freude gemacht“ (Schiller 2004, 147). Die Situation auf den Philippinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist von dem Umstand geprägt, dass sich eine Kolonialmacht nach Jahrhunderten politischer Stagnation der notwendigen Auseinandersetzung mit den Konflikten der Zeit verschließt und dadurch die politische Situation anheizt. Die politisch engagierten Filippinos der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wünschten anfangs keineswegs die Unabhängigkeit von Spanien, sie wollten vielmehr an der Seite Spaniens bleiben, dem sie, wie sie meinten, ihre Bildung und die christliche Kultur im weitesten Sinne verdankten. Was sie dagegen mit friedlichen Mitteln anstrebten, waren Chancengleichheit für die Rassen, die Zurückdrängung der Macht der Mönche („frailocracia“), politische Reformen, die Vertretung der Philippinen in der spanischen Cortes, Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Verbesserungen im Erziehungswesen und die Beteiligung der Filipinos an den Regierungsgeschäften. Erst als die Kolonialmacht sich uneinsichtig-reaktionär verhielt, kam es zwangsläufig zur Radikalisierung, die schließlich in puren Terrorismus mündete, mit dem die Philippinen, wenn auch aus anderen Gründen, bis heute zu kämpfen haben. Die durchaus vernünftige Suche auf philippinischer Seite nach einem Interessenausgleich mit der spanischen Kolonialmacht einerseits und die Unfähigkeit der Kolonialmacht Spanien andererseits, auf diese Lösungsvorschläge einzugehen, sind ein Musterbeispiel für die Gründe der Entstehung terroristischer Bewegungen. Die Geschichte der Philippinen im 19. Jahrhundert zeigt, dass gewalttätige Konfliktlösungen die zwangsläufige Folge nicht gelöster politischer Konflikte sind und die Bekämpfung des Terrorismus ohne Wirkung bleibt, wenn sie ihn bekämpft, ohne den Versuch zu machen, seine Ursachen zu beseitigen. Die Unterschiede zwischen den Bedingungen, in denen sich Friedrich Schiller in seinen historiografischen und dramatischen Werken mit politischen Konfliktlösungen auseinandersetzt, und denjenigen eines José Rizal, eines der wichtigsten Vertreter der politisch engagierten Elite auf den Philippinen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sind von der Biografie beider Männer her gesehen auf den ersten Blick groß.
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Trennendes und Ähnliches bei Schiller und Rizal Niemand würde auf den ersten Blick annehmen, dass zwischen Rizal und Schiller Wahlverwandtschaften bestehen. Schiller wird im württembergischen Städtchen Marbach am Neckar geboren und lebt von 1759 bis 1805, José (deutsch: Joseph) Rizal wird 1861 in Kalamba geboren, etwa 60 Kilometer südlich von Manila, über 12.000 Kilometer von Marbach entfernt. Reisezeit früher: Seereise von Monaten, nach Eröffnung des Suezkanals 1869 einige Wochen kürzer; Flugzeit heute: etwa 20 Stunden. Rizal ist Zeitgenosse von Tagore (geb. 1861), Sun Yat-sen (geb. 1866) und Gandhi (geb. 1869). Auf den ersten Blick sind die Unterschiede zwischen Schiller und Rizal erheblich: Schiller, protestantisch erzogener Schwabe, Sohn eines Militärarztes, Dichter und Dramatiker, auf Veranlassung Goethes Professor der Geschichte in Jena. Rizal, Sohn wohlhabender Eltern mit spanischen, chinesischen und philippinischen Vorfahren, katholisch, Arzt, Sprachwissenschaftler, Historiker, Politiker, Künstler (bedeutende Zeichnungen!) und Schriftsteller. Bei allem Trennenden gibt es jedoch bereits in der Biographie Ähnlichkeiten. Schiller geht 6 Jahre auf die Lateinschule in Ludwigsburg, Rizal besucht das Ateneo Municipal der Jesuiten in Manila, beide sind also klassisch-lateinisch gebildet. Schiller befasst sich in seinen Dramen und Vorlesungen mit so wichtigen Themen wie: Geschichte einer Nation, Revolution, Freiheit, Kampf gegen Demütigung, Rizal ebenso.
Abb. 1. José Rizal 1886, im Alter von 25 Jahren während seiner Heidelberger Studienzeit
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Wilhelm Tell und Shakespeares Schatten Am fruchtbarsten jedoch ist ein Vergleich auf der Grundlage der Texte. Im Sommer 1886 lernt Rizal bei Pfarrer Ullmer in Wilhelmsfeld Schillers Drama „Wilhelm Tell“ (1804) kennen. Ullmer und Rizal lesen das Werk gemeinsam. Rizal ist so begeistert, dass er den Wilhelm Tell in seine Muttersprache, das Tagálog, übersetzt. Ein weiterer Anhaltspunkt für den Einfluss Schillers ist das ausführliche Motto, das Rizal seinem Roman Noli me tangere voranstellt, den er in wesentlichen Teilen in seiner Wilhelmsfelder Zeit von 1886 schreibt und in Berlin im Februar 1887 vollendet. Rizal ist damals ganze 25 Jahre alt und schreibt diesen Roman, man muss sich das einmal richtig klarmachen, neben seinem Medizinstudium und neben der Erlernung der deutschen, französischen und englischen Sprache, die er alle bald fließend beherrscht. Wenden wir uns dem Motto zu, das Rizal seinem Roman voranstellt und das Schillers Gedicht Shakespeare’s Schatten entnommen ist: „Was? Es dürfte kein Cäsar auf euren Bühnen sich zeigen, Kein Achill, kein Orest, keine Andromache mehr?“ – „Nichts! Man siehet bei uns nur Pfarrer, Kommerzienräthe, Fähndriche, Sekretärs oder Husarenmajors.“ „Aber ich bitte dich Freund, was kann denn dieser Misere Großes begegnen, was kann großes denn durch sie geschehn?“ (NA, II, 306f)
Es handelt sich um drei Zweizeiler, Xenien genannt, also Verse mit ironischsatirischem Inhalt. Das Gedicht besteht aus 23 Zweizeilern. Schiller versieht sein Gedicht mit dem Zusatz „Parodie“. Rizal bedient sich bei seinem Romantitel ebenfalls der Parodie. Das altgriechische Wort „Parodie“ setzt sich zusammen aus der Präposition „para“ = „daneben“,„dabei“ und aus „Odé“, also „Ode, Lied, Gesang“. Eine Parodie bezieht sich demnach auf einen bereits allgemein bekannten Text oder eine wohlvertraute Melodie. Aber: der Dichter gibt ihnen einen vollkommen anderen, sinnverändernden, in der Regel komischen, satirischen oder ironischen Sinn. Schillers Gedicht bezieht sich auf den Elften Gesang von Homers Odyssee, Verse 601ff.: Dort begegnet der Dichter dem Herkules in der Unterwelt, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Schiller will damit ausdrücken, dass die in seiner Zeit gespielten deutschen Theaterstücke nur noch eine Parodie auf die großen Shakespeareschen Dramen sind. In der Stelle, die Rizal zitiert, beklagt Schiller, dass in Deutschland nur noch mittelmäßiges Theater vor einem mittelmäßigen Publikum von Pfarrern, Bankern, Militärs und Sekretären gespielt wird. Diese drei Verse müssen Rizal elektrisiert haben. Er bedient sich wie Schiller der Parodie, indem er eine bekannte Bibelstelle als Romantitel wählt und umdeutet. In den Augen der Kirche war der Titel bereits Ketzerei; denn Rizal nimmt Bezug auf eine Stelle im Johannesevangelium Kap. 20,Vers 17, in der Christus, der Auferstandene, zu Maria Magdalena, die ihn berühren möchte, sagt: „Noli me tan-
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gere, nondum enim ascendi ad Patrem“, „rühr‘ mich nicht an; denn ich bin noch nicht zum Vater aufgefahren“. Rizals Noli me tangere bezieht sich aber nun keineswegs auf die heilige Gestalt Christi, sondern ausgerechnet auf dessen durch und durch unheilige und fortschrittsfeindliche Repräsentanten, deren Herrschaft auf den Philippinen er als „frailocracia“, also als „Herrschaft der Mönche“ bezeichnet. Er vergleicht diesen Zustand mit einem Krebsgeschwür. Der Titel besagt zugleich, dass es lebensgefährlich sein kann, an das Krebsgeschwür zu rühren. Wie Recht sollte er damit haben! Schon im September 1888 wurde sein Roman verboten. Wie zu Zeiten der Inquisition machte man sich schon allein mit dem Besitz des Romans strafbar. In dem Gutachten der Sankt-Thomas-Universität von Manila, an der Rizal studiert hatte, steht: „Das Werk ist ketzerisch und skandalös in religiöser Hinsicht, antipatriotisch und subversiv hinsichtlich der öffentlichen Ordnung, politisch beleidigend für die spanische Regierung und ihre Verwaltung auf diesen Inseln“ (zit. nach Ordaz 1992, 18).
Ich halte nur ein einziges Urteil eines heute lebenden spanischen Literaturwissenschaftlers (Jorge Ordaz, 1992) dagegen: ich zitiere bewusst auf spanisch, stand doch in einer älteren Ausgabe der Encyclopedia britannica, Noli me tangere sei auf Tagálog geschrieben: „Es indudable que las dos novelas encierran lo mejor de la prosa y el pensamiento de Rizal, y representan, en conjunto, la cumbre narativa de la literatura filipina escrita en castellano.“ (Ordaz 1992, 36f.) „Es steht außer Zweifel, dass die beiden Romane (sc. Noli me tangere und El filibusterismo, der Nachfolgeroman) das Beste der Prosa und des Denkens von Rizal ausmachen und, insgesamt gesehen, den erzählerischen Höhepunkt der philippinischen Literatur in kastilischer Sprache darstellen.“ (Ordaz 1992, 36f.)
Gewaltlose Lösung politischer Konflikte? In Rizals Romanen geht es um nichts Geringeres als um die Frage, die heute noch hochaktuell ist: soll man durch eine Revolution ein Regime beseitigen, das sich längst überholt hat, oder soll man auf eine allmähliche Verbesserung durch friedliche Evolution setzen? Anders gefragt: wann, wo und inwieweit ist die Anwendung von Gewalt bei der Lösung politischer Konflikte vertretbar? Hier liegt zugleich der fruchtbarste Ansatz für einen Vergleich Rizal-Schiller. Schiller hat im Laufe seines Schaffens drei Fälle von Gewaltanwendung zustimmend erörtert: 1787 beendet er seine Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung; 1789 hält er seine Vorlesung über die Gesetzgebung des Lykurg und des Solon; 1803 beginnt er seine Arbeit am Wilhelm Tell. Schiller bezieht in seiner Schrift über den Abfall der Niederlande von Spanien eindeutig Stellung für die Niederlande, indem er schreibt:
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Groß und beruhigend ist der Gedanke, dass gegen die trotzigen Anmassungen der Fürstengewalt endlich doch eine Hilfe vorhanden ist, dass ihre berechnetsten Pläne an der menschlichen Freiheit zu Schanden werden … Nirgends durchdrang mich diese Wahrheit so lebhaft als bei der Geschichte jenes denkwürdigen Aufruhrs, der die vereinigten Niederlande auf immer von der spanischen Krone trennte.“ (NA, XVII, 10)
Zahlreich sind die Stellen im Wilhelm Tell, in denen das Recht auf Widerstand gegen Despotie und Diktatur verteidigt wird: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, (Tell 1275ff.) Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel, Und holt herunter seine ew’gen Rechte … Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.“ (Tell 1284f.)
Abb. 2. Gerard ter Borch „Der Einzug von Adriaen Pauw in Münster“, Foto: Tomasz Samek, Stadtmuseum Münster, Salzstraße 28, 348143 Münster, Eigentum der Stadt Münster. Auch wenn dieses Gemälde von Gerard ter Borch bereits im Jahr 1646, also zwei Jahre vor dem Westfälischen Frieden, fertig gestellt wurde und in erster Linie das Porträt der Familie einer bedeutenden Persönlichkeit darstellt, hat es eine deutlich politische Tendenz „Von Anbeginn war der Westfälische Friedenskongreß geprägt von den Rangstreitigkeiten der Gesandten … Den höchsten Rang unter den Gesandten nahmen die ‚Ambassadeurs’ ein … Der Ambassadeur vertrat die Person des Souveräns … Von Anfang an beanspruchten die niederländischen Gesandten den Rang des Ambassadeurs“ (Gerard ter Borch: Landesmuseum Münster 1974, 70f.). Dies machten sie zur Bedingung für ihr Erscheinen in Münster. Ein solches Selbstbewusstsein „dokumentiert den politischen Anspruch des Aufstiegs der Generalstaaten der Vereinigten Niederlande zum Rang einer souveränen, den Monarchien gleichgeachteten Macht. Und das zu einem Zeitpunkt (1646), als die Anerkennung noch nicht ausgesprochen war.“ (Ebd., 71)
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Wie Rizal später macht Schiller allerdings eine große Einschränkung: Es gehe im Tell um „das Nothwendige und Rechtliche der Selbsthilfe in einem streng bestimmten Fall“. Also: Gewalt ja, aber nicht überall und zu jeder Zeit, sondern nur in einem „streng bestimmten Fall“. Schiller hat sich immer wieder mit dem Gedankengut der geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution, also mit Voltaire, Diderot, Rousseau, befaßt. Die Nationalversammlung verlieh ihm als Anerkennung das französische Ehrenbürgerrecht. Ab dem Zeitpunkt der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 17. Januar 1793 und ab dem Beginn der Schreckensherrschaft rückt Schiller von der Revolution ab, macht sich aber weiterhin Gedanken über die Frage, wie eine Veränderung des Staatsgefüges ohne extreme Gewaltanwendung möglich ist. Einerseits ist Wilhelm Tell „ein Beweis dafür, dass die französischen revolutionären Forderungen von 1789 auch die Forderungen Schillers für Deutschland waren“ (H.-G. Thalheim, zit. nach M. Meyer 1980, 180), aber er unterscheidet die Methoden der Schweizer Eidgenossen im Drama scharf von den Methoden der französischen Revolutionäre. In seinem Widmungsgedicht zum Wilhelm Tell warnt er vor der Brutalität der kämpfenden Parteien. Unbedingte Richtschnur im Freiheitskampf müsse bleiben, dass die Kämpfenden selbst im Zorn noch die Menschlichkeit ehren.
Ein Plädoyer für die Gewaltlosigkeit: Crisóstomo Ibarra Der Protagonist des Romans Noli me tangere ist Crisóstomo Ibarra, ein junger Mann spanisch-philippinischer Herkunft, der nach dem Studium in Europa und Bildungsreisen quer durch Europa in seine Heimat zurückkehrt. Sprachrohre der politischen und philosophischen Gedanken Rizals sind im Roman außer Ibarra der alte Philosoph Don Tasio und der kluge und besonnen handelnde Bauer Elias. Gleich bei seiner Rückkehr erkennt Ibarra die Rückständigkeit, die ökonomische Ausbeutung und die sowohl geistige wie politische Unterdrückung seines Landes durch das spanische Kolonialregime. Er vernimmt, es sei schlimmer, ein Flibustier, ein filibustero, zu sein als ein Ketzer. Flibustier wurden all diejenigen genannt, die sich durch Rebellion, wie zum Beispiel die südamerikanischen Staaten, von Spanien unabhängig gemacht hatten oder zu machen versuchten: was also in den Augen des Kolonialregimes wie Rebellentum aussieht, ist für die anderen Kampf für die Freiheit. Gleich zu Beginn des Romans wird deutlich, dass Spanien die letzten ihm verbliebenen Kolonien, vor allem also die Philippinen und Kuba, mit allen Mitteln zu halten versucht. Ibarra denkt indessen nach seiner Rückkehr zunächst überhaupt nicht an Auflehnung. Er glaubt noch an die Notwendigkeit der Präsenz Spaniens. Dagegen lässt der Erzähler einen Mönch auf seinem Sterbebett sagen: „Unsere Macht wird dauern, solange man an sie glaubt“ (Noli 62). Kaum ein Satz könnte deutlicher zeigen, wie hellsichtig Rizal die Brüchigkeit
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des kolonialen Regimes bereits durchschaute. Die neueste deutsche Geschichte liefert die Bestätigung für diesen Satz: um die Macht des SED-Regimes war es in dem Augenblick geschehen, als die Menschen nicht mehr an seine Macht glaubten. Der Roman Noli me tangere zeigt exemplarisch, wie in einer Gesellschaft Gewaltbereitschaft entsteht. Ibarra will mit eigenen Finanzmitteln in seinem Heimatdorf eine Schule bauen, weil er erkannt hat, dass nur eine bessere Bildung die Gesellschaft voranbringen kann. Der Philosoph Tasio warnt ihn vor diesem Vorhaben; denn er, Ibarra, werde auf den erbitterten Widerstand der Kirche stoßen. Ibarra hält dagegen: „Ist denn die Liebe zu meinem Land mit der Liebe zu Spanien unvereinbar? … Ich liebe mein Vaterland, die Philippinen, weil ich ihm mein Leben und mein Glück verdanke und weil jeder Mensch sein Vaterland lieben soll; ich liebe Spanien, das Land meiner Vorfahren, weil ihm die Philippinen trotz allem ihr Glück und ihre Zukunft verdanken und verdanken werden; ich bin katholisch, ich bewahre den reinen Glauben meiner Väter, und ich sehe nicht ein, wieso ich den Kopf einziehen soll.“ (Noli 176)
Ibarra ist anfangs sogar gegen Reformen, die der Bauer Elias folgendermaßen definiert: „Mehr Achtung vor der Menschenwürde, mehr Sicherheit für den einzelnen, weniger Macht für die bewaffnete Macht, weniger Privilegien für eine Organisation [die Kirche, GF], die so gern Mißbrauch damit treibt“ (Noli 332f.).
Ibarra erwidert darauf, dass die Institutionen zwar ihre Mängel haben; sie seien aber zur Zeit noch unverzichtbar und stellten das kleinere Übel dar. Er ist sogar der Meinung, dass die Leute, die Reformen verlangen, meist Banditen seien. Darauf erwidert Elias leidenschaftlich: „Banditen oder zukünftige Banditen, ja, aber warum sind sie das? Weil ihr Frieden gestört, ihr Glück vernichtet wurde, weil sie in ihren tiefsten Gefühlen verletzt wurden und weil sie, als sie sich schutzsuchend an die Obrigkeit wandten, zur Überzeugung gezwungen wurden, dass sie nur auf sich selbst bauen konnten! Aber Sie sind im Irrtum, wenn sie annehmen, dass nur Verbrecher die Reformen wollen!“ (Noli 336)
Ibarras Wandlung vom Pazifisten zum Terroristen Elias fragt Ibarra rundheraus, ob er notfalls bereit wäre, sich an die Spitze einer Aufstandsbewegung zu stellen und deren Führung zu übernehmen. Ibarra lehnt das zu diesem Zeitpunkt noch entschieden ab: „Niemals! Ich werde mich niemals an die Spitze einer Menge stellen, die mit Gewalt das erreichen will, wofür die Regierung den Zeitpunkt noch nicht für gekommen hält“ (Noli 347). Darauf Elias: „Ohne Kampf gibt es keine Freiheit!“ Ibarras kategorische Antwort: „Eine solche Freiheit will ich nicht!“ (Noli 347). Ibarra bleibt bei seinem Glauben, dass er seinem Land durch den Bau einer Schule am wirksamsten nützen kann. Die Vertreter der Kirche aber tun alles, um den Plan ei-
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nes Schulbaus zu vereiteln, während die weltliche Macht mit dem Schulbau durchaus einverstanden ist. Die Kirche schreckt sogar vor einem Attentat nicht zurück. Ibarra soll bei der Grundsteinlegung durch den riesigen Eckstein zermalmt werden, den man heimlich aus dem Hebekran lösen will. Das Attentat misslingt, der gedungene Mörder kommt selbst ums Leben. Aus dem Schulbau aber wird nichts mehr. Die Kirche wirft Ibarra sogar vor, er habe nicht eine Schule, sondern eine Festung für einen Aufstand bauen wollen. Ibarra aber gibt immer noch nicht auf: er will nun eine Fabrik zur Verarbeitung von Kokosnüssen errichten (Noli 352). Doch ein Aufstand bricht im Dorf los, geführt von zwei jungen Männern, deren Vater von der Guardia civil zu Tode gefoltert worden war. Die Kirche schiebt die Schuld an diesem Aufstand natürlich Ibarra in die Schuhe. Der vollkommen unschuldige Ibarra wird verhaftet und vor den Augen der aufgehetzten Dorfbewohner abgeführt. „Ibarra sah die rauchenden Trümmer seines Hauses, des Hauses seiner Väter, in dem er geboren war und das für ihn die schönsten Erinnerungen an Kinderzeit und frühe Jugendtage lebendig gehalten hatte. Die Tränen, die er so lange zurückgedrängt hatte, schossen ihm in die Augen; er senkte den Kopf und weinte.“ (Noli 393).
Ibarra kommt, wie viele andere Dorfbewohner, ins Gefängnis, wird aber von Elias befreit und flieht. Nun ist es Elias, der beschwörend vom bewaffneten Kampf abrät: „Überlegen Sie sich gut, was sie tun, Sie werden einen Krieg entfesseln, denn Sie haben Geld, Sie haben einen guten Kopf, und Sie werden schnell viele Arme finden: Zum Unglück gibt es viele Unzufriedene. Aber in diesem Kampf, den Sie führen wollen, werden die Wehrlosen und Unschuldigen am meisten zu leiden haben … Das Land will sich nicht vom Mutterland lösen, es will nur ein wenig Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit … Ich selbst werde Ihnen nicht folgen, ich werde niemals zu so extremen Mitteln greifen.“ (Noli 418)
Ibarra ist aber nicht mehr umzustimmen: er hat den Glauben an die Vernunft, an rationales Handeln, verloren. Nachdem er sein ganzes Vermögen für die Verbesserung der Zustände auf den Philippinen einzusetzen bereit gewesen war, aber nur auf Widerstand stieß, sieht er jetzt das einzige Mittel nur noch in brutaler Gewalt: „Sie haben Recht, Elias, aber der Mensch ist von den Umständen abhängig … Jetzt hat mir das Unglück die Binde von den Augen gerissen, die Einsamkeit und das Elend im Gefängnis haben mich eines Besseren belehrt. Jetzt sehe ich das furchtbare Krebsgeschwür, das diese Gesellschaft befallen hat, das sich in ihr Fleisch frißt und das man mit scharfen Messern ausschneiden muß. Meine Feinde haben mir die Augen geöffnet, sie haben mir die schwärende Wunde gezeigt, und sie zwingen mich, ein Verbrecher zu sein! Und da sie es so wollen, werde ich ein Flibustier sein, aber ein echter Flibustier! Ich werde alle Unglücklichen zusammenrufen … Nein, ich werde kein Verbrecher sein, wer für sein Vaterland kämpft, ist niemals ein Verbrecher, im Gegenteil! Seit dreihundert Jahren strecken wir ihnen die Hand hin, bitten um ihre Liebe, sehnen uns danach, sie unsere Brüder zu nennen. Und wie erwidern sie das? Mit Schimpf und Spott, sie sprechen uns sogar ab, menschliche Wesen zu sein! Es gibt keinen Gott, es gibt keine Hoffnungen, es gibt keine Menschlichkeit! Es gibt nur noch das Recht der Gewalt!“ (Noli 417)
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Die Ähnlichkeit mit dem Sinneswandel Wilhelm Tells vom friedlichen Jäger zu einem Mann, der in der Gewaltanwendung das letzte und legitime Mittel der Gegenwehr sieht, ist unverkennbar. Kurz bevor Tell die Waffe gegen den Unterdrücker Gessler richtet, sagt er: „Ich lebte still und harmlos – Das Geschoss War auf des Waldes Tiere nur gerichtet, Meine Gedanken waren rein von Mord – Du hast aus meinem Frieden mich herausGeschreckt, in gärend Drachengift hast du Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt, Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt …“ (Tell 2569ff.)
El filibusterismo oder die Apologie des Terrorismus Um zu illustrieren, dass Unterdrückung, Demütigung und Ungerechtigkeit letztlich Gewalt erzeugen, schreibt Rizal einen weiteren Roman mit dem Titel: El filibusterismo. Den Titel kann man übersetzen mit: „Der bewaffnete Kampf“ oder „Die Rebellion“. Der reiche Juwelenhändler Simoun, hinter dem sich niemand anderes als Ibarra verbirgt, plant einen Rachefeldzug: die Stadt, in der diejenigen leben, die Schuld sind an der Vereitelung seiner Pläne und an der Zerstörung seines Glücks, soll, notfalls mitsamt den Unschuldigen, in die Luft gesprengt werden. Simouns terroristischer Plan misslingt dank der Opferbereitschaft des jungen Filipinos Isagani. Rizal identifiziert sich hier offensichtlich nicht mehr mit dem Verhalten des Flibustiers Simoun, dessen Handeln in reinen Terrorismus auszuarten droht.Auf dem Sterbebett stellt Simoun die Frage, die Christus am Kreuz herausgeschrien hatte: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ein philippinischer Geistlicher antwortet: „Du hast geglaubt, dass … Verbrechen … durch noch mehr Verbrechen getilgt und gereinigt werden können. Das war ein Irrtum! Haß erzeugt neuen Haß,Verbrechen neues Verbrechen, nur Liebe kann Wunder wirken …“ (EF 295).
Die Diskrepanzen zwischen Schiller und Rizal Trotz der sich ähnelnden Positionen Schillers und Rizals hinsichtlich ihrer Vorbehalte gegen Gewaltanwendung besteht letztlich aber ein radikaler Unterschied zwischen beiden: Schiller ist Dichter, Dramatiker, Historiker, Schriftsteller. Er schreibt, was ihm seine Phantasie eingibt. Rizal dagegen schreibt, was er durchlebt und durchleidet, ja sogar, was er erst noch erleben wird. Das zeigt allein schon die Problematik des Grüßens. Schiller prangert im Wilhelm Tell den demütigenden Befehl Gesslers an, seinen Hut zu grüßen als Zeichen der absoluten Unterwerfung. Im Roman Noli me tangere ruft Pfarrer Dámaso in einer stundenlangen Predigt die entwürdigenden Grußvor-
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schriften für alle Filipinos gegenüber jedem Spanier in Erinnerung, die, wie er wütend beklagt, von den Filipinos nicht mehr genügend beachtet würden. Rizal selbst war als junger Mann eines Abends am See seines Heimatortes bei einem Spaziergang von einem Leutnant der Guardia Civil brutal zusammengeschlagen und schwer verwundet worden, weil er den Offizier in der Dunkelheit nicht erkannt und deswegen nicht gegrüßt hatte. Der Offizier wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Der Roman Noli me tangere ist auf weite Strecken eine fiktional umgesetzte Biographie. Der Roman arbeitet nicht nur traumatische Erlebnisse des Autors auf, sondern ist ein in makabrer Weise prophetisches Buch. Was Ibarra mit seinem Vaterhaus im Roman zustößt, das ereignet sich nur drei Jahre nach Fertigstellung des Romans: Rizals Vaterhaus wird 1890 durch die Guardia civil niedergebrannt, die Dorfbewohner, unter ihnen seine Eltern, werden gnadenlos deportiert als Vergeltung für eine Petition, in der sie friedlich gefordert hatten: die Entmachtung der Orden, die Vertretung der Philippinen im spanischen Parlament, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit der Versammlung, der Presse, der Rede, die Assimilation mit Spanien. Rizal selbst wird trotz allem kein Revolutionär, im Gegenteil: noch kurz vor seiner Hinrichtung versichert er, mit dem Aufstand auf den Philippinen nichts zu tun zu haben. Er habe sich immer für machbare Projekte eingesetzt, gerade in seiner Verbannung auf Mindanao (wie Gesundheitsfürsorge, Verbesserung landwirtschaftlicher Methoden, Bildungswesen). Zwei Wochen vor seiner Hinrichtung wendet er sich in einem offenen Brief aus dem Gefängnis an seine Landsleute: „Ich kann nichts anderes tun als diesen absurden, wilden Aufstand, der hinter meinem Rücken geplant worden ist, zu verurteilen … Ich verabscheue seine kriminellen Methoden und weise jede Art von Zusammenarbeit mit den Rebellen zurück“ (nach Dahm 1989, 72).
Was für mich bei der Lektüre von Rizals Roman Noli me tangere so deprimierend war, ist Folgendes: mir wurde sehr bald klar, dass auch die grausamsten Vorgänge und Tatsachen im Roman leider nicht frei erfunden sind. Ich habe noch nie in meinem Leben ein literarisches Werk gelesen mit dem furchtbaren Gefühl, dass sein Autor nicht nur, aber auch seinetwegen erschossen werden würde, und zwar im Alter von nur 35 Jahren! Ich bin noch nie einem Roman begegnet, der sich wie die Prophezeiung eines Lebens liest, das den Autor erst noch erwartete.
Ein eingeschränktes Plädoyer für Gewaltanwendung bei Schiller und die Infragestellung der Gewalt bei Rizal Zusammenfassend lässt sich feststellen: Es gibt Wahlverwandtschaften zwischen Rizal und Schiller. In der entscheidenden Frage, die im Wilhelm Tell und in Noli me tangere reflektiert wird, ob nämlich Gewalt zur Lösung politi-
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scher Konflikte legitim ist, gibt es zwar Annäherungen, aber auch unverkennbare Unterschiede. Schiller steht der Gewaltanwendung eingeschränkt positiv gegenüber.Voraussetzung für ihn ist, dass sich die Gewalt auf einen genau definierten Fall beschränkt und so weit wie möglich auf Brutalität verzichtet. Rizal, der in seinen Romanen durchaus Verständnis für Gewalt zeigt, ist in seiner Lebenspraxis aufgrund seiner Erfahrungen weitaus zurückhaltender. Dass ausgerechnet er ein Opfer staatlicher Gewalt werden sollte, ist die besondere Tragik seines Lebens und, wie ich hinzufügen möchte, der Philippinen. Auf Rizal selbst treffen die Sätze zu, die er in Noli me tangere dem Philosophen Don Tasio in den Mund legt: „No escribo para esta generación, escribo para otras edades“, „Ich schreibe nicht für diese Generation, ich schreibe für eine andere Zeit“ (Noli 168). Rizal wurde wegen Aufwiegelung zur Rebellion gegen die Kolonialmacht mit dem Ziel der Unabhängigkeit (was nicht zutraf) am 28. Dezember 1896 zum Tode verurteilt und zwei Tage später in Manila öffentlich hingerichtet. Zwei Jahre später (1898) sollte Spanien im spanischamerikanischen Krieg für immer seine Kolonie, die Philippinen, verlieren. Dieser Verlust war so radikal, dass der Einfluß des Spanischen vollkommen verschwand und dem Amerikanischen Platz machte. Das Werk Rizals gehört daher gleichzeitig zum Höhepunkt und zum letzten Zeugen der spanischsprachigen Kultur auf den Philippinen. Heidelberg, im März 2004 Zur 200. Wiederkehr der Uraufführung des Wilhelm Tell am Weimarer Hoftheater unter Goethes künstlerischer Leitung am 17. März 1804
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Heidelberger Jahrbücher, Band 48 (2004) F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikt © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
Lessings „Nathan der Weise“ im Konfliktfeld von Judentum, Christentum und Islam karl-josef kuschel I Die Aktualität des „Nathan“ „Timelessness is a good thing in a play, but timeliness is better. The 18th-century drama ‚Nathan the wise‘ wins on both counts.“ Besser als der Theaterkritiker der New York Times, der am 20. Oktober 2002, gut ein Jahr nach dem „11. September“, eine Aufführung von „Nathan der Weise“ am Pearl Theater in New York besprach, kann man Lessings Stück nicht charakterisieren: „Zeitlosigkeit ist gut, Zeitgemäßheit ist besser. Das 18. Jahrhundert-Drama ‚Nathan der Weise‘ gewinnt in beider Hinsicht.“ Warum? „Das Stück, das Spannungen zwischen Christen, Muslimen und Juden dramatisiert, verliert schwerlich seine Dringlichkeit im heutigen weltpolitischen Klima.“ In der Tat: Nicht nur in New York wurde „Nathan der Weise“ gespielt – in Reaktion auf „Nine Eleven“. Nach dem 11. September 2001 hat es auf deutschsprachigen Bühnen nicht weniger als 24 „Nathan“-Inszenierungen gegeben!1 Entweder waren sie schon vorher geplant (wie in Dresden, Magdeburg oder Rostock) und gewannen plötzlich „brennende Aktualität“2 oder wurden spontan ins Programm genommen wie von Claus Peymann und seinem Berliner Ensemble. Angesichts der hochdramatischen weltpolitischen Ereignisse konnte die Reaktion der Kritik nur äußerst gegensätzlich sein. Und doch blieb die Meinung,„durch Auschwitz und die Zerstörung der New Yorker Zwillingstürme“ sei die Sache des Stückes „widerlegt“, ja eine Wiederaufführung des „Nathan“ gelinge heute nur „um den Preis, dass die Intentionen des Autors ins Gegenteil verkehrt“ würden, eher die Ausnahme.3 Für die meisten Kritiker standen die 1
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Eine Dokumentation dazu ist zu finden in: Wer spielt was? Werkstatistik 2001/2002. Deutschland – Österreich – Schweiz, hrsg. v. Deutschen Bühnenverein – Bundesverband Deutscher Theater, Köln 2003. Von den Mitarbeitern des Lessing-Archivs in Kamenz bekam ich dankenswerterweise die publizistischen Reaktionen auf die jüngsten „Nathan“-Inszenierungen auf deutschen Bühnen zur Verfügung gestellt, die ich im Folgenden auswerten konnte. Grundlage der folgenden Ausführungen sind meine beiden Studien: Kuschel 1998 und 2004. Elbe-Report (Magdeburg) vom 9. 1. 2001 (K. Kunze). So anlässlich einer „Nathan“-Aufführung des Ulmer Theaters in Villingen-Schwenningen in: Schwarzwälder Bote vom 28. 1. 2002 (F. Schück).
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Neuinszenierungen im Zeichen des Dennoch, des Trotzdem: „Gerade nach den Ereignissen am 11. September“, sagte etwa der Regisseur der Rostocker Inszenierung, deren Personal ausschließlich aus Frauen (!) bestand, „ist mir sehr wichtig, was der Text impliziert: eine sehr große Toleranz nämlich, eine nichtlebbare Toleranz aber auch. Das ist die Tragik.“4 Gerade deshalb aber wurde für ihn das Stück unabweisbar. Nach den Bildern aus New York hatte er den „Nathan“ spontan noch aus dem Programm nehmen wollen: „Dann haben wir sehr ernst und klar den Text hinterfragt, und dabei wurde es für mich wieder wichtig, das Stück zu bringen. Ich habe auf jedwede Mätzchen verzichtet. Ich bin noch statischer geworden und noch mehr auf ’s Wort gegangen. Wir haben zu einer neuen Ernsthaftigkeit gefunden.“5 Diese neue Ernsthaftigkeit empfand auch ein Kritiker des Mannheimer „Nathan“: „Den Nathan nun, nach dem 11. September, erst recht!“, bekannte er, um zu folgern: „Was ich als Bühne und auf der Bühne sehe, ist der unendliche Möglichkeitsraum in uns, der so wahr ist, wie er außerhalb unserer selbst nie Wirklichkeit wurde, bislang. Nathan, ein Innenweltraumabenteuer.“6 Es gab aber auch kaum eine Alternative in der deutschen Literatur, wenn man in diesem „weltpolitischen Klima“ nach einem „Lehrstück“ für das Theater suchen wollte. Welches andere deutschsprachige Stück spiegelt denn die uns bedrückende Weltproblematik in einem offensichtlich neuentfachten „Kampf der Kulturen“? Wie seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr ist ja die westlich-christliche Zivilisation konfrontiert mit einem militanten, ja terroristischen Islamismus. Es gibt kein zweites Stück in der gesamten deutschen Literatur, das einerseits das Konfliktpotential zwischen Judentum, Christentum und Islam spiegelt und gleichzeitig das Modell einer Versöhnbarkeit von Juden, Christen und Muslimen anbietet. Goethes „West-östlicher Diwan“ (1819)? Er betrifft das Zwiegespräch von christlich-westlicher und islamischorientalischer Kultur.Vom Judentum ist hier keine Rede. Heines Tragödie „Almansor“ (1829)? Sie betrifft den Konflikt zwischen Christentum und Islam in Spanien und spiegelt das Konversionsproblem für Juden bestenfalls indirekt. Friedrich Rückerts große Orient-Dichtungen und -Nachdichtungen? Sie betreffen den Kulturtransfer zwischen Ost und West; das Jüdische spielt keine Rolle. Wir haben in der deutschen Literatur noch im 20. Jahrhundert entweder Dokumente einer Begegnung zwischen Judentum und Christentum oder zwischen Abendland und Morgenland, Orient und Okzident. Nur Lessings „Nathan“ ist „trialogisch“ strukturiert. Wie immer man also ästhetisch, politisch und theologisch zu Lessings „dramatischem Gedicht“ stehen mag: Wir haben keinen anderen großen Referenztext in der deutschen Literatur, wenn es um das Verhältnis von Juden, Christen und Muslimen geht. 4 5 6
Ostsee-Zeitung (Rostock) vom 11. 10. 2001 (M. Schümann). Ebd. Neues Deutschland (Berlin) vom 8. 1. 2003 (H.-D. Schütt).
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Von daher erklärt sich, warum Lessings Drama – trotz aller Desillusionierung durch die Geschichte insbesondere des 20. Jahrhunderts – von vielen Kritikern auch heute noch als „grandioses Dennoch und Trotzdem“ angesehen wird: „Gegen die Ringparabel etwa spricht allein die Barbarei. Oder der Untergang der Menschheit. – Nicht zufällig saßen mehrere Bundesminister im Parkett“7 und lauschten der Inszenierung des „Berliner Ensemble“, schrieb ein Kritiker, wobei man die Bemerkung in der Tat kaum unterdrücken kann, dass Angehörige der politischen Klasse im Westen nicht eigentlich die Adressaten dieses Stückes sind. „Diejenigen“ – so der Kritiker der New Yorker Inszenierung zu Recht –, „die dieses Stück am nötigsten sehen müssten, sind solche, die die Aufklärung als einen Ausbruch von Häresie in kontinentalem Maßstab betrachten. Es sind solche, die daran erinnert werden sollten, dass Saladin nicht nur für seinen Glauben und für seine Macht gelobt wurde, sondern auch für seine Toleranz. Schlag nach bei Dante.“8 Wir schlagen nach bei Dante und finden: Im vierten Gesang von „Il Inferno“ (Vers 129) treffen wir in der Tat auf Sultan Saladin.Als Nichtchrist kann er sich nicht im Paradies aufhalten, aber als guter Nichtchrist befindet er sich am mildesten aller Straforte, der Vorhölle – neben berühmtesten Helden des klassischen Altertums wie Elektra, Hektor und Aeneas, auch „inmitten der Familie der Philosophen“: Sokrates und Platon, Demokrit und Heraklit. Der Kreis der hier genannten Personen bildet eine Art Kanon der Prominenten, wie er zu Dantes Zeiten gültig war, und zeigt, welchen Gestalten der Antike das Mittelalter Anerkennung zollt. Auch der Muslim Saladin gehört dazu. Er ist denn auch eine Schlüsselfigur zur Dokumentation muslimisch möglicher Ritterlichkeit schon im Mittelalter, erst recht dann im 18. Jahrhundert. Lessing macht nicht zufällig ihn zu seinem muslimischen Helden – als Modell nicht nur von Ritterlichkeit, sondern von Toleranz und Menschlichkeit. In neuesten Inszenierungen auf deutschen Bühnen aber war davon kaum etwas zu spüren. Vielfach ignoriert wurde, dass Lessing bewusst nicht nur einen jüdischen Helden von Format auf die deutsche Bühne bringt, sondern bewusst auch positiv gezeichnete muslimische Figuren, was im Kontext der zeittypischen europäischen Islam-Verachtung nicht weniger kühn war. Weitgehend ignoriert wurde, dass Lessing mit seinem Nathan auch das Interesse verfolgt, eine islamisch geprägte Menschlichkeit gegen eine gesetzliche Orthodoxie stark zu machen, dass er also auch in innermuslimische Diskurse eingreift – und zwar im Interesse einer positiven Verbindung von Islam und Menschlichkeit. Dabei hätte man Lessings Strategie durch einen Blick in seine geplante Vorrede zum „Nathan“ leicht entdecken können:
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Die Welt vom 7. 1. 2002 (R. Wengierek). The New York Sun vom 8.–10. 11. 2002 (J. McCarter).
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„Wenn man sagen wird, dieses Stück lehre, dass es nicht erst von gestern her unter allerlei Volke Leute gegeben, die sich über alle geoffenbarte Religion hinweggesetzt hätten, und doch gute Leute gewesen wären; wenn man hinzufügen wird, dass ganz sichtbar meine Absicht dahin gegangen sei, dergleichen Leute in einem weniger abscheulichen Lichte vorzustellen, als in welchem der christliche Pöbel sie gemeiniglich erblickte: So werde ich nicht viel dagegen einzuwenden haben. (…) Wenn man aber sagen wird, dass ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt, und jenerlei Leute unter Juden und Muselmännern wolle gefunden haben: so werde ich zu bedenken geben, dass Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren; dass der Nachteil, welchen geoffenbarte Religionen dem menschlichen Geschlechte bringen, zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge, und dass es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solch vernünftiger Mann habe sich nun eben in einem Sultane gefunden.“ (IX, 665f.)9
Das ist also der Lessingsche Kontext: Ein „christlicher Pöbel“ pflegt Menschen, konkret: Juden und Muslime, die nicht in ihre gängigen Schemata passen, in „abscheulichem Licht“ darzustellen. Gegen diesen Komplex des seit Jahrhunderten gewachsenen vulgären Antijudaismus und Antiislamismus betont Lessing strategisch die kulturellen Leistungen von Menschen anderer Religionen, betont die Gewährung von Religions- und Gewissensfreiheit in ihrem Herrschaftsraum sowie religiöse und philosophische Tiefe bei ihren „Gelehrten“, betont umgekehrt die Skandalgeschichte des Christentums, wie sie sich in den „Kreuzzügen“ manifestiert. Dass diese Strategie auf massiven Widerstand stoßen würde, ist ihm klar. Die Verletzung der „poetischen Schicklichkeit“ ist dabei gewiss noch der leichteste Vorwurf. Ein Muslim (Beispiel: Sultan Saladin) gehört zu den „guten Leuten“, ist ein Mann der Vernunft, der Moral, der Menschlichkeit. Und diese seine Vernunft, Moral und Menschlichkeit hat er nicht trotz des Islam, sondern durch den Islam, durch seinen Glauben als Muslim: das musste in Deutschland einer Öffentlichkeit erst noch bewusst gemacht werden, die in antijüdischen und antimuslimischen Stereotypen erstarrt ist. Auf deutschen Bühnen aber war jüngst von all dem wenig zu sehen. Im Gegenteil. Die Muslime in „Nathan“-Inszenierungen kommen meist schlecht weg. Der Sultan und Sittah? „Operettenorientklischees der albernsten Sorte“!10 Saladin? „Salontunte mit gemaltem Menjou-Bärtchen“, „SchlafanzugSultan (mit) geistig grotesker Operettenmiene“, ein „Kleinganove mit großem Herzen“!11 Und wenn schon Anklänge an seine orientalische Herkunft nicht
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Lessing-Texte werden zitiert nach der Ausgabe in der Bibliothek deutscher Klassiker: Lessing 1989–2003. Die Quellen werden im Text direkt belegt mit dem Kürzel römische Bandzahl und Seite. Tip H. 2/2002 (P. Laudenbach). So Kritiker der Inszenierung des Berliner Ensembles in: Die Deutsche Bühne H. 2/2002 (M. Heine) und in: Freie Presse (Chemnitz) vom 7. 1. 2002 (P. H. Göpfert) sowie der Inszenierung des Würzburger Theaters in: Süddeutsche Zeitung vom 9. 10. 2001 (S. Leucht). Auch in „Theater heute“ wurde Peymans Saladin gesehen als „ein gutmütig zwinkender Schalk mit angeklebtem Menjou-Bärtchen“. Seine Schwester Sittah als „kapriziöses Hexlein“ (H. 2/2002).
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wegzuinszenieren waren, dann war Saladin in jedem Fall ein „zwielichtiger Orientale“. Wie ein Kritiker der Neuen Zürcher Zeitung zur Berliner Inszenierung bemerkte: „Der Sultan … stakst als schnöseliger Angeber herum, geschönt durch lange Bartspitzen und die Signalfarbe Blau auf Wams, Schuhen und wippender Feder“.12 In der Tat: Die meisten Inszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen kamen über eine „operettenhafte Optik“ bei Saladin nicht hinaus und statteten den Sultan entsprechend mit einem „MärchenprinzenTurban-Kostüm“ aus.13 Ernstgenommen im Sinne Lessings wurde Saladin als Muslim kaum. Wer aber angesichts der Umbrüche in der islamischen Welt die Lessingschen Intentionen in ihr Gegenteil verkehrt, schreibt die jahrhundertealte Verachtungsgeschichte gegenüber dem Islam weiter, die gerade auch in intellektuellen Kreisen Europas schon zu Lessings Zeiten herrschte (Voltaire und die Folgen).14 Nichts hat man begriffen von dem, worum es Lessing mit seinem Stück ging und geht. So wie er mit Blick auf die jüdische Welt für Menschlichkeit aus jüdischer Überzeugung stritt, für das, was Martin Buber später „jüdischen Humanismus“ nennen sollte, so stritt Lessing im Blick auf die islamische Welt für die Wahrnehmung von Menschlichkeit von Menschen muslimischen Glaubens. Ich nenne das kalkulierte oder strategische Aufwertung des Verachteten im interkulturellen und interreligiösen Diskurs. Lessing konkretisiert dies dadurch, dass er im „Nathan“ eine positiv gezeichnete jüdische Figur und drei positiv gezeichnete muslimische Figuren auf die Bühne stellt. Mehr noch: Die eigentliche werkgeschichtliche Originalität und zugleich gesellschaftliche Provokation des „Nathan“ besteht gerade darin, dass hier erstmals in dieser Weise kalkuliert aufgewertete muslimische Figuren auf einer deutschen Bühne stehen. Das Jüdische war ja schon in Lessings frühem Stück „Die Juden“ (1749) durch die Figur des „Reisenden“ aufgewertet worden; der „Nathan“ ist dessen Fortschreibung und einzigartige Überbietung, aber in Sachen Judentum gerade nicht originell. Originell ist die Aufwertung von Muslimen auf einer Bühne. Lessings „Nathan der Weise“ ist 12 13
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Neue Zürcher Zeitung vom 8.1.2002 (C. Funke). So zur Inszenierung bei den Gandersheimer Domfestspielen in: Braunschweiger Zeitung vom 15. 7. 2002 (H. Hilpert). Ähnlich in der neuesten Inszenierung des „Nathan“ am Münchner Residenztheater durch Elmar Goerden (Dezember 2003). Die Kritikerin Renate Schostack konstatiert im Blick auf die Darstellung von Saladin und Sittah:„Der Sultan des Oliver Nägele ist ein jovialer, beleibter Weichling im weißen Anzug, der gern Pralinen isst … die Sittah der Katja Uffelmann ist weder Saladins böser noch guter schwesterlicher Geist, sondern eine konturlose Langweilerin“. Den Grund für diese Art von Darstellung erblickt die Kritikerin darin: „Dem jungen Regisseur bedeuten Religionen offenbar nichts. Die Ringparabel, in der es um den Wahrheitsgehalt von Judentum, Christentum, Islam geht, ist für ihn eine Lügengeschichte“ (FAZ vom 2. 12. 2003). Auch ein Kritiker wie Christopher Schmidt bemerkt zu dieser Inszenierung: „Und da ist der von Oliver Nägele als neureicher Geldsack gespielte Saladin, ein öliger Waffenschieber, im Schlepptau seine Schwester Sittah, bei Katja Uffelmann sein schattenhaftes besseres Selbst. Mit einer Sprühflasche bewässert er die Sukkulenten im Trog – und seine Ressentiments.“ (Süddeutsche Zeitung vom 2. 12. 2003). Genaueres dazu in: Kuschel 1998, Kap. I/4 u. 5.
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also auch als ein proislamisches, genauer: ein promuslimisches Stück zu lesen. In diesem Konfliktfeld von Judentum, Christentum und Islam ist der „Nathan“ zu verstehen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Analyse des Islam-Bildes und der muslimischen Figuren.
II Der Islam als Religion der Vernunft Seit 1770 Bibliothekar zu Wolfenbüttel in den Diensten des Herzogs von Braunschweig-Lüneburg, hatte sich Lessing seit 1774 in eine immer leidenschaftlicher geführte theologische Kontroverse verstrickt, ausgelöst durch seine Veröffentlichungen von Ausschnitten aus einem Manuskript des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), der zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebt und dessen Namen Lessing der Öffentlichkeit bewusst verschweigt. Seinen Höhepunkt erreicht dieser Streit um die „Fragmente eines Ungenannten“ durch das Eingreifen des Hamburger Hauptpastors Melchior Goeze (1717–1786), der die Reimarus-Texte als Frontalangriff auf den angeblich göttlich verbürgten Wahrheits- und Heilsanspruch der christlichen Religion versteht. Es ist denn auch unerhört, was dieser Hamburger Orientalist etwa zu einer Religion wie dem Islam geschrieben hatte: Der Islam sei eine ganz und gar vernünftige, „natürliche“ Religion. Dies etwa konnte man in einem der von Lessing veröffentlichten Stücke lesen: „Des Mahomets Alkoran (…) und der Türkische Glaube hat zwar einen bösen Ruf bei uns, nicht allein, weil der Stifter dieser Religion Betrügerei und Gewalt gebraucht, sondern auch weil viele Torheiten und Irrtümer, nebst manchen unnötigen äußerlichen hergebrachten Gebräuchen, sich eingemischet finden. Ich will ihm auch gar nicht das Wort reden, vielweniger denselben der christlichen Religion zum Nachteil erheben. Doch bin ich versichert, dass unter denen, die der Türkischen Religion dies und jenes Schuld geben, die wenigsten den Alkoran gelesen haben, und dass auch unter denen, die ihn gelesen, die wenigsten den Vorsatz gehabt, den Worten einen gesunden Verstand, dessen sie fähig sind, zu geben. Ich getraute mir, wenn dieses mein Hauptabsehen wäre, das vornehmste der natürlichen Religon aus dem Alkoran gar deutlich, zum Teile gar schön ausgedruckt darzutun, und glaube, dass ich bei Verständigen leicht darin Beifall finden werde, dass fast alles wesentliche in Mahomets Lehre auf natürliche Religion hinauslaufe. Der gelehrte Thomas Hyde, den man sowohl der Sachen kundig als unparteiisch halten muss, lobt den Mahomet als ‚verae Religionis Abrahami restauratorem‘, der die wahre Religion Abrahams wieder hergestellt habe: und der getreueste Übersetzer und Ausleger des Alkorans, George Sale, zeigt in seiner Einleitung zum Alkoran, dass der Grundsatz der Lehre Mahomets auf der Einheit Gottes beruhe, oder auf der Wahrheit, dass nur Ein Gott sei, und sein könne: dass der Vorsatz, die heidnischen Araber von der Abgötterei zum Erkenntnis dieses einigen Gottes zu bringen, edel und höchlich zu loben gewesen“ (VIII, 130).
In dieser Reimarus-Passage kommen Grundzüge einer neuen, von Polemik freien Einschätzung des Islam zur Geltung, wie Lessing sie spätestens seit seinem Religionsdialog „Die Rettung der Hieronymus Cardanus“ (1754) selber teilt und wie sie sich im Zeitalter der Aufklärung jetzt allmählich Bahn bre-
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chen wird.15 Ich fasse die Grundzüge der Argumentation zusammen. Ohne sich mit dem Islam zu identifizieren oder ihn gegen das Christentum auszuspielen, stellt Reimarus in aller – durch Fachliteratur (Thomas Hyde und George Sale) erhärteten – Sachlichkeit fest: (1) Psychologisch ist unverkennbar, dass unter Christen in Europa kaum Bereitschaft zu einem inneren Verständnis des Islam vorhanden ist. Nicht nur sind Vorurteile („Betrügerei“, „Gewalt“) und Ignoranz (die Wenigsten haben den Koran gelesen) weit verbreitet. Vielmehr ist selbst bei denen, die den Koran lesen, Missgunst und Antipathie gang und gäbe. All das sind Spätfolgen der mittelalterlichen und reformatorischen Konfrontationstheologie gegenüber dem Islam, mit der Reimarus jetzt entschieden bricht. Er tut dies, indem er dem Koran das höchste Lob spendet, zu dem er als „Deist“ oder Anhänger einer „natürlichen“ Religion fähig ist: der Koran – so macht er sich anheischig, persönlich nachzuweisen – enthält das „Vornehmste“ der natürlichen Religion. Der Koran ist also ein Buch, in dem Reimarus schon vorweggenommen sieht, was er jetzt und künftig anstrebt: eine gelungene Synthese aus Vernunft und Glauben. (2) Geschichtlich ist unabweisbar, dass der Islam mit seinem historischen Erscheinen einen Aufklärungsfortschritt in der Geschichte der Religionen darstellt: Ein Volk wie die Araber wurde vom Niveau der „Abgötterei“ auf das Niveau einer monotheistischen Religion gehoben – als Grundlage für „gute Sitten und Tugenden“. Diese Einsicht bricht mit dem „bösen Ruf“ des Islam in Europa. Gemeint ist die in christlicher Theologie lange tradierte Vorstellung, der Islam sei nichts anderes als eine – gemessen am Christentum – historische Dekadenzerscheinung: Häresie, Heidentum, Teufelswerk. (3) Theologisch ist unabweisbar, dass im Koran des Propheten Mohammed nicht irgendein „Aberglaube“, sondern die Verehrung des einen und wahren Gottes propagiert wird. Mohammed hat nicht irgendeinen neuen Götzenkult eingeführt, sondern die „wahre Religion Abrahams“ wiederhergestellt. Der Gott, den Mohammed verkündet, ist auch der Gott, der sich dem biblischen Urvater Abraham geoffenbart hat. Der Islam ist somit kein Abfall vom Glauben, sondern steht in Kontinuität mit dem in der jüdisch-christlichen Bibel grundgelegten Glauben an den einen und wahren Gott. (4) Philosophisch ist unabweisbar, dass der Islam als Religion auf der Verkündigung des einen Gottes beruht. Diese Lehre von der Einheit und Einzigartigkeit Gottes aber macht den Islam zu einer streng vernunftorientierten Religion. Nichts verlangt der Koran an Gottesglauben und Sittlichkeit, was mit Vernunftgründen nicht zu rechtfertigen wäre. Der Islam kann von daher als eine vernunftgemäße,„natürliche“ Religion verstanden werden. Man wird von daher die Aufregung in Kreisen lutherischer Orthodoxie verstehen können. Alle Kategorien, mit denen man seit dem Mittelalter und der 15
Eine genauere Analyse dieser „Rettung“ in: Kuschel 1998, Kap. I/6.
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Reformation den Islam als häretische oder dämonische Religion abqualifiziert hatte, wurden hier mit einem Schlag zunichte. Der Islam – eine Religion in Kontinuität mit der jüdisch-christlichen Offenbarung, einer Religion der Vernunft? Nachdem es Goeze offensichtlich gelingt, die staatlichen Behörden vom subversiven Charakter dieser theologischen Kontroverse für die Gesellschaft zu überzeugen, greift Lessings Arbeitgeber ein. Im Namen des Herzogs wird ihm am 13. Juli 1778 befohlen, das ganze Reimarus-Manuskript einzuschicken, die weitere Publikation daraus einzustellen und sich bei künftigen Veröffentlichungen zu theologischen Fragen der Zensur zu unterwerfen; widrigenfalls drohten Sanktionen. Versiert freilich in publizistischen Fragen, wie er ist, findet Lessing Auswege. Der erste besteht darin, das Zensurverbot kalt lächelnd zu unterlaufen und außerhalb Braunschweigs dennoch zu publizieren. So geschehen mit der im September oder Oktober 1778 öffentlich erfolgten (und letzten) Antwort an Goeze, die in Hamburg ohne Nennung des Verlegers und Verfassers erscheint (IX, 471–479). Der zweite Ausweg heißt „Nathan“. Schon Mitte 1778 hatte es in einem Brief an Bruder Karl geheißen, er habe des Nachts einen „närrischen Einfall“ gehabt.Vor vielen Jahren habe er einmal ein Schauspiel entworfen, dessen Inhalt eine „Art von Analogie“ mit seinen gegenwärtigen Streitigkeiten aufweise, wie er sie sich damals nicht habe träumen lassen. Grundlage der Idee sei eine Geschichte aus des Italieners Boccaccios Novellensammlung „Il Decamerone“. Es ist eine Geschichte von drei Ringen, erzählt von einem Juden, erzählt vor Sultan Saladin. Und Lessing fügt hinzu: „Ich glaube, eine sehr interessante Episode dazu erfunden zu haben, dass sich alles sehr gut soll lesen lassen und ich gewiss den Theologen den ärgern Possen damit spielen will, als noch mit zehn Fragmenten“.16
III Sittah und Saldin als Muslime Geschichtlicher Hintergrund ist bei Lessing der dritte Kreuzzug der Jahre 1189 bis 1192. Seit 1187 hatten muslimische Heere unter Führung von Sultan Saladin Jerusalem zurückerobert, woran auch ein neues Kreuzfahrerheer nichts ändern kann, das unter der Führung des englischen Königs Richard Löwenherz und des französischen Königs Philipp II. (der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa stirbt auf dem Weg nach Jerusalem) in Palästina auf den Plan tritt. 1192 kommt es zum Waffenstillstand Saladins mit seinen christlichen Kontrahenten. Und genau zu diesem Zeitpunkt lässt Lessing seine erfundene Geschichte spielen. Sein Saladin hat einen jungen christlichen Ordensritter, im
16
G.E. Lessing, Brief an K. Lessing vom 11. 8. 1778, in: Lessing 1994, 186.
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Stück der „Tempelherr“ genannt, überraschend begnadigt, und während dieser in Jerusalem herumläuft, wie betäubt von so viel Gnade, entdeckt er ein brennendes Haus und rettet daraus ein junges Mädchen. Er erfährt: Das Mädchen heißt Recha, und das Haus gehört dem reichen jüdischen Kaufmann Nathan, der zurzeit auf Geschäftsreise ist. Seltsam freilich: Als die Gesellschafterin des jungen Mädchens, Daja, eine Christin, und später auch Nathan, der Vater, ihm Dank abstatten wollen, wehrt der junge Mann ab. Als ihm aber nur wenig später Recha selber entgegentritt (III/2), verliebt er sich sofort in sie und will sie auf der Stelle heiraten (III/9). Nathan zögert, wodurch der Tempelherr außer sich gerät, zumal er durch die intrigante Daja erfährt, dass Recha gar nicht Nathans Kind, sondern eine Christin ist (III/10). Der angebliche Vater hat damit ohnehin jedes Recht verwirkt, das „Christenkind“ einem Christen vorzuenthalten.Wutentbrannt läuft der Tempelherr zum Patriarchen, dem obersten Christen in Jerusalem, um zu erkunden, was mit Juden geschieht, die Christenkinder von ihrem Glauben abgebracht haben. Dessen gnadenlose Auskunft („auf den Scheiterhaufen mit ihnen!“) stößt ihn freilich so sehr ab, dass er den Fall nicht weiter enthüllt und zu Saladin geht. Dieser hatte in der Zwischenzeit die Bekanntschaft des Juden Nathan gemacht. Denn Saladin ist in Geldverlegenheit, da seine Steuereinnahmen aus Ägypten seit Jahren ausbleiben. Seine Schwester Sittah, Partnerin und Beraterin in allen Fragen, muss ihm bereits finanziell aushelfen. Auf der Suche nach neuen Geldgebern hatte sie den Namen des reichen Juden Nathan ins Spiel gebracht, und obwohl Saladins Schatzmeister, der Derwisch Al-Hafi, abrät (als Freund Nathans weiß er um Saladins aussaugendes Finanzgebaren), hatte der Sultan den reichen Juden vorladen lassen. Es war zu einer folgenreichen ersten Begegnung gekommen, bei der Saladin sein „Opfer“ zunächst mit der Frage nach der wahren Religion einzuschüchtern versucht hatte. Darauf erfolgt Nathans „Geschichtchen“ von den drei Ringen (III/7), und Saladin, betroffen von dieser Parabel, hatte Nathan die Freundschaft angeboten. Werfen wir zunächst einen Blick auf die beiden muslimischen Hauptfiguren in diesem Stück: Sultan Saladin und seine Schwester Sittah. Schauen wir uns ihr konzeptionelles Design genau an – in religionstheologischer Absicht.
1 Sittah als Partnerin und Muslimin Eingeführt wird Sittah als geschickte und zugleich schlagfertige Schachpartnerin ihres Bruders und zugleich als taktvolle Frau, die ihren Bruder die finanzielle Verlegenheit nicht fühlen lässt, um die sie weiß. Wichtiger aber ist noch Sittahs Profil als Muslimin. Gewiss: Von einer religiösen Praxis erfahren wir bei Sittah nichts, wohl aber von einer geistigen Prägung, wie sie klassischer muslimisch nicht sein könnte. Dabei zeugt es noch einmal von Lessings religionstheologischer Konfliktstrategie, dass er das Verhältnis von Christsein
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und Menschsein gerade nicht Christen, sondern seine Muslime reflektieren lässt, konkret seine Muslimin. Christen wird auf diese Weise (ausgerechnet von den so verachteten Muslimen!) kritisch der Spiegel vorgehalten. Muslime werden ob ihrer klaren Sicht der Dinge aufgewertet. So lässt Lessing gleich zu Beginn ihres allerersten Auftritts (II/1) Saladin und Sittah über das Christentum nachdenken, und ihre Bilanz fällt zwiespältig aus. Saladin hatte sich (was sogar historisch verbürgt ist) der Vorstellung hingegeben, er könne seinen Bruder Melek mit der Schwester des englischen Königs Richard (Johanna von Sizilien) vermählen und gleich auch noch seine Schwester Sittah mit einem Bruder Richards. Aus dieser Verbindung hätten „Menschen“ entstehen können, phantasiert der Sultan – eine Sekunde lang. Es ist aber Sittah, welche die religionstheologische Begründung dafür liefert, warum diese Vorstellung nur ein „schöner Traum“ bleiben kann. Ihre Argumente sind gut in der muslimischen Tradition begründet: „Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen. Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen. Denn Selbst das, was, noch von ihrem Stifter her, Mit Menschlichkeit den Aberglauben wirzt, Das lieben sie, nicht weil es menschlich ist: Weils Christus lehrt; weils Christus hat getan. – Wohl ihnen, dass er so ein guter Mensch Noch war! Wohl ihnen, dass sie seine Tugend Auf Treu und Glaube nehmen können! – Doch Was Tugend? – Seine Tugend nicht; sein Name Soll überall verbreitet werden; soll Die Namen aller guten Menschen schänden, Verschlingen. Um den Namen, um den Namen Ist ihnen nur zu tun.“ (II/1)
Klassisch muslimisch ist an diesen Aussagen die Diskrepanz von Lob Jesu und Kritik der Christen, wie sie im Koran breit bezeugt ist.17 Klassisch muslimisch ist auch die Empfindlichkeit gegenüber christlichen Exklusivitätsansprüchen. Statt dass Christen die Tugend ihres Stifters leben, wollen sie Andersgläubigen ihren Glauben aufzwingen. Diese Praxis der „Verbreiterung“ des christlichen Glaubens aber führt dazu, dass die Namen aller anderen „guten Menschen“ geschändet, ja „verschlungen“ würden. Nicht Liebe zu anderen Menschen im Geiste des Stifters, was ein Geltenlassen anderer Glaubensformen nebeneinander einschlösse, ist die Praxis der Christen, sondern ein Trachten nach Auslöschung anderer Glaubensexistenzen durch Bekehrung und Taufe und damit nach völliger Durchsetzung der christlichen als der exklusiv wahren Religion. 17
Zur Deutung der Gestalt Jesu im Koran und in der islamischen Tradition vgl. Parrinder 1965; Räisänen 1971; Schedl 1978; Riße 1989; Schimmel 1996. Neuerdings, die Forschungsgeschichte aufarbeitend und auswertend: Bauschke 2000.
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Klassisch muslimisch ist schließlich auch der Rekurs auf die Schöpfungsordnung Gottes im Gespräch zwischen Sittah und Saladin: Saladin: „Du meinst, warum Sie sonst verlangen würden, dass auch ihr, Auch du und Melek, Christen heißet, eh’ Als Ehgemahl ihr Christen lieben wolltet? Sittah: „Ja wohl! Als wär’ von Christen nur, als Christen, Die Liebe zu gewärtigen, womit Der Schöpfer Mann und Männin ausgestattet!“ (II/1)
Bemerkenswerterweise lässt Lessing seine Muslimin hier schöpfungstheologisch argumentieren und damit auf einen göttlichen Ursprung verweisen, der allen geschichtlichen Offenbarungsreligionen vorausliegt. Gott, der Schöpfer, hat alle Menschen, Christen oder Nichtchristen, von Anfang an mit Liebesfähigkeit ausgestattet. Christen aber lassen die Liebe nur gelten, wenn sie zwischen Christen gelebt wird. Wer von Christen geliebt sein will, muss vorher Christ werden. Lessing wusste dabei selbstverständlich, was er tat. Dass er hier seine eigenen theologischen Interessen in muslimischem Gewande präsentiert, ist leicht durchschaut. Wer schöpfungstheologisch argumentiert, will bewusst das klassisch-christliche heilsgeschichtliche Argumentationsmuster unterlaufen, etwa den „(Erb-)Sünde-Gnade-Erlösungszusammenhang“ (M. Fick)18, Grundlage der klassischen Christologie, die gerade auch von der lutherischen Theologie stark vertreten wurde und wird. Eine solche Erlösungstheologie aber führt in Lessings Verständnis: (1) im Blick auf Nichtchristen zu einer heilsnotwendigen Bekehrungs- und Taufforderung, gehen Menschen aufgrund der Erbsünde bekanntlich „verloren“, wenn sie nicht vorher diesen Makel durch die Taufe haben „abwaschen“ lassen. Die nichtchristliche „Heidenwelt“ war von daher (gut augustinisch-lutherisch) eine „massa damnata“. Lessing spiegelt, wie wir hörten, diesen christlichen Bekehrungszwang an der Figur der Daja, der Gesellschafterin für Recha, die ihr Pflegekind „aus Liebe“ quälen muss, von Angst getrieben, es ginge als Judenkind sonst „verloren“. (2) im Blick auf Christen zu einer Haltung heilsgewisser Selbstzufriedenheit und moralischer Überlegenheit. Nicht von ungefähr fällt an dieser entscheidenden christenkritischen Stelle das Schlüsselwort „Stolz“. Hatte der Tempelherr als Christ den Juden Stolz vorgeworfen im Anspruch, nur ihr Gott sei „der rechte Gott“ (II/5), so lässt Lessing nun seine Muslimin denselben Stolz Christen vorwerfen: nur „Christen“ wollten sie sein, nicht „Menschen“! Ausgerechnet sie lässt er sagen: Religiöse Überzeugungen können Menschen
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Fick 2000, 414.
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zur Unmenschlichkeit verleiten. Konkret: Christusglauben vermag Menschen nicht menschlicher, sondern herzenshärter, unduldsamer, ja gewalttätiger zu machen. Was umgekehrt heißt: Nirgendwo deutlicher als hier dokumentiert Lessing seine Überzeugung, dass Muslime Anwälte von Vernunft und Menschlichkeit sein können. Nirgendwo aber auch deutlicher, dass für ihn das Zentrum des Christlichen nicht der „(Erb-)Sünde-Gnade-Erlösungszusammenhang“ ist, sondern die „Tugend“, sprich: Praxis der Liebe und Barmherzigkeit des Stifters Jesus selber.
2 Saladin als Sultan und Muslim Könnte man Lessing bei der Figur der Sittah den Vorwurf geschichtsferner Idealisierung machen (Saladin konnte er finden, Sittah musste er er-finden), so ist dies im Fall von Saladin schon von den Quellen her nicht möglich. Denn sowohl muslimische wie christliche Geschichtsschreiber loben schon früh diesen Sultan Salah-ad-Din (1138–1193) wegen seiner Ritterlichkeit im besten Sinne des Wortes. Schon früh gilt er in den Quellen bei allem Kritischen als ein Mann mit positiven Charaktereigenschaften wie Großzügigkeit und Gerechtigkeit.19 Dabei werden negative Seiten von Saladins militärischer und sozialer Praxis bei Lessing nicht verschwiegen. Diese aber schlagen nicht durch auf die Ebene Religion, auf Saladins Selbstverständnis als Muslim. Gewiss: Bei der Zeichnung des religiösen Profils ist Lessing bei Saladin so sparsam wie bei Nathan oder Sittah. Über dessen konkrete religiöse Praxis als Muslim erfahren wir im Stück so gut wie nichts, nichts vom Gesetzesislam (Sharia), nichts von seinen Gelehrten und Gesetzeslehren, nichts von privaten religiösen Übungen, nichts von Koran-Lektüre.Aber das eine erfahren wir doch: bei Lessing ist Saladins Leben tief in seinem Gottesglauben verwurzelt, und dieser Gottesglaube führt bei ihm zu einer – für einen Herrscher ungewöhnlichen – Selbstgenügsamkeit, gegründet in Gottergebenheit: „Ein Kleid, Ein Schwert, Ein Pferd, – Und Einen Gott! Was brauch’ ich mehr? (…) Mir, für mich Fehlt nichts und kann nichts fehlen. (…) Ein Pferd, Ein Kleid, Ein Schwert, muss ich doch haben. Und meinem Gott ist auch nichts abzudingen. Ihm gnügt schon so mit wenigen genug; Mit meinem Herzen.“ (II/2)
Dieser Verbindung von Gottergebenheit und Selbstgenügsamkeit aber entspricht bei Saladin durchaus ein für Muslime typisches religiöses Selbstbewusstsein gegenüber Christen. Hier steht die Vernunftgemäßheit des Islam im Vordergrund. Als Dramatiker betreibt Lessing somit ein Stück Christenkritik, 19
Zu Lessings Quellen: Voltaire, Dapper, Marin vgl. IX, 1157–1176.
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wenn er seinen Muslim im Blick auf das christliche Liebesverständnis sagen lässt: „Die Christen glauben mehr Armseligkeiten, Als dass sie die nicht auch noch glauben könnten!“ (II/1)
Und zugleich betreibt Lessings Muslim Christenverteidigung, nimmt doch Saladin seiner Schwester gegenüber Christen auch in Schutz: „Und gleichwohl irrst du dich. – Die Tempelherren, Die Christen nicht, sind Schuld: sind nicht, als Christen, Als Tempelherren Schuld. Durch die allein Wird aus der Sache nichts. Sie wollen Acca, Das Richards Schwester unserm Bruder Melek Zum Brautschatz bringen müßte, schlechterdings Nicht fahren lassen.“ (II/1)
Wichtig auch: Als entschiedener Muslim ist Lessings Saladin offensichtlich noch auf der Suche nach der wahren Religion, zumindest nach vernünftigen Gründen für seinen Glauben.20 Nicht zufällig stellt er Nathan eine Frage dieser Art, die trotz allen Spiels auch persönlich ernst gemeint sein dürfte. Saladin will Einsicht – und dies nicht nur aus vorgeschobenen Gründen; er will Argumente. Und da er sie von Nathan bekommt, lässt er sich überzeugen, auch wenn sie anders ausfallen als erwartet. Mehr noch: Saladins religiöse Grundhaltung kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass er es ablehnt, am Ende der Ringparabel der Richter zu sein, der über die wahre Religion entscheiden könnte, obwohl Nathan ihm diese Rolle durchaus anbietet. Saladin aber nimmt sich zurück: „Ich Staub? Ich Nichts? O Gott! … Nathan, lieber Nathan! – Die tausend tausend Jahre deines Richters Sind noch nicht um. – Sein Richterstuhl ist nicht Der meine. – Geh! – Geh! – Aber sei mein Freund.“ (III/7)
So entspricht Saladins Grundhaltung (Analoges gilt für Sittah) exakt der des idealen Juden und des idealen Christen in diesem Stück. So wie Nathan mehr auf das „Menschsein“ des Menschen denn auf das Jude- oder Christsein setzt (II/5), so wird aus der Kritik Sittahs an den Christen („ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen“: II/1) sowie der Selbstzurücknahme Saladins 20
Zu dieser ungewöhnlichen religiösen Offenheit des Sultans Saladin passt auch die Geschichte, die in Einenkel’s Weltbuch (1190–1251) überliefert ist. Saladin soll, als er sein Ende nahen fühlte, und die Ärzte erkannten, dass er nicht mehr genesen könne, zur Sicherung seines Seelenheils sich auf dreifache Weise vor seinem Tod abgesichert haben. Er zerlegte ein kostbares Erbstück, einen Tisch aus Saphir, in drei Teile, und gab dem Gott des Islam, des Christentums und des Judentums je einen Teil mit den Worten: „Wer nun der stärkste von allen dreien ist, der mag mir helfen.“
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in die Demut die religiöse Grundhaltung der beiden Muslime erschließbar. Saladin ist denn auch ähnlich wie der Tempelherr und Nathan vom „Gleichviel“ der Religionen überzeugt: „Als Christ, als Muselmann: gleich viel! Im weißen Mantel, oder Jamerlonk; Im Tulban, oder deinem Filze: wie Du willst! Gleich viel! Ich habe nie verlangt, Dass allen Bäumen Eine Rinde wachse.“ (IV/4)
IV Was das Stück sehen lehrt Doch die Originalität von Lessings „Nathan“ liegt nicht nur in der kalkulierten Aufwertung von Muslimen, sondern auch darin, dass dieser Dramatiker Religionen wie Judentum, Christentum und Islam nicht isoliert betrachtet, vielmehr ein Modell vorlegt, wie das Zu- und Miteinander von Menschen dieser Religionen im Bewusstsein tiefgreifender Konflikte konzeptionell begründet werden kann. Dass Saladin nach Anhören der Ringparabel Nathan die Freundschaft anbietet, ist genau kalkuliert. Ihre Freundschaft ist denn auch bitter nötig, drängt sich doch aus der Tiefe der Zeit eine Wahrheit in den Vordergrund, welche die Personen im Stück bedrohlich gegeneinander aufhetzen könnte. Denn nachdem der Tempelherr aus Enttäuschung über Nathan und aus Entsetzen über den Patriarchen zum Sultan gegangen ist, wird ihm ein Geheimnis enthüllt, das ihn seine und die Geschichte aller anderen Figuren völlig neu sehen lässt. Dieses neue Sehen, dieses Offenbarwerden des Unerwarteten macht die ganze Spannung des Stückes aus. Der Tempelherr glaubt, sein Name sei Curd von Stauffen, aber selbst sein Name lautet unerwartet anders. Vordergründig erscheint er als ein „plumper Schwab“ (I/6), der in einem plumpen Antijudaismus gefangen ist: Das Haus eines Juden betritt er grundsätzlich nicht (I/5); deshalb sind ihm alle Dankesbezeugungen von dieser Seite eher peinlich. Dass er „nur“ ein Judenmädchen aus dem Feuer rettete, tut diesem „Christen“ fast schon leid. Denn Juden verachtet der Tempelherr so sehr („Jud’ ist Jude“!), dass er nicht ausschließt, das nächste Mal ein Haus brennen zu lassen, wenn er weiß, dass sich darin ein Jude befindet (I/6). Erst in der Begegnung mit Nathan wird der Hintergrund für diese Verachtung angedeutet (II/5). Sie hat mit der Erfahrung der Kreuzzüge zu tun, denn diese haben für den Tempelherrn ihren tiefsten Grund in der „frommen Raserei, den besseren Gott“ zu besitzen und diesen „besseren der ganzen Welt als besten aufzudringen“ (II/5). Doch am Ende des Dramas stellt sich heraus: Curd von Stauffen, der nichts als ein treuer Christ zu sein schien, heißt in Wirklichkeit Leu von Filnek und ist der Sohn eines gewissen Wolf von Filnek. Hinter diesem Namen aber verbirgt sich niemand anderer als ein jüngerer Bruder Saladins, Assad (arab.:
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„Löwe“), der – 18 Jahre ist es her – bei einer Schlacht um die Stadt Askalon gefallen war.Vorher war er noch in Europa gewesen und hatte mit einer Christin aus der deutsch-schwäbischen Familie derer von Stauffen zwei Kinder gezeugt: einen Jungen und ein Mädchen. Nach dem Tod beider Eltern wächst der Junge in Schwaben bei der Familie von Stauffen heran und erhält den Namen Curd. Und das Mädchen? Auch bei Recha vollzieht sich dasselbe Spiel mit Schein und Sein, mit Vordergrund und Hintergrund. Vordergründig ist sie die Tochter Nathans, eine Jüdin, in jüdischer Tradition erzogen. Hintergründig ist sie das zweite Kind aus der muslimisch-christlichen Verbindung Wolfs mit einer von Stauffen. Als getaufte Christin hieß sie ursprünglich einmal Blanda von Filnek und ist damit die Schwester von Leu („Curd“). Zu Nathan gekommen ist sie durch einen Klosterbruder, dem wir ebenfalls im Stück wiederbegegnen und bei dem sich die gleiche Struktur wiederholt. Denn dieser Bruder Bonafides (IV/3) ist vordergründig lediglich ein Bote des obersten Christen, des Patriarchen. Aber aus dem Hintergrund wird bekannt, dass er 18 Jahre zuvor Reitknecht bei Wolf von Filnek gewesen war, dessen „Brevier“ er retten konnte, in das Wolf seine und seiner Frau Familiengeschichte eingetragen hatte. In den Händen Nathans liefert dieses Buch die nötige Aufklärung der familiären Verknotungen. Nathan und der Klosterbruder kennen einander, denn dieser hatte jenem seinerzeit die junge Recha gebracht, da Nathan mit Wolf von Filnek befreundet war. Während der Junge also bei der Familie der Mutter in Deutschland aufwächst, wird das kleine Mädchen bei Nathan erzogen. Auch für ihn, Nathan, gilt dieselbe Struktur. Vordergründig scheint er ein innerlich abgeklärter, jeder Situation gewachsener, souverän-erfolgreicher Geschäftsmann. Hintergründig aber ist Nathan ein zutiefst verletzter, traumatisierter Mensch. Vor 18 Jahren nämlich hatten Christen in der Stadt Gath „alle Juden mit Weib und Kind ermordet“, darunter Nathans Frau und seine sieben Söhne im Kindesalter; sie waren im Hause seines Bruders verbrannt (IV/7). Drei Tage und Nächte hatte Nathan „in Asch’ und Staub vor Gott gelegen und geweint“, hatte mit Gott „gerechtet, gezürnt, getobt“, hatte sich und die Welt „verwünscht“. Und vor allem: Er hatte „der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen“. Da war der nachmalige Klosterbruder in sein Haus gekommen und hatte ihm die kleine Recha anvertraut. Und an dieser seiner Recha hängt Nathans ganzes Herz. Seine größte Angst ist die vor nochmaligem Verlust eines geliebten Kindes durch ein Feuer. Die auf den ersten Blick verwirrende Hintergrundsgeschichte des „Nathan“ muss bis ins einzelne rekonstruiert werden, damit im Konfliktfeld von Judentum, Christentum und Islam die entscheidende religionstheologische Argumentationsstrategie sichtbar wird. Wer Lessings „Nathan“ gesehen hat, sollte gelernt haben: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick erscheint; erst der Tiefenblick in die Hintergründe macht Zusammenhänge sichtbar. Was auf den ersten Blick getrennten, sich bekämpfenden Welten anzugehören scheint,
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gehört in Wirklichkeit auf eine wundersam gefügte Weise zusammen. Mit aufklärerischem „Optimismus“ hat das nichts zu tun. Das ist der Lessingsche Gegenentwurf gegenüber der bisherigen, religiös inspirierten Konflikt- und Gewaltgeschichte zwischen den Religionen. Lessing wusste, was er tat. Bis dahin war es in der europäischen Literatur – von Torquato Tasso bis Voltaire – immer nur gewalttätig zugegangen, blutig, fanatisch, wenn es um Christen und Muslime ging. Die Märtyrer- und Opfertod-Dramen beherrschten die Bühne.21 Der normale Gang der Dinge geht ja auch nicht so – Lessing weiß das: da findet keine Rettung in letzter Minute statt; da entdeckt der Henker nicht auf dem Gesicht des Opfers die Ähnlichkeit mit seinesgleichen; da kommt nicht rechtzeitig ein just begnadeter Tempelherr vorbei, um ein Mädchen aus den Flammen zu retten; da heißt der Sultan nicht Saladin und der Jude nicht Nathan. Aber Lessing mutet seinen Figuren keinen Opfergang mehr zu, noch treibt er sie zum Martyrium oder in die Tragödie. Im Gegenteil. Lessing entscheidet sich bewusst für den glücklichen Ausgang seiner Geschichte, um auf diese Weise an ihr etwas Zukünftiges zu zeigen. Er braucht die Nicht-Tragödie – im Bewusstsein aller Tragödien des Lebens. Er braucht das Untragische in Sachen Religion, weil er einen Kontrapunkt setzen, eine Gegenkonzeption liefern will. Er will eine Geschichte erzählen gegen den Tod und gegen das Blut, das der religiöse Fanatismus Jahrhundert für Jahrhundert fordert. Gegen diese Geschichte des Scheiterns setzt Lessing mit „Nathan“ seinen Kontrapunkt: Juden, Christen und Muslime scheinen nur auf den ersten Blick separaten, ja antagonistischen Welten anzugehören. Es ist an der Zeit, dass sie etwas anderes entdecken: dass sie nämlich einer ursprünglichen Einheit angehören und so eine Schicksalsgemeinschaft bilden, in der alle auf gnadenhafte Weise zu gegenseitigem Wohl zueinander gefügt und geführt sind. Machen wir die Probe: (1) Der Tempelherr. Aufgewachsen ist er als Christ; militant kämpft er als junger Mann für „seinen Gott“. Aber zugleich steckt in ihm muslimisches Erbe; einem Muslim verdankt er sein Leben, und in eine „Jüdin“ ist er unsterblich verliebt. Der vermeintliche Christ und Judenhasser ist in Wirklichkeit ein über die fromme „Raserei“ empörter Mensch, von der familiären Wurzel zur Hälfte Christ, zur Hälfte Muslim. Klar soll werden: Sein Glück findet dieser Christ nur noch im Miteinander, nicht mehr im Gegeneinander von Juden und Mulsimen. (2) Recha. Getauft ist sie als Christin, aufgewachsen als Jüdin, einem Juden verdankt sie alles, was sie geworden ist. Zugleich steckt väterlicherseits ein muslimisches Erbe in ihr, und durch einen Christen wurde sie vor dem sicheren Flammentod bewahrt; in diesen Christen verliebt sie sich obendrein.
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Einzelheiten dazu in: Kuschel 1998, Kap. III/2.
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Auch sie ist damit Teil dieser jüdisch-christlich-muslimischen Schicksalsgemeinschaft. Dass sie überhaupt lebt, dann überlebt und schließlich weiterlebt, verdankt sie einem Muslim, einem Juden, einem Christen. Und da ein Muslim ihr leiblicher Erzeuger, eine Christin ihre leibliche Mutter, ein Jude ihr geistiger Vater ist, ist sie wie keine andere Figur im Stück mit den Anteilen aller Religionen ausgestattet. (3) Saladin, Sittah, Assad. Souverän scheinen Saladin und Sittah als muslimische Herrscher über allen Parteien zu stehen, von niemandem abhängig und betroffen. Aber: Ein Christ wird durch Saladin begnadigt, und seine Familie hätte er am liebsten mit einer von ihm bewunderten christlichen Herrscherfamilie verbunden. Und was im Fall von Melek und Sittah ein „schöner Traum“ blieb, hat Bruder Assad – ohne Saladins Wissen – bereits erreicht: eine muslimisch-christliche Familienverbindung. Gerade Assad, der Bruder, ist bereits ein Wanderer zwischen den Welten, stellt er doch nicht nur Verbindungen zu Christen, sondern auch zu Juden her, wie wir von Nathan hören werden. Aber auch für Saladin gilt: Dass er seine finanziellen Engpässe überwinden kann, bevor seine ägyptischen Steuereinnahmen tatsächlich eintreffen, verdankt er einem Juden, dem er dann auch Freundschaft anbietet. Woraus folgt: Auch die Muslime sind familiär und freundschaftlich eingebunden in dieselbe Schicksalsgemeinschaft. (4) Nathan. Er ist Jude von Geburt und Tradition, der Besten einer. Doch in Unglück (Pogrom) und Glück (Rettung Rechas) ist sein Schicksal mit dem von Christen verflochten. Mit Muslimen wie dem Derwisch Al-Hafi verbindet ihn Schachpartnerschaft und große Zuneigung; mit Saladin später Geschäft und Freundschaft, ja, einem Muslim, Saladins Bruder Assad, verdankt Nathan nach eigenen Angaben mehr als einmal sein Leben. Und was die Christen angeht: Niemand steht ihm näher als der Klosterbruder, für dessen „fromme Einfalt“ Nathan so viel Sympathie empfindet, dass er diesem Christen als einzigem unter Tränen sein persönliches Schicksal enthüllt, den Tod seiner Frau und seiner sieben Kinder. Außerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft steht nur ein einziger in diesem Stück: der oberste Christ in Jerusalem, der Patriarch. Er aber hat sich als Verkörperung eines gewalttätigen religiösen Fanatismus außerhalb jedes Humanität stiftenden Kommunikationszusammenhangs gestellt. Zwei Szenen charakterisieren ihn: – Kaum hatte sich die Nachricht von des Tempelherrn wundersamer Begnadigung durch Saladin herumgesprochen, schickt der Patriarch den Klosterbruder, um den Tempelherrn als Spion, ja als Attentäter gegen Saladin zu gewinnen. Die Vertrauensstellung eines Christen beim muslimischen Herrscher könnte für die „christliche“ Sache militärisch von Nutzen sein. Der Tempelherr lehnt empört ab (I/5). – Als der Patriarch durch den Tempelherrn hypothetisch den Fall eines Juden, der ein Christenkind aufzieht, vorgetragen bekommt, reagiert er gnaden-
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los. Unbekümmert um den konkreten Einzelfall und die genauen Umstände dekretiert er dreimal schneidend: „Tut nichts! der Jude wird verbrannt!“ (IV/2). Anders gesagt: Der gnadenlosen Rechthaberei, welche die eine Religion von der anderen isoliert und die Menschen gegeneinanderhetzt, stellt Lessing mit seinem „Nathan“ den Glauben an die gnadenhafte Fügung gegenüber, die Menschen zusammenbringt und gegenseitig zu Verdankten und Dankenden macht. Zwischen dem Gnaden- und dem Toleranzverständnis also besteht bei Lessing ein innerer Zusammenhang, den der evangelische Theologe Johannes von Lüpke treffend einmal so beschrieben hat: „Der ‚Fluss der Gnade‘ (III/7) verläuft somit nicht in den Bahnen institutioneller Religiosität. Er lässt sich nicht der immer schon in Besitz genommenen ‚positiven‘ Religion zurechnen, er begegnet vielmehr als unverdientes Geschenk von außen, vermittelt durch den Vertreter einer anderen Religion. In solcher Erfahrung universeller Gnade wurzelt die Lessingsche Toleranz. Der Einzelne weiß sich von dem individuellen oder kollektiven Selbstbehauptungswillen befreit, kraft dessen er das vermeintlich Eigene gegen andere zu verteidigen und durchzusetzen bestrebt war. So wie er alles ‚Eigene‘ der Liebe eines anderen verdankt, so kann er es nun auch zugunsten anderer einsetzen.“22 Gegen dieses Denken also, ein Konflikt-Denken, das die Lebenstragödien erzeugt, gegen ein Denken in Ausgrenzungen und Verwerfungen wagt Lessing in Sachen Theologie der Religionen vernetztes Denken, Beziehungsdenken. Gegen die Selbstisolation einer Religion gegenüber anderen wagt er es, die Verbindung aller miteinander herauszustellen. Gegen die Überhebung einer Religion über andere zeigt er die Abhängigkeit aller gläubigen Menschen voneinander zu gegenseitigem Wohl – als glückhafte Führung und Fügung. Gegen die Spaltungen durch die Religionen lehrt das Stück, dass alle sich als Teil einer Familie erkennen lernen sollen. Es ist also die Familie, die hier zum Gleichnis für das Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam geworden ist. Genauer: Das Sich-Entdecken als Familie ist auf der Sachebene eine religionstheologische Aussage. Die besondere Figurenführung und -fügung soll gleichnishaft das Verhältnis der Religionen untereinander spiegeln. Mit der Metapher „Familie“ ist ein doppelter Gedanke fruchtbar gemacht: – der Grundgedanke der ursprünglichen Einheit vor aller Zersplitterung und damit religionstheologisch der Gedanke der Einheit der Menschheit vor allem Auseinanderfallen in und durch die Religionen. – der Grundgedanke der Verwiesenheit aufeinander, der Abhängigkeit voneinander, Zuneigung füreinander und Solidarität miteinander. Lessing ist einer der ersten europäischen Intellektuellen überhaupt, der eine Religions-
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von Lüpke 1989, 149.
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theologie von Judentum, Christentum und Islam in Kategorien struktureller Verflochtenheit, gegenseitiger Verwiesenheit und solidarischen Miteinanders von Menschen denkt und gleichnishaft gestaltet.
V Lessings Strategie: Kalkulierte Aufwertung des Verachteten Vergegenwärtigt man sich noch einmal die innere Gewichtung der Figuren, spricht vieles für unsere Grundthese: Zwar vollzieht das Drama – in radikaler Kritik am gesellschaftlichen und kirchlichen Antijudaismus – eine strategische Aufwertung eines Juden als „edlen Helden“ und damit des jüdischen Humanismus als einer legitimen religiösen Grundoption, aber nicht hier liegt seine Qualität. Sie liegt in der strategischen Aufwertung von Muslimen und damit eines islamischen Humanismus als religiöser Grundhaltung. Den Begriff „strategische oder kalkulierte Aufwertung“ definiere ich so: – Es werden – im Kontrastbild – die positiven Seiten von Personen, Religionen und Kulturen herausgestellt, ohne damit zu leugnen, dass es jeweils überall auch Negatives und Verabscheuungswürdiges gibt. Strategische Aufwertung ist das Gegenteil von Idealisierung. – Das Positivbild ist eine bewusste, kalkulierte Auswahl, und diese Auswahl ist kontextbedingt. Eine Wirklichkeit soll zum Leuchten kommen, die im gesellschaftlichen Umfeld weitgehend ausgeblendet wird. Strategische Aufwertung ist daher das Gegenteil von naiver Komplexitätsreduktion. Sie ist bewusst vollzogene, kontextabhängige Positivbezeichnung negativ besetzter Wirklichkeiten. – Aufwertung ist nicht gleich Identifikation. Wer Personen, Religionen und Kulturen strategisch positiv zeichnet, wird damit nicht automatisch zum Anhänger oder Kenner dieser Personen, Religionen oder Kulturen. Er bekämpft vor allem jeden Reduktionismus und jegliche Stereotypisierung im Interesse einer höheren Komplexität. Strategische Aufwertung zielt also nicht auf Identifikation, sondern auf Gerechtigkeit im Urteil gegenüber anderen. Strategische oder kalkulierte Aufwertung ist also das Gegenteil von naiver Idealisierung, die auf geschichtlicher Ahnungslosigkeit, sachlicher Inkompetenz und mangelndem komplexen Denken beruht. Noch einmal sei es gesagt: Wer Personen, Religionen oder Kulturen strategisch aufwertet, muss nicht alle Dimensionen dieser Phänomene präsentieren noch sich mit den betreffenden Personen, Religionen oder Kulturen identifizieren. Er muss nicht – z. B. in unserem Fall – den ganzen Islam behandeln, alle Bereiche und Komplexe. Er muss sich nicht zum Islam bekennen. Der will in einem Negativ-Kontext durch bewusste Hervorhebung des Positiven kritisch wirken; will Stereotypen durchbrechen,Vorurteile überwinden, Gerechtigkeit im Urteil herstellen. Der sieht eine gängige Praxis verurteilender Abqualifizierung und setzt ihr gezielt ein positives Bild gegenüber, nicht weil er die Wirklichkeit (hier des Is-
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lam) nur rosig oder ideal sähe und nicht wüsste, dass es Negatives, Missbräuchliches, Inhumanes, Vernunftwidriges auch in dieser Religion gibt. Er tut dies, weil er in seinem Negativ-Kontext Fingerzeige auf empirisch genauso vorhandene, aber oft ausgeblendete positive Züge geben will. In diesem Sinne – kontextabhängig und damit notwendig selektiv – präsentiert Lessing das Judentum – und dann auch den Islam. Nirgendwo vollzieht er eine Identifikation mit anderen Religionen, aber sein ganzes Werk hindurch streitet er für Komplexität im Denken und Gerechtigkeit im Urteil auch gegenüber Menschen nichtchristlicher Religionen. Gegen welchen Kontext Lessing anschreiben musste, macht seine geplante Vorrede zum „Nathan“ überdeutlich. Sie enthält zwei Aussagen zur Religionsproblematik, die konträr erscheinen, in der Sache aber verbunden sind. Zunächst die negative Aussage: „Nathans Gesinnung gegen alle positive Religion ist von jeher die meinige gewesen. Aber hier ist nicht der Ort, sie zu rechtfertigen.“23
Und dann folgt gleich im nächsten Abschnitt die Differenzierung im Blick auf Juden und Muslime, die wir bereits zitiert haben, deren Schlüsselsätze wir aber hier noch einmal in Erinnerung rufen: „Wenn man sagen wird, dieses Stück lehre, dass es nicht erst von gestern her unter allerlei Volke Leute gegeben, die sich über alle geoffenbarte Religion hinweggesetzt hätten, und doch gute Leute gewesen wären; wenn man hinzufügen wird, dass ganz sichtbar meine Absicht dahin gegangen sei, dergleichen Leute in einem weniger abscheulichen Lichte vorzustellen, als in welchem der christliche Pöbel sie gemeiniglich erblickte: So werde ich nicht viel dagegen einzuwenden haben. (…) Wenn man aber sagen wird, dass ich wider die poetische Schicklichkeit gehandelt, und jenerlei [gute] Leute unter Juden und Muselmännern wolle gefunden haben: so werde ich zu bedenken geben, dass Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren; dass der Nachteil, welchen geoffenbarte Religionen dem menschlichen Geschlechte bringen, zu keiner Zeit einem vernünftigen Manne müsse auffallender gewesen sein, als zu den Zeiten der Kreuzzüge, und dass es an Winken bei den Geschichtsschreibern nicht fehlt, ein solch vernünftiger Mann habe sich nun eben in einem Sultane gefunden.“ (IX, 665f.)
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Zum Verständnis dieses Satzes vgl. die brillante Analyse von Strohschneider-Kohrs 2003. Die Verfasserin macht überzeugend deutlich, dass das Wort „gegen“ hier nicht als „contra“ zu verstehen ist, sondern als „apud“, dieser Satz also in keinem anderen Sinn zu lesen ist als „gegenüber allen positiven Religionen“: „Demnach nennt Lessing in dem gewichtigen und bekennenden Satz dieser Vorrede eine ‚Gesinnung‘, die entweder dogmatisch festgelegten und absolut gesetzten Religionen überlegen ist; oder aber, und dies entspricht Lessings Intention genauer, die jeder der positiven Religionen möglich sein kann oder ihr inhärent ist. Dies ist in dem durchaus präzisen Sinn zu denken, den Lessing mit der Ring-Erzählung in parabolischer Form, aber auch in genau entfalteter Argumentationsfolge darzulegen gewusst hat. – Um nicht nur die Ringparabel als Kontext für den Vorrede-Hinweis auf ‚Nathans Gesinnung‘ anzuführen, sei aus der Lessing-Biographie von Lessings Bruder Karl Gotthelf die Erläuterung zitiert, in der es in schlichter Klarheit über die aus dem Drama zu verstehende ‚Gesinnung‘ Nathans heißt: ‚Der Werth aller Personen in diesem Stück kömmt nicht daher, welcher Religion sie anhangen, sondern wie sie ihr anhangen.‘“ (123).
Lessings „Nathan der Weise“ im Konfliktfeld von Judentum, Christentum und Islam 367
Zur kalkulierten Aufwertung des Islam gehört zum einen die Tatsache, dass Lessing seinen „Nathan“ in einem muslimischen Herrschaftsraum spielen lässt. Hier liegt ja der Hauptunterschied zum frühen Stück „Die Juden“. Erstmals in Lessings Werk ist der Islam ja als Faktor der Weltpolitik hier mit im Spiel, und Juden, zum zweiten Mal, sind in einer Minderheitsposition, stehen aber unter der Herrschaft der Muslime nicht schlecht da. Man vergleiche nur die Äußerung des obersten Christen („Tut nichts, der Jude wird verbrannt“) mit der des obersten Muslim („Nathan – mein Freund“). Lessing nützt also die „trialogische“ Situation, um den Islam als religionspolitischen Faktor günstiger als das Christentum zu zeigen. Zur kalkulierten Aufwertung gehört zum zweiten die Wahl Jerusalems zur Zeit der Kreuzzüge. Dies ist – bei allem bemühten „orientalischen Ton“ und allen milieugetreuen arabischen Details24 – mehr als orientalisches Dekor, mehr als Theater-Orient. Ein Symbolraum ist eröffnet, in dem bewusst kalkuliert – gegen die Tradition der Tragödienliteratur – Zeichen der Versöhnung gesetzt werden. Zur kalkulierten Aufwertung gehört aber auch die Tatsache, dass am Ende die Muslime die eigentlichen „Gewinner“ des Stücks sind. Zwar fallen sich am Ende alle, ob Jude, Christ oder Muslim, in die Arme und können ihr Glück kaum fassen. Aber Tatsache ist auch: Im engeren Familiensinn „verlieren“ Nathan und der Tempelherr ihre Recha (als Vater bzw. als potentieller Ehemann); Saladin und Sittah aber gewinnen einen Neffen und eine Nichte hinzu. Das ist nicht überzuinterpretieren (Blutsverwandtschaft wird durch das Stück gerade transzendiert!), dürfte aber in promuslimischer Absicht eine willkommene zusätzliche Symbolik gewesen sein. Zu Recht hat deshalb der Freiburger Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser – den Zeitkontext bedenkend – auf die „hohe Wertschätzung“ aufmerksam gemacht, die Lessing seinen Muslimen habe zuteil werden lassen: Die „Feindschaft gegen den Islam war doch durch Jahrhunderte eine Leitlinie der europäischen Geschichte, vor allem seit dessen erfolgreicher Offensive im mittleren und östlichen Mittelmeerraum, die zur Zerstörung des christlichen Byzanz, zur Eroberung des Balkans und zur zeitweiligen Seeherrschaft im Mittelmeer führte. 1683 standen die muslimischen Türken vor Wien – nicht zum ersten Mal –, und blutrünstige, Angst erregende Muselmanen waren ein kulturelles Klischee. Lessings ‚Nathan‘ ist – ähnlich wie 1782 Mozarts ‚Entführung aus dem Serail‘ – das Zeugnis einer Wende, die gewiss auch auf das Nachlassen der Türkengefahr im 18. Jahrhundert zurückgeht.“25 Schließlich kann man auch in einem wichtigen neueren Kommentar zum „Nathan“ den Satz lesen: „Lessing steht mit seiner historischen Sicht in der Tradition eines Jahrhunderts, das dem 24
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Vgl. dazu G.E. Lessing, Brief an K.W. Ramler vom 18. 12. 1778 und Brief an K. Lessing vom April 1779, in: Briefe von und an Lessing 1776–1781, hrsg. v. H. Kiesel u.a., Frankfurt/M. 1994, S. 215 u. 247. Kaiser 1991, 586f.
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‚Morgenland‘ erhöhte Aufmerksamkeit schenkt und in der islamischen Welt Werte zu erblicken bereit ist, die dem ‚Abendland‘ in kulturkritischer Sicht als moralischer Spiegel vorgehalten werden können.“ (IX, 1138f.)
Literatur Bauschke M (2000) Jesus – Stein des Anstoßes. Die Christologie des Korans und die deutschsprachige Theologie. Weimar/Wien Fick M (2000) Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar Kaiser G (1991) Lessings „Nathan der Weise“. Glaube, Liebe, Hoffnung als Grund des Toleranzdramas, in: Pastoraltheologie 80 : 568–584 Kuschel K-J (1998) Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam. Düsseldorf Kuschel (2004) „Jud, Christ und Muselmann vereinigt“? Lessings „Nathan der Weise“. Düsseldorf Lessing GE (1989–2003) Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Barner W et al., Band I–X, Frankfurt a. M. Lessing GE (1994) Briefe von und an Lessing 1776–1781. Hrsg. von Kiesel K et al., Frankfurt a. M. Lüpke J v (1989) Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologiekritik. Göttingen Parrinder G (1965) Jesus in the Qur’an. London Räisänen H (1971) Das koranische Jesusbild. Ein Beitrag zur Theologie des Koran. Helsinki Riße G (1989) „Gott ist Christus, der Sohn der Maria“. Eine Studie zum Christusbild im Koran. Bonn Schedl C (1978) Mohammad und Jesus. Die christologisch relevanten Texte des Korans, neu übersetzt und erklärt, Freiburg/Br. 1978 Schimmel A (1996) Jesus und Maria in der islamischen Mystik, München 1996 Strohschneider-Kohrs I (2003) Nathan – „wie Melchisedek“. Lessings Brief an Herder vom Januar 1779. Text und Kontext. In: Lessing Yearbook 35 : 119–136
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