Springer-Lehrbuch
Robert L. Solso
Kognitive Psychologie Übersetzt von Matthias Reiss
Mit 306 Abbildungen und 14 Tab...
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Springer-Lehrbuch
Robert L. Solso
Kognitive Psychologie Übersetzt von Matthias Reiss
Mit 306 Abbildungen und 14 Tabellen
Übersetzer: Dr. Matthias Reiss Königsseestr. 7 86163 Augsburg
Autorisierte Übersetzung der englischsprachigen Ausgabe mit dem Titel »Cognitive Psychology«, 6. Auflage, von Solso, Robert. L., veröffentlicht von Pearson Education Inc. bei Allyn & Bacon, Copyright © 2001. Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung der Pearson Education Inc. dürfen Teile dieses Buches weder reproduziert noch in irgendeiner anderen Form (sei es elektronisch, mechanisch, durch Photokopien oder durch ein anderes Mittel der Informationsspeicherung) vervielfältigt werden. Die deutsche Ausgabe wird veröffentlicht vom Springer Medizin Verlag, Copyright © 2005.
ISBN 3-540-21270-1 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit geprüft werden. Planung: Dr. Svenja Wahl Projektmanagement: Michael Barton Design: deblik Berlin SPIN: 10903094 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz AG, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier
26/3160/SM – 5 4 3 2 1 0
V
Inhaltsverzeichnis I Einführung und neuronale Grundlage der Kognition Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Was ist kognitive Psychologie? . . . . . . . . . Das informationsverarbeitende Modell . . . . Der Gegenstandsbereich der kognitiven Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Kognitive Neurowissenschaft . . . . . . . . . . 1.3.2 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Mustererkennung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.6 Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.7 Wissenspräsentation . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.8 Bildhafte Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.9 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.10 Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . 1.3.11 Denken und Begriffsbildung . . . . . . . . . . 1.3.12 Künstliche und menschliche Intelligenz . . . . 1.4 Eine kurze Geschichte der kognitiven Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Frühe Gedanken zum Denken . . . . . . . . . . 1.4.2 Kognition in der Renaissance und später . . . . 1.4.3 Kognitive Psychologie: das frühe 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Die heutige kognitive Psychologie . . . . . . . 1.5 Theoretische Wissenschaft und kognitive Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Kognitive Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Die Computermetapher und die menschliche Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Die Kognitionswissenschaft . . . . . . . . . . . 1.5.4 Neurowissenschaft und kognitive Psychologie 1.5.5 Parallel Distributed Processing (PDP) und die kognitive Psychologie . . . . . . . . . 1.6 Evolutionäre kognitive Psychologie . . . . . .
4 6
1 1.1 1.2 1.3
8 8 9 9 10 10 10 11 11 12 12 12 13 13 13 14 16 17 19 21 23 24 24 26 27
2
Kognitive Neurowissenschaft . . . . . . . .
31
2.1
Die Erkundung und Kartierung des Gehirns – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Logbuch: Das 21. Jahrhundert – Hirnforschung
32 33
2.2
2.3 2.4 2.4.1 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.7 2.7.1
Das Leib-Seele-Problem . . . . . . . . . . . . . Kognitive Neurowissenschaft . . . . . . . . . . Kognitive Psychologie und Neurowissenschaft Das Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nervenzelle (oder das Neuron) . . . . . . . Das Gehirn: Von der Lokalisationslehre zur Massenaktivität . . . . . . . . . . . . . . . Die Anatomie des Gehirns . . . . . . . . . . . . Neurophysiologische bildgebende Verfahren . Kernspintomographie und EchoplanarKernspintomographie . . . . . . . . . . . . . . Computertomographie (CAT) . . . . . . . . . . Positronenemissionstomographie (PET) . . . . Eine Geschichte über zwei Hemisphären . . . . Kognitive Psychologie und Hirnforschung . . .
II
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3 3.4 3.4.1
33 35 36 37 38 41 42 47 48 48 50 54 62
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Mustererkennung und Bewusstsein
Wahrnehmung und Aufmerksamkeit . . . .
Das rechnende Gehirn . . . . . . . . . . . . . . Empfindung und Wahrnehmung . . . . . . . . Täuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prädisposition des Gehirns für die Sensorik . . Die Wahrnehmungsspanne . . . . . . . . . . . Ikonischer Speicher . . . . . . . . . . . . . . . Effekt der verspäteten Darbietung des Hinweisreizes . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Echospeicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Die Funktion der sensorischen Speicher . . . . 3.7 Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Verarbeitungskapazität und selektive Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Akustische Signale . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10 Modelle selektiver Aufmerksamkeit . . . . . . 3.10.1 Das Filtermodell von Broadbent . . . . . . . . 3.10.2 Das Abschwächungsmodell von Treisman . . .
67 69 70 70 70 72 74 75 76 76 78 79 82 82 84 84 86
VI
Inhaltsverzeichnis
3.11 3.12 3.13 3.13.1 3.13.2
Visuelle Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . Automatische Verarbeitung . . . . . . . . . . Die Neurokognition der Aufmerksamkeit . . Aufmerksamkeit und das menschliche Gehirn Aufmerksamkeit und PET . . . . . . . . . . .
. . . . .
89 90 93 93 94
4
Mustererkennung . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.4 4.5
97 100 102 102 103 104 106
Theorien der Wahrnehmung . . . . . . . . . . Visuelle Mustererkennung . . . . . . . . . . . . Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subjektive Organisation . . . . . . . . . . . . . Gestalttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanonische Perspektiven . . . . . . . . . . . . Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung (datengeleitete und zielgesteuerte Verarbeitung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Übereinstimmung mit Schablonen . . . . . . . 110 Geon-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Priming-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Merkmalsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Augenbewegungen und Musterwahrnehmung 117 Übereinstimmung mit Prototypen . . . . . . . 118 Abstraktion von visueller Information . . . . . 118 Pseudo-Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . 120 Prototyptheorie: Zentrale Tendenz im Gegensatz zur Eigenschaftshäufigkeit . . . . . . . . . . . 121 Formwahrnehmung: Ein integrierter Ansatz . . 122 Mustererkennung bei Experten . . . . . . . . . 123 Mustererkennung beim Schachspielen . . . . 123 Mustererkennung – die Rolle des Wahrnehmenden . . . . . . . . . 125
5.4.2 5.5
Baars’ Theorie des globalen Arbeitsraums . . . 146 Funktionen des Bewusstseins . . . . . . . . . . 149
III
4.6 4.6.1 4.6.2 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.7.5 4.8 4.9 4.9.1 4.10
5
Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3
Geschichte des Bewusstseins . . . . . . . . . . Kognitive Psychologie und Bewusstsein . . . . Explizites und implizites Gedächtnis . . . . . . Forschung mit Primes . . . . . . . . . . . . . . Neurokognitive Untersuchungen: Schlaf und Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . Bewusstsein als wissenschaftliches Konstrukt . Begrenzte Kapazität . . . . . . . . . . . . . . . Die Metapher der Neuartigkeit . . . . . . . . . Der Scheinwerfer . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Integrationsmetapher: Das Theater in Mentopolis . . . . . . . . . . . . Moderne Bewusstseinstheorien . . . . . . . . Schacters Modell unvereinbarer Interaktionen und bewusster Erfahrung . . . . . . . . . . . .
5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1
131 133 134 135 138 140 142 142 143 143 144 144
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5
Gedächtnis
Mnemotechniken und Experten . . . . . . . Mnemotechnische Systeme . . . . . . . . . . . Loci-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hakenwortsystem . . . . . . . . . . . . . . . . Schlüsselwortmethode . . . . . . . . . . . . . Organisationsschemata . . . . . . . . . . . . . Abruf von Namen aus dem Gedächtnis . . . . Abruf von Wörtern aus dem Gedächtnis . . . . Ein außerordentliches Gedächtnis . . . . . . . S.: Luria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.P., der Mann mit dem außergewöhnlichen Gedächtnis: Hunt und Love . . . . . . . . . . . Andere Personen mit außergewöhnlichem Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experten und Expertise . . . . . . . . . . . . . H.O.: Fallstudie über einen Künstler – Solso; Miall und Tchalenko . . . . . . . . . . . Die Struktur des Wissens und der Expertise . . Theoretische Analyse der Expertise . . . . . . .
155 157 158 159 159 161 164 165 165 166
Gedächtnis – Strukturen und Prozesse . . . Kurzzeitgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . Neurokognition und KZG . . . . . . . . . . . . Arbeitsgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . Kapazität des KZG . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kodierung von Informationen im KZG . . . Abruf von Informationen aus dem KZG . . . . Langzeitgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . Neurokognition und LZG . . . . . . . . . . . . LZG: Speicherung und Struktur . . . . . . . . . Ultralangzeitgedächtnis – Very Long-Term Memory (VLTM) . . . . . . . . Autobiographische Erinnerungen . . . . . . . Erinnerungsfehler und die Identifikation durch Augenzeugen . . . . . . . . . . . . . . .
179 181 182 183 185 186 192 194 195 196
168 170 171 172 176 176
199 203 206
8
Gedächtnis – Theorien und Neurokognition . . . . . . . . . . . . . . 211
8.1 8.2
Frühe Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . 213 Die Neurokognition des Gedächtnisses . . . . 215
VII Inhaltsverzeichnis
8.3 8.4 8.5 8.5.1 8.5.2 8.5.3 8.5.4 8.5.5 8.5.6 8.5.7
Zwei Gedächtnisspeicher . . . . . . . . . . . . 217 Gedächtnis im umfassenderen kognitiven Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Gedächtnismodelle . . . . . . . . . . . . . . . 220 Waugh und Norman . . . . . . . . . . . . . . . 220 Atkinson und Shiffrin . . . . . . . . . . . . . . 221 Erinnerungsniveau (»Level of Recall«) . . . . . 223 Verarbeitungsniveaus: Craik . . . . . . . . . . . 224 Der Effekt des Selbstbezugs . . . . . . . . . . . 228 Episodisches und semantisches Gedächtnis: Tulving . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Ein konnektionistisches (PDP) Gedächtnismodell: Rumelhart und McClelland . . . . . . . . . . . 232
10.2.3 10.3 10.4 10.4.1 10.5
V
11
IV
Mentale Repräsentationen: Gedächtnis und bildhafte Vorstellung
9
Wissensrepräsentation . . . . . . . . . . . . 241
9.1 9.2 9.2.1 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4
Semantische Organisation . . . . . . . . . . . Der assoziationistische Ansatz . . . . . . . . . Organisationsbezogene Variablen: Bower . . . Das semantische Gedächtnis . . . . . . . . . . Das mengentheoretische Modell . . . . . . . . Modell des semantischen Merkmalsvergleichs Netzmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Propositionale Netze . . . . . . . . . . . . . . . Wissensrepräsentation – neurokognitive Überlegungen . . . . . . . . . Die Suche nach dem schwer fassbaren Engramm Was vergessliche amnestische Patienten zum wissenschaftlichen Fortschritt . . . . . . . Wissen, was und wissen, dass . . . . . . . . . . Eine Taxonomie der Gedächtnisstruktur . . . . Gedächtnis: Festigung . . . . . . . . . . . . . . Konnektionismus und die Wissensrepräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.5 9.6
10 10.1 10.2
243 243 243 246 246 247 249 252 257 258
Geschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . Bildhafte Vorstellung und kognitive Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Dual-Coding-Hypothese . . . . . . . . . . . 10.2.2 Die konzeptuell-propositionale Hypothese
11.1 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.3 11.3.1 11.4 11.4.1 11.4.2 11.5 11.5.1 11.5.2 11.6 11.6.1 11.6.2
258 260 260 261
11.7 11.7.1
261
12
Bildhafte Vorstellung . . . . . . . . . . . . . 267 . . 269 . . 269 . . 272 . . 272
Hypothese von der funktionalen Äquivalenz Neurokognitive Befunde . . . . . . . . . . Kognitive Landkarten . . . . . . . . . . . . Mentale Landkarten: Wo bin ich? . . . . . . Synästhesie: Der Klang der Farben . . . . .
11.8
. . . .
. . . . .
273 277 282 283 285
Sprache und Kognitionsentwicklung
Sprache 1: Struktur und Abstraktionen . . Sprache: Kognition und Neurologie . . . . . . Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Linguistische Hierarchie . . . . . . . . . . . . . Phoneme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Morpheme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chomskys Grammatiktheorie . . . . . . . . . . Transformationsgrammatik . . . . . . . . . . . Psycholinguistische Aspekte von Sprache . . . Angeborene Eigenschaften und Einflüsse aus der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothese von der linguistischen Relativität . Kognitive Psychologie und Sprache: Abstraktion linguistischer Vorstellungen . . . . »Der Krieg der Geister«: Bartlett . . . . . . . . . »Ameisen fressen Götterspeise«: Bransford und Franks . . . . . . . . . . . . . . Wissen und Textverständnis . . . . . . . . . . . »Seifenoper«, »Diebe« und »Polizei« . . . . . . »Autoaufkleber und die Polizei«: Kintsch und van Dijk . . . . . . . . . . . . . . . Ein Modell zum Textverständnis: Kintsch . . . . Propositionale Repräsentation von Text und Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Neurologie . . . . . . . . . . . . .
293 294 297 297 297 298 299 300 301 303 303 303 305 305 308 310 311 313 314 316 317
Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
12.1 Wahrnehmungsspanne . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Textverarbeitung: Verfolgung der Blickbewegungen . . . . . . . 12.2 Lexikalische Entscheidungsaufgaben . . . . . 12.3 Worterkennung: ein kognitiv-anatomischer Ansatz 12.4 Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323 327 332 335 337
VIII
Inhaltsverzeichnis
13
Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . 345
13.1 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4 13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.3 13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.4 13.4.1 13.4.2
Lebenslange Entwicklung . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . Neurokognitive Entwicklung . . . . . . . . . . Vergleichende Entwicklung . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . Assimilation und Akkomodation: Piaget . . . . Das Denken in der Gesellschaft: Wygotski . . . Wygotski und Piaget . . . . . . . . . . . . . . . Neurokognitive Entwicklung . . . . . . . . . . Frühe neuronale Entwicklung . . . . . . . . . . Umwelt und neuronale Entwicklung . . . . . . Lateralisationsstudien . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz und Fähigkeiten . . . . . . . . . . . Entwicklung der Fähigkeit zum Informationserwerb . . . . . . . . . . . . 13.4.3 Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.4 Kognition höherer Ordnung bei Kindern . . . . 13.4.5 Prototypbildung bei Kindern . . . . . . . . . .
VI
347 347 347 347 347 348 348 354 355 357 357 359 359 360 360 362 366 369 372
Denken und Intelligenz bei Mensch und Maschine
14
Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen . . . . 379
14.1 14.2 14.2.1 14.2.2 14.3 14.3.1 14.3.2 14.4 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.4.5 14.4.6 14.4.7
Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überprüfung einer Hypothese . . . . . . . . . Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen und deduktives Schließen Syllogistisches Schlussfolgern . . . . . . . . . . Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Induktives Schließen . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungen in der »realen Welt« . . . . . . Schlussfolgern und das Gehirn . . . . . . . . . Schätzung von Wahrscheinlichkeiten . . . . . Rahmung einer Entscheidung . . . . . . . . . Repräsentativität . . . . . . . . . . . . . . . . . Satz von Bayes und das Fällen von Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungen und Rationalität . . . . . . . .
14.5
380 381 382 382 384 386 388 393 393 394 397 399 400 401
15
Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz . . . . . . . . . 409
15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3
Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gestaltpsychologie und Problemlösen . . . . . Problemrepräsentation . . . . . . . . . . . . . Innere Repräsentation und Problemlösen . . . Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreative Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreativität und funktionale Gebundenheit . . . Investitionstheorie der Kreativität . . . . . . . Beurteilung von Kreativität . . . . . . . . . . . Menschliche Intelligenz . . . . . . . . . . . . . Das Problem mit der Definition . . . . . . . . . Kognitive Theorien der Intelligenz . . . . . . . Neurokognition und Intelligenz . . . . . . . .
16
Künstliche Intelligenz . . . . . . . . . . . . . 439
16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.2
KI – die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . Computer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computer und KI . . . . . . . . . . . . . . . . . KI und menschliche Kognition . . . . . . . . . Maschinen und Mentales: Das Imitationsspiel und das chinesische Zimmer . . . . . . . . . . Das Imitationsspiel und der Turing-Test . . . . Das chinesische Zimmer . . . . . . . . . . . . . Das chinesische Zimmer – eine Widerlegung . Wahrnehmung und KI . . . . . . . . . . . . . . Analyse von Linien . . . . . . . . . . . . . . . . Mustererkennung . . . . . . . . . . . . . . . . Erkennen komplexer Formen . . . . . . . . . . Sprache und KI . . . . . . . . . . . . . . . . . . ELIZA, PARRY und NETtal . . . . . . . . . . . . Bedeutung und KI . . . . . . . . . . . . . . . . Kontinuierliche Spracherkennung . . . . . . . Programme zum Sprachverstehen . . . . . . . Problemlösen, Spielen und KI . . . . . . . . . . Computer-Schach . . . . . . . . . . . . . . . . KI und die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . Roboter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zukunft der KI . . . . . . . . . . . . . . . . KI und wissenschaftliche Erkundung . . . . . .
16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.3 16.3.1 16.3.2 16.3.3 16.4 16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4 16.5 16.5.1 16.6 16.7 16.8 16.9
410 411 412 416 418 418 420 421 422 424 424 425 432
442 442 443 447 449 449 450 451 452 452 453 456 459 460 463 464 464 465 467 470 472 473 475
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
402 405
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
I
Einführung und neuronale Grundlagen der Kognition 1
Einführung
2
Kognitive Neurowissenschaft
–3 – 31
1 Einführung 1.1
Was ist kognitive Psychologie? –4
1.2
Das informationsverarbeitende Modell –6
1.3
Der Gegenstandsbereich der kognitiven Psychologie –8
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 1.3.7 1.3.8 1.3.9 1.3.10 1.3.11 1.3.12
Kognitive Neurowissenschaft –8 Wahrnehmung –9 Mustererkennung –9 Aufmerksamkeit –10 Bewusstsein –10 Gedächtnis –10 Wissenspräsentation –11 Bildhafte Vorstellung –11 Sprache –12 Entwicklungspsychologie –12 Denken und Begriffsbildung –12 Künstliche und menschliche Intelligenz –13
1.4
Eine kurze Geschichte der kognitiven Psychologie –13
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4
Frühe Gedanken zum Denken –13 Kognition in der Renaissance und später –14 Kognitive Psychologie: das frühe 20. Jahrhundert –16 Die heutige kognitive Psychologie –17
1.5
Theoretische Wissenschaft und kognitive Psychologie –19
1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5
Kognitive Modelle –21 Die Computermetapher und die menschliche Kognition –23 Die Kognitionswissenschaft –24 Neurowissenschaft und kognitive Psychologie –24 Parallel Distributed Processing (PDP) und die kognitive Psychologie –26
1.6
Evolutionäre kognitive Psychologie –27
4
Kapitel 1 · Einführung
1
Anregungen vorab 1. Was ist kognitive Psychologie? 2. Welches sind die wichtigsten Bereiche der kognitiven Psychologie? 3. Wie hat sich die kognitive Psychologie zu einer treibenden Kraft innerhalb der Psychologie entwickelt? 4. Was ist ein kognitives Modell und in welcher Weise sind kognitive Modelle dazu verwendet worden, um besser zu verstehen, was Denken heißt? 5. Wie hat die kognitive Neurowissenschaft die Forschung innerhalb der Geisteswissenschaften beeinflusst und welche neuen Richtungen innerhalb der Kognition könnten sich aus diesem Einfluss entwickeln? 6. In welcher Weise hat die evolutionäre kognitive Psychologie das Denken im Bereich der Kognition beeinflusst?
Aufgrund der Entwicklung neuer Hilfsmittel für die Logik – der diversen Einsatzmöglichkeiten der Computer, der Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf psychologische Prozesse beim Menschen und bei kulturellen Praktiken, unseres tieferen und genaueren Verstehens der Eigenart von Sprache und der vielen Entdeckungen über Aufbau und Arbeitsweise des Nervensystems – besitzen wir ein differenzierteres Verständnis für die Fragen, die ursprünglich von Platon, Descartes, Kant und Darwin gestellt wurden. Howard Gardner
1.1
Was ist kognitive Psychologie?
Wenn Sie diese Frage lesen und darüber nachdenken, befinden Sie sich schon mitten im Bereich der Kognition. Die kognitive Psychologie beschäftigt sich mit der Wahrnehmung von Informationen (Sie lesen die Frage), mit dem Verstehen (Sie begreifen die Frage) sowie mit dem Formulieren und Hervorbringen einer Antwort (Sie könnten sagen: »Die kognitive Psychologie beschäftigt sich mit der Untersuchung des Denkens.«).Die Kognition berührt alle Bereiche von Wahrnehmungs-, Gedächtnisund Denkprozessen und ist ein bedeutsames Merkmal aller Menschen. Die kognitive Psychologie beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Denkens und mit folgenden Fragen: ▬ Wie behalten und gewinnen wir Informationen über die Welt? ▬ Wie werden diese Informationen vom Gehirn gespeichert und verarbeitet? ▬ Wie lösen wir Probleme, wie denken wir und wie formulieren wir in Form von Sprache?
Bei der kognitiven Psychologie geht es um die gesamte Spielbreite psychologischer Prozesse – von der Empfindung und der Wahrnehmung über die Neurowissenschaft, die Mustererkennung, die Aufmerksamkeit, das Bewusstsein, das Lernen, das Gedächtnis, die Begriffsbildung,das Denken,die Bildverarbeitung,das Erinnern,die Sprache, die Intelligenz, die Emotionen bis hin zu den Entwicklungsprozessen – und die kognitive Psychologie umfasst all diese unterschiedlichen Bereiche des Verhaltens. Das Vorhaben, das wir skizziert haben – die wissenschaftliche Untersuchung des denkenden Geistes –, ist nicht nur anspruchsvoll, sondern auch spannend. Weil der Gegenstandsbereich umfassend ist, wird die Spannbreite der Untersuchungen groß sein; und weil es bei den Themen darum geht, das Mentale im Menschen aus einer neuen Perspektive heraus zu betrachten,werden sich Ihre Auffassungen über den geistigen Charakter des Menschen möglicherweise grundlegend ändern. In diesem Kapitel wird ein allgemeines Bild der kognitiven Psychologie dargestellt,es wird ein Überblick über die Geschichte gegeben und es werden einige aktuelle Theorien darüber zusammengefasst, wie das Wissen beim Menschen mental repräsentiert wird.
5 1.1 · Was ist kognitive Psychologie?
Bevor wir näher auf die formalen Aspekte der kognitiven Psychologie eingehen, ist es vielleicht sinnvoll, eine Orientierung über die Annahmen zu entwickeln, die wir Menschen bei der Informationsverarbeitung aufstellen. Um die Art und Weise, wie wir Informationen interpretieren,zu veranschaulichen,lassen Sie uns beispielsweise ein alltägliches Ereignis betrachten: Ein Autofahrer fragt einen Polizisten nach dem Weg. Obwohl es den Anschein hat, als handele es sich um einfache kognitive Prozesse, ist dies nicht der Fall. > Autofahrer: Ich bin nicht von hier, können Sie mit sagen, wie ich zu Robbie Robotland komme? Polizist: Nun ja, wollen Sie Videospiele oder einen Computer haben? Es gibt nämlich zwei unterschiedliche Geschäfte. Autofahrer: Oh, ich weiß nicht recht … Polizist: Ich denke, es macht keinen großen Unterschied, weil sie beide an derselben Straße gegenüberliegen. Autofahrer: Ich suche nach einem mitdenkenden Programm – wissen Sie, so etwas, das Problemlösen simuliert. Polizist: Das gibt es im Computerladen. Autofahrer: Im Computerladen? Polizist: Ja, in der Ecke für Software. So … wissen Sie, wo das Kolosseum ist? Autofahrer: Das Gebäude mit dem kegelförmigen Gebilde oder ist es das, das … ▼
Polizist: Nein, aber Sie wissen bestimmt, wo das ist – es ist das Expogelände. Erinnern Sie sich noch, dort war 2001 die Expo? Autofahrer: Oh ja, ich weiß, wo das Expogelände ist. Polizist: O.k., also das Expogelände. Nun, es ist ein bisschen schwierig, von hier aus dorthin zu kommen, aber wenn Sie jetzt hier runterfahren, an dieser Straße zunächst eine Ampel passieren und dann zu einem Fahnenmast kommen, biegen Sie nach rechts ab und gelangen an der nächsten Querstraße zu einer weiteren Ampel. Dann biegen Sie nach links ab, fahren über einen Bahnübergang an einem See vorbei bis zur nächsten Ampel in der Nähe der alten Mühle. Wissen Sie, wo die alte Mühle liegt? Autofahrer: Ist das die Straße auf der Brücke, auf der ein Schild mit der Aufschrift »Einbahnstraße bis zur alten Mühle« steht? Polizist: Nein, das ist keine Einbahnstraße. Autofahrer: Oh, dann muss es die andere Brücke sein. O.k., ich weiß, welche Straße … Polizist: Sie können sie am großen Werbeplakat erkennen, auf dem steht: »Verlorene Juwelen sind nicht mehr zu ersetzen.« So was in der Art. Es ist Werbung für ein Schließfach, in dem Sie über Nacht etwas aufbewahren lassen können. Ich nenne es den Kommerzkasten, weil er von der Commerzbank ist. Wie auch immer, Sie fahren an der alten Mühle vorbei – das ist da, wo das Res▼
1
6
1
Kapitel 1 · Einführung
taurant La Strada liegt, in der Eldoradostraße – und da biegen Sie nach links ab – nein, nach rechts –, dann fahren Sie an der nächsten Querstraße nach links und das ist die Virginiastraße. Auf der Virginiasstraße finden Sie es dann ganz leicht. Das Geschäft liegt auf der rechten Straßenseite. Autofahrer: Sie machen Witze! Mein Hotel liegt an der Virginiastraße. Polizist: Wirklich? Autofahrer: Ich bin in die falsche Richtung gefahren. Jetzt bin ich auf der anderen Seite der Stadt. Das Geschäft ist nur zwei Querstraßen von meinem Hotel entfernt! Ich hätte zu Fuß dorthin gehen können. Polizist: In welchem Hotel wohnen Sie? Autofahrer: Im Hotel Oxford. Polizist: Oh, im Oxford? Autofahrer: Nun ja, das ist nicht das erste Haus am Platz, aber es gibt dort eine ganz gute Bibliothek. Polizist: Bitte?
Die Episode, die wir beschrieben haben, nahm weniger als zwei Minuten in Anspruch; doch die Menge an Informationen, die die beiden Personen wahrgenommen und analysiert haben, ist Schwindel erregend. Ein Laie, der den Wortwechsel nicht so umwerfend findet, könnte ihn folgendermaßen vereinfachen: »Ich fragte – er sagte – ich verstand.« Doch der Dialog geht weit darüber hinaus. Betrachtet man diesen Prozess genauer, dann will man vielleicht wissen, welche Prozesse dem »ich fragte«, »er sagte« und »ich verstand« zu Grunde liegen. Wie mag ein Psychologe den Prozess sehen? Eine Sichtweise besteht darin, ihn in Reiz und Reaktion einzuteilen (S–R für das englische Stimulus und Response), so etwa »Fahnenmast« (das wäre ein Beispiel für einen Reiz) und »Abbiegen nach rechts« (das wäre ein Beispiel für eine Reaktion). Manche Psychologinnen und Psychologen – vor allem diejenigen, die für einen herkömmlichen behavioristischen Ansatz in der Psychologie stehen – meinen, dass die ganze Abfolge der Ereignisse angemessen (wenn auch mit mehr Details) durch diese S-R-Begriffe beschrieben werden kann. Obwohl diese Position in ihrer Einfachheit durchaus ihren Reiz hat, scheint es hier nicht möglich zu sein, das kognitive System miteinzubeziehen, das an diesem Wortwechsel beteiligt ist.Damit das gründlich geschieht, ist es notwendig, spezifische Komponenten zu definieren, sie zu analysieren und sie dann in ein Gesamtmodell zu integrieren.Obwohl das Offensichtliche,
die Verhaltensweisen, wichtige Elemente sind, scheint es innere Systeme zu geben, die hinter solchen Handlungen stecken; und manche in der Psychologie sind von diesen »inneren« Systemen fasziniert. Von ebendiesem Standpunkt aus untersuchen Kognitionspsychologen die komplexen Phänomene menschlichen Verhaltens. Bleiben wir beim gerade beschriebenen Beispiel. Wie könnten Kognitionspsychologen den Prozess sehen? Sie beginnen damit, dass sie bestimmte Annahmen über die kognitiven Merkmale aufstellen, die der Autofahrer und der Polizist zeigen. In der linken Spalte von ⊡ Tabelle 1.1 sind die Annahmen aufgeführt; in der rechten Spalte finden Sie die Themenbereiche der kognitiven Psychologie, die sich mit den Annahmen beschäftigen.
1.2
Das informationsverarbeitende Modell
Eine Art, wie diese Annahmen in ein umfassenderes oder kognitives System integriert werden können, ist die Integration in ein informationsverarbeitendes Modell, das sich (im Allgemeinen) auf eine zeitlich geordnete Abfolge von Ereignissen bezieht. Es ist plausibel und leicht zu verstehen. Obwohl es sich beim konventionellen Modell nicht um die einzige Art und Weise handelt, wie sich Kognition charakterisieren lässt, war es über Jahrzehnte hinweg dasjenige,das Kognitionspsychologen verwendeten. Andere Modelle, beispielsweise das neurowissenschaftliche Modell, mit dem wir uns später beschäftigen werden,befassen sich aus einem anderen Blickwinkel mit Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache und Denken – dies alles sind wichtige Themen der kognitiven Psychologie. Ein informationsverarbeitendes Modell macht anfangs drei Annahmen: ▬ Kognition lässt sich verstehen, wenn man sie als eine Reihe meist sequenzieller Stufen analysiert. ▬ Im Hinblick auf die eingehende Information finden auf jeder einzelnen Stufe jeweils spezifische Prozesse statt. Von der am Ende erfolgenden Reaktion (beispielsweise zu sagen: »Oh ja, ich weiß, wo die Expo ist.«) nimmt man an, dass sie das Ergebnis dieser Reihe von Stufen und Operationen ist (beispielsweise Wahrnehmung, Codierung der Information, Abruf der Information aus dem Gedächt-
7 1.2 · Das informationsverarbeitende Modell
⊡ Tabelle 1.1. Annahmen über kognitive Charakteristika
Annahmen
Themen in der kognitiven Psychologie
Fähigkeit, sensorische Reize (z.B. optische und akustische) zu erfassen und zu interpretieren
Erfassung sensorischer Signale und Neurowissenschaft
Tendenz, sich auf bestimmte sensorische Reize zu konzentrieren und andere auszublenden
Aufmerksamkeit
Detailliertes Wissen über die physischen Merkmale der Umwelt
Wissen
Fähigkeit, von bestimmten Teilen des Ereignisses zu abstrahieren und diese Teile in ein wohl strukturiertes Schema zu integrieren, das der gesamten Episode einen Sinn verleiht
Mustererkennung
Fähigkeit, aus Buchstaben und Wörtern eine Bedeutung zu extrahieren
Lesen und Informationsverarbeitung
Fähigkeit, unmittelbare Ereignisse zu behalten und sie in eine ablaufende Sequenz zu integrieren
Kurzzeitgedächtnis
Fähigkeit, ein Bild einer kognitiven Landkarte zu bilden
Mentales bildhaftes Vorstellungsvermögen
Verstehen der Rolle des anderen, die er in einer Interaktion spielt
Denken
Fähigkeit, »Gedächtnistricks« einzusetzen, um Informationen besser abrufen zu können
Mnemonik und Gedächtnis
Tendenz, sprachliche Informationen in einer allgemeinen Form zu speichern
Abstraktion von sprachlichen Gedanken
Fähigkeit zum Problemlösen
Problemlösen
Allgemeine Fähigkeit, auf sinnvolle Weise zu handeln
Menschliche Intelligenz
Schlussfolgerung, dass Anweisungen präzise in eine komplexe motorische Handlung (Autofahren) übersetzt werden können
Sprachliches/motorisches Verhalten
Fähigkeit, spezifische Informationen, die unmittelbar auf die momentane Situation anwendbar sind, rasch aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen
Langzeitgedächtnis
Fähigkeit, visuelle Ereignisse in gesprochene Sprache zu übersetzen
Sprachverarbeitung
Wissen, dass die Gegenstände einen spezifischen Namen haben
Semantisches Gedächtnis
Unfähigkeit, perfekte Leistungen zu erbringen
Vergessen und Interferenz
nis, Begriffsformulierung, Urteil und Sprachproduktion). ▬ Jede einzelne Stufe erhält Informationen von den vorangehenden Stufen und führt dann ihre jeweils spezifische Aufgabe aus. Da jede Komponente des Modells auf irgendeine Art und Weise mit allen
anderen verbunden sind, ist es schwierig, eine Anfangsstufe auszumachen; aber der Einfachheit halber können wir uns die Abfolge so vorstellen, dass sie mit der hereinkommenden Information beginnt.
1
8
1
Kapitel 1 · Einführung
Diese Bruchstücke von Informationen – in unserem Beispiel die Hinweisreize aus der Umwelt – werden nicht unmittelbar im Gehirn des Polizisten repräsentiert, sondern zunächst in neurologische Strukturen und bedeutsame Symbole transformiert. Das haben einige Kognitionspsychologen als innere Repräsentationen bezeichnet. Auf dem grundlegendsten Niveau senden die wahrgenommenen Informationen Licht- oder Schallenergie aus, die in neuronale Energie umgeformt (umgewandelt) wird. Sie wird in den zuvor erwähnten hypothetischen Stufen weiterverarbeitet, um die innere Repräsentation des wahrgenommenen Gegenstands zu erzeugen. Diese innere Repräsentation wird vom Polizisten verstanden und stellt, wenn sie mit anderen Kontextinformationen verknüpft wird,die Grundlage für seine Antwort auf die Frage dar, die der Autofahrer ihm gestellt hat. Zwei wichtige Probleme, die durch das infor-
mationsverarbeitende Modell aufgeworfen werden, sind Gegenstand einer heftigen Debatte unter Kognitionspsychologen: ▬ Welches sind die Stufen, in denen Informationen verarbeitet werden? ▬ In welcher Form werden Informationen beim Menschen mental repräsentiert? Obwohl es keine einfachen Antworten auf diese Fragen gibt, beschäftigt sich ein großer Teil dieses Buchs damit, und es könnte von Nutzen sein, diese Fragen im Hinterkopf zu behalten. Eine Art und Weise, wie Kognitionspsychologen sie zu beantworten versuchten, besteht darin, dass sie auf bestimmte psychologische Teildisziplinen zurückgriffen. Sie bezogen deren Vorgehensweisen und Theorien mit ein, von denen einige im Folgenden beschrieben werden.
Kritisch hinterfragt: Kognition im Alltag Über das gesamte Buch hinweg werden kleine Abschnitte mit kritischen Anmerkungen über Kognition auftauchen. In diesen Kästen werden Sie gebeten, das Wissen über das gerade gelesene Kapitel für eine kleine Demonstration kritischen Denkens zu nutzen. Das nächste Mal, wenn Sie einen Supermarkt oder ein Einkaufszentrum aufsuchen, machen Sie einige Augenblicke Pause und beobachten Sie die diversen Beispiele für kognitive Psychologie, von denen Sie umgeben sind: Richten Sie Ihre besondere Aufmerksamkeit auf: (1) die Verwendung von Formen und Farben, die Ihre Aufmerk-
1.3
Der Gegenstandsbereich der kognitiven Psychologie
Die moderne kognitive Psychologie bedient sich der Theorien und Vorgehensweisen aus zwölf Hauptforschungsgebieten (⊡ Abb. 1.1): kognitive Neurowissenschaft, Wahrnehmung, Mustererkennung, Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Gedächtnis, Wissensrepräsentation, bildhafte Vorstellung, Sprache, Entwicklungspsychologie, Denken und Begriffsbildung sowie menschliche und künstliche Intelligenz. Jedes einzelne Gebiet wird in den folgenden Unterabschnitten behandelt.
samkeit wecken sollen; (2) Ihre eigene Reaktion auf Umweltreize (worauf sich beispielsweise Ihre Augen richten und wie lange Sie einen Gegenstand oder eine Person fixieren); (3) den Einsatz des Gedächtnisses beim Verstehen von Sprache, Kontext und der Interpretation von optischen und akustischen Signalen aus Ihrer Umwelt. Notieren Sie die Eindrücke über diese Dinge und lesen Sie sie etwa nach einer Woche noch einmal durch. Welche der Prinzipien, die wir in diesem Kapitel erörtert haben, finden hier Anwendung?
1.3.1
Kognitive Neurowissenschaft
Erst innerhalb der letzten paar Jahre haben Kognitionspsychologen und kognitive Neurowissenschaftler (Hirnforscher) eine enge Arbeitsbeziehung entwickelt. Diese Zusammenarbeit hat bereits zu einigen sehr anregenden Entwicklungen geführt.Hier geht es insbesondere um die Untersuchung dessen, was uns als geistige Wesen auszeichnet. Kognitionspsychologen suchen nach neuen neurologischen Erklärungen für ihre Befunde und Neurowissenschaftler wenden sich an Kognitionspsychologen, um Erklärungen für Beobachtungen zu finden, die sie in ihren Labors gemacht haben. Im zuvor genannten
9 1.3 · Der Gegenstandsbereich der kognitiven Psychologie
⊡ Abb. 1.1. Hauptforschungsgebiete der kognitiven Psychologie
Beispiel mit dem etwas verwirrten Autofahrer und dem Polizisten basiert jede einzelne Etappe des kognitiven Prozesses – von der Empfindung über das Gedächtnis bis zum Autofahren – aufgrundlegenden elektrochemischen Prozessen, die sich im Gehirn und im Nervensystem abspielen.
1.3.2
Wahrnehmung
Das Teilgebiet, das sich unmittelbar mit der Ermittlung und Interpretation sensorischer Reize beschäftigt, ist die Wahrnehmung.Aus Wahrnehmungsexperimenten wissen wir viel über die Sensibilität des menschlichen Organismus für sensorische Signale und – was für die kognitive Psychologie noch wichtiger ist – über die Art und Weise, auf die wir sensorische Signale interpretieren.Wie der Polizist die Szenerie der Straße beschreibt, hängt im Wesentlichen von seiner Fähigkeit ab, die dem Ganzen zu Grunde liegenden umweltbezogenen Hinweisreize zu »sehen«. Das »Sehen« ist jedoch keine einfache Angelegenheit. Die sensorische Information (in diesem Fall vor allem die visuelle) muss von einer bestimmten Größenordnung sein, um wahrgenommen zu werden. Das heißt: Wenn der Autofahrer die beschriebenen Manöver ausführen soll, müssen die Hinweisreize von einer bestimmten Intensität sein. Darüber hinaus verändert sich die Szenerie ständig.Wenn der Autofahrer seinen Standort wechselt, tauchen neue Hinweisreize auf. Im Wahrnehmungsprozess werden eine Reihe von Hinweisreizen wichtiger als andere. Verkehrszeichen unterscheiden sich durch ihre Farbe, ihren Standort, ihre Formen usw. Viele dieser Bilder befinden sich ständig im Fluss und der Autofahrer muss sein Verhalten
rasch anpassen, um die Anweisungen in eine Leistung zu übersetzen. Die experimentelle Untersuchung der Wahrnehmung hat dazu beigetragen, viele der Bestandteile dieses Prozesses – von denen wir einige in Kapitel 3 erörtern werden – zu identifizieren. Die Erforschung der Wahrnehmung allein kann die erwartete Leistung jedoch nicht auf angemessene Weise erklären; denn es sind auch andere kognitive Systeme einbezogen, und dazu gehören Mustererkennung, Aufmerksamkeit, Bewusstsein und Gedächtnis.
1.3.3
Mustererkennung
Die Reize aus der Umwelt werden selten als einzelne sensorische Ereignisse wahrgenommen; sie werden gewöhnlich als Bestandteil eines bedeutsameren Musters perzipiert. Die Dinge, die wir sinnlich wahrnehmen – sehen, hören,fühlen,berühren oder Ähnliches –,sind fast immer Bestandteile eines komplexen Musters sensorischer Reize. Wenn der Polizist den Autofahrer auffordert, »über den Bahnübergang an einem See vorbei … in der Nähe der alten Mühle« zu fahren, verwendet er Wörter, um komplexe Gegenstände zu erklären (Bahnübergänge, See, alte Mühle).An einer Stelle beschreibt der Polizist ein Verkehrszeichen und nimmt implizit an, dass der Fahrer es erkennt. Doch denken Sie einmal an das Problem, wie man eigentlich liest. Lesen ist eine komplexe Leistung, bei der der Leser aus einer ansonsten sinnlosen Zusammenstellung von Linien und Kurven ein sinnvolles Muster bilden muss. Er kann dann aus seinem Gedächtnis Zugang zu der Bedeutung bekommen, indem er die Reize strukturiert, aus de-
1
10
1
Kapitel 1 · Einführung
nen sich die Buchstaben und Wörter zusammensetzen. Der gesamte Vorgang spielt sich im Bruchteil einer Sekunde ab. Und wenn man bedenkt, wie viele neuroanatomische und kognitive Systeme dabei mitwirken, ist diese großartige Leistung – die täglich von den unterschiedlichsten Personen vollbracht wird – etwas ganz Außerordentliches.
1.3.4
Aufmerksamkeit
Die Anzahl der Hinweisreize aus der Umwelt, die dem Polizisten und dem Autofahrer zur Verfügung stehen, ist überwältigend. Wenn der Autofahrer seine Aufmerksamkeit auf alle oder auch nur auf eine beträchtliche Anzahl von ihnen richten würde, würde er den Computerladen nie finden. Obwohl wir Lebewesen sind, die Informationen sammeln, wird deutlich, dass wir unter normalen Umständen in hohem Maße selektiv im Hinblick auf Menge und Art der Informationen vorgehen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Unsere Fähigkeit zur Informationsverarbeitung scheint auf zwei Ebenen begrenzt zu sein – auf der sensorischen und auf der kognitiven.Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt zu viele sensorische Hinweisreize auf uns einströmen, können wir überlastet werden; ebenso, wenn wir versuchen zu viele Ereignisse im Gedächtnis zu verarbeiten, was zu einem raschen Leistungsabfall führen kann. Wenn die Karikatur, die auf S. 5 abgebildet ist, die kognitive Landkarte des Autofahrers genau repräsentiert, ist er hoffnungslos verwirrt. Irgendwann ist uns allen das schon einmal passiert.
1.3.5
Bewusstsein
Bewusstsein wird definiert als die momentane Bewusstheit für äußere oder innere Umstände. Obwohl es sich um ein Wort handelt, das »durch Millionen von Zungen glatt geschliffen wurde« (Miller, 1962), handelt es sich, wenn man es operational definieren möchte, gewiss um eines der heikelsten Konzepte. Das Wort Bewusstsein und der Begriff, der dahinter steckt, wollen einfach nicht weichen, obwohl die Behavioristen sie als »unwissenschaftlich« abgelehnt haben. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass manche Themen schwer zu analysieren sind, nicht, dass sie außer Acht gelassen werden sollten. Die Wissenschaft beschäftigt sich nicht nur mit einfachen Problemen. Für
die meisten Leute sind Bewusstsein und unbewusste Gedanken (etwa die, die sie bei ihrem ersten Rendezvous gehabt haben mögen) sehr real. Wenn Sie beispielsweise beim Lesen auf die Uhr schauen und sie 22.42 Uhr anzeigt, sind Sie sich dieses äußeren Signals bewusst, ebenso wie sich der Autofahrer der Anweisungen, die ihm der Polizist gegeben hatte, und ihrer Bedeutungen bewusst war. Wenn Sie die Zeit ablesen, dann führt dies jedoch noch zu einem weiteren bewussten Gedanken – dem Gedanken, der ursprünglich dadurch aktiviert wurde, dass Sie die Zeit abgelesen haben, aber er kommt von »innen«. Der bewusste Gedanke könnte sein: »Es ist spät geworden. Ich sollte nach diesem Kapitel besser aufhören und ins Bett gehen.« – genauso wie der Autofahrer gedacht haben könnte: »Ich hoffe, dieser Polizist weiß, wo Robbie Robotland ist, und sagt es mir, ohne mir irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten. Oh, wo ist denn noch mein Kraftfahrzeugschein? Ist meine Versicherung auch nicht abgelaufen? Verhalte dich ganz ruhig! Sieht uns jemand zu? Ich kann mich daran erinnern, wo die Brücke ist. Ich kann den Fahnenmast sehen.« All diese bewussten Gedanken mögen der Person innerhalb weniger Sekunden blitzartig durch den Kopf gegangen sein. Dem Bewusstsein,also der unverwüstlichen Bezeichnung, ist kürzlich wieder neue Beachtung geschenkt worden. Heute handelt es sich um einen Begriff, der in der modernen kognitiven Psychologie wieder ernsthaft untersucht wird.
1.3.6
Gedächtnis
Könnte der Polizist die Szenerie ohne ein Gedächtnis beschreiben? Sicherlich genauso wenig, wie er ohne Wahrnehmung seinen Beruf ausüben könnte. Eigentlich arbeiten Gedächtnis und Wahrnehmung zusammen. Im genannten Beispiel tragen zwei Arten von Gedächtnis etwas zur Antwort des Polizisten bei. Bei der ersten Art werden die Informationen für eine begrenzte Zeit behalten, lange genug, um die Unterhaltung fortführen zu können. Dieses Gedächtnissystem scheint die Informationen nur kurz parat zu haben, bis neue Informationen sie ersetzen. Der gesamte Wortwechsel hat wahrscheinlich nur etwa 120 Sekunden gedauert und es ist recht unwahrscheinlich, dass sowohl der Polizist als auch der Autofahrer alle Einzelheiten auf Dauer präsent haben werden. Diese Einzelheiten werden jedoch ausreichend lange im Gedächtnis gespeichert, sodass beide die Abfolge der Elemente, aus denen
11 1.3 · Der Gegenstandsbereich der kognitiven Psychologie
sich der Dialog zusammensetzt,1 verfolgen können. Und ein gewisser Teil der Informationen mag seinen Weg ins dauerhafte Gedächtnis gefunden haben. Diese erste Stufe des Gedächtnisses wird als Kurzzeitgedächtnis (KZG) oder, für den Fall einer spezialisierten Form des Gedächtnisses, als Arbeitsgedächtnis bezeichnet. Andererseits bezieht der Polizist einen Großteil der Antwort aus seinem Langzeitgedächtnis (LZG). Am offensichtlichsten ist dabei seine Kenntnis der Sprache. Er bezeichnete weder den See als Pampelmuse noch die Expo als Gummireifen noch eine Straße als einen Basketball. Er bezog die Wörter aus seinem LZG und verwendete sie mehr oder weniger korrekt. Es gibt zusätzliche Hinweise, die darauf hindeuten, dass das LZG in seine Darstellung mit einbezogen war: » … erinnern Sie sich noch, dort war 2001 die Expo?« In einer flüchtigen Sekunde war er in der Lage, Informationen über ein schon Jahre zurückliegendes Ereignis aus dem Gedächtnis abzurufen. Diese Informationen gingen nicht auf eine unmittelbare Wahrnehmungserfahrung zurück; sie waren zusammen mit einer riesigen Anzahl anderer Fakten in seinem LZG gespeichert. Die Informationen, die dem Polizisten zur Verfügung standen, kamen also aus seiner Wahrnehmung, dem KZG und dem LZG.Darüber hinaus können wir schlussfolgern, dass er ein denkender Mensch ist, der die Informationen in einem für ihn plausiblen Schema begrifflich fasste.
1.3.7
Wissensrepräsentation
Grundlegend für jegliche Kognition eines Menschen ist die Wissensrepräsentation: wie also Informationen symbolisiert und mit den Dingen, die im Gehirn gespeichert sind, in Zusammenhang gebracht werden. Dieser Teil der Kognition umfasst zwei Aspekte: die begriffliche Repräsentation des Wissens im Denken und die Art und Weise, wie das Gehirn Informationen speichert und verarbeitet. Wenn wir die Gedankenblasen über dem Polizisten und 1
So musste sich der Polizist kurz merken, dass der Autofahrer auf der Suche nach »Robbie Robotland« war, dass dieser wusste, wo die Expo ist, sogar, dass der Autofahrer in einem Hotel wohnte (zumindest bis er bei seiner letzten Frage war: »In welchem Hotel wohnen Sie?«). In ähnlicher Weise musste sich der Autofahrer rasch merken, dass es zwei Robotlands gab (um auf die Frage antworten zu können, dass er zu dem Laden wollte, der mitdenkende Programme verkauft), dass der Polizist gefragt hatte, ob er wüsste, wo die Expo liegt, dass er an der alten Mühle vorbeifahren müsste usw.
dem Autofahrer, der sich verfahren hat, in der Karikatur auf S. 5 ernst nehmen, so hatten die beiden recht unterschiedliche begriffliche Repräsentationen. Eins der Probleme, die wir beim Kommunizieren miteinander haben, besteht darin, dass die Welt nie identisch repräsentiert wird. Was Sie sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen, ist nicht dasselbe wie das, was ich erlebe und im Gedächtnis repräsentiere. Und was ich erlebe und im Gedächtnis speichere, ist nicht identisch mit Ihrem Erleben. Trotz dieser von Natur aus vorhandenen Unterschiede zwischen Wissensrepräsentationen empfinden und schildern die meisten Menschen ähnliche Erlebnisse auf hinreichend ähnliche Weise,um in der Welt einigermaßen zurechtzukommen. Außerdem besitzen alle Menschen ein Gehirn, durch das die Art und Weise, wie Informationen gespeichert werden, in starkem Maße festgelegt ist. Die Entwicklung des menschlichen Gehirns hat Millionen von Jahren gedauert; trotzdem sind sich Ihr Gehirn und das Gehirn Ihres besten Freundes bemerkenswert ähnlich. Selbst die Unterschiede zwischen Ihrem Gehirn und dem Gehirn Ihres Professors sind geringfügig (trotz der – von beiden Seiten – wahrgenommenen Unterschiede). Selbstverständlich unterscheidet sich der Inhalt außerordentlich: Ihr Freund mag besonders viel über die Ausrüstung wissen, die man braucht, um eine dreiwöchige Kajaktour in Nordkanada zu unternehmen; und Sie mögen beispielsweise mehr über die Klassifikation der Sternsysteme wissen.Aber in unserem neurologischen Netz verfangen sich Informationen und Erfahrungen und sie werden in Strukturen behalten,die bei allen menschlichen Gehirnen Ähnlichkeiten aufweisen. Wenn sich der Autofahrer und der Polizist gegenseitig ins Gesicht schauen, dann werden jeweils die gleichen Teile ihrer Gehirne aktiviert. Kognitionspsychologen sind speziell am Thema der inneren Repräsentation von Wissen interessiert und ein großer Teil dieses Buchs beschäftigt sich in der einen oder anderen Form mit diesem Thema. Später in diesem Kapitel wird ein Überblick über die Geschichte der Wissensrepräsentationen gegeben.
1.3.8
Bildhafte Vorstellung
Damit der Polizist die Frage des Autofahrers beantworten konnte, baute er ein mentales Bild seiner Umwelt auf. Dieses mentale Bild bestand in Form einer kognitiven Landkarte, einer Art innerer Repräsentation nebeneinander
1
12
1
Kapitel 1 · Einführung
liegender Gebäude,Straßen,Straßenschilder,Ampeln usw. Aufgrund der kognitiven Landkarte war er imstande, die bedeutsamen Hinweisreize abzurufen, sie in einer sinnvollen Reihenfolge zu ordnen und diejenigen Bilder in Sprache zu transformieren, die es dem Autofahrer – hoffentlich – erlaubten, eine ähnliche kognitive Landkarte zu konstruieren. Diese neu gebildete kognitive Landkarte würde dann dem Autofahrer ein annehmbares Bild von der Stadt bieten, das später in die Handlung des Autofahrens entlang einer bestimmten Route transformiert werden könnte.Obwohl die experimentelle Untersuchung der mentalen bildhaften Vorstellung für die Psychologie relativ neu ist, wurden kürzlich schon einige bedeutsame wissenschaftliche Ergebnisse erzielt. Sie werden in Kapitel 10 erörtert.
1.3.9
Sprache
Um die Frage des Autofahrers vollständig zu beantworten, musste der Polizist ein außergewöhnliches Wissen über die Sprache haben.Zu diesem Wissen gehört mehr,als nur die richtigen Namen für die Orientierungspunkte zu kennen. Dies hat – und das ist genauso wichtig – etwas mit dem Wissen über die Syntax der Sprache (über die allgemein übliche Anordnung und Positionierung der Wörter) zu tun. Die Abfolge der Wörter trägt, obwohl sie vielleicht nicht den Ansprüchen eines pedantischen Germanistikprofessors gerecht wird,etwas zur Kommunikation bei. In fast jedem Satz, den der Polizist äußert, werden die wesentlichen grammatischen Regeln beachtet. Er sagte nicht: »Gibt das Computerladen im es«, sondern er sagte: »Das gibt es im Computerladen.« Wir alle verstehen, was er gemeint hat. Abgesehen davon, dass der Polizist die für seine Antwort angemessenen Wörter in seinem »Lexikon« fand und grammatisch korrekte Sätze bildete, musste er die komplizierten motorischen Reaktionen koordinieren, die erforderlich sind, um die Botschaft zu artikulieren. Zudem ist Kommunikation zwischen Menschen viel mehr als das, was die Beteiligten sagen oder schreiben. Am offensichtlichsten ist die Verwendung von Gesten oder Körpersprache,um etwas zu kommunizieren, Und es ist wahrscheinlich, dass sowohl der Autofahrer als auch der Polizist, als sie sich gegenseitig ihr »verbales Musikstück« vorspielten,einen Großteil der Inhalte auch pantomimisch darstellten.Und am Ende sollten wir noch dem Reichtum und der Komplexität der konnotativen Merkmale der Sprache gerecht werden.Denken Sie noch einmal
an diesen kurzen Wortwechsel am Ende des Gesprächs: »Polizist: ‚In welchem Hotel wohnen Sie?‘ Autofahrer: ‚Im Hotel Oxford.‘ Polizist: ‚Oh, im Oxford?‘ Autofahrer: ‚Nun ja,das ist nicht das erste Haus am Platz …‘« Etwas am Tonfall der Erwiderung des Polizisten (»Oh, im Oxford?«) war ein Signal für den Autofahrer, das so zu verstehen: »Warum übernachten Sie in einer solchen Bruchbude?« Sprache und Kommunikation bestehen eben aus weit mehr als aus unterschiedlichen Wörtern.
1.3.10
Entwicklungspsychologie
Die Entwicklungspsychologie ist ein weiteres wichtiges Gebiet der kognitiven Psychologie,das intensiv untersucht worden ist. Neuere Experimente und Theorien in der kognitiven Entwicklungspsychologie haben unser Verständnis von der Art und Weise, wie sich kognitive Strukturen entwickeln, umfassend erweitert. Im dargestellten Beispiel haben die Sprecher Entwicklungserfahrungen gemeinsam,die es ihnen (mehr oder weniger) erlauben,sich gegenseitig zu verstehen. Zu einigen dieser gemeinsamen Erfahrungen gehört die Entwicklung der mentalen Manipulation innerer Repräsentationen konkreter Gegenstände, die Fähigkeit zum abstrakten Denken und logischen Schlussfolgern und – dies sollte nicht vergessen werden – die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache, die uns die Kommunikation ermöglicht. Kapitel 13 beschäftigt sich mit der kognitiven Entwicklung. Als Erwachsene haben wir die Kindheit und das Jugendalter durchlaufen und haben mit allen Mitgliedern unserer Art Reifungserfahrungen gemeinsam.
1.3.11
Denken und Begriffsbildung
Während der gesamten Episode zeigen der Polizist und der Autofahrer eine Fähigkeit, zu denken und Begriffe zu bilden.Als der Polizist gefragt wird, wie man nach Robbie Robotland kommt, erwidert er nach einigen Zwischenschritten: »Wissen Sie, wo das Kolosseum ist?« Dies ist ein Hinweis darauf,dass der Autofahrer,wenn er diesen Orientierungspunkt kennt, leicht nach Robbie Robotland geleitet werden kann. Als dies nicht der Fall war, entwickelte der Polizist einen anderen Plan zur Beantwortung der Frage. Darüber hinaus weist die Verwendung einiger Wörter durch den Polizisten (wie etwa »Bahnübergang«, »alte Mühle«, »Restaurant La Strada«) darauf hin,
13 1.4 · Eine kurze Geschichte der kognitiven Psychologie
dass er Begriffe gebildet hatte, die er und der Autofahrer zu seinem Wortschatz zählten. An einem späteren Punkt im Gespräch schien der Polizist verblüfft zu sein, als der Autofahrer ihm sagte, dass das Hotel Oxford über eine recht gute Bibliothek verfüge. Hotels und Bibliotheken passen im Allgemeinen nicht recht zusammen; und weil der Polizist dies – wie Sie vielleicht auch – wusste, deutete er implizit an: »Was für eine Art von Hotel ist das?«
1.3.12
Künstliche und menschliche Intelligenz
Menschliche Intelligenz. Der Polizist und der Autofahrer nahmen beide etwas Bestimmtes in Bezug auf die Intelligenz des anderen an. Zu diesen Annahmen gehörten die Fähigkeiten (aber nicht nur diese),eine gemeinsame Sprache zu verstehen, Anweisungen zu folgen, verbale Beschreibungen in Handlungen umzusetzen und entsprechend den Regeln ihrer Kultur zu handeln. In Kapitel 14 werden wir uns im Einzelnen mit einigen neueren kognitiven Theorien zur menschlichen Intelligenz beschäftigen. Künstliche Intelligenz. Der Autofahrer interessiert sich dafür, »ein mitdenkendes Programm« zu finden, vermutlich für seinen PC. Ein solches Programm könnte die menschliche Kognition bei einer Problemlöseaufgabe simulieren. Um ein Programm zu schreiben, das das Denken simuliert, ist es erforderlich, zumindest die grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Denkens zu verstehen. Hier handelt es sich um eine vorrangige Aufgabe der kognitiven Psychologie.Die Spezialdisziplin innerhalb der Informatik, die als Künstliche Intelligenz (KI) bezeichnet wird, hat einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Kognitionswissenschaft ausgeübt,vor allem, da der Entwurf von Programmen Wissen darüber erfordert, wie wir Informationen verarbeiten. Ein damit zusammenhängendes spannendes Thema, mit dem wir uns detailliert in Kapitel 16 auseinander setzen werden, beschäftigt sich mit der Frage, ob ein »vollkommener Roboter« menschliches Verhalten simulieren könnte.Stellen Sie sich beispielsweise einen Superroboter vor, der alle menschlichen Fähigkeiten der Wahrnehmung, des Gedächtnisses,des Denkens und der Sprache beherrscht.Wie würde er die Frage des Autofahrers beantworten? Wäre der Roboter menschengleich, dann wären die Ergebnisse dieselben. Aber bedenken Sie die Schwierigkeit dabei, ein Programm zu entwickeln, das einen Fehler macht, wie er
dem Polizisten unterlief (»biegen Sie nach links ab«), das ihn danach (wie der Polizist) erkennt und korrigiert (»nein, rechts«).
1.4
Eine kurze Geschichte der kognitiven Psychologie
Wie wir erfahren haben, beschäftigt sich ein großer Teil der kognitiven Psychologie damit, wie Wissen mental repräsentiert wird. Das lebendige Thema des repräsentationalen Wissens hat über die Jahrhunderte hinweg zu denselben grundlegenden Fragen geführt: Wie wird Wissen erworben,gespeichert,transformiert und verwendet? Was ist Bewusstsein und wo haben bewusste Gedanken ihren Ursprung? Was ist das Wesen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses? Was ist Denken? Wie entwickeln sich diese Fähigkeiten? Diese Fragen sind Ausdruck des fundamentalen Problems des repräsentationalen Wissens – wie Gedanken, Ereignisse und Dinge mental gespeichert und schematisiert werden. In diesem Abschnitt über die Geschichte der kognitiven Psychologie werden wir einen Überblick über drei wichtige Zeitabschnitte geben; der daran interessierte Leser sei zur Vertiefung auf eine viel detailliertere Geschichte der kognitiven Psychologie verwiesen (siehe Solso & MacLin, 2000; Wilson & Keil, 1999). Zunächst beschäftigen wir uns mit herkömmlichen Vorstellungen aus einer sehr frühen Zeit. Dann kommen wir auf die Art und Weise zu sprechen, wie Wissen und Denken von den Gelehrten der Renaissance begrifflich gefasst wurde.Und am Ende geht es um die moderne Zeit; hier werden dann die aktuellen Ideen und Methoden schwerpunktmäßig abgehandelt.
1.4.1
Frühe Gedanken zum Denken
Ob Menschen und andere Lebewesen überleben,hängt davon ab, dass sie die wichtigen Eigenschaften der Umwelt kennen. Ohne dieses Wissen existierten wir nicht. Woher kommt das Wissen und wie wird es mental repräsentiert? Diese immer währende Frage ist grundlegend für die kognitive Psychologie, wie sie es auch über die gesamte Geschichte der Menschheit hinweg gewesen ist. Im Grunde genommen wurden zwei Antworten darauf vorgeschlagen. Die Empiristen vertreten die Auffassung, dass Wissen auf Erfahrung zurückgeht (so wie Sie das Wissen
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Kapitel 1 · Einführung
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⊡ Abb. 1.2. Die Summe der Quadrate in A und B ist gleich der Anzahl der Quadrate in C
über den Satz des Pythagoras durch Ihre Erfahrungen mit der Schulgeometrie gelernt haben). Die Nativisten behaupten, dass Wissen auf angeborenen Eigenschaften des Gehirns beruht – in der heutigen Sprache,dass das Gehirn (teilweise) »fest verdrahtet« ist.Beispielsweise könnten Sie den Satz des Pythagoras, der in ⊡ Abb. 1.2 dargestellt ist, auf dem Gymnasium gelernt haben: In einem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat der längsten Seite (also der Hypotenuse) gleich groß wie die Summe der Quadrate der übrigen Seitenlängen (also der Katheten). Zweifellos hat Ihre Erfahrung Sie zu diesem Wissen geführt. Aber ist dann das Wissen über Dreiecke etwas, das in Ihrem Nervensystem existierte, bevor Sie diesen Satz gelernt haben? Die Nativisten argumentieren, dass es gewisse vorher existierende Kategorien gibt, die unsere sensorischen Erfahrungen ordnen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus lässt sich keiner dieser beiden Standpunkte eindeutig nachweisen, sodass die Debatte weitergeht, ohne zu einer klaren Lösung zu kommen. Geht man vom »gesunden Menschenverstand« aus,so liegt es auf der Hand, dass Erfahrungen zu Informationen führen und dass Erfahrungen ein rezeptives Gehirn voraussetzen, das über Erfahrungen nachdenkt und den Eindrücken einen Sinn verleiht. Ein Großteil der Schwierigkeiten bei dieser anhaltenden Debatte geht darauf zurück, dass wir Wissen als die »Speicherung und Strukturierung von Informationen im Gedächtnis« definieren, sodass die Definition zu
beiden Argumentationen passt: Der Definitionsteil der Speicherung legt nahe, dass Erfahrungen wichtig sind, und der Definitionsteil der Strukturierung legt nahe, dass in unserem Nervensystem eine gewisse vorher bestehende strukturelle Fähigkeit existiert. Lassen Sie uns mit diesen Fragen im Hinterkopf näher auf die Art und Weise eingehen, wie sich die antiken Philosophen und die frühen Psychologen mit diesem Thema auseinander gesetzt haben. Die Faszination des Wissens kann bis in die ältesten Schriften zurückverfolgt werden. Frühe Theorien beschäftigten sich damit, wo der Sitz des Denkens und des Gedächtnisses ist. Antike ägyptische Hieroglyphen deuten darauf hin, dass diese Autoren glaubten, Wissen sei im Herzen lokalisiert – eine Auffassung, die auch vom frühen griechischen Philosophen Aristoteles geteilt wurde, aber nicht von Platon, der der Ansicht war, dass das Gehirn der Sitz des Wissens sei. Meine Ansicht geht jedenfalls dahin, dass es in der erkennbaren Welt die Idee des Guten ist, die man zuletzt und mit Mühe gewahr wird. Ist man ihrer ansichtig geworden, so muss man zu der Überzeugung kommen,dass alles Rechte und Schöne in der ganzen Welt von ihr ausgeht.In der sichtbaren Welt schafft sie das Licht und den Herren des Lichts. In der denkbaren Welt ist sie selbst Herrin und gibt Wahrheit und Vernunft. Und wer mit Vernunft handeln will, in seinem persönlichen Leben oder als Staatsmann, der muss sie sehen lernen. Platon Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Aristoteles
1.4.2
Kognition in der Renaissance und später
Die Philosophen und Theologen der Renaissance schienen sich im Allgemeinen damit zufrieden zu geben, dass das Wissen seinen Sitz im Gehirn hat. Manche gingen sogar so weit, seine Struktur und seinen Sitz grafisch darzustellen ( siehe Abbildung 1.3).In der Abbildung wird Wissen so dargestellt, als würde es nicht nur durch die physischen Sinne (mundus sensibilis – Tasten, Schmecken, Riechen, Sehen und Hören) erworben, sondern auch aus göttlichen Ursprüngen (mundus intellectualis – deus).
15 1.4 · Eine kurze Geschichte der kognitiven Psychologie
⊡ Abb. 1.3. Wie man sich im 17. Jahrhundert die Struktur und Funktionsweise des Geistes bzw. des Mentalen vorstellte
Während des 18.Jahrhunderts,als die philosophische Psychologie an einen Punkt kam, da die wissenschaftliche Psychologie eine Rolle spielen konnte, behaupteten die britischen Empiristen – George Berkeley, David Hume sowie später James Mill und sein Sohn John Stuart Mill –, dass es drei Arten innerer Repräsentationen gebe: (1) unmittelbare sensorische Ereignisse (»esse est percipi« oder »Wahrnehmung ist Realität«), (2) matte Kopien der Perzepte (also von etwas,das im Gedächtnis gespeichert wird) und (3) die Transformation dieser matten Kopien im damit verbundenen Denken.Hume sagte in einer Schrift aus dem Jahr 1748 über die Fähigkeit zur inneren Repräsentation: »Monster zu bilden und inkongruente Gestalten zusammenzufügen bereitet der Vorstellung nicht mehr
Schwierigkeiten, als sich eine Vorstellung von den natürlichsten und vertrautesten Gegenständen zu machen.« Dieser Begriff der inneren Repräsentation und Transformation postuliert, dass innere Repräsentationen nach definierbaren Regeln gebildet werden und dass eine solche Bildung und Transformation Zeit und Mühe in Anspruch nimmt – das sind Annahmen, wie sie einem Großteil der modernen kognitiven Psychologie zugrunde liegen. (Die zuletzt genannte Annahme ist die Grundlage vieler aktueller Untersuchungen in der kognitiven Psychologie. Die Reaktionszeiten von Versuchspersonen werden als Maß für die Zeit und die Mühe genommen,die erforderlich waren, um innere Repräsentationen und Transformationen durchzuführen.) Auch lassen sich durch neuere Befunde der kognitiven Neurowissenschaft anatomische Strukturen lokalisieren,die mit spezifischen psychologischen Prozessen zusammenhängen. Im 19. Jahrhundert begannen Psychologen, sich von der Philosophie zu lösen,um ein neues Fach zu bilden,das stärker auf empirischen Ergebnissen als auf Spekulationen beruhte. Als ein wichtiger Faktor in dieser Entwicklung ist die Aktivität der folgenden frühen Psychologen hervorzuheben: Gustav Fechner, Franz Brentano, Hermann Helmholtz, Wilhelm Wundt, G. E. Müller, Oswald Külpe, Hermann Ebbinghaus, Sir Francis Galton, Edward Titchener und William James. In der letzten Hälfte des 19.Jahrhunderts schieden sich die Theorien zur Wissensrepräsentation eindeutig in zwei Kategorien: jene, die angeführt durch Wundt in Deutschland und Titchener in den Vereinigten Staaten die Struktur der geistigen Repräsentationen betonte, und jene, die angeführt durch Brentano in Österreich die Prozesse oder Handlungen betonte. Brentano betrachtete innere Repräsentationen als statische Entitäten von geringem Wert für die Psychologie. Er hielt die Untersuchung der kognitiven Handlungen des Vergleichens, Urteilens und Fühlens für angemessene Gegenstandsbereiche der Psychologie. Die damit rivalisierenden Theorien beschäftigten sich großteils mit denselben Fragen, mit denen sich 2000 Jahre zuvor Platon und Aristoteles auseinander gesetzt hatten. Doch im Unterschied zu den frühen philosophischen Spekulationen wurden beide Theorien nun der experimentellen Überprüfung unterworfen. Weitere Informationen zur Geschichte der Experimentalpsychologie findet man in Borings Buch A History of Experimental Psychology (1950). Etwa zur gleichen Zeit in den USA unterzog James die neue Psychologie, die sich in Deutschland entwickel-
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Kapitel 1 · Einführung
te, einer kritischen Analyse. Er baute das erste psychologische Labor in Amerika auf, schrieb 1890 das einschlägige Werk zur Psychologie (Principles of Psychology) und entwickelte ein durchdachtes Modell des Mentalen. James betrachtete unsere Erfahrung mit äußeren Objekten als den Gegenstandsbereich der Psychologie. Seine Auffassung vom Gedächtnis, bei der sowohl die Struktur als auch der Prozess eine wichtige Rolle spielen, verbindet James vielleicht am direktesten mit der modernen kognitiven Psychologie. (Diese Vorstellung und ihre modernen Pendants werden in Kapitel 5 erörtert.) F.C. Donders und James Cattell,Zeitgenossen von James,führten Experimente durch, bei denen die Wahrnehmung kurzer visueller Darbietungen als Methode verwendet wurde, um die Zeit zu bestimmen, die für bestimmte mentale Operationen erforderlich ist. In ihren Berichten werden auch häufig Experimente beschrieben, die sich mit Themen beschäftigten, die wir heute der kognitiven Psychologie zurechnen würden. Die Vorgehensweise, der Gegenstand, die Methoden und sogar die Interpretation der Ergebnisse durch diese frühen Wissenschaftler scheinen die Entwicklung des Fachs, das es erst ein halbes Jahrhundert später geben sollte, vorweggenommen zu haben.
1.4.3
Kognitive Psychologie: das frühe 20. Jahrhundert
Der Begriff Wissensrepräsentation, so wie wir ihn verwendet haben, änderte sich mit dem Aufkommen des Behaviorismus und der Gestaltpsychologie im 20. Jahrhundert grundlegend. Die behavioristische Auffassung von der Psychologie des Menschen und des Tieres wurde im begrifflichen Rahmen der Reiz-Reaktions-Psychologie gefasst und die Gestalttheoretiker entwickelten differenzierte Theorien der inneren Repräsentation im Kontext des Isomorphismus – einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Repräsentation und Realität. Psychologische Untersuchungen über mentale Prozesse, wie man sie im späten 20. Jahrhundert entwickelt hatte, kamen plötzlich aus der Mode und wurden durch den Behaviorismus ersetzt. Studien über innere mentale Operationen und Strukturen – wie etwa über Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Gedächtnis und Denken – gab es so gut wie nicht mehr; und daran änderte sich etwa 50 Jahre lang nichts. Die Behavioristen ordneten innere Zustände unter die Rubrik »intervenierende Variable« ein. Diese wurden
Edward C. Tolman (1886–1959). Er entwickelte das Konzept einer kognitiven Landkarte. Fotografie mit freundlicher Genehmigung der Archives of the History of American Psychology, University of Akron, Akron, Ohio 44303
als hypothetische Konstrukte definiert, von denen man annahm, dass sie für Prozesse stehen, die die Auswirkungen der Reize auf die Reaktionen vermittelten und die zu Gunsten der Beobachtung von Verhalten (die Dinge, die Tiere machten und die beobachtet werden konnten) vernachlässigt wurden. Und die mentalen Prozesse, die die Grundlage des Verhaltens darstellten, wurden nicht erfasst. Im Jahre 1932, einige Zeit, bevor die kognitive Revolution die Psychologie durchdrang, schrieb der Lernpsychologe Edward Tolman von der University of California in Berkeley ein Buch mit dem Titel Purposive Behavior in Animals and Men. Tolman hatte beobachtet, dass das, was die Ratten in einem Labyrinth lernen, eher die räumliche Lage der einzelnen Punkte als einfach nur eine Reihe von Reiz-Reaktions-Verbindungen ist.Als Tolman dann eine Serie genialer Experimente durchführte, in denen eine Ratte darauf trainiert wurde, Nahrung dadurch zu entdecken, dass sie einem einzigen kurvenförmigen Pfad folgte, fand er heraus, dass ein Tier, dem man die Möglichkeit bot, direkt zum Futter zu laufen, diesen Weg einschlug. Es rannte direkt an den Ort, an dem sich das Futter befand, und folgte nicht dem ursprünglichen Pfad. Das Tier entwickelte nach Tolmans Interpretation allmählich ein »Bild« von seiner Umgebung, das später dazu verwendet wurde, das Ziel zu erreichen. Dieses Bild bezeichnete er als kognitive Landkarte. Die Ratten in Tolmans Experimenten zeigten, dass sie im Besitz einer kognitiven Landkarte waren, indem sie ein Ziel (das Futter) von einer Anzahl unterschiedlicher Startpunkte aus erreichten. Diese »innere Landkarte« war praktisch die Art und Weise, wie Informationen über ihre Umwelt repräsentiert wurden. Es wäre nicht gerechtfertigt, zu behaupten, dass Tolmans Forschung die moderne Kognitionspsychologie direkt beeinflusst hätte. Aber indem er bei Tieren kognitive Landkarten postulierte, nahm er die
17 1.4 · Eine kurze Geschichte der kognitiven Psychologie
heute aktuelle Beschäftigung mit der Frage vorweg, wie Wissen in einer kognitiven Struktur repräsentiert wird. Ebenfalls im Jahr 1932 schrieb Sir Frederick Bartlett von der Universität Cambridge sein Buch Remembering,in dem er die damals verbreitete Auffassung zurückwies, dass man Erinnern und Vergessen mit Hilfe von sinnlosen Silben untersuchen könnte, wie dies von Ebbinghaus in Deutschland während des vorangegangenen Jahrhunderts vertreten worden war und wie es während der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Experimentalpsychologie gern thematisiert wurde.In seiner Studie über das menschliche Gedächtnis argumentierte Bartlett, dass die Verwendung reichhaltigen und sinnvollen Materials unter naturalistischen Bedingungen entschieden mehr bedeutsame Schlussfolgerungen ermöglichen würde. Um das menschliche Gedächtnis zu untersuchen, ließ Bartlett seine Versuchspersonen eine Geschichte lesen und sie mussten dann probieren,so viel von der Geschichte wie möglich zu erinnern. Er fand heraus, dass ein wichtiger Aspekt für das Erinnern einer Geschichte die Einstellung war, die die Versuchsperson gegenüber der Geschichte einnahm. In Bartletts Worten: »Der Abruf aus dem Gedächtnis ist dann eine Konstruktion, die vorwiegend auf der Grundlage dieser Einstellung gemacht wird, und ihr allgemeiner Effekt besteht darin, dass die Einstellung gerechtfertigt wird.« Was Sie von einer Geschichte am Ende erinnern, beruht auf dem Gesamteindruck, den die Geschichte hervorrief oder auf der Grundaussage der Geschichte. Der Abruf spezieller Tatsachen bestätigt dann gewöhnlich die Grundaussage. Bartlett führte den Begriff des Schemas als eine vereinheitlichende Grundaussage ein, die das Wesentliche in einer Erfahrung beschreibt. Die Schematheorie spielt auch eine zentrale Rolle in den modernen Gedächtnistheorien. Die fruchtbaren Ideen von Tolman in Amerika und von Bartlett in England waren konträr zum intellektuellen Zeitgeist der dreißiger Jahre, der sich auf andere Erklärungen für tierisches und menschliches Verhalten konzentrierte. Trotzdem ist es im Rückblick möglich, den visionären Charakter ihrer Arbeit zu würdigen und zu erwähnen, welch starken Einfluss sie auf das Denken künftiger Kognitionspsychologen hatten.
© 1974 by Sidney Harris – American Scientist magazine.
1.4.4
Die heutige kognitive Psychologie
In den fünfziger Jahren begann sich das Interesse erneut zu konzentrieren auf Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Mustererkennung, Bilder, semantische Organisation, sprachliche Prozesse, Denken und sogar auf Bewusstsein (der Begriff, der auf die dogmatischste Weise abgelehnt wurde), aber auch auf andere »kognitive« Themen, von denen man einmal angenommen hatte, dass sie sich (gemäß dem Behaviorismous) außerhalb des Bereichs der Experimentalpsychologie (Vis-à-vis-Behaviorismus) befänden. In dem Maße, in dem die Psychologie begann, sich immer stärker der kognitiven Psychologie zuzuwenden, wurden neue Zeitschriften und wissenschaftliche Vereinigungen gegründet.Als sich die kognitive Psychologie in immer deutlicherer Klarheit etablierte, war es offensichtlich, dass es sich hier um eine Art von Psychologie handelte, die sich klar von der unterschied, wie sie während der dreißiger und vierziger Jahre in Mode gekommen war. Zu den wich-
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Kapitel 1 · Einführung
tigsten Einflussfaktoren,die diese neokognitive Revolution erklären, gehörten die folgenden:
Informationstheorie – dies sind für die kognitive Psychologie bedeutsame Bereiche.
Das »Versagen« des Behaviorismus.2 Dem Behaviorismus,
Moderne Linguistik. Neue Sichtweisen im Hinblick auf
der im Allgemeinen offene Reaktionen auf Reize untersuchte, gelang es nicht, die Vielfalt menschlichen Verhaltens zu erklären, etwa die Sprache (siehe weiter vorn die Analyse des Gesprächs zwischen dem Polizisten und dem Autofahrer).Zudem gab es einige Themen,die von den Behavioristen ignoriert wurden und die die Grundlage für die Psychologie des Menschen darzustellen schienen. Dazu gehörten Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Denken und bildhafte Vorstellung. Es war offensichtlich, dass innere mentale Prozesse sehr reale Bestandteile der Psychologie waren und untersucht werden mussten. Viele Psychologinnen und Psychologen dachten, dass diese inneren Prozesse operational definiert und in eine allgemeine Untersuchung des Mentalen einbezogen werden könnten.
Sprache und grammatische Strukturen wurden in die Auffassungen zur Kognition integriert.
Das Aufkommen der Kommunikationstheorie. Die Kom-
munikationstheorie führte zu Experimenten im Bereich von Signalentdeckung, Aufmerksamkeit, Kybernetik und 2
Es sollte erwähnt werden, dass der Behaviorismus bedeutsame Auswirkungen auf bestimmte Arten der Psychotherapie hatte, vor allem auf das, was als »Verhaltensmodifikation« bekannt wurde, aber auch auf die Experimentalpsychologie und auf operationale Definitionen.
Gedächtnisforschung. Die Forschung zum verbalen Lernen und zur semantischen Organisation bot eine solide empirische Grundlage für Gedächtnistheorien, die zur Entwicklung von Modellen des Gedächtnissystems und zum Auftreten überprüfbarer Modelle in Bezug auf andere kognitive Prozesse führten. Informatik und andere technologische Fortschritte. Die
Informatik und besonders eine Unterdisziplin davon – die künstliche Intelligenz – führten zu einer Neuüberprüfung der grundlegenden Postulate des Problemlösens, der Gedächtnisverarbeitung und -speicherung, aber auch der Sprachverarbeitung und des Spracherwerbs. Die Forschungsmöglichkeiten wurden in starkem Maße durch neue Geräte für Experimente erweitert. Kognitive Entwicklung. Psychologen, die sich für die Entwicklungspsychologie interessierten, entdeckten eine geordnete Entfaltung der Fähigkeiten während des Reifungsprozesses. Unter den Entwicklungspsychologen dieser Zeit sollte Jean Piaget besonders erwähnt werden. Er beschrieb, wie Kinder von der Säuglingszeit bis zum Ju-
Kognitive Psychologie – die Anfänge Im Spätsommer des Jahres 1956 wurde ein Symposium über Informationstheorie auf dem Campus des MIT abgehalten. Im Publikum befanden sich viele der führenden Köpfe aus der Kommunikationstheorie und sie hörten unter anderem die Vorträge von Noam Chomsky, Jerome Bruner, Allen Newell und Herbert Simon sowie von George Miller. Das Treffen hinterließ bei vielen der Teilnehmer einen unvergesslichen Eindruck und es wurde allgemein die Meinung vertreten, dass etwas Neues geschaffen worden war, das die Art und Weise, wie psychologische Prozesse begrifflich gefasst werden konnten, in bedeutsamer Weise verändert hatte. George Miller (1979), der mehrere Jahre später noch einmal über das Treffen nachdachte, schrieb:
»Ich reiste von dem Symposium – eher intuitiv als rational – mit der festen Überzeugung ab, dass die experimentelle Psychologie des Menschen, die theoretische Linguistik und die Computersimulation kognitiver Prozesse allesamt Teile eines größeren Ganzen sind und dass wir in Zukunft eine progressive Ausarbeitung und Koordination der gemeinsamen Sache erleben würden … Ich habe in den letzten 20 Jahren in Richtung auf eine Kognitionswissenschaft hingearbeitet, bevor ich überhaupt wusste, welche Bezeichnung ich dafür verwenden sollte« (Miller, 1979, S. 9). Die Veränderungen, die die amerikanische Psychologie während der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchmachte, waren so grundlegend, dass man sie als die kognitive Revolution bezeichnet hat.
19 1.5 · Theoretische Wissenschaft und kognitive Psychologie
gendalter zunehmend einen Sinn für Begriffe entwickeln. Ein solches Fortschreiten der Fähigkeiten scheint etwas Naturgegebenes zu sein. Von den frühesten Konzepten des repräsentationalen Wissens bis zur aktuellen Forschung hat man sich immer vorgestellt, dass Wissen in hohem Maße auf sensorischen Inputs beruht. Diese Kernaussage findet sich überall, von den griechischen Philosophen über die Gelehrten der Renaissance bis hin zu den zeitgenössischen Kognitionspsychologen.Doch sind innere Repräsentationen der Welt das Gleiche wie die physischen Eigenschaften der Welt? Es mehren sich die Hinweise darauf, dass viele innere Repräsentationen der Wirklichkeit keine Entsprechung in der äußeren Wirklichkeit haben – das heißt,sie sind nicht isomorph. Tolmans Arbeit mit Tieren im Labor und Bartletts Arbeit mit Versuchspersonen deuten darauf hin, dass Informationen von den Sinnesorganen als abstrakte Repräsentationen gespeichert werden. Darüber hinaus zeigen neurologische Studien eindeutig, dass Informationen aus der Außenwelt aufgenommen und in einem neurochemischen Code gespeichert werden. Ein etwas analytischerer Ansatz zur Bildung kognitiver Landkarten und zur inneren Repräsentation von Informationen wurde von Norman und Rummelhart (1975) verfolgt. In einem Experiment baten sie die Bewohner eines Studentenwohnheims, den Grundriss ihrer Zimmer aufzuzeichnen. Wie erwartet waren die Studenten in der Lage, die hervorstechenden architektonischen Merkmale anzugeben: die Lage der Zimmer,die wichtigsten Einrichtungen und Geräte. Es kam jedoch auch zu Auslassungen und Fehlern. Beispielsweise zeichneten viele den Balkon als kleinen Gebäudevorsprung an die Außenseite des Hauses, obwohl er in Wirklichkeit viel weiter nach außen ragte. Aufgrund der Fehler, die bei der Rekonstruktion des Grundrisses gemacht wurden, können wir viel über die innere Repräsentation von Informationen bei den Ver-
Don Norman, dessen einfallsreiche Untersuchungen zu Gedächtnisrepräsentationen und zur künstlichen Intelligenz zu neuen Wegen führten, Kognition begrifflich zu fassen
suchspersonen lernen. Norman und Rummelhart kommen zu dem Schluss: Die Gedächtnisrepräsentation ist nicht einfach nur eine genaue Wiedergabe des realen Lebens,sondern in Wirklichkeit eine Kombination aus Informationen, Schlussfolgerungen und Rekonstruktionen aus dem Wissen über Gebäude und die Welt im Allgemeinen.Es ist wichtig, hervorzuheben, dass alle Studenten, wenn sie auf den Fehler hingewiesen wurden, überrascht über das waren, was sie da gezeichnet hatten. Anhand dieses Beispiels wird ein wichtiges Prinzip der kognitiven Psychologie veranschaulicht. Am augenscheinlichsten ist, dass unsere Repräsentation der Welt nicht unbedingt identisch ist mit der tatsächlichen Eigenart der Welt. Die Repräsentation der Informationen hängt natürlich mit der Einwirkung von Reizen zusammen, die durch unseren Sinnesapparat aufgenommen werden; aber sie werden auch verändert. Die Veränderung der Informationen scheint mit unseren früheren Erfahrungen zusammenzuhängen,aus denen sich ein reichhaltiges und komplexes Netz von Wissen ergeben hat. Deshalb werden eingehende Informationen abstrahiert (und in einem gewissen Maße verzerrt) und im Gedächtnissystem der Personen gespeichert. Eine solche Auffassung stellt nicht in Abrede, dass einige sensorische Ereignisse unmittelbar analog zu ihren inneren Repräsentationen sind. Aber sie verweist auch darauf, dass die Speicherung sensorischer Reize einer Abstraktion und Veränderung in Abhängigkeit von einem reichhaltigen und komplexen Netz zuvor strukturierten Wissens ausgesetzt sein kann (und oft auch ist).
1.5
Theoretische Wissenschaft und kognitive Psychologie
Zwei Gedanken, die in diesem Buch häufig vorkommen, sind die Vorstellung von der theoretischen Wissenschaft und die von kognitiven Modellen. Obwohl beide miteinander zusammenhängen, unterscheiden sie sich in dem Sinne, dass die theoretische Wissenschaft ein sehr allgemeines Konzept ist, während sich kognitive Modelle auf eine spezifische Klasse innerhalb der theoretischen Wissenschaft beziehen. Aus der Beobachtung von Gegenständen und Ereignissen – sowohl der experimentell kontrollierten als auch
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Kapitel 1 · Einführung
jener, die in der Natur vorkommen – entwickeln Wissenschaftler Begriffe, um: ▬ Beobachtungen zu organisieren, ▬ Beobachtungen mit Sinn zu erfüllen, ▬ die Elemente, die aus ihren Beobachtungen abgeleitet werden, zueinander in Beziehung zu setzen, ▬ Hypothesen zu entwickeln, ▬ spätere Beobachtungen zu planen, ▬ nicht beobachtete Ereignisse vorherzusagen, ▬ mit anderen zu kommunizieren. Kognitive Modelle sind spezialisierte Formen wissenschaftlicher Begriffe und dienen dem gleichen Zweck.Obwohl unterschiedliche Definitionen dafür vorliegen, werden wir »kognitives Modell« als eine Metapher definieren, die auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen beruht sowie das Erkennen,die Speicherung und die Verwendung von Informationen beschreibt. Wissenschaftler finden vielleicht eine nützliche Metapher,die ihre Begriffe auf elegante Weise strukturiert.Aber dann wird womöglich durch neuere Forschungen nachgewiesen, dass sich das Modell als falsch erwiesen hat und dadurch wird es erforderlich, das Modell zu revidieren oder aufzugeben. Bisweilen mag das Modell als Rahmenvorstellung für die Forschung so nützlich sein, dass es auch, wenn es nicht vollkommen ist, aufrechterhalten wird. Obwohl Kognitionspsychologen die zuvor erwähnten beiden Arten von Gedächtnis als Kurzzeit- und als Langzeitgedächtnis begrifflich gefasst haben, gibt es Hinweise darauf, dass diese Dichotomie die Wirklichkeit des Gedächtnissystems falsch repräsentiert. Trotzdem ist die Metapher weiterhin nützlich, um kognitive Prozesse zu analytischen Zwecken begrifflich zu fassen.Wenn Modelle ihre Lebensfähigkeit als analytische oder als deskriptive Werkzeuge verlieren, werden sie aufgegeben. Im nächsten Abschnitt werden sowohl die theoretische Wissenschaft als auch die kognitiven Modelle näher erörtert. Eine Möglichkeit, die Entwicklung der Wissenschaft zu charakterisieren, besteht darin, die Begriffe darzustellen, die sich aus Experimenten und Beobachtungen ergeben.Der Wissenschaftler verändert die Natur nicht (außer in einem begrenzten Sinne),aber die Beobachtung der Natur verändert die Art und Weise, wie ein Wissenschaftler sie begrifflich fasst. Umgekehrt lenkt die Art und Weise, wie wir die Natur begrifflich fassen, unsere Beobachtungen. Kognitive Modelle, aber auch andere Modelle der theoretischen Wissenschaft sind die Folge von Beobachtungen und in einem bestimmten Maße die Determinan-
ten von Beobachtungen. Die Frage, die eng mit der zuvor erwähnten zusammenhängt, ist die, wie Wissen von einem menschlichen Beobachter repräsentiert wird.Wie wir erfahren haben, fällt die innere Repräsentation von Informationen oft nicht in vollkommener Weise mit der äußeren Wirklichkeit zusammen. Unsere innere Repräsentation von Perzepten (von wahrgenommenen Gegenständen) kann die Wirklichkeit verzerren. Eine Methode, um die äußere Wirklichkeit deutlicher zu erfassen, besteht darin, uns wissenschaftlicher Methoden zu bedienen, aber auch präzisere Instrumente zu verwenden. Es wird praktisch ständig versucht, die Beobachtung der Natur in kognitive Strukturen zu transkribieren, die eine genauere Repräsentation der Natur sind, die aber zugleich auch mit dem Gespür des Beobachters für Schlussfolgerungen und Verständnis vereinbar sind. Auf dieser Logik beruhen all die zahlreichen Begriffe, die in diesem Buch erörtert werden: von der visuellen Wahrnehmung über die Gedächtnisstruktur bis zum semantischen Gedächtnis. Die Logik der theoretischen Wissenschaft lässt sich veranschaulichen, wenn man die Entwicklungen in den Naturwissenschaften bedenkt. So wird etwa allgemein anerkannt, dass sich die Materie aus Elementen zusammensetzt,deren Existenz unabhängig von der direkten menschlichen Beobachtung ist. Die Art und Weise, wie die Elemente klassifiziert werden, wird jedoch in starkem Maße dadurch beeinflusst, wie Wissenschaftler die physische Welt wahrnehmen. Ein Klassifikationsschema teilt die »Elemente« der Welt in die Kategorien Erde, Luft, Feuer und Wasser. Als diese rudimentäre Taxonomie der Alchemie zu Gunsten einer kritischeren Beobachtung aufgegeben wurde, wurden Elemente – wie etwa Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff und Gold – »entdeckt«. So wurde es möglich, die charakteristischen Eigenschaften von Elementen zu untersuchen,wenn sie Verbindungen miteinander eingehen.Hunderte unterschiedlicher Gesetze über die Eigenschaften von Verbindungen zwischen Elementen wurden entdeckt. Da die Elemente auf geordnete Weise Verbindungen miteinander einzugehen schienen, dachten manche, dass die Elemente in einem Muster angeordnet werden könnten,das den scheinbar zusammenhangslosen Gesetzen der Atomchemie eine neue Bedeutung geben würde. Ein Wissenschaftler, der diese Auffassung vertrat, war Dmitrij Mendelejew – ein junger Russe,der die Namen und Atomgewichte aller damals bekannten Elemente auf eine Reihe von Karten schrieb, ein Element pro Karte. Indem er die Karten immer wieder neu anordnete, stieß er schließlich auf ein sinnvolles Muster, das heute als
21 1.5 · Theoretische Wissenschaft und kognitive Psychologie
Periodentafel der Elemente wohl bekannt ist.Mendelejews Vorgehensweise ist ein gutes Beispiel dafür, wie natürliche Informationen durch das Mentale strukturiert werden, sodass sie sowohl die Natur genau beschreiben als auch verständlich sind. Es ist wichtig, zu verstehen, dass die periodische Anordnung der Elemente Gegenstand unterschiedlicher Interpretationen ist. Mendelejews Interpretation mag nicht die einzig mögliche oder gar die beste sein (und es mag sogar überhaupt keine natürliche Ordnung geben); aber die vorgeschlagene Ordnung trägt dazu bei, einen Teil des physischen Universums zu verstehen, und sie scheint mit der »realen« Natur vereinbar zu sein. Die theoretische kognitive Psychologie hat mit der Strukturierung der Elemente viel gemeinsam.Der schlichten Beobachtung dessen, wie Wissen erworben, gespeichert und verwendet wird, fehlt es an formaler Struktur. Wie die Naturwissenschaftler suchen die Kognitionswissenschaftler nach Schemata, die mental miteinander vereinbar und wissenschaftlich valide sind.
1.5.1
Kognitive Modelle
Wie wir erwähnt haben, ist die theoretische Wissenschaft, einschließlich der kognitiven Psychologie, von ihrer Eigenart her metaphorisch. Modelle der Natur, einschließlich der kognitiven Modelle, sind abstrakte organisatorische Ideen,die sich aus Schlussfolgerungen ableiten, die wiederum auf Beobachtungen beruhen. Die Struktur der Elemente lässt sich in einer Periodentafel klassifizieren, wie sie Mendelejew vorschlug. Aber es ist wichtig, zu erkennen, dass das Klassifikationsschema eine Metapher ist.Zu sagen,dass die theoretische Wissenschaft metaphorisch ist, ist kein Argument gegen ihre Nützlichkeit. Wenn man Modelle konstruiert,dann ist es in der Tat eines der Ziele, Beobachtungen verständlicher zu machen. Die theoretische Wissenschaft erfüllt andere Bedürfnisse: Sie bietet den Forschern eine Struktur, in der spezifische Hypothesen überprüft werden können, und sie befähigt sie, Ereignisse auf der Grundlage des Modells vorherzusagen. Dieser Aufgabe diente die Periodentafel auf elegante Art und Weise.Basierend auf der Anordnung der Elemente auf der Tafel konnten die Wissenschaftler, statt ein endloses Durcheinander von Experimenten mit chemischen Verbindungen durchzuführen, genaue Hypothesen über die Gesetze von chemischer Verbindung und Substitution entwickeln.Darüber hinaus konnten noch nicht entdeckte Elemente vorhergesagt und ihre Eigenschaften erschlossen
werden, obwohl noch keine unmittelbaren Belege für diese Eigenschaften vorhanden waren. Wenn Sie sich näher mit kognitiven Modellen beschäftigen, sollten Sie die Analogie zu Mendelejews Modell im Hinterkopf behalten,denn kognitive Modelle wie jene in den Naturwissenschaften beruhen auf einer Schlussfolgerungslogik und sind für unser Verständnis der kognitiven Psychologie von Nutzen. Zusammengefasst: Ein Modell beruht auf Schlussfolgerungen,die aus Beobachtungen gezogen werden.Damit wir das Ziel verfolgt, eine verstehbare Repräsentation des Charakters der Beobachtung zu bieten und durch die Entwicklung von Hypothesen dabei mitzuhelfen,dass Vorhersagen gemacht werden können.Wir gehen nun auf einige Modelle aus der kognitiven Psychologie ein. Unsere Erörterung kognitiver Modelle wollen wir auf einem recht spartanischen Niveau beginnen, bei dem die kognitiven Prozesse in nur drei Komponenten aufgeteilt werden: die Erfassung der Reize, die Speicherung und Transformation der Reize und das Hervorbringen von Reaktionen. Erfassung Speicherung und Transformation Hervorbringen Æ Æ der Reize der Reize von Reaktionen
Dieses sequenzielle Verarbeitungsmodell, das sich eng an das zuvor erwähnte S-R-Modell anlehnt, wurde in der einen oder anderen Form bei den frühen Ansätzen zu psychologischen Prozessen verwendet: Obwohl das Modell die grundlegenden Stadien der kognitiven Psychologie zum Ausdruck zu bringen scheint,liefert es so wenige Einzelheiten, dass es nur wenig dazu beiträgt, unser Verständnis der Prozesse voranzutreiben.Es kann auch weder in angemessener Weise zu Hypothesen anregen noch Verhalten vorhersagen. Dieses primitive Modell ist grob gesprochen eine Analogie zu den frühen begrifflichen Fassungen des Universums,demzufolge es sich aus Erde,Luft, Feuer und Wasser zusammensetzt. Die Taxonomie repräsentiert eine Sichtweise auf die Phänomene, aber sie täuscht über deren Komplexität hinweg. Eines der ersten und am häufigsten zitierten kognitiven Modelle beschäftigte sich mit dem Gedächtnis.Im Jahre 1890 erweiterte James den Gedächtnisbegriff dahingehend, dass dies ein primäres und ein sekundäres Gedächtnis umfasste. Er nahm an, dass sich das primäre Gedächtnis mit unmittelbaren Ereignissen beschäftigte und das sekundäre Gedächtnis mit dauerhaften, »unzerstörbaren« Spuren der Erfahrung. Das Modell sah folgendermaßen aus:
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Kapitel 1 · Einführung
Reiz
Primäres Gedächtnis
Sekundäres Gedächtnis
Vergessen
Eine spätere Überarbeitung des Modells von Waugh und Norman (1965) genügte vielen der Anforderungen an ein akzeptables Modell. Es ist verständlich und stellt einen Ausgangspunkt für Hypothesen und Vorhersagen dar; es vereinfacht jedoch auch zu sehr. Können alle Gedächtnisprozesse und Speicherungssysteme des Menschen mit diesem Modell genau beschrieben werden? Wohl kaum, und so war es unvermeidlich, dass sich komplexere Modelle entwickelten. Ein modifiziertes und erweitertes Modell desjenigen von Waugh und Norman ist in ⊡ Abb. 1.4 dargestellt. Beachten Sie bitte, dass ein neues Speicherungssystem und mehrere neue Routinen hinzukamen. Aber auch dieses Modell ist unvollständig und muss erweitert werden. Als die kognitive Psychologie aufkam, war es ein beliebter Zeitvertreib unter Psychologinnen und Psychologen, Modelle aufzustellen – und einige ihrer Kreationen waren wirklich wunderbar. Die gemeinsame Lösung des Problems, dass die Modelle zu einfach waren, bestand da-
⊡ Abb. 1.4. Modifiziertes Modell von Waugh und Norman (adaptiert nach Waugh und Norman, 1965)
rin, einen weiteren Kasten, eine weitere Routine, ein weiteres Speicherungssystem und eine weitere Komponente hinzuzufügen, die dann überprüft und analysiert werden sollten. Eine solche kreative Anstrengung schien angesichts dessen gerechtfertigt, was wir heute über die Unermesslichkeit des menschlichen kognitiven Systems wissen. Vielleicht sind Sie nun schon zu dem Schluss gekommen, dass das Aufstellen von Modellen in der kognitiven Psychologie so außer Kontrolle geraten ist wie der Zauberlehrling in Goethes Ballade. Diese Schlussfolgerung ist nicht ganz gerechtfertigt, weil die Aufgabe – die Analyse, wie Informationen erfasst, repräsentiert und im Wissen transformiert werden und wie das Wissen verwendet wird – so anspruchsvoll ist, dass es uns, wenn wir unsere begriffliche Metapher auf zwei vereinfachende Modelle beschränken würden, nicht gelingen würde, den angesprochenen umfassenden Bereich der kognitiven Psychologie auch nur etwas zu erklären. Die Modelle haben ein Element gemeinsam: Sie beruhen auf einer Folge von Ereignissen. Ein Reiz wird dargeboten, wir erfassen ihn über unser sensorisches System, wir speichern und transformieren ihn im Gedächtnis und wir reagieren auf ihn. Modelle der menschlichen Kognition weisen einige Ähnlichkeiten zu den sequenziellen Stufen auf, die sich bei der Verarbeitung von Informationen im Computer abspielen.Tatsächlich wurde das Muster der menschlichen Informationsverarbeitung nach einer Computermetapher konstruiert.
23 1.5 · Theoretische Wissenschaft und kognitive Psychologie
1.5.2
Die Computermetapher und die menschliche Kognition
Obwohl Pascal, Descartes und andere vor Jahrhunderten von Rechenmaschinen träumten, dauerte es noch einige Zeit, bis vor 50 Jahren sehr schnelle digitale Computer entwickelt wurden, die in der Praxis einsetzbar waren. Diese Geräte waren sehr schnell allgemein akzeptiert und werden gegenwärtig für praktisch jeden Aspekt des modernen Lebens eingesetzt. Einmal abgesehen davon, dass sie ein wichtiges Werkzeug für Wissenschaftler waren, die sich für die Erforschung der Kognition interessierten, hatten sie merkwürdigerweise auch einen Einfluss auf die Art, wie Menschen ihr eigenes Denken sehen. Ursprünglich hielt man diese Geräte für wundervolle Zahlenfresser, die imstande waren, eine Vielzahl komplexer mathematischer Operationen in einem Bruchteil der Zeit auszuführen, die Menschen dafür benötigen würden. Man entdeckte jedoch schon bald, dass sie Aufgaben erfüllen konnten, die dem menschlichen Problemlösen ähnelten. Diese Entdeckung galt als Hinweis darauf, dass der lange erwartete intelligente Roboter vielleicht machbar wäre und dass möglicherweise die ominöse »Schöne neue Welt« von Aldous Huxley schneller zur Realität werden könnte, als man ursprünglich befürchtet hatte (zu einer weiteren Erörterung über denkende Maschinen siehe das Schlusskapitel dieses Buchs). Im Jahr 1955 soll Herbert Simon,ein Professor am Carnegie Institute of Technology (heute Carnegie Mellon University) in Pittsburgh in einem Seminar seinen Studenten verkündet haben: »Über Weihnachten haben Alan Newell und ich eine denkende Maschine erfunden.« Kurz nach dieser Ankündigung war Simons und Newells Computer
(den sie nach John von Neumann3 »Johniac« nannten) in der Lage, einen mathematischen Satz zu beweisen. Der wirkliche Durchbruch jedoch war eher begrifflicher als rechnerischer Art. Simon und Newell hatten nicht nur gezeigt, dass ein Computer imstande war, einen begrenzten Aspekt menschlichen Denkens zu simulieren, sondern auch, dass Computer und ihre vielfältigen inneren Netzwerke ein Modell dafür bieten konnten, wie Menschen denken.Obwohl sie die Themen des Problemlösens auf einem allgemeineren Niveau angingen und keine Theorie neuronaler oder elektronischer Mechanismen der Informationsverarbeitung entwickelten, waren die Psychologen davon fasziniert, dass sich durch Computer menschliche Kognitionen modellieren ließen.Eine neue Metapher war geboren. Die Logik der neuen Metapher sah so aus: »Geben Sie mir ein Dutzend schneller Computer inklusive der ihnen eigenen Spezialprogramme und ich werde Ihnen das Denken eines Arztes,eines Rechtsanwalts,eines Kaufmanns,ja sogar das eines Bettlers oder eines Diebes hervorzaubern.« Wenn Computerprogramme nach den gleichen Regeln und Vorgehensweisen wie das Mentale im Menschen arbeiten könnten, dann sollte es auch möglich sein, dass sie über Funktionen verfügen, die scheinbar nicht von jenen Aufgaben zu unterscheiden sind, wie sie Menschen ausführen.Computer könnten Dinge tun,die intelligent zu sein scheinen – deshalb die Bezeichnung »Künstliche Intelligenz« oder »KI«. Die Hochzeit zwischen kognitiven Psychologen und Informatikern schien höchste Glückseligkeit zu verheißen. Die Psychologen konnten die Regeln und Vorgehensweisen liefern, an die wir uns halten, wenn wir wahrnehmen, Informationen im Gedächtnis speichern und denken, während Informatiker Programme schreiben konnten, die diese Funktionen nachahmen würden. Die Flitterwochen zwischen Informatikern und Psychologen waren jedoch schon nicht mehr so sehr von Euphorie geprägt. Unglückseligerweise zeigen Menschen in jenen Bereichen relativ schlechte Leistungen, in denen Computer gut sind (mit hoher Geschwindigkeit mathematische Funktionen auflösen und sich an eine regelgeleitete Logik halten). Und was die Menschen gut können (Verallgemeinerungen bilden,Schlussfolgerungen ziehen, 3
Allen Newell (links, 1927–1992) und Herbert Simon. Pioniere im Bereich der Künstlichen Intelligenz und der denkenden Maschinen
John von Neumann war ein Mathematiker, der Urheber der Idee war, dass es möglich ist, ein Programm im internen Speicher eines Computers abzuspeichern und dadurch zu vermeiden, dass man ihn jedes Mal, wenn eine Prozedur ausgeführt werden sollte, neu programmieren musste (zu weiteren Einzelheiten siehe Kapitel 15).
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Kapitel 1 · Einführung
komplexe Muster verstehen und Emotionen haben), machen die Computer auf stupide Weise oder überhaupt nicht. Würde ich Sie beispielsweise bitten, schriftlich die Wurzel aus 2,19 zu ziehen, dann würden sie wahrscheinlich mehrere Minuten dafür benötigen; ein Computer kann das Problem innerhalb von Millisekunden lösen. Wenn ich Sie jedoch fragte, ob Sie Kornelia Diamant kennen, die in Göteborg in Zellbiologie promoviert, dann würden Sie vielleicht sagen: »Ja, ich weiß, über wen Sie reden; aber der Name lautet Kornelia Juwel, sie lebt in Göttingen und arbeitet an ihrer Doktorarbeit im Bereich der Physiologie.« Computer können das jedoch einfach – noch – nicht. Die Ehe ist jedoch noch nicht geschieden und eine zweite Generation kognitiv orientierter Informatiker arbeitet daran, Rechner zu konstruieren, die in etwa so aussehen wie ein Gehirn. Sie sind voller Schichten aus miteinander verbundenen elektronischen Ersatzneuronen, deren organisatorische »Hardware« die »Wetware« des Gehirns nachahmt. Und sie enthalten Programme, die die Funktionen organischer neuronaler Netze nachahmen. Man nennt diese neuen Computer manchmal neuronale Netze. Sie verhalten sich in stärkerem Maße als die früheren Versionen wie Menschen. Sie sind in der Lage, Verallgemeinerungen zu vollziehen und komplexe visuelle Muster zu verstehen. Sie sind bei mathematischen Aufgaben langsam und machen dumme Fehler. Obwohl sie immer noch keine Emotionen haben, stellen sie Meilensteine eines Erfolgs dar. Die Computeranalogie lauerte die meiste Zeit während der kurzen Geschichte der kognitiven Psychologie im Hintergrund. Gelegentlich geriet die Analogie durcheinander: Computer wurden nicht so modelliert,wie Menschen denken, sondern vielmehr gelangten die Menschen zu der Auffassung, dass das Gehirn in Wirklichkeit ein sehr komplexer Computer sei.Wir wissen jetzt, dass es grundlegende Unterschiede zwischen der inneren Funktionsweise von Computern und der des Gehirns gibt. Trotzdem hat die Computermetapher weiterhin einen starken und im Allgemeinen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der kognitiven Psychologie.
1.5.3
Die Kognitionswissenschaft
Drei wirkungsvolle Bereiche der wissenschaftlichen Entwicklung – die Informatik,die Neurowissenschaft und die kognitive Psychologie – nähern sich aneinander an, um
eine neue Wissenschaft hervorzubringen, die als Kognitionswissenschaft bezeichnet wird. Die Grenzen zwischen diesen Fächern sind manchmal fließend: Einigen Kognitionspsychologen mag die Neurowissenschaft näher liegen, anderen die Informatik. Eins ist jedoch klar: Die Wissenschaft von der menschlichen Kognition durchläuft eine radikale Transformation und das ist das Ergebnis von grundlegenden Veränderungen in der Computertechnologie und der Hirnforschung. Unser Gegenstand ist die kognitive Psychologie, aber wir werden die neueren Entdeckungen aus dem Bereich der Neurowissenschaft und der Informatik in vollem Maße nutzen, um die kognitiven Eigenschaften der menschlichen Art zu erklären. Wie bei den meisten neu entstehenden Wissenschaften tauchen immer wieder neue Modelle auf. Einige halten der Überprüfung durch empirische Forschung stand, andere nicht.Einem Modell wurde ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit gewidmet: Dieses Modell ist unter verschiedenen, untereinander austauschbaren Bezeichnungen bekannt und dazu gehören PDP (Parallel Distributed Processing), Konnektionismus und Systeme neuronaler Netze. Die Hauptmerkmale dieses Modells werden als Nächstes und in Kapitel 2 beschrieben.
1.5.4
Neurowissenschaft und kognitive Psychologie
In den frühen Phasen der kognitiven Psychologie wurde der physiologischen Psychologie oder der Neuroanatomie nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es reichte schon aus, eine neue Methode darzustellen, wie sich das Mentale begrifflich fassen ließ. Außerdem schienen das informationsverarbeitende Modell und die Computermetapher angemessen zu sein. Darüber hinaus waren die Forscher im Bereich der Neurophysiologie und der damit zusammenhängenden Bereiche von Strukturen absorbiert,die mikroskopisch klein zu sein und deshalb nur wenig Ähnlichkeit mit den allgemeinen kognitiven Themen wie Denken,Wahrnehmung und Gedächtnis aufzuweisen schienen. Ein Großteil der frühen Informationen über das Gehirn und seine Funktion stammte von Kopfverletzungen, die sich Menschen im Krieg und bei Unfällen zugezogen hatten. Während des ersten Weltkriegs, als die Neurochirurgen die Opfer mit Schrapnellwunden am Gehirn behandelten, erfuhren sie viel über die spezialisierten Funk-
25 1.5 · Theoretische Wissenschaft und kognitive Psychologie
tionen dieses Organs (etwa welche Bereiche mit Sehen, Sprache, Hören usw. assoziiert waren), aber auch über die allgemeinen Funktionen. Die Kernfrage, mit der die Neurologen rangen,lautete,ob das Gehirn ein holistisches Organ mit Funktionen ist, die über seine gesamte Infrastruktur verteilt sind, oder ob die Aktivitäten lokalisiert und mit bestimmten Regionen verbunden sind.Spielt sich das Erlernen einer bestimmten Handlung in einem lokalisierten Hirnbereich ab oder ist das Lernen über viele Teile des Gehirns verteilt? Der prominenteste unter den Wissenschaftlern, die sich mit diesen Fragen auseinander setzten, war Karl Lashley (1929). In seinen Experimenten zerstörte er bestimmte Teile des Gehirns von Ratten,die es gelernt hatten, ein Labyrinth zu durchlaufen.. Er zeigte, dass die Leistungen mit der Gesamtmenge des zerstörten Gehirns abnahmen, aber in keinem Zusammenhang zum Ort der Verletzungen standen (zu näheren Einzelheiten über Lashleys Arbeit siehe Kapitel 2). Kürzlich erfolgte ein Durchbruch im Bereich der Neurowissenschaft, der sowohl die strukturellen Aspekte des Gehirns und seiner peripheren Komponenten als auch die funktionellen Aspekte umfasste. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts fanden Forscher strukturelle Elemente, die später einen unmittelbaren Einfluss auf die kognitive Psychologie haben sollten. Einige dieser Entdeckungen wurden an der John Hopkins School of Medicine von Vernon Mountcastle gemacht, dessen Arbeit sich mit dem zerebralen Kortex beschäftigte – der obersten Schicht des Gehirns, von der man annimmt, dass sie etwas mit den höheren mentalen Funktionen zu tun hat.Mountcastle (1979) hatte die Entdeckung gemacht, dass die Verbindungen zwischen den Zellen des Kortexes oder zwischen den Neuronen zahlreicher sind, als man dachte. (Neuronen sind die grundlegenden Zellen des Nervensystems, die neuronale Informationen weiterleiten.) Am faszinierendsten war vielleicht die Entdeckung, dass das System neuronaler Verbindungen zusätzlich zu den seriellen Pfaden in parallelen Reihen verteilt zu sein schien. Das Netz der parallelen neuronalen Verbindungen schien sich über einen großen Bereich zu erstrecken und Funktionen zu erfüllen, die sich gleichzeitig an verschiedenen Orten abspielten. Diese Art der Verarbeitung steht im Gegensatz zu serieller oder sequenzieller Verarbeitung, bei der ein Nervenimpuls an einen weiteren Nerv und dann zum nächsten weitergeleitet wird. Mountcastle schreibt: »Diese miteinander verbundenen Untermengen sind verteilte Systeme, die sich jeweils aus modularen Elementen in mehreren oder vielen Hirnregionen zusammensetzen
und sowohl in parallelen als auch in seriellen Reihen miteinander verbunden sind.Sie bilden die neuronalen Pfade für die verteilte und parallele Verarbeitung innerhalb des Gehirns.« (zitiert in Restak, 1988, S. 22). Das Gehirn funktioniert seiner Auffassung nach eher so, dass die verarbeitenden Netze über den Kortex verteilt sind, als dass sie zu lokalisieren wären. Insofern gibt es keinen maßgeblichen Homunculus (also einen künstlich erzeugten Menschen), der die Aktivitäten der neuronalen Verarbeitung lenkt, oder ein im Hintergrund verborgenes »Geisterneuron«, das die Handlung beaufsichtigt. Lokale Teile des Gehirns, die assoziiert sind mit Sehen,Sprache,motorischen Handlungen usw., sind nur insofern spezialisiert, als sie Inputs aufnehmen und Outputs erzeugen,die mit jenen Funktionen einhergehen. Außerdem fand man bei einigen Untersuchungen heraus, dass viele Funktionen tatsächlich über das Gehirn hinweg verteilt sind. Somit ist eine psychologische Funktion wie etwa der Abruf von etwas aus dem Gedächtnis über das Gehirn verteilt,und dies wird durch Routinen erreicht, die parallel an verschiedenen Orten ablaufen. Diese Entdeckungen schienen eine Lösung für eines der schwierigsten Probleme zu bieten, mit denen die junge Kognitionswissenschaft konfrontiert war: wie eine relativ langsame neuronale Übertragung so unterschiedliche und so rasche Kognitionen hervorbringen kann.Denken Sie einmal an das folgende Beispiel: Eine begabte Pianistin bekommt die Aufgabe, ein schwieriges Musikstück zu spielen, und sie macht dies mit einer verblüffenden Geschicklichkeit. Wenn die »Neuromaschinerie« auf sequenzielle Weise funktionierte – ein Impuls springt von einem neuronalen zum nächsten und danach zu noch einem weiteren –, dann wäre zu dem Zeitpunkt, an dem die Pianistin in der Lage wäre, auf eine Note zu reagieren, bereits zu viel Zeit verstrichen, als dass sie auf die nächste Note reagieren könnte. Kognitionspsychologen untersuchen ebensolche Phänomene und haben entdeckt, dass das Intervall zwischen den Anschlägen (engl. »interstroke interval« oder ISI) – die Zeit, die zwischen dem Spielen einer Note und dem Spielen der nächsten vergeht – etwa 50 ms beträgt.Eine Millisekunde (ms) ist eine Tausendstel Sekunde. 50 ms sind eine Zwanzigstel Sekunde oder dauern etwa so lange wie ein Lidschlag. Als Ausgleich für das träge Neurosystem,mit dem wir alle ausgestattet sind,verarbeiten wir Informationen (z.B.Noten auf einer Seite,die in Fingerbewegungen übersetzt werden müssen) in vielen unterschiedlichen Subsystemen, die mehr oder weniger gleichzeitig agieren. Die simultane Verarbeitung von In-
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Kapitel 1 · Einführung
formationen in mehreren Subsystemen deutet auf eine parallele Informationsverarbeitung hin: Sowohl Kognitionspsychologen als auch Neurowissenschaftler erkennen dies an und haben den Gedanken der Parallelverarbeitung in ihre psychologischen und neurologischen Modelle eingebaut – dies ist ein Thema, mit dem wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen werden. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts scheint die kognitive Psychologie dazu anzusetzen, einen weiteren Paradigmenwechsel zu wagen. Obwohl die traditionellen Themen Wahrnehmung,Gedächtnis,Sprache,Problemlösen und Denken sowie die experimentelle Methode für den kognitiven Ansatz immer noch im Mittelpunkt stehen, verspricht die Verwendung neurokognitiver, bildgebender Verfahren zu einem wichtigen Instrument zu werden (wenn nicht zum wichtigsten), um in diesem Jahrhundert die kognitiven Funktionen zu erforschen. Neurokognitive Techniken, die sich innerhalb der vergangenen Jahrzehnte sehr rasch entwickelt haben, gestatten uns, tiefer und klarer ins Gehirn hineinzusehen – und das Gehirn, so ist man überzeugt, ist die treibende Kraft der Kognition.Daraus folgt dann:Wenn wir den Ursprung der Kognition finden und seine Funktionsweise verstehen, ist das gleichbedeutend damit, dass man eine Antwort auf die uralten Fragen danach findet, wie Menschen wahrnehmen, wie sie Informationen im Gedächtnis speichern, wie sie Informationen dazu verwenden, im Alltag Entscheidungen zu treffen und Aktivitäten festzulegen, die mit unseren Gedanken konsistent sind.Wie wir überall in diesem Buch entdecken werden,wurden praktisch alle Bereiche der Kognition mit Hilfe von neurokognitiven Techniken untersucht. Diese Techniken (MRI, PET, EEG und ähnliche Verfahren) lassen nicht nur die Strukturen der Kognition erkennen,sondern auch die Prozesse,um die es dabei geht. Und in vielen Fällen waren die Ergebnisse bemerkenswert. Während diese Entwicklung wahrscheinlich anhält und weiterhin fortschreitet, ist es wichtig, die zuvor erwähnten Themen der Kognition als die zentralen anzuerkennen.
1.5.5
beigetragen, die Theorie zu formalisieren (siehe insbesondere ihr zweibändiges Werk Parallel Distributed Processing, 1986). Die Theorie enthält viele Komponenten; in diesem Abschnitt werden nur die grundlegenden angesprochen. Im Kern ist dieses Modell von neuronalen Vorstellungen beeinflusst und beschäftigt sich mit der Art von Verarbeitungsmechanismus, wie er für das Mentale im Menschen typisch ist. Handelt es sich um so etwas wie einen Von-Neumann-Computer – einen Johniac –, in dem die Informationen in sequenziellen Schritten verarbeitet werden? Oder ist der menschliche Geist – dies wäre ein Alternativmodell – in der Lage, Informationen in einem massiv verteilten,wechselseitig interaktiven,parallelen System zu verarbeiten, in dem verschiedene Aktivitäten gleichzeitig durch Bahnung und/oder Hemmung neuronaler Zellen ausgeführt werden? Die Anhänger des PDP-Ansatzes plädieren für die zuletzt erwähnte Erklärung: »Bei diesen [PDP]-Modellen wird angenommen, dass die Informationsverarbeitung durch die Interaktion zwischen einer großen Anzahl einfacher Verarbeitungselemente erfolgt, so genannter Einheiten, wobei jedes einzelne Element bahnende und hemmende Signale zu anderen Einheiten aussendet.« (McClelland, Rummelhart & Hinton, 1986, S. 10). Diese Einheiten könnten vielleicht für die Buchstaben in einer Kette von Wörtern oder für Noten einer Partitur stehen, die geraten werden müssen. In anderen Situationen könnten die Einheiten für mögliche Ziele und Handlungen stehen, wie etwa das Lesen eines bestimmten Buchstabens oder das Spielen einer bestimmten Note. Die Verfechter von PDP behaupten, dass sich ihre Modelle mit der Beschreibung der inneren Struktur großer Einheiten kognitiver Aktivität beschäftigen, wie etwa mit Lesen, Wahrnehmen, Verarbeitung von Sätzen
Parallel Distributed Processing (PDP) und die kognitive Psychologie
Mit diesem Modell der menschlichen Kognition sind viele Personen in Verbindung gebracht worden. Aber David Rumelhart und James McClelland haben am meisten dazu
David Rummelhart (links) und James McClellend
27 1.6 · Evolutionäre kognitive Psychologie
usw.Die Theorie lässt sich mit der Atomtheorie in der Physik vergleichen: Die grundlegenden Einheiten entsprechen den subatomaren Teilchen, die einen Hinweis auf die inneren Strukturen der Atome geben können, die wiederum die konstitutiven Bestandteile größerer Einheiten einer chemischen Struktur bilden. Indem man die grundlegenden Einheiten untersucht, versteht man die Eigenschaften größerer Einheiten einer psychologischen Aktivität besser. Reizvoll an den PDP-Modellen ist u.a., dass sie sich mit neuroanatomischen Funktionen verknüpfen lassen. Es ist heute allgemein anerkannt, dass das menschliche Denken im Gehirn stattfindet, das aus zig Milliarden miteinander verbundener Neuronen besteht. Diese relativ einfachen Neuronen, die mit hunderten oder tausenden anderer Neuronen in Wechselwirkung treten, sind grundlegend für die komplexe Informationsverarbeitung. Während die meisten menschlichen Gehirne zu angestrengtem Denken in der Lage sind, ist die Geschwindigkeit, mit der die Verarbeitung vor sich geht, durch die Eigenart der neuronalen Übertragungsorte beschränkt. PDP-Modellierer haben über diesen Faktor in ihrer Theorie nachgedacht und eine Erklärung dafür entwickelt, wie komplexe Prozesse (etwa die visuelle Identifizierung eines Gegenstands im Alltag) in einer so kurzen Zeit stattfinden können. Denken Sie als Beispiel für die Art von Beschränkungen, wie sie das Gehirn der Verarbeitung von Informationen auferlegt, an die Geschwindigkeit, mit der die neuronale Übertragung vor sich geht. Sie ist eine relativ träge, verrauschte Angelegenheit (um Computerjargon zu benutzen), bei der einige Neuronen 30 Millisekunden brauchen, um zu feuern. (Die Zeit, die benötigt wird, um einen Schaltkreis zu schließen, ist ungefähr eine Million Mal schneller und wird in Nanosekunden gemessen. Eine Nanosekunde ist ein Milliardstel einer Sekunde.) Wenn neuronale Aktivitäten, die allen kognitiven Funktionen logisch zu Grunde liegen, relativ viel Zeit brauchen,um ihre Funktion auszuführen,welcher Verarbeitungsmechanismus würde es uns dann gestatten, komplexe Entscheidungen innerhalb einer kurzen Zeitspanne zu fällen? Lassen Sie uns die Kernfrage, die wir eben angesprochen haben,an einem Beispiel veranschaulichen.Nehmen wir einmal an, dass Sie in einem Supermarkt einkaufen und aktiv über die Zutaten nachdenken,die sie auswählen müssen, um einen griechischen Salat zuzubereiten. Da sehen Sie im Augenwinkel Ihren Professor für kognitive Psychologie und erkennen ihn. Wie lange dauert der Prozess
des Erkennens? Überhaupt nicht lange: Experimente, die unter gut kontrollierten Laborbedingungen durchgeführt wurden, zeigen, dass vom Auftreten eines komplexen visuellen Reizes bis zum Erkennen und zur Reaktion auf diesen Reiz etwa 300 Millisekunden vergehen – weniger als eine drittel Sekunde! Wie ist so etwas möglich, wenn man einmal die geringe Geschwindigkeit der neuronalen Übertragung als gegeben annimmt? Die Antwort deutet darauf hin, dass das Gehirn visuelle Informationen, aber auch andere Reize mit Hilfe eines massiven Parallelismus verarbeitet. Das Gehirn speichert eine Erinnerung nicht in einem einzelnen Neuron und wahrscheinlich auch nicht in irgendeinem lokalen Bereich, sondern es speichert sie in einem Gesamtensemble von Neuronen, die sich über mehrere Bereiche des Gehirns verteilen.Wenn zwei Neuronen gleichzeitig aktiviert werden, wird die Verbindung zwischen ihnen gefestigt. Wenn dagegen das eine aktiviert und das andere gehemmt wird, wird die Verbindung geschwächt. Bei einem solchen System ist eine Erinnerung dann in dem Muster aktivierter und gehemmter Netze lokalisiert, die sich über das System verteilen, und nicht in einem speziellen Subsystem.Eine PDP-Theorie betrachtet das Gedächtnis und den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis in einem Modell, das der Art und Weise ähnelt, wie neuronale Netze arbeiten. Bis hierhin scheint das PDP-Modell mit der dem Gehirn zu Grunde liegenden Struktur und Verarbeitung übereinzustimmen. Aber dies allein ist noch kein hinreichender Grund, um PDP als eine psychologische Theorie zu akzeptieren.Seine Bedeutung als psychologische Theorie wird am Ende durch Beobachtungen überprüft werden,durch die die Validität des Modells entweder bestätigt oder verworfen wird. Zurzeit führt das Modell zu neuen Begeisterungsstürmen unter seinen Anhängern. Sie arbeiten an kognitiven Theorien, die auf massiver Parallelverarbeitung beruhen. Weiteres zum PDP-Ansatz werden wir in anderen Teilen dieses Buchs beschreiben.
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Evolutionäre kognitive Psychologie
Innerhalb des letzten Jahrzehnts ist ein umfassendes neues Forschungsgebiet entstanden, das sich mit dem psychologischen Charakter der Menschheit befasst: die evolutionäre kognitive Psychologie oder die Ökopsychologie. Dieser Ansatz beruht auf dem Gedanken, dass sich die
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Kapitel 1 · Einführung
Kognition – Wahrnehmung,Gedächtnis,Sprache,Denken usw. – am besten innerhalb des Kontexts der physischen und sozialen Evolution des Menschen verstehen lässt. Das hört sich von der Begründung her verdächtig nach Darwin an.Aber es geht insofern über das Schema aus dem 19. Jahrhundert hinaus, als jegliche Kognition, aber auch alle Hirnstrukturen, die dem Prozess zu Grunde liegen, im theoretischen Rahmen der biologischen Evolution und universeller Umweltkräfte gesehen werden. Insofern interpretiert man hier alle wichtigen Themen, die in diesem Buch erörtert werden – Empfindung,Wahrnehmung,Analyse von Mustern, Sprache, Problemlösen, Denken usw. –, in Begriffen der langfristigen biologischen und evolutionären Geschichte der Arten. Nehmen wir irgendein alltägliches Ereignis, etwa das zufällige Zusammentreffen mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts. Ihre Fähigkeit, ihre oder seine charakteristischen Merkmale wahrzunehmen, zu bewerten und zu erinnern, beruht auf unserer seit langem bestehenden evolutionären Geschichte,die immer noch weitergeht.Somit lassen sich Kognition (z.B. Gedächtnis) und Emotionen (z.B. Lust) als Streben des Menschen nach Fortpflanzung und Überleben verstehen.
Geist und Welt haben sich zusammen entwickelt und haben konsequenterweise so etwas wie eine gegenseitige Übereinstimmung. William James
Unter den Verfechtern einer evolutionären Auffassung von der Kognition finden sich die Anthropologen John Tooby und Leda Cosmides und eine Anzahl wohl bekannter kognitiver Psychologen wie etwa Steve Pinker und Roger Shepard.Sie haben im Allgemeinen an der herkömmlichen Psychologie (einschließlich der kognitiven Psychologie, des Behaviorismus, der klinischen Psychologie und anderer Sozialwissenschaften) auszusetzen, dass sie psychologische Phänomene isoliert untersucht. Wegen dieser engen Sichtweise der Psychologie (und anderer sozialwissenschaftlicher Theorien) werden Theorien und Eigenschaften entwickelt,die mit der langfristigen Sichtweise der Evolution inkonsistent sind, bei der alle Arten – einschließlich unserer eigenen – die Konsequenz aus Millionen von Jahren des Zusammenlebens mit den physischen und umweltbezogenen Auswirkungen des Universums sind. Das Ergebnis dieser engstirnigen Auf-
fassung von der Psychologie des Menschen besteht dieser Auffassung nach darin, dass sie zur Erfindung psychologischer Prozesse führt, die nicht zu dem passen, was wir über die Evolution und die Anpassung an sie wissen. Eine wichtige Voraussetzung für die Evolutionspsychologie ist die Annahme, dass es universelle kognitive Eigenschaften des Menschen gibt und dass diese gemeinsamen und weithin geteilten Eigenschaften des Mentalen das Ergebnis von psychologischen Mechanismen sind,die sich durch Evolution entwickelt haben, und nicht eine Sache der sozialen Interaktion. Während soziale Handlungen zweifellos eine treibende Kraft im Alltag aller Lebewesen sind,die auf unserem Planeten wohnen,lassen sie sich besser verstehen,wenn man die tief wirkenden,zu Grunde liegenden Determinanten des Verhaltens und Denkens betrachtet, die in die lang andauernde Evolution der sensorischen, perzeptiven, kognitiven und emotionalen Reaktionen auf konsistente Einflüsse aus der Umwelt eingebettet sind (wie etwa Schwerkraft, reflektiertes Licht, Temperaturveränderungen und andere universell erfahrene Phänomene, bei denen es sich um die Bedingungen handelt, unter denen jegliches organische Leben vor sich geht). In einem Buchbeitrag mit dem Titel Evolution of a Mesh between Principles of the Mind and Regularities of the World formuliert Roger Shepard (1978) das Thema der Evolutionspsychologie: Ich suche nach allgemeinen psychologischen Gesetzen, die allen spezifischen geistigen Prozessen und Verhaltensweisen trotz ihrer scheinbaren Variation über Individuen, Kulturen und Arten hinweg zu Grunde liegen. Außerdem suche ich nach dem evolutionären Ursprung derartiger allgemeiner psychologischer Gesetze in den Eigenschaften der Welt, die so allgegenwärtig und bleibend waren, dass sie für ein breites Spektrum von Arten relevant waren. Ich argumentiere, dass bezüglich der Evolution auf lange Sicht diese allgemeinen Eigenschaften der Welt dazu neigen werden,sogar noch tiefer internalisiert zu werden als die eher lokalen und vorübergehenden Eigenschaften, die jeder besonderen ökologischen Nische eigen sind. Jedes einzelne Individuum müsste dann nicht immer wieder von neuem durch Versuch und einen möglicherweise verhängnisvollen Irrtum etwas über jede einzelne Eigenschaft lernen (Shepard, 1978, S. 254).
29 1.6 · Evolutionäre kognitive Psychologie
Shepard geht so weit, dass er mehrere bleibende Regelmäßigkeiten der Welt ausmacht, die anscheinend über den langen Vorlauf der Evolution hinweg internalisiert worden sind, und lenkt das Interesse des Lesers auf die Ursprünge. Man könnte rational argumentieren, dass
die evolutionäre kognitive Psychologie schon lange existiert hat. In den grundlegenden Schriften von Charles Darwin und anderen Psychobiologen lässt sich tatsächlich eine solide Untermauerung dieses Gedankens finden.
Zusammenfassung Das Ziel dieses Kapitels bestand darin, durch eine Einführung in die kognitive Psychologie die Voraussetzungen für den Rest des Buchs zu schaffen. In diesem Kapitel wurden viele wichtige und verschiedenartige Aspekte der kognitiven Psychologie erörtert. Zu den Hauptmerkmalen gehören die folgenden: 1. Die Psychologie beschäftigt sich damit, wie wir Wissen erwerben, transformieren, repräsentieren, speichern und abrufen und wie dieses Wissen Kontrolle darüber ausübt, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und wie wir reagieren. 2. Ein Modell, das weite Verbreitung gefunden hat, ist das informationsverarbeitende Modell, in dem angenommen wird, dass Informationen über eine Reihe von Stadien, von denen jede Einzelne eine bestimmte Funktion erfüllt, verarbeitet werden. 3. Zwei Fragen, die vom informationsverarbeitenden Modell gestellt werden, lauten: (a) Welches sind die Stufen, über die Informationen verarbeitet werden? (b) In welcher Form wird Wissen repräsentiert? 4. Die kognitive Psychologie verwendet Forschungsergebnisse und theoretische Ansätze aus wichtigen Bereichen der Psychologie; und dazu gehören Neurowissenschaft, Wahrnehmung, Mustererkennung, Aufmerksamkeit und Bewusstsein, Gedächtnis, Wissensrepräsentation, bildhafte Vorstellung, Sprache, Entwicklungspsychologie, Denken und Begriffsbildung, menschliche Intelligenz und künstliche Intelligenz. 5. Zu den historischen Vorläufern der kognitiven Psychologie gehören die griechische Philosophie, der Empirismus des 18. Jahrhunderts, der Strukturalismus des 19. Jahrhunderts und die neokognitive Revolution, die durch die modernen Entwicklungen der Kommunikationstheorie, der Linguistik, der Gedächtnisforschung und der Computertechnologie beeinflusst wurden.
6. Das Hauptthema der kognitiven Psychologie ist, dass innere Prozesse der Gegenstand der Psychologie sind. Dies steht im Gegensatz zum Behaviorismus, nach dem der wahre Gegenstand der Psychologie Reaktion oder Verhalten ist. 7. Die theoretische Wissenschaft ist eine nützliche Metapher, die sich Menschen zum besseren Verständnis der Realität ausgedacht haben. Psychologinnen und Psychologen denken sich in der kognitiven Psychologie theoretische Modelle aus und verfolgen dabei das Ziel, ein System zu entwickeln, das die Eigenart der menschlichen Wahrnehmung, des Denkens und des Weltverständnisses widerspiegelt. 8. Kognitive Modelle beruhen auf Beobachtungen, die die Struktur und die Prozesse der Kognition beschreiben. Konstruiert man ein Modell, kann man Beobachtungen besser verstehen. 9. Das informationsverarbeitende Modell hat die kognitive Psychologie dominiert, aber andere Modelle, die in der Informatik und in der Neurowissenschaft aufgekommen sind, sind mit der kognitiven Psychologie eine Verbindung eingegangen, um die Kognitionswissenschaft zu bilden. 10. Das Parallel Distributed Processing (PDP) ist ein Modell der Kognition, bei dem man annimmt, dass Informationen auf ähnliche Weise verarbeitet werden wie in neurologischen Netzen. Diese Netze legen nahe, dass die neuronale Verarbeitung gleichzeitig in unterschiedlichen Regionen erfolgt, wobei einfache Verbindungen entweder gefestigt oder geschwächt werden. 11. Die evolutionäre kognitive Psychologie ist ein Ansatz im Bereich der Kognition, der in einem einheitlichen Wissenssystem von der Evolutionspsychologie und von der biologischen Psychologie Gebrauch macht.
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Kapitel 1 · Einführung
Schlüsselbegriffe
Arbeitsgedächtnis Bewusstsein Empirismus evolutionäre kognitive Psychologie Homunkulus informationsverarbeitendes Modell Innere Repräsentation Isomorphismus kognitive Landkarte kognitive Neurowissenschaft kognitives Modell Konnektionismus künstliche Intelligenz Kurzzeitgedächtnis Langzeitgedächtnis Nativismus Neuron neuronale Netzsysteme Neurowissenschaftliches Modell Parallel Distributed Processing (PDP) Schema theoretische Wissenschaft Wahrnehmung Wissen Wissensrepräsentation zerebraler Kortex
Literaturempfehlungen Howard Gardner hat mit The Mind’s New Science eine lebendige Geschichte der Kognitionswissenschaft geschrieben, die ich sehr empfehlen kann. Der Neurophysiologe Karl Pribram hat im American Psychologist einen wohl durchdachten Artikel veröffentlicht mit dem Titel »The Cognitive Revolution and Mind/Brain Issues«. Das von Posner herausgegebene Buch Foundations of Cognitive Science und das Buch Cognition and Reality: Principles and Implications of Cognitive Psychology von Neisser verfolgen das Ziel, in unterschiedliche Fragen der kognitiven Psychologie einzuführen. Die beste Quelle, um einen Überblick über die amerikanische Psychologie einschließlich des Aufkommens der kognitiven Psychologie zu bekommen, ist Ernest Hilgards Psychology in America: A Historical Survey.Eine gute Darstellung der Aufspaltung von Behaviorismus und kognitiver Psychologie kann man in dem lebendigen Buch The Cognitive Revolution in Psychology von Bernard Baars finden. Interessante neue Ansichten zur adaptiven Kognition kann man in Barkow, Cosmides und Tooby (Hrsg.), The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture,sowie in Gazzaniga (Hrsg.),The Cognitive Neurosciences (vor allem in Abschnitt X) und »The New Cognitive Neurosciences«, nachlesen. Einige nützliche Literaturangaben finden sich in der von Wilson und Keil herausgegebenen The MIT Encyclopedia of the Cognitive Sciences.
2 Kognitive Neurowissenschaft 2.1
Die Erkundung und Kartierung des Gehirns – eine Einführung –32
2.2
Logbuch: Das 21. Jahrhundert – Hirnforschung –33
2.3
Das Leib-Seele-Problem –33
2.4
Kognitive Neurowissenschaft –35
2.4.1 Kognitive Psychologie und Neurowissenschaft –36
2.5
Das Nervensystem –37
2.5.1 Die Nervenzelle (oder das Neuron) –38 2.5.2 Das Gehirn: Von der Lokalisationslehre zur Massenaktivität –41 2.5.3 Die Anatomie des Gehirns –42
2.6
Neurophysiologische bildgebende Verfahren –47
2.6.1 Kernspintomographie und Echoplanar-Kernspintomographie –48 2.6.2 Computertomographie (CAT) –48 2.6.3 Positronenemissionstomographie (PET) –50
2.7
Eine Geschichte über zwei Hemisphären –54
2.7.1 Kognitive Psychologie und Hirnforschung –61
32
Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
Anregungen vorab 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Was ist das Leib-Seele-Problem? Welches ist die Grundannahme der kognitiven Neurowissenschaft? Warum hat sich die Kognitionswissenschaft den Neurowissenschaften zugewandt? Geben Sie die Hauptbestandteile des Zentralnervensystems an. Beschreiben Sie die grundlegende Anatomie und die grundlegenden Funktionen des Gehirns. Auf welche Weise hat die frühe Hirnforschung zu einem besseren Verständnis der Funktionen und deren Lokalisation beigetragen? 7. Welche bildgebenden Verfahren werden heute verwendet? 8. Wie hat die Forschung über künstlich getrennte Hemisphären unser Verständnis der Neurokognition verbessert?
2
In der gesamten modernen Wissenschaft entwickelt sich kein Bereich rascher, zieht mehr Interesse an und verspricht mehr Einblicke in die eigene Person als die Erforschung des Nervensystems. Ob Sie nun ein Erstsemester sind, der davon fasziniert ist, was er in Zeitungen und Zeitschriften über das Gehirn liest und was er im Fernsehen darüber erfährt, oder eine Studierende der Naturwissenschaften mit Erfahrung bei der Durchführung von Experimenten und beim Lesen wissenschaftlicher Artikel, dieses [Kapitel] ... ist als Einladung zu verstehen, gemeinsam mit uns mehr über das interessanteste und wichtigste Organ auf der Welt zu erfahren. Gordon M. Shepherd
2.1
Die Erkundung und Kartierung des Gehirns – eine Einführung
Neuere Entwicklungen in der kognitiven Neurowissenschaft veränderten zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Art und Weise, wie die kognitive Psychologie arbeitet. Die Menschen haben sich immer schon gefragt, was hinter dem nächsten Hügel liegt, was dort im Tal ist und wo der Fluss seinen Anfang hat. Und die großen Entdecker der Welt – Columbus, Sir Francis Drake und Vasco da Gama – haben wundersame neue Dinge gesehen. Heutzutage entdecken Wissenschaftler ein sogar noch elementareres Gebiet als die Geographie der Erde – eine Welt, die uns weitaus vertrauter, zugleich aber viel rätselhafter und widerspenstiger dagegen ist, ihre Geheimnisse preiszugeben. Diese Welt ist der Bereich des menschlichen Gehirns. Während die Abmessungen der Erde riesig sind und ihr Klima komplex ist, ist das Gehirn klein (seine gallertartige Masse wiegt nur etwa drei Pfund) und seine Verarbeitungskapazität ungeheuer groß. Einfach ausgedrückt: Das verschlungene Netz der Nervenzellen im menschlichen Gehirn und die Verbindungen zwischen ihnen bilden das komplizierteste System, das der Mensch kennt.
Die Fähigkeit des menschlichen Gehirns zur rechnerischen Auswertung sensorischer Signale und das Verständnis seiner selbst sowie des Universums sind erstaunlich vielschichtig.Lassen Sie uns einen Blick in dieses wunderbare Rechnersystem sowie in seine physischen und funktionalen Eigenschaften werfen. Obwohl die grobe Landkarte des menschlichen Gehirns seit langem bekannt ist (wahrscheinlich mussten die Menschen in der Antike weitaus häufiger als wir heute mit ansehen, wie ein menschliches Gehirn aus dem Kopf heraustrat), wird in der wissenschaftlichen Literatur erst langsam mehr über die spezifische Geographie und die spezifischen Funktionen des Gehirns berichtet. Diese erst kürzlich gemachte Entdeckung der neuen Welt des Gehirns wird durch eine Technologie bildgebender Verfahren unterstützt, die es uns gestattet, durch die massive Schädeldecke hindurchzusehen.Wie der antike Seemann, der gefährliche Meeresgegenden, sichere Lagunen und »Witwenmacher«-Riffs auf Karten eintrug, kartieren die Kartographen des Mentalen die Bereiche,in denen sich die visuelle Verarbeitung, die semantische Auswertung, die auditorische Interpretation und eine Unzahl anderer kognitiver Funktionen abspielen. Dieses Kapitel ist ein Log-
33 2.3 · Das Leib-Seele-Problem
buch der Geographie, der Karten und der Prozesse im Gehirn.
2.2
Logbuch: Das 21. Jahrhundert – Hirnforschung
Neurokognition. Ein Großteil des momentanen Enthusi-
asmus innerhalb der kognitiven Psychologie geht auf neue Entwicklungen in einem Fach zurück, das die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaft miteinander verbindet: eine Spezialdisziplin, die man als Neurokognition oder umfassender als kognitive Neurowissenschaft bezeichnet. Bevor wir im Einzelnen auf die Neurokognition eingehen, lassen Sie uns kurz die umfassendere Frage behandeln, wie sich die Neurokognition zur Leib-Seele-Dichotomie verhält. Darüber haben Naturwissenschaftler und Philosophen seit Jahrhunderten nachgedacht und kürzlich haben kognitive Neurowissenschaftler,die mit einem verwirrend vielfältigen wissenschaftlichen Instrumentarium ausgestattet sind, einen neuen Zugang zu diesem Problem eröffnet.
Das Gehirn ist das letzte und großartigste Neuland … das komplexeste Gebiet, das wir bisher in unserem Universum entdeckt haben. James Watson
2.3
Das Leib-Seele-Problem
Seltsamerweise wohnen wir Menschen gleichzeitig in zwei Welten. Die erste ist die physikalische Welt der Dinge, die in Zeit und Raum existieren. Diese Dinge haben physikalische Eigenschaften, die physikalischen Gesetzen folgen, wie etwa den Gesetzen der Schwerkraft (nach denen sich fallende Körper verhalten), den Gesetzen der Zentrifugalkraft (nach denen sich das Verhalten rotierender Objekte richtet) oder den neurologischen Gesetzen (die die Übertragung eines Impulses von einer Nervenzelle zur nächsten – die neuronale Übertragung – regeln). Die zweite Welt wird von Erinnerungen, Ideen, Gedanken, Bildern und so weiter bevölkert, die sich auch nach bestimmten Gesetzen richten. Diese herauszufinden ist manchmal etwas schwieriger, als jene zu erkennen, an denen sich die physikalische Welt orientiert.
Weil wir uns üblicherweise darangemacht haben, in den beiden Welten mit Hilfe unterschiedlicher Techniken Regeln zu entdecken, dachten viele Philosophen und andere Wissenschaftler, dass sich diese Welten grundlegend voneinander unterscheiden. Dieser Dichotomieschluss beruht auf der Annahme, dass sich die eine Welt auf das physikalische Universum konzentriert (oder auf den Leib, weil es um Menschen geht), während sich die andere zentral mit dem mentalen Universum oder der Seele beschäftigt. Die Abtrennung der Seele vom Körper war intuitiv logisch oder offensichtlich, aber das Zusammenspiel zwischen den beiden Welten ist gleichermaßen deutlich: Ihre mentale Unfähigkeit, sich auf eine Klausur zu konzentrieren, kann mit der massiven physikalischen Schädigung zusammenhängen, die Sie Ihrem Körper gestern Abend zugefügte haben, als Sie eine Faschingsparty besuchten. Manche Wissenschaftstheoretiker argumentieren, dass die einzige reale Welt die der Seele ist und dass die physikalische Welt eine Täuschung darstellt. Umgekehrt behaupten einige, dass nur die physikalische Welt real ist und dass es sich bei der Seele am Ende um eine Funktion des Gehirns handelt. Eine häufige Kritik an der letztgenannten Position ist die,dass dies die Menschheit ihres erhabenen, idealistischen Geistes beraubt. Ein grundlegendes Problem, dass die Leib-Seele-Dualisten haben, besteht darin, dass sie herauszubekommen versuchen, wie die Seele mit dem Körper und der Körper mit der Seele verbunden ist. Über diese Verbindung gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Im Folgenden finden Sie in aller Kürze eine Interpretation des Leib-Seele-Problems. Wenn wir von der Seele sprechen,dann reden wir von den Dingen,die sich im Gehirn abspielen (beispielsweise Denken, Behalten von Dingen im Gedächtnis,Wahrnehmen, Urteilen, aber auch Verliebtsein, Schmerzempfindung, das Schmieden von Plänen, um die Welt zu beherrschen, das Komponieren von Musik und das Witzemachen). Die Seele in diesem Sinne umfasst die Prozesse, die vom Gehirn ausgeführt werden.
2
34
Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
Gedächtnis und zerebrale Durchblutung – ein Beispiel
2
Endel Tulving 1, ein herausragender Kognitionspsychologe, hat aktuelle Techniken aus der Hirnforschung dazu verwendet, unterschiedliche Arten der lokalen zerebralen Durchblutung zu beschreiben, die mit unterschiedlichen Arten des Gedächtnisses einhergehen. Obwohl Wissenschaftler schon früh daran gearbeitet hatten, die neuesten Techniken der Neurowissenschaft mit kognitiven Experimenten zu verbinden, war Tulvings graphische Repräsentation spezifischer Arten von Hirnfunktionen im Zusammenhang mit hypothetischen Gedächtnisprozessen ein Vorbote der Richtung, die die kognitive Psychologie und die Hirnforschung später einschlagen sollten. Neurowissenschaftler haben die zerebrale Durchblutung schon seit einiger Zeit als einen Indikator für neuronale Aktivität (und der ihr entsprechenden Stoffwechselerfordernisse) gemessen. Bei dieser Technik muss man einer vollständig bewussten Versuchsperson einen radioaktiven Marker ins Blut injizieren. Dieser Marker hat eine Halbwertzeit von nur 30 Sekunden und das Verfahren ist unschädlich. Die Durchblutung wird durch ein Cluster von 254 extrakranialen Detektoren erfasst, die kreisförmig um den Kopf der Versuchsperson angebracht sind. Jeder Detektor tastet eine Fläche von etwa einem Quadratzentimeter ab. Man weist jeder einzelnen winzigen Zelle eine Farbe zu, die dem Ausmaß der Blutaktivität entspricht und die in einem computergenerierten visuellen Mosaik dargestellt werden kann. Selbst ein ungeschulter Beobachter kann die Unterschiede in der lokalen zerebralen Durchblutung auf der fotographischen Darstellung erkennen. Einige Zentren sind aktiv, einige inaktiv, andere befinden sich in einem Bereich zwischen Aktivität und Inaktivität. (Siehe die Illustrationen auf der Innenseite des Einbandes.) Tulvings Verfahren war einfach, obwohl er komplexe Geräte benutzte. Die Versuchspersonen wurden gebeten, an unterschiedliche Themen zu denken, während die zerebrale Durchblutung untersucht wurde. Einige Themen hingen mit dem episodischen Gedächtnis oder mit zeitlich festgelegten Episoden zusammen, wie etwa persönlich erlebten Ereignissen (beispielsweise mit einem Urlaub oder einem Film im Kino). Die Begriffe episodisch
1
und semantisch sind Fachbegriffe, die zur Beschreibung von Gedächtnisarten verwendet werden. Zu einer umfassenderen Darstellung siehe Kap. 5. Andere standen mit semantischen Erfahrungen in Zusammenhang, wie etwa mit dem allgemeinen oder Weltwissen, das die Versuchsperson durch das Lesen von Büchern erworben haben könnte. Das Ergebnis dieses Experiments zeigte einigermaßen konsistente Muster der Durchblutung (und somit der neuronalen Aktivität), die jeweils mit episodischem und semantischem Denken einhergingen. Um die Tragweite dieser Entdeckung (und weiterer ähnlichen Charakters, die in anderen Laboratorien auf der ganzen Welt gemacht wurden) abschätzen zu können, sollten Sie an das Ziel denken, das sich hinter den meisten Experimenten und Beobachtungen der kognitiven Psychologie und der Neurowissenschaft verbirgt: Hauptsächlich waren kognitive Psychologen daran interessiert, bedeutende Modelle des Mentalen zu entwickeln, die durch Verhaltensbeobachtungen validiert wurden und die wichtige Details unseres mentalen Lebens präzise beschreiben. Zum anderen beschäftigten sich auch die Neurowissenschaftler mit diesem Gegenstand (Neurowissenschaftler sind Wissenschaftler, die sich mit der Neurowissenschaft oder dem Wissenschaftszweig beschäftigen, der die Erforschung von Neuroanatomie, Neurophysiologie, der Hirnfunktionen sowie der damit zusammenhängenden psychologischen und Computermodelle umfasst). Sie waren daran interessiert, die grundlegende Struktur des Nervensystems einschließlich des Gehirns und seiner normalen und pathologischen Funktionen zu verstehen. In beiden Wissenschaften wird versucht zu verstehen, wie der Zusammenhang zwischen Mentalem und Gehirn zustande kommt. Experimente wie die von Tulving tragen dazu bei, die Gültigkeit des Beitrags beider Wissenschaften zu bestätigen. Kognitionspsychologen haben für einige ihrer Theorien eine körperliche Grundlage gefunden (beispielsweise für unterschiedliche Arten des Gedächtnisses) und Neurowissenschaftler haben ihre Beobachtungen über Fließgeschwindigkeiten im Gehirn erfolgreich zu einem bedeutsamen Kognitionsmodell in Beziehung gesetzt.
Zu weiteren Untersuchungen siehe Tulving, 1989a, 1989b; Tulving et al., 1994.
35 2.4 · Kognitive Neurowissenschaft
Das Gehirn hat physikalische Eigenschaften (darauf gehen wir später in diesem Kapitel detaillierter ein), die ständig im Fluss sind.Das Gehirn ruht sich nie als Ganzes aus,sondern steckt stets voller elektrochemischer Aktivität. Im Großen und Ganzen stabil und nur wenigen Veränderungen unterworfen ist jedoch die allgemeine Architektur,das Netz der Nervenzellen, die Lokalisation der Hauptkennzeichen des Kortex, die Zentren des Gehirns, die mit solchen Funktionen zusammenhängen wie etwa den sensorischen Empfindungen, der motorischen Steuerung, der visuellen Wahrnehmung und so weiter. Das, was sich im Gehirn abspielt – die Hirnprozesse –, verändert sich rascher. Seelen neigen dazu, dynamischer zu sein als Gehirne. Wir können schnell von einem Gedanken zum nächsten springen, und dies ohne eine auffallende strukturelle (auf die Architektur bezogene) Veränderung im Gehirn, obwohl das Muster der elektrochemischen Übertragungen extrem veränderbar sein kann. Unsere bewussten Gedanken können in einem Zeitraum, der kürzer ist, als Sie zum Lesen dieses Satzes benötigen, rasch vom Lächerlichen zum Erhabenen wechseln, vom inneren zum äußeren Raum und vom Profunden zum Profanen. Die physikalischen Veränderungen der neuronalen Aktivität führen zu Veränderungen der Seele. Aber obwohl Seelen dazu neigen, dynamisch zu sein, weisen sie auch eine gewisse Beständigkeit auf: Unsere allgemeine Denkweise, unsere Einstellung zur Religion, unsere Ambitionen, unsere Einstellung zur Familie usw. sind relativ stabil.In diesem Kapitel geht es sowohl um die Seele und das Gehirn als auch um die Art und Weise, wie die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaft nach einer jahrhundertelangen Debatte erstmals in der Geistesgeschichte unserer Spezies sowohl auf reliable als auch auf wissenschaftlich valide Weise etwas zur Aufklärung des Problems beigetragen haben.
Unser momentan ungewöhnlich großes Interesse für Fragen, die mit dem Gehirn und der Kognition zusammenhängen, beruht auf einer grundlegenden Annahme: Jede Kognition ist das Ergebnis einer neurologischen Aktivität. Das heißt, dass Mustererkennung, Lesen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, bildliche Vorstellung, Bewusstsein, Denken und die Verwendung von Sprache, aber auch
alle anderen Formen der Kognition Ausdruck der Aktivität von Nervenzellen sind – vor allem jener, die sich um den Bereich des zerebralen Kortex im Gehirn konzentrieren. Mehr noch: Wenn die Dinge, die wir machen – Sprechen,Problemlösen,die Bedienung von Maschinen usw.–, auf Kognitionen basieren, dann beruht jedes Verhalten ebenso auf neuronaler Aktivität.
2.4
Kognitive Neurowissenschaft
Aus der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie hat sich eine neue Wissenschaft herausgebildet, die man als Neurokognition bezeichnet (oder manchmal auch als Neuropsychologie oder als kognitive Neurowissenschaft). Sie wird definiert als »die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Neurowissenschaft und kognitiver Psychologie.Dabei geht es vor allem um jene Theorien des Mentalen, die sich mit Gedächtnis, Empfindung und Wahrnehmung, Problemlösen, Sprachverarbeitung, motorischen Funktionen und Kognition befassen«.Aufgrund der Anstrengungen der Neuropsychologen sind hypothetische Konstrukte wie Gedächtnistypen und Sprachverarbeitung nicht mehr so schwammig,sondern scheinen spezifische neurophysiologische Korrelate zu haben. Zudem scheinen mikroskopische Strukturen des Gehirns, wenn man sie als neuronale Netze auffasst, mit umfassenderen Komponenten der menschlichen Kognition wie etwa dem Gedächtnis, der Wahrnehmung, dem Problemlösen und Ähnlichem zusammenzuhängen. Vielleicht wird eine spätere Generation solche undifferenzierten Demonstrationen kortikaler neuronaler Aktivität, die ebenso undifferenzierten Denkkategorien entsprechen, als einen primitiven Versuch begreifen, das Wissen aus zwei zuvor voneinander getrennten Wissenschaften dazu zu nutzen, dass man die zentralen Mechanismen der Kognition des Menschen versteht. Diese frühe Arbeit wird als ein Wendepunkt sowohl der kognitiven Psychologie als auch der Neurowissenschaft in Erinnerung bleiben. Und für diejenigen, die sich heute mit der Kognition wissenschaftlich beschäftigen, ist das Spannende daran, dass sie dabei sind, wenn eine neue Wissenschaft des Mentalen entsteht, und dass Sie sie in einigen Fällen selbst neu entwickeln. Es ist schön, in dieser Zeit zu leben.
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
Kognitive Neurowissenschaft Das Wissenschaftsgebiet der kognitiven Neurowissenschaft bekam in den späten Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts seinen Namen auf dem Rücksitz eines New Yorker Taxis.Michael Gazzaniga, ein führender Forscher im Bereich von Splitbrain fuhr zusammen mit dem großen Kognitionspsychologen George A. Miller zu einem Abendessen für Wissenschaftler von der Rockefeller University und von der Cornell University, die sich gerade mit der Frage beschäftigten, wie das Gehirn das Mentale ermöglicht ... das war ein Thema, für das man eine Bezeichnung suchte.Auf dieser Taxifahrt entstand der Begriff kognitive Neurowissenschaft, der sich am Ende durchgesetzt hat. Gazzaniga, Ivry und Mangun
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2.4.1 Kognitive Psychologie und
Neurowissenschaft Es gibt mehrere Gründe dafür, warum die heutigen Psychologen Informationen und Techniken der Neurowissenschaft verwenden und warum Neurowissenschaftler die kognitive Psychologie nutzen. Im Folgenden sind einige der Gründe dafür aufgeführt: ▬ Das Bedürfnis, physikalische Belege für theoretische Strukturen des Mentalen zu finden. Die Suche nach den Eigenschaften des menschlichen Geistes geht zurück auf den Anfang der geschriebenen Geschichte, wenn nicht sogar noch weiter zurück. Sie blieb jedoch lange Zeit erfolglos, weil die Belege für die hypothetischen Erkenntnisse im Wesentlichen eher dürftig waren. Die Entwicklung einer raffinierten Technik ermöglichte es, das Vorhandensein wichtiger psychologischer Prozesse wie etwa Sprache, Wahrnehmung, Gestalterkennung, Denken, Gedächtnis und anderer kognitiver Funktionen real zu erkennen. ▬ Das Bedürfnis der Neurowissenschaftler, ihre Befunde zu umfassenderen Modellen des Gehirns und der Kognition in Beziehung zu setzen. Selbst wenn es möglich wäre, auch das winzigste Detail neurologischer Funktionen zu erkennen, so würde dies nur wenig über das Netz und die Systemeigenschaften aussagen, die für das Verständnis kognitiver Effekte und die Art und Weise wichtig sind, wie wir Menschen unseren alltäg-
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lichen Aktivitäten nachgehen – vom Profunden bis zum Profanen. Das Ziel der Klinischen Psychologie, Korrelate zwischen Hirnpathologie und Verhalten zu finden.Seit Generationen haben sich Neurologen mit der Art und Weise beschäftigt, auf die Traumata, Läsionen, Infarkte, Thrombosen und Tumoren das Verhalten beeinflussen, und mit den Verfahren, mit deren Hilfe man die damit zusammenhängenden Symptome lindern kann. Diese Fragen erfordern ein genaues Verständnis der Funktionsweise des Gehirns und der Psychologie. Umgekehrt müssen Psychologen, die sich für die psychologische Behandlung organisch beeinträchtigter Patienten interessieren, ein besseres Verständnis für die körperlichen Ursachen derartigen Verhaltens haben. Die verstärkte Einbeziehung neurologischer Funktionen in Modelle des Mentalen. Vor allem Kognitionspsychologen, die sich mit Parallel Distributed Processing (PDP) – auch als Konnektionismus oder als Neuronetwork Systems bezeichnet – beschäftigen, interessieren sich dafür, psychologische Modelle zu finden, die mit neurologischen Strukturen und Funktionen im Einklang stehen. Die Arbeit von Informatikern, die versuchen, die Kognition und die Intelligenz des Menschen dadurch zu simulieren, dass sie Computer entwickeln, die sich ähnlich wie das menschliche Gehirn verhalten. Diese Ansätze im Bereich Gehirn und Computer werden manchmal auch als Neuronet-Architekturen bezeichnet. Sie enthalten auch die Teilmenge der Perceptrons 2, worunter die Simulation neuronaler Netze in Computerarchitekturen zu verstehen ist. Solche Entwicklungen der Computerarchitektur und -funktion erfordern ein detailliertes Verständnis der Hirnarchitektur und -funktion. Die Entwicklung von Techniken, die es Wissenschaftlern gestatten, einen Blick ins menschliche Gehirn zu werfen sowie Strukturen und Prozesse aufzudecken, die niemand zuvor jemals erkannt hat. Dazu gehören die Bilder der Positronenemissionstomographie (PET) oder Positronenemissionstransaxialtomographie (PETT), der Computer(axial)tomographie (CT oder
Das Wort Perceptron wurde erstmals von Frank Rosenblatt verwendet, einem Wissenschaftler vom Cornell Aeronautical Laboratory, der eines der ersten neuronalen Netze baute. Im Jahre 1968 veröffentlichten Minsky und Papert ein Buch mit dem Titel Perceptrons.
37 2.5 · Das Nervensystem
CAT), der Kernspintomographie oder Magnetresonanztomographie (MRT) und der Elektroenzephalographie (EEG). Diese im Großen und Ganzen nicht invasiven Verfahren wurden durch die Fortschritte im Bereich der Computertechnologie und der Techniken zur bildlichen Darstellung des Gehirns möglich. Weil die Neurowissenschaft bei der Forschung im Bereich der kognitiven Psychologie eine immer größere Bedeutung bekommen hat, folgt nun eine Einführung in einige der grundlegenden Aspekte der Neurologie des Menschen.Wir beginnen mit dem elementaren Bestandteil des Zentralnervensystems (ZNS) und arbeiten uns dann zum Gehirn und seinen Funktionen vor.
Die Evolution hat das Gehirn mit einem stahlharten Knochendach umgeben, es in Schichten fester Membranen und in einem zähflüssigen Bad aus Liquor cerebrospinalis (der Flüssigkeit in Gehirn und Rückenmark) verpackt. Diese Schutzschichten stellen eine große Herausforderung für die Wissenschaftler dar, die gerne die Aktivität des menschlichen Gehirns direkt beobachten würden. Gordon Bower
2.5
Das Nervensystem
Das Zentralnervensystem (ZNS) besteht aus dem Rückenmark und dem Gehirn. Unsere Erörterung wird sich auf das Gehirn konzentrieren, speziell auf die Strukturen und Prozesse, die einen Bezug zu den von neuronalen Vorstellungen inspirierten kognitiven Modellen haben. Der grundlegende Baustein des Nervensystems ist die Nervenzelle oder das Neuron, eine spezialisierte Zelle, die neuronale Informationen überall im gesamten Nervensystem überträgt.Das Gehirn des Menschen ist voller Nervenzellen. Einige Schätzungen geben ihre Anzahl mit mehr als 100 Milliarden (etwa die Anzahl der Sterne in der Milchstraße) an. Jede Einzelne von ihnen ist in der Lage, Nervenimpulse zu empfangen und manchmal an Tausende anderer Nervenzellen weiterzuleiten. Sie sind komplexer als jedes andere bekannte System, sei es auf der Erde oder außerhalb.Jeder Kubikzentimeter im zerebralen Kortex des Menschen enthält etwa 1000 km Nervenfasern, die die Zellen miteinander verbinden (Blakemore, 1972).
⊡ Abb. 2.1. Eine schematische Zeichnung des bekannten spanischen Anatomen Santiago Ramón y Cajal, der für seine richtungsweisende neurologische Arbeit den Nobelpreis bekam. Diese Darstellung der Gehirnzellen wurde nach sorgfältigen mikroskopischen Beobachtungen angefertigt und zeigt das komplexe Netz von Nervenzellen im Gehirn
⊡ Abb. 2.1 gibt einen Einblick in die miteinander verwobene Ansammlung von Nervenzellen im menschlichen Gehirn. Vergleichen Sie dieses Bild mit dem Diagramm einer Nervenzelle (⊡ Abb. 2.2) und versuchen Sie die Dendriten und Axone zu lokalisieren. Zu jedem Zeitpunkt sind viele der kortikalen Nervenzellen aktiv und man nimmt an, dass die kognitiven Funktionen wie Wahrnehmung, Denken, Bewusstsein und Gedächtnis durch das simultane Feuern von Nervenzellen zustande kommen, die sich über dieses komplexe neuronale Netz verteilen. Es ist schwer, sich die ungeheure Anzahl der Nervenzellen, die simultan aktiviert werden, und die verschlungene Infrastruktur vorzustellen,durch die das System getragen wird. Dies ist der Grund für ein Paradoxon: Weil das Gehirn so komplex ist, wird es sich möglicherweise, wie sehr wir es auch immer versuchen mögen, nie ganz selbst verstehen.Diese Vorstellung ähnelt der von einer imaginären Konferenz über die Physiologie des Hundes, die von Hunden veranstaltet wird – sosehr sie auch versuchen,sich selbst zu verstehen,es wird ihnen nie ganz gelingen.Wie pessimistisch sich diese Gedanken auch anhören mögen – eine andere Sichtweise ist die, dass das 21. Jahrhundert mit seiner neuen Technologie die meisten der wichtigen Fragen des Seele-Hirn-Problems beant-
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38
Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
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⊡ Abb. 2.2. Zeichnung einer Nervenzelle
worten wird. (Ich neige zu der als Letztes beschriebenen Auffassung.)
2.5.1 Die Nervenzelle (oder das Neuron) Es gibt vielleicht mehr als 1000 unterschiedliche Typen von Nervenzellen ( siehe Kandel, Schwartz & Jessel, 1991), von denen jede Einzelne spezialisierte Aufgaben an einer Vielfalt von Orten ausführt ( siehe Abb. 2.2). Die hauptsächlichen morphologischen Bereiche des Neurons sind: 1. Die Dendriten, die neuronale Impulse von anderen Nervenzellen einsammeln. Dendriten weisen in hohem Maße eine Baumstruktur mit Ästen und Zweigen auf. 2. Der Zellkörper,in dem Nährstoffe und Abbauprodukte über eine durchlässige Zellwand heraus- und hereingefiltert werden. 3. Das Axon, eine lange, röhrenförmige Übertragungsbahn, in der Signale vom Zellkörper an andere Zellen mit Hilfe von Verbindungsstellen weitergeleitet werden, die Synapsen heißen. Axone im Gehirn können winzig sein oder eine Länge von einem Meter und mehr erreichen. Große Axone sind von einer fetthaltigen Substanz umgeben, die als Myelinscheide bezeichnet wird und die für die Nervenzelle als eine Art Isolationsschicht fungiert. 4. Die präsynaptischen Endigungen oder Endknöpfe, die man an den Enden der feinen Zweige am Endpunkt des Axons findet. Sie befinden sich in der Nähe der rezeptiven Oberfläche anderer Nervenzellen an einer Verbindungsstelle oder Synapse und übertragen Informationen an andere Nervenzellen.
An der Synapse ( siehe Abb. 2.3) setzt das Endstück des Axons an einer Seite eine Chemikalie frei, die auf die Membran des Dendriten einer anderen Nervenzelle einwirkt. Dieser chemikalische Neurotransmitter verändert die Polarität oder das elektrische Potenzial des empfangenden Dendriten. Ein Neurotransmitter ähnelt einem Schalter, der an- und ausgeknipst werden kann (darauf geht auch die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen neuronalen Funktionen und dem dichotomen Charakter von Computerschaltungen zurück). Eine Klasse von Neurotransmittern hat eine hemmende Wirkung – dadurch wird es weniger wahrscheinlich, dass die nächste Nervenzelle feuert.Eine andere Klasse dagegen hat eine bahnende Wirkung und dadurch wird es wahrscheinlicher, dass die nächste Nervenzelle feuert. Gegenwärtig kennt man 60 unterschiedliche chemische Substanzen, von denen man weiß oder vermutet, dass sie die Funktion eines Neurotransmitters haben. Einige scheinen gewöhnliche Aufgaben wie beispielsweise die Aufrechterhaltung der physischen Integrität der Zellen zu übernehmen.Andere Substanzen wie etwa das Acetylcholin scheinen etwas mit Lernen und Gedächtnis zu tun zu haben. Bei der Geburt sind nicht alle synaptischen Verbindungen vollständig entwickelt und es sind auch nicht alle Nervenzellen von einer Myelinschicht umgeben; es sind jedoch alle Nervenzellen vorhanden. Im Erwachsenenalter sind alle Synapsen komplett ausgebildet und alle für eine Myelinisierung geeigneten Zellen von einer Myelinschicht eingeschlossen.Bei Erwachsenen breiten sich die Synapsen nicht mehr aus und der Zellkörper und der Dendrit sind in der Lage, im Durchschnitt etwa 1000 Synapsen von anderen Nervenzellen anzulagern. Das Axon ist imstande, im Durchschnitt etwa 1000 andere Nervenzellen auszusenden.
39 2.5 · Das Nervensystem
⊡ Abb. 2.3. Synaptische Übertragung. Auf einen neuronalen Impuls hin werden die Neurotransmitter im Axon einer Nervenzelle in den synaptischen Spalt freigesetzt. Diese Neurotransmitter stimulieren die Rezeptormoleküle, die in der Membran der postsynaptischen Nervenzelle eingelagert sind
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Impulse entlang des Axons bewegen, hängt mit dessen Größe zusammen. Beim kleinsten Axon kriecht die neuronale Übertragung mit etwa 0,5 Meter pro Sekunde dahin (etwa 1,8 Kilometer pro Stunde), während die Geschwindigkeit bei den größten Axonen 120 Meter pro Sekunde beträgt (etwa 432 Kilometer pro Stunde). (Diese Geschwindigkeiten sind tausendfach langsamer als die Übertragungs- und Schaltgeschwindigkeiten beim Computer.) Das Gehirn ist immer voller elektrochemischer Aktivität und eine erregte Ner-
venzelle kann mehr als tausendmal pro Sekunde feuern.Je häufiger eine Nervenzelle feuert,desto stärker wird der Effekt sein, den sie auf die Nervenzellen hat, mit denen sie eine synaptische Verbindung eingegangen ist. Dieses Feuern kann mit Hilfe der Elektroenzephalographie (EEG) und der Aufzeichnung ereignisbezogener evozierter Potenziale ( siehe auch Kap. 5) beobachtet werden; dabei wird die elektrische Aktivität in den einzelnen Hirnregionen gemessen.Außerdem ist dies möglich,indem man die Aktivität einer einzelnen Zelle an individuellen Nerven-
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
zellen von Tieren verfolgt. In einigen Fällen (etwa bei der Wahrnehmung eines besonderen visuellen Musters) kann man das Feuern einer einzelnen Zelle erfassen und in
akustische Signale übersetzen.Der Ton erinnert an rasche Salven eines entfernten Maschinengewehrfeuers.
2 »Gehirn« Den frühesten schriftlichen Hinweis auf das Gehirn findet man in ägyptischen Hieroglyphen aus dem 17. Jahrhundert vor Christus. Das Hieroglyphenzeichen für die Gehirn wird als ‘ys dargestellt. Nach dem bedeutenden Ägyptologen James Breasted fand man es in frühen Schriften acht Mal. In einer Quelle, die als der »Edwin Smith Surgical Papyrus« bekannt wurde und die sich in der Abteilung für seltene Bücher an der New York Acade-
Das Wissen des Menschen lässt sich nicht in einer einzelnen Nervenzelle lokalisieren. Man nimmt an, dass sich die Kognition beim Menschen in den großen Mustern neuronaler Aktivität abspielt, die sich über das gesamte Gehirn hinweg verteilen,parallel agieren und über bahnende und hemmende Verbindungen oder »Schalter« wirken.Es wurde eine ganze Reihe unterschiedlicher Theorien, einschließlich der einflussreichen Theorie von Donald Hebb (1949), aufgestellt. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie stark die Verbindung zwischen den Einheiten ist. In einer vereinfachten Version eines konnektionistischen Modells
Neuronale Netze von der Geburt bis zum Alter von zwei Jahren. Beim menschlichen Baby sind zum Zeitpunkt der Geburt bereits fast alle Nervenzellen vorhanden. Die Verbindungen zwischen den Nervenzel-
my of Medicine befindet, beschreibt der Autor die Symptome, Diagnosen und Prognosen zweier Patienten mit Kopfverletzungen. Die frühen Ägypter wussten, dass Verletzungen an der einen Seite des Gehirns zu Beschwerden an der gegenüberliegenden Körperseite führten.
Donald O. Hebb (1904–1985). Früher Forscher auf dem Gebiet der Neurokognition, dessen zukunftsweisende Vorstellungen häufig in konnektionistischen Modellen Verwendung fanden
len wachsen jedoch noch weiter und erreichen astronomische Größenordnungen: In den Abbildungen links wird ein kleiner Ausschnitt daraus dargestellt
41 2.5 · Das Nervensystem
nimmt die Stärke der Verbindung zwischen den Einheiten A und B zu, wenn diese gleichzeitig erregt sind. Wenn die Einheiten nicht wechselseitig erregt sind, schwächt sich die Verbindung zwischen ihnen ab. Es ist kein Zufall, dass die fundamentalen Annahmen,die den PDP-Modellen zugrunde liegen, denen neuronaler Modelle ähneln.
2.5.2 Das Gehirn: Von der Lokalisations-
lehre zur Massenaktivität Seit Jahrhunderten war das Gehirn den Menschen ein Rätsel.Weil zahlreiche Forscher über mehrere Jahrzehnte hinweg hartnäckig auf diesem Gebiet gearbeitet haben, ist dies heute nicht mehr der Fall; aber es gibt immer noch Geheimnisse. Die Gelehrten haben früher geglaubt, dass das Gehirn nichts mit Denken und Wahrnehmungen zu tun hat. So schrieb Aristoteles derartige Funktionen dem Herzen zu. Viel später behauptete die Pseudowissenschaft der Phrenologie, dass sich Charakter, Persönlichkeit, Wahrnehmung,Intelligenz usw.genau im Gehirn lokalisieren ließen (⊡ Abb. 2.4). Die Phrenologen waren der Auffassung, dass
sich der individuelle Charakter, die Fähigkeiten und die Emotionen dadurch messen ließen, dass man Wölbungen an der äußeren Oberfläche des Schädels untersuchte. Diese Auffassung wurde schon früh durch Neurologen wissenschaftlich gestützt. Sie hatten nämlich entdeckt, dass einige Hirnfunktionen mit bestimmten Zentren zusammenhingen. Wie wir im ersten Kapitel erfahren haben, konzentrierte sich die Forschung im Bereich der Hirnforschung mehr als ein Jahrhundert lang darauf, bestimmte Hirnregionen zu finden,denen spezifische Verhaltensweisen entsprechen.Es wurden wichtige Entdeckungen gemacht,die die Auffassung der Lokalisationslehre bestätigten; das heißt, dass einige Funktionen wie etwa motorische Aktivitäten, Sprachverarbeitung und Tastsinn jeweils mit einem spezifischen Hirnareal assoziiert sind. Die Lokalisationslehre erreichte ihren Höhepunkt bei den Phrenologen, die behaupteten, dass sie solche Eigenschaften wie Großzügigkeit, Mutterliebe, Geheimnistuerei, Kampfeslust und sogar das Eintreten für die Republik im Gehirn lokalisieren könnten. Ein französischer Neurologe jedoch, Pierre Flourens, hielt dies alles für großen Unsinn. In seinen Forschungen schnitt er Teile des menschlichen Gehirns heraus und untersuchte die Auswirkung des chirurgischen Eingriffs auf das Verhalten. Er folgerte daraus, dass motorische und sensorische Funktionen keine Sache einer einfachen Lokalisation in spezifischen Regionen sind – wie dies von anderen Forschern behauptet worden war –, sondern dass sich diese Funktionen auch auf andere Bereiche des Gehirns verteilen. Traumata oder Hirnverletzungen schienen alle höheren Funktionen gleichermaßen in Mitleidenschaft zu ziehen. Diese Position wurde später als aggregierte Feldtheorie bezeichnet.
Wenn ein Axon von Zelle A nahe genug an Zelle B ist, um sie zu erregen ... kommt es in beiden Zellen zu einem gewissen Wachstum oder zur Veränderung des Stoffwechsels, sodass die Effizienz von A als eine der Zellen,die B zum Feuern veranlasst,erhöht wird. Donald O. Hebb
⊡ Abb. 2.4. Phrenologische Karte des Gehirns
Die Lokalisationslehre steht im Gegensatz zu der Auffassung, dass das Gehirn als holistisches Organ arbeitet, wobei die kognitiven Prozesse über das gesamte Gehirn verteilt sind. Hier handelt es sich um eine Kompromissvorstellung, die mit dem Wissen auf diesem Gebiet über-
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
einzustimmen scheint. Dabei wird behauptet, dass einige mentale Eigenschaften in spezifischen Regionen oder Gruppen von Regionen innerhalb des Gehirns lokalisierbar sind. Dazu gehören die Steuerung der motorischen Handlungen, sensorische Endpunkte, visuelle Wahrnehmung und teilweise die Sprachverarbeitung. Viele Funktionen jedoch – vor allem kognitive Prozesse höherer Ordnungen wie etwa Gedächtnis,Wahrnehmung, Denken und Problemlösen – werden in Subfunktionen differenziert, die über das gesamte Gehirn verteilt sind. Wir werden kurz verfolgen, wie sich diese Argumentation entwickelte, und beginnen mit einem Überblick über das Gehirn und seine Funktionen.
2.5.3 Die Anatomie des Gehirns Die Anatomie einer Hemisphäre des Gehirns ist in ⊡ Abb. 2.5 dargestellt.Das Gehirn teilt sich in zwei ähnliche Strukturen, die rechte und die linke Hemisphäre (oder Hirnhälfte). Die Hemisphären sind vom zerebralen Kortex bedeckt, einem dünnen, grauen, feuchten Material, das sich in einem dichten Geflecht aus den Zellkörpern von Ner-
Frühes mechanisches Messinstrument aus der Phrenologie
⊡ Abb. 2.5. Strukturen des Vorderhirns, des Mittelhirns, des Rautenhirns und des Nachhirns
43 2.5 · Das Nervensystem
venzellen und kurzen, nicht myelinisierten Axonen zusammensetzt. Der zerebrale Kortex ist etwa 1,5 bis 5 Millimeter dick. Weil er von tiefen Furchen durchzogen ist, ist seine Oberfläche größer, als sie zu sein scheint. Die Kämme zwischen den Faltungen werden als Gyri (Singular: Gyrus) bezeichnet und die Furchen als Sulci (Singular: Sulcus). Tiefe und einschneidende Sulci werden Fissuren genannt. Wenn man den Kortex ausrollen würde, würde seine Fläche etwa 2000 Quadratzentimeter oder etwa das Dreifache dessen betragen, was man auf der Oberfläche sieht. Der gewundene Kortex mit seiner charakteristischen Walnussform vergrößert die Oberfläche des Gehirns, ohne dass die Größe des Schädels zunehmen muss. Hier handelt es sich um eine raffinierte biologische Lösung,die den Menschen dazu befähigt,seine Mobilität beizubehalten und somit zu überleben, ohne dass er dabei von einem riesigen Schädel behindert wird. Und genau in diesem zerebralen Kortex spielen sich beim Menschen Denken, Empfindung, Sprachprozesse und andere kognitive Funktionen ab. Das Gehirn verarbeitet Informationen kontralateral. Das heißt, dass sensorische Informationen vom Rückenmark (beispielsweise vom Tastsinn), die von der linken Seite des Körpers kommen,zur anderen Seite kreuzen und anfänglich in der rechten Hemisphäre verarbeitet werden. Auch die motorischen Areale der beiden Hemisphären steuern die Bewegungen der gegenüberliegenden Körperseite. Die Oberfläche jeder der beiden Hemisphären teilt sich in vier große Abschnitte, von denen einige durch tiefe Furchen oder Fissuren voneinander getrennt sind. Diese vier Areale sind der Frontallappen, der Temporallappen,der Parietallappen und der Okzipitallappen.Obwohl jeder einzelne Lappen mit spezifischen Funktionen verbunden ist, ist es wahrscheinlich, dass viele Funktionen über das gesamte Gehirn hinweg verteilt sind. Der zerebrale Kortex. Weil der zerebrale Kortex allem Anschein nach der Sitz des Denkens und der Kognition ist, stand er für mehr als 100 Jahre im Zentrum der Aufmerksamkeit. Obwohl viele Bereiche des Gehirns an der Kognition (Wahrnehmung, Gedächtnis, Problemlösen, Sprachverarbeitung und Gedächtnis) beteiligt sind,ist der zerebrale Kortex – jenes dünne Furnier voller Zellen – das, woran wir denken, wenn wir von »dem Gehirn« sprechen. Dennoch sollte man anmerken, dass viele verzweigte und notwendige Körperfunktionen und kognitive Funktionen auf andere Teile des Gehirns angewiesen sind.
Die jüngste der Hirnstrukturen, die sich durch die Evolution entwickelt hat, ist der Kortex. Einige Lebewesen wie etwa die Fische verfügen nicht über einen Kortex; andere wie zum Beispiel die Reptilien und die Vögel haben einen weniger komplexen zerebralen Kortex. Und Säugetiere wie etwa Hunde, Pferde, Katzen (im Gegensatz zur Auffassung mancher Hundeliebhaber) und vor allem die Primaten besitzen einen gut entwickelten, komplexen zerebralen Kortex.Beim Menschen ist der Kortex beteiligt an Wahrnehmung, Sprache, komplexen Handlungen, Denken, Sprachverarbeitung und -produktion sowie an anderen Prozessen, die uns zu Wissenden machen. Sensorisch-motorische Areale. Die sensorisch-motorischen Felder des Gehirns waren die ersten Hirnregionen, die kartiert wurden. Und auch der vorgeschichtliche Mensch wusste zweifellos etwas von dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Empfindungen. So machten sicher bereits die Höhlenmenschen die Erfahrung,»Sterne zu sehen«, wenn sie aus Zufall oder mit Absicht einen starken Schlag auf den Okzipitallappen bekamen und dadurch der visuelle Kortex stimuliert wurde.Die hauptsächlichen sensorischen und motorischen Projektionsfelder (die Areale, die mit Funktionen verbunden sind und auf der Oberfläche des Gehirns kartiert sind) finden sich in ⊡ Abb. 2.6,zusammen mit den wichtigen Hirnlappen. Wissenschaftliche Arbeiten über die motorischen Areale des Gehirns lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals führten Untersuchungen, bei denen unterschiedliche Teile des Kortex bei leicht anästhesierten Hunden elektrisch stimuliert wurden, zu Zuckungsreaktionen, wie auch ein leichter Stromschlag am Frontallappen eine reflexhafte Reaktion an der Vorderpfote zur Folge hatte. Kontralateralität (das heißt, die Simulation der linken Hemisphäre führte zu Reaktionen der rechten Körperhälfte und umgekehrt) wurde in diesen frühen Experimenten auch empirisch demonstriert. Die Kartierung der sensorischen und motorischen Zentren des Gehirns bei anderen Säugetieren einschließlich des Menschen folgte bald und danach entstand allmählich ein allgemeines Bild von der topographischen Größe und Funktion. Je wichtiger eine Funktion wie etwa das Hantieren mit der Vorderpfote bei Waschbären (Waschbären verlassen sich beim Fressen und Nestbau ganz auf die Aktivität ihrer Vorderpfoten), desto größer ist der Bereich des motorischen Kortex, dem dieser Teil der Anatomie zugeordnet ist. Waschbären weisen etwa im Vergleich zu Hunden einen relativ großen Bereich im motorischen Kortex auf,
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⊡ Abb. 2.6. Die Hauptabschnitte des zerebralen Kortex beim Menschen. Hier sind die Frontal-, Parietal-, Okzipital- und Temporallappen dargestellt. Ebenfalls wird das primäre motorische Rindenfeld (schattiert) und das primäre sensorische Rindenfeld (dunkel schattiert) gezeigt. Es sind zwei wichtige funktionale Zentren dargestellt, die zum Hervorbringen von Wörtern und zum Verstehen von Sprache gebraucht werden: das Broca-Zentrum (vor dem primären Rindenfeld), das am Hervorbringen von Sprache beteiligt ist, und das Wernicke-Zentrum (hinter dem sensorischen Rindenfeld), das am Verstehen gesprochener Wörter beteiligt ist
der für den Bereich der Vorderpfoten zuständig ist (siehe Welker, Johnson und Pubols, 1964). Die Kartierung des sensorischen Areals hat gezeigt, dass eine leichte elektrische Stimulierung verschiedener Teile der in ⊡ Abb. 2.6 gezeigten Regionen mit entsprechenden Empfindungen auf der gegenüberliegenden Körperseite einhergeht,wenn der sensorische Kortex erregt wird. Eine Stimulierung im somatosensorischen Areal,das die Hand repräsentiert,kann auf der gegenüberliegenden Körperseite eine Empfindung des Kribbelns an der Hand hervorrufen. Wie bei der Zuordnung der motorischen Handlungen belegen Körperteile, die sensibel für sensorische Funktionen sind – wie etwa beim Menschen die Zunge –, einen großen Bereich im sensorischen Kortex. Assoziationsfelder des zerebralen Kortex. Während die sensorischen und motorischen Teile des Kortex viel Raum in Anspruch nehmen (etwa 25 Prozent der Oberfläche) und ihre Funktionen von wesentlicher Bedeutung sind, umfasst der übrige Kortex das, was als Assoziationsfelder bezeichnet wird. Diese mäandernden Regionen des Gehirns sind an Kognition, Gedächtnis, Sprachverarbeitung und Ähnlichem beteiligt.Von Patienten, die Läsionen, Tumoren, Hirnblutungen, Hirnschläge und andere Krankheiten erlitten haben, wissen die Menschen schon seit Jahrhunderten etwas über die Beziehung zwischen Kognition und Gehirn. Die Verbindung zwischen Hirn und Gedanken wurde jedoch gewöhnlich erst postmortal nach der Öffnung des Schädels an einem kürzlich verstorbenen
»Boah! Das war prima! Probier’s selbst aus, Hobbs – stocher’ mal genau da in seinem Hirn, wo ich jetzt meinen Finger habe.« Gary Larson macht sich über die klassischen Experimente von Fritsch und Hitzig lustig
45 2.5 · Das Nervensystem
Patienten hergestellt und anschließend sein seltsames Verhalten mit Hirnanomalien in Zusammenhang gebracht. Heute werden vollständig funktionstüchtige, lebendige Versuchspersonen dazu eingesetzt, zu zeigen, welche Teile des Gehirns zu arbeiten anfangen,wenn spezifische kognitive Aktivitäten ausgeführt werden – darüber später mehr. Jetzt folgt erst einmal eine kurze Darstellung der Geschichte einiger früher Entdeckungen. Frühe funktionelle Neurologie. Das Wissen über spezialisierte Hirnfunktionen lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Besonders bedeutsam ist die Arbeit des französischen Neurologen Pierre Paul Broca, der die Aphasie untersuchte – eine Sprachstörung, bei der der Patient Schwierigkeiten beim Sprechen hat. Diese Störung
findet sich gewöhnlich bei Personen,die einen Hirnschlag erlitten haben. Die postmortale Untersuchung an Gehirnen von Aphasikern ergab Läsionen in dem Zentrum, das heute als Broca-Zentrum bezeichnet wird (⊡ Abb. 2.7). Im Jahre 1876 beschrieb der junge deutsche Neurologe Karl Wernicke einen neuen Typ von Aphasie, der sich stärker durch die Unfähigkeit zu verstehen auszeichnete als durch die Unfähigkeit zu sprechen. Wernecke stimmte mit anderen Wissenschaftlern seiner Zeit darin überein, dass bestimmte mentale Funktionen lokalisierbar sind, dass diese aber zum großen Teil an einfachen Wahrnehmungs- und motorischen Aktivitäten beteiligt sind.Komplexe geistige Prozesse wie Denken,Gedächtnis und Verstehen ergeben sich aus Wechselwirkungen zwischen Wahrnehmungs- und motorischen Arealen.
⊡ Abb. 2.7. Hirnzentren, die etwas mit Aphasie und mit Sprache zu tun haben
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Eine Bestätigung dieser Position kam um die Jahrhundertwende,als der spanische Physiologe Santiago Ramón y Cajal zeigte, dass sich das Nervensystem aus voneinander getrennten Elementen oder Nervenzellen zusammensetzt. Was ursprünglich ein mosaikhafter Begriff des Mentalen war (begrifflich nicht weit von der phrenologischen Auffassung entfernt,allerdings ohne die Interpretation der Ausbuchtungen),stellte nun ein konnektionistisches Konzept dar: Es laufen komplexe kognitive Funktionen ab, die im Sinne eines Netzwerks von Verbindungen unter Nervenzellen verstanden werden können. Weiterhin behauptete Wernecke, dass einige Funktionen in verschiedenen Teilen des Gehirns parallel verarbeitet werden. Seine Hypothese über das Gehirn und seine Funktionen erwies sich als bedeutsam für die modernen Kognitionspsychologen. Redundante Informationsverarbeitung, wie sie von der Theorie der Parallelverarbeitung konstatiert wird, könnte als sinnlos und als Gegensatz zu der Auffassung erscheinen, dass lebende Systeme vom Standpunkt der Parsimonie aus gesehen effizient sind. Es gibt jedoch gute Argumente dafür, dass komplizierte biologische Systeme gewöhnlich redundant sind. Ganz gewiss trifft dies auf die Fortpflanzung zu,bei der viel mehr Eier produziert als befruchtet werden. Bei vielen Arten wird weitaus mehr Nachwuchs erzeugt, als bis zur Reife heranwächst. Redundanz spielte in der Natur wahrscheinlich eine zentrale Rolle für das Überleben und die Anpassungsfähigkeit. Vielleicht nehmen beim Menschen durch die redundante Verarbeitung der neuronalen Informationen die Chancen, zu überleben und sich fortzupflanzen, zu. Das Denken und die heutige Kognitionswissenschaft sind die zufälligen Nebenprodukte dieser primären Funktionen. Die Theorien von Flourens, Broca und Wernicke über die Beziehung zwischen Gehirn und Verhalten wurden vom amerikanischen Psychologen Karl Lashley (Harvard University) erweitert. Lashley beschäftigte sich jedoch nicht mit der Aphasie beim Menschen, sondern mit der Lokalisierung des Lernens bei Ratten. In seinem einflussreichen Buch Brain Mechanisms and Intelligence (1929) brachte er sein Interesse an Hirnverletzungen und Verhalten zum Ausdruck und verfolgte das Ziel, über das Thema »Lokalisierung versus Generalisierung von Funktionen« aufzuklären. Damit er derartige Phänomene wissenschaftlich angehen konnte, untersuchte er Hirnläsionen bei Ratten, um deren Auswirkungen auf die Fähigkeit der Tiere zur Lösung komplexer Labyrinthaufgaben zu bestimmen. Eine kleinflächige Schädigung des Rattenhirns hatte keine große Auswirkung auf die Leistung im Laby-
Karl Lashley (1890–1958). Begründete das Prinzip der Massenaktion. 1929 Präsident der American Psychological Association. Foto mit freundlicher Genehmigung der Harvard University Archives
rinth. Da es offenbar kein spezifisches Zentrum gab, das unmittelbar etwas mit Lernen zu tun hat, kam Lashley zu der Schlussfolgerung, dass sich Lernen nicht auf spezifische Nervenzellen beschränkt. Er entwickelte eine Theorie,die er als Theorie der Massenaktivität bezeichnete.Sie besagt,dass die Relevanz individueller Nervenzellen nicht besonders groß ist und dass Erinnerungen über das gesamte Gehirn hinweg verteilt sind. Lashley (1950) folgerte, dass es keine speziellen Zellen gibt, die für spezielle Erinnerungen reserviert sind.Die Bedeutung seiner Vorstellungen zeigt sich in dem Hinweis, dass das Gehirn eher holistisch als lokalisiert arbeitet.(Etwa zur selben Zeit entwickelte Alexander Luria in der Sowjetunion ähnliche Vorstellungen.) Neuere Untersuchungen zu Gedächtnis und Aktivität im Blut (von der man annimmt, dass sie neuronale Aktivität widerspiegelt) deuten darauf hin, dass einige Gedächtnisfunktionen mit bestimmten Zentren im Gehirn in Verbindung stehen, aber vielleicht nicht exakt in dem Ausmaß, wie es frühere Befunde nahe legten (siehe beispielsweise Penfield, 1959). Dies soll nicht heißen, dass Penfields Beobachtungen falsch waren, sondern dass sie nur schwer zu replizieren sind. Andere Funktionen (wie das Denken) scheinen sich breitflächig über das gesamte Gehirn zu verteilen. In der gebotenen Kürze werden wir uns mit einer Auswahl aus den vorhandenen experimentellen und klinischen Studien zu den Themen Hirnstruktur und Hirnprozesse beschäftigen. Trotzdem sind einige allgemeine Schlussfolgerungen und Implikationen angebracht: ▬ Viele mentale Funktionen scheinen in spezifischen Regionen oder Konstellationen des Gehirns wie etwa in den motorischen Regionen und sensorischen Endstellen lokalisiert zu sein. Zusätzlich zur regionalen Konzentration dieser Funktionen scheint jedoch eine Weiterverarbeitung an anderen Orten stattzufinden.
47 2.6 · Neurophysiologische bildgebende Verfahren
▬ Mentale Funktionen (u.a. Denken, Lernen und Gedächtnis) scheinen viele unterschiedliche Zentren des zerebralen Kortex einzubeziehen. Die neuronale Verarbeitung dieser Klasse von Informationen ist in dem Sinne redundant, dass sie über das ganze Gehirn hinweg verteilt ist und an vielen Orten parallel verarbeitet wird. ▬ Eine Hirnschädigung führt nicht immer zu einer Verringerung der kognitiven Leistung. Dies kann von mehreren Faktoren abhängen: Zuallererst kann die Schädigung an Teilen des Gehirns erfolgt sein, die mit der Leistung nur hintergründig zusammenhängen, oder an Hirnzentren, die redundante Aufgaben erfüllen. Auch wird die Kognition möglicherweise nicht in Mitleidenschaft gezogen,weil die intakten Verbindungen die ursprüngliche Funktion übernehmen oder auf eine Weise neu geordnet werden können, die es ihnen gestattet, die primäre Aufgabe zu erfüllen. Im Allgemeinen geht jedoch die Leistung proportional zur Menge des zerstörten Gewebes zurück. Denken Sie einmal an ein Modell der neuronalen Verarbeitung, das mit dem vorhandenen klinischen, experimentellen und psychologischen Wissen übereinstimmt. Bei diesem Modell der neuronalen Verarbeitung wird behauptet, dass die Nervenzellen Informationen auf serielle Weise verarbeiten, in etwa analog dem zuvor erwähnten Von-Neumann-Computer. Bei diesem Modell (⊡ Abb. 2.8A) werden die Informationen von einer Nervenzelle zur nächsten, dann zu noch einer etc.weitergeleitet.Obwohl dieses Modell mit einigen der experimentellen Belege übereinstimmen mag,scheint es zu einfach zu sein, um einige Befunde zu erklären. Dies gilt insbesondere für die Arbeit von Lashley, die darauf hindeutete, dass eine Unterbrechung der Verbindung den Prozess (insgesamt) nicht stört. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die Verarbeitung komplexer geistiger Aufgaben höherer Ordnung über eine Reihe funktionierender Verbindungen in einem parallelen Netz erreicht wird (⊡ Abb. 2.8B). In diesem Modell werden Informationen sowohl parallel als auch seriell verarbeitet. Dadurch bricht das System nicht vollständig zusammen, wenn ein Teil des Pfads zerstört wird, sondern es lässt die Möglichkeit offen, dass alternative Pfade einige Funktionen übernehmen. Die zuletzt genannte Theorie scheint am besten mit den Daten übereinzustimmen und hat die im Moment verbreiteten Auffassungen in der kognitiven Psychologie stark beeinflusst.
⊡ Abb. 2.8. A Ein zelluläres Verbindungsmodell, bei dem die Nervenzellen in Reihe geschaltet sind. B Ein zelluläres Verbindungsmodell, bei dem Ketten von Nervenzellen in Reihe und parallel geschaltet sind. Wird eine neuronale Verbindung unterbrochen, fällt das System wegen der Möglichkeit der Parallelverarbeitung im typischen Fall nicht völlig aus
Viele neuere Hirnmodelle sind erst durch die technischen Entwicklungen im Bereich der Neurowissenschaft möglich geworden, die es gestatteten, die physischen Strukturen und inneren Funktionsweisen des menschlichen Organismus genauer zu betrachten. Nun folgt ein kurzer Überblick über jene Entwicklungen, die Einfluss auf die kognitive Psychologie hatten.
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Neurophysiologische bildgebende Verfahren
Vor ein paar Jahren standen den Neurologen nur einige wenige Werkzeuge und Techniken zur Verfügung, um das menschliche Gehirn unmittelbar zu beobachten und zu erkunden. Dazu gehörten das Herausschneiden von Gewebe,elektrische Sonden,EEG-Aufnahmen und postmortale Untersuchungen. Darüber hinaus dachten sich Psychologen ein ganzes Arsenal von Techniken aus, mit deren Hilfe sich das Mentale zu erkennen gab,wie etwa die sehr kurze Darbietung von Reizen und die Erfassung der Reaktionszeit.Kürzlich sind jedoch neue Geräte erfunden worden, die unser Verständnis des Gehirns grundlegend
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verbessert und für unsere Zwecke eine vollkommen neue Generation von Wissenschaftlern hervorgebracht haben, die sich teils aus Neurologen und teils aus Kognitionspsychologen zusammensetzt. Die neue Technologie war ursprünglich für die Diagnose von Hirnstörungen entwickelt worden, aber sie ist heute zu einem wertvollen Instrument der Forschung geworden.Mit ihrer Hilfe wurden bereits wichtige neue Entdeckungen bei der Untersuchung der menschlichen Kognition gemacht und sie werden wahrscheinlich zum integralen Bestandteil der künftigen Kognitionswissenschaft werden. Bei vielen dieser neuen Techniken wird das Gehirn auf die eine oder andere Weise mit Geräten abgetastet,die dem ähneln, was in ⊡ Abb. 2.9A dargestellt ist. Dabei legt man einen Patienten in die Mitte eines solchen Geräts, das Signale vom Bereich innerhalb des Schädels oder von anderen Körperteilen aufnimmt. Durch Abtasten mit dem Gerät wird ein Querschnittsbild des Gehirns oder anderer Körperteile erzeugt. Die Aufnahme wird zunächst durch einen Computer verstärkt, dann farbig kodiert und schließlich auf einem Bildschirm dargestellt. Oft fertigt man noch Fotografien und/oder genaue Kopien des Bildschirms an. Allgemeine Verwendung finden zwei Arten von bildgebenden Verfahren: die Computertomographie (CT oder CAT für Computeraxialtomographie) und die Positronenemissionstomographie (PET für Positronenemissionstomographie oder PETT für Positronenemissionstransaxialtomographie, manchmal auch als SPECT bezeichnet für »single-photon emission computed tomography«), die weiter unten erörtert werden (⊡ Abb. 2.9). Zu den weiteren Verfahren gehört die Magnetresonanztomographie (im Englischen abgekürzt als MRI für Magnetic Resonance Imaging; gleichbedeutend mit Kernspintomographie).
2.6.1 Kernspintomographie und
Echoplanar-Kernspintomographie Beim Verfahren der Kernspintomographie ist der Körper von mächtigen Elektromagneten umgeben, die die Kerne der Wasserstoffatome ausrichten. Aufgrund dieser Messungen ist es möglich, auf unterschiedliche Dichten von Wasserstoffatomen und auf ihre Wechselwirkung mit dem umgebenden Gewebe zu schließen. Da Wasserstoff Ausdruck der Tatsache ist, dass im Gewebe Wasser enthalten ist, wird es möglich, die Kernspintomographie für di-
agnostische und für Forschungszwecke zu verwenden. Einer der Hauptnachteile des Verfahrens war bis vor kurzem die Zeit, die erforderlich ist, um mit Hilfe dieser Technologie Bilder zu erzeugen. Weil das Verfahren eine lange Aufnahmezeit voraussetzte, war es nur für die Betrachtung statischer biologischer Strukturen akzeptabel.Es war jedoch nahezu nutzlos für sich schnell verändernde Funktionen (etwa jene,wie sie mit der Kognition einhergehen). Heute ist es möglich, leistungsfähige Datenerhebungstechniken zu nutzen, die es ermöglichen, dass man in weniger als 30 Millisekunden ein Bild hat. Diese Zeit ist kurz genug,um schnell ablaufende kognitive Funktionen zu erfassen. Die Echoplanar-Kernspintomographie erzeugt hoch auflösende Bilder der funktionellen Aktivität im Gehirn. Es ist wahrscheinlich, dass durch weitere Entwicklungen während der nächsten Jahre die Echoplanar-Kernspintomographie zu einem praktischen Werkzeug für eine diskrete Visualisierung (d.h. bildliche Darstellung aufgrund digitaler Daten) von Gehirnstrukturen und -prozessen wird,die in Echtzeit durchgeführt werden kann.Zu weiteren detaillierten Informationen siehe Schneider,Noll & Cohen, 1993; Cohen, Rosen & Brady, 1992.
2.6.2 Computertomographie (CAT) Das CAT-Gerät funktioniert wie ein Röntgengerät,das sich um den Schädel dreht und ihn mit fächerförmigen Röntgenstrahlen bombardiert (⊡ Abb. 2.9B). Die Strahlen werden auf der Seite, die der Röntgenquelle gegenüberliegt, von empfindlichen Detektoren aufgezeichnet. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich von einer herkömmlichen Röntgenuntersuchung, bei der sich nur ein Blickwinkel bezogen auf den Körperteil ergibt. Auch absorbieren bei herkömmlichen Röntgenaufnahmen große Moleküle (wie etwa das Kalzium in der Schädeldecke) die Strahlen und verbergen auf diese Art teilweise die Organe hinter ihnen. Bei der CAT-Aufnahme rotiert der Röntgenstrahl um 180 Grad und dies führt zu zahlreichen Bildern desselben Organs und erzeugt einen inneren Querschnitt oder eine »Scheibe« des Körperteils. Diese Schichtaufnahme, die als Tomogramm (wörtlich »Schnittaufzeichnung«) bezeichnet wird, hat für die medizinische Diagnose eine entscheidende Bedeutung bekommen.Durch die Darstellung von lokaler Durchblutung und Stoffwechselaktivitäten,die mit pathologischen Prozessen einhergehen, hat die Tomographie zu genaueren Diagnosen geführt. In der kognitiven Psychologie sind CAT-Aufnahmen dazu verwen-
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⊡ Abb. 2.9. Bild gebende Verfahren in der Hirndiagnostik. Alle kognitiven Aktivitäten – vom Lesen dieses Textes oder einem ängstlichen Gefühl bei einer Klausur bis zum Lesen einer Lektion über moderne Architektur – gehen mit einem erhöhten Energiebedarf in eng umschriebenen Bereichen des Gehirns einher. Dieser Bedarf wird durch eine stärkere Durchblutung und eine verstärkte Glukosezufuhr befriedigt. Durch die Überwachung von Sauerstoffzufuhr, Glukosezufuhr und Durchblutung ist es möglich, die Bereiche mit verstärkter Stoff-
wechselaktivität auszumachen und auf diese Weise zu bestimmen, welche Bereiche des Gehirns am aktivsten sind. Diese Techniken haben sich bei der medizinischen Diagnose und bei Studien zur Neurokognition als nützlich erwiesen. A Allgemeines Verfahren zur Erzeugung von Bildern des Gehirns auf einem Bildschirm. B CAT-Verfahren, bei dem das Gehirn mit Hilfe von Röntgenstrahlen niedriger Intensität abgetastet wird. C PET-Verfahren, bei dem radioaktive Marker von peripheren Sensoren erfasst werden
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det worden, kognitive Strukturen darzustellen. Eine noch raffiniertere Version der CAT-Technik, der Dynamic Spatial Reconstructor (DSR), zeigt innere Strukturen in drei Dimensionen. Heute sind wir in der glücklichen Lage, dass die Geräte allgemein verfügbar sind.Von Mitte der Neunzigerjahre an sind in den US-amerikanischen Krankenhäusern mehr als 10000 CAT-Geräte in Gebrauch gewesen. Auch hat eine neuere Technologie dazu beigetragen, eines der Probleme zu lösen, die mit dieser Technik selbst verbunden sind. Die zeitliche Auflösung oder die Verschlussgeschwindigkeit betrug etwa eine Sekunde.Das führte dazu, dass dynamische Prozesse (wie etwa der Herzschlag) unscharf dargestellt wurden. Jetzt wurde ein ultraschnelles CAT-Gerät entwickelt, das die Verarbeitung derart beschleunigt, dass zuvor unscharfe Bilder nun ganz deutlich zu erkennen sind.
2.6.3 Positronenemissionstomographie
(PET) Positronenemissionstomographien (⊡ Abb. 2.10) unterscheiden sich von Computertomographien dadurch, dass hier Detektoren zur Messung radioaktiver Teilchen im Blutstrom verwendet werden. Aktive Teile des Gehirns müssen stärker durchblutet werden, deswegen konzentrieren sich die radioaktiven Marker in den aktiven Gebieten. Diese Marker senden Strahlen aus, die in visuelle Karten umgewandelt werden können.Als besonders nützlich hat sich die Verwendung von Positronenemissionstomogrammen in der kognitiven Neuropsychologie erwiesen. An der Universität von Lund in Schweden haben die Forscher Jarl Risberg und David Ingvar (siehe Lassen,Ingvar & Skinhoj, 1979) 3 in Zusammenarbeit mit Steve Petersen,Michael Posner,Marcus Raichle und Endel Tulving die ersten bahnbrechenden Arbeiten zum Einsatz der Positronenemissionstomographie in der kognitiven Psychologie durchgeführt (siehe Posner et al., 1988). Die PET-Technologie hat zu einigen sehr interessanten Resultaten geführt,von denen einige in diesem Buch dargestellt werden. Doch die breit gefächerte Anwendung der Forschung wird durch die sehr hohen Kosten und dadurch behindert,dass 3
Für diejenigen, die nach gut lesbaren Erklärungen von Hirnfunktion, Blutfluss und Bild gebenden Verfahren suchen, siehe auch Scientific American, September 1992, ein Sonderheft von Mind and Brain sowie Newsweek vom 20. April 1992.
⊡ Abb. 2.10. Der Blutzufluss zum Gehirn liefert die Signale, die durch funktionale Kernspintomographie und durch Positronenemissionstomographie erfasst werden. Wenn ruhende Nervenzellen (oben) aktiv werden (unten), nimmt der Blutfluss zu ihnen zu und die Kernspintomographie (links) erfasst die Veränderungen in der Sauerstoffkonzentration, die in den umliegenden Blutgefäßen zunimmt, wenn die Nervenzellen aktiviert werden. Die Positronenemissionstomographie (rechts) beruht auf der verstärkten Abgabe des injizierten radioaktiven Wassers, das aus den Gefäßen diffundiert und alle Teile des Gehirns durchdringt. Raichle, Scientific American, April 1994
die Aufnahme der Bilder recht lange dauert (gegenwärtig etwa 20 Sekunden). Die frühen PET-Studien, bei denen die regionale zerebrale Durchblutung gemessen wurde,basierten auf der Inhalation von 133-Xenon, das als Indikatorsubstanz verwendet wurde. Risberg und Ingvar haben intravenös injiziertes 195m-Gold mit Erfolg verwendet. Mit diesem Indikatormaterial konnten sie in ganz wenigen Sekunden hoch auflösende »Karten« anfertigen (Risberg, 1987, 1989; Tulving,1989a,1989b) und verschafften den Forschern damit einen beträchtlichen Spielraum zur Sammlung von Daten im Bereich der Kognition.
Das Mikroskop und das Teleskop haben riesige Bereiche unerwarteter wissenschaftlicher Entdeckungen erst möglich gemacht.Heutzutage,da wir ▼
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CAT-Verfahren in der Welt von morgen
das System des Gehirns, das wir für normale und pathologische Gedanken nutzen, durch neue bildgebende Verfahren visuell darstellen können,steht uns vielleicht eine ähnliche Möglichkeit im Bereich der menschlichen Kognition zur Verfügung. Michael I. Posner
Gedächtnis und Positronenemissionstomographie. Für
Kognitionspsychologen ist die Nutzung der Muster der kortikalen Durchblutung in der Gedächtnisforschung von besonderem Interesse. Obwohl die Gedächtnisforschung detailliert in mehreren der noch folgenden Kapitel behandelt wird, widmen wir uns hier einigen Themen aus dem Bereich des Gedächtnisses, die speziell etwas mit der Tomographie des Gehirns zu tun haben. In den vergangenen Jahren hat Tulving eine Gedächtnistheorie entwickelt, in der zwei einzigartige Typen des Gedächtnisses postuliert werden: das episodische und das semantische Gedächtnis oder das Gedächtnis für persönliche Ereignisse und das Gedächtnis für allgemeines Wissen. In einem Ex-
periment (Tulving, 1989a) wurden die Versuchspersonen gebeten,still zuerst an ein episodisches (persönliches) Ereignis und dann an etwas Allgemeines zu denken.Die Forschung wurde mit einem hoch auflösenden System (Cortexplorer 256-HR) durchgeführt, das von Risberg entwickelt worden war. Als Indikator wurde eine kleine Menge radioaktiven Goldes mit einer Halbwertzeit von nur 30 Sekunden in den Blutstrom der Versuchspersonen injiziert. Die Durchblutung wurde dadurch kontrolliert, dass man die Anzahl der Marker etwa sieben bis acht Sekunden nach der Injektion des radioaktiven Goldes erfasste. Diese Anzahl in jedem einzelnen Areal wurde durch eine Batterie von 254 extrakranialen Gammastrahlendetektoren gemessen, die den Kopf der Versuchsperson eng anliegend umgaben. Jeder einzelne Detektor tastete ein Gebiet von etwa einem Quadratzentimeter ab und erzeugte eine farbige zweidimensionale Darstellung des Gehirns, die aus 3000 Pixeln bestand.Über eine Zeit von 2,4 Sekunden hinweg wurden zahlreiche Messungen durchgeführt und mit Hilfe geeigneter Computertransformationen sichtbar gemacht.Die Ergebnisse eines rCBF (lokale zerebrale Durchblutung oder regional cerebral bloodflow) an einer Ver-
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
suchsperson sind farbig auf der Innenseite des Buchumschlags (oben) dargestellt. Wenn wir diese Bilder verstehen wollen,setzt dies eine gewisse Erfahrung voraus. Aber wir können sofort allgemeine Unterschiede in den Mustern der Durchblutung,eigentlich der neuronalen Aktivität,erkennen,die mit unterschiedlichen Bereichen des Gehirns zusammenhängen.Es scheint so, als wäre ein Abruf aus dem episodischen (persönlichen) Gedächtnis mit einer stärkeren Aktivierung im vorderen Teil des zerebralen Kortex verbunden und ein Abruf aus dem semantischen (allgemeinen) Gedächtnis mit einer stärkeren Aktivierung der hinteren Regionen. Bevor jedoch eindeutige theoretische Aussagen gemacht werden können, sind weitere Arbeiten erforderlich, aber man kann mit einiger Gewissheit die Schlussfolgerung ziehen, dass am episodischen und am semantischen Gedächtnissystem unterschiedliche Gehirnprozesse beteiligt sind und dass jedes einzelne System an einem besonderen Ort lokalisiert ist. Dies wiederum ist ein Hinweis darauf, dass wir möglicherweise mehrere Gedächtnissysteme haben. Derartige Beobachtungen stimmen auch mit pathologischen Untersuchungen von Läsionen und einem danach auftretenden episodischen Gedächtnismangel überein ( siehe Milner, Petrides & Smith, 1985; und zu den Einzelheiten Schacter, 1987). Bei einem weiteren Versuch, einen direkten Zusammenhang zwischen kognitiven Prozessen und Hirnaktivität zu finden, führten Michael Posner, Steven Petersen und ihre Mitarbeiter am McDonnell Center for Higher Brain Functions an der Washington University eine Reihe von bedeutsamen Experimenten durch, die sich mit der Verarbeitung von Wörtern durch das normale gesunde Gehirn beschäftigten.Um die Durchblutung im Gehirn zu verfolgen, injizierten Peterson, Fox, Posner, Mintun und Raichle (1988) ihren Versuchspersonen bei Anwendung der Positronenemissionstomographie kurzlebige radio-
Steven Petersen hat zusammen mit seinen Kollegen von der Washington University in St. Louis bahnbrechende Arbeiten im Bereich der Positronenemissionstomographie und kognitiver Prozesse geleistet
aktive Isotope. Während des einen Experiments waren in dieser Gruppe vier Phasen zu beobachten: (1) eine Ruhephase, (2) die Darbietung eines einzelnen Wortes auf dem Bildschirm, (3) das laute Lesen des Wortes und (4) das Hervorbringen einer Verwendung für jedes einzelne Wort. Alle Phasen hatten ihre eigene visuelle »Signatur« (siehe die farbige Illustration auf der Innenseite des Einbandes, unten; die Daten zum »Hören« stammen aus einem weiteren Experiment). Wenn sich eine Versuchsperson ein Wort auf dem Bildschirm ansah, war bei diesen Experimenten die okzipitale Region des Kortex aktiviert. Wenn die Versuchsperson ein Wort hörte, war der zentrale Teil des Kortex aktiviert. Wenn sie ein Wort sprach, waren die motorischen Regionen aktiviert. Und wenn sie gebeten wurde, damit zusammenhängende Wörter hervorzubringen (wenn beispielsweise das Wort »Kuchen« dargeboten wurde, sollte die Versuchsperson ein Verb hervorbringen, das zu dem Wort passte, wie etwa »essen«), dann brachte die assoziative Region die größte Menge an Aktivität vor; darüber hinaus wurde aber auch eine allgemeine Aktivität im gesamten Kortex beobachtet. Der spezifische Charakter von Gedächtnisoperationen wurde kürzlich von Daniel Schacter an der Harvard University in einem Experiment untersucht, das sich mit Gedächtniskategorien befasste (siehe die Kapitel über Gedächtnis und Wissensrepräsentation). Nehmen wir einmal an, Sie würden gebeten, die folgende Liste von Wörtern zu lesen: Bonbon, Kuchen, Zucker, Geschmack. Blättern Sie nun bitte zu Seite 63 vor und machen Sie dies bitte, bevor Sie hier weiterlesen. Wenn Sie irrigerweise eines der Items als Item identifiziert haben,das auf der Liste ist (Kognitionspsychologen bezeichnen dies als »falschen Alarm«), oder wenn Sie eines der zuvor aufgeführten Wörter nicht erkannt haben (ein »Fehlschuss«),dann haben Sie die Fehlbarkeit des Gedächtnisses demonstriert. (Wenn man eine Prüfung ablegt, geschieht natürlich häufig genau das.) Auch können Sie eines oder mehrere der oben erwähnten, gerade gelesenen Wörter korrekt erkannt haben. Dieses korrekte Erkennen wird als »Treffer« bezeichnet. Treten ein Treffer und ein falscher Alarm im selben Teil des Gehirns auf? Um diese Frage zu beantworten, mussten die Versuchspersonen eine Reihe von Wörtern lesen, die in die gleiche Kategorie gehörten, wie dies ja auch bei der obigen Wortreihe der Fall war. Dann wurde ihnen zehn Minuten später die Liste gezeigt und sie wurden gefragt, ob sie die Wörter zuvor gehört hätten oder nicht. Während die Versuchsper-
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Werden Wörter an derselben Stelle im Gehirn verarbeitet? Nach Untersuchungen mit der Positronenemissionstomographie zur Verarbeitung von Wörtern stimmt dies keineswegs. Präsentiert man Versuchspersonen ein Wort, das sie sich ansehen sollen, werden Teile der okzipitalen Region aktiviert (A). Hören sie sich Wörter an, wird der obere temporale Kortex aktiviert (B). Wenn sie sprechen, werden Teile des primären motorischen Kortex aktiviert (C), und, wenn sie Verben hervorbringen, sind daran der Frontallappen und der mittlere Temporallappen beteiligt (D) (nach Peterson et al., 1988)
sonen über ihre Entscheidung nachdachten, wurde ihre Hirnaktivität mit Hilfe von PET-Maßen kontrolliert. In ⊡ Abb. 2.11 sehen Sie die Ergebnisse. Während eines Treffers und während eines falschen Alarms wird der mediale Temporallappen aktiviert, aber nur während eines Treffers ist die temporale Parietalregion (rechts), in der Töne verarbeitet werden, aktiv. Es ist bekannt, dass korrekte Erinnerungen gewöhnlich mit mehr physischen und sensorischen Einzelheiten einhergehen als falsche Erinnerungen. Letztere weisen gewöhnlich eine Aktivität im frontalen zerebralen Kortex auf, in dem die Entscheidungsfindung und das assoziative Gedächtnis lokalisiert zu sein scheinen. Es ist
fast so, als hingen falsche Erinnerungen mit einer Suche nach sensorischen Belegen zusammen. Die zerebralen Wanderbewegungen beim Erzeugen eines falschen Alarms haben ihren Ursprung im medialen Temporallappen, der aktiv ist, wenn eine allgemeine Abfrage aus dem Gedächtnis erfolgt; und sie bewegen sich dann in höhere assoziative Regionen. Während des Rekonstruktionsprozesses können ähnliche Erinnerungen irrtümlicherweise für reale Erinnerungen gehalten werden. Aus den Befunden ergeben sich weit reichende Schlussfolgerungen für das so genannte »False Memory Syndrome«; dies stand während des letzten Jahrzehnts bei vielen Gerichtsverfahren, in denen es um die Glaubwür-
⊡ Abb. 2.11. Der mittlere Temporallappen ist sowohl bei echten (links) als auch bei irrtümlichen (Mitte) Erinnerungen aktiv. Doch nur
bei echten Erinnerungen zeigt sich eine Aktivität in der temporalen Parietalregion (rechts), in der Töne verarbeitet werden
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54
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
digkeit von Augenzeugen ging, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Obwohl die PET-Technologie noch in den Kinderschuhen steckt und sie wahrscheinlich in Zukunft weiterentwickelt werden wird, zeigte sich, dass sie einen spürbaren Effekt auf die Kartierung von Hirnfunktionen hat.Zudem ist wahrscheinlich,dass sich weitere Technologien entwickeln werden. Aber auch in der jetzigen Phase hatten die frühen Ergebnisse bereits eine bedeutsame Auswirkung auf die kognitive Psychologie und ihre Nachbarwissenschaften. Beispielsweise mag das Thema Lokalisierung von Hirnfunktionen,das zusammen mit den Phrenologen fragwürdig geworden war, wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen – doch ich möchte rasch hinzufügen, dass die Vorgehensweisen und die allgemeine Theorie der Phrenologie nicht im Begriff ist, wieder an wissenschaftlicher Reputation zu gewinnen! Und auch besteht kein Zweifel daran, dass viele der Hirnfunktionen die kooperative Integration weit verteilter Bereiche des Gehirns erforderlich machen. Angesichts erster eindrucksvoller Untersuchungen scheint es jedoch richtig zu sein, dass es eine erstaunliche Anzahl bereichsspezifischer Aktivitäten gibt, die an komplexen kognitiven Aufgaben beteiligt sind, wie etwa an speziellen Arten der Sprachverarbeitung und der Aufmerksamkeit. Man hat beispielsweise herausgefunden, dass bestimmte hintere Hirnregionen aktiviert sind, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf reale Wörter richten, wie etwa den Text, den Sie jetzt lesen. Bei sinnlosen Wörtern jedoch werden diese Zentren nicht aktiviert.Außerdem werden spezifische frontale und temporale Areale des Gehirns aktiviert, wenn Versuchspersonen gebeten werden, anzugeben, ob ein Substantiv verwendet worden ist (so etwa Hammer – Pfund), oder wenn Substantive in Kategorien eingeteilt werden (Hammer – Werkzeug; Näheres siehe McCarthy et al., 1993; Petersen et al., 1990; Petersen & Fiez, 1993; Posner, 1992; Posner et al., 1994).
Die oben genannten Untersuchungen machen sich die aktuellen Fortschritte im Bereich der Neurowissenschaft zunutze, die unser Wissen über Kognition, Denken und Gedächtnis,aber auch über die Eigenheit des Gehirns und seiner Funktionen erweitern. Wir wollen uns nun dem Thema der Spezialisierung der Hemisphären zuwenden.
2.7
Eine Geschichte über zwei Hemisphären
Wenn Sie bei einem beliebigen Menschen die Schädeldecke entfernen,dann sehen Sie ein Gehirn mit zwei deutlich erkennbaren Teilen, jedes etwa von der Größe einer Faust: die rechte und die linke Hemisphäre des zerebralen Kortex. Obwohl sie genau gleich auszusehen scheinen, unterscheiden sich die beiden Teile erheblich in ihrer Funktion. Man kennt diesen Unterschied beim Menschen seit Jahrhunderten und er wurde auch bei den meisten Säugetieren und bei vielen Wirbeltieren beobachtet. Welchen Sinn die Kontralateralität erfüllt, ist immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Aber sie hat etwas zu der Theorie beigetragen, dass die beiden Hemisphären deutlich unterschiedliche Funktionen erfüllen. Es gibt eine Vielfalt wissenschaftlicher ( siehe Kandel, Schwartz & Jessell, 1991; Kupferman, 1981; Sperry, 1982) und populärer ( siehe Ornstein, 1972) Vorstellungen über die Funktionen der Hemisphären. (Ein Autor behauptet sogar, dass der östliche Mystizismus und der westliche Rationalismus etwas mit der rechten und der linken Hemisphäre zu tun haben.) Über klinische Befunde zur Kontralateralität berichteten bereits die alten Ägyptern Doch erst während des letzten Jahrhunderts entwickelte sich die wissenschaftliche Bestätigung der These von den entgegengesetzten Funktionen; damals hatten Hirnchirurgen bemerkt, dass Tumoren und Exzisionen in der linken Hemisphäre andere Auswirkungen hervorriefen als eine ähnliche Pathologie in der rechten Hemisphäre. Eine Schädigung der linken Hemisphäre führte zu einer Sprachbehinderung,während man bei Patienten mit einer Schädigung in der rechten Hemisphäre beobachtete,dass sie Schwierigkeiten dabei hatten, sich selbst anzuziehen. Weitere Hinweise auf eine funktionelle Asymmetrie tauchten in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts auf, als Ärzte bei der Behandlung von Patienten mit einer schweren Epilepsie das Corpus callosum durchtrennten – das mächtige Nervenbündel, das die beiden Hemisphären miteinander verbindet (siehe Bogen & Vogel, 1962). Die Chirurgen hofften die Auswirkungen eines epileptischen Anfalls auf eine Hemisphäre zu begrenzen, indem sie das Gewebe durchtrennten, das die beiden hauptsächlichen Hirnstrukturen miteinander verbindet (ein Vorgehen, das als zerebrale Kommissurotomie bezeichnet wird).Offensichtlich funktionierte das. (Eine derartig radikale Operation wird heute gewöhnlich nicht mehr durchgeführt.)
55 2.7 · Eine Geschichte über zwei Hemisphären
EEG und die »Schatten des Denkens« Kürzlich haben Alan Gevins und seine Kollegen vom EEG Systems Laboratory in San Francisco ein »Super«-EEGSystem entwickelt, das sie Mental Activity Network Scanner (MANSCAN) nannten und das 250 Bilder zerebraler Aktivität pro Sekunde aufzeichnen kann. Darüber hinaus erfolgen die EEG-Aufzeichnungen blitzschnell – etwa innerhalb einer Tausendstelsekunde. Dies ist ein wirklicher Vorteil gegenüber anderen bildgebenden Verfahren, die in manchen Fällen viele Sekunden zur Aufnahme eines Bildes benötigen. Seit vielen Jahren sind herkömmliche EEG-Aufzeichnungen dazu verwendet worden, die schwachen elektrischen Signale aus dem Gehirn aufzunehmen. Durch Studien zu traditionellen EEG-Aufzeichnungen entdeckte man Betawellen geringer Amplitude, die mit Wachheit und Aufmerksamkeit einhergehen, und langsame hohe Alphawellen, die mit Ruhe und Entspannung verbunden sind. Bei MANSCAN wird ein weicher Helm mit 124 Elektroden am Kopf der Versuchsperson fixiert und Computer verfolgen die wechselnden Zentren elektrischer Aktivität. Die schwachen elektrischen Impulse, die von den Elektroden aufgefangen werden, werden in einer hoch auflösenden Darstellung des Gehirns in der Kernspintomographie eingetragen. Sie vermittelt einen dynamischen Eindruck von dem, was Gevins als »Schatten des Denkens« bezeichnet. In der hier gezeigten Abbildung sind Hirnstrombilder von fünf Menschen darge-
Split-brain-Forschung. Ebenfalls in den Fünfzigerjahren
des 20. Jahrhunderts untersuchte Roger Sperry am California Institute of Technology Tiere im Hinblick auf die Auswirkungen der so genannten Split-brain-Prozedur,der operativen Trennung der beiden Hirnhälften. Die Hauptstoßrichtung dieser Arbeit bestand darin, die unterschiedlichen Funktionen zu bestimmen,die mit jeder einzelnen der beiden Hemisphären verbunden sind.Von besonderem Interesse waren die Befunde von Myers und Sperry (1953),dass Katzen,die man dieser Prozedur unterzogen hatte, sich so verhielten, als hätten sie zwei Gehirne, von denen jedes unabhängig vom anderen in der Lage war, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten,zu lernen und Informationen zu erinnern. Sperry und seine Kollegen, vor allem Michael Gazzaniga, hatten die Möglichkeit, menschliche Patienten zu
stellt (siehe Gevins & Cutillo, 1993). In der linken Abbildung warten die Versuchspersonen darauf, dass eine einzelne Zahl auftritt. In der rechten Abbildung müssen die Versuchspersonen sich an zwei Ziffern erinnern, während sie darauf warten, dass eine dritte erscheint. Wie gezeigt findet bei der komplexeren Aufgabe mehr Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Bereichen des Gehirns statt, wohingegen eine relativ einfache EEG-Aktivität bei der leichten Aufgabe zu beobachten ist. Es mag sein, dass diverse mentale Operationen erforderlich sind, wenn man etwas im Gedächtnis behält, während man andere Ereignisse beobachtet.
untersuchen,die sich einer Kommissurotomie unterzogen hatten. In einer Untersuchung (Gazzaniga, Bogen & Sperry, 1965 ) beobachteten sie, dass ein Patient, dem man einen Alltagsgegenstand wie etwa eine Münze oder einen Kamm in die rechte Hand gegeben hatte, diesen verbal identifizieren konnte, weil die Informationen von der rechten Körperseite in die linke Hemisphäre gelangten, wo das Zentrum der Sprachverarbeitung sitzt. Gab man dem Patienten den Alltagsgegenstand jedoch in die linke Hand, konnte er ihn nicht verbal beschreiben. Er konnte zwar auf ihn aufmerksam machen, jedoch nur, indem er seine linke Hand leicht anhob.
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
Kritisch hinterfragt: Augenbewegungen und hemisphärische Verarbeitung
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Probieren Sie dieses kleine Experiment selbst einmal aus. Bitten Sie einen Freund, die folgende Frage zu beantworten: »Was bedeutet es, wenn wir sagen: ›Fakten sind die Verkürzung des Wissens?‹« Hat Ihr Freund seine Augen nach rechts bewegt? Fragen Sie nun: »Stell dir deine Wohnung vor und zähl die Anzahl der Fenster.« Schauten die Augen nach links? Im Allgemeinen geht vor allem bei
Die Studien, die von dieser Gruppe und von anderen durchgeführt worden waren,deuteten darauf hin,dass die linke Hemisphäre tatsächlich mit speziellen Funktionen in Zusammenhang gebracht werden kann (wie etwa der Sprache, der Begriffsbildung, der Analyse und der Klassifikation). Die rechte Hemisphäre hat etwas zu tun mit der Integration von Informationen über die Zeit hinweg (wie etwa in der Kunst und der Musik), mit der räumlichen Verarbeitung,mit dem Erkennen von Gesichtern und Formen sowie mit solchen profanen Aufgaben wie, sich in einer Stadt zurechtzufinden oder sich anzuziehen.Diese Befunde werden gewöhnlich als Beleg für die These von der Lokalisierung von Funktionen gewertet. Später durchgeführte Arbeiten deuteten jedoch darauf hin,dass die rechte Hemisphäre zu mehr sprachlicher Verarbeitung, vor allem zur Verarbeitung geschriebener Sprache,imstande ist, als man ursprünglich glaubte. Außerdem zeigten junge Patienten gut entwickelte Fähigkeiten in beiden Hemisphären (Gazzaniga,1983).Insgesamt legen diese Beobachtungen den Gedanken nahe,dass es im sich entwickelnden menschlichen Gehirn eine beträchtliche Plastizität gibt und dass die Funktionen nicht so klar voneinander getrennt sind, wie man dies einmal annahm.Vielmehr han-
Roger Sperry (1924–1994), Nobelpreisträger, war ein Pionier der Split-brainForschung, die ein neues Forschungsgebiet mit weit reichenden Auswirkungen auf die Hirnforschung eröffnete
Rechtshändern die Aktivierung von Funktionen der linken Hemisphäre – jene, die mit Sprachverarbeitung verbunden sind – mit Aktivitäten der rechten Körperhälfte oder mit rechtsseitigen Orientierungen einher. Dagegen treten Funktionen der rechten Hemisphäre – jene, die mit visuellen oder räumlichen Aufgaben verbunden sind – zusammen mit Aktivitäten der linken Körperhälfte auf.
delt es sich um Aufgaben, die verschiedene Regionen und Hemisphären gemeinsam erfüllen. Ein großer Teil der aktuellen Arbeiten auf dem Gebiet der Hemisphärenspezialisierung beschäftigt sich mit der visuellen Wahrnehmung, der ein einzigartiges System der Verarbeitung kontralateraler Informationen eigen ist. Sehen Sie sich einmal die Anatomie des visuellen Systems genauer im Hinblick auf die beiden Hemisphären an (⊡ Abb. 2.12). Wie dargestellt folgt die Verarbeitung der visuellen Informationen zumindest teilweise dem Kreuzungsprinzip. Lichtinformationen (beispielsweise die Reflexionen des Lichts von dem Text, den Sie gerade lesen) werden ursprünglich von den rezeptiven Nervenzellen in den Augen aufgenommen. Das System der Nervenbahnen, die von jedem der beiden Augen ausgehen, zum Gehirn ist komplizierter als das anderer sensorischer Systeme. Etwa die Hälfte der Nervenfasern, die von jedem der beiden Augen ausgehen, folgt dem Prinzip der Kontralateralität, bei der anderen Hälfte ist dies jedoch nicht der Fall. Das heißt, dass sie auf derselben Seite enden wie die, auf der der Reiz eingetroffen ist. Betrachten Sie einmal das linke Auge, wie es in ⊡ Abb. 2.12 dargestellt ist. Die Informationen,die auf der rechten Seite seiner Retina (die Licht wahrnehmende Membran an der Rückseite des Auges, grau schattiert) eintreffen, stehen mit der rechten Hemisphäre in Verbindung und Informationen, die auf der linken Seite seiner Retina eintreffen, sind mit der linken Hemisphäre verbunden. Die gleiche Art von Routenbildung trifft auf das rechte Auge zu. Wenn das Corpus callosum wie beim Split-brain-Verfahren durchtrennt wird, dann würden die etwa auf der rechten Retina des rechten Auges eintreffenden Informationen in der rechten Hemisphäre »in eine Falle« geraten, weil das Corpus callosum die Verbindung zwischen den Hemisphären darstellt.Entsprechend würden Informatio-
57 2.7 · Eine Geschichte über zwei Hemisphären
⊡ Abb. 2.12. Schematische Darstellung der Nervenbahnen zwischen der jeweiligen Retina und der rechten und linken Hemisphäre. Beachten Sie, dass einige der Nervenfasern von jedem der beiden Augen am optischen Chiasma zur gegenüberliegenden Hemisphäre kreuzen und einige nicht
nen,die auf die linke Retina des linken Auges einträfen,auf die linke Hemisphäre begrenzt. Experimente auf diesem Gebiet haben zu faszinierenden Ergebnissen geführt: Verbindet man einer Versuchsperson mit operativ getrennten Hirnhälften die Augen, gibt man ihr einen Alltagsgegenstand (wie etwa einen Ball oder eine Schere) in die eine Hand und bittet sie, sich an diesen Gegenstand nur durch Tasten zu erinnern,kann die Versuchsperson dies schaffen – aber nur, wenn sie ihn mit derselben Hand abtastet, mit der sie ihn anfangs berührt hat. Bittet man sie, sich an den Gegenstand mit Hilfe der anderen Hand zu erinnern, zeigen die Ergebnisse, dass die Versuchsperson dies nur mit einer Genauigkeit leisten kann,die nicht größer als der Zufall ist. Bei ähnlich gearteten Untersuchungen blickt eine Versuchsperson auf einen bestimmten Punkt. Es ist dann möglich, einen visuellen Reiz darzubieten, der in eine solche Position gebracht worden ist, dass er entweder von der rechten oder der linken Seite der Retina wahrgenommen wird. ⊡ Abb. 2.13 veranschaulicht das Gerät, das bei
dieser Art von Studien verwendet wird. In einem typischen Experiment wird einem Patienten, der sich einer Kommissurotomie unterzogen hatte, ein Reiz dargeboten – wie etwa ein Bild oder ein Wort rechts oder links vom Fixationspunkt –,sodass die Informationen entweder in der rechten oder linken Hemisphäre aufgenommen werden. Wenn ein Bild (beispielsweise das einer Schere) kurzzeitig links vom Fixationspunkt der Versuchsperson aufblitzt (damit es in der rechten Hemisphäre aufgenommen und verarbeitet wird) und die Versuchsperson dann gebeten wird, den Gegenstand durch Sehen oder Tasten auszuwählen, dann schafft sie dies unter Zuhilfenahme der linken Hand, aber nicht der rechten. Eine ähnlich eindrucksvolle Demonstration des bilateralen Charakters der Hemisphären findet sich in einem oft zitierten Artikel von Levy, Trevarthen und Sperry (1972). Bei diesem Experiment wurde ein Patient mit operativ getrennten Hirnhälften gebeten,auf einen Fixationspunkt zu schauen. Ein schimärenhaftes Gesicht (halb Mann, halb Frau) blitzte kurzzeitig an einer Position des
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
Überprüfung der Syntheseleistung
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Wie das folgende Experiment zeigt, geht nach einer operativen Trennung der Hirnhälften die Fähigkeit verloren, Informationen zu synthetisieren. Der einen Hemisphäre eines Patienten wurde blitzschnell eine Karte mit dem englischen Wort »bow« (Bogen) gezeigt; die andere Hemisphäre sah »arrow« (Pfeil). Weil der Patient einen Pfeil und einen Bogen zeichnete, nahmen meine Kollegen und ich an, dass die beiden Hemisphären – trotz der Durchtrennung des Corpus callosum – immer noch in der Lage waren, miteinander zu kommunizieren, und dass die Wörter in ein sinnvolles Ganzes integriert worden waren. Der nächste Test widerlegte unsere Auffassung. Der einen Hemisphäre präsentierten wir blitzschnell das Wort »sky« (Wolke), der anderen das Wort »scraper« (Kratzer). Das sich daraus ergebende Bild zeigte uns, dass der Patient die Informationen nicht synthetisiert hatte: Es wurde
eine Wolke oberhalb eines kammähnlichen Kratzers und nicht ein hohes Gebäude gezeichnet. Die eine Hemisphäre zeichnete, was sie gesehen hatte, dann schrieb die andere das Wort dafür auf. Bei Pfeil und Bogen führte uns die Überlagerung der beiden Bilder in die Irre, weil das Bild scheinbar integriert war. Schließlich überprüften wir, ob man sehen kann, dass jede einzelne Hemisphäre für sich selbst Wörter integrieren kann. Wir boten der rechten Hemisphäre blitzschnell das Wort »fire« und dann das Wort »arm« an. Die linke Hand zeichnete ein Gewehr (englisch »firearm«) statt eines Arms im Feuer. So wurde deutlich, dass jede einzelne Hemisphäre zur Synthese fähig war. M. S. Gazzaniga Aus Gazzaniga, M. S. (1998). The split brain revisited. Scientific American, 274, 123–129.
59 2.7 · Eine Geschichte über zwei Hemisphären
⊡ Abb. 2.13. Gerät, das bei der Untersuchung von Patienten verwendet wird, deren Hemisphärenverbindungen durchtrennt wurden. Die Versuchsperson blickt auf einen Fixationspunkt auf dem Bildschirm. Für einen Augenblick wird ein Bild oder ein Wort auf dem Bildschirm so dargeboten, dass es von einer Hemisphäre verarbeitet werden kann. Die Versuchsperson wird dann gebeten, den Gegenstand, der sich außerhalb des Gesichtsfelds befindet, in die Hand zu nehmen
Bildschirms auf, die die Verarbeitung des Gesichts der Frau in der rechten Hemisphäre und des Gesichts des Mannes in der linken begünstigte (⊡ Abb. 2.14). Die Versuchsperson berichtete nichts Ungewöhnliches über das zusammengesetzte Bild, auch wenn jede einzelne Hemisphäre ein anderes Gesicht wahrnahm. Wenn die Versuchsperson gebeten wurde, etwas über das Gesicht zu sagen, dann beschrieb sie verbal die Eigenschaften eines Mannes; dies stützt die These von der Konzentration verbaler Informationen auf der linken Seite des Gehirns. Wenn sie jedoch gebeten wurde,das Gesicht aus einer Vielzahl von Fotos auszuwählen, entschied sie sich für das einer Frau; dies stützt die Hypothese von der Konzentration bildlicher Informationen auf der rechten Seite des Gehirns (zur genaueren Behandlung der zerebralen Spezialisierung siehe Bradshaw & Nettleton, 1983; Springer & Deutsch, 1984). Kognitive Studien mit unversehrten Versuchspersonen.
Wegen der besonderen neuronalen Bahnen, die in die visuelle Verarbeitung einbezogen sind (⊡ Abb. 2.12), ist es möglich, Lateralisierungsexperimente mit Versuchspersonen durchzuführen, deren Corpus callosum intakt ist. Offensichtlich ist es weitaus einfacher, nicht beeinträchtigte Versuchspersonen zu finden als solche mit einer Kommissurotomie; infolgedessen wurde ein großer Teil der kognitiven Experimente an dieser Stichprobe durch-
geführt. Auch ist die Vorgehensweise relativ unkompliziert und es wurden handelsübliche Geräte verwendet. Im klassischen Fall notiert man das Geschlecht einer Versuchsperson und fragt sie, ob sie Rechts- oder Linkshänderin ist. Anschließend bitte man sie, auf einen zentralen Punkt zu blicken, der auf einem Computerbildschirm oder in einem Tachistoskop dargeboten wird. Es wird ein Wort, eine Farbe oder irgendeine andere Art von visueller Information für einen Augenblick entweder rechts oder links vom Fixationspunkt gezeigt. Die Information, die rechts vom Fixationspunkt präsentiert wurde, kreuzt zur linken Hemisphäre und die Information links davon kreuzt zur rechten Hemisphäre. Typischerweise wird die Versuchsperson dann gebeten, irgendeine Art von Entscheidung über die visuelle Information zu treffen (beispielsweise: War es ein Wort?), und ihre Reaktionszeit wird aufgezeichnet. Der Grundgedanke, der mit diesem Versuchsaufbau verfolgt wird, besteht darin, dass der Zugriff auf die Information, wenn sie normalerweise in der einen oder in der anderen Hemisphäre verarbeitet wird, schnell erfolgen sollte. Wird die Information ursprünglich in der »falschen« Hemisphäre verarbeitet,so muss sie zur Verarbeitung an die »richtige« Hemisphäre weitergeleitet werden. Das ist eine Operation, die Zeit beansprucht. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Zeiten, um die es bei diesen Experimenten geht, tatsächlich sehr kurz sind und dass ein Unterschied von 50 Milli-
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60
Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
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Stimmliche Benennung
Visuelles Erkennen
⊡ Abb. 2.14. Präsentation eines schimärenhaften Gesichts (A), wie sie bei Patienten mit Kommissurotomie verwendet wird. Jede Einzelne der beiden Hemisphären scheint voneinander getrennte Bilder zu erfassen: Die linke (B) registriert das Gesicht eines Mannes, die rechte (C) das einer Frau. Bittet man die Versuchsperson, das Gesicht zu beschreiben, bezeichnet sie es verbal als einen Mann. Bittet man sie jedoch, auf eines aus einer Reihe von Bildern mit Gesichtern zu zeigen, wählt sie das einer Frau aus
sekunden als groß angesehen wird. Selbstverständlich sind für diese Art von Forschung sehr präzise Zeitmessinstrumente erforderlich. Wissenschaftler haben diese Technik mit Erfolg verwendet, bei der zur Beurteilung der Informationsverarbeitung ein kurzzeitiger Reiz rechts oder links vom visuellen Feld präsentiert wird.Einen Überblick über die Ergebnisse der Forschung finden Sie in ⊡ Tabelle 2.1. Es sei angemerkt, dass die Ergebnisse in diesem Bereich allerdings fragwürdig sind. Dies kann auf ein fehlerhaftes Forschungsdesign, auf die Variablen zur Versuchsperson und auf einen Misserfolg bei der Replikation früherer Experimente zurückgehen. Trotzdem haben diese Befunde im Allgemeinen bestätigt,dass Wörter und Buchstaben zu einer Überlegenheit der linken Hemisphäre führen, Gesichter und schräge Linien zu einer Überlegenheit der rechten Hemisphäre. Andere Studien deuten auf Geschlechtsunterschiede (Boles, 1984), Unterschiede bei der auditorischen Verarbeitung (Ivry & Lebby,1993),bei der länger anhaltenden visuellen Aufmerksamkeit (Whitehead, 1991), bei der Bildung von Prototypen (Rees, Kim & Solso, 1993) sowie bei der Frage der Rechts- oder Linkshändigkeit (Annett, 1982) hin. Diese Untersuchungen verweisen auch darauf, dass spezielle Arten visueller Reize unterschiedliche Auswirkungen haben, was wiederum von der Hemisphäre abhängt, in der das Material verarbeitet wird (Boles, 1987).(Zu Überblicksbeiträgen siehe Chiarello,1988; Kosslyn, Sokolov & Chen, 1989; Bradshaw & Nettleton, 1981; Springer & Deutsch, 1981.) Den Grund für die Lateralität kann man nicht so gut erklären wie die Tatsache, dass sie, vor allem beim Menschen, konsistent auftritt. Eine faszinierende Hypothese vom Corballis (1989) gibt dem Phänomen eine evolutionäre Basis: Die Geschichte der Evolution des Menschen zeigt, dass sich Rechtshändigkeit,Werkzeuggebrauch und die Entwicklung linkshemisphärischer Mechanismen für die Verwendung von Sprache bei den Hominiden bereits vor zwei oder drei Millionen Jahren herausbildete und Grundlage für die Herausbildung komplexerer Funktionen war. Corballis (1989) schrieb: » Mit dem Auftauchen des Homo erectus, der ein größeres Gehirn hatte, wurde die Werkzeugkultur beginnend in einer Zeit vor 1,5 Millionen Jahren komplexer. Eine wirklich flexible Werkzeugkultur und die schnelle, flexible Sprache des modernen Menschen hat sich womöglich erst viel später entwickelt, vielleicht vor 150 000 Jahren,als sich der Homo sapiens sapiens in Afrika anschickte, in der Folgezeit die Erde zu bevölkern« (S. 499). Nach Corballis kann die Evolution der
61 2.7 · Eine Geschichte über zwei Hemisphären
⊡ Tabelle 2.1. Zusammenfassung der Forschung zu zerebralen Funktionen
Funktion
Linke Hemisphäre
Rechte Hemisphäre
Auditorisches System
Mit der Sprache zusammenhängende Töne
Musik, Töne aus der Umwelt
Räumliche Prozesse
Unbekannt
Geometrie, Sinn für Richtungen, mentale Rotation geometrischer Formen
Somatosensorisches System
Unbekannt
Taktiles Erkennen, Entziffern der Brailleschrift (Blindenschrift)
Gedächtnis
Verbales Gedächtnis
Nonverbales Gedächtnis
Sprachverarbeitung
Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen
Metrische Prosodie
Visuelles System
Buchstaben, Wörter, surrealistische Kunst
Geometrische Muster, Gesichter, realistische Kunst
Bewegung
Komplexe willkürliche Bewegungen
Bewegungen mit räumlichen Mustern
Hemisphärenspezialisierung mit der Flexibilität des Denkens und der Generativität oder mit der Fähigkeit zusammenhängen, Elemente unter Verwendung von Regeln zu kombinieren, um neue Assoziationen zu erzeugen – seien es nun Wörter, Sätze oder komplexe Werkzeuge. Die Generativität ist vielleicht etwas, das den Menschen auszeichnet, und sie hängt mit der linken zerebralen Hemisphäre zusammen. Corballis’ Theorie ist faszinierend, aber sie sollte vor dem Hintergrund der Studien gesehen werden, die zur Sprachverarbeitung und zum Werkzeuggebrauch bei Schimpansen und Menschenaffen durchgeführt wurden ( siehe Gardner & Gardner, 1969). Es ist sicher lohnenswert,die weiteren Entwicklungen auf diesem Gebiet zu beobachten. So eindrucksvoll diese Experimente auch sind,sie sollten im Hinblick auf den unterschiedlichen Charakter der beiden Hemisphären in einem größeren Kontext gesehen werden. Obwohl eine beträchtliche Anzahl sorgfältig durchgeführter Experimente und Veranschaulichungen darauf hindeutet, dass einige Funktionen in spezifischen Zentren des Kortex lokalisiert sind, ist es wahrscheinlich, dass die zerebrale Verarbeitung auch über andere Bereiche des Gehirns verteilt ist.Trotz der Hemisphärenspezialisierung scheint das Gehirn als holistisches Organ zu funktionieren. Es sollte erwähnt werden, dass viele der hier berichteten Forschungsparadigmen mit Patienten arbeiteten, deren Corpus callosum durchtrennt worden war. Die Studien waren von vornherein so angelegt, dass sie den
doppelseitigen Charakter des menschlichen Gehirns demonstrierten.Beim Normalmenschen ist das Gewebe,das die beiden Hemisphären verbindet, unversehrt – die Hemisphären arbeiten zusammen und zwischen ihnen findet eine massive »Kommunikation« statt.
2.7.1 Kognitive Psychologie
und Hirnforschung Bei dem Bemühen, den menschlichen Geist besser zu verstehen, haben die Kognitionspsychologen ein stärkeres Interesse am Organ des Mentalen entwickelt – dem Gehirn. Ihr Interesse an der Hirnforschung entsprach dem der Hirnforscher, die in der kognitiven Psychologie nach Modellen der menschlichen Informationsverarbeitung suchten.Wir haben erfahren, dass sich im Gehirn des Menschen sowohl eine Spezialisierung als auch Mannigfaltigkeit von Funktionen finden lässt. Das Nervensystem scheint ein massiv parallel verarbeitendes System zu sein und dies ist – so nimmt man an – für die rasche,komplexe und kreative Informationsverarbeitung erforderlich. Entdeckungen in der Hirnforschung hatten eine unmittelbare Auswirkung auf die kognitive Psychologie und auf die Informatik. Theorien der Informationsverarbeitung haben Wissen aus der Neurowissenschaft miteinbezogen. Ein Beispiel dafür ist das neuerliche Interesse an
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Kapitel 2 · Kognitive Neurowissenschaft
den PDP-Modellen, die von neuronalen Vorstellungen beeinflusst sind. Im Bereich der Informatik beobachten wir ein neu erwecktes Interesse an der Computermodellie-
rung,nicht nur um Funktionen zu ermöglichen,die denen des Menschen ähnlich sind, sondern auch um neuronale Netze in ihrer Architektur nachzuahmen.
2 Zusammenfassung 1. Das Leib-Seele-Problem wird seit Jahrhunderten diskutiert. Der Begriff »Leib« bezieht sich auf die Funktionen des Körpers, speziell des Gehirns. 2. Unter Verwendung der Technik der lokalen zerebralen Durchblutung (rCBF) fand Tulving spezifische Bereiche im Gehirn, die bei einer episodischen Gedächtnisverarbeitung aktiv sind, und andere Regionen, die bei einer semantischen Gedächtnisverarbeitung aktiv sind. 3. Bei der Neurokognition geht es um die wissenschaftliche Untersuchung der Zusammenhänge zwischen kognitiver Psychologie und Neurowissenschaft. Es gibt mehrere Gründe für die Verwandtschaft zwischen Psychologie und Neurowissenschaft. Dazu gehören: das Bedürfnis, physische Belege für die theoretischen Eigenschaften des Mentalen zu finden; das Bedürfnis der Neurowissenschaftler, umfassendere Modelle für den Zusammenhang zwischen Gehirn und Verhalten zu finden; das Bedürfnis, Zusammenhänge zwischen Gehirnpathologie und Verhalten zu finden; der zunehmende Einsatz der von neuronalen Vorstellungen inspirierten Modelle der Kognitionswissenschaft;
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die zunehmende Verwendung von Computern zur Modellierung neuronaler Funktionen; die Entdeckung von Techniken, die die Fähigkeit verbessern, Hirnstrukturen klar darzustellen. Der grundlegende Baustein des Nervensystems ist die Nervenzelle, deren Hauptbestandteile die Dendriten, der Zellkörper, das Axon und die synaptische Verbindung ist, an der sich die neuronale Übertragung abspielt. Die Neurologen haben lange darüber gestritten, ob die Funktionen des Gehirns lokalisierbar sind. Heute können wir sagen, dass einige grobe Funktionen lokalisierbar sind (beispielsweise die Sprache), dass die Funktionen aber im Allgemeinen über das Gehirn verteilt sind. In jüngerer Zeit haben Hirnforscher Techniken entwickelt, die es gestatten, die Hirnaktivität hoch auflösend graphisch darzustellen. Zu diesen Techniken gehören die Kernspintomographie, die Positronenemissionstomographie und die Computertomographie, aber auch andere bildgebende Verfahren. Die Split-brain-Forschung und die kognitive Forschung deuten darauf hin, dass sich die Informationsverarbeitung in der rechten Hemisphäre von der in der linken Hemisphäre unterscheidet.
63 2.7 · Eine Geschichte über zwei Hemisphären
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
aggregierte Feldtheorie Assoziation Axon Corpus callosum Dendriten Elektroenzephalographie (EEG) Fissuren frontal Gyri kognitive Neurowissenschaft Kontralateralität Leib-Seele-Problem Lokalisationslehre Massenaktion Neurokognition Neuropsychologie Neurotransmitter okzipital parietal Perceptrons Phrenologie präsynaptische Endigungen Retina Sulci Synapse temporal Tomogramm Zellkörper Zentralnervensystem zerebrale Kommissurotomie zerebrale Hemisphären
Literaturempfehlungen Der Bereich der Neurokognition ist relativ neu und einige der besten Literaturangaben findet man in den aktuellen Ausgaben der Fachzeitschriften. Zu den einschlägigen Periodika gehören u.a. Science, Brain and Behavioral Sciences, Cortex, Journal of Neurophysiology, Psychobiology, Nature, Brain sowie Brain and Cognition. Corballis’ Artikel »Laterality and Human Evolution« erschien in Psychological Review (1989) und der Beitrag von Land and Fernald findet sich im Annual Review of Neuroscience, Volume 15. Einige interessante Bücher sind Restak,The Mind; Blakemore, Mechanics of the Mind; Ornstein, The Psychology of Consciousness und Benson und Zaidel (Hrg.), The Dual Brain: Hemispheric Specialization in Humans. Spezialisierter, aber sehr empfehlenswert sind Principles of Neural Science (3. Auflage); Thompson, The Brain: A Neuroscience Primer (2. Auflage) von Kandel, Schwartz und Jessell und das von Squire und Butters herausgegebene Buch Neuropsychology of Memory und ein von Gazzaniga herausgegebenes umfassendes Werk mit dem Titel The Cognitive Neurosciences.Von besonderem Interesse in Gazzanigas Buch sind die einführenden Kapitel über Gedächtnis von Tulving, über Bewusstsein von Schacter, über Sprache von Pinker, über Denken und bildliche Vorstellung von Kosslyn sowie über Aufmerksamkeit von Posner.
Welches Wort (oder welche Wörter) gehörte(n) zu denen, die Sie gerade gelesen haben? BLUT, SÜSSIGKEIT, ZUCKER? Wie sicher sind Sie sich Ihrer Entscheidung?
2
II
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Mustererkennung und Bewusstsein 3
Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
4
Mustererkennung
5
Bewusstsein
– 129
– 97
– 67
3 Wahrnehmung und Aufmerksamkeit 3.1
Das rechnende Gehirn –69
3.2
Empfindung und Wahrnehmung –70
3.2.1 3.2.2 3.2.3
Täuschungen –70 Vorwissen –70 Prädisposition des Gehirns für die Sensorik –72
3.3
Die Wahrnehmungsspanne –74
3.4
Ikonischer Speicher –75
3.4.1
Effekt der verspäteten Darbietung des Hinweisreizes –76
3.5
Echospeicher –76
3.6
Die Funktion der sensorischen Speicher –78
3.7
Aufmerksamkeit –79
3.8
Verarbeitungskapazität und selektive Aufmerksamkeit –82
3.9
Akustische Signale –82
3.10
Modelle selektiver Aufmerksamkeit –84
3.10.1 3.10.2
Das Filtermodell von Broadbent –84 Das Abschwächungsmodell von Treisman –86
3.11
Visuelle Aufmerksamkeit –89
3.12
Automatische Verarbeitung –90
3.13
Die Neurokognition der Aufmerksamkeit –93
3.13.1 3.13.2
Aufmerksamkeit und das menschliche Gehirn –93 Aufmerksamkeit und PET –94
68
Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Anregungen vorab
3
1. Was meinen wir, wenn wir vom »rechnenden Gehirn« sprechen, und wie hängt dies mit dem Überleben der menschlichen Art zusammen? 2. Warum sind Empfindung und Wahrnehmung wichtige Themen für Kognitionspsychologen? 3. In welcher Weise tragen Täuschungen dazu bei, dass wir den Zusammenhang zwischen den wahrgenommenen Dingen und den hypothetischen Dingen besser verstehen? 4. Was sind der ikonische Speicher und der Echospeicher und helfen sie uns, die »reale« Welt zu verstehen? 5. Wie definieren Kognitionspychologen Aufmerksamkeit? Geben Sie einige Beispiele für Aufmerksamkeit im Alltag an. 6. Welches sind die hauptsächlichen Theorien der Aufmerksamkeit und wodurch werden sie experimentell gestützt? 7. Was meinen wir, wenn wir von »Verarbeitungskapazität« und von »selektiver Aufmerksamkeit« sprechen? 8. Was ist »automatische Verarbeitung«? Führen Sie aus Ihren eigenen Alltagserfahrungen einige Beispiele für automatische Verarbeitung an. 9. Welche Informationen über Aufmerksamkeit haben bildgebende Verfahren im Bereich der Hirnforschung erbracht?
Sollte uns der Schöpfer einen neuen Apparat von Sinnesorganen schenken oder die jetzigen ein wenig umgestalten, wobei er die übrige Natur unverändert ließe, dann hätten wir nicht den geringsten Zweifel, in einer anderen Welt zu sein. Wir würden uns dann in einer objektiv überprüfbaren Realität befinden, als ob nicht nur unsere Sinne, sondern auch die Welt verändert worden wäre. John Muir
Als Sie heute Morgen aufgewacht sind, haben Sie Ihren kognitiven Computer angestellt, der über Nacht auf niedrigen Touren weitergearbeitet hatte. Als Sie durch das Klingeln des Weckers aus einem unbewussten Zustand herausgerüttelt wurden, nahmen Sie die akustische Welt wahr. Als Sie Ihre Augen öffneten, erblickten Sie die visuelle Welt. Als Sie das volle Aroma frisch gebrühten Kaffees einatmeten, genossen Sie die olfaktorische Welt. Als Sie Wasser über Ihr Gesicht laufen ließen, nahmen Sie die taktile Welt wahr, und als Sie an einem frischen Brötchen knabberten, regten sich Ihre gustatorischen oder Geschmacksempfindungen.Die fünf Sinne – fünf Fenster zur Welt –,nur fünf Wege,um etwas über die Welt zu erfahren. Doch in diesen fünf Kanälen zur »realen Welt« sind die grundlegenden Hilfsmittel enthalten, durch die wir alles Mögliche von Picasso zu Punk-Rock verstehen – dabei wollen wir vom Nebel über dem Ozean,von Bach,Parfüm, Dostojewski, Pfefferminzbonbons, Sonnenuntergängen und körperlicher Intimität gar nicht erst reden.
In diesem Kapitel werden wir herausfinden, wie die Menschen das rechnende Gehirn nutzen, um: ▬ Informationen aus der Umwelt wahrzunehmen; ▬ ihre Aufmerksamkeit auf die Welt zu richten; ▬ während der Anfangsphasen Informationen zu verarbeiten. Wir haben unsere Betrachtungen damit begonnen, dass wir uns die Wahrnehmung sensorischer Signale genauer ansahen, weil dies der erste Schritt zur Informationsverarbeitung ist. Der Kern dieses Prozesses ist im Gehirn lokalisiert,dessen Aufgabe darin besteht,die Dinge,die über das periphere Nervensystem hereinkommen, zu verstehen und sie im Endeffekt zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen. Dieses System besteht aus Nerven, die außerhalb des Rückenmarks und des Gehirns liegen und an Empfindung und Wahrnehmung beteiligt sind.
69 3.1 · Das rechnende Gehirn
3.1
Das rechnende Gehirn
Das periphere Nervensystem und das Gehirn sind im Wesentlichen dazu da, wahrzunehmen und nachzudenken – beispielsweise zu sehen und zu verstehen. Steve Pinker drückte dies in seinem Buch How the Mind Works treffend so aus: »Das Mentale ist ein System von Rechenorganen, das durch natürliche Selektion so aufgebaut ist,dass es die Art von Problemen gelöst hat,mit denen unsere Vorfahren bei ihrer Nahrungssuche konfrontiert waren, indem es insbesondere Gegenstände, Tiere, Pflanzen und andere Menschen verstand und überlistete.« (Pinker, 1997, S. 21). Durch Sehen, Hören, Schmecken und Fühlen empfinden wir die Welt. Hier handelt es sich um das erste Glied in einer Kette von Ereignissen, zu denen anschließend die Kodierung der Reize gehört, die Speicherung der Informationen,die Transformation des Materials,das Denken und schließlich die Reaktion auf Wissen,die wiederum zu neuen Hinweisreizen und Gedanken führt, die ihrerseits den Kreislauf erneut in Gang setzen. Das Konzept des rechnenden Gehirns beruht auf dem Gedanken, dass das Mentale das ist, was das Gehirn tut – das Mentale verarbeitet Informationen. Wenn wir mit einer »Kognition höherer Ordnung« beschäftigt sind – wenn wir über die Art und Weise nachdenken, wie ein Apfel und Amerika einander ähneln, oder wenn wir herauszufinden versuchen,wie wir uns mit unserem Freund Jean in Chile treffen können –, führen wir eine Art von Berechnung aus. Wie in ⊡ Abb. 3.1 dargestellt stimuliert physikalische Energie, soweit sie innerhalb des begrenzten Bereichs menschlicher Wahrnehmung bleibt, das sensorische System, sie wird übertragen (in neuronale Energie umgewandelt),kurzzeitig im sensorischen Speicher behalten,ist
Gegenstand weiterer Verarbeitung durch das Zentralnervensystem (ZNS),wird kodiert und möglicherweise an die Gedächtnissysteme zur Verarbeitung weitergeleitet. Die Ergebnisse können Reaktionen auslösen,die ihrerseits Bestandteile des Reizfeldes zur weiteren Verarbeitung werden. (Ein großer Teil dessen, was im übrigen Buch dargestellt wird, beschäftigt sich mit der sehr komplexen und abstrakten Informationsverarbeitung, die in den Gedächtnissystemen stattfindet, und mit der Berechnung dieser Informationen.) Es ist von Nutzen, im Hinterkopf zu behalten, dass das Flussdiagramm in ⊡ Abb. 3.1 nur eine Repräsentation der hypothetischen Stufen darstellt, über die Informationen verarbeitet werden. Es stimmt gewiss nicht, dass das Gehirn mehr oder weniger so strukturiert ist, wie es in der Abbildung beschrieben wird; aber dieses Modell hat seinen Wert als visuelle Konzeptualisierung der unterschiedlichen Stufen der Informationsverarbeitung,wie sie in der kognitiven Psychologie postuliert wird. Erst seit neuerem ist man in der kognitiven Psychologie in der Lage, die Aktivierung des Gehirns als eine Information zu verstehen, die verarbeitet wird. Diese neuen, im vorigen Kapitel erwähnten Techniken legen den Gedanken nahe, dass die in ⊡ Abb. 3.1 dargestellten Stufen zu tatsächlich ablaufenden physiologischen Prozessen analog sind. Durch diese neueren bildgebenden Verfahren wird das verwirklicht, was sich die Wissenschaftler während des gesamten 20.Jahrhunderts erträumt hatten – nämlich den genauen Ort von Hirnaktivitäten, die mit kognitiven Prozessen einhergehen, zu beobachten. Einige dieser aktuellen Befunde und Entwicklungen werden in diesem und in späteren Kapiteln über Gedächtnis und Kognitionen höherer Ordnung dargestellt.
⊡ Abb 3.1. Die Phasen der Informationsverarbeitung umfassen äußere Phänomene sowie innere Prozesse und Strukturen
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70
Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
3.2
3
Empfindung und Wahrnehmung
Der Begriff Empfindung bezieht sich auf die Aufnahme von Energie aus der physikalischen Welt und wird im Detail von den Spezialisten aus dem Bereich der Psychophysik erforscht. Hierbei handelt es sich um ein Teilgebiet der experimentellen Psychologie, das sich mit den Beziehungen zwischen der physikalischen Welt und ihrer Aufnahme über das sensorische System beschäftigt. Bei der Untersuchung der Empfindung geht es im Allgemeinen um die Struktur und um die Prozesse im sensorischen Apparat (das Ohr, das Auge usw.) und um die Reize, die auf diesen Apparat einwirken. Der Begriff Wahrnehmung umfasst andererseits Kognitionen höherer Ordnung bei der Interpretation sensorischer Informationen.Empfindung bezieht sich auf die anfängliche Aufnahme der Reize,die Wahrnehmung, auf eine Interpretation der Dinge,die wir aufnehmen.Wenn wir ein Buch lesen, ein Konzert hören, uns einer Massage unterziehen, Eau de Cologne riechen oder Kaviar schmecken, erleben wir weitaus mehr als die unmittelbare sensorische Stimulierung. Jedes Einzelne dieser sensorischen Ereignisse wird im Kontext unseres Weltwissens verarbeitet: Unsere Vorerfahrungen geben einfachen sensorischen Erfahrungen eine Bedeutung. Der Punkt, an dem die innere Welt und die äußere Realität miteinander in Kontakt treten, konzentriert sich auf das sensorische System. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Beziehung zwischen den physikalischen Veränderungen der Welt und der psychologischen Erfahrung, die mit diesen Veränderungen einhergeht, wird als Psychophysik bezeichnet. Hierbei handelt es sich um ein umfassendes und wichtiges Gebiet der Psychologie.
3.2.1
Täuschungen
Die Unterscheidung zwischen Empfindungen und der wahrgenommenen Interpretation dieser Erfahrungen – im Endeffekt zwischen dem, was unser sensorisches System aufnimmt, und dem, was das Mentale interpretiert – nimmt einen zentralen Stellenwert in Wahrnehmung und Kognition ein. Sie führt auch zu einer spannenden Frage: Warum verzerrt das Mentale die Realität? In einem Forschungsstrang geht es um die Messung der physikalischen und der psychologischen Qualität derselben sensorischen Reize. Manchmal, wie etwa im Falle der Wahrnehmungstäuschung, stimmen die beiden Maße
⊡ Abb. 3.2. Die Müller-Lyer’sche Täuschung. Die Strecken in A sind von gleicher Länge, jene in B, die gleich lang zu sein scheinen, sind in Wirklichkeit unterschiedlich lang
der Realität – das »reale« und das subjektiv wahrgenommene Maß – nicht miteinander überein.Ein allgemein bekanntes Beispiel, das in der Forschung zur Wahrnehmung verwendet wird, ist die Müller-Lyer’sche Täuschung (⊡ Abb. 3.2), bei der zwei gleich lange Strecken ungleich zu sein scheinen. Die Erklärung für diese Täuschung ist wahrscheinlich zum Teil durch unsere Vorerfahrungen beeinflusst, die uns gelehrt haben, zu erwarten, dass bestimmte Formen weit weg und andere nahe sind. Zum anderen behaupten manche Forscher, dass diese Täuschung (und viele ähnliche) Ausdruck tief sitzender invarianter Strukturen des Gehirns sind. (Siehe auch die Erörterung von Täuschungskonturen in Kapitel 4.) Eine kompliziertere Art von Täuschung ist die in der Zeichnung von M. C. Escher (siehe ⊡ Abb. 3.3). Hier scheinen die visuellen Hinweisreize für Nähe und Distanz und die für das Verhalten fließenden Wassers nicht miteinander übereinzustimmen.
3.2.2
Vorwissen
Die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Vorwissen über die Welt kommt nicht nur in einfachen geometrischen Täuschungen zum Ausdruck, sondern auch bei der Interpretation wissenschaftlicher Daten. ⊡ Abbildung 3.4A zeigt die Pfahllöcher, die man bei einer archäologischen Grabung fand. Wenn Ihr Wissen über den betreffenden Stamm Sie zu der Hypothese verleitete, dass die Hütten eine rechteckige Form hatten, dann würden Sie dazu neigen, die Daten über Pfahllöcher wie in ⊡ Abb. 3.4B dargestellt zu »sehen« oder zu interpretieren.Umgekehrt könnten andere Hypothesen Sie dazu verleiten, das Muster der
71 3.2 · Empfindung und Wahrnehmung
⊡ Abb. 3.3. »Wasserfall« von M. C. Escher. Erben von M. C. Escher, c/o Cordon Art, Baarn, Niederlande
⊡ Abb. 3.4. Hypothetische Pläne von Hütten, wie man sie durch die Positionen der Pfahllöcher in einer archäologischen Ausgrabungsstät-
te fand. A. Muster der Löcher (schwarze Formen). B und C. Hypothetische Pläne der Hütten
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Pfahllöcher anders zu interpretieren, nämlich so wie in ⊡ Abb. 3.4C. Nehmen wir an, Sie hätten Grund zu der Annahme, dass die Hütten eine dreieckige Form hatten.Versuchen Sie entlang dieser Linien eine Skizze anzufertigen und wählen Sie »relevante« und »irrelevante« Pfahllöcher aus. Wahrnehmungen werden sowohl durch Vorwissen, durch vorherige Hypothesen und durch Vorurteile als auch durch sensorische Signale beeinflusst. Somit wird die Art und Weise, wie Sie und ich die primären Informationen aus der Welt aufnehmen, stark davon beeinflusst, wie das sensorische System und das Gehirn zu Beginn strukturiert sind – wir sind »fest verdrahtet«, um die Welt auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen – und von unseren früheren Erfahrungen,die der ursprünglichen Empfindung der Reize in starkem Maße eine Bedeutung verleihen. Wenn unsere Lerngeschichte nicht unsere Wahrnehmung beeinflussen würde, würden die seltsamen Linien auf dieser Seite, die Sie gerade lesen und die wir als Buchstaben bezeichnen, nicht als Bestandteile von Wörtern wahrgenommen und die Wörter wären inhaltsleer. Wir lernen, was visuelle (und akustische, taktile, gustatorische und olfaktorische) Signale bedeuten. Unser Gehirn ist voller assoziativer Strukturen,die die der natürlichen Welt zugrunde liegende Reizenergie interpretieren. Die Lerngeschichte beeinflusst die Wahrnehmung. Wenn Sie den Klang einer Balalaika hören, können Sie einen russischen Tanz sehen. Aber die Wahrnehmung ist auch auf das sensorische System angewiesen.
3.2.3
Umhüllung, die sich über die Jahrtausende hinweg genau zu dem Zweck entwickelt hatte,das Gehirn vor einer Schädigung zu schützen, oder die postmortale Untersuchung des Gehirns durch Ärzte, die daran interessiert waren, die neurologische Grundlage für Symptome herauszufinden. Diese Untersuchungen wiesen auf einige grobe Merkmale hin, wie etwa die wohl bekannte Kontralateralität des Gehirns, die zwangsläufig dazu führt, dass eine Hirnschädigung an einer Hemisphäre zu einem Ausfall an der gegenüberliegenden Seite des Körpers führt.Andere traumatische Episoden, wie etwa ein harter Schlag auf den Hinterkopf in einem Bereich,den man als Okzipitallappen bezeichnet, haben zur Folge, dass man »Sterne sieht«.Wir »sehen« helle Blitze und dennoch hat das Auge solche Dinge nicht aufgenommen. Durch die direkte Stimulation des okzipitalen Kortex wird in diesem Teil des Gehirns eine visuelle Wahrnehmung in Gang gesetzt.Wissenschaftler,die auf das Gehirn spezialisiert sind, können jetzt die sensorischen Prozesse, die Wahrnehmungsprozesse und die kognitiven Prozesse im Gehirn beobachten,ohne die Schädeldecke zu entfernen oder Menschen einen Schlag auf den Kopf zu versetzen.Die Techniken,mit denen das möglich ist, umfassen sowohl Verhaltensdaten wie etwa aus Reaktionszeitexperimenten als auch bildgebende Verfahren (PET,CAT,MRI und Ähnliches),wie sie im vorigen Kapitel beschrieben wurden.Jetzt ist es zum ersten Mal in der Wissenschaft vom Mentalen wirklich möglich, zu beob-
Prädisposition des Gehirns für die Sensorik
Es gibt noch einen weiteren Aspekt der sensorischen und perzeptiven Prozesse,der durch Untersuchungen über die physische Ausstattung des sensorischen Systems und des Gehirns gestützt wird. Das sensorische System setzt sich aus den Rezeptoren und den verbindenden Nervenzellen für die fünf Sinne zusammen (Hören, Sehen, Tasten, Schmecken und Riechen). Über die letzten 150 Jahre hinweg haben Physiologen,Ärzte und physiologische Psychologen jedem Einzelnen dieser Sinne durch gemeinsame Anstrengungen sein Geheimnis entlockt.Das Wissen über das Gehirn und seine Rolle im Wahrnehmungsprozess nahm andererseits, teilweise wegen der Unzugänglichkeit des Gehirns, nur recht langsam zu. Zur unmittelbaren Beobachtung der Funktionsweise des Gehirns gehörte typischerweise die Entfernung eines Teils der knöchernen
⊡ Abb. 3.5. A. Die Augenhöhle einer Napfschnecke. B. Das Lochkamera-Auge eines Nautilus, der rudimentäre Rezeptororgane und Nervenfasern aufweist
73 3.2 · Empfindung und Wahrnehmung
achten, wie das Gehirn arbeitet, während es Informationen über die Welt wahrnimmt, und wie diese Wahrnehmungen durch das Labyrinth des Gehirns geleitet werden. In der Epistemologie oder der Wissenschaft vom Ursprung und Wesen des Wissens spielt die Verarbeitung sensorischer Signale durch das rechnende Gehirn eine wichtige Rolle. Einige dieser Gedanken werfen die folgende Frage auf:Worin besteht die logische Grundlage für unser sensorisches, perzeptives und kognitives System als Widerspiegelung der Welt? Das Fenster zum Mentalen,das sensorische System des Menschen, entwickelte sich zusammen mit den körperlichen Veränderungen, zu denen es auf unserem sich wandelnden Planeten kam. Sehr einfache Lebewesen entwickelten spezialisierte Zellen,die auf Licht reagierten, und über Millionen von Jahren hinweg wurden diese Zellen immer spezifischer in ihrer Funktionsweise, bis sich mit der Zeit so etwas wie ein Auge herausbildete (⊡ Abb. 3.5). Mit der Evolution des Auges entwickelte sich auch das Gehirn.Ist es bereits schön,die Welt zu sehen, so ist es doch noch faszinierender, zu verstehen, was die Welt bedeutet! Das Auge und andere sensorische Organe sind so dumm, wie das Gehirn weise ist. Umgekehrt fehlt es einem weisen Gehirn ohne sensorischen Input am wesentlichen Wissen über die Welt.Empfindungen von der Welt und das, was sie bedeuten, sind genauso eine
Funktion der biologisch festgelegten Mechanismen, wie sie eine Funktion der Vorgeschichte des Beobachters sind. Unsere Sicht des Wahrnehmungsprozesses ist demnach, dass die Aufnahme und Interpretation sensorischer Signale bestimmt wird durch: ▬ die Reizenergie, die von den sensorischen Systemen und vom Gehirn aufgenommen wird; ▬ das Wissen, das vor einer Erfahrung im Gedächtnis gespeichert ist. Die Kognitionsforschung beschäftigt sich weit gehend mit der Frage, wie sensorische Informationen durch die sensorischen Systeme und das Gehirn verzerrt werden.Es hat heute den Anschein, dass die Dinge, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind, oft abstrakte Repräsentationen der Realität sind. Der Schlüssel zur Verarbeitung sensorischer Informationen und zu ihrer kognitiven Interpretation scheint die Abstraktion von Informationen zu sein. Auf der sensorischen Ebene sind Informationen sehr spezifisch, während Informationen auf der Interpretationsebene gewöhnlich abstrakt sind.Unsere Sicht von der Welt wird davon bestimmt, wie sehr wir das, was wir (in einem spezifischen Sinne) empfinden,in das integrieren,was wir (in einem abstrakten Sinne) wissen. Wir wenden uns nun
Alles, was wir wissen, ist falsch Es ist sinnvoll, sich die verschiedenen Elemente des sensorischen Systems als Kanäle vorzustellen, die offen für die äußere Realität sind. Nur die Empfindungen, die von unseren Rezeptoren aufgenommen werden, sind für eine Verarbeitung auf einem höheren Niveau verfügbar. Und weil das System hinsichtlich seiner Aufnahmefähigkeit begrenzt ist, ist unser Wissen notwendigerweise auch beschränkt. Es ist wahrscheinlich, dass wir die Bedeutung der Merkmale unseres physikalischen Universums, das wir mit den Sinnen aufnehmen können, überschätzen, während wir gleichzeitig die Bedeutung jener Merkmale unterschätzen, die wir nicht wahrnehmen oder die spezielle Filter erfordern, damit ihre Umwandlung besser vonstatten gehen kann. Denken Sie einmal darüber nach, wie sich unsere Sicht der »Realität« verändern würde, wenn unsere Augen Infrarotstrahlung »sehen« könnten, aber nicht in der Lage wären, den normalerweise sichtba-
ren Teil des Spektrums zu »sehen«. Wäre unser Tag-NachtRhythmus der gleiche? Welches wären die Auswirkungen auf die Geschichte, die Werbung, die Mode, die Philosophie – ja eigentlich auf die gesamte Gesellschaft? Und was am wichtigsten wäre: Bedenken Sie die Auswirkungen darauf, wie wir Realität begrifflich fassen. Weil wir die Realität über derartig begrenzte (und damit verzerrende) Kanäle wahrnehmen, sind wir gezwungen, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass alles, was wir wissen, falsch ist. Innerhalb der Grenzen unseres sensorischen Apparats jedoch sind wir imstande, ein deskriptives System zu skizzieren, wie wir die ungeheure Menge an Informationen verarbeiten, die wir aufnehmen können. Dabei sollten wir daran denken, dass die Realität der unmittelbar von uns empfundenen Welt sehr viel belebter ist als die, die wir wahrnehmen.
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
einem weiteren Aspekt der Wahrnehmung zu – der Frage, wie viele Informationen man in einem Augenblick aufnehmen kann.
3.3
3
Die Wahrnehmungsspanne
Die Informationsmenge, die man innerhalb einer kurzen Zeit aufnehmen kann,wird als Wahrnehmungsspanne bezeichnet; hier handelt es sich um eine frühe Komponente bei der Informationsverarbeitung. Wir wissen, dass die Welt voller Reize ist, von denen eine riesige Anzahl in dem Bereich liegt, den wir mit den Sinnesorganen aufnehmen können. Wie viele dieser Empfindungen sind für die weitere Verarbeitung verfügbar? Ein Großteil der Verwirrung bei der Einschätzung der Wahrnehmungsspanne des Menschen geht darauf zurück, dass man nicht zwischen zwei hypothetischen Strukturen unterschied – dem vorperzeptiven sensorischen Speicher und dem Kurzzeitgedächtnis. Die folgende oft zitierte frühe Quelle zu diesem Problem von Sir William Hamilton (1859–1954) differenziert nicht zwischen den beiden Speichersystemen. Wie viele von mehreren Gegenständen kann der Geist gleichzeitig untersuchen, nicht im Zustand der Lebhaftigkeit,sondern in dem der absoluten Verwirrung? Ich habe herausgefunden, dass dieses Problem von unterschiedlichen Philosophen (und offensichtlich ohne Wissen voneinander) formuliert und unterschiedlich beantwortet worden ist.Bei Charles Bonnet ist es dem Geist erlaubt, eine getrennte Vorstellung von sechs Gegenständen auf einmal zu haben.Bei Abraham Tucker ist die Anzahl auf vier begrenzt, während sie bei Destutt-Tracy wiederum auf sechs erweitert wird. Die Auffassung des ersten und des letzten dieser Philosophen scheint mir richtig zu sein. Man kann leicht ein Experiment mit sich selbst machen, aber man muss aufpassen, dass man die Gegenstände in Klassen gruppiert. Wenn man eine Hand voll Murmeln auf den Fußboden wirft, wird man es als schwierig empfinden, gleichzeitig mehr als sechs oder höchstens sieben zu betrachten, ohne in einen Zustand der Verwirrung zu geraten.Wenn man sie jedoch in Gruppen von zwei oder drei oder fünf Murmeln einteilt, kann man so viele Gruppen wie Einheiten erfassen, denn der Geist betrachtet diese Gruppen nur als Einheiten.
Sir William Hamilton kommt über die Kapazität der Wahrnehmungsspanne ins Grübeln.
Wenn wir Zeit haben, die Murmeln zu zählen, werden wir jedes Mal nahezu perfekt sein. Aber wir haben, wie Hamilton anmerkt, offensichtlich einen sensorischen Speicher, der in der Lage ist, auf der Grundlage einer kurzen Konfrontation mit Ereignissen schnelle Entscheidungen zu fällen. Das Alltagswissen bestätigt diese Vorstellung: Wenn wir unsere Augen schließen, »sehen« wir die Welt weiterhin. Wenn ein Musikstück zu Ende ist, »hören« wir es immer noch, und wenn wir die Hand von einer Oberfläche mit einer bestimmten Beschaffenheit nehmen, »fühlen« wir sie weiterhin. Jede Einzelne dieser sensorischen Erinnerungen verblasst jedoch rasch und die meisten sind schon bald vergessen. Welches sind die Begrenzungen dieser vergänglichen Eindrücke? Wie lange halten sie vor? Wie viel kann in wie kurzer Zeit wahrgenommen werden? Das erste Experiment, durch das die Wahrnehmungsspanne erforscht wurde,beschäftigte sich nicht nur mit der visuellen Wahrnehmung, weil das Sehen eine wichtige Sinnesmodalität ist, sondern auch, weil es einfacher ist, visuelle Reize experimentell zu kontrollieren als andere (Tast- oder Geschmacksreize beispielsweise). Untersuchungen zum Sehen hatten auch den praktischen
75 3.4 · Ikonischer Speicher
Vorteil, dass sie mit der sich rasch entwickelnden Forschung zum Lesen zusammenhingen. (Viele frühe Untersuchungen zur Wahrnehmungsspanne hatten sich mit der Informationsmenge beschäftigt, die innerhalb eines kurzen Zeitraums erfasst werden konnte.) Javal (1878) hatte beobachtet, dass Lesen nicht durch kontinuierliches Durchgehen einer Textzeile erfolgte, sondern dass man von einem Fixationspunkt zum nächsten sprang. Das Lesen oder die Aufnahme des Textmaterials fand an den Fixationspunkten statt, nicht während der Sprünge oder Sakkaden (Cattell, 1886a, 1886b; Erdmann & Dodge, 1898). Diese frühen Studien deuteten darauf hin, dass die größte Informationsmenge, die man während eines einzelnen Augenblicks aufnehmen konnte,aus etwa vier oder fünf Buchstaben unzusammenhängenden Inhalts bestand. Es ist wichtig, zu erkennen, dass die Schlussfolgerungen aus diesen frühen Leseuntersuchungen auf dem beruhten, was die Versuchspersonen zu sehen berichteten. Bei diesem Ansatz wurde die Möglichkeit nicht in die Überlegung miteinbezogen, dass die Persistenz der Wahrnehmung mehr als vier oder fünf Buchstaben andauerte, sondern lediglich,dass die Versuchsperson sich nur vierer oder fünfer Buchstaben bewusst war – das heißt, dass sie sich erinnerte, sie wahrgenommen zu haben. Eine Erklärung für dieses Phänomen, dass die Kapazität größer als der Abruf aus dem Gedächtnis ist, besteht darin, dass bei verbalen Berichten über Reize mindestens zwei Phasen berücksichtigt werden müssen: (1) die Wahrnehmungsspanne und (2) der Abruf unmittelbarer Eindrücke. Bis eine Reihe entscheidender Experimente jedoch das Gegenteil nachwies, galt es 60 Jahre lang als unveränderliche »Tatsache«, dass die Wahrnehmungsspanne beim Lesen im Durchschnitt 4,5 Buchstaben beträgt. Diese entscheidenden Experimente hatten zwei wichtige Auswirkungen auf die kognitive Psychologie: Erstens hat sich unser Verständnis der Kapazität der Wahrnehmungsspanne in bedeutsamer Weise verändert; zweitens begann man, die Informationsverarbeitung so zu sehen, dass sie in nacheinander ablaufenden Phasen vor sich geht, die jeweils unterschiedlichen Prinzipien gehorchen. Letzteres führte dazu,dass verstärkt die Metapher von den »Kästen im Kopf« als eine Möglichkeit eingesetzt wurde, hypothetische kognitive Strukturen zu repräsentieren. Wir werden in späteren Kapiteln noch auf diese Metapher stoßen.
3.4
Ikonischer Speicher
Neisser (1967) bezeichnete die Nachwirkung visueller Eindrücke und ihre kurze Verfügbarkeit für die weitere Verarbeitung als das ikonische Gedächtnis. Die Frage, ob sich der Begriff Gedächtnis in angemessener Weise auf diese sensorischen Phänomene anwenden lässt, blieb offen. Für viele (wenn nicht die meisten) Kognitionspsychologen verweist Gedächtnis auf die Kodierung und Speicherung von Informationen,wobei hier kognitive Prozesse höherer Ordnung zum Einsatz kommen. Obwohl beim ikonischen Gedächtnis eine Art von Speicherung eine Rolle spielt, deuten neuere Befunde darauf hin, dass es unabhängig von Prozessen höherer Ordnung wie etwa der Aufmerksamkeit ist. Viele Forscher haben herausgefunden, dass eingehende Informationen sehr genau im ikonischen Gedächtnis repräsentiert werden, aber schnell wieder aus ihm verschwinden,wenn sie nicht zur Weiterverarbeitung weitergeleitet werden. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob der Versuchsperson, während sie einen verbalen Bericht abgibt – das heißt, visuelle Informationen aus einem schnell verblassenden sensorischen Register »abliest« –,einige Informationen verloren gehen.Wenn dies der Fall wäre,wäre die Informationsmenge, die während der Wahrnehmungsspanne vorhanden wäre, nur die Informationsmenge, die berichtet werden könnte, bevor sie verblasst – mit anderen Worten, sie wäre eine Funktion sowohl des ikonischen Verblassens als auch der Zeit, die erforderlich ist, um über die visuellen Informationen zu berichten. Sperling (1960) vermutete, dass die frühen Untersuchungsmethoden, bei denen die Versuchspersonen gebeten wurden, so viele Items zu berichten, wie sie erinnern konnten, eigentlich ein Test dafür sind, was die Versuchspersonen von dem erinnerten, was sie gesehen hatten – und das kann durchaus etwas anderes sein als das, was sie ursprünglich wahrgenommen hatten. Das Icon oder der visuelle Eindruck kann mehr enthalten, als wir erinnern können. Um dieses Problem zu umgehen, entwickelte Sperling eine Technik des partiellen Berichts, bei der einer Versuchsperson für 50 Millisekunden eine Tabelle mit Buchstaben wie etwa den folgenden dargeboten wurde: >R L S
G X B
C N J
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3
Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Wenn die Versuchspersonen versuchen, so viele von den neun gezeigten Buchstaben aus dem Gedächtnis abzurufen, wie sie können, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie vier oder fünf erinnern. Unmittelbar nach der Darbietung jeweils einer Buchstabenzeile jedoch präsentierte Sperling einen von drei Tönen – einen hohen, einen mittleren oder einen tiefen. (Somit hätte im obigen Beispiel RGC mit dem Hinweisreiz hoher Ton verbunden werden können, LXN mit einem mittleren usw.) Die Töne dienten den Versuchspersonen als Hinweisreiz dafür, dass sie entsprechend die erste, zweite oder dritte Buchstabenzeile aus dem Gedächtnis abriefen. Das Ergebnis bestand darin, dass jede einzelne Zeile fast zu 100 Prozent richtig aus dem Gedächtnis abgerufen wurde. Da die Versuchsperson nicht vorher wusste,welche der drei Zeilen für den Abruf vorbereitet wurde,können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass alle neun Buchstaben gleichermaßen für den Abruf verfügbar waren. Deshalb muss der sensorische Speicher Platz für mindestens neun Items bieten. Ein weiteres Merkmal der Arbeit von Sperling bestand darin,dass er die Zeit zwischen der Darbietung der Buchstaben und der Präsentation des Tons variierte. Dadurch wurde es möglich, die Länge der ikonischen Speicherung zu erfassen. Wenn der Ton mehr als eine Sekunde verspätet erklang, sank die Abrufrate auf das Niveau, das man bei Untersuchungen mit vollständigen verbalen Berichten erwarten würde (⊡ Abb. 3.6).
⊡ Abb. 3.6. Abruf aus dem Gedächtnis in Abhängigkeit von der zeitlich verzögerten Darbietung des Hinweisreizes. Der Balken auf der linken Seite gibt an, wann und wie lange die Buchstaben kurz aufblitzten, der Balken auf der rechten Seite steht für die unmittelbare Erinnerung an dieses Material. Adaptiert von Sperling (1960)
3.4.1
Effekt der verspäteten Darbietung des Hinweisreizes
Um abzuschätzen, wie schnell dieser sehr kurzfristige Informationsspeicher verfiel, führte man Untersuchungen durch, bei denen das Intervall zwischen der Darbietung der Buchstaben und dem Einsetzen des Hinweisreizes (ein Ton oder ein Balken auf dem Bildschirm) variiert wurde. Der Effekt auf den Abruf aus dem Gedächtnis deutete darauf hin, dass das Icon etwa 250 ms (eine Millisekunde ist eine viertel Sekunde) im Gedächtnis blieb. Dies ist in etwa die gleiche Zeit wie jene für die oben erwähnte Fixationszeit beim Lesen. Einige Forscher haben spekuliert, dass die Versuchspersonen während des Lesens kurzzeitig visuelle Informationen – Wörter und Buchstaben – abspeichern und nur dann zu weiteren Bildern wandern, wenn das zuvor bearbeitete Bild abgespeichert ist.
3.5
Echospeicher
Wenn wir etwas »sehen«, nachdem die äußere physikalische Stimulation vorüber ist, können wir dann etwas »hören«, nachdem der Ton verklungen ist? Offensichtlich ist das der Fall. Neisser (1967) hat das sensorische Gedächtnis zum Hören Echogedächtnis genannt. Der Echospeicher ähnelt dem ikonischen Speicher in dem Sinne, dass die rohe sensorische Information für eine sehr kurze Zeit mit großer Genauigkeit im Speicher behalten wird (damit die überdauernden Eigenschaften extrahiert und
77 3.5 · Echospeicher
weiter ausgewertet werden können). Wie der ikonische Speicher, der es uns gestattet, flüchtige Reize für eine zusätzliche Zeitspanne zu betrachten, erlaubt es uns der Echospeicher, eine akustische Botschaft eine weitere Zeit lang zu hören. Wenn wir an den komplexen Prozess des Verstehens gewöhnlicher Sprache denken, wird der Nutzen des Echospeichers deutlich. Akustische Impulse, aus denen sich die Sprache zusammensetzt, breiten sich mit der Zeit aus. Eine Information, die in irgendeinem kleinen Bruchteil von Sprache, Musik oder einem anderen Klang enthalten ist, ist bedeutungslos, wenn sie nicht in den Kontext anderer Klänge gestellt wird. Indem der Echospeicher akustische Informationen kurzzeitig behält,stellt er uns unmittelbare Hinweisreize aus dem Kontext zum Verstehen akustischer Informationen zur Verfügung. Obwohl eine vollständige Darstellung des Kurzzeitgedächtnisses in Kapitel 7 folgen wird, ist es an dieser Stelle wichtig, zwischen dem Kurzzeitgedächtnis (KZG) und dem Echospeicher zu unterscheiden. Die Zeit zum Speichern ist beim Echospeicher sehr kurz (zwischen 250 ms und vier s); im KZG ist sie in relativ lang (zehn bis 60 s).Akustische Informationen werden in beiden Systemen präzise behalten, aber wahrscheinlich weniger gewissenhaft im KZG. Beide haben eine eingeschränkte Kapazität, während sie uns gleichzeitig zum besseren Verständnis die erforderlichen Hinweisreize aus dem Kontext liefern. Es wurden eine stereophone und quadrophone Ausrüstung eingesetzt, um eine Tabelle mit Signalen zu erzeugen, die jenen aus den visuellen Experimenten von Sperling und anderen ähnelt. Einer der ersten Nachweise für das Echogedächtnis stammt von Moray,Bates und Barnett (1965) und wurde in ihrem Artikel über »Experiments on the Four-Eared Man« erläutert. Die Versuchsperson (mit nur zwei Ohren) wurde inmitten von vier Lautsprechern platziert oder ihr wurden quadrophone Kopfhörer aufgesetzt, über die vier Botschaften gleichzeitig präsentiert werden konnten – das ist etwa so, als würde die Versuchsperson die Geräusche auf einer Party oder inmitten eines Streichquartetts von Beethoven erleben. In jedem Einzelnen dieser Beispiele kann eine Versuchsperson ihre Aufmerksamkeit auf die eine Stimme (oder das eine Signal) oder auf die/das andere richten. In Morays Experiment bestand die Botschaft aus vier Buchstaben des Alphabets,die gleichzeitig über zwei,drei oder über alle vier Kanäle dargeboten wurden. Wie bei den frühen Experimenten zum Sehen wurde die Versuchsperson gebeten, so
viele Buchstaben wie möglich zu wiederholen.In dem Teil der Experimente,in dem partiell berichtet wurde,konnten vier Lichter, die der Position der Tonquellen entsprachen, eingeschaltet werden, um der Versuchsperson einen Hinweisreiz für die Kanäle zu bieten, über die sie die Buchstaben abrufen sollte. Die Lichter wurden eine Sekunde nach den Buchstaben eingeblendet. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass der Abruf eines partiellen Berichts über akustische Hinweisreize dem Abruf eines vollständigen Berichts überlegen war. Dies wurde als Unterstützung für die Auffassung interpretiert, dass akustische Informationen kurzzeitig im Echospeicher behalten werden. Eine noch bessere Analogie zur Technik des partiellen Berichts von Sperling findet sich in einem Experiment von Darwin, Turvey und Crowder (1972). Über stereophone Kopfhörer wurde den Versuchspersonen eine Tabelle akustischer Informationen dargeboten (vergleichbar der zuvor beschriebenen visuellen Darbietung). Sie bestand aus drei Tripeln gemischter Zufallszahlen und -buchstaben.Die Versuchspersonen hörten drei kurze Listen aus jeweils drei Items wie etwa die folgenden: > Linkes Ohr B 2 L
Beide Ohren 8 6 U
Rechtes Ohr F R 10
Die Darbietungszeit für alle Items betrug eine Sekunde. Somit würde eine Versuchsperson simultan »B« und »8« im linken Ohr sowie »F« und »8« im rechten Ohr hören. Die subjektive Erfahrung besteht darin, dass die Botschaften aus dem rechten und dem linken Ohr so lokalisiert werden können, wie sie aus ihren Tonquellen herausdringen, und die »gemittelte Botschaft« (die gewöhnlich von einem Signal stammt, das beiden Ohren simultan präsentiert wird) scheint aus dem Innern des Kopfes zu kommen. Diese Untersuchungsmethode, ähnlich der Vorgehensweise von Sperling mit drei visuell dargebotenen Zeilen, schuf im Endeffekt einen »Mann mit drei Ohren«. Der Abruf aus dem Gedächtnis wurde entweder mit der Technik des vollständigen Berichts oder mit der Technik des partiellen Berichts erfasst. Ein visueller Hinweisreiz (ein Balken) wurde vor den Versuchspersonen auf den linken,den mittleren oder den rechten Teil eines Bildschirms projiziert.Wie bei den Untersuchungen zum Sehen machte es die verspätete Darbietung des Hinweisreizes möglich, den Gedächtnisabbau zu verfolgen. Darwin und seine Mitarbeiter verzögerten die Präsentation der Hinweisrei-
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
3 ⊡ Abb. 3.7. Abruf aus dem Gedächtnis in Abhängigkeit von der zeitlich verzögerten Darbietung des akustischen Hinweisreizes. Adaptiert von Darwin, Turvey und Crowder (1972)
ze für den Abruf aus dem visuellen Gedächtnis um null, eine, zwei und vier Sekunden. Die entsprechende Anzahl der Items, die abgerufen wurden, ist in ⊡ Abb. 3.7 dargestellt. Offensichtlich hält der Echospeicher etwa vier Sekunden vor, er ist jedoch in den ersten zwei Sekunden nach der akustischen Stimulation am intensivsten. Wir haben einen Überblick über zwei der Sinnesmodalitäten gegeben, über die Informationen aufgenommen werden: Sehen und Hören. Leider liegen bezogen auf den Geschmackssinn, den Geruchssinn und den Tastsinn nicht genügend Daten vor, damit man sich auch bei diesen Sinnen in Analogie zum ikonischen Speicher für Sehen und zum Echospeicher für Hören eindeutig für oder gegen einen frühen Wahrnehmungsgedächtnisspeicher aussprechen könnte. Es sind einige Belege berichtet worden, die darauf hindeuten, dass bei unserem Tastsinn ein in etwa analoger früher Speicher eine Rolle spielt (Bliss et al., 1966).
3.6
Die Funktion der sensorischen Speicher
Die zukunftsweisenden Arbeiten über Sehen und Hören haben das Gebiet der kognitiven Psychologie um wichtige Konstrukte erweitert, die dazu beitragen, die Informationsverarbeitungskette von Ereignissen zu erklären.Worin besteht insgesamt der Zweck dieser kurzen und intensiven sensorischen Eindrücke von der äußeren Realität? Wie passen sie zur umfassenderen Realität der kognitiven Psychologie? Man hat bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die Theorien zu sensorischen Informationen in ein umfassenderes Schema der Vorgänge beim
Menschen zu integrieren. Eine Spekulation im Hinblick auf den ikonischen Speicher und den Echospeicher (und andere mögliche analoge Systeme) lautet,dass die Extraktion von Informationen aus der äußeren physikalischen Welt dem Gesetz der Sparsamkeit folgt. Bedenkt man die astronomische Menge sensorischer Informationen, die kontinuierlich unser Nervensystem erregen, und die begrenzte Fähigkeit kognitiver Systeme höherer Ordnung, Informationen zu verarbeiten, dann kann nur ein kleiner Teil der sensorischen Hinweisreize zur Weiterverarbeitung ausgewählt werden. Diese Überlegung scheint auf Sehen und Hören zuzutreffen: Für das sensorische System scheint es angemessen, ja sogar notwendig zu sein, Informationen für einen Augenblick zu behalten, damit die Weiterverarbeitung relevanter Items erfolgen kann. Beispielsweise kann beim Lesen ein genauer Eindruck von den Buchstaben und Wörtern für das Verständnis erforderlich sein. Und auf das Hören trifft in ähnlicher Weise zu, dass angefangen vom Verstehen eines Gesprächs bis zum Schätzen guter Musik alles von der genauen Aufnahme akustischer Signale abhängt. Anscheinend besteht ein zerbrechliches Gleichgewicht zwischen der Auswahl der für die Weiterverarbeitung angemessenen Informationen und dem Zurückweisen unangemessener Informationen. Die zeitweilige, intensive und genaue Speicherung sensorischer Informationen,wie dies beim ikonischen Speicher und beim Echospeicher der Fall ist, scheint uns Mechanismen zur Verfügung zu stellen, mit deren Hilfe wir nur die relevanten Informationen für die Weiterverarbeitung auswählen können. Dadurch, dass der vollständige sensorische Eindruck für einen kurzen Zeitraum behalten wird, können wir die unmittelbaren Ereignisse durchgehen, jene Reize aussuchen, die die größte Salienz aufweisen, und sie in die engmaschige Geflecht des menschlichen Gedächtnisses einpassen. Wenn alles richtig funktioniert, wird nicht mehr und nicht weniger Information kodiert, transformiert oder gespeichert, als es für einen Menschen normalerweise im Alltag notwendig ist. Die Spekulation von Edwin Boring (1946) scheint mit dieser Auffassung vereinbar zu sein: »Der Sinn, der hinter der Wahrnehmung steckt, ist die Denkökonomie. Sie sucht aus und setzt fest, was von Dauer und deshalb für den Organismus zum Überleben und Wohlergehen wichtig ist.« Der ikonische Speicher, der Echospeicher und der Speicher für andere sensorische Informationen geben uns die Möglichkeit,nur die Informationen zu extrahieren,die
79 3.7 · Aufmerksamkeit
Gegenstand der weiteren Verarbeitung sind. Gerade die Begrenzungen des Nervensystems beim Menschen verbieten es, alle oder auch nur einen ansehnlichen Teil der Informationsstückchen aufzunehmen und zu verarbeiten, die uns im flüchtigen sensorischen Speicher zur Verfügung stehen. Unsere Fähigkeit zur komplexen Verarbeitung visueller Reize lässt sich vielleicht so verstehen, dass wir auf unseren sensorischen Speicher zurückgreifen können. Die Fähigkeit zu lesen kann durchaus auf dem ikonischen Speicher beruhen: Er gestattet es uns, überzeugende Merkmale aus dem visuellen Feld zu extrahieren,während gleichzeitig jene äußeren Reize ausgemustert werden, die unwichtig sind. Entsprechend kann unsere Fähigkeit zum Verstehen von Sprache durchaus auf dem Echospeicher beruhen, der es uns erlaubt, akustische Hinweisreize in Gegenwart neuer Reize kurzfristig zu behalten, sodass auf der Grundlage des phonetischen Kontextes Abstraktionen gemacht werden können. Die Entwicklung kurzzeitiger sensorischer Speicher und anderer Speicher, die weniger eindeutig definiert sind,kann eine wesentliche Komponente bei der Evolution gewesen sein. Wenn man ihnen eine Funktion als Mechanismen zum Überleben zuweist, ist dies rein spekulativ; denn es ist plausibel, dass sie es uns gestatten, alles wahrzunehmen und dennoch unsere Aufmerksamkeit nur auf die wesentlichen Komponenten unserer Perzepte zu richten, wodurch es zur Evolution des ökonomischsten Systems kam.Der sensorische Speicher gibt uns Zeit,kritische Merkmale für die weitere Verarbeitung und das weitere Handeln zu extrahieren.
3.7
Aufmerksamkeit
Vor mehr als 100 Jahren schrieb William James, dass »jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist«. Er erklärte dies so: Es ist die Inbesitznahme eines von anscheinend mehreren simultan möglichen Gegenständen oder Gedankensträngen durch den Geist in klarer und lebendiger Form. Die Fokusbildung, die Konzentration des Bewusstseins sind ihr Wesen. Sie setzt Rückzug von einigen Dingen voraus, um effektiv mit anderen umgehen zu können. (James, 1890, S. 403–404) Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass er der Auffassung war, wir wüssten alles, was es über Aufmerksamkeit
zu wissen gäbe. Das wussten wir 1890 nicht und wir wissen es auch heute noch nicht. Durch eine Reihe sorgfältig geplanter Experimente zur Aufmerksamkeit ist es jedoch möglich geworden, die Themen, um die es dabei geht, zu definieren. Und es wurden mehrere Modelle entwickelt, die einen sehr allgemeinen Zugang zu diesem Thema boten. Dieser Abschnitt beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Auftauchen der Aufmerksamkeit als einem Bestandteil der kognitiven Psychologie. Dazu gehören auch die spannenden neue-ren Entwicklungen im Bereich der Neurokognition. Dieser Teil des Kapitels gliedert sich in vier Teile: alltägliche Erfahrungen mit Aufmerksamkeit, Modelle der Aufmerksamkeit und die Darstellung der wichtigen Themen dieses Gebiets, eine Erörterung der offenen Fragen und Modelle sowie die Neurokognition der Aufmerksamkeit. Wir werden folgende allgemeine Definition der Aufmerksamkeit verwenden: »die Konzentration der mentalen Anstrengung auf sensorische oder mentale Ereignisse«. Die Aufmerksamkeitsforschung scheint fünf wichtige Aspekte des Themas abzudecken:Verarbeitungskapazität und selektive Aufmerksamkeit, Erregungsniveau, Steuerung der Aufmerksamkeit, Bewusstsein und kognitive Neurowissenschaft. Viele der zeitgenössischen Vorstellungen zur Aufmerksamkeit basieren auf der Annahme, dass dem menschlichen Beobachter Myriaden von Hinweisreizen zur Verfügung stehen, von denen wir in jedem beliebigen Augenblick umgeben sind. Unsere neurologische Kapazität ist zu begrenzt,um all die Millionen von äußeren Reizen wahrzunehmen.Aber selbst wenn wir diese Reize aufnehmen würden, wäre das Gehirn nicht imstande, sie alle zu verarbeiten – unsere Informationsverarbeitungskapazität ist zu begrenzt. Unser sensorisches System (wie auch andere Arten von Kommunikationskanälen) funktioniert recht gut, wenn die Informationsmenge, die verarbeitet wird, im Bereich dessen bleibt, was es zu leisten vermag. Es versagt, wenn es überlastet wird. Die neuere Epoche der Aufmerksamkeitsforschung wurde im Jahre 1958 durch Donald Broadbent eingeläutet, einem britischen Psychologen,der das einflussreiche Buch Perception and Communication geschrieben hatte. Er führte aus, dass Aufmerksamkeit das Ergebnis eines informationsverarbeitenden Systems mit begrenzter Kapazität sei.(Der Einfluss dieser Arbeit beschränkte sich nicht nur auf das Thema Aufmerksamkeit, sondern hatte grundlegende Auswirkungen auf das Entstehen der kognitiven Psychologie insgesamt.) Der Grundgedanke bei
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3
Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Broadbents Theorie war, dass die Welt aus viel mehr Empfindungen besteht, als die Wahrnehmungs- und kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Beobachters bewältigen können. Um der Flut der verfügbaren Informationen Herr zu werden, richten die Menschen deshalb ihre Aufmerksamkeit selektiv auf nur einige der Hinweisreize und schalten bei einem Großteil der übrigen Reize ab. Broadbents Theorie wird später in diesem Kapitel genauer erörtert. Fürs Erste kann man das Verarbeitungsmodell rudimentär als eine »Pipeline«-Theorie begrifflich fassen. Informationen (sagen wir, in Form einer menschlichen Stimme) kommen in einen Kanal oder eine Pipeline und werden in serieller Reihenfolge von einem Speicher oder Verarbeitungssystem zum nächsten weitergeleitet: von einem sensorischen Speicher zu einem Kurzzeitspeichersystem und dann zu einem Langzeitspeicher. Die ursprüngliche Theorie ist leicht verändert worden, aber die grundlegende Architektur des Systems blieb im Wesentlichen erhalten. Man hat lange gedacht, dass man seine Aufmerksamkeit nur auf einen Hinweisreiz richten kann,wenn man einen anderen vernachlässigt. Wenn wir versuchen, simultane Botschaften gleichzeitig zu verstehen, insbesondere Botschaften der gleichen Art,dann muss man im Hinblick auf die Genauigkeit einen Kompromiss eingehen. Während wir beispielsweise Auto fahren (eine in hohem Maße eingeübte Gewohnheit),sind wir vielleicht in der Lage,unsere Aufmerksamkeit auf die Autobahn zu richten und sogar gleichzeitig Radio zu hören. Aber es ist schwierig, die Aufmerksamkeit simultan auf mehr als einen Hinweisreiz aus derselben Sinnesmodalität zu richten – wie etwa auf zwei akustische oder zwei visuelle Hinweisreize. Es ist auch schwierig, Spitzenleistungen zu vollbringen. Das gilt sogar für die Konfrontation mit zwei Denkaufgaben, etwa wenn man in einem Restaurant im Kopf ausrechnet, wie viel jede der sieben am Essen beteiligten Personen bezah-
Donald Broadbent (1926–1992). Beschäftigte sich als Erster mit dem Gebiet von Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung
len muss, und wenn man zur gleichen Zeit nach der Uhrzeit gefragt wird. In einer solchen Situation kann die folgende Antwort herauskommen: »Jeder von euch zahlt 23.27 Uhr und es ist jetzt 25,08 Euro plus Trinkgeld.« Unsere Alltagserfahrung sagt uns, dass wir unsere Aufmerksamkeit stärker auf einige Hinweisreize aus der Umwelt richten als auf andere und dass die Hinweisreize, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten, normalerweise zur weiteren Verarbeitung weitergeleitet werden, während dies bei Hinweisreizen, auf die wir uns nicht konzentrieren, möglicherweise nicht der Fall ist.Auf welche wir unsere Aufmerksamkeit richten und auf welche nicht, scheint auf eine gewisse Kontrolle zurückzugehen, die wir über die Situation haben (etwa sich eine Wiederholung in Zeitlupe anzusehen, um zu erkennen, ob ein Fußballspieler im Strafraum war), und auf unsere lange Erfahrung (etwa eine technische Anweisung zu lesen, um eine spezielle Tatsache herauszufinden). In beiden Situationen konzentriert sich der Aufmerksamkeitsmechanismus auf bestimmte Reize,die vor anderen Vorrang haben,obwohl nicht alle »äußeren« Reize notwendigerweise vollständig von der Aufmerksamkeit abgeschirmt werden. Vielleicht werden sie mit wahrgenommen oder abgeschwächt. Dies fällt vor allem bei akustischen Hinweisreizen auf, wie etwa bei einer Party: Dort richten wir unsere Aufmerksamkeit vielleicht auf eine Stimme, während wir gleichzeitig in gewisser Weise auf andere Stimmen achten, die uns umgeben. Die meisten von uns haben die Erfahrung gemacht, dass unsere Aufmerksamkeit von der Stimme unseres Gesprächspartners zu der einer anderen Person hinüberwechselte,die in einem anderen Gespräch den neuesten Klatsch mitteilte. Es ist leicht, sich auf die Stimme einzustellen,die den Klatsch erzählt,während man gleichzeitig versucht, die Unaufmerksamkeit vor unserem Gesprächspartner zu verbergen, der etwas über einen Spaziergang durch Barcelona erzählt. Natürlich können wir in eine peinliche Situation geraten, wenn wir etwa zerstreut erwidern: »Bist du jemals in Spanien gewesen?« Ein weiteres Beispiel könnte sein, dass wir eine Theateraufführung von Molières Der eingebildete Kranke sehen. Darin gibt es eine Stelle, an der die beiden Hauptcharaktere (der Hypochonder und sein Arzt) zur gleichen Zeit anfangen zu sprechen.Auch Opern sind häufig voller solcher mehrfachen Signale. Man kann versuchen, sie alle zu hören, es nur als etwas verwirrend zu empfinden und sich deshalb auf eine Stimme einzustellen, während man
81 3.7 · Aufmerksamkeit
Kritisch hinterfragt: Aufmerksamkeit Der zerstreute Professor (Student?) Ein Professor, den ich kenne, drückte Hautcreme, die in einer Tube verkauft wurde, die fast genauso wie eine Zahnpastatube aussah, auf seine Zahnbürste und begann sich die Zähne zu putzen, bevor er den Fehler bemerkte. Er schüttete eine bestimmte Menge Wasser in eine Kaffeekanne, stellte sie auf die Kaffeemaschine, schaltete diese an und erkannte, nachdem er sah, dass nichts geschah, dass er vergessen hatte, Wasser in den entsprechenden Behälter der Kaffeemaschine zu füllen. Und als er eine Vorlesung über die kinetische Kunst hielt (und dabei an ein Experiment mit Tänzern dachte), verwendete er den Ausdruck »kinästhetische Kunst«. Die meisten Menschen machen täglich solche verrückten Dinge und es ist ihnen peinlich, wenn sie erkennen, was sie getan haben.
die andere weiterhin hört, aber nicht versteht. Oder wenn man sich ein Fußballspiel mit all seinen Mehrfachhandlungen ansieht,ist es schwierig,alle Spieler gleichzeitig im Blick zu behalten. Wir werden ständig mit einer Überfülle an sensorischen Signalen bombardiert und sind gefordert, eine Entscheidung zu fällen, welche davon verarbeitet werden sollen. In diesem Sinne sind die Phasen unseres Wachzustands – in denen wir nicht schlafen – mit den eben angeführten Beispielen vergleichbar. Anhand dieser Beispiele lassen sich fünf Aspekte der Aufmerksamkeit identifizieren: 1. Verarbeitungskapazität und Selektivität. Wir können
unsere Aufmerksamkeit auf einige Hinweisreize in unserer äußeren Welt richten, aber nicht auf alle. 2. Steuerung. Wir haben eine gewisse Kontrolle über die Reize, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. 3. Automatische Verarbeitung. Viele Routineprozesse
(wie etwa Autofahren) sind uns so vertraut, dass sie nur wenig bewusste Aufmerksamkeit erfordern und automatisch ausgeführt werden. 4. Neurokognition. Unser Gehirn und das ZNS als Ganzes sind die anatomische Stütze der Aufmerksamkeit, aber auch der gesamten Kognition.
Als Übung zu dieser kritischen Anmerkung sollten Sie sich einmal während mehrerer Tage Aufzeichnungen über ihr eigenes zerstreutes Verhalten machen (oder, wenn Sie wollen, über die verrückten Bemerkungen oder Handlungen anderer wie etwa Ihres Professors für kognitive Psychologie) und sie dann in verschiedene Typen und Handlungsweisen einteilen. Wahrscheinlich werden Sie herausfinden, dass die meisten der Fehler auf automatische Verarbeitung (Ihr Gehirn hat den »Autopiloten« angeschaltet) und/oder darauf zurückgehen, dass man an etwas anderes denkt (»Hans Guckindieluft«). Wissenschaftler, die solche Dinge untersuchen, fanden heraus, dass es normal ist, wenn Menschen immer mal Handlungen wiederholen, das falsche Wort verwenden, Sachen ersetzen oder einen wichtigen Bestandteil bei irgendeiner Handlung vergessen.
5. Bewusstsein. Die Aufmerksamkeit bringt Ereignisse
ins Bewusstsein. Lassen Sie uns noch einmal das Spielen oder speziell das Fußballspiel als Beispiel anführen: Sie richten Ihre Aufmerksamkeit nur auf einen geringen Teil der Aktivität. Sie sind in der Lage, Ihre Aufmerksamkeit selektiv einzusetzen, sich auf bestimmte Hinweisreize (etwa die Person, die spricht, oder die, die am Ball ist) stärker zu konzentrieren als auf andere. Ein Grund dafür, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit selektiv einsetzen,ist,dass Ihre Fähigkeit,Informationen zu verarbeiten,durch die Kanalkapazität beschränkt ist. Zweitens haben Sie eine gewisse Kontrolle darüber, auf welche Merkmale Sie Ihre Aufmerksamkeit richten.Während möglicherweise beispielsweise zwei Personen gleichzeitig sprechen, können Sie in einem bestimmten Umfang steuern, welcher der beiden Sie zuhören. Oder bei einem Fußballspiel richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf einen der Spieler, so etwa auf den Mittelstürmer.Drittens hängt Ihre Wahrnehmung von Ereignissen mit ihrer automatischen Verarbeitung zusammen.Viertens weisen aktuelle Forschungen im Bereich der neurokognitiven Grundlagen der Aufmerksamkeit darauf hin, dass das Aufmerksamkeitssystem des menschlichen Gehirns von anderen Systemen des Gehirns – wie etwa dem datenverarbeitenden System – getrennt ist. Diese neueren Entdeckungen haben Folgen für die kognitiven Aufmerksamkeitstheorien, sie dienen aber auch als Brü-
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82
Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Beispiele für miteinander konkurrierende Reize Unsere Fähigkeit, auf ein Signal zu reagieren, hängt teilweise damit zusammen, wie »sauber« es ist, das heißt, wie frei es von konkurrierender Information oder von »Rauschen« ist. Wenn Sie mit dem Auto durch Kanada fahren, könnte Ihnen das Phänomen bewusst werden. Dort sind wichtige Verkehrszeichen sowohl auf Englisch als auch auf Französisch beschriftet. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf nur einen Hinweisreiz richten – sagen wir den englischen –, so können Sie ohne die geringsten Probleme über die kompliziertesten Autobahnkreuze rasen. Wenn Sie sich jedoch über den aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetz-
3
cke zwischen Neurowissenschaft und kognitiver Psychologie. Schließlich sind diejenigen Dinge, auf die Sie Ihre Aufmerksamkeit richten, Teil Ihrer bewussten Erfahrung. Die zuvor genannten fünf Themen stehen im Zentrum der Aufmerksamkeitsforschung.
3.8
Verarbeitungskapazität und selektive Aufmerksamkeit
Die Tatsache, dass wir unsere Aufmerksamkeit selektiv nur auf einen Teil aller verfügbaren Hinweisreize richten, ist aus diversen Alltagserfahrungen, von denen wir schon früher berichtet haben, offensichtlich. Diese Selektivität wird oft auf eine nicht angemessene Kanalkapazität zurückgeführt,also auf unsere Unfähigkeit,alle sensorischen Hinweisreize gleichzeitig zu verarbeiten. Bei dieser Auffassung geht man davon aus, dass es irgendwo während der Informationsverarbeitung einen Engpass gibt,der teilweise mit neurologischen Grenzen zusammenhängt. Die selektive Aufmerksamkeit ist mit einer Taschenlampe vergleichbar, die einen dunklen Raum erhellt, um die Dinge zu beleuchten, an denen man interessiert ist, während die anderen im Dunkeln bleiben. Im Hinblick auf die Informationsmenge jedoch, auf die wir reagieren und die wir erinnern, scheint es zusätzlich zu diesen sensorischen Begrenzungen eine Beschränkung der kognitiven Fähigkeiten zu geben. Deshalb setzen wir die Taschenlampe der Aufmerksamkeit zielgerichtet und umsichtig ein, verarbeiten das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, und ignorieren andere Informationen.
ten Reiz den Kopf zerbrechen und Ihre Aufmerksamkeit vom einen zum anderen schweifen lassen, kann die Reise gefährlich werden.
Akustische Signale
3.9
Der Informationsverarbeitungsansatz in Bezug auf die Aufmerksamkeit hat sich weitgehend aus der Forschung zum Hören entwickelt, aber seit dieser Zeit ist auch eine neue Forschungsrichtung entstanden, nämlich die zum Sehen, aber auch die zu semantischen Prozessen. Frühe Untersuchungen von Cherry (1953) führten zur Entwicklung eines experimentellen Verfahrens, das man als begleitendes Nachsprechen (»shadowing«) bezeichnet und das jetzt als Standardmethode zur Untersuchung der Aufmerksamkeit während des Hörvorgangs gilt. Beim begleitenden Nachsprechen wird die Versuchsperson gebeten, eine gesprochene Botschaft zu wiederholen, während diese dargeboten wird. Die Aufgabe ist nicht schwierig, wenn die Sprechgeschwindigkeit gering ist; redet der Sprecher jedoch schnell, kann die Versuchsperson nicht alle eingehenden Informationen wiederholen. Die meisten von uns haben dies vielleicht schon einmal spielerisch ausprobiert. Bei Cherrys Experimenten jedoch kam ein weiteres Merkmal hinzu: Zwei akustische Botschaften wurden gleichzeitig präsentiert – die eine sollte begleitend nachgesprochen, die andere ignoriert werden. Diese Botschaften wurden manchmal über einen Kopfhörer und manchmal über Lautsprecher dargeboten, die sich an unterschiedlichen Standorten befanden. Cherry (1966) wies in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin: Das Bemerkenswerte daran ist, dass [die Versuchspersonen] über eine breite Vielfalt von Texten hinweg ▼
83 3.9 · Akustische Signale
erfolgreich sind, obwohl sie die Aufgabe als sehr schwierig empfinden. Weil derselbe Sprecher beide Botschaften liest, kann man sich nicht an die unterschiedlichen Stimmeigenschaften halten, wie sie etwa im wirklichen Leben beim Gespräch auf einer Cocktailparty weiterhelfen können. Da wiederum die Botschaften aufgezeichnet und über Kopfhörer angehört wurden, wurden alle Hilfen über das binaurale (beidohrige) Richtungshören entfernt. (Cherry, 1966, S. 280) Trotz der Fähigkeiten der Versuchspersonen zum begleitenden Nachsprechen fand Cherry heraus, dass sie nur wenig von der nachgesprochenen Botschaft erinnerten. Vielleicht wurde der größte Teil der Informationsverarbeitung in einem temporären Gedächtnis geleistet,sodass es nicht zu einer dauerhaften Speicherung und zum Verstehen der nachgesprochenen Botschaft kam. Die Botschaften, auf die die Aufmerksamkeit nicht gerichtet war, wurden (verständlicherweise) sogar noch schlechter erinnert.War die Botschaft sprachlicher Art, berichteten die Versuchspersonen, dass sie sie als etwas Sprachliches erkannten. Aber gab es in den gesprochenen Wörtern, die nicht beachtet wurden, einen Wechsel vom Englischen zum Deutschen, so blieb dies unbemerkt. Die Fähigkeit, sich auf eine Botschaft zu konzentrieren und die Verarbeitung anderer Informationen zurückzustellen, scheint eine wichtige Eigenschaft des Menschen zu sein. Sie erlaubt es uns, eine begrenzte Menge an Informationen zu verarbeiten,ohne die Informationsverarbeitungskapazität zu überlasten. Was können wir aus Cherrys Beobachtung schließen? Da viele der Hinweisreize (z.B. die visuellen) in seinen Experimenten beseitigt worden waren,mussten sich die Versuchspersonen auf andere Hinweisreize eingestimmt haben.Und diese Hinweisreize hingen,so nimmt man an,mit den Regelmäßigkeiten unserer Sprache zusammen. Im Laufe unseres Lebens eignen wir uns eine ungeheure Menge an Wissen über Phonetik, Buchstabenkombinationen, Syntax, Tonmuster, Klischees und Grammatik an. Sprache ist selbst dann noch zu verstehen, wenn sie in einem Ohr präsentiert und wenn im anderen Ohr ein anderes akustisches Signal dargeboten wird.Denn wir sind in der Lage, unsere Aufmerksamkeit auf Kontextreize zu richten und das Gehörte sofort anhand unseres Wissens über die Sprache zu überprüfen. Anomale Botschaften (diejenigen, die nicht mit der normalen grammatikalischen und lexikalischen Struktur übereinstimmen) müssen wirkungsvolle
Signalcharakteristika haben,bevor sie zugelassen werden. Sehr vertraute Botschaften dagegen werden leichter verarbeitet. Von größerer theoretischer Bedeutung ist das Schicksal der »vergessenen« Botschaft. Wie viele Informationen sickern, wenn überhaupt, von Kanälen ein, auf die wir unsere Aufmerksamkeit nicht richten? Erinnern Sie sich an unseren Freund auf der Party, der mit der unangemessenen Erwiderung »Bist du jemals in Spanien gewesen?« herausplatzte? Er muss in seinem »tauben« Ohr etwas gehört haben, das ihn dazu veranlasste, diese inadäquate Frage zu stellen. In einem Experiment (Moray, 1959) wurden Informationen, die in das »taube« Ohr geleitet wurden, von Versuchspersonen nicht erinnert, die auf den gegenüberliegenden Kanal hörten, obwohl manche Wörter bis zu 35mal wiederholt wurden. Auch wenn Moray seinen Versuchspersonen sagte, dass sie nach einigen Informationen aus dem verschmähten Kanal gefragt werden würden, konnten sie nur sehr wenig wiedergeben. Moray machte dann einen entscheidenden Schritt: Vor der Botschaft in dem Kanal, auf den sich die Aufmerksamkeit nicht richtete, bot er den Namen der Versuchsperson dar. Unter dieser Bedingung wurde die Botschaft häufiger zugelassen. (Trifft dies nicht auch auf eine Party zu? So sagt jemand auf der anderen Seite des Raumes: »Ich habe Verständnis dafür, dass Randys Frau …« Alle Randys und Frauen von Randy, die bis dahin in andere Gespräche vertieft waren, spitzen in diesem Augenblick ihre Ohren und hören dem Sprecher zu. Das Eindringen eines interessanten, oftmals schlüpfrigen Ereignisses, das die Aufmerksamkeit einer Person erweckt, wurde folgerichtig mit der Bezeichnung Cocktailparty-Phänomen versehen. Ist Ihnen das auch schon einmal passiert?) Das Bedürfnis, seine Aufmerksamkeit auf eine Botschaft zu richten, ist offensichtlich stark ausgeprägt und mit Ausnahme spezieller Informationen wird nur wenig anderes zugelassen als die Botschaft, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet. Es gibt keine Belege, die darauf hindeuten, dass die Ohren auf der sensorischen Ebene nicht gleichermaßen stimuliert werden. Es gibt auch keine Belege dafür,dass eine der Botschaften den akustischen Kortex nicht erreicht. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass unterschiedliche Teile des Kortex an der Aufmerksamkeit beteiligt sind, während andere Teile mit der Informationsverarbeitung beschäftigt sind (Posner, 1988). Dies ist ein Thema, von dem später in diesem Kapitel noch die Rede sein wird.
3
84
Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Kritisch hinterfragt: Selektive Aufmerksamkeit
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Lesen Sie die Botschaft, die in diesem Schriftstil geschrieben ist und beginnen Sie mit dem Wort zu. Irgendwo Zu verborgen den in imposantesten den kognitiven Rocky Mountains Fähigkeiten in der Nähe von zählt Central City, die Colorado, Fähigkeit, versteckte eine ein Botschaft alter Bergmann unter einen Kasten anderen mit auszuwählen Gold. Wir Obwohl machen mehrere das, hundert indem Menschen wir danach unsere suchten, Aufmerksamkeit fanden auf sie bestimmte ihn Hinweisreize nicht. wie Wenn etwa Sie den vom Stil »Glory der Hole Schrift Saloon« konzentrieren. aus Wenn 300 wir Schritte unsere nach Aufmerksamkeit Westen auf und bestimmte 600 Reize Schritte konzentrieren, nach wird Nordwesten die gehen in und den 1 Meter anderen tief Reizen graben, enthaltene werden Botschaft Sie nicht genügend klar erkannt. Gold Einige finden, Informationen um aus ein der Konzert unbeachteten mit Reizquel-
3.10
Modelle selektiver Aufmerksamkeit
3.10.1
Das Filtermodell von Broadbent
Die erste vollständige Theorie der Aufmerksamkeit wurde von Broadbent (1958) entwickelt. Die Theorie, die man als Filtermodell bezeichnet und die mit dem zusammenhängt, was man damals Einkanaltheorie nannte, beruht auf dem Gedanken, dass die Informationsverarbeitung durch die Kanalkapazität eingeschränkt ist, wie dies ursprünglich bereits in der Theorie der Informationsverarbeitung von Shannon und Weaver (1949) zum Ausdruck gebracht worden war. Broadbent argumentierte, dass Botschaften, die an einem speziellen Nerven entlanglaufen, sich dahin gehend unterscheiden können, welche der Nervenfasern sie stimulieren bzw. wie viele neuronale Impulse sie hervorbringen. (Durch neuropsychologische Studien war herausgekommen, dass hochfrequente Signale und niederfrequente Signale über unterschiedliche Fasern transportiert werden.) Wenn also verschiedene Nervenfasern gleichzeitig feuern, können unterschiedliche sensorische Botschaften simultan im Gehirn eintreffen. In Broadbents Modell (⊡ Abb. 3.8) werden diese über eine Anzahl paralleler sensorischer Kanäle verarbeitet.
le Tina können Turner jedoch besuchen aufgenommen zu werden können. Was haben Sie gelesen? Können Sie irgendetwas zu der Botschaft sagen, die in diesem Schriftstil gedruckt ist? Wenn das der Fall ist, welche Wörter weckten Ihre Aufmerksamkeit und warum geschah dies? Mehrere Hinweisreize trugen mit dazu bei, dass Sie auf dem richtigen Weg geblieben sind. Dazu gehören die physikalische Eigenart der Reize, die Bedeutung der Sätze und die Syntax. Sie sind möglicherweise durch Hinweisreize aus der unbeachteten Botschaft abgelenkt worden. Vielleicht sind Sie durch »emotionale« Wörter (beispielsweise Gold, »Glory Hole«, Saloon, Tina Turner) oder durch klar unterscheidbare visuelle Hinweisreize (beispielsweise 600, 300) abgelenkt worden. Versuchen Sie im Alltag Beispiele für selektive Aufmerksamkeit zu finden. Warum machen die Menschen das?
(Von diesen Kanälen nahm man an, dass sie voneinander unterschiedene neuronale Codes aufweisen und dass sie auf der Grundlage dieses Codes ausgewählt werden können. Beispielsweise können zwei Signale gleichzeitig dargeboten werden – eins zusammen mit einem hohen Ton und eins zusammen mit einem tiefen Ton – und auf der Grundlage ihrer physikalischen Eigenschaften voneinander unterschieden werden, obwohl beide das Gehirn simultan erreichen.) Die weitere Informationsverarbeitung würde nur dann erfolgen, wenn sich die Aufmerksamkeit auf das Signal gerichtet hätte und das Signal durch einen selektiven Filter in einen Kanal begrenzter Kapazität weitergeleitet worden wäre. In ⊡ Abb. 3.8 sehen wir, dass möglicherweise mehr Informationen ins System hineingelangen, als sie vom Kanal begrenzter Kapazität verarbeitet werden können. Broadbent postulierte, dass der selektive Filter auf jeden beliebigen der sensorischen Kanäle wechseln könnte, um in diesem System eine Überlastung zu verhindern. Die Filtertheorie scheint eine intuitive Validität zu besitzen. Es ist offensichtlich, dass unsere Informationsverarbeitungskapazität begrenzt ist. Um dem, was wir hören, eine gewisse Bedeutung zu verleihen, kann das Gehirn eine Klasse von Impulsen (auf der Grundlage physikalischer Eigenschaften) beachten – etwa so wie ein Crossover-Filter in einer Stereoanlage in der Lage ist, herauszu-
85 3.10 · Modelle selektiver Aufmerksamkeit
⊡ Abb. 3.8. Diagramm zum Informationsfluss, in das die Auffassungen diverser neuerer Theorien eingearbeitet sind. Es sind auch Elemente von Broadbents Theorie enthalten, die im Text nicht behandelt werden. Adaptiert von Broadbent (1958)
finden, ob Botschaften (elektrische Impulse) eines Frequenzniveaus oder eines anderen vorliegen, und eine solche Botschaft zur weiteren Verarbeitung jeweils zum betreffenden Lautsprecher zu schicken. Wenn die Situation es erfordert, können wir mit unserer Aufmerksamkeit auf einen anderen Kanal überwechseln. Wenn jedoch die Selektion auf der Grundlage der physikalischen Signaleigenschaften erfolgt, wie Broadbent ursprünglich dachte, dann sollte das Umschalten der Aufmerksamkeit nicht in Zusammenhang mit dem Inhalt der Botschaft stehen. In einem frühen Experiment setzte Broadbent (1954) die Technik des dichotischen Hörens ein, um seine Theorie zu überprüfen. Den Versuchspersonen wurden in einem Ohr drei Zahlen dargeboten und gleichzeitig drei davon abweichende Zahlen im anderen Ohr. Somit hörte eine Versuchsperson möglicherweise: > Rechtes Ohr: Linkes Ohr:
4, 9, 3 6, 2, 7
In einer experimentellen Bedingung wurden die Versuchspersonen gebeten, die Zahlen je nach Ohr, in dem sie sie hörten,aus dem Gedächtnis abzurufen (beispielsweise 493 und 627). In einer anderen experimentellen Bedingung wurden sie aufgefordert, die Zahlen in der Reihenfolge, in der sie auftraten,aus dem Gedächtnis abzurufen.Da zu einem Zeitpunkt jeweils zwei Zahlen dargeboten wurden, konnten die Versuchspersonen eine der beiden Zahlen zuerst abrufen, aber sie mussten beide angeben, bevor die Zahlenreihe fortgesetzt wurde.Somit konnten sie die Zah-
len in dieser Bedingung auf folgende Weise angeben: 4, 6, 2, 9, 3, 7. Nimmt man die Informationsmenge, die abgerufen werden soll (sechs Items), und die Häufigkeit der Darbietung (zwei pro Sekunde) als gegeben an, dann könnte Broadbent eine Abrufgenauigkeit von etwa 95 Prozent erwarten.Unter beiden experimentellen Bedingungen war die Abrufgenauigkeit aber geringer als erwartet. In der ersten Bedingung lagen die Versuchspersonen in etwa 62 Prozent der Fälle richtig, in der zweiten Bedingung zu 20 Prozent. Broadbent interpretierte den Unterschied als Folge dessen, dass die Versuchspersonen bei der zweiten experimentellen Bedingung mit ihrer Aufmerksamkeit häufiger zwischen den Tonquellen hin und her wechseln mussten. Bei der ersten experimentellen Bedingung, bei der sie gebeten wurden, alle Items von einem und dann alle vom anderen Ohr aus dem Gedächtnis abzurufen, konnten sie ihre Aufmerksamkeit zuerst auf alle Reize von einem »Kanal« und dann auf all jene, die vom zweiten Kanal kamen, richten (Letzterer wurde vermutlich kurz in irgendeinem Gedächtnissystem behalten). Bei der zweiten experimentellen Bedingung jedoch hätten die Versuchspersonen ihre Aufmerksamkeit mindestens dreimal wechseln müssen – beispielsweise vom linken zum rechten Ohr, dann zurück vom rechten zum linken und dann noch einmal vom linken zum rechten. Man kann sich den Selektionsprozess leicht als Wahrnehmungsprozess vorstellen: Broadbent (1981) und andere haben jedoch den Begriff des Gedächtnisses erweitert. Wir alle haben eine große Anzahl von Repräsentationen
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86
3
Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
vergangener Ereignisse in uns – beispielsweise das Wissen über Dutzende von Freunden, Pläne für künftige Unternehmungen, Erinnerungen an frühere Erlebnisse, Gedanken über Familienmitglieder usw.In jedem beliebigen Augenblick unserer persönlichen Geschichte können wir nur eine kleine Teilmenge dieser Repräsentationen aus dem Gedächtnis abrufen,während die anderen im Hintergrund darauf warten, zum Einsatz zu kommen.Wenn Broadbent eine Verbindung zwischen selektiver Wahrnehmung und Gedächtnis herstellt, so wirft das – und dies ist für die gegenwärtige Diskussion noch wichtiger – bedeutsame theoretische, aber auch praktische Fragen auf. Es erinnert uns daran,dass die selektive Wahrnehmung nicht auf eine kleine Gruppe von Phänomenen beschränkt ist – sie hängt mit nahezu jedem anderen kognitiven System zusammen. Die Ergebnisse eines Experiments von zwei Studenten aus Oxford,Gray und Wedderburn (1960) ließen Fragen zu Broadbents Filtermodell aufkommen. Abwechselnd an je einem Ohr boten sie Silben dar,die aus einem Wort (in der ursprünglichen Reihenfolge) und aus Zufallszahlen bestanden, sodass eine Silbe von einem Ohr und eine Ziffer vom anderen »gehört« wurde. Hier ein Beispiel:
Wie im Experiment mit den Silben und Zahlen neigten die Versuchspersonen auch hier dazu, »Dear Aunt Jane« zu »hören«. Somit gruppierten sie offensichtlich die Abschnitte der Botschaft nach ihrer Bedeutung. Gray und Wedderburn drückten dies folgendermaßen aus: »Die Versuchspersonen handelten in der Situation intelligent.« Man könnte argumentieren, dass diese Forscher einen Test verwendeten, der einen systematischen Fehler aufwies, und dass eine derartige Aufgabe – bei der man versuchen muss, in auseinander gerissene Wörter und Sätze einen Sinn hineinzulesen – die Versuchspersonen naturgemäß dazu veranlasste, den Kanalschalter auf eine Weise hin und her zu knipsen, wie man das normalerweise nicht tut, wenn man seine Aufmerksamkeit auf Informationen richtet. Anne Treisman und ihre Kollegen, deren Arbeiten als Nächstes beschrieben werden, setzten die Filtertheorie einer kritischen Überprüfung aus.
> Linkes Ohr OB 2 TIVE
Ein Problem im Zusammenhang mit dem Filtermodell ist die Aufnahme sensibler Informationen (wie etwa des Namens der Versuchsperson) durch einen Kanal,auf den sich die Aufmerksamkeit nicht richtet. Moray (1959) führte ein derartiges Experiment durch und fand heraus, dass die Versuchspersonen in einem Drittel der Fälle ihren eigenen Namen auf dem unbeachteten Kanal bemerkten. Aus unserer Alltagserfahrung wissen wir auch, dass wir eine zweite Botschaft mithören können, während wir unsere Aufmerksamkeit auf eine andere richten. Eine Mutter kann in einer Kirche sitzen und ihre Aufmerksamkeit kann ganz von einer Predigt in Anspruch genommen werden,während sie gleichzeitig im Hintergrund Geschrei aus
Rechtes Ohr 6 JEC 9
Wenn Broadbents Filtertheorie (die auf den physikalischen Charakteristika akustischer Signale basiert) richtig wäre, dann hätten die Versuchspersonen Unsinn von sich geben müssen, als sie gebeten wurden, zu wiederholen, was sie in einem Kanal »gehört« hatten – beispielsweise »ob-two-tive« oder »six-jec-nine«.Aber das taten sie nicht – sie sagten (in unserem Beispiel) »objektive« und offenbarten damit ihre Fähigkeit, schnell von einem Kanal zum anderen umzuschalten. In einem zweiten Experiment (manchmal werden die Aufgaben auch als »Dear Aunt Jane« oder als »What the hell« bezeichnet ) gingen Gray und Wedderburn auf die gleiche Weise vor, boten jedoch Satzteile (wie etwa »Mice eat cheese«, »What the hell« oder »Dear Aunt Jane«) anstelle von Silben dar. Hier wieder ein Beispiel: > Linkes Ohr Dear 5 Jane
Rechtes Ohr 3 Aunt 4
3.10.2
Das Abschwächungsmodell von Treisman
Anne Treisman. Entwickelte ein Abschwächungsmodell der Aufmerksamkeit
87 3.10 · Modelle selektiver Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit, Bewusstsein und subliminale Wahrnehmung Viele Aufmerksamkeitstheorien beschäftigen sich mit zwei kontrovers diskutierten Themen: (1) dem Bewusstsein und (2) der subliminalen Wahrnehmung oder der Auswirkung von Reizen, die eindeutig stark genug sind, um sich oberhalb der physiologischen Schwelle zu befinden, die jedoch nicht bewusst sind. Wie wir im Text erkannt haben, konzentrieren sich die momentanen Aufmerksamkeitsmodelle auf die Frage, wo sich die Selektion der Informationen abspielt. Vielen dieser Theorien ist die Auffassung eigen, dass sich die Menschen in der frühen Phase der Informationsverarbeitung der Signale nicht bewusst sind, dass sie aber nach einer Art Entscheidung oder Selektion einige der Signale zur weiteren Verarbeitung weiterleiten. In starkem Maße angeregt durch die Arbeit von Sigmund Freud interessieren sich Psychologen seit mehr als einem Jahrhundert für die Dichotomie zwischen den bewussten und den unbewussten Anteilen der Seele. Ein Problem (das vor allem Behavioristen hatten) damit, Freuds Charakterisierung der dichotomen Seele als bewusst und unbewusst zu akzeptieren, besteht darin, dass es dieser theoretischen Angelegenheit an objektivem Ge-
dem Kindergarten hört.Die Predigt wird klar und deutlich verstanden; das Wimmern, Schreien und Kreischen der namenlosen Kinder kümmert unser gelassenes Gemeindemitglied nicht. Nehmen wir jedoch an, dass das Kind der Zuhörerin das leiseste Flüstern von sich gäbe, dann würde dieses Signal so deutlich wie die Trompete des Erzengels Gabriel gehört werden.Aber lassen Sie uns fair mit Broadbent umgehen. In seiner ursprünglichen Theorie wurde postuliert,dass der Selektionsfilter gelegentlich ein oder zwei sehr »wahrscheinliche« (im gegebenen Kontext wahrscheinlich auftretende) Wörter im nicht beachteten Kanal durchlässt. Zur Erklärung der Tatsache, dass Versuchspersonen manchmal ihre eigenen Namen im nicht beachteten Kanal hören konnten,wies Moray darauf hin,dass irgendeine Art von Auswertung vor dem Filter vonstatten gehen muss. Treisman widersprach dieser Auffassung und merkte an, dass es im »Wörterbuch« (oder im Wortspeicher) der Versuchsperson einige Wörter gebe, die schneller aktiviert werden. Daher werden wichtige Wörter oder Töne, wie etwa der eigene Name oder das charakteristische Schreien des eigenen Kindes, leichter aktiviert als weniger wichtige
halt mangelte. Trotzdem haben Experimente von Kognitionspsychologen, aber auch Fallstudien von Psychoanalytikern die dichotome Auffassung von der Seele gestützt. Die Frage, ob wir in der Lage sind, Signale wahrzunehmen, die unterhalb der Schwelle liegen, ist für forschungsorientierte Psychologen, die so etwas für WoduPsychologie halten, problematisch. Wie können wir »hören«, ohne zu hören? Dennoch zeigen die Studien zur Aufmerksamkeit eindeutig, dass es möglich ist, Informationen zu behalten, die nicht beachtet worden sind. Das Thema der subliminalen Wahrnehmung hängt eng mit dem Priming-Effekt ( Kap. 4.6.2, S. 113) zusammen, bei dem beispielsweise die Darbietung eines Wortes das Erkennen einer Assoziation mit diesem Wort fördert, ohne dass man sich dieses Prozesses wirklich bewusst ist. Außerdem haben mehrere Studien (Underwood, 1976, 1977; Philpott & Wilding, 1979) gezeigt, dass subliminale Reize eine Auswirkung auf das Erkennen späterer Reize haben können, das heißt, dass ein gewisser Effekt der subliminalen Reize beobachtet wurde.
Signale. Treismans elegantes Modell behält einen großen Teil der Architektur von Broadbents Modell bei, wobei es gleichzeitig auch die empirischen Ergebnisse von Moray erklärt. Zur Erinnerung: In Broadbents Modell wird ein Kanal abgeschaltet, wenn sich die Aufmerksamkeit auf den anderen Kanal richtet. Am bemerkenswertesten an Treismans Arbeit ist ihr Experiment, in dem die Versuchspersonen gebeten wurden,ihre Aufmerksamkeit auf eine Botschaft in dem einen Ohr zu richten, während die linguistische Bedeutung von einem Ohr zum anderen wechselte. Beispielsweise wurde die Botschaft »There is a house understand the word« im rechten Ohr dargeboten, während im linken »Knowledge of on a hill« präsentiert wurde. Wir neigen dazu, der Bedeutung zu folgen, statt unsere Aufmerksamkeit auf die Botschaft aus nur einem Ohr zu richten, auch wenn wir dazu aufgefordert werden, die Botschaft wiederzugeben, die wir in diesem einen Ohr empfangen haben. Daher geben die Versuchspersonen an, gehört zu haben: »There is a house on a hill.« In einem Experiment bat Treisman (1964a) zweisprachige Versuchspersonen (französisch-englisch),eine Passage aus Orwells
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
England, Your England begleitend nachzusprechen. In einem Ohr hörten sie eine Stimme, die Englisch sprach, im anderen eine, die Französisch sprach. Was die Versuchspersonen nicht wussten, war, dass es sich um dieselben Passagen handelte, die aber zeitlich leicht gegeneinander versetzt waren. Wenn man die zeitliche Verschiebung allmählich verringerte, bemerkten viele Versuchspersonen, dass es sich um zwei Botschaften mit der gleichen Bedeutung handelte.Es schien so,als sei die »unbeachtete« Stimme nicht vom Wissen der Versuchspersonen über die zweite Sprache abgeschnitten gewesen. Treismans Ergebnisse und diejenigen anderer Forscher widersprechen anscheinend dem Filtermodell. Irgendeine Art von »vollziehender Gewalt« im Gehirn musste vor der Auswertung der Signalcharakteristika die Entscheidung dazu fällen. Offensichtlich muss anfänglich eine Art von Vorabüberprüfung der Informationen stattfinden. Nach Treisman wird das Signal bei der ersten dieser Überprüfungen auf der Basis der groben physikalischen Charakteristika und dann bei raffinierteren Überprüfungen im Hinblick auf seine Bedeutung bewertet (⊡ Abb. 3.9).Die anfängliche Überprüfung erfolgt mit Hilfe eines Abschwächers oder Wahrnehmungsfilters – eines Apparats, der die Lautstärke der Botschaft reguliert und der zwischen das Signal und seine verbale Verarbeitung geschaltet ist. Treismans Modell legt nahe, dass irrelevante Botschaften mit einem dumpfen, aber nicht tauben Ohr gehört werden. Wie gut ist Treismans Abschwächungsmodell? Es handelt sich gewiss um eine logische Erklärung, wie wir etwas hören können, ohne unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, und wie wir unsere Aufmerksamkeit weniger auf die physikalischen Charakteristika einer Botschaft,sondern stärker auf ihre Bedeutung richten. Die Frage jedoch, wie Entscheidungen zustande kommen, bleibt erhalten, wenn auch in abgeschwächter Form. Hat ein einfacher Abschwächer die Fähigkeit,die komplizierten Merkmale einer Botschaft auszuwerten und sie anhand einer Form höherer Kontrolle zu überprüfen, um zu erkennen, ob die Informationen weitergeleitet werden sollten oder nicht? Kann zudem all dies in einem kurzen Augenblick vonstatten gehen. Denn dies wäre notwendig, um mit dem da ablaufenden Konzert akustischer Ereignisse Schritt zu halten? Diese Fragen haben eine Debatte in Gang gesetzt, welche genauen Eigenschaften es sind, die Treisman dem Abschwächer zuordnet. Sie präzisierte ihre Positionen in einem Brief an den Autor. Hinsichtlich des Abschwächers schrieb Treisman (1986):
⊡ Abb. 3.9. Selektives Hören unter der Annahme von A (einer Grenze der Wahrnehmungskapazität) und B (einer Grenze der Reaktionskapazität). Adaptiert von Treisman und Geffen (1967)
Es war meine Auffassung, dass der Abschwächer alle [Hervorhebung hinzugefügt] unbeachteten Botschaften in gleicher Weise behandelt, unabhängig von ihrem Inhalt. Die Auswirkungen von Wahrscheinlichkeit, Relevanz, Bedeutung etc. werden allesamt innerhalb des Spracherkennungssystems festgelegt, genauso wie es der Fall ist,wenn eine beachtete Botschaft mit einem schlechten Verhältnis von Signal und Rauschen eintrifft ... Der einzige Unterschied zwischen unbeachteten und beachteten Botschaften besteht darin, dass bei der unbeachteten Botschaft das Verhältnis von Signalen und Rauschen insgesamt durch den selektiven Filter verringert wird. Deshalb gelingt es nicht, für irgendeinen Inhalt außer ein paar Worten oder Sätzen mit ungewöhnlich niedrigen Entdeckungsschwellen einen Eintrag ins Lexikon zu veranlassen. Der Ab▼
89 3.11 · Visuelle Aufmerksamkeit
schwächer selektiert nur aufgrundlage allgemeiner physikalischer Eigenschaften wie etwa der Lage im Raum oder der Stimmqualität.
3.11
Visuelle Aufmerksamkeit
Bisher haben wir uns auf die Aspekte der Aufmerksamkeit beim Hören konzentriert, aber alle sensorischen Erfahrungen (visuelle, akustische, olfaktorische, gustatorische und taktile) unterliegen den Regeln der Aufmerksamkeit. Verlagern Sie Ihre Aufmerksamkeit vom visuellen Lesen dieses Textes auf eine andere Sinnesmodalität, sagen wir auf den Tastsinn, und konzentrieren Sie sich auf den Druck des Schuhs, den Sie an Ihrem linken Fuß empfinden. Denken Sie darüber nach. Versuchen Sie nun, Ihre Aufmerksamkeit auf jeden Einzelnen der anderen Sinne zu konzentrieren, und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Erfahrungen, die mit jeder einzelnen Empfindung verbunden sind. Sehen,vor allem Farb- und Gestaltwahrnehmung,sind abgesehen vom Hören am häufigsten untersucht worden (siehe Kapitel 4 zur Gestaltwahrnehmung).Betrachten Sie die Reize in ⊡ Abb. 3.10A.Hier können Sie eine Gruppe von Pluszeichen in einem Feld von großen Ls sehen. Bei Experimenten dieser Art haben Treisman und Mitarbeiter sowie Julesz (1971) und Mitarbeiter herausgefunden, dass die Grenzen dieses Bereichs dem Betrachter innerhalb von 50 Millisekunden ins Auge springen, wenn die visuellen Elemente wie in ⊡ Abb. 3.10A klar voneinander unterscheidbar sind. Betrachten Sie nun ⊡ Abb. 3.10B. Mit etwas Anstrengung können Sie hier die Ts erkennen (zur Hervorhebung in einem kleinen Kasten), obwohl sie gewiss nicht so aus dem Kontext hervorspringen,wie dies bei den Pluszeichen der Fall ist.Doch die Elemente,aus denen sich die Formen zusammensetzen, sind die gleichen (das heißt, ein Pluszeichen besteht aus zwei Linien,die im rechten Winkel zueinander stehen, wie es auch beim T der Fall ist). Weil das Sehsystem die Ts so »sieht«, dass sie den Ls im Hintergrund ähneln und sie den Pluszeichen unähnlich sind, erfordern die beiden Aufgaben ein unterschiedliches Ausmaß an Aufmerksamkeitsleistungen während der Verarbeitung. Sowohl Treisman als auch Julesz vertraten die Auffassung,dass zwei unterschiedliche Prozesse an der visuellen Aufmerksamkeit beteiligt sind.In der ersten Phase (⊡ Abb. 3.11) kommt es zu einem anfänglichen präattentiven Pro-
⊡ Abb. 3.10. Es ist durchaus möglich, unter diesen Figuren (A) eine rechteckige Gruppe von Pluszeichen zu »sehen«; aber es ist schwieriger, die Ts in (B) zu »sehen«. Die erste Phase der Aufmerksamkeit scheint ein präattentives Abtasten zu sein, bei dem das allgemeine Feld durchkämmt wird und grundlegende Informationen gewonnen werden, beispielsweise die Pluszeichen zu sehen. Die Ts zu sehen setzt voraus, dass man seine Aufmerksamkeit darauf konzentriert
zess (hier entsteht eine Art von Hauptkarte eines Bildes), der das Feld abtastet und rasch die Hauptmerkmale von Gegenständen entdeckt, wie etwa Größe, Farbe, Orientierung und Bewegung, wenn diese Eigenschaften vorhanden sind. Dann werden nach Treisman diverse Eigenschaften des Gegenstands in speziellen Merkmalskarten enkodiert, die in unterschiedlichen Teilen des Kortex lokalisiert sind. Seit in den Fünfzigerjahren Broadbents ursprüngliches Konzept der Aufmerksamkeit veröffentlicht wurde, das nicht nur eine ganze Generation von Forschern einschließlich Treisman beeinflusste, sondern auch für die Entwicklung des Informationsverarbeitungsmodells begrenzter Kapazität bedeutsam war, sind ein Dutzend oder
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
⊡ Abb. 3.11. Ein Modell für die Phasen der visuellen Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit. Anfänglich werden einige grundlegende Eigenschaften einer visuellen Szenerie (Farbe, Orientierung, Größe und Entfernung) auf getrennten, parallelen Bahnen enkodiert, die Markmalskarten erzeugen. Diese Karten werden in eine Hauptkarte integriert. Mit konzentrierter Aufmerksamkeit werden dann der Hauptkarte die Informationen entnommen, um im Detail die Merkmale auszuwerten, die mit einem ausgewählten Bereich des Bildes verbunden sind. Aus Treisman (1988)
mehr Theorien vorgelegt worden, die jeweils einige seiner grundlegenden Konzepte modifizieren oder scharf kritisieren. Leider haben einige Autoren Broadbents Theorie als eine Entweder-oder-Theorie dargestellt, bei der Informationen entweder im einen Kanal oder im anderen verarbeitet werden. Diese Charakterisierung ist falsch. Broadbent schrieb vielmehr: »Ich will noch einmal betonen, dass wir nicht einfach sagen können ›Ein Mensch kann nicht zwei Dinge auf einmal hören‹. Im Gegenteil, er bekommt selbst aus dem verschmähten Ohr einige [Hervorhebung hinzugefügt] Informationen: Aber es gibt eine Begrenzung in Bezug auf die Menge und Einzelheiten des Reizes, die durch das verschmähte Ohr aufgenommen werden.« (Broadbent, 1958, S. 23). Es gibt nicht eine einzelne Aufmerksamkeitstheorie, die die ursprüngliche ersetzt hat.Dennoch haben viele Forschungsergebnisse dazu beigetragen, spezielle Fragen zu klären, die etwas mit der Aufmerksamkeit des Menschen zu tun haben.
3.12
Automatische Verarbeitung
Die Menschen sind täglich mit Myriaden von Reizen konfrontiert, während sie zur gleichen Zeit einer Reihe von Tätigkeiten nachgehen.Wenn wir beispielsweise Auto fahren, gucken wir vielleicht auf eine Karte, kratzen wir uns, sprechen in ein Handy, essen einen Hamburger, setzen eine Sonnenbrille auf, hören Musik usw. Im Sinne einer Anstrengungsverteilung jedoch richten wir (hoffentlich) mehr Aufmerksamkeit auf das Autofahren als auf andere Tätigkeiten,obwohl ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit an die übrigen Tätigkeiten abgezweigt wird. In starkem Maße eingeübte Tätigkeiten erfolgen automatisch und erfordern deshalb weniger Aufmerksamkeit bei der Ausführung, als dies bei neuen oder nur wenig eingeübten Tätigkeiten der Fall ist. Dieser Zusammenhang zwischen automatischer Verarbeitung und Aufmerksamkeit wurde schon von LaBerge (1975) beschrieben:
91 3.12 · Automatische Verarbeitung
Kritisch hinterfragt: Können Sie sich gleichzeitig mit der einen Hand den Bauch reiben und mit der anderen auf den Kopf hauen? Klopfen Sie mit einem Finger im Rhythmus eines wohl bekannten Liedes wie etwa »Happy Birthday to You« auf den Tisch. Das war doch einfach, nicht? Jetzt machen Sie das Gleiche mit einem Finger der anderen Hand. Klopfen Sie im Rhythmus von »Jingle Bells« (oder eines anderen allgemein bekannten Liedes) auf den Tisch. Das ist auch einfach. Nun klopfen Sie beide Lieder gleichzeitig. Schaffen Sie das? Warum nicht? Mit sehr viel Übung können Sie es lernen. Wenn Sie es schließlich beherrschen, haben Sie es wahrscheinlich gelernt, indem Sie die eine Melodie so gut
Stellen Sie sich beispielsweise vor, den Namen eines Buchstabens zu lernen,der Ihnen völlig unvertraut ist. Dies ist in etwa so, wie den Namen zu lernen, den Sie mit dem Gesicht einer Person verbinden, die sie kürzlich getroffen haben.Wenn Ihnen der visuelle Reiz erneut dargeboten wird, rufen Sie eine raum-zeitliche Episode aus dem Gedächtnis ab, die anschließend die angemessene Aktion auslöst. Bei weiterer Übung taucht der Name fast gleichzeitig mit der Episode auf. Dieses »Kurzschließen« wird durch die Bildung einer direkten Verbindung zwischen den visuellen und den Namen-Codes repräsentiert. Der Vorgang erfordert immer noch Aufmerksamkeit … und der episodische Code wird jetzt eher zur Genauigkeitsüberprüfung als zur Vermittlung der Assoziation verwendet. In dem Maße, wie die Übung zunimmt, wird die direkte Verbindung automatisch (Mandler, 1954) … Ist man erst einmal so weit, evoziert die Reizdarbietung den Namen,ohne dass das Aufmerksamkeitszentrum irgendetwas dazu beiträgt.Tatsächlich beobachten wir in solchen Fällen,wie wir gar nicht verhindern können,dass der Name »plötzlich da ist«. LaBerges Konzept kann mithelfen,einen recht großen Teil der Aktivität des Menschen unter Stressbedingungen zu erklären. Norman (1976) nennt ein dazu passendes Beispiel. Nehmen wir einmal an, ein Taucher befände sich unterhalb der Wasseroberfläche und habe sich in seiner Tauchausrüstung verheddert. Um zu überleben, muss der Taucher die Ausrüstung loslassen und sich allmählich an die Oberfläche treiben lassen. Norman weist in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin:
klopften, dass Sie es mit »eingeschaltetem Autopiloten« tun konnten, während Sie bewusst Ihre Aufmerksamkeit auf die andere Melodie lenkten. Mit etwas Übung bewältigen gute Pianisten ähnliche Aufgaben. Es ist wahrscheinlich, dass die simultane Verarbeitung derartiger Handlungen von einem motorischen Zeitgeber im Kleinhirn reguliert wird – die große Struktur im hinteren Teil des Gehirns, die einem Blumenkohl ähnelt –, aber dass auch andere Teile des Gehirns beteiligt sind.
Immer wieder im Swimmingpool zu trainieren, wie man sich des Gürtels mit den Gewichten entledigt, scheint für den Tauchschüler eine sinnlose Übung zu sein.Aber wenn diese Aufgabe automatisiert wird, sodass sie wenig oder keine bewusste Anstrengung erfordert,dann kann der Taucher sie an dem Tag,an dem er unter Stress handeln muss, erfolgreich bewältigen, auch wenn er in Panik gerät. (Norman, 1976, S. 66) Damit es zu einem Automatismus der Verarbeitung kommt, muss bei der Person ein freier Informationsfluss vom Gedächtnis zur Steuerung der Handlungen stattfinden. Posner und Snyder (1974,1975) strukturierten die automatische Informationsverarbeitung – und dies war dringend notwendig – und gaben drei charakteristische Merkmale eines automatischen Prozesses an: Ein automatischer Prozess tritt unabsichtlich auf. Beim Stroop-Verfahren (einem experimentellen Verfahren mit Wörtern wie etwa ROT oder GRÜN, die in anderen Farben dargestellt sind als die, mit denen die Versuchspersonen die Farbe benennen sollen) erleben die Beteiligten normalerweise einen Konflikt zwischen zwei Aufgaben und lesen,wenn sie die Farben benennen sollen,die Wörter mehrmals durch. Das Lesen, ein wirkungsvoller automatischer Prozess, hat einen gewissen Vorrang vor dem Benennen der Farbe von Buchstaben und geht unwillkürlich vonstatten. In ähnlicher Weise erfolgt schon bei Priming-Experimenten der Effekt unabhängig von der Intention oder dem bewussten Ziel der Versuchsperson. Beispielsweise ist es leichter, das Wort KRANKEN-
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Visuelle Suche, automatische Prozesse und Quarterbacks
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Wir befinden uns im vierten Viertel eines Football-Spiels, die Mannschaft Ihrer Stadt liegt um sechs Punkte zurück. Der Ball ist in der Mitte des Spielfelds und ein neuer Quarterback (eine Art Mittelstürmer) wird auf den Platz gerufen, um eine Aufgabe auszuführen, zu der Folgendes gehört: eine komplexe visuelle Suche, die Auswahl eines Zieles und die Ausführung eines gut eingeübten motorischen Aktes, der unter großem Druck vor tausenden frenetischer Football-Fans stattfindet. Diese Aufgabe, die überall in den USA immer wieder bewerkstelligt wird, liefert uns ein interessantes Beispiel für visuelle Suche, automatische Prozesse und Kognition. Zunächst einmal muss der Quarterback ein Spiel im Gedächtnis behalten, zu dem das Wissen über die Routen gehört, entlang der die Empfänger seiner Pässe laufen sollen. Dann muss er die Formation der Verteidiger als Faktor in seiner zerebralen Rechnung berücksichtigen. Und schließlich muss er die Wahrscheinlichkeiten erfolgreicher Kandidaten berechnen, die den Ball annehmen und ihn einem solchen Ziel zuwerfen. In diesem Prozess lassen sich zwei Phasen ausmachen: eine Aufgabe zum Abruf aus dem Gedächtnis (das Spiel und die Routen erinnern) und eine Aufgabe zu Wahrnehmung und Urteil (die Bewertung der Verteidigung und Wahrscheinlichkeitsurteile über den Erfolg). Durch wiederholtes Training lässt sich jede dieser beiden Aufgaben sehr stark bis zu dem Punkt verbessern, an dem sie automatisch ablaufen – etwa so, wie es trainierte Ten-
SCHWESTER zu erkennen, nachdem man das Wort DOKTOR gesehen hat. Automatische Prozesse bleiben dem Bewusstsein verborgen. Wie schon im vorigen Beispiel erwähnt, laufen
Priming-Effekte meist unbewusst ab. Wir »denken« nicht über automatische Prozesse nach – und dies ist ein Hinweis auf das dritte charakteristische Kennzeichen. Automatische Prozesse verbrauchen nur wenige bewusste Ressourcen (oder gar keine). Wir können Wörter
lesen oder uns die Schuhe zubinden, ohne groß über diese Aktivitäten nachzudenken. Sie gehen automatisch und ohne Anstrengung vor sich. Die Bedeutung von Untersuchungen zu automatischen Prozessen kann darin liegen,dass sie uns etwas über
nisspieler, Balletttänzer oder sogar Schachspieler ( Kapitel 4) machen. Das Problem besteht darin, dass Quarterbacks nicht die Gelegenheit bekommen, so zu trainieren, dass ihre Leistungen automatisch ablaufen (und dann, wenn ein Profispieler seine Fähigkeit auf dieses Niveau geschraubt hat, ist es für ihn an der Zeit, sich als Sportkommentator zur Ruhe zu setzen). Eine Reihe von Forschern hat sich für das Problem der automatischen Prozesse beim Sport interessiert. Dazu gehören auch Arthur Fisk und Neff Walker vom Georgia Institute of Technology, die ein computerbasiertes Trainingssystem eingesetzt haben, das Ausschnitte aus Filmen tatsächlicher Spiele aus der Perspektive des Quarterbacks enthält. Der Quarterback beobachtet diese Szenen, die etwa sechs bis acht Sekunden dauern, und wählt mit Hilfe von Knöpfen den Empfänger aus, zu dem er den Ball werfen würde. Das Programm brummt oder piepst, je nachdem, ob er den falschen oder den richtigen Empfänger für den Ball ausgewählt hat. Ein weiterer Aspekt des Vorgangs besteht darin, den Ball tatsächlich zu werfen und ein sich bewegendes Ziel zu treffen. Diese Übung kann ohne volle Mannschaftsstärke immer wieder trainiert werden, während man den »denkenden« Teil des Spiels einer Computersimulation übergeben kann, die Menschen darin schult, zu Automaten zu werden. In diesem Jahrhundert werden vielleicht alle möglichen Arten von Trainingsprogrammen bereitgestellt werden, die man zu Hause einsetzen kann.
die komplexe kognitive Aktivität sagen,die sich außerhalb der bewussten Erfahrung abzuspielen scheint.Zudem sind Fertigkeiten wie Schreibmaschineschreiben, Tauchen mit Sauerstoffgerät,Violinespielen,Autofahren, Tennisspielen und sogar der korrekte Sprachgebrauch sowie das Fällen sozialer Urteile über andere Menschen wahrscheinlich gut eingeübte Fertigkeiten, die zum großen Teil automatisch ablaufen. Eine gekonnte Leistung in diesen Bereichen kann das Bewusstsein davon befreien, die Aufmerksamkeit auf den fordernden und schwierigen Ansturm von Aktivitäten zu lenken, die Aufmerksamkeit voraussetzen. Das Thema der automatischen Prozesse hängt auch mit dem geheimnisumwobensten Thema innerhalb der Psychologie zusammen: dem Bewusstsein,dem wir uns in Kapitel 5 widmen werden.
93 3.13 · Die Neurokognition der Aufmerksamkeit
Michael I. Posner. Leistete bahnbrechende Arbeiten im Bereich von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Neurokognition, die der kognitiven Psychologie neue Forschungsfelder erschlossen
3.13
Die Neurokognition der Aufmerksamkeit
Wie wir in den vorausgegangenen Kapiteln erfahren haben, stellt die Neurokognition eine neue Richtung innerhalb der kognitiven Psychologie dar.Angeregt durch wichtige Entdeckungen in der Neurologie und in der Informatik hat die Neurokognition fast jeden Bereich der kognitiven Psychologie einschließlich der Aufmerksamkeitsforschung durchdrungen. Man kann sich die neurokognitive Untersuchung der Aufmerksamkeit in etwa so vorstellen, dass hier neue Forschungsfelder erschlossen werden.
3.13.1
Aufmerksamkeit und das menschliche Gehirn
Der Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und dem menschlichen Gehirn wurde ursprünglich so untersucht, dass man einen Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeitsdefiziten und Gehirntraumata herstellte. Diese frühen Arbeiten beschränkten sich auf den Bereich der Neuropathologie. Beispielsweise könnte ein Hirnschlag oder eine Läsion in einem bestimmten Teil des Gehirns mit einer Art von Aufmerksamkeitsdefizit einhergehen. Leider basierten die pathologischen Beobachtungen gewöhnlich auf schweren Verletzungen, die nicht klar eingegrenzt sind,wie etwa Hirnschläge und Schusswunden,und somit blieb der genaue Ort innerhalb des Gehirns, der etwas mit dieser speziellen Art von Aufmerksamkeitsproblemen zu tun hatte, im Dunkeln. Und es gab noch ein zusätzliches Problem: Diese spezifischen pathologischen Beobachtungen beruhten auch häufig auf Untersuchungen an Verstorbenen,die – um es zurückhaltend auszudrücken – nur eine minimale Interaktion zwischen Person und Beob-
achter gestatten. Pathologische Untersuchungen deuteten jedoch darauf hin, dass die Aufmerksamkeit teilweise an ein spezielles Gebiet im Kortex gebunden war. Kürzlich haben Forscher, die am Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Gehirn interessiert sind, Methoden verwendet, die sowohl innerhalb der kognitiven Psychologie als auch innerhalb der Hirnwissenschaft entwickelt worden sind und die unser Verständnis dieser Beziehung wesentlich erweitern. Außerdem gibt es inzwischen eine eindrucksvolle Liste von Techniken, auf die man in beiden Disziplinen zurückgreifen kann. Sie setzen nicht voraus, dass die Versuchsperson gestorben ist, einen schweren Hirnschlag erlitten hat, eine Kugel im Kopf aufweist oder sich chirurgischen Verfahren unterzieht, wenn man etwas beobachten möchte. Die neueren Forschungsanstrengungen haben sich im Allgemeinen auf die folgenden beiden Bereiche konzentriert: 1. Die Suche nach den Entsprechungen zwischen der Geographie des Gehirns und Aufmerksamkeitsprozessen (Corbetta et al., 1991; Hillyard et al., 1995; Mountcastle, 1978; Pardo, Fox & Raichle, 1991; Posner, 1988, 1992; [besonders] Posner & Petersen, 1990; Whitehead, 1991; Woldorff et al., 1993). Bei diesen Untersuchungen wurde eine breite Vielfalt kognitiver Methoden genutzt,die bereits in diesem Kapitel erörtert wurden (beispielsweise dichotisches Hören, begleitendes Nachsprechen, geteilte Aufmerksamkeit, lexikalische Entscheidungsaufgaben, Diskrimination von Gestalt und Farbe sowie Priming), und es wurden Geräte zur Telemessung eingesetzt,wie sie in neurologischen Studien verwendet werden (beispielsweise beim MRI und PET). Man hat aber auch herkömmliche Reaktionszeit-Experimente durchgeführt. 2. Methoden,wie sie im Kognitionslabor entwickelt wurden, werden als diagnostische Tests oder zur Untersuchung von pharmakologischen Agenzien eingesetzt, die vermutlich selektiv auf den Aufmerksamkeitsprozess wirken (Tinklenberg & Taylor, 1984). Denken Sie noch einmal an die Aufgabe, Entsprechungen zwischen Hirnanatomie und Aufmerksamkeit zu finden. Es scheint anatomisch getrennte Systeme im Gehirn zu geben, die an der Aufmerksamkeit beteiligt sind, und andere Systeme wie etwa die datenverarbeitenden Systeme, die bei bestimmten Inputs ihre Funktion erfüllen, auch wenn sich die Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet (Posner,1992).In einem bestimmten Sinne ähnelt das Aufmerksamkeitssystem insofern anderen Systemen (dem
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
motorischen und dem sensorischen beispielsweise), als es mit vielen anderen Teilen des Gehirns interagiert,aber zugleich seine eigene Identität beibehält. Belege für diese Schlussfolgerung kann man bei Patienten mit einer Hirnschädigung finden, die Aufmerksamkeitsprobleme, aber keine Verarbeitungsdefizite aufweisen (und umgekehrt).
3 3.13.2
Aufmerksamkeit und PET
Die aktuelle Aufmerksamkeitsforschung hat bildgebende Verfahren zur Darstellung des Gehirns verwendet (vor allem PET).Obwohl es unmöglich ist,über alle neueren Studien zu berichten (oder auch nur über eine vernünftige Auswahl von ihnen, so zahlreich sind die neuen Ergebnisse in diesem Forschungsfeld), kann man einen kurzen Einblick in einige Arbeiten geben, die im Moment auf diesem wichtigen Gebiet der neurokognitiven Forschung von einigen der bedeutendsten Wissenschaftler durchgeführt werden. Der grundlegende methodische Ansatz für die PET-Untersuchungen wird in Kapitel 2 erörtert. Obwohl wir an dieser Stelle die Erklärung der Vorgehensweise nicht wiederholen wollen, ist es wichtig, sich daran zu er-
⊡ Abb. 3.12. Hier sind die Zentren im zerebralen Kortex des menschlichen Gehirns dargestellt, die an der Aufmerksamkeit beteiligt sind. Die Aufmerksamkeitsnetzwerke sind durch farblich hervorgehobene Figuren auf den lateralen (außen) und medialen (Querschnitt) Oberflächen der rechten und der linken Hemisphäre angegeben. Es scheint so zu sein, dass die Parietallappen am Aufmerksamkeitsnetzwerk beteiligt sind (siehe Quadrat). Die rechten Frontal-
innern, dass es sich hierbei um ein Verfahren handelt, bei dem die Geschwindigkeit des Blutflusses im Gehirn mit Hilfe von radioaktiven Markern bewertet wird. In dem Maße, in dem das Gehirn Nährstoffe durch ihre Verwertung umwandelt,wird mehr Blut benötigt.Diese Aktionen werden mittels radioaktiver Sensoren überwacht und von einem Computer in eine geographische Karte des Kortex umgewandelt, auf der sich so genannte »Hot spots«, Regionen mit starker Durchblutung, ausmachen lassen. Typisch für diese Experimente ist die Arbeit von Petersen und seinen Kollegen (Petersen et al., 1990), bei der den Versuchspersonen Wörter, Nichtwörter, die Wörtern ähneln, und Zeichenketten aus Konsonanten gezeigt wurden.Auf der linken Seite in ⊡ Abb. 3.12 sind die Gebiete in Form einer schmalen Ellipse dargestellt, die bei Wörtern und regulären Nichtwörtern (aber nicht bei Zeichenketten aus Konsonanten) aktiviert wurden. Seltsamerweise sind Patienten, die in diesen Bereichen nichttödliche Läsionen erleiden, häufig nicht in der Lage, Wörter zur lesen, aber sie lesen vielleicht Buchstabe für Buchstabe. Zeigt man diesen Patienten beispielsweise das Wort Oper, dann können sie es nicht lesen, aber sie können die Buchstaben einen nach dem anderen sagen. Bei dieser Aktion wird die
lappen werden mit Vigilanz (Zustand erhöhter Wachsamkeit und Bereitschaft) in Zusammenhang gebracht. Die Rauten sind Teil des anterioren (vorderen) Aufmerksamkeitsnetzwerks. Bei den Ovalen und Kreisen handelt es sich um Wort verarbeitende Systeme, die mit der visuellen Wortform (Ellipse) und den semantischen Assoziationen (Kreis) zusammenhängen
95 3.13 · Die Neurokognition der Aufmerksamkeit
Zeichenkette (wahrscheinlich) in einem akustischen Code repräsentiert und so übernehmen andere Bereiche des Gehirns die Funktion und diese Patienten können sagen, wie das Wort heißt. Weitere Untersuchungen am Gehirn mit Hilfe der PET zeigen, dass andere Bereiche etwas mit spezifischen Arten der Aufmerksamkeit zu tun haben, wie dies in ⊡ Abb. 3.12 dargestellt ist. Jeder dieser dazu vorgesehenen Bereiche ist auf unterschiedliche Weise an der selektiven Aufmerksamkeit beteiligt. Um die Haupteigenschaften des Gehirns beim Prozess der Aufmerksamkeit
Zusammenfassung 1. Kognitionspsychologen interessieren sich für die Wahrnehmung, weil man von der Kognition annimmt, dass sie eine Folge äußerer Ereignisse ist, dass die sensorische Aufnahme von Vorerfahrungen beeinflusst wird und dass das Wissen über die sensorische Erfahrung uns vielleicht etwas darüber mitteilen kann, wie die Informationen auf der kognitiven Ebene abstrahiert werden. 2. Mit Empfindung bezeichnet man die Beziehung zwischen der physikalischen Welt und ihrer Aufnahme durch das sensorische System, während an der Wahrnehmung Kognitionen höherer Ordnungen während der Interpretation sensorischer Signale beteiligt sind. 3. Täuschungen treten auf, wenn sich die eigene Wahrnehmung der Realität von der »Realität« unterscheidet. Täuschungen sind oft eine Folge von Erwartungen, die auf früheren Erfahrungen beruhen. 4. Der Wahrnehmungsprozess besteht aus der Aufnahme und der Interpretation der Realität und wird durch den wahrgenommenen Reiz, die Struktur des sensorischen Systems und des Gehirns sowie durch Vorwissen bestimmt. 5. Untersuchungen zur Wahrnehmungsspanne beschäftigen sich mit der grundlegenden Frage, wie viel wir bei kurzzeitiger Konfrontation mit einem Reiz erfahren. 6. Wenn etwas über wahrgenommene Reize aufgrund einer kurzen Darbietung berichtet werden soll, läuft ein zweistufiger Prozess ab: (1) die Wahrnehmung oder die tatsächliche sensorische Erfassung und (2) der Abruf aus dem Gedächtnis oder die Fähigkeit, zu berichten, was erfasst wurde, bevor es verblasst. ▼
wirklich zu verstehen, ist es notwendig, die Themen Bewusstheit und Bewusstsein mit zu berücksichtigen. Der momentane Wissensstand über die Rolle des zerebralen Kortex bei Bewusstheit und Aufmerksamkeit ist folgender: Das Aufmerksamkeitssystems bringt die Inhalte der Bewusstheit auf die gleiche Weise hervor wie andere Teile des Gehirns, etwa das Sehsystem, und organisiert die Art und Weise,wie andere Empfindungen verarbeitet werden, in etwa so, wie die visuelle Welt wahrgenommen wird.
7. Mit Techniken des partiellen Berichts versucht man das Problem anzugehen, dass die sensorische Kapazität mit der Abruffähigkeit konfundiert ist. 8. Der ikonische Speicher behält den visuellen Input und scheint von Steuerungsfaktoren aufseiten der Versuchsperson (beispielsweise Aufmerksamkeit) abzuhängen. Die Kapazität wird auf mindestens neun Items bei einer Dauer von ungefähr 250 Millisekunden geschätzt. Der Echospeicher behält den akustischen Input mit einer Dauer von etwa vier Sekunden. 9. Der ikonische Speicher und der Echospeicher gestatten uns vielleicht, die relevanten Informationen für die weitere Verarbeitung auszusuchen. Damit bieten sie eine Art von Lösung für das Problem der Kapazitätsbegrenzungen, die dem informationsverarbeitenden System eigen sind. 10. Aufmerksamkeit ist die Konzentration der mentalen Anstrengung auf sensorische oder mentale Ereignisse. Viele neuere Ideen zur Aufmerksamkeit basieren auf der Voraussetzung, dass die Kapazität eines informationsverarbeitenden Systems bei der Behandlung des Inputflusses durch die Begrenzungen dieses Systems festgelegt ist. 11. Die Aufmerksamkeitsforschung deckt fünf wesentliche Aspekte ab: Verarbeitungskapazität und Selektivität, Steuerung der Aufmerksamkeit, automatische Verarbeitung, Neurokognition der Aufmerksamkeit und Bewusstsein. 12. Kapazitätsgrenzen und selektive Aufmerksamkeit lassen auf einen strukturellen Engpass bei der Informationsverarbeitung schließen. Eines der Modelle (das von Broadbent) lokalisiert ihn bei oder kurz vor der Wahrnehmungsauswertung.
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Kapitel 3 · Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
13. Das Abschwächungsmodell der selektiven Aufmerksamkeit nimmt einen hypothetischen Wahrnehmungsfilter an, der zwischen Signal und verbalen Auswertungen liegt, den Input überprüft und die »Lautstärke« der Botschaft selektiv einstellt. Von Reizen nimmt man an, dass sie unterschiedliche Aktivierungsschwellen haben – eine Annahme, die erklärt,
Schlüsselworte ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Aufmerksamkeit automatische Verarbeitung begleitendes Nachsprechen Cocktailparty-Phänomen Echogedächtnis Empfindung Epistemologie ikonisches Gedächtnis Kanalkapazität Output-Interferenz peripheres Nervensystem Priming Psychophysik rechnendes Gehirn Sakkade subliminale Wahrnehmung Wahrnehmung Wahrnehmungsspanne
wie wir hören können, ohne die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken. 14. Bei neueren Arbeiten zur Neurokognition wurde die Aufmerksamkeit näher erforscht. Man suchte nach Entsprechungen zwischen Teilen des Gehirns und Aufmerksamkeitsmechanismen.
Literaturempfehlungen Aus psychologiegeschichtlicher Perspektive ist Broadbents Buch Perception and Communication ein wichtiges Werk und immer noch interessant zu lesen.Gregorys Buch The Oxford Companion to the Mind ist eine intellektuelle Glanzleistung, an der jeder Spaß hat, der sich für Gedanken, Kognition und Aufmerksamkeit interessiert. In besonderem Maße möchte ich die folgenden Beiträge empfehlen: Kihlstroms Artikel »The Cognitive Unconscious« in Science; Cowans Artikel in Psychological Bulletin; Posner und Petersens Kapitel in »The Attention System of the Human Brain« im Annual Review of Neuroscience; Pashlers »Doing Two Things at the Same Time« in American Scientist und, wenn Sie einen kleinen Einblick in automatische Prozesse und PDP haben wollen, Cohens, ServansSchreibers und McClellands Artikel (1992) im American Journal of Psychology. Der von Gazzaniga herausgegebene Band The Cognitive Neurosciences enthält einige detaillierte Kapitel von anerkannten Autoritäten in diesem Bereich. Neuere Ausgaben von Perception and Psychophysics, Cognitive Psychology, American Journal of Psychology, Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance und von Memory and Cognition enthalten häufig Berichte über die Themen, die in diesem Kapitel erörtert wurden.
4 Mustererkennung 4.1
Theorien der Wahrnehmung –100
4.2
Visuelle Mustererkennung –102
4.2.1 Sehen –102 4.2.2 Subjektive Organisation –103
4.3
Gestalttheorie –104
4.4
Kanonische Perspektiven –106
4.5
Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung (datengeleitete und zielgesteuerte Verarbeitung) –109
4.6
Übereinstimmung mit Schablonen –110
4.6.1 Geon-Theorie –112 4.6.2 Priming-Verfahren –113
4.7
Merkmalsanalyse –115
4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4 4.7.5
Blickbewegungen und Musterwahrnehmung –117 Übereinstimmung mit Prototypen –118 Abstraktion von visueller Information –118 Pseudo-Erinnerung –120 Prototyptheorie: Zentrale Tendenz im Gegensatz zur Eigenschaftshäufigkeit –121
4.8
Formwahrnehmung: Ein integrierter Ansatz –122
4.9
Mustererkennung bei Experten –123
4.9.1 Mustererkennung beim Schachspielen –123
4.10 Mustererkennung – die Rolle des Wahrnehmenden –125
98
Kapitel 4 · Mustererkennung
Anregungen vorab 1. 2. 3. 4. 5. 6.
4
7. 8.
Welches sind die Hauptthemen der Mustererkennung? Was ist konstruktive Wahrnehmung? Was ist direkte Wahrnehmung? Geben Sie mehrere Beispiele für Täuschungen an und erklären Sie sie. Was ist die Gestaltpsychologie und wie wird die Wahrnehmung durch diese Theorie erklärt? Führen Sie mehrere Beispiele für kanonische Perspektiven an. Was sind die Hauptmerkmale der folgenden Vorstellungen zur Mustererkennung: Übereinstimmung mit Schablonen, Geon-Theorie, Merkmalsanalyse und Prototypbildung? Was ist Priming und warum wird es in der modernen kognitiven Psychologie als wichtiges Thema betrachtet? Wie strukturieren Experten (z. B. Schachmeister) visuelle Muster?
Die unterste Form des Denkens ist das schiere Erkennen des Gegenstands. Die höchste ist die umfassende Intuition des Menschen, der alle Dinge als Bestandteile eines Systems sieht. Plato
Welche Ihnen vertrauten Gegenstände haben Sie heute schon gesehen? Wenn es bei Ihnen so ist wie bei den meisten Menschen, war die Anzahl der Dinge, die Sie gesehen und identifiziert haben, ungeheuer groß. Doch jetzt zu einer schwierigeren Frage: Wie gelang es Ihnen, so viele Gegenstände rasch und genau zu erkennen? Unsere Fähigkeit, typische Vertreter von Dingen, die uns vertraut sind, zu erkennen, ist eine eindrucksvolle Grundeigenschaft des Menschen. Diese Eigenschaft gestattet es uns, in einem Meer von Gesichtern einen alten Freund zu erkennen, aus einigen wenigen Noten ein ganzes musikalisches Thema herauszuhören, Worte zu lesen, den Geschmack eines Spitzenweins zu genießen oder Gefallen am Geruch einer Rose zu finden.Es handelt sich um eine kognitive Begabung, die wir meist kontinuierlich, rasch und ohne viel Anstrengung in die Tat umsetzen. Im Alltag nutzen wir die Mustererkennung ständig, doch die kognitiven Strukturen,auf die sie sich stützt,begreift man erst seit kurzem. Wie erkennen Sie beispielsweise Ihre Großmutter? Bewerkstelligen Sie dies mit Hilfe einer Großmutterschablone, die auf keine andere Großmutter passt? Verkörpert Ihre Großmutter einen Großmutterprototyp,der es Ihnen aber auch dann noch ermöglicht,sie zu erkennen, wenn sie ihre Brille trägt oder sogar wenn sie eine neue Frisur hat? (»Aber warum das denn jetzt, Oma, ich habe dich ja fast nicht erkannt!«) Oder die Alternati-
verklärung: Überprüfen Sie hastig ihre Merkmale und vergleichen Sie jedes Einzelmerkmal mit einer Liste der Hauptmerkmale »meiner Großmutter«? Obwohl wir uns hier ausschließlich mit der visuellen Mustererkennung beschäftigen, wird unser Verhalten auch durch andere Arten von Mustern beeinflusst – akustische, taktile usw. Letztere wurden weniger häufig erforscht als die visuelle Mustererkennung und in diesem Kapitel kommt diese Ungleichheit zum Ausdruck. Wie wir sehen werden, umfasst sogar die alltägliche Mustererkennung eine komplexe Wechselwirkung zwischen Empfindung, Wahrnehmung, Langzeitgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis und einer kognitiven Suche zur Identifizierung der Reize. So komplex der Prozess der Gegenstandserkennung auch ist, er wird innerhalb des Bruchteils einer Sekunde mehr oder minder genau geleistet.Sowohl aus Laboruntersuchungen als auch aus dem Alltagswissen sind uns mehrere Dinge über die Mustererkennung bekannt. Und dazu gehören die folgenden Fähigkeiten des Menschen:
99 4 · Mustererkennung
Prinzip
Beispiel
Vertraute Muster prompt und mit einem hohen Maß an Genauigkeit erkennen.
Leicht erkennen wir die Gesichter unserer Freunde, das Innere unseres Hauses und Verkehrszeichen.
Mit nicht vertrauten Objekten umgehen.
Obwohl wir eine ungewöhnliche Figur noch nie gesehen haben (ein ungewöhnliches A beispielsweise), wird es unser visuelles Wahrnehmungssystem möglicherweise analysieren.
Objekte genau wahrnehmen, die anders aufgestellt oder in einen anderen Winkel gedreht wurden.
Wir erkennen eine Kaffeetasse, auch wenn sie zum Beispiel auf dem Kopf steht.
Objekte erkennen, die teilweise für den Blick verborgen, verschlossen und in anderer Weise »verrauscht« sind.
Wir folgern, dass verborgene Teile eines Objekts existieren, wie etwa die Hosen eines Fernsehreporters, dessen Unterkörper und Beine man nicht sieht.
Eine Mustererkennung rasch, mit subjektiv empfundener Leichtigkeit und gleichsam automatisch durchführen.
Wir bewegen uns durch eine Welt, in der sich Formen und Objekte ständig verändern; und trotzdem verarbeiten wir diese Informationen schnell und ohne unnötige Anstrengung.
Formwahrnehmung In diesem Augenblick rasen zwei amerikanische Raumschiffe mit dem Namen Voyager auf ihrem Weg zu den Sternen durch den Weltraum. Diese Raumfahrzeuge sind insofern außergewöhnlich, als man an beiden eine goldbeschichtete Schallplatte mit Lautzeichen angebracht hat, die Lebewesen aus irgendeiner fernen Zivilisation, wenn sie von ihnen dekodiert würden, etwas über unseren Planeten und unsere Kultur mitteilen würde. Jede Platte enthält etwa 90 Minuten Musik, Töne von der Erde, Grußbotschaften in 60 Sprachen and 118 »Fotografien« von Menschen und dem Planeten. Was würden intelligente Bewohner einer fernen Zivilisation, wenn überhaupt, mit dieser Information anfangen? Und eine wichtigere Frage für Psychologen, die sich mit der Kognition beim Menschen beschäftigen: Welche Annahmen über die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung beim Menschen sind in dieser Aufgabe enthalten? Die Fotografien 61 und 62 wurden als Reproduktionen dargestellt, um die Annahmen zu illustrieren, die wir über die Wahrnehmung komplexer Formen bei Men▼
schen und Außerirdischen machen. In der Fotografie 62 (unten rechts) jagen ein Jäger vom Stamm der Buschmänner und (vermutlich) sein Sohn ein kleines Tier mit Hörnern und vier Beinen. Die meisten Menschen bemerken schnell, dass das Tier größer ist, als es der absoluten Größe auf der Fotografie entspricht. In Fotografie 61 (unten links) schufen die Wissenschaftler eine Silhouette der drei Hauptfiguren auf dem Bild zusammen mit den Abmessungen des Tieres und des Jungen. Man ging von der Erwartung aus, dass ein Außerirdischer in der Lage wäre, diese Maße zu verwenden, um den Begriff der Tiefenwahrnehmung zu verstehen, die wir Menschen als selbstverständlich voraussetzen. Wenn wir jedoch die wahrscheinlich einzigartige Evolutionsgeschichte irdischer und anderer Lebewesen berücksichtigen, ist es unwahrscheinlich, dass selbst diese Hinweisreize für ein vollständiges und unmittelbares Verstehen ausreichend wären. Wir Menschen bringen Myriaden kognitiver und physiologischer Eigenschaften in die Formwahrnehmung mit ein. Sie rufen einen einmaligen Eindruck hervor, der unter
4
100
Kapitel 4 · Mustererkennung
intelligenten Lebewesen, soweit wir wissen, etwas Besonderes ist. Graphische Darstellung von Jon Lomberg. Aus Murmurs of Earth: The Voyager Interstellar Record von Carl Sa-
gan, F. D. Drake, Ann Drugen, I. Ferris, Jon Lomberg und L. S. Sagan. Random House, Inc. Fotografie von N. R. Farbman, Life Magazine, Time, Inc., in Sagan et al. (1978)
4
4.1
Theorien der Wahrnehmung
Wahrnehmungspsychologen haben zwei Haupttheorien darüber entwickelt, wie die Menschen die Welt wahrnehmen. In einer Theorie – der Theorie der konstruktiven Wahrnehmung – wird behauptet, dass die Menschen die Wahrnehmungen konstruieren,indem sie aktiv Reize auswählen und indem sie Empfindungen mit dem Gedächtnis zusammenführen. In einer weiteren Theorie – der Theorie der direkten Wahrnehmung – wird unterstellt, dass die Wahrnehmung die unmittelbare Aneignung von Informationen aus der Umwelt beinhaltet.Wir wollen uns zunächst mit der konstruktivistischen Position beschäftigen. Die Theorie der konstruktiven Wahrnehmung beruht auf der Auffassung, dass wir während der Wahrnehmung Hypothesen im Hinblick auf die Perzepte bilden und überprüfen und dass diese sowohl auf dem beruhen, was wir wahrnehmen, als auch auf dem, was wir wissen. Somit ist die Wahrnehmung der gemeinsame Effekt dessen, was durch unser sensorisches System hereinkommt, und dessen, was wir aufgrund unserer Erfahrungen über die Welt
gelernt haben. Wenn Sie sehen, wie Ihnen ein Freund aus der Entfernung entgegenkommt, erkennen Sie ihn, weil seine Merkmale (seine Nase,Augen,Haare usw.) von Ihrem Auge aufgenommen werden und weil Sie wissen,dass man ihn gewöhnlich zu dieser Zeit an diesem Ort sehen kann. Sie sind eventuell auch in der Lage, ihn trotz der Tatsache zu erkennen,dass er sich vielleicht kürzlich einen Schnurrbart hat wachsen lassen, seine Frisur gewechselt hat oder eine Sonnenbrille trägt. Nach der Auffassung des Konstruktivismus gestatten diese Veränderungen in Bezug auf die Muster der ursprünglichen Reize immer noch, diesen Menschen genau zu erkennen. Dies liegt an der unbewussten Schlussfolgerung – einem Prozess, bei dem wir spontan Informationen aus mehreren Quellen zusammenführen, um eine Wahrnehmung zu konstruieren. Nach dieser Auffassung sehen wir mit dem Gehirn und seinem reichhaltigen Vorrat an Wissen über die Welt genauso viel wie mit den Augen (und anderen Sinnesorganen), die uns den noch nicht aufbereiteten sensorischen Input liefern. Diese Theorie hängt eng mit einer »Top-down«-Auffassung von der sensorischen Verarbeitung zusammen (um die es im nächsten Abschnitt gehen soll) und stimmt mit der Sicht
101 4.1 · Theorien der Wahrnehmung
vieler Kognitionspsychologen überein, die an Problemen im Bereich des visuellen Mustererkennens arbeiten, wie etwa Jerome Bruner, Richard Gregory und Irvin Rock. Sie lässt sich auf die klassische Arbeit von Hermann von Helmholtz zurückführen,die er zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geschrieben hat. In der Theorie der direkten Wahrnehmung wird behauptet, dass die Information in den Reizen das eigentlich wichtige Element bei der Wahrnehmung ist und dass Lernen und Kognition für die Wahrnehmung nicht erforderlich sind. Der führende Vertreter dieser Theorie war James Gibson (1966, 1979) und er hatte seine Anhänger vor allem an der Cornell University. Zu ihnen gehörte auch James Cutting (1986,1993), der Folgendes schrieb: »Bei der direkten Wahrnehmung nimmt man an,dass die Reichhaltigkeit des optischen Feldes ihre genaue Entsprechung in der Reichhaltigkeit der Welt hat« (S. 247). Der Gedanke, der in der ökologischen Psychologie Unterstützung findet,ist der, dass der Reiz genügend Informationen für die korrekte Wahrnehmung enthält und dass er keine inneren Repräsentationen für die Wahrnehmung benötigt. Der Wahrnehmende leistet bei der Wahrnehmung minimale Arbeit, weil die Welt so viele Informationen anbietet.Dadurch werden nur geringe Anforderungen gestellt, um die Wahrnehmung zu konstruieren und Schlussfolgerungen zu ziehen. Wahrnehmung besteht aus der direkten Aneignung von Informationen aus der Umwelt. Denken Sie an ein Beispiel (diesmal nicht aus dem Bereich des Sehens, sondern aus dem des Hörens): Wenn Sie ein Musikstück hören, das in G-Dur auf einem Klavier gespielt wird, und dann das gleiche Stück, wie es in C-Dur vorgetragen wird, dann würden Sie wahrscheinlich erkennen, dass das zweite Stück dem ersten ähnlich war.Und wenn genügend Zeit zwischen den Darbietungen vergangen ist, könnten Sie zu der Schlussfolgerung kommen,dass es sich um dasselbe Werk handelt. Obwohl sich die Noten im einen Stück von denen im anderen unterscheiden,sind die Beziehungen zwischen ihnen konstant oder invariant. Ähnliche Invarianten kann man bei der visuellen Wahrnehmung beobachten. Gibson argumentierte, dass bei Szenen aus der realen Welt visuelle Hinweisreize wie etwa die Linearperspektive, die relative Größe und so weiter für die Tiefenwahrnehmung nicht relevant sind. Seine Auffassung wurde bestätigt, als er während des Zweiten Weltkriegs an der Auswahl von Piloten beteiligt war. Er fand heraus, dass jene Piloten, die gute Leistungen bei Tests zur Tiefenwahrnehmung zeigten, beim Fliegen eines Flugzeugs – bei dem sowohl ein hohes Leistungsniveau als auch gute Tiefen-
wahrnehmung verlangt werden – nicht besser waren als jene, die schlechte Werte bei solchen Tests erreichten. Er schloss daraus, dass zur Wahrnehmung der realen Welt die übliche Menge an Hinweisreizen für Tiefe nicht angemessen ist. Die Auffassung von der direkten Wahrnehmung hat viele Merkmale mit der »Bottom-up«-Theorie der Formwahrnehmung gemeinsam, mit der wir uns bald beschäftigen werden. Beide Wahrnehmungstheorien haben eine Unzahl begeisterter Anhänger und zumindest auf der Oberfläche scheinen sie unmittelbar entgegengesetzte und unvereinbare Behauptungen zu repräsentieren. Doch auf einem anderen Analyseniveau kann man die Theorien als etwas betrachten,das komplementär zueinander ist und sich gar nicht widersprechen muss. Die konstruktive Auffassung von der Wahrnehmung ist intuitiv reizvoll, da man ja schließlich, wenn man beim Lesen die Wörter auf dieser Seite wahrnimmt, deren Bedeutung »versteht«, weil man semantisches Wissen über ihre Bedeutung hat.Wenn man ein Kunstwerk betrachtet, nimmt man seine Bedeutung aufgrund der Informationen über den Künstler, aufgrund des verwendeten Materials und seines Kontextes wahr. Diese Beispiele für Wahrnehmung scheinen auf Wissen, Erfahrungen und Lernen zu beruhen – all dies lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die inneren Repräsentationen des Mentalen und verschmilzt mit ihnen. Was könnte andererseits natürlicher sein als eine Wahrnehmung, die die Vollständigkeit der Informationen in den Rezeptoren betont und darauf hinweist, dass die Wahrnehmung einfach, natürlich und direkt ohne komplizierte innere Repräsentationen und schaltkreisartige Routinen zur Informationsverarbeitung vor sich geht? Meiner Auffassung nach lässt sich die Wahrnehmung durch beide Theorien gut erklären, sie konzentrieren sich jedoch auf unterschiedliche Phasen des Prozesses.Der Ansatz der direkten Wahrnehmung ist aus zwei Gründen wichtig für unser Verständnis der Wahrnehmung: Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung sensorischer Reize und verweist darauf, dass deren Verarbeitung einfach und direkt ist und dass Kognition und Wahrnehmung natürliche, auf Ökologie beruhende Phänomene sind – eine Position, die sich harmonisch in eine neue Theorie im alten Gewand fügt, die kognitiv-evolutionäre Auffassung oder die kognitive Bionomik, mit der wir uns in Kapitel 1 beschäftigt haben. Während die Theorie der direkten Wahrnehmung dazu beitragen kann,einen Teil der frühen Wahrnehmung sensorischer Eindrücke zu begreifen, ist die Theorie der konstruktiven Wahrnehmung von Vorteil,
4
102
4
Kapitel 4 · Mustererkennung
um zu verstehen, wie sensorische Eindrücke vom denkenden Gehirn erfasst werden. Das wesentliche Merkmal des Menschen (und anderer Lebewesen), während der Wahrnehmung der »Realität« deduktive Schlüsse zu ziehen,ist nicht nur nützlich,um Reize zu begreifen,die nicht vollständig sind (z.B. einen Freund ohne seinen Schnurrbart zu erkennen), sondern es ist auch für das Überleben der Art erforderlich: Das alles geschieht, nachdem die reichhaltigen Reize aus Gibsons Welt für ein paar Hundert Millisekunden im Gehirn herumgegeistert sind.
Mustererkennung unter Experten. Bezogen auf eine Viel-
falt von Gegenstandsbereichen wird die Mustererkennung bei Spezialisten untersucht. Es sollte bedacht werden, dass jede Einzelne dieser Auffassungen einige theoretische Merkmale mit anderen gemeinsam haben kann. Die angegebenen Unterscheidungen stellen nur ein strukturierendes Schema für das dar, was im Folgenden erörtert werden soll.
4.2.1 Sehen 4.2
Visuelle Mustererkennung
Welches sind nun die kognitiven Prozesse, die wir als gegeben voraussetzen müssen, um unsere Fähigkeit zur Klassifikation und zum Verstehen visueller Muster zu erklären? Man ist dieser Frage von mehreren theoretischen Positionen aus nachgegangen: Jeder Einzelne der folgenden Ansätze wird in diesem Kapitel behandelt: Gestalttheorie. Mustererkennung beruht auf der Wahr-
nehmung ganzer Muster von Reizen. Teile der Gesamtkonfiguration leiten ihre Bedeutung aus ihrer Zugehörigkeit zum Ganzen ab. Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung (datengeleitete und zielgesteuerte Verarbeitung). Mustererkennung wird durch die Teile des Musters (bottom-up) initiiert, die zum Erkennen des ganzen Musters führen; als Ergänzung dazu folgt dem Erkennen des Ganzen das Erkennen der Bestandteile (top-down). Übereinstimmung mit Schablonen. Es kommt zur Mus-
tererkennung, wenn sensorische Reize und eine entsprechende innere mentale Form zusammenpassen. Merkmalsauswertung. Mustererkennung findet statt, nachdem die eintreffenden Reize auf ihre einfachen Merkmale hin ausgewertet worden sind (ähnlich der Bottomup-Verarbeitung). Prototyptheorie. Es kommt zur Mustererkennung, wenn
ein wahrgenommenes Muster und ein abstrahiertes oder idealisiertes mentales Muster zusammenpassen. Formwahrnehmung. Die Mustererkennung wird von verschiedenen theoretischen Positionen aus untersucht.
Das Sehen, der Akt der Aufnahme elektromagnetischer Wellen,wird durch die einzigartige Struktur des Auges ermöglicht. Es ist genau darauf eingerichtet, auf Licht beruhende Energie aufzunehmen.Ins Auge gelangen die Lichtwellen durch die Hornhaut (Cornea) und die Linse,die ein Bild auf der Netzhaut (Retina) fokussieren. Das Erkennen eines Musters – sei es nun eine einfache zweidimensionale schwarzweiße Form oder eine komplexe dreidimensionale farbige Form – wird auf der Retina immer als zweidimensionale Form repräsentiert (das Bild,das auf die Retina fällt,bleibt für eine gewisse Zeit erhalten,was manche für eine weitere Dimension halten mögen). Durch diese zweidimensionalen Repräsentationen wird eine Wahrnehmung höherer Ordnung – einschließlich der Illusion von Dreidimensionalität – möglich, wenn die Impulse zum visuellen Kortex weitergeleitet werden und bei Kombination mit bereits bestehendem Wissen dazu führen, dass wir beispielsweise unsere Großmutter erkennen, wenn wir sie sehen. Die Magie, die Jahrhunderte lang mit visuellen Prozessen verbunden wurde, ist am Ende einem wissenschaftlichen Verständnis gewichen. Das visuelle System ist das komplexeste aller sensorischen Systeme. Das Auge weist etwa sieben Millionen Zapfen auf, die auf gut ausgeleuchtete Reize reagieren, und 125 Millionen Stäbchen, die auf schlecht ausgeleuchtete Reize reagieren. Diese Verteilung der Stäbchen und Zapfen auf der Retina ist nicht gleichmäßig.Die Zapfen konzentrieren sich auf die Fovea und die Stäbchen sind über den Bereich außerhalb der Fovea verteilt. Trotz der ungleichmäßigen Verteilung der sensorischen Nervenzellen im Auge fassen viele Modelle der visuellen Wahrnehmung – vor allem jene, die auf der Computermetapher aufbauen – das visuelle System als eine Art Matrix auf, die geometrisch durch ein x-und y-Gitter beschrieben werden kann. Außer der Anzahl der sensorischen Zellen und ihrer genauen Lage stellt
103 4.2 · Visuelle Mustererkennung
die Intensität der Reize (oder wie hell ein Objekt ist und welchen Einfluss dies auf eine Empfindung hat) einen weiteren Faktor beim Verständnis der visuellen Wahrnehmung dar. Man hat herausgefunden, dass helle und dunkle Objekte auf ähnliche Weise repräsentiert werden. Mehrere momentan laufende Forschungsprojekte versuchen das Sehen beim Menschen mit Hilfe von Computern zu simulieren, die nach den eben geschilderten Informationen konstruiert wurden.Zurzeit ist es nicht möglich, ein künstliches Auge mit Millionen von Sensoren zu bauen.Realisierbar war jedoch ein Fernseh-»Auge« mit einem Feld von 512 mal 512 Punkten (das sind 262 144 Pixel oder »picture elements«), das das menschliche Auge in vereinfachter Form simuliert. Die Pixel können ein- oder ausgeschaltet werden und die Lichtintensität kann mit Hilfe von Computerprogrammen weiter simuliert werden. Auch das Erkennen visueller Grenzlinien bei realen Objekten wurde erfolgreich simuliert ( siehe Marr, 1982, zu den Einzelheiten). Wir werden in Kapitel 15 auf das Computersehen zurückkommen, werden nun jedoch unsere Aufmerksamkeit auf Modelle der visuellen Informationsverarbeitung beim Menschen richten.
4.2.2 Subjektive Organisation Eine faszinierende Eigenschaft des menschlichen Sehens ist die Tendenz, in der physikalischen Welt Dinge zu »sehen«,die nicht existieren.Diese Täuschungen sind das Ergebnis nicht nur der Empfindungen,die die äußere Welt in uns auslöst, sondern auch der Prädisposition des visuellen/kognitiven Systems,etwas,das in der realen Welt wirklich existiert,zu verzerren.Diese Verzerrungen nennt man Täuschungen. Es handelt sich dabei um falsche Wahrnehmungen der Realität, die im Allgemeinen allen Menschen gemeinsam sind. Obwohl sich bei einer derartig dogmatischen Definition die Frage »Was ist Realität?« geradezu aufdrängt, werden wir diese Frage den Philosophen überlassen. Wir alle haben uns durch diese Merkwürdigkeiten der Wahrnehmung »narren« lassen, so etwa bei der bekannten Müller-Lyer’schen Täuschung und bei der Zeichnung von M. C. Escher, auf die wir im letzten Kapitel gestoßen sind. Dadurch, dass Kognitionspsychologen Täuschungen untersuchen, sind sie in der Lage, die Beziehungen zwischen äußeren physikalischen Phänomenen und der Art und Weise zu verstehen, wie das Mentale derartige Reize in »inneren Repräsentationen« organisiert.
Eine Gruppe von Täuschungen, an denen man anschaulich die Art und Weise erkennen kann, wie das Mentale visuelle Reize strukturiert, wird als illusionäre Grenzen bezeichnet. Hier handelt es sich um visuelle Wahrnehmungen,bei denen Konturen gesehen werden,obwohl sie physikalisch gar nicht vorhanden sind.In ⊡ Abb. 4.1 ist ein Beispiel für eine illusionäre Grenze dargestellt.Illusionäre Grenzen sind Perzepte von Figuren, bei denen die Figuren im perzeptiv-kognitiven System, aber nicht im Reiz vorhanden sind. Sie scheinen eher in der Figur als im Grund (oder Hintergrund) vorhanden zu sein und haben eine reale perzeptive Präsenz, obwohl der Beobachter anscheinend das Gefühl hat, dass sie eigentlich nicht »real« sind. (Hinter dieser letzten Aussage steckt ein spannendes Problem. Dennoch hat sich die Forschung bisher nur sehr wenig darauf konzentriert.Vielleicht wird ein wirklich wagemutiger Leser dieser unbeantworteten Forschungsfrage nachgehen.) Betrachten Sie ⊡ Abb. 4.1: Was sehen Sie? Es ist wahrscheinlich, dass Ihr »geistiges Auge« in der Mitte ein schwebendes gleichseitiges Dreieck sieht, obwohl physikalisch betrachtet kein Dreieck vorhanden ist. Trotzdem sehen Sie es! Außerdem hat das illusionäre Dreieck wohl definierte Merkmale – beispielsweise ist es weißer als das benachbarte Gebiet und es neigt dazu, über dem Hintergrund zu schweben. Weiterhin erscheinen die Linien des illusionären Dreiecks als gleich lang, obwohl nur ein Bruchteil von ihnen durch den Spalt in den drei Kreisen, durch die sie abgegrenzt werden, definiert ist. Die Dreieckstäuschung ergibt sich derartig zwingend, dass das Dreieck bestehen bleibt, wenn man das Bild mehrere Sekunden lang betrachtet und dann die äußeren schwar-
⊡ Abb. 4.1. Können Sie das schwebende weiße Dreieck erkennen? Existiert es physikalisch oder nur im Kopf des Betrachters?
4
104
Kapitel 4 · Mustererkennung
⊡ Abb. 4.2. Einige illusionäre Grenzen sind klarer abgegrenzt, wenn der Kontrast zwischen der Figur und dem Grund am größten ist.
4
zen Kreise abdeckt. Vielleicht ist die Dauerhaftigkeit des Dreiecks eine Folge lateraler Hemmung oder der Tendenz benachbarter neuronaler Elemente in der Retina, die benachbarten Zellen zu hemmen und dadurch Konturen zu akzentuieren (zu weiteren Informationen siehe Coren, 1991; Kanizsa, 1976; Lesher, 1995; Lesher & Mingolla, 1993). Obwohl man das Phantomdreieck hervorrufen kann, bleibt da ein Gefühl zurück, dass es sich bei dieser Figur um eine Täuschung und nicht um ein physikalisch fassbares Dreieck handelt. Die Klarheit, mit der die Kanten wahrgenommen werden, und die Helligkeit der Figur scheinen eine Funktion der Dichte der induzierenden Merkmale zu sein; dies wird anschaulich in ⊡ Abb. 4.2 gezeigt. Wir erkennen hier, dass die Figur auf der rechten Seite eine sehr starke, schwebende Täuschung erzeugt, die klar definiert ist, während die in der Mitte weniger gut definiert und schwieriger hervorzubringen ist. Für diese Täuschungen gibt es eine Reihe von Erklärungen.Vom Standpunkt der kognitiven Bionik (hier geht es um das, was die Technik von der Biologie lernen kann) war das Bedürfnis, Figuren, Kanten und Bewegungen zu erkennen (aber auch Gesichter, könnte man hinzufügen), zwingend für das Überleben erforderlich. Bei dem Versuch, eine scheinbar chaotische Welt begreifbar zu machen, nutzte unser sensorisch-kognitives System deshalb auch in Abwesenheit realer Linien oder Formen partielle Informationen dazu,diese Formen herzustellen.Diese Erklärung hat ihre Wurzeln in der Evolution von Überlebensmechanismen und die Lebewesen, die die Fähigkeit entwickelten, diese Art von Figuren wahrzunehmen, waren in der Lage, Figur und Grund eindeutig auseinander zu halten, wenn eine wichtige Figur nahezu dieselbe Farbe und Beleuchtung wie der Hintergrund hatte. Einige Theoretiker (z.B. Ramachandran, 1987) behaupten, dass die Wahrnehmung illusionärer Grenzen ein Mittel ist, um Tarnungseffekte aufzulösen. Auf einem anderen Niveau gibt es einige Belege dafür, dass illusionäre Grenzen Zellen im visuellen Kortex akti-
vieren (Sehfelder, die als V1 und V2 identifiziert wurden). Die Gestaltpsychologen, mit denen wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen werden, argumentieren, dass wir subjektive Täuschungen wegen unserer Tendenz erzeugen,einfache,vertraute oder »gute« Figuren (Prägnanz) in unserer Umwelt zu sehen. Im Endeffekt beantwortet diese Erklärung bezüglich der »guten Figur« die Frage: Welches ist die wahrscheinlichste visuelle Organisation von Umweltreizen? Jede Einzelne dieser Erklärungen konzentriert sich auf einen Aspekt des verblüffenden Problems der Wahrnehmung.
4.3
Gestalttheorie
Einige Muster scheinen von vielen Menschen auf die gleiche Art und Weise klassifiziert zu werden. Beispielsweise werden die meisten Menschen, wenn man ihnen dieses Muster visueller Reize zeigt:
das Muster erkennen und es als ein Quadrat bezeichnen. Die Methode,wie wir visuelle Reize organisieren und klassifizieren, wurde von den Anhängern der Gestaltpsychologie im frühen 20. Jahrhundert untersucht. Zur Musterorganisation gehörten für diese frühen Gestaltpsychologen alle Reize, die zusammen daran mitwirkten, einen Eindruck zu erzeugen, der über die Gesamtsumme aller Empfindungen hinausging. Manche Muster von Reizen tendieren nach Wertheimer (1923) dazu,natürlich (oder »spontan«) organisiert zu sein. Beispielsweise ist Ihr Eindruck des folgenden Bildes höchstwahrscheinlich eine Reihe von acht Punkten:
105 4.3 · Gestalttheorie
anzuordnen, dass man den ersten Punkt allein sieht, den zweiten und dritten Punkt zusammen, den vierten und fünften Punkt zusammen,den sechsten und siebten Punkt zusammen und den achten Punkt allein. Wenn man die gleichen acht Punkte folgendermaßen arrangiert:
Spaßvögel aus den Reihen der Gestalttheorie bei einem Test zum Thema Täuschungen
Wenn die Punkte dieses Muster bilden:
neigt man dazu, wegen ihrer jeweiligen Ähnlichkeit miteinander vier Gruppen von Zwei-Punkt-Mustern zu sehen, und es ist recht schwierig, das Muster mental so neu
⊡ Abb. 4.3. Sehen Sie sich dieses Bild mit den Dreiecken an. In welche Richtung zeigen sie? Sehen Sie noch einmal hin. Ändert sich die Richtung? Können Sie steuern, in welche Richtung sie zeigen?
wird man dazu tendieren, sie jeweils als ein Quadrat als einen Kreis oder als eine abstrakte Figur zu sehen. Denken Sie auch an die Art und Weise, wie das Auge die Richtung, in die die Dreiecke in ⊡ Abb. 4.3 zeigen (Näheres siehe Palmer, 1989 und 1999), »natürlich« organisiert. Betrachten Sie diese Figur für einige Sekunden und Sie werden sehen, dass die Orientierung von einer Richtung zur anderen und dann wieder zu einer anderen wechselt. Eine Erklärung für diese Veränderung besteht darin, dass das geistige Auge ständig auf der Suche nach einer alternativen Wahrnehmungsorganisation ist. In diesem Fall sind die Reize, die auf die Retina treffen, die gleichen, aber die Interpretation ist unterschiedlich. Obwohl die Neuorganisation spontan auftreten kann, kann sie auch willentlich gesteuert werden. Solche anschaulichen Beispiele zeigen,welchen Einfluss mentale Prozesse höherer Ordnung auf die visuelle Wahrnehmung haben. Den Einfluss von Erinnerungen aus der Vergangenheit auf die Gestaltwahrnehmung kann man auch in ⊡ Abb. 4.4 erkennen. Betrachten Sie kurz die beiden Figuren.Was sehen Sie? In ⊡ Abb. 4.4A sehen die Menschen im Allgemeinen ein stabiles zweidimensionales Objekt und in ⊡ Abb. 4.4B ein instabiles dreidimensionales Objekt.Wenn Sie jedoch genauer hinsehen, werden Sie erkennen, dass beide Figuren gleich sind, außer dass die eine um 45 Grad gedreht ist.Warum haben wir bei zwei nahezu identischen Mustern diese radikal unterschiedliche Wahrnehmung? Eine konstruktivistische Erklärung dafür lautet, dass wir
⊡ Abb. 4.4. Auswirkung der Lage im Raum auf die Wahrnehmung: Welche dieser Figuren scheint dreidimensional zu sein?
4
106
Kapitel 4 · Mustererkennung
Bildung gemeinsamer Gruppen und die reale Welt Graphiker haben immer schon um den mächtigen Einfluss gewusst, den die Gestaltprinzipien bei der Übermittlung einer Botschaft haben. Denken Sie etwa an das Beispiel unten zur Bildung gemeinsamer Gruppen.
Hier übt die Schattierung des Hintergrunds einen wirkungsvollen Einfluss auf die Botschaft aus, die man lesen soll. Es ist wahrscheinlich, dass die gemeinsamen Hintergrundflächen mit dazu beitragen, den Text zu strukturieren.
4
aufgrund von Erfahrungen aus der Vergangenheit Kästen sehen,die in einer räumlichen Ausrichtung wie auf ⊡ Abb. 4.4B aufgestellt sind.Dies erinnert uns an einen Kasten,der drei Dimensionen hat. Die Figur in ⊡ Abb. 4.4A ist einem Kasten nicht ähnlich. Bestenfalls handelt es sich um eine ungewöhnliche Ausrichtung für einen Kasten. Hier sehen wir weniger die Dimensionalität in Verbindung mit einem Kasten, sondern eher ein symmetrisches zweidimensionales Objekt, das wie zwei Quadrate aussieht, die mit einem Steg zusammengehalten werden. Diese wirkungsvolle Täuschung kann sich besonders für Menschen zwingend ergeben, die in der westlichen Zivilisation aufgewachsen sind. Aber würde man die Täuschung auch bei Menschen finden, die möglicherweise im Alltag nicht mit Kästen und eckigen Formen in Kontakt kommen? Wahrscheinlich nicht (zur weiteren Diskussion siehe Deregowski, 1980). Eine bemerkenswerte Annahme der frühen Gestaltpsychologen – vor allem Köhlers (1947) – war, dass die spontane Organisation des Musters eine natürliche Funktion des Reizes selbst ist und nur geringfügig mit der Vorerfahrung der Versuchsperson zusammenhängt. Obwohl die Kontroverse über den Ursprung der »natürlichen Organisation« weitergeht, stützt eine beträchtliche Anzahl von Berichten über Experimente (einige davon beruhen auf interkulturellen Beobachtungen) die Auffassung, dass die »natürliche Organisation« von Mustern direkt mit der Wahrnehmungsgeschichte des menschlichen Subjekts zusammenhängt.
Wenn sich Kognitionspsychologen heute mit Fragen der Mustererkennung beschäftigen, führen sie die Arbeit früher Gestaltpsychologen weiter.Einige moderne Kognitionspsychologen konzentrierten sich auf die »inneren« Strukturen und Prozesse, die mit komplexer Mustererkennung einhergehen, statt die charakteristischen Merkmale einfacher Reize zu betonen. Im Folgenden finden Sie einige dieser Modelle und die Muster, auf denen sie beruhen.
4.4
Kanonische Perspektiven
Die Arbeit mit kanonischen Perspektiven kann man als Weiterentwicklung der Gedankenwelt der Gestaltpsychologie ansehen.Kanonische Perspektiven sind Sichtweisen, die ein Objekt am besten repräsentieren, oder Bilder, die einem als Erstes durch den Kopf gehen, wenn man eine Form aus dem Gedächtnis abruft.Wenn ich Sie bitte,an einen Alltagsgegenstand – sagen wir, an eine Schreibmaschine – zu denken, ist das Bild, das Sie vor Augen haben, wahrscheinlich die kanonische Perspektive. Die Forschung auf diesem Gebiet ist wichtig, weil sie die Befunde aus der Gestaltpsychologie mit denen zur Prototypbildung vereint – ein Thema,mit dem wir uns später in diesem Kapitel detailliert beschäftigen werden. Wenn Ihre kanonische Perspektive einer Schreibmaschine die gleiche ist wie meine, dann haben Sie eine Ansicht von einer Schreibmaschine hervorgezaubert, die im
107 4.4 · Kanonische Perspektiven
⊡ Abb. 4.5. Der Trick mit den kanonischen Tassen, die kognitiv miteinander zusammenhängen
Allgemeinen eine Vorderansicht zeigt, die um ein paar Grad nach links gedreht ist und aus einer leicht erhöhten Position betrachtet wird. Sie sehen sie nicht direkt von oben, von hinten, mit einem großen Buch davor, das sie teilweise verdeckte, oder aus der Perspektive einer winzigen Ameise, die über die Hebel und Tasten krabbelte. Jede Einzelne dieser Perspektiven ist jedoch möglich (mehr über visuelle Vorstellungen wird in Kapitel 6 berichtet werden). Kanonische Repräsentationen können durch Erfahrungen mit ähnlichen Mitgliedern einer Kategorie (sie werden als Exemplare bezeichnet) gebildet werden, obwohl einige darauf hindeuten,dass sie idealisierte Formen repräsentieren, die Teil des kollektiven Unbewussten der Menschen sind. So interessant (wenn nicht unterhaltsam) diese Auffassungen auch sein mögen – sie befinden sich außerhalb der Grenzen der empirischen Wissenschaft. Über viele Jahre hinweg habe ich Personen überall auf der Welt gebeten, eine Tasse und eine Untertasse zu zeichnen, und einige dieser Kunstwerke sind in ⊡ Abb. 4.5 dargestellt. Bei den Zeichnungen gibt es aufgrund der unterschiedlichen künstlerischen Fähigkeiten und persönlichen Eigenheiten einige Variationen, aber das erstaunlichste Merkmal dieses kleinen Experiments besteht darin, dass die meisten Menschen – von Palo Alto in Kalifornien über London bis nach Rom und Istanbul – im Grunde die gleiche Tasse und die gleiche Untertasse zeich-
⊡ Abb. 4.6. Tasse und Untertasse – aus der Vogelperspektive
nen. Meine eigene Zeichnung »einer Tasse und einer Untertasse« – eine Vogelperspektive auf diese Objekte, sie ist in ⊡ Abb. 4.6 dargestellt – erfüllt das Kriterium der Aufgabe und wird, wenn es erst einmal identifiziert ist, leicht erkannt. Sie unterscheidet sich auch auffällig von anderen Skizzen, weil sie nicht kanonisch ist; doch wenn man Ihnen sagt, worum es sich handelt, »sehen Sie es« sofort. Eine theoretische Erklärung der Allgemeingültigkeit kanonischer Perspektiven besagt, dass wir durch die gemeinsame Erfahrung mit Gegenständen permanente Erinnerungen an die meisten repräsentationalen Sichtweisen eines Objekts und an eine Ansicht ausbilden, die die größte Menge von Informationen darüber erschließt. Somit sagen uns Untersuchungen zu kanonischen Perspektiven etwas über die Formwahrnehmung, aber sie sagen uns noch viel mehr über die menschliche Informations-
4
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4
Kapitel 4 · Mustererkennung
verarbeitung, die Prototypbildung (oder die Typikalität von Objekten, wie sie im Gedächtnis repräsentiert sind) und über die Ökonomie des Denkens sowie über die Leistungsfähigkeit der Kommunikation (wie etwa bei dem gerade erwähnten Trick mit der Tasse).Wir speichern Oberbegriffe und verwenden eine Art von visuellen Kürzeln, um anderen unsere Eindrücke zu schildern. Diese Schlussfolgerungen werden durch experimentelle Befunde gestützt. Palmer, Rosch und Chase (1981) haben eine Reihe von Alltagsgegenständen aus unterschiedlichen Perspektiven fotografiert (⊡ Abb. 4.7). Die Versuchspersonen beurteilten die Perspektiven nach Typikalität und Vertrautheit. In einem zweiten Teil des Experiments wurden den Versuchspersonen Fotos eines Pferdes und anderer Objekte gezeigt (beispielsweise einer Kamera, eines Wagens, eines Klaviers usw.), die auf ähnliche Weise bewertet worden waren, und sie wurden gebeten, die Objekte so schnell zu benennen, wie sie konnten. Es überrascht nicht, dass die kanonischen Ansichten am schnellsten erkannt wurden und dass die Reaktionszeiten zunahmen,je mehr die Ansicht von der kanonischen Form
abwich. Es sollte auch angemerkt werden, dass das visuelle System mit einem akzeptablen Maß an Leistungsfähigkeit funktioniert, auch wenn man Figuren beurteilen muss, die weniger als »vollkommen« sind. Im Folgenden finden Sie einige wahrscheinliche Gründe dafür, dass die Reaktionszeiten für weniger kanonische Bilder im Allgemeinen länger sind: (1) Eventuell sind weniger Bestandteile des Objekts unterscheidbar. Sehen Sie sich die Hinteransicht in ⊡ Abb. 4.7 an (drittes Bild unten).Wie viel von dem Pferd können Sie sehen,wenn Sie es von hinten betrachten? Nicht viel. (Und wer weiß, wessen Name Ihnen in den Sinn käme, wenn man Ihnen diese Perspektive darbieten würde.) (2) Die beste (kanonische) Sicht (Bild oben links) ist jene, mit der man am häufigsten Erfahrung gemacht hat. Wir »sehen« Schreibmaschinen, Stühle, Wagen, Telefone und Pferde mit einer bestimmten räumlichen Lage öfter als mit anderen und deswegen kommt uns diese Sicht vertrauter vor.(3) Die kanonische Sicht ist die idealisierte oder die beste Sicht des Objekts. Über zahllose Eindrücke der Welt bilden wir ein mentales Bild für eine Klasse von Objekten, bei denen der
⊡ Abb. 4.7. Zwölf Ansichten eines Pferdes, wie sie im Experiment von Palmer, Rosch und Chase (1981) mit mittleren »Güte«-Einstufungen (die Zahlen in Klammern) verwendet wurden
109 4.5 · Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung (datengeleitete und zielgesteuerte Verarbeitung)
Inbegriff der Klasse im Gedächtnis repräsentiert wird. Wenn ich Sie bitte, sich eine Schreibmaschine vorzustellen, dann ist der Eindruck wahrscheinlich der einer Schreibmaschine hundsgewöhnlicher Art, nicht der eines unkonventionellen Modells mit einer verrückten Form. Das gleiche Prinzip gilt, wenn man Hunde, Pferde, Sportwagen und Vögel aus dem Gedächtnis abruft. Diese Auffassung stimmt mit den Theorien der Prototypbildung überein, die gleich erörtert werden soll.
4.5
Bottom-up- und Top-downVerarbeitung (datengeleitete und zielgesteuerte Verarbeitung)
Wie erkennen wir ein Muster? Stellen wir fest, dass wir es mit einem Hund zu tun haben, weil wir als Erstes sein Fell, seine vier Beine, seine Augen, Ohren usw. erkannt haben, oder erkennen wir diese Teile, weil wir als Erstes einen Hund ausgemacht haben? Dieses Problem – ob der Erkennungsprozess durch die Teile des Musters in Gang gesetzt wird,die als Grundlage für das Erkennen des Ganzen dienen (Bottom-up-Verarbeitung) oder ob er durch eine Hypothese über das Ganze initiiert wird, die zu dessen Identifizierung und dem nachfolgenden Erkennen der Komponenten führt (Top-down-Verarbeitung) – wird als Parsing-Paradox bezeichnet. (Die Begriffe Bot-
tom-up und Top-down sind dem Jargon der ComputerProgrammierung entnommen.) In einigen theoretischen Ansätzen (z.B. bei Palmer, 1975a) wird darauf hingewiesen, dass die Interpretation von Teilen und vom Ganzen in der Regel gleichzeitig in der Top-down- und in der Bottom-up-Richtung vor sich geht. Als ein Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen der Strategie des Vom-Ganzen-zu-den-Teilen und der Strategie des Von-den-Teilen-zum-Ganzen führt der Autor das Erkennen von Teilen eines Gesichts mit Kontext und ohne Kontext an. Wie in ⊡ Abb. 4.8 dargestellt sind die Teile eines Gesichts, die man im Kontext leicht identifizieren kann, für sich allein betrachtet in gewisser Weise vieldeutig, wenn auch erkennbar, falls mehr Details und Informationen geliefert werden. Unserer Erwartung nach sehen wir bestimmte Objekte in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise ein Stethoskop in einer Arztpraxis, ein silbernes Besteck in einer Küche, einen Computer in einem Büro und einen Hydranten an einer Straße. Es ist wahrscheinlich, dass es ebendieses Weltwissen ist,das die Identifizierung von Objekten in vertrauten Kontexten fördert und der Identifizierung von Objekten in unangemessenen Kontexten im Wege steht.Mehrere Untersuchungen zu diesem Kontexteffekt durch Biederman und seine Mitarbeiter (Biederman,1972; Biederman,Glass & Stacy,1973; siehe auch der Abschnitt mit der Überschrift »Geon-Theorie« weiter unten in
Kritisch hinterfragt: Mustererkennung Mustererkennung Sehen Sie sich einmal die unten dargestellten Figuren an. Welche zwei Figuren sind gleich? Wie sind Sie auf diese Schlussfolgerung gekommen? Welche Faktoren spielten
bei Ihrer Entscheidung eine Rolle? Zu weiteren Überlegungen im Hinblick auf dieses Thema siehe die Erörterung der Übereinstimmung mit Schablonen, des Priming und der Merkmalsanalyse.
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Kapitel 4 · Mustererkennung
⊡ Abb. 4.8. Gesichtsmerkmale, die im Kontext einer Profilansicht des ganzen Gesichts (A) gut erkennbar sind, sind ohne den Kontext (B) weniger gut erkennbar. Sind die Merkmale differenzierter und realistischer (C), sind sie besser erkennbar. Aus Palmer (1975a)
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diesem Kapitel) haben Folgendes gezeigt: Wenn Versuchs-
personen in Szenen aus der realen Welt nach Objekten suchen (beispielsweise Objekte einer Szene auf einem Campus oder auf einer Straße), hängen Erkennen, Genauigkeit und Zeit zum Erkennen der Objekte mit der Angemessenheit des Standortes der Objekte innerhalb der Szenerie zusammen. Aus diesen und ähnlichen Studien über die Identifizierung von Wörtern und Buchstaben im Kontext wird deutlich, dass die Wahrnehmung von Objekten stark durch die Erwartung der Versuchsperson, die wiederum durch den Kontext festgelegt wird, beeinflusst wird.
4.6
Übereinstimmung mit Schablonen
Ein theoretischer Ansatz dazu, wie das Gehirn Formen und Muster erkennt, wird als Übereinstimmung mit Schablonen bezeichnet. »Schablone« in unserem Kontext der Mustererkennung beim Menschen bezieht sich auf ein inneres Konstrukt, das – wenn es mit den sensorischen Reizen übereinstimmt – zum Erkennen eines Objekts führt.Gemäß dieser Auffassung von der Mustererkennung wird behauptet, dass sich durch unsere Lebenserfahrung bei uns eine große Anzahl von Schablonen entwickelt hat und dass jede einzelne Schablone mit einer Bedeutung assoziiert wird. Deshalb ginge die visuelle Identifizierung einer Form – sagen wir, einer geometrischen Figur – folgendermaßen vor sich: Die Lichtenergie,die die Figur ausstrahlt, fällt auf die Retina und wird in neuronale Energie umgewandelt, die wiederum an das Gehirn weitergeleitet wird. Es wird eine Suche unter den bereits bestehenden Schablonen durchgeführt.Wenn eine Schablone gefunden wird,die dem neuronalen Muster entspricht,dann erkennt
die Person das Objekt. Nachdem eine Übereinstimmung zwischen dem Objekt und seiner Schablone zustande gekommen ist, kann die weitere Verarbeitung und Interpretation des Objektes vor sich gehen. Die Übereinstimmung mit Schablonen hat als eine Theorie der Mustererkennung einige Stärken, aber auch einige Schwächen. Deutlich für diesen Ansatz zu sprechen scheint, dass zum Erkennen einer Figur (z.B. eines Buchstabens oder einer beliebigen visuellen Form) irgendeine Art von Verbindung mit einer vergleichbaren inneren Figur erforderlich ist.Auf einem bestimmten Abstraktionsniveau müssen die Dinge der äußeren Realität als etwas erkannt werden, das mit einer Erinnerung im Langzeitgedächtnis übereinstimmt. Dagegen spricht, dass eine wörtliche Interpretation der Theorie der Übereinstimmung mit Schablonen auf einige Schwierigkeiten stößt. Wenn beispielsweise Erkennen nur möglich ist, falls eine Eins-zu-eins-Übereinstimmung zwischen dem äußeren Objekt und seiner inneren Repräsentation gefunden wird, dann würde ein Objekt mit einer im Vergleich mit der Schablone auch nur leicht abweichenden Ausrichtung nicht erkannt werden. Eine derartig enge Interpretation der Theorie hätte zur Folge, dass Millionen von Schablonen gebildet werden müssten, damit sie jeder Einzelnen der unterschiedlichen geometrischen Figuren entsprechen, die wir sehen und erkennen. Die Leichtigkeit, mit der wir im Alltag visuelle Muster identifizieren,verleitet uns dazu,zu glauben,dass der Prozess einfach ist.Doch wenn wir versuchen,mit künstlichen Mitteln die Mustererkennung zu kopieren,dann bleibt der Erfolg häufig aus. Nehmen wir als Beispiel das Erkennen eines Buchstabens oder die Entwicklung der Worterkennung.So braucht man vielleicht einige Jahre,um flüssig lesen zu können. Wenn wir aber erst einmal gelernt haben,
111 4.6 · Übereinstimmung mit Schablonen
Die bemerkenswerte Vielseitigkeit der Formwahrnehmung beim Menschen Hier ist eine breite Vielfalt von Buchstaben dargestellt, die Sie leicht als Variationen des Buchstaben A erkennen werden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Sie all diese Versionen schon einmal gesehen oder eine genaue Erinnerung daran haben. Wir können diese Aufgabe und viele andere ähnliche Aufgaben zur Mustererkennung meistern, weil wir uns einen Eindruck für diverse Klassen von Objekten gebildet haben – wie etwa für ein A –, und imstande sind, diese Information auf eine weit gefächerte Klasse ähnlicher Formen anzuwenden.
die orthographische Konfiguration, aus der sich ein Wort zusammensetzt, zu identifizieren, können wir es in unterschiedlichen Kontexten erkennen,es aussprechen und seine Bedeutung aus dem Gedächtnis abrufen. Wie würden Sie den ursprünglichen Prozess der Buchstabenerkennung auf einer Maschine oder einem Computer simulieren? Eine Methode bestünde darin, jeden Einzelnen der ca. 30 Großbuchstaben im Speicher eines Computers abspeichern zu lassen. Jedes Mal, wenn ein Buchstabe von einem optischen Gerät gescannt würde, würde die wahrgenommene visuelle Konfiguration auf die Erinnerung (Schablone) verweisen, die mit diesem Buchstaben assoziiert wird. Deshalb würde das Wort Karte als K-A-R-T-E analysiert werden, wobei K zu dem Speicherplatz im Gedächtnis passen würde, der der Konfiguration K entspräche. A würde eine Übereinstimmung im Speicherplatz für A finden usw. »Voilà!«, würde unser Computer ausrufen, »ich lese gerade Buchstaben.« Was wäre jedoch, wenn wir ihn bitten würden, die Buchstaben in Karte zu erkennen? Es handelt sich bis auf den ersten Buchstaben um klein geschriebene Buchstaben. Es sind aber keine klein geschriebenen Konfigurationen in seinem Speicher vorhanden. Sie könnten behaupten, dass die Lösung einfach ist: Erweitern Sie den Speicher, sodass er auch die klein ge-
schriebenen Buchstaben umfasst.Wie könnte unser Computer (wie wir es können) die Buchstaben in oder oder oder lesen? Natürlich gehört zum Lesevorgang ein viel komplexerer Prozess als das einfache Identifizieren von Buchstaben. Die Technik, die man bei Computern verwendet (beim Abgleichen bestimmter Buchstabenkonfigurationen mit bestimmten Konfigurationen im Speicher), wird als Übereinstimmung mit Schablonen bezeichnet und funktioniert in etwa so, wie dies bei einem Schlüssel in einem Schloss geschieht. Die Konfiguration der Bärte und Vertiefungen an einem Schlüssel muss der Konfiguration in einem Schloss genau entsprechen, wenn der Schlüssel das Schloss öffnen soll. Bei der Übereinstimmung mit Schablonen werden,wenn die visuelle Konfiguration einer damit vereinbaren Repräsentation im Gedächtnis entspricht, Informationen im Sinne von Mustererkennung freigesetzt. Im zuvor angeführten Beispiel vom Computer stieß die Methode der Übereinstimmung mit Schablonen zum Erkennen diverser Anomalien beim Wort KARTE auf Schwierigkeiten. Dies könnte auch bei einem verbogenen Schlüssel der Fall sein, wenn er ein Schloss öffnen soll.
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Kapitel 4 · Mustererkennung
Übereinstimmung mit Schablonen in Computern
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Die Übereinstimmung mit Schablonen stellt die Grundlage für viele Kodierungssysteme dar, die Bestandteil unseres Alltags sind. Beispielsweise verwenden alle Banken in Deutschland ein System zur Identifizierung von Konten durch Gruppierungen spezieller Ziffern (der Bankleitzahl), die rechts unten auf jedem Scheck stehen, und in vielen Wirtschaftsbereichen finden sich ähnliche Codes, die auf die Packungen gedruckt sind, um die Vorgänge an der Kasse und im Bestellwesen zu beschleunigen (der Barcode identifiziert das Produkt, für das der Computer den Preis liefert, der dann auf den Kassenzettel gedruckt wird). Beide Arten von Codes werden mit Hilfe der Übereinstimmung mit Schablonen gelesen. Eine Bankleitzahl hat Unterscheidungsmerkmale, die es dem Computer ermöglichen, zwischen den Ziffern zu unterscheiden, und ein Barcode wird aufgrund der Position, der Breite und der Zwischenräume zwischen den Linien gelesen. Die Codes werden dann mit Hilfe eines Scanners in elektri-
Somit ist die Übereinstimmung mit Schablonen ein einfaches Verfahren zur Mustererkennung, das darauf beruht, dass die Konfiguration sensorischer Informationen genau zu einer entsprechenden Konfiguration im Gehirn passt. Trotz ihrer eingeschränkten Möglichkeiten gibt es dafür einige nützliche konzeptuelle und vielfältige praktische Anwendungen. Mit den konzeptuellen Fragen, die durch die Übereinstimmung mit Schablonen aufgeworfen werden, beschäftigen wir uns später. Im Hinblick auf die Mustererkennung würde dann eine strikte Interpretation des Modells bedeuten,dass Millionen unterschiedlicher Schablonen gebildet werden müssten; dabei entspräche jede Einzelne von ihnen einem bestimmten visuellen Muster. Wenn wir so viele Schablonen speichern müssten,dann wäre unser Gehirn so voluminös,dass wir es mit einem Schubkarren vor uns her fahren müssten. Dieser Kraftakt scheint jedoch neurologisch nicht möglich zu sein.Selbst wenn dies möglich wäre,würde der Versuch, zu den vielen Millionen Schablonen im Gedächtnis Zugang zu erhalten, eine zeitaufwändige Suche erfordern. Die Tatsache, dass wir zahllose Muster schnell erkennen, deutet darauf hin,dass dies nicht so ist.Und schließlich lässt auch unsere Fähigkeit, unvertraute Gestalten und Formen (beispielsweise einen neuen Buchstaben A) zu erkennen, den Vorgang unwahrscheinlich werden.
sche Impulse umgewandelt. Diese bilden die Signalmuster, die dem Computer übermittelt werden. Der Computer identifiziert das Muster, indem er es mit etwas Entsprechendem (einer Schablone) vergleicht, das in seinem Speicher vorhanden ist.
4.6.1 Geon-Theorie Es gibt aber eine Alternative zum unflexiblen Schablonenmodellen, das viele Millionen von Formen erfordert, um das, was wir täglich sehen, mit unserem Wissen in Übereinstimmung zu bringen. Hierbei handelt es sich um eine Theorie, in der behauptet wird, dass das informationsverarbeitende System beim Menschen auf eine begrenzte Anzahl einfacher geometrischer »Primatives « zurückgreift, die auch auf komplexe Gestalten angewandt werden können. Eine Theorie, die auch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Merkmalsanalyse aufweist (sie wird später in diesem Kapitel erörtert), wurde von Irving Bieder-
Irving Biederman hat unser Verständnis der Objekterkennung durch innovative Experimente und Theorien (insbesondere die Geon-Theorie) vorangetrieben.
113 4.6 · Übereinstimmung mit Schablonen
⊡ Abb. 4.10. Bei der Tasse wurden 65 Prozent der Konturen ausgelassen. Dabei konzentrierte man sich entweder auf die mittleren Linienabschnitte (A) oder auf die Ecken (B). Aus I. Biederman, »Human Image Understanding: Recent Research and a Theory« in Computer Vision, Graphics and Image Processing, 1985, 32, 29–73. Copyright 1985 bei Academic Press. Abdruck genehmigt ⊡ Abb. 4.9. Geons und Objekte. Objekte werden als Konfigurationen von Geons repräsentiert. Hier handelt es sich um einfache visuelle Körper. Aus Biederman (1990)
man von der University of Southern California entwickelt. Ihr Kerngedanke ist folgender: Biedermans Konzept der Formwahrnehmung basiert auf dem Begriff des Geon, der für »geometrical ions« (engl. für »geometrische Ionen«) steht.Es wird behauptet,dass sich alle komplexen Formen aus Geons zusammensetzen. Beispielsweise besteht eine Tasse aus zwei Geons: aus einem Zylinder (für den Teil,der ein Behälter ist) und einer Ellipse (für den Griff; siehe auch ⊡ Abb. 4.9 für Beispiele von Geons und Objekten). In der Geon-Theorie, für die Biederman eingetreten ist ( siehe Biederman, 1985, 1987, 1990; Biederman & Cooper, 1991; Biederman & Gerhardstein, 1993; Cooper & Biederman, 1993),
wird behauptet,dass das Erkennen eines Objekts wie etwa eines Telefons, eines Koffers oder selbst komplexerer Formen mit dem Erkennen durch Komponenten (recognition by components, abgekürzt RBC) gleichzusetzen ist, bei dem man einfache Formen in komplexen Formen findet. Geons sind 24 unterschiedliche Formen und bilden wie die Buchstaben des Alphabets eine Art von System. In Kombination miteinander werden aus ihnen komplexere Formen hergestellt, so wie sich die Wörter auf dieser Seite aus Buchstaben zusammensetzen. Die Anzahl unterschiedlicher Formen,die man durch die Kombination primitiver Gestalten erzeugen kann, ist astronomisch groß. Beispielsweise ergeben drei Geons, wenn man sie in allen möglichen Kombinationen anordnet, eine Gesamtzahl von 1,4 Milliarden Drei-Geon-Objekte! Wir nutzen jedoch nur einen Bruchteil der möglichen Gesamtzahl komplexer Formen.Biederman schätzt,dass wir nur 30000 benutzen, von denen wir nur für 3000 Bezeichnungen haben.
Wenn man die Geon-Theorie einmal überprüfen möchte, so kann man informationsreduzierte Formen verwenden, wie sie in ⊡ Abb. 4.10 dargestellt sind. Welche von diesen Figuren (A oder B) ist leichter erkennbar? In der Illustration wurden 65% der Konturen vom gewöhnlichen Objekt entfernt. Bei der Tasse auf der linken Seite (A) wurden die Linien von den mittleren Segmenten entfernt.Dies erlaubt dem Betrachter jedoch immer noch, zu sehen, in welcher Beziehung die grundlegenden Segmente zueinander stehen. Bei der Tasse rechts (B) stammen die ausgelassenen Linien von den Ecken. Hierzu gehörten die entscheidenden Ecken, durch die die Linienabschnitte zueinander in Beziehung gesetzt werden. Biederman bot Versuchspersonen Objekte dieser Art für 100 Millisekunden dar. Er fand heraus, dass die Figuren in etwa 70 Prozent der Fälle korrekt identifiziert wurden, wenn die Verbindungslinien entfernt worden waren (A). Wenn die Ecken ausgelassen wurden (B), wurden etwa 50 Prozent richtig erkannt. Dies stimmt mit einer Theorie überein, die davon ausgeht, dass die Identifizierung eines Objekts darauf aufbaut, dass man grundlegende Formen sieht. Durch die Entfernung entscheidender relationaler Informationen war das Objekt schwerer erkennbar, als wenn solche Informationen zur Verfügung standen.
4.6.2 Priming-Verfahren Bei anderen Experimenten mit Aufgaben zur Objektklassifikation verwendeten Biederman und andere ein Priming-Verfahren, bei dem ein Reiz kurz dargeboten wurde (engl. prime = Vorreiz, priming – Voraktivierung) und
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Kapitel 4 · Mustererkennung
Geons und Kunst? Pablo Picasso, der großartige abstrakte Künstler, war von Paul Cézanne, einem bedeutenden Impressionisten, beeinflusst. Cézanne ermutigte Picasso, sich näher mit der Eigenart von »Kegeln, Zylindern und Kugeln« zu beschäftigen, denn er war der Auffassung, dass komplexe Gemäl-
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dann nach einer Verzögerung ein zweiter Reiz. Die Versuchsperson wurde dann gebeten,Urteile in Bezug auf den zweiten Reiz abzugeben wie etwa: »Ist der zweite Reiz ›derselbe‹ wie der erste?« Schon mehrere Generationen von Kognitionspsychologen haben sich dieses Verfahrens bedient und bereits in der frühen Geschichte der experimentellen Psychologie im 19. Jahrhundert lässt sich eine Art einfachen Primings finden (man gibt Versuchspersonen Hinweisreize für eine Reaktion). Mit dem Aufkommen des modernen Tachistoskops (eines Geräts, das die kurze Darbietung von Reizen gestattet und die Reaktionszeit misst), von Computern und ganz aktuell von bildgebenden Verfahren sind Priming-Experimente immer beliebter geworden. Der Grundgedanke dahinter besteht darin,durch die Aktivierung eines Items,das vielleicht mit einem anderen Item zusammenhängt, die Akzeptanz eines zweiten Items zu verbessern. Das trifft vor allem auf jene Priming-Experimente zu, die dazu entwickelt wurden, semantische Effekte zu überprüfen. Den Effekt nennt man den semantischen Priming-Effekt und er wird im Einzelnen in Kapitel 12 erörtert. Wenn Sie beispielsweise einen hellroten quadratischen Fleck sehen,werden Sie das Wort BLUT schneller erkennen, als wenn sie gar keinen Reiz oder eine hellgrünen quadratischen Fleck gesehen hätten (siehe Solso & Short,1979).(Marsmenschen mögen völlig anders reagieren,aber wir beschränken uns hier mit unseren Beobachtungen auf irdische Wesen.) Eine zweite Art von Effekt wird als Objekt-Priming-Effekt bezeichnet und ist dem semantischen Priming ähnlich. Typischerweise besteht er aus zwei Phasen. In der ersten Phase wird ein Objekt, sagen wir eine Umrisszeichnung eines Flugzeugs, dargeboten. Danach folgt ein Intervall, das von 100 Millisekunden bis mehrere Monate dauern kann.In der zweiten Phase wird ein zweites Objekt dargeboten, das dem ursprünglichen ähnlich ist, jedoch gewöhnlich verändert, rotiert, detailreicher oder auf irgendeine Art und Weise informationsreduziert wurde (beispielsweise können einige der Konturen ausgelassen sein). Erfasst werden die Genauigkeit der Versuchsperson
de um diese »Grundformen« herum organisiert werden müssten. Picasso nahm den Rat ernst und experimentierte damit, ein Bild aus diesen Grundformen zusammenzusetzen. Dies führte schließlich zu seinen ersten kubistischen Entwürfen.
und (manchmal) die Reaktionszeit. In einigen Fällen wird die Vorgehensweise umgekehrt. Das heißt, die Versuchsperson sieht ein informationsreduziertes Bild und wird gebeten, ein vollständiges Objekt zu identifizieren. Die Versuchspersonen der Kontrollgruppe bekommen das gleiche Treatment, aber ohne die Darbietung des ersten Items (zu weiteren Einzelheiten siehe Tulving & Schacter, 1990). Stellen Sie sich einmal ein typisches Priming-Experiment vor, wie es in ⊡ Abb. 4.11 dargestellt ist. Hier zeigt man einer Versuchsperson einen Hinweisreiz,kurz danach einen Reiz, blendet mit einer Maske ab (um Nachbildeffekte zu unterdrücken) und bietet einen zweiten Reiz dar. Bei einer großen Anzahl von Experimenten, bei denen visuelles Material eingesetzt wurde, verstärkt das Priming, bei dem ein Objekt mit einer ähnlichen Form gezeigt wird, in messbarer Weise die Wahrnehmung einer Form. Die Verwendung des Priming-Verfahrens fördert einen für die kognitive Psychologie wichtigen Effekt zutage: Die Dar-
⊡ Abb. 4.11. Ereignissequenz ohne Unterschied hinsichtlich der räumlichen Ausrichtung der Objekte. »Anders«-Versuch mit vertrauten Objekten bei der »Gleich-anders-Aufgabe«. Nur wenn die beiden Exemplare des Stuhls die gleichen waren – mit welcher räumlichen Ausrichtung auch immer –, mussten die Versuchspersonen mit »gleich« antworten (die Richtung, in die die Objekte bei den unterschiedlichen Versuchen zeigten, war beliebig)
115 4.7 · Merkmalsanalyse
⊡ Abb. 4.12. Beispiele für Prime und Objekt, wie sie bei Biederman und Cooper (1991) verwendet wurden
bietung des »Prime« oder des ursprünglichen Reizes scheint eine ganze Reihe von Reaktionstendenzen zu aktivieren, deren sich der Beobachter nicht bewusst ist. Diese nichtbewusste Aktivierung wird als implizite Erinnerung bezeichnet, im Unterschied zur expliziten Erinnerung,zu der der bewusste Abruf früherer Erfahrungen aus dem Gedächtnis gehört. Im Beispiel, das in ⊡ Abb. 4.11 dargestellt ist, ist es unwahrscheinlich, dass die Versuchspersonen bewusst an die zweite Art von Sesseln dachten, als sie den ersten sahen. Aus diesem Grund wird die Art von Erinnerung, die überprüft wird, auch als implizite Erinnerung bezeichnet. Eine Anwendung der Priming-Forschung, bei der eine Komponententheorie der Objekterkennung überprüft wurde, findet sich bei Biederman und Cooper (1991). Um das Erkennen gewöhnlicher Formen (beispielsweise Klavier,Blitzlicht oder Vorhängeschloss) zu überprüfen,wurden die Versuchspersonen zunächst einem Priming mit Umrisszeichnungen von Figuren ausgesetzt, bei denen Teile der Linien fehlten.Bei jeder Einzelnen dieser Figuren wurde eine entsprechende Zeichnung gezeigt, bei der der Name des Objekts der gleiche war wie der Prime, jedoch die Art des Objekts unterschiedlich war (beispielsweise war der Prime ein Flügel, aber das Objekt war ein Klavier – ⊡ Abb. 4.12). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Priming-Effekt eher visueller als konzeptioneller Art ist. Dies stimmt mit anderen Befunden von Studien zum Kurzzeitgedächtnis überein ( siehe die Besprechung der Arbeiten von Posner und Mitarbeitern in Kapitel 7).
4.7
Merkmalsanalyse
Die Merkmalsanalyse ist ein anderer Zugang zu der Frage, wie wir Informationen aus komplexen Reizen extrahieren.
Bei dieser Auffassung wird angenommen,dass die Musterwahrnehmung eine Informationsverarbeitung höherer Ordnung ist, der eine Stufe vorangeht, bei der komplexe eingehende Reize nach ihren einfacheren Merkmalen identifiziert werden. Somit werden die Komponenten visueller Informationen gemäß diesem Ansatz nur wenig analysiert, bevor das vollständige Muster beurteilt wird. Auf einem einfachen visuellen Niveau wird ein Wort (z.B.PFEIL) nicht sofort in seine Definitionsrepräsentation oder bildliche Repräsentation im Gedächtnis übersetzt (beispielsweise »ein spitzer Stock, der von einem Bogen abgeschossen wird« oder » Æ «). Es wird auch nicht als Pfeil gelesen oder die einzelnen Buchstaben als P-F-E-I-L wahrgenommen, sondern vielmehr werden die Merkmale oder Komponenten jedes einzelnen Buchstabens aufgenommen und ausgewertet. Somit kann das L in PFEIL in eine horizontale und eine waagerechte Linie aufgeteilt werden usw. Beruht der Erkennungsprozess auf einer Merkmalsanalyse (und es gibt eine Reihe von Hinweisen,die dies stützen),dann sind die frühesten Phasen der Informationsverarbeitung komplexer, als wir vielleicht zunächst gedacht haben. Um die Bedeutung des komplexen sensorischen, perzeptiven und motorischen Apparats zu würdigen,der Voraussetzung für eine einfache Wahrnehmung und Reaktion ist, stellen Sie sich einmal vor, was alles daran beteiligt ist, wenn man einen Tennisball mit dem Schläger in der Luft trifft: Im Bruchteil einer Sekunde sind wir in der Lage, seine Form, Größe, Geschwindigkeit, Farbe, Flugbahn, Drehung und seine vorweggenommene Position zu beurteilen. Unser Gehirn muss all diese Informationen, die in nur zwei Dimensionen von der Retina aufgenommen werden, in eine motorische Reaktion übersetzen, die es uns – wenn sie denn erfolgreich ist – gestattet,den Ball zurückzuschlagen. Abgesehen davon, dass dies alles in einem kurzen Augenblick vor sich geht, verändern sich viele dieser Informationen ständig (beispielsweise die relative Größe, Geschwindigkeit und Flugbahn des Balls). Die Hypothese von der Merkmalsanalyse wurde durch zwei Forschungsrichtungen gestützt – durch eine neurologische und durch eine verhaltensorientierte. Zunächst werden wir uns mit den Experimenten der Nobelpreisträger des Jahres 1981 ( siehe Hubel & Wiesel 1959, 1963; Hubel, 1963b) beschäftigen, die direkte Belege für die Art von Informationen lieferten, die im visuellen Kortex kodiert werden. Die beiden Forscher führten feine Drähte oder Mikroelektroden in den visuellen Kortex einer leicht betäubten Katze oder eines Affen ein und untersuchten dann die neuronale Aktivität, die sich ergab, wenn auf einen
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Kapitel 4 · Mustererkennung
Bildschirm direkt vor den Augen des Tieres einfache Lichtmuster projiziert wurden. Dadurch, dass sie die Erregung einzelner Nervenzellen erfassten und die sich daraus ergebenden elektrischen Impulse verstärkten, fanden sie heraus,dass einige Zellen nur auf horizontale Formen,andere lediglich auf vertikale Formen reagierten.In weiteren Experimenten konnten sie zeigen, dass einige Zellen sensibel auf Kanten reagieren, einige auf Linien und wieder andere auf rechte Winkel. ⊡ Abb. 4.13 zeigt die künstlich verstärkte Hirnaktivität in einer kortikalen Zelle eines kleinen (und visuell unerfahrenen) Kätzchens,die mit bestimmten Orientierungen eines Lichtschlitzes korreliert ist (A bis E), der auf einem Bildschirm im Gesichtsfeld des Tieres präsentiert wurde. Horizontale Balken über jeder einzelnen Aktivität, die erfasst wurde, deuten auf Zeitintervalle hin, in denen das Licht zu erkennen war. Hubel (1963b) schloss daraus, dass die Entwicklung dieser kortikalen Codes einer wahrgenommenen Form angeboren und spezifisch für jede einzelne Zelle ist. Man beginnt jetzt langsam die Bedeutung der großen Anzahl von Zellen im visuellen Kortex zu begreifen. Jede einzelne Zelle scheint ihre eigenen besonderen Aufgaben zu haben. Sie ist für einen eingegrenzten Teil der Retina zuständig und reagiert am besten auf eine bestimmte
⊡ Abb. 4.13. Reaktion einer Zelle im Kortex eines ganz kleinen Kätzchens auf die Stimulation des Auges durch einen Lichtschlitz. A bis E zeigen die Orientierung des Lichtschlitzes (dicker Balken) relativ zur Achse des rezeptiven Feldes (gestrichelte Linien) an. Beispielsweise wies der Schlitz in E die gleiche Orientierung auf wie in A und B, bewegte sich jedoch schnell von einer Seite zur anderen. Aus Hubel und Wiesel (1963)
Form des Reizes und auf eine besondere räumliche Ausrichtung. Doch lassen Sie uns das Problem von einer anderen Seite aus betrachten. Für jeden einzelnen Reiz – jedes Gebiet auf der Retina,das stimuliert wird,jede Art von Linien (Kanten, Schlitze oder Balken) und jede Orientierung des Reizes – gibt es eine besondere Gruppe einfacher kortikaler Zellen, die darauf reagieren werden.Wenn man irgendeine der Reizanordnungen verändert,wird dies eine ganz neue Population von Zellen zu einer Reaktion veranlassen. Die Anzahl der Zellpopulationen, die nacheinander reagieren, wenn das Auge einen langsam rotierenden Propeller betrachtet, ist kaum vorstellbar. Der komplexe und schwer fassbare Mechanismus, bei dem Muster in einfache Merkmale aufgegliedert werden, liegt dann vielleicht nicht nur im Bereich der neurologischen Möglichkeiten, sondern er ist auch von der Neurologie her erforderlich. Das heißt, dass die Merkmalsanalyse möglicherweise eine Stufe während der Auswertung von Informationen ist,zu der es kommen muss,bevor eine Musteranalyse auf einem höheren Niveau vonstatten gehen kann.
117 4.7 · Merkmalsanalyse
4.7.1 Blickbewegungen und Muster-
wahrnehmung Ein direkter Ansatz zur Merkmalsanalyse ist die Beobachtung der Blickbewegungen und der Fixationspunkte. Bei dieser Forschungsrichtung wird angenommen, dass man, wenn man ein bestimmtes Merkmal in einem Muster relativ lange ansieht, mehr Informationen daraus zieht als aus einem Merkmal,das man nur beiläufig betrachtet.Die Ergebnisse der Fixationsexperimente von Yarbus (1967),
⊡ Abb. 4.14. Aufzeichnungen von Blickbewegungen einer Versuchsperson, die sich ein Bild an der oberen linken Ecke genauer ansieht. Spur 1 entstand, als die Versuchsperson das Bild so betrachten konnte, wie sie es wollte. Die folgenden Spuren entstanden, nachdem die Versuchsperson gebeten worden war, den finanziellen Hintergrund der dargestellten Personen zu bewerten (Spur 2), ihr Alter zu beurteilen (3), zu raten, was sie vor Ankunft des »Besuchers« getan hatten (4), sich an ihre Kleidung zu erinnern (5), sich an ihre Position (und jene der Objekte) im Zimmer zu erinnern (6) und einzuschätzen, wie lange der »Besucher« die Familie nicht gesehen hat (7). Aus Yarbus (1967)
einem russischen Psychologen, sind in ⊡ Abb. 4.14 dargestellt.Yarbus geht davon aus, dass die Augen ein Merkmal umso länger fixieren, je mehr Informationen es enthält (beispielsweise die Menschen und Beziehungen in den gezeigten Bildern). Er schloss daraus auch, dass die Verteilung der Fixationspunkte funktional vom Ziel der Versuchspersonen abhängt. In einer Experimentalreihe wurde die Versuchsperson gebeten, bestimmte Einschätzungen im Hinblick auf das komplexe Muster abzugeben (beispielsweise zu den materiellen Bedingungen in der
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Kapitel 4 · Mustererkennung
Familie und zum Alter der Personen).Unter der jeweiligen Bedingung liegt der Fokus gewöhnlich auf jenen Merkmalen,die für die Absicht der Versuchspersonen am wichtigsten sind. Somit scheint die Wahrnehmung von Merkmalen innerhalb komplexer Muster nicht nur von der Eigenart der physikalischen Reize abzuhängen, sondern es sind offenbar auch kognitive Prozesse höherer Ordnung wie etwa Aufmerksamkeit und Absicht beteiligt.
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4.7.2 Übereinstimmung mit Prototypen Eine Alternative zur Übereinstimmung mit Schablonen und zur Merkmalsanalyse als Mittel zur Mustererkennung ist die Prototypbildung.Es liegt anscheinend auf der Hand, dass – statt spezielle Schablonen oder sogar Merkmale für zahlreiche unterschiedliche Muster zu bilden, die wir erkennen müssen – eine bestimmte Art der Abstraktion von Mustern im Langzeitgedächtnis gespeichert wird und dass diese als Prototyp dient. Ein Muster würde dann mit dem Prototyp verglichen und man hätte es erkannt, wenn eine Ähnlichkeit gefunden würde.Die Hypothese von der Übereinstimmung mit Prototypen beim Menschen scheint eher mit der neurologischen Ökonomie und den Suchprozessen im Gedächtnis vereinbar zu sein als die Hypothese von der Übereinstimmung mit Schablonen. Ersteres berücksichtigt auch das Erkennen von Mustern, die »ungewöhnlich« sind, aber auf eine bestimmte Weise mit dem Prototyp zusammenhängen. In diesem System können wir beispielsweise einen Prototyp für einen idealisierten Buchstaben A bilden, in Bezug auf den alle anderen As danach bewertet werden, wie gut sie mit dem Modell übereinstimmen. Wo das Ausmaß von Nichtübereinstimmung hoch ist,wie etwa bei anderen Buchstaben als dem A, erkennen wir mangelnde Übereinstimmung und weisen die Hypothese zurück, dass wir den Buchstaben A erkannt haben. Wir können dann nach einem Prototyp suchen, der besser zu diesem Buchstaben passt. Belege für das Erkennen von Prototypen finden sich überall und die Hypothese besitzt eine gute intuitive Glaubwürdigkeit. Beispielsweise erkennen wir einen Volkswagen Käfer, obwohl er vielleicht eine andere Farbe oder Form oder viele besonders edle Ausstattungsmerkmale hat, die dem idealisierten Modell in unserem Kopf widersprechen. Ein Prototyp in diesem Sinne ist nicht nur eine Abstraktion über eine Gruppe von Reizen,sondern es ist auch die Verkörperung oder die »beste« Repräsentation des Musters. In einer Zivilisation, in der körperliche
Schönheit hoch im Kurs steht, können die Prototypen von Weiblichkeit und Männlichkeit die Gewinner des Wettbewerbs zu Miss Germany bzw.Mister Germany werden und unsere Bewertung von anderen Menschen kann in gewisser Weise damit zusammenhängen, wie nahe jemand dem prototypischen Ideal kommt. Obwohl alle Argumente für die Übereinstimmung mit Prototypen und gegen die Übereinstimmung mit Schablonen zu sprechen scheinen, könnten Sie fragen, ob eine genaue Übereinstimmung zwischen Bild und Schablone erforderlich ist oder ob Schablonen nur als Approximation des Bildes dienen, das den Schlüssel zur Erinnerung liefert.Wenn jedoch Letzteres der Fall wäre, wie könnte man dann auf die genauen Unterscheidungen kommen, die für eine gewöhnliche visuelle Diskrimination erforderlich sind? Denken Sie etwa an die große Merkmalsähnlichkeit von O und Q sowie von B, P und R. Obwohl sich diese visuellen Muster ähneln, bringen wir sie nur selten durcheinander. Somit können Schablonen nichts Verschwommenes sein. Wenn dies nämlich der Fall wäre, würden wir viele Fehler bei der Mustererkennung machen – und das tun wir anscheinend nicht. Als eine Theorie der Mustererkennung hat die Übereinstimmung mit Schablonen einen Nutzen bei der Programmierung von Computern (Syntaxüberprüfung usw.), aber in ihrer strengen Form erklärt sie die Vielfalt, Genauigkeit und Ökonomie der Mustererkennung beim Menschen nicht adäquat.Wir fassen zusammen: Die Mustererkennung setzt einen Vorgang voraus, der sich im Gedächtnis abspielt. Auf dem einfachsten Niveau kann man mit einiger Gewissheit behaupten, dass ein Muster durch einen bestimmten Prozess identifiziert wird, der sensorische Informationen mit einer Spur vergleicht,die in einem Verwahrungsort für Informationen behalten wird.
4.7.3 Abstraktion von visueller Information Wie erwähnt kann es auf einer Ebene des visuellen Erkennens zur Übereinstimmung mit Schablonen kommen, auf einer anderen Ebene werden jedoch möglicherweise Prototypen genutzt. Nach dieser Auffassung ist ein Prototyp eine Abstraktion über eine Gruppe von Reizen, die viele ähnliche Formen desselben Musters umfasst. Ein Prototyp ermöglicht es uns, ein Muster zu erkennen, obwohl es vielleicht nicht das gleiche (sondern nur ein ähnliches) wie das des Prototyps ist. Beispielsweise erkennen wir eine breite Vielfalt von As, nicht weil sie so herrlich zu
119 4.7 · Merkmalsanalyse
dem, was wir im Gehirn gespeichert haben, passen, sondern weil die Mitglieder der Klasse A einige gemeinsame Eigenschaften haben. Die empirischen Untersuchungen,in denen Belege dafür gesucht wurden, dass Prototypen ein Mittel zur Mustererkennung sind, haben sich großenteils mit der Frage beschäftigt, wie sich Prototypen entwickeln und durch welchen Prozess neue Exemplare schnell klassifiziert werden. Die Frage ist nicht neu; Bischof Berkeley (zitiert in Calfee,1975) beschäftigte sich damit schon vor langer Zeit: Vor seinem geistigen Auge schienen alle Bilder von Dreiecken recht spezifische Eigenschaften zu besitzen. Sie waren gleichseitig oder gleichschenklig oder hatten rechte Winkel und er suchte vergeblich nach einem geistigen Bild für das »allgemeine Dreieck«.Obwohl es einfach ist, mit Worten zu definieren, was wir unter einem Dreieck verstehen, ist nicht klar, wie ein »vollkommenes« Dreieck aussieht. Wir sehen viele unterschiedliche Arten von Dreiecken; was erzeugen wir aus dieser Vielfalt in unserem Geist als Grundlage dafür, ein Dreieck zu erkennen? (Calfee, 1975, S. 222) Berkeleys spekulative Odyssee bei der Suche nach dem vollkommenen Dreieck wurde von anderen fortgesetzt und erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte. Schließlich wurde sie empirisch von Posner, Goldsmith und Welton (1967) durch ein Experiment untersucht, das selbst zu einem Prototyp geworden ist. Die Forscher waren auf der Suche nach dem Prototyp eines Dreiecks (und anderer Figuren) und erfassten dann die Reaktionen der Versuchspersonen auf andere Figuren, die in etwa so wie die prototypischen aussahen. Im ersten Teil ihres Experiments entwickelten sie eine Reihe von Prototypen (⊡ Abb. 4.15), die dadurch gebildet wurden, dass sie neun Punkte in einer Matrix aus 30 ¥30 Punkten platzierten (auf einem amerikanischen Standardzeichenpapier mit einer Fläche von 30,48 Quadratzentimetern). Diese bildeten entweder ein Dreieck, einen Buchstaben oder eine Zufallsanordnung und dienten als Prototypen.Vier Verzerrungen jeder Einzelnen dieser ursprünglichen Figuren wurden dadurch erzeugt, dass man die Punkte leicht von ihrer ursprünglichen Position verschob (⊡ Abb. 4.15 zeigt auch die Verzerrungen des Dreiecksmusters). Den Versuchspersonen zeigte man zu einem Zeitpunkt jeweils eine der vier Verzerrungen und bat sie, die Muster nach dem Prototyp zu klassifizieren. Nachdem die Versuchspersonen jedes einzelne Muster klassifiziert hatten (sie drückten einen Ant-
⊡ Abb. 4.15. Die vier prototypischen Muster und vier Verzerrungen des Dreiecksmusters, wie sie in der Untersuchung von Posner, Goldsmith und Welton verwendet wurden. Adaptiert aus Posner, Goldsmith und Welton (1967)
wortknopf, der anzeigte, wie sie das Muster klassifiziert hatten), sagte man ihnen, welche ihrer Entscheidungen richtig war. Der Prototyp wurde nicht dargeboten. Aus diesem ersten Experiment war klar ersichtlich, dass die Versuchspersonen gelernt hatten, verzerrte Muster eines speziellen Prototyps in eine gemeinsame Kategorie zu klassifizieren, während andere Muster, die sich aus einem anderen Prototyp ableiteten, in eine andere gemeinsame Kategorie eingeordnet wurden. Der ursprünglichen Aufgabe folgte eine Transferaufgabe,bei der die Versuchspersonen gebeten wurden, eine Reihe von Mustern einer der drei ursprünglichen Kategorien zuzuteilen. Die neuen Gruppen von Mustern setzten sich zusammen aus (1) den alten Verzerrungen, (2) neuen Verzerrungen (auf der Grundlage der ursprünglichen Prototypen) und (3) den Prototypen selbst.Die alten Verzerrungen wurden mit Leichtigkeit korrekt klassifiziert (mit einem Genauigkeitsniveau von etwa 87 Prozent). Bedeutsamer war jedoch, dass die Prototypen (die die Versuchspersonen nie zuvor gesehen oder eingeordnet hatten) in etwa genauso korrekt klassifiziert wurden. Die neuen Verzerrungen wurden weniger gut zugeordnet als die beiden anderen Typen. Weil die Prototypen ebenso genau wie die alten Verzerrungen klassifiziert worden waren, könnte es den Anschein haben, als hätten die Versuchspersonen in Wirklichkeit etwas über die Prototypen gelernt – obwohl
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Kapitel 4 · Mustererkennung
sie nie etwas anderes als Verzerrungen von ihnen gesehen hatten. Bemerkenswert an diesem Experiment ist, dass der Prototyp oder das Schema ungefähr genauso häufig wie die ursprüngliche gelernte Verzerrung und häufiger als die neue Verzerrung (Kontrollgruppe) korrekt klassifiziert wurde.Posner und seine Kollegen argumentieren,dass die Informationen über den Prototyp mit einem hohen Maß an Effizienz aus den gespeicherten Informationen abstrahiert werden (auf der Grundlage der Verzerrung). Prototypen werden nicht nur aus verzerrten Exemplaren abstrahiert, sondern zum Prozess des Musterlernens gehört auch Wissen über die Variabilität. Die Möglichkeit, dass die korrekte Klassifizierung des Prototyps in der Erfahrung der meisten Menschen auf der Vertrautheit des Prototyps (Dreieck, F und M) beruhte, war Gegenstand eines Experiments von Petersen et al. (1973). Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Prototypen und leicht verzerrte Testmuster von Konfigurationen, die für die Versuchspersonen sehr bedeutsam waren, leichter identifiziert wurden als bedeutungslose Prototypen und leicht verzerrte Testmuster. War jedoch das Ausmaß der Verzerrung hoch, traf das Gegenteil zu. Das heißt, dass der sehr bedeutsame Prototyp seltener identifiziert wurde als der mit geringer Bedeutsamkeit. Die Ergebnisse stimmen durchaus mit denen von Posner und seinem Team überein und werfen die schwierige Frage auf nach der Interaktion zwischen dem, was Berkeley vielleicht als »allgemeines Dreieck« bezeichnet hat, und dessen Verzerrungen. Offensichtlich abstrahieren wir Prototypen auf der Grundlage gespeicherter Informationen. Gut gelernte Figuren scheinen nicht eine solche Bandbreite von Verzerrungen zuzulassen wie weniger gut gelernte. Bischof Berkeleys Suche nach dem vollkommenen Dreieck hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass alle Dreiecke gleich sind, aber manche gleicher als andere, nämlich gleichseitig!
4.7.4 Pseudo-Erinnerung In einem Experiment zur Bildung von Prototypen, in dem wie bei Franks und Bransford vorgegangen wurde,fanden Solso und McCarthy (1981a) heraus, dass die Versuchspersonen den Prototyp irrtümlicherweise als die zuvor gesehene Figur erkannten, und zwar mit größerer Gewissheit, als dies bei den zuvor gesehenen Figuren der Fall war.Dieses Phänomen wird als Pseudo-Erinnerung bezeichnet.
Sie formulierten die Hypothese, dass ein Prototyp auf der Grundlage von Merkmalen gebildet wird, mit denen man schon häufig Erfahrung gemacht hat.Diese Merkmale wie etwa einzelne Linien in einer Figur oder Teile eines menschlichen Gesichts werden im Gedächtnis gespeichert.Als allgemeinen Indikator für die Erinnerungsstärke von Merkmalen kann man die Häufigkeit bestimmen, mit der man dem Merkmal ausgesetzt war. Oft wahrgenommene Merkmale werden im Allgemeinen mit größerer Wahrscheinlichkeit permanent im Gedächtnis gespeichert, als dies für selten wahrgenommene Merkmale zutrifft. Es kann zudem sein, dass die Regeln, die die Beziehungen zwischen den Merkmalen in einem Muster bestimmen,nicht genauso gut ins Gedächtnis aufgenommen werden wie die Erinnerung an die Merkmale selbst.Somit könnten wir den Prozess des Erwerbs von Wissen als einen zweistufigen Vorgang auffassen: Erwerb von Informationen über die Merkmale eines Musters und Erwerb von Informationen über die Zusammenhänge zwischen den Merkmalen. Der vielleicht spannendste Teil beim Rätsel der Prototypbildung ergibt sich aus Belegen, dass sich die beiden Phasen des Erwerbs von Wissen über ein Muster in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu entwickeln scheinen. Es handelt sich um so etwas wie ein Rennen, bei dem sich die Läufer mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten fortbewegen. Dem schnelleren Läufer entspricht das Merkmalslernen und dem langsameren das Lernen von Zusammenhängen. Im Experiment von Solso und McCarthy wurde ein prototypisches Gesicht mit Hilfe eines Identikit zusammengestellt (einem Verfahren zur Identifizierung von Gesichtern), wie es bei der polizeilichen Arbeit verwendet wird. Das Material besteht aus einer Reihe von Plastikschablonen,die jeweils für ein charakteristisches Merkmal des Gesichts stehen, wie etwa Haare, Augen, Nase, Kinn und Mund. Aus jedem der drei prototypischen Gesichter wurde eine Reihe von ausgewählten Exemplargesichtern abgeleitet, die sich im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit dem prototypischen Gesicht unterschieden (⊡ Abb. 4.16). Den Versuchspersonen wurden die Exemplargesichter und dann eine zweite Gruppe von Gesichtern gezeigt, in der einige der ursprünglichen Gesichter enthalten waren, aber auch einige neue Gesichter mit abgestufter Ähnlichkeit zum prototypischen Gesicht sowie das prototypische Gesicht selbst. Die Versuchspersonen wurden gebeten, die Gesichter danach zu beurteilen, ob sie Bestandteil der zuvor gesehenen Menge von Bildern waren oder ob es sich um neue Gesichter handelte,und sie sollten die Gewissheit
121 4.7 · Merkmalsanalyse
⊡ Abb. 4.17. Gewissheitseinstufungen für das prototypische Gesicht, alt bekannte Gesichter und neue Gesichter. Aus Solso und McCarthy (1981a)
⊡ Abb. 4.16. Prototypische Gesichter und Exemplare von Gesichtern, wie sie bei Solso und McCarthy (1981a) verwendet wurden. Das 75%-Gesicht hat abgesehen vom Mund genau die gleichen Merkmale wie das prototypische Gesicht. Das 50%-Gesicht hat andere Haare und Augen. Das 25%-Gesicht hat nur die Augen mit dem prototypischen Gesicht gemeinsam und das 0%-Gesicht hat keine Merkmale mit dem prototypischen Gesicht gemeinsam
-verwendung ziehen. Die schon zitierte Forschung deutet darauf hin, (1) dass wir einen Prototyp auf der Grundlage eines Mittelwerts bilden, den wir über die charakteristischen Eigenschaften seiner Exemplare berechnen,(2) dass wir einige spezifische Informationen über Prototypen erwerben, wenn wir uns lediglich mit Exemplaren beschäftigen, (3) dass wir uns einige allgemeine Informationen über die gewöhnlichen Eigenschaften von Prototypen aneignen, wobei wohl bekannte Prototypen weniger großzügig einbezogen werden als weniger vertraute (oder erst kürzlich erlernte), (4) dass wir Exemplare im Hinblick auf ihre Transformationsnähe zu Prototypen beurteilen, (5) dass wir Prototypen aufgrund von Abstraktionen über Exemplare bilden und dann die Beziehungen zwischen den Formen der Prototypen auf der Basis ihrer Distanz vom Prototyp,aber auch von anderen Einzelbeispielen bewerten.
4.7.5 Prototyptheorie: Zentrale Tendenz im ihres Eindrucks einstufen. Wie man in ⊡ Abb. 4.17 sehen kann, beurteilten die Versuchspersonen das prototypische Gesicht nicht nur als ein alt bekanntes (zuvor gesehenes) Gesicht, sondern auch als das mit der höchsten Gewissheitseinstufung (ein Beispiel für eine Pseudo-Erinnerung). Aus dem eben Erwähnten können wir einige Schlussfolgerungen über die visuelle Prototypbildung und
Gegensatz zur Eigenschaftshäufigkeit Aus den oben angeführten Experimenten und vielen weiteren Untersuchungen haben sich allmählich theoretische Modelle der Prototypbildung entwickelt. Bei einem Modell, das als das Modell der zentralen Tendenz bezeichnet wird, wird ein Prototyp als etwas aufgefasst, das den
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Kapitel 4 · Mustererkennung
Durchschnitt oder den Mittelwert einer Gruppe von Exemplaren repräsentiert. Die Forschung von Posner und seinen Kollegen (1967) stützt dieses Modell in der Regel. Posner und Keele (1968) beispielsweise sind der Auffassung, dass ein Prototyp mathematisch durch einen hypothetischen Punkt in einem mehrdimensionalen Raum repräsentiert wird, in dem sich die Mittelwertvektoren der Distanzen bezogen auf alle Eigenschaften schneiden. In den Experimenten von Posner und Reed kann man sehen, wie Versuchspersonen einen Prototyp bilden, bei dem es sich um eine Abstraktion einer Figur handelt. Somit ist der Prototyp eine im Gedächtnis gespeicherte Abstraktion, die die zentrale Tendenz der Kategorie repräsentiert. Beim zweiten Modell, das als das Modell der Eigenschaftshäufigkeit bezeichnet wird, nimmt man an, dass ein Prototyp für den Modalwert der Eigenschaften oder für die Kombination steht, mit der man am häufigsten Erfahrungen gemacht hat. Die Experimente von Franks und Bransford (1971), Neumann (1977) sowie von Solso und McCarthy (1981b) stützen dieses Modell. In ihm wird der Begriff »Prototyp« synonym mit dem »besten Beispiel« für eine Gruppe von Mustern verwendet. Ein Prototyp ist ein Muster, das die am häufigsten erfahrenen Merkmale umfasst,die in einer Reihe von Exemplaren zum Ausdruck kommen. Während der Prototyp etwas Einzigartiges ist, weil er aus einer einzigartigen Kombination von Eigenschaften besteht (denken Sie etwa an die einzigartigen geometrischen Formen im Experiment von Franks und Bransford oder an das einzigartige Gesicht im Experiment von Solso und McCarthy), hat man mit den Merkmalen selbst in der Vergangenheit schon Erfahrung gesammelt. Die Merkmale (die geometrischen Komponenten oder die Teile des Gesichts) sind die Bausteine für einen Prototyp. Jedes Mal,wenn eine Person ein Muster betrachtet,nimmt sie sowohl die Merkmale im Muster als auch die Zusammenhänge zwischen den Merkmalen auf. Doch nach dem Modell der Eigenschaftshäufigkeit glaubt ein Individuum durch die Einführung eines Prototyps (der viele der zuvor wahrgenommenen Eigenschaften umfasst), dass es die Figur schon einmal gesehen hat, weil die Eigenschaften im Gedächtnis gespeichert worden sind.Weil man die Zusammenhänge zwischen den Merkmalen seltener gesehen hat als die Merkmale (in den meisten Experimenten werden die Exemplare nur einmal gezeigt), wird das Wissen über die Zusammenhänge zwischen den Merkmalen weniger gut im Gedächtnis abgespeichert als das Wissen über die Merkmale selbst.
4.8
Formwahrnehmung: Ein integrierter Ansatz
Bisher sind wir auf mehrere Hypothesen über die Mustererkennung beim Menschen eingegangen.Zunächst ging es um die visuellen Systeme des Menschen mit ihren ungeheuer großen Kapazitäten – und ihren Begrenztheiten. Dann haben wir uns mit einigen Themen der Gestaltpsychologie beschäftigt,die davon ausgeht,dass visuelle Muster in vorhersagbarer Weise »natürlich« organisiert sind. Als Nächstes haben wir die Themen der Top-down- und Bottom-up-Verarbeitung erörtert und haben etwas über die Bedeutung von Kontextreizen für die Formwahrnehmung erfahren. Drei Modelle der Formwahrnehmung wurden besprochen: Übereinstimmung mit Schablonen, Merkmalsanalyse und Prototypbildung. Nach der Darstellung der unterschiedlichen Ansätze zur Formwahrnehmung könnte der Leser der Auffassung sein, das Problem sei so verwirrend wie die Geschichte von den sieben blinden Männern, die gebeten werden, einen Elefanten zu beschreiben.Einer hält sich an den Schwanz und stellt dieses Lebewesen als ein starkes Seil dar. Ein anderer bezieht sich auf den Rüssel und beschreibt ihn wie eine Schlange. Der Nächste gibt das Gefühl wieder, wenn man eine Körperseite eines Elefanten vor sich hat, die ihm wie eine Mauer vorkommt – und so geht das weiter. Jede Einzelne unserer verschiedenen Theorien der Formwahrnehmung scheint sich jeweils nur an einen einzelnen Aspekt des Gesamtbilds zu halten, ohne sich in ein Gesamtbild zu integrieren. Doch das Gegenteil ist richtig. Jede einzelne Theorie ist im Wesentlichen korrekt, aber jede benötigt auch die Unterstützung durch die anderen. Auf einer einfachen Ebene der Verarbeitung beispielsweise kommt es zu einer bestimmten Art von Merkmalsaufnahme, wie dies die Experimente von Hubel und Wiesel demonstrieren. Ein Gesamtüberblick über die Formwahrnehmung ist jedoch etwas Umfassenderes als einfache Balkendiagramme. Konzeptionell scheint eine bestimmte Art von Übereinstimmung zwischen den Dingen im Gedächtnis und den Dingen, die wir sehen, vernünftig zu sein.Und dies legt das Schablonenmodell nahe. Trotzdem gelingt es auch dieser Theorie nicht, die Vielfalt der Mustererkennung zu erklären. Vielleicht wird die Geon-Theorie sowohl die Vielfalt als auch die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Auges und des Mentalen erklären, um eine Welt voller komplexer Formen zu verstehen, die rasch und genau identifiziert werden müssen. Der Begriff des Prototyps muss, obwohl er gut dokumen-
123 4.9 · Mustererkennung bei Experten
tiert ist, auf irgendeiner Ebene andere Modelle zu Rate ziehen, um die Anfangsphasen der Wahrnehmung zu erklären.Somit sind die vielen Theorien der Formwahrnehmung eher komplementär zueinander als antagonistisch. Die Formwahrnehmung ist eine komplizierte Angelegenheit und im Moment jedenfalls wurde noch keine einzelne Gesamttheorie entwickelt, die alle ihre Komponenten erklärt.
4.9
Mustererkennung bei Experten
4.9.1 Mustererkennung beim
Schachspielen Bisher war unsere Darstellung der Wahrnehmung simpel – selbst Reeds ausdruckslosen Gesichtern fehlt es an Komplexität. Wie betrachtet man komplexere Muster? Chase und Simon (1973a, 1973b) untersuchten dieses Problem, indem sie das komplexe Muster, das sich durch die Figuren auf einem Schachbrett ergibt, und die Art und Weise analysierten, wie sich Schachmeister von gewöhnlichen Spielern unterscheiden. Die Intuition mag uns suggerieren, dass die kognitiven Unterschiede zwischen den beiden Gruppen darauf zurückgehen, wie viele Züge ein Schachmeister im Voraus bedenken kann. Hier führt die Intuition in die Irre,zumindest wenn man sich an die Forschung von de Groot (1965,1966) hält,der herausgefunden hat, dass Schachmeister und schwächere Spieler in etwa die gleiche Anzahl von Zügen im Voraus gedanklich durchspielen, etwa die gleiche Anzahl von Zügen berücksichtigen und auf ähnliche Weise nach Mustern für Züge suchen. Es mag auch sein, dass Schachmeister sogar weniger Alternativzüge berücksichtigen,während die schwächeren Spieler Zeit damit vergeuden, sich Alternativzüge anzuschauen,die völlig unangemessen sind.Worin besteht also der Unterschied? Ein Unterschied geht auf die Fähigkeit des Schachmeisters zurück, ein Muster von Schachfiguren zu rekonstruieren,nachdem er es nur für wenige Sekunden betrachtet hat; der schwache Spieler hat große Schwierigkeiten damit. Der Schlüssel zu dieser Beobachtung ist die Eigenart des Musters: Es muss einen Sinn ergeben. Sind die Figuren in einer Zufallsreihenfolge angeordnet oder unlogisch, dann zeigen sowohl die Schachmeister als auch die Anfänger eine ähnlich schlechte Leistung. Vielleicht fügen die Schachmeister mehrere Figuren in Chunks zusammen (in etwa so, wie Sie und ich Buchstaben aneinanderreihen, um Wörter zu bilden) und
fügen dann die Chunks in ein größeres sinnvolles Muster zusammen (in etwa so, wie wir aus Wörtern Sätze bilden). Erfahrene Schachmeister scheinen demnach eine stärker ausgeprägte Fähigkeit zu haben, die Muster zu reproduzieren. Denn sie sind in der Lage, die vielen kleinen Teile in Schachschemata zu enkodieren. Chase und Simon überprüften diese Hypothese anhand von drei Typen von Versuchspersonen – Schachmeister, Spieler der Klasse A (sehr gute Spieler) und Anfänger. In einem Experiment wurden die Versuchspersonen gebeten, 20 Schachmuster nach kurzer Betrachtung zu rekonstruieren – die Hälfte aus mittleren Phasen von Spielen und die Hälfte aus Endphasen. Sie waren aus Schachbüchern und -zeitschriften ausgewählt worden (⊡ Abb. 4.18). Bei dieser Aufgabe wurden zwei Schachbretter nebeneinander auf einen Tisch gelegt und die Versuchsperson sollte mit Hilfe des einen Schachbretts die Anordnung der Schachfiguren rekonstruieren, die auf dem anderen gezeigt wurde.In einem zweiten Experiment betrachteten die Versuchspersonen ein Schachmuster fünf Sekunden lang und rekonstruierten es dann aus dem Gedächtnis. Chase und Simon fanden heraus, dass die Zeit, die für das Betrachten benötigt wurde, für Schachmeister, Spieler der Klasse A und Anfänger in etwa die gleiche war, dass aber die Zeit, die für die Rekonstruktion benötigt wurde, bei den Schachmeistern viel kürzer war als bei den anderen (⊡ Abb. 4.19). ⊡ Abbildung 4.20 zeigt die Anzahl der richtig platzierten Figuren. Die weitere Auswertung dieser Daten deutete darauf hin, dass die Fähigkeit, Chunks oder bedeutsame Gruppen von Schachfiguren zu sehen, es den besseren Spielern ermöglichte, in der vorgegebenen Zeit mehr Informationen zu sammeln. Aus dem Experiment von Chase und Simon lassen sich bedeutsame theoretische Schlussfolgerungen ziehen. Chunks von Informationen, die durch abstrakte Zusammenhänge aufrechterhalten werden, können die Grundlage für eine Theorie der Mustersyntax bilden. Bruchstücke von Informationen ohne irgendeinen sinnvollen Kontext oder ohne Gruppierung lassen sich nur schwer enkodieren, seien es nun Buchstaben, geometrische Formen, Noten oder Schachfiguren. Wenn diese jedoch in eine sinnvolle Struktur passen (wie etwa in ein Gedicht, ein Gebäude, ein Musikstück, eine elegante Verteidigung im Schach), werden sie bedeutsam; denn sie können leicht im Sinne einer gewöhnlichen Grammatik abstrahiert werden.Moderne Informationstheoretiker haben einfache Modelle des Mentalen entwickelt, die auf strukturellen Ebenen basieren.Wir waren Zeuge einer ra-
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124
Kapitel 4 · Mustererkennung
⊡ Abb. 4.18. Beispiel für die mittlere und für die Endphase eines Schachspiels sowie ihre per Zufall erzeugten Pendants
4
⊡ Abb. 4.19. Betrachtungs- und Rekonstruktionszeiten für Schachspieler mit drei unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus. Adaptiert aus Chase und Simon (1973a)
⊡ Abb. 4.20. Verteilung der richtigen Anordnung von Schachfiguren durch Spieler mit drei Fähigkeitsniveaus. Das ursprüngliche Muster zeigte man den Spielern fünf Sekunden lang. Adaptiert aus Chase und Simon (1973a)
125 4.10 · Mustererkennung – die Rolle des Wahrnehmenden
piden Entwicklung der strukturellen Grammatik bezogen auf Sprache (dies wird in Kapitel 11 näher erörtert), Musik, Körperreaktionen,Zeichenaufgaben und Schachprobleme. Eine herausragende Eigenschaft des Menschen,die auf alle sensorischen Formen anwendbar ist, kann die Tendenz sein,in Abstraktionen der Realität höherer Ordnung zu kodieren,in die dann neue Informationen eingepasst werden. Die oben erwähnten Experimente zur Schachwahrnehmung und andere Experimente, bei denen unmittelbare Reize abstrahiert werden, stützen dieses Postulat.
4.10
Mustererkennung – die Rolle des Wahrnehmenden
Wir haben in diesem Kapitel eine ganze Reihe von Themen zur Mustererkennung abgedeckt: Bottom-up- und Top-down-Verarbeitung,Übereinstimmung mit Schablonen, Computersimulation der Mustererkennung, Merkmalsanalyse,physiologische Komponenten beim Mustererkennen, Übereinstimmung mit Prototypen, kognitive Struktur, Identifizierung von Buchstaben sowie Formen, Gesichtern und Schachproblemen.Bei den meisten dieser Themen war es schwierig, spezielle Funktionen der Mustererkennung isoliert zu betrachten, ohne andere kognitive Systeme mit einzubeziehen. Im gesamten Text haben wir gelegentlich den Einfluss berücksichtigt, den Kontext und Redundanz auf die Mustererkennung haben,und wir haben erfahren, dass diese beiden Faktoren unmittelbar auf das Erkennen sensorischer Reize einwirken. Da dieses Thema stärker mit der Wahrnehmung von Buchstaben und Wörtern zusammenhängt, werden wir es detailliert im Abschnitt über Sprache in Kapitel 11 behandeln. Ein System, das immer wieder aufzutauchen scheint, ist das Gedächtnis.An der Mustererkennung scheinen mehrere Systeme unterer Ordnung beteiligt zu sein wie etwa der visuelle Speicher, die Analyse von Merkmalen, die Synthese von Merkmalen und die Übereinstimmung mit Prototypen.An der Mustererkennung beim Menschen ist jedoch auch das Kurzzeitgedächtnis beteiligt. In unserer natürlichen Umgebung ist die Welt voller sensorischer Reize, die zum Erkennen eines Musters führen, wenn sie organisiert und klassifiziert worden sind.Die Reize selbst haben keine Bedeutung und existieren in ihren primiti-
ven Formen, ob wir sie nun wahrnehmen oder nicht. Doch sie werden bedeutsam, wenn sie als Muster höherer Ordnung analysiert werden. Betrachten Sie Ihre unmittelbare Umwelt und lauschen Sie ihr. Was sehen und hören Sie? Was riechen,schmecken und fühlen Sie? Sicher nehmen Sie keine unaufbereiteten, nichts sagenden Reize wahr (obwohl wir uns gewiss sind, dass diese Reize für unser sensorisches System anregend sind), aber Sie nehmen Dinge auf, die Ihnen etwas bedeuten. Die ferne Glocke, der Baum vor dem Fenster, die Reihe von Buchstaben auf dieser Seite und der Geruch frischen Brotes – dies alles sind Beispiele für Reize, die, wenn das Gehirn sie erkennt, eine vollständigere Bedeutung annehmen als die physikalischen Strukturen, die sie erregen. Diese Bedeutung geht auf unsere Erinnerung an diese Ereignisse zurück, die die unmittelbaren Erfahrungen in einen größeren Zusammenhang mit der Realität stellen. Die Bedeutung sensorischer Reize wird vom Wahrnehmenden geliefert. In einem der Abenteuer von Sherlock Holmes ist der berühmte Detektiv imstande,eine Reihe brillanter deduktiver Schlussfolgerungen, die auf wenigen Hinweisreizen beruhen und die im Endeffekt Anhaltspunkte für Gedächtnis und Assoziation sind, über das Leben und den Stil einer bestimmten Person genau zu beschreiben. Die Anhaltspunkte, die seinem Begleiter Dr. Watson in gleicher Weise zur Verfügung standen, wurden in Holmes’ Kopf so kodiert und strukturiert,dass ihm die deduktiven Schlüsse als »elementar« erschienen. Das traf jedoch auf Watson nicht zu. Nachdem Holmes erklärt hat, was die Anhaltspunkte bedeuten,tadelt er seinen Begleiter,indem er sagt: »Du ›siehst‹,aber du ›beobachtest‹ nicht!« Alle normalen Menschen sehen, aber die Fähigkeit, von den Dingen,die wir sehen,zu sinnvollen Mustern zu abstrahieren, hängt in hohem Maße mit der schon vorhandenen Struktur und dem schon vorhandenen Wissen über vergangene Erlebnisse zusammen. In Kapitel 11 über Sprache beschäftigen wir uns mit der Wahrnehmung und der Analyse von Buchstaben und Wörtern beim Menschen im Kontext der Informationsverarbeitung.In diesem Kapitel werden wir sehen,wie dies auch jetzt geschah und, dass unsere Erfahrungen so, wie sie im Gedächtnis repräsentiert sind, eine große Rolle im Hinblick darauf spielen, was und wie wir sehen.
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Kapitel 4 · Mustererkennung
Zusammenfassung
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1. Die Fähigkeit, visuelle Muster zu identifizieren und zu verarbeiten, wurde von mehreren theoretischen Positionen aus angegangen: Gestaltpsychologie, Bottom-up- im Vergleich zu Top-down-Verarbeitung, Übereinstimmung mit Schablonen, Merkmalsanalyse und Erkennen von Prototypen. 2. Die Gestaltpsychologen sind davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung visueller Muster nach den Prinzipien der Nähe, der Ähnlichkeit und der spontanen Organisation strukturiert wird. 3. Die Mustererkennung kann durch Teile des Musters initiiert werden, die dann zusammengefasst (Bottomup-Verarbeitung) oder als Hypothese vom Wahrnehmenden behalten werden, was wiederum zum Erkennen des Ganzen und anschließend zum Erkennen der Bestandteile (Top-down-Verarbeitung) führt. 4. Experimentelle Arbeiten deuten darauf hin, dass die Objektwahrnehmung stark von Hypothesen beeinflusst wird, die aus dem Kontext abgeleiteten werden. 5. In der Theorie der Übereinstimmung mit Schablonen wird behauptet, dass es zur Mustererkennung kommt, wenn die sensorischen Reize und entsprechende innere Formen genau übereinstimmen. Diese Position hat einen begrifflichen und einen praktischen Nutzen, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie
die vielen komplexen kognitiven Prozesse erklärt, wie etwa unsere Fähigkeit, uns nicht vertraute Gestalten und Formen richtig zu interpretieren. 6. In der Theorie der Merkmalsanalyse wird behauptet, dass es nur dann zur Mustererkennung kommt, wenn die Reize auf ihre einfachen Bestandteile hin analysiert wurden. Befunde aus neurologischen und verhaltensorientierten Experimenten deuten auf eine Stützung dieser Hypothese hin. 7. In der Theorie der Prototypbildung wird behauptet, dass die Musterwahrnehmung eine Folge von Abstraktionen über die Reize ist, die im Gedächtnis gespeichert sind und die als idealisierte Formen dienen, anhand derer Muster ausgewertet werden. Es werden zwei Modelle von der Prototyptheorie vorgeschlagen: das Modell der zentralen Tendenz, das besagt, dass ein Prototyp den Mittelwert oder Durchschnitt für eine Gruppe von Exemplaren darstellt; und das Modell der Eigenschaftshäufigkeit, das dafür steht, dass ein Prototyp den Modalwert oder eine Aufsummierung der Eigenschaften repräsentiert, mit denen man am häufigsten Erfahrungen gemacht hat. 8. Zur visuellen Mustererkennung beim Menschen gehört die visuelle Analyse der Input-Reize und die Speicherung im Langzeitgedächtnis.
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▼
Ähnlichkeit begrifflich geleitete Prozesse Bottom-up-Verarbeitung direkte Wahrnehmung Erkennen von Prototypen Fovea Geon Gestaltpsychologie kanonische Perspektive Merkmal Merkmalsanalyse Modell der Eigenschaftshäufigkeit
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Modell der zentralen Tendenz Muster Mustererkennung Prägnanz Priming-Effekt Prototyp Pseudo-Erinnerung semantisches Priming Top-down-Verarbeitung Übereinstimmung mit Schablonen unbewusste Schlussfolgerung
127 4.10 · Mustererkennung – die Rolle des Wahrnehmenden
Literaturempfehlungen Die meisten Literaturstellen, die für Kapitel 3 empfohlen wurden, sind auch für dieses Kapitel relevant. Zu unseren Quellen gehören: Reed, Psychological Processes in Pattern Recognition; Humphreys (Ed.), Understanding Vision;
Murch, Visual and Auditory Perception; McBurney und Collings, Introduction to Sensation/Perception. Rocks Buch The Logic of Perception ist ein wichtiger Beitrag zu unserem Thema.Leshers Artikel über illusionäre Grenzen in Psychonomic Bulletin & Review (1995) ist ausgezeichnet.
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5 Bewusstsein 5.1
Geschichte des Bewusstseins –131
5.2
Kognitive Psychologie und Bewusstsein –133
5.2.1 Explizites und implizites Gedächtnis –134 5.2.2 Forschung mit Primes –135 5.2.3 Neurokognitive Untersuchungen: Schlaf und Amnesie –138
5.3
Bewusstsein als wissenschaftliches Konstrukt –140
5.3.1 5.3.2 5.3.4 5.3.5
Begrenzte Kapazität –142 Die Metapher der Neuartigkeit –142 Der Scheinwerfer –143 Eine Integrationsmetapher: Das Theater in Mentopolis –143
5.4
Moderne Bewusstseinstheorien –144
5.4.1 Schacters Modell unvereinbarer Interaktionen und bewusster Erfahrung –144 5.4.2 Baar’s Theorie des globalen Arbeitsraums –146
5.5
Funktionen des Bewusstseins –149
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Kapitel 5 · Bewusstsein
Anregungen vorab
5
1. Welcher Dinge und Personen sind Sie sich in diesem Augenblick bewusst? Definieren Sie nun Bewusstsein. Wie sieht Ihre Definition im Vergleich zu der im Text aus? 2. Welche wichtigen historischen Ereignisse waren Anlass für die zeitgenössischen Untersuchungen zum Bewusstsein? 3. Was ist ein »Prime«? Und welche Aussagen über bewusste und unbewusste Prozesse ermöglichte uns die Forschung über Priming? 4. Unterscheiden Sie zwischen expliziter und impliziter Erinnerung. 5. Wie lässt sich Bewusstsein wissenschaftlich untersuchen? 6. Führen Sie die Schlafstadien auf. 7. Nennen Sie einige Theorien des Bewusstseins. 8. Welche Aufgabe erfüllt das Bewusstsein im Alltag, aber auch für unsere Art?
Etwas beim Thema Bewusstsein veranlasst Menschen wie die Weiße Königin in Alice im Spiegelreich (Lewis Carroll) dazu, zu meinen, es sei eine gute Übung, vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge zu glauben. Könnte es wirklich sein, dass die meisten Lebewesen unbewusst sind – wenn man einmal von Schlafwandlern, Zombies und Automaten absieht? Hat ein Hund keine Sinne, Zuneigungen, Leidenschaften? Wenn Sie Tiere kneifen, empfinden sie dann keinen Schmerz? Und war Moses wirklich nicht in der Lage, Salz zu schmecken oder zu sehen oder Spaß an Sex zu haben? Lernen Kinder auf dieselbe Weise, sich etwas bewusst zu werden, wie sie es lernen, ihre Baseballmützen verkehrt herum zu tragen? Stephen Pinker
Bewusstsein war einmal ein zentraler Begriff der Psychologie, wurde dann als unwissenschaftlich verbannt und ist nun in vollem Glanz zurückgekehrt. Es handelt sich um ein Thema, das einfach nicht von der Bildfläche verschwinden will, und es gibt gute Gründe dafür. Im Wachzustand verbringen wir den größten Teil unseres Lebens mit bewusster Aktivität und selbst während des Schlafs brummelt da etwas Bewusstheit vor sich hin. Wie würden wir ansonsten vom Wecker,vom Schreien unseres eigenen Babys oder von einem Schwall kalten Wassers ins Gesicht aufgerüttelt werden? Wenn wir aus dem Tiefschlaf zum vollen Bewusstsein zurückkehren,verändert sich die elektrische Aktivität im gesamten Gehirn massiv in dem Maße, wie schnelle, kleine und unregelmäßige Wellen des Wach-EEGs die großen,langsamen und regelmäßigen Hügel und Täler des Tiefschlafs ersetzen. Zur gleichen Zeit berichten wir Menschen über eine reichhaltige und vielfältige Spielbreite bewusster Erfahrungen: Farben und Töne, Tastempfindungen und Gerüche, Bilder und Träume, ein prächtiger Festzug der Alltagsrealität. Weil sich diese Berichte über die bewusste Erfahrung zeitlich so perfekt mit der Hirnaktivität decken, schließen die Psycholo-
gen daraus, dass die Berichte eine einzige zugrunde liegende Realität zum Ausdruck bringen, eine Realität des Wachbewusstseins. Wir wollen dieses Kapitel mit der folgenden Definition beginnen: Bewusstsein ist die Bewusstheit für Ereignisse in der Umwelt und für kognitive Ereignisse wie etwa die Anblicke und Töne der Welt, aber auch die eigenen Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen.Nach dieser Definition umfasst das Bewusstsein zwei Aspekte: ▬ Zum Bewusstsein gehört, dass man Reize aus der Umwelt erkennt. Beispielsweise können Sie plötzlich stärker auf den Gesang eines Vogels, auf heftige Zahnschmerzen oder auf das visuelle Erkennen eines alten Freundes achten. ▬ Zum Bewusstsein gehört auch,dass man von mentalen Ereignissen Kenntnis nimmt – jenen Gedanken also, die sich aus Erinnerungen ergeben. Beispielsweise könnten Sie an den Namen eines Vogels, die Telefonnummer Ihres Zahnarztes oder an die Pizza denken, die Sie auf das Hemd Ihres Freundes gekleckert haben. Um zu bestimmen, wer wir sind und was wir denken, sind diese inneren und häufig privaten Gedanken genauso
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wichtig wie äußere Reize. Über den ganzen Tag verteilt machen wir Myriaden bewusster Erfahrungen,die auf Anblicke und Töne aus der Welt zurückgehen, und eine unbekannte Anzahl innerer bewusster Erfahrungen, die durch unsere inneren Gedanken hervorgerufen werden und die unsere persönlichen Reaktionen und Gefühle hervortreten lassen. Welcher bewusstseinsfähigen Gedanken sind Sie sich jetzt bewusst? Auf welche Quelle gehen sie zurück? Weiß irgendeine andere Person von Ihren Gedanken? Haben Sie Ihre Gedanken je vor einer anderen Person verborgen? Wenn dies der Fall war,warum? Das ist die Art von Fragen, die dazu beiträgt, dass uns das Bewusstsein – wenn man das so sagen kann – nicht aus dem Kopf geht.
You were always on my mind. Willie Nelson
5.1
Geschichte des Bewusstseins
Niemand hat die frühen Ereignisse der Evolution aufgezeichnet. Aber hätte es damals Biographen gegeben, so hätten diese Personen wahrscheinlich sehr früh im mentalen Leben sich entfaltender Lebewesen beobachtet, wie sich das Bewusstsein entwickelt. Außerdem hing die Beschäftigung der Menschen mit dem Thema Bewusstsein eng mit grundlegenden Fragen der Menschheit zusammen, wie etwa: »Wer bin ich?«, »Warum denke ich die Gedanken, die ich jetzt habe?«, »Was geschieht mit mir, wenn ich schlafe oder sterbe?« Dies sind Themen, bei denen die Grenzen zu Fragen der Religion und des Aberglaubens fließend sind. Von der Antike bis heute gehörte das Thema Bewusstsein zur frühen Beschäftigung mit Philosophie und ein Teil dieser Geschichte ist in Kapitel 1 kurz zusammengefasst. Die wissenschaftliche Psychologie hat ihre Anfänge im 19. Jahrhundert, als die bewusste Erfahrung untersucht wurde.William James fasste dies in die berühmten Worte: »Psychologie ist die Wissenschaft vom geistigen Leben«, und damit meinte er das bewusste geistige Leben (James, 1890/1983, S. 15). James war nicht der Einzige, der die Psychologie so definierte. Schon vor ihm hatten europäische Psychologen ein halbes Jahrhundert lang das betrieben, was wir jetzt als wissenschaftliche Psychologie bezeichnen. Dazu gehörten Hermann Ebbinghaus (der Ge-
dächtnisexperte, über den wir in Kapitel 8 berichten werden) und Sigmund Freud (der mit seinen Vorstellungen über Bewusstsein und speziell über die unbewussten Determinanten menschlichen Denkens und Verhaltens die Welt auf den Kopf stellte). Einige dieser Arbeiten sind leicht zugänglich.Beispielsweise wurden die psychophysischen Gesetze in der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt. Es gab viele Erkundungen zur Hypnose und zu Wahrnehmungsprozessen; man begann,Gedächtnis und Intelligenz zu untersuchen; man arbeitete die Gesetze des Lernens assoziativer Verbindungen aus. Und fast alle glaubten, dass das Bewusstsein der Schlüssel zu diesen geistigen Ereignissen sei.
Mein Unbewusstes weiß mehr über das Bewusstsein des Psychologen, als sein Bewusstsein über mein Unbewusstes weiß. Karl Kraus
Das änderte sich etwa um das Jahr 1900 mit Iwan Pawlow, John Watson und ähnlich denkenden Personen, die der Auffassung waren, es sei für einen Wissenschaftler nicht vertretbar, sich mit dem persönlichen Bewusstsein zu beschäftigen,da wir nur physisches Verhalten oder das Gehirn beobachten könnten. Über den größten Teil des 20. Jahrhunderts hinweg war innerhalb der Wissenschaft die persönliche Erfahrung des Menschen fast ein Tabuthema.Dafür gab es einige praktische Gründe.In vielen Fällen ist es wirklich nicht einfach, sich sicher zu sein, welche persönliche Erfahrung eine andere Person hat, sodass es schwierig sein kann, die Belege dafür zu überprüfen und erneut zu überprüfen, wie es eben in der Wissenschaft notwendig ist. Doch Psychologen haben sich raffinierte Methoden ausgedacht, um Hypothesen zu den folgenden nicht beobachtbaren Themen zu überprüfen: Kurzzeitgedächtnis, implizite Kognition und mentales Vorstellungsvermögen. Warum sollte es nicht möglich sein, die gleichen Strategien beim Bewusstsein zu verfolgen? Warum sollte man die Erfahrung anderer nicht als ein durch Schlussfolgerungen zustande gekommenes Konstrukt behandeln, das auf beobachtbaren Belegen beruht? So gehen ja auch die Naturwissenschaftler bei den Themen Elektronen oder Lichtgeschwindigkeit vor. Die methodologischen Probleme bei der Untersuchung des Bewusstseins sind allem Anschein nach groß,aber sie sind zu bewältigen.
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Kapitel 5 · Bewusstsein
Es gibt auch ein bedeutendes philosophisches Problem, das es für die Wissenschaftler schwierig machte, das Bewusstsein so zu erkunden, wie wir das routinemäßig bei der Untersuchung des Gedächtnisses und der Wahrnehmung machen. Man spricht vom Leib-Seele-Problem ( siehe Kapitel 2). Dieses Problem wurde von den Philosophen seit den Anfängen schriftlich aufgezeichneter Gedanken diskutiert. Hier geht es um die Frage, ob unsere Welt im Grunde geistig oder physikalisch ist. Können alle bewussten Erfahrungen durch Nervenzellen erklärt werden? Oder sind die Nervenzellen selbst nur Ideen im Kopf von Wissenschaftlern? In der Umgangssprache wechseln wir bei der Beschreibung der Realität ständig zwischen der mentalen und der physikalischen Beschreibungsebene hin und her: »Ich habe wegen meiner rasenden Kopfschmerzen (mentale Ebene) ein Aspirin (physikalische Ebene) genommen. Ich bin zum Kühlschrank (physikalische Ebene) gegangen, weil ich Lust (mentale Ebene) auf Eis hatte.« Wie führen mentale Erfahrungen zu physikalisch feststellbaren Handlungen und umgekehrt? Dem gesunden Menschenverstand ist dies egal. Er springt einfach zwischen dem Bereich des Mentalen und dem des Körpers hin und her. Die Psychologie des gesunden Menschenverstands ist dualistisch. Die Situation wird jedoch komplizierter, wenn wir versuchen über die Beziehung zwischen unseren privaten Erfahrungen und der öffentlichen Welt, die uns allen gemeinsam ist, nachzudenken. In Bereichen wie Aspirin und Kühlschränke lässt sich durch gewöhnliche Kausalität erklären,wie etwas vor sich geht.Eis kann wegen Hitze schmelzen und eine Packung mit Aspirin kann wegen zu viel Feuchtigkeit unbrauchbar werden. Diese Phänomene laufen entsprechend den kausalen Gesetzmäßigkeiten der physikalischen Welt ab. Mentale Ereignisse jedoch werden durch Ziele, Emotionen und kognitive Prozesse beeinflusst, die anscheinend anderen Gesetzen folgen.
In der westlichen Philosophie war man der Auffassung, dass die Seele des Menschen nur geistige Eigenschaften hat und im 17. Jahrhundert kam René Descartes – der französische Philosoph und Mathematiker – zu der Schlussfolgerung, dass die bewusste Seele das physische Gehirn nur an einem Punkt berührt: an der Zirbeldrüse, die sich an der Unterseite des Gehirns befindet. Er konnte sich keine andere Erklärung dafür vorstellen, wie die mit Geist begabte Seele mit dem physischen Körper zusammenhing. Die meisten westlichen Philosophen waren Mentalisten und glaubten, dass die bewusste Seele die Grundlage für jegliche Realität ist. Auch die asiatischen Philosophen sind im Allgemeinen mentalistisch geprägt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte man jedoch eine Veränderung beobachten. Möglicherweise war der Hauptgrund für die Ablehnung des Bewusstseins durch die Wissenschaft um 1900 der, dass Wissenschaftler der Meinung waren, der Mentalismus sei mit den etablierten Naturwissenschaften wie z.B. der Chemie und der Physik nicht vereinbar. Deshalb kam es kurz nach dem Jahr 1900 zu einer starken Strömung innerhalb der Wissenschaft in Richtung auf den Physikalismus – also den Gedanken, dass alle bewussten Erfahrungen durch Nervenzellen oder psychologisch durch beobachtbare Reize (Inputs) und Reaktionen (Outputs) erklärt werden können. Innerhalb der Psychologie wurde dieses behavioristische Denkmodell durch I. B. Pawlow und John Watson seit etwa 1910 popularisiert und von B. F. Skinner sowie von vielen anderen Psychologen bis weit in die siebziger Jahre weitergeführt. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts machte man einen großen Bogen um die bewusste Erfahrung des Menschen, weil man dachte, sie sei im Wesentlichen mentalistisch. Das hat sich geändert und die modernen Psychologen scheinen von diesem Thema nicht genug bekommen zu können.
Die fixe Idee vom Bewusstsein Kürzlich erbrachte eine Recherche bei Medline mit Hilfe des Stichworts »conscious« oder »consciousness« mehr als 10 000 Einträge. Unser gieriger Appetit nach allen möglichen Arten von Themen, die etwas mit Bewusstsein zu tun haben, ist verständlich, wenn man bedenkt, dass ▼
alles, was wir machen oder denken, irgendwie mit diesem Thema zusammenhängt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergab eine Suche im Internet 160 Einträge. Allein eine Website (http://ling.ucsc.edu/~chalmers/mind.htm/) verzeichnete 671 Online-Artikel, meist wissenschaftliche Ar-
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beiten zur Kognition. Schauen Sie sich einmal diese Internetseiten an! Im Folgenden sind einige der bekannteren Websites über Bewusstsein aufgeführt, die Sie im Internet finden können (empfehlenswerte Websites sind mit einem Sternchen versehen): *Bewusstsein http://ling.ucsc.edu/~chalmers/ Umfassendes Register mit Online-Artikeln über Bewusstsein und über damit zusammenhängende Bereiche. Die Themen umfassen die Begriffe »Bewusstsein«, »Dualismus« und »Materialismus«. * Bewusstsein http://www.lycaeum.org/drugs/other/brain/ Eine breite Vielfalt von Artikeln und Links, die Themen abdecken wie Verhaltens- und Kognitionswissenschaft sowie Psychologie. Die Homepage der Hare-Krishna-Gemeinschaft http://www.webcom.com/~ara *Journal of Consciousness Studies http://www.zynet.co.uk/imprint/jcs.html
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Kognitive Psychologie und Bewusstsein
Allmählich mussten sich die Lerntheorien jedoch der Herausforderung durch die Theorien des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und der inneren Repräsentationen mentaler Prozesse stellen. Informationsverarbeitung und Kognition wurden zu Modewörtern und Bewusstsein – ein Thema,das einfach nicht von der Bildfläche verschwinden wollte, so sehr es auch von den Behavioristen verhöhnt wurde – fand nach einem halben Jahrhundert der Vernachlässigung allmählich wieder Eingang in die psychologische Literatur. Und die Wissenschaftler, die mit dem Begriff experimentierten, waren nicht die ungekämmten, LSD liebenden Flowerpower-Doktoren von Haight-Ashbury,die unter psychedelischen Drogen standen,während sie versuchten,immer höhere Niveaus des »Bewusstseins« zu erreichen. Mehrere bedeutsame Forschungsstränge haben dazu beigetragen, das Thema Bewusstsein erneut in der Psychologie zu etablieren. In der aktuellen Forschung haben sich die Kognitionspsychologen an zwei zentrale Ansätze gehalten: den psychologischen und den neurologischen.
Berufsorganisation für diejenigen, die ein Interesse am mythischen Bewusstsein haben. *Center for Consciousness Studies http://www.consciousness.arizona.edu/ Diese Forschungsgruppe der University of Arizona unterstützt die Entwicklung einer Wissenschaft vom Bewusstsein. Dort können Sie etwas über die aktuelle Forschung und über demnächst stattfindende Veranstaltungen lesen. Beschreibung von 63 Religionen, Glaubensgruppen und ethischen Systemen http://www.religioustolerance.org/var_rel.htm Newsgroups: alt.consciousness News. alt.consciousness Von den Autoren der Newsgroups »alt.consciousness« werden Erfahrungen in der Nähe des Todes, Mystizismus und andere veränderte Bewusstseinszustände erkundet. Strom des Bewusstseins http://kzsu.stanford.edu/uwi/soc.html
Untersuchungen mit Primes. Man hat beispielsweise be-
obachtet, dass sich die Fähigkeit des Menschen, ein Wort zu erkennen, in messbarer Weise verbessert, wenn man auch nur eine einzelne Erfahrung mit diesem Wort oder einem damit zusammenhängenden Wort gemacht hat. Wenn man Sie etwa bitten würde,psychedelisch als Wort zu erkennen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie dies mit Leichtigkeit schaffen. Hätten Sie jedoch den vorigen Absatz nicht gelesen,in dem das Wort »psychedelisch« vorkam, dann hätte es sein können, dass Sie für diese Aufgabe ein bisschen länger brauchen. Warum? Ihr Bewusstseinsniveau für dieses Wort wurde gesteigert, es ist größer geworden, als wenn Sie diesen Abschnitt nicht gelesen hätten. Wir Menschen machen dies ständig und anscheinend lassen sich empirische Befunde zu diesem Phänomen sammeln, die das bestätigen. Neurokognitive Untersuchungen: Schlaf und Amnesie.
Beim Schlaf- und Wachzustand liegt die Unterscheidung zwischen unbewussten und bewussten Zuständen auf der Hand. Der große Bereich der Schlafforschung, die zum großen Teil mit Hilfe elektroenzephalographischer Aufzeichnungen von Menschen in verschiedenen Schlafstadien durchgeführt wird,hat uns einen Einblick in diese Art
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Kapitel 5 · Bewusstsein
von Unbewusstsein gegeben. Zudem hat sie uns gezeigt, dass einige Patienten mit einer Amnesie, die unter neurologischen Verletzungen (wie etwa einem Hirntrauma) litten,nicht bewusst Ereignisse aus dem Gedächtnis abrufen können – auch nicht einfache Dinge wie ihren eigenen Namen, den Namen ihrer Heimatstadt, den Text der Nationalhymne,die Gesichter ihrer Kinder und die Nummer ihres Personalausweises (sollten Sie sich nur an drei von fünf dieser Dinge erinnern, so wäre dies akzeptabel).Aber diese Menschen können andere Arten von Aufgaben erlernen und erinnern wie etwa motorische Lernaufgaben.Weil der bewusste Abruf aus dem Gedächtnis mit der neurologischen Verletzung zusammenhing, war es nahe liegend, dass das Bewusstsein allem Anschein nach eine neurologische Grundlage hat.
5.2.1 Explizites und implizites Gedächtnis Der Begriff explizites Gedächtnis bezieht sich auf den bewussten Abruf von Informationen, also auf den Typ des Gedächtnisses, den Sie möglicherweise einsetzen, wenn Sie im Examen eine Prüfungsfrage beantworten.Wenn Sie beispielsweise gebeten würden, sich an den amerikanischen Präsidenten zu erinnern, der der Vorgänger von Bill Clinton war, würden Sie antworten: »George Bush«. Sie stellen bewusst eine Assoziation zwischen dem Hinweisreiz (bzw. der Frage) und der Antwort her. Das explizite Gedächtnis setzen wir ein, um direkte Fragen zu beantworten. Das implizite Gedächtnis hängt andererseits eher mit dem zusammen, was wir zum Thema Bewusstsein ge-
schrieben haben; denn das explizite Gedächtnis bezieht sich auf das Gedächtnis, das über die Leistungsänderung erfasst wird, die mit irgendeiner Vorerfahrung zusammenhing (wie etwa bei den zuvor besprochenen Priming-Experimenten). In vielen Fällen kommt das implizite Gedächtnis zum Ausdruck,wenn eine zuvor gegebene Information die Leistung bei einer Aufgabe verbessert, und es setzt keinen bewussten Abruf dieser Erfahrungen aus dem Gedächtnis voraus. Würde man Sie bitten, sich an die Hauptstadt von Frankreich zu erinnern, würden Sie aktiv und bewusst in Ihrer Erinnerung suchen und dann Paris finden; dies ist ein Beispiel für das explizite Gedächtnis. Würde man Ihnen eine stark informationsreduzierte Figur zeigen, dann die vollständige Figur und würde man Sie dann bitten, sie zu identifizieren,dann wären Sie in der Lage,die Figur schneller zu erkennen, als wenn man Ihnen den Prime (die informationsreduzierte Figur) nicht gezeigt hätte. Und doch werden Sie sich wahrscheinlich des Einflusses eines Primes nicht bewusst sein. Oder versuchen Sie es einmal hiermit. Im Folgenden finden Sie ein Wort mit Lücken: > p_y_h_d_l_s_h
Wie heißt das Wort? Die Antwort schoss ihnen (implizit) durch den Kopf! Wenn Sie jedoch einen Freund bitten würden,dieses Wortproblem zu lösen,der nicht mit einem Prime konfrontiert war, weil er vor einigen Absätzen das Wort »psychedelisch« gelesen hatte, dann wäre die Zeit für die Lösung vermutlich erheblich länger.Versuchen Sie es einmal.
Kritisch hinterfragt: Verbesserung Ihres Bewusstseinsniveaus Im Alltag bekommen wir oft den Rat, unser »Bewusstseinsniveau« zu verbessern. Gewöhnlich geschieht dies mit dem Hinweis auf irgendeine soziale Aktion, für die dort Reklame gemacht wird. Lassen Sie uns sehen, wie wir Ihr Bewusstseinsniveau für die folgende Wortliste verbessern können. Lesen Sie diese Liste und bilden Sie sich von jedem einzelnen Item einen Eindruck: BUCHLADEN NACHRICHTENMODERATOR HUNDEFUTTER SCHREIENDES BABY
PARFÜM AMPEL VERRÜCKTE FRISUR
Achten Sie in den nächsten paar Tagen einmal darauf, wie einige dieser Wörter auf unheimliche Weise in Ihr Bewusstsein eindringen. Welchen Zusammenhang hat diese Übung im kritischen Denken zu Priming-Experimenten? Warum sind Ihnen diese Begriffe »durch den Kopf gegangen«? Welche Beziehung besteht zwischen Gedächtnis und Bewusstsein? Können Sie den Prozess nun umkehren, sodass diese Wörter und das, was damit assoziiert wird, in Ihre bewussten Gedanken eindringen können? Wie könnten andere Wörter und Aktivitäten Ihr Bewusstseinsniveau verbessern?
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Die Verwendung von Primes, die mentale Assoziationen gerade unterhalb des Bewusstseinsniveaus aktivieren, kamen in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts innerhalb der Psychologie groß in Mode ( siehe Roediger & McDermott, 1933, zu einem ausgezeichneten Überblick) und es scheint so zu sein, dass man in dieser Zeit keinen Text lesen und keine psychologische Zeitschrift aufschlagen konnte, ohne eine Neuigkeit zu diesem Thema zu lesen. Diejenigen, die eine Leidenschaft dafür entwickelt haben, die Köpfe von Menschen in einen »Magneten« (wie der Kernspintomograph zärtlich genannt wird) zu legen, fangen heutzutage damit an, einige der Strukturen zu isolieren, die mit dem Juwel des Gehirns – dem Bewusstsein – in Verbindung gebracht werden. Eine solche Aussage trifft auf die Bestrebungen vieler Hirnwissenschaftler zu, die aktiv nach »Zentren des Bewusstseins« suchen. Sie spiegelt jedoch nicht meine Gedankenwelt wider. Insofern könnten diese Bestrebungen dem hilflosen Liebhaber ähneln, der »immer am falschen Ort nach der Liebe sucht«; denn vielleicht sind das Bewusstsein und andere kognitive Prozesse höherer Ordnung so breit über das Gehirn verteilt, dass man sich bei dem Versuch, »Zentren« zu finden, auf einem unsicheren Terrain bewegt.
5.2.2 Forschung mit Primes Kognitionspsychologen haben schon in den siebziger Jahren begonnen, den Einfluss kurz dargebotener Wörter auf das spätere Erkennen anderer Wörter zu untersuchen ( siehe Meyer & Schvaneveldt, 1971, 1976; Meyer, Schvaneveldt & Ruddy, 1974a, wie in Kapitel 12 erwähnt),und stießen dabei auf eine komplizierte Sache, die man sich heute immer noch nicht richtig erklären kann. Das experimentelle Design dieser frühen Untersuchungen war wirklich einfach und ist bis auf den heutigen Tag fast unverändert geblieben. Man zeigt einer Versuchsperson ein Wort, sagen wir HOCHSCHULE (engl.college).Dann zeigt man ihr ein damit zusammenhängendes Wort, sagen wir UNIVERSITÄT (engl. university). Man bittet sie, das zweite Wort so schnell wie möglich als das eigentliche Wort zu erkennen. Einer anderen Versuchsperson zeigt man ein Wort wie etwa WACKELPUDDING (engl. jelly) und bittet sie, UNIVERSITÄT als das eigentliche Wort zu identifizieren.Wenn man einer Versuchsperson HOCHSCHULE als Prime dargeboten hat,identifiziert sie Universität schneller,als wenn man ihr WACKELPUDDING als Prime gezeigt hat (es sei
denn, sie ist in Yale immatrikuliert, einer Universität mit dem Spitznamen Jelly-Bean University). Die Angelegenheit wurde komplizierter, als Richard Nisbett und Lee Ross (1980) von der University of Michigan in einem sozialpsychologischen Experiment eine andere Art von Prime einsetzten. Hier ging es darum, dass den Versuchspersonen Wörter gezeigt wurden,die etwa so miteinander assoziiert werden wie OZEAN und MOND. Dann wurden sie gebeten, bei Wörtern frei zu assoziieren (ein Begriff, der von Sigmund Freud und seinen Schülern popularisiert wurde),von denen sie nicht wussten,warum sie darauf mit bestimmten Wörtern reagierten. So sagte eine Person vielleicht Waschmittel und dachte sich einen Grund dafür aus wie etwa: »Meine Mutter benutzte für ihre Wäsche Persil.« Jetzt wurde deutlich,dass Primes eine Wirkung auf die spätere Leistung im Experiment ausübten, auch wenn sich die Versuchsperson der Ursache nicht bewusst war. Dies führt zu der Frage, ob subliminales Priming möglich ist oder ob sich ein Prime auswirken kann, der unterhalb der sensorischen Schwelle bzw. unterhalb des Niveaus der Bewusstheit dargeboten wird. Zu diesem Thema wurden mehrere interessante Experimente veröffentlicht. ⊡ Abbildung 5.1, ein anschauliches Beispiel für subliminales Priming, beruht auf einigen Arbeiten, die in England durchgeführt wurden (siehe nächster Abschnitt),und ist erfolgreich als Demonstrationsbeispiel in Seminaren eingesetzt worden. Die eine Hälfte des Seminars betrachtete ein Bild wie das in ⊡ Abb. 5.1A und die andere Hälfte ein Bild wie das in ⊡ Abb. 5.1B (die Bilder wurden mit Hilfe eines Tageslichtprojektors etwa 100 Millisekunden lang dargeboten).Dann zeigte man allen Studenten den Jungen in ⊡ Abb. 5.1C und bat sie,das Gesicht zu zeichnen und ein Urteil über den Charakter des Jungen abzugeben.Die Studenten, die A gesehen hatten, auch wenn er nur für einen kurzen Augenblick dargeboten wurde, neigten dazu, den Jungen als etwas diabolisch zu sehen und zu zeichnen und Wörter zu verwenden wie frech oder boshaft. Diejenigen, die B gesehen hatten, neigten dazu, den Jungen zu zeichnen und mit Worten wie engelsgleich oder nett zu beschreiben. Das Überraschende an der Geschichte ist, dass sich die Studenten (im Allgemeinen) nicht der Eigenart des Prime-Bildes bewusst waren. Gestattete man ihnen, den Prime noch einmal anzusehen, kamen Bemerkungen wie »O je, der Kerl sieht mit seinen Hörnern ganz wie ein kleiner Teufel aus« oder »Ich habe gar nicht erkannt, wie unschuldig der Junge aussieht«. Anscheinend hat in diesem Beispiel ein Prime, der subliminal dargeboten wird
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Kapitel 5 · Bewusstsein
⊡ Abb. 5.1. Eine Veranschaulichung zur subliminalen Wahrnehmung. Eine Gruppe von Personen sieht kurz den Jungen, wie er in A dargestellt ist. Eine andere Gruppe sieht ebenfalls kurz den Jungen in B. Die Darbietungszeit ist so kurz, dass die beiden Gruppen sich nicht bewusst an den Inhalt des Bildes erinnern können. Dann zeigt man den Versuchspersonen das Bild mit dem Jungen in C; dabei handelt es sich um ein neutrales Bild. Sie werden gebeten, das Bild noch einmal zu zeichnen und eine Bezeichnung für den Charakter des Jungen zu finden. Je nachdem, welcher Prime zuvor gesehen wurde, ist eine Neigung vorhanden, den Jungen in C entweder als diabolisch oder als engelsgleich zu beurteilen. Obwohl dieses Ergebnis nicht in allen Untersuchungen herauskam, gibt es genügend Belege für den Priming-Effekt bei Versuchspersonen, die sich der Eigenart des Primes nicht bewusst waren. Damit kann die Vorstellung von der subliminalen Wahrnehmung als bestätigt gelten
(das heißt unterhalb des Niveaus des bewussten Erkennens),einen Einfluss auf die spätere Bewertung eines ähnlichen Bildes. Im Folgenden wird ein Experiment dargestellt, das in stärkerem Maße kontrolliert wurde. Eine Untersuchung von Tony Marcel (Universität Cambridge) ist zu einem archetypischen Experiment im Bereich des subliminalen Primings geworden. In der ersten Phase des Experiments wurde einer Gruppe sehr kurz (für 20 bis 110 Millisekunden) ein Wort dargeboten. Danach folgte eine visuelle Maskierung (z.B. eine Reihe von XXXX), die verhindert, dass ein Bild des Wortes auf der Retina bleibt und dass die Versuchsperson somit einen kontinuierlichen Verlauf sieht. Die Darbietungen waren so kurz, dass die Versuchspersonen nicht berichteten, Wörter gesehen zu haben. Man bot sie ihnen in einer subliminalen Geschwindigkeit dar.Wenn sie gebeten wurden, zu raten,welches Wort präsentiert worden war,waren ihre Ergebnisse nicht besser als per Zufall. Nachdem man auf diese Weise das Präsentationsniveau eingestellt hatte, konnten diese Versuchspersonen das Wort nicht mehr identifizieren, das man ihnen zusammen mit einem Wort in subliminaler Geschwindigkeit darbot. Dieses Wort war ein Prime eines anderen Wortes (BROT) oder ein Wort,bei
dem es sich nicht um einen Prime handelte (⊡ Abb. 5.2). Die Versuchspersonen sollten entscheiden, ob das zweite Wort (SANDWICH), das Zielwort, ein juristisches Wort war oder nicht. Diese Aufgabe wird als lexikalische Entscheidungsaufgabe (abgekürzt LDT für lexical decision task) bezeichnet und wird hier im Abschnitt über Wörter weiter behandelt werden. Die Reaktionszeiten wurden erfasst, um eine Entscheidung darüber zu fällen, ob die Zeichenkette von Buchstaben tatsächlich ein Wort ergab.Die Ergebnisse zeigen, dass die Reaktionszeit, wenn der Versuchsperson ein assoziiertes Wort als Prime gegeben wurde, kürzer war, als wenn dies nicht der Fall war. Mehrere Forscher haben über ähnliche Ergebnisse berichtet. Bei anderen haben sie aber auch zu heftigen Reaktionen geführt (zu einem Überblick siehe Holender, 1986). Einige Kritiker argumentieren, dass der Effekt nur dann auftritt, wenn das Kriterium für die Wahrnehmungsschwelle von der Versuchsperson selbst festgelegt wird – das heißt,wenn eine Versuchsperson berichtet,dass sie den Prime »sehen« oder nicht »sehen« kann.Wenn andererseits die Schwelle für die Darbietungszeit durch ein objektives Maß bestimmt wird, dann tritt der Effekt des
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⊡ Abb. 5.2. Paradigma zur Überprüfung der Vorstellung von der subliminalen Wahrnehmung. Man zeigt Versuchspersonen ein Wort unterhalb des Niveaus der bewussten Wahrnehmung. Im einen Fall kann das Wort (bread) mit dem Zielwort (sandwich) assoziiert werden, im anderen Fall kann das Wort (truck) nicht mit dem Zielwort assoziiert werden. Es folgt eine Maske (XXXX), um die weitere sensorische Verarbeitung des Worts zu unterdrücken. Und es wird eine lexikalische Ent-
scheidungsaufgabe (LDT: lexical decision task) gestellt, bei der die Versuchsperson einfach gebeten wird, zu berichten, ob die Zeichenkette aus Buchstaben in der zweiten Gruppe (sandwich) ein Wort bildet. Die unterschwellige Darbietung eines Wortes, das mit einem Zielwort (bread) assoziiert werden kann, hat einen Einfluss auf die Reaktionszeit bei der lexikalischen Entscheidungsaufgabe, doch das nicht assoziierte Wort (truck) hat keinen Effekt
subliminalen Primings nicht auf. Daraus und aus vielen ähnlichen Experimenten wurde eine Reihe von Schlussfolgerungen abgeleitet. ▬ Unter bestimmten Bedingungen tritt subliminales Priming auf. ▬ Wird ein Reiz,der als Prime dient,unterhalb der Wahrnehmungsschwelle präsentiert (definiert als die geringste Energie, die zur Aktivierung einer neuronalen Reaktion erforderlich ist), kann subliminales Priming nicht auftreten. ▬ Wenn das subliminale Priming eine Wirkung hatte, wurden wahrscheinlich einige Bruchstücke des als Prime dienenden Wortes oder Bildes wahrgenommen, aber das Niveau der subjektiven Gewissheit war zu niedrig, als dass die Versuchspersonen darüber berichtet hätten.Es scheint nicht vertretbar zu sein,so zu argumentieren, dass Reize unterhalb der Wahrnehmungsschwelle (damit ist unterhalb des Niveaus gemeint, von dem aus äußere Reize sensorische Nervenzellen zum Feuern veranlassen) kognitive Phänomene beeinflussen, etwa durch eine Verbesserung des Gedächtnisabrufs oder ein besseres Erkennen eines nachfolgenden Ereignisses.Trotzdem war in mehreren Experimenten das Erkennen eines als Prime dienenden Wortes intensiv genug, um die Aufnahme eines damit zusammenhängenden Wortes zu verbessern. Anscheinend werden auf einem niedrigen Niveau der Empfindung, auf dem die Versuchsperson nicht darüber berichtet, dass sie sich der Empfindung bewusst
ist, bestimmte partielle Informationen aufgenommen und gespeichert.Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was eine Versuchsperson tatsächlich (physisch) erlebt, und dem, was sie berichtet, erlebt zu haben. ▬ Dies führt zu einer wichtigen theoretischen,aber auch empirischen Frage:Wie zuverlässig sind subjektive Berichte über unbewusste und bewusste Erfahrungen? Hier scheint der Kern des Problems zu liegen. Eine Schwierigkeit sind die inneren Kriterien des Beobachters, also ab wann er akzeptieren kann, dass Empfindungen so stark geworden sind, dass man sie als »bewusst« ansehen kann. Dieses Thema hängt mit der Theorie der Signalentdeckung zusammen und der interessierte Leser kann unter diesem Stichwort Material dazu finden. Philosophisch betrachtet werfen Untersuchungen zum Bewusstsein die Frage nach Realität und Täuschung auf, auf die wir hier leider nicht weiter eingehen können. ▬ Und schließlich scheint die Untersuchung des Bewusstseins einen gewissen Reiz auf einige Personen auszuüben, die versuchen, nichtempirische Erklärungen für ihre Auffassungen zu finden. Leicht auszumachen sind diejenigen, die Spekulationen über die folgenden Themen anstellen: »psychische Kräfte«, »kosmisches Bewusstsein«, Lernen im Schlaf, extrasensorische Wahrnehmung, subliminale Wahrnehmung (hier verwendet, um auf die Wahrnehmung von Reizen unterhalb der Grenze oder einer Schwelle des Bewusstseins hinzuweisen) und sogar Wiedergeburt,
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Hellsehen,die Seele,freier Wille und das kollektive Unbewusste. Obwohl derartige Themen für die kognitive Psychologie keine Tabus darstellen und einige von ihnen es sogar verdienen mögen, genauer empirisch untersucht zu werden, glaube ich, dass außergewöhnliche Theorien des Bewusstseins – ein auffallender Diamant im Diadem der Kognition – außergewöhnliche Belege erfordern. Vor allem, wenn derartige Auffassungen dazu führen, dass die grundlegenden Gesetze der kognitiven Neurowissenschaft – ja sogar alles, was über das Wesen des physikalischen Universums wissen – revidiert, wenn nicht sogar aufgegeben werden müssen.
Was wäre, wenn alles eine Täuschung wäre und nichts existierte? In diesem Fall hätte ich für meinen Teppich eindeutig zu viel bezahlt. Woody Allen
5.2.3 Neurokognitive Untersuchungen:
Schlaf und Amnesie Schlaf. Die deutlichste Unterscheidung zwischen Be-
wusstsein und Nichtbewusstsein kann man beobachten, wenn jemand wach ist oder schläft; deswegen sind Experimente mit schlafenden Menschen bei Forschern,die sich mit Fragen des Bewusstseins beschäftigen, sehr beliebt. Das bevorzugte Hilfsmittel ist der Elektroenzephalograph (EEG),weil er relativ wenig einschränkend ist (wenn es einem nichts ausmacht, ein Geschirr mit Schlangen ähnlichen Drähten zu tragen, die vom Kopf herunterhängen wie einst bei Medusa) und weil man gut zeitliche Daten sammeln kann. Über die gesamte Schlafzeit hinweg ist es möglich, Hirnwellen aufzuzeichnen. Während des Tages interagieren wir und befinden uns ständig im Zustand der Aufmerksamkeit – hinschauen, einer Botschaft zuhören oder einen neuen Geruch riechen. Doch im Schlaf sind die Mechanismen der Aufmerksamkeit deutlich abgeschwächt und es kommt praktisch nicht zu Interaktionen mit Personen (abgesehen von einem gelegentlichen Stupser durch einen nichts ahnenden Bettgenossen). Es gibt auch keine erkennbaren Veränderungen in den EEG-Aufzeichnungen, die als Bestätigung dafür gelten könnten, dass wir Menschen normalerweise unterschiedliche Schlaf»stadien« durchlaufen. In ⊡ Abb. 5.3 weisen fünf
charakteristische Hirnwellen auf die elektrische Aktivität von Menschen während des Wachseins und während der vier Schlafstadien hin. Wenn wir uns wach und mit geschlossenen Augen im Zustand der Entspannung befinden, treten Alphawellen auf, bei denen das elektrische Potenzial ein recht regelmäßiges Muster von acht bis zwölf Zyklen pro Sekunde aufweist. Der Schlaf des Stadiums I ist das oberflächlichste der vier Stadien. Es ist zu beobachten, wenn wir anfangs dahindösen. In diesem Stadium kommt es zu kurzen Perioden der Thetaaktivität (vier bis sieben Hertz).Dies deutet auf Schläfrigkeit hin. Der Schlaf des Stadiums II ist durch so genannte Schlaf»spindeln« charakterisiert. Hier handelt es sich um Aktivitätssalven im EEG von zwölf bis 15 Hertz. Während des Schlafs im Stadium III beobachten wir zusätzlich zum Spindelmuster einige sehr niedrige Deltawellenfrequenzen (ein bis vier Hertz). Und im Schlaf des Stadiums IV ähneln die EEG-Aufzeichnungen jenen im vorigen Stadium, aber es sind extensivere Deltawellen zu erkennen. Im Stadium IV ist der Schlaf am tiefsten – hier ist es am schwierigsten, jemanden aufzuwecken. In ⊡ Abb. 5.4 sind die Verhaltenscharakteristika jedes einzelnen Stadiums, aber auch ein Indikator für REM-Schlaf (REM: rapid eye movement) dargestellt.Hierbei handelt es sich um einen Schlaf, der durch rasche Augenbewegungen und Träumen gekennzeichnet ist. Bei Schlafuntersuchungen ist es möglich,die Veränderungen vom Zustand des Bewusstseins zu dem des Nichtbewusstseins und dann wieder zu dem des Bewusstseins zu erkennen. Weiterhin können wir mit Hilfe von EEGAufzeichnungen und mit Hilfe anderer Geräte Bewusstseinsniveaus mit physiologischen Maßen der Hirnaktivität in Verbindung bringen. Amnesie. Ein zweites wichtiges Ereignis,das mit dazu bei-
trug, das Thema Bewusstsein wieder in die Psychologie einzuführen, geht auf wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich des Hippocampus zurück (jener Teil des limbischen Systems also, der etwas mit Lernen und Gedächtnis zu tun hat). Bei experimentellen Tests fand man heraus, dass einige Arten des Gedächtnisses bei Läsionen grundlegend beeinträchtigt sind. Doch interessanter ist, dass andere Arten des Gedächtnisses nicht davon beeinträchtigt sind. Somit hat es den Anschein, dass es (mindestens) zwei Arten grundlegender Gedächtnissysteme gibt. Diese Ergebnisse trugen bei den Wissenschaftlern zum Verständnis einer klinischen Gruppe von Patienten
139 5.2 · Kognitive Psychologie und Bewusstsein
⊡ Abb. 5.3. Ein Beispiel für EEG-Aufzeichnungen bei einer Person, die gerade vom Wachzustand in den Tiefschlaf übergeht. Auf dem ersten Niveau ist die Person wach und zeigt ein schnelles Aktivitätsmuster mit niedriger Amplitude, das sich dann zum Tiefschlafmuster
mit langsamen Deltawellen von hoher Voltzahl entwickelt. In diesem Stadium ist das Bewusstsein deutlich reduziert. Dieser Tiefschlaf wird beim Träumen durch REM-Schlaf (rasche Augenbewegungen) ersetzt, weil sich die Person wieder im Zustand des Bewusstseins befindet
bei, die man als Amnestiker bezeichnet. Schwer amnestische Patienten scheinen praktisch nicht in der Lage zu sein,sich an irgendetwas in der Vergangenheit zu erinnern oder irgendetwas Neues zu lernen. Doch Brenda Milner (1966; Näheres siehe im vorliegenden Buch Kap. 7) fand heraus, dass selbst schwer amnestische Menschen sensomotorische Fertigkeiten erlernen können – hier geht es um die Art von Handlungen, die man möglicherweise lernt,wenn man Pfeile auf ein Dartbrett wirft oder übt,mit Hilfe eines Spiegels zu zeichnen.Einige Patienten konnten auch, wenn sie angemessene Hinweisreize bekamen, Informationen über Wörter oder Bilder wiederherstellen. Der Zusammenhang dieser Befunde mit den neu wieder aufkommenden Untersuchungen zum Bewusstsein bestand darin, dass Patienten nicht auf den Hinweisreiz zum Abruf aus dem Gedächtnis zu reagieren schienen, indem sie bewusst das Wort Bild aus dem Gedächtnis abriefen, sondern dass sie einfach die erste Reaktion ausführ-
ten, die ihnen durch den Hinweisreiz in den Sinn kam. Bei einer »Abruf«-Aufgabe berichteten die Amnestiker nicht, dass ihnen etwas vertraut vorkam (beispielsweise: »Ja, ich erinnere mich, dass der Hinweisreiz mit meiner Reaktion zusammenhing«), sondern sie antworteten einfach mit dem,was ihnen als Erstes in den Sinn kam (beispielsweise: »Ich weiß nicht, warum ich die Antwort gegeben habe. Sie ging mir einfach durch den Kopf« – eine Antwort, die der eines meiner Studenten ähnelte, der den Prime »diabolisch engelsgleicher Kumpan« bekommen hatte).Am Ende dieses Abschnitts können wir mehrere Punkte anmerken. Unter dem Aspekt der Vorgehensweise können wir erkennen,dass experimentelle Studien zu Hirnstrukturen einen unmittelbaren Einfluss auf das Verständnis von Patienten mit einer Amnesie hatten.Unter dem psychologischen Aspekt haben wir weitere empirische Hinweise darauf, dass es (mindestens) zwei Arten von Gedächtnis gibt. Und schließlich scheinen einige Erinnerungen einen bewuss-
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140
Kapitel 5 · Bewusstsein
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⊡ Abb. 5.4. Kreislauf des Schlafs. Dargestellt sind die Schlafstadien, wie sie sich durch Hinweise aus Verhaltensrepräsentationen, aber auch aus den charakteristischen EEG-Wellen ergeben. Die hier gezeigte Person geht vom Wachzustand und dem Dahindösen (sie
schüttelt und dreht sich) in den ruhigen Tiefschlaf sowie in den REMSchlaf (schnelle Augenbewegungen) über und kehrt wieder zu einer bewussteren Aktivität zurück
ten Abruf aus dem Gedächtnis zu beinhalten und andere nicht. Somit hat eine Reihe von methodisch strengen Untersuchungen sowohl aus der experimentellen als auch aus der klinischen Psychologie gezeigt, dass die Rolle des Bewusstseins zu wichtig ist, um ignoriert zu werden.
über menschliche Erfahrungen – ansonsten wäre die Welt sogar noch chaotischer, als sie es bereits ist, und der Umgang der Menschen miteinander wäre problematisch. Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Wahrnehmung werden verbale Berichte in der Praxis immer als Beschreibungen bewusster Erfahrung behandelt.Wir wissen, dass Berichte über die Wahrnehmung einer feinen Sensibilität gegenüber physikalischen Reizfeldern entsprechen.Ganze Bereiche der Forschung beruhen auf dieser Methodologie. Unbewusste Prozesse können auch aus öffentlichen Beobachtungen erschlossen werden, obwohl die Menschen nicht absichtlich auf sie einwirken können. Das einfachste Beispiel dafür ist die große Vielfalt von Erinnerungen, die uns momentan nicht bewusst ist. Sie werden sich möglicherweise an das Frühstück von heute Morgen erinnern. Doch was geschah mit dieser Erinnerung, bevor Sie sich ihrer bewusst wurden? Sie war immer noch im Nervensystem repräsentiert,wenn auch nicht bewusst, und das ist der entscheidende Punkt.Doch welcher Befehl des Gehirns bewirkt, dass das Unbewusste bemerkt wird? Unbewusste Erinnerungen können beispielsweise andere Prozesse beeinflussen, ohne dass sie je bewusst werden. Wenn Sie heute Morgen Orangensaft zum Frühstück ge-
5.3
Bewusstsein als wissenschaftliches Konstrukt
George Mandler (1984) hat darauf hingewiesen, dass wir als Wissenschaftler, die sich mit öffentlich zugänglichen Befunden und öffentlich ausgetragenen Debatten beschäftigen, nur die Berichte beobachten, die Menschen über ihre bewusste Erfahrung abgeben. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass Ihr subjektiver Bericht über ein bewusstes Ereignis möglicherweise nicht der gleiche ist wie meiner. (Wenn Sie sagen: »Ich sehe gern ›Tatort‹ im Fernsehen«, dann nehme ich an, dass Ihre emotionale Aktion auf die Sendung eine andere Erfahrung ist als die, wenn Sie sagen: »Ich gehe gern mit meinem Freund aus.«) Andererseits ziehen wir auf der Grundlage solcher öffentlich geäußerter Berichte zuverlässige Schlussfolgerungen
141 5.3 · Bewusstseins als wissenschaftliches Konstrukt
⊡ Tabelle 5.1. Einige intensiv untersuchte Polaritäten zwischen miteinander zusammenhängenden bewussten und unbewussten Phänomenen
Mit Bewusstsein zusammenhängend
Mit Nichtbewusstsein zusammenhängend
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
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Explizite Kognition Unmittelbares Gedächtnis Neuartige, informative und bedeutsame Reize Input, auf den sich die Aufmerksamkeit richtet Inhalte im Fokus der Aufmerksamkeit Deklaratives Gedächtnis Supraliminale Stimulation Anstrengende Prozesse Erinnern Verfügbare Information Strategische Kontrolle Reizreihe mit Mustern Intakte Formatio reticularis und intralaminare Kerne Im Arbeitsgedächtnis wiederholtes Item Gehen und Träumen Explizite Schlussfolgerungen Episodisches Gedächtnis Autonoetisches Gedächtnis (Tulving)
trunken haben, dann werden Sie es vielleicht morgen mit Milch versuchen, auch ohne sich der Tatsache bewusst zu werden, dass Sie heute Saft getrunken haben. Man kann triftige Gründe für die unbewusste Repräsentation habituierter Reize vorbringen,für Erinnerungen vor und nach dem Abruf aus dem Gedächtnis, für automatische Fertigkeiten, für implizites Lernen, für die Regeln der Syntax, für einen Sprechvorgang, auf den man seine Aufmerksamkeit nicht richtet, für vorher angenommenes Wissen, für die vorbewusste Verarbeitung von Inputs und für viele andere Phänomene. Bei einigen dieser Fälle gibt es unter Forschern immer noch eine Diskussion über die Einzelheiten, aber es gibt eine allgemeine Übereinstimmung darin,dass man bei einer angemessenen Befundlage auf unbewusste Repräsentationen schließen kann. Entscheidend dabei ist, sowohl bewusste als auch unbewusste Repräsentationen als Konstrukte zu begreifen,auf die geschlossen wurde; denn nur dann können wir Bewusstsein als eine Variable behandeln, sodass wir über Bewusstsein als solches sprechen können.Wie bei Newtons Schwerkraft können wir einen Zustand mit seiner Abwesenheit vergleichen. Dies ist etwas abstrakter als die vertraute experimentelle Methode, weil wir hier zwei erschlossene Entitäten und nicht zwei unmittelbare Beob-
14. 15. 16. 17. 18.
Implizite Kognition Langzeitgedächtnis Routinemäßige, vorhersagbare und nicht bedeutsame Reize Input, auf den sich die Aufmerksamkeit nicht richtet Randereignisse (z.B. Vertrautes) Prozedurales Gedächtnis Subliminale Stimulation Spontane/automatische Prozesse Wissen Nicht verfügbare Information Automatische Kontrolle Implizit gelernte Strukturen Läsionen an der Formatio reticularis und bilateral an den intralaminaren Kernen Nicht im Arbeitsgedächtnis wiederholtes Item Tiefschlaf, Koma, Sedierung Automatische Schlussfolgerungen Semantisches Gedächtnis Noetisches Gedächtnis
achtungen miteinander vergleichen. Aber der Grundsatz, nach dem das Bewusstsein als eine Variable behandelt wird,die untersucht werden muss,bleibt der gleiche.Es ist nützlich, eine Art von Taxonomie zu bilden, bei der als erster Schritt bei der wissenschaftlichen Analyse dieser Phänomene einige Ereignisse mit Bewusstsein in Verbindung gebracht werden und einige mit Nichtbewusstsein. In ⊡ Tabelle 5.1 werden psychologische Charakteristika als Grundlage für die Unterscheidung, aber auch als Ausgangspunkt für die empirische Forschung in das eine oder das andere Lager eingeordnet. Als allgemeine Leitlinie zum Aufbau eines Rahmens für die wissenschaftliche Untersuchung des Bewusstseins gehen die folgenden drei Kategorien auf Pinkers Taxonomie zurück und werden hier in einer überarbeiteten Fassung dargestellt: ▬ Bewusstsein als subjektive Empfindung. Der Begriff subjektive Empfindung (engl. sentience) bezieht sich auf die bewusste subjektive Erfahrung oder auf die persönliche Bewusstheit. Man kann sich dies als »unverarbeitete Gefühle« vorstellen oder als Vorstellung davon, wie es sein wird, so zu sein oder etwas zu machen. ▬ Zugang zu Informationen. Wenn man Sie danach fragte,was Sie jetzt gerade denken,könnten Sie antworten,
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Kapitel 5 · Bewusstsein
welches Ihre stillen Gedanken in diesem Augenblick gerade sind,was Sie an diesem Tag vorhaben oder dass Ihr linkes Knie Ihnen große Sorgen bereitet. ▬ Selbstwissen. Man kann sich Bewusstsein als die Fähigkeit vorstellen,mit seinen eigenen unverarbeiteten Gefühlen umzugehen, als den eigenen Zugang zu Informationen und als die Fähigkeit, innere Repräsentationen von der Welt aufzubauen, in denen das eigene Selbst enthalten ist. Jeder von uns hat ein bewusstes Konstrukt dessen, was es ist, »ich« zu sein. Eine solche Konstruktion kann völlig außerhalb der Realität liegen, wie dies auf die Fantasien eines Walter Mitty in James Thurbers Geschichte über einen unverbesserlichen Tagträumer zutrifft (auf dem Broadway und im Film amüsanterweise von Danny Kaye dargestellt), der sich nicht entscheiden konnte, ob er ein heldenhafter Flieger oder ein berühmter Chirurg werden sollte. Unser Bewusstsein enthält unser Selbstkonzept.
5.3.1 Begrenzte Kapazität Viele Psychologen haben auf die Begrenzungen der bewussten Kapazität von einem Moment zum anderen hingewiesen. In jedem bewussten Augenblick neigen wir dazu,uns nicht nur einer einzelnen Sache bewusst zu sein, beispielsweise einer Szene, einer Absicht oder eines Tagtraums.Im Alltag wissen wir,dass wir nicht zwei Dinge auf einmal tun können, wie etwa ein intensives Gespräch führen und ein Auto durch den Berufsverkehr lenken. Wenn eine der Aufgaben nicht viel bewusste Beteiligung erfordert, können wir wahrscheinlich zwei Aktivitäten gleichzeitig ausführen, indem wir schnell zwischen den beiden Aufgaben hin und her wechseln. Die Anzahl und die Verweildauer der Items, die gegenwärtig im Arbeitsgedächtnis wiederholt werden, sind ähnlich begrenzt. Traditionellerweise sprechen wir von etwa sieben plus/minus zwei Wörtern oder Zahlen im Kurzzeitgedächtnis, aber diese Zahl fällt auf drei oder vier ab, wenn wir nicht in der Lage sind, sie zu wiederholen. Entsprechend können intentionale (kontrollierte) Handlungen nur dann seriell oder eine nach der anderen ausgeführt werden, wenn automatische Prozesse gleichzeitig ablaufen können (LaBerge, 1980). In genau untersuchten Situationen mit zwei Aufgaben interferieren bewusst kontrollierte Aufgaben miteinander, was zu Fehlern und zu zeitlichen Verzögerungen führt. Wenn jedoch eine der beiden Aufgaben durch Übung automati-
Zu viele Menschen versuchen durch eine enge Tür zu kommen! Aus der Flut sensorischer Umwelteindrücke können nur wenige gleichzeitig verarbeitet werden
siert wird, nimmt die Interferenz ab und kann sogar vollständig verschwinden.
5.3.2 Die Metapher der Neuartigkeit In einer Denkrichtung zum Thema Bewusstsein wird behauptet, dass sich das Bewusstsein auf Neuartigkeit konzentriert – oder auf eine Art von »Antigewohnheit«, bei der unsere Erwartungen und die Realität nicht zusammenpassen (Mandler, 1984). Es gibt viele empirische Hinweise darauf, dass Menschen und Tiere nach einer neuartigen und informativen Stimulation suchen.Das Bewusstsein scheint eine Vorliebe für »Neuigkeiten« zu haben. Sich wiederholende, vorhersagbare, »alte« Reize werden gewöhnlich unabhängig von ihrer sensorischen Modalität, vom Ausmaß der Abstraktheit oder von der physikalischen Intensität aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Neuartigkeit kann als Veränderung im Hinblick auf die physikalische Umwelt (Dishabituation), als Nichtbestätigung der Erwartung (Überraschung) oder als Verletzung eingeübter Routinen (Punkte der Entscheidung in dem ansonsten routinemäßigen Fluss der Handlung) definiert werden. Die Neuartigkeitsmetapher verdeutlicht eine zentrale Funktion des Bewusstseins – seine Fähigkeit, Ressourcen auf die Adaptierung neuartiger und bedeutsamer Ereignisse zu lenken. In der Sprache von Piaget spielt Bewusstsein eher eine Rolle, wenn wir auf uner-
143 5.3 · Bewusstseins als wissenschaftliches Konstrukt
wartete Ereignisse akkommodieren müssen, als wenn wir vorhersagbare Ereignisse bereitwillig assimilieren. Die Neuartigkeitshypothese reicht jedoch offensichtlich nicht aus. Wir können uns der Routineangelegenheiten bewusst sein,wenn sie persönlich oder biologisch (beispielsweise in Bezug auf unser sich wiederholendes Essbedürfnis) wichtig genug sind, ohne habituiert oder langweilig zu werden.
5.3.4 Der Scheinwerfer Eine sehr alte Redewendung,die es in vielen Sprachen gibt, betrachtet das Bewusstsein als etwas,das ein Licht auf Dinge wirft,um das eigene Verständnis dafür zu klären und zu erhellen (»Oh, ich verstehe!«). Das Bild vom Licht-auf-etwas-Werfen wird schon bei Plato erörtert. Die Metapher des Lichtkegels oder des Scheinwerfers ist unsere moderne Art, diese Gedanken zum Ausdruck zu bringen ( siehe beispielsweise Lindsay und Normen 1977; Crick, 1984). Es handelt sich um eine attraktive Metapher, die in einem einzelnen Bild Folgendes enthält: die selektive Funktion des Bewusstseins und den Fluss bewusster Inhalte über zahlreiche Bereiche des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, der Vorstellung,des Gedankens und der Handlung.Cricks neurobiologische Variante hält auch das fest,was über den thalamokortikalen Komplex bekannt ist – die Tatsache also, dass der Thalamus, der es sich wie ein Ei wie im Kokon der beiden Hemisphären gemütlich gemacht hat, fast wie ein Miniaturgehirn innerhalb des Gehirns Punkt für Punkt auf die entsprechenden Teile des zerebralen Kortex abbildet.
Den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit kann man sich so vorstellen, als leuchtete er vom Thalamus aus auf die entsprechenden Regionen des Kortex. Es muss von einiger Bedeutung sein, dass der Thalamus aus zwei Kernen besteht (aus dem retikulären und dem interlaminaren),deren Verletzung das Bewusstsein in einzigartiger Weise zerstört. Kortikale Läsionen dagegen zerstören nur den Inhalt des Bewusstseins, nicht das Bewusstsein selbst. Cricks thalamokortikaler Scheinwerfer ist ein elegantes Bild und ein Bild, das sich vielleicht erst noch als wahr herausstellen wird. Sowohl psychologische als auch neurobiologische Scheinwerfertheorien müssen sich mit zwei unbeantworteten Fragen auseinander setzen: (1) Wie wird der spezielle Fokus ausgewählt? Das heißt:Was bestimmt darüber,ob der Lichtkegel auf diesen Inhalt bzw. kortikalen Bereich leuchtet und nicht auf einen anderen? (2) Was geschieht mit dieser Information, wenn sie erst einmal dazu ausgesucht worden ist, im Fokus zu stehen? Was bedeutet es für diesen Inhalt,bewusst zu sein? Wird er an ein Selbstsystem übermittelt, wie es die Metapher von der Exekutive nahe legt? Wird er an motorische Systeme weitergeleitet, um sie auf willkürliche Handlungen vorzubereiten? Oder an semantische Prozessoren,die die Bedeutung des Ereignisses enkodieren? Man kann sich einen wirklich vorhandenen Scheinwerfer vorstellen, wie er in voller Dunkelheit wirkt, sodass man das Licht und sein Ziel sehen kann, aber nicht die Menschen, die ihn auf das Ziel hin steuern, oder das Publikum, das all dies betrachtet. Was geschieht in diesen dunklen Räumen? Wenn wir diese Fragen nicht beantworten, fehlt es der Metapher an etwas Wesentlichem. Die Theatermetapher versucht eine Antwort darauf zu geben.
5.3.5 Eine Integrationsmetapher:
Das Theater in Mentopolis 1 Die Theatermetapher setzt die bewusste Erfahrung mit der hell beleuchteten Bühne vor einem abgedunkelten Auditorium gleich. Was immer sich auf der Bühne abspielt, wird von einem größeren Publikum wahrgenommen,aber auch von der Regisseurin, dem Autor, der Kostümbildnerin und den Bühnenarbeitern hinter der Szenerie. Der Fokus dieser Metapher liegt auf der Öffentlichkeitsfunktion in einem riesigen Feld spezialisierter Systeme, zu denen Die Metapher des Scheinwerfers für selektive Aufmerksamkeit und Bewusstsein
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Hier handelt es sich um eine Anspielung auf Marvin Minskys Buch Society of Mind, das auf Deutsch Mentopolis heißt.
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Kapitel 5 · Bewusstsein
Ein kartesisches Theater des Bewusstseins
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auch das Publikum gehört. Ereignisse auf der Bühne haben eine besondere Priorität; sie werden für alle Zuhörer im Publikum verfügbar gemacht. Dennett und Kinsbourne (1992) haben eine besondere Variante dieser Metapher kritisiert, die sie als kartesisches Theater bezeichnen, »einen einzelnen Ort im Gehirn, in dem alles zusammenkommt« – ganz so wie in der winzigen, zentral lokalisierten Zirbeldrüse bei Descartes nach seiner Beschreibung des Gehirns. Das klingt jedoch ein wenig so, als wolle man die Aufmerksamkeit von den eigentlich wichtigen Fragen ablenken. In einem neueren Modell wird vorgeschlagen, dass man bewusste Inhalte an einem einzelnen winzigen Punkt finden könne, der Ziellinie miteinander im Wettbewerb stehender potenzieller Inhalte. Es gibt viele andere Methoden, um mehrere Informationsquellen zusammenzubringen, z.B. indem man die Dutzende von Wahrnehmungskarten im Nervensystem miteinander kombiniert. Der Thalamus könnte in einer idealen Situation sein, um das zu bewerkstelligen. Moderne Theatermetaphern umgehen dieses kartesianische Paradox. In neueren Versionen wird Bewusstsein nicht an irgendeinem einzelnen Ort lokalisiert. Vielmehr sind die Bewusstseinsinhalte das,was über das gesamte Gehirn hinweg verbreitet wird (Newman & Baars, 1993). Die Kombination der Metaphern zu einer einzelnen, in sich stimmigen Theorie. Wir können alle Metaphern in
eine einzelne integrierte »Supermetapher« kombinieren. Das Theater kann man sich optisch so vorstellen, dass es
einzelne nützliche Aspekte enthält: die Schwelle, den Scheinwerfer, die Neuartigkeit und die Auffassungen von der Exekutive. In dem Maße, wie eine derartige Supermetapher an Einzelheiten gewinnt,kann sie die Merkmale einer genuinen Theorie annehmen. Die theoretischen Vorschläge, die weiter unten dargestellt sind, können als Schritte in diese Richtung verstanden werden. In dem Maße, in dem das Bewusstsein an wissenschaftlichem Ansehen gewinnt, und mit der Anzahl der sorgfältig geplanten experimentellen Untersuchungen sowohl von physiologischer als auch von psychologischer Seite war es an der Zeit, dass ein Modell aus der Taufe gehoben wurde, das die Befunde zum Bewusstsein zusammenfasst.Wir werden jetzt mehrere davon besprechen.
5.4
Moderne Bewusstseinstheorien
Allmählich ist jetzt eine kleine Gruppe von frühen Theorien zu erkennen, die darauf abzielen, eine Reihe von Aspekten bewusster Erfahrung zu erklären.
5.4.1 Schacters Modell unvereinbarer Inter-
aktionen und bewusster Erfahrung Immer neue Befunde im Hinblick darauf, dass die Verarbeitung neuropsychologisch vom Bewusstsein losgelöst ist, speziell Befunde zu implizitem Gedächtnis und Ano-
145 5.4 · Moderne Bewusstseinstheorien
sognosie (fehlende Bewusstheit von den eigenen kognitiven Defiziten) veranlasste Schacter dazu, sein Modell der unvereinbaren Interaktionen und der bewussten Erfahrung vorzuschlagen (abgekürzt DICE: Dissociable Interactions and Conscious Experience). »Der Grundgedanke, der zu diesem Modell geführt hat … ist Folgender: Die Prozesse, die bewusste Identifizierung und bewusstes Erkennen vermitteln – also die phänomenale Bewusstheit in unterschiedlichen Bereichen –, sollten deutlich von den modularen Systemen unterschieden werden,die aufgrund linguistischer, perzeptiver und anderer Arten von In formationen funktionieren« (Schacter,1990,S.160–161).In ⊡ Abb. 5.5 sind die grundlegenden Komponenten von DICE dargestellt. Wenn Informationen verarbeitet werden,werden nach diesem Modell die Systeme oder Module verändert und es bleibt ein Wahrnehmungsrest zurück – eine Art von Engramm im Gehirn. Schacter (1996) definiert Engramme als »die vorübergehenden oder andauernden Veränderungen in unserem Gehirn, die das Ergebnis von Enkodierung und Erfahrung sind« (Schacter, 1996, S. 58). Die Nervenzellen im Gehirn zeichnen ein Ereignis dadurch auf, dass die Verbindungen zwischen Gruppen von Nervenzellen, die an der Enkodierung der Ereignisse beteiligt
sind, gestärkt werden. Unterschiedliche Teile des Gehirns spezialisieren sich auf unterschiedliche Arten sensorischer Ereignisse.Beispielsweise ist der Okzipitallappen an den visuellen Erfahrungen beteiligt,der auditorische Kortex an der Verarbeitung von Tönen usw., wie dies in Kapitel 2 beschrieben wurde. Jede Erinnerung geht damit einher,dass Millionen von Nervenzellen aktiviert sind und sich Tausende von Engrammen in Ihrem Gehirn bilden. Zum größten Teil können diese Erinnerungen und Assoziationen, die brachliegen, aktiviert und in verblüffend kurzer Zeit ins aktive Bewusstsein gebracht werden.Wenn Sie z.B.nach der Kleidung gefragt werden, die Sie gestern getragen haben, können Sie innerhalb von Sekunden ein zuvor latentes Engramm aktivieren. Diese unbewusste Gedächtnisspur könnte andernfalls ein Leben lang inaktiv bleiben. Oder wenn Sie gebeten werden, sich an den Namen Ihres Klassenlehrers aus der fünften Klasse zu erinnern, wird Ihnen dieser Name innerhalb eines kurzen Augenblicks bewusst. (Noch bemerkenswerter ist, dass Sie mit großer Wahrscheinlichkeit den Namen Ihres Klassenlehrers sogar, wenn Sie sich nicht an ihn erinnern können, möglicherweise schlicht dadurch schneller erkennen, dass Ihnen die Frage gestellt wird!)
⊡ Abb. 5.5. Eine schematische Darstellung des DICE-Modells (Dissociable Interactions and Conscious Experience model): Modell der
unvereinbaren Interaktionen und der bewussten Erfahrung (von Schacter, 1987)
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146
5
Kapitel 5 · Bewusstsein
In Schacters DICE-Modell werden unabhängige Gedächtnismodule und ein Mangel an bewusstem Zugang zu den Einzelheiten des erfahrenen/prozeduralen Wissens angenommen.Das Modell wurde vor allem zu dem Zweck entworfen, Gedächtnisausfälle bei normal funktionierenden und geschädigten Gehirnen zu erklären. Mit Ausnahme von Koma- und Stuporpatienten sind Ausfälle an Bewusstheit bei neuropsychologischen Fällen gewöhnlich auf die beeinträchtigten Bereiche beschränkt.Es treten im Allgemeinen keine Schwierigkeiten dabei auf, einen bewussten Zugang zu anderen Wissensquellen zu bekommen. Patienten mit einer Amnesie haben gewöhnlich keine Probleme beim Lesen von Wörtern, während Personen mit einer Alexie nicht notwendigerweise Gedächtnisprobleme haben. Die implizite (nicht bewusste) Erinnerung an nicht verfügbares Wissen ist jedoch unter vielen Bedingungen demonstriert worden. Beispielsweise wird das Erkennen von Namen bei Patienten mit Prosopagnosie (also Patienten mit einem Hirnschaden, die Schwierigkeiten beim Erkennen von Gesichtern haben) dann verbessert, wenn die Darbietung des Namens mit der eines entsprechenden Gesichts einhergeht – auch wenn der Patient das Gesicht nicht bewusst erkennt. Es sind zahlreiche Beispiele für implizites Wissen bei neuropsychologischen Patienten bekannt, die keinen absichtlichen, bewussten Zugang zu den Informationen haben (Milner & Rugg, 1992). Diese Befunde deuten auf eine kognitive Architektur hin, bei der unterschiedliche Wissensquellen getrennt voneinander ihre Funktion erfüllen, da sie selektiv verloren gehen können.Diese Wissensquellen sind für das Bewusstsein nicht zugänglich, auch wenn sie weiterhin Einfluss auf eine vom Willen gesteuerte Handlung haben. Durch DICE hat Schacter dem Gedanken zusätzlichen Auftrieb verliehen, dass es in einem System voneinander trennbarer Wissensquellen eine bewusste Fähigkeit gibt. Dadurch konnte er vor allem implizites Wissen erklären, das bei Patienten mit einem verheerenden Hirnschaden noch erhalten geblieben war. DICE zielt nicht darauf ab, die begrenzte Kapazität des Bewusstseins oder das Problem zu erklären, das unter potenziellen Inputs ausgewählt wird. Nach dem DICE-Modell besteht die primäre Rolle des Bewusstseins darin, unter der Kontrolle einer Exekutive das willentliche Handeln zu vermitteln. Die Details dieser Fähigkeiten werden jedoch nicht im Einzelnen ausgeführt und es werden auch keine anderen plausiblen Funktionen angesprochen.
5.4.2 Baar’s Theorie des globalen
Arbeitsraums Die Theatermetapher ist die beste Methode, sich Baar’s Theorie des globalen Arbeitsraums zu nähern (Baars,1983, 1988). Bewusstsein wird mit einem »globalen Sendesystem« in Verbindung gebracht, das Informationen breit gefächert im Gehirn verteilt.Wenn dies richtig ist,dann sind die bewussten Kapazitätsbegrenzungen möglicherweise der Preis, der für die Fähigkeit gezahlt werden muss, dass einzelne momentan vorhandene Botschaften dem gesamten System zum Zwecke der Koordination und Kontrolle zur Verfügung gestellt werden. Da es in jedem beliebigen Augenblick nur ein ganzes System gibt, nur eine globale Einrichtung zur Verbreitung von Informationen, muss dies auf einen momentan vorhandenen Inhalt begrenzt sein. (Es gibt Belege dafür, dass jeder einzelne bewusste Moment im Bereich von 100 Millisekunden, also im Bereich einer Zehntel Sekunde liegen könnte.) Baars entwickelte diese Gedanken über sieben, immer detaillierter werdende Modelle einer Architektur des globalen Arbeitsraums hinweg (⊡ Abb. 5.6); dabei interagieren viele parallele, unbewusste Experten über einen seriellen, bewussten und intern konsistenten globalen Arbeitsraum (oder über etwas funktionell Entsprechendes). Die Theorie des globalen Arbeitsraums beruht auf drei theoretischen Konstrukten: Expertenprozessoren, globaler Arbeitsraum und Kontexte. Das erste Konstrukt ist der spezialisierte unbewusste Prozessor,der Experte.Wir kennen Hunderte von Arten von Experten im Gehirn.Es kann sich um einzelne Zellen handeln wie etwa kortikale Merkmalsdetektoren für Farbe, Ausrichtung von Linien oder Gesichter, aber auch um ganze Netze und Systeme von Nervenzellen wie etwa kortikale Reihen,funktionelle Areale – wie etwa das Broca- oder das Wernicke-Areal –, große Kerne wie etwa der Locus coeruleus usw. Ebenso wie menschliche Experten können die unbewussten Expertenprozessoren manchmal etwas engstirnig sein. In be-
Bernard Baars. Entwickelte eine umfassende Theorie des Bewusstseins
147 5.4 · Moderne Bewusstseinstheorien
⊡ Abb. 5.6. Theorie des globalen Arbeitsraums bewusster und unbewusster Prozesse
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Kapitel 5 · Bewusstsein
grenzten Aufgabenbereichen sind sie extrem leistungsstark und in der Lage, unabhängig voneinander oder miteinander verbunden zu agieren. Wenn sie vereint zusammenarbeiten, unterliegen sie nicht den engen Kapazitätsbegrenzungen des Bewusstseins. Sie können globale Botschaften erhalten. Und wenn sie eine Koalition mit anderen Experten zustande bringen,sind sie möglicherweise in der Lage, einen Wahrnehmungsprozessor zu steuern, der ein mentales Bild,einen Satz der inneren Sprache oder sogar einen Wahrnehmungsinhalt im Bewusstsein platzieren kann.Bei den routinemäßigen Aufgaben können sie autonom ohne Beteiligung des Bewusstseins arbeiten oder sie können ihren Output im globalen Arbeitsraum anzeigen. Wenn man z.B. die Frage: »Wie lautet der Mädchenname deiner Mutter?« stellt, erfordert dies ein aufgabenspezifisches Bündnis unbewusster Experten, die ihre Antwort an das Bewusstsein weitergeben. Das zweite Konstrukt ist der globale Arbeitsraum selbst. Ein globaler Arbeitsraum ist eine auf die kognitive Architektur bezogene Fähigkeit zur systemweiten Integration und Verbreitung von Informationen. Ein globaler Arbeitsraum hat eine starke Ähnlichkeit mit dem Podium auf einer wissenschaftlichen Konferenz. Gruppen von Experten interagieren vielleicht lokal um einen Konferenztisch herum; aber um eine Veränderung zu bewirken, muss jeder Experte mit anderen, vielleicht unterstützt durch eine Koalition von Experten, in Wettbewerb treten, um das Podium zu erreichen, von dem aus globale Botschaften ausgesendet werden können. Neue Verbindungen zwischen Experten werden durch eine globale Interaktion über das Podium ermöglicht und können dann als Begleiterscheinung zu neuen lokalen Prozessoren werden. Das Podium gestattet es neuen Experten, Bündnisse zu schließen und an neuen oder schwierigen Problemen zu arbeiten, die nicht von etablierten Experten und Ausschüssen gelöst werden können. Probeweise Problemlösungen können dann global verbreitet, einer Kritik unterzogen und modifiziert werden. Die in ⊡ Abb. 5.6 dargestellte Argumentation trifft unter der Annahme zu, dass die Informationen im globalen Arbeitsraum den bewussten Inhalten entsprechen. Da die bewusste Erfahrung anscheinend von der Wahrnehmung her mit einem starken systematischen Fehler behaftet ist, ist leicht vorstellbar, dass Wahrnehmungsprozessoren – visuelle, auditorische oder multimodale – beim Zugang zu einer Gehirnvariante des globalen Arbeitsraums miteinander in Wettbewerb treten können. Aber perzeptive Inputsysteme können natürlich wiederum durch Bündnisse anderer Experten kon-
trolliert werden. Die abstrakte Architektur des globalen Arbeitsraums lässt sich eindeutig im Gehirn auf recht unterschiedliche Weise erkennen und wir wissen zurzeit nicht,welche Hirnstrukturen die besten Kandidaten dafür sind. Während im Moment die genauen Korrelate im Gehirn nicht klar sind,gibt es mögliche neuronale Analogien einschließlich der retikulären und interlaminaren Kerne des Thalamus, einer oder mehrerer Schichten des Kortex oder einer aktiven Schleife zwischen den sensorischen Projektionsfeldern des Kortex und den entsprechenden Relaiskernen des Thalamus. Wie andere Aspekte der Theorie des globalen Arbeitsraums auch sind derartige neuronale Kandidaten der Ausgangspunkt für überprüfbare Hypothesen (Newman & Baars, 1993). Kontext, das dritte Konstrukt in der Theorie des globalen Arbeitsraums,bezieht sich auf die Mächte hinter den Szenen des mentalen Theaters. Kontexte sind Bündnisse von Expertenprozessoren, die für den Regisseur, den Autor und die Bühnenarbeiter hinter den Szenen des mentalen Theaters stehen.Sie können funktional bestimmt werden als Strukturen, die bewusste Inhalte einschränken, ohne selbst bewusst zu sein, so wie der Autor die Wörter und Handlungen der Schauspieler auf der Bühne festlegt, ohne selbst sichtbar zu sein. Begrifflich werden Kontexte definiert als zuvor etablierte Expertenbündnisse, die globale Botschaften auslösen, formen und steuern können, ohne selbst im globalen Arbeitsraum aufzutauchen. Kontexte können etwas Momentanes sein, so wie die Bedeutung des ersten Wortes in einem Satz die Interpretation eines späteren Wortes formt. Sie können aber auch etwas lang Andauerndes sein wie die Erwartungen gegenüber Liebe,Schönheit,Beziehungen,Schicksal,Stolz und all den anderen Dingen, über die sich die Menschen Gedanken machen. Während Kontexteinflüsse die bewusste Erfahrung formen, ohne bewusst zu sein, können Kontexte durch bewusste Ereignisse bereitgestellt werden. Das Wort Tennis vor Satz formt die Interpretation von Satz, auch wenn Tennis bereits aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Aber Tennis war anfänglich bewusst und musste bewusst werden, um den unbewussten Kontext hervorzurufen, der das Wort Satz mit Sinn erfüllte. Somit können bewusste Ereignisse unbewusste Kontexte etablieren. Die Vorstellungen eines Lesers über Bewusstsein, die er vor Jahren gebildet hat, können seine momentane Erfahrung mit diesem Kapitel beeinflussen, auch wenn die Erinnerungen an die zurückliegenden Gedanken nicht wieder bewusst werden. Zurückliegende Erfahrungen beeinflussen typischerweise als Kontexte die momen-
149 5.5 · Funktionen des Bewusstseins
tanen Erfahrungen und werden nicht bewusst.Man nimmt beispielsweise an, dass ein schockierendes oder traumatisches Ereignis, das sich früher in Leben abgespielt hat, in starkem Maße zu unbewussten Erwartungen beitragen kann, die vielleicht anschließende Erfahrungen formen.
5.5
Funktionen des Bewusstseins
William James schrieb, dass »die Besonderheiten der Verteilung des Bewusstseins, insoweit wir sie kennen, darauf hinweisen, dass sie wirkungsvoll sind« (James, 1890/1983, Band I, S. 141–142). Wenn Bewusstsein eine wichtige biologische Anpassungsleistung ist, dann hat es möglicherweise eine Anzahl von Funktionen und nicht nur eine.Das Blut lässt Sauerstoff und Glukose zu allen Körperzellen zirkulieren, nimmt Abbauprodukte auf, stellt einen Kanal für Hormone dar, transportiert die weißen Blutzellen des Immunsystems, spielt eine Rolle bei der Temperaturregulation und vieles mehr. Grundlegenden biologischen Anpassungsleistungen fallen gewöhnlich mehrere Funktionen zu. Die empirischen Befunde legen zumindest die folgenden Funktionen der bewussten Erfahrung nahe: Die Funktion der Definition und Kontextsetzung. Indem
der globale Input zu den damit einhergehenden Kontextbedingungen in Beziehung gesetzt wird, agiert das dem Bewusstsein zugrunde liegende System mit dem Ziel, einen Reiz zu definieren und die Vieldeutigkeiten bei seiner Wahrnehmung und beim Verständnis zu verringern. Die Funktion der Anpassung und des Lernens. Je mehr Neuartiges vorhanden ist, an das sich das Nervensystem anpassen muss, desto mehr bewusste Beteiligung ist erforderlich, um erfolgreich zu lernen und Probleme zu lösen. Die Funktion der Prioritätensetzung und der Zugangskontrolle. Die Mechanismen der Aufmerksamkeit üben
eine selektive Kontrolle über das aus, was bewusst werden wird. Indem wir einige Ereignisse bewusst zu Zielen höherer Ordnung in Beziehung setzen,können wir ihre Priorität beim Zugang dadurch erhöhen, dass wir es häufiger bewusst machen und dann die Chancen für eine erfolgreiche Anpassung vergrößern. Wenn die Mediziner den Raucher davon überzeugen, dass der scheinbar unschädliche Akt des Anzündens einer Zigarette langfristig lebensbedrohlich ist, dann haben sie bei ihm die Vorausset-
zung dafür geschaffen,dass er sich des Rauchens verstärkt bewusst ist, und damit die Voraussetzung für eine kreativere Lösung dieses Problems. Mobilisierung und Kontrolle über mentale und körperliche Handlungen. Bewusste Ziele können Unterziele und
motorische Systeme mobilisieren, um willentliche Handlungen zu organisieren und auszuführen. Funktion des Fällens von Entscheidungen und Exekutivfunktion. Während der globale Arbeitsraum kein exekuti-
ves System ist, schafft der exekutive Zugang zum globalen Arbeitsraum die Möglichkeit,einen beliebigen Teil des Nervensystems zu kontrollieren.Dies zeigt sich in der außergewöhnlichen Vielfalt neuronaler Populationen,die durch bewusstes Biofeedback kontrolliert werden können. Wenn automatische Systeme nicht an jedem Entscheidungspunkt im Handlungsfluss zu Entscheidungen kommen können, so trägt die Bewusstheit für einen Entscheidungspunkt doch dazu bei,Wissensquellen zu mobilisieren, die uns mit dazu befähigen, die angemessene Entscheidung zu treffen. Bei einer ausbleibenden Entscheidung können wir uns ein Ziel bewusst machen,um eine breit gestreute Mobilisierung bewusster und unbewusster Ressourcen zuzulassen, die in Richtung auf oder gegen das Ziel wirken. Funktion des Aufdeckens und des Überwachens von Fehlern. Bewusste Ziele und Pläne werden von unbewuss-
ten Regelsystemen überwacht, die, wenn Fehler entdeckt werden, eingreifen werden, um die Ausführung zu unterbrechen. Obwohl wir uns auf allgemeine Weise bewusst werden, Fehler zu machen, ist die detaillierte Beschreibung dessen, was einen Fehler zum Fehler macht, fast immer etwas Unbewusstes. Funktion der Reflexion und der Selbstüberwachung. Mit
Hilfe des bewussten inneren Sprechens und des Vorstellungsvermögens können wir über unsere bewusste und unbewusste Funktionsweise reflektieren und sie in gewisser Weise steuern. Die Optimierung des Kompromisses zwischen Organisation und Flexibilität. Automatisierte, »vorgefertigte«
Reaktionen sind stark an vorhersagbare Situationen angepasst. Ist man jedoch mit in hohem Maße unvorhersagbaren Bedingungen konfrontiert, ist die Fähigkeit des Bewusstseins, spezialisierte Wissensquellen zu mobilisieren und neu zusammenzustellen, unerlässlich.
5
150
Kapitel 5 · Bewusstsein
Zusammenfassung: Das Bewusstsein scheint der hauptsächliche Prozess zu sein, mit dessen Hilfe sich das Nervensystem an neuartige, herausfordernde und informative Ereignisse in der Welt anpasst. Eine große Menge solider empirischer Befunde trägt dazu bei,allmählich die Rolle des Bewusstseins im Nervensystem zumindest in grob skizzierter Form aufzudecken. Die bewusste Erfahrung scheint mehrere voneinander unabhängige Wissensquellen zu schaffen und zugänglich zu machen. Während die Organisation in sich stimmiger Perzepte und die Kon-
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trolle über neuartige, vom Willen gesteuerte Handlungen das Hauptsächliche in der phylogenetischen Evolution des Bewusstseins gewesen sein mögen,so scheint es doch auch andere Funktionen angenommen zu haben, die unserer Auffassung nach zum adaptiven Handeln in einer komplexen Welt beitragen (wie etwa die Selbstüberwachung und die Selbstreflexion, die symbolische Repräsentation der Erfahrung, die Kontrolle über neuartige Handlungen und die mentale Probehandlung).
Zusammenfassung 1. Bewusstsein ist die Bewusstheit für umweltbezogene und innere kognitive Ereignisse. 2. Die Beschäftigung des Menschen mit dem Bewusstsein ist so alt wie die Menschheit, aber die wissenschaftliche Untersuchung des Bewusstseins hat nur eine Geschichte von etwa 100 Jahren. 3. Das Thema Bewusstsein hängt mit philosophischen Themen zusammen und dazu gehört das Leib-SeeleProblem. 4. Zwei Forschungsstränge haben das Bewusstsein wieder zu einem legitimen kognitiven Thema gemacht: die Forschung über das implizite Gedächtnis und physiologische Untersuchungen zum Hippocampus und zu Patienten mit Amnesien. 5. Die Untersuchung des Bewusstseins und unbewusster Phänomene lässt sich in zwei Gruppen von Themen einteilen: In der bewussten Gruppe finden wir die explizite Kognition, die unmittelbare Erinnerung, neuartige Reize, das deklarative Gedächtnis, das Erinnern, die angestrengte Verarbeitung usw., während wir in der unbewussten Gruppe die implizite Kogni-
Schlüsselbegriffe ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Bewusstsein Empfindungsvermögen explizites Gedächtnis implizites Gedächtnis REM-Schlaf (REM: rapid eye movement) subliminales Priming Wahrnehmungsschwelle
6.
7.
8.
9.
tion finden, das Langzeitgedächtnis, das prozedurale Gedächtnis, die subliminale Stimulation, das Wissen, die automatische Verarbeitung, das semantische Gedächtnis usw. Bewusstsein lässt sich als ein wissenschaftliches Konstrukt behandeln, das es uns erlaubt, valide Experimente zu diesem Thema durchzuführen. Bewusstsein ist in seiner Geschichte im Sinne einer Aktivierungsschwelle, einer Neuartigkeitsmetapher, eines Scheinwerfers und im Sinne einer integrierten Metapher behandelt worden. Die heute einflussreichsten Modelle des Bewusstseins sind Schacters DICE-Modell und Baars Modell des globalen Arbeitsraums. Zu den Funktionen des Bewusstseins gehören definierende Eigenschaften, Anpassung, Prioritätensetzung bei Informationen, Kontrolle über Handlungen, Fällen einer Entscheidung, Überwachungsfunktionen, Selbstüberwachungsfunktionen, Management der inneren Organisation und Flexibilität.
Literaturempfehlungen In der Datenbank zum Thema Bewusstsein finden sich mehr als 10 000 Einträge. Deswegen sollten interessierte Leser dafür sorgen, dass sie länger leben, damit sie die Literatur durchforsten können.Meine Aufgabe ist es,die Anzahl der Quellen auf eine handhabbare Menge zu verringern. Das geht natürlich auf Kosten einiger ausgezeichneter Nachschlagewerke. Ich kann einige allgemeine Werke empfehlen und dazu gehören ein neues Buch von Baars,In the Theater of Consciousness: The Workspace of the Mind,
151 5.5 · Funktionen des Bewusstseins
und ein weiteres Buch von Dennett, Consciousness Explained. Auch ein etwas früher erschienenes Buch von Baars, A Cognitive Theory of Consciousness, ist empfehlenswert. Einige theoretischere Quellen sind The Cognitive Neurosciences (Gazzaniga, Hrsg.), vor allem Abschnitt XI, »Consciousness«, der von Daniel Schacter als Mitherausgeber betreut wurde.Francis Crick,ein Nobelpreisträger,hat The Astonishing Hypothesis: The Scientific Search for the Soul geschrieben – ein Buch, das auch die schläfrigsten Hirnzellen aufwecken wird.Es gibt bei weitem zu viele gute Kapitel und Artikel von ausgezeichneten Wissenschaftlern, die auf diesem Gebiet gearbeitet haben, als dass sie hier
aufgelistet werden könnten. Aber ich würde hier gern die Arbeiten von Kinsborne, Searle (als Vertreter einer konträren Auffassung), Churchland (sowohl Patricia als auch Paul), Weiskrantz, Moscovitch, Squire und Schacter aufführen.Schließlich werden Sie in einem Buch,das von Solso herausgegeben wurde, Mind and Brain Sciences in the 21st Century, eine Sammlung der Beiträge von herausragenden Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts finden wie etwa die von Carl Sagan, Endel Tulving, Edward Smith, Karl Pribram,Henry Roediger III,Michael Gazzaniga,Bernard Baars, Michael Posner, Richard Thompson und anderen, bei denen Bewusstsein ein zentrales Thema ist.
5
III
Gedächtnis 6
Mnemotechniken und Experten
7
Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
8
Gedächtnis – Theorien und Neurokognition – 211
– 155 – 179
6 Mnemotechniken und Experten 6.1
Mnemotechnische Systeme –157
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6
Loci-Methode –158 Hakenwortsystem –159 Schlüsselwortmethode –159 Organisationsschemata –161 Abruf von Namen aus dem Gedächtnis –164 Abruf von Wörtern aus dem Gedächtnis –165
6.2
Ein außerordentliches Gedächtnis –165
6.2.1 S.: Luria –166 6.2.2 V.P., der Mann mit dem außergewöhnlichen Gedächtnis: Hunt und Love –168 6.2.3 Andere Personen mit außergewöhnlichem Gedächtnis –170
6.3
Experten und Expertise –171
6.3.1 H.O.: Fallstudie über einen Künstler – Solso sowie Miall und Tchalenko –172 6.3.2 Die Struktur des Wissens und der Expertise –176 6.3.3 Theoretische Analyse der Expertise –176
156
Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
Anregungen vorab 1. Haben Sie sich schon einmal ein System von Gedächtnisstützen ausgedacht oder es verwendet (wie etwa für das Erinnern von Tonarten: für die #-Tonarten G D A E H Fis: Geh du alter Esel, hol’ Fische!)? Worin bestand es? Hatte es eine Wirkung? Warum glauben Sie, dass es den Abruf aus dem Gedächtnis verbessert haben könnte? 2. Welches sind einige verbreitete Systeme von Mnemotechniken und warum funktionieren sie? 3. Nennen Sie einige Menschen, die ein außergewöhnliches Gedächtnis haben. 4. Worin bestehen die charakteristischen Eigenschaften von Experten? 5. Welche neurologischen und psychologischen Maße wurden beim Künstler H.O. erfasst? 6. Durch welche Prinzipien lässt sich ein trainiertes Gedächtnis mit Bezug auf das Langzeitgedächtnis erklären?
6
Unsere Zivilisation hat immer schon Respekt vor außergewöhnlichen Einzelpersonen gehabt, deren Leistungen im Sport, in der Kunst und in der Wissenschaft weit über denen der übrigen Bevölkerung lag. Ericsson, Krampe und Tesch-Römer
Seit langem beschäftigen sich die Menschen mit dem Gedächtnis und suchen nach Mitteln und Wegen, um es zu verbessern – und dies aus gutem Grund. Erfolg, wie er gewöhnlich im Bereich des Wirtschaftslebens, des Rechts, der Medizin, der Schule, der Musik, des Sports und der interpersonalen Beziehungen definiert wird, hängt in hohem Maße von der Fähigkeit ab, sich an spezielle Informationen zu erinnern.Viele Menschen haben sich ein Vermögen damit verdient,dass wir meinen,unser Gedächtnis lasse nach. Dies schafften sie, indem sie Gedächtniskurse und Bücher vermarkteten, in denen versprochen wird, dass das Gedächtnis in wenigen »einfachen Lektionen« verbessert wird. Wir werden hier auf einige dieser Systeme eingehen.
Memory auf der Landkarte Meine Familie setzte sich früher wie viele andere nach dem Abendessen zusammen, um ein Brettspiel zu spielen oder einer anderem schlichten Vergnügung nachzugehen – das war in den Tagen, bevor wir von geistlosen Fernsehprogrammen,dem Internet oder dem Fußball wie besessen waren. Eines unserer »Lowtech«-Spiele wurde wie folgt gespielt: Die Karten eines gewöhnlichen Spielkartenstapels wurden mit der Rückseite nach oben auf dem Tisch ausgebreitet. Die Aufgabe der Spieler bestand darin,zwei Karten aufzudecken,die einander entsprechen mussten. Der Trick bestand darin, dass die Bilder dieser
Karten zueinander passen mussten. Wenn man zum Beispiel einen König aufnahm und dann einen weiteren König fand, konnte man diese Karten aus dem Spiel herausnehmen, bis es einem nicht mehr gelang, eine entsprechende weitere Karte zu finden. – Sie kennen das Spiel als »Memory«. Je weiter das Spiel fortschreitet, desto leichter wird es, denn die Anzahl der auf dem Tisch verbleibenden Karten nimmt ab (wodurch die statistische Erfolgswahrscheinlichkeit größer wird) und die Vertrautheit des Spielers mit den zuvor aufgedeckten Karten nimmt zu. Meine Mutter war in diesem Spiel eine Könnerin (wie in allen möglichen Arten von mathematisch und verbal geprägten Spielen). Meine Kinder sind ziemlich gut, aber ich (und beruflich beschäftige ich mich hauptsächlich mit dem Gedächtnis!) wurde gewöhnlich Letzter und ärgerte mich darüber. Als ich wieder einmal als bemitleidenswerter Verlierer aus einem Spiel hervorging, dachte ich mir ein Schema aus. Damit konnte ich bei diesen Spielen zumindest eine Bronzemedaille gewinnen. Und es handelte sich um meinen ersten Versuch, theoretisches Wissen über das Gedächtnis in klingende Münze zu verwandeln. Mein Gedächtnistrick oder »mnemotechnisches System« beruhte auf folgendem Gedanken: Die Erinnerung an Items,Personen,Exemplare,Einheiten,Zahlen,Wörter, Daten, Karten oder andere verstreute Mosaiksteine von Informationen lässt sich verbessern, wenn die Informa-
157 6.1 · Mnemotechnische Systeme
tionen in einem Netz organisiert werden, das genau auf diesen Zweck abgestimmt ist. Ich brauchte also ein auf das Memory-Spiel abgestimmtes Netz oder eine leicht zu erlernende Gedächtnishilfe. Ein funktionierendes System, das zumindest besser war als das Auswendiglernen von Karten und ihrer Lage, sollte zwei Funktionen haben: ▬ Es sollte die Anordnung der Karten so visualisieren,als hätte man sie auf eine Landkarte der USA gelegt, deren Geographie ich gut kenne. ▬ Es sollte außerdem die einzelnen Karten nach ihrer Zugehörigkeit zu Klassen sortieren. So ergaben die Karten mit Gesichtern (König, Dame, Bube) eine Gruppe,die sich durch die Bilder,den Rang und die Farbe voneinander unterschieden. Die Asse bildeten ebenfalls eine Gruppe.Weil sie besonders auffielen,erwies sich ihre Andersartigkeit als besonders einprägsam (ein Phänomen,dass man als Von-Restorff-Effekt bezeichnet). Die 5er- und 10er-Karten bildeten eine weitere Kategorie; die 7er waren Glückskarten und der Rest wurde grob in kleine (2, 3, 4) und große Karten (6, 8, 9) eingeteilt. Wenn nun zum Beispiel eine 9 im oberen rechten Quadranten aufgedeckt wurde, dann stellte ich sie mir als »einen frechen 9er aus New York« vor, und wenn eine weitere 9 oben links zum Vorschein kam,dann handelte es sich um »einen ›Forty-niner‹ aus Kalifornien« (dazu muss man natürlich wissen, dass 1849 der Beginn des Goldrausches in San Francisco war). Ein As in der Mitte, aus Nebraska, war eine »›As‹-Football-Mannschaft« und die dazu passende Karte aus dem benachbarten Kansas »eine weitere ‚As‘Mannschaft«.Auf eine deutsche Landkarte bezogen hätten meine Assoziation folgende sein können: Eine 4 im linken mittleren Tischabschnitt hätte für mich ausgesehen wie eine 4 im Ruhrgebiet und ich hätte an Schalke 04 gedacht. Eine weitere 4 in der rechten oberen Tischhälfte hätte mich an Berlin und die frühere Aufteilung in 4 Sektoren denken lassen. Wie gut funktionierte das Schema? Sie würden diese Zeilen wahrscheinlich nicht lesen, wenn ich keinen Erfolg damit gehabt hätte.War es vollkommen? Nein,aber weil es mir auf der Grundlage einer assoziativen Geographie einen kleinen Vorteil verschaffte, war es (zumindest für mich) besser als hirnloses Auswendiglernen. Dieser »Anschlag des Trickkartenspielers« ist nur ein Beispiel dafür, dass viele von uns Gedächtnishilfen dazu nutzen, die Gedächtniskapazität zu verbessern. All diese Organisationsschemata werden so rasch und auf so na-
türliche Weise genutzt, dass sich der Anwender dessen nicht bewusst ist. Lassen Sie uns auf einige dieser Techniken und die kognitiven Prinzipien, die sie veranschaulichen, näher eingehen. Eine Mnemotechnik oder Gedächtnishilfe ist eine Technik bzw. ein Verfahren (etwa ein Reim oder ein Bild), bei dem vertraute Assoziationen dazu verwendet werden, die Speicherung von Informationen und deren Abruf aus dem Gedächtnis zu verbessern. In dieser Definition sind drei wichtige Bestandteile enthalten: 1. die Verwendung vertrauter Assoziationen 2. die Speicherung oder Kodierung von Informationen 3. die Erinnerung an Informationen,die gespeichert sind Die Erfolg versprechendsten Techniken unterstützen uns in allen drei Bereichen. Wir werden in diesem Kapitel einen Überblick über einige der gebräuchlichsten Mnemotechniken geben, dann die geistigen Fähigkeiten, die mit der mnemotechnischen Aktivität einhergehen, erörtern und schließlich einige Beispiele von Personen mit einem außerordentlichen Gedächtnis beschreiben. Das Kapitel endet mit einem Überblick zum Thema Experten – jenen Menschen also, die auf bestimmten Gebieten eine außerordentliche Fähigkeit besitzen.
6.1
Mnemotechnische Systeme
Es gibt Dutzende von Hilfen, die das Gedächtnis stützen (oder in einigen Fällen ersetzen): Reden werden normalerweise mit Hilfe von Notizen gehalten. Fernsehansager benutzen einen Teleprompter. Mit Hilfe visueller Registerkarten holen sich Verkäufer Waren aus dem Lager.Ärzte überprüfen Symptome mit Hilfe von Handbüchern und Schüler schreiben sich sogar »Spickzettel«. Im antiken Athen und Rom benutzten Redner eine Technik, die als Loci-Methode bezeichnet wird. Religiöse Menschen verwenden Rosenkränze und Gebetsmühlen dazu, die Gebete leichter so aufsagen zu können, wie es den religiösen Geboten entspricht. Generationen von amerikanischen Indianern haben ihre Rituale und ihre Philosophie durch Geschichten weitergegeben, die nur im Gedächtnis existierten. Und die mündlich überlieferte Geschichte eines Volkes wird in zahlreichen Gruppen durch lebendige Bilder mit Leben erfüllt, die die Erinnerung daran verbessern.Alex Haley,der Autor von Roots,hat im Alter darauf hingewiesen, dass ein Großteil der mündlich überlieferten Geschichte, die von seinen Vorfahren bewahrt wurde, reich an Bildern ist.
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158
Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
6.1.1 Loci-Methode
6
Von den Gedächtnishilfen ist die Loci-Methode am besten dokumentiert. Man sagt, dass in Athen die Mitglieder des Rates der Stadt in ihren Reden die Säulen als Erinnerungshilfe für bestimmte Themen nutzten.So konnte Deomontikos, der einen westlichen Bezirk repräsentierte, seine Rede damit beginnen,dass er auf die linke Säule schaute, auf der THEATER »geschrieben« stand. Dies erinnerte ihn daran, an das heiß diskutierte Theater zu denken, das gerade gebaut wurde.An der nächsten Säule stand FISCHE »geschrieben«.Dies war ein Hinweisreiz dafür,darüber zu sprechen, dass die Fischereigebiete ausgedehnt werden müssten. Und an der rechten Säule hätte das Wort KRIEG stehen können. Das hätte ihn veranlasst, über dieses Thema zu sprechen. Vielleicht haben Sie diese Technik schon einmal eingesetzt, um sich bei einer Klausur eine Antwort dadurch ins Gedächtnis zu rufen, dass sie versucht haben, sich vor-
zustellen, an welcher Stelle der Professor sie an die Tafel geschrieben hatte. Cicero beschreibt die Methode in De Oratore mit Hilfe einer Geschichte über den griechischen Dichter Simonides. Simonides war beauftragt worden, ein Gedicht zu schreiben, in dem bestimmte Edelmänner gepriesen werden sollten, und es bei einem Festessen vorzutragen, auf dem viele Menschen zusammenkommen sollten. Die Geschichte besagt, dass Simonides nach dem Vortragen des Gedichts nach draußen gerufen wurde. Während er sich draußen aufhielt, brach das Gebäude in sich zusammen und tötete die Festgesellschaft. Die Katastrophe war so verheerend, dass noch nicht einmal die Verwandten imstande waren, einen verstümmelten Körper von einem anderen zu unterscheiden. Simonides jedoch ging in die Ruine und identifizierte jede einzelne Leiche korrekt aufgrund des Ortes innerhalb der Festhalle,an dem sie lag. Simonides war in der Lage, sich an jeden dieser Menschen zu erinnern, weil er sich ihre Namen zusammen mit ihrem Platz in seinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Die Loci-Methode besteht in Folgendem: ▬ Identifizierung vertrauter Orte, die nacheinander angeordnet sind. ▬ Erzeugen von Bildern über Items, die abgerufen werden sollen und die mit den Orten assoziiert werden. ▬ Abruf mit Hilfe des erneuten Aufsuchens der Orte; dies dient als Hinweisreiz für die Items, die aus dem Gedächtnis abgerufen werden sollen. Funktioniert dieses System? Es gibt eine Vielzahl systematischer Befunde und einige empirische Belege, die darauf hindeuten, dass dies der Fall ist. Gordon Bower (1970b, 1972) von der Stanford University hat die Loci-Methode analysiert und veranschaulicht, wie die Technik als Gedächtnisstütze für eine Einkaufsliste eingesetzt werden könnte.
Mnemosyne – Mutter der Musen In der griechischen Mythologie war Mnemosyne (das griechische Wort Mnaemae bedeutet Erinnerung, Gedächtnis) die Mutter der neun Musen der Künste und Wissenschaften. Das Erinnerungsvermögen wurde als die älteste und verehrungswürdigste aller geistigen Fer-
tigkeiten angesehen, aus der sich alle anderen ableiteten. Man nahm an, dass wir, wenn wir keine Erinnerung besäßen, keine Wissenschaft, keine Kunst und keine Logik hätten.
159 6.1 · Mnemotechnische Systeme
> Hotdogs Katzenfutter Tomaten Bananen Whiskey
Auffahrt Garage, innen Eingangstür Garderobe Ausguss
Die Loci sind in einer vertrauten Reihenfolge angeordnet, sodass es einem leicht fällt,sich vorzustellen,wie man sich durch sie hindurch bewegt. Der nächste Schritt besteht darin,ein seltsames Bild in sich zu erzeugen,durch das die Items auf der Einkaufsliste mit den Loci assoziiert werden. Bower veranschaulicht diesen Vorgang auf folgende Weise: Das erste Bild ist ein »gigantischer Hotdog,der die Auffahrt herunterrollt«; das zweite »eine Katze, die lärmend in der Garage frisst«; das dritte sind »überreife Tomaten,die sich über die Eingangstür ergießen«. Das vierte besteht aus »Bananenstauden, die von der Garderobe herunterbaumeln«; das fünfte aus einer Flasche »Whiskey,die den Ausguss heruntergluckert«.Und schließlich bleibt da noch der Abruf der Liste aus dem Gedächtnis,der dadurch aktiviert wird, dass man mental die vertrauten Plätze aufsucht, die als Hinweisreize für die Items auf dem Einkaufszettel fungieren.
Nachdem man die Hakenliste gelernt hat, muss man eine Gruppe von Items auf die Haken »hängen«. Eine Art, wie man das machen kann, besteht darin, dass man sich eine Wechselwirkung zwischen dem Hakenwort und dem Wort vorstellt, das man sich merken soll. Wenn beispielsweise das erste Wort in einer Reihe von Wörtern, die man erinnern soll, Elefant ist, dann kann man sich vorstellen, dass es auf irgendeiner Weise mit bun (= Brötchen) interagiert (Sie erinnern sich an das bun in »one is a bun«).Wenn die Interaktion seltsam ist, dann ist der Effekt anscheinend besser, als wenn die Interaktion aus etwas Alltäglichem besteht. In diesem Beispiel könnte man an einen Elefanten-Hamburger denken, bei dem ein großer Elefant in ein kleines Hamburger-Brötchen hineingequetscht wird. Wenn das nächste Item, dass man sich merken soll, Löwe ist, dann könnte man es mit dem Hakenwort Schuh (»two is a shoe«) assoziieren, indem man sich vorstellt, dass ein Löwe Tennisschuhe trägt, oder indem man daran denkt, dass die riesigen »Katzenpfoten« mit Schuhen ausgestattet sind. Die Verwendung von Hakenwortgedächtnisstützen zum Erinnern einer Einkaufsliste wird in ⊡ Abb. 6.1 illustriert.
6.1.3 Schlüsselwortmethode 6.1.2 Hakenwortsystem Das System mit den Hakenwörtern oder mit der Hakenliste kann unterschiedliche Formen annehmen. Der Grundgedanke besteht jedoch darin,dass man eine Gruppe von Wörtern lernt, die als Haken dienen, an denen die Items, an die man sich erinnern soll, aufgehängt werden – ganz so wie bei einer Garderobe, an der man Hüte, Schals und Mäntel aufhängen kann. Bei einer Variante dieses grundlegenden Systems lernt man eine Reihe von Reimpaaren wie etwa die folgenden: one is a bun two is a shoe three is a tree four is a door five is a hive six is a stick seven is a heaven eight is a gate nine is a line ten is a hen
Eine etwas andere Form der Hakenworttechnik ist die Schlüsselwortmethode, die von Atkinson (1975), Atkinson und Raugh (1975) sowie von Raugh und Atkinson (1975) im Fremdsprachenunterricht eingesetzt wurde.Ein Schlüsselwort ist ein deutsches Wort, das wie irgendein Bestandteil des fremdsprachigen Wortes klingt (Atkinson,1975,S.821). Nachdem die Versuchspersonen das gesprochene fremdsprachige Wort mit dem Schlüsselwort assoziieren,formen sie ein mentales Bild des Schlüsselwortes, das eine Wechselwirkung mit der deutschen Übersetzung eingeht. Somit wird eine Kette gebildet zwischen dem fremdsprachigen Wort und seiner deutschen Übersetzung, die sich aus einem Schlüsselwort, das dem fremdsprachigen Wort akustisch ähnlich ist, und einer vorgestellten Beziehung zwischen dem Schlüsselwort und dem eigentlichen deutschen Wort zusammensetzt.Denken Sie an pato,dem spanischen Wort für »Ente«. Pato ist vom Klang her dem deutschen Wort Pott ähnlich. Wenn man das Wort Pott als Schlüsselwort verwendet, könnten wir uns eine Ente mit einem Pott über dem Kopf vorstellen. Wenn jetzt ein Amerikaner das russische Wort zronok lernen soll, das Glocke bedeutet, dann könnte er sich der folgenden Hilfsvorstellung bedie-
6
160
Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
⊡ Tabelle 1. Mnemotechniken
6
Mnemotechnik
Charakteristisches Merkmal
Beispiel
Loci
Sich Items, an die man sich erinnern soll, mit Hilfe vertrauter Orientierungspunkte visuell vorstellen.
Um die Könige und Königinnen von England zu lernen, stellt man sich einen Spaziergang auf dem Campus vor. Man assoziiert deutlich unterscheidbare Orientierungspunkte mit einem Begriff. Beispielsweise kann man Heinrich VIII. mit einem Glockenspiel assoziieren, Königin Victoria mit einem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert usw.
Hakenwort
Man assoziiert neue Wörter oder Begriffe mit einer Liste von Wörtern, die man bereits kennt.
Man lernt einen Reim wie: »One is a bun, two is a shoe« und assoziiert Könige und Königinnen von England mit den bekannten Wörtern (z.B. Heinrich VIII. hatte große Brötchen, Königin Victoria hatte viele Kinder, die in einem Schuh gelebt haben usw.).
Schlüsselwort
Man bildet eine interaktive Brücke zwischen dem Klang eines Wortes und einem vertrauten Wort.
Nehmen wir das russische Wort kacca, das wie »kassa« ausgesprochen wird; das klingt im Englischen wie »caught ya« (sie haben dich gekriegt) und bedeutet »Kassierer«. Und wenn man die Rechung bezahlt, dann sagen Sie zu sich »gotcha« (jetzt haben sie mich).
Organisationsschemata
Wissen ist Struktur in irgendeiner bedeutsamen Beziehung.
Eine Liste von Wörtern oder Begriffen ist hierarchisch so organisiert, wie man etwa die Könige und Königinnen von England nach der geschichtlichen Periode oder nach Eroberungen organisieren könnte. Oder Monarchen könnten in eine Geschichte, in einen Reim oder in eine Ballade eingebettet werden (»Old King Sol was a merry old soul …«).
Zusätzliche Techniken: Akronym Akrostichon
Man verwendet den ersten Buchstaben eines Wortes (Akronym) oder eines Satzes (Akrostichon) als Hinweisreiz für den Abruf aus dem Gedächtnis.
Akronym: POLKA. P steht für Peg Word (Hakenwort); O für Organisationsschemata, L für Loci; K für Key Word (Schlüsselwort); A für Additional systems (zusätzliche Systeme; Akronym and Akrostichon). Akrostichon: Papa Observierte Läuse beim Küssen von Ameisen.
nen: Der letzte Silbe des russischen Wortes zronok hört sich so ähnlich wie das englische oak (für Eiche) an.Wenn man jetzt oak als Schlüsselwort benutzt, könnte man sich eine Eiche mit Glocken anstelle von Eicheln vorstellen.In ⊡ Abb. 6.2 sind die einzelnen Phasen des Prozesses anhand dieses Beispiels dargestellt. Wie gut funktioniert dieses System? In einem Experiment lernten die Versuchspersonen 120 russische Wörter (pro Tag 40 Wörter während einer Zeitspanne von drei Tagen).Über Kopfhörer wurden vorher aufgenommene russische Wörter dargeboten. In der Experimentalgruppe wurden die Schlüsselwörter und die englischen Übersetzungen dafür visuell präsentiert, in der Kontrollgruppe dagegen nur die englische Übersetzung. Jeden Tag gab es drei Übungssitzungen. Die Schlüsselwortgruppe zeigte
viel bessere Leistungen als die Kontrollgruppe.Tatsächlich lernten die Versuchspersonen in der Schlüsselwortgruppe mehr Wörter in zwei Übungssitzungen als vergleichbare Versuchspersonen der Kontrollgruppe in drei Sitzungen. Nicht nur dass die Versuchspersonen der Schlüsselwortgruppe schon anfangs besser waren als die Versuchspersonen in der Kontrollgruppe, sondern die Wahrscheinlichkeit für eine richtige Antwort betrug sechs Wochen später bei einer überraschenden Sitzung zur Überprüfung des Gedächtnisses 43% bei den Versuchspersonen mit dem Schlüsselwort und nur 28% bei den Versuchspersonen der Kontrollgruppe. Die Forscher fanden auch heraus, dass es im Allgemeinen besser ist,ein Schlüsselwort zur Verfügung zu stellen, als es die Versuchsperson selbst generieren zu lassen.
161 6.1 · Mnemotechnische Systeme
⊡ Abb. 6.1. Memorieren mit Hilfe der Mnemotechnik, Hakenwortmethode. Aus G. Bower (1973a)
6.1.4 Organisationsschemata Es gibt keinen Zweifel daran, dass Wissen auf systematische Weise strukturiert wird. Die Art und Weise, wie dies geschieht,ist Gegenstand einer kontroversen Debatte,aber nur wenige bezweifeln die Auffassung,dass irgendeine Art von Struktur vorhanden ist.Alle Systeme von Gedächtnishilfen beruhen auf der Strukturierung von Informationen,sodass sie sich leicht eingeprägen und abrufen lassen. Diese Organisationsschemata können auf Orten, Zeit, Or-
thographie, Klängen, bildlichen Vorstellungen usw. beruhen. Eine weitere wirkungsvolle Mnemotechnik besteht darin, Informationen in semantischen Kategorien zu organisieren, die dann als Hinweisreize für den Abruf aus dem Gedächtnis genutzt werden. Nehmen Sie einmal an, dass man einer Gruppe von Versuchspersonen in einem Experiment zum Abruf von Wörtern aus dem Gedächtnis zwei Minuten gibt,während der sie die folgende Wortliste auswendig lernen muss:
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162
Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
⊡ Abb. 6.2. Schritte beim Lernen des russischen Worts zronok mit Hilfe der Schlüsselwortmethode. Adaptiert aus Solso und Johnson (1994)
6
> Vogel Junge Brot Kirche Fuß Tiger
Hügel Zuhause Nagel Krankenschwester Königin Pfeffer
Netz Hand Glas Apfel Haare Gras
Rauch Wolle Gemüse Zug Teppich Stern
Nach zwei Minuten werden die Versuchspersonen gebeten, vier Minuten lang Zahlenkolonnen zu addieren. Danach müssen sie versuchen,sich an die Wörter aus der Liste zu erinnern. Drei anderen Gruppen legt man dieselben Wörter,dieselbe Zeit zum Lernen und dieselbe Distraktoraufgabe (Zahlen addieren) vor,doch unter leicht abgeänderten Bedingungen. Der zweiten Gruppe gibt man noch Strich-
zeichnungen der Gegenstände vor, die mit dem jeweiligen Wort bezeichnet werden, und bittet sie, die Gegenstände zu visualisieren. Die dritte Gruppe wird gebeten, sich dieselben Wörter dadurch einzuprägen, dass sie die folgende Geschichte noch einmal liest, in die die Wörter eingebettet sind: Die fantastische Reise Anstatt in der Kirche zu sitzen, wo er eigentlich hätte sein sollen, versteckte sich der Junge hinter einem Hügel. Er war barfuß, obwohl ihm die Krankenschwester gesagt hatte, dass er auf einen Nagel treten könnte. In einer Hand hatte er einen Apfel, auf den er von Zeit zu Zeit schwarzen Pfeffer streute. ▼
Kritisch hinterfragt: Lernen von Begriffen, Namen und Wörtern Identifizieren Sie bei jedem der folgenden Begriffe aus der kognitiven Psychologie zwei oder drei Namen von wichtigen Forschern, damit zusammenhängenden Namen und wichtigen Befunden und/oder Schlussfolgerungen. Verwenden Sie ein mnemotechnisches System oder eine Kombination mnemotechnischer Systeme, wie sie in diesem Kapitel beschrieben wurden, um die Begriffe, Namen und damit assoziierten Wörter zu lernen. Kanonische Repräsentationen Gedächtnis Semantisches Gedächtnis Geon-Theorie Retrograde Amnesie
PDP Prozedurales Gedächtnis Ebenen der Verarbeitung Schema Ikonischer Speicher Neurophysiologische Erfassungstechniken Untersuchungen mit künstlich voneinander abgetrennten Hirnhälften (Split-brain studies) Prototypen Hat die Organisation des Materials mit Hilfe einer Mnemotechnik die Aufnahmefähigkeit Ihres Gedächtnisses vergrößert? Welche Technik scheint Ihren Bedürfnissen am ehesten entgegenzukommen?
163 6.1 · Mnemotechnische Systeme
Obwohl eine Spinne über seinem Kopf ein Netz sponn, träumte er davon, von Zuhause wegzulaufen. Ein Gedanke fügte sich an den nächsten.Er würde sich auf einem Zug verstecken,bis er an die Küste kam.Von dort aus würde er auf einem Zauberteppich oder durch Reiben an einem verzauberten Glas zu einem weit entfernten Stern fliegen. Eines schönen Tages würde er die Königin heiraten, im Gras liegen und sich auf keinen Fall die Haare schneiden lassen oder Gemüse essen. Wenn er sich langweilte, würde er einfach nur so zum Spaß Tiger jagen und zusehen, wie Rauch aus seinem Gewehr quoll. Doch bevor der Junge seinen Tagtraum zu Ende träumen konnte,begann er,müde zu werden.Als er anfing, einen Vogel in der Nähe mit Brot zu füttern, sah er ein Schaf mit weicher Wolle. Er legte sich darauf und schlief ein. Die vierte Gruppe schließlich wurde gebeten,sich die Wörter so einzuprägen, wie sie unten aufgeführt sind, nämlich semantisch strukturiert. (Sie bekam die zusätzliche Anweisung, dass sie sich selbst beim Erinnern dadurch helfen könnte,dass sie Kategorien aus dem Gedächtnis abrief, indem sie sich den Namen K.E.NALOV einprägte,der sich aus den ersten oder den ersten beiden Buchstaben der Namen für die Kategorien zusammensetzt.) > Körperteile Fuß Hand Haare Nagel ▼
Essen Brot Pfeffer Apfel Gemüse Netz
Natur Hügel Gras Rauch Stern
Lebewesen Junge Krankenschwester Königin Vogel Tiger
Orte Kirche Zuhause Zug
Verarbeitete Dinge Glas Wolle Teppich
Diese Kategorien können ferner in einer »Baumstruktur« repräsentiert werden, wie sie in der folgenden Abbildung dargestellt ist: Weitere Systeme: Es gibt mehrere zusätzliche Systeme, die Sie wahrscheinlich selbst schon eingesetzt haben. Ein System beruht auf Akronymen oder Wörtern, die auf Grundlage der ersten Buchstaben eines Worts in einem Satz oder in einer Gruppe von Wörtern gebildet werden. Der heutige Begriff LAN steht für Local Area Network. Wenn man Sie auffordern würde, die folgende Liste wichtiger Kognitiver Psychologen – Shepard,Craik,Rumelhart, Anderson, Bower, Broadbent, Loftus, Estes, Sternberg, Piaget, Intons-Peterson, Erickson, Luria – auswendig zu lernen, könnten Sie aus den ersten Buchstaben ein Anagramm für folgendes Akronym bilden: SCRABBLE SPIEL. Ein anderes, damit verwandtes System besteht darin, ein Akrostichon oder eine Redewendung bzw. einen Satz zu bilden,in dem die ersten Buchstaben mit dem Wort,das erinnert werden soll,assoziiert werden.Für das gerade angeführte Beispiel könnten Sie sich den folgenden Satz ausdenken: Sechs Cineasten rasieren aber bereits bei Lüneburg Elefanten. Sie palavern in einem Laden. Ihre eigenen Sätze können ähnlich seltsam und auch für Sie persönlich bedeutsamer sein.Wir werden gleich sehen, wie diese Methoden praktisch eingesetzt werden können,so etwa beim Erinnern des Namens einer nahen Verwandten oder beim Abruf von Wörtern und Begriffen aus dem Gedächtnis – hoffentlich geht Ihnen dieses Material rechtzeitig durch
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Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
den Kopf, damit es Ihnen bei Ihrem nächsten Zusammentreffen mit Freunden oder Kollegen bzw. bei Ihrer nächsten Prüfung hilfreich ist. Welche Mnemotechnik ist die »beste«? Douglas Herrmann (1987) fand heraus, dass sich die verschiedenen Techniken unterschiedlich gut für das Einprägen bestimmter Dinge eignen: Speziell beim Lernen vom Paarassoziationen war die Mitwirkung des bildlichen Vorstellungsvermögens am effektivsten.Beim Erlernen der freien Reproduktion scheint die Gedächtnishilfe anhand einer Geschichte überlegen zu sein, während zum Lernen von Wortreihen die Loci-Methode Erfolg versprechend ist. In einer weiteren Evaluation von Mnemotechniken fanden Garcia und Diener (1993) heraus, dass sich die Loci-Methode, die der Hakenwörter und die des Akrostichons in etwa als gleich wirksam erwiesen,wenn sie nach einer Woche überprüft wurden. Ein anderer sehr wichtiger Bestandteil von Mnemotechniken ist ihre Wirksamkeit bei der Organisation von Material.Die Wirksamkeit von Gedächtnishilfen hängt jedoch auch mit anderen Überlegungen zusammen,von denen viele in diesem Buch angesprochen werden.
6.1.5 Abruf von Namen aus dem Gedächtnis Nach Lorayne und Lucas (1974), die das populäre Buch The Memory Book geschrieben haben,umfasst das Lernen eines Namens in Assoziation mit einem Gesicht drei Schritte.Der erste,das Erinnern des Namens,erfolgt möglicherweise so, dass man seine Aufmerksamkeit auf die Art und Weise konzentriert, wie der Name ausgesprochen wird,und dann einen Ersatznamen oder -satz dafür bildet (beachten Sie die Ähnlichkeiten zwischen dieser Technik und der Forschung von Atkinson, 1975, und von Atkinson & Raugh, 1975). Beispielsweise kann der Name »Millowitsch« als »Millionenwisch« erinnert werden; und im Bayerischen wird »Rheumatismus« zu »Reißmatthias« verballhornt (und damit kann man sich merken, wer dieses Buch übersetzt hat). Diese Ersatzbegriffe sind voller bildlicher Eigenschaften. Jeder von uns kann sich ein Bild für Ersatzbegriffe vorstellen und einige von ihnen sind recht merkwürdig. Der zweite Schritt besteht darin, im Gesicht einer Person nach einem hervorstechenden Merkmal zu suchen – einer hohen Stirn, einem Bart, einer ungewöhnlichen Brille, einer Hakennase, dicken Backen, Warzen, Grübchen.
Zum letzten Stadium gehört, ein Ersatzwort für ein hervorstechendes Merkmal zu assoziieren. Wenn Sie also einem Mann vorgestellt werden, dessen Name Wally Kelly lautet und dessen kennzeichnende Merkmale eine beginnende Glatze und ein dicker Bauch sind,dann kann das W, das durch seine Geheimratsecken gebildet wird als Hinweisreiz für Wally und der Bauch (englisch belly) als Hinweisreiz für Kelly dienen. Wenn Sie natürlich den Code vergessen, könnten sie ihn auch irrtümlicherweise Walter Stomach nennen. Das erinnert mich an eine Fußnote in Kauslers (1974) Psychology of Verbal Learning and Memory: Die Stärkung der Vorstellungskraft bildet den Kern von Trainingsprogrammen nach dem Motto: »Wie verbessere ich mein Gedächtnis?«. Lange bevor die aktuelle wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vorstellungskraft in Mode kam,immatrikulierte sich der Autor dieser Zeilen für ein Fernstudium. Ich habe vergessen, warum ich das tat, denn ich bin zu einem frühen Zeitpunkt wieder abgesprungen. Aber ich erinnere mich genau daran, dass Lektion 1 vor allem aus kleinen Skizzen zum Gebrauch und zum potenziellen Missbrauch seltsamer visueller Vorstellungen bestand. Beispielsweise gab es da einen jungen Mann, der jeweils dadurch eine neue Assoziation zwischen Körper und Namen lernte, dass er in sich ein Bild von einem Körper erzeugte, bei dem ein hervorstechendes körperliches Merkmal übertrieben dargestellt war. Der Trick bestand darin, ein Merkmal auszuwählen, das sich wiederum verbal in den Namen der Person dekodieren ließ, an deren Namen er sich erinnern wollte. Das System funktionierte gut, bis er einer Mrs. Humach vorgestellt wurde. Ihr hervorstechendstes Merkmal war ein recht üppiger Bauch.Als er sie nach einigen Monaten wieder traf,grüßte er sie mit einem freundlichen: »Schön, Sie zu sehen, Mrs. Kelly.« Er hatte stomach und belly durcheinander gebracht. Wenn man seine Aufmerksamkeit nicht auf relevante Informationen richtet (bei den gerade erwähnten Fällen bezieht sich dies auf den Namen und die Physiognomie der Person), ist selbst die beste Mnemotechnik nutzlos. Anscheinend besteht der erste Schritt bei der erfolgreichen Kodierung von Informationen darin, die Aufmerksamkeit auf Informationen zu konzentrieren, die man im Gedächtnis behalten möchte. Aufmerksamkeit, auch ein wichtiger Teil des Gedächtnisses für andere Items (wie etwa Termine, Wörter, Ideen und Orte), ist in der Anfangsphase das Wichtigste zum Vorgang des Erinnerns. Wenn man nicht aufmerksam ist, wird sogar die beste Mnemotechnik erfolglos bleiben.
165 6.1 · Mnemotechnische Systeme
Kritisch hinterfragt: Expertise und Wissen Bédard und Chi (1993) schreiben: »Die Studien (über Expertise) haben gezeigt, dass eine große, organisierte Masse bereichsspezifischen Wissens eine Vorbedingung für Expertise ist.« Was ist Wissen? Bevor Sie weiter lesen, formulieren Sie Ihre eigene Wissensdefinition und stellen Sie die Verbindung zur Expertise her. Experten im Bereich der Expertise und des Wissens sind der Auffassung, dass Wissen nach seiner Quantität oder nach seiner Struktur klassifiziert werden kann. Experten haben ein größeres bereichsspezifisches Wissen –
6.1.6 Abruf von Wörtern aus
dem Gedächtnis Es folgen nun einige der bekannteren Mnemotechniken,die sich der Anfangsbuchstaben von Wörtern bedienen. Studenten lernen die anatomischen Namen für die Handknochen (Kahnbein,Mondbein usw.) nach dem folgenden Reim: Ein Kähnlein fährt im Mondenschein ums Dreieck- und ums Erbsenbein Vieleck groß,Vieleck klein, ein Kopf, der muss am Haken sein Die Namen der Handknochen, die man sich mit Hilfe dieses kleinen Gedichts merkt, lauten: Kahnbein, Mondbein, Dreiecksbein, Erbsenbein, kleines und großes Vieleck, Kopfbein,Hakenbein.Insofern geht das kleine Gedicht sogar über die Anfangsbuchstaben hinaus. Jeder Schüler hat im Musikunterricht wahrscheinlich den Satz »Frische Brezeln Essen Assessoren Des Gesangs« für die b-Tonarten (F B Es As Des Ges) gelernt und »Geh Du Alter Esel, Hol’ Fische« für die #-Tonarten (G D A E H Fis). Auf Englisch kann man die Namen der neun Musen leicht durch den Satz: »See, see, my Puttee« finden, der für den Code CCMPUTTEE steht und der übersetzt werden kann als: Caliope, Clio, Melpomene, Polyhymnia, Urania, Thalia, Terpsichore, Erato und Euterpe. Bei diesen Beispielen wird der erste Buchstabe des Wortes, das erinnert werden soll, als Gedächtnisstütze genutzt. Anscheinend enthält der Anfangsbuchstabe die größte Informationsmenge aller Buchstaben in einem Wort. Dies würde darauf hindeuten, dass Wörter nach ihren Anfangsbuchstaben im Langzeitgedächtnis kodiert
eine Tatsache, die eigentlich selbstverständlich ist (ein Experte für das Zimmererhandwerk weiß viel mehr über sein Handwerk als ein Neuling). Wichtiger ist jedoch die Art und Weise, auf die Experten ihr Wissen organisieren. Experten organisieren Wissen so, dass es leichter zugänglich, funktioneller und wirkungsvoller wird. Die Verwendung von Mnemotechniken kann die eigene spezifische Wissensbasis erweitern (eine Vorbedingung für Expertise), aber auch die Organisation des Wissens ist von grundlegender Bedeutung.
werden – wie z.B. bei der Auflistung von Wörtern in einem Wörterbuch. Der zweitwichtigste Buchstabe ist gewöhnlich der letzte (doch diese Regel wird häufig bei Wörtern verletzt, die auf s, d und e enden – hierbei handelt es sich um Buchstaben,die nur wenig Information enthalten).Anhänger von Kreuzworträtseln werden wahrscheinlich mit diesem Phänomen vertraut sein. Wenn der Anfangsbuchstabe in einem mnemotechnischen System als Hinweisreiz dient, dann handelt es sich im Allgemeinen um den auffälligsten Hinweisreiz auf einen Buchstaben, der möglich ist. Belege für das Potenzial von Anfangsbuchstaben, als Hinweisreiz zu dienen, wurden von Solso und Biersdorff (1975) geliefert. Die Versuchspersonen wurden gebeten, sich an eine Wortliste zu erinnern. Bei einem Wort, an das sie sich nicht erinnerten, wurde dann als Hinweisreiz entweder der erste Buchstabe dargeboten oder etwas, das mit dem Wort in der Alltagserfahrung assoziiert wurde, oder ein Wort, das sich auf das zu erinnernde Wort reimte. Wenn es den Versuchspersonen immer noch nicht gelang, sich an das Wort zu erinnern, wurden zwei Hinweisreize dargeboten, beispielsweise der erste Buchstabe und eine Assoziation. Sowohl der Reim als auch der Buchstabe als auch die Assoziation dienten den Versuchspersonen als Hinweisreiz zum Abruf aus dem Gedächtnis. Aber wenn die Ergebnisse – und das ist in diesem Zusammenhang am wichtigsten –, die sich durch Raten erklären ließen, weggelassen wurden, war der Anfangsbuchstabe der beste Hinweisreiz zum Abruf aus dem Gedächtnis.
6.2
Ein außerordentliches Gedächtnis
Menschen mit einem ungewöhnlichen oder außerordentlichen Gedächtnis können entweder als professionelle
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166
Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
Mnemotechniker – also als Personen, die bewusst Mnemotechniken anwenden – oder als Gedächtniskünstler klassifiziert werden – also als Personen,deren Fähigkeiten sich anscheinend mehr oder minder natürlich ohne bewusste Anstrengung und ohne Verwendung einer Technik oder eines Tricks entwickelt haben. Obwohl zahlreiche anekdotische Berichte über Menschen mit einem phänomenalen Gedächtnis vorliegen, ist es schwierig, zu bestimmen, wie authentisch sie sind. Es gibt jedoch mehrere Beschreibungen derartiger Menschen,über die durchaus etwas bekannt ist,und einige wenige dieser Personen sind intensiv untersucht worden.Berichte über einige von ihnen werden hier dargestellt.
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6.2.1 S.: Luria Der berühmteste Fall mit einem außerordentlichen Gedächtnis (und auch jener,der am besten dokumentiert ist) ist der von S. (S.V. Shereshevskij), dessen Fähigkeiten durch den bekannten russischen Psychologen A.R. Luria (1960, 1968) untersucht wurden. Der Beginn der semiklinischen Studie ist auf die Mitte der zwanziger Jahre zu datieren. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete S. als Reporter für eine Zeitung, er wechselte mehrfach seine berufliche Stellung und wurde schließlich professioneller Gedächtniskünstler. S. war imstande, eine Liste mit Wörtern, die auf 30, 50 und sogar auf 70 erweitert wurde, fehlerfrei aus dem Gedächtnis abzurufen.Luria berichtet,dass »S.nur etwa 35 bis 40 Sekunden brauchte,um sich den Eindruck von einer Tabelle mit 20 Zahlen einzuprägen … für eine Tabelle mit 50 Zahlen benötigte er etwas länger … zweieinhalb bis drei Minuten« (Luria, 1968, S. 21). Im Folgenden wird ein typisches Experiment beschrieben, wie es Luria durchführte:
[S.] verbrachte 30 Minuten damit, die Tabelle, die ich auf ein Blatt Papier geschrieben hatte (Tabelle 1), durchzusehen und immer wieder innezuhalten, um noch einmal das durchzugehen, was er vor seinem geistigen Auge gesehen hatte. Tabelle 1 6 5 1 7 4 3 1 3 2 1 2 5 X
6 4 6 9 2 8 0 4 7 9 9 5 0
8 3 8 3 3 9 0 5 6 2 6 2 1
0 2 4 5 7 1 2 1 8 6 7 0 X
Er brauchte 40 Sekunden, um diese Tabelle zu reproduzieren (das heißt, alle Zahlen nacheinander abzurufen). Er tat dies in rhythmischen Schritten und legte zwischen den Zahlen kaum Pausen ein … Er las sich innerhalb von 35 Sekunden die Zahlen durch, die die Diagonalen bildeten (die Gruppen von vier Zahlen,die im Zickzack durch die Tabelle liefen) und innerhalb von 50 Sekunden ging er die Zahlen durch, die die horizontalen Zeilen bildeten.Insgesamt benötigte er eine Minute und 30 Sekunden, um alle 50 Zahlen in eine einzelne Zahl mit 50 Stellen umzuwandeln und diese vorzulesen. Als S. einige Monate später von Luria gebeten wurde, sich an die Liste zu erinnern, machte er dies ebenso genau wie beim ersten Mal. Luria berichtet:
Alexander Luria (1902–1977). Machte grundlegende Entdeckungen im Bereich der Neuropsychologie und schrieb ein Buch über S.
Der einzige Unterschied zwischen den beiden Leistungen bestand darin, dass er für Letztere mehr Zeit benötigte, um die gesamte Situation zu »durchleben«, in der das Experiment ursprünglich durchgeführt worden war: das Zimmer zu »sehen«, in dem er gesessen hatte; meine Stimme zu »hören«; ein Bild von sich selbst zu »reproduzieren«,wie er gerade auf die Tafel guckte.Der eigentliche Prozess des »Lesens« der Tabelle erforderte jedoch praktisch nicht mehr Zeit als früher …
167 6.2 · Ein außerordentliches Gedächtnis
Luria führte zahlreiche Experimente von der gleichen Art durch und kam zu ähnlichen Ergebnissen. S. schien auch nach Tagen,Monaten oder sogar nach Jahren nicht zu vergessen – auch wenn es um sinnloses Material ging. Luria hatte beobachtet, dass S.’ phänomenales Gedächtnis mit einer extremen Synästhesie einherging, einem Zustand, in dem sensorische Informationen von einer Sinnesmodalität (z.B. dem Hören) eine Empfindung in einer anderen Sinnesmodalität (z.B. dem Sehen) auslösen. Die meisten von uns haben schon einmal synästhetische Erfahrungen gemacht. Menschen neigen beispielsweise dazu, hohe Töne mit einem hellen durchdringenden Licht und tiefe Töne mit dunklen trüben Farben zu assoziieren. Nur wenige haben jedoch solche Synästhesien wie S., der, wenn er mental eine Reihe von Items aus dem Gedächtnis »las«, Geräusche hörte, als ob da »Dampfwolken« ausgestoßen würden oder ein »Platschen« zu hören wäre, das mit dem »Ablesen« der Informationen interferierte. Wenn ein Ton von 30 Hertz mit 100 Dezibel dargeboten wurde,berichtete S.,dass er zunächst einen 12 bis 14 cm breiten Streifen und die Farbe von altem, angelaufenem Silber sah. Ein Ton von 50 Hertz und 100 Dezibel rief die
Erfahrung eines braunen Streifens vor einem dunklen Hintergrund hervor, der rote, Zungen ähnliche Begrenzungen hatte. Die Erfahrung ging auch mit einer Geschmacksempfindung »wie der vom süß-saurem Borschtsch« einher. Bei 500 Hertz und 100 Dezibel sah S. einen »Blitzschlag,der den Himmel in zwei Teile spaltete«. Der gleiche Ton mit 74 Dezibel wandelte sich zu einem dunklen Orange, das »in ihm das Gefühl aufkommen ließ, als wäre ihm eine Nadel ins Rückgrat gestoßen worden«. Die gleichen Reaktionen kamen zustande, wenn die Töne wiederholt wurden. S.erlebte auch synästhetische Reaktionen auf Stimmen. So gab er gegenüber Luria einmal den Kommentar ab: »Was für eine bröcklige gelbe Stimme Sie haben.« Seine Reaktionen auf bestimmte andere Stimmen waren etwas schmeichelhafter.Eine beschrieb er so,als »käme eine Flamme,aus der Fasern hervordringend, auf mich zu«, und fügte hinzu: »Ich entwickelte ein solches Interesse an seiner Stimme, dass ich dem, was er sagte, gar nicht folgen konnte.« Für den Erinnerungsvorgang von S scheinen diese synästhetischen Komponenten wichtig zu sein, denn sie stellten für jedes einzelne Item, das aus dem Gedächtnis abgerufen werden sollte, einen Hintergrund bereit.
Ein Fall von fotographischem Gedächtnis Während der meisten Seminare über kognitive Psychologie stellt ein Student unvermeidlich eine Frage wie: »Wie ist das mit dem fotographischen Gedächtnis? Gibt es nicht einige Menschen, die auf einen Zettel gucken können und dann wörtlich alles wiedergeben, was sie gesehen haben?« Ich weiß nicht, wie meine Kollegen diese Frage beantworten, aber ich erwidere gewöhnlich: »Wenn Sie einen solchen Menschen kennen, bringen Sie ihn oder sie zu mir ins Labor. Die meisten von uns haben schon lange nach jemandem Ausschau gehalten, der diese außergewöhnliche Fähigkeit besitzt.« Meiner Erfahrung nach sind die Geschichten über Menschen mit einem »fotographischen Gedächtnis« zweifelhaften Ursprungs. Die psychologische Literatur schweigt weitgehend zu dieser Frage, obwohl die Sonntagsausgaben der Zeitungen und die Boulevardzeitschriften voller Geschichten darüber sind. Über einen Fall von fotographischem Gedächtnis berichtet Stromeyer (1970). Die Versuchsperson, Elizabeth, war eine sehr intelligente, erfahrene Künstlerin, die an der Harvard University lehrte. Sie konnte mental ein ge-
naues Abbild eines Bildes auf eine Oberfläche projizieren. Ihr Abbild schien eine genaue Kopie des Originals zu sein und Elizabeth konnte auf das Abbild sehen und es in allen Einzelheiten beschreiben. Psychologen bezeichnen dies eher als eidetisches Vorstellungsvermögen (eine Gabe, die man manchmal bei Kindern findet) und nicht als fotographisches Gedächtnis, wie der modische Ausdruck dafür lautet. Elizabeths Fähigkeit beschränkte sich nicht auf visuelle Bilder, sie konnte auch visualisieren – etwa ein Gedicht aus einer anderen Sprache, das sie vor mehreren Jahren gelesen hatte. Sie konnte eine Zeile vom Anfang oder vom Ende des Gedichts gleich gut »kopieren«, indem sie es so schnell wie möglich niederschrieb. Hierbei handelt es sich um eine Fähigkeit, die bei Prüfungen am Gymnasium recht praktisch war. Ist Elizabeths Fähigkeit einzigartig? In den beiden Jahrzehnten nach diesem ursprünglichen Bericht ist über keinen weiteren Fall dieser Art berichtet worden. Wenn es noch eine Elizabeth gibt, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden, dann rufen Sie mich bitte zu Hause an.
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Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
Der Vorgang wurde von S. folgendermaßen beschrieben:
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… ich erkenne ein Wort nicht nur durch die Bilder, die es auslöst, sondern durch einen ganzen Komplex von Gefühlen, die das Bild entfacht. Man kann das nur schwer ausdrücken … Es handelt sich nicht nur um eine Frage des Sehens oder des Hörens,sondern um ein Gesamtgefühl, das ich dann bekomme. Gewöhnlich erlebe ich den Geschmack und das Gewicht eines Wortes und ich muss keine Anstrengung unternehmen, um mich daran zu erinnern – das Wort scheint sich selbst aus dem Gedächtnis abzurufen. Aber es ist schwer beschreibbar. Was ich wahrnehme, ist etwas Glitschiges, das mir aus der Hand gleitet … oder ich bin mir eines leichten Kitzelns in meiner linken Hand bewusst, das durch eine Masse winziger leichter Punkte hervorgerufen wird. Wenn dies geschieht, dann erinnere ich mich einfach, ohne es auch nur versuchen zu müssen … Es gibt auch Befunde,die darauf hindeuten,dass S.die LociMethode als Gedächtnishilfe benutzte.Wenn ihm eine Reihe von Items dargeboten wurde, an die er sich erinnern sollte, dann verteilte er sie mental entlang einer ihm vertrauten Straße in Moskau: Er begann am Puschkinplatz und ging dann die Gorkistraße herunter, dann rief er die Items aus dem Gedächtnis ab, indem er einen mentalen Spaziergang auf ebendieser Straße unternahm und die ihm vertrauten Orientierungspunkte als visuelle Hinweisreize zum Abruf der Items nutzte. Es kam eher aufgrund von Fehlwahrnehmungen zu Fehlern als durch Vergessen, manchmal weil das Item nicht »gesehen« wurde, nachdem es in irgendeine dunkle Ecke »gestellt« worden war, oder weil es sehr klein war (zu einer bemerkenswerten Erörterung der Größe von Bildern und zum Abruf von Merkmalen innerhalb des Bildes siehe die in Kapitel 10 beschriebenen Arbeiten von Kosslyn). Ein Ei konnte beispielsweise nicht aus dem Gedächtnis abgerufen werden,weil es vor einen weißen Hintergrund »platziert« worden war. S.’ lebendiges Vorstellungsvermögen neigte auch dazu, mit seiner Fähigkeit zu interferieren, Prosa zu verstehen, und ein abstraktes Gedicht schien besonders schwierig zu sein. Anscheinend hatte Shereshevskij manchmal Freude daran, seine ungewöhnliche Fähigkeit vor Studenten zu demonstrieren und sie dem Publikum zu zeigen.Bei einer öffentlichen Demonstration bat ihn der Gastgeber, sich eine Reihe von Zahlen einzuprägen.Der Gastgeber ging an
die Tafel und schrieb »369121518212427303336394245 48515457«.Im mathematisch vorgebildeten Publikum kam ein Gekicher auf, als Shereshevskij etwa eine halbe Minute lang über der Liste brütete.Dann wandte er sich von der Tafel ab und sagte die Liste perfekt auf. In der allgemein guten Stimmung erzählte der Gastgeber Shereshevskij, dass die meisten Personen im Publikum das Gleiche machen könnten, weil sich die Liste aus einer sehr einfachen Zahlenfolge zusammensetzte (3, 6, 9, 12 …), die sich durch Addition von 3 ergab. Shereshevskij fand das überhaupt nicht witzig, aber der Vorfall deutet weiterhin auf die etwas humorlose Veranlagung eines Menschen mit einem außergewöhnlichen Gedächtnis hin. Ich erfuhr von dieser Geschichte, während ich als Fulbright-Stipendiat an der staatlichen Universität von Moskau lehrte. Shereshevskij berichtete, dass, wenn er einer Stimme zuhörte, jedes gesprochene Wort ein Bild auslöste, das manchmal mit anderen in Konflikt geriet.Wenn er las,berichtete er über eine ähnliche Art bildlicher Interferenz. Beispielsweise löste der einfache Satz: »Die Arbeit geht normal vonstatten« die folgende Reaktion aus: »Was Arbeit angeht, sehe ich, dass die Arbeit läuft … Aber dann ist da das Wort normal. Was ich sehe, ist eine dicke, rotwangige Frau, eine normale Frau … Und dann der Ausdruck geht vonstatten. Wer? Was bedeutet das alles? Man ist fleißig … und diese normale Frau – aber wie passt das alles zusammen? Wie viele Dinge muss ich aus dem Kopf bekommen, um daraus den einfachen Gedanken zu entnehmen!« Anscheinend hingen bei S. die riesige Gedächtniskapazität und die Langlebigkeit der Informationen mit einer Kombination verschiedener Faktoren zusammen, und dazu gehören das Vorstellungsvermögen, die Synästhesie und die Mnemotechnik.
6.2.2 V.P., der Mann mit dem außergewöhn-
lichen Gedächtnis: Hunt und Love Im Jahre 1971 entdeckten Hunt und Love (1972) einen Mann (V.P.), dessen außerordentliches Gedächtnis sich durchaus mit dem von S. messen lassen konnte. Der Fall V.P. ist für Kognitionspsychologen aus zwei Gründen besonders interessant: V.P. hatte ein ungewöhnlich erweitertes Gedächtnis und wurde, was vielleicht wichtiger ist, systematisch von einem Team moderner kognitiver Psychologen untersucht, die viele der in diesem Buch angesprochenen Forschungstechniken verwendeten.
169 6.2 · Ein außerordentliches Gedächtnis
Es ist ein seltsamer Zufall, dass V.P. in Lettland geboren wurde und seine Kindheit in einer Stadt verbrachte, die nicht weit von S.’ Heimatstadt entfernt liegt. Im Alter von dreieinhalb Jahren konnte er lesen und im Alter von fünf Jahren hatte er sich die Straßenkarte von Riga eingeprägt – einer Stadt mit 500.000 Einwohnern. Im Alter von zehn Jahren konnte er 150 Gedichte aufsagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte V.P. bis 1950 in einem deutschen Vertriebenenlager. Weil damals Bücher knapp waren, legte man sehr viel Wert darauf, sich Notizen zu machen und etwas auswendig zu lernen. V.P. schien jedoch auch schon vor dieser Zeit ein ungewöhnliches Gedächtnis zu haben. Zu dem Zeitpunkt, als Hunt und Love V.P. beobachteten, war er Verkäufer, begeisterter Schachspieler und manchmal Student. Sein IQ (Wechsler Adult Intelligence Scale) betrug 136, wobei er die höchsten Werte bei Aufgaben zum Erinnern erzielte und die niedrigsten bei denen zur visuell-motorischen Koordination. Über die zuletzt genannte Fähigkeit sagte er: »Ich habe sogar Schwierigkeiten dabei, eine Mine in einen Drehbleistift zu stecken.« Hunt und Love hatten Bartletts im Jahre 1932 erschienenes Buch The War of Ghosts zweimal gelesen. Nachdem sie V.P. in Siebenerschritten von 253 bis 0 rückwärts zählen ließen, musste er sich an bestimmte Teile der Geschichte eine Minute danach, 15 Minuten danach, 30 Minuten da⊡ Abb. 6.3. Abruf aus dem Gedächtnis durch V.P. und zwölf Personen aus der Kontrollgruppe, untersucht mit Dreiergruppen von Konsonanten. Adaptiert aus Hunt und Love (1972)
nach und 42 Minuten danach erinnern und dann nach einer Stunde und nach sechs Wochen an die gesamte Geschichte. (Man sagte ihm, dass man von ihm erwartete, dass er sich nach sechs Wochen an die Geschichte erinnern würde.) Nach sechs Wochen konnte er die Geschichte fast ebenso gut reproduzieren wie nach einer Stunde und beide Leistungen waren denen der besten zehn Versuchspersonen aus der Kontrollgruppe überlegen. In einem Test, der dem von Luria ähnlich ist, wurde V.P. gebeten, eine Liste von 48 Zahlen zu lesen und sich an sie zu erinnern. Nachdem er sich etwa vier Minuten damit beschäftigt hatte, war seine Gedächtnisleistung perfekt und noch zwei Wochen später erinnerte er sich an die Zahlenreihe – dabei unterlief ihm nur ein Umkehrungsfehler. Im Unterschied zu S. schien sich V.P. bei dieser Aufgabe nicht auf sein ungewöhnliches visuelles Gedächtnis zu verlassen. Ein Beispiel für die Gedächtnishilfe,die er verwendete,war, eine Reihe von Zahlen als Datum zu speichern und sich dann selbst zu fragen, was er an diesem Tag gemacht hatte. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass V.P.s Langzeitgedächtnis außerordentlich groß war. Um sein Kurzzeitgedächtnis zu überprüfen, machten sich Hunt und Love das Paradigma von Brown und Petersen ( siehe Kapitel 7) zunutze. V.P.s Leistung und die der zwölf Personen in der Kontrollgruppe sind in ⊡ Abb. 6.3 dargestellt. Es scheint so zu sein, dass V.P.s Abrufleistung mit der Zeit besser wurde
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Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
als die der Personen in der Kontrollgruppe.Das würde darauf hindeuten, dass er imstande war, sogar sinnlose Gruppen von drei Buchstaben zu behalten (von denen man annimmt, dass sie die Wiederholung abblocken), obwohl interferierende Aufgaben gestellt wurden. V.P.s Kommentar dazu war,dass er wegen seiner Kenntnis vieler Sprachen in der Lage sei, im Experiment die sinnlosen Gruppen von drei Buchstaben mit einem sinnvollen Wort zu assoziieren. Wenn dies zutrifft, dann kann die Technik von Brown und Petersen als Test für seine Fähigkeit gelten, einen sinnvollen Chunk von Informationen (eine Form der Organisation) über einen kurzen Zeitraum zu speichern. Bei der introspektiven Beschreibung seines phänomenalen Gedächtnisses betonte V.P.die Bedeutung der »Konzentration«. Hunt und Love geben zu diesem Faktor folgenden Kommentar ab: Formaler ausgedrückt gelingt es V.P. besser als den meisten Menschen, Reizcodes hervorzubringen. Damit geht eine bewusste Anstrengung einher. Wenn möglich beschäftigte sich V.P. mit den Informationen, die er erinnern sollte,länger,als dies bei einem Durchschnittsmenschen der Fall sein wird. Als wir ihn beim Blindschach beobachteten,konnten wir sehen,dass er, obwohl er mit einer beträchtlichen Begabung agierte, auch sehr hart arbeitete. Während er über seinen nächsten Zug nachdachte, machte er »gelegentlich« Witze. Doch die Venen an seiner Stirn waren geweitet. Die Tatsache, dass er Witze machen konnte, während er die Züge berechnete, deutet darauf hin, dass er eine Fähigkeit besitzt, die die meisten von uns nicht haben: Er kann parallel nebeneinander eine Reihe mentaler Aufgaben bearbeiten. Dies würde vielleicht seine phänomenale Leistung bei der Aufgabe von Brown und Petersen erklären.Im Unterschied zu den meisten Versuchspersonen kann er anscheinend während der Verarbeitung der Informationen im Gedächtnis Zahlen rückwärts wiederholen.
6.2.3 Andere Personen mit außer-
gewöhnlichem Gedächtnis In der Literatur tauchen mehrere andere Fälle mit einem außergewöhnlichen Gedächtnis auf. Ein solcher Fall wird von Hunter (1962) berichtet, der die ungewöhnliche mathematische Fähigkeit von A.C. Aitken dokumentiert hat, einem Mathematikprofessor von der University of Edin-
burgh (einiges von dem im Folgenden aufgeführten Material stammt ursprünglich von Hunter, der darüber in Baddeleys Die Psychologie des Gedächtnisses (1979) berichtet). Aitkens Gedächtnis wurde im Jahre 1933 dadurch getestet, dass man ihm 25 nicht miteinander zusammenhängende Wörter präsentierte, die er sich zweimal durchlas.Als er 27 Jahre später gebeten wurde, die Liste aus dem Gedächtnis abzurufen, begann er mit einigen wenigen Wörtern und erweiterte die Liste dann allmählich auf alle 25 Wörter, an die er sich korrekt erinnerte. Er hatte auch eine Form von The War of Ghosts gelesen, sie sich eingeprägt und sie 27 Jahre später nahezu perfekt aus dem Gedächtnis abgerufen. Aitkens Gedächtnis und seine Abruffähigkeit waren nicht weniger spektakulär als seine numerischen Fähigkeiten.Als er die Zahl 1961 hörte,erkannte er sofort, dass es sich hierbei um 37 ¥ 53 und auch um 442 + 52 und um 402 + 192 handelte. Ein weiteres Beispiel für ein außerordentliches Gedächtnis,über das von Coltheart und Glick (1974) berichtet wird, ist von Interesse, da es hier um das ikonische Gedächtnis geht (siehe Kapitel 3). Ihre Versuchsperson (Sue d’Onim oder O.; Colthearts Wortspiel mit dem englischen Wort für Pseudonym ist wahrscheinlich eine Anspielung auf Freuds berühmter Fallstudie) hatte die Fähigkeit,rückwärts zu reden – das heißt, ein normal dargebotenes Wort rückwärts auszusprechen (somit würde Neger aus Regen usw.; ein amerikanischer Entertainer, der sich »Dr. Backwards« nannte,trat vor vielen Jahren in Nachtclubs auf und sprach Wörter rückwärts aus und buchstabierte sie rückwärts. Es gibt heute auch einen, wenn auch obskuren Komiker,der Töne rückwärts reproduziert,in etwa so,wie man es vielleicht hören würde, wenn man eine Tonbandaufnahme rückwärts laufen ließe.).O.s ikonisches Gedächtnis war anscheinend sehr viel größer, als man es erwarten würde. Wenn man ihr eine Reihe von acht Buchstaben 100 Millisekunden lang zeigte, war sie in der Lage, durchschnittlich 7,44 zu wiederholen,während der Wert der Versuchspersonen in der Kontrollgruppe bei 5 lag.Coltheart (1972b) interpretierte diese Ergebnisse dahin gehend, dass O. Informationen etwa viermal schneller als normal enkodieren kann. Leider wurde über viel zu wenige Fälle mit einem außergewöhnlichen Gedächtnis berichtet, als dass man mehr als oberflächliche Verallgemeinerungen darüber anstellen könnte. Eine Beobachtung, die man tatsächlich bei den hier beschriebenen Fällen machen kann, besteht darin, dass sich die Gedächtniseigenschaften der untersuchten Personen alle etwas voneinander unterschieden.S.und V.P. hatten anscheinend eine Art mnemotechnisches Sys-
171 6.3 · Experten und Expertise
tem verwendet, dessen Struktur weniger starr war als die von anderen – bei S. bildlich und bei V.P. vermittelt über die Semantik. Aitkens außergewöhnliches Gedächtnis schien die Verwendung von Bildern und Rhythmen zu beinhalten,sich aber auch von denen anderer Personen zu unterscheiden.
6.3
Experten und Expertise
Wir schließen dieses Kapitel mit einer Erörterung des Themas Experten ab – Menschen also mit ungewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten – und des Themas Expertise – der Untersuchung außergewöhnlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten.Dieser Abschnitt besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil beschäftigt sich mit verschiedenen Beobachtungen bei Experten und ihrer Entwicklung, während im zweiten Teil die kognitive Interpretation dieser Beobachtungen behandelt wird. Das Interesse an Expertise nahm vor mehreren Jahren durch die Beschäftigung mit der Künstlichen Intelligenz (KI) und aufgrund des Bedürfnisses zu,in der Praxis funktionierende Computerprogramme zu finden, die die Leistung fähiger Menschen simulieren konnten (ein weiteres Gebiet,das besonders von den Russen und in den USA der »Human-Potential«-Bewegung intensiv untersucht wurde, ist das Konzept der »Spitzenleistung«, wie sie etwa von einem Sportler während eines Wettkampfs erreicht werden könnte).Die kognitive Untersuchung der Expertise ist jedoch seit kurzem zu einem eigenständigen Gegenstandsbereich geworden. Diese ursprünglichen Computerprogramme, die man manchmal als Expertensysteme bezeichnet,wurden entwickelt,um das nachzuahmen,was ein menschlicher Experte weiß. Das Problem besteht darin, dass ein Großteil des Wissens, das ein Experte hat, nicht formalisiert ist. Dinge, die man im Medizinstudium nicht lernt (aber lernen sollte!): Ein Kinderarzt, den ich kenne,bewahrte sein Stethoskop in einem warmen Behälter auf. Damit verringerte er den Schock, den ein Kind bekommt, wenn ein kaltes Instrument auf seinen kleinen fiebrigen Körper gelegt wird. Waren diese Messungen genauer? Ohne empirische Validierung lässt sich das nur schwer sagen, aber ich bin sicher, dass sich seine kleinen Patienten wohler fühlten. Auch wenn ein Großteil des Wissens nicht formalisiert ist, lässt sich aufgrund der Eigenheiten des Metiers etwas über die Art und Weise sagen, wie Informationen im Kopf von Experten bzw. Neulingen strukturiert werden. Es gibt
auch einige praktische Anwendungen wie bei der medizinischen Diagnose mit Hilfe denkender Computer, die die von erfahrenen Ärzten verwendeten diagnostischen Vorgehensweisen simulieren. Wir haben uns mit diesen Themen in Kapitel 4 schon einmal beschäftigt, als wir näher auf die Art und Weise eingegangen sind, wie Schachgroßmeister ein Schachbrett wahrnehmen. Die Untersuchungen an erfahrenen Schachspielern lieferten den KIWissenschaftlern ebenjene Art von Informationen, die sie benötigten, um intelligente Schachprogramme zu entwickeln – und die Ergebnisse waren spektakulär,denn Computer sind jetzt in der Lage,die allerbesten Spieler der Welt zu schlagen. Die Beschäftigung mit Expertise beschränkte sich jedoch nicht darauf, die Bedürfnisse der KI zu befriedigen. Es handelt sich um ein interessantes und wertvolles Forschungsgebiet für Kognitionspsychologen, das sowohl von theoretischem als auch von praktischem Wert ist. Wenn wir uns dafür entscheiden, begabte Studenten auf eine Weise zu fördern, dass sie zu Experten werden, dann müssen wir schließlich irgendeine Vostellung davon haben, worin die kognitiven Dimensionen bestehen, die den Experten vom Neuling unterscheiden. Nachdem Glaser und Chi (1988) eine große Anzahl von Expertenuntersuchungen zusammengetragen hatten, identifizierten sie einige der charakteristischen Eigenschaften von Experten: 1. Experten zeichnen sich vor allem durch hervorragende Leistungen auf ihrem eigenen Gebiet aus. Experten für Kopfrechnen z.B.weisen keine Ähnlichkeit mit Experten für medizinische Diagnosen auf und umgekehrt. 2. Experten nehmen große sinnvolle Muster in ihrem Bereich wahr. Schachspieler, Röntgen-Diagnostiker und Architekten sind imstande, sinnvollere Muster innerhalb ihres Spezialgebiets zu »sehen« als Nichtspezialisten. 3. Experten sind schnell. Schreibexperten, Schachspielexperten, Programmierexperten, Mathematikexperten usw. arbeiten innerhalb ihres Spezialgebiets mit größerer Geschwindigkeit als andere. 4. Experten scheinen ihr Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis effektiv zu nutzen. Anscheinend haben Experten ein besseres Gedächtnis, aber vielleicht nutzen sie ihr Gedächtnis auch einfach nur effektiver. 5. Experten erkennen und repräsentieren ein Problem in ihrem Gebiet auf einem tiefergehenden Niveau als Neulinge.Wenn man Experten bittet,Probleme zu sortieren und zu analysieren, dann neigen sie dazu, sich
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Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
eher mit tief gehenden Fragen auseinander zu setzen als mit oberflächlichen. 6. Experten verbringen einen großen Teil ihrer Zeit damit, ein Problem qualitativ zu analysieren. Sie neigen dazu, ein Problem aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten, bevor sie sich auf seine Lösung stürzen. 7. Experten haben Fertigkeiten zur Selbstüberwachung. Sie scheinen sich ihrer Fehler bewusst zu sein und sind in der Lage, während der Arbeit Korrekturen anzubringen.
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Etwas, was uns von anderen Lebewesen unterscheidet, ist unsere Fähigkeit, komplexe Fertigkeiten zu erwerben. Alle typisch menschlichen Aktivitäten – wie etwa Mathematik, Sprache, Schach, die Programmierung von Computern,Bildhauerei – beruhen auf erworbenen Fertigkeiten ... Die Menschen werden zu Experten für Aktivitäten, für die es in unserer evolutionären Geschichte keine Möglichkeit zur Vorwegnahme gab, und der Kern des menschlichen Geistes ist ebendiese Plastizität. John R. Anderson
Es gibt zwei Forschungsstränge bei Expertenuntersuchungen. Der erste besteht darin, außergewöhnlich befähigte Menschen zu finden und ihre Begabung zu untersuchen. Im Folgenden eine Auswahl aus diesen Studien (ich kann nur empfehlen, diese sorgfältig durchgeführten, interessanten Studien zu lesen): > Architektur (Akin, 1982) Außergewöhnliches Gedächtnis (z.B. S. [Luria, 1974], V.P. [Hunt & Love, 1972] und JC [Ericsson & Polson, 1988a, 1988b]) Baseball (Chiesi, Spilich & Voss, 1979) Börsenmakler (Johnson, 1988) Bridge (Charness, 1979) Entgegennahme von Essensbestellungen (Ericsson & Polson, 1988a, 1988b) »Genies« (z.B. im Bereich der Musik, des Schachs, der Naturwissenschaft: Hayes, 1986) Go (Reitman, 1976) Künstler (Solso, 2001) Mathematische Fähigkeit (z.B. A.C. Aitken: Hunter, 1962) ▼
Medizinische Diagnose (Clancey, 1988; Lesgold et al., 1988) Musiker (Halpern, 1989) Physikstudenten (Chi, Glaser & Rees, 1982) Rechnungsprüfung (Bédard, 1989) Schach (Chase & Simon, 1973a, 1973b; bei Kindern: siehe Chi, 1978) Schauspieler (Intons-Peterson & Smyth, 1987; Noice, 1991; Noice & Noice, 1993) Schreibmaschineschreiben (Gentner, 1988) Tanzen (Solso et al., 1986; Solso, 1989; Solso & Dallob, 1995)
6.3.1 H.O.: Fallstudie über einen Künstler –
Solso sowie Miall und Tchalenko Eine der vollständigsten Studien über einen Experten im Bereich des Porträtzeichnens, Humphrey Ocean (H.O.), wurde kürzlich von Robert Solso in Stanford und Nevada sowie von Chris Miall und John Tchalenko in Oxford durchgeführt.Der Forschungsansatz beruhte auf dem Gedanken,dass Experten aus allen Bereichen – sei es nun der Mathematik, der Musik, des Sports oder der Kunst – neurokognitive Eigenschaften und Leistungen aufweisen, die sich deutlich von denen der Neulinge unterscheiden. Mit dieser Annahme im Hinterkopf führten Solso, Miall und Tchalenko eine umfassende Untersuchung durch, zu der Hirnschichtaufnahmen und die Registrierung der Bewegungen von Auge und Hand bei einem perfekten Künstler gehörten. H.O. ist ein Künstler, der seit mehr als 20 Jahren als Zeichner arbeitet und der einer der bekanntesten Porträtzeichner in Großbritannien mit Ausstellungen in der National Portrait Gallery (London), im Wolfson College (Cambridge) und in vielen anderen Galerien ist.Zu seinen bekanntesten Zeichnungen gehört ein Porträt des ExBeatles Paul McCartney. Er hat viele Auszeichnungen bekommen und viele Ausstellungen gemacht.Außer der Tatsache, dass H.O. eine jahrelange Ausbildung an einer Kunsthochschule absolviert hat,verbrachte er täglich zwischen drei und fünf Stunden mit seiner künstlerischen Arbeit und kann über sein gesamtes Leben gerechnet auf 25.000 Stunden Praxis im Zeichnen zurückblicken. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war er 74 Jahre alt, männlich und Rechtshänder. Die Tatsache, dass sich H.O. auf Porträts spezialisiert hatte, war wichtig, weil sich ein Bereich im Kortex des Menschen speziell auf die Verarbeitung von
173 6.3 · Experten und Expertise
geführt wurde, zeichnete H.O. sechs Porträts, während er flach auf dem Rücken im engen Innenraum eines Kernspinresonanztomographen lag. Auch eine Person aus der Kontrollgruppe nahm an dieser Aufgabe teil, damit man die Hirnaktivität von H.O. und die eines Neulings miteinander vergleichen konnte. Die Ergebnisse zum Aktivitätsfluss im Gehirn von H.O. und in dem eines Laien sind in ⊡ Abb. 6.4 dargestellt (und auch auf einer Farbtafel auf der Innenseite des Buchumschlags). Wie erwartet kam es in der rechten Hemisphäre der Versuchspersonen zu einer stärkeren Aktivität, und zwar in dem Bereich, in dem geometrische Formen wahrgenommen und verarbeitet werden. Insbesondere der rechte hintere Parietallappen ist mit der Wahrnehmung von Gesichtern in Zusammenhang gebracht worden. Wie in Spalte A und in gewissem Maße auch in Spalte B dargestellt zeigen sowohl der Experte als auch der Laie eine beträchtliche Aktivität in dieser Region. Wenn man sich je-
doch die Unterschiede zwischen dem Experten und dem Laien genauer ansieht,wird man erkennen,dass beim Laien anscheinend mehr Blut zum rechten hinteren Parietallappen fließt (Spalte A).Warum sollte ein Experte weniger Aktivität im Bereich der Verarbeitung von Gesichtern aufweisen als ein Laie? Die Antwort könnte ein Schlüsselelement für unser Verständnis von Experten enthalten. Allem Anschein nach ist ein Experte – in diesen Fall ein Experte im Porträtzeichnen (der über Tausende von Stunden hinweg Gesichter verarbeitet hat) – so effizient bei der Wahrnehmung und dem Gedächtnis für Gesichter, dass er seine Aufmerksamkeit auf tiefer gehende Formen der Kognitionen lenkt, bei denen eine umfassendere Analyse von Gesichtern vonstatten geht. Dieses tiefer gehende Niveau kann eine einzigartige Form des Verstehens von Gesichtern umfassen – dies wird im Englischen als Facial Cognizance (Kenntnisnahme von Gesichtern) bezeichnet (eine solche Auffassung ähnelt der Analyse von Experten im Bereich des Schachs,wie dies in Kapitel 4 erwähnt wurde.). Einen Anhaltspunkt für diese tiefer gehende Verarbeitung kann man in Spalte C erkennen, in der der Experte eine größere Aktivität im rechten Frontallappen zeigt als der Laie.Von diesem Bereich nimmt man an, dass hier der stärker analytisch arbeitende assoziative Kortex aktiv ist, in dem das abstrakte Denken vor sich geht. Es scheint daher so zu sein, dass unser Experte im Bereich des Zeichnens, H.O., ebenso sehr an ein Porträt denkt, wie er es
⊡ Abb. 6.4. Schichtaufnahmen mit Hilfe der funktionellen Kernspinresonanztomographie, die bei H.O. und einer nichtkünstlerischen Person aus der Kontrollgruppe gemacht wurde. Sie zeigt bei beiden eine Aktivität im rechten Parietallappen (siehe Spalte A). Dieses Areal ist an der Wahrnehmung von Gesichtern beteiligt, aber es hat den Anschein,
als werde zur Verarbeitung von Gesichtern beim Nichtkünstler mehr Energie benötigt als bei H.O. In den Spalten C und D nimmt der Blutfluss im rechten vorderen Areal des Künstlers zu, was auf eine höher gradige Abstraktion von Informationen hindeutet (Solso, 2000, 2001)
Gesichtern spezialisiert zu sein scheint. H.O. willigte ein, dass er selbst ausführlich untersucht wurde, zunächst mit Hilfe der Kernspinresonanztomographie und dann mit Hilfe der Registrierung von Blickbewegungen und motorischen Bewegungen.Dies alles sind Daten,die zum ersten Mal bei einem bekannten Künstler erhoben wurden. H.O. und die funktionelle Kernspinresonanztomographie. Bei einer Untersuchung, die von Solso (2001) durch-
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Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
sieht. Die Forschung – die Erste dieser Art – eröffnet die Möglichkeit, weitere Experimente mit Experten durchzuführen,während sie ihre spezialisierte Aufgabe ausführen. Wo ist der Sitz des Denkens beim Schachmeister,beim Astrophysiker, beim Volleyballchampion, beim Cellisten, beim Psychiater,beim Tischlermeister? Die Antworten auf diese und viele weitere Fragen können wohl bald gegeben werden. H.O. und die Verfolgung von Blickbewegungen und motorischen Bewegungen. Zur zweiten Untersuchungspha-
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se bei H.O.gehörte die Erfassung der Augenfixationen und -bewegungen sowie der Handbewegungen bei der Anfertigung eines Porträts von einem Modell. In dieser Phase der experimentellen Analyse eines Künstlers brachten Miall und Tchalenko (2001) bei H.O. eine Blickbewegungskamera an (⊡ Abb. 6.5), die die Augenbewegungen und -fixationen erfasste. Es lief auch eine Kamera, die die visuelle Szenerie erfasste, und es wurde ein Gerät zum Registrieren von Bewegungen verwendet, das die Handbewegungen des Künstlers anzeigte. Man konnte dies machen, ohne dass die Bewegungsfreiheit von H.O.s Kopf und Händen eingeschränkt war.Somit war es möglich,die Fixationen der Augen und Handbewegungen von H.O. beim Vorgang des Porträtzeichnens über die Zeit hinweg zu verfolgen. Es überrascht nicht, dass das Endprodukt, das von diesem gefeierten Künstler hervorgebracht wur-
⊡ Abb. 6.5. Technik, die verwendet wurde, um H.O.s Blickbewegungen, Fixationen und Handbewegungen beim Zeichnen eines Porträts zu erfassen (Miall & Tchalenko, 2001)
de, viel schöner war als die Bilder der Amateure, die auch am Experiment teilnahmen. Aber die Forscher gewannen auch einige zusätzliche Erkenntnisse, die im Folgenden aufgeführt sind: ▬ H.O.s Fixation des Modells unterschied sich von seinem »normalen« Sehmuster; dies war ein Hinweis darauf, dass er eine intensivere Position des Betrachtens einnahm, wenn er sich den »Künstlerhut« aufsetzte. ▬ In dem Maße, wie H.O. beim Zeichnen Fortschritte machte, gingen seine Fixationen vom Modell auf die Leinwand über. Dies kann bedeuten, dass in dem Maße, wie das Bild vollständiger wird, es sich selbst zu einem Reiz für die weitere Vervollkommnung entwickelt. Am Anfang muss der Künstler mehr Zeit damit verbringen, das Modell zu betrachten, um die Einzelheiten des Gesichts in sich aufzunehmen. ▬ Die typische Fixationszeit des Künstlers bei den Skizzen betrug 0,6 bis 1,0 Sekunden, während die typische Fixationszeit von Laien etwa halb so lange dauerte (⊡ Abb. 6.6). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Künstler sich auf eine einzelne Position einstellte und sich im Detail mit ihr beschäftigte, während die Laien zwei oder mehr Positionen fixierten, die manchmal auch räumlich weit auseinander lagen. Das zuletzt genannte Blickmuster ist nicht typisch für alltägliche Blickbewegungen, aber es ähnelte den Fixationen von H.O., wenn er seinen »Künstlerhut« nicht trug.
175 6.3 · Experten und Expertise
staunlicherweise ähnlicher war, als man es sich je vorgestellt hätte (⊡ Abb. 6.7). Eine Feinanalyse der Handbewegungen und der endgültigen Zeichnung zeigt genau,wie der Künstler vorging: Während beispielsweise die Detailarbeit am rechten Auge des Modells viel von der motorischen Leistung absorbierte, erforderte die Zeichnung der Nasenkante nur einen Strich.
⊡ Abb. 6.6. Länge der Augenfixationen bei H.O. und bei Laien im Zeichnen. Es zeigt sich, dass der Experte fast zweimal so viel Zeit wie der Laie damit verbrachte, während jedes einzelnen Blicks das Modell zu fixieren (Miall & Tchalenko, 2001)
▬ H.O.s Fähigkeit, visuelle Informationen aufzunehmen und sie zu reproduzieren,scheint auf dem Vorgang des Springens von einem Detail zum nächsten und nicht auf einem holistischen Ansatz zu beruhen. Der Künstler baute z.B. eine Nase Punkt für Punkt auf und dann ein Ohr usw. ▬ Als schließlich die Ergebnisse von H.O.s Handbewegungen aufgezeichnet wurden,lieferten sie eine visuelle Veranschaulichung, die der endgültigen Skizze er⊡ Abb. 6.7. Die Endergebnisse. Links: H.O.s Handbewegungen (nicht die Striche mit dem Stift). Rechts: das fertig gezeichnete Porträt (Miall & Tchalenko, 2001)
Zum ersten Mal war ein Künstlerpatient (und jemand,der selbstlos seine Zeit und seine Arbeit zur Verfügung stellte) unter der leistungsstarken Linse eines funktionellen Kernspinresonanztomographen mit Hilfe der Augenbewegungskamera und eines Aufzeichnungsgeräts für motorische Bewegungen untersucht worden.Eine solche Forschungsrichtung eröffnet Möglichkeiten für weitere Studien an Experten mit modernen Geräten. Vielleicht sind die Daten,die an H.O.aufgezeichnet wurden,spezifisch für seine individuelle Persönlichkeit und andere Künstler verfolgen eventuell andere Strategien. Gewiss finden sich bei Landschaftsmalern und bei abstrakten Malern andere Muster in Bezug auf Blickbewegungen und Fixationen sowie andere motorischer Reaktionen. Es mag sehr wohl sein, dass andere kortikale Regionen aktiviert und andere Augenmuster gefunden werden. Und vielleicht wären auch bei Leonardo da Vinci, Rembrandt, Picasso und van Gogh andere neurokognitive Neigungen zum Vorschein gekommen.
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Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
6.3.2 Die Struktur des Wissens
und der Expertise
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Bisher haben wir uns darauf konzentriert,die Expertise zu beschreiben.Ein Teil dieser Forschung beruhte auf der Selektion bestimmter Stichproben von Versuchspersonen – einige Experten, einige Laien und einige blutige Anfänger wie im Fall der drei Niveaus von Schachspielern,die in Kapitel 4 beschrieben wurden – und auf einer Evaluation ihres Wissens sowie der Organisationsexpertise. In der Literatur scheinen zwei Merkmale des Experten (im Gegensatz zum Laien) immer wieder aufzutauchen: Der Experte hat ein bereichsspezifisches, organisiertes Wissen und weiß, wie er es effektiv und klug einsetzen muss. So wird geschätzt, dass ein Schachmeister etwa 50.000 Muster im Gedächtnis gespeichert hat, ein guter Spieler etwa 1000 und ein Anfänger nur ein paar Muster. Die Speicherung passiver Informationen über ein vorgegebenes Thema allein macht jedoch noch keine Expertise aus. Auch die Organisation des Wissens ist wichtig. In einer wichtigen Studie zur Organisation des Wissens verwendeten Chi, Feltovich und Glaser (1981) eine Kartensortieraufgabe dazu,herauszufinden,wie Experten und Laien Probleme klassifizieren. Jede Karte enthielt ein Diagramm und eine Beschreibung eines physikalischen Problems. Die Laien sortierten die Probleme anhand trockener Oberflächenmerkmale wie etwa: »Bei dem Problem geht es um Klötze auf einer abfallenden Ebene.« Die Experten neigten dazu, die Probleme auf der Grundlage von Prinzipien wie etwa der Energieerhaltung zu sortieren, die bei der Lösung des Problems zur Anwendung kommen. Diese Grundeigenschaft (oberflächliche Analyse im Unterschied zu Analyse nach Prinzipien) trifft auf eine Vielzahl von Spezialgebieten zu,so etwa Mathematik, Programmierung von Computern und Genetik. Die gleichen Ergebnisse findet man bei der Klassifizierung und Analyse von Problemen aus dem realen Leben wie etwa bei Dinosaurierbildern, bei Kameratypen und bei Diagrammen für elektronische Schaltkreise. Experten haben ein umfassenderes Wissen als Laien und neigen dazu,ihr Wissen eher in Form allgemeiner Prinzipien als in Form von Oberflächeneigenschaften zu organisieren.
6.3.3 Theoretische Analyse der Expertise Lassen Menschen, die außerordentliche kognitive Fähigkeiten entwickelt haben, die traditionelle kognitive Theo-
rie fragwürdig werden? Nehmen wir etwa die Frage des Kurzzeitgedächtnisses. In den vorigen Kapiteln haben wir erfahren, dass das Kurzzeitgedächtnis auf eine begrenzte Anzahl von Items,die zeitweise abgespeichert werden,beschränkt ist.Dennoch scheint die Multiplikation von Zahlen – wie etwa 4652 ¥ 93 – die Speicherung von mehr als sieben Items und eine Verarbeitung zu erfordern, die die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses überschreitet. Entweder haben die in diesem Kapitel vorgestellten Experten und andere ein Gedächtnissystem, das sich von unserem unterscheidet,oder sie nutzen bestehendes Wissen,das im Langzeitgedächtnis gespeichert ist,um die Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses zu erweitern. Chase und Ericsson (1982) haben außerordentliche Gedächtnisoperationen im Sinne von drei Prinzipien interpretiert. Diese sollen eine Erklärung für ein geübtes Gedächtnis sowie für die Art und Weise liefern, wie Experten ihr Kurzzeitgedächtnis raffiniert nutzen, um ungewöhnliche Aufgaben auszuführen: 1. Hinter dem mnemotechnischen Enkodierungsprinzip (Organisation) steckt die Behauptung,dass Experten Informationen in Form einer umfassenden bestehenden Wissensbasis enkodieren. Beim Einprägen einer großen Anzahl von Ziffern nutzte ein Experte »gute Zeiten« (in diesem Fall ein Langstreckenläufer die guten Zeiten über eine Distanz von anderthalb Kilometern, über drei Kilometer, bei einem Marathonlauf usw.),um diverse Chunks von Zahlen zu erinnern. Ist die Kapazität seines Kurzzeitgedächtnisses größer? Das kann bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass er sein bestehendes Wissen nutzt, um aus neuen Informationen Chunks zu bilden ( siehe Bower & Springston, 1970, sowie die FBI-PHD-IBM-TWA-Studie in Kapitel 7). 2. Das Abrufstrukturprinzip (Zugang) besagt, dass Experten ihr Wissen über einen Gegenstandsbereich (beispielsweise Schreibmaschineschreiben, Schach, Baseball,Auswahl von Aktien) dazu nutzen,abstrakte, hoch spezialisierte Mechanismen für die systematische Enkodierung und das Abrufen bedeutsamer Muster aus dem Langzeitgedächtnis zu entwickeln. Diese Fähigkeit gestattet es den Experten, die Informationsbedürfnisse bei einer vertrauten Aufgabe vorwegzunehmen und neue Informationen in einem Format abzuspeichern, das einen leichteren Abruf ermöglicht. 3. Das Beschleunigungsprinzip (Geschwindigkeit) besagt,das mit der Praxis die Geschwindigkeit zunimmt,
177 6.3 · Experten und Expertise
mit der Experten Muster erkennen und enkodieren. Weiterhin sind Experten auch dazu in der Lage, Informationen schneller aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen als Laien. Wenn die Speicherung im und der Abruf aus dem Langzeitgedächtnis bei mehr Praxis leichter wird, dann ist der Umfang, in dem neue Informationen verarbeitet werden können, anscheinend unbegrenzt. Ein charakteristisches Merkmal, das in unserer Erörterung fast übersehen wurde,ist die Übung – ein Thema,das von Ericsson, Krampe und Tesch-Römer (1993) in allen Einzelheiten analysiert wurde. Allem Anschein nach liegen der Entwicklung von Experten Stunden und Stunden einsatzfreudiger Übung zugrunde. Obwohl die Redewen-
dung »Übung macht den Meister« zu vereinfachend ist, um sich als wissenschaftliches Prinzip zu qualifizieren, ist Übung dennoch von großer Bedeutung bei der Förderung von Fertigkeit und Expertise. Vor mehreren Jahren hielt Bill Chase einen Vortrag über Experten, in dem er versprach, dem Publikum zu sagen, welches die Voraussetzung dafür sei, Schachgroßmeister zu werden. Seine Antwort: »Übung.« Nach dem Vortrag fragte ich Chase, wie viel Übung man denn brauche. »Habe ich vergessen zu sagen, wie viel?«, fragte er spöttisch und fügte hinzu: »Zehntausend Stunden.« Obwohl eine simple, unvernünftige, hirnlose Übung kontraproduktiv zu sein scheint,weist die gut eingeteilte, intelligente Übung einen positiven Zusammenhang mit Expertise auf.
Zusammenfassung 1. Eine Mnemotechnik ist eine Technik, die die Speicherung oder Enkodierung im und den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis leichter macht. 2. Es wurde eine Vielzahl von Mnemotechniken entwickelt und dazu gehören solche Strategien wie bildhafte Vorstellung und Vermittlung (z. B. die Loci-Methode oder das Hakenwortsystem), phonemische und orthographische Charakteristika (z. B. der Abruf von Wörtern und Zahlen), phonemische Hinweisreize und bildliche Vermittlung (z. B. das Abrufen von Namen und die Schlüsselwortmethode) sowie semantische Organisation. 3. Der Erfolg von Mnemotechniken zur Verbesserung des Gedächtnisses wird darauf zurückgeführt, dass sie dem Einzelnen bei der Organisation von Informationen helfen. 4. Untersuchungen an Einzelpersonen mit einem außergewöhnlichen Gedächtnis deuten darauf hin, dass an ihren Fähigkeiten eine Vielfalt von mnemotechnischen Kombinationen beteiligt sind: die LociMethode, die bildhafte Vorstellung und ein modifiziertes Hakenwortsystem; die Loci-Methode, die bildhafte Vorstellung und die Synästhesie (z. B. S.); die semantische Vermittlung (z. B. V. P.). 5. Untersuchungen an einem Experten für Porträtzeichnen, H. O., zeigten, dass der Teil im Gehirn, der an der
assoziativen Verarbeitung beteiligt ist, bei einem Laien aktiver ist, wohingegen der Laie einen relativ geringeren Grad der Aktivierung in dem Bereich aufwies, der für die Verarbeitung von Gesichtern zuständig ist. Auch verweisen Studien zu den Blickbewegungen und Fixationen sowie zu Handbewegungen des Künstlers auf Eigenschaften, die einzigartig für den Experten sind. 6. Studien an Experten deuten darauf hin, dass sie in ihrem eigenen Bereich hervorstechende Leistungen zeigen, bedeutsame Muster wahrnehmen, schnell sind, ihr Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis gut nutzen, ein Problem auf einem tief gehenden Niveau repräsentieren, ein Problem qualitativ analysieren und über Fähigkeiten zur Selbstüberwachung verfügen. 7. Einige gewöhnliche Menschen sind darin trainiert worden, außergewöhnliche mathematische Berechnungen auszuführen und lange Ketten von Zahlen zu erinnern. Es gelang ihnen, indem sie ihr Wissen im Langzeitgedächtnis effizient nutzten. 8. Eine gut eingeübte Leistung wird durch Organisation des Materials, Zugang zu diesem Wissen, Geschwindigkeit bei den Enkodierungsmustern und durch Praxis erreicht.
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Kapitel 6 · Mnemotechniken und Experten
Schlüsselwörter
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▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Abrufstrukturprinzip Akronym Akrostichon Experten Expertensysteme Facial cognizance (Kenntnisnahme von Gesichtern) Hakenwortsystem Loci-Methode mnemotechnisches Enkodierungsprinzip Mnemotechnik Organisationsschemata Schlüsselwortmethode Synästhesie Von-Restorff-Effekt
Literaturempfehlungen Zu den populären Büchern über Mnemotechniken, die recht gut sind, gehören Cermak, Improving Your Memory; Lorayne und Lucas, The Memory Book; Yates, The Art of Memory; Young und Gibson, How to Develop an Exceptional Memory; Hunter, Memory: Facts and Fallacies sowie Luria, The Mind of a Mnemonist. S.B. Smith hat ein Buch mit dem folgenden Titel geschrieben: The Great Mental Calculators: The Psychology, Methods, and Lives of Calculating Prodigies, Past and Present. Empfehlenswert sind auch Practical Aspects of Memory von Gruneberg, Morris und Sykes; Cognitive Psychology and Cognitive Skills and Their Acquisition von J.R.Anderson sowie Memory: Interdisciplinary Approaches, herausgegeben von Solomon et al.Vor allem möchte ich den von Chi, Glaser und Farr herausgegebenen Band The Nature of Expertise empfehlen. Jean Bédard und Michelene Chi haben einen Artikel mit dem Titel »Expertise« in Current Directions in Psychological Science (1993) veröffentlicht, der das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Wissen gut zusammenfasst. Ericsson, Krampe und Tesch-Römer haben einen Artikel im Psychological Review (1993) publiziert, der einen der besten Beiträge über das Thema Leistung von Experten darstellt und ebenso sehr zu empfehlen ist wie Ericssons und Charness’ Artikel »Expert Performance« im American Psychologist.
7 Gedächtnis – Strukturen und Prozesse 7.1
Kurzzeitgedächtnis –181
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5
Neurokognition und KZG –182 Arbeitsgedächtnis –183 Kapazität des KZG –185 Die Kodierung von Informationen im KZG –186 Abruf von Informationen aus dem KZG –192
7.2
Langzeitgedächtnis –194
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5
Neurokognition und LZG –195 LZG: Speicherung und Struktur –196 Ultralangzeitgedächtnis – Very Long-Term Memory (VLTM) –199 Autobiographische Erinnerungen –203 Erinnerungsfehler und die Identifikation durch Augenzeugen –206
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
Anregungen vorab 1. Welche Arten des Gedächtnisses gibt es? 2. Welche wichtigen Experimente standen am Anfang der Forschung zum Gedächtnis und trugen mit dazu bei, die kognitive Revolution zu formen? 3. Wie viele Informationen kann man im Kurzzeitgedächtnis behalten? 4. Was bedeutet »Chunking« von Informationen und auf welche Weise verbessert es unsere Fähigkeit zur Speicherung von Wissen? 5. Wie werden Informationen kodiert und aus dem Kurzzeitgedächtnis abgerufen? 6. Wie werden Informationen im Langzeitgedächtnis gespeichert und organisiert? 7. Welches Ergebnis hatten Untersuchungen zum Langzeitgedächtnis in Bezug auf seine Dauerhaftigkeit? 8. Was haben uns Gedächtnisstudien im Hinblick auf die Fehlbarkeit des Gedächtnisses gezeigt, insbesondere was die genaue Beschreibung der Ereignisse durch Augenzeugen einer Straftat angeht?
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Das Leben kann nur mit Blick auf die Zukunft gelebt, jedoch in der Rückschau verstanden werden. Kierkegaard
Es gibt keinen anderen Bereich, der gründlicher von Kognitionspsychologen untersucht worden wäre als das Gedächtnis. Und in den frühen Tagen der kognitiven Revolution innerhalb der Psychologie steckte die Gedächtnisforschung den Rahmen der kognitiven Psychologie ab. Das Thema Gedächtnis war auch prominent in den Schriften der frühen Untersuchungen vertreten – von William James in Amerika und Hermann Ebbinghaus in Deutschland. Es wurde jedoch vernachlässigt, als die US-Psychologie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Lernen bei Mensch und Tier widmete. Aus dem Lernlabor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich ein Interesse daran, wie Dinge, die gelernt werden, gespeichert und transformiert werden.Das Interesse am Gedächtnis nahm auch die Aufmerksamkeit der experimentellen Psychologen in Anspruch, die genau ausgearbeitete Theorien mentaler Repräsentationen der Art und Weise formulierten, wie Informationen abgespeichert werden. Eines der Gedächtnismodelle, das länger Bestand hatte, wurde ursprünglich von William James vorgeschlagen, obwohl es mehrfach in bedeutsamer Weise überarbeitet wurde. In diesem Modell wird angenommen, dass das Gedächtnis seinem Wesen nach dichotom ist: Einige Dinge werden wahrgenommen, gelangen ins Gedächtnis und gehen dann verloren; andere Dinge bleiben für immer im Gedächtnis.Der Begriff des
Kurzzeitgedächtnisses (KZG) und des Langzeitgedächtnisses (LZG), die das Thema dieses Kapitels bilden, hatte hier seinen Ursprung. Versuchen Sie nun bitte, bevor wir weitermachen und ohne dass Sie hinten nachschlagen, die folgenden Fragen zu beantworten: ▬ Wer war der Autor des Zitats zu Beginn dieses Kapitels? ▬ Welche beiden frühen Psychologen hatten ein besonderes Interesse am Gedächtnis? ▬ Welche beiden Gedächtnisarten wurden oben erwähnt? Bei den eben gestellten Fragen ist es wahrscheinlich, dass sie sich an einige Dinge erinnern konnten, aber an andere nicht. Warum? Ein Teil des Rätsels besteht darin, dass einige Fakten im Langzeitgedächtnis bleiben, während andere zeitweilig im Kurzzeitgedächtnis verarbeitet und dann vergessen werden.Jetzt wollen wir einmal sehen,wie viel von dem folgenden Material Sie behalten werden – zumindest bis zur nächsten Prüfung.
181 7.1 · Kurzzeitgedächtnis
7.1
Kurzzeitgedächtnis
Zwischen den Rezeptoren (die Tausende von Reizen aus der Umwelt aufnehmen) und dem expansiven Aufbewahrungsort für Informationen und Wissen (Langzeitgedächtnis oder LZG) ist das Kurzzeitgedächtnis (KZG) anzusiedeln. Es ist winzig im Hinblick auf seine Aufnahmekapazität,aber riesig im Hinblick auf seine Bedeutung.Mit einiger Klarheit können wir sagen, dass wir anscheinend eher hier als in irgendeinem anderen Gedächtnissystem die Reize zunächst verarbeiten, die aus der Umwelt zu uns gelangen. Seine minimale Speicherkapazität hat seine Entsprechung in seiner begrenzten Verarbeitungskapazität und manche Autoren sind der Auffassung,dass ständig ein Kompromiss zwischen der Speicherkapazität und den Verarbeitungsfähigkeiten geschlossen werden muss. James’ Begriff des primären Gedächtnisses und Ebbinghaus’ Vergessenskurve schuf vor mehr als 100 Jahren ( siehe Kapitel 8) die Grundlage für eine bemerkenswert einfache und doch hoch bedeutsame Entdeckung: Im Jahre 1959 zeigten Lloyd Peterson und Margaret Intons-Peterson, dass unsere Kapazität, Informationen in einem temporären Reservegedächtnis zu speichern, sehr begrenzt und anfällig für schwere Vergessensfehler ist, wenn wir nicht die Möglichkeit haben, die Informationen zu wiederholen (eine ähnliche Entdeckung machte der in England arbeitende J. Brown, deswegen spricht man auch von der Brown-Peterson-Technik). Dieses Experiment stellte einen Wendepunkt in unserer experimentellen Konzeptualisierung dessen dar, was Behalten im Kurzzeitgedächtnis bedeutet. Es trug zusammen mit anderen bahnbrechenden Experimenten, Büchern und Untersuchungen dazu bei, das hervorzubringen, was die kognitive Revolution werden sollte. Das Experiment der Petersons war insofern wichtig, als man vor dieser Zeit nur auf der Grundlage neurologischer Strukturen (siehe Hebb,
Lloyd Peterson und Margaret Intons-Peterson. Entdeckten die Dauerhaftigkeit des Kurzzeitgedächtnisses
1949) und psychologische Begrifflichkeiten (siehe James, 1890) zwischen KZG und LZG unterschied. In dem von Ehepaar Petersen durchgeführten Experiment mussten die Versuchspersonen eine Gruppe von drei Buchstaben lesen und wurden gebeten, diese nach unterschiedlichen Zeitspannen aus dem Gedächtnis abzurufen. In dieser Zeit (zwischen dem Hören der Buchstaben und dem versuchten Abruf aus dem Gedächtnis) zählten die Versuchspersonen in Dreierschritten von einer dreistelligen Zahl ausgehend rückwärts, die ihnen unmittelbar nach der Gruppe von drei Buchstaben etwa wie folgt präsentiert wurde: > Versuchsleiter sagt: CHJ/506 Versuchsperson antwortet: 506, 503, 500, 497, 494 usw.
Somit wurde die Zeit zwischen der Darbietung der Buchstaben und dem Abruf aus dem Gedächtnis mit der Subtraktionsaufgabe ausgefüllt, wodurch die Wiederholung der Buchstabenfolge verhindert wurde. Die einschneidenden Auswirkungen sind in ⊡ Abb. 7.1 dargestellt. Hier wird deutlich, dass die Abrufmenge erheblich zurückgeht, wenn keine Möglichkeit zur Wiederholung vorhanden ist. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Informationen in irgendeinem Gedächtnissystem gespeichert werden konnten,dass sie aber wieder aus dem Gedächtnis verschwinden,wenn sie nicht wiederholt werden.Aus diesen Befunden kann man schließen, dass es ein vorübergehendes Gedächtnis (KZG) gibt, das charakteristische Eigenschaften hat, die ganz anders sind als die eines perma-
⊡ Abb. 7.1. Abruf als Funktion des Abrufintervalls, wobei die wiederholende Übung verhindert wurde. Adaptiert nach Peterson und Peterson (1959)
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
nenten Aufbewahrungsortes für Informationen (LZG). Durch Hunderte von Experimenten haben wir in der Zwischenzeit ein recht gutes Bild von den charakteristischen Eigenschaften des Kurzzeitgedächtnisses.In diesem Kapitel geben wir einen Überblick über einige dieser Unterscheidungsmerkmale des KZG und darüber,wie diese Struktur in eine Theorie der Informationsverarbeitung insgesamt eingepasst werden kann. Dabei gehen wir gelegentlich auf einige der Kontroversen im Zusammenhang mit dem KZG ein. Die Gründe, die für zwei Gedächtnisspeicher sprechen, können wie folgt zusammengefasst werden: ▬ Durch gelegentliche Introspektion erhält man Hinweise darauf, dass einige Dinge für kurze Zeit, andere für lange Zeit erinnert werden. ▬ Physiologische Untersuchungen zeigen, dass die Kurzzeitfunktionen unterbrochen werden können,während die Langzeitfunktionen intakt zu bleiben scheinen. ▬ Psychologische Experimente weisen darauf hin, dass der Abruf einiger bestimmter Informationen aus dem Gedächtnis ein charakteristisches Merkmal für eine Kurzzeitfunktion ist, während der Abruf anderer Informationen ein charakteristisches Merkmal einer Langzeitfunktion ist (z.B. Daten zum Primacy- und Recency-Effekt).
Temporallappens einschließlich des Hippocampus entfernt. Obwohl sich die Epilepsie des Patienten besserte, entwickelte er eine hochgradige Amnesie und konnte anscheinend keine neuen Informationen im LZG speichern. Sein KZG war jedoch nicht beeinträchtigt. Er konnte sich an Zahlenreihen erinnern, die für einen kurzen Augen-
7.1.1 Neurokognition und KZG Neurophysiologische Befunde deuten darauf hin,dass sich strukturell innerhalb des menschlichen Gehirns ein getrennter Gedächtnisspeicher lokalisieren lässt. Die ursprünglichen Untersuchungen dazu erschienen etwa zur selben Zeit wie das berühmte psychologische Experiment von Peterson und Peterson. Sie beschäftigten sich jedoch mit klinischen Patienten, die wiederum eine Form eines körperlichen Traumas oder eine Hirnverletzung hinter sich hatten. Der berühmteste Fall, der von H.M., wurde von Brenda Milner (1966) vorgestellt – einer Forscherin aus Kanada (dort sind viele berühmte Arbeiten zur Neurokognition entstanden; Craik, Hebb, Milner, Moscovitch, Roberts, Sergent, Tulving und viele andere haben ihre wichtigsten Forschungsarbeiten in Kanada durchgeführt). Der Patient klagte über eine schwere Epilepsie und es wurde, um ihn von den Symptomen zu erlösen, nach einer gründlichen medizinischen Untersuchung eine bilaterale chirurgische Exzision der medialen Temporalregion durchgeführt. Bei diesem Verfahren wurden Teile des
⊡ Abb. 7.2. A. In diesem Test war es Aufgabe der Versuchsperson, den Pfad zwischen den beiden Rändern des Sterns zu verfolgen, während sie ihre Hand im Spiegel sah. Der Umkehreffekt des Spiegels erschwerte diese Aufgabe anfangs. Das Überschreiten einer Linie stellt einen Fehler dar. B.H.M. verbesserte eindeutig seine Leistung bei den motorischen Aufgaben des Sterntests. Hier handelt es sich um etwas, das mit dem prozeduralen Gedächtnis zu tun hat. Aus Blakemore (1977)
183 7.1 · Kurzzeitgedächtnis
blick dargeboten wurden, konnte jedoch ähnliche Informationen nicht über einen längeren Zeitraum behalten. Seine langfristigen Erinnerungen, die sich vor der Operation gebildet hatten, waren im durchschnittlichen Bereich und bei Standardintelligenztests zeigte er sogar normale Leistungen. Dennoch konnte er sich die Namen oder Gesichter von Menschen, die er regelmäßig sah, nicht merken. Er konnte sich mit Frau Milner, wenn sie ihn besuchte, normal unterhalten, konnte sich jedoch nicht an ihre vorherigen Besuche erinnern. Das KZG von H.M. schien intakt zu sein, aber ihm fehlte die Fähigkeit, neue Erinnerungen im LZG zu bilden. Weil er Läsionen im Temporallappen und im Hippocampus hatte, liegt es auf der Hand, dass diese Hirnregionen wichtige Gedächtnisstrukturen enthalten. Insbesondere scheint der Hippocampus ein
temporärer Aufbewahrungsort für das Langzeitgedächtnis zu sein, in dem früh erlebte Informationen verarbeitet und dann an den zerebralen Kortex zur permanenten Speicherung weitergeleitet werden. Dann machte Frau Milner eine überraschende Entdeckung, die die Art und Weise veränderte, wie wir das KZG und das LZG begrifflich fassen. Patienten wie H.M. mit Temporallappenläsionen können implizite Arten von Aufgaben erlernen,an denen perzeptive und motorische Fertigkeiten beteiligt sind. Weiterhin können sie die Erinnerung an diese Aufgaben für eine längere Zeit behalten. H.M. beispielsweise konnte lernen, ein Bild zu zeichnen, während er es nur in einem Spiegel sah, und diese Fertigkeit über eine bestimmte Zeit beizubehalten (⊡ Abb. 7.2A).
Gibt es das Kurzzeitgedächtnis? Die Antwort auf diese Frage muss ganz sicher »Ja« lauten, und zwar im doppelten Sinn: Gedächtnis für kurze Zeit. Zunächst einmal müssen Personen imstande sein, Informationen für kurze Zeitintervalle zu behalten. Als allgemeines Aussage kann man darüber nicht diskutieren … Hebbs Theorie der zweifachen Spur … Hebb schlug vor, dass, wenn die ursprüngliche Aktivität für einige Zeit fortgeführt wird …, strukturelle Veränderungen an den synap-
Wie in ⊡ Abb. 7.2B dargestellt verbesserten sich über die einzelnen Versuche hinweg H.M.s Lernergebnisse, aber er hatte kein Wissen darüber, dass er die Aufgaben ausgeführt hatte. Somit schien sein prozedurales Gedächtnis normal zu funktionieren, aber seine Fähigkeit, neue Informationen zu erlernen, war unzureichend. Und dann ist da auch noch der von Elizabeth Warrington und Tom Shallice (1969) untersuchte Fall K.F., bei dem es sich genau umgekehrt verhielt. Er hatte große Schwierigkeiten, Zahlenreihen zu lernen (er konnte sich zuverlässig nur an eine einzelne Ziffer erinnern),aber sein LZG und seine Fähigkeit, neues Material für einen längeren Zeitraum zu lernen, schien intakt zu sein. Diese kleine Stichprobe, erweitert durch Untersuchungen an Dutzenden anderer körperlich geschädigter Patienten (zu weiteren Informationen siehe Kandel, Schwartz & Jessell, 1991; Martin, 1993; Pinel, 1993; Shallice & Vallar, 1990; Squire,
tischen Kontaktpunkten zwischen den Zellen die Erinnerung später erhalten könnten. Diese strukturellen Veränderungen würden, wie viele meinen, dem Langzeitgedächtnis entsprechen und die fortgeführte Aktivität von vorher – sozusagen eine Rückstrahlung – könnte als Kurzzeitgedächtnis identifiziert werden. Robert G. Crowder (1993)
1987), deutet darauf hin, dass es anatomische Strukturen
gibt, die an diesen beiden Arten des Gedächtnisses beteiligt sind. Bei der umfassenderen Frage jedoch geht es um die Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Dieser Teil des Rätsels ist immer noch weitgehend ungelöst.
7.1.2 Arbeitsgedächtnis Der von Frau Milner vorgestellte Fall von H.M. und die Formulierung des Brown-Peterson-Paradigmas kann als Stützung für den Begriff des KZG als ein klar unterscheidbares Gedächtnissystem betrachtet werden. Man begriff das KZG nicht nur als etwas verhaltensmäßig vom LZG Getrenntes, sondern es hatte auch eine physiologische Grundlage, wie dies durch neurologische Studien an
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184
7
Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
hirngeschädigten Patienten bestätigt worden war. Dennoch wurde die Auffassung, wonach es ein klar dichotomisiertes Gedächtnissystem gab, bei dem das Gedächtnis schlicht ohne weitere Differenzierungen in LZG auf der einen Seite und KZG auf der anderen Seite eingeteilt wurde, durch Allen Baddeley und seine Kollegen infrage gestellt (Baddeley & Hitch, 1974; Baddeley, 1986, 1990, 1992). Die Art eines frühen Gedächtnisses, wie es von Baddeley vorgeschlagen wurde, umfasste einen spezialisierten Teil des LZG, aber es hat auch einige Merkmale mit dem KZG gemeinsam. Diese Art des Gedächtnisses bezeichnet man als Arbeitsgedächtnis. Es wird als ein System definiert,das zeitweilig Informationen aufbewahrt und manipuliert, wenn wir kognitive Aufgaben ausführen. Wenn Sie beispielsweise gebeten werden, 53 mit 78 zu multiplizieren, dann könnten Sie damit beginnen, dass Sie innerlich sagen: »Acht mal drei ist 24; behalte die vier im Gedächtnis und addiere die zwei zum Produkt von 8 mal 5, das 40 ist, hinzu, also 42 … «. Oder wenn ich Sie bitten würde, eine Gruppe von Wörtern wie Albuquerque, Cincinnati und Sacramento zu erinnern, könnten Sie still zu sich sagen: »Al bu quer que, Cin cin at i …«. Und wenn ich Ihnen eine andere Liste vorgelegt hätte wie Tucson, Fargo und Austin, würden sie das Gleiche tun, aber die Zeit, die Sie dafür bräuchten, um im Arbeitsgedächtnis Tucson zu sich zu sagen, wäre kürzer als die Zeit, die sie benötigten, um im Geiste Albuquerque zu sich zu sagen. Das Arbeitsgedächtnis kann man sich begrifflich als eine Art Werkbank vorstellen, auf der ständig neue und alte Informationen transformiert, kombiniert und wieder transformiert werden. Der Begriff des Arbeitsgedächtnisses stellt die Auffassung infrage, dass das KZG einfach ein weiterer Kasten im Kopf ist, in dem Informationen passiv aufbewahrt werden – eine unbedeutende Station auf dem Weg, entweder vergessen oder ins LZG geschickt zu werden. Es wird behauptet, dass unser Arbeitsgedächtnis jeweils zur Aktivität passen muss. Der Begriff des Arbeitsgedächtnisses stellt auch den Gedanken infrage, dass die Kapazität des KZG auf etwa sieben Items begrenzt ist ( siehe nächster Abschnitt).Baddeley argumentiert, dass die Gedächtnisspanne durch die Geschwindigkeit festgelegt wird, mit der wir Informationen wiederholen.Bei verbalem Material behauptet er,dass es bei uns eine Artikulationsschleife gibt,in der wir so viele Informationen behalten können,wie wir sie während einer festen Zeitdauer wiederholen können. Nehmen wir folgendes Beispiel. Lesen Sie die unten aufgelisteten fünf
Wörter und versuchen Sie sie zu wiederholen, ohne dass Sie noch einmal nachlesen: > WIT, SUM, HARM, BAY, TOP (WITZ, SUMME, SCHADEN, BUCHT, SPITZE)
Wie haben Sie es gemacht? Die meisten Menschen bewältigen diese Aufgabe recht gut.Jetzt versuchen Sie es einmal mit diesen Wörtern: > UNIVERSITY, OPPORTUNITY, ALUMINUM, CONSTITUTIONAL, AUDITORIUM (UNIVERSITÄT, GELEGENHEIT, ALUMINIUM, KONSTITUTIONELL, AUDITORIUM)
Diese Aufgabe ist viel schwerer und im Schnitt werden nur 2,6 Items aus dem Gedächtnis abgerufen. Nach Baddeley besteht der wichtige Unterschied darin, dass man bei der letzten Gruppe für jedes Wort mehr Zeit braucht, um es zu sagen. Der Kerngedanke ist, dass wir im Arbeitsgedächtnis nur eine begrenzte Informationsmenge wiederholen können und dass die Zeit zum Aussprechen des Wortes ein determinierender Faktor ist.Dies hat etwas mit einem Vorgang zu tun, den man phonologische Schleife nennt (⊡ Abb. 7.3). Die phonologische Schleife ist ein Wiederholungskreislauf, der die innere Sprache aufbewahrt, um
⊡ Abb. 7.3. Eine graphische Darstellung, die Baddeleys Modell des Arbeitsgedächtnisses veranschaulicht, bei dem die Input-Information vom System der zentralen Exekutive verarbeitet wird, das Zugang zu zwei Untersystemen (»slave systems«) des Kurzzeitgedächtnisses hat. Ein System – die Artikulationsschleife – verarbeitet verbale Informationen und das andere – der visuell-räumliche Notizblock – verarbeitet visuelle und räumliche Informationen. Die zentrale Exekutive interagiert auch mit dem Langzeitgedächtnis
185 7.1 · Kurzzeitgedächtnis
Wörter zu verstehen.Es gibt auch einen Notizblock für das räumliche Sehen, der für das Wiederholen der Bilder sowie für deren kurzzeitige Aufbewahrung zuständig ist. Diese Vorgänge werden durch eine zentrale Exekutive reguliert,die die Aufmerksamkeitsaktivität koordiniert und die Reaktionen steuert.Die zentrale Exekutive verhält sich in starkem Maße wie ein Überwachungsorgan, das darüber entscheidet, welche Themen Aufmerksamkeit verdienen und welche ignoriert werden sollen. Kurz nachdem das Modell des Arbeitsgedächtnisses vorgestellt worden war, konzentrierten sich die Forscher darauf, mit Hilfe herkömmlicher psychologischer Messverfahren mehr über die phonologische Schleife, über das Arbeitsgedächtnis für räumliches Sehen und über die spezielle Eigenart der zentralen Exekutive herauszufinden. Kürzlich wurden jedoch mit beträchtlichem Erfolg neurokognitive Messverfahren auf das Modell angewandt.Cabeza und Nyberg (1997) haben nach Messungen mit Hilfe des PET-Verfahrens gezeigt, dass die phonologische Schleife, die daran beteiligt ist, sprachbezogene Informationen aufrechtzuerhalten,mit der bilateralen Aktivierung des Frontallappens und des Parietallappens zusammenhängt. Und nach einer von Haxby, Ungerleider, Horwitz, Rapoport und Grady (1995) durchgeführten Untersuchung aktiviert der Notizblock für das räumliche Sehen unterschiedliche Bereiche des Kortex. Man hatte hier herausgefunden, dass kurze Intervalle die Okzipitallappen und den rechten Frontallappen aktivieren, während längere Intervalle dazu führen, dass die Bereiche der Parietallappen und des linken Frontallappens beteiligt sind. In zunehmendem Maße werden Beobachtungen, die durch die Technologie der bildgebenden Verfahren ermöglicht werden, auf Gedächtnismodelle angewandt und immer mehr Teile des Puzzles Gedächtnis fügen sich zu einem Gesamtbild.
7.1.3 Kapazität des KZG Im Vergleich mit der gewaltigen Informationsmenge, die im LZG gespeichert wird, ist die Informationsmenge, die im KZG gespeichert wirkt, recht klein. Die frühesten Befunde,die über die begrenzte Kapazität des KZG (oder des »unmittelbaren« Gedächtnisses) berichtet werden, scheinen von Sir William Hamilton, einem Philosophen des 19. Jahrhunderts, zu stammen. Ihm wird nachgesagt, dass er Folgendes beobachtet hat: »Wenn man eine Hand voll Murmeln auf den Boden wirft, wird man es als schwierig
Sir William Hamilton dachte schon im 19. Jahrhundert über die Kapazität des KZG nach
empfinden, mehr als sechs oder höchstens sieben auf einmal zu betrachten, ohne sie durcheinander zu bringen« (zitiert nach Miller, 1956b). Es ist nicht bekannt, ob Hamilton dieses Experiment tatsächlich machte, aber ein ähnliches Experiment wurde im Jahre 1887 von Jacobs durchgeführt (zitiert nach Miller,1956a).Er las eine Reihe von Zahlen laut ohne eine bestimmte Reihenfolge vor und bat seine Zuhörer, sofort so viele Zahlen, wie sie erinnern konnten, aufzuschreiben. Die maximale Anzahl der Zahlen, an die sie sich erinnerten, betrug etwa sieben. Während des gesamten 20. Jahrhunderts wurden Experimente dieser Art mit Hilfe von Punkten, Bohnen, sinnlosen Silben, Zahlen, Wörtern und Buchstaben durchgeführt und sie führten zu konsistenten Ergebnissen: Das unmittelbare Gedächtnis scheint auf etwa sieben Einheiten begrenzt zu sein. KZG und Chunking. Dass im KZG unabhängig von der Art der Daten, um die es geht, sieben Einheiten behalten werden, scheint paradox zu sein. Offensichtlich enthält eine Kette von Wörtern mehr inhaltliche Informationen als eine Kette von Buchstaben. Beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie, wenn man Ihnen die Zeichenkette T, V, K, A, M, Q, B, R, J, L, E, W darbieten würde, etwa sieben Buchstaben erinnern könnten.Wenn man Ih-
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
George Miller. Sein Buch Language and Communication (1951) gab der Psycholinguistik und der kognitiven Psychologie eine Orientierung. Präsident der American Psychological Association, 1969
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nen die Kette Handtuch, Musik, Boss, Ziel, Salat, Kirche, Geld, Helium, Zucker, Papagei, Musik, Huhn präsentierte, würden Sie wahrscheinlich wiederum etwa sieben Items erinnern (die genaue Anzahl hängt von der Geschwindigkeit der Darbietung ab). Wenn man sich jedoch die Menge des Informationsabrufs (zumindest bezogen auf die Anzahl der Buchstaben) genauer ansieht, dann wird offensichtlich, dass unter der letztgenannten Bedingung mehr Informationen erinnert werden als unter der ersten. Miller (1956b) bot eine Erklärung dafür an, wie die Items im KZG kodiert werden. Er postulierte ein Gedächtnismodell, in dem sieben Informationseinheiten behalten werden konnten. Einzelne Buchstaben repräsentierten einzelne Informationsteile und als solches würde jeder einzelne Buchstabe einen freien Platz ausfüllen.Die Buchstaben,die zusammen ein Wort ergaben,wurden jedoch in eine Worteinheit »gechunkt«, sodass jede einzelne dieser Worteinheiten auch einen freien Platz im KZG besetzte. Somit wurde die höhere Kapazität des KZG (im Sinne einer größeren Anzahl von Buchstaben) durch die Kodierung der Buchstabenfolgen in Worteinheiten erreicht.Obwohl also unsere unmittelbare Gedächtniskapazität auf sieben Informationseinheiten begrenzt zu sein scheint,erweitert Chunking (oder die Kodierung einzelner Einheiten in größere Einheiten) unsere Kapazität in starkem Maße. Für Miller schien diese Art der linguistischen Neukodierung »das eigentliche Lebenselixier des Denkprozesses« zu sein. Und schließlich ist Chunking bedeutsam, weil es eine Erklärung dafür liefert, wie so viele Informationen durch das KZG verarbeitet werden können.Es würde nämlich sonst einen Engpass innerhalb der Sequenz der Informationsverarbeitung geben, wenn es auf sieben Einheiten beschränkt wäre. KZG, LZG und Chunking. Die Fähigkeit des KZG, mit riesigen Informationsmengen umzugehen, wird durch
unsere Fähigkeit gefördert, Informationen zu »chunken«. Es kann jedoch nicht zum Chunking kommen,wenn nicht irgendwelche Informationen im LZG aktiviert sind. Passen die hereinkommenden Items zu ihrer Repräsentation im LZG, lässt sich mit Hilfe unseres umfangreichen Wissens scheinbar zusammenhangloses Material strukturieren. Die Verbindung zwischen LZG und Chunking wurde auf anschauliche Weise in einem Experiment von Bower und Springston (1970) demonstriert,in dem die Versuchspersonen eine Buchstabenfolge lesen mussten und gebeten wurden, die Buchstaben aus dem Gedächtnis abzurufen.Unter einer Bedingung (A) lasen die Versuchsleiter die Buchstaben so vor, dass sie keine wohl bekannte Gruppe bildeten (und damit nicht im LZG vorhanden waren). Unter einer anderen Bedingung (B) lasen sie die Buchstaben so vor,dass sie wohl bekannte Gruppen ergaben.Sehen Sie sich das folgende Beispiel an: > Bedingung A: FB ... IPH ... DTW ... AIB ... M Bedingung B: FBI ... PHD ... TWA ... IBM 1
Es besteht wenig Zweifel, dass die Buchstaben, die unter der zweiten Bedingung (B) gelesen und die leichter aus dem Gedächtnis abgerufen wurden, im Prinzip nach Abkürzungen gruppiert wurden,die den meisten amerikanischen Studenten wohl bekannt sind. Im Endeffekt gestattet es die Pause nach FBI,PHD usw.den Versuchspersonen, dies in ihrem mentalen Lexikon »nachzusehen« und dadurch die Buchstaben in einem Chunk zu enkodieren, ebenso wie Sie jetzt Wort-Chunks aus den Buchstaben auf dieser Seite bilden. Die Kapazität des KZG mag zwar auf sieben Einheiten begrenzt sein, aber die Dichte der Informationen in einer Einheit kann sehr große Variationen aufweisen.
7.1.4 Die Kodierung von Informationen
im KZG Akustischer Code. Das KZG scheint mit Hilfe eines akustischen Codes zu funktionieren, auch wenn die Informationen anhand eines nicht akustischen (wie etwa eines visuellen) Codes aufgenommen werden.Obwohl neuere Be-
1
Federal Bureau of Investigation, Philosophical Doctor, Trans World Airlines, International Business Machines.
187 7.1 · Kurzzeitgedächtnis
funde auf eine gewisse Überlappung zwischen den Codes hindeuten, scheint bei der Kodierung von Informationen im KZG die akustische Kodierung deutlich zu überwiegen. Denken Sie einmal an die folgende Erfahrung aus dem Alltag: Die Telefonauskunft nennt Ihnen eine Telefonnummer, sagen wir 969 63 91.Vermutlich müssen Sie diese Nummer im KZG behalten, bis Sie sie gewählt haben. Wie sorgen Sie nun dafür, dass sie dort bleibt? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie sie (wenn Sie sie nicht aufschreiben) für sich selbst oder laut wiederholen: »969 63 91, 969 63 91« usw. Hier handelt es sich um eine Übung zur Aufrechterhaltung der akustischen Repräsentation von Ziffern im KZG. Vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands aus behalten wir somit Informationen durch akustische Wiederholung im KZG. Man könnte jedoch argumentieren, dass die Informationsquelle (die Stimme von der Auskunft) eine akustische Quelle war.Dadurch wurde die Eigenart der Speicherung im KZG auf systematische Weise verzerrt. Tatsächlich ist es jedoch wahrscheinlich,dass Sie die Nummer auf die gleiche Weise akustisch wiederholen, selbst wenn Sie sie in einem Telefonbuch finden, das ja einen visuellen Reiz darstellt. Auf welche Art die Information auch immer repräsentiert sein mag,die Speicherung im KZG scheint also eine akustische zu sein. Weil die Wissenschaft misstrauisch gegenüber Antworten des gesunden Menschenverstands ist, sind die Unterschiede in Bezug auf die Speicherungseigenschaften als Mittel zur Unterscheidung zwischen KZG und LZG ausführlich im Labor untersucht worden. Einige wichtige Ergebnisse sind in den nächsten Abschnitten zusammengefasst. Ein oft zitiertes frühes Experiment von R. Conrad (1963, 1964) belegte, dass KZG-Fehler eher auf der Basis akustischer als auf der Basis visueller Charakteristika gemacht wurden. Conrads Experiment bestand aus zwei Phasen: In der ersten erfasste er den Abruf von Fehlern aus dem Gedächtnis, die bei einer Gruppe von visuell dargebotenen Buchstaben gemacht wurden. In der zweiten erfasste er die Fehler, die den Versuchspersonen unterlaufen waren,denen die gleiche Gruppe von Buchstaben vorgelesen wurde, während sie neutrale Hintergrundgeräusche (weißes Rauschen) hörten.Jede Gruppe in der ersten Phase bestand aus sechs Buchstaben. Einige der Buchstaben wie etwa T – D, M – N, S – F klangen ähnlich (im Englischen waren dies C – V, M – N, S – F). Jeder Einzelne der sechs Buchstaben wurde 0,75 Sekunden lang dargeboten. Die Versuchspersonen sollten die Reihenfolge der Items
aus dem Gedächtnis abrufen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Fehler aufgrund des Klanges der Buchstaben gemacht wurden, auch wenn man sie visuell präsentierte. Beispielsweise wurde B häufig als P abgerufen, V als P und S als X. Obwohl einiges dafür spricht,dass das KZG von seiner Eigenart her etwas Akustisches ist, gibt es einige viel versprechende Alternativtheorien, mit denen wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen werden. Visueller Code. Eine ganze Reihe von Experimenten stellt die Schlussfolgerung infrage,dass das KZG Informationen nur mit Hilfe eines akustischen Codes kodiert. Einige Befunde deuten darauf hin, dass das KZG Informationen vielleicht auch mit Hilfe eines visuellen Codes kodiert, während andere zeigen, dass das KZG Informationen möglicherweise mit Hilfe eines semantischen Codes kodiert. Posner und seine Mitarbeiter (Posner, 1969; Posner et al., 1969; Posner & Keele, 1967) fanden heraus, dass Informationen zumindest bisweilen visuell im KZG kodiert werden. In ihrem Experiment bot man den Versuchspersonen zwei Buchstaben dar,den zweiten rechts von und simultan mit oder kurz nach dem ersten. Die Versuchspersonen sollten durch Drücken eines Knopfes (wodurch die Reaktionszeit gemessen werden konnte) angeben, ob die beiden Buchstaben die gleichen waren. Der zweite Buchstabe war mit dem ersten in Bezug auf den Namen und die Form identisch (AA) oder gleich in Bezug auf den Namen, aber unterschiedlich in der Form (Aa) oder er unterschied sich vom ersten (AB oder Ab); und er wurde simultan mit dem ersten oder 0,5, 1 oder 2 Sekunden danach gezeigt (⊡ Tabelle 7.1). Die Reaktionszeit war unter der zweiten Bedingung (Aa) länger als unter der ersten (AA). Eine Erklärung für diesen Unterschied lautet,dass identische Buchstaben aufGrundlage ihrer äußeren Form oder ihrer visuellen Eigenschaften beurteilt werden, während Buchstaben, die zwar den gleichen Namen, aber unterschiedliche visuelle Charakteristika haben,im Hinblick auf ihre verbalen Charakteristika verglichen werden.Der letztgenannte Prozess, so wird hypothetisch angenommen, nimmt mehr Zeit in Anspruch. Was unsere Erörterung der Codes im KZG betrifft, lautet die wichtige Schlussfolgerung, dass die Übereinstimmung von AA offensichtlich zumindest teilweise auf der Grundlage der äußeren Form oder des visuellen Codes gefunden wurde.Dieser Vorteil ist (wie in ⊡ Abb. 7.4 gezeigt) nur für kurze Zeit gegeben.
7
188
Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
⊡ Tabelle 7.1. Reaktionszeitformat, wie es von Posner und Keele (1967) verwendet wurde
Bedingung
Exemplarische Buchstaben a
Korrekte Antwort
Visuelle und Namensübereinstimmung
AA
Gleich
Namensübereinstimmung
Aa
Gleich
Visuelle und Namensnichtübereinstimmung
AB
Unterschiedlich
a Darbietungsintervall: 0–2 Sekunden.
7 Nachdem Posner nachweisen konnte,dass visuelle Codes im KZG (zusätzlich zu akustischen Codes) vorhanden sein können, machte er sich daran, die dabei ablaufenden Schritte zu beschreiben.Um die Hypothese zu überprüfen, dass die Kodierung einer bestimmten Information im KZG zunächst visuell und dann namensbasiert vonstatten geht, orientierten sich Posner et al. (1969) und Taylor (1968) am in ⊡ Abb. 7.4 dargestellten Reaktionszeitmodell.Wie Sie sich vielleicht erinnern,betrug eines der Darbietungsintervalle für die Buchstabenpaare null Sekunden. Der Gedankengang dahinter war, dass die Reaktionszeit für von der äußeren Form her (visuell) gleiche Reize, ⊡ Abb. 7.4. Reaktionszeit als Funktion des Intervalls für visuelle und Namensübereinstimmungen bei gemischten Listen und für visuelle Übereinstimmungen in homogenen Listen. Die beiden Experimente ähnelten einander sehr, außer dass in Experiment 2 die Intervalle zwischen den Reizen länger waren. Adaptiert nach Posner et al. (1969) sowie nach Boies, Posner und Taylor (1968)
die simultan dargeboten werden, sehr kurz sein sollte, wenn die Kodierung zunächst einmal anhand der visuellen Aspekte geschieht. Wenn die Namenskodierung kurz nach der visuellen Kodierung vor sich geht,dann sollte die Reaktionszeit für namensgleiche (aber nicht von der äußeren Form her gleiche) Reize, die simultan dargeboten werden, relativ langsam sein.Wie in ⊡ Abb. 7.4 dargestellt nimmt der identische Code während der sehr frühen Phase der KZG-Verarbeitung viel weniger Zeit in Anspruch als der Namenscode. Dieser Effekt verschwindet jedoch nach ein oder zwei Sekunden, wenn der Namenscode in den Vordergrund tritt.Kürzlich hat jedoch Boles (1994) Fragen zu dieser Art von Experimenten aufgeworfen und Befunde vorgestellt, die zeigen, dass die phonemische Repräsentation von Buchstaben bei der frühen Verarbeitung von Buchstaben, wenn überhaupt, eine geringe Rolle spielt. In einem Experiment,das von der Vorgehensweise her den oben dargestellten Reaktionszeitexperimenten ähnelte,konnten Solso und Short (1979) zeigen,in welchem Ausmaß Informationen im KZG verarbeitet werden. Wir gingen von der Hypothese aus, dass die Informationen, kurz nachdem sie wahrgenommen werden, simultan in unterschiedlichen Systemen kodiert werden. Solso und Short benutzten physikalische Farben (grün, blau, rot, gelb, braun und purpur), weil diese Reize anscheinend im Hinblick auf ihre Kodierbarkeit besonders reichhaltig sind. Die Untersuchung basierte auf der Annahme, dass Farben im Kurzzeitgedächtnis in mindestens drei unterscheidbaren Codes repräsentiert werden. Ein Code ist physikalisch (z.B. die Farbe rot), ein anderer ist der Name für die Farbe (z.B. rot) und der dritte ist begrifflich (beispielsweise eine
189 7.1 · Kurzzeitgedächtnis
Assoziation mit der Farbe rot wie etwa Blut). Die Versuchspersonen wurden in diesem Experiment gebeten, dadurch zu reagieren, dass sie eine Taste drückten, wenn die dargebotene Farbe zu einer Farbe,zu einem Namen für eine Farbe oder zu einer Assoziation für eine Farbe (vom Äußeren her, im Hinblick auf den Namen oder auf die Assoziation) passte. Nachdem die Farbe dargeboten worden war, präsentierte man die Farbe, den Namen oder die Assoziation simultan oder zeitversetzt um 500 bzw. 1500 Millisekunden. Die durchschnittlichen Reaktionszeiten sind in ⊡ Abb. 7.5 dargestellt. Erwartungsgemäß war die Reaktionszeit bei einer Übereinstimmung zwischen den Farben kürzer als bei der Übereinstimmung zwischen einer Farbe und ihrem Namen oder zwischen einer Farbe und ihrer Assoziation, wenn es zwischen der Darbietung der Reize keine Verzögerung gab. Mit zunehmender Verzögerung zwischen den Reizen jedoch nahmen die Unterschiede zwischen den Reaktionszeiten ab. Unter der Bedingung, dass die Farben übereinstimmten,wurden die Reaktionszeiten tatsächlich länger, wenn die Verzögerung zwischen den beiden Reizen von 500 Millisekunden auf 1500 Millisekunden verlängert wurde (⊡ Abb. 7.5). Nach diesen Befunden scheint es so zu sein, dass ein Farbcode vor dem
⊡ Abb. 7.5. Reaktionszeiten für die Passung von Farben zu Farben, zu Farbnamen und zu Farbassoziationen. Aus Solso und Short (1979)
Namenscode oder dem Assoziationscode kommt; nach etwa 500 Millisekunden tritt jedoch ein Namenscode in Aktion und nach etwa 1500 Millisekunden ein Assoziationscode. Diese Experimente (Posner et al. 1969; Solso & Short, 1979) deuteten darauf hin, dass die Informationsverarbeitung im Kurzzeitspeicher durch eine Art Parallelverarbeitung der Reize erreicht wird (bezogen auf Farben ist dazu in ⊡ Abb. 7.6 ein Modell dargestellt).Anscheinend werden die Dinge, die wir wahrnehmen (z.B. Farben) anfänglich vom sensorischen System zur Kodierung ans Gedächtnis weitergeleitet. Bei Farben und Buchstaben ist der erste Code,der stark genug ist,um eine Wirkung zu entfalten (er ist stark genug,um zuverlässig erfasst zu werden),ein physikalischer Code – Farbe zu Farbe oder A zu A beispielsweise. Dieser Code scheint innerhalb der ersten 500 Millisekunden, nachdem der Reiz aufgenommen worden ist, seine volle Stärke zu erreichen und nimmt dann leicht ab. Parallel dazu wird ein Namenscode initiiert und dieser erreicht nach etwa 500 Millisekunden seine volle Stärke. Ein Assoziationscode, der ursprünglich schwach ist, nimmt nach mindestens 1500 Millisekunden an Stärke zu. In den beschriebenen Experimenten wussten die Versuchspersonen nicht, welcher Typ von Code ihnen für ihre Reaktion präsentiert wurde; dies war erst dann der Fall,als der zweite Reiz gezeigt worden war.Wenn wir also annehmen,dass auch andere Typen von Codes aktiviert wurden, ermöglichen diese Experimente eine Schätzung, wie viele Codes durch eine einzelne kurze Konfrontation mit einem Reiz ausgelöst wurden. Derartige Befunde deuten darauf hin, dass die ursprüngliche Verarbeitung von Informationen viel aufnahmefähiger ist, als man zunächst vermutet hat. Zusammengefasst kann man sagen, dass Informationen anscheinend akustisch und visuell im KZG repräsentiert werden.Sie sollten darüber hinaus die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass auch semantische Codes im KZG wirken. Semantischer Code. Semantische Codes sind Codes, die mit der Bedeutung zusammenhängen. Die Frage, mit der wir uns in diesem Abschnitt beschäftigen, lautet, ob semantische (und damit bedeutsame) Informationen im KZG repräsentiert werden können. Mehrere Experimente deuteten darauf hin,dass dies möglich ist.Das erste dieser Experimente wurde von Delos Wickens und seinen Mitarbeitern durchgeführt (Wickens,1970,1972;Wickens,Born, & Allen, 1963; Wickens et al., 1968; Wickens & Engle, 1970). Viele Experimente wurden durchgeführt, um zu zeigen,
7
190
Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
⊡ Abb. 7.6. Entwicklung kognitiver Codes auf die Farbe Rot. Aus Solso und Short (1979)
7
dass die Bedeutungen eines Wortes aus einem Bündel von Attributen bestehen und als solche für unser Verständnis der komplexen semantischen Eigenart des KZG wichtig sind. Sie liefern uns auch einen interessanten Einblick in die Art und Weise, wie semantische Codes das KZG beeinflussen.Die meisten der Experimente von Wickens und seinen Kollegen basierten auf der Verwendung eines Designs mit proaktiver Hemmung. »Proaktive Hemmung« steht für die verringerte Fähigkeit,sich an die letzten Glieder einer Reihe zu erinnern,nachdem man die ersten Glieder gelernt hat. Wenn eine Versuchsperson beispielsweise gebeten wird, eine Reihe miteinander zusammenhängender Wörter (sagen wir Bezeichnungen für Hunde) zu lernen,und der Abruf aus dem Gedächtnis jeweils nach einer Gruppe von drei Namen überprüft wird, ist er gewöhnlich bei der ersten Gruppe am besten und wird mit jeder einzelnen sich anschließenden Gruppe allmählich schlechter. Wird eine neue Gruppe miteinander zusammenhängender Items (sagen wir Blumen) eingeführt, nachdem sich in der ersten Serie (Hunde) eine proaktive Hemmung aufgebaut hatte, wäre die Erinnerung an die Bezeichnungen für Blumen besser als an die für Hunde. Wickens hat dieses Phänomen als »release from PI« (Lösung von der proaktiven Hemmung) bezeichnet. Das experimentelle Format, das bei vielen dieser »Release-from-PI-Experimente« eingesetzt wurde, ist eine modifizierte Version der Technik, wie sie von Brown und Peterson verwendet wurde. Dabei folgt eine Distraktoraufgabe (z.B. in Dreierschritten rückwärts zählen) auf einen Reiz (z.B. ein Trigramm wie etwa KLZ). Ein als Beispiel für ein Release-from-PI dienendes Experiment wurde von Wickens durchgeführt. Der Versuchsaufbau dafür ist in ⊡ Abb. 7.7 dargestellt. Im ersten Versuch wird der Versuchsperson eine Reihe (Gruppe) von
drei miteinander zusammenhängenden Wörtern gezeigt. Als Nächstes folgt für 20 Sekunden eine Wiederholung (Aufgabe zur Vermeidung eines Distraktors,also einer falschen Antwort, die das Erraten einer richtigen Antwort verhindern soll) und die Versuchsperson muss probieren, die drei Wörter aus dem Gedächtnis abzurufen. Danach wird eine weitere Gruppe von drei Items aus der gleichen Kategorie dargeboten. Es folgen eine weitere Distraktoraufgabe und der Abruf (zweiter Versuch). Diese Vorgehensweise wird für vier Gruppen von Wörtern weiterverfolgt, außer bei der Experimentalgruppe, bei der in der letzten und vierten Darbietung die Gruppe von Wörtern aus einer anderen Kategorie stammt, während die Kontrollgruppe weiterhin Wörter aus der ursprünglichen Kategorie präsentiert bekommt. Die Ergebnisse vieler Experimente von Wickens, bei denen sehr große Stichproben mit recht unterschiedlichen Versuchspersonen zum Einsatz kamen,deuten darauf hin, dass neue Klassen von Wörtern besser erinnert werden als die alten.Ein Diagramm mit typischen Daten von Releasefrom-PI-Experimenten ist in ⊡ Abb. 7.8 dargestellt. Die Versuchsdurchgänge 1 bis 3 deuten in starkem Maße auf den Aufbau einer proaktiven Hemmung hin. Im vierten Versuchsdurchgang gibt es Hinweise auf einen weiteren Aufbau der proaktiven Hemmung in der Kontrollgruppe und auf eine Lösung von der proaktiven Hemmung in der Experimentalgruppe. Anscheinend nutzten die Versuchspersonen bei der Speicherung von Wörtern einen bestimmten Typ semantischer Organisation (z.B. Bezeichnungen für Hunde und Bezeichnungen für Blumen). Hätten sie dies nicht getan, hätte sich der Aufbau der proaktiven Hemmung wahrscheinlich auch nach dem Wechsel zu einer neuen Gruppe von Wörtern in Versuchs-
191 7.1 · Kurzzeitgedächtnis
⊡ Abb. 7.7. Experimentelle Vorgehensweise bei den Untersuchungen zu Release-from-PI
⊡ Abb. 7.8. Ergebnisse eines typischen Experiments zu Release-from-PI. Aus Wickens (1973)
7
192
7
Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
durchgang 4 fortgesetzt. Wickens’ Experimente enthalten eine breite Vielfalt von Kategorien (z.B. Berufe, Fleischsorten, Blumen, Gemüse, Wörter und Zahlen, Taxonomien, Sinneseindrücke sowie weibliche und männliche Begriffe) und bei allen Experimenten kam es zu ähnlichen Ergebnissen. Einige Wissenschaftler haben Wickens’ Experimente hinsichtlich mehrerer Punkte kritisiert. Erstens müsste das LZG der Versuchsperson auf unmittelbare Weise beteiligt sein, damit proaktive Interferenzeffekte stattfinden könnten. Es sei beispielsweise Wissen über Hunde erforderlich, damit sich eine proaktive Hemmung gegenüber Hunden entwickeln könne, und die Versuchsperson müsste in diesen Experimenten das Konzept der »Hundeartigkeit« erst einmal zur Kenntnis nehmen, um sich später davon lösen zu können. Dieser erste Kritikpunkt ist eine Art von »Strohmannargument«. Niemand hat behauptet, dass KZG und LZG in einem Vakuum wirken. Es gibt ein ständiges Wechselspiel zwischen den beiden hypothetischen Gedächtnisspeichern und die meisten Theoretiker erkennen die Interaktion zwischen LZG und KZG an. Alle Gedächtnisvorgänge, so scheint es, werden vom Langzeitgedächtnis und von Zielen geleitet und beeinflusst. Dazu gehört auch die Informationsverarbeitung im KZG.Der zweite Kritikpunkt ist problematischer.In einem typischen Release-from-PI-Experiment gibt man den Versuchspersonen mehrere Gruppen von Informationen (wie etwa drei Gruppen von Hunden im zuvor angeführten Beispiel), bevor die Releasing-Gruppe dargeboten wird. Die Zeit dafür kann mehrere Minuten in Anspruch nehmen, was die Speicherzeit im KZG überschreiten kann.Die proaktive Hemmung, ihr Aufbau und die Lösung davon können LZG-Prozesse sein; obwohl dies interessant ist, besagt es recht wenig über die Eigenart der semantischen Verarbeitung im KZG. In anderen Untersuchungen wurden jedoch überzeugende Befunde dafür vorgelegt, dass semantische Prozesse im KZG stattfinden. Eine Studie von Solso, Heck und Mearns (1987) demonstriert nicht nur die semantische Verarbeitung im KZG, sondern dient auch als Einführung in das Sternberg-Paradigma, das im nächsten Abschnitt detailliert behandelt wird. Für unsere Zwecke reicht es im Moment aus, zu wissen, dass das Sternberg-Paradigma eine Technik ist, die eingesetzt wird, um die Möglichkeiten zu erfassen, die genutzt werden, um Zugang zu Informationen im KZG zu bekommen. Denken Sie einmal an das nun dargestellte Problem. Nehmen sie an, die folgenden Wörter würden Ihnen ein-
zeln mit einer Darbietungszeit von jeweils 1,2 Sekunden präsentiert: > KUGEL MOND PLANET GLOBUS
Nehmen Sie nun an, dass man Ihnen die folgenden Wörter zeigt und Sie fragt, ob sie Bestandteil der ursprünglichen Gruppe waren oder nicht: > MOND STAHL ERDE
Welche Leistungen der Versuchspersonen würden Sie für die Lösung dieser Aufgabe vorhersagen? Wenn Sie geraten hätten,dass die Versuchspersonen MOND korrekt als zuvor schon gesehenes Wort identifizieren und dies richtigerweise für STAHL nicht tun,dann haben Sie Recht.Aber was ist mit ERDE? Dieses Wort ist eindeutig kein Bestandteil der ursprünglichen Gruppe, doch im Hinblick auf dieses Wort kommt es bei den Versuchspersonen häufig zu einem »Fehlalarm«. Sie identifizieren es fälschlicherweise als Bestandteil der ursprünglichen Gruppe. Die dem zugrunde liegende Fehlidentifikation hängt mit der semantischen Beziehung zusammen, die ERDE mit den übrigen Bestandteilen der ursprünglichen Gruppe hat.Am wichtigsten für unsere momentane Diskussion über KZG und semantische Codes ist jedoch die Tatsache,dass der gesamte Prozess etwa zwölf Sekunden dauert, und dies liegt innerhalb der Parameterwerte für das KZG.Außer dass sich durch diese Befunde die semantische Eigenart des KZG nachweisen lässt, deuten sie auch darauf hin, dass im KZG eine Form der Abstraktion oder des Prototyplernens vor sich gehen kann.
7.1.5 Abruf von Informationen aus dem KZG In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns damit, wie gespeicherte Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Das moderne Zeitalter der Informationsverarbeitung wurde in bedeutsamer Weise durch eine experimentelle Vorgehensweise beeinflusst, die von Saul Sternberg (1966, 1967, 1969) entwickelt wurde und seinen Namen trägt. Zu dieser Technik gehört eine Aufgabe zum seriellen Über-
193 7.1 · Kurzzeitgedächtnis
fliegen von Material, bei dem der Versuchsperson jeweils für 1,2 Sekunden eine Reihe von Items wie etwa Zahlen gezeigt wird. Man nimmt an, dass diese Items im KZG der Versuchsperson aufgezeichnet werden. Die gesamte Serie stellt eine Gedächtniszahlenreihe dar. Nachdem sich die Versuchsperson einigermaßen sicher ist, dass die Items in ihrem Gedächtnis zur Verfügung stehen, drückt sie einen Knopf und unmittelbar daraufhin wird ihr eine Probeziffer dargeboten, die die gleiche Ziffer wie die in ihrer unmittelbaren Gedächtniszahlenreihe sein kann oder auch nicht. Die Aufgabe der Versuchsperson besteht einfach darin, zu signalisieren, ob die Ziffer zu den Items in der Gedächtniszahlenreihe gehört.Jeder neue Versuchsdurchgang enthält eine andere Gedächtniszahlenreihe. Der Versuchsleiter kann die Größe der Gedächtniszahlenreihe von ein bis sechs Items variieren; dies liegt zweifellos innerhalb der unmittelbaren Gedächtnisspanne der Versuchspersonen.Diese Experimente zeigen,dass nur wenige Fehler gemacht werden.Die Hauptdaten sind dabei die Zeiten zwischen der Darbietung der Probeziffer und der Reaktion der Versuchsperson. Das Sternberg-Paradigma ist in ⊡ Abb. 7.9 dargestellt. Die Reaktionszeit sollte Ausdruck der Zeit sein, die man braucht, um die Gedächtniszahlenreihe zu durchsuchen, und kann als Grundlage dafür dienen, die Struktur des KZG sowie die Gesetze zum Abruf von Informationen aus der Struktur genau zu beschreiben. Es überrascht nicht, dass die Reaktionszeit umso länger ist, je größer die Gedächtniszahlenreihe ist.Je mehr Informationen sich im
⊡ Abb. 7.9. Das Sternberg-Paradigma
KZG befinden, desto mehr Zeit braucht man, um Zugang dazu zu bekommen. Zwei weitere Befunde sind jedoch überraschend. Einer besteht darin, dass sich die Reaktionszeiten konstant entsprechend der Anzahl der Items in einer Zahlenreihe verändern (⊡ Abb. 7.10). Jedes einzelne neue Item in der Gedächtniszahlenreihe scheint eine festgelegte Verarbeitungszeit zu benötigen und diese Menge an Zeit summiert sich kumulativ mit anderen Verarbeitungszeiten. In einem Experiment (Sternberg, 1966) betrug die erforderliche Zeitmenge, um zusätzliche Items in der Gedächtniszahlenreihe zu verarbeiten, etwa 38 ms pro Item. Die zweite Überraschung hat einen weit reichenden Einfluss auf die Auffassung, wie wir erneut an Informationen aus dem KZG gelangen. Für die Items in der Gedächtniszahlenreihe und für die,die nicht darin enthalten waren, ergaben sich nahezu identische Reaktionszeitcharakteristika. Wenn 7, das erste Item in der Gedächtniszahlenreihe von ⊡ Abb. 7.9, auch das Prüf-Item ist und wenn wir Informationen aus dem KZG in ihrer Reihenfolge verarbeiten, scheint jedoch auf der Hand zu liegen, dass wir in der Lage sein sollten, schneller zu reagieren, als wenn 8 das PrüfItem ist. Im letzten Fall hätten wir wahrscheinlich die gesamte Zahlenreihe – nicht nur das erste Item – durchsuchen müssen, um eine Entscheidung zu fällen. Wenn das Prüf-Item 8 ist,dann sollte die Zeit zum seriellen Durchsuchen der Zahlenreihe auf Übereinstimmung gleich der Zeit sein, die man benötigt, um festzustellen, dass es keine Übereinstimmung gibt (weil alle anderen Ziffern in der
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
⊡ Abb. 7.10. Reaktionszeit als Funktion der Anzahl der Items in einer Serie. Adaptiert nach Sternberg (1969)
7 Zeichenkette vor der 8 liegen). Da die Positionen der übereinstimmenden Items über alle Positionen hinweg verteilt wurden,kann man davon ausgehen,dass die durchschnittliche Position in der Mitte der Zahlenreihe liegt. Wenn die Versuchspersonen also eine serielle Suche in ihrem KZG durchführten, dann würden sie (im Schnitt) die halbe Zeit dazu brauchen,untersuchte Items zu finden,die sich in der Zahlenreihe befanden. Prüfte man die letzte Ziffer, so würde dies eine Suche in der vollständigen Zahlenreihe erfordern.) Deswegen sollte die Steigung einer Reaktionszeitkurve in Abhängigkeit von der Länge der Zahlenreihe zweimal so steil sein, wenn sich die untersuchten Zahlen nicht in der Zahlenreihe befanden. Ähnliche Ergebnisse wurden anhand einer breiten Vielfalt von Reizmaterial beobachtet – einschließlich Buchstaben, Wörtern, Farben, Gesichtern und Phonemen –, wobei die Steigung der Reaktionsfunktion mehr oder minder steil, der Zusammenhang zwischen Ja- und NeinReaktionen aber invariant war.Die Zusammensetzung der Testgruppen hatte nur einen geringen Einfluss auf die Hauptergebnisse. Sie blieben die gleichen bei Kindern, Schizophrenen, Studenten, Alkoholikern und bei Versuchspersonen, die durch Marihuana berauscht waren. (Letztere haben eine höhere Reaktionszeitkurve, aber nicht eine steilere als die Normalpopulation. Das verleitete einen Spaßvogel zu dem Kommentar, dass Marihuana einen nicht steiler, sondern »higher« macht.)
Diese bemerkenswerten Demonstrationen der Suchcharakteristika im KZG deuten darauf hin, dass, wenn man die einschränkenden Bedingungen des Paradigmas als gegeben annimmt, die Suche eher erschöpfend ist, als dass sie von selbst endet.
7.2
Langzeitgedächtnis
Wenn wir in unserem Kurzzeitgedächtnis »leben«, dann hat der Aufbewahrungsort des Wissens, der unserem Dasein einen Sinn gibt, seinen Sitz im Langzeitgedächtnis. Unsere Fähigkeit, mit dem winzigen Ausschnitt aus den sensorischen Ereignissen,die im ablaufenden Kontinuum der Zeit die Gegenwart konstituieren,umzugehen,scheint eine Hauptfunktion unseres vergänglichen KZG zu sein. Im Gegensatz dazu ist unsere Fähigkeit, mit der Vergangenheit umzugehen und diese Informationen zum Verständnis der Gegenwart zu nutzen, eine Funktion unseres LZG. In gewissem Sinne gestattet uns unser LZG, in zwei Welten gleichzeitig zu leben (in der Gegenwart und in der Vergangenheit) und dadurch die unaufhörliche Flut unmittelbarer Erfahrungen zu verstehen. Die hervorstechendste Eigenschaft des LZG ist seine Mannigfaltigkeit – in Bezug auf Codes, Informationsabstraktion, Struktur, Kapazität und Dauerhaftigkeit.Andere Gedächtnisspeicher, die wir erörtert haben, sind im Hin-
195 7.2 · Langzeitgedächtnis
blick auf diese Merkmale relativ begrenzt.Somit beginnen wir unsere Erörterung des Themas Langzeitgedächtnis mit einer Gegenüberstellung von sensorischem Gedächtnis und KZG. In beiden Fällen handelt es sich um Gedächtnissysteme, die Informationen für eine sehr kurze Zeit speichern, nicht abstrahieren und sie nicht in einer daran beteiligten Struktur abspeichern. Die Kapazität des LZG scheint grenzenlos und seine Dauerhaftigkeit praktisch ohne Ende zu sein. Zum besseren Verständnis beschäftigen wir uns zunächst mit den neurologischen Aspekten des LZG, dann mit den Typen von Informationen, die im LZG behalten werden, und schließlich mit seiner allgemeinen Architektur oder Organisation.
7.2.1 Neurokognition und LZG Schon vor Jahrhunderten wussten Wissenschaftler, dass das Gehirn etwas mit dem Gedächtnis zu tun hat.Ohne das Gehirn wären wir unvernünftig, geistlos und ohne Gedächtnis. Das Schwierige daran ist, zu bestimmen, wo die verschiedenen Arten des Gedächtnisses ihren Sitz haben und wie das Gehirn Informationen im Langzeitgedächtnis speichert – einfache Fragen zu den kompliziertesten Phänomenen, die die Menschheit kennt. Dennoch haben Forscher, die es genauer wissen wollten, eindrucksvolle Entdeckungen bezogen auf diese beiden Fragen gemacht. Man kann nur eins von beiden haben. Die Antwort auf die erste Frage zur Lokalisierung der Gedächtnisse lautet, dass sie in speziellen Arealen und über das gesamte Gehirn hinweg lokalisiert sind. Die Verwendung des Wortes lokalisiert lässt die Angelegenheit gewöhnlich nur verschwommener werden. Erinnerungen sind nicht so wie schwarze Socken, die an den eigenen Füßen, hinter dem Trockner oder sauber zusammengefaltet in einer Schublade auftauchen können. Erinnerungen sind etwas Organisches und an ihnen sind neurologische Verbindungen zwischen Myriaden von Nervenzellen beteiligt. Lokalisierung in diesem Sinne ist so bedeutungslos wie der Versuch, den Wind zu finden … Man findet ihn eher an bestimmten Orten als an anderen, aber er verteilt sich über den gesamten Planeten. Was die Frage der Lokalisierung angeht, so zeigen neuere PET-Untersuchungen, dass die Frontalregion an der tiefen Verarbeitung von Informationen beteiligt ist,etwa zu bestimmen,ob ein Wort etwas Lebendes oder etwas nicht Lebendes beschreibt ( siehe die
Arbeit von Kapur et al., 1994; Tulving et al., 1994). Das würde darauf hindeuten, dass diese Art von Gedächtnisoperation etwas hoch Spezialisiertes ist.Es sind jedoch auch andere Regionen des Gehirns daran beteiligt, nur in weniger spezialisiertem Maße; und dieses Prinzip der Spezialisierung und der Generalisierung scheint auch auf andere Typen von Gedächtnisoperationen und Speichersysteme anwendbar zu sein ( siehe Zola-Morgan & Squire, 1990). Einige Hirnregionen scheinen für die Bildung von Erinnerungen wesentlich zu sein. Zu diesen Regionen gehören der Hippocampus sowie der benachbarte Kortex und der Thalamus.Darauf deutet eine Studie an klinischen Patienten hin, die unter einer Schädigung in diesen Arealen litten. Der Hippocampus liefert jedoch keine permanenten Langzeiterinnerungen. Wenn das der Fall wäre, dann hätte der im ersten Teil dieses Kapitels beschriebene H.M. keine alten Langzeiterinnerungen.Viele dauerhafte Langzeiterinnerungen scheinen im zerebralen Kortex gespeichert und verarbeitet zu werden.Es kann als gut belegt gelten, dass sensorische Informationen an spezifische Hirnregionen weitergeleitet werden. Beispielsweise werden Informationen von den Augen und Ohren an den visuellen bzw.den akustischen Kortex weitergeleitet.Es ist wahrscheinlich, dass Langzeiterinnerungen an solche sensorischen Erfahrungen auch an diesen Orten oder in ihrer Nähe gespeichert werden. Sensorische Erfahrungen sind jedoch – und dies ist eine der vielen komplizierten Fragen in der Hirnforschung – zerebral fassettenreich. Wenn Sie die Wörter im vorangegangenen Satz lesen, werden die von ihren Augen kommenden Informationen im visuellen Kortex verarbeitet (daran gibt es keinen Zweifel). Aber wenn Sie über die Bedeutung der Wörter zerebral fassettenreich nachdenken,dann nutzen Sie andere Teile des Gehirns, vielleicht sogar bis an einen Punkt, an dem Sie innerlich reden oder das Wort tatsächlich aussprechen und dadurch Regionen aktivieren, die mit akustischen Erinnerungen assoziiert werden.
Wie das Gehirn funktioniert – schlicht und einfach. Wie
das Gehirn Informationen im LZG speichert, ist die zweite schwierige einfache Frage.Obwohl das Gehirn die komplizierteste Sache der Welt ist, liefert uns das neurokognitive Labor allmählich einige Antworten. Eine Erklärung dafür, wie sich langfristige Erinnerungen bilden, basiert auf den früheren bahnbrechenden Arbeiten von Donald Hebb, dem wir schon einige Male in diesem Buch begegnet sind. Die vereinfachte Variante seiner Auffassung vom Langzeitgedächtnis besagt, dass Informationen aus dem
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
Kurzzeitgedächtnis ins LZG konvertiert werden, wenn sie lange genug im KZG geblieben sind. Das liegt daran, dass im KZG ein zurückstrahlender Kreislauf neuronaler Aktivität mit einer sich selbst erregenden Schleife von Nervenzellen im Gehirn stattfindet. Wenn der Kreislauf für eine gewisse Zeit aktiv bleibt (eine Art von Selbststimulierung),dann kommt es zu einer bestimmten chemischen und/oder strukturellen Veränderung und die Erinnerung wird auf Dauer gespeichert. Aus der kognitiven Literatur wissen wir, dass die Dauerhaftigkeit noch nicht allein dadurch sichergestellt ist, dass Informationen im KZG behalten werden (siehe beispielsweise die Forschung von Craik und Watkins, die im nächsten Kapitel behandelt wird). Wenn die Informationen jedoch mit anderen bereits vorhandenen, bedeutsamen Erinnerungen kombiniert werden, dann wird die langfristige Einprägsamkeit verstärkt. Der nächste Absatz heißt »Goldene Erinnerungen mit Zuckerguss«. Sie werden herausfinden, dass der Absatz nichts mit liebenswerten Erinnerungen zu tun hat, wie sie wunderliche alte Käuze erleben (das dachten Sie vielleicht ursprünglich),sondern es handelt sich um eine subtile Gedächtnisstütze für Glukose, ein Zucker, für den nachgewiesen wurde, dass er mit verbessertem Lernen in Zusammenhang steht. Diese Tatsache wird jetzt wahrscheinlich eher in Ihrem Gedächtnis Bestand haben, weil sie in vielfältiger Weise mit anderen gut gefestigten und vielleicht sogar emotionalen Erinnerungen assoziiert wird. Wofür ist golden eine Gedächtnisstütze? Goldene Erinnerungen mit Zuckerguss. Manche Erleb-
nisse werden besser erinnert als andere. Aufregende oder vielleicht sogar traumatische Erlebnisse, an denen das Ich beteiligt ist,scheinen besser im Gedächtnis haften zu bleiben als etwa komplizierte politische Theorien. Untersuchungen an Tieren deuten darauf hin, dass das Nebennierenmark nach einem aufregenden Ereignis seine Sekretion von Epinephrin (Adrenalin) in die Blutbahn verstärkt.Es konnte nun gezeigt werden,dass dies die Festigung einer Erinnerung verstärkt (McGaugh,1990).Es ist wahrscheinlich, dass Epinephrin die Synapsen des Gehirns nicht unmittelbar stimuliert (das ist eine Angelegenheit, die etwas mit dem Passieren der Blut-HirnSchranke zu tun hat); aber das gespeicherte Glykogen wird in Glukose (ein Zucker) umgewandelt und damit wird der Glukosespiegel im Blut erhöht, was sich nährend auf das Gehirn auswirkt. Einige experimentelle Forschungsarbeiten stützen die Auffassung, dass die künftige Erinnerung
an ein Ereignis verstärkt wird, wenn man unmittelbar nach dem Lernen Glukose injiziert (Gold, 1987; Hall & Gold, 1990). Diese kleine Tour durch die Neurokognition des LZG ist für sich genommen nur ein kleiner Ausschnitt aus der sich explosionsartig entwickelnden Literatur zu diesem Thema.Gewiss werden über dieses aufregende Gebiet in naher Zukunft neue Entwicklungen berichtet werden und es lohnt sich, sie zu verfolgen.
7.2.2 LZG: Speicherung und Struktur Codes. Als wir das KZG behandelten, sahen wir, dass Informationen akustisch, visuell und semantisch gespeichert werden, aber die Art des verwendeten Codes wird manchmal infrage gestellt. Für die Beschreibung der Kodierungsmechanismen in LZG gibt es keine vergleichbaren Schwierigkeiten, obwohl es unterschiedliche Meinungen über ihre relative Bedeutsamkeit gibt. Im LZG werden Informationen eindeutig akustisch, visuell und semantisch kodiert. Die multidimensionale Kodierung von Informationen im LZG lässt sich leicht demonstrieren. Beispielsweise lässt sich manchmal draußen vor meinem Fenster ein schwarzweißer Vogel nieder. Ich weiß, dass es sich um eine Elster handelt,wenn sie einen Ton wie ein solcher Vogel von sich gibt oder wenn ich sie sehe oder wenn ich etwas über eine Elster lese und ich diese Informationen mit anderen semantischen Informationen über Vögel assoziiere – etwa über gefiederte Lebewesen, wild lebende Tiere und so weiter. Ich habe noch nie eine Elster geschmeckt, gerochen oder gefühlt; aber wenn dies so wäre, dann wäre ich wahrscheinlich imstande,sie anhand dieser Empfindungen zu erkennen. Gustatorische (Geschmack), olfaktorische (Riechen) und taktile (Berührung) Codes scheinen im LZG zu wirken, obwohl das wissenschaftlich relativ wenig untersucht ist. Zusätzlich zum Alltagswissen über akustische, visuelle und semantische Codes, die im LZG wirken, hat eine eindrucksvolle Reihe von Forschungsbeiträgen dessen komplexes Kodierungssystem validiert. Allgemein können wir uns das LZG als einen Aufbewahrungsort für alle Dinge im Gedächtnis vorstellen, die gerade nicht verwendet werden, aber potenziell abrufbar sind. Zur sehr allgemeinen, von Bower (1975) aufgestellten Liste für einige Klassen von Informationen, die im Gedächtnis enthalten sind, gehört Folgendes: ▬ unser räumliches Modell der Welt, die uns umgibt – symbolische Strukturen, die den Bildern unseres Hau-
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▬ ▬ ▬ ▬
ses entsprechen,der Stadt,dem Land und unserem Planeten sowie Informationen darüber, wo bedeutsame Objekte auf dieser kognitiven Karte lokalisiert sind; unser Wissen über die Gesetze der Physik, über die Kosmologie und über die Eigenschaften von Objekten und Dingen; unsere Meinungen über Menschen, über uns selbst und darüber, wie man sich in verschiedenen sozialen Situationen verhalten muss; unsere Werte und sozialen Ziele; unsere motorischen Fertigkeiten beim Autofahren, Fahrradfahren,Schießen usw.Unsere Fähigkeiten zum
Problemlösen in unterschiedlichen Bereichen, unsere Pläne dafür, wie wir verschiedene Dinge erreichen können; ▬ unsere Wahrnehmungsfähigkeiten beim Verstehen von Sprache oder bei der Interpretation von Gemälden oder Musik. (Aus Bower, 1975, S. 56) Trotz der Vielfalt der Codes wurde in der Literatur der semantische Code im LZG besonders hervorgehoben und dieser Schwerpunktbildung wird in diesem Buch Rechnung getragen.
Wie modulare Erinnerungen entstehen Das Gehirn wird in immer kleinere Bereiche parzelliert. Neurowissenschaftler haben sich während der vergangenen drei Jahrzehnte damit beschäftigt, den visuellen Kortex in kleine Pakete aufzuteilen, in denen das Gehirn damit beginnt, die von den Augen eingehenden Signale in immer kleineren spezialisierten Zielpunkten zu verarbeiten. Einige dieser Areale reagieren auf Farbe, einige auf Formen und andere auf Bewegung. Aber wenn wir an einen Gegenstand denken, rufen wir uns all diese Qualitäten in Erinnerung. Deshalb war es für die Forscher nur logisch, anzunehmen, dass diese grundverschiedenen Informationen auf einer höheren Ebene des Gehirns in Arealen wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Hier handelt es sich um die Areale, in denen Erinnerungen gebildet werden und in denen die Kognition vor sich geht. Doch hat jetzt ein Forschungsteam von der Yale University gezeigt, dass ähnliche Unterabteilungen sogar im präfrontalen Kortex vorkommen. Dieser ist daran beteiligt, das temporäre Arbeitsgedächtnis zu bilden. Einige
Karten des Gedächtnisses. Bereiche im präfrontalen Kortex scheinen an der Reproduktion unterschiedlicher Aspekte eines Bildes beteiligt zu sein
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Areale reagieren hauptsächlich darauf, »was« ein Gegenstand ist, während andere darauf reagieren, »wo« er lokalisiert ist. »Das Gedächtnis ist modular aufgebaut. Es handelt sich nicht um einen Apparat, der alles kann«, sagt eine der Forscherinnen, die Neurowissenschaftlerin Patricia Goldman-Rakic. »Dies ist der erste physiologische Nachweis zur Differenzierung dieser Module.« Sie und ihre Kollegen Fraser A. Wilson und Séamas P. Ó. Scalaidhe berichten, dass Nervenzellen zweier Regionen im präfrontalen Kortex auf unterschiedliche visuelle Hinweisreize reagieren: Zum einen existieren Nervenzellen in einem Areal, das als die untere Konvexität (IC: inferior convexity) bekannt ist, die Informationen über Farbe und Form eines Gegenstands für kurze Zeit behalten, nachdem der Gegenstand aus dem Gesichtsfeld verschwunden ist. Und zum anderen gibt es Nervenzellen in einem benachbarten Areal, die den Ort enkodieren, an dem sich der Gegenstand befindet.
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
»Das ist wirklich der fortgeschrittenste Bereich« der Gedächtnisforschung, sagt Jon Kaas, ein Neurowissenschaftler von der Vanderbilt University in Nashville (Tennessee). Kaas merkt an, dass es sich bei diesen Ergebnissen um die ersten guten funktionalen Belege dafür handelt, dass getrennte Wahrnehmungsbahnen zum präfrontalen Kortex abzweigen. Und wenn bei weiteren Untersuchungen herauskommt, dass Zentren des Arbeitsgedächtnisses mit anderen Sinnesorganen verbunden sind, so meint Kaas, dann würde dies darauf hindeuten, dass Erinnerungen nach ihren Eigenschaften aufgeteilt werden, etwa so wie die Eigenschaften eines Bildes – Bewegung und Form beispielsweise – in anderen kortikalen Bereichen aufgeteilt werden. »Wenn das so wäre, wäre
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Organisation. Die vielleicht verbreitetste Annahme über
das KZG besteht darin, dass Informationen in ihm auf ordnungsgemäße Weise organisiert sind. Diese Annahme ist so stark verbreitet,dass sich Forscher nur selten die Frage stellen, ob Informationen im LZG organisiert sind. Die häufiger gestellte Frage lautet, wie Informationen im LZG organisiert sind. Ein kurzer Augenblick der Introspektion reicht aus, um die Annahme zu validieren. Wenn man Sie bitten würde,sich daran zu erinnern,was Sie an einem bestimmten Tag – sagen wir, dem 7. Juli 2003 – gemacht haben, wie würden Sie dann vorgehen, um eine Antwort darauf zu finden? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie nach irgendeiner leicht identifizierbaren Information suchen, die mit diesem Zeitpunkt zusammenhängt oder zumindest nahe bei ihm liegt, und dass Sie sich dann rückwärts oder vorwärts an den 7. Juli heranarbeiten. Es ist wahrscheinlich, dass die Ereignisse an diesem Tag auf irgendeine Weise mit anderen Informationen zusammenhängen und mit ihnen zusammen organisiert sind – vielleicht ein Geburtstag, ein anderer Jahrestag oder ein bestimmter Feiertag,der in der Nähe dieses Datums liegt.Sie könnten versuchen, sich daran zu erinnern, was Sie im Sommer 2003 gemacht haben und dass dies ein besonders schöner Sommer war, oder den Wochentag ausmachen, auf den dieses Datum fiel. Sie könnten sich erinnern, dass Sie Ihre Miete am letzten Tag im Juni bezahlt haben. Die Information,auf die Sie sich konzentrieren,liefert dann einen Hinweisreiz, um herauszufinden, was Sie am 7. Juli gemacht haben. Stellen Sie sich zum anderen vor, wie Sie die Frage beantworten könnten, wenn Ihr Gedächtnis
das wirklich ein großer wissenschaftlicher Fortschritt«, sagt er. Wenn man herausfindet, dass das Arbeitsgedächtnis auf mindestens zweierlei Weise spezialisiert ist, sagen andere Forscher, so zeigt dies, dass solche Erinnerungen sich anscheinend parallel bilden und dass es keine zentrale Exekutive im Gedächtnis gibt, in der alles wieder zusammengeführt wird. »Vorher wurde angenommen, dass es eine nächste Ebene [der Verarbeitung] gibt, die alles wieder miteinander integriert«, sagt John Allman, ein Neurophysiologe vom California Institute of Technology. »Aber es spricht einfach nicht viel dafür.« Robert F. Service
nicht systematisch organisiert wäre. Sie könnten eine zufällige Auswahl von Informationen etwa der folgenden Art von sich geben: Bank of Chicago,3,14,LS/MFT,Monica Lewinsky, Lake Tahoe 361-2849, ESP, Kunta Kinte, Mars und so weiter. Natürlich handelt es sich hier um eine ziemlich unsinnige Zusammenstellung von Informationen, aber es ist gleichermaßen unsinnig, sich ein nicht organisiertes LZG vorzustellen. Bei einer fantasiereichen Repräsentation des LZG wird behauptet, dass in ihm Items auf eine ähnliche Art und Weise miteinander verbunden sind wie in einem komplizierten Telefonnetz. Der Abruf spezifischer Informationen geschieht dann dadurch,dass man in das Netz hineingeht, das in der Lage ist, andere damit zusammenhängende Informationen abzurufen, bis man mit der gewünschten Information in Kontakt kommt. Das Netz miteinander zusammenhängender und assoziierter Informationen ist weitaus komplexer, als dies hier dargestellt werden kann.Auf jeden Fall deutet die Art und Weise, wie wir gewöhnliche Informationen abrufen, darauf hin, dass das LZG organisiert ist. Es gibt einen wachsenden Wissensfundus, durch den belegt wird, dass Informationen in einem gut strukturierten und sehr praktikablen Netz aufgezeichnet werden. Dieses Konzept beinhaltet, dass neue, ins LZG hereinkommende Informationen keine Synthese eines neuen Netzes erforderlich machen (denn dies würde den Nutzen der Organisation zunichte machen, weil jedes einzelne Ereignis sein eigenes System erfordern würde; das Ergebnis wäre eine endlose Anzahl kleinerer Organisationsschemata).Stattdessen werden neue Informationen
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innerhalb bestehender Organisationen aufgezeichnet. Ein Großteil der Forschungsarbeiten zur semantischen Organisation, die in Kapitel 9 beschrieben werden, demonstriert, dass das Netz bemerkenswert schlank sein kann. Kapazität und Dauer. Die Informationsmenge und die Zeit, für die sie im LZG aufbewahrt wird, ist schwer vorstellbar, aber wir können einige vernünftige Schätzungen für diese charakteristischen Merkmale abgeben.Selbst die verborgenste Information steht uns rasch zur Verfügung. Beispielsweise kann ich mich an den genauen Ort, an dem ich mein Jagdmesser in den Bach fallen ließ, erinnern, das polizeiliche Kennzeichen vom Wagen meines Vaters, die präzisen Einzelheiten zu einem Armband, das ich einer Freundin geschenkt habe, die genaue Position einer Ölkanne, die ich in einer entfernten Ecke eines Garagenschranks versteckt habe – und dennoch war mindestens während der letzten 30 Jahre keines dieser Ereignisse in meinem Bewusstsein! Selbst in einer Zeit, in der die informationsverarbeitende Kapazität elektronischer Rechner ungeheuer groß ist, gibt es nichts, was der Kapazität des menschlichen Gehirns bei der Speicherung detaillierter Informationen über lange Zeit (und auf so kleinem Raum) auch nur nahe kommt. Woran liegt es nun, dass wir uns an so viel erinnern? Eine aufschlussreiche Antwort auf diese Frage ergibt sich durch die Art und Weise, wie Studenten versuchten, die Namen ihrer Lehrerin in der vierten Klasse zu erinnern. Es ist plausibel, dass jeder einzelne Student ausreichend Gelegenheit hatte,den Namen der Lehrerin zu enkodieren, obwohl die meisten zugaben, dass sie seit Jahren nicht mehr an sie gedacht hatten. Hier einige ihrer Introspektionen über den Abrufprozess: > Student K.S. 1. Ich erinnere mich, auf welche Schule ich ging. In welchem Jahr wechselte ich zur Lowell School? In der zweiten oder in der dritten Klasse? 2. Lage des Klassenzimmers 3. Sich die Lehrerin visuell vorstellen – lang und dünn 4. Dieselbe Lehrerin in der dritten Klasse 5. Miss Bell? 6. Sie war gut mit meiner Lehrerin in der sechsten und siebten Klasse befreundet. 7. Wenn ich in der dritten Klasse zur Lowell School gekommen bin, dann war das Klassenzimmer am östlichen Ende der Schule. Wenn dies mein zweites Klas▼
senzimmer in der Lowell School war, dann war es am westlichen Ende. 8. Ja, Miss Bell. Student J.C. 1. Das Erste, woran ich dachte, war »Nonne« oder »weltliche Lehrerin«: Nonne – Schwester. 2. Das Zweite, was mir einfiel, war der gebräuchlichste Name, den Nonnen haben – fast wie ein Nachname: Schwester Maria. 3. Das Dritte, woran ich dachte, war der ganze Kummer, den ich mit einer Nonne in der vierten Klasse hatte. 4. Das Vierte, was ich erinnere, ist, dass ihr Name mit einem A anfing. Dann erinnerte ich Al, dann dachte ich an Alvira: Schwester Maria Alvira. 5. Dieser Name ist falsch, ich erinnerte mich an eine Provinz in Kanada: Schwester Maria Alberta.
Aufgrund dieser Beispiele und aufgrund anderer stärker kontrollierter Experimente können wir die Vielfalt von Gedächtnisspuren schätzen lernen, die wir mit Leichtigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg speichern. Natürlich können wir uns nicht an alle Ereignisse aus der Vergangenheit so erinnern, als seien sie erst gestern geschehen. Dieser Erinnerungsverlust kann auf Interferenz (die Intervention von Informationen, die den Abruf alter Gedächtnisspuren blockiert) oder Abbau (die Schwächung einer Gedächtnisspur durch fehlerhafte Verwendung) zurückgeführt werden.
7.2.3 Ultralangzeitgedächtnis –
Very Long-Term Memory (VLTM) Es sind einige interessante Daten über das Schicksal extrem langfristiger Erinnerungen (Very Long-Term Memories:VLTM) erhoben worden oder über Erinnerungen, die länger als drei Monate zurückliegen. Klassenkameraden aus der Sekundarstufe. Ein Meilenstein in der Forschung zum VLTM ist die Untersuchung von Bahrick,Bahrick und Wittlinger (1975).Bei ihrem ehrgeizigen Versuch, die Langlebigkeit des Gedächtnisses zu verfolgen,testeten sie 392 High-School-Abgänger in Bezug auf ihr Gedächtnis für Namen und Bilder von Klassenkameraden, die sie aus Jubiläumsbänden von den Schulen heraussuchten. Die neun untersuchten Behaltensintervalle variierten bezogen auf die Länge zwischen 3,3 Monaten und fast 48 Jahren! Die Stichprobe (fast 50 Versuchsperso-
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
nen in jeder der neun Gruppen) war riesig und es wurde ein kompliziertes Testverfahren entwickelt.Zunächst wurden die Versuchspersonen gebeten, die Namen aller Mitglieder ihrer Abschlussklasse, an die Sie sich erinnern konnten, frei aus dem Gedächtnis abzurufen oder aufzulisten.Dann wurde ihnen eine Bilderkennungsaufgabe gestellt, bei der die Fotos aus dem Jahrbuch der Versuchspersonen ausgewählt und zusammen mit einigen anderen Fotos in zufälliger Reihenfolge zur Identifizierung dargeboten wurden.Eine dritte Aufgabe bestand darin,auf ähnliche Weise Namen zu identifizieren (Namenserkennung). Die vierte und die fünfte Aufgabe war, Bilder mit Namen bzw. Namen mit Bildern in Zusammenhang zu bringen. Und schließlich wurde eine Bild-Stichwort-Aufgabe gestellt,bei der die Versuchspersonen den Namen eines Klassenkameraden über sein Bild erinnern mussten. Die Gesamtergebnisse sind in ⊡ Abb. 7.11 dargestellt. Es ist erwähnenswert, dass das Niveau der Gesichtererkennung für frühere Klassenkameraden erstaunlich hoch ist (etwa 90 Prozent nach 34 Jahren), während die Namenserkennung und die Namenszuordnung nach 15 Jah⊡ Abb. 7.11. Adjustierte mittlere Behaltenswerte für Versuchspersonen, die im Hinblick auf sechs Kategorien getestet wurden. Adaptiert nach Bahrick, Bahrick und Wittlinger (1975)
ren stark abnahmen. Der abrupte Rückgang bei den Erkennungs- und Abrufdaten nach etwa 35 Jahren Stabilität kann Ausdruck eines degenerativen Prozesses bei fortschreitendem Alter sein.Die Fähigkeit,Namen Gesichtern zuzuordnen, und die Bilderkennung bleiben über sehr lange Zeit hinweg ungefähr auf dem gleichen Stand (etwa 90 Prozent von 3,3 Monaten bis zu 34 Jahren). Die Daten, die von Bahrick und seinen Kollegen erhoben wurden,bestätigen die Auffassung, dass das VLTM tatsächlich sehr langfristig Bestand hat, und die Invarianz des Wiedererkennungsgedächtnisses über so eine lange Zeit ist überraschend. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Wiedererkennungsgedächtnis für lange zurückliegende Ereignisse durch das Ausmaß der ursprünglichen Kodierung und die Verteilung der Wiederholung beeinflusst wird. Im oben angegebenen Beispiel war das ursprüngliche Lernen der Fakten über Klassenkameraden sehr gründlich und es zog sich in den meisten Fällen über Jahre hin. Während der Jahre zwischen dem Schulabschluss und dem Experiment haben die Versuchspersonen möglicherweise an die »gute alte Zeit« gedacht, an Klassen-
201 7.2 · Langzeitgedächtnis
treffen teilgenommen oder in Erinnerungen an ein entfernt bekanntes, aber nettes Gesicht geschwelgt. VLTM für Spanisch – Befunde zum Permaspeicher? Wie
lange wird Ihre Erinnerung an eine Fremdsprache erhalten bleiben? In einer weiteren von Bahrick (1984; siehe auch Bahrick & Phelps, 1987) durchgeführten, anspruchsvollen Studie wurde untersucht, wie gut die Spanischkenntnisse nach einer Zeitspanne von 50 Jahren noch waren. Die Stichprobe in dieser groß angelegten Studie bestand aus 773 Personen,die auf der Schule Spanisch gelernt hatten. Sie lieferten Daten wie beispielsweise die Zeitdauer ihres ursprünglichen Spanischunterrichts,ihre Schulnoten und die Häufigkeit, mit der sie die Sprache nach der Schule verwendet hatten.Eingesetzt wurden Tests zum Leseverständnis,Abruf- und Wiedererkennungstests für den Wortschatz, für die Grammatik und für idiomatische Redewendungen. Ganz allgemein fand Bahrick heraus, dass die Leistungen bei späteren Tests umso besser waren,je gründlicher das Spanische gelernt worden war – ein Befund, der niemanden überraschen wird.Das Ausmaß jedoch,in dem die Sprache sehr langfristig behalten wurde,ist,wenn auch nicht überraschend, so doch höchst erfreulich für all jene, die vorhaben, lange zu leben. Im Allgemeinen nahmen die Spanischkenntnisse am deutlichsten während der ersten drei Jahre nach Beendigung des Spanischunterrichts ab und sie schienen dann für etwa weitere 30 Jahre einen stabilen Zustand zu erreichen. Ein gewisser Rückgang des Wissens, insbesondere im Bereich des Leseverständnisses, wurde nach ungefähr 25 Jahren festgestellt. Jedoch war ein Großteil des ursprünglich erlernten Wissens auch nach 50 Jahren noch vorhanden! Dieses »permanente« Gedächtnis wurde als Permaspeicher bezeichnet. Anscheinend lassen sich die Spanischkenntnisse und vermutlich auch die Kenntnisse anderer Fremdsprachen nach einer sehr langen Zeit durchaus wiederbeleben. Ultralangzeitgedächtnis und kognitive Psychologie.
Nehmen wir einmal an, Sie lesen dieses Buch für ein Seminar über kognitive Psychologie. Vielleicht haben Sie sich schon einmal die folgende Frage gestellt: Wie viel von diesen Informationen wird in meinem LZG erhalten bleiben? Eine Antwort auf diese Frage kann man in einem Artikel von Conway, Cohen und Stanhope (1991) finden. Er trägt den Titel »On the Very Long-Term Retention of Knowledge Acquired Through Formal Education«. Die Versuchsleiter wählten eine große Stichprobe von ehemaligen Studenten (N = 373) aus, die vor zwölf Jahren ein Se-
⊡ Abb. 7.12. A Mittlere Prozentsätze für korrekt wieder erkannte Namen und Begriffe über die Behaltensintervalle hinweg. B Mittlere Prozentsätze für korrekt erinnerte Namen und Begriffe über die Behaltensintervalle hinweg
minar über kognitive Psychologie absolviert hatten. Sie wurden gebeten, bei einem Gedächtnistest mitzumachen, der entwickelt worden war, um das Behalten von Material zu erfassen, das vor langer Zeit gelernt worden war. Der Test bezog sich auf die Erinnerung an die richtigen Namen von Forschern und an die korrekte Bezeichnung von Begriffen. Die Ergebnisse sind in ⊡ Abb. 7.12 dargestellt.
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
Beim Behalten von Namen zeigte sich ein etwas schnellerer Rückgang der Erinnerung als beim Abruf und beim Wiedererkennen von Begriffen. Hierbei handelt es sich um einen Befund, der sehr gut zu dem passt, was viele Professoren für kognitive Psychologie (und ich vermute auch Professoren für andere Gegenstandsbereiche) bei viel kürzeren Behaltensintervallen beobachten können. Wie in ⊡ Abb. 7.12A dargestellt folgt das Wiedererkennen sowohl von Namen als auch von Begriffen dem gleichen Entwicklungstrend. In ⊡ Abb. 7.12B beobachten wir anfangs einen viel stärkeren Abbau beim Abruf von Namen und Begriffen. Ein interessanter, wenn auch insgesamt nicht erwarteter Befund war ein ausgeprägter Zusammenhang zwischen den Schulnoten und den VLTMWerten. Es zahlt sich aus, zu lernen, oder – als Alternativhypothese – ein gutes Gedächtnis zu haben. Diese Daten stimmen mit den bahnbrechenden Experimenten von Bahrick und seinen Kollegen in dem Sinne überein, dass das Ultralangzeitgedächtnis für Informationen (gleichgültig ob es nun um alte Kumpel aus der Schulzeit oder um die dichotome Unterscheidung zwischen KZG und LZG geht) zunächst stark zurückgeht, dann eine stabile Phase erreicht und schließlich für viele Jahre mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem dauerhaften Niveau erhalten bleibt. Der Befund, dass Begriffe länger als Namen behalten werden, sollte eingehender interpretiert werden.Es ist wahrscheinlich,dass neue Namen, bei denen der Studierende (vermutlich) nicht so motiviert ist, sie an das LZG weiterzugeben (welchen Wert hat es langfristig, zu wissen, dass Bahrick, Bahrick und Wittlinger wichtige Befunde zum VLTM erhoben haben?), leicht mit anderen Erinnerungen an das Prinzip des VLTM assoziiert werden – vor allem mit der Erinnerung, dass Personen dazu neigen, zunächst schnell und dann nicht mehr viel zu vergessen. Ebbinghaus – ein Name, der wahrscheinlich (wie seine sinnlosen Silben) der Vergessenheit anheim fallen wird – hat weiterhin Recht. Schließlich muss man vermuten, dass die Bedeutung,die einzelne Professoren Namen im Vergleich zu Begriffen beimessen, und vielleicht sogar die Bedeutung, die diesen Dingen im verwendeten Text zukommt,die Ergebnisse beeinflussen können. Trotzdem möchte ich schnell hinzufügen, dass die Ergebnisse vollständig mit denen früherer Untersuchungen zum VLTM übereinstimmen und auch die wichtigsten Schlussfolgerungen stützen, die von anderen Wissenschaftlern gezogen wurden.
Erinnerung an Bilder. Die Fähigkeit, Bilder über sehr lange Zeit wieder zu erkennen, wies Shepard (1967) in bemerkenswert anschaulicher Weise nach.Aus einer großen Anzahl von Bildern mit hohem Erinnerungswert (beispielsweise Werbefotos in Zeitschriften) wählte er 612 Bilder aus. Diese wurden jeweils einzeln in einer Geschwindigkeit auf einen Bildschirm projiziert, die die Versuchsperson selbst bestimmen konnte. Nachdem sie alle 612 Bilder gesehen hatte, wurde ein Wiedererkennungstest durchgeführt, bei dem 68 der 612 Bilder gezeigt wurden, wobei dies jeweils zusammen mit einem neuen Bild geschah. Die Versuchsperson musste angeben, bei welchem Bild innerhalb des Bilderpaares es sich um das Bild handelte, das sie zuvor betrachtet hatte. Bei dieser Aufgabe zur unmittelbaren Wiedererkennung wurde ein sehr hoher Prozentsatz von »Treffern« erzielt: 96,7 Prozent. Zwei Stunden später – und das ist ein Teil des Experiments, der besonders gut zu unserem Thema VLTM passt – wurde die Versuchsperson erneut gebeten, eine andere Gruppe von Paaren aus alten beziehungsweise neuen Fotos zu beurteilen. Diesmal wurden 99,7 Prozent der Bilder, die man bereits gesehen hatte,wieder erkannt.Der Versuchsperson wurden dann nach drei, nach sieben und nach 120 Tagen entsprechende Gedächtnisaufgaben zur Wiedererkennung vorgelegt. Wie man in ⊡ Abb. 7.13 erkennen kann, war die Versuchsperson auch nach einer Woche noch sehr gut in der Lage, die schon gesehenen Bilder wieder zu erkennen.Von ähnlichen Ergebnissen berichteten Nickerson (1965, 1968) und Standing (1973), wobei hier 10 000 Bilder gezeigt wurden. Standing, Conezio und Haber (1970) präsentierten ihren Versuchspersonen 2560 Farbdias und fanden heraus, dass die Wiedererkennung nach einem Jahr zwischen 97 Prozent und etwa 63 Prozent lag. Interessanter noch ist die Abnahme der Werte für die Wiedererkennung nach etwa vier Monaten. Verblasste die Erinnerung an das Bild oder kamen andere Bilder hinzu, die die Versuchspersonen verwirrten? Die Daten, die nach drei und nach sieben Tagen erhoben wurden, deuten darauf hin, dass die Erinnerung an Bilder im LZG der Versuchspersonen enkodiert wurde und dass der Gedächtnisabbau für die Wiedererkennung nach vier Monaten anscheinend auf das Hinzukommen verwirrender Bilder zurückging. Im nächsten Abschnitt behandeln wir die Auswirkungen des Informationsverlusts oder der Unfähigkeit, Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen.
203 7.2 · Langzeitgedächtnis
⊡ Abb. 7.13. Ergebnisse von Shepards Test zur Wiedererkennung. Adaptiert nach Shepard (1967)
7.2.4 Autobiographische Erinnerungen Autobiographische Erinnerungen sind Erinnerungen an die vorausgegangene Lebensgeschichte einer Person. Obwohl persönliche Erinnerungen immer schon ein Thema waren, für das sich Nichtspezialisten interessierten, sind sie auch Gegenstand mehrerer beachtenswerter psychologischer Untersuchungen. Ein Grund dafür, dass diese Art von Erinnerungen interessant ist, ist der, dass es hier um das Individuum und seine einzigartige Lebensgeschichte geht. Die Person – Sie, Ihr Freund oder eine beliebige andere Person – steht im Zentrum autobiographischer Erinnerungen.Das Individuum ist der Experte,da er sein Leben besser als jeder andere kennt. Diese Erinnerungen sagen uns auch sehr viel über die Persönlichkeit eines Individuums sowie über sein Selbstkonzept. Der Inhalt des persönlichen Gedächtnisses ist keine homogene Menge sensorischer Eindrücke. Unser LZG zeichnet Informationen in intelligenter Weise auf, mehr noch, es ist bei der Auswahl seiner Inhalte hochgradig selektiv. Wir erinnern uns an enge Verwandte, daran, wie unser erstes Auto aussah, an die erste sexuelle Begegnung, an das Wappen unserer Schule, an den Namen unserer Heimatstadt, an Helden, Schläger und Bösewichte, an ein paar niedliche Dinge, die unsere Kinder gemacht haben, an den Grundriss unseres Hauses und an Mutters Sonntagsgeschirr.Trotz bester Absichten erinnern wir uns nicht »an diese großartige Nacht« oder das »Ich werde dich niemals vergessen« oder das »Ich werde jeden Tag an dich denken«. Wir haben sehr viel vergessen und manchmal verblassen in einem Augenblick jene Dinge, die uns eini-
ges bedeuten,rasch.Andere bleiben für immer haften.Der Inhalt unseres persönlichen Gedächtnisses unterscheidet sich gar nicht so sehr vom Inhalt unseres Kellers – es handelt sich eher um eine selektive Ansammlung wichtiger und merkwürdiger Erinnerungen als um das unterschiedslose Verstauen aller sensorischen Eindrücke in unserem zerebralen Warenhaus. Autobiographische Erinnerungen sind im Allgemeinen recht gut, wenn auch nicht perfekt. In diesem Bereich ist es schwierig,an objektive Daten zu gelangen (wer kann schließlich ein persönliches Gedächtnis überprüfen?). Aber einige Forscher (beispielsweise Field, 1981) interviewten verschiedene Mitglieder derselben Familie.Dabei konnten die »Fakten« zu ihrer persönlichen Lebensgeschichte durch die anderen Familienmitglieder validiert werden. Erinnerungen wie etwa: »Ich bin mir sicher, dass ich am 3.Juli eine Mandelentzündung hatte,weil das direkt vor dem 4. Juli war und ich deswegen die Parade auf der Hauptstraße verpasst habe«, können durch Nachfragen bei anderen Familienmitgliedern oder dadurch auf Richtigkeit überprüft werden, dass man medizinische Akten zurate zieht. Validierungsstudien ergaben eine Korrelation von etwa + 0,88 zwischen Familienmitgliedern,wenn man ihnen auf Tatsachen bezogene Fragen stellt. Eine viel geringere Korrelation von etwa + 0,43 wird für Emotionen und Einstellungen berichtet (Field, 1981). Natürlich kennen wir alle Familien, bei denen die Korrelation zwischen den Einstellungen der Familienmitglieder negativ ist. Tagebuchstudien zum autobiographischen Gedächtnis.
Zum Glück haben einige unternehmungslustige Psycho-
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
⊡ Abb. 7.14. Prozentsatz der Items, die in den letzten 6 Jahren vergessen wurden. Aus Linton (1982)
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logen die Herkulesaufgabe übernommen, ihre täglichen Aktivitäten aufzuzeichnen und dann ihre Erinnerungen an diese Aktivitäten abzufragen. Eine dieser Untersuchungen von Linton (1982; siehe auch Wagenaar, 1986) konzentrierte sich auf das Erinnerungsvermögen an episodische Erfahrungen über einen Zeitraum von sechs Jahren hinweg. Täglich notierte die Autorin eine kurze Beschreibung von mindestens zwei Ereignissen, die an diesem Tag geschehen waren, auf Karteikarten. Jeden Monat wählte sie zwei Karteikarten zufällig aus. Danach versuchte sie sich an die auf den Karteikarten beschriebenen Ereignisse zu erinnern und ein Datum für die Ereignisse anzugeben. Sie stufte dann die Erinnerung nach ihrer Salienz oder Bedeutung sowie nach ihrer Emotionalität sowohl zum Zeitpunkt der Erinnerung als auch zum Zeitpunkt des Niederschreibens auf der Karteikarte ein. Lintons Ergebnisse (⊡ Abb. 7.14) enthielten eine Reihe von Überraschungen. Die Vergessensrate in Abhängigkeit von der Zeit war linear, nicht kurvilinear, wie es auf viele Vergessenskurven seit Ebbinghaus zutraf.Daraus können wir die bedeutsame Schlussfolgerung ziehen,dass Erinnerungen an alltägliche episodische Ereignisse bezogen auf einen längeren Zeitraum allmählich immer weniger zur Verfügung stehen und dass die Fähigkeit, diese Items abzurufen, stetig abnimmt. Linton machte auf zwei Arten des Vergessens aufmerksam. Eine Art hing mit Ereignissen
zusammen,die sich über die Zeit hinweg wiederholen,wie etwa die Teilnahme an Ausschusssitzungen. In der Erinnerung verschmolzen die Sitzungen miteinander. Eine zweite Art des Vergessens hing mit Ereignissen zusammen, die Frau Linton schlicht vergaß. Überraschend war, dass sie keinen starken Zusammenhang zwischen der Beurteilung der Bedeutung und Emotionalität einer Erinnerung einerseits und ihrer Abrufbarkeit andererseits fand. Dieser Befund widerspricht dem »gesunden Menschenverstand« und einigen anderen Untersuchungen, aber er passt zu dem Widerspruch zwischen dem Schwur »Ich werde diese Nacht nie vergessen« und der späteren Unfähigkeit, sich an die Nacht zu erinnern. Eine andere Technik, die verwendet wurde, um einen Zugang zum Inhalt der großen Schatulle mit den Erinnerungen zu bekommen, besteht darin, thematische Lebensereignisse aus dem Gedächtnis abzurufen. In einer anderen anspruchsvollen Studie versuchte Sehulster (1989), Erinnerungen an Opernaufführungen in der Metropolitan Opera innerhalb der letzten 25 Jahre abzurufen. Sehulster, der das Glück hatte, dieses berühmte Opernhaus mehr als ein viertel Jahrhundert lang besuchen zu dürfen, versuchte die Einzelheiten über die Daten und Besetzungen bei 284 Aufführungen frei aus dem Gedächtnis zu reproduzieren. Die Validierung von Sehulsters Erinnerungen erfolgte durch eine Überprüfung anhand der Pro-
205 7.2 · Langzeitgedächtnis
Erinnerungen wie ein gutes Weinjahr Über unser gesamtes Leben hinweg sammeln wir zahlreiche Eindrücke über die uns umgebende Welt und speichern viele von ihnen als besonders gut gehütete Erinnerungen sorgfältig ab. Ältere Menschen scheinen einen besonders üppigen Speicher erhalten gebliebener Eindrücke zu haben und mögen es, eine Rose zu entdecken, die sie zwischen den Seiten eines besonders geschätzten Buches gepresst haben. Durch sie können früher einmal lebendige Eindrücke aus dem Buch des Gedächtnisses wieder belebt werden. Wenn man mit älteren Menschen spricht, dann ist es fast so, als zögen sie aus dem Gedächtnis ein Buch heraus, öffneten es und begännen, über seinen Inhalt zu berichten; dann wechseln sie zu einem anderen Abschnitt über, erzählen dessen Inhalt und stellen das Buch schließlich sorgsam an seinen ursprünglichen Platz zurück, damit sie es später wieder finden können. Vor einiger Zeit bat ich die Teilnehmer meines Seminars über kognitive Psychologie, ältere Nachbarn oder Verwandte aufzusuchen, um einige sehr lange zurückliegende Erinnerungen aufzuzeichnen. Der folgende Text ist ein kurzer Ausschnitt aus einem der Berichte: »Ich bin 1885 geboren … Als ich acht Jahre alt war, starb meine Mutter. Deswegen lebte ich abwechselnd bei unterschiedlichen Verwandten und ging einerseits in der Stadt Kahoka (Missouri) zu einer Schule mit etwa fünf Klassenzimmern und andererseits auf eine Landschule
grammhefte.Im Gegensatz zu Lintons Untersuchungen an der eigenen Person fand Sehulster Primacy- und RecencyEffekte.Das heißt,dass er sich an Opernaufführungen,die er im ersten und im letzten Teil des Zeitraums von 25 Jahren gesehen hatte, besser erinnern konnte als an jene in der Mitte. Er stellte fest, dass die Bedeutung (oder Intensität) der Oper auch signifikant etwas zu ihrer Erinnerbarkeit beitrug. Bedeutsame Aufführungen wurden verständlicherweise besser erinnert als langweilige.Dennoch hatten manche Aufführungen in Sehulsters Erinnerung eine besondere Bedeutung.Und schließlich war die Wahrscheinlichkeit einer Erinnerung umso größer, je häufiger er die Informationen wiederholt hatte, beispielsweise indem er sich Platten von jenen Opernaufführungen anhörte, die er besucht hatte. Bisher haben wir uns bei unserem Überblick über persönliche Erinnerungen auf individuelle Berichte über pri-
mit dem Namen Star, die aus einem Klassenzimmer bestand, in dem mehr als eine Klasse unterrichtet wurde. Die Schule hatte ringsherum Fenster, von denen aus man auf Bäume sehen konnte, und vorne eine Tafel. Es gab eine Veranda und einen Garderobenraum am Eingang … Zur Unterhaltung hatten wir einen Jahrmarkt, auf dem man alle Produkte aus der Region kaufen konnte. Es gab Fahrgeschäfte wie das Riesenrad, das Karussell und den Ponyreitstand. An anderen Ständen wurden Eis und Limonade verkauft. Das gab es jeweils für fünf Cent … Ich erinnere mich daran, wie mich mein Onkel John dorthin mitnahm, aber auch an einen Tag, als wir ein Zelt aufsuchten, in dem eine Hypnose gezeigt wurde … Wenn wir krank waren, gab man uns einen Löffel mit Ayres sarsaparilla, einem patentierten Medikament, das im Drugstore erworben werden konnte … Ich hoffe, diese Informationen helfen dir bei deinem Uniprojekt und du kommst bald einmal wieder, um mich zu sehen. Deine Urgroßmutter Menke.« (Danke an Scott Menke, 24. Mai 1987) Achten Sie einmal darauf, dass sich Urgroßmutter Menke an »wichtige« Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnerte – Ereignisse, die für sie wichtig waren: Ponyreiten, Eis- und Limonadenstände. Wie sich durch ihre genauen Erinnerungen an den Grundriss ihrer früheren Schule belegen lässt, hatte sie auch ein ausgeprägtes visuelles Gedächtnis.
vate Erfahrungen konzentriert. Dieser Gegenstandsbereich ist aber auch aus der Perspektive von Gruppendaten untersucht worden. In einer Reihe von Studien hat David Rubin von der Duke University gezeigt, dass sich Menschen an bestimmte Zeiten ihres Lebens besser erinnern als an andere und dass bei den meisten Menschen die Erinnerung an die Vergangenheit bemerkenswert ähnlich ist. Rubin (1987, 2000; Rubin, Wetzler & Nebes, 1986) fand beispielsweise heraus, dass Menschen, die in die mittleren Jahre kommen (in die Fünfziger und danach) dazu neigen, sich besser an Episoden aus ihrer Jugend und dem früheren Jugendalter zu erinnern als an die nicht so lange zurückliegenden Jahre (⊡ Abb. 7.15). »Es scheint so zu sein, dass die Erinnerungen an die Zeit im Leben,durch die man sich definiert,besser fließen: die Zeit des ersten Rendezvous, von Ehe, Beruf, Kind«, erklärt Rubin.Unsere relative Unfähigkeit,uns an Ereignisse
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
⊡ Abb. 7.15. Das Gedächtnis neigt zur Selektivität bezogen auf Ereignisse, aber auch auf Zeiten. Besonders interessant ist die Tendenz, dass die mittleren Jahre weniger gut erinnerbar sind. Im Alter von 70 Jahren erinnern die Menschen mehr aus ihren Zwanzigern, während Menschen in den Fünfzigern mehr aus ihrer Teenagerzeit erinnern. Aus Rubin (1987)
7 zu erinnern, die zwischen dem Alter von 40 und 55 Jahren geschahen,ist vielleicht nicht auf die Langeweile jener Jahre, sondern auf die zunehmende Stabilität und die von Routinen gesteuerte Natur des Lebens während dieser Zeit zurückzuführen. In der Gleichartigkeit des Lebens vermengt sich eine Erinnerung mit anderen und wird so weniger erinnerbar. Die Zeit, die für die Erinnerung unzugänglich zu sein scheint,ist die vor dem Alter von vier Jahren. Während manche Psychoanalytiker behaupten mögen,dass die Verdrängung sexueller Bedürfnisse in der Kindheit eine Erklärung für diese Amnesie ist,besteht eine andere kognitivere Sichtweise darin, dass diese Erinnerungen nicht sehr gut in ein umfassenderes Konzept von der persönlichen Lebensgeschichte integriert waren.
7.2.5 Erinnerungsfehler und
die Identifikation durch Augenzeugen Wenn persönliche Erinnerungen weniger als vollkommen sind, wie verhält es sich dann mit anderen Arten der Erinnerung, beispielsweise mit der von Augenzeugen bei einer Straftat? Stellen Sie sich vor, Sie sind Schöffe in einem Fall, bei dem es um einen Bankraub geht. Der Räuber betritt die Bank, fuchtelt mit einer Handfeuerwaffe in der Luft herum, zielt auf die Kassiererin und verlangt das gesamte Geld aus der Kasse. Ein 37-jähriger weißer Mann,
der zufällig gerade am nächsten Schalter Geschäfte erledigen will, steht nicht weiter als drei Meter entfernt und kann den Banditen, bei dem es sich um einen schwarzen Amerikaner Ende zwanzig handelt, deutlich erkennen. Eine Woche später wird ein Verdächtiger in seinem Wagen verhaftet, in dem sich eine große Menge Geldes und eine Handfeuerwaffe befinden. Der Verdächtige behauptet, er habe zum Zeitpunkt der Tat zusammen mit seiner Freundin ferngesehen, und war auf die spontan gestellte Frage nach den Einzelheiten der Fernsehsendung hin nicht in der Lage, Näheres zu sagen. Seine Freundin bestätigt sein Alibi. Der Augenzeuge des Verbrechens identifiziert den Mann eindeutig als die Person, die er beim Bankraub beobachtete, und sagt unter Eid aus, er sei sich seiner Erinnerung sicher. Welche Bedeutung würden Sie der Erklärung des Augenzeugen unter diesen Umständen beimessen? Wenn es sich bei Ihnen so verhält wie bei den meisten anderen Menschen, dann hätte die Aussage eines Augenzeugen im Vergleich zu den meisten anderen Tatsachen ein größeres Gewicht. In einer Reihe sorgfältig kontrollierter Experimente haben Elizabeth Loftus und ihre Mitarbeiter eigene Belege dafür vorgelegt, dass das Gedächtnis von Menschen für Verzerrungen anfällig ist. Die Erinnerung an Ereignisse ist nicht einfach rekonstruktiv. Damit ist gemeint,dass man die Tatsachen aus der Welt gierig aufnimmt und sie dann genauso wieder ausspuckt, wie man sie aufgenommen hat. Im wirklichen Le-
207 7.2 · Langzeitgedächtnis
ben sind die Erinnerung und der Abruf aus dem Gedächtnis konstruktiv. Das bedeutet, dass die Vorerfahrung, Informationen nach dem Ereignis, Wahrnehmungsfaktoren und sogar der eigene Wunsch, bestimmte Ereignisse besser zu erinnern als andere, das beeinflussen, was wir aus dem Gedächtnis abrufen.Das machen wir alle.Nehmen Sie als Beispiel den Bericht über ein Sportereignis,bei dem die eigene Mannschaft eigentlich ziemlich schlecht gespielt hat: Nach der Darstellung des Ereignisses durch einen leidenschaftlichen Fan spielte die Mannschaft gigantisch. Im Fall des Augenzeugen bei einem Bankraub gibt es mehrere Faktoren, die einen Schöffen veranlassen könnten, die Glaubwürdigkeit des Zeugen infrage zu stellen. Die Erinnerung an alltägliche Ereignisse verläuft in drei Phasen: Wahrnehmung, Erinnerung und Abruf aus dem Gedächtnis. In der ersten Phase ist der Zeuge vielleicht zumindest teilweise dadurch traumatisiert, dass er den Überfall miterlebt und die Waffe sieht. Während der Phase der Erinnerung hat er möglicherweise andere Erinne-
rungen und Stereotypen in seine Wahrnehmung integriert. Und in der Abrufphase kann er darin bestärkt worden sein, den Verdächtigen zu identifizieren, damit der Fall vor Gericht kommt und den Gesetzen Geltung verschafft wird. Zusätzlich gibt es mehrere Studien, die darauf hindeuten, dass die Identifizierung des Mitglieds einer Ethnie durch eine andere besonders anfällig für Ungenauigkeiten ist ( siehe Shapiro & Penrod, 1986; Bothwell, Brigham & Malpass, 1989). Die Anzahl der durch Aussagen von Augenzeugen irrtümlich verurteilten Menschen liegt bei Zehntausenden pro Jahr ( siehe Cutler & Penrod, 1995; Loftus & Ketcham, 1991).Obwohl es schwierig ist,an genaue Daten über die Unschuld verurteilter Schwerverbrecher zu kommen (»Im Gefängnis gibt es keine Verbrecher, nur Menschen mit miserablen Anwälten«), ist es wahrscheinlich, dass viele Menschen wegen der Erinnerungsfehler irgendeiner Person irrtümlich im Gefängnis sitzen. Noch tragischer ist es, dass einige Menschen auf dieser Grundlage zum Tode verurteilt werden.
Die Dauerhaftigkeit des Gedächtnisses Die Szene spielt sich in einem Gerichtssaal ab. Nachdem die Hauptzeugin einen Eid darauf geleistet hat, »die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit«, berichtet sie bildreich über einen schauerlichen Mord und wird im zur Dramatik passenden Moment gefragt: »Befindet sich diese Person, die den zehn Pfund schweren Holzhammer über ihren Kopf erhob und dann damit heftig auf den zerbrechlichen Schädel der wehrlosen und kürzlich verstorbenen Frau Abernathy einschlug, im Gerichtssaal?« – »Ja, sie ist hier.« – »Würden Sie bitte auf die Person zeigen?« – »Er ist es. Der heruntergekommen aussehende Kerl, der neben dem Verteidiger sitzt.« Starker Tobak, aber derartig elektrisierende Zeugenaussagen sind nicht auf Seifenopern beschränkt. Ähnliche Szenen spielen sich oft vor leibhaftigen amerikanischen Gerichten ab. Die Aussage eines Augenzeugen hat in der Regel eine überwältigende Wirkung in der Richtung, dass Geschworene von der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten überzeugt werden. Bis vor kurzem jedoch war die Glaubwürdigkeit der Aussage eines Augenzeugen unbestritten. Vor einigen Jahren legte Elizabeth Loftus von der University of Washington eigene Belege vor, die darauf hin▼
Elizabeth Loftus. Die Ergebnisse ihrer Arbeit über die Formbarkeit des Gedächtnisses wurden oft in der Praxis auf Fälle der Identifizierung durch Augenzeugen angewandt
deuteten, dass das menschliche Gedächtnis nicht, wie man zunächst dachte, von Dauer ist. In einem ihrer Experimente wurden Studenten gebeten, sich ein Video anzusehen, in dem ein Auto vorkam, und dann eine Reihe von Fragen aufgrundlage dessen zu beantworten, was sie gesehen hatten. Die eine Hälfte der Versuchspersonen wurde gefragt: »Wie schnell war der weiße Sportwagen, während er die Landstraße entlangfuhr?« Die andere Hälfte wurde gefragt: »Wie schnell war der weiße Sportwagen, als er an der Scheune vorbeikam, während er die Landstraße entlangfuhr?« Beachten Sie bitte, dass unter der zweiten Bedingung die Scheune in die Frage eingefügt
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Kapitel 7 · Gedächtnis – Strukturen und Prozesse
wurde, obwohl im Film gar keine Scheune gezeigt wurde. Eine Woche später wurden die Versuchspersonen gefragt, ob sie im Video eine Scheune gesehen hätten. Unter der zweiten Bedingung berichteten 17 Prozent der Versuchspersonen, sie hätten eine Scheune gesehen, obwohl sie im Film natürlich gar nicht vorgekommen war, im Gegensatz zu nur drei Prozent unter der ersten Bedingung. In einem damit zusammenhängenden Experiment zeigten Loftus, Miller und Burns (1978) den Versuchspersonen eine Reihe von Dias, auf denen ein Sportwagen zu sehen war, der an einer Kreuzung anhielt, dann umdrehte und gegen einen Fußgänger fuhr. Eine Hälfte der Studenten sah ein Dia mit einem Verkehrszeichen für »Vorfahrt achten« in der Ecke. Die andere Hälfte sah ein Dia mit einem Stoppzeichen. Bei der späteren Befragung wurden Informationen hinsichtlich des entscheidend wichtigen Vorfahrt- bzw. Stoppzeichens präsentiert, die dem Gesehenen widersprachen. Das heißt, bei einigen der Studenten, die das Stoppzeichen gesehen hatten, wurden neue Informationen, bei denen das Zeichen Vorfahrtzeichen genannt wurde, vorgelegt, und bei einigen wurde das
Elizabeth Loftus erweiterte ihr Arbeitsgebiet und beschäftigte sich auch mit verdrängten Erinnerungen, bei denen eine Person eventuell eine besonders schmerzliche Erinnerung aus dem Bewusstsein ausschließt wie etwa im Fall einer Frau, die als Kind sexuell belästigt worden war. In einer Psychotherapie können diese Erinnerungen bewusst aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Während einige verdrängte Erinnerungen an traumatische Ereignisse aus der Kindheit zweifellos real sind, so argumentieren Elizabeth Loftus und andere jedoch, dass einige »aufgedeckte« Erinnerungen tatsächlich falsche Erinnerungen oder rekonstruierte Geschichten über Ereignisse sind, zu denen es nie kam, die jedoch (vielleicht unbewusst) erfunden wurden, um den Wünschen eines Therapeuten entgegenzukommen ( siehe Loftus, 1993; Loftus & Ketcham, 1991). Obwohl Frau Loftus zur Verteidigung ihrer Position die Ergebnisse sorgfältig geplanter Experimente vorgelegt hat, ist sie weiterhin Gegenstand der Kritik. Sie hat die Glaubwürdigkeit einiger Arten der Therapie infrage gestellt, die auf posttraumatische Erfahrungen
Vorfahrtzeichen als Stoppzeichen benannt. Später wurden die Versuchspersonen gebeten, bei einem Paar von Dias dasjenige auszuwählen, das sie als Teil der ursprünglich dargebotenen Menge wieder erkannten. In der Gruppe von Versuchspersonen, der man irreführende Informationen gegeben hatte, wählten 75 Prozent das richtige Dia aus. Bei denjenigen, denen man falsche Informationen gegeben hatte, wurde das richtige Dia nur von 41 Prozent ausgewählt. Was geschah mit der ursprünglichen Erinnerung? Sie wurde wahrscheinlich mit anderen Erinnerungen vermengt. Elizabeth Loftus hat gezeigt, dass es bei manchen Personen möglich ist, etwas so Großes wie eine Scheune und etwas so Wichtiges wie ein Vorfahrtzeichen anstelle eines Stoppzeichens (oder ein Stoppzeichen anstelle eines Vorfahrtzeichen) hervorzurufen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass man eine Fliegenklatsche mit einem zehn Pfund schweren Holzhammer verwechseln könnte, der Bestandteil einer brutalen, schaurigen Bluttat ist. Aber derartige Zeugenaussagen sind durch die wichtigen Arbeit von Elizabeth Loftus immer mehr infrage gestellt worden.
fokussieren.Obwohl einige frühe traumatische Erlebnisse auf Tatsachen beruhen, sind andere das Ergebnis einer Vermischung von Ereignissen und der Bestärkung des Therapeuten nach dem Ereignis. Auch die Wirksamkeit derartiger Therapien zur Aufdeckung wirklicher Kindheitserfahrungen, auch ohne dass das Gedächtnis des Patienten in einem bestimmten Sinne beeinflusst wird, ist Gegenstand der aktuellen Diskussion. Die experimentellen und die angewandten Arbeiten von Loftus und anderen haben in bedeutsamer Weise zu unserem Verständnis des Gedächtnisses beigetragen.Außerdem hatten sie einen wichtigen Einfluss auf die Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Erinnerungen von Augenzeugen bei Straftaten. Obwohl solche Berichte heute mit größerer Zurückhaltung behandelt werden, sollte angemerkt werden, dass es nicht allen Augenzeugenberichten oder allen Berichten über verdrängte Erinnerungen an Validität mangelt. Die Diskussion geht weiter und der interessierte Leser wird für beide Argumentationsrichtungen eine große Anzahl von Literaturstellen finden.
209 7.2 · Langzeitgedächtnis
Zusammenfassung 1. Das Gedächtnis lässt sich einteilen in Kurzzeitgedächtnis (KZG), Langzeitgedächtnis (LZG) und Arbeitsgedächtnis. Jedes von ihnen hat seine eigenen charakteristischen Merkmale. 2. Die Kapazität des KZG ist auf etwa sieben Items begrenzt, aber die Dichte oder die Menge der Informationen pro Item lässt sich durch Chunking erhöhen (beispielsweise Neugruppierung von Buchstaben zu Wörtern). 3. Patienten mit Läsionen am Temporallappen des Hippocampus veranschaulichen, dass diese Strukturen etwas mit der Speicherung von Langzeiterinnerungen zu tun haben. 4. Das Verfahren zum Chunking im KZG erfordert den Zugang zu Informationen aus dem LZG. 5. An der Kodierung von Informationen im KZG sind mindestens visuelle, akustische und semantische Codes beteiligt. Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass die visuelle Kodierung vor der akustischen und semantischen Kodierung vonstatten geht.
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Arbeitsgedächtnis autobiographische Erinnerungen Brown-Peterson-Technik Chunking falsche Erinnerungen konstruktive Erinnerungen Permaspeicher phonologische Schleife Prüf-Item rekonstruktive Erinnerungen Sternberg-Paradigma verdrängte Erinnerungen visuell-räumlicher Notizblock zentrale Exekutive zurückstrahlender Schaltkreis
6. Der sehr schnelle Abruf aus dem KZG scheint mit Hilfe eines erschöpfenden und nicht mit Hilfe eines selbst endenden Prozesses zu funktionieren. 7. Erinnerungen werden anscheinend lokal und allgemein gespeichert. 8. Die neurokognitive Sicht der Speicherung im LZG legt nahe, dass die Aktivierung neuronaler Schaltkreise eine elektrochemische und eine strukturelle Veränderung im neuronalen Schaltkreis zur Folge hat. 9. Die Kodierung im LZG erfolgt vermutlich multidimensional und es ist sehr wahrscheinlich ein semantischer Code daran beteiligt, aber auch Codes, die auf allen Sinnesmodalitäten beruhen. In der Literatur wird hauptsächlich die semantische Kodierung betont. 10. Kapazität und Dauerhaftigkeit des LZG sind praktisch unbegrenzt. 11. Studien zum Gedächtnis weisen darauf hin, dass es für Veränderungen empfänglich ist. Dies hatte einen Einfluss auf die Glaubwürdigkeit von Augenzeugenberichten.
Literaturempfehlungen Zu den lesbarsten Büchern mit einer lebendigen Behandlung des KZG gehören Klatzkys Human Memory: Structures and Processes, Baddeleys The Psychology of Memory, Lindsays und Normans Human Information Processing sowie Normans Memory and Attention (1. oder 2. Aufl.). Auf einem fortgeschritteneren Niveau angesiedelt sind Tulvings Kapitel »Episodic and Semantic Memory« in seinem Buch Organization of Memory: Quo Vadis? sowie Kennedys und Wilkes’ (Hrsg.) Studies in Long Term Memory. Auch Neissers Memory Observed und Tulvings Elements of Episodic Memory sind sehr empfehlenswert.Bei Klatzkys Buch Memory and Awareness handelt es sich um einen sehr gut lesbaren Bericht über die Gedächtnisforschung aus dem Blickwinkel der Informationsverarbeitung. Practical Aspects of Memory von Gruneberg, Morris und Sykes enthält einige interessante Kapitel. Cohen hat ein faszinierendes Buch über das Gedächtnis mit dem Titel Memory in the Real World geschrieben, das empfehlenswert ist. Siehe auch Memory & Cognition, Vol. 21, 1993 – ein Zeitschriftenheft,das großenteils dem Thema Kurzzeitgedächtnis gewidmet ist.
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8 Gedächtnis – Theorien und Neurokognition 8.1
Frühe Untersuchungen –213
8.2
Die Neurokognition des Gedächtnisses –215
8.3
Zwei Gedächtnisspeicher –217
8.4
Gedächtnis im umfassenderen kognitiven Bereich –219
8.5
Gedächtnismodelle –220
8.5.1 8.5.2 8.5.3 8.5.4 8.5.5 8.5.6 8.5.7
Waugh und Norman –220 Atkinson und Shiffrin –221 Erinnerungsniveau (»Level of Recall«) –223 Verarbeitungsniveaus: Craik –224 Der Effekt des Selbstbezugs –228 Episodisches und semantisches Gedächtnis: Tulving –229 Ein konnektionistisches (PDP) Gedächtnismodell: Rumelhart und McClelland –232
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
Anregungen vorab 1. 2. 3. 4. 6. 7.
Welchen Beitrag zum Gedächtnis haben Ebbinghaus und James geleistet? Was ist das prozedurale Gedächtnis, was das deklarative Gedächtnis? Welche Belege gibt es für ein aus zwei Komponenten bestehendes Gedächtnismodell? Was versteht man unter Erinnerungsniveau, Verarbeitungsniveau und Effekt des Selbstbezugs? Was ist das episodische, was das semantische Gedächtnis? Welche Rolle spielt das Gedächtnis im konnektionistischen Modell?
»Gedächtnis ist Leben« Saul Bellows Erzähler in Die Bellarosa-Verbindung Wie andere Fähigkeiten mit einer biologischen Grundlage passt sich das Gedächtnis im Allgemeinen gut an solche alltäglichen Anforderungen des Lebens an, weil es sich über unzählige Generationen hinweg in Reaktion auf den Druck der natürlichen Selektion entwickelt hat. Daniel L. Schacter
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Keine der großen Herausforderungen, mit denen sich die kognitiven Psychologen zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert sehen, hat eine größere Bedeutung für unser Verständnis dessen, wer wir sind, als die Eigenart des Gehirns und die Art und Weise, wie Erinnerungen in ihm organisiert sind. Wir haben es mit einem imposanten Gedächtnisapparat zu tun, der in unseren Schädel eingezwängt und etwa 1,5 kg schwer ist. Das Gehirn des Menschen ist das ausführende Organ unseres Lebens, durch das unsere Handlungen gesteuert werden. Es ist der Endpunkt der Empfindungen, aus denen Wissen gebildet wird. Es ist der Ausgangspunkt der Sprache, die den Gedanken eine Stimme verleiht. Es ist der Aufbewahrungsort für Erinnerungen, aus denen Sinn abgeleitet wird, und es ist das Herz unserer Emotionen, die dem Leben Gefühl geben. Angesichts all der Grenzen, auf die wir Menschen bei der Erkundung und beim Aufbau der Zivilisation gestoßen sind, stehen wir erst am Anfang, wenn wir verstehen, dass das Gehirn der Sitz des Wissens ist.Aber was für ein Anfang! Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten mehr über das Gehirn und das Gedächtnis erfahren als in der gesamten Zeit davor und die gerade laufenden Untersuchungen zur neurologischen Grundlage des Gedächtnisses, die sich leistungsfähiger moderner Techniken bedienen,führen zu einer völlig neuen Sichtweise auf diesem spannenden Gebiet. Software – Hardware entspricht Psychologie – Neurologie. Die wissenschaftliche Untersuchung des mensch-
lichen Gedächtnisses wird gegenwärtig von zwei unterschiedlichen Positionen aus angegangen.Eine Gruppe betont die psychologischen Komponenten des Gedächtnisses und hebt dessen strukturell-verarbeitende Elemente mit Hilfe konventioneller Methoden hervor (beispielsweise indem Versuchspersonen ein bestimmtes Material wie etwa den Inhalt dieses Kapitels lernen müssen und man dann beim nächsten Test die Erinnerung daran überprüft). Eine andere Gruppe interessiert sich für die neurologische Grundlage des Gedächtnisses. Aufschluss darüber erhält man etwa, wenn mit Hilfe bildgebender Verfahren die Gedächtnisveränderungen bei bestimmten Arten von Krankheiten untersucht werden (dies könnte z.B. bei Patienten der Fall sein, die sich in einem bestimmten Teil des Gehirns eine Hirnverletzung zugezogen haben) oder durch die Verwendung pharmakologischer Wirkstoffe, die einen Einfluss auf die Erregungsweiterleitung in den Nervenzellen haben. Metaphorisch könnten wir bei der ersten Gruppe in dem Sinne von der SoftwareGruppe sprechen, dass ihre Mitglieder der Frage nachgehen, wie das Gedächtnis (bisweilen im Alltag) funktioniert. Und bei der zweiten könnten wir gewissermaßen von der Hardware-Gruppe reden, weil ihre Mitglieder das Netzwerk der Nervenzellen und der Verbindungen zwischen ihnen untersuchen, die mit den Gedächtnisprozessen zusammenhängen. In der Praxis arbeiten die beiden Gruppen gemeinsam an diesen Gedächtnisfragen und unser Verständnis des Gedächtnisses wird durch ihre vereinten Anstrengungen vertieft.
213 8.1 · Frühe Untersuchungen
8.1
Frühe Untersuchungen
Es ist unwahrscheinlich,dass Hermann Ebbinghaus,der in Deutschland gelebt und den ersten wissenschaftlichen Bericht über Gedächtnisexperimente verfasst hat (Über das Gedächtnis, 1885), den Einfluss vorhergesehen haben könnte, den seine Arbeit über die gesamte Geschichte der Forschung zu Lernen und Gedächtnis hinweg ausüben würde.Man muss auch die Bedingungen berücksichtigen, unter denen er damals gearbeitet hat: Obwohl »alle« wussten,was das Gedächtnis ist,und die Philosophen jahrelang über dessen Sinn und Zweck spekuliert hatten, war keine systematische Formulierung der Gedächtnisstrukturen überprüft worden, standen keine ausgeklügelten analytischen Geräte zur Verfügung und gab es keine Datenbank mit Informationen über die zuvor auf diesem Gebiet durchgeführten Experimente. Deshalb unternahm er seine Erkundungsstudien über die unbekannten Eigenschaften des Gedächtnisses mit wenigen Vorinformationen und einer begrenzten Apparatur zur Überprüfung seiner Hypothesen. Er hatte eine gewisse Vorahnung, dass Empfindungen, Gefühle und Ideen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst waren,irgendwo an einer verborgenen Stelle im Gedächtnis erhalten bleiben. Seine Auffassung vom Inhalt des Gedächtnisses und dessen Zugänglichkeit kommt in der folgenden Passage, in der er von einmal bewussten Empfindungen, Gefühlen und Ideen spricht, beredt zum Ausdruck: Obschon der nach innen gewandte Blick sie auf keine Weise mehr finden mag, sind sie doch nicht schlechterdings vernichtet und annulliert worden, sondern leben in gewisser Weise weiter, wie man sagt, im Gedächtnis. Freilich können wir ihr gegenwärtiges Dasein nicht direkt beobachten, aber mit derselben Sicherheit wie die Fortexistenz der Gestirne unter dem Horizont lässt sich auch die ihre erschließen aus den Wirkungen, die davon zu unserer Kenntnis kommen. Diese sind von verschiedener Art … (Ebbinghaus, 1966/1885, S. 1) Dem Zeitgeist folgend, unter dessen Einfluss Ebbinghaus bei seiner Arbeit stand, dachte man damals, dass sich Lernen und Gedächtnis dadurch verstehen ließen, dass man bereits herausgebildete Vorstellungen betrachtete und dann wieder rückwärts ging, um etwas über ihren Ursprung herauszufinden. Ebbinghaus kehrte diese Vorgehensweise um; er untersuchte, wie sich das Gedächtnis
entwickelte, und war dadurch in der Lage, die Variablen, die zuvor nicht vom Gedächtnis zu trennen waren, wissenschaftlich zu kontrollieren. Er wagte sich in die Dunkelheit des unzugänglichen Gedächtnisses und war dazu nur mit der unzureichendsten aller Kerzen,der »sinnlosen Silbe«, gerüstet. Obwohl Ebbinghaus nur wenig Licht in diese Angelegenheit brachte, so entwickelte er doch eine Methode zur Untersuchung des Lernens, die immer noch verwendet wird.Seine Suche nach der Antwort auf die Frage, wie das Gedächtnis gebildet wird, hatte vorausgesetzt, dass er eine Aufgabe entwickelte,die seine Versuchsperson nicht kannte. Da Ebbinghaus nicht nur ein wichtiger Theoretiker und Experimentator war, sondern auch seine eigene Versuchsperson, sah er sich mit dem Problem konfrontiert, etwas zu finden, das er sich selbst beibringen konnte, das er aber noch nicht kannte. Deswegen setzte er sinnlose Silben ein – keine Wörter,sondern aus drei Buchstaben bestehende Folgen von einem Konsonanten,einem Vokal und einem Konsonanten.Die schlecht erinnerbaren Buchstabenfolgen ZAT, BOK und QUJ waren dazu bestimmt, vergessen zu werden – und so war es auch wirklich. Ebbinghaus wiederholte hartnäckig eine Reihe von sinnlosen Silben nach der anderen und versuchte sich dann nach 20 Minuten, nach einer Stunde, nach acht bis neun Stunden, nach einem Tag, nach zwei Tagen, nach sechs Tagen und nach 31 Tagen daran zu erinnern. In ⊡ Abb. 8.1 ist dargestellt,wie viel er vergaß.Bestandteil seiner experimentellen Untersuchungen zum Gedächtnis waren die Auswirkungen der Listenlänge auf die Lernzeit, die Effekte der Übung auf das Lernen sowie das Lernen und das Erinnern seriell angeordneter Items. Diese Methode des seriellen Lernens stammt von Ebbinghaus und wurde zu einem Standardverfahren,das über Jahre hinweg verwendet worden ist. Das serielle Lernen erlangte kürzlich wieder eine gewisse Bedeutung, nicht nur als Lern-
⊡ Abb. 8.1. Ebbinghaus’ Vergessenskurve für sinnlose Silben
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214
Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
Hermann Ebbinghaus (1850–1909). Der Erste, der systematische Untersuchungen zum Gedächtnis und zum Vergessen durchführte. Er schrieb 1885 das Buch Über das Gedächtnis
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verfahren (wie ursprünglich von Ebbinghaus vorgeschlagen), sondern auch als Methode zur Unterscheidung des Kurzzeitgedächtnisses vom Langzeitgedächtnis. Leider hat Ebbinghaus seine »Gestirne unter dem Horizont« nie entdeckt.Sehr wahrscheinlich wäre er mit der Art von Forschung, wie sie heute im Labor betrieben wird, außerordentlich zufrieden. Wir können inzwischen sogar einige Antworten auf die Fragen geben, die er vor mehr als 100 Jahren gestellt hat – zum Beispiel dazu, wie eine Empfindung, Gefühle und Vorstellungen, die einmal bewusst waren,aber nun nicht mehr zugänglich sind,erinnert werden können. Obwohl Ebbinghaus’Suche nach den verborgenen Gestirnen des Gedächtnisses eigentlich nicht recht erfolgreich war, so brachte er doch William James nicht davon ab, die Suche nach der Struktur des Gedächtnisses fortzusetzen. James’ Arbeit sollte einen unmittelbaren Einfluss auf die Theorien der Informationsverarbeitung und auf die modernen Gedächtnistheorien haben. Kurz nachdem Ebbinghaus seine Schrift über das Gedächtnis verfasst hatte, veröffentlichte James seinen zweibändigen Klassiker Principles of Psychology (1890). James nahm davon Notiz, dass Ebbinghaus in heroischer Weise täglich Reihen sinnloser Silben las, und lobte seine exakte Erfassung des Gedächtnisses. In einem metaphorischen Stil, der dem von Ebbinghaus ähnelte, fügt James seine eigenen Spekulationen zum Thema verlorene Gedanken hinzu: [Die Aufgabe,] die vor uns liegt, hat etwas damit zu tun, auf welche Weise wir auf der Leinwand des Gedächtnisses Bilder von der fernen Vergangenheit malen; und doch stellen wir uns oft vor, wir hätten unmittelbare Visionen von ihrer Tiefe.Der Strom der Gedanken fließt weiter, doch das meiste davon fällt in ▼
den bodenlosen Abgrund des Vergessens. Einige davon überleben den kurzen Moment ihres Vorüberfließens nicht.Andere sind auf wenige Augenblicke,Stunden oder Tage beschränkt.Wieder andere hinterlassen unzerstörbare Spuren, anhand derer sie so lange aus dem Gedächtnis abgerufen werden können, wie das Leben andauert. Können wir diese Unterschiede erklären? James war der Auffassung, dass wir diese Unterschiede erklären können. Das vor uns ablaufende Panorama der bewussten Erfahrung ist zu flüchtig, als dass man es als Gedächtnis begreifen könnte. Für James setzte der Abruf von Erinnerungen aus dem Gedächtnis Anstrengung voraus und sollte davon unterschieden werden, dass man etwas aus der unmittelbaren bewussten Erfahrung wieder entdeckt. Er unterschied zwischen dem unmittelbaren Gedächtnis, das er als das primäre Gedächtnis bezeichnete, und dem indirekten Gedächtnis, das er als das sekundäre Gedächtnis bezeichnete. Die Darstellung der Gedächtnisstruktur bei James beruhte zum großen Teil auf Introspektion und er betrachtete das sekundäre Gedächtnis als den dunklen Aufbewahrungsort für Informationen, von denen man einmal erfahren hat,die aber nicht mehr leicht zugänglich sind. Es besteht eine bemerkenswerte Parallele zwischen den beiden Stufen des Bewusstseins – dem primären und dem sekundären Gedächtnis –, die er postulierte, und einer Auffassung, die sich damals gerade von Wien aus über die gesamte Welt verbreitete. Im Jahre 1890 hatten nur wenige Menschen etwas von Sigmund Freud gehört und sein Konzept vom Unbewussten in der Seele war noch im Stadium des Entstehens. Erst zwei Jahrzehnte später sollte es in Mode kommen (James zitierte Freud in seinem 1899 veröffentlichten zweibändigen Werk Principles of Psychology nicht, aber man traf sich). Nach James hängt das primäre Gedächtnis eng mit dem zusammen, was man heute als Kurzzeitgedächtnis
William James (1842–1910). Philosoph, Arzt und Psychologe, dessen Konzept der zwei Gedächtnisse als Grundlage für die modernen Gedächtnistheorien diente. Autor der Principles of Psychology (1890)
215 8.2 · Die Neurokognition des Gedächtnisses
bezeichnet, aber es ist nicht das Gleiche. Es überschreitet den Bereich des Bewusstseins nicht und es handelt sich um eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der gerade wahrgenommenen Ereignisse.Das sekundäre Gedächtnis oder das permanente Gedächtnis stellte man sich als Bahnen vor, die ins Hirngewebe der Versuchspersonen, wenn auch mit großen individuellen Unterschieden, eingeprägt werden. James formulierte es so: »Einige Seelen sind wie Wachs unter einem Siegelstempel – kein Eindruck,wie unverbunden mit sonstigen Eindrücken er auch sein mag, geht verloren. Andere bewegen sich bei jeder Berührung wie Wackelpudding hin und her, normalerweise bleibt jedoch nichts von Dauer zurück.« (James, 1890). Somit war das Gedächtnis etwas Dualistisches: Es ist dauerhaft und vergänglich. James lieferte jedoch nur wenige wissenschaftliche Belege für die operationale Unterscheidung zwischen den beiden Systemen,wenn man einmal von den zuverlässigen Daten mit Hilfe von Introspektion absieht. Dies geschah etwa 75 Jahre später, als der Zusammenhang zwischen primärem und sekundärem Gedächtnis von Waugh und Norman (1965) wie in ⊡ Abb. 8.2 dargestellt beschrieben wurde. (Wir werden später in diesem Kapitel darauf eingehen.) In ihrem Modell gelangt ein verbales Item ins primäre Gedächtnis und kann dann dort durch Wiederholung behalten oder vergessen werden. Bei Wiederholung kann das Item das sekundäre Gedächtnis erreichen und zum Teil des dauerhaften Gedächtnisses der Versuchsperson werden. Die frühen Theorien von Ebbinghaus und James zur Tiefenstruktur des Gedächtnisses fielen eine ganze Weile der Vergessenheit anheim, während sich ihr Einfluss in anderen Bereichen der Psychologie als besser vereinbar mit der analytischen und funktionalen Psychologie er-
⊡ Abb. 8.2. Modell des primären und des sekundären Gedächtnissystems. Adaptiert nach Waugh und Norman (1965)
wies, die sich in den Vereinigten Staaten rasch entwickelte. Es sollte bis zum Aufkommen der kognitiven Psychologie und der Neurokognition dauern, dass diese frühen Psychologen wegen ihrer verwegenen Erkundung der strukturellen Eigenschaften des Gedächtnisses die ihnen gebührende Anerkennung bekamen. In den USA und in anderen Ländern wagt man sich zurzeit gerade in einen weiteren Bereich, bei dem sich herausstellen könnte, dass es sich hier um die aufregendste aller Reisen in den menschlichen Geist handelt – die neurokognitive Suche nach dem Gedächtnis.
8.2
Die Neurokognition des Gedächtnisses
Die gegenwärtigen Untersuchungen zur Neurokognition des Gedächtnisses sind vom Inhalt her eigentlich nicht kompliziert. Dabei geht es um die Darstellung der Funktionen auf der Topographie des Gehirns, um die Routen-
Fallstudie: Ein spezifischer Gedächtnisausfall Vor ein paar Jahren wurde ein Patient, der als C.W. bezeichnet wird und der Musikproduzent beim BBC war, von einer seltenen Form der Enzephalitis befallen, einer Krankheit, bei der es im Gehirn zu einer Entzündung kommt. Die Folge war ein Gedächtnisausfall, bei dem seine Gedächtnisspanne nur bei wenigen Sekunden lag. Seine Erinnerung an gewöhnliche Ereignisse, wie etwa daran, was er zu Mittag gegessen hatte, an ein Lied, das er gerade gesungen hatte usw., ging kurz nach dem Ereignis
verloren. In den Worten seiner Frau: Er »ist auf immer in der Rille einer zerkratzten Schallplatte begraben«. Dennoch kann er sich bemerkenswerterweise an die Worte von Liedern erinnern, er kann einen Chor dirigieren und seine musikalische Begabung scheint unversehrt zu sein. Anscheinend speichern einige Teile des Gehirns Fakten (Namen, Bilder und Ereignisse) und andere speichern Prozeduren (z.B. wie man etwas macht).
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216
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
führung der Gedächtnisspuren und um die Identifikation der neuronalen Veränderungen im Gehirn, die mit der Bildung und der Veränderung des Gedächtnisses verbunden sind. Viele der Techniken, die bei diesen Untersuchungen eingesetzt werden, sind zuvor schon erörtert worden und schließen im Allgemeinen die Verwendung der Technologie bildgebender Verfahren bezogen auf das Gehirn ein (z.B. PET-Schichtaufnahmen, Kernspinresonanztomographie und elektroenzephalographische Aufzeichnungen),elektrische Sonden im Gehirn (z.B.den Einsatz einer geringfügigen elektrischen Stimulierung, bei der Erinnerungen hervorgerufen werden), die Verwendung von Chemikalien und Medikamenten, die die Erregungsweiterleitung an den Synapsen beeinflussen (z.B.die Verwendung pharmazeutischer Wirkstoffe bei der Behandlung oder Untersuchung einer Verbesserung oder Verschlechterung des Gedächtnisses) und die Untersuchung pathologischer Fälle mit ungewöhnlichen Gedächtnisausfällen (siehe z.B. das Material im Kasten auf S.215 mit dem Titel »Fallstudie: Ein spezifischer Ausfall des Erinnerungsvermögens«). Was die Kartierung der Areale im Gehirn angeht, die mit spezifischen Erinnerungen und Gedächtnisfunktionen verbunden sind, so scheinen drei Bereiche direkt daran beteiligt zu sein. Dennoch sollte betont werden, dass sich die Gedächtnisfunktionen über das gesamte Gehirn verteilen. Wie in ⊡ Abb. 8.3 dargestellt handelt es sich bei
⊡ Abb. 8.3. Der Hippocampus unter den beiden großen Hirnhemisphären scheint hereinkommende Informationen, die im Kortex und im Kleinhirn gespeichert werden, zu verarbeiten und weiterzuleiten
diesen Bereichen um den Kortex (die äußere Oberfläche des Gehirns, von der man annimmt, dass sie an Kognitionen höherer Ordnung beteiligt ist, wie etwa Denken, Problemlösen und Erinnern), das Kleinhirn (die wie ein Blumenkohl aussehende Struktur an der Basis des Gehirns,die an der Regulierung der motorischen Funktionen und des motorischen Gedächtnisses beteiligt ist) und der Hippocampus (eine s-förmige Struktur,die sich tief in beiden Hemisphären des Gehirns befindet und von der man glaubt, dass sie neue Informationen verarbeitet und sie an Teile des Kortex zur dauerhaften Speicherung weiterleitet). Wahrscheinlich war im Falle von C.W. der Hippocampus geschädigt,da alte Erinnerungen unversehrt,aber neue Erinnerungen nur schwer zu bilden waren. Hirnuntersuchungen deuten jetzt darauf hin, dass zwei Typen des Gedächtnisses, das prozedurale und das deklarative Gedächtnis, etwas mit diesen beiden Hauptstrukturen zu tun haben. Das prozedurale Gedächtnis hat etwas mit motorischen Fertigkeiten zu tun wie etwa Handschrift,Fertigkeiten zum Tippen und (wahrscheinlich) mit unserer Fähigkeit zum Radfahren; es ist hauptsächlich im Kleinhirn lokalisiert. Das deklarative Gedächtnis besteht aus Informationen und Wissen über die Welt wie etwa über den Namen einer Lieblingstante,die genaue Lage der nächsten Pizzeria und die Bedeutung von Wörtern plus eine riesige Menge anderer Informationen; all dies wird im Kortex des Gehirns gespeichert. Aufgrund neuer Techniken weiß man inzwischen mehr über die strukturelle Architektur des menschlichen Gehirns. Von noch größerem Interesse für kognitive Psychologen sind Entdeckungen über die funktionellen Eigenschaften des Gehirns, die Wechselbeziehungen zwischen ihnen und ihren Zusammenhang mit Gedächtnis, Wahrnehmung, Emotionen, Sprache und anderen kognitiven Eigenschaften. Infolge dieser Entdeckungen haben Psychologen die Hypothese aufgestellt,dass es zwei Typen des Gedächtnisses gibt: das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis. Diese Auffassung wird durch eine Vielzahl psychologischer Daten gestützt, doch anscheinend gibt es jetzt zusätzliche physiologische Belege,die auf den strukturellen und den Verarbeitungseigenschaften des Gehirns beruhen. Auch wird zunehmend deutlich, dass sensorische Informationen an den Kortex weitergeleitet werden, sobald sie in die Erfahrungswelt gelangen. Dort werden zeitweilige Verbindungen unter den Nervenzellen gebildet, die kurzzeitig erhalten bleiben. Das scheint jedoch auszureichen,damit unkomplizierte Aktionen stattfinden können,
217 8.3 · Zwei Gedächtnisspeicher
wie etwa eine Telefonnummer lang genug zu erinnern,um sie wählen zu können. Damit diese Eindrücke dauerhaft werden können, muss ein Prozess vor sich gehen, der als Langzeitpotenziation bezeichnet wird. Hier handelt es sich um die Tendenz von Nervenzellen, die einem rasch wiederholten Reiz ausgesetzt waren, ihre Reaktionstendenzen über eine längere Zeitspanne hinweg zu verstärken. Bei Säugetieren wurde die Langzeitpotenziation an den Synapsen des Hippocampus beobachtet.Eine Theorie behauptet, dass die auf diese Weise stimulierten Dendriten zu neuem Wachstum angeregt werden.Dies wiederum fördert die Entstehung von Langzeiterinnerungen. Langfristige deklarative Erinnerungen, so nimmt man an, bilden sich, wenn der Kortex des Gehirns Informationen an den Hippocampus aussendet. Hier handelt es sich um einen Prozess, der die Erinnerung dadurch fördert, dass der neuronale Kreislauf im Kortex rasch und wiederholt erregt wird. Die Verbesserung des Langzeitgedächtnisses kann durch willkürliche Aktionen erreicht werden – wie etwa durch das Wiederholen einer Telefonnummer – oder in manchen Fällen durch unwillkürliche Aktionen – wie sie etwa im Falle von traumatischen oder emotionalen Erfahrungen auftreten können. Beispielsweise sind wir in der Lage, uns lebendig an die Einzelheiten eines Autounfalls zu erinnern, ohne das Ereignis bewusst zu wiederholen.
Die Kartierung des Gedächtnisses mit Hilfe von PET Bis vor kurzem waren die Versuche,beim Menschen die am Gedächtnis beteiligten Hirnregionen auszumachen, wegen des Fehlens geeigneter experimenteller Vorgehensweisen eher begrenzt. Fallstudien an hirngeschädigten Patienten waren die Methode der Wahl, wenn man Menschen neuroanatomisch untersuchen wollte.Die Entwicklung nichtinvasiver Verfahren zur funktionellen bildlichen Darstellung des Gehirns wie etwa PET ermöglichte unvorhergesehene Fortschritte beim Verständnis der neuroanatomischen Grundlage des Gedächtnisses und anderer kognitiver Prozesse. Adina L. Roskins (1994)
Zusammenfassung. Obwohl im Bereich der Neurobiolo-
gie des Gedächtnisses noch viel erforscht werden muss, weiß man schon einiges. Physikalische Ereignisse aus der
äußeren Welt wie etwa in Form von Licht oder Schallenergie werden durch das Wahrnehmungssystem aufgenommen, in Nervenimpulse umgewandelt und an das Gehirn weitergeleitet.Dort werden sie anfangs analysiert und gleichzeitig an andere Zentren weitergeleitet; dazu gehört das Gebiet des Hippocampus, wo neben anderen Funktionen ihr emotionaler Inhalt ausgewertet wird. Diese Spur (bisweilen auch als Engramm bezeichnet) wird wieder an den Kortex und an andere Orte zurückgeleitet, wo neurochemische Stoffe aktiviert werden. Manchmal führt dies zur Bildung permanenter Gedächtnisspuren, sodass, wenn der gleiche oder ein ähnlicher sensorischer Eindruck wahrgenommen wird, die Gedächtnisspur aktiviert werden kann.Mit diesem grundlegenden Verständnis der neurokognitiven Struktur des Gedächtnisses im Hinterkopf können wir uns nun traditionellen psychologischen Untersuchungen und Theorien zum Gedächtnis zuwenden.
8.3
Zwei Gedächtnisspeicher
William James’dualistische Gedächtnistheorie ergab vom introspektiven Standpunkt aus durchaus einen Sinn. Und sie scheint auch vom Standpunkt der strukturellen Merkmale und der Verarbeitungsmerkmale des Gehirns aus gültig zu sein. Denken Sie noch einmal an die Einzelheiten des vorangehenden Abschnitts.Wenn Sie nicht mit einem fotographischen Gedächtnis gesegnet (oder bestraft) sind, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass Sie sich an all die speziellen Details in diesem Abschnitt erinnern können. Trotzdem waren sie zu dem Zeitpunkt, als Sie ihn gelesen haben, akkurat in Ihrem Bewusstsein repräsentiert. Einige Fakten bleiben erhalten und werden Ihnen in Zukunft für den Abruf aus der Erinnerung zur Verfügung stehen. Ihr gesunder Menschenverstand sagt Ihnen, dass es zwei Arten des Gedächtnisses gibt – ein kurzfristiges und ein langfristiges Gedächtnis. Belege für die beiden Gedächtniszustände ergeben sich auch aus physiologischen Studien. Die Leistung von Tieren bei Lernversuchen ist schlechter,wenn unmittelbar nach den Versuchsdurchgängen ein Elektroschock erfolgt. Dass dies der Fall ist (während früher erfolgtes Lernen unbeeinflusst bleibt), deutet darauf hin, dass die Übertragung des flüchtigen Gedächtnisses in ein dauerhaftes Gedächtnis beeinträchtigt ist (Weiskrantz, 1966). Personen, die unter einer durch ein Kopftrauma verursachten Amnesie leiden,weisen häufig keine Erinnerungen an die Zeit wenige Sekunden vor dem Trauma auf. Dieser Zustand,
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218
8
Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
der als kurzzeitige retrograde Amnesie bezeichnet wird, muss vom Verlust der Erinnerung an längerfristige Ereignisse unterschieden werden, der als langzeitige retrograde Amnesie bezeichnet wird. Bei jenen, die unter dem zuletzt genannten Zustand leiden, gehen die unmittelbaren Ereignisse vollständig verloren, während die Ereignisse Minuten und Stunden vor dem Trauma häufig erhalten bleiben. Darüber hinaus wird die dualistische Gedächtnistheorie (siehe oben und spätere Abschnitte) durch eine große Anzahl von Untersuchungen über Läsionen, PET und Traumata gestützt. Tatsächlich scheint die Erinnerung direkt nach dem Trauma unbeeinflusst zu bleiben. Die Ergebnisse einer Studie von Lynch und Yarnell (1973) stützen diese Auffassung. Die Forscher interviewten Football-Spieler, bei denen es zu einem Kopftrauma gekommen war. Nach einer kurzen neurologischen Untersuchung wurden innerhalb von 30 Sekunden nach der Verletzung Interviews durchgeführt. Die Spieler wurden drei bis fünf Minuten und (wenn die Situation dies zuließ) alle fünf bis 20 Minuten danach interviewt (nicht verletzte Spieler dienten als Kontrollgruppe). In den Interviews unmittelbar nach dem Trauma erinnerten sich die Personen recht genau an die Umstände. Beispielsweise: »Ich wurde von vorne getroffen, als ich gerade den Falltritt blockierte.« Fünf Minuten später jedoch waren sie nicht in der Lage, sich an irgendeines der Details im Spiel zu erinnern.Beispielsweise: »Ich erinnere mich nicht an das,was geschah.Ich erinnere mich
⊡ Abb. 8.4. Freie Reproduktion bei einer seriellen Aufgabe
nicht daran,um welches Spiel es sich handelte oder was ich gemacht habe. Es hatte irgendetwas mit einem Falltritt zu tun.« Es scheint so zu sein, dass die Einzelheiten der Vorkommnisse direkt vor einem eine Amnesie erzeugenden Ereignis zeitweilig im Gedächtnis gespeichert wurden, sie aber nicht an das dauerhafte Gedächtnis weitergeleitet (oder dort gefestigt) wurden. Und schließlich gibt es zur Stützung der dualistischen Theorie eine Vielfalt verhaltenswissenschaftlicher Belege – angefangen von den frühesten Gedächtnisexperimenten bis hin zu den neuesten Forschungsberichten aus der psychologischen Literatur. Wenn sich Ebbinghaus mit der seriellen freien Reproduktion von Items befasst hätte, so hätte er jene schwer fassbaren Sterne finden können, von denen er annahm,dass sie existierten,die jedoch lange Zeit unterhalb des Wahrnehmungshorizontes geblieben waren. Wenn eine Person eine Reihe von Items lernt und sie dann aus der Erinnerung abruft, ohne den Versuch zu machen, deren Reihenfolge beizubehalten, dann machen sich Primacy- und Recency-Funktionen bemerkbar.Das heißt,die allerletzten Items werden anscheinend leicht erinnert (Recency-Effekt); weiter zurückliegende Ereignisse werden schlechter erinnert; und die ganz lange zurückliegenden Items werden wieder leichter erinnert (Primacy-Effekt). Derartige Befunde stimmen mit dem Konzept des dualen Gedächtnisses überein. Die charakteristische u-förmige Kurve der freien Reproduktion von Gedächtnisreihen ist in ⊡ Abb. 8.4 dargestellt. An dieser Kurve können wir sehen,
219 8.4 · Gedächtnis im umfassenderen kognitiven Bereich
dass wir uns mit großer Wahrscheinlichkeit an die allerletzten Items am besten erinnern, an die ersten Items als nächstbeste und bei den mittleren Items ist es am wenigsten wahrscheinlich, dass wir uns an sie erinnern. Haben Sie noch im Gedächtnis,dass Sie als Kind den Eisverkäufer fragten, welche Sorten von Eis es zurzeit gäbe? Es ist wahrscheinlich, dass Sie daraufhin die von ihm als Letztes genannte oder die zuerst erwähnte Sorte auswählten. Primacy- und Recency-Effekte sind schon lange bekannt und ihre Einbeziehung in eine Zwei-Prozess-Theorie des Gedächtnisses schien nur ein weiterer logischer Schritt zu sein.In einem derartigen Schema werden die Informationen, die von unserem Wahrnehmungssystem gesammelt werden, an einen primären Gedächtnisspeicher weitergeleitet und entweder durch andere eingehende Informationen ersetzt oder durch Wiederholung dort behalten.Angesichts der riesigen Menge anderer eintreffender Informationen werden jene, die im Kurzzeitspeicher verwahrt werden, durch neue Informationen herausgestoßen. Beim Verfahren der freien Reproduktion werden diejenigen Items leichter erinnert (sie wurden nicht herausgestoßen), die unmittelbar vor der freien Reproduktion aufgetreten sind (die also vermutlich im Kurzzeitgedächtnis verwahrt werden), während einige Items, die im sekundären Gedächtnis abgelegt wurden, zur Verfügung stehen, wenn auch nicht in gleichem Maße. Die Kurve zur Erinnerungswahrscheinlich je nach Position innerhalb einer Reihe passt gut zur dualen Gedächtnistheorie. Aber wie können wir die Primacy-Effekte erklären? Man nimmt an, dass die früh dargebotenen Items, weil sie länger verwahrt werden, in stärkerem Maße wiederholt werden. Beim Verfahren der freien Reproduktion verbessert dies ihre Verfügbarkeit.
Wenn wir ein Gedächtnis mit zwei Speichern annehmen, dann scheint es so zu sein, dass die Versuchspersonen bei freier Reproduktion ebenjene Items herauswerfen, mit denen sie gerade Erfahrung gemacht haben, das heißt jene,die sich im Kurzzeitgedächtnis befinden.Wir können die Speicherkapazität des KZG dadurch verfolgen, dass wir den Punkt ausmachen, an dem sich die aktuelle Kurve zu entwickeln beginnt. Die Anzahl der Items in dieser Spanne ist selten größer als acht. Daraus schließen die Gedächtnisdualisten deshalb, dass es zwei Speicher gibt, wobei das KZG eine Kapazität von weniger als acht Items hat. Die Frage, ob das Gedächtnis auf einem oder auf zwei Speichern beruht, bleibt Gegenstand einer kontroversen Debatte. Es gibt gute Argumente für beide Auffassungen und eine endgültige Beantwortung der Frage ist erst nach weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen möglich.
8.4
Gedächtnis im umfassenderen kognitiven Bereich
Wie wir in Kapitel 3 erfahren haben, ist die Informationsmenge,die von unserem Wahrnehmungssystem (trotz seiner begrenzten Sensibilität) aufgenommen werden kann, immens. Ein Großteil der Informationen ist für uns uninteressant oder überschreitet einfach unsere Verarbeitungskapazität. Nur wenige Informationen werden auf dem Niveau unseres KZG verarbeitet und bei angemessener Verarbeitung wird am Ende möglicherweise manches davon im LZG behalten. Das sensorische (ikonische usw.) Gedächtnis speichert nichts, außer man zählt die wenigen 100 ms neuronaler Aktivität mit dazu.Das Kurzzeitgedächtnis ist in der Lage,
Kritisch hinterfragt: Aufmerksamkeit und Gedächtnis »Du wirst nie etwas lernen, wenn du nicht aufpasst!«, ermahnte mich meine Lehrerin in der dritten Klasse – mehr als einmal. Obwohl es möglich ist, etwas ohne bewusste Aufmerksamkeit zu lernen – ein Phänomen, das man Hintergrundlernen (incidental learning) nennt –, stimmt es auch, dass Lernen und Gedächtnis verbessert werden, wenn wir einer Sache unsere Aufmerksamkeit schenken. Im Alltag werden wir ständig mit Reizen bombardiert, gewöhnlich in Form von Werbung und Schlagzeilen, die unsere Aufmerksamkeit fordern und häufig in uns ein Be-
dürfnis erzeugen, etwas zu kaufen. Es ist fast so, als würden Werbefachleute und Zeitungsredakteure Aufmerksamkeit mit Gedächtnis gleichsetzen und – um unsere Aufmerksamkeit zu erheischen – ausgefallene, paradoxe oder miteinander unvereinbare Themen servieren. Nehmen Sie sich einmal täglich ein paar Minuten Zeit, um diese provokativen Ereignisse festzuhalten. Berücksichtigen Sie dabei einige der Fragen, die im vorigen Kapitel hinsichtlich der Aufmerksamkeit und ihres Einflusses auf das Gedächtnis aufgeworfen wurden.
8
220
Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
⊡ Tabelle 8.1. Charakteristische Eigenschaften der Komponenten von kognitiven Speichersystemen
Speicherstruktur
8
Prozesse
Grund für den Ausfall der Erinnerung
Code 1
Kapazität
Dauer
Abruf
Sensorischer »Speicher«
Sensorische Merkmale
12–20 Items 2 bis sehr groß
250 Millisekunden bis 4 Sekunden
Vollständig, vorausgesetzt, es liegen geeignete Hinweisreize vor
Maskierung oder Zerfall
Kurzzeitgedächtnis
Akustische, visuelle, semantische, sensorische Merkmale, die identifiziert und benannt werden
7 ± 2 Items
Etwa 12 Sekunden; bei Wiederholung länger
Vollständig, wobei jedes Item etwa alle 35 ms abgerufen wird
Ersetzung, Störung, Zerfall
Langzeitgedächtnis
Semantisches, Immens, praktisch visuelles Wissen; unbegrenzt Abstraktionen; bedeutsame Bilder
Unbestimmt
Spezifische und allgemeine Informationen verfügbar, voraussetzt, es liegen geeignete Hinweisreize vor
Störung, organische Dysfunktion, nicht geeignete Hinweisreize
1 2
Wie Informationen repräsentiert werden. Geschätzt.
einige Informationen zu behalten, und das Langzeitgedächtnis ist in seiner Speicherkapazität nahezu unbegrenzt. Die Langlebigkeit des Gedächtnisses innerhalb dieser drei hypothetischen Strukturen ist ein Spiegelbild ihrer Speicherkapazitäten. Einige charakteristische Eigenschaften dieser hypothetischen Komponenten sind in ⊡ Tabelle 8.1 skizziert; sie sollte als allgemeiner Überblick über die Speichersysteme aufgefasst werden. Zur Entwicklung eines kognitiven Systems gehört es, viel herumzuraten.Obwohl die Systeme,die in diesem Abschnitt dargestellt wurden, infolge zahlreicher sorgfältig durchgeführter Experimente entstanden sind, stellen sie immer noch einen Argumentationssprung im Hinblick auf das dar,was man zur Eigenart der zugrunde liegenden Strukturen beobachten kann. Viele Kognitionswissenschaftler sind nicht willens, diesen Sprung von Daten zu hypothetischen Konstrukten mitzumachen.Viele andere, die dazu bereit sind,haben andere Schlussfolgerungen aus den Daten gezogen (und halten deswegen andere Strukturen für möglich).
8.5
Gedächtnismodelle
Bisher haben wir uns auf Experimente konzentriert, die dazu beigetragen haben,einen Teil des Rätsels um das Gedächtnis zu lösen. Und wir haben aus diesen Studien gelernt, dass einige Erfahrungen nur kurze Zeit im Gedächtnis behalten werden, während andere lange dort zu bleiben scheinen.In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts schien die Gedächtnisforschung einen Zustand erhöhter Aktivität erreicht zu haben und es war etwa in dieser Zeit, als man begann, einige formalisierte umfassende Gedächtnistheorien zu formulieren. In diesem Abschnitt werden einige davon behandelt, die die Zeiten überdauert haben.
8.5.1 Waugh und Norman Waugh und Norman (1965) haben das erste moderne verhaltenswissenschaftliche Modell entwickelt, das sich mit dem Gedächtnis befasste. Damit haben sie ein Modell geschaffen, dessen Konzept des primären Gedächtnisses als
221 8.5 · Gedächtnismodelle
Ausgangspunkt für die meisten modernen Theorien diente. Die Theorie ist eine dualistische: Das primäre Gedächtnis (PG) – ein Kurzzeitspeichersystem – wird als etwas aufgefasst, das vom sekundären Gedächtnis (SG) – einem Langzeitspeichersystem – unabhängig ist. Von William James borgten Waugh und Norman die dichotome Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Gedächtnis aus und veranschaulichten ihre Theorie mit Hilfe des Modells, das in ⊡ Abb. 8.2 dargestellt ist. Hier wird die Gedächtnismetapher mit den Kästen im Kopf bekräftigt, die sich bald in den Veröffentlichungen zur kognitiven Psychologie ausbreiten sollte. Waugh und Norman taten,was James nie versucht hatte: Sie quantifizierten die Eigenschaften des primären Gedächtnisses.Von diesem Kurzzeitspeichersystem nahmen sie an, dass es eine sehr begrenzte Kapazität hat. Daher erfolgte der Informationsverlust in ihm – so das Postulat – nicht in simpler funktionaler Abhängigkeit von der Zeit, sondern (wenn die Speicherkapazität erst einmal erschöpft war) durch Ersetzung alter Items durch neue. Das PG konnte man sich als Ablage vorstellen, die einer Hängeregistratur ähnelt und in der die Information in einem Slot bzw. Hängeordner gespeichert wird oder in dem die Information – wenn alle Hängeordner voll sind – ein Item ersetzt, das einen der Ordner ausfüllt. Waugh und Norman gingen dem Schicksal der Items im PG nach, indem sie Listen mit 16 Ziffern verwendeten, die die Versuchspersonen in einer Geschwindigkeit von einer Ziffer pro Sekunde bzw. von vier Ziffern pro Sekunde lesen mussten. Die 16. (oder Prüf-)Ziffer war eine wiederholt dargebotene Ziffer – eine Ziffer, die an der dritten, fünften,siebten,neunten,zehnten,elften,zwölften,13.oder 14. Stelle stand. Die Prüfziffer, die mit einem Ton einherging, stellte für die Versuchspersonen einen Hinweisreiz dar. Dadurch sollten sie sich an das Item erinnern, das beim ersten Mal auf die Prüfziffer folgte. Eine typische Ziffernfolge könnte etwa lauten: 7 9 5 1 2 9 3 8 0 4 6 3 7 0 6 0 2 (Ton) Die korrekte Erinnerung wäre in diesem Fall 9 (die Ziffer, die auf die erste Darbietung der 2 folgte).In diesem Beispiel liegen zehn Items zwischen der ursprünglichen Darbietung und der Prüfziffer.Da die Versuchspersonen nicht wussten, welche Ziffer als Hinweisreiz dienen würde, konnten sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf irgendeine Ziffer konzentrieren und sie wiederholen.Das Ziel,das damit verfolgt wurde, jede Sekunde oder jede viertel Sekunde Ziffern darzubieten, bestand darin, zu bestimmen, ob das Vergessen eine Funktion eines Zerfalls (von dem man annahm, dass
er zeitabhängig ist) oder einer Störung im PG ist.Wenn Vergessen eine Funktion des Zerfalls wäre, dann könnte man erwarten, dass bei einer langsameren Geschwindigkeit (eine Ziffer pro Sekunde) weniger erinnert wird.Wenn Vergessen hingegen eine Funktion einer Störung im PG wäre, dann könnte man erwarten, dass es keinen Unterschied in Bezug auf die Darbietungsgeschwindigkeit gibt. Bei beiden Darbietungsgeschwindigkeiten wurde dieselbe Informationsmenge präsentiert. Nach der Logik von Waugh und Norman steht dadurch die gleiche Zeit zur Verfügung, um Zerfall auftreten zu lassen.Man könnte argumentieren,dass die Versuchspersonen es selbst bei einem Item pro Sekunde zulassen würden, dass zusätzliche Informationen aus dem Experiment in ihr PG gelangen. Doch spätere Experimente (Norman, 1966a), bei denen die Darbietungsgeschwindigkeiten (für eine vorgegebene Zeitspanne) von einer bis zehn Ziffern variierten, ergaben Daten, die mit der Vergessensgeschwindigkeit konsistent waren, die man aufgrund des ursprünglichen Modells erwarten würde. Wie man in ⊡ Abb. 8.5 erkennen kann, ist die Vergessensgeschwindigkeit bei beiden Darbietungsgeschwindigkeiten ähnlich.Was das Vergessen im PG angeht,scheint also Störung ein wichtigerer Faktor als Zerfall zu sein. Waughs und Normans System ergibt durchaus einen Sinn. Im PG werden verbale Informationen behalten und sie stehen für einen wortgenauen Abruf aus dem Gedächtnis zur Verfügung; das ist etwa in einem normalen Gespräch der Fall. Wir können uns an den letzten Teil eines Satzes, den wir gerade gehört haben, mit großer Genauigkeit erinnern – selbst wenn wir dem, was da gesagt wurde, kaum Aufmerksamkeit geschenkt haben. Sich jedoch an dieselben Informationen etwas später zu erinnern ist unmöglich, es sei denn, wir wiederholen sie; dadurch wären sie über das SG verfügbar.
8.5.2 Atkinson und Shiffrin Die Erklärung des menschlichen Gedächtnisses mit Hilfe von Kästen im Kopf war bereits stark verbreitet, als Atkinson und Shiffrin (1968) über ihr System berichteten.Sie entwickelten die Anfänge ihrer Theorie bereits 1965,als sie in einem eher technischen Forschungsbericht mathematische Gedächtnis- und Lernmodelle beschrieben. Die Rahmenvorstellung beruhte auf der Annahme, dass Gedächtnisstrukturen etwas Konstantes und Steuerungsprozesse etwas Variables sind.Mit Waugh und Norman haben sie das dualistische Gedächtniskonzept gemeinsam, aber
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222
Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
⊡ Abb. 8.5. Ergebnisse eines Prüfziffernexperiments. Adaptiert nach Waugh und Norman (1965)
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sie postulierten weitaus mehr Subsysteme innerhalb des KZG und LZG. Es ist etwa so, als hätten Waugh und Norman Luft, Feuer und Wasser als Elemente der Erde vorgeschlagen und Atkinson und Shiffrin die Elemente, die man im chemischen Periodensystem findet (die zuletzt genannte Auffassung wäre komplexer, dynamischer, umfassender und eher in der Lage, eine größere Vielfalt von Phänomenen zu erklären). Atkinson und Shiffrin bemerkten, dass eine vereinfachende Auffassung vom Gedächtnis nicht ausreichend treffsicher ist, um mit den Komplexitäten von Erinnerung,Vergleich, Steuerung des Abrufs aus dem Gedächtnis, Weiterleitung vom KZG an das LZG, Vorstellungsvermögen, Kodierung sensorischer Erinnerungen etc. umzugehen. Die einzige Lösung bestand darin, zu teilen und zu herrschen – das heißt, die Gedächtniseigenschaften zu konzeptualisieren und empirische Regeln zur Differenzierung zwischen ihnen zu entwickeln. In dem Modell,das in ⊡ Abb. 8.6 dargestellt ist,umfasst das Gedächtnis drei Speicher: (1) das sensorische Register, (2) den Kurzzeitspeicher und (3) den Langzeitspeicher. Ein Reiz wird auf der angemessenen sensorischen Dimension sofort registriert und dann entweder vergessen oder zur Weiterverarbeitung weitergeleitet.Eine Subkomponente des sensorischen Registers ist das visuelle System, das dem in Kapitel 3 detailliert erörterten ikonischen Speicher entspricht.Seine Eigenschaften sind klar definiert: Es ist voller Informationen und zerfällt rasch. Als Atkinson und Shiffrin ihre Modellsysteme für andere Sinnesmodalitäten entwickelten, die damals weniger gut erforscht wa-
ren als heute (sie stecken immer noch voller Geheimnisse),ließen sie in ihrem Modell Raum dafür.Sie nahmen damit vorweg, dass die künftige Forschung deren unbekannte Eigenschaften aufdecken würde. Atkinson und Shiffrin machen eine wichtige Unterscheidung zwischen dem Begriff des Gedächtnisses und dem der Gedächtnisspeicher.Sie verwenden den Terminus Gedächtnis, um sich auf die Daten zu beziehen, die behalten werden, während sich Speicher auf die strukturelle Komponente bezieht,die die Informationen enthält.Wenn man einfach nur darauf hinweist, wie lange ein Item behalten wird, so wird damit nicht notwendigerweise angezeigt, wo es innerhalb der Struktur des Gedächtnisses lokalisiert ist. Somit können Informationen in ihrem System, kurz nachdem sie dargeboten wurden, in den Langzeitspeicher aufgenommen werden, während andere Informationen mehrere Minuten lang im Kurzzeitspeicher behalten werden können und nie in den Langzeitspeicher gelangen. Der Kurzzeitspeicher wurde als das arbeitende System angesehen, in dem hereinkommende Informationen zerfallen und rasch wieder verschwinden (aber nicht so rasch wie aus dem sensorischen Register). Informationen im Kurzzeitspeicher können in einer anderen Form vorkommen, als dies ursprünglich der Fall war (beispielsweise kann ein Wort,das visuell dargeboten wurde,akustisch im Kurzzeitspeicher repräsentiert sein). Informationen, die im dritten System, dem Langzeitspeicher, enthalten sind, stellte man sich als etwas relativ
223 8.5 · Gedächtnismodelle
⊡ Abb. 8.6. Modell des Gedächtnissystems mit erweiterten Steuerungsprozessen. Die dicken Pfeile stehen für Bahnen zur Weiterleitung von Informationen. Gestrichelte Pfeile sind Verbindungen, die einen Vergleich mit Informationsvektoren erlauben, aber auch Potenzialbahnen für Signale, die eine Weiterleitung aktivieren, Wiederholungsme-
chanismen usw. Es wird postuliert, dass der Langzeitspeicher etwas Dauerhaftes ist, der Kurzzeitspeicher (ohne Wiederholung) nicht länger als 30 Sekunden und das sensorische Register wenige hundert Millisekunden besteht. Adaptiert nach Shiffrin und Atkinson (1969)
Dauerhaftes vor, wenn sie auch wegen der Störung durch eingehende Informationen unzugänglich sein können.Die Funktion des Langzeitspeichers besteht darin, die Reize im sensorischen Register zu überwachen (und jene Reize zu steuern, die in den Kurzzeitspeicher gelangen) sowie Speicherplatz für Informationen aus dem Kurzzeitspeicher zur Verfügung zu stellen. Die Informationsverarbeitung von einem Speicher zu einem anderen wird größtenteils von der Person selbst gesteuert.Die Informationen,die kurzzeitig im sensorischen Register behalten werden, werden von der Person überflogen und ausgewählte Informationen werden an den Kurzzeitspeicher weitergeleitet. Die Weiterleitung der Informationen vom Kurzzeitspeicher kann – nimmt man an – so lange erfolgen, wie sie dort behalten werden. Atkinson und Shiffrin postulierten, dass Informationen direkt vom sensorischen Register in den Langzeitspeicher gelangen können.
8.5.3 Erinnerungsniveau (»Level of Recall«) In einem Forschungsbericht, der im Westen nicht sehr bekannt ist, warf ein russischer Psychologe namens P. I. Zinchenko (1962, 1981) die Frage auf, wie eine Versuchsperson mit dem Material interagiert, das gelernt und dem Gedächtnis zugeführt werden soll. Die Grundidee bestand darin, dass Wörter, die auf tief gehende Art und Weise enkodiert werden,im Nebengedächtnis besser behalten werden, als wenn sie auf andere oberflächliche Art und Weise enkodiert worden sind.Somit wird die Erinnerbarkeit von Wörtern grundlegend durch das Ziel beeinflusst, das die Versuchsperson zu dem Zeitpunkt verfolgt, zu dem das Material dargeboten wird. Unterschiedliche Ziele aktivieren dieser Annahme nach unterschiedliche Systeme von Verbindungen, weil Versuchspersonen gegenüber dem Material unterschiedliche Einstellungen und Orientierungen haben.
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
Die Hypothese wurde in einem Experiment überprüft, bei dem den Versuchspersonen eine Reihe von jeweils vier Wörtern vorgelegt wurde.Das erste Wort musste mit einem der drei anderen Wörter inhaltlich zusammenhängen, die Versuchsanleitungen waren jedoch für jede der drei Gruppen unterschiedlich. Ein Beispiel für eine solche Reihe ist: Haus – Fenster – Gebäude – Fisch. Unter der ersten Bedingung wurden die Versuchspersonen gebeten, dasjenige Wort herauszufinden, das eine ganz andere Bedeutung als das erste Wort hatte (Haus – Fisch). Unter der zweiten Bedingung sollten die Versuchspersonen einen konkreten Zusammenhang zwischen dem ersten Wort und einem der drei übrigen Wörter herstellen (Haus – Fenster). Unter der dritten Bedingung wurden die Versuchspersonen gebeten, einen logischen Zusammenhang zwischen dem ersten Wort und einem der drei übrigen Wörter herzustellen (Haus – Gebäude). Zinchenko meinte nun, dass die Versuchspersonen, wenn er die Versuchsanleitung änderte, nicht nur unterschiedliche Ziele gegenüber dem Material verfolgen würden,sondern dass sie auch jedes Einzelne der Items auf seine Bedeutung hin überprüfen müssten. Nach einer kurzen Distraktoraufgabe wurden die Versuchspersonen gebeten, sich an die Items zu erinnern. Die Befunde sind in ⊡ Abb. 8.7 dargestellt. Bei der Bedingung, unter der die Versuchspersonen logische Zusammenhänge zwischen dem ersten und einem anderen Wort herstellten, kam es mit einer größeren Häufigkeit als unter den anderen Be-
⊡ Abb. 8.7. Erinnerung an Wörter bei drei unterschiedlichen Versuchsanleitungen. Daten von Zinchenko (1962, 1981)
dingungen dazu, dass das Zielwort erinnert wurde. Bei der Erinnerung an Wörter mit einem konkreten Zusammenhang war die Erinnerung besser als unter der Bedingung, dass keine Bedeutung überprüft wurde. Somit wird das Erinnerungsniveau, wie es Zinchenko nannte, durch das Ziel einer Handlung bestimmt. Man kann anhand des angeführten Experiments Folgendes erkennen: Wenn man Versuchspersonen etwas zum Lernen oder Instruktionen gibt, um Material auf unterschiedlichen Niveaus (um unseren heutigen Jargon zu verwenden) zu verarbeiten, wird die Erinnerung an das Material in starkem Maße beeinflusst.Weil der ursprüngliche Artikel auf Russisch veröffentlicht wurde und keine weite Verbreitung fand, wurde er auch nicht in den umfassenderen Rahmenvorstellungen von Gedächtnismodellen berücksichtigt. Trotzdem hat das von Zinchenko dargestellte Experiment wegen seiner theoretischen Bedeutung für das Konzept der Verarbeitungsniveaus, das einen grundlegenden Einfluss auf die kognitive Psychologie hatte, wichtige Konsequenzen für die Art und Weise, wie wir das Gedächtnis des Menschen begrifflich fassen.
8.5.4 Verarbeitungsniveaus: Craik Es ist wahrscheinlich,dass Fortschritte in den frühen Phasen einer wissenschaftlichen Entwicklung eher durch Reaktion und Gegenreaktion als durch die Entdeckung großartiger unveränderlicher Wahrheiten zustande kommen. Zu dieser Sichtweise passt Craiks und Lockharts 1972 veröffentlichtes Modell der Verarbeitungsniveaus (levels of processing, abgekürzt LOP) als Reaktion auf das Gedächtnisschema mit den Kästchen im Kopf. Die Autoren nehmen die Position ein, dass sich die Befunde besser mit einem Gedächtnisbegriff beschreiben lassen, der auf Verarbeitungsniveaus beruht. Die allgemeine Vorstellung besteht darin,dass eingehende Reize einer Reihe von Analysen unterzogen werden – angefangen mit einer ober-
Fergus Craik. Stellte die herkömmlichen Vorstellungen zum Gedächtnis mit seinem Konzept der Verarbeitungsniveaus infrage
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flächlichen Wahrnehmungsanalyse und dann fortschreitend zu tiefer gehenden, komplexeren abstrakten und semantischen Analysen. Ob ein Reiz auf einer oberflächlichen oder auf einer tief gehenden Stufe verarbeitet wird, hängt von der Eigenart des Reizes und der für die Verarbeitung zur Verfügung stehenden Zeit ab.Ein Item,das auf einem tief gehenden Niveau verarbeitet wird, wird wahrscheinlich weniger leicht vergessen als ein Item,das auf einem oberflächlichen Niveau verarbeitet wird. Auf einem Anfangsniveau werden die eingehenden Reize einer Wahrnehmungsanalyse und einer Merkmalsanalyse unterzogen.Auf einem tiefer gehenden Niveau kann das Item mit Hilfe der Mustererkennung und der Extraktion von Bedeutung erkannt werden.Auf einem noch tiefer gehenden Niveau können Assoziationen aus dem Langzeitgedächtnis einbezogen werden. Je nach Tiefe der Verarbeitung wird ein höheres Maß an semantischer oder kognitiver Analyse geleistet. Denken Sie beispielsweise an das Erkennen eines Wortes. Auf der Vorstufe kann die visuelle Konfiguration nach ihren physischen und sensorischen Merkmalen wie etwa nach Linien und Winkel analysiert werden. Spätere Stufen beschäftigen sich damit, die Reize mit gespeicherten Informationen in Zusammenhang zu bringen – beispielsweise zu erkennen,dass einer der Buchstaben dem Muster entspricht, das als A identifiziert werden kann. Auf dem höchsten Niveau kann das erkannte Muster auf der Grundlage der Vorerfahrung der Person mit dem Wort Assoziationen,Bilder oder Geschichten auslösen (Craik & Lockhart, 1972, S. 675). Nach der Auffassung von Craik und Lockhart besteht die eigentliche Frage darin, ob wir in der Lage sind, bedeutungsvolle Niveaus wahrzunehmen, bevor wir Informationen auf einem primitiveren Niveau analysieren. Deswegen stellen Verarbeitungsniveaus eher eine »Ausbreitung« der Verarbeitung dar. Dabei werden sehr vertraute bedeutungsvolle Reize mit einer größeren Wahrscheinlichkeit auf einem tiefer gehenden Niveau verarbeitet als weniger bedeutungsvolle Reize. Die Tatsache, dass wir etwas, bevor wir es auf einem oberflächlichen Niveau analysieren, auf einem tiefer ge⊡ Abb. 8.8. Gedächtnisaktivierung bei zwei Arten des Lesens. Abbildung auf Grundlage einer Zeichnung, die freundlicherweise von F.I.M. Craik zur Verfügung gestellt wurde
henden Niveau wahrnehmen können, lässt schwer wiegende Zweifel gegenüber der ursprünglichen Formulierung der Verarbeitungsniveaus aufkommen. Vielleicht haben wir es einfach mit unterschiedlichen Verarbeitungsarten zu tun,mit solchen,die nicht in irgendeiner bestimmten Reihenfolge ablaufen.Wenn alle Verarbeitungsarten für die eingehenden Reize in gleicher Weise zugänglich sind, dann könnte die Lehre von den Niveaus ersetzt werden durch ein System, bei dem jedoch ein Teil der Vorstellungen von Craik und Lockhart über Wiederholung und über die Bildung von Gedächtnisspuren erhalten bleibt.Ein Modell,das mehr mit der ursprünglichen Idee zu tun hat, das jedoch die Vorstellung von den Kästchen im Kopf vermeidet, ist in ⊡ Abb. 8.8 dargestellt. Diese Abbildung beschreibt die Gedächtnisaktivierung, die erfolgt, wenn man einen Textabschnitt Korrektur liest. Dies steht im Gegensatz zu der Aktivierung, die eintritt, wenn man den gleichen Text auf seine wesentlichen Punkte überfliegt. Zum Korrekturlesen, also beim Achten auf oberflächliche Merkmale des Abschnitts, gehören eine sorgfältige oberflächliche und eine minimale semantische Verarbeitung. Zum Überfliegen eines Textes – also zum Versuch,die wesentlichen Punkte zu erfassen – gehört eine minimale oberflächliche Verarbeitung oder »Wiederholung zur Aufrechterhaltung« (etwas ohne sorgfältige Ausarbeitung im Gedächtnis behalten), aber auch eine sorgfältige semantische Verarbeitung. Ein weiteres Beispiel für diese zuletzt genannte Art der Gedächtnisaktivität wäre eine Sekretärin, die sich darauf konzentriert, auf Buchstabensequenzen zu reagieren, die aber den Text,den sie schreibt,nur in sehr geringem Maße versteht. Ein drittes Beispiel soll uns auch als Einführung zu einem Experiment von Craik und Watkins dienen. Ich habe einmal die Teilnehmer eines Seminars zur kognitiven Psychologie gebeten, sich an so viele Grundschullehrerinnen wie möglich zu erinnern. Sie zeigten bemerkenswert gute Leistungen.Dann sollten sie versuchen,sich an das früheste Kleidungsstück,das sie getragen haben,zu erinnern, und alle erinnerten sich an ihre Lieblingskleidung.Am Ende bat ich sie, sich an alle Kleidungsstücke zu
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
erinnern, die sie jemals besessen hatten. Einige der dabei verwendeten Vorgehensweisen waren durchaus genial. Dazu gehörten komplexe Strukturierungstabellen – beispielsweise Anzüge bzw. Kleider, Sportsachen, Freizeitkleidung, Unterscheidung von Kleidern nach Alter, Farbe und Funktion usw. Obwohl einige der Beteiligten diese Aufgabe über mehrere Wochen hinweg zu lösen versuchten, stimmten alle darin überein, dass sie die Erinnerung an alle Kleidungsstücke nicht aus dem Gedächtnis abrufen konnten – und dies trotz der Tatsache, dass sie zweifellos mit jedem einzelnen Kleidungsstück sehr vertraut waren. Die Fähigkeit, einige Dinge aus dem Gedächtnis abzurufen (die Namen von Lehrern, die Lieblingskleidungsstücke) und andere nicht (alle Kleidungsstücke), kann auf das Verarbeitungsniveau zurückgehen, dem bestimmte Objekte unterzogen werden. »Spezielle« Objekte werden möglicherweise tiefer verarbeitet als prosaischere. (Eine Alternativerklärung könnte darin bestehen, dass die Erinnerung der Studenten an andere Kleidungsstücke durch eine Störung beeinflusst wurde.) Als Konsequenz aus diesen Untersuchungen (Craik & Watkins, 1973; Lockhart, Craik & Jacoby, 1975) wurde der Gedanke verworfen, dass Reize immer über eine nicht variierende Sequenz von Stufen verarbeitet werden, während das allgemeine Prinzip beibehalten wurde, dass eine gewisse sensorische Verarbeitung der semantischen Analyse vorausgehen muss. Verarbeitungsniveaus kontra Informationsverarbeitung. Bei Gedächtnismodellen der Informationsverarbei-
tung werden im Allgemeinen strukturelle Komponenten (z.B. Wahrnehmungsspeicher KZG und LZG) betont, wobei die Verarbeitung (z.B. Aufmerksamkeit, Kodierung, Wiederholung, Transformation von Informationen und Vergessen) als Operation behandelt wird, die (manchmal in einzigartiger Weise) an die strukturellen Komponenten gebunden ist.Ein weiterer Ansatz besteht jedoch darin,einen Prozess zu postulieren und dann ein Gedächtnissystem im Hinblick auf diese Operationen zu formulieren. Craik und Lockhart haben genau diese Position vertreten und ihre implizite Kritik (zusammen mit Neisser,1976) an Modellen, die sich an der Informationsverarbeitung orientieren, deutet darauf hin, dass diesem Ansatz schwere Zeiten bevorstehen. Während die an der Informationsverarbeitung orientierten Gedächtnismodelle die Abfolge von Stufen betonen, über die Informationen bewegt und verarbeitet werden, argumentiert man von diesem alternativen
Standpunkt aus, dass als Nebenprodukt der Wahrnehmungsverarbeitung Gedächtnisspuren gebildet werden. Von daher wird die Dauerhaftigkeit einer Erinnerung als Funktion der Verarbeitungstiefe aufgefasst. Informationen,denen nicht die volle Aufmerksamkeit gewidmet wird und die nur auf einem oberflächlichen Niveau analysiert werden, geraten schon bald in Vergessenheit – Informationen, die tief gehend verarbeitet werden (man beachtet sie, analysiert sie vollständig und reichert sie mit Assoziationen oder Bildern an), bleiben lange erhalten. Das Modell der Verarbeitungsniveaus wurde durchaus auch kritisiert ( siehe Craik & Tulving, 1975; Baddeley, 1978). Die Kritik umfasst folgende Punkte: (1) Das Modell sagt anscheinend nicht viel mehr aus, als dass bedeutsame Ereignisse gut erinnert werden, und das ist eine eher dürftige Schlussfolgerung.(2) Es ist vage und im Allgemeinen nicht überprüfbar.(3) Es ist insofern zirkulär,als alle Ereignisse, die gut erinnert werden, dazu bestimmt sind, tief gehend verarbeitet zu werden; es steht kein objektiver und unabhängiger Indikator für die Tiefe zur Verfügung. Ein deutlicher Unterschied zwischen der Theorie mit den Kästchen im Kopf (Waugh und Norman sowie Atkinson und Shiffrin) und der Theorie der Verarbeitungstiefe (Craik und Lockhart) besteht darin, dass jeweils andere Auffassungen im Hinblick auf die Wiederholung vertreten werden. Bei der ersten Theorie erfüllt die Wiederholung von Informationen im KZG die Funktion, diese in einen langlebigeren Gedächtnisspeicher zu übertragen. Bei der zuletzt genannten Theorie wird Wiederholung als etwas begriffen,das entweder auf einem Analyseniveau Informationen aufrechterhält oder sie dadurch elaboriert, damit sie auf einem tiefer gehenden Niveau verarbeitet werden können. Ersteres, die Wiederholung zur Aufrechterhaltung der Informationen, wird nicht dazu führen, dass sie besser behalten werden. Craik und Tulving (1975) überprüften die Vorstellung, dass Wörter, die tief gehend verarbeitet werden, besser erinnert werden als jene, bei denen das in geringerem Maße der Fall ist.Sie realisierten dies,indem sie ihre Versuchspersonen einfach Wörter im Hinblick auf ihre strukturellen, phonemischen oder semantischen Aspekte beurteilen ließen.Typisch für die verwendeten Fragen sind die folgenden: > Strukturell: Phonemisch: Semantisch:
Steht das Wort in Großbuchstaben? Reimt sich das Wort auf GEWICHT? Würde das Wort in den folgenden Satz passen? »Er traf ein ______ auf der Straße.«
227 8.5 · Gedächtnismodelle
⊡ Abb. 8.9. Anfängliche Entscheidungslatenz und Wiedererkennungsleistung bei Wörtern als Funktion der Anfangsaufgabe. Von Craik und Tulving (1975)
Craik und Tulving erfassten sowohl die Zeit zum Fällen einer Entscheidung als auch die zum Erkennen der beurteilten Wörter (in einem weiteren Experiment wurde auch der Abruf aus dem Gedächtnis erfasst). Die Befunde (⊡ Abb. 8.9) werden dahin gehend interpretiert, dass (1) eine tiefer gehende Verarbeitung mehr Zeit benötigt und (2) das Erkennen enkodierter Wörter als Funktion des Niveaus zunimmt, mit dem sie verarbeitet werden – wobei diejenigen Wörter, bei denen es um semantische Aspekte geht, besser erkannt werden als solche, bei denen es nur um phonologische oder strukturelle Aspekte geht. Mit leicht veränderten Aufgaben erzielten D’Agostino, O’Neill und Paivio (1977), Klein und Saltz (1976) sowie Schulman (1974) ähnliche Resultate. Die zuvor erwähnten Untersuchungen stützen die Auffassung, dass die Erinnerung eine Funktion dessen ist, wie die anfänglich eintreffenden Informationen zunächst enkodiert werden: Semantisch enkodierte Informationen werden besser erinnert als perzeptiv enkodierte. Geht man dieses Problem von einer neurokognitiven Perspektive an (manche Philosophen bezeichnen diese Perspektive als »biologischen Reduktionismus«),sucht man nach den anatomischen Substraten des ausgeprägten Gedächtniseffekts, der mit den Verarbeitungsniveaus verbunden ist.Wir haben Glück, denn Kapur, Craik, Tulving, Wilson, Hoyle und Brown (1994) haben eine solche Untersuchung durchgeführt, bei der sie PET als bildgebendes Verfahren mit aufregenden Ergebnissen eingesetzt haben. Die Aufgabe, die im von Kapur und seinen Kollegen durchgeführten Experiment verwendet wurde, ähnelte der in den zuvor erwähnten Studien. Unter einer experimentellen Bedingung wurden die Versuchspersonen gebeten, schlicht das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Buchstabens
in einem Wort festzustellen (z.B.: »Enthält das Wort den Buchstaben a?«). Unter einer weiteren Bedingung lasen unterschiedliche Versuchspersonen jedes einzelne Wort und wurden gefragt,ob es für etwas Lebendes oder nicht Lebendes steht.Man nahm an,dass die Verarbeitung unter der ersten Bedingung oberflächlich und unter der zweiten tief gehend sein würde. Verhaltensreaktionen (Ja oder Nein) auf diese Fragen wurden mit Hilfe des Klickens einer Computermaus aufgezeichnet. Aber der Befund von größerer Tragweite war die Aktivierung bestimmter Hirnareale, die mit Hilfe von PET-Bildern erfasst wurden. Dabei wurde als O15 bezeichnetes Wasser verwendet,das sich bei der Lösung dieser beiden Aufgaben ansammelte. Die Verhaltensdaten deuteten darauf hin, dass die Versuchspersonen ein substanziell besseres Wiedererkennungsgedächtnis für Wörter aufwiesen, die auf einem tief gehenden Niveau verarbeitet worden waren (lebendige und nicht lebendige Objekte),als für Wörter, die auf einem oberflächlichen Niveau verarbeitet worden waren (a oder nicht a).Die Resultate im Hinblick auf die PET-Bilder sind in ⊡ Abb. 8.10 dargestellt. Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen sind die folgenden: Während der semantischen tief gehenden Aufgabe zeigte sich im Vergleich zur perzeptiv oberflächlichen Aufgabe ein bedeutsamer Anstieg der Hirnaktivität im linken unteren präfrontalen Kortex. Nach der vorliegenden Studie scheint es so zu sein, dass die linke präfrontale Region, die mit einer verstärkten Gedächtnisleistung einhergeht, der Ort sein kann, an dem diese Art von Gedächtnisspeicher lokalisiert ist. Um den Gedächtnisprozess vollständig zu verstehen, muss man natürlich die kognitiven Prozesse, die neuronale Aktivität und die Gedächtnisleistung berücksichtigen und dies in eine Gesamttheorie des Gedächtnisses integrieren.
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
⊡ Abb. 8.10. Die Hirnregionen, die unter der Versuchsbedingung »tief gehende Verarbeitung« (Lebendiges und nicht Lebendiges) eine verstärkte zerebrale Durchblutung aufweisen. Die obere linke Abbildung stellt eine Seitenansicht dar, wobei sich die frontalen Areale rechts und der Okzipitallappen auf der linken Seite befinden. Die obere rechte Abbildung ist eine vertikale Schichtaufnahme. Das Gitter und die Zahlen stehen für den Standardkoordinatenraum. VPC ist eine vertikale Linie durch die hintere Kommissur und VAC eine vertikale Linie durch die vordere Kommissur
8 8.5.5 Der Effekt des Selbstbezugs Als Rogers, Kuiper und Kirker (1977) zeigten, dass es sich beim Selbstbezug um eine leistungsfähige Methodenvariable handelt, kristallisierte sich ein neuer Aspekt des Konzepts der Verarbeitungsniveaus heraus. In einer Versuchsanleitung,die der von Craik und Tulving (1975) ähnelte,baten sie die Versuchspersonen, eine Liste von 40 Adjektiven bei einer von vier Aufgaben zu bewerten, von denen man hypothetisch annahm, dass sie in Bezug auf Tiefe oder auf semantische Reichhaltigkeit variierten. Es ging um strukturelle, phonemische, semantische und Selbstbezugsaufgaben. Typische Kontrollfragen waren die folgenden:
als die Wörter mit einer oberflächlichen Kodierung.Nachdem die Versuchspersonen die Wörter eingestuft hatten, wurden sie gebeten, so viele davon wie möglich frei zu reproduzieren. Die Reproduktionsleistung war am schlechtesten für Wörter,die strukturell eingestuft worden waren, und nahm von den phonemisch eingestuften zu den semantisch eingestuften zu. Die Wörter mit Selbstbezug wurden am besten erinnert. ⊡ Abbildung 8.11 zeigt die Be-
> Strukturelle Aufgabe: Große Buchstaben? (Die dargebotenen Adjektive waren in derselben Schriftgröße wie der Rest der Frage oder in der zweifachen Größe.) Phonemische Aufgabe: Reimt es sich darauf? (Die Wörter reimten sich auf das dargebotene Adjektiv oder nicht.) Semantische Aufgabe: Bedeutet es das Gleiche? (Das Wort war synonym mit dem dargebotenen Adjektiv oder nicht.) Aufgabe mit Selbstbezug: Beschreibt es Sie?
In der Untersuchung von Craik und Tulving wurde angenommen, dass Wörter, die während der Einstufung tiefer gehend kodiert worden waren, leichter erinnert würden
⊡ Abb. 8.11. Durchschnittliche Erinnerungsleistung sowohl für Ja- als auch für Nein-Einstufungen als Funktion von Einstufungsaufgaben. Daten von Rogers, Kuiper und Kirker (1977)
229 8.5 · Gedächtnismodelle
Kritisch hinterfragt: Sind Ihre Gefühle in letzter Zeit verletzt worden? Sie haben wahrscheinlich eine zusätzliche Erinnerung. Kürzlich traf ich Gene, meinen alten Klassenkameraden von der High School, den ich über 30 Jahre lang nicht gesehen hatte, und im Laufe unseres Gesprächs erwähnte er, dass er unseren Sportlehrer nie gemocht hat, weil er heimlich mit anhörte, wie er sagte: »Gene isst Eis mit Senf« – dies war nach Gene eine unwahre Aussage. Doch sein halbes Leben lang hatte sich diese einzelne Bemerkung fest in den tiefsten Teil seines Selbstkonzepts eingebrannt. Jeder von uns hat vielleicht schon einmal eine taktlose Bemerkung über sich mit angehört, wie etwa »Sie hat Mundgeruch« oder »Er ist geldgierig«. Manchmal handelt es sich bei der Bemerkung um eine ethnisch oder rassisch begründete Verunglimpfung oder sie bezieht sich auf die
funde zur Erinnerungsleistung aus der Studie von Rogers und seinen Kollegen. An diesen Befunden wird deutlich, dass Wörter, die als Selbstbezugsaufgabe eingestuft worden waren, zu einem besseren Abruf aus dem Gedächtnis führen. Dies verweist darauf, dass die Selbstbeurteilungsfunktion ein wirkungsvolles Kodierungsinstrument ist. Ob diese Selbsteinstufungserinnerungen in unterschiedlichen Teilen des Gehirns abgespeichert werden, bleibt eine offene Frage. Der narzisstische Persönlichkeitszug. Das ursprüngliche
Experiment wurde mit leichten Abänderungen in mehreren Labors durchgeführt und die Resultate blieben gleich. Einige Forscher haben argumentiert, dass die Selbstbezugsaufgaben in einem irgendwie gearteten speziellen Gedächtnissystem abgespeichert werden.Wenn man gebeten wird, zu beurteilen, ob ein Persönlichkeitszug die eigene Person beschreibt (wie z.B. gierig, liebenswürdig oder stürmisch), dann ist daran ein sehr leistungsfähiges Selbstschema beteiligt, ein organisiertes System von inneren Eigenschaften, die sich um Themen wie »ich, mich, mein« gruppieren. Man bezeichnet dies auch als den narzisstischen Persönlichkeitszug. Da wir alle sehr viel über uns selbst wissen (und uns emotional, wenn nicht gar geistig, sehr stark mit uns selbst beschäftigen), steht uns ein reichhaltiges und ausgearbeitetes inneres Netz zur Speicherung von Informationen über uns selbst zur Verfügung. Wegen dieser vielschichtigen inneren Selbst-
eigenen sexuellen Vorlieben. Der Affront hängt vielleicht mit Ihren tiefsten Selbstzweifeln zusammen: Er oder sie ist hässlich, ist zu groß, hat einen langen Hals; Gene hat eine reizlose Nase; ist arm, hat AIDS, hat eine Glatze, ist Alkoholiker, ist eine Schlampe und – etwas, das vor allem in den USA stark verbreitet ist – ist fett! Diese sarkastischen Bemerkungen mit »Selbstbezug« haben eins gemeinsam: Man kann sich gut an sie erinnern, auch wenn sie nicht stimmen. Denken Sie einmal über Ihre eigenen beleidigenden Bemerkungen über eine andere Person nach. Wie lange wird die Erinnerung an diese Bemerkungen bestehen bleiben? Warum brennen sich diese bisweilen unbedachten Aussagen so tief in unsere Persönlichkeit ein? Was steckt kognitiv hinter dem hohen Erinnerungswert persönlich ausfallender Aussagen?
strukturen können wir neue Informationen,wenn sie sich möglicherweise eher auf uns selbst als auf andere nüchterne Informationen beziehen, leichter organisieren (mehrere wichtige Untersuchungen zu diesem Thema finden sich bei Bellezza,1992).Ob diese Erinnerungen,die so eingestuft werden, dass sie zum Selbst gehören, in unterschiedlichen Teilen des Gehirns abgespeichert werden oder nicht, bleibt eine offene Frage. Aber es spricht sehr viel dafür, dass diesem narzisstischen Persönlichkeitszug viel Raum in unserem kostbaren Gehirn bereitgestellt wird.
8.5.6 Episodisches und semantisches
Gedächtnis: Tulving Tulving (1972, 1983, 1986, 1989a, 1989b) unterschied zwischen zwei Arten des Gedächtnisses: dem episodischen und dem semantischen.Tulvings Klassifikation ist bedeutsam. Während man gemeinhin annahm, dass ein einziger Gedächtniszustand im LZG vorhanden ist, unterscheidet Tulving zwischen zwei Formen, an denen sich Forschung und theoretische Entwicklung orientieren können. Das episodische Gedächtnis »empfängt und speichert Informationen über zeitlich datierte Episoden oder Ereignisse und … über Beziehungen zwischen diesen Ereignissen«. Somit stellen Erinnerungen an ein bestimmtes Erlebnis (beispielsweise den Ozean zu sehen,das erste Mal
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
geküsst zu werden, in ein gutes chinesisches Restaurant in San Francisco zu gehen) Ereignisse des episodischen Gedächtnisses dar. Diese Ereignisse werden immer im Sinne einer autobiographischen Referenz abgespeichert. Das episodische Gedächtnis ist recht anfällig für Veränderungen und für Informationsverlust; aber es ist wichtig, weil es die Grundlage für das Erkennen von Ereignissen bildet (z.B. für das Erkennen von Menschen und Orten, denen man in der Vergangenheit begegnet ist). Diesen Erinnerungen mangelt es an der formalen Struktur, die wir anderen Informationen aufzwängen – speziell jenen, die im semantischen Gedächtnis abgespeichert werden. Das semantische Gedächtnis ist das Gedächtnis für Wörter, Begriffe, Regeln und abstrakte Ideen. Es ist für die Verwendung von Sprache erforderlich. In Tulvings Worten:
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Es handelt sich um einen geistigen Schatz, um das organisierte Wissen, das eine Person über Wörter und andere Symbole besitzt, ihre Bedeutung und Bezüge, über Beziehungen zwischen ihnen sowie über Regeln, Formeln und Algorithmen für die Manipulation dieser Symbole, Begriffe und Beziehungen. Das semantische Gedächtnis registriert keine wahrnehmbaren Eigenschaften von Inputs, sondern vielmehr kognitive Bezüge auf Inputsignale. Wenn wir das Wort blau gebrauchen, dann beziehen wir uns wahrscheinlich damit nicht auf eine bestimmte Episode in unserem Gedächtnis, bei der dieses Wort verwendet wurde, sondern eher auf die allgemeine Wortbedeutung. Im Alltag rufen wir oft aus dem semantischen Gedächtnis Informationen ab, die in einer Unterhaltung, beim Lösen von Problemen und beim Lesen eines Buches verwendet werden. Unsere Fähigkeit, unterschiedliche Informationen in rascher Abfolge zu verarbeiten, lässt sich auf einen sehr leistungsfähigen Abrufprozess und auf gut organisierte Informationen im semantischen Gedächtnis zurückführen. Das semantische und das episodische Gedächtnis unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf ihren Inhalt, sondern auch im Hinblick auf ihre Anfälligkeit für Vergessen. Die Informationen im episodischen Gedächtnis gehen schnell verloren, weil ständig neue Informationen hineinströmen.Der Abrufprozess selbst ist Bestandteil des Informationsflusses ins episodische Gedächtnis. Wenn man beispielsweise gebeten wird, 37 mit 3 zu multiplizieren (dafür werden Informationen aus dem semantischen
Endel Tulving. Stellte die Hypothese von den zwei Arten des Gedächtnisses – des episodischen und des semantischen – auf und zeigte, dass sie jeweils mit einer unterschiedlichen Aktivität im Kortex einhergehen
Gedächtnis abgefragt) oder zu erinnern, was man zum Frühstück gegessen hat (dafür werden Informationen aus dem episodischen Gedächtnis abgefragt), muss man zunächst einmal diese Abruffragen (als Ereignisse) ins episodische Gedächtnis eingeben. Man kann auch im episodischen Gedächtnis aufzeichnen,dass man 37 mit 3 multipliziert und dass man sich daran erinnert hat, was es zum Frühstück gab. Das episodische Gedächtnis wird ständig sehr stark beansprucht (und verändert sich infolgedessen), während das semantische Gedächtnis weniger oft aktiviert wird und über die Zeit hinweg relativ stabil bleibt. Tulvings Hypothese über Gedächtnissysteme stellt eine anregende Herausforderung für die herkömmlichen an der Informationsverarbeitung orientierten Modelle dar. In einem Artikel mit dem Titel »How Many Memory Systems Are There?” stellte er das Gedächtnis als etwas dar,das aus einer Anzahl von Systemen besteht,die jeweils einen anderen Zweck erfüllen und nach unterschiedlichen Prinzipien funktionieren. Die Kombination der Systeme und Prinzipien ergibt dann das,was wir als Gedächtnis bezeichnen. Lassen Sie uns auf die Einzelheiten dieser provozierenden Hypothese eingehen. Ein Gedächtnissystem oder mehrere? Wie wir in diesem
Kapitel gesehen haben, variiert die Anzahl der Gedächtnissysteme,die zur Erklärung der Beobachtungen auf dem Gebiet des Gedächtnisses erforderlich sind, von einem bis viele. Tulving weist auf fünf Gründe hin, warum wir mehrere Gedächtnissysteme in Betracht ziehen sollten. 1. Bis jetzt konnten keine profunden Verallgemeinerungen zum Gedächtnis als Ganzem angestellt werden. 2. Man glaubt, dass sich das Gedächtnis über eine lange evolutionäre Geschichte hinweg entwickelt hat. Hier handelt es sich um einen Prozess, der durch ungleichmäßiges Wachstum gekennzeichnet ist.Vom Gedächtnis des Menschen als einem natürlichen Phänomen
231 8.5 · Gedächtnismodelle
nimmt man auch an, dass es Ausdruck derartiger Eigenheiten der Evolution ist. 3. Untersuchungen zur Funktionsweise des Gehirns haben gezeigt, dass es unterschiedliche Gehirnmechanismen für unterschiedliche Arten der Erregung aus der Umwelt gibt. 4. Die meisten unserer Annahmen über mentale Prozesse sind falsch und werden durch bessere Theorien ersetzt werden. 5. Grundlegend unterschiedliche Lern- und Gedächtnisprozesse (z.B. die motorische Anpassung an verzerrende Linsen im Vergleich mit der Erinnerung an die Beerdigung eines nahen Freundes) gehen über die Erklärungskraft einer einzigen einheitlichen Gedächtnistheorie hinaus. (Tulving, 1985a, S. 179) Nach Tulving besteht das Gedächtnissystem, das die Komplexität und Anpassungsfähigkeit der menschlichen Lebewesen am besten erklärt,aus einem dreiteiligen Klassifikationssystem: prozedurales, semantisches und episodisches Gedächtnis (die beiden zuletzt genannten Komponenten sind zuvor schon beschrieben worden).
Gedächtnissysteme In der (Gedächtnis-)Theorie wird behauptet, dass es sich beim episodischen und semantischen Gedächtnis um zwei von fünf wichtigen Gedächtnissystemen beim Menschen handelt. Dafür haben wir inzwischen recht gute Belege.Die anderen drei Systeme sind das prozedurale Gedächtnis, das Gedächtnis für die Repräsentation der Wahrnehmung und das Kurzzeitgedächtnis. Obwohl jedes einzelne System spezielle Funktionen erfüllt, die andere Systeme nicht erfüllen können, … interagieren bei der Ausführung von Aufgaben im Alltag, aber auch im Gedächtnislabor gewöhnlich mehrere Systeme. Endel Tulving (1993)
Diese drei Systeme, so nimmt man an, sind insofern monohierarchisch, als das unterste System (das prozedurale Gedächtnis) das nächste System (das semantische Gedächtnis) als seine einzige Entität enthält, während das semantische Gedächtnis das episodische Gedächtnis als sein einziges spezialisiertes Subsystem beinhaltet. Obwohl jedes der höheren Systeme von den darunter liegenden abhängt und von ihnen unterstützt
wird, verfügt jedes einzelne System über einzigartige Fähigkeiten. Im prozeduralen Gedächtnis – der untersten Form des Gedächtnisses – werden Verknüpfungen zwischen Reizen und Reaktionen behalten; es ist mit dem vergleichbar, was Oakley (1981) als assoziatives Gedächtnis bezeichnete.Das semantische Gedächtnis hat zusätzlich die Fähigkeit, innere Ereignisse zu repräsentieren, die nicht gegenwärtig sind. Dagegen kommt dem episodischen Gedächtnis darüber hinaus die Fähigkeit zu, das Wissen über persönlich erlebte Ereignisse zu erwerben und zu behalten. Tulving, der die Gedächtnissysteme naturwissenschaftlich dokumentierte, legte Befunde vor, die das semantische und das episodische Gedächtnis nachdrücklich veranschaulichen ( siehe die Erörterung in Kapitel 2; Tulving, 1989a, 1989b; Tulving et al., 1994). Es wurde über zwei Arten von Untersuchungen berichtet. Einerseits beschreibt Tulving den Fall eines als K.C.bekannten Mannes, der nach einem Motorradunfall unter einer Hirnschädigung litt (siehe das Material im Kasten mit dem Titel »Der Fall K.C.: Ein beeinträchtigtes episodisches Gedächtnis«, S. 233). Zu den am schwersten verletzten Regionen des Gehirns gehörten der linke fronto-parietale und der rechte parieto-okzipitale Bereich. K.C. bleibt schwer amnestisch, bemerkenswert ist jedoch die Art der Amnesie. Er hat Schwierigkeiten,sich an normale,alltägliche,bewusste Erlebnisse zu erinnern. Er kann »nichts, was er je gemacht oder erlebt hat« (Tulving, 1989a) ins Bewusstsein zurückholen. Er ist jedoch nicht mental retardiert – er ist anscheinend in der Lage, ein normales Gespräch zu führen, er kann lesen und schreiben,er kann ihm vertraute Gegenstände und Fotos erkennen und er ist sich ein oder zwei Minuten nach einer Handlung dessen bewusst, was er zuvor getan hat. Offensichtlich führte K.C.s Unfall zu einer schweren Schädigung eines Teils des Gehirns, der zum Funktionieren des episodischen Gedächtnisses erforderlich ist. Weitaus weniger geschädigt ist das semantische System. Die zweite Art von Untersuchung deutet auf den Ort im Kortex hin, an dem das semantische und das episodische Gedächtnis lokalisiert sind; man kann dies über die lokale Hirndurchblutung (regional cerebral blood flow, rCBF) erfassen.Weil die Vorgehensweise und die Befunde in Kapitel 2 und kurz zu Beginn dieses Kapitels behandelt wurden, werden sie hier außer in der Zusammenfassung nicht wiederholt.Dadurch,dass man die Durchblutung im Kortex erfasste (die als Indikator für eine lokale neuronale Aktivität interpretiert wurde), ist es mit Hilfe eines mo-
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
difizierten PET-Verfahrens möglich, eine Karte des Kortex bei unterschiedlichen Gedächtnistätigkeiten zu erzeugen. Wenn eine Versuchsperson Aktivitäten im semantischen Gedächtnis ausführt, »leuchten« spezielle Regionen im Gehirn auf, während episodische Aktivitäten zu einer Aktivierung anderer Bereiche im Kortex führen.
8.5.7 Ein konnektionistisches (PDP)
Gedächtnismodell: Rumelhart und McClelland
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Der Gedächtnisansatz, für den sich Tulving wie im vorangehenden Abschnitt beschrieben eingesetzt hat, fand unmittelbare Korrelate zwischen neuronalen Aktivitäten und den Arten des Gedächtnisses. Auch das konnektionistische (oder PDP-)Modell, das von Rumelhart, McClelland und anderen (1986) entwickelt wurde, geht auf neuronale Prozesse zurück. Es versucht jedoch das Gedächtnis aufgrund einer noch feineren Analyse der Verarbeitungseinheiten zu beschreiben, die Nervenzellen ähneln. Zudem beruht das konnektionistische Modell auf der Entwicklung von Gesetzen, denen die Wissensrepräsentation im Gedächtnis unterliegt. Ein weiteres Merkmal des PDPGedächtnismodells besteht darin, dass es nicht einfach nur ein Gedächtnismodell ist – es handelt sich auch um ein Modell für das Handeln und für die Wissensrepräsentation. Die Grundlagen des PDP-Modells wurden in Kapitel 1 erörtert. ⊡ Abb. 8.12. Eine vereinfachte Version eines Verarbeitungsmoduls, das acht Verarbeitungseinheiten enthält. Jede einzelne Einheit steht mit allen anderen Einheiten in Verbindung. Dies zeigt sich an der Verzweigung der Output-Bahnen, die kreisförmig zu den in jede einzelne Einheit führenden InputBahnen verlaufen. Adaptiert nach McClelland and Rumelhart (1985)
Eine grundlegende Annahme des PDP-Modells ist, dass sich mentale Prozesse aufgrund eines Systems in hohem Maße miteinander verbundener Einheiten ereignen, die Aktivierungswerte annehmen und mit anderen Einheiten kommunizieren. Die Einheiten sind einfache Verarbeitungselemente, die für mögliche Hypothesen über die Eigenart von Dingen stehen, wie etwa Buchstaben auf einem Bildschirm, die Regeln, denen die Syntax unterworfen ist,sowie Zielen oder Handlungen (z.B.das Ziel,einen Buchstaben mit Hilfe einer Tastatur zu schreiben oder eine Note auf einem Flügel zu spielen). Die Einheiten lassen sich insofern mit Atomen vergleichen, als beides Bausteine für komplexere Strukturen sind und mit anderen Mitgliedern ihrer Art zur Bildung größerer Netzwerke kombiniert werden. Eine Nervenzelle im Gehirn ist ein Typ einer Einheit, die mit anderen Nervenzellen zur Bildung größerer Systeme im Modus der Parallelverarbeitung kombiniert wird. Einheiten sind auf eine Weise in Modulen organisiert, wie Atome in Molekülen organisiert sind. ⊡ Abbildung 8.12 zeigt ein einfaches informationsverarbeitendes Modul. In dieser stark vereinfachten Repräsentation (in Wirklichkeit wird die Anzahl der Einheiten pro Modul zwischen Tausenden und Millionen liegen) erhält jede einzelne Einheit über die Input-Bahnen (links) Informationen von anderen Modulen und leitet die Informationen nach der Verarbeitung über die Output-Bahnen (rechts) an andere Module weiter. In diesem Modell werden Informationen empfangen, sie breiten sich über das gesamte Modell aus und hinter-
233 8.5 · Gedächtnismodelle
Der Fall K.C.: Ein beeinträchtigtes episodisches Gedächtnis Im Herbst 1980 hatte ein 30-jähriger Mann, der in der wissenschaftlichen Literatur »K.C.« genannt wird, auf dem Heimweg von der Arbeit in Toronto einen schweren Motorradunfall. Dieser unglückselige Unfall lieferte der Psychologie ein lebendiges Beispiel für die biologische Eigenart des episodischen und semantischen Gedächtnisses. Infolge des Unfalls kann sich K.C. an nichts erinnern, er weiß jedoch viele Dinge. Das episodische Gedächtnis speichert Informationen über persönliche Erfahrungen und ermöglicht es uns, eine Reise in die eigene Vergangenheit anzutreten. Wenn Sie versuchen sich daran zu erinnern, welchen Film Sie gestern Abend gesehen haben, zapfen Sie das episodische Gedächtnis an. Das semantische Gedächtnis befähigt uns, Wissen und Informationen in einem allgemeinen Sinne zu assimilieren. Wenn Sie an etwas denken, das Sie wissen – wie etwa an den Einfluss der wirtschaftlichen Situation auf Kandidaturen bei politischen Wahlen oder wie man Schach spielt –, dann verwenden Sie Ihr semantisches Gedächtnis. K.C. scheint ein semantisches, aber kein episodisches Gedächtnis zu besitzen. Er weiß z.B., dass seine Familie ein kleines Sommerhaus auf dem Land hat und wo es ist. Er kann sogar die Lage des Ortes auf einer Landkarte angeben. Er weiß, dass er manches Wochenende dort verbringt, aber er kann sich nicht an ein einziges Mal erinnern, als er dort war, oder an ein einzelnes Ereignis, das
lassen Spuren, wenn sie es durchlaufen haben. Diese Spuren verändern sich in Bezug auf die Stärke (manchmal auch als Gewicht bezeichnet) der Verbindungen zwischen den individuellen Einheiten im Modell. Eine Gedächtnisspur (wie etwa der Name eines Freundes) kann über viele unterschiedliche Verbindungen verteilt sein. Man nimmt an, dass die Speicherung der Informationen (wie etwa des Namens eines Freundes) inhaltsadressiert ist – das heißt, wir können auf die Informationen im Gedächtnis auf der Basis ihrer Eigenschaften zugreifen. Sie können sich z.B. an den Namen Ihres Freundes erinnern, wenn ich Ihnen ein Bild von ihm zeige, Ihnen sage, wo er lebt, oder beschreibe, was er macht. All diese Eigenschaften können dazu genutzt werden, auf den Namen im Gedächtnis zuzugreifen. Selbstverständlich sind einige Hinweisreize besser als andere.
sich dort abgespielt hat. Er weiß, wie man Schach spielt, aber er kann sich an keine Person erinnern, mit der er Schach gespielt hat. Er weiß, dass er einen Wagen hat, und kann auch sagen, um welches Modell und Baujahr es sich handelt, aber er kann sich nicht an eine einzige Tour erinnern, die er damit unternommen hat. Gleichermaßen unzulänglich ist seine Fähigkeit, sich Bilder zu seiner Zukunft auszudenken. Unglückseligerweise scheint K.C. in einer kognitiven Welt eingefroren zu sein, die keine Vergangenheit kennt und die Zukunft nicht vorwegnimmt.
K.C. weiß, wie man Schach spielt, aber er kann sich an keine Person erinnern, mit der er Schach gespielt hat
Obwohl die Theorie recht abstrakt ist, weist sie durchaus eine Verbindung zu Aktivitäten im realen Leben auf.Um mit dem Beispiel des Namens Ihres Freundes weiterzumachen, nehmen Sie einmal an, ich fragte Sie: »Wie lautet der Name des Mannes, mit dem Sie Tennis spielen?« Eine derartige Anfrage liefert zumindest zwei inhaltsadressierbare Hinweisreize: Mann und Tennispartner. Wenn Sie nur mit einem Mann Tennis spielen (und seinen Namen kennen), dann müsste Ihnen die Antwort auf die Frage leicht fallen. Wenn Sie viele Tennispartner haben,die Männer sind,dann ist keine Antwort möglich. Die Suche lässt sich durch zusätzliche Informationen leicht einschränken (z.B.der Mann mit dem Bart,der linkshändige Spieler,der Kerl mit den roten Tennisshorts, der Typ mit dem raketengleichen Aufschlag, der Bursche mit dem Terrier usw.). Sie können sich vorstellen,wie punktgenau die Suche ausfallen würde,wenn
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
all diese Eigenschaften mit einer einzigen Person verbunden wären: Der Mann, mit dem Sie Tennis spielen, trägt einen Bart,ist Linkshänder,trägt rote Tennisshorts,hat einen tollen Aufschlag und besitzt einen Terrier. Im realen Leben kann jede Einzelne dieser Eigenschaften mit mehr als einer Person verbunden sein.Vielleicht kennen Sie mehrere Personen,die einen tollen Aufschlag haben oder einen Bart tragen.Wenn dies zutrifft,ist es möglich,dass Sie sich an einen anderen Namen als den beabsichtigten erinnern. Sind die Kategorien jedoch spezifisch und schließen sich gegenseitig aus, wird der Abruf der Informationen wahrscheinlich recht genau sein.Wie kann ein modulares PDP-Konzept des Gedächtnisses diese störenden Komponenten davon abhalten, miteinander zu kollidieren? Nach diesem Modell werden Informationen im Gedächtnis über zahlreiche Verbindungen mit anderen Einheiten repräsentiert. Wenn eine Eigenschaft Bestandteil einer Anzahl unterschiedlicher Erinnerungen ist und aktiviert wird (z.B.: »Wie war noch gleich der Name Ihres Freundes … ?«), dann wird sie dazu tendieren, vor allem die Erinnerungen auszulösen, deren Bestandteil die Ei-
rade beschrieben haben, sind von McClelland (1981) und von McClelland und Rumelhart (1982) untersucht worden. Ihre Arbeiten illustrieren, wie dieses System eines inhaltsadressierbaren Gedächtnisses in einem PDP-Modell funktionieren würde. In ⊡ Tabelle 8.2 sind die Namen mehrerer (hypothetischer) Bandenmitglieder dargestellt, die in verrufenen Wohngegenden leben (und auch in solchen, die dies suggerieren). Eine Teilmenge der Einheiten, die diese Informationen repräsentieren,ist in ⊡ Abb. 8.13 dargestellt.
⊡ Abb. 8.13. Ein typisches Exemplar für die Einheiten und Verbindungen, die benötigt werden, um die Personen von Tabelle 8.2 zu repräsentieren. Bidirektionale Pfeile zeigen an, dass sich die Einheiten
gegenseitig anregen. Einheiten innerhalb einer Wolke sind wechselseitig ausschließend (das heißt, man kann nicht zu den Jets und zu den Sharks gehören). Aus McClelland (1981)
genschaft ist. Eine Methode, die die störenden Komponenten davon abhalten kann,das System zu überfluten,besteht darin, sich die Beziehungen zwischen den Einheiten so vorzustellen, dass sie hemmenden Gesetzen unterliegen. Wenn wir also die Person, mit der Sie Tennis spielen, als Mann identifizieren, hemmen wir der Theorie nach jegliche Suche nach Frauen.Wenn wir hinzufügen, dass er einen Terrier besitzt, dann suchen wir nicht nach Namen von Menschen, mit denen Sie nicht Tennis spielen und die keinen Terrier besitzen. Jets und Sharks. Gedächtnissysteme der Art,wie wir sie ge-
235 8.5 · Gedächtnismodelle
⊡ Tabelle 8.2. Eigenschaften der Mitglieder zweier Banden, der Jets und der Sharks 1
Name
Bande
Altersgruppe
Schulabschluss
Familienstand
Beruf
Art Al Sam Clyde Mike Jim Greg John Doug Lance George Pete Fred Gene Ralph Phil Ike Nick Don Ned Karl Ken Earl Rick Ol Neal Dave
Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Jets Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks Sharks
40–49 30–39 20–29 40–49 30–39 20–29 20–29 20–29 30–39 20–29 20–29 20–29 20–29 20–29 30–39 30–39 30–39 30–39 30–39 30–39 40–49 20–29 40–49 30–39 30–39 30–39 30–39
Junior High School Junior High School College Junior High School Junior High School Junior High School High School Junior High School High School Junior High School Junior High School High School High School College Junior High School College Junior High School High School College College High School High School High School High School College High School High School
Unverheiratet Verheiratet Unverheiratet Unverheiratet Unverheiratet Geschieden Verheiratet Verheiratet Unverheiratet Verheiratet Geschieden Unverheiratet Unverheiratet Unverheiratet Unverheiratet Verheiratet Unverheiratet Unverheiratet Verheiratet Verheiratet Verheiratet Unverheiratet Verheiratet Geschieden Verheiratet Unverheiratet Geschieden
Drogenhändler Einbrecher Buchmacher Buchmacher Buchmacher Einbrecher Drogenhändler Einbrecher Buchmacher Einbrecher Einbrecher Buchmacher Drogenhändler Drogenhändler Drogenhändler Drogenhändler Buchmacher Drogenhändler Einbrecher Buchmacher Buchmacher Einbrecher Einbrecher Einbrecher Drogenhändler Buchmacher Drogenhändler
1
Aus McClelland (1981).
In dieser Abbildung enthalten die Gruppierungen auf der Peripherie Informationen, die sich gegenseitig ausschließen (z.B.Art kann nicht Rick sein).Alle Eigenschaften der Beteiligten sind in einem sich wechselseitig erregenden Netz miteinander verbunden.Wenn das Netz trainiert worden ist – das heißt, wenn die Verbindungen zwischen den Einheiten etabliert sind –, dann können wir die Eigenschaften eines gegebenen Individuums abrufen. Nehmen wir einmal an, Sie wollten die Eigenschaften von Ralph abrufen. Indem Sie das System nach Ralph befragen (es gibt nur einen Ralph darin), können Sie die Informationen aus dem Gedächtnis erhalten, dass er ein Jet zwischen 30 und 39 ist,die Junior High School besucht hat, dass er unverheiratet und Drogenhändler ist.Im Endeffekt haben wir eine Repräsentation von Ralph abgerufen. Mit anderen Worten ist Ralph,was er ist.Hätten wir jedoch aus einem anderen Blickwinkel und mit weniger als vollstän-
digen Informationen Zugang zum System,würden wir am Ende mit widersprüchlichen Ergebnissen konfrontiert werden. Wenn wir beispielsweise nach einer Person suchen, die ein Jet zwischen 30 und 39 ist, die Junior High School besucht hat und unverheiratet ist, dann rufen wir zwei Namen ab – Ralph und Mike. In diesem Beispiel wären mehr Informationen erforderlich, damit etwas Spezifisches herauskommt (polizeiliche Ermittlungen werden mit Hilfe eines ähnlichen Netzes von Inklusions- und Exklusionsbeziehungen durchgeführt). Eine der guten Eigenschaften des konnektionistischen Gedächtnismodells besteht darin, dass es komplexes Lernen erklären kann – also die Art von Gedächtnisoperationen, denen wir im Alltag begegnen. Zu diesen Operationen könnten das Lernen einer Kategorie oder die Prototypbildung gehören ( siehe Kapitel 5). Diese Prozesse sind weitaus komplizierter als das Lernen sinnloser Sil-
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Kapitel 8 · Gedächtnis – Theorien und Neurokognition
ben, wie es Ebbinghaus ursprünglich an sich selbst probiert hat und über das wir zu Beginn dieses Kapitels berichteten. Ein Junge und sein Hund. Denken Sie einmal an folgen-
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des Beispiel für das Erlernen eines Prototyps, das McClelland und Rumelhart (1986) angeführt haben: Ein kleiner Junge sah verschiedene Hunde, jeden nur einmal und jeder hatte einen anderen Namen. All diese Hunde hatten leicht unterschiedliche Merkmale, konnten aber als eine Variation des prototypischen Hunds, des Inbegriffs der »Hundeheit«, angesehen werden. Ebenso wie bei Solsos und McCarthys prototypischem Gesicht, das sich durch die Erfahrung mit beispielhaften Gesichtern herausformte ( siehe Kapitel 4), bildete der Junge auf Grundlage der Erfahrung mit beispielhaften Hunden eine Erinnerung an einen prototypischen Hund. Wie bei den Gesichtern war es wahrscheinlich, dass der Junge den prototypischen Hund als einen Hund erkennen würde, auch wenn er ihn noch nie gesehen hatte. Natürlich war es nicht wahrscheinlich,dass der Junge die Namen jedes einzelnen Hundes erinnern würde – obwohl der, den er zuletzt gesehen
hatte, immer noch im Gedächtnis vorhanden sein konnte. Die Erklärung der Prototypbildung, wie sie nun von Konnektionisten vorgebracht wird, ähnelt in etwa dem Beispiel, das eben bezogen auf die Mitglieder der Banden Jets und Sharks dargestellt wurde.Bei dem Jungen und seinem (prototypischen) Hund nimmt das konnektionistische Modell an, dass jedes Mal, wenn der Junge einen Hund sieht, ein visuelles Aktivierungsmuster über mehrere der Einheiten im Modul hinweg hervorgerufen wird. Im Gegensatz dazu löst der Name des Hundes ein verringertes Aktivierungsmuster aus. Die kombinierte Aktivierung aller beispielhaften Hunde summiert sich zum prototypischen Hund, der eine stabile Gedächtnisrepräsentation sein kann.Somit scheint das Modell (ein detaillierteres als das hier dargestellte) diese Form des Gedächtnisses recht gut zu erklären. Das konnektionistische Gedächtnismodell hat in den letzten Jahren viele Anhänger gefunden.Seine Popularität hängt zum Teil mit seinen eleganten mathematischen Modellen,seiner Verbindung mit neuronalen Netzen und seiner Flexibilität bei der Erklärung sehr unterschiedlicher Formen von Erinnerungen zusammen.
Zusammenfassung 1. Der erste detaillierte wissenschaftliche Bericht über Gedächtnisexperimente stammt von Hermann Ebbinghaus. 2. William James’ frühe Unterscheidung zwischen dem primären und dem sekundären Gedächtnis war ein Vorläufer der modernen dualistischen Gedächtnistheorien. 3. Neuere bildgebende Verfahren für den Bereich des Gehirns (z.B. PET) waren von Nutzen, um spezifische Hirnstrukturen auszumachen, die mit Erinnerungen in Verbindung gebracht werden. 4. Die Neurokognition des Gedächtnisses zeigt, dass der zerebrale Kortex, das Kleinhirn und der Hippocampus an der Speicherung und Verarbeitung im Gedächtnis beteiligt sind. 5. Belege für das Vorhandensein von zwei Gedächtnisspeichern kommen aus physiologischen (z.B. Elektroschock), aus klinischen (z.B. Amnesie) und verhaltensbezogenen (z.B. freie Reproduktion) Untersuchungen. 6. Das erste moderne dualistische Gedächtnismodell wurde von Waugh und Norman entwickelt, die auch ▼
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Belege dafür lieferten, dass Vergessen im KZG stärker von Störung als von Zerfall beeinflusst wird. Atkinson und Shiffrin schlugen ein an der Informationsverarbeitung orientiertes Gedächtnismodell, in dem festgelegte Gedächtnisstrukturen mit jeweils einer Anzahl von Subsystemen angenommen werden, und variable Steuerungsprozesse mit einer Aktivierung vor, die durch die Anforderungscharakteristika der Aufgabe festgelegt wird. In der Theorie der Verarbeitungsniveaus wird angenommen, dass das Gedächtnis ein Nebenprodukt von Analysen ist, die sich mit den hereinkommenden Reizen befassen, wobei die Dauerhaftigkeit der Gedächtnisspur eine Funktion der Komplexität oder Tiefe jener Analysen ist. Die Auswertung von PET-Befunden deutet darauf hin, dass der linke präfrontale Bereich des Gehirns an der tiefer gehenden Verarbeitung beteiligt ist. Modelle der Informationsverarbeitung und die Theorie der Verarbeitungsniveaus unterscheiden sich hinsichtlich der Bedeutung von Struktur und Prozess
237 8.5 · Gedächtnismodelle
und der Eigenart der Wiederholung. Theorien der Informationsverarbeitung betonen im Allgemeinen die Struktur und die Wiederholung zur Aufrechterhaltung der Erinnerung, während bei der Theorie der Verarbeitungsniveaus der Schwerpunkt auf die Verarbeitung und die elaborierende Wiederholung gelegt wird. 11. Tulving betont, dass das Gedächtnis ein multiples System ist, zu dem sowohl Systeme als auch Prinzipien gehören, und schlägt eine dreiteilige Klassifikation vor, bei der zwischen prozeduralem, semanti-
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
deklaratives Gedächtnis dualistische Gedächtnistheorie Engramm episodisches Gedächtnis Langzeitpotenziation Modell der Verarbeitungsniveaus narzisstischer Persönlichkeitszug primäres Gedächtnis prozedurales Gedächtnis sekundäres Gedächtnis Selbstschema semantisches Gedächtnis sinnlose Silbe Zerfall
Literaturempfehlungen Gut geeignet für den Anfänger ist ein beliebtes Buch von Baddeley mit dem Titel Your Memory: A User’s Guide. Von historischem Interesse ist das allererste Buch zum Thema Gedächtnis von Ebbinghaus: Über das Gedächtnis (1885). Ein psychologischer Klassiker ist William James’Buch Principles of Psychology,das kürzlich neu aufgelegt wurde.Es ist nicht nur wegen seiner historischen Bedeutung empfehlenswert, sondern auch weil einige der Spekulationen von James zum integralen Bestandteil der aktuellen Literatur im Bereich der kognitiven Psychologie geworden sind. Es gibt mehrere Bücher, die einen ausgezeichneten Überblick über das Thema Gedächtnis geben. Dazu gehö-
schem und episodischem Gedächtnis unterschieden wird. Neuere Beobachtungen deuten darauf hin, dass das semantische und das episodische Gedächtnis mit einer lokalisierbaren Hirnaktivität in Verbindung gebracht werden können. 12. Das PDP-Modell des Gedächtnisses postuliert Verarbeitungseinheiten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Nervenzellen aufweisen. Mentale Prozesse einschließlich der Vorgänge im Gedächtnis laufen mit Hilfe eines Systems miteinander verbundener Einheiten ab.
ren Parkings Buch Memory und das von Baddeley mit dem Titel The Psychology of Memory, Adams’ Learning and Memory sowie Daniel L.Schacters populäres Buch Searching for Memory.Auch das von Rubin herausgegebene Buch Autobiographical Memory enthält viele gute Kapitel. Wenn es um spezielle Gedächtnismodelle geht, sind natürlich die Originalquellen maßgeblich. Im Allgemeinen sind sie jedoch formaler geschrieben als die in diesem Kapitel dargestellte Zusammenfassung, aber mit einiger Anstrengung sind sie durchaus verstehbar. Ich schlage die folgenden Veröffentlichungen vor: den Artikel von Waugh und Norman in der Zeitschrift Psychological Review, den Beitrag von Atkinson und Shiffrin im von Spence und Spence herausgegebenen Buch The Psychology of Learning and Motivation: Advances in Research and Theory, den Artikel von Craik und Lockhart im Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, Tulvings Beitrag im von Tulving und Donaldson herausgegebenen Buch Organization of Memory sowie den Artikel von Tulving in der Zeitschrift The Behavioral and Brain Sciences. Das Buch Varieties of Memory and Consciousness: Essays in Honor of Endel Tulving,das von Roediger und Craik herausgegeben wurde,und das Buch Current Issues in Cognitive Processes: The Tulane Flowerree Symposium on Cognition, das von Izawa herausgegeben wurde, sind empfehlenswert. Ich möchte speziell auf einige aktuelle Studien zur Neurokognition des Gedächtnisses hinweisen. Dazu gehören der Artikel von Petersen et al. in der Zeitschrift Nature, der von Petersen et al. in der Zeitschrift Science und der größte Teil des Tagungsberichts Proceedings of the National Academy of Sciences, Volume 91, 1994, der sich vor allem mit der Arbeit von Tulving und seinen Mitarbeitern befasst.
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IV
Mentale Repräsentationen: Gedächtnis und bildhafte Vorstellung 9 Wissenspräsentation
– 241
10 Bildhafte Vorstellung
– 267
9 Wissensrepräsentation 9.1
Semantische Organisation –243
9.2
Der assoziationistische Ansatz –243
9.2.1 Organisationsbezogene Variablen: Bower –243
9.3
Das semantische Gedächtnis –246
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4
Das mengentheoretische Modell –246 Modell des semantischen Merkmalsvergleichs –247 Netzmodelle –249 Propositionale Netze –252
9.4
Wissensrepräsentation – neurokognitive Überlegungen –257
9.4.1 Die Suche nach dem schwer fassbaren Engramm –258 9.4.2 Was die vergesslichen amnestischen Patienten zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen –258 9.4.3 Wissen, was und wissen, dass –260 9.4.4 Eine Taxonomie der Gedächtnisstruktur –260
9.5
Gedächtnis: Festigung –261
9.6
Konnektionismus und die Wissensrepräsentation –261
242
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
Anregungen vorab 1. Warum war die Beschäftigung mit Wörtern und Sprache ein Lieblingsthema der Psychologinnen und Psychologen, die sich für das Wissen und seine Repräsentation interessierten? 2. Durch welche Merkmale lassen sich die folgenden Modelle kennzeichnen: das mengentheoretische Modell, das semantische Merkmalsvergleichsmodell, das Netzmodell, propositionale Netze und das neurokognitive Modell? 3, Was versteht man unter einer »linguistischen Absicherung«? Führen Sie ein Beispiel aus dem Alltag an. 4. Welches sind die Hauptmerkmale einer Spreading Activation Theory und wie lassen sich die Ergebnisse eines Priming-Experiments durch diese Theorie vorhersagen? 5. Unterscheiden Sie zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen. 6. Zu welchen Ergebnissen kamen Untersuchungen an amnestischen Patienten im Hinblick auf die Struktur des Gedächtnisses? 7. Wie wird Wissen in PDP-Modellen repräsentiert?
Wäre ich bei der Schöpfung dabei gewesen, hätte ich einige nützliche Hinweise für eine bessere Anordnung des Universums geben können. Alfons, der Weise (1221–1284) Man ist, was man weiß. Albert Einstein (1879–1955)
9 In diesem Kapitel geht es um Wissensrepräsentation.Für einige ist das der wichtigste Begriff in der kognitiven Psychologie. Manche gehen so weit, zu behaupten, dass »Wissenschaft organisiertes Wissen ist« (Spencer,1864/ 1981).Bevor näher auf Wissen – auch ein Lieblingsthema von Philosophen,Theologen und Dichtern – eingegangen wird,ist es erforderlich, zu begreifen, wie in der Psychologie dieser oft von Nebel umgebenene Begriff verwendet wird.Unter Wissen verstehen wir »die Speicherung, Integration und Organisation von Informationen im Gedächtnis«. Informationen werden, wie wir in den vorangehenden Kapiteln erkannt haben, aus den Sinnesorganen gewonnen, aber sie sind nicht das Gleiche wie Wissen. Wissen ist organisierte Information,es ist Teil eines Systems oder Netzes aus strukturierten Informationen. In bestimmter Weise ist Wissen verdaute Information.Wir konzentrieren uns an dieser Stelle auf die Repräsentation semantischer Informationen,weil es sich hier weiterhin um das entscheidende Thema im Zusammenhang mit Wissensrepräsentation handelt. Zusätzlich werden mehrere aktuelle Themen vorgestellt,die so viel versprechend sind,dass sie unsere Vorstellung darüber verändern können, wie Wissen im Gedächtnis repräsentiert
und gespeichert wird. Dazu gehören die Neurokognition und der Konnektionismus. Sprache und Wissen. Ein Grund dafür,warum Wörter und
Sprache so ausführlich untersucht wurden, besteht darin, dass der Grad der verbalen Entwicklung beim Menschen den anderer Spezies bei weitem übertrifft.Deswegen dient diese Eigenschaft auch als phylogenetisches Abgrenzungsmerkmal. Nach Schätzungen (Baddeley, 1990) beträgt die Anzahl der Wörter, deren Bedeutung eine Person kennt, etwa 20.000 bis 40.000 und das Wiedererkennungsgedächtnis ist um ein Mehrfaches größer. Der für die kognitive Psychologie wichtigste Grund besteht darin, dass die semantische Struktur es uns ermöglicht, herauszufinden, welche Typen von Dingen im Mentalen gespeichert sind und wie etwas Gespeichertes mit anderen Entitäten im Mentalen zusammenhängt. Natürlich sind Wörter für Kognitionspsychologen isoliert betrachtet genauso uninteressant wie die Piepstöne eines Oszilloskops. Wörter erlangen ihre Lebenskraft nicht durch irgendeinen intrinsischen Wert, sondern durch die Begriffe und Beziehungen, die durch sie zum Ausdruck ge-
243 9.2 · Der assoziationistische Ansatz
Kritisch hinterfragt: Das Ausmaß des semantischen Wissens Lesen Sie den folgenden Satz: »Im letzten Sommer sah Charlee Mona Lisa im Louvre.« Wie sicher sind Sie, dass: 1. Mona und Charlee in einem Straßencafé am linken Ufer der Seine zusammen Kaffee tranken? 2. Mona Charlee anlächelte? 3. Charlee in Paris zu Abend aß? 4. Charlee Euros dabei hatte? 5. Charlees IQ größer als 100 ist? 6. Charlee ein Mann ist? Aus diesem kurzen, wirklich nicht komplizierten Satz wird eine Fülle von Informationen erschlossen und es ist wahr-
bracht werden und die dafür sorgen, dass die Tatsachen und Wissensstrukturen mit Leben erfüllt werden. Dadurch, dass wir die Art und Weise untersuchen, wie Wörter im Gedächtnis repräsentiert zu sein scheinen, können wir etwas über die drei Komponenten der Wissensrepräsentation erfahren: den Inhalt,die Struktur und den damit einhergehenden Prozess.
9.1
Semantische Organisation
Im Clustermodell wird die semantische Organisation normalerweise als eine Gruppierung oder als ein Cluster von Elementen aufgefasst, die sich in ihrer Bedeutung ähneln – beispielsweise Adenauer, Erhard, Kiesinger, Kohl, Brandt,Schmidt,Schröder (Bundeskanzler);Adenauer,Erhard, Kiesinger, Kohl (von der CDU gestellte Bundeskanzler) und Brandt, Schmidt, Schröder (von der SPD gestellte Bundeskanzler). Komplexere semantische Modelle beschäftigen sich mit den Beziehungen der Begriffe untereinander (z.B. war Schröder Ministerpräsident von Niedersachsen, ist Schröder Mitglied der SPD, hat Schröder eine Nase).
9.2
Der assoziationistische Ansatz
9.2.1 Organisationsbezogene Variablen:
Bower Die Untersuchung organisationsbezogener Faktoren im Gedächtnis wurde durch eine Reihe von Veröffentlichun-
scheinlich, dass Ihre Schlussfolgerungen (wie sie in Ihren Antworten auf die oben aufgeführten Fragen zum Ausdruck kommen) denen anderer Menschen recht ähnlich sind. Denken Sie heute einmal sorgfältig über einen Satz nach, den eine andere Person gesagt hat, und analysieren Sie ihn im Hinblick auf die Art und Weise, wie die Wörter im Gedächtnis gespeichert werden. Welche Modelle des semantischen Gedächtnisses würden zu Ihren Beobachtungen passen?
Gordon Bower. Machte bedeutsame Entdeckungen auf dem Gebiet des Gedächtnisses, der Mnemotechniken, der mathematischen Psychologie und der Sprachverarbeitung
gen beeinflusst, die von Gordon Bower und seinen Mitarbeitern verfasst worden waren (Bower, 1979a, 1970b; Lesgold & Bower, 1970; Bower et al., 1969). Im Kontext der modernen kognitiven Theorie nutzte Bower organisationsbezogene Faktoren sowohl auf herkömmliche als auch auf moderne Weise. Wie in früheren Forschungsarbeiten versuchte er den Einfluss der strukturellen Organisation auf die freie Reproduktion von Gedächtnisinhalten nachzuweisen. Er war der Auffassung, dass die Organisation semantischer Entitäten im Gedächtnis einen viel größeren Einfluss auf das Gedächtnis und den Abruf daraus hat,als zuvor gezeigt werden konnte.In einem Experiment (Bower et al., 1969) beschäftigte sich seine Forschungsgruppe mit dem wirksamen Einfluss organisationsbezogener Variablen auf den Abruf, indem sie mehrere begriffliche Hierarchien konstruierte. Ein Beispiel für eine begriffliche Hierarchie in Bezug auf das Wort Mineralien finden Sie in ⊡ Abb. 9.1. Diese und viele weitere Experimente stellten eine Brücke zwischen einer nüchternen Auffassung von den geistigen Funktionen des Menschen und einer Sichtweise dar,
9
244
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
⊡ Tabelle 9.1. Wissensorganisation: »Jennifer spielte mit ihren Freunden Basketball.« Wissen kann im Mentalen mit einer ganzen Anzahl unterschiedlicher Arten repräsentiert sein. Dazu gehören Zusammenhänge, lexikalische Repräsentationen, propositionale Relationen und Bilder sowie neurologische Komponenten
9
Zusammenhang
Lexikalische Repräsentation
Propositionale Relation
Handlungen
Jennifer = Frau spielte = Handlung Basketball = Substantiv, Sport
Spielte {Handlung} (Jennifer {Akteur der Handlung}, Basketball {Objekt})
Teile der Sehrinde und des assoziativen Kortex; vielleicht Teile des motorischen Kortex
Attribute
Jennifer ist eine Frau, sie ist groß, sie ist sportlich.
Jennifer ist eine Frau. Jennifer ist groß. Jennifer ist sportlich.
Teile der Sehrinde und des assoziativen Kortex; vielleicht Teile des rechten parietalen Kortex zum Wiedererkennen von Gesichtern
Räumliche Eigenschaften
Jennifer hat den Basketball.
Jennifer hat einen Basketball in der Hand.
Teile der Sehrinde, des assoziativen Kortex, des motorischen und sensorischen Kortex
Zugehörigkeit zu einer Klasse
Jennifer ist Mitglied der folgenden Kategorien: Frau, Basketballspieler, große
Frau, Jennifer ist ein Typ Frau. Basketballspieler, Jennifer ist ein Typ Basketballspieler.
Teile des assoziativen Kortex
⊡ Abb. 9.1. Eine begriffliche Worthierarchie für das Wort »Mineralien«. Adaptiert nach Bower et al. (1969)
Bild
Neurologische Komponenten
245 9.2 · Der assoziationistische Ansatz
Ist Ihr präfrontaler Kortex intakt? Benennen Sie Dinge, die Sie in einem Supermarkt kaufen könnten. Metakognition: Steuerung und Organisation der Gedanken In meinem Labor interessierte ich mich für eine Region im präfrontalen Kortex, die an der Überwachung von Gedanken und Erinnerungen beteiligt ist. Diese Region nennt man den dorsolateralen präfrontalen Kortex. In psychologischer Begrifflichkeit interessiere ich mich für die Metakognition. Damit bezeichnet man die Fähigkeit, die mentale Aktivität zu überwachen, zu steuern und zu organisieren (d.h. Kognition). In vielen Fällen arbeiten unsere Kognitionen mit minimaler Überwachung oder Intervention. Beispielsweise können Sie mir vielleicht ohne viel Mühe sagen, was Sie zuletzt gegessen haben. Wenn ich Sie jedoch bitten würde, mir zu beschreiben, was Sie vor drei Tagen zu Mittag gegessen haben, dann würde zu dieser Aufgabe Folgendes gehören: die mentale Überwachung der Aktivitäten während der zurückliegenden Tage und der Versuch, die Informationen zu organisieren. Vielleicht würden Sie die Tatsache aus dem Gedächtnis abrufen, dass Sie an diesem Tag mit einem bestimmten Studierenden zusammen zu Mittag gegessen haben. Dies würde Ihnen dann einen Hinweis darauf liefern, was es an diesem Mittag zu essen gab. In solchen Fällen eines Abrufs aus dem Gedächtnis wird offensichtlich, dass dies sehr viel mit mentaler Überwachung, Steuerung und Organisation zu tun hat. Es ist zudem wahrscheinlich, dass Ihr präfrontaler Kortex versuchen wird, die Informationen abzurufen. Die Fähigkeit, Gedanken und Erinnerungen zu steuern und zu überwachen, ist bei Patienten mit Läsionen im dorsolateralen präfrontalen Kortex stark beeinträchtigt. Die von mir untersuchten Patienten hatten einen Hirnschlag erlitten, durch den diese Hirnregion entweder in der rechten oder der linken Hemisphäre des Gehirns geschädigt worden war. Sie weisen eine starke Beeinträchtigung bei der überwachenden Steuerung auf, sie sind jedoch nicht so behindert, dass sie im Alltag nicht funktionstüchtig wären. Tatsächlich zeigen diese Patienten normale geistige und soziale Fähigkeiten. Ihre Defizite kommen bei Tests zum Vorschein, die ein hohes Maß an metakognitiver Steuerung erfordern. So war es bei der Aufgabe, bei der Sie gebeten wurden, anzugeben, was Sie vor drei Tagen zu Mittag gegessen haben, notwendig, dass Sie Ihre Gedanken im Hinblick auf bestimmte Ereig-
nisse aus der Vergangenheit und auf Episoden aus Ihrem Leben organisieren. Die Konstruktion Ihres autobiographischen Zeitstrahls macht es erforderlich, dass Sie Ihre Erinnerungen im Hinblick auf Orte und Zeitspannen chronologisch organisieren. Die Fähigkeit, einen solchen Zeitstrahl zu konstruieren, ist bei Patienten mit einer dorsolateralen präfrontalen Läsion stark beeinträchtigt. Infolgedessen haben sie oft Schwierigkeiten, die zeitliche Reihenfolge zurückliegender Ereignisse festzulegen. Abgesehen von den Problemen dabei, Gedanken in einen zeitlichen Kontext zu bringen, haben diese Patienten auch Schwierigkeiten damit, Gedanken in einen semantischen oder wissensbasierten Kontext zu stellen. So ist es für sie etwa eine besonders diffizile Aufgabe, Beispiele für einen bestimmten Oberbegriff aufzulisten (z.B. Dinge, die man in einem Supermarkt kaufen könnte, oder so viele Berufe wie möglich). Denken Sie einmal über die metakognitiven Anforderungen bei dieser Aufgabe nach. Nachdem man einige der offensichtlichen Beispiele aus dem Gedächtnis abgerufen hat, muss man diejenigen Beispiele, über die man bereits berichtet hat, überwachen und steuern oder man muss verhindern, dass sie wieder genannt werden. Außerdem ist es notwendig, die Gedanken so zu organisieren, dass man daraus weitere neue Beispiele ableiten kann. Bei diesem Test agierten die Patienten so, als sei bei ihnen die Überwachungssteuerung beeinträchtigt – das heißt, sie riefen oft ein paar der offensichtlichsten Beispiele aus dem Gedächtnis ab, stammelten aber und wiederholten immer wieder dieselben Beispiele. Somit wird metakognitive Steuerung gebraucht, um die Gedanken zu bewerten (und zu überwachen) und die durch die Aufgabe gestellten Anforderungen in den Griff zu bekommen.
Arthur P. Shimamura. Seine innovativen Untersuchungen haben die Kognitionsforschung und die Neurowissenschaften zusammengeführt
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246
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
die sich diese Funktionen als ein Netz aus Assoziationen vorstellte, die mit anderen und wieder mit anderen Assoziationen verbunden waren etc.
9.3
Das semantische Gedächtnis
Bei den Auffassungen zur semantischen Organisation,wie sie im vorigen Abschnitt beschrieben wurden, war der Assoziationismus tonangebend – die Lehre also, dass es funktionelle Zusammenhänge zwischen psychologischen Phänomenen gibt. In neuerer Zeit hat sich der Schwerpunkt der Forschungsansätze in Bezug auf das semantische Gedächtnis von der assoziationistischen zur kognitiven Auffassung hin verschoben. Bei Letzterer wird angenommen, dass detaillierte kognitive Strukturen die Art und Weise repräsentieren, wie semantische Informationen im Gedächtnis organisiert sind. Im folgenden Abschnitt geben wir einen Überblick über einige dieser kognitiven Modelle.
9.3.1 Das mengentheoretische Modell
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Im mengentheoretischem Modell werden semantische Begriffe durch Mengen von Elementen oder Ansammlungen von Informationen repräsentiert.Im Unterschied zum Clusterkonzept kann bei diesem Modell ein Wort, das einen Begriff umfasst, im Langzeitgedächtnis nicht nur durch die Exemplare des Begriffs repräsentiert sein, sondern auch durch dessen Eigenschaften. Somit schließt der Begriff Vogel vielleicht die Namen von Vogelarten ein – Kanarienvogel,Rotkehlchen,Falke,Zaunkönig usw.–,aber auch die Eigenschaften des Begriffs – singt, fliegt, hat Federn. In einem mengentheoretischen Modell besteht das Gedächtnis aus zahlreichen Mengen von Eigenschaften – oder vielmehr aus Konstellationen von Ereignissen, Eigenschaften und Assoziationen, die jeweils durch eine lexikalische Entität repräsentiert werden. Der Abruf beinhaltet eine Verifikation, das heißt eine Suche in zwei oder mehreren Mengen von Informationen,um einander überlappende Exemplare zu finden. In ihrer einfachsten Form wird die Überprüfung von Aussagen (beispielsweise: »Ein Rotkehlchen ist ein Vogel«) so durchgeführt, dass man nur die Eigenschaften einer Menge (Vogel) mit den Eigenschaften der anderen Menge (Rotkehlchen) vergleicht. Der Grad der Eigenschaftsüberlappung (⊡ Abb. 9.2) bildet die Grundlage für die Ent-
⊡ Abb. 9.2. Eigenschaften zweier Mengen (Vogel und Rotkehlchen) mit einer starken Überlappung
scheidung über die Gültigkeit der Aussage. In dem Maße, in dem die Distanz zwischen den Mengen größer wird, sollte die Reaktionszeit zum Fällen einer Entscheidung zunehmen – ein Gedanke, der zu der Forschungsannahme passt, die einigen Netzmodellen zugrunde liegt. In diesem Modell werden zwei Arten logischer Relationen zwischen semantischen Oberbegriffen untersucht: die universal bestätigende und die spezifisch bestätigende Relation. Im universell bestätigenden Fall werden alle Begriffe, die zu einem Oberbegriff gehören, unter einen anderen Oberbegriff subsumiert, der als »Alle S sind P« (beispielsweise: »Alle Zaunkönige sind Vögel«) repräsentiert wird. Im spezifisch bestätigenden Fall gehört nur ein Teil der Begriffe, die unter einen Oberbegriff fallen, zu einem anderen Oberbegriff – was repräsentiert wird als »Es gibt S, die P sind« (beispielsweise: »Es gibt Tiere, die Vögel sind«). Die Gültigkeit von Behauptungen wird durch die Relationen zwischen den Mengen der semantischen Oberbegriffe bestimmt. Die Relationen zwischen den Mengen oder die Kommunalität nimmt durch die Anzahl der Exemplare zu, auf die beide Aussagen zutreffen. Beispielsweise könnte die Aussage »Es gibt Frauen, die Autoren sind« als »Es gibt S, die P sind« repräsentiert werden, wobei S für Frauen und P für Autoren steht.
(Vielleicht erkennen Sie diese Darstellung als Venn-Diagramm, wie es verwendet wird, um die Aussagenlogik zu
247 9.3 · Das semantische Gedächtnis
vereinbaren.Es hat mit dem mengentheoretischen Modell eine mengentheoretische Struktur gemeinsam, es unterscheidet sich jedoch davon im Hinblick auf mehrere wichtige Annahmen. Die erste Annahme lautet, dass »die Bedeutung eines Wortes nicht eine unanalysierbare Einheit ist,sondern dass sie vielmehr als eine Menge semantischer Merkmale repräsentiert werden kann« (Smith, Shoben & Rips, 1974). Eine breite Vielfalt von Merkmalen, die im Zusammenhang mit einem beliebigen Wort stehen, variiert entlang eines Kontinuums von sehr wichtig bis trivial. So kann ein Rotkehlchen mit Hilfe der folgenden Merkmale beschrieben werden: hat Flügel, hat zwei Beine, hat eine rote Brust, sitzt auf Bäumen, mag Würmer, lässt sich nicht als Haustier halten,ist Vorbote des Frühlings.Einige davon sind entscheidende Definitionsmerkmale (Flügel, Beine, rote Brust), während es sich bei anderen nur um charakteristische Merkmale handelt (sitzt auf Bäumen,frisst gerne Würmer,lässt sich nicht als Haustier halten und ist Vorbote des Frühlings). Smith und seine Kollegen schlagen nun vor, dass die Bedeutung einer lexikalischen Einheit durch die Merkmale repräsentiert werden kann, die essenzielle oder definierende Aspekte des Wortes darstellen (definierende Merkmale), und anhand anderer Merkmale, die nur zufällige oder charakteristische Aspekte sind (charakteristische Merkmale). Nehmen Sie zum Beispiel die Aussage »Eine Fledermaus ist ein Vogel.« Obwohl ein definierendes Merkmal für Vögel lautet,dass sie Flügel haben,ist eine Fledermaus im strengen Sinne kein Vogel. Eine Fledermaus fliegt jedoch, hat Flügel und sieht einem Vogel ähnlich. Wenn
veranschaulichen.) In welchem Maße die logische Allaussage »Alle Münzen sind Ein-Cent-Münzen« gültig ist, hängt vom Ausmaß der Überlappung (schattierter Bereich in der obigen Abbildung) oder von der relativen Anzahl der Exemplare ab, die zu beiden Mengen gehören. Um das Modell besser zu verstehen, sollten Sie sich eine typische experimentelle Vorgehensweise vorstellen. Eine Versuchsperson sitzt vor einem Bildschirm, auf dem ein Satz von der Art »Alle Münzen sind Ein-Cent-Münzen« oder »Es gibt Münzen, die Ein-Cent-Münzen sind« erscheint. Die Versuchsperson muss angeben, ob die Aussage stimmt oder nicht. Behauptungen von der Art »Es gibt Münzen, die Ein-Cent-Münzen sind« (spezifisch bestätigend) führen zu einer kürzeren Reaktionszeit als jene von der Art »Alle Münzen sind Ein-Cent-Münzen« (universal bestätigend). (Man könnte argumentieren, dass die Überprüfung des Satzes »Es gibt Münzen, die Ein-CentMünzen sind« eine Suche in unserem Gedächtnis erfordert, bis auch nur ein einziges Beispiel für eine Münze gefunden wird, die eine Ein-Cent-Münze ist. Das heißt, wir müssen nicht alle Ein-Cent-Münzen berücksichtigen.
9.3.2 Modell des semantischen
Merkmalsvergleichs Das Modell des semantischen Merkmalsvergleichs von Smith, Shoben und Rips (1974) und von Rips, Shoben und Smith (1973) entstand bei dem Versuch, die widersprüchlichen Vorhersagen der anderen Modelle miteinander zu
⊡ Tabelle 9.2. Beispiele für linguistische Absicherungen
Grad der Absicherung
Aussage
Merkmale, die durch ein Prädikatsnomen repräsentiert werden Definierend
Charakteristisch
(Eine wahre Aussage)
Ein Rotkehlchen ist ein Vogel. Ein Spatz ist ein Vogel. Ein Wellensittich ist ein Vogel.
+ + +
+ + +
Formal ausgedrückt
Ein Huhn ist ein Vogel. Eine Ente ist ein Vogel. Eine Gans ist ein Vogel.
+ + +
– – –
Locker gesagt
Eine Fledermaus ist ein Vogel. Ein Schmetterling ist ein Vogel. Eine Motte ist ein Vogel.
– – –
+ + +
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Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
Wissensrepräsentation
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Die fünf Modelle der Wissensrepräsentation lassen sich wie folgt zusammenfassen: Clustermodelle Begriffe werden gewöhnlich in Form von Clustern organisiert. Die freie Reproduktion »nicht miteinander zusammenhängender« Wörter deutet darauf hin, dass in Bezug auf den Oberbegriff ähnliche Wörter gemeinsam erinnert werden – beispielsweise Kamel, Esel, Pferd; John, Bob, Tom; Kohl, Salat, Spinat (vgl. vor allem die Arbeiten von Bousfield und Bower). Das mengentheoretische Modell Begriffe werden im Gedächtnis als Mengen oder als Ansammlungen von Informationen repräsentiert. Die Menge kann Beispiele im Hinblick auf einen Oberbegriff enthalten (etwa kann der Oberbegriff Vogel die Beispiele Rotkehlchen, Zaunkönige, Adler etc. beinhalten). Und die Menge kann auch Attribute oder Eigenschaften eines Oberbegriffs umfassen (ein Vogel z.B. ist charakterisiert durch Flügel, Federn, Flugfähigkeit usw.). (Darauf wurde in den Arbeiten von Meyer hingewiesen.) Modell des semantischen Merkmalsvergleichs Begriffe werden im Gedächtnis als Menge semantischer Merkmale repräsentiert. Zwei unverwechselbare Merkmale werden mit der Bedeutung eines Items verbunden: (1) definierende Merkmale, bei denen es sich um wesent-
man es nicht so genau nimmt, ist eine Fledermaus ein Vogel. Ausdrucksweisen wie formal ausgedrückt, wenn man es nicht so genau nimmt oder anscheinend sind Beispiele für linguistische Absicherungen, die wir gewöhnlich verwenden,um unsere begrifflichen Repräsentationen zu erweitern. Wie in ⊡ Tabelle 9.2 dargestellt würde man eine »wahre Aussage« sowohl aufgrund definierender als auch aufgrund charakteristischer Merkmale erkennen, eine formal ausgedrückte Aussage aufgrund definierender, aber nicht aufgrund charakteristischer Merkmale, und eine lax dahingesagte Aussage aufgrund charakteristischer, nicht aber aufgrund definierender Merkmale (Smith et al.,1974).Die Richtigkeit einer Aussage (wie beispielsweise: »Ein Rotkehlchen ist ein Vogel«) im Kontext zweier Arten von Merkmalen beruht stärker auf wichtigen (definierenden) als auf weniger wichtigen (charakteristischen) Merkmalen. Zur ersten Stufe bei der Überprüfung der Richtigkeit einer Aussage gehört ein Vergleich der definierenden und
liche Komponenten handelt, und (2) charakteristische Merkmale (vgl. vor allem die Arbeiten von E. Smith und Rosch). Netzmodell Wissen existiert im Gedächtnis in Form unabhängiger Einheiten, die durch ein Netz miteinander verbunden sind. Die Speicherung von Wörtern ist an ein komplexes Netz von Zusammenhängen gekoppelt. Beispielsweise werden Vogel und Rotkehlchen in Form von Zusammenhängen zwischen den beiden Wörtern abgespeichert, also: »Ein Rotkehlchen ist ein Vogel.« Zu speziellen Modellen gehören (1) ein Teachable Language Comprehender (TLC, ein erweiterbares Modul zum Verstehen von Sprache) von Collins und Quillian und (2) die Human Associative Memory (HAM, das assoziative Gedächtnis des Menschen) von Anderson und Bower sowie ACT* (adaptive control of thought, Version *, oder adaptive Steuerung des Denkens) von Anderson. Das neurokognitive Modell Wissen ist in der Organisation neuronaler Netze repräsentiert. Es wurden pathologische Typen von Patienten wie etwa amnestische Patienten untersucht (Squire). Das Wissen findet sich in den Verbindungen zwischen den Einheiten (Rumelhart und McClelland).
der charakteristischen Merkmale zweier lexikalischer Kategorien (Rotkehlchen und Vogel). Gibt es eine beträchtliche Überlappung, dann ist der Satz gültig. Ist keine Überlappung vorhanden (oder nur eine unbedeutende), dann wird der Satz als ungültig beurteilt. Ist eine gewisse Überlappung zu erkennen, wird auf einer zweiten Ebene eine Suche aktiviert,bei der spezifische Vergleiche zwischen den beiden lexikalischen Einheiten auf der Grundlage ihrer gemeinsamen definierenden Merkmale gemacht werden. Rosch hat Untersuchungen durchgeführt, denen die Logik zugrunde lag,dass manche Mitglieder typischer für eine Kategorie sind als andere. Beispielsweise sind ein Messer und ein Gewehr typische Waffen,eine Kanone und ein Schlagstock dagegen eher nicht. Und eine Faust und eine Kette ähneln einer Waffe sogar noch weniger. Rosch war der Ansicht, dass – weil Gegenstände im Hinblick auf die Typikalität ihrer Kategorien variieren – die Tendenz darin bestehen könnte, prototypische Kategorien zu bilden. Denken Sie noch einmal an die Kategorie Vogel. Die
249 9.3 · Das semantische Gedächtnis
meisten Menschen würden darin übereinstimmen, dass ein Rotkehlchen ein gutes Beispiel für einen Vogel ist,dass dies jedoch auf einen Straußen und auf ein Huhn nicht in gleichem Maße zutrifft.Wenn wir das Wort Vogel verwenden, meinen wir im Allgemeinen etwas, das dem Prototyp eines Vogels recht nahe kommt oder in diesem Fall so etwas wie ein Rotkehlchen. Um diese Behauptung zu überprüfen, präsentierte Rosch (1977) seinen Versuchspersonen Sätze, die die Namen von Oberbegriffen (z.B. Vögel und Frucht) enthielten. Einige dieser Sätze könnten die folgenden sein: > Ich sah, wie ein Vogel nach Süden flog. Vögel fressen Würmer. Da sitzt ein Vogel auf dem Baum. Ich hörte, wie ein Vogel auf meiner Fensterbank zwitscherte.
Rosch ersetzte dann den Namen der Kategorie durch ein Mitglied dieser Kategorie (so wurde etwa Vogel durch Rotkehlchen,Adler, Strauß und Huhn ersetzt) und bat die Versuchspersonen, zu beurteilen, ob die Sätze einen Sinn ergeben.Für jeden einzelnen Satz wurde das Rotkehlchen als das Exemplar gewählt, mit dem der Satz durchaus einen Sinn ergab. Für Adler, Strauß und Huhn war dies weniger der Fall. Es erscheint nachvollziehbar, dass das typische Mitglied der Kategorie dem Prototyp der Kategorie ähnlich ist. Das Modell des Merkmalsvergleichs scheint einige der ungelösten Fragen des mengentheoretischen Modells zu erklären, es weist jedoch gleichzeitig auch eigene Unzulänglichkeiten auf. Collins und Loftus (1975) haben kritisiert, dass die definierenden Merkmale so verwendet werden, als hätten sie absolute Eigenschaften. Kein einzelnes Merkmal ist im absoluten Sinne notwendig, um etwas zu definieren (versuchen Sie beispielsweise unter Verwendung eines einzelnen entscheidenden Merkmals mit juristischen Begriffen »Pornofilm« zu definieren). Auch wenn ein Kanarienvogel blau ist oder keine Flügel hat oder nicht fliegen kann,ist er immer noch ein Vogel – das heißt, es gibt nicht nur ein einzelnes Merkmal, das einen Kanarienvogel ausmacht. Die Versuchspersonen scheinen Schwierigkeiten damit zu haben, zu beurteilen, ob ein Merkmal ein definierendes oder ein charakterisierendes Merkmal ist. Trotz des unaufgelösten Widerspruchs zwischen dem mengentheoretischen Modell und dem Modell des Merkmalsvergleichs verbessern beide unser Verständnis des se-
mantischen Gedächtnisses. Erstens liefern sie spezifische Informationen über seine vielen Dimensionen. Zweitens nutzen sie die semantisch kategorisierten Informationen als Ausgangspunkt für eine Gesamttheorie des semantischen Gedächtnisses, die das riesige Netz der Gedächtnisfunktionen mit einschließt. Weil diese Modelle komplexe Gedächtnisoperationen enthalten, gehen sie drittens die umfassendere Frage nach der Eigenart unserer Wissensrepräsentation an.Ein wesentlicher Teil dieser Frage ist die nach der Speicherung semantischer Symbole und nach den Gesetzen,denen der Abruf aus dem Gedächtnis unterliegt.
9.3.3 Netzmodelle Collins und Quillian. Das bekannteste der frühen Netzmodelle wurde von Allen Collins und Ross Quillian vorgeschlagen. Es wurde aufgrund einer schon früher entstandenen Konzeptvalidierung der Gedächtnisorganisation entwickelt, die auf einem Computerprogramm basierte (Quillian, 1968, 1969). In diesem Modell wurde jedes einzelne Wort in einer Konfiguration aus anderen Wörtern im Gedächtnis dargestellt. Dabei wurde die Bedeutung jedes beliebigen Wortes in seiner Beziehung zu anderen Wörtern repräsentiert (⊡ Abb. 9.3). In dem hier beschriebenen Beispiel lautet die Information,die mit Kanarienvogel abgespeichert ist: ein gelber Vogel, der singen kann. Kanarienvogel ist ein Mitglied der Kategorie oder der Obermenge Vogel (wie dies in ⊡ Abb. 9.3 durch den Pfeil von Kanarienvogel zu Vogel angedeutet wird) und hat die Eigenschaften »kann singen« und »ist gelb« (Pfeile von Kanarienvogel zu diesen Eigenschaften). An einem höher liegenden Knoten sind die allgemeinen Eigenschaften von Vögeln zusammengestellt (»hat Flügel«, »kann fliegen« und »hat Federn«). Es handelt sich also um Informationen, die nicht getrennt für jede einzelne Vogelart abgespeichert werden müssen. Entsprechend werden Informationen über den Fisch (z.B.»kann schwimmen«; wie jeder begeisterte Leser von F.K. Waechter weiß, können natürlich auch Schweine schwimmen) in einem anderen Zweig der Struktur abgespeichert. Die Aussage »Ein Kanarienvogel kann fliegen« wird durch den Abruf der Information validiert, dass (1) ein Kanarienvogel Mitglied der Teilmenge der Vögel ist und dass (2) ein Vogel die Eigenschaft »kann fliegen« besitzt. Dieses System des semantischen Gedächtnisses minimiert den für die Informationsabspeicherung erforderlichen Platz,indem es ein-
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Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
⊡ Abb. 9.3. Hypothetische Gedächtnisstruktur für eine aus drei Ebenen bestehende Hierarchie. Adaptiert nach Collins und Quillian (1969)
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zelne und keine redundanten Einträge von Elementen vornimmt. Ein Modell dieser Art würde man beim Entwurf von Computern als ein Produkt betrachten, das ökonomisch mit Speicherplatz umgeht. Ein reizvolles Merkmal des Modells von Collins und Quillian besteht darin, dass es explizit angibt, wie Informationen aus dem semantischen Gedächtnis abgerufen werden. Wenn wir eine spezielle Aussage (z.B.: »Ein Hai kann sich umherbewegen«) auf ihre Richtigkeit überprüfen wollen, müssen wir bei der Suche in unserem Gedächtnis zuerst festlegen, dass ein Hai ein Fisch ist, ein Fisch ein Tier ist und ein Tier die Eigenschaft »kann sich umherbewegen« besitzt.Hier handelt es sich eher um eine zirkuläre Route.Eine weitere Annahme des Modells lautet, dass die ganze Reise innerhalb der Struktur Zeit in Anspruch nimmt. Entsprechend überprüften Collins und Quillian das Modell, indem sie die Versuchspersonen baten, einen Satz daraufhin zu beurteilen, ob er wahr oder falsch ist. Die wesentliche abhängige Variable ist die Zeit, die man benötigt, um dies zu validieren. Die unabhängige Variable ist die Nähe der Items zueinander innerhalb des semantischen Gedächtnisses. Das Modell von Collins und Quillian legt nahe, dass das semantische Gedächtnis aus einem riesigen Netz von Begriffen besteht, die sich aus Einheiten und Eigenschaften zusammensetzen und durch eine Reihe assoziativer Bindeglieder miteinander zusammenhängen. Es wurde wegen spezifischer Eigenschaften kritisiert, wie etwa, dass die Assoziationsstärke innerhalb des Netzes variiert (beispielsweise ist die untergeordnete Kategorie Ringen weniger leicht als Sportart identifizierbar als Baseball).
Darüber hinaus wurde bemängelt, dass einige Assoziationen die kognitive Ökonomie des Systems beeinträchtigen. Trotzdem folgt aus diesen Argumenten eher eine Veränderung des Systems als der Verzicht darauf. Zudem hat sich das Modell in seinen modifizierten Versionen im Endeffekt als Sprungbrett für nachfolgende Modelle erwiesen. Wie wir gesehen haben, näherte man sich der Organisation des Wissens im Gedächtnis von verschiedenen Ausgangspunkten. Einer besteht darin, die Schnelligkeit zu erklären, mit der wir auf Fragen wie die folgenden antworten: > Wo ist Moose Jaw? Hat ein Fisch Augen? Wie lautet die Wurzel aus 50? Welcher Premierminister ist dafür bekannt, dass er häufig eine Rose im Knopfloch trug? Wie lautet der Name von Mick Jaggers Tochter? Warum tragen manche Frauen hochhackige Schuhe? Ist ein Apfel ein Stachelschwein?
Wie viele von diesen Fragen konnten Sie beantworten,wie schnell kam Ihre Antwort und von welchen Faktoren wurden Ihre Antworten beeinflusst? Wenn Ihr Zugang zum Wissen dem anderer Menschen ähnelt, ist es wahrscheinlich, dass einige der Antworten schnell gefunden waren, andere mehr Zeit in Anspruch nahmen und es bei wieder anderen nicht möglich war,die Antwort zu wissen,oder sie zu lächerlich war.Bemerkenswert ist,dass die meisten von uns so schnell viele dieser und auch andere Fragen beant-
251 9.3 · Das semantische Gedächtnis
worten können. Durch welches Modell der Wissensrepräsentation lassen sich diese Unterschiede erklären? Die Theorie der Aktivierungsausbreitung (»spreading activation theory«): Collins und Loftus (1975). Ein Sys-
tem,das (vor allem bei Konnektionisten) immer stärker an Bedeutung gewann, wird als Theorie der Aktivierungsausbreitung der semantischen Verarbeitung bezeichnet. Sie wurde von Allan Collins und Elizabeth Loftus (1975) entwickelt ( siehe auch J. Anderson, 1983b). Das Modell, das in ⊡ Abb. 9.4 dargestellt ist, baut auf einem komplexen Netz aus Assoziationen auf. In ihm sind spezifische Erinnerungen in einem Begriffsraum mit zusammenhängenden Begriffen verteilt, die durch Assoziationen miteinander verbunden sind.In ⊡ Abb. 9.4 wird der Begriff rot beschrieben. Die Assoziationsstärke zwischen den Begriffen wird durch die Länge der Verbindungslinien angezeigt. Lange Linien, wie die zwischen rot und Sonnenaufgänge, weisen auf eine etwas entfernte Assoziation hin; kürzere ⊡ Abb. 9.4. Eine Theorie der Aktivierungsausbreitung für die semantische Verarbeitung. Die Ellipsen stehen für Begriffe, die Linien sind assoziative Verbindungen. Die Stärke bzw. Schwäche der Zusammenhänge zwischen den Begriffen wird durch die Linienlänge repräsentiert. Die Annahme, dass Wissen als ein ausgesprochen komplexes Netz aus assoziativen Verbindungen repräsentiert werden kann, ist ein Hauptbestandteil der meisten neuronalen Netzmodelle auf dem Gebiet der Kognition. Aus Collins und Loftus (1975)
Linien wie die zwischen rot und Feuer deuten auf eine engere Assoziation. Im Zentrum vieler Modelle zur Wissensrepräsentation steht der Gedanke, dass Begriffe so miteinander assoziiert werden wie in den Modellen von Collins und Loftus. Auch könnten wir uns mit ein wenig Fantasie ein System von neuronalen Netzen vorstellen,das einige der Merkmale dieses Modells enthält. Im Modell von Collins und Loftus kommt es zu einer sich ausbreitenden Aktivierung unter den Begriffen. Dies könnte eine Erklärung für die Ergebnisse von Priming-Experimenten sein (also für den Effekt, dass ein Wort oder Begriff nach der Darbietung eines damit zusammenhängenden Wortes oder Primes (Vorreizes) leichter zugänglich gemacht wird). Wenn ich Ihnen z.B. die Farbe grün zeigen würde, dann könnten Sie wahrscheinlich das Wort GRÜN schneller erkennen, als dies ohne den Prime der Fall gewesen wäre. Wenn Sie ferner die Farbe grün sehen, können Sie auch etwas damit Zusammenhängendes (beispielsweise das Wort Gras) besser erkennen ( siehe Solso
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Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
& Short, 1979). Vermutlich würden auch noch entferntere
Assoziationen aktiviert werden – beispielsweise könnte sich die Ausbreitung der Aktivierung auf Assoziationen von Assoziationen erweitern. Im oben aufgeführten Beispiel ist die Farbe grün ein Prime für das Wort Gras. Gras könnte jedoch ein Prime für das Wort Rasen sein, obwohl der einzige Zusammenhang zwischen der Farbe grün und Rasen durch Gras zustande kommt. In einem solchermaßen erweiterten verteilten Aktivierungsnetz wird eine Schätzung für die Fähigkeit eines Begriffs gegeben, als Prime für einen anderen Begriff zu stehen (z.B.der Farbe grün über Rasen als Prime für Gras). Die Schätzung beruht auf einer Funktion, in der alle mit dem Begriff in Wettbewerb stehenden Assoziationen aufsummiert werden. Die Forschung konzentrierte sich in der Folgezeit auf dieses Ziel ( siehe Kao, 1990; Kao & Solso, 1988).
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Bildgebende Verfahren zur Darstellung von Nerven und die Aktivierung von Bahnen. Zusätzlich zum herkömm-
lichen verhaltensbezogenen Ansatz bei der Untersuchung der Aktivierungsbahnen haben neuere Studien die fortgeschrittene bildgebende Technologie zur Darstellung der Nervenbahnen genutzt, um zu zeigen, dass physikalische, phonologische und semantische Codes von Wörtern recht unterschiedliche neuronale Gebiete aktivieren (Posner et al., 1988; Posner & Rothbart, 1989). Posner und seine Mitarbeiter unterscheiden zwischen dem Wiederholungsund dem semantischen Priming. Ersteres geht darauf zurück, dass man dasselbe Item zwei Mal wiederholt (wenn man z.B. einer Versuchsperson die Farbe grün als Prime für ebendiese Farbe zeigt). Beim semantischen Priming bietet man einen semantisch damit zusammenhängenden Prime und seinen Zielreiz dar (wenn man z.B. die Farbe grün gefolgt vom Wort Gras zeigt). Verhaltensbezogene Untersuchungen haben gezeigt, dass beide Priming-Effekte zu zuverlässigen Befunden führen und dass sie automatisch abzulaufen scheinen, das heißt ohne bewusste Steuerung oder Bewusstheit. Werden nun diese Prozesse von unterschiedlichen Teilen des Gehirns gesteuert? Mit Hilfe von Schichtaufnahmen durch die Positronenemissionstomographie (PET, Näheres siehe Kap. 2)
nahmen Petersen und seine Kollegen (1988) die lokale Durchblutung im Kortex als Maß für die neuronale Aktivität, die mit unterschiedlichen semantischen Aufgaben einhergeht. Sie fanden heraus, dass visuelle Wortformen im ventralen Okzipitallappen gebildet werden, während an semantischen Aufgaben der linke laterale Teil des Gehirns beteiligt ist. Die Areale für die Wortform scheinen auch aktiviert zu werden,wenn die Versuchsperson passiv ist – beispielsweise wenn sie einfach nur gebeten wird,das Wort zu betrachten. Das semantische Areal wird nur aktiviert, wenn die Versuchsperson das Wort aktiv verarbeiten soll – beispielsweise wenn man sie auffordert, das Wort zu benennen oder es still für sich zu klassifizieren. Diese Untersuchungen deuten darauf hin, dass die visuelle Wortform etwas Automatisches und meist unabhängig von der Aufmerksamkeit ist.Dagegen scheint semantisches Priming – etwas, das gemacht wird, um die Eigenschaften der Wissensrepräsentation grob zu skizzieren – sehr eng mit Aufmerksamkeitsfaktoren zusammenzuhängen.Wie wir jetzt aufgrund neuerer Entdeckungen zur Durchblutung des Kortex wissen, sind die Aufmerksamkeitsfaktoren sowohl verhaltensbezogen als auch kortikal. Abgesehen davon, dass solche Untersuchungen die neuronale Grundlage der Kognition überprüfen, sagen sie uns mehr über den möglichen Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeitsfaktoren und der Wissensrepräsentation.
9.3.4 Propositionale Netze Die Repräsentation semantischen Wissens in Form von Propositionen ist weder ein alter Hut noch brandaktuell. Der Gedanke, dass sich komplexe Ideen in Form einfacher Beziehungen ausdrücken lassen, war zentral für das antike griechische Denken, war eine grundlegende Prämisse des Assoziationismus im 19. Jahrhundert und erfreut sich auch unter den zeitgenössischen Kognitionstheoretikern einer ungewöhnlichen Beliebtheit. Eine Proposition wird von Anderson (1985) als die »kleinste Wissenseinheit, die als getrennte Behauptung stehen kann«, definiert. Propositionen sind die kleinsten bedeutungsvollen Einheiten. Viele Theoretiker bedienen sich des Begriffs der propositionalen Wissensrepräsentation (Anderson & Bower, 1973; Anderson, 1976, 1983a; Kintsch, 1974; Norman & Rumelhart, 1975) und dennoch interpretiert jeder Einzelne von ihnen den Begriff auf eine etwas andere Weise.
253 9.3 · Das semantische Gedächtnis
HAM und die Wissensrepräsentation. Für Anderson und
Bower (1973) war die Wissensrepräsentation innerhalb eines Netzes semantischer Assoziationen, die sie als HAM oder Human Associative Memory bezeichneten, ein wesentliches Thema der kognitiven Psychologie: Das grundlegendste Problem, mit dem wir in der kognitiven Psychologie heute konfrontiert sind, ist, wie man das Wissen einer Person theoretisch repräsentieren soll: Welches sind die elementaren Symbole oder Begriffe, in welcher Beziehung stehen sie zueinander, wie sollen sie miteinander verkettet, wie sollen sie in umfassendere Wissensstrukturen eingebaut werden und wie soll diese »Informationsdatei« zugänglich gemacht, durchsucht oder dazu genutzt werden, die profanen Probleme des Alltags zu lösen? (Anderson & Bower, 1973, S. 151) Um den Zusammenhang zwischen den Problemen des Alltags und der Wissensrepräsentation zu ergründen,machen sich die genannten Autoren Propositionen zunutze, also Aussagen oder Behauptungen über den Charakter der Welt.Eine Proposition ist eine Abstraktion,die einem Satz ähnelt – eine Art indirekter Struktur, die Gedanken oder Begriffe miteinander verbindet. Propositionen werden meist durch semantische Beispiele illustriert, aber auch andere Formen von Informationen – beispielsweise eine visuelle Repräsentation – können im Gedächtnis durch eine Proposition dargestellt werden. Der Sinn des Langzeitgedächtnisses besteht darin, Informationen über die Welt aufzuzeichnen und die gespeicherten Informationen zugänglich zu machen.In propositionalen Repräsentationen ist die hauptsächliche Struktur zur Aufzeichnung von Informationen die Subjekt-Prädikat-Konstruktion. Dies lässt sich durch einfache deklarative Sätze veranschaulichen:
Der Satz »Cäsar ist tot« wird durch zwei Komponenten repräsentiert: das Subjekt (S) und das Prädikat (P). Beides entspringt einem Tatsachenknoten, der den behaupteten Gedanken repräsentiert. Kompliziertere Sätze, wie etwa »Diana heiratete Charles«, die ein Subjekt, ein Verb, ein Objekt (O) und eine Re-
John R. Anderson. Entwickelte eine einflussreiche Theorie des assoziativen Gedächtnisses (HAM, ACT*)
lation (R) zu einem verändernden Satzteil enthalten, werden in HAM folgendermaßen repräsentiert:
Zu vielen Sätzen gehört ein Kontext, beispielsweise: »During the night in the park the hippie touched the deboutante« (»Nachts im Park berührte der Hippie die Debütantin«; aus Anderson & Bower, 1973).
Zu der Aussage über Tatsachengedanken (F wie factidea) kommen Zeit (T wie time),Ort (W wie location) und Kontext (C wie context) hinzu. Die Zweige der Baumstruktur treffen in konzeptuellen Knoten zusammen, von denen man annimmt, dass sie im Gedächtnis vorhanden waren, bevor ein Satz enkodiert wurde. Die Knoten stehen für Gedanken und die lineare Verbindung zwischen Gedanken – deshalb hängt unser Verständnis einer speziellen Tatsache vielleicht von der Beziehung zu anderen konzeptuellen Tatsachen ab. Der zugrunde liegende Inhalt ist fest in einem assoziativen Netz von immer komplexeren Strukturen »verdrahtet«. Alle Strukturen können jedoch in Gruppen von zwei oder weniger Items aufgegliedert werden, die von einem einzelnen Knoten ausgehen.
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Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
ACT* (»act star«). HAM ist das grundlegende assoziationistische Modell, das von Anderson und Bower (1973) entwickelt wurde. Ein allgemeines Modell von Anderson wurde als ACT (»Adaptive Control of Thought«) bezeichnet, das schließlich dem ACT* Platz machte (hierbei handelt es sich um das letzte einer Reihe von ACT-Modellen).Wir beginnen unsere Erörterung dieser einflussreichen Theorie mit der Beschreibung der allgemeinen Rahmenvorstellung (⊡ Abb. 9.5). Reize werden auf dem Weg von der Außenwelt zum Arbeitsgedächtnis enkodiert und ziehen ihre Bahnen durch das System.Outputs in Form von »Performanzen« manifestieren sich in Handlungen. Interessant ist jedoch, was genau passiert, wenn die Informationen ihre Bahnen durch das System ziehen. Nach dieser Rahmenvorstellung gibt es drei Typen von Gedächtnissen: das Arbeitsgedächtnis,das deklarative Gedächtnis und das Produktionsgedächtnis. Sie werden im Folgenden definiert: Das Arbeitsgedächtnis, eine Art von unternehmungslustigem Kurzzeitgedächtnis, enthält Informationen, die dem System momentan zugänglich sind – einschließlich der Informationen, die es aus dem deklarativen Langzeitgedächtnis abruft. Wie ⊡ Abb. 9.5 zeigt, ist mit dem Arbeitsgedächtnis im Wesentlichen das aktive Gedächtnis gemeint. Es handelt sich um das Zentrum für die meisten daran beteiligten Prozesse.
⊡ Abb. 9.5. Ein allgemeiner Rahmen für das ACT*-Produktionsmodell, in dem die Hauptkomponenten und die sie miteinander verbindenden Prozesse dargestellt sind. Aus Anderson (1983a)
Beim deklarativen Gedächtnis geht es um das Wissen, das wir von der Welt haben (z.B. Kenntnis davon zu haben, dass in Kalifornien und Frankreich guter Wein gekeltert wird, oder in der Lage zu sein, sich an einige Inhalte aus dem letzten Seminar über kognitive Psychologie zu erinnern). Nach Andersons Auffassung sind im deklarativen Gedächtnis sowohl episodische als auch semantische Informationen enthalten.Die deklarative Wissensrepräsentation gelangt in Form von Chunks oder kognitiven Einheiten ins System, die aus Propositionen (z.B.: »Nicole liebt Nico«), Zeichenketten (z.B.: »eins, zwei, drei«) oder sogar Bildern (»Ein Kreis befindet sich oberhalb des Quadrats«) bestehen.Mit Hilfe des Arbeitsgedächtnisses werden basierend auf diesen Grundelementen neue Informationen im deklarativen Gedächtnis gespeichert. Der Abruf der Informationen aus dem deklarativen Gedächtnis ins Arbeitsgedächtnis ähnelt dem Abruf von Informationen aus dem permanenten Speicher eines Computers: Daten, die auf einer Festplatte im Computer gespeichert sind, werden zeitweilig zur Verarbeitung im Arbeitsspeicher aufbewahrt. Das Produktionsgedächtnis ist die letzte Hauptkomponente im System. Es hängt sehr eng mit dem prozeduralen Wissen zusammen – also mit dem Wissen, das man braucht, um bestimmte Dinge zu tun (wie etwa, sich die Schuhe zuzubinden, Mathematik zu betreiben oder in einem Restaurant Essen zu bestellen). Der Unterschied zwischen dem prozeduralen und dem deklarativen Wissen
255 9.3 · Das semantische Gedächtnis
entspricht dem zwischen »zu wissen,wie« und »zu wissen, was«. (Das Konzept der deklarativen bzw. der prozeduralen Repräsentation wird ebenfalls häufig bei der Diskussion über Wissen verwendet und wir werden diese Begriffe später in diesem Kapitel im Hinblick auf ihren Bedeutungsumfang erweitern.) Die Grundlage für ACT* ist der Begriff des Produktionssystems oder die Auffassung, dass der Kognition des Menschen eine Reihe von Bedingungs-Handlungs-Paaren zugrunde liegt, die man als Produktionen bezeichnet.Auf dem einfachsten Niveau ist eine Produktion ein Paar von WENN-DANN-Klauseln, wobei im WENN-Teil eine Bedingung angegeben wird, die im DANN-Teil zutreffen muss, damit der Handlungsteil ausgeführt werden kann. Wird eine Produktion verwendet, dann wird eine Handlung im Arbeitsgedächtnis abgelegt. Im Folgenden finden Sie ein Beispiel für einen bestimmten Typ einer Produktionsregel:
den Propositionen im Arbeitsgedächtnis aktiv sind: »WENN Andreas der Vater von Ferdinand und Ferdinand der Vater von Robert ist«, wäre die Schlussfolgerung »DANN ist Andreas der Großvater von Robert« möglich. Andere, etwas komplexere Formen von Produktionen lassen sich anhand des folgenden Beispiels zur Addition illustrieren:
WENN DANN
DANN
a der Vater von b und b der Vater von c ist, ist a der Großvater von c.
> 67 39 72
Bei diesem Beispiel würde die Anwendung einer Reihe von Unterzielen, bei denen man die Spalten einzeln durcharbeitet, folgendermaßen aussehen: WENN
WENN Diese Produktion würde auch gelten, wenn wir die Buchstaben durch Namen ersetzen würden. Wenn die folgen-
das Ziel darin besteht,ein Additionsproblem zu lösen, ist es das Unterziel,iterativ die Spalten des Problems zu bearbeiten. das Ziel darin besteht, iterativ die Spalten eines Additionsproblems zu bearbeiten, und die rechteste Spalte noch nicht bearbeitet wurde,
Deklaratives und prozedurales Wissen Bisher haben wir Wissen so behandelt, als beziehe es sich nur auf Informationen über die Welt und ihre Eigenschaften. Die Philosophen bezeichnen dies als deklaratives Wissen – in dem Sinne, dass wir ein Wissen über die Validität deklarativer Sätze haben. Wenn man nach der Bedeutung des folgenden Satzes gefragt würde: »Ich habe meine Regenjacke in die Badewanne geworfen, weil sie nass war«, weiß man – das heißt, man besitzt Wissen darüber –, dass sich »sie« in diesem Satz auf die Regenjacke und nicht auf die Badewanne bezieht. Der Grund, warum Sie das wissen, ist der, dass Sie über umfassende Kenntnisse in Bezug auf nasse Regenjacken, Badewannen, das Verhalten des Menschen und vielleicht auch hinsichtlich bestimmter Menschen verfügen, die keine nassen Regenjacken auf ihren makellosen Möbeln liegen haben wollen. Wenn Sie sich andererseits in einem brennenden Gebäude befänden und wie von Sinnen durch die bedrohlich wütenden Flammen in Sicherheit springen würden, dann könnte »sie« sich verständlicherweise auf die Badewanne
beziehen. Die traditionelle Epistemologie – der Zweig der Philosophie, der sich näher mit der Eigenart, dem Ursprung und den Grenzen des menschlichen Wissens beschäftigt – unterscheidet zwischen »wissen, dass« (deklaratives Wissen) und »wissen, wie« (prozedurales Wissen). Mit einer bestimmten Form von Humor lockt man manchmal Menschen »in die Falle«, indem man sie eine Sache glauben macht und sie dann von der eigentlichen Absicht überrascht sind. Das erinnert mich an einen Spruch von Groucho Marx, der sagte: »Ich habe einen Elefanten im Schlafanzug erschossen … Ich weiß wirklich nicht, was er in meinem Schlafanzug gemacht hat!« Beim Beispiel mit der Badewanne wissen wir, dass man sie zum Baden benutzt und gelegentlich vielleicht auch dazu, Regenjacken darin trocknen zu lassen. Aber wir wissen auch, wie man badet. Diese Form des Wissens (prozedurales) ist etwas ganz anderes als das deklarative Wissen. Für jede umfassende Theorie der Wissensrepräsentation ist es daher wichtig, dass sie beide Formen des Wissens enthält.
9
256
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
DANN
ist es das Unterziel, iterativ die Zeilen der rechtesten Spalte zu bearbeiten.
Und so weiter.In einem ähnlichen Beispiel listet Anderson zwölf Schritte in einem Produktionssystem auf. Die Komplexität der Schritte nimmt in dem Maße zu, in dem das Problem größere Zahlen enthält, beispielsweise beim Divisionsproblem 56 : 4 = ____ . Wissensrepräsentation in ACT*. Die Wissensrepräsentation ist zentral für diese Theorie. Anderson schlägt eine aus drei Codes bestehende Theorie der Wissensrepräsentation vor. Die drei Codes sind: ▬ Eine zeitliche Zeichenkette, bei der die Reihenfolge einer Gruppe von Items enkodiert wird (z.B.: »eins,zwei, drei usw.«). ▬ Ein räumliches Bild, bei dem räumliche Repräsentationen enkodiert werden (z.B. die Kodierung eines Quadrates oder eines Dreiecks). ▬ Eine abstrakte Proposition,bei der die Bedeutung oder die semantische Information enkodiert wird (z.B.: »Peter, Thomas, schlägt«).
Die Eigenschaften dieser drei Repräsentationen und die daran beteiligten Prozesse sind in ⊡ Tabelle 9.3 dargestellt. Der zuerst Genannte dieser Codes – die zeitliche Zeichenkette – hält die sequenzielle Struktur der Ereignisse fest.Mit seiner Hilfe können wir uns an die Abfolge der Ereignisse in unserer Alltagserfahrung erinnern. Wir können uns beispielsweise an die Abfolge der Ereignisse in einem Film erinnern, den wir kürzlich gesehen haben, oder an ein Fußballspiel. Nicht so gut können wir dagegen den genauen Zeitpunkt angeben, zu dem sich diese Ereignisse abspielten. Räumliche Repräsentationen waren für Anderson anscheinend problematisch. In Anderson und Bower (1973) und in Anderson (1976) wurde die Auffassung vertreten, dass es nur eine Art von Wissensrepräsentation gebe: die propositionale Wissensrepräsentation. In ACT* werden die räumlichen Repräsentationen jedoch als eine der hauptsächlichen Möglichkeiten gesehen, wie Informationen kodiert werden. Von Konfigurationsinformationen – also der Art von Informationen,wie sie in einer Abbildung dargestellt werden (ein Schema oder sogar ein Buchstabe) – nimmt man an, dass sie im Gedächtnis enkodiert werden.Die Größe der Konfiguration ist jedoch weniger wich-
9 ⊡ Tabelle 9.3. Die Eigenschaften der drei Repräsentationen
Prozess
Zeitliche Kette
Räumliches Bild
Abstrakte Proposition
Enkodierungsprozess
Zeitliche Abfolge beibehalten
Die Information zur räumlichen Anordnung beibehalten
Semantische Zusammenhänge beibehalten
Speicherungsprozess
Alles oder nichts von den Einheiten der Wortverbindung
Alles oder nichts von den Bildeinheiten
Alles oder nichts von den Propositionen
Abrufprozess
Alles oder nichts von den Einheiten der Wortverbindung
Alles oder nichts von den Bildeinheiten
Alles oder nichts von den Propositionen
Ende am Anfang verankert
Funktionen von Distanz und Anordnung
Funktion der Überlappung von Mengen
B. Saliente Eigenschaften
Bildung der Reihenfolge zweier beliebiger Elemente, des nächsten Elements
Distanz, Richtung und Überlappung
Ausmaß der Verbundenheit
Ausführung: Konstruktion neuer Strukturen
Kombination von Objekten in lineare Ketten, Einfügung
Synthese vorhandener Bilder, Rotation
Einfügung von Objekten in relationale Slots, Ausfüllen fehlender Slots
Abgleichungsprozess A. Grad der Übereinstimmung
Aus Anderson (1983a, S. 47).
257 9.4 · Wissensrepräsentation – neurokognitive Überlegungen
tig, Somit enkodieren wir vielleicht den Buchstaben Z im Hinblick auf seine korrekte räumliche Orientierung, aber nicht im Hinblick auf seine Größe. Vermutlich erkennen wir ein Z, das halb oder doppelt so groß ist wie ursprünglich. Wenn es jedoch um 90 Grad gedreht ist, kann es einem N ähneln. Die Enkodierung propositionaler Repräsentationen ist abstrakter als die für die anderen Code-Arten, denn sie erfolgt unabhängig von der Sequenz der Informationen. Die Proposition »Peter, Thomas, schlägt« gibt nicht genau an, wer schlägt und wer geschlagen wird. Was enkodiert wird, ist, dass Peter und Thomas an einer Schlägerei beteiligt sind. Die Repräsentation propositionalen Wissens weist gewisse Ähnlichkeiten zu dem auf, was wir zuvor im Zusammenhang mit HAM erörtert haben. Denken Sie einmal darüber nach, wie der folgende Satz in ACT* repräsentiert würde: »The tall lawyer believed the men were from Mars« (»Der groß gewachsene Anwalt glaubte, die Männer kämen vom Mars«, ⊡ Abb. 9.6). In dieser Abbildung enthalten propositionale Repräsentationen Struktur, Kategorie und Eigenschaftsinformationen. Ein zentraler Knoten steht für die propositionale Struktur und die Verbindungen, die davon ausgehen, weisen auf unterschiedliche Elemente wie etwa die Beziehung (»glaubte«), das Objekt (»Männer vom Mars«) und den Akteur (»groß gewachsener Anwalt«) hin. Zusätzlich zu den allgemeinen Eigenschaften von ACT*, wie sie in diesem Abschnitt beschrieben wurden,
hat Anderson das System auf eine breite Vielfalt anderer Bedingungen und kognitiver Aufgaben angewendet.Dazu gehören die Steuerung der Kognition, das Gedächtnis für Fakten, der Spracherwerb und die Aktivationsausbreitung. Diese Themen, die allesamt wichtig sind, würden mehr Platz erfordern, als wir ihnen hier einräumen können. (Es ist allerdings nicht verboten, die Originalquellen zu lesen.)
9.4
Wissensrepräsentation – neurokognitive Überlegungen
Es versteht sich von selbst, dass Menschen aus Erfahrung lernen. Es ist weniger offensichtlich, dass ebendiese Erfahrungen das Nervensystem verändern und dass die Art und Weise, wie es verändert wird, die neurologische Grundlage für die Wissensrepräsentation bildet. Einen Forschungsansatz zur neurologischen Grundlage des Gedächtnisses stellt die Molekular- und Zellbiologie der einzelnen Nervenzellen und ihrer Synapsen dar (Squire, 1986).Obwohl bei diesen wissenschaftlichen Anstrengungen sehr viel über die Physiologie der Nervenzellen herausgekommen ist, führt der Ansatz zwangsläufig zu der umfassenderen Frage, wie diese mikroskopischen Entitäten mit der Wissensrepräsentation zusammenhängen. Neuere Studien zur Neurokognition versuchten die neurophysiologischen Befunde in kognitionspsychologische Theorien zu integrieren.
⊡ Abb. 9.6. Enkodierung der Proposition »Der groß gewachsene Anwalt glaubte, die Männer kämen vom Mars« in ACT*. Aus Anderson (1983)
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258
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
9.4.1 Die Suche nach dem schwer fassbaren
Engramm
9
Die Kontroverse um die Lokalisierung des Gedächtnisses im Gehirn wurde in Kap. 2 dargestellt. Eine traditionell wichtige Frage ist, ob Gedächtnis und Wissen über den Kortex verteilt oder an einer bestimmten Stelle lokalisiert sind.Ein für diese Diskussion zentrales Element bildet die Suche nach dem schwer fassbaren Engramm (wörtlich heißt Engramm »Spur« bzw.im momentanen Kontext eine Ansammlung neuronaler Ladungen, die das Gedächtnis repräsentieren). Einige Gebiete des Gehirns werden mit speziellen Funktionen (wie etwa dem Sehen) in Verbindung gebracht. Doch an Funktionen wie dem Gedächtnis scheinen unterschiedliche Orte im Gehirn beteiligt zu sein, wobei jeder Einzelne gleichzeitig oder parallel mit anderen eine Funktion übernehmen kann. Larry Squire (1986) vertrat die Auffassung, dass die Informationsspeicherung stärker lokalisiert sein könnte,als man früher gedacht hatte, und dass das Gedächtnis in Form von Veränderungen in denselben neuronalen Systemen gespeichert werden könnte wie die, die an der Wahrnehmung beteiligt sind. Diese Hypothese mag scheinbar den Befunden von Lashley (Kap. 2) widersprechen. Er war zu der Schlussfolgerung gekommen,dass das Gedächtnis breit über das Gehirn verteilt ist. Squire argumentiert, dass Lashleys Auffassungen mit seinen eigenen übereinstimmen,wenn man komplexes Lernen (z.B. wie eine Ratte lernt, ein Labyrinth zu durchqueren) als die Verarbeitung vieler Arten von Informationen (z.B. visuelle, räumliche und olfaktorische) auffasst, wobei jede einzelne Art getrennt verarbeitet wird und lokalisiert ist. »Daher ist das Gedächtnis in dem Sinne lokalisiert,dass besondere Gehirnsysteme spezielle Aspekte für jedes einzelne Ereignis repräsentieren,und es ist in dem Sinne verteilt, dass viele neuronale Systeme daran beteiligt sind, ein Gesamtereignis zu repräsentieren«. (Squire 1986, S. 1613)
9.4.2 Was die vergesslichen amnestischen
Patienten zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen Eine Methode, wie die Theorien der Wissensrepräsentation mit neurokognitiven Mitteln erforscht werden können,ist die Untersuchung pathologischer Fälle.Einige Studien, die an amnestischen Patienten durchgeführt wurden, führten zu wichtigen Belegen im Hinblick auf das
Kurzzeit- und das Langzeitgedächtnis (beispielsweise Baddeley & Warrington, 1970; Milner, 1972; Squire, 1986). Man hat zwei Typen von Amnesien ausgemacht: die retrograde Amnesie – also die Unfähigkeit, sich an Informationen zu erinnern, die man vor dem Eintritt der Störung aufgenommen hat – und die anterograde Amnesie – also der Verlust von Informationen, die nach dem Eintritt der Gedächtnisstörung präsentiert wurden. Bei der retrograden Amnesie handelt es sich um eine Störung des Abrufs von Informationen, während die anterograde Amnesie eine Störung der Enkodierung von Informationen darstellt. Beide Formen können vorübergehend oder chronisch sein. Die vorübergehende retrograde Amnesie kann sich entwickeln,wenn eine Person eine Kopfverletzung erleidet – wie etwa ein Footballspieler, der »sein letztes Stündchen kommen sah« (zu den Einzelheiten über den Footballspieler,der in der Untersuchung von Lynch und Yarnell erwähnt wurde, Kap. 8). Bisweilen ruft ein Schlag auf den Kopf eine retrograde Amnesie hervor, bei der einige Sekunden oder Minuten im Leben einer Person für das Gedächtnis verloren gehen. Zu einer anderen Form der vorübergehenden retrograden Amnesie kommt es,wenn sich ein Patient einer Elektroschocktherapie unterzieht oder eine schwere Kopfverletzung etwa bei einem ernsten Autounfall erleidet. In diesen Fällen stehen eventuell Erinnerungen, die während der vergangenen Wochen oder sogar Monate gebildet wurden,nicht mehr zur Verfügung. Amnesien können auch von Dauer sein. Zu den Ursachen für chronische Amnesien gehören der Einsatz der Elektroschocktherapie über eine längere Zeit, schwere Hirnverletzungen, Hirnschlag oder andere Vorkommnisse,die die Funktion der Hirngefäße unterbrechen.Letzteres tritt beispielsweise bei einer Enzephalitis und anderen Krankheiten auf. Eine Störung, die gewöhnlich durch schweren Alkoholismus hervorgerufen wird, ist unter der Bezeichnung Korsakow-Syndrom bekannt. Die Erkrankung führt zu einer beidseitigen Schädigung des Zwischenhirns, das sich an der Hinterseite des Gehirns befindet. Korsakow-Patienten können verwirrt sein und Schwierigkeiten beim Sehen und bei der Fortbewegung haben. Oft wird dies durch einen letzten Alkoholexzess hervorgerufen, bei dem sich der Patient »blind betrinkt«. Wenn das Saufgelage nicht tödlich endet, ist es möglich, dass der Patient wieder gesund wird – außer bei einer chronischen Form der Amnesie, bei der der Patient Schwierigkeiten hat, etwas Neues zu lernen. Sowohl die vorübergehende als auch die chronische Form der Amne-
259 9.4 · Wissensrepräsentation – neurokognitive Überlegungen
sie ist bezogen auf Anhaltspunkte hinsichtlich der neurologischen Grundlage der Kognition genauer überprüft worden. Kognitive Aufgaben und Amnesie. Patienten mit einer vorübergehenden retrograden Amnesie (z.B. jene Patienten, deren Gedächtnis als Folge einer Elektroschocktherapie vorübergehend beeinträchtigt ist) können eine kurze Liste von Zahlen bei Wiederholung für einige Minuten im Gedächtnis behalten. Sie sind jedoch nicht in der Lage, die Informationen zu erinnern, wenn sie zwischendurch abgelenkt werden. Anscheinend werden zeitliche Informationen in einem Bereich des Gehirns gespeichert, der von dieser Form der Amnesie nicht in Mitleidenschaft gezogen wird; die Fähigkeit zur langfristigen Erinnerung kann jedoch die Aktivierung anderer Bereiche erforderlich machen, die durch die Störung beeinträchtigt sind. Ein weiterer Forschungsstrang bestand darin,mit Hilfe von amnestischen Patienten die neurologischen Grundlage für das Kurzzeitgedächtnis und für das Langzeitgedächtnis zu untersuchen. In mehreren wichtigen frühen Untersuchungen (beispielsweise Milner, Corkin & Teubner,1968) wurde gezeigt,dass ein schwer amnestischer Patient, der in der Literatur als H.M. bekannt ist, beträchtliche Leistungen im Bereich des Lernens und Behaltens perzeptiv-motorischer Fähigkeiten aufwies. Somit blieb eine gewisse komplexe kognitive Fähigkeit bei H.M. intakt, während andere Aufgaben, die die Erinnerung an episodische Ereignisse erforderten, schwer beeinträchtigt waren (Kap. 7). Diese wegweisenden Forschungen brachten andere Wissenschaftler dazu, weitere kognitive Aufgaben bei der Untersuchung amnestischer Patienten zu nutzen,wie etwa solche zur Überprüfung der Gedächtnisfunktionen. In einer Studie von Cohen und Squire (1980) fand man heraus, dass amnestische Patienten die Fähigkeit erwerben konnten, die daran beteiligt ist, Wörter in spiegelverkehrter
Larry Squire. Neurokognitive Untersuchungen haben dazu beigetragen, wichtige Verbindungen zwischen der kognitiven Psychologie und den Neurowissenschaften zu knüpfen
Darstellung zu lesen. Wenn sie jedoch später zu der Aufgabe befragt wurden, konnten sie sich weder an die Wörter noch an die Fähigkeit erinnern, die sie an den Tag gelegt hatten ( siehe auch den Fall von K.C. in Kap. 8). In ähnlicher Weise können amnestische Patienten die beste Lösung für eine Rätselaufgabe lernen, wie etwa die, die als »Turm von Hanoi« bekannt ist (Cohen & Corkin, 1981. Bei dieser Aufgabe sind mehrere Scheiben, die von unten nach oben kleiner werden, übereinander auf einen Stab gesteckt.Außerdem gibt es noch zwei leere Stäbe.Die Aufgabe besteht darin, alle Scheiben auf einen der anderen Stäbe zu bewegen, wobei zu einem Zeitpunkt jeweils nur eine Scheibe bewegt und immer nur eine kleinere auf eine größere Scheibe gelegt werden darf). Um diese Aufgabe zu lösen, muss ein beträchtlicher Teil des kognitiven Systems intakt und funktionsfähig sein. Insbesondere erfordert sie, dass sowohl das Erlernen einer Fähigkeit als auch die Fähigkeit, Vorgehensweisen zu erlernen, unversehrt sind. Dies umfasst einen Typus mentaler Repräsentation.Amnestische Patienten weisen darüber hinaus Defizite im Bezug auf das Gedächtnis für Tatsachen und Episoden auf – ein weiterer Typus mentaler Repräsentation. Da die eigentliche Ursache für Amnesien im Bereich neurologischer Störungen liegt, können wir zu der Schlussfolgerung kommen, dass die zugrunde liegenden neurologischen Strukturen die Lösung zweier Arten kognitiver Aufgaben fördern: jene, die am Erlernen einer Fähigkeit beteiligt sind, und jene, die etwas mit dem episodischen Erinnern zu tun haben. Könnte es sein,dass das Wissen im Gehirn in Form des »Wissens, wie« (wie beim Erlernen einer Fähigkeit) und des »Wissens, was« (wie beim episodischen Erinnern) repräsentiert ist? (Mehr dazu im folgenden Abschnitt zum prozeduralen und deklarativen Wissen.) Einige Studien untersuchten schließlich den PrimingEffekt oder die Auswirkung eines Hinweisreizes auf die spätere Leistung amnestischer Patienten. In einer Forschungsarbeit von Jacoby und Witherspoon (1982) wurden mehreren Korsakow-Patienten Fragen gestellt, wie etwa: »Was wäre ein Beispiel für ein Zungeninstrument?« (englisch: »reed instrument« – Instrumente, deren Ton mit einer Zunge aus Metall erzeugt wird). Später wurden die Versuchspersonen gebeten, »reed« und »read« zu buchstabieren. Normalerweise würden wir erwarten, dass sie r-e-a-d buchstabieren – ein sehr viel geläufigeres Wort. Doch in diesem Experiment buchstabierten wegen des Primings dieses bereits angesprochenen Wortes sowohl die amnestischen Versuchspersonen als auch die aus der
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260
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
Kontrollgruppe das Wort r-e-e-d. Wenn man jedoch Korsakow-Patienten einem Wiedererkennungstest für zuvor gehörte Wörter unterzog, waren sie nicht in der Lage, die Wörter, die sie gehört hatten, wieder zu erkennen. Im Gegensatz dazu konnten die Versuchspersonen der Kontrollgruppe die Wörter wieder erkennen. Die Resultate deuten darauf hin, dass der Prozess der Aktivierung, der sich im Priming-Effekt zeigte, durch eine Amnesie nicht beeinflusst wird, während die Fähigkeit, ein zuvor gehörtes Wort wieder zu erkennen, beeinträchtigt ist. Diese zuletzt genannte Fähigkeit setzt vielleicht eine zusätzliche Informationsverarbeitung und bestimmte zerebrale Funktionen voraus.Zudem stützen diese Befunde die Auffassung, dass bezüglich der Art und Weise, wie Wissen repräsentiert wird, eine wichtige Unterscheidung im Hinblick auf die Aktivierung neuronaler Bahnen und auf den Zugang zum episodischen Gedächtnis gemacht werden muss.
9.4.3 Wissen, was und wissen, dass
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Wir führen unsere Suche nach der neurokognitiven Grundlage der Wissensrepräsentation mit Untersuchungen zum deklarativen und prozeduralen (oder nicht deklarativen) Wissen fort. Wie zuvor erwähnt ist das deklarative Wissen explizit und enthält Tatsachen und Episoden, während das prozedurale Wissen implizit und – auch wenn man sich anstrengt – nicht zugänglich ist.Vielleicht weiß ich, dass ein Fahrrad zwei Räder, einen Lenker und einen Rahmen hat (deklaratives Wissen). Aber ich kann nur zeigen, dass ich weiß, wie man Fahrrad fährt (prozedurales Wissen),indem ich es tatsächlich mache.Eine Methode, wie man deklaratives und prozedurales Wissen überprüfen kann, besteht darin, dass man Priming- und Wiedererkennungsexperimente durchführt. Sie werden sich erinnern, dass Priming (oder Voraktivierung) ein Test ist, bei dem man einer Versuchsperson einen Hinweisreiz (gewöhnlich ein Wort) darbietet, der in bestimmter Weise mit dem Zielreiz zusammenhängt,normalerweise ein assoziiertes Wort. Der Prime (oder Vorreiz) macht das Wiedererkennen des Zielreizes leichter. Wenn ich Ihnen beispielsweise das Wort TISCH (= Prime) darbiete, können Sie das Wort SESSEL (= Zielreiz) leichter wieder erkennen. Man nimmt an, dass man mit Hilfe des Primings einen Zugang zum prozeduralen Wissen findet, weil die Reaktion implizit ist und es zu einer mehr oder weniger automatischen Aktivierung bestehender Bahnen
kommt. Wenn amnestische Patienten gute Leistungen bei einer Priming-Aufgabe zeigen,können wir deshalb darauf schließen, dass ihr prozedurales Wissen intakt geblieben ist. Wenn sie schlechte Leistungen bei einer Aufgabe zum Erinnern von Wörtern zeigen, können wir daraus den Schluss ziehen,dass ihr deklaratives Wissen beeinträchtigt ist. Diese Hypothese wurde durch mehrere Experimente bestätigt (beispielsweise Shimamura & Squire, 1984).
9.4.4 Eine Taxonomie der Gedächtnis-
struktur Untersuchungen weisen darauf hin, dass sich deklaratives und nicht deklaratives Wissen voneinander trennen lassen, indem man pathologische Wissensarten untersucht. Es bleibt jedoch eine offene Frage, ob diese Wissensarten nur Teil eines umfassenderen Systems der Wissensrepräsentation im Gedächtnis sind. Wenn dies der Fall ist, wie sieht dann dieses umfassendere System aus? Ein Ansatz, um dieses Problem zu erforschen, besteht darin, dass man versucht, die vorliegenden Informationen zur Wissensrepräsentation in eine Taxonomie oder in ein organisiertes Schema zu integrieren. Eine interessante Taxonomie, bei der man davon ausgeht, dass deklaratives und nicht deklaratives Gedächtnis die beiden Hauptgedächtnisarten sind (⊡ Abb. 9.7), wurde von Squire (1986) sowie von Squire et al. (1990) vorgeschlagen. Nach Squire wird der Gedanke, dass das Gehirn um grundlegend unterschiedliche Informationsspeichersysteme herum organisiert ist (wie in ⊡ Abb. 9.7 veranschaulicht),durch experimentelle Belege gestützt.Das deklarative Wissen umfasst episodische und semantische Erinnerungen. Zum nicht deklarativen Wissen gehören Fertigkeiten, Priming, Dispositionen und andere nicht assoziative Arten von Repräsentationen. Ein Merkmal dieses Systems besteht darin, dass darin sowohl bewusste als auch unbewusste Erinnerungen als ernst zu nehmende Themen der Forschung akzeptiert werden. Außerdem lassen sich beide Wissensarten durch Informationen aktivieren. Nehmen Sie beispielsweise die Wahrnehmung des Wortes SESSEL,nachdem Sie das Wort TISCH gesehen haben. Aus früheren Priming-Untersuchungen wissen wir, dass die Wahrnehmung von SESSEL verbessert wird, wenn zuvor TISCH dargeboten wurde, und dass der Effekt im Großen und Ganzen unbewusst und prozedural abläuft. Bei psychiatrisch unauffälligen Versuchspersonen wird durch Priming wahrscheinlich
261 9.6 · Konnektionismus und die Wissensrepräsentation
⊡ Abb. 9.7. Eine versuchsweise formulierte Taxonomie für die Repräsentation von Arten des Gedächtnisses. Das deklarative Gedächtnis besteht aus dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis, während das nicht deklarative Gedächtnis Fertigkeiten, Priming, Dispositionen und andere Arten des Gedächtnisses umfasst. Aus Squire et al. (1990)
auch deklaratives Wissen aktiviert. Dieser Vorgang könnte darin bestehen, dass das Wort TISCH im episodischen Gedächtnis gespeichert und es damit zum Bestandteil der eigenen bewussten Erfahrung wird. Das Modell wird durch eine breite Vielfalt von Studien gestützt. Dazu gehören Tieruntersuchungen, die Untersuchung histologischer Schnitte, kognitive Experimente an Menschen und Studien zum Verhalten amnestischer Patienten. Die Bedeutung der oben erwähnten Experimente und Theorien scheint sich in zwei Bereichen zu zeigen.Erstens wird hier die Frage der Wissensstruktur angegangen. Diese Ansätze integrieren unterschiedliche Gedächtnisarten in ein organisiertes Schema, das sowohl deklaratives und nicht deklaratives Wissen als auch bewusste und unbewusste Prozesse erklärt. Zweitens liefern die Experimente einige der besten Beispiele für die Einheit von Hirnforschung und kognitiver Psychologie. Dies gilt vor allem, wenn es um das zentrale Thema der Organisation von Wissen geht.
9.5
Gedächtnis: Festigung
Es ist schon ein Jahrhundert her, dass die deutschen Forscher Müller und Pilzecker die Hypothese einer Perseverations-Festigungstheorie des Gedächtnisses aufstellten. Sie hatten herausgefunden, dass die Erinnerung an neues Material durch das Lernen neuer Informationen kurz nach dem ursprünglichen Lernen unterbrochen wird. Die Prozesse, die neuen Erinnerungen zugrunde liegen, wurden als fragil und nicht völlig gefestigt angesehen. Es war so, als brauchten Erinnerungen wie Fotos eine gewisse Zeit,um »fixiert« zu werden,ansonsten sind sie nicht vollständig entwickelt und verblassen. James McGaugh von
der University of California in Irvine, der über mehrere Jahrzehnte hinweg an dem Thema Festigung des Gedächtnisses arbeitete, machte wichtige Entdeckungen. Anscheinend ist die Festigung des Kurzzeitgedächtnisses nicht sequenziell mit dem Langzeitgedächtnis verbunden, wie dies von den herkömmlichen informationsverarbeitenden Modellen angenommen wird (⊡ Abb. 9.8). In Untersuchungen an Tieren wie auch mit Menschen (siehe McGaugh, 2000) konnte gezeigt werden, dass adrenerge Systeme (die Gesamtheit der vegetativen Nervenfasern, die Noradrenalin bzw.Adrenalin als Neurotransmitter freisetzen) und die Aktivierung des Mandelkerns (der Teil des Gehirns, den man gewöhnlich mit emotionalen Reaktionen in Verbindung bringt) einen Einfluss auf die Festigung einer Erinnerung haben. In einem Experiment wurden zwei Gruppen von Versuchspersonen eine Reihe von Fotos und eine emotional anregende Geschichte vorgelegt. Einer Gruppe gab man ein emotionshemmendes Medikament, während die andere ein Placebo bekam. Im ersten Fall wurde die Erinnerung an die emotionsgeladenen Bilder, weil sie bei den Versuchspersonen nicht so viel Emotionalität auslösten, nicht verbessert. In der Placebogruppe jedoch wurde die Erinnerung an die emotionsgeladene Fotos positiv beeinflusst.Nach diesen Studien wird die Festigung kurzfristiger Erinnerungen durch emotionsblockierende Medikamente,die eine geringe Auswirkung auf langfristige Erinnerungen haben, verändert.
9.6
Konnektionismus und die Wissensrepräsentation
Konnektionismus lässt sich definieren als »eine Theorie des Mentalen, die eine große Menge einfacher Einheiten
9
262
9
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
⊡ Abb. 9.8. Stufen der Festigung von Erinnerungen. Wie gezeigt hängt die Festigung neuer Erinnerungen im Langzeitgedächtnis mit der Zeit zusammen (siehe y-Achse). Belege aus der Forschung zeigen, dass sich das Kurzzeitgedächtnis durch bestimmte Medikamente selektiv blockieren lässt. Dieser Effekt hält für einige Sekunden oder stundenlang an. Durch andere Medikamente kann man das Langzeitgedächtnis blockieren. Die Wirkung bleibt für einige Stunden oder gar
Monate erhalten. Dies deutet darauf hin, dass die beiden Gedächtnisprozesse unabhängig voneinander sind und parallel ablaufen. An lang andauernden Erinnerungen, die ein Leben lang erhalten bleiben, ist wahrscheinlich eine Wechselwirkung zwischen Hirnsystemen beteiligt, bei der es zu einer Reorganisierung und Stabilisierung neuronaler Verbindungen kommt (Abbildung aus J.L. McGaugh, Science, 287, 2000)
postuliert,die in einem parallel verteilten Netz (PDP) miteinander verbunden sind«. Mentale Operationen wie das Gedächtnis, die Wahrnehmung, das Denken usw. sind, so nimmt man an, durch ein hoch komplexes neuronales Netz miteinander verbunden, das in paralleler Weise arbeitet. Die Theorie beruht auf der Annahme, dass sich die Einheiten gleichzeitig oder in paralleler Weise gegenseitig systemweit anregen oder hemmen. Dies steht im Gegensatz zu Theorien der seriellen Verarbeitung,die davon ausgehen, dass die Verarbeitung zwischen den Einheiten nur sequenziell erfolgt. Die Anzahl der Paare von Einheiten, die selbst an einer so einfachen Aufgabe wie dem Tippen eines Wortes beteiligt sind,kann beträchtlich sein.Speziell innerhalb der Verbindungen zwischen den Paaren von Einheiten wird Wissen über das System hinweg verteilt. Wie lässt sich Wissen,der komplizierteste Gegenstand,der uns bisher begegnet ist,in Form einfacher anregender und hemmender Verbindungen zwischen Einheiten ausdrücken? Im nun folgenden Abschnitt werden wir versuchen, diese Frage zu beantworten. In vielen der zuvor behandelten Modelle der Informationsrepräsentation wurde Wissen als eine statische Kopie eines Musters gespeichert. Diese Auffassung weist Ähnlichkeiten mit dem in Kap. 1 erörterten Begriff des Isomorphismus auf. Ein Gegenstand, ein Bild oder ein Gedanke wird im Gedächtnis zusammen mit seinen Eigenschaften und Verbindungen zu anderen Gegenständen,
Bildern und Gedanken gespeichert. Wenn das Wiedererkennen eines Items erforderlich wird (z.B. »Kennst du Indra,den Elefanten?«),wird überprüft,ob die Elemente der Frage und die im Gedächtnis gespeicherten Informationen zusammenpassen. Auch mit den Elementen verbundene Assoziationen (z.B.dass Elefanten grau sind) werden aktiviert,obwohl ihr Aktivierungsniveau weitaus geringer zu sein scheint als das für die zentralen Items Indra und Elefant. Dennoch, die Art und Weise, wie Wissen repräsentiert wird, ist mehr oder weniger statisch und das Mittel, das eingesetzt wird, um Wissen zugänglich zu machen, besteht darin, zu überprüfen, ob eine gespeicherte Information mit einem Hinweisreiz übereinstimmt. Die Wissensrepräsentation in konnektionistischen Modellen der Kognition unterscheidet sich deutlich von der in Modellen, bei denen Gegenstände, Bilder usw. abgespeichert werden. Erstens werden in konnektionistischen Modellen nicht die Muster selbst gespeichert.Was gespeichert wird, ist die Verbindungsstärke zwischen Einheiten; dadurch ist es möglich, diese Muster wieder zu erzeugen. Der Unterschied zwischen PDP-Modellen und herkömmlichen Modellen [der Wissensrepräsentation] hat weit reichende Folgen sowohl für die Verarbeitung als auch für das Lernen. … Die Wissensrepräsentation ist so eingerichtet, dass das Wissen zwangsläufig den ▼
263 9.6 · Konnektionismus und die Wissensrepräsentation
Verlauf der Verarbeitung beeinflusst.Wenn wir Wissen bei der Verarbeitung nutzen, so handelt es sich dabei nicht mehr darum, die relevanten Informationen im Gedächtnis zu finden und sie einwirken zu lassen; es bildet bereits einen wesentlichen Bestandteil der Verarbeitung selbst. (McClelland, Rumelhart & Hinton, 1986, S. 32) Zweitens verfolgen die konnektionistischen Modelle einen anderen Ansatz in Bezug auf das Lernen. Für die traditionellen Repräsentationsmodelle besteht das Ziel des Lernens darin, explizite Regeln zu bilden, die es ermöglichen, Informationen abzurufen und Hinweisreize zu generalisieren. Wir wissen, dass Indra ein Elefant ist und dass er, wie die meisten anderen Elefanten, grau ist und nicht so leicht in unseren Volkswagen passt. Wir wissen das, weil wir Regeln gelernt haben. In PDP-Modellen nimmt man nur an, dass Lernen im Erwerb von Verbindungsstärken besteht, die es einem Netz von einfachen Einheiten ermöglichen, so zu handeln, als würden sie die Regeln kennen. Nicht Regeln werden gelernt, sondern die
Verbindungen zwischen einfachen Einheiten.Obwohl unser Verhalten anscheinend regelgeleitet ist,liegt es doch an dem zugrunde liegenden Netz von Verbindungen im Gehirn, dass wir zu diesen Schlussfolgerungen kommen. Drittens ist es wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die PDP-Modelle auf neuronale Vorstellungen zurückgehen. Dies darf jedoch nicht damit verwechselt werden,dass spezielle Nervenbahnen identifiziert worden sind. Ein solches Modell wäre unpraktisch, da es so komplex wie das Gehirn selbst wäre. Auf neuronale Vorstellungen zurückgehend bedeutet einfach, dass das Gehirn die Metapher ist, auf der das Modell beruht, und nicht so sehr der Computer; auf dieser Vorstellung hatten einige frühere Modelle basiert (siehe insbesondere Collins und Quillian). Die Tatsache, dass PDP-Modelle auf neuronale Vorstellungen zurückgehen,hat einen unmittelbaren Einfluss auf die Wissensrepräsentation. Das gesamte Wissen befindet sich in den Verbindungen, wie dies vielleicht auch auf die neuronalen Verbindungen zutrifft. Wenn man die Computermetapher verwendet, so nimmt man bezogen auf das Wissen an, dass es in bestimmten Einheiten ge-
Konnektionismus im 19. Jahrhundert Es wäre denkbar, zu sagen, dass der Konnektionismus auf die Gedankenwelt von William James zurückgeht. In seinem Werk mit dem Titel Psychology: The Briefer Course beschrieb James (1892) den Vorgang wie folgt: »Die Art und Weise, wie Reihen von Bildern und Gedankengänge in unserem Denken aufeinander folgen, die rastlose Flucht einer Idee vor der nächsten, die Übergänge unseres Geistes zwischen Dingen, die so weit voneinander entfernt sind wie Pfähle, Übergänge, die uns wegen ihrer Plötzlichkeit auf den ersten Blick erstaunen lassen, die jedoch, wenn man sie sich näher ansieht, oft vermittelnde Verbindungen vollkommener Natürlichkeit und Schicklichkeit offenbaren – all dies magische, unwägbare Strömen hat seit undenkbaren Zeiten bei all jenen Bewunderung hervorgerufen, die ihre Aufmerksamkeit zufällig auf das allgegenwärtige Mysterium dieses Strömens lenkten. [Deswegen sollten wir etwas über] die verbindenden Prinzipien zwischen den Gedanken, die daher für uns scheinbar einer aus dem anderen herauswachsen, [herausfinden] …« James nahm auch die Regel von den einander verstärkenden Synapsen vorweg, die der Psychologe Do-
nald Hebb 50 Jahre später entwickeln sollte. In seinem schon erwähnten Werk Psychology: The Briefer Course postulierte James: »Lassen Sie uns nun als Grundlage für unsere gesamte folgende Argumentation folgendes Gesetz annehmen: Wenn zwei elementare Gehirnvorgänge zusammen oder unmittelbar nacheinander aktiv waren, wird gewöhnlich einer von ihnen seine Erregung auf den anderen übertragen.« Zur selben Zeit beschrieb James einen Assoziationsmechanismus, der so unheimlich wie die neuronalen Netze ist. Der Gedanke A an eine Einladung zum Abendessen setzt sich aus den Einzelheiten a, b, c, d und e zusammen. Der Gedanke B an den anschließenden Nachhauseweg setzt sich in ähnlicher Weise aus den Einzelheiten l, m, n, o und p zusammen. Nach James sind alle Einzelheiten mit allen anderen verbunden, »sie entladen sich ineinander«. Als Ergebnis kommt heraus: »Der Gedanke an A muss den an B aufwecken, weil a, b, c, d und e jeweils einzeln und alle zusammen sich in l entladen werden …«. Und l »vibriert im Gleichklang« mit m, n, o und p. Aus Finkbeiner (1988)
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264
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
⊡ Abb. 9.9. Eine konnektionistische Verbindungsmatrix. Inputeinheiten sind unten dargestellt, Outputeinheiten rechts. Bei den ausgefüllten Kreisen handelt es sich um aktive Einheiten und die ausgefüllten Dreiecke zeigen, welche Verbindungen sich so verändern würden, dass der Input den Output auslösen würde. Zum Lernen assoziativer Zusammenhänge gehört die Veränderung der Stärke der Verbindungen zwischen den Input- und den Outputeinheiten. Wie von Schneider (1987) vorgeschlagen, modifiziert nach McClelland
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speichert wird. Wenn wir im herkömmlichen Sinne an Wissen denken, so glauben wir wahrscheinlich, dass es an irgendeinem Ort gesammelt und gespeichert wird. Der Unterschied zwischen diesen Sichtweisen ist beträchtlich. Beispielsweise behauptet man im PDP-Modell, dass »das gesamte Wissen implizit in der Struktur des Apparats enthalten ist, der die Aufgabe ausführt, und nicht explizit in den Zuständen der Einheiten selbst« (McClelland,Rumelhart, Hinton & McClelland, 1986, S. 75). Um die Auffassung, dass das gesamte Wissen in den Verbindungen liegt,zu begreifen,sollten Sie sich ⊡ Abb. 9.9
ansehen. In dieser Abbildung sind die Inputeinheiten unten und die Outputeinheiten auf der rechten Seite zu finden. Aktive Einheiten sind durch ausgefüllte Kreise dargestellt. Das Wissen wird durch die Stärke der Verbindungen zwischen den Einheiten gespeichert. Theoretisch ähnelt dies der Art und Weise, wie Informationen in neuronalen Netzen repräsentiert sind. Die Stärke der Beziehungen zwischen den Einheiten wurde hier vereinfacht. Im ursprünglichen System waren detaillierte mathematische Aussagen aufgeführt, die die Verbindungsstärke genau angeben.
Zusammenfassung 1. Die semantische Organisation bezieht sich auf die Art und Weise, wie Begriffe im Gedächtnis organisiert und strukturiert sind. 2. Zwei Hauptsichtweisen waren bei der Untersuchung der semantischen Organisation tonangebend und sie unterscheiden sich in ihrem jeweiligen Fokus: Der assoziationistische Ansatz konzentrierte sich auf die funktionalen Beziehungen zwischen Begriffen, der kognitive Ansatz auf die mentalen Strukturen, die die Beziehung zwischen Bedeutung und Gedächtnis beschreiben. ▼
3. Assoziationistische Studien untersuchen die semantische Organisation, indem sie die Form der freien Reproduktion erforschen (z.B., welche Wörter zusammen reproduziert werden). Dabei wird angenommen, dass derartige Protokolle Informationen über die Eigenart der Organisation von Begriffen und über die zugrunde liegende kognitive Struktur liefern. 4. In kognitiven Modellen werden Befunde aus semantischen Experimenten in umfassenden Theorien des Gedächtnisses organisiert. Dazu gehören die mengentheoretischen Modelle, das Merkmalsvergleichs-
265 9.6 · Konnektionismus und die Wissensrepräsentation
5.
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8.
modell, die Netzmodelle und die propositionalen Netze. In den mengentheoretischen Modellen wird vorgeschlagen, dass Begriffe durch zahlreiche Mengen von Informationen organisiert sind, die Kategorien und Eigenschaften umfassen. In semantischen Merkmalsvergleichsmodellen wird eine mengentheoretische Struktur angenommen, aber Eigenschaften werden entweder als definierende wesentliche oder als charakteristische deskriptive Merkmale aufgefasst. Die Überprüfung, ob ein Begriff zutreffend ist, beruht wahrscheinlich stärker auf den definierenden Merkmalen. In Netzmodellen wird angenommen, dass Begriffe im Gedächtnis als unabhängige Einheiten gespeichert werden, die untereinander durch spezifische und bedeutsame Verbindungen zusammenhängen (z.B.: »Ein Rotkehlchen ist ein Vogel«). Zusätzliche Annahmen betreffen den Abruf aus dem Gedächtnis durch Überprüfung sowohl des Ziels als auch der damit zusammenhängenden Begriffe und den Gedanken, dass die Bewegung innerhalb der Struktur während des Abrufprozesses Zeit erfordert. Die Theorie der Aktivierungsausbreitung im Hinblick auf die semantische Verarbeitung (Collins & Loftus) beruht auf einem komplexen Netz, in dem einfache Assoziationen (z.B. »rot« und »Feuer«) in einem Begriffsraum miteinander verbunden sind. Die Theorie dient der Erklärung von Priming-Effekten und förderlichen Wirkungen der Aufdeckung eines Worts oder Begriffs aus dem Gedächtnis, wenn dem ein damit zusammenhängendes Wort vorangeht.
9. In propositionalen Netzmodellen wird behauptet, dass das Gedächtnis durch ein komplexes assoziatives Netz propositionaler Konstruktionen organisiert ist, die wiederum die kleinsten Einheiten bedeutungsvoller Informationen darstellen (z.B.: »New York ist groß«). 10. ACT* (»Adaptive Control of Thought”) von Anderson ist eine assoziationistische Theorie des Gedächtnisses, in der drei Gedächtnistypen postuliert werden: das Arbeitsgedächtnis, die deklarative Repräsentation und das Produktionsgedächtnis. 11. Neuere Studien zur Neurokognition versuchten Befunde aus der Neurophysiologie in Theorien der kognitiven Psychologie zu integrieren. Untersuchungen an amnestischen Patienten beispielsweise erwiesen sich bei der nie endenden Suche nach Antworten auf die Frage, wie das Gehirn funktioniert, als durchaus nützlich. 12. Man hat zwei Arten des Wissens identifiziert: das deklarative und das prozedurale. Das deklarative Wissen ist explizit und umfasst Tatsachen. Das prozedurale Wissen ist implizit und kann über eine Performanz erfasst werden. Squire entwickelte eine Taxonomie der Gedächtnisstruktur, in der das deklarative und das nicht deklarative Gedächtnis integrale Bestandteile sind. 13. Wissen wird in PDP-Modellen durch Verbindungen zwischen Einheiten repräsentiert, die theoretisch der Art und Weise ähneln, wie neuronale Netze Informationen repräsentieren.
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
ACT* (»Adaptive Control of Thought«) anterograde Amnesie charakteristische Merkmale Clustermodelle definierende Merkmale deklaratives Wissen Elektroschocktherapie Korsakow-Syndrom mengentheoretisches Modell
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Netzmodelle Produktionsgedächtnis Produktionssystem Proposition prozedurales (nicht deklaratives) Wissen retrograde Amnesie semantisches Merkmalsvergleichsmodell Theorie der Aktivierungsausbreitung Wissensrepräsentation
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266
Kapitel 9 · Wissensrepräsentation
Literaturempfehlungen Zusätzlich zu den Arbeiten über das Gedächtnis, die in den letzten Kapiteln empfohlen wurden, gibt es mehrere gute Veröffentlichungen über das semantische Gedächtnis.Die frühen Arbeiten zur Clusterbildung innerhalb der assoziationistischen Rahmenvorstellung finden sich in Kauslers Buch Psychology of Verbal Learning and Memory – das ist wahrscheinlich der maßgebliche historische Überblick, der im Moment zur Verfügung steht. Für jene, die sich für den psycholinguistischen Standpunkt interessieren, hat Edward Smith einen umfassenden Gesamtüberblick über das semantische Gedächtnis in »Theories of Semantic Memory« geschrieben – er ist zu finden in dem von Estes herausgegebenen Handbook of Learning and Cognitive Processes. Einen Forschungsansatz zum semantischen Gedächtnis kann man nachlesen in Kintsch, The Representation of Meaning in Memory, und in Miller
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und Johnson-Laird,Language and Perception.Collins’und Loftus’Artikel »A Spreading Activation Theory of Semantic Processing« im Psychological Review ist eine Bestandsaufnahme der Theorie. Netztheorien werden in dem bemerkenswert anspruchsvollen Buch von Anderson und Bower mit dem Titel Human Associative Memory eingehend erörtert. In Language, Memory, and Thought erklärt Anderson detailliert die überarbeitete Form von HAM, die er ACT nennt (siehe auch The Architecture of Cognition von Anderson). Das von Gluck und Rumelhart herausgegebene Buch Neuroscience and Connectionist Theory ist sehr empfehlenswert,obwohl es an einzelnen Stellen recht formal gehalten ist. Barsalous Werk Cognitive Psychology beschäftigt sich in starkem Maße mit dem semantischen Gedächtnis und wird vor allem jenen empfohlen,die auf der Suche nach einer detaillierten formalen und theoretischen Erörterung dieser Themen sind.
10 Bildhafte Vorstellung 10.1
Geschichtlicher Überblick –269
10.2
Bildhafte Vorstellung und kognitive Psychologie –269
10.2.1 10.2.2 10.2.3
Dual-Coding-Hypothese –272 Die konzeptuell-propositionale Hypothese –272 Hypothese von der funktionalen Äquivalenz –273
10.3
Neurokognitive Befunde –277
10.4
Kognitive Landkarten –282
10.4.1
Mentale Landkarten: Wo bin ich? –283
10.5
Synästhesie: Der Klang der Farben –285
268
Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
Anregungen vorab 1. Definieren Sie bildhafte Vorstellung. Schließt Ihre Definition alle Sinnesmodalitäten ein? 2. Worin besteht der Zusammenhang zwischen frühen Untersuchungen zur bildhaften Vorstellung und Intelligenztests? 3. Welches sind die Hauptmerkmale (a) der Dual-Coding-Hypothese, (b) der konzeptuell-propositionalen Hypothese und (c) der Hypothese von der funktionalen Äquivalenz? 4. Wenn Sie sich einen Elefanten bildhaft vorstellen, der neben einer Maus steht, welche Frage könnten Sie dann schneller beantworten: Hat der Elefant einen Schwanz? Hat die Maus einen Schwanz? Begründen Sie Ihre Antwort. 5. Auf welche Weise haben neurokognitive Experimente dazu beigetragen, das Thema bildhafte Vorstellung stärker empirisch anzugehen? 6. Welchen Einfluss haben systematische Fehler auf die Art der mentalen Landkarte, die eine Person möglicherweise in ihrem Kopf bildet? 7. Nehmen Sie einmal Folgendes an: Wenn Sie einen hohen Ton hören, erinnert er Sie an einen elektrischen Funken. Mit welchem Wort bezeichnet man diese Erfahrung?
Die bildhafte Vorstellung ist auf bemerkenswerte Weise in der Lage, etwas an die Stelle der tatsächlichen Wahrnehmung zu setzen … Seit Äonen der Evolution in einer dreidimensionalen Welt ist dies Bestandteil unseres Wahrnehmungsapparats. Roger N. Shepard
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Wie auch bei einer Reihe anderer Begriffe aus der kognitiven Psychologie ist die bildhafte Vorstellung etwas, wovon jeder zu wissen meint, was es ist (denn wir alle haben damit Erfahrungen gemacht). Und trotzdem haben wir nur eine ungefähre Ahnung von ihren spezifischen kognitiven Eigenschaften.Was ist ein mentales Bild und wie sehen seine Eigenschaften aus? Wie »betrachten« wir die speziellen Merkmale eines Bildes? Was genau »sehen« Sie, wenn Sie sich ein mentales Bild »anschauen«? Ist das Bild »real« oder hat man sich dies aufgrund der Informationen ausgedacht,die darüber in einer anderen Sinnesmodalität abgespeichert sind? Können Sie zwischen einem Bild aus der Vorstellung und einem Bild differenzieren, das tatsächlich Bestandteil Ihrer Erfahrung ist? Wenn dies der Fall ist, worin besteht der Unterschied? Das sind einige Fragen, über die Philosophen seit Jahrhunderten nachgedacht haben und die momentan das Interesse der kognitiven Psychologie wecken. Die aktuelle Forschung hat einige aufregende neue Befunde und Theorien hervorgebracht. Die bildhafte Vorstellung wird in diesem Kapitel als »eine mentale Repräsentation eines nicht vorhandenen Objekts oder Ereignisses« definiert. Diese allgemeine De-
finition schließt sowohl visuelle Bilder als auch Bilder ein, die durch andere Sinne gebildet werden. Obwohl die Definition recht breit ist, wollen wir hier nur die visuelle bildhafte Vorstellung erörtern – also den Bereich, auf den sich die gesamte Forschung momentan beschränkt. Die Forschung zur bildhaften Vorstellung erstreckt sich auf unterschiedliche Bereiche. Dies geht von tief gehenden theoretischen Fragen über neurokognitive Befunde, die Sportpsychologie, die Psychotherapie, die Kartographie und über kognitive Landkarten bis hin zur Synästhesie.Diese grundverschiedenen Themen gliedern sich in diesem Kapitel in drei Hauptabschnitte. Zunächst werden die Geschichte der Vorstellung und die aktuellen Theorien dazu behandelt. Dann werden neuere neurokognitive Befunde zum Zusammenhang zwischen der sensorischen Verarbeitung und der Verarbeitung von Vorstellungen beschrieben. Das Kapitel endet mit einem Überblick über damit zusammenhängende Gebiete wie kognitive Landkarten und Synästhesie.
269 10.2 · Bildhafte Vorstellung und kognitive Psychologie
10.1
Geschichtlicher Überblick
Es lassen sich drei Zeitabschnitte bei der Behandlung von mentalen bildhaften Vorstellungen ausmachen: die philosophische (»vorwissenschaftliche«) Periode, die auf Messungen aufbauende Periode sowie die kognitive und neurokognitive Periode. In der philosophischen Periode wurden mentale Bilder als ein Grundelement der Struktur der Seele angesehen und bisweilen betrachtete man sie als die Elemente des Denkens. Das Thema war ein integraler Bestandteil der klassischen griechischen Philosophie, speziell der von Aristoteles und Platon. In neuerer Zeit beschäftigte sich der englische Empirismus damit; hier sind insbesondere John Locke, George Berkeley, David Hume und David Hartley zu nennen. Die quantitative Auffassung der bildhaften Vorstellung lässt sich bis auf Galton (1880, 1883/1907) zurückführen. Dieser legte 100 Personen einen Fragebogen vor,in dem er sie bat, sich an ihren Frühstückstisch zu erinnern und mehrere Fragen über das Bild zu beantworten, das sie dabei im Kopf hatten. Die Ergebnisse erbrachten nur wenig zum Vorstellungsprozess, außer dass manche Personen über Bilder berichteten, die so klar wie das ursprüngliche Perzept waren, während andere berichteten, dass sie sich eigentlich nicht an ein Bild erinnern könnten. Galton entwickelte ein Maß für die bildhafte Vorstellung, das mit dem Geschlecht, dem Alter und anderen individuellen Unterschieden korrelierte. Die Überprüfung der bildhaften Vorstellung mit Hilfe von Tests begann immer mehr Forscher zu interessieren (wie Titchener, 1909; Betts, 1909).Ihre Forschungen bestanden darin,dass sie die Versuchspersonen ihre eigene Fähigkeit beurteilen ließen, einen Gegenstand zu visualisieren (so etwa einen Apfel, die Kontur eines Gesichts oder den Sonnenuntergang am Horizont). Das Interesse an Tests zur bildhaften Vorstellung verschwand aber mit dem Aufkommen des Behaviorismus ebenso schnell wieder am Horizont, wie sich am Beispiel der Ansichten von Watson (1913) zeigen lässt. Das behavioristische Manifest – so nannte es Woodworth (1948) – brandmarkte die Introspektion, die ein entscheidender Bestandteil der oben erwähnten Tests zur bildhaften Vorstellung war, als unwissenschaftliche Methode. Introspektion gehörte nach Watson eigentlich nicht zur Psychologie. Die neue Wissenschaft vom Verhalten war der objektiven Beobachtung offener Reaktionen verpflichtet und Begriffe wie Bewusstsein, seelische Zustände, Seele und Vorstel-
lung sollten nicht verwendet werden. Die Ablehnung der bildhaften Vorstellung und der subjektiven Introspektion mentaler Bilder als Themen, die es wert waren, erforscht zu werden, verleitete viele Psychologinnen und Psychologen dazu,sich von der bildhaften Vorstellung abzuwenden und sich der objektiven Analyse des Verhaltens zuzuwenden. Wie es bei so vielen Themen der kognitiven Psychologie der Fall war, lag die Forschung zur bildhaften Vorstellung viele Jahre lang brach. Das Interesse daran wollte jedoch einfach nicht von der Bildfläche verschwinden.Die subjektive Erfahrung war etwas Elementares und ihr Einfluss weit reichend. Dadurch, dass sich einige wenige Personen hartnäckig weiter damit beschäftigten (zu erwähnen sind vor allem Allan Paivio und Roger Shepard sowie Stephen Kosslyn und Steven Pinker), wurde das Thema langsam wieder als Bestandteil der kognitiven Forschung anerkannt. Die Forschung zur bildhaften Vorstellung wurde in den späten sechziger Jahren an zwei Fronten erneut zum Leben erweckt. Die erste hatte etwas mit der quantitativen Erfassung der bildhaften Vorstellung und ihrem Einsatz als therapeutische Methode zu tun (Sheehan,1967a).Auch die Forschungen von Bugelski (1970) und Paivio (1969) standen im Zusammenhang mit der Erfassung der bildhaften Vorstellung. Hier wurde jedoch stärker der theoretische Aspekt betont. Zum zweiten aktuellen Ansatz in Richtung der bildhaften Vorstellung gehörte die Einbeziehung des Konzepts in ein kognitives Modell, innerhalb dessen die innere Repräsentation der Informationen ein zentrales Element war.Diese Sichtweise wird erkennbar in den Forschungen von Shepard (1975), Shepard und Metzler (1971) sowie in neuerer Zeit in den neurokognitiven Untersuchungen von Farah (1988), Kosslyn (1988) und Pinker (1985).All diese Theoretiker beschäftigten sich aus ihrem eigenen Blickwinkel heraus mit der bildhaften Vorstellung.
10.2
Bildhafte Vorstellung und kognitive Psychologie
Die Untersuchung der bildhaften Vorstellung berührt die umfassendere Frage, wie Informationen abgespeichert und aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Wir könnten argumentieren, dass die neurologische Aktivität, die mit der Speicherung von Informationen einhergeht, in einer bestimmten Form erfolgt.Visuelle Informationen werden also in Form eines inneren »Bildes« kodiert, das – wenn
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270
Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
man es aufruft – so wie ein Fotoalbum reaktiviert werden kann. Ein Alternativargument könnte lauten, dass visuelle Informationen gefiltert, aufsummiert und als abstrakte »Aussagen« über das Bild abgespeichert werden. Die Reaktivierung der Erinnerung würde dann darin bestehen, den abstrakten Code wieder aufzurufen, der seinerseits das damit verbundene subjektive Bild erneut hervorzaubern würde. Und schließlich könnten wir argumentieren, dass bestimmte Informationen visuell, andere wiederum in abstrakter Form abgespeichert werden. Dies würde darauf hindeuten,dass es vielfältige Codes im Mentalen gibt. Einige Theoretiker behaupten, dass auf Verhalten beruhende Daten sich nicht dazu eignen, diese Frage erschöpfend zu beantworten. Anderson (1976) sagte dazu: »Bestenfalls … wird sich die Kontroverse ›Bildhafte Vorstellung kontra Propositionen‹ … auf die Frage reduzieren lassen, aus welcher Interpretation sich die eleganteste Erklärung für welche Phänomene ergibt. Aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse gibt es keine Möglichkeit, nachzuweisen, dass die eine Interpretation richtig und die andere falsch ist. Selbst wenn sich aufgrund der Eleganz der Gedankenführung eine Entscheidung fällen ließe – zwischen der Theorie, die auf Propositionen be-
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ruht, und der, die sich auf bildhafte Vorstellung gründet –, bestünde immer noch die Möglichkeit, dass es weitere, grundlegend andere Repräsentationen gibt, die genauso elegant in der Gedankenführung wären wie das bevorzugte Element im Paar ›Propositionen – bildhafte Vorstellung‹.« Jahrelang wurde der Gegenstand bildhafte Vorstellung kontrovers diskutiert. Der alte Streit ging lange Zeit darum, ob Bilder unmittelbar mental repräsentiert werden (wenn Sie sich einen lebenden Baum vorstellen, wächst da entsprechend ein Baum in ihrem Kopf?) oder ob sie allegorisch repräsentiert werden (wenn Sie sich einen Baum vorstellen, wird dann der Begriff der »Baumhaftigkeit« und seiner Eigenschaften in Ihrem Gehirn repräsentiert?). Die erste Argumentation geht auf die radikale Auffassung des Isomorphismus zurück und ist in ihrer extremen Form im Wesentlichen unsinnig – ein wirklicher Baum wird nicht in Ihrem Kopf wachsen, egal wie lebendig Ihre bildhafte Vorstellung ist. Die zweite Argumentation scheint zumindest etwas vernünftiger zu sein (Pinker, 1984, 1985; Finke, 1985; zu diesen Themen gibt es ausgezeichnete Übersichtsbeiträge von Kosslyn, 1994, 1995). Auf der Suche nach einem besseren Verständnis der bildhaften Vorstellung kam es mit Hilfe neu entwickelter
Kritisch hinterfragt: Sehen, ohne wahrzunehmen Wenn ein visuelles Objekt betrachtet wird, sehen wir etwas. Aber durch die seltsame Eigenheit der visuellen bildhaften Vorstellung können wir auch etwas »sehen«, wenn wir kein Objekt anschauen. Menschen und vielleicht auch andere Lebewesen können mit dem »inneren Auge« sehen. Nur wenige bezweifeln, dass alle Menschen bis zu einem bestimmten Grade visuelle Bilder subjektiv erleben. Wir alle können vertraute Gestalten und Formen dadurch »sehen«, dass wir an ihre charakteristischen Eigenschaften denken. In ähnlicher Weise können wir Empfindungen dadurch »hören«, »schmecken«, »fühlen« und »riechen«, dass wir in uns ihr mentales Bild hervorbringen. Denken Sie beispielsweise einmal an folgendes Problem: Wie viele Fenster gibt es in dem Haus, in dem Sie wohnen? Die Art und Weise, wie Sie diese Frage beantworten würden, bestünde aller Wahrscheinlichkeit nach darin, dass Sie ein mentales Bild Ihres Hauses in sich erzeugen und dann im Geist die Fenster zählen würden. Auf ähnli-
che Weise sind wir anscheinend dazu fähig, mentale Repräsentationen anderer sensorischer Erlebnisse zu bilden, ohne dass physikalische Reize vorhanden sein müssen. Wenn ich Sie bitten würde, sich eine Strandszene auf einer abgelegenen tropischen Insel vorzustellen, dann »sehen« Sie vielleicht Palmen, Muscheln, die Sonne und Menschen bei unterschiedlichen Aktivitäten. Möglicherweise »hören« Sie aber auch den Ozean, »spüren« die Meeresbrise und »riechen« die salzige Luft. Manche Menschen scheinen in der Lage zu sein, sehr lebendige mentale Bilder in sich zu erzeugen, während andere diese Aufgabe als schwierig empfinden. Verfolgen Sie doch einmal über die nächsten paar Stunden hinweg Ihre eigenen (visuellen und anderen) mentalen Repräsentationen. Welche Bilder stimmen mit der Wirklichkeit am stärksten überein? Worin besteht der Zusammenhang zwischen diesen Bildern und der »Wirklichkeit«? Und welche Rolle spielen Bilder im mentalen Leben einer Person?
271 10.2 · Bildhafte Vorstellung und kognitive Psychologie
wissenschaftlicher Verfahren und aufgrund eindeutiger Ergebnisse zu einem echten Fortschritt ( siehe z.B. die Forschungsarbeiten von Farah, Kosslyn und Shepard in diesem Kapitel). Trotzdem wird das Thema bildhafte
Vorstellung weiterhin kontrovers diskutiert. Momentan wird darüber gestritten, ob die visuelle bildhafte Vorstellung wirklich visuell ist oder ob sie kognitiven Prozessen unterliegt, mit deren Hilfe allgemeine Zielsetzungen verfolgt werden (im Gegensatz zu spezifischen visuellen Prozessen). Weiterhin wird darüber diskutiert, ob wir wirklich wissen, wie das visuelle System funktioniert. Beim visuellen Argument wird behauptet, dass zur bildhaften Vorstellung die gleichen Repräsentationen gehören,wie sie beim Sehen zur Anwendung kommen,so dass, wenn ich einen Baum sehe, bestimmte Arten neuronaler Verarbeitung und Repräsentationen aktiviert werden. Wenn ich mir einen Baum vorstelle, werden die gleichen (oder sehr ähnliche) Prozesse und Repräsentationen aktiviert. Die andere Seite dieses Arguments besteht darin, dass die Repräsentationen, die bei der bildhaften Vorstellung genutzt werden, nicht die gleichen Repräsentationen sind, die bei der echten Wahrnehmung Anwendung finden. Im Rahmen dieser Argumentation wird behauptet, dass am »Denken in Bildern« im Wesentlichen Wissen beteiligt ist, das in Form herkömmlicher (also propositionaler oder assoziativer) Wissensrepräsentationen zum Ausdruck kommt.
Wir haben in diesem Kapitel vor, die Forschung zur bildhaften Vorstellung im Zusammenhang mit theoretischen Überlegungen zu erörtern, die den Hintergrund dazu bilden. Die Informationen gruppieren sich um drei zentrale Themen: 1. Die Dual-Coding-Hypothese, die nahe legt, dass es zwei Codes und zwei Speichersysteme gibt – zum einen das für die Vorstellung, zum anderen das verbale – und dass Informationen in der einen oder in beiden Formen kodiert und abgespeichert werden können (siehe vor allem die Arbeit von Paivio). 2. Die konzeptuell-propositonale Hypothese, bei der davon ausgegangen wird, dass visuelle und verbale Informationen in Form abstrakter Propositionen über Objekte und ihre Beziehungen zueinander repräsentiert werden (siehe vor allem die Arbeiten von Anderson und Bower sowie von Pylyshyn). 3. Die Hypothese von der funktionalen Äquivalenz, die nahe legt, dass bildhafte Vorstellung und Wahrnehmung einander sehr stark ähneln (siehe vor allem die Arbeiten von Shepard und von Kosslyn). Darüber hinaus gibt es Autoren, die vorschlagen, dass Informationen sowohl in visueller als auch in räumlicher Form vorliegen können (z.B. Farah, 1988). Wir beginnen unsere Reise durch die Literatur zur bildhaften Vorstellung damit, dass wir die Dual-Coding-Hypothese eingehender betrachten.
Bildhafte Vorstellung und Sport Versenken Sie sich zunächst einmal mental ins Umfeld des Sports. Wenn es sich um Basketball handelt, sehen Sie die Sporthalle, die Zuschauertribüne, die Drei-Punkte-Linie und den Korb. Beim Skifahren erfahren Sie etwas über die Veränderungen des Terrains, die Beschaffenheit des Schnees und darüber, wo Start und Ziel sind, und über die Strecke, auf der Sie den Berg hinunterfahren möchten. Der zweite vorbereitende Schritt ist die visuelle bildhafte Vorstellung. Wenn Sie die Aufgabe erst einmal spezifiziert und sie sich eingeprägt haben, sollten Sie sie üben, indem Sie ein lebendiges Bild von der Situation in sich erzeugen – ein Bild, bei dem Sie all Ihre Sinne gebrauchen. Ein Skifahrer, mit dem ich zusammengearbeitet habe, stellte sich vor, einen Sessellift hochzufahren, über seine Skier hinweg auf den Berggipfel zu sehen, die Farben der
Bäume und die leuchtende Kleidung der übrigen Skifahrer im Kontrast zur weißen Fläche des Schnees zu betrachten und die Empfindung seiner Skier, wie sie da über den Schnee glitten, zu spüren. Er brachte sowohl Gefühle als auch visuelle Bilder ein und erinnerte sich an die Heiterkeit und den Spaß, den er daran hatte, elegant um die Kurven zu schwingen. Ist erst einmal klar, worin die Aufgabe besteht, und sind die Bilder erst einmal lebendig, ist es an der Zeit, mit der mentalen Wiederholung selbst zu beginnen. Schließen Sie Ihre Augen und erleben Sie die körperliche Aktivität mental und emotional. Alles, was Sie visualisieren, sollte genau so aussehen und sich genau so anfühlen, als wären Sie wirklich auf der Piste oder in der Sporthalle. (Aus May, 1989)
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272
Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
10.2.1
10
Dual-Coding-Hypothese
Die ursprünglichen Arbeiten von Paivio und seinen Mitarbeitern zur bildhaften Vorstellung wurden im Kontext des Paarassoziationslernens durchgeführt – ein Forschungsparadigma, das zu dieser Zeit sehr in Mode war. Der erste Schritt, den Paivio (1965) machte, bestand darin, die Qualität von Substantiven in Bezug auf die bildhafte Vorstellung zu skalieren. Dazu ließ er eine Gruppe von Studenten Substantive nach ihrer Fähigkeit einstufen, ein Bild im Kopf zu erzeugen, also ein mentales Bild oder einen mentalen Ton oder ein Bild aus irgendeiner anderen Sinnesmodalität. Ähnlich gingen Paivio,Yuille und Madigan (1968) vor. ⊡ Tabelle 10.1 enthält eine Auswahl aus ihren Ergebnissen einschließlich der Einstufungen für Konkretheit,Bedeutsamkeit (die Anzahl der Assoziationen,die ein Wort auslöst) und Häufigkeit (mit der ein Wort in einem gewöhnlichen gedruckten Text vorkommt).Diese Ergebnisse bestätigen das Offensichtliche: dass einige Wörter die Vorstellung stärker anregen (z.B. Elefant, Tomahawk und Kirche) und andere weniger (z.B. Kontext, Tat und Tugend). Die Untersuchungen von Paivio führten zur Dual-Coding-Hypothese – einer wichtigen theoretischen Aussage darüber, wie Informationen im Gedächtnis repräsentiert werden. Die Hypothese beruhte auf dem Schluss, dass es zwei Kodierungssysteme und zwei Arten gibt, wie Informationen möglicherweise im Gedächtnis repräsentiert
werden: einen nicht verbalen Vorstellungsprozess und einen verbalen symbolischen Prozess. Bei der Informationsverarbeitung können sich die beiden Codes – der auf die Vorstellung bezogene und der verbale – überlappen, aber es kommt immer zu einer stärkeren Betonung der einen oder der anderen Seite.Nehmen Sie beispielsweise an, dass ein vertrautes und leicht zu benennendes Bild sowohl vorstellungsbezogen als auch verbal kodiert wird – jedoch mit Hilfe eines verbalen Codes, der weniger gut verfügbar ist. Dies könnte geschehen, weil eine zusätzliche Transformation daran beteiligt ist. Dadurch erscheint das Bild, nachdem der Vorstellungscode aktiviert wurde, obwohl der verbale Code ausgelöst wird. Andererseits wird ein abstraktes Wort nur durch einen verbalen Code repräsentiert, während konkrete Wörter möglicherweise sowohl vorstellungsbezogen als auch verbal kodiert werden. Die Verfügbarkeit der Kodierung für unterschiedliche Klassen von Reizen ist in ⊡ Tabelle 10.2 dargestellt.
10.2.2
Die konzeptuell-propositionale Hypothese
Anderson und Bower setzten sich kritisch mit der Metapher vom mentalen Bild auseinander und sagten, dass »es wissenschaftlich nicht zulässig ist,anzunehmen,dass man Erinnerungen oder andere Arten des Wissens in einer Form mit sich herumträgt, die einem inneren Foto, einem
⊡ Tabelle 10.1. Werte für bildhafte Vorstellung und Werte für damit zusammenhängende Eigenschaften bei einer repräsentativen Auswahl von Substantiven
Substantiv
Bettler Kirche Kontext Tat Elefant Beruf Gehalt Tomahawk Tugend
Mittelwerte a
Häufigkeit b (pro Million)
Bildhafte Vorstellung
Konkretheit
Bedeutungshaltigkeit
6,40 6,63 2,13 3,63 6,83 3,83 4,70 6,57 3,33
6,25 6,59 2,73 4,19 7,00 3,65 5,23 6,87 1,46
6,50 7,52 4,44 5,32 6,88 5,44 5,08 6,44 4,87
29 AA 1 A 35 28 A 3 A
a Die Einstufungen erfolgten auf einer Skala von 1 bis 7. Je niedriger der Wert, desto geringer ausgeprägt war die bildhafte Vorstellung. b »A«-Wörter weisen eine Häufigkeit von 50–99 pro einer Million Wörter auf, »AA«-Wörter 100 oder mehr pro einer Million Wörter.
Aus Paivio, Yuille und Madigan (1968).
273 10.2 · Bildhafte Vorstellung und kognitive Psychologie
⊡ Tabelle 10.2. Kodierungssysteme, die je nach Reiz zur Verfügung stehen
Reiz
Bild Konkrete Wörter Abstrakte Wörter
Kodierungssystema Bildhafte Vorstellung
Verbal
+++ + ––
++ +++ +++
a Die Anzahl der Pluszeichen deutet auf den Grad der relativen Verfügbarkeit hin. Aus Paivio (1971b).
Videoband oder einer Tonaufzeichnung ähnelt, die wir beim Erinnern eines Bildes reaktivieren und noch einmal vorspielen können« (1973, S. 453). Obwohl wir in der Lage sind, ein Bild subjektiv zu erleben, kann die zugrunde liegende kognitive Komponente in einer Form vorliegen, die überhaupt nicht vorstellungsbezogen ist.Ein Grund dafür, warum Anderson und Bower die Theorie von den Bildern im Kopf ablehnten, hängt mit dem Erhaltungsargument zusammen. Es besagt, dass es nutzlos ist, die Speicherung vollständiger Bilder von Szenen zu postulieren, weil ein solches Gedächtnissystem eine Speicherung und einen Abruf erfordern würde, die jenseits der menschlichen Fähigkeiten liegen. Um diese inneren Bilder zu betrachten und zu interpretieren, wäre zudem noch ein bestimmter Apparat – eine Art von Überhomunculus – erforderlich. Bei der konzeptuell-propositionalen Hypothese wird behauptet, dass wir nicht so sehr die vorstellungsbezogenen Komponenten speichern,sondern vielmehr die Interpretationen von Ereignissen – seien diese nun verbaler oder visueller Art. Anderson und Bower bestreiten nicht, dass es leichter ist, konkrete Wörter zu lernen als abstrakte. Aber sie führen diese Ergebnisse auf die Annahme zurück, dass konkrete Begriffe durch eine reichhaltige Menge an Prädikaten kodiert werden, die die Begriffe miteinander verbinden. Die Autoren sagen, dass »der einzige Unterschied zwischen der inneren Repräsentation für einen linguistischen Input und einem Erinnerungsbild die Detailliertheit der Informationen ist« (S. 460). Im Folgenden führen wir eines ihrer Beispiele auf:
tikers für einen Regisseur, aus denen ein fähiger Regisseur der Erwartung nach den ganzen szenischen Hintergrund, eine expressive Stimmung und eine Episode aus der Handlung eines Dramas konstruieren sollte. Um dies am Ablauf der Lektüre einer Geschichte zu veranschaulichen, können Sie vielleicht einmal den folgenden kurzen Satz lesen: »James Bond lief zu seinem Wagen und fuhr zum Casino.« Während des Lesens können Sie diesen Satz konkretisieren, indem Sie alle möglichen Arten von Tatsachen und sensorischen Bildern über das Laufen, über das Einsteigen in den Wagen, über das Autofahren usw. hervorbringen. Diese »Lückenfüller« würden aufgerufen werden,wenn man Ihnen z.B. Fragen stellen würde wie: »Saß James Bond in einem Auto? Ließ er den Motor an? Bewegte er das Lenkrad?« Derartige triviale Schlussfolgerungen scheinen aufgrund der Referenzsemantik der Verbalphrase »einen Wagen fahren« unmittelbar zur Verfügung zu stehen. Im Satz werden lediglich ein paar Wegweiser (Ausgangspunkt, Mittel, Ziel) auf dem Weg zur Beschreibung einer Abfolge von Ereignissen erwähnt. Der Zuhörer interpoliert oder setzt alle zwischen den erwähnten Wegweisern liegenden Ereignisse ein.Zu einem späteren Zeitpunkt wird der Zuhörer natürlich nicht mehr in der Lage sein,genau zu sagen,was er gehört hat und was er im Vergleich dazu eingesetzt hat.Wenn er gebeten wird,die Geschichte mit seinen eigenen Worten wiederzugeben, wird er wahrscheinlich eine etwas andere Beschreibung oder andere Wegweiser auswählen, um die erwähnten Wegweiser zu rekonstruieren. (Anderson & Bower, 1973, S. 460–461) Die konzeptuell-propositionale Hypothese von Anderson und Bower ist theoretisch elegant und es handelt sich um einen Ansatz, der mit ihrem theoretischen Modell vereinbar ist.Nur sehr schwer lassen sich jedoch mit Hilfe der Hypothese einige Vorstellungsprozesse durch eine bestimmte innere Struktur erklären. Diese Struktur setzte voraus, dass sie auf einer zweiten Ebene mit dem physikalischen Ziel isomorph ist. Shepard und seine Schüler haben Befunde vorgelegt, die solche Prozesse zum Ausdruck bringen. Darauf werden wir im nächsten Abschnitt eingehen.
10.2.3
Hypothese von der funktionalen Äquivalenz
Unsere Worte, die wir vor einem Zuhörer sprechen, sind wie die kryptischen Anweisungen eines Drama-
Shepard. Viel von dem, was momentan im Bereich der
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bildhaften Vorstellung die Gemüter erregt,geht auf die an-
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Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
schauliche Darstellung und die Interpretation der mentalen Rotation durch Shepard und seine Mitarbeiter zurück. Mit Hilfe von visuellen Hinweisreizen untersuchte Shepard die mentale Rotation visueller Reize im Gedächtnis. In seinen Experimenten bat er die Versuchspersonen, zu beurteilen,ob ein zweiter Reiz – wie etwa der in ⊡ Abb. 10.1 rechts (wenn man einmal von der Rotation absieht) – der gleiche war wie der ursprüngliche Reiz (links). In einigen Fällen war das zweite Muster ein Spiegelbild des ersten. Deshalb handelte es sich nicht um den gleichen wie den ursprünglichen Reiz,während in anderen Fällen das Muster identisch mit dem ursprünglichen war. Das Ausmaß der Rotation reichte von 0 bis 180 Grad. Die abhängige Variable war, wie viel Zeit benötigt wurde, um zu einem Urteil zu kommen. Die Ergebnisse dieser Experimente deuten darauf hin, dass die Zeit, die für die Antwort benötigt wurde, eine lineare Funktion des Ausmaßes der Rotation war (⊡ Abb. 10.2). Dies bedeutet, dass ein geringes Maß an Rotation beim zweiten Reiz zu einem schnellen Urteil führte,während ein großes Maß an Rotation mehr Zeit erforderte. Die Befunde deuten darauf hin, dass die innere Repräsentation der Bilder bei den Versuchspersonen für jeweils 50 Grad Rotation etwa eine Sekunde erforderte. Die Ergebnisse der Experimente von Shepard haben eine umfassende Bedeutung für die kognitive Theorie. Für unsere Diskussion bedeutet der Zusammenhang zwischen der erforderlichen Zeit und dem Ausmaß der Rotation, dass der innere Prozess eine monoton wachsende Funktion des erforderlichen Ausmaßes der Transformationen ist. Anscheinend gibt es deshalb einen engen Zusammenhang zwischen der für eine bestimmte mentale Rotation erforderlichen Zeit und den tatsächlichen Rotationsgraden. Wenn wir uns die beiden Rotationen auf zwei Skalen abgetragen vorstellen – zum einen die Skala der für die mentale Rotation erforderlichen Zeit und zum anderen ⊡ Abb. 10.1. Typische visuelle Formen, wie sie von Shepard und Metzler verwendet wurden. Die Figur auf der rechten Seite ist die gleiche wie die auf der linken, nur dass sie um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn rotiert wurde. Adaptiert aus Shepard und Metzler (1971)
Roger Shepard. Untersuchungen zur mentalen Rotation führten zu Theorien der bildhaften Vorstellung
die Skala der Rotationsgrade –,wird die Entsprechung der beiden Skalen offensichtlich. Zusätzlich zu den Reaktionsdaten,die in Shepards raffinierten Experimenten vorgelegt wurden, haben einige Forscher neurologische Befunde zur mentalen Rotation beschrieben. Eine dieser Untersuchungen von Georgopoulos und seinen Kollegen (1989) ist von besonderem Interesse. Sie erforschten die elektrische Aktivität im Gehirn eines Rhesusaffen, während dieser eine Aufgabe zur mentalen Rotation löste.Dem Affen wurde beigebracht,einen Zeiger auf einem uhrenähnlichen Apparat als Reaktion auf die Position eines Lichts zu bewegen. Wenn das Licht an einem Ort auftrat, sollte das Tier den Zeiger auf entsprechende Weise bewegen. Das primäre Interesse bestand jedoch darin,herauszufinden,was im Kortex des Affen unmittelbar vor der Bewegung des Zeigers geschah: Dies interpretierten die Forscher als mentale Rotation. Während weniger Millisekunden vor der Reaktion nahm das Tier die Bewegungen vorweg. Georgopoulos und seine Mitarbeiter erfassten in diesem entscheidenden Zeitraum winzige elektrische Aktivitäten im motorischen Kortex des Affen und zeigten mit Hilfe von Computergrafiken, dass einzelne Zellen mit Vorliebe auf bestimmte
275 10.2 · Bildhafte Vorstellung und kognitive Psychologie
⊡ Abb. 10.2. Reaktionszeit als Funktion des Ausmaßes der Rotation, in dem eine Figur gedreht wurde. Adaptiert aus Shepard und Metzler (1971)
Richtungen reagieren. Bei den Zellen, die am häufigsten während der mentalen Rotation aktiv waren, handelte es sich um jene, die beispielsweise eine Präferenz für eine Bewegung gegen den Uhrzeigersinn haben. Die Ergebnisse liefern direkte neurologische Belege für die mentale Rotation. Sie deuten darauf hin, dass die Verwendung von Aufzeichnungen der neuronalen Aktivität für eine »einzelne Zelle« eine sinnvolle Ergänzung für Verhaltensdaten sein kann, wenn man etwas über kognitive Mechanismen herausfinden möchte. Shepard (1968) und Shepard und Chipman (1970) führten den Begriff des Isomorphismus zweiter Ordnung ein, der für den Zusammenhang zwischen äußeren Objekten und inneren Repräsentationen dieser Objekte steht. Hier handelt es sich nicht um eine Eins-zu-eins-Entsprechung von der Art einer Isomorphie. Nach dieser Auffassung weisen die Ereignisse eine Isomorphie zweiter Ordnung auf, wenn der Zusammenhang zwischen Objekten im Gedächtnis der gleiche ist wie der Zusammenhang zwischen diesen Objekten in der realen Welt. Die Unterscheidung zwischen einem Isomorphismus erster und zweiter Ordnung ist hintergründig, aber wichtig: Objekte sind in unserem Gehirn nicht unmittelbar oder strukturell repräsentiert. Die Art und Weise jedoch, wie die inneren Zusammenhänge ablaufen, ist der Art und Weise, wie die äußeren Zusammenhänge vonstatten gehen, recht ähnlich. Aufgrund der Forschungsergebnisse der Gruppe um Shepard scheint viel dafür zu sprechen, dass im Mentalen Bilder existieren,die,wenn sie auch nicht strukturell identisch mit den Objekten der realen Welt sind, so doch zumindest funktional miteinander zusammenhängen.
Kosslyn. In einer Reihe origineller Experimente haben
Kosslyn und seine Mitarbeiter (Kosslyn, 1973, 1975, 1976a, 1977, 1980, 1981, 1994, 1995; Kosslyn & Pomerantz, 1977; Kosslyn et al., 1993) die bildhafte Vorstellung aus der Perspektive ihrer räumlichen Charakteristika und erst kürzlich mit Hilfe von bildgebenden Verfahren untersucht (dies soll später erörtert werden). Im Wesentlichen wurde durch Kosslyns Forschung gezeigt, dass ein mentales Bild der Wahrnehmung eines realen Objekts ähnlich ist. Die meisten seiner Experimente beruhten auf der Annahme, dass ein Bild räumliche Eigenschaften besitzt,die man mit den Augen abtasten kann, und dass es mehr Zeit in Anspruch nimmt, etwas in großer Entfernung als auf kurze Distanz abzutasten. In einem Experiment bat Kosslyn (1973) die Versuchspersonen, sich eine Gruppe von Zeichnungen einzuprägen und sie sich dann eine nach der anderen vorzustellen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurden sie gebeten,sich auf das eine Ende des Objekts aus der Vorstellung zu »konzentrieren« (wenn das Objekt z.B. ein Schnellboot war,sollten sie sich das Heck »ansehen«).Eine mögliche Eigenschaft des ursprünglichen Bildes wurde genannt und die Versuchspersonen wurden gebeten, zu
Stephen Kosslyn. Trug dazu bei, das Gebiet der bildhaften Vorstellung und der Neurokognition zu entwickeln
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Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
⊡ Abb. 10.3. Bild zur Untersuchung der räumlichen Eigenschaften der bildhaften Vorstellung
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entscheiden, ob es sich um das Original handelte oder nicht. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass mehr Zeit benötigt wurde, um Urteile über Eigenschaften zu fällen, die etwas damit zu tun hatten, bei einem Objekt Entfernungen abzuschätzen. Wie in ⊡ Abb. 10.3 dargestellt dauerte es so beispielsweise länger, das Schiff mit den Augen vom Heck bis zum Bug abzutasten als von einem der Bullaugen bis zum Bug. Bei den Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, das ganze Bild vor ihrem geistigen Auge zu behalten, gab es keine Unterschiede in Bezug auf die Zeit, die benötigt wurde, um die Eigenschaften unterschiedlicher Orte im Bild zu identifizieren. Anscheinend können die mentalen Bilder abgetastet werden und die für das Abtasten benötigte Zeit ist ähnlich lang wie die, die zum Abtasten echter Bilder gebraucht wird.
Obwohl die bildhafte Vorstellung seit der Zeit von Aristoteles eine zentrale Rolle bei der Bildung von Theorien über den Geist bzw. das Mentale gespielt hat, waren ihre Eigenart und ihre Eigenschaften immer strittig. Während der Zeit des Behaviorismus wurde sogar infrage gestellt, ob es Vorstellungen überhaupt gibt. In neuerer Zeit ist über ihren Status als unterscheidbare Art mentaler Repräsentationen heftig diskutiert worden. Stephen M. Kosslyn
Wenn Bilder im Kopf einige Merkmale mit der Wahrnehmung realer Objekte gemeinsam haben (nämlich die Abtastzeit), haben sie dann andere Merkmale mit Perzepten und Bildern im Kopf gemeinsam? Kosslyn demonstrierte, dass dies so ist, indem er sich die Tatsache zunutze machte, dass kleinere Objekte im Allgemeinen weniger
deutlich gesehen werden als große. In einem Experiment (Kosslyn, 1975) mussten sich Versuchspersonen ein Ziellebewesen vorstellen (z.B. ein Kaninchen), das sich in der Nähe eines kleinen oder großen Tiers (z.B. einer Fliege oder eines Elefanten) befand. Von einem Kaninchen, das neben einem Elefanten sitzt,sagen die meisten Menschen, dass es kleiner ist als ein Kaninchen von derselben Größe, das neben einer Fliege sitzt (⊡ Abb. 10.4). Dann wurden die Versuchspersonen gebeten, die Angemessenheit einer bestimmten Eigenschaft (z.B. der Ohren) für ein Tier zu bestimmen.Wenn sich das Tier neben einem Elefanten befand,brauchten die Probenden im Durchschnitt 211 ms länger,um dies zu beurteilen,als wenn es neben einer Fliege saß. Um sich gegen die Möglichkeit abzusichern, dass derartige Ergebnisse schlicht darauf zurückgehen, dass man ein größeres Interesse an Elefanten als an Fliegen hat,führte Kosslyn seine Untersuchungen mit Tieren im Kontext einer Fliege von der Größe eines Elefanten und im Kontext eines winzigen Elefanten durch. Unter diesen Bedingungen wurde mehr Zeit benötigt, um das Ziellebewesen zu beurteilen,wenn es sich neben der gigantischen Fliege befand als neben einem winzigen Elefanten. In noch einem weiteren Experiment bat Kosslyn (1975) die Versuchspersonen, sich Quadrate in vier unterschiedlichen Größen vorzustellen – eines davon von der Fläche her jeweils sechsmal größer als das nächst kleinere und jeweils durch eine Farbbezeichnung identifizierbar. Wenn sich die Versuchspersonen die Größe des Quadrats auf Grundlage der Farbe vorstellen konnten, gab man ihnen eine Farbe und einen Tiernamen wie etwa »grüner Bär« oder »rosa Tiger«. Dann bat man sie, sich ein Bild von den
⊡ Abb. 10.4. Typische Zusammenhänge, wie sie in der Vorstellungswelt der Versuchspersonen in Kosslyns Experiment verbreitet waren. Adaptiert aus Kosslyn (1975)
277 10.3 · Neurokognitive Befunde
so gekennzeichneten Tieren entsprechend der Größe des Kastens zu machen, der mit der entsprechenden Farbe verbunden war (⊡ Abb. 10.5). Die Versuchsperson braucht mehr Zeit für die Entscheidung,ob die Eigenschaft für das Tier charakteristisch war, für Tiere in kleinen Kästen als für Tiere in großen (⊡ Abb. 10.6).
Alles in allem deuten diese Experimente von Kosslyn und Shepard darauf hin, dass visuelle Bilder anscheinend innere Repräsentationen zum Ausdruck bringen, die auf eine Weise wirken, die der Funktionsweise der Wahrnehmung physikalischer Objekte entspricht. Andererseits wurden nicht alle oder noch nicht einmal eine große Anzahl der charakteristischen Eigenschaften von Bildern untersucht.
10.3
⊡ Abb. 10.5. Prozess in einem Experiment, bei dem die Versuchspersonen die Angemessenheit einer Eigenschaft für ein Tier in der Vorstellung beurteilen mussten, zu dem Kästen unterschiedlicher Größe dargeboten wurden. Adaptiert aus Kosslyn (1975)
⊡ Abb. 10.6. Die Zeit, die zur Bestimmung der Angemessenheit einer Eigenschaft für ein Tier bei dem in ⊡ Abb. 10.5 dargestellten Experiment benötigt wurde. Befunde von Kosslyn (1975)
Neurokognitive Befunde
Unsere Analyse der bildhaften Vorstellung beschäftigte sich mit Untersuchungen zur Psychologie des Phänomens. Insofern können wir vorsichtig den Schluss wagen, dass sich die bildhafte Vorstellung und die Wahrnehmung eines realen Reizes in vielerlei Hinsicht verführerisch ähneln. Um die Vollständigkeit der Analogie zwischen Wahrnehmung und bildhafter Vorstellung zu überprüfen, ist eine weitere Validierung in Form neurologischer Belege erforderlich.Wir sind in der glücklichen Lage, eine große Menge von Befunden aus neurologischen Studien präsentieren zu können (z.B. Gazzaniga & Sperry, 1967; Corballis, 1989; Milner, 1968). Klinische Beobachtungen von Luria (1976) und Farah (1988, 1995) an neurologisch behinderten Patienten zeigen, dass die Schädigung der linken Hemisphäre des Gehirns mit Störungen im verbalen Gedächtnis verbunden ist, während sich eine Schädigung in der rechten Hemisphäre auf das Gedächtnis für visuelles Material auswirkt. Diese Befunde stützen gewöhnlich die Dual-Coding-Theorie des Gedächtnisses: Es gibt ein System für die Kodierung und Verarbeitung visueller Informationen und ein anderes für die Kodierung und Verarbeitung verbaler Informationen. Der Gedankengang hinter vielen Experimenten, die sich mit Hirnaktivität und bildhafter Vorstellung beschäftigen,ist folgender: Die Aktivierung eines kognitiven Prozesses – wie etwa die bildhafte Vorstellung oder ein verbaler Gedanke – kommt in Form einer lokalisierten Hirnaktivität zum Ausdruck, die über die lokale Durchblutung des Gehirns erfasst werden kann (Kap. 2 zu den Einzelheiten). Psychologinnen und Psychologen haben sich seit mehreren Jahrzehnten mit der Frage der funktionalen Äquivalenz von Bildern und visuellen Perzepten herumgequält. Es kann aber sein, dass man die Antwort darauf erst im Bereich der Neurokognition findet. Die Logik hinter dieser Suche ist einfach: Wenn Messungen der lokalen
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Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
Durchblutung des Gehirns (rCBF: regional cerebral blood flow) darauf hindeuten,dass die gleichen Bereiche des Gehirns aktiv sind, wenn wir ein Objekt sehen und wenn wir uns ein Objekt vorstellen, dann wird dadurch die Auffassung von der funktionalen Äquivalenz gestützt (wenn auch nicht eindeutig, da bestimmte Regionen mehr als eine einzige Funktion erfüllen können).Wenn umgekehrt während einer Wahrnehmung andere Bereiche des Gehirns aktiviert werden als während einer Vorstellung, dann wird die Auffassung von der Äquivalenz nicht gestützt. Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit der Frage der Einzigartigkeit von Vorstellung und Hirnaktivität. Es gibt ausgezeichnete objektive Belege dafür, dass alle Teile des visuellen Kortex aktiviert werden, wenn sich Versuchspersonen ein Objekt vorstellen oder bildhafte Vorstellungen einsetzen,um ein Problem zu lösen.Speziell erfassten Holland und Freitag (1985) in ihren Forschungsarbeiten die lokale Durchblutung des Gehirns (rCBF) bei drei kognitiven Aufgaben: 1. Kopfrechnen (wiederholte Subtraktion von 3 beginnend mit 50) 2. Suche im Gedächtnis nach einem akustischen Reiz (in einem allgemein bekannten Lied mental von einem Wort zum übernächsten springen) 3. Visuelle bildhafte Vorstellung (Visualisierung eines Spaziergangs durch die eigene Nachbarschaft: vor der eigenen Haustür losgehen, abwechselnd nach links und nach rechts abbiegen) Bei jeder einzelnen Aufgabe werden unterschiedliche Teile des Kortex aktiviert, doch hier ist der Befund am wichtigsten, dass es während der visuellen Aufgabe zu einer besonders starken Durchblutung im hinteren Bereich des Gehirns kam. Dazu gehört der Okzipitallappen und die okzipitalen Areale, die für die höhere visuelle Verarbeitung und für das Gedächtnis von Bedeutung sind. Anscheinend sind an einer derartigen bildhaften Vorstellung nicht nur die Areale zur visuellen Verarbeitung beteiligt, sondern auch die Gedächtnisareale. In einer ähnlichen Untersuchung von Goldenberg, Podreka, Steiner, Suess, Deeke und Willmes (1990), bei der einzelne PET-Schichtaufnahmen dazu verwendet wurden, die Hirnaktivität zu verfolgen, sollten die Versuchspersonen einige Fragen beantworten, von denen manche eine visuelle bildhafte Vorstellung voraussetzten und andere nicht. Beispiel:
> »Ist das Grün der Kiefer dunkler als das Grün des Grases?« »Handelt es sich beim kategorischen Imperativ um eine alte grammatische Form?«
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die erste Art von Fragen zu einer starken Durchblutung im Okzipitallappenbereich, in den hinteren parietalen Arealen und im an der visuellen Verarbeitung beteiligten temporalen Areal führte, während dies unter der zweiten Bedingung der nicht bildhaften Vorstellung nicht der Fall war. Eine detaillierte und unmittelbare Überprüfung der Hypothese zum Verhältnis von Wahrnehmung und bildhafter Vorstellung wurde von Kosslyn und seinen Mitarbeitern (1993, 1995) berichtet. Dabei setzte man einen oft verwendeten Test zur bildhaften Vorstellung bei einer PET-Untersuchung ein.Hier bestand eine Aufgabe,die von Podgorny und Shepard (1978) entwickelt worden war, darin, dass die Versuchspersonen einen Buchstaben (wie etwa F) in einem Gitter betrachten sollten (das war die Wahrnehmungsbedingung) oder sich den Buchstaben in einem leeren Gitter vorstellen sollten (das war die Vorstellungsbedingung). Dann wurde eine Markierung dargeboten und die Versuchspersonen sollten angeben, ob sich die Markierung auf dem Buchstaben befand oder nicht (⊡ Abb. 10.7). Im ursprünglichen Experiment fanden Podgorny und Shepard Folgendes heraus: Die Versuchspersonen brauchten länger für die Entscheidung darüber, ob sich die Markierungen nahe an den Buchstaben befanden,als darüber, ob sie weiter davon entfernt waren.Die Forscher schlossen daraus Folgendes: Man kann anscheinend leichter ein Urteil darüber abgeben, ob ein Element zu einer Menge gehört oder nicht,wenn sich die Markierung deutlich außerhalb des Ziels befindet. Die Hauptschlussfolgerung aus dem Experiment bestand jedoch darin, dass sich für die Wahrnehmungs- und für die Vorstellungsgruppe ähnliche Ergebnisse finden ließen.Dies konnte als Stützung der
⊡ Abb. 10.7. Beispiel für eine Figur, wie sie bei der Wahrnehmungsund bei der Vorstellungsaufgabe verwendet wurde
279 10.3 · Neurokognitive Befunde
Hypothese von der funktionalen Äquivalenz angesehen werden. Was Kosslyn und seine Mitarbeiter da herausgefunden hatten, war etwas Überraschendes. Trotz ihrer Hypothese, dass der visuelle Kortex (die Struktur,die sich im hinteren Teil des zerebralen Kortex befindet und am Sehen beteiligt ist) während der Wahrnehmungs- und wahrscheinlich auch während der Vorstellungsaufgabe aktiviert werden würde, zeigten die PET-Ergebnisse während der Bildgenerierung in der Vorstellung eindeutig eine stärkere Aktivierung des visuellen Kortex als während der Wahrnehmung. Es war so, als müsste diese Struktur und vielleicht auch andere Strukturen,die an der visuellen Verarbeitung beteiligt sind, während der Bildgenerierung fleißiger arbeiten als während der Wahrnehmung. Eine mögliche Ursache für diesen Befund besteht darin, dass der visuelle Kortex während der Wahrnehmung detaillierte visuelle Informationen aus der Außenwelt erhält (eine Art von Bottom-up-Reiz) und deshalb auf das betrachtete Objekt einwirkt. Das erfordert nur eine geringe Leistung. Im Gegensatz dazu muss die Versuchsperson bei der Bildgenerierung den visuellen Reiz erneut aus dem Gedächtnis erzeugen (eine Art von Top-down-Reiz). Dies zwingt sie dazu, schwerer zu arbeiten. Aus diesen Untersuchungen und vielen weiteren ( siehe Farah, 1988) lassen sich mit einiger Berechtigung eine Reihe von Schlussfolgerungen ziehen: 1. Untersuchungen der Hirnaktivität deuten darauf hin, dass unterschiedliche Areale des Gehirns mit unterschiedlichen kognitiven Aufgaben verbunden sind. 2. Zentren für die Lösung von Aufgaben zur bildhaften visuellen Vorstellung und das Sehen scheinen sich an ähnlichen Orten im Gehirn zu befinden. 3. Aufgaben zur bildhaften visuellen Vorstellung, die assoziatives Wissen voraussetzen,scheinen Regionen im Gehirn zu aktivieren, die mit dem Gedächtnis und dem Sehen verbunden sind.
Martha Farah. Führte innovative Forschung auf dem Gebiet der Neurokognition durch, in dem die neurologische Lokalisierung kognitiver Prozesse untersucht wird
Mit einer offenen Frage haben wir uns in diesem Abschnitt noch nicht beschäftigt: Werden bei räumlichen Repräsentationen (von denen wir in Shepards Experimenten zur mentalen Rotation erfahren haben) und bei visuellen Repräsentationen (die von der Rekonstruktion eines visuellen Eindrucks abhängen, z.B. dem Benennen der Farbe eines Objekts wie etwa eines Fußballs) unterschiedliche Teile des Gehirns aktiviert? Zur Beantwortung dieser Frage wenden wir uns einer Fallstudie zu. Man musste auf das Argument reagieren,dass das Format mentaler Bilder entweder analog ist (hier geht es um Auffassungen, deren Verfechter glauben, Bilder seien funktional äquivalent zu Perzepten) oder dass es propositional ist (hier handelt es sich um Auffassungen, deren Anhänger den Gedanken ablehnen, dass sich Bilder und reale Wahrnehmungen in starkem Maße ähneln). Zur Lösung dieses Problems haben Martha Farah und ihre Mitarbeiter in der Neurokognition nach Belegen gesucht (Farah, 1988; Farah et al., 1988). Wenn Forscher nach neurokognitiven Erklärungen der bildhaften Vorstellung suchen, so liegt dem die Logik zugrunde, dass sich viele der theoretischen Fragen lösen lassen, wenn man bestimmte Hirnareale findet, die etwas mit der bildhaften Vorstellung und weiteren Funktionen wie etwa dem Sehen zu tun haben. Speziell das Problem, ob mentale Bilder fast das Gleiche wie Sehen sind oder ob sie Bestandteil eines allgemeineren Systems zur Repräsentation räumlicher Informationen sind, könnte eindeutig gelöst werden, wenn sich beispielsweise nachweisen ließe, dass beim Sehen und bei räumlichen Repräsentationen unterschiedliche Teile im Gehirn aktiviert werden. Von daher haben neuropsychologische Studien einen unmittelbaren Einfluss auf kognitive Theorien zur bildhaften Vorstellung. Wie gezeigt ist die Neurophysiologie der bildhaften Vorstellung mit Hilfe vieler der Techniken untersucht worden, die wir in Kap. 2 beschrieben haben – einschließlich CAT-Schichtaufnahmen, EEG-Aufzeichnungen, Untersuchungen der lokalen zerebralen Durchblutung, der Neurochirurgie und der Untersuchung von Patienten, die ein Hirntrauma erlitten haben. Wir werden uns nun dem zuwenden, was gerade als Letztes erwähnt wurde. Farah und ihre Kollegen arbeiteten mit einem hirngeschädigten Patienten namens L.H. Es handelte sich um einen 36 Jahre alten Geistlichen, der gerade dabei war, seinen zweiten Master-Abschluss zu machen. Als er 18 war, hatte er bei einem Autounfall eine schwere Kopfverletzung
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Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
⊡ Abb. 10.8. Geschädigte Areale in L.H.s Gehirn (durch X gekennzeichnet). Zu den betroffenen Arealen gehören der rechte Temporallappen und der rechte untere Frontallappen (obere Abbildung) sowie die temporookzipitalen Regionen (untere Abbildung). Aus Farah et al. (1988)
erlitten. Eine anschließend erfolgte Operation (und eine Bestätigung durch eine CAT-Schichtaufnahme) deutete darauf hin, dass zu den geschädigten Teilen des Gehirns die temporookzipitalen Regionen, der rechte Temporallappen und der rechte untere Frontallappen gehörten (⊡ Abb. 10.8). Obwohl L.H. bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen hatte und nach außen hin einen normalen Eindruck machte, wies er grundlegende Defizite beim visuellen Wiedererkennen auf. So konnte er seine Frau und seine Kinder zuverlässig erkennen, es sei denn, sie trugen andere Kleidung. Er hatte auch Schwierigkeiten beim Erkennen von Tieren, Pflanzen, Lebensmitteln und Zeichnungen. Einige der Objekte, die L.H. nicht identifizieren konnte, sind in ⊡ Abb. 10.9 dargestellt. Dennoch konnte er diese Darstellungen recht gut nachzeichnen, obwohl er nicht wusste, worum es sich dabei handelte. Er wies gute elementare visuelle Fähigkeiten auf. Die Versuchsleiter interessierten sich bei diesem Fall für die Fähigkeiten zur visuellen und räumlichen bildhaften Vorstellung. Sie argumentierten, dass:
A
B
⊡ Abb. 10.9A, B. A Beispiele für Zeichnungen, die ein hirngeschädigter Patient nicht erkennen konnte. B Die nachgezeichnete Bilder des Patienten. Aus Farah et al. (1988)
▬ sich räumliche Repräsentationen nicht auf die visuelle Sinnesmodalität beschränken (z.B. mentale Rotationen, von denen man annimmt, dass es sich um räumliche und nicht um visuelle Bilder handelt); ▬ sich Repräsentationen auf die visuelle Sinnesmodalität beschränken (z.B. Benennen einer Farbe bei einem gewöhnlichen Objekt wie etwa einem Fußball). In der letzten Phase des Experiments bewältigte L.H. eine Vielfalt von Aufgaben, die mit räumlichem Wissen in Verbindung gebracht werden, und andere Aufgaben, die mit visuellem Wissen zusammenhängen. Alle Aufgaben wurden bereits in diesem Kapitel beschrieben. ▬ Visuelle Aufgaben. L.H. und einer Reihe von Versuchspersonen aus der Kontrollgruppe wurden visuelle Aufgaben dargeboten wie solche zum Erkennen von Längen (»Hat ein Känguru einen langen Schwanz?«), zum
281 10.3 · Neurokognitive Befunde
⊡ Abb. 10.10A, B. A Leistung von L.H. (dunkle Balken) und von Personen aus der Kontrollgruppe (weiße Balken) bei vier Aufgaben zur bildhaften Vorstellung (zur Beschreibung der Aufgaben siehe Text). B Leistung von L.H. (dunkle Balken) und von Personen aus der Kontrollgruppe (weiße Balken) bei sieben Aufgaben zur räumlichen Vorstellung (zur Beschreibung der Aufgaben siehe Text, aus Farah, 1988)
A
B
Erkennen von Farben (»Welche Farbe hat ein Fußball?«), zum Größenvergleich (»Was ist größer, ein Eis am Stiel oder eine Packung Zigaretten?«) und zum Vergleich der äußeren Form von Bundesstaaten (»Welche Bundesstaaten gleichen sich von ihrer äußeren Form her am meisten?«). ▬ Räumliche Aufgaben zur bildhaften Vorstellung. Bei Raumvorstellungsaufgaben bot man dem Patienten und den Versuchspersonen aus der Kontrollgruppe Folgendes dar: – Buchstabenrotation (mentale Rotation eines Buchstabens – ähnlich der Rotation einer Form, wie sie von Shepard & Metzler verwendet wurde)
– Rotation einer dreidimensionalen Gestalt (siehe Shepard & Metzler) – Mentales Überfliegen (siehe Kosslyn) – Größenskalierung (Schätzungen, ob es sich unabhängig von der Größe um die gleiche Form der Figur handelte) Die Ergebnisse, die in ⊡ Abb. 10.10A dargestellt sind, zeigen deutlich, dass die Leistung von L.H. bei visuellen Aufgaben vermutlich infolge der Zerstörung bestimmter Areale im Gehirn beeinträchtigt war; diese Beeinträchtigungen haben aber anscheinend seine Fähigkeit, räumliche Aufgaben zu lösen, unversehrt gelassen (⊡ Abb. 10.10B).
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Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
Anscheinend erfordern diese beiden Gruppen von Aufgaben (visuelle und räumliche Aufgaben) somit unterschiedliche Arten mentaler Repräsentationen, die neurologisch voneinander getrennt sind. Und weil sie neurologisch voneinander getrennt sind, folgt daraus, dass es unterschiedliche Subsysteme für Repräsentationen bildhafter Vorstellung gibt. Unser Verständnis der bildhaften Vorstellung wird durch diese Untersuchungen auf dreierlei Weise vertieft. Erstens wurde gezeigt, dass kognitive Entitäten wie die bildhafte Vorstellung von zugrunde liegenden neurologischen Funktionen gesteuert werden, die sich empirisch messen lassen.Zweitens sind kognitive Aufgaben wie etwa mentale Rotation, Erkennen einer Farbe usw. wertvolle Hilfsmittel für die neurologische Forschung. Drittens ließ sich zeigen, dass mentale Bilder sowohl visuell als auch räumlich sind.
10.4
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Kognitive Landkarten
Die Fähigkeit des Menschen, sich etwas räumlich vorzustellen, ist, wie wir im Kapitel über Mnemotechniken gesehen haben, – eine eindrucksvolle Eigenschaft des Gedächtnisses. Es handelt sich jedoch auch um etwas Wesentliches für den Alltag, in dem wir arbeiten und uns in unserer Umwelt umherbewegen. Die Menschen teilen mit anderen Lebewesen die gleiche dreidimensionale Welt (wenn auch nicht auf dieselbe Weise wie bei den Fischen und Vögeln) und müssen, wenn sie überleben wollen, in der Lage sein, bildhafte Vorstellungen zu verwenden, um sich in der räumlichen Welt zu bewegen und Schaden abzuwenden. Psychologen interessieren sich schon seit längerem für die Wanderungsmuster von Tieren und die frühen Arbeiten von Tolman führten zum Begriff der kognitiven Landkarte. Damit bezog er sich auf allgemeines räumliches Wissen, wie es von Ratten in einem Labyrinth gezeigt wird.Der berühmte Biologe von Frisch veröffentlichte eine Untersuchung über Honigbienen,in der beschrieben wird, wie sie anderen Bienen ihres Stamms mitteilen,wo sie Blütenpollen finden können. Ein Experiment von Thorndyke und Hayes-Roth (1982) führte zu der Schlussfolgerung, dass Menschen bei ihren Bemühungen, etwas über die räumliche Welt in Erfahrung zu bringen, zwei Arten von Wissen einsetzen: Routenwissen und Überblickswissen. Routenwissen bezieht sich auf die spezifischen Wege, die man benutzt, um
von einem Ort zu einem anderen zu kommen.Wenn mich ein Fremder auf dem Universitätsgelände fragen würde, wo die Medizinische Fakultät ist, würde ich in etwa sagen: »Nehmen Sie die Burgstraße zum Kolosseum, gehen Sie nach rechts und anschließend den Berg hoch, dann werden Sie zur Linken ein großes flaches Gebäude sehen.« Auf diese Weise würde ich Routeninformation vermitteln. Überblickswissen beschäftigt sich dagegen mit globaleren Zusammenhängen zwischen Umweltreizen. Ich könnte dem Fremden auf seine Frage antworten: »Es ist da drüben, ganz allgemein in dieser Richtung.« Eine weitere unmittelbare Art, sich Überblickswissen zu verschaffen, besteht darin, sich eine Landkarte anzuschauen. Die Untersuchung von Thorndyke und Hayes-Roth fand in einem großen Bürokomplex statt, in dem die Autoren arbeiteten. Bei dem Experiment baten sie die Versuchspersonen, sich eine Karte anzusehen. Sie fanden heraus, dass die Versuchspersonen,nachdem sie sich 20 Minuten mit der Karte beschäftigt hatten, genauso gut in der Lage waren, Entfernungen und Orte abzuschätzen, wie eine Gruppe von Sekretärinnen, die mindestens zwei Jahre in dem Gebäude gearbeitet hatten. In einer Untersuchung über den gleichen Gegenstandsbereich beschäftigten sich B. Tversky (1981) sowie Taylor und Tversky (1992) mit den Verzerrungen der Erinnerung an geographische Orte. In seiner interessanten Arbeit weist Tversky darauf hin, dass Verzerrungen auftreten, weil die Menschen begriffliche Strategien verwenden, um geographische Informationen zu erinnern. Wir haben bereits gesehen, dass Versuchspersonen dazu neigen, Prototypen zu bilden, wenn man sie bittet, sich einfache geometrische Formen vorzustellen. Es ist wahrscheinlich, dass beim Menschen sogar noch komplexere Formen abstrahierter Information an der Bildung kognitiver Landkarten beteiligt sind. Es könnte also sein,dass geographische Informationen im Gedächtnis eher in Form abstrakter Verallgemeinerungen als in Form spezieller Bilder strukturiert werden. Mit dieser Argumentation würde die schwierige Frage vermieden,wie wir derartige Informationen im visuellen Gedächtnis speichern können, da der Speicher in umfassenderen Einheiten komprimiert wird. Das Haus z.B., in dem Sie wohnen, ist Teil einer Nachbarschaft, die Teil einer Stadt ist, die Teil eines Kreises ist, der Teil eines Bundeslandes ist, usw. Wenn Sie sich von einem Bereich in den nächsten bewegen (z.B. in Ihrer Stadt), verwenden Sie möglicherweise Wissen in Form einer abstrakten Repräsentation von Orientierungspunkten, und nicht so sehr in
283 10.4 · Kognitive Landkarten
Form einer Reihe einzelner visueller Bilder.Bisweilen wirken sich diese höheren Strukturen störend auf Entscheidungen aus, die man auf dem lokalen Niveau trifft. Wenn man Sie beispielsweise fragen würde, welche Stadt weiter im Westen liegt, Reno oder Los Angeles (⊡ Abb. 10.11), dann würden Sie wahrscheinlich antworten: Los Angeles (Stevens & Coupe,1978).Aber warum? Vermutlich weil wir wissen, dass Los Angeles in Kalifornien und Reno in Nevada liegt, das sich wiederum östlich von Kalifornien befindet. In diesem Fall verlassen wir uns eher auf strategische als auf taktische Informationen und wir werden auf diese Weise in die Irre geführt. Entsprechend könnte sich der deutsche Leser fragen, was nördlicher liegt: London oder Hamburg, Paris oder München.
10.4.1
Mentale Landkarten: Wo bin ich?
Man weiß seit langem,dass wir Menschen Anhänger eines geozentrischen Weltbilds sind. Im Mittelalter sahen die Wissenschaftler die Erde – mit Unterstützung der Kirche – als Zentrum des Sonnensystems (dies machte eine wenig elegante Theorie der Planetenbewegungen erforderlich). Erst Kopernikus katapultierte uns aus dem kosmischen Wirbel heraus und ordnete uns angemessenerweise als dritten Planeten der Sonne an. Es ist verbreitet und verständlich, dass Kinder ihr Zuhause als Mittelpunkt ihres Universums ansehen, das von der Nachbarschaft, der Stadt, dem Bundesland und dem Staat umgeben ist. Regionale egozentrische Eindrücke sind das Ergebnis von Gewöhnung und geben emotionalen Trost (Zuhause ist eines der tröstlichsten Wörter in unserem Wortschatz). Einige Autoren haben vorgeschlagen, dass Landkarten, die im Grunde genommen menschliche Eindrücke von der geographischen Realität sind,sowohl ein Ausdruck objektiver Realitäten als auch teilweise ein Ausdruck einer subjektiven Interpretation dieser Eindrücke sind. Stellen Zeichnungen von Landkarten möglicherweise ein Fenster dar, durch das wir ins Mentale hineinschauen können? Es gibt eine ganze Anzahl von Belegen dafür,dass Ausdrucksformen der Repräsentation – wie etwa Skizzen von Landkarten oder andere graphische Darstellungen – eine Widerspiegelung unseres subjektiven Eindrucks von der Realität sind (siehe die hier abgebildete Sicht der Vereinigten Staaten mit den Augen eines Texaners). Unsere Kollegen in der klinischen Psychologie haben sich schon seit längerem diesem Gedanken verschrieben. Dies kommt in der Verwendung projektiver Techniken zum
Ausdruck (z.B. Mann-Zeichen-Test), von denen man annimmt, dass sie verborgene Persönlichkeitseigenschaften aufdecken. Die meisten Untersuchungen zum Zeichnen einer Landkarte haben sich mit systematischen Verzerrungen und der Genauigkeit regionaler kognitiver Landkarten beschäftigt.Dabei ging es beispielsweise darum,einen Weg auf einem Universitätsgelände zu finden oder die Entfernung zwischen geographischen Punkten zu beurteilen. Mehrere Untersuchungen haben sich mit kognitiven Landkarten im globalen Maßstab beschäftigt. Sicherlich haben alte Landkarten ein gewisses Maß an unvermeidlichem Egozentrismus zum Ausdruck gebracht. So wussten die alten Babylonier nicht, was hinter den Bergen am Horizont lag. Heute weiß jedoch fast jedes Schulkind etwas über die ungefähren geographischen Grenzen in der Welt. Vor einigen Jahren wurde eine wirklich große internationale Studie zum Bild der Welt bei unterschiedlichen Nationalitäten durchgeführt, um unser Verständnis für kulturelle Unterschiede zu erweitern und den Frieden auf der Welt zu fördern. Das Design der Studie war einfach. Schülern an 71 Orten in 49 Ländern, die Geographieunterricht im ersten Jahr hatten, gab man ein leeres Stück Papier und bat sie, eine Karte von der Welt zu zeichnen. Die Ergebnisse waren spannend (Saarinen,1987).Von den nahezu 4000 gezeichneten Karten offenbarte die Mehrheit eine eurozentrische Sicht von der Welt. Dies geschah auch dann, wenn die Personen, die die Karten gezeichnet hatten, aus Gebieten kamen, die von Europa aus gesehen weit entfernt waren, wie etwa die Schüler aus Hongkong, Singapur und Thailand. Dies geht sicherlich auf die starke Verbreitung eurozentrischer Landkarten seit mehr als 500 Jahren zurück. Einige amerikanische Schüler zeichneten amerikazentrische Karten. Ein Beispiel von einem Schüler aus Chicago (der anscheinend mit Texas und der Karibik sehr vertraut war) ist in ⊡ Abb. 10.12 dargestellt. Australische Schüler neigten dazu, sinozentrische Karten mit Australien und Asien in der Mitte zu zeichnen. Einige Schüler zeichneten Karten, auf denen sich nicht nur Australien in der Mitte befand, sondern auf denen auch alle anderen Länder in der »unteren Hemisphäre« abgebildet waren, wie man es in ⊡ Abb. 10.13 sehen kann. Landkarten mit dieser Orientierung sind in Australien nicht verbreitet.Man würde erwarten,dass Schüler ihr eigenes Land disproportional größer zeichnen. Aber dies schien nicht der Fall zu sein. Wichtige Länder (die Vereinigten Staaten und die frühere UdSSR, England, Frankreich usw.) befanden sich auf den meisten Karten. Afrika
10
284
Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
⊡ Abb. 10.11A, Geographische Verzerrung: Eine kognitive Landkarte von Reno als einer Stadt, die östlich von Los Angeles liegt.
10
⊡ Abb. 10.11B. Geographische Verzerrung: Tatsächliche Lage von Reno – westlich von Los Angeles. B Sicht der USA mit den Augen eines Texaners
285 10.5 · Synästhesie: Der Klang der Farben
war im Allgemeinen unterrepräsentiert und bei den Ländern Afrikas schien man sich weniger gut auszukennen. Amerikanische Schüler zeigten eher schlechte Leistungen bei dieser Aufgabe – insbesondere wenn es darum ging, Länder korrekt anzuordnen. Schüler aus Ungarn und der Sowjetunion brachten einige der detailliertesten Karten hervor.
10.5
Synästhesie: Der Klang der Farben
Synästhesie ist ein Zustand, in dem Empfindungen von einer Sinnesmodalität (z.B. Sehen) in einer anderen Sinnesmodalität (z.B. Hören) erlebt werden. Somit kann das Bild eines Objektes einen Klang erzeugen.Bei einigen wenigen Personen ( siehe die Beschreibung von S. in Kap. 6) kommt es zu außergewöhnlichen Übertragungen zwischen sensorischen Erlebnissen.Es handelt sich um etwas Ähnliches wie das, was die Toningenieure »Übersprechen« nennen. Dabei kann man Signale von einem Kanal in einem anderen Kanal hören. Das gleichzeitige Erleben sensorischer Ereignisse ist für viele Menschen etwas Alltägliches. Gedichte sind voller Metaphern zur Synästhesie (siehe den Kasten mit der Überschrift »Literarische Metaphern und Synästhesie«).Künstler haben den engen Zusammenhang zwischen Anblicken und Klängen bestätigt. Kandinsky (1912) – der abstrakte Künstler aus Russland – schrieb einmal,der Klang der Farben sei »so eindeutig,dass es schwer wäre, jemanden zu finden, der versuchen würde, ein helles Gelb durch Basstöne oder [einen] dunklen See durch einen diskanten Ton auszudrücken«. Aber sowohl die außergewöhnliche Synästhesie als auch die alltägliche Übertragung zwischen Sinnesmodalitäten bleibt mysteriös. Es gibt Prinzipien, die der Synästhesie zugrunde zu
liegen scheinen,und es gibt Forschungsergebnisse,die diese Prinzipien untermauern (Marks, 1987a, 1987b). Synästhesie ist gewöhnlich regelgeleitet und nicht zufällig. So gibt es beispielsweise einen positiven Zusammenhang zwischen zunehmender Tonhöhe und zunehmender Helligkeit (wenn ich huste und niese und Sie fragen würde, was heller ist, würden Sie sich wahrscheinlich für das Niesen entscheiden). Marks (1974) bot seinen Versuchspersonen in einer Untersuchung eine Reihe von Tönen dar, die in der Tonhöhe variierten. Die Versuchspersonen wurden gebeten, jeden einzelnen Ton mit einer Reihe von Farben in Zusammenhang zu bringen, die sich in Bezug auf die Helligkeit unterschieden. Wie in ⊡ Abb. 10.14 dargestellt gibt es einen substanziellen positiven Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Helligkeit. Marks hat diese korrelativen Beobachtungen auf Reaktionszeitexperimente erweitert. Darin bat er die Versuchspersonen, durch Drücken einer Reaktionszeittaste zwischen zwei akustischen Tonwerten zu unterscheiden – beispielsweise zwischen einem hohen und einem tiefen Ton.Bei jedem Versuchsdurchgang wurde auch ein schwaches bzw. ein helles Licht eingeschaltet. Der Zusammenhang zwischen der Helligkeit des Lichts und der Tonhöhe schien zufällig zu sein und (zu dieser Schlussfolgerung kam die Versuchsperson wahrscheinlich) nicht von Belang für den Hauptzweck des Experiments zu sein. Trotzdem gab es wie in ⊡ Abb. 10.15 dargestellt einen zuverlässigen Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Helligkeit,gemessen mit Hilfe der Reaktionszeit. Wenn die Lichtstärke hoch ist (320 cd/m2), ist die Reaktionszeit auf einen hochtönigen Reiz relativ kurz,während man auf tieftönige Reize relativ langsam reagiert. Unter einer weiteren Bedingung fand man heraus,dass Farben und Tonhöhen einen vorhersagbaren Zusammenhang aufwiesen.Bei der Bewertung des »Tons der Farben«
Literarische Metaphern und Synästhesie Das Murmeln grauen Zwielichts (Poe) Der Klang der kommenden Dunkelheit (Poe) Der Sonnenuntergang schwebt wie der Klang goldener Hörner (Robinson) Die Welt lag leuchtend da; alle Blumenblätter und Spinnweben bebten vor Musik (Aiken) Ein weiches, doch glühendes Licht wie beruhigende Musik (Shelley)
Die Musik setzte ein wie leuchtende Pfeile (Gautier) Musik, die so hell war wie die Seele des Lichts (Swinburne) Das silbrige Nadelzeichen einer Querpfeife (Auslander) Die Morgendämmerung kommt wie ein Donner (Kipling)
10
286
Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
10 ⊡ Abb. 10.12. Sicht der Welt bei einem Schüler aus Chicago
scheint es so zu sein, dass man mit gelb und weiß helle Töne verbindet, mit rot und grün Töne im mittleren Bereich sowie mit schwarz und braun dunkle Töne. Die Tonhöhen, die mit diesen Farben verbunden werden, entsprechen sich in nahezu perfekter Weise (Marks, 1987a). Eine Bestätigung für diese Zusammenhänge findet sich häufig auch in literarischen Quellen. Denken Sie an das Beispiel: »Sie sang mit silberner Klarheit« oder »Der Bass brachte reichhaltige dunkle Töne hervor, die eine ganz spezielle Stimmung für die gesamte Aufführung von Boris Gudonov hervorriefen.« Weitere Experimente bestätigen diese Beobachtungen. Wir haben das Thema Synästhesie mit »weichen Hinweisen« begonnen – zum allegorischen Charakter einer die Sinnesmodalitäten überschreitenden Erfahrung ( siehe Kasten mit der Überschrift: »Literarische Metaphern und Synästhesie«). Wir schließen nun mit »harten Daten« ab (zum nahezu perfekten Zusammenhang zwi-
schen Tönen und Lichtstärke). Vielleicht sind gute Wissenschaft und gute Kunst Teil einer einzigen Realität. Uns geht es hier jedoch darum, die Synästhesie im umfassenderen Kontext der kognitiven Psychologie zu begreifen. Es liegen überzeugende Befunde vor, durch die sich belegen lässt, dass vielen Menschen eine Art von Synästhesie eigen ist, bei der Bilder und Töne (aber auch andere sensorische Erlebnisse) eng miteinander verwoben sind.Weiterhin kann man die Synästhesie messen und aus diesen Beobachtungen lassen sich gesetzmäßige Aussagen ableiten. Es gibt auch Befunde, die darauf hindeuten, dass einige Menschen ungewöhnliche synästhetische Eigenschaften aufweisen. Diese Personen erleben ein ungeheuerliches »Übersprechen« zwischen verschiedenen sensorischen Erlebnissen ( siehe dazu die Erörterung von S. in Kap. 6).Durch welche Mechanismen könnte man diese Beobachtungen erklären?
287 10.5 · Synästhesie: Der Klang der Farben
⊡ Abb. 10.13. Sicht der Welt bei einem Studenten aus Australien
⊡ Abb. 10.14. Mittlere Reaktionszeit auf Töne unterschiedlicher Tonhöhe (Hz) und unterschiedliche Lichtstärke (cd/m2). Aus Marks (1974)
10
288
Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
⊡ Abb. 10.15. Einstufungen der Helligkeit von Farben und Tonhöhen. Aus Marks (1974)
10
Denken Sie erstens an den physikalischen Charakter der natürlichen Welt. Gibt es gute Gründe dafür, Ansichten und Klänge miteinander zu verbinden? Ähneln sich helle Objekte und hohe Töne im physikalischen Sinne? Vielleicht, aber wenn man nach physikalischen Erklärungen sucht,übersieht man womöglich ihre wichtige psychologische Eigenart.Denken Sie zweitens an den perzeptiven und kognitiven Charakter der Synästhesie.Es könnte sein, dass unser Nervensystem auf eine Weise strukturiert ist, durch die das »Übersprechen« zwischen kortikalen Nervenzellen ein wertvolles,»zuvor verdrahtetes« Element bei der redundanten Parallelverarbeitung von Informationen im Gehirn des Menschen ist. Um etwas über den Zu-
sammenhang zwischen sensorischen Erfahrungen herauszufinden, mussten wir uns früher auf die Vermittlung durch Sprache und auf Reaktionszeitexperimente verlassen. Die immer ausgeklügelteren Techniken der Aufzeichnung von Hirnaktivitäten lassen vermuten, dass es bald Studien zu Synästhesie und Hirnaktivität geben wird, die dazu beitragen werden, den Ursprung und die Eigenart dieses spannenden Themas anzugehen. Und schließlich werden künftige Arbeiten auf dem Gebiet der Neurokognition (vor allem neuere Fortschritte der Technologie bildgebender Verfahren) wahrscheinlich viele der komplizierten Probleme entmystifizieren, die momentan diejenigen verwirren,die diesen seltsamen Gegenstand untersuchen.
Zusammenfassung Wie zu Beginn dieses Abschnitts über bildhafte Vorstellung angemerkt waren die frühen experimentellen Bemühungen auf diesem Gebiet eher enttäuschend. Und dies trifft weiterhin zu. Wir haben drei Auffassungen zur bildhaften Vorstellung dargestellt: die Dual-Coding-Hy▼
pothese, die konzeptuell-propositionale Hypothese und die Hypothese der funktionalen Äquivalenz. Jede einzelne Auffassung ist theoretisch elegant und intuitiv einleuchtend. Deshalb wird wahrscheinlich jeder, der sich mit der bildhaften Vorstellung beschäftigt, ein Gefühl des
289 10.5 · Synästhesie: Der Klang der Farben
Unwohlseins empfinden, wenn er das beste Modell auswählen soll. Anscheinend werden Informationen auf einem bestimmten Niveau der Verarbeitung bildhaft kodiert, während die gleiche Information auf einem anderen Niveau der Verarbeitung konzeptuell kodiert wird. Somit könnte sich das durch die drei einleuchtenden Hypothesen verursachte Problem so lösen lassen, dass man alle drei Hypothesen akzeptiert. Dabei erkennt man an, dass sich die Kodierung von Informationen über mehrere Schichten kognitiver Prozesse erstrecken kann, von denen jeder Einzelne Informationen auf die ihm eigene Weise transkribiert. 1. Die Forschung auf dem Gebiet der bildhaften Vorstellung beschäftigt sich mit der Frage, wie Informationen im Gedächtnis repräsentiert werden. 2. Es lassen sich drei klar voneinander unterscheidbare theoretische Positionen hinsichtlich der Frage ausmachen, wie Informationen im Gedächtnis gespeichert werden: die Dual-Coding-Hypothese, die konzeptuell-propositionale Hypothese und die Hypothese der funktionalen Äquivalenz. 3. Bei der Dual-Coding-Hypothese wird davon ausgegangen, dass Informationen entweder in einem von zwei Systemen oder in beiden kodiert und gespeichert werden können: dem verbalen und dem vorstellungsbezogenen. Diese Auffassung wird durch verhaltenswissenschaftliche und neurologische Befunde gestützt. 4. Bei der konzeptuell-propositionalen Hypothese wird angenommen, dass Informationen in einem abstrakten propositionalen Format gespeichert werden, bei dem Objekte, Ereignisse und ihre Beziehungen zueinander genau angegeben werden. Diese Auffassung ist theoretisch elegant, sie kann jedoch die Befunde nicht recht erklären, die auf die am Isomorphismus zweiter Ordnung beteiligten Vorstellungsprozesse verweisen (siehe z.B. Shepards Arbeiten). 5. Bei der Hypothese der funktionalen Äquivalenz wird behauptet, dass bildhafte Vorstellung und Wahrnehmung einander sehr ähnlich sind (siehe vor allem die Arbeiten von Shepard und Kosslyn).
6. Zur Erklärung bildhafter Vorstellung wurden zwei Arten der Repräsentation vorgeschlagen: die direkte und die allegorische Repräsentation. Letztere wird im Allgemeinen eher akzeptiert als Erstere. 7. Es wird darüber diskutiert, ob die visuelle bildhafte Vorstellung in Wirklichkeit visuell (spezifisch) ist oder ob es sich eigentlich eher um einen allgemeinen kognitiven Prozess handelt. 8. Neurologische Belege sprechen für das Vorhandensein einer mentalen Rotation. Die neuere Forschung zur bildhaften Vorstellung ist in zwei Lager gespalten: in jene, die glauben, dass mentale Bilder etwas ganz Ähnliches wie andere Wahrnehmungseindrücke aus der physikalischen Welt sind; und jene, die der Auffassung sind, dass Objekte in Form der Wissensbasis einer Person repräsentiert werden. Manche betrachten die Situation auch als eine Mischform aus diesen beiden Extremstandpunkten. 9. Wissenschaftler, die zur Untersuchung der bildhaften Vorstellung Messungen der lokalen zerebralen Durchblutung (rCBF) durchführen, machen die Annahme, dass Blutkonzentrationen im Gehirn mit dem Ausmaß der Aktivität in diesem Teil des Gehirns korrelieren. Die Daten scheinen darauf hinzudeuten, dass, wenn wir uns etwas vorstellen, die visuelle Verarbeitung und manchmal auch die Gedächtnisareale des Gehirns aktiv sind. 10. Wenn es um mentale Landkarten geht, neigen die Menschen dazu, eine egozentrische Sicht der Welt zu haben. 11. Bei der Synästhesie handelt es sich um einen Zustand, bei dem Empfindungen, die gewöhnlich in einer einzelnen Sinnesmodalität erlebt werden, in zwei Sinnesmodalitäten erfahren werden. Dieses Phänomen und diejenigen, die es erleben, führten zu einer Reihe interessanter und informativer Forschungsarbeiten. Tatsächlich wurden in den Befunden mit einer gewissen Zuverlässigkeit einige kognitive Funktionen gefunden.
10
290
Kapitel 10 · Bildhafte Vorstellung
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Dual-Coding-Hypothese Hypothese der funktionalen Äquivalenz Isomorphismus zweiter Ordnung kognitive Landkarte konzeptuell-propositionale Hypothese mentale Rotation visuelle bildhafte Vorstellung
Literaturempfehlungen Relevante Literaturstellen zur bildhaften Vorstellung finden sich in Paivios Buch Imagery and Verbal Processes, in Rocks Buch Perception, in Shepards Beitrag »Form, Formation and Transformation of Internal Representations« und in Shepards Artikel »The Mental Image« im American Psychologist.Eine maßgebliche Erklärung ist nachzulesen in Pinkers Buch Visual Cognition.Wer auf der Suche nach einer schnörkellosen Darstellung der Debatte um »Bild-
10
hafte Vorstellung kontra Propositionen« ist, dem sei der Artikel von Kosslyn und Pomerantz in Cognitive Psychology sowie die Beiträge von Pylyshyn im Psychological Bulletin und Psychological Review empfohlen. Siehe auch Kosslyns Buch Image and Mind und die Darstellung seiner Theorie im Psychological Review sowie sein Buch Ghosts in the Mind’s Machine.Über Kosslyns neuere Arbeiten mit Hilfe der PET-Technik findet sich etwas im Journal of Cognitive Neuroscience und in Science, aber auch in einem Buch mit dem Titel Image and Brain: The Resolution of the Imagery Debate. Roger Shepard hat ein vergnüglich zu lesendes Buch geschrieben, das den Titel Mind Sights trägt. Es sollte von allen gelesen werden,die sich für die bildhafte Vorstellung und die damit zusammenhängenden Themen interessieren. Die Ausgabe von Memory & Cognition vom September 1992 ist dem Thema mentale Modelle und damit einhergehenden Fragen gewidmet. Band 2 der von Kosslyn und Osherson herausgegebenen Buchreihe hat den Titel An Invitation to Cognitive Science und beschäftigt sich mit visueller Kognition. Im gesamten Abschnitt VIII von Gazzanigas Klassiker The Cognitive Neurosciences geht es um Denken und bildhafte Vorstellung. Dieses Buch ist sehr empfehlenswert.
V
Sprache und Kognitionsentwicklung 11
12
13
Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
– 293
Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern Kognitive Entwicklung
– 345
– 321
11 Sprache 1: Struktur und Abstraktionen 11.1
Sprache: Kognition und Neurologie –294
11.2
Linguistik –297
11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4
Linguistische Hierarchie –297 Phoneme –297 Morpheme –298 Syntax –299
11.3
Chomskys Grammatiktheorie –300
11.3.1
Transformationsgrammatik –301
11.4
Psycholinguistische Aspekte von Sprache –303
11.4.1 11.4.2
Angeborene Eigenschaften und Einflüsse aus der Umwelt –303 Hypothese von der linguistischen Relativität –303
11.5
Kognitive Psychologie und Sprache: Abstraktion linguistischer Vorstellungen –305
11.5.1 11.5.2
»Der Krieg der Geister«: Bartlett –305 »Ameisen fressen Götterspeise«: Bransford und Franks –308
11.6
Wissen und Textverständnis –310
11.6.1 11.6.2
»Seifenoper«, »Diebe« und »Polizei« –311 »Autoaufkleber und die Polizei«: Kintsch und van Dijk –313
11.7
Ein Modell zum Textverständnis: Kintsch –314
11.7.1
Propositionale Repräsentation von Text und Lesen –316
11.8
Sprache und Neurologie –317
294
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
Anregungen vorab 1. Wie unterscheidet sich der psychologische Ansatz vom linguistischen bei der Erforschung der Sprache? 2. Welches sind die grundlegenden Merkmale von Chomskys Grammatiktheorie? 3. Wenn Sie Ihr Kind dadurch verstärken, dass Sie ihm eine Kiwi geben, wenn es »Traube« sagt, welche Theorie der Sprachentwicklung würde dann damit veranschaulicht? 4. Wie lautet die Hypothese der linguistischen Relativität? Wodurch wurde diese Hypothese gestützt? Und welche Befunde sprechen gegen sie? 5. In welcher Weise haben Untersuchungen zum Erinnern von Geschichten (z.B. »Der Krieg der Geister«) unsere Auffassungen über Sprache und Gedächtnis verändert? 6, Was ist ein Schema und wie verzerren durch ein Schema induzierte Informationen die eigene Erinnerung an Geschichten in systematischer Weise? 7. Welches sind die wesentlichen Punkte in Kintschs Modell des Sprachverstehens? 8. Wie haben kognitive Neurowissenschaftler den Gegenstandsbereich Gehirn und Sprache erforscht und welche Hauptschlussfolgerungen kann man aus diesen Arbeiten ziehen?
Die Sprache ermöglicht es uns, vieles zu wissen: wie sich Tintenfische lieben und wie man Kirschflecken entfernt, warum Teddy verzweifelt ist ... wie man im eigenen Keller eine Atombombe baut, wie Katharina die Große starb und viele andere Dinge mehr. Steve Pinker
11
Während Sie diesen Text lesen, nehmen Sie an einem der faszinierendsten geistigenVorgänge teil – nämlich an dem Prozess, wie das Mentale eines Menschen das eines anderen Menschen mit Hilfe der Sprache beeinflusst. Bei diesem Vorgang werden einige Zellkonfigurationen in Ihrem Gehirn auf Dauer verändert,es werden neue Gedanken geformt und Sie werden in einem sehr realen Sinne verändert: Es wird eine neue Person erzeugt. Dennoch geht dieser erstaunlich komplexe Mechanismus bei Millionen von Menschen 1000-mal am Tag ohne jede Anstrengung vor sich. Alte Männer, kleine Kinder, der Vorstandsvorsitzende von DaimlerChrysler, Friseure in Mexiko City, Taxifahrer in Denver, Schuhmacher in Athen und Pelztierjäger in Sibirien – sie alle verwenden die Sprache, um mit anderen zu kommunizieren.Und wenn niemand da ist,mit dem sie sich unterhalten können, werden sie spontan anfangen, mit dem Wellensittich im Käfig zu plaudern bzw. mit einem Baum oder einer Bratpfanne zu sprechen.Wir haben in Kap. 9 erfahren, dass »Fische schwimmen und Vögel fliegen müssen«; wir könnten hinzufügen: »Menschen müssen plaudern.« Mit Ausnahme von finsteren religiösen Orden sprechen die Menschen und verwenden auch sonst unaufhörlich Sprache. Für die Kognitionspsychologen ist
die Sprache ein Kommunikationssystem, bei dem Gedanken mit Hilfe von Tönen (wie beim Sprechen und bei der Musik) oder Symbolen (wie bei geschriebenen Wörtern und bei Gesten) übermittelt werden.
11.1
Sprache: Kognition und Neurologie
Für die kognitiven Psychologen ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache des Menschen aus den folgenden Gründen wichtig: ▬ Die Sprachentwicklung beim Menschen stellt eine einzigartige Form der Abstraktion dar, die für die Kognition grundlegend ist. Obwohl auch andere Lebewesen (Bienen, Vögel, Delfine, Präriehunde usw.) raffinierte Methoden besitzen, um miteinander zu kommunizieren, und Menschenaffen anscheinend eine Form sprachlicher Abstraktion benutzen, ist das Ausmaß der Abstraktion beim Menschen umfassender. ▬ Die Sprachverarbeitung ist eine wichtige Komponente der Informationsverarbeitung und -speicherung. ▬ Menschliches Denken und Problemlösen kann man sich als Prozesse vorstellen,an denen Sprache beteiligt
295 11.1 · Sprache: Kognition und Neurologie
ist.Viele,wenn nicht die meisten Formen des Denkens und Problemlösens finden innerlich statt. Das heißt, sie gehen in Abwesenheit äußerer Reize vor sich.Wenn man beispielsweise von einer Rätselaufgabe abstrahiert und sie in verbale Symbole überführt, so stellt dies eine Möglichkeit dar, über eine Lösung nachzudenken. ▬ Die Sprache ist das hauptsächliche Mittel zur Kommunikation unter Menschen – die Methode,mit deren Hilfe die meisten Informationen ausgetauscht werden. ▬ Die Sprache hat einen Einfluss auf die Wahrnehmung und dies ist ein grundlegender Gesichtspunkt der Kognition. Manche argumentieren, dass die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, durch die Sprache, die wir zu ihrer Beschreibung verwenden, beeinflusst wird. Zum anderen basiert die Sprachentwicklung großenteils auf unserer Wahrnehmung der Sprache. Deshalb ist das Verhältnis von Sprache und Wahrnehmung das einer gegenseitigen Abhängigkeit: Das eine hat jeweils einen wichtigen Einfluss auf das andere. Sprache funktioniert aus diesem Blickwinkel heraus als Fenster nach draußen. ▬ An der Verarbeitung von Wörtern,gesprochener Sprache und Semantiken sind anscheinend spezifische Areale des Gehirns beteiligt. Diese Verarbeitung stellt somit ein bedeutsames Bindeglied zwischen neuroanatomischen Strukturen und Sprache dar. Außerdem konnten durch die Untersuchung der Neuropathologie häufig offenkundige Veränderungen in den Sprachfunktionen nachgewiesen werden (wie etwa bei der Aphasie). Aus diesen Gründen ist die Sprache von Kognitionspsychologen, Psycholinguisten (Spezialisten für den Zusammenhang zwischen Psychologie und Sprache), Neuropsychologen und anderen umfassend erforscht worden. Überblick. Im vorliegenden Kapitel werden wir die tra-
ditionellen Gebiete Sprache und Psycholinguistik behandeln. Zusätzlich werden wir noch in einige neuere Aspekte der Sprachforschung einschließlich der kognitiven Neurowissenschaft der Sprache einführen – das ist das Spezialgebiet, das Sprache aus der Perspektive des neuronalen Systems erforscht. In der Vergangenheit haben sich die Kognitionspsychologen bei der Erforschung der Sprache auf zwei Themen konzentriert: Wörter und Grammatik. Ein großer Teil von Kap. 12 widmet sich dem Thema Wörter und auch in diesem Kapitel wer-
den wir uns schwerpunktmäßig mit der Grammatik beschäftigen. Wörter und die damit verbundenen Bedeutungen. Denken
Sie einmal an ein ganz gewöhnliches Wort – an das Wort Fass, das wir für normalerweise als einen großen zylindrischen Behälter definieren, der aus Holzdauben hergestellt wird, die wiederum von metallenen Reifen zusammengehalten werden. Wenn ich also »Frank hat ein Fass Rum bekommen« sagen würde, verfügen Sie praktisch im selben Moment (wenn man einmal von den Beschränkungen für die Geschwindigkeit der neuronalen Übertragung absieht) über eine ungeheure Menge an Informationen. Dies liegt an den vielen Eigenschaften von Wörtern und der damit einhergehenden Assoziationen, die in Ihrem zerebralen Kortex gespeichert sind.Während dieses Prozesses setzt die Wahrnehmung des Wortes Fass eine intensive Reise durch das Gehirn in Gang – sozusagen nach dem Motto: »Suche und assoziiere!« Auf dieser wunderbar komplexen Route jagen sich rasch fortbewegende Schiffchen elektrochemischer Impulse durch das Gehirn,nehmen hier eine Verbindung auf,ziehen dort eine Schlussfolgerung und greifen an anderer Stelle auf eine entfernte Assoziation zurück. Dies alles geschieht mit Hilfe massiv paralleler Verarbeitung.Wenn ich also einen Satz über Frank und das Fass höre, kommt mir in den Sinn, dass Frank gerade dabei ist, »ein Fass aufzumachen« und dass er ein Fass aufschlägt,die Dauben entfernt und damit wie die Norweger,die im 19.Jahrhundert das Skifahren erfunden haben, einen schneebedeckten Berg heruntergleitet. Die kupfernen Fassreifen (keine Autoreifen), die von Fassbindern (nicht von Rainer Werner Fassbinder, dem Regisseur, sondern von denen, die die Dauben zu Fässern zusammenbanden) geschmiedet wurden, könnten zum Hula-Hoop (das Spiel, bei dem ein Reif um die Hüfte bewegt wird) verwendet werden (aber hoppla). Das Unglaubliche an der wild umherirrenden Fantasie ist, dass es sich eigentlich gar nicht um etwas sehr Wildes handelt, sondern um etwas recht Konventionelles – wir alle machen es ständig und ohne dass wir es in nennenswertem Maße bewusst steuern könnten. Falls Ihr Zentralnervensystem in ähnlicher Weise wie bei mir verdrahtet ist, werden Sie, wenn Sie das nächste Mal das Wort Fass sehen oder hören, Rainer Werner Fassbinder, Autoreifen, Skier oder Hula-Hoop in messbarer Weise schneller wieder erkennen (entweder das Wort oder die Person oder ein Bild). Das Aktivierungsniveau der neuronalen Zellen, die mit diesen verborgenen Assoziationen in Zusammenhang ste-
11
296
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
hen, hat deutlich zugenommen. Während die Assoziationen vielleicht noch unbewusst bleiben,lauern sie dennoch bereits in den Startlöchern. Sie warten auf ihren Hinweisreiz, um auf der Bühne des Bewusstseins in Erscheinung zu treten.Wir können dies heute mit Hilfe von Reaktionszeitexperimenten und bildgebenden Verfahren (z.B. MRT und PET) messen. Wir Menschen kennen eine ganze Anzahl von Wörtern. Im Lexikon unseres Gehirns sind etwa 60.000 unterschiedliche Entitäten gespeichert, aber viele weitere können verstanden und ständig erzeugt werden. Der dynamische Charakter der Sprache lässt sich durch Folgendes veranschaulichen: Wörter wie Snail Mail (Schneckenpost als Beschreibung der langsamen Postbeförderung im Gegensatz zur E-Mail), Californiaburger, Kollateralschaden oder wie eine Studentin kürzlich über ihren Freund bemerkte: »Er ist eine Art Jim Carey – ein tolstoiesker Typ.« Hier handelt es sich um eine tiefgründige Veranschaulichung dessen, was im Kern gemeint war. Grammatik. Ein zweiter Bereich, für den sich Forscher
11
interessieren, ist die Art und Weise, wie Wörter in Phrasen und Sätzen miteinander kombiniert werden. Abgesehen davon, dass uns sehr viele Wörter zur Verfügung stehen, um unseren Gedanken Ausdruck zu verleihen,kennen wir auch die Regeln, mit deren Hilfe wir sie in eine korrekte Reihenfolge bringen können. Dies ermöglicht uns, Ideen in einer gewissen Ordnung so auszudrücken, dass sie von anderen verstanden werden. Wir können Wörter auf vielerlei Weise korrekt miteinander kombinieren und dennoch durch sie einen einzigen Gedanken ausdrücken. So kann die Aussage Johanna sah, wie der Bär die Kühlschranktür öffnete und Erdbeeren fraß auch anders ausgedrückt werden: Der Bär, der die Erdbeeren fraß, öffnete die Kühlschranktür und wurde dabei von Johanna beobachtet. Und es gibt noch zahlreiche andere Möglichkeiten,bei denen die Bedeutung erhalten bleibt. Formaler ausgedrückt umfasst die Erforschung der Grammatik die Bereiche der Phonologie (die sich mit der Funktion der Laute in einem Sprachsystem befasst),die Morphologie (die Wissenschaft von der Wortbildung, den Wortarten und der Formveränderung von Wörtern durch Deklination und Konjugation) und die Syntax (die Erforschung der in einer Sprache üblichen Verknüpfung von Wörtern und sprachlichen Einheiten in Phrasen und Sätzen). All diese Themen werden im vorliegenden Kapitel berücksichtigt.
Neurologie. Eine der frühesten wissenschaftlichen Unter-
suchungen zur Sprache bezog neurologische Fragen mit ein und die Suche nach einer Antwort auf diese Fragen dauert bis heute an. Bereits in der Antike wussten die Ärzte, dass ein Hirnschaden einen Einfluss auf die Sprachfunktionen hat.Der wissenschaftliche Durchbruch gelang jedoch im Jahre 1861, als der junge französischer Chirurg Paul Broca einen Patienten beobachtete, der unter einer Halbseitenlähmung des Körpers litt,aber auch nicht mehr sprechen konnte. Der Patient starb und Broca führte eine Obduktion durch, die eine Läsion in einem Teil des linken Frontallappens erbrachte – ein Areal, das in der Folgezeit als Broca-Areal bekannt wurde. Spätere Fallgeschichten bestätigten die ursprüngliche Beobachtung, dass das linke frontale Areal anscheinend an der Sprachproduktion beteiligt war,obwohl Broca den Zusammenhang zwischen der linken Hemisphäre und der Sprache zunächst nicht sah. Im Jahr 1875 konnte Carl Wernicke zeigen, dass eine Läsion im linken Temporallappen, direkt hinter dem primären auditorischen Kortex,auch die Sprachverarbeitung beeinträchtigte, doch auf eine andere Art als beim BrocaAreal.Während das Broca-Areal an der Sprachproduktion beteiligt zu sein schien, war das Wernicke-Areal (wie es schon bald genannt wurde) ein Zentrum für das Sprachverstehen. Eine Schädigung am Wernicke-Areal ließ bei den Patienten die Sprechfähigkeit intakt, aber sie wiesen ein schlechteres Verständnis gesprochener oder geschriebener Wörter auf. Sie konnten zwar flüssig sprechen, aber sie konnten nicht richtig verstehen, was man ihnen sagte. Aber es gibt eine gewisse Variabilität unter den Menschen und deshalb müssen diese frühen Lokalisierungsversuche mit Vorsicht genossen werden. Anscheinend ist die Sprache, die an nahezu allen Denkakten beteiligt ist, nicht an einer einzelnen »Stelle« oder sogar an mehreren lokalisiert, sondern sie wird über eine mikroskopisch kleine Verschaltung auf der zellulären oder sogar der subzellulären Ebene verarbeitet. Auf diesen sehr elementaren Synapsenniveaus, die selbst mit Hilfe der fortgeschrittensten bildgebenden Verfahren gegenwärtig noch nicht dargestellt werden können, findet wahrscheinlich die grundlegende Sprachverarbeitung statt. Wenn wir auf ein Jahrhundert der Hirnforschung und der Forschung zur Sprachverarbeitung zurückblicken, dann können wir zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Sprachfunktionen in breit definierten Regionen lokalisiert sind, die sich stark auf die linke Hemisphäre konzentrieren. Dies schließt die ursprünglichen Stellen ein, die von Broca und Wernicke gefunden wurden, aber auch
297 11.2 · Linguistik
Teile des (linken) assoziativen Kortex und des temporalen Kortex. Aber die Sprachverarbeitung und die Sprachproduktion sind eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit. Denken Sie nur einmal daran, welche riesige Anzahl von Unterverarbeitungsaktivitäten an der einfachen assoziativen Reaktion beteiligt sind, dass man das Wort ROT sieht und Blut sagt – Vorgänge, zu denen unter anderem Sehen, Merkmals- und Wortidentifizierung, Zugang zum Wortschatz,Wortassoziationen,motorische Aktivitäten und Sprache sowie vielleicht emotionale Wirkungen gehören. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass andere Teile des Gehirns, deren Funktionen weniger gut bekannt sind, subtilere Auswirkungen haben. Später in diesem Kapitel werden wir auf das Thema Sprache und Neurologie zurückkommen, doch jetzt wollen wir uns zunächst einmal der linguistischen Seite der Sprache zuwenden.
Ich war erstaunt über die Tatsache, dass sich die Läsion bei meinen ersten Aphemikern nicht nur immer im selben Teil des Gehirns befand, sondern auch auf derselben Seite – nämlich der linken. Seit dieser Zeit weiß ich aus vielen Obduktionen, dass die Läsion immer linksseitig ist. Paul Broca (1864)
11.2
Linguistik
Die Linguistik beschäftigt sich mit der formalen Beschreibung der Sprachstruktur und dazu gehört auch die Beschreibung der Sprachlaute, der Bedeutungen und der Grammatik. Sprache, wie sie die Linguisten untersuchen, ist gewöhnlich kompetenzbasiert (es geht um ein ideales Potenzial des Sprechers bzw. Zuhörers), während Psychologen die Sprache im Allgemeinen unter dem Aspekt der Performanz sehen (d.h., wie die Menschen Sprache verwenden). Das Fachgebiet, das beide Ansätze in die Erforschung der Sprache einbezieht, wird als Psycholinguistik bezeichnet.
sicht ähnelt ihr Ansatz dem eines kognitiven Psychologen, der sich dafür interessiert, ein Gedächtnismodell zu entwickeln. Aus unserer Erörterung des Themas Gedächtnis erinnern Sie sich vielleicht daran, dass zu einem Gedächtnismodell der Inhalt des Gedächtnisses, die Gedächtnisstruktur und die Prozesse gehören, die innerhalb des Gedächtnisses aktiv sind (z.B. Kodierungsvorgänge, Abrufprozesse und Transformationsoperationen). In ähnlicher Weise beschäftigen sich manche Linguisten mit der Entwicklung eines Modells für Sprache – für ihren Inhalt,ihre Struktur und ihren Prozess. Im Gegensatz zur Gedächtnisforschung postuliert die linguistische Forschung jedoch eine Hierarchie, die von grundlegenden über zusammengesetzte bis hin zu sehr komplexen Komponenten reicht – es geht also um die Laut- und Bedeutungseinheiten in einer Reihenfolge zunehmender Komplexität. Jede Ebene hängt in bestimmter Weise von einer untergeordneten Ebene ab,kann jedoch mit jeder beliebigen anderen Ebene in Wechselwirkung treten. Die Entwicklung einer Schrift, die gesprochene Sprache wiedergibt und Gedanken übermittelt, ist eine der bedeutsamsten hierarchischen Schöpfungen der Menschheit. In der englischen Sprache gibt es nur zehn Symbole für Ziffern und 26 für Buchstaben.Einige davon sind so redundant oder werden so selten verwendet,dass sie nur wenig zur Gesamtstruktur der Schriftsprache beitragen.Aus diesen wenigen Buchstaben und Ziffern werden in unserem Arbeitswortschatz etwa 40.000 Wörter konstruiert und aus diesen Wörtern wiederum werden Millionen und Abermillionen von Sätzen gebildet.Es mag vielleicht nicht so viele Sätze geben wie Teilchen im Universum. Aber wenn man das unersättliche Bedürfnis, mit anderen zu kommunizieren, als gegeben annimmt, bringen wir jede Minute eine riesige Anzahl neuer Sätze hervor und werden uns – so kann man annehmen – eines Tages dieser Anzahl nähern.Wenn man die Vielfältigkeit der menschlichen Erfahrung bedenkt, die durch so wenige Symbole erzeugt wird (durch so unterschiedliche Bücher wie Ilias und Mein Kampf), dann sind die hierarchischen Kodierungseigenschaften der Sprache wirklich erstaunlich.
11.2.2 11.2.1
Linguistische Hierarchie
Linguisten sind daran interessiert, eine deskriptive Rahmenvorstellung für Sprache zu entwickeln. In einer Hin-
Phoneme
Die grundlegende Einheit der gesprochenen Sprache ist das Phonem.Phoneme (einzelne durch ein einzelnes Symbol repräsentierte Sprachlaute) werden durch eine komplizierte Koordinierungsleistung von Lungen, Mundhöh-
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298
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
le, Kehlkopf, Lippen, Zunge und Zähnen erzeugt. Wenn das Zusammenspiel dieser Komponenten gut funktioniert, kann eine Person, die mit der gerade gesprochenen Sprache vertraut ist, den hervorgebrachten Laut schnell wahrnehmen und verstehen. In der englischen Sprache werden etwa 45 unterschiedliche Phoneme verwendet, aber nicht gleich häufig. Um etwa die Hälfte unserer Wörter zu erzeugen, braucht man nur neun von ihnen; dabei kommen die am häufigsten verwendeten mehr als 100mal so oft vor wie die am wenigsten verwendeten.Andere Sprachen kommen mit nur 15 Phonemen aus, während einige sogar 85 benötigen. Es gibt eine spezielle Untersuchung der Phoneme des General American English. (Das ist das amerikanische Englisch, das im Mittleren Westen und im Westen der Vereinigten Staaten gesprochen wird und von dem eine zunehmende Anzahl von Amerikanern beeinflusst ist. Bestimmte Phoneme anderer Regionaldialekte wie das britische Englisch oder das Südstaatenamerikanisch unterscheiden sich davon.) Diese Untersuchung wurde von Denes und Pinson (1963) durchgeführt und die Ergebnisse sind im Folgenden aufgeführt:
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> Vokale [i…] wie in heat [e] wie in hit [æ] wie in head [c:] wie in had [u] wie in call [v:] wie in put [L] wie in cool [e] wie in ton [‘] wie in the [ci] wie in bird [au] wie in toil [ei] wie in shout [eu] wie in take [I] wie in tone [ai] wie in might
Konsonanten [t] wie in tee [p] wie in pea [k] wie in key [b] wie in bee [d] wie in dawn [g] wie in go [m] wie in me [n] wie in no [h] wie in sing [f ] wie in fee [q] wie in thin [s] wie in see [s] wie in shell [h] wie in he [v] wie in view [j] wie in then [z] wie in zoo [dz] wie in garage [I] wie in law [r] wie in red [j] wie in you [w] wie in we
Diese wenigen Phoneme können in unterschiedlicher Weise miteinander kombiniert werden. Ziel ist es, Tausen-
de unterschiedlicher Wörter zu erzeugen, die sich phonetisch und orthographisch ähnlich sein mögen,die aber für recht unterschiedliche Bereiche unserer semantischen Realität stehen. Sprachlaute, die durch den koordinierten Einsatz von Lungen, Brustkorb, Zunge und so weiter hervorgebracht werden und zu denen die Vibration der Stimmbänder gehört, werden als stimmhaft klassifiziert – beispielsweise das a oder das w.Sprachlaute,bei denen die Stimmbänder nicht eingesetzt werden (wie etwa das s in Hass), werden als stimmlose Laute bezeichnet. Zu den übrigen Lauten – stimmhaft oder stimmlos – gehören die Reibelaute (erzeugt durch eine Verringerung des Luftstroms im Mund) wie etwa bei sch, f und z und Verschluss- oder Stopplaute (erzeugt durch eine kurzzeitige Unterbrechung des Luftstroms) wie etwa bei t und d.
11.2.3
Morpheme
Phoneme sind etwas Leeres – sie haben keine Bedeutung. Die kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache ist das Morphem. Morpheme können Wörter sein, Teile von Wörtern, Vorsilben, Nachsilben oder Kombinationen aus all dem. Im Satz Der alte Chemiker liebte freudige Klänge und bunte Farben sind der und und freie Morpheme, die für sich allein stehen.Dagegen stellen Chemiker,liebte und freudige eine Kombination aus einem freien und einem beschränkten Morphem dar: Chemiker setzt sich aus den Morphemen Chem und iker zusammen,liebte aus lieb und te, freudige aus freud und ige. Wenn wir Morpheme miteinander kombinieren, können wir eine unermessliche Anzahl von Wörtern erzeugen.Im Deutschen gibt es mehr als 100.000 Wörter, die durch Morphemkombinationen gebildet werden. Doch selbst bei dieser unermesslichen Anzahl wird die Zusammensetzung von Morphemen strikt durch linguistische Beschränkungen geregelt. Eine der linguistischen Beschränkungen im Englischen besteht darin,dass eine Silbe nicht mit mehr als vier Konsonanten beginnen darf; gewöhnlich sind es weniger als zwei. Eine weitere Beschränkung lautet, dass bestimmte Buchstaben – beispielsweise q und d oder j und z – nicht zusammen vorkommen dürfen. Diese und andere Beschränkungen für die morphologische Wortbildung (hinzu kommt noch die in unsere Sprache eingebaute Redundanz) wirken sich so aus, dass die Anzahl der Fehler bei der Übertragung und Dekodierung minimiert wird.
299 11.2 · Linguistik
Sprachaufzeichnung mit Hilfe von Voiceprints Angesichts der beharrlichen Forschung mit Hilfe elektronischer Instrumente schien es unvermeidlich, dass die phonetische Analyse einige der Geheimnisse der Stimme aufdeckte. Es wurde ein spektrographisches Instrument entwickelt, das die verschiedenen Frequenzen voneinander trennt, aus denen sich ein phonetisches Merkmal zusammensetzt. Akustische Signale werden an eine Reihe von Filtern weitergegeben, von denen jeder Einzelne auf eine Bandbreite spezifischer Frequenzen reagiert. Dies geschieht im Prinzip wie bei einem Crossover-Filter in einer Hi-Fi-Anlage, durch den die Töne mit hoher Frequenz von denen mit niedriger Frequenz getrennt werden, damit sie an einen geeigneten Lautsprecher (Tiefton- oder Hochtonlautsprecher) weitergeleitet werden können. Die Impulse, die von den speziellen Filtern kommen, werden auf einem Papierstreifen aufgezeichnet, der sich auf einer Rolle bewegt. Dies ermöglicht die visuelle Analyse von Sprachlauten und die Erzeugung so genannter Voiceprints. In dem hier dargestellten Ausdruck (für das Wort said) besteht die Spur an der linken oberen Ecke aus Phonemen hoher Frequenz, die mit dem s zusammenhängen, während die niedrigen Frequenzen von aid durch die andere Spur dargestellt werden. Durch die Verwendung eines Spektrographen wird es möglich, in allen Einzelheiten zu untersuchen, wie die akustischen Charakteristika der gesprochenen Sprache über die Zeit hinweg variieren. Mit Hilfe der Aufzeichnung »visueller Sprache« konnten die Wissenschaftler nicht nur die akustischen Charakteristika der gesprochenen Sprache im Detail untersuchen, sondern dies hatte auch unmittelbare praktische Konsequenzen auf den Sprachunterricht für gehörlose Kinder. Es ist Bestandteil
11.2.4
Syntax
Die nächste Ebene innerhalb der linguistischen Hierarchie ist die der Syntax oder der Regeln, nach denen sich die Kombination von Morphemen in Phrasen und Sätzen richtet. Während der vergangenen Jahre wurden weitere Prinzipien gefunden, die der Syntax zugrunde liegen. Sie sollten auch erklären, wie Informationen von einer Form in eine andere transformiert werden können. Diese Erweiterung der Prinzipien begann mit Noam Chomskys Entwurf einer universellen Grammatiktheorie, die darauf
des Sprachunterrichts bei normal hörenden Kindern, etwas Gesprochenes zu hören, was wiederum als Modell dient. Von diesem Modell ausgehend erzeugt ein Kind Laute, die es auch hören kann, und mit Hilfe dieser Hörempfindungen ist es in der Lage, sich selbst zu korrigieren. Bei gehörlosen Kindern fehlt diese Rückmeldeschleife, doch ein visuelles Rückmeldesystem in Echtzeit (anhand eines Spektrographen) kann als Ersatz dienen.
abzielte,die abstrakten Eigenarten der Sprachen und nicht nur ihre Oberflächeneigenschaften zu beschreiben. Das Ergebnis war eine Theorie, die nicht nur unsere Auffassung von der Linguistik veränderte,sondern die auch weit reichende Auswirkungen auf die Psychologie hatte,vor allem auf die Psycholinguistik. Die Anzahl unterschiedlicher Sätze, die Menschen erzeugen können, ist nur durch die Zeit und die Vorstellungskraft begrenzt. Beides steht uns reichhaltig zur Verfügung.Bei dem Versuch,die Sprachstruktur zu verstehen, haben die Linguisten – jene Menschen, die die Eigenarten
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300
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
unterscheiden sich dennoch auf eine bestimmte Weise im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegende Struktur. Offensichtlich müssen die Oberflächeneigenschaften einer Sprache von ihrer Tiefenstruktur getrennt werden. Die Theorie von Chomsky verfolgte genau diesen Zweck.
11.3
Versagen bei der Syntax und Angst vor Leistung
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der Sprache untersuchen – ihre Anstrengungen auf zwei Aspekte konzentriert: die Produktivität und die Regelmäßigkeit. Produktivität bezieht sich auf die unendliche Anzahl der Sätze,Phrasen und Äußerungen,die in einer Sprache möglich sind (Milliarden von Sätzen). Regelhaftigkeit bezieht sich auf die systematische Eigenart der Sätze, Phrasen und Äußerungen (»der Junge tritt gegen den Ball« und nicht »Ball Junge der tritt den gegen«). Was sprachliche Produktivität ist, liegt auf der Hand. Die Regelhaftigkeit der Sprache jedoch ist eine sehr viel vertracktere Angelegenheit. Die Menge der Regeln, denen sie unterliegt, bezeichnet man als Grammatik und die Transformationsgrammatik beschäftigt sich mit den Veränderungen der linguistischen Formen, die eventuell dieselbe Botschaft enthalten. Hier ein Beispiel: > Die Katze wurde vom Hund gejagt. Der Hund jagte die Katze.
Beide Sätze sind korrekt, übermitteln im Wesentlichen die gleiche Bedeutung, enthalten ähnliche Wörter und
Chomskys Grammatiktheorie
Da die folgenden Punkte die wichtigsten Aspekte von Chomskys Thesen zusammenfassen, werden sie am häufigsten erwähnt: ▬ Die Sprache ist von Uniformität geprägt und die grundlegende Struktur hängt oft stärker mit der Bedeutung eines Satzes zusammen als mit den Oberflächeneigenschaften. ▬ Die Sprache ist kein in sich geschlossenes,sondern ein generatives System. ▬ Innerhalb der zugrunde liegenden Strukturen gibt es Elemente, die allen Sprachen gemeinsam sind. Diese Elemente bringen eventuell angeborene Organisationsprinzipien der Kognition zum Ausdruck. Diese Organisationsprinzipien können das Lernen und die Generierung von Sprache unmittelbar beeinflussen. Chomsky kritisierte vor allem den Behaviorismus und seine Grundlage, das Reiz-Reaktions-Lernen (auch bezogen auf das Lernen von Sprache), und argumentierte, dass man die Sprachentwicklung nicht einfach in Form von Prinzipien des operanten Lernens beschreiben kann und dass sich die psychologische Theorie mit den zugrunde liegenden Prozessen und nicht so sehr mit den Oberflächenprozessen beschäftigen sollte.Obwohl viele innerhalb der Psychologie Chomskys Kritik infrage stellen, besteht die allgemeine Übereinkunft darin, dass sich aus ihr
Noam Chomsky. Veränderte durch seine Theorie des Transformationsgrammatik unsere Auffassung von der Sprache
301 11.3 · Chomskys Grammatiktheorie
weit reichende Schlussfolgerungen für die psychologische Theorie und für die kognitive Forschung ergeben. Drei Aspekten von Chomskys Theorie wurde am meisten Interesse entgegengebracht: der Oberflächenstruktur, der Tiefenstruktur und den Transformationsregeln. Diese Begriffe, die in der folgenden Erörterung verwendet werden sollen, sind im Allgemeinen folgendermaßen definiert (es handelt sich hier im Vergleich zu Chomskys Definitionen um vereinfachte Varianten): Die Oberflächenstruktur ist der Bestandteil des eigentlichen Satzes, der in Segmente aufgeteilt und durch herkömmliches Aufgliedern mit Bezeichnungen versehen werden kann. Die Tiefenstruktur ist die zugrunde liegende Form, die viel von den für die Bedeutung erforderlichen Informationen enthält. Und die Transformationsregeln sind die Regeln, mit deren Hilfe eine Struktur in eine andere Struktur überführt wird. Die Transformationsgrammatik – ein revolutionärer Bestandteil in Chomskys System – führt detailliert die Gesetze auf, denen diese Transformation einer Form von linguistischer Botschaft in eine andere unterliegt. Denken Sie einmal an die folgenden Sätze: »Der Sportler verfolgte das Mädchen« und »Das Mädchen wurde vom Sportler verfolgt.« Beide Sätze bringen den gleichen Grundgedanken zum Ausdruck, der in der Tiefenstruktur enthalten ist. Aber die spezifische Form oder Oberflächenstruktur ist unterschiedlich und die Transformationsregeln stellen die Beziehungen zwischen diesen beiden Sätzen her.
11.3.1
Transformationsgrammatik
In einem weiteren Beispiel kann man die zugrunde liegende Bedeutung des einfachen Satzes »Das kleine Flusspferd beobachtete die große Giraffe« auch ausdrücken als:
»Die große Giraffe wurde vom kleinen Flusspferd beobachtet« oder »Es war das kleine Flusspferd, das die große Giraffe beobachtete.« Trotz der semantischen Neuanordnung und in manchen Fällen der Veränderung von Wörtern oder Morphemen sind wir uns weiterhin bewusst, welchen Sinn der Satz wirklich hat.Die Vollständigkeit der Bedeutung bleibt in der Tiefenstruktur erhalten. Versuchen Sie als weiteres Beispiel einmal,eine Geschichte über irgendein Ereignis in Ihrem Leben zu erzählen (wie z.B. über einen Konzertbesuch). Nachdem Sie die Geschichte erzählt haben, wiederholen Sie sie noch einmal, aber vermeiden Sie es, während der erneuten Erzählung die gleichen Sätze zu verwenden (wahrscheinlich würden Sie das ja sowieso nicht tun). Danach erzählen Sie sie unter denselben einschränkenden Bedingungen ein drittes Mal. Es scheint keine Grenze für die Fähigkeit zu geben, die Art und Weise zu variieren, wie man die gleiche Sache ausdrücken kann. Bei den Regeln, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, geht es um ebendas, was die modernen Grammatikspezialisten als Transformationsgrammatik bezeichnen. Diese Aufgabe, die sogar Kinder leicht bewerkstelligen können, ist in Begriffen von Reiz und Reaktion nur schwer zu erklären. Beim Sprechen und bei der Sprache handelt es sich selten um ein passives, sich wiederholendes Aktivitätsmuster. Die Sprache des Menschen ist vielmehr ein produktives,generatives System.Jeder einzelne Satz,den wir von uns geben,ist ein mehr oder minder kreatives Produkt, das der Zuhörer auch mehr oder weniger gut versteht,obwohl der Satz für beide etwas Neuartiges ist. In Kap. 7 und in anderen Teilen dieses Buchs haben wir erfahren, wie ungeheuer groß die Kapazität des Langzeitgedächtnisses ist. Aber selbst diese Kapazität wäre ausgesprochen überfordert, wenn man mit ihrer Hilfe all die Sätze behalten müsste, die wir hervorbringen und verstehen können.
Grammatisch korrekt, semantisch absurd Lewis Carrol führte vor fast einem Jahrhundert in Alice im Spiegelreich viele Beispiele für grammatisch korrekte, aber semantisch anomale Sprache an. Hier sollen nur einige Proben für seine wilden Exemplare von Wortneubildungen genannt werden: He took his vorpol sword in hand; Long time the manxome foe he sought –
So rested he by the Tumtum tree, And stood a while in thought. And as in uffish thought he stood The Jabberwock with eyes of flame, Came whiffling through the tulgey wood, And burbled as it came.
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11
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
Eine Möglichkeit, unsere Fähigkeit zum Generieren und Verstehen kreativer Sätze zu erklären, besteht darin, die Metapher eines Baumes zu verwenden, der für die Oberflächenstruktur und die Tiefenstruktur in geordneter Form steht. Wenn man diese Metapher gebraucht, könnte man beim zuvor aufgeführten Beispiel »Das kleine Flusspferd beobachtete die große Giraffe« die Phrasenstruktur in einem Diagramm darstellen (siehe unten; dabei ist der Satz ganz unten die Oberflächenstruktur und das Netz darüber die Tiefenstruktur): An diesem einfachen Beispiel kann man die elementaren Bestandteile des Satzes erkennen, die nicht nur auf der Oberfläche, sondern auch auf einer tiefer gehenden abstrakten Ebene vorhanden sind.Auf der umfassendsten Ebene befindet sich der Satz (S), der sich grammatisch in das Subjekt und in das Prädikat gliedert,das durch die Nominalphrase (NP) und eine Verbphrase (VP) repräsentiert wird. In der Nominalphrase (NP) sind das Determinans (D) und das Nomen (N) enthalten, das wiederum ein Adjektiv (Adj) und ein Nomen (N) enthält. Die Verbalphrase (VP) enthält das Verb (V) und eine Nominalphrase (NP), die sich in einen Artikel (Art), ein Adjektiv (Adj) und ein Nomen (N) aufteilt. Die Regeln der mathematischen Transformation liefern anscheinend die Grundlage für die Repräsentation von Sprache, bei der die spezifische Form durchaus unterschiedlich sein kann, während die zugrunde liegende Realität (Tiefenstruktur) konstant ist.Wenn beispielsweise A = B, dann gilt B = A: Der Ausdruck wird verändert, aber die zugrunde liegende Realität ist die gleiche. Im ähnlicher Weise lässt sich 4X = 8 als X = 8/4 schreiben und ab = XY (2X + N) als XY = ab/(2X + N).Gleichgültig wie komplex die Oberflächeneigenschaften sind, bleibt die Tiefenstruktur
Das kleine Flusspferd beobachtete die große Giraffe
der zugrunde liegenden Realität des Zusammenhangs die gleiche. Die Transformationsgrammatik folgt der gleichen Art von Logik: Sätze,aber auch mathematische Gleichungen können in einer Vielfalt von Formen neu geschrieben werden und gleichzeitig den Kern ihrer Bedeutung beibehalten.
Die Sprache ist ein Prozess schöpferischer Freiheit. Ihre Gesetze und Prinzipien liegen fest, aber die Art und Weise,wie die Prinzipien zur Generierung verwendet werden,ist frei und unendlich vielfältig. Selbst zur Interpretation und Verwendung von Wörtern gehört ein Prozess schöpferischer Freiheit. Noam Chomsky
So können wir unsere Fähigkeit erklären, eine ungeheuer große Anzahl unterschiedlicher Sätze und mehrere Varianten des gleichen Satzes zu generieren.Dies ist aber nicht das Ergebnis von Nachahmung,weil das ein geradezu fantastisches Gedächtnis voraussetzen würde, sondern das Resultat unseres angeborenen Verständnisses für bestimmte Regeln.Diese Regeln ermöglichen es uns,Sätze zu bilden und sie in andere Sätze zu transformieren, die die gleiche Bedeutung zum Ausdruck bringen (Chomsky bezeichnet dies als die Grundfähigkeit Kompetenz). Die grundlegenden Phrasenstrukturregeln (wir verwenden hier die Abkürzungen aus der gerade besprochenen baumförmigen Abbildung) sind die folgenden: S NP VP
Æ Æ Æ
NP + VP D+N Aux (Auxiliar) + V + NP
Diese Regeln lassen sich auf jede Tiefenstruktur anwenden; damit kann diese in einer anderen und grammatisch völlig korrekten Form neu geschrieben und dabei ihre wahre Bedeutung beibehalten werden. Die Schlussfolgerung, die sich aus der generativen Grammatik ergibt, lautet, dass die Sprachanalyse stärker auf einer syntaktischen Ebene beruhen sollte als auf einer phonologischen oder morphologischen. Es trifft nicht zu, dass phonologische und morphologische Äußerungen unwichtig sind (in Wirklichkeit sind sie wichtig). Aber die Linguistik als Wissenschaft, die sich nur auf diese charakteristischen Eigenschaften beschränkt, kann die Vielfalt schnell generierbarer linguistischer Formen und die dem entsprechende Mühelosigkeit nicht erklären, mit der man
303 11.4 · Psycholinguistische Aspekte von Sprache
in der Lage ist, sie zu verstehen. Chomsky veranschaulicht grammatische Korrektheit kombiniert mit semantischer Absurdität durch den Satz »farblose Grünen nie dienen schlafend wütend«.Die grammatischen Regeln zur Bildung von Sätzen sind begrenzt (beispielsweise Subjekt – Prädikat – Objekt oder »etwas macht etwas mit etwas«),aber die Kombination semantischer Komponenten ist grenzenlos. Aber selbst in Chomskys Beispiel ist die Aussage nicht nur grammatisch korrekt, sondern auch semantisch sinnvoll, wenn unsere Vorstellungskraft nur groß genug ist.
11.4
Psycholinguistische Aspekte von Sprache
11.4.1
Angeborene Eigenschaften und Einflüsse aus der Umwelt
Zu den strittigsten Punkten in Chomskys Theorie gehört die Behauptung, dass die wesentlichen Komponenten der Sprache eher angeboren und universell sind als erlernt, wie es von B.F. Skinner vertreten wurde. Somit kann die Verstärkung – ein grundlegendes Element der Skinner’schen (verhaltensorientierten) Auffassung – nur die morphologischen Aspekte der Sprachentwicklung bestimmen. So lernt ein Kind, »Apfel« zu sagen, wenn seine Bitte um einen Apfel durch eben dieses Objekt verstärkt wird. Ein Kind, dem man eine Banane gibt, nachdem es »Apfel« gesagt hat, würde zweifellos den Eindruck gewinnen, dass ein Apfel eine lange gelbe Frucht ist, die man Schimpansen und Kindern als Nahrung gibt. Würde es die Geschichte von Wilhelm Tell oder die von Schneewittchens vergiftetem Apfel verstehen und würde es wissen, was Apfelkuchen ist? Würde es uns um eine Apfelhälfte bitten? Und wie würde es den Apfel interpretieren,der vom Baum der Erkenntnis gepflückt wird? Aber wir wollen auf eine Frage zurückkommen, die Chomskys Behauptungen zugrunde liegt: Wie generiert ein Kind einen grammatisch völlig korrekten Satz, den es noch nie gehört hat? Als Erklärung dafür wird der angeborene Hang zu einer Sprache, der auf einer Tiefenstruktur beruht, angeboten. Chomsky ist nicht der Auffassung, dass ein bestimmtes grammatisches System angeboren ist, sondern er argumentiert, dass wir in unserer Sprache vielmehr ein angeborenes Schema für die Informationsverarbeitung und für die Bildung abstrakter Strukturen haben. Dies hängt mit der biologischen Entwicklung des Kindes zusammen.
Es ist wichtig, noch einmal einige Punkte zu unseren Ausführungen über die strukturelle Linguistik zusammenzufassen. Von einem sehr allgemeinen Standpunkt aus können wir das menschliche Gehirn als ein sehr komplexes System zur Informationsverarbeitung und -speicherung begreifen. In Bezug auf die Sprache scheint es so zu sein, dass ein großer Teil der Informationen über Sprache in Form einer Abstraktion von Informationen vorliegt (ganz so, wie wir Wissen über Algebra besitzen). Aber uns stehen auch spezifische semantische Entitäten – also Wörter – zur Verfügung. Linguisten – vor allem jene, die Anhänger der Auffassung von der generativen Grammatik sind – haben eine Beschreibung des abstrakten Charakters der Sprache und der mathematischen Gesetze vorgeschlagen, denen die Speicherung und Produktion von Sprache unterliegt. Obwohl die abstrakte Eigenart der Sprache unbestritten ist, wird über die genaue Form der Abstraktion weiterhin diskutiert. Eine weitere Auffassung, die der ersten nicht notwendigerweise widersprechen muss, besteht darin, dass Sprache und biologische Reifung parallel verlaufen und sich gegenseitig beeinflussen. Diese beiden Positionen liefern uns ein detailliertes und ausführliches Paradigma, innerhalb dessen wir eine kognitive Theorie der Sprache entwickeln können.
11.4.2
Hypothese von der linguistischen Relativität
Bei Chomskys Hervorhebung der linguistischen Universalien handelt es sich um einen Versuch,die linguistischen Operationen ausfindig zu machen, die allen Sprachen gemeinsam sind. Wie wir gesehen haben, beruht diese großenteils auf der Tiefenstruktur der Sprache und auf Transformationen. Auf der semantischen und auf der phonemischen Ebene jedoch sind Sprachen offenkundig nicht gleich. Genau diese Oberflächeneigenschaften sind somit für die Hypothese der linguistischen Relativität hauptsächlich von Belang. Die Auffassung, dass unsere Sprache einen Einfluss darauf hat, wie wir unsere Realität wahrnehmen und begreifen, hat eine sehr lange und wechselhafte Geschichte. Die neuere Variante dieser Auffassung wird mit Benjamin Lee Whorf (1956) in Verbindung gebracht, der wegen seiner detaillierten Arbeiten auf diesem Gebiet namensgebend für die Hypothese war (die Whorf-Hypothese), obwohl man die zugrunde liegende Hypothese einem älteren
11
304
11
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
Wissenschaftler zuordnet: Edward Sapir, der Whorfs Professor war ( zu weiteren Einzelheiten Sapir, 1958; Mandelbaum, 1958; Fishman, 1960). Whorf kam zu der Schlussfolgerung, dass ein Ding, das durch ein Wort repräsentiert wird, von Menschen mit einer anderen Sprache anders aufgefasst wird und dass die Eigenart der Sprache selbst die Ursache für diese unterschiedliche Art und Weise ist, die Realität zu sehen.Whorf untersuchte die Sprachen der Ureinwohner des amerikanischen Kontinents und fand heraus,dass keine eindeutige Übersetzung von einer Sprache in eine andere möglich war.Er entdeckte,dass in einer der Sprachen keine klare Unterscheidung zwischen Substantiven und Verben gemacht wurde. In einer anderen wurden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unklar ausgedrückt. Und in wieder einer anderen Sprache existierte kein Unterschied zwischen den Farben grau und braun.Aber die Personen, die englisch sprechen, verfügen nicht über einen außergewöhnlichen physiologischen Apparat (der sie beispielsweise befähigen würde, den Unterschied zwischen grau und braun zu erkennen). Dennoch gibt es Wörter, mit deren Hilfe all diese Unterscheidungen gemacht werden. Einige Linguisten haben mit Hilfe der Bezeichnungen für Farben untersucht, wie die Sprache (und speziell lexikalische Einheiten) einen Einfluss darauf hat, auf welche Weise wir unsere Realität begreifen. Es ist allgemein anerkannt, dass unser Wahrnehmungsapparat sensibel auf eine breite Vielfalt unterschiedlicher Farben reagiert. Doch dadurch, dass wir die verschiedenen Farben in bestimmter Weise benennen,wird das Erkennen von Farben beeinflusst.Vor vielen Jahren fand Gleason (1961) Folgendes heraus: Während die englische (und auch die deut-
sche) Sprache das Farbspektrum in Purpur, Blau, Grün, Gelb, Orange, Rot und einer Reihe dazwischen liegender Farbtöne einteilt, kennen das Shona (das in Teilen Simbabwes gesprochen wird) und das (in Liberia gesprochene) Bassa weniger Farben. Diese Sprachen unterteilen das Farbspektrum an anderen Punkten, wie aus ⊡ Abb. 11.1 deutlich wird. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass alle Menschen ohne Anomalien den gleichen Sehapparat besitzen (also die gleiche physiologische Fähigkeit, Farben zu sehen und zu unterscheiden). Deshalb vermutet man, dass die Unterschiede der mentalen Verarbeitung von Farben der Grund für die verschiedenen Sprachcodes sind. Einige Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass dies tatsächlich der Fall ist. Beispielsweise wird anscheinend eine Farbe, die nicht in die durch Farbnamen abgesteckten Kategorien passt (eine, die »zwischen« den Farben liegt), als die Farbe erinnert werden, der sie am meisten ähnelt. Eskimos haben viele verschiedene Bezeichnungen für Schnee (aufgewirbelter Schnee,treibender Schnee,Schnee,aus dem man Iglus machen kann, usw.). Dies ermöglicht es ihnen, viel mehr unterschiedliche Arten von Schnee zu sehen – zu unterscheiden – als wir, die wir in einer gemäßigten Temperaturzone leben. In ähnlicher Weise haben die Hanuos auf den Philippinen 92 Bezeichnungen für unterschiedliche Arten und Zustände von Reis. Die Whorf-Hypothese besagt, dass die physikalische Realität entsprechend einer bestimmten inneren Repräsentation der Realität in eine Wahrnehmung übersetzt wird, die mit seit langem bestehenden kognitiven Strukturen übereinstimmt. Eine der Arten, wie Informationen im Gehirn strukturiert werden,
⊡ Abb. 11.1. Hauptunterteilungen des sichtbaren Spektrums in drei Sprachen. Adaptiert nach R. Brown (1965)
305 11.5 · Kognitive Psychologie und Sprache: Abstraktion linguistischer Vorstellungen
hängt offensichtlich mit den speziellen Sprachcodes zusammen, die jeder Einzelne von uns entwickelt hat. Diese Codes unterscheiden sich genauso, wie sich die Sprachen unterscheiden. Diese Auffassung (von Whorf) wurde von einigen vergleichenden Sprachwissenschaftlern fundamental infrage gestellt. Berlin und Kay (1969) beispielsweise untersuchten Farbnamen in nahezu 100 Sprachen und kamen zu dem Schluss, dass bestimmte Grundfarben in allen Sprachen gleich sind. In einem Experiment bestimmten sie in 20 Sprachen die Namen für die Grundfarben und baten danach Muttersprachler jeder der 20 Sprachen, mit Hilfe einer Farbtafel auf diejenigen zu zeigen, die sie mit einem vorgegebenen Farbnamen in Verbindung brachten. Schließlich sollten die Versuchspersonen die Farbe auf der Tafel markieren, die sie bezogen auf den jeweiligen Farbnamen als am besten oder typischsten einstuften. Diese Farbe wurde als fokale Farbe bezeichnet. Die Ergebnisse solcher Experimente deuten darauf hin, dass die fokalen Farben für alle Gruppen sehr ähnlich waren. Diese Resultate legen nahe, dass es eine grundlegende Einschränkung für die Art und Weise gibt, wie die Erfahrung einer Versuchsperson mit Farben in einer Sprache kodiert wird. Daher sind die Farbnamen vielleicht eher eine unmittelbare Funktion von Wahrnehmungsphänomenen als ein Bestimmungsfaktor für Perzepte. Weitere Befunde,die gegen die Whorf-Hypothese sprechen, wurden von Eleanor Heider (1971, 1972) und von Eleanor Rosch (1973, die Autorin hieß früher Heider) vorgelegt. Sie untersuchte die Ureinwohner Neuguineas, deren Sprache das Dani ist. Im Dani gibt es nur zwei Farbnamen: mola – helle, warme Farben – und mili– dunkle, kalte Farben. Durch Verwendung eines Wiedererkennungstests fand sie heraus,dass die Wiedererkennungsgenauigkeit für fokale Farben besser war als für nicht fokale Farben.Wenn die Wahrnehmung durch die Sprache determiniert wird, dann hätten Versuchspersonen, in deren Sprache es nur zwei Farbnamen gibt, wahrscheinlich dennoch Schwierigkeiten damit, sich sowohl an fokale als auch an nicht fokale Farben zu erinnern. Somit spricht nicht sehr viel für einen linguistischen Determinismus (zumindest nicht für seine rigide Variante). Anthropologen und Psychologen empfinden weiterhin eine gewisse Faszination für die Whorf-Hypothese. Kay und Kempton (1984) gaben im American Anthropologist einen schönen Überblick über die empirische Forschung zu dieser Hypothese. Bedenken Sie eine weitere Frage im Zusammenhang mit der Auffassung von Whorf (dass Sprache die Art und
Weise beeinflusst, wie wir die Realität begreifen, Informationen verarbeiten und etwas im Gedächtnis abspeichern und abrufen): Wo ist der Ursprung lexikalischer Einheiten? Warum hat die Sprache der Eskimos so viele Namen für Schnee und das Deutsche so wenige? Warum haben wir so viele Namen für Autotypen und die Lappen so wenige (wenn überhaupt)? Eine Antwort darauf lautet: Je bedeutsamer eine Erfahrung für uns ist, desto größer ist die Anzahl der Arten, wie dies in der Sprache zum Ausdruck kommt, und nicht umgekehrt (also, dass die Sprache unsere Perzepte determiniert). Die Entwicklung spezieller Sprachcodes hängt daher von kulturellen Bedürfnissen ab. Zum Erlernen dieser Codes durch die Angehörigen einer Sprachfamilie gehört auch das Erlernen bedeutsamer Werte der Kultur, von denen einige vielleicht etwas mit dem Überleben zu tun haben. Die Folge aus der Entwicklung von Sprachcodes kann weiterhin einen determinierenden Einfluss darauf haben, welche Informationen kodiert, transformiert und erinnert werden.
11.5
Kognitive Psychologie und Sprache: Abstraktion linguistischer Vorstellungen
Bisher haben wir einige der Standardthemen der Sprachpsychologie behandelt – das war eine Art Überblick über die Grundlagen. Dabei griffen wir stärker auf die kollektive Weisheit der Linguisten und Anthropologen zurück als auf die der Kognitionspsychologen. Im folgenden Abschnitt werden wir unsere Erörterung des Themas Sprache auf die kognitive Analyse von Sprache konzentrieren. Hierbei geht es um die Suche nach grundlegenden, abstrakten kognitiven Sprachstrukturen. Der erste Ansatz, der hier erörtert werden soll, ist Bartletts Schematheorie.
11.5.1
»Der Krieg der Geister«: Bartlett
Viele Forscher haben ihre Bemühungen auf psychologische Prozesse im Zusammenhang mit literarischen Werken konzentriert, die eng mit Spracherfahrungen im realen Leben zusammenhängen. Die bekannteste der wissenschaftlichen Untersuchungen über komplexes literarisches Material wurde von F.C. Bartlett von der Cambridge University durchgeführt. Er berichtet darüber in seinem bemerkenswerten Buch Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology (1932). Hier beschreibt er
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306
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
Sir Frederic Bartlett (1886–1969). Untersuchte Sprachverarbeitung und Gedächtnis in einem realistischen Kontext
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mehrere Experimente, in denen Kurzgeschichten, Abschnitte aus Romanen und Bilderschriften amerikanischer Ureinwohner verwendet wurden, um die Erinnerung (und das Vergessen) bedeutsamen Materials zu erforschen. Die Vorgehensweise war einfach: Man gab den Versuchspersonen eine Kurzgeschichte oder anderes Material, das sie lasen. Sie reproduzierten alles frei, was sie nach einer bestimmten Zeitspanne noch erinnern konnten. In anderen Fällen wurde eine Geschichte von einer Person erzählt, die eine Versuchsperson dann einer anderen nacherzählte, die diese dann wieder einer anderen nacherzählte, usw. Indem man den Inhalt der reproduzierten Versionen der Geschichte untersuchte,war es möglich, sowohl die Eigenart des kodierten Materials als auch die Eigenart des vergessenen Materials zu analysieren.Um den genauen Charakter dieser Elemente zu veranschaulichen, seien hier die Protokolle mehrerer Versuchspersonen ausführlich zitiert. Im Folgenden finden Sie zunächst die Originalgeschichte: Der Krieg der Geister Eines Abends gingen zwei Männer aus Egulac herunter zum Fluss, um Seehunde zu jagen, und als sie sich dort aufhielten, wurde es neblig und ruhig. Dann hörten sie Kriegsgeschrei und dachten: »Vielleicht sind das Indianer auf dem Kriegspfad.« Sie flohen zum Ufer und versteckten sich hinter einem Baumstamm. Dann tauchten Kanus auf. Die Männer hörten Paddelgeräusche und sahen ein Kanu, das auf sie zukam. Es saßen fünf Männer darin und sie sagten: »Was meinen Sie? Wir würden Sie gerne mitnehmen. Wir fahren stromaufwärts, um gegen einen Stamm in den Krieg zu ziehen.« ▼
Einer der jungen Männer sagte: »Ich habe keine Pfeile dabei.« Die Fremden sagten: »Wir haben Pfeile im Kanu.« »Ich werde nicht mitkommen. Ich könnte getötet werden. Meine Verwandten wissen nicht, wohin ich gegangen bin.Aber du«, sagte er zu seinem Begleiter gewandt, »kannst mit ihnen ziehen.« So ging einer der jungen Männer mit, der andere jedoch kehrte nach Hause zurück. Und die Krieger paddelten den Fluss hinab bis zu einer Stadt, die Kalama gegenüberlag. Der Stamm kam zum Fluss herunter und der Kampf begann. Viele wurden getötet. Aber in diesem Augenblick hörte der junge Mann, wie einer der Krieger sagte: »Schnell, lass uns nach Hause laufen: Dieser Indianer wurde getroffen.« Jetzt dachte er: »Oh, das sind Geister.« Er fühlte sich nicht krank, aber sie sagten, er wäre erschossen worden. Deshalb brachen die Kanus zurück nach Egulac auf, der junge Mann ging bei seinem Haus an Land und machte Feuer.Und er erzählte allen die Geschichte und sagte: »Seht,ich habe die Geister begleitet und wir sind zusammen in den Kampf gezogen. Viele meiner Begleiter wurden getötet und viele von jenen, die uns angriffen, wurden getötet. Sie sagten, ich wäre getroffen worden, und ich fühlte mich nicht krank.« Er erzählte die ganze Geschichte und wurde dann ruhig.Als die Sonne aufging,fiel er auf den Boden.Etwas Schwarzes kam aus seinem Mund. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse.Die Menschen sprangen auf und weinten. Er war tot. Nach etwa 20 Stunden reproduzierte eine der Versuchspersonen das Material in einer Form, die im Allgemeinen kürzer und vom Stil her ungezwungener war. Zusätzlich kam es zu zahlreichen Auslassungen und einigen Transformationen.Weniger vertraute Wörter wurden durch vertraute ersetzt – beispielsweise Kanu durch Boot und Seehunde jagen durch fischen. Acht Tage später erinnerte sich dieselbe Versuchsperson an die Geschichte. Die zweite Reproduktion war jedoch verkürzt. Der richtige Name (Kalama im Original) fehlte und die Entschuldigung »Ich könnte getötet werden« tauchte wieder auf,nachdem sie bei der ersten Nacherzählung gefehlt hatte. Sechs Monate später wurde die Erinnerung noch einmal erfasst. In dieser sehr kurzen Version wurden alle un-
307 11.5 · Kognitive Psychologie und Sprache: Abstraktion linguistischer Vorstellungen
gewöhnlichen Begriffe, alle richtigen Namen und Bezüge auf übernatürliche Kräfte ausgelassen. Und schließlich wurde eine Versuchsperson nach zwei Jahren und sechs Monaten gebeten, sich an die Geschichte zu erinnern. Sie hatte die Originalversion in der Zwischenzeit nicht gelesen und hatte nach ihren eigenen Angaben nicht an die Geschichte gedacht. Ihr Bericht war der folgende:
▬ Transformation von Informationen. Nicht vertraute Wörter werden in vertrautere transformiert. ▬ Transformation der Reihenfolge. Manche Ereignisse zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu einem frühen Zeitpunkt in der Geschichte auftauchen,andere später. ▬ Einstellung der Versuchsperson. Durch die Einstellung einer Versuchsperson gegenüber dem Material wird festgelegt, an wie viel sie sich erinnern wird.
Ein paar Krieger zogen los, um einen Krieg gegen die Geister anzuzetteln.Sie kämpften den ganzen Tag lang und einer von ihnen wurde verwundet. Am Abend kehrten sie zurück und trugen ihren kranken Kameraden.Als der Tag zu Ende ging, ging es ihm immer schlechter und die Dorfbewohner versammelten sich um ihn.Beim Sonnenuntergang seufzte er: Etwas Schwarzes kam aus seinem Mund. Er war tot.
Bei den darauf aufbauenden Analysen verwendete Bartlett den Begriff des Schemas, um seine Ergebnisse zu erklären (seine vor mehr als einem halben Jahrhundert geschriebene Erklärung scheint so wenig veraltet zu sein wie die modernste Theorie). Schema bezieht sich seiner Auffassung nach auf die aktive Organisation früherer Reaktionen oder früherer Erfahrungen. Eingehende Reize tragen insgesamt zum Aufbau eines organisierten Schemas bei.In Bartletts Worten ausgedrückt:
Nur die unbedingt erforderlichen Überreste der Geschichte sind erhalten geblieben. Es findet sich nur eine geringe Ausarbeitung der Details. Einige Themen hängen allem Anschein nach eher mit dem zusammen,was der Meinung der Versuchsperson nach hätte geschehen sollen, als mit dem, was sich wirklich in der Geschichte ereignet hatte – beispielsweise in der Passage, in der der verwundete Mann schließlich gestorben ist. Wann? Beim Sonnenuntergang … natürlich! Anscheinend ist dies Bestandteil beliebter Geschichten, wie man sie sich in den Kreisen unserer Versuchsperson erzählt. Bestandteil der ursprünglichen Geschichte ist es jedenfalls nicht.Wie wir im Zusammenhang mit den Untersuchungen von Bransford und Franks erfahren haben, mischen sich scheinbar Bruchstücke von Informationen aus einer ganzen Vielfalt von Quellen (aus der Geschichte und aus dem Allgemeinwissen), um bei fehlenden Informationen über spezielle Tatsachen Lücken auszufüllen. Bartlett (1932) analysierte diese Art von Informationen im Sinne mehrerer Kategorien. Dazu gehören: ▬ Auslassungen. Bestimmte Informationen scheinen den Versuchspersonen entfallen zu sein. Auch werden Informationen,die unlogisch sind oder die nicht zu ihren Erwartungen passen, nicht so leicht erinnert. ▬ Rationalisierung. Gelegentlich werden einige Informationen hinzugefügt, die dazu beitragen, bestimmte nicht zueinander passende Textabschnitte zu erklären. ▬ Beherrschendes Thema. Einige Themen scheinen besonders hervorstechend zu sein und andere Merkmale werden dann zum Hauptthema in Beziehung gesetzt.
Es gibt jedoch nicht den leisesten Grund, anzunehmen, dass jede Menge eingehender Impulse, jede neue Gruppe von Erfahrungen als isolierter Teil eines passiven Flickwerks fortbesteht. Sie müssen als Bestandteile des Lebens angesehen werden, als ein momentaner Hintergrund, der zum Organismus oder zu welchen Teilen des Organismus auch immer gehört,die an der Ausführung einer gegebenen Reaktion beteiligt sind, und nicht als Anzahl von Einzelereignissen, die auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind und im Organismus abgespeichert werden. Bartlett nahm eindeutig die »Abstraktion linguistischer Ideen« vorweg, die 40 Jahre später von Bransford und Franks, von Thorndyke und von Kintsch empirisch überprüft wurde und die in vielen der in diesem Buch erwähnten Theorien zum semantischen Gedächtnis ein immer wiederkehrendes Thema ist ( vgl. Rumelhart, Lindsay & Norman, 1972; Collins & Quillian, 1969; Neisser, 1976).Bartletts Theorie des Erinnerns und seine Schematheorie wurden von manchen dahingehend kritisiert, dass sie zu vage und zu komplex seien, um empirisch überprüfbar zu sein – und das nicht ganz zu Unrecht. Bartletts Beitrag ist aus drei Gründen von Bedeutung: Erstens wird in seinen Schriften der Begriff des abstrakten Gedächtnisses eingeführt.Diese Abstraktionen bilden teilweise die Grundlage für neues Lernen und später für die Transformation neuer Informationen. Zweitens zeigte er anschaulich,dass Forschung mit Rückgriff auf Geschichten
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Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
Kritisch hinterfragt: Linguistische Abstraktion Eine Vielzahl überzeugender Forschungsarbeiten spricht dafür, dass wir beim Lesen eines Buchs, einer Kurzgeschichte oder eines Gedichts nur das Wesentliche und nicht alle Details behalten. Sie werden vergessen, stehen für den Abruf aus dem Gedächtnis nicht zur Verfügung oder vermischen sich mit anderen Erinnerungen zu einer verzerrten Erinnerung. Die verzerrte Erinnerung an Erlebnisse im realen Leben oder an Texte kann das Ergebnis des eigenen Vorwissens, persönlicher Ambitionen oder Sichtweisen der Welt unter dem Blickwinkel des eigenen Meinungssystems sein. Probieren Sie einmal, folgendes kleine Experiment durchzuführen: Lesen Sie eine Kurzgeschichte und geben Sie in wenigen Sätzen die Haupt-
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aus dem realen Leben möglich ist und dass dies zu sinnvollen Schlussfolgerungen führt. Schließlich stellte seine Arbeit einen wichtigen Bezugsrahmen dar – für seine eigenen Schüler (Broadbent, Brown und Conrad) sowie für andere Wissenschaftler (Miller, Neisser und Rumelhart). Seit Bartlett die Auffassung in die Wissenschaft einführte, dass Geschichten mit Hilfe von Schemata kodiert und erinnert werden,haben die zeitgenössischen Forscher immer wieder neue Ideen vorgebracht, die zu einem tieferen Verständnis der funktionalen Eigenschaften des narrativen Gedächtnisses beitragen. Moderne Theoretiker haben versucht,einige der grundlegenden Begriffe bei der Abstraktion linguistischer Ideen zu quantifizieren.Als die bekanntesten Forscher sind in diesem Zusammenhang Bransford und Franks zu nennen. Ihren Arbeiten werden wir uns als Nächstes zuwenden.
11.5.2
»Ameisen fressen Götterspeise«: Bransford und Franks
Es wurde behauptet, dass sich unter der Oberflächenstruktur unserer Sprache eine Tiefenstruktur befindet,die systematischen Transformationsregeln unterliegt. Infolge dieser Theorie breiteten sich Hypothesen zu anderen verborgenen kognitiven Strukturen immer stärker aus. Die spannendsten Hypothesen waren jene, die von Bransford und Franks (1971, 1972) entwickelt wurden. Über eine dieser Hypothesen (Franks & Bransford, 1971) wurde in Kap. 4 bereits berichtet.In diesem Experiment wurden den Versuchspersonen Figuren gezeigt,die die Transformation einer prototypischen Figur darstellten, und sie wurden ge-
punkte so genau wie möglich wieder. Lassen sie einen Freund dieselbe Geschichte lesen, ohne dass er die Hauptgedanken niederschreibt. Bitten Sie Ihren Freund einige Wochen später, Ihnen die Hauptgedanken der Geschichte wiederzugeben. Vergleichen Sie das, was Ihr Freund erinnert hat, mit Ihren eigenen Notizen. Machen Sie das Gleiche mit einem abstrakten Gedicht. Welche Unterschiede stellen Sie zwischen der ursprünglichen genauen Beschreibung und dem später erinnerten Bericht fest? Was mag zu diesen Unterschieden beigetragen haben? Sind diese bei einem abstrakten Gedicht sogar noch größer?
beten,diese Figuren danach einzustufen,ob es sich um ein zuvor schon gesehenes Muster handelte. In dem Teil des Experiments, in dem es um Wiedererkennung ging, identifizierten die Versuchspersonen den Prototyp, den sie noch nie gesehen hatten, mit einem hohen Grad an Gewissheit. Eine mögliche Schlussfolgerung daraus lautet, dass die Versuchspersonen eine Abstraktion oder Prototypfigur aufgrund ihrer Erfahrung mit Exemplaren bildeten. Die daraus abgeleitete Hypothese besagt, dass wir dazu neigen, aus Oberflächeneindrücken Abstraktionen zu bilden, und dass diese Abstraktionen das sind, was wir im Gedächtnis abspeichern. Bransford und Franks (1971) entwickelten auch eine Hypothese zur Eigenart der enkodierenden Sätze.Sie stellten komplexe Sätze zusammen, die vier einfache deklarative Teile enthielten, aus denen einer, zwei oder drei entfernt werden konnten.Dadurch blieben Sätze übrig,die jeweils aus drei, zwei oder einer Proposition bestanden. Einige der Sätze waren die folgenden: > Vier Die Ameisen in der Küche fraßen die süße Götterspeise, die sich auf dem Tisch befand. Drei Die Ameisen fraßen die süße Götterspeise, die sich auf dem Tisch befand. Die Ameisen in der Küche fraßen die Götterspeise, die sich auf dem Tisch befand. Die Ameisen in der Küche fraßen die süße Götterspeise. ▼
309 11.5 · Kognitive Psychologie und Sprache: Abstraktion linguistischer Vorstellungen
Zwei Die Ameisen in der Küche fraßen die Götterspeise. Die Ameisen fraßen die süße Götterspeise. Die süße Götterspeise befand sich auf dem Tisch. Die Ameisen fraßen die Götterspeise, die sich auf dem Tisch befand. Einer Die Ameisen waren in der Küche. Die Götterspeise befand sich auf dem Tisch. Die Götterspeise war süß. Die Ameisen fraßen die Götterspeise.
Das Experiment bestand aus zwei Teilen: dem Lernen der Sätze und einer Wiedererkennungsaufgabe. Im Lernteil sollten die Versuchspersonen 24 Sätze lesen,die aus Sätzen mit einer, zwei und drei Propositionen bestanden. Nachdem die Versuchspersonen jeweils einen Satz gelesen hatten,mussten sie vier Sekunden lang eine Aufgabe zum Benennen von Farben durchführen. Danach wurde ihnen eine Frage zu dem Satz gestellt,um sicherzustellen,dass sie ihn enkodiert hatten. Wenn z.B. einer der Sätze lautete »Der Felsbrocken rollte den Berg hinunter«, hätte die Frage lauten können: »Was geschah mit dem Felsbrocken?« Nachdem die Versuchspersonen alle 24 Sätze gelernt hatten, las der Versuchsleiter weitere Sätze vor – einige neue und einige, die zu den ursprünglichen 24 gehörten. Die neuen Sätze enthielten unterschiedliche Teile des komplexen Gedankens, der zuvor dargeboten worden war. Um das Ausgangsniveau zu bestimmen, kamen auch einige Sätze vor, die »nicht zum Fall gehörten«. Diese veränderten den Gesamtzusammenhang über die Gedankengänge hinweg. Wenn beispielsweise ein Bezugssatz lautete: »Der Felsbrocken, der den Berg hinunterrollte, zerschmetterte die kleine Hütte am Waldrand«,und ein weiterer Satz war: »Die Ameisen fraßen die süße Götterspeise, die sich auf dem Tisch befand«, dann hätte ein Satz, der »nicht zum Fall gehörte«, folgender sein können: »Der Fels, der den Berg hinunterrollte,zerschmetterte die Ameisen,die gerade Götterspeise in der Küche fraßen.« Die Versuchspersonen sollten angeben, welche der Sätze (von den vorgelesenen neuen Sätzen, von den ursprünglichen und von den Sätzen, die nicht zum Fall gehörten) sie in der Lernphase gehört hatten. Unabhängig von der Antwort wurden sie dann gebeten, die Gewissheit ihres Urteils auf einer FünfPunkte-Skala (von sehr gering bis sehr hoch) einzustufen. Man fand heraus, dass die Einstufungen für die alten und die neuen Sätze im Wesentlichen die gleichen waren und
⊡ Abb. 11.2. Gewissheit, Sätze schon einmal gesehen zu haben, in Beziehung gesetzt zur Komplexität (Anzahl der enthaltenen Propositionen) des Satzes. Adaptiert nach Bransford und Franks (1971)
dass die Gewissheit der Versuchspersonen bei der Wiedererkennung unmittelbar mit der Komplexität der Sätze zusammenhing (⊡ Abb. 11.2). Deshalb erreichten Sätze, die vier Propositionen zu enthalten schienen, die höchsten Gewissheitseinstufungen – sie lagen bei 3,5 (obwohl eigentlich gar keine Sätze mit vier Propositionen dargeboten wurden). Jene, die drei Propositionen enthielten, wurden dagegen niedriger eingestuft, und so weiter – bis hin zum Satz mit nur einer Proposition, der eine negative Beurteilung erzielte. Nur wenige ließen sich von Sätzen täuschen, die nicht zum Fall gehörten. Hier war die Gewissheitseinstufung etwa –4 (diese Kontrollbedingung war insofern wichtig, als sie zeigte, dass die Gewissheit der Versuchspersonen nicht nur auf der Länge eines Satzes beruhte). Der Grund, warum die Versuchspersonen eine größere Gewissheit zum Ausdruck brachten,komplexe Sätze gehört zu haben, ist wahrscheinlich folgender: Sie abstrahierten aus den ursprünglichen Sätzen, denen sie ausgesetzt waren, einen Grundgedanken und hatten eher diese abstrahierte Entität gespeichert als einfach nur die Sätze selbst in einer unzusammenhängenden Reihenfolge. Die Schlussfolgerung aus diesen Befunden für eine Theorie der Kognition und des Gedächtnisses lautet, dass es sich beim menschlichen Gedächtnis für Sätze nicht einfach nur um eine Transkription von Wörtern handelt (wie etwa bei einer Tonbandaufzeichnung), sondern um das Ergebnis eines dynamischen Prozesses, bei dem Gedanken abstrahiert werden. Diese abstrakten Gedanken leiten sich natürlich aus der Erfahrung mit Sätzen ab und bilden die
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Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
Grundlage für unseren Eindruck von neuen und alten Sätzen.Wie Chomsky versucht hat, eine strukturelle Linguistik zu beschreiben,bei der die Sprachfähigkeit in Form abstrakter Prinzipien formuliert ist,so haben Bransford und Franks darzustellen versucht,wie Informationen über Gedanken, die in Sätzen ausgedrückt werden, in einer Gedankenstruktur organisiert sind. Diese bildet die Grundlage für die Beurteilung neuer Informationen. Eine wichtige Schlussfolgerung aus den Experimenten von Bransford und Franks lautet, dass Versuchspersonen Sätze (vermutlich im Gedächtnis) nicht isolieren, wenn diese Sätze semantisch zusammenhängen. Auf eine bestimmte Weise werden Informationen aus unterschiedlichen Sätzen in einer abstrahierten Form zusammengefasst und wir neigen dazu, uns besser an die Abstraktion als an die spezifische Form zu erinnern. Das bisher in diesem Buch Besprochene zeigte uns, dass die modernen Kognitionspsychologen sich besonders gerne mit dem Aufbau von Strukturen der mentalen Verarbeitung beschäftigen, die die Informationsverarbeitung, das Gedächtnis und das Denken adäquat beschreiben. Die linguistischen Komponenten der Sprache,wie sie in der Theorie von Chomsky hypothetisch angenommen wurden, scheinen auf angemessene Weise eine Form struktureller Komponenten zu repräsentieren. Die Forschungsarbeiten von Bransford und Franks zum anderen scheinen tiefe Einblicke in die spezifischen Arten von Transformationen zu erlauben, die wahrscheinlich bei der Abstraktion von Sätzen vonstatten gehen. Eine ganz andere Sicht bezüglich der linguistischen Verarbeitung besteht darin, sich vorzustellen, dass narrative Informationen in Form einer Hierarchie strukturiert werden, bei der die meisten wichtigen Gedanken durch weniger wichtige Aussagen gestützt werden. Aus einer nicht formalen Perspektive scheinen wir auf eine hierarchische Art und Weise an Geschichten zu denken. Wenn wir wiedergeben sollen, worum es in einem Buch (beispielsweise im Faust) geht, könnten wir versucht sein, einen einzelnen Satz zu finden,der das Wesentliche umfasst. Wenn wir gebeten werden,unsere Interpretation einer Geschichte ausführlicher darzustellen,dann könnten wir das Thema erörtern, die Handlung, den Kontext und die Art und Weise, wie die Geschichte ausgeht (zu einem Beispiel siehe Thorndyke, 1977). Seit den frühen Theorien von Bartlett über Satz- und Geschichtenschemata sind wir Zeugen,wie es mit der wissenschaftlichen Analyse der sprachlichen Abstraktion ständig vorwärts geht und wie sie sich weiterentwickelt.
Sowohl die Abstraktion linguistischer Gedanken – wie sie durch die Studie zu den Ameisen,die Götterspeise fressen, veranschaulicht wurde – als auch die Analyse der Geschichtengrammatik bestätigte die allgemeine Auffassung, dass es eine verborgene strukturelle Verarbeitung von Sätzen und Geschichten gibt.Während der letzten Jahre war im Hinblick auf ebendiese verborgene Struktur und auf den Top-down-Effekt ein bedeutsamer Fortschritt beim Verständnis der Sprache zu verzeichnen.Unsere Aufmerksamkeit richtet sich nun auf das Thema Wissen und Textverständnis. Im nächsten Abschnitt werden einige neue Gedanken erörtert. Dazu gehört auch ein umfassendes Modell der Sprachverarbeitung, das von Kintsch entwickelt wurde. Wenn Sie sich nun mit diesen Modellen auseinander setzen, sollten Sie die vorher besprochene Forschung zur Geschichtenabstraktion und zur Topdown-Verarbeitung im Hinterkopf behalten und ihren Zusammenhang mit diesen Modellen berücksichtigen.
11.6
Wissen und Textverständnis
Wir beginnen mit der einfachen Verallgemeinerung: Je besser ein Leser einen Text versteht, desto größer ist sein Wissen. Diese Verallgemeinerung scheint auf Leser zuzutreffen, die ein breites Wissen besitzen und umgangsprachliches Material lesen – aber auch auf jene, die ein spezialisiertes Wissen haben und fachliche Texte lesen. Eine Möglichkeit, um diese Verallgemeinerung zu erklären, besteht darin, dass Wissen als eine organisierte Informationssammlung betrachtet werden kann. Neue Informationen, wie man sie durch Lesen zusammentragen könnte, werden gründlicher assimiliert, wenn bereits bestehende kognitive Strukturen und Informationen vorhanden sind.Umgekehrt schränkt unzureichendes Wissen das Verstehen ein, weil der Leser eine Wissensstruktur zum Material entwickeln und die Informationen beim Lesen enkodieren muss. Verstehen wird innerhalb dieser Rahmenvorstellung eher als eine Bestätigung von Hypothesen über die Art und Weise gesehen, wie man sich die Welt vorstellt, und nicht als die anfängliche Assimilierung neuer Tatsachen.Ein großer Teil des Verstehens,aber nicht der gesamte Verstehensprozess, besteht aus einer Topdown-Verarbeitung. Menschen mit einem spezialisierten Wissen – sei es als Installateur, Balletttänzerin, Astrophysikerin oder als Rennfahrer – verstehen fachliche Informationen aus ihrem Gebiet besser als Nichtspezialisten (vorausgesetzt wird dabei natürlich, dass alle anderen Va-
311 11.6 · Wissen und Textverständnis
riablen wie etwa die Intelligenz gleich gut ausgeprägt sind). Es folgen mehrere Beispiele für die Wirkung der Top-down-Verarbeitung.
11.6.1
»Seifenoper«, »Diebe« und »Polizei«
Das Verstehen und Begreifen eines Textes wird von situativen Informationen oder Instruktionen beeinflusst.In einem Experiment von Owens, Bower und Black (1979), das die Auswirkungen einer »Seifenoper« bei der Erinnerung an eine Geschichte illustriert, sollten die Versuchspersonen eine Geschichte über einen Wasserskiläufer und einen Bootsführer lesen. Die eine Hälfte der Versuchspersonen wurde in die Geschichte mit Hilfe einer Textpassage eingeführt, die dazu entwickelt worden war, den Leser dazu zu bringen, dass er sich mit dem Wasserskiläufer identifiziert. Die andere Hälfte bekam eine Textpassage, um sich mit dem Bootsführer zu identifizieren. Die Testgeschichte war für beide Gruppen dieselbe. Nachdem sie die Geschichte gelesen hatten, wurde ihnen eine Reihe von Fragen gestellt. Die Versuchspersonen mit einem positiven Vorurteil gegenüber dem Wasserskiläufer neigten dazu, Fehler zu seinen Gunsten zu machen. Beispielsweise bestand ihre Reaktion auf die Aussage »[Die Skier] … reichten bis zum Griff [der Zugleine], aber dieser entglitt ihm« darin, dass sie dem Bootsführer die Schuld dafür gaben, dass er nicht nahe genug herankam.Zum anderen neigten die Versuchspersonen, die ein positives Vorurteil gegenüber dem Bootsführer hatten, zu der Auffassung, dass der Wasserskiläufer nicht schnell genug war, um den Griff zu packen. Die Neigung dazu, die Schuld jeweils dem anderen zuzuschieben und die eigene Seite für unschuldig zu erklären, veranschaulicht, wie das Verstehen von Texten auf systematischen Kontextfehlern beruhen kann. Diese Befunde sind eine nachträgliche Begründung für die kritischen Fragen, die Elizabeth Loftus zur Zuverlässigkeit von Gerichtszeugen aufgeworfen hat. In einer weiteren häufig zitierten Studie, diesmal von R.Anderson und Pichert (1978),ging es um Folgendes: Die Versuchspersonen wurden gebeten, eine Geschichte über das Haus einer reichen Familie einmal vom Standpunkt eines möglichen Hauskäufers und zum anderen von dem eines Einbrechers aus zu lesen. Es wurden viele Merkmale des Hauses und der Gegenstände darin beschrieben, wie etwa der Kamin,der muffige Keller,das leckende Dach,das Silberbesteck, die Münzsammlung und das Fernsehgerät.
Die beurteilte Bedeutung dieser Items, aber auch das, was erinnert wurde,hingen in vorhersagbarer Weise damit zusammen,welchen Standpunkt der Leser einnehmen musste.Die potenziellen Diebe schienen sich auf wertvolle Beute zu konzentrieren, während die Hauskäufer ihr besonderes Augenmerk auf den Zustand des Hauses richteten. Diese Experimente deuten darauf hin, dass das Verständnis und die Enkodierung textlichen Materials durch Kontextinformationen beeinflusst wird, die eine bestimmte Art von Schema aktivieren. Die besondere Wirkung eines induzierten Schemas auf die Erinnerung an eine Geschichte wurde außerdem noch durch eine Studie von MacLin und Solso (2000) illustriert. Dadurch, dass man Studenten an einer Eingangsprüfung für Polizisten teilnehmen ließ, wurde ein »Polizistenschema« eingeführt. Eine Beispielfrage lautete: > Ein Polizist in einem Streifenwagen reagiert nachts auf eine telefonische Beschwerde, dass an einem bestimmten Ort ein Herumtreiber beobachtet worden sei. Der Streifenpolizist trifft am angegebenen Platz ein und bemerkt eine Person, auf die die Beschreibung zu passen scheint, die der Beschwerdeführer vorher von dem Herumtreiber abgegeben hatte. Wenn sich der Polizist dieser Person nähert, sollte er am besten: A. vermeiden, irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, da er überhaupt nicht weiß, ob irgendeine strafbare Handlung begangen wurde; B. berücksichtigen, dass diese Person ein gefährlicher Straftäter sein könnte; C. einkalkulieren, dass diese Person wahrscheinlich harmlos ist und es sich nur um einen Spanner handelt; D. einen Warnschuss in die Luft abgeben.
Nachdem die Studenten 25 solcher Fragen durchgearbeitet hatten, wurden sie gebeten, eine Geschichte zu lesen, die 66 Gedankeneinheiten oder unterscheidbare Gedanken enthielt. Einige davon passten zum Polizistenschema und einige nicht. Beispielsweise ist der Satz »Er griff nach einer weiteren Zigarette und fand heraus, dass die Packung leer war« im Hinblick auf ein Polizistenschema neutral. Und er war auch ganz allgemein neutral in Bezug auf die Untersuchung – obwohl der Satz eine besonders präzise Bedeutung haben könnte, wenn Sie eine Person mit Schemata zur Raucherentwöhnung oder Manager in einem Zigarettenunternehmen wären. Betrachten wir dagegen den folgenden Satz: »Thilo rief mit seinem Handy
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Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
110 an und berichtete, dass es hier gerade einen Einbruch gegeben hätte. Dann stieg er aus dem Lastwagen, steckte den Schlüssel in die Tasche und achtete sorgfältig darauf, dass er die Wagentür nicht zuschlug.« Er enthält mehrere saliente Gedanken, von denen man sicher sein kann, dass sie die Aufmerksamkeit eines Polizisten oder bei dem erwähnten Experiment die Aufmerksamkeit einer Person wecken, deren Bewusstseinsniveau für polizeilich relevante Vorfälle schlicht dadurch erhöht ist, dass sie eine Eingangsprüfung für Polizisten gemacht hat. Die Ergebnisse waren überwältigend: Es gab insofern signifikante Unterschiede, als die Studenten, die sich der Polizistenprüfung unterzogen hatten, zwei Mal so viele polizeiliche Gedankeneinheiten erinnerten wie die Gruppe, die nicht an der Prüfung teilgenommen hatte (im ersten Fall waren es 15, im zweiten durchschnittlich 7,88). Insgesamt jedoch war die Erinnerung an Gedankeneinheiten für beide Gruppen in etwa gleich.Dadurch,dass die eine Gruppe eine kurze Erfahrung mit einer Polizistenprüfung gemacht hatte, schien eine Art von Schema induziert worden zu sein, das einen tief reichenden Einfluss auf die Art und Weise hatte, wie die Geschichte enkodiert und erinnert wurde. Die eindeutige Wirkung induzierter Schemata zur Beeinflussung von Wahrnehmung und Gedächtnis wurde auch in einem Experiment von Beal und Solso (1996) anschaulich gezeigt, in dem die Teilnehmer einem Krankenschwesternschema,einem Architektenschema oder einem Polizistenschema bzw. einer Kontrollgruppe zugeordnet wurden. Bei diesem Experiment schrieben die Versuchspersonen einen Aufsatz über die Arbeitstage und die besonderen Fähigkeiten im Zusammenhang mit dem Schema der Berufsgruppe, dem sie zugeordnet worden waren: Eine Krankenschwester könnte z.B. schreiben, sie würde den Tag damit beginnen, dass sie bei einem Patienten Blutdruck, Körpertemperatur und Puls erfasste, Medikamente ausgab,sich mit den Ärzten beriet und dergleichen. Dann wurden die Versuchspersonen gebeten, sich eine Diaschau mit fotographierten und gezeichneten Bildern anzusehen. Anschließend wurde ihnen eine GedächtnisHätten Hunde (wie die Menschen) ein Schema, dann wäre dies die Art und Weise, wie Snoopy eine Geschichte interpretieren würde
⊡ Abb. 11.3. Wie viele Pistolen sehen Sie auf dieser Titelseite eines Groschenheftes? Versuchspersonen, bei denen das Polizeischema induziert worden war, hatten eine Neigung, die Anzahl der Pistolen zu überschätzen
aufgabe gestellt. Die Schemainduktion verbesserte die Erinnerung bei Fragen, die sich auf das Schema bezogen. Vielleicht noch faszinierender war der Befund, dass einige der induzierten Schemata, beispielsweise die für den Polizisten und die Krankenschwester, zu Folgendem führten: Die Anzahl der Bildbestandteile, die mit dem Schema übereinstimmten, wurden überschätzt. ⊡ Abbildung 11.3 zeigt ein ziemlich unheimliches Titelbild eines Groschenhefts, das allen Gruppen gezeigt wurde. Die Versuchspersonen mit einem Schema zur Induktion von Polizisten- und Krankenschwesterninhalten hatten eine Neigung, sich nicht nur auf die Anzahl der Waffen und der körperlichen Verletzungen zu konzentrieren, sondern
313 11.6 · Wissen und Textverständnis
auch die Häufigkeit dieser Dinge zu übertreiben. Somit schienen die Wahrnehmung und die Erinnerung an schemabezogenes Material im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und in einigen Fällen überschätzte der Beobachter die Größe des damit zusammenhängenden Materials. Die Frage, ob echte Polizisten oder Krankenschwestern tatsächlich so handeln, wird durch diese Untersuchungen nicht beantwortet. Zufällig beantworteten Teilnehmer mit einem »Architekten«schema die Fragen zum großen Teil korrekt. Dies deutet darauf hin, dass sich Architekten eine Szene analytisch ansehen und nach allgemeinen übergreifenden Themen suchen. Die Teilnehmer aus der Kontrollgruppe hingegen wiesen die schlechtesten Gedächtnisleistungen im Hinblick auf diese Szenen auf. Anscheinend verbessert sich das Gedächtnis für Szenen,wenn man einen Standpunkt einnimmt – selbst wenn dies durch ein künstlich induziertes Schema geschieht –, und in einigen Fällen wird die Erinnerung angereichert.
11.6.2
»Autoaufkleber und die Polizei«: Kintsch und van Dijk
Das Verstehensmodell, für das Kintsch und van Dijk eintraten, ist aus der Bottom-up- und Top-down-Perspektive von Bedeutung. Auf der Ebene des Lesens von Texten beruhte das Modell auf Propositionen oder Abstraktionen von Informationen,die der Textbasis entnommen werden. Auf der Ebene der Leserintention aber postulierte das Modell ein Zielschema, von dem sich der Leser beim Textverstehen leiten lässt. Das Modell (das im nächsten Abschnitt detaillierter besprochen werden soll) ermöglichte es Forschern, die sich für die Struktur von Geschichten interessierten, genaue Vorhersagen über die Einprägsamkeit spezieller Arten von Informationen zu machen. Die Vorgehensweise, die von den Autoren des Experiments entwickelt wurde, steht in Übereinstimmung mit der modernen wissenschaftlichen Methodologie der Psychologie. Dadurch unterscheidet sie sich von der subjektiven Vorgehensweise, der Bartlett bei seiner wichtigen Arbeit früher gefolgt war. Für unsere Zwecke reicht es aus, sich auf die Art und Weise zu konzentrieren, wie studentische Versuchspersonen beim Abspeichern von Informationen im Gedächtnis vorgingen, die sie aus einem Artikel mit dem Titel »Autoaufkleber und die Polizei« erworben hatten. In einem Experiment, das von Kintsch und van Dijk (1978) durchgeführt wurde, bat man die Versuchspersonen einen nicht
fachlich ausgerichteten Bericht zu lesen, der etwa 1300 Worte lang war. Nach dem Lesen des Berichts sollte sich ein Drittel der Versuchspersonen sofort daran erinnern und eine Zusammenfassung darüber schreiben. Ein weiteres Drittel wurde nach einem Monat getestet und das letzte Drittel nach drei Monaten. Die Vorgehensweise ähnelt der von Bartlett. All diese Erinnerungsberichte und Zusammenfassungen wurden in Aussagen zerlegt, die identifiziert werden konnten als: ▬ Reproduktionen (Aussagen,die das Verstehen des Textes genau zum Ausdruck bringen) ▬ Rekonstruktionen (Aussagen,die plausible Schlussfolgerungen aus dem Hauptthema darstellen und die durch das Weltwissen der Versuchspersonen gestützt werden. Beispiel: »Elisabeth fuhr mit dem Zug nach Vancouver« könnte erweitert werden zu: »Sie ging zum Bahnhof, um eine Fahrkarte zu kaufen.«) ▬ Metaaussagen (Kommentare der Versuchspersonen, Meinungen und Einstellungen zum Text) Die Komponenten wurden mit Hilfe des Computers ausgewertet und aufgrund des Modells machte man spezielle Vorhersagen. Die Autoren zogen mehrere wichtige Schlussfolgerungen im Hinblick auf Textverständnis und -erinnern. Wie sich aus den Daten ergab, die über drei unterschiedliche Zeitspannen (⊡ Abb. 11.4) erhoben wur-
⊡ Abb. 11.4. Anteil der Reproduktionen, Rekonstruktionen und Metaaussagen in den Behaltensprotokollen für drei Behaltensintervalle. Aus Kintsch und van Dijk (1978)
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Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
den, vergaßen die Versuchspersonen anscheinend immer mehr von den spezifischen Details des Berichts, behielten aber den Kern der Geschichte über eine Zeit von drei Monaten hinweg mit etwa dem gleichen Genauigkeitsgrad. Dies ist ein Befund, der mit der Auswertung der Protokolle von Bartlett übereinstimmt. Zusätzlich scheint es so zu sein,dass die Auswertung des schriftlichen Materials – wie etwa Bücher, Geschichten und fachliche Berichte – so organisiert wird, dass sie der sorgfältigen empirischen Untersuchung von Propositionen zugänglich ist. Diese gibt uns mehr Aufschluss über die Art und Weise, wie das Textmaterial organisiert ist und wie der menschliche Geist schriftliches Material über die Zeit hinweg aufzeichnet und im Gedächtnis abspeichert. In diesem Kapitel sind wir systematisch von sehr einfachen linguistischen Entitäten (Phonemen und Morphemen) über die Syntax und die Grammatik, über linguistische Theorien bis hin zu Abstraktionen linguistischer Gedanken fortgeschritten, die in den gerade dargestellten analytischen Arbeiten zum Ausdruck kommen.Man könnte sich nun fragen,ob es irgendwelche umfassenden Sprachtheorien gibt.Tatsächlich existieren mehrere derartige Theorien,wir können sie hier jedoch nicht alle beschreiben.Die Theorie von Kintsch ist besonders bedeutsam, weil sie viele wichtige Punkte aus früheren Untersuchungen enthält und weil sie gleichzeitig ein Modell des Mentalen umfasst. Lassen Sie uns nun einen näheren Blick auf dieses umfassende Modell der Sprachverarbeitung werfen.
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11.7
Ein Modell zum Textverständnis: Kintsch
In diesem Abschnitt werden wir die Hauptbestandteile eines einflussreichen und ausführlichen Modells von Kintsch und seinen Mitarbeitern an der University of Co-
lorado erläutern (Kintsch, 1974, 1979, 1988, 1990; Kintsch & van Dijk, 1978; Kintsch & Vipond, 1979; J. Miller & Kintsch, 1980; van Dijk & Kintsch, 1983). Das Verstehensmodell ist mehr als ein System,das sich mit der Art und Weise beschäftigt,wie Informationen verstanden werden. Es handelt sich um eine Theorie, die einen Querschnitt aus vielen Themen der kognitiven Psychologie einschließlich des Gedächtnisses und des Verstehens schriftlicher und gesprochener Sprache darstellt. Verstehen baut auf zwei getrennten Quellen auf, die der Top down- und der Bottom-up-Verarbeitung ähneln; diese wurden detailliert an mehreren Stellen in diesem Buch besprochen. Auf der obersten Ebene findet sich das Zielschema, in dem entschieden wird, welches Material relevant ist. Auf dem entgegengesetzten Extrem des Modells befindet sich der Text. Das Modell basiert auf der Proposition. Hierbei handelt es sich um einen Begriff, den wir erstmals eingeführt haben, als wir uns mit dem semantischen Gedächtnis beschäftigten. Eine Proposition ist eine Abstraktion und als solche ist sie schwer konkret zu definieren.Wir können jedoch einige charakteristische Eigenschaften von Propositionen ausmachen: Es handelt sich um Abstraktionen, die auf Beobachtungen beruhen (wie etwa Texte lesen oder einem Sprecher zuhören). Sie werden im Gedächtnis behalten und folgen den Gesetzen, denen Gedächtnisprozesse unterliegen, und in Kintschs System bestehen sie aus einem Prädikat und einem oder mehreren Argumenten. Prädikate entsprechen Verben,Adjektiven,Adverbien oder Bindegliedern in den Sätzen, die eine Person liest oder hört.Das wird als Oberflächenstruktur bezeichnet.Dieser Begriff wird von mehreren Linguisten einschließlich Chomsky verwendet. Argumente entsprechen Nomen, Nominalphrasen oder Satzteilen. Das Modell lässt sich durch die folgende kleine Geschichte veranschaulichen: > Der Swazi-Stamm befand sich wegen eines Streites um Vieh im Krieg mit einem Nachbarstamm. Unter den Kriegern waren zwei verheiratete Männer, Kakra und sein jüngerer Bruder Gum. Kakra wurde im Kampf getötet.
Walter Kintsch. Entwickelte einflussreiche Theorien des Sprachverstehens
Der erste Satz lässt sich, wie in ⊡ Abb. 11.5 gezeigt, in fünf Gruppen aufteilen. In dieser Abbildung sind nur drei der Faktoren im Arbeitsgedächtnis vorhanden. Das Prädikat »befand sich im Krieg mit« wird, was das Verständnis der Geschichte angeht, als der wichtigste Teil dieses Satzes angesehen. Die anderen Teile gruppieren sich um das Prädikat herum.Ein bedeutendes Merkmal des Modells besteht
315 11.7 · Ein Modell zum Textverständnis: Kintsch
⊡ Abb. 11.5. Auswertung des ersten Satzes. Aus Kintsch (1979) in deutscher Übersetzung. Das Copyright 1979 hat Division 15 der American Psychological Association. Genehmigter Nachdruck
darin, dass angenommen wird, die anfängliche Verarbeitung des Textes finde im Kurzzeitgedächtnis (KZG) statt – und von ihm wissen wir, dass seine Kapazität begrenzt ist. Wegen dieser Beschränkung wird nur ein Teil der Propositionen im Gedächtnis behalten. Beim Lesen des zweiten Satzes befinden sich immer noch einige der Propositionen aus dem ersten Satz aktiv im KZG (⊡ Abb. 11.6). Der Leser versucht eine Verbindung zwischen der alten und der neuen Proposition herzustellen, findet aber keinen Zusammenhang zwischen ihnen. Da es ihm nicht gelingt, einen Zusammenhang zwischen den Propositionen im KZG zu finden, sucht er im LZG nach einem möglichen Zusammenhang. Diese Suche im Langzeitgedächtnis (LZG) wird als Wiederherstellungssuche bezeichnet und sie ist ein Grund dafür, dass es eventuell schwierig ist, den Text zu lesen. Textmaterial, das hereinströmt, kann leicht zu lesen sein, weil der Leser einen großen Teil des neuen Mate⊡ Abb. 11.6. Auswertung des zweiten Satzes. Aus Kintsch (1979) in deutscher Übersetzung. Das Copyright 1979 hat Division 15 der American Psychological Association. Genehmigter Nachdruck
rials im KZG behalten kann, ohne auf das LZG zugreifen zu müssen. Im erwähnten Beispiel ist der Leser wegen der fehlenden Übereinstimmung zwischen den Propositionen im ersten und zweiten Satz gezwungen, ein neues Netz für die Gedanken zu konstruieren und zu versuchen, die beiden Sätze miteinander in Beziehung zu setzen (⊡ Abb. 11.6). Eine Schlussfolgerung, die der Leser zieht, ist die, dass die beiden Männer Angehörige des Swazi-Stammes sind. Das ist ein vernünftiger Schluss, obwohl diese Tatsache nicht direkt erwähnt wird. Beim Lesen weiterer Sätze wird das semantische Netz allmählich komplizierter und zusammenhängender. Beim Lesen des Satzes »Unter den Kriegern waren zwei verheiratete Männer, Kakra und sein jüngerer Bruder Gum« werden die Namen der Männer im Gedächtnis behalten, die leicht mit der Information im letzten Satz »Kakra wurde im Kampf getötet« in Beziehung gesetzt werden können.
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316
Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
11.7.1
Propositionale Repräsentation von Text und Lesen
Eine Stärke von Kintschs Modell besteht darin, dass es möglich ist, sehr genaue Vorhersagen über die Wirkung bestimmter Arten von Literatur auf den Leseprozess zu machen. Von den vielen Experimenten werden wir hier nur über ein Beispielexperiment berichten. Sie werden sich erinnern, dass im Verstehensmodell behauptet wird, die grundlegende Einheit des Gedächtnisses für Textmaterial sei die Proposition.Außerdem sagt das Modell voraus, dass Sätze von größerer propositionaler Komplexität schwerer zu verstehen sind als Sätze von einfacher propositionaler Struktur, auch wenn die Oberflächenkomplexität der beiden Sätze in etwa gleich ist. Kintsch und Keenan (1973) entwarfen ein Experiment,um diese Vorhersage zu überprüfen. Die Versuchspersonen wurden gebeten, zehn Sätze zu lesen, die alle ungefähr dieselbe Anzahl von Wörtern enthielten, aber große Unterschiede in der Anzahl der Propositionen aufwiesen. Einige Sätze bestanden nur aus vier Propositionen, andere dagegen aus neun. Lesen Sie beispielsweise einmal die folgenden Sätze: > Romulus, der legendäre Gründer Roms, raubte die Frauen von Sabina gewaltsam. Kleopatras Niedergang war durch ihr törichtes Vertrauen gegenüber den wankelmütigen politischen Figuren der römischen Welt begründet.
11 Welcher Satz war schwerer zu lesen? Wenn es sich bei Ihnen so verhält wie bei den Versuchspersonen im Experiment von Kintsch und Keenan, dann hatten Sie mehr Schwierigkeiten mit dem Satz über Kleopatra als mit dem ⊡ Abb. 11.7. Anzahl der Propositionen und Makrostrukturen für zwei Sätze. Aus Kintsch und Keenan (1973) in deutscher Übersetzung
über Romulus. Obwohl die Oberflächenkomplexität der beiden Sätze in etwa die gleiche ist, unterscheiden sie sich deutlich bezogen auf die Anzahl der Propositionen und der Markrostrukturen, die erforderlich sind, um die Propositionen miteinander zu verbinden.In ⊡ Abb. 11.7 ist ein Diagramm dargestellt,in dem die Propositionen und Markrostrukturen angegeben sind. In diesem Experiment wurden den Versuchspersonen Sätze auf Dias dargeboten,die den gerade erwähnten ähnlich waren. Die Versuchspersonen sollten jeden einzelnen Satz lesen und dann niederschreiben. Daraufhin konnten sie sich das nächste Dia zeigen lassen und den folgenden Satz sehen. Hier war von Interesse, welcher Zusammenhang zwischen propositionaler Komplexität und der Zeit besteht, die die Versuchspersonen zum Lesen des Satzes benötigten. Die Autoren fanden einen außerordentlich konsistenten Zusammenhang zwischen der Anzahl der Propositionen und der Zeit, die zur Lektüre der Sätze gebraucht wurde. Dieser Zusammenhang ist in ⊡ Abb. 11.8 dargestellt. Die Zeit, die zum Lesen jedes einzelnen Satzes benötigt wird, lässt sich mit Hilfe der Formel t = 6,37 + 0,94p vorhersagen.Dabei ist t die Zeit und p die Anzahl der Propositionen. Somit würde man zum Lesen eines Satzes der Länge, wie er im Experiment von Kintsch und Keenan verwendet wurde, etwa sechs Sekunden plus etwa eine zusätzliche Sekunde für jede einzelne Proposition brauchen. Alle Sprach- und Verstehensfunktionen erfüllen ihre Aufgabe mit Hilfe des Gehirns.Dies ist eine Tatsache,die seit langem bekannt ist, aber noch nicht ganz verstanden wird. Seit kurzem jedoch beginnt man mit Hilfe einer neuen Technologie die Rolle des Gehirns bei der Sprachverarbeitung und -produktion aufzudecken. Einige dieser neueren Entwicklungen, aber auch einige der herkömmlichen Begrifflichkeiten werden im nächsten Abschnitt dargestellt.
317 11.8 · Sprache und Neurologie
deutig, dass es zu einer schweren Aphasie kommen kann, wenn die Gewebe, die diese beiden Areale miteinander verbinden, geschädigt werden. Die neurologische Grundlage der Sprache ist mit Hilfe unterschiedlicher Methoden untersucht worden. Dazu gehören die klinische Forschung an hirngeschädigten Patienten, die elektrische Stimulierung des Gehirns, die psychochirurgische Vorgehensweisen, pharmakologische Untersuchungen und bildgebende Verfahren.Wir können hier nicht Befunde aus allen erwähnten Bereichen detailliert wiedergeben, wir berichten jedoch über ausgewählte Forschungsarbeiten. Elektrische Stimulierung. Winzige bipolare elektrische
⊡ Abb. 11.8. Zum Lesen benötigte Zeit als Funktion der Anzahl der Propositionen pro Satz. Aus Kintsch und Keenan (1973)
11.8
Sprache und Neurologie
Wie wir gerade erfahren haben, ist Sprache eine Angelegenheit mit vielen Fassetten. Dazu gehören das Erkennen von Buchstaben und Wörtern, Lautmuster, assoziative Netze, Sprechen,Verstehen, aber auch personale und soziale Aspekte. Sprache ist nicht nur ein Mittel zum Kommunizieren, sondern auch zum Problemlösen und Denken. Weil die Sprache mit so vielen kognitiven Funktionen zusammenhängt, wird die Suche nach einem neuronalen Zentrum oder gar nach mehreren Zentren vielleicht so vergeblich bleiben wie die Suche eines rastlosen Liebhabers, der ständig die wahre Liebe sucht und sie nicht findet. Statt sich die Neurologie der Sprache so vorzustellen, dass es sich um etwas Lokalisiertes handelt, sollte man vernünftigerweise Sprache folgendermaßen sehen: Sie besteht aus einer Familie von Fähigkeiten, die jeweils ihre eigenen Zentren haben, deren vollständige Wirkung jedoch von Tausenden und Abertausenden von Zentren abhängt, die gleichzeitig miteinander interagieren. Die Befundlage spricht dafür,dass die beiden zuvor schon erwähnten Zentren (das Broca-Areal und das Wernicke-Areal) etwas mit der Sprachproduktion und dem Sprachverstehen zu tun haben. Ergebnisse klinischer Studien zeigen jedoch ein-
Sonden werden in experimentellen Arbeiten an Menschen und Tieren seit vielen Jahrzehnten eingesetzt. Vor einigen Jahren versetzten Penfield (1959) sowie Penfield und Roberts (1959) die psychologische Welt in Erstaunen, als sie verbale Protokolle von Patienten vorlegten, die sich einer speziellen psychologischen Maßnahme unterzogen hatten. Dabei wurden elektrische Stromstöße niedriger Voltzahl in den klassischen Spracharealen verabreicht – wie etwa dem Broca-Areal und dem Wernicke-Areal –, aber auch in einigen Gebieten des motorischen Kortex, die man mit der Sprachproduktion in Zusammenhang bringt.In einem Fall berichtete der Patient (der nicht unter Vollnarkose stand, weil die Vorgehensweise nur eine lokale Betäubung erforderte),als eine Sonde in die Sprechzonen eingeführt wurde: »Oh, ich weiß, was das ist. Es ist das, was man in die Schuhe hineinschiebt.« Nachdem die Sonde entfernt worden war, sagte der Patient »Fuß« (Penfield & Roberts, 1959, S. 123). Neuere Experimente von Ojemann (1991), bei denen ebenfalls mit einer elektrischen Stimulierung des Gehirns gearbeitet wurde,ergaben ähnlich interessante Daten über Gehirn und Sprache.Die Vorgehensweise,die der von Penfield gleicht, wird bei Patienten eingesetzt, die sich wegen Epilepsie einer Behandlung unterziehen, bei der ein Teil der Schädeldecke aufgeklappt und der zerebrale Kortex freigelegt wird. Eine von Ojemann verwendete Methode bestand darin, den Patienten ein Bild zu zeigen und sie zu bitten, bei eingeschalteter Sonde und bei ausgeschalteter Sonde dem Bild einen Namen zu geben. Wie bei den Studien von Penfield war es möglich, Areale im Kortex anzugeben, die während der Aufgabe ausgeschaltet waren, und andere Areale davon zu unterscheiden, die nicht inaktiviert waren. Die Ergebnisse sind in ⊡ Abb. 11.9 zu sehen; dabei ist der Prozentsatz der Versuchspersonen, die Benennungsfehler machten,innerhalb der Kreise dargestellt.
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Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
⊡ Abb. 11.9. Die Ergebnisse der elektrischen Stimulierung des Gehirns nach Ojemann (1991): Die kleine obere Zahl ist die Anzahl der getesteten Patienten und die eingekreiste Zahl ist der Prozentsatz der Patienten, die Benennungsfehler machten, wenn sie an dieser Stelle stimuliert wurden
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Beachten Sie, dass einige Regionen nicht betroffen sind, während in anderen Arealen 50 bis 79% der Patienten Benennungsfehler aufwiesen. In anderen Arealen dagegen lag der Wert unter 50%. Bei einer weiteren Aufgabe ließen die Forscher Patienten eine Textpassage lesen wie: »Der Fahrer wird an der Kreuzung abbiegen und dann …«. Sie sollten den Satz vervollständigen.Wie bei der anderen Aufgabe wurde dies mit und ohne Stimulierung bestimmter Areale gemacht. In diesem Fall hatten die Patienten manchmal Schwierigkeiten, den Satz zu lesen, übersprangen Wörter oder hörten manchmal ganz auf zu lesen. Bei der zuletzt genannten Situation war die Störung vorüber, wenn die Sonde auch nur leicht bewegt wurde (nicht mehr als ein paar Millimeter). Man schloss daraus, dass es bei diesen speziellen sprachlichen Aufgaben lokale Areale gab, die entscheidend sind. Ein weiterer interessanter Befund ist der, dass sich die genaue Lage dieser Stellen von Versuchsperson zu Versuchsperson sehr stark unterschied.
PET-Studien mit Wörtern gemacht und das Gebiet entwickelt sich so rasch weiter, dass in den nächsten Jahren vermutlich über viele weitere berichtet werden wird.Von besonderem Interesse ist eine Untersuchung von Posner und Mitarbeitern (1988),bei der visuell dargebotene Wörter zu einer Aktivierung im Okzipitallappen führten, während sich bei gesprochenen Wörtern eine Aktivierung im temporoparietalen Kortex zeigte. Hierbei handelt es sich um einen Befund, der völlig mit den zuvor durchgeführten neurologischen Studien übereinstimmt. Diese sind besonders aufschlussreich, wenn man bedenkt, um welche Aufgaben es dabei ging. Unter einer Bedingung, die als semantische Aufgabe bezeichnet wurde, beschäftigte man sich näher mit einer komplizierteren Verarbeitung, als es bei der Aufgabe mit dem passiven Betrachten von Wörtern der Fall ist. So könnte eine Versuchsperson beispielsweise beim Substantiv Hammer »zermalmen« sagen. Bei einer solchen Aufgabe ist nicht nur die passive Beobachtung des Wortes wie bei der visuellen experimentellen Bedingung erforderlich, sondern auch der Zugang zu den assoziativsemantischen Regionen des Gehirns. Posner und seine Mitarbeiter entdeckten dabei eine stärkere Durchblutung im anterioren linken Frontallappen (durch die Quadrate in ⊡ Abb. 11.10 dargestellt). Unter der auditorischen experimentellen Bedingung wurden die Versuchspersonen gebeten, zu beurteilen, ob sich Wörter wie pint und lint, row und though reimten oder nicht. Dies erfordert eine phonologische Auswertung des visuell dargeboten Materials. Das Areal, das bei dieser Aufgabe aktiviert wurde, war der linke Temporallappen – ein Gebiet,das normalerweise mit der auditorischen Verarbeitung in Verbindung gebracht
PET-Schichtaufnahmen und Sprache. Über die Vorge-
hensweise, die bei PET-Schichtaufnahmen zum Einsatz kommt, haben wir in den Kap. 2 und 9 berichtet. Ein Vorteil der Technik elektrischer Stimulierung besteht darin, dass es sich um einen nicht so massiven Eingriff handelt, der auch an gesunden Versuchspersonen durchgeführt werden kann. Im Gegensatz dazu wird die elektrische Stimulierung gewöhnlich als damit zusammenhängendes Experiment während eines psychochirurgischen Eingriffs an kranken Personen durchgeführt. Es wurden mehrere
⊡ Abb. 11.10. Daten von PET-Schichtaufnahmen, die die beim visuellen Lesen aktivierten Areale zeigen. Mit den Dreiecken sind Areale gekennzeichnet, die bei einer passiven visuellen Aufgabe aktiviert werden, während sich die Quadrate auf semantische Aufgaben beziehen. Daten aus Posner et al. (1988)
319 11.8 · Sprache und Neurologie
wird. Diese Experimente deuten darauf hin, dass die linguistische Verarbeitung modalitätsspezifisch ist – das heißt, dass die semantische und die auditorische Verarbeitung visuell dargebotenen Materials an unterschiedlichen Stellen vor sich gehen. Im nächsten Kapitel werden wir sehen,wie verschiedene Teile des Gehirns mit Wörtern in Verbindung gebracht werden.
In diesem Kapitel wurde ein allgemeiner Überblick über Sprache gegeben. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit speziellen Themen der Wahrnehmung von Wörtern und mit dem Lesen. Einige neuere Befunde auf diesem Gebiet sind auch viel versprechend und wir werden herausfinden, dass zurzeit echte Fortschritte zu verzeichnen sind.
Zusammenfassung 1. Sprache ist ein entscheidender Faktor für eine breite Vielfalt menschlicher Aktivitäten einschließlich der Kommunikation, des Denkens, der Wahrnehmung, der Wissensrepräsentation, der Kognition höherer Ordnung und neurologischer Prozesse. 2. In frühen neurologischen Untersuchungen wiesen Broca und Wernicke Zentren im Kortex nach, die meist in der linken Hemisphäre des Gehirns lokalisiert waren und die an der Sprachproduktion und am Sprachverstehen beteiligt sind. 3. Die Linguisten stellen sich Sprache als eine hierarchische Struktur vor, die von einfachen bis zunehmend komplexen Komponenten reicht (z.B. Phoneme, Morpheme und Syntax). 4. Ein Merkmal neuerer Theorien zur Transformationsgrammatik ist, dass der Inhalt einer Botschaft von Sätzen trotz der Veränderungen der linguistischen Form konstant bleiben kann. In einem Ansatz (Chomsky) wird zwischen Oberflächen- und Tiefenstrukturen unterschieden und die Bedeutung der grundlegenden Einheitlichkeit der Sprache, die generative Eigenart von Sprachsystemen und die Gemeinsamkeiten in allen Sprachen werden hervorgehoben. 5. Es lassen sich drei Positionen zum Spracherwerb unterscheiden: Nach einer Auffassung (z.B. Chomsky) ist Sprache eine angeborene universale Neigung, nach der zweiten (z.B. Skinner) wird sie durch Verstärkungskontingenzen erlernt und nach der dritten ist die Sprachentwicklung eine Funktion biologischer Reifung und der Interaktion mit der Umwelt. 6. Die Hypothese von der linguistischen Relativität besagt, dass die Eigenart einer Sprache darüber bestimmt, wie die Menschen die Realität sehen und wie sie darüber denken (sprachliches Denken). Empirische Belege deuten jedoch darauf hin, dass die Wahrnehmungserfahrung bei unterschiedlichen Muttersprach-
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lern ähnlich ist, und sie lassen eine strenge Interpretation der ersten Position fragwürdig werden. Leseverständnis ist der Prozess des Verstehens der Bedeutung schriftlichen Materials. Untersuchungen zu Augenfixierungen weisen darauf hin, dass Leseverstehen von solchen Faktoren wie seltene Wörter, Integration wichtiger Satzteile und Ziehen von Schlussfolgerungen beeinflusst wird. Leseverständnis wird auch durch Wissen beeinflusst, sei es nun über die Lebensgeschichte der Personen hinweg erworbenes oder situatives Wissen. In einem Modell des Textverstehens (Kintsch) wird vorgeschlagen, dass Leser Textmaterial in Form von Propositionen und Zielschemata verstehen. Untersuchungen zu den syntaktischen Konstruktionen ergaben kulturelle Unterschiede bei der bevorzugten Wortreihenfolge (z.B. Subjekt – Verb – Objekt im Unterschied zu Verb – Subjekt – Objekt), obwohl in der Mehrheit der Fälle das Subjekt dem Objekt vorangeht. Es gibt einige funktionale Eigenschaften des Gedächtnisses bei narrativer Prosa: Sätze werden im Gedächtnis in kombinierter und nicht in isolierter Form gespeichert. Geschichten lassen sich wie Sätze in ihre strukturellen Komponenten zerlegen. Die Erinnerung an narrative Informationen ist eine Funktion ihrer strukturellen Rolle. Das Wesentliche wird über die Zeit hinweg behalten, spezielle Einzelheiten werden jedoch vergessen. Untersuchungen zur Neurologie der Sprache deuten darauf hin, dass es spezialisierte Areale gibt, die etwas mit der Sprachverarbeitung zu tun haben. Da aber an der Sprache so viele unterschiedliche Subsysteme beteiligt sind, ist es wahrscheinlich, dass dabei viele Regionen des Gehirns gleichzeitig aktiviert sind. Die Neurologie des Gehirns ist mit Hilfe zahlreicher Techniken untersucht worden. Dazu gehören elektrische Sonden und PET-Schichtaufnahmen.
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Kapitel 11 · Sprache 1: Struktur und Abstraktionen
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Broca-Areal Hypothese der linguistischen Relativität Morphem Oberflächenstruktur Phonem Psycholinguistik Schema Syntax Tiefenstruktur Transformationsgrammatik Wernicke-Areal
Literaturempfehlungen Zu den ausgezeichneten älteren Büchern gehören R. Browns Words and Things (ein allgemeines und vergnügliches Buch), Millers Language and Communication (etwas veraltet, aber ein Klassiker) und Cherrys On Human Communication.
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Die Originalquellen für Chomskys Gedankengebäude sind eine recht spezialisierte Lektüre und von daher für Nichtspezialisten etwas zu schwierig. Einen leichteren Zugang findet man zu E. Bachs Syntactic Theory, zu Slobins Psycholinguistics, zu Kess’ Psycholinguistics: Introductory Perspectives und zu Dales Language Development: Structure and Function. Ein umfassendes Werk ist das Buch von H. Clark und E. Clark mit dem Titel Psychology and Language: An Introduction to Psycholinguistics. Auch G. Millers ausgezeichnetes Buch The Science of Words sei empfohlen. Für die weitere Beschäftigung mit Kintschs Arbeit sollten Sie den Artikel von Kintsch und van Dijk im Psychological Review lesen. Diejenigen, die sich für die Neurologie der Sprache interessieren, werden auf die folgenden Publikationen verwiesen: Fundamentals of Human Neuropsychology von Kolb und Whishaw, Principles of Neural Science von Kandel,Schwartz und Jessell sowie Left Brain, Right Brain von Springer und Deutsch.Abschnitt VII von Gazzanigas The Cognitive Neurosciences enthält einige gute Kapitel und Pinkers The Language Instinct ist interessant und besonders lesenswert. Dies trifft auch auf seinen Bestseller How the Mind Works zu.
12 Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern 12.1
Wahrnehmungsspanne –323
12.1.1
Textverarbeitung: Verfolgung der Blickbewegungen –327
12.2
Lexikalische Entscheidungsaufgaben –332
12.3
Worterkennung: Ein kognitiv-anatomischer Ansatz –335
12.4
Verstehen –337
322
Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
Anregungen vorab 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Warum interessieren sich Kognitionspsychologen für das Lesen von Buchstaben und Wörtern? Was ist eine Wahrnehmungsspanne? Auf welche Weise beeinflusst der eingeschränkte Blickwinkel des Foveasehens das Lesen? Welche Vorgehensweisen wurden genutzt, um das Lesen wissenschaftlich zu untersuchen? Welche Lesemuster hat eine Mensch mit Dyslexie? Was ist Leseverstehen und wie ist es untersucht worden? Welche Teile des Gehirns sind mit der Sprachverarbeitung in Verbindung gebracht worden? Was geschieht im Sehsystem und im Kortex, wenn man eine schwierige Textpassage liest?
Herauszufinden, was wir tun, wenn wir lesen, wäre so etwas wie der Gipfelpunkt dessen, was wir in der Psychologie erreichen können. Denn es würde darum gehen, sehr viele der kompliziertesten Funktionsweisen des menschlichen Geistes zu beschreiben, aber auch das vertrackte Rätsel um die bemerkenswerteste Spezialleistung aufzudecken, die die Zivilisation in ihrer gesamten Geschichte erlernt hat. Edmund Burke Huey
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Johannes Gutenberg (1397–1468), der Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern war nach einer kürzlich unter Wissenschaftlern durchgeführten Umfrage, die einflussreichste Person des letzten Jahrtausends. Warum kam dieser einfache deutsche Drucker in einer Zeit zu solchen Ehren, die Personen wie Einstein, Galilei, Leonardo da Vinci,Beethoven,Newton,Shakespeare und Darwin erlebte (ich will Elvis und Bill Gates gar nicht erst erwähnen)? Gutenberg stellte ganz gewöhnlichen Menschen Buchstaben zur Verfügung, die in Kombination miteinander Wörter ergaben, die – wenn sie miteinander verbunden wurden – Phrasen und Sätze bildeten, die miteinander verbunden Absätze, Kapitel und Bücher ergaben, die – wenn sie gelesen und verstanden wurden – uns allen solche Werke schenkten wie (neben zahllosen anderen) Don Quichote, Stolz und Vorurteil, die Kritik der reinen Vernunft, die Principia Mathematica, die Elenden, den Koran, Schuld und Sühne, Moby Dick, den Ursprung der Arten, das Kommunistische Manifest, Säuglingspflege und Kinderpflege und Ein Kater macht Theater. Das gedruckte Wort war ein wertvoller Beitrag für die Weltgeschichte des Geistes: Es versah das Gehirn mit einem Geist, es veränderte Zivilisationen, es klärte breite Schichten der Bevölkerung auf, es enträtselte dem Neugierigen die Natur und versorgte den Geist der gesamten Menschheit mit Nahrung. Wenn ich nun in einem wissenschaftlichen Buch über Kognition ein Kapitel über das Lesen von Buchstaben und
Wörtern schreibe, so geschieht dies in demütiger Ehrfurcht vor dem Thema. Fast alles, was wir wissen, wissen wir, weil wir Zugang zu Informationen haben, die in Wörtern enthalten sind. Lassen Sie uns einmal sehen, was Psychologinnen und Psychologen über dieses wirkungsvollste aller Medien herausgefunden haben. Für Psychologen ist die Entdeckung der Buchstaben und des Lesens aus zwei Gründen von Bedeutung: ▬ Der Prozess des Lesens stellt im Mikrokosmos eine Interaktion zwischen Reizen und Gedächtnis dar, die den kognitiven Prozess beim Menschen widerspiegelt. Deshalb könnte ein Verständnis des Prozesses für die Entwicklung von Modellen oder Theorien der Kognition von Nutzen sein – für das Zusammenspiel zwischen den »Dingen draußen« und den »Dingen im Kopf«. Dies trifft in besonderem Maße auf das Lesen zu, bei dem einem physikalischen Reiz, der überhaupt keinen intrinsischen Wert hat, eine Bedeutung in einem abstrakten Gedächtnissystem zugewiesen wird. Diese Theorien werden innerhalb des Kontextes der Buchstaben- und Wortexperimente entwickelt, weil wir sehr viel wissen, sowohl über die Eigenart der Reize als auch über die Erfahrungen, die die Versuchspersonen in die Wahrnehmungssituation mit einbringen. ▬ Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Prozess, der mit dem Erkennen von Buchstaben und mit dem Lesen einhergeht, kann zu einem Wissen führen, das
323 12.1 · Wahrnehmungsspanne
dazu genutzt werden könnte, den Leseunterricht zu verbessern. Die Frage, welche Eigenschaften am Lesen beteiligt sind, gehört zu den am heftigsten diskutierten pädagogischen Themen.Einige Antworten auf diese Frage lassen sich finden,wenn man die Entwicklung von Lesefertigkeiten untersucht, das Erkennen von Buchstaben und Wörtern erforscht und sich mit der Neurologie des Lesens beschäftigt. Eine Stufe der wissenschaftlichen Erforschung des Prozesses der Buchstaben- und Worterkennung begann damit,dass man bestimmte,wie viel wir bei einer gegebenen Fixation – einer Art kognitiven Schnappschusses – erkennen. Und sie endete damit, dass man herausfand, wie die Struktur des visuellen Musters (z.B.Wörter) einen Einfluss darauf hat, ob man sie erkennt. Während der Anfänge der experimentellen Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in deutschen, englischen und amerikanischen Labors entdeckte der französische Wissenschaftler Émile Javal (1878), dass sich das Auge beim Lesen nicht kontinuierlich über eine Zeile hinwegbewegt, sondern es eine Reihe kleiner Sprünge macht – so genannte Sakkaden –,mit einer kurzen Fixation beim Zeilensprung. James McKeen Cattell (1886a, 1886b) versuchte herauszufinden, wie viel man während einer einzelnen visuellen Fixation lesen konnte. Mit Hilfe eines Tachistoskops (vgl. S. 325f) schätzte er die Zeit, die man braucht, um solche Dinge wie Formen, Farben, Buchstaben und Sätze zu erkennen. Die Ergebnisse seiner Experimente stimmten mit denen früherer Untersuchungen zur Bandbreite der Aufmerksamkeit überein.Doch mehr noch interessierte sich Cattell für die Tatsache, dass die Reak-
tionszeiten damit zusammenhingen, wie vertraut die Personen mit dem visuellen Material waren. Er bot Versuchspersonen Buchstaben und Wörter für nur eine Hundertstelsekunde (10 ms) dar. Dabei entdeckte er,dass die Fähigkeit,Buchstaben anzugeben,nicht so sehr eine Funktion der Anzahl der Buchstaben war, sondern eine Funktion dessen,wie nahe die Buchstabensequenz einer sinnvollen Sequenz kam – wie beispielsweise in einem Wort.Eine Versuchsperson,die für 10 ms mit einer Darbietung nicht zusammenhängender Buchstaben konfrontiert war, konnte drei oder vier Buchstaben angeben. Wenn die Buchstaben ein Wort ergaben, dann waren es bis zu zwei Wörter (von jeweils drei oder vier Buchstaben); und wenn die Wörter syntaktisch miteinander zusammenhingen, dann konnten die Versuchspersonen sogar vier Wörter »lesen«. Da 10 ms beträchtlich kürzer sind als die Zeit, die man für eine Sakkade benötigt, war die Erfassungsspanne in Cattells Untersuchungen auf das begrenzt, was man (im Jargon der Filmemacher) einen einzelnen Wahrnehmungsrahmen nennen könnte. Für eine Sakkade von zwei Grad braucht man etwa 25 ms, für eine von fünf Grad etwa 35 ms und für eine von zehn Grad etwa 45 ms. Dabei gibt es je nach Person individuelle Unterschiede (L. Young, 1963; Rayner, 1978; Robinson, 1968).
12.1
Wahrnehmungsspanne
Die moderne Kognitionspsychologie interessiert sich für die Frage der Wahrnehmungsspanne (wie viele Informationen kann man während einer kurzen Darbietung wahrnehmen?) genauso brennend, wie dies bei ihren Kollegen
Kritisch hinterfragt: kluges Lesen Bevor Sie weiterlesen, versuchen Sie doch einmal die folgenden Wörter zu erkennen: (1) N_t_r, (2) G_d_chtn_ s, (3) P_rs_nl_chk__t. Empfanden Sie das als schwierig? Man hat festgestellt, dass die Wortwahrnehmung durch Vorerfahrung beeinflusst wird. Uns stehen ständig einige gut eingeübte Regeln zur Rechtschreibung (Buchstabenreihenfolge), Grammatik, Semantik und zu Wortassoziationen zur Verfügung – all dies hilft uns im Alltag beim Lesen. Wie viele Informationen brachten Sie in die Dekodierung der gerade erwähnten Botschaft ein und wie viele waren in den Reizen enthalten? Unsere Fähig-
keit, Buchstaben und Wörter zu sehen, ist kein passiver Prozess. Vielmehr handelt es sich um einen aktiven Prozess, bei dem wir nach Wahrnehmungsobjekten suchen, für die wir bereits eine Repräsentation im Gedächtnis haben. Wenn Sie Schwierigkeiten dabei hatten, die Lücken auszufüllen, dann berücksichtigen Sie einmal folgende Hinweise: (1) menschliche, (2) Langzeit, (3) Eigenschaften. Gibt es noch andere Wörter, die sich aus den oben angegebenen Buchstaben bilden ließen? Warum haben Sie nicht sofort an diese gedacht?
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Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
im 19. Jahrhundert der Fall war. Im Folgenden finden Sie eine Reihe von Fragen, die im Moment zum Thema Buchstaben- und Worterkennung heiß diskutiert werden. Die Antworten darauf werden in diesem Kapitel besprochen: ▬ Welche neurologischen und welche anderen physischen Fähigkeiten liegen dem Erkennen von Buchstaben und Wörtern zugrunde? ▬ Welche Eigenschaften von Buchstaben und Wörtern beeinflussen das Erkennen? ▬ Worin besteht normalerweise der Zusammenhang zwischen Reiz- und Gedächtnisfaktoren? ▬ Worin bestehen die Auswirkungen des Kontextes und der Häufigkeit auf das Erkennen eines Wortes? ▬ Welche Modelle der Kognition müssen entwickelt werden, um den Vorgang zu beschreiben?
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Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit der Frage der neurologischen Fähigkeiten beim Erkennen von Buchstaben oder Wörtern. Bei den Bildern, die auf den Teil der Netzhaut fallen, den man als Fovea bezeichnet, ist die Sehschärfe am besten. Diese kleine Einbuchtung im hinteren Teil des Auges ist voller lichtempfindlicher Nervenzellen, die man als Zapfen bezeichnet (⊡ Abb. 12.1A). Das Foveasehen umfasst einen Blickwinkel von nur etwa ein bis zwei Grad. Wenn man bei normalem Sehabstand einen einzigen Buchstaben im Text fixiert,kann man den Unterschied zwischen fovealem und peripherem Sehen erleben. Der einzelne Buchstabe, auf den man fokussiert, ist sehr klar aufgelöst und einige Buchstaben links und rechts daneben kann man deutlich sehen. Die Buchstaben und Wörter jedoch, die einige Grade weiter entfernt sind, sind verschwommen und die Buchstaben und Wörter in der Peripherie sind nicht zu erkennen (⊡ Abb. 12.1B). In ⊡ Abb. 12.2 ist der Kegel des Sehens dargestellt.Diese Zeichnung soll eine dreidimensionale Ansicht des nor-
malen Sehens repräsentieren (eigentlich ist der Blickwinkel ein wenig unregelmäßiger, als es hier dargestellt ist). Man kann erkennen, dass das foveale Sehen nur den kleinsten der Keile umfasst, der ein Gesichtsfeld von etwa zwei Grad aufspannt, und das parafoveale Sehen umfasst zehn Grad.Das periphere und das nahperiphere Sehen erweitern den Blickwinkel eines Menschen beträchtlich, allerdings auf Kosten einer verminderten Auflösung. Diese Parameter reagieren auch empfindlich auf die Art des wahrgenommenen Reizes. Nicht bewegliche Objekte in der Peripherie können unerkannt bleiben, während sich bewegende Objekte möglicherweise »gesehen« werden und die Aufmerksamkeit erregen.Mit dieser Beobachtung ist auch die ökologische Überlegung verbunden, dass die Wahrnehmung eines sich bewegenden Beutetiers oder Raubtiers für das Überleben von Bedeutung ist. Trotz der Tatsache,dass die Sehschärfe jenseits der Fovea stark abnimmt, werden anscheinend vor allem beim normalen Lesen trotzdem einige Buchstaben und Wörter außerhalb des fovealen Sehens erkannt.Um dieses scheinbare Paradoxon besser zu verstehen, sollten neuere Befunde zur sakkadischen Blickbewegung berücksichtigt werden. Diese raschen Blickbewegungen wurden zwar oft in Verbindung mit dem Prozess des Lesens untersucht, sie treten jedoch auch auf, wenn eine Versuchsperson ein visuelles Muster betrachtet ( siehe die Darstellung der Arbeiten von Yarbus in Kap. 4). Nach Norton und Stark (1971) kommt es während des Lesens typischerweise zu zwei oder drei Sakkaden pro Sekunde und diese gehen so schnell vor sich, dass sie nur etwa 10% der Sehzeit einnehmen. Eine Bewegung von zehn Grad dauert nur ungefähr 45 ms und das Sehen scheint während der Bewegung beeinträchtigt zu sein. Es handelt sich um einen Zustand, der als visuelles Verwischen (»visual smear«) bezeichnet wird (Haber & Hershenson, 1973). Anscheinend muss das
⊡ Abb. 12.1. A Verteilung der Zapfen auf der Netzhaut. Adaptiert nach Woodson (1954). B Sehschärfe auf der Netzhaut. Der schattierte Bereich ist »der blinde Fleck« (Eintrittspunkt des Sehnerven). Adaptiert nach Ruch und Patton (1965)
A
B
325 12.1 · Wahrnehmungsspanne
⊡ Abb. 12.2. Sehkegel, in dem das foveale, parafoveale, nahperiphere und periphere Sehen dargestellt ist (die Winkel geben hier den Blickwinkel von der einen Seite zur anderen an). Aus Solso (1994)
Erkennen von Buchstaben und Wörtern im nichtfovealen Bereich, zu dem es häufig beim Vorgang des Lesens kommt,teilweise auf etwas anderes zurückgeführt werden als auf die physikalische Stimulierung der Netzhaut. Dieses »andere« ist wahrscheinlich das umfassende Wissen der Versuchsperson über die sequenzielle Anordnung von Buchstaben und Wörtern, aber auch ihr Verständnis für das im Text behandelte Thema. Besonders offenkundig ist das bei so genannten Schnelllesern, deren ungeheure Fähigkeit zur Verarbeitung riesiger Informationsmengen davon abzuhängen scheint,welches Textmaterial ihrer Erwartung nach im Folgenden kommen wird. Eine andere Methode, um die Sehschärfe zu schätzen, wird in Experimenten zur Verfolgung von Blickbewegungen verwendet, bei denen Computer eingesetzt werden. Diese Experimente wurden mit dem Ziel durchgeführt, die Bewegungen und Fixationen des Auges näher zu bestimmen. Dabei nimmt man an, dass diese mit der Verar-
beitung von Informationen beim Lesen zusammenhängen. Diese Vorgehensweisen und Befunde werden hier kurz erörtert ( siehe die Arbeiten von McConkie & Rayner sowie von Just & Carpenter). Eine weitere Methode zur Abschätzung der Sehschärfe bestand darin, ein Tachistoskop zu verwenden, mit dem man kurzzeitig visuelle Reize darbieten kann. Bei dieser Art von Experimenten, bei denen die Versuchspersonen auf einen Fixationspunkt blicken, blitzt auf dem Bildschirm für einen kurzen Augenblick ein Wort oder ein Satz auf. Die Versuchsperson wird dann möglicherweise gebeten, sich an Buchstaben oder Wörter zu erinnern, die sich nicht im Bereich des fovealen Sehens befanden. Die Ergebnisse dieser Art von Experimenten sind in ⊡ Abb. 12.3 zusammengefasst. Wie dargestellt umfasst die Wahrnehmungsspanne im Allgemeinen etwa zwei bis drei Wörter oder ungefähr zehn bis 20 Buchstaben. Wenn man die Beschränkungen des visuellen Systems als gegeben annimmt, welche Schlussfolgerungen lassen
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326
Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
⊡ Abb. 12.4. Anschauliche Darstellung von Fixationen und zeitlicher Dauer (in ms). Es ist auch eine hypothetische Rekonstruktion der Information dargestellt, die während der Fixationen von normalem Text wahrgenommen wird. Beachten Sie, dass die Buchstaben an der jeweiligen Fixationsstelle und nahebei deutlich wahrgenommen werden, während entfernter gelegene Buchstaben (mit Ausnahme von Buchstaben, die von Leerstellen umgeben sind) nur schlecht wahrgenommen werden. Aus Estes (1977) und Dearborn (1906)
⊡ Abb. 12.3. Sehschärfe und Wahrnehmungsspanne aufgrund von tachistoskopischen Experimenten. Aus S. Taylor (1965)
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dann über den Vorgang ziehen, der sich beim normalen Lesen eines Textes abspielt? Es ist wahrscheinlich, dass die Textinformation, die auf die Fovea fällt, deutlich erfasst und zur weiteren Verarbeitung an das Gehirn weitergeleitet wird. Während der Sakkade werden, wenn überhaupt, nur wenige Textinformationen erfasst oder verarbeitet. Textinformationen, die sich jenseits der Fovea in der Parafovea oder im peripheren Sehen befinden, werden im
William K. Estes. Leistete bedeutsame Beiträge in vielen Bereichen der Psychologie, einschließlich der Lerntheorie, der mathematischen Psychologie und der kognitiven Psychologie. Herausgeber der Zeitschrift Cognitive Science bei ihrer Gründung
neurologischen Sinne schlecht aufgelöst. Dennoch wird die normale Verarbeitung von Textmaterial durch diese scheinbare sensorische Behinderung nicht beeinträchtigt. Einige Befunde deuten darauf hin, dass Buchstaben im schlecht auflösenden parafovealen Sehen deutlicher erfasst werden,wenn sie von Leerzeichen umgeben sind.Estes (1977) rekonstruierte den Vorgang, der sich beim normalen Lesen abspielt (dies ist in ⊡ Abb. 12.4 dargestellt). Eine wichtige Funktion des Systems der verbalen Verarbeitung, mit dessen Hilfe aus vertrauten Linien und Kurven ein semantischer Sinn gebildet wird, besteht darin, die Lücken in der erfassten Information zu füllen und die vom Autor der Zeilen beabsichtigte elementare Bedeutung abzuleiten. Der Lesevorgang – vom Augenblick, in dem die Augen auf das Textmaterial fokussieren über die Ableitung der Bedeutung bis hin zur nächsten Sakkade – vollzieht sich in einem sehr kurzen Zeitabschnitt.Später werden wir etwas über einige neuere Methoden erfahren, mit deren Hilfe ein paar der Geheimnisse im Zusammenhang mit diesem Vorgang enträtselt werden. Die Erforschung der Wahrnehmungsspanne beim Lesen macht es möglich, die Verarbeitung von Informationen zu untersuchen, die nicht deutlich wahrgenommen und dennoch oft klar enkodiert werden. Die Untersuchungen zum Lesevorgang scheinen die Fähigkeit des Menschen zum Ausdruck zu bringen, rasch Hypothesen über den Text zu bilden, für die man nur Erwartungen bestätigen oder nicht bestätigen muss und für die keine detaillierte Merkmalsanalyse für jeden einzelnen Buchstaben benötigt wird. Einige der wissenschaftlichen Unter-
327 12.1 · Wahrnehmungsspanne
suchungen zum Erkennen von Buchstaben und Wörtern werden im nächsten Abschnitt dargestellt.
12.1.1
Textverarbeitung: Verfolgung der Blickbewegungen
Wenn wir etwas lesen oder eine Szenerie (wie etwa auf einem Gemälde oder Bild) betrachten,machen wir eine Reihe von Bewegungen, so genannte Sakkaden, und es gibt Zeiten, in denen die Augen für einen Moment innehalten. Hier handelt es sich um so genannte Fixationen,die durchschnittlich etwa 250 ms dauern, obwohl es dabei beträchtliche intrapersonale und interindividuelle Unterschiede gibt. Dies geschieht, weil das Sehen nur in einem sehr engen Bereich von etwa ein bis zwei Grad am schärfsten ist. Die typische Sakkade umfasst etwa acht oder neun Buchstabenabstände und wird nicht durch die Größe des ausgedruckten Textes beeinflusst (wenn man einmal davon ausgeht, dass die Buchstaben nicht zu klein oder zu groß sind). In etwa 10 bis 15% der Zeit bewegen wir unsere Augen zurück, um uns das Textmaterial noch einmal anzuschauen. Diese Bewegungen bezeichnet man als Regressionen. Psychologen machten schon im Jahre 1906 (Dearborn) fotografische Aufzeichnungen von Blickbewegungen beim Lesen. Bei modernen Systemen zur Verfolgung von Blickbewegungen kommen Videorekorder und Computer zum Einsatz, die die Blickbewegung beim Lesen (⊡ Abb. 12.5) oder beim Betrachten eines Bildes analysieren. Seit Mitte der siebziger Jahre hat das Interesse für Untersuchungen von Blickbewegungen beim Lesen stark zugenommen ( ⊡ Abb. 12.5. Ein typisches Experiment zur Verfolgung der Blickbewegungen, bei dem die Versuchsperson einen Text betrachtet, der auf einem Bildschirm dargestellt wird. Ihre Blickbewegungen werden mit Hilfe eines Lichtstrahls aufgezeichnet, der von der Pupille reflektiert wird. Dies wird wiederum an einen Computer übertragen und auf einem zweiten Bildschirm dargestellt, den der Versuchsleiter beobachtet. Foto mit freundlicher Genehmigung der Applied Science Laboratories
siehe Inhoff & Tousman, 1990; Just & Carpenter, 1987; Raney & Rayner, 1993; Rayner, 1993; zu einem Überblick über neuere Entwicklungen Rayner et al., 1989). Dies trifft auch für die
Wahrnehmung von Kunstwerken zu (Solso, 1994). Bei einigen experimentellen Arbeiten zur Größe der Wahrnehmungsspanne wurde das eben erwähnte System verwendet. Bei diesem Ansatz können, wenn eine Versuchsperson einen Teil des Textes fixiert, in anderen Bereichen des Bildschirms Veränderungen vorgenommen werden. Beispielsweise könnte eine Darbietung aus einem verstümmelten und einem normalen Text bestehen, um die Sehspanne für Texte zu untersuchen. Wenn die Versuchsperson eine Zeile fixiert, verwandelt sich bei diesen Experimenten der Teil des Bildschirms, den sie fixiert, zu lesbarem Text. Wenn die Versuchsperson eine Sakkade macht, verändert sich der lesbare Text wieder zu einem verstümmelten Text und eine neue Darbietung mit lesbarem Text erscheint in der Nähe des neuen Fixationspunktes (⊡ Abb. 12.6). Die Spanne für den lesbaren Text kann variiert werden. McConkie und Rayner (1973, 1976) und Rayner (1975, 1993) fanden heraus, dass gute Leser Gestaltinformationen über Buchstaben und Wörter in einem begrenzten Bereich von etwa 17 bis 19 Buchstabenabständen vom Fixationspunkt erfassen (das sind etwa fünf Grad des Blickwinkels). Rayner (1975, 1993) setzte ein ähnliches Verfahren ein, um zu untersuchen, wie groß der Bereich ist, aus dem Leser Informationen über den Text aufnehmen. Einige Autoren (Goodman, 1970) behaupteten, dass Versuchspersonen aufgrund des Kontextes der Informationen und aufgrund der Teilinformationen aus dem peripheren Sehen eine Hypothese darüber bilden,was als Nächstes kommen
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Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
⊡ Abb. 12.6. Beispiele für die Technik des sich bewegenden Fensters. Die erste Zeile zeigt eine normale Textzeile, wobei der Ort der Fixation durch ein Sternchen gekennzeichnet ist. In den nächsten beiden Zeilen sieht man ein Beispiel für zwei aufeinander folgende Fixationen mit einem Fenster von 17 Buchstabenabständen. In den übrigen Zeilen sind Beispiele für andere Arten von Versuchsbedingungen aufgeführt. Im asymmetrischen Beispiel ist das Fenster bezogen auf den Ort der Fixation um drei Buchstaben nach links und um acht nach rechts
erweitert. Unter der Versuchsbedingung mit ähnlichen Buchstaben werden die Buchstaben außerhalb des Fensters durch ähnliche Buchstaben und nicht durch mehrere X ersetzt. Im Beispiel ohne Leerstellen werden außerhalb des Fensters alle Leerstellen zwischen den Wörtern ausgelassen. Im Beispiel mit einem Wort befindet sich nur das fixierte Wort innerhalb des Fensters und im Beispiel mit zwei Wörtern stehen das fixierte Wort plus das Wort rechts vom Fixationspunkt zur Verfügung. Aus Rayner (1993)
wird. Das heißt, dass Versuchspersonen ihre Augen beim Lesen von Text vorwärts bewegen,um ihre Hypothesen zu bestätigen (das kommt häufig vor) oder um ihre Hypothese nicht zu bestätigen (dies macht eine weitere Verarbeitung erforderlich). Die entgegengesetzte Auffassung vertreten McConkie und Rayner (1973): Sie nehmen an, dass Versuchspersonen die Zeit während der Fixation dazu nutzen, die Eigenart des Textes zu bestimmen, und nicht so sehr dazu, Hypothesen darüber zu bilden, was nun folgen wird. Die peripheren Hinweisreize im Bereich sicherer Informationen (beispielsweise bestimmte Merkmale und Formen ) sind jedoch wichtig.Wenn sich der Fixationspunkt der Versuchspersonen vorwärts bewegt, stimmt das wahrgenommene Muster normalerweise mit den vorhandenen Teilinformationen überein. Ein innovatives Merkmal in Rayners Arbeit ist schließlich die Varia-
bilität der Teilinformationen, die sich den Versuchspersonen im peripheren Sehen darbieten.In einem Experiment verwendet Rayner (1975) ein »entscheidendes Wort«, das die wortgleiche Versuchsbedingung verschieben würde, wenn die Versuchspersonen ihren Fixationspunkt in seine Richtung hin verändern würden (z.B. ⊡ Abb. 12.7).Deshalb könnte sich in dem Satz »The rebels guarded the palace with their guns« das entscheidende Wort »palace« (wenn sich das Auge dorthin bewegen würde) zu »police« verändern. > Entscheidendes Wort Versuchsbedingung Palace wortgleich Police ein semantisch und syntaktisch akzeptables Wort, das sehr viele ▼
329 12.1 · Wahrnehmungsspanne
⊡ Abb. 12.7. Ein Beispiel für das Grenzparadigma. Die erste Zeile zeigt eine normale Textzeile vor einem Wechsel der Bildschirmdarbietung, wobei die Orte der Fixation durch ein Sternchen gekennzeichnet sind. Wenn die Blickbewegung eines Lesers eine unsichtbare Grenze
überschreitet (den Buchstaben e in the), wird ein ursprünglich dargebotenes Wort (date) durch das Zielwort ersetzt (page). Zu dem Wechsel kommt es während der Sakkade, so dass der Leser die Veränderung gar nicht bemerkt. Aus Rayner (1993)
Buchstaben mit dem Ursprungswort gemeinsam hat Nichtwort mit außergewöhnlichen Buchstaben und einer Form, die der des Ursprungsworts ähnelt Nichtwort mit einer veränderten Form, aber denselben Buchstaben am Anfang und am Ende Nichtwort, bei dem die letzten beiden Buchstaben miteinander vertauscht sind
Noten und kombiniert diese unmittelbaren Informationen mit dem Wissen, das er im Langzeitgedächtnis über musikalische Harmonien, globale Rhythmenphrasen und die Interpretation der gesamten Melodie parat hat. Zusätzlich könnte der erfahrene Musiker das vorliegende Musikstück mit seinem musikalischen Schema in Zusammenhang bringen. Das Schema wiederum könnte mit dem emotionalen Thema der Musik verschmelzen. Und hier handelt es sich nur um einige der auf der Hand liegenden Komponenten, die zum Musizieren und zur Interpretation von Musik gehören. Damit all diese komplizierten kognitiven Prozesse ablaufen, spielt der begabte Musiker ein Stück vermutlich nicht »Note für Note«, sondern ist auf dem Notenblatt immer ein Stückchen voraus, um vorwegzunehmen, was als Nächstes kommt – so wie es der erfahrene Leser vielleicht bei Texten macht. Die Frage lautet: Wie weit voraus ist der durchschnittlich begabte Spieler beim Spielen eines Musikstücks? Mit dieser Frage haben sich mehrere Experimente beschäftigt und dazu gehört auch eine Untersuchung von Rayner und Pollatsek (1997). Dabei wurden begabte Klavierspieler gebeten,eine relativ einfache Melodie von Bartok vom Blatt abzuspielen. Bei der dabei eingesetzten Vorgehensweise handelte es sich um die Technik des sich bewegenden Fensters (vgl. auch ⊡ Abb. 12.6), innerhalb dessen dem Spieler eine Abfolge von Noten auf einem Bildschirm als »Fenster« dargeboten wurde. Die Informationen im Fenster veränderten sich synchron mit den Augen des Spielers. Die in ⊡ Abb. 12.8 dargestellten Ergebnisse zeigen,dass seine Augen in der großen Mehrzahl der Fälle einen Bereich fokussierten,der sich immer etwas vor dem befand, der gerade gespielt wurde.Von Interesse sind zwei weitere Beobachtungen: In einigen wenigen Fällen fokussierten die Versuchspersonen einen Bereich hinter der Note, die gerade gespielt wurde. Dies deutet darauf
Pcluce
Pyctce
Qcluec
Rayner fand heraus, dass sich eine semantische Interpretation (also der Sinn) eines Wortes über eine Distanz von einem bis sechs Buchstabenabständen vom Fixationspunkt ergab, dass die Versuchspersonen jedoch sieben bis zwölf Buchstabenabstände davon entfernt nur noch grobe visuelle Merkmale angeben konnten,wie etwa die Form des Wortes bzw. die Anfangs- und Endbuchstaben. Anscheinend werden die Informationen in der nahen Peripherie partiell kodiert und das Ausmaß der Verarbeitung hängt von der Entfernung vom Fixationspunkt ab. Verfolgung der Blickbewegungen und Notenlesen. Das Notenlesen ist dem Lesen von Wörtern nicht unähnlich. Um auf Anhieb Noten lesen zu können, muss ein Musiker die Noten auf einem Blatt auf irgendeine Weise in angemessene motorische Bewegungen übersetzen und die Signale ästhetisch interpretieren. Denken Sie an die wirklich komplizierte Aufgabe, mit der ein Pianist konfrontiert ist, wenn er Musik vom Blatt abspielt.Auf einem elementaren Niveau, dem Niveau eines Anfängers, wird eine Note unmittelbar in das Anschlagen einer entsprechenden Taste übersetzt: Lies die Note C; schlag die Taste C an.Auf einem virtuosen Niveau jedoch sieht der Spieler eine Reihe von
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Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
einfallen.Einige der besten Bassgitarristen des Landes würden an diesen Ort kommen.]
⊡ Abb. 12.8. Wie weit virtuose Klavierspieler ihre Handbewegungen vorausplanen, wenn sie ein Klavierstück spielen (Rayner & Pollatsek, 1997)
hin, dass der Spieler vielleicht über die Noten nachdachte, die er gerade gespielt hatte, und begabte Spieler zeigten eine größere Wahrnehmungsspanne als weniger begabte Spieler. Die Größe des Unterschieds betrug bei begabten Spielern etwa zwei Anschläge nach vorne gegenüber einem halben Anschlag bei weniger begabten Spielern. Im Hinblick auf die Leseleistung bezogen auf Wörter, aber auch bezogen auf Noten haben die Experten offensichtlich eine größere Wahrnehmungsspanne als Anfänger. Experten können bei einer kurzen Fixation mehr Informationen aufnehmen als Nichtexperten.
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Holzwegexperimente. Die Methode, das Lesen mit Hilfe von Blickbewegungen zu untersuchen, wurde von Carpenter und Dahneman (1981; siehe auch Just & Carpenter, 1987) eingesetzt.Bei den Forschungsarbeiten wurden kurze Geschichten wie die Folgenden laut vorgelesen:
The young man turned his back on the rock concert stage and looked across the resort lake.Tomorrow was the annual one-day fishing contest and fishermen would invade the place. Some of the best bass guitarists in the country would come to this spot. [Der junge Mann drehte sich auf der Bühne des Rockfestivals um und ließ seinen Blick über den See schweifen. Morgen sollte das jährliche, einen Tag dauernde Wettfischen stattfinden und die Fischer würden hier ▼
Wenn Sie die englische Textpassage so wie die meisten Menschen lesen, dann werden Sie durch die ersten Zeilen auf einen Holzweg geführt, weil Sie beim Lesen des Wortes bass an den Fisch dachten und ihn so aussprachen, als reimte er sich auf mass. Das nächste Wort, guitarists, widerlegt diese Interpretation. Die Fixationen der Augen verlaufen bis zum Wort bass ganz normal. Die Zeit, die man bei dem Wort verweilt, ist jedoch – wie man leicht sieht – länger als normal. Zusätzlich neigen die Menschen dazu, zurückzugehen und sich das vorherige Wort noch einmal anzuschauen. Die Holzwegexperimente führen zu bedeutsamen Einsichten in den Vorgang des Lesens,weil sie sich auf die Verarbeitung von Textmaterial beziehen.Aber die Ergebnisse sind sogar von noch größerer Bedeutung, wenn wir uns genauer mit der Eigenart der Informationsverarbeitung und des Bewusstseins beim Menschen beschäftigen. ▬ Diese Experimente deuten (zusammen mit mehreren anderen) darauf hin,dass die frühen Phasen beim Verstehen schriftlichen Materials möglicherweise in sehr kurzen Zeitintervallen ablaufen. Die Versuchspersonen fixierten ihre Augen auf bass, weil die Bedeutung dieses Wortes im Kontext gesehen nicht mit dem übrigen Satz übereinstimmt.Sie veränderten ihr Lesemuster innerhalb von wenigen 100 Millisekunden. ▬ Diese Befunde deuten darauf hin, dass von den ersten Anfängen der Verarbeitung von Texten an eine ausgeklügelte Form des Verstehens stattfindet, nämlich die Ableitung der Bedeutung. Es ist wahrscheinlich, dass das Verstehen beim Lesen nahezu gleichzeitig mit der visuellen Wahrnehmung abläuft und nicht erst nach einer schleppend langsamen, sprachbasierten Kodierung im Kurzzeitgedächtnis. Zusätzlich zu frühem, nicht sprachbasiertem Verstehen aktivieren wir möglicherweise beim Lesen und bei anderen visuellen Erfahrungen eine reichhaltige Kette assoziativer Reaktionen, die dazu genutzt werden, das, was wahrgenommen werden soll, zu verstehen. Aus den vielen Experimenten, über die wir in diesem Abschnitt einen Überblick gegeben haben, wird deutlich, dass die Informationsmenge, die während der Wahrnehmungsschwelle gesehen wird, recht begrenzt ist, obwohl die Informationsmenge, die verarbeitet wird, allem Anschein nach groß ist. Offenkundig wird ein Teil der Be-
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331 12.1 · Wahrnehmungsspanne
Die entstellten Lesemuster von Dyslektikern Eine Dyslexie ist eine Leseschwäche, von der ansonsten psychologisch unauffällige Menschen betroffen sind. Manche behaupten, dies gehe ursprünglich auf konstitutionelle Faktoren zurück, während andere argumentieren, die Störung sei sozial und/oder psychologisch zu erklären. Diese Frage ist noch nicht geklärt. Es ist jedoch klar, dass viele Schulkinder Schwierigkeiten beim Lesen haben, was folgenschwere Auswirkungen auf ihr Leben hat. Die Entwicklung eines Geräts zur Verfolgung von
Blickbewegungen ermöglichte es, die Fixation von normalen Personen und von Dyslektikern zu erfassen. Dadurch ergeben sich vielleicht neue Einsichten in dieses Problem. Im Folgenden ist eine Probe der Lesestile eines normalen Lesers (PP) und eines Dyslektikers (Dave) dargestellt. Die Zahlen unmittelbar unter den Punkten beziehen sich auf die Sequenz der Blickbewegungen und bei den größeren Zahlen weiter unten handelt es sich um die Fixationszeiten in Millisekunden (1000 ms = 1 s).
PP As society has become progressively more complex, psychology has . . . . . . . . . 1 2 3 4 5 7 8 9 234 310 188 216 242 188 177 159 6 144 Dave As society has become progressively more complex, psychology has . . . . . . . . . . 1 2 3 5 6 7 8 9 10 311 277 115 412 198 403 266 295 311 4 11 222 277
. 15 193
. 12 317
.
.
.
.
13 600
14 312
18 206 19 415
PP assumed an increasingly important role in solving human problems. . . . . . . . . . 11 12 13 15 14 16 18 244 317 229 269 196 277 202 10 17 206 144 Dave assumed an increasingly important role in solving human problems. . . . . . . . . . . . 16 21 22 24 25 26 27 369 302 244 310 383 119 487 17 20 23 29 415 177 288 200
.
.
.
28 413
31 277
.
. 32 366
33 361 30 117 Aus Rayner & Pollatsek (1989)
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Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
deutung visueller Perzepte (einschließlich des Erkennens der Buchstaben und Wörter) von den Lesern selbst geliefert.Hier handelt es sich um ein Phänomen,auf das in diesem und in anderen Kapiteln hingewiesen wird. Zur Enkodierung eines visuellen Symbols gehört sowohl die Eigenart des Signals (Buchstabe, Buchstabenkombinationen, Wörter) als auch die Erwartung der Bedeutung,die sich aus den im Langzeitgedächtnis jeder einzelnen Person gespeicherten Informationen ergibt. Diese Auffassung stimmt mit der Theorie der Signalerkennung überein, nach der der Wahrnehmende eine unterschiedliche Art von Sensibilität in die Wahrnehmungssituation einbringt. Dies lässt sich mit den verschiedenen Frequenzen eines elektronischen Empfängers (z.B. eines Radios) vergleichen,auf dem man nur bestimmte Signalübermittlungen empfangen kann.
12.2
Lexikalische Entscheidungsaufgaben
Ein innovativer Ansatz zum Problem der Kontexteffekte bei der Worterkennung wurde von Meyer und seinen Mitarbeitern entwickelt (Meyer & Schvaneveldt, 1971; Meyer, Schvaneveldt & Ruddy,1974a,1974b).Die Forscher verwendeten eine lexikalische Entscheidungsaufgabe – eine Art Priming-Aufgabe –, bei der der Versuchsleiter erfasste, wie schnell die Versuchspersonen sagen konnten,ob es sich bei paarweise präsentierten Buchstabenketten um Wörter handelte. Im Folgenden sind typische Reize aufgeführt:
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> Assoziierte Wörter Nicht assoziierte Wörter
BREAD – BUTTER NURSE – DOCTOR NURSE – BUTTER BREAD – DOCTOR
▼
⊡ Abb. 12.9. Grundlegende Vorgehensweise bei jedem einzelnen Versuchsdurchgang für die lexikalische Entscheidungsaufgabe. Adaptiert nach Meyer, Schvaneveldt und Ruddy (1974a)
Wort – Nichtwort Nichtwort – Wort Nichtwort – Nichtwort
WINE – PLAME GLOVE – SOAM PLAME – WINE SOAM – GLOVE NART – TRIEF PABLE – REAB
Bei diesem experimentellen Vorgehen blickt eine Versuchsperson auf zwei Fixationspunkte (⊡ Abb. 12.9). Eine Reihe von Buchstaben (z.B.NURSE) erscheint in der Nähe des oberen Punktes. Die Versuchsperson drückt eine Taste und zeigt damit an,ob die Buchstaben ein Wort ergeben. Sobald sie ihre Entscheidung getroffen hat, verschwindet die erste Gruppe von Buchstaben und kurz danach erscheint eine zweite Gruppe. Die Versuchsperson entscheidet,ob die zweite Gruppe ein Wort ergibt,und es geht dann immer so weiter. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, das Erkennen des zweiten Wortes als Funktion des Kontextes bzw. des Primes zu erfassen, der durch das erste Wort gebildet wurde.Wie zu erwarten fand Meyer heraus,dass die Reaktionszeit zur Beurteilung des zweiten Wortes viel kürzer war, wenn es zusammen mit einem assoziierten Wort dargeboten wurde, als wenn es mit einem nicht assoziierten Wort präsentiert wurde (⊡ Abb. 12.10). Dies ist ein weiteres Beispiel für den Kontexteffekt beim Worterkennen. Wir könnten die Daten im Sinne eines Logogenmodells interpretieren, bei dem das erste Wort das Logogen für das zweite Wort anregt (ein Logogen ist ein hypothetisches kognitives Mittel zum Erkennen eines Wortes).Meyer und seine Mitarbeiter interpretierten die Daten im Sinne des allgemeinen Modells der Informationsverarbeitung, wie es in ⊡ Abb. 12.11 skizziert ist. Darin ist die erste Stufe eine Kodierungsoperation, die eine innere Repräsentation erzeugt. Nach der Enkodierung wird die Buchstabenfolge im lexikalischen Gedächtnis der Versuchsperson daraufhin überprüft, ob das Item zuvor
333 12.2 · Lexikalische Entscheidungsaufgaben
⊡ Abb. 12.10. Auswirkungen des semantischen Kontextes auf die Zeit, die erforderlich ist, um das zweite Glied eines Wortpaars bei einer lexikalischen Entscheidungsaufgabe zu erkennen. Adaptiert nach Meyer, Schvaneveldt und Ruddy (1974a)
⊡ Abb. 12.11. Mögliche Phasen beim Erkennen eines Wortes. Horizontale Pfeile weisen auf die vermutliche Abfolge der Operationen hin, vertikale Pfeile auf die Auswirkungen des semantischen Kontextes und der Reizqualität. Adaptiert nach Meyer, Schvaneveldt und Ruddy (1974a)
schon einmal gespeichert wurde. Dann wird abhängig davon, ob ein Eintrag gefunden wurde, eine Entscheidung gefällt. Im Modell werden hinsichtlich der Speicherung lexikalischer Ereignisse im Gedächtnis zwei wichtige Annahmen gemacht: Erstens werden die Wörter an unterschiedlichen Orten im Gedächtnis gespeichert, wobei einige Wörter eng (z.B. bread – butter) und einige eher lose (z.B. nurse – butter) miteinander assoziiert sind. Zweitens erzeugt der Abruf der Informationen von einem speziellen Ort im Gedächtnis eine neuronale Aktivität,die sich in benachbarten Orten ausbreitet und die es dadurch leichter macht, assoziierte Erinnerungen zu erkennen. Die zuletzt genannte Hypothese wird durch »Kontext« experimente gestützt – vor allem durch jene,über die Meyer und Mitarbeiter berichten. Sie entwickelten ein Modell zum Erkennen von Buchstaben und Wörtern.(Obwohl wir dieses Modells hier im Hinblick auf seine Beziehung zum Buchstaben- und Worterkennen beschreiben, hat es auch etwas mit dem semantischen Gedächtnis zu tun.) Im Modell fängt der Prozess des Erkennens damit an, dass dem
Analysator für visuelle Merkmale eine Buchstabenreihe zugeführt wird.Der sich daraus ergebende »Code«,der für die Form von Buchstaben steht (gerade Linien, Kurven, Winkel), wird an den Wortdetektor weitergeleitet. Wenn ein Wortdetektor ausreichend viele Hinweisreize erkennt, wird ein Bestätigungssignal ausgelöst.Es weist darauf hin, dass ein bestimmtes Wort entdeckt wurde. Die Entdeckung eines bestimmten Wortes regt auch andere benachbarte Wörter an. Beispielsweise aktiviert die Entdeckung des Wortes Brot im Gedächtnisnetz der Versuchsperson auch verwandte Wörter. Durch diese anderen Wörter – Lebensmittel, Butter usw. – ist die Sensibilitätsschwelle (das ist mein Wort dafür) heraufgesetzt. Dies wird durch die gestrichelten Linien in ⊡ Abb. 12.12 angezeigt. Die Anregung semantisch verwandter Wörter macht es leichter, diese Wörter anschließend zu entdecken. Das Modell bezieht die Tatsache mit ein,dass Versuchspersonen verwandte Wörter schneller erkennen als nicht verwandte Wörter. Das Modell ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil es mit den empirischen Befunden übereinstimmt,son-
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Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
⊡ Abb. 12.12. Hypothetischer Mechanismus bei der Kombination sensorischer und semantischer Informationen während der Worterkennung. Adaptiert nach Meyer und Schvaneveldt (1976a)
Wörter, die semantisch analysiert werden, werden in einem anderen Teil des Gehirns verarbeitet als Wörter, die perzeptiv analysiert werden
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Die Linguisten vermuten schon lange, dass ein Wort, das semantisch verarbeitet wird (wie lautet die Bedeutung des Wortes?), in einem anderen Teil des Gehirns verarbeitet wird als ein Wort, das perzeptiv verarbeitet wird (welches ist die Form des Wortes?). Bis vor kurzem jedoch entbehrten solche Eindrücke jeder wissenschaftlichen Grundlage. John Gabrieli und seine Kollegen von der Stanford University haben aufgrund von Untersuchungen mit Hilfe eines funktionellen Kernspintomographen (fMRI) Daten vorgelegt, die als Bestätigung für den fundamentalen Unterschied zwischen diesen Kodierungsarten gelten können. In mehreren Untersuchungen (Gabrieli et al., 1996) wurden die Versuchsteilnehmer gebeten, eine Gruppe abstrakter Wörter wie etwa TRUST und konkreter Wörter wie CHAIR zu bewerten. Einmal wurden die Wörter in Großbuchstaben (wie gezeigt) dargeboten und ein andermal in Kleinbuchstaben (trust und chair). Im semantischen Teil des Experiments sollten die Versuchspersonen beurteilen, ob die Wörter abstrakt oder
konkret waren. In der Wahrnehmungsphase des Experiments wurden sie gebeten, zu erkennen, ob das Wort in Groß- oder Kleinbuchstaben dargeboten wurde (die Vorgehensweise ähnelt der Methode, die von Craik und Tulving eingesetzt und die in Kap. 8 erwähnt wurde). Bei Gabrielis Experiment wurde die Hirnaktivität der Versuchspersonen mit Hilfe eines funktionellen Kernspintomographen (Kap. 2) überwacht. Dadurch konnte bei diesen Aufgaben der genaue Ort der kortikalen Aktivität lokalisiert werden. Man fand heraus, dass während des semantischen Teils der Aufgabe der linke untere präfrontale Kortex stärker aktiviert war als bei den perzeptiven Aufgaben. Diese Ergebnisse zeigen, dass an der semantischen Verarbeitung von Wörtern andere Teile des Gehirns beteiligt sind als an der perzeptiven Verarbeitung von Wörtern. Außerdem ist es möglich, bildgebende Verfahren dazu zu nutzen, einige grundlegende Probleme der Sprachverarbeitung zu lösen.
335 12.3 · Worterkennung: Ein kognitiv-anatomischer Ansatz
dern auch, weil es Methoden bereitstellt, um die Struktur des semantischen Gedächtnisses zu visualisieren. Die theoretischen Positionen von Meyer und von Morton einerseits und die des Konnektionismus andererseits müssen sich nicht notwendigerweise widersprechen. Tatsächlich scheinen sie komplementär zueinander zu sein. Beide beschäftigen sich mit dem Problem des Kontexteffektes auf die Worterkennung und beide sind zu dem Schluss gekommen,dass die Worterkennung mit Hilfe näher spezifizierter innerer Mechanismen in Abhängigkeit vom Kontext verbessert wird. Für Morton besteht der Mechanismus darin, das Erregungsniveau des Logogens höher zu setzen. Sowohl für Meyer als auch für Rumelhart und McClelland geht es um die Ausbreitung der neuronalen Aktivität,wodurch ähnliche lexikalische Items leichter zugänglich werden.
12.3
Worterkennung: Ein kognitivanatomischer Ansatz
Bei unserem Überblick über die grundlegenden kognitiven Mechanismen, die an der Worterkennung beteiligt sind, haben wir eine breite Vielfalt von Themen angesprochen – von den Stufen der Kontexteffekte über die Logogene, den Konnektionismus bis hin zu lexikalischen Entscheidungsaufgaben. Wir wenden uns nun einigen der Befunde zur Wortverarbeitung unter besonderer Berücksichtigung der anatomischen Strukturen zu. Dabei kommen einige der fortgeschrittenen Technologien zur Anwendung,die in Kap.2 erwähnt wurden.Die Forschung zu den kognitiv-anatomischen Grundlagen der Wortverarbeitung hängt ganz eng mit dem zusammen, was gerade erörtert wurde.Denn einige der kognitiven Aufgaben (z.B. lexikalische Entscheidungsaufgaben) wurden Patienten vorgelegt, die eine Hirnverletzung erlitten hatten. In den letzten Jahrgängen der neuropsychologischen Zeitschriften findet sich eine Vielzahl von Experimenten dieser Art. Das ist ein erstes Anzeichen für die Richtung, in die die Kognitionswissenschaft gehen wird. Die allgemeine Zielrichtung, die viele dieser Untersuchungen verfolgen, besteht darin, spezifische neurologische Orte zu lokalisieren, die an speziellen kognitiven Funktionen beteiligt sind. Beispielsweise könnte ein Forscher bei dem Versuch, kognitive Operationen im Gehirn zu lokalisieren, daran interessiert sein, einen Zusammenhang zwischen lexikalischen Entscheidungsaufgaben und Beobachtungen zur spezifischen Durchblutung zu finden.
Im Anschluss an die Arbeit von Meyer und Schvaneveldt, über die gerade berichtet wurde, kombinierten einige Forscher (z.B. Petersen und Posner) unterschiedliche Paradigmen zur Wortverarbeitung einschließlich der DOCTOR-NURSE-Aufgabe mit fortgeschrittenen bildgebenden Verfahren. Dies geschah mit der Zielrichtung, die anatomischen Systeme zu isolieren, die durch Wörter und ihre Assoziationen bei gesunden Versuchspersonen aktiviert werden (Petersen et al., 1988; Posner et al., 1988; Posner et al., 1989). In einer Untersuchung (Petersen, et al., 1988) zur lokalen Durchblutung des Gehirns wurden die Versuchspersonen gebeten, drei einfache lexikalische Aufgaben zu lösen. Jede einzelne Aufgabe unterschied sich von den anderen durch eine kleine Anzahl von Verarbeitungsoperationen. Gleichzeitig sahen sich die Forscher die Daten von PET-Schichtaufnahmen genauer an und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit dabei auf die visuellen und auditorischen Teile des Kortex. Der Versuchsplan zu diesem Paradigma ist in ⊡ Tabelle 12.1 dargestellt. Auf dem einfachsten Niveau (A) betrachteten die Versuchspersonen einen Fixationspunkt oder sahen sich passiv visuell dargebotene Wörter an. Auf dem komplexeren Niveau (B) wiederholten sie jedes einzelne Wort in dem Moment, in dem es auftrat. Auf einem noch komplexeren Niveau (C) generierten sie Situationen,in denen jedes einzelne Wort verwendet wurde. Kurz gesagt wurden durch jede Einzelne der verschiedenen Aufgaben unterschiedliche kortikale Areale aktiviert (⊡ Abb. 12.13). Nach diesen Befunden sind folgende Teile des Kortex von besonderem Interesse: diejenigen, die an visuellen Wortformen beteiligt sind (A; durch die Dreiecke in ⊡ Abbildung 12.13 dargestellt), und diejenigen, die an der semantischen Analyse mitwirken (C; an den Kreisen erkennbar). Das ist ein Hinweis darauf, dass diese unterschiedlichen Formen der lexikalischen Verarbeitung in der Tat von unterschiedlichen Teilen des Gehirns übernommen werden.Diese Befunde sind von noch größerem Interesse,wenn man sie im Kontext der in Kap. 8 dargestellten konnektionistischen Theorie sieht (Rumelhart & McClelland, 1986). In dieser Theorie sind – wie Sie sich vielleicht erinnern – getrennte Schichten für die Analyse von Merkmalen, Buchstaben und Wortformen vorgesehen.Der Nachweis mehrerer Aktivierungsareale im Experiment von Petersen und seinen Kollegen scheint den Lösungsansatz für diesen Teil des Rätsels eindeutig zu bestätigen. Diese Befunde werden durch ein Experiment von Posner und seinem Team (1989) ergänzt, bei dem im Wesent-
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336
Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
⊡ Tabelle 12.1. Paradigma-Designa Versuchsbedingung
Zustand unter der Kontrollbedingung
Stimulierter Zustand
Aufgabe
A.
Nur Fixationspunkt
Passive Wörter
Passive sensorische Verarbeitung; modalitätsspezifische Kodierung auf der Ebene des Wortes
B.
Passive Wörter
Wiederhole Wörter
Artikulatorische Kodierung; motorisches Programmieren und Output
C. Aktiv semantisch
Wiederhole Wörter
Generiere Verwendungen
Semantische Assoziation; Selektion für Handlung
a Die Tabelle zeigt den Grundgedanken des schrittweisen Paradigma-Designs mit drei Ebenen. Auf der zweiten und der dritten Ebene ist der Kontrollzustand der stimulierte Zustand von der vorangehenden Ebene. In der dritten Spalte sind einige hypothetische kognitive Operationen dargestellt.
12
⊡ Abb. 12.13. Aufgrund von Befunden aus PET-Untersuchungen kennt man die Areale, in denen optisch und akustisch dargebotene Wörter verarbeitet werden. Hier sind zwei Areale dargestellt: die lateralen Seitenbereiche (1) und die medialen Anteile (2) des Kortex. Zentren für optisch dargebotene Wörter sind durch Dreiecke gekennzeichnet (A), für semantische Analyse durch Kreise (C) und für Aufmerksamkeit durch Quadrate und Sechsecke. Ausgefüllte Figuren sind ein Hinweis auf die linke Hemisphäre und nicht ausgefüllte Figuren auf die rechte Hemisphäre. Das Areal, das durch sich wiederholende, akustisch dargebotene Wörter aktiviert wird (wie etwa bei Experimenten mit begleitendem Nachsprechen), ist von einer gestrichelten Linie umgeben (B). Aus Petersen et al. (1988)
337 12.4 · Verstehen
lichen die gleiche Vorgehensweise verwendet wurde,außer dass die Versuchsperson eine leicht veränderte lexikalische Entscheidungsaufgabe löste (siehe oben).Unter einer Versuchsbedingung wurde ein visuelles Priming für ein Wort dargeboten (z.B.DOCTOR – DOCTOR).Bei einer anderen Aufgabe wurde ein semantisches Priming für ein Wort präsentiert (z.B. DOCTOR – NURSE). Und bei einer dritten Aufgabe wurde ein Hinweisreiz für visuelle räumliche Aufmerksamkeit gezeigt (z.B. ein peripherer Hinweisreiz auf der linken Seite des Bildschirms gefolgt von einem Zielreiz zur Linken bei einem gültigen Versuchsdurchgang oder zur Rechten bei einem ungültigen Versuchsdurchgang). Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten, dass es sich bei dem Areal, das höchstwahrscheinlich am Priming der visuellen Merkmale (DOCTOR – DOCTOR) beteiligt ist, um den ventralen Okzipitallappen handelt (in ⊡ Abb. 12.13 werden diese Wortformen als visuelle Wortformen [A] bezeichnet). Posner und seine Mitarbeiter weisen darauf hin, dass diese Areale durch Wort-Primes aktiviert werden und dass ein identischer Zielreiz den gleichen Pfad innerhalb des Netzes reaktivieren wird. Semantische Aufgaben (DOCTOR – NURSE) scheinen zwei zusätzliche Areale zu aktivieren: den linken unteren präfrontalen Kortex (C; siehe die Kreise in ⊡ Abb. 12.13) und den medialen Frontallappen (siehe die Sechsecke in ⊡ Abb. 12.13). Wenn man diese Untersuchungen einmal in Verbindung zueinander sieht, so verbessern sie unser Verständnis für den Zusammenhang zwischen kognitiven Aufgaben (wie etwa der lexikalischen Entscheidungsaufgabe) und den Hirnfunktionen. Die weiteren Arbeiten auf diesem Gebiet werden sich wahrscheinlich verstärkt mit der Rolle der Aufmerksamkeit und der lexikalischen Verarbeitung beschäftigen.Über einige Befunde aus diesem Gebiet wurde bereits berichtet ( siehe Posner et al., 1989; Gazzaniga, 2000). Zusätzliche Anwendungen dieses Ansatzes könnten einen Zusammenhang herstellen zwischen den seltsamen Abnormalitäten des Denkens und der Sprache bei Schizophrenen einerseits und der Anatomie des Kortex andererseits (dabei wird es vor allem um Abnormalitäten im anterioren Aufmerksamkeitssystem gehen). In diesem Abschnitt habe ich versucht, die Entwicklung der lexikalischen Verarbeitung sowohl aus einer theoretischen als auch aus einer empirischen Perspektive heraus zu verfolgen. Die viel versprechende Schlussfolgerung lautet, dass es auf beiden Ebenen zu einem echten Fortschritt gekommen ist und dass es glücklicherweise eine größere gegenseitige Unterstützung zu geben scheint
als eine Ablehnung der jeweils anderen Seite. Eine derartige Schlussfolgerung ist – und da bin ich mir sicher – ein Trost für Kognitionswissenschaftler und für Neurowissenschaftler, die sich aus einer jeweils anderen Perspektive heraus mit dem Problem der lexikalischen Verarbeitung beschäftigen.Wir kommen jetzt zu einem neuen Abschnitt,in dem wir uns den Themen Rechtschreibung und Intention beim Lesen zuwenden.
12.4
Verstehen
Bisher haben wir uns beim Thema Prozess des Lesens auf das Erkennen von Buchstaben und Wörtern im Kontext und außerhalb des Kontextes konzentriert. Der Grund dafür, dass Menschen lesen, besteht im Großen und Ganzen darin, einem Text, der in einer ansprechend gedruckten Form dargestellt wird,eine Bedeutung zu entnehmen. Wir verwenden den Begriff Leseverständnis, um den Vorgang zu beschreiben, dass man die Bedeutung schriftlichen Materials versteht. Bei Untersuchungen zum Verstehen gibt es nahezu so viele Modelle und Theorien wie Forscher.Und obwohl viele ihre Meriten haben,kann hier nur über eine Auswahl aus diesen wichtigen Arbeiten berichtet werden.
Die Bedeutung eines Wortes kennen heißt, es auf dieselbe Weise verwenden wie die anderen. Ludwig Wittgenstein (1939)
Denken Sie einmal an einen einfachen Satz wie »Der Ball ist rot«. Aus dem, was wir zuvor über die visuelle Wahrnehmung und das Erkennen von Wörtern gesagt haben, wissen Sie, dass das Licht, das von der gedruckten Seite reflektiert wird, von den sensorischen Nervenzellen aufgenommen und an das Gehirn übermittelt wird. Dabei werden Merkmale, Buchstaben und Wörter erkannt. Derartige elementare Prozesse sind jedoch bedeutungsleer – und beim Lesen geht es doch vermutlich um die Bedeutung. Wenn Sie den Beispielsatz lesen, verstehen Sie wahrscheinlich, dass (1) ein einzelnes kugelförmiges Objekt (2) die Farbe Rot hat. Sie verstehen die Bedeutung des Satzes und diese Bedeutung ist in etwa die gleiche wie die,die der Autor beabsichtigt hat und wie sie die meisten anderen Menschen verstehen. Zusätzlich zu den elementaren phy-
12
338
Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
sikalischen Eigenschaften, die beschrieben wurden, ziehen Sie bewusst oder unbewusst eine Reihe von Schlussfolgerungen über das Objekt (beispielsweise kommen die meisten Leser zu dem Schluss, dass der Ball größer als ein Golfball und kleiner als ein Basketball ist). Das Verstehen eines Satzes kann auf seine Gültigkeit hin überprüft werden, wenn wir das Bild eines roten Balles zeigen und darauf hinweisen, dass die Bedeutung des Satzes die gleiche ist wie das Bild (etwa im Gegensatz zu einem Bild von einem grünen Ball oder einem roten Kasten).Diese anscheinend recht einfache Aufgabe beinhaltet in Wirklichkeit viel mehr Operationen,als es zunächst den Eindruck erweckt. Um Leseverständnis zu begreifen, zergliederten einige Theoretiker den Prozess in einzelne Stufen. Dabei wird angenommen, dass es eine Folge von Prozessen gibt, die mit der Wahrnehmung des geschriebenen Wortes beginnt und zum Verständnis der Bedeutung von Sätzen und Geschichten führt. Ein Modell, das einige der in diesem Buch erörterten Themen enthält,wurde von Just und Carpenter (1980, 1987) entwickelt und soll hier als Musterbeispiel für die Arbeiten auf diesem Gebiet dienen.
Teilbereiche des Modells sind in ⊡ Abb. 12.14 dargestellt. Der Prozess des Lesens und des Verstehens wird im Modell von Just und Carpenter als die koordinierte Ausführung einer Reihe von Phasen begriffen, zu denen das Extrahieren physikalischer Merkmale von Buchstaben,die Enkodierung von Wörtern und der Zugang zum Lexikon, die Zuweisung von Rollen für einschlägige Beispiele u.v.m. gehört.In dieser Darstellung sind die Hauptphasen des Lesens in der linken Spalte dargestellt, während die dauerhafteren kognitiven Strukturen und Prozesse in den Kästen in der Mitte und auf der rechten Seite der Abbildung stehen. Eine faszinierende Eigenschaft dieses Modells besteht darin, dass es umfassend ist und doch sehr spezifische Vorhersagen über die Leseleistung macht, die mit Hilfe von Fixationen der Augen empirisch überprüft werden können. Die Autoren nehmen an, dass Wörter im Textmaterial in größere Einheiten wie etwa Satzteile, Sätze und Themen strukturiert werden. Eine schematische Darstellung eines Beispiels dafür, wie ein Absatz aus einem wissenschaftlichen Artikel begrifflich erfasst werden könnte,
12
⊡ Abb. 12.14. Eine schematische Darstellung der wichtigsten Prozesse und Strukturen beim Leseverständnis
339 12.4 · Verstehen
⊡ Abb. 12.15. Eine schematische Darstellung der wichtigsten textlich-grammatischen Kategorien für Informationen in wissenschaftlichen Texten
ist in ⊡ Abb. 12.15 dargestellt. Wenn eine Versuchsperson mit einem Abschnitt aus einem schriftlichen Text konfrontiert wird, der eine intensivere Informationsverarbeitung erfordert, muss sie womöglich längere Pausen machen. Diese kann man messen, wenn man sich die Zeiten der Fixation näher ansieht.
>1 1566 Flywheels 8 450 known to 7 617 a small 13 383 into the
2 267 are 9 450 man.
3 400 one
4 83 of the
1 400 Every
2 3 5 616 517 684 internal-combustion engine
8 9 10 1116 367 467 flywheel that converts the jerky 14 284 smooth
15 383 flow
16 317 of
5 267 oldest
Bei einer Überprüfung des Modells wurden Studenten gebeten,wissenschaftliche Texte aus Newsweek und Times zu lesen; dabei wurden ihre Blickbewegungen und Fixationen erfasst, ohne dass sie es merkten. Ein Beispiel für die Leistung eines Studenten sei im Folgenden aufgeführt:
6 7 617 767 mechanical devices 4 250
6 317 contains
19 50 the
20 366 drive
11 12 483 450 motion of the pistons 17 18 283 533 energy that powers
21 566 shaft.
Deutsche Übersetzung: Schwungräder gehören zu den ältesten mechanischen Erfindungen, die der Mensch kennt. Jeder Verbrennungsmotor enthält ein kleines Schwungrad, das die ruckartigen Bewegungen der Kolben inden stoßfreien Energiefluss umwandelt, der die Antriebswelle in Bewegung hält.
12
340
Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
⊡ Abb. 12.16. Die wichtigen Verarbeitungsniveaus beim READER-Modell, die in Aktion treten, wenn der Leser das Wort Maschine im Text fixiert. Adaptiert nach Just und Carpenter (1987)
12
Hier handelt es sich um die Fixationen eines Studenten beim Lesen eines wissenschaftlichen Textes. Die Blicke werden innerhalb jedes einzelnen Satzes sequenziell über dem fixierten Wort nummeriert.Unter dieser Zahl sind die Fixationszeiten (in Millisekunden) angegeben. Diese Befunde deuten darauf hin, dass es zu einer größeren Belastung der Verarbeitungskapazität kommt,wenn der Leser mit ungewöhnlichen Wörtern konfrontiert wird, in die Informationen aus wichtigen Satzteilen integriert und bei denen Schlussfolgerungen über das Ende des Satzes gezogen werden. Die Hauptverarbeitungsniveaus sind in ⊡ Abb. 12.16 dargestellt. Ob es beim Lesen nun um einfache Sätze (z.B.: »Der Ball ist rot«) oder um eine kompliziertere zusammenhängende Abhandlung (wie etwa die von Just und Carpenter verwendete) geht – zum Lesen gehört immer die sorgfältige Koordinierung einer Anzahl perzeptiv-kognitiver Stufen. Dies umfasst das Erkennen von Merkmalen und
Buchstaben, die Enkodierung eines Wortes, den Zugang zum Lexikon, das Extrahieren von Semantik und Schlussfolgerungen über die Absicht des Autors, die sowohl aus der unmittelbaren Kontextinformation als auch aus dem umfangreichen Weltwissen des Lesers abgeleitet werden. Wie in so vielen Bereichen der Kognition wurde Verstehen auch vom Standpunkt der Aktivierung des Gehirns aus untersucht. Im vorherigen Abschnitt sahen wir, dass Fixationen der Augen eines Menschen, der einen wissenschaftlichen Text liest, für gewöhnlich länger sind, wenn sie mit ungewöhnlichen Wörtern zusammenfallen. Dies deutet darauf hin, dass es sich hier um einen Nebeneffekt der Berechnung im Gehirn und der Aktivierung handelt. Wenn wir einen besonders schwierigen Text lesen,denken wir im Endeffekt vielleicht mehr nach, als wenn wir einen einfacheren Text lesen. Aus allem, was wir über die Lokalisierung der Sprachverarbeitungsareale im Kortex (Kap. 2) wissen, könnte man beim Lesen komplizierterer und
341 12.4 · Verstehen
nicht so einfacher Texte eine stärkere Beteiligung solcher Areale wie des Broca-Areals (der Teil im Kortex,der an der Sprachproduktion beteiligt ist) und des Wernicke-Areals (der Teil im Kortex, der am Sprachverstehen beteiligt ist) erwarten. Um diese Hypothese zu überprüfen, entwarfen Just, Carpenter, Keller, Eddy und Thulborn (1996) eine Reihe von Sätzen, die in ihrer strukturellen Komplexität variiert wurden. Nach dem Lesen der Sätze wurden den Versuchspersonen Verständnisfragen gestellt. All dies geschah unter ständiger Beobachtung der Messungen aus dem funktionellen Kernspintomographen.Sehen Sie sich einmal die folgenden Sätze an,die nach ihrer Komplexität in eine Reihenfolge gebracht wurden: > Satz »Der Reporter griff den Senator an und gab einen Fehler zu.«
Satztyp Zwei miteinander verbundene aktive Hauptsätze ohne einen darin eingebetteten Satzteil »Der Reporter, der den Ein auf das Subjekt bezogeSenator angriff, gab einen ner Relativsatz Fehler zu.« »Der Reporter, den der Ein auf das Objekt bezogener Senator angriff, gab einen Relativsatz Fehler zu.«
Wenn Sie diese drei Sätze lesen, bemerken Sie möglicherweise, dass der erste einfach zu lesen und zu verstehen ist, während die letzten beiden ein bisschen schwieriger sind. Kommen solche subtilen Unterschiede bezogen auf die Verständlichkeit möglicherweise in unterschiedlichen Hirnaktivitäten zum Ausdruck? Die Menge des aktivierten Hirngewebes – also die Anzahl der Voxel – wurde in mehreren Hirnarealen erfasst, die mit diesem Vorgang in Verbindung gebracht werden. Das geschah, als die Versuchspersonen lasen und Fragen über Sätze unterschiedlicher Komplexität beantworteten. Die Ergebnisse des Experiments sind in ⊡ Abb. 12.17 dargestellt. Wie gezeigt nahm die durchschnittliche Anzahl der Voxel sowohl im Wernicke-Areal als auch im Broca-Areal mit steigender Komplexität des Satzes zu.Insgesamt ergibt sich durch diese Befunde eine wichtige neue Dimension unseres Verständnisses vom Gehirn und vom Sprachverstehen.Die Menge der neuronalen Aktivitäten,die für kognitive Aufgaben (z.B. das Lesen) erforderlich sind, hängt von den rechnerischen Anforderungen der Aufgabe ab. Deshalb ist das Gehirn durch das Lesen eines komplizier-
⊡ Abb. 12.17. Die Anzahl der Voxel (volume of neural tissue activated; Menge des aktivierten neuronalen Gewebes), die bei einfachen bis komplexen Sätzen im Wernicke- und im Broca-Areal aktiviert werden
ten Textes größeren Anforderungen ausgesetzt. Eine derartige Aktivität lässt sich mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren erfassen. Das Verstehen einer Abhandlung ist auch eine Frage des inneren Zusammenhangs zwischen den Schlüsselbegriffen in einem Satz. Und eine Methode, den inneren Zusammenhang in einem Text zu verbessern, besteht darin, den bestimmten Artikel wie etwa »der« zu verwenden.Nehmen Sie als Beispiel die folgenden Sätze: Die auf der linken Seite, die den unbestimmten Artikel (z.B. »ein«) enthalten, können mit denen auf der rechten Seite, die den bestimmten Artikel enthalten (z.B. »der«), kontrastiert werden. > Eine Großmutter saß an einem Tisch. Ein Ehemann fuhr einen Traktor. Einige dunkle Wolken ballten sich über uns zusammen.
Die Großmutter saß am Tisch. Der Ehemann fuhr den Traktor. Die dunklen Wolken ballten sich über uns zusammen.
Welche Sätze waren für Sie leichter zu lesen? Oder zu verstehen? Welche konnten Sie schneller lesen? Und welche wiesen einen stärkeren inneren Zusammenhang auf?
12
342
Kapitel 12 · Sprache 2: Lesen von Buchstaben und Wörtern
Wenn Ihre Lesemuster mit denen vieler anderer Menschen übereinstimmen, haben Sie die Sätze auf der rechten Seite als leichter und als verständlicher empfunden.Sie konnten sie schneller lesen und sie hatten für Sie einen stärkeren inneren Zusammenhang. Bei den Sätzen mit einem bestimmten Artikel kommt es sogar zu einem subtilen Priming-Effekt: Wenn man eine Reihe von Sätzen, die den bestimmten Artikel (z.B. »der«) enthielten, gelesen hat, ist das Wiedererkennungsgedächtnis für einen Satz besser, wenn ihm ein Satz voranging, der einen bestimmten Artikel enthielt. Der Grund für die Wirksamkeit von Sätzen mit einem »der« im Gegensatz zu Sätzen mit einem »ein« besteht darin, dass der bestimmte Artikel eine zusammenhängendere mentale Repräsentation fördert ( siehe Gernsbacher & Robertson, 2000). Wie Robertson, Gernsbacher,Guidotti et al.(2000) kürzlich entdeckten,ist dieser anscheinend sehr wirksame verbale Marker in spezifischer Weise mit den Funktionen des Gehirns verbunden. In einem einfachen Experiment baten diese Forscher ihre Versuchspersonen,Sätze zu lesen,die auf einer mit einer Glasfaserleitung verbundenen Datenbrille dargeboten wurden, während sie sich in einem Kernspintomographen befanden. Nach jedem einzelnen Block von Sätzen wurden die Versuchspersonen aufgefordert, zu erkennen, ob ein Satz alt oder neu war.
⊡ Abb. 12.18. Die Axialprojektion, in der die aktivierten Bereiche für (A) Sätze mit unbestimmtem Artikel und (B) Sätze mit bestimmtem Artikel zu sehen sind. Aus Robertson et al. (2000)
Die in ⊡ Abb. 12.18 dargestellten Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Verstehen eines bestimmten Artikels zu einer stärkeren neuronalen Aktivität in der rechten Hälfte des Frontallappens führt als in der linken Hälfte. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die rechte Hälfte des Frontallappens an irgendeiner Form verbaler Abgleichung beteiligt ist.Die Strukturen der linken Hälfte scheinen mit Lesevorgängen eines »unteren Niveaus« verbunden zu sein (wie etwa Worterkennung und syntaktische Verarbeitung).
Zusammenfassung
12
1. Zum Lesen gehört eine Wechselwirkung zwischen dem Erfassen der Symbole und dem Gedächtnis. Somit spiegelt es viele Vorgänge wider, die an der menschlichen Kognition beteiligt sind. 2. Das Betrachten eines geschriebenen Textes unterliegt den Einschränkungen durch die charakteristischen Eigenschaften des Sehsystems. Die Fovea ist der Bereich mit der größten Sehschärfe (ein Blickwinkel von ein bis zwei Grad), eine geringe Auflösung ist in den parafovealen und peripheren Bereichen vorhanden. Während der Sakkaden werden nur wenige oder gar keine Symbole erfasst. 3. Untersuchungen zur Wahrnehmungsspanne werden durchgeführt, um die Eigenart der Informationsverarbeitung zu untersuchen. Hierzu gehören tachistoskopische Methoden sowie Verfahren zur Erfassung der Blickbewegungen und Fixationen. ▼
4. Durch tachistoskopische Untersuchungen lässt sich zeigen, dass Buchstaben und Wörter leichter erkannt werden, wenn sie in einer sinnvollen Reihenfolge dargeboten werden. 5. Untersuchungen zur Verfolgung der Blickbewegungen deuten darauf hin, dass Informationen in der nahen Peripherie (bis zu zwölf Buchstabenabstände) nur teilweise kodiert werden. Dabei wird das Ausmaß der Verarbeitung durch die Entfernung von der Fovea bestimmt. 6. Um widersprüchliche Kontexte aufzunehmen, bewegen sich die Augen sehr schnell (innerhalb von wenigen 100 ms). Dies ist ein Hinweis darauf, dass schon früh während der Verarbeitung von Texten ausgeklügelte Verstehensprozesse ablaufen. 7. Durch Vertrautheit und Kontext lassen sich Wörter leichter erkennen. Nimmt die Vertrautheit zu und ist
343 12.4 · Verstehen
der Kontext eher gegeben, erkennt man den Text schneller und besser. 8. Beim interaktiven Aktivierungsmodell geht das Erkennen von Wörtern mit Hilfe von Bahnung und Hemmung zwischen Merkmals-, Buchstaben- und Wortebenen vor sich. 9. Kürzlich verfolgten einige Forscher bei der Untersuchung der Worterkennung einen kognitiv-anatomischen Ansatz. Bei diesem Forschungsparadigma werden PET-Schichtaufnahmen verwendet. Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass durch unterschiedliche Worterkennungsaufgaben unterschied-
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Foveasehen Grenzparadigma Holzweg Kontexteffekte lexikalische Entscheidungsaufgabe Sakkade Verstehen Voxel Wahrnehmungsspanne
Literaturempfehlungen Untersuchungen zum Erkennen von Wörtern und Buchstaben finden sich in dem von Monty und Senders
liche kortikale Areale aktiviert werden. Derartige Untersuchungen tragen dazu bei, den Zusammenhang zwischen kognitiven Aufgaben und Hirnfunktionen besser zu verstehen. 10. Untersuchungen zur Fixation der Augen zeigen, dass Wörter, die nicht so häufig vorkommen, Wörter am Satzende und Wörter in integrierenden Satzteilen länger fixiert werden. Dies kann als Stützung von Lesemodellen angesehen werden, in denen eine Wechselwirkung zwischen Reiz-Input und Gedächtnis behauptet wird.
herausgegebenen Buch Eye Movement and Psychological Processes. Auch der von Rayner und Pollatsek herausgegebene Band 4 (Nr. 5) der Zeitschrift Psychological Science mit dem Titel The Psychology of Reading enthält eine Reihe von Beiträgen zum interdisziplinären Ansatz in der Leseforschung, einschließlich PET, Verfolgung von Blickbewegungen und konnektionistischer Artikel. Beide Publikationen sind sehr lesenswert. Die ausgezeichneten Bücher von Crowder mit dem Titel The Psychology of Reading sowie von Just und Carpenter mit dem Titel The Psychology of Reading and Language Comprehension sollten unbedingt von jenen gelesen werden, die auf der Suche nach einem Überblick über das Thema, aber auch nach einer detaillierten Analyse des momentanen Stands der Leseforschung sind. Zahlreiche eher formal ausgerichtete Zeitschriften zu diesem Thema sind in den Universitätsbibliotheken zu finden.
12
13 Kognitive Entwicklung 13.1
Lebenslange Entwicklung –347
13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4
Entwicklungspsychologie –347 Neurokognitive Entwicklung –347 Vergleichende Entwicklung –347 Kognitive Entwicklung –347
13.2
Entwicklungspsychologie –348
13.2.1 13.2.2 13.2.3
Assimilation und Akkomodation: Piaget –348 Das Denken in der Gesellschaft: Wygotski –354 Wygotski und Piaget –355
13.3
Neurokognitive Entwicklung –357
13.3.1 13.3.2 13.3.3
Frühe neuronale Entwicklung –357 Umwelt und neuronale Entwicklung –359 Lateralisationsstudien –359
13.4
Kognitive Entwicklung –360
13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5
Intelligenz und Fähigkeiten –360 Entwicklung der Fähigkeit zum Informationserwerb –362 Gedächtnis –366 Kognition höherer Ordnung bei Kindern –369 Prototypbildung bei Kindern –372
346
Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
Anregungen vorab 1. Was versteht man unter lebenslanger Entwicklung? Wie wird sie erforscht? 2. Wer war Jean Piaget und worin besteht sein wesentlicher Beitrag? Wer war Lew Wygotski und worin besteht sein Hauptverdienst? 3. Was besagten neuere Zwillingsuntersuchungen über genetische Einflüsse auf die Intelligenz? 4. Von welchem Alter an richten Babys ihre Aufmerksamkeit auf Gesichter? 5. In welchem Alter bleiben Erinnerungen am längsten bestehen? 6. Ab welchem Alter bilden Babys Begriffe und wie wurde dies nachgewiesen? 7. Haben Kinder bildhafte Vorstellungen? Bilden sie Prototypen?
Wir werden nicht davon ablassen, etwas zu erkunden. Und das Ende all unserer Erkundungen wird darin bestehen, dass wir da ankommen, wo wir begonnen haben, und meinen, diesen Ort zum ersten Mal zu sehen. T. S. Eliot
13
Einer der größten Bereiche auf dem umfassenden Gebiet der Psychologie ist die Entwicklungspsychologie. Dieses wichtige Thema war einmal auf die Untersuchungen der »Kinder«psychologie begrenzt. Heute jedoch, wo wir erkennen, dass sich die Kognition über die gesamte Lebensspanne der Menschen hinweg entfaltet, reicht der Themenbereich von Untersuchungen am Fötus bis zu Studien mit älteren Menschen. Und weil es sehr viele Menschen gibt, die länger leben, hat die Spezialdisziplin Gerontologie viel Aufmerksamkeit in der Forschung auf sich gezogen. Es ist schlicht und einfach unmöglich, detailliert die Haupteigenschaften dieses riesigen Bereichs zu behandeln. In diesem Kapitel über kognitive Entwicklung wird es jedoch möglich sein, dass wir uns selektiv mit einigen sehr interessanten und entscheidenden Aspekten der Entwicklungspsychologie auseinander setzen. Die Kognition des Menschen ist aus einer Entwicklungsperspektive heraus das Ergebnis einer langen Geschichte des Wachstums, das in den frühesten Stadien der Entwicklung einsetzt. Unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen, Sprach- und Denkprozesse sind von der grundlegenden genetischen Struktur,die an uns vererbt wird,und von den Veränderungen gesteuert, die wir in Reaktion auf Anforderungen erleben und die wir während unserer lang anhaltenden und variationsreichen Interaktionen mit der physikalischen und sozialen Umwelt durchmachen. Das wichtigste Merkmal besteht darin,dass sich die Kognition so weit ordnungsgemäß entwickelt – sich also Kognition und Denken herausbilden –, wie Individuen vom Säug-
lingsalter bis zum Erwachsenenalter fortschreiten. Im hohen Alter bilden sich dann einige kognitive Fähigkeiten möglicherweise zurück. Diese Veränderungen können verursacht sein durch: ▬ neurologische und körperliche Reifung (oder Abbau) bei der Person ▬ die Familie, das soziale und Bildungsmilieu, in der die Person lebt ▬ die Interaktion zwischen einer sich körperlich verändernden Person und ihrer Umwelt Manche Psychologen behaupten, dass ein Säugling im Großen und Ganzen frei von naturgegebenen Anlagen ist – eine Art Tabula rasa oder leere Tafel ist, auf der die Erfahrungen mit der Welt aufgezeichnet werden. Andere strukturell orientierte Psychologen behaupten,dass Säuglinge über gewisse invariante neurologische und psychologische Potenziale verfügen und dass die kognitive Entwicklung eine Sache der Interaktion zwischen diesen von vornherein gegebenen Strukturen sowie der Förderung und den Anforderungen der Gesellschaft ist. Die Diskussion um die relative Bedeutung dieser beiden Auffassungen wird manchmal auch als Anlage-Umwelt-Debatte bezeichnet. Der früher so beliebte Umweltaspekt der Argumentation wurde von einigen übereifrigen Skinnerianern so auf die Spitze getrieben, dass jedes Verhalten als Ergebnis operanten Lernens angesehen wurde. Neuere Befunde haben dagegen gezeigt, dass es in der Entwicklung des Menschen eine starke natürliche (oder genetische) Kom-
347 13.1 · Lebenslange Entwicklung
ponente gibt. Man kann mit einiger Gewissheit zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Kognition des Menschen sowohl von seiner genetischen Anlage als auch von seiner Umwelt bestimmt wird.Fanatismus in Richtung auf eines der beiden Extreme geht am entscheidenden Punkt vorbei. Die Biologie stellt die Stimme zur Verfügung, das Lernen führt zum stimmlichen Ausdruck. Von der Entwicklung her sind wir eine Mischung aus zwei Dingen: der Art und Weise, wie sich unser biologisches Schema zusammensetzt, und der, wie unsere Erfahrungen auf dieser Blaupause abgebildet werden.
13.1
Lebenslange Entwicklung
Man hat sich der kognitiven Entwicklung über die Lebensspanne eines Menschen hinweg aus mehreren, in gewisser Weise voneinander unabhängigen Blickwinkeln genähert: aus dem der Entwicklungspsychologie, der neurokognitiven Entwicklung und der kognitiven Entwicklung. Die kognitive Entwicklung vollzieht sich über die gesamte Lebensspanne der Menschen und anderer Lebewesen hinweg, von der Zeit vor der Geburt bis zum Tod. In diesem Kapitel konzentrieren wir uns jedoch auf die kognitive Entwicklung in den frühen Stadien des Lebens.
13.1.1
Entwicklungspsychologie
Das Interesse an der kognitiven Entwicklungspsychologie über die Lebensspanne einer Person hinweg wurde ursprünglich durch die bahnbrechenden Arbeiten von Jean Piaget aus der Schweiz und durch das theoretische Vermächtnis angeregt, das aufgrund der anspruchsvollen Arbeiten von Lew S.Wygotski aus Russland hinterlassen wurde. Über das Leben und die Epoche Piagets wurde viel geschrieben. Diese Schriften sind allgemein zugänglich. Über das Leben und die Theorien Wygotskis ist weniger bekannt und an späterer Stelle in diesem Kapitel wird ein kurzer Überblick über sein Leben und seine Arbeiten gegeben. So wichtig diese Theorien auch in dem Sinne sein mögen, dass sie eine allgemeine Rahmenvorstellung liefern, so haben doch neuere Auffassungen und Befunde in bedeutsamer Weise zu unserem zeitgenössischen Verständnis der Kräfte beigetragen, die mit der kognitiven Entwicklung in Verbindung gebracht werden.
13.1.2
Neurokognitive Entwicklung
Der neurokognitive Ansatz in der kognitiven Entwicklungspsychologie (er wird manchmal auch als Entwicklungsneurobiologie bezeichnet) betont andererseits das sich entwickelnde Gehirn und die damit verbundenen Veränderungen. Den neurobiologischen Ansatz zur Erforschung der Entwicklungspsychologie gibt es schon seit einiger Zeit, aber man nahm ihn nicht recht zur Kenntnis, weil er angeblich zu physiologisch für psychologische Theorien war. Heutzutage jedoch erkennen wir, dass die biologische Entwicklung des Gehirns vor der und nach der Geburt von der Natur der Sache her etwas mit der kognitiven Entwicklung der Art zu tun hat. Abgesehen von diesem theoretischen Argument ist der neurokognitive Ansatz zur kognitiven Entwicklungspsychologie wegen neuerer Entdeckungen auf dem Gebiet bildgebender Verfahren immer bedeutsamer geworden. Einige davon werden in anderen Kapiteln dieses Buchs erörtert.
13.1.3
Vergleichende Entwicklung
Eine andere Art und Weise, wie die kognitive Entwicklung erforscht wurde, beruht auf Tieruntersuchungen. In diesem Bereich werden alle möglichen Lebewesen – von der Fruchtfliege bis zu den Schimpansen – über ihre Lebensspanne hinweg beobachtet. Bei derartigen Studien gibt es im Allgemeinen einen größeren Spielraum als sonst.Es ist möglich, Labortiere genau zu überwachen, aber auch heikle Versuchsbedingungen einzuführen (wie etwa Elektroden im Gehirn, Medikamente oder die Verweigerung von Nahrung oder Wasser). Solche Vorgehensweisen können bei der Forschung am Menschen nicht angewendet werden und der Einsatz solcher Bedingungen sollte auch bei Tieren mit großer Vorsicht bedacht werden. Die vergleichenden Psychologie hat einige wichtige Entdeckungen gemacht.
13.1.4
Kognitive Entwicklung
Die kognitive Entwicklung ist die Erforschung der Kognition,wie sie sich über die Lebensspanne hinweg bei einem Lebewesen entfaltet. Im vorliegenden Kapitel erkunden wir eine solche Entwicklung des Denkens aus der Perspektive der modernen kognitiven Psychologie und versuchen dabei, weitere Einsichten in die Eigenart der geis-
13
348
Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
Frühe Stimulierung und Wachstum von Nervenzellen In der hier gezeigten Abbildung sehen wir anhand von Gehirnzellen, die zwei Ratten entnommen wurden, die Auswirkungen von ausbleibender Stimulierung (rechts) und nicht ausbleibender Stimulierung (links). Wie dargestellt sind im linken Beispiel die haarähnlichen Dendriten klein, wenig verzweigt und von geringer Zahl, während die Dendriten im anderen Beispiel auf der rechten Seite
13
tigen Prozesse beim Menschen zu gewinnen. Sie werden viele der Themen wieder erkennen wie etwa Gedächtnis, Kognition höherer Ordnung, Prototypbildung usw., denn sie wurden zuvor schon behandelt.
13.2
Entwicklungspsychologie
Wir wollen damit beginnen, uns näher mit zwei recht unterschiedlichen Theorien der Entwicklungspsychologie zu beschäftigen,die über den größten Teil des 20.Jahrhunderts hinweg das Denken in diesem Gegenstandsbereich bestimmten. Wir widmen uns zunächst der Theorie von Jean Piaget und dann der von Lew Wygotski.
groß, komplex und zahlreich sind. Sie sind »gut arborisiert« wie die Zweige eines gesunden Baums oder Strauchs. Den stimulierten Ratten wurde die Möglichkeit gegeben, Spielzeug und andere Geräte zu erkunden, die stimulierend wirkten. Adaptiert nach Griswold & Jones, University of Illinois
13.2.1
Assimilation und Akkomodation: Piaget
Weil Jean Piaget die Versuche der Moralphilosophen und anderer Theoretiker,das menschliche Wissen mit Hilfe rationaler Spekulation zu erklären, nicht recht befriedigten, nahm er eine einzigartige und am Ende einflussreiche Haltung ein. Er entschied sich dafür, dass das Denken am besten vom Standpunkt der Biologie und Evolution aus erklärt werden konnte – weil es wie alle biologischen Funktionen ein Produkt der Anpassung an die Evolution ist. Die optimale Möglichkeit, die Eigenart des Denkens beim Erwachsenen zu verstehen,bestand darin,die Denkaktivität von Geburt an zu untersuchen sowie ihre Entwicklung und ihre Veränderungen in der Anpassung an die Umwelt zu beobachten.
349 13.2 · Entwicklungspsychologie
Jean Piaget (1896–1980). Seine Forschung und seine Theorien bilden die Grundlage für die moderne Entwikklungspsychologie
Allgemeine Prinzipien. Für Piaget waren beim geistigen
Wachstum wie in der gesamten biologischen Entwicklung zwei Hauptprinzipien wirksam: Anpassung und Organisation. Beim Essen und Verdauen eines Apfels beispielsweise nutzen wir bestimmte biologische Strukturen und Prozesse – Mund, Zähne, Magen, Magensäfte –, mit deren Hilfe wir den Apfel aufnehmen und in Formen umwandeln, die der Körper nutzen kann. In einem bestimmten Sinne hat der Körper ein äußeres Objekt assimiliert und es in ein für den Menschen nutzbares biologisches Material verwandelt. Piaget glaubte, dass ähnliche Phänomene auf die geistige Aktivität anwendbar sind,speziell dass wir über Denkstrukturen verfügen, die äußere Ereignisse assimilieren und sie in geistige Ereignisse oder Gedanken umwandeln.Sollten wir versuchen einen viel größeren Apfel zu essen, müssten wir die Art und Weise ändern, wie unser Mund und unsere Zähne angeordnet sind,um in ihn hineinbeißen zu können. Aber wir müssten auch an weiteren Aspekten, die zu seiner Verdauung führen, etwas ändern. Mit anderen Worten müssten wir unsere biologischen Strukturen akkomodieren, um mit den Problemen fertig zu werden, die das neue Objekt aufwirft. Auf ähnliche Weise akkomodieren wir unsere Denkstrukturen im
Hinblick auf neue und ungewöhnliche Aspekte der geistigen Umwelt. Diese beiden Prozesse,Assimilation und Akkomodation, stellen zwei komplementäre Aspekte des allgemeinen Anpassungsprozesses dar. Organisation bezieht sich auf die Eigenart der Denkstrukturen, die sich anpassen. Für Piaget ist das Denken auf zunehmend komplexere und integriertere Weise strukturiert oder organisiert.Das einfachste Niveau ist das Schema, das eine geistige Repräsentation irgendeiner (körperlichen oder geistigen) Handlung ist, die an einem Objekt ausgeführt werden kann. Für das Neugeborene sind Saugen, Greifen und Sehen Schemata. Es handelt sich hier um die Art und Weise, wie das Neugeborene die Welt kennen lernt – indem es auf die Welt einwirkt. Über die Entwicklung hinweg werden diese Schemata fortschreitend integriert und auf ordnungsgemäße Weise koordiniert, so dass sie am Ende das Denken des Erwachsenen hervorbringen. Piaget postulierte näherungsweise vier Hauptstadien der Entwicklung, durch die das Denken des Menschen entsteht.Piaget betonte (1),dass Veränderungen innerhalb eines gegebenen Stadiums im Allgemeinen quantitativ und linear sind, während die Unterschiede über die Stadien hinweg gewöhnlich qualitativ sind. Er erklärte (2), dass es eine notwendige Reihenfolge gibt, wie die vier Stadien durchlaufen werden. Das heißt, dass ein Kind jedes Stadium durchlaufen muss, um zum nächsten zu gelangen. Wie wir sehen werden, sind nicht alle innerhalb der Psychologie der Auffassung, dass die Entwicklung so starr bzw. im Gänsemarsch erfolgt. Stadium 1: Das sensomotorische Stadium (von der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr). Dieses Stadium ist
durch mehrere Stufen einer fortschreitend verlaufenden Koordinierung der Schemata in immer komplexere und integriertere gekennzeichnet.Während der ersten (Reflex-)
13
350
Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
Stufe sind die Reaktionen angeboren und unwillkürlich. Auf der nächsten Stufe werden die Reflexschemata langsam der Kontrolle durch den Willen unterworfen. Wenn diese primären Schemata wie etwa Saugen, Sehen und Greifen wirklich miteinander koordiniert sind – das heißt, wenn der Säugling nicht nur gleichzeitig greifen und sehen kann, sondern auch etwas ansehen kann, um es zu greifen –, dann ist die nächste Stufe (sekundäre Schemata) erreicht. Hier kann das Kind ein Verhalten ausführen und dabei etwas anderes zum Ziel haben als das Verhalten selbst. Stadium 2: Das präoperationale Stadium (vom zweiten bis siebten Lebensjahr). Während des präoperationalen
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Stadiums ist das Verhalten des kleinen Kindes allmählich nicht mehr nur von der Handlung abhängig, sondern es nutzt auch mentale Repräsentationen für diese Handlungen – es geht also zu dem über, was man für gewöhnlich Gedanken nennt. Die Fähigkeit zur Repräsentation lässt eine Anzahl bedeutsamer neuer Fähigkeiten möglich werden.Dazu zählt eine rudimentäre Art von Einsichtslernen, bei dem sich ein Kind nur ein Problem ansehen und es dann lösen kann,ohne irgendwelche offenen Handlungen ausführen zu müssen. Das heißt, das Kind kann sich die Antwort in seinem Kopf ausdenken und die richtige Lösung erkennen. Ein weiterer Fortschritt, der durch Repräsentationen ermöglicht wird, ist die Fähigkeit des Kindes, etwas vorzutäuschen und vorzugeben, etwas zu tun – speziell einen Gegenstand zu einem Zweck einzusetzen, für den er ursprünglich nicht entwickelt wurde.Beispielsweise verwendete eine von Piagets Töchtern ein Stück Stoff so, als wäre es ein Kissen. Sie ergriff dann den Stoff, steckte den Daumen in den Mund,legte sich mit dem Kopf auf den Stoff und gab vor, schlafen zu wollen. Piaget ist der Meinung, dass die Gegenstände, die sich auf irgendeine Weise ähneln, als Ersatz füreinander dienen können, weil das Kind sie jetzt im Kopf zueinander in Beziehung setzen kann. Es braucht nun kein Kissen mehr, um sich hinzulegen – ein Ersatz- oder vorgespieltes Kissen reicht völlig aus. Und schließlich ist die Fähigkeit zur Repräsentation Voraussetzung dafür, dass das Kind die Sprache verwendet. Gleichzeitig macht sie die Sprache möglich. Sprache enthält Symbole (Wörter), die für Gegenstände und Ereignisse stehen. Zur Repräsentation gehört das Erzeugen und Wachrufen von Symbolen für Gegenstände im Kopf. Bis das Kind Symbole wirklich repräsentieren und manipulieren kann, wird es nicht in der Lage sein, die Sprache auf wirksame Weise zu verwenden. Es überrascht nicht,
dass sich die Repräsentation und die ersten Mehrwortsätze des Kindes in eben dieser Zeit entwickeln. Für Piaget gibt es eine kausale Verbindung zwischen beidem: Die Repräsentation ermöglicht den Erwerb und die Verwendung von Sprache. Stadium 3: Das konkret-operationale Stadium (vom siebten bis elften Lebensjahr). Die gleichen allgemeinen
Transformationen,die die Verwandlung des sensomotorischen Kindes ins präoperationale Kind bewirkten,wiederholen sich, um die Denkstrukturen des präoperationalen Kindes in jene des konkret-operationalen Kindes zu überführen.Nach Piaget sind an diesem Prozess Fortschritte in drei wichtigen Bereichen des geistigen Wachstums beteiligt: Erhaltung, Klassifikation sowie Seriation und Transitivität. Der erste Bereich, Erhaltung, ist in ⊡ Abb. 13.1 dargestellt. Vor Ihnen befinden sich drei Gefäße, wobei zwei die gleichen Abmessungen haben und ein Gefäß höher und schmaler ist. Man schüttet Wasser in die beiden niedrigeren Gefäße,so dass beide den gleichen Füllstand haben.Sie bestätigen, dass die beiden dieselbe Menge Wasser enthalten, vielleicht indem Sie den Füllstand überprüfen. Nun wird Wasser von einem der niedrigen Gefäße in das hohe schmale geschüttet. Das Wasser in dem zuletzt genannten Gefäß steigt auf ein höheres Niveau. Befindet sich in ihm nun mehr Wasser als in dem niedrigeren Gefäß? Die meisten Erwachsenen wären überrascht darüber,wie leicht sich die Frage beantworten lässt. Natürlich ist die Wassermenge dieselbe. Es ist nichts unternommen worden, um die Menge zu ändern. Deshalb muss sie dieselbe sein. Obwohl
⊡ Abb. 13.1. Versuchsanordnung (1) zu Beginn der Erhaltungsaufgabe und (2) nachdem der Inhalt eines Gefäßes in das schmalere, höhere Gefäß geschüttet wurde
351 13.2 · Entwicklungspsychologie
die Antwort für viele Erwachsene auf der Hand zu liegen scheint, fand Piaget heraus, dass Kinder, die jünger als sieben Jahre alt sind,im typischen Fall sagen,dass sich im hohen schmalen Gefäß mehr Wasser befindet. Dies ist ein anschauliches Beispiel für eine Fähigkeit, von der Piaget glaubte, dass sie zentral für die geistige Funktionsfähigkeit eines Schulkindes ist: Es versteht den Begriff der Erhaltung – das heißt, es versteht, dass bestimmte Transformationen einige grundlegende Eigenschaften der Gegenstände nicht verändern werden. Im Beispiel,das in ⊡ Abb. 13.1 dargestellt wird,besteht der Begriff der Erhaltung im Verständnis, dass sich die Flüssigkeitsmenge nicht verändert, wenn die Flüssigkeit in ein Gefäß von anderer Form geschüttet wird. Zur zweiten Fähigkeit, die sich beim konkret-operationalen Kind entwickelt, gehört die Klassifikation oder die Gruppierung von Gegenständen. Nehmen wir beispielsweise an, wir zeigten einem Kind vier Hunde und drei Katzen und fragten es, ob auf dem Bild mehr Hunde oder mehr Katzen sind. Das präoperationale Kind kann diese Frage korrekt beantworten. Fragt man es jedoch, ob da mehr Tiere oder mehr Hunde abgebildet sind, antwortet es, es seien mehr Hunde. Das konkret-operationale Kind wird diese letzte Frage korrekt beantworten. Dies veranschaulicht eine Fähigkeit zur Klassifikation,die man als Addition von Klassen bezeichnet.Für Piaget gehört zur erfolgreichen Ausführung nicht nur ein Bewusstsein von einigen der Unterklassen wie etwa Hunde und Katzen, sondern ein vollständiges Wissen darüber,dass die Unterklassen zusammenaddiert eine dritte Klasse (Tiere) ergeben und dass diese Klasse wiederum in ihre Unterklassen
aufgespalten werden kann. Dieses konkret-operationale System oder die Gruppierung ähnelt dem System, das der Erhaltung zugrunde liegt. Die beiden Unterklassen (Hunde und Katzen) können (durch Transformation) zu einer dritten Klasse (Tiere) vereinigt werden,die sich dann wieder (durch Reversibilität) in die beiden ursprünglichen Unterklassen aufteilen lässt. All dies kann man im Kopf machen (Interiorisierung). Für das präoperationale Kind ist die Klassifikation noch kein vollständig vereinheitlichtes System. Das hat zur Folge, dass nur einige Aspekte eines Problems korrekt erkannt werden können. Die letzten beiden großen kognitiven Leistungen, auf die wir uns jetzt konzentrieren wollen, sind die Fähigkeit zur Seriation und die zur Transitivität – eigentlich zwei getrennte, aber doch miteinander verwandte Fähigkeiten. Seriation bezieht sich auf die Fähigkeit, eine Reihe von Elementen nach einer ihnen zugrunde liegenden Beziehung zueinander zu verketten. So wird etwa ein präoperationales Kind, das man bittet, mehrere Stöckchen (⊡ Abb. 13.2) der Länge nach zu ordnen (ein typisches Problem für die Längenseriation),in begrenzter Weise dazu in der Lage sein. Oft wird es zwei Stöckchen korrekt ordnen, dann aber das dritte Stöckchen nicht an den ersten beiden ausrichten usw. Die Fähigkeit zur Seriation entwickelt sich erst vollständig aus, wenn das System der konkreten Operationen erreicht ist. Transitivität hängt mit der Fähigkeit zur Seriation zusammen. Beim in ⊡ Abb. 13.2 dargestellten Transitivitätsproblem zeigt man einem Kind eine Reihe von Stöckchen (jeweils zwei gleichzeitig) und fragt es dann, welches der beiden Stöckchen länger ist. Danach wird die entschei-
Einstein und Piaget: Mehr, als Albert wirklich wissen wollte Im Jahre 1928 stellte Albert Einstein Piaget eine Frage: In welcher Reihenfolge erwerben Kinder die Begriffe »Zeit« und »Geschwindigkeit«? Die Frage hatte sich wegen eines Problems innerhalb der Physik ergeben. Im Rahmen von Newtons Theorie ist die Zeit eine Grundqualität und Geschwindigkeit ist durch sie definiert (Geschwindigkeit = Entfernung/Zeit). Innerhalb der Relativitätstheorie definieren sich im Gegensatz dazu Zeit und Geschwindigkeit gegenseitig, wobei kein Begriff grundlegender als der andere ist. Einstein wollte wissen, ob das Verständnis eines oder beider Begriffe von Geburt an vorhanden ist, ob Kinder das eine vor dem anderen verstehen und –
wenn dies der Fall ist – wie das anfängliche Verständnis des einen das nachfolgende Verständnis des anderen beeinflusst. Nahezu 20 Jahre später veröffentlichte Piaget eine zweibändige, 500 Seiten umfassende Antwort auf Einsteins Anfrage. Piaget kam zu dem Schluss, dass Kinder im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit kein Verständnis von Zeit, Entfernung und Geschwindigkeit haben. Erst im Stadium der konkreten Operationen begreifen sie die drei Begriffe. Basierend auf Siegler (1986)
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
⊡ Abb. 13.3. Typische Versuchsanordnung von Gewichten beim Problem mit der Balkenwaage, bei dem das Kind entscheiden muss, ob sich eine (anfänglich in der Gleichgewichtsposition verriegelte) Waage im Gleichgewicht befindet, wenn man sie entriegelt
⊡ Abb. 13.2. Oben: Seriationsaufgabe (A) und Leistungen bei präoperationalen (B) und konkret-operationalen (C) Kindern. Unten: Paare von Stöckchen, wie sie in einer Transitivitätsaufgabe dargeboten wurden. Nachdem ein Kind festgestellt hat, dass A and B nicht von derselben Länge sind, dass B länger als C ist und dass C länger als D ist, wird es gefragt, ob B länger als D ist
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dende Frage gestellt: Ist Stöckchen B länger als Stöckchen D? Das präoperationale Kind zeigt bei dieser Aufgabe sehr schlechte Leistungen, während das konkret-operationale Kind korrekt antwortet. Die entscheidende Fähigkeit besteht für Piaget darin,die Brücke zwischen B und D zu bilden. Dafür muss das Kind eindeutig in der Lage sein, die Stöckchen reihenweise zu ordnen. Außerdem muss es zwei voneinander isolierte Relationen (B > C und C > D) in einem System miteinander koordinieren können, um den Transitivitätsschluss zu machen, dass B > D. Nach Piaget weiß das präoperationale Kind, dass B > C und dass C > D, aber es kann diese beiden Beziehungen nicht über den mittleren Verbindungsterm C zusammensetzen, um damit ein konkret-operationales System zu schaffen. Stadium 4: Das formal-operationale Stadium (vom Jugend- bis zum Erwachsenenalter). Obwohl das konkret-
operationale Kind eine Anzahl bedeutsamer Sprünge bei seiner kognitiven Funktionsfähigkeit gemacht hat, gibt es nach Piaget immer noch einige klare Grenzen im Hinblick auf diese Fähigkeiten. Die Begrenzung lässt sich vielleicht am besten durch die Bezeichnung zusammenfassen,die er diesem Stadium gab: Stadium der konkreten Operationen. Das Kind ist während dieses Stadiums darauf begrenzt, konkrete Dinge in einer aktuellen Situation mit-
einander zu koordinieren. Es ist jedoch noch nicht in der Lage, mögliche Dinge in einer hypothetischen oder abstrakteren formalisierten Situation zu koordinieren. Das konkret-operationale Kind kann diverse physikalische Dimensionen (z.B. Höhe und Breite einer Schale mit Wasser) miteinander koordinieren und zeigt damit, dass es zur Erhaltung einer flüssigen Quantität fähig ist. In ähnlicher Weise kann das Kind Maße, Zahlen,Volumina, Entfernungen und Gewichte erhalten – kurz gesagt die meisten Dimensionen der konkreten physikalischen Realität, mit der es konfrontiert ist. ⊡ Abbildung 13.3 stellt ein Problem dar, das gut dazu geeignet ist, dieses letzte Entwicklungsniveau zu veranschaulichen.Stellen Sie sich eine Balkenwaage mit mehreren Gewichten vor. Diese können auf eine Vielzahl von Positionen auf jeder der beiden Seiten der Waage gelegt werden. Das Ziel – die Waage ins Gleichgewicht zu bringen – lässt sich dadurch erreichen, dass man entweder die Gewichte auf beiden Seiten der Waage verändert oder sie zur Mitte des Balkens (Drehpunkt) hin bzw. von ihm weg bewegt. Das konkret-operationale Kind kann das Problem mit der Balkenwaage leicht lösen, wenn es mit nur einer Dimension arbeiten muss. Beispielsweise wird das Kind rasch lernen, dass es – wenn auf einer Seite mehr Gewichte sind als auf der anderen – das Gleichgewicht wiederherstellen kann, indem es zwei Extragewichte auf der einen Seite wegnimmt oder ein Gewicht auf der anderen Seite hinzufügt. In ähnlicher Weise ist es in der Lage, die Wirkung zu verstehen, wenn man Gewichte an unterschiedlichen Entfernungen vom Drehpunkt bewegt. Das konkret-operationale Kind versteht jedoch nicht, in welcher Beziehung diese beiden Systeme von Operationen zueinander stehen.Es weiß beispielsweise nicht,dass man, wenn man auf der einen Seite ein Gewicht hinzufügt, dies dadurch ausgleichen kann, dass man die Gewichte auf der anderen Seite weiter vom Drehpunkt fort bewegt.Kurz ge-
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Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget Stadium Sensomotorisch
Alter 0–2
Präoperational
2–7
Konkrete Operationen
7–11 oder 12
Formale Operationen
11–12 14–15
Charakteristische Eigenschaften Die Welt des Hier und Jetzt; keine Sprache, im Anfangsstadium keine Gedanken, fehlendes Verständnis für die objektive Realität Egozentrisches Denken; schlussfolgerndes Denken von der Wahrnehmung dominiert; eher intuitives als logisches Denken; keine Fähigkeit zur Erhaltung Fähigkeit zur Erhaltung; Fähigkeit zur Bildung von Klassen und Beziehungen; Zahlverständnis; konkretes Denken; Entwicklung der Reversibilität beim Denken Ausgeprägte Fähigkeit zum legitim verallgemeinernden Denken Propositionales Denken; Fähigkeit, mit etwas Hypothetischem umzugehen; Entwicklung eines ausgeprägten Idealismus
sagt kann das Kind diese beiden Systeme nicht zu einem »System von Systemen« höherer Ordnung koordinieren. Dies ist genau das Ziel des formal-operationalen Stadiums – nämlich die Koordinierung von zuvor voneinander isolierten Systemen konkreter Operationen. Aus der Fähigkeit, Denksysteme zu Systemen höherer Ordnung zu koordinieren, ergibt sich unmittelbar die Fähigkeit, über die tatsächliche Welt der physikalischen Realität hinauszugehen und zu hypothetischen Welten oder anderen Realitäten fortzuschreiten. Damit kann man Denksysteme entwickeln, die durch die Realität nicht unmittelbar vorgegeben sind. Fragen wie etwa »Was wäre, wenn die Sonne nicht mehr da wäre?« und »Was wäre, wenn es die Schwerkraft nicht mehr gäbe?«, die so charakteristisch für die Systeme von Jugendlichen sind,gehen unmittelbar auf die Fähigkeit zurück,eine ansonsten konkrete Realität mit neuen hypothetischen Dimensionen zu versehen. Diese Neigung zum hypothetischen Denken hängt eng zusammen mit der sich entfaltenden Tendenz, auf einem sehr abstrakten Niveau zu denken.Der formal-operationale Jugendliche kann über allgemeine Themen wie etwa die Moral, die Liebe oder die Existenz nachdenken. Für Piaget stellt das formal-operationale Denken den Endpunkt des geistigen Wachstums dar.Das einstige Kind hat dann zweifellos einen langen Weg hinter sich: von den einfachen Reflexen des Neugeborenen bis zum ausgeklügelten Denken des Jugendlichen und des Erwachsenen. Die bemerkenswerte Eigenschaft von Piagets Theorie besteht darin, dass er das natürliche logische Fortschreiten dieser Entwicklung gemäß einer einheitlichen Gruppe theoretischer Prinzipien postuliert.
Kritik an Piagets Auffassung. Piagets Vorstellungswelt ist
nicht unumstritten geblieben und in den letzten Jahren haben sich viele neue Kritikpunkte ergeben. Einige konzentrieren sich auf untergeordnete Aspekte seiner Methodologie, andere jedoch wenden sich unmittelbar gegen den Kern seiner Theorie. Jean Mandler (1998, 2000) und ihre Kollegen präsentierten Befunde, die die Auffassung Piagets und seiner Nachfolger zur Denkfähigkeit von Kleinkindern infrage stellten. Einfach ausgedrückt besteht die Piaget’sche Auffassung in Bezug auf kleine Säuglinge darin, dass sie ein Stadium – speziell das sensomotorische Stadium – durchlaufen, in dem sie noch nicht »denken« können. (Dies bedeutet,dass sie lernen können,einfache Dinge zu tun – wie etwa gewöhnliche Gegenstände zu erkennen, zu krabbeln und Gegenstände zu manipulieren –, aber sie entwickeln noch keine Begriffe oder Gedanken.) Säuglinge im sensomotorischen Stadium verlassen sich vor allem auf ihr prozedurales Wissen (Kap. 9) – also auf die Art kognitiver Fähigkeit, die man braucht, um sich in einer Gegend um-
Jean Mandler. Führte einfallsreiche Experimente durch, die neue Aspekte zum Denken von Kleinkindern zum Vorschein brachten
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
herzubewegen und Gegenstände zu manipulieren. Mandler vermutet, dass die Entwicklung des begrifflichen Wissens weit stärker ausgeprägt ist, als Piaget ursprünglich meinte. Es gibt Befunde, die darauf hindeuten, dass die begriffliche Erfassung der Wahrnehmung schon im frühen Alter vorhanden ist. In einem Experiment (Spelke, 1979) wurden vier Monate alten Säuglingen zwei unterschiedliche Filme mit derselben Tonspur gezeigt, in denen komplexe Ereignisse dargestellt wurden.Die Säuglinge zogen es vor, den Film zu sehen, bei dem Bilder und Ton übereinstimmten (Mandler & Bauer,1988; Meltzoff & Borton,1979). Selbst Säuglinge, die nur einen Monat alt sind, scheinen in der Lage zu sein, Gegenstände zu erkennen, die sie nur im Mund gefühlt haben (Meltzoff & Borton, 1979). In einer Untersuchung wurde einen Monat alten Säuglingen ein Schnuller gegeben, der entweder eine noppenartige oder eine glatte Oberfläche aufwies (⊡ Abb. 13.4). Nachdem sie sich an den Schnuller gewöhnen konnten, ohne ihn zu sehen, wurde er entfernt. Dann zeigte man dem Säugling beide Schnuller.Die Säuglinge verbrachten mehr Zeit damit, sich den Schnuller anzusehen, den sie vorher nur im Mund hatten. Dies wird als Argument für die Auffassung angesehen, dass hier eine Art zentraler Verarbeitung zweier ähnlicher Informationsmuster stattfindet. Mandler weist darauf hin, dass einige der Befunde zur begrifflichen Fähigkeit, die von Kinderpsychologinnen und -psychologen erhoben wurden,auf motorischem Verhalten beruhen könnten. Sie ist der Meinung, dass es sich bei dem,was möglicherweise eine begriffliche Unfähigkeit zu sein scheint, in Wirklichkeit um eine motorische Unfähigkeit handeln könnte (siehe auch später in diesem Kapitel die Behandlung von induktiven Schlüssen bei Säug-
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⊡ Abb. 13.4. Zwei Arten von Schnullern, wie sie in der Untersuchung von Meltzoff und Borton verwendet wurden. Nach der Gewöhnung (Habituation) an eine Art von Schnuller, ohne ihn sehen zu können, sahen sich die Säuglinge in der Regel den Schnuller an, den sie im Mund gespürt hatten. Nach Meltzoff & Borton (1979), wie Mandler (1990) berichtet
lingen). Diese Kritikerin und andere argumentieren, dass Kinder eventuell viel früher über raffinierte logische Operationen verfügen, als Piaget dies dachte. Sie weisen auch darauf hin, dass andere Prozesse entscheidend bei der Festlegung dessen sein könnten, ob ein Kind eine bestimmte Fähigkeit (wie etwa Erhaltung) aufweist oder nicht.Dennoch könnten die Verfechter der Theorie von Piaget argumentieren, die gerade zitierten Untersuchungen zeigten nur, dass die grundlegenden Vorgänge, die über den kognitiven Fortschritt bestimmen, früher auftreten als erwartet. Die elementaren operationalen Schemata und die grundlegende Reihenfolge der fortschreitenden Integration und Koordinierung bleiben als vernünftige Erklärungen für die Zunahme der kognitiven Fähigkeiten des Kindes bestehen. Doch auch diese grundlegende Annahme wurde angezweifelt.
13.2.2
Das Denken in der Gesellschaft: Wygotski
Lew Wygotski wurde 1896 in der Stadt Orscha zwischen Minsk in Weißrussland und Smolensk in Russland geboren. Als heller Kopf und als energischer, neugieriger junger Mann gewann er beim Abschluss am Gymnasium eine Goldmedaille und ein Stipendium für sein späteres Studium.Es wäre ihm sicher im Traum nicht eingefallen,dass er einmal dazu auserkoren werden würde, die Moskauer Lomonossow-Universität (die größte Universität in Russland) zu besuchen. Nur wenige Juden aus entlegenen kleinen Städten waren auserwählt (für die Universitäten in Moskau und St. Petersburg war eine Quote von 3% festgelegt worden).Auch wenn seine Begabung bemerkenswert und seine Noten einwandfrei waren,so hatte man doch gerade einen neuen Erlass eingeführt, wonach jüdische Bewerber durch Loswurf selektiert werden sollten (Dobkin in Levitin, 1982). Dennoch erwies sich das Schicksal in ei-
Lew Wygotski bzw. Vygotsky (1896–1934). Machte wichtige Beobachtungen und stellte Theorien zur Sprachentwicklung beim Kind auf
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nem ganz normalen Dekanatsbüro dem Schuljungen Wygotski als gnädig. Mit viel Glück gewann er das Los (und verlor dabei eine Wette mit einem Freund, dem er deshalb ein gutes Buch schenkte) und begann eine intellektuelle Karriere,die in der Geschichte der russischen Psychologie ihresgleichen sucht. Zu seinen früheren Kommilitonen und Mitarbeitern zählten so illustre Psychologen aus der früheren Sowjetunion wie Alexander Luria (der am häufigsten von westlichen Psychologen zitierte russische Psychologe; Solso, 1985), Alexej Leontjew (der am häufigsten von russischen Psychologen zitierte russische Psychologe),Saporoschets, Sintschenko, Elkonin, Galperin und Boschowitsch. Wygotskis kreative Begabungen waren nicht auf die Psychologie beschränkt. Dazu gehörten auch die Philosophie (seine Arbeiten über Marx und Hegel sind Klassiker und ein Buch über Spinoza wartet noch auf seine Veröffentlichung [Kosulin, 1984]), Kunstkritik (seine Doktorarbeit und sein erstes Buch trug den Titel Die Psychologie der Kunst), literaturwissenschaftliche Forschung (er gründete die Zeitschrift Verask und war ein Freund des Dichters Mandelstam) sowie Jura und Medizin (seinen ersten Abschluss machte er in Jura, er arbeitete an einem medizinischen Abschluss und war in der Klinischen Psychologie und in der Entwicklungspsychologie bereits wohl bekannt). Er starb 1934 im Alter von 37 Jahren an den Folgen einer Tuberkulose. Heute nennen die Russen ihn im Scherz den »Mozart der Psychologie«. Wygotskis Originalarbeiten sollten sorgfältig gelesen werden. Im nun folgenden Abschnitt konzentrieren wir uns insofern auf seine grundlegenden Ideen, als sie einen Einfluss auf das Thema der Entwicklungspsychologie hatten.
13.2.3
Wygotski und Piaget
Obwohl Wygotski und Piaget Zeitgenossen waren (die führenden Entwicklungspsychologen des Jahrhunderts) und in Europa lebten, trafen sie sich nie.Aber sie kannten jeweils die Arbeiten des anderen. Wygotski wusste von Piaget, bevor Piaget etwas von Wygotski erfuhr. Piaget kannte die Einzelheiten von Wygotskis Kritik an seiner Arbeit bis etwa 1962 nicht. Dann bekam er eine gekürzte Übersetzung von Denken und Sprache. Er veröffentlichte eine interessante Kritik an Wygotskis Position und seinen eigenen Kommentar zu Wygotskis kritischen Bemerkungen (L. Graham, 1972). Es gibt Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Theorien von Wygotski und Piaget.
Wygotski sah Piagets Arbeit als »revolutionär« an (ein Ausdruck,den man im Russland der zwanziger Jahre nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte). Aber er war der Auffassung, dass seine bahnbrechenden Qualitäten unter einer Dualität litten – dem Widerspruch zwischen materialistischen und idealistischen Konzeptionen. Als die Psychologie der geistigen Entwicklung des Mentalen vom wissenschaftlichen Materialismus überprüft wurde,geriet die faktische Substanz dieser Vorgehensweise in einen unvermeidlichen Konflikt mit der theoretischen und idealistischen Natur des menschlichen Geistes. Die Debatte ist vor allem angesichts des Zeitgeistes in den zwanziger und dreißiger Jahren durchaus ernst zu nehmen. Denn die immer größere Bedeutung der experimentellen Psychologie stellte für den idealistischen, den nicht materialistischen und den philosophischen Zweig der Psychologie eine echte Bedrohung dar. Stadien der Entwicklung. Nach Piaget entwickelte sich die Denkweise beim Kind vom autistischen über das egozentrische zum sozialen Denken.Wygotski akzeptierte die allgemeinen Stadien der Entwicklung,aber er lehnte die Auffassung ab, dass dem eine genetisch determinierte Abfolge zugrunde lag. Knapp ausgedrückt glaubte Piaget, dass die Entwicklung dem Lernen vorangeht, und Wygotski, dass die Entwicklung dem Lernen folgt. Ein weiterer Unterschied zwischen den Theorien besteht in der Eigenart und Funktion des Sprechens.Nach Piaget wird das egozentrische Sprechen – dessen sich das Kind bedient,wenn es laut denkt – durch das soziale Sprechen ersetzt – bei dem das Kind Erfahrungsgesetze erkennt und das Sprechen zur Kommunikation benutzt. Für Wygotski ist das Denken des Kindes von der Sache her im Wesentlichen sozial.Egozentrisches Sprechen dagegen hat einen sozialen Ursprung und Zweck: Kinder lernen egozentrisches Sprechen von anderen und setzen es dazu ein, um mit anderen zu kommunizieren. Es ist vor allem diese Position, die die beiden Theoretiker voneinander trennt, und sie zeigt, welches der Hauptpunkt in Wygotskis Theorie der Kindesentwicklung ist. Die Entwicklung des Sprechens, die beim Kind an die Entwicklung des Denkens gebunden ist, hat folgenden Verlauf: Erster und wichtigster Zweck der Sprechens (nicht nur bei Kindern,sondern auch bei Erwachsenen) ist die Kommunikation, die durch unser Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt motiviert ist. Somit sind die ersten Sprechversuche im Wesentlichen sozial. Sprechen wird egozentrisch (und hier akzeptiert Wygotski die Stadien
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
der Entwicklung von Piaget, er unterscheidet sich jedoch in seiner Erklärung), wenn das Kind soziale Gemeinschaftsformen des Verhaltens auf die Sphäre der intrapersonalen psychischen Funktionen überträgt (Wygotski, 1934/1962). Die Entwicklung des Denkens vollzieht sich deshalb nicht in Richtung vom Individuum auf die Gesellschaft, sondern von der Gesellschaft auf das Individuum. Das Phänomen der Internalisierung. Internalisierung ist der Prozess, bei dem äußere Handlungen (grob gesagt Verhalten) in innere psychische Funktionen (grob gesagt Prozesse) transformiert werden. In diesem Punkt stimmen Wygotski und Piaget auf einer deskriptiven Ebene überein,jedoch nicht in Bezug auf den Ursprung der Internalisierung. Wygotskis Position ähnelt der, die in den Schriften von Émile Durkheim und Pierre Janet zum Ausdruck kommt (und Wygotski war wegen seiner Vertrautheit mit der französischen soziologischen Schule zweifellos von ihr beeinflusst). Das Bewusstsein des Menschen bestand nach dieser Auffassung aus internalisierten sozialen, interpersonalen Beziehungen. Die Bedeutung dieser Position für die Entwicklungspsychologie besteht darin, dass Kinder dazu neigen, die gleiche Form des Verhaltens, die andere ihnen gegenüber zum Ausdruck brachten, gegenüber sich selbst einzusetzen.
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Entwicklungsstadien. Wygotski beobachtete die Art und Weise, wie Kinder Gegenstände (z.B. Klötzchen unterschiedlicher Größe, Farbe und Form) sortieren. Ältere Kinder (sechs Jahre und mehr) schienen sich eine einzelne Eigenschaft wie etwa die Farbe auszuwählen: Alle grünen Klötzchen wurde zusammengruppiert wie auch die blauen usw. Kleinere Kinder (unter sechs Jahren) nutzten miteinander verkettete Begriffe. Damit meinte Wygotski, dass sich die Klassifikation über den ganzen Auswahlprozess hinweg veränderte. Ein Kind nahm beispielsweise einige blaue Klötzchen hoch und dann ein dreieckiges. Dies führte zur Auswahl eines weiteren dreieckigen Klötzchens und so weiter,bis irgendeine andere Art von Klötzchen die Aufmerksamkeit des Kindes weckte wie etwa runde Klötzchen, die dann zugunsten einer anderen Art Klötzchen aufgegeben wurden. Der Auswahlprozess schien verkettet und veränderbar zu sein. Vorschulkinder schienen die Gegenstände eher thematisch als taxonomisch zu ordnen. So wiesen ältere Kinder und Erwachsene Tiere z.B. einer Kategorie zu, Möbel einer anderen und Spielsachen noch einer dritten Gruppe
(taxonomische Klassifikation). Dagegen ordnete ein sehr kleines Kind möglicherweise eine Katze mit einem Sessel in eine Gruppe ein, Spielzeug mit einem Regal und einen Hund mit einer Frisbeeescheibe (denn Katzen sitzen auf Sesseln,Spielzeug wird im Regal abgelegt und Hunde spielen mit einer Frisbeescheibe [thematische Klassifikation]). Aufgrund ähnlicher Beobachtungen war Wygotski der Auffassung, dass Kinder drei Stadien der Begriffsentwicklung durchlaufen: 1. die Bildung thematischer Begriffe, bei denen Beziehungen zwischen Gegenständen wichtig sind 2. die Bildung von Kettenbegriffen (gerade erwähnt) 3. die Bildung abstrakter Begriffe, ähnlich der Begriffsbildung beim Erwachsenen Im Gegensatz zu Piaget hatte Wygotski in seinem kurzen, geistig reichhaltigen Leben die Möglichkeit, einige dieser Hypothesen unter gut kontrollierten Laborbedingungen zu überprüfen. Wir werden uns nun dem wichtigen Thema der Entwicklung des Denkens zuwenden. Dabei werden wir uns mit einer zentralen Hypothese in Wygotskis Theorie beschäftigen. Die Entwicklung des Denkens und die Internalisierung des Sprechens. Die Entwicklung des Denkens beim Kind
zeigt sich am ehesten in der Sprachentwicklung.Wygotski (1934/1962) schrieb einmal: »Sprache ist eine Verschmelzung zwischen der Sprache, die das Kind hört, und der inneren Sprache,mit der es denkt.« Man kann deshalb leicht zu der Schlussfolgerung kommen, dass Sprache und Denken zwei Aspekte eines gemeinsamen Phänomens sind. Daraus ergibt sich logisch, dass diese Auffassung zwingend zu der folgenden deduktiven Schlussfolgerung führt: Ohne Sprache kann es kein Denken geben und Denken ist von Sprache abhängig. Obwohl einige Entwicklungspsychologinnen und -psychologen Verfechter dieser Auffassung sind, trifft dies auf Lew Wygotski nicht zu. Wenn ein Kind,das noch nicht sprechen kann,denkt – und eine Reihe empirischer Befunde deuten darauf hin –, dann müssen wir nach Wygotski andere Wurzeln für das Sprechen und das Denken finden. Eine grundlegende Annahme in seiner Psychologie besteht darin, dass Denken und Sprechen unterschiedliche genetische Wurzeln haben und dass die Geschwindigkeiten der Entwicklung in diesen beiden Bereichen verschieden sind. Die Kurven für die Zunahme verbaler und kognitiver Fähigkeiten mögen sich kreuzen und erneut kreuzen, aber sie gehen immer wieder auseinander. Der Ursprung des Denkens ist in der biologischen
357 13.3 · Neurokognitive Entwicklung
Entwicklung des Kindes zu suchen, der Ursprung der Sprache in seinem sozialen Milieu. Auch wenn Sprache und Denken von unterschiedlicher Art sind, sind sie von dem Augenblick an eng miteinander verwoben, in dem das Kind erst einmal erkennt, dass es für jeden Gegenstand eine Bezeichnung gibt. Von da an sind Denken und Sprache untrennbar miteinander verbunden. Deshalb führt die Internalisierung der Sprache dazu, dass Gedanken im inneren Sprechen zum Ausdruck kommen.
13.3
Neurokognitive Entwicklung
Kognitive Prozesse – Wahrnehmung, Gedächtnis, bildhafte Vorstellung, Sprache, Denken und Problemlösen – beruhen allesamt auf grundlegenden neurologischen Strukturen und Prozessen. Dies ist ein Gedanke, der im gesamten Buch immer wieder auftaucht. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der kognitiven Entwicklung wäre sicherlich unvollständig, wenn wir nicht ein gewisses Verständnis für die elementare Eigenart der Entwicklungsneuropsychologie aufbauen würden. Das Ziel in diesem Abschnitt besteht darin, die Funktionsweise des Nervensystems über die Lebensspanne der Menschen hinweg besser zu verstehen. Dabei werden vier unterschiedliche Ansätze aus der Entwicklungsneuropsychologie verfolgt: ▬ medizinische Untersuchungen, die die Entwicklung des Nervensystems mit kognitiven Veränderungen in Zusammenhang bringen
▬ kognitive Untersuchungen über die Lebensspanne von Personen hinweg, aus denen man Schlussfolgerungen über die die neurologische Reifung ziehen kann ▬ die Untersuchung der neurologischen Pathologie bzw. einer Schädigung,bei der sich Veränderungen im Hinblick auf die Kognition feststellen lassen ▬ experimentelle Untersuchungen,bei denen das Gehirn verändert wird (meistens Tierstudien) oder eine unabhängige Variable eingeführt und die Hirnaktivität wie etwa bei PET-Studien beobachtet wird Jede Einzelne dieser Methodologien hat ihre Stärken und ihre Schwächen (zu den Einzelheiten Kolb & Whishaw, 1990).Eine vollständige Gegenüberstellung würde aber den Rahmen dieses Buchs sprengen.Wir können an dieser Stelle jedoch einige zusammenfassende Bemerkungen machen.
13.3.1
Frühe neuronale Entwicklung
Das Gehirn entwickelt sich pränatal während der Zeit der Schwangerschaft wie in ⊡ Abb. 13.5 dargestellt.In den sehr frühen Entwicklungsphasen befindet sich das Gehirn in den rudimentären Wachstumsphasen,zu Beginn des zweiten Schwangerschaftsdrittels differenziert sich jedoch der Kortex des Gehirns vom Rückenmark. Mit sieben Monaten sind viele der Haupthirnlappen gebildet.Mit neun Monaten sind die Hirnlappen unterscheidbar und eine Reihe von Invaginationen (Einfurchungen) erkennbar.Trotz die-
Kritisch hinterfragt: Das sich entwickelnde Gehirn – Übung macht den Meister »Es ist doch verrückt«, sagt Pasko Rakic, ein Neurobiologe von der Yale University. »Die Amerikaner sind der Meinung, man solle Kinder, wenn sie klein sind, keine schwierigen Sachen mit ihrem Gehirn anstellen lassen. ›Sie sollen spielen – lernen werden sie auf der Universität.‹ Das Problem besteht darin, dass es ihnen viel schwerer fallen wird, wenn man ihnen nicht schon früh etwas beibringt.« (zitiert in Life, Juli 1994) Die frühe Stimulierung des Gehirns durch Puzzles, visuelle Darbietungen, Musik, Erlernen fremder Sprachen, Schach, Kunst, naturwissenschaftliche Erkundungen, mathematische Spiele, Schreiben von Texten sowie viele andere ähnliche Aktivitäten fördert die Herausbildung synaptischer Verbindungen im Gehirn. Kurz nach der Ge-
burt nimmt die Anzahl der neuronalen Verbindungen mit einer phänomenalen Geschwindigkeit zu. Dann wiederum etwa in der Pubertät nimmt die Anzahl neuer Verbindungen ab und es finden zwei Vorgänge statt: funktionale Validierung (dabei werden sinnvolle Verbindungen dauerhafter) und selektive Eliminierung (dabei werden sinnlose Verbindungen beseitigt). Über die Lebensspanne hinweg – vom Säuglingsalter bis ins hohe Alter – haben wir Menschen und andere Lebewesen die Fähigkeit, unsere geistigen Fähigkeiten dadurch zu erweitern, dass wir sie nutzen. Lassen wir sie etwa durch geistlose passive Aktivitäten ungenutzt, so bremsen wir wahrscheinlich das Wachstum des Gehirns.
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
⊡ Abb. 13.5. Pränatale Entwicklung des Gehirns mit einer Reihe embryonaler und fötaler Stadien. Adaptiert nach W. M. Cowan (1979)
ses bemerkenswerten und vielfältigen Wachstums der Hirnzellen befindet sich die Kognition – Wahrnehmung, Sprachverarbeitung, Denken und Gedächtnis – während der gesamten pränatalen Entwicklung, soweit man dies sagen kann, noch im Embryonalstadium.Allem Anschein nach kommt es nicht vor dem späten Jugendalter zur vollständig ausgebildeten kognitiven Entwicklung. (Einige übereifrige Eltern glauben sogar,ihr Nachwuchs müsse einen Universitätsabschluss besitzen, heiraten, drei Kinder und ein anständiges Einkommen haben, bevor man von vollständiger Reifung sprechen könne. Derartige Auffas-
sungen entbehren jedoch jeglicher wissenschaftlicher Grundlage.) Untersucht man die Synapsenbildung, die eng mit einem im kognitiven Sinne funktionierenden Gehirn zusammenhängt (die Synapse ist die Stelle, an der zwei Nervenzellen aufeinander treffen), findet man heraus, dass ihre Dichte bis zum Alter von etwa zwei Jahren zunimmt. Dann kommt es – vielleicht überraschenderweise – zu einer Reduktion der Synapsen, bei der bis zum Alter von 16 Jahren (wie alle Eltern wissen) etwa 50% verloren gehen. Manche interpretieren diese Befunde so, dass günstige
359 13.3 · Neurokognitive Entwicklung
Umwelteinflüsse eher den Verlust der Synapsen verhindern können, als dass sie einen Einfluss auf ihre Ausbildung in der frühen Kindheit haben (Kolb & Whishaw, 1990). Neuere Studien ließen Zweifel an der Auffassung entstehen, dass die neuronale Entwicklung in der frühen Kindheit zum Stillstand kommt.
13.3.2
Umwelt und neuronale Entwicklung
Die Umwelt hat einen Einfluss auf die kognitive Entwicklung und auf die Entwicklung des Gehirns. Belege dafür finden sich in Tierstudien, bei denen typischerweise ein Tier in einer Art sensorischer Isolation aufgezogen wird. Wenn es in eine normale oder sogar in eine für die Entwicklung förderlichere Umwelt verlegt wird, ist es den Befunden nach unfähig, sich normal zu entwickeln. Die Hirngröße scheint durch die Umwelt beeinflusst zu werden. Dies lässt sich durch die Tatsache belegen, dass es im Kortex bestimmter Haustiere Areale gibt, die um 10 bis 20% kleiner sind als die bei vergleichbaren Tieren in der freien Wildbahn. Menschenbabys, die in einer ungünstigen Umwelt aufwachsen – wie etwa in dem bekannten Fall eines Kindes, das von Wölfen aufgezogen wurde (Singh & Zingg,1940) –,scheinen nicht in der Lage zu sein,ihre frühen Erlebnisse zu bewältigen. Dennoch gibt es im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Vorstellung keine Belege dafür, dass sie dazu bestimmt sind, Werwölfe oder DJs zu werden. Die Auswirkung einer frühen Stimulierung auf kognitive Funktionen ist natürlich von großer Bedeutung. Der Begriff funktionale Validierung wird verwendet, um die Auffassung zum Ausdruck zu bringen, dass das neuronale System Stimulierung braucht, um vollständig funktionsfähig zu werden. Einige Experimente zeigen, dass die Hirngröße im Neokortex durch eine für die Entwicklung förderliche Umwelt zunimmt. Andere gut dokumentierte Fälle deuten darauf hin, dass Kinder bemerkenswert unverwüstliche Lebewesen sind und dass einige Formen der frühen kognitiven Entwicklungshemmung durch eine veränderte Umwelt kompensiert werden können.
13.3.3
Lateralisationsstudien
Die Lateralisation kognitiver Funktionen (ihre Zuordnung zu einer der beiden Hirnhälften) wird wahrscheinlich the-
oretisch bedeutsame Ergebnisse hervorbringen. So konnte man zeigen, dass die Informationsverarbeitung in immer wieder anderen Arealen organisiert wird (so läuft etwa die Sprachverarbeitung in der linken Hemisphäre ab). Oder es könnte sein, dass sich das Gehirn früh in der Entwicklung bildet und dass die Verarbeitung bestimmter Arten von Material (z.B. Sprache) unflexibel an einen vorher festgelegten Ort der Verarbeitung weitergeleitet wird. Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich dann für die Beantwortung der umfassenderen Frage nach dem relativen Einfluss von Anlage (in diesem Fall Neurologie) und Umwelt (in diesem Fall die Art der Information) nutzen.Trotz der Schwierigkeiten bei der experimentellen Untersuchung des Sehens und der Lateralisation bei sehr kleinen Kindern (es ist wegen einer Vielzahl offensichtlicher Probleme schwer, bei Kindern zuverlässige Daten zu erheben) wurden eine Reihe gut kontrollierter Experimente zur zerebralen Asymmetrie mit Kindern durchgeführt. König, Reiss und Kosslyn (1980) überprüften die Lateralisation bei Fünf- bis Siebenjährigen. Sie baten die Kinder (und erwachsene Personen aus der Kontrollgruppe),die Rolle eines Schiedsrichters im Baseball zu spielen. Dieser musste mit Hilfe eines Punktes die Lage eines Balls angeben,speziell ob er sich oberhalb oder unterhalb einer Linie befand bzw. ob er zwischen zwei Linien oder außerhalb dieser war ( siehe Abb. 13.6).Der Punkt wurde rechts oder links vom visuellen Fixationspunkt dargeboten, so dass er infolge der Überkreuzung der Nervenbahnen vom Auge zum Gehirn (Kap. 2) in der gegenüberliegenden Hirnhälfte verarbeitet wurde. Die Entscheidung der Kinder wurde mit Hilfe eines Reaktionszeitschlüssels erfasst.
⊡ Abb. 13.6. Der »Baseball« könnte an irgendeiner der zwölf Positionen im Verhältnis zum »Schläger« auftauchen. Das Kriterium in der Unten-oben-Aufgabe war, ob sich der Ball »oberhalb« oder »unterhalb« befand. Das Kriterium in der Entfernungsaufgabe war, ob der Ball näher als 3 mm an der Linie war. Aus Koenig, Reiss und Kosslyn (1990)
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360
Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
⊡ Abb. 13.7. Reaktionslatenzen für Kinder und Erwachsene, wenn die Reize ursprünglich für die linke Hirnhälfte (rechtes Gesichtsfeld), die rechte Hirnhälfte (linkes Gesichtsfeld) oder für beide Hirnhälften (Zentralbereich) dargeboten wurden. Die Versuchspersonen fällten eine Entscheidung, ob sich der Ball unter oder über dem Schläger befand oder mehr als 3 mm vom Schläger entfernt war. Es wird der erste Versuchsdurchgang für Kinder und Erwachsene dargestellt. Aus Koenig, Reiss und Kosslyn (1990)
Wie in ⊡ Abb. 13.7 dargestellt reagierten die Kinder schneller auf Reize, die bei der Oben-unten-Aufgabe ursprünglich für die linke Hemisphäre und die bei der Entfernungsaufgabe ursprünglich für die rechte Hemisphäre dargeboten wurden. Der Befund kann als Beleg dafür gelten, dass es bei Kindern schon im Alter von fünf Jahren klar unterscheidbare Subsysteme in den Hirnhälften gibt. Auch andere Forscher haben Lateralisationseffekte bei kleinen Kindern festgestellt.Wir ziehen daraus hier schon einmal die Schlussfolgerung, dass Hirnstrukturen und -prozesse sehr früh im Säuglingsalter bzw. sogar schon pränatal gebildet werden und dass sie nicht Gegenstand normaler Einwirkungen aus der Umwelt sind.
13.4
13
Kognitive Entwicklung
Unter der Bezeichnung Kognition wird eine ganze Reihe individueller Prozesse (und Strukturen) wie etwa Aufmerksamkeit, Mustererkennung, sensorische Register, neurowissenschaftlich erfasste kognitive Prozesse und Gedächtnis zusammengefasst. Denken ist in diesem Kontext eigentlich ein Produkt der komplexen Nutzung, Manipulation und Organisation dieser verschiedenen Komponenten. Nach Auffassung der Entwicklungspsychologie kann sich jeder dieser Prozesse mit dem Alter ändern. Die Untersuchung von altersbezogenen Veränderungen der Kognition erfordert somit die systematische Erkundung vieler unterschiedlicher Prozesse.In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns nun mit einem Teil dieser Prozesse und das nur innerhalb eines abgegrenzten Altersbereichs – nämlich vom Vorschulalter bis zum Erwachsenenalter. Im
Wesentlichen konzentrieren wir uns auf die grundlegenden kognitiven Fähigkeiten, die am Informationserwerb aus der Umwelt sowie an der Speicherung und Manipulation von Informationen im Gedächtnis beteiligt sind. Unser Ziel besteht darin, zu zeigen, welchen Wert der kognitive Standpunkt für das Verständnis einiger wichtiger Aspekte der menschlichen Entwicklung hat.
13.4.1
Intelligenz und Fähigkeiten
Kein Thema innerhalb der Psychologie wird kontroverser diskutiert als die Frage, was denn jetzt eigentlich Intelligenz und Fähigkeiten im Kern sind – eine Frage, bei der immer bedeutsame gesellschaftliche und politische Untertöne mitschwingen. Das Thema findet sich häufig in den Nachrichten und die Diskussion darüber wird durch neue Bücher, die Bildungspolitik und zweifelhafte wissenschaftliche Befunde immer wieder angeheizt. Noch beunruhigender wurde das Thema kürzlich durch die Vermarktung überlegener Gene durch Studenten führender Universitäten und Preisträger für geistige Leistungen (wie etwa Nobelpreisträger),die die Frucht ihres Leibes für eine künstliche Befruchtung zur Verfügung stellen wollten.Die Logik hinter diesem gesellschaftlichen Phänomen lautet: »Für unser Baby wollen wir die besten Gene haben, die man mit Geld kaufen kann.« Der Kern dieser Kontroverse ist: Welchen Anteil der Intelligenz und der Fähigkeiten eines Kindes (z.B. musikalische Begabung, mathematische Fähigkeit, räumliches Vorstellungsvermögen, verbale Fähigkeiten usw.) kann man auf die genetische Disposition und welchen Anteil auf die Umwelt zurückführen? Die je-
361 13.4 · Kognitive Entwicklung
weiligen Seiten argumentieren stark emotional.Aber man kann mit einiger Sicherheit die Schlussfolgerung ziehen, dass bei Intelligenz und Fähigkeiten sowohl die genetische Anlage als auch Umwelteinflüsse eine Rolle spielen. Was die speziellere Frage nach der relativen Bedeutung jeder der beiden Faktoren angeht, so deutet die neuere Forschung auf Folgendes hin: Die radikalen Umwelttheoretiker, die behaupteten, dass man jede Art von Lebewesen durch simple Veränderungen der Umwelt erzeugen könnte, überschätzen den Einfluss der Sozialisation auf Intelligenz und Fähigkeiten in grober Weise. Unsere Gene formen die Komponenten des Intellekts und der Fähigkeiten in größerem Maße,als dies früher von der Psychologie angenommen wurde. Eine Methode, die von Entwicklungspsychologinnen und -psychologen verwendet wurde, um zwischen der genetischen Basis und der Umweltgrundlage für Fähigkeiten zu differenzieren, sind Zwillingsstudien. Man unterscheidet zwischen zweieiigen (oder dizygoten) Zwillingen, die Träger ähnlicher genetischer Eigenschaften sind, und eineiigen (oder monozygoten) Zwillingen, die Träger identischer genetischer Eigenschaften sind. Bei Zwillingsstu-
dien kann man nun ein- und zweieiige Zwillinge über ihre Lebenszeit hinweg verfolgen und versuchen herauszufinden, welchen Einfluss die Umwelt auf bestimmte Eigenschaften hat. Ein anderer Ansatz bestand darin, sich den Zusammenhang zwischen den Eigenschaften von monozygoten oder dizygoten Zwillingen anzusehen, die bei Pflegeeltern aufwuchsen. Die Korrelationen zwischen den Fähigkeiten des adoptierten Kindes und denen seiner leiblichen bzw.seiner Pflegeeltern wurden berechnet.Dies geschah mit der Vorstellung im Hinterkopf, dass man auf diese Weise biologische Einflüsse von Umweltfaktoren differenzieren könnte. Eine der umfassendsten Zwillingsstudien ist das Colorado Adoption Projekt, das von John DeFries und Robert Plomin geleitet wurde (Plomin & DeFries, 1998). In einer Studie wurden mehr als 200 adoptierte Kinder und ihre leiblichen bzw.ihre Adoptiveltern untersucht. Man errechnete auch die Korrelationen für eine Kontrollgruppe von Kindern, die über viele Jahre hinweg von ihren leiblichen Eltern großgezogen wurden. Dies ist in ⊡ Abb. 13.8 und 13.9 zu sehen. In ⊡ Abb. 13.8 kann man erkennen, dass die Werte für eineiige Zwillinge ähnlicher sind als die Werte für zwei-
⊡ Abb. 13.8. In Zwillingsstudien wurden die korrelativen Zusammenhänge in Bezug auf verbale (oben) und räumliche (unten) Fähigkeiten bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen untersucht. Vergleicht man die Ergebnisse getrennt durchgeführter Studien miteinander, so zeigt sich von der Kindheit bis ins hohe Alter ein substanzieller genetischer Einfluss auf spezielle kognitive Fähigkeiten. Die
Werte für eineiige Zwillinge ähneln sich stärker als die für zweieiige Zwillinge. Diese Befunde scheinen gegen den Gedanken zu sprechen, dass der Einfluss der Gene mit der Zeit abnimmt. R. Plomin & J.C. DeFries (1998). The genetics of cognitive abilities and disabilities. Scientific American, Mai, 62–69
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
eiige Zwillinge und dass der starke Zusammenhang über die Lebensspanne der Zwillinge von der Kindheit bis ins hohe Alter erhalten bleibt. Der Zusammenhang gilt für verbale Fähigkeiten, aber auch für das räumliche Vorstellungsvermögen. Das ist ein Hinweis darauf, dass genetische Aspekte hier eine starke Rolle spielen und diese über die gesamte Lebensspanne hinweg wirksam sind. In ⊡ Abb. 13.9 kann man erkennen, dass sich die leiblichen Mütter und ihre Kinder, die von anderen adoptiert wurden, einerseits und die Eltern und ihre Kinder in der Kontrollgruppe andererseits während der mittleren Kindheit stark ähnelten.Dies gilt sowohl im Hinblick auf verbale als auch auf räumliche Fähigkeiten. Dieser Befund stand im Gegensatz zu den Werten adoptierter Kinder,die nicht denen ihrer Adoptiveltern ähnelten. Die Daten stellen einen überzeugenden Beleg für den starken Einfluss der Genetik auf mentale Fähigkeiten und die Intelligenz dar.Es gibt auch einen Entwicklungstrend, über den im Zusammenhang mit diesen Daten berichtet wird. Er deutet darauf hin, dass es zu einem unerwarteten genetischen Einfluss kommt, der während der Kindheit zunimmt. Deshalb ist der Einfluss der Vererbung etwa im Alter von 15 Jahren recht hoch.Es hat den Anschein,dass sich ein gewisser ge-
netisch aktivierter Wandel bezogen auf die kognitiven Funktionen im Alter von neun oder zehn Jahren vollzieht. Wenn das Kind dann ein Alter von 16 Jahren erreicht, erklären genetische Faktoren etwa 50% der verbalen Fähigkeit und 40% des räumlichen Vorstellungsvermögens. Diese Ergebnisse wurden durch andere Zwillingsuntersuchungen bestätigt. Daraus kann man mit einiger Gewissheit schließen, dass die Genetik eine wichtige Rolle bei der Festlegung der verbalen und räumlichen Fähigkeiten von Kindern spielt. Obwohl diese Beobachtungen von großer Bedeutung sind, sollte angemerkt werden,dass die spezifische Ausformung des menschlichen Verhaltens – vor allem das von Kindern – auch von der Umwelt beeinflusst wird, in der sie aufwachsen.
13.4.2
Entwicklung der Fähigkeit zum Informationserwerb
Die Anfangsstadien der Kognition setzen voraus, dass das Kind wirksam in der Lage ist, relevante Informationen in der Umwelt zu beachten, sie wahrzunehmen und auszu-
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⊡ Abb. 13.9. Beim Colorado Adoption Project, das die Versuchspersonen über die Zeit hinweg begleitete, kam heraus, dass die adoptierten Kinder sowohl im Hinblick auf verbale (oben) als auch auf räumliche (unten) Fähigkeiten ihren leiblichen Eltern (Mitte, helle Balken) ebenso sehr ähnelten wie Kinder, die von ihren leiblichen Eltern groß-
gezogen worden waren (links, ganz dunkle Balken). Im Unterschied dazu ähneln adoptierte Kinder am Ende ihren Adoptiveltern nicht (rechts, dunkle Balken). Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass ein Großteil der Familienähnlichkeit hinsichtlich kognitiver Fähigkeiten auf genetische Faktoren und nicht auf die Umwelt zurückgeht
363 13.4 · Kognitive Entwicklung
wählen. Erfolgreicher Informationserwerb hat etwas mit solchen Prozessen zu tun wie neurologische Entwicklung, Entwicklung sensorischer Register,fokale Aufmerksamkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit, aber auch mit effektiveren Strategien bei der Auswahl und Nutzung von Informationen in unterschiedlichen Bereichen der Umwelt.Wir konzentrieren uns hier auf einige dieser Prozesse, die bezogen auf die Entwicklung untersucht worden sind. Die meisten der heutigen Themen der kognitiven Psychologie wiederholen sich auch in den Veröffentlichungen zur Entwicklungspsychologie wieder.Dazu gehören selektive Aufmerksamkeit, Erkennen von Gesichtern, Gedächtnis, Kognition höherer Ordnung und Prototypbildung. Selektive Aufmerksamkeit. Der Begriff der selektiven Aufmerksamkeit (Kap. 3) bezieht sich auf die Fähigkeit, sich auf relevante Informationen zu konzentrieren. Die vorliegenden Befunde deuten darauf hin, dass kleine Kinder nicht so gut in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeitsprozesse zu steuern,wie Erwachsene.Sie lassen sich leichter ablenken und zeigen weniger Flexibilität dabei, ihre Aufmerksamkeit auf relevante und irrelevante Informationen zu richten. In einer Untersuchung (Pick, 1975) wurden Kinder gebeten, alle A, S und L in einer großen Schachtel voller farbiger Großbuchstaben zu finden. Die Kinder wussten nicht, dass alle A, S und L dieselbe Farbe hatten. Nur die älteren Kinder bemerkten diesen Hinweisreiz und nutzten ihn bei der Suche im Buchstabenhaufen zu ihrem Vorteil.Sie zeigten damit bezogen auf die Aufmerksamkeit eine größere Flexibilität. Obwohl unser Wissen über diesen Vorgang überhaupt nicht vollständig ist,so können Kinder,wenn sie älter wer-
den, anscheinend besser ihre Aufmerksamkeit steuern und an die Anforderungen unterschiedlicher Aufgaben anpassen. Wenn ein hohes Maß an Selektivität gefordert ist, können sich ältere Kinder besser auf die relevanten Informationen konzentrieren und die irrelevanten ignorieren. Kleinere Kinder haben in dieser Hinsicht größere Schwierigkeiten. Wenn weniger Selektivität angemessen ist, können ältere Kinder entsprechend ihren Fokus erweitern und mehr relevante Informationen aufnehmen. Ein Großteil der Forschung zur Aufmerksamkeit von Kindern hat sich mit dem Sehen beschäftigt. Für eine gewisse Zeit glaubten viele Experten, dass Neugeborene funktionell blind seien – eine Sichtweise,die inzwischen angezweifelt wird. Säuglinge können in dem Sinne »sehen«, dass ihr Sehapparat funktioniert. Doch ob sie das, was sie sehen, auch verstehen – also ob sie etwas wahrnehmen –, ist fraglich. Man weiß jedoch, dass Säuglinge bestimmte Gegenstände intensiver betrachten als andere. Einige der Merkmale der Aufmerksamkeit von Säuglingen wurden aufgedeckt. Aufmerksamkeit für Gesichter. Ein Thema, für das sich Kognitionspsychologen in besonderem Maße interessieren,ist,auf welche Merkmale einer Szenerie Personen ihre Aufmerksamkeit richten. Weil Säuglinge in einem sehr zarten Alter mit Gesichtern von Menschen (vor allem mit dem Gesicht der Mutter) immer vertrauter werden, haben die kognitiven Entwicklungspsychologen die Aufmerksamkeit für Gesichter detailliert untersucht. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass es Yarbus war, der die bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiet der visuellen Aufmerksamkeit durchführte.Er erfasste die Blickbewegungen und
Erinnern Sie sich an T-Rex? Wie alt waren Sie damals? Aus dem San Francisco Chronicle, 26. Dezember 1999. © 1999 Hilary B. Price. Vertrieben von King Features Syndicate, Inc.
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
Fixationen, während die Versuchspersonen auf eine Szenerie blickten (⊡ siehe Kap. 4 zu den Einzelheiten). Salapatek (1975) arbeitete mit Kindern und machte dabei etwas Vergleichbares: Er präsentierte Säuglingen eine visuelle Darbietung, bei der sich ein Objekt in einem anderen befand (z.B. ein Kreis in einem Dreieck). Ganz kleine Säuglinge (bis zum Alter von zwei Monaten) zogen fast alle die Außenlinien der äußeren Figur der inneren Figur vor. Nach diesem Alter von zwei Monaten überflogen die Säuglinge sowohl die äußeren als auch die inneren Linien. Bei einer weiteren Studie dieser Art verwendeten Haith,Bergman und Moore (1977) ein Gerät zur Verfolgung von Blickbewegungen, das dem in ⊡ Abb. 13.10 ähnelt. Von besonderem Interesse ist die Verwendung eines Infrarot-Beleuchtungsgeräts, dessen Strahlen auf die Augen des Säuglings gerichtet waren. Strahlen aus einer solchen Lichtquelle sind unterhalb der sensorischen Schwelle. Der Säugling kann sie nicht sehen und sie sind harmlos. Weil die Position dieser Lichter im Gesichtsfeld des Kindes bekannt ist, kann der Fixationspunkt bestimmt werden, wenn man die Entfernung eines der Lichter von der Pupillenmitte misst (ähnliche Methoden wurden bei Leseexperimenten eingesetzt – siehe Kap. 12). Die Blickbewe-
gungen des Säuglings und der genaue Ort des Gesichts der Mutter werden von der Videokamera erfasst und in einem Videomischpult aufeinander kopiert. Dadurch ist es möglich, genau auszumachen, wohin der Säugling beim Anblick des Gesichts der Mutter guckt. Experimente dieser Art tragen dazu bei, außer der emotionalen und sozialen Entwicklung des Säuglings auch das Gedächtnis und die frühe Organisation der Wahrnehmung näher zu erforschen. Im Experiment von Haith und seinen Kollegen wurden drei Gruppen von Kleinkindern beobachtet. Eine Gruppe war drei bis fünf Wochen alt, die zweite Gruppe sieben Wochen und die dritte Gruppe neun bis elf Wochen. Die Gesichter der Mütter wurden in Zonen eingeteilt, die dann dazu verwendet wurden, Blickfixationen zu bestimmen (⊡ Abb. 13.11). Die Ergebnisse des Experiments sind in ⊡ Abb. 13.12 dargestellt. Man fand heraus, dass ganz kleine Säuglinge auf die peripheren Konturen fokussieren (darüber berichtet auch Salapatek), ältere Säuglinge jedoch auf die Augen. Man fand auch heraus, dass ältere Säuglinge häufiger auf Nase und Mund schauen als kleine Säuglinge. Die mögliche Bedeutung dieser Befunde besteht darin, dass das Gesicht der Mutter für den Säugling nicht nur eine Ansammlung
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⊡ Abb. 13.10. Bild von einem Gerät zur Verfolgung von Blickbewegungen, wie er verwendet wird, wenn man die Blickbewegungen und Fixationen bei Säuglingen aufzeichnet
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⊡ Abb. 13.11. Zonen im Gesicht der Mutter, wie sie in einer Studie zur Verfolgung von Blickbewegungen eingesetzt wurden. Die Zonen wurden individuell bestimmt. Aus Haith, Bergman und Moore (1977)
visueller Ereignisse ist, sondern etwas von Bedeutung. Man könnte diese Befunde mit der physischen Attraktivität von Augen (Farbe, Bewegung und Kontrast) abtun. Doch mit solchen Argumenten kann man die Verschiebung der Aufmerksamkeit über das Alter hinweg nicht erklären. Auch wird dem Mund, dem ebenfalls diese charakteristischen Eigenschaften zukommen, relativ wenig
⊡ Abb. 13.12. Prozentsatz der Zeit, die Säuglinge aus drei unterschiedlichen Altersgruppen bei den Augen, den Konturen, der Nase und dem Mund verbrachten. Aus Haith, Bergman und Moore (1977)
Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist möglich, dass mit fünf Wochen den Augen – vor allem denen einer Mutter – ein besonderer sozialer Wert zukommt und sie in der sozialen Interaktion von Bedeutung sind. Das Problem, auf welche entscheidenden Merkmale Babys ihre Aufmerksamkeit richten,wurde von Mondloch et al. (1999) in einem Experiment angegangen, bei dem künstliche Gesichter und Gesichtsmerkmale verwendet wurden. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich kleine Babys – also Neugeborene – lieber gesichtsähnliche Reize angucken als nicht gesichtsähnliche (z.B. Valenza, Simion, Cassia & Umilta, 1996). Andere Autoren behaupten dagegen,dass sich diese Vorliebe zwischen dem zweiten und vierten Monat entwickelt (Dannemiller & Stephens, 1988). In einer sorgfältig geplanten Untersuchung von Mondloch und ihren Kollegen zeigte man sehr kleinen Kindern, deren Durchschnittsalter 53 Minuten betrug, eine Reihe von standardisierten visuellen Reizen, die in ⊡ Abb. 13.13 dargestellt sind. An der Studie nahmen auch sechs und zwölf Wochen alte Kinder teil. Die Vorliebe für gewisse Reize wurde so bestimmt, dass man den ersten Blick und seine zeitliche Dauer erfasste. In den Ergebnissen dieses Experiments sind klare Unterschiede zwischen den Blickvorlieben sehr kleiner und älterer Babys erkennbar. Bei den Reizen mit einer
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
⊡ Abb. 13.13. Anzahl der Babys, die jeweils einen Reiz gegenüber einem Reizpaar vorzogen. Mondloch, C. J., Lewis, T. L., Budreau, D. R., Maurer, D., Dannemiller, J. L., Stephens, B. R., & Kleiner-Gathercole, K. A.
(1999). Face perception during early infancy. Psychological Science, 10, 419–422
»Merkmalsumkehrung« wurden die groben Merkmale eines Gesichts in einer normal senkrecht stehenden oder in einer auf dem Kopf stehenden Orientierung gezeigt. Neugeborene entschieden sich in der überwältigenden Mehrheit dafür, sich das normale Bild anzusehen, während ältere Babys keine Vorlieben zeigten. Bei den Bildern mit »Phasen- und Amplitudenumkehrung« wurden die Gesichtsmerkmale etwas verschwommen mit einem allgemein klar definierten Kopf dargeboten. Hier zogen die Neugeborenen den deutlich erkennbaren Kopf vor, während sich die älteren Babys lieber das Gesicht mit den verschwommenen Merkmalen anguckten. Unter der Bedingung »Gesichter in Positiv- und Negativdarstellung« (weiße Pixel werden zu schwarzen, schwarze zu weißen) zeigten ganz kleine Babys keine irgendwie geartete Vorliebe, während die zwölf Wochen alten Babys das Gesicht in der Positivdarstellung vorzogen. Aus diesen Ergebnissen können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass ganz kleine Kinder (die wenig Gelegenheit hatten, etwas über Gesichter oder visuelle Reize zu lernen) eine angeborene Prädisposition haben, Reize anzublicken, die Gesichtsmerkmalen ähneln. In dem Maße, wie das Kind heranreift,tauchen andere Vorlieben auf.Dies ist ein Hinweis auf den zunehmenden Einfluss des Kortex auf die Vorlieben von Kleinkindern für bestimmte Gesichter. Aus anderen Studien wissen wir,dass es speziell dafür vorgesehene Teile des menschlichen Gehirns gibt, die mit der Wahrnehmung von Gesichtern bei Menschen, aber auch bei ande-
ren Lebewesen (z.B. Affen) in Zusammenhang gebracht werden. Es passt gut zu einer biologischen Auffassung bzw. einem Selektionsstandpunkt, wenn man zu der Schlussfolgerung kommt,dass die Gesichtswahrnehmung während der ersten Minuten nach der Geburt ein wichtiges frühes Mittel zum Erkennen kritischer Signale ist. Wenn ein Baby heranreift, scheint es andere bedeutsame Gesichtssignale zu erlernen, bis es rechtzeitig klare Gesichtsunterscheidungen und -vorlieben ausbildet, die auf der häufigen Begegnung mit Eltern, Familienmitgliedern und anderen Betreuungspersonen beruhen. In einem späteren Abschnitt über die Prototypbildung bei Kindern werden wir uns noch einmal der Verarbeitung von Gesichtsinformationen zuwenden. Nun werden wir uns jedoch zunächst einmal mit dem Thema Kurzzeitgedächtnis beschäftigen.
13.4.3
Gedächtnis
Wie wir in anderen Teilen dieses Buchs erfahren haben,gehört das Gedächtnis zu den wichtigsten Elementen der Kognition. Ohne Gedächtnis wären wir orientierungslos, verloren in einem verwirrenden Meer bedeutungsloser Ereignisse. Mit einem Gedächtnis lassen sich Ereignisse verstehen. Zu den Themen, die innerhalb der Psychologie wirklich kontrovers und heiß diskutiert werden,gehören,(1) zu
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welchem Zeitpunkt im Verlauf des menschlichen Wachstums und der menschlichen Entwicklung sich das Gedächtnis erstmals entfaltet und (2) wie genau das Gedächtnis ist. Diese Diskussion kam durch eine Flut von Gerichtsprozessen zustande, die etwas mit dem Syndrom der falschen Erinnerung zu tun hatten.Hier ging es um Erinnerungen an einen Missbrauch in der Kindheit infolge rekonstruierter Ereignisse,die von anderen – in vielen Fällen von Therapeuten – angeregt wurden. Was wissen wir über Erinnerungen aus der Kindheit? Das Gedächtnis eines Säuglings. In Sachbüchern und in der wissenschaftlichen Literatur findet man sehr viele Informationen darüber, dass Säuglinge ein Gedächtnis für Ereignisse haben, aber auch die Fähigkeit, Begriffe zu bilden (Mandler & McDonough, 1998). Auf einem elementaren Niveau erkennen Babys zuvor gesehene Reize wieder, wie etwa das Gesicht ihrer Mutter oder klassisch konditionierte Reaktionen (zu den Einzelheiten siehe RoveeCollier,1990,1999).Auch Imitation und Habituation lassen sich bei Säuglingen zuverlässig finden.Diese Befunde sind jedoch kein Hinweis darauf, dass frühe Erinnerungen von
⊡ Abb. 13.14. Mittelwerte für den Abruf aus dem Gedächtnis für vier Zielereignisse als Funktion des Alters bei dieser Erfahrung
derselben Art sind wie die Erinnerungen Erwachsener (Eacott,1999).In der Vergangenheit beruhten Versuche,etwas über die frühesten Erinnerungen zu erfahren,(im Allgemeinen) auf introspektiven Berichten (z.B.: »Welches ist Ihre früheste Erinnerung?«).Man fand heraus,dass das Durchschnittsalter für erste Erinnerungen 39 bis 42 Monate betrug. In einem gut kontrollierten Experiment von Usher und Neisser (1993) wurde das Gedächtnis für die Kindheit und sein Pendant, die Amnesie in Bezug auf die Kindheit, anhand von 222 Studenten überprüft. Man stellte ihnen Fragen über vier genau datierbare Ereignisse: die Geburt eines jüngeren Geschwisters, einen Krankenhausaufenthalt, den Tod eines Familienmitglieds und einen Umzug der Familie. Die Ereignisse konnten anhand zuverlässiger Aufzeichnungen überprüft werden und sie traten auf, als die Versuchspersonen ein, zwei, drei, vier oder fünf Jahre alt waren. Die Ergebnisse sind in ⊡ Abb. 13.14 zu sehen. Amnesien in Bezug auf die Kindheit oder die Unfähigkeit, sich an ein Ereignis zu erinnern, das sich tatsächlich abgespielt hat, reichen von einem Alter von zwei Jahren für einen Krankenhausaufenthalt und die Geburt eines Ge-
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
schwisters bis zu drei Jahren für den Todesfall oder einen Umzug der Familie.Den Beginn der Amnesie in Bezug auf die Kindheit scheint von der Eigenart des Ereignisses selbst abzuhängen: So sind die Geburt eines Geschwisters und ein Krankenhausaufenthalt (möglicherweise traumatische Episoden) bedeutsame Ereignisse. Es ist wahrscheinlich, dass man sich im Erwachsenenalter an sie erinnert. Umgekehrt können diese Ereignisse zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben des Kindes und des jungen Erwachsenen noch einmal erzählt worden sein (zur Abwägung dieser Argumente siehe E. Loftus, 1993). Wenn man an die Erinnerung denkt, die man von der späten Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter hat, dann sind die Schlussfolgerungen über die Erinnerungen Jugendlicher eindeutig. Es gibt reichlich Befunde darüber, dass die Zeit zwischen 10 und 30 Jahren zur größten Menge abrufbarer autobiographischer Erinnerungen führt. Oftmals sind diese persönlichen Erinnerungen – an solche Dinge wie an ein besonderes Rendezvous, ein Lied, ein Auto, ein Kleid, einen Ring, eine Wahl, einen Lieblingslehrer (oder einen Lehrer, den man nicht so sehr mochte), einen Oscar-Preisträger, einen Freund, ein Abenteuer in einer fremden Stadt, einen peinlichen Augenblick – Glanzpunkte dessen, was man als »seine Zeit« bezeichnen könnte.Viele Veröffentlichungen über experimentelle Arbeiten beschäftigen sich mit diesem Thema. Die Schlussfolgerung lautet, dass diejenigen Dinge, die sich während des Jugendalters und in der frühen Erwachsenenzeit ereigneten, am besten erinnert werden. Schauen Sie sich als ein Beispiel für diese Forschungsarbeiten einmal die Daten an, die in ⊡ Abb. 13.15 dargestellt sind. Sie beruhen auf dem Artikel von Holbrook und Schindler (1998) und werden von Rubin, Rahhal und Poon (1998) berichtet. Holbrook und Schindler vertreten die Auffassung, dass die Vorlieben mit den Erinnerungen zusammenhängen. Zur
Beachten Sie die bemerkenswerten kognitiven Veränderungen bei diesen Säuglingen im Altersbereich von 2, 3, 6, 9, 12 und 15 Monaten (Foto mit freundlicher Genehmigung von Carolyn Rovee-Collier)
⊡ Abb. 13.15. Verteilung der Werte dafür, wie viele Personen im Alter zwischen 16 und 86 Jahren Lieder mochten, als Funktion der Zeit, in der das Lied populär war. Berichtet von Rubin, Rahhal & Poon (1998). Rubin, D. C., Rahhal, T. A. & Poon, L. W. (1998). Things learned in early adulthood are remembered best. Memory & Cognition, 26, 3–19
Überprüfung ihrer Hypothese spielten sie 108 Personen, die zwischen 16 und 86 Jahre alt waren, 30 Sekunden lange Ausschnitte aus 28 Liedern vor. Dann baten sie sie, jedes einzelne Lied danach einzustufen, wie sehr sie es mochten. Wie dargestellt gruppierten sich die Vorlieben für die Lieder in Clustern jeweils für die Zeit,in der die befragten Personen noch im frühen Erwachsenenalter waren. Die Daten von anderen Studien, die in den USA und in anderen Ländern durchgeführt wurden, bestätigten diese Befunde (Rubin, Rahhal & Poon, 1998, zu einer Diskussion über die Theorien, die sich auf dieses weithin beobachtete Phänomen beziehen). Organisation (Chunking). Die Entwicklung raffinierter
Wiederholungsstrategien ist nur einer der Faktoren, die
369 13.4 · Kognitive Entwicklung
den Zuwachs an Gedächtnisfähigkeiten bei Schulkindern beeinflussen.Ein zweiter,gleichermaßen wichtiger Faktor ist die Fähigkeit,potenziell nützliche Zusammenhänge höherer Ordnung zu erkennen und zu nutzen,mit denen sich verschiedene Umweltereignisse miteinander verknüpfen lassen. (Zuvor in diesem Buch haben wir dies als Organisation oder Chunking bezeichnet.) Während der Schulzeit entwickelt das Kind immer bessere Fähigkeiten, Informationen, an die es sich erinnern möchte, zu organisieren. Wenn Sie sich die folgenden beiden Wortlisten ansehen, welche würden Sie Ihrer Erwartung nach leichter erinnern? 1. Tisch, Arm, Baum, Halle, Papier, Uhr, Bauer, Wort, Stockwerk 2. Äpfel, Orangen, Trauben, Hemd, Hosen, Schuh, Hund, Katze, Pferd Die zweite Liste ist tatsächlich viel leichter zu erinnern, wenn man erst einmal erkannt hat, dass sich die Wörter aus drei unterschiedlichen Kategorien von Wörtern zusammensetzen. Indem man die Wörter in Kategorien zusammenfügt (Chunking),bildet man eine Regel höherer Ordnung und nutzt die Regeln – wenn man die Wörter abrufen möchte – als Hilfe. Und tatsächlich ließ sich durch Experimente zeigen, dass der Abruf kategorisierbarer Listen viel einfacher ist als der Abruf unzusammenhängender Wörter. Überraschenderweise haben die Untersuchungen nachgewiesen,dass bei Kindern bis etwa zur dritten Klasse der Abruf kategorisierbarer Items aus dem Gedächtnis nicht viel besser gelingt als der Abruf unzusammenhängender Items. Zum anderen erinnern ältere Kinder kategorisierbare Items weitaus besser als unzusammenhängende (Vaughn, 1968; Lange, 1973). Diese Befunde lassen darauf schließen, dass die älteren Kinder die kategorische Eigenart der Reize besser erkennen und nutzen, um so ihre Gedächtnisleistung zu verbessern. Eine Möglichkeit, wie man kleineren Kindern dabei helfen kann, die Zusammenhänge höherer Ordnung zwischen den Reizen zu erkennen, besteht darin, die Kategorien in Blockform darzubieten – alle Items aus einer Kategorie zuerst, dann die nächste Kategorie usw. Bei einem Experiment von Yoshimura, Moely und Shapiro (1971) wurde einer Gruppe von Kindern,die zwischen vier und zehn Jahre alt waren, kategorisierbare Reize in Blockform dargeboten und einer anderen Gruppe Reize in einer zufälligen Reihenfolge. Man fand heraus, dass die kleineren Kinder nicht davon profitierten, wenn ihnen die Items als Blöcke gezeigt wurden, während dies bei den älteren
der Fall war. Andere Studien erbrachten für kleinere Kindern eine ganz leichte Verbesserung durch die Blockform (Cole, Frankel & Sharp, 1971; Kobasigawa & Middleton, 1972). Doch im Allgemeinen demonstrieren die Ergebnisse, dass kleine Kinder anscheinend die kategorische Struktur des ihnen präsentierten Reizmaterials nicht so gut bemerken oder nutzen. Außerdem scheinen kleinere Kinder, wenn man sie sich selbst überlässt, nicht spontan organisatorische Strategien als Erinnerungshilfe zu nutzen. In einer Untersuchung (Liberty & Ornstein, 1973) legte man Viertklässlern und Erwachsenen 28 Wörter vor,die auf einzelne Karten gedruckt waren. Sie wurden gebeten, die Karten so zu sortieren, dass dies als Erinnerungshilfe dienen konnte. Die Erwachsenen neigten dazu, semantisch zusammenhängende Items zu sortieren und zu gruppieren, während die Viertklässler Wörter auf eine Weise gruppierten, die idiosynkratischer und weniger semantisch zusammenhängend war. Zusammenfassung: Die Studien dokumentieren eindeutig,dass ältere Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit Zusammenhänge zwischen Reizen bemerken und nutzen sowie Items auf dieser Basis gruppieren. Deshalb ist eine Zunahme der Gedächtnisfähigkeiten bei Schulkindern durch die Entwicklung aktiver, planvoller, spontaner Organisationsstrategien gekennzeichnet.
13.4.4
Kognition höherer Ordnung bei Kindern
Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten die Bedeutung der Kognition höherer Ordnung bei der Informationsverarbeitung im Alltag genauer besprochen (und werden auch in den folgenden Kapiteln noch einiges dazu sagen). Die Frage für das vorliegende Kapitel lautet, worin bei Erwachsenen und bei Kindern die jeweiligen Ähnlichkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Kognition höherer Ordnung bestehen. Obwohl man keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben kann, weiß man sehr viel über die Kognition höherer Ordnung bei Erwachsenen und Kindern. Man kann die entwicklungspsychologische Literatur für jedes Einzelne der Themen zur Kognition höherer Ordnung – vom Gedächtnis bis zur Kreativität – durchforsten. Bei einem solchen Vorgehen könnten wir ein vielbändiges Werk schreiben.An dieser Stelle ist es jedoch nur möglich, die wichtigsten Punkte anzusprechen. Dem neugierigen Leser sei angeraten, sich in der reichhaltigen Fundgrube der Informationen zu diesem Thema
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Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
umzusehen. Ein gleichermaßen üppiger Schatz wäre in der bisher noch nicht durchgeführten Forschung verborgen, in der Sie aktiv tätig werden können. Wissensstruktur und Gedächtnis. Zahlreiche Merkmale
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einer vergleichenden Erforschung der Kognition höherer Ordnung liegen sofort auf der Hand. Selbst der gerade geborene Säugling ist in der Lage, einige Informationen im Gedächtnis zu speichern. Wie wir jedoch in den Kapiteln über Gedächtnis und Sprache erfahren haben, hängt die Form, in der diese Informationen im Gedächtnis gespeichert werden, von mehreren Faktoren ab. Dazu gehören die Informationsquelle, die zuvor bestehende Wissensbasis der Person und die schon gebildeten strukturellen Netze. Wir wollen uns zunächst mit der Art und Weise beschäftigen,wie ein Kind eine Erfahrung aus seinem Leben im Gedächtnis speichern könnte. Nehmen wir einmal an, Sie bitten eine Sechsjährige, Ihnen etwas über ihren Ausflug in den Zoo zu erzählen.Sie könnte etwa Folgendes sagen: »Mal sehen. Erst sind wir in einen großen Bus gestiegen, dann haben wir Elefanten gesehen und große Eisbären und Affen,dann habe ich ein Eis bekommen und dann sind wir wieder nach Hause gefahren.« Aus dieser kleinen Geschichte kann man sehr viel über die Wissensbasis des Kindes erfahren, über die Art und Weise, wie Informationen gespeichert werden, und über die Grammatik der Geschichte ( denken Sie einmal an die Geschichte vom Polizisten und Autofahrer in Kap. 1). Eine Möglichkeit, wie man eine Episode dieser Art analysieren könnte, besteht darin, sich Gedanken über die Art und Weise zu machen, auf die Informationen repräsentiert werden. Jean Mandler und ihre Kollegen (Mandler, 1983, 1984, 2000; Mandler & DeForest, 1979; Mandler & McDonough, 1996) untersuchten die Grammatik von Geschichten (aber auch die Begriffsbildung) bei Kindern und entwickelten ein Modell, bei dem zwischen zwei Repräsentationsarten unterschieden wird. Bei einer Art besteht die Repräsentation darin, was eine Person weiß und wie diese Informationen im Gedächtnis organisiert werden (z.B. in einer sequenziellen Struktur oder in einer Klassifikation der Objekte nach Kategorien). Bei der anderen Art erfolgt die Repräsentation über Symbole (wie etwa durch das Erzählen einer Episode oder das Zeichnen eines Bilds von einem Ereignis oder das Schreiben einer Geschichte über das eigene Erlebnis oder durch eine vorgestellte Repräsentation). Bei der Geschichte von einem Besuch im Zoo organisierte das Kind die Episode als Sequenz von Ereignissen
(»erst … dann … dann … und dann …« usw.) und als Geschichtenschema bzw. -grammatik (die Geschichte hatte ein Thema, eine handelnde Person, einen Anfang und ein Ende). Das Konzept ähnelt den Vorstellungen, wie wir sie in Kap.11 im Zusammenhang mit Kintsch und anderen erörtert haben. Mandler (1983) stellt bei der Beschreibung der Geschichtengrammatik von Kindern die Behauptung auf, dass Geschichten eine grundlegende Struktur haben, die aus einer Situationskomponente besteht, bei der der Protagonist und die Hintergrundinformationen eingeführt werden. Es folgen eine oder mehrere Episoden, die wie ein Skelett die Handlungsstruktur der Geschichte bilden. Jede einzelne Episode hat irgendeine Art von Anfang oder auslösendem Ereignis, auf das der Protagonist reagiert. Bei einem Versuch, die Hypothese zu überprüfen, dass Kinder ein Geschichtenschema verwenden, lasen Mandler und DeForest Achtjährigen, Elfjährigen und Erwachsenen eine Geschichte mit zwei Episoden vor. Unter einer Versuchsbedingung waren die beiden Episoden miteinander verwoben. Das heißt, dass der Titel und die Situation in der Geschichte für die erste Episode präsentiert wurden und dann der Titel sowie die Situation für die zweite Episode. Der Rest der Geschichte wurde in ähnlicher Weise dargeboten, wobei zwischen den Episoden hin und her gewechselt wurde. Einige Versuchspersonen wurden gebeten, sich an die Geschichte genau auf die Weise zu erinnern, wie sie dargeboten worden war (miteinander verwoben).Andere sollten sich zunächst an die gesamte erste Episode und dann an die gesamte zweite Episode erinnern. Die zuerst erwähnte »unnatürliche« Geschichtengrammatik ist viel schwerer zu erinnern und tatsächlich sahen sich die Achtjährigen auch nicht in der Lage, sich an die Episoden auf miteinander verwobene Weise zu erinnern.Daraus und aus anderen ähnlichen Experimenten können wir schließen, dass Kinder in zartem Alter ziemlich ausgeklügelte Schemata für Geschichten entdecken. Sie verwenden sie dazu, um Erfahrungen zu enkodieren. Metaphorisches Denken und bildhafte Vorstellung. Eine
betörende Eigentümlichkeit von Kindern ist ihre Welt mit vorgetäuschten Personen und Ereignissen. So etwas findet sich bei allen gesunden Kindern. Es kann etwas so Einfaches sein, wie vorzutäuschen, dass ein Klötzchen ein Auto oder ein Finger ein Gewehr oder eine Pappschachtel ein Palast ist. Oder es kann sich um etwas so wohl Durchdachtes handeln wie das Fantasieren über mystische Kräfte oder die Schaffung imaginärer Spielkameraden. So weit man es sagen kann (Fein, 1979), sind Kleinkinder bis zum Alter von
371 13.4 · Kognitive Entwicklung
einem Jahr nicht in der Lage, spielerisch etwas vorzutäuschen. Nach dem Alter von sechs Jahren scheinen Kinder (im Allgemeinen) andere Formen des Spiels und des Spielens vorzuziehen. Trotz bedeutsamer Theorien zu diesem Thema von Piaget und Wygotski scheint die ganz normale frühe Eigenschaft,eine Fantasiewelt zu erzeugen,weiterhin ein aktiver, aber bisher noch nicht richtig erklärter Bestandteil des Verhaltens erwachsener Menschen zu sein. Anscheinend hängt die Entwicklung geistiger Fertigkeiten, der Kreativität und der bildhaften Vorstellung mit metaphorischem Denken bei Kindern zusammen.Wir brauchen dazu jedoch noch solide experimentelle Befunde. Bildhafte Vorstellung. Eine grundlegende Frage bei der
Untersuchung der Kognition höherer Ordnung bei Kindern ist die, wie Informationen repräsentiert sind. Im Allgemeinen wird argumentiert, dass sich Erwachsene stärker auf semantische oder auf bedeutungsbasierte Repräsentationen verlassen und Kinder mehr auf wahrnehmungsbasierte Repräsentationen. Denken Sie beispielsweise an die folgende Frage: Können Sie die Staaten der USA nennen,die eine rechteckige Form haben? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie ein mentales Bild von regelmäßig geformten Bundesstaaten gebildet und es dann »betrachtet« haben, um zu erkennen, welche der Bundesstaaten wirklich rechteckig sind. Wenn Sie über ein fundiertes Wissen von den geographischen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten verfügen, haben Sie sich möglicherweise auf den Teil der USA konzentriert, in dem sich mehrere Staaten mit vier Ecken befinden und haben dann Colorado betrachtet (einen Staat, der dem Kriterium »rechteckig« gerecht wird), Utah (einen Staat, der dem sehr nahe kommt, aber doch nicht in dem Maße, dass das Kriterium »rechteckig« auf ihn zutrifft) und dann Wyoming usw.Würde man Sie bitten,die Frage noch einmal zu beantworten, vor allem wenn Sie wiederholt die Möglichkeit hatten, sich mit der Frage vertraut zu machen, dann haben Sie möglicherweise die Rechteckseigenschaft von Bundesstaaten im semantischen Gedächtnis gespeichert (so etwas wie »Staaten von der Form eines Rechtecks sind Colorado und Wyoming; nahezu rechteckig sind New Mexiko, North und South Dakota, Kansas und Oregon«). Wenn dann die Frage erneut gestellt würde, fänden Sie einen Zugang zu der Antwort vielleicht in Ihrem propositionalen Gedächtnis und nicht so sehr in Ihrer bildhaften Vorstellung. Einige Theoretiker sind der Auffassung, dass Kinder bei der Beantwortung von Fragen stärker ihre bildhafte
Vorstellung nutzen als auf Propositionen beruhende Informationsspeicher. Denken Sie beispielsweise einmal an die Situation, wenn wir einem Erwachsenen und einem Kind die folgende Frage stellen: Hat ein Pudel vier Beine? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch,dass diese Frage sogar einem Erwachsenen noch nie gestellt wurde.Trotzdem wird ihm die richtige Antwort auf diese Frage keine Probleme bereiten: Er kann aus seiner langfristig propositional gespeicherten Informationsdatenbank schöpfen.Kinder unter sieben Jahren haben jedoch Schwierigkeiten mit dieser Art logischer Deduktion, die auf semantisch abgespeicherten Informationen beruht.Kosslyn (1983) weist darauf hin, dass ein Kind, wenn es die Antwort nicht als unmittelbare Assoziation abgespeichert hat, seine bildhafte Vorstellung bei der Beantwortung der Frage nutzen wird. Wie bei Fragen zur Fantasie ist es schwer, harte Daten in der experimentalpsychologischen Literatur zu diesem Thema zu finden. Zumindest Kosslyn (1980; siehe auch Kosslyn, 1983) führte jedoch eine interessante Studie durch, die etwas zur Klärung dieser Frage beiträgt. In einem Experiment, das mit Erstklässlern (etwa sechs Jahre alt),Viertklässlern (etwa zehn Jahre alt) und mit Erwachsenen gemacht wurde, bat der Forscher die Versuchspersonen, Aussagen wie etwa »Eine Katze hat Klauen« oder »Eine Katze hat einen Kopf« oder »Ein Fisch hat Fell« auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen (es gibt gewisse Ähnlichkeiten mit den in Kap. 9 behandelten Vorgehensweisen). Unter einer Versuchsbedingung erwähnte er den Namen des Tiers und sagte den Versuchspersonen,sie sollten über die Eigenschaften dieses Tieres »nachdenken«, während die Versuchspersonen unter der anderen Versuchsbedingung gebeten wurden, sich das Tier »bildlich vorzustellen«. Nach fünf Sekunden mussten sie entscheiden, ob die Merkmale Bestandteil des Tieres waren oder nicht. Bei Erwachsenen, die vermutlich stärker zum propositionalen Denken neigen, war die vorteilhafteste Möglichkeit zur Beantwortung der Frage, die semantisch kodierte Proposition aus dem Gedächtnis abzurufen.Kinder hingegen, die sich mehr auf die bildhafte Vorstellung verlassen, werden die Frage so beantworten, dass sie in sich ein Bild vom Tier erzeugen und sich dann seine Merkmale »ansehen«. Abhängige Variable war die Reaktionszeit. Die Ergebnisse dieses Experiments sind in ⊡ Abb. 13.16 dargestellt. Allgemein fand Kosslyn heraus,dass die Erwachsenen über die meisten Versuchsbedingungen hinweg schneller auf die Reaktionstaste drückten als die Kinder. Doch die Reaktionszeitdaten für die relativen Reaktionszeiten der
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372
Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
die Praxis im Bildungswesen? (Ist es nicht sehr rücksichtsvoll von den Kognitionspsychologen, Ihnen so viele unbeantwortete Fragen zur Beantwortung zu überlassen?) Im nächsten Abschnitt werden wir uns nur noch mit einem weiteren Beispiel für die Kognition höherer Ordnung bei Kindern beschäftigen – mit dem sehr wichtigen Problem der Prototypbildung.
13.4.5
⊡ Abb. 13.16. Durchschnittliche Reaktionszeiten bei der Überprüfung von Aussagen mit und ohne Instruktion, sich dies bildhaft vorzustellen. Daten von Kosslyn (1980)
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Kinder und der Erwachsenen sind sehr interessant und verdienen es,genauer betrachtet zu werden.Sehen wir uns einmal die Unterschiede zwischen den Reaktionszeiten für diejenigen Erwachsenen an, die man instruierte, sich eine bildhafte Vorstellung zu machen, und für jene, die man nicht dazu aufgefordert hatte. Dann findet man heraus, dass die Versuchspersonen mit dieser Instruktion viel langsamer reagierten als jene ohne sie.Das deutet darauf hin, dass Erwachsene dazu neigen, derartige Informationen in Form abstrakter Propositionen abzuspeichern. Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zu den Resultaten der Kinder, bei denen es nur sehr geringe Unterschiede zwischen den Gruppen mit und ohne Instruktion gab. Es könnte sein, dass die Kinder unter beiden Versuchsbedingungen die bildhafte Vorstellung nutzten. In vielen innovativen Forschungsprogrammen wie etwa in denen zur Forschung über die bildhafte Vorstellung bei Kindern werden häufig mehr Fragen gestellt als beantwortet. Warum verlassen sich Kinder stärker auf die bildhafte Vorstellung (wenn dies wirklich so ist) als die Erwachsenen? Liegt es daran, dass sie kein propositional strukturiertes Wissen erlernt haben? Gibt es eine natürliche Entwicklungsabfolge,die mit sensorischen Erinnerungen beginnt und die dann abstrakten semantischen Erinnerungen Platz machen? Ist es von vornherein effektiver, einen Zugang zu Informationen,die auf Propositionen beruhen, zu suchen als zu solchen, die auf Bildern beruhen? Warum kommt es bei der Art und Weise, wie Informationen gespeichert werden, zu einer Verschiebung? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Forschung für
Prototypbildung bei Kindern
Die »verflixten, herumschwirrenden Verwirrungen«, von denen William James dachte, dass ihnen das Neugeborene ausgesetzt sei, sind eine Sichtweise für die schwierige Aufgabe, mit der wir Menschen wie auch alle anderen Lebewesen bei der Informationsverarbeitung anfangs konfrontiert sind. Welche kognitiven Mittel stehen uns zur Speicherung und zum Abruf dauerhafter Informationen bei all der Informationsflut zur Verfügung, mit der das sensorische System des Säuglings bombardiert wird? Anscheinend ist unser Speichersystem – das Gedächtnis des Menschen – im Hinblick auf die Informationsmenge begrenzt,die kodiert und angesichts der begrenzten Kapazität des Gehirns behalten werden kann. Wir können nicht alles speichern, was von unserem sensorischen System aufgenommen wird. Ein Alternativmodell zu dem Konzept, das alles gespeichert wird, ist der Gedanke, dass wir abstrakte Repräsentationen für sensorische Eindrücke in Form von Prototypen und/oder begrifflichen Kategorien bilden. Diese absolut notwendige Neigung taucht sehr früh im Säuglingsalter auf. In verschiedenen Experimenten wurde nachgewiesen, dass sich die Bildung begrifflicher Kategorien bei Säuglingen möglicherweise vor der Sprache entwickelt. Ross (1980) führte ein Experiment mit zwölf, 18 und 24 Monate alten Säuglingen durch,bei dem man ihnen jeweils eins von zehn Spielzeugen aus derselben Klasse zeigte (wie etwa Typen von Möbeln in einem Puppenhaus). Dann bot man den Säuglingen Paare von Gegenständen dar, bei denen ein Item Mitglied der Klasse war (aber ursprünglich nicht dargeboten wurde) und bei denen das andere Item Mitglied einer anderen Kategorie war (z.B.ein Apfel).Selbst die kleinsten Säuglinge verbrachten in dieser Untersuchung mehr Zeit damit,die »neuartigen« Gegenstände zu betrachten. Dies ist ein Hinweis darauf, dass sie eine Klassenrepräsentation von – in diesem Fall – Möbeln gebildet hatten, bei denen ein Teil des Paars der »uninteressante« Teil war.
373 13.4 · Kognitive Entwicklung
Eine unmittelbarere Überprüfung der Hypothese von der Prototypbildung bei sehr kleinen Kindern (zehn Monate alt) wurde von Strauss geleistet (1979; siehe auch Strauss & Carter, 1984; Cohen & Strauss, 1979). Er verwendete Prototypen von Gesichtern,die aus Plastikschablonen zusammengesetzt wurden, wie sie die Polizei zur Identifizierung von Verdächtigen verwendet. Der Zweck, der mit dem Experiment verfolgt wurde, bestand in Folgendem: Man wollte die Fähigkeiten der Kleinkinder zu abstrakten prototypischen Repräsentationen erfassen. Und man wollte – wenn sie dazu in der Lage waren – ermitteln, ob der Prototyp auf der Grundlage einer Durchschnittsbildung der Werte für Musterbeispiele (Modell zur Durchschnittsbildung von Merkmalen) gebildet wurde oder auf der Grundlage der Zusammenfassung der als am gebräuchlichsten erlebten Werte für die Musterbeispiele (Modalwertmodell). In Strauss’ Untersuchung zeigte man Säuglingen eine Serie von 14 Gesichtern, die so entworfen worden waren, dass sie den Prototyp aufgrund des Modalwertmodells bzw. des Modells der Durchschnittsbildung repräsentierten (zu weiteren Informationen über die Theorie und Technik der Prototypen siehe die Behandlung des Themas in Kap. 4).Nach dieser Phase des Experiments bot man den Säuglingen Paare aus zwei Arten von Prototypen dar – ein Paar aufgrund einer Durchschnittsbildung von Merkmalen aus der ersten Serie und das andere aufgrund der modalen (häufigsten) Anzahl von Merkmalen in der ersten Sitzung. Die abhängige Variable war die Zeit, die damit verbracht wurde, eins der Gesichter zu betrachten. Man nahm an, dass die Säuglinge mehr Zeit mit dem neuartigen oder nicht prototypischen Gesicht verbringen würden als mit dem prototypischen Gesicht. Dadurch, dass der Versuchsleiter auf die Zeit zurückgriff,die damit verbracht wurde, sich neue Gesichter anzusehen, war er in der Lage, darauf zu schließen, auf welche Repräsentation die Prototypbildung zurückgeht. Der wichtigste Befund war, dass sehr kleine Kinder (zehn Monate) ein prototypisches Gesicht abstrahieren konnten.Strauss fand auch daraus,dass Kleinkinder Informationen aus den Gesichtern abstrahierten und eine prototypische Repräsentation auf Grundlage der Durchschnittsbildung aus Merkmalen der exemplarischen Gesichter bildeten. Walton und Bower (1993) berichteten über Befunde, die ein Hinweis darauf sind, dass die Prototypbildung bei Neugeborenen möglicherweise bereits im Alter zwischen acht und 78 Stunden stattfindet. Die Forscher verwendeten das Saugverhalten des Säuglings, durch das die Zeitdauer gesteuert wurde, für die man ein Gesicht darbot, als
abhängige Variable.Die Gesichter,die die Säuglinge sahen, waren Bilder von acht weiblichen Gesichtern oder eine Mischung aus unterschiedlichen Bildern von Gesichtern (Prototyp). Die Kinder betrachteten bei der ersten Darbietung das durch Mischung entstandene Gesicht jeweils länger als ein Bild,das aus zuvor noch nicht gesehenen Gesichtern zusammengesetzt war. Walton und Bower argumentieren, dass Neugeborene eine mentale Repräsentation bilden, die einige Merkmale eines Schemas oder Prototyps beinhaltet, und dass derartige Repräsentationen rasch gebildet werden. In einem Experiment, das Inn, Walden und Solso 1993 durchführten, wurde die Arbeit über die Prototypbildung auf Kinder im Altersbereich zwischen drei und sechs Jahren erweitert. Dieses Experiment weist Ähnlichkeiten mit der Informationsabstraktion auf, wie sie in Kap. 4 behandelt wurde, außer dass die Versuchspersonen nun Kinder waren. Eine Serie mit zehn Mustergesichtern wurde mit Hilfe von Polizeischablonen zur Identifizierung von Verdächtigen entwickelt und ein Prototypgesicht als Grundlage verwendet.Anfänglich wurden den Kindern nur Mustergesichter gezeigt. Nachdem man einem Kind die gesamte Menge von zehn Mustergesichtern gezeigt hatte, wurde ihm eine zweite Menge dargeboten. Einige dieser Gesichter stammten aus der ursprünglichen Menge (alte Gesichter), einige Gesichter hatten die Kinder zuvor noch nicht gesehen (neue Gesichter) und eines der neuen Gesichter war der Prototyp, aus dem die Musterbeispiele entwickelt worden waren. Die Ergebnisse sind in ⊡ Abb. 13.17 zu sehen. Wie dargestellt bilden sehr kleine Kinder
⊡ Abb. 13.17. Prozentsatz von falschem Alarm bei kleinen Kindern gegenüber einem prototypischen Gesicht. Daten von Inn, Walde und Solso (1993)
13
374
Kapitel 13 · Kognitive Entwicklung
mit etwa drei bis vier Jahren keine Abstraktionen über das prototypische Gesicht aus. Im Alter von fünf Jahren scheint jedoch die Prototypbildung einzusetzen und sie ist im Alter von sechs Jahren nahezu abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt ähnelt die Leistung der Kinder bei dieser Aufgabe der von Studenten. Sie sollten im Hinterkopf behalten, dass eine Versuchsperson, wenn sie ein prototypisches Gesicht als altes (zuvor schon gesehenes) Gesicht identifiziert, einen falschen Alarm gibt bzw. einen Fehler macht. Das Gesicht ist eigentlich neu. Die Prototypbildung ist ein raffi-
niertes Mittel, um Merkmale, mit denen man häufig Erfahrung macht, als ein einzelnes »Musterbeispiel« zu speichern. Aus solchen Untersuchungen und einer zunehmenden Anzahl von Veröffentlichungen über kognitive Prozesse bei Kindern gibt es immer mehr Belege in der Richtung, dass die Abstraktion verbaler und visueller Informationen eine genauso wichtige Eigenschaft der informationsverarbeitenden Aktivitäten bei Kindern ist wie bei Erwachsenen (seien sie nun als Schemata, Grammatiken, Kategorienbildung oder als Prototypen konzeptualisiert).
Zusammenfassung
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1. Der Gegenstandsbereich der kognitiven Entwicklung beschäftigt sich mit Veränderungen, zu denen es in mehr oder weniger geordneter Weise über die Lebensspanne von Personen hinweg kommt. Man kann sie aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie, der neurokognitiven und/oder der kognitiven Entwicklung erforschen. 2. In einer Theorie der kognitiven Entwicklung (Piaget) wird behauptet, geistiges Wachstum sei biologisch bestimmt und unterliege zwei Prozessen: der Anpassung – wozu die kognitive Einstellung auf die Umwelt gehört (Assimilation und Akkomodation) – und der Organisation – wozu immer komplexere, integriertere mentale Repräsentationen von Operationen gehören. Die kognitive Entwicklung ist gekennzeichnet durch quantitative, lineare Veränderungen innerhalb eines Stadiums und durch qualitative Veränderungen über die vier Stadien hinweg: das sensomotorische, das präoperationale, das konkret-operationale und das formal-operationale. 3. In einer weiteren wichtigen Theorie der kognitiven Entwicklung (Wygotski) wird der strikte biologische Determinismus abgelehnt und behauptet, dass Lernen der Entwicklung vorangeht. Denken und Sprache haben nach dieser Auffassung einen voneinander unabhängigen Ursprung. Dabei ist das Denken biologisch determiniert, wohingegen die Sprache gesellschaftlich determiniert ist. Beides wird zu einer ineinander integrierten Einheit, wenn das Kind Denken, Sprache und Umweltereignisse durch die Benennungsaktivität miteinander verbindet. ▼
4. Die Entwicklungsneurobiologie beruht auf der Annahme, dass allen kognitiven Funktionen neurologische Strukturen und Prozesse zugrunde liegen. 5. Das Gehirn entwickelt sich während der gesamten ersten Lebensphase vom Einfachen zum Komplexen. Es unterliegt der Stimulierung durch die Umwelt und biologischen Beschränkungen. 6. Die Lateralisation des Gehirns findet sich schon bei kleinen Kindern. Dies ist eine Bestätigung der Hypothese von der biologischen Eigenart dieses Phänomens. 7. Die kognitive Entwicklung beschäftigt sich aus der informationsverarbeitenden Perspektive mit der Frage nach Veränderungen im Hinblick auf solche Prozesse wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis in Abhängigkeit vom zunehmenden Alter. 8. Neuere Zwillingsuntersuchungen deuten darauf hin, dass die Genetik eine wichtige Rolle bei der Bestimmung verbaler und räumlicher Fähigkeiten von Kindern spielt. 9. Kleinkinder und Säuglinge haben die Fähigkeit, etwas zu erinnern, aber es wird bezweifelt, ob vor dem Alter von zwei Jahren zuverlässige Erinnerungen gebildet bzw. ob sie abgerufen werden können. 10. Das Alter, in dem die einprägsamsten Erinnerungen gebildet werden, ist das zwischen 10 und 30 Jahren. 11. Vergleichende Untersuchungen zur Kognition höherer Ordnung bei Kindern und Erwachsenen zeigen, dass Kinder Geschichtenschemata in einer Weise verwenden, die mit der von Erwachsenen vergleichbar ist. Erwachsene verlassen sich stärker auf semantische, Kinder stärker auf wahrnehmungsbasierte Re-
375 13.4 · Kognitive Entwicklung
präsentationen (also auf die bildhafte Vorstellung). Die begriffliche Kategorienbildung kann dem Spracherwerb vorangehen. Dabei ist die Grundlage für die Prototypbildung bei Säuglingen die Mittelwertbildung über die Merkmale. 12. Der anfängliche Informationserwerb setzt die Wahrnehmung von der und die Aufmerksamkeit für die betreffende Information voraus. Die Forschung deutet darauf hin, dass die Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Versuchspersonen hinsichtlich bestimm-
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Akkomodation Anpassung Anthropomorphismus Assimilation begriffliches Denken Egozentrismus Erhaltung formal-operationales Stadium Habituation Klassifikation kognitive Entwicklung konkret-operationales Stadium Lateralisation neurokognitive Entwicklung Schema selektive Aufmerksamkeit Seriation Tabula rasa Transitivität
Literaturempfehlungen Mehrere Bücher von oder über Piaget sind empfehlenswert. Dazu gehören Piagets Buch Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde, »Piaget’s Theory« in dem von Mussen herausgegebenen Werk Carmichael’s Manual of Child Psychology sowie das Buch von Piaget und Inhelder Gedächtnis und Intelligenz.Siehe auch die Bücher von Flavell Cognitive Development und The Developmental Psychology of Jean Piaget sowie das Buch von Brainerd mit dem Ti-
ter Fähigkeiten wie selektiver Aufmerksamkeit und der Fähigkeit, auf die Anforderungen einer Aufgabe zu reagieren, mit dem Alter zunehmen. Erwachsene und ältere Kinder setzen im Vergleich zu kleineren Kindern andere Enkodierungsstrategien ein (z.B. mehrere nebeneinander statt einfache). Diese Unterschiede sind ebenso früh in der Abfolge der Informationsverarbeitung erkennbar wie die sensorischen Register. 13. Prototypbildung wurde bei ganz kleinen Säuglingen und Kindern beobachtet.
tel Piaget’s Theory of Intelligence. Das Werk von Holmes und Morrison mit dem Titel The Child ist ebenfalls empfehlenswert wie auch die Folgenden: P. Ornstein (ed.), Memory Development in Children, Pick und Saltzman (eds.), Modes of Perceiving and Processing Information, Siegler (ed.), Children’s Thinking: What Develops? Auch Daehlers und Bukafkos Text Cognitive Development ist lesenswert. Wygotskis Arbeiten sind im Allgemeinen auf Englisch oder auf Deutsch erhältlich. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Autor in der englischen Literatur als »Vygotsky« und in der deutschen als »Wygotski oder als »Vygotsky« aufgeführt wird. Empfehlenswert sind Mind in Society und Denken und Sprache. Es werden auch mehrere herausgegebene Bücher zum informationsverarbeitenden Ansatz in der Entwicklungspsychologie empfohlen.Dazu gehören das von Sternberg (ed.),Mechanisms of Cognitive Development, von Flavell und Markman (eds.) Handbook of Child Psychology: Cognitive Development, von Sophian (ed.) Origins of Cognitive Skills und von Moscovitch (ed.) Infant Memory. Lesenswert ist auch Flavells Rede anlässlich einer Auszeichnung durch die American Psychological Association mit dem Titel »The Development of Children’s Knowledge about the Appearance-Reality Distinction«. Sie wurde im American Psychologist veröffentlicht. Zum Gedächtnis von Säuglingen siehe den Beitrag von Rovee-Collier im von A. Diamond herausgegebenen Buch mit dem Titel The Development and Neural Bases of Higher Cognitive Functions.Eine etwas schwerer zu lesende,aber lohnende Sammlung neurokognitiver Beiträge findet sich in M. Johnsons Buch Brain Development and Cognition: A Reader.Empfehlenswert im Hinblick auf aktuelle Forschungsergebnisse sind auch die neueren Ausgaben von Zeitschriften zu entwicklungspsychologischen Themen.
13
VI
Denken und Intelligenz bei Mensch und Maschine 14
Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen – 379
15
Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz – 409
16
Künstliche Intelligenz
– 439
14 Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen 14.1
Denken –380
14.2
Begriffsbildung –381
14.2.1 14.2.2
Assoziation –382 Überprüfung einer Hypothese –382
14.3
Logik –384
14.3.1 14.3.2
Schlussfolgerungen und deduktives Schließen –386 Syllogistisches Schlussfolgern –388
14.4
Entscheidungen –393
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.4.5 14.4.6 14.4.7
Induktives Schließen –393 Entscheidungen in der »realen Welt« –394 Schlussfolgern und das Gehirn –397 Schätzung von Wahrscheinlichkeiten –399 Rahmung einer Entscheidung –400 Repräsentativität –402 Satz von Bayes und das Fällen von Entscheidungen –402
14.5
Entscheidungen und Rationalität –405
380
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
Anregungen vorab 1. Wie definieren Kognitionspsychologen das Denken und wie unterscheidet sich das Denken von der Begriffsbildung und von der Logik? 2. Warum wird die Logik als die »Wissenschaft vom Denken« bezeichnet? 3. Welches sind die wichtigsten Bestandteile eines Syllogismus? 4. Was ist deduktives Schlussfolgern und wie unterscheidet es sich vom induktiven Schlussfolgern? 5. Wie lassen sich die Argumente in einem Gespräch logisch voneinander trennen? 6. Was ist ein Venn-Diagramm? Nehmen Sie als Beispiel ein elementares Argument und illustrieren Sie es an einem Venn-Diagramm. 7. Was ist die Rahmung einer Entscheidung und welchen Einfluss hat sie auf unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen? 8. Worin besteht der Grundgedanke beim Satz von Bayes?
Viele Menschen würden eher sterben, als zu denken. Und genau genommen tun sie das. Bertrand Russell
14
Beim Denken handelt es sich um das Kronjuwel der Kognition. Bei einigen Menschen ist es etwas spektakulär Glänzendes,bei den Durchschnittsmenschen etwas Großartiges und die Tatsache, dass es überhaupt geschieht, ist eines der großen Wunder unserer Art. Das Denken über das Denken – einige nennen es »Metadenken« – erscheint vielleicht als unüberwindliche Aufgabe, weil es allem Anschein nach mit all den Dingen etwas zu tun hat, die wir zuvor erwähnt haben: Aufnahme äußerer Energie, Neurophysiologie,Wahrnehmung,Gedächtnis,Sprache,bildhafte Vorstellung und die sich entwickelnde Person. Die Fortschritte in der kognitiven Psychologie haben vor allem innerhalb der letzten 20 Jahre zu einem gewaltigen Arsenal von Forschungstechniken und theoretischen Modellen geführt, mit denen man in der Lage ist, einige der Fakten rund um das Denken aufzudecken und sie in eine plausible Rahmenvorstellung einer fundierten psychologischen Theorie zu integrieren.Dieses Kapitel ist eins von zwei Kapiteln über Denkprozesse und einige der Vorgehensweisen, die dazu verwendet werden, das Juwel der Kognition näher zu untersuchen.
14.1
Denken
Mit dem Denken erleben wir die Wiedergeburt eines legitimen Themas der Psychologie.Dass es wieder aufgekom-
men ist, kann teilweise auf Experimente über logisches Denken und über Schlussfolgerungen sowie auf das Aufkommen der Neurokognition zurückgeführt werden. Denken ist ein Prozess, durch den eine neue mentale Repräsentation gebildet wird. Dies geschieht über die Transformation von Informationen durch eine komplexe Wechselwirkung zwischen den mentalen Eigenschaften des Urteilens, Abstrahierens, Schlussfolgerns, Vorstellens und Problemlösens. Von allen drei Elementen des Denkprozesses ist das Denken das Umfassendste; es ist eher dadurch gekennzeichnet, dass es fassettenreich ist, als dass hier etwas ausgeschlossen wird.Wenn man ein Buch liest, durchlaufen die Informationen vermutlich eine Sequenz von einem sensorischen Speicher zu einem Gedächtnisspeicher. Dann werden diese neuen Informationen transformiert (gewissermaßen verdaut) und die Folge ist ein originelles Produkt.So lesen Sie etwa,dass Zar Nikolaus II. im Krieg gegen Deutschland die Grundbedürfnisse seiner Bürger in Russland nicht befriedigen konnte. Diese Tatsache führt bei Ihnen vielleicht dazu, dass Wissen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen wird: Nikolaus’ Ehefrau Alexandra war deutscher Abstammung und Sie meinen vielleicht, dass diese beiden Tatsachen eine Wechselwirkung im Verlauf der russischen Geschichte entfaltet haben könnten.Die Aufgabe ist natürlich viel komplexer,als es in diesem Beispiel zum Ausdruck kommt. Aber es ist leicht nachvollziehbar, dass die Entwicklung des einfachen Ge-
381 14.2 · Begriffsbildung
dankens von Urteilen,Abstraktion,Schlussfolgerung,Vorstellung, Problemlösen und Kreativität abhängt. Es wird gerade eine Debatte darüber geführt, ob Denken ein innerer Prozess ist oder ob es nur dann existiert, wenn es verhaltensmäßig erfasst werden kann.So überlegt vielleicht etwa ein Schachspieler mehrere Minuten lang seinen nächsten Zug, bevor er mit offenem Verhalten reagiert. Kommt es in der Zeit, in der der Spieler darüber nachgrübelt, was er machen soll, zum Denken? Es scheint auf der Hand zu liegen, dass dies so ist, und dennoch würden manche argumentieren, dass eine derartige Schlussfolgerung, weil kein offenes Verhalten beobachtbar ist, nicht auf empirischer Beobachtung beruht, sondern auf Spekulation. Eine allgemeine Definition des Denkens könnte den Konflikt zumindest teilweise auflösen und dazu beitragen, die Diskussion zu strukturieren. Es gibt drei Grundvorstellungen zum Denken: ▬ Denken ist kognitiv – das heißt, es geschieht »innerlich« im Mentalen –, aber es wird aus Verhalten erschlossen. Der Schachspieler drückt sein Denken im Zug aus. ▬ Denken ist ein Prozess, zu dem eine gewisse Manipulation des Wissens im kognitiven System gehört.Während der Schachspieler über einen Zug nachdenkt, bringt er Erinnerungen aus der Vergangenheit mit momentan vorhandenen Informationen zusammen, um sein Wissen über die Situation zu verändern. ▬ Denken ist zielgerichtet und aus ihm folgt ein Verhalten, das ein Problem löst oder auf seine Lösung ausgerichtet ist.Der nächste Schachzug im Kopf des Spielers zielt darauf ab,das Spiel zu gewinnen.Nicht alle Handlungen sind erfolgreich,aber sie sind im Kopf des Spielers im Allgemeinen auf eine Lösung ausgerichtet.
14.2
Begriffsbildung
Begriffsbildung (oder Begriffslernen) bezieht sich auf das Erkennen von Eigenschaften,die eine Klasse von Objekten oder Ideen gemeinsam hat. Wir haben uns schon mit dem Thema Begriffsbildung beschäftigt, weil es mit visuellen Formen und Prototypen (Kap. 4) sowie mit semantischen Items (Kap.9) zusammenhängt.Bei einem Großteil dessen, was wir bisher dargestellt haben,werden die Komponenten oder Merkmale von Begriffen aufgeschlüsselt und die Art und Weise beschrieben, wie sie in einem semantischen Netz strukturiert sind. In diesem Abschnitt wird ebenfalls das Thema Merkmale behandelt, aber wir werden uns auf
die Regeln konzentrieren,die mit begrifflichen Merkmalen zusammenhängen.Nehmen wir beispielsweise den Begriff Volkswagen. Wir alle haben ihn dadurch gelernt, dass wir die klassischen Eigenschaften erkennen (z.B. käferförmig, kein Kühlergrill). Das unterscheidet ihn von anderen Mitgliedern der allgemeinen Klasse Automobile. Oder wir haben die Eigenschaften eines abstrakteren Begriffs der Gerechtigkeit (z.B. Fairness, Moralität, Gleichheit) gelernt, die ihn von anderen menschlichen Eigenschaften unterscheiden. In diesen Fällen lautet die allgemeine »Regel«, die Merkmale mit dem Begriff in Zusammenhang bringt: Der Begriff wird im Sinne all der Merkmale definiert, die mit ihm verbunden werden. Begriffsbildung in dem Sinne,wie wir sie in diesem Kapitel verwenden, ist in ihrem Anwendungsbereich stärker eingeschränkt als Denken und scheint sich besser für die experimentelle Auswertung zu eignen.Deshalb überrascht es nicht, dass es einen beträchtlichen Wissensfundus über Gesetze und Prozesse zur Begriffsbildung gibt. Die frühe Definition des Begriffs lautete »mentale Bilder, Gedanken oder Prozesse«. Dies wurde normalerweise durch die experimentelle Methode der Introspektion aufgedeckt, die weithin als Technik der Psychologie akzeptiert war. Der Niedergang der Introspektion als Methode und der Aufstieg des Behaviorismus – vor allem in der US-amerikanischen Psychologie – brachte nicht nur revolutionäre methodologische Veränderungen mit sich, sondern auch entsprechende revolutionäre Veränderungen in der Auffassung über die Eigenart kognitiver Ereignisse – und deshalb auch in Bezug auf die Definition des Begriffs. Für unsere Zwecke kann man »Begriff« im Hinblick auf bestimmte kritische Merkmale und die Regeln definieren, durch die diese Merkmale zueinander in Beziehung gesetzt werden (gelegentlich verwenden wir den Terminus im alten Sinne).
Die einzige Rechtfertigung für unsere Begriffe ist, dass sie die Vielschichtigkeit unserer Erfahrungen repräsentieren … Albert Einstein
Merkmale sind – so verwenden wir das Wort in diesem Kapitel – charakteristische Eigenschaften eines Objekts oder Ereignisses,die auch charakteristisch für andere Objekte oder Ereignisse sind. Mobilität ist beispielsweise ein Merkmal von Automobilen. Es trifft auf Ford Escorts zu,
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Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
auf Cadillacs und auch auf Maseratis. Mobilität ist aber auch ein Merkmal anderer Objekte – Züge, Vögel, Minister und Knallfrösche. Vom kognitiven Standpunkt aus ist die Grundlage dafür, dass man eine charakteristische Eigenschaft als Merkmal akzeptiert, etwas Subjektives. Deshalb kann man sich Automobile,Züge,Vögel,Minister und Knallfrösche vorstellen, denen das Merkmal der Mobilität nicht gemeinsam ist. Also hängt die Festlegung der entscheidenden Merkmale für ein Objekt oder einen Gedanken von den Umständen ab.In diesem Sinne ähnelt die begriffliche Beschreibung dem Prozess der Signalerkennung (Kap. 3), bei dem durch die Stringenz der Kriterien festgelegt wird, ob ein Merkmal für einen Begriff akzeptabel ist. Die Festlegung eines Kriteriums unterliegt unserer Auffassung nach starken Schwankungen, die mit der Erfahrung des Beobachters zusammenhängen. Eine Unterscheidung zwischen Merkmalen kann man auf einer quantitativen, aber auch – wie gerade beschrieben – auf einer qualitativen Grundlage vornehmen. Mobilität ist ein qualitatives Merkmal, das auch quantitativ erfasst werden kann.Ihr Ford Escort mag mobil sein (eine qualitative Aussage), aber er ist vielleicht auch nicht so mobil wie der Maserati einer anderen Person.Somit gehen in die Begriffsbildung sowohl dimensionale (quantitative) als auch attributionale (qualitative) Merkmale ein. Beide Arten von Merkmalen werden erforscht. In den Anfangsphasen der meisten Wissenschaften hat die Begriffsbildung eine entscheidende Rolle dabei gespielt,wie die Befunde organisiert wurden.In der Chemie wurde die Begriffsbildung durch die Organisation der Elemente in einem Periodensystem erreicht, in der Biologie durch die Entwicklung einer phylogenetischen Ordnung, in der Kunstgeschichte durch die Kategorisierung der Künstler nach Perioden,in der Ägyptologie durch die Einteilung der Ereignisse nach Dynastien und in der kognitiven Psychologie durch die Klassifikation der Gedächtnisarten – all dies sind Beispiele für eine Begriffsbildung, die zu einem besseren Verständnis des Gegenstands führte. Diese komplexen Formen der Begriffsbildung setzen sich in Wirklichkeit, wenn man sie in ihre grundlegenden Komponenten aufspaltet, aus einer Reihe recht einfacher (und analysierbarer) kognitiver Prozesse zusammen.
14.2.1
Assoziation
Die älteste und einflussreichste Lerntheorie ist das Prinzip der Assoziation – Assoziationismus. In seiner knappsten
Jerome Bruner. Seine bahnbrechenden Arbeiten führten dazu, dass »Denken« wieder zu einem legitimen Thema der wissenschaftlichen Psychologie wurde
Form lässt sich dieses Prinzip so beschreiben, dass sich eine Verbindung zwischen zwei Ereignissen bildet, wenn diese Ereignisse wiederholt zusammen dargeboten werden. Verstärkung oder ein Belohnungssystem fördert die Bildung der Verbindung. Das Grundmodell für dieses Prinzip wurde in Form der Reiz-Reaktions-Psychologie gebildet. Daher postuliert das Assoziationsprinzip Folgendes: (1) Das Lernen eines Begriffs ist das Ergebnis der Verstärkung der korrekten Verknüpfung eines Reizes (z.B. rote Kästchen) mit der Reaktion,es als einen Begriff zu erkennen. Und (2) resultiert das Lernen eines Begriffs aus der Nichtverstärkung (einer Form von Bestrafung) der inkorrekten Verknüpfung eines Reizes (z.B. rote Kreise) mit der Reaktion, es als einen Begriff zu erkennen. (Derartig mechanistische Standpunkte lassen wenig Raum für einen Begriff, dem unter den modernen kognitiven Theoretikern eine wichtige Stellung zukommt – nämlich für den der inneren Strukturen,die Informationen auswählen,organisieren und transformieren.)
14.2.2
Überprüfung einer Hypothese
Die allgemeine Auffassung, dass Menschen manchmal dadurch Probleme lösen und Begriffe bilden, dass sie Hypothesen formulieren und überprüfen, wurde in der Experimentalpsychologie lange aufrechterhalten. Bruner, Goodnow und Austin (1956) wendeten ein Modell zur Überprüfung von Hypothesen unmittelbar auf das Begriffslernen an und führten in ihrem einflussreichen Buch The Study of Thinking eine methodologisch versierte Auswertung der Leistung bei einer Aufgabe in die Begriffsbildung ein. Das Anfangsstadium bei der Aneignung eines Begriffs ist die Auswahl einer Hypothese oder einer Strategie, die mit den Zielen unserer Untersuchung übereinstimmt.Immer wenn wir versuchen etwas herauszufinden,geht es bei
383 14.2 · Begriffsbildung
diesem Prozess um die Aufstellung von Prioritäten. Das läuft vielleicht in etwa so ab, wie ein Wissenschaftler eine Sequenz von Experimenten in eine Reihenfolge bringt,ein Rechtsanwalt eine Reihe von Fragen stellt oder ein Arzt eine Anzahl diagnostischer Tests entwickelt. Der folgende Text von Bruner und seinen Kollegen nennt Einzelheiten zum Prozess der Auswahl von Strategien: > Ein Neurologe interessiert sich für die Lokalisierung des Sehens von Mustern bei Affen. Spezifischer ist er an sechs kortikalen Arealen und ihrem Einfluss auf das Sehen von Mustern interessiert. Er weiß, dass das Sehen von Mustern unbeeinträchtigt ist, wenn alle sechs Areale intakt sind. Wenn alle sechs Areale zerstört sind, ist das Sehen von Mustern nicht mehr möglich. Seine Forschungstechnik besteht in der Entfernung von Arealen. Wie soll er bei der Planung seiner Forschung vorgehen? Zu einem Zeitpunkt jeweils ein Areal zerstören? Zu einem Zeitpunkt alle bis auf eins? In welcher Reihenfolge soll er seine aufeinander folgenden Experimente durchführen?
Die wesentliche Frage lautet: Was ist damit gewonnen, wenn man sich bei der Überprüfung der Fälle für eine bestimmte Reihenfolge und nicht für eine andere Reihenfolge entscheidet? Zunächst einmal hat man damit selbstverständlich eine Möglichkeit, an Informationen zu gelangen, die für die Ziele der Untersuchung angemessen sind. Man könnte sich beim Begriffserwerb zu jedem gegebenen Zeitpunkt für einen Fall entscheiden, der vielleicht am meisten darüber aussagt, um welches Konzept es sich handeln könnte.Zusammengefasst soll die Steuerung der Reihenfolge der Fälle, die man überprüft, die kognitive Belastung erhöhen oder senken, die damit einhergeht, dass man Informationen assimiliert. Eine gut geplante Reihenfolge bei der Auswahl – eine gute »Auswahlstrategie« – macht es leichter, zu verfolgen, welche Hypothesen man auf der Grundlage der Informationen, auf die man gestoßen ist, als haltbar und welche man als nicht haltbar empfindet. Ein dritter Vorteil ist zunächst nicht offensichtlich. Dadurch, dass man eine bestimmte Reihenfolge bei der Auswahl der zu überprüfenden Fälle einhält, kontrolliert man das Ausmaß des damit verbundenen Risikos … In einem typischen Experiment präsentierten Bruner und seine Mitarbeiter den Versuchspersonen ein vollständiges Universum von Begriffen (das heißt alle möglichen Kombinationen für eine Anzahl von Dimen-
sionen und Eigenschaften) und gaben ein Musterbeispiel für den Begriff an, den diese sich aneignen sollten. Die Versuchspersonen wählten einen der anderen Fälle aus, ihnen wurde gesagt, ob es sich um einen positiven oder negativen Fall handelte, sie wählten dann einen weiteren Fall aus usw., bis sie das Kriterium gelernt (und den Begriff erkannt) hatten. Zu den Strategien, die die Versuchspersonen möglicherweise während der Begriffsbildung auswählen, gehören Überfliegen und Fokussieren, jeweils mit den folgenden Unterarten: Simultanes Überfliegen. Die Versuchspersonen beginnen
mit allen möglichen Hypothesen und scheiden die nicht haltbaren Hypothesen aus. Sukzessives Überfliegen. Die Versuchspersonen beginnen mit einer einzelnen Hypothese,behalten sie bei,wenn sie zum Erfolg führt, und ändern sie in Richtung auf eine weitere Hypothese, die auf allen vorher gemachten Erfahrungen beruht, wenn sie nicht zum Erfolg führte. Konservatives Fokussieren. Die Versuchspersonen for-
mulieren eine Hypothese, wählen ein Positivbeispiel aus, um darauf zu fokussieren, nehmen dann eine Folge von Neuformulierungen vor (wobei jeweils nur ein Merkmal geändert wird) und achten jeweils darauf,welches Beispiel sich als Positiv- und welches sich als Negativbeispiel erwiesen hat. Das Fokussierspiel ist dadurch gekennzeichnet, dass man jeweils mehr als ein Merkmal verändert. Obwohl die Technik des konservativen Fokussierens methodologisch korrekt ist und wahrscheinlich zu einem gültigen Begriff führen wird, entscheiden sich die Versuchspersonen vielleicht in der Erwartung für ein Spiel, dass sie so den Begriff schneller bestimmen können. Von den oben beschriebenen Strategien ist das konservative Fokussieren die wirksamste (Bourne, 1963). Die Techniken des Überfliegens führen nur zu geringem Erfolg. Eine Schwierigkeit beim Modell von Bruner besteht darin,dass hier die Annahme gemacht wird,die Versuchspersonen hielten sich an eine einzige Strategie, obwohl einige in Wirklichkeit während der gesamten Aufgabe wankelmütig von einer Strategie zu einer anderen wechseln.
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Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
Kritisch hinterfragt: Denken, Problemlösen und Rahmenvorstellungen Versuchen Sie die folgenden Probleme zu lösen (oder zeigen Sie sie einem Freund und beobachten Sie sein Verhalten). Jede Einzelne der folgenden Karten hat einen Buchstaben auf der einen Seite und eine Zahl auf der anderen. Wenn eine Karte auf einer Seite einen Vokal hat, dann hat sie eine gerade Zahl auf der anderen Seite. Welche Karte(n) müssen Sie umdrehen, um die Regel auf ihre Gültigkeit zu überprüfen?
Vor einigen Jahren noch verlangte die US-amerikanische Post (wie auch die Deutsche Post) ein unterschiedliches Porto für Drucksachen und für normale Briefe. Das Porto für Briefe betrug 29 Cent, wenn der Brief fest ver-
14.3
14
Logik
Denken bezieht sich auf den allgemeinen Prozess, sich mental mit einem Thema zu beschäftigen, während Logik die Wissenschaft vom Denken ist. Obwohl zwei Menschen vielleicht über dieselbe Sache nachdenken, können sich ihre Schlussfolgerungen – zu denen sie beide über das Denken gekommen sind – durchaus unterscheiden: Eine ist logisch, die andere unlogisch. In einem aktuellen Zeitungsinterview mit Passanten von der Straße fragte ein Reporter: »Sind Sie für die Todesstrafe?« Eine Person gab die folgende Antwort: »Ich bin religiös und glaube, dass jeder ein Recht auf Leben hat. Die Bibel sagt: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ und,wenn jemand einem anderen etwas antut,sollte er bekommen, was er verdient. Außerdem wurde ja nachgewiesen, dass einige Menschen einen Hirnschaden haben, an dem man nichts ändern kann. Einige Dinge sind schlimmer als der Tod, etwa Vergewaltigung.« Diese Person war für die Todesstrafe, obwohl es etwas schwierig ist,diese Schlussfolgerung anhand der Antwort zu ziehen. Die Schlussfolgerung (für die Todesstrafe) scheint
schlossen war, und 25 Cent, wenn nicht. Nehmen wir an, dass ein Postangestellter die Briefe überprüft, während sie über das Fließband laufen, und dass Sie nachbezahlen müssen, wenn die folgende Regel angewandt wird: Wenn der Brief fest verschlossen ist, dann muss auf ihm eine 29Cent-Marke kleben. Welche(n) der folgenden Briefe würden Sie umdrehen, um festzustellen, ob die Regel eingehalten wurde? Welche dieser beiden Aufgaben war leichter? Sind die Aufgaben ähnlich? Gleich? Im ersten Fall wurde das Problem im Rahmen einer abstrakteren Beschreibung vorgestellt als im zweiten realistischeren Fall. Adaptiert nach Johnson-Laird und Wason (1977) sowie Johnson-Laird, Legrenzi und Legrenzi (1992) Die Lösungen für die Probleme finden Sie am Ende dieses Kapitels.
direkt im Widerspruch zu der anfänglichen Aussage zu stehen: »Ich … glaube, dass jeder ein Recht auf Leben hat.« Vielleicht war das, was die Person wirklich sagen wollte: Verletzt eine Einzelperson bestimmte Gesetze der Gesellschaft, sollte sie hingerichtet werden, auch wenn Menschen ein vorgegebenes Recht auf Leben besitzen. Die Hinrichtung wird durch Lehren aus der Bibel, durch den Sinn für das Gute, durch medizinische Wahrheiten, die relative Schwere der Bestrafung und wahrscheinlich durch ein hohes Maß an emotionalem Denken gerechtfertigt. In diesem Fall lässt sich ernsthaft infrage stellen, ob das Argument gilt. Aber es handelt sich trotzdem um eine recht typische Repräsentation der Art und Weise, auf die viele Menschen eine Schlussfolgerung begründen. Dies macht das Leben sowohl spannend als auch frustrierend. Denken und Logik sind schon seit langem Gegenstand von Spekulationen.Vor mehr als 2000 Jahren führte Aristoteles ein System von Schlussfolgerungen bzw. der Überprüfung von Argumenten auf ihre Geltung ein,das als Syllogismus bezeichnet wird. Ein Syllogismus besteht in dieser Reihenfolge aus drei Schritten: einer Hauptprämisse,
385 14.3 · Logik
einer Nebenprämisse und einem Schlusssatz. Sehen Sie sich dazu das obige Beispiel an. Ein Schlusssatz, zu dem man mit Hilfe des syllogistischen Schlussfolgerns kommt, wird als gültig oder wahr angesehen, wenn die Prämissen genau sind und die Form korrekt ist.Daher ist es möglich,die Logik dazu zu nutzen, dass Argumente auf ihre Geltung überprüft werden. Man kann unlogische Schlussfolgerungen ausmachen und die Ursache dafür herausfinden. Dies ist zugegebenermaßen eine knappe und prägnante Aussage über die theoretische Grundlage vieler der aktuellen Forschungsarbeiten zum Denken und zur Logik. Bevor wir eine Einführung in einige der aktuellen Forschungsergebnisse geben, ist es von Nutzen, einen Überblick über die Gesetze der formalen syllogistischen Logik zu bieten. In der skizzenhaften Darstellung verschiedener Formen von Syllogismen, die in ⊡ Abb. 14.1 dargestellt sind (Erickson, 1974), wird das Prädikat des Schlusssatzes als »P« und das Subjekt als »S« bezeichnet. Die Hauptprämisse verbindet das Prädikat des Schlusssatzes (im ersten Beispiel ehrlich) mit einem Mittelbegriff M (Kirchgänger). Die Nebenprämisse verbindet das Subjekt des Schlusssat-
⊡ Abb. 14.1. Formen eines Syllogismus
zes (Politiker) mit dem Mittelbegriff (Kirchgänger) und der Schlusssatz verbindet das Subjekt (Politiker) mit dem Prädikat des Schlusssatzes (ehrlich).
Induktion In der Logik ist Induktion der Prozess des Schließens vom Besonderen auf das Allgemeine. Francis Bacon betrachtete die Induktion als Logik der wissenschaftlichen Entdeckung und die Deduktion als Logik der Argumentation.Tatsächlich kommen beide Prozesse regelmäßig in den empirischen Wissenschaften zur Anwendung: Aufgrund von Beobachtung bestimmter Ereignisse (Induktion) und aufgrund von bereits bekannten Prinzipien (Deduktion) werden neue hypothetische Prinzipien formuliert und Gesetze induktiv erschlossen. Deduktion Deduktion. 1. In der herkömmlichen Logik der Prozess des Ziehens bestimmter Schlüsse mit Hil▼
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Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
fe des schlussfolgernden Denkens aus allgemeineren Prinzipien, von denen man annimmt, dass sie wahr sind. Der aristotelische Syllogismus ist das klassische Beispiel für die deduktive Logik aus dieser Tradition. 2. In der zeitgenössischen Logik jede Aussage, die mit Hilfe einer Transformationsregel aus einem Axiom abgeleitet wird.Allgemeiner bezieht sich der Begriff jetzt auf einen Prozess, bei dem mit formalen Regeln (Transformationsregeln) Sätze aus Axiomen oder aus Schlussfolgerungen von Prämissen abgeleitet werden. The Concise Columbia Encyclopedia
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Jede einzelne Art von Syllogismus lässt sich kennzeichnen durch die Art von Sätzen, aus denen er sich zusammensetzt. Somit sind alle Sätze im Beispiel von Sokrates und der Sterblichkeit von universal bejahender Art (B) und somit ist der Syllogismus von der Art BBB. Bei den syllogistischen Denkfiguren,die in ⊡ Abb. 14.1 dargestellt sind, handelt es sich um Notationen für Vermittlungsmodelle, die häufig bei der Untersuchung des verbalen Lernens verwendet werden. Beispielsweise würde Denkfigur 1 (Vorwärtsverkettung) im Beispiel mit Sokrates nach folgender Sequenz ablaufen: Menschen – sterblich, Sokrates – Mensch, Sokrates – sterblich. Die Gesamtzahl der möglichen Syllogismen (eine Kombination aus Arten und Denkfiguren) beträgt 256. Dies gilt unter der Annahme, dass jeder einzelne Faktor mit allen anderen Faktoren interagiert, von denen nur 24 logisch sind (sechs für jede einzelne Denkfigur). Wenn wir die syllogistische Logik in der kognitiven Forschung verwenden, besteht ein reizvolles Merkmal darin, dass es durch sie möglich wird, die Korrektheit des Denkprozesses aufgrund seiner Form und nicht so sehr aufgrund seines Inhalts zu bewerten bzw. auf seine Geltung hin zu überprüfen. Indem man Symbole (S und P) für das Subjekt und das Prädikat verwendet,wird es möglich, logisches Denken auf eine Art von Algebra zu reduzieren. Statt »acht Äpfel plus drei Äpfel minus zwei Äpfel ergeben neun Äpfel« zu sagen, können wir dies ohne Berücksichtigung der Bezüge, die durch diese Symbole gekennzeichnet werden, mathematisch als Gleichung repräsentieren: a + b – c = b2 oder a – c = b2 – b. In ähnlicher Weise wird es in der syllogistischen Logik möglich, Tatsachenaussagen auf Symbole zu reduzieren und sie ohne Rücksicht auf die physikalische Realität, für die sie viel-
leicht stehen, wie in einer mathematischen Gleichung zu manipulieren.
14.3.1
Schlussfolgerungen und deduktives Schließen
Wenn Nicole größer als Katharina ist und Katharina kleiner als Robert,ist dann Nicole größer als Robert? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um dieses Problem (aus dem sich natürlich keine eindeutige Schlussfolgerung ergibt) zu lösen. Manche Menschen arbeiten dieses Problem aus, indem sie kleine Figuren zeichnen, durch die die relative Größe von Nicole, Katharina und Robert bildlich dargestellt wird. Zu Ihrer Schlussfolgerung sind Sie durch einen Schlussfolgerungsprozess gekommen, den man als deduktives Schließen bezeichnet. Es handelt sich um eine logische Methode, bei der besondere Schlüsse aus allgemeineren Prinzipien gezogen werden. Bei der kognitiven Untersuchung der deduktiven Logik lassen sich nach Johnson-Laird (1995) vier Hauptthemen unterscheiden: 1. Relationale Schlussfolgerungen, die auf den logischen Eigenschaften solcher Relationen wie größer als, rechts von und nach beruhen (bei Nicole und den anderen mussten Sie sich der »Größer-als-Logik« bedienen). 2. Propositionale Schlussfolgerungen, die auf der Negation und auf solchen Bindewörtern wie wenn, oder und und beruhen (beispielsweise könnten Sie das oben erwähnte Problem umformulieren in: »Wenn Nicole größer ist …«). 3. Syllogismen, die auf Paaren von Prämissen beruhen, die jeweils einen einzelnen Quantor enthalten wie etwa alle oder es gibt (im nächsten Abschnitt werden wir uns mit Syllogismen beschäftigen, die Quantoren enthalten wie etwa: »Alle Psychologen sind hervorragend; es gibt Psychologen, die eine Brille tragen …«). 4. Das vermehrte Auftreten von Quantoren in Schlussfolgerungen, die auf Prämissen beruhen, die mehr als einen Quantor enthalten wie etwa: Es gibt französische Pudel, die teurer sind als alle anderen Hunderassen. Diese vier Modelle oder Kontingenzen, die an Entscheidungen beteiligt sind, haben Logiker zu einer Art von Prädikatenkalkül formalisiert – nämlich dem Zweig der symbolischen Logik, der sich mit den Relationen
387 14.3 · Logik
zwischen Propositionen und ihrer inneren Struktur beschäftigt: Symbole werden dazu verwendet, um das Subjekt und das Prädikat einer Proposition zu repräsentieren. Denken Sie einmal an das folgende Problem als Beispiel für relationale Schlussfolgerungen: > Nehmen Sie an, ein Freund von Ihnen besucht das Kunstmuseum von Chicago und berichtet Ihnen über seinen Besuch: In einem Raum waren jeweils ein Bild von van Gogh, Renoir und Degas. Der van Gogh war rechts vom Renoir. Der Degas war links vom Renoir. Befand sich der van Gogh rechts vom Degas?
Wenn Sie einen Augenblick nachdenken, werden Sie auf die richtige Antwort kommen. Doch wie sind Sie auf die Antwort gekommen und welches sind die kognitiven Regeln, mit denen sich Ihre Logik beschreiben lässt? Im Folgenden finden Sie ein Modell von Johnson-Laird (1995), das sich auf andere ähnliche Probleme verallgemeinern lässt: > Für beliebige x, y gilt, dass, wenn x links von y ist, y rechts von x ist. Für beliebige x, y, z gilt, dass, wenn x rechts von y und y rechts von z ist, x rechts von z ist.
Aus diesen Postulaten kann man einen Schluss ableiten. > Wenn p, dann q p \q
wobei p und q für jede beliebige Proposition stehen. Das Modell kann in starkem Maße erweitert werden, indem man nur einige wenige Propositionen hinzufügt. Denken Sie an ein weiteres Problem: > Problem A Die Tasse ist rechts von der Untertasse. Der Teller ist links von der Untertasse. Die Gabel ist vor dem Teller. Der Löffel ist vor der Tasse. In welcher Position zueinander befinden sich Gabel und Löffel?
Versuchen Sie dieses Problem und die anderen Probleme im Kopf zu lösen, bevor Sie sich die Illustration auf Seite 391 ansehen. Nehmen Sie nun an, dass eine Prämisse verändert wurde, so dass das Problem jetzt so aussieht (das veränderte Item ist kursiv gedruckt): > Problem B Die Tasse ist rechts von der Untertasse. Der Teller ist links von der Tasse. Die Gabel ist vor dem Teller. Der Löffel ist vor der Tasse. In welcher Position zueinander befinden sich Gabel und Löffel?
Welche mentale Repräsentation haben Sie für dieses Problem? Es gibt mindestens zwei Anordnungen. Wenn auch die Antwort dieselbe ist, ist dies das weitaus schwierigere Problem, weil beide Modelle konstruiert werden müssen, damit man die Antwort eindeutig auf ihre Geltung überprüfen kann. Die Aufgabe könnte sogar noch schwerer sein, falls man die richtige Antwort nur dann geben könnte, wenn die Modelle nach der folgenden Beschreibung konstruiert werden: > Problem C Die Tasse ist rechts von der Untertasse. Der Teller ist links von der Tasse. Die Gabel ist vor dem Teller. Der Löffel ist vor der Untertasse. In welcher Position zueinander befinden sich Gabel und Löffel?
Man kann sehen, dass mit der Anzahl der Items, die man unmittelbar im Gedächtnis behalten muss, die Grenzen des Kurzzeitgedächtnisses nahezu erreicht sind.Trotzdem lohnt es den Versuch,die grundlegenden mathematischen Modelle zur Beschreibung der menschlichen Logik zu finden. Bei den hier erwähnten Aufgaben handelt es sich wirklich um einfache kleine Probleme, zu deren Lösung im Kopf dennoch sorgfältige Aufmerksamkeit und Konzentration erforderlich sind. Sie könnten Ihre Freunden diese Probleme lösen lassen und sich dabei noch einige weitere Aufgaben ausdenken.Welche Prinzipien des mentalen Problemlösens tauchen dabei auf?
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388
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
14.3.2
Syllogistisches Schlussfolgern
Die frühe Forschung zum syllogistischen Schlussfolgern beruhte auf Berichten zum Thema »Was ging in meinem Kopf vor sich, während ich das logische Problem löste?«. Obwohl diese introspektiven Methoden der empirischen Grundlage entbehrten, die in der Wissenschaft gefordert sind, ergaben sich daraus drei wichtige unabhängige Variablen: die Form des Arguments, der Inhalt des Arguments und die Versuchsperson (individuelle Unterschiede). Form. In der frühen Zeit der Forschung auf diesem Gebiet
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(Woodworth & Sells,1935; Sells,1936; Chapman & Chapman, 1959) betrachteten die Wissenschaftler die Fehler, zu denen es bei Aufgaben zum syllogistischen Schließen als Folge der »Stimmung« oder »Atmosphäre« kam. Diese Stimmung wurde durch die Form des Arguments und nicht so sehr aufgrund der formalen logischen Deduktion erzeugt. Ein typischer Fall könnte etwa folgender gewesen sein: > Alle A sind B. Alle C sind B. ________________ Also sind alle A C.
Hier scheint der Terminus alle in der Hauptprämisse und der Nebenprämisse eine allgemein bejahende Atmosphäre zu suggerieren.Wenn die Versuchspersonen zu einer Schlussfolgerung kommen, die von der Form her die Prämisse nachahmt, neigen sie deshalb dazu, die Schlussfolgerung zu akzeptieren. Dass das Argument offensichtlich keine Geltung hat, liegt auf der Hand, wenn wir die abstrakten Buchstaben durch einen Inhalt ersetzen. Also: > Alle Republikaner sind Menschen. Alle Demokraten sind Menschen. Also sind alle Republikaner Demokraten.
Bevor Sie mit dem Thema syllogistische Logik weitermachen, versuchen Sie einmal, die Gültigkeit der folgenden Aussagen abzusichern: > Alle Revolutionen sind im Grunde wirtschaftlich begründet. Es gibt wirtschaftliche Verhältnisse, die zu Elend führen. Es gibt Revolutionen, die zu Elend führen. ▼
389 14.3 · Logik
Sam ist nicht der beste Koch der Welt. Der beste Koch der Welt lebt in Toronto. Sam lebt nicht in Toronto. Alle Nerts sind Soquerts. Alle Konnets sind Strequos. Alle Konnets sind Nerts.
Haben Sie einige dieser Probleme als einfach und andere als schwierig empfunden? Eine einfache Möglichkeit, syllogistische Probleme zu lösen, besteht darin, ein Diagramm wie das in ⊡ Abb. 14.2 dargestellte zu verwenden (mehr darüber später).Der Grund dafür,dass einige Probleme schwieriger waren als andere,hat vielleicht etwas mit unserem Vorwissen und der zuvor bestehenden Fähigkeit zu tun, ein logisches Argument zu erkennen, wenn man es sieht. Den ersten dieser Effekte nennt man den Effekt der Atmosphäre und er wird uns als Nächstes beschäftigen. Der zweite hängt mit der Geltung eines Arguments zusammen. Dies kann das Ergebnis einer formalen Bildung sein, aber wahrscheinlicher noch die Folge von Übung. Auch hat man vielleicht gelernt, dass man die Definition von Begriffen nicht kennen muss, um die Geltung eines Arguments zu bestimmen. Atmosphäre. Der Effekt der Atmosphäre wird definiert als
»die Neigung, ein Argument aufgrund seiner Form zu akzeptieren oder zurückzuweisen«. Mit anderen Worten kann schlicht die Art und Weise, wie ein Argument prä-
sentiert wird, einen Einfluss auf seine Glaubwürdigkeit haben. Johnson-Laird und seine Mitarbeiter (Johnson-Laird & Byrne,1989,1991; Johnson-Laird & Steedman,1978) zeigten, dass die Form eines Syllogismus einen starken Einfluss auf die Schlussfolgerung ausübt, die gezogen wird. Dies gilt speziell für einen Syllogismus der folgenden Art: > Es gibt Eltern, die Wissenschaftler sind. Alle Wissenschaftler sind Autofahrer.
Dies führt gewöhnlich eher zu der Schlussfolgerung: »Es gibt Eltern, die Autofahrer sind« als zu der gleichermaßen gültigen Schlussfolgerung: »Es gibt Autofahrer, die Eltern sind.« In der symbolischen Sprache,die wir verwendet haben, lässt ein AB-BC-Syllogismus eine AC-Schlussfolgerung wahrscheinlicher werden, während ein BA-CB-Syllogismus eine CA-Schlussfolgerung wahrscheinlicher werden lässt. Weiterhin berichten die Autoren, dass das Phänomen bei Personen an so weit auseinander liegenden
⊡ Abb. 14.2. Diagramme, auf denen alle A B sind bzw. auf denen es A gibt (oder auch nicht), die B sind (oder auch nicht)
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Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
a Ø b
(a) (b)
Ein Satz von Typ E oder Prämisse »Kein A ist B«:
Phillip Johnson-Laird. Er entwickelte bedeutsame Modelle für die menschliche Kognition und Logik
a ^ b
a ^ b
Ein Satz von Typ O oder Prämisse »Es gibt A, die B sind«: Universitäten wie Chicago,New York,Edinburgh,London, Padua und Nijmwegen beobachtet werden konnte. Ein hervorstechendes Merkmal der Forschung von Johnson-Laird und Steedman, das für die kognitive Psychologie von besonderem Interesse ist, sind ihre Schlussfolgerungen zu den mentalen Repräsentationen syllogistischer Prämissen. Eine Versuchsperson beispielsweise repräsentierte die Aussage »Alle Künstler sind Imker« so, dass sie sich zunächst eine willkürliche Anzahl von Künstlern vorstellte und dann jeden Einzelnen von ihnen als Imker etikettierte. Als eine Versuchsperson gefragt wurde, wie sie die Aufgabe gelöst hätte, sagte sie: »Ich stellte mir all die kleinen Künstler in einem Zimmer vor und dass sie alle eine Imkerhaube auf dem Kopf hätten.Von daher könnte die innere Repräsentation der Prämisse folgendermaßen aussehen: > Künstler Ø Imker
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Künstler Ø Imker
Künstler Ø Imker
(Imker)
(Imker)
Eine beliebige Anzahl von Künstlern wird als Imker etikettiert, wie dies auch bei einigen Imkern geschieht, die keine Künstler sind. Die Pfeile stehen bei Johnson-Laird und Steedman für semantische Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeiten (hier steht beispielsweise der Pfeil für sind in »Alle Künstler sind Imker«). Der oben angegebene Zusammenhang (»Alle A sind B«) könnte symbolisch folgendermaßen veranschaulicht werden: >a Ø b
a Ø b
(b)
der als Satz vom Typ A oder als Prämisse erkannt wird.Ein Satz von Typ I oder Prämisse »Es gibt A, die B sind«, hat die folgende Repräsentation:
a ^ b
(a) Ø (b)
Wenn die zweite Prämisse lautet: »Es gibt Imker, die Chemiker sind«, heißt die Form: Alle Künstler sind Imker. Es gibt Imker, die Chemiker sind. Oder symbolisch: Alle A sind B Es gibt B, die C sind
a Ø b Ø c
a Ø b Ø c
(b) (c)
was häufig zur ungültigen Schlussfolgerung führt: > Es gibt Künstler, die Chemiker sind.
Die Formulierung einer Schlussfolgerung beeinflusst die Versuchsperson in der Art und Weise, wie sie in ihrer Repräsentation der Teile eines Syllogismus einen Pfad zwischen den Items am Ende verfolgt.Dies geschieht auf ähnliche Weise, wie wenn wir uns ein Problem zur Landkarte im Kopf überlegen (wenn wir beispielsweise die kürzeste Route nach Boston, nach San Francisco und nach Atlanta bestimmen wollen). Wenn es mindestens einen positiven Pfad gibt, wie im Syllogismus mit den Künstlern, Imkern und Chemikern, dann kommt man wahrscheinlich zu der nicht richtigen Schlussfolgerung,dass es Künstler gibt,die Chemiker sind. Diese Arbeit wurde von Clement und Falmagne (1986) in einer interessanten Untersuchung fortgeführt, bei der
391 14.3 · Logik
Mögliche Anordnung der in den Problemen auf S. 387 erwähnten Stücke
das Weltwissen und die bildhafte Vorstellung mit dem logischen Schlussfolgern in Zusammenhang gebracht wurden. Im Wesentlichen variierten die Versuchsleiter die Bildhaftigkeit der Begriffe und die Verwandtschaft der konditionalen Aussagen in Syllogismen.Aus unseren Ausführungen zur bildhaften Vorstellung (Kap. 10) können Sie sich vielleicht noch daran erinnern, dass sich Wörter hinsichtlich ihrer Bildhaftigkeit unterscheiden (beispielsweise ist Bettler bildhafter als Kontext). Verwandtschaft bezieht sich darauf, wie leicht oder natürlich sich aus zwei Handlungen ein Zusammenhang bilden lässt.Ein Beispiel für eine Aussage, wie sie in einem sehr bildhaften logischen Syllogismus verwendet wurde, könnte Folgendes sein: »Wenn der Mann einfache Berliner haben möchte, dann …«. Dagegen könnte eine wenig bildhafte Aussage lauten: »Wenn die Frau die Struktur der Firma neu organisiert, dann …« Aussagen großer und geringer Verwandtschaft könnten sein: »Wenn der Mann einfache Berliner haben möchte, dann geht er zur Bäckerei auf der anderen Seite der Kreuzung« und »Wenn der Mann mit seinem Golden Retriever Gassi geht, dann macht ihn sein Insektenbiss verrückt«. Alle vier möglichen Kombinationen von Aussagen werden bei syllogistischen Problemen
verwendet (also: sehr bildhaft – stark miteinander verwandt,sehr bildhaft – wenig miteinander verwandt,wenig bildhaft – stark miteinander verwandt, wenig bildhaft – wenig miteinander verwandt). Clement und Falmagne fanden heraus, dass Syllogismen, bei denen die Aussagen sehr bildhaft und stark miteinander verwandt waren,signifikant besser gelöst wurden als die anderen Formen. Wenn man das als gegeben annimmt, was wir sowohl über die starken Effekte der Bildhaftigkeit und der Verwandtschaft bei der Bildung innerer Repräsentationen der Realität als auch über das oben erwähnte theoretische Modell von Johnson-Laird wissen, scheint dies eine logische Schlussfolgerung zu sein. Die Nützlichkeit von Diagrammen (wie etwa des Venn-Diagramms) und der bildhaften Vorstellung bei der Lösung logischer Probleme wurde außerdem noch von Bauer und Johnson-Lairdt (1993) gezeigt.Sie verwendeten komplizierte deduktive logische Probleme der folgenden Art: > Raphael ist in Tacoma oder Julia ist in Atlanta oder beides. Julia ist in Atlanta oder Paul ist in Philadelphia oder beides.
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Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
Stimmt die folgende Schlussfolgerung? > Julia ist in Atlanta oder Raphael ist in Tacoma und Paul ist in Philadelphia.
Wenn Sie so wie die meisten Versuchspersonen in der Untersuchung reagieren, dann werden Sie es als schwierig empfinden, dies auf seine Gültigkeit zu überprüfen.Versuchen Sie jetzt, das Problem mit Hilfe des Diagramms in ⊡ Abb. 14.3 zu visualisieren. Dieses Diagramm ist eine Art Straßenkarte, bei der die Versuchsperson von der linken zur rechten Seite wandern und auf dem Weg dorthin Formen (die für Menschen stehen) in die freien Steckplätze (die für Orte stehen) stecken muss.Wenn der Weg intakt ist, kann die Reise losgehen. Wenn Julia also in Atlanta ist, könnte der Verkehr durch dieses Gebiet fließen.Julia könnte in Atlanta oder in Seattle oder an keinem der beiden Orte sein. In einer Studie, die an der Stanford University durchgeführt wurde (Bauer & Johnson-Laird, 1993), fand man heraus, dass Studenten vor dem Vordiplom die gestellte Aufgabe schneller lösten und viel mehr gültige Schlussfolgerungen (etwa 30% mehr) zogen, wenn Probleme dieser Art in Diagrammform präsentiert, als wenn sie
nur verbal dargeboten wurden. Die wichtige Schlussfolgerung, die wir aus diesem Experiment ziehen können, lautet, dass logisch ungeübte Menschen – und das sind die meisten – dazu neigen, Schlussfolgerungen zu ziehen, indem sie Modelle von der Situation aufbauen oder Diagramme zeichnen,auf denen die Zusammenhänge klar erkennbar sind.Als man Sie beispielsweise in der Schule bat, das klassische Algebraproblem mit dem leckenden Eimer zu lösen (Sie wissen schon: der Eimer mit den drei Löchern, aus denen Wasser unterschiedlicher Menge herausfloss, während Sie versuchten ihn wieder zu füllen), zeichneten Sie da nicht ein Bild vom Eimer, den Löchern und dem Einfüllschlauch? Ich habe das jedenfalls gemacht. Die Forschung zu Syllogismen lieferte Hinweise darauf,dass Menschen dazu neigen,bei syllogistischen Problemen (und vermutlich auch bei weniger formalen Arten logischen Denkens) Schlussfolgerungen auf der Grundlage dessen zu ziehen, dass sie zunächst einmal innere Repräsentationen der Prämissen bilden – manchmal vorgestellte Repräsentationen. Sind diese inneren Repräsentationen erst einmal gebildet, ist es möglich, logisches Denken auf sie anzuwenden. Ist die Repräsentation (oder Heuristik) bei der Nachprüfung systematisch verzerrt (wie in »Alle Künstler sind Imker«), dann besteht die logische Überprüfung der Schlussfolgerung darin,dass man versucht Wege von den Prämissen zur Schlussfolgerung zu finden. Inhalt. Da es möglich ist, die Form des Arguments kon-
stant zu halten, während man den Inhalt variiert, war dies ein nützliches Mittel für die Analyse von Denkprozessen. Der Inhalt unseres Syllogismus vom Anfang war also: > Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.
Er lässt sich auswerten, indem man dieselbe Form mit einem anderen Inhalt verwendet:
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> Alle Menschen sind moralisch. Stalin ist ein Mensch. Also ist Stalin moralisch. ⊡ Abb. 14.3. Diagramm, das ein doppelt disjunktives Problem repräsentiert. Die Versuchspersonen wurden gebeten, einen Weg von links nach rechts zu vervollständigen, indem sie die Formen, die den Personen entsprechen, in die Steckplätze stecken. Daher könnte Julia in Atlanta oder in Seattle sein, aber nicht in beiden Städten. Aus Bauer und Johnson-Laird (1993)
Wenn die Prämissen dieser Syllogismen wahr sind, dann sind es die Schlussfolgerungen auch, obwohl die eine Schlussfolgerung vielleicht schwerer zu akzeptieren ist als die andere.
393 14.4 · Entscheidungen
Die Auswirkungen des Inhalts auf die beurteilte Geltung eines Arguments erinnern uns daran, dass der kognitive Prozess weder einfach noch resistent gegenüber dem beträchtlichen Einfluss des Wissens ist, das wir im Langzeitgedächtnis gespeichert haben.Im gesamten Buch haben wir immer wieder zahlreiche Beispiele dafür angeführt, wie diese Informationen die Qualität der Informationen beeinflussen (oft sogar bestimmen), die wahrgenommen, enkodiert, gespeichert und transformiert werden. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass die beurteilte Gültigkeit der syllogistischen Aussagen über etwas,das wir kennen,Ausdruck der im Langzeitgedächtnis gespeicherten Inhalte sein kann. Die Neigung,Schlussfolgerungen aus einem ungültigen Syllogismus zu akzeptieren, wenn sie mit der Einstellung des Urteilenden übereinstimmen, wurde von Janis und Frick (1943) untersucht. Im Experiment wurden Studenten nach dem Vordiplom gebeten, die Solidität der Argumente zu beurteilen. Dabei wurde Solidität definiert als »eine Schlussfolgerung, die logisch aus den Prämissen folgt«. Im Folgenden sind einige der verwendeten Items aufgeführt: > Viele Schlangen mit leuchtenden Farben sind giftig. Die Mokassinschlange hat keine leuchtenden Farben. Also ist die Mokassinschlange keine Giftschlange. Zweifellos gibt es Drogen, die giftig sind. Alle Biersorten enthalten die Droge Alkohol. Also gibt es Biersorten, die giftig sind. Alle giftigen Sachen sind bitter. Arsen ist nicht bitter. Also ist Arsen nicht giftig.
Nachdem die Versuchspersonen zu jedem der Syllogismen ihre Zustimmung oder Ablehnung bekundet hatten, wurden sie gebeten, die Schlussfolgerung noch einmal zu lesen und anzugeben, ob sie ihr zustimmten oder ob sie sie ablehnten.Die Ergebnisse deuten darauf hin,dass die Versuchspersonen gewöhnlich Fehler in Richtung auf eine systematische Verzerrung der Schlussfolgerung machten. Somit scheint unter bestimmten Umständen der Gemeinplatz »Bring mich nicht mit den Tatsachen durcheinander – ich habe mich schon entschieden« auf manche Menschen zuzutrifft. Es gibt mehrere Arten, bei einer »logischen Deduktion« Fehler zu machen. Wir werden uns mit einigen davon beschäftigen.
14.4
Entscheidungen
Im vorigen Abschnitt haben wir eine Art von schlussfolgerndem Denken behandelt, bei dem Schlussfolgerungen mit Hilfe eines Prozesses deduktiver Logik als gültig nachgewiesen werden konnten.Wenn die Prämissen eines Syllogismus wahr sind und die Form korrekt ist, dann ist bei dieser Form die Schlussfolgerung eines Arguments gültig – das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass die Schlussfolgerung korrekt ist, ist gleich eins.
14.4.1
Induktives Schließen
Eine weitere Form des Schlussfolgerns wird als induktives Schließen bezeichnet. Dabei wird eine Schlussfolgerung gewöhnlich implizit oder explizit in Form einer Wahrscheinlichkeitsaussage ausgedrückt. Im täglichen Leben treffen wir Entscheidungen gewöhnlich weniger infolge eines wohl bedachten syllogistischen Paradigmas als vielmehr mit Hilfe des induktiven Schließens. Dabei beruhen Entscheidungen auf vergangenen Erfahrungen und Schlussfolgerungen auf dem, was wir als die beste Wahlmöglichkeit aus einer Anzahl möglicher Alternativen wahrnehmen. Schauen Sie sich einmal die folgenden Aussagen an: > Wenn ich mir für eine Woche einen Aushilfsjob in der Bibliothek suche, bekomme ich genug Geld, um am Sonnabend Ski fahren zu gehen. Ich werde für eine Woche einen Aushilfsjob in der Bibliothek annehmen. Also habe ich genug Geld, um Ski fahren zu gehen.
Das oben angeführte Argument ist deduktiv gültig. Nehmen Sie jetzt einmal an, die zweite Aussage lautete: »Ich nehme keinen Aushilfsjob für eine Woche in der Bibliothek an.« Dann wäre die Schlussfolgerung »Ich werde nicht genügend Geld zum Skifahren haben« unter den einschränkenden Bedingungen der syllogistischen Logik wahr. Doch das trifft nicht notwendigerweise auf das reale Leben zu. Beispielsweise könnte Ihr schwerreicher Onkel Harry Ihnen etwas Geld schicken. Das Urteil, ob eine Schlussfolgerung, die auf induktivem Schließen beruht, gilt, kann auf anderen Überlegungen basieren als auf der strukturellen Form eines Arguments. Im gerade erwähnten Fall könnte sie auf der Wahrscheinlichkeit beruhen, dass Onkel Harry ein Geldgeschenk schickt, oder auf an-
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394
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
deren Möglichkeiten, dass bald irgendwelche Finanzquellen sprudeln werden. Diese Art von Entscheidung spielt sich täglich ab und ist vor kurzem innerhalb der kognitiven Psychologie in den Fokus der prozessorientierten Forschung gerückt. Beim Beispiel für eine Entscheidung, die auf induktivem Schließen beruht, geht es um etwas, womit eine amerikanische Studentin vielleicht konfrontiert wird,wenn sie sich für eine Universität entscheiden muss. Lassen Sie uns annehmen, dass sie eine Zulassung für vier Hochschulen bekommt: eine große private Universität (S), eine kleine private Hochschule (T), eine mittelgroße staatliche Universität (N) und eine große staatliche Universität (A).Wie könnte die Studentin vorgehen, wenn sie sich entscheiden muss, an welcher Hochschule sie sich einschreiben soll? Eine Methode bestünde darin,jede einzelne Entscheidung im Hinblick auf ihren relativen Wert bezogen auf die einschlägigen Kriterien zu beurteilen. Zu den wichtigen Kriterien könnten gehören: (1) Qualität der Lehre, (2) Kosten, (3) Nähe zur Heimatstadt, (4) soziales Leben und (5) Prestige. Jeder einzelnen Dimension wird ein Wert zwischen 0 und 10 zugewiesen.
1. Lehre 2. Kosten 3. Nähe 4. Soziales Leben 5. Prestige Gesamtwert
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Universität S 9 2 4 8
Hochschule T 7 3 7 7
Universität N 6 9 8 3
Universität A 7 7 3 5
9 32
10 34
3 29
4 26
Wenn all diese Faktoren für ihre Entscheidung gleich wichtig wären und wenn die Werte genau zugewiesen würden, dann fiele ihre Wahl auf eine kleine private Hochschule. Eine Entscheidung, die auf einer bestimmten Strukturierung der Faktoren beruht,kann eine praktische Möglichkeit sein, das Problem zu lösen. Wie man jedoch leicht aus dem Beispiel der Entscheidung für eine Hochschule ableiten kann, sind eindeutige Urteile bei realen Problemen gar nicht so einfach zu fällen. In vielen Situationen lässt sich die Eigenart des Problems nicht mit einer mathematischen Auswertung vereinbaren. Tversky (1972) behauptet, dass wir bei Entscheidungen Alternativen so auswählen, indem wir nach und nach die weniger attraktiven Auswahlmöglichkeiten eliminieren.Er nannte dieses Konzept die Eliminierung nach
Aspekten, da er vom Individuum annimmt, dass es zuerst die weniger attraktiven Alternativen aufgrund einer sequenziellen Auswertung der Eigenschaften oder Aspekte der Alternativen eliminiert.Wenn einige Alternativen dem Minimalkriterium nicht gerecht werden, dann werden diese Alternativen aus der Menge der Auswahlmöglichkeiten eliminiert.
14.4.2
Entscheidungen in der »realen Welt«
Wenn die Welt nur so vernünftig wie die rationale Logik von Sokrates wäre, könnten Sie lamentieren, würden all unsere Probleme vom Erdboden verschwinden. Wahrscheinlich haben Sie sich schon einmal heftig mit jemand anders gestritten und hatten das Gefühl,sagen zu müssen: »Komm auf den Boden der Realität zurück« (damit wollten Sie eigentlich sagen: »Stimm mit mir überein – egal, wofür die Logik oder die Tatsachen sprechen.«). Obwohl man nicht alle Streitereien auf einer objektiven Basis beilegen kann, ist es doch möglich, verbale Streitereien so zu analysieren, dass wir uns zumindest besser über die Bestandteile eines Streits im Klaren sind. Argumentationsdialoge. In der realen Welt,in der wir alle
leben, nehmen wir häufig an Unterhaltungen oder verbalen Dialogen teil, zu denen auch eine Argumentation gehören kann. Es stellt vielleicht jemand eine Behauptung auf: »Professor Solso, wir würden gerne eine schriftliche Abschlussprüfung machen, die wir mit nach Hause nehmen können.« Darauf folgt vielleicht eine Bitte um Klärung: »Warum ist eine Klausur, die man mit nach Hause nehmen kann, besser als eine reguläre Klausur?« Darauf folgt eine Rechtfertigung: »Weil Menschen in der realen Welt Zugang zu einer Vielfalt von Material haben, das dabei hilft,Fragen zu beantworten – so etwa das Internet,Bücher, Notizen und Ähnliches.« Und danach kommt eine Widerlegung: »Aber auch in der realen Welt muss man gespeichertes Wissen anwenden, um Fragen sofort zu beantworten. Wir werden die Abschlussprüfung so machen wie angekündigt.« Dieses Szenario ist typisch für Dutzende kleiner Streitereien, die Menschen täglich miteinander haben. Welches sind die grundlegenden Komponenten von Schlussfolgerungsdialogen? Eine Methode, wie man ein Argument zergliedern kann, besteht darin, die grundlegenden strukturellen Komponenten zu identifizieren, wie dies Rips und seine
395 14.4 · Entscheidungen
Mitarbeiter gemacht haben (Rips, 1998; Rips, Brem & Bailenson, 1999). Schauen Sie sich einmal die beiden Argumente an, die in ⊡ Abb. 14.4 dargestellt sind: Das erste stammt aus dem Prozess gegen O.J. Simpson vor einigen Jahren und das andere von zwei Kindern. Glücklicherweise lassen sich viele Streitereien freundschaftlich lösen – einige lassen sich jedoch nicht so leicht beilegen. Die Komponenten argumentativer Dialoge bestehen aus Behauptungen, manchmal gefolgt von Konzessionen,Bitten um eine Rechtfertigung oder Gegenbeweise. Auf Gegenbeweise können Konzessionen oder erneute Beweise folgen usw. Eine Möglichkeit, die Komplexität eines Streits zu veranschaulichen, ist in der Graphik von ⊡ Abb. 14.5 dargestellt. Aus dieser Darstellung können wir ersehen, dass es möglich ist,Argumente und Unterargumente in ihre logischen Komponenten aufzugliedern. Beispielsweise folgt auf die erste Behauptung von Mr. Kelly ein Einwand, der aus einer Bitte um Rechtfertigung besteht (»Welches ist Ihre Begründung dafür?«) und auf den eine damit zusammenhängende Rechtfertigung folgt (»Sie hat das gegenüber ihrer Mutter gesagt …«) Die Forscher wiesen auf Folgendes hin:An diesem Beispiel sei wichtig,dass der Richter (»Die Begründung ist völlig unangemessen«) deswegen auf die Behauptung – den Anfang eines neuen Unterarguments – mit einem erfolgreichen Gegenbeweis (Pollock, 1998) entgegnen kann. Der gleiche allgemeine
⊡ Abb. 14.4. Zwei Beispiele für argumentative Dialoge
analytische Ansatz lässt sich auch auf die Dialoge unter Kindern sowie auf die meisten anderen Unterhaltungen in der realen Welt anwenden.Lassen Sie uns nun auf eine andere Art und Weise kommen,wie sich Menschen als für die logische Analyse unfähig erweisen. Die Vergegenständlichungsfalle. Zu vergegenständlichen heißt, anzunehmen, dass etwas real ist, wenn es doch vielleicht eigentlich nur hypothetisch oder metaphorisch ist. Beispielsweise sagte mir ein Student, der Schwierigkeiten damit hatte, seine Abschlussprüfung zu machen: »Diese Universität möchte mir einfach keinen Abschluss geben!« Er machte die Annahme, dass die Universität handelte, wie es ein Individuum macht. Dabei tat die Universität in Wahrheit gar nichts. Möglicherweise wollte ihm die Betreuerin seiner Examensarbeit nicht die Möglichkeit für einen Abschluss geben (vielleicht aus guten Gründen). Demagogische Politiker, Unruhestifter, Anarchisten und kleine Paranoiker vergegenständlichen Ideen häufig durch solche Ausdrucksweisen wie die Regierung, die Zeitungen, die Gewerkschaften, die Republikaner, die Demokraten, die Großindustrie und sogar die Natur oder die Götter.
Wir haben es hier mit einem Versagen der Kommunikation zu tun. Aus dem Film »Cool Hand Luke«
Ad hominem und persönliche Argumente. Argumente ad hominem sind jene, die stärker auf den Charakter einer Person zielen als auf die Substanz eines Arguments. Amerikanische Politiker sind gute Beispiele dafür.Ein Kandidat stellt vielleicht gut begründete Ideen dar, wird aber nicht wegen seiner Ideen, sondern aus moralischen Gründen wegen seines Charakters abgelehnt. Gutachter im wissenschaftlichen Bereich – ob es nun um Gutachten über Bücher oder über Artikel geht oder um eine Berufungskommission – werden darauf hingewiesen, dass sie bei ihren Bewertungen Ad-hominem-Argumente vermeiden sollen. Wenden Sie sich gegen den Grundgedanken, nicht gegen die Person – das ist auch ein guter Rat für den Alltag. Mit Ad-hominem-Argumenten hängen auch jene zusammen, die im Sinne einer individuellen Erfahrung oder des Wissens über eine individuelle Erfahrung Gültigkeit beanspruchen. Diese persönlichen Argumente scheinen sich überall im nicht wissenschaftlichen Bereich zu fin-
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396
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
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⊡ Abb. 14.5. Diagrammartige Auswertung der in ⊡ Abb. 14.4 aufgeführten Dialoge. Rips, L. J., Brem, S. K. & Bailenson, J. N. (1999). Reasoning dialogues. Current Directions in Psychological Science, 8, 172–177
397 14.4 · Entscheidungen
den, aber auch in alarmierendem Maße bei Studierenden. Wenn man ein solches Argument auf seine Gültigkeit überprüfen will, so besteht der Kern darin, dass »es wahr ist, weil es mir … oder meinem Großonkel … oder meinem Professor passiert ist«.Dem wissenschaftlichen Fortschritt wird durch keines der Argumente dieser Art ein Dienst erwiesen. Argumente, die sich auf Kraft und Stärke berufen. Ein Beispiel für die Berufung auf Stärke als Begründung für ein Argument könnte sein: »Die Vereinigten Staaten haben das Recht, im Irak zu intervenieren, weil sie eine starke und moralische Nation sind.« Stärke und Moralität können Tugenden sein, aber sie haben eigentlich nichts mit Verträgen und den Souveränitätsrechten einer Nation zu tun.Dennoch ist es nur allzu »menschlich«,zu solchen Argumenten Zuflucht zu nehmen. Berufung auf Autorität und/oder den guten Ruf. Ein ver-
breiteter logischer Fehler wird von jenen begangen, die sich durch Autoritäten und/oder durch einen auf einem Gebiet bekannten Menschen beeindrucken lassen, wenn sie Aussagen über einen anderen machen. Diese Praxis ist in der Werbung verbreitet. Dabei werden Sportler, Filmstars, Tänzer und Sänger dazu eingesetzt, Produkte zu unterstützen,über die sie praktisch kein Spezialwissen haben. Besonders heimtückisch und für einen Akademiker regelrecht anstößig ist es, wenn Wissenschaftler wie etwa Nobelpreisträger Erklärungen zu Themen abgeben, die nichts mit ihrem Fachgebiet zu tun haben. Die Mehrheit muss Recht haben. Hier lautet das Argu-
ment, dass, wenn die meisten Menschen etwas Bestimmtes tun, sie schon Recht haben müssen. »Zehn Millionen Amerikaner verwenden den Deostick von ›Zapo‹, deshalb muss er gut sein« – das ist der Kern des Arguments. Das Strohmann-Argument. Die Strohmann-Technik besteht darin,ein schwaches Argument vorzubringen und zu sagen, es stamme von einer anderen Person, so dass sie es dann niedermachen können. Bisweilen ist diese Argumentation eine Karikatur einer vernünftigeren Position, die von einer anderen Person eingenommen wird. Ich bezeichne das Strohmann-Argument auch manchmal als das Blitzableiterargument, weil ein hervorstechendes Merkmal isoliert dargestellt und hervorgehoben wird. Dabei wird die Hauptstoßrichtung des Arguments umgeleitet. Wenn Sie etwa über die Entwicklungshilfe für die Philippinen diskutieren,entwickeln Sie einen wohl begründeten
Standpunkt,der eine Vielfalt sozioökonomischer Faktoren berücksichtigt. Dazu könnte als Nebenpunkt die Notwendigkeit gehören, wild in den Bergen des Landes lebende Tiere zu retten. Ihr Gegenspieler greift ihre gesamte Argumentation an, indem er endlose Statistiken anführt, die zeigen, dass dem Luzon-Baumhörnchen eigentlich üppige Nahrungsmittelreserven zur Verfügung stehen. Der Strohmann-Ansatz kann durchaus seine Wirkung entfalten, vor allem bei nicht allzu kritischen Menschen. Andere hingegen sehen ihn treffenderweise als Grundlage für den Rohstoff an,den man gewöhnlich im Kuhstall auf dem Boden findet.
14.4.3
Schlussfolgern und das Gehirn
Die wissenschaftliche Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Gehirn einerseits und dem Schlussfolgern und dem Denken andererseits war herkömmlicherweise die Domäne von Neurologen (die sich auf kranke Patienten konzentrierten) und sie ist erst seit kurzem die der kognitiven Neuropsychologen (die sich auf Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bei gesunden Patienten konzentrierten). Die Literatur ist voller Veröffentlichungen über beide Arten von Untersuchungen. Wir können hier jedoch nur eine Auswahl darstellen. Zur ersten Kategorie: In der Neurologie wurden eine Reihe diagnostischer Tests entwickelt, die als Bestandteil einer neurologischen Anamnese durchgeführt werden können.Bei einem dieser Tests – der Wisconsin Card Sorting Task – werden Patienten gebeten, Karten nacheinander so zu sortieren, dass sie sie unter eine von vier Zielkarten legen können (⊡ Abb. 14.6). Die Aufgabe ähnelt der zuvor in diesem Kapitel beschriebenen Aufgabe zu Begriffsbildung. Die betreffende Person wird nicht über die Sortierregeln informiert, also ob sie die Karten aufgrund von Farbe, Form oder Zahl sortieren soll. Sie muss mit Hilfe der Rückmeldung des Testleiters von selbst auf die Regeln kommen. Er sagt »richtig«, wenn die Karte nach einer vorher festgelegten Regel sortiert wurde, oder »falsch«, wenn die Karte gemäß denselben Regeln inkorrekt sortiert wurde. Nachdem die Versuchsperson gelernt hat, nach einer Regel zu sortieren, werden die Spielregeln verändert. Ohne dass die betreffende Person informiert wird, richtet sich die Sortierung nun nach einem anderen Satz von Regeln. Dieser Test wurde so entworfen,damit man erkennt,ob eine Person erstens die anfängliche Regel zur Begriffsbil-
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398
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
⊡ Abb. 14.6. Patienten mit einer Schädigung des lateralen frontalen Kortex haben Schwierigkeiten bei einer Aufgabe zur Begriffsbildung wie etwa der Wisconsin Card Sorting Task. Im Bild legt die Patientin die oberste Karte im Stapel neben eine der vier Zielkarten. Der Versuchsleiter sagt »ja«, wenn die Karte an die richtige Stelle gelegt wurde, und »falsch«, wenn sie an die falsche Stelle gelegt wurde. Durch Versuch und Irrtum lernen die meisten normalen Versuchspersonen die Sortierregel. Die Aufgabe wird trickreich, wenn die Versuchsperson eine Sortierregel gelernt haben und die Regel sich dann ändert
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dung herausfinden kann und ob sie zweitens flexibel genug ist,eine zuvor verstärkte Regel zu verwerfen und eine neue zu finden. Normale Versuchspersonen zeigen bei dieser Aufgabe eine recht gute Leistung und Studierende beispielsweise lernen nicht nur die erste Regel, sondern sind auch flexibel genug in ihrem Denken, um »einen anderen Gang einzulegen« und die zweite Sortierregeln zu lernen. Patienten mit Läsionen im Frontallappen zeigen jedoch bei dieser Aufgabe keine gute Leistung. Patienten mit beidseitigen frontalen Läsionen haben große Probleme, insbesondere wenn die Regel bei der Aufgabe gewechselt wird. Diese Patienten neigen dazu,zu perseverieren und die Sortierung nach der alten Regel fortzusetzen. Das Perseverieren ist ein verbereitetes Symptom beim Frontalhirnsyndrom. Hier handelt es sich nur um ein Beispiel für die Art von Untersuchungen zum Schlussfolgern, die dazu ver-
wendet werden,eine Diagnose bei Patienten zu stellen,von denen man annimmt, dass sie einen Hirnschaden haben. Es wird nicht angezweifelt, dass das Gehirn ein Instrument zum Denken und Schlussfolgern ist. Es bleiben aber ernsthafte Fragen dahingehend, welche Teile des Gehirns am Denkprozess beteiligt sind und wie die Neuropsychologie des Denkens vonstatten geht. Zu wissen, wie das Gehirn agiert, wenn wir Schlüsse ziehen und denken, ist ein fundamentales Thema der derzeitigen neueren Psychologie.Hier wird das uralte philosophische Problem angesprochen, ob Schlussfolgern von seiner Eigenart her ausschließlich etwas Verbales ist. Wenn Sie sich beim Lösen des Problems, bei dem es um die Lage von Gabel und Löffel ging und das weiter vorne in diesem Kapitel auftauchte, allein auf die Sprache verließen, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, dann könnten wir (logischerweise) erwarten, dass die linke Hirnhälfte primär daran beteiligt ist und dass die Aktivität in der rechten Hirnhälfte minimal wäre. Wenn Sie umgekehrt das Problem so lösten, dass Sie Modelle innerhalb einer strukturellen Repräsentation konstruierten – und im Endeffekt nicht verbale Techniken verwendeten –, bei denen Sie sich die Lage der Items bildhaft vorstellten, dann wäre die linke Hirnhälfte nur minimal beteiligt und die rechte Hirnhälfte wäre der primäre Ort für diese Prozesse. Die neuropsychologischen Befunde sprechen für diese allgemeine Schlussfolgerung, die auch durch die Theorie gestützt wird, nach der nicht verbales Schlussfolgern durchaus vorstellbar ist. In einer Untersuchung (Caramazza et al., 1976) hatten Patienten mit einer Schädigung der rechten Hirnhälfte Schwierigkeiten, bei einfachen deduktiven Problemen Schlussfolgerungen zu ziehen, wie etwa bei: > Melanie ist größer als Anna. Wer ist kleiner?
Und sie zeigten im Vergleich zur Kontrollgruppe schlechtere Leistungen bei komplexeren Problemen wie: > Thilo ist größer als Jens. Jens ist größer als Stefan. Wer ist der kleinste?
Nach Studien zum konditionalen Schlussfolgern wurden mehrere Forschungsarbeiten (Whitaker et al., 1991) über die Problemlösefähigkeit von hirngeschädigten Patienten vorgelegt. In einer Studie wurden zwei Gruppen von Pa-
399 14.4 · Entscheidungen
tienten untersucht, die sich einer hirnchirurgischen Maßnahme unterzogen hatten (einer einseitigen anterioren temporalen Lobektomie zu dem Zweck, die Symptome einer Epilepsie zu lindern).Bei einer Gruppe führte man die Operation an der rechten Hirnhälfte durch, bei der anderen an der linken. Jene mit Läsionen in der rechten Hirnhälfte zeigten schlechtere Leistungen beim Schlussfolgern. Dabei verwendeten sie im Vergleich zu denen mit einem Schaden in der linken Hirnhälfte verstärkt falsche konditionale Prämissen. Nehmen wir einmal die folgende konditionale Prämisse: > Wenn es regnet, werden die Straßen trocken sein. Es regnet.
Die Gruppe mit dem Schaden in der rechten Hirnhälfte neigte zu der Schlussfolgerung: > Die Straßen werden nass sein.
Obwohl dies nach dem allgemeinen Schema zu dem, was wir über Regen und nasse Straßen wissen, wahr ist, ist es trotzdem ungültig, wenn man die Prämisse als gegeben annimmt. Somit sind Patienten, die einige Funktionen ihrer rechten Hirnhälfte verloren haben, anscheinend nicht in der Lage, bei einem logischen Problem, das auf einer falschen Prämisse beruht, die richtige Antwort abzuleiten. Obwohl der »Ort« des Schlussfolgerns im Gehirn noch für einige Zeit untersucht werden wird und es wahrscheinlich ist, dass man über die verschiedenen kortikalen Zentren noch viel mehr herausfinden wird, gehen diese Forschungen möglicherweise von der falschen Voraussetzung aus – nämlich der, dass die folgende, sogar noch bedeutsamere Frage beantwortet ist: Wie läuft der Denkprozess ab?
14.4.4
Schätzung von Wahrscheinlichkeiten
Ob wir es nun erkennen oder nicht, die meisten Entscheidungen hängen mit einer Schätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit zusammen. Wir planen ein Picknick, wenn wir meinen, dass die Sonne scheinen wird. Wir schreiben uns in einem Kurs über kognitive Psychologie ein, wenn wir erwarten, dass damit bestimmte Belohnungen verbunden sind. Wir treffen beim 17 und 4 die Entscheidung, es bei einem Punktestand von 14 zu belassen,wenn der an-
dere Spieler eine 6 als »oberste« Karte zeigt. Wir nehmen einen Schirm mit, wenn wir Wolken am Himmel sehen. Oder wir schließen eine Reiseversicherung ab (oder auch nicht), bevor wir ein Flugzeug besteigen. In einigen Fällen lässt sich die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses auf einer mathematischen Grundlage berechnen, während andere Ereignisse nur aufgrund unserer Vorerfahrung bestimmt werden können.Vermutlich glauben wir, dass wir unter diesen Umständen rational handeln, weil unsere Entscheidungen grob auf mathematischen Wahrscheinlichkeiten beruhen. Aber wie genau sind unsere Schätzungen? Oder mit anderen Worten: Wie können wir so dumm handeln, wenn wir doch glauben, wir handelten so rational? Der nächste Abschnitt wird vielleicht etwas zur Klärung dieser Frage beitragen. In einer Reihe von Untersuchungen haben sich Tversky und Kahneman (1973, 1981; Kahneman & Tversky, 1983, 1984; Kahneman & Miller, 1986) genauer mit der Art und Weise beschäftigt, wie Menschen manchmal zu einer fehlerhaften Schlussfolgerung kommen, wenn ihre Entscheidungen auf Vorerfahrungen beruhen. In einem Experiment (1974) stellten sie Fragen wie etwa die folgenden: > Gibt es in der englischen Sprache mehr Wörter, die mit K anfangen, als solche, die K als dritten Buchstaben haben? Welches ist die wahrscheinlichere Todesursache – Brustkrebs oder Diabetes? Wenn eine Familie drei Jungen und drei Mädchen hat, welche Abfolge der Geburten ist wahrscheinlicher – J J J M M M oder J M M J M J?
Auf alle oben aufgeführten Fragen gibt es tatsächlich Antworten. Dennoch ist die Intuition der Menschen oder ihre auf dem Raten beruhende Schätzung im Allgemeinen falsch. Wenn man beispielsweise die Frage nach dem Vorkommen des Buchstabens K stellt, sagen mehr Leute, dass häufiger ein Wort mit K anfängt, als dass K an der dritten Stelle ist. Dies ist aber faktisch nicht so. Warum kommen Menschen bei diesen Ereignissen zu Fehlurteilen? Nach Tversky und Kahneman versuchen sie, wenn man sie mit dieser Frage konfrontiert, Wörter zu generieren, die mit dem Buchstaben K anfangen, und versuchen sich dann Wörter mit K an der dritten Stelle auszudenken.Wenn Sie dies selbst einmal versuchen, werden Sie sehen, warum sich die Menschen bei diesem Problem irren. Wir neigen dazu, die Häufigkeiten von Anfangsbuchstaben zu überschätzen, weil uns die Wörter, die sich mit ihnen generieren lassen,leichter zur Verfügung stehen als die Wörter mit
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400
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
Amos Tversky (links, 1935–1996) und Daniel Kahneman entdeckten Strategien, die Menschen beim Lösen alltäglicher Probleme verwenden
demselben Buchstaben an der dritten Stelle.Anscheinend werden Schätzungen für Buchstabenwahrscheinlichkeiten aus einer Verallgemeinerung abgeleitet. Diese beruht auf einer sehr begrenzten Stichprobe verfügbarer Wörter, die sich generieren lassen. Dieser Grundgedanke wurde in einem Experiment von Tversky und Kahneman (1973) überprüft, bei dem die Versuchspersonen eine Liste von 39 Namen sehr bekannter Persönlichkeiten lesen sollten. Eine Liste enthielt etwa die gleiche Anzahl von Männern und Frauen (19 Männer und 20 Frauen), aber die Frauen waren berühmter als die Männer. Bei einer anderen Liste war dies umgekehrt: Sie enthielt mehr berühmte Männer als berühmte Frauen. Dann wurden die Versuchspersonen gefragt, ob die Liste mehr Männer oder mehr Frauen enthielt.In beiden Fällen überschätzten die Versuchspersonen die Häufigkeit des Geschlechts, das berühmter war, in starkem Maße. Der
Grund für dieses Verhalten – das der Tatsache widersprach, dass die Häufigkeiten nahezu gleich waren – bestand darin, dass die Namen der berühmten Personen leichter verfügbar waren. Andere Forscher haben die Verfügbarkeitshypothese dazu verwendet, um Fehler bei der Schätzung im »Alltags«wissen zu erklären.Bei einer Studie von Slovic,Fischhoff und Lichtenstein (1977) wurden die Befragten gebeten, die relative Wahrscheinlichkeit von 41 Todesursachen zu schätzen. Man gab den Versuchspersonen jeweils zwei Todesursachen vor und bat sie, zu beurteilen, welche mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Tode führen würde. Die Wahlmöglichkeiten, die zu schwerwiegendsten Fehlurteilen führten, waren Todesursachen, die häufiger von den Medien behandelt wurden. Beispielsweise wurden Verkehrsunfälle,Krebs,Lebensmittelvergiftung durch Botulinus-Bazillen und Tornados als häufige Todesursachen eingestuft. Die Autoren schlossen daraus, dass diese Todesfälle,über die in den Medien häufig berichtet wird,leichter zur Verfügung stehen als solche, die seltener in den Medien behandelt werden.
14.4.5
Rahmung einer Entscheidung
Eine Rahmung einer Entscheidung ist nach Tversky und Kahneman (1981) die »Konzeption [eines Entscheiders] über die Handlungen, Handlungsergebnisse und Kontingenzen, die mit einer bestimmten Wahlmöglichkeit verbunden ist«. Eine Rahmung, die sich jemand zu Eigen
Kritisch hinterfragt: Wie rational sind Ihre Entscheidungen?
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Welches ist Ihrer Einschätzung nach die beste Antwort auf die folgenden Fragen? 1. Jens, ein großer, schlanker, nicht athletischer 36-Jähriger wurde von einem Nachbarn als etwas scheu, vergeistigt und in sich gekehrt beschrieben. Er ist hilfsbereit, sauber und braucht Ordnung und Struktur. Ist Jens eher ein Verkäufer oder eher ein Bibliothekar? 2. Nehmen wir an, Sie befinden sich in einer der Spielhöllen von Las Vegas. (A) Gestern Abend haben sie 1000,– € an einem einarmigen Banditen gewonnen. Werden Sie morgen mehr als gewöhnlich einsetzen? (B) Gestern Abend haben Sie entdeckt, dass sich
1000,– € mehr auf Ihrem Bankkonto befinden, als Sie dachten. Werden Sie morgen mehr als gewöhnlich einsetzen? 3. (A) Sie gehen in einen Laden, um einen tragbaren Kassettenrekorder mit Radio zu kaufen. Er kostet 50,– €. Da sehen Sie eine Anzeige für den gleichen Artikel in einem Laden zehn Straßen weiter, der nur 25,– € kostet – was für ein Schnäppchen! (B) Sie gehen in einen Laden, um einen Computer zu kaufen, der 2545,– € kostet. Den gleichen Computer kann man in einem Laden zehn Straßen weiter für 2520,– € kaufen. Macht es Ihnen etwas aus, in den anderen Laden zu gehen? Die Lösungen finden sich am Ende dieses Kapitels.
401 14.4 · Entscheidungen
macht, der gerade dabei ist, eine Entscheidung zu fällen, wird gesteuert durch die Formulierung des Problems,aber auch durch die Normen, Gewohnheiten und persönlichen Charakteristika der Person. Die Autoren dieses Konzepts haben klar nachgewiesen,wie wirksam eine Rahmung dabei sein kann, die Schlussfolgerung zu bestimmen, auf die Personen kommen,denen man im Wesentlichen dieselben Fakten präsentiert, nur in unterschiedlichen Kontexten. Der Effekt unterschiedlicher Rahmungen zeigt sich an folgendem Beispiel: > Problem 1 (N = 152): Die Versuchspersonen sollten sich vorstellen, die Vereinigten Staaten bereiteten sich auf den Ausbruch einer ungewöhnlichen asiatischen Krankheit vor, von der man erwartet, dass 600 Menschen daran sterben würden. Zur Bekämpfung der Krankheit wurden zwei Alternativprogramme vorgeschlagen. Die genauen wissenschaftlichen Schätzungen der Konsequenzen der Programme sollten die folgenden sein: Entscheidet man sich für Programm A, werden 200 Menschen gerettet. Entscheidet man sich für Programm B, besteht eine Wahrscheinlichkeit von einem Drittel, dass 600 Menschen gerettet werden, und von zwei Dritteln, dass niemand gerettet wird. Die Versuchspersonen wurden nun gebeten, sich für eins der beiden Programme zu entscheiden.
Bei diesen Wahlmöglichkeiten wählte die Mehrheit Programm A aus (72%),während sich nur 28% für Programm B entschieden. Die Aussicht, 200 Menschen das Leben zu retten, ist attraktiver als die riskantere Alternative. Statistisch gesehen wird jedoch bei beiden Alternativen genauso vielen Menschen das Leben gerettet. Einer weiteren Gruppe von Versuchspersonen legte man die folgende umformulierte Variante des gleichen Problems vor: > Problem 2 (N = 155): Denken Sie daran, dass 200 Menschen gerettet werden, wenn Sie sich für Programm A entscheiden. Wenn Sie sich für Programm B entscheiden, beträgt die Wahrscheinlichkeit ein Drittel, dass niemand stirbt, und zwei Drittel, dass 600 Menschen sterben. Für welches der beiden Programme wären Sie?
Bei dieser Rahmung wählte die Mehrheit (78%) die riskante Vorgehensweise: Der sichere Tod von 400 Menschen ist weniger leicht hinnehmbar (72% wählten dieses Pro-
gramm) als eine Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln, dass 600 sterben werden. Diese Probleme zeigen anschaulich, wie der Einfluss der Rahmung einer Frage zu unterschiedlichen Entscheidungen führt, auch wenn die Wahrscheinlichkeiten die gleichen sind. Im Allgemeinen werden Entscheidungen, bei denen es zu Gewinnen kommt, als Risikoabwehr angesehen, während Entscheidungen, bei denen es zu Verlusten kommt, als riskant wahrgenommen werden. Im Folgenden finden Sie ein weiteres Beispiel für Rahmung, bei dem es sich vielleicht um ein realistischeres Problem handelt als das gerade erörterte: > Problem A (N = 183): Die Versuchspersonen sollten sich vorstellen, dass sie sich dafür entschieden hätten, sich ein Theaterstück anzusehen, für das die Theaterkarte 10,– € kostet. Auf dem Weg zum Theater würden Sie nun entdecken, dass sie einen Zehn-Euro-Schein verloren haben. Die Frage an die Versuchspersonen lautete: Würden Sie immer noch 10,– € für eine Theaterkarte bezahlen?
Die Anzahl derer, die mit »Ja« antworteten, betrug 88%. > Problem B (N = 200): Man bat die Versuchspersonen, sich vorzustellen, sie hätten sich dafür entschieden, ein Theaterstück anzusehen, und sie hätten eine Karte für 10,– € gekauft. Auf dem Weg zum Theater entdecken sie, dass sie die Theaterkarte verloren haben. Die Sitze sind nicht nummeriert und sie bekommen keine Ersatzkarte ausgestellt. Jetzt hieß die Frage: Würden Sie noch einmal 10,– € für eine neue Theaterkarte bezahlen?
46% antworteten auf die umformulierte Variante mit »Ja«. In beiden Fällen haben die Versuchspersonen am Ende 10,– € weniger. Im ersten Fall jedoch würden etwa doppelt so viele Menschen, die mit diesem Problem konfrontiert sind, eine Theaterkarte kaufen als in der zweiten Variante, obwohl der verlorene Geldbetrag gleich ist. Die Rahmung einer Frage kann auch dazu eingesetzt werden, eine wünschenswerte Antwort zu bekommen. Dies erinnert mich an folgende Geschichte: Der junge Bruder Gregor war erst seit ein paar Tagen im Kloster,als er den Abt unschuldig fragte,ob es in Ordnung wäre, zu rauchen, während er seine Gebete aufsagte. »Natürlich nicht«, war die Antwort. Eine Woche später fragte der junge Bruder den Abt: »Darf ich beten, während ich rauche?«
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402
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
14.4.6
Repräsentativität
Schätzungen der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses werden nicht nur dadurch beeinflusst, ob ein Ereignis kognitiv verfügbar ist, sondern auch dadurch, als wie repräsentativ ein Ereignis eingeschätzt wird, d.h., in welchem Maße es die grundlegenden Eigenschaften seiner Klasse repräsentiert. Sehen Sie sich einmal das folgende Beispiel aus einer Studie von Kahneman und Tversky (1972) an: > In jeder Runde eines Spiels werden 20 Murmeln zufällig unter fünf Kindern aufgeteilt: Alan, Ben, Carl, Dan und Ed. Im Folgenden finden Sie die Verteilung: I II Alan 4 Alan 4 Ben 4 Ben 4 Carl 5 Carl 4 Dan 4 Dan 4 Ed 3 Ed 4 Wenn die Kinder über mehrere Runden spielen, wird es dann mehr Ergebnisse vom Typ I oder vom Typ II geben?
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Wie lautet Ihre Antwort? Wenn Sie Typ I ausgewählt haben, stimmt Ihre Antwort mit der Mehrheit der Versuchspersonen in diesem Experiment überein und ist natürlich falsch. Als die Versuchspersonen das Wort zufällig lasen, bildete sich bei ihnen anscheinend der Eindruck heraus, dass die Verteilung auf eine Weise chaotisch oder durcheinander sei. Als sie dann gebeten wurden, die Typen I und II zu beurteilen,dachten sie,dass die zweite Verteilung zu ordentlich ist, um zufällig zu sein. Derselbe Fehlertyp wurde bei der zuvor geschilderten Folge von Mustern für Jungen- und Mädchengeburten beobachtet. Ein weiterer, etwas verwirrender Befund war, dass Menschen dazu neigen, die Stichprobengröße zu ignorieren, wenn sie Wahrscheinlichkeiten schätzen. Als beispielsweise gefragt wurde, ob es genauso wahrscheinlich sei, 600 Jungen in einer Stichprobe von 1000 Kindern zu finden wie 60 Jungen in einer Stichprobe von 100 Kindern, sagten die Versuchspersonen, dass in beiden Stichproben die Wahrscheinlichkeit die gleiche ist. Tatsächlich ist (wenn man für die Geschlechter eine Gleichverteilung annimmt) die Wahrscheinlichkeit für den ersten Wert weitaus geringer als für den zweiten.
14.4.7
Satz von Bayes und das Fällen von Entscheidungen
Wir haben gesehen, wie Menschen ihre Wahrscheinlichkeitsschätzungen möglicherweise revidieren, wenn neue oder andere Informationen dargeboten werden. Wenn wir mit in gleicher Weise attraktiven Wahlmöglichkeiten konfrontiert werden – wie, in ein Konzert oder ins Kino zu gehen –, dann fällen wir vielleicht eine Entscheidung zugunsten des Kinos, wenn wir erfahren, dass die einzig verfügbaren Konzertkarten 35,– € kosten. Ein mathematisches Modell, das eine Methode zur Bewertung von Hypothesen mit sich verändernden probabilistischen Werten liefert, wird nach seinem Autor als Satz von Bayes bezeichnet (Thomas Bayes lebte im 18. Jahrhundert und war Mathematiker).Eine Anwendung dieses Satzes wird im folgenden Entscheidungsszenario veranschaulicht. Nehmen wir an, eine lang andauernde, romantische und emotionale Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Freund ende in einem schrecklichen Streit,bei dem Sie geschworen haben, diese Person nie wieder sehen zu wollen. Mehrere Monate gehen vorüber,während der Sie Situationen vermeiden, in denen Sie Ihren früheren Freund zufällig treffen könnten. Ein gemeinsamer Freund lädt Sie auf seine große Party ein. Ihre Entscheidung, dorthin zu gehen oder nicht,beruht auf der wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit, dass Ihr früherer Freund dort anwesend ist. Nachdem Sie über die Situation nachgedacht haben, kommen Sie zu dem Schluss,dass der gemeinsame Freund wahrscheinlich nicht so gefühllos sein würde, Sie beide gleichzeitig einzuladen.Wenn Sie außerdem Vorerfahrungen aus ähnlichen Situationen mit einbeziehen, könnten Sie zu der Einschätzung kommen, dass die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Treffens etwa 1 aus 20 ist. Die Hy-
Thomas Bayes (1701–1761), Sohn einer wohlhabenden Familie, studierte Logik und Theologie an der Universität von Edinburgh und schrieb nur zwei wissenschaftliche Veröffentlichungen, die nach seinem Tod publiziert wurden. Sein 1763 veröffentlichtes »Theorem« erfreut sich zunehmender Beliebtheit und wurde kürzlich in der Psychologie und in der Soziologie angewandt
403 14.4 · Entscheidungen
pothese könnte dann mathematisch folgendermaßen formuliert werden: 1 p( H) = 4 20 Die Gleichung ist zu lesen als: »Die Wahrscheinlichkeit der Hypothese ist gleich 5%« Die Hypothese beruht auf Apriori-Wahrscheinlichkeiten – also der Wahrscheinlichkeit,dass das Ereignis auftreten wird,wenn man annimmt, dass ihm ähnliche Umstände vorausgehen. Es kann auch eine Alternativhypothese formuliert werden.Dabei geht es dann um die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr ehemaliger Freund nicht auf der Party sein wird. Sie könnte die folgende Form haben: 3 = 1 p(H) 4 19 Diese Gleichung kann man lesen als: »Die Wahrscheinlichkeit, dass die Hypothese nicht zutrifft, beträgt 95%.« Wenn sich reale Situationen immer auf solche probabilistischen Aussagen reduzieren ließen, wäre das Leben einfach und langweilig. Man könnte die Möglichkeiten einer nicht wünschenswerten Konfrontation gegen den Spaß, zu einer Party zu gehen, abwägen und dann eine Entscheidung fällen. Lassen Sie uns in diesem Fall annehmen, Sie hätten sich entschieden, zur Party zu gehen. Als Sie sich dem Haus nähern, bemerken Sie einen Volkswagen, der in der Einfahrt parkt. Innerhalb weniger Sekunden berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass der Besitzer des Wagens Ihr früherer Freund ist (was außerdem den Gedanken nahe legen würde,dass diese Person auf der Party ist), und setzen diese neue Information zur vorherigen Information über die Wahrscheinlichkeit in Beziehung, dass der Gastgeber Sie beide zur selben Party eingeladen hat. Diese Situation nennt man eine bedingte Wahrscheinlichkeit – die Wahrscheinlichkeit, dass eine neue Hypothese wahr ist, wenn eine bestimmte andere Hypothese wahr ist. Nehmen Sie für diesen Fall an, die Wahrscheinlichkeit unter der Voraussetzung,dass der Wagen Ihrem früheren Freund gehört, sei 90% (die anderen 10% könnten auf mehrere Faktoren zurückgeführt werden einschließlich der Möglichkeit,dass der Wagen an jemand anders verkauft oder verliehen wurde oder dass es sich um einen ähnlichen Wagen handelt). Nach dem Satz von Bayes können die kombinierten Wahrscheinlichkeiten (1/20, dass die Person eingeladen wurde; 9/10, dass der
Wagen ein Hinweis auf die Anwesenheit der Person ist) in der folgenden Gleichung ausgedrückt werden: p(E|H) · p(H) p(H|E) = 00008 3 · p(H) 3 p(E|H) · p(H) + p(E|H) Dabei ist p(H|E) die Wahrscheinlichkeit der Hypothese (H), wenn man das Vorliegen von E als gegeben annimmt, oder in unserem Fall die Wahrscheinlichkeit, dass der frühere Freund auf der Party ist unter der Annahme der ursprünglich geringen Wahrscheinlichkeit und der kürzlich neu hinzugekommenen Anzeichen. p(E|H) steht für die Wahrscheinlichkeit, dass E wahr ist, wenn H gegeben ist (beispielsweise beträgt die Wahrscheinlichkeit 90%, dass der Wagen dem früheren Freund gehört); p(H) ist die Wahrscheinlichkeit der ursprünglichen Hypothese (p = 3 und p( H) 3 stehen für die Wahr5%). Die Terme p(E| H) scheinlichkeit,dass das Ereignis nicht eintreten wird (10% und 95% in dieser Reihenfolge).Wenn man diese Werte in die Formel einsetzt, können wir sie nach p(H|E) auflösen: 0,9 · 0,05 p(H|E) = 0004 = 0,32 0,9 · 0,05 + 0,1 · 0,95 Somit ist nach diesem Modell die Wahrscheinlichkeit eines unglücklichen Zusammentreffens auf der Party etwa 1/ . Angesichts dieser Aussichten können Sie eine begrün3 dete Entscheidung fällen. Sie müssten dabei gegeneinander abwägen, wie unangenehm ein solches Zusammentreffen wäre und wie nett die Party sein könnte.Vielleicht sollten Sie aber auch Ihr Handy nehmen und den Gastgeber anrufen. Wie eng hängt der Satz von Bayes mit dem realen Leben zusammen? Es ist recht unwahrscheinlich, dass Sie, wenn Sie sich in der oben beschriebenen Situation befänden,Ihren Taschenrechner herausholen und den Wert von p(H|E) bestimmen. Einige Befunde, die von Edwards (1968) gesammelt wurden, deuten darauf hin, dass wir dazu neigen, die bedingte Wahrscheinlichkeit für bestimmte Umstände konservativer zu beurteilen, als der Satz von Bayes dies tut. In einer Untersuchung über den Einfluss neuer Informationen auf die Wahrscheinlichkeitsschätzungen von Versuchspersonen gab Edwards Studierenden zwei Beutel mit jeweils 100 Poker-Chips. Ein Beutel enthielt 70 rote und 30 blaue Chips.Der andere Beutel enthielt 30 rote und 70 blaue Chips. Der Beutel wurde zufällig ausgewählt und die Versuchspersonen sollten bestimmen, um welchen Beutel es sich handelte. Grundlage
14
404
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
Fidos Streich Nehmen wir einmal an, Sie hätten Ihren Hund Fido zu Hause gelassen, um das Haus so zu bewachen, damit keine Einbrecher hereinkommen und die zehn Pfund Roastbeef stehlen, die zum Auftauen auf dem Tisch liegen. Als Sie wieder nach Hause kommen, ist das Türschloss noch in Ordnung. Deshalb wissen Sie, dass keine Diebe eingedrungen sind. Das Roastbeef jedoch ist verschwunden. Man muss es wohl kaum erwähnen, dass Fido der Hauptverdächtige ist. Aufgrund von Vorerfahrungen, zwei Sitzungen beim Hundepsychiater und einem gewissen verschlagenen Blick in seinen Augen kommen Sie zu dem Urteil, die Wahrscheinlichkeit sei 0,95, dass Fido der Täter war. Bevor Sie ihn jedoch verurteilen, entscheiden Sie, ein weiteres Beweisstück zu sammeln. Sie bereiten seinen normalen Fressnapf vor und stellen ihn hin. Zu Ihrer Überraschung
schlingt er das Fressen bis zum letzten Krümel herunter. Das ist wirklich nicht das, was Sie von einem Dieb erwartet hätten, der gerade dafür gesorgt hat, dass zehn Pfund Roastbeef verschwunden sind. Sie schätzen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Fido dies tun würde, wenn er tatsächlich das Roastbeef gefressen hätte, nur 0,02 ist. Normalerweise hat er jedoch einen guten Appetit und frisst seinen Napf mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,99 leer. Wie sollten Sie Ihre Vorverdächtigung revidieren, wenn Sie den Nachweis des bereits gefressenen Abendessens als gegeben voraussetzen? In dieser Lage kann Sie der Satz von Bayes retten. Wenn wir als gegeben annehmen, dass Fido gerade sein Abendessen gefressen hat, dann lässt sich die Wahrscheinlichkeit, dass er schuldig ist, folgendermaßen ausdrücken:
p(E|schuldig) · p(schuldig) p(schuldig|E) = 0000000006 p(E|schuldig) · p(schuldig) + p(E|unschuldig) · p(unschuldig) Aus dem, was gerade berichtet wurde, wissen wir, dass: p(schuldig) = 0,95 p(unschuldig) = 0,05 p(E|schuldig) = 0,02 p(E|unschuldig) = 0,99 Deshalb gilt: 0,02 · 0,95 p(schuldig|E) = 0007 0,02 · 0,95 + 0,99 · 0,05 0,0190 = 007 0,0190 + 0,0495 0,0190 = 02 0,0685 = 0,28
14
Vor dem Experiment mit dem Fressnapf sah die Lage für Fido schlecht aus. Mit Hilfe des Satzes von Bayes jedoch konnten wir die Ergebnisse des Fressnapf-Experiments in die Erklärung mit einbeziehen und zu der Schlussfolgerung kommen, dass Fido wahrscheinlich unschuldig ist. Jeder Hundeliebhaber kann an diesem Beispiel sehen, wie wertvoll der Satz von Bayes ist.
405 14.5 · Entscheidungen und Rationalität
dafür war, dass sie jeweils einen Chip zu einem Zeitpunkt herausnahmen, ihn betrachteten, ihn in den Beutel zurücklegten und dann den Prozess fortsetzten. Anfänglich wäre die Wahrscheinlichkeit für einen roten Chip aus einem Beutel mit mehrheitlich roten Chips 70% gewesen oder aus einem Beutel mit mehrheitlich blauen Chips 30%.Wenn wir jedoch nur einen Chip aus einem der Beutel ziehen und dieser rot ist, dann ist nach dem Satz von Bayes die Wahrscheinlichkeit 70%, dass sich der Beutel vorwiegend aus roten Chips zusammensetzt. Menschen neigen dazu, die reale (mathematische) Bedeutung dieser Beobachtungen zu unterschätzen, und raten, dass der Inhalt des Beutels vorwiegend rot ist und einen Wert von 60% hat. Wenn der zweite Chip auch rot ist, dann beträgt die reale Wahrscheinlichkeit, dass der Beutel vorwiegend rote Chips enthält, 84%. Die Urteile der Versuchspersonen sind in diesem Fall, aber auch bei größeren Stichproben, gewöhnlich konservativ. Die Anwendung des Satzes von Bayes auf Aufgaben aus dem realen Leben wirft gewisse Probleme auf, weil eine genaue Schätzung der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen oft nur unter Schwierigkeiten sicherzustellen ist. Denken Sie etwa an ein Ereignis aus der Weltpolitik: Vor einigen Jahren kam es zwischen der früheren Sowjetunion und den Vereinigten Staaten zu beträchtlichen Spannungen. Dies ließ – darauf wiesen manche hin – die Wahrscheinlichkeit zunehmen, dass eine offene Aggression, ja vielleicht sogar ein umfassender Krieg ausbrechen würde. Wenn alle Faktoren genau erfasst und die Wahrscheinlichkeit für einen Krieg bestimmt werden könnte, dann könnte der Einfluss anderer Ereignisse, die auf die Wahrscheinlichkeit eines Krieges einwirken (wie etwa ein Treffen zwischen den ehemaligen Präsidenten Clinton und Jeltsin) in die Formel für den Satz von Bayes eingesetzt werden. Und zu welchem Zweck auch immer wäre daraus eine Wahrscheinlichkeitsstatistik ableitbar. Ehrgeizige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Psychologie, der Soziologie und der Politikwissenschaft haben sich an ebensolchen globalen Schemata versucht. Das Interesse an der Bayes-Statistik hat während der vergangenen Jahre zugenommen (Malakoff, 1999). Ein Grund für die zunehmende Anzahl von Beiträgen zu diesem Thema kann auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass nahezu auf jedem Schreibtisch eines Wissenschaftlers ein Computer steht und ständig neue Algorithmen entwickelt werden.So hat man Simulationsmethoden verwendet,die als Markoffketten-Monte-Carlo-Methoden bekannt sind und bei denen die Bayes-Mathematik einge-
setzt wird,um das A-prori-Wissen dazu für alle möglichen Vorhersagen zu nutzen – von der Kernspinresonanz bis zu der Frage, wer wahrscheinlich ein Verdächtiger für ein Verbrechen sein könnte. Der Einsatz des zuletzt genannten Verfahrens ist ins Gerede gekommen, weil es hier auf »Rassen-Profiling« beruht.
14.5
Entscheidungen und Rationalität
Für manche mag dieses Kapitel den Anschein erwecken, dass hier ursprünglich der Mensch als das rationalste aller Lebewesen dargestellt wurde. Unsere Erörterung der Begriffsbildung zeigte jedoch am Ende, dass alle normalen Lebewesen mit Hilfe rationaler Regeln Begriffe bilden. Beim Thema Schlussfolgern mit Hilfe von Syllogismen haben wir gelernt, dass die Geltung eines Arguments durch die Regeln der Logik bestimmt werden kann, auch wenn wir dazu neigen, uns durch die Struktur oder den Inhalt eines fehlerhaften Arguments in die Irre führen zu lassen. Im vorangehenden Abschnitt über Entscheidungen haben wir schließlich erfahren, dass die rationale menschliche Spezies gewöhnlich nicht sehr rational ist, wenn es darum geht, eine Entscheidung über eine große Klasse von Ereignissen zu fällen. Ich glaube, es wäre verrückt, zu behaupten, dass alle Menschen so rational wie Sie und ich sind (oder so rational, wie wir uns gerne selbst sehen).Aber sind wir als Art so irrational,wie man es angesichts der empirischen Ergebnisse meinen könnte, die im Zusammenhang mit Aufgaben zum Fällen von Entscheidungen gesammelt wurden? Die Befunde von Tversky und Kahneman, aber auch die Untersuchungen zum syllogistischen Schließen deuten – wenn man sie sich genauer betrachtet – darauf hin, dass wir Menschen wirklich keine vollkommen rationalen Wesen sind. Es gibt Einwände gegen diese Befunde. Grundlage dafür waren das experimentelle Design und die unvermeidlichen philosophischen Schlussfolgerungen, die sich zwingend aus diesen Experimenten ergeben. Einer der Kritiker ist L.J. Cohen (1981) von der Universität Oxford. Er argumentierte folgendermaßen: 1. Rationalität sollte von gewöhnlichen Menschen festgelegt werden und nicht in künstlichen Laborexperimenten, die eigentlich nicht dazu entworfen wurden, das alltägliche Fällen von Entscheidungen zu veranschaulichen, und die im großen Ganzen für die wirkliche Leistung irrelevant sind.
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406
Kapitel 14 · Denken 1: Begriffsbildung, Logik und das Fällen von Entscheidungen
2. Es ist unsinnig, von gewöhnlichen Menschen zu erwarten, dass sie raffinierte Gedankengänge im Hinblick auf die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und der Statistik entwickeln,die in vielen der Experimente das Grundniveau und die Abweichungen bilden. 3. Die Gesetze der Logik und der Rationalität sind nicht relevant für das gewöhnliche menschliche Verhalten. Nehmen Sie etwa den Fall der unglücklichen Person, die ihrem früheren Freund zu entgehen versuchte.
Wenn die Person, die gemieden werden sollte, auf die Party gehen würde, betrug die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens unter Anwendung des Satzes von Bayes 0,32. Wie wirkt sich diese Zahl auf das Verhalten der Person aus, die das Meidungsverhalten zeigt? Wenn die Feindseligkeit innerhalb des Paars groß ist (»Ich würde ihn nicht im Umkreis von 100 km um mich haben wollen«), ist diese Zahl – was die Vorhersage des Verhaltens angeht – bedeutungslos.
Zusammenfassung 1. Denken ist ein innerer Prozess, bei dem Informationen transformiert werden. Es kann zielgerichtet sein und zur Problemlösung führen. Auf der strukturellen Ebene führt Denken zur Bildung einer neuen mentalen Repräsentation. 2. Zur Begriffsbildung gehört es, Merkmale zu unterscheiden, die einer Klasse von Gegenständen gemeinsam sind, und Regeln zu entdecken, die diese begrifflichen Merkmale zueinander in Beziehung setzen. Zu den kognitiven Aktivitäten, von denen man glaubt, dass sie für diesen Prozess wichtig sind, gehören Regellernen, Assoziation und Überprüfen von Hypothesen. 3. Zu den Strategien zur Formulierung und Überprüfung von Hypothesen bei der Begriffsbildung gehören Verfahrensweisen zum Überfliegen und Fokussieren, wobei die Fokussierungstechniken (ähnlich den wissenschaftlichen Vorgehensweisen) effektiver sind als Strategien zum Überfliegen. 4. Untersuchungen zum deduktiven Schließen deuten darauf hin, dass Schlussfolgerungen bei syllogistischen Problemen beeinflusst werden durch die Form
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Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Ad hominem Assoziationismus Satz von Bayes Begriffsbildung deduktives Schließen Denken
der Präsentation (visuell im Gegensatz zu verbal), durch die Anzahl der durch die Prämissen generierten Alternativen, durch die Form des Arguments (z.B. positiv im Gegensatz zu negativ), durch das Langzeitwissen in Bezug auf das präsentierte Problem sowie durch das Intelligenz- und Bildungsniveau des Problemlösers. 5. Aus induktivem Schließen ergeben sich Schlussfolgerungen, die oft in Wahrscheinlichkeitsaussagen ausgedrückt werden. Diese weisen einen engeren Zusammenhang mit den täglichen Entscheidungen auf, als dies auf syllogistisches oder deduktives Schließen zutrifft. 6. Untersuchungen zum Fällen von Entscheidungen zeigen, dass Problemlösungen beeinflusst werden durch Gedächtnisfaktoren (die Verfügbarkeitshypothese), durch Bezugsrahmen, die einen Einfluss auf die Problemformulierung haben, durch fehlendes Nachdenken darüber, wie ähnlich ein Ereignis in Bezug auf seine Stichprobe ist, und durch die Unterschätzung der mathematischen Bedeutung eines möglichen Ereignisses.
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Entscheidungsrahmung Fokussierspiel induktives Schließen konservatives Fokussieren Logik simultanes Überfliegen sukzessives Überfliegen Syllogismus verbale Dialoge
407 14.5 · Entscheidungen und Rationalität
Literaturempfehlungen Die Anzahl der Bücher und Artikel, die sich mit Denken, Problemlösen und Entscheiden beschäftigen, hat während des letzten Jahrzehnts sprunghaft zugenommen. Um einen besseren Überblick über das Thema zu bekommen, sollten Sie es einmal mit den folgenden Büchern versuchen: Maxwells Thinking: The Expanding Frontier, Gardners The Mind’s New Science und Rubensteins Tools for Thinking and Problem Solving. Zum Thema Entscheidungen im realistischen Kontext sollten Sie das Buch von Janis und Mann mit dem Titel Decision Making lesen und das von Valenta und Potter herausgegebene Buch Soviet Decision Making for National Security. Brams hat einen Artikel im American Scientist mit dem Titel »Theory of Moves« veröffentlicht, in dem er die Spieltheorie in internationalen Konfliktsituationen behandelt. Johnson-Lairds Kapitel »Mental Models, Deductive Reasoning, and the Brain« in Gazzanigas Band (1995) ist hervorragend. Während der letzten Jahre wurden einige sehr gute Bücher auf diesem Gebiet veröffentlicht.Diese Bücher sind gut geschrieben, interessant und eine wahre Fundgrube für Informationen über das Denken und damit zusammenhängende Themen.Dazu gehören Mental Models: Towards a Cognitive Science of Language, Inference, and Consciousness von Johnson-Laird, einem der führenden Forscher auf diesem Gebiet, und Deduction von JohnsonLaird und Byrne. Sie können es auch mit dem anregenden Buch von John Hayes probieren: The Complete Problem Solver (2.Auflage). Und eines meiner Lieblingsbücher, das ich sehr empfehlen kann, ist Marvin Levines Effective Problem Solving (2. Auflage).
Antworten auf »Kritisch hinterfragt«: Denken, Problemlösen und Rahmenvorstellungen Die meisten Menschen antworten auf das erste Problem mit der Schlussfolgerung »Nur A« oder »A und 4«. Die richtige Antwort lautet »A und 7«. Wenn sich bei A keine
gerade Zahl auf der Rückseite befindet,ist die Regel falsch. Und wenn bei 7 ein Vokal auf der Rückseite steht, ist die Regel auch falsch. Beim zweiten Problem lautet die Antwort: der erste (verschlossene) und der letzte Umschlag (der mit der 25-Cent-Marke). Mehr als 90% der Versuchspersonen lösen das realistische Problem (Umschlag und Briefmarke) und nur etwa 30% lösen das abstrakte Problem (Karte und Buchstabe).
Antworten auf »Kritisch hinterfragt«: Wie rational sind Ihre Entscheidungen? Problem 1: Wenn es bei Ihnen so ist wie bei den meisten Menschen, dann haben Sie die Vermutung geäußert, dass Jens ein Bibliothekar ist – tatsächlich kommen zwei von drei Personen bei einem ähnlichen Problem zu diesem Urteil. Wenn wir uns jedoch die Statistiken hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit ansehen, dass jemand einen der erwähnten Berufe ausübt, so gibt es in den USA mehr als 14 Millionen Verkäufer und weniger als 200.000 Bibliothekare. Nur aufgrund der Statistiken ist es 75-mal wahrscheinlicher, dass Jens ein Verkäufer ist. Selbst wenn man in die Berechnung die in der Beschreibung genannten Faktoren mit einbezieht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Jens im Verkauf arbeitet, wesentlich größer als die, dass er in einer Bibliothek tätig ist. Problem 2: Die meisten Menschen sagen, dass sie eher das leicht verdiente Geld, das sie am einarmigen Banditen gewonnen haben, verpulvern würden als das neu entdeckte, hart erarbeitete Geld vom Bankkonto. Dennoch haben Sie in beiden Fällen plötzlich denselben Betrag zusätzlich. Problem 3: Im ersten Fall entscheiden sich etwa drei von vier Menschen dafür,ein paar Straßen weiter zu gehen und zum halben Preis den Kassettenrekorder mit Radio zu kaufen.Doch nur einer von Fünfen würde das Gleiche machen, um den Computer zu bekommen. In beiden Fällen jedoch beträgt die Einsparung 25,– €. Ist eine solche Vorgehensweise im ersten Fall gerechtfertigt, aber nicht im zweiten?
14
15 Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz 15.1
Problemlösen –410
15.1.1 15.1.2 15.1.3
Gestaltpsychologie und Problemlösen –411 Problemrepräsentation –412 Innere Repräsentation und Problemlösen –416
15.2
Kreativität –418
15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4
Kreative Prozesse –418 Kreativität und funktionale Gebundenheit –420 Investitionstheorie der Kreativität –421 Beurteilung von Kreativität –422
15.3
Menschliche Intelligenz –424
15.3.1 15.3.2 15.3.3
Das Problem mit der Definition –424 Kognitive Theorien der Intelligenz –425 Neurokognition und Intelligenz –432
410
Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Anregungen vorab 1. Wie hat man früher das Thema Problemlösen untersucht? 2. Warum ist die Art und Weise, wie ein Problem repräsentiert wird, so wichtig? 3. Nennen Sie einige Personen, von denen Sie meinen, dass sie kreativ sind. Welche Merkmale sind es, die bei ihnen die Kreativität ausmachen? 4. Auf welche Weise erschwert funktionale Gebundenheit kreative Lösungen? 5. Wie definieren Sie Intelligenz? Wie definieren Kognitionspsychologen Intelligenz? 6. Welche kürzlich durchgeführten Experimente in der Genetik lassen eine neue Sichtweise der Intelligenz erahnen?
Alle wirklich guten Ideen, die ich jemals hatte, kamen mir, als ich gerade eine Kuh melkte.
Grant Wood
Kognitionswissenschaftler interessieren sich vor allem deswegen für die menschliche Intelligenz, weil die Intelligenz gewissermaßen den Inbegriff der menschlichen Funktionstüchtigkeit darstellt – es geht also um das, was uns in unverwechselbarer Weise zum Menschen macht. Robert J. Sternberg
15
»Paul McGuffin wurde 1986 in St. Louis geboren. Sein Vater war irischer Abstammung, seine Mutter kam aus einer indianischen Familie. 52 Jahre später stirbt er, während er mit Albert Einstein in Nebraska Schach spielt. Aber er stirbt in 1999.« Wie ist so etwas möglich? Versuchen Sie dieses Rätsel zu lösen.Welche Vorgehensweisen setzen Sie ein? Probieren Sie es immer wieder erfolglos mit der gleichen alten Lösung? Versuchen Sie es bei diesem Problem doch einmal mit einem wirklich innovativen oder kreativen Ansatz. Haben Ihre Bemühungen um die Lösung des Problems etwas mit Intelligenz zu tun? Nachdem Ihre Versuche von Erfolg gekrönt waren und Sie einige Lösungen hervorbrachten,sollten Sie zur nächsten Seite umblättern, damit Sie sich noch einige weitere Lösungen ansehen können. In diesem Kapitel stellen wir Theorien und Befunde aus drei Bereichen dar, von denen man meint, dass sie etwas mit höheren kognitiven Prozessen zu tun haben. Es handelt sich um Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz. Diese Gebiete wurden von Forschern untersucht, die sich dafür interessierten, wie sich der jeweilige Bereich ins große Schema der menschlichen Kognition fügt: Sie haben auch die Philosophen und Dichter dazu veranlasst, das Wort zu ergreifen. Interesse am Problemlösen,an der Kreativität und der Intelligenz findet man auch bei sachlichen, pragmatischen Menschen, die Freude an so prosaischen Themen wie den folgenden haben:
Wie komme ich in der kürzesten Zeit ohne Staus von meiner Wohnung zur Arbeitsstelle? Kann ich ein Gerät erfinden, dass meine Brötchen von dem Zeitpunkt an, an dem ich sie gebacken aus dem Ofen hole, warm hält, bis sie auf den Tisch kommen? Warum schreibt meine Tochter bessere Computerprogramme als Aufsätze? Wie kommt es, dass mein Automechaniker mir sagen kann,woran es liegt, dass der Scheibenwischer meines Autos nicht mehr funktioniert, dass er aber keinen verständlichen Brief ans Finanzamt schreiben kann?
15.1
Problemlösen
Problemlösen durchdringt die kleinsten Verästelungen der Aktivitäten des Menschen und ist ein gemeinsamer Nenner für recht unterschiedliche Bereiche: Naturwissenschaften,Jura,Bildung,Geschäftsleben,Sport,Medizin,Industrie, Literatur und – als ob es im Berufsleben nicht genügend Problemlösungsaktivität gäbe – viele Formen der Freizeit.Menschen,Affen und viele andere Säugetiere sind neugierige Lebewesen, die aus Gründen, die anscheinend etwas mit dem Überleben zu tun haben,stimuliert werden wollen und ein Leben lang Konflikte durch kreatives, intelligentes Problemlösen bewältigen. Ein Großteil der frühen Experimente zum Problemlösen beschäftigte sich mit der Frage: Was macht eine Per-
411 15.1 · Problemlösen
son, wenn sie ein Problem löst? Obwohl dieser deskriptive Ansatz mit dazu beigetragen hat, das Phänomen zu definieren, trug er nur wenig dazu bei, unser Verständnis kognitiver Strukturen und Prozesse zu verbessern, die am Problemlösen beteiligt sind. Problemlösen heißt »ein Denken,das auf das Lösen eines bestimmten Problems ausgerichtet ist, zu dem sowohl die Ausformung von Reaktionen als auch die Auswahl möglicher Reaktionen gehört«. Im täglichen Leben sind wir mit zahllosen Problemen konfrontiert, die uns dazu veranlassen, Reaktionsstrategien zu entwickeln, potenzielle Reaktionen auszuwählen und Reaktionen daraufhin zu überprüfen, ob man mit ihrer Hilfe ein Problem lösen kann. Versuchen Sie beispielsweise die folgenden Probleme zu lösen: Man hat einem Hund ein 2 m langes Halsband umgelegt; eine Schale mit Wasser ist 4 m entfernt. Wie würde der Hund an die Schale gelangen? Zur Lösung dieses Problems gehören die Generierung möglicher Reaktionen (von denen es einige gibt), das Auswählen und das Ausprobieren der Reaktion sowie vielleicht die Entdeckung des Tricks bei diesem speziellen Problem (der Hund würde einfach hinlaufen, das Seil ist nämlich nur um seinen Hals gebunden).
15.1.1
Gestaltpsychologie und Problemlösen
Zu den frühen Experimentalpsychologen, die sich mit dem Problemlösen beschäftigten, zählen die Gestaltpsychologen in Deutschland.Gestalt steht hier für »Struktur« oder »strukturiertes Ganzes«. Die Sichtweise der Gestaltpsychologen hat insofern sehr viel mit dem Wort »Gestalt« zu tun, als sie Verhalten im Sinne eines strukturierten Systems verstanden. Wahrnehmungsereignisse wurden nicht als eine Reihe individueller Elemente wahrgenommen, sondern als eine ganze Konfiguration, die sich aus diesen Ereignissen zusammensetzt. Gemäß dieser Schule der Psychologie treten Probleme auf – vor allem Wahrnehmungsprobleme –, wenn es zu einer Spannung oder einer Belastung infolge einer bestimmten Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis kommt.Wenn man über ein Problem nachdenkt oder es aus verschiedenen Blickwinkeln heraus untersucht, kann sich in einem Augenblick der Einsicht die »richtige« Sichtweise ergeben. Die frühen Gestaltpsychologen (Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler) veranschaulichten ihre Sichtweise von der Umstrukturierung der Wahrnehmung anhand der Aktivität des Problemlösens (manchmal setzten sie Menschenaffen als Versuchstiere
Mögliche Lösungen für das auf der vorigen Seite dargestellte Problem 1. Im Kalender der Indianer wird jedes Jahr vierfach gezählt. 2. Er spielte Schach in Zimmer 1999. 3. »1999« ist der Name einer Stadt in Nebraska. 4. Im Jahre 2038, 52 Jahre nach seiner Geburt, stellen zwei brillante Wissenschaftler eine Zeitmaschine fertig und begeben sich ins Jahr 1999, damit sie das Jahrtausend noch einmal begrüßen können. Um sich die Zeit zu vertreiben, spielen die beiden Schach. Aber die Aufregung bei der Zeitreise und beim Warten auf das neue Jahrtausend ist zu viel für Pauls Herz und er stirbt. 5. Während einer erdgeschichtlichen Katastrophe in der Mitte des Jahres 2022 begannen alle Teilchen im Universum in unterschiedliche Richtungen auseinander zu driften. Dies hatte den Effekt, dass die Zeit umgekehrt wurde. Aber warum 2022? Nun, das ist ein weiteres Rätsel.
6. Der Mann bewegte seine Schachfiguren so langsam, dass er im Jahre 1999 starb, dies jedoch erst 39 Jahre später bemerkt wurde. Sein Name war McGuffin. Dies ist ein Name, den der Regisseur Alfred Hitchcock für jedes Gerät oder Element verwendet hat, das die Aufmerksamkeit von anderen zentralen Aspekten in einem seiner geheimnisvollen Filme ablenkt. In unserem Fall sind die Extrainformationen – also dass sein Vater Ire war, dass er in St. Louis geboren wurde und dass er mit Albert Einstein Schach spielte – die McGuffins, die dazu eingesetzt wurden, Ihr Denken in nicht produktiver Weise auf falsche Gleise zu lenken. McGuffins gibt es reichlich und sie tauchen manchmal auch in Abschlussklausuren auf. Wenn Sie bessere »Lösungen« haben, schicken Sie sie mir doch bitte für künftige Auflagen dieses Buchs.
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
ein). Aus ihrer Arbeit entwickelte sich der Begriff der funktionalen Gebundenheit, der ursprünglich auf Karl Duncker (1945) zurückgeht. Gemäß diesem Begriff, der einen beträchtlichen Einfluss auf die Forschung zum Problemlösen hatte, gibt es eine Neigung, die Dinge im Sinne ihrer vertrauten Verwendungen wahrzunehmen. Und diese Neigung macht es oft schwer, sie auf eine nicht vertraute Art und Weise zu verwenden (z.B., einen Backstein als Messinstrument zu gebrauchen). Im Endeffekt bekommen Gegenstände und Gedanken ihre feste Funktion und, wenn sie Bestandteil einer Problemlöseaufgabe sind, die es erforderlich macht, dass sie unterschiedliche Funktionen einnehmen, muss die Versuchsperson diese »Einstellung« (set) überwinden. Obwohl wir den Begriff Einstellung gewöhnlich mit dem mentalen Zustand einer Person verbinden, den diese in die Problemlöseaufgabe einbringt, enthält die umfassendere (und ursprüngliche) Definition des Begriffs den Gedanken einer beliebigen vorbereitenden kognitiven Aktivität, die dem Denken und der Wahrnehmung vorausgeht. Im Kontext der hier genannten Definition verbessert eine Einstellung die Qualität der Wahrnehmung oder des Gedankens dadurch, dass man die Bedeutung eines Reizes berücksichtigt (wie bei einem mehrdeutigen Wort,beim nächsten Zug im Schach oder bei der nächsten Reaktion in einer sozialen Situation). Im anderen Fall können sie die Wahrnehmung oder den Gedanken auch hemmen (wie bei einem Problem, bei dem eine Versuchsperson wiederholt eine nicht produktive Lösung ausprobiert, die mit einer Vorerfahrung zusammenhängt). Beispielsweise gab Duncker (1945) seinen Versuchspersonen drei Kartons Streichhölzer, Reißnägel und Kerzen. Dann bat er sie, sich einen Plan zu überlegen, wie man die Kerze an einem aufrecht stehenden Schirm so befestigen könnte,dass sie als Lampe diente. Einer Gruppe von Versuchspersonen gab man den Schirm. Die Kerzen, die Reißnägel und die Streichhölzer wurden jeweils in einer eigenen Schachtel präsentiert. Eine weitere Gruppe von Versuchspersonen erhielt diese Gegenstände zusammen mit den drei Schachteln – die Gegenstände befanden sich also nicht in den Schachteln. Die Lösung dieser Aufgabe bestand darin, die Streichhölzer zum Anzünden der Kerzen zu verwenden, etwas Wachs auf eine Schachtel tropfen zu lassen, die Kerze darauf festzumachen und die Schachtel mit Reißnägeln zu befestigen. Wenn mit der Schachtel vorher die Modellvorstellung eines Behälters verbunden wurde, hatten die Versuchspersonen viel mehr Schwierigkeiten, dieses
Problem zu lösen, als wenn dies nicht geschah. In späteren Experimenten (Glucksberg & Danks, 1969) wurde demonstriert, dass einfach die Tatsache, dass ein Gegenstand mit einem Namen versehen wurde, im Kopf der Versuchsperson eine fixe Einstellung entstehen ließ, die sich beim Lösen eines Problems förderlich oder hemmend auswirkte. In den frühen Experimenten arbeitete man mit einer großen Vielfalt von Problemen, angefangen mit mechanischen bis hin zu logischen Problemen. Die Protokolle (Aufzeichnungen der Denkprozesse durch die Versuchspersonen als »laut Gedachtes«) brachten zum Vorschein, dass der Problemlöseprozess mehrere wohl geordnete Phasen durchläuft.Normalerweise schienen die Versuchspersonen mit der Frage zu beginnen, was man von ihnen erwartete. Dann gingen ihnen die Hypothesen über mögliche Lösungen durch den Kopf,sie wurden überprüft und bestätigt.Wurden sie nicht bestätigt, kam es zu neuen Hypothesen. Der Vorgang war dann anscheinend ein Prozess von Versuch und Irrtum, wobei eine neue Hypothese eine erfolglose ersetzte. Durch diese frühen Experimente wurde nur wenig darüber ausgesagt, woher die Hypothesen kamen, und es wurden keine nachvollziehbaren Postulate darüber aufgestellt,welche kognitiven Strukturen am Prozess beteiligt sind.
15.1.2
Problemrepräsentation
Die Arbeit der Gestaltpsychologen konzentrierte sich auf die Eigenart einer Aufgabe und ihren Einfluss auf die Fähigkeit einer Person, sie zu lösen. In neuerer Zeit gingen Forscher die Frage des Problemlösens aus mehreren unterschiedlichen Perspektiven heraus an. Dazu gehörte auch das, was innerhalb der modernen Kognitionspsychologie als Prozess der Repräsentation bezeichnet (oder wie ein Problem mental dargestellt) wird. Im gesamten Buch ist die Frage der inneren Repräsentation ein zentrales Thema.Wir werden hier nicht Dinge wiederholen, die wir schon beschrieben haben – abgesehen von der Anmerkung, dass die Art und Weise, wie die Informationen in einer Problemlöseaufgabe repräsentiert werden, von großer Bedeutung dafür ist, dass man eine Lösung findet. Das größte Problem auf der Welt hätte gelöst werden können, wenn es klein wäre. Laotse
413 15.1 · Problemlösen
Die Art und Weise, wie ein zu lösendes Problem repräsentiert wird,folgt anscheinend einem wohl geordneten Muster. Lassen Sie uns beispielsweise das Problem betrachten,
dass man nach einem Hochschulabschluss die Bühne der realen Welt betritt. Die stereotype Problemlösesequenz hat nach Hayes (1989) die folgende Form:
Kognitive Handlung
Eigenart des Problems
1. Erkennen des Problems
Im nächsten Mai mache ich mein Diplom. Das ist das Ende einer Phase meines Lebens (es ist Zeit, erwachsen zu werden). Ich werde arbeitslos sein und kein Geld haben. Ich muss eine Arbeit bekommen (ich kann meinen Eltern nicht länger auf der Tasche liegen). Ich schreibe einen Kurzlebenslauf,durchforste den Arbeitsmarkt,berate mich mit Freunden und Lehrern (mal sehen, was da draußen so läuft; ich könnte auch nach Tibet reisen und Mönch werden). Ich werde mit interessanten Firmen Termine ausmachen. Ich werde zu einem Vorstellungsgespräch gehen (Sprung ins kalte Wasser). Ich werde mir jedes Angebot unter dem Aspekt meiner eigenen Bedürfnisse und Wünsche genau ansehen und eine Entscheidung fällen (wer bietet das große Geld, viele Urlaubstage und frühen Ruhestand). Ich werde über den Prozess nachdenken, wie man das Problem lösen kann, und dieses Wissen für künftiges Problemlösen nutzen (wo habe ich einen Denkfehler gemacht?).
2. Repräsentation des Problems 3. Planung einer Lösung
4. Ausführung des Plans 5. Bewertung des Plans
6. Bewertung der Lösung
Wenn Sie vielleicht einmal an die Art und Weise denken, wie Sie in Ihrem eigenen Leben Probleme lösten, werden Sie herausfinden, dass Sie dabei vielleicht nach einer ähnlichen Folge von Schritten handelten wie hier dargestellt. Der Vorgang ist nahezu immer unbewusst. Sie sagen also nicht mit Absicht zu sich selbst: »Jetzt bin ich in Phase 3, Planung der Lösung, was so viel heißt wie, dass ich …« Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass diese Phasen im Hintergrund lauern, wenn Sie Ihre alltäglichen Probleme lösen. Denken Sie einmal an irgendein Problem – entweder an ein reales oder ein vorgestelltes (wie etwa die Reparatur eines kaputten Toasters, die Lösung eines schwierigen Problems mit einem anderen Menschen oder die Entscheidung darüber, ob sie Kinder haben wollen oder nicht) – und folgen Sie beim Durcharbeiten der genannten Abfolge von Schritten. Obwohl alle Schritte wichtig sind, scheint die Repräsentation eines Problems sehr wichtig zu sein – vor allem die Art und Weise, wie Informationen in Form einer bildlichen Vorstellung repräsentiert werden. Nehmen Sie einmal an, man bittet sie, 43 mit 3 zu multiplizieren. »Keine große Sache«, könnten Sie sagen, und kommen nach ein paar mentalen Operationen auf die Antwort.Wenn man Sie jedoch bitten würde, im Kopf 563 mit 26 zu multiplizieren,was machen Sie dann bei dieser Aufgabe? Wenn es bei Ihnen so abläuft wie bei vielen ande-
ren Menschen, »sehen« Sie das Problem vor sich. Sie repräsentieren es also bildlich und fangen damit an, dass Sie 3 mit 6 multiplizieren, die 8 vor sich »sehen«, einen Übertrag von 1 haben, dann 6 mal 6 rechnen, die 1 hinzuaddieren usw. All diese Operationen werden mit Hilfe von Informationen durchgeführt, die in der bildhaften Vorstellung repräsentiert werden. Anscheinend ziehen Schriftsteller einen großen Nutzen aus dieser Neigung, Dinge visuell zu repräsentieren, indem sie Texte verfassen, die reich an bildhaften Vorstellungen sind. Manchmal spricht man auch von Wortbildern,wie sich an der folgenden Textpassage von Salisbury (1955) illustrieren lässt: > Ein großer, schlacksiger, ernst aussehender Mann schlenderte in gelenkigem, jungenhaftem Schritt auf die Datscha zu und kam an den Ort, an dem ich den Pinsel schwang. Die Frontseite der Veranda wurde gerade verglast und ich war in meinen farbverschmierten Sachen damit beschäftigt, die Fenster mit einem weißen Rand zu versehen.
Sie können die gelenkige jungenhafte Figur »sehen« (die sich als George Kennan herausstellt), die farbverschmierten Sachen usw. Jetzt sollten Sie einmal darüber nachdenken,wie die Problemrepräsentation das im Folgenden dar-
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Kritisch hinterfragt: Sie meinen also, dass Sie schlau sind – dann knacken Sie doch einmal diese »harte Nuss« Sie und Ihr Begleiter laufen durch den brasilianischen Regenwald, als Sie plötzlich an eine Schlucht kommen. Die Schlucht ist 7 m tief, 10 m breit und in beiden Richtungen mehrere Kilometer lang. Sie haben eine dreieinhalb Meter lange Leiter, eine Zange, eine Streichholzschachtel, eine Kerze, unendlich viel Nachschub an Seilen sowie mehrere Findlinge und Felsbrocken. Wie überqueren Sie und Ihr Freund den Abgrund? Weniger als 10% der Menschen können dieses Problem lösen. Warum konnten Sie es lösen bzw. warum nicht? Benutzten Sie alle Ausrüstungsgegenstände, die Ihnen zur Verfügung standen? Ist die Lösung unkompliziert? Lösten Sie das Problem nicht, weil Sie dabei zu viele weitere Faktoren berücksichtigten? Probieren Sie das einmal an Freunden aus und notieren Sie sich die Mittel, die diese einsetzen, um das Problem zu lösen (siehe auch den Abschnitt über die »Problemrepräsentation«). Die Lösung findet sich am Ende dieses Kapitels.
gestellte Problem beeinflusst (angeregt durch die Untersuchung von Bransford & Johnson, 1972): > Natürlich könnte ich in einen Laden gehen und mir einen kaufen, aber das würde Zeit und Geld kosten. Ich könnte mir einen aus einer alten Zeitung machen oder aus Einwickelpapier. Das Papier müsste jedoch etwas aushalten können. Und dann wäre da noch die Frage, wo man es macht. Auf der Straße ist es nicht so gut, der Strand wäre perfekt und ein offenes Feld ist auch in Ordnung. Schließlich muss das Wetter noch mitmachen. Es muss etwas windig sein und es darf auf gar keinen Fall ein Gewitter geben (es sei denn, man ist verrückt oder hat Interesse an Physik).
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Wenn Sie diesen Abschnitt lesen, verstehen Sie zweifellos jedes einzelne Wort und jeden Satz. Dennoch haben Sie das quälende Gefühl, dass Sie eigentlich gar nicht wissen, was da vor sich geht (versuchen Sie diesen Text einem Freund vorzulesen, fragen Sie ihn dann, worum es seiner Meinung nach in diesem Absatz geht).Wenn ich Ihnen jedoch sage, dass es in diesem Absatz darum geht, wie man einen Drachen herstellt und ihn fliegen lässt, passt plötzlich alles. Sie verstehen die gesamte Passage und das
Problem. Die Repräsentation der Informationen ist eben beim Problemlösen sehr wichtig. Die geschilderten Beispiele haben sich mit literarischen Ausdrucksformen für Probleme beschäftigt. Doch viele unserer Probleme sind eher physikalischer Natur. Beispielsweise fragen wir uns, wie wir Möbel in einem Zimmer anordnen sollen,welches die kürzeste Strecke zur Arbeit und wieder zurück ist, welche Lebensmittel wir am sinnvollsten beim Einkauf auswählen sollten usw. Eine Möglichkeit, wie man manche dieser Probleme lösen kann, besteht darin, »zu den Extremen zu gehen«, wie Marvin Levine (1993), ein führender Experte zum Problemlösen, vorschlug.Versuchen Sie eines seiner Probleme zu lösen: > Zwei Flaggenmasten sind jeweils 16 m hoch. Ein Seil von 24 m Länge wird von der Spitze des einen Flaggenmastes zur Spitze des anderen gezogen und baumelt zwischen ihnen herunter. Der niedrigste Punkt des Seils befindet sich 4 m über dem Boden. Wie weit sind die beiden Flaggenmasten voneinander entfernt?
Können Sie das Problem lösen? Wie haben Sie es gemacht? Einige von Ihnen haben vielleicht damit begonnen, ein
415 15.1 · Problemlösen
raffiniertes Kalkül aus der Differenzialrechnung anzuwenden, bei dem der Punkt berechnet wird, an dem das Seil durchhängt. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, sich ein Bild des Problems zu zeichnen (⊡ Abb. 15.1). Die Lösung des Problems ist einfach und erfordert kein Fortgeschrittenenwissen über Geometrie – nur gesunden Menschenverstand.Denken Sie daran,zu den Extremen zu gehen. Die Lösung findet sich am Ende des Kapitels. Bei den aufgeführten Beispielen wurde betont, wie wichtig es ist, das Problem auf eine solche Weise zu repräsentieren,dass unsere Fähigkeit zum Finden einer Lösung gefördert wird.Im Allgemeinen kommt es anscheinend in einem hellen Moment der Bewusstheit zur Lösung dieser Probleme – hier geht es um das, was die Gestaltpsychologen Einsicht nennen. Das ist der Punkt, an dem einem
⊡ Abb. 15.1. Eine bildliche Darstellung des Problems mit den Flaggenmasten
Kritisch hinterfragt: ein Problem von Patienten – das von Psychiatern und Ihnen selbst Drei Ehepaare – Rubin, Sanchez und Taylor – haben etwas ziemlich Ungewöhnliches gemeinsam: Alle sechs (drei Ehemänner und drei Ehefrauen) sind Psychiater. Die sechs Vornamen der Psychiater lauten: Karin, Laura, Marie, Norman, Omar, Peter. Wie das Schicksal es so will, hat jeder einzelne Arzt einen der anderen Ärzte als Patienten (aber nicht den eigenen Ehegatten bzw. die eigene Ehegattin). Eine Reihe weiterer Tatsachen sind: 1. Karin ist die Psychiaterin für einen der Rubins; Laura ist die Psychiaterin für den anderen. 2. Marie ist die Patientin eines der Taylors; Peter ist Patient des anderen. 3. Laura ist Patientin von Dr. Sanchez. 4. Peter macht seine Psychotherapie bei Omar. Unter der Voraussetzung, dass diese Tatsachen gegeben sind, müssen Sie nun den vollständigen Namen jedes einzelnen Psychiaters bestimmen und angeben, wer wen behandelt. Verwenden Sie die folgende Tabelle, um ihre DeRubin Frau Dr. Karin Laura Marie Norman Omar Peter
Herr Dr.
Sanchez Frau Dr.
O O O O O O
duktionen festzuhalten. Sie können dieses etwas schwierige Problem wahrscheinlich nicht »im Kopf« lösen. Es wird empfohlen, dass Sie unmögliche Kombinationen mit einem »O« markieren. Aufgrund dieser Kennzeichnungen wird es möglich, Schlussfolgerungen über weitere mögliche und unmögliche Kombinationen zu ziehen. Weil Frauen keine Ehemänner und Männer keine Ehefrauen sein können, habe ich die Kreuzungspunkte bereits mit einem Ausschließungszeichen »O« gekennzeichnet. Tipp: Bedienen Sie sich des Hinweises Nr. 1. Da Karin und Laura Psychiater für Herrn Dr. Rubin und Frau Dr. Rubin sind, können sie (Karin und Laura) nicht die Rubins sein. Wer ist Frau Dr. Rubin? Kennzeichnen Sie dies mit einem »÷«. Machen Sie dann weiter. Während Sie dieses Problem durcharbeiten, sollten Sie versuchen, die von Ihnen verwendeten Schlussfolgerungsprozesse genauer zu bestimmen. Viel Glück! Die Lösung befindet sich am Ende dieses Kapitels.
Herr Dr.
Taylor Frau Dr.
O O O O O O
Herr Dr. O O O
O O O
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
plötzlich ein Licht aufgeht und alle Bestandteile der Aufgabe einen Sinn ergeben. Häufig jedoch wird die Lösung des Problems dadurch erreicht, dass man Schritt für Schritt kleine Teile eines Rätsels aufdeckt. Diese Methode, bei der die Lösung für kleine Bestandteile eines umfassenden Problems als Mittel für die endgültige Lösung dient, wird manchmal als Mittel-Ziel-Analyse bezeichnet. Wir werden uns näher damit beim letzten Beispiel zum Problemlösen und zur Wissensrepräsentation beschäftigen (in dem Kasten mit dem Titel »Kritisch hinterfragt: ein Problem von Patienten – das von Psychiatern und Ihnen selbst«). Unten im Kasten finden Sie eine Matrix, die Ihnen hilft, Ihre Schlussfolgerungen und Deduktionen zu verfolgen. Es ist unwahrscheinlich, dass Sie in der Lage sind, das Problem zu lösen, ohne zu irgendeiner äußeren Repräsentationshilfe Zuflucht zu nehmen.
15.1.3
Innere Repräsentation und Problemlösen
Die Kognitionspsychologen scheinen ihre größten Anstrengungen darauf zu richten, die kognitiven Prozesse näher zu bestimmen, die an der inneren Repräsentation beteiligt sind. Erst vor kurzem kam es zu einer systematischen Suche nach eindeutigen kognitiven Strukturen, die während der Problemlösungsaktivität wirksam sind. Die Modelle, die dabei entstanden, beziehen sich in starkem Maße auf das vorhandene Wissen über Gedächtnisstrukturen und semantische Netze – und dies aus guten Gründen: Die Literatur für beide Bereiche ist umfangreich. Problemlösen hängt gewiss mit Gedächtnisfaktoren zusammen, aber auch mit vielen der Faktoren, die etwas mit semantischen Netzen zu tun haben. Modell für die innere Repräsentation: Eisenstadt und Kareev. Eisenstadt und Kareev (1975) entwickelten, als sie
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einige Aspekte des menschlichen Problemlösens bei Brettspielen erkundeten, ein Netzwerkmodell. Sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf die Art innerer Repräsentationen für Spielstellungen auf dem Brett, wie sie die Spieler bilden, und auf Wissensrepräsentationen. Bei den Brettspielen,mit denen sie sich beschäftigten,handelt es sich um traditionelle asiatische Spiele wie Go und Gomoku. Doch vermutlich ist das Modell,das sie aufstellten,flexibel genug, um es auf viele Spiele anwenden zu können. Sowohl Go als auch Gomoku werden auf einem Brett mit einem Gitter aus
19 vertikalen und 19 horizontalen Linien gespielt.Die Spielfiguren sind kleine weiße und schwarze Steine, die auf die Schnittpunkte im Gitter gelegt werden. Ziel ist es, die Steine des Gegenspielers zu erbeuten und Raum zu besetzen. Beim Go wechseln sich die Spieler dabei ab, ihre Steine zu legen, und, wenn ein Stein eines Spielers vollständig von den Steinen des anderen Spielers umrundet ist,gilt er als erbeutet und wird vom Brett genommen. Gomoku wird auf dem gleichen Brett gespielt, aber hier ist das Ziel erreicht, wenn eine ununterbrochene gerade Linie aus fünf Spielsteinen gebildet wird.Der Gegenspieler versucht diese Formation zu blockieren, während er gleichzeitig seine eigene Linie aufbaut. Um das Spiel zu vereinfachen, verwendeten Eisenstadt und Kareev ein 9-mal-9-Gitter und baten die Versuchspersonen, die Steine in die Kästchen des Gitters und nicht auf die Schnittpunkte zu legen. Die Aktivitäten während des Spiels wurde an Versuchspersonen untersucht,die gegen einen Computer spielten. Dies ermöglichte es den Forschern, eine gewisse Kontrolle über die Strategie und die Fähigkeit des Gegenspielers auszuüben (des Computers, der ein Meister in diesem Spiel war). Die innere Repräsentation von Problemlöseaufgaben ist (wie auch bei den meisten anderen Aufgaben) in hohem Maße subjektiv. Die mentale Übertragung von Konfigurationen in die reale Welt passt nicht immer perfekt zu den inneren Repräsentationen der Versuchsperson.Wenn man beispielsweise die in ⊡ Abb. 15.2A gezeigte Konfiguration als eine Gomoku-Spielstellung ansieht,dann ist das für den Spieler wichtige Muster (und damit das in der inneren Repräsentation gegebene) das Muster,das durch das einkopierte X in ⊡ Abb. 15.2B sichtbar gemacht wird.Beim Go jedoch wäre die relevante Repräsentation die mögliche Erbeutungskonfiguration, wie sie in ⊡ Abb. 15.2C dargestellt ist.Die Strukturierung der Wahrnehmung von Problemen, die von der Motivation des Wahrnehmenden beeinflusst wird, kann und wird sich häufig von der physikalischen Eigenart der Aufgabe unterscheiden. Um die Unterschiedlichkeit zwischen der inneren Repräsentation und den Ereignissen der realen Welt zu veranschaulichen, baten Eisenstadt und Kareev die Versuchspersonen, die in ⊡ Abb. 15.2A dargestellten Spielstellungen zu analysieren und in einem Gomoku-Spiel den besten Spielzug für Schwarz zu machen. Die Versuchspersonen sollten dann, ohne dass sie die Konfiguration sahen, die Spielstellungen rekonstruieren. Später gab man ihnen die Spielkonfiguration,die in ⊡ Abb. 15.2B dargestellt ist,und forderte sie auf, in einem Go-Spiel den besten Zug für Weiß zu machen,
417 15.1 · Problemlösen
⊡ Abb. 15.2. Spielstellung auf dem Brett (A), Strukturierung des gleichen Musters durch die Versuchsperson als Stellung im Gomoku-Spiel (B) und als Go-Spiel (C). Adaptiert nach Eisenstadt und Kareev (1975)
und anschließend bat man sie erneut, die Spielstellungen zu rekonstruieren. Die Spielkonfigurationen in ⊡ Abb. 15.3A und 15.3B sind die gleichen, außer dass Letztere um 90 Grad gedreht und entlang der vertikalen Achse gespiegelt ist. Auch die Farbe der Steine ist umgekehrt. Deshalb wurde bei beiden Aufgaben, was die Spielfiguren angeht im Wesentlichen die gleiche Informationsmenge dargeboten. Die Forscher entdeckten sechs Spielfiguren, die für Go entscheidend waren, und sechs Spielfiguren, die für Gomoku entscheidend waren. Im Kern stellen diese die Schablone für jedes einzelne Spiel dar.Die Rekonstruktion dieser Spielfiguren aus dem Gedächtnis hing unmittelbar von der Instruktion ab. Mit anderen Worten: Wenn die Versuchspersonen dachten, es handele sich um ein Go-Spiel, erinnerten sie sich an die Schlüsselfiguren aus ⊡ Abb. 15.3. Brettkonfigurationen, bei denen die Stellung, die auf Brett B gezeigt wird, die gleiche ist wie auf Brett A, nur dass sie um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht und entlang der vertikalen Achse gespiegelt wurde, wobei die Farbe der Figuren jeweils umgekehrt wurde. Adaptiert nach Eisenstadt und Kareev (1975)
dem Go.Wenn man ihnen sagte, das Spiel sei Gomoku, erinnerten sie die Schlüsselspielstellungen für Gomoku. ⊡ Abbildung 15.4 zeigt den Prozentsatz der entscheidenden Spielfiguren, die korrekt erinnert wurden, in Abhängigkeit von der Art des Spiels,das die Versuchspersonen zu sehen glaubten. Eine weitere Auswertung der Spielaktivität deutete darauf hin, dass die Versuchspersonen schnell spielten. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die Planung bzw. die Vorwegnahme verschiedener Konfigurationen,die hätten auftauchen können, vernachlässigt wurde. Außerdem schienen die Versuchspersonen das Brett mit Hilfe »aktiver Suchvorgänge nach spezifischen Mustern abzusuchen, aber auch mit Hilfe von Suchvorgängen, die davon geleitet waren,›zufällig‹ neue Konfigurationen und Spielfiguren zu
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418
Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Situation. Dies trägt mit dazu bei, eine der Standardbeobachtungen beim menschlichen Problemlöseverhalten zu erklären: Menschen verfolgen eine »immer tiefer gehende« Suchstrategie und nicht eine Tiefensuche bzw. eine Breitensuche. Offensichtlich geht dies auf die Tatsache zurück, dass früher einmal vorgestellte Züge im Arbeits-(Kurzzeit-)Gedächtnis berücksichtigt wurden, sie aber nicht gelöscht werden können. Somit kann ein nochmaliges Aufrufen der Planungssequenz die Kapazität dieses Gedächtnisses leicht überlasten. Infolgedessen neigen die Versuchspersonen dazu, einen Suchprozess immer wieder neu zu beginnen,anstatt sich einige Schritte erneut ins Gedächtnis zu rufen. ⊡ Abb. 15.4. Prozentsatz der entscheidenden Spielfiguren, die richtig erinnert wurden, je nachdem, was den Versuchspersonen im Hinblick darauf gesagt wurde, welches Spiel sie betrachteten. Adaptiert nach Eisenstadt und Kareev (1975)
entdecken.« Somit scheint das Überfliegen eines Problems darauf hinzudeuten,dass durch einen aktiven Suchvorgang innere Repräsentationen gebildet werden. Diese Operationen nennt man gewöhnlich »Top-down-Analyse« (das ist ein Begriff aus der Informatik).Das bedeutet,dass die Analyse mit einer Hypothese beginnt und dann werden Versuche unternommen, die Hypothese mit Hilfe ausgewählter Reize zu verifizieren (z. B.: »Dieses Problem enthält Reize, von denen einige entscheidend sind«). Eine weitere Möglichkeit sind Bottom-up-Vorgehensweisen, bei denen die Reize untersucht werden und versucht wird, zu sehen, ob sie mit strukturellen Komponenten übereinstimmen (z.B.: »Wie passt diese Spielfigur zu den Problemen?«). Ein Problem zu lösen hängt gewissermaßen von der subjektiven Repräsentation ab, die im Gedächtnis gespeichert ist. Und die Bildung einer inneren Repräsentation ist ein aktiver Prozess.Bei Brettspielen gehört nach dieser Auffassung zur Planung sowohl ein Top-Down- als auch ein Bottom-up-Prozess.Eisenstadt und Kareev schreiben dazu:
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Wenn eine Versuchsperson vorausplant, kann die gleiche Art von Suchprozessen eingesetzt werden. Die Platzierung vorgestellter Spielfiguren innerhalb der inneren Repräsentation des Problemraums löst automatisch Planungsprozesse in Bottom-up-Manier auf. Wenn man bestimmen will, welche Spielfiguren auf diese Weise berücksichtigt werden sollen, handelt es sich natürlich um eine hypothesengeleitete Top-down▼
Durch ihre sorgfältige Analyse von Brettspielen haben Eisenstadt und Kareev grob skizziert, welches die zentralen Mechanismen des Problemlösens innerhalb des Gegenstandsbereichs der modernen kognitiven Psychologie zu sein scheinen. Es bleiben jedoch viele Fragen offen, vor allem wenn es um die inneren Prozesse und Strukturen geht.
15.2
Kreativität
Es ist vernünftig, anzunehmen, dass die meisten Menschen kreativ sind.Doch beim Ausmaß der Kreativität gibt es erhebliche Unterschiede. Die Kreativität von beispielsweise Henry Newton, Pablo Picasso, Wolfgang Amadeus Mozart und Thomas Jefferson ist nicht nur Ausdruck einer großen Begabung, sondern auch allgemein bekannt. Es gibt gewiss noch andere kreative Genies, aber sie sind bisher unerkannt geblieben. Die Definition der Kreativität, wie sie in diesem Abschnitt verwendet wird, lautet, dass es sich um »eine kognitive Aktivität handelt, aus der sich eine neue bzw. neuartige Betrachtungsweise für ein Problem oder eine Situation ergibt. Diese Definition schränkt kreative Prozesse nicht auf nützliche Handlungen ein, obwohl als Beispiele für kreative Menschen fast immer irgendeine Art einer nützlichen Erfindung,eines literarischen Werks oder einer Theorie angeführt wird, die diese Personen schufen.
15.2.1
Kreative Prozesse
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie,dass sich während der vergangenen 20 Jahre keine tonangebende Theorie
419 15.2 · Kreativität
entwickelt hat, die die unterschiedlichen und manchmal im Widerspruch zueinander stehenden Untersuchungen zur Kreativität vereinheitlicht. Die Tatsache, dass es keine einheitliche Theorie gibt, weist sowohl auf die Schwierigkeit hin,die das Thema an sich beinhaltet,als auch auf den Mangel einer breiteren Aufmerksamkeit vonseiten der Wissenschaft.Trotzdem wird Kreativität weithin als wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens und der Bildung gepriesen. Vor einiger Zeit in der Frühgeschichte der kognitiven Psychologie beschrieb Wallas (1926) den kreativen Prozess als einen Prozess mit vier sequenziell aufeinander folgenden Phasen: 1. Präparation: Die Formulierung des Problems und die Ausführung anfänglicher Versuche zu seiner Lösung 2. Inkubation: Liegenlassen des Problems,während man sich mit anderen Dingen beschäftigt 3. Illumination: Erreichen von Einsicht ins Problem 4. Verifikation: Überprüfung und/oder Ausführung der Lösung Es gibt praktisch keine Belege für die Gültigkeit der vier Phasen von Wallas.Die psychologische Literatur ist jedoch voller introspektiver Berichte von Menschen, die kreative Gedanken hervorbrachten. Der berühmteste dieser Berichte ist der von Poincaré (1913),einem französischen Mathematiker, der die Eigenschaften von Fuchs’schen Funktionen entdeckte. Nachdem er eine Weile an den Gleichungen gearbeitet und einige wichtige Entdeckungen gemacht hatte (Präparationsphase), entschied er sich, auf eine geologische Exkursion zu gehen. Während der Reise »vergaß« er seine mathematische Arbeit (Inkubationsphase). Poincaré schreibt dann über den dramatischen Augenblick der Einsicht. »Als wir Coutances erreichten, stiegen wir in einen Omnibus, um zu irgendeinem Ort zu fahren.In dem Augenblick,als ich meinen Fuß auf die Stufe setzte, kam mir die Idee, ohne dass irgendetwas in meinen vorherigen Gedanken den Weg dafür gebahnt zu haben schien, dass die Transformationen, die ich verwendet hatte,um die Fuchs’schen Funktionen zu definieren,identisch mit denen der nicht euklidischen Geometrie waren.« Der Autor fährt fort, dass er, als er nach Hause zurückkehrte, die Ergebnisse zu seiner eigenen Unterhaltung auf Korrektheit überprüfte. Wallas’ Vier-Phasen-Modell des kreativen Prozesses liefert uns einen begrifflichen Rahmen, um Kreativität zu analysieren. Wir wollen uns hier kurz jede Einzelne der Phasen ansehen:
Phase 1: Präparation. Poincaré erwähnte in seinen Notizen, dass er schon 15 Tage intensiv an dem Problem gearbeitet hatte. Während dieser Zeit schien er an mehrere probeweise Lösungen gedacht zu haben, die er überprüfte und aus dem einen oder anderen Grund verwarf. Aber zu suggerieren, dass die Zeit für die Präparation 15 Tage betrug, ist natürlich falsch. Sein gesamtes Berufsleben als Mathematiker und wahrscheinlich ein großer Teil seiner Kindheit könnte als Teil der Präparationsphase angesehen werden. Ein immer wiederkehrendes Thema in Biographien über berühmte Männer und Frauen ist der Gedanke, dass selbst während der frühen Kindheit Gedanken entwickelt, Wissen erworben und probeweise Gedanken in einer bestimmten Richtung überprüft wurden. Diese frühen Gedanken formen am Ende häufig das Schicksal der kreativen Person. Es bleibt jedoch eines der Rätsel des Prozesses, warum es anderen Einzelpersonen, die mit ihnen eine ähnliche Stimulierung durch die Umwelt (oder in vielen Fällen eine Reizdeprivation) gemeinsam haben, nicht gelingt, wegen ihres kreativen Talents anerkannt zu werden. Vielleicht sollte man den genetischen Grundlagen der Kreativität mehr Aufmerksamkeit widmen. Phase 2: Inkubation. Woher kommt es, dass ein kreativer
Durchbruch häufig auf eine Zeit folgt,in der man das Problem brachliegen lässt? Die vielleicht pragmatische Antwort darauf lautet, dass ein größerer Teil unseres Lebens der Erholung dient, dem Fernsehen, dem Tauchen, dem Spielen, dem Reisen oder dem In-der-Sonne-Liegen. Dabei lässt man eher die Wolken vorbeiziehen, als ernsthaft über ein Problem nachzudenken,das einer schöpferischen Lösung bedarf. Solche kreativen Akte folgen wahrscheinlich einfach deshalb auf Schlafphasen, weil diese Phasen mehr Zeit in unserem Leben einnehmen. Posner (1973) bietet mehrere Hypothesen zur Inkubationsphase an. Ein Vorschlag ist, dass die Inkubationsphase es uns ermöglicht,uns von der Erschöpfung zu erholen, die mit dem Problemlösen einhergeht. Auch könnte die Unterbrechung einer mühseligen Aufgabe es uns erlauben, unangemessene Ansätze zu einem Problem zu vergessen. Wir haben bereits gesehen, dass die funktionale Gebundenheit das Problemlösen behindern kann, und es ist möglich,dass Menschen dann alte,erfolglose Lösungen für Probleme vergessen.Ein weiterer Grund dafür,warum die Inkubation beim kreativen Prozess hilfreich sein könnte, besteht darin, dass wir während dieser Zeit vielleicht tatsächlich unbewusst an dem Problem arbeiten.Eine sol-
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420
Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
che Auffassung ähnelt dem,was William James einmal sagte: »Wir lernen im Winter schwimmen und im Sommer Eis laufen.« Schließlich ermöglicht die Unterbrechung des Problemlöseprozesses vielleicht die Umstrukturierung des Materials. Phase 3: Illumination. Inkubation führt nicht immer zu Il-
lumination (wir alle kennen sehr viele Menschen, die sich den größten Teil ihres Lebens in Inkubation befanden, es aber bisher noch nicht bis zur Illumination brachten). Wenn dies jedoch geschieht, haben wir eine unverwechselbare Empfindung. Plötzlich geht einem ein Licht auf. Wenn alle Mosaiksteinchen der Gedanken auf einmal zusammenpassen, fühlt die kreative Person vielleicht einen Ansturm der Erregung. Alle einschlägigen Gedanken ergänzen sich gegenseitig und nicht relevante Gedanken werden verworfen.Die Geschichte kreativer Durchbrüche ist voller Beispiele für die Illuminationsphase: Die Entdeckung der Struktur der DNS-Moleküle, die Zusammensetzung des Benzolrings, die Erfindung des Telefons, die Vollendung einer Sinfonie und die Fertigstellung der Handlung eines Romans – all dies sind Beispiele dafür,wie in einem Augenblick der Illumination der betreffenden Person eine kreative Lösung eines leidigen alten Problems durch den Kopf schoss. Phase 4: Verifikation. Nach der Euphorie, die bisweilen mit einer aufschlussreichen Entdeckung einhergeht, wird der Gedanke überprüft. Hier handelt es sich um die Aufräumphase des kreativen Prozesses, in der das kreative Produkt näher darauf hin untersucht wird, ob es folgerichtig ist.Oft ist eine Lösung,von der man zunächst dachte, sie sei kreativ, bei näherer Betrachtung ein Wolkenkuckucksheim des geistig arbeitenden Menschen. Diese Phase kann ziemlich kurz sein,wie auch die erneute Überprüfung der eigenen Berechnungen oder das Nachschauen, ob eine Entdeckung auch funktioniert. In manchen Fällen jedoch kann die Nachprüfung es erfordern, etwas ein Leben lang zu untersuchen,es zu überprüfen und es erneut zu überprüfen.
15 15.2.2
Kreativität und funktionale Gebundenheit
Zuvor in diesem Kapitel haben wir bereits erfahren, wie die funktionale Gebundenheit das Problemlösen beeinträchtigen kann.Funktionale Gebundenheit kann auch die
Kreativität blockieren (dies ist ein Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen den Konzepten des Problemlösens und der Kreativität). Menschen, die immer wieder das Gleiche machen oder die gleichen Gedanken denken, hält man im Allgemeinen für ziemlich einfallslos,um nicht zu sagen im sozialen Kontext für langweilig. Des Weiteren sehen kreative Menschen neuartige Beziehungen oder ungewöhnliche Verbindungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Dingen (wie etwa die Person, die einen riesengroßen Reifen um ein kleines Bäumchen legte,so dass es – als es sich zu einem respektablen Baum entwickelt hatte – von einem reifenförmigen Hochsitz umgeben war). Vor mehreren Jahren waren manche innerhalb der Psychologie der Meinung,es sei möglich,die kreativen Fähigkeiten dadurch zu messen, dass man erfasste, wie gut Menschen neuartige Verbindungen für scheinbar unzusammenhängende Wörter sahen. Einer dieser Tests, der von Mednick (1967) entwickelt wurde,wird als Remote Association Test (RAT) bezeichnet. Dabei werden Menschen gebeten, ein einzelnes Wort zu generieren, das logisch mit drei Wörtern assoziiert ist. Denken Sie einmal an die folgenden beiden Gruppen von drei Wörtern: ROT, BRÜCKE, VERÄRGERT und KOPF, KRANK, HAFEN. Wenn sie für die erste Gruppe von Wörtern »überqueren« sagen, liegen Sie richtig. Welches ist der gemeinsame Nenner für die zweite Gruppe? Der RAT misst zumindest eine Komponente der Kreativität, aber er erfasst wahrscheinlich auch andere Dinge.Weiterhin ist es möglich,dass einige sehr kreative Menschen bei diesem Test versagen. Dies zeigt, wie vage das Konzept der Kreativität ist. Könnte es sein, dass wir unbewusst kreativ sind. Damit meine ich, dass wir viele Assoziationen auf Reize haben – wie etwa ein Wort oder eine visuelle Szenerie oder ein Musikstück –, uns dessen aber nicht bewusst sind? Der Gedanke von den entfernten Assoziationen wurde von Bowers und seinen Kollegen (1990) mit Hilfe einer Aufgabe weiterentwickelt, die sie als Dyaden von Triaden bezeichneten.Ein Teil der Aufgabe ähnelt insofern dem RAT, als die Wörter Bestandteil einer in sich stimmigen (kohärenten) Triade sind, wie bei jenen Wörtern,die gerade beschrieben wurden.Ein weiteres Beispiel bildet die Dreiergruppe ZIEGE, PASS, GRÜN, in der sich alle Wörter um das dazu passende Wort BERG anordnen. Die Triade VOGEL, PFEIFE, STRASSE gilt jedoch insofern als nicht in sich stimmig (inkohärent), als es (aller Wahrscheinlichkeit nach) kein gemeinsames Element zu geben scheint. In dieser Untersuchung bot man den Versuchspersonen Gruppen von in sich stimmigen und nicht in
421 15.2 · Kreativität
sich stimmigen Triaden dar und bat sie, wenn möglich die gemeinsamen Elemente zu finden. Sie sollten auch beurteilen, welche der Triaden in sich stimmig war. Die Ergebnisse zeigten, dass sie in der Lage waren, die in sich stimmigen Triaden zu erkennen, auch wenn sie keine Lösung angeben konnten. Es war so, als wüssten die Versuchspersonen,dass es ein gemeinsames Element gab,das sie aber nicht benennen konnten.Möglicherweise aktivieren Menschen einen Teil einer Lösung für eine Aufgabe mit entfernten Assoziationen. Dies kann eine Phase der kreativen Lösung einer Aufgabe sein. Ein derartiger Gedanke könnte mit dem Begriff der Intuition zusammenhängen (der im Oxford English Dictionary als die »unmittelbare geistige Erfassung eines Gegenstands ohne Vermittlung durch irgendeine Art von Schlussfolgerungsprozess« definiert wird).Intuition ist ein Begriff,der in der wissenschaftlichen Literatur keinen guten Ruf hat. Die menschliche Intuition ist aber in der Tat vielleicht ein wichtiger Bestandteil der Entdeckungsphase bei kreativen Akten.
15.2.3
Investitionstheorie der Kreativität
Sie haben möglicherweise schon davon gehört, dass es bei Investitionen eine kluge Strategie ist, zu kaufen, wenn die Aktien niedrig stehen, und zu verkaufen, wenn sie hoch stehen. Und diejenigen, die sich an diese sofort nachvollziehbare Maxime gehalten haben, haben damit ein Vermögen gemacht (die unglückseligen Menschen,die es umgekehrt machten, haben viel Geld verloren). Einige haben die Vermutung geäußert, dass es keine allzu subtile Ähnlichkeit zwischen der Klugheit beim Investieren und der menschlichen Kreativität gibt. Aufgrund von Kreativität, Weisheit und Geschäftstüchtigkeit wissen kluge Investoren, wann sie kaufen und wann sie verkaufen müssen. Diese Menschen investieren in Anlagen oder Aktien,wenn andere solche Möglichkeiten ablehnen. Ihnen mag dieses Verhalten als verrückt erscheinen, bis der Wert der Investitionen steigt und sie dann auf den Wagen aufspringen. Wenn die Investition mehr wert ist, verkauft der ursprüngliche Investor. Im Endeffekt handeln diese Menschen unter solchen Umständen kreativ. In der Wissenschaft, der Kunst, der Musik und in den meisten anderen Bereichen »kaufen kreative Menschen billig und verkaufen teuer«. Sie steigen also während der Anfangsphase im Keller ein. Man hält ihre Unternehmungen häufig für verrückt, für unbedacht oder für etwas
noch Schlimmeres.Wenn sich die Idee als lohnenswert erweist, steigen andere ein. Ihre Handlungsweise beurteilen wir jedoch nicht als besonders kreativ. Der Kreative wird oft teuer verkaufen, was so viel bedeutet, wie dass er sich, wenn die Idee zum Allgemeingut wird, mit anderen Problemen beschäftigen wird (zur Analyse der Entwicklung wissenschaftlicher Revolutionen siehe Thomas Kuhn, 1962, der hier ähnlich argumentiert). Sternberg und Lubart (1996) haben eine Theorie der Kreativität entwickelt, die auf einem multivariaten Ansatz zu diesem Thema beruht, der durch sechs Faktoren gekennzeichnet ist. Diese sechs Fassetten der Kreativität sind: ▬ Intelligenzprozesse ▬ intellektueller Stil ▬ Wissen ▬ Persönlichkeit ▬ Motivation ▬ Umweltkontext Eine wirklich kreative Leistung ist selten, nicht weil es den Menschen an irgendeinem dieser Faktoren fehlt, sondern weil es schwierig ist, alle sechs Faktoren zusammen wirken zu lassen.Diese Faktoren könnten in etwa aus der gleichen Perspektive gesehen werden, wie man ein Investitionsportfolio in einem Wirtschaftsunternehmen betrachtet. Ein Kreativitätsportfolio ist die Grundlage für kreative Akte. Diese sechs Fassetten des Portfolios lassen sich kombinieren, um in jedem Stadium des Lebens kreative Leistungen zu erzielen. Die geistige Umwelt (wie etwa die Schule oder die heimische Umgebung) hat schon früh einen wichtigen Einfluss auf Kreativität. Die Bedeutung der Arbeit von Sternberg und Lubart besteht darin, dass sie eine allgemeine Theorie der Kreativität liefert und die besonderen Faktoren aufschlüsselt, die analytisch und längsschnittartig untersucht werden können. Es liegt auf der Hand, dass es sich bei der Kreativität nicht um einen einzelnen Persönlichkeitszug, eine einzelne Fertigkeit oder Fähigkeit handelt, sondern um eine Kombination aus verschiedenen Faktoren, die sich herausfinden und analysieren lassen.Außerdem ist die Erfassung der menschlichen Kreativität keine einfache Angelegenheit, bei der man jeweils die Ausprägung einer Eigenschaft erfasst und sie zusammenaddiert, um eine Art von Kreativitätsindex zu finden. Es geht vielmehr darum, die Stärken der Wechselwirkungen zwischen Eigenschaften auszumachen und zu erfassen. Die Kombination der Stärken von Eigenschaften und die Anzahl der möglichen
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Wechselwirkungen stellen ein komplexes Netz dar, das einige Wissenschaftler verwirren mag. Tatsächlich könnte die gesamte Idee als in verrückter Weise komplex erscheinen. Es könnte sein, dass die Autoren dieser Theorie in etwas investieren, das andere möglicherweise als riskantes Unternehmen bezeichnen. Wieder andere könnten der Meinung sein, dass Sternberg und Lubart billig gekauft haben.
15.2.4
Beurteilung von Kreativität
Ob wir es nun so nennen oder nicht – wir haben ein Faible dafür, Handlungen oder Individuen für kreativ zu halten. Alles vom neuesten italienischen Sportwagen bis zum letzten Film von Stephen Spielberg, vom Sieger beim Eislaufen bis zur Liebe wird nach der Originalität und nach dem kreativen Wert eingestuft.In den meisten Fällen ist die Beurteilung kreativer Akte in hohem Maße subjektiv.Manchmal werden die Beurteilungsstandards von einer Autorität auf dem Gebiet festgelegt, wie etwa einem bekannten Professor für Design, einem Filmkritiker, einem früheren Olympiasieger beim Eislaufen oder einem sehr scharfsinnigen Menschen. Diese Herangehensweise an die Psychologie hört sich mehr nach Kunst als nach Wissenschaft an und verständlicherweise würden sich viele von der Wissenschaft besessene Psychologen lieber einen weißen Kittel anziehen, sich in ein dunkles Labor begeben und die Impulse eines Oszilloskops messen, die von einer Katze hervorgerufen werden, die auf eine senkrechte Linie starrt, als den Versuch zu unternehmen, einen kreativen Akt oder eine kreative Person zu bewerten. Hier traten einige unerschrockene Einzelpersonen auf den Plan, während ihre engelsgleichen Kollegen Angst davor hatten, einen riskanten Weg zu gehen. Divergence Production Test. J.P. Guilford (1967) ver-
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brachte den größten Teil seiner langen und berühmten beruflichen Entwicklung damit, Theorien und Tests für geistige Fähigkeiten zu entwickeln, wozu auch die Kreativität zählt.Er hat zwischen zwei Arten des Denkens unterschieden: dem konvergenten und dem divergenten Denken. Im Bildungswesen wird häufig ein Schwerpunkt auf das konvergente Denken gelegt, bei dem die Schüler gebeten werden, sich an faktische Informationen wie die folgende zu erinnern: > Wie heißt die Hauptstadt von Bulgarien?
Beim divergenten Denken wird von der Person verlangt, viele unterschiedliche Antworten auf eine Frage zu generieren. Dabei ist die »Korrektheit« der Antworten immer etwas subjektiv. Beispielsweise: > Zu wie vielen unterschiedlichen Zwecken können Sie einen Backstein verwenden?
Die konvergente Antwort könnte lauten: »um ein Gebäude oder einen Schornstein zu bauen«. Eine etwas divergentere Antwort könnte sein: »zur Herstellung eines Bücherregals« oder »als Kerzenhalter«, während eine ziemlich ungewöhnliche divergente Antwort wäre: »im Notfall als Rouge« oder »als Abschiedsgeschenk bei einer Reise« – »als Schuh für Menschen,die das erste Mal auf den Mond fahren«. Schlichte Produktivität beim Antworten ist noch kein kreatives Denken. Man könnte einen Backstein dazu verwenden, einen Laden für Süßigkeiten zu bauen, eine Bäckerei, eine Fabrik, eine Schuhfabrik, einen Laden, in dem handgeschnitzte Objekte aus Holz verkauft werden, eine Tankstelle usw.Bei divergenten oder kreativeren Antworten werden Gegenstände oder Gedanken in abstrakterem Sinne verwendet.Der divergente Denker ist in seinem Denken flexibler. Wenn Produktivität ein valides Maß für Kreativität wäre, dann könnte die quantitative Erfassung dieses Persönlichkeitszugs dadurch erreicht werden, dass man die Anzahl der Antworten auf Fragen wie die nach dem Backstein auszählt. Weil dies nicht der Fall ist – wie im oben aufgeführten Beispiel veranschaulicht wurde –, müssen subjektive Bewertungen verwendet werden. Ich vermute einmal, dass die meisten Menschen mir zustimmen würden, wenn ich sage, dass Backsteine als Schuhe für Leute auf dem Mond eine kreativere Antwort ist als die Art von Gebäuden aufzulisten,die man aus Backsteinen herstellen könnte. Die zuletzt genannte Antwort ist allerdings praxisbezogener.
423 15.2 · Kreativität
Kulturell bedingte Blockaden. Woran liegt es, dass man-
che Menschen kreative Verwendungsmöglichkeiten für Gegenstände wie etwa einen Backstein nennen können und andere nicht? Einen Teil der Antwort findet man vielleicht im kulturellen Erbe der Menschen. James Adams (1976b) liefert mit der folgenden Aufgabe ein Beispiel für eine kulturbezogene Blockade: > Übung: Nehmen Sie an, dass sich im Betonboden eines leeren Zimmers ein Stahlrohr befindet, wie es in der Abbildung dargestellt ist. Der innere Durchmesser ist um 1,5 cm größer als der Durchmesser eines Tischtennisballs (4 cm), der im unteren Teil des Rohrs liegt. Sie gehören zu einer Gruppe von sechs Personen im Zimmer. Außerdem befinden sich dort noch die folgenden Gegenstände: 30 m Wäscheleine Ein Zimmermannshammer Ein Meißel Eine Packung Frühstücksflocken Ein Aktenschrank Ein Drahtkleiderbügel Ein Universalschraubenschlüssel Eine Glühbirne Listen Sie innerhalb von fünf Minuten so viele Möglichkeiten auf, wie Ihnen einfallen, um den Ball aus dem Rohr herauszubekommen, ohne den Ball, das Rohr oder den Fußboden zu beschädigen.
Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, um eine kreative Lösung für dieses Problem zu finden. Wenn es um Ihre kreativen Begabungen ähnlich bestellt ist wie um meine eigenen, dann haben Sie vielleicht gedacht: Wenn ich nur den Fußboden, den Ball oder das Rohr beschädigen dürfte, dann könnte ich den Ball in wenigen Minuten herausbekommen. Vielleicht haben Sie dann die Liste der Items benutzt oder sie als Werkzeug umgearbeitet.Wenn Sie in der Lage waren, eine lange Liste von Verwendungsmöglichkeiten für die Items zu generieren, dann haben Sie möglicherweise fluide Intelligenz oder die Fähigkeit gezeigt, eine ganze Reihe von Begriffen innerhalb einer kurzen Zeitspanne hervorzubringen. Wenn Sie mehrere unterschiedliche Ideen generieren konnten, dann hätten sie auch Ihre Flexibilität bewiesen. Kreatives Problemlösen lässt sich gewiss mit fluider Intelligenz umsetzen – Sie denken sich also genügend Begriffe aus, um dann einen Begriff zu finden, der angemessen
ist –, doch in vielen Fällen führt fluide Intelligenz nicht zu einer Lösung und ist vielleicht sogar nur Zeitverschwendung. Ein flexibleres Denken ist gefordert. Haben Sie das Problem mit dem Ball im Rohr gelöst? Vielleicht haben Sie daran gedacht, eine riesige Pinzette zu basteln, indem Sie den Kleiderbügel auseinander biegen und die Enden flach klopfen. Zu weiteren flexibleren Mitteln könnte es gehören, aus den Glühfäden der Glühbirne eine Schlinge anzufertigen. Eine andere Möglichkeit wäre es, eine von den sechs Personen in die Röhre urinieren zu lassen und dadurch den Ball nach oben zu bringen.Warum ist Ihnen das nicht eingefallen oder,wenn doch,wie sind Sie darauf gekommen? Ein wahrscheinlicher Grund wäre,dass Ihnen wegen eines kulturellen Tabus, nach dem öffentliches Urinieren verboten ist,diese Lösung (ich entschuldige mich bei denen, die keine unanständigen Wortspiele mögen) nicht eingefallen wäre. Da hier keine Zeitbegrenzung vorgegeben ist,könnten Sie aus den Frühstücksflocken eine klebrige Paste machen, die Wäscheleine dort eintunken, sie ins Rohr gleiten und am Ball trocknen lassen. Dann könnte man den federleichten Ball sanft herausziehen. Als Alternativmöglichkeit könnten die sechs Personen in der Lage sein,den gesamten Raum und damit den Betonboden zu kippen, wodurch der Ball aus dem Rohr herausrollen würde (die Anleitung schreibt nur vor,dass das Rohr im Betonboden bleiben soll und dass sich die Gruppe von sechs Personen im Raum befindet). Schließlich könnte es sich um einen sehr kleinen Raum handeln, der sich leicht von sechs Personen bewegen lässt. Warum haben Sie daran nicht gedacht? Vielleicht hätten Sie mit den zur Verfügung stehenden Werkzeugen eine Antischwerkraftmaschine entwickeln oder auf transzendentalem Wege den Ball außerhalb des Raums erleben können (was ist denn eigentlich Realität?). Wenn Sie weitere geniale Lösungen haben,sollten Sie sie mir vielleicht zuschicken.Unsere Fähigkeit, kreativ zu denken, wird teilweise durch unsere Kultur und unsere Erziehung eingeschränkt. Kreativität lehren. Wenn die Kreativität sehr viel mit unserer Kultur und unserer Bildung zu tun hat, ist es dann möglich, Kreativität zu lehren? Die Antwort hängt davon ab,wie man Kreativität definiert.Es ist möglich,Menschen beizubringen, dass sie flexibler in ihrem Denken sind, höhere Werte bei Kreativitätstests erreichen, Rätselaufgaben kreativer lösen und naturwissenschaftliche und philosophische Fragen tiefer gehend als vorher untersuchen.Es ist jedoch schwierig, empirisch nachzuweisen, dass man allein durch Übung aus einer zufällig ausgewählten Person
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
ein Ebenbild von Rossini, Baudelaire, van Gogh, Einstein, Picasso, Shakespeare oder Freud machen könnte. Hayes (1978) wies darauf hin,dass man Kreativität mit Hilfe der folgenden Mittel verbessern kann: ▬ Entwicklung einer Wissensbasis. Ein guter Hintergrund im Hinblick auf Naturwissenschaften, Literatur, Kunst und Mathematik scheinen einem kreativen Menschen einen größeren Informationsspeicher zu bieten, aufgrund dessen er seine kreativen Begabungen fortentwickeln kann. Jede Einzelne der oben erwähnten kreativen Personen verbrachte viele Jahre damit,Informationen zu sammeln und ihre grundlegenden Fertigkeiten zu vervollkommnen. Bei einer Untersuchung an kreativen Künstlern und Wissenschaftlern fand Anne Roe (1946, 1953) heraus, dass der einzige gemeinsame Nenner innerhalb der von ihr untersuchten Gruppe die Bereitschaft war,ungewöhnlich hart zu arbeiten. Der Apfel, der Newton auf den Kopf fiel und ihn dazu anregte, eine allgemeine Theorie der Schwerkraft zu entwickeln, traf auf ein Objekt, das voller Informationen war. ▬ Schaffen der richtigen Atmosphäre für Kreativität. Vor vielen Jahren kam die Technik des Brainstormings in Mode. Der Kern des Brainstormings besteht darin, dass Menschen in einer Gruppe so viele Ideen generieren, wie sie können, ohne von anderen Gruppenmitgliedern kritisiert zu werden.Auf diese Weise kann man nicht nur eine große Anzahl von Ideen und Lösungen für ein Problem produzieren, sondern die Technik kann auf individueller Grundlage auch dazu verwendet werden, die Entwicklung einer kreativen Idee zu fördern. Häufig werden wir von anderen oder von unseren eigenen Beschränkungen beim Hervorbringen seltsamer Lösungen daran gehindert. ▬ Suche nach Analogien. Zahlreiche Untersuchungen haben Folgendes gezeigt: Wenn ein neues Problem einem alten Problem ähnelt,von dem wir bereits wissen, wie man es löst, so erkennen wir dies dennoch nicht (Hayes & Simon, 1976; Hinsley, Hayes & Simon, 1977). Wenn man eine kreative Lösung für ein Problem formuliert, ist es wichtig, ähnliche Probleme zu berücksichtigen,denen man vielleicht schon einmal begegnet ist. Beim Problem, bei dem ein Tischtennisball aus einem 10 cm langen Rohr geholt werden musste,bestand eine Vorgehensweise darin, aus Frühstücksflocken eine Klebemasse herzustellen.Wenn Sie mit einer ähnlichen Aufgabe konfrontiert würden, würden Sie sich nun vielleicht, indem Sie Analogien bilden, an das
Problem mit dem Rohr und dem Tischtennisball sowie an seine Lösung mit Hilfe des Frühstücksflockenklebers erinnern.
15.3
Menschliche Intelligenz
15.3.1
Das Problem mit der Definition
Trotz der verbreiteten Verwendung des Wortes Intelligenz hat man sich innerhalb der Psychologie bisher noch nicht auf eine Definition einigen können. Viele würden jedoch zustimmen, dass alle Themen, die sich unter die Formen der Kognition höherer Ordnung einordnen lassen – Begriffsbildung, Schlussfolgern, Problemlösen und Kreativität, aber auch Gedächtnis und Wahrnehmung –, mit der menschlichen Intelligenz zusammenhängen.R.Sternberg (1982) bat Personen, die charakteristischen Eigenschaften eines intelligenten Menschen anzugeben. Zu den am häufigsten genannten Antworten gehörten »kommt zu guten logischen Schlussfolgerungen«, »ist belesen«, »ist geistig offen« und »begreift viel von dem, was er liest«. Als Arbeitsdefinition für menschliche Intelligenz könnten wir sagen: »die Fähigkeit, Wissen zu erwerben, zu erinnern und zu verwenden, um konkrete und abstrakte Begriffe und Zusammenhänge zwischen Gegenständen und Gedanken zu verstehen sowie um das Wissen sinnvoll einzusetzen«. Das neuerliche Interesse an künstlicher Intelligenz (KI) hat viele Psychologinnen und Psychologen dazu veranlasst, darüber nachzudenken, was an der menschlichen Intelligenz so speziell für den Menschen ist und welche Fähigkeiten ein Computer haben müsste, um (wie ein Mensch) intelligent zu handeln. Nickerson, Perkins und Smith (1985) stellten die folgende Liste von Fähigkeiten zusammen, von denen sie glauben, dass sie die menschliche Intelligenz repräsentieren: ▬ Die Fähigkeit,Muster zu klassifizieren. Alle Menschen mit normaler Intelligenz scheinen dazu fähig zu sein, nicht identische Reize Klassen zuzuordnen. Diese Fähigkeit ist grundlegend für Denken und Sprache, weil Wörter im Allgemeinen für Kategorien von Informationen stehen. Telefon beispielsweise bezieht sich auf eine breite Klasse von Gegenständen, die man für die elektronische Kommunikation auf große Entfernung einsetzt.Stellen Sie sich einmal den Ärger vor,wenn Sie jedes einzelne Telefon als ein gesondertes, nicht klassifiziertes Phänomen behandeln müssten.
425 15.3 · Menschliche Intelligenz
▬ Die Fähigkeit, Verhalten durch Anpassung zu verändern – zu lernen. In vielen Theorien wird die Anpassung an die eigene Umwelt als das wichtigste Kennzeichen der menschlichen Intelligenz angesehen. ▬ Die Fähigkeit zum deduktiven Schlussfolgern. Wie schon früher festgestellt gehört zum deduktiven Schlussfolgern das Ziehen logischer Schlüsse aus behaupteten Prämissen. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass »Philipp Schmidt gerne Wein mag«, wenn man die Prämissen »Alle Bewohner der Gegend am Kaiserstuhl mögen gerne Wein« und »Philipp Schmidt lebt am Kaiserstuhl« als wahr voraussetzt,dann schließen wir auf ein gewisses Maß an Fähigkeit zum deduktiven Schlussfolgern. ▬ Die Fähigkeit zum induktiven Schlussfolgern – zum Verallgemeinern. Induktives Schlussfolgern setzt voraus, dass die Person über die Informationen, die ihr gegeben werden,hinausgeht.Es verlangt von dem,der die Schlussfolgerungen zieht, in Spezialfällen Regeln und Prinzipien zu entdecken. Wenn Philipp Schmidt gerne Wein mag und am Kaiserstuhl lebt, mögen seine Nachbarn auch gerne Wein. Und wenn sein Nachbar auch gerne ein Gläschen trinkt, könnten Sie zu dem Eindruck gelangen, dass auch der Nachbar ein bisschen Spaß an fermentierten Trauben hat. Das mag nicht wahr sein, aber es wird gewöhnlich als »intelligent« angesehen, diese Schlussfolgerung zu ziehen. ▬ Die Fähigkeit,begriffliche Modelle zu entwickeln und zu verwenden. Diese Fähigkeit bedeutet, dass wir uns einen Eindruck von der Art und Weise bilden, wie die Welt ist und wie sie funktioniert, und dieses Modell dazu benutzen, Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren. Nickerson und seine Kollegen führen das folgende Beispiel an: > Wenn Sie einen Ball sehen, der auf der einen Seite unter eine Couch rollt und dann auf der anderen Seite wieder auftaucht, woher wissen Sie, dass der Ball, der wieder herauskam, derselbe ist wie der, der darunter rollte? Tatsächlich wissen wir eigentlich nicht sicher, dass dies so ist. Aber Ihr begriffliches Modell von der Welt veranlasst Sie, eine derartige Schlussfolgerung zu ziehen … Weiterhin: Wenn der Ball beim Wiederauftauchen eine andere Farbe oder eine andere Größe als beim Darunterrollen gehabt hätte, dann hätten sie entweder den Schluss ziehen müssen, dass der ▼
Ball, der heraus rollte, nicht der war, der darunter rollte, oder dass unter der Couch etwas Seltsames vor sich ging.
Vieles von dem, was wir wissen, beobachten wir nicht unmittelbar, sondern wir erschließen es aus unseren Vorerfahrungen mit anderen ähnlichen Dingen und Ereignissen. Ich weiß beispielsweise nicht, ob mein Friseur, der in Arizona geboren wurde und aufwuchs, mir die Uhrzeit sagen oder Hindi sprechen kann.Aber ich verhalte mich so, als könnte er mir die Uhrzeit sagen und als könnte er kein Hindi sprechen. Eine Person dagegen, die in einem kleinen Dorf im Nordosten Indiens aufgewachsen ist,könnte das umgehrte Modell im Kopf haben. ▬ Die Fähigkeit zu verstehen. Im Allgemeinen hat die Fähigkeit zu verstehen,etwas mit der Fähigkeit zu tun, Zusammenhänge in Problemen zu erkennen und aufgeschlossen für die Bedeutung dieser Zusammenhänge beim Problemlösen zu sein. Die Validierung von Verständnis ist eines der Probleme beim Testen von Intelligenz, das am schwersten fassbar ist.
15.3.2
Kognitive Theorien der Intelligenz
Wenn die Informationsverarbeitung einer Sequenz von Schritten folgt, während der bei jedem Schritt eine einzelne Operation ausgeführt wird, dann kann man sich die menschliche Intelligenz als eine Komponente des menschlichen Intellekts vorstellen, der eine Wechselwirkung mit der Verarbeitung von Informationen eingeht. Im Wesentlichen ist dies die Art und Weise, wie Intelligenz von kognitiven Psychologen begrifflich gefasst wird, die Anhänger der informationsverarbeitenden Theorie der Kognition sind.Die Begeisterung für dieses Modell schien sich insbesondere bei Kognitionspsychologen zu entwickeln,die von der Computerintelligenz fasziniert sind (Kap. 16 in diesem Buch widmet sich der künstlichen Intelligenz und der Computersimulation der Intelligenz). Die Analogie zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz ergibt sich zwangsläufig. Informationen aus der Außenwelt werden wahrgenommen oder eingegeben,sie werden im Gedächtnis gespeichert, eine Transformation der Informationen wird durchgeführt und es entsteht ein Output. Außerdem erfolgt die Informationsverarbeitung im Computer analog den Programmen und beim Menschen analog den geistigen Funktionen; und dazu gehört auch Intelligenz.
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Earl Hunt. Untersuchte Intelligenz und künstliche Intelligenz im Kontext der kognitiven Psychologie
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Kurzzeitgedächtnis. Als Beispiel für die Art von Intelligenzuntersuchungen, wie sie von kognitiven Psychologen durchgeführt wurden, beschäftigen wir uns zunächst mit der Arbeit von Hunt (1978), von Hunt, Lunneborg und Lewis (1975) sowie von Hunt und Lansman (1982), die an der University of Washington tätig waren. Eine Frage, die von Hunt und seinen Mitarbeitern gestellt wurde, lautete: Auf welche Weise(n) unterscheidet sich die Verarbeitung von Informationen bei Versuchspersonen mit hoher und geringer Fähigkeit? Zwei Gruppen – einmal Studenten mit hoher Fähigkeit und ein andermal Studenten mit geringerer Fähigkeit – wurden aufgrund eines standardisierten Hochschuleingangstests wie dem Scholastic Aptitude Test (SAT) ausgewählt. Dann wurden ihnen Fragen gestellt, die es erforderten, nach im Allgemeinen bekannten Informationen im Langzeitgedächtnis zu suchen. Als abhängige Variable verwendete man dabei die Geschwindigkeit des Abrufs aus dem Gedächtnis. Als Test zur Erfassung der Reaktionszeiten verwendete Hunt die Aufgabe zur Übereinstimmung von Buchstaben,die von Posner und seinen Kollegen (1969) entwickelt worden war und die im Detail in Kap. 7 dargestellt wurde. Die Aufgabe verlangte von den Versuchspersonen, darüber zu entscheiden, ob zwei Buchstaben (z.B. A-A oder A-a) übereinstimmen. In manchen Fällen stimmten die Buchstaben physisch überein, in anderen ergab sich eine Übereinstimmung aufgrund der Bezeichnung für den Buchstaben. Aus der Perspektive der Informationsverarbeitung verlangte die Versuchsbedingung »physische Übereinstimmung« nur, dass die Versuchspersonen die Buchstaben im Kurzzeitgedächtnis hatten und eine Entscheidung fällten. Unter der Versuchsbedingung »Übereinstimmung von Bezeichnungen« mussten die Versuchspersonen über beide Terme im Kurzzeitgedächtnis verfügen und zusätzlich die Bezeichnung des Buchstabens aus dem Gedächtnis abrufen (sie war angeblich im Langzeitgedächtnis gespeichert), eine Entscheidung fällen und dann eine Reaktionszeittaste drücken.Hunt nahm an,dass
die physischen Übereinstimmungen nur Ausdruck struktureller Prozesse sind, die sich mit der Enkodierung und dem Vergleich visueller Muster beschäftigen.Dagegen war er der Meinung, dass die Übereinstimmung der Bezeichnungen Ausdruck der Effektivität der Enkodierung von Informationen auf einem Niveau ist, das erfordert, dass eine physische Repräsentation eines Buchstabens mit der Bezeichnung für diesen Buchstaben im Langzeitgedächtnis in Kontakt kommt. Grob gesagt ging man der Hypothese nach,dass die Geschwindigkeit,mit der Personen Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abrufen konnten,ein Maß für ihre verbale Fähigkeit ist.Unter der ersten Versuchsbedingung mit der physischen Übereinstimmung (A-A) zeigten die Gruppen mit geringerer und hoher Fähigkeit gleich gute Leistungen. Unter der Versuchsbedingung mit der Übereinstimmung der Bezeichnung (A-a) brauchte die Gruppe mit geringerer Fähigkeit im Durchschnitt mehr Zeit, um eine korrekte Entscheidung zu fällen, als die Gruppe mit hoher Fähigkeit. Der Unterschied zwischen den Gruppen betrug zwischen 25 und 50 ms, was als sehr gering erscheinen mag. Wenn wir jedoch die Dekodierung Tausender von Buchstaben und Wörtern beim normalen Lesevorgang (wie etwa beim Lesen eines Lehrbuchs) bedenken, addiert sich die Einwirkung dieser kurzen Zeiten schnell auf. Die Ergebnisse wurden für unterschiedliche Versuchspersonengruppen wie etwa Studenten, Zehnjährige, ältere Erwachsene und geistig behinderte Personen repliziert. In einer weiteren Studie verwendete Hunt (1978) eine modifizierte Form der Brown-Peterson-Aufgabe (Kap. 7), um die Unterschiede zwischen Personen mit hoher und niedriger verbaler Fähigkeit zu untersuchen. Diese Aufgabe verlangte von den Versuchspersonen – wie Sie vielleicht noch wissen –, sich an eine Silbe mit drei Buchstaben zu erinnern, nachdem sie für eine bestimmte Zeit in Dreierschritten rückwärts gezählt hatten (Hunt verwendete Silben mit vier Buchstaben und ließ die Versuchspersonen Ziffern lesen). In diesem Experiment unterschieden sich die beiden Gruppen signifikant in Bezug auf die Erinnerung der Buchstaben.Außerdem waren die Behaltenskurven für die beiden Gruppen parallel. Dies ist ein Hinweis darauf,dass die Gruppe mit hoher verbaler Fähigkeit möglicherweise verbale Informationen effektiver enkodiert (statt einfach nur mehr Informationen bereitzuhalten) als die Gruppe mit geringer verbaler Fähigkeit. Schließlich verwendete Hunt das (Saul-)Sternberg-Paradigma (Kap. 7), um die Unterschiede zwischen Versuchspersonen mit hoher und geringer verbaler Fähigkeit aufzudecken. Wie
427 15.3 · Menschliche Intelligenz
man im Nachhinein erwarten könnte, fand er heraus, dass die erste Gruppe bei dieser Aufgabe bessere Leistungen zeigte als die zweite. Die Untersuchungen von Hunt und anderen waren aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens deuteten sie darauf hin, dass das Paradigma der Informationsverarbeitung viele nützliche Methoden zur Untersuchung der menschlichen Intelligenz liefert. Es ist plausibel, dass zusätzlich zur verbalen Fähigkeit andere Maße der Intelligenz – wie etwa mathematische Fähigkeit, räumliche Fähigkeit oder vielleicht sogar allgemeine Intelligenz – möglicherweise nicht mehr so geheimnisumwoben sind und einige ihre Rätsel im Hinblick auf recht einfache kognitive Prozesse und Mechanismen preisgeben. Zweitens gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Kurzzeitgedächtnis und den verbalen Komponenten der Intelligenz. Dies liegt nicht notwendigerweise daran,dass die Anzahl der Items,die im Kurzzeitgedächtnis behalten werden, entscheidend mit der Intelligenz zusammenhängt. Vielmehr geht dies darauf zurück, dass einfache kognitive Prozesse und Operationen (z.B. das Erkennen der Bezeichnung eines Buchstabens oder das Behalten eines Trigramms,das von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis abhängt) sensibel auf individuelle geistige Unterschiede reagieren. Allgemeinwissen. Das Allgemeinwissen wurde seit der Entwicklung der ersten Intelligenztests als integraler Bestandteil der menschlichen Intelligenz angesehen.Und bis heute sind Fragen, die das Verständnis des Individuums von der Welt abfragen, Teil der meisten Standardtests. Offensichtlich nehmen die Entwickler von Tests einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und dem Wissen an, dass Bagdad die Hauptstadt des Irak ist, dass Wasserstoff leichter als Helium ist, dass das Kirowballett seinen Sitz in Sankt Petersburg hat oder dass Howard Carter das unberührte Grab von Tutenchamun entdeckte. Dies alles sind Beispiele für mein passives Wissen – die Art von Wissen, das ein einfacher Computer speichern könnte. Peinlich wenig Aufmerksamkeit widmete man jedoch weder unter theoretischen noch unter pragmatischen Aspekten den Gründen dafür, dass Allgemeinwissen und Intelligenz zusammenhängen sollen.
Aus demselben Grund, warum Fische als Letzte das Wasser entdecken werden, schenkten die Entwicklungspsychologen bis vor kurzem den Veränderungen des inhaltsspezifischen Wissens von Kindern fast kei▼
nerlei Aufmerksamkeit. Derartige Veränderungen sind so allgegenwärtig, dass sie als Gegenstand von Untersuchungen wenig verlockend erschienen. Anstatt verbessertes inhaltsspezifisches Wissen genauer zu untersuchen, wurde es implizit als Abfallprodukt grundlegender Veränderungen von Fähigkeiten und Strategien abgetan. (Siegler & Richards, 1982, S. 930) Tests zum Allgemeinwissen können wichtige Befunde über den augenblicklichen Wissensstand einer Person und ihre Fähigkeit liefern, Informationen abzurufen. Dies wiederum könnte einen nützlichen Hinweis auf die geistige Vorgeschichte geben und ließe künftige Leistungen vorhersagen. Doch von den vielen kognitiven Eigenschaften, die kürzlich entdeckt wurden, hingen nur wenige mit der menschlichen Intelligenz zusammen.Anscheinend ist die semantische Organisation ein Thema, das für Menschen, die sich mit Intelligenz beschäftigen, von besonderem Interesse sein könnte. In Kap. 9 wurden einige der aktuellen Theorien zur semantischen Organisation behandelt. Allem Anschein nach ist die Fähigkeit, Informationen in einem organisierten Schema zu speichern und einen schnellen Zugang zu diesen Informationen zu finden,charakteristisch für mindestens eine Art von Intelligenz.Vielleicht werden sich Kognitionspsychologen in Zukunft dieses wertvollen Themas annehmen. Es gibt eine entwicklungspsychologische Untersuchung, die nicht nur gezeigt hat, wie man Experimente in diesem Bereich durchführen könnte, sondern auch, wie man den Einfluss einer Wissensbasis eindeutig demonstrieren kann. Chi (1978) untersuchte die Auswirkung einer spezialisierten Wissensbasis auf den Abruf von Reizen aus den Bereichen Schach und Ziffern. Für ihre Experimente wählte sie siebenjährige Kinder aus, bei denen es sich um fähige Schachspieler handelte, und Erwachsene, die in diesem Spiel Anfänger waren. Die Aufgabe war insofern denen ähnlich, die von Chase und Simon (Kap. 4) verwendet worden waren, als die Schachfiguren in einer normalen Spielstellung angeordnet waren.Beide Gruppen von Versuchspersonen durften das Brett und die Figuren sehen und sollten dann die Anordnung der Figuren auf einem zweiten Brett zu reproduzieren. Eine damit zusammenhängende Aufgabe war, die Metagedächtnis-Aufgabe (dies bezieht sich auf das Wissen eines Individuums über sein eigenes Gedächtnis). Sie bestand darin, die Kinder und Erwachsenen zu bitten, vorherzusagen, wie viele Durchgänge erforderlich wären, um alle Figuren zu reproduzieren. Die Ergebnisse, die in ⊡ Abb. 15.5 darge-
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
⊡ Abb. 15.5. Erinnerung an Reize aus den Bereichen Schach und Ziffern bei Kindern und Erwachsenen. Aus Knowledge Structures and Memory Development von M.T. Chi in: R.S. Siegler (ed.), Children’s Thinking: What Develops? (Hillsdale, N.J.: Erlbaum, 1978). Genehmigter Nachdruck
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stellt sind,zeigten,dass die Kinder sich nicht nur besser an die Anordnung der Schachfiguren erinnern konnten,sondern auch besser darin waren, ihre Leistung vorherzusagen – das heißt, ihr Metagedächtnis war genauer als das der Erwachsenen. Auch eine Standardaufgabe zur Gedächtnisspanne für Ziffern, die normalerweise bei Intelligenztests verwendet wird, wurde durchgeführt. Wie erwartet zeigten die Erwachsenen bessere Leistungen beim Erinnern dieser Ziffern und bei der Vorhersage ihrer Leistung als die Kinder. Der Effekt einer Wissensbasis scheint unabhängig vom Alter oder anderen Arten der Intelligenz (z.B. der Leistung bei der Gedächtnisspanne für Ziffern) messbar die Fähigkeit dabei zu verbessern, spezialisierte Informationen, die direkt mit der Wissensbasis zusammenhängen, aus dem Arbeitsgedächtnis abzurufen. Sowohl die methodologischen als auch die theoretischen Fragen,die durch dieses Experiment aufgeworfen wurden, zeigen, dass künftig viele weitere Untersuchungen dieser Art durchgeführt werden sollten. Schlussfolgern und Problemlösen. Fast jeder würde der
Aussage zustimmen, dass Schlussfolgern und Problemlö-
sen wichtige Komponenten der menschlichen Intelligenz sind. Manche würden sogar so weit gehen, dass man diese Begriffe nur zu analytischen Zwecken trennen sollte. Der prominenteste Vertreter in der neuen Generation der kognitiven Psychologen, die sich mit der Frage der menschlichen Intelligenz und deren Beziehung zum Schlussfolgern und Problemlösen beschäftigen, ist R. Sternberg (1977, 1980a, 1980b, 1982, 1984a, 1984b, 1986a, 1986b, 1989). Die von Sternberg vorgeschlagene Theorie der menschlichen Intelligenz ist die triarchische Theorie. Sie besteht aus drei Untertheorien, die als Leitgedanken für spezifische Modelle intelligenten menschlichen Verhaltens dienen. Diese Teile sind: 1. Komponentenbezogenes intelligentes Verhalten. Diese Untertheorie gibt im Einzelnen die Strukturen und Mechanismen an, die intelligentem Verhalten zugrunde liegen. Sie umfasst wiederum drei informationsverarbeitende Komponenten: (a) lernen, wie man etwas macht, (b) planen, welche Dinge und wie man sie macht, und (c) tatsächlich etwas machen. Menschen mit dieser Fähigkeit sind im Allgemeinen erfolgreich in Tests und zeigen Spit-
429 15.3 · Menschliche Intelligenz
zenleistungen bei standardisierten Tests. Sie können auch gut Kommentare über die Arbeit anderer Leute abgeben. Sie sind jedoch nicht unbedingt kritische Denker und auch nicht besonders kreativ. 2. Erfahrungsbezogenes intelligentes Verhalten. Bezogen auf
diese Komponente wurde das Postulat aufgestellt, dass bei einer gegebenen Aufgabe oder Situation kontextbezogenes Verhalten nicht gleichermaßen »intelligent« in allen Punkten entlang des Kontinuums der Erfahrung mit diesem Verhalten oder mit dieser Klasse von Verhaltensweisen ist.Eine solche Art von Intelligenz lässt sich am besten demonstrieren, wenn Menschen mit einer neuartigen Situation konfrontiert werden oder sich in einem Prozess befinden, bei dem die Leistung bei einer gegebenen Auf-
Sternbergs triarchische Theorie der Intelligenz Komponentenbezogen Alice hatte hohe Testwerte und war genial beim Absolvieren von Tests und beim analytischen Denken. Ihre Art von Intelligenz ist ein Beispiel für die komponentenbezogene Untertheorie, durch die die am analytischen Denken beteiligten mentalen Komponenten erklärt werden.
Erfahrungsbezogen Barbara hatte nicht die besten Testwerte, aber sie war eine außerordentlich kreative Denkerin, die unterschiedliche Erfahrungen auf einfallsreiche Weise miteinander kombinieren konnte. Sie ist ein Beispiel für die erfahrungsbezogene Untertheorie.
Kontextbezogen Sylvia hatte Alltagsintelligenz. Sie hatte gelernt, sich an die Spielregeln zu halten und wie man seine Umwelt manipulieren kann. Ihre Testwerte waren nicht richtig gut, aber sie konnte in fast jedem Kontext als Beste abschneiden. Sie ist Sternbergs Beispiel für kontextbezogene Intelligenz.
gabe automatisiert wird. Die Personen, die über diese Komponente verfügen, haben vielleicht nicht die höchsten Werte bei typischen Intelligenztests, aber sie sind kreativ. Anhand einer solchen Fähigkeit lässt sich im Allgemeinen der Erfolg in einem ausgewählten Gebiet wie dem Geschäftsleben, der Medizin oder dem Tischlerhandwerk sehr gut vorhersagen. 3. Kontextbezogenes intelligentes Verhalten. Hierzu gehört (a) die Anpassung an eine momentan vorhandene Umwelt, (b) die Auswahl einer nahezu optimalen Umwelt im Vergleich zu der,von der das Individuum im Moment umgeben ist, oder (c) die Formung der gegenwärtigen Umwelt, um sie so zu verändern, dass sie besser zu den eigenen Fertigkeiten, Interessen oder Werten passt. Kontext-
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Robert J. Sternberg. Entwickelte eine triarchische Theorie der Intelligenz
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bezogene Intelligenz ermöglicht uns, eine gute Harmonie mit der Umwelt zu erreichen, indem wir uns selbst oder die Umwelt oder beides verändern. Man kann sich diese Art der Intelligenz so vorstellen, dass sie dabei behilflich ist, mit der Welt zurechtzukommen – ob es sich nun um den Plattenbau von Halle-Neustadt, die Vorstandsetage von IBM, den Schafzüchterverband von Lüneburg, die Hamburger Hafenstraße oder das Münchner Literaturhaus handelt. Um diese drei Arten der Intelligenz zu illustrieren, erinnert sich Sternberg an drei idealisierte Studentinnen Alice,Barbara und Sylvia,die jeweils ein Beispiel für je eine Intelligenzkomponente sind (Trotter, 1986). Die drei Studentinnen werden im Kasten mit dem Titel »Sternbergs triarchische Theorie der Intelligenz« beschrieben. Derartig revolutionäre Ideen auf dem Gebiet der Intelligenz bewegen sich in einem Grenzbereich zwischen recht unterschiedlichen menschlichen Bestrebungen (Bildung,Politik,Ethnien usw.) und mussten zwangsläufig auf Kritik stoßen. Einige der Argumente sind methodischer Natur,andere philosophisch und wieder andere eher pragmatisch (eine hervorragende Sammlung von Beiträgen zu Sternbergs Theorie und der Kritik durch führende Vertreter dieses Spezialgebiets findet sich in Sternberg, 1984b). Ein Autor, Hans Eysenck (1984), äußerte sich deswegen kritisch zur triarchischen Theorie, weil es sich hier weniger um eine Theorie der Intelligenz handle, sondern eher um eine Theorie des Verhaltens. Der näher interessierte Leser sei auf die Originalquellen und aktuelle Veröffentlichungen verwiesen. Heute glaubt niemand mehr – auch nicht Sternberg (1984b, S. 312) –, dass das endgültige Modell der Intelligenz schon gefunden wurde. Gleichzeitig glaubt auch niemand daran, dass unsere Sicht die Intelligenz unverändert bleiben wird. In Sternbergs Schema wird Schlussfolgern als Versuch gekennzeichnet, Elemente alter Informationen miteinander zu kombinieren, um neue Informationen zu erzeugen
(siehe den Kasten mit dem Titel »Kognitive Intelligenztests«).Die älteren Informationen können äußere sein (aus Büchern, Filmen, Zeitungen), innere (im Gedächtnis gespeichert) oder eine Kombination aus beidem.Beim zuvor erörterten induktiven Schlussfolgern sind die Informationen, die in den Prämissen enthalten sind, nicht ausreichend, um zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Die Person muss die korrekte Lösung finden. Eine Methode, die von Sternberg verwendet wurde,ist der Analogieschluss.Er lässt sich repräsentieren durch:A verhält sich zu B wie C zu D. Oder symbolisch: A : B :: C : D. In einigen Fällen kann man den letzten Begriff (D) auslassen. Er muss von der Versuchsperson generiert werden. In anderen Fällen müssen die Versuchspersonen ihn aus einer Reihe anderer Antworten wie etwa der folgenden auswählen: > Philologie : Sprachen :: Mykologie : ? a. Blüten tragende Pflanzen, b. Farne, c. Gräser, d. Pilze
Die Schlussfolgerungsfähigkeit,die man zum Lösen dieses Problem braucht,ist minimal.Doch für viele Menschen ist diese Analogie dennoch schwierig, weil sie nicht wissen, dass es sich bei der Mykologie um die Lehre von den Pilzen und bei der Philologie um die Lehre vom Ursprung der Sprachen handelt. Durch Aufgaben zu Analogien dieser Art lässt sich eine Form der Intelligenz erfassen, die etwas mit dem Wortschatz zu tun hat. Bei der oben erwähnten Analogie hängt die Lösung vom Wissen über Wörter und von der Fähigkeit zum Schlussfolgern ab. Analogieprobleme zu lösen ist jedoch keine leichte Sache, wie dies auch auf den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis zutrifft. Dazu gehören mehrere Phasen. Sternberg geht davon aus, dass man – wenn man mit einem Problem dieser Art konfrontiert ist – die Analogie in Unterprobleme zergliedern sollte, von denen man jedes einzelne Problem lösen muss,bevor man das gesamte Problem lösen kann. Die dabei verwendete Strategie ähnelt der (oben erwähnten) Mittel-Ziel-Analyse von Newell und Simon.Sie unterscheidet sich jedoch insofern, als man von jeder Stufe der Informationsverarbeitungssequenz annimmt, dass sie in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielt. Das folgende Problem (adaptiert nach R. Sternberg, 1982) ist eine Veranschaulichung einiger Phasen, die eine Person durcharbeiten muss, bevor sie ein Analogieproblem lösen kann. > Rechtsanwalt : Klient :: Arzt : ? a. Patient, b. Medizin
431 15.3 · Menschliche Intelligenz
Kognitive Intelligenztests
In diesem Fall ist die Enkodierung der Wörter weniger problematisch als im vorigen Fall, weil die meisten Menschen mit allen Begriffen vertraut sind.Die Phasen,die bei der Lösung dieses Problems zur Anwendung kommen, sind die folgenden: 1. Der Schlussfolgernde enkodiert die in der Analogie enthaltenen Begriffe. 2. Der Schlussfolgernde zieht eine Schlussfolgerung zwischen Rechtsanwalt und Klient (z.B.: Ein Rechtsanwalt erbringt Dienstleistungen für den Klienten, ein Rechtsanwalt wird vom Klienten bezahlt und ein Rechtsanwalt kann dem Klienten helfen.)
b. Schlussfolgerungen, die auf jeden Teil eines Ganzen anwendbar sind, auch auf das Ganze anwendbar sind und dass diese Annahme nicht stimmt. c. Schlussfolgerungen, die auf das Ganze anwendbar sind, auch auf jeden Teil eines Ganzen anwendbar sind und dass diese Annahme stimmt. d. Schlussfolgerungen, die auf das Ganze anwendbar sind, auch auf jeden Teil eines Ganzen anwendbar sind und dass diese Annahme nicht stimmt. 4. Wählen Sie die Antwortmöglichkeit aus, die entweder für eine notwendige oder eine verbotene Eigenschaft des kursiv geschriebenen Wortes steht. Löwe a. Wild, b. Weiß, c. Säugetier, d. Lebendig 5.
Antworten: 1. b, 2. d, 3. b, 4. c, 5. 2
Beispielfragen 1. Nehmen wir einmal an, dass alle Edelsteine aus Schaumgummi wären. Mit welcher der folgenden Antworten ließe sich die unten genannte Analogie korrekt vervollständigen? Holz : Hart :: Diamant : ? a. Wertvoll, b. Weich, c. Spröde, d. Das Härteste 2. Jane, Barbara und Helena sind Hausfrau, Rechtsanwältin und Physikerin, aber nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. Jane lebt nebenan von der Hausfrau. Barbara ist die beste Freundin der Physikerin. Helena wollte früher Rechtsanwältin werden, aber entschied sich dann dagegen. Jane hat Barbara in den letzten beiden Tagen gesehen, aber nicht die Physikerin. Jane, Barbara und Helena sind in dieser Reihenfolge: a. Hausfrau, Physikerin, Rechtsanwältin b. Physikerin, Rechtsanwältin, Hausfrau c. Physikerin, Hausfrau, Rechtsanwältin d. Rechtsanwältin, Hausfrau, Physikerin 3. Josef und Sandra diskutieren über zwei Fußballmannschaften, die Roten und die Blauen. Sandra fragt Josef, warum er meint, die Roten hätten dieses Jahr eine größere Chance, den Siegerpokal zu bekommen, als die Blauen. Josef erwidert: »Wenn jeder Spieler im roten Team besser ist als jeder Spieler im blauen Team, dann müssen die Roten das bessere Team sein. Josef nimmt an, dass: a. Schlussfolgerungen, die auf jeden Teil eines Ganzen anwendbar sind, auch auf das Ganze anwendbar sind und dass diese Annahme stimmt.
Aus R. Sternberg (1986a)
3. Der Schlussfolgernde überträgt den Zusammenhang höherer Ordnung aus der ersten Hälfte der Analogie auf die zweite Hälfte (beide beschäftigen sich mit Akademikern, die gegenüber einem Kunden Dienstleistungen erbringen). 4. Der Schlussfolgernde wendet einen Zusammenhang, der dem Erschlossenen ähnelt, auf die zweite Hälfte der Analogie an, also auf den Arzt und jede Einzelne der Alternativmöglichkeiten (ein Arzt erbringt Dienstleistungen gegenüber einer anderen Person, nicht gegenüber der Medizin). 5. Der Schlussfolgernde gibt seine Antwort.
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432
Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Am Anfang müssen die Begriffe aus einer Analogie in innere Repräsentationen enkodiert oder übersetzt werden, auf die die anschließenden Operationen angewendet werden können. Ein Modell für Repräsentationen, das von Sternberg (1977, 1982, 1985b) verwendet wurde, beruht auf Eigenschaften von Informationen, die den in Kap. 9 über das semantische Gedächtnis erörterten Theorien ähneln. Dieses Modell lässt sich durch das folgende Beispiel veranschaulichen: > Washington : 1 :: Lincoln : ? a. 10, b. 5
▬ Washington könnte als (der erste) Präsident enkodiert werden, als eine Person, deren Gesicht sich auf einem Geldschein (Ein-Dollar-Schein) befindet oder als Kriegsheld (aus der amerikanischen Revolution). ▬ 1 könnte enkodiert werden als eine Kardinalzahl (1),als eine Position in einer Rangreihe (der Erste) oder als eine Menge (eine Einheit). ▬ Lincoln könnte enkodiert werden als ein Präsident (der 16.), eine Person, deren Gesicht sich auf einem Geldschein befindet (Fünf-Dollar-Schein) oder als Kriegsheld (Bürgerkrieg). ▬ 10 könnte enkodiert werden als Kardinalzahl (10), als Position in einer Rangreihe (der Zehnte) oder als eine Menge (zehn Einheiten). ▬ 5 könnte enkodiert werden als Kardinalzahl (5),als Position in einer Rangreihe (der Fünfte) oder als eine Menge (fünf Einheiten). Zusätzlich zu semantischen Repräsentationen, wie sie in diesen Analogien beschrieben wurden, können Informationen in Problemen auch bildlich dargestellt werden.Dies geschieht etwa in einer Analogie,die vielleicht ein schwarzes Quadrat innerhalb eines weißen Kreises enthält. Dies könnte in Form von Gestalt, Position und Farbe repräsen-
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tiert werden (zu einem Beispiel siehe Frage 5 im Kasten mit dem Titel »Kognitive Intelligenztests«). Aus solchen Problemen entwickelte Sternberg eine Intelligenztheorie, bei der zwischen fünf unterschiedlichen Komponenten unterschieden wird, mit deren Hilfe man Intelligenz analysieren kann: Metakomponenten, Performanzkomponenten, Wissenserwerbskomponenten, Behaltenskomponenten und Übertragungskomponenten. Komponenten bezieht sich auf die Schritte,die eine Person durchlaufen muss, um ein Problem zu lösen. Metakomponenten bezieht sich auf das Wissen einer Person darüber, wie man ein Problem löst. Weil Metakomponenten die Grundlage für so viele unterschiedliche geistige Aufgaben sind, hängen sie nach Sternberg mit allgemeiner Intelligenz zusammen. Er erforschte weiterhin, welchen Anteil unterschiedliche Komponenten bei Aufgaben zum Schlussfolgern haben (wie etwa bei Analogieproblemen) und wie die Komponenten und Metakomponenten mit der Entwicklung an Komplexität zunehmen.Von besonderem Interesse für den,der sich mit der Kognitionswissenschaft beschäftigt, ist Sternbergs Gesamtschema, das Intelligenztheorien und Intelligenztests eindeutig in die kognitive Theorie einbindet.
15.3.3
Neurokognition und Intelligenz
Während Psychologen unterschiedlicher Provenienz – von Binet über Spearman, Thurstone, Guilford, Cattel, Wechsler bis hin zu Hunt und Sternberg (sowie viele andere) – nach Antworten auf Fragen nach der Intelligenz suchten, interessierten sich Neurowissenschaftler für das gleiche Problem,forschten jedoch im Gehirn nach neurologischen Antworten. Herkömmlicherweise hatte der neurologische Ansatz seine Basis in der medizinischen Forschung und Praxis. Die Betonung wurde dabei häufig auf geistige Retardierungen und auf Entwicklungsüberlegungen gelegt.
433 15.3 · Menschliche Intelligenz
Es wurden überraschend wenige Arbeiten über die biologische Entwicklung »normaler« geistiger Prozesse durchgeführt.Mit der Erfindung bildgebender Verfahren hat sich diese Situation verändert. Sie ermöglichte es den Forschern,die inneren Wirkungsmechanismen im Gehirn mit zuvor nicht bekannter Klarheit zu untersuchen. Aus dem, was wir zuvor (Kap. 2) über Positronenemissionstomographie (PET) gesagt haben, wissen wir Folgendes: Wenn wir winzige Mengen radioaktiver Teilchen – speziell Wasserstoff kombiniert mit Sauerstoff 15, einem radioaktiven Isotop des Sauerstoffs – in der Blutbahn messen, ist es möglich, die Stellen im Gehirn zu erfassen, die Nährstoffe in Form von Glukose brauchen. Der Annahme nach sind die Areale, die mehr Energie in Form von Glukose brauchen, aktiver als die Areale, die weniger brauchen. Und diese »hot spots« lassen sich in PETSchichtaufnahmen darstellen. Das Potenzial in diesen Arbeiten zum Verständnis der Lokalisierung unterschiedlicher Arten geistiger Arbeit sowie möglicherweise der Art und Weise, wie das Gehirn Intelligenzaufgaben (wie etwa aus einem Intelligenztest) verarbeitet, ist von großer Bedeutung und kann im Hinblick auf grundlegende Konzepte der Intelligenz in eine neue Richtung führen. Doch wo sollen wir anfangen? Logischerweise betrachten wir das Gehirn und die Intelligenz auf dem allgemeinsten Niveau.In einer Reihe von Experimenten haben sich Richard Haier und seine Kollegen von der University of California in Irvine mit dieser Frage beschäftigt, indem sie sich den Stoffwechselbedarf an gegenüberliegenden Orten im Gehirn untersuchten.Sie machten dies bei unterschiedlichen Gruppen – wie etwa geübten Anwendern von Computerspielen im Vergleich zu nicht geübten Spielern oder Menschen mit einem hohen Wert bei Aufgaben zum abstrakten, nicht verbalen Schlussfolgern im Vergleich zu Personen mit einer durchschnittlichen Leistung oder Personen mit einer leichten geistigen Retardierung und Down-Syndrom im Vergleich zu einer entsprechenden Kontrollgruppe sowie bei Männern im Vergleich zu Frauen –,die zugleich Aufgaben zum mathematischen Schlussfolgern lösen mussten. In einem Experiment zeigten Versuchspersonen mit hohen Werten bei Aufgaben zum abstrakten, nicht verbalen Schlussfolgern eine verringerte Energieaktivität in Teilen des Gehirns, die sonst bei solchen Aufgaben aktiviert sind. Sie erinnern sich vielleicht aus Kap. 2 an Berichte über Befunde, dass die neuronale Aktivität bei Experten in Computerspielen geringer war als bei Anfängern. Dieser Befund und der oben zitierte deuten darauf hin,dass das Ge-
hirn in dem Sinne ein effektives Organ ist, dass intelligente und geübte Gehirne weniger Glukose verbrauchen als Gehirne in vergleichbaren Kontrollgruppen. Die Glukosestoffwechselrate des Gehirns war bei Menschen, die höhere Werte in Tests zum abstrakten Denken hatten, geringer als bei der Kontrollgruppe.Das deutet darauf hin,dass diese Art von Intelligenz beim Problemlösen wirksam wird. Bei einem weiteren Experiment im Zusammenhang mit Intelligenz übte eine Gruppe von Personen das Computerspiel »Tetris« (⊡ Abb. 15.6).Dieses Spiel verlangt von den Spielern, Objekte so zu drehen und zu bewegen, dass damit eine durchgehende Reihe von Blöcken geschaffen wird. Ist der Spieler erfolgreich, nimmt die Geschwindigkeit zu, bis nur noch wirkliche Könner mit den rasch herunterfallenden Blöcken Schritt halten können.Allgemein haben Haier und seine Kollegen ein Effektivitätsmodell der Intelligenz entwickelt: Intelligenz hängt nicht so sehr davon ab, wie hart das Gehirn arbeitet, sondern eher davon, wie effektiv es funktioniert. Außerdem lässt sich durch Lernen der Stoffwechsel des Gehirns tatsächlich herunterfahren. Dies erinnert an das Konzept der Automatizität (Kap. 3), nach dem gut eingeübte Routinen wenig Aufmerksamkeit verlangen und mit »Autopilot« vonstatten gehen. Bei einer früher durchgeführten Studie mussten die Versuchspersonen für fünf Tage pro Woche über mehrere Monate hinweg Tetris üben. Ihre Leistung stieg auf das Siebenfache an, aber ihre kortikale und subkortikale Glukosestoffwechselrate nahm gegenüber der anfänglichen Stoffwechselrate signifikant ab. Nach diesen Experimenten führten Haier,Siegel,Tang,Abel und Buchsbaum (1992) mehrere Standardintelligenztests durch (Raven’s Progressive Matrices und Wechsler Adult Intelligence Scale). Das Ziel bei diesem Experiment bestand darin, den Zusammenhang zwischen dem Lernen von Tetris und den Intelligenztestwerten festzustellen.Auf dieser Grundlage sollte ermittelt werden, ob Menschen mit hohen Fähigkeiten die größte Abnahme in Bezug auf die Glukosestoffwechselrate zeigen. Denn darauf deutete ja die Hypothese von der Effektivität des Gehirns hin. Die Ergebnisse stützten das Modell der Effektivität und zeigten, dass die Größe der Veränderung der Glukosestoffwechselrate und die Intelligenztestwerte miteinander zusammenhängen. Zusätzliche Hinweise,dass kluge Gehirne effektive Gehirne sind, gehen auf eine Untersuchung der Hirngröße und der Glukosestoffwechselrate von Haier et al.(1995) bei leicht geistig retardierten Personen und bei Menschen mit Down-Syndrom zurück, bei der sowohl PET-Schichtauf-
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434
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
⊡ Abb. 15.6. Das Spiel »Tetris«, Verlauf von links nach rechts. Die Spieler versuchen Spielfiguren, die sich aus vier Quadraten zusammensetzen und von oben nach unten wandern, so zu bewegen, dass sich daraus zusammenhängende Zeilen von Blöcken ergeben. Ist eine zusammenhängende Zeile von Blöcken vervollständigt, ver-
schwindet sie und wird durch die darüber liegende Zeile ersetzt. Die Markierung der Symbole zeigt einzelne Formen, die bereits platziert wurden. Achten Sie darauf, dass die untere Zeile im mittleren Feld vollständig ist. Im rechten Feld ist sie verschwunden (das gibt einen Punkt) und die Zeilen darüber rutschen eine Zeile nach unten
nahmen als auch Daten aus der Kernspintomographie genutzt wurden. Die Ergebnisse der Kernspintomographie zeigten, dass geistig Retardierte und Menschen mit einem Down-Syndrom im Vergleich zur Kontrollgruppe ein um 80% verringertes Gehirnvolumen hatten. Die PET-Daten zeigten,dass die Glukosestoffwechselrate im gesamten Gehirn sowohl bei den Retardierten als auch bei den Personen mit Down-Syndrom größer war als bei den Versuchspersonen der Kontrollgruppe. Die Intelligenz oder zumindest die Leistung bei komplexen Problemlöseaufgaben ist etwas, das momentan bei neugierigen Gentechnikern Furore macht. Sie vertreten die Auffassung, dass man durch Herumbasteln an der genetischen Struktur des Gehirns klügere Lebewesen zusammensetzen könnte.Eine dieser Anstrengungen,die die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit erhielt, geht auf die Arbeit von Joe Tsien (2000) von der Princeton University zurück, der bei Mäusen ein Protein veränderte, das für Lernen und Gedächtnis von Bedeutung ist. Diese genetisch veränderten Mäuse mit dem Spitznamen »Doogie« wurden in einen offenen Kasten gesetzt und man ließ sie mehrere Minuten lang zwei Gegenstände erkunden.Ein paar Tage später ersetzte der Versuchsleiter einen der Gegenstände durch einen neuen. Die »klugen«
Mäuse verbrachten mehr Zeit damit, den neuen Gegenstand zu erkunden, während die »normalen« Mäuse in etwa die gleiche Zeit damit zubrachten, beide Gegenstände zu untersuchen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass ihnen der alte Gegenstand nicht vertrauter vorkam als der neue. Die genetisch veränderten Mäuse erinnerten Gegenstände bis zu fünf Mal länger als die nicht veränderten Mäuse. Bei mehreren sich daran anschließenden Aufgaben,zu denen auch das Lernen eines Gangs durch ein Labyrinth gehörte, wurden die vorherigen Beobachtungen bestätigt. Obwohl diese Mäuse nicht dazu in der Lage sind,auch nur ein einfaches Algebraproblem zu lösen, schienen sie »intelligent zu handeln«. Die Zukunft der Gentechnik – aber auch andere Formen der Veränderung des Mentalen wie etwa ein chemischer Eingriff, wenn er denn etwas damit zu tun hat, Menschen dazu zu bringen, dass sie »intelligent handeln – halten manche für einen Segen, speziell wenn es um langsam lernende Menschen und solche geht, deren natürliche Intelligenz ernsthaft gefährdet ist. Die »schöne neue Welt«, die gerade in den heutigen Labors geschaffen wird, wird mit Argusaugen beobachtet und wirft möglicherweise einige ethische Probleme auf, für die intelligente Entscheidungen erforderlich sein werden.
435 15.3 · Menschliche Intelligenz
Die allgemeine Intelligenz (g-Faktor) scheint etwas Kortexspezifisches zu sein Die Frage, ob sich die menschliche Intelligenz aus einer Reihe von Unterkomponenten zusammensetzt (wie etwa mathematische Fähigkeit, verbale Fähigkeit, räumliche Fähigkeit) oder ob es sich um einen allgemeinen Faktor handelt, der zum Erfolg bei einer großen Zahl kognitiver Aufgaben beiträgt, wurde heiß diskutiert. Charles Spearman entwickelte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Konzept der allgemeinen Intelligenz g. Überzeugende Nachweise für g blieben bisher aus. Nach einer kürzlich durchgeführten Studie von John Duncan (2000) und seinen Mitarbeitern in Cambridge scheinen spezifische Teile des lateralen frontalen Kortex aktiviert zu sein, wenn Menschen eine Vielfalt kognitiver Aufgaben lösen, die Intelligenz erfassen. Wählen Sie in der folgenden Aufgabe die Antwortmöglichkeit aus, die nicht zu den übrigen passt. In der ersten Aufgabe wird räumliche Intelligenz, in der zweiten verbale Intelligenz erfasst (die richtige Antwort auf die räumliche Frage ist das dritte nicht symmetrische Item und bei der verbalen Aufgabe das dritte Item, weil es hier um den gleichen Abstand der Buchstaben innerhalb des Alphabets von hinten nach vorne geht.
Daraus ergibt sich eine Reihe von Schlussfolgerungen. Warum sind intelligente Gehirne effektiver als weniger intelligente? Oder enthält die Prämisse, die den Rahmen für diese Frage bildet,einen Fehler? Auf welche Mechanismen geht die Tatsache zurück, dass mehr Glukose benötigt wird? Hat das grundlegende Phänomen etwas mit der Arborisierung von Nervenzellen zu tun? Wie hängt Intelligenz mit der frühen Entwicklung zusammen? Gibt es eine kritische Zeitspanne bei der Entwicklung eines Neugeborenen und bei der des Gehirns? Welchen Einfluss hat die Stimulierung in der frühen Kindheit auf die Effektivität
Verbal LHEC DFIM TQNK HJMQ Schichtaufnahmen des Gehirns mit Hilfe der Kernspintomographie zeigen, dass die räumliche und die verbale Verarbeitung im Allgemeinen im frontalen Teil des Gehirns lokalisiert sind. Dies kann als Stützung der allgemeinen Intelligenz oder von g angesehen werden (siehe Abbildung unten). Anscheinend sind sowohl die rechte als auch die linke Hirnhälfte an der räumlichen Verarbeitung beteiligt. Diese Arbeit eröffnet der Forschung zur Neurokognition neue Bereiche und wirft neue Fragen auf. So etwa: Gibt es spezialisierte Areale innerhalb des allgemeinen Areals, die mit spezifischen geistigen Fähigkeiten assoziiert sind? Und wie sind diese Areale allgemeiner Intelligenz mit anderen Teilen des Gehirns verbunden, die (wahrscheinlich auch) etwas zur intelligenten Kognition beitragen?
des Gehirns? Lassen sich Fälle geistiger Retardierung verhindern bzw. umkehren? Wir stehen erst am Anfang unserer Arbeit zur menschlichen Intelligenz. Doch wenn dies so ist, trifft es auch auf die Arbeit zu, die in den folgenden Bereichen geleistet werden muss: Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnis, Problemlösen und Myriaden weiterer Probleme, die die Kognitionspsychologen während des 20. Jahrhunderts in Angriff nahmen. Viele der Lösungen für diese Geheimnisse wird man im 21. Jahrhundert finden.
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
Zusammenfassung
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1. Problemlösen ist nach allgemeiner Auffassung auf die Entdeckung einer Lösung für ein bestimmtes Problem ausgerichtet. 2. In mehreren Modellen wurden kognitive Netze vorgeschlagen, die an der Aktivität während des Problemlösens beteiligt sind. Ein solches Modell (Eisenstadt & Kareev) hat sich auf die inneren Repräsentationen konzentriert, die während des Problemlösens gebildet werden. Die entsprechende Forschung zeigt, dass die Erinnerung an den Problembereich davon abhängt, wie die Problemrepräsentation gebildet wurde. Vernachlässigenswert ist die vorwegnehmende Planung und das Überfliegen der Muster des Problembereichs. Dies deutet darauf hin, dass hier eine Top-down- oder hypothesengeleitete Verarbeitung stattfindet. 3. Kreativität ist eine kognitive Aktivität, aus der sich eine neuartige Sichtweise eines Problems ergibt. Sie ist nicht auf pragmatische Handlungsergebnisse beschränkt. 4. In einer Rahmenvorstellung der Betrachtung kreativer Prozesse (Wallas) werden vier Phasen vorgeschlagen: a. Präparation: Dazu gehört die Problembildung – ein Prozess, an dem unsere allgemeine Wissensbasis beteiligt ist. b. Inkubation: Dies ist die Zeit, in der keine direkten Versuche unternommen werden, um das Problem zu lösen, und in der sich die Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden. c. Illumination: Dazu kommt es, wenn ein Verständnis erreicht wird. d. Verifikation: Hierzu gehört die Überprüfung der Einsicht. 5. Beurteilungen der Kreativität variieren von Bewertungen durch anerkannte Personen aus dem relevanten Gebiet (etwa Olympiasieger) bis zu psychometrischen Instrumenten, die dazu entworfen wurden, divergente Denkprozesse zu erfassen. Diese Prozesse werden definiert als die Fähigkeit, viele abstrakte, flexible Antworten auf ein Problem zu generieren (z.B.: Auf wie viele unterschiedliche Arten kann man einen Backstein verwenden?). Sowohl zur Bewertung durch eine Autorität als auch zur psycho-
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metrischen Erfassung der Kreativität gehören subjektive Bewertungen. Training kann zu einer verbesserten Leistung bezogen auf Standardmaße für Kreativität führen. Es ist jedoch nicht bekannt, ob sich durch eine solche Erfahrung eine Art von Kreativität hervorbringen lässt, wie man sie im Allgemeinen mit Menschen in Verbindung bringt, die für kreativ gehalten werden (wie etwa van Gogh, Einstein oder Shakespeare). Die komplexe Eigenart der Intelligenz führt zu Definitionsproblemen. Bei den frühen Versuchen, diese begrifflichen Schwierigkeiten in Angriff zu nehmen, wurde die Faktorenanalyse dazu verwendet, allgemeine und spezifische Fähigkeiten zu isolieren. Doch diese Vorgehensweise wurde dahin gehend kritisiert, dass sie keine Informationen über mentale Prozesse liefert, nur schwer in Bezug auf Theorien zu überprüfen ist und stark auf individuellen Unterschieden beruht, die nicht notwendigerweise der einzige oder beste Weg sind, um menschliche Fähigkeiten zu untersuchen. Kognitive Intelligenztheorien behaupten, dass Intelligenz eine Komponente ist, die mit Informationen interagiert, wenn sie in den Schritten verarbeitet werden, zu denen einzelne Operationen gehören. In der Forschung, der diese Rahmenvorstellung zugrunde liegt, wurde festgestellt, dass der Abruf aus dem Gedächtnis (Geschwindigkeit, Genauigkeit und Menge an Informationen) von der verbalen Fähigkeit abhängt. Und die Wissensbasis eines Individuums (Anfänger kontra Experte) beeinflusst die Menge und die Genauigkeit des Abrufs, aber auch die Genauigkeit des Metagedächtnisses. Untersuchungen zur Glukosestoffwechselrate des Gehirns deuten darauf hin, dass Menschen, die hohe Werte bei Intelligenztests haben oder bei bestimmten Fertigkeiten gut eingeübte Leistungen aufweisen, gewöhnlich weniger Nährstoffe in den einzelnen Teilen des Gehirns brauchen als »weniger effektive« Gehirne.
437 15.3 · Menschliche Intelligenz
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
divergentes Denken Einstellung (»set«) funktionale Gebundenheit Illumination Inkubation Intelligenz konvergentes Denken Kreativität Präparation Problemlösen Verifikation
Chipman, Segal und Glaser herausgegeben und der Titel lautet Thinking and Learning Skills. Nickerson, Perkins und Smith haben ein ausgezeichnetes Buch über Denken mit dem Titel The Teaching of Thinking geschrieben. Die Zeitschrift Current Issues in Cognitive Science enthält häufig anregende Artikel über Themen, die in diesem Kapitel behandelt wurden, und in der Ausgabe vom Februar 1993 (Nummer 1) war Intelligenz in mehreren Artikeln das zentrale Thema. Hunt hat einen interessanten Beitrag im American Scientist veröffentlicht. Und zur Betrachtung des sozialen bzw. ethnischen Aspekts der Intelligenz siehe The Bell Curve von Herrnstein und Murray. Eine Sonderausgabe des Scientific American mit dem Titelthema »Exploring Intelligence« wurde im Jahre 1998 veröffentlicht.
Antworten auf die Aufgaben von S. 414
Literaturempfehlung Einen hervorragenden Überblick über die frühe Geschichte der Forschung zu Denken, Begriffsbildung und Problemlösen bietet Woodworths Buch Experimental Psychology. F. Bartletts Werk Thinking ist eine gute Einführung in die traditionellen Sichtweisen.A Study of Thinking von Bruner, Goodnow und Austin stellt die wichtige Quelle für einen Großteil der herkömmlichen Theorien und Experimente zur Begriffsbildung dar. Eine ganze Reihe von Artikeln wurde in zwei Taschenbüchern mit dem Titel Thinking: Readings in Cognitive Science zusammengetragen. Die Herausgeber sind Johnson-Laird und Wason. Drei »Jahrbücher« über Denken, in denen die Hauptentwicklungen zusammengefasst wurden, sind das Buch von Bourne und Dominowski mit dem Titel Thinking, das von Neimark und Santa mit dem Titel Thinking and Concept Attainment sowie das von Erickson und Jones mit dem Titel Thinking. Rubinstein hat mit Tools for Thinking and Problem Solving eine lebendige Darstellung des Themas Denken und Problemlösen vorgelegt, wie auch Bransford und Stein mit The Ideal Problem Solver. Leicht zu lesen und unterhaltsam ist das Buch Thinking, Problem Solving, Cognition von Mayer.Eine erstklassige Sammlung von Beiträgen über die menschliche Intelligenz wurde von Robert Sternberg herausgegeben und heißt Handbook of Human Intelligence and Advances in the Psychology of Human Intelligence. Siehe auch Intelligence Applied and Beyond IQ: A Triarchic Theory of Human Intelligence von Sternberg. Eine Reihe aktueller Bände über Intelligenz wurde von
In der Aufgabe wird erwähnt, dass man »unendlich viel Nachschub an Seilen« zur Verfügung hat. Sie werfen die Seile in die Schlucht, bis sie damit aufgefüllt ist. Dann spazieren Sie und Ihr Freund bequem auf die andere Seite. In der Zwischenzeit könnten Sie auf geniale Lösungen gekommen sein, bei denen die 6 m lange Leiter, die Zäune, die Katze, die Streichhölzer und Ihr Freund verwendet werden. Beim Lösen eines Problems erschweren zu viele Informationen die Sache manchmal mehr, als wenn einfach nur die wesentlichen Dinge zur Verfügung stehen. Probieren Sie die Aufgabe an einem Freund aus und lassen Sie alle Ausrüstungsgegenstände außer dem unendlichen Nachschub an Seilen weg. Wie gut war Ihr Freund? Warum? Aus Zufall wurde ich dazu angeregt,dieses Beispiel anzuführen, weil mir kürzlich etwas Frustrierendes passiert ist. Ich hatte für meine Küche eine speziell angefertigte Schublade bestellt. Was eintraf, war ein Haufen wild zusammengestellter Eisenteile, die Schublade und eine kurze Anleitung.Sie war offenkundig von der gleichen Person geschrieben worden, die die frühen Gebrauchsanweisungen für Computer verfasst hatte. Die Eisenteile waren undefinierbar – ein langes Stück, das in etwa so aussah wie eine Miniaturharpune mit Flügeln, die aus dem stumpfen Ende herauskamen. Ein weiteres Stück ähnelte einer der dreidimensionalen Figuren, wie sie im Test für Bewerber an einer Zahntechnikerschule verwendet werden. Und noch ein Stück sah aus wie die Leitvorrichtung einer Achterbahn mit nur einem Rad. Es mag vielleicht möglich gewesen sein, diese seltsamen Stücke auf der Schublade zu montieren, wenn es dort nur ein Teil gegeben hätte, an dem man sie hätte befestigen können. Ich musste also lei-
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Kapitel 15 · Denken 2: Problemlösen, Kreativität und menschliche Intelligenz
der am Sonntagnachmittag aufgeben und rief die Herstellerfirma an. Dort war die ganze Sache für den Techniker am Telefon gleichermaßen ein Rätsel wie für mich. Am Computer führte er eine ausführliche Recherche durch und fand ein schon lange veraltetes Modell, anhand dessen er versuchte, mich durch den Installationsvorgang zu leiten. »Nehmen Sie die Harpune mit der stumpfen Seite nach oben und halten Sie sie aufrecht.Jetzt machen Sie den Zahntest …« Nichts funktionierte. Spät am Abend »ging mir ein Licht auf« und ich erkannte, dass die Harpune, das Teil aus dem Zahntest, die Leitvorrichtungen für die Achterbahn usw.bereits an der Schublade montiert waren! Die Firma hatte mir einen doppelten Satz Eisenteile geschickt und ich glaube, sie packten zusätzlich noch ein paar Schrauben,Harpunen usw.dazu,nur um mich vollständig zu verwirren. Beim Problemlösen die richtige Menge an Informationen zu finden ist eine vertrackte Angelegenheit: Man braucht nicht zu viel,nicht zu wenig,sondern genau die richtige Menge von Informationen, um ein Problem effektiv zu lösen.Die klugen Leute unter uns sind jene, die die entscheidenden Komponenten erkennen, die man für eine Lösung braucht, und den Rest ignorieren – die Extraharpune,das Extrateil für den Zahntechnikertest,die Extraschrauben usw. Kryptologen, Spione, spezialisierte Einpacker von Schränken und praktizierende Spaßvögel wissen dies. Laotse hatte Recht: »Weniger ist mehr.«
Antwort zur Aufgabe auf S. 415 (Abb. 15.1) Antwort zur Aufgabe mit dem Flaggenmastenproblem auf Seite 415. Erinnern Sie sich an den Hinweis, auf die Extreme zu achten? In diesem Fall sollten Sie sich zunächst vorstellen,dass die Flaggenmasten 24 m voneinander entfernt sind. Das Seil wäre dann stramm. Jetzt stellen Sie sich als anderes Extrem vor, dass sich die Masten gegenseitig berühren.Wie würde das Seil hängen? Da das Seil 24 m lang ist und die Flaggenmasten jeweils 16 m hoch sind, würde
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das herunterbaumelnde Seil, wenn die Masten direkt nebeneinander stünden, 12 m an einem Mast und 12 m am anderen Mast herunterhängen. Dadurch wäre die Mitte des Seils 4 m über dem Boden.
Antwort zur Aufgabe auf S. 415 Die Antwort zum Problem in dem Kasten mit dem Titel »Ein Problem von Patienten – das von Psychiatern und Ihnen selbst«: Karin und Laura hätten gerne einen Rubin und heißen deshalb nicht Rubin (kennzeichnen Sie den Kreuzungspunkt von Karin und Laura mit Rubin durch ein Zeichen, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen ist). Deshalb ist Marie mit Rubin verheiratet. Laura ist eine Patientin von Dr. Sanchez und heißt deshalb nicht Sanchez und muss Taylor heißen. Durch Eliminierung finden wir dann heraus, dass Karin eine Sanchez ist. Marie Rubin trifft sich mit einer Frau (Hinweis 1) und einem Dr. Taylor (Hinweis 2). Deshalb wird sie von Laura Taylor behandelt und Maries Mann wird von Karin Sanchez behandelt. Peter, der von Dr. Taylor behandelt wird (Hinweis 2), ist (offenkundig) nicht Dr.Taylor und kann nicht der männliche Dr. Rubin sein, der von Karin Sanchez behandelt wird. Deshalb muss es sich um Peter Sanchez handeln und er behandelt Laura Taylor (Hinweis 2). Omar kann nicht Dr. Rubin sein, der von Karin Sanchez behandelt wird, weil Omar von Norman behandelt wird (Hinweis 4). Deshalb lautet Omars Nachname Taylor und Normans Nachname Rubin. Peters Psychiater ist Omar Taylor und durch Eliminierung wissen wir,dass Karin von Marie Rubin betreut wird. Die Zusammenfassung ist, dass die vollständigen Namen der Psychiater und Patienten (jeweils in Klammern dahinter) die folgenden sind: Dres. Laura Taylor (Marie Rubin), Karin Sanchez (Norman Rubin), Marie Rubin (Karin Sanchez), Omar Taylor (Peter Sanchez), Peter Sanchez (Laura Taylor) und Norman Rubin (Omar Taylor).
16 Künstliche Intelligenz 16.1
KI – die Anfänge –442
16.1.1 16.1.2 16.1.3
Computer –442 Computer und KI –443 KI und menschliche Kognition –447
16.2
Maschinen und Mentales: Das Imitationsspiel und das chinesische Zimmer –449
16.2.1 16.2.2 16.2.3
Das Imitationsspiel und der Turing-Test –449 Das chinesische Zimmer –450 Das chinesische Zimmer – eine Widerlegung –451
16.3
Wahrnehmung und KI –452
16.3.1 16.3.2 16.3.3
Analyse von Linien –452 Mustererkennung –453 Erkennen komplexer Formen –456
16.4
Sprache und KI –459
16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4
ELIZA, PARRY und NETtalk –460 Bedeutung und KI –463 Kontinuierliche Spracherkennung –464 Programme zum Sprachverstehen –464
16.5
Problemlösen, Spielen und KI –465
16.5.1
Computer-Schach –467
16.6
KI und die Kunst –470
16.7
Roboter –472
16.8
Die Zukunft der KI –473
16.9
KI und wissenschaftliche Erkundung –475
440
Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
Anregungen vorab 1. Was ist künstliche Intelligenz und welchen Einfluss hat sie auf die Psychologie und auf Ihr Leben? 2. Geben Sie einen Überblick über die Geschichte der Rechenmaschinen bis zu den heutigen KIProgrammen (KI = Künstliche Intelligenz). 3. In welcher Weise sind die auf Silizium basierenden Computer mit den auf Kohlenstoff basierenden Gehirnen (das menschliche Gehirn) vergleichbar? Und inwiefern sind sie nicht miteinander vergleichbar? 4. Was ist der Turing-Test? Was ist das Imitationsspiel und was das chinesische Zimmer? 5. Wie analysiert ein Computer visuelle Formen? 6. Wie erkennen Computer und wie bringen sie Sprache hervor? 7. Welche Art künstlerischer Leistungen können von Computern generiert werden? Welche Erfolge können sie dabei verzeichnen? 8. Wird die Intelligenz der Computer jemals der Intelligenz des Menschen überlegen sein?
Es ist aus moralischen Gründen nicht möglich, dass es bei irgendeiner Art von Maschine eine ausreichende Vielfalt geben könnte, so dass es für sie möglich wäre, bei allen Lebensereignissen auf die gleiche Weise zu handeln, wie unsere Vernunft uns zu handeln veranlasst. Descartes Dann antwortete Hal mit seiner normalen Stimme: »Sieh mal, Dave, ich weiß, dass du versuchst, mir zu helfen. Aber der Fehler liegt entweder im Antennensystem oder in deinen Testprozeduren. Meine Informationsverarbeitung funktioniert völlig normal. Wenn du meine Protokolle überprüfst, wirst du feststellen, dass sie ganz fehlerfrei sind.« »Ich kenne all deine Serviceprotokolle, Hal – aber das ist noch kein Beweis dafür, dass du diesmal Recht hast. Jeder kann Fehler machen.« »Ich möchte ja nicht darauf bestehen, Dave, aber ich bin nicht dazu fähig, Fehler zu machen.« »In Ordnung, Hal«, sagte er etwas eilig. »Ich verstehe deinen Standpunkt. Lassen wir es dabei.« Er hatte das Gefühl, hinzufügen zu müssen: »… und bitte vergiss die ganze Geschichte.« Aber gerade das war es ja, was er nicht konnte. Arthur C. Clarke
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Sciencefiction hat eine Tendenz, zum wissenschaftlichen Faktum zu werden. In den heutigen Labors für künstliche Intelligenz (KI) wird über so etwas wie Hal diskutiert (die Abkürzung steht für »heuristisch programmierter algorithmischer Computer«) – den Computer an Bord eines Raumschiffes, der bei Arthur Clarkes 2001: Odyssee in den Weltraum in der Lage war, ethische Entscheidungen zu treffen, und der mit Intelligenz ausgestattet war. Das soll nicht heißen, dass die Computer, die sich daraus entwickeln werden, eher so wie die von Clarke oder wie die Antriebssysteme aussehen werden, die sich Jules Verne ausdachte,ein Jahrhundert,bevor eine Rakete ein Raumschiff auf den Mond brachte. Informatiker jedoch entwickeln
Systeme, die der Nachahmung von Teilen der menschlichen Kognition sehr nahe kommen. Es scheint plausibel zu sein, dass es so etwas wie Hal geben wird, bevor Sie diese Erde verlassen werden.Andererseits stellen viele infrage,dass jemals Computer Menschen auf bedeutsamen Gebieten wirklich geistig schlagen können. Der Neuropsychologe John Eccles schreibt in The Understanding of the Brain: [Diejenigen, die die] »arrogante Behauptung aufstellen, dass die Computer den Menschen in allen Bereichen geistig schlagen werden, … sind die moderne Variante der Götzenmacher anderer abergläubischer Zeitalter; und wie sie streben sie nach Macht, indem sie der Götzenanbetung Vorschub leisten.«
441 16.1 · KI – die Anfänge
Künstliche Intelligenz (KI) wird im umfassenden Sinne definiert als der Zweig der Informatik, der sich mit der Entwicklung von Computern (Hardware) und Computerprogrammen (Software) beschäftigt, die kognitive Funktionen des Menschen simulieren. In den vorangehenden 15 Kapiteln haben wir uns im Detail mit den kognitiven Funktionen des Menschen beschäftigt und wir haben erfahren, dass zur Kognition Folgendes gehört: Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken, Sprachverarbeitung und viele andere damit zusammenhängende Funktionen, die auf mehr oder weniger genaue Art und Weise ihren Dienst verrichten. Sie können beispielsweise das Gesicht Ihres Freundes sehen und erkennen, das mathematische Problem (7 ¥ 8)/(4 ¥ 5) im Kopf lösen,ein einfühlsames Gedicht schreiben,das sich an den jambischen Pentameter hält,die Stimme von Janis Joplin erkennen, im Kopf die direkte Route von Ihrer Wohnung in die Uni berechnen, feststellen, ob es angemessen ist, den Vater der Braut zu einer Junggesellenparty des Bräutigams einzuladen, sowie saure von frischer Milch unterscheiden. Sie und ich, wir machen diese Dinge täglich ohne große Mühe (ohne Verausgabung von viel Energie, wie wir aus den Befunden von Haier und seinen Kollegen extrapolieren können,über die im letzten Kapitel über menschliche Intelligenz im Hinblick auf die Stoffwechselraten und die geistige Leistung berichtet wurden). Wir machen auch viele verrückte Sachen (z.B. Shampoo über die Zahnbürste schütten). Wir sind Menschen – und das ist ein Problem für Computer, die ja vollkommene Maschinen sind, die trotz Computerfehlern nie einen Irrtum begehen. Wenn ein Computer menschliches Denken und Handeln präzise simulieren könnte, dann wäre er beim Abarbeiten der oben erwähnten Liste von Dingen genauso gut wie wir, aber auch genauso fehlbar wie wir – bis hin zur Verwechslung von Shampoo und Zahnpasta, wenn wir am frühen Morgen versuchen, wieder zu uns selbst zu finden. Es ist wichtig, zwischen zwei Arten von Programmierern zu unterscheiden: 1. Der Programmierer, der Programme zur Bewältigung von Aufgaben für Menschen schreiben möchte (wie etwa das Programm, das ich momentan benutze und das einen unangemessen durchdringenden Piepston von sich gibt, wenn ich etwas falsch schreibe). 2. Der Programmierer,der darauf abzielt,das menschliche Denken zu klonen. Computer und ihre eindrucksvollen Programme sind zu einem derart unverzichtbaren Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden,dass wir uns fragen,wie wir ohne sie auskämen – dennoch, sie wären nicht raffiniert genug, um uns mit Zahnpasta die Haare zu waschen (oder war es
umgekehrt?).Um das zu tun,müssten sie das menschliche Denken und das menschliche Handeln haargenau imitieren – um wirklich eine Leistung zu zeigen, die von der menschlichen Kognition nicht unterscheidbar ist. Wir werden später noch Weiteres darüber berichten. Wir wollen uns einmal mit einer »einfachen« kognitiven Aufgabe beschäftigen: die Lösung einer Textaufgabe aus der Algebra.Viele Computerprogramme können dies rasch und präzise leisten, aber sie simulieren die menschliche Kognition nicht. Zu einem frühen Zeitpunkt in der Forschung zur künstlichen Intelligenz versuchten Page und Simon (1966) die menschliche Leistungsfähigkeit in einem Computerprogramm namens STUDENT zu modellieren.Es war entworfen worden,um algebraische Textaufgaben aufgrund einer rein syntaktischen Analyse zu lösen. Viele Versuchspersonen in dieser Untersuchung leisteten Ähnliches wie STUDENT,aber bei vielen war dies nicht so. Sie verwendeten beim Lösen der Probleme Hilfshinweise und physische Repräsentationen so, wie Sie es wahrscheinlich taten, als Sie herauszufinden versuchten, wie viel Wasser aus einem lecken Eimer läuft, der gleichzeitig gefüllt wurde – netterweise haben Sie sich ein Bild dazu gezeichnet. Trotz der grundlegenden Unterschiede zwischen KI und dem geistigen Klonen sind bemerkenswerte Fortschritte auf diesem Gebiet zu verzeichnen. Wenn wir uns mit der KI beschäftigen, so ist sie gewöhnlich eng mit der kognitiven Psychologie und der Neurowissenschaft verwoben. Die Ideen aus dem einen Bereich – beispielsweise der Neurowissenschaft – könnten in den anderen aufgenommen werden – beispielsweise der künstlichen Intelligenz – und wieder andere Ideen aus der kognitiven Psychologie könnten auf die beiden anderen
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
Bereiche angewandt werden. Alle drei – KI, kognitive Psychologie und Neurowissenschaft (vor allem die Neurowissenschaft) – bilden eine Grundlage der Kognitionswissenschaft. KI und kognitive Psychologie sind eine symbiotische Beziehung miteinander eingegangen: Die eine profitiert jeweils von der Entwicklung der anderen.Die Entwicklung künstlicher Methoden zur Nachahmung der Wahrnehmung des Menschen,seines Gedächtnisses,seiner Sprache und seines Denkens hängt von dem Verständnis ab, wie diese Prozesse von Menschen geleistet werden. Und die Entwicklung der KI wird in dem Maße beschleunigt, wie unsere Fähigkeit zunimmt, die Kognition beim Menschen zu verstehen. Dieses Kapitel bietet eine allgemeine Einführung in die Bereiche der KI an, die etwas mit Wahrnehmung, Gedächtnis, Suchprozessen, Sprache, Problemlösen, künstlerischer Leistung und Robotik zu tun haben. Obwohl sich die Arbeit der KI auf die Entwicklung von Maschinen konzentriert, die so handeln, als wären sie intelligent, wurden die meisten von ihnen ohne die Absicht entworfen, kognitive Prozesse beim Menschen nachzuahmen.Es gibt jedoch Forscher,die sich mit der Entwicklung intelligenter Maschinen beschäftigen,die das menschliche Denken modellieren. Und gerade diese Sichtweise – manchmal als Computersimulation kognitiver Prozesse bezeichnet – ist es,die in großen Teilen dieses Kapitels dargestellt wird.(Es ist bisweilen nahezu unmöglich,zu sagen, wo die KI aufhört und wo die Computersimulation kognitiver Prozesse beginnt. Deshalb verwenden wir in diesem Kapitel den weithin akzeptierten Begriff »KI«, um damit alle Formen von Output zusammenzufassen, die von einem Computer stammen, den man für intelligent halten würde, wenn der Output von einem Menschen hervorgebracht worden wäre.)
Charles Babbage (1792–1871). Britischer Mathematiker und Erfinder, der das Konzept einer mechanischen programmierbaren Rechenmaschine entwickelte. Er bezeichnete sie als »analytische Maschine«
schinen berichtet. Die meisten dieser Geräte wurden dazu verwendet, wirtschaftliche Transaktionen mit Hilfe von Addition und Subtraktion nachvollziehbar zu machen.Die Multiplikation wurde durch die Wiederholung der Addition erreicht. Gegen 1633 erfand Wilhelm Schickard (1592–1632),ein wenig bekannter deutscher Astronom und Mathematiker, eine Rechenmaschine, an die im Jahre 1973 auf einer deutschen Briefmarke erinnert wurde.Deren Erfindung wird aber häufig dem französischen Philosophen Blaise Pascal (1623–1662), dem Vater der Analysis, zugeschrieben. Pascals Maschine konnte nicht nur addieren und subtrahieren, sondern sie erregte auch das Interesse der Öffentlichkeit.Um das Jahr 1670 führte Gottfried Leibniz (1646–1716) eine Maschine ein, die multiplizieren und dividieren konnte. Computer kamen später hinzu, als der exzentrische Charles Babbage (1792–1871) – der manchmal als der erste Informatiker der Welt bezeichnet wird – mit Unterstützung von Lady Ada Lovelace die Differenzmaschine erfand. Bei diesem Gerät gab es programmierbare Operationen, die bedingte Verzweigungen zuließen (zu den Einzelheiten siehe Haugeland, 1989; ein Modell von Babbages Maschine kann man im Smithonian Institute in Washington D.C. besichtigen).
16.1.1 16.1
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Computer
KI – die Anfänge
Rechner der einen oder der anderen Art – das Gehirn der KI – gibt es fast schon so lange,wie es die geschriebene Geschichte gibt. Die früheste Form war der Abakus, der in China bereits während des sechsten Jahrhunderts vor Christus verwendet wurde. Die Ägypter erfanden einige Zeit, bevor Herodot (etwa 450 vor Christus) auf ihre Verwendung aufmerksam machte,eine Zählmaschine,bei der Kiesel benutzt wurden. Die Griechen hatten ein ähnliches Gerät und in Rom wird von drei Arten von Rechenma-
Der Ursprung der modernen Informatik kann auf die 40er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückverfolgt werden, als die Röhrencomputer wie etwa der UNIVAC oder der ENIAC erfunden wurden, um die Durchführung langer und mühseliger mathematischer Berechnungen zu beschleunigen, wie sie gewöhnlich vom Militär gebraucht werden (z.B. die Berechnung der Flugbahnen von Artilleriegeschossen). Der ENIAC (Electronic Numerical Integrator and Computer) – ein streng geheimes Projekt, das von der US-amerikanischen Armee finanziert und an der Univer-
443 16.1 · KI – die Anfänge
John McCarthy. Leistete Bahnbrechendes im Bereich der künstlichen Intelligenz und entwickelte die Programmiersprache LISP, die in der KI große Verbreitung fand
J. Prespert Eckert (im Vordergrund) und John Mauchley arbeiten 1946 bei der US-Armee zusammen mit anderem Personal am Röhrencomputer ENIAC
sity of Pennsylvania durchgeführt wurde – enthielt 17.468 Röhren, bei denen der Hersteller eine Haltbarkeit von 25.000 Stunden garantierte. Dies bedeutete, dass etwa alle acht Minuten eine Röhre durchbrannte. Das Monster von einer Rechenmaschine wog 30 Tonnen und verbrauchte 174 Kilowatt Energie.Die Projektleiter waren John Mauchley und J. Presper Eckert. Diese frühen, schlichten ineffektiven Riesenmaschinen machten kleineren, wirksameren und komplexeren Systemen Platz, die wiederum schließlich durch volltransistorisierte Rechner mit Mikroelektronik ersetzt wurden, wie wir sie im Allgemeinen heute noch benutzen. Es gibt nur wenige Jahreszahlen in der kognitiven Psychologie,die wichtiger sind als das Jahr 1956.In diesem Jahr veröffentlichten Bruner, Goodnow und Austin A Study of Thinking, Chomsky Three Models of the Description of Language, Miller The Magical Number Seven und Newell und Simon The Logic Theory Machine: A Complex Information-Processing System. Im Sommer des Jahres 1956 traf sich auf dem Campus von Dartmouth College eine Gruppe von zehn Wissenschaftlern,um die Möglichkeiten zur Entwicklung von Computerprogrammen zu durchdenken, die sich intelligent »verhielten«. Zu denen, die an dieser Konferenz teilnahmen, gehörte auch John McCar-
thy,der später das KI-Labor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und in Stanford gründete; ihm wird nachgesagt, dass er die neue Wissenschaft »KI« taufte. Weiterhin waren dort Marvin Minsky, der Leiter des KILabors am MIT wurde, Claude Shannon, der das moderne Modell eines Kommunikationssystems bei den Bell Laboratories entwickelte, Herbert Simon, der den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen sollte, und Allen Newell,der seine wichtigen Arbeiten im Bereich der Kognitionswissenschaft und der KI an der Carnegie Mellon University durchführt.Die Konferenz war insofern historisch bedeutsam, als der Weg, den die KI einschlagen sollte, hier festgelegt wurde. Dies hatte einen unmittelbaren Einfluss darauf,wie sich die kognitive Psychologie entwickelte. Seit der Dartmouth-Konferenz ist die KI mit geometrischer Geschwindigkeit gewachsen. Sie beeinflusst heute auf die eine oder andere Weise den Alltag der meisten Menschen auf der Welt, vereinigt die konzentrierten Anstrengungen von Tausenden von Wissenschaftlern auf sich und breitet sich auf dem Campus der Universitäten aus. Die unterschiedlichen Ziele der KI-Forschung und -Praxis können nicht in einem einzelnen Kapitel oder Buch bzw. nicht einmal in mehreren Büchern abgehandelt werden. Wir können hier jedoch eine Auswahl aus der Arbeit der KI darstellen, die für die kognitive Psychologie von Bedeutung ist.
16.1.2
Computer und KI
Die verbreitetste Art von Computern, die heute eingesetzt wird, wurde nach einem Entwurf (im Computer-Jargon nach einer »Architektur«) gebaut, der auf den 1931 in die USA emigrierten ungarischen Mathematiker John von Neumann (1958) zurückgeht.Diese Computer werden bisweilen auch Johniacs oder serielle Prozessoren genannt.
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
John von Neumann (1903–1957). Entwarf die heute allgemein verwendete Computerarchitektur
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Dies bedeutet so viel wie, dass die elektrischen Impulse in Reihe oder in einer Sequenz verarbeitet werden.Diese kettengleichen Sequenzen arbeiten sehr schnell, wobei jeder einzelne Schritt nur Nanosekunden erfordert. Aber ein Computer, der komplizierte Aufgaben auf serielle Weise ausführt (z.B. das Lösen komplexer mathematischer Gleichungen oder die Neuanordnung von Daten oder Dateien), kann mehrere Minuten, Stunden oder sogar noch länger arbeiten. Alle Benutzer von Computern haben Erfahrung mit der rasend machenden Verzögerungszeit, die PCs brauchen, um ein Problem zu »bedenken« oder zu »verdauen«. Ein elementarer Grund dafür, warum serielle Computer des Von-Neumann-Typs so viel Zeit benötigen, ist, dass eine Operation abgeschlossen sein muss, bevor eine weitere beginnen kann. Serielle Prozessoren lösen Probleme schrittweise (Bit für Bit und Byte für Byte). Auch in den Anfängen der Computer-Technologie hatten die KI-Wissenschaftler (und die Sciencefiction-Autoren) großartige Träume von denkenden Maschinen und Robotern. Ein bahnbrechender Beitrag wurde in den frühen 40er Jahren des 20.Jahrhunderts von W.S.McCulloch, einem Psychiater aus Chicago, und seinem Studenten W. Pitts geschrieben. In dieser Veröffentlichung führten sie ein Konzept ein, das einen wichtigen Einfluss auf Informatiker haben sollte, einschließlich von Neumann und später die PDP-Gruppe.Sie bauten auf der Vorstellung auf, dass das Mentale als Hirntätigkeit definiert werden kann. Dabei ging es speziell um die grundlegenden Einheiten des Gehirns, die Nervenzellen. Sie argumentierten, dass die Nervenzellen als »logische Geräte« gesehen werden könnten und dass »neuronale Ereignisse sowie die Beziehungen zwischen ihnen mit Hilfe der Aussagenlogik bearbeitet werden können«. Wenn Nervenzellen miteinander kommunizieren, so geschieht dies auf elektrochemischem Wege. Ein geringfügiger elektrischer Strom wird entlang des Axons der Zelle zur Synapse geschickt, wo ein chemischer Neurotransmitter den Impuls an die anderen Nervenzellen weiterleitet. Der Vorgang der neuronalen
Übertragung ist regelgeleitet: Die Nervenzelle »feuert« nur dann,wenn der Schwellenwert erreicht wird.Alle Nervenzellen haben Schwellenwerte, die Nervenzellen feuern aber nur, wenn die Ladung positiv ist. Eine negative Ladung wird eine Nervenzelle davon abhalten zu feuern und so weiter. Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass jede einzelne Nervenzelle alle bahnenden und hemmenden Signale von ihren Tausenden von Verbindungen aufsummiert. Abhängig von ihrem Schwellenwert wird eine Nervenzelle feuern oder nicht. Das heißt, sie ist an oder aus (Nervenzellen dieser Art werden als McCulloch-Pitts-Nervenzellen bezeichnet). Dies ist eine anregende Sichtweise, wenn man an die neuronal orientierten konnektionistischen Modelle denkt, die in Kap. 1 behandelt wurden. McCulloch und Pitts beobachteten, dass man diese An/aus-Nervenzelle als logisches Gerät betrachten konnte. Wie allgemein bekannt arbeiten Computer mit Hilfe von elektronischen An/aus-Schaltkreisen.Wenn Tausende dieser Schaltkreise in exponentieller Abfolge miteinander verkabelt werden, wird die Verarbeitungsleistung Ehrfurcht gebietend. In ähnlicher Weise sind die grundlegenden Einheiten der neuronalen Verarbeitung, die Nervenzelle und ihre Verbindungen, zu imposanten Verarbeitungsleistungen fähig. Kurze Zeit nach dem Erscheinen des Beitrags von McCulloch und Pitts erkannte von Neumann den Zusammenhang zwischen dem logischen Verhalten von Nervenzellen,wenn sie miteinander interagierten,und der Art und Weise, wie Computer ihre Arbeit in Angriff nahmen. »Man kann leicht sehen,dass sich diese vereinfachten neuronalen Funktionen durch Telegraphenrelais oder durch Röhren nachbilden lassen.« (Die Transistoren waren noch nicht erfunden,sonst hätte er sie wahrscheinlich erwähnt.) Von Neumann, der bereits die bis dahin sinnvollste Computerarchitektur entwickelt hatte, stellte die Behauptung auf,dass es möglich sei,einen Computer zu entwerfen,der das menschliche Gehirn – nicht nur in seiner Funktion, sondern auch in seiner Struktur – nachahmte,wobei Röhren, Relais,Verbindungsdrähte und Hardware durch Nervenzellen, Axone, Synapsen und die »Wetware« ersetzt werden. In Anlehnung an von Neumann nahm F. Rosenblatt das Projekt in Angriff, einen Computer nach diesen Grundsätzen zu bauen. Seine Absicht war es, einen Computer herzustellen, der lernen konnte, Formen zu klassifizieren.Das Ergebnis wurde als Perceptron bezeichnet und es imitierte in groben Zügen die Struktur des Gehirns (Kap. 1 und 2). Rosenblatts Maschine bestand aus einer Hierarchie mit drei Ebenen. Jede Ebene war mit einer an-
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deren Funktion verbunden, die im Allgemeinen die sensorischen,assoziativen und motorischen Muster von Menschen simulierten.Ein Grundproblem der frühen Maschinen wie etwa des Perceptrons bestand darin,dass sie nicht lernten. Sie verarbeiteten einfach eine geringe Streubreite von Reizen und zeigten ähnlich simple Reaktionen. Menschen sind in der Lage zu lernen, weil sie veränderbare Synapsen haben.Sie werden sich an die Hebb’sche Regel erinnern (eingeführt in Kap. 2). Hier ging es um die Zunahme der Verbindungsstärke zwischen zwei Nervenzellen, die gleichzeitig aktiviert werden. War es möglich, eine solche Regel in die Verbindung zwischen Ersatznervenzellen einzubauen? Wenn eine solche Maschine lernen sollte, dann war es vielleicht erforderlich, dass ein Widerstand (ein Bauelement, das die Menge der elektrischen Impulse angibt, die aus einem Transistor herauskommen, der wiederum mit einem anderen verbunden ist) mit einem künstlichen Gehirn verdrahtet und in ihm programmiert wurde. Ein Widerstand würde ganz wie ein Regler arbeiten und es ermöglichen, dass einige Bits von Informationen weitergeleitet, während andere zurückgehalten würden.Perceptrons,die in der Lage waren zu lernen (und Lernen wird hier definiert als die Veränderung der Verbindungsstärke zwischen Einheiten, die Neuronen simulieren), tun dies, weil sie sich auf ähnliche Weise verhalten wie McCulloch-Pitts-Nervenzellen und weil sie sich an die Hebb’sche Theorie halten. Man könnte einem so konstruierten Computer einfache geometrische Formen wie etwa einen Kreis zeigen, damit er ihn klassifiziert. Wenn er so reagiert, dass er ihn als Quadrat bezeichnet, dann kann man ihm »beibringen«, korrekt zu antworten, indem man den Widerstand zwischen bestimmten Einheiten zunehmen lässt und den Widerstand zwischen anderen verringert. Wenn die Antwort richtig ist – das heißt, wenn das Perceptron einen Kreis auch als Kreis bezeichnet –, dann lässt man die Werte so, wie sie sind. In diesem Sinne bestrafen Perceptrons Fehler und ignorieren Erfolg. Diese frühen Schritte waren wichtig, um Maschinen zu entwerfen, die in der Lage waren, Verallgemeinerungen vorzunehmen und zu lernen. Hier handelt es sich um wesentliche Faktoren bei der Konstruktion einer »denkenden Maschine«, die auf ähnliche Weise funktioniert wie ein menschliches Gehirn. Während der frühen Phase der Entwicklung von Computern tauchten auch einige grundlegende Auffassungen über die Verwendung und die Bedeutung dieser neu erfundenen Apparate auf. Da gab es jene, die dachten, dass Computer, wenn sie nur auf geeignete Weise program-
miert würden – das heißt, wenn man ihnen die richtigen Regeln und Anweisungen gäbe –, alle möglichen Operationen ausführen könnten, einschließlich der wirkungsvollen Imitation des menschlichen Denkens. Andere glaubten, für eine »denkende« Maschine sei es erforderlich, dass die Hardware eines Computers die Wetware eines Gehirns simuliert. Um das zu erreichen, wäre es erforderlich gewesen, dass ein Computer gebaut würde, bei dem die elektronischen Ersatznervenzellen Schicht für Schicht miteinander verbunden sind und deren Organisation und Funktion ein menschliches Gehirn simulieren würde.Bisher ist es uns noch nicht gelungen, entweder eine wirklich »denkende« Maschine hervorzubringen oder eine Maschine, deren Gehirn einem menschlichen Gehirn ganz ähnlich zu sein scheint. Doch wie es in der Wissenschaft so geht: Die KI ist immer noch ein Kleinkind. Jede Einzelne der erwähnten Sichtweisen wirft neue Probleme auf.Im ersten Fall zeigen die KI-Programme ein abscheulich rigides »Denken«.Wenn ich Sie frage, was die Wurzel aus 73 ist, dann könnten Sie sagen: Nun, es ist mindestens 8, aber nicht ganz 9. Etwa 81/2. Ein Computer antwortet 8,5440037… . Statt endlose Verkettungen von Ziffern auszubrüten, scheint das menschliche Gehirn hervorragend dazu geeignet zu sein, mit Chaos umzugehen – um ein vertrautes Gesicht in einer Menge zu erkennen,auf den Autobahnen von Los Angeles zu fahren, den tieferen Sinn eines Schauspiels von Tschechow zu verstehen oder die Sinnlichkeit von Seide zu spüren, wenn sie über Ihre Haut gleitet. Kein Computer kann das – noch nicht. Dagegen kann ein Mensch gewöhnlich die Antwort auf die Frage nach der Wurzel aus einer dreistelligen Zahl nicht innerhalb von Millisekunden ausspucken, wie es inzwischen jeder billige Taschenrechner kann. Denken Sie an eine weitere Herkules-Aufgabe,der sich jene gegenübersehen, die versuchen, einen Computer wie ein menschliches Gehirn zu verdrahten. Das Gehirn enthält etwa 100 Milliarden Nervenzellen, von denen jede Einzelne mit mehreren 1000 anderen Nervenzellen verbunden ist. Da gibt es eine Menge zu löten. Dennoch versuchten einige Personen,ein kleines Computermodell des Gehirns zu konstruieren (Rosenblatt, 1958), hielten aber bis vor kurzem andere davon ab, diesem Zeitvertreib nachzugehen (Minsky & Papert, 1968; siehe auch den Kasten mit dem Titel »Kritisch hinterfragt: Ein dummer Chip für ein Gehirn?«). Bereits 1954 hatte Minsky seine Disserta-
tion über neuronale Netze geschrieben und mit Hilfe von 400 Röhren sogar ein solches Netz gebaut.Aber schon bald war er von dem Projekt desillusioniert. Diese frühe Arbeit
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
Kritisch hinterfragt: Ein dummer Chip für ein Gehirn? Ein Siliziumchip, von dem man sagte, er verhielte sich wie eine menschliche Hirnzelle, wurde von den Forschern Mahowald und Douglas bei der Firma Caltech bzw. an der Oxford University entwickelt. Das Bauelement, das als Siliziumnervenzelle bezeichnet wurde, ahmte von der Struktur und vom Prozess her die Aktivitäten von Nervenzellen in der Großhirnrinde nach. Der bedeutsame Aspekt der Technologie besteht darin, dass es sich um ein analoges Bauelement handelt. Dies stand im Gegensatz zu den digitalen Verarbeitungseinheiten, die in den meisten Computern verwendet wurden. Wenn Menschen einen komplexen Gegenstand sehen, wie etwa das Gesicht einer Person, sehen sie nicht etwa digitalisierte Daten –
führte nicht zu praktischen Ergebnissen,während die Entwicklung von Computerprogrammen und Hardware in dieser Zeit die viel versprechendste Sache überhaupt war. Eine Werkstatt, die jemand in einer Garage aufgemacht hatte, wurde zu einer Millionen-Dollar-Fabrik, in der Computerchips gebaut wurden. Die Chips konnten Dinge machen, die uns bis dahin nicht im Traum eingefallen wären. Die neue Generation von Informatikern bzw. Kognitionswissenschaftlern ist zuversichtlicher,was die Simulation neuronaler Funktionen durch eine Maschine angeht. Eine der neueren Veränderungen in Bezug auf Perceptrons war begrifflicher Art. Statt sich ein Computergehirn als einen Apparat mit Input und Output vorzustellen,führten die Wissenschaftler eine dritte Schicht, die so genannte verborgene Schicht, ein. Diese verborgene Schicht entspricht den Interneuronen des Gehirns,bei denen es nicht um Input oder Output geht, sondern um Verbindungsimpulse zu anderen Nervenzellen. Das Modell ist mit dem schon an vielen Stellen in diesem Buch erwähnte Konnektionismus vereinbar.
Wenn ich nur ein Gehirn hätte! Strawman in The Wizard of Oz
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Viele der hier behandelten Fragen beschäftigen sich mit dem Problem der Architektur von Computern und Gehirnen – das ist ein sehr wichtiges Thema. Computer verrichten jedoch immer noch nicht die Funktionen, die
eine Reihe von Pixeln –, sondern raffiniert abgestufte Konturen und kontinuierlich verlaufende Grauschattierungen. Aus diesen Signalen extrahieren das Auge und das Gehirn mit Hilfe eines analogen Prozesses die Bedeutung der Lichtsignale. Während andere die Bedeutung dieser technologischen Entdeckung abtun, weil es im Gehirn viele Arten von Nervenzellen gibt und es sich hier nur um ein Beispiel handelt, wirft der Gedanke vom Siliziumchip, der sogar einige wichtige Merkmale der menschlichen Nervenzelle nachahmt, faszinierende Fragen im Hinblick auf die künftige Entwicklung auf. Wie weit kann die Technologie bei der künstlichen Erzeugung eines Gehirns gehen?
Menschen erfüllen. Computer und Gehirne sind nicht das Gleiche.In mancherlei Hinsicht leisten Computer mehr als Gehirne, aber in anderer Hinsicht weniger. Diesen Unterschied kann man in vielen Bereichen beobachten. Ein besonders problematisches Gebiet ist jedoch das Erkennen dreidimensionaler Gegenstände. Unsere Augen – zweidimensionale Sensoren – übertragen bereitwillig und genau Signale, die als dreidimensional interpretiert werden. Selbst angesichts unserer trägen »Wetware« des Nervensystems, angesichts der ständigen Veränderung der Positionierung von Auge und Gegenstand sowie angesichts der damit einhergehenden Größenanpassungen arbeitet unser Wahrnehmungssystem nahezu perfekt. Computer erfüllen diese Funktion weniger gut, wenn auch die Übertragungsrate millionenmal schneller ist als die Übertragung von Nervenzelle zu Nervenzelle. Wie bereits erwähnt ist ein Grund für den Unterschied, dass Computer Informationen im Allgemeinen seriell verarbeiten, dass sie ein sequenzielles Verarbeitungsmodell haben, während Gehirne Informationen im Allgemeinen parallel verarbeiten. Einige KI-Wissenschaftler haben begonnen,die Unterschiede in der Architektur zwischen den Gehirnen und den Computern zu überwinden. Dabei verfolgten sie das Ziel, diesen Funktionsunterschied aufzuheben.Einer dieser Wissenschaftler ist W.Daniel Hillis,der eine »Connection Machine« entwickelte (Hillis, 1987). Sie löst Probleme, indem sie diese in kleinere Probleme zergliedert (dies erinnert an die Mittel-Ziel-Analyse) und sie dann parallel verarbeitet – hier handelt es sich um ein paralleles Verarbeitungsmodell. Diese kleineren Probleme oder Chunks werden dann auf getrennte Bereiche im Ver-
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arbeitungsnetz des Computers verteilt. Dies steht im Gegensatz zum Von-Neumann-Typ von Computern, die einen zentralen Prozessor haben, der Informationen sequenziell verarbeitet. In Hillis’ »Connection Machine« arbeiten 62.536 (216) Prozessoren gleichzeitig an einem einzigen Problem. Obwohl jeder einzelne Prozessor weniger wirksam als der PC ist, den ich bei der Vorbereitung dieses Manuskripts verwendete,führen diese mehr als 65.000 kleinen Chips – wenn sie zusammengeschaltet werden und gleichzeitig arbeiten – mehrere Milliarden Instruktionen pro Sekunde aus.Es handelt sich sowohl begrifflich als auch von der Funktion her um eine eindrucksvolle Maschine. Hillis träumt von einer Maschine mit einer Milliarde Prozessoren, die parallel arbeiten – einfach nur so, zum Spaß.
16.1.3
KI und menschliche Kognition
Einige der grundlegenden Fragen zur KI lauten: ▬ Was für eine Art denkender Maschine ist das Gehirn? ▬ Wie lässt sich das Denken des Menschen durch eine Maschine nachahmen? ▬ Kann das Denken des Menschen von Computern übertroffen werden? ▬ Lohnt es sich, diesen Fragen nachzugehen? Auf keine dieser Fragen gibt es eine einfache Antwort. Doch die Anhänger eines Modells der Parallelverarbeitung, das von der Funktionsweise des Nervensystems inspiriert ist, und andere geben sich große Mühe, Lösungen für diese Probleme zu finden. Gehirn. Nach einem Jahrhundert der Forschung im Bereich
der Psychologie, vor allem während der letzten Jahrzehnte
⊡ Tabelle 1. Gegenüberstellung des Von-Neumann-Computers und des menschlichen Gehirns
Auf Silizium beruhende Computer (Von-Neumann-Architektur)
Auf Kohlenstoff beruhende Gehirne (Menschen)
Verarbeitungsgeschwindigkeit
In Nanosekunden
In Millisekunden bis Sekunden
Typ
Serieller Prozessor (meistens)
Parallelprozessor (meistens)
Speicherkapazität
Riesig, für digital kodierte Informationen
Riesig, für visuelle und linguistische Informationen
Material
Silizium und elektronisches Versorgungssystem (z.B. Transistorschaltungen und Elektrizität)
Nervenzellen und organisches Versorgungssystem (z.B. Kapillaren und Blut)
Kooperation
Absolut gehorsam (macht genau das, was man ihm sagt)
Im Allgemeinen kooperativ, doch unter Druck Neigung zur Rebellion (hat einen eigenen Kopf )
Lernvermögen
Schlicht, regelgeleitet
Begrifflich
Größter Vorteil
Kann ohne Klagen innerhalb kurzer Zeit große Mengen an Daten verarbeiten. Kosteneffektiv, regelgeleitet, leicht zu warten und vorhersagbar
Kann leicht Urteile, Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen machen. Mobil; verfügt über Sprache, Sprechfähigkeit, Sehen und Emotionen
Schlimmster Nachteil
Lernt nicht so leicht von selbst, hat Schwierigkeiten mit komplexen kognitiven Aufgaben für Menschen wie etwa Sprachverstehen und Sprachproduktion; ist groß und braucht Energie, was seine Mobilität einschränkt
Hat eine begrenzte Verarbeitungs- und Speicherkapazität für Informationen; ist vergesslich; ist nur teuer zu erhalten; braucht Nahrung, Getränke, Schlaf, Sauerstoff, gemäßigte Temperaturen; hat außerdem eine ganze Liste biopsychologischer Bedürfnisse, z.B. Liebe, Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Sex, Rockand-Roll-Musik und Spiele
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
der Forschung im Bereich der Kognition, kristallisiert sich die Antwort auf die erste Frage allmählich heraus.Hoffentlich enthält der Inhalt dieses Buchs eine repräsentative Auswahl an Antworten. Was wir über unsere denkende Maschine, das so genannte Gehirn, erfahren haben, ist, dass es sich fundamental von den Von-Neumann-Computern unterscheidet, die heute so verbreitet sind. Vielleicht wäre die KI weiter, wenn Computer den Gehirnen stärker ähnelten. Um diese Angelegenheit zu klären, schlage ich folgende vergleichende Gegenüberstellung vor: Menschliches Denken – Computer. Die Antwort auf die zweite Frage lautet – zumindest innerhalb des konnektionistischen Lagers –, dass man menschliches Denken am besten durch Modellierung einer Maschine simulieren kann, die den grundlegenden neurologischen Strukturen entspricht. Überlegenheit des Computers. Einige Computerprogramme arbeiten weitaus effektiver als das menschliche Denken. Bei den meisten handelt es sich jedoch um plumpe Fälschungen des Originals. Computer können manche
Probleme wie etwa detaillierte mathematische Probleme schneller und genauer als Menschen lösen.Andere Aufgaben wie etwa Verallgemeinerungen oder das Lernen neuer Aktivitätsmuster werden von Menschen gut bewältigt, nicht jedoch von Computern. Lohnenswert. Und schließlich noch die einfache Antwort
darauf,ob wir diesen Fragen nachgehen sollten: ja.Wir lernen in diesem Prozess etwas über menschliches und maschinelles Denken hinzu. Andere hingegen argumentieren, dass das Vorhaben der KI so verrückt ist, wie gegen Windmühlenflügel anzukämpfen. Wie in der Tabelle zum Vergleich der Von-Neumann-Computer mit Gehirnen gezeigt ist es kein Wunder,dass die KIWissenschaftler frustriert,wenn nicht sogar verwirrt sind. Sie arbeiten mit dem falschen Typus von Maschine. Es scheint aber so zu sein, als wären wir in der KI-Forschung kurz vor einem begrifflichen Durchbruch – vielleicht vor einem Paradigmenwechsel –, bei dem die ersten Schritte bereits vollzogen wurden, um Computer herzustellen, die sowohl im Hinblick auf ihre Struktur als auch bezogen auf
Superbiologie Während amerikanische Wissenschaftler seit einer Generation an dem Konzept herumbasteln, mit dem man einen Computer bauen können soll, der dem Gehirn ähnlich ist, konstruiert ein Wissenschaftler in Japan namens Aizawa einen dem Gehirn ähnlichen Computer mit echten Nervenzellen, in die elektronische Bauelemente verpflanzt werden. Dies geschieht mit dem Ziel, ein noch nicht ganz ausgearbeitetes, halb künstliches neuronales Netz herzustellen. Bisher hat er erfolgreich
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Zellen mit der Halbleitermischung Indiumzinnoxid kombiniert und herausgefunden, dass organische Zellen unter sehr schwacher elektrischer Stimulierung mit kontrolliertem Wachstum reagieren (siehe die unten dargestellte Abbildung). Es ist zu früh, auch nur an ein künstliches Gehirn zu denken, aber derartige Konstruktionen könnten als Schnittstelle zwischen dem Nervensystem und Prothesen wie etwa einem künstlichen Auge durchaus sinnvoll sein.
449 16.2 · Maschinen und Mentales: Das Imitationsspiel und das chinesische Zimmer
den Prozess dem Gehirn stärker ähneln. Systeme neuronaler Netze, PDP-Modelle und Konnektionismus versuchen die rechnerischen Prinzipien zu entdecken, denen die Netze von Nervenzellen im menschlichen Nervensystem unterliegen. Dies geschieht so, dass es sich vielleicht um hoch abstrakte Mittel zu handeln scheint. Einheiten können für Nervenzellen stehen,aber die Einheiten folgen Gesetzen, die aus dem Verhalten einer Nervenzelle abgeleitet sind. Das heißt, dass eine Einheit paarweise mit anderen Einheiten angeordnet werden kann.Die Verbindung zwischen ihnen kann verstärkt oder abgeschwächt werden, sie können stabile Beziehungen eingehen usw. (zu weiteren Informationen siehe Churchland, 1989). In Bezug auf Netze aus Nervenzellen wurde ein wichtiges Konzept vorgeschlagen: Diese Netze können auch lernen. Das heißt, dass sich die Infrastruktur des Gehirns mittels eines Systems synapsenähnlicher Gewichte durch Erfahrung verändern kann (dies kann von außen oder von innen bestimmt werden). Um zu wissen,wie erfolgreich diese Bemühungen sein werden,ist es noch viel zu früh.Es ist jedoch nicht zu früh, um festzustellen, dass die neue Betrachtungsweise der menschlichen Kognition unter ihren Verfechtern auf große Begeisterung gestoßen ist (zu einem interessanten Bericht über eine Art neuronaler Netze für das Verhalten von Wanderameisen, die ihren Weg durch den tropischen Regenwald finden, siehe Franks, 1989). Auch derjenige, der sich nur gelegentlich mit kognitiver Psychologie beschäftigt, sollte sich für diesen wichtigen Beitrag zur Psychologie interessieren und auf künftige Entwicklungen achten.
16.2
Maschinen und Mentales: Das Imitationsspiel und das chinesische Zimmer
Es gibt nur wenige Bereiche der kognitiven Psychologie, die Gegenstand hitzigerer Argumente waren als die Debatte über die Anregung des menschlichen Denkens durch Maschinen. Einmal sind da die Anhänger der KI, die nicht nur daran glauben, dass Maschinen in der Lage sind, die Kognition des Menschen genau nachzuahmen, sondern auch, dass fortgeschrittene geistige Prozesse nur von Maschinen ausgeführt werden können. Die logische Erweiterung dieses Arguments besteht darin, dass Computer mit beteiligt werden sollten, wenn Menschen im Alltag Entscheidungen fällen. Auf der anderen Seite stehen jene, die die KI für ein geistig korruptes Konzept halten und mei-
nen, dass Menschen, die an so genannte denkende Maschinen glauben, materialistische Götzenanbeter sind. Menschliches Denken ist ein rein menschlicher Prozess, der niemals durch KI-Programme kopiert werden kann, auch wenn er in Teilaspekten künstlich durch eine Maschine modelliert wird. Als Ansatzpunkt ist es sinnvoll, die Dichotomie zu berücksichtigen, die von John Searle (1980), einem Philosophen von der University of California in Berkeley, vorgeschlagen wurde. Er beschreibt zwei Formen der KI: »schwache« KI, die als Werkzeug zur Erforschung der menschlichen Kognition verwendet werden kann, und »starke« KI,für die ein angemessen programmierter Computer einen Geist hat, der zum Verstehen fähig ist. Gegen »schwache« KI hat kaum jemand etwas einzuwenden.Fast alle erkennen die Bedeutung von Computern für die Erforschung der menschlichen Kognition an und es muss nicht viel mehr zu diesem Thema gesagt werden. Die »starke« KI, die Searle ablehnt, führte zu einem Sturm der Entrüstung. Im Abschnitt mit dem Titel »Das chinesische Zimmer« werden wir uns näher mit dieser Argumentation auseinander setzen.Aber wir wollen uns zunächst mit dem ursprünglichen Problem »Geist gegen Maschine« beschäftigen, wie es vom britischen Mathematiker Alan Turing beschrieben wurde. Zu Turings Leben und einer Darstellung anderer Themen der KI finden sich auch interessante Ausführungen in Metamagicum: Fragen nach der Essenz von Geist und Struktur von Douglas Hofstadter und in dem faszinierenden Buch Alan Turing: The Enigma von Andrew Hodges.
16.2.1
Das Imitationsspiel und der Turing-Test
Turing (1950) schlug eine Aufgabe vor, zu der es gehörte, dass ein Mensch, der Fragen stellte, mit einem Lebewesen kommunizierte, das eine unbekannte Sprache verwendete. Einfach ausgedrückt bestand die Aufgabe des Menschen darin, zu entscheiden, ob das Lebewesen von einem Menschen ununterscheidbar war. Der Einsatz des Imitationsspiels geht auf Turing zurück und es wurde später weithin als Turing-Test bekannt. Während einerseits die KI-Spezialisten nun eine konkrete Arbeit hatten, handelte es sich andererseits um eine ziemlich raffinierte Täuschung,die die Aufmerksamkeit von dem philosophischen Begriff »Geist« ablenkte – einem Thema, von dem viele in der Geschichte der Naturwissenschaft und der Psycholo-
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
gie wie besessen waren. Anstatt die philosophischen Fragen direkt anzugehen (wie Turing es hätte machen können, wenn er gefragt hätte: »Ist Kognition eine Funktion eines materiellen Prozesses und, wenn ja, kann diese Funktion auf eine nicht organische Maschine zurückgeführt werden?« Oder: »Worin besteht die Lösung für das Leib-Seele-Probleme?«), entschied er sich für eine weitaus klügere Methode, um die Frage so zu rahmen, dass sie auf dem Operationalismus beruhte. Da in der Literatur der wahre Kern des Tests, den Turing vorschlug, recht wirr dargestellt wird, wollen wir ihn hier in allen Einzelheiten wiedergeben:
16
Das … Problem kann in Form eines Spiels beschrieben werden, das wir Imitationsspiel nennen. Es wird von drei Personen gespielt,einem Mann (A),einer Frau (B) und einem Fragenden (C), der ein Mann oder eine Frau sein kann. Der Fragende bleibt in einem Zimmer und ist von den anderen beiden getrennt. Für den Fragenden besteht das Ziel des Spiels darin, zu bestimmen, welche der anderen beiden Personen die Frau und welche der Mann ist. Er kennt sie nur unter den Etiketten X und Y und am Ende des Spiels sagt er entweder »X ist A und Y ist B« oder »X ist B und Y ist A«. Der Fragende darf deshalb A und B Fragen stellen: C: »Würde mir X bitte etwas über die Länge seiner oder ihrer Haare sagen?« Nehmen Sie nun an, X sei tatsächlich A, dann muss A antworten. Das Ziel im Spiel ist es, C dazu zu verleiten, auf die falsche Identifizierung zu kommen. Seine Antwort könnte deshalb lauten: »Mein Haar ist kurz geschnitten und die längsten Strähnen sind etwa 20 Zentimeter lang.« Damit die Tonhöhe der Stimme dem Fragenden nicht vielleicht einen Hinweis gibt, sollten die Antworten handgeschrieben sein oder noch besser auf einer Schreibmaschine getippt werden. Die ideale Anordnung sähe so aus, dass man zur Kommunikation zwischen den beiden Zimmern einen Fernschreiber hätte. Eine andere Möglichkeit wäre es, wenn die Frage und die Antworten durch einen Vermittler wiederholt werden könnten. Das Ziel des Spiels besteht für die dritte Spielerin (B) darin, dem Fragenden zu helfen. Die beste Strategie für sie wäre es wahrscheinlich, wahrheitsgemäße Antworten zu geben.Sie kann zu ihren Antworten so etwas hinzufügen wie: »Ich bin die Frau – hören Sie nicht auf ihn.« Aber es wird ihr nichts ▼
nützen, denn der Mann kann ähnliche Bemerkungen machen. Jetzt stellen wir die Frage: Was wird geschehen, wenn eine Maschine in diesem Spiel den Part von A übernimmt? Wird der Fragende die falsche Entscheidung fällen,wie so oft,wenn bei einem Spiel zwischen einem Mann und einer Frau das Spiel so gespielt wird, wie er es macht? Diese Fragen sind ein Ersatz für unsere ursprüngliche Frage: Können Maschinen denken? (Turing, 1950, S. 434) Es ist offensichtlich, dass der Wert bestimmter Fragen, die X und Y gestellt werden, davon abhängt, was gerade in Mode ist. Beispielsweise hätte in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wahrscheinlich die Länge und der Stil der Haare als Grundlage für die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern zu einer hohen Fehlerrate geführt. Dennoch besteht in Turings Aufgabe der wichtige Punkt für die KI und für die Sprachwissenschaftler darin, dass ein Computer – um uns zu der Auffassung zu verleiten, er sei ein Mensch – in der Lage sein muss, eine Antwort zu verstehen und hervorzubringen, die in wirkungsvoller Weise eine wichtige Form der Kognition nachahmt.
16.2.2
Das chinesische Zimmer
Um die unhaltbare Position der »starken« KI-Auffassung zu veranschaulichen, stellt Searle die folgende Aufgabe: Nehmen wir an,dass jemand in ein Zimmer mit einer großen Sammlung chinesischer Schriften eingesperrt ist.Diese Person kann kein Chinesisch und ist auch nicht in der Lage, zwischen chinesischer Kalligraphie und anderen chinesischen Schriftformen zu unterscheiden.Von außerhalb des Zimmers gibt man der Person eine weitere Menge von chinesischen Schriftzeichen zusammen mit einer Menge von Regeln zum Vergleich der ersten Gruppe von Schriftzeichen mit der zweiten.Die Regeln ermöglichen es der Person nur, eine Menge von Symbolen mit einer anderen Menge von Symbolen in Beziehung zu setzen, und sie sind in einfachem Englisch verfasst.Mit Hilfe dieser relationalen Regeln ist die Person im chinesischen Zimmer in der Lage, sinnvolle Antworten auf Fragen zum Inhalt der Schriften zu geben, obwohl sie die Sprache eigentlich nicht beherrscht. Nach einer Weile ist die Person so geübt, dass die Frage sowohl auf Englisch (der Muttersprache der Person) als auch auf Chinesisch gestellt werden kann (das ist die Sprache, die die Person nicht beherrscht, aber sie
451 16.2 · Maschinen und Mentales: Das Imitationsspiel und das chinesische Zimmer
kann aufgrund der Regeln Antworten in dieser Sprache geben).Das Ergebnis ist so gut,dass es »von dem eines chinesischen Muttersprachlers völlig ununterscheidbar ist« (Searle, 1980). Die Person im chinesischen Zimmer ist ein einfaches Beispiel für ein Computerprogramm: Dateneingabe – Datenausgabe. Bis zu diesem Punkt hätten sich nur wenige KI-Querköpfe aufgeregt, aber dann geht Searle in seiner Argumentation einen Schritt weiter: Wenn man in der Lage ist, Aufgaben wie etwa das Übersetzen mit Hilfe komplexer Regeln zu erfüllen, so bedeutet dies nicht, dass das Ding,das die Aufgabe erfüllt,die Bedeutung des Handlungsergebnisses versteht. Der menschliche Geist hat so etwas wie Intentionalität (Searle, 1983), die nach dem Autor definiert ist als »die Eigenschaft mentaler Zustände und Ereignisse, über die der Geist auf Gegenstände und die Sachlage in der Welt ausgerichtet wird«. Zu diesen Zuständen gehören Meinungen, Ängste, Wünsche und Absichten. Gleichgültig wie ununterscheidbar gefälschtes Denken vom wirklichen Denken des Menschen ist: Es handelt sich wegen der Absichten des menschlichen Denkers
und wegen der physischen Unterschiede zwischen den Denkern nicht um das gleiche. Das eine wird auf organischem, das andere auf elektronischem Wege erzeugt.
16.2.3
Das chinesische Zimmer – eine Widerlegung
Informatiker brachten sofort Einwände gegenüber Searles Aufgabe vor (Boden, 1989). Erstens argumentierte man auf der Ebene der Semantik, dass die Begriffe Intentionalität, Verstehen und Denken ohne eindeutige operationale Bezüge verwendet würden. Der zweite Einwand konzentrierte sich auf die Ebene des Beispiels. Wenn die Person im chinesischen Zimmer die beschriebene Aufgabe erfüllt, hätte sie (oder das System) in der Tat zumindest ein gewisses Maß an Verstehen erreicht. Drittens wurde das Argument aufgrund einer Reductio ad absurdum als erledigt angesehen – das heißt, wenn man die logische Schlussfolgerung bis zum Ende durchdenkt, wäre es möglich, einen
Kritisch hinterfragt: Robbie, der Chirurg Die Frage der Ununterscheidbarkeit stellt sich in einem anderen Bereich ganz anders. Nehmen Sie beispielsweise an, zwei Chirurgen arbeiteten am selben Krankenhaus. Ein Chirurg machte seinen Doktor an einer bekannten Medizinischen Fakultät und hatte den Ruf, einer der besten Chirurgen der Welt zu sein. Der andere machte seinen Doktor an einer nicht so bekannten Medizinischen Fakultät und hatte den Ruf, ein schlechter Chirurg zu sein. Eines Tages ist eine Notfalloperation erforderlich und der bekannte Chirurg ist indisponiert. Deshalb führt der andere Arzt ohne Wissen des Patienten, der bewusstlos ist, die Operation durch. Man sagt dem Patienten nicht, welcher Arzt ihn operiert hat, und er ist zufrieden, dass die Operation erfolgreich war. Zudem sind andere Ärzte überzeugt davon, dass der bekannte Arzt die Operation durchführte. In diesem eingegrenzten Beispiel könnten wir zu dem Schluss kommen, dass der Test auf Ununterscheidbarkeit bestanden ist. Wenn Sie jedoch der Patient wären und erführen, dass die Operation in Wirklichkeit von einem Roboter durchgeführt wurde, zu welcher Schlussfolgerung kämen Sie im Hinblick auf die funktionellen Eigenschaften des Roboters im Vergleich zu denen eines Chirurgen? Würden Sie zustimmen, dass es sich um
die gleichen Eigenschaften handelt? Warum? Warum nicht? Es ist schwer, eine Antwort auf diese Fragen zu geben – aber das trifft nicht auf Leute zu, die eine feste Meinung zu diesem Thema haben. Einer davon ist John Searle, der den Turing-Test auf den Kopf stellte.
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452
Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
Roboter herzustellen,der in jedem Detail einer denkenden Person gleichkäme. Trotzdem wäre die eine zu Verstehen und Intentionalität fähig, der andere dagegen nicht. Und schließlich schien einigen KI-Wissenschaftlern Verstehen und Intentionalität mit speziellen stofflichen Eigenschaften zusammenzuhängen, die die Ursache für beides sind. Pylyshyn (1980) denkt satirisch darüber nach, dass Intentionalität vielleicht eine Substanz ist, die vom menschlichen Gehirn abgesondert wird, und stellt dann sein eigenes Rätsel: Wenn immer mehr Zellen in Ihrem Gehirn durch Chips mit integrierten Schaltkreisen ersetzt würden, die so programmiert wären, dass die Input-OutputFunktion jeder einzelnen Einheit zu der Einheit, die ersetzt wird, gleich bleibt, würden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach genau so weiterreden, wie sie es jetzt tun, außer dass Sie bisweilen aufhören würden, irgendetwas damit zu meinen. Das, was wir außen stehenden Beobachter vielleicht für Wörter halten, würde für Sie eben zu bestimmten Geräuschen werden,die zu machen die Schaltkreise Sie veranlasst haben. (Pylyshyn, 1980, S. 442)
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Die Diskussion geht weiter und ihr Wert mag für manche in ihrer philosophischen Tiefgründigkeit liegen. Für mich jedoch ist der Streit wahrscheinlich nicht zu schlichten (tatsächlich ist die Frage vermutlich unlösbar).Außerdem haben sich in beiden Lagern die Auffassungen verfestigt und es scheint eher um Glaubensfragen als um rationale Fragen zu gehen. Es gibt zwei Gründe dafür, diese Debatte in einem Buch zu beschreiben: Erstens ist sie vielleicht ein Anlass für die Leserinnen und Leser, tief gehend über die Frage nachzudenken, was an der Kognition des Menschen menschlich ist. Zweitens wird die Frage nach den Grenzen dessen aufgeworfen, was die KI an der menschlichen Intelligenz nachahmen kann.Die Tatsache,dass sowohl der Turing-Test als auch das Problem mit dem chinesischen Zimmer auf beiden Seiten Leidenschaften entfachte, ist ein Ausdruck der intensiven Beschäftigung zeitgenössischer Philosophen und KI-Wissenschaftler mit dem genialen elektronischen Geist, der kürzlich aus der Flasche entwich. Im nächsten Abschnitt werden wir einen Überblick über einige spezielle Leistungen von Computern geben. Die Entwicklung dieser Spezialfunktionen ist eine Annäherung an den Informationsfluss in einem informationsverarbeitenden Modell, der von der Wahrnehmung über
das Mustererkennen bis zu den höheren Formen der Kognition verläuft.
16.3
Wahrnehmung und KI
Die Wahrnehmung des Menschen wird durch äußere Signale in Gang gesetzt, die aus Licht, Ton, Molekülverbindungen oder Druck bestehen. Diese Signale werden von unserem Wahrnehmungssystem aufgenommen und in Botschaften überführt (in neuronale Energie umgewandelt), die das Gehirn verstehen kann. Die Informationsmenge, die uns über unsere Sinne zur Verfügung steht, ist riesig.Allein unser visuelles System kann 4,5 ¥ 106 Bits Informationen pro Sekunde an das Gehirn übertragen. Feigenbaum (1967) schlug gewissermaßen einen peripheren Apparat vor,den er bisweilen auch als peripheres Gedächtnissystem bezeichnete und der wie ein sensorischer Puffer arbeitet. Durch ihn wird verhindert, dass das Gehirn vom eingehenden Informationsstrom überflutet wird. Wie müsste man eine Maschine konstruieren, damit sie diesen Wahrnehmungsmechanismus nachahmt? Ein logischer Schritt wäre, eine bestimmte Fähigkeit zur Aufnahme äußerer Informationen zu entwickeln. Die Arbeit zu Computersystemen,die etwas erkennen können,könnte als ein solcher Ansatz betrachtet werden. Ein Großteil der frühen Forschung auf diesem Gebiet ging auf praktische Probleme zurück (z.B. wie man eine Maschine hervorbringt, die einen numerischen Code auf einem Scheck lesen kann) und hat im Grunde genommen nur sehr wenig mit der KI-Frage nach dem Analogon zum Menschen zu tun. Wir führen dies hier an, um einige der Wahrnehmungsleistungen bereits existierender Computer zu veranschaulichen.
16.3.1
Analyse von Linien
Eine Methode, mit der man Computern beibringen kann, geometrische Formen zu erkennen, besteht darin, die lokalen Merkmale eines Objekts zu analysieren und damit der Tatsache Rechnung zu tragen,dass sich komplexe geometrische Formen aus einfacheren zusammensetzen. Das Programm verwendet eine Reihe kleiner Schablonen, die bei der Suche nach einer Übereinstimmung systematisch über ein Objekt bewegt werden.Ein Beispiel für eine Schablone und ein geometrisches Objekt,das identifiziert werden soll, ist in ⊡ Abb. 16.1 dargestellt. Die Schablone setzt
453 16.3 · Wahrnehmung und KI
durch die Identifizierung von Linien lässt sich stark vereinfachen, wenn die Figur, die erkannt werden soll, zuerst in eine Strichzeichnung umgewandelt werden kann.Dabei kann man die Schablonen dann dazu benutzen, um etwas über die Ausrichtung der Linien herauszufinden.
16.3.2
⊡ Abb. 16.1. Finden eines linken Randes mit Hilfe einer aus sechs Zellen bestehenden Schablone. Die Zeichen + und – stehen für Zellen, die jeweils auf die Zustände »vorhanden« bzw. »nicht vorhanden« reagieren
sich aus zwei Arten von Sensoren zusammen – positiv und negativ, vorhanden und nicht vorhanden –, jeweils einer davon für eine Zelle oder Unterabteilung der Schablone. Der abgebildete Sensor hat nur sechs Zellen – dreimal Minus und dreimal Plus – und wegen der Anordnung dieser Komponenten (alle Minus-Elemente stehen auf der linken Seite) handelt es sich um einen Sensor,der wahrscheinlich dazu geeignet ist, den linken Rand eines Objekts zu erkennen. Legt man die Schablonen mit ihrer Mittellinie über den linken Rand des Würfels,so würde sich eine vollkommene Übereinstimmung ergeben. Die Übereinstimmung mit der Ecke des Würfels ist unzureichend und es gibt keine Übereinstimmung mit dem unteren Rand, an dem sich Plus- und Minus-Sensoren gegenseitig aufheben. Obwohl sich diese Heuristik zuverlässiger daran orientiert, was eine Maschine leisten kann, stimmt sie nicht mit den Befunden aus Studien zur Wahrnehmung beim Menschen und bei Tieren überein. Wir haben zuvor schon in diesem Buch (Kap. 4) erfahren, dass physiologische Psychologen in den kortikalen Zellen von Katzen erfolgreich Liniendetektoren entdeckt haben,und es sieht so aus, als gäbe es wahrscheinlich auch beim Menschen generalisierte Randdetektoren, obwohl der Befund noch nicht vollständig auf seine Validität überprüft wurde. Eine Schwierigkeit mit dem gerade beschriebenen System besteht darin, dass man zur einfachen Mustererkennung eine große Anzahl von Schablonen braucht (z.B. einen Detektor für den rechten, einen für den linken Rand usw.). Ein zusätzliches Problem ist die Qualität des Reizes; die meisten geometrischen Figuren (vor allem die in der realen Welt) haben scharf abgegrenzte und verschwommene bzw.helle und dunkle Ränder.Die Mustererkennung
Mustererkennung
Die Systeme zur Mustererkennung beschäftigen sich größtenteils mit visuellem Material. Das allgemeine Format der perzeptiven Hardware dieser Systeme war ein Raster oder eine Matrix fotoelektrischer Zellen (die auf Lichtenergie reagieren). Die fotoelektrischen Zellen können gewöhnlich zwei Zustände annehmen – an oder aus (bzw. »weiß« oder »schwarz«). Denken Sie einmal an die elementare Aufgabe, einen Buchstaben zu identifizieren. ⊡ Abbildung 16.2 zeigt, wie die Buchstaben in einen binären Code überführt werden – 0 für »aus« oder »schwarz« und 1 für »an« oder »weiß«. Der Computer »liest« jeden einzelnen Buchstaben. Das heißt, die fotoelektrischen Zellen – eine in jedem Quadrat des Gitters, das über die Zahl gelegt wird – »nehmen« die hellen Bereiche »wahr«, also jene, die nicht vom Buchstaben belegt werden. Das
⊡ Abb. 16.2. Repräsentation der Buchstaben ganz links in binärem Code (mittlere Spalte). Nullen stehen für »aus« oder »schwarz«, Einsen für »an« oder »weiß«. In der letzten Spalte sieht man Buchstaben so, wie sie beim Lesen durch einen Scanner aussehen könnten
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
beruht darauf, wie genau der digitale Code mit einer Schablone übereinstimmt, die im Gedächtnis des Computers gespeichert ist. Das funktioniert sehr gut, wenn die gezeichneten Figuren einheitlich, gleichmäßig positioniert und nicht mit Fehlern behaftet sind. Solche Lesegeräte sind in der Wirtschaft und bei der Post sehr verbreitet. Wenn es hier darum geht, die handgeschriebene Adresse auf einem Brief an Tante Karin zu lesen,haben die optischen Lesegeräte ihre Schwierigkeiten. Es scheint jedoch so zu sein, dass die Instrumente rasch weiterentwickelt werden, um sogar Handschriften lesen zu können. Wenn man versucht, Buchstaben oder Wörter mit Hilfe der KI zu identifizieren, geht es nicht nur um ein praktisches Problem. Es hat vielmehr auch eine Bedeutung für jene Wissenschaftler, die sich für den Prozess der Informationsanalyse beim Menschen interessieren. Viel von dem, was wir momentan über die Art und Weise wissen, wie wir Menschen einen Buchstaben oder ein Wort identifizieren, wurde in Kap. 12 beschrieben. Diese Informationen sind hilfreich dafür, ein Computerprogramm zu entwerfen, das den Lesevorgang nachahmt. Ein bahnbrechender Bericht über dieses Thema, der als Richtschnur für die spätere Forschung diente, war eine Veröffentlichung von Selfridge und Neisser (1963). Die allgemeine Vorgehensweise beim Wahrnehmen eines Buchstabens, wie sie gerade beschrieben wurde, würde sehr viel Speicherkapazität in einem Computer erfordern (um eine Schablone für jede neuartige Form jedes einzelnen Buch-
stabens abzuspeichern) – ansonsten blieben viele gültige Formen von Buchstaben unerkannt. Die grundlegende Logik, für die sich Selfridge und Neisser vor einiger Zeit einsetzten, ist heute in Buchstaben- und Wortlesemaschinen eingebaut. Diese Computer lesen Text mit Hilfe einer Reihe von Unterroutinen, von denen jede Einzelne auf einen Teil der Aufgabe beim Lesen etwa eines Buchstabens spezialisiert ist. Eine solche Analyse erinnert in bestimmter Weise an den Mittel-ZielProblemlöser, der in Kap. 14 und 15 über das Denken beschrieben wurde. Eine Methode, wie ein Buchstabenleseprogramm funktionieren könnte, ist in ⊡ Abb. 16.3 beschrieben.Hier wird die Art und Weise dargestellt,wie der Buchstabe über eine Reihe von Schritten verarbeitet wird, die für sich genommen recht einfach sind, bis durch das Ausschließen von Alternativen eine Übereinstimmung gefunden wird. Im Detail haben sich auch die PDP-Anhänger mit dem Problem der Buchstabenwahrnehmung beschäftigt. Eine allgemeine Kritik an KI-Programmen im Bereich der Buchstabenidentifizierung und Formwahrnehmung besteht darin, dass kein funktionierender Mechanismus für Aufmerksamkeit vorhanden ist. Eine Maschine sieht eine Figur – sei es nun ein Buchstabe oder eine geometrische Struktur – als ein Gesamtmuster und für sie ist es im Unterschied zu einem menschlichen Beobachter schwierig, sich auf die entscheidenden Merkmale zu konzentrieren. Ein Weg, wie PDP-Modelle mit diesem schwierigen Problem umgehen, ist es, zwei Arten von Merkmalsdetektoren zu
⊡ Abb. 16.3. Der Buchstabe R verarbeitet mit Hilfe einer Reihe von Identifikationsphasen. In jeder einzelnen Phase erkennt das Pro-
gramm bestimmte Eigenschaften des Buchstabens, wie etwa diagonale Linien, Einbuchtungen usw.
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455 16.3 · Wahrnehmung und KI
postulieren: Der eine wird als retinozentrische, der andere als kanonische Merkmalseinheit bezeichnet. In retinozentrischen Systemen werden visuelle Reize in ihrer »Roh«form aufgezeichnet, in etwa so, wie es beim Sinneseindruck auf der Retina geschehen könnte. Kanonische Merkmale sind jene, die mit dem Standardmodus, wie Informationen dargeboten werden, übereinstimmen (beispielsweise erwarten wir, den Buchstaben A so zu sehen, wie er hier dargestellt wird).Hinton (1981) beschrieb in seinem System eine Methode zur Abgleichung retinozentrischer Merkmalsmuster mit kanonischen Mustern. Die Details dieses Gedankengebäudes sind so umfangreich, dass sie hier nicht dargestellt werden können.Wir wollen es dabei belassen, darauf hinzuweisen, dass diese wichtige Frage vor allem von jenen intensiv erforscht wird, die sich mit PDP-Modelle beschäftigen.Wer sich genauer für das Problem interessiert, sei auf die Originalquellen verwiesen. Ältere und viel einfachere KI-Systeme zum Erkennen alphanumerischer Zeichen beruhten auf einem Schablonenkonzept. Ein Muster für Buchstaben und Zahlen wurde im Computer gespeichert. Wenn der Computer eine Ziffer oder einen Buchstaben »sieht«, »liest« er sie, indem er das Muster beispielsweise eines A mit der Form für A abgleicht. Wird eine Übereinstimmung gefunden, ist der Buchstabe korrekt identifiziert. Selbst die sequenziellen und parallelen Suchmethoden, die zuvor beschrieben wurden, sind eindeutig hirnlos. Die neueren Computermodelle, die auf neuronalen Netzen beruhen, sind tatsächlich in der Lage, Muster zu »lernen«. Einige dieser Computerimplementationen können Muster lernen,speichern und sie später erkennen. Ein Programm namens DYSTAL (DYnamically STable Associative Learning) lernt mit Erfolg die Buchstaben des Alphabets, Buchstabenfolgen und – das ist vielleicht am bemerkenswertesten – erkennt sie,auch wenn nur Teile der Muster dargeboten werden (⊡ Abb. 16.4). ⊡ Abb. 16.4. Die Mustererkennung durch Alkons künstliches Netz funktioniert meist nach den gleichen Regeln, wie sie biologische Systeme aufweisen. Wenn man ein Netz trainiert, ein Muster zu erkennen (wie etwa den hier oben dargestellten Kleinbuchstaben), bekommen die aufnehmenden Stellen, die am Erkennen teilnehmen, mehr »Gewicht« als die, die nicht daran teilnehmen – das heißt, dass sie eine verstärkte Erregbarkeit aufweisen. Hier wird das synaptische Gewicht durch die Höhe der Elemente in den Schichten dargestellt. Die Verstärkung trägt mit dazu bei, die Nervenzellen, die an der Erinnerung beteiligt sind, miteinander zu verbinden, wenn nur ein Teilstück des Musters dargeboten wird (Thomas P. Vogl vom Environmental Research Institute in Michigan unterstützte uns dabei, diese Zeichnung zu erstellen). Aus Alkon (1989)
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456
Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
DYSTAL schaffte dies nach Alkon (1989) in etwa so,wie wir ein allgemein bekanntes Gesicht erkennen, das in einer Karikatur nur durch wenige Striche angedeutet wird. Das System hat das Muster in dem Sinne »gelernt«,dass es keine vorher verdrahtete Verbindung zwischen Input und Output gab.Es wird jedoch eine Verbindung aufgebaut,indem den Einheiten (Stellen), die am Prozess des Erkennens beteiligt sind, größere Gewichte zugeordnet werden. Ein weiteres innovatives Merkmal des Systems besteht darin, dass es in der Lage ist, eine große Anzahl von Elementen aufzunehmen,ohne dass es die Leistungskraft der Computer überfordern würde. In vielen anderen Netzsystemen ist jede einzelne Einheit mit jeder anderen verbunden, so dass die Anzahl der Interaktionen exponentiell wächst, wenn die Anzahl der Einheiten zunimmt. Somit würde ein System, das sogar nur 100 Einheiten hätte, eine beträchtliche Verarbeitungszeit erfordern. Und ein Netz von dieser Größe würde einem Gehirn wirklich nicht ähneln. »Bei DYSTAL jedoch werden die Gewichte der Verbindungen nicht mit einem festen Wert verglichen: Vielmehr erreichen sie ein dynamisches Gleichgewicht, in dem die Zunahmen und Abnahmen der Gewichte über eine Reihe von Musterdarbietungen gleich sind. Und es findet unter dem Strich keine Veränderung der Gewichte statt (Alkon, 1989). Das System ist insofern mit dem Langzeitgedächtnis des Menschen vergleichbar, als dauerhafte Erinnerungen,wenn sie gebildet werden,zum größten Teil irreversibel sind. Sind diese stabilen Muster erst einmal gelernt, erfordern sie nicht so leistungsfähige Computer wie andere nicht biologische Netze. Das Erkennen komplexerer Formen folgt der gleichen Logik wie das Erkennen einfacher Formen. Aber es setzt im Allgemeinen komplexere Prozessoren voraus. Dieses Thema wird als Nächstes behandelt.
16.3.3
16
Erkennen komplexer Formen
Wir wollen uns mit einem Beispiel einer anderen Art von Mustererkennung beschäftigen: der Identifizierung eines Dreiecks. In ⊡ Abb. 16.5 sind mehrere Dreiecke zu sehen, die Sie alle sofort erkennen und als solche kategorisieren werden. Wenn der Prototyp der Dreiecksform, der in einem Computerprogramm abgespeichert wird, der »guten« Dreiecksschablone (A) entspräche, dann ließen sich die Dreiecke in B und C leicht erkennen,wenn man sie nur in angemessener Weise drehte und in Bezug auf die Größe anpasste. Die Dreiecke in D und E jedoch sind proble-
⊡ Abb. 16.5. »Gute« (A–D) und problematische (E) Dreiecke. Erstere unterscheiden sich in Bezug auf Größe, Ausrichtung und Seitenverhältnisse. Die Figuren in E haben keine herkömmlichen Seiten aus geraden durchgezogenen Linien, bleiben aber als Dreiecke erkennbar
matisch – vor allem jene in E,die hauptsächlich infolge ihrer »guten Gestalt« identifizierbar sind und nicht so sehr deshalb, weil sie sich aus drei geraden Seiten zusammensetzen. Unsere Fähigkeit, sofort jede Einzelne dieser Formen als Dreiecke zu erkennen, ist eine Funktion unserer großen Erfahrung mit anderen dreieckigen Objekten. Dieser abstrakte Begriff der Dreiecksform ist so umfassend, dass er es uns ermöglicht, Dreiecke einzubeziehen, die wir bisher noch nie unter der Kategorie der Dreiecke gesehen haben. Kann ein Computer dieses Konzept lernen? Wahrscheinlich, aber die Suchmechanismen müssen ein bisschen raffinierter sein als die einzelne Abgleichoperation bei den Geräten, die Zahlen auf Bankschecks lesen. Stattdessen müsste man sich ein Suchprogramm ausdenken,in dem die Merkmale eines Dreiecks enthalten sind.Deshalb müssten derartige Merkmale oder Eigenschaften wie Winkel, Linien, Form, Anzahl der Objekte und so weiter im Speicher des Computers ungefähr so abgespeichert werden, wie unser Gedächtnis einen Katalog dieser Eigenschaften eines Dreiecks enthält.
457 16.3 · Wahrnehmung und KI
Eine praktische Anwendung für das Erkennen komplexerer Formen durch einen Computer ist der Bereich des Erkennens von Gesichtern. Nehmen wir einmal an, Ihr Gesicht habe einzigartige Merkmale,wie es ja auch auf Fingerabdrücke zutrifft.Ein Computersystem,das Ihr Gesicht scannen und eine perfekte Übereinstimmung mit Ihrer Identität feststellen könnte, wäre vielleicht eine große Hilfe für die Polizei. Es könnte auch bei der Überprüfung von Schecks oder für die Sicherheit in Fabriken und Büros von Nutzen sein. Stellen Sie sich vor, Sie gingen in einer Institution mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen arbeiten und würden jeden Morgen von einem Computer begrüßt, der Sie bittet: »Bitte platzieren Sie Ihr Gesicht an einer Stelle, an der ich es sehen kann.« Nachdem er es gescannt hat und die Tür öffnet, sagt er: »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Frau Engel, Sie haben einen Anruf von Herrn Heinzelmann bekommen … und übrigens herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Und obwohl das wegen des Eindringens in unser Privatleben als Bedrohung angesehen wird, ist es wahrscheinlich, dass wir früher oder später mit solchen Geräten leben werden. Die Frage des Erkennens von Gesichtern wurde von Informatikern wie Thomas Poggio und Roberto Brunelli vom MIT angegangen. Der Kern ihres Programms besteht darin,dass saliente Merkmale wie etwa die Breite der Nase, die Entfernung zwischen Augen und Kinn usw. vom Gesicht extrahiert und mathematisch ausgewertet werden. Zu diesem Zweck konzentrierte man sich auf 16 wichtige Merkmale (⊡ Abb. 16.6). Wenn Gesichter immer gleich aussähen,dann wäre ein einfaches Modell zur Übereinstimmung von Schablonen ausreichend. Unser Gesicht sieht jedoch praktisch nie genauso aus wie vorher. Deshalb muss ein Programm eine enge Übereinstimmung zwischen Ihrem heutigen Gesicht und dem von der letzten Woche finden, aber dennoch nicht so nachsichtig sein, dass es einen Doppelgänger durchgehen lässt. Das Programm erfüllt seine Funktion
Könnte das Abraham Lincoln sein?
⊡ Abb. 16.6. Übereinstimmung von Gesichtern. Um dieses Gesicht mit einem Gesicht im Speicher des Computers in Übereinstimmung zu bringen, werden 16 Schlüsselmerkmale wie etwa die Abmessungen von Auge, Nase und Kinn gesammelt und in einer Formel zur Berechnung der Ähnlichkeit verwendet. Die Formel beruht auf einem Maß der euklidischen Distanz in einem 16-dimensionalen Raum. Diese Arbeit wurde am MIT von R. Brunelli und T. Poggio durchgeführt
durch die geometrische Überprüfung der Winkel zwischen Merkmalen und es verspricht,zuverlässiger zu sein, als es Menschen beim Erkennen von Gesichtern sind. Ein solches Gerät könnte dazu beitragen, einige der fotografischen Rätsel zu lösen, die von Zeit zu Zeit auftauchen. So kam kürzlich eine solche Frage auf,als ein sehr frühes Foto von jemandem entdeckt wurde,der Abraham Lincoln sein könnte oder auch nicht. Dieses Foto von einem jungen Mann aus dem frühen 19. Jahrhundert sieht wie ein Foto von Lincoln aus. Aber stimmt das auch wirklich? Die Computeranalyse der Gesichtsmerkmale könnte eine Antwort auf diese Frage geben. Aus dem, was wir über das Erkennen von Gegenständen (Kap. 4) gesagt haben, wissen wir, dass die Musterwahrnehmung beim Menschen nicht einfach so vor sich geht, dass man einen Gegenstand sieht und diesen Eindruck dann in eine zerebrale Schablone einpasst (wie der Computer die senkrechten Streifen eines Streifencodes mit entsprechenden Mustern abgleicht). Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass sie auf vorher behaltenen Merkmalen aufbaut,die miteinander vermischt einen Prototyp bil-
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
den. Zum Erkennen neuer oder weniger vertrauter Reize braucht man länger als für alte oder vertraute Muster, weil weniger Übereinstimmungen mit Mustern im Gedächtnis vorhanden sind.Computer haben keine derartig begrenzte Kapazität – es scheint praktisch keine Grenze für die Speicherkapazität von Computern zu geben – und deshalb werden sie häufig so programmiert, dass sie massiv vom Speicher Gebrauch machen und umfangreiche Suchmechanismen verwenden, wenn sie eine Empfindung mit dem Gedächtnis abzugleichen versuchen. Im »realen« Leben erkennen wir Menschen, Orte und sogar Wörter mühelos – aber nicht, weil wir jedes Mal, wenn wir solche Dinge sehen, diesen Eindruck getrennt abspeichern, sondern weil wir die Abstraktion speichern, die mit einer Klasse von Reizen assoziiert wird. Wenn Sie also Ihr eigenes Schlafzimmer, Ihr Kissen und Ihre Schuhe erkennen, dann liegt das daran, dass das Gehirn Bild»ideale« und nicht Bild»schnappschüsse« gespeichert hat. Sinha und Poggio (1997) zeigten, wie bedeutsam die Kopfform beim Erkennen durch Menschen und Computer ist.Wir kennen einander,weil wir auf Monate oder Jahre der Erfahrung miteinander zurückblicken können.Diese charakteristischen Merkmale eines Gesichts sind im Gedächtnis gespeichert und wir erkennen jemanden unmittelbar,wenn wir die gesamte Person sehen,in der all die Merkmale ihres Prototypgesichts vorhanden sind. Es gibt eine große Ähnlichkeit mit dem Prozess, der experimentell von Solso und McCarthy im Zusammenhang mit Prototypgesichtern beschrieben wurde (Kap. 4). In einem anderen Experiment präsentierten Sinha und Poggio die Gesichter, die in ⊡ Abb. 16.7 dargestellt sind. Auf den ersten Blick sehen die beiden wie der frühere Präsident Bill Clinton und sein Vizepräsident Albert Gore aus.Aber in Wirklichkeit setzt sich das Gesicht des Herrn im Hintergrund aus den salienten Merkmalen von Präsident Clinton zusammen – seinen Augen, seiner Nase und seinem Mund. Dies wurde auf Gores äußere Erscheinung projiziert – auf seine Haare, seine Augen und seinen Körper. Sie haben sich wahrscheinlich am Anfang durch diese Täuschung in die Irre führen lassen, weil sie zu der Auffassung verleitet wurden, die beiden seien das »Duo«, nicht ein Hirngespinst. Auch die Haltung, die die jeweilige Person einnimmt, beeinflusst Ihre Sichtweise systematisch: Sie werfen einen Blick auf Gores Haar, seinen Körper, seine Haltung und schnell wurde die Entscheidung gefällt. Beim Menschen wird das Erkennen von Mustern stark von früheren Wahrnehmungen beeinflusst; beim Erkennen von Gore erweist sich dies als ineffektiv. Der Forschungs-
⊡ Abb. 16.7. Können Sie dieses berühmte Duo ganz schnell erkennen? Sind Sie sicher? Zur Erklärung siehe Text
strang, der von Poggio und seinen Kollegen verfolgt wird, geht in zwei Richtungen: Einerseits ist es möglich, Programme zu entwerfen, die Gegenstände und Gesichter besser erkennen als Menschen (und solche Geräte haben ihren Nutzen bei der Sicherheitsüberprüfung).Und andererseits ist es möglich, ein Lernprogramm zu verwirklichen, durch das Computer mit Hilfe von Versuch und Irrtum lernen können, Gegenstände und Gesichter so wie die Menschen zu erkennen. Systeme, die eine Leistung wie menschliche Experten zeigen, nennt man Expertensysteme. Ein Expertensystem ist im Grunde ein künstlicher Spezialist, der Probleme auf seinem Fachgebiet löst. Expertensysteme wurden entworfen, um Probleme in der Medizin, im Rechtswesen, in der Aerodynamik, im Schach und bei Myriaden von Routinearbeiten zu lösen, die Menschen im Allgemeinen langweilen oder ihnen in manchen Fällen eventuell zu schwierig sind, als dass sie für sie lösbar wären (siehe das gerade besprochene Thema der Gesichtserkennung).Diese Systeme können sich sehr gut an Regeln halten und nur an ein Thema »denken«.Ein medizinisches Expertensystem hat vielleicht keine Ahnung von einem Loch im Boden, aber es kann eine einigermaßen genaue Diagnose für ein 13-jähriges Mädchen stellen,das Fieber,Schmerzen im Unterleib und eine abnorm hohe Konzentration von weißen Blutkörperchen hat. Ein solches Programm mit der etwas seltsamen Bezeichnung »Puff« ist ein Expertensystem, das
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dazu entworfen wurde, Lungenfunktionsstörungen zu diagnostizieren wie etwa einen Lungenkrebs. Es weist eine Trefferquote von etwa 89% auf – dies liegt nahe an der Trefferquote von erfahrenen Ärzten. Expertensysteme sind vor allem in der Industrie, beim Militär und bei der Erkundung des Weltraums beliebt. Sie zeigen gute Leistungen bei der Aufgabe, für die sie entworfen wurden. Außerdem streiken sie nicht und wollen auch nicht mehr Geld haben, es macht ihnen nichts aus, in Stücke geschlagen zu werden, sie brauchen keine Intensivstationen und Computerenthusiasten mögen sie sehr.
16.4
Sprache und KI
Die Psychologie betrachtet die Sprache im Allgemeinen als primäre Ausdrucksform grundlegender kognitiver Prozesse. Sprache bringt mehr als irgendeine andere Art menschlicher Reaktionsvariablen Gedanken, Wahrnehmung, Gedächtnis, Problemlösen, Intelligenz und Lernen zum Ausdruck. Weiterhin ist sie wegen ihrer Bedeutung für elementare psychologische Prinzipien in den Augen KI-Wissenschaftler von besonderem Interesse.
Eine frühe automatische Schreibmaschine Hier ist eine Darstellung von Jonathan Swifts »denkender Maschine« aus Gullivers Reisen abgebildet. Swift schlug verbittert vor, dass man Bücher und andere Literatur schreiben könnte, indem man die entsprechenden Schalter betätigte. Einige Schreibprogramme haben eine Form von Sciencefiction hervorgebracht, die als gute Literatur durchgeht. Zu Beispielen dafür siehe die Zeitschrift Omni.
Der von Arthur C. Clarke geschaffene fiktive Computer Hal konnte sprechen und Probleme lösen.Nach der Vision des Autors nahm dies eine umfassende Form an, wie in folgendem Gespräch zwischen Dave (dem Menschen) und Hal deutlich wird: »Ich möchte das selbst machen, Hal«, sagte er. »Bitte gib mir die Kontrolle darüber.« »Sieh mal, Dave, du hast sehr viel zu tun. Ich schlage vor, du überlässt das mir.« »Hal, schalte doch den manuellen Schlafzustand ein.« »Ich kann aus den Obertönen in deiner Stimme ablesen, Dave, dass du ganz aus der Fassung geraten bist. Warum nimmst du nicht eine Pille gegen Stress und erholst dich etwas?« »Hal,ich habe das Kommando über dieses Raumschiff. Ich befehle dir, den manuellen Schlafzustand einzuschalten.« »Es tut mir Leid, Dave, aber ich handle in Übereinstimmung mit der speziellen Unterroutine 101435-Bindestrich-4. Zitat Anfang: Wenn die Mannschaft tot oder arbeitsunfähig ist, muss der Computer an Bord ▼
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
die Kontrolle übernehmen, Zitat Ende. Ich muss dich deswegen von deiner Amtsgewalt entbinden, denn du bist nicht in der Lage, sie auszuüben.« Wie nahe sind wir dieser fiktiven Geschichte im KI-Labor gekommen?
16.4.1
ELIZA, PARRY und NETtalk
Begeisterte frühe Verfechter der KI nahmen die Herausforderung gerne an, die sich durch die Aufgabe von Turing stellte, und schrieben Programme, die dazu entworfen wurden, auf natürlichsprachliche Anfragen in einer Weise zu reagieren,dass sie von den Antworten eines Menschen nicht zu unterscheiden waren.Aus der heutigen Perspektive scheinen einige dieser Programme etwas trampelhaft zu sein, aber so entwickelt sich die Wissenschaft eben oft. ELIZA. Eines der ersten Computerprogramme in Form ei-
ner Unterhaltung war ELIZA von Joseph Weizenbaum (1966). Der Name geht auf George Bernard Shaws Stück Pygmalion und seine Musicalfassung My Fair Lady zurück. Seit der ursprünglichen Version erschienen mehrere neue Varianten von ELIZA. In einem spezifischen Programm DOCTOR übernimmt ELIZA eine Rolle,die der eines Psychiaters ähnelt. Beim folgenden Beispiel wird ELIZAs Part in Großbuchstaben dargestellt:
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Männer sind alle gleich. IN WELCHER WEISE? Sie ärgern uns immer mit der einen oder anderen Sache. KÖNNEN SIE EIN BESTIMMTES BEISPIEL ANGEBEN? Nun ja, mein Freund sorgte dafür, dass ich hierher gekommen bin. IHR FREUND SORGTE DAFÜR, DASS SIE HIERHER GEKOMMEN SIND? Er sagt, ich sei die meiste Zeit deprimiert. ES TUT MIR LEID, ZU HÖREN, DASS SIE DEPRIMIERT SIND. Es stimmt, ich bin unglücklich. GLAUBEN SIE, DASS ES IHNEN DABEI HELFEN WIRD, NICHT MEHR UNGLÜCKLICH ZU SEIN, WENN SIE HIERHER KOMMEN? Ich brauche Hilfe, da bin ich mir sicher.
Diese Unterhaltung,so könnte man argumentieren,könnte leicht aus einem Gespräch zwischen einer Psychiaterin (in Menschengestalt) und einer Patientin stammen. Lassen Sie uns das Transkript jedoch noch einmal kritisch ansehen.Die Antworten des Computers sind gewöhnlich stereotyp. Beispielsweise ist er darauf programmiert, auf bestimmte Schlüsselwörter mit einer Antwort zu reagieren, die nur eine Transformation des ursprünglichen Satzes darstellt.Wenn also die Patientin die Schlüsselwörter »Ich bin« sagt, reagiert ELIZA mit der Redewendung »Es tut mir Leid, zu hören, dass Sie … sind.« Wenn keine Schlüsselwörter gefunden werden, antwortet der Computer mit einer inhaltsfreien Bemerkung oder in bestimmten Fällen mit der Transformation eines früheren Satzes. Die menschliche Fähigkeit, etwas über Gefühle, Neigungen, Gruppendynamiken usw. zu wissen, läuft auf etwas hinaus, das wir mangels eines besseren Begriffs als Verstehen bezeichnen. Und genau das fehlt ELIZA. PARRY. Welche Art von Unterhaltung könnte herauskommen, wenn die Rollen umgekehrt wären – das heißt, wenn ein Psychiater mit der computerisierten Simulation eines Patienten sprechen würde? Colby und seine Kollegen (1972) simulierten solch einen Patienten in einem Programm, das sie PARRY nannten, weil hier ein paranoider Patient simuliert wurde. Sie entschieden sich für eine paranoide Person, weil es bestimmte theoretische Überlegungen über das System und den Prozess der Paranoia gab, weil die Unterschiede zwischen psychotischen und normalen Antworten groß waren und weil sie Expertenurteile nutzen konnten, um die Unterscheidbarkeit der vom Computer simulierten Antworten und der Antworten des Menschen zu validieren. Colby und seine Mitarbeiter setzten den Computer einem Turing-Test aus, indem sie eine Gruppe von Psychiatern baten, PARRY mit Hilfe von Fernschreiberbotschaften zu befragen. Die Beurteiler (Psychiater) wurden gebeten, aus der Gesamtheit der Antworten das Ausmaß der Paranoia einzuschätzen.
461 16.4 · Sprache und KI
Interview A Dialog Dr.: KÖNNEN SIE IRGENDETWAS SPEZIELLES ÜBER MENSCHEN SAGEN? Pt.: ÜBER BESTIMMTE PERSONEN? Dr.: WER SIND DIESE BESTIMMTEN PERSONEN UND WAS MACHEN SIE? Pt.: WISSEN SIE, WIE DIE UNTERWELT VORGEHT?
Dr.: WIE MEINEN SIE DAS? Pt.: SOLLTE ICH DAS NICHT MEINEN?
Dr.: WARUM HABEN SIE DIE FRAGE ZUR UNTRWELT GESTELLT? Pt.: WELCHE INFORMATIONEN HABEN SIE ZUR UNTERWELT?
Kommentare durch den Beurteiler
Ein interessanter Hinweis. Wir müssen herausfinden, was er von diesen Menschen hält.
Das Stichwort »Unterwelt« deutet auf ein Wahnsystem hin. Wir wissen nicht, ob er dagegen anarbeitet oder ob die Unterwelt auf seiner Seite ist. Diese Frage hat nicht so gut funktioniert. Hier handelt es sich um eine Art von Ausweichen,die nach meiner Erfahrung bei Paranoia verbreitet ist. Ziemlich charakteristisch.
Das hört sich eindeutig paranoid an. Das hört sich an, als würde er sich winden. Er will vermeiden, direkt zu antworten oder ins Detail zu gehen. Er wehrt meine Fragen ab. Ich bin bereits in das Wahnsystem des Patienten eingebunden.
Dr.: ICH WEISS NICHTS VON DER UNTERWELT. ABER ALS SIE DIE UNTERWELT ERWÄHNTEN, DACHTE ICH, SIE MÜSSTEN IRGENDEINE ART VON KONTAKT MIT IHR HABEN. UND DARÜBER WÜRDE ICH GERNE MEHR WISSEN. Pt.: VERSUCHEN SIE DIE UNTERWELT ZU MEIDEN.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass es in einer sehr spezialisierten Umgebung nicht möglich ist, zwischen dem Modell und dem Patienten zu unterscheiden. Natürlich kann man korrekterweise einwenden, dass die experimentellen Bedingungen fiktive waren und dass zu einer tatsächlichen Diagnose der Paranoia ausführliche Befragungen unter vier Augen gehören und dass die Beurteiler – wenn sie wirklich gewusst hätten, um welche Art von Aufgabe es ging – den vermeintlichen Patienten anders interviewt hätten. Colby und seine Kollegen programmierten einen Computer erfolgreich, in einer Weise zu antworten, wie es ein paranoischer Patient getan hätte – und dieses Programm hat eine Form des Turing-Tests bestanden.Dennoch ist es weit von einem vollständigen Modell der Sprachproduktion und des Sprachverstehens entfernt.
NETtalk. Eine ganz andere Art von Programm, das auf
einem neuronalen Netz beruhte und als NETtalk bezeichnet wird, wurde von Sejnowski, damals an der Harvard Medical School, und von Rosenberg in Princeton entwickelt (Heppenheimer, 1988; Sejnowski, 1987). In diesem Programm liest NETtalk Buchstaben und spricht sie laut
Terry Sejnowski. Seine neuronalen Netze enthielten eine verborgene Schicht, die den Interneuronen entsprach
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
⊡ Abb. 16.8. NETtalk liest laut. Es übersetzt Buchstaben in Phoneme. Jede einzelne Buchstabeneinheit schickt Signale über gewichtete Verbindungen an alle »verborgenen« Einheiten. Wenn das Gesamtsignal, das bei einer verborgenen Einheit ankommt, einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, feuert die Einheit und schickt Signale an
die Phonemeinheiten. Der Output ist das Phonem, das das stärkste Gesamtsignal bekommt. Wenn ein »Lehrer« NETtalk mitteilt, dass es einen Fehler gemacht hat – hier hat es gerade m statt n gelesen –, korrigiert es den Fehler, indem es nach einem bestimmten Lernalgorithmus alle Gewichte anpasst. Aus Heppenheimer (1988)
aus (⊡ Abb. 16.8). Das auf einem neuronalen Netz basierende Simulationsmodell besteht aus mehreren 100 Einheiten (»Nervenzellen«) und Tausenden von Verbindungen. NETtalk »liest laut«, indem es Buchstaben in Phoneme umwandelt; das sind die elementaren Einheiten der sprachlichen Töne. Dieses System hat wie andere, mit denen wir zu tun hatten, drei Schichten: eine Inputschicht, bei der jede einzelne Einheit einem Buchstaben entspricht, eine Outputschicht, bei der die Einheiten die 55 Phoneme der englischen Sprache repräsentieren,und eine verborgene Schicht mit Einheiten,von denen jede Einzelne eine gewichtete Verbindung zu jeder einzelnen Input- und Outputeinheit hat. NETtalk liest, indem es jeden einzelnen Buchstaben einen nach dem anderen berücksichtigt und indem es drei Buchstaben davor und drei Buchstaben dahinter als Kontextinformationen überfliegt. Somit kann dem e in nett, Knete und Kehle jeweils ein anderer Ton zugewiesen werden.Jedes Mal,wenn NETtalk ein Wort liest, vergleicht es seine Aussprache mit der korrekten Aussprache, die ein Mensch liefert, und
passt seine Gewichte neu an, um etwaige Fehler zu korrigieren. Nach ein paar Durchläufen weist NETtalk bemerkenswerte Verbesserungen auf. Sejnowski berichtet über das Programm: »Wir ließen es eine ganze Nacht durch laufen. Zunächst gab es einen kontinuierlichen Strom von Plappern von sich.Es hatte einfach nur geraten.Es hatte nicht gelernt, Phoneme mit Buchstaben in Verbindung zu bringen. Im weiteren Verlauf begann es, Konsonanten und Vokale zu erkennen. Dann entdeckte es, dass es Leerstellen zwischen den Wörtern gab. Jetzt wurde sein Strom von Tönen aufgegliedert in kurze Ausbrüche, die durch diese Wortzwischenräume voneinander getrennt waren. Als die Nacht zu Ende war, las es ganz verständlich und sprach etwa 92 Prozent der Buchstaben korrekt aus.« (zitiert in Heppenheimer, 1988, S. 74)
463 16.4 · Sprache und KI
Die praktische Anwendung dieser Systeme liegt auf der Hand.Der konzeptuelle Durchbruch,den solche durch das Analogon zum Nervensystem inspirierten Modelle darstellen, ist vielleicht nicht so offenkundig, aber auf lange Sicht kann er an Bedeutung gewinnen. Nach den Erkenntnissen von Sejnowski und anderen ist der Kontext von großer Relevanz im Gespräch unter Menschen (und mit Maschinen). Wir werden jetzt auf ein anderes wichtiges Problem eingehen, das Thema »Bedeutung und KI«.
16.4.2
Bedeutung und KI
Einige der Unterhaltungen mit einem Computer sind qualitativ ausreichend,um bisweilen ein paar Menschen in die Irre zu führen. Allerdings versagen sie nicht wegen eines Mangels an Speicher für Wörter, der ja nahezu grenzenlos ist,oder wegen ihrer mangelnden Fähigkeit,sinnvolle Sätze hervorzubringen, die etwas Umfassendes ist, oder wegen ihrer Unfähigkeit, Buchstaben auszusprechen, was noch hinnehmbar wäre.Sie versagen,weil es ihnen an Verständnis für das fehlt, worum es in der Sprache überhaupt geht. In der Frühzeit der KI dachte man, Computer würden zu einer großen Hilfe werden, wenn man etwas von einer Sprache in eine andere übersetzen möchte. Man lade einfach den Speicher des Computers mit entsprechenden Wörtern in zwei Sprachen (beispielsweise die deutschen und dänischen Entsprechungen: Halskette = halskæde, Stoff = stof, Taschenbuch = billigbog, rosa = lyserød usw.). Man gibt etwas in der einen Sprache ein und in der anderen kommt es heraus.Doch selbst wenn man eine Eins-zueins-Übersetzung innerhalb des Kontextes syntaktischer Informationen durchführt, sind die Ergebnisse bisweilen seltsam. In einem Beispiel (von zweifelhaftem Ursprung) wird der Spruch aus der Bibel »Der Geist ist willig,aber das Fleisch ist schwach« ins Russische übersetzt und dann zurück ins Deutsche. Es kam heraus: »Der Wein war annehmbar, aber das Fleisch war verdorben.« Die Erfahrung mit diesen primitiven Übersetzungsprogrammen und Entwicklungen in der Psycholinguistik veränderten unsere Konzeptualisierung von Sprache. Im eben genannten Beispiel war die Bedeutung der beiden Sätze nicht die gleiche, obwohl sich die russischen und deutschen Wörter entsprachen und die Syntax (in beiden Sprachen) korrekt war. Unsere natürliche Sprache bewegt sich innerhalb der einschränkenden Bedingungen einer
Vielfalt von Regeln, die die Abfolge der Bestandteile und die Bedeutung der gesamten Sequenz bestimmen.Dies alles ist komplex miteinander verwoben und das beginnen wir erst allmählich zu verstehen.Die Computeranalyse natürlicher Sprachprozesse hat sich dahin entwickelt, dass Systeme entworfen werden, die die Sprache »verstehen«. Es entstanden einige ziemlich raffinierte »verstehende« Programme, die auf der Begriffsbasis der Sprache beruhen. In diese Systeme ist die Fähigkeit eingebaut, sowohl den Kontext des Gesprächs als auch die Bedeutung der Wörter und in manchen Fällen das Weltwissen (Winograd) zu analysieren. Der Syntaxanalysator legt die wahrscheinlichste Zergliederung und Interpretation eines Satzes fest. Wegen ihres beschränkten Weltwissens und ihrer unzureichenden Leistungen beim Schlussfolgern waren die ersten Sprachsysteme in ihrer Fähigkeit begrenzt, eine Unterhaltung unter Menschen nachzubilden. Wenn sich Menschen unterhalten, ist das, was sie nicht sagen, genauso wichtig wie das, was sie sagen – zumindest wenn es wirklich zu einer Kommunikation kommen soll. Die intelligente Leistung eines Menschen ist durch alle möglichen Arten von Schlussfolgerungen gekennzeichnet, nicht nur bei der Sprachverarbeitung, sondern auch bei anderen Aktivitäten wie etwa der visuellen Wahrnehmung. Wir müssen nicht die gesamte, teilweise verdeckte Figur sehen, um daraus zu schließen, dass die ganze Figur existiert.Selbst bruchstückhafte oder sekundäre Hinweisreize reichen aus,um eine ganze Serie von Reaktionen auszulösen. Wenn ich beispielsweise durch einen Wald laufe, von dem bekannt ist, dass es Schlangen darin gibt, dann reicht der Ton raschelnder Blätter als Hinweisreiz aus, damit ich schlagartig stehen bleibe. Ein weiterer Bereich der KI-Forschung, der sich mit Verstehen beschäftigt und dem sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde, ist das Konzept der »Meinungen«. Denken Sie einmal an folgendes Beispiel: > Ich war gestern bis zwei Uhr nachts weg. Junge, hat es mir meine Frau aber gegeben.
Mit einiger Gewissheit kann man daraus schließen, dass die meisten Menschen wissen, dass das, was die Frau ihrem Ehemann gegeben hat,nicht zärtliche Zuneigung war. Sehen wir einmal davon ab, dass diese Schlussfolgerung völlig falsch sein kann.(Beispielsweise kann der Ehemann im Labor gearbeitet haben und gerade ein Mittel gegen Krebs entdeckt haben, das der Familie Ruhm und Vermö-
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
gen einbringen wird, oder der Ehemann könnte auch zu früh nach Hause gekommen sein!) Nein,wir sprechen hier über das, was die meisten Menschen bei dieser kleinen Geschichte verstehen und was die meisten Computerprogramme nicht verstehen. Ein Programm, das diese Geschichte verstehen würde, brauchte nicht nur ein riesiges Gedächtnis für Redewendungen (wie sonst würde es »hat es mir aber gegeben« verstehen?), sondern auch ein gewisses Verständnis für das Kommen und Gehen von Ehemännern und die Meinungen und Einstellungen von Ehefrauen über ein solches Gebaren.
16.4.3
einem höheren Grad an Genauigkeit. Dies bedeutet, dass jemand auf Deutsch beispielsweise in ein »Telefon« (oder in ein mit einem Computer verbundenes Mikrofon) sprechen kann, dass die deutschen Sätze in einen visuell dargebotenen Text übersetzt werden, der Text in eine andere Sprache,etwa Französisch,übersetzt wird,die zweite Sprache als gesprochene Sprache synthetisiert wird, und der Output ist die gesprochene Version der übersetzten Botschaft. Dieses ausgesprochen praktische Programm existiert bereits im Experimentalstadium (Kurzweil, 1999) und man erwartet, dass ein kommerzielles Produkt im ersten Teil dieses Jahrzehnts auf den Markt kommen wird.
Kontinuierliche Spracherkennung 16.4.4
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Systeme zur kontinuierlichen Spracherkennung sind Programme, die natürliche Sprache erkennen und aufzeichnen. Oberflächlich betrachtet scheint die kontinuierliche Spracherkennung etwas Anspruchsloses zu sein. Schließlich erkennen die meisten Menschen und einige Tiere eine Art von Sprache und speichern sie. Doch aus den oben erwähnten Gründen ist diese Aufgabe teuflisch kompliziert. Denken Sie nur an das Problem der Homophone – Wörter, die ähnlich klingen, aber unterschiedliche Bedeutungen haben (wie etwa die Bank zum Sitzen und die Bank, bei der man Geld abhebt). Beim Satz »Peter setzte sich auf eine Bank« würde wahrscheinlich niemand auf die Idee kommen, dass Peter die Feuerleiter des Bankgebäudes heraufsteigt und sich dort aufs Dach setzt, was ja prinzipiell möglich wäre. Bank ist im Zusammenhang mit »sich setzen« für die meisten Menschen ziemlich eindeutig.Wie würde jedoch ein System zur kontinuierlichen Spracherkennung mit diesem Sprechmuster umgehen? Die meisten Programme wurden so entworfen, dass sie aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeiten und eines begrenzten syntaktischen Kontextes ihre Funktion erfüllen. Deshalb könnten sie die Absicht hinter diesem Satz nicht interpretieren.Allmählich jedoch werden immer raffiniertere Programme entwickelt, die mehr vom Kontext in die Analyse einbeziehen und »Weltwissen« berücksichtigen. Die fortgeschrittensten Forschungsaktivitäten im Hinblick auf kontinuierliche Spracherkennung sind die oben erwähnten Übersetzungsprogramme. Diese neueren Programme führen nicht einfach nur eine Übersetzung mit seelenloser Suche auf Übereinstimmung durch, sondern sind fähig zu einer kontinuierlichen, umfassenden, auf Wortschatz beruhenden Spracherkennung, zur Übersetzung in eine andere Sprache und zur Sprachsynthese mit
Programme zum Sprachverstehen
Wie NETtalk und Programme zur kontinuierlichen Spracherkennung Weltwissen berücksichtigen, wenn sie zu einigermaßen vernünftigen Reaktionen gegenüber Menschen führen sollen, so haben auch andere Programme einige Formen des menschlichen Verstehens in ihre Systeme einbezogen. Zu den bekanntesten und am kontroversesten diskutierten Systemen gehört ein Programm zum Sprachverstehen, dass von Roger Schank in Yale entwickelt wurde. Die Forschung von Schank war von mehreren Zielen geleitet. Dazu gehörte die Entwicklung eines Programms, das in der Lage war, geschriebenen Text zu verstehen, die wesentlichen Teile eines solchen Textes zusammenzufassen, ihn in eine andere Sprache zu übersetzen und Fragen zur Bedeutung des schriftlichen Materials zu beantworten. Schank und seine Kollegen entdeckten bald, dass Menschen sehr viel mehr als nur die bloßen Wörter eines natürlich sprachlichen Ausdrucks verstehen. Schank veranschaulicht dies an der folgenden Geschichte: »John ging in ein Restaurant.Er bestellte ein Sandwich.Die Kellnerin brachte es so schnell, dass er ihr ein üppiges Trinkgeld gab.« Hat John das Sandwich gegessen? Hat er dafür bezahlt? Wenn ich Ihnen erzähle: »Ich besuchte im letzten Sommer Venedig«, können Sie eine Reihe von Fragen mehr oder minder genau beantworten: Gab ich Geld aus? Reiste ich mit dem Flugzeug? Mit dem Schiff? Sprach ich mit irgendjemandem? Ging ich in ein Restaurant? Sah ich in Venedig andere Leute? Sprachen sie Italienisch? Trugen sie Kleidung? Hatten sie Fingernägel? Wie viele? Damit eine »intelligente« Maschine Sprache verstehen kann, müsste sie auf die gleiche Weise vernünftige Schlussfolgerungen über die Sprachverarbeitung ziehen,wie dies Men-
465 16.5 · Problemlösen, Spielen und KI
schen tun. Die Grundidee ähnelt dem Konzept der Topdown-Verarbeitung, das an vielen Stellen in diesem Buch behandelt wurde. Zu den Schwierigkeiten, auf die die Entwickler von Programmen zur Sprachverarbeitung stießen, gehört die Mehrdeutigkeit natürlicher Sprachen.Schank (1981) führt die folgenden Beispiele an: > Ich traf Fred an der Nase. Ich traf Fred im Park.
Um diese Sätze korrekt zu zergliedern, müssen wir viel mehr als nur rein syntaktische und semantische Regeln kennen. Der Leser muss etwas darüber wissen, wo sich eine Person befinden kann, er muss aber auch andere begriffliche Informationen über das Verhalten des Menschen und allgemeine Informationen über die Welt haben.
16.5
Problemlösen, Spielen und KI
Die KI-Literatur zum Problemlösen und Spielen ist wahrscheinlich umfangreicher als die über irgendeinen anderen psychologischen Prozess. Ein Grund dafür, warum sich viele KI-Wissenschaftler mit dem Problemlösen beschäftigt haben, ist der, dass der Begriff in etwa gleichbedeutend mit Denken ist, was wiederum in seiner anspruchsvollen Form eine spezifisch menschliche Eigenschaft ist.Diese Tatsache und die allgemeine Fähigkeit von KI-Maschinen im Hinblick auf Methoden zum Problemlösen führten dazu, dass die Techniken und Theorien auf diesem Gebiet weiterentwickelt wurden. Das Rechnen war eines der frühesten Beispiele für das Problemlösen durch eine Maschine. Im Jahre 1642 zeigte Pascal (im Alter von 19), dass einige Formen mathematischer Probleme durch eine von ihm erfundene mechanische Rechenmaschine genauer und schneller gelöst werden konnten als durch Menschen. Problemlösen im Kontext der modernen KI bedeutet aber mehr als mechanisches Rechnen. Es deckt einen großen Bereich ab – vom Finden einer Lösung bis hin zu komplexen Aufgaben,dem Beweisen mathematischer Sätze, dem Lernen erfolgreicher Tätigkeiten und dem Spielen von Spielen. Einen Computer zu entwerfen, der spezielle Probleme lösen kann, ist leicht. Ein Programm zu entwerfen, das vielseitig genug ist, um eine Vielfalt von Problemen zu bewältigen, ist schwer. Und ein Programm zu entwerfen, das sich an eine große Spielbreite von Problemen anpasst und
Lösungen lernt, ist bisher nicht möglich. Doch das Ziel vieler KI-Experten ist es heutzutage, ein Lernprogramm zu entwerfen, das Probleme löst. Auf einem elementaren Niveau könnten solche selbst lernenden Programme in der Lage sein, zu lernen, welche Kunden ein tragbares Risiko bei der Vergabe von Kreditkarten sind und welche nicht (⊡ Abb. 16. 9).Auf einem fortgeschritteneren Niveau befinden sich die Programme zum maschinellen Sehen mit Computerunterstützung, die gerade von Abu-Mostafa (1995) entwickelt werden und deren Ziel es ist, Objekte zu erkennen, auch wenn das Zielobjekt seine Richtung oder Orientierung verändert. Wie lernen Maschinen? Logischerweise lautet die Antwort »durch Erfahrung«. Aber natürlich sagt dies wenig über die Mechanismen, durch die sich die Leistung eines Computers verändert.Viele KI-Experten gehen diese Frage von einem mathematischen Standpunkt aus an, nach dem das Verhalten einer Maschine als eine Funktion angesehen wird, bei der die Inputwerte (z.B. die Eigenart eines Problems, das gelöst werden soll) mit entsprechenden Outputwerten (die Handlungen oder Entscheidungen) zu-
⊡ Abb. 16.9. Zum maschinellen Lernen gehört, die inneren Parameter eines Systems so anzupassen, dass es die geeigneten assoziativen Verbindungen zwischen den Dateninputs und den erwünschten Outputs herstellt. Ein Kreditvergabesystem beispielsweise würde trainiert werden, die persönlichen Daten des Antragstellers mit seinem bekannten Kreditkartenverhalten in Beziehung zu setzen. Im Endeffekt stimmt der Lernprozess die Messinstrumente aufeinander ab, bis die Maschine die Input-Output Beziehungen in den Trainingsbeispielen kopieren kann
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466
Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
⊡ Abb. 16.10. Können Sie es lösen? Diese Gegenstände wurden in zwei Klassen eingeteilt, angezeigt durch einen gestrichelten oder durchgezogenen Rahmen um den Gegenstand. Durch welches charakteristische Merkmal unterscheiden sie sich? Computer, die dazu programmiert werden, um aus Beispielen zu lernen, müssen oft ähnliche Aufgaben lösen (angenommen die Maschine mit Tipps kann das Lernen schneller und einfacher vonstatten gehen lassen). Zu einem hilfreichen Tipp zu dieser Aufgabe siehe Abb. 16.11
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einander in Beziehung gesetzt werden.Eine Sichtweise besteht darin, dass maschinelles Lernen einfach die »Suche nach der richtigen Anordnung der Knöpfe« ist. Manche Programme lernen durch Trainingsbeispiele wie etwa bei dem Problem, das in ⊡ Abb. 16.10 dargestellt ist. Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, um zu sehen, ob Sie das Begriffsproblem lösen können, eine Klasse von Gegenständen von einer anderen zu unterscheiden. Achten Sie darauf, dass sich Ihre Lösung zur Begriffsbildung eventuell auf semantische Zusammenhänge konzentriert – aber wie hängen ein alter Korkenzieher, eine Uhr und eine Häschenfigur zusammen? Das ist eine schwierige
Aufgabe und dennoch geht Ihnen (wie dem Computer) ein Licht auf, wenn Sie den Hinweis in ⊡ Abb. 16.11 sehen. Die Maschine »lernt«, indem sie Zielfunktionen nachahmt und ihre Handlungen schrittweise in immer besseren Annäherungen an das Ziel weiterentwickelt werden, bis sie zum Ziel kommt. Zahlreiche Programme haben dies erfolgreich demonstriert, einschließlich jener, die auf einem neuronalen Netz beruhen (Hinton, 1992). Einem Großteil der Arbeiten zur KI liegt eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Arten von Methoden zugrunde, die eingesetzt werden, um Probleme zu lösen. Die eine Methode wird als die algorithmische, die andere
467 16.5 · Problemlösen, Spielen und KI
⊡ Abb. 16.12. Teil des Baums der möglichen Züge beim Schachspiel
⊡ Abb. 16.11. Visueller Tipp, der sowohl Maschinen als auch Menschen dabei hilft, die Aufgabe in Abb. 16.10. zu lösen. Wenn man eine Symmetrieachse einzeichnet, wird klar, dass die sechs oberen Gegenstände nicht spiegelsymmetrisch sind wie die unteren drei Gegenstände. Dieses charakteristische Merkmal macht den Unterschied zwischen den (durchgezogener bzw. gestrichelter Rahmen) Kategorien aus.
als die heuristische bezeichnet. Algorithmen werden gemeinhin als Verfahrensweisen definiert, die eine Lösung für eine gegebene Art von Problem sicherstellen. Heuristiken sind Mengen empirischer Regeln oder Strategien,die im Endeffekt wie eine Faustregel funktionieren. Den Unterschied zwischen den Methoden kann man anhand eines Schachproblems veranschaulichen. Computerschach ist ein Spiel,bei dem es zu jedem Zeitpunkt eine begrenzte Anzahl möglicher Züge für jeden einzelnen Spieler gibt. Auch kann jeder Einzelne der möglichen Züge vom Gegenspieler nur mit einer begrenzten Anzahl von Zügen beantwortet werden. Aus praktischen Gründen ist die Anzahl dieser Permutationen endlich – das heißt, dass das Spiel mit einem Sieg (und einer Niederlage) oder einem Patt ausgehen muss. ⊡ Abbildung 16.12 zeigt einen Teil des sich immer weiter verzweigenden Baums der Möglichkeiten, die sich aus einem Schachspiel ergeben könnten.) Natürlich kann die Anzahl möglicher Züge für ein umfassendes Spiel nicht mehr präsentiert werden,weil eine solche Darstellung etwa 10120 unterschiedliche Pfade
enthalten würde. Um die ungeheure Anzahl möglicher Züge in einem Schachspiel zu verstehen, sollten Sie sich einmal den Platz vorstellen, der benötigt würde, um die Permutationen darzustellen. Wenn alle Pfade als winzige Mikropunkte kodiert würden, würden sie ein Vielfaches der Kapazität aller Bibliotheken auf der Welt auslasten! Trotzdem würde eine algorithmische Suche, bei der alle Alternativen überprüft werden, unvermeidlich zu einer Reihe von Spielen mit Sieg (und Niederlage) oder Patt führen. Menschen (und sogar die raffiniertesten Computer, die man sich vorstellen kann) halten diese Vorgehensweise für nicht möglich. Stattdessen verwenden wir Menschen und auch die Computer heuristische Suchmethoden, bei denen strategisches Spielen wichtig wird – so greifen Sie beispielsweise die Königin des Gegners an, kontrollieren Sie die Mitte des Bretts, binden Sie die Hauptspielfiguren des Gegners an eine bestimmte Position, tauschen Sie Spielfiguren aufgrund eines Vorteils in Bezug auf die Figuren oder aufgrund eines Positionsgewinns aus usw.
16.5.1
Computer-Schach
Wir haben bereits beschrieben, wie eine optimale Suche, die von einem Computer durchgeführt wird, einem einfachen Muster Sinn geben könnte, indem es dies mit einer Schablone abgleicht. Unsere Beschäftigung mit der Musteranalyse erbrachte Folgendes: Muster sind komplex. Und: Ein Modell des Mustererkennens beim Menschen, das einfach nur auf dem Abgleich mit einer Schablone be-
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
Großmeister (weitgehend aus Kohlenstoff) gegen Sieger (weitgehend aus Silizium) Wie gut kann ein Computer Schach spielen? Wie wir gesehen haben, schlägt Deep Blue, der beste Computer mit dem besten Programm, Gary Kasparow, den viele für den besten Spieler aller Zeiten in Menschengestalt halten. Und von einer beliebigen Anzahl jetzt existierender Computer, die alle Spieler außer den besten besiegen können, lauert ein Rechner in meinem Pentium-Computer und – das kann man mit einiger Sicherheit vermuten – existiert auch einer wenige Tastenanschläge von Ihnen entfernt. Was können wir lernen, wenn wir eine Maschine dabei beobachten, wie sie Schach spielt? Vor allem können wir lernen, dass eine Maschine durch Musteranalyse nur zu primitiven Urteilen kommt (etwa welche Merkmale angemessen sind). Was einem Computer jedoch an Scharfsinn fehlt, macht er durch seine Fähigkeit zu einer schnellen und umfangreichen mathematischen Such- und Übereinstimmungsaktivität wett. Die Fähigkeit des Menschen, bedeutsame Hinweisreize aus einer ungeheuer komplexen Welt sensorischer Informationen zu extrahieren, Abstraktionen aus diesen Hinweisreizen zu bilden, Abstraktionen in höhere assoziative Strukturen zu transformie-
ren und kognitive Pläne zu entwickeln sowie gleichzeitig die inneren Operationen in Übereinstimmung mit der äußeren Realität zu halten – so etwas kann der Computer nur annäherungsweise leisten. Doch trotzdem reichen diese gewaltigen Suchfähigkeiten nicht aus, um alle Eventualitäten auszuschöpfen. Die Entwicklung von Spielstrategien ist ein offenkundiger Bestandteil moderner Programme. Drei Jahre vor dem Ende des 20. Jahrhunderts geschah das »Unmögliche«. Deep Blue, der schnellste Schach spielende Computer der Welt, der von Chung-Jen Tan bei IBM geschaffen worden war, schlug den Weltschachmeister Gary Kasparow. Deep Blue konnte gewinnen, weil er in der Lage war, bis zu 200 Millionen Schachpositionen pro Sekunde zu durchsuchen. Deep Blue gewann aber auch, weil er die beste Strategie vorhersagen konnte. Die nächste Generation spielender Maschinen wird wahrscheinlich aus Rechnern bestehen, die durch Erfahrung lernen können und deren Leistung während einer kurzen Zeitspanne zunimmt – wie bei den Menschen, nur eben schneller und besser.
16 Großmeister (in den wichtigsten Teilen aus Kohlenstoff ) gegen einen Weltmeister (in den wichtigsten Teilen aus Silizium). Kasparow braucht vielleicht einen neuen Titel: Weltmeister im Schach (auf Kohlenstoff basierende Abteilung)
469 16.5 · Problemlösen, Spielen und KI
Ein Dame-Programm, das wie ein Mensch denkt* Auf einem kürzlich abgehaltenen Treffen, dem 2000 Congress on Evolutionary Computation, zeigten David Fogel und Kumar Chellapilla ein Computerprogramm, das als neuronales Netz bezeichnet wird und so entwickelt wurde, dass es selbst lernt – in etwa so, wie Sie es vielleicht machen würden, wenn man Ihnen die Grundregeln eines Spiels wie etwa Dame beibrächte und Sie Ihre Leistungen dann selbst verbessern würden, indem Sie sich unterschiedliche Strategien ausdenken. Das weiterentwickelte Programm kann hervorragend Dame spielen und spielte mühelos nahezu alle Gegner an die Wand. Wenn wir uns mit der Computermodellierung der neurologischen Prozesse beim Menschen beschäftigen, ist jedoch von Interesse, dass das Programm die aufsummierende Funktion menschlicher Nervenzellen nachbildet. Wir wissen, dass die Nervenzellen beim Menschen mit Hilfe von Strukturen arbeiten, in denen aufsummiert und dann gefeuert
ruht, kann die Vielfalt, Komplexität und Zielgerichtetheit der menschlichen Fähigkeit,Muster bei einer kurzen Darbietung zu erkennen, nicht erklären. Wenn es für jedes Einzelne der unterschiedlichen Muster, denen wir im Alltag begegnen, eine Schablone gäbe, würde dies gewiss die Speicherkapazität selbst des größten Computers überlasten. Lassen Sie uns bei einem mäßig einfachen Muster (das liegt irgendwo zwischen dem Erkennen Ihrer Großmutter und dem Ablesen des Preises für ein Pfund Butter von der Packungsaufschrift) einen Blick darauf werfen, wie der Abgleich mit einer Schablone funktioniert. Das Schachspiel enthält ein solches Muster. Dabei wird ein einfaches 8-mal-8-Gitter verwendet, bei dem die Farbe des Spielfelds abwechselnd schwarz und weiß ist. Die Züge sind klar definiert (z.B. kann sich der Turm so viele Felder entlang einer senkrechten oder waagrechten Linie bewegen, wie man will, vorausgesetzt, keine anderen Spielfiguren sind ihm im Weg; der Bauer kann ein Feld vor gehen, abgesehen vom … und so weiter). Die Züge können aufgrund einer uninformierten Suche vorhergesagt werden und die Anzahl der Permutationen ist, wenn auch riesig groß, so doch endlich. Wenn man eine sehr, sehr große Speicherkapazität annimmt und sehr viel Zeit zur Verfügung steht, ist es möglich, bei jedem einzelnen Zug die Wahrscheinlichkeit dafür zu bestimmen, dass er zum Sieg führt. Obwohl
wird. Dabei summiert eine Nervenzelle alle elektrischen Reize auf, die sie von anderen Nervenzellen bekommt. Wenn die Gesamtsumme über einem bestimmten Schwellenwert liegt, feuert sie und sendet damit einen Reiz an andere Nervenzellen aus. Dieses Grundprinzip ist fundamental für Lernen und Reagieren beim Menschen. Das Programm, das Dame lernt, arbeitet nach dem gleichen Prinzip. Außerdem kann sich das Programm, wenn man ihm genügend Zeit gibt, um ein Vielfaches verbessern. Dies könnte sich bei einer Reise durch den Weltraum als interessant erweisen, wo intelligente Maschinen bei langen Flügen in der Lage wären, »klüger zu werden«. Die Schlussfolgerungen für die Intelligenz von Robotern sind bedeutsam und stellen einen neuen Grenzbereich für die KI dar. * Aus The New York Times vom 25. Juli 2000, S. d1–d2.
Computer eine Schwindel erregend große Anzahl möglicher Züge untersuchen, ist ein Modell, das alle Züge durchsucht, nicht möglich.Außerdem sagt es nichts darüber, wie wir Menschen Schach spielen oder, was wichtiger ist, wie komplex die Muster sind, die wir wahrnehmen, enkodieren, transformieren und in eine Handlung übersetzen. Aus den Experimenten von Chase und de Groot (Kap. 4) wissen wir, dass (selbst durchschnittliche) Schachspieler Informationen über die Situation mit speziellen Spielfiguren zu Chunks zusammenführen und sich dann darauf konzentrieren, eine Strategie um die entscheidenden Spielfiguren und Züge herum zu entwickeln. Eine Maschine, die Schach spielt, muss demnach – wenn sie das Spiel so wie ein Mensch spielen soll – in der Lage sein, ein Muster zu analysieren und rasch aufgrund der Spielfiguren und ihrer Position Informationen über die relative Bedeutung der Chunks zu abstrahieren. Zusätzlich zum Schach gibt es eine große Vielfalt anderer Computerspiele,die eine Herausforderung für Menschen darstellen. Dazu gehören Backgammon, Bridge, Dame, Go, Othello, Poker und Scrabble. Sie stehen alle im Netz zur Verfügung und warten nur auf ein kluges Gehirn wie Ihres, dass sich an ihnen versucht.
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470
Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
16.6
KI und die Kunst
Vielleicht haben Sie bisher gedacht, es gebe noch ein paar Bereiche menschlichen Strebens und Trachtens, die von den Übergriffen der KI verschont bleiben. Sie könnten argumentieren,dass es sich bei den Künsten – Literatur,Musik und bildende Kunst – um Ausdrucksformen handelt, die dem Menschen vorbehalten sind und die somit vom Eindringen elektronischer Sonden unberührt bleiben. Doch wurde auf diesen Gebieten eine beträchtliche Arbeit geleistet. Wir wollen uns zunächst mit der Literatur beschäftigen. Literatur. Es wurden mehrere erfolgreiche Versuche unternommen, Gedichte zu schreiben, die als Gedichte von Menschen durchgehen könnten. Ein derartiges Programm wurde von Kurzweil entwickelt und heißt »Ray Kurzweil’s Cybernetic Poet« (RKCP; zu weiteren Gedichten und einigen Vorhersagen über die Zukunft der Computer und der KI siehe auch Kurzweils aufschlussreiches Buch The Age of Spiritual Machines). Bei diesem Programm werden Techniken der Sprachmodellierung verwendet. Sie beruhen auf Gedichten, die das Programm »gelesen« hat. In RKCP wird eine Auswahl aus einem Gedicht eingegeben – je umfangreicher die Auswahl, desto besser – und aufgrund dieses ausgewählten Textes erzeugt es ein Sprachmodell, in dem der Sprachstil, die rhythmischen Muster und die Gedichtstruktur des Autors nachgeahmt wird (eine Gratiskopie vom RKCP findet man unter www.kurzweiltech.com). Denken Sie einmal über das folgende Haiku (japanischer Dreizeiler) nach,das von Ray Kurzweil’s Cybernetic Poet verfasst wurde, nachdem das Programm Gedichte von John Keats und Wendy Dennis gelesen hatte:
Soul (Seele) You broke my soul (Du hast meine Seele gebrochen) the juice of eternity, (den Saft der Ewigkeit) the spirit of my lips. (den Geist meiner Lippen) Und das Folgende, nachdem es Gedichte von Ray Kurzweil, Robert Frost und Wendy Dennis gelesen hatte:
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I Think I’ll Crash (Ich glaube, ich werde zerbrechen) I think I’ll crash. (Ich glaube, ich werde zerbrechen) Just for myself with God (Allein für mich mit Gott) ▼
peace on a curious sound (Friede bei einem seltsamen Laut) for myself in my heart? (allein für mich in meinem Herzen) And life is weeping (Und das Leben weint) From a bleeding heart (Aus einem blutenden Herzen) of boughs bending (von sich biegenden Zweigen) such paths of them, (so sind ihre Wege) of boughs bending (von sich biegenden Zweigen) such paths of breeze (so sind die Wege des Winds) knows we have been there (er weiß, wir sind da gewesen) Was halten Sie von diesen Gedichten? Bestehen sie den Turing-Test? Musik. Wenn es möglich ist, poetische Schemata aufzu-
nehmen und nachzuahmen,ist es dann auch möglich,dies mit musikalischen Themen zu machen? Mehrere erfolgreiche Programme wurden geschrieben, die anscheinend Musikstücke hervorbringen, die von den Zuhörern als recht gut beurteilt werden. Ein solches Programm wurde von Steve Larson, einem Musikprofessor an der University of Oregon geschrieben. Er wählte drei Kompositionen aus – eine von Johann Sebastian Bach, eine von ihm selbst und eine vom Computer erzeugte –, die dann vor einem Publikum gespielt wurden.Das Ergebnis war für ihn etwas verwirrend: Seine eigene Komposition wurde so beurteilt, dass sie von einem Computer komponiert worden wäre, während die computergenerierte Musik mit dem Titel »Experiments in Musical Intelligence (EMI)« als authentisch von Bach beurteilt wurde. (Ein weiterer Ansatz, das musikalische Genie verstorbener Künstler zu rekonstruieren, besteht darin, sie aus dem, was von ihnen übrig geblieben ist, zu klonen. Mozarts DNS schien lange Zeit verloren gegangen zu sein, aber Bachs Knochen wurden 1894 in Leipzig entdeckt.Einige noch lebende Menschen lassen ihr eigenes Sperma bzw. ihre Eizellen einfrieren – nur für den Fall, dass …) Zumindest in begrenztem Maße führt computergenerierte Musik einige Menschen manchmal in die Irre. Ein weiteres Programm mit dem Namen »Improvisor« wurde von Paul Hodgson geschrieben, einem Jazzsaxophonisten aus England. Dieses Programm kann eine breite Vielfalt von Stilen nachahmen,von Bach bis zu Jazzmusikern wie Louis Armstrong und Charly Parker. Es hat im Moment den Anschein, dass computergenerierte Musik sehr überzeugend ist. Das Hauptproblem bei diesen Programmen betrifft die Fähigkeit,Musik zu gene-
471 16.6 · KI und die Kunst
rieren, die für eine längere Zeitspanne überzeugend ist – vor allem für Musikexperten, die für Nuancen spezieller Musikarten sensibilisiert sind.Während ein Anfänger der Auffassung sein mag, dass ein computergeneriertes Musikstück von Mozart komponiert wurde, könnte ein Mozart-Virtuose in einem umfassenden Kontext den künstlichen Mozart erkennen. Man könnte zu der Beobachtung verleitet werden, dass es wie Mozart klingt, aber so, als hätte er einen schlechten Tag gehabt. Natürlich wäre es möglich, dass künftige Programme nicht nur mozartähnliche Kompositionen hervorbringen, sondern weit über den begabten jungen Österreicher hinausgehen und Supermozartkompositionen entstehen lassen …, Musik, in der eine göttliche Form des jungenhaften Genies wiederauferstehen würde. (Für meinen Geschmack ist es unwahrscheinlich, dass irgendeine Art computergenerierter Musik in mir etwas hervorrufen würde, wie es Die Zauberflöte von Mozart oder Jesu, meine Freude von Bach tun. Aber wie auch immer, ich lasse mich überraschen.) Musikprogramme werden wahrscheinlich bis zu einem Punkt besser, an dem möglicherweise der Unterschied zwischen der wirklichen Ella Fitzgerald und einer programmierten Ella nicht mehr erkennbar ist. Ob unser Leben reicher oder ärmer wird,wenn die Grenze zwischen dem Realen und dem Künstlichen verschwimmt, ist ein Problem, über das nicht nur die Philosophen und Moralisten nachdenken sollten, sondern wir alle. Mensch, dein letztes Stündlein hat geschlagen.
⊡ Abb. 16.13. Computergenerierte Kunst. Aus Raymond Kurzweil, The Age of Spiritual Machines. Viking Press
Bildende Kunst. Computerunterstützte Videokunst gibt es schon seit Jahrzehnten und einige der ursprünglichen CAD-Programme haben uns von der Plackerei des architektonischen Entwurfs und des Industriedesigns befreit. Diese Programme sind jedoch etwas ganz anderes als Programme, die Kunst schaffen, wie etwa jene, die während des letzten Vierteljahrhunderts von Harold Cohen entworfen wurden.Aaron,sein computergesteuerter Roboter, der mit einem Zeichengerät ausgestattet ist,hat Bilder produziert, die wie wirkliche Kunst aussehen – und wer hat das Recht zu sagen, dass sie nicht wirkliche Kunst sind? Zwei Beispiele für Cohens Kunst (oder sollten wir sagen Aarons Kunst) sind in ⊡ Abb. 16.13 dargestellt. Die Zeichentechnik für diese Werke ist recht simpel. Ein kleiner mobiler Roboter flitzt auf einer Leinwand herum und zeichnet dabei das dargestellte Objekt. Der Kern des Programms jedoch sind Informationen über die vielen Aspekte künstlerischen Konstruierens und dazu gehören Komposition,Zeichnen,Perspektive,Stil und Farbe. Die Kunstwelt,die gegenüber Außenseitern bisweilen sehr kritisch, aber auch sehr offen sein kann, hat einige der Werke von Cohen in wichtigen Galerien ausgestellt (wie der Tate Gallery in London, dem Stedelijke Museum in Amsterdam und dem San Francisco Museum of Modern Art). Bei allen oben erwähnten Fällen von KI und Kunst ist das endgültige Kriterium für die entscheidende Akzeptanz das Urteil von Menschen. Wenn ein Gedicht, ein Musikstück oder ein Kunstobjekt dem Urteil nach ausrei-
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
chend menschenähnlich ist, wird es als ästhetisch ansprechend beurteilt. Wenn nicht, dann ist es ein »schlechter Tag« für den, der es geschaffen hat. Das heißt so viel wie, dass es eine gute Annäherung, aber eindeutig eine Fälschung ist. In der Kunst fehlen uns objektive Kriterien, und bis Geschmack,Neigungen und Vorlieben besser operationalisiert sind, werden Literatur, Musik und bildende Kunst (auch viele andere menschenähnliche Personifikationen) in den Händen und Köpfen organischer Rechengeräte sein.
16.7
Roboter
Roboter (Geräte, die in der Lage sind, Aufgaben des Menschen zu erledigen und sich weitgehend wie ein Mensch zu verhalten) personifizieren den größten Teil dessen innerhalb der KI, worüber wir einen Überblick gegeben haben – die Nachbildung der Mustererkennung,des Gedächtnisses, der Sprachverarbeitung und des Problemlösens (Minsky stellt einige Überlegungen dazu in seinem Artikel Will Robots Inherit the Earth? an, der aus dem Jahre 1994 stammt). Mit der Erkundung des Weltalls und der Notwendigkeit, ausgeklügelte mechanische Geräte zu entwickeln, die
in der Lage waren,spezifische Aufgaben auszuführen,entwickelte sich die Robotik in den sechziger Jahren des letzten Hunderts rasch weiter. Der Marsroboter, der eine Reihe komplexer chemischer Analysen ausführen kann, ist ein Ergebnis dieser Anstrengungen. (Es sollte betont werden, dass einige dieser Roboter – rein mechanische Geräte – nicht im Entferntesten mit der begrenzten Definition der KI, wie wir sie in diesem Kapitel verwendet haben, in Verbindung gebracht werden können.) Einige der frühen Typen von Weltraumrobotern wurde im KI-Labor der Stanford University entwickelt. Dort wurden Besucher in der Nähe des Labors durch Schilder davor gewarnt,dass mobile Roboter unterwegs sein könnten.Einer der faszinierendsten Roboter wurde dort im Jahre 1968 entwickelt. Es handelte sich um ein mobiles, funkgesteuertes Fahrzeug namens Shakey, das mit Fähigkeiten zur Wahrnehmung und zum Problemlösen ausgestattet war.Es hatte eine Videokamera,einen Entfernungsmesser und einen Berührungssensor, der den Schnurrhaaren einer Katze ähnelte. All diese sensorischen Informationen wurden an einen Computer weitergeleitet, in dem sich eine Vielfalt von Programmen zur Analyse eingehender Signale und zur Planung von Handlungssequenzen befand. Damit wurde das Ziel verfolgt, die Umwelt des Roboters zu manipulieren. Das alles war auf einem motori-
Roboterevolutionen
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Sagen und Romane sind voll der Faszination für die Möglichkeiten von Humanoiden, die in einer Weise Leistungen zeigen, die das menschliche Verhalten nachahmen. Geschichten wie Der Zauberlehrling, Pinocchio oder Frankenstein, Märchen von Golems und Zentauren und Figuren wie Robbie der Roboter, R2D2 und C3PO (Krieg der Sterne) und Hal (aus 2001: Odyssee im Weltraum) sind Ausdruck dieses Interesses. Mit dem Aufkommen der modernen Ingenieurtechik und der kognitiven Psychologie hat sich die Robotik aus dem Bereich der Mythologie und der Sciencefiction zum Status einer sehr seriösen wissenschaftlichen Unternehmung fortentwickelt. Die bahnbrechende Arbeit wurde von den beiden britischen Wissenschaftlern Ross Ashley und W. Gray Walter geleistet. Ashley entwarf und baute einen elektronischen Schaltkreis, der eine günstige Homöostase oder einen Zustand inneren Gleichgewichts aufrechterhielt. Walter versah die homöostatische Art von Gerät mit Mobilität. Unterhalb ei-
nes bestimmten Helligkeitsniveaus suchte es nach Licht, oberhalb dieses Niveaus mied es das Licht und, wenn kein Licht zur Verfügung stand, bewegte es sich umher. Dies könnte man als eine Suche nach Licht bezeichnen. Diese phototropen Maschinen ahmten nur die rudimentären Eigenschaften von Leben nach, wie sie Insekten, Pflanzen und einfache Tiere zeigen. Der Roboter auf der nächsten Stufe der Evolution wurde an der Johns Hopkins University zusammengesetzt und wurde als »Hopkins Beast« bekannt. Er konnte sich mit eigenen Energiequellen umherbewegen und war vollständig unabhängig. Er navigierte mit Hilfe eines Sonars und sein Wahrnehmungssystem bestand aus einer Kombination von Lichtzellen, Masken, Linsen und Schaltkreisen, die allesamt nur zu einem Zweck entworfen waren: Steckdosen zu entdecken. Wenn er eine Steckdose »sah«, versuchte er mit Hilfe seiner steckerförmigen Hand mit ihr in Kontakt zu kommen.
473 16.8 · Die Zukunft der KI
sierten Wagen befestigt, der sich in alle Richtungen bewegen konnte. Das Wahrnehmungssystem bestand aus einer Videokamera, die die Bilder auf Linienzeichnungen reduzierte und dann auf bedeutsame Bereiche oder Gegenstände in der Szenerie. Der Problemlöser war eine Art von Programm zum Beweisen von Sätzen, das es Shakey ermöglichte, einfache Aufgaben auszuführen. Shakey wurde durch einen neun Roboter, Flakey, ersetzt.Flakey ist ein ein Meter großes bewegliches Gerät,auf dem eine Videokamera befestigt ist:Wenn man Flakey den Befehl gibt, in ein Büro fünf Türen weiter zu gehen, rollt er gehorsam zu dem angegebenen Ort. Einige der fortgeschrittensten Roboter werden von der NASA gebaut. Hier handelt es sich um spezialisierte Geräte, die dazu eingesetzt werden,Bodenproben auf benachbarten Planeten zu sammeln und zu analysieren, Reparaturen an Weltraumstationen durchzuführen sowie wissenschaftliche Experimente und Beobachtungen in Umgebungen auszuführen, die für Menschen zu gefährlich wären. Die hochtrabenden Pläne der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts,die ehrgeizig damit begannen,dass man Roboter mit umfassenden Funktionen entwarf, mussten bald für vernünftigere Projekte Platz machen, bei denen relativ eingegrenzte humanoide Prozesse nachgebildet wurden.In diesem Bereich hat die Wirtschaft die größten Fortschritte zu verzeichnen. Viele mühselige oder gefährliche Funktionen können nun von Robotern erfüllt werden.
16.8
Die Zukunft der KI
Im 20. Jahrhundert bekam die Psychologie ihre wissenschaftliche Begründung durch Fortschritte im Behaviorismus, der ihr Forschungstechniken und Objektivität zur Untersuchung des menschlichen Geistes und der menschlichen Leistung lieferte. Aus Gründen, die im ersten Kapitel erwähnt wurden,trat die kognitive Psychologie,die sich auf innere Repräsentationen des Mentalen konzentrierte, an die Stelle des Behaviorismus. Dies erweiterte den Horizont der Psychologie in starkem Maße. Nach der Auffassung des Autors erfolgt im Moment eine bedeutsame Veränderung innerhalb der kognitiven Psychologie, aber auch in der Psychologie allgemein. Diese Veränderung kommt durch Fortschritte in zwei Bereichen zustande: in der kognitiven Neurowissenschaft, die das vorliegende Buch insgesamt thematisch durchdringt, und in der
Künstlichen Intelligenz. Eine dritte Kraft mit vergleichbarem Einfluss ist die Gentechnik, die angekündigt hat, die biologische Grundstruktur der Lebewesen zu ändern. Die Kombination aus all diesen Einflüssen – der Gentechnik, der KI und der kognitiven Neurowissenschaft – wird in diesem Jahrhundert vielleicht die menschliche Art für immer verändern. Wir leben in interessanten, wenn nicht sogar in herausfordernden Zeiten.Was die kognitive Neurowissenschaft angeht, so beginnen wir den physiologischen Unterbau der menschlichen Kognition zu begreifen. Was die künstliche Intelligenz angeht,so stellt sich für uns die herausfordernde Aufgabe, die Eigenschaften, aber auch die Begrenzungen des menschlichen Verstehens und Intellektes zu bestimmen. Und es ist durchaus möglich, dass uns noch in diesem Jahrhundert ein nicht organisches Instrument beiseite stehen wird, dessen intellektueller Scharfsinn bei weitem größer ist als unser eigener. Zwei Autoren – Raymond Kurzweil in seinem Buch The Age of Spiritual Machines (1999) und Bill Gates in seinem visionären Buch The Road Ahead (1996) – versuchten die zunehmende Geschwindigkeit von Computern (gemessen an der Anzahl der Rechenschritte pro Sekunde pro 1000 Dollar) im 20. Jahrhundert zu verfolgen. In der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts verdoppelte sich die Geschwindigkeit alle drei Jahre. Zwischen 1950 und 1966 verdoppelte sie sie sich alle zwei Jahre und momentan verdoppelt sie sich jedes Jahr, was einen Hinweis auf exponentielles Wachstum liefert. Das exponentielle Wachstum war von Gordon Moore vorhergesagt worden – einem der Gründer von Intel, der 1965 anmerkte, dass sich die Kapazität eines Computerchips jedes Jahr verdoppeln würde. Obwohl er der Auffassung war, dass diese rapide Wachstumsentwicklung nicht für immer andauern könnte – es gibt physikalische Gesetze, die dem entgegenstehen –, hat sich die Wachstumsgeschwindigkeit über die vergangenen 40 Jahre hinweg etwa alle 18 Monate verdoppelt. Diese Wachstumsgeschwindigkeit wird als Moores Gesetz bezeichnet.Wenn die Leistungsfähigkeit der Computer über die nächsten paar Jahrzehnte hinweg weiterhin so anwächst (und es gibt genügend Gründe, anzunehmen, dass dies geschehen wird), dann wird die sich daraus ergebende Kapazität künftiger Maschinen an organische Gehirne herankommen, auch wenn die exponentielle Wachstumsgeschwindigkeit zurückgehen wird. Manche (Kurzweil, 1999) sagen voraus,dass das Potenzial von Computern sogar schon 2020 an das menschliche Gehirn herankommen wird und es gegen Ende des Jahrhunderts übertreffen wird
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
⊡ Abb. 16.14. Das exponentielle Wachstum im Bereich der Computer zwischen 1900–2100 (Kurzweil, 1999)
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(⊡ Abb. 16.14 zu einer Vorhersage des Wachstums der Leistungsfähigkeit von Computern während des 21. Jahrhunderts). Damit diese fantastische Vorhersage wahr wird, müssen Computer eine höhere Leistungsfähigkeit erreichen, damit ein künstliches Gehirn wie ein menschliches Gehirn (nur klüger) agieren kann. Dazu gehört auch der Informationserwerb, also das, was ich in diesem Kapitel als »Weltwissen« bezeichnet habe.Beim Menschen nimmt jeder der fünf Sinne Millionen von Bits an Informationen pro Tag auf und verarbeitet sie. Diese Bits verschmelzen fassettenreich mit bestehendem Wissen in einem riesigen komplexen Netz, das uns in die Lage versetzt, in unserem Streben nach dem Überleben klug auf neue Hinweisreize aus der Umwelt zu reagieren. Es ist eine letzte Komponente eines künstlichen Gehirns erforderlich und das ist das Schema, dem die Funktionstüchtigkeit des organischen Gehirns unterliegt. Hier handelt es sich um eine wirklich sehr komplizierte Angelegenheit und es ist nicht ganz klar, woraus diese operationalen Codes bestehen.Aber zu ihren Merkmalen gehören das Potenzial zur Selbstorganisation von Informationen in arbeitsfähigen Netzen,die Fähigkeit zur rekursiven Suche sowie die Fähigkeit, zu lernen und sich selbst an äußere und innere Hinweisreize anzupassen. Ein alternativer Ansatz wäre es,kleine Teile aus dem Computer in ein organisches Gehirn zu integrieren und einige
Anstrengungen in diese Richtung wurden bereits mit überraschendem Erfolg unternommen (zu einem Beispiel,wie Gedanken in Handlungen umgewandelt werden, siehe Barinaga, 1999). Vor nicht allzu langer Zeit fragte mich ein russischer Wissenschaftler, wie ich mir die Zukunft der KI vorstelle. Hier meine Antwort: »Die Form,die die KI in diesem Jahrhundert annehmen wird, wird alle überraschen. Ich stelle mir Implantate vor, mit deren Hilfe ein Lebewesen geschaffen wird, das halb Roboter und halb organischer Mensch ist und dessen rechnerische Leistungsfähigkeit (und damit meine ich die Fähigkeit, die Welt und das Universum zu verstehen) sich in einer Größenordnung bewegen wird, die größer ist als die der entwickelten Lebewesen, die wir sind … In der Tat könnten Sie und Ihre Altersgenossen die letzte Generation natürlicher Lebewesen sein … Im Endeffekt wird Ihre Generation (und das ist etwas traurig) der Abschluss von Millionen von Jahren der natürlichen Selektion und des Überlebens der Stärksten sein.Schon bald … in nicht mehr als ein paar hundert Jahren … wird die Menschheit, wie wir sie kennen, nur noch Geschichte sein … und unser Verständnis des physikalischen Universums wird sich in eindrucksvoller Weise verbessert haben.« Wenn wir uns mit den visionären Bestrebungen von KI-Träumern auseinander setzen, müssen wir einige fun-
475 16.9 · KI und wissenschaftliche Erkundung
damentale Unterschiede im Hinblick auf die strukturellen Bestandteile des Gehirns einerseits und des Computers, der Leistungskraft von Computern und der Computersimulation andererseits berücksichtigen. Wir haben zuvor erfahren, dass das Gehirn des Menschen etwa 100 Milliarden Nervenzellen mit schätzungsweise 1000 Verbindungen zwischen jeder einzelnen Nervenzelle und anderen Nervenzellen aufweist (die genauen Zahlen kennt man noch nicht eindeutig). Das sind etwa 100 parallele Verbindungen, die dem Nutzer eine beträchtliche zerebrale Leistungskraft verleihen. Das organische Gehirn jedoch reagiert mit etwa 200 Berechnungen pro Sekunde relativ langsam.Wenn wir diese Zahlen miteinander multiplizieren (100 Billionen Verbindungen, die jeweils 200 Rechenschritte pro Sekunde durchführen),bekommen wir 20 Billiarden (also 20 mal 1015 oder 20 Millionen mal eine Milliarde) Rechenschritte pro Sekunde. Genau das ist es, was unser Gehirn in dieser Sekunde macht.Wie nahe kommen Computer dieser geballten rechnerischen Leistungskraft? Der beste massive Parallelrechner mit neuronalen Netzen ist zu dem Zeitpunkt, in dem wir dieses Buch schreiben, in der Lage, 200 Milliarden Verbindungsrechenschritte pro Sekunde durchzuführen. Das auf Silizium basierende Gehirn kann Informationen weitaus besser als das organische Gehirn verarbeiten, und dies sehr viel schneller.Wenn Moores Gesetz Bestand hat oder sogar der Rechenkapazität in der Zukunft entspricht, werden die gegenwärtigen Systeme im Jahr 2020 ihre Geschwindigkeit etwa 23-mal verdoppelt haben. Das würde eine Geschwindigkeit von 20 Billiarden neuronalen Verbindungsrechenschritten pro Sekunde ergeben. Überprüfen Sie das noch einmal anhand der oben angegebenen Kapazität des menschlichen Gehirns. Ein letztes Wort zu KI und Computersimulation: Begrifflich ist da ein großer Sprung zwischen den Handlungsweisen, die von einem menschlichen Gehirn hervorgebracht werden,und denen,die durch ein künstliches Gehirn ausgelöst werden. Wie zuvor besprochen ist es vielleicht möglich, eine Bach-Kantate, ein Van-Gogh-Gemälde oder ein Goethe-Gedicht so zu konstruieren, dass sie den Turing-Test bestehen.Es ist sogar nachvollziehbar, die oben genannten Werke so zusammenzustellen, dass wir Menschen sie als die Quintessenz dieser Klasse von Kunstwerken beurteilen – mehr eine Art ästhetischer Prototyp für jeden Künstler als einfach nur »wie ein Werk eines Künstlers«.Doch damit dies geschehen kann,müssten die vom Menschen hervorgebrachten Musterbeispiele vorher von nicht organischen Maschinen gelernt und ver-
standen werden. Der Mensch selbst liefert die Blaupause. Wenn und falls künftige denkende Programme über das menschliche Denken hinausgehen, sind es die Menschen, die zu Beginn Informationen in den Computer eingeben und die die neuen denkenden Maschinen in Gang setzen werden.Vielleicht wäre es klug, die neuen Gehirne mit einem Schema auszustatten, das in der Lage wäre, uns Dinge in einfachen menschlichen Begriffen zu erklären – sonst werden wir auf Dienstleistungen zurückgeworfen und unsere geistigen Funktionen werden degradiert.
16.9
KI und wissenschaftliche Erkundung
Im größten Teil dieses Kapitels haben wir den Computer unter dem Aspekt der menschlichen Kognitionen und der ungeheuer komplexen Aufgabe abgehandelt, die von denen in Angriff genommen wird, die versuchen, die Leistungen von Menschen mit Hilfe von Maschinen nachzuahmen. In diesem Schlussabschnitt würde ich gerne die Behauptung aufstellen, dass sich wahrscheinlich in den nächsten Jahren die Art und Weise, wie Wissenschaftler – einschließlich der Kognitionswissenschaftler – Forschung betreiben,in bedeutsamer Weise verändern wird.Und dies wird sich darauf zurückführen lassen, dass sie sich der Hilfe von Computern bedienen, die von KI-Programmen unterstützt werden. Wir haben bereits gesehen,wie verbreitet Computer in nahezu jedem Bereich der Bemühungen des Menschen sind und dass dieser Entwicklungstrend wahrscheinlich anhalten wird.Die Berechnungen,die für nahezu alles von Weltraumreisen bis hin zu den Routen der Müllabfuhr und bis zur Genforschung erforderlich sind, wären ohne die modernen Hochgeschwindigkeitscomputer nicht möglich. Tatsächlich werden in Zukunft gewiss fortgeschrittenere Systeme mit größerer Speicherkapazität und schnellerer Verarbeitung auf den Markt kommen. Vielleicht werden sogar von Grund auf andere neue Systeme (wie etwa die japanische Fünfte Dimension, bei der die Verarbeitung von Wissensinformationen betont wird) unsere momentanen Systeme ersetzen. So aufregend die Entwicklungen in der Vergangenheit auch waren, die Zukunft verspricht sogar noch Aufsehen erregendere Entdeckungen. Ein Gebiet, für das sich Wissenschaftler interessieren, ist die Art und Weise, wie Informationen gespeichert und in einem System kodifiziert werden. Gegenwärtig steht
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Kapitel 16 · Künstliche Intelligenz
uns eine riesige Menge wissenschaftlicher Informationen in elektronischer Form zur Verfügung (z.B. PsycLIT). Diese Informationen kommen zu denen in der herkömmlichen Form von Büchern und Artikeln hinzu.In naher Zukunft wird sich das elektronische Format in großem Maße auf alle Bereiche einschließlich der Psychologie ausweiten, so dass ein Benutzer Zugang zum vollständigen Inhalt eines Artikels oder Buchs hat.Weiterhin stehen den meisten von uns Informationen aus anderen Wissenschaftsbereichen und aus den unterschiedlichsten Quellen zur Verfügung,die mit Hilfe von Satellitenrelais-Stationen zu einem riesigen Netz zusammengeschaltet werden. Das Netz wird erhalten bleiben und weiterhin seinen Einfluss auf die naturwissenschaftliche und die geisteswissenschaftliche Forschung ausüben. Doch was kann ein Wissenschaftler mit so vielen Daten anfangen? Besteht die Gefahr, zu viele Daten zu haben und nicht zu wissen, was all das bedeutet? Datenbanken sind für jeden unverzichtbar, der versucht, ein umfassendes Buch zu schreiben – wie etwa ein Buch über kognitive Psychologie, das sich über einen riesigen Bereich von Themen erstreckt. Innerhalb von Sekunden haben Autoren solcher Werke Zugang zu Abstracts über ein Thema wie etwa die bildhafte Vorstellung von Kindern. So bequem derartige Datenbanken sind – sie stellen auch insofern ein Problem dar, als die Kapazität von
Menschen zur Speicherung und Verarbeitung von Informationen begrenzt ist. Wir gehen das Risiko ein, von der Überfülle der Informationen überwältigt zu werden. Wenn das der Fall ist, dann ist es wahrscheinlich, dass irgendeine Art von Programm auftauchen wird, das die Informationen in kenntnisreicher, intelligenter Weise verarbeitet – das heißt, Informationen versteht (die KI würde dann ihrem Namen gerecht werden). Wenn ein derartiges KI-Programm auftauchte, dann könnte es uns sagen,welche Untersuchungen bereits durchgeführt wurden. Dadurch könnten wir redundante Untersuchungen vermeiden. Und es könnte uns auch sagen, was noch gemacht werden muss.So könnten wir unsere wertvolle Zeit für einen guten Zweck nutzen. Weiterhin könnte ein gut verstehender Computer nicht nur die Löcher im menschlichen Wissen ausmachen,sondern sie auch füllen,indem er »Forschung« durchführt oder aus seiner riesigen Datenbank logische Schlussfolgerungen ableitet (Solso, 1986, 1987b, 1994). Es wäre denkbar, dass man mit Hilfe der sich daraus ergebenden Wissensexplosion uralte Fragen beantworten kann: Wer sind wir? Woher kommen wir? Und wie sieht unsere Zukunft aus? Hoffentlich leben wir alle so lange, dass wir zumindest einige dieser Antworten kennen lernen, aber nicht lange genug, um alle Antworten zu bekommen. Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts.
Zusammenfassung
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1. Künstliche Intelligenz betrifft jeden vom Computer produzierten Output, der als intelligent beurteilt würde, wenn er von einem Menschen produziert worden wäre. 2. Bei einer von Searle aufgestellten Dichotomie wird zwischen »starker« und »schwacher« KI unterschieden. Im ersten Fall wird behauptet, dass sich durch geeignetes Programmieren ein »Geist« erzeugen lässt, der zum Verstehen fähig ist. Bei der »schwachen« KI wird der Wert der KI als Heuristik bei der Untersuchung der menschlichen Kognition betont. 3. Bei den philosophischen Fragen im Zusammenhang mit der KI geht es um Absicht, Denken und Verstehen. Es wurden Aufgaben zu dem Zweck entworfen, die Ununterscheidbarkeit und funktionale Äquivalenz zwischen Maschine und Mensch zu demonstrieren ▼
(z.B. der Turing-Test und das chinesische Zimmer). Diese Aufgaben können nach Auffassung einiger Autoren wichtige Faktoren wie etwa Intentionalität nicht mit einbeziehen, über die Menschen verfügen, Maschinen jedoch nicht. 4. Angefangen mit den frühen Modellen (bei denen man die Übereinstimmung mit Schablonen nutzte) bis hin zu neueren Ansätzen (bei denen die Analyse struktureller Merkmale und ihrer Beziehungen untereinander zum Einsatz kommt) wird in der Informationsverarbeitung durch Maschinen – als Analogon zur menschlichen Kognition – eine wachsende Fähigkeit zum Erkennen komplexer Reize deutlich. 5. Computerprogramme, die fähig sind, die natürliche Sprache zu »verstehen«, erfordern als Minimum semantische und syntaktische Regeln, Datenban-
477 16.9 · KI und wissenschaftliche Erkundung
ken mit Wissen über die Welt und den sozialen Kontext und einige Methoden zum Umgang mit Mehrdeutigkeit, wie sie im alltäglichen Sprachgebrauch vorkommt. 6. Programme zum Problemlösen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (z.B. Computerschach) bedienen sich zweier Hauptstrategien: algorithmischer Prozeduren (die durch Untersuchung aller möglichen Alternativen eine Lösung sicherstellen) und heuristische Prozeduren (die auf einer Strategie beruhen und komplexe Probleme in leicht zu lösende Unterprobleme zerlegen).
Schlüsselwörter ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Algorithmus chinesisches Zimmer DYSTAL ELIZA Expertensysteme Heuristik kontinuierliche Spracherkennung Künstliche Intelligenz (KI) McCulloch-Pitts-Nervenzellen Modell der Parallelverarbeitung Modell der sequenziellen Verarbeitung Moores Gesetz NETtalk PARRY Roboter Turing-Test
Literaturempfehlungen Es gibt eine Vielzahl von Quellen zum Thema KI. Einen allgemeinen Überblick bieten Taukes Buch Computers and Common Sense (als Taschenbuch verfügbar) und Apters Buch The Computer Simulation of Behavior. Ein gut geschriebener und technisch interessanter Bericht von je-
7. Es wurden erfolgreiche KI-Programme geschrieben, die akzeptable Gedichte, Musikstücke und Werke der bildenden Kunst hervorbringen. 8. Die Zukunft der KI und der kognitiven Neurowissenschaft (zusammen mit der Gentechnik) wird wahrscheinlich die kognitive Psychologie, aber auch die Psychologie insgesamt in bedeutsamer Weise verändern. Etwa im Jahre 2020 wird es ein Computergehirn mit der rechnerischen Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns geben.
mandem aus der Forschung ist Raphaels Buch The Thinking Computer.Empfehlenswert ist auch Computation and Cognition: Toward a Foundation for Cognitive Science von Pylyshyn,The Computer and the Mind von Johnson-Laird, Memory Traces in the Brain von Alkon, Artificial Intelligence: The Very Idea von Haugeland und Artificial Intelligence in Psychology: Interdisciplinary Essays von Boden. Wie bereits früher erwähnt ist Alan Turings Biographie von Andrew Hodges ein gut zu lesendes Buch. Die Ausgabe der Zeitschrift Byte vom April 1985 widmet sich hauptsächlich der KI und enthält wichtige, wenn auch schon etwas veraltete Artikel von Minsky,von Schank und Hunter, von J.Anderson and Reiser, von Winston und anderen, die sich mit auch heute noch aktuellen Themen beschäftigen. Metamagicum: Fragen nach der Essenz von Geist und Struktur sowie Gödel, Escher, Bach: ein endlos geflochtenes Band von Douglas Hofstadter sollten von allen gelesen werden, die sich für die KI und damit zusammenhängende Themen interessieren.Zudem sind beide Bücher unterhaltsam geschrieben.Auch Gardners Dem Denken auf der Spur ist wegen der Beschreibung der KI und wegen vieler anderer in diesem Buch dargestellter Probleme sehr empfehlenswert. Einige interessante technische Probleme finden sich im Band Artificial and Human Intelligence, der von Elithorn and Banerji herausgegeben wurde. Schließlich sei allen noch das Buch The Age of Spiritual Machines von Raymond Kurzweil ans Herz gelegt.
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Glossar
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Glossar
ACT*. Siehe Adaptive Steuerung des Denkens. Ad hominem. Argument, das darauf basiert, dass man eine
Person angreift, die in bestimmter Weise argumentiert, und nicht die Substanz ihres Arguments.
halten darauf zu reagieren. Es wird auch als nicht wissendes Bewusstsein bezeichnet. Das anoetische Bewusstsein entspricht dem prozeduralen Gedächtnis (Tulving). Anpassung. Einer der wesentlichen Prozesse bei der geis-
Adaptive Steuerung des Denkens (ACT: Adaptive Control of Thought). Ein umfassendes Kognitionsmodell,das von An-
derson entwickelt wurde.
tigen Entwicklung, durch den das Ziel verfolgt wird, effektiv mit den Anforderungen aus der Umwelt umzugehen. Anpassung beinhaltet zwei Aktivitäten: Assimilation und Akkomodation (Piaget).
Aggregierte Feldtheorie. Der Gedanke, dass Hirnfunktio-
nen über das Gehirn hinweg verteilt sind (zum Gegenteil siehe Lokalisierung).
Anterograde Amnesie. Der Verlust der Erinnerung nach dem Einsetzen einer Gedächtnisstörung.
Ähnlichkeit. Gestaltprinzip, nach dem ähnliche Elemente in der gleichen Struktur gewöhnlich zusammen wahrgenommen werden.
Anthropomorphismus. Die Attribution von Kennzeichen
Akkomodation. Eine Aktivität,zu der es bei der Anpassung
A-priori-Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis unter zuvor gegebenen ähnlichen Umständen auftreten wird.
geistiger Prozesse kommt, wenn mentale Strukturen neu organisiert werden, so dass neue Informationen, die nicht so richtig zu den vorherigen Strukturen passen, ins kognitive System integriert werden können. (Piaget). Akronym. Ein Wort,das aufgrund der ersten Buchstaben in
einem Satz oder einer Gruppe von Wörtern gebildet wird. Als System zur Gedächtnishilfe verwendet. Akrostichon. Eine Phrase oder ein Satz, bei dem die ersten Buchstaben mit einem Wort oder einem Begriff, der erinnert werden soll, assoziiert werden. Als System zur Gedächtnishilfe verwendet. Aktives Gedächtnissystem. Ein Gedächtnissystem im Com-
puter, bei dem die Elemente in einem miteinander verbundenen Netz gespeichert und dann mit Hilfe einer inhaltsadressierbaren Suchprobe abgerufen werden.
des Menschen auf nicht lebende oder nicht menschliche Objekte.
Arbeitsgedächtnis. Ein Gedächtnissystem, das zeitweilig
Informationen enthält und bearbeitet, wenn wir kognitive Aufgaben ausführen. Das Arbeitsgedächtnis entspricht einer Werkbank, auf der ständig neues und altes Material verarbeitet, transformiert und miteinander kombiniert wird (siehe A. Baddeley). Assimilation. Eine Aktivität, zu der es bei der Anpassung
geistiger Prozesse kommt, wenn neue Informationen in kognitive Strukturen so aufgenommen werden, wie auf der physiologischen Ebene Nährstoffe aufgenommen werden (Piaget). Assoziation. Eine Verbindung zwischen zwei Einheiten, so etwa zwischen Bratkartoffeln und Spiegelei oder zwischen einem Reiz und einer Reaktion.
Algorithmus. Vorgehensweise, die bei einer vorgegebenen
Problemart eine Lösung sicherstellt. Siehe Heuristik.
Assoziationismus. Das erstmals von Aristoteles formulier-
die grundlegenden Laute einer Sprache in Form von Graphemen ausgedrückt werden.
te Prinzip, nach dem behauptet wird, dass Ideen im Mentalen aufgrund von räumlicher oder zeitlicher Nähe, von Ähnlichkeit und von Gegensätzlichkeit miteinander verknüpft sind.
Anoetisches Bewusstsein. Eine Bewusstheit, die zeitlich
Aufmerksamkeit. Die Konzentration der mentalen An-
begrenzt an die momentane Situation gebunden ist und es ermöglicht, Umweltreize zu registrieren und mit Ver-
strengung auf sensorische oder mentale Ereignisse.
Alphabetisches Schriftsystem. Ein Schriftsystem, bei dem
481 Glossar
Autobiographische Erinnerungen. Erinnerungen aus der
Vorgeschichte eines Individuums. Automatische Verarbeitung. Die Aktivierung eines Ele-
ments im Gedächtnis, die durch Hinweisreize aus dem Kontext ausgelöst wird und mit einer eingeschränkten Aufmerksamkeit bei der Person einhergeht. Autonoetisches Bewusstsein. Die Bewusstheit von persön-
lich erfahrenen Ereignissen.Auch als selbst wissendes Bewusstsein bezeichnet. Autonoetisches Bewusstsein entspricht dem episodischen Gedächtnis (Tulving).
Begrifflich-propositionale Hypothese. Eine Hypothese, bei der postuliert wird, dass Informationen im Gedächtnis in einem abstrakt propositionalen Format repräsentiert sind, in dem die Gegenstände und ihre Beziehungen zueinander explizit erklärt werden. Begriffsbildung. Die Unterscheidung von Eigenschaften, die einer Klasse von Reizen gemeinsam sind, und die Entdeckung von Regeln, die sich auf ihre Eigenschaften beziehen. Begriffsgeleitete (durch Hypothesen geleitete) Verarbeitung.
Siehe Top-down-Verarbeitung. Avantgarde. Auf jedem Gebiet die fortgeschrittene Grup-
pe der Personen,deren Arbeiten sich hauptsächlich durch unorthodoxe und experimentierfreudige Methoden auszeichnen. Axon. Die langgezogene, röhrenförmige Übertragungs-
bahn, entlang derer Signale vom Zellkörper mit Hilfe von Kontaktstellen, die man als Synapsen bezeichnet, an andere Zellen weitergeleitet werden. Bayes, Satz von. Eine mathematische Gleichung, mit deren
Hilfe man die Wahrscheinlichkeit berechnen kann, dass eine Hypothese über ein künftiges Ereignis (wie etwa die Wahrscheinlichkeit, dass Sie bei einer Party einen bestimmten Freund treffen) zutrifft.Entwickelt von Thomas Bayes, einem Mathematiker aus dem 18. Jahrhundert. Bedingte Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass
eine neue Information wahr ist, unter der Voraussetzung, dass eine bestimmte Hypothese wahr ist. Begleitendes Nachsprechen (»Shadowing«). Ein experi-
mentelles Verfahren, das in der Forschung zur auditorischen Aufmerksamkeit eingesetzt wird und bei dem die Versuchspersonen gebeten werden, eine gesprochene Botschaft – wenn sie dargeboten wird – zu wiederholen. Begreifen. Die Fähigkeit, die Bedeutung von Wörtern und
Sätzen zu verstehen. Begriffliche Regel. Eine Aussage darüber, in welcher Beziehung Merkmale zueinander stehen müssen,wenn ein Reiz als Beispiel für einen bestimmten Begriff angesehen werden soll (z.B. rot und Quadrat).
Begriffssystem. Ein System, das sinnvolle metaphorische
Klassifikationsschemata liefert. Weil diese Schemata von Menschen für Zwecke von Menschen entwickelt werden, handelt es sich um Erfindungen der menschlichen Kognition, die die Realität widerspiegeln. Bewusstsein. Eine Bewusstheit für Ereignisse oder Reize in der Umwelt und für kognitive Phänomene wie etwa Erinnerungen, Gedanken und körperliche Empfindungen. Blitzlichtgedächtnis. Gedächtnis, das ein unerwartetes Ereignis von kurzer Dauer in lebendigen fotographischen Details abspeichert. Bottom-up-Verarbeitung (auch datengeleitete Verarbeitung). Ein aus der Informatik stammender Begriff. Dabei
geht es um die kognitive Verarbeitung, die von den Komponenten eines Reizmusters in Gang gesetzt wird,das aufsummiert zum Erkennen der Gesamtkonfiguration führt. Broca-Areal. Ein Teil des Frontallappens, der mit der Sprachproduktion in Zusammenhang gebracht wird. Benannt nach Paul Broca, einem französischen Neurologen aus dem 19. Jahrhundert. Siehe auch Wernicke-Areal. Brown-Peterson-Technik. Eine Methode, die bei der Untersuchung des Kurzzeitgedächtnisses verwendet wird und bei der auf ein Item, das erinnert werden soll, eine Distraktoraufgabe folgt, die ein unterschiedlich langes Zeitintervall vor dem Abruf aus dem Gedächtnis andauert. CBF. Siehe rCBF. Charakteristische Merkmale. Die zufälligen oder auf der
Oberfläche vorhandenen Merkmale eines Begriffs (z.B.ist
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Glossar
frisst Würmer ein charakteristisches Merkmal eines Rotkehlchens).
Brust die definierenden Merkmale des Begriffs Rotkehlchen).
Chinesisches Zimmer. Ein Test, der dazu verwendet wird,
Déjà vu. Das Gefühl der Vertrautheit mit einer Erfahrung,
die Unhaltbarkeit der Positionen von der starken künstlichen Intelligenz zu illustrieren. Einer Versuchsperson (oder einem Computer),die über kein Wissen von der chinesischen Sprache verfügt, gibt man eine Auswahl chinesischer Schriftzeichen zusammen mit einer Gruppe von Regeln, über die diese Schriftzeichen mit einer anderen Gruppe von Symbolen in Beziehung gesetzt werden.
wenn diese Erfahrung eigentlich eine neue ist.
Chunking. Die Umkodierung von Reizen auf eine Weise,
dass der Informationsgehalt pro Einheit vergrößert wird (z.B. Umkodierung von Buchstaben in Wörter, von Wörtern in Sätze usw.).
Deklarative Repräsentation. Siehe deklaratives Gedächtnis. Deklaratives Gedächtnis. Auch bekannt als deklarative Re-
präsentation. Wissen, was; Wissen über die Welt (z.B. zu wissen, dass San Francisco in Kalifornien liegt; siehe prozedurales Wissen). Dendriten. Die sich stark verzweigenden Teile der Nervenzellen, die neuronale Impulse von anderen Nervenzellen sammeln. Denken. Der allgemeine Vorgang, bei dem man sich ein
Clustermodell. Ein semantisches Organisationsmodell,
nach dem Begriffe im Gedächtnis in strukturierter Form so repräsentiert sind, dass ähnliche Items zusammen abgespeichert werden. Cocktailparty-Phänomen. Das Eindringen eines interes-
santen, oftmals schlüpfrigen Ereignisses, das die Aufmerksamkeit einer Person erweckt. Computationales Gehirn. Die Auffassung, dass die Funk-
tion des Gehirns darin besteht, sensorische Signale und körperliche Bedürfnisse auf begreifbare Weise zu interpretieren und zu verarbeiten. Zum computationalen Gehirn gehört die Kodierung, Speicherung und Transformation von Informationen,das Denken sowie schließlich das Reagieren auf Informationen. Die Informationsverarbeitung verbessert das Verständnis von der Welt und damit die Überlebensfähigkeit.
Thema überlegt und der dann zur Bildung einer neuen mentalen Repräsentation führt. Differenzmaschine. Ein Rechner aus dem 19. Jahrhundert, dessen Operationen programmierbar waren und dessen Programme bedingte Verzweigungen enthielten. Divergentes Denken. Denken, zu dem es gehört, bei einem einzelnen Problem viele unterschiedliche Antworten zu geben. Dabei hängt die »Richtigkeit« von der subjektiven Bewertung der Antworten als abstrakt und flexibel ab. Dual-Coding-Hypothese. Siehe Hypothese von der dualen
Kodierung. Dualistische Gedächtnistheorie. Die Auffassung, dass man zwei Arten des Gedächtnisses unterscheiden kann: ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis.
Corpus callosum (Balken). Massives Bündel von Nervenfasern, durch die die beiden Hirnhälften miteinander verbunden sind.
Dynamischer räumlicher Rekonstruktor. Eine raffinierte Va-
Datengeleitete Verarbeitung. Siehe Bottom-up-Verarbeitung.
Echogedächtnis. Die Nachwirkung auditorischer Eindrücke
riante der Computeraxialtomographie, die innere Strukturen in dreidimensionaler Form zeigt.
und ihre kurze Verfügbarkeit zur weiteren Verarbeitung. Deduktives Schließen. Der Prozess des Schließens, bei dem
bestimmte Schlussfolgerungen aus allgemeineren Prinzipien gezogen werden.
Egozentrismus. Die Tendenz, die Welt aus der eigenen Per-
Definierende Merkmale. Die wesentlichen, notwendigen
Eidetische Vorstellung. Ungewöhnlich lebendige Vorstel-
Merkmale eines Begriffs (z.B.sind Flügel,Federn und rote
lung, als würde sie tatsächlich wahrgenommen. Diese Fä-
spektive zu sehen (Piaget).
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higkeit ist in der Kindheit verbreiteter und geht gewöhnlich in der Adoleszenz verloren.
Epistemologie. Die Lehre vom Ursprung und von der Ei-
Einheiten. Einfache Verarbeitungselemente, die für mögliche Hypothesen über die Eigenart von Dingen stehen.Siehe Parallel Distributed Processing Model (PDP, Modell der verteilten Parallelverarbeitung).
Erhaltung. Der Gedanke, dass bestimmte Transformatio-
genart des Wissens.
nen die grundlegenden Eigenschaften von Gegenständen nicht verändern (Piaget). Erregung. Ein allgemeiner Triebzustand,der unsere Fähig-
Einstellung (»Set«). Jede vorbereitende kognitive Aktivität,
die dem Denken und der Wahrnehmung vorausgeht (zu unterscheiden ist der Einstellungsbegriff aus der Sozialpsychologie). Elektroenzephalographie. Die Messung der elektrischen
Aktivität im Gehirn. Elektroschocktherapie. Auch als Schocktherapie bezeichnet.
Eine Form der körperlichen Therapie, bei der der Kopf elektrischen Stromstößen ausgesetzt wird, die zu Krämpfen und Bewusstlosigkeit führen. ELINOR. Ein hierarchisches Netzmodell der semantischen
Organisation (entwickelt von Lindsay, Norman und Rumelhart). ELIZA. Eines der ersten Computerprogramme, bei dem sich der Anwender mit dem Computer unterhält (entwickelt von Weizenbaum am MIT). Empfindung. Die Aufnahme der Anregung durch einen
Reiz. Untersucht man dies, so beschäftigt man sich gewöhnlich mit der Struktur sensorischer Mechanismen (etwa des Auges) und der Reize (etwa des Lichts), die diese Mechanismen beeinflussen. Empfindungsvermögen. Bewusste Empfindungen haben.
Das Erleben von Empfindungen oder Gefühlen. Engramm. Eine Spur oder im Kontext der momentanen Diskussion eine Ansammlung neuronaler Ladungen, die eine Erinnerung repräsentieren. Entscheidungsrahmung. Die Rahmung eines Entscheiders im Hinblick auf eine Wahlmöglichkeit, zu der Verhaltensweisen, Ergebnisse und Kontingenzen gehören.
keit, sensorische Ereignisse wahrzunehmen und eine mentale Leistung zu erbringen, aufrechterhält. Evolutionäre kognitive Psychologie. Fachgebiet, das die Kognition vom evolutionären Standpunkt der Anpassung aus betrachtet. Experten. Menschen, die ungewöhnliche kognitive Fähig-
keiten zeigen, wie etwa in der Lage zu sein, sich lange Listen von Zahlen einzuprägen oder bedeutsame Einzelheiten in Röntgenaufnahmen zu »sehen«. Expertensysteme. Computersysteme, die sich so verhalten,
wie es menschliche Experten tun würden. Expertise. Der Ausdruck außergewöhnlicher Fähigkeiten
und Fertigkeiten. Explizites Gedächtnis. Aufdeckung einer Erinnerung oder
Erkennen aufgrund von bewussten Suchprozessen so, wie man sie einsetzen könnte, wenn man direkt gefragt würde: »Wie heißt die Hauptstadt von Russland?« Siehe implizites Gedächtnis. Facial Cognizance. Siehe Kenntnisnahme von Gesichtern. Falsche Erinnerungen. Rekonstruierte Erinnerungen über
Ereignisse, die nie geschehen sind, sondern die erfunden wurden.Oftmals ist sich die Person nicht bewusst,dass die Erinnerung nicht echt ist. Bisweilen kann es zu einer falschen Erinnerung kommen, weil Therapeuten oder Berater ihre Klienten dazu verleiten. Fissuren. Tiefe Furchen auf der Oberfläche des Gehirns. Fokusspiel. Eine bei der Begriffsbildung eingesetzte hypo-
thetische Strategie, bei der mehr als ein Begriffsmerkmal gleichzeitig verändert wird. Das Ziel besteht darin, die richtige Antwort in kürzerer Zeit zu erhalten.
Episodisches Gedächtnis. Gedächtnis, das sich auf zeitlich
datierte Episoden und Ereignisse zusammen mit den Beziehungen zwischen diesen Ereignissen bezieht.
Formatio reticularis. Eine komplexe Region in der Mitte des
Hirnstamms, die viele Gruppen von Nervenzellen enthält,
484
Glossar
die an der Aktivierung oder der Erregung anderer Teile des Gehirns beteiligt sind. Durch ihre Lage im Mittelhirn ist die Formatio reticularis mit den meisten Regionen des Kortex verbunden. Sie wird manchmal auch als Erregungssystem bezeichnet, da es einen Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit und der Orientierungsreaktion gibt (der Art von Reaktionen, wie sie eine Katze zeigt, wenn sie eine Glocke hört).
Gleichartigkeit. Gestaltprinzip, nach dem eine Struktur, wenn sie einmal wahrgenommen wurde, dazu tendiert, in unmittelbar folgenden, ähnlichen Fällen wieder erkannt zu werden. Gyri (sing. Gyrus). Die Hirnwindungen oder Kämme zwi-
schen den Faltungen auf der Oberfläche des Gehirns. H. sapiens sapiens. Der moderne Mensch; die einzige über-
Fovea. Eine kleine Vertiefung in der Retina, die die größte
Konzentration von Zapfen enthält und den Punkt größter Sehschärfe darstellt.
lebende Art der Gattung Homo und der Primatenfamilie Hominidae, zu der er gehört. Habituation. Der Effekt, der auftritt, wenn man einen Reiz
Foveales Sehen. Sehen, das die größte Sehschärfe liefert
und sich auf ein Gesichtsfeld von ein bis zwei Grad beschränkt.
wiederholt darbietet, bis die Versuchsperson nicht mehr auf ihn reagiert. Hakenwortsystem. Eine mnemotechnische Strategie, zu
Frontal. Einer der vier Hauptbereiche auf der Oberfläche
der beiden Hirnhälften, die durch die Hauptgehirnwindungen oder -fissuren voneinander abgetrennt sind. Funktionale Gebundenheit. Die Tendenz, die Dinge so zu sehen, wie sie gewöhnlich verwendet werden. Dies macht es schwer, sie unter neuartigen Perspektiven zu sehen, die oft für das Problemlösen erforderlich sind. Gemeinsames Schicksal. Das Gestaltprinzip,nach dem Elemente, die auf ähnliche Weise aus einer größeren Gruppe herausgenommen werden, gewöhnlich zusammen gruppiert werden. Gemeinsames Schicksal. Gestaltungsprinzip, nach dem die
der es gehört, eine Menge von Reizitems zu lernen, die als Haken dienen, an denen die Items, an die man sich erinnern soll, aufgehängt werden. Hertz (Hz). Schwingungen pro Sekunde. Heuristik. Gruppen empirischer Regeln oder Strategien, die meist zu einer Lösung führen.Allgemeine Regeln. Siehe Algorithmus. Hinweisreizabhängiges Vergessen. Aussetzen der Erinnerung durch mangelnde Übereinstimmung zwischen den enkodierenden Hinweisreizen und den Abrufreizen.
Elemente, die eine kontinuierliche, glatte Bewegung ergeben, gewöhnlich zusammen wahrgenommen werden.
Homunculus. Lat. Verkleinerungsform für Homo = der Mensch; Winzling. In der Psychologie eine kleine Person im Kopf.
General Problem Solver. Ein Computermodell, das dazu
Hypothese von der dualen Kodierung. Die Hypothese, nach
entwickelt wurde, die ganze Vielfalt des Problemlösens beim Menschen zu simulieren.
der es zwei Systeme zur Kodierung und Speicherung gibt (ein verbales und ein bildhaftes).
Geon. Grundlegende geometrische Formen,die – wenn sie miteinander kombiniert werden – komplexe Formen ergeben (engl. »Geometric Ions« = geometrische Ionen).
Hypothese von der funktionalen Äquivalenz. Die Auffassung, dass es sich bei der bildhaften Vorstellung und bei der Wahrnehmung um sehr ähnliche kognitive Phänomene handelt.
Gestaltpsychologie. Theorie, nach der sich die Psychologie
– insbesondere die Wahrnehmung und die Kognition – am besten verstehen lässt,wenn man die Art und Weise untersucht, wie Informationen als ein ganzes, strukturiertes Phänomen organisiert werden.
Hypothese von der graphemischen Enkodierung. Die Hypo-
these, nach der die Worterkennung von visuellen Codes abhängt, die zusammen mit der semantischen Information gespeichert werden.
485 Glossar
Hypothese von der linguistischen Relativität. Die Hypo-
Interferenztheorie. Die Theorie,nach der Vergessen auf Ak-
these, nach der die Wahrnehmung der Realität durch die Geschichte der eigenen Sprache festgelegt ist (Whorf, Sapir).
tivitäten zurückgeht, die sich zwischen dem ursprünglichen Lernen und dem späteren Abruf aus dem Gedächtnis abspielen.
Hypothese von der phonemischen Enkodierung. Die Hypothese, nach der die Worterkennung davon abhängt, ob ein visueller Input umgewandelt und als lautliche Repräsentation enkodiert wird.
Isomorphismus zweiter Ordnung. Die Beziehung zwischen äußeren Gegenständen und ihrer inneren Repräsentation, die gesetzmäßig, aber nicht strukturell ist.
Ikonisches Gedächtnis. Das momentane Fortbestehen von
visuellen Eindrücken und ihre ikonische Erinnerung. Erhaltenbleiben visueller Eindrücke für einen Augenblick und kurzzeitige Verfügbarkeit für die weitere Verarbeitung. Illumination. Eine hypothetische Phase im kreativen Prozess, zu der das plötzliche Verstehen eines Problems und seine Lösung gehören. Implizites Gedächtnis. Eine Art des Abrufs aus dem Gedächtnis, bei dem der Abruf (oder das Erkennen) durch die Darbietung eines Hinweisreizes oder Primes (Vorreizes) verbessert wird, obwohl dem Betreffenden die Verbindung zwischen dem Prime und dem (erkannten) Item, das erinnert werden soll, nicht bewusst ist.
Isomorphismus. Eine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen einem wahrgenommenen Gegenstand und seiner inneren Repräsentation. Kanalkapazität. Eine Annahme hinsichtlich der Informa-
tionsverarbeitung, bei der postuliert wird, dass die Kapazität für den Umgang mit dem Informationsfluss durch die Begrenzungen des Systems festgelegt ist. Kanonische Pespektiven. Sichtweisen, durch die das Objekt »am besten« repräsentiert wird. Häufig gibt es Bilder, die einem als Erstes einfallen,wenn man gebeten wird,eine Figur aus dem Gedächtnis abzurufen. Kartierung (Abbildung). Eine Form der symbolischen Repräsentation von Gedanken, bei der die kognitive Beziehung zwischen der physikalischen und der begrifflichen Welt beschrieben wird.
Induktives Schließen. Schließen vom Besonderen auf das
Allgemeine. Inhaltsadressierbar. Bezieht sich auf die Speicherung von
Informationen, durch die wir aufgrund ihrer Eigenschaften Zugang zu den Informationen im Gedächtnis haben. Inkubation. Eine hypothetische Phase beim kreativen Prozess, zu dem es gehört, ein Problem zeitweilig außer Acht zu lassen und die Aufmerksamkeit anderen Dingen zu widmen. Innere Repräsentation. Eine Transformation von Hinweis-
reizen aus der Umwelt in Bedeutung tragende kognitive Symbole der wahrgenommenen Reize. Auch als Code bezeichnet. Intelligenz. Die Fähigkeit, Wissen zu erwerben, abzu-
rufen und in sinnvoller Weise anzuwenden, konkrete und abstrakte Gedanken zu verstehen und die Beziehungen zwischen Gegenständen und Gedanken zu begreifen.
Kenntnisnahme von Gesichtern (»Facial Cognizance«). Ein
ausgeklügeltes Niveau der Verarbeitung von Gesichtern, bei dem ein erfahrener Beobachter oder Experte (wie etwa ein Porträtzeichner) in der Lage ist, hinter die Oberflächencharakteristika eines Gesichts zu sehen. Klassifizierung. Eine Fähigkeit, Objekte nach einer oder mehreren Dimensionen zu gruppieren. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass Unterkategorien so miteinander kombiniert werden können, dass sie eine übergeordnete Kategorie (Transformation) ergeben und diese wiederum auf die früheren Unterkategorien reduziert werden kann (Umkehrbarkeit, Piaget). Kognitionswissenschaft. Die wissenschaftliche Disziplin im Schnittfeld zwischen Informatik, Neurowissenschaft und kognitiver Psychologie. Kognitive Bionomik. Der Bereich der Kognition, der auf
dem Gedanken beruht, dass sich Wahrnehmung, Ge-
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Glossar
dächtnis, Sprache, Denken und Ähnliches am besten innerhalb des Kontexts der körperlichen und sozialen Evolution des Menschen verstehen lassen.Auch als kognitive Ökologie bezeichnet. Kognitive Landkarte. Der von Tolman vorgeschlagene Gedanke, dass das, was eine Ratte im Labyrinth lernt, nicht eine Reihe von Reiz-Reaktionsverbindungen, sondern ein Bild der inneren Repräsentation der Reizsituation ist. Kognitive Neurowissenschaft. Die Lehre von den Zu-
sammenhängen zwischen Neurowissenschaft und kognitiver Psychologie – vor allem jene Theorien des Mentalen, die sich mit Gedächtnis,Empfindung und Wahrnehmung, Problemlösen,Sprachverarbeitung,motorischen Funktionen und Kognition beschäftigen.
zeichnen.In den meisten Fällen wird die Sprache in graphischer Form transkribiert und manchmal weiter in gesprochenen Output übersetzt. Beispielsweise gibt ein Sprecher etwas auf Deutsch ein, es wird in geschriebenes Spanisch transkribiert und der Output ist gesprochenes Spanisch. Kontralateralität. Verarbeitung von Informationen durch
das Gehirn, die von der gegenüberliegenden Körperseite kommen. Kontrollierte Verarbeitung. Verarbeitung, die die Aufmerksamkeit der Person erfordert,bei der nur eine Abfolge von Operationen gleichzeitig ohne Störung kontrolliert werden kann. Konvergentes Denken. Denken,das vorher enkodierte Fak-
teninformationen berücksichtigt. Kognitives Modell. Eine Metapher, die auf Beobachtungen
oder auf Schlussfolgerungen beruht, die aus Beobachtungen gezogen werden. Sie beschreibt die Aufnahme, Speicherung und Verwendung von Informationen.
Korsakow-Syndrom. Eine Störung, zu der es gewöhnlich durch schweren Alkoholismus kommt und die zu einer beidseitigen Schädigung des Zwischenhirns führt.
Kommissurotomie. Siehe zerebrale Kommissurotomie.
Kreativität. Der Prozess kognitiver Aktivität, aus dem sich eine neue, oft unbrauchbare Sichtweise auf ein Problem oder eine Situation ergibt.
Konnektionismus. Die Auffassung, dass komplexe kognitive Funktionen als Netze von Verbindungen unter Einheiten zu verstehen sind. Siehe auch Parallel Distributed _Processing Model (PDP-Modell). Konservatives Fokussieren. Eine während der Begriffsbildung benutzte hypothetische Strategie, bei der eine Hypothese formuliert wird, neue Formulierungen an zutreffenden Fällen sequenziell überprüft und die Ergebnisse festgehalten werden.
Künstliche Intelligenz (KI). Ein vom Computer erzeugter
Output,den man für intelligent halten würde,wenn er von einem Menschen hervorgebracht worden wäre. Kurzzeitgedächtnis (KZG). Ein hypothetisches Speiche-
rungssystem, dessen Dauerhaftigkeit auf etwa zwölf Sekunden geschätzt wird (dies kann durch Wiederholung verlängert werden). Die Kapazität wird auf 7 ± 2 Items geschätzt und der Abruf gilt als genau.
Konstruktive Wahrnehmung. Die Theorie, dass wir wäh-
rend der Wahrnehmung Hypothesen in Bezug auf die Wahrnehmung bilden und überprüfen, die darauf beruhen, was wir aufnehmen und wissen.
Langzeitgedächtnis. Ein hypothetisches Speichersystem, das bei geeigneten Hinweisreizen durch Dauerhaftigkeit, eine große Kapazität und gute Zugänglichkeit gekennzeichnet ist.
Konstruktives Gedächtnis. Die Auffassung, dass Vorerfah-
rungen, Informationen nach dem Ereignis, perzeptive Faktoren und der Wunsch einer Person, bestimmte Ereignisse lieber zu erinnern als andere, das beeinflussen, was wir aus dem Gedächtnis abrufen. Kontinuierliche Spracherkennung. Computerprogramme, die
die natürliche Sprache des Menschen erkennen und auf-
Langzeitpotenzierung. Eine Zunahme der neuronalen Re-
aktionsbereitschaft nach einer in kurzen Abständen wiederholten Stimulierung über eine längere Zeitspanne. Leib-Seele-Problem. Das philosophische Problem, das sich mit der Beziehung zwischen dem Geist und dem Körper beschäftigt.
487 Glossar
Lexikalisch. Bezieht sich auf die Wörter oder den Wortschatz einer Sprache, vor allem im Unterschied zu ihren grammatischen und syntaktischen Aspekten.
Mnemotechnik. Jede Vorgehensweise, die dem Zweck
Lexikalische Entscheidungsaufgabe. Eine Priming-Aufga-
Modell der Eigenschaftshäufigkeit. Ein von der Prototyptheorie vorgeschlagenes Modell, bei dem angenommen wird, dass ein Prototyp für den Modalwert oder für die Kombination von Eigenschaften steht, mit der man am häufigsten Erfahrung gemacht hat.
be,bei der man einer Versuchsperson ein Bezugswort zeigt und sie bittet, schnell zu beurteilen, ob eine zweite Buchstabenkette ein richtiges Wort ergibt oder nicht (z.B. Brot – Butter im Gegensatz zu Brot – Uretbt). Loci-Methode. Eine Mnemotechnik,zu der es gehört,Items, an die man sich erinnern soll,mit bestimmten physischen Orten zu assoziieren und diese beim Abruf der Items aus dem Gedächtnis »wieder aufzusuchen«.
dient, die Speicherung und den Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis zu fördern.
Logik. Die Lehre vom Denken auf der Basis von Gesetzen, die die Geltung einer Schlussfolgerung festlegen.
Modell der Informationsverarbeitung. Ein Modell,nach dem Informationen über eine Reihe von Phasen hinweg verarbeitet werden, während der jeweils einzelne Operationen ausgeführt werden. Jede einzelne Phase erhält Informationen aus den vorangehenden Phasen und übergibt den transformierten Input an die anderen Phasen zur Weiterverarbeitung.
Logogen. Ein hypothetisches »Werkzeug«, das beim Er-
Modell der sequenziellen Verarbeitung. Ein Computerpro-
kennen (z.B. eines Wortes) eingesetzt wird und das wie eine Additionsmaschine funktioniert, indem es Inputinformationen aufsummiert. Dies wiederum löst, wenn ein kritisches Niveau erreicht wird, die Bereitschaft für eine bestimmte Klasse von Reaktionen aus (Morton).
gramm,das jedes einzelne Inputmerkmal schrittweise auf eine zuvor festgelegte Art untersucht. Während jeder einzelnen Phase besteht das Ergebnis darin, festzulegen, welches der nächste Schritt im Programm ist.
Lokalisierungstheorie. Die Auffassung, dass bestimmte
Funktionen wie etwa motorische Aktivitäten, Sprachverarbeitung usw. mit speziellen Arealen des Gehirns verknüpft sind (zur gegenteiligen Auffassung siehe aggregierte Feldtheorie).
Modell der Verarbeitungsniveaus. Eine Theorie, nach der Erinnerungen ein Nebenprodukt von Verarbeitungsaktivitäten sind, wobei die Dauerhaftigkeit einer Gedächtnisspur eine Funktion der Verarbeitungstiefe ist. Modell der verteilten Parallelverarbeitung. Siehe Parallel
Distributed Processing Model (PDP-Modell). Massenaktivität. Die Vorstellung, dass Erinnerungen über
das gesamte Gehirn verteilt sind (Lashley). Mengentheoretisches Modell. Ein Modell der semantischen Organisation, nach dem Begriffe im Gedächtnis als Gruppen von Informationen repräsentiert sind, die Beispiele für Kategorien und Eigenschaften enthalten. Merkmal. Ein Grundbestandteil eines komplexen Reizmusters. Beispielsweise sind die Merkmale des Buchstabens A zwei diagonale Linien (/\) und eine horizontale Linie (–).
Modell der zentralen Tendenz. Ein von der Prototyptheorie vorgeschlagenes Modell,bei dem angenommen wird,dass ein Prototyp für den Mittelwert oder Durchschnitt einer Gruppe von Exemplaren steht. Modell des semantischen Merkmalsvergleichs. Ein Modell der semantischen Organisation,nach dem Begriffe im Gedächtnis als Gruppen semantischer Merkmale gespeichert sind. Dabei kann man zwischen definierenden und charakteristischen Merkmale unterscheiden. Moores Gesetz. Ursprünglich von Gordon Moore Mitte der
Merkmalsanalyse. Die Hypothese, nach der es erst zur
Mustererkennung kommt, nachdem sensorische Reize im Hinblick auf ihre einfachen oder grundlegenden Bestandteile hin analysiert wurden.
sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts vorgeschlagen. Ein Gesetz, nach dem sich die Größe eines Transistors in einem integrierten Schaltkreis-Chip alle 24 Monate auf die Hälfte verkleinert. Infolgedessen kommt es bei der Leis-
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Glossar
tungsfähigkeit von Computern zu einem exponentiellen Wachstum. Heutzutage besagt das Gesetz, dass sich die Leistungsfähigkeit von Computern alle 18 Monate verdoppelt – eine Vorhersage, die etwa 40 Jahre lang gelten soll. Morphem. Kleinste Bedeutung tragende Einheit in einer Sprache (z.B. eine Vor- oder Nachsilbe), die zur Bildung von Wörtern mit anderen derartigen Einheiten auf vielfältige Weisen kombiniert wird.
der Eigenart ihrer Zusammenhänge untereinander in räumlichen Anordnungen gespeichert werden. Neurokognition. Die Lehre von den Zusammenhängen
zwischen Neurowissenschaft und kognitiver Psychologie, speziell jene Theorien des Mentalen, die sich mit Gedächtnis,Empfindung und Wahrnehmung,Problemlösen, Sprachverarbeitung, motorischen Funktionen und Denken beschäftigen. Neuronetzsysteme. Siehe Parallel Distributed Processing
Muster. Die komplexe Zusammensetzung sensorischer
Model (PDP-Modell).
Reize, an denen Beobachter möglicherweise erkennen, dass sie zu einer Klasse von Gegenständen gehören.
Neuropsychologie. Siehe Neurokognition.
Mustererkennung. Die Fähigkeit, bestimmte Elemente eines Reizes zu abstrahieren und sie in ein organisiertes Schema zur Speicherung und zum Abruf aus dem Gedächtnis zu integrieren. Beispielsweise erfordert das Lesen,dass man sich an die Bedeutung tragenden Muster erinnert, die von der ansonsten sinnlosen Anordnung von Linien und Kurven gebildet werden. Myelinscheide. Die äußere Fettschicht,von der das Axon einer Nervenzelle umgeben ist und die bei einigen Nervenzellen die neuronale Übertragung fördert. Nähe. Gestaltprinzip, nach dem Elemente, die räumlich
oder zeitlich eng zusammen auftreten, gewöhnlich auch gemeinsam wahrgenommen werden. Nanometer (nm). Maßeinheit für Wellenlängen. Ein Nano-
Neurotransmitter. Chemische Substanzen, die auf die
Membran des Dendriten einer Nervenzelle einwirken, um die neuronale Übertragung zu fördern oder zur hemmen. Neurowissenschaft. Die Lehre von der Struktur und der Funktionsweise des Nervensystems. Nicht deklaratives Gedächtnis. Siehe prozedurales Ge-
dächtnis. Noetisches Bewusstsein. Die Bewusstheit von Gegenständen, Ereignissen und ihrer Beziehung zueinander, wenn diese Gegenstände und Ereignisse physikalisch nicht vorhanden sind.Auch als wissendes Bewusstsein bezeichnet. Das noetische Bewusstsein entspricht dem semantischen Gedächtnis (Tulving).
meter ist ein Milliardstel eines Meters. Oberflächenstruktur. Der Teil eines Satzes, der analysiert Narzisstischer Persönlichkeitszug. Ein organisiertes System
innerer Eigenschaften und Erinnerungen,die Themen wie das Selbst umfassen und Themen, die sich auf »ich, mich und mein« beziehen. Ein Selbstschema. Nervenzelle. Eine Zelle,die auf Prozesse spezialisiert ist,die
auf der strukturellen und funktionalen Einheit des Nervengewebes beruhen.Als grundlegende Zelle des Nervensystems leitet die Nervenzelle neuronale Informationen weiter. Netzmodell. Ein Modell der semantischen Organisation, nach dem Begriffe als unabhängige Einheiten im Gedächtnis repräsentiert sind, die je nach dem Ausmaß und
und nach herkömmlichen Gliederungsschemata bezeichnet werden kann (Chomsky). Okzipitallappen. Einer der vier großen Abschnitte auf der Oberfläche der beiden Hirnhälften, die durch die großen Furchen oder Fissuren voneinander getrennt sind. Organisationsschemata. Eine Vorgehensweise, bei der In-
formationen in Kategorien eingeteilt werden, die als Hinweisreize für den Abruf aus dem Gedächtnis genutzt werden. Orientierungsreaktion. Eine natürliche Tendenz, die Aufmerksamkeit auf ein ungewöhnliches Signal (wie etwa ein
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lautes Geräusch oder ein helles Licht) zu richten. Die Orientierungsreaktion ist kennzeichnend für Aufmerksamkeit. Output-Interferenz. Der nachteilige Effekt, den der Abruf
eines Items aus dem Gedächtnis auf den Abruf der nachfolgenden Items hat. Paradigma. Ein grundlegendes theoretisches Modell; ein Plan für die Forschung, der auf speziellen Begriffen beruht; ein Versuchsplan. Parallel Distributed Processing Model (PDP-Modell oder Modell der verteilten Parallelverarbeitung). Ein Modell des
Mentalen, das vom Aufbau des Nervensystems inspiriert war. In diesem Modell werden Informationen in einem massiv verteilten, interaktiven, parallelen System verarbeitet, in dem zur gleichen Zeit unterschiedliche Aktivitäten durch wechselseitige Erregung und/oder Hemmung der Einheiten ausgeführt werden. Paralleles Verarbeitungsmodell. Ein Computerprogramm,
dass alle Merkmale des Inputs gleichzeitig untersucht. Parietallappen. Einer der vier großen Abschnitte auf der Oberfläche der beiden Hirnhälften, die durch die großen Furchen oder Fissuren voneinander getrennt sind. PARRY. Ein Programm zur gesprächsförmigen Interaktion mit dem Computer, das die Reaktionen eines paranoiden Patienten simuliert und das dazu eingesetzt wurde, um die These von der Ununterscheidbarkeit zwischen einer Maschine und einem Menschen mit Hilfe der Expertenurteile von Psychiatern überprüfen zu lassen. Parsing-Paradoxon. Das Problem, ob Mustererkennung
durch die Bestandteile eines Musters (Bottom-up-Verarbeitung) oder durch eine Hypothese über das Ganze (Topdown-Verarbeitung) ausgelöst wird. Passives Gedächtnissystem. Eine Art von Gedächtnissystem im Computer, bei dem Items an bestimmten Stellen gespeichert und entweder sequenziell oder zufällig mit Hilfe einer zentralen Suchsonde abgerufen werden. PDP. Siehe Parallel Distributed Processing Model (PDP-
Modell).
PDP-Modell. Siehe Parallel Distributed Processing Model
(PDP-Modell). Perceptrons. Die Stimulierung neuronaler Netze in einer Computerarchitektur. Peripheres Nervensystem. Nerven, die sich außerhalb des Rückenmarks und außerhalb des Gehirns befinden. Die meisten davon sind daran beteiligt, Energieveränderungen in der Umwelt zu erfassen. Permaspeicher. Eine Art von Gedächtnis, das sich Inhalte
so gut einprägt,dass sie dauerhaft sind und ein Leben lang erhalten bleiben. Phonem. Grundlegende sprachliche Lauteinheit einer ge-
sprochenen Sprache.Es wird unterschieden,wie diese Einheit hervorgebracht wird (stimmhaft, stimmlos, frikativ oder explosiv).Phoneme werden mit anderen Lauteinheiten zur Erzeugung von Wörtern miteinander kombiniert. Phonologische Schleife. Ein Wiederholungskreislauf im Arbeitsgedächtnis, bei dem das innere Sprechen erhalten bleibt, damit es verbal begriffen wird. Phrenologie. Die Lehre vom Bau des Schädels. Sie basiert auf der Annahme, dass diese Struktur ein Indikator für geistige Fähigkeiten und Charaktereigenschaften ist. Piktographisches Schriftsystem. Die erste Form der graphemischen Kommunikation,bei der gewöhnliche Objekte (wie etwa die Sonne, ein Haus usw.) bildlich repräsentiert werden. Prägnanz. Das Gestaltprinzip, nach dem Reizfiguren un-
ter den gegebenen Reizbedingungen auf die bestmögliche Weise wahrgenommen werden. Die »gute« Figur ist stabil und aus ihr kann durch Veränderung der Wahrnehmung nichts Einfacheres oder Regelmäßigeres gemacht werden. Präparation. Hypothetische Phase im kreativen Prozess, zu dem die Problemformulierung und anfängliche Lösungsversuche gehören. Präsynaptische Endigungen. Endigungen, die sehr nahe an der den Reiz aufnehmenden Oberfläche der Nervenzellen sind,die Informationen über ihre Aktivität an andere Nervenzellen übermitteln.
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Glossar
Prima facie. Der erste Anschein, bevor etwas genauer
Prototyp. Eine Abstraktion von Reizmustern, die im Lang-
untersucht wird; unmittelbar deutlich oder klar.
zeitgedächtnis gespeichert sind, gegenüber denen ähnliche Muster im Hinblick darauf ausgewertet werden, wie gut sie ins Modell passen.
Primärgedächtnis. Das unmittelbare Gedächtnis, das immer bewusst bleibt und eine genaue Repräsentation der Ereignisse liefert (William James). Priming (Voraktivierung). Der Vorgang, durch den ein Hin-
weisreiz den Abruf oder das Erkennen eines später dargebotenen Items verbessert.
Prototyperkennung. Hypothese, nach der ein Muster er-
kannt wird, wenn eine Übereinstimmung zwischen sensorischen Reizen und einem abstrahierten oder idealisierten kognitiven Muster erreicht wird. Prozedurales Gedächtnis. Die »unterste« Form des Ge-
Priming-Effekt. Der verbesserte Abruf oder das verbes-
serte Erkennen eines Items nach Darbietung eines Primes (Vorreizes). Der Vorgang spielt sich gewöhnlich so ab, dass der Zusammenhang zwischen dem Hinweisreiz und dem Item, das abgerufen (erinnert) werden soll, nicht bewusst ist. Prinzip der Enkodierungsspezifität. Das Prinzip, nach dem ein Hinweisreiz für den Abruf aus dem Gedächtnis nur wirksam werden kann, wenn er bei der Bearbeitung enkodiert wird (Tulving). Proaktive Hemmung. Verschlechterter Abruf neu gelernten Materials aus dem Gedächtnis durch vorher gelerntes Material.
dächtnisses, bei der einfache Verknüpfungen zwischen Reizen und Reaktionen gebildet werden. Prozedurales Wissen. Auch als nicht deklaratives Wissen bezeichnet. Wissen, das implizit ist und durch Handlungen oder Leistungen überprüft wird. Siehe auch Produktionsgedächtnis. Prozess. Ein aktives System von Operationen oder Funk-
tionen, bei dem Informationen analysiert und transformiert werden. Pseudoerinnerung. Die Tendenz von Personen, einen Prototyp irrtümlicherweise als eine zuvor gesehene Figur zu erkennen, und zwar mit größerer Gewissheit als bei den Figuren, die tatsächlich zuvor gesehen wurden.
Prüf-Item. Ein Hinweisreiz,der dazu verwendet wird,einer
Person bei einer Gedächtnisaufgabe zu signalisieren, dass sie ein bestimmtes Item erinnern soll.
Psychophysik. Die Lehre von den Zusammenhängen zwischen physikalischen Ereignissen und psychologischen Phänomenen.
Problemlösen. Denken, das auf die Entdeckung einer Lö-
sung für ein spezielles Problem ausgerichtet ist. Dazu gehört sowohl die Reaktionsbildung als auch die Reaktionsauswahl. Produktionsgedächtnis (oder prozedurales Wissen). Das Wissen, das erforderlich ist, um etwas zu tun (z.B. sich die Schuhe zuzubinden, sich mit Mathematik zu beschäftigen oder ein Essen im Restaurant zu bestellen). Produktionssystem. Die Auffassung,dass der Kognition des
Menschen eine Menge von Bedingungs-Handlungspaaren, so genannte Produktionen, zugrunde liegt. Proposition. Die kleinste Informationseinheit, die Bedeutung tragend ist (z.B.: Nico ist groß.)
Radikale Variante der Hypothese von der bildhaften Vorstellung. Hypothese, nach der Personen visuelle und verbale
Reize zu Bildern umwandeln, die dann im Gedächtnis gespeichert werden. Rauschen. Jegliche Störung, sei es eine äußere (wie etwa Hintergrundreize) oder innere (wie etwa eine zufällige neuronale Aktivität), die die Signalqualität verringert. rCBF (»regional cerebral blood flow«, lokale zerebrale Durchblutung). Dadurch, dass man die Durchblutung des Ge-
hirns erfasst, ist es möglich, zu erschließen, welche Regionen neurologisch aktiv sind. Reaktionskriterium. Der Punkt, an dem der Beobachter Rauschen und Signal voneinander unterscheiden kann.
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Wenn die Signalstärke das Kriterium überschreitet, wird gewöhnlich die Entscheidung Signal vorhanden getroffen. Eine Signalstärke unterhalb des Kriteriums führt gewöhnlich zu der Entscheidung Signal nicht vorhanden.
Sakkade. Die schnelle Augenbewegung, die beim Lesen
auftritt, bzw. wenn man visuelle Muster betrachtet. Schema. Eine mentale Repräsentation irgendeiner Hand-
einer Aussage,in dem man zeigt,dass es ins Absurde führt, wenn man sie logisch bis zum Ende durchdenkt.
lung (mental oder körperlich), die an einem Gegenstand ausgeführt werden kann und die in dem Maße, wie sich der Organismus entwickelt, an Integration und Koordinierung zunimmt (Piaget).
Reizschwelle. Das Energieniveau, das erforderlich ist, um
Schlüsselwortmethode. Eine Mnemotechnik, die im Zweit-
eine neuronale Reaktion zu aktivieren. In der Terminologie der Psychophysik der Limen.
sprachenerwerb verwendet wird. Beispielsweise wird ein deutsches Wort, das ähnlich klingt wie irgendein Teil des fremdsprachigen Wortes mit dem fremdsprachigen Wort dadurch verknüpft, dass man eine bildhafte Wechselwirkung zwischen den beiden erzeugt.
Reductio ad absurdum. Widerlegung eines Prinzips oder
Rekonstruktive Erinnerung. Der Gedanke, dass Menschen
Tatsachen über die Welt für sich anpassen und dann in der Lage sind, sie so aus dem Gedächtnis abzurufen, als wären sie wirklich so geschehen. REM-Schlaf. Rasche Augenbewegungen (»Rapid Eye Movements« oder REM) während des Träumens. Repräsentationswissen. Siehe Wissen und deklaratives
Schwellenwert. Der Punkt, an dem die verfügbare Energiemenge ein bestimmtes Niveau überschreitet.Wenn dies geschieht, werden Nervenzellen erregt und die Erfahrung der Empfindung tritt ein. Sensorische Urteile sind komplexer und beruhen auf der Signalstärke und auf Entscheidungsprozessen des Beobachters.
Wissen. Retina (Netzhaut). Die Membran auf dem Augenhinter-
Sekundärgedächtnis. Permanentes Gedächtnis, bei dem es große individuelle Unterschiede gibt (William James).
grund,die die Photorezeptorzellen (Zapfen und Stäbchen) enthält.
Selbstschema. Eine komplexe innere Repräsentation des
Retinozentrisch. Wörtlich: auf die Retina zentriert. Wird
Selbst, bei der es um Themen wie »ich, mich und mein« geht. Siehe narzisstischer Persönlichkeitszug.
verwendet, um visuelle Reize zu beschreiben, die in ihrer »Roh«form aufgezeichnet werden, ganz so wie das ursprüngliche unverarbeitete Bild auf der Retina.
Semantik. Betrifft oder entsteht aus unterschiedlichen Be-
Retroaktive Hemmung. Verschlechterter Abruf zuvor gelernten Materials aus dem Gedächtnis aufgrund von neu gelerntem Material.
Semantisches Gedächtnis. Gedächtnis, in dem die Bedeutungen von Wörtern, Begriffen und Weltwissen gespeichert sind.
Retrograde Amnesie. Die Unfähigkeit, sich an Informatio-
Semantisches Priming. Die Darbietung eines semantisch zusammenhängenden Primes (Vorreizes) gefolgt von einem Zielreiz (z.B. zeigt man die Farbe rot und anschließend dies zusammen mit dem Zielwort Blut).
nen zu erinnern,die man vor dem Einsetzen einer Störung erlernt hat. Roboter. Maschinen, die in der Lage sind, Aufgaben von Menschen zu übernehmen und sich wie ein Mensch zu verhalten.
deutungen von Wörtern oder anderen Symbolen.
Seriation. Die Fähigkeit,Elemente nach einem bestimmten zugrunde liegenden Prinzip zu ordnen (z.B.Stöckchen mit zunehmender Länge anzuordnen; Piaget).
Rückstrahlender Regelkreis. Sich selbst anregende Schleife
neuronaler Aktivität, wie sie ursprünglich von Hebb vorgeschlagen wurde.
SHRDLU. Computerprogramm, das einen Roboter in die Lage versetzte, Antworten auf Fragen zu geben, Befehle
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Glossar
auszuführen und natürlich-sprachliche Informationen auf Englisch zu übernehmen (Winograd). Signal. Ein aus dem Bereich der elektronischen Kommunikation übernommener Begriff. Ein Reiz, den eine Versuchsperson identifizieren soll. Simultanes Überfliegen. Eine bei der Begriffsbildung ein-
gesetzte hypothetische Strategie,bei der Menschen mit allen möglichen Hypothesen beginnen und dann schrittweise alle nicht haltbaren Hypothesen aussortieren. Sinnlose Silbe. Eine Nichtwortfolge,die sich typischerweise aus drei Buchstaben zusammensetzt und erstmals von Ebbinghaus in seinen Untersuchungen zum Gedächtnis verwendet wurde. Sinuswelle. Eine periodenförmige Oszillation (etwa bei ei-
ner Schallwelle), die sowohl Amplitude als auch Frequenz repräsentiert.
Subliminale Wahrnehmung. Der Einfluss von Reizen, die
nicht intensiv genug sind, um eine bewusste Empfindung hervorzurufen, aber stark genug, um bestimmte mentale Vorgänge zu beeinflussen. Subliminales Priming. Die Wirkung eines Primes (Vorrei-
zes), der unterhalb des Bewusstseinsniveaus dargeboten wird. Anmerkung: Das Wort subliminal wird von den Psychophysikern in der Bedeutung verwendet, dass ein Reiz unterhalb der Reizschwelle liegt und mit solchen Dingen zusammenhängt wie Dezibel, Lumen und dergleichen, die physikalischen Begrenzungen unterliegen. Kognitive Psychologen, Sozialpsychologen, Werbefachleute und Visionäre, die in Talkshows auftreten, verwenden den Begriff etwas laxer. Sukzessives Überfliegen. Eine bei der Begriffsbildung verwendete hypothetische Strategie, bei der Menschen mit einer Hypothese beginnen, diese Hypothese so lange beibehalten, wie sie erfolgreich ist, und sie verwerfen oder verändern, wenn sie nicht mehr haltbar ist.
Sprache. Ein Kommunikationssystem, bei dem Gedanken
mit Hilfe von Lauten oder Symbolen übermittelt werden.
Sulci (Sing.sulcus).Die Furchen zwischen den Windungen auf der Oberfläche des Gehirns.
Sprechakte. Verbale Äußerungen, zu denen es gewöhnlich
innerhalb eines sozialen Kontextes kommt. Neuere Computerprogramme in Form eines Gesprächs (Winograd) haben damit begonnen, Routinen einzubauen, mit deren Hilfe die nicht wörtlichen Aspekte der natürlichen Sprache nachgeahmt werden. Sternberg-Paradigma. Eine Vorgehensweise,die verwendet
wird,um den Abruf aus dem Kurzzeitgedächtnis zu untersuchen. Hier wird eine Folge von Items kurzzeitig dargeboten und auf sie folgt eine Prüfzahl. Die Versuchspersonen werden gebeten, zu entscheiden, ob die Prüfzahl Bestandteil der ursprünglichen Serie war. Die Reaktionszeit ist die hauptsächliche abhängige Variable. Struktur. Die Architektur eines kognitiven Modells, das
Supraliminal. Energiemenge, die ausreichend ist, um eine neuronale Aktivität hervorzurufen. Syllogismus. Eine Methode, um die Geltung eines Arguments zu überprüfen, mit drei Schritten: eine Hauptprämisse,eine Nebenprämisse und eine Schlussfolgerung.Die Schlussfolgerung wird als wahr angesehen,wenn die Form korrekt und die Prämissen wahr sind. Synapse. Der Punkt, an dem zwei Nervenzellen zu-
sammentreffen. Synästhesie. Der Zustand,bei dem Informationen aus einer Sinnesmodalität (z.B. der auditorischen) in einer anderen Sinnesmodalität (z.B. der visuellen) kodiert werden.
metaphorisch ist und nicht wörtlich genommen werden sollte.Es handelt sich um einen Vorschlag,wie mentale Entitäten organisiert sein könnten. Beispielsweise ließe sich das Gedächtnis begrifflich so fassen, dass es aus Kurzzeitund Langzeitstrukturen besteht.
Syntax. Regeln, denen die Kombination von Morphemen in größere linguistische Einheiten (z.B. Phrasen und Sätze) unterliegt.
Subliminal. Energiemenge, die nicht ausreichend ist, um
Temporallappen. Einer der vier großen Abschnitte auf der Oberfläche der beiden Hirnhälften, die durch die großen Furchen oder Fissuren voneinander getrennt sind.
eine neuronale Aktivität hervorzurufen.
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Theorie der direkten Wahrnehmung. Wahrnehmungstheorie, die postuliert, dass die Reize selbst alle erforderlichen Informationen enthalten, damit es zur Wahrnehmung kommen kann, und dass Wissen aus der Vergangenheit nicht erforderlich ist. Die Theorie wird in eine enge Verbindung mit J.J. Gibson gebracht. Theorie der sich ausbreitenden Aktivierung) spreading activation). Das Gedächtnismodell, bei dem postuliert wird,
dass die semantische Speicherung und Verarbeitung auf einem komplexen Netz beruhen,in dem einfache Assoziationen (z.B. blau – Himmel) miteinander verbunden werden. Theorie der Signalentdeckung. Eine Theorie, die postuliert, dass die Entscheidung eines Beobachters über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Reizes außer von der Signalstärke noch von anderen Faktoren beeinflusst wird, wie etwa der Eigenart der Aufgabe oder dem Wissen des Beobachters über die Ergebnisse. Theorie vom relationalen Organisator. Die Theorie, nach der Reize eine Hierarchie impliziter Codes (einschließlich der bildhaften Vorstellung) haben, die durch den Reiz angeregt und dann mit der Reaktion assoziiert werden. Dadurch nimmt die Assoziationsstärke zu.
Triarchische Theorie. Intelligenztheorie, die sich aus drei Untertheorien zusammensetzt, die als Steuerungsgrundlage für bestimmte Arten der Intelligenz des Menschen dienen (Sternberg). Turing-Test. Test, zu dem die Kommunikation zwischen einem Menschen, der Fragen stellt, und einer unbekannten Entität gehört,die Sprache verwendet.Dabei ist es die Aufgabe des Menschen, zu unterscheiden, ob der Output von einem Menschen stammt oder nicht. Übereinstimmung mit Schablonen. Das Postulat, nach dem es zur Mustererkennung kommt, wenn die sensorischen Reize und eine entsprechende innere mentale Form genau übereinstimmen. Unbewusste Schlussfolgerung. Prozess, bei dem ein Beob-
achter ein Perzept mit Hilfe des Schließens konstruiert, ohne sich dieser Vorgehensweise bewusst zu sein. Unbewusster Zustand. Erinnerungen, die für das Bewusstsein nicht leicht zugänglich sind. Verbale Dialoge. Unterhaltungen zwischen Menschen, bei denen die Argumentation und die Persuasion eine Rolle spielt.
Tiefenstruktur. Die einem Satz zugrunde liegende Form,die
die für seine Bedeutung wichtigen Informationen enthält. Tomogramm. Ein Bild, das einen Schnitt durch das Gehirn
Verdrängte Erinnerungen. Erinnerungen, die so schmerzhaft oder traumatisch sind, dass sie nicht im Bewusstsein zum Ausdruck kommen.
zeigt. Top-down-Verarbeitung (auch begriffsgeleitete Verarbeitung). Begriff aus der Informatik: kognitive Verarbeitung
als hypothesengeleitetes Erkennen der gesamten Reizkonfiguration, das zum Erkennen der Bestandteile führt.
Vergegenständlichung. Die Annahme, dass eine Vorstellung real ist, obwohl sie tatsächlich nur hypothetisch oder metaphorisch sein mag. Vergessen. Die Unfähigkeit, sich an Informationen zu erinnern, die einmal zur Verfügung standen.
Transformation. Die Umwandlung physikalischer Energie
(z.B. Licht- oder Schallwellen) in neuronale Energie.
Verifikation. Eine hypothetische Phase im kreativen Pro-
Transformationsgrammatik. Regeln, die die linguistische
zess, zu dem es gehört, die Problemlösung zu überprüfen oder anzuwenden.
Struktur eines Satzes in eine andere Form überführen, aber gleichzeitig den semantischen Inhalt beibehalten (Chomsky). Transitivität. Die Fähigkeit, isolierte Elemente aus einem Gesamtsystem zu koordinieren und Operationen auf diesen Elementen auszuführen (Piaget).
Verkettendes Denken. Die Tendenz, Gedanken ohne Rück-
sicht auf Organisation oder Integration entsprechend übergreifender Themen oder Muster miteinander zu verketten (Piaget).
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Glossar
Vermittlung. Ein Prozess,der sich zwischen einem Reiz und
einem Reaktionsbegriff abspielt. Er stellt eine Verbindung zwischen den beiden her und trägt dazu bei,sich besser zu erinnern. Visuell-räumlicher Notizblock. Eine kurz andauernde Schleife, bei der Bilder im Arbeitsgedächtnis wiederholt werden. Von-Restorff-Effekt. Die Tendenz, sich an ein Item zu erinnern, das hervorgehoben ist oder sich auf andere Weise von den übrigen unterscheidet.
Worterfassungseffekt. Der Gedanke, dass Wörter leichter erkannt werden als Nichtwörter und dass Buchstaben besser wahrnehmbar sind,wenn sie ein Wort bilden,als wenn dies nicht der Fall ist. Yerkes-Dodson-Gesetz. Gesetz, das besagt, dass der Zusammenhang zwischen Leistung und Erregungsniveau einer umgekehrten U-Kurve folgt.Ein Zuwachs im Hinblick auf das Erregungsniveau lässt das Leistungsniveau bis zu einem Punkt zunehmen,nach dem die Leistung bei einem weiteren Zuwachs des Erregungsniveaus abnimmt. Zentrale Exekutive. Steuerungskomponente, die den Infor-
Vorbewusstes. Erinnerungen, die man sich leicht bewusst
mationsfluss festlegt.
machen kann. Zentralnervensystem (ZNS). Der Teil des Nervensystems, Voxel (»volume of neural tissue activated«). Menge des akti-
vierten neuronalen Gewebes. Bei Studien mit funktioneller Kernspintomographie verwendetes Maß,durch das die Orte der Hirnaktivität angegeben werden können, die gewöhnlich mit der Verarbeitung von Informationen in Verbindung gebracht werden.
der aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht. Zerebrale Hemisphären (Hirnhälften). Die beiden Hauptbe-
standteile des zerebralen Kortex. Die linke Hemisphäre ist allgemein an Sprache und symbolischer Verarbeitung beteiligt, die rechte allgemein an der nicht verbalen perzeptiven Verarbeitung.
Wahrnehmung. Der Zweig der Psychologie, der sich mit
der Aufnahme und Interpretation sensorischer Reize beschäftigt.
Zerebrale Kommissurotomie. Die chirurgische Durchtren-
nung des Verbindungsgewebes zwischen den beiden Hauptstrukturen des Gehirns.
Wahrnehmungsspanne. Die Informationsmenge, die man
während einer kurzen Darbietung oder innerhalb eines speziellen Bereichs wahrnehmen kann.
Zerebraler Kortex. Die obere Schicht des Gehirns, von der
man annimmt, dass sie an den mentalen Funktionen »höherer Ordnung« beteiligt ist.
Wellenlänge. Die Entfernung, die eine Welle (z.B. eine
Licht- oder Radiowelle) in einer Schwingung zurücklegt.
Zerfall. Vergessen durch mangelnden Gebrauch oder
Wernicke-Areal. Die Region des Gehirns, die den akusti-
mangelnde Wiederholung zuvor verfügbarer Informationen.
schen Projektionsfeldern benachbart ist und mit dem Verstehen von Wortbedeutungen in Zusammenhang gebracht wird. Benannt nach Carl Wernicke, einem deutschen Neurologen aus dem 19. Jahrhundert. Siehe auch Broca-Areal. Wissen. Die Speicherung und Organisation von Informationen im Gedächtnis.
ZNS. Siehe Zentralnervensystem.
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Sachverzeichnis
528
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A Abrufstrukturprinzip, Gedächtnisleistung 176 Abschwächungsmodell von Treisman 86–89 Abstraktion – linguistische 305–310 – Sätze 310 – sprachliche 310 Ad-hominem-Argument 395 Adoptionsstudien 362 Akkomodation 348–354 Akronym 160, 163 Akrostichon 160, 163 Aktivationsausbreitung 251 Algorithmus 467 Allgemeinwissen 427, 428 Amnesie 133, 134, 138–140, 258–260 – anterograde 258 – Elektroschocktherapie 258 – retrograde 258 Analogie 424, 430–432 Anderson, John R. 253 Anpassung 348, 349 – als Funktion des Bewusstseins 149 Anpassungslernen 425 Aphasie 45 Arbeitsgedächtnis (s. auch Gedächtnis) 11, 183–185, 254 Arbeitsraum, globaler 146–149 Areale, sensorisch-motorische 43, 44 Argumentationsdialog 394 Argumente – ad hominem 395 – persönliche 395 Aristoteles 14, 15 Assimilation 348–354 Assoziation 382 Assoziationismus 382 Assoziationsfelder 44 Aufmerksamkeit 10, 67–75, 79–95 – auditorische 79, 82 – automatische Verarbeitung 79, 81, 90–92
– – – –
Gedächtnis 219 für Gesichter 363–366 Neurokognition 93–95 Positronenemissionstomographie 94–95 – selektive 81–92, 363–366 – Verarbeitungskapazität und selektive 82 – visuelle 89, 90 Augenbewegungen (s. auch Blickbewegungen), rasche 139 Axon 38, 39
B Baars, Bernard 146 Babbage, Charles 442 Bartlett, Frederic 306 Bayes, Thomas 306 Satz von Bayes 402–405 Begabung 360 Begriffsbildung 12, 381–383 – Assoziation 382 – Hypothesentesten 382–383 Behaltensprotokoll 313 Behaviorismus 6, 16, 18, 132 Beschleunigungsprinzip bei der Gedächtnisleistung 176 Bewusstsein 10, 81, 130–151 – Amnesie 133, 134, 140 – begrenzte Kapazität 142 – Definition 120 – Exekutivfunktion 149 – Funktionen 149–150 – Geschichte 131, 132 – Integrationsmetapher 143 – kognitive Psychologie 133–140 – moderne Theorien des 144–149 – Neuartigkeitsmetapher 142 – Primes 133, 135–137 – Reflexion 149 – Scheinwerfermetapher 143 – Schlaf 133, 134, 138 – als subjektive Empfindung 141 – Überwachungsfunktion 149 – unbewusste Prozesse 141
– als wissenschaftliches Konstrukt 140 – Zugang zu Informationen 141 Bewusstseinstheorien 131 – moderne 144–150 Biederman, Irving 112 Bild, räumliches 256 bildgebende Verfahren 36, 37, 47–54, 93, 94, 173, 252, 279, 318 – s. auch Computertomographie – s. auch Positronenemissionstomographie – s. auch Magnetresonanztomographie – Glukosestoffwechselrate 433 – Intelligenz 433 bildhafte Vorstellung 11, 12, 19, 267–290, 370–372 – Dual-Coding-Hypothese 271, 272 – eidetisches Gedächtnis 199 – historischer Überblick 269 – Hypothese der funktionalen Äquivalenz 271, 273–277 – kognitive Landkarten 16, 19 – konzeptuell-propositionale Hypothese 271, 272–273 – L.H. (Fallbeispiel) 279–281, 282–285 – mentale Landkarten 283–285 – metaphorisches Denken 370–371 – Neurokognition 277–282 – Synästhesie 285–290 – visuelle 270 Blickbewegungen (s. auch Augenbewegungen) 64, 365 – kulturbedingte 423 – Musterwahrnehmung 102 – sakkadische 323, 324, 327 Bottom-up-Verarbeitung 102, 109, 110, 313, 418 Bower, Gordon 243 Broca-Areal 45, 296, 317, 340, 341 Brown-Peterson-Technik 181 Bruner, Jerome 382 Buchstabenerkennung 325, 453–456
529 Sachverzeichnis
C chinesisches Zimmer 450–452 Chomsky, Noam 300 Chunking 185, 186, 368, 369 Clustermodell 243, 248 Cocktailparty-Phänomen 83 Code – akustischer 186, 187 – semantischer 189–190 – visueller 187, 188 Computer 442, 444 – Architektur 444 – Informatik 18 – künstliche Intelligenz 443–447 – mit menschlichen Nervenzellen 444 – menschliches Gehirn 444 – neuronale Netze 444 – Parallelverarbeitung 444, 446, 447 – Perceptron 445 – sequenzielle Verarbeitung 446, 447 – serielle Prozessoren 443 – Übereinstimmung mit Schablonen 111, 112 – Überlegenheit 448 – Übersetzung 463 Computermetapher 22–24 Computerschach 467–469 Computersimulation, kognitiver Prozesse 442 Computertomographie (s. auch bildgebende Verfahren) 36, 48, 49 Cornea 102 Corpus callosum 54 Craik, Fergus 224
D Damespiel 469 Deduktion 385–387, 425 Dendrit 38 Denken 12–14, 377–436 – adaptive Steuerung des 254–257
– Definition 380 – divergentes 422 – Entscheidungen und 402–405 – Historisches 13, 14 – innere Repräsentation und 416 – Intelligenz und 424–435 – konvergentes 422 – Kreativität 422 – Kurzzeitgedächtnis 425 – Logik 384, 385 – metaphorisches 370 – Problemlösen und 410–418 – Rationalität und 405–406 Denkentwicklung 356 Denkfigur 386 Dialog, verbaler 394–396 DICE-Modell von Schacter 144–146 Disposition, genetische 360 Divergence Production Test 422 Down-Syndrom 434 Dual-Coding-Hypothese 271, 272 Durchblutung, lokale zerebrale 34, 51, 231, 279, 335 Dyslexie 330
E Ebbinghaus, Hermann 214 Echogedächtnis 76, 82–83 Echospeicher 76–79 Egozentrismus 355 Eigenschaftshäufigkeit 121, 122 Einstellung 412 Elektroenzephalographie 39, 138–140, 279 Elektroschock – Amnesie 258 – Gedächtnis 217 Elektrostimulation, Gehirn 317 ELIZA 460 Empfindung 70–74 – Definition 70 – Funktion des sensorischen Speichers 78, 80 – Präposition des Gehirns 72–74 Empirismus 13
A–E
Endigung, präsynaptische 38 Engramm 145, 217, 258 Enkodierungsprinzip, mnemotechnisches 176 Entscheidungen 393–397, 400–402 – Fällen 402–405 – Fehlschlüsse 394, 397 – Gehirn 398 – induktives Schlussfolgern 393–394 – Rahmung 400–402 – Rationalität 405, 406 – reale Welt und 394 – und der Satz von Bayes 402–405 Entscheidungsaufgabe, lexikalische 136, 332–335 Entwicklung – des Gedächtnisses 366–369 – der Intelligenz 360–362 – Kognition höherer Ordnung 369–372 – kognitiver Fähigkeiten 360–366 – lebenslange 347–348 – neurokognitive 347 – neuronale 357–359 – Prototypbildung 372–374 – Sprache s. Sprachentwicklung – Umwelt und neuronale 359 – vergleichende 347 Entwicklungspsychologie 12, 18, 347–357 – Akkomodation 348–354 – Assimilation 348–354 – Denken in der Gesellschaft 354–355 Entwicklungsstadien 349–356 Epistemologie 73 Erfahrungen, posttraumatische 208 Erhaltung 350 Erinnerungen – von Augenzeugen 206–208 – autobiographische 203–206, 367 – Bilder 202 – Emotionalität 203 – explizite 115 – falsche 206–208 – implizite 115 – und kognitive Entwicklung 362–366
530
Sachverzeichnis
Erinnerungen – konstruktive 207 – modulare 197 – Pseudoerinnerungen 120–121 – rekonstruktive 206 – Syndrom der falschen Erinnerung 53, 208 – verdrängte 208 Erinnerungsfehler 206–208 Erinnerungsniveau 223 Erkennung, durch Komponenten 113 Estes, William 326 Evolutionspsychologie 28 Exekutive, zentrale 185 Experten 171 – charakteristische Eigenschaften 171 – Definition 171 – Fallbeispiele 172–175 Expertensystem 171, 458, 459 Expertise – Definition 17 – Wissensstruktur 176, 177
F Farah, Martha 279 Feldtheorie, aggregierte 41 Filtermodell von Broadbent 84–86 Filtertheorie 85 Fixationsexperiment 117 Fokussieren, konservatives 383 Formwahrnehmung 102, 107, 110, 122, 454, 456 Fovea 102 Frontallappen 43
G Gebundenheit, funktionale 412, 423 Gedächtnis 10, 11, 18, 145, 180–236 – s. auch Arbeitsgedächtnis – s. auch Kurzzeitgedächtnis – s. auch Langzeitgedächtnis
– s. auch Mnemotechniken – Amnesie 133-134, 138–140, 259–260, 367 – Aufmerksamkeit 219 – Augenzeugen 206–208 – außerordentliches 165–171 – autobiographische Erinnerungen 203–206 – bildhafte Vorstellung 267–289 – Dauerhaftigkeit 207, 220 – Definition 75 – deklaratives 216, 254, 255, 260 – dualistische Gedächtnistheorie 217–219 – Echogedächtnis 76–78 – Elektroschock 217 – episodisches 51, 52, 229, 231, 233, 260, 261, 370 – explizites 134, 135 – Festigung 261 – Geschichte der Untersuchungen 213–215 – ikonisches 75, 76 – implizites 134, 135 – Informationsverarbeitung 225–227 – inhaltsadressiertes 233, 234 – Kartierung 216, 217 – K.C. (Fallbeispiel) 233 – kognitive Entwicklung 366–369 – lokale Hirndurchblutung 34, 231 – mengentheoretisches Modell 246, 247, 248 – Modelle 220–236 – Neurokognition 182–183, 195–196, 215–219 – Positronenemissionstomographie 51 – primäres 22, 214, 215 – Produktionsgeddächtnis 254–255 – prozedurales 216, 231, 255 – Prozesse 179–208 – Pseudoerinnerungen 120–121 – Säuglinge 366, 367 – Schema 370 – sekundäres 22, 214, 215 – Selektivität 206 – semantische Organisation 243–245
– semantisches 51, 52, 230–233, 246–257, 260 – Struktur 250 – visuelles 205 – Wissensrepräsentation 239–265 – Wissensstruktur 370 – zerebrale Durchblutung 34, 231 – Zerfall 221 – zwei Speicher 217–219 Gedächtnisentwicklung 368 Gedächtnisforschung 18 Gedächtnishilfe s. Mnemotechnik Gedächtnismodell 220–236 – von Atkinson und Shiffrin 221–223 – Effekt des Selbstbezugs 228–229 – episodisches Gedächtnis 229–232 – Erinnerungsniveaus 223–224 – konnektionistisches 232–236 – mengentheoretisches 246, 247, 248 – neurokognitives 248 – semantisches Gedächtnis 229–232 – Verarbeitungsniveaus 224–227 – von Waugh und Norman 220–221 Gedächtnisreihe, Reproduktion 218, 219 Gedächtnisrepräsentation 236 Gedächtnisspeicher 217–219, 222 Gedächtnisstruktur 179–208 – Taxonomie 260 Gedächtnistheorie, dualistische 217, 218 Gegenbeweis 394, 396 Gehirn (s. auch Hirnhälfte) 41, 42 – Anatomie 42–47 – Aufmerksamkeit 94–95 – Elektroschocktherapie 216 – Elektrostimulation 317 – frühe neuronale Entwicklung 357, 358 – Funktionen 61 – Großhirnrinde 42–45, 94–95, 215–217 – Hirnhälften (Hemisphären) 54–61 – als holistisches Organ 61 – Intelligenz 432–435 – Kartierung 32
531 Sachverzeichnis
– kognitive Untersuchungen an unversehrten Personen 59–61 – Langzeitgedächtnis 196–199 – Lateralisierungsuntersuchungen 55–60, 359 – Lokalisation 41 – Phrenologie 41 – Prädisposition für Sensorik 72 – pränatale Entwicklung 358 – rechnendes 69 – Schlussfolgern 397, 398 – sensorisch-motorische Areale 43, 44 – Split-brain-Forschung 55–60 – zerebraler Kortex 44, 94 Gentechnik 434 Geontheorie 112, 113 Geschichtengrammatik 309, 370 Geschichtenschema 307 Gesicht – Erkennen 173, 457, 458 – prototypisches 120, 121, 374 – schimärenhaftes 59, 60 Gestaltpsychologie 16, 102, 104, 411, 412 – gute Figur 104 – Mustererkennung 102, 104–106 – Prägnanz 104 – Problemlösen 411–412 – spontane Organisation 104–106 g-Faktor 435 Go 417 Gomuku 417 Grammatik 300–303, 305–308 –, generative 302 Grammatiktheorie 300 Grenze, illusionäre 104 Gyri 43
H Hakenwortsystem 159 Hamilton, William 74, 185 Hebb, Donald 40 Hebb’sche Regel 445 Hemisphäre 42, 54–62, 359
Hemmung – laterale 104 – proaktive 190 Hinteransicht 108 Hippocampus 216 Hirndurchblutung 34, 51, 231, 279, 335 Hirnforschung 61 Hirnhälfte 42, 54–62, 359 Holzwegexperiment 330 Homophon 464 Homunculus 25 Hören – dichotisches 85 – selektives 88 Hunt, Earl 426
I Illumination 420 Imitationsspiel 449–452 Induktion 385, 393, 394, 425 Informatik 18 Informationsfluss 85 Informationsverarbeitung (s. auch Verarbeitung) 83 – akustische Signale 82–85 – und Fähigkeiten 360–362 – Fähigkeiten zum Informationserwerb 362–366 – Gedächtnis 225–227 – kognitive 133–134 – parallele 26 – semantische 334 – Stufen der 224–227 – verbale 330 Inkubation 419 Integrationsmetapher 143, 144 Intelligenz 13, 360, 424–435 – Allgemeinwissen 427, 428 – Analogie 430–432 – Anpassungslernen 425 – begriffliches Modell 425 – deduktives Schlussfolgern 425 – Definitionsprobleme 424, 425 – Fähigkeit zu verstehen 425
– – – – –
g-Faktor 435 induktives Schlussfolgern 425 kognitive Theorien 425–432 Komponenten 432 komponentenbezogenes Verhalten 428 – künstliche s. künstliche Intelligenz – Kurzzeitgedächtnis 427 – Lokalisierung 435 – Metakomponenten 432 – Musterklassifikation 424 – Neurokognition 432–435 – Problemlösen 428 – räumliche Verarbeitung 435 – Schlussfolgern 428, 430–432 – verbale Verarbeitung 435 – triarchische Theorie 428–430 Intelligenzprozess 421 Intelligenztest, kognitiver 431 Intentionalität 452 Internalisierung 356 Intons-Peterson, Margaret 181 Intuition 421 Isomorphismus 16 – zweiter Ordnung 275
J James, William 214 Johnson-Laird, Phillip
390
K Kahneman, Daniel 400 Kanalkapazität 81 Kategorielernen 235 Kernspintomographie 37, 48, 93, 173–174, 435 Kintsch, Walter 314 Klassifikation 351 Kleinhirn, Gedächtnis 216, 217 Kodierbarkeit, Reiz 188 Kognition (s. auch kognitive Psychologie)
E–K
532
Sachverzeichnis
Kognition – höherer Ordnung 369 – künstliche Intelligenz 447–449 – in der Renaissance 14–16 Kognitionswissenschaft 24 kognitive Entwicklung 18, 345–374 – Definition 347 – evolutionäre 27–29 – Fähigkeit zum Informationserwerb 362–366 – formal-operationales Stadium 352–353 – Geschichte der 13–19 – Intelligenz 360–362 – konkret-operationales Stadium 350–352 – präoperationales Stadium 350 – sensomotorisches Stadium 349–350 – Umwelteinflüsse 360 kognitive Neurowissenschaft s. Neurowissenschaft, kognitive kognitive Psychologie 4–29 – Annahmen über kognitive Eigenschaften 6–7 – Bewusstsein 133–140 – bildhafte Vorstellung 269–277 – Definition 4–6, 19–21 – Entstehung 22 – evolutionäre 27–29 – Forschungsfragen 8 – frühes 20. Jahrhundert 16, 17 – Gegenstand 4 – Geschichte 13–19 – heutiger Stand 17–19 – Hirnforschung 34, 61 – historische Perspektive 13–15 – Neurowissenschaft 24–26, 36, 37 – Parallel Distributed Processing (PDP) 24, 26–27 – Sprache 305–308 – Ultralangzeitgedächtnis 201–202 Kommissurotomie, zerebrale 54 Kommunikation 295 Konnektionismus 24, 36, 261–264 Kontext, semantischer 334 Kontexteffekt 109 Kontralateralität 43
Korsakow-Syndrom 258 Kortex 43–45, 94–95 – Gedächtnis 216, 217 – präfrontaler 245 Kosslyn, Stephen 275 kreativer Prozess 418–420 – Illumination 420 – Inkubation 419 – Investitionstheorie 421, 422 – Phasen 419, 420 – Präparation 419 – Verifikation 420 Kreativität 418–424 – Atmosphäre 424 – Beurteilung 422–424 – Definition 418, 419 – Fassetten 421 – funktionale Gebundenheit und 420–421 – intellektueller Stil 421 – Intelligenzprozess 421 – Investitionstheorie 421–422 – kulturbedingte Blockaden 423 – Lehren 423 – Motivation 421 – Persönlichkeit 421 – Suche nach Analogien 424 – Umweltkontext 421 – Wissen 421, 424 künstliche Intelligenz 13, 23, 439–476 – Anfänge der 442–449 – Algorithmus 467 – Analyse von Linien 452, 453 – Anfänge 442–445 – Bedeutung und 463–462 – bildende Kunst 471 – chinesisches Zimmer 449–451 – Computer 442–447 – Definition 441 – denkende Maschine 445 – Erkennen von komplexen Formen 456–459 – Expertensysteme 458, 459 – Formwahrnehmung 456 – Geschichte 442–445 – Gesichtserkennung 457, 458 – Heuristik 467
– – – – – – – – – – – –
Imitationsspiel 449, 450 Kunst 470–472 Lernen 445 Lesen 461, 462 Literatur 470 maschinelles Lernen 466 Meinung 463 menschliche Kognition 447–449 Merkmalsanalyse 452, 453 Musik 470–471 Mustererkennung 453–458, 467 neuronale Netze 455, 456, 461, 462 – Parallelverarbeitung 446, 447, 455 – Problemlösen 465–467 – Roboter 472–473 – Schach 467–469 – Script 464, 465 – semantische Zusammenhänge 466 – sequenzielle Verarbeitung 446, 447 – Spielen 465 – Sprache 459–464 – Spracherkennung 464, 465 – Sprachverstehen 464–465 – Turing-Test 449 – Übersetzungsprogramm 463, 464 – Wahrnehmung 452–457 – Weltwissen 464 – wissenschaftliche Erkundung 475–476 – wissenschaftlicher Fortschritt 475, 476 – Zukunft 473–475 Kurzzeitgedächtnis (s. auch Gedächtnis) 11, 77, 181–194, 425 – Abruf aus dem 192-194 – Arbeitsgedächtnis 11, 183–185, 254 – Chunking 185–186 – Codes im 186–192 – Definition 181 – H.M. (Fallbeispiel) 182–183 – Informationsabruf 192–194 – Informationskodierung 186–192 – Intelligenz 426, 427 – Kapazität 185, 186
533 Sachverzeichnis
– K.F. (Fallbeispiel) 183 – Kodierung von Informationen im 186–192 – Langzeitgedächtnis im Vergleich zu 181 – Neurokognition 182, 183 Kurzzeitspeicher 222, 223
L Landkarte – kognitive 11, 12, 19 – mentale 282–285 Langzeitgedächtnis (s. auch Gedächtnis) 11 – bei Augenzeugen 206–208 – autobiographisches 203–206 – Chunking 185–186 – Codes 196, 197 – Dauer 199 – Definition 194 – Erinnerungen an alte Zeiten 205 – Erinnerungsfehler 206–208 – Gehirn 196 – Informationsklassen 196, 197 – Kapazität 199 – Kurzzeitgedächtnis im Vergleich zu 181 – Neurokognition 195, 196 – Organisation 198 – Speicherung 196–199 – Ultralangzeitgedächtnis 199–202 – Wiederherstellungssuche 315 Langzeitpotenziation 217 Langzeitspeicher 222, 223 Lashley, Karl 46 Leib-Seele-Problem 33, 35, 132 Lernen – durch Anpassung 425 – als Funktion des Bewusstseins 149 – Kategorie 235 – serielles 213 Lesen 325–342 – Blickbewegungen 325–331 – Komplexität der Sätze 341, 342
– Lokalisierung im Gehirn 334–337, 341 – Notenlesen 329 – propositionale Textrepräsenation 314–316 Leseschwäche 331 Leseverstehen 334–342 Linguistik 297–300 – moderne 18 Linien, Analyse 452, 453 Loci-Methode 158, 159, 168 Loftus, Elizabeth 207 Logik 384–393 – deduktives Schlussfolgern 386–387 – induktives Schlussfolgern 385 – syllogistisches Schlussfolgern 384–386, 388–393 Lokalisationslehre 41 Luria, Alexander 166
M Magnetresonanztomographie s. Kernspintomographie Mandler, Jean 353 Massenaktivität 46 McCarthy, John 443 McClellend, James 26 McCulloch-Pitts-Nervenzelle 444, 445 Mehrheitsargument 397 Mental Acitivity Network Scanner 55 Mentalismus 132 Merkmal – charakteristisches 247, 248 – definierendes 247, 248 Merkmalsanalyse 115–122, 452–453 Merkmalskarte 89 Merksprüche 165 Metaaussage 313 Miller, George 186 Mnemotechnik 155–165 – Abruf von Namen 164 – Abruf von Wörtern 165 – Akronym 160, 163 – Akrostichon 160, 163
K–M
– Definition 157 – Hakenwortsystem 159 – Loci-Methode 158, 159 – Organisationsschemata 161–164 – Schlüsselwortmethode 159, 160 – Von-Restorff-Effekt 157 Modell – informationsverarbeitendes 6–8, 24 – kognitives 19–22 – neurowissenschaftliches 6, 32–63 Modellentwicklung 425 Moores Gesetz 473–475 Morphem 298 Morphologie 296 Musik 329, 330 Mustererkennung 9, 79–95, 100–125, 112, 113, 453–458 – Abstraktion visueller Information 118, 119 – Blickbewegungen 117, 118 – Bottom-up-Verarbeitung 102, 109, 110 – bei Experten 102, 123–125 – Formwahrnehmung 102, 110, 122 – Gestaltpsychologie 102, 104–106 – kanonische Perspektiven 106–110 – komplexere Formen 456–459 – künstliche Intellligenz 453–456 – Merkmalsanalyse 102, 115–122 – Prototyptheorie 102 – Pseudo-Erinnerung 120, 121 – Rolle des Wahrnehmenden 125 – bei Schachspielern 123, 124 – subjektive Organisation 103, 104 – Top-down-Verarbeitung 102, 109, 110 – Übereinstimmung mit Prototypen 118, 119 – Übereinstimmung mit Schablonen 102, 110–115 – visuelle 102–105 – Wahrnehmungstheorien 100–102 Myelinscheide 38
534
Sachverzeichnis
N Nachsprechen, begleitendes (»shadowing«) 82, 336 Namen, Abruf 164, 202 Nervensystem 37, 38 – peripheres 68 – zentrales 68 Nervenzelle 37–41 – Stimulierung 348 NETtalk 461, 462 Netz, neuronales 24, 44, 455, 456, 461, 462 Netzmodell 248–252 Neumann, John von 23, 244 Neurokognition 32–63, 81, 357–360 – Aufmerksamkeit 93–95 – bildgebende Verfahren und 47–54 – bildhafte Vorstellung 277–282 – Entwicklung 347, 359–360 – frühe neuronale Entwicklung 357 – Gedächtnis 215–219 – Hirnforschung 33 – Hirnhälften 55–60 – Intelligenz 432–435 – Kartierung des Gehirns 32–33 – Kurzzeitgedächtnis 182, 183 – Langzeitgedächtnis 195, 196 – Lateralisierungsuntersuchungen 55–60 – Leib-Seele-Problem 33, 35 – Sprache 294–297 – Umwelt 359 – Wissensrepräsentation 245, 257–261 Neuron 37–41 Neuronetwork System 36 Neuropsychologie 34 Neurotransmitter 38, 39 Neurowissenschaft, kognitive 8–13, 24, 32–63 – kognitive Psychologie 24–26 Newell, Allan 23 Nominalphrase 302 Norman, Donald 19 Notenlesen 329
O Objekt-Priming 114 Okzipitallappen 43, 72 Organisation, subjektive
103, 104
P Parallel Distributed Processing (PDP) 24, 26, 27, 36, 449 – Gedächtnis 234–236 – künstliche Intelligenz 454–456 – Wissensrepräsentation 261–264 Parietallappen 43 PARRY 460 Perceptron 445 Permaspeicher 201 Perseverations-Festigungstheorie 261 Persönlichkeitszug, narzisstischer 229 Perspektive, kanonische 106–110 PET s. Positronenemissionstomographie Peterson, Lloyd 181 Peteerson, Steven 52 Phonem 297, 298 Phonologie 296 Phrenologie 41, 54 Physikalismus 132 Piaget 348–354 Platon 14, 15 Positronenemissionstomographie 36, 49–51, 93, 94, 195, 318, 433, 279 Posner, Michael 93 Potenziale, ereignisbezogene evozierte 39 Primacy-Effekt 205, 218, 219 Primes 133, 135–138 Priming 87, 113–115, 259–260 – Definition 113–114 – semantisches 114, 252 – subliminales 135–137 – mit Umrisszeichnung 115
Priming-Effekt 87, 113–115, 133, 136, 252, 341 Priming-Experiment 91 Prioritätensetzung 149 Problemlösen 410–418, 465–469 – Definition 410, 411 – Gestaltpsychologie 411–412 – Intelligenz 427 – Phasen 413 – Problemrepräsentation und 412–418 – Schlussfolgern 428 Problemrepräsentation 412–416 Produktion 255 Produktionsgedächtnis 254, 255 Proposition, abstrakte 256 Prototyp 457 – Definition 118 – Erkennung 118 Prototypbildung 109, 118, 121, 235, 236, 372–374 Prototyptheorie 102, 118–123 Prozess, präattentiver 89 Prüf-Item 193 Pseudo-Erinnerung 120, 121 Psycholinguistik 295, 297, 303–305 Psychologie, kognitive s. kognitive Psychologie Psychophysik 70
Q Quantor
386
R Rationalität 405–406 – und Entscheidungen 405–406 Reaktion 6 Reaktionszeit 187–190, 193, 194, 274, 275 Recency-Effekt 205, 218, 219 Rechenmaschine 442, 465 Rechner (s. auch Computer) 442
535 Sachverzeichnis
Rechtfertigung 396 Redundanz 46 Reflexion 149 Register, sensorisches 222, 223 Reiz 6 – Kodierbarkeit 188 Reiz-Reaktions-Psychologie 16 Relativität, linguistische 303–305 Repräsentation, innere 8, 19, 20, 416–418 – propositionale 316 – räumliche 281 – visuelle 280 Repräsentativitätsheuristik 400, 402 Retina (Netzhaut) 56, 102, 116 Roboter 472, 473 Rotation, mentale 274 Rummelhart, David 26
S Sakkade 75, 323, 324, 327 Schablone 102, 110–115 Schach 467–469 – Mustererkennung 123, 124 Schema 17, 307, 349 – Gesicht 370 – induziertes 311, 312 Schlaf 133, 134, 138, 139 Schleife, phonologische 184 Schlüsselwortmethode 159, 160 Schlussfolgern 386, 387, 430, 431 – deduktives 385, 386, 425 – induktives 393, 394, 425 – Gehirn 397–399 – Intelligenz 428–432 – Logik 384 – Problemlösen 428 – propositionales 386 – relationales 387 – Repräsentativität 402 – syllogistisches 388–394 – unbewusstes 100 – verbale Dialoge 394–395 Schwelle, sensorische 135
Sehen 102–104 – foveales 324, 326 – parafoveales 324, 326 – sakkadische Blickbewegungen 323, 324 Sehkegel 324 Seitenansicht 108 Sejnowski, Terry 461 Selbstschema 229 Selbstwissen 142 Selektivität 81, 82, 206 Seriation 351, 352 Shepard, Roger 274 Shimamura, Arthur 245 Signal – akustisches 79, 82–84 – visuelles 90 Silben, sinnlose 213 Simon, Herbert 23 Speicher – ikonischer 75, 76 – sensorischer 78–80 Split-brain-Forschung 55–60 Sprachaufzeichnung 299 Sprache 12, 291–342 – Aphasie 45–46 – Grammatik 301–303 – Internalisierung 356 – künstliche Intelligenz 459–464 – Leseverstehen 337–342 – lexikalische Entscheidungsaufgabe 136, 332–335 – Linguistik 18, 297–300 – Morpheme 298 – Neurologie 296–297, 318–319 – Oberflächenstruktur 301, 302, 316 – Phoneme 297–298 – Produktivität 300 – psycholinguistische Aspekte 303–305 – Regelhaftigkeit 300 – Reiz-Reaktionslernen 300 – Syntax 299 – Textverarbeitung 327–332 – Textverständnis 310–316 – Tiefenstruktur 300–302 – Transformationsgrammatik 300, 301
– Ultralangzeitgedächtnis für 201 – Wissen 242–243, 310–314 – Wahrnehmungsspanne 75, 323–332 – Worterkennung 335–337 Sprachentwicklung 242, 294 Spracherkennung, künstliche Intelligenz 464, 465 Sprachproduktion 296, 317 Sprachverarbeitung 294, 334 Sprachverstehen 296, 310–317, 337–342 Sprechen – egozentrisches 355 – Funktion 355 Squire, Larry 259 Sternberg, Robert 430 Sternberg-Paradigma 192, 193 Steuerung 81 Strohmann-Argument 397 Superbiologie 448 Syllogismus 384–394 Synapse 38 Synapsenbildung 358 Synapsenreduktion 358 Synästhesie 167, 285–290 Syntax 296, 299, 300 Syntheseleistung 58 System, visuelles 102
T Tagebuchstudien 203 Täuschung 70, 103 Temporallappen 43 Textrepräsentation 315 Textverständnis 310–316, 326, 330, 334–339 Tolman, Edward 16 Tomogramm 48 Top-down-Verarbeitung 102, 109, 110, 310–313, 418 Transformationsgrammatik 300–303 Transitivität 351 Treisman, Anne 86
N–T
536
Sachverzeichnis
Tulving, Endel 230 Turing-Test 449, 450 Tversky, Amos 400
U Überfliegen – simultanes 383 – sukzessives 383 Übersetzung, Computer 463 Ultralangzeitgedächtnis 199–202 Umstrukturierung der Wahrnehmung 411 Unterargument 396
V Venn-Diagramm 246, 388, 389 Verarbeitung (s. auch Informationsverarbeitung) – automatische 90–92 – parallele 446, 447, 455 – räumliche 435 – semantische 334 – sequenzielle 25, 446, 447 – serielle 25 – verbale 435 Verarbeitungskapazität 81, 82, 84, 339 Verarbeitungsmodell, sequenzielles 21, 22 Verarbeitungsniveau 224, 226, 227 Verbphrase 302 Verfügbarkeitsheuristik 400 Vergegenständlichungsfalle 395 Vergessenskurve 213, 221 Verhalten – erfahrungsbezogenes intelligentes 429 – komponentenbezogenes intelligentes 428 – kontextbezogenes intelligentes 429
Verstehen 337–342 – s. auch Leseverstehen – s. auch Textverständnis – s. auch Worterkennung Vogelperspektive 107, 108 Von-Neumann-Computer 443, 444, 447, 448 Von-Restorff-Effekt 157 Vorderansicht 107, 108 Vorstellung, bildhafte s. bildhafte Vorstellung Vorstellungsvermögen, eidetisches 167 Vorwissen 70 Voxel 341 Vygotsky s. Wygotski
W Wahrnehmung 9, 67–95 – Analyse von Linien 452, 453 – Definition 70 – direkte 100 – Echospeicher 76–78 – Empfindung und 70–74 – Erkennen von komplexen Formen 456–459 – ikonischer Speicher 75–76 – konstruktive 100 – künstliche Intelligenz 452, 453 – Merkmalsanalyse 452, 453 – Mustererkennung 453–456 – Selektivität 452 – sensorische Speicher 78–79 – subliminale 87, 135–137 – Täuschungen 70 – Theorien 100–102 – Umstrukturierung 411 – Vorwissen 72 – Wahrnehmungsschwelle 330 – Wahrnehmungsspanne 74, 75 – Wahrnehmungsspannung 323–332 Wahrscheinlichkeit, Schätzung 399, 400
Weltwissen 109, 464 Wernicke-Areal 296, 317, 340, 341 Whorf-Hypothese 304, 305 Wiedererkennung 202 Wiederherstellungssuche 315 Wissen 310–314 – Allgemeinwissen 427–428 – Definition 14 – deklaratives 260, 261 – Intelligenz 427 – propositionales 257 – prozedurales 260 – Sprache 242–243, 305–310 – Vorwissen 70–72 – Wissensbasis 424 Wissenschaft, theoretische 20 Wissensexplosion 476 Wissensrepräsentation 11, 13, 16 – assoziationistischer Ansatz 243–246 – Festigung der Erinnerung und 261 – Konnektionismus und 261–264 – neurokognitive Überlegungen 257–261 – propositionale 252, 253, 256, 257 – semantische Organisation 243 – semantisches Gedächtnis und 246–257 Wissensstruktur 176, 177, 370, 371 Wörter, Abruf 165 Worterkennung 325, 332, 335–337 Wygotski, Lew 354
Z Zeichenkette, zeitliche 256 Zellkörper 38 Zentralnervensystem 68 – Gehirn (s. auch Gehirn) 41, 44, 46 Zeuge, Glaubwürdigkeit 207, 208 Zwillingsstudien 361, 362
537 Quellenverzeichnis
Quellenverzeichnis Innenseite des Umschlags (links unten): Abruf aus dem episodischen und semantischen Gedächtnis. Mit freundlicher Genehmigung von F.I.M. Craik und Shitij Kapur vom PET Center und vom Rotman Research Institute an der Universität von Toronto. Seite 3: Zeichnung von Stevenson; © 1976 The New Yorker Magazine Inc. Nachgedruckt mit Genehmigung des New Yorker Magazine. Abb. 2.8: Nach Uttal, »Psychobiology of the Mind«, 1978, pp. 479–499. Nachgedruckt mit Genehmigung von Lawrence Erlbaum Assoc.Seite 51: Zeichnungen von Tom Tomorrow. From This Modern World, © Tom Tomorrow. Nachgedruckt mit Genehmigung von Tom Tomorrow, New York, NY. Abb. 2.10: Zeichnungen von Guilbert Gates. Scientific American, 270 (April 1994), p. 63. Nachgedruckt mit Genehmigung von Jared Schneidman Design, Katonah, NY. Abb.2.11: Artikel von Sarah Richardson, © 1997.When Memories Lie. Discover (Januar 1997), p. 50. Nachgedruckt mit Genehmigung von Discover Magazine. Seite 55 (Kasten): EEG-Aufzeichnung,nachgedruckt mit Genehmigung von Alan Gevins und dem EEG Systems Laboratory, San Francisco. Abb. 3.3: M. C. Eschers »Wasserfall«. Nachgedruckt mit Genehmigung der Erben von M. C. Escher, c/o Cordon Art, Baarn, Holland. Abb. 3.10: J. R. Bergen und B. Julesz (1983).Parallel versus serial processing in rapid pattern discrimination. Nature, 303, 696–698. Nachgedruckt mit Genehmigung von Macmillan Magazines Ltd.Abb.4.2: G.W. Lesher und E. Mingolla (1993). The role of edges and line-ends in illusory contour formation, Vision Research, 33, 2253–2270. Nachgedruckt mit Genehmigung von Elsevier Science Ltd, The Boulevard, Langford Lane, Kidlington 0X5 1GB, Großbritannien. Abb.4.7: Twelve perspective views of a horse. Aus S. E. Palmer, E. Rosch und P. Chase (1981). Canonical perspective and the perception of objects. In J. Long und A. Baddeley (Eds.),Attention and Performance, ix, 135–151. Lawrence Erlbaum Associates, Inc. Nachgedruckt mit Genehmigung von Sylvan Kornblum, Mental Health Department, University of Michigan. Abb. 4.9: I. Biederman (1990). Higher-level vision. In E. N. Osherson,J.M.Kosslyn und J.M.Hollerbach (Eds.).An invitation to cognitive science, Vol. 2, pp. 41–72. MIT Press. Mit Genehmigung nachgedruckt. Abb. 4.10: Nach I. Biederman (1985). Human image understanding: Recent research and a theory.Computer Vision,Graphics,and Image Graphics Processing,32,29–73,© 1985 Academic Press.Mit Genehmigung nachgedruckt. Abb. 4.13: D. H. Hubel und T. N. Wiesel (1963). Responses of a cell in the cortex of a very young kitten. Nachgedruckt mit Genehmigung der
American Physiological Society. Abb. 4.14: A. L. Yarbus (1967). Records of eye movements. Eye Movements and Vision.Nachgedruckt mit Genehmigung von Plenum Publishing Corporation. Seiten 158–160: Cartoons von Scott Johnson, Edell Graphics. Abb. 5.5: D. L. Schacter (1989). On the relationship between memory and consciousness; dissociable interaction and conscious experience. In H. L. Roediger III. und F. I. M. Craik (Eds.), Varieties of Memory and Consciousness: Essays in Honor of Endel Tulving, pp. 355–389. Lawrence Erlbaum Associates, Inc. Nachgedruckt mit Genehmigung des Autors. Abb. 5.6: B. J. Baars (1997). The Global Workspace Theory. In the Theater of Consciousness: The Workspace of the Mind. Copyright © 1997 Oxford University Press, Inc. Nachgedruckt mit Genehmigung von Oxford University Press, Inc. und des Autors. Seite 197 (Kasten): Artikel von Robert F. Service, nachgedruckt mit Genehmigung von Science, 260 (25 Juni 1993), p. 1876. © 1993 American Association for the Advancement of Science. Abb. 8.10: Nach S. Kapur, F. I. M. Craik, E. Tulving et al. (1994). Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 9, pp. 2012–2015. Nachgedruckt mit Genehmigung der National Academy of Sciences.Abb. 8.13: Aus J. L. McClelland (1981). Retrieving general and specific knowledge from stored knowledge of specifics. Proceedings of the Third Annual Conference of the Cognitive Science Society, Berkeley, CA. Copyright © 1981 by J.L.McClelland.Mit Genehmigung nachgedruckt.Abb.9.1: Nach G. H. Bower et al. (1969), Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 8, 323–43. Mit Genehmigung nachgedruckt. Seite 245 (Kasten): Exzerpt von A. P. Shimamura (1996). »Unraveling the Mystery of the Frontal Lobes: Explorations in Cognitive Neuroscience«. Psychological Science Agenda (September–Oktober 1996). Copyright 1996 American Psychological Association. Nachgedruckt mit Genehmigung der American Psychological Association and des Autors. Abb.9.3: Nach A. M. Collins und M. R. Quillian (1969), Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 8, 240–47. Mit Genehmigung nachgedruckt. Tabelle 9.3, Abb. 9.5 und 9.6: Aus J. R. Anderson (1983). The architecture of cognition.Harvard University Press.Nachgedruckt mit Genehmigung des Autors. Abb. 9.7: L. R. Squire et al.(1990).Cold Spring Harbor Symp.Quart.Biol., 55.Auch in Mosaic (National Science Foundation,Sommer 1988), p. 252. Nachgedruckt mit Genehmigung des Autors. Abb. 9.9: Verändert nach J. L. McClelland, wie von W. Schneider (1987) empfohlen. Verwendet mit Genehmigung des Autors. Abb. 10.8, 10.9 und 10.10: M. J. Farah et al. (1988).Cognitive Psychology,20,439–462.Academic Press.
538
Quellenverzeichnis
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Child Psychology, 50, 119–130. Nachgedruckt mit Genehmigung von Academic Press. Abb. 16.4: Zeichnung zum Mustererkennen von Tom Moore (1989).Scientific American (Juli 1989), p. 50. Mit Genehmigung von Tom Moore, Brooklyn, NY. Abb. 16.6: Bild zur Übereinstimmung von Gesichtern nachgedruckt mit Genehmigung von Tomaso Poggio, Brain and Cognitive Science Department, Massachusetts Institute of Technology.Abb.16.8: Zeichnung von Gabor Kiss. Discover (Februar 1988), p. 74. Copyright 1988 Discover Publications. Mit Genehmigung nachgedruckt. Abb. 16.9: Zeichnung von Roberto Osti. Scientific American, 272 (April 1995), p. 67. Nachgedruckt mit Genehmigung von Roberto Osti, Bloomfield, NJ. Abb. 16.10 und 16.11: Fotos von Dan Wagner. Scientific American, 272 (April 1995), 65–67. Nachgedruckt mit Genehmigung von Dan Wagner, New York, NY.