Killy Literaturlexikon Band 5: Har – Hug
Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann
Walter de Gruyter
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Killy Literaturlexikon Band 5: Har – Hug
Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann
Walter de Gruyter
Killy Literaturlexikon
Band 5
Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 5 Har – Hug
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 31. März 2009
1 Gedruckt auf säurefreiem Papier, *
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-021391-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten für die 2. Auflage 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Philip Ajouri Robert J. Alexander Stefan Alker Thomas Anz Carmen Asshoff Achim Aurnhammer Michael Auwers Hans Jürgen Bachorski Karlheinz Barck Johannes Barth Michael Bauer Stefan Bauer Birgit Baum Günter Baumann Sabina Becker Manfred Behn-Liebherz Michael Behnen Maria Behre Sven Behrisch Jill Bepler Roland Berbig Urte von Berg Eckhard Bernstein Barbara Beßlich Dietrich Blaufuß Hartmut Bleumer Herbert Blume Reinhard Bodenmann Bernhard Böschenstein Dorothea Bolte Urszula Bonter Alexander von Bormann Michael Braun Adrian Braunbehrens Dieter Breuer Horst Brunner Sabine Buck Stephen Buckwalter Marianne Büning Hans Peter Buohler Volker Busch Thomas Combrink Gion Condrau
Karl Corino Christoph Cormeau Ralf Georg Czapla Birgit Dahlke Birgit Dankert Annette Decken Klaus Deppermann Heinrich Detering Marcel Diel Peter Diemer Burckhard Dücker Klaus Düwel Helmut Eckelmann Antonia Egel Hans Heinrich Eggebrecht Jürgen Egyptien Heidrun Ehrke-Rotermund Robert Matthias Erdbeer Richard Faber Christoph Fasbender Jörg-Ulrich Fechner Edith Feistner Cornelia Fischer Ernst Fischer Helmar Harald Fischer Peter Fischer Thorsten Fitzon Jutta Freund Christophe Fricker Jochen Fried Hans-Edwin Friedrich Maria Frisé Hans Fromm Frank Fürbeth Adolf Gaisbauer Klaus Garber Sabine Geese Guillaume van Gemert Gudrun Gleba Hans-Jürgen Goertz Dirk Göttsche Bernd Goldmann Günther Gottschalk
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Dagmar Gottschall Walter Grab Martin Grill Klaus Grubmüller Reinhard Gruhl Julei M. Habisreutinger Ralph Häfner Wilhelm Haefs Claudia Händl Lutz Hagestedt Andrea Hahn Angelika Haller-Wolf Marlies Hamm Rainer Hank Volkmar Hansen Anneli Hartmann Heiko Hartmann Monika Heffels Horst Heidtmann Ingrid Heinrich-Jost Joachim Heinzle Ernst Hellgardt Wolfhart Henckmann Gabriele Henkel Nikolaus Henkel Christine Henschel Klaus Hensel Peter Heßelmann Walter Hettche Magdalene Heuser Winfried Hönes Stefan Höppner Jochen Hörisch Heinz Holeczek Detlef Holland Otto Holzapfel Christoph Huber Klaus W. Hübner Adrian Hummel Christine Hummel Dietrich Huschenbett Bernhard Iglhaut Wilfried Ihrig Jürgen Jacobs Andrea Jäger Bruno Jahn Harald Jakobs Gerhard Jaschke Herbert Jaumann Ulrich Joost Renate Jürgensen Matthias Jung Werner Jung H. Wolf Käfer
Elke Kasper Klaus Kastberger Ursula von Keitz Werner Keller Karina Kellermann Florian Kessler Hanjo Kesting Uwe-K. Ketelsen Friedrich Kienecker Christian Kiening Dieter Kimpel Tom Kindt Dorothea Klein Jacob Klingner Kathrin Klohs Arnulf Knafl Markus Knecht Manfred Knedlik Reinhard Knodt Marion Kobelt-Groch Hans-Albrecht Koch Astrid Köhler Gerd Koenemann Peter König Ulrich Köpf Norbert Kössinger Jörg-Dieter Kogel Henk J. Koning Gisela Kornrumpf Fritz Krafft Franziska Kraft Thomas Kramer Annelen Kranefuss Hannes Krauss Wynfrid Kriegleder Dorit Krusche Wilhelm Kühlmann Walther Kummerow Gerhard Kurz Matthias Kußmann Lothar van Laak Peter Langemeyer Corinna Laude Norbert Leser Pia-Elisabeth Leuschner Ulrike Leuschner Virginia L. Lewis Sandra Linden Joachim Linder Charles Linsmayer Tim Lörke Dieter Lohmeier Otto Lorenz Sabine Lorenz
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VII Günther Lottes Raffaele Louis Matthias Luserke-Jaqui Cornelia Lutz Ulrich Maché Bettina Mähler Carolin Maikler Eberhard Mannack John Margetts Lea Marquart Hanspeter Marti Dieter Martin Matías Martínez Arno Matschiner Gert Mattenklott Wolfram Mauser Beat Mazenauer Albert Meier Christel Meier-Staubach Ute Mennecke-Haustein Hans J. Mercker Erika A. Metzger Dietrich Meyer Wolfgang F. Michael Alain Michel Zygmunt Mielczarek York-Gothart Mix Paul Mog Claas Morgenroth Elfriede Moser-Rath Angelika Müller Dominik Müller Michael Müller Wolf-Dieter Müller-Jahncke Gunnar Müller-Waldeck Birgit Nehren Wolfgang Neuber Bernd Neumann Michael Neumann Markus Neuschäfer Herbert Ohrlinger Walter Olma John Osborne Bernadette Ott Norbert H. Ott Johannes G. Pankau Michael Pantenius Walter Pape Ole Petras Helmut F. Pfanner Jens Pfeiffer Kristina Pfoser-Schewig Thomas Pittrof Jörg Platiel
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Otto Pöggeler Hans Pörnbacher Fedor B. Poljakov Bernd Prätorius Wolfgang Proß Fidel Rädle Thomas Raff Jürgen Rathje Walter Raunig Martin Rector Philipp Redl Friederike Reents Jörn Reichel Marc Reichwein Pia Reinacher Hartmut Reinhardt Heimo Reinitzer Nicolai Riedel Oliver Riedel Wolfgang Riedel Gerda Riedl Walter Riethmüller Bernd Roeck Werner Röcke Eberhard Rohse Ulrich Rose Karin Rother Martin Rothkegel Walter Ruprechter Johannes Sachslehner Eda Sagarra Gerhard Sauder Richard Erich Schade Walter E. Schäfer Hans-Georg Schede Michael Scheffel Irmgard Scheitler Carola Schelle-Wolff Walter Scherf Michael Schilling Marion Schmaus Christine Schmidjell Christoph Schmitt-Maaß Walter Schmitz Barbara Schnetzler Annette Schöneck Detlev Schöttker Sabine Schmolinsky Jürgen Schramke Hermann Schreiber Klaus P. Schreiner Alexander Schüller Marco Schüller Uwe Schütte
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Gerhard Schulz Johannes Schulz Eckhard Schumacher Thomas B. Schumann Hans-Rüdiger Schwab Leonore Schwartz Christian Schwarz Volker Scior Reimund B. Sdzuj Wolfgang Seibel Robert Seidel Rolf Selbmann Eva-Maria Seng Hania Siebenpfeiffer Christoph Siegrist Lea Sienknecht Friedhelm Sikora Kai Sina Kristine von Soden Erich Franz Sommer Kristian Sotriffer Stephan Speicher Björn Spiekermann Carlos Spoerhase Josef Stallmach Georg Steer Guido Stefani Thomas Steiert Johann Anselm Steiger Robert Steinborn Hartmut Steinecke Sibylle von Steinsdorff Mary E. Stewart Andrea Stoll Erich W. Streissler Daniela Strigl Gerhard Stumpf Jan Süselbeck Anette Syndikus Thomas Taterka Christian Teissl Joachim Telle Reinhard Tenberg Ulrich Thoemmes
Michael Töteberg Erich Tremmel Eugen Turnherr Axel Vieregg Reinhard Vogelsang Friedrich Vollhardt Gisela Vollmann-Profe Hartmut Vollmer Karin Vorderstemann Torsten Voß Harry Vredeveld Hans Wagener Bernhard Walcher Stephanie Waldow Astrid Wallner Andreas Weber Ernst Weber Walter Weber Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Godela Weiss-Sussex Irmgard Weth Ursula Weyrer Joachim Whaley Heiner Widdig Mechthild Widdig Stefan Wieczorek Peter Wiesinger Ulla Williams Werner Williams-Krapp Michaela Wirtz Karl Heinz Witte Heinz Wittenbrink Theresia Wittenbrink Reinhard Wittmann Winfried Woesler Jean-Claude Wolf Jürgen Wolf Elisabeth Wunderle Helmut Zedelmaier Rosmarie Zeller Christian von Zimmermann Lutz Zimmermann Marek Zybura
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Inhaltsübersicht Har Hei Hen Hey Hoe
1 140 260 391 478
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Harbeck, Hans, * 25.12.1887 Eckernförde, † 18.5.1968 Hamburg; Grabstätte: ebd., Ohlsdorfer Friedhof. – Lyriker, Essayist. H. studierte ab 1906 Philosophie u. Kunstgeschichte in Göttingen, München, Kiel u. promovierte über den Maler Melchior Lorichs. 1917 begann er expressionistische Lyrik zu schreiben; 1918 wurde er Dramaturg u. Schauspieler an den Hamburger Kammerspielen. Seit 1922 lebte er als freier Schriftsteller. Er schrieb v. a. über humoristische u. lokale Themen, oft mit Anklängen an Morgenstern u. Ringelnatz, mit dem er befreundet war, u. trat als Kabarettist u. Conférencier auf. 1935–1944 hatte H. Arbeitsverbot u. wurde 1944/45 in »Schutzhaft« genommen (Verse aus dem Gefängnis. Hbg. 1946). Er gab humoristische Gedichte von Carl Wolff (Niederschläge. Lpz. 1938) u. Gustav Sack (Gustav Sack. [...]. Wiesb. 1958) heraus. Seine Erinnerungen u. Anekdoten sammelte er in Schauspieler, gezaust und gezeichnet (Düsseld. 1966). H.s Nachlass befindet sich in der Staats- u. Universitätsbibliothek in Hamburg. Weitere Werke: Revolution. Dresden 1919 (L.). – Der Vorhang. Sonette. Hbg. 1920. – Rund um den Hund. Kunterbunte Verse. Hbg. 1921. – Das Buch v. Hamburg. Mchn. 1930. Nachdr. Lpz. 1997. – Glückseliges Flötenspiel. Lpz. 1938 (L.). – Leichtes Gepäck. Anekdoten, Schwänke u. Kuriosa. Hbg. 1947. – Balduin, der Sportler. Wien/Mchn. 1953 (L.). – Herz im Muschelkalk. In memoriam Joachim Ringelnatz. Hbg. 1961. – Hamburg, so wie es war. Hbg. 1966. Literatur: Erich Lüth: Zur Erinnerung an H. H. In: Jb. Freie Akademie der Künste in Hamburg. Hbg. 1968, S. 355–357. – Paul Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. Expressionismus. Stgt. 1985, S. 185–187 (Bibliogr.). Walter Pape / Red.
Harbou, Thea (Gabriele) von, * 27.12.1888 Tauperlitz bei Hof/Saale, † 1.7.1954 Berlin. – Unterhaltungsschriftstellerin u. Drehbuchautorin. Nach dem Besuch des Luisenstifts in Lößnitz bei Dresden debütierte H., Tochter eines Forstmeisters u. Landwirts, 1906 als Schauspielerin in Düsseldorf. Es folgten Engagements in Weimar, Chemnitz u. Aachen, wo sie
Harbou
ihren ersten Mann, den Regisseur u. Schauspieler Rudolf Klein-Rogge, kennen lernte. Mit ihm ging sie 1917 nach Berlin u. verfasste für die Joe-May-Film-GmbH Drehbücher. Während dieser Zeit begegnete sie dem Autor u. Regisseur Fritz Lang, den sie in zweiter Ehe 1920 heiratete. Für seine zwischen 1920 u. 1932 gedrehten Filme schrieb H. die Drehbücher, z.T. nach ihren eigenen Romanen. Höhepunkte der gemeinsamen Arbeit bildeten Dr. Mabuse, der Spieler (1921/ 22), Die Nibelungen (1922–24), Metropolis (1925/26. Ffm. 1984), M (1931) sowie Das Testament des Dr. Mabuse (1932), die alle großen Erfolg hatten. Als Fritz Lang 1933 emigrierte, blieb H., seit 1932 Mitgl. der NSDAP, in Deutschland u. stieg zur anerkannten Filmgröße im »Dritten Reich« auf. Ihre schriftstellerische Karriere begann H. mit vaterländ. u. nationalistischen Propagandabüchern. Die frühen Bestsellererfolge wie die Novellensammlung Der Krieg und die Frauen (Stgt./Bln. 1913) u. das Pamphlet Die deutsche Frau im Weltkrieg (Lpz. 1916) trugen offen chauvinistische u. kriegsverherrlichende Züge. Die späteren abenteuerl. Unterhaltungsromane u. im Stil der »Gartenlaube« abgefassten Frauenromane kamen nicht über das Kolportageniveau hinaus. Während H. nach dem Krieg mit Drehbüchern für Kassenschlager wie Dr. Holl (1950/ 51) an den Erfolg der Zeit zwischen 1933 u. 1945 wieder anknüpfen konnte, blieb ihr der Erfolg als literar. Autorin versagt. Literatur: Alfred Eibel (Hg.): Fritz Lang. Paris 1964. – Lotte H. Eisner: Friedrich Wilhelm Murnau. Paris 1964. – Peter W. Jansen u. Wolfram Schütte (Hg.): Fritz Lang. Mchn. 1976. – Reinhold Keiner: T. v. H. u. der dt. Film bis 1933. Hildesh. u. a. 1984. – Michael Töteberg: T. v. H. In: CineGraph. – Karin Bruns: Kinomythen 1920–1945. Die Filmentwürfe der T. v. H. Stgt./Weimar 1995. – Ernst Gortner: Schattenmund. Die kinematograph. Visionen der T. G. v. H. In: Visionäre aus Franken. Sechs phantast. Biogr.n. Hg. Bernd Flessner. Neustadt an der Aisch 2000, S. 65–99. – Anna Maria Sigmund: T. v. H. Die Königin der NS-Drehbücher. 27. Dezember 1888 – 2. Juli 1954. In: Dies.: Die Frauen der Nazis. Die drei Bestseller vollständig aktualisiert in einem Band. Mchn. 2005, S. 865–924. – K. Bruns: Talking Film. Writing Skills and Film Aesthetics in the Work of T. v. H. In:
Hardegger Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic. Hg. Christiane Schönfeld u. Carmel Finnan. Würzb. 2006, S. 139–152. Jörg-Dieter Kogel / Red.
Hardegger. – Oberdeutscher Sangspruchdichter aus dem zweiten Viertel des 13. Jh.
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Die moraldidaktischen Sprüche äußern sich unter anderem zum Tugendadel u. zur Einheit aller Tugenden, zur Habgier quer durch alle Stände, zu der Lebensreise u. der Sorglosigkeit des Menschen gegenüber seinem Ende sowie zum Recht. Ausgabe: Friedrich H. v. der Hagen: Minnesinger. Lpz. 1838. Neudr. Aalen 1963, Bd. 2, S. 134–137. Literatur: F. H. v. der Hagen, a. a. O., Bd. 4, S. 445–447. – Helmut de Boor: Gesch. der dt. Lit. Bd. 3,1, Mchn. 1962, S. 407–474, passim. – Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973 (Register). – Gisela Kornrumpf u. B. Wachinger: Alment. In: Christoph Cormeau (Hg.): Dt. Lit. im MA. Kontakte u. Perspektiven. Stgt. 1979, S. 356–411, bes. S. 398–400. – G. Kornrumpf: H. In: VL. – RSM 4 (1988), S. 20–23 (Lit.). – Esther Collmann-Weiß: Kleinere Spruchdichter des dreizehnten Jh. Der H., Höllefeuer, Der Litschauer, Singauf, Der Unverzagte. Stgt. 2005. Christoph Huber / Red.
Als Œuvre des H. verzeichnet die Große Heidelberger Liederhandschrift 15 Spruchstrophen. Datierbar ist die prostaufische Propagandastrophe 1,9: Der Sänger bittet Maria um Beistand für den König (Heinrich VII.), dem der Kaiser (Friedrich II., der den aufständ. Sohn 1235 absetzte) verzeihen möge; weiter empfiehlt er die Wahl Konrads (IV.) zum neuen König (betrieben seit Jan. 1237). Der Autor, sprachlich als Oberdeutscher erkennbar, ist wohl mit dem St. Galler Ministerialen Heinrich von Hardegge (urkundlich 1227–1275) identisch u. gehört also nicht zum Stand der Fahrenden; dafür spricht auch das Fehlen einschlägiger Themen in seinen Hardekopf, Ferdinand (Wilhelm Emil), Sprüchen. Ein Netz literar. Bezüge (Überlie- auch: Stefan Wronski, * 15.12.1876 Varel/ ferung, Form, Themen, Polemiken) verbindet Oldenburg, † 24.3.1954 Zürich. – Lyriker, ihn mit Sängern wie Ulrich von Singenberg Feuilletonist, Übersetzer. (ebenfalls St. Galler Ministeriale), dem von Wengen, dem Schulmeister von Esslingen u. Der Sohn eines Kaufmanns aus dem Oldenburgischen versuchte sich sein Studium der anderen. Der erste Ton des Œuvre wird auch von Philologie in Leipzig u. Berlin als amtl. SteZeitgenossen u. Späteren benutzt u. trägt in nograf, u. a. beim Reichstag, zu verdienen. der Tradition den Namen »Stolles Alment«. Innerhalb der Berliner Boheme des »Café des Die Strophe im III. Ton entspricht wohl Westens«, der Bars u. Cabarets spielte er Wengen III., die im IV. Ton dem »Wiener schon bald eine führende Rolle. 1899 begann Hofton« Walthers von der Vogelweide. Dies H., Theater- u. Literaturkritiken zu schreiweist auf einen Usus der Tonentlehnung in ben. Wichtigen Zeitschriften wie der »JuSpruchdichtung u. Meistersang voraus, der gend« u. der »Aktion« lieferte er Gedichte u. sich erst seit der Mitte des 14. Jh. durchsetzt kurze Prosastücke. Es entstanden seine einzige Gedichtsammlung, Der Abend (Lpz. (Kornrumpf/Wachinger). 1913), Lesestücke (Bln.-Wilmersdorf 1916. In: Die Sprüche behandeln Geistliches (z.B. die Franz Pfemfert, Hg.: Aktions-Bücher der Wiedergutmachung nach der Sündenvergebung). Drei Strophen greifen in die von Aeternisten) u. Privatgedichte (Mchn. 1921). H. war Einzelgänger. Von jüngeren Poeten Walther von der Vogelweide angestoßene wurde er als Vorläufer des Expressionismus Diskussion um die personifizierte Frau Welt gefeiert, doch er stand nur zeitweise den Exein: Neben zwei Scheltsprüchen ist v. a. die Welt-Verteidigung bemerkenswert, die später pressionisten u. auch den Dadaisten nahe; in von Friedrich von Sonnenburg aufgenommen Zürich trat er wiederholt bei Dada-Soireen wurde u. einen Konzeptwandel der »werlt« auf. Seine literar. u. journalistischen Texte zeivom sündigen zum wertneutralen Prinzip gen ihn als den Anti-Bürger, den Impressioanbahnte. nisten im Geist des Jugendstils u. den Dichter der Großstadt, in dessen Versen, Szenen u.
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Kommentaren sich Realität, Fantasie u. Vision, Satire u. Groteske mischen. Aus Abscheu vor dem dt. Militarismus ging H. 1916 in die Schweiz u., nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin (1921), nach Frankreich. Als die dt. Truppen einmarschierten, wurde er verhaftet. Er kehrte 1946 in die Schweiz zurück, wo er im Elend lebte, angewiesen auf die Hilfe von Freunden u. unfähig zu schreiben. Schon früh hatte sich H. einen Namen als Übersetzer aus dem Französischen gemacht, hatte u. a. Gide, Zola, Stendhal, Ramuz nach Deutschland gebracht. Diesen Ruf konnte er sich bewahren, als Dichter geriet er bald in Vergessenheit. Weitere Werke: Ges. Dichtungen. Hg. Emmy Moor-Wittenbach. Zürich 1963. – Berlin 1907–1909. Theaterkritiken aus der ›Schaubühne‹. Hg. Arne Drews. Hann. 1997. – Wir Gespenster. Dichtungen. Hg. u. mit einem Nachw. v. Wilfried F. Schoeller. Zürich/Hbg. 2004. Literatur: Ludwig Rubiner: Das Paradies der Verzweiflung. In: Die weißen Blätter 3 (1916), S. 97–107. – Emmy Moor-Wittenbach: F. H. Ein Lebensbericht. In: F. H. Ges. Dichtungen. Zürich 1963. – Richard Sheppard: F. H. u. Dada. In: JbDSG 20 (1976), S. 132–161. – Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter. Weinheim/Basel 1977, S. 202–205. – Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 108–112. – Ingrid Heinrich-Jost: Was ihr höhnt, ist unser maßloser Stolz. In: F. H. Dichtungen. Zürich 1989. – Franco Buono: F. H. Il fantasma dell’avanguardia. Bari 1996. – Hélène Roussel: F. H.s Standort zwischen Frankreich u. Dtschld. Seine Rolle als Vermittler zwischen frz. u. dt. Kultur u. als Gedächtnis des Exils. In: Dies. u. Lutz Winckler (Hg.): Rechts u. links der Seine. Tüb. 2002, S. 159–182. – Stefan Buck: F. H. Dichter zwischen Décadence u. Futurismus. In: Hans-Günther Schwarz u. a. (Hg.): Fenster zur Welt. Mchn. 2004, S. 307–328. Ingrid Heinrich-Jost † / Red.
Harden, Maximilian, auch: Apostata, Kent, eigentl.: M. Felix Ernst Witkowski, * 20.10.1861 Berlin, † 30.10.1927 Montana-Vermala/Schweiz. – Theaterkritiker, Essayist u. Publizist. Der Sohn eines jüd. Seidenhändlers poln. Abstammung verließ 14-jährig Elternhaus u.
Harden
Schule, wurde Wanderschauspieler u. schrieb von 1888 an für dt. u. ausländ. Zeitungen, u. a. für das »Berliner Tageblatt« u. unter dem Pseud. Apostata in der »Gegenwart«. 1881 konvertierte H. zum Protestantismus. 1892 gründete er seine eigene politisch-literar. Wochenzeitschrift »Die Zukunft«, deren Herausgeber u. Hauptautor er bis 1922 war (Microfiches Bln. 2004 f.). Die »Zukunft« entwickelte sich rasch zu einer der einflussreichsten Zeitschriften des wilhelmin. Deutschland. Die Bedeutung u. umstrittene Stellung, die H. noch in der Weimarer Republik innehatte, kennzeichnen zwei Nachrufe: Kurt Tucholsky erkannte, dass mit H. »ein Typus dahingegangen« sei, »der für die nächsten fünfzig Jahre kaum wiederkehren« werde; Joseph Goebbels schrieb am 7.11.1927 im »Angriff«: Das »ist der Typ der jüdischen Literaturbestie [...], wir bedauern am Tode dieses Mannes nur, daß er uns die Möglichkeit genommen hat, auf unsere Art mit Witkowski abzurechnen«. Diese Art der Abrechnung hatten bereits am 3.7.1922 völk. Attentäter versucht, die H. so schwer verletzten, dass er seine aufgrund der Nachkriegswirren u. der beginnenden Inflation in wirtschaftl. Schwierigkeiten geratene »Zukunft« – ihre Abonnentenzahl war von 23.000 (1908) auf knapp 350 gefallen – einstellen u. sich aus dem publizistischen Leben zurückziehen musste. H. starb 1927 an Spätfolgen des Attentats. H.s Aufstieg als Theaterkritiker fällt mit dem Beginn des literar. Naturalismus in Deutschland zusammen. 1889 hatte er den für die Berliner Theaterentwicklung wichtigen Verein »Freie Bühne« mitbegründet; er beteiligte sich an der Errichtung des »Deutschen Theaters« u. beriet Max Reinhardt in allen künstlerischen Belangen; Tolstoj, Dostojewskij, Strindberg, Ibsen u. Maeterlinck hat H. in Deutschland durchgesetzt. Dagegen polemisierte er gegen G. Hauptmann, M. Halbe u. H. Sudermann, da er den konsequenten Naturalismus für eine ästhetisch bühnentechn. Unmöglichkeit hielt. Während H. G. Hauptmann sowohl seinen Sozialismus als später auch seine neuromant. Entwicklung vorwarf, förderte er dessen Bruder Carl Hauptmann nachhaltig. Für den Friedrichs-
Hardenberg
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hagener Dichterkreis war H. von großer Be- Harden anbot u. ein Harden-Lexikon verfasste deutung, weil er die Übersiedlung Strind- (Wiederabdr. in: Literatur und Lüge. Wien bergs nach Friedrichshagen vorantrieb. Die 1929) – erschweren heute das Wiederlesen der Brüder Thomas u. Heinrich Mann profitier- »Zukunft«. Der »Giftmolch aus dem Pfuhl ten ebenfalls von H.s Protektion. In H. Manns der Hölle, Schandfleck an unserem Volk« Romanwerk ist H. mehrfach porträtiert. Mit (Wilhelm II. über H.) u. seine »bis zum Revolutionarismus aufgeklärte konservative« F. Wedekind war H. befreundet. Vom literaturkrit. Essay gelangte H. zur Zeitschrift (Franz Mehring) waren Produkte tages- u. weltpolit. Polemik. Der Anhänger des Wilhelminismus. Bismarcks, der vom gestürzten Reichskanzler Weitere Werke: Lit. u. Theater. Bln. 1896. – nach Friedrichsruh eingeladen wurde, be- Köpfe. 4 Bde., Bln. 1910–24 (Porträts u. Prozesskämpfte dessen Nachfolger Caprivi u. die ber.e). – Krieg u. Friede. 2 Bde., Bln. 1918. – KaiPolitik Wilhelms II., was ihm wiederholt serpanorama. Literar. u. polit. Publizistik. Hg. u. Anklagen wegen Majestätsbeleidigung u. mit einem Nachw. v. Ruth Greuner. Bln. 1983. – Festungshaft eintrug. H. attackierte das Porträts u. Aufsätze. Hg. Ruth Greuner. Lpz. 1990. – Briefe: Bjørnstjerne Bjørnson u. M. H.: Briefw. Hg. »persönliche Regiment« Wilhelms II. u. seiAldo Keel. Ffm. u. a. 1984. – Walter Rathenau u. M. ner Hofkamarilla. Seine sachlich immer un- H.: Briefw. 1897–1920. Hg. Hans Dieter Hellige. angreifbaren Artikel erschwerten dabei re- Heidelb. 1985 (mit einer Studie über Rathenau u. gelmäßig seine Verurteilung. Politisch au- H. im dt. Kaiserreich). – Frank Wedekind, Thomas ßerordentlich folgenreich waren die Aufse- u. Heinrich Mann: Briefw. mit M. H. Hg., komm. hen erregenden Prozesse 1907 gegen H. we- u. mit einem einleitenden Essay v. Ariane Martin. gen Verleumdungen des kaiserl. Freundes Darmst. 1996. Philipp zu Eulenburg. H. hatte den einflussLiteratur: Helmut Rogge: M. H. In: NDB. – reichen Berater des Kaisers der Homosexua- Harry F. Young: M. H. Censor Germaniae. Den lität bezichtigt, um ihn – aus polit. Gründen Haag 1959. – Bernd Uwe Weller: M. H. u. die – aus seiner Stellung zu verdrängen. Diese ›Zukunft‹. Bremen 1970. – Hans Joachim Göbel: Verquickung von Politik u. Sexualität wurde M. H. als polit. Publizist im Ersten Weltkrieg. Ffm. 1977. – Karsten Hecht: Die H.-Prozesse. StrafverGegenstand einer heftigen Fehde zwischen fahren, Öffentlichkeit u. Politik. Mchn. 1997. – H. u. Karl Kraus, der mit seiner »Fackel« von Sabine Armbrecht: Verkannte Liebe. M. H.s Halnun an in Konkurrenz zur »Zukunft« trat u. tung zu Deutschtum u. Judentum. Oldenb. 1999. – in der Fackel (»M. H. Eine Erledigung«) H. Helga Neumann u. Manfred Neumann: M. H. attackierte. In der Daily-Telegraph-Affäre (1861–1927). Ein unerschrockener dt.-jüd. Kritiker forderte H. die Abdankung des Kaisers. u. Publizist. Würzb. 2003. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs teilte H. Nicolai Riedel / Barbara Beßlich zunächst die allg. Kriegsbegeisterung, doch von 1916 an forderte er den sofortigen Frie- Hardenberg, (Georg) Friedrich (Philipp) densschluss, was einen Rückgang der Abon- Frhr. von ! Novalis nentenzahl u. mehrere Verbote der »Zukunft« bewirkte. Die Weimarer Republik beHardenberg, Henriette, eigentl.: Margakämpfte H. noch entschiedener als den Wilrete Rosenberg, verh. Wolfenstein, verh. helminismus, erreichte aber bei weitem nicht Frankenschwerth, auch: Martha von mehr die Wirkung der Vorkriegszeit. ZwiEschstruth, * 5.2.1894 Berlin, † 26.10. schen 1918 u. 1922 vertrat H. utop., radikal1993 London. – Lyrikerin. sozialist. Positionen. Als er kurz vor seinem Tod als Zeuge im Prozess gegen seine Atten- Das Pseud., das die 19-jährige Tochter eines täter deren milde Verurteilung erlebte, angesehenen jüd. Rechtsanwalts in Berlin schwor er mit großer Geste seinem Deutsch- wählte, spielt nur beiläufig auf den Romantum ab. H.s eigenwilliger Stil, seine altertü- tiker Friedrich von Hardenberg, bekannt als melnden Formulierungen, die extreme Novalis, an. H.s Lebenskreis u. der Stil der Wortwahl, das Pathos – bereits von Karl Gedichte u. Prosatexte, die sie 1911–1988 Kraus karikiert, der eine Übersetzung aus dem schrieb, sind vom Expressionismus be-
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stimmt. 1913 erschienen in Pfemferts »Akti- Harder, Agnes (Marie Luise Gabriella), on« als Debüt zwei Gedichte. Das erste be- * 24.3.1864 Königsberg, † 7.2.1939 Berginnt mit der leitmotivischen Zeile: »Wir lin; Grabstätte: Berlin-Wilmersdorf. – werden herrlich aus Wunsch nach Freiheit.« Lehrerin, Journalistin, Prosa- u. JugendMehr als ihrem eigenen Werk hat sie sich buchautorin. zeitlebens dem Werk zahlreicher Künstler des Nach dem Besuch des Lehrerinnenseminars Expressionismus, aber auch dem Rainer Main Elbing 1881–1883 war H., Tochter eines ria Rilkes u. anderer gewidmet. 1916–1930 Gerichtsassessors u. späteren Landgerichtswar H. mit dem Dichter Alfred Wolfenstein präsidenten, einige Jahre im Schuldienst täverheiratet, nach ihrer Flucht aus Berlin nach tig. Danach unternahm sie weite Reisen London mit dem Architekten u. Schriftsteller durch Europa u. den Vorderen Orient, über Kurt Frankenschwerth. die sie in der »Magdeburger Zeitung« be1988 wurde H. durch ihre gesammelten richtete. 1891 begann sie Romane, Novellen, Dichtungen (hg. von Hartmut Vollmer mit Erzählungen u. Jugendbücher zu schreiben. ausführl. biogr. Nachwort. Zürich) wiederSentimentale u. soziale Konflikte vermeientdeckt. Bis dahin war sie nur von Kennern dend, schildert H. ihre ostpreuß. Heimat sogeschätzt, weil sie außer dem Bändchen Neiwie das Frauen-, Familien-, Kleinstadt- u. gungen (Mchn. 1918) immer nur einzelne GeLandleben. Zu den bekanntesten Titeln zähdichte veröffentlichte, in denen sie den lyr. len der Samland-Roman Neue Kinder alter Erde Expressionismus behutsam fortentwickelte: (Gütersloh 1933), der 1939 für seine Darstelfrei von Epigonentum, in Inhalt u. Form lung der Vaterlandsliebe, des ostpreuß. immer wieder überraschend, spontan, lebenKampfgeistes u. der »Urkraft der Scholle« dig, aber auch ohne einen bestimmten eigegelobt wurde, u. das Erinnerungsbuch Die nen, erkennbaren Stil zu entwickeln. Bis zu kleine Stadt. Aus meinen Kindertagen in Ostpreuihrem Tod lebte H. in London unter dem ßen (Königsb. 1927), eine verklärende SchilNamen Margarete Frankenschwerth-Rosenderung des patriarchal. Familienlebens. berg. In ihrer Entstehungszeit u. bis zum Ende Weitere Werke: Südl. Herz. Nachgelassene des Zweiten Weltkriegs fanden H.s Bücher Dichtungen. Hg. Hartmut Vollmer. Zürich 1994. viele Leser. Danach wurden nur noch Literatur: Hartmut Vollmer: Wie ein glückl. Schlumski. Eine Hunde- und Menschengeschichte Bild innen unter sicheren Lidern: Rainer Maria (Gotha 1916. Elbinger Hefte 1957) u. Die Rilke u. H. H. Dokumentation einer Freundschaft. In: Euph. 87 (1993), H. 1, S. 69–89. – Marina Krug: kleine Stadt (Kiel 1988) wiederaufgelegt. Imaginationen im Gedichtzyklus ›Neigungen‹ v. H. H. Freib. i. Br. 1994. – Hartmut Vollmer: H. H. (1894–1993). In: Britta Jürgs (Hg.): Wie eine Nilbraut, die man in die Wellen wirft. Grambin 1998, S. 76–92. – Caroline Rupprecht: Subject to Delusions. Narcissism in Sigmund Freud, H. H., Djuna Barnes and Unica Zürn. Ann Arbor, Mich. 2000. – Caroline Rupprecht: A ›Body‹ of Writing: The Voice of H. H. In: Women in German Yearbook 17 (2001), S. 165–179. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Walther Kummerow † / Red.
Weitere Werke: Engelchen u. Bengelchen. Ein Buch für junge Mädchen u. für junge Mütter. Bln. 1903 (Erziehungsbuch). – Anno dazumal. Dresden 1910 (R). – Das trautste Marjellchen. Gotha 1918 (Jugendbuch). Literatur: Bibliografie: Elisabeth Friedrich: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Stgt. 1981, S. 117. – Weitere Titel: Ostdt. Monatsh.e 5 (1934), 6. Sonderh.: ›Scholle u. Mensch‹, S. 305 f. – Altpr. Biogr. 1. – Gertraude Wilhelm: A. H. In: NDB. Bettina Mähler / Red.
Harder, geb. Lankow, Irma, * 24.12.1915 Polzow bei Pasewalk. – Erzählerin, Romanautorin. Die Tochter eines Gutsstellmachers u. einer Landarbeiterin besuchte eine Dorfschule. Nach 1930 war sie Dienstmädchen u. Land-
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arbeiterin u. heiratete 1937 einen Mittelbauern, der im Krieg fiel. Sie bewirtschaftete ihren Hof in Zerrenthin bis 1955 u. zog schließlich als freie Schriftstellerin nach Potsdam. H.s in der DDR außerordentlich beliebte Romane, Laienspiele – 1946 hatte sie eine Laienspielgruppe gegründet – u. Erzählungen sind Produkte der Heimatliteratur. In der Bauernpredigt und anderen Geschichten (Bln./ DDR 1953) zeichnet sie in schlichten Sätzen ein lebendiges Bild ländl. Atmosphäre, die sich auch Im Haus am Wiesenweg (Bln./DDR 1956. 121990) findet. Im Mittelpunkt des dörfl. Geschehens steht eine Bäuerin, die im Krieg ihren Mann verlor u. nun in ihrer Liebe zu einem aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Stellmacher vor wichtige Entscheidungen gestellt wird. Weitere Werke: Schritt für Schritt. Bln./DDR 1952. – Das schwarze Wunder. Urauff. 1956 (Film). – Das siebte Buch Mose u. a. Gesch.n. Bln./DDR 1958. – Ein unbeschriebenes Blatt. Bln./DDR 1958. – Die Spatzen pfeifen’s schon vom Dach. Bln./DDR 1963. – Verbotener Besuch. Bln./DDR 1968. – Melodien im Wind. Bln./DDR 1971. – Die Nacht auf der Mädcheninsel. Bln. 1974. – Grit im Havelland. Bln. 1977. 61989. – Die Frau vom Ziegelhof. Bln. 1984. 51989. – Damals in Sanssouci u. andere Begebenheiten. Bln. 1990. Literatur: Kurt Metschies: I. H. In: Brandenburg. Biogr. Lexikon. Hg. Friedrich Beck u. Eckart Henning. Potsdam 2002, S. 165 f. – Wolfgang Brose: I. H. In: Ders.: Pasewalker Persönlichkeiten. Pasewalk 2006, S. 47 f. Birgit Baum / Red.
Harder, Konrad, auch: Der Harder. – Liedu. Redendichter des 14. Jh. Zur Person des H. gibt es keine sicheren außerliterar. Zeugnisse. Überlieferung u. Charakter seiner Dichtung erlauben ihre Datierung in die zweite Hälfte des 14. Jh. Der Name erscheint zuerst in der heute verschollenen Neidensteiner Handschrift (1402), von der eine in Wien aufbewahrte Abschrift aus dem 17. Jh. existiert: »Harder von Frankh«; als »meister Conrat Harder« bezeichnet ihn eine Handschrift aus der Mitte des 15. Jh.; mit dem gleichen Vornamen (Kuncz) nennt ihn Konrad Nachtigall in einem Meisterkatalog. Die Sprache der Dichtungen weist nach
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Brandis ins Mitteldeutsche, nach Schanze (1983) eher ins Oberdeutsche bzw. Fränkische; die Überlieferung ist überwiegend oberdeutsch. Dass der H. ein Kleriker ostmitteldt. Herkunft mit sprechendem Berufsnamen (»Hirte«) war (Brandis), wird angezweifelt. Schanze (1983) geht von dem seit Mitte des 14. Jh. in Oberdeutschland belegten Namen K. H. aus u. hält die Identität des H. mit dem gleichnamigen Schwiegervater des Lieddichters Albrecht Lesch für möglich: Danach wäre der H. ein in den 70er Jahren des 14. Jh. bezeugter Bürger Münchens gewesen, der das Bäckerhandwerk ausübte. Schwiegervater u. -sohn lebten im gleichen Haus; Übereinstimmungen in den Tönerepertoires u. Liedtypen des H. u. Leschs legen eine zumindest literar. Verwandtschaft nahe. H. verfasste Reden u. Lieder. In der Minnerede Der Minne Lehen (428 Verse unediert), einem Reimpaargedicht mit regelmäßigem Wechsel stumpfer u. klingender Versschlüsse, nennt er sich am Ende selbst: »das sein des harders red«. Die traditionellen Gattungselemente (Spaziergangseinleitung, Zwergbegegnung, Einführung in den Bereich der Personifikationen, Minnelehre u. Unterredung mit Frau Minne) fügen sich unter dem Thema der Treue zu einer Einheit. Der IchErzähler klagt über die Untreue der Geliebten u. will Frau Minne seinen Fall vortragen. Er wird Zeuge, wie diese Lehen an im Frauen- u. Ritterdienst Bewährte austeilt u. allen, die gegen ihre Gebote verstoßen, also auch den Untreuen, ihren Zorn verkünden lässt. Der Fall des Erzählers wird verhandelt, seine Geliebte streng verurteilt. In der Hoffnung, doch noch erhört zu werden, bittet der Kläger dann um Gnade für die Treulose. Stilistisch anspruchsvoller ist das zweite Reimpaargedicht des H., der Frauenkranz (396 Verse ohne die Nachrede mit der Signatur »Conrat Harder«). Der in sechs Handschriften überlieferte Preis der Jungfrau Maria hebt sich von der Marienpreisdichtung der Zeit durch einen Aufbau ab, der in der Planmäßigkeit der komplizierten symmetr. Zahlenkomposition allenfalls bei Heinrich von Mügeln Entsprechungen findet. Thematisch, sprachlich u. stilistisch – »geblümter Stil« – steht das Gedicht in der Tradition der Golde-
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nen Schmiede Konrads von Würzburg u. des im Œuvre des H. (vgl. Heinrich von Mügeln, Frauenleichs Frauenlobs. Die Wappenschilde- Suchensinn, Hans Folz). Der H. wirkte auf rung stellt es in die Nähe von Wappendich- Muskatblut, Rosenplüt u. Hermann von Sachsenheim. Von seiner Bekanntheit zeugen tungen Suchenwirts. Während die Verfasserschaft des H. für die die z.T. breite Überlieferung u. die Aufnahme beiden Lieder Goldener Schilling (GS) u. Goldener seines Namens in die Meistersingerkataloge. Reien (GR) nicht angezweifelt wird, ist die Ausgaben: Tilo Brandis: Der H. Texte u. Studien Zuschreibung weiterer Lieder problematisch 1. Bln. 1964 (Frauenkranz u. GS). – Eva u. Hans(Brandis erklärt zwei weitere Lieder im Ton jürgen Kiepe (Hg.): Epochen der dt. L. Bd. 2: des GS u. drei Lieder in einem dritten Ton, 1300–1500. Mchn. 1972, S. 142–149 (GS u. GR, mit dem sog. Sanften oder Süßen Ton, für Ei- nhd. Übertragung). Literatur: Brandis, a. a. O. – Ingeborg Glier: gentum des H.). Die breite Überlieferung des GR deutet auf eine gewisse Beliebtheit des Artes amandi. Mchn. 1971, S. 241–243. – Klaus dreistrophigen Lieds hin. Dem vierteiligen Jürgen Seidel: Der Cgm 379 der Bayer. Staatsbibl. u. das ›Augsburger Liederbuch‹ v. 1454. Augsb. Bau der Melodie steht die metr. Dreiteiligkeit 1972, S. 153–176. – Frieder Schanze: K. H. In: VL gegenüber. Von musikal. Fachkenntnis des (mit Hinweisen auf weitere Ausg.n). – Ders.: Dichters zeugt der zu einem Vogelkonzert Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln umgebildete Natureingang. Der hyperbolisch u. Hans Sachs. Bd. 1, Mchn. 1983, S. 261–274 u. gesteigerte Frauenpreis könnte sich, wohl passim. Claudia Händl bewusst doppeldeutig, wie in der Minnelyrik auf die Geliebte oder, wie in der Marienlyrik, Hardt, (Friedrich Wilhelm) Ernst, * 9.5. auf die Gottesmutter beziehen. Die Hand1876 Graudenz/Westpreußen, † 3.1.1947 schriften belegen beide GebrauchsmöglichIchenhausen bei Ulm. – Lyriker, Erzähler, keiten. Der GS, anders als der GR nur in Dramatiker; Theater- u. Rundfunkintenmeisterl. Liedersammlungen überliefert, ist dant. ein stollig gebautes Strophenlied (kein Leich, wie der Schreiber der Kolmarer Liederhand- H. entstammte einer alten preuß. Offiziers- u. schrift vermerkte). Die 13 Strophen kreisen, Beamtenfamilie. Die Ausbildung in einer z.T. in szenisch ausgestalteten Metaphern, Berliner Kadettenanstalt brach er 1892 ab. um das Geheimnis der Menschwerdung. Der Längere Reisen führten ihn u. a. nach GrieH. verwendet dabei Motive der Minnelyrik. chenland, Spanien u. Portugal. Seine ersten Die unterschiedl. Strophenfolge in den schriftstellerischen Versuche standen unter Handschriften erklärt sich aus dem Fehlen dem Einfluss Stefan Georges. Ab 1896 veröfeines verbindenden Fadens in den locker ge- fentlichte er Lyrik u. Prosa im »Simplicissifügten Strophen. Erst der Liedschluss weist mus«, ab 1897 in Georges »Blätter für die explizit auf das Weihnachtsgeschehen hin. Kunst«; 1897–1900 arbeitete H. als FeuilleDieses Weihnachtslied steht Leschs Weih- tonredakteur bei der »Dresdner Zeitung«. nachtslied Goldenes Schloß nahe, das ebenfalls Danach lebte er bis 1907 abwechselnd in die Inkarnation thematisiert. Der GS ist eines Griechenland u. Berlin als freier Schriftsteller der wenigen nichtnarrativen vielstrophigen u. Übersetzer, bes. aus dem Französischen. Lieder des 14. Jh. Sein zweiter Novellenband Bunt ist das Leben Etwa 30 Lieder überliefern die Meisterlie- (Köln 1902) mit der später auch separat verderhandschriften des 15. u. frühen 16. Jh. öffentlichten Novelle An den Toren des Lebens anonym in einem Ton, der als H.s Sanfter (Lpz. 1912) brachte ihm ersten literar. Erfolg. oder Süßer Ton (Kolmarer Liederhandschrift: Zu einem der berühmtesten Schriftsteller der Hofton) bezeichnet wird, wobei im Einzelnen Vorkriegszeit avancierte H. als Dramatiker, noch zu klären bleibt, welche von ihnen dem v. a. mit dem Einakter Ninon von Lenclos (Lpz. H. zugeschrieben werden bzw. auf »echte« 1905) u. mit Tantris der Narr (Lpz. 1907), für H.-Lieder zurückgehen könnten. das er 1908 den halben Staats- u. gleichzeitig Außergewöhnlich für die Zeit ist das Ne- den Volks-Schillerpreis erhielt. Seit 1907 beneinander von Lied- u. Reimpaardichtung lebte H. in Weimar, wo er zum Mittelpunkt
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eines Künstlerzirkels wurde. Vom Ersten größter Bühnenerfolg, Tantris der Narr Weltkrieg an wandte er sich kulturpolit. Ak- (Urauff. Köln 1908), behandelt einen in der tivitäten zu. Mit seinem Brief an einen Deut- höf. Überlieferung ausgesparten Teil des schen ins Feld (Lpz. 1917) beteiligte er sich an Tristanstoffs. Als Theater- u. bes. als Rundfunkintendant der patriotischen Kriegsbegeisterung. 1919–1924 war H. Generalintendant des zeigte H. sich jedoch avantgardistischen Deutschen Nationaltheaters in Weimar. Seine Theaterformen gegenüber aufgeschlossen. Er anschließende Intendanz am Kölner Schau- inszenierte mehrere Stücke Brechts, u. a. für spielhaus scheiterte an öffentl. Kritik. 1926 die Baden-Badener Musiktage von 1929 das wurde er zum Künstlerischen Leiter der Hörspiel Lindberghflug. H. förderte v. a. die Westdeutschen Funkstunde Köln berufen. Entwicklung des literar., auf Wort u. Stimme Mit Klassikerinszenierungen u. speziell für konzentrierten Hörspiels. Als dessen beArbeiter bestimmten Programmen versuchte rühmtestes Beispiel gilt H.s Inszenierung von er, kulturelle Bildung u. humanistische Eduard Reinachers Der Narr mit der Hacke Wertvorstellungen an breite Bevölkerungs- (1930). schichten zu vermitteln. Von rechtsgerichteWeitere Werke: Priester des Todes. Bln. 1898 ten Kreisen wurde der für sein liberales Pro- (E.). – Tote Zeit. Bln. 1898 (D.). – Der Kampf ums gramm bekannte H. attackiert. Im Frühjahr Rosenrote. Lpz. 1903 (D.). – Aus den Tagen des 1933 erhielt er seine Kündigung; eine An- Knaben. Lpz. 1904 (L.). – Gudrun. Lpz. 1911 (D.). – klage gegen ihn im nationalsozialistischen Schirin u. Gertraude. Lpz. 1913 (D.). – König SaloRundfunkprozess wurde niedergeschlagen. mo. Lpz. 1915 (D.). Literatur: Gerhard Hay: Bertolt Brechts u. E. 1935–1943 verbrachte H. unter schweren wirtschaftl. Bedingungen in Berlin. Trotz H.s gemeinsame Rundfunkarbeit. In: JbDSG 12 (1968), S. 112–131. – Wolf Bierbach: Versuch über Mitgliedschaft in der ReichsschrifttumskamE. H. In: Walter Först (Hg.): Aus Köln in die Welt. mer blieben seine Bücher verboten. Ab 1943 Beiträge zur Rundfunk-Gesch. Köln 1974. – Werlebte er zurückgezogen in Ichenhausen. Eine ner Schulze-Reimpell: E. H. Dichter auf dem InWiederaufnahme seiner Rundfunktätigkeit tendantenstuhl. Köln 1976. – Karl H. Karst: ›Genach dem Krieg wurde durch Krankheit ver- räusch dich – oder ich fress dich‹. E. H. die Hörhindert. Mit der Novelle Don Hjalmar (Wiesb. bühne u. das Hörspiel. SWF 1984 (Sendemanu1946) konnte H. kurz vor seinem Tod noch- skript). – Susanne Schüssler: E. H. Eine monomals an seine früheren literar. Erfolge an- graph. Studie. Ffm. u. a. 1994. – Jaewon Song: Die Bühnenwerke E. H.s u. das neue Drama in der dt. knüpfen. In H.s ersten Erzählungen werden in sym- Lit. um 1900. Eine Studie über dramat. Neuerungsversuche zwischen Kunstanspruch u. Publibolistischen, häufig klischeehaften Bildern kumserwartung. Ffm. u. a. 2000. Einsamkeit, Todessehnsucht u. Liebesrausch Theresia Wittenbrink / Red. als existenzielle Erfahrungen beschworen u. den bürgerl. Konventionen entgegengesetzt. Das Alterswerk Don Hjalmar konkretisiert das Hardt, Hermann von der, * 15.11.1660 Motiv des gesellschaftl. Außenseiters in Form Melle, † 28.2.1746 Helmstedt. – Theoloeines realistischen Lebensberichts. In der Tige, Bibelwissenschaftler, Orientalist, Bitelfigur des Wikingers Hjalmar, der im bliothekar. Sehnsuchtsland Andalusien Erfüllung u. Tod findet, gestaltet H. die Dialektik von kreatürl. H.s Vater stammte aus den span. NiederlanLebenskampf u. philosophischer Gottsuche. den, aus denen er nach Deutschland geDie Dramen H.s sind in ihrem lyr. Sprach- flüchtet war. Nach dem Besuch des Gymnaduktus u. einer psychologisierenden Stim- siums in Herford, Osnabrück, Bielefeld u. mungszeichnung den frühen Dramen Hugo Coburg nahm H. das Studium bei dem Privon Hofmannsthals verwandt. Wegen ihrer vatgelehrten Esdras Edzardi auf. In Jena zeitfernen Thematik u. schwülstigen Meta- wurde er 1683 zum Magister promoviert. phorik gerieten sie als Zeugnisse des neo- Nach einer weiteren Magisterpromotion in romant. Theaters bald in Vergessenheit. H.s Leipzig hielt er ab 1686 Vorlesungen über das
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klassische u. das oriental. Altertum. Als Mitgl. des pietistischen »Collegium philobiblicum« lernte er August Hermann Francke kennen u. schätzen; 1687 hielt er sich bei Philipp Jacob Spener in Dresden auf. Eine Reise, die er mit Francke zu dem Lüneburger Superintendenten Caspar Hermann Sandhagen unternahm, brachte ihm die Bekanntschaft mit dem pietistisch gesinnten Herzog Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel († 1704) ein, der ihn 1688 zum geheimen Sekretär sowie zum Bibliothekar seiner Privatbibliotheken in Braunschweig u. Hedwigsburg ernannte. Auf sein Betreiben wurde er zum Wintersemester 1690 zum o. Prof. der oriental. Sprachen an der reformfreudigen Universität Helmstedt berufen, an der bereits Gelehrte wie Johann Andreas Schmid u. Johannes Fabricius wirkten. 1699 wurde er zusätzlich Propst des Klosters Marienberg. In seiner Eigenschaft als Unterbibliothekar der Universitätsbibliothek leitete er seit 1702 maßgeblich die Bestandserweiterung u. -erschließung. Nach seiner Abkehr vom Pietismus entwickelte er eine bemerkenswert originelle Bibelexegese, in die traditionelle allegor. Bedeutungsmuster ebenso einflossen wie sprachgeschichtl. Analysen u. Auslegungen im Kontext des histor. u. archäolog. Befunds. In der Tradition der Bibelexegese eines Sébastien Castellion u. Baruch de Spinoza sowie aufgrund einer erweiterten Kenntnis der oriental. Sprachen u. Kulturen (John Selden, Edward Pocock, Athanasius Kircher, Samuel Bochart, Jean de Thevenot, Thomas Erpenius, Johannes Leusden u. a.) wurden die orientalistischen Studien zum wichtigsten Werkzeug eines historisch-krit. Verständnisses der Bibel. H.’ Aufschluss der Text- u. Sachgeschichte der Bibel rief indes derart massiven Widerspruch hervor, dass ihn das Universitätskuratorium 1712 mit einem Vorlesungsverbot belegte u. dieses im folgenden Jahr erneuerte. Noch vor seiner Versetzung in den Ruhestand wurde er 1727 aller akadem. Verpflichtungen entbunden. H.s exzentr. Auftritte sind oft geschildert worden. Die Feier des 200. Todestages Johannes Reuchlins 1722 hatte annähernd den Charakter einer Geisterbeschwörung. Als man ihm die Publikation seiner Bibelausle-
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gungen verbot, verbrannte er die acht Foliobände des Manuskripts u. sandte die Asche als Zeichen der Demut an den Hof. 1723 publizierte er Aenigmata prisci orbis, deren Verbreitung unverzüglich verboten wurde. Bei diesem Werk – zum überwiegenden Teil auf deutsch geschrieben – handelt es sich um eine komplexe Komposition von allegorisch-histor. Auslegungen des Pentateuch, der Propheten, der johanneischen Apokalypse usw., die einzeln bereits zuvor im Druck erschienen waren. H. hob damit die orientalistischen Studien in Deutschland auf ein bemerkenswert hohes Niveau, vergleichbar mit den Forschungen seiner Zeitgenossen Bartholomé d’Herbelot, John Lightfoot, Adriaan Reland, Augustin Calmet u. a. Der Band enthält aber auch H.s Bekenntnis zur Freiheit der akadem. Studien, die er in einem Widmungsschreiben an die Landstände zu Braunschweig-Wolfenbüttel mit Nachdruck verteidigte. Während H.’ historisch-krit. Hermeneutik der Bibel umstritten blieb, ist sein Beitrag zur Kenntnis der oriental. Sprachen sowie zur Kirchen- u. zur Reformationsgeschichte günstiger aufgenommen worden. Seine Sprachlehren waren geschätzt u. viel benutzt (Elementa chaldaica. Helmstedt 1693. Brevia atque solida Hebraeae linguae fundamenta. Helmstedt 1694. Syriacae linguae fundamenta. Helmstedt 1694). Seine Quellensammlungen zur Reformation u. zum Konstanzer Konzil gelten als Marksteine der Erforschung der Kirchen- u. Konfessionsgeschichte (Antiqua literarum monumenta, autographa Lutheri aliorumque celebrium virorum, ab anno 1517 ad annum 1546, reformationis aetatem et historiam egregie illustrantia. Braunschw. 1690–93. Magnum oecumenicum Constantiense concilium de universali ecclesiae reformatione, unione, et fide. 6 Bde., Frankfurt/Lpz. 1696–99; Bd. 7, hg. Georg Christian Bohnstedt, Bln. 1742). Literatur: Paul Jacob Bruns: Verdienste der Professoren zu Helmstädt um die Gelehrsamkeit. Ein Fragment. Philologen. Philosophen. Mathematiker. Halle/Bln. 1810, S. 25–33. – A. G. Hoffmann: H. v. d. H. In: Ersch/Gruber. – Ferdinand Lamey: H. v. d. H. in seinen Briefen u. seinen Beziehungen zum Braunschweiger Hofe, zu Spener, Francke u. dem Pietismus. Karlsr. 1891. Neudr. Wiesb. 1974. – Hans Möller: H. v. d. H. als Alttes-
Harich tamentler. Lpz. 1963. – Ralph Häfner: Tempelritus u. Textkomm. H. v. d. H.s ›Morgenröte über die Stad Chebron‹ u. die Eigenart des literaturkrit. Komm. im frühen 18. Jh. In: Scientia poetica 3 (1999), S. 47–71. – R. Häfner: ›Denn wie das buch ist, muß der leser seyn‹. Allegorese u. Mythopoiesis in den Hohen u. hellen Sinnbildern Jonae des Helmstedter Gelehrten H. v. d. H. In: Die europ. Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. Herbert Jaumann. Wiesb. 2001, S. 183–201. Ralph Häfner
Harich, Walther, * 30.1.1888 Mohrungen/ Ostpreußen, † 14.12.1931 Wuthenow/ Ruppiner See. – Prosaist, Literaturwissenschaftler u. -kritiker. Der Sohn eines Druckereibesitzers u. Zeitungsverlegers studierte 1909–1914 Literaturwissenschaft u. Philosophie an den Universitäten Berlin, Königsberg u. schließlich Freiburg i. Br., wo er mit einer Arbeit über E. T. A. Hoffmann. Das Leben eines Künstlers (Bln. 1920) promovierte. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Artillerieoffizier teil. Danach lebte er als freier Schriftsteller in München, Königsberg u. Berlin. H. war ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. 1928 kehrte H. in die ostpreuß. Heimat zurück. Aus ihr schöpfte er die Motive u. landschaftl. Szenerien für seine Novellen u. Romane. Insbesondere der aus dem Nachlass herausgegebene u. Fragment gebliebene Roman Der Aufstieg. Roman aus der alten Provinz (Neumünster 1972) zeigt die für ihn charakterist. Art, ostpreuß. Kleinstadt- bzw. Familienleben mit der Genauigkeit eines Chronisten in der Tradition Fontanes zu erfassen. Weitere Werke: Die Pest in Tulemont. Bln. 1920 (R.). – Jean Paul. Lpz. 1925 (Biogr.). – Angst. Bln. 1927 (R.). – Letzte Ferien. Itzehoe 1928 (E.). – Jean Paul in Heidelberg. Itzehoe 1929 (E.). – Der Prinzenhof. Bln. 1932 (R.). – Witowd u. Jagiello. Histor. Erzählung. Aus dem Nachl. hg. v. Anneliese Harich-Wynecken u. Erich Trunz. Königsb. 1932 (E.). Literatur: Marianne Jabs-Kriegsmann: W. H. Ein Beitr. zur Literaturgesch. der 20er Jahre. Bonn 1971. Oliver Riedel
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Harich, Wolfgang, * 9.12.1921 Königsberg† 15.3.1995 Berlin. – Philosoph, Essayist, Herausgeber, Lektor. Nach dem Studium der Philosophie u. Germanistik in Berlin war H. 1945–1950 als Literatur- u. Theaterkritiker tätig. Nach seiner Promotion 1951 lehrte er als Dozent für Philosophie an der Humboldt-Universität u. arbeitete als Verlagslektor. In den 1950er Jahren waren H.s politisch-philosoph. Auffassungen von Georg Lukács beeinflusst, dessen Schriften er im Aufbau-Verlag lektorierte. Als Herausgeber der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« publizierte er Lukács’ umstrittenen Aufsatz Das Besondere als zentrale Kategorie der Ästhetik (Nr. 2, 1956). Im Nov. 1956 forderte H. gemeinsam mit Freunden in einer Plattform (abgedr. in: Selbstkritik des Kommunismus. Reinb. 1967, S. 189–197) die Entstalinisierung der Partei u. Gesellschaft. Unter dem Titel Wer sind wir bekannten sie sich zu Lukács u. beriefen sich auf Brecht, der ihrer Gruppe nahegestanden habe. Die Mitglieder der sog. Harich-Gruppe wurden verhaftet u. H. im März 1957 zu langjähriger Freiheitsstrafe verurteilt. Während der Schauprozesse bekannte sich H. zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft u. trat als Zeuge gegen den mitangeklagten Leiter des Aufbau-Verlags, Walter Janka, auf, der schließlich zu fünf Jahren Haft in Bautzen verurteilt wurde. In seiner Autobiografie Durch die Erde ein Riß (Hbg. 1981) beschrieb Erich Loest diese Ereignisse. Nach seiner Entlassung 1964 arbeitete H. als Lektor beim Akademie Verlag in Ost-Berlin. Erneutes Aufsehen erregte H. 1973 mit dem Beitrag Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß (in: Sinn und Form 1, S. 189–218) über Heiner Müllers Macbeth-Bearbeitung, mit dem er sich in die Erbe-Diskussion in der DDR einschaltete. Darin denunzierte H. das Stück als »reaktionär im Inhalt, schlampig in der Form«. Er bezichtigte Müller des »literarischen Parasitentums und HochstaplerUnwesens«. Dieser Artikel löste große Empörung aus: Hartmut Lange warf H. Stalinismus vor; H. sei ein »Hygienedilettant« (Jürgen Holtz) u. »Scharfrichter« (Helmut Holtzhauer).
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Literatur: Hartmut Lange: W. H.s Angst vor Vehement griff H. in den 1980er Jahren die Nietzsche-Rezeption in der DDR an, die sich einem Kunstzerfall in der DDR. In: Literaturmaum eine ausgewogenere Beurteilung des gazin 1 (1973), S. 123–127. – Friedrich Dieckmann: Antwort an W. H. In: SuF 3 (1973), S. 680–687. – lange tabuisierten Philosophen bemüht. AlJürgen Holtz: Der Dingo u. die Flasche. In: SuF 4 lein die Beschäftigung mit Nietzsche hielt er (1973), S. 828–847. – Manfred Jäger: Zum Tod v. für einen nicht hinnehmbaren Verstoß gegen W. H. In: Dtschld. Archiv 28 (1995) 4, S. 339–342. – die »Grundregeln geistiger Hygiene«: »Eine Karl Corino: Gegen eine Bande v. Verbrechern u. Gesellschaft kann kulturell kaum tiefer sin- Idioten: W. H. In: Schriftsteller vor Gericht. Verken, als wenn sie die Kenntnis seiner Elabo- folgte Lit. in vier Jahrhunderten. Hg. Jörg-Dieter rate zu den Kriterien ihrer Allgemeinbildung Kogel. Ffm. 1996, S. 239–253. – Siegfried Prokop: rechnet« (Revision des Marxistischen Nietzsche- Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren W. H.s. Bln. 1997. Andrea Jäger bildes? In: Sinn und Form 5, 1987, S. 1036). In seiner Rede auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR im Nov. 1987 wies Stefan Hermlin Harig, Ludwig, * 18.7.1927 Sulzbach/Saar. H.s Position scharf zurück. Hier finde eine – Prosa- u. Hörspielautor, Lyriker. »reaktionäre Rückwärtswende« statt »in Nach der Volksschule, der LehrerbildungsRichtung auf erledigte Positionen, die Hunanstalt u. dem Lehrerseminar war H. 1949/50 derten von fortschrittlichen Künstlern [...] Assistant d’allemand am Collège Moderne in die Beschädigung oder die Auslöschung ihres Lyon u. unterrichtete seit 1950 im Saarland Werks [...] und sozialistischen Ländern die als Volksschullehrer, fünf Jahre in Dirmingen Schmach zufügten, mit Faschisten verglichen u. 15 Jahre in Friedrichsthal. 1970 ließ er sich zu werden« (Von älteren Tönen. In: Sinn und vom Schuldienst beurlauben; seit 1974 arForm 1, 1988, S. 181. In diesem Heft sind beitet er als freier Schriftsteller. weitere Stellungnahmen zu H.s Artikeln erSeine erste Veröffentlichung erschien 1955 schienen.). in der Zeitschrift »augenblick«, die der Nach der Wende wurde 1990 das Urteil Stuttgarter Philosoph Max Bense herausgab. gegen H. kassiert. Er wurde rehabilitiert u. H. stand in seinen Anfängen der Ästhetik erhielt Haftentschädigung. Erneut brach eine Benses u. der Stuttgarter Gruppe um Heiheftige Kontroverse über H.s Rolle in den ßenbüttel, Gomringer, Mon u. Döhl nahe. Schauprozessen aus, die bis heute andauert. Seine ersten Texte waren Sprachexperimente; Walter Janka hat in seiner Autobiografie Machbarkeit u. Wahrnehmbarkeit von DichSchwierigkeiten mit der Wahrheit (Reinb. 1989) tung wurden betont. Der Prosaband Reise nach H. scharf kritisiert. Auch Erich Loest be- Bordeaux (Wiesb. 1965) vereinigt zahlreiche schreibt in seinem jüngsten Bericht Prozess- Prosastücke u. Gedichte in experimenteller kosten (Gött. 2007) die Rolle H.s kritisch. H. Schreibweise. Literarische Techniken wie verteidigte sich gegen die Vorwürfe in der Permutation, Collage u. Montage setzte H. autobiogr. Schrift Keine Schwierigkeiten mit der früh in seiner Hörspielproduktion ein. Zu Wahrheit (Bln. 1993). Die von Reinhard Pitsch den Klassikern des »neuen Hörspiels« gehört u. Stefan Dornuf herausgegebene Gedenk- Ein Blumenstück (Texte zu Hörspielen. Wiesb. schrift Wolfgang Harich zum Gedächtnis (2 Bde., 1968). In der Wendung zum O(riginal)-TonMchn. 1999 u. 2000) lässt sich als »postumer Hörspiel (Staatsbegräbnis. SR 1969) hat H. – Rehabilitationsversuch« (Lutz Hagestedt) le- gleichzeitig mit einigen anderen Autoren – dem Hörspiel neue Möglichkeiten eröffnet. sen. Die Montage von authent. Tonbandmaterial Weitere Werke: Rudolf Haym u. sein Herderbuch. Bln./DDR 1955. – Zur Kritik der revolutio- lässt neue Kontexte, Übereinstimmungen u. nären Ungeduld. Basel 1971. Gekürzt in: Kursbuch Widersprüche entstehen. Die Anerkennung 19 (1969), S. 71–113. – Jean Pauls Revolutions- der Literaturkritiker fand H. erstmals mit dichtung. Bln./DDR u. Reinb. 1974. – Ahnenpass. seinem »Familienroman«, der dem Aufbau Versuch einer Autobiogr. Bln. 1999. – Nicolai eines Sprachlehrbuchs mit seinen Lektionen Hartmann. Leben, Werk, Wirkung. Würzb. 2000. u. Illustrationen parodistisch folgt: Sprech-
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stunden für die deutsch-französische Verständigung und die Mitglieder des Gemeinsamen Marktes (Mchn. 1971). Der zweite umfangreiche, noch immer einer experimentellen Schreibweise verpflichtete Roman (Allseitige Beschreibung der Welt zur Heimkehr des Menschen in eine schönere Zukunft. Mchn. 1974) verwendet die Gliederung einer philosophischen Abhandlung; in 36 Traktaten u. vier Abschweifungen wird eine poetisch konstruierte Anthropologie entwickelt. Wörter sind die Helden dieses Romans, mit deren Hilfe andere Menschen beeinflusst, indoktriniert u. zwanghaft beherrscht werden können. Das Kombinieren u. Umstellen von Wörtern u. Sätzen ist in H.s Literatursprache von Anfang an nicht reines Wortspiel. In der Selbstreflexion des Schriftstellers, die sich in einer größeren Zahl von Texten artikuliert, kommt der subjektive Faktor des kombinator. Schreibens häufig zum Vorschein. H. zeigt aber auch, dass experimentelle Literatur durchaus zu Zeitkritik fähig ist. Mit Saarländische Freude (Mchn. 1977. Vgl. Die neue saarländische Freude. Ffm. 1990) hat H. seinen Stil gefunden: eine fiktive u. eine zitierte literar. Realität mischen sich, so dass ein Bild einer »schöneren Zukunft« entsteht. Geistreiches Beispiel dafür ist Rousseau. Der Roman vom Ursprung der Natur im Gehirn (Mchn. 1978). Elemente der Philosophiegeschichte, der Biografik, des Erzählens u. Beschreibens – mit großer Lust an der Intertextualität – werden darin auf den Kopf gestellt. Jean Paul fühlt sich H. nicht nur in diesem Roman bes. verbunden. Dass die Verbindung von »Witz« mit »Menschenliebe« möglich ist, dokumentiert das Büchlein Heimweh. Ein Saarländer auf Reisen (Mchn. 1979). Diese Anthologie von Gelegenheitsarbeiten, Reiseberichten, Reden u. Lyrikübertragungen hat, neben der Saarländischen Freude, wesentlich zur Entstehung einer bislang fehlenden saarländ. Literaturidentität beigetragen. 1986 erschien H.s erstes Hauptwerk, der Vaterroman Ordnung ist das ganze Leben (Mchn.). Nahezu einhellig haben ihm Literaturkritiker eine große erzählerische Qualität attestiert. In der Figur des Vaters sei Kleinbürgermentalität mit einer Genauigkeit beschrieben worden wie in keinem anderen
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Roman der Gegenwart. Der Erzähler wahrt Distanz zu dieser Ideologie, ohne dabei auf eine Zeichnung »con amore« zu verzichten. In der autobiogr. Fiktion ist der konstruktive Charakter des Textes, das Bewusstsein von der Sprachlichkeit aller Realität stets gegenwärtig. Aus dem Schweigen seines Vaters über seine Lebensgeschichte, v. a. über den Krieg 1914–1918, erwuchs für H. der Zwang, die Geschichte seines Vaters zu erzählen, die Familiengeschichte in die Zeitgeschichte zu integrieren. 1990 folgte eine Fortsetzung der großen Erzählung: Weh dem, der aus der Reihe tanzt (Mchn.). Inzwischen war der Erzählstil erprobt, vor dem ihn sein Mentor Bense gewarnt u. zu dem ihn Hermann Lenz ermutigt hatte. Nicht nur das konkrete Wort der experimentellen Phase, sondern auch histor. ›Ordnungen‹ oder ›Mentalitäten‹ konnten nun Gegenstand werden. Der Erzähler evoziert selbstkritisch den Prozess der Indoktrination seiner eigenen Kindheit u. Jugend in nationalsozialistischen Schulen. Er ist Registrator u. Beobachter. Der Roman ist ein Traktat über Erinnerung, ihre Lücken u. Verdrängungen. Erinnern u. Erzählen koordinieren sich gegenseitig. Die Darstellung dieses ›Ich‹ in all seiner Problematik ist bisher das erfolgreichste Werk H.s. In einem weiteren umfangreichen Roman (Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf. Mchn. 1996) porträtiert er die ›Normalität‹ der Jahre 1945–1960. Er rekapituliert, wie leicht er verführt worden war vom Klang u. geheimen Hintersinn pompöser Wörter. Der Bildungsgang zum Volksschullehrer in einer neuen Restauration, dann die Emanzipation des Schriftstellers, die Lektüre bislang unzugängl. Texte als Stimulans des Lebens, die mutige Innovation (Max Bense u. sein Kreis) u. die neue Freiheit der jungen Generation werden erzählend konstruiert. Als wäre in dieser Trilogie lange noch nicht alles gesagt, ließ H. Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben (Mchn. 2002) folgen. Er erzählt die Geschichten seines Lebens weiter, damit sie »neu werden«. Die Kindheit in den dreißiger Jahren, der wiedergeborene René aus dem zweiten Roman, Nachkriegszeit u. Erfolg seit den späten siebziger Jahren, der Besuch bei Honecker in der Berliner Haftanstalt Moabit, Freunde u.
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literar. Reisen: Vieles aus den Romanen wird weitergeführt. »Leben ist Literatur, Literatur ist Leben, es gibt keinen Schritt, der nicht zugleich auch ein Satz in einem Buche wäre.« So lässt er in Kalahari. Ein wahrer Roman (Mchn. 2007) den Freund Roland Cazet literarisch auferstehen, den er 1947 in Lyon kennen gelernt hatte. Ihm war – in einem abenteuerl. Leben – die Wüste Kalahari das Traumbild für alle Verlockungen der weiten Welt. Gleichzeitig mit den Romanen der autobiogr. Fiktion entstanden Novellen u. Erzählungen, die das spielerische Verwandeln – H.s Lebensthema – immer wieder durchspielen. Seine Herkunft von den Märchen der Brüder Grimm u. Andersens wird darin stets bemerkbar; sie beflügeln sein Denken u. Schreiben lebenslang u. korrigieren seinen Wirklichkeitssinn. Wenn auch das Wesentliche von H.s literar. Werk als das »Spielerische« allenthalben heiter u. humoristisch erscheint, so ist doch sein Umgang mit dem Prinzip des »Sprachspiels« philosophisch fundiert. So ist es zu verstehen, dass er in seinem Freund Ernst Jandl den wahren »Ernst« erkannte. Das Spielerische ist für H. »das Besondere des Menschenmöglichen« überhaupt. Indem das Sprachspiel in seinen epischen Werken mehr u. mehr erzählerische Züge annahm, entfaltete sich das Konzept des Lebensspiels als umgreifendes Prinzip. In diesem Lebensspiel, an dem auch der Leser teilnehmen soll, ist die Sprache ein Teil der Menschwerdung. Leben u. Arbeit als Spiel – das Spiel als lustvolle Arbeit im Gebrauch der Wörter u. Lebensordnungen ermöglichen die »Heimkehr in eine schönere Zukunft«. Spiel mit Ordnung – dies sei das ganze Leben. H. ist mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet worden. 1966 erhielt er den Kunstpreis des Saarlandes für Literatur, 1987 den Hörspielpreis der Kriegsblinden u. den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. Die Philosophische Fakultät der Universität des Saarlandes verlieh ihm die Ehrendoktorwürde; das Land folgte 1993 mit der Verleihung des Professorentitels. 1994 erhielt H. den Friedrich-Hölderlin-Preis u. 2006 den Preis der Frankfurter Anthologie. Er ist seit 1979
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Mitgl. der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, seit 1982 der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz u. seit 1985 der Freien Akademie der Künste, Mannheim. H. ist zudem Mitgl. des P.E.N.-Zentrums der BR Deutschland. H. gehört zu den hervorragenden Autoren der Gegenwart. Seine humoristische Schreibweise prägt auch seine geistreichen Essays u. Reisebücher. Er ist zudem als Herausgeber mehrerer Anthologien u. als Übersetzer von Queneau u. Proust hervorgetreten. Die Enge des »saarländischen Weltmodells« wird immer wieder zu einem Beziehungsgeflecht erweitert, das die Weltliteratur durchscheinen lässt. Weitere Werke: Werkausg. in zehn Bdn. Hg. Werner Jung, Benno Rech u. Gerhard Sauder. Mchn. 2004 ff. – Einzeltitel: haiku hiroshima. Stgt. 1961. – Zustand u. Veränderungen. Texte aus den Jahren 1956–1962. Wiesb. 1963. – im men see. Bln. 1969. – Wie kommt Leopold Bloom auf die Bleibtreustraße. Bln. 1975. – Der kleine Brixius. Mchn. 1980 (N.). – Logbuch eines Luftkutschers. Stgt. 1981. – Hl. Kühe der Deutschen. Eine feuilletonist. Anatomie. Mchn. 1981. – Trierer Spaziergänge. Mchn. 1983. – Zum Schauen bestellt. Deidesheimer Tgb. Landau 1984. – Das Rauschen des sechsten Sinnes. Reden zur Rettung des Lebens u. der Lit. Mchn. 1985. – Die Laren der Villa Massimo. Ein röm. Tgb. Landau 1986. – Hundert Gedichte. Alexandrin. Sonette, Terzinen, Couplets u. a. Verse in strenger Form. Mchn. 1988. – Mainzer Moskitos. Tgb. des Stadtschreibers. Landau 1989. – Shakespeares Land oder die Rose v. Warwick. Ein Tgb. Hbg. 1990. – Die Hortensien der Frau v. Roselius. Mchn. 1992 (N.). – Der Uhrwerker v. Glarus. Erzählungen. Mchn. 1993. – Der Wiedergeborene. Reportagen. Heidelb. 1997. – Gauguins Bretagne. Hbg. 1998. – Pelés Knie. Erzählungen. Mchn. 1999. – Reise mit Yoshimi. Japanische Reportagen. Lüneb. 2000. – Kreter u. Pleter. Tgb. einer Reise nach Kreta. Blieskastel 2001. – Im Geschwirr der Espenblätter. Lieder u. Balladen. Blieskastel 2002. – Ein Malerleben. Hans Dahlem. Saarbr. 2003. – Sterne hab ich gezählt. Geburtstagsrede für Johannes Kühn. Warmbronn 2004. – Die Wahrheit ist auf dem Platz. Fußballsonette. Mchn. 2006. – Der Bote aus Frankreich. Reise mit Lancelot zu König Artus. Lüneb. 2007. – Ein Fall für Epikur. Erzählungen. Ffm./Lpz. 2008. Literatur: Werner Jung u. Marianne Sitter: Bibliogr. L. H. Bielef. 2002. – Gerhard Sauder u. Gerhard Schmidt-Henkel: H. lesen. Mchn./Wien
Haringer 1987 (mit Bibliogr., Materialien u. Dokumenten). – Wolfgang Schmitt: Drei mal zwei Autoren. Im Gespräch mit: S. Knauss, L. H., R. Bichelberger, D. Quiring, N. Graf, R. Manderscheid. Lebach 1990. – Petra Lanzendörfer-Schmidt: Die Sprache als Thema im Werk L. H.s. Eine sprachwiss. Analyse literar. Schreibtechniken. Tüb. 1990. – Wörterspiel Lebensspiel. Ein Buch über L. H. Hg. Alfred Diwersy. Homburg/Saar 1993. – Sprache fürs Leben, Wörter gegen den Tod. Ein Buch über L. H. Hg. Benno Rech. Blieskastel 1997. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): L. H. [Text + Kritik. H. 135]. Mchn. 1997 (Bibliogr. S. 73–89). – WortSpielOrt. L. H. zum Siebzigsten. Zusammengestellt v. Egon Cramer u. a. Stgt. 1997. – Werner Jung: ›Du fragst, was Wahrheit sei?‹ L. H.s Spiel mit Möglichkeiten. Bielef. 2002. Gerhard Sauder
Haringer, Jakob, eigentl.: Johann Franz Albert H., auch: Hans H., Jan Jakob H., Lukas Nell, Robert Ibius, * 16.3.1898 Dresden, † 3.4.1948 Zürich. – Lyriker, Prosaist. Seit seiner Jugend führte H., Sohn einer Ladnerin u. eines Bücherreisenden, ein unstetes Leben. Wo er seine Kindheit verbrachte, ist nicht zu rekonstruieren, fest steht jedoch, dass er häufig Schulen, Lehrstellen u. schließlich den Wohnsitz wechselte – allerdings keineswegs freiwillig. Von den Eltern, seit 1908 Pächter verschiedener Gastwirtschaften, wegen seiner Eigenwilligkeit abgelehnt, später von Behörden wegen Vergehens gegen das Zollgesetz, Urkundenfälschung, Meineid, Beamtenbeleidigung, Hausfriedensbruch u. Gotteslästerung verfolgt, empfand H. sich zunehmend als von Gott u. der Welt verkannter Poet. Der zwischen Selbstmitleid u. Selbstüberschätzung schwankende Dichter lebte vorwiegend von Spenden, die er sich in unzähligen Briefen u. hektografierten Bittschreiben von namhaften Kollegen erbettelte. Zu seinen geduldigsten Mäzenen u. Förderern gehörten Hesse u. Döblin, der für H. 1925 den Band Dichtungen im Kiepenheuer Verlag durchsetzen konnte u. ihm als Nervenarzt in Berlin ein Gutachten schrieb, das seinen Patienten vor weiterer Verfolgung durch Staatsanwaltschaft und Polizei bewahren sollte. Döblin charakterisierte H. als »lyrischen Poeten«, »beständig hintapsenden
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Träumer«, u. hielt ihn für einen »psychopathischen Romantiker«. Stationen im Leben H.s waren Ansbach, das Berchtesgadener u. Salzburger Land, Dresden, München, Traunstein, Zürich, die Westfront des Ersten Weltkriegs u. Köniz bei Bern, wohin er vor dem Nationalsozialismus geflüchtet war. 1938 standen sämtl. Schriften H.s auf der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«. Albert Einstein u. Heinrich Mann setzten sich für H. ein, doch ein von Thomas Mann diktierter Brief verweigerte dem Sonderling die erbetene finanzielle Unterstützung durch die »American Guild For German Cultural Freedom«. Gefängnisstrafe als Räterevolutionär (H.s Rolle beim Münchener Umsturz 1918/19 ist noch nicht vollständig erforscht), Fahndung wegen Teppichschmuggels u. Beamtenbeleidigung, wiederholte psychiatr. Zwangsinternierung u. Exil – H.s rastlosen Lebensweg als Vagabondage zu bezeichnen, hieße, die Biografie eines ungezügelten Lebemenschen u. fantasievollen Melancholikers romantisch zu verklären. Kaum eine bio- bzw. bibliografische Angabe H.s hält genauerer Prüfung stand. Fiktive Geburtsorte u. -jahre, Buchtitel, Verlagsangaben, Literaturpreise u. akadem. Würden sind nichts als Dokumente von H.s leidenschaftlich betriebenem Spiel mit der eigenen Identität. H.s einziges Thema sind Leben u. Leid Jakob Haringers. Bis zu seinem Tod erschienen immerhin 16 Gedichtbände, eine Sammlung von Notizen (›Paris‹. o. J.) sowie die Satire Das Räubermärchen (Ffm. 1925). Erste Gedichte veröffentlichte der 18-jährige 1917 in der anthroposophisch geprägten Zeitschrift »Das Reich«. Auch Brittings »Sichel« u. andere dem Expressionismus nahestehende Zeitschriften veröffentlichten Verse von H. Dennoch zählen die frühen Gedichte, in denen Natur u. Jahreszeiten bezeichnende Substantive zu Verben umgeformt sind, zu seinen weniger gelungenen Arbeiten. Wie die als Manuskript bzw. Privatdruck publizierte Zeitschrift »Einsiedelei« (Ein Stundenblatt. Bln./›Amsterdam‹. Ende der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre) zeigt, liegt H.s Stärke in einfachen, oft an Kinderlieder erinnernden Versen, v. a. aber in dem diesen diametral
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entgegengesetzten freirhythm. Aufschrei Harleß, Harles, Gottlieb Christoph, auch: seiner Lyrik, in der er sich über traditionelle Theophilus Christophorus Harles, * 21.6. Formgebung u. bestehende Tabus hinweg- 1738 Kulmbach, † 2.11.1815 Erlangen. – setzt (z.B. Das Schnarchen Gottes. Amsterd. Philologe. 1931). Auch der Reiz des Räubermärchens liegt H., dessen schulische Ausbildung am Lyceum in der Zügellosigkeit von H.s Fantasie, mit in Kulmbach durch den Privatunterricht bei der er diese Satire auf Staatsapparat u. Kirche seinem Bruder ergänzt wurde, nahm 1757 in grandioser Disziplinlosigkeit niedergedas Studium der Theologie in Erlangen auf. schrieben hat. Eine umfassendere BeurteiMit wachsendem Interesse für die Philologie lung des Prosaisten H. wird jedoch erst nach studierte er 1759 in Halle u. 1760/61 in Jena, Einsicht in ein in Amsterdam aufgefundenes wo er durch die Freundschaft mit Christian Romanmanuskript möglich sein. Der WechAdolph Klotz seine Kenntnis der Literatur der sel von einfachen, beschaulichen, oft religiös Klassik vertiefte. 1761 wurde H. Mitgl. des inspirierten Liedern u. greller, obszöner, anphilolog. Seminars in Göttingen, kehrte aber archischer Dichtung, das Nebeneinander von schon bald nach Erlangen zurück, um sich sentimentaler Rührseligkeit u. aufbrausender dort zu habilitieren u. 1765 eine außerorAngriffslust, macht H. zu einem der genial dentl. Professur an der Philosophischen Fagescheiterten deutschsprachigen Schriftstelkultät anzunehmen, die er nach wenigen ler. Monaten zugunsten einer Stellung als o. Prof. Weitere Werke (Amsterdam = fiktiver Erscheifür oriental. Sprachen u. Beredsamkeit am nungsort): Hain des Vergessens. Dresden 1919 (L.). Gymnasium Casimirianum in Coburg auf– Abendbergwerk. Mchn. 1920. – Die Kammer. Regensb. 1921. – Tobias. Amsterd. 1921. – Weih- gab. 1770 kehrte H. nach Erlangen zurück, nacht im Armenhaus. Amsterd. 1924. – Die Dich- wo er Poesie u. Beredsamkeit lehrte u. 1777 tungen. Potsdam 1925. – Das Marienbuch. Ams- das philolog. Seminar gründete. terd. 1925. – Kind im grauen Haar. Ffm. 1926. – H.’ zahlreiche Schriften dokumentieren Heimweh. Bln./Wien/Lpz. 1928 (L.). – Abschied. neben seinen biogr. Interessen (z.B. De vitis Ebd. 1930 (L.). – Der Reisende oder Die Träne. philologorum nostra aetate clarissimorum. 4 Bde., Ebenau 1932. – Andenken. Amsterd. 1934. – Ver- Bremen 1764–72) v. a. sein Bemühen, die mischte Schr.en. Salzb./Lpz. 1935. – Souvenir. Werke der griech. u. lat. Klassiker an den Amsterd. 1938. – Das Fenster. Zürich 1946. – J. H. Universitäten u. Schulen zugänglich zu main memoriam. Fürstenfeldbruck 1955. – Der Orgelspieler. Ebd. 1955. – Lieder eines Lumpen. Zü- chen. Die von ihm besorgten Klassikerausgarich/Stgt. 1962. – Das Rosengrab. Egnach 1960. ben (u. a. Aristophanes, Aristoteles u. Cicero) u. 2 1963. – Der Hirt im Mond. Graz/Wien 1965. – In Anthologien sowie seine Einführungen in die die Dämmerung gesungen. Bln./Weimar 1982. – Geschichte der griech. u. lat. Sprache u. LiteAber des Herzens verbrannte Mühle tröstet ein ratur galten allerdings bereits im 19. Jh. vom Vers. Lyrik, Prosa u. Briefe. Hg. Hildemar Holl. Mit philolog. Standpunkt aus als überholt. Gröeinem Nachw. v. Wulf Kirsten. Salzb. 1988. – ßere Wirkung hatte die von H. herausgegeNachdichtungen: François Villon: Le Testament. bene vierte Auflage der Bibliotheca Graeca von Crimmitschau 1928. – Epikur: Fragmente. Zürich Johann Albert Fabricius (12 Bde., Hbg. 1947. 1790–1812). Literatur: Werner Amstad: J. H. Leben u. Werk. Diss. Freib./Schweiz 1966. – Daniela Strigl: ›Fremdheiten‹. Österr. Lyrik der Zwischenkriegszeit. J. H., Theodor Kramer, Wilhelm Szabo, Guido Zernatto. In: Primus H. Kucher (Hg.): Lit. u. Kultur im Österr. der Zwanziger Jahre. Bielef. 2007, S. 179–194. Michael Bauer / Red.
Weitere Werke: Gedanken v. dem Zustande der Schulen u. ihren Verbesserungen. Jena 1761. – De fato Homeri. Gött. 1762. – Introductio in historiam linguae latinae. Bremen 1764. – Anthologia graeca poetica. Nürnb. 1775. – Introductio in historiam linguae graecae. Altenburg 1778. – Brevior Notitia litteraturae romanae. Lpz. 1803. – Brevior Notitia litteraturae graecae. Lpz. 1812. Literatur: Georg Wolfgang A. Fikenscher: Vollst. Akadem. Gelehrten Gesch. der [...] Univ. zu Erlangen [...]. 2. Abt., Nürnb. 1806, S. 203–238. –
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Otto Stählin: G. C. H. In: Lebensläufe aus Franken. Bd. 2. Hg. Anton Chroust. Würzb. 1922, S. 177–183. Sabine Lorenz / Red.
Harms, Claus, * 25.5.1778 Fahrstedt/ Dithmarschen, † 1.2.1855 Kiel; Grabstätte: ebd., Südfriedhof. – Lutherischer Theologe. H., Sohn eines Müllers, studierte nach Besuch des Gymnasiums in Meldorf Theologie in Kiel (1799–1802). Von der rationalistischen Theologie wandte er sich ab unter dem Eindruck der Reden über die Religion (1799) Schleiermachers, dessen Predigten (1801) ihn jedoch enttäuschten. Nach vier Jahren als Kandidat u. Hauslehrer in Probsteierhagen war H. 1806–1816 Diakon in Lunden, wo er seinen Predigtstil entwickelte u. publizistisch u. a. mit Predigtsammlungen hervorzutreten begann (Winterpostille. Kiel 1808. Sommerpostille. Kiel 1811). 1816–1849 war H. zunächst Archidiakon, von 1835 an dann Hauptpastor u. Probst in Kiel. 1834 wurde er Ehrendoktor der Theologischen u. der Philosophischen Fakultät der Kieler Universität, 1841 Oberkonsistorialrat. Berufungen als Bischof nach Petersburg 1819 u. nach Berlin als Nachfolger Schleiermachers 1834 lehnte er ab. 1817 veröffentlichte H. zur Dreihundertjahrfeier der Reformation 95 Thesen gegen die »rasende Vernunft« der Aufklärungstheologie u. eine Union mit den Reformierten, deren Vernunftorientierung er misstraute. Die Heiligkeit der Religion u. die Autonomie des Glaubens betonend, trug er wesentlich zur Herausbildung des Neuluthertums bei. In dieser Tradition steht auch H.’ Hauptwerk, die in drei Bücher gegliederte Pastoraltheologie (Der Prediger. Der Priester. Der Pastor. Kiel 1830–34). Erblindet diktierte er nach 1849 seine Lebensbeschreibung (Kiel 1851). Weitere Werke: Ausgew. Schr.en u. Predigten. Hg. Peter Meinhold. 2 Bde., Flensburg 1955 (mit Bibliogr.). Literatur: Walter Göbell: C. H. In: NDB. – Lorenz Hein: C. H. Leben u. Werk. Schleswig-Holstein. Kirchengesch. Bd. 5, Neumünster 1986. – Friedrich Wilhelm Bautz: C. H. In: Bautz. Günther Lottes / Red.
Harnack, Adolf von (geadelt 1914), * 7.5. 1851 Dorpat, † 10.6.1930 Heidelberg. – Theologe u. Wissenschaftsorganisator. Der Sohn des Dorpater Theologieprofessors Theodosius Harnack (1816–1889) wurde im Geiste eines konfessionellen Luthertums erzogen. Seit 1869 studierte H. Theologie in Dorpat, seit 1872 in Leipzig, wo er 1873 promovierte u. sich 1874 für Kirchengeschichte habilitierte. Hier gewann er einen dauernden Freundes- u. Schülerkreis, in dem u. a. der Plan für die »Theologische Literaturzeitung« entworfen wurde, die seit 1876 bis heute erscheint. Bereits 1876 wurde er a. o. Prof. in Leipzig; 1879 erhielt H. eine a. o. Professur in Gießen, wo er sich unter dem Einfluss der Theologie Albrecht Ritschls von seinem konfessionellen Standpunkt entfernte. 1886 wurde er nach Marburg, 1888 – gegen den Widerstand konservativer Kreise in der Preußischen Kirche – nach Berlin berufen. Hier entwickelte er sich zum führenden Theologen Deutschlands, der weit über die Grenzen seines Fachs hinaus wirkte. Als Mitgl. der Preußischen Akademie der Wissenschaften (seit 1890) begründete er zusammen mit Theodor Mommsen eine krit. Edition der griechisch-christl. Literatur der ersten drei Jahrhunderte u. gab die begleitenden Texte und Untersuchungen (Lpz. 1883 ff.) mit heraus, wuchs daneben aber immer stärker in fächerübergreifende Aufgaben hinein. 1903–1912 war H. Präsident des Evangelischsozialen Kongresses, 1905–1921 im Nebenamt Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek, seit 1910 erster Präsident der wesentlich von ihm angeregten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, der Vorgängerin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Während ihn kirchlich-konservative Kreise mit Misstrauen behandelten, spielte er in der theolog., insbes. kirchengeschichtl. Wissenschaft eine führende Rolle u. wurde nach der Jahrhundertwende zum Wissenschaftsorganisator großen Stils. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen bejahte er nach 1918 das republikan. Staatswesen u. diente der durch den Krieg schwer beeinträchtigten Wissenschaft; unter seiner Mitwirkung wurde die Notge-
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meinschaft der deutschen Wissenschaft gegründet. H.s literar. Leistungen erstrecken sich auf verschiedene Gebiete. Sein wissenschaftl. Schwerpunkt lag in der Alten Kirche einschließlich des NT, deren Erforschung er durch zahlreiche Editionen u. krit. Untersuchungen förderte. Seine akadem. Erstlingsschriften behandelten Fragen der Gnosis; sein letztes großes Werk war eine Monografie über Marcion (Lpz. 1921. 21924), mit der er über den Kreis der Fachgenossen hinaus wirkte. Aus seiner Arbeit an der Kirchenväteredition ging die Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius (4 Bde., Lpz. 1893–1904) als eine monumentale, krit. Bestandsaufnahme der Überlieferung hervor. Seine darstellerischen Fähigkeiten kamen stärker zur Geltung in einem umfassenden Werk über Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (2 Bde., Lpz. 1902. 4 1924). Das Meisterwerk freilich, mit dem er eine ganze Disziplin auf neue Grundlagen stellte, war sein Lehrbuch der Dogmengeschichte (3 Bde., Freib. i. Br. 1885–89. Tüb. 51931/32), das von den Anfängen der christl. Lehre bis in die nachreformatorische Zeit, für den Katholizismus sogar bis zum 1. Vaticanum führt. Der größere u. bedeutendere Teil dieses epochemachenden Werks ist der Entstehung u. Entwicklung des altkirchl. Dogmas gewidmet. In der Geschichte dieses Dogmas, das »in seiner Konzeption und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums« ist, sah H. eine grundlegende, abgeschlossene Periode der Geschichte des Christentums. Seine glänzend geschriebene, material- u. gedankenreiche Darstellung beherrscht bis heute die Disziplin. Stellte H.s Entstehungsgeschichte des altkirchl. Dogmas bereits die großen Lehrentscheidungen der Alten Kirche (trinitar. u. christolog. Dogma) unter krit. Beleuchtung, so vollzog er in seinen Vorlesungen über Das Wesen des Christentums (Lpz. 1900) eine historisch-systemat. Rückführung des kirchl. Christentums auf seine Grundlagen in Gestalt u. Geschichte Jesu. Dieser bis 1927 in 14 Auflagen verbreitete theolog. Bestseller sprach weiteste Leserkreise an. Neben vielen gelehrten Untersuchungen zur Alten Kirche
Harnack
veröffentlichte H. zahlreiche Vorträge u. Aufsätze aus allen Perioden der Kirchengeschichte, über Fragen der Kultur, Bildung u. Universität sowie zu sozialen u. polit. Problemen, mit denen er ein großes Publikum erreichte. Unter seinen nichttheolog. Werken ragt die zum 200-jährigen Bestehen der Akademie 1900 veröffentlichte dreibändige Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Bln.) hervor, in der er gründl. Aktenstudien mit ansprechender Darstellung sowie geschichtl. Verständnis mit Einblicken in die Sachfragen aller Disziplinen bis hin zu den Naturwissenschaften verband. An Weite der Interessen u. des Überblicks, an gelehrten Kenntnissen, wenn auch nicht an denkerischer Kraft, an literar. Produktivität u. an Wirksamkeit nach außen überragte H. alle Theologen seiner Zeit. Durch seine glänzende Darstellungsgabe ist er ein Klassiker der theolog. Literatur geworden. Weitere Werke: Reden u. Aufsätze. 7 Bde., Gießen 1904–30. Bd. 1 u. 2: 1904. N. F. Bde. 1–5. Bd. 1 u. 2: Aus Wiss. u. Leben. 1911. Bd. 3: Aus der Friedens- u. Kriegsarbeit. 1916. Bd. 4: Erforschtes u. Erlebtes. 1923. Bd. 5: Aus der Werkstatt des Vollendeten. Hg. Axel v. Harnack. 1930. – Kleine Schr.en zur Alten Kirche. Berliner Akademieschr.en 1890–1907/1908–30. 2 Bde., Lpz. 1980. – A. v. H. als Zeitgenosse. Reden u. Schr.en aus den Jahren des Kaiserreichs u. der Weimarer Republik. Hg. Kurt Nowak. 2 Bde., Bln. 1996. Literatur: Bibliografien: Friedrich Smend: A. v. H. Verz. seiner Schr.en. Lpz. 1927. – Ders. u. Axel v. Harnack: A. v. H. Verz. seiner Schr.en 1927–30. Verz. der ihm gewidmeten Schr.en. Lpz. 1931. – Björn Biester: H.-Bibliogr. Verz. der Lit. über A. v. H. 1911–2002. Erfurt 2002. – Weitere Titel: Agnes v. Zahn-Harnack: A. v. H. Bln. 21951. – Winfried Döbertin: A. v. H. Theologe, Pädagoge, Wissenschaftspolitiker. Ffm. 1985. – Carl-Jürgen Kaltenborn: A. v. H. In: Gestalten der Kirchengesch. Bd. 10/1. Die neuste Zeit 3. Stgt. 1985, S. 70–87. – Martin Rumscheidt: A. v. H. Liberal theology at its height. London 1989. – Kurt Nowak (Hg.): A. v. H. als Zeitgenosse. 2 Tle., Berlin/New York 1996. – Stefan Rebenich: Theodor Mommsen u. A. H. Wiss. u. Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jh. Mit einem Anhang: Ed. u. Kommentierung des Briefw. Bln. 1997. – Gunther Wenz: Der Kulturprotestant. A. v. H. als Christentumstheoretiker u. Kontroverstheologe. Mchn. 2001. – K. Nowak u. Otto
Harrer Gerhard Oexle (Hg.): A. v. H. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker. Gött. 2001. – K. Nowak (Hg.): A. v. H. Wiss. u. Gesellsch. Wissenschaftl. Symposium aus Anlaß des 150. Geburtstags. Gött. 2003. – Christian Nottmeier: A. v. H. u. die dt. Politik 1890–1930. Eine biogr. Studie zum Verhältnis v. Protestantismus, Wiss. u. Politik. Tüb. 2004. Ulrich Köpf
Harrer, Heinrich, * 6.7.1912 Obergossen/ Kärnten, † 7.1.2006 Friesach/Kärnten. – Verfasser von Sach- u. Reisebüchern.
18 1969. – Unter Papuas. Mensch u. Kultur seit ihrer Steinzeit. Innsbr./Ffm. 1976. – Die letzten Fünfhundert. Expedition zu den Zwergvölkern auf den Andamanen. Bln./Ffm./Wien 1977. – Ladakh. Götter u. Menschen hinterm Himalaya. Innsbr./Ffm. 1978. – Geheimnis Afrika. Innsbr./Ffm. 1979. – Rinpotsche v. Ladakh. Innsbr./Ffm. 1981. – Wiedersehen mit Tibet. Innsbr./Ffm. 1983. – Meine Forschungsreisen. Innsbr./Ffm. 1986. – Borneo. Mensch u. Kultur seit ihrer Steinzeit. Innsbr./Ffm. 1988. – Erinnerungen an Tibet. Ffm./Bln. 1993. – Das alte Lhasa. Bilder aus Tibet. Bln. 1997. – Mein Leben. Mchn. 2002. Literatur: H. H. Ein Leben als Forscher. [Ausstellungskat.]. Red. u. Text: Erich Pröll. Linz 1980. – Gerald Lehner: Zwischen Hitler u. Himalaya. Die Gedächtnislücken des H. H. Wien 2007. Walter Raunig / Red.
Nach Abschluss seines Geografie- u. Sportstudiums in Graz (1938) wurde H., Sohn eines Postbeamten, zunächst durch die Teilnahme an alpinen Expeditionen bekannt (1938 Erstbesteigung der Eiger Nordwand, 1939 Nanga-Parbat-Expedition). 1938 trat er in die SS u. die NSDAP ein. Zahlreiche Reisen, Harries, Heinrich, * 9.9.1762 Flensburg, über die er in Dokumentarfilmen u. Bild- † 28.9.1802 Brügge bei Kiel. – Lyriker, bänden in spannend unterhaltender Weise Übersetzer u. Erbauungsschriftsteller. berichtete, führten ihn nach Asien, Afrika, Dem Sohn eines ehem. Arbeiters u. späteren Amerika, Neuguinea u. Grönland u. begrünManufakturbesitzers wurde ein Theologiedeten seinen Ruf als versierter Reisebuchstudium an den Universitäten Kiel autor. (1779–1782) u. Göttingen (1782–1784) erH.s wissenschaftl. Bedeutung liegt bes. in möglicht. Trotz des erfolgreichen Studienseinem Beitrag für die Erforschung der Kulabschlusses (1786) blieb H. zunächst ohne tur Tibets. Als Ergebnis seines Aufenthalts in Anstellung, bis er 1790 Prediger in SieverTibet (1944–1951) erschien sein Hauptwerk stedt wurde. 1794–1802 war er Pastor in Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hofe des Brügge bei Kiel. 28 Dalai Lama (Bln./Wien 1952. Bln. 2006; H. veröffentlichte viel beachtete Erbauverfilmt 1997, Regie: Jean-Jacques Arnaud), ungsschriften mit apologetischer (Der neue das in mehr als 50 Sprachen übersetzt wurde. holsteinische Apostel Joachim Heeschen aus Henn1992 wurde in Hüttenberg (Kärnten) das stedt [...]. Altona 1798) u. pädagog. ZielsetHeinrich Harrer Museum eröffnet. zung (Der fromme Seefahrer[...]. Flensburg Für seine wissenschaftl. u. publizistischen 1792. Dän. Übers. 1792); sein WeihnachtsLeistungen wurden H. zahlreiche Ehrungen büchlein für die Jugend (Flensburg 1791) fand u. Auszeichnungen zuteil; er erhielt u. a. Eingang in den Schulunterricht. Pädago1964 den Professorentitel ehrenhalber, 1985 gisch-erbaul. Absichten verband H. auch mit die Goldene Medaille der Humboldt-GesellÜbersetzungsarbeiten (Thomsons Jahreszeiten schaft für Wissenschaft, Kunst u. Bildung, in deutschen Jamben. Altona 1796), eigenen 1992 die Medaille des Explorers Club in New Fabeln u. empfindsam getönter Lyrik (GeYork u. 2002 den Light of Truth Award, verdichte [...]. Hg. mit einer Biogr. des Verfassers liehen durch den Dalai Lama. von Gerhard Holst. 2 Tle., Altona 1804). Weitere Werke: Die weiße Spinne. Die Gesch. Überregionale Bekanntheit sicherte H. sein der Eiger-Nordwand. Bln./Wien/Ffm. 1958. – Ich patriotisches Kriegslied auf König Christian komme aus der Steinzeit. Ewiges Eis im Dschungel der Südsee. Bln./Ffm./Wien 1963. – Huka-Huka. VII. von Dänemark (»Heil Dir, dem liebenden Bei den Xingu-Indianern im Amazonasgebiet. Bln./ Herrscher des Vaterlands! Heil, Christian, Ffm./Wien 1968. – Geister u. Dämonen. Mag. Dir!« In: Flensburgsches Wochenblat für JeAbenteuer in fernen Ländern. Bln./Ffm./Wien derman, 27.1.1790, S. 225–227): Mit der
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Melodie der engl. Nationalhymne verbunden u. von Balthasar Gerhard Schumacher 1793 leicht abgeändert, wurde es zur preuß. Königs- u. Kaiserhymne Heil Dir im Siegerkranz. Literatur: Willers Jessen: H. H. der Dichter des Liedes ›Heil Dir im Siegerkranz‹. In: Die Heimat 27 (1917), S. 173–179. – Klaus Witt: H. H. Ein schleswig-holstein. Fabeldichter der Aufklärungszeit. In: Die Heimat 57 (1950), S. 90–92. Gerda Riedl
Harring, Harro Paul (Kasimir), auch: Hamlet, Hopfer, Kasimirowicz, Johnes, John Felleisen, * 28.8.1798 Ibenshof bei Wobbenbüll/Nordfriesland, † 15.5.1870 St. Helier/Kanalinsel Jersey. – Schriftsteller, Maler, Politiker. H. verbrachte die Kindheit auf dem väterl. Hof, studierte in Kopenhagen, Kiel u. Dresden Malerei, unterbrach jedoch sein Studium u. schloss sich dem radikalen Flügel der Burschenschaften an. 1821 nahm er an den Aktionen der Philhellenischen Legion im griech. Unabhängigkeitskrieg teil. Er wurde Theaterdichter in München (erfolgreich waren seine Dramen Der Wildschütze, Der Corsar u. Die Mainotten. Alle Luzern 1825), dann 1826/ 27 Dramaturg in Wien. Als »Demagoge« ausgewiesen, gelangte er nach Prag, wo man sein Stück Theokla aufführte. In dem autobiogr. Roman Rhongar Jarr. Fahrten eines Friesen (4 Bde., Mchn. 1828) beschrieb er seine Reiseabenteuer. Nach zweijährigem Militärdienst in Warschau ging er 1830 nach Sachsen u. Thüringen. In seinen Memoiren über Polen unter russischer Herrschaft u. im Roman Der Pole (beide Eisenberg/Thüringen 1831) übte er heftige Kritik am Zarismus; in seiner Gedichtsammlung Splitter und Balken (Hof 1832) u. im Roman Die Schwarzen von Gießen (Lpz. 1831) rief er das dt. Volk zur Erhebung gegen die »Tyrannenfürsten« auf. Er nahm am Hambacher Fest teil, veröffentlichte 1832 in Straßburg revolutionäre Gedichte (Männerstimmen zu Deutschlands Einheit, Blutstropfen, Die Völker) u. floh, von der Polizei verfolgt, in die Schweiz, wo er mit Mazzini Freundschaft schloss u. sich an dessen Savoyer-Feldzug beteiligte. Seine Worte eines Menschen (1834) vermengten im Gefolge des kath. Sozialphilosophen Lamennais jakobin. Ideen mit reli-
Harring
giöser Romantik. Seine revolutionären Sturmlieder (Die Möwe. Brügge 1835) u. sein Tendenzstück Die deutschen Mädchen (1835) waren bei Flüchtlingen beliebt; in der Gedichtsammlung Hundert Handwerker (Zürich 1836) entlud sich H.s Hass gegen die Privilegierten im Ausmalen sadistischer Gewalttaten. Nach England abgeschoben, lebte er von seiner Malerei, suchte vergeblich auf Helgoland Fuß zu fassen u. reiste nach Rio de Janeiro, wo 1842 seine Poesien eines Skandinaven erschienen. 1843–1848 hielt er sich in New York auf, wo er eine »Skandinavisch-nationale Gesellschaft« mitbegründete. Bei Ausbruch der Revolution eilte er nach Europa; im Juli 1848 hielt er in Bredstedt eine von menschheitl. Heilserwartung erfüllte Rede, in der er die Errichtung einer unabhängigen nordfries. Republik forderte. 1849 war H. Redakteur der radikaldemokrat. Zeitung »Das Volk« in Rendsburg. Die Niederlage der Revolution trieb ihn ins norweg. Exil, wo er vergeblich eine panskandinav. Republik propagierte. Erneut zwangsweise in England, wurde er von Mazzini in dessen Europäisches demokratisches Zentralkomitee aufgenommen. Sein Historisches Fragment über die Entstehung der Arbeiter-Vereine und ihren Verfall in kommunistische Spekulationen (London 1852), in dem er die Idee der Gütergemeinschaft u. den Materialismus der Kommunisten angriff, erregte Marx’ Zorn, der H. als »Urbild« des »Emigrationsagitators« verhöhnte. 1854 scheiterte der Versuch, sich als Schiffsagent einer New Yorker Firma eine bürgerl. Existenz aufzubauen. Er hielt sich 1855 in Brasilien auf u. siedelte sich nach der Rückkehr auf der Kanalinsel Jersey an. 1863 erschien in Kopenhagen seine in dän. Sprache verfasste Autobiografie. In seinen letzten Lebensjahren litt er an polit. Wahnvorstellungen, glaubte sich von preuß. u. russ. Agenten verfolgt u. erdolchte sich in einem dieser Halluzinationszustände. H. stellte die Zeitprobleme nicht nur ins Zentrum seines literar. Schaffens, sondern suchte ihre Lösung durch eigene revolutionäre Aktivität in vielen Ländern Europas u. Amerikas voranzutreiben. Von moralischem, religiös gefärbtem Gerechtigkeitsstreben erfüllt, solidarisierte er sich mit den Unter-
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schichten, wobei er trotz seines polit. Radikalismus bürgerl. Eigentumsvorstellungen verhaftet blieb. Viele seiner poetischen Schöpfungen – anfangs vom schwülstigen Pathos der Burschenschaften bestimmt, später oft von eleg. Stimmung – fordern die Beseitigung monarchischer Willkürherrschaft u. die Errichtung eines auf gesellschaftl. Gleichheit beruhenden Völkerbunds. Literatur: Christian Degn: H. H., Profil eines Januskopfes. In: FS Otto Scheel. Hg. Harald Thurau. Schleswig 1952, S. 121–165. – Hans-Georg Werner: Gesch. des polit. Gedichts in Dtschld. v. 1815 bis 1840. Bln. 21972, passim. – Walter Grab: H. H., Revolutionsdichter u. Odysseus der Freiheit. In: Demokrat.-revolutionäre Lit. in Dtschld.: Vormärz. Hg. Gert Mattenklott u. Klaus R. Scherpe. Kronberg/Taunus 1974, S. 9–84. – Mitt.en der H.H.-Gesellsch. Husum (1982 ff.). – Waltraud SeidelHöppner: Carl Georg Allhusen u. H. H. Landsleute, Zeitgenossen, Antipoden. In: Cahiers d’Etudes Germaniques 42 (2002), S. 7–15. Walter Grab † / Red.
Harsdörffer, Georg Philipp, auch: Strephon, Der Spielende, * (oder getauft) 1.11. 1607 Fischbach bei Nürnberg, † 17.9. 1658 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Johannisfriedhof. – Jurist, Schriftsteller, Übersetzer. Aus dem Nürnberger Patriziat u. einem gebildeten Elternhaus stammend, erhielt H. eine humanistische Schulbildung. Schon 1623 immatrikulierte er sich an der Universität Altdorf, wo er Jurisprudenz studierte, aber wahrscheinlich auch Vorlesungen bei dem Mathematiker u. Orientalisten Daniel G. Schwenter besuchte, dessen Mathematische und Philosophische Erquickstunden er später fortsetzte. 1626 immatrikulierte er sich an der Universität Straßburg, wo er wahrscheinlich Matthias Bernegger begegnete, der als Geschichtsprofessor auch naturwissenschaftl. u. philolog. Interessen pflegte. 1627–1631 unternahm H. eine Studienreise, welche ihn nach Genf, Frankreich, den Niederlanden, England u. Italien führte, wo er sich an der Universität Siena immatrikulierte; er hielt sich auch längere Zeit in Florenz auf. Nach seiner Rückkehr nach Nürnberg war er als Jurist tätig, ab 1634 am Untergericht u.
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1637–1655 am Stadtgericht; von 1655 bis zu seinem Tod gehörte er dem Inneren Rat an. H.s Hauptwerke neben zahllosen Lob- u. Widmungsgedichten sind größtenteils Übersetzungen u. Bearbeitungen fremdsprachiger, meistens frz., aber auch ital. u. seltener span. Werke, was ihn dank seiner großen Belesenheit zu einem der bedeutendsten Kulturvermittler zwischen den romanischen Kulturen u. der erst im Entstehen begriffenen höfischen dt. Kultur machte. Von seinem umfassenden Kulturprogramm zeugt z.B. sein Trincir-Buch (1640. Weitere stark erw. Aufl.n 1652, 1654, 1657. Neudr. der Ausg. von 1657, Hildesh. 1971; der Ausg. von 1652, Lpz. 1976), eine Übersetzung eines schmalen Werks über ital. Tischkultur, das H. ständig erweiterte, z.B. auch um einen Teil zur Unterhaltung bei Tisch, so dass schließlich in enzyklopäd. Weise eine große Vielfalt von Themen im Zusammenhang mit der Tischkultur behandelt wurden, angefangen beim Tischdecken über das Vorschneiden bis zu den Unterhaltungen bei Tisch, die mit Beispielen aus der Bibel, der antiken Geschichte bis hin zu aktuellen medizinischen Erkenntnissen anreichert wurden. Sein innerhalb dieses Kulturprogramms bedeutendstes Werk sind die Frauenzimmer Gesprächspiele (8 Tle., Nürnb. 1641–49. Ab Teil 3 Gesprächspiele; 1. u. 2. Teil in 2. Aufl. 1644 bzw. 1657. Neudr. hg. von Irmgard Böttcher. Tüb. 1968/ 69). Der erste Teil brachte H. 1642 die Mitgliedschaft in der »Fruchtbringenden Gesellschaft« ein (Gesellschaftsname: Der Spielende). 1644 wurde er als »der Kunstspielende« in Philipp Zesens »Deutschgesinnte Genossenschaft« aufgenommen. Die Gesprächspiele haben ebenfalls enzyklopäd. Charakter; es werden darin die vielfältigsten Themen abgehandelt, die von den verschiedenen Künsten bis zu neuestem naturwissenschaftl. Wissen (kopernikan. vs. ptolemäisches Weltbild; zitiert wird u. a. F. Bacon) reichen, von Fragen der Interpretation von Emblemen u. anderen allegor. Darstellungen bis zur Diskussion über Romane oder über das Alter der dt. Sprache, wobei immer auch Literaturhinweise gegeben werden. H. hat diese Art von Unterhaltung in den ital. Akademien kennen gelernt. Im Unterschied zu
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den gedruckten ital. Vorbildern (u. a. G. u. S. Bargagli, F. Loredano, I. Ringhieri) der Gesprächspiele, welche reine Anleitungen zu gesellschaftlich geistreichen Spielen u. zur Konversationen sind, hat H. seine Spiele in Szene gesetzt u. zwar im wörtl. Sinn, indem er sechs Personen verschiedenen Standes (Hof, Studium, Militär), Alters u. Geschlechts (je drei Damen u. drei Herren) sich an einem bestimmten Ort (in einem Garten, auf einer Schifffahrt, vor Bildteppichen) treffen lässt. Dieser wird jeweils im Titelkupfer dargestellt u. ist auch Gegenstand mindestens eines, wenn nicht mehrerer Gespräche des betreffenden Teils. Neu ist aber auch, dass die Gespräche in diesem Rahmen tatsächlich als Gespräch wiedergegeben werden mit kleineren Neckereien, v. a. zwischen der jüngsten Dame u. dem »gereist und belesenen« Studenten, aber auch generell zwischen den Damen, die sich gegen allzu gelehrtes Wissen wehren, u. den Herren. H. will mit diesem Werk ein Modell schaffen für einen kultivierten Umgang, für eine belehrende, abwechslungsreiche u. »höfliche« Unterhaltung nach vorwiegend ital. Vorbild, wobei immer wieder die Jugend als Zielpublikum genannt wird. Voraussetzung einer solchen ist ein gewisses breites Wissen, das aber nicht schulmäßig sein soll – von daher die Wichtigkeit der Frauen in dieser Art gesellschaftl. Umgangs. Die zahlreichen kompilatorischen Werke, die auf die Publikation der Gesprächspiele folgten, haben nicht zuletzt den Zweck, dieses Wissen u. den Stoff für solche Unterhaltungen zur Verfügung zu stellen – von daher auch die Tendenz zur Enzyklopädie. So dienen die zwei Bände, die H. als Fortsetzung von Schwenters Mathematisch-Philosophischen Erquickstunden (1651–53. Neudr. hg. von Jörg Jochen Berns. Ffm. 1990/91) publizierte, dazu, naturwissenschaftl. Wissen, das auch in den Gesprächspielen eine gewisse Rolle spielt, für solche Unterhaltungszwecke aufzubereiten u. zgl. einem weiteren Publikum, das v. a. in höf. Kreisen u. in der gehobenen Schicht des Bürgertums zu denken ist, zugänglich zu machen. Alle diese Werke haben auch den Charakter von Schatzkammern, in denen Kuriositäten der Natur aber auch der moralischen Welt gesammelt u. zusammengestellt
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werden. Mit den Apophthegmata [...] Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und ergötzlicher Hofreden (1656/57. Neudr. Hg. von Georg Braungart. Ffm. 1990) publiziert H. eine Sammlung von geistreichen Sprüchen, welche in der Unterhaltung angebracht werden können. Er ist unermüdlich darum bemüht, der Jugend Material für sinnvollen Zeitvertreib zu verschaffen, in dem die Unterhaltung mit moralischer Belehrung verknüpft werden soll. Diesem Zweck dienen v. a. Übersetzungen von Erzählsammlungen insbes. des frz. Bischofs Jean-Pierre Camus (1584–1652). Auf ihn gehen Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte (Hbg. 1649/50 u. ö. Neudr. Hildesh. 1976), Der Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichten (Nürnb. 1650 u. ö. Neudr. Hildesh. 1978), Heraclitus und Democritus (Nürnb. 1652/53), das Pentagone Historique [...] / Historische Fünffeck (1652) u. der Geschichtspiegel (Nürnb. 1654) zurück. Das historische Fünfeck zeigt H.s Absicht insofern am deutlichsten, als er die Erzählungen mit der Übersetzung der Kennzeichen der Tugenden und Laster des Engländers Joseph Hall erweitert hat. H. übersetzte die Erzählungen des Franzosen nicht einfach, sondern bearbeitete sie stark, ließ einige weg bzw. ersetzte sie durch Erzählungen anderer Autoren (M. Bandello, F. de Belleforest, Cervantes, S. Goulart, F. de Rosset); meistens fügte er weitere Erzählungen hinzu. Häufig kürzte er die Texte auf ihren Handlungskern, ließ Ausschmückungen weg u. hob dafür die moralische Deutung deutlicher hervor, so dass die Erzählungen den Charakter von Exempeln moralisch richtigen u. falschen Verhaltens annehmen. Dies ist denn auch der Grund, warum diese Texte nicht als Novellen in einem modernen Sinn verstanden werden können; sie stehen aber sehr wohl in der Tradition von Cervantes‘ Exemplarischen Novellen (Novelas ejemplares). Diese im 16. Jh. entstandene Form der Erzählung beansprucht, tatsächl. Ereignisse, die Privatpersonen betreffen, zu erzählen. H. muss als der bedeutendste Vermittler dieser von Italien u. Frankreich ausgehenden Erzähltradition in Deutschland gelten. Insbesondere die MordGeschichte u. der Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte erlebten zahlreiche Auflagen u.
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wurden noch bis zu Beginn des 18. Jh. nachgedruckt. Dass H. die moralisch-erbaul. Absichten wichtig waren, zeigt sich in der Publikation von erbaul. Werken im engeren Sinne wie Nathan und Jotham (Nürnb. 1650/51. 21659. Neudr. hg. von Guillaume van Gemert. Ffm. 1991) u. in den Hertzbeweglichen Sonntagsandachten (2 Bde., Nürnb. 1649 u. 1652. Neudr. hg. von Stefan Keppler. Hildesh. 2007), welche geistl. Embleme (»Andachts-Gemähle«), Lieder u. Gedichte enthalten, die der Andacht u. geistl. Erbauung dienen. Einige von H.s Liedern sind in Kirchenliederbücher eingegangen. Wie sehr alle diese Aspekte von H.s Werk zusammenhängen, zeigt sich daran, dass in den Sonntagsandachten auf den Emblemen oft dieselben techn. Kuriositäten dargestellt sind wie in den Mathematischen Erquickstunden, denn auch diese dienen nicht nur der Unterhaltung u. der Befriedigung der Kuriosität, sondern nicht zuletzt auch der Erbauung durch Naturbetrachtung. Mit dem Ziel der Kulturvermittlung ist von Anfang an das Bemühen um eine Aufwertung der dt. Sprache verbunden. Nicht nur wird in den Gesprächspielen vorgeführt, dass eine geistreiche Unterhaltung auf Deutsch möglich ist, sondern es wird auch die dt. Sprache selbst thematisiert u. aufgewertet, indem sie auf den Turmbau zu Babel zurückgeführt wird u. damit als eine der urspr. Sprachen, in welcher Wörter u. Sachen übereinstimmen, verstanden wird. Die Natur selbst spricht Deutsch, wie es in der Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit (in: Gesprächspiele, 1644, Anhang, 1. Teil) heißt, ist also eine Natursprache. Zahlreiche Spiele in den Gesprächspielen dienen dazu, die außerordentl. Qualitäten der dt. Sprache spielerisch zu demonstrieren; dies geht von der Rückführung der Wörter auf ihre (vermeintliche) Grundbedeutung, über symbolische Lautdeutungen bis zu Spielen mit Prä- u. Suffixen. In den Mathematischen Erquickstunden findet sich der sog. Fünffache Denckring, mit dessen kombinatorischer Hilfe man aus Buchstaben, Prä- u. Suffixen mehr als eine Million Wörter erzeugen kann. In seinem patriotischen Sprachtraktat Specimen philologiae Germanicae (1646) legte H. diese Auffassung für ein wissenschaftl. Pu-
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blikum dar. Ihre eigentl. Qualität zeigt die dt. Sprache aber letztlich in den poetischen Werken selbst. So werden den Gesprächspielen auch immer wieder poetische Werke eingefügt, z.B. das älteste dt. Singspiel Seelewig, zu dem der Nürnberger Komponist Sigmund Theophil Staden die Musik komponierte, sowie die ebenfalls von Staden komponierten Tugendsterne oder das Schauspiel deutscher Sprichwörter. Die Dichtkunst zu heben, war auch die Absicht seiner in drei Teilen erschienenen Poetik, des Poetischen Trichters (Nürnb. 1647–53. Neudr. Darmst. 1969. Hildesh. 1971), in dem H. die wenigen bis dahin verwendeten Vers- u. Strophenformen wiederum durch die für ihn typische kombinatorische Methode um ein Vielfaches vermehrte u. im dritten Teil eine Art Metaphernlexikon publizierte. Metaphern u. Embleme sind auch in den Gesprächspielen ein beliebter Gegenstand der Unterhaltung. Das poetischste seiner Werke hat H. aber zweifellos in Zusammenarbeit mit Johann Klaj im Pegnesischen Schäfergedicht (Nürnb. 1644) geschaffen, in dem er unter dem Schäfernamen Strephon seine Sprachtheorie der deutsch redenden Natur in Gedichten umsetzte. Dieses fand eine Fortsetzung (Nürnb. 1645. Neudr. beider Tle. hg. von Klaus Garber. Tüb. 1966), bei dem auch Sigmund von Birken mitarbeitete. H. gründete zusammen mit Klaj 1644 den bis heute bestehenden Pegnesischen Blumenorden, in den auch Frauen aufgenommen wurden u. in dem die Schäferdichtung bes. gepflegt wurde. Der Blumenorden hatte nicht nur die Pflege der dt. Sprache u. Dichtung zum Ziel, sondern auch die Förderung der Verehrung Gottes u. entsprach damit H.s publizistischem Programm. Zu den frühen Übersetzungen H.s gehörte denn auch die Übersetzung der Verse im Schäferroman Diana des Jorge de Montemayor (1646. Neudr. Darmst. 1970). Im Gefolge der zu Beginn der Aufklärung aufgekommenen Kritik an der Barockliteratur generell hatte man keinen Sinn mehr für H.s Sprachspielereien u. sein poetolog. Programm. Erst 1826 gab Wilhelm Müller einen Band mit Barockgedichten (Auserlesene Gedichte) heraus, der auch Gedichte H.s enthielt. Eine eigentl. Renaissance erlebte H., als er
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Hart
von den Dichtern (v. a. Gerhard Rühm) der konkreten Poesie wieder entdeckt wurde.
Studien, a. a. O. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/1–2, Tüb. 2006, passim.
Weitere Werke: Stechbüchlein: Das ist Hertzensschertze. Nürnb. 1645. Neuaufl. Nürnb. 1654. – Icones Mortis von Johann Vogel [Verse v. H.]. Nürnb. 1648. Neudr. Stgt. 1998. – Speculum Solis. Nürnb. 1652. – Kunstverständiger Discurs v. der edlen Mahlerey. Nürnb. 1652. Neudr. hg. Michael Thimann. Heidelb. 2008. – Der Teutsche Secretarius. 2 Tle., Nürnb. 1655–59 u. ö. – Mercurius historicus. Hbg. 1657. – Zahlreiche Lob- und Trauergedichte. – Briefe: Gottlieb Krause: Der Fruchtbringenden Gesellsch. ältester Erzschrein. Lpz. 1855. Neudr. Hildesh./New York 1973, S. 307–401. – Übersetzungen: Vier Schriften Richelieus (alle o. O. [Nürnb.]: Peristromata Turcica Expansa sive Dissertatio emblematica. 1641. Germania deplorata. 1641. Gallia deplorata. 1641. Aulaea Romana contra Peristromata Turcica expansa. 1642. InternetEd. aller vier Schr.en in: CAMENA. – Japeta von Desmarets de St. Sorlin. o. O. [Nürnb.] 1643. – Catechisme royal. Der Kgl. Katechismus v. Pierre Fortin. o. O. [Nürnb.] 1648.
Rosmarie Zeller
Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 1969–2031. – Hans-Joachim Jakob: Bibliogr. der Forschungslit. zu G. P. H. 1847–2005. In: Ders. u. Hermann Korte: H.-Studien. Mit einer Bibliogr. zur Forschungslit. Ffm. 2006, S. 13–35. – Weitere Titel: James Haar: The Tugendsterne of H. and Staden. An exercise in musical humanism. o. O. 1965. – Jean Daniel Krebs: G. P. H. (1607–1658). Poétique et poésie. Berne u. a. 1983. – Irmgard Böttcher: Der Nürnberger G. P. H. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Ihr Leben u. Werk. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 289–346. – Peter Hess: Poetik ohne Trichter. H.s ›Dicht- u. Reimkunst‹. Stgt. 1986. – Mara R. Wade: The German pastoral ›Singspiel‹. Bern u. a. 1990. – G. P. H. Ein dt. Dichter u. europ. Gelehrter. Hg. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991. – Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock u. Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Bln./New York 1994, passim. – Renate Jürgensen: Utile cum dulci: Die Blütezeit des Pegnes. Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, passim. – Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jh. Hg. John Paas. Wiesb. 1995. – Markus Hundt: ›Spracharbeit‹ im 17. Jh. Studien zu G. P. H., Justus Georg Schottelius u. Christian Gueintz. Berlin/New York 2000. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 673–677. – Danielle Brugière-Zeiß: ›Seelewig‹ de G. P. H. et S. T. Staden (1644) un opéra? Un projet pastoral original entre musique et littérature. Bern u. a. 2003. – G. P. H. u. die Künste. Hg. Doris Gerstl. Nürnb. 2005. – H.-
Hart, Heinrich, * 30.12.1855 Wesel, † 11.6. 1906 Tecklenburg/Westfalen; Grabstätte: ebd., Friedhof. Hart, Julius, * 9.4.1859 Münster, † 7.7. 1930 Berlin; Grabstätte: ebd. Friedhof Zehlendorf. – Publizisten, Kritiker, Dichtungstheoretiker, Lyriker. Als Söhne eines Rechnungsrats besuchten die Brüder H. das Gymnasium in Münster. Schon hier begann mit der von Heinrich herausgegebenen Schülerzeitschrift »Herz und Geist« eine redaktionelle Tätigkeit, welche mit zunehmender Bedeutung das spätere Leben der Brüder ausmachen u. sie bekannt machen sollte. Zusammen mit Albert Gierse u. ihrem langjährigen Mitarbeiter Peter Hille veröffentlichten sie 1877 ihre erste literar. Zeitschrift »Deutsche Dichtung« (3 H.e, Münster). Auf der Suche nach einem größeren Wirkungskreis zogen sie im selben Jahr nach Berlin, mussten aber aus finanziellen Gründen bald nach Münster zurückkehren. Für die in Berlin vorbereiteten »Deutschen Monatsblätter« (1878/79) u. den nach vier Jahren an Kürschner abgegebenen »Deutschen Literaturkalender« (1879 gegründet) fanden sie einen Verleger in Bremen. 1881 kehrten sie mit klaren Zielen nach Berlin zurück. Durch die ausschließlich von den beiden Brüdern geschriebenen, unregelmäßig erscheinenden »Kritischen Waffengänge« (Lpz. 1882–1884. Neudr. New York/London 1969) gewannen sie die Aufmerksamkeit radikaler junger Dichter wie Conradi, Arent u. Henckell; um die H.s bildeten sich die frühesten naturalistischen Gruppen. Am heftigsten attackierten sie Erfolgsautoren wie Heinrich Kruse, Hugo Lubliner oder Albert Träger, v. a. wenn, wie bei Paul Lindau, der frz. Einfluss sehr stark war. Ansonsten zielte ihr gemäßigtes Programm auf einen zwischen Tradition u. Moderne vermittelnden »Idealrealismus«. Das Vorbild fanden sie eher im poetischen Werk des Sturm und Drang u. namentlich des jungen Goethe als im »naturwissenschaftlichen« Werk des europ. Natu-
Hart
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ralismus; so wurde der experimentelle Ro- sprach als der Rationalismus der naturalistiman Zolas nur mit Vorbehalt, die epigonale schen Theorie. Lyrik Schacks dagegen bedingungslos empWeitere Werke: H. H.: Ges. Werke. Hg. J. H., fohlen. In Fragen der literar. Wertung etwas Wilhelm Bölsche u. a. 4 Bde., Bln. 1907. – H. H. u. J. unsicher u. trotz mehrerer Versuche v. a. in H.: Lebenserinnerungen. Rückblicke auf die Frühder Lyrik u. der lyr. Prosa (Julius H.: Stimmen zeit der literar. Moderne (1880–1900). Hg. Wolfin der Nacht. Florenz/Lpz. 1898. Träume der gang Bunzel. Bielef. 2006. Literatur: Kurt Tillmann: Die Ztschr.en der Mittsommernacht. Jena 1905) u. im Versepos (Heinrich H.: Das Lied der Menschheit. 3 Bde., Gebrüder H. Diss. Mchn. 1923. – Ernst Ribbat: Grossenhain 1888–96) schöpferisch unpro- Propheten der Unmittelbarkeit. Bemerkungen zu H. u. J. H. In: Wiss. als Dialog. FS Wolfdietrich duktiv, vermochten die H.s keinen tiefgreiRasch. Hg. Renate v. Heydebrandt u. Klaus Günfenden Einfluss auf die naturalistische Be- ther Just. Stgt. 1969, S. 59–82. – Dagmar Kaiser: wegung (deren Führung bald vom Münche- ›Entwicklung ist das Zauberwort‹. Darwinistisches ner Kreis um Conrad u. die 1885 gegründete Naturverständnis im Werk J. H.s als Baustein eines »Gesellschaft« übernommen wurde) oder auf neuen Naturalismus-Paradigmas. Mainz 1995. – den Expressionismus zu gewinnen, dessen Westf. Autorenlex., Bd. 3. – Thomas Dupke: AufStil v. a. Julius H.s spätere Werke teilweise bruch ins neue Jh. Zwei Dichterpriester aus Westfalen: Die Brüder H. u. die Neue Gemeinschaft. In. vorwegnehmen. Die H.s besaßen jedoch die Fähigkeit, Lit. in Westfalen 4 (1998), S. 175–198. – T. Dupke: Menschen zusammenzubringen; die in ihrer Der J.-H.-Nachl. in der Handschriftenabt. der Stadt- u. Landesbibl. Dortmund. In: Lit. in WestBerliner Wohnung stattfindenden Diskusfalen 5 (2000), S. 239–246. sionen antizipieren in den 1880er Jahren viele John Osborne / Björn Spiekermann der Intentionen späterer naturalistischer Gruppen: Erneuerung des Theaters, sozialHart, Marie, eigentl. Marie Anne Hartpolit. Ambitionen, der Kampf um die natiomann, * 29.11.1856 Bouxwiller/Elsass nale Literatur, die positive Aufnahme der (›Hanauer Land‹), † 30.4.1924 Bad Lieneuen skandinav. Literatur. Auch bei weitebenzell. – Teilweise im elsässischen Aleren, kurzlebigen Versuchen, eigene Zeitmannisch schreibende Erzählerin, Lyrischriften zu gründen (»Berliner Monatshefkerin u. Theaterdichterin. te«. Minden 1885. »Kritisches Jahrbuch«. Hbg. 1889/90) blieben die Brüder dem Na- Die Apothekertochter besuchte die Schule in turalismus verpflichtet. Sie gehörten 1887 Straßburg u. legte in Nancy das Lehrerinzusammen mit Holz, Schlaf, Hauptmann u. nenexamen ab. Dann lebte sie zeitweise als anderen dem literar. Verein »Durch« an; Erzieherin auch in Deutschland (Dresden). 1889 waren sie Mitbegründer der von Brahm Die Heirat mit dem württembergischen Ofgeleiteten Freien Bühne. Während Heinrich fizier Karl Alfred Kurr (1882) zog wechselnde der bedeutendere Theoretiker war, stand Ju- Wohnorte nach sich (Mellau/Voralberg, Lutlius dem Theater näher; in den 1890er Jahren zelhouse/Elsass; Freilassing/Bayern, seit 1908 war er ein Mitkämpfer Willes in der Volks- wieder Bouxwiller). Zwar schrieb H. bei Gebühnenbewegung u. unterstützte diesen in legenheit auch auf französisch, doch größere den Auseinandersetzungen, die auf den Streit Resonanz fand sie, von Friedrich Lienhard zwischen »Alten« u. »Jungen« in der SPD gefördert, mit humoristisch gefärbten Erfolgten. Mit gleichgesinnten, ebenfalls dem zählsammlungen in ihrem heimischen DiaMonismus Haeckels verpflichteten Schrift- lekt: G’schichtle un Erinnerungen üs de sechziger stellern wie Bölsche fiel es ihnen nicht Johr (Stgt. 1911. Neuausg. Straßb. 2002), D’r schwer, sich aus der Großstadt in das ländl. Herr Merkling un sini Deechter (Stgt. 1913. Friedrichshagen zurückzuziehen. Dort gaben Neuausg. Straßb. 2002), D’r Hahn im Korb sie die – allerdings kaum mehr beachtete – (Stgt. 1917). Dazu traten neben verstreuter Zeitschrift »Die neue Gemeinschaft« heraus, Lyrik vereinzelte Theaterstücke, auch Überderen sozialeth., weltlich-myst. Programm ihrem grundlegenden Idealismus eher ent-
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setzungen aus dem Französischen (D’r Stadtnarr. Straßb. 1907. Neuausg. Straßb. 2003). Als ihr Mann nach dem Ersten Weltkrieg abrupt aus dem Elsass ausgewiesen wurde, folgte sie ihm im Juni 1919 nach Bad Liebenzell, tief enttäuscht vom Verhalten ihrer Landsleute (u. a. Gedicht Abschied vum Elsass, abgedr. in Katalog 2006, s. u.). Der Erinnerung u. epischen Imagination der verlorenen Heimat widmeten sich die teils idyllisch, teils auch kritisch-satirisch konzipierten Prosawerke der Folgezeit: Üs unsre Franzosezit. Stgt. 1921. Elsässische Erzählungen. Bln./Lpz. 1922. Erinnerungsland. Stgt. 1923 (»Meinen Mitvertriebenen gewidmet«). Üs min’re alte Heimet. Bln. 1930. Für die von H. oft aus der Erlebensperspektive erzählte u. beobachtete Mentalitätsgeschichte des Elsass, d.h. für einen neuralgischen sprachl. u. polit. Spannungsraum, bieten H.s Bücher, ergänzt durch zahlreiche Zeitschriftenpublikationen, ein noch kaum ausgeschöpftes, lange in manchen Kreisen eher tabuisiertes Studienmaterial, das neuerdings gerade im Elsass verstärkte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Literatur: Alfred Matt: M. H. In: Revue alsacienne de litterature 21 (1988), S. 53–63. – Ders. M. H. In: NDBA. – M. H., une femme, un destin, une époque (1856–1924). Ausstellungskat. Musée de Bouxwiller en Pays de Hanau 2006 (mit Textauszügen bes. der Lyrik u. vielen Abb.en). Wilhelm Kühlmann
Hartinger, Ingram, * 28.12.1949 Saalfelden/Salzburg. – Verfasser essayistischer Prosa, Lyriker u. Drehbuchautor. »Ich habe mich folgerichtig u. ganz ohne Mühe gegen die Plots entschieden. Alle Plots, denke ich, führen direkt zum Tod, stellen eine Art Todverfallenheit abendländischer Ordnungsmystik dar.« (Sagen. Eine Arbeit. Wien/Graz 1997). – Die sprachkrit. Prosa H.s entstand im Umkreis einer Neoavantgarde, die sich in Graz als »Forum Stadtpark« (später: Grazer Gruppe) in den 1960er Jahren etablierte u. bis heute in der Zeitschrift »manuskripte« literar. Experimente mit gesellschaftskrit. Kalkül verknüpft. Auch H., der in den 1970er Jahren in Triest als Mitarbeiter des Psychiaters Franco Basaglia mit der sog. Anti-Psych-
Hartinger
iatrie bekannt geworden war (vgl. Prosawetter. Entrechtungen 72–94. Klagenf./Wien 1997), 1975 in Salzburg mit einer Arbeit über Schizophrenie und Sprache. Eine Studie zur Problematik der sprachlichen Kommunikation bei Schizophrenen promovierte u. seit 1979 an der Klinik in Klagenfurt als Psychologe tätig ist, vereint in fiktionalen Essays Psychiatriereform, Kultur-, Gesellschafts- u. Subjektkritik mit Formen errat. Sprechens. Die Thematik seiner hochverdichteten Texturen ist auf den Prozess des Schreibens selbst bezogen, öffnet sich jedoch auf eine Vielzahl von Diskursen, die vom Austro-/Klerikalfaschismus über die Erotik der »entnervten Bürgerwelt« (Feige Prosa. Graz/Wien 1988) bis zu intimen Selbstbeobachtungen u. Reiseeindrücken aus Südamerika, den USA u. Japan reicht u. daraus ein subtiles ›patchwork‹ medienkrit., polit. u. philosophischer Spekulationen webt. Der programmat. Verzicht auf Handlungs- u. Erzählstrukturen – »Tod dem Narrativ!« (Hybris. Graz/Wien 1995) –, der schon im pseudorealistischen Romanexperiment Der Roman der nicht sein kann – Ein Roman von Jakob Hirschbichler (Graz 1973) erkennbar wird, verdrängt die realistischen Erzählverfahren früherer Versuche (etwa Nervenheilanstalten. Graz 1976) u. begründet H.s opaken Stil. Die Essaysammlung Schöner Schreiben (Graz/Wien 1986) reflektiert ihre eigene Hermetik (»wir sehnen uns nach etwas Unverständlichem«), die dann im agrammat., assoziativen Wortspiel zwischen »Lachmaschine« u. Subjektzerstörung »Schemenhaftes. Nein. Schelmenhaftes« erzeugt: »Ob ich drunten schon die shocking Schwermasse oder den unter uns weilenden Tod-Tod mir an die Brust drücke und ein Weilchen stillhalte, um aus Angst dann an mir emporzublicken. Ob ich im Sargknistern oder noch vor der letzten Minute. Aber ich habe weder kenntnisreich noch gewissenhaft. [...] Und aus der dreisten Lage heraus entstand ein apokalyptischer Frischling [...].« (Der Brüllnarr. In: Feige Prosa). Die »Gedankenflucht« der simulierten Irrenrede, die noch auf die Tradition der ›absoluten Prosa‹ des Expressionismus u. die Sprachexperimente der Konkreten Poesie verweist, wird im Roman Albino (Graz/Wien 1990) zum Verfahren eines anti-autobiogr.
Hartinger
Bekenntnismanifests: zum »Buch vom gescheiterten Handeln«, das mit aggressiver Larmoyanz die Dekompensation des Psychologen H. betreibt u. dessen Individualität im Wort-Archiv zerfallen lässt: »Das Konzept ist in sich zusammengebrochen: Psychologie Europa Kindheit bürgerliche Existenzform Büro Literatur Mutter Gefühlssperre Aufenthalt in Saalfelden Verzweiflung Frau Psychosomatik Arbeiterschaft [...] Subjekt usw.« Woraus folgt: »Man darf vielleicht auf radikale Weise hinter den Wörtern her sein, nicht aber hinter sich selbst.« Die dichterische Selbstkasteiung predigt auch im Essayband Das Auffliegen der Ohreule (Graz/Wien 1993) die »Lehre vom Nichtverstehen« u. verordnet sich aus Furcht vor einer lärmenden »Mythologie des Stillstands« den »Schnuller des Selbstmitleids«: »So wurden unsere OhrenAugenblicke jedesmal durch exzentrische Wortklänge sabotiert. [...] Eingekeilt ins Geschwätz, das immer wieder das Traum-Soziale zu verdrängen versucht, müssen wir ausharren, bis das Ärgste vorüber ist.« Der Sprachkraft freilich schadet diese innere Emigration des »Nonsense« wenig. So bezeichnet das Real-Soziale, von flottierenden Bezugnahmen auf Theoretiker wie Gramsci u. Lacan flankiert, die Kehrseite der »MetaKommunikation«, als die man H.s Projekt zu recht beschrieben hat: »Das ist mein MetaSchrift-Schreiben“, heißt es im Roman Albino, u. in Hybris: »Sind es eigentlich nur Metamitteilungen, die mich interessieren, also die Codierung von Mitteilungen? Zweifelsohne. Alles klar!« Auf diese Weise kann sich H. in Anlehnung an Roland Barthes’ Konzept der ›Lust am Text‹ als Dichter des ›Pluralen‹ inszenieren, einer Unverständlichkeit, die freilich ebenso fragil wie lustvoll ist: »Also pluraler verwirrter verlorener corpus und umherlaufende Gebärde. Andererseits, dem Franzosen zufolge, ganz bewußt ein unlesbares Schreiben, in dem der Code verloren ging.« Die aus den Gattungselementen Lyrik, Drama u. Erzählung komponierte Sammlung Sagen stellt noch einmal das prekäre Ich ins Zentrum einer Mythopoiesis von »psychedelische[r] Eleganz«. Der »einzige Zusammenhang« vollzieht sich als ›black out‹: »Dies al-
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les in einem Menschen. Inkorporiert. Zur Stunde der Visite lag er handlungsunfähig am Boden.« Vorgetragen werden folglich – etwa durch Charakterspaltung in diverse Pseudonyme wie ›Hans Harting‹ u. im Dialog von personifiziertem Buch u. Autor – konkurrierende Identitätsentwürfe mit dem aussichtsreichen Ziel, die Prosa H.s »uninterpretierbar zu machen«. Tröstlicher als diese/s ›Sagen‹ ist die Sammlung Hoffnungshund (Klagenf. 2001), ein fast schon aphoristischer »Versuch im überspitzten Schreiben«, der den Text als ›Buch des Anderen‹ (»Dein Buch ist anders«) konzipiert: »Dein Buch aber steht über der Kunst, über Werk, Stil und Idee, und ist keine Frucht der Feigheit – wie alle Kunst.« Im Essayband Das letzte Heft. Bagatellen (Klagenf./Wien 2008) wird die Umwandlung der melanchol. Exzesse ins Kontemplative – von Alf Schneditz als »Japanisierung H.s« bezeichnet u. mit der Poetik des japanischen Haiku verglichen – fortgeführt: »Ein Körper ist die Welt, und die Wüste hat Seele. Bin, was ich liebe. Glucksende Brutstätte. Ein Tag, an dem ein Zustand genügt.« »Berauscht von so viel Versteinerung« entwickelt H.s prekäre Prosa somit eine intensive, zwischen Sinnlichkeit u. Abstraktion mäandernde Textur von tragikom. Prägnanz. Weitere Werke: Unwirsch das Herz. Salzb. 1991 (L.). – Amagansett. Salzb./Wien 1994 (L.). – Dies die Hand. Ottensheim 1997 (L.). – Gelb. Eine Eskapade. Wien/Bozen 1998. – Über den Versuch. Graz/Wien 1999. – Die Idee umkreist mich wie ein wildes Tier. Klagenf./Wien 2002. – Tang u. Distel. Byzantinisches Album. Graz/Wien 2003. – Spätes Argument. Klagenf./Wien 2005 (L.). – Luftfarbig Jetzt. Klagenf./Wien 2008 (L.). Literatur: Max Blaeulich: Die Liebe zur Sprache, die den Schmerz verbergen soll. I. H. als Erzähler. In: LuK 28 (1993), H. 277/278, S. 89–91. – Alf Schneditz: Schreiben als Macht über das Leben. Drei Bücher v. I. H. In: LuK 33 (1998), H. 329/330, S. 90–92. – Ders.: Traktate der Sehnsucht. Ein Nachw. In: I. H.: Das letzte Heft, a. a. O, S. 299–305. Robert Matthias Erdbeer
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Hartl, Edwin, * 6.7.1906 Wien, † 22.2. 1998 Wien. – Literaturkritiker u. Essayist. H. studierte in Wien Mathematik u. Physik. Wichtig für sein späteres Wirken als Kritiker war u. a. die Begegnung mit den psychoanalyt. Schriften Freuds u. mit Karl Kraus’ Zeitschrift »Die Fackel«. Im Hauptberuf war er bis 1971 Leiter eines Wiener Bezirksjugendamts. Als einziges literar. Werk erschien von H. ein Band mit satir. Antikriegsgedichten in Knittelversen: Wer will unter Soldaten? (Wien 1946). Sein eigentl. Metier sind neben literar. Essays u. sprachanalyt. Glossen die Buchbesprechungen, die er seit 1946 im Österreichischen Rundfunk u. in Zeitungen u. Zeitschriften veröffentlichte. Unter Berufung auf seine »Sprach- und Denklehrer« Nestroy u. Kraus – H. war 1946 Mitbegründer der Wiener Karl-Kraus-Gesellschaft – forderte er vom Literaturkritiker, »es bis ins Unterschwellige absolut ernst zu nehmen mit den menschlichen Motiven und deren Ausdrucksweise«. Seine Kritiken über Bestsellerautoren wie über literar. Debütanten sind von einem hohen Maß an »Ausdrucksroutine« im Pro u. Contra gekennzeichnet: von Anschaulichkeit u. Treffsicherheit, Polemik u. wortspielerischem Witz. H. erhielt 1980 den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Weitere Werke: Wenn ich so zurückdenke. Hintergedanken an die gute alte Zeit. Wien 1991 (Autobiogr.). Literatur: Franz Richter: E. H. In: PEN-Informationen 9 (1982), S. 14–18. Ursula Weyrer / Red.
Hartlaub, Felix, * 17.6.1913 Bremen, seit April 1945 in Berlin vermisst. – Historiker, Prosaist. H. begann bereits früh zu dichten u. zu zeichnen. Der Vater Gustav Friedrich Hartlaub, Kunsthistoriker u. bis 1933 Leiter der Städtischen Kunsthalle in Mannheim, förderte u. dokumentierte die außerordentl. Begabung seines Sohns nach Kräften. Shakespeare, Goethe u. Rilke einerseits, Kubin andererseits waren H.s Vorbilder.
Hartlaub
Die letzten Gymnasialjahre absolvierte H. in der Odenwaldschule in Oberhambach, an der er als »Hauspoet« fungierte u. mit Stücken über den Bauernkrieg hervortrat. Er befreundete sich mit Klaus Gysi, dem späteren Kulturminister der DDR, u. kam durch ihn u. seine Familie auch mit Ideen des Marxismus in Berührung. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde H.s Vater als »Kulturbolschewist« u. »bekannter Judenfreund« aus seinem Amt entfernt. H. durfte, im Gegensatz zu seiner Schwester Geno, trotz der »politisch belasteten« Herkunft neuere Geschichte u. Romanistik studieren (Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Diss. Bln. 1940). Bei Kriegsbeginn wurde H. sofort eingezogen, diente zunächst bei einer SperrballonEinheit, sichtete 1941 in Paris erbeutete Akten u. war 1942–1945 im Führerhauptquartier neben anderen mit der Führung des Kriegstagebuchs betraut. Die Aufzeichnungen der Kriegsjahre (Von unten gesehen. Stgt. 1950. Erw. Neuausg. mit einem Nachw. v. Geno Hartlaub u. d. T. Im Sperrkreis. Ffm. 1984) bilden neben den Berliner Tagebuchblättern. 1935–1939 aus der Studienzeit u. dem Tagebuch aus dem Kriege. 1939–1945 vermutlich H.s eigentl. literar. Werk. Die letzteren sind ein bemerkenswertes Gegenstück zu Ernst Jüngers Tagebüchern, geschrieben aus der Perspektive des kleinen Gefreiten im Entscheidungszentrum des Reichs. Wahrscheinlich sollten diese – zwischen Wehrmachtsmaterial versteckten – Notizen als Material für einen Roman dienen. H. zeigt das Innenleben der Führungsstäbe, die gespenstische Verdünnung der Erfahrung in den Sperrkreisen des Führerhauptquartiers u. schließlich die Umkehrung des Informationsgefälles von draußen nach drinnen. H. beeinflusste mit seinen knappen Aufzeichnungen nach Meinung von Günter Grass in den frühen 1950er Jahren Mitglieder der Gruppe 47. Weitere Werke: Das Gesamtwerk. Dichtungen. Tagebücher. Hg. Geno Hartlaub. Ffm. 1955. – F. H. in seinen Briefen. Tüb. 1958. – ›In den eigenen Umriss gebannt‹. Kriegsaufzeichnungen, literar. Fragmente u. Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945.
Hartlaub Bd. 1: Texte. Hg. Gabriele Lieselotte Ewenz. Ffm. 2002. 32007. Literatur: Christian Hartwig Wilke: Die letzten Aufzeichnungen F. H.s. Diss. Bad Homburg 1967. – Geno Hartlaub: Sprung über den Schatten. Orte, Menschen, Jahre. Mchn. 1987. – Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 113–117. – Andrea Desch: F. H. Zwischen Mag. Realismus u. Neuer Sachlichkeit. In: Walter Delabar (Hg.): Banalität mit Stil. Bern u. a. 1999, S. 259–283. – Monika Marose: Das Eigentl. ist unsichtbar. Eine biogr. Annäherung an den Schriftsteller F. H. Egelsbach u. a. 2001 (MikroficheAusg.). – ›In den eigenen Umriss gebannt‹. Kriegsaufzeichnungen, literar. Fragmente u. Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945. Bd. 2: Kommentar. Hg. Gabriele Lieselotte Ewenz. Ffm. 2002. 32007. – Monika Marose: Unter der Tarnkappe. F. H. Eine Biogr. Bln. 2005. Karl Corino / Red.
Hartlaub, Geno(veva), auch: Muriel Castorp, * 17.6.1915 Mannheim, † 25.3.2007 Hamburg. – Erzählerin, Übersetzerin, Herausgeberin. Wegen der 1933 politisch begründeten Entlassung ihres Vaters, des Kunsthistorikers u. Museumsdirektors Gustav Friedrich Hartlaub, erhielt die Odenwaldschülerin keine Studienerlaubnis, absolvierte eine kaufmänn. Lehre u. arbeitete als Auslandskorrespondentin. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie zum Dienst bei der Wehrmacht verpflichtet. 1945–1947 war sie Lektorin bei der Heidelberger literar. Monatsschrift »Die Wandlung«; 1955 gab sie das Werk ihres Bruders Felix Hartlaub heraus. 1960–1975 gehörte sie der Redaktion des »Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts« an. Zuletzt lebte H. als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ein Grundmuster der frühen Texte H.s besteht in der strikten Trennung von Privatleben u. gesellschaftlich normierter Existenz, die von den Figuren häufig als bedrohlich wahrgenommen wird. In dem expressivbildkräftigen fantastischen Roman Anselm der Lehrling (Hbg. 1947) steht der Alltagswelt Anselms eine in Tagträumen erlebte, von Frauen u. myth. Personal dominierte Kindheitswelt gegenüber. Im Roman Der große Wagen (Ffm. 1954) zerbricht ein erot. u. fa-
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miliäres Beziehungsexperiment an den moralischen Normen der Gesellschaft. In der Erzählung Der Mond hat Durst (Hbg. 1963) flüchtet sich die 15-jährige Protagonistin nach dem Verlust ihres Bruders, zu dem sie ein symbiotisch-inzestuöses Verhältnis hatte, in den Wahnsinn. An der Überwindung ihrer psych. Störung u. der Entstehung einer selbstständigen Identität hat das Erzählen entscheidend Anteil. Aus der Perspektive eines sich vor den Nationalsozialisten versteckenden jüd. Jungen schildert der Roman Gefangene der Nacht (Hbg. 1961. Ffm. 2004) in Episoden die Erlebnisse von 16 Menschen während einer Kriegsnacht. Die Auseinandersetzung mit Krieg, Nationalsozialismus u. unbewältigter Vergangenheit prägt auch das Verhältnis zwischen den Generationen in dem Roman Lokaltermin Feenteich (Mchn. 1972), in dem die Kinder eines ehemaligen KZ-Arztes dessen Geburtstagsfeier zum Anlass nehmen, aus seinen Kriegstagebüchern vorzulesen. Ein konfliktgeladenes, jedoch produktives Verhältnis zwischen den Generationen ist Thema des Romans Das Gör (Hbg. 1980). Weitere Werke: Ausgabe: Die Uhr der Träume. Ausgew. E.en. Mchn. 1986. – Einzeltitel: Die Entführung. Wien 1942 (E.). – Die Kindsräuberin. Hbg. 1947 (E.). – Die Tauben v. San Marco. Ffm. 1952. – Windstille vor Concador. Ffm. 1958 (R.). – Unterwegs nach Samarkand. Eine Reise durch die Sowjet-Union. Hbg. 1965. – Nicht jeder ist Odysseus. Hbg. 1967 (R). – Leben mit dem Sex. Gütersloh 1970 (Pseud. Muriel Castorp). – Wer die Erde küßt. Orte, Menschen, Jahre. Mchn. 1975. Überarb. u. erw. Neuausg. u. d. T. Sprung über den Schatten. Bern 1984 (Autobiogr.). – Herausgeberin: Felix Hartlaub: Das Gesamtwerk. Ffm. 1955. Literatur: Alfons Bungert: G. H. zum 70sten Geburtstag. In: Der Literat 28 (1986), S. 120 f. – Sigrid Weigel: Der Mythos der Geschwisterliebe G. H. In: Frauenlit. ohne Tradition? (1987), S. 71–97. – Asunción Sainz Lerchundi: Realidad y fantasía en la producción narrativa de G. H. Zaragoza 1996. – Christina Burck: Schreiben als Selbstfindung. Zum Zusammenhang v. Biogr. u. literar. Produktion im Werk G. H.s. Oldenb. 2005. – Ingrid Laurien: G. H. In: KLG. Ursula von Keitz / Red.
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Hartleben, Otto Erich, auch: Otto Erich, Henrik Ipse, * 3.6.1864 Clausthal/Harz, † 11.2.1905 Salò/Gardasee; Grabstätte: Treptow bei Berlin, Friedhof. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker. Nach dem Schulbesuch in Hannover, Jever u. Celle, wo er 1885 das Abitur ablegte, begann der früh verwaiste H. auf Wunsch seines Großvaters ein Jurastudium in Berlin. Dort fand er Anschluss an die literar. Zirkel der ›jüngstdeutschen‹ Bewegung um die Brüder Heinrich u. Julius Hart. Es gelang ihm, einige Gedichte in der epochalen Anthologie Moderne Dichter-Charaktere (Lpz. 1885) unterzubringen. Der weltanschaul. Gehalt u. der soziale Anklagegestus dieser frühen Gedichte kontrastiert auffallend mit der an Platen geschulten klassizistischen Formgebung. H.s bohemehafter Lebensstil veranlasste den Großvater nach einem Semester, einen Wechsel des Studienorts zu erzwingen. Aber auch in Tübingen u. Leipzig hielt H. an seinem Wunsch fest, Schriftsteller zu werden. 1887 erschien sein erster Lyrikband Studententagebuch: 1885–1886 (Zürich 21888), der neben Themen wie früher Liebe, Naturseligkeit u. jünglinghaftem ›in philistros‹ auch nachdenklich-melanchol. Stimmungsgedichte enthält. Gemeinsam mit Hermann Conradi arbeitete H. an einem Jahrbuch für realistische Dichtung, das als ehrgeizige, auch Prosa enthaltende Fortsetzung der Dichter-Charaktere gedacht war. Obwohl eine Fülle von Zusagen z.T. prominenter Autoren vorlag (u. a. Gottfried Keller, Detlev von Liliencron, Friedrich Theodor Vischer), kam das Projekt aufgrund von Streitigkeiten zwischen den Herausgebern u. verlegerischen Hindernissen nicht zustande. Auf das mit Mühe bestandene Examen folgte 1889 das Referendariat am Amtsgericht in Stolberg/Harz, das H. 1890 abbrach, um in Berlin als freier Schriftsteller zu leben. Obgleich er die behördl. Tätigkeit als schwere Belastung empfand, lieferte sie ihm, nicht zuletzt in Form zahlreicher Ehescheidungsprozesse, schriftstellerische Anregungen u. bestärkte ihn in seiner Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung u. ihrer Doppelmoral. Sie wurde zum Thema seiner er-
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folgreichen Erzählungen u. Dramen, die in den folgenden Jahren entstanden. In der – nicht zufällig in Stolberg angesiedelten – Erzählung Vom gastfreien Pastor etwa, die 1893 in der »Freien Bühne« erschien (301912), führt H. Beamtendünkel u. kleinstädt. Beschränktheit vor. Sein Zweiakter Angele (Bln. 1891) handelt, noch unter Strindbergs Einfluss, von der Verführbarkeit der Frau. Dagegen geht die selbstbewusste Titelheldin seiner viel gespielten Komödie Hanna Jagert (Bln. 1893) aus freien Stücken eine Affäre mit einem reichen Baron ein, weil sie als Sozialdemokratin an das Recht der Frau auf Selbstbestimmung glaubt. Als sie jedoch ein Kind erwartet, opfert sie ihre Ideale u. heiratet. In dieser Kritik an der Abstraktheit moralischer oder polit. Vorstellungen spiegelt sich nicht zuletzt die enttäuschte Abwendung H.s von der Sozialdemokratie. Der gefällige, auf Unterhaltung gemünzte Stil u. die subtile, aber stets humoristisch gedämpfte Analyse der moralischen Befindlichkeit seiner Zeit sicherte H. zu Lebzeiten eine breite Leserschaft u. hat ihm den Ruf eines dt. Maupassant eingetragen. Eine Erbschaft ermöglichte H. seit 1893 eine gesicherte Existenz u. regelmäßige Reisen nach Italien. Allmählich forderte jedoch auch der seit der Schulzeit starke Alkoholkonsum seinen Tribut. Immer häufiger nahm H. Bad- oder Kuraufenthalte. Derweil hatte er sich als feste Größe im dt. Literaturbetrieb etabliert. In Berlin verkehrte er mit den führenden Autoren seiner Generation u. unterhielt zudem gute Kontakte nach Wien u. München. Seine Briefe bilden eine wichtige, bislang zu wenig genutzte Quelle für das literar. Leben um 1900. Neben der eigenen dichterischen Produktion verfolgte er während der folgenden Jahre zunehmend übersetzerische, editorische u. redaktionelle Tätigkeiten. Viel beachtet wurde seine Übertragung des Pierrot Lunaire aus der Feder des belg. Dichters Albert Giraud (Bln. 1893), die als Grundlage für eine Vertonung durch Arnold Schönberg diente. 1895 erschien sein 400 Seiten starkes Goethe-Brevier (Mchn.), das den Klassiker, gegen die »Greisenhaftigkeit in der heutigen Goethe-Verehrung« (S. XV), für eine jüngere, moderne Generation prä-
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sentieren wollte. Er schrieb für den »Pan« u. Hartlib, Samuel, * um 1599/1600 Elbing, die »Jugend«, sammelte unter seinen Berliner † 10.3.1662 London (Westminster). – ReFreunden Beiträge für den »Simplicissimus« ligiöser Utopist u. Philanthrop, Erzieu. war 1897–1900, wenn auch nur nominell, hungsreformer u. WissenschaftskommuMitherausgeber des renommierten »Maga- nikator (»intelligencer«). zins für Litteratur«. Sein größter literar. Erfolg gelang ihm mit Die wohl protestantische Familie des Vaters der Komödie Rosenmontag (Bln. 1900), deren stammte aus dem reichsstädt. Bürgertum ebenso iron. wie detailgetreue Schilderung Augsburgs u. Nürnbergs. Der Vater war früh des Offiziersmilieus einen Vergleich etwa mit in die Aktivitäten der English Eastland Schnitzler nicht zu scheuen braucht. Sie Company zur Förderung der brit. Handelswurde auf allen dt. Bühnen gespielt u. beziehungen im Ostseeraum u. Baltikum inbrachte H. neben der finanziellen Absiche- volviert. Wohlhabend geworden, aber wohl rung 1902 den Grillparzer-Preis ein. Im sel- auch auf der Flucht vor der Rekatholisierung, ben Jahr zog er mit seiner Frau in eine Villa siedelte er aus dem poln. Poznán ins preuß. am Gardasee, die er, in Anspielung auf Elbing über, baute ein elegantes Stadthaus, Nietzsche, »Halkyone« taufte. Dort ver- gründete einen Färbereibetrieb u. heiratete in brachte er seine letzten Lebensjahre bei die poln. Aristokratie. Die dritte Ehefrau war eine gutsituierte Engländerin aus Danzig, die schwindender Gesundheit. H.s Nachlass befindet sich in der Stadtbi- Mutter H.s. Neben mehreren Schwestern sind bliothek Hannover, der Bayerischen Staats- drei Brüder Samuels bekannt, Daniel, Johann bibliothek in München u. im Deutschen Li- u. vor allem Georg, der nach Studien in Heidelberg bis 1639 als Rektor am Gymnasium teraturarchiv Marbach. Weitere Werke: Gesch. vom abgerissenen in Wilna amtierte. Dass H. nach dem Besuch Knopfe. Bln. 1893 (E.). – Angelus Silesius. Dresden des Gymnasiums in Brieg im Jahr 1621 an der 1896. – Meine Verse. Gesamtausg. Bln. 1902. – Universität Königsberg studierte, ist nicht Logaubüchlein. Mchn. 1904. – Das Ehefest. No- zweifelsfrei nachweisbar. Belegt ist hingegen vellen. Wien/Lpz. 1906. – Tagebuch. Mchn. 1906. – in den Jahren 1625/26 sein Aufenthalt in Briefe. 2 Bde., Bln. 1908–12. – Ausgew. Werke. 3 England, wo er in Cambridge (Emmanuel Bde., Bln. 1909. – O. E. H. Aus dem Leben eines College, als Schüler von John Preston) seine Satyrs. Briefe u. Postkarten an Heinrich Rickert. Studien fortsetzte. Aus Briefen lässt sich verHg. Wolfgang Rausch. Bargfeld 1997. muten, dass er sich sogar schon 1621 dort Literatur: Heinrich Lücke: O. E. H. Der Leaufgehalten hat, also noch vor dem Tod benslauf des Dichters. Clausthal-Zellerfeld 1941. – Francis Bacons (1626) u. um die Zeit, als sich Alfred v. Klement: Die Bücher v. O. E. H. Eine Bibliogr. Salò, recte Gött. 1951. – Georg de Reese: O. dort die philosophisch-theolog. Richtung der E. H. Eine krit. Auseinandersetzung mit dem Leben sog. Cambridge Platonists zu bilden begann u. Schaffen eines dt. Naturalisten. Diss. Jena 1957. – (Benjamin Whichcote, Ralph Cudworth, Albert Soergel u. Curt Hohoff: Dichtung u. Dichter Anne Conway u. a.), die einerseits Descartes, der Zeit. Bd. 1, Düsseld. 1961, S. 278–282. – Peter aber auch den aktuellen Strömungen des Sprengel: Gesch. der deutschsprachigen Lit. protestantischen wie auch des jüd. Chilias1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahr- mus nahestanden; mit dem führenden Autor hundertwende. Mchn. 1998, S. 449, 665–667. – der Gruppe, Henry More (1614–1687, Fellow Wolfgang Bunzel u. Uwe Schneider: Hermann u. Prof. am Christ’s College), stand H. seit den Conradis u. O. E. H.s Anthologieprojekt ›Jahrbuch für realistische Dichtung‹. Eine Fallstudie zum 1640er Jahren in engem Kontakt. Vielleicht Zusammenhang v. Schriftstellerkonkurrenz, Pu- studierte H. in Cambridge die Rechte, gewiss blikationsverhalten u. Gruppenbildung in der aber vervollkommnete er seine lat. u. engl. mittleren Phase des dt. Naturalismus. In: IASL 30 Sprachkenntnisse; sein Name erscheint je(2005), S. 118–166. Björn Spiekermann doch in keiner Matrikel, u. er erwarb auch keinen Studienabschluss. Zurück in Deutschland, fand er Mecklenburg u. Pommern vom kaiserl. Heer besetzt u. Stralsund
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belagert, u. so wandte er sich nach einem Aufenthalt von einigen Monaten (1627) im Sommer 1628 erneut nach England. In London heiratete er im Jan. 1629 Mary Burningham aus Reading. Er hielt sich in Dalston (Middlesex), in London u. danach seit Sommer 1630 in Chichester (Sussex) auf, wo er zusammen mit John Pell u. William Speed, den ältesten Mitgliedern des späteren »H.Kreises«, erfolglos eine »Gentry Academy«, eine private Bildungsanstalt für Angehörige des Landadels, gründete. Bald nach London zurückgekehrt, ließ er sich im Sommer 1631 im Zentrum nieder, wo er mit Unterbrechungen bis 1650 wohnte, u. a. in Aldgate in der Nähe des Tower. 1650 übersiedelte er nach Charing Cross (Whitehall), ehe er 1658, in mehrfacher Hinsicht seinem Annus miserabilis: nach dem Tod der Ehefrau, von Krankheit geschwächt (Nieren- u. Gallensteine, akute Sehschwäche), u. als Cromwells Protektorat zu Ende ging, weiter südlich nach Westminster zu seinem Sohn Sam zog. In der Nachbarschaft wohnte Samuel Pepys, der in seinen Tagebüchern beide H.s erwähnt u. der, anders als diese, als Verwandter u. Protegé Lord Montagus die um 1660 restaurierte Monarchie für seinen Aufstieg zu nutzen verstand. Die führenden Mitglieder des »Hartlib Circle« waren neben Pell, Speed u. dem Techniker u. Erfinder Gabriel Plattes, der auch als Mitverfasser von H.s kleiner Utopie eines glückl. Staates (A Description of the Famous Kingdom of Macaria. 1641. Vollst. in Webster 1970) gilt, v. a. John Dury (1596–1680, gest. in Kassel), Joachim Hübner aus Kleve (ca. 1610–1666) u. Theodore Haak, der aus der Gegend von Worms kam (1605–1690). H. u. seine Gesinnungsfreunde waren hauptsächlich auf drei Reformfeldern tätig: auf dem Gebiet der Sammlung u. Weitergabe bes. von ›neuem‹ Wissen (»new inventions«) u. der Anregung u. Ermutigung von Projekten der prakt. Umsetzung, der Anwendung moderner Erkenntnisse u. Praktiken im Dienste u. zum Nutzen des »common wealth«, sowie der darauf gerichteten Reform der Studien, auch der Hochschulen, u. der Erziehung (Wissenstransfer); zweitens auf dem Feld der Erziehungs- u. ›Sozialpolitik‹ u. der ›Wirt-
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schaftsförderung‹ des Staates, in diesem Fall der Reformansätze des Parlaments u. des Cromwell-Regimes (»Protectorate«) während seiner verschiedenen Phasen, mit dem H. u. sein Kreis eng kooperierten (wenn auch in den 1650er Jahren mit abnehmendem Erfolg): mit einer Fülle teils utop. Höhenflüge, teils höchst konkreter Vorschläge, von denen einige im Parlament vorgetragen u. debattiert wurden, etwa zur Seidenraupenzucht im amerikan. Virginia u. in England; zu Experimenten in Landwirtschaft u. Obstbau; zur Einführung u. Anwendung techn. Erfindungen (An Invention of Engines of Motion. 1651), darunter auch Waffentechnik für das Parlamentsheer während des Bürgerkriegs (bis 1646), oder zu einer Art von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die nach dem Krieg sozial deklassierten u. arbeitslosen Schichten der Großstadtbevölkerung, mit Hilfen für Waisen (Londons charity enlarged. 1650) u. die betroffenen Kinder u. Armen: the Education of all poore Children, and imployment of all sorts of poore (Untertitel der Programmschrift von 1646). H. selbst befasste sich mit der Reform der Sprachdidaktik nach den Vorgaben bei Eilhard Lubin (1565–1621), Montaigne u. Comenius (vgl. The True and Readie Way to Learne the Latine Tongue. 1654), v. a. aber in mehreren seiner Schriften mit Problemen der Landwirtschaft (»husbandry«); drittens auf dem noch schwierigeren Arbeitsfeld einer europaweiten Friedensstiftung unter den protestantischen Traditionen u. Bekenntnissen mit dem Ziel der Einheit (Ecclesiasticall Peace amongst Protestants. 1641), einem Projekt, für das v. a. John Dury, H.s frühester u. engster Mitstreiter auf allen Reformgebieten, lebenslang – u. am Ende erfolglos – auch auf seinen Reisen durch ganz Europa tätig war. H. kannte Dury bereits seit 1627 in Elbing, wo dieser Prediger der presbyterian. (kalvinistischen) Kolonie war, ehe er wie H. nach London übersiedelte u. die Arbeit an seinem Unionsprojekt aufnahm. Dury war wertvolle Informationsquelle u. Kontaktperson zu verschiedenen kulturellen u. spirituellen Zentren u. Autoren auf dem Kontinent, u. er war führend auch bei der Projektierung der Erziehungskonzepte des H.-Kreises (vgl. The Reformed School. 1650, mit Vorwort H.s); von
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seiner Ehefrau Dorothy existiert ein Ms. Of the Education of Girls aus demselben Jahr (in The Hartlib Papers). Orientierung bot hier weniger John Miltons eher konventionell humanistischer Essay Of Education, To Master Hartlib (1644) als vielmehr die Jesuitenkollegien u. v. a. Bacon u. Comenius, mit dem H. seit 1632 korrespondierte, dessen Schriften er (z.T. in engl. Übersetzung) bearbeitete u. herausgab (vgl. 1637, 1639, 1642). Jan Amos Comenius, der Führer u. Prediger der Gemeinde der Böhmischen Brüder im poln. Leszno (Lissa), wurde auf H.s Veranlassung u. mit dem von ihm gesammelten Geld formell vom Parlament eingeladen u. weilte von Sept. 1641 bis Juni 1642 in London, wo er im Hause H.s wohnte (darüber ausführlich in The Hartlib Papers). Das lebenslange Zentrum von H.s Tätigkeit, auf das auch alle übrigen Aktivitäten stets bezogen waren, bildete von Beginn an das Geschäft der Kommunikation nützl. Wissens, über dessen wechselvolles Schicksal die Hartlib Papers, u. darin bes. das Ephemerides genannte Arbeitstagebuch, die umfassendste Auskunft erteilen, mehr noch als die überschaubare Zahl der eigenen Publikationen. Seit 1646 suchte er mit Hilfe des im Bürgerkrieg siegreichen Parlaments sein Projekt eines »Office of Address for Communications« zu realisieren, eines ›Büros‹ als Relaisstation, als zentraler Umschlagplatz für Manuskripte, Nachrichten u. Informationen (»a Center and Meeting-place of Advices, of Proposalls, of Treaties and of all Manner of Intellectual Rarities«, in Considerations, 1647), in dem er Schreiber u. Übersetzer anstellte, die auch Kurzfassungen einzelner Papiere u. eigene Stellungnahmen u. Kommentare zu den betreffenden Sachverhalten zu formulieren hatten (dazu Greengrass 1997). Als direkte Anregung diente das »Bureau d’adresse«, das einige Jahre zuvor Théophraste Renaudot in Paris mit ähnl. Zielsetzungen gegründet hatte, im Vorfeld der frühesten Versuche mit period. Journalen in Frankreich, u. die gleichzeitige Vermittlungs- u. Korrespondenztätigkeit des ebenfalls in Paris wirkenden gelehrten Paters Marin Mersenne, des Freundes von Gassendi, der Galilei u. Descartes unterstützte u. sogar für Campanella,
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Comenius u. La Peyrère Verständnis aufbrachte u. den man den ›Sekretär der europäischen République des lettres‹ genannt hat, war trotz des kath. Hintergrunds als Modell gewiss nicht weniger wirksam. Wie dies Jahrzehnte später die gelehrten Journale taten, schuf H. sich ein Netz von Korrespondenten in ganz Europa – die Rede vom ›Netzwerk‹ ist hier wirklich am Platz. Der ›Netzwerker‹ H., den man »intelligencer« nannte, sah sich als einen Agenten der Wissenskommunikation, als Verbindungsrohr (»conduit pipe«) zum Publikum, wie er es selbst ausdrückte (vgl. A Further Discoverie of the Office of Publick Addresse. 1648). Am wichtigsten waren ihm frische Manuskripte, die offenbar mehr als Bücher für Neuheit u. Authentizität bürgten; v. a. aber konnten sie als noch frei von Verwertungsinteressen u. Rücksichten auf Zensur u. Kommerz gelten. In seinem allegor. Buch The Reformed Commonwealth of Bees (1655) sind die Bienen die fleißigen Korrespondenten, die in einer freien u. freigebigen Natur den Nektar der Informationen zusammentragen, mit dem sie im Geiste der Verantwortung für das Gemeinwohl, den Bienenstaat, in den Bienenstock, eben das »Office of Address«, zurückkehren. Grundlegend war das Postulat der Uneigennützigkeit der Weitergabe u. des Austauschs von Wissen, dessen Nutzen weder durch Monopolisierung noch durch profitorientierten Handel instrumentalisiert u. pervertiert werden dürfe – das meint »lucriferous knowledge«, wie es bei Bacon heißt: Wissen, das allen spirituellen u. intellektuellen Gewinn bringt. H. selbst hat zeitlebens in völliger Selbstlosigkeit alle seine Mittel in sein Reformwerk u. die finanzielle Unterstützung bedürftiger Autoren gesteckt, bis er am Ende krank, mittellos, verschuldet u. durch den radikalen Regimewechsel auch von staatl. Hilfe ausgeschlossen zurückblieb. Entscheidend für das Verständnis H.s u. seines Kreises aber ist der streng religiöse Bezugsrahmen auch der Wissenskommunikation (vgl. Clucas 1991), der anachronist. Missverständnisse, etwa das Zusammenwerfen mit späteren Vorstellungen von ›Aufklärung‹, krit. ›Öffentlichkeit‹ oder gar ›Demokratie‹, verbietet. Bereits ›Kommunikation‹
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ist religiös konnotiert u. steht der spirituellen ›communio‹ in der Brüdergemeinde der Gläubigen, die als Erwählte das Heil erwarten, viel näher als der heute ganz inhaltsneutrale Begriff. Immer stehen das »Christian commonwealth« u. die »National Reformation« auf dem Spiel. Der freie Austausch jegl. Wissens, sofern es allen nutzbar gemacht wird, fortschreitende Erziehung u. Bildung (Bacons »advancement of learning«) sind christl. Pflicht des einzelnen wie des Staates, der v. a. auf diesem Wege vervollkommnet wird (sofern er nicht die Beute der Papisten oder eines Monarchen ist) u. umgekehrt durch diese heilsrelevante Mithilfe bei der Vorbereitung auf das Gottesreich erst seine Legitimation erfährt. H. glaubte, dass die von ihm u. seinem Kreis geförderte christl. Republik die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Reiches Christi auf Erden, »the imminent fulfilment of the millennium«, entscheidend beschleunige: »we prepare ourselves«. Das geht über die Vorstellung des von allen hoch verehrten Bacon hinaus, wonach die moderne, immer neues Wissen kumulierende Wissenschaft das durch den Sündenfall Adams bewirkte Handicap kompensieren u. so das Gottesgeschenk der vollständigen Einsicht in die Perfektion der Schöpfung restituieren könne u. daher auch müsse. Das Projekt des »Hartlib Circle« u. seine Anschlüsse an das von Comenius übernommene Ideal der ›Pansophie‹, an den Enzyklopädismus Johann Heinrich Alsteds u. Bartholomäus Keckermanns sowie an die präcartes. ›Methoden‹-Konzepte des Ramismus von Jacobus Acontius (De methodo. 1558) bis Joachim Jungius (Logica Hamburgensis. 1638) u. an die mehr oder weniger utop. Sozietäten (z.B. die Societas Christiana von Johann Valentin Andreae, zu dem H. über Comenius Verbindungen unterhielt, vgl. Turnbull 1954) sind ohne die wiederholt bekräftigte Bezugnahme auf den Chiliasmus (Millenarismus) insbes. der 1640er Jahre nicht angemessen zu verstehen. Er wurde bes. von H.s Freunden Alsted u. Joseph Mede (1586–1638) vertreten, dessen Hauptwerk Clavis Apocalyptica (zuerst 1627, dann 1632, 1649, im Wesentlichen ein ApokalypseKommentar) europaweit bekannt war. Mede
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war Baconianer u. lehrte am Christ’s College in Cambridge, wo Henry More zu seinen Schülern gehörte. Wie zu Hermetikern, Alchemisten u. Paracelsisten (George Starkey, Van Helmont, Moriaen, Glauber u. a.) bestanden auch Kontakte zu den engl. ›Behmenists‹ über den Übersetzer u. Herausgeber der meisten Werke Jacob Böhmes, John Sparrow (1615-ca. 1665), der aber v. a. als Sammler u. Kenner von nachgelassenen Manuskripten Francis Bacons in H.s Gesichtskreis getreten ist. Der umfangreiche handschriftl. Nachlass, die Hartlib Papers mit den Tagebüchern (Ephemerides, erhalten für die Jahre 1634/35–1660, bes. 1639/43, vgl. Clucas 1991), wurde durch ein Feuer in der Wohnung noch zu H.s Lebzeiten teilweise verbrannt. Lord William Brereton, wie John Evelyn ein Freund aus den späteren Jahren, hat die verbliebenen Manuskripte nach H.s Tod gekauft. Das letzte Mal hörte man 1667 in der Residenz des Lords in Cheshire von den Papieren, ehe das, was davon erhalten geblieben war, im Jahre 1933 von George Turnbull in London aufgefunden u. mit Erlaubnis von Lord Delamere, dem Eigentümer, ausgewertet wurde. Seit einigen Jahren liegen die transkribierten Manuskripte in digitalisierter Form vor. Weitere Werke: Hg.: Jan Amos Comenius: Conatuum Comenianorum praeludia. Oxford 1637. Erw. u. d. T. Pansophiae prodromus. London 1639. Davon die engl. Übers.: A Reformation of Schooles designed in two excellent treatises. London 1642. – Felicitas ultimi saeculi. Epistola a Johanne Stoughton. (London) 1640. – Englands Thankfulnesse, or a Humble Remembrance presented to the Committee for Religion in the High Court of Parliament. London 1642 (Auszüge in Webster 1970). – Hg.: John Dury: Motion Tending to the Publick Good of This Age, and of Posteritie. London 1642 (Auszüge in Webster 1970). – A faithfull and Seasonable Advice, or the necessity of a Correspondencie for the advancement of the Protestant Cause. Humbly suggested to the great Councell of England assembled in Parliament. London 1642. – The Necessity of some nearer Conjunction and Correspondency amongst Evangelicall Protestants. London 1644. – A Common Writing, whereby two, although not understanding one the others language, yet by the help thereof, may communicate their minds one to another. London 1646. – Considerations
Hartlib tending To the Happy Accomplishment of Englands Reformation in Church and State: Humbly presented to the Piety and Wisdome of the High and Honourable Court of Parliament. London 1647 (Auszüge in Webster 1970). – A Further Discoverie of the Office of Publick Addresse for Accomodations. (Mit einem Auszug aus Montaignes Essais). London 1648. Repr. Milano 1969. – Londons charity enlarged, stilling the poore Orphans Cry. London 1650. – Hg.: John Dury: The Reformed Schoole and The Reformed Library-Keeper [...]. Enth. auch: Mr. Pells Idaea of Mathematiques. Written to S. H. Anno 1634; The Description of one of the chiefest Libraries in Germany. 2., erw. Aufl. Ebd. 1650 (Vorw. v. H. u. Auszüge in Webster 1970). – An Invention of Engines of Motion lately brought to perfection. London 1651. Repr. ebd. 1865. – The Reformed Husband-Man, or a brief Treatise of the Errors, Defects, and Inconveniences of our English Husbandry, in ploughing and sowing for corn [...]. London 1651. – S. H. His Legacy: or An Enlargement of the Discourse of Husbandry used in Brabant and Flaunders. London 1651. 21652. 3., erw. Aufl. u. d. T.: S. H. His Legacy of Husbandry. Wherein are bequeathed to the Common-Wealth of England not only Braband, and Flanders, but also many more Outlandish and Domestick Experiments and Secrets (of Gabriel Plattes and others) never heretofore divulged in reference to Universal Husbandry. London 1655. – Cornu Copia. A Miscellanium of lucriferous and most fructiferous Experiments, Observations, and Discoveries, immethodically distributed; to be really demonstrated and communicated in all sincerity. London ca. 1652. – A rare and new discovery of a speedy way and easie means found out by a young Lady in England for the feeding of silk-worms in the woods. London 1652. – The Reformed Spiritual Husband-Man: with A Humble Memorandum concerning Chelsy Collegde. And a correspondencie with Forreigne Protestants. London 1652. – Some Proposalls towards The Advancement of Learning (1653). In: Hartlib Papers 47, 2 (vollst. in Webster 1970). – Übers. u. Hg.: Eilhard Lubinus, Richard Carew u. Michel de Montaigne: The True and Readie Way to Learne the Latine Tongue. London 1654. Repr. Menston 1971 (H.s Widmungsvorrede an Francis Rous, in Webster 1970). – Hg.: Chymical, Medicinal, and Chyrurgical Addresses made to S. H. Esq. London 1655. – The Reformed Common Wealth of Bees. [...] With the Reformed Virginian Silk-Worm [zuerst separat 1652]. Containing Many Excellent and Choice Secrets, Experiments, and Discoveries for attaining of National and Private Profits and Riches. London 1655. – Briefe u. Dokumente: (S. H., Gabriel Plattes:) A Description of the
34 Famous Kingdom of Macaria. London 1641 (vollst. in Webster 1970). – John Milton: On Education. To Master S. H. Ebd. 1644. – William Petty: The advice of W. P. to Mr S. H. for the advancement of some particular parts of learning. Ebd. 1648. – John Worthington: Diary and Correspondence. Hg. James Crossley. 2 Bde., Manchester 1847–86. – Correspondence of H., Haak, Oldenburg, and Others of the Founders of the Royal Society with Governor Winthrop of Connecticut 1661–1672. Hg. Robert Ch. Winthrop. Boston 1878. – John Evelyn: Diary and Correspondence. Hg. William Bray. 4 Bde., London 1887. – Robert Fitzgibbon Young: Comenius in England. Oxford 1932. Repr. New York 1971 (enth.: Einl., engl. Übers. versch. Schriften). – S. H. and the Advancement of Learning. Hg. Charles Webster. Cambridge 1970 (enth. ausführl. Einl. sowie Auszüge, kleine Schr.en u. Briefe v. H. u. a.). – H. and Comenius. A Selection of Documents from the Papers of S. H. University of Sheffield Library, 1988. – The letters of Jan Jonston to S. H. Transcribed and translated into English and Polish with an Introduction, Notes and Bibliography. Hg. William J. Hitchens. Warszawa 2000. – The Hartlib papers. A complete text and image database of the papers of S. H., held in Sheffield University Library. Hg. J. Crawford u. a. 22002 (2 CD-ROM). Literatur: Friedrich Althaus: S. H. Ein dt.-engl. Charakterbild. Lpz. 1884. – George H. Turnbull: S. H. A Sketch of his Life and his Relations to Jan Amos Comenius. London/Oxford 1920. – Ders.: H., Dury and Comenius. Gleanings from Hartlib’s Papers. Liverpool/London 1947. Repr. Farnborough 1968. – Ders.: Johann Valentin Andreaes Societas Christiana. In: ZfdPh 73 (1954), S. 407–431. – Martin Schmidt: S. H. In: NDB. – Ronald S. Wilkinson: The Hartlib Papers and Seventeenth-Century Chemistry. In: Ambix 15 (1968), S. 54–69; 17 (1970), S. 85–110. – Milada Blekastad: Comenius. Versuch eines Umrisses v. Leben, Werk u. Schicksal des Jan Amos Komensky´. Oslo/Praha 1969 (bes. Kap. XI u. XII). – Charles Webster: Introduction in: S. H. and the Advancement of Learning. Hg. ders. Cambridge 1970, S. 1–72. – H. M. Solomon: Public Welfare, Science and Propaganda in SeventeenthCentury France. The Innovation of Théophraste Renaudot. Princeton 1972. – C. Webster: Utopian Planning and the Puritan Revolution: Gabriel Plattes, S. H. and Macaria. Oxford 1979. – David S. Katz u. Jonathan I. Israel (Hg.): Sceptics, Millenarians and Jews. Leiden 1990. – Stephen Clucas: S. H.’s Ephemerides, 1635–59, and the Pursuit of Scientific and Philosophical Manuscripts: The Religious Ethos of an Intelligencer. In: The Seventeenth Century 6 (1991), S. 33–55. – Richard H.
35 Popkin: The Third Force in Seventeenth-Century Thought: Scepticism, Science and Millenarianism. In: Ders.: The Third Force in Seventeenth-Century Thought. Leiden 1992, S. 90–119. – Timothy Raylor: S. H. and the Commonwealth of Bees. In: Michael Leslie u. T. Raylor (Hg.): Culture and Cultivation in Early Modern England. Leicester/London 1992, S. 91–129. – Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Die europ. Akademien der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Klaus Garber u. a. 2 Bde., Tüb. 1996 (Register). – Art. H., S. In: Dictionary of 17th Century British Philosophers, Bd. 1, Bristol 2000. – Antonella Cagnolati: Il circolo di H. Riforme educative e diffusione del sapere, Inghilterra 1630–1660. Bologna 2001. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 677–686. – Mark Greengrass: S. H. In: Oxford Dictionary of National Biography. Bd. 25, Oxford 2004 (grundlegend). Herbert Jaumann
Hartlieb, Johannes, * vor 1410, † 18.5. 1468. – Übersetzer, Kommentator u. Verfasser mantischer Schriften. H. ist für das Jahr 1437 als Pfarrer in Ingolstadt bezeugt u. hat sein vermutlich erstes Werk, eine Memoriertechnik zur Bewahrung des im Alter abnehmenden Gedächtnisses (Kunst der Gedächtnüß), 1430 oder 1432 im Auftrag Hzg. Ludwigs VII. von Bayern-Ingolstadt verfasst. Anschließend könnte er sich in Wien aufgehalten u. dort auch medizinische Kenntnisse erworben haben. Seit 1440 ist er mit dem Münchner Herzoghaus verbunden u. als »ratmaister« u. Hofarzt Hzg. Albrechts III., aber auch in diplomatischen Missionen tätig. H. hat zahlreiche Gebrauchstexte verfasst: neben der Gedächtniskunst insbes. Wahrsagebücher u. Mantiken unterschiedl. Art, so sein Mondwahrsagebuch von 1432 oder 1434/35, die Namensmantik (um 1438/39) mit Voraussagen über Sieg oder Niederlage in gerichtl. Zweikämpfen aufgrund der unterschiedl. Namen; schließlich die Chiromantie von 1448 zur Handlesekunst. Von bes. Interesse für diesen Teil von H.s Œuvre ist seine spätere Streitschrift gegen Magie u. Wahrsagekunst jegl. Art: das Buch aller verbotenen Kunst, das er 1455/56 für Markgraf Johann von Brandenburg-Kulmbach, den bekannten Alchemisten u. Mantiker, verfasst hat. Zwar will H. »sölich zaubrey, vngelauben vnd tuïffels gespenst,
Hartlieb
(das) laider jn manigen hochem vnd nydern menschen hertzen gewurtzelt vnd gepflantzt ist«, mit Hilfe seines Buchs vertreiben, zgl. aber bietet er eine Enzyklopädie des Aberglaubens seiner Zeit, die durchaus prakt. Nachahmung ermöglichen könnte. Über den tatsächl. Gebrauch des Buchs im SpätMA ist allerdings nichts bekannt. Außerdem ist H. insbes. als Übersetzer hervorgetreten u. hat dadurch dem literarisch interessierten Publikum des 15. Jh. wichtige Literatur- u. Wissensbereiche erschlossen, so den antiken, im 9./10. Jh. von dem Neapolitaner Archipresbyter Leo lateinisch bearbeiteten Alexanderroman, die lat. Navigatio Sancti Brendani, den Liebestraktat des Andreas Capellanus (De amore deutsch. 1440) u. schließlich den zweiten Teil des Dialogus miraculourm des Caesarius von Heisterbach. Zwei medizinkundl. Werke schließen H.s literar. Werk ab: das anonyme, verschiedentlich Albertus Magnus zugeschriebene gynäkolog. Lehrbuch De secretis mulierum u. das Buch von warmen Bädern, eine Übersetzung von Felix Hemmerlins Traktat De balneis naturalibus sive termalibus, die anlässlich einer Badereise Herzog Sigmunds nach Bad Gastein entstand. H.s Übersetzungen verbinden solides Fachwissen mit einem literar. Interesse, das dem höf., gewiss aber auch dem städtischgelehrten Publikum die unterschiedlichsten Wissens- u. Literaturbereiche zu vermitteln vermochte. Wie v. a. der Alexander- oder Brandanroman zeigt, dient darüber hinaus die Wissensvermittlung auch einem moralischen Zweck: der narrativen Demonstration höf. oder kirchl. Lebensformen, die der prakt. Nachfolge aufgegeben sind. Ausgaben: J. H.s Buch aller verbotenen Kunst. Untersucht u. hg. v. Dora Ulm. Halle/Saale 1914. – Ernst Weil (Hg.): Die Kunst Chiromantia des Dr. H. Ein Blockbuch aus den 70er Jahren des 15. Jh. Mchn. 1923 (Faks.). – Karl Drescher: J. H.s Übers. des Dialogus miracolorum v. Caesarius v. Heisterbach. Halle 1929. – Heinrich Ludwig Werneck: Kräuterbuch des J. H. In: Ostbair. Grenzmarken 2 (1958), S. 71–124. – Wolfram Schmitt: Hans H.s mant. Schr.en u. seine Beeinflussung durch Nikolaus v. Kues. Diss. Heidelb. 1962. – Bodo Weidemann: ›Kunst des Gedächtnüß‹ u. ›De mansionibus‹. Diss. Bln. 1964. – Alfred Karnein: De Amore deutsch. Mchn. 1970. – Rudolf Lechner-Petri: J. H.s
Hartlieb Alexanderroman. Hildesh./New York 1980. – Kristian Bosselmann-Cyran: ›Secreta mulierum‹ mit Glosse in der dt. Bearb. v. J. H. Text u. Untersuchungen. Pattensen 1985. – Reinhard Pawis: J. H.s Alexanderroman. Ed. u. Untersuchung. Mchn. 1990. Literatur: Martin Wierschin: J. H.s ›Mant. Schr.en‹. In: PBB 90 (1968), S. 57–100. – Wolfram Schmitt: Zur Lit. der Geheimwiss.en im späten MA. In: Gundolf Keil u. P. Assion: Fachprosaforsch. 1974, S. 167–182. – Klaus Grubmüller: Ein Arzt als Literat. In: Volker Honemann u. a. (Hg.): Poesie u. Gebrauchslit. im MA. S. 14–36. – Ders.: Der Hof als städt. Literaturzentrum. In: Ders. u. a. (Hg.): FS Hans Fromm. 1979, S. 405–427. – Ders.: J. H. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Trude Ehlert: Die Aufwertung der theoret. Neugierde. J. H.s ›Alexander‹ [...]. In: Saeculum 38 (1987), S. 178–192. – Frank Fürbeth: J. H. Tüb. 1992. – Gerold Hayer u. Bernhard Schnell: Zu einer Neued. v. J. H.s ›Kräuterbuch‹. In: Anton Schwob (Hg.): Editionsber.e zur mittelalterl. dt. Lit. Göpp. 1994, S. 277–283. – Werner Röcke: Die nackten Weisen der fremden Welt. Bilder einer utop. Gesellsch. in J. H.s ›Alexander‹-Roman. In: ZfG N.F. 6 (1996) H. 1, S. 21–34. – Hans-Jürgen Bachorski: Briefe, Träume, Zeichen. Erzählperspektivierung in J. H.s ›Alexander‹. In: Harald Haferland u. Michael Mecklenburg (Hg.): Erzählungen in Erzählungen. Mchn. 1996, S. 371–391. – Christoph A. Kleppel: Distanz überwinden – Distanz wahren. Überlegungen zum Briefeschreiben in J. H.s ›Alexander‹. In: Wolfgang Harms u. a. (Hg.): Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Lpz. 1997, S. 177–191. – Sabine Heimann-Seelbach: Ars u. scientia. Genese, Überlieferung u. Funktionen der mnemotechn. Traktatlit. im 15. Jh. Mit Ed. u. Untersuchung dreier dt. Traktate u. ihrer lat. Vorlagen. Tüb. 2000 (vgl. dazu die Rez. v. Joachim Knape: ZfdA 134, 2005, H. 1, S. 123–128). – Ralf Schlechtweg-Jahn: Macht u. gender in J. H.s ›Alexanderroman‹. In: Ulrike Gaebel u. Erika Kartschoke (Hg.): Böse Frauen – gute Frauen. Trier 2001, S. 59–74. Werner Röcke
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steller zu leben. In den 1930er Jahren gewann die journalistische Tätigkeit H.s (Theaterkritiken etc.), u. a. für das »Neue Wiener Tageblatt«, auch kulturpolit. Bedeutung. Er zählte im Ständestaat zu den sog. »nationalen« Autoren, die für den Nationalsozialismus u. den »Anschluss« eintraten. H.s Werk Parole: Das Reich. Eine historische Darstellung der politischen Entwicklung in Osterreich von März 1933 bis März 1938 (Wien 1939) ist der NS-Ideologie verpflichtet. Angekündigt hatte sich diese Entscheidung in den kulturpessimistischen, von konservativem Katholizismus getragenen »Satiren gegen die Linke Europas« Ich habe gelacht (Mchn. 1933); den geschichtsmächtigen Führer propagierte das Epos Fridericus Rex (Wien: Zsolnay 1935). In seiner Lyrik versuchte H., an klass. Formen (Sonett) anzuknüpfen (Die Stadt im Abend. Wien 1910. Du. Bln. 1918). Die dramat. Arbeiten H.s (Roxane. Wien 1918) blieben erfolglos, bedeutender war die Aphorismensammlung Fortschritt ins Nichts (Wien 1924). Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wandte sich H. den Lehren Theodor Haeckers u. dem religiösen Essay zu (Zur Frage, ob Gott ist. Salzb./Wien 1951). – 1917 erhielt H. den Bauernfeld-Preis. Weitere Werke: Noel. Ein dramat. Gedicht. Wien 1912. – Anima candida. Wien 1913 (L.). – 300 Epigramme. Wien 1920. – Chaos. Eine Farce. Wien 1920. – Scherben. Ein satir. Gedicht. Wien 1921. – Mächtiger Ruf. Wien 1921 (L.). – Italien [...]. Ein Reisetgb. Mchn. 1927. – Das Antlitz der Provence. Wien 1929. – Das Haus einer Kindheit. Wien 1936 (R.). – Geist u. Maske. Wien 1950 (Burgtheaterkritiken). – Spuren des Lebens. Wien 1952 (L.). – Theodor Haecker als Polemiker u. Satiriker. Salzb. 1954 (Ess.). – Frz. Lyrik. Urtexte u. Übertragungen. Salzb. 1954. Literatur: Friederika Richter: Berta Camilla Sara v. Hartlieb. Eine außergewöhnl. Wiener Jüdin u. W. v. H. Hg. Erhard Roy Wiehn. Konstanz 2006.
Hartlieb, Wladimir, Frhr. von, * 19.2.1887 Johannes Sachslehner / Red. Görz (Gorizia), † 2.9.1951 Werfen/Salzburg. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Hartmann, Armer ! Armer Hartmann Essayist, Übersetzer. Seine Kindheit verbrachte H., dessen Vater Offizier war, in verschiedenen Garnisonen der Donaumonarchie. Nach der Promotion (1911) fand er Aufnahme im Staatsdienst, den er jedoch bald verließ, um als freier Schrift-
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Hartmann von Aue, * etwa 1165, † um 1210. – Verfasser von Minneliedern, Artusromanen u. Erzählungen. Überlieferte Zuschreibung u. Selbstnennungen weisen H. als Autor eines umfangreichen u. vielfältigen Werks aus. Biografische Aussagen sind dennoch fast nur Schlüsse aus meist geringfügigen Anhaltspunkten. H. rechnet sich selbst zum unfreien Dienstadel der Ministerialen; darüber, wer der eine Dienstherr war, dessen Tod er in zwei Liedstrophen (I, 3; V, 4) beklagt, lassen sich aber nur Vermutungen anstellen. Er hebt seine gelehrte, d.h. lat. Schulbildung hervor, was für einen ritterl. Laienautor auffallend ist; aber weder lässt sich ein bestimmter Schulort noch eine seiner Bildung entsprechende Dienstfunktion wahrscheinlich machen. Auf seine Kenntnis der frz. Sprache u. Literatur kann nur aus der Art seiner Quellenverwendung geschlossen werden. Warum er dem fürstl. Helden seines Armen Heinrich denselben Namen »von Ouwe« gab, bleibt rätselhaft. Wollte er die eigene Familiengeschichte (mit einem ständ. Abstieg) verklären oder das Herrengeschlecht ehren (trotz der erzählten unebenbürtigen Heirat)? H.s Name lässt allzu viele Möglichkeiten zur Bestimmung seines Herkunfts- (oder Dienst-)Orts offen. Geringfügige Spuren in der Sprache u. Heinrichs von dem Türlin Zeugnis (»von der Swâbe lande«) grenzen Herkunft u. Tätigkeit auf das alte Herzogtum Schwaben ein. Als vorrangig gilt heute die Frage, welcher Fürstenhof das Werk H.s gefördert haben könnte. Dafür kommen in der Region der Bedeutung nach derjenige der Zähringer, Welfen (Welf VI., † 1191) oder Staufer in Frage. Das gibt den erwogenen Namen Au bei Freiburg (Zähringer) u. Weißenau bei Ravensburg (Welfen) ein wenig größeres Gewicht. Das in den großen Liederhandschriften (Heidelberg, Handschriften. A u. C; Weingarten, Handschrift B) H. beigelegte Wappen trägt nicht zur Klärung bei. Die Entstehung der Erzähltexte in der Reihenfolge Erec – Gregorius – Armer Heinrich – Iwein gilt als gesichert, die Klage u. die ersten Minnelieder gehören an den Anfang seines Schaffens. Ob die Liedproduktion ganz auf
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die Frühphase beschränkt blieb u. durch die drei Kreuzlieder abgeschlossen wird, muss offen bleiben. Die Lieder mit dem Thema Kreuzzug können bedeuten, dass H. an einem solchen (1189/90 oder 1197/98) teilgenommen hat; sicher ist das nicht. Die Erwähnung Saladins († 1193) im dritten der Lieder (XVII) ist im Wortlaut problematisch u. kann deshalb nicht zum Angelpunkt gemacht werden. Die Verweise Wolframs von Eschenbach auf den Iwein rücken H.s Werke vor den Parzival; danach kann H.s dichterisches Wirken auf eine Spanne von etwa 1180 bis um 1205 eingegrenzt werden. Die Handschriften überliefern 18 Lieder, bei zweien ist H.s Urheberschaft fraglich. In den Formen, überwiegend ungleichversige Kanzonenstrophen, zeigt er Erfindungsreichtum, nur für ein Lied (XIII) ist Kontrafaktur eines romanischen Vorbilds wahrscheinlich. 15 Lieder sind Minnelieder, zwei davon benützen die an den frühen Minnesang anknüpfende Form des Frauenlieds; thematisch gehören sie alle außer einem (XV) zur hohen Minne, der höf. Werbung vor der Gesellschaft um eine als Inbegriff aller Werte gesehene, aber unerreichbare Frau. Es überwiegt der Ton der Klage über den erfolglos bleibenden Werbungsdienst mit den gattungstypischen Reflexionsmotiven. Das Los des Minnenden, der der Bindung nicht entfliehen kann, ist schlimmer als das des Geächteten (IV). Die »stæte«, die unverbrüchl. Beständigkeit in der Dienstbemühung, nimmt als Tugend den wichtigsten Platz ein. Charakteristisch für H. ist, dass er vom (in der hohen Minne notwendig) ausbleibenden Minnelohn auf die Unvollkommenheit seines eigenen Bemühens rückschließt u. selbst an seiner »stæte« zweifelt. Wenige Lieder finden einen hoffnungsvolleren Ton, verbunden mit Motiven der räuml. oder gesellschaftl. Distanz, die akzeptiert wird u. dann gerade dem Sänger erlaubt, befreit von drängender Erwartung auf Erfüllung, den Preis der Frau mit Freude zu singen. Ein Frauenlied (XIV) legt der Sprecherin die Bereitschaft in den Mund, den Dienst des Werbenden auch gegen die Regeln der Gesellschaft zu belohnen. Einen karikierend von außen gesehenen Frauendienst benützt das sog. Unmutslied (XV) als
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Begründung für die Absage an eine Minne ohne Gegenseitigkeit der Zuneigung. Die drei dem Thema Kreuzzug gewidmeten Lieder verlegen die Freude in die spirituelle Motivation für die Kreuznahme, das letzte (XVII) definiert den Minnebegriff radikal neu: Die Einheit von Wort u. Werk u. die Gegenseitigkeit der Zuneigung werde nur im Dienst des Kreuzfahrers verwirklicht. Nur im Ambraser Heldenbuch (1504–1515/16) ist eine Minnelehre von gut 1900 Versen überliefert, die als Klage oder Büchlein tituliert wird. Ein einleitend vorgestellter junger Mann, dessen Minnedienst noch ohne Erfolg ist, reflektiert seinen inneren Zwiespalt, indem sein »lîp«, der wahrnehmende u. ausführende Teil, u. sein »herze«, das Zentrum der fühlenden u. urteilenden Person, als allegor. Subjekte ein vehementes Streitgespräch über Erfahrung u. Sinn der Minne austragen. Beide beklagen das Leiden durch die Minne u. machen sich gegenseitig Vorwürfe, der Leib muss aber in einem Versöhnungsangebot die Führungsfunktion des Herzens anerkennen u. akzeptiert schließlich willig die Belehrung über die Paradoxien der Minne u. die Tugenden, die nötig sind, die Anerkennung der Frau u. zgl. die der Gesellschaft u. sogar Gottes zu verdienen. Gemeinsame Huldigung ist der abschließende Minnegruß an die Dame in einer kunstvollen Strophenfolge. Der mit rhetorischer Raffinesse ausgestaltete Text ist die erste programmat. Minnelehre in dt. Sprache, die erst im 14. Jh. in den Minnereden breitere Fortsetzung findet. Sie fasst Psychologie u. Wertsetzungen der hohen Minne nach romanischem Vorbild, wie sie durch das Minnelied geläufig geworden sind, systematisch zusammen. Eine direkte Vorlage fehlt; vielmehr scheint H. selbst aus Anregungen wie den mlat. allegor. Streitgesprächen (z.B. Visio Fulberti) u. kürzeren briefähnl. Liebesgrüßen oder -klagen, wie sie später in Nordfrankreich überliefert sind, seinen Text entwickelt zu haben. Der Grad seiner stilistischen Meisterschaft ist schon von erstaunl. Höhe. Der Erec wird als erster dt. Artusroman zum Muster für eine ganze Gattung. Durch eine Beleidigung zum Auszug vom Artushof veranlasst, holt sich der junge Ritter Erec nicht
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nur Genugtuung, sondern gewinnt im Kampf auch den Schönheitspreis für Enite, um die er kurz entschlossen geworben hat. Nach der Hochzeit am Artushof heimgekehrt, lebt er aber nur noch dem Genuss seiner Liebe, bis ihn Enite ungewollt auf die Kritik der Gesellschaft aufmerksam macht. Er bricht sofort mit ihr, der er Redeverbot erteilt, auf ins Unbekannte. Auf dem Weg besiegt er Widersacher, gerät in Bedrängnis bis hin zum Scheintod, triumphiert aber schließlich in wiederhergestellter Harmonie mit Enite u. stellt seine Fähigkeit unter Beweis, Ehre als Ausdruck seines verantwortl. Handelns dauerhaft zu erwerben. H. überträgt die wenig ältere frz. Verserzählung Erec et Enite Chrétiens de Troyes, der damit als erster Motiven der Artussage Romanform gegeben hat. Die Abweichungen von der Vorlage sind einesteils Folge einer regelgerechten rhetorischen Variationspraxis, andernteils weniger Einfluss weiterer Quellen als bewusste Akzentuierungen H.s, wenngleich noch nicht alle Fragen der Textgeschichte, die in jüngerer Zeit gefundene Fragmente (Wolfenbüttel, Zwettl) aufgeworfen haben, geklärt sind. Die Handlung besteht aus einer Kette von Szenen höf. Repräsentation u. von Episoden, in denen der Titelheld sich, als Ritter kämpfend, für elementare Werte aristokratisch-gesellschaftl. Umgangs u. gegen rohe Gewalt erfolgreich einsetzt u. auch die für ihn bestimmte Partnerin findet. Vordergründig sind diese nur durch den Zufall, die Aventiure, verknüpft, hintergründig verdeutlichen Verweise u. Wiederholungen, z.B. Enites Übertretungen des Schweigegebots als Beweis ihrer gleichbleibenden Treue, dass die Reihung ein planvolles, zielgerichtetes Arrangement ist. Sein Sinn liegt in der zunehmend bewussteren Verwirklichung eines höf. Wertekanons durch den Helden. Eine selbst verschuldete Krise macht den ersten leicht errungenen Erfolg zunichte u. zwingt ihn, in einer erneuten Anstrengung das richtige Verhalten gegenüber gesellschaftl. u. ehel. Verpflichtung unter Beweis zu stellen; der Erfolg korrespondiert zuverlässig seiner Leistung. Der Weg durch die ungeordnete Welt außerhalb des Artushofs erhält so die Bedeutung
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individueller Erprobung. In der themat. Beschränkung auf Kampf um Ehre u. Liebe in dem (in Deutschland) kaum historisch zu verstehenden Reich des König Artus formulierte der Roman ein Leitbild, von dem sich der ganze Adel angesprochen fühlen konnte. Die zwei kürzeren Erzählungen gestalten religiöse Thematik in höf. Umwelt. Sie sind in der Erzählperspektive zu komplex, um als Legenden bezeichnet werden zu können; man spricht am besten von legendenhaften oder legendarischen Erzählungen. Im Gregorius, der Geschichte vom »guten Sünder«, vereinen sich zwei fürstl. Geschwister zu verbotener Liebe; sie büßen dafür, die Schwester als Landesherrin durch Askese, dem Bruder bringt die Trennung den Tod. Gregorius, das Kind aus dem Inzest, wird ausgesetzt, gefunden u. in einem Kloster erzogen. Vom Wunsch nach Rittertum weggetrieben, befreit er unerkannt das Land seiner Mutter u. heiratet sie. Die Entdeckung des verdoppelten Inzests bringt beide an den Rand der Verzweiflung. Gregorius verurteilt sich selbst zu härtester Buße auf einer Felseninsel; schließlich aber beruft ihn göttl. Gnade durch Wunderzeichen auf den päpstl. Thron. H.s Quelle, die er frei bearbeitet, ist die frz. Legende La Vie du Pape Saint Grégoire aus dem 12. (oder 11.) Jh. Sie ist nur indirekt über die Judas- u. Albanus-Legende mit antiken Inzestgeschichten verknüpft. Schon im Prolog entwickelt H. aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Deutungsrahmen den Gedanken, dass die Auseinandersetzung mit der Welt zwar in die Gefahr tödl. Verwundung bringt, die göttl. Gnade aber gerade den davon niedergeworfenen Kämpfer zu höchster Würde erhebt. Nicht eine eindeutige Schuld, sondern die Verstrickung in kaum vermeidbare Verfehlung wird Gregorius zum Verhängnis u. zur Gnade. Seine Entscheidung für die höf. Welt wird nicht als Irrweg verurteilt, als erlösungsbedürftige kann diese Welt aber auch nur Feld der Prüfung u. Durchgangsstation sein. Obwohl Gregorius kein anerkannter Heiliger war, wurde die Geschichte in Prosaform später in Legendare aufgenommen.
Hartmann von Aue
Der arme Heinrich erzählt die Geschichte des aussatzkranken Freiherrn Heinrich, den nur das Blut eines unschuldigen Mädchens heilen kann. Nach Jahren des Leidens bietet sich die Tochter des Bauern, bei dem er lebt, selbstlos für dieses Opfer an. Unmittelbar vor der Ausführung erst erkennt Heinrich die Verirrung u. nimmt Abstand. Gottes Eingreifen bringt ihm darauf Heilung, u. er heiratet das Mädchen. Die knapp skizzierte Handlung ist ganz auf die innere Auseinandersetzung des Helden mit seinem Schicksal u. die selbstlose Opferbereitschaft des Mädchens abgestellt. Die Reflexion im inneren Monolog ist Heinrichs entscheidende Tat u. seine Anerkennung einer Weltordnung. Sie gibt in einem Schluss, der zwischen religiöser Utopie u. Märchen schwebt, einem neuen diesseitigen Glück Bestand. Die Fabel hat H. wohl selbst aus Motiven von Aussatz- u. Opferungslegenden (Silvesterlegende, Freundschaftssage) entwickelt. In seinem letzten Werk, dem Iwein, führt H. mit überlegener stilistischer Meisterschaft das Artusideal weiter. Iwein wiederholt, woran Kalogreant gescheitert war, er kämpft mit dem Herrn eines Zauberbrunnens. Der Sieg bringt ihm die Hand der Witwe des erschlagenen Gegners, Laudine, u. das Land ein. Die Warnung Gaweins vor ritterl. Untätigkeit wird ihm zum Verhängnis, weil er den Termin, bis zu dem ihn Laudine aus den Pflichten als Landesherr entlassen hat, versäumt. Nach dem Absturz in den Wahnsinn erkämpft er sich als Löwenritter mit dem ihn begleitenden Tier in einer Reihe von Kämpfen, die seine ritterl. Hilfsbereitschaft u. Zuverlässigkeit auch in Terminabsprachen unter Beweis stellen, die gesellschaftl. Anerkennung, schließlich auch die Versöhnung mit Laudine wieder zurück. H. überträgt erneut einen Roman Chrétiens de Troyes, Le chevalier au lion, u. folgt hier dem Vorbild enger als im Erec, wenn auch nicht ohne eigene Akzentsetzung. In die Fabel sind neben den Artus- u. altbekannten literar. Motiven auch Züge einer aus kelt. Quellen kommenden Feenwelt eingegangen. Diese Erzählwelt ist Raum für ein von H. ebenso wie von Chrétien mit leichter Hand, auch mit iron. Zwischentönen, inszeniertes Spiel um
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die höf. Verhaltensnormen. Auch Artus rückt aus seiner strengen Normativität. Der Ablauf der hier eleganter verflochtenen Episoden folgt dem Strukturmodell des Erec (»doppelter Cursus«, »Doppelweg«). Die Krise des Helden ist weniger Folge eines Normbruchs in der vom Erzählschema gebotenen Verfolgung des Brunnenritters bis zum Tod des Gegners, sondern bedingt durch den im Versäumen des Termins offenbar werdenden Mangel an verantwortl. Konsequenz. Seine Leichtfertigkeit lässt Iwein die kaum erworbene Frau u. die Pflichten für ihr Land zugunsten bindungslosen Strebens nach Ehre beiseite setzen. Dass das eingangs von Kalogreant beinahe karikierend definierte Schema ritterl. Aventiuresuche nicht genügt, sondern nur in der sozialen Verpflichtung u. der selbstständigen Verantwortung seine Ordnungskraft entfaltet u. dann Erfolg verspricht, müssen der Held auf seinem Weg u. das Publikum, das ihn begleitet, erst lernen. Scheitern u. Wiederaufstieg des Helden brechen die naive Erwartung auf den Erfolg eines Verhaltensmusters u. zwingen zur Auseinandersetzung, wie ein einzelner sich in Einklang mit einer Norm setzen kann. Erste Ansätze zu einem Perspektivenwechsel in der neuen Romanform unterstützen diesen Prozess. H.s Erzählstil u. seine Themen übten auf die Literatur seiner Epoche größte Wirkung aus; die nachfolgenden Autoren zitierten ihn als geradezu klass. Vorbild. Seine Werke wurden, in sehr unterschiedl. Häufigkeit, bis ins 16. Jh. handschriftlich überliefert. Um 1210 übersetzte Arnold von Lübeck den Gregorius in lat. Verse (Gesta Gregorii peccatoris), u. dieser blieb auch in verschiedenen Legendenfassungen bis ins 18. Jh. lebendig. Der Iwein gab schon seit dem frühen 13. Jh. den Stoff für umfangreiche Freskenzyklen in Rodenegg bei Brixen u. Schmalkalden sowie für andere Bildzeugnisse u. wurde im 15. Jh. von Ulrich Füetrer in sein Buch der Abenteuer aufgenommen. Eine frühe bildkünstlerische Umsetzung des Erec findet sich auf dem Krakauer Kronenkreuz (13. Jh.). In der Neuzeit wurden bes. die legendar. Erzählungen künstlerisch rezipiert. Der arme Heinrich bot den Stoff für eine Oper Hans
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Pfitzners (1895), eine Novelle Ricarda Huchs (1898), ein Drama Gerhart Hauptmanns (1902) und ein Schauspiel Tankred Dorsts (1997); als Rahmenerzählung wurde der Stoff v. H. W. Longfellow in The Golden Legend (1851) verwendet. Der Gregorius wurde in einer von Carl Loewe 1832/34 vertonten Ballade Franz Kuglers aufgegriffen, v. a. aber von Thomas Mann in seinem Roman Der Erwählte (1951) neu gestaltet. Richard Wagners Plan einer Erec-Oper blieb unausgeführt, eine Iwein-Oper schuf 1879 August Klughardt. Ausgaben: Lieder: Minnesangs Frühling 1, S. 404–430. – Hg. Ernst v. Reusner. Mhd./nhd. Stgt. 1985. – Klage: Hg. Herta Zutt. Bln. 1968. – Hg. Ludwig Wolff. Mchn. 1972. – Epische Werke: H. v. A.: Werke (mit Übers. u. Komm.en). Bd. 1: Erec. Hg. Manfred Günther Scholz. Bd. 2: Gregorius, Armer Heinrich, Iwein. Hg. Volker Mertens. Ffm. 2004. – Weitere Ausgaben: Erec: Hg. Albert Leitzmann. 7. Aufl. besorgt v. Kurt Gärtner. Tüb. 2006. – Gregorius: Hg. Friedrich Neumann. Wiesb. 1958. 51981. – Hg. mit Übers. v. Burkhard Kippenberg. Stgt. 1963. – Hg. Hermann Paul. 15. Aufl. besorgt v. Burghart Wachinger. Tüb. 2004. – Der arme Heinrich: Hg. Ursula Rautenberg, übers. v. Siegfried Grosse. Stgt. 1993. – Hg. H. Paul. 16. Aufl. besorgt v. K. Gärtner. Tüb. 1996. – Iwein: Hg. Georg F. Benecke u. Karl Lachmann. 7. Aufl. neu bearb. v. L. Wolff. 2 Bde., Bln. 1968. – Hg. Thomas Cramer. Bln. 1968. 31981 (nach Benecke/Lachmann/Wolff mit Übers.). Literatur: Bibliografie: Elfriede Neubuhr: Bibliogr. zu H. v. A. Bln. 1977. – Weitere Titel: Wolfgang Dittmann: H.s ›Gregorius‹. Bln. 1965. – Christoph Cormeau: H.s v. A. ›Armer Heinrich‹ u. ›Gregorius‹. Mchn. 1966. – Ekkehard Blattmann: Die Lieder H.s v. A. Bln. 1968. – Eva Maria Carne: Die Frauengestalten bei H. v. A. Marburg 1970. – Hugo Kuhn/C. Cormeau (Hg.): H. v. A. Darmst. 1973. – Wolf Gewehr: H.s Klage-Büchlein im Lichte der Frühscholastik. Göpp. 1975. – Friedrich Ohly: Der Verfluchte u. der Erwählte. Opladen 1976. – V. Mertens: Gregorius eremita. Mchn. 1978. – Ders.: Laudine. Bln. 1978. – H. Zutt: König Artus, Iwein, der Löwe. Tüb. 1979. – C. Cormeau: H. v. A. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Rudolf Voß: Die Artusepik H.s v. A. Köln/Wien 1983. – C. Cormeau/ Wilhelm Störmer: H. v. A. Epoche – Werk – Wirkung. Mchn. 1985. 32007. – Gudrun Hasse: Die germanist. Forschung zum ›Erec‹ H.s v. A. Ffm u. a. 1988. – Timothy McFarland u. Silvia Ranawake (Hg.): H. Changing Perspectives. Göpp. 1988. – Lambertus Okken: Komm. zur Artusepik H.s v. A. Amsterd. 1993. – William H. Jackson: Chivalry in
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41 Twelfth-Century Germany. The Works of H. v. A. Cambridge 1994. – Brigitte Edrich-Porzberg: Studien zur Überlieferung u. Rezeption v. H.s ›Erec‹. Göpp. 1994. – V. Mertens: Der dt. Artusroman. Stgt. 1998. – Sylvia Kohushölter: Die lat. u. dt. Rezeption v. H.s v. A. ›Gregorius‹ im MA. Tüb. 2006. – Joachim Bumke: Der ›Erec‹ H.s v. A. Eine Einf. Bln./New York 2006. – Horst Brunner u. Mathias Herweg (Hg.): Gestalten des MA. Ein Lexikon histor. u. literar. Personen in Dichtung, Musik u. Kunst. Stgt. 2007. – Jürgen Wolf: Einf. in das Werk H.s v. A. Darmst. 2007. Christoph Cormeau † / Horst Brunner
1861 (Histor. R.). – Erzählungen aus der Schweiz. Solothurn 1863. – Gallerie berühmter Schweizer. Baden 1863–71 (Biogr.n). – Junker u. Bürger. Bln. 1865 (Histor. R.). – Denkwürdigkeiten des Kanzlers Hory. Bln. 1875 (Biogr.). – Schweizer-Novellen. Bln. 1877. – Fortunat. Bln. 1879 (R). – Neue Schweizernovellen. Bln. 1879. – Der gerechte Branntweinbrenner. Bern 1881 (R.). – Auf Schweizererde. 3 Bde., Bern 1883–85 (E.en). – Prinz Arsenius. Solothurn 1888 (Festsp.). – Autobiogr. Rückblick. Dornach 1974. Literatur: Walter v. Arx: A. H. Sein Leben u. seine Schr.en. Solothurn 1902. – Gödeke Forts. Christian von Zimmermann
Hartmann, Alfred, * 1.1.1814 Thunstetten, † 10.12.1897 Solothurn. – Volks- Hartmann, Andreas, auch: Hylas, * um schriftsteller u. Publizist. 1612 Leipzig (Lausitz?), † nach 1682 (Zeitz?). – Jurist u. Romancier. H. stammte aus einer konservativ geprägten Berner Burgerfamilie; der Vater Sigmund Emanuel H. war Oberamtmann von Aarwangen u. Gutsherr auf Schloss Thunstetten. H. besuchte ab 1827 als Protestant das kath. Kollegium in Solothurn; 1831–1834 studierte er Rechtswissenschaften in München, Heidelberg u. Berlin; 1835 weilte er in Paris. Er schloss sich in Solothurn den Kreisen der Liberalen an, darunter der Zeichner Martin Disteli. H. schrieb für das Cotta’sche »Morgenblatt« u. gab Zeitschriften wie »Der Morgenstern« u. »Alpina« sowie das »Wochenblatt für Freunde der Literatur« (1845–1847) u. das satir. Wochenmagazin »Postheiri« heraus; 1857/58 war er Feuilletonredakteur bei der freisinnigen Tageszeitung »Der Bund«. Kontakte hatte er zu Gottfried Keller u. Karl-Maria Kertbeny. Die Romane u. Erzählungen H.s greifen Themen aus den sozialen u. polit. Verhältnissen der Schweiz auf. Seit seinen KiltabendGeschichten (Bern 1852–54) stellte sich H. in die Nachfolge Gotthelfs; besondere Aufmerksamkeit fand darunter die eventuell dem Kontakt zu Sealsfield geschuldete Erzählung Dursli der Auswanderer. In Meister Putsch und seine Gesellen (Solothurn 1858), nahezu als Schlüsselroman, werden die Entwicklungen von den Verfassungskämpfen in Solothurn 1840/41 bis zur Annahme der Bundesverfassung 1848 aufgegriffen.
Weitere Werke: Martin Disteli. Solothurn 1861 (Biogr.). – Junker Hans Jakob vom Staal. Solothurn
H. wurde bereits im Wintersemester 1618 pro forma (›non iuravit‹) in die Matrikel der Universität Leipzig eingetragen, nahm sein Jurastudium aber erst später auf. Die Eidesleistung erfolgte 1633; am 30. März desselben Jahres erwarb er den Grad des Bakkalaureus; am 4.2.1636 wurde er zum Magister promoviert. Später war er geheimer Kammersekretär bei Herzog Moritz von SachsenZeitz. Vom dichterischen Schaffen H.s zeugen einige Gelegenheitsschriften, v. a. aber sein studentischer Schäferroman Des Hylas auß Latusia lustiger Schau-Platz von einer Pindischen Gesellschaft (Hbg. 1650). ›Latusia‹ ist ein Anagramm von Lusatia/Lausitz. Das Werk ist den poln. (= schles.) u. sächs. Studenten der Universität Leipzig gewidmet u. stilisiert in pastoraler Verkleidung wohl den Leipziger Lyrikerkreis, ohne dass sich Bezüge zu einzelnen Personen herstellen ließen. Die Mitglieder der Pindischen Gesellschaft, eines Gelehrtenzirkels Gleichgesinnter, geraten unter den Einfluss Amors u. widmen sich den Musen. In kleinen Episoden werden die Liebesabenteuer der Mitglieder in Prosa-, Vers- u. Briefform erzählt. Die im Vorwort angeführten Tugenden u. Laster kehren im Roman als Verhaltensweisen der Protagonisten wieder. Unter der schäferl. Maske treten die stadtbürgerl. Konventionen deutlich hervor. Im Gegensatz zum höf. Roman verhalten sich die Liebenden nie politisch-repräsenta-
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tiv. Das studentische Milieu bleibt mit seinen bürgerlich gewendeten Tugenden eine geschlossene u. intakte Innenwelt. Weitere Werke: Ogdoada [griech.] quaestionum politicarum [...]. Praes.: A. H. Lpz. 1637. – Unterthänigste Glückwünschung, an [...] Herrn Moritzen, Hertzogen zu Sachsen [...]. Zeitz 1665. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Arnold Hirsch: Bürgertum u. Barock im dt. Roman. Köln 21957, S. 98–100. – Heiduk/Neumeister, S. 46, 180, 370. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis [...]. Köln/Wien 1974 (Register). – Marieluise Bauer: Studien zum dt. Schäferroman des 17. Jh. Diss. Mchn. 1979. – DBA. Bernd Prätorius / Red.
Hartmann, Anton Theodor, * 25.6.1774 Düsseldorf, † 20.4.1838 Rostock. – Orientalist, evangelischer Theologe.
Provenienz verpflichtet waren (Linguistische Einleitung in das Studium der Bücher des Alten Testaments. Bremen 1817/18. Historisch-kritische Forschungen über die Bildung, das Zeitalter und den Plan der fünf Bücher Mose’s. Rostock/ Güstrow 1831). Trotz seiner Interessen für den Orient u. die jüd. Geschichte brachte H. der polit. Emanzipation des zeitgenöss. Judentums keinerlei Sympathien entgegen (Johann Andreas Eisenmenger und seine jüdischen Gegner. Parchim 1834). Antisemitische Auffassungen verstrickten ihn gegen Lebensende in einen publizistischen Streit mit dem jüd. Prediger Gotthold Salomon (Grundsätze des orthodoxen Judenthums mit Beziehung auf des Herrn Dr. Salomon’s Sendschreiben. Rostock 1835). Literatur: Gustav Moritz Redslob: A. T. H. In: ADB. – RGG. 2. Aufl., Bd. 2, Sp. 1639. – Encyclopaedia Judaica. Bd. 7, Sp. 1011. – Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerl. Gesellsch. Jüd. Emanzipation 1770–1870. Ffm. 1986. Gerda Riedl
Nach Beendigung seiner Gymnasialzeit entschied sich der Kaufmannssohn für ein Theologiestudium in Göttingen (1793–1796). Dem erfolgreichen Studienabschluss folgten Tätigkeiten als Hauslehrer (Düsseldorf Hartmann, (Karl Robert) Eduard von, 1796/97), gymnasialer Konrektor (Soest * 23.2.1842 Berlin, † 5.6.1906 Berlin; 1797–1799), Prorektor (Herford 1799–1804) Grabstätte: ebd., Garnisonsfriedhof. – u. Kollaborator (Oldenburg 1804–1811). Von Philosoph. seinem Lehrer, dem Göttinger Exegeten Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), emp- Der Sohn eines preuß. Generalmajors schlug fohlen u. durch verschiedene Publikationen die Offizierslaufbahn ein, bis ihn 1865 ein ausgewiesen, wurde H. 1811 zum o. Prof. der Knieleiden zwang, Zivilist zu werden. H. Theologie an der Universität Rostock er- studierte in Berlin Naturwissenschaften u. nannt. 1813 nachträglich promoviert, erhielt Philosophie u. wurde bereits zwei Jahre nach er den Titel eines Konsistorialrats (1815) u. seiner Promotion mit der Abhandlung Philodas Amt des Direktors im Rostocker Münz- sophie des Unbewußten. Versuch einer Weltankabinett (1818). Seine wissenschaftl. Arbeiten schauung (Bln. 1869, 121923 in 3 Bdn., übers. brachten dem polyglotten Orientalisten bald in zahlreiche Sprachen; mit dem Teilband auch internat. Ansehen ein (u. a. Ehrenmit- Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine krigliedschaft an der Universität Kasan 1828). tische Darstellung der organischen EntwicklungsSeine alttestamentl. Studienrichtung u. die theorie. Bln. 1875) zum Modephilosophen der Orientbegeisterung bürgerl. Leserkreise be- Gründerzeit. Er orientierte sich am philosostimmten H. früh zu kulturgeschichtl. Ab- phischen Dreigestirn Hegel-Schelling-Schohandlungen wie Ueber die Ideale weiblicher penhauer, nach einer Methode der systemat. Schönheiten bey den Morgenländern (Düsseld. »Umbildung« der spekulativen Impulse u. 1798) oder Die Hebräerin am Putztische und als der deutschsprachigen Rezeption des DarwiBraut (3 Bde., Amsterd. 1809/10) u. literar. nismus. Unter dem Einfluss von A. TrendeÜbersetzungsversuchen, z.B. Morgenländische lenburg lehnte H. die dialektische Methode Blumenlese (Bln. 1802). Mit dem Antritt seiner Hegels ab. Der konkrete Monismus bzw. Professur traten sprach- u. bibelwissen- postchristl. u. antiklerikale Pantheismus schaftl. Forschungen in den Vordergrund, die umfasst die Annahme eines Weltgrunds mit der entstehenden Exegese historisch-krit. den beiden Attributen unbewusster Wille u.
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unbewusste Vernunft. Von Hegel übernahm H. Elemente einer teleolog. Geschichtsphilosophie (»Vernunft regiert die Welt«), von Schopenhauer die Auffassung, Finalität des Lebens sei Desillusionierung u. freiwillige Selbstvernichtung der Welt der Individuen (»Nichtsein ist besser als Sein«), nicht durch Askese, sondern durch kollektive kulturelle Leistung u. Unterordnung unter die höheren Ordnungen von Familie, Staat u. Geschichte. H. verknüpft Enthusiasmus in Bezug auf Kulturfortschritt mit Pessimismus bezüglich der Freiheit (gegen Hegel) u. bezüglich der Glücksbilanz im Kulturleben (gegen Utilitarismus u. Sozialdemokratie; Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus. Bln. 1880). Als gefährlichste Gegenposition zu seiner Philosophie betrachtete H. den radikalen Individualismus u. »Nihilismus« von Max Stirner u. Friedrich Nietzsche. Rufe an die Universitäten von Leipzig, Göttingen u. Berlin nahm H. nicht an, weil er wegen Teilinvalidität seine Arbeitszeit meist liegend u. schreibend verbrachte. Von 1872 bis zu ihrem frühen Tod 1877 war H. mit Agnes Taubert verheiratet, seit 1878 mit Alma Lorenz; beide machten sich mit Abhandlungen u. Editionen um H.s Werk verdient. In der Erkenntnislehre vertrat H. einen »transzendentalen Realismus«, dem gemäß Raum u. Zeit als Eigenschaften des Dinges an sich gelten (Das Ding an sich und seine Beschaffenheit. Kantische Studien zur Erkenntnistheorie und Metaphysik. Bln. 1870. 2. Aufl. u. d. T. Kritische Grundlegung des transcendentalen Realismus. Bln. 1875. Das Grundproblem der Erkenntnistheorie. Lpz. 1889). Auch die Kategorien der Kausalität u. der Zwecke beziehen sich auf das Ding an sich u. erlauben eine Verknüpfung von Metaphysik u. moderner induktiver Wissenschaft, ohne in einen naiven Realismus zu verfallen. H. gehörte zu den ersten Kritikern des sich formierenden Neukantianismus. Zu seinen reifen systemat. Hauptwerken zählte H. nicht sein erstes Erfolgsbuch, sondern die Kategorienlehre (Lpz. 1896. 21923 in 3 Bdn.), die Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins (Bln. 1879. 21886. 31922 u. 1924), Die Religion des Geistes (Bln. 1882) u. die Ästhetik (Die deutsche Ästhetik seit Kant.
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Erster historisch-kritischer Theil der Ästhetik. Lpz. 1886. Philosophie des Schönen. Lpz. 1887. 2 1924). H. plädierte nicht für irrationales Verhalten, sondern für Arbeit an sich selber u. überindividuellen Zielen. Für das Gedeihen der Kunst betrachtete er die zunehmende theoret. Bewusstwerdung als destruktiv, während er die Bewusstwerdung des Unbewussten für Recht u. Moral als ein notwendiges Durchgangsstadium positiv beurteilte. Sein vielseitiges System fasste H. in seinem System der Philosophie im Grundriss (8 Bde., Bad Sachsa 1907–09) zusammen. Der Zenit seines europ. Ansehens beim Bildungsbürgertum der 1870er u. 1880er Jahre überschneidet sich mit der postumen Wirkungsgeschichte Schopenhauers, atmosphärisch repräsentativ in August Strindberg: Eine Friedensnovelle (= Gewissensqualen. Letzte Erzählung aus: Utopier i verkligheten. 1884. Dt. Reale Utopien. 1885) sowie Tjänstekvinnans son (dt. Sohn der Magd. 1886). Der »Philosoph des Unbewussten« wird zusammen mit Philipp Mainländer u. Julius Bahnsen zur »Schopenhauer-Schule« gezählt. H. vertrat eine klassizistische Ästhetik u. lehnte den literar. Naturalismus ab. Er beeinflusste die pessimistische Literaturströmung u. den Neovitalismus der Jahrhundertwende u. stand mit seiner Theorie des Unbewussten im Vorfeld der Tiefenpsychologie. Zum Umkreis gehörten Arthur Drews, der junge Rudolf Steiner u. Leopold Ziegler. Spuren der Rezeption finden sich im 20. Jh. u. a. bei Max Scheler u. Ernst Bloch. Weitere Werke: Über die dialekt. Methode. Bln. 1868. – Die Selbstzersetzung des Christenthums u. die Religion der Zukunft. Bln. 1874. – Gesch. der Metaphysik. 2 Bde., Lpz. 1899/1900. – Die Gefühlsmoral. Hg. Jean-Claude Wolf. Hbg. 2006. – Briefe: Arthur Drews / E. v. H.: Philosophischer Briefw. 1888–1906. Hg. Rudolf Mutter u. Eckhart Pilick. Rohrbach/Pfalz 1995. Literatur: Bibliografie Alma v. Hartmann: Chronolog. Übersicht der Schr.en v. E. v. H. In: Jean-Claude Wolf (Hg.): E. v. H. Zeitgenosse u. Gegenspieler Nietzsches. Würzb. 2006, S. 145–170. – Weitere Titel: Olga Plümacher: Der Kampf um’s Unbewusste. Nebst einem chronolog. Verzeichniss der H.-Lit. als Anhang. Bln. 1881. – Arthur Drews: E. v. H.s philosoph. System im Grundriß. 2., durch
Hartmann einen Nachtrag verm. Ausg. Heidelb. 1906. – JeanClaude Wolf: E. v. H. Ein Philosoph der Gründerzeit. Würzb. 2006. Jean-Claude Wolf
44 Literatur: Wilhelm Lang: Goethe u. D. H. In: Goethe Jb. 9 (1888), S. 128–134. – Ders.: G. D. H. Ein Lebensbild aus der Sturm- u. Drangzeit. Stgt. 1890. – Adolf Wohlwill: G. D. H. In: ADB. Markus Knecht
Hartmann, Gottlob David, auch: Telyn- Hartmann, Johann David, * 1.6.1761 hard, * 2.9.1752 Roßwag/Württemberg, Aschersleben, † 4.12.1801 Holzminden. – † 5.11.1775 Mitau/Kurland. – Lyriker u. Lyriker, Philologe, Pädagoge. Prosaist. Vom Vater für den theolog. Beruf bestimmt, schlug H. die württembergische Schullaufbahn ein: 1767–1771 Klosterschule in Blaubeuren u. Bebenhausen, anschließend Eintritt ins Tübinger Stift, wo er 1773 zum Magister promoviert wurde. In Tübingen pflegte H. die Freundschaft mit Johann Ludwig Huber, daneben führte er einen ausgedehnten Briefwechsel mit Bodmer u. Lavater, die er in Zürich besuchte. Er schwärmte für Klopstock, Denis u. Karl F. Kretschmann, widmete sich philosophischen u. histor. Studien, v. a. aber dt. Literatur. Neben den mit nordisch-mytholog. Zierat ausgestatteten Vaterlandsgesängen, den mit Pietät u. Begeisterung württembergischen Patrioten gewidmeten Liedern (verstreut veröffentlicht) u. den Jahresfeiern (Lpz. 1773, 1774), Berichten zeitgenöss. Ereignisse der Jahre 1771–1773, war die Prosaschrift Sophron, oder die Bestimmung des Jünglings für dieses Leben (Mitau 1773) am bekanntesten. H. kritisierte darin die Ordnungsmechanismen im Tübinger Stift u. stellte ihnen den Genius der inneren Stimme u. der eigenen Bestimmung gegenüber. Auf Empfehlung Sulzers berief 1774 Hzg. Peter von Kurland H. als Professor der Philosophie an das neu gegründete akadem. Gymnasium in Mitau. Mit der Lektüre des Werther u. der Bekanntschaft mit Elisabeth von der Recke in seinem letzten Lebensjahr wandelte sich H. vom strengen Richter Goethes u. Herders zu deren feurigem Verehrer, vom schwäb. Zensor des literar. Geschmacks zum geschichtsphilosophischen Denker eines neuen Zeitalters. Weitere Werke: H.s Prof. zu Mitau, hinterlassene Schr.en [...]. Hg. Christian Jakob Wagenseil. Gotha 1779.
H. war nach dem Studium in Helmstedt u. Halle Kollaborator an der Domschule in Halberstadt, dann Lehrer am Friedrichswerderschen Gymnasium in Berlin. Ab 1790 Professor u. Direktor des Gymnasiums in Bielefeld, wechselte er 1794 nach Herford an das Friedrichsgymnasium, 1798 an die Kloster- u. Hohe Stadtschule in Holzminden, wo die Schulleitung mit dem Amt des Priors von Kloster Amelungsborn verbunden war. In H.s pädagog. Schriften finden sich als Bezeichnungen für seine akadem. Titel sowohl »der Philosophie Doktor« (Über die moralische Bildung der Jugend. Bln. 1790) als auch »Magister der schönen Wissenschaften und der Weltweisheit Doktor« (Nachricht von der neuen Einrichtung des Gymnasiums in Bielefeld. Bielef. 1790). H. wuchs im Umkreis Gleims auf. Die Briefe an eine Freundin über Schönheit, Grazie und Geschmack (Bln. 1784) u. Komische Erzählungen in Versen [...] (Bln. 1785) folgen anakreont. Vorbildern. Wenige Briefe an Gleim haben sich im Gleimhaus in Halberstadt erhalten. Im ersten Band seines Versuchs einer allgemeinen Geschichte der Poesie [...] (2 Bde., Lpz. 1797/98) bezeichnet sich H. als »Mitglied der literarischen Gesellschaft zu Halberstadt«. In den »Halberstädter gemeinnützigen Blättern« (1791) hat er ebenso wie im »Berliner Musenalmanach« (1792) Gedichte veröffentlicht. Gelegenheitsverse sind den preuß. Königen gewidmet, z.B. Der Patriot am Grabe Friedrichs des Einzigen (Bln. 1786). Der Schwerpunkt seiner zahlreichen Publikationen liegt auf philolog. u. pädagog. Feld: Über die ältesten Lehrdichter der Griechen [...] (Herford 1794), Versuch einer Culturgeschichte der vornehmsten Völker Griechenlands; für die studierende Jugend [...] (2 Bde., Lemgo 1796,
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1800). Auch grundsätzl. Reden aus der Schulpraxis hat H. veröffentlicht. Weitere Werke: De Phoebo Apolline veteris Graeciae ac Latii. Halle 1787. – Anweisung zum Briefschreiben für die adliche Jugend beyderley Geschlechts. Bln. 1789. Auch u. d. T.: Adliche Briefsteller; ein Neujahrsgeschenk für die adliche Jugend beyderley Geschlechts. Bln. 1789. – Hdb. für Teutschlands Söhne u. Töchter. Bln. 1790. – Von den Kennzeichen einer guten u. wohlgeordneten Schule [...]. Bielef. 1790. – Einige Gedanken über die Pflicht der Eltern, zur Bildung ihrer Kinder auf Schulen mitzuwirken. Bielef. 1793. – Hesiod’s Schild des Herakles, nebst den Schilden des Achilleus u. Aeneas v. Homer u. Virgil. Metrisch verdeutscht [...]. Lemgo 1794. – Beyträge zur christl. Kirchen- u. Religionsgesch. Jena 1795. Literatur: Westf. Autorenlex. 1 Reinhard Vogelsang / Red.
Hartmann, Lukas, auch: Hans-Rudolf Lehmann, * 29.8.1944 Bern. – Erzähler, Kinderbuch- u. Hörspielautor. Nach dem Studium der Germanistik, Psychologie u. Musik arbeitete H. in der Jugendberatung u. beim Rundfunk. Beide Tätigkeiten beeinflussten sein Schreiben entscheidend. Er unternahm längere Reisen nach Südamerika, Indien u. Afrika. 1983/84 hielt sich H. am Istituto Svizerro in Rom auf. 1985–1988 präsidierte er der »Gruppe Olten«. 1990/91 unternahm er eine Vortragsreise durch Ägypten. H.s Werke wurden ins Italienische, Französische, Spanische, Katalanische, Flämische, Slowakische u. Japanische übersetzt. In seinem thematisch weit gefassten Werk rührt H. an eines der Grundprobleme der Moderne, der Relation von festem Ethos u. freier Imagination, ästhetischer Wirkung u. gesellschaftl. Intentionalität des Textes, die ihm nicht antinomisch sind, sondern in einer notwendigen Beziehung zueinander stehen. Dieser Frage stellt er sich schon in seinem 1970 unter dem Namen Hans-Rudolf Lehmann veröffentlichten Erstlingsroman Ausbruch (Zürich), in dem die Idee des heftigen Sich-Lösens aus einer Bindung aufgegriffen wird; der Gedanke des Ausbruchs kommt übrigens in verschiedenen Variationen in H.s Gesamtschaffen zum Tragen. In seiner so-
zialkrit. Aufzeichnung Madeleine, Martha und Pia. Protokolle vom Rand (Bern 1975) verfolgt der Verfasser die Lebensgeschichte dreier Frauen, die von Kindheit an als Außenseiter der Gesellschaft leben u. vergeblich Überlebensstrategien entwickeln. Pestalozzis Berg (Bern 1978. Neufassg. Frauenfeld 1988. Verfilmt 1989) schildert den Kuraufenthalt des aufklärerischen Pädagogen u. Humanisten im Gurnigelbad während eines krisenhaften Lebensabschnitts – er ist in Stans als Erzieher gescheitert u. trägt sich mit Selbstmordgedanken – u. sein Ringen um eine Position zwischen Bürgertum u. dem untersten Stand. In Gebrochenes Eis. Aufzeichnungen (Zürich 1980) fragt H. nach den Ursachen des Sinnlichkeits- u. Gefühlsverlustes als Grunderfahrung der Gegenwart, dabei Erinnerungen mit Protokollen von Gesprächen mit seinen Eltern konfrontierend. Im Roman Aus dem Innern des Mediums (Zürich 1985) rechnet ein Funkjournalist mit seiner Medienvergangenheit ab u. sucht zu einer neuen Identität vorzudringen. Ein Terrorist, ein alternder Musiker u. seine jüngste Klavierschülerin sind im Roman Einer stirbt in Rom (Zürich 1989) in eine tödl. Dreiecksgeschichte verstrickt. H. siedelt den Roman vor der Folie modernster Zeitgeschichte (Papstattentat, RAF-Szene) an u. skizziert die vergebl. Suche seiner Figuren nach geistig-religiöser Orientierung. Er schreibt zudem gern fiktionale Tatsachenberichte, literar. Werke mit Authentizitätsanspruch, in denen der Verlauf eines Geschehens nachgezeichnet wird, darunter Romane wie Die Seuche (Zürich 1992), das Bild einer Pestepidemie im 14. Jh., Die Mohrin (Zürich 1995), die Geschichte einer entfremdeten, im 18. Jh. aus Indien in die Schweiz gebrachten Sklavin, oder auch Die Frau im Pelz. Leben und Tod der Carmen Mory (Zürich 1999), eine spannende Darstellung des Lebens einer aus dem Berner Oberland kommenden u. 1947 zum Tod verurteilten Agentin. H. erhielt u. a. den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1979, 1996), den Buchpreis der Stadt Bern (1980, 1993) u. den Schweizerischen Jugendbuchpreis (1995).
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Weitere Werke: Mozart im Hurenhaus. Gesch.n. Gümlingen/Bern 1976. – Mahabalipuram oder Als Schweizer in Indien. Ein Reisetagebuch. Zürich 1982. – Kein Kuchen für Bahar. Flüchtlingsportraits. Gümlingen/Bern 1987. – Madeleine, Bahar u. Youssef. Porträts vom Rand. Gümlingen 1991. – Die Wölfe sind satt. Zürich 1993. – Der Konvoi. Zürich 1997. – Die Tochter des Jägers. Zürich 2002. – Die Deutsche im Dorf. Zürich 2005. – Die letzte Nacht der alten Zeit. Mchn. 2007. – Kinder- und Jugendbücher: Anna annA. Gümlingen/ Bern 1984. Verfilmt 1993. – Joachim zeichnet sich weg. Zürich 1987. – Die wilde Sophie. Zürich 1990. – Gib mir einen Kuss, Larissa Laruss. Zürich 1996. – Leo Schmetterling. Zürich 2000. – Timi Donner im Reich der Kentauren. Zürich 2000. – Heul nicht, kleiner Seehund. Zürich 2006. Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek
Hartmann, Moritz, * 15.10.1821 Duschnik bei Prˇ ibram/Böhmen, † 13.5.1872 Wien. – Autor von Erzählungen, Gedichten u. Versepen. H. stammte aus der kinderreichen Familie eines jüd. Hammerwerksbesitzers. Er studierte seit 1838 Medizin in Prag u. Wien u. verkehrte mit Literaten wie Leopold Kompert, August Meißner u. Josef Rank. Ab 1844 lebte H. als freier Schriftsteller in Leipzig. Sein erster Gedichtband Kelch und Schwert (Lpz. 1845) wurde in Österreich verboten. Er arbeitete an zahlreichen Zeitschriften mit, reiste viel, traf in Paris mit Heine zusammen. Nach der März-Revolution 1848 wurde H., der sich als Großdeutscher gegen einen tschech. Staat wandte, als Abgeordneter von Leitmeritz in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, wo er sich der demokratischen Linken anschloss. Im Herbst 1848 bekämpfte er in Wien die Gegenrevolution. Während sein Mitstreiter Robert Blum erschossen wurde, gelang ihm die Flucht. In seinen Bruchstücken revolutionärer Erinnerungen (1861. U. d. T. Revolutionäre Erinnerungen hg. von Heinrich Hubert Houben. Lpz. 1919) schilderte er die Revolutionsereignisse farbig u. detailliert. In der brillanten Verssatire Reimchronik des Pfaffen Maurizius (anonym Ffm. 1849) verarbeitete H. in Heine’schem Geist die Erfahrung der endlosen Streitereien u. der polit. Ohnmacht des Paulskirchenparla-
ments; in bitterer Melancholie stellt er das Scheitern des ungar. Aufstands u. der dt. Revolution dar – er selbst musste nach der gewaltsamen Auflösung des Stuttgarter Rumpfparlaments im Juni 1849 in die Schweiz fliehen. Das Exil führte ihn durch zahlreiche Länder Europas u. in viele Berufe. Erst 1868 konnte er nach Wien zurückkehren, wo er bis zu seinem Tod Redakteur der »Neuen Freien Presse« war. Im Vormärz durch seine Lyrik berühmt, verband H. wie sein Vorbild Lenau melanchol. Landschafts- u. Stimmungsbilder mit politisch-kämpferischen Gedichten. In hussitischem Geist stritt er – nicht selten pathetisch – für unterdrückte u. liberale Freiheiten (Böhmische Elegien) u. prangerte soziales Unrecht an. Die Reimchronik stellt den Höhepunkt seiner polit. Dichtung dar. Als Erzähler begann H. mit Dorfgeschichten in der Nachfolge von Auerbach u. Rank u. mit histor. Novellen. Der Roman Der Krieg um den Wald (Ffm. 1850) behandelt die sozialen Probleme eines Dorfs vor dem Hintergrund einer histor. Bauernrevolte. Die zahlreichen Erzählungen, Romane u. Reiseberichte aus den 1850er u. 1860er Jahren variieren diese Themen; daneben spielen immer wieder Erfahrungen von Flüchtlingen u. Umhergetriebenen eine wesentl. Rolle (z.B. in Erzählungen eines Unstäten. 2 Bde., Bln. 1858). H.s Prosawerk ist geprägt von einem detailgetreuen Realismus, sprachlich u. stilistisch wird eine mittlere Erzählebene angestrebt. Insbesondere seine gekonnt gebauten Novellen trafen den Zeitgeschmack. Nach langer Vergessenheit wird in letzter Zeit der polit. Dichter u. Schilderer von Landschaften u. sozialen Spannungen neu entdeckt. Weitere Werke: Ges. Werke. Hg. Ludwig Bamberger u. Wilhelm Vollmer. 10 Bde., Stgt. 1873/74. – Briefe: Briefe aus dem Vormärz. Eine Slg. aus dem Nachl. M. H.s. Hg. Otto Wittner. Prag 1911. – Briefe. Ausgew. v. Rudolf Wolkan. Wien 1921. – Einzeltitel: Neuere Gedichte. Lpz. 1846. – Adam u. Eva. Eine Idylle in sieben Gesängen. Lpz. 1851. – Tgb. aus Languedoc u. Provence. 2 Bde., Darmst. 1853. Neudr. Bln. 1972. Ffm. 21980. Mikrofiche Mchn. 1990–94. – Zeitlosen. Braunschw. 1858 (L.). – Mährchen u. Gesch.n. aus Osten u. Westen. Braunschw. 1858. – Novellen. 3 Bde., Hbg.
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47 1863. – Nach der Natur. 3 Bde., Stgt. 1866 (N.n). – Die Diamanten der Baronin. 2 Bde., Bln. 1868 (R.). Literatur: Otto Wittner: M. H.s Leben u. Werke. 2 Bde., Prag 1906/07. – Antál Mádl: Polit. Dichtung in Österr. (1830–48). Budapest 1969. – Margarita Pazi: M. H. Der Reimchronist des Frankfurter Parlaments. In: Jb. des Instituts für dt. Gesch. 2 (1973), S. 239–266. – Hubert Lengauer: Ästhetik u. liberale Opposition. Zur Rollenproblematik des Schriftstellers in der österr. Lit. um 1848. Wien/Köln 1989, S. 95–119. – Erich Kleinschmidt: Revolutionäre Spiegelungen. Zu M. H.s Reimchronik des Pfaffen Maurizius (1849). In: Lit. u. Politik in der Heine-Zeit. Hg. Hartmut Kircher u. Maria Klanska. Köln u. a. 1998, S. 185–203. – Eoin Bourke: M. H. u. Irland. In: Bewegung im Reich der Immobilität. Revolutionen in der Habsburgermonarchie 1848–1849. Literarisch-publizist. Auseinandersetzungen. Hg. Hubert Lengauer u. Primus Heinz Kucher. Köln/Weimar 2001, S. 427–441. – Werner Michler: Vulkanische Idyllen. Die Fortschreibung der Revolution mit den Mitteln der Naturwiss. bei M. H. u. Adalbert Stifter. In: ebd., S. 472–495. Hartmut Steinecke /
Hartmann, Nicolai, * 20.2.1882 (a. St.) Riga, † 9.10.1950 Göttingen. – Philosoph. H., Sohn eines Diplomingenieurs, studierte Medizin, Philologie u. Philosophie in Dorpat, St. Petersburg u. in Marburg bei Hermann Cohen u. Paul Natorp. Nach der Promotion 1907 u. der Habilitation 1909 wurde er 1922 – obwohl er sich in dem Jahrzehnt davor immer entschiedener vom Neukantianismus seiner Lehrer abgewandt hatte – als Nachfolger Natorps auf den Lehrstuhl für Philosophie in Marburg berufen. 1925 folgte er einem Ruf nach Köln, 1931 nach Berlin, schließlich 1945 nach Göttingen. Die Bedeutung H.s liegt in der Überwindung des neukant. Idealismus u. der Begründung einer neuen Ontologie, nachdem sich die Philosophie im Jahrhundert nach Kant fast ganz auf Erkenntnistheorie u. -kritik reduziert hatte. Nach Jahren der Auseinandersetzung, auf die auch die am Anfang unseres Jahrhunderts mächtig aufkommende Phänomenologie Edmund Husserls u. Max Schelers Einfluss gewonnen hatte, war nach H.s eigenem Zeugnis der Durchbruch um 1919 vollzogen. In seinem ersten systemat. Hauptwerk entwickelte er zunächst eine neue
Gnoseologie, in der das Erkenntnisproblem von vornherein im Zusammenhang mit dem Seinsproblem entfaltet wird, da dieses sich schon in der Frage nach dem Ansichsein des Gegenstands einer jeden echten Erkenntnis stellt (Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. Bln. 1921. 51965). Die neue Ontologie entfaltete H. – in umfassender Systematik u. vornehmlich nach phänomenolog. u. kategorialanalyt. Methode – erst in seinen Werken Zur Grundlegung der Ontologie (Bln. 1935. 4 1965) bis zur Philosophie der Natur. Abriß der speziellen Kategorienlehre (Bln. 1950. 21980). Jedoch hat schon der großangelegte Versuch der Neubegründung einer philosophischen Ethik (Bln. 1926. 51949) – bei allem Einfluss, den Scheler mit seiner materialen Wertethik darauf ausgeübt hatte – seine Voraussetzungen im Aufbau der H.schen Ontologie. (Die Werte, von denen die Sollensforderung ausgeht, haben ideales Ansichsein!) Auch die Ästhetik H.s (postum Bln. 1953. 21966) ist ontologisch fundiert: in der Lehre vom geistigen Sein – den Objektivationen des Geistes, dem objektivierten Geist – u. in der Lehre vom idealen Sein, das auch den ästhetischen Werten zukommt. Im ganzen gesehen, stellt sich H. als derjenige Denker der Gegenwart dar, der noch einmal alle Hauptdisziplinen der Philosophie eigenständig-systematisch ausgearbeitet hat, einschließlich einer zwischen 1931 u. 1944 entstandenen Logik, deren Manuskript allerdings in den Wirren am Ende des Kriegs verlorengegangen ist. Mit der Überwindung des Neukantianismus kommt es im Denken H.s nicht nur zu einer neuen kritisch-realist. Erkenntnislehre u. zu einer neuen, auf das Ansichsein ausgerichteten Seinslehre, sondern auch zur Wiederkehr der einst totgesagten Metaphysik, wenn auch nur zu einer Metaphysik der unlösbaren Probleme, wie sie sich im Denken an den äußersten Grenzen aller Wissensgebiete schließlich unausweichlich stellen. Auffällig dabei ist, dass H. trotz seiner Forderung, dass das Denken keinem der ihm wie ein »Schicksal der Vernunft« (Kant) aufgegebenen Probleme ausweichen dürfe, u. obwohl er selbst etwa in seiner Ethik mit den Antinomien der Freiheit einen der großen Fragenkreise der metaphys. Tradition ausführlich
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bearbeitete, gerade die Gottesfrage praktisch ausgeschaltet hat. Weitere Werke: Möglichkeit u. Wirklichkeit. Bln. 1938. 31966. – Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allg. Kategorienlehre. Bln. 1940. 2 1964. Literatur: Bibliografien in: Heinz Heimsoeth u. a. (Hg.): N. H. Der Denker u. sein Werk. Gött. 1952, S. 286–312. – In: Ingeborg Wirth: Realismus u. Apriorismus in N. H.s Erkenntnistheorie. Bln. 1965, S. 141–148 (bis 1963). – In: Alois J. Buch (Hg.): N. H. 1882–1982. Bonn 1982, S. 326–344. – Weitere Titel: Josef Stallmach: Ansichsein u. Seinsverstehen. Neue Wege der Ontologie bei N. H. u. Martin Heidegger. Bonn Bonn 1987. – Martin Morgenstern: N. H. Grundlinien einer wissenschaftlich orientierten Philosophie. Tüb./Basel 1992. – Reinhold Breil: Kritik u. System. Die Grundproblematik der Ontologie N. H.s in transzendentalphilosoph. Sicht. Würzb. 1996. – M. Morgenstern: N. H. zur Einf. Hbg. 1997. – Wolfgang Harich: N. H. Leben, Werk, Wirkung. Würzb. 2000. – Gerhard Ehrl: N. H.s philosoph. Anthropologie in systemat. Perspektive. Cuxhaven/Dartford 2003. – W. Harich: N. H. – Größe u. Grenzen. Versuch einer marxist. Selbstverständigung. Würzb. 2004. – Kirstin Zeyer: Erkenntnistheorie im 20. Jh. Die kontroversen klass. Positionen v. Spicker, Cassirer, H., Dingler u. Popper. Hildesh. u. a. 2005. Josef Stallmach / Red.
Hartmann, Walther G(eorg), * 17.7.1892 Strelitz/Mecklenburg, † 18.10.1970 Freiburg i. Br. – Verfasser von Lyrik u. Prosa. Der Sohn eines Arztes wuchs in Dresden auf, studierte in Freiburg i. Br., München u. Leipzig, wo er mit Werfel u. Hasenclever Freundschaft schloss, Germanistik u. Philosophie. Nach 1918 war er Redakteur der Zeitschrift »Deutsche Jugend« u. lieferte Beiträge für verschiedene Zeitschriften, u. a. für »Das Forum« (1918), »Die Horen« (1927) u. die »Europäische Revue« (1940). 1920–1943 lebte H. in Berlin. Er war während des Zweiten Weltkriegs Leiter der internationalen Arbeit des Deutschen Roten Kreuzes, 1950–1959 dessen Generalsekretär in Bonn. Zuletzt lebte er in Freiburg i. Br. H.s vom Expressionismus geprägte Lyrik (v. a. Wir Menschen. Bd. 79 der Bücherei »Der jüngste Tag«. Mchn.: Kurt Wolff 1920) enthält sein pantheistisch geprägtes Glaubens-
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bekenntnis der Gemeinschaft im Mensch-Sein, das er seit 1922 durch den engagierten Einsatz beim Roten Kreuz verwirklichen wollte. Weitere Werke: Der begeisterte Weg. Dresden 1919 (E.). – Die Erde. Bln. 1921 (L.). – Die Tiere der Insel. Dresden 1923 (E.). – Schicksal, Andacht, Liebe. Freib. i. Br./Bln. 1924 (L.). – Die Engelbotschaft. Eine Weihnachtserzählung. Lpz. 1936. – Friedrich Brekow. Der Weg ins Wirkliche. Bremen 1940 (R.). – Anderes Ich, Anderes Du. Erzählungen aus den Jahren 1930–41. Bremen 1943. – Winterbuch. Hbg. 1949 (E.). – Der Bruder des verlorenen Sohnes. Eine Erzählung. Bln./Bielef./Mchn. 1949. – Die überschlagenen Seiten. Gütersloh 1960 (E.). Oliver Riedel
Hartprecht, Johann, * um 1610 (?) wohl zu Erfurt, † nach 1661. – Theoalchemischer Sachbuchautor. Schütteres Licht fällt auf seine flüchtige Gestalt nur während der 1650er Jahre, als H. ein unstetes Wanderleben führte u. sich in England (1650–1653/54), Livland (1656; wohl im Dienst von Hans Struberg, Riga), Dänemark (1656/57), Holland (1657) u. wieder in England (1657/59) aufhielt. Gesichert sind nähere Beziehungen zu Oluf Borch (1657 in Kopenhagen) u. dem Chiliasten Petrus Serrarius (Amsterd.), manche Kontakte zu Samuel Hartlib (London) u. zu Angehörigen des Hartlib’schen Mediziner- u. Alchemikerkreises sowie Kontroversen mit J. R. Glauber (Amsterdam). Europäische Geltung erlangte H. mit dem Traktat Der [...] Dritte Anfang Der Mineralischen Dinge / oder vom Philosophischen Saltz (Amsterd. 1656), eine im lockeren Anschluss an bestsellerartige Alchemica des Michael Sendivogius über Mercurius (Lumen chymicum. 1604) u. Schwefel (De sulphure. 1616) entstandene, bald ins Lateinische (Lucerna Salis Philosophorum. Amsterd. 1658), Französische (1669) u. Englische (1722) übersetzte u. bis in das 18. Jh. gedruckte Schrift. Auch seine dt.lat. Kampfschrift wider die »sophistischen Irrsahle« J. R. Glaubers (Sudum philosophicum. 1660) u. dt. Übersetzung des Opus vegetabile von J. I. Hollandus (Amsterd. 1659) trugen dazu bei, dass von manchen Zeitgenossen in H. einer der ›berühmtesten hermetischen Philosophen‹ ihrer Zeit erblickt worden ist.
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Alle seine Alchemica ließ H. unter dem Beinamen ›Filius Sendivogii‹, unter dem Monogramm »J. F. H. S.« u. Anagrammen erscheinen. H. verknüpfte eine eklekt. Salzalchemie mit Elementen der Naturschau Jacob Böhmes. Seine böhmistische Theoalchemie verrät in H. einen religiösen Dissidenten, zugehörig zu alchemisierenden Theosophen u. Pietisten, wie sie bald dann von E. D. Colberg ob »fanatischer« Theologie, »Alchymisterey« u. ihres »platonisch-hermetischen Christentums« bekämpft worden sind. Weitere Werke: Beiwerk (Vorrede u. Gedicht. 1656). In: Mysterium occultae naturae. [...] Von der Gabe [...] Gottes / der Sternflüssigen Blumen deß kleinen Bawerß. Hbg. 1657. – Christl. SterbensErinnerung über die [...] Hinfahrt Des [...] Johannis Boysens. Kopenhagen 1657 (Dichtung). – Zwei Briefe an J. R. Glauber (1656/57). In: Glauber: Theütschlandes Wohlfahrt. Tl. 3, Amsterd. 1659, S. 52–55. Literatur: Joachim Telle: Zum ›Filius Sendivogii‹ J. H. In: Die Alchemie in der europ. Kulturu. Wissenschaftsgesch. Hg. Christoph Meinel. Wiesb. 1986, S. 119–136. Joachim Telle
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frühe Schriften theosophisch-hermet. Einflüsse zeigen, mit Oetingers Mystik in Berührung gebracht. Im 19. Jh. beliebt waren H.s Predigten über die Sonn- Fest- und FeyertagsEvangelien (Tüb. 1800 u. ö.) u. Casual- und Passionspredigten (Hg. Karl Christian Eberhard Ehmann. 6 Bde., Tüb./Heilbr. 1860–74. 2 1873–90). Einige seiner geistl. Lieder (v. a. Endlich bricht der heiße Tiegel) fanden durch Albert Knapps Evangelischen Liederschatz (Stgt./ Tüb. 21850) Verbreitung. Literatur: Bibliografie: Gottfried Mälzer: Die Werke der Württemberg. Pietisten des 17. u. 18. Jh. Bln./New York 1972, S. 140–146. – Weitere Titel: Gottlieb Friedrich Harttmann u. K. C. E. Ehmann: K. F. H. Tüb. 1861. – Koch 6, S. 409–417. – Ingeborg Bergen: Bibl. Thematik u. Sprache im Werk des jungen Schiller. Diss. Mainz 1967, S. 61–68. – Winfried Zeller: [...] Der Diener u. das Leiden bei K. F. H. u. Heinrich Seuse. In: Bernhard Jendorff (Hg.): Tradition u. Gegenwart. FS Ernst Schering. Bern/Mchn. 1974, S. 129–134. – Julius Roessle: Von Bengel bis Blumhardt. Metzingen 61981, S. 225–234. – Friedrich Wilhelm Bautz: K. F. H. In: Bautz. Wolfgang Riedel / Red.
Hartung, Harald, * 29.10.1932 Herne. – Lyriker, Literaturwissenschaftler, EssayHarttmann, Karl Friedrich, * 4.1.1743 ist, Herausgeber. Adelberg/Württemberg, † 31.8.1815 TüH. wuchs in Herne u. Mülheim auf; das bingen. – Pietistischer Predigt- u. LiederKriegsende erlebte er in Prag. Nach dem Abautor. H., Sohn eines Forstverwalters, schloss 1765 am Tübinger Stift die theolog. Ausbildung ab. 1774 kam er als Prediger u. Professor an die herzogl. Militärakademie, die spätere Hohe Karlsschule, wo auch Schiller sein Schüler war. 1777 wurde er als allzu pietistisch in den Pastorendienst versetzt. Ab 1793 wirkte er als Dekan, zuletzt in Lauffen/Neckar. 1812 legte er sein Amt nieder. H. geriet früh in den Bann des Bengel’schen Pietismus u. des Theosophen Friedrich Christoph Oetinger. Für dessen Lehrtafel der Prinzessin Antonia (1763) übersetzte er aus Gottfried Christoph Sommers Specimen Theologiae Soharicae (1734) die kabbalistische Lehre von den Sephiroth (Emanationen Gottes). Im Bengel’schen Geist kommentierte er eine Ausgabe des NT (Tüb. 1767). Wohl durch H. wurde Schiller, dessen
itur 1954 studierte er Germanistik u. Geschichte in Münster u. München u. legte 1960 das Staatsexamen ab. Bis 1966 als Lehrer im Ruhrgebiet tätig, ging er dann als Dozent an die PH in Berlin, wo er bis heute lebt. 1971 wurde er Professor für dt. Sprache u. Literatur an der PH; von 1980 bis zu seiner Pensionierung 1998 übte er die gleiche Funktion an der TU Berlin aus. 1983–1986 war er Direktor des Literarischen Colloquiums Berlin, 1988 Gast der Villa Massimo in Rom. H. war mit Gedichten in mehreren repräsentativen Anthologien (z B. Aussichten. Hg. Peter Hamm. Mchn. 1966) vertreten, bevor er mit Hase und Hegel (Andernach 1970) seinen ersten Lyrikband veröffentlichte. Die mit idiomat. Wendungen u. surrealistischer Bildlichkeit spielende Sprache entzieht sich trotz konkreter Reflexe auf Studentenbewegung u. Prager Frühling der zeittypischen
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Politisierung der Literatur. Schon hier wird eine skept. Distanz gegenüber jeder Ideologie spürbar, wie sie in den folgenden Gedichtbänden immer deutlicher hervortritt. Die von William Carlos Williams stammende Formulierung ›No ideas but in things‹ wird von H. zur Maxime seines Schreibens erhoben, das sich auf die präzise Wahrnehmung von Naturphänomenen u. kulturellen Zeugnissen zu bewegt u. eine Sensibilität für das menschl. Miteinander ausbildet. H.s souveränes Verfügen über das ästhetische Repertoire der klass. Moderne bewahrt ihn davor, dass seine Hinwendung zu Themen des Alltags oder zu Reisenotaten in die Nähe der Banalität gerät. Seine topografischen Erkundungen besitzen histor. Tiefenschärfe u. gewinnen in der Form von Zyklen über Berlin, Rom oder Paris eine physiognom. Qualität, die an Benjamins Städtebilder erinnert. Der Paris-Zyklus in Jahre mit Windrad (Gött. 1996) nimmt den BennTon der 1920er Jahre auf u. kombiniert ihn mit der Perspektive einer T. S. Eliot entlehnten Kunstfigur. Dieser Gedichtband markiert in H.s Schaffen zgl. die Akzentverschiebung vom freien Vers zur festen metr. Gestalt mit Reimbindung, wie sie sich schon im Traum vom Deutschen Museum (Mchn. 1986. Neuausg. Mchn. 2001) angekündigt hatte. Hier verwendete H. auch erstmals das Sonett, dessen anspruchsvolle Form er seither kultiviert u. virtuos variiert. In Jahre mit Windrad u. Langsamer träumen (Mchn./Wien 2002) trifft man auf Gedichte über Künstler u. Bilder, die sich der poetolog. Linie einfügen, die für das Werk dieses poeta doctus konstitutiv ist. Die Selbstreflexivität in H.s lyr. Schaffen umkreist in immer neuen Anläufen den Entstehungsprozess des Gedichts, den er in expliziter Nachfolge Valérys im Spannungsverhältnis von Machen oder Entstehenlassen (Stgt. 2001) ansiedelt. In diesen Kontext gehören auch H.s satirisch-iron. Gedichte über das ›Altern der Avantgarde‹. Der Sammelband Aktennotiz meines Engels. Gedichte 1957–2004 (Gött. 2005) lässt Kindheits- u. Jugenderinnerungen als ein durchgehendes Thema von H.s Dichtung hervortreten. Er schließt mit den neuen Gedichten der Abteilung ›Arme Kunst‹, in denen sich zu den autobiogr. Re-
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miniszenzen Gedichte übers Altern u. den Tod gesellen. Sie mischen H.s Dichtung, die seit ihren Anfängen im Zeichen von Reflexion, Nüchternheit, (Selbst-)Ironie u. Satire stand, einen eleg. Ton bei. H.s literaturwissenschaftlich-essayistisches Werk steht im engen Zusammenhang mit seinem eigenen Schreiben. Es konzentriert sich weitgehend auf die moderne Dichtung. Auf die kleine monografische Studie über Experimentelle Literatur und konkrete Poesie (Gött. 1975) folgte 1983 ein erster Überblick über die Deutsche Lyrik seit 1965 (Mchn.). Dieser Musterung aktueller Tendenzen stellte H. mit seiner Aufsatzsammlung Ein Unterton von Glück. Über Dichter und Gedichte (Gött. 2007) einen von Goethe bis Robert Schindel reichenden Längsschnitt durch die deutschsprachige Lyrik an die Seite. Einen Höhepunkt von H.s Essayistik bildet der Band Masken und Stimmen. Figuren der modernen Lyrik (Mchn./Wien 1996), der über zwanzig eindringl. Porträts von Vertretern der klass. Moderne (u. a. Ezra Pound, Fernando Pessoa, Inger Christensen, Derek Walcott, Seamus Heaney) bietet. In zahlreichen Essays, vielleicht bes. in denjenigen über Eugenio Montale u. Philip Larkin, ist spürbar, dass H. hier immer auch die Grundlagen seines eigenen Schreibens reflektiert. Der modernen Lyrik als weltliterar. Erscheinung ist auch H.s wichtigste Anthologie Luftfracht. Internationale Poesie 1940–1990 (Ffm. 1991) gewidmet. H. gehört dem dt. P.E.N. u. den Akademien in Berlin, Darmstadt u. Mainz an. Sein literar. Werk ist mit zahlreichen Preisen u. Stipendien gewürdigt worden, darunter der Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis (1987), der Internat. Literaturpreis Ruffino Antico Fattore (1999), der Preis der Frankfurter Anthologie (2002), der Würth-Preis für Europäische Literatur (2004) u. der Johann-HeinrichMerck-Preis für literar. Kritik u. Essay (2009). Weitere Werke: Reichsbahngelände. Darmst. 1974 (L.). – Das gewöhnl. Licht. Pfullingen 1976 (L.). – Augenzeit. Pfullingen 1978 (L.). – Herausgaben: Fruchtblätter. Freundesgabe für Alfred Kelletat. Bln. 1977. – Michael Hamburger: Literar. Erfahrungen. Darmst. 1981. – Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte. Gedichte u. Interpr.en 5. Stgt. 1983 u. ö. – Georg Heym: Gedichte. Mchn.
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Hartung, Hugo, auch: N. Dymion, * 17.9. 1902 Netzschkau/Merseburg, † 2.5.1972 München. – Romancier u. Erzähler, Verfasser von Hör- u. Fernsehspielen, Filmdrehbüchern, Dramen; Dramaturg u. Rundfunkredakteur. H., Sohn eines Gaswerkdirektors, setzte sein in Leipzig u. Wien begonnenes Studium der Theaterwissenschaften u. Literaturgeschichte in München fort u. schloss es 1928 mit einer Dissertation über Friedrich Huchs epischen Stil ab. Neben freier Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften, darunter dem »Simplicissimus« u. »Querschnitt«, sowie Engagements als Schauspieler u. Dramaturg an der Bayerischen Landesbühne schrieb er seit 1931 zgl. dramat. Texte u. Hörspiele (u. a. Das Weinschiff. Mchn. 1932. Das leichte Glück. Mchn. o. J.). 1936 wurde H. mit Schreibverbot belegt u. war anschließend, zunächst bis 1940 in Oldenburg, dann bis kurz vor Kriegsende in Breslau, als Dramaturg tätig. H.s spätere Wohnorte waren Berlin u. München. Seine ersten größeren epischen Arbeiten, die noch ganz vom Schock des Kriegserlebnisses geprägt sind (Der Deserteur oder die große belmontische Musik. Mchn. 1948. Der Himmel war unten. Mchn. 1951. Gewiegt von Regen und Wind. Mchn. 1954), fanden verhältnismäßig geringe Beachtung. Erst mit dem Roman Ich denke oft an Piroschka (Ffm. 1954. Bln. 1999) gelang H. ein »Welterfolg«. Die eigentüml. Mischung aus Sentiment, Autobiografie u. behäbiger Bonhomie traf den Nerv des inzwischen wieder selbstbewussten bürgerl. Lesepublikums der »Wiederaufbauzeit« u. blieb, in rund ein Dutzend Sprachen übersetzt, mehrfach verfilmt u. vom Autor um eine Bühnenfassung u. eine epiloghafte
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Fortsetzung ergänzt, bis heute H.s bekanntestes Werk. Noch einmal konnte H. mit dem Roman Wir Wunderkinder (Düsseld. 1957. Mchn. 2000) an den Piroschka-Erfolg anknüpfen. Hier wird, untermischt mit Biographica, die Fabel vom »ewigen Deutschen«, dem polit. AllwetterOpportunisten u. Mitläufer der jeweils stärkeren Bataillone, nicht ohne Witz erzählt. Doch bereits die Fortsetzung Wir Meisegeiers (Hbg. 1972. Mchn. 2000) wirkt wie ein unglückl. Anachronismus in einer Epoche, die radikale Demontage überkommener Erzählmuster u. die unmittelbar polit. Instrumentalisierung der Literatur propagiert. Vor der Szenerie dieses Zeitgeists geben H.s kurzatmig-harmlose Satire, seine mitunter philiströse Moralattitüde, sein oft sentenziös klingender Humor u. seine Neigung zu rückwärtsgewandten Erzählperspektiven die dennoch fragwürdige Begründung dafür ab, ihn als Trivialautor abzustempeln oder zu ignorieren. Von diesem Ressentiment hat sich H.s Reputation bis in die Gegenwart noch nicht wieder erholt. Weitere Werke: aber Anne hieß Marie. Düsseld. 1957 (R.). – Das Feigenblatt der schönen Denise. Düsseld. 1957 (E.en). – Ein Prosit der Unsterblichkeit. Düsseld. 1960 (R.). – König Bogumil König. Düsseld. 1961 (R.). – Timpe gegen alle. Bln. 1962 (R.). – Ihr Mann ist tot u. läßt Sie grüßen. Ffm./Bln. 1965 (R.). – Keine Nachtigallen im Ölbaumwald. Ffm. 1969 (E.en). – Die Potsdamerin. Mchn. 1979. Literatur: Monika Melchert: Der Zeitgeschichtsroman nach 1945 am Beispiel v. Werner Wilk u. H. H. In: Mathias Iven (Hg.): Hoffnung u. Erinnerung. Potsdamer Lit. 1945–1950. Milow/ Bln. 1998. – Winfrid Halder: Schles. Apokalypse 1945. Literar. Darstellung bei H. H. u. Horst Bienek in zeitgeschichtl. Perspektive. In: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Schlesien. Bln. 1999, S. 149–186. – Susi Piroué: Ich denke oft an H. H. Auf den Spuren von ›Piroschka‹ in Mchn. [Ms. Bayer. Rundfunk] Mchn. 2006. – Zygmunt Mielczarek: H. H.: ›Der Himmel war unten‹. Ber. eines Überlebenden. In: Treibhaus 3 (2007), S. 157–171. Friedhelm Sikora / Red.
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Hartung, Rudolf, * 9.12.1914 München, Hartwig von dem Hage, Ende 13./An† 19.2.1985 Berlin. – Literaturkritiker, fang 14. Jh. – Verfasser der Verslegende Herausgeber, Essayist, Lyriker. Margareta u. eines Tagzeitengedichts vom Leiden Christi. H., Sohn eines Beamten, promovierte nach dem Studium der Psychologie, Philosophie u. Neuen Deutschen Literaturgeschichte mit der Arbeit Naives und reflektiertes Erleben in München, wo er zunächst freier Schriftsteller u. Lektor war. Seit 1955 lebte er in Berlin als Redakteur u. Herausgeber literar. Zeitschriften wie »Neue Deutsche Hefte« (1956–1960 zusammen mit Joachim Günther) u. »Neue Rundschau« (1963–1979). In den Gedichten des Bands Vor grünen Kulissen (Köln/Bln. 1959) gibt H. Bilder mariner u. bäuerl. Landschaft wieder u. thematisiert den poetischen Arbeitsprozess parallel zur Kultivierung der Natur: seine Gedichte sind »gekeltert aus dem Schweigen«. Ihre melanchol. Stimmung verbindet Sprachzweifel, Vergänglichkeitsbewusstsein u. Entwürfe einer surrealen Gegenwelt. Eine Auswahl literaturkrit. Arbeiten (Kritische Dialoge. Ffm. 1973) über Autoren der Moderne wie Canetti, Améry, Celan, Huchel u. a. folgte. Sie zeigt sein weites, gattungsübergreifendes Interesse, eine Begabung zur dialektischen Analyse u. zur Verbindung von Ästhetik u. Ethik. Mit einem Nachwort von Canetti erschienen H.s kulturkrit. Tagebuchnotizen, formal u. inhaltlich anspruchsvolle Kurzprosa (In einem anderen Jahr. Mchn. 1982), die er bereits 1968–1974 in der »Neuen Rundschau« publiziert hatte.
Weitere Werke: Ges. Werke [Vor grünen Kulissen, Elias Canetti, Wiederkehr der Lyrik]. Hg. Bernhard Albers u. Reinhard Kiefer. 3 Bde., Aachen 1990–96. – Herausgeber: Lyrik unserer Zeit (zus. mit Joachim Günther). Gütersloh 1957 (Anth.). – Panorama moderner Lyrik. Gedichte des 20. Jh. in Übers.en (zus. mit Günther Steinbrinker). Gütersloh 1960 (Anth.).
Der sprachlich wohl im Bairischen zu lokalisierende Dichter nennt sich in einem Akrostichon zu Anfang der Tagzeiten. Schon sehr früh hat ihm die Forschung auch die Legende zugeschrieben. Schmitz vermutet, dass er Geistlicher u. mit einer Familie »de Hage« verwandt war, die im Codex Traditionum des Klosters Baumburg genannt wird, dessen Patronin die hl. Margareta war. Die Margaretenlegende ist ein typ. Produkt der volkssprachl. Hagiografie des späten 13. u. beginnenden 14. Jh. Sie folgt, ohne nennenswerte Erweiterungen des Autors, einer nicht identifizierten lat. Vorlage (das Magnum Legendarium Austriacum kommt als direkte Quelle nicht in Frage). Der Text erzählt eine typische Jungfrauen-Passion: Margarete weigert sich, einen Heiden zu heiraten u. seine Götter anzubeten, wird dafür vielfältig gepeinigt u. schließlich hingerichtet. H. ist bestrebt, die Vita in einen heilsgeschichtl. Rahmen einzubinden. Das wahrscheinlich später entstandene Tagzeitengedicht handelt, in die übl. sieben Abschnitte gegliedert, von der Passion Christi. Jede Hore wird mit einem Tripletvers abgeschlossen. Das intendierte Publikum beider Texte dürften Klosterfrauen gewesen sein. Ausgabe: Die Dichtungen des H. v. d. H. Hg. Wolfgang Schmitz. Göpp. 1976 (dazu Nigel F. Palmer in: PBB 101, 1979, S. 126–130). Literatur: Gerrit Gijsbertus van den Andel: Die Margaretalegende in ihren mittelalterl. Versionen. Groningen 1933. – Wolfgang Schmitz: H. v. d. H. In: VL. Werner Williams-Krapp
Hartwig, Mela, geb. Melanie Herzl, verh. Spira, auch: Horatio, * 10.10.1893 Wien, † 24.4.1967 London. – Erzählerin, Lyrikerin, Übersetzerin; Schauspielerin, Malerin. Maria Behre / Red.
Literatur: Joachim Günther: Der Kritiker als Poet. Zu einem Gedichtbd. H.s. In: Der Monat 12, H. 135 (1959/60), S. 61–66. – Ders.: Rez. zu ›In einem anderen Jahr‹. In: NDH 29 (1982), S. 397 ff.
H., Tochter des Soziologen u. kulturpolit. Schriftstellers Theodor Herzl, der im Zuge seiner Konversion vom Judentum zum Ka-
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tholizismus 1895 den Familiennamen auf Hartwig ändern ließ, erhielt nach einem abgebrochenen Pädagogikstudium seit 1917 eine Schauspielausbildung am Wiener Konservatorium. Sie war am Stadttheater Baden bei Wien, an der Volksbühne Wien u. am Kgl. Stadttheater Olmütz tätig u. gehörte dem Ensemble des Schillertheaters in Berlin an. 1921 heiratete sie den Rechtsanwalt Robert Spira, mit dem sie – von der Bühne zurückgezogen – in Gösting bei Graz lebte. H.s literar. Erstling war die Novelle Das Verbrechen (in: Ekstasen. Novellen. Bln./Wien/ Lpz. 1928. Neuausg. Ffm./Bln. 1992. Wieder abgedr. in: Das Verbrechen. Novellen und Erzählungen. Graz/Wien 2004), die 1927 bei einem von der Zeitschrift »Die Literarische Welt« veranstalteten Wettbewerb von Alfred Döblin ausgezeichnet wurde. 1929 erschien H.s Roman Das Weib ist ein Nichts (Bln./Wien/Lpz. Neuausg. Graz/Wien 2002), in dem die Protagonistin Bibiana sich in vier verschiedenen Beziehungen den männl. Partnern jeweils vollkommen anpasst. Zur geplanten Verfilmung des Romans bei Metro-Goldwyn-Mayer mit Greta Garbo in der Hauptrolle kam es nicht. 1929 erhielt H. den Julius-Reich-Preis für Dichtung der Stadt Wien. In Graz schloss sie sich dem Künstlerkreis um den Lyriker Hans Leifhelm u. den Maler Alfred Wickenburg, bei dem sie Malunterricht nahm, an. 1938 emigrierte H. nach London, wo sie zunächst im Educational Department des Jewish Refugee Committee, dann als Abendschullehrerin für dt. Sprache u. Literatur arbeitete. Sie war auch als Übersetzerin aus dem Englischen u. Französischen tätig u. lernte Virginia Woolf kennen, deren Werk sie bewunderte. Wenige Prosatexte konnte sie in deutschsprachigen Zeitschriften (z.B. die Erzählung Georgslegende in der »Deutschen Rundschau« 8, 1960, S. 730–737) nach dem Krieg veröffentlichen, ihr Werk geriet jedoch allmählich in Vergessenheit. Mitte der 1950er Jahre wandte sich H. ganz der Malerei zu. Erst nach ihrem Tod erschienen zwei Kapitel eines unvollendeten Romans mit dem Titel Die andere Wirklichkeit in der Zeitschrift »Literatur und Kritik« (1967, H. 16/17). Aus dem Nachlass, in dem sich auch die beiden nicht publizierten Romane Der verlorene Traum
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(1943/44; ein Eheroman um Treue u. Untreue) u. Inferno (1946–48; eine Auseinandersetzung mit der Frage nach den Gründen des Erfolgs des Nationalsozialismus u. den Möglichkeiten des Widerstands) befinden, wurde 2001 der im Österreich der Jahre 1899 bis 1929 situierte u. im Gestus eines Bekenntnisses verfasste Roman Bin ich ein überflüssiger Mensch? (Graz/Wien. Entstanden 1930/31) herausgegeben, der 1933 vom Zsolnay-Verlag abgelehnt woren war. Im Mittelpunkt von H.s Prosawerk steht – geprägt von den Erkenntnissen der Psychoanalyse – die Betrachtung weibl., determinierter Existenz, insbes. die libidinöse Beziehung zwischen Mann u. Frau. In der unverhüllten Diktion ihrer frühen Prosatexte ist der Einfluss des Expressionismus unverkennbar. Weitere Werke: Das Wunder v. Ulm. Paris 1936 (N.). – Spiegelungen. Wien/Linz/Mchn. 1953 (L., enthält auch Nachdichtungen v. Gedichten William Blakes u. Paul Verlaines). Literatur: Sigrid Schmid-Bortenschlager: Der zerbrochene Spiegel. Weibl. Kritik der Psychoanalyse in M. H.s N.n. In: MAL 12 (1979), H. 3/4, S. 77–95. – Ernst Schönwiese: Im Exil vergessen: M. H. (1895–1967). In: Ders.: Lit. in Wien zwischen 1930 u. 1980. Wien/Mchn. 1980, S. 97–102. – Hildegard Kernmayer: Ekstasen oder Das Andere der Vernunft. M. H.s Kritik der ›rationalistischen Moderne‹. In: Über den Dächern v. Graz ist Liesl wahrhaftig. Eine Stadtgesch. der Grazer Frauen. Hg. Carmen Unterholzer u. Ilse Wieser. Wien 1996, S. 166–187. – Hartmut Vollmer: Liebes(ver)lust. Existenzsuche u. Beziehungen v. Männern u. Frauen in deutschsprachigen Romanen der zwanziger Jahre. Erzählte Krisen – Krisen des Erzählens. Oldenb. 1998. – S. Schmid-Bortenschlager: Exil u. literar. Produktion: Das Beispiel M. H. In: Charmian Brinson u. a. (Hg.): Keine Klage über England? Dt. u. österr. Exilerfahrungen in Großbritannien 1933–1945. Mchn. 1998, S. 88–99. – Brigitte Spreitzer: Texturen. Die österr. Moderne der Frauen. Wien 1999, S. 185–197. – Dorothea Dornhof: Moderne Dämonen. Das Geheimnis des Wissens u. die Lit. ›Gespenst. Treiben aus Fleisch u. Gold‹ (M. H.). In: Barbara Surowska (Hg.): Das intellektuelle Europa der Jahrhundertwende. Warschau 2000, S. 105–119. – Günter Eisenhut: M. S. (H.). In: Moderne in dunkler Zeit. Widerstand, Verfolgung u. Exil steir. Künstlerinnen u. Künstler. Hg. ders. u. Peter Weibel. Graz/Wien 2001,
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S. 424–428. – S. Schmid-Bortenschlager: M. H. 1893–1967. In: Dies. u. Christa Gürtler: Erfolg u. Verfolgung. Österr. Schriftstellerinnen 1918–1945. Salzb. 2002, S. 189–197. – Bettina Fraisl: Körper u. Text. (De-)Konstruktionen v. Weiblichkeit u. Leiblichkeit bei M. H. Wien 2002. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Margit Schreiner: ›Ich will an die Liebe glauben‹. Lektüren: M. H. In: LuK 38 (2003), H. 377/378, S. 45–56. – Walter Fähnders: Über zwei Romane, die 1933 nicht erscheinen durften. M. H.s ›Bin ich ein überflüssiger Mensch?‹ u. Ruth Landshoff-Yorcks ›Roman einer Tänzerin‹. In: Axel E. Walter (Hg.): Regionaler Kulturraum u. intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Amsterd./New York 2005, S. 161–190. – Evelyne Polt-Heinzl: M. H.s Fallgesch.n. Korrekturen zum Thema Hysterie. In: Lit. u. Kultur im Österr. der Zwanziger Jahre. Bielef. 2007, S. 211–226. Hartmut Vollmer / Bruno Jahn
Harych, Theo, * 19.12.1903 Doruchow/ Posen, † 22.2.1958 Berlin/DDR. – Arbeiterschriftsteller. Der Sohn eines Landarbeiters war nach dem Besuch einer Landschule Hilfsarbeiter, beteiligte sich 1921 am mitteldt. Aufstand u. war danach lange Zeit arbeitslos. Nach dem Krieg arbeitete er als Fahrer in Berlin, bis er als Schriftsteller Erfolg hatte. H.s autobiogr. Romane Hinter den schwarzen Wäldern (Bln./DDR 1951) u. Im Geiseltal (Bln./ DDR 1952) gehören zu der unübersehbaren Menge von Erinnerungsbüchern schreibender Arbeiter, die nach dem Krieg in der DDR entstanden. Der nüchterne, jeder polit. Ideologisierung abgeneigte Stil – die Schwarzen Wälder schildern eine tyrannische Mutter u. einen trunksüchtigen Vater – heben H.s Autobiografien jedoch vom Üblichen ab. Sie sind ein sozialhistorisches, nicht durch marxistisch-leninistische Glaubensbekenntnisse gefiltertes Dokument der ärmlichsten Lebens- u. Arbeitsbedingungen – Im Geiseltal schildert den Alltag im Braunkohlerevier bei Leuna – während des Kaiserreichs u. zu Beginn der Weimarer Republik. Seine protokollar. Technik befähigte H., in seinem Buch Im Namen des Volkes? (Bln./DDR 1959) einen in der Weimarer Republik aufsehenerregenden Justizmord an einem poln. Landarbeiter zu dokumentieren.
Literatur: Richard Müller: T. H. – ein schreibender Arbeiter. In: NDL 11 (1959), S. 106–114. – Jürgen Serke: T. H. ›Tief im Herzen die Anarchie‹. In: Ders.: Zu Hause im Exil. Mchn./Zürich 1998, S. 47–67. – Carsten Wurm: T. H. In: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Bln. 2000, S. 317 f. Detlef Holland / Red.
Has, Haß, Hase, Kunz, Conrad, Contz, * um 1460 Nürnberg, † vor 1527. – Verfasser von Reimpaardichtungen u. Liedern. H. ist ein typischer Gelegenheitsdichter der spätmittelalterl. Stadt. Der mutmaßl. Tuchmachergeselle, dann Kleinhändler Nürnbergs trat um 1496 als geschworener Gegenschreiber in die Dienste der Stadt. Sein Œuvre – neun Reimpaargedichte u. zwei Lieder sind überliefert – verschafft uns mannigfache Einblicke in das städt. Leben der Zeit. Seine Gedichte umfassen die Genres Städtelob, Zeitklage, Moritat u. Satire; das eine der beiden überlieferten Lieder ist ein Fastnachtslied, das andere eine antijüd. Polemik. Mit dem Lobspruch auf Nürnberg (1490) knüpft H. explizit an das erste deutschsprachige Städtelob, Hans Rosenplüts gleichnamigen Lobspruch von 1447, an u. lässt ihm weitere Reimreden städt. Thematik folgen: 1493 dichtete H. in 36 Versen Die Sundersiechen, ein Lob der städt. Sozialfürsorge für die Aussätzigen Nürnbergs, u. 1494 verfasste er mit dem Lobspruch auf die Erbauung des Kornhauses einen 52-versigen Panegyrikos auf seine Nürnberger Gönner Seitz Pfintzing u. Ulrich Grundherr. Im selben Jahr pries H. den Patrizier Ulrich Grundherr, der vom Schützenfest in Landshut eine Uhr nach Nürnberg brachte (Vom Schießen zu Landshut). In allen diesen städt. Dichtungen kommt ein Interesse an wirtschaftl., rechtl. u. administrativen Details der Stadtorganisation zum Ausdruck, das dasjenige Hans Rosenplüts übersteigt. Das nach 1520 gedichtete zehnstrophige Lied von der Stadt Rothenburg gehört dagegen nicht in die Enkomientradition, sondern ist ein antijüd. Ereignislied, das die Vertreibung der Juden aus Rothenburg u. die Zerstörung der Synagoge als Konsequenz ihrer angebl. Freveltaten feiert u. durch Marienwunder legitimiert.
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Zeitklage u. Gesellschaftskritik bestimmen die Reimreden Von der Welt Lauf (1492), Der falschen Bettler Täuscherei, Von allerlei Räuberei, Vom Ehestand u. das an Hans Rosenplüt orientierte 27-strophige Fastnachtslied Bauernkalender, in dem der Ablauf eines Jahres als eine ununterbrochene Folge von sinnl. Genüssen der Bauernnarren Revue passiert. Besondere Erwähnung verdient der Spruch von einem Bäckersknecht (1516), die Bearbeitung einer Wiener Moritat über Leben u. Sterben eines Bäckers als Massenmörder, weil mit der balladesken Aufbereitung u. Veröffentlichung derartiger Vorfälle am Beginn des 16. Jh. die Sensationsnachricht Eingang in die Publizistik findet. Ausgaben: Karl August Barack (Hg.): Ein Lobgedicht auf Nürnberg aus dem Jahre 1490 v. dem Meister-Sänger K. H. Nürnb. 1858. – Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. Bd. 3, Lpz. 1867. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 346. – Ernst Matthias (Hg.): Der Meistersänger K. H. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 7 (1888), S. 180–236. – Ders. (Hg.): Noch ein Gedicht v. K. H. In: ebd. 8 (1889), S. 241–243. – Hans Boesch (Hg.): Ein neues Gedicht v. K. H. In: ebd. 16 (1904), S. 243 f. – Ludwig Erk u. Franz M. Böhme (Hg.): Dt. Liederhort. Bd. 3, Lpz. 21925, Nr. 1537. – Weitere Ed.en s. VL. Literatur: Helmut Weinacht: K. H. In: VL (mit Lit.). – Hartmut Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Lit. des dt. MA. Mchn./Zürich 1986, S. 181 f. Karina Kellermann
Haschka, Lorenz Leopold, * 1.9.1749 Wien, † 3.8.1827 Wien. – Lyriker. Der Sohn eines aus Mähren nach Wien zugewanderten Beamten wurde Jesuit u. war als Grammatiklehrer in Krems tätig. Nach der Aufhebung des Ordens (1773) ging H. nach Wien u. wurde Privatsekretär des hohen Staatsbeamten Franz Sales von Greiner. Die Bekanntschaft mit Österreichs führendem Literaten Denis prägte H.s schriftstellerische Anfänge als Bardenlyriker. Als Initiator des berühmten literar. Salons im Haus Greiner gelang es H. rasch, sich im Wiener Literaturbetrieb zu etablieren. Ein großzügiges Geldgeschenk seines Metrikschülers u. »Barden-
sohnes« Alxinger ermöglichte H. die Existenz als freier Schriftsteller. 1775 veröffentlichte er sein erstes Gelegenheitsgedicht Die Ehre der deutschen Tonkunst, bey der Rückkunft des Ritters von Gluck aus Frankreich (Wien 1775), ein Genre, das er zeit seines Lebens pflegen sollte (»redlich und getreu ist meine Leier den großen Ereignissen ihrer Tage gefolgt«, an Karl Leonhard Reinhold, 31.10.1807). 1776/77 gab H. gemeinsam mit Friedrich Just Riedel die »Litterarischen Monate« heraus, zu deren Beiträgern neben Denis u. Alxinger auch Retzer u. Mastalier gehörten. 1780 trat H. in die Freimaurerloge »Zum heiligen Josef« ein. Mit Beginn der Regierungsperiode Kaiser Josephs II. profilierte H. sich als Tendenzdichter im Geist der aufgeklärten Reformpolitik. In der Form traditionalistisch, sind seine Oden in ihrer polit. Aussage radikal. Seine beiden pamphletistischen antiklerikalen Oden Ode an Joseph II. gesungen im Ostermonde (Wien 1782) u. Das Mönchthum im Erndemond (Wien 1783) gerieten zu aufsehenerregenden Zensurfällen; der Kaiser sah sich aus diplomatischer Räson genötigt, über H. ein kurzzeitiges Schreibverbot zu verhängen. – H.s Oden erschienen als Einzeldrucke u. in literar. Organen ganz Deutschlands (außer in Wiener Gazetten z.B. im »Deutschen Merkur«, in Boies »Deutschem Museum«, im »Göttinger Musenalmanach« u. in Voß’ »Hamburger Musenalmanach«). Von Wilhelm Ludwig Wekhrlin, Schiller u. Nicolai wegen seiner literar. Inferiorität angegriffen, behauptete H. dennoch den Rang einer Zentralfigur der josephin. Literatur. Der gegen Ende der 1780er Jahre revolutionär-republikanisch gesinnte H. (Ode Die Könige. 1787) vollzog unter der kurzen Regierungszeit Leopolds II. einen bemerkenswerten Gesinnungswandel. Die Schrecknisse der Französischen Revolution führten in Österreich unter der Regentschaft Kaiser Franz’ II. zu einer polizeistaatl. Jakobinerverfolgung. H. entzog sich mögl. Sanktionen durch demonstrativen Patriotismus u. Franzosenhass (Ode Verwünschungen den Franzosen. Wien 1793). Er wurde Mitarbeiter der federführenden Männer der franziszeischen Reaktion, Leopold Alois Hoffmann (»Wiener
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Zeitschrift«) u. Felix Franz Hofstätter (»Ma- Außenseiter wider den Zeitgeist. Wien u. a. 2008, gazin der Kunst und Litteratur«). Mit der S. 53.-73. Cornelia Fischer / Red. Auftragsarbeit für eine österr. Volkshymne (Gott! erhalte Franz den Kaiser. Wien 1797. Hase, Friedrich Traugott, * 16.2.1754 Vertont von Haydn) rückte H. endgültig zum Niedersteinbach bei Penig/Sachsen, † 9.2. offiziösen Dichter der Restaurationsära auf, 1823 Dresden. – Romanautor u. Übersetder bis zum Ende des Wiener Kongresses zu zer. Hofanlässen, militärischen u. polit. Ereignissen Gedichte verfertigte. Der Pfarrerssohn wurde nach dem Besuch des 1797 erhielt H. eine Anstellung als Kustos Gymnasiums in Altenburg u. einem Jurastuan der Wiener Universitätsbibliothek, 1798 dium in Leipzig Justizbeamter in Dresden die Ästhetikprofessur am Wiener Theresia- (1779). Seiner Ernennung zum Geheimsenum, die er bis 1822 innehatte. In dieser kretär 1788 folgte 1807 die zum Kriegsrat, Funktion war H. für die Kontinuität eines 1808 die zum Kabinettssekretär. normativen Dichtungsverständnisses in der Im »Leipziger Musenalmanach«, den H. österr. Literatur bis weit in das 19. Jh. hinein 1776–1778 herausgab, veröffentlichte er eimitverantwortlich. Im Haus Greiner, wo die nige eigene Gedichte u. eine kurze DarstelTochter Karoline, verehelichte Pichler, den lung der dt. Literaturgeschichte. Alle weiteliterar. Salon weiterführte, wurde H. zum ren Werke wurden anonym publiziert. Die väterl. Freund der neuen vaterländ. Dichter- Ehrsüchtige Stiefmutter (Ffm./Lpz. 1773), generation; auf H.s literaturpolit. Bedeutung Übersetzung eines Trauerspiels von Nicholas weist auch seine umfangreiche Korrespon- Rowe, ist ein spätbarocker Tradition verdenz (u. a. mit Klopstock u. Wieland) hin, von pflichtetes Staatsdrama. Das zentrale Thema der sich die Briefwechsel mit Lavater, – Gefährdung des Staatswesens durch ehr1781–1788, u. dem Philosophen Karl Leon- geiziges Machtstreben – kennzeichnet auch hard Reinhold, 1803–1808, erhalten haben. H.s spätere Werke. Der Operntext Oberon fand Weitere Werke: Der edlen Greinerinn gesun- nach der Zurückweisung durch Schiller gen [...] 1777 v. L. L. H. Wien 1777. – Über There- (1792) keine Aufnahme in die Zeitschrift siens Tod v. L. L. H. Wien 1780. – Joseph II. zuge- »Thalia«. sungen v. L. L. H. o. O. 1782. – Bei dem Todesfalle Zu den bedeutenden literar. Leistungen Leopold des Gütigen. Wien 1792. – Blutrache über H.s zählen die Romane Gustav Aldermann (2 die Franzosen gerufen. Wien 1793. – Das gerettete Tle., Lpz. 1779. Neudr. hg. von Eva D. BeTeutschland. Wien 1796. – Gedicht auf die Vercker. Stgt. 1964) u. Friedrich Mahler (2 Tle., mählung Fräulein Carolinens v. Greiner mit dem Lpz. 1780). Sie lassen sich in die Gattung des Herrn Andreas Pichler. Wien 1796. – Auf den Tod Johann v. Alxingers. Wien 1797. – Auf Denis Tod. »dramatischen Romans« einordnen. ExperiWien 1800. – Auf Franz I. Erbkaiser v. Österr. o. O. mentalcharakter wie Nähe zum Drama zei1804. – Auf die Vermählung ihrer Kaiserl. Hoheit gen H.s Dialogromane, die lediglich durch knappe Szenenanweisungen unterbrochen Maria Ludovica mit Napoleon I. Wien 1810. Literatur: Robert Keil (Hg.): Wiener Freunde sind, mit dem Verzicht auf einen den Hand1784–1808. Beiträge zur Jugendgesch. der dt.- lungsablauf verbindenden Erzähler. H. sucht österr. Lit. Wien 1883. – Gustav Gugitz: L. L. H. In: so ein möglichst hohes Maß an WirklichJb. Grillparzer-Gesellsch. 17 (1907), S. 32–127 (mit keitstreue in der zeitkrit. Darstellung der Bibliogr.). – Cornelia Kritsch u. Heinz Sichrovsky Welt des Bürgertums u. Beamtenadels zu er(Hg.): Die Korrespondenz zwischen Karolina v. reichen. Gustav Aldermann zeigt Aufstieg u. Greiner, L. L. H. u. Johann Caspar Lavater. In: Jb. Sturz des Protagonisten, der vor der Alternafür österr. Kulturgesch. 6 (1976), S. 209–257. – tive steht, sich für Rechtschaffenheit u. die Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Zur Prosa der 2 österr. Aufklärung 1781–1795. Wien 1995. – Hans Neigungen des Herzens oder die Realisierung Veigl: L. L. H. Prosperierender Poet proskribieren- seines machtambitionierten Berufsziels zu der Politik. In: Ders.: Einzelgänger & Exzentriker. entscheiden. Während sich hier die Wahl der polit. Karriere als trag. Verfehlung erweist, demonstriert Friedrich Mahler in einer ähnl.
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Konfliktsituation den Entschluss für Aufrichtigkeit u. Treue zur Geliebten. In beiden Romanen dokumentiert sich ein modern anmutendes Interesse des Verfassers an der detaillierten Gestaltung psycholog. Entwicklungen. – H.s Dialogromane nahmen spätere Versuche in dieser Gattung von Johann Jakob Engel u. August Gottlieb Meißner bereits vorweg. Weiteres Werk: Der Mißverstand. Dresden 1779 (Lustsp.). Literatur: Eva D. Becker: Der dt. Roman um 1780. Stgt. 1964. – Dies.: F. T. H. In: NDB. – Wolfgang Martens: Goethes ›Clavigo‹ und H.s ›Gustav Aldermann‹: Aufsteigertum u. Schuld. In: Sturm u. Drang. Hg. Bodo Plachta u. Winfried Woesler. Tüb. 1997, S. 121–133. Peter Heßelmann / Red.
Hasenclever, Walter (Georg Alexander), * 8.7.1890 Aachen, † 22.6.1940 Aix-enProvence; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Dramatiker, Lyriker, Verfasser von Romanen, Essays u. Drehbüchern. H. stammt aus rheinischem großbürgerl. Haus. Der Vater Karl Hasenclever war Sanitätsrat in Aachen. Über Johann Georg Schlosser, den Schwiegervater seines Urgroßvaters David Hasenclever, leitete H. ein Verwandtschaftsverhältnis zu Goethe her, dem er als seinem Ururgroßonkel seine im Exil entstandene Deutschland-Allegorie, das Schauspiel Münchhausen (1934. Reinb. 1963), widmete. Kindheit u. Jugend im Aachener Elternhaus waren vom (generationstypischen) Konflikt mit den Eltern geprägt. Der erfolgreiche Abschluss der Aachener Gymnasialzeit 1908 bedeutete zgl. den Bruch; dem väterl. Gebot, Jura zu studieren, entzog sich H. sowohl in Oxford als auch in Lausanne, von wo er mit Hilfe seines Freundes Hans Laut nach Leipzig entwich u. mit der finanziellen Unterstützung der Großmutter Germanistik u. Philosophie studierte. 1914 zunächst Kriegsfreiwilliger, jedoch zurückgestellt u. schon bald Kriegsgegner, studierte H. in Bonn bis zur Einberufung im Febr. 1915. Vom Urlaub anlässlich der dt. Erstaufführung seines Dramas Der Sohn in Dresden (30.9.1916. Lpz. 1914) kehrte er
nicht mehr zur Front zurück. Als nervenkrank in das Dresdner Lazarett-Sanatorium eingewiesen, wurde er im Herbst 1917 als kriegsdienstuntauglich entlassen u. konnte sich fortan ganz seinen literar. Arbeiten widmen. 1917 erhielt er für sein Drama Antigone (Bln. 1917) den Kleist-Preis; mit dem Ende der Militärzensur 1918 begann sein Ruhm als Dramatiker. Bestimmend für die Folgejahre wurde die Freundschaft mit dem Schauspieler Paul Wegener, der ihn in den Buddhismus einführte; befreundet war er auch mit Toller, Rudolf Leonhard, Schickele u. Brod. 1920/21 gab er zusammen mit Heinar Schilling »Menschen. Zeitschrift neuer Kunst« heraus. In diese Jahre fallen sein gründl. Studium der Schriften des Mystikers u. Visionärs Swedenborg, ferner Arbeiten für das neue Medium Film sowie Rezitations- u. Lesereisen durch Deutschland. 1924–1928 war er Korrespondent des Berliner »8-Uhr-Abendblatts« in Paris. Seit 1929 war er in Berlin ansässig, unternahm jedoch viele Reisen in Westeuropa u. Nordafrika u. war 1930 als Filmautor in Hollywood engagiert (Zusammenarbeit mit Greta Garbo). 1933 als ein in ganz Europa berühmter Vertreter der Literatur der Republik in NSDeutschland verfemt u. 1938 ausgebürgert, lebte er im südfrz. Exil (Nizza, Cagnes-surMer), seit 1934 mit Edith Schäfer, seiner Lebensgefährtin, bis zu seinem Tod. Bei Kriegsbeginn wurde er zweimal für kurze Zeit in einem Lager bei Antibes interniert, im Mai 1940 erneut im Lager Les Milles bei Aixen-Provence, wo er ohne Hoffnung auf Rettung an einer Überdosis Veronal starb. In H.s bewegtem Leben sind die Leipziger Jahre, die Zeit der rauschhaft empfundenen Befreiung im Zeichen des Nietzsche’schen Vitalismus, auch der Begegnung mit dem Bildhauer Max Klinger, der Zugehörigkeit zum Leipziger Kreis der jungen Expressionisten, die bewusst an den naturalistischen Aufbruch um 1890 anknüpften, die prägenden. Auf die Düsternis der frühen Selbstmörder-Erzählungen u. des Stücks Nirwana. Eine Kritik des Lebens in Dramaform (Lpz. 1910) im Stil Ibsens folgte der pathetisch-hymn. Aufbruch ins neue »Leben« der Großstadt, in Abkehr von den Konventionen u. allem mo-
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ralischen Provinzialismus der Vätergeneration: die Gedichtsammlungen Städte, Nächte, Menschen (Mchn. 1910) u. Der Jüngling (Lpz. 1913), die lyr. Szene Das unendliche Gespräch (Lpz. 1913), das Drama Der Sohn (Lpz. 1914), das die idealistische Aufbruchstimmung der jungen Generation wie kein anderes Stück traf. Es sind im Wesentlichen diese frühen Texte, die die literaturgeschichtl. Erinnerung an H. als den emphatischen, nach Freiheit u. Leben dürstenden expressionistischen Jüngling geprägt haben. Generationstypisch war auch die Euphorie des Kriegsfreiwilligen vom Aug. 1914, der rasch, schon im Nov. 1914, die Wendung zum Pazifismus u., unter dem Einfluss Kurt Hillers, zum aktivistischen »politischen Dichter« folgte; die in Dresden entstandenen Stücke Der Retter (Lpz. 1916) u. Antigone (Bln. 1917) sind Ausdruck dieser Wendung. Beide Stücke zeigen Ohnmacht u. Martyrium der Vertreter des Geistes, der Humanität u. der Liebe. Die Gedichtsammlung Tod und Auferstehung (Lpz. 1917) artikuliert elegisch erfahrenes Leid u. die Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft. Doch als Ernst Rowohlt 1919 das Gedicht Der politische Dichter (Bln.) zum Titelgedicht einer Neuausgabe machte, die auch das – durch die Ermordung Karl Liebknechts u. Rosa Luxemburgs aktuell gewordene – Gedicht Die Mörder sitzen in der Oper (Lpz. 1917) enthielt, hatte H. längst seine Hoffnungen auf einen vom Geist der Humanität geleiteten revolutionären Neubeginn begraben; in der bitteren Farce Die Entscheidung (Bln. 1919) widersetzt sich der aus der Todeszelle befreite Dichter den siegreichen Revolutionären, die von ihm die obligate Siegeshymne erwarten, nachdem er sich überzeugen hatte müssen, dass nur ein Machtwechsel stattgefunden hat, die alte Doppelmoral durch eine neue ersetzt ist. Schon im Schauspiel Die Menschen (Bln. 1918), durch seine hochpathet., auf Aposiopesen verknappten Ausdrucksgebärden u. simultane Handlungsführung ein Höhepunkt expressionistischer Dramenkunst, bleiben Menschenliebe u. stellvertretende Sühne auf den Einzelnen beschränkt. Noch expressiver in der Reduktion der Sprache auf Gesten u. im Herstellen von Simultaneität ist
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der düstere Fünfakter Die Pest. Ein Film (Bln. 1920), den H. ausdrücklich als Stummfilmmanuskript publizierte. Dem Film war H. seit 1913 (Der Kintopp als Erzieher. Mchn. 1913. Filmentwurf Die Hochzeitsnacht. Lpz. 1914) verbunden u. blieb es während der Republikzeit durch Essays, Drehbücher (u. a. in Hollywood 1930), ebenso dem Medium Funk, das ihn zur Form des Radiodialogs (Zeit und Dichtung. Ein Dialog zwischen Rudolf Leonhard und W. H., Sender Köln 1929; Komödie als Zeitkritik. Zwiegespräch mit W. H. [und Kurt Pinthus], Berliner Rundfunk, 1930) führte. Die ersten Jahre der Republik waren für H. eine Phase der Depression, der erneuten Hinwendung zum Buddhismus, zur Astrologie, zum Okkultismus u., angeregt durch Strindberg- u. Balzac-Lektüre, zu den Jenseitsvisionen Swedenborgs, dessen lat. Hauptschriften er auszugsweise in dt. »Nachdichtung« herausgab (Himmel, Hölle, Geisterwelt. Bln. 1925), mit der Begründung, der Dichter als der letzte Verantwortliche seiner Zeit habe im »Kerker des Intellekts« Religion u. Liebe zu verkünden. Die Dramen Jenseits (Bln. 1920) u. Gobseck (Bln. 1922) sowie die Lyriksammlung Gedichte an Frauen (Bln. 1922) spiegeln diese Haltung, die postmoderne Antirationalität vorwegnimmt. Dieser von Verzweiflung umlauerte dunkle Grund seines Denkens u. Schreibens bleibt auch bestehen, als er zum Okt. 1924 als Korrespondent des Berliner »8-Uhr-Abendblatts« für vier Jahre nach Paris verpflichtet wird, um das politisch-kulturelle Leben der Metropole u. Frankreichs in Feuilletons darzustellen. Reisend u. beobachtend versuchte er, das großstädt. Leben in einem leichten, graziösiron. Stil festzuhalten u. zur Komödienform vorzudringen. Das erste Stück der neuen Art, Mord (Bln. 1926), steht ungeachtet der satirisch-zeitkrit. Komödienszenen unter dem Motto eines Buddhawortes u. gibt in dieser Zweipoligkeit die Spielbedingungen der künftigen Stücke an: einerseits schicksalhafte Vorherbestimmtheit u. Schuldverstrickung individuellen Handelns, d.h. auch Entwertung des bürgerl. Leitbilds vom autonom sich selbst bestimmenden Individuum, andererseits komödiantisch-satir. Verlachen der selbstbetrügerischen Versuche der Zeitge-
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nossen, dieser Erkenntnis rationalistisch, neusachlich-pragmatisch oder mit alten u. neuen polit. Programmen auszuweichen. Die Komödie Ein besserer Herr (Bln. 1927), die zum Erfolgsstück der Republikjahre wurde, ist bei aller Leichtigkeit u. Grazie von Dialog u. Handlung nicht nur der Boulevardspaß, als der sie bis heute meist inszeniert wird; die Vergeblichkeit rationalen, aufgeklärten Handelns, die das Leben erst erträglich machende Flucht in die Illusion, die Macht des Irrealen u. die Unausweichlichkeit des Schicksals geben selbst diesem Stück einen dunklen Grund, der in den folgenden Dramen noch deutlicher sichtbar wird (u. a. Ehen werden im Himmel geschlossen. Bln. 1928. Münchhausen). Die Satire gewinnt dadurch an Schärfe; die Religionssatire in Ehen werden im Himmel geschlossen verwickelte Autor (in Frankfurt) u. Ensemble (in Wien) in Zensurprozesse; die Satire auf den Faschismus als der perversesten Illusion über die europ. Lebensmöglichkeiten im 20. Jh., beginnend mit Napoleon greift ein (Bln. 1929), fortgesetzt in der Farce Der Froschkönig (entstanden 1930. Bln. 1975; gegen Goebbels), kulminierend in einer Satire auf Judenpogrom u. Rassengesetze (Konflikt in Assyrien. Urauff. London 1937. Bln. 1957), hatte H.s Verfemung, Exil u. Ausbürgerung zur Folge. Letzteres Experiment, Terror u. Schrecken mit den Möglichkeiten der leichten Komödie ad absurdum zu führen, ist bis heute umstritten. Zusammen mit Ernst Toller verfasste H. die Molière-Parodie Bourgeois bleibt Bourgeois (1928. Reinb. 1992), zusammen mit Kurt Tucholsky die Komödie Christoph Columbus oder die Entdeckung Amerikas (1931/32. Bln. 1985). Wie der Weg zur Komödie für H. eine Verabschiedung von Illusionen über das Leben bedeutete, so auch der als Wagnis empfundene Weg zur knappen autobiogr. Romanprosa im frz. u. ital. Exil. Irrtum und Leidenschaft (1934–39 entstanden. Bln. 1969. Nachw. von Kurt Pinthus), die Lebensbeichte eines 50-Jährigen im Spiegel seiner Beziehungen zu Frauen, die zgl. die Dezennien des 20. Jh. verkörpern, wird zur Allegorie des in den Faschismus taumelnden Zeitalters, in dem das auf das klass. Geisteserbe sich berufende exilierte Individuum keinen Raum,
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kein Lebensrecht mehr zu haben scheint. Sein letztes Werk, der Roman Die Rechtlosen (1939/ 40. Reinb. 1963; aus dem Nachlass) schildert die letzte bittere Konsequenz: das Internierungslager, die Erniedrigung der Gefangenschaft als Ort existenzieller Wahrheit: »Hier saßen die Rechtlosen, zu denen ich gehörte.« Zuletzt hielten alle poetischen Versuche in der Verzweiflung u. Angst vor der herannahenden Okkupationsarmee Hitlers der Versuchung zum Suizid nicht mehr stand. Verbreitung und Erforschung des Werks nach dem Zweiten Weltkrieg wurde tatkräftig gefördert durch die Witwe Edith Hasenclever, geb. Schäfer (1910–1997), die H.s Freund Kurt Pinthus für erste Editionen gewann, den Nachlass dem Deutschen Literaturarchiv Marbach übergab u. auch die wissenschaftl. Aktivitäten anlässlich des 100. Geburtstags des Dichters (Edition der Sämtlichen Werke u. Briefe, Jahrbuch der Walter-Hasenclever-Gesellschaft sowie Stiftung des Walter-Hasenclever-Literaturpreises) als Mäzenin unterstützte. Ausgaben: Gedichte, Dramen, Prosa. Hg. u. eingel. v. Kurt Pinthus. Reinb. 1963. – Emanuel Swedenborg: Himmel, Hölle, Geisterwelt. Eine Ausw. aus dem lat. Text in dt. Nachdichtung v. W. H. Zürich 1963. – Sämtl. Werke. In Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften u. der Literatur, Mainz, hg. v. Dieter Breuer u. Bernd Witte. Bd. 1–4. Mainz 1990–97. – Briefe in zwei Bdn. 1907–1940. In Zusammenarbeit mit D. Breuer bearb. u. hg. v. Bert Kasties. Mainz 1994. – Der Sohn. Nachw. v. Georg Michael Schulz. Stgt. 1994. – Ich hänge, leider, noch am Leben. Briefw. mit dem Bruder. Gött. 1997. Literatur: Edgar Lohner: Die Lyrik des Expressionismus. In: Expressionismus. Hg. Hermann Friedmann u. Otto Mann. Heidelb. 1956, S. 69–71. – Alfred Hoelzel: W. H.’s humanitarianism. Themes of protest in his works. Diss. Boston Univ. 1964. New York 1983. – Walter Huder: W. H. u. der Expressionismus. In: Welt u. Wort 21 (1966), H. 8, S. 255–260. – A. Hoelzel: W. H.’s satiric treatment of religion. In: GQ 41 (1968), S. 59–70. – Ders.: W. H.’s political satire. In: Monatshefte 61 (1969), S. 30–40. – Wolfgang Paulsen: W. H. In: Expressionismus als Lit. Hg. Wolfgang Rothe. Bern/Mchn. 1969, S. 531–546. – Horst Denkler: W. H. In: Rheinische Lebensbilder. Hg. Bernhard Poll. Bd. 4, Düsseld. 1970, S. 251–272. – Miriam Raggam: W. H. Leben u. Werk. Hildesh. 1973. – Hans-Jörg
Hasenkamp Knobloch: Das Ende des Expressionismus. Von der Trag. zur Kom. Ffm. 1975, S. 123–171. – Dieter Breuer: Rückkehr zu Schopenhauer. Die Auseinandersetzung mit Vitalismus u. Aktivismus in W. H.s Dramen. In: Lit. u. Theater im Wilhelmin. Zeitalter. Hg. Hans Peter Bayerdörfer, Karl Otto Conrady u. Helmut Schanze. Tüb. 1978, S. 238–257. – Ania Wilder: Die Kom.n W. H.s. Ein Beitr. zur Lit. der Zwanziger Jahre. Ffm. u. a. 1983. – W. H. 1890–1940 [Katalogbuch zur Ausstellung im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen 1990]. Hg. D. Breuer. Aachen 1990. 21996. – Bert Kasties: W. H. Eine Biogr. der dt. Moderne. Tüb. 1994. – D. Breuer: Satire u. Terror. W. H.s letzte Kom. ›Konflikt in Assyrien‹. In: Jb. der W.-H.-Gesellsch. 1997, S. 41–54, 128 f. – B. Kasties: W. H.s Drama ›Münchhausen‹ – Requiem für ein idealisiertes Dtschld. In: ebd. 1998/99, S. 21–43. – Barbara Schommer-Kretschmer: Philosophie u. Poetologie im Werk von W. H. Aachen 2000. – Doris Obschernitzki: Das Lager Les Milles im Mai-Juni 1940. Ein Beitr. zu W. H.s zweiter Internierung u. seinem Tod im Lager Les Milles. In: Jb. der W.-H.-Gesellsch. 2000/2001, S. 9–49. – Dieter Martin: Das Schwert der Freiheitsstatue. Notizen zu einer Kafka-Reminiszenz bei W. H. In: Euph. 98 (2004), S. 473–480. – D. Breuer: Der ›polit. Dichter‹ in der Revolution 1918. Zwei Briefe W. H.s an seinen Bruder Paul in Bonn. In: Jb. der W.-H.-Gesellsch. 2005/2006, S. 43–53. – Klaus Mackowiak: Für wen Filme schreiben? W. H. u. der Film. Ebd., S. 67–87. Dieter Breuer
Hasenkamp, Gottfried, * 12.3.1902 Bremen, † 2.9.1990 Münster. – Lyriker, Verfasser geistlicher Spiele.
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folge des Zweiten Weltkriegs, ist ein zentrales Thema, ebenso die Verehrung glaubensvorbildl. Persönlichkeiten. Besonders erwähnt seien seine Gedichtbände Carmina in nocte (Gedichte aus den Jahren 1942–1945. Köln 1946) u. Das Totenopfer (Warendorf 1948). Darin gedenkt er der Kriegsopfer. Die Lyrik, zumeist zyklisch geordnet, zeichnet sich durch die Wiederbelebung abendländ. Traditionen, insbes. von Hymne u. Ode, aus. H.s Werk fügt sich in die Tradition christlich-erbaul. Literatur ein. Zinzendorf, Tersteegen, Bergengruen oder Le Fort sind hier zu nennen. Ein gewichtiger literar. Ahne ist der hl. Ambrosius von Mailand. Einfluss ging auch vom hymn. Spätwerk Hölderlins aus. Zeitlebens verbunden fühlte sich H. der religiösen Dichtung Droste-Hülshoffs. 1957–79 war er Vorsitzender der Droste-Gesellschaft. H. spricht von der Warte des mahnenden, subtil beobachtenden Zeitgenossen. Sein Werk wendet sich an religiöse Menschen, die Kraft im dichterischen Wort suchen. Weitere Werke: Teilausgaben: Das Morgentor. Gedichte aus drei Jahrzehnten. Graz 1956. – Es kommt Dein Tag. Dichtungen u. Schr.en. Münster 1988. – Einzeltitel: Hymnen. Ffm. 1924. – Salzburger Elegie. Salzb. 1931. – Das Spiel vom Antichrist. Münster 1933. 51961. – Das Meer. Salzb./Lpz. 1939. – Wie dieser Ring ist ganz in sich vollendet. Freib. i. Br. 1947. – Eine Romfahrt im hl. Jahr. Münster 1950 (P.). – Röm. Pilgerwoche. Ein kleines Buch für Romfahrer dieser Zeit. Münster 1959 (P.). – Neue Salzburger Elegie. Münster 1962. – Die Jugend, die wir finden, altert nicht. Vier Dichtungen. Münster 1967. – Herausgeber: Dem Worte verpflichtet. 250 Jahre Verlag Aschendorff. 1720–1970. Mit einer Bibliogr. der Verlagswerke v. 1912–1970. Münster 1970.
H. studierte Germanistik, Kunstgeschichte u. Philosophie. 1923 promovierte er über Hölderlins Anschauung vom Berufe des Dichters (Münster 1924). 1924 begann seine Tätigkeit Literatur: Westf. Autorenlex. 4. im Verlag Aschendorff in Münster, dem er Winfried Woesler u. a. als Lektor, ab 1946 als Mitbegründer u. Verlagsleiter der Tageszeitung »Westfälische Nachrichten« – er war für die brit. LizenzHaslehner, Elfriede, geb. Götz, * 17.7. erteilung notwendig – sowie als Autor ange1933 Wien. – Verfasserin von Gedichten, hörte. Weil er als engagierter christl. Autor u. Kurzprosa, Erzählungen u. sozialkritiPublizist für die Nationalsozialisten »moraschen Texten. lisch untragbar« war, war er seiner Stellung enthoben worden. H.s frühe künstlerische Betätigung (Musik, H.s Dichtung hat ihre Wurzeln im Be- Malerei) mündete nach der Heirat u. der Gekenntnis zum kath. Glauben. Literarisches u. burt dreier Kinder Mitte der 1960er Jahre in religiöses Engagement sind nicht zu trennen. erste Lyrikveröffentlichungen u. den Roman Die existenzielle Leiderfahrung, insbes. in- Die Zeit der Wohnungssuche (unveröffentl.).
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Neben ihrer Berufstätigkeit als Büroangestellte u. Sozialarbeiterin studierte H. ab 1975 Philosophie u. Germanistik 1985 wurde sie zur Dr. phil. promoviert. H. war Redaktionsmitgl. der Frauenzeitschrift »AUF« u. Mitbegründerin des Wiener Frauenverlags, dem sie 1980–1985 angehörte. Ihre Gedichte in Zwischenzeit (Wien 1978) artikulieren in nüchternem Stil jene Lebensängste von Menschen, die H. in Nebenwidersprüche. Gedichte und Liedertexte zur Situation der Frau (Wien 1980) auf frauenverachtende, zerstörerische Normen unserer Gesellschaft zurückführt. Das äußerst verknappte u. polem. Schreiben H.s will als literar. Notwehr (Wien 1983) gegen den eigenen, früh beschränkten Lebenszusammenhang gelesen werden. Allerdings fehlen ihm dazu sowohl die nötige gedankl. Schärfe als auch ein unverwechselbarer lyr. Ton. Die intendierte Sozialkritik ist deshalb gelegentlich nicht mehr als die Reproduktion weitverbreiteter Ansichten. Die lyr. Texte in Schnee im September (Baden bei Wien 1988) bringen Hoffnung auf gesellschaftl. Veränderungen u. zwanglose Lebensalternativen zum Ausdruck. Diese Hoffnung zieht sich, gepaart mit einer leisen u. zuweilen bitteren Ironie, auch durch alle weiteren Gedichtbände H.s. H. erhielt 1990 den Förderungspreis des Landes Niederösterreich. Weitere Werke: Spiegelgalerie. Wien 1971 (L.). – Außer Sichtweite der Uhren. Haiku. Gänserndorf 1992 (L.). – Im Zwischendeck. Gedichte. Krems 1994 (L.). – Laung lem owa ned oed wean. Dialektgedichte. Krems/Wien 2001 (L.). – Auf Schiene. Gedichte. Wien 2006 (L.). Christine Schmidjell / Marco Schüller
Hasler, Eveline, * 22.3.1933 Glarus. – Erzählerin, Lyrikerin, Kinder- u. Jugendbuchautorin. Nach dem Studium der Psychologie, Geschichte u. Komparatistik in Freiburg/ Schweiz u. Paris war H. einige Zeit als Lehrerin tätig. Seit Anfang der 1960er Jahre ist sie freie Autorin – bekannt durch Prosawerke, Gedichte, Fernsehtexte, Bücher für Kinder u. Jugendliche. Seit April 1992 gab H. zusammen mit Peter Bichsel, Konrad Klotz, Arnold
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Künzli, Adolf Muschg, Rolf Niederhauser u. Otto F. Walter die Zeitschrift »Entwürfe für Literatur und Gesellschaft« als eine Nachfolge von »einspruch« heraus. H. gehört zu den produktivsten Autorinnen der zeitgenöss. dt.-schweizer. Literatur. Was aus ihrer Feder kommt, sind im Grunde gegenwartsbezogene Erzählungen, Zeitromane in histor. u. biogr. Gewand – sei es Novemberinsel (Zürich 1979), das Bild einer gewalttätigen Gesellschaft u. einer ihrer Würde bewussten Frau, sei es Anna Göldin. Letzte Hexe (Zürich/Köln 1982. Drehbuch zus. mit Gertrud Pinkus u. Stephan Portmann. Film 1991), mit Sachkenntnis geschriebene Geschichte einer Dienstmagd, die, gegen Ende des 18. Jh. in der Schweiz mit Wahnsinn u. finsterer Mentalität konfrontiert, im Gerichtsprozess zur Hexe erklärt u. als solche hingerichtet wurde. Ein Werk mit ähnl. Klima ist Die Vogelmacherin. Die Geschichte von Hexenkindern (Zürich 1997). So wie für die Entstehung des Romans Anna Göldin, so hatte auch hier die Untersuchung authent., in Archiven erhalten gebliebener Prozessprotokolle Priorität. Auf dieser Grundlage war es der Autorin möglich, die Aura u. Szenerie des Zeitgeschehens im 17. Jh. in Luzern u. Buchau (Oberschwaben) zu rekonstruieren u. die Kindheit als Alptraum erkennen zu lassen. H.s Kinderfiguren, unter dem Vorwurf der Hexerei stehend, werden wegen ihrer Imagination u. Andersheit mit dem Tod bestraft, u. ihr Schicksal versteht sich zgl. als eine Anklage gegen die Unmoral der Erwachsenen. Gemeint ist in diesem Kontext auch Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen (Zürich 1985), die Darstellung des ersehnten Paradieses nach Südamerika emigrierter Schweizer, die illusionlose Lage der Gestrandeten sowie Der Riese im Baum (Zürich 1988), die Horrorgeschichte eines Riesenwüchsigen, der von seiner Mitwelt als Gegenstand medizinischer Neugierde u. Schauobjekt gnadenlos behandelt wird. Es sind Werke mit deutlichem pädagog. Anliegen; aus ihnen allen ergeht ein Appell an die Toleranz gegenüber den Anderen u. Unverständlichen. Nach dem Prinzip analoger mitreißender Darstellung sind literar. Illustrationen des Lebens u. Wirkens von Emily Kempin-Spyri u. Henry
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Dunant aufgebaut: Die Wachsflügelfrau (Zürich 1991) u. Der Zeitreisende (Zürich 1994). H. erhielt u. a. 1968 u. 1977 das Diploma of Merit Hans Christian Andersen-Preis, 1978 den Schweizerischen Jugendbuchpreis, 1980 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 1989 den Schubart-Literaturpreis, 1991 den Buchpreis der Stadt Zürich, 1994 den Droste-Preis u. den Kulturpreis der Stadt St. Gallen u. 1999 den Justinus-Kerner-Preis. Ihre Werke wurden ins Amerikanische, Italienische, Französische, Griechische, Slowakische u. Japanische übersetzt. Weitere Werke: Der Jubiläumsapfel u. a. Notizen vom Tage. Mchn. 1998. – Die namenlose Geliebte. Gesch.n u. Gedichte. Zürich 1999. – Sätzlinge. Gedichte. Zürich 2000. – Aline u. die Erfindung der Liebe. Zürich 2000. – Spaziergänge durch mein Tessin. Landschaft, Kultur u. Küche. Zürich 2002. – Tells Tochter. Julie Brondeli u. die Zeit der Freiheit. Zürich 2004. – Stein bedeutet Liebe. Regina Ullmann u. Otto Gross. Zürich 2007. – Kinderund Jugendbücher: Stop Daniela! sowie Die Eidechse mit den Similisteinen u. a. Erzählungen. Luzern/ Mchn. 1962. – Ferdi u. die Angelrute. Luzern 1963. – Der Sonntagsvater. Ravensburg 1973. – Der Zauberelefant. Zürich/Köln 1974. – Die Hexe Lakritze u. das blaue Rhinozeros. Zürich/Köln 1979. – Denk an den Trick, Nelly. Zürich/Köln 1980. – Die Katze Muchatze u. a. Gesch.n. Hann. 1983. – Ottilie Zauberlilie. Hbg. 1990. – Auf Wörtern reisen. Mit Illustrationen v. E. H. Zürich 1993. – Die Buchstabenmaus. Mit Illustrationen v. Lilo Fromm. Mchn. 1994. – Die Hexe Lakritze. Würzb. 2000. Literatur: Beatrice v. Matt: Laudatio zur Verleihung des Justinus-Kerner-Preises der Stadt Weinsberg an E. H. In: Allmende 19 (1999), Nr. 62/ 63, S. 193–200. – Ralf Georg Czapla: E. H. In: KLG. – Martina Dória: Federn, Flügel, Seifenblasen. Zu E. H.s Roman ›Die Wachsflügelfrau‹. In: Partir de Suisse, Revenir en Suisse. Von der Schweiz weg, in die Schweiz zurück. Textes réunis par Gonçalo Vilas-Boas. Strasbourg 2003, S. 171–178. – Ulrich Schall: E. H. In: LGL. Zygmunt Mielczarek
Haslinger, Josef, * 5.7.1955 Zwettl/Niederösterreich. – Erzähler u. Essayist. Aufgewachsen im ländlich-kath. Milieu, fand sich der Sängerknabe u. Klosterschüler H. schon früh in der Rolle des intellektuell brillanten Rebellen, war Lagerarbeiter, DJ, Kellner u. Tankwart u. studierte schließlich Phi-
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losophie, Theaterwissenschaft u. Germanistik in Wien. Nach der Promotion 1980 (Die Ästhetik des Novalis. Königst./Ts. 1981) lehrte er in Deutschland, Österreich u. den USA u. leitet heute mit Hans-Ulrich Treichel das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Als Professor für Literarische Ästhetik ist er Herausgeber der Bände Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller? (Ffm. 2005) u. Schreiben lernen – Schreiben lehren (Ffm. 2006). Daneben war H. stets schriftstellerisch u. publizistisch tätig. Seine erste Veröffentlichung Der Konviktskaktus und andere Erzählungen (Mchn. 1980) versammelt sozialkrit. Erzählungen; Der Tod des Kleinhäuslers Ignaz Hajek (Darmst./Neuwied 1985) zeichnet ein novellistisches Bild dörflich-ländl. (Zusammen-) Lebens. Der Politthriller Opernball (Ffm. 1995. Zuletzt Mchn. 2006. 1997 verfilmt von Urs Egger) imaginiert einen Terroranschlag auf die Wiener Staatsoper als Medienspektakel; der Bestseller, in Österreich ein Skandal, brachte den Durchbruch für H. Das Vaterspiel (Ffm. 2000), Familien- u. Gesellschaftspanorama, »Thesenroman« u. »Reflexionsroman« (FAZ), verknüpft individuelle u. kollektive Erinnerung in einer Engführung von Vater-Sohn-Konflikt u. Holocaust. Erinnerungen u. Begegnungen von unterwegs schildert Zugvögel (Ffm. 2006), ein Band mit Reiseerzählungen. Zuletzt verarbeitete der Bericht Phi Phi Island (Ffm. 2007) das selbst erlebte Trauma der Tsunamikatastrophe 2004. Als Essayist meldete sich H. zuerst mit Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich (Darmst./Neuwied 1987. Ffm. 1995) zu Wort, einer Bestandsaufnahme Österreichs nach der Waldheim-Wahl; es folgten u. a. Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm (Ffm. 1996), eine Klage über die Krise polit. Engagements, u. Das Elend Amerikas. Elf Versuche über ein gelobtes Land (Ffm. 1992), ein krit. Blick des Stipendiaten H. auf sein Gastland. Der polit. engagierte »Analytiker österreichischer Lebenslügen« (SZ) wagt eine krit. Mentalitätsgeschichte u. Bestandsaufnahme seiner Heimat, jedoch frei von moralischer Belehrung. Im Feuilleton werden seine klar, einfach u. packend erzählten Texte dem »postmoderne(n) Realismus« (Berliner Morgenpost) Paul Aus-
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ters u. Richard Fords verglichen u. so in die Nähe amerikan. Erzähltraditionen gerückt, was H. jedoch mitunter den Vorwurf populären Stils einbringt. Weitere Werke: Hugo Sonnenschein (Sonka): Die Fesseln meiner Brüder. Ges. Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Karl-Markus Gauß u. J. H. Mchn. 1984 (L.). – Wozu brauchen wir Atlantis. Wien 1990 (Ess.s). – Klasse Burschen. Ffm. 2001 (Ess.s). – Am Ende der Sprachkultur? Über das Schicksal v. Schreiben, Sprechen u. Lesen. Wien u. a. 2003. – Amerika. Ein Reiseepos. Ffm. 2006 (CD). Literatur: David L. Colclasure: Gespräch mit J. H. (geb. 1955). In: MAL 31 (1998), H. 1, S. 115–132. – Christian Gastgeber: Werkstattgespräch. In: Biblos 49 (2000), H. 2, S. 407–418. – Siegrun Wildner: Interview mit dem österr. Schriftsteller J. H. In: Monatshefte 92 (2000), H. 1, S. 1–9. – Birgit Lermen: ›Noch ist Europa keine Gefühlsangelegenheit‹ – Anmerkungen zu J. H. In: Michael Braun u. B. Lermen (Hg.): Begegnung mit dem Nachbarn. Aspekte österr. Gegenwartslit. St. Augustin 2003, S. 133–138. – Christina Guenther: Identity, History and Space in J. H.’s ›Vaterspiel‹ and Anna Mitgutsch’s ›Haus der Kindheit‹. In: Visions and Visionaries in Contemporary Austrian Literature and Film. Hg. Margarete Lamb-Faffelberger u. Pamela S. Saur. New York u. a. 2004, S. 199–210. – Rüdiger Wischenbart: J. H. In: KLG. Kristina Pfoser-Schewig / Kathrin Klohs
Haslmayr, Haslmair, Haselmayr, Adam, * um 1560 Bozen/Südtirol, † nach 16. 1. 1630 Augsburg. – Tondichter, Propagandist einer paracelsistischen Theosophie. H. war als Lateinlehrer zu St. Pauls (Oberetsch), seit 1588 in Bozen tätig; außerdem war er Chorregent an der Bozener Hauptpfarre u. Notarius Caesareus. Später lebte er in Schwaz (1605), seit 1610 in Heiligen Kreuz (bei Hall). H.s ›Paracelsische Wende‹ nährte seine scharfen Angriffe auf den Haller Arzt Hippolytus Guarinonius u. führte zu schweren Zerwürfnissen mit der Obrigkeit: H. wurde aus Bozener Schuldiensten entlassen (1604) u. schließlich auf Befehl Erzherzog Maximilians von Tirol wegen ›Ketzerei‹ u. ›giftiger Schriften‹ zum Strafdienst auf einer Galeere zu Genua verurteilt (1612). Nach seiner Rückkehr (spätestens 1618) lebte H. wohl hauptsächlich in Augsburg. – Zu H.s Förderern gehörte Fürst August von Anhalt,
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zu seinen engsten Freunden die Erzparacelsisten Benedictus Figulus u. Karl Widemann. Im Zuge seiner ›Paracelsischen Wende‹ widmete sich H. der Alchemomedizin, chemiatr. Praxis u. Montanistik. Den Schwerpunkt bildeten theosophische Zielsetzungen. In den Bahnen eines schroffen Antihumanismus tat H. die Schulwissenschaften als ›Narristotelei‹ ab; durchaus in der Tradition eines S. Franck u. V. Weigel verfiel alles ›Mauerkirchentum‹ zugunsten einer ›Geistkirche‹ H.s Verdikt. Er stilisierte Paracelsus zum Stifter einer neuen, aus der Hl. Schrift u. dem ›Buch der Natur‹ gespeisten Religion u. fand für seine heterodoxe Theosophie die Formel »Theophrastia Sancta«. Aufschlussreiche Einblicke in H.s literar. Rüstkammer gewährt Joachim Morsius (Nuncius Olympicus Von [...] geheimen Bücheren. Philadelphia [Amsterd.] 1626. Repr. in: Gilly, 1994, S. 243–290). Reichweite u. Gewicht der handschriftl. Publizistik H.s im heterodoxen ›Untergrund‹ der frühen Neuzeit liegen im Dunkel. Ein Großteil der H.schen Schriften wird von alchemoreligiösen Zielsetzungen geprägt. Sehr viele Werke sind nur dem Titel nach bekannt oder/u. in handschriftl. Überlieferungen greifbar, darunter manche Autografen. In Druck gelangten H.s Discantus. Newe Teütsche Gesang (Augsb. 1592), seine Stellungnahme zur Fama fraternitatis (Antwort An die [...] Brüderschafft der Theosophen von RosenCreutz. o. O. 1612 u. ö.), zwei Kurztraktate, veröffentlicht unter dem Namen des Paracelsus (Astronomia Olympi Novi. Theologia Cabalistica. In: Philosophia mystica. Neustadt [d. i. Ffm.] 1618) u. H.s Character Cabalisticus (In: Nucleus sophicus. Hg. Liberius Benedictus. Ffm. 1623). H. lieh einer Figur in Meyrinks Erzählung Die vier Mondbrüder seinen Namen u. agiert in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994) unter den Gründern der Rosenkreuzer-Fraternität. Ausgabe: Antwort An die [...] Brüderschafft der Theosophen v. RosenCreutz (1612). Nachdr. In: Gilly, 1994, S. 69–80. Literatur: Josef Hirn: Erzherzog Maximilian der Deutschmeister. Bd. 1, Innsbr. 1915, S. 234–243. – O. Wessely: A. H. In: MGG, Bd. 5 (1956), Sp. 1768–1770. – Walter Senn: A. H. Mu-
Haslob siker, Philosoph u. ›Ketzer‹. In: FS Leonhard C. Franz. Hg. Osmund Menghin u. Hermann M. Ölberg. Innsbr. 1965, S. 329–400. – Ders.: A. H. In: NDB. – Carlos Gilly: ›Theophrastia Sancta‹. Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Analecta Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, S. 425–488. – Ders.: A. H. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterd. 1994 (grundlegend; mit Schriftenverz.). – Walter Kreyszig: A. H. In: MGG 2. Aufl. Bd. 8 (Pers.), Sp. 778 f. – Jaumann Hdb. – Roland Edighoffer: A. H. in: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. Hg. Wouter J. Hanegraaff. Bd. 1, Leiden 2005, S. 459–461. Joachim Telle
Haslob, Michael, * 1540 Berlin, † 28.4. 1589 Frankfurt/O. – Professor der Poesie; neulateinischer Dichter.
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mit großer Einfühlungsgabe beschreibt, ist meist nur Anlass für eine geistl., allegorisierende Betrachtung (vgl. die Gedichte Vitis oder Viola: de passione Christi Iesu im ersten Buch). Das Werk zeugt von einem zutiefst unsicheren, weltflüchtigen Bewusstsein des Autors. Die Gedichte sind formal vielgestaltig: neben den traditionellen eleg. Distichen sind alle klass. lyrischen Versmaße erprobt. Dazu tritt der Ambrosianische Hymnenvers. In die Zukunft der lat. Lyrik weisen kleine anakreont. Gedichte. Ausgabe: Gedichte (aus den ›Delitiae Poetarum Germanorum‹) in: CAMENA. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: R. Schwarze: M. H. In: ADB. – Ellinger 2, S. 320–336. – Marga Heyne: Das dichter. Schaffen der Mark Brandenburg bis 1700. In: Brandenburgische Jbb. 13 (1939), S. 31–37. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 784–787. Fidel Rädle / Red.
H.s Biografie ist aus seiner Lyrik zu erschließen. Die Mutter starb früh; die Schwester u. die erste Frau fielen 1586 der Pest zum Opfer. 1588 heiratete er die Tochter seines Kollegen Hasselblatt, Dieter, auch: Peter Zweyu. Freundes Johannes Schosser Aemilianus. dorn, * 8.1.1926 Reval/Estland, † 19.2. Nach seinem Studium in Wittenberg (Im1997 Neuwied. – Erzähler, Essayist, Hörmatrikulation am 3.8.1555 unter dem Namen spielautor. Michael Haseluff Berlinensis) u. Frankfurt/O. (seit 1561, als Magister u. ›poeta‹) wurde er Noch in Reval eingeschult, wurde H. 1939 dort 1572 Professor der Poesie. Georg Sabi- umgesiedelt u. 1944 eingezogen. Nach Entnus, dessen Leben er in einem kleinen Epos lassung aus der Kriegsgefangenschaft 1948 darstellte (De vita et obitu D. Georgii Sabini [...] studierte er in Marburg u. Freiburg i. Br. Er carmen [...] scriptum et recitatum [...] anno 1576. arbeitete in vielen Berufen, war Hilfsarbeiter, Frankf./O. 1580), war sein Lehrer, Michael Musiker u. Internatslehrer. Nach der PromoAbel sein Freund. Bartholomaeus Bilov tion 1959 in Freiburg (Zauber und Logik. Zur apostrophiert ihn in seinen Horti poetarum Struktur des Dichterischen bei Kafka. Gedruckt Germanorum III (Frankf./O. 1596) als Poeta mit dem Untertitel Eine Kafka-Studie. Köln C.[aesareus] L.[aureatus]. 1964) wurde er Hörspielredakteur, ab 1963 1561 setzen H.s zahlreiche, separat ge- beim Deutschlandfunk, ab 1974 als Abteidruckte, poetische Arbeiten ein, die meist in lungsleiter beim Bayerischen Rundfunk. den Carminum tomus primus, continens XIIII In diesen Jahren machte sich H. bes. um das libros, Sacrorum X, Vernorum II, Elogiorum I, De- Genre des Science-fiction-Hörspiels verdient, dicationum I (Frankf./O.: Eichorn 1588) auf- sowohl durch Essays als auch durch zahlreigenommen wurden. Eine weitere Ausgabe che eigene Hörspiele. Er setzte sich theore(Libri quatuordecim carminum [...]) erschien tisch u. praktisch für eine Science-fiction ein, postum bei Johannes Hartmann in Frankf./O. die sich nicht auf Planspiele mit Technologie um 1595. u. Rüstung konzentriert, sondern auf die H. ist ein Vertreter der humanistischen herausfordernde Begegnung mit dem »Ganz Gelegenheitsdichtung, die im festen Verbund Anderen«, etwa bei der Konfrontation mit eines gelehrten Freundeskreises u. in der Tieren von überlegener Intelligenz. H. Nähe mäzenatischer Fürsten gedieh. Unge- schrieb selbst viele Science-fiction-Erzählunwöhnlich stark ist der Anteil christl. Themen. gen, von denen sich neben Hörspielen u. EsDie Natur, deren tröstl. Schönheit er vielfach says einige in dem Auswahlband Marija und
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das Tier (Ffm. 1988) finden, unter Pseud. auch den Science-fiction-Roman Quickcheck, Menschen sind ungeeignet (Stgt. 1976). Schon von der Science-fiction forderte H. – unter Berufung auf Alfred Hitchcock – »suspense«, also die Qualität eines gelungenen Krimis; später veröffentlichte er die Kriminalromane Figurenopfer (Reinb. 1980) u. Was ich weiß, macht mich heiß (Mchn. 1985). Weitere Werke: Lyrik heute. Krit. Abenteuer mit Gedichten. Gütersloh 1963. – Aufbruch zur letzten Aventüre. Köln/Olten 1963 (R.). – Grüne Männchen vom Mars. Science Fiction für Leser u. Macher. Düsseld. 1974. – Ich liebe Ungeheuer, sagte Munki. Köln 1987. – Am Glint beim AnkuDranku. Eine Kindheit in Estland. Düsseld. 1991. – Die Beiden, der Bunte u. die steinerne Stadt. Drei Märchen. Mchn. 1995. – Zwei in der Unstadt. Paderb. 1995. – Aufklärung eines Modelle-Falls oder Modelle Delphin, Hiob, Säurebad. Norderstedt 2004 (R.). Wilfried Ihrig / Red.
Hassencamp, Oliver (Clifford), * 10.5. 1921 Rastatt, † 31.3.1988 Waging am See. – Erzähler, Dramatiker, Jugendbuchautor, Essayist, Verfasser von Filmdrehbüchern. H. besuchte das Internat Salem, war 1939–1945 Soldat in Frankreich, Rumänien (Studium an der Universität Jassy) u. in der UdSSR. 1946 war er Regieassistent an den Münchner Kammerspielen, 1950 Mitbegründer des Kabaretts »Kleine Freiheit«. Ab 1955 begann er zu schreiben u. veröffentlichte die Kinderbuchserie um die Burg Schreckenstein (Mchn. 1959 ff. Über 10 Mio. Aufl.), in der die spannenden Abenteuer von Jungen in einem Internat erzählt werden. Die Romane Bekenntnisse eines möblierten Herrn (1960), Erkenntnisse eines etablierten Herrn (1972) u. Geständnisse eines graumelierten Herrn (1982; alle Mchn.) sind heitere, satir. Alltagsschilderungen. Für die Olympiade 1972 schrieb H. das Libretto zu der satir. Oper Lebensregeln (Musik von Gerhard Wimberger. Urauff. Mchn. 1972). H. gilt als Klassiker der leichten Muse, als »urbaner Konversationsliterat« (Armin Eichholz). Weitere Werke: Ich liebe mich. Mchn. 1967 (R.). – Sage & Schreibe. Satiren mit Beilagen. Mchn./
Haßler Wien 1976. – Der Sieg nach dem Krieg. Die gute schlechte Zeit. Mchn./Bln. 1983 (Memoiren). Literatur: Susanne Bestmann: Pausenlose Kreativität mit Kopf u. Händen. Am 10. Mai feierte O. H. seinen 65. Geburtstag. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel 42/153 (1986), 43, S. 1619 ff. – Gwendolyn v. Ambesser: Schaubudenzauber – Gesch. u. Gesch.n eines legendären Kabaretts. Lich 2006. Winfried Hönes † / Red.
Hassenstein, Bohuslav Lobkowicz von ! Hassenstein und Lobkowicz, Bohuslav von Haßler, Hasler, Hans Leo von, getauft 26.10.1564 Nürnberg, † 8.6.1612 Frankfurt/M. – Organist, Komponist u. Lieddichter. Der Sohn des Steinschneiders u. Organisten Isaak Haßler wurde zunächst v. a. von seinem Vater unterrichtet u. setzte seine Ausbildung ab 1584 in Venedig bei Andrea Gabrieli, dem Organisten an der Marcuskirche, fort. 1586 trat er als Kammerorganist in den Dienst Oktavian Secundus Fuggers in Augsburg. Bald wurde er einer der berühmtesten Komponisten seiner Zeit (Canzonetten. Nürnb. 1590. Cantiones sacrae. Augsb. 1591. 31607. Neue teutsche gesang nach art der welschen Madrigalien und Canzonetten. Augsb. 1596. Madrigali. Augsb. 1596. Missae. Nürnb. 1599. Sacri concentus. Augsb. 1601. Nürnb. 21612). Kaiser Rudolf II. erhob ihn am 4.1.1595 in den Adelsstand. 1600 übernahm H. die Leitung der Augsburger Stadtpfeifer; im August 1601 wurde er »Oberster Musicus« in Nürnberg. Mit dem Lustgarten neuer teutscher Gesäng, Balletti, Galliarden und Intraden mit 4, 5, 6 und 8 St. (Nürnb. 1601. 31610) prägte er den Typus des dt. Gesellschaftslieds. 1604 übersiedelte er nach Ulm u. wandte sich nun auch dem luth. Kirchenlied zu (Psalmen und christliche Gesäng [...] fugweisz [...]. Nürnb. 1607. Kirchengesäng [...] simpliciter gesetzt. Nürnb. 1608). Ab 1609 war H. Kammerorganist am kursächs. Hof in Dresden. Formal ausgewogen u. von großer klangl. Schönheit, verschmelzen H.s Werke dt. u. ital. Formelemente. Die Texte vieler seiner Lieder schrieb er selbst. Er gehört in die mit
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Regnart beginnende Reihe von Dichterkomponisten, deren Wirken zu den wichtigsten Voraussetzungen der dt. Kunstdichtung des 17. Jh. zählt. Zwar stehen H.s Lieder für eine v. a. musikalisch orientierte Kunstübung, doch verbreiteten sie – v. a. Neue teutsche gesang – im dt. Sprachraum Formen der ital. Renaissancelyrik, die von Opitz u. seinen Nachfolgern aufgegriffen wurden. Ausgaben: Lustgarten. Hg. Friedrich Zelle. Lpz. 1887. – Werke. Hg. Ernst v. Werra u. a. 3 Tle., Lpz. 1903–10. – Sämtl. Werke. Hg. C. Russell Crosby. Bde. 1–11 u. 13, Wiesb. 1961–2001. Literatur: Bibliografie: Robert Eitner: Chronolog. Verz. der gedruckten Werke v. H. L. v. H. u. Orlandus de Lassus. In: Monatsh.e für Musikgesch. 5/6 (1874), Beilage. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd./Atlanta 1994, S. 438. – Weitere Titel: Otto Kade: H. L. H. In: ADB. – Thomas R. Hinton: Poetry and song in the German baroque. Oxford 1963, S. 14–20. – H. L. H. Leben u. Werk [...]. Bearb. Heinz Zirnbauer. Nürnb. 1964 (Ausstellungskat). – C. Russell Crosby: H. L. H. In: NDB. – Franz Krautwurst: H. L. H. In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 11. Hg. Alfred Wendehorst u. a. Neustadt/Aisch 1984, S. 140–162. – DBA. – Hartmut Krones: Die Beziehungen der Brüder H. zu Kaiser Rudolf dem II. u. zu Prag. In: Die Musik der Deutschen im Osten u. ihre Wechselwirkung mit den Nachbarn [...]. Hg. Klaus Wolfgang Niemöller. Bonn 1994, S. 375–381. – H. Krones: H. L. H. In: MGG, 2. Aufl., Bd. 8 (Pers.), Sp. 830–844 (mit Lit.). – Wolfram Steude: H. L. H. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 22001, S. 133 f. – Walter Blankenburg u. Vincent J. Panetta: H. L. H. In: New Grove. – Elmar Seidel: H. L. H.s ›Mein gmüth ist mir verwirret‹ u. Paul Gerhardts ›O Haupt voll Blut u. Wunden‹ in Bachs Werk. In: Archiv für Musikwiss. 58 (2001), S. 61–89. – Dunja Keuper: Die Geselligkeit der Kunst u. die Kunst der Geselligkeit in H. L. H.s ›Lustgarten Neuer Teutscher Gesäng‹ v. 1601. Bln. 2004. – Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. Canzonetten. Zur Musik des dt. Barockliedes. Tüb. 2004 (Register).
u. kehrte 1911 zum Studium der Chemie u. Mathematik nach Wien zurück. Er begann um 1911 Skizzen, Essays, Aphorismen u. Gedichte zu schreiben, die in expressionistischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Obwohl er den Expressionismus propagierte u. vermittelte (Versuch über den Expressionismus. In: Die Aktion 7, Nr. 11/12, 1917. Prosaisches Weltbild. In: Die neue Schaubühne, Nr. 2, 1920, S. 33–35), gehörte er nie einer literar. Gruppe an. Vielmehr stand er im Bann des Werks von Karl Kraus u. fand in Broch einen Gefährten, mit dem ihn Interessen (Mathematik) u. äußere Lebensumstände (beide arbeiteten in der Textilbranche) verbanden. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete H. in der Industrie. 1939 emigrierte er nach Australien u. übte dort seinen Beruf als Chemiker aus, bis er in den 1960er Jahren eine Reihe von literatur- u. kulturkrit. Essays in dt. u. Wiener Zeitschriften (»Akzente«, »Literatur und Kritik«, »Neues Forum«) zu publizieren begann. H. versuchte in diesen verstreut erschienenen Essays, die Episteme als den gemeinsamen, erklärungskräftigen Nenner kultureller u. wissenschaftl. Erscheinungen herauszuarbeiten. Weitere Werke: Salto mortale. Aphorismen, Essais, Skizzen. Heidelb. 1913. – Über den Expressionismus. In: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, H. 31, 8. Jg. (1965), S. 177–206. – Karl Kraus et la satire totale. In: Cahiers de L’Herne 28. Paris 1975. – Die Ameisen. Hg. mit Nachw. v. Silke Hesse u. Pavel Petr. Siegen 1994. Literatur: Wilhelm Haefs: ›Der Expressionismus ist tot ... Es lebe der Expressionismus‹. P. H. als Literaturkritiker u. Literaturtheoretiker des Expressionismus. In: Klaus Amann u. Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österr. Die Lit. u. die Künste. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 453–485. Walter Ruprechter / Red.
Hatzfeld, Adolf von, * 3.9.1892 Olpe/ Westfalen, † 25.7.1957 Bad Godesberg (heute zu Bonn). – Lyriker, Erzähler, BioHatvani, Paul, eigentl.: P. Hirsch, * 16.8. graf. 1892 Wien, † 9.11.1975 Kew bei MelH., Sohn einer westfäl. Adelsfamilie, machte bourne/Australien. – Lyriker, Essayist u. nach dem Abitur in Emmerich eine kaufKritiker. Hans Heinrich Eggebrecht † / Red.
H. kam 1904 von einer deutschsprachigen Wiener in eine ungar. Schule nach Budapest
männ. Ausbildung in Hamburg. Er brach die Lehre ab, wurde Fahnenjunker u. besuchte die Kriegsschule in Potsdam. Wegen einer
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Streitsache wurde der Offiziersanwärter ar- Wolf: ›Zwiegespräch mit den Dämonen‹. A. v. H. u. retiert u. erblindete nach einem Selbstmord- der Rhein. Expressionismus. In: Bonner Geversuch. 1919 schloss H. das Studium der schichtsblätter 42 (1992), S. 507–526. – Dieter Germanistik u. Philosophie mit der Disser- Sudhoff: ›Die bedeutsamsten lebenden westfäl. Dichter der Gegenwart‹. A. v. H., Josef Winckler u. tation über Arnims Kronenwächter (Freib i. Br. der Droste-Preis 1953. Eine Dokumentation. In: 1920) ab. Walter Gödden (Hg.): Lit. in Westfalen. Paderb. Durch Vermittlung der Schauspielerin Tilla 1995, S. 153–193. – D. Sudhoff: Die literar. MoDurieux, die seine ersten Gedichte (Lpz. 1916) derne u. Westfalen. Besichtigung einer vernachlässchätzte, konnte H. bei Paul Cassirer die au- sigten Kulturlandschaft. Bielef. 2002, S. 137–203. tobiogr. Erzählung Franziskus (Bln. 1918. PaAngelika Müller / Red. derb. 1992) veröffentlichen, für die Max Reinhardt ihm den Preis der Gesellschaft Junges Deutschland übergab. An Franziskus, Hauer, Elisabeth, geb. Schleppnik, * 12.6. der in einer Blindenanstalt sein Selbstbe- 1928 Wien. – Verfasserin von Lyrik, Erwusstsein wiedererringen kann, vollzog H. zählungen, Romanen. nach, wie ihm erst durch die Erblindung Nach dem Germanistik- u. Romanistikstudiwesentl. Aspekte des Lebens bewusst wurden. um (Dr. phil. 1951, Das deutsche DemetriusdraAuf seiner Italienreise mit dem Maler Karli ma des 20. Jahrhunderts) war H. einige Jahre in Sohn-Rethel entstand der expressionistische der Industrie, 1979–1981 in der Redaktion Roman Lemminge (Hann. 1923. Paderb. 1993). von »Literatur und Kritik« tätig. Nach VerIn dem Roman Das glückhafte Schiff (Bln. 1931) öffentlichungen in Zeitschriften u. im setzte er der Begegnung mit dem sowjeti- Rundfunk knüpfte H. 1984 mit Ein halbes schen Außenminister Georgij W. Tschitsche- Jahr, ein ganzes Leben (Graz/Wien/Köln) an die rin, den er in Moskau besucht hatte, ein Tradition des groß angelegten, gehobenen Denkmal. 1925 ließ er sich als freier Schrift- Unterhaltungs- u. Gesellschaftsromans an: steller in Bad Godesberg nieder, gründete die Im Zentrum der Handlung steht das AbhänRheinische Liga für Menschenrechte u. 1928 gigkeitsverhältnis zwischen zwei Frauen, das zusammen mit Alfons Paquet den Bund über tagebuchartige Skizzen, innere Monorheinischer Dichter. loge u. lineare Erzählpassagen in ein psyIn expressionistischen Gedichten reflek- chologisch akribisch dargestelltes Geselltierte H. die Einsamkeit als Voraussetzung schaftsleben der letzten 40 Jahre des 20. Jh. für freie Geistigkeit. Bilder der Natur gestal- eingebunden ist. Im Roman Sommer wie Portete er in den Gedichten Ländlicher Sommer zellan (Graz/Wien/Köln 1986) erzählt H. nach (Bielef. 1926). Zu seinem Freundeskreis ähnl. Grundmuster eine Emanzipationsgezählten Toller, Schickele u. bes. Timmer- schichte: Während Klara vor dem gesellmans, dessen Religiosität u. fläm. Volkstum schaftl. Hintergrund der 1930er Jahre u. der H. zu einer Monografie (Dichter und Zeichner NS-Zeit scheitert, verweist Christines Leben seines Volkes. Bln. 1935) veranlasste. 1953 er- auf freiere Entfaltungsmöglichkeiten für hielt er den Annette-von-Droste-Hülshoff- Frauen in den 1980er Jahren. Der in seiner Grundstimmung pessimistische Roman FallPreis. Weitere Werke: An Gott. Hg. Paul Cassirer. wind (Wien/Graz/Köln 1989) verfolgt den Bln. 1919 (L.). – Liebesgedichte. Ffm. 1922. – Ge- Niedergang der Familie Pittoni am Ende der dichte. Hann. 1923. – Jugendgedichte. Köln 1923. – Donaumonarchie. Gedichte. Freib. i. Br. 1925. – Das zerbrochene Herz. Stgt. 1926 (D.). – Gedichte. Lpz. 1927. – Gedichte des Landes. Potsdam 1936. – Melodie des Herzens. Ges. Gedichte. Hattingen 1952. – Zwischenfälle. Hattingen 1952 (E.en). – A.-v.-H.-Lesebuch. Hg. mit Nachw. v. Dieter Sudhoff. Köln 2007. Literatur: Elisabeth Deinhard v. Hatzfeld: A. v. H. Mensch u. Werk. Diss. Turin 1982. – Irmgard
Weitere Werke: Verlasse die Felder. Wien/Eisenstadt 1984 (L.). – Die Bogenbrücke. Graz u. a. 1992 (R.). – Ein anderer Frühling. Graz u. a. 1995 (E.en.). – Die erste Stufe der Demut. St. Pölten 2000 (R.). – Damals der Sommer am Fluss. Baden 2001 (L.). – Die Enthüllung der Paradiese (Nachw. Matthias Mander). Wien 2007 (E.en). Christine Schmidjell / Red.
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Hauff, Wilhelm, auch: H. Clauren, * 29.11. 1802 Stuttgart, † 18.11.1827 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Hoppenlau-Friedhof. – Erzähler, Publizist, Redakteur, Lyriker. H. entstammte einer angesehenen württembergischen Beamtenfamilie. Der Vater, wegen angebl. Beteiligung an republikan. Umsturzplänen 1800 vorübergehend auf der Festung Asperg inhaftiert, starb als Geheimer Sekretär im Außenministerium bereits 37jährig (1809). H. wuchs in Tübingen beim Großvater mütterlicherseits, einem Obertribunalrat, auf; dessen Bibliothek wurde zur ersten Fundgrube für seine früh entwickelte »Lesewut«. Nach dem Besuch der Lateinschule u. dem 1817 bestandenen »Landexamen« trat H. in das niedere theolog. Seminar im Kloster Blaubeuren ein. 1820–1824 studierte er als Mitgl. des Tübinger Stifts Theologie, Philosophie u. Philologie. Briefe u. eine Reihe von Gelegenheitsgedichten bezeugen die rege Teilnahme am studentischen Gemeinschaftsleben in der »Compagnie« der »Feuerreiter«; 1822 schloss sich H. dem Tübinger Burschenverein an, einer Nachfolgeorganisation der infolge der Karlsbader Beschlüsse verbotenen »Germania«. Doch skizzierte er vermutlich auch bereits jene Episoden seiner satir. Mittheilungen aus den Memoiren des Satan (Stgt. 1825. 2. Tl. ebd. 1826), in denen er den Universitätsbetrieb der Zeit, studentisches Renommierwesen u. Deutschtümelei wie obrigkeitsstaatl. Demagogenfurcht zum Gegenstand grotesker Karikaturen machte. H.s erstes publizistisches Engagement entstand im Zusammenhang mit der aktuellen Förderung des Laienchorwesens durch den Universitätsmusikdirektor Silcher. 1824 veröffentlichte der begeisterte Gitarrenspieler eine anonyme Anthologie populärer Kriegs- und Volks-Lieder (Stgt.) von Arndt, Eichendorff, Fouqué, Goethe, Hebel, Körner, Schiller, Schwab, Uhland u. anderen mit Angabe ihrer »schönsten und einfachsten« Vertonungen u. dem Hinweis auf die mehrstimmigen Chorsätze aus dem Silcher-Kreis. Zwei der sechs eigenen Gedichte H.s in dieser Sammlung sind aufgrund der Vertonung rasch berühmt geworden: Treue Liebe (»Steh ich in finstrer Mitternacht [...]«) u. Reiters
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Morgenlied (»Morgenrot! Leuchtest mir zum frühen Tod?«). Im übrigen sind H.s lyr. Versuche kaum von Interesse; er wandte sich bald ausschließlich der Prosa zu. Bei Studienabschluss waren H.s schriftstellerische Ambitionen so in den Vordergrund gerückt, dass der Pfarrberuf wenig attraktiv erschien. Im Okt. 1824 trat H. eine Hauslehrerstelle in der Familie des Präsidenten des Kriegsministeriums, Baron von Hügel, an, die ihm hinreichend Muße u. gesellschaftl. Anregung für die Ausführung seiner literar. Pläne bot. In den nächsten eineinhalb Jahren wurden in rascher Folge drei Romane, mehrere Novellen u. der erste Märchenalmanach fertiggestellt u. veröffentlicht. H.s erster Auftritt in der literar. Szene war geschickt inszeniert: Wenige Wochen nach den unter dem Telonisnym »...f« nur halb getarnten Mittheilungen erschien Der Mann im Mond oder der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme (2 Tle., Stgt.), eine empfindsam-sentimentale Liebesgeschichte in der Manier des damals meistgelesenen Romanciers Carl Heun u. unter dessen Pseudonym H. Clauren. Der anschließende Skandal u. ein gerichtl. Nachspiel machten H. mit einem Schlag bekannt. Die beiden ersten Novellen Othello u. Die Sängerin wurden im März 1826 von der Dresdner »Abend-Zeitung« bzw. dem renommierten »Frauentaschenbuch« zur Veröffentlichung angenommen. Im April 1826 kam Lichtenstein. Romantische Sage aus der würtembergischen Geschichte (3 Tle., Stgt.) heraus. Diese Erfolge bestärkten H. in der Entscheidung für den Beruf des freien Schriftstellers. Der Aufgabe der Hauslehrerstelle im Frühjahr 1826 folgte eine sechsmonatige Bildungsreise durch Frankreich, Holland u. Norddeutschland, die H. vornehmlich in die Zentren des Literaturbetriebs führte: nach Paris, von wo er Korrespondenzberichte an die »Abend-Zeitung« schickte; nach Berlin, wo er sich im führenden Literatenzirkel, der Mittwochs-Gesellschaft, erfolgreich mit der satir. Controvers-Predigt über H. Clauren und den Mann im Monde (Stgt. 1826) als Kontrahent des Berliner Hofrats Heun präsentierte; in die Verlegerstadt Leipzig u. nach Dresden, wo er Tieck aufsuchte u. Theodor Hell, den Herausgeber der »Abend-Zeitung«, traf.
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Am 1.1.1827 vertraute Cotta ihm die Redaktion des »Morgenblatts«, in dem Ende 1826 bereits H.s Novelle Die Bettlerin vom Pont des Arts erschienen war, u. die Herausgabe des »Taschenbuchs für Damen« an; H. war zudem mittlerweile zum überdurchschnittlich hoch dotierten Beiträger anderer Zeitschriften u. Almanache avanciert. Die damit finanziell gesicherte bürgerl. Existenz ermöglichte die Eheschließung mit seiner Kusine Luise Hauff. In diesem Jahr veröffentlichte H. zwei weitere Novellen (Jud Süß, die erste künstlerische Bearbeitung dieses problematischen histor. Stoffs, im »Morgenblatt«, Die letzten Ritter von Marienburg im »Frauentaschenbuch«), ferner die Phantasien im Bremer Rathskeller; ein Herbstgeschenk für Freunde des Weines (Einzelausg. Stgt. 1827) u. den dritten Märchenalmanach sowie eine Reihe von Feuilletons u. Rezensionen; während der Drucklegung der Novelle Das Bild des Kaisers (im »Taschenbuch für Damen«) u. der ersten Sammlung seiner Novellen (Stgt.) starb H., gerade Vater einer Tochter geworden, an einer Infektionskrankheit. H.s Selbsteinschätzung als angesehener Autor massenliterar. Produktion basierte auf der Erkenntnis, sein Naturtalent liege darin, »irgend einen Stoff mit einiger Leichtigkeit so zu wenden und zu behandeln, dass er für die Menge ergözlich und unterhaltend, für Viele intereßant, für Manche sogar bedeutend ist« (an Pfaff, 7.9.1826). Die dabei verarbeiteten vielfältigen Anregungen u. Lektüreeindrücke reichen vom empfindsamen Roman des 18. Jh. über die Weimarer Klassik bis zu Fouqué, Tieck u. Hoffmann u. schließen Märchen, Sagen, Ritter- u. Räuberromane sowie die gängige Trivialliteratur seiner Zeit ein. H. repräsentierte damit einen neuen, zeitgemäßen Typ des Literaten – Berufsschriftsteller, Journalist, Redakteur u. »literarischer Organisator« – der Biedermeierzeit, dessen Produktion an kurzweilig erzählender Prosa sich bereitwillig dem wachsenden Unterhaltungsbedürfnis seines vorwiegend weibl. Publikums anpasste. Die Strategien des Erfolgs lassen sich an den Werken ablesen, denen er seinen festen Platz in der Literaturgeschichte verdankt: dem histor. Roman
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Lichtenstein u. seinen zykl. Märchenalmanachen. Mit der romantisierenden Sage vom Lichtenstein reagierte H. auf das mod. Interesse an der Popularisierung nationaler Geschichte in der Nachfolge Scotts. Die Erzählung dient der mythisierenden Überformung von Begebenheiten aus der schwäb. Geschichte des 16. Jh., die dem Leser über das private Schicksal der an der fiktiven Handlung beteiligten Akteure vermittelt wird; das histor. Geschehen fungiert dabei auch als Spiegel aktueller polit. Bestrebungen des württembergischen Bürgertums. Eine wichtige Rolle spielen Lokalkolorit u. plast. Fülle histor. Details. Die intensive Rezeption des Lichtenstein im 19. Jh. bestätigte die Strategie. Die literar. Vorlage wurde zum Anlass für die Errichtung einer mittelalterl. Burg an histor. Stelle als touristische Attraktion (1840/41) u. zog eine Fülle von Bearbeitungen (u. a. mehrere Opernlibretti) nach sich. Auch der Märchenerzähler H. zielt zunächst auf das unbeschwerte Lesevergnügen seines jugendl. Publikums ab. Die Wirkung seiner Maehrchen-Almanache für Söhne und Töchter gebildeter Stände (3 Jahrgänge, Stgt. 1825–27) beruht auf der geschickten Verknüpfung traditioneller Erzählmuster mit novellistisch-spannenden Handlungselementen, der Verbindung von exotischer Märchen- u. Abenteuerwelt, heimischer Sage u. histor. oder zeitgenöss. Anekdote mit bürgerl. Gesinnung als Erziehungsziel. Als Quellen sind dabei nach neueren Forschungserkenntnissen (Barth) die Werke von Zeitgenossen (E. T. A. Hoffmann, J. P. Hebel, G. Schwab, R. P. Gillies) sowie von Autoren der Aufklärung (Voltaire, Musäus) bedeutsamer als traditionelle Märchen wie die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. H. eignet sich die übernommenen Stoffe u. Motive jedoch auf durchaus eigentüml. Weise an u. verbirgt die literar. Abhängigkeiten so virtuos, dass etwa Das kalte Herz, das auf Washington Irvings Erzählung The Devil and Tom Walker (1824) basiert, teilweise bis in die Gegenwart für eine Bearbeitung schwäb. Sagen gehalten wird. Im Erzählkommentar der Rahmenhandlung des zweiten Almanachs (die Fortsetzung als Periodikum folgte nicht
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zuletzt kommerziellen Erwägungen) setzt Der Verfasser des ›Lichtenstein‹. Stgt./Marbach sich H. vom traditionellen Typus des »Am- 1981. – Joachim Horn: Der Dichter u. die Lesewelt. menmärchens« ab u. favorisiert anschaulich- W. H.s Werk als Epochenphänomen. Diss. Bremen belehrende Geschichten, deren außerge- 1982. – Ottmar Hinz: W. H. Reinb. 1989. – Johannes Barth: Neue Erkenntnisse zu den Quellen wöhnl. Geschehen sich gleichwohl nach navon W. H.s Märchen. In: WW 41 (1991), S. 170–183. türl. Gesetzen vollzieht. Der Fantasie weist H. – Ders.: Von ›Fortunatus‹ zum ›Kleinen Muck‹. In: eine neue Rolle zu: Sie ist nicht mehr – wie in Fabula 33 (1992), S. 66–76. – Ders.: ›Der Zwerg der Romantik – Vermittlerin zwischen utop. Nase‹ u. ›Der gebackene Kopf‹. In: WW 42 (1992), Entwurf u. als defizitär empfundener Le- S. 33–42. – Ders.: Neues zum Fliegenden Hollänbenswirklichkeit, sondern notwendige Vor- der. In: Fabula 35 (1994), S. 310–315. – Walter aussetzung für die »objektive« Erfassung der Schmitz: ›Mutabor‹. Alterität u. Lebenswechsel in durch bürgerl. Moralbegriff u. Leistungs- den Märchen v. W. H. In: Schnittpunkt Romantik. ethik definierten gesellschaftl. Realität (Die Text- u. Quellenstudien zur Lit. des 19. Jh. FS SiGeschichte von dem kleinen Muck, Der falsche bylle v. Steinsdorff. Hg. Wolfgang Bunzel, Konrad Feilchenfeldt u. W: Schmitz. Tüb. 1997, S. 81–117. Prinz, Das kalte Herz). Eine von H.s Freunden – W. H. Aufsätze zu seinem poet: Werk. Hg. Ulrich herausgegebene Gesamtausgabe seiner Mär- Kittstein. St. Ingbert 2002. – Stefan Neuhaus: Das chen (Stgt. 1832) erreichte bis 1890 insg. 19 Spiel mit dem Leser. W. H. Werk u. Wirkung. Gött. Auflagen, u. die Texte erlangten als einzige 2002. – W. H. oder Die Virtuosität der Einbildt. Kunstmärchen eine mit der Grimm’schen dungskraft. Hg. Ernst Osterkamp, Andrea Polaschegg u. Erhard Schütz. Gött. 2005. Sammlung vergleichbare Volkstümlichkeit. Die neuere Forschung hat H.s »Konzept Sibylle von Steinsdorff / Johannes Barth der Arrivierung« (Bachmaier) auf der Basis bildungsbürgerl. Wertvorstellungen als von ihm selbst kaum reflektierte Grundstruktur Hauffe, Christian Gotthold, * 1725 Mittseines Werks u. Bedingung seiner schrift- weida/Sachsen, † März 1799 Nürnberg. – stellerischen Existenz herausgestellt u. sozi- Buchhändler, Verleger u. Romanautor. alpsychologisch gedeutet (Horn). Darüber hinaus wurden in jüngster Zeit, v. a. im Um- Als Schriftsteller trat H., Sohn eines sächs. feld des doppelten Gedenkjahrs 2002 (200. Akziseeinnehmers, ausschließlich mit RomaGeburts- u. 175. Todestag), mehrfach Forde- nen an die Öffentlichkeit, die alle Johann rungen nach einer intensiveren u. differen- Leopold Montag in Regensburg verlegte. zierteren wissenschaftl. Beschäftigung mit H. Dass er vier von ihnen in nur drei Jahren laut, die dem Facettenreichtum seines Schaf- schrieb, lässt auf eine finanzielle Notlage schließen. In den Jahren zuvor hatte er als fens besser gerecht werden solle. Ausgaben: Sämmtl. Schr.en. Hg. Gustav Buchhalter bei dem Nürnberger Verleger Schwab. 36 Bändchen, Stgt. 1830. – Werke. Hg. Georg Peter Monath die Beliebtheit der GatHermann Engelhard. 2 Bde., Stgt. 1961/62. – tung studieren können. H. spekulierte auf Sämtl. Werke. Hg. Sibylle v. Steinsdorff. 3 Bde., einen Leser, der Geschmack an fernen LänMchn. 1970. – Sämtl. Märchen. Hg. Hans-Heino dern fand, dabei aber seine eigene auf Besitz Ewers. Stgt. 1986. – Die Gesch. v. dem kleinen u. Sicherheit gerichtete Welt wiederfinden Muck. Gezeichnet u. geschrieben v. Fritz Fischer. wollte. Mit einem Nachw. v. Ludwig Harig. Marbach/N. Nach einem Versuch, den galanten Roman 2000. ins Bürgerliche zu übertragen (Merkwürdige Literatur: Hans Hofmann: W. H. Ffm. 1902. Begebenheiten einiger Kaufmannsbedienten. 1769. Neudr. Eschborn 1998. – Fritz Martini: W. H. In: 2 1781), trivialisierte er die Robinsonade (z.B. Dt. Dichter der Romantik. Hg. Benno v. Wiese. Bln. Bewunderungswürdige Begebenheiten eines Uhr1971, S. 442–472. – Barbara Inge Czygan: W. H.: The writer and his work as seen through his cor- machers. 1770. Leben und merkwürdige Begebenrespondence. Diss. Madison/Wisconsin 1976. – heiten einer adelichen Pachterstochter. 1776), Helmut Bachmaier: Die Konzeption der Arrivie- übernahm ihr christl., nicht aber ihr utop. rung. Überlegungen zum Werke W. H.s. In: JbDSG Weltbild u. aktualisierte den bürgerl. Ver23 (1979), S. 309–343. – Friedrich Pfäfflin: W. H. haltenskodex.
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Als Verleger ist H. mit mehreren Romanen, darunter Johann Paul Sattlers Friederike, als Buchhändler u. Antiquar durch zwei Sortimentskataloge (Nürnb. 1774 u. 1777) sowie durch das literar. Intelligenzblatt »Gemeinnützige Anzeigen neuer Bücher« (Nürnb. 1776) bezeugt. Nach seinem Bankrott 1786 betrieb H. den Buchhandel in Fürth, kehrte aber wieder nach Nürnberg zurück. Weitere Werke: Die wunderbaren Begebenheiten eines Britten. Regensb. 1769. – Seltsame Begebenheiten eines Hirtenbuben. Regensb. 1772. – Meine Reisen zu Fuß, oder Beobachtungen über menschl. Schwachheiten. Ffm./Lpz. 1789. Literatur: Ernst Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – E. Weber: Sortimentskat.e des 18. Jh. als literatur- u. buchhandelsgeschichtl. Quellen. In: Reinhard Wittmann (Hg.): Bücherkat.e als buchgeschichtl. Quellen [...]. Wiesb. 1984. Ernst Weber
Haufs, Rolf, * 31.12.1935 Düsseldorf. – Lyriker u. Verfasser experimenteller Prosa u. Denkbilder. H., Sohn eines Bankangestellten, wuchs in Rheydt/Niederrhein auf, arbeitete dort nach einer kaufmänn. Lehre als Exportkaufmann u. lebt seit 1960 in Berlin als Schriftsteller. 1972–1999 war er Redakteur für Literatur beim Sender Freies Berlin. In den Gedichten des schwarzen Idyllikers H. riecht die Welt nach Sterben, die Erde ist »ausgehoben für größere Untergänge«. Der Gesang des Unglücks, den er in fast tonloser Beiläufigkeit anstimmt, ist stets grundiert mit sarkast. Humor. In Berlin wohnte er einige Jahre im Niemandsland, wovon das frühe Gedicht »Steinstücken« handelt: Hier porträtiert sich H. als Eingeschlossener in dem winzigen Dorf Steinstücken, einer auf DDR-Gebiet gelegenen westl. Exklave, die von den Grenzbefestigungen fast hermetisch abgeriegelt war. Bereits die frühen Gedichte im Band Straße nach Kohlhasenbrück (Bln. 1962) lesen sich wie trotzig-übermütige u. zugleich todesverfallene Beiträge zur Kulturgeschichte der Melancholie. In späteren Bänden wie Felderland (Mchn. 1986) oder Vorabend (Mchn. 1994) wirft ein schwermütiger Hieronymus im Gehäus in seiner Einsiedelei letzte Blicke
auf das Dasein. Das »Felderland« der Kindheit erscheint als zentrales Landschaftsmotiv. Sehnsucht u. Angst sind in diesen poetischen Anrufungen der »Kinderzeit« einander verschwistert. Zum Grundmotiv wird die unaufhaltsam verrinnende Lebens-Zeit, deren bedrückende Macht nur im Augenblick des Schreibens einen Moment lang außer Kraft gesetzt werden kann. Penibel vermisst der Melancholiker die Geschwindigkeit eines einzigen Tages, so im Titelgedicht eines Bandes von 1976 (Reinb.), um am Ende mit dem immergleichen Vanitas-Gefühl u. dem Schrecken vor der Leere dazustehen. Der pessimistischen Klage entspricht die offene Form der Gedichte. H. verknüpft lyr. Erinnerungsbilder, sinnl. Wahrnehmungen u. persönl. Beobachtungen nicht kausal, sondern stellt sie durch ellipt. Aussparung u. lakon. Andeutung in schroffer Fügung nebeneinander. Auch in den parataktisch gebauten Prosatexten löst er die geschlossene Form auf. So besteht etwa der Roman Der Linkshänder oder Schicksal ist ein hartes Wort (Mchn. 1970) aus vielen kleinen Textstücken u. besitzt keine durchgehende Fabel. H. erhielt 1968 den Kurt-Magnus-Preis der ARD, 1979 den Leonce-und-Lena-Preis, 1985 den Literaturpreis der Stadt Bremen, 1990 den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg, 1993 den Hans-Erich-NossackPreis u. 2003 den Peter-Huchel-Preis. Weitere Werke: Sonntage in Moabit. Bln. 1964 (L.). – Vorstadtbeichte. Ebd. 1967 (L.). – Das Dorf S. u. a. Gesch.n. Ebd. 1968. – Herr Hut. Köln 1971 (Kinderbuch). – Pandas große Entdeckung. Köln 1977 (Kinderbuch). – Größer werdende Entfernung. Gedichte 1962–69. Reinb. 1979. – Ob ihr’s glaubt oder nicht. Stgt. 1980 (Kindergesch.n). – Selbst Bild. Mchn. 1988 (P.). – Allerweltsfieber. Mchn. 1990 (L.). – Augustfeuer. Mchn. 1990 (L.). – Aufgehobene Briefe. Mchn. 2001 (L.). – Ebene der Fluß. Lüneb. 2002 (L.). – Drei Leben u. eine Sekunde. Heidelb. 2004 (P.). Literatur: Günter Kunert: Das hält wer aus. In: Frankfurter Anth. Bd. 5, Ffm. 1980, S. 261–264. – Alexander v. Bormann: Über R. H. In: Akzente 31 (1985), S. 292–299. – Wulf Segebrecht u. Hans-Ulrich Wagner (Hg.): Auskünfte über R. H. Bamberg 1986. – R. H. zum sechzigsten Geburtstag. In: Sprache im techn. Zeitalter 34 (1996), H. 137,
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S. 49–65. – Rita Mielke u. Hermann Korte: R. H. In: KLG. – A. v. Bormann: R. H. In: LGL.
Literatur: Biogr. u. Werkverz. in: Das gelehrte Wirtemberg. a. a. O., S. 87–93. Wolfgang Riedel
Michael Braun
Haug, Balthasar, * 4.7.1731 Stammheim Haug, (Johann Christoph) Friedrich, auch: bei Calw/Württemberg, † 3.1.1792 Stutt- F. Hophthalmos, Frauenlob d.J., * 9.3. gart. – Verfasser von Gelegenheits- u. 1761 Niederstotzingen bei Ulm, † 30.1. Lehrdichtungen u. Schriften zur schwä- 1829 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Hoppenlau-Friedhof. – Epigrammatiker. bischen Literatur. Der Vater Johann Christoph Friedrich Haugs legte 1756 das theolog. Examen am Tübinger Stift ab, war zunächst Pfarrer, kam 1766 als Professor für Theologie u. Beredsamkeit an das Stuttgarter Gymnasium u. wurde 1776 als Professor für Philosophiegeschichte, schöne Wissenschaften u. deutschen Stil an die herzogl. Militärakademie, die spätere Hohe Karlsschule, berufen, wo auch Schiller zu seinen Schülern zählte. H. kam als württembergischer Hofdichter zu höchsten Ehren. 1761 wurde er für ein Gedicht auf [...] Maria Theresia (Ulm 1760) zum Poeta laureatus gekrönt, 1769 zum kaiserl. Comes palatinus ernannt. Neben höf. Gelegenheitspoesie verfasste er geistl. Lehrgedichte (Der Christ am Sabbath. 3 Tle., Ulm 1763/64. 21778). Als Theologe u. Schulmann verfasste er Beiträge zur Mythologie- u. Literaturgeschichte der Antike sowie das religionsgeschichtl. Werk Die Alterthümer der Christen (Stgt. 1785). Seine Hauptverdienste erwarb sich H. als Promotor der wissenschaftlichen u. schönen Literatur Schwabens. Nicht nur bemühte er sich um ihre Bestandsaufnahme (Versuch einer Berechnung des wissenschaftlichen Zustandes von Wirtemberg im Verhältniß gegen Teutschland. Stgt. 1774. Sammlung und Geschichte aller Würtembergischen gekrönten Dichter. Stgt. 1776. Vor allem das biografisch-bibliografische Handbuch Das gelehrte Wirtemberg. Stgt. 1790. Neudr. Hildesh. 1979), auch durch die Gründung literar. Zeitschriften suchte er den Anschluss Schwabens an das kulturelle Deutschland: »Schwäbisches Magazin von gelehrten Sachen« (6 Bde., Stgt. 1775–80. In Bd. 2, 1776, erschien Schillers erste literar. Publikation, das Gedicht Der Abend) u. »Zustand der Wissenschaften und Künste in Schwaben« (3 Stücke, Augsb. 1780/81).
Eigentlich zur geistl. Laufbahn bestimmt, wurde der hochbegabte Sohn Balthasar Haugs auf Befehl des Herzogs Karl Eugen an die Hohe Karlsschule versetzt; gemeinsam mit seinem Freund Schiller studierte er dort Rechtswissenschaft, Philologie u. Philosophie (1775–1783). Trotz seiner (von Schiller geteilten) Vorliebe für studentische Eskapaden u. bissige Reimereien erhielten ihm Umgänglichkeit u. herausragende Leistungen die Zuneigung des Herzogs. Folgerichtig avancierte H. zum Sekretär des herzogl. Kabinetts (1783); 1792 wurde ihm die (von Uhland bespöttelte) Würde eines württembergischen Hof- u. Pfalzgrafen verliehen. Nach dem Regierungsantritt Herzog Ludwig Eugens (1793) konnte sich H. eine Vertrauensstellung als Sekretär des Geheimen Rats (1793–1816) bewahren. 1816 erlangte er den Titel eines Hofrats u. das Amt des Bibliothekars an der Öffentlichen Bibliothek in Stuttgart. Diese Positionen sicherten seinen Wohlstand u. ermöglichten es ihm, als Schriftsteller, Herausgeber (Epigrammatische Anthologie. Zus. mit Friedrich Christoph Weißer. 10 Bde., Zürich 1807–09. Poetischer Lustwald. Sammlung von Gedichten älterer [...] Dichter. Tüb. 1819) u. verantwortl. Redakteur des Cotta’schen »Morgenblatts« (1807–1817) tätig zu sein. H.s poetische Versuche erstreckten sich auf eine Vielzahl literar. Kleinformen. Oden, (Minne-) Lieder, Balladen, Anekdoten, Glossen, Fabeln, Rätsel u. Gelegenheitsgedichte wurden meist verstreut publiziert, gelegentlich aber auch zu Auswahlausgaben gebündelt (Almanach poetischer Spiele auf das Jahr 1815 und 1816. 2 Bde., Ffm. 1815/16. Panorama des Scherzes. 1200 Anekdoten, Witzantworten, Bulls, Naivetäten, Schwänke. 2 Bde., Brünn 1820. Gedichte. Ausw. in 2 Bdn., Lpz. 1827. Fabeln für Jung und Alt. In sechs Büchern. Heidelb. 1828).
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Dieser Formenvielfalt korrespondiert ein zwischen Aufklärung, Klassizismus u. Romantik oszillierendes Netz poetolog. Charakteristika. Dichterisches Talent verraten H.s unzählige Epigramme wie z.B. in: Sinngedichte von F. H. (Ffm./Lpz. 1791), Einhundert Hyperbeln auf Herrn Wahls ungeheure Nase von Friedrich Hophthalmos (Stgt. 1804. Ausw. mit einem Nachw. von Horst Brandstätter. Weingarten 1985), Epigrammen und vermischte Gedichte (2 Bde., Bln. 1805). Antiken u. frz. Vorbildern ebenso verpflichtet wie den Traditionen der aufklärerischen Personen- u. Typensatire, stehen H.s Sinngedichte aufgrund treffender Formulierungen, verblüffender Wortspiele, hintersinnigen Witzes u. formaler Gewandtheit den epigrammat. Erzeugnissen Logaus u. Lessings keineswegs nach. Nur selten politisch (»Wir geben euch, Bürger, die Fischerei / In Bächen, in Seen und Flüssen frei; / Doch was wir uns vorzubehalten belieben, / Ist nur die Befugnis, zu fischen im Trüben«), verhinderte H. durch humorvolle Launigkeit literar. Fehden u. obrigkeitl. Repressalien. Jean Paul bezeichnete ihn deshalb nicht zu Unrecht als »den reichsten Martial der Deutschen, dem sogar die schärfsten Eisspitzen leicht durch einen sanften Hauch zu eleganten Tautropfen werden«. Dennoch gerieten H.s Epigramme noch während des 19. Jh. in Vergessenheit. Literatur: Julius Hartmann: Schillers Jugendfreunde. Stgt./Bln. 1904, S. 214–224. – Emil Steiner: F. H.s Epigramme u. ihre Quellen. Diss. Lpz. 1907. – Adolf Beck: F. H. In: NDB. – Josef Eberle: Caesars Glatze u. a. Ber.e u. Betrachtungen. Stgt. 1977, S. 174–185. Gerda Riedl
Haugwitz, August Adolph von, auch: Augustus Adolphus ab H., A. A. v. H., * 14.5.1647 Gut Uebigau/Oberlausitz (?), † 27.9.1706 Gut Uebigau/Oberlausitz; Grabstätte: Neschwitz bei Bautzen. – Staatsrechtler, Dramatiker. H. stammte aus einer alten, verzweigten Adelsfamilie; über ihn selbst ist aber kaum etwas bekannt. Mit großer Mühe hat die Forschung seit einem Jahrhundert Material für ein biogr. Gerüst gesammelt: Schon 1652 verlor H. seinen Vater. Wer die Vormund-
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schaft übernahm, ist ungewiss, auch welche Schulen er besuchte. 1665 ließ er sich an der Universität Wittenberg immatrikulieren. Er studierte die für den »politischen« Adel angemessenen Fächer, zgl. aber auch die »gelehrten« polyhistorischen Disziplinen. Dementsprechend sind Latein für die gelehrten u. Deutsch für die poetischen Texte die benutzten Sprachen; hinzu traten das Italienische u. das Französische als die Sprachen des Weltmanns. In seinem Dissertationsprojekt – dem unvollendet gebliebenen, als Abschrift überlieferten Tractatus integer de Lusatia – mischen sich die »politische« u. die »gelehrte« Orientierung seiner Ausbildung. Wohl Mitte 1668 verließ er, wahrscheinlich mehr von außen genötigt als freiwillig, Wittenberg, um die zeitübl. Kavalierstour zu machen, die ihn nach Amsterdam, London u. Paris (vielleicht auch, wie sein Biograf vermutet, nach Rom) führte. Nach seiner Rückkehr 1669 blieb er auf seinen Besitzungen. In den 1670er Jahren (nach anderer Auffassung früher) entstanden seine Theaterstücke: das Trauerspiel Schuldige Unschuld, oder Maria Stuarda (Erstdr. Dresden 1683) u. die Tragikomödie Obsiegende Tugend, oder der bethörte doch wieder bekehrte Soliman. Misch-Spiel (Dresden 1684). Über den Reifungsgrad eines geplanten Wallenstein gehen die Meinungen auseinander. Hinzu kamen die Komödie Flora u. Gedichte. Dieses schmale poetische Lebenswerk erschien 1684 in Dresden in einem vierteiligen Sammelband Prodromus poeticus, oder: Poetischer Vortrab (dem allerdings niemals eine Hauptmacht folgte). In den 1680er Jahren widmete er sich bes. seinen staatspolit. Interessen u. gab einen Teil seiner geplanten, polyhistorisch konzipierten Dissertation u. d. T. Prodromus Lusaticus h. e. integri alicuius quondam de Lusatia conscripti, et publicae luci [...] occasione favente donandi tractatus [...] synopsis heraus (Bautzen 1681. 2 1689. Neuausg. Lpz. 1719); 1690 erschien in Bautzen ein Tractatus politico-publico-juridicus de regni et aulae mareschallorum nomine, origine, definitione. Die deutl. Phasen seiner Aktivität standen möglicherweise in Zusammenhang mit der Rolle, die seine Familie gegen Ende des 17. Jh. am Dresdner Hof spielte. H. war – auch gemessen an den Normen seiner Zeit – keine starke poetische Bega-
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bung. Er verdient aber als dilettierender Ad- Der Tod der Königin. Frauenopfer u. polit. Souveliger ein kulturgeschichtl. Interesse, u. seine ränität im Trauerspiel des 17. Jh. Bln. u. a. 2004. Uwe-K. Ketelsen / Red. Theaterstücke ziehen als Abgesänge auf das Schlesische Kunstdrama Aufmerksamkeit auf sich. H. verteidigte in seinen Bühnenwerken Haugwitz, Otto Graf von, * 28.2.1767 die tradierten großen Formen u. moderni- Pischkowitz/Grafschaft Glatz in Niedersierte sie im Stil der frz. tragédie classique schlesien, † 17.2.1842 Johannisberg/ (v. a. durch den Verzicht auf die Rhetorik der Schlesien. – Übersetzer u. Lyriker. Grausamkeit) u. im Sinne einer verinnerlichH., früh verwaister Spross eines alten schles. ten, universellen Moral. Zugleich widerstand Adelsgeschlechts, besuchte nach seiner er dem Zug zur Veroperung der überlieferten Schulzeit am Katholischen Gymnasium zu Bühnenthemen u. -stoffe. Seine Maria Stuarda, Breslau die Universitäten Halle, Göttingen, die als sein bedeutendstes Werk gilt, folgt in Berlin u. Wien. In Wien fand er Kontakt zu vielem dem großen Vorbild des Andreas dem von ihm verehrten Rhetoriklehrer u. Gryphius, ist aber auch noch aus anderen Lyriker Denis. H. führte das Leben eines liTexten kompiliert. Maria erscheint als Mär- terarisch dilettierenden Landedelmanns auf tyrerin, ihr Leidensweg als Postfiguration der seinem Gut Falkenau in Schlesien; er war mit Passion Christi; die am Glauben orientierte dem Popularphilosophen Garve in Breslau Königin unterliegt der Herrscherin Elisabeth, befreundet, wo er sich auch standesgemäß die das innerweltlich verstandene Prinzip des mit politisch-verwaltenden Aufgaben beStaats vertritt. H. entkonfessionalisierte so – schäftigte. auch als Replik auf das Jesuitendrama – den Frühe Gedichte, die z.T. unter dem EinKonflikt u. verschob ihn im Sinne der Pro- fluss des »Barden« Denis stehen, erschienen bleme des ausgehenden 17. Jh. Deutlicher in den Göttinger u. Leipziger Musenalmananoch zeigt das »Misch-Spiel« von der »ob- chen, eine Auswahl veröffentlichte H. später siegenden Tugend«, die Tragikomödie Soli- in Buchform (Gedichte. Breslau 1790). Die man, die Tendenz des Irenikers H., die Kon- Übersetzungen lat. Epigrammatiker (Blumen flikte zu verinnerlichen: In der Brust eines aus der lateinischen Anthologie. Breslau 1804) heidn. Sultans siegt eine Politik der Vernunft fanden später ihren Niederschlag in H.’ eiüber eine (für machiavellistisch gehaltene) gener Epigrammproduktion. Besonders wohlwollend wurde von zeitgenöss. RezenPolitik der Leidenschaft. Ausgaben: Prodromus poeticus, oder: poeti- senten die Übersetzung Des Decimus Junius scher Vortrab. Nachdr. Hg. Pierre Béhar. Tüb. 1984 Juvenalis Satyren [...] (Lpz. 1818) aufgenom(S. 1*–214* Nachw.). – Schuldige Unschuld, oder men, die von philolog. Sorgfalt zeugt u. die Maria Stuarda (1683). Nachdr. hg. u. eingel. v. Ro- schwierige Aufgabe der Wiedergabe im urspr. bert R. Heitner. Bern 1974. – Dass. In: Dt. Dramen Versmaß insg. überzeugend, ja nicht ohne v. Hans Sachs bis Arthur Schnitzler. Hg. Markus Eleganz löst. Finkbeiner. Ffm. 2005 (CD-ROM). Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2032–2035. – Weitere Titel: Otto Neumann: Studien zum Leben u. Werk des Lausitzer Poeten A. A. v. H. Oeynhausen 1937. – Rüdiger Frommholz: A. A. H. In: NDB. – Gernot U. Gabel u. Gisela R. Gabel: A. A. v. H. Maria Stuarda. Ein Wortindex. Hbg. 1973. – Heiduk/Neumeister, S. 46 f., 181, 371 (u. Register). – Helen Watanabe-O’Kelly: Lohenstein, H. u. das Türkenmotiv in dt. Turnieren des Barock. In: Begegnung mit dem ›Fremden‹ [...]. Hg. Eijiro¯ Iwasaki. Bd. 7, Tokyo 1990, S. 348–355. – Albrecht Schöne: Emblematik u. Drama im Zeitalter des Barock. Mchn. 31993. – Peter-André Alt:
Weitere Werke: Einhundert Epigramme. Breslau 1828. – Blumen auf ihr Grab. Breslau 1834/ 35 (L.). Michael Auwers
Hauptmann, Carl (Ferdinand Max), auch: Ferdinand Klar, * 11.5.1858 Ober-Salzbrunn/Schlesien, † 4.2.1921 Schreiberhau/Riesengebirge; Grabstätte: ebd., Friedhof Niederschreiberhau. – Dramatiker, Erzähler, Essayist; Physiologe. Der ältere Bruder Gerhart Hauptmanns, in der Kindheit schwächlich u. kränkelnd, blieb
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bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr im Elternhaus. 1872 kam er auf die ZwingerRealschule in Breslau, die er 1880 glänzend abschloss. Starkes Interesse für Ernst Haeckel bewog ihn, im selben Jahr das Studium der Philosophie, Physiologie u. Biologie an der Universität Jena aufzunehmen. Neben Haeckel waren seine dortigen Lehrer u. a. Eduard Straßburger u. Rudolf Eucken. Mit Die Bedeutung der Keimblättertheorie für die Individualitätslehre und den Generationenwechsel promovierte H. 1883 zum Dr. phil. 1884 heiratete er Martha Thienemann; durch diese Verbindung finanziell unabhängig geworden, ging er 1885 nach Zürich, wo er bei Richard Avenarius u. August Forel sein Studium fortsetzte. Das Ergebnis war die Metaphysik in der modernen Physiologie (Dresden 1893), ein Werk, das H. beachtl. Anerkennung wissenschaftl. Fachkreise einbrachte. 1889 ging H. nach Berlin, damit die Aussicht einer wissenschaftl. Karriere in Zürich ausschlagend. Mit Gerhart ließ er sich 1891 in einem gemeinsam erworbenen Haus in Schreiberhau nieder, das dieser bis 1893, H. bis zu seinem Tod bewohnte. 1908 schloss er eine zweite Ehe mit Maria Rohne, einer Malerin des Worpsweder Kreises. Aus dieser Ehe ging sein einziges Kind, die Tochter Monona, hervor. Von seinen philosophischen u. naturwissenschaftl. Studien völlig in Anspruch genommen, rang sich H. nur langsam zum Schriftstellertum durch, zumal er – anders als Gerhart eine zutiefst intellektuell veranlagte Natur – seine literar. Begabung zutiefst bezweifelte: »Mein Dichtertalent ist auf ein Minimum beschränkt« (Brief an Martha, 12.9.1881). Den Ausschlag für die Neuorientierung gab die in Zürich geschlossene enge Freundschaft mit der poln. Philosophin u. dilettierenden Dichterin Josepha KodisKrzyzanowska, was Avenarius mit seinem bekannten Aperçu quittierte: »Hätten Sie nicht Fräulein Josepha bei uns kennen gelernt, so hätten Sie nie zu dichten begonnen« (1896). Der Begegnung mit ihr verdankte sich H.s literar. Erstling, die 1890 entstandene u. im folgenden Jahr unter Pseud. in der »Freien Bühne« veröffentlichte Erzählung Sonnenwanderer, die später einer ganzen Sammlung den Titel gab (Bln. 1897). Sein erstes Drama
Marianne (Bln. 1894) war gleichfalls dem Josepha-Erlebnis entwachsen u. wurde vom Autor folgerichtig »Meiner Freundin Frau Josepha Kodis-Krzyzanowska!« gewidmet. Im Unterschied zu seinem Bruder nahm C. H. dem Polentum u. der poln. Geisteswelt gegenüber stets eine unvoreingenommene u. aufgeschlossene Haltung ein, pflegte viele poln. Freundschaften u. Kontakte, u. a. mit dem Literaturkritiker u. Übersetzer Jan Kaczkowski (alias Jean Paul d’Ardeschah), der sein Schaffen in Deutschland u. Polen kommentierte. H.s sprachl. Schliff der von Kaczkowski-d’Ardeschah verdeutschten Polnischen Bauern (1912) von Wladyslaw St. Reymont (was kürzlich edierte Briefe des Polen an seinen dt. Freund beweisen, welche die diesbezügl. jahrzehntelange polonistisch-germanistische Kontroverse beenden) ebnete Reymont maßgeblich den Weg zum Nobelpreis 1924. Von Bedeutung für H.s schriftstellerischen Werdegang war auch der Umgang mit Wedekind, Henckell, Mackay u. Hartleben im Ulrich-Hutten-Bund in seiner Zürcher Zeit. In Berlin intensivierten sich die Kontakte zu den Größen der damaligen Literaturszene: Im Friedrichshagener Dichterkreis um Wille u. Bölsche kam er u. a. mit Halbe, Dehmel, den Brüdern Hart, Polenz u. Georg Hirschfeld in Berührung. Diese literar. Kontakte schlugen sich in seinen ersten Dramen nieder: Sowohl Marianne wie Waldleute (Stgt. 1896) u. Ephraims Breite (Bln. 1899) – alle sprachlich u. inhaltlich im schles. Bergland verwurzelt – folgen in der Formgebung dem Naturalismus, den H. in Austreibung (Mchn. 1905) u. Die lange Jule (Lpz. 1913), welche mit Ephraims Breite eine dramat. Bauerntrilogie bilden, überwand. Freilich enthielten bereits jene Werke Anzeichen eines ästhetischen Paradigmenwechsels zum impressionistischen Drama, den H. dann in den vier Stücken der Panspiele (Mchn. 1909) vollzog. Ephemer blieb H.s Hinwendung zur Neuromantik, die sich transparent in Die Bergschmiede (Mchn. 1902) u. Des Königs Harfe (Mchn. 1903) manifestierte. Die H.s dramat. Schaffen krönende Trilogie Die goldnen Straßen (Lpz. 1916–18) stand formal u. ideell im Zeichen des Expressionismus. H., dem Kunst nach seiner Abkehr von der Wissenschaft /
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nach u. nach zum Medium total gemeinter u. gleichzeitig irrationalisierter Weltaneignung wurde, brachte im Schlussteil dieser Trilogie, der Musik, seine weltanschaul. Haltung zum Ausdruck, derzufolge nur die Schaffenden die »goldenen Straßen« ziehen u. die letzte Erkenntnis nur aus der bewegenden Kraft des Geistes zu gewinnen sei. Auch H.s Prosaschaffen kennzeichnet diese kunstprogrammat. Vielfalt. Die lyr. Skizzen des Sonnenwanderers wurzelten im Impressionismus. H.s Herkunft vom Naturalismus schlug sich in seiner Prosa nicht nieder; mit dem Roman Mathilde. Zeichnungen aus dem Leben einer armen Frau (Mchn. 1902) wandte er sich sogar vehement gegen Zolas Literaturprogrammatik. Mit seiner Darstellung des Lebensgangs einer Arbeiterin, die aus Schmutz u. Elend zur inneren Läuterung einer tieferlebten Mutterschaft findet, polemisiert H. gegen das naturalistische Dogma, dass »Persönlichkeit« vom »Milieu« abhängt. Einhart, der Lächler (2 Bde., Bln. 1907), ein großangelegter Roman, für dessen Helden H.s Neffe Otto Mueller das Vorbild lieferte, brachte den Entwurf eines aus den gesellschaftl. Bindungen herausgelösten u. sich nur in der aus inniger Naturbetrachtung hervorgehenden Kunst vollendenden Malerdaseins. Der Expressionismus dieses maßstabsetzenden Werks, noch einprägsamer im Rübezahlbuch (Lpz. 1919), fand seine sprachl. u. stilistische Überhöhung in dem nachgelassenen Romanfragment Tantaliden (Bln. 1927; entstanden 1918). Infolge seiner formalen Wandlungsfähigkeit u. der großen Vielfalt seines Werks, in dem sich alle literar. Hauptrichtungen der Zeit widerspiegeln, hatte H. – obschon zeitweise bühnendichterisch über seinen Bruder gestellt, von den Expressionisten hochgeschätzt – nicht nachhaltig auf die Literaturentwicklung einwirken können. Am Ende seines Lebens musste er sich eingestehen, dass sein Werk kaum »in die deutsche Volksseele eingegangen« ist. Schon 1914 meinte Kaczkowski-d’Ardeschah, als er H.s Drama Krieg. Ein Tedeum in der Hamburger Presse besprach, den Autor dem Publikum wie folgt vorstellen zu müssen: »Carl Hauptmann, der Bruder Gerhart Hauptmanns, ein Dichter,
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den wir leider viel zu wenig kennen«. Auch heute bleibt er immer noch ein »gründlichst vergessener Dichter« (G. Kluge) in dt. Landen. Die zeitgemäße, moderne literarhistor. Erkundung dieser typischen Gestalt des Übergangs steckt noch in den Ansätzen. Indem freilich nach dem Zweiten Weltkrieg das Interesse für Gerhart H. im deutschsprachigen Raum, wo er mit weitreichenden Folgen für seine Rezeption sukzessiv (nicht ohne Zutun der Kulturfunktionäre der Vertriebenenverbände) zum schlesisch-regionalen Dichter abgewertet wurde, merklich nachgelassen hat, macht sich seit Ende der 1990er Jahre eine Belebung der C.-H.-Forschung bemerkbar, die renommiertes internat., hauptsächlich dt.-poln. Profil hat u. die daran geht, die Eigenständigkeit von H.s künstlerischer Leistung vor dem vielfältigen Hintergrund der literar. Jahrhundertwende um 1900 auszuloten u. zu konturieren. Weitere Werke: Gesamtausgabe: Sämtl. Werke. Wissenschaftl. Ausg. mit Komm. Hg. Eberhard Berger u. a. Bln. 1997 ff. – Weitere Titel: Aus meinem Tgb. Bln. 1900. Neuausg. 1929. – Napoleon Bonaparte. Mchn. 1911 (D.). – Nächte. Lpz. 1912 (N.n.). – Ismael Friedmann. Lpz. 1913 (R.). – Schicksale. Lpz. 1913 (E.en). – Krieg. Ein Tedeum. Lpz. 1914 (D.). – Der abtrünnige Zar. Lpz. 1919 (D.). – Drei Frauen. Hann. 1920 (E.en). – Leben mit Freunden. Ges. Briefe. Hg. Will-Erich Peuckert. Bln. 1928. – E.en aus dem Riesengebirge. Hg. Gerhard Kluge. Bln. 1989. Literatur: Walter Goldstein: C. H. Eine Werkdeutung. Breslau 1931. – Johanna Nehlert: Ideenwandel u. Formproblem im dichter. Schaffen C. H.s. Diss. Breslau 1943. – Dorothea Gerbert: Motive u. Gestalten im Werk C. H.s. Diss. Wien 1952. – Heinrich Minden: C. H. als Bühnendichter. Diss. Köln 1957. – Anna Stroka: C. H.s Werdegang als Denker u. Dichter. Diss. Breslau 1965. – Karol Musiol: C. H. u. Polen. In: Lenau-Forum 1/2 (1972), S. 37–50. – C. H. 1858–1921. Internat. Symposium. Beiträge. Hg. Miroslawa Czarnecka u. Hans-Gert Roloff. Bln. 2004 (darin auch die C. H.-Bibliogr. v. Matthias Voigt, S. 311–336). – C. u. G. H. Zwischen regionaler Vereinnahmung u. europ. Perspektivierung. Hg. Edward Bialek u. Miroslawa Czarnecka. Wroclaw/Dresden 2006. – Einl. zu: Hochverehrter Herr Doctor. Jean Paul d‘Ardeschahs Briefe mit C. H. 1909–1913. Hg. u. komm. v. Izabela Surynt u. Marek Zybura. Dresden 2007, S. 7–64. /
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Marek Zybura
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Hauptmann, Gaby, * 14.5.1957 Trossingen/Baden-Württemberg. – Verfasserin von Frauenromanen, Kinder- u. Sachbüchern, Journalistin, Moderatorin.
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kenntnisses zur Marktwirtschaft. Damit tragen die Bücher H.s zur Verfestigung gängiger Rollenstereotype bei. Indem der Mann nach wie vor als Garant des guten Lebens erscheint, entsteht in nahezu allen Publikationen das Ideal einer regressiv-emanzipierten Frau (Ran an den Mann. Mchn. 2006), die zwar mitunter materiell selbstständig, in der Befriedigung ihrer hedonistischen Bedürfnisse (Ein Liebhaber zuviel ist noch zu wenig. Mchn. 2000) aber in höchstem Maße auf ihr männl. Gegenüber angewiesen ist. Die gemeinsam mit Tochter Valeska (geb. 1991) entworfene Jugendbuchserie Kaya – frei und stark (Ffm. 2005 ff.) ist im Reitermilieu angesiedelt. Mit ihrer Schwester Karin (Illustration) erarbeitete H. das Kinderbuch Rocky der Racker (Hbg. 2002). Zahlreiche Romane H.s wurden für das Fernsehen verfilmt.
Aus dem belletristischen Werk H.s spricht die Professionalität der ehem. freien Journalistin, wie auch die langjährige Arbeit für Hörfunk (SWF, HR) u. Fernsehen (XXP, VOX) den gekonnten Umgang mit unterhaltenden Stoffen erklärt. Zusammen u. a. mit Hera Lind, Susanne Fröhlich u. Ildikó von Kürthy besetzt H. das u. a. durch ein versiertes cross-marketing auflagenstarke Genre des »neuen Frauenromans«. In H.s wohl bekanntestem Roman Suche impotenten Mann fürs Leben (Mchn. 1995) gibt die frustrierte Karrieristin Carmen Legg eine Kontaktanzeige auf, die sich speziell an zeugungsunfähige Männer richtet u. somit die in Weitere Werke: Alexa – die Amazone. Warender erzählten Welt gesetzte Sexualfixierung dorf 1994. – Die Lüge im Bett. Mchn. 1997. – Eine der Männer unterwandern soll. Als Carmen Handvoll Männlichkeit. Mchn. 1998. – Mehr dasich in Traummann David verliebt u. zu be- von. Vom Leben u. der Lust am Leben. Mchn. 2001. dauern beginnt, dass ihre Beziehung ohne – Nicht schon wieder al dente. Mchn. 2007. – Sex verläuft, versucht sie diesen durch kos- Rückflug zu verschenken. Mchn. 2009. Ole Petras tenintensive Aphrodisiaka zu heilen. Sämtliche Versuche erweisen sich jedoch als überflüssig, da David seine Impotenz nur vorge- Hauptmann, Gerhart (Johann Robert), * 15.11.1862 Ober-Salzbrunn/Schlesien, spielt hat, um Carmen kennen zu lernen. Eine ähnl. Konstellation beschreibt der † 6.6.1946 Agnetendorf/Riesengebirge; Roman Fünf-Sterne-Kerle inklusive (Mchn. Grabstätte: Insel Hiddensee, Kloster2002). Supermarktkassiererin Katrin gerät friedhof. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker. durch einen Lotteriegewinn in die Sphäre des Von den frühen Veröffentlichungen bis zu Geldadels. Im Skihotel wird sie zur Ziel- den Texten der letzten Lebensjahre wirkt H.s scheibe sexueller Begierden, findet zuletzt Gesamtwerk durchaus einheitlich. So ist es jedoch Erfüllung in den Armen ihres Freun- thematisch-inhaltlich durch vier Eckpunkte des Ronny. Auffällig ist die Engführung von gerahmt: durch die des Politischen, Sozialen, Libido u. Kaufkraft. Katrin benutzt ihre At- Religiösen u. Mythisch- bzw. Mythologischtraktivität als Pensum finanzieller Ohn- Symbolischen. Unterstützt wird diese Rahmacht. Im Verzicht auf die Annehmlichkeiten mung dadurch, dass H. zahlreichen Werken käufl. Liebe behauptet sie ihre Selbststän- ein Fundament autobiogr. Erfahrung unterdigkeit, affirmiert aber gleichermaßen die legt; hinzu kommt die Gestaltung aktueller, Gültigkeit des kapitalistischen Wertesystems. zeitgeschichtl. oder für die Diskurssituation »Für Sekt wird es immer reichen«, sagt Piz- der Gegenwart aktualisierter histor. Handzabäcker Ronny, als beide am Schluss des lungs- u. Problemkonstellationen. Seine PoBuches den Start in ihr neues Leben feiern sition im ›literarischen Feld‹ stützt sich auf wollen. vier Gruppen literar. Hervorbringungen: In diesem Sinne erscheint die Implemen- erstens auf seine – dem Naturalismus zugetierung patriarchaler Denkweisen (Frauen- ordneten – sozialen Dramen u. Erzählungen, hand auf Männerpo und andere Geschichten. in denen er Modernisierungsfolgen für seine Mchn. 2000) als Effekt eines grundsätzl. Be- Gegenwart gestaltet, zweitens auf seine sym-
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bolistisch-märchenhaften ›Spiele‹, in denen er Gegenmodelle zu den konflikthaften Veränderungsprozessen in der sozialen Realität entwirft, drittens auf seine religiösen Projekte, in denen er jene Grundformen religiössozialer Erfahrung erprobt, die für reformoffene gesell. Schichten akzeptabel erscheinen. Dazu gehören der Typus des Heilsbringers (Der Narr in Christo Emanuel Quint) u. der des kirchl. Renegaten, der den Wechsel von der kirchlich definierten Religion zur religiös orientierten Lebensform als Einsiedler oder Eremit vollzieht (Der Ketzer von Soana), sowie schließlich die Möglichkeit, ein neues, individuell begründetes sozialreligiöses System gegen die Institution der Kirche durchzusetzen (Die Wiedertäufer). Viertens kommt die Gestaltung myth. Stoffe aus Antike (Bogen des Odysseus, Atriden-Tetralogie) u. MA (Armer Heinrich) hinzu. Daraus ergibt sich die strukturelle Zusammengehörigkeit von H.s Werken: Die ungelösten zeitgeschichtl. Formen sozialen Leids u. Opfers eröffnen den Blick sowohl auf ihre kulturell verbindlichen, mythologisch zeitlosen Grundformen als auch auf die Möglichkeit religiöser Akzeptanz u. Überhöhung (Hanneles Himmelfahrt, Die versunkene Glocke) dieser Erfahrungen. Indem der Leidende als auserwählt u. durch sein Leiden geheiligt erscheint, zeigt sich die religiöse Dimension des Leidens. Diese Diagnose einer produktionsästhet. u. werkgeschichtl. Verzahnung entzieht H.s Werke einer chronolog. Vorstellung; abgesteckt wird ein Feld an Darstellungsmöglichkeiten, die H. jederzeit realisieren konnte, was die Integration seiner Werke zum Gesamtwerk erklärt. Daher sind Epochenzuweisungen von H.s Werken nur mit Vorsicht vorzunehmen. Begegnet doch bis in die 1930er Jahre (Dorothea Angermann. 1926. Vor Sonnenuntergang. 1932) der Typus des sozialen Dramas (›Naturalismus‹); aus den 1890er Jahren datieren die ›Spiele‹ (›Symbolismus‹, ›Neoromantik‹); an den verschiedenen ›Ansätzen‹ zu Die Wiedertäufer arbeitet H. 40 Jahre, ohne einen Abschluss zu finden. Weil er keinen Anspruch auf dogmat. Lösungen der Konflikte erhebt, sondern Auslegungsangebote macht, zeigt sich die Moderne bei H. als Reflexivität (Dynamik, Umgestaltung) von Tradition u. Kultur. Als
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Grundzug seiner Werke kann der Gestus von Angebot u. Erprobung neuer Lebensformen angesehen werden, wobei systematisch die wechselseitige Bedingtheit von Individuum u. Kollektiv (Vererbung, Milieu, Determinismus) im Zentrum steht. In diesem Zusammenhang benutzt H. häufig Familienkonstellationen – eine weitere strukturelle Klammer seiner Werke – zur Inszenierung sozialer Konflikte. Dass er in der literarischkulturellen Öffentlichkeit über alle auch politisch bedingten Veränderungen des literar. Feldes hinweg dauerhaft präsent geblieben ist, hat ihm seit Anfang des 20. Jh. die programmat. Geltung eines Repräsentanten dt. Kultur verschafft. Dass für H. die Familie als Ort sozialer Konflikte prioritär ist, kann als Reflex seiner eigenen Erfahrungen gelten, die er während seiner Kindheit u. Jugend in der schles. Provinz gemacht hat. Als jüngstes von vier Kindern kam H. im Kurort Ober-Salzbrunn im Hotel ›Zur preußischen Krone‹ zur Welt, das sich seit zwei Generationen im Besitz der väterl. Familie befand; seine Mutter war die Tochter eines konservativen fürstl. Beamten. Familiäre Spannungen wegen des unterschiedl. sozialen Hintergrunds der Eltern gehörten ebenso zu seinen frühen Erfahrungen wie die Wahrnehmung von Differenzen u. Konflikten zwischen einer bloß noch fassadenhaften Konvention u. Versuchen davon abweichender individueller Lebensformen, wie sie von den Hotelgästen verkörpert u. ausgetragen wurden. Aber auch das Nebeneinander von Hotel u. Bierstube, von zahlenden Gästen u. mäßig bezahlten Bediensteten u. Lieferanten prägten die Erfahrung des jungen H. Immer wieder hat er auf diese frühen Eindrücke vielfältiger sozialer Konfliktkonstellationen für sein literar. Schaffen zurückgegriffen; zusammenhängend gestaltet hat er sie im autobiogr. Bericht Abenteuer meiner Jugend (2 Bde., Bln. 1937). Weil H. nach einem nur mäßigen Schulabschluss in Breslau 1878 keine festen berufl. Vorstellungen entwickelt hatte, versuchte er sich in wechselnden Aus- u. Weiterbildungsmöglichkeiten. So begann er ein landwirtschaftl. Praktikum auf dem Gut seines Onkels, das er aber schon nach einem Jahr aus
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gesundheitl. Gründen abbrechen musste. Dennoch erweist sich diese Zeit als wichtig für seine literar. u. religiöse Sozialisation, da er hier mit Überlieferungen populärer Erzählstoffe (Märchen, Sagen) bekannt wurde u. Kontakte zu pietist. Kreisen u. Sektierern hatte, Erfahrungen, die v. a. im Emanuel Quint u. den Jesus-Studien sowie in seiner Autobiografie literarisch verarbeitet sind. Auch die Vorbereitung auf das Einjährigenexamen u. eine Ausbildung zum Bildhauer an der Kunst- u. Gewerbeschule in Breslau wurden abgebrochen. Erschwert wurde die Berufsfindung durch finanzielle Probleme der Eltern, die kein Schulgeld bezahlen konnten. Grundlegend veränderte sich diese prekäre Situation, als H. Marie Thienemann kennen lernte, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns, deren Schwestern H.s Brüder Georg u. Carl heirateten. Doch auch in der Folgezeit gab H. den Wechsel von Abbrüchen u. Neuanfängen von Lebensentwürfen zunächst nicht auf, inszenierte sich allerdings in dem für die Zeit typischen bohèmehaften Lebensstil. Nach einem Semester Philosophie, Geschichte u. Kunstgeschichte 1882 in Jena unternahm er 1883 seine erste Italienreise u. lebte 1883/84 sechs Monate lang als Bildhauer in Rom. Wegen einer Typhuserkrankung nach Deutschland zurückgekehrt, besuchte er kurzzeitig die Zeichenklasse der Königlichen Akademie in Dresden, nahm an Vorlesungen bei dem Archäologen u. Althistoriker Ernst Curtius (1814–1896) u. dem Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) in Berlin teil, v. a. aber orientierte er sich durch häufige Theaterbesuche, kurzzeitigen Schauspielunterricht u. Bühnenkontakte auf die Lebensform als dramat. Schriftsteller. Von Anfang an fühlte er sich durch die Institution des Theaters angesprochen. Dem Theater schrieb er einen genuinen sozialen Auftrag zu, als Basis des Naturalismus (Gründungen naturalist. Bühnen) verschaffte es seinen dramat. Werken die gewünschte Aufmerksamkeit, er schätzte das Drama als wichtigste literar. Gattung ein. Nach der Heirat mit Marie Thienemann 1885 u. dem Umzug nach Erkner bei Berlin verwirklichte er seinen Entschluss, Schriftsteller zu werden. So wurde er Mitgl. (1887) im li-
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terar. Verein »Durch« (1886 gegründet), wo er am 17.6.1887 einen Vortrag (Text unauffindbar) über Georg Büchner hielt (vgl. Abenteuer meiner Jugend), u. im ›Friedrichshagener Dichterkreis‹, u. er hatte engen Kontakt zu Vertretern des Naturalismus wie Wilhelm Bölsche, Max Kretzer, Bruno Wille u. den Brüdern Hart. 1888 hielt er sich für einige Monate bei seinem Bruder Carl in Zürich auf, wo er Frank Wedekind u. John Henry Mackay kennen lernte. Mit der Novelle Fasching (zuerst in der Zeitschrift »Siegfried«, 1887. Neuausg. Bln. 1925. Zuletzt Stgt. 2005) hatte H. auf sich aufmerksam gemacht, wurde aber erst durch die »novellistische Studie« Bahnwärter Thiel (1888) u. durch die skandalumwitterte Premiere des »sozialen Dramas« Vor Sonnenaufgang (Bln. 1889) überregional im ›literarischen Feld‹ Deutschlands bekannt. Im Ansatz enthält schon der Bahnwärter wesentl. Ingredienzien der folgenden sozialen Dramen. Thiel verkörpert eine Handlungskonstellation aus krankhaften Zuständen (Anlage, Vererbung) der Angst u. sozialen Problemen (Milieu), die aus seiner Anpassung u. Unterordnung resultieren. In zweiter Ehe verheiratet, wird er aus seiner beruflich u. sozial eng begrenzten Lebensordnung mit ihrer strikten Regelmäßigkeit aller Abläufe gerissen, als er mit der ihm fremden Mentalität u. Verhaltensweise Lenes konfrontiert wird. Deren Kraft des Körperlichen in der Ausprägung des Sexuellen löst seine gewohnte Ordnung auf, er hat ihr nichts entgegenzusetzen als den Ausbruch körperl. Gewalt. An der Destruktion einer Person zeigt H. die Krisenhaftigkeit einer Ordnung, die keinen Raum für symbolisches Handeln (zweckfreie Kommunikation, Thiels Altar der Erinnerung an seine erste Frau) u. den Entwurf von Alternativen zulässt. Das Drama Vor Sonnenaufgang (1889), mit dem H. seinen literar. Durchbruch schaffte, zeigt eine ähnl. Konfliktkonstellation: Die neureiche Bauernfamilie Krause (Kohlevorkommen auf den Feldern) lässt sich durch den ungewohnten Reichtum zu Genusssucht, sexuellen Ausschweifungen u. Alkoholismus verleiten. Nur die jüngste Tochter Helene sucht nach einer besseren Welt für alle auf der Basis von Humanität u. Toleranz. So kann
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sich das Auftauchen eines unbeteiligten Fremden als Beobachter in dieser Versuchsanordnung als Katalysator auswirken. Helene glaubt, im Sozialreformer Alfred Loth ihren Erlöser u. Vermittler der ersehnten Welt gefunden zu haben, u. plant den Auszug mit ihm. Dieser, dadurch vom Sozialtheoretiker u. teilnehmenden Beobachter zum Betroffenen geworden, entzieht sich der ihm zugedachten religiös-sozialen Rolle, weil er nicht über die soziale Tugend des Mitleids verfügt u. die Situation der Krauses für ausweglos sowie auch Helene für ›infiziert‹ hält. So scheitert Helene (Freitod) zum einen an ihrer Unfähigkeit, eine eigene Perspektive zu entwickeln, zum andern an der mangelnden Kooperation jener, die als ›Fremde‹ den Konflikt bearbeiten könnten. Weder der sozialen Determination durch das Herkunftsmilieu noch der individuellen Bestimmung durch die Vererbung familienspezif. Anlagen ist zu entkommen. Mit seinem dramat. Erstling hat H. eine spezif. Konstellation der Familie – Familienkollektiv, Position des devianten Mitglieds (Einzelner oder Paar), Position des zum Mitspieler werdenden Fremden als Katalysator – als Muster für soziale Konfliktkonstellationen entdeckt, das er immer wieder anwendet. So geht es in Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe in drei Akten (Bln. 1890) um die Therapie einer Problemfamilie (großer Alters- u. Bildungsunterschied der Eltern, Verfolgungswahn des Mannes, drei Kinder durch Vererbung u. Milieu entsprechend ›vorbelastet‹, Tätlichkeiten zwischen Vater u. Sohn, Auszug, Rückkehr beider zum Weihnachtsfest ohne Wissen des jeweils Anderen). Die Funktion des Fremden haben Braut u. Schwiegermutter des Sohnes übernommen, die durch ihre Interessen Mitspieler sind u. eine katastroph. Lösung herbeiführen. In verschiedenen ›Versuchsanordnungen‹ (Szenen) macht H. Interessen u. Verhaltensweisen der Personen sichtbar. Letztlich glauben alle Beteiligten, v. a. der Sohn als Bräutigam u. künftiger Vater, der Vorherbestimmtheit durch Vererbung, Determination u. Milieu nicht entfliehen zu können. In Einsame Menschen (Bln. 1891) geht es um den Konflikt zwischen Kirche bzw. Religion u. Naturwissenschaft, dargestellt am
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Konflikt zwischen konservativ u. konventionell-kirchlich orientierten Eltern u. einem naturwissenschaftlich orientierten progressiv denkenden Sohn. Dessen individueller Lebensstil wird auch von seiner an Konventionen gebundenen Ehefrau nicht geteilt; seine Geliebte, eine russ. Studentin, befreit ihn aus seiner Einsamkeit, reist aber auf Intervention des Vaters ab, was den Sohn zum Selbstmord treibt. Zum ersten Mal taucht in diesem Stück das Motiv des Mannes zwischen zwei Frauen auf, hier begründet durch dessen kulturelle u. existenzielle Einsamkeit in Ehe u. Familie. Einen zweiten Höhepunkt unter den sozialen Dramen stellen De Waber/Die Weber. Schauspiel aus den vierziger Jahren dar (Dialektfassung/Hochdeutsch, Bln. 26.2.1893 als geschlossene Aufführung der »Freien Bühne«, öffentl. Aufführung am 25.9.1894 im »Deutschen Theater«, woraufhin Kaiser Wilhelm II. sein Abonnement der Kaiserloge kündigt). Als histor. Vorlage diente H. der schles. Weberaufstand von 1844, über den er sich umfassende Informationen durch Quellenstudium u. Befragung von Zeitzeugen verschaffte. Nach diesem wissenschaftl. Selbstverständnis des Naturalismus verfuhr H. auch bei religiösen u. mytholog. Themen. Politisch erregte das Stück Aufsehen, weil ihm angesichts der gerade in Berlin noch bestehenden ähnl. Probleme sozialrevolutionäre Wirkungen zugeschrieben wurden. Literarisch u. performativ neu waren der kollektive Handlungsträger, die wissenschaftlich fundierte Milieuschilderung, die Durchsetzung proletar. Figuren als Bühnenhelden sowie die Gestaltung der Einzelnen als Repräsentanten polit. Positionen, was die traditionelle psychol. Personengestaltung ergänzt. Massenszenen mit den über ihre Ausbeutung durch die Unternehmer u. die Allianz von Macht u. Kirche aufgebrachten Webern wechseln mit Szenen, in denen die soziale Not am Fallbeispiel (Familie Hilse) gezeigt wird. Auch in diesem Stück ist es ein von außen kommender Fremder, Moritz Jäger, der die Handlung vorantreibt, indem er die revolutionäre Unruhe der Weber schürt u. sie zum Aufstand antreibt, der aber gerade wegen seiner Spontaneität scheitert. Als Neuerung ist auch der offene Schluss hin-
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sichtlich eines langfristigen Erfolgs des Aufstands anzusehen. Der Skandal anlässlich der öffentl. Aufführung steigerte H.s »symbolisches Kapital« (Pierre Bourdieu), brachte ihm die Geltung als polit. Autor ein u. wirkte sich unmittelbar literaturgeschichtl. als Festigung der naturalist. Position H.s aus; es gilt bis heute als sein bekanntestes Stück. Von dessen Erfolg profitierten Der Biberpelz. Eine Diebskomödie (Bln. 1893) u. das Anschlussstück Der rote Hahn (Bln. 1901), die am Beispiel von Diebstählen (Mutter Wolffen, Tochter Leontine) u. Brandstiftung (Frau Fieritz, verw. Wolffen, u. Familie) als Versicherungsbetrug die notwendige u. erfolgreiche List der Kleinbürger u. Proletarier zeigen, ihren Alltag zu bestehen. Dagegen stehen die patholog. Fixierung der ineffektiven Bürokratie auf den Sozialismus als Gegner (Geltung der ›Sozialistengesetze‹ 1878–1890), die Inkompetenz u. Arroganz der Amtsträger u. Oberschicht. Im Fuhrmann Henschel (Bln. 1898, Grillparzer-Preis 1899) geht es um den Geschlechterkampf, womit H. an Bahnwärter Thiel anknüpft. Wieder heiratet ein Witwer aus Sorge um sein Kind ein zweites Mal, wieder dominiert ihn die zweite Ehefrau u. zerstört sie seine sozial anerkannte Lebensordnung, wieder sieht er keinen anderen Ausweg als die Anwendung von Gewalt, die sich diesmal gegen ihn selbst richtet. In Michael Kramer (Bln. 1900) gestaltet H. – wohl unter Verwendung eigener Erfahrungen – die soziale Anerkennung unterschiedl. Künstlerrollen, verteilt auf Vater u. Sohn: des akadem. Malers, der die Formen konventioneller Gestaltung u. Ordnung einhält, u. des jungen Genies, das neues Sehen in ungewohnten Formen lehren u. sich darin verwirklichen will. Gezeigt werden das Unverständnis, die Unfähigkeit u. fehlende Bereitschaft der Gesellschaft, sich auf Neues einzulassen, das ihnen als das Bedrohliche, aber auch Kranke u. Lächerliche erscheint. Zur künstlerischen Devianz passt – in den Augen der Dorfbewohner – die Behinderung des Sohnes, der als Künstler an seiner Begabung u. Berufung leidet u. sich schließlich tötet. Das Gegenbild eines Künstlers, der sich durch psycholog. Fehlverhalten Probleme schafft u. von der Gesellschaft unterstützt wird, zeichnet H. in
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der Komödie College Crampton (Bln. 1892). In Rose Bernd (Bln. 1903) u. Die Ratten (Bln. 1911) geht es um Doppelmoral u. Heuchelei der Gesellschaft, um Standesunterschiede u. deren Vorteile für die Oberschicht, um das nicht kommunizierbare Leid der weibl. Unterschichtangehörigen, die als Geliebte sexuell ausgebeutet werden (Rose Bernd) oder aufgrund desolater sozialer Verhältnisse schuldig werden (Frau John in Die Ratten) u. denen letztlich nur der Selbstmord bleibt. Rose Bernd steht in intertextuellem Bezug zu Dramen des 18. Jh., in denen das Thema Kindsmord dargestellt ist. Auch im Drama Dorothea Angermann (Mchn. 1925) gestaltet H. die Rolle der Frau als Sexualobjekt, wegen eines unehel. Kindes als Folge einer Verführung wird sie gesellschaftlich u. familiär stigmatisiert, gesellschaftl. Doppelmoral u. Geschlechterkampf werden entlarvt. Im Drama Vor Sonnenuntergang (Bln. 1932, letzte Inszenierung Max Reinhardts für H.) behandelt H. das traditionelle Motiv vom jungen Mädchen u. alten Mann, der ein neues Leben versucht, sich aber für seine junge Liebe nicht einzusetzen u. gegen seine erwachsenen Kinder zu behaupten vermag. Mit dem Verfall einer – diesmal bürgerlichen – Familie geht es zugleich um das Ende der demokratischen Ordnung, die zerbricht, wenn sie sich beweisen muss; was zählt, ist allein die Macht des Geldes, dem die Liebe geopfert wird, der Mann tötet sich. Dieses Stück scheint nicht nur wegen des Erscheinungsjahrs (Goethejahr 1932, Goethepreis der Stadt Frankfurt/ M. für H., Aufruf H.s zum Goethejahr) als Anspielung auf Goethes späte Liebe zu Ulrike von Levetzow konzipiert zu sein, sondern weist auch durch die Namen der Kinder (Egmont, Ottilie, Wolfgang, Bettina) u. das Scheitern der Beziehung auf Goethe hin. Für öffentl. Auftritte orientierte sich H. an Selbstinszenierungen Goethes. H.s 70. Geburtstag u. Goethes 100. Todestag wurden mit umfangreichen öffentl. Ehrungen u. Gedenkfeiern begangen, wobei nicht selten im Merkmal der Repräsentativität eine Beziehung zwischen beiden Autoren hergestellt wurde, was die Kontinuität der Tradition einer deutschen Weltkultur vom Weimarer Klassiker zum Klassiker der Moderne be-
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haupten sollte. Gekrönt wurde H.s Weltgeltung 1932 durch eine Vortrags- u. Lesereise durch die USA, die aber literarisch nicht produktiv wirkte. Insgesamt bieten H.s soziale Dramen ein Register öffentlichkeitswirksamer sozialer, polit. u. kultureller Konfliktkonstellationen der Zeit. Proletarische Helden setzte H. als literatur- u. bühnenfähig durch, indem er sie als Prüfsteine der klass. Werte Humanität u. Toleranz gestaltete; Ständekonflikte wandelte er zur aktuellen Form sozialer Konflikte zwischen Besitz- u. Bildungsbürgertum sowie Proletariat u. Kleinbürgertum um. Parallel dazu ist eine Entwicklung weg von kirchlich definierter Frömmigkeit hin zu individuell definierten Formen des Religiösen festzustellen, d. h. die sozialen Dramen bestätigen einen großen Bedarf an religiöser Orientierung u. ein entsprechendes Potential an religiöser Energie. Nicht nur chronologisch gehören daher die ›Spiele‹ zu den sozialen Dramen, weil sie wie diese die soziale Notlage u. das damit verbundene Leid einer Person zeigen, dann aber eine Lösung in der religiösen Überhöhung des Leids anbieten; sie antworten auf das Scheitern proletar. Lebensentwürfe. So wird die Titelheldin in Hanneles Himmelfahrt. Traumdichtung in zwei Teilen (Bln. 1893, 2. u. 3. Fassung 1894 u. 1896, für diese den Grillparzer-Preis) vor einem Selbstmordversuch gerettet, der sie der Brutalität des alkoholsüchtigen Stiefvaters entziehen sollte, um kurz danach am Fieber zu sterben. In ihren Traumvisionen einer symbolischen Himmelfahrt sieht sie sich von der toten Mutter gerettet u. für ihr Leiden im Alltag entschädigt. Die Dorfbewohner akzeptieren sie als »Heilige«. Auch in Die versunkene Glocke. Ein deutsches Märchendrama (Bln. 1896), übrigens das zu Lebzeiten H.s meistgespielte seiner Stücke, gestaltet er als Reaktion auf soziales Scheitern die Wendung zum Religiösen im Sinne von Naturreligion, magischer Sonnenkultpraxis u. Waldmythologie; es geht um die Konkurrenz von christl. Religion (Ehefrau u. Familie) u. heidnisch Religiösem (Nymphe Rautendelein). Zweimal versinkt dem Glockengießer eine Glocke. Für die Unvereinbarkeit von Kunst u. Leben stellt auch die
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angebotene Form des Religiösen als Überhöhung des Alltags keinen Ausweg dar; der Glockengießer stirbt beim Übergangsritual am Zaubertrank. Die Erschließung einer Traumwelt als kompensator. Anschlusswelt an die Alltagsnormalität bestimmt auch das Geschehen in Und Pippa tanzt! Ein Glashüttenmärchen (Bln. 1906), zu dem H. auch durch sein Verhältnis zu Ida Orloff angeregt wurde. Glasbläser u. wandernde Handwerker ohne Perspektive werden in einer schles. Gebirgsschenke durch den rauschhaften Tanz der jungen Pippa in eine utop. Welt versetzt, in der es myth. Figuren mit übernatürl. Kräften gibt. Wieder halten die Personen (Alltag) das Angebot der anderen Welt (Fantasie, Kunst) nicht aus; sie erblinden oder sterben. Eine individuelle Lösung erscheint zwar möglich, aber nicht realisierbar, während der gesellschaftl. Alltag unverändert bleibt. Mit Pippa knüpft H. intertextuell an die Figur der Mignon in Goethes Wilhelm Meister an, der er überdies die eigene Erzählung Mignon (1944 entstanden, 1947 veröffentlicht) gewidmet hat. Dass H. sich auch mit jenen Texten, die der Funktion des Religiösen in der Moderne gewidmet sind, in die Zeitgeschichte einschreibt, zeigt sich schon mit den Jesus-Studien (1890), welche die Tradition der histor. JesusForschung (David Friedrich Strauß, Das Leben Jesu, 1835) weiterführen, u. der Erzählung Der Apostel (1890), v. a. aber in seiner langjährigen Beschäftigung (1901–1942 ) mit der sozialreligiösen u. -revolutionären Bewegung der Reformationszeit in Die Wiedertäufer (Roman u. Drama). Schon mit dem Drama Florian Geyer (Bln. 1896) aus der Zeit der Bauernkriege (1524/25) hatte H. sozialrevolutionäre Ereignisse behandelt (Bauern als kollektiver Handlungsträger, Scheitern des Aufstands wegen Spontaneität u. innerer Interessengegensätze). Die histor. Bewegung der Täufer aktualisiert er unter drei Aspekten: 1. Als Sammlungsbewegung jener, die sich von der bestehenden Ordnung nicht repräsentiert sehen; die Täufer versetzen den Einzelnen von der Peripherie einer bestehenden Ordnung u. deren kultureller Tradition ins Gestaltungszentrum einer von ihnen/ihm selbst zu formenden Welt. 2. Parallel zur Opposition der
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histor. Täufer gegen Rom entwirft H. während des Ersten Weltkriegs das nationalreligiöse Einheitskonzept einer »deutschen Kirche«. 3. Während des Nationalsozialismus akzentuiert H. die Kritik der Täufer an der bestehenden Ordnung. Die Heils-, Erlösungsu. Orientierungserwartung weiter Teile der Gesellschaft ist zentrales Thema seines Romans Der Narr in Christo Emanuel Quint (Bln. 1910), mit dem H. an der Mode der JesusRomane teilhat. Die Deklassierten erkennen Quint als religiösen u. sozialen Heilsbringer an, schreiben ihm eine innerweltl. Erlösungsfunktion zu, ziehen mit ihm aus den Strukturen der bestehenden Ordnung aus u. propagieren den Anfang einer neuen Welt. Im Religiösen wird Selbstbestimmung möglich; immer sind es die Gemeinschaft oder das Soziale, die das Religiöse hervorbringen, das sich durch eine Absage an die institutionalisierte Religion definiert. Es geht um eine direkte Beziehung der Einzelnen zur Transzendenz durch Vision oder Audition. Auch in der Erzählung Der Ketzer von Soana (Bln. 1918) gestaltet H. die Absage eines Priesters an die kirchl. Religion zugunsten einer naturreligiösen Orientierung, um so die Gemeinschaft mit der Geliebten leben zu können. Unterlegt ist diesen Konstellationen der kulturkrit. Gegensatz von krank (Ordnung, Institution) u. gesund (Bewegung). Auch mit der Neugestaltung mittelalterl. Mythen, die ihre Position im literar. bzw. kulturellen Feld mitbringen, schreibt H. sich in die Geschichte ein. Mit dem Drama Der Arme Heinrich. Eine deutsche Sage (Urauff. Wien 1902), dessen Bühnenerfolg mäßig war, stellte sich H. in einen intertextuellen Bezug zum Epos Hartmanns von Aue. Während dieser Heinrichs Aussatz als göttl. Strafe (Hiob-Motiv) u. Prüfung (Demut lernen) für seine Gottesferne deutet, sieht H. darin eine psychosomat. Reaktion Heinrichs auf seine Naturferne als sexuelle Enthaltsamkeit (womöglich Einfluss der Psychoanalyse); aufgrund eines Einheitserlebnisses mit der Natur während seiner Quarantäne definiert sich Heinrich neu, was seine Heilung durch ein sexuelles Verhältnis mit Ottegebe ermöglicht. Er gestaltet eine gottferne Welt, die sich auf die Wissenschaft stützt. Leiden als Reinigung
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u. Bedingung für Entwicklung sowie die mystisch-religiöse Einheit mit der Natur sind wiederkehrende Motive in H.s Werken. In Kaiser Karls Geisel. Ein Legendenspiel (Bln. 1908) scheint H. – historisch gerahmt – seine Trennung von der jungen Schauspielerin Ida Orloff (1889–1945) zu verarbeiten, die er 1906 kennen gelernt hatte u. die Vorbild für mehrere seiner Figuren wurde, die sie z.T. auch spielte. Der Kaiser gibt seine 15-jährige Geliebte auf, nachdem er sich von ihrem ausschweifenden Leben überzeugt hat. H. festigte seine literar. Geltung auch durch den Erwerb ›sozialen Kapitals‹ durch Kontakte zu anderen Autoren, wie z.B. zu Rainer Maria Rilke, der ihm das Buch der Bilder widmete, zu Hugo von Hofmannsthal u. zum Komponisten Gustav Mahler. Für seine sozialprogrammat. Dramen erhielt H. zahlreiche Ehrungen wie dreimal den Grillparzer-Preis u. mehrere Ehrendoktorate, aber er erhielt auch ›symbolisches Kapital‹ (Pierre Bourdieu) durch Skandale wie die Verweigerung des Schiller-Preises 1896 infolge der Intervention von Kaiser Wilhelm II. Der russ. Regisseur u. Theatertheoretiker Konstantin Stanislawski (1863–1938) bestätigte 1906 aufgrund seiner Maxime vom ›Realismus auf der Bühne‹ H.s Auffassung von der sozialen Funktion des Theaters. Von seiner Griechenlandreise 1907 brachte H. den Reisebericht Griechischer Frühling (Bln. 1908) sowie das Schauspiel Der Bogen des Odysseus (Bln. 1914) mit. Parallel zur Konsolidierung seiner Position im literar. Feld vollzog H. eine Neuorientierung im privaten Bereich; er trennte sich von seiner Ehefrau (Scheidung 1904) u. den drei Kindern, nachdem er schon seit 1894 mit der Schauspielerin Margarete Marschalk (1875–1957) eine Beziehung eingegangen war (Sohn Benvenuto 1900–1965) u. nach wechselnden Wohnorten (Schreiberhau, Dresden, Berlin) 1901 mit ihr das repräsentative Haus Wiesenstein in Agnetendorf im Riesengebirge bezog, wo er bis zu seinem Tod wohnte. 1912 erhielt er als erster anerkannter dt. Autor der Moderne den 1901 erstmals verliehenen Nobelpreis für Literatur (nach den dt. Preisträgern Theodor Mommsen, Historiker, 1902; Rudolf Christoph Eucken,
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Philosoph, 1908; Paul Heyse, Schriftsteller, 1910). Nicht zuletzt aufgrund dieser literarischsozialen Nobilitierung erhielt H. den Auftrag, zum hundertjährigen Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig (Okt. 1813) als dt. ›Erinnerungsort‹ das Breslauer Festspiel in deutschen Reimen (Bln. 1913) zu schreiben, dessen eigens für dieses nationale Erinnerungsritual errichtete Festspielhaus die Bedeutung des Urereignisses u. den Anspruch auf die politisch-kulturelle Weltgeltung des Kaiserreichs architektonisch sichtbar machen sollte. Allerdings wird auf Intervention des Kronprinzen das Festspiel nach elf von vorgesehenen 15 Aufführungen als zu wenig national, dafür zu humanitär u. pazifistisch vom Spielplan genommen. Seine nationale Orientierung zeigte H. wenig später im offenen Brief (Vossische Zeitung, 10.9.1914) an Romain Rolland, in dem er die dt. Kriegsführung als Verteidigung der europ. Kultur rechtfertigte. Ähnlich wie Thomas Mann, den H. 1923 kennen lernte u. dem er als Vorlage der Figur des Mynheer Peeperkorn im Roman Der Zauberberg (1924) diente, rückte H. nach dem Krieg von seiner nationalen Haltung ab u. trat für Demokratie, sozialen Humanismus u. eine veränderte Wertordnung ein. Der Roman Die Insel der Großen Mutter (Bln. 1924) bietet die Utopie einer auf ›weiblichen‹ Werten (Solidarität, Kooperation) beruhenden Kultur als Gegenentwurf zu den ›männlichen‹ Werten (Konkurrenz, Gewalt) Europas. Letztlich erweist sich die von den schiffbrüchigen Frauen gebildete ›reine‹ Gemeinschaft (Einfluss von Daniel Defoes Robinson Crusoe u. Bachofens Das Mutterrecht) aufgrund eines einzigen männl. Geretteten als einseitig u. nicht existenzfähig. In der Legende Till Eulenspiegel (Lpz. 1927) stellt er aus der Perspektive des beobachtenden Narren (PikaroRomane) die polit. Zerrissenheit Deutschlands (Freikorps, Ermordung Rathenaus, Kapp-Putsch, Lebensreform u. a.) in der Gegenwart dar. Während der Weimarer Republik vollzog sich die endgültige Anerkennung H.s als Repräsentant u. Instanz dt. Kultur (Freundschaft mit Außenminister Walther Rathenau, polit. Auftritte aufgrund seiner literar. Geltung, kurzzeitig als Kandidat für
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das Amt des Reichspräsidenten vorgesehen, 1928 Mitgl. der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, was er 1926 noch als unvereinbar mit dem Amt des Dichters abgelehnt hatte). Während des ›Dritten Reichs‹ erscheint das öffentl. Verhalten H.s ambivalent. Öffentlich bekannte er sich nicht zum nationalsozialistischen Regime, unterschrieb aber am 16.3.1933 eine Loyalitätsadresse an Hitler u. unterstützte den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. Privat kritisierte er die Politik des NS u. nahm auch an der Beerdigung des jüd. Verlegers S. Fischer u. seines jüd. Förderers Max Pinkus teil, was ihn 1937 zum dramat. Requiem Die Finsternisse (New York 1947) anregte, in dem er den Antisemitismus als Ausdruck des jüd. Schicksals reflektierte. Weil konkrete Hinweise auf die Gegenwart fehlen, mangelt es dem Text an Verbindlichkeit. H. vernichtete 1945 das Manuskript, das als Abschrift erhalten ist. An einer Emigration war er nicht interessiert. Weil der Staat vom ›symbolischen Kapital‹ des Nobelpreisträgers profitieren konnte, weil dieser sich nicht – wie z.B. Thomas Mann – gegen das Regime stellte, war H. der meistgespielte Dramatiker in dieser Zeit u. für die Hauptrolle in einem Goethe-Film vorgesehen. Er inszenierte sich in der Rolle des dt. Dichters, der über den Parteien steht. Nach der Befreiung durch die Russen 1945 konnte Johannes R. Becher ihn dazu bewegen, das Amt des Ehrenpräsidenten des ›Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹ zu übernehmen, ein weiteres Repräsentationsprojekt, das jedoch an H.s angegriffener Gesundheit scheiterte. Während des Zweiten Weltkriegs nahm H. mit der Atriden-Tetralogie (Iphigenie in Delphi. Bln. 1941, Vorlage Goethes Iphigenie. Iphigenie in Aulis. Bln. 1944, Vorlage Euripides. Agamemnons Tod, Vorlage Aischylos. Orestie. Elektra, Vorlage Sophokles. Beide Bln. 1948) noch einmal einen zentralen Motivkomplex der antiken Mythologie auf. Im Mittelpunkt dieses Tragödienzyklus stehen die tragischen Dimensionen von Schuld, Leid u. Opfer sowie der Aspekt einer Verbindung von der Erde zum Himmel. Die konflikthafte Ordnung als Folge der Herrschaft einer barbarischen
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Gottheit, in der vielfach ein Bezug zur Menschenverachtung des NS gesehen wurde, erfordert das Selbstopfer Iphigenies als Ausgleich der Schuld. In den Jahren vor seinem Tod arbeitete H. an zwei weiteren mythisch orientierten Werken: Dem unvollendet gebliebenen Epos Der große Traum (Lpz. 1942) u. dem Roman Der neue Christophorus (Weimar 1943, Auszüge. Bln. 1970. Zuletzt Ffm. u. a. 1983). Beide scheinen als Synthesen der literar. Lebensarbeit angelegt zu sein u. die Priorität des Mythos vor dem Materiellen u. der Wissenschaft zu bestätigen. Der Christophorus zeigt die Geburt des neuen Menschen »Erdmann« (Züge von H.s Enkel Arne), eines messian. Heilsbringers, aus dem Grab, womit H. an Mythen des ›göttlichen Kindes‹ u. seiner Herkunft von der Erde als Mutter u. einem Gott als Vater anknüpft. Mit der Grabgeburt (vorgesehen auch in Galahad – Notizen seit 1908 –, einer Fragment gebliebenen Fortsetzung von Und Pippa tanzt) nimmt H. den zentralen Aspekt der religiösen Dimension seiner Werke auf, die Verbindung zwischen Erde u. Himmel, den Toten u. den Lebenden (Versorgung des Kindes durch die tote Mutter auch Märchenmotiv, zur Figur der Mutter vgl. auch H.s Geleitwort zu Abschied und Tod. Handzeichnungen von Käthe Kollwitz 1923), wie auch die Motive von Wiedergeburt u. Erde als Symbol der Fruchtbarkeit u. Weltenmutter. Während myth. u. psycholog. Aspekte untersucht sind, steht eine systemat. Erforschung der rituellen Handlungen im Werk H.s noch aus. Weitere Werke: Ausgabe letzter Hand: Das ges. Werk. Abt. 1: 17 Bde., Bln. 1942 (Abt. 2: Fragmente, Entwürfe, Parerga; nicht erschienen). – Historisch-kritische Ausgabe: Sämtl. Werke. CentenarAusg. Hg. Hans-Egon Hass u. a. 11 Bde., Ffm. u. a. 1962–74. – Teilausgaben: Das dramat. Werk. 6 Tle. in 2 Bdn., Bln. 1932. – Das ep. Werk. 6 Tle. in 2 Bdn., Bln. 1935. – Ausgew. Werke. Hg. Hans Mayer. 8 Bde., Bln. 1962. – Das erzähler. Werk in 10 Bdn. Hg. Ulrich Lauterbach. Ffm u. a. 1981. – Briefe: Briefw. zwischen Ludwig v. Hofmann u. G. H. 1894–1944. Hg. Herta Hesse-Frielinghaus. Bonn 1983. – Briefw. zwischen Otto Brahm u. G. H. 1889–1912. Hg. Peter Sprengel. Tüb. 1985. – Ute u. Eberhard Hilscher: Würdigungen u. Briefe von Käthe Kollwitz u. G. H. In: NDH 34 (1987), H. 2,
Hauptmann S. 277 f. – Hermann u. Hedwig Stehr im Briefw. mit G. u. Margarete H. Hg. P. Sprengel. Bln. 2008. – Tagebücher: G. H. u. Ida Orloff. Bln. 1969 (Teilveröffentl. des Tgb. 1903–13 nebst Edition des Briefw. G. H. – Ida Orloff; nicht komm.). – Ital. Reise. Tagebuchaufzeichnungen. Hg. Martin Machatzke. Ffm. u. a. 1976. – Diarium 1917–33. Hg. M. Machatzke. Ffm. u. a. 1980. – Notizkalender 1889–91. Hg. M. Machatzke. Ffm. u. a. 1982. – Tgb. 1892–94. Hg. M. Machatzke. Ffm. u. a. 1985. – Tgb. 1897–1905. Hg. M. Machatzke. Ffm. u. a. 1987. – Tgb. 1906–1913. Mit dem Reisetgb. GriechenlandTürkei 1907. Hg. P. Sprengel. Ffm. u. a. 1994. – Tgb. 1914–1918. Hg. P. Sprengel. Bln. 1997. – Gespräche: Joseph Chapiro: Gespräche mit G. H. Bln. 1932. – Carl F. W. Behl: Zwiesprache mit G. H. Bln. 1949. – Heinz D. Tschörtner (Hg.): Gespräche u. Interviews mit G. H. Bln. 1994. – Einzelwerke, Erstausgaben: Liebesfrühling. Salzbrunn 1881 (L.). – Promethidenlos. Bln. 1885 (L.). – Das Bunte Buch. Lpz./Stgt. 1888 (L., E.). – Helios. Bln. 1899 (D.). – Schluck u. Jau. Bln. 1900 (D.). – Elga. Bln. 1905 (D.). – Die Jungfern v. Bischofsberg. Bln. 1907 (D.). – Griselda. Bln. 1909 (D.). – Atlantis. Bln. 1912 (R.). – Winterballade. Bln. 1917 (Dramat. Dichtung). – Der weiße Heiland. Bln. 1920 (Dramat. Phantasie). – Indipohdi. Bln. 1920 (D.). – Anna. Bln. 1921 (L.). – Peter Brauer. Bln. 1921 (D.). – Sonette. Bln. 1921. – Dt. Wiedergeburt. Wien 1921 (Vortrag). – Phantom. Bln. 1923 (E.). – Veland. 1925 (D.). – Die blaue Blume. Bln. 1927 (L.). – Gedanken an Walther Rathenau. Dresden 1928 (Mitverf.). – Wanda. Bln. 1928 (R.). – Spuk. Bln. 1929 (Satyrspiel). – Buch der Leidenschaft. 2 Bde., Bln. 1930 (Autobiogr.). – Drei dt. Reden. Lpz. 1930. – Hamlet. Bln. 1930 (Übers.). – Die Spitzhacke. Bln. 1930 (E.). – Die Hochzeit auf Buchenhorst. Bln. 1932 (E.). – Um Volk u. Geist. Bln. 1932 (Ansprachen). – Die goldene Harfe. Bln. 1933 (D.). – Das Meerwunder. Bln. 1934 (E.). – Im Wirbel der Berufung. Bln. 1935 (R.). – Ährenlese. Bln. 1939 (L.). – Die Tochter der Kathedrale. Bln. 1939 (D.). – Ulrich v. Lichtenstein. Bln. 1939 (D.). – Magnus Garbe. Bln. 1942 (D.). – Der Schuß im Park. Bln. 1942 (E.). – Neue Gedichte. Bln. 1946. – Herbert Engelmann. Mchn. 1952 (D.). – Winckelmann. Gütersloh 1954 (R.). Literatur: Bibliografien: Walter Requardt: G. H.Bibliogr. 3 Bde., Bln. 1931. – Walter A. Reichart: G. H.-Bibliogr. Bad Homburg u. a. 1969. – Rudolf Ziesche: Der Manuskriptnachl. G. H.s. 4 Tle., Wiesb. 1977–2000 (mit Registerbd.). – Sigfrid Hoefert: Internat. Bibliogr. zum Werk G. H.s. 3 Bde., Bln. 1986–2003. – Gesamtdarstellungen, Sammelbände: Hans Joachim Schrimpf (Hg.): G. H. Darmst. 1976. – S. Hoefert: G. H. Stgt. 1976. 21982.
Hausdorff – Arno Lubos: G. H. Zürich 1978. – Rolf Rohmer: G. H. Lpz. 1978. – Peter Sprengel: G. H. – Epoche, Werk, Wirkung. Mchn. 1984. – Heinz D. Tschörtner: Ungeheures erhofft: zu G. H., Werk u. Wirkung. Bln. 1986. – P. Sprengel u. Philip A. Mellen: H.-Forsch. Neue Beiträge. Ffm. u. a. 1986. – Krzysztof A. Kuczynski u. P. Sprengel (Hg.): G. H. Autor des 20. Jh. Würzb. 1991. – Zeitgeschehen u. Lebensansicht. Die Aktualität der Lit. G. H.s. Hg. Walter Engel u. Jost Bomers. Bln. 1997. – Friedhelm Marx: G. H. Stgt. 1998. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): G. H. Mchn. 1999 (Text + Kritik. H. 142). – Biografisches: Carl F. W. Behl u. Felix A. Voigt: Chronik v. G. H.s Leben u. Schaffen. Mchn. 1957. – Arnold Gustavs: G. H. u. Hiddensee. Schwerin 1962. – Jean Amery: G. H., der ewige Deutsche. Mühlacker 1963. – Hans von Brescius: G. H. Zeitgeschehen u. Bewusstsein in unbekannten Selbstzeugnissen. Bonn 21977. – C. F. W. Behl: Aufsätze, Briefe, Tagebuchnotizen. Autobiogr. u. Biogr. zu G. H. Hg. Klaus Hildebrandt. Mchn. 1981. – Wolfgang Leppmann: G. H., Leben, Werk u. Zeit. Bern u. a. 1986. – Eberhard Hilscher: G. H. Bln./DDR 41987, Ffm. 1988. Bln. 1996. – Wirklichkeit u. Traum. G. H. 1862–1946. Kat. zur Ausstellung der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz. Bln. 1987. – P. Sprengel: Der Dichter stand auf hoher Küste. G. H. im Dritten Reich. Bln. 2009. – Einflüsse: F. A. Voigt u. W. A. Reichart: G. H. u. Shakespeare. Breslau 1938. Goslar 21957. – Siegfried H. Muller: G. H. u. Goethe. Goslar 1950. – E. Hilscher: Thomas Mann u. G. H. In: SuF (1965), Sonderh. T. Mann. – Wirkungen: Rolf Rohmer: G. H. u. die Nachwelt. Bln./DDR 1976. – Einzelne Gattungen: Ralph Fiedler: Die späten Dramen G. H.s. Mchn. 1954. – W. Requardt u. Martin Machatzke: G. H. u. Erkner: Studien zum Berliner Frühwerk. Bln. 1980. – Roy C. Cowen: H.-Komm. zum dramat. Werk. Mchn. 1980. – Ders.: H.-Komm. zum nichtdramat. Werk. Mchn. 1981. – K. Hildebrandt: Naturalist. Dramen G. H.s. Mchn. 1983. – Einzelwerke: Robert Faesi: G. H.s. ›Emanuel Quint‹. Zürich 1912. – Paul Berger: G. H.s ›Ratten‹. Winterthur 1961. – G. H.s ›Weber‹ – eine Dokumentation. Hg. Helmut Praschek. Bln./DDR 1981. – Gerhard SchildbergSchroth: G. H. – ›Die Weber‹. Ffm. 1983. – Gert Oberembt: G. H., ›Der Biberpelz‹. Paderb. 1987. – Waltraud Wende-Hohenberger: G. H.s Der Narr in Christo Emanuel Quint. Eine religions- u. gesellschaftskrit. Romananalyse. Ffm. 1990. – Daria Santini: G. H. zwischen Modernität u. Tradition. Neue Perspektiven zur Atriden-Tetralogie. Bln. 1998. – Bernhard Tempel: G. H.s Erzählung ›Mignon‹. Mit Erstdruck der ersten Fassung u. Materialien. Bln. 2000. – Burckhard Dücker: Erlösung u. Massenwahn. Zur literar. Mythologie des Sezes-
86 sionismus im 20. Jh. Heidelb. 2003 (zu G. H. ›Die Wiedertäufer‹, S. 49–101; ›Emanuel Quint‹, S. 138–158). – Große Themen, Ästhetik: Karl S. Guthke u. Hans M. Wolff: Das Leiden im Werke G. H.s. Bern 1958. – F. A. Voigt: G. H. u. die Antike. Bln. 1965. – K. Hildebrandt: G. H. u. die Gesch. Mchn. 1968. – P. A. Mellen: G. H. and Utopia. Stgt. 1976. – P. Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk G. H.s aufgrund des handschriftl. Nachl. Bln. 1982. – P. A. Mellen: G. H. Religious Syncretism and Eastern Religions. New York u. a. 1984. – Elisabeth Hurth: Der literar. Jesus. Studien zum Jesusroman. Hildesh. u. a. 1993. – Uwe Kächler: Die Jesusgestalt in der Erzählprosa des dt. Naturalismus. Mit einem bibliogr. Anhang: Primärtexte, zeitgenöss. Rezensionen, Sekundärlit. Ffm. 1993. – Jörg Platiel: Mythos u. Mysterium. Die Rezeption des MA im Werk G. H.s. Ffm. 1993. – S. Hoefert: G. H. u. der Film. Mit unveröffentlichten Filmentwürfen des Dichters. Bln. 1996. – Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der dt. Lit. um die Jahrhundertwende. Paderb. u. a. 1997. – Gregor Schmeja: Spielarten der Ambivalenz. Selbst- u. Objektbilder im Kontext ödipaler Konflikte u. der frühen Mutter-Kind-Beziehung in Textphantasien G. H.s. Würzb. 2005. – Christine Magerski: Die Konstituierung des literar. Feldes in Dtschld. nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik u. die Anfänge der Literatursoziologie. Tüb. 2006. Mary E. Stewart / Burckhard Dücker
Hausdorff , Felix, auch: Paul Mongré, * 8.11.1868 Breslau, † 26.1.1942 Bonn. – Mathematiker, Philosoph, Lyriker, Essayist, Dramatiker. In der Nachfolge von Georg Cantor hat H. Arbeiten zur mengentheoret. Topologie vorgelegt, mit denen er in die Geschichte der Mathematik eingegangen ist. Sein Hauptwerk (Grundzüge der Mengenlehre. Lpz. 1914) nahm bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der Disziplin im 20. Jh.; es hat Weltruhm erlangt. Wenig bekannt ist dagegen, dass H. unter dem Pseudonym Paul Mongré (frz. ›à mon gré‹, nach meinem Geschmack) um 1900 philosophische, essayistische u. literar. Schriften veröffentlicht hat. Er gehört damit zu den in der Moderne selten gewordenen Doppelbegabungen, die in ihrem Werk eine Verbindung zwischen den ›Zwei Kulturen‹ herzustellen wussten. Der Besuch des humanistischen Nicolai-Gymnasiums bildete hierfür eine Voraussetzung. H.
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wollte zunächst Musik studieren, nahm jedoch auf Wunsch des Vaters, eines begüterten Kaufmanns, das Studium der Mathematik u. Astronomie auf, das er 1891 mit der Promotion in Leipzig abschloss; die Habilitation erfolgte vier Jahre später. H.s jüd. Herkunft verhinderte eine rasche Karriere; erst 1910 erhielt er eine Stelle in Bonn u. 1913 den Ruf auf ein Ordinariat in Greifswald. 1921 kehrte er nach Bonn zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung 1935 lehrte. Die schriftstellerische Tätigkeit fällt in die Zeit der Privatdozentur (seit 1893 unterhielt H. Beziehungen zum Nietzsche-Archiv). Sie endete mit der Übernahme der ersten Professur u. dem Beginn der produktiven Arbeit an den Grundlegungsfragen der modernen Mathematik, wie sie sich aus der Cantorschen Theorie der transfiniten Ordinal- u. Kardinalzahlen sowie der Punktmengenlehre ergaben. Als letzten Ausweg vor der Deportation in ein Konzentrationslager wählte H. 1942 den Selbstmord. Der gerettete Nachlass umfasst mehr als 25.000 Seiten, die jedoch nur zu einem ganz geringen Teil an die literarisch-philosophischen Interessen des jungen Wissenschaftlers erinnern. In seiner Leipziger Zeit pflegte H. Kontakte mit Autoren wie Richard Dehmel, Frank Wedekind u. Otto Erich Hartleben, die ihm durch den Leipziger Literatenkreis um den Juristen Kurt Hezel vermittelt wurden. Hartleben hatte eine seiner Nachdichtungen aus dem Gedichtzyklus Pierrot Lunaire (1893) des Belgiers Albert Kayenbergh (Pseud.: Albert Giraud) H. gewidmet, der sich seinerseits an einer konkurrierenden Übertragung dieses Kultbuchs der Décadence versuchte: Für eine Reihe von commedia dell’arte-Figuren werden Szenen eines Melodramas entworfen, bei denen der Verzicht auf jede Handlungsführung durch eine artifizielle, die Realitätsferne zum Ausdruck bringende Sprache herausgestrichen wird. Diese Nachdichtungen bilden das Kernstück des Mongréschen Gedichtbands Ekstasen (Lpz. 1900), für den der frz. u. belg. Symbolismus u. das Werk Nietzsches – darunter die Dionysos-Dithyramben (1888/89) – einen Bezugspunkt bildeten. Die Sammlung enthält auch metrisch streng regulierte Gedichtformen (Rondel, Sonett) u.
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die in der Zeit unvermeidl. ›laudes Italiae‹, die weniger avanciert erscheinen, aber in gleicher Weise als Reaktionen auf Literaturprogramme u. Stilhaltungen des späten 19. Jh. zu deuten sind. Am Beginn der unter Pseudonym veröffentlichten Arbeiten stehen philosophische Reflexionen u. zeitkrit. Impressionen (Sant’Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras. Lpz. 1897), gefolgt von zahlreichen Essays, die zwischen 1898 u. 1910 vornehmlich in der »Neuen [Deutschen] Rundschau« erschienen, sowie eine systemat. Abhandlung (Das Chaos in kosmischer Auslese. Ein erkenntnistheoretischer Versuch. Lpz. 1898; von Max Bense unter einem veränderten Titel neu herausgegeben: Zwischen Chaos und Kosmos oder Vom Ende der Metaphysik. Baden-Baden 1976). H. orientierte sich an dem von Nietzsche repräsentierten Typus des Intellektuellen, widersprach diesem aber in der Form u. dem Gehalt einer Metaphysikkritik, die ›mathematisch‹ argumentiert. Die irrationalistischen Strömungen der Jahrhundertwende sind das erklärte Ziel der polem. u. satir. Angriffe H.s; hier findet er ein Thema, bei dem er auf Wiedererkennung rechnen durfte, da er die Autorität u. die illusionslose Abgeklärtheit des Naturwissenschaftlers durchscheinen lässt, der das Angebot an Ersatzreligionen u. deren Komplement, die materialistischen u. monistischen Weltanschauungen, einer scharfen Kritik unterzieht. Das gilt in anderer Weise auch für sein erfolgreiches, rund 300-mal aufgeführtes Theaterstück (Der Arzt seiner Ehre. Groteske. 1904; im Verlag von S. Fischer 1912 noch einmal gedruckt), in dem das Duellwesen der Zeit persifliert wird. H. war kein durchschnittl. Universitätsgelehrter, der neben seiner wissenschaftl. Arbeit noch etwas Poesie betrieb. Wenn es um 1900 einen Austausch, vorsichtiger gesagt: eine Berührung zwischen Literatur u. naturwissenschaftl. Grundlagenforschung gab, die sich auf der Höhe der Zeit bewegte – die Frage der Intentionalität zunächst einmal ausgeklammert –, dann im Werk H.s, das von einer an transdisziplinären Fragen interessierten Forschung noch zu entdecken ist.
Hausenstein Werke: Ges. Werke in neun Bänden. Bd. 8: Literar. Werk. Hg. Udo Roth u. Friedrich Vollhardt. Bln./Heidelb. 2009 (verantwortlich für die gesamte Ed.: Egbert Brieskorn, Friedrich Hirzebruch, Walter Purkert, Reinhold Remmert u. Erhard Scholz). Literatur: E. Brieskorn: F. H. Elemente einer Biogr. In: F. H., Paul Mongré 1868–1942. Ausstellung vom 24. Jan. bis 28. Febr. 1992 im Mathemat. Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Univ. Bonn [Kat.], S. 77–94. – Ders. (Hg.): F. H. zum Gedächtnis. Bd. 1: Aspekte seines Werkes. Braunschw./Wiesb. 1996. – Ders.: Gustav Landauer u. der Mathematiker F. H. In: Gustav Landauer im Gespräch. Hg. Hanna Delf u. Gert Mattenklott. Tüb. 1997, S. 105–128. – F. Vollhardt: Von der Sozialgesch. zur Kulturwiss.? Die literar.-essayist. Schr.en des Mathematikers F. H. (1868–1942): Vorläufige Bemerkungen in systemat. Absicht. In: Nach der Sozialgesch. Konzepte für eine Literaturwiss. zwischen Histor. Anthropologie, Kulturgesch. u. Medientheorie. Hg. Martin Huber u. Gerhard Lauer. Tüb. 2000, S. 551–573. – Werner Stegmaier: Ein Mathematiker in der Landschaft Zarathustras. F. H. als Philosoph. In: NietzscheStudien 31 (2002), S. 195–240. – F. Vollhardt: ›Pierrot Lunaire‹. Form u. Flüchtigkeit des Schönen in der europ. Lit., Kunst u. Wiss. um 1900 (Giraud, Hartleben, H.). In: Europ. Jahrhundertwende – Lit., Künste, Wiss.en um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung. Erstes Kolloquium. Hg. Werner Frick u. Ulrich Mölk. Gött. 2003, S. 89–113 bzw. [31]-[55]. – Moritz Epple: F. H.’s considered empiricism. In: The architecture of modern mathematics. Essays in history and philosophy. Hg. José Ferreirós u. Jeremy J. Gray. New York/Oxford 2006, S. 263–289. Friedrich Vollhardt
Hausenstein, Wilhelm, auch: Johann Armbruster, * 17.6.1882 Hornberg/ Schwarzwald, † 3.6.1957 München. – Erzähler, Essayist, Kunsthistoriker, Reiseschriftsteller, Übersetzer. Der Sohn eines badischen Beamten besuchte das humanistische Gymnasium in Karlsruhe u. studierte Klassische Philologie, Geschichte u. Soziologie (u. a. bei Friedrich Naumann) in Heidelberg, Tübingen u. München sowie nach der Promotion 1905 noch Kunstgeschichte. Danach lebte er – unterbrochen durch ausgedehnte Reisen in Europa – als freier Schriftsteller u. Publizist in München u. am Starnberger See.
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1919–1922 war H. neben Efraim Frisch Mitherausgeber von dessen literar. Monatsschrift »Der Neue Merkur«. Ab 1917 schrieb er regelmäßig für die »Frankfurter Zeitung«, deren Literaturredaktion er – obgleich selbst primär an kunstgeschichtl. Themen interessiert – von 1934 bis zu ihrem Verbot 1943 leitete. 1938 wurde seine Kunstgeschichte (Bln. 1928) eingestampft, da er eine Textrevision in nationalsozialistischem Sinn ablehnte. Ab 1936 war er mit Publikationsverbot für Bücher belegt, 1943 wurde ihm jede publizistische Betätigung von den Nationalsozialisten untersagt. 1950–1955 Generalkonsul u. erster dt. Botschafter nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris, trug H. wesentlich zur dt.-frz. Aussöhnung bei. Seine Pariser Erinnerungen (postum Mchn. 1961) geben ein eindringl. Bild von der mühsamen Arbeit als Außenseiter auf diplomatischem Parkett. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich u. a. als erster Präsident der Neubegründung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München. H. erhielt diverse Auszeichnungen. Im Lauf seines Lebens bezog H. die verschiedensten polit. u. weltanschaul. Positionen: zunächst Monarchist (u. a. Vorleser der im Exil lebenden Königin Marie-Sophie von Neapel-Sizilien), 1907–1919 militantes Mitgl. der SPD, schließlich christl. Konservativer (Konversion vom Protestantismus zum Katholizismus). Hatte der junge H. – z.B. durch sein Buch Bild und Gemeinschaft. Entwurf einer Soziologie der Kunst (Mchn. 1920) – bedeutenden Einfluss auf die marxistische Kunst- u. Literatursoziologie in der Sowjetunion ausgeübt, so argumentierte er in späteren Jahren christlich konservativ, immer aber weltoffen. H.s Schaffen ist vielgestaltig u. umfangreich; allein zu Lebzeiten erschienen mehr als 80 Publikationen: geschichtl. u. kunsthistor. Studien, Kunstmonografien u. Künstlerbiografien, Landschafts- u. Städtebücher, Erzählungen u. Essays, Tagebücher u. Aufzeichnungen, Übersetzungen (vor allem Baudelaires) u. Editionen. Sein Hauptwerk ist Lux perpetua. Summe eines Lebens aus dieser Zeit (Mchn. 1947. 21952. Neuaufl. mit einem Nachw. von Peter Härt-
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ling. Ffm. 1972), geschrieben während H.s Hauser, Arnold, * 8.5.1892 Temesvár/Baerzwungener »innerer Emigration« nat, † 28.1.1978 Budapest. – Literatur- u. 1943–1945, erschienen unter dem Pseud. Jo- Kunstsoziologe. hann Armbruster. Der erste Teil der unvollDer aus ärml. Verhältnissen stammende H. endet gebliebenen Autobiografie schildert in studierte Philosophie, Kunst- u. Literaturgedistinguiertem, beschaul. Stil, mit Liebe zum schichte in Budapest u. Paris (Dr. phil. 1918). Detail u. in vielen Exkursen H.s Kindheit. In Dem Kreis um Georg Lukács angehörend, gab eindringl. Bildern gibt die Geschichte einer er seine Soziologieprofessur in Budapest 1919 deutschen Jugend aus des neunzehnten Jahrhunaus polit. Gründen auf u. setzte seine Studien derts Ende (so der Untertitel) zgl. die Atmoin Paris u. Berlin fort. Ab 1924 war er in Wien sphäre der wilhelmin. Epoche, des zu Ende u. a. Propagandachef einer Filmgesellschaft; gehenden 19. Jh. wieder. 1938 emigrierte er nach London. 1951–1957 Weitere Werke: Der nackte Mensch in der war H. Professor für Kunstgeschichte an der Kunst aller Zeiten. Mchn. 1911. – Die großen Universität Leeds, 1952–1965 Gastprofessor Utopisten (Fourier, Saint-Simon, Owen). Bln. 1912. an verschiedenen amerikan. Universitäten. – Die bildende Kunst der Gegenwart. Bln. 1914. – Kurz vor seinem Tod kehrte er nach Budapest Über Expressionismus in der Malerei. Bln. 1919. – Vom Geist des Barock. Mchn. 1920. – Zeiten u. zurück. Beeinflusst von Adolph Goldschmidt, Bilder. Ges. Aufsätze. Mchn. 1920. – Kairuan oder eine Gesch. vom Maler Klee u. v. der Kunst dieses Ernst Troeltsch, Georg Simmel, Max Weber Zeitalters. Mchn. 1921. – Barbaren u. Klassiker. Ein u. Karl Mannheim, interessierten H. schon Buch v. der Bildnerei exot. Völker. Mchn. 1922. – früh kunst-soziolog. Probleme; auch mit Das Gastgeschenk. Werke u. Maler in 23 E.en. Wien Technik u. Theorie des Films beschäftigte er 1923. – Giotto. Bln. 1923. – Rembrandt. Stgt. 1926. sich. Aus dem Auftrag, für die von Mannheim – Reise in Südfrankreich. Crimmitschau 1927. – Die herausgegebene Reihe »The International Welt um München. Mchn. 1929. – Drinnen u. Library of Sociology and Social ReconstrucDraußen. Tgb. über Landschaft u. Städte, Tiere u. tion« einen Band über die Soziologie der Menschen. Mchn. 1930. – Europ. Hauptstädte. ErKunst zu verfassen, entwickelte sich H.s lenbach 1932. – Wanderungen auf den Spuren der Hauptwerk, die 1951 in London erschienene Zeiten. Ffm. 1935. – Buch einer Kindheit. 10 E.en. der Kunst und Literatur (Mchn. Ffm. 1936. – Zwiegespräch über den Quijote. Sozialgeschichte 2 Mchn. 1948. – Meissel, Feder u. Palette. Versuche 1953. 1958. 1990. Zuerst engl.: The Social zur Kunst. Mchn. 1949. – Abendland. Wanderung. History of Art) – eine umfassende Darstellung Städte u. Kirchen, Landschaften u. Figuren in Rei- der Entwicklung von bildender Kunst, Litesebildern. Mchn. 1951. – Licht unter dem Horizont. ratur, Musik, Theater u. Film. Den Versuch Tagebücher 1942–46. Hg. Wilhelm Emanuel Süs- einer Methodologie der Kunstgeschichte u. kind. Mchn. 1967. die Klärung wesentl. Grundbegriffe u. meLiteratur: FS W. H. Hg. Wilhelm E. Süskind. thodolog. Prinzipien unternimmt er in seiMchn. 1952. – W. H. Wege eines Europäers. Kat. nen Methoden moderner Kunstbetrachtung einer Ausstellung. Dt. Literaturarchiv Marbach/ (Mchn. 1970. Zuerst u. d. T. Philosophie der Neckar. Bearb. v. Walter Migge. 1967 (mit Biblio- Kunstgeschichte. Mchn. 1958). In Soziologie der gr.). – Laurence Blanc: W. H. (1882–1957). Un Kunst (Mchn. 1974) sucht H. Grenzen u. Ziele me´ diateur culturel et politique entre l’Allemagne et der Kunstsoziologie abzustecken, den Stil- u. la France. Paris 1997. – Dieter Jakob (Hg.): W. H. als Geschmacksbegriff sowie Bildung u. Wandel Wegbereiter der dt.-frz. Beziehungen. Mchn. 2000. der Konventionen zu erörtern u. eine Diffe– Ders. (Hg.): Globalisierung u. Kultur. Mchn. 2002. – Ders. (Hg.): Krieg – Frieden – Kultur. renzierung der Kunst nach Bildungsschich(Un)zeitgemäße Erinnerungen. Mchn. 2004. – Jo- ten vorzunehmen. H. vertritt einen dialektisch verfahrenden hannes Werner: W. H. Ein Lebenslauf. Mchn. 2005. – D. Jakob (Hg.): Vorbilder: Sein u./oder Design? histor. Materialismus, hält jedoch krit. DisW.-H.-Symposium. Mchn. 2006. – Sonderh. zu W. tanz zur dogmat. marxistischen KunstsozioH. der Ztschr. Badische Heimat 87 (2007), H. 2. logie, deren ökonomischen Determinismus u. Thomas B. Schumann / Red. deren Widerspiegelungstheorie er ebenso
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ablehnt wie die Vorstellung einer »Kunstgeschichte ohne Namen«, die die Bedeutung der künstlerischen Persönlichkeit negiert. H. dagegen spricht von einer Wechselwirkung zwischen Gesellschaft u. Kunst, Basis u. Überbau u. billigt der Kunst – allerdings ohne die Vorstellung eines von sozialen Bedingungen gänzlich unabhängigen Freiraums zu teilen – »relative Autonomie« zu. Weitere Werke: Der Manierismus. Die Krise der Renaissance u. der Ursprung der modernen Kunst. Mchn. 1964. Neuausg. u. d. T. Der Ursprung der modernen Kunst u. Lit. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance. Mchn. 1973. – Kunst u. Gesellsch. Mchn. 1973. Literatur: Donald D. Egbert: English Art Critics and Modern Social Radicalism. In: The Journal of Aesthetics 26 (1967), S. 29–46. – Jürgen Scharfschwerdt: A. H. In: Alphons Silbermann (Hg.): Klassiker der Kunstsoziologie. Mchn. 1979. – Klaus-Jürgen Lebus: Kritik theoret. Grundpositionen der Kunstsoziologie A. H.s. Diss. A, Greifsw. 1986. – Ders.: Zum Kunstkonzept A. H.s. In: WB 36 (1990), H. 6, S. 210–228. – Ernst Kulcsar: Lit. des Abwegs – Lit. des Irrwegs [zu Adolf Meschendörfer, Hans Liebhardt u. A. H.]. Diss. Erlangen-Nürnb. 2001 (Mikrofiche-Ausg.). – Peter Uwe Hohendahl: Das Projekt ›Sozialgeschichte der Kunst u. Lit.‹. A. H. In: Klaus Garber (Hg.): Kulturwissenschaftler des 20. Jh. Mchn. 2002, S. 245–262. – Reinhard Schuch: A. H. In: Friedrich Stadler (Hg.): Vertriebene Vernunft. Bd. 2, Teilbd. 1. Münster u. a. 2004, S. 659–662. – John Roberts: A. H., Adorno, Lukács and the Ideal Spectator. In: Andrew Hemingway (Hg.): Marxism and the history of art. London u. a. 2006, S. 161–174. Wolfgang Seibel / Red.
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Wiener Kunstgewerbeschule u. a. bei Oskar Strnad u. Alfred Roller. Durch sein Mappenwerk Die Insel (Wien 1919) wurde er als Maler bekannt, er trat aber auch als Buchillustrator u.-gestalter sowie Bühnenbildner hervor. In den zu Beginn der 1920er Jahre in der Abgeschiedenheit von Hals bei Passau entstandenen Blockbüchern (u. a. Buch der Träume. Passau 1922. Neudr. Galerie Papst 1976. Irrende Menschen. Wien 1923. Nächtebuch. Wien 1981; entstanden 1920/21) hielt H. seine Fantasien u. Erlebnisse in Bild u. Text fest. Nach der Annexion Österreichs (Berufs- u. Ausstellungsverbot) emigrierte der von christl. Humanismus geprägte Künstler in die Schweiz, 1947 kehrte er nach Wien zurück. H. war 1952–1972 Generalsekretär bzw. Vizepräsident des österr. P.E.N.-Clubs u. im Präsidium der »Aktion gegen Antisemitismus« tätig. Weitere Werke: Hafenbilder. Sechs Originalsteinzeichnungen. Wien 1923. – Von Kunst u. Künstlern in Österr. Brixlegg 1937. – Advent-Spiel. Zürich 1944. – Eine Gesch. vom verlorenen Sohn. Arbon 1945. – Maler, Tod u. Jungfrau. Märchen. Luzern 1946. Literatur: C. H.: Zum 90. Geburtstag. Eine Rehabilitation. Hg. Hochschule für angewandte Kunst. Wien 1985. – C. H./Georg Philipp Wörlen. Passau 1986 (Dokumentation mit Bibliogr. v. H.s bildner. Werk). – Cornelia Cabuk: C. H., das maler. u. graph. Werk bis zum Jahr 1927. Diss. Wien 1990. – LöE. – Marianne Hussl-Hörmann: C. H. Farbe, Rhythmus, Schwung. In: Parnass 27 (2007), H. 3, S. 86–93. Herbert Ohrlinger / Red.
Hauser, Carry (Carl Maria), auch: Oculus, Hauser, Harald, * 17.1.1912 Lörrach, ceha, cehs; * 16.2.1895 Wien, † 28.10. † 6.8.1994 Berlin. – Romancier u. Dra1985 Sanatorium Rekawinkel/Nieder- matiker. österreich; Grabstätte: Wien, Hietzinger Der Sohn eines Professors studierte in FreiFriedhof. – Spiel- u. Märchenautor, Esburg i. Br. u. Berlin Rechtswissenschaften. sayist; Bühnenbildner, Maler u. IllustraNach einer Studienreise nach Moskau wurde tor. H., eine oft als »letzter Expressionist« bezeichnete künstlerische Doppelbegabung, stammte aus einer bürgerl. Wiener Familie; sein Vater war Beamter in den Ministerien des Kaiserlichen Hauses und des Äußeren. Vor dem Ersten Weltkrieg, zu dem er sich freiwillig meldete, studierte er an der Graphischen Lehr- u. Versuchsanstalt sowie der
er 1932 Mitgl. der KPD; er emigrierte 1933 nach Frankreich, wo er von 1943 an die illegale Zeitschrift »Volk und Vaterland« herausgab, in der Résistance kämpfte u. Generalsekretär des Komitees »Freies Deutschland« für den Westen war. Seit 1959 lebte H. als freier Publizist in Ost-Berlin. H.s wenig bedeutende Dramen, die um faschistische Vergangenheit, Wiederaufbau (Am
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Ende der Nacht. Urauff. Magdeb. 1955. Bln./ DDR 1959) u. die Gefahr der atomaren Aufrüstung im Westen (Weißes Blut. Bln./DDR 1960. Verfilmt 1959) kreisen, sind eher prosaische Problembeschreibungen als Beispiele zeitgenöss. sozialistischer Dramatik. Sein Roman Wo Deutschland lag (Bln. 1947. Mchn. 1975. U.d.T. Botschafter ohne Agrément. Bln./ DDR 1975) über einen dt. Kommunisten u. Widerstandskämpfer in Frankreich während der dt. Besatzung ist mit seinem Plädoyer für ein besseres, sozialistisches Deutschland symptomatisch für die antifaschist. Literatur in der Aufbauphase der DDR. Weitere Werke: Im himml. Garten. Lpz. 1959 (dramat. E.). – Häschen Schnurks. Märchensp. Lpz. 1961. Bln. 2001. – Gesichter im Rückspiegel. Bln. 1989. Literatur: Karl-Heinz Hartimann: DDR-Lit. u. Drittes Reich. In: Gegenwartslit. u. Drittes Reich. Hg. Hans Wagener. Stgt. 1977, S. 307–328. – Gerhard Leo: Frühzug nach Toulouse. Bln. 1992. – Kurt Faller u. Bernd Wittich: H. H. Ein dt. Kommunist in der Résistance. In: Dies.n (Hg.): Abschied vom Antifaschismus. Frankf./O. 1997, S. 94–98. Detlef Holland / Red.
Hauser, Heinrich, * 27.8.1901 Berlin, † 25.3.1955 Dießen/Ammersee; Grabstätte: ebd., Friedhof St. Johann. – Erzähler, Reiseschriftsteller, Journalist. Der Sohn eines Berliner Arztes besuchte das Gymnasium in Weimar u. wurde 1918 Seekadett. Danach übte H. zeitweilig die verschiedensten Berufe aus; er war Matrose, Bergmann, Fotograf u. Techniker. Um 1920 begann H. zu schreiben u. trat 1925 mit seinem expressionistischen Roman Das zwanzigste Jahr (Potsdam) an die Öffentlichkeit. 1926 wurde er Mitarbeiter der »Frankfurter Zeitung«. Der literar. Durchbruch gelang ihm mit dem Roman Brackwasser (Lpz. 1928. 141930), für den er 1929 den Gerhart-HauptmannPreis erhielt. In diesem Roman, der ebenfalls noch vom Expressionismus beeinflusst war, schildert H. den scheiternden Versuch eines Matrosen, mit seiner Geliebten, einer jungen Prostituierten aus dem trop. Mexiko, auf einer einsamen Nordseeinsel sesshaft zu werden. Im Stil der Neuen Sachlichkeit liefert
sein Roman Schwarzes Revier (Bln. 1930) eine Beschreibung der Stahlindustrie des Ruhrgebiets – ein Maschinenhaus etwa »sieht aus wie eine Bühneninszenierung vom Bauhaus Dessau« (S. 45) – u. gerät zu einer Verherrlichung technolog. Neuerungen. Einen anderen Schwerpunkt in H.s literar. Schaffen bilden seine Reise- u. Abenteuerschilderungen, so zum Beispiel sein sachlichkrit. Bericht Feldwege nach Chicago (Bln. 1931) über seine Autoreise quer durch die USA oder auch seine mehrfach aufgelegte Reportage Australien. Der menschenscheue Kontinent (Bln. 1938). 1938 emigrierte H. in die USA, wo er in Büchern wie The German talks back (New York 1945) seinen Widerstand gegen Hitler aus konservativer Position artikulierte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland (1948) war H. 1949 Redakteur bei der Illustrierten »Stern« in Hamburg. Weitere Werke: Donner überm Meer. Bln. 1929. Bonn 2001. – Die letzten Segelschiffe. Bln. 1930. – Kampf. Gesch. einer Jugend. Jena 1934. – Männer an Bord. Jena 1936 (E.en). – Once your enemy [...]. London 1936. – Notre Dame v. den Wogen. Jena 1937 (R.). – Opel, ein dt. Tor zur Welt. Ffm. 1937. – Süd-Ost-Europa ist erwacht. Im Auto durch acht Balkanländer. Bln. 1938. – Battle against Time. New York 1939. – Hitler versus Germany. London 1940. Dt. Übers. Bln. 2006. – Meine Farm am Mississippi. Bln. 1950. – Unser Schicksal. Die dt. Industrie. Mchn./Düsseld. 1952. – Gigant Hirn. Bln. 1958. Literatur: Helen Adolf: H. H. In: Dt. Exillit., Bd. 2, S. 321–341. – Walter Delabar: Zur Besinnung gekommen. H. H. als Autor des Eugen Diederichs Verlags. In: Justus H. Ulbricht u. Meike G. Werner (Hg.): Romantik, Revolution u. Reform. Gött. 1999, S. 248–270. – Gregor Streim: Flucht nach vorn zurück. H. H. – Portrait eines Schriftstellers zwischen Neuer Sachlichkeit u. ›reaktionärem Modernismus‹. In: JbDSG 43 (1999), S. 377–402. – Grith Graebner: H. H. – Leben u. Werk. Eine kritisch-biogr. Werk-Bibliogr. Aachen 2001. – Matthias Uecker: Kontinuitäten u. Veränderungen der neusachl. Weltbeschreibung. H. H.s Industriereportagen. In: Gustav Frank u. a. (Hg.): Modern times? Bielef. 2005, S. 25–43. Heiner Widdig / Red.
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Haushofer, Albrecht, auch: Jürgen Dax, Jörg Werdenfels, * 7.1.1903 München, † 23.4.1945 Berlin-Moabit; Grabstätte: ebd., Johanniskirchhof, Friedhof für Gefallene u. Umgekommene vom April u. Mai 1945 in der Wilsnacker Straße (Tiergarten). – Geopolitiker, Diplomat, Lyriker u. Dramatiker. H. stammte aus dem Münchner Zweig einer traditionsreichen bayerischen Familie. Sein Vater war Karl Haushofer, der umstrittene Begründer der dt. Geopolitik. Nach dem Abitur am Theresiengymnasium seiner Heimatstadt studierte H. ab 1920 Geografie u. Geschichte an der dortigen Universität u. promovierte 1924 zum Dr. phil. Als Assistent für Geografie in Berlin verkehrte er dann in jungkonservativen Kreisen (»Montagstisch«), gab die »Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin« heraus u. vertrat die Gesellschaft 1929–1940 auch als Generalsekretär. 1933 vermittelte Rudolf Heß, der Schüler u. Freund seines Vaters, H. eine Dozentenstelle für Politische Geografie an der Berliner Hochschule für Politik. Trotz seiner »halbjüdischen« Mutter stieg er 1940 zum a. o. Prof. an der Berliner Universität auf. Heß, der H. als polit. Berater schätzte, empfahl ihn 1934 an den Botschafter in London u. späteren Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Von dessen »Dienststelle« wurde er als freier Mitarbeiter mit inoffiziellen geheimen Verhandlungen u. Reisen nach England (1934–1938), Südosteuropa (1936) sowie Ostasien (1937) beauftragt. Wegen Unstimmigkeiten mit Ribbentrop endete diese Tätigkeit im Herbst 1938, lebte aber nach Kriegsbeginn noch einmal als ehrenamtl. Informationstätigkeit für das Auswärtige Amt auf. Seit 1934 hatte H. vergeblich danach gestrebt, die nationalsozialistische Außenpolitik mäßigend zu beeinflussen, was in den zeitkrit. Schauspielen Scipio (Bln. 1934), Sulla (Bln. 1938) u. Augustus (Bln. 1939) auch literar. Ausdruck fand. Diese der Tradition des klass. Geschichtsdramas verpflichtete Römertrilogie umkreist das für H. zentrale Problem einer geistigen Durchdringung
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staatl. Macht u. verurteilt den Krieg als Mittel der Politik. Nach Rudolf Heß’ Englandflug im Mai 1941 wurde H. zwei Monate inhaftiert u. in der Folge als »politisch unzuverlässig« überwacht. Seit Frühjahr 1940 hielt er Kontakt mit dem konservativen bürgerl. Widerstand (»Mittwochsgesellschaft«) sowie der linksliberal-marxistischen »Roten Kapelle«. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 versteckte sich H. bis Dez. in Bayern, dann erfolgte seine zweite Verhaftung. Die SS erschoss ihn auf dem Transport, kurz vor der Befreiung Berlins. Bei dem Ermordeten fand man ein Manuskript mit den in der Haft geschriebenen Moabiter Sonetten (Bln. 1946. Mchn. 1976. Ebenhausen 1999. 42005), die angesichts nationalsozialistischer Unmenschlichkeit u. Zerstörungswut das europ. Kulturerbe beschwören sowie die Frage von Schuld u. Sühne reflektieren. Weitere Werke: Und so wird in Pandurien regiert. Mchn. 1932 (Polit. Kom.). – Richtfeuer. Lpz. 1932 (L.). – Gastgeschenk. Bln. 1938 (L.). – Die Makedonen. Bühnenmanuskript 1941 (Trag.). – Chinesische Legende. Dramat. Dichtung. Bln. 1949. – Allg. polit. Geographie u. Geopolitik. Heidelb. 1951. Literatur: Felix M. Wassermann: Macht u. Geist in A. H.s Römerdramen. In: Monatshefte 46 (1954), S. 213–224. – Eva Preiß: A. H. Versuch einer Monogr. Diss. Wien 1957. – Ursula Laack-Michel: A. H. u. der NS. Stgt. 1974. – Ernst Haiger, Amelie Ihering u. Carl Friedrich v. Weizsäcker: A. H. Ebenhausen 2002. – Rüdiger Henkel: Die Verstrickung v. Karl u. A. H. in den NS. In: Ders.: Im Sog der absoluten Wahrheit. Lebenswege unter dem Einfluss diktator. Ideen. Bln. 2003, S. 29–101. – Rainer Hildebrandt: ›... die besten Köpfe, die man henkt‹. Hg. Alexandra Hildebrandt. Bln. 2003. – Hans-Edwin Friedrich: Politisch reflektierende Geschichtsdramatik im Dritten Reich. A. H.s Römertrilogie. In: Marijan Bobinac, Wolfgang Düsing u. Dietmar Goltschnigg (Hg.): Tendenzen im Geschichtsdrama u. Geschichtsroman des 20. Jh. Zagreb 2004, S. 185–215. Heidrun Ehrke-Rotermund
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Haushofer, Marlen, eigentl.: Marie Helene H., geb. Frauendorfer, * 11.4.1920 Frauenstein/Oberösterreich, † 21.3.1970 Wien; Grabstätte: Steyr, Erdfriedhof 2. – Erzählerin. H. gehört zu den Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit, deren literar. Rang erst durch die Frauenliteratur(-forschung) der 1980er Jahre wirklich gewürdigt wurde. Aufgrund ihrer Themenwahl u. radikalen Sicht des bürgerl. Familienlebens u. der Beschränkung ihres Radius auf den österr. Literaturbetrieb blieb sie in den 1950er u. 1960er Jahren literar. Außenseiterin, obgleich ihr erzählerisches Talent, v. a. für Kinderbücher, anerkannt wurde. Erst die Neuauflage ihrer Romane seit 1984 (Claassen Verlag, Düsseldorf; Zsolnay Verlag, Wien) bewirkte, dass ihr Werk ins Vorfeld der emanzipator. Frauenliteratur gerückt wurde. H.s Kindheit war geprägt von charakterlich sehr gegensätzl. Eltern u. vom Leben im Forsthaus des Effertsbachtals nahe dem Dorf Frauenstein. Die Erinnerung an Erlebnisse, Freuden, Schrecken u. Traumata des ersten Lebensjahrzehnts bilden ein Hauptthema in ihrem Werk, z.B. in der Erzählung Das fünfte Jahr (Wien 1952). In idealisierender Weise verarbeitet sie hier jene frühkindl. Eindrücke, die sie in ihrem autobiogr. Kindheitsroman Himmel, der nirgendwo endet (Gütersloh 1966) auch als lebenslange Kränkungen u. Verletzungen des Mädchens Meta im scheinbaren Kindheitsparadies entlarvt. Ab 1930 besuchte H. Gymnasium u. Internat der Ursulinen in Linz. Nach der Matura 1939 u. dem Arbeitsdienst in Ostpreußen begann sie ein Germanistikstudium in Wien, das sie in Graz fortsetzte, ohne es abzuschließen. 1941 brachte sie einen unehel. Sohn zur Welt, der vier Jahre lang bei einer Pflegemutter in Bayern aufwuchs; im selben Jahr heiratete H. den Medizinstudenten u. Luftwaffen-Sanitäter Manfred Haushofer. Nach einem Aufenthalt in Prag lebte die Familie nach der Geburt des zweiten Sohnes 1943 in Graz u. Frauenstein; 1947 übersiedelte sie in die oberösterr. Kleinstadt Steyr. H. trat in der Nachkriegszeit, gefördert von Hermann Hakel u. bes. Hans Weigel, mit
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ersten Erzählungen in »Lynkeus«, »Neue Wege« u. »stimmen der gegenwart« an die Öffentlichkeit. 1953 erhielt sie den staatl. Förderungspreis für Literatur, 1956 den Förderungspreis des Theodor-Körner-Stiftungsfonds für Die Vergißmeinnichtquelle (Wien 1956). Dieser erste Erzählband enthält Geschichten mit histor. Bezug (NS-Zeit, Krieg) u. aus dem kindl. sowie dem weibl. Alltagsleben. H. betreute Haushalt u. Kinder u. war auch in der Zahnarztpraxis ihres Mannes tätig, von dem sie sich 1950 scheiden ließ, ohne, abgesehen von Aufenthalten in Wiener literar. Kreisen, die Umstände des Zusammenlebens zu verändern. Mit ihrem ersten veröffentlichten Roman Eine Handvoll Leben (Wien 1955) wandte sie sich der Schilderung ambivalenter Frauenexistenzen zu. Das Leben ihrer Protagonistinnen bewegt sich zwischen Rollenanpassung, Selbstaufgabe, Ausbruchsversuch u. Selbstbehauptung innerhalb patriarchalisch strukturierter gesellschaftl. Verhältnisse. Die Novelle Wir töten Stella (Wien 1958) erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das von einem honorigen Kleinstadtanwalt, bei dessen Familie es zu Gast ist, verführt, geschwängert, zu einer Abtreibung gedrängt u. so in den Tod getrieben wird. Die Ehefrau des Verführers, die Ich-Erzählerin, bezichtigt sich des bewussten Wegschauens u. somit einer Mitschuld am Geschehenen. Der Roman Die Wand (Gütersloh 1963) wurde als weibl. Robinsonade, Gleichnis menschl. Isoliertseins, psychoanalyt. Metapher, apokalypt. Zukunftsvision oder feministische Utopie gelesen u. stellt in dieser Vieldeutigkeit auch H.s größten literar. Erfolg dar. H. schildert das Schicksal der augenscheinlich letzten Überlebenden, die sich nach einer unerklärl. Katastrophe in einem abgeschiedenen Tal mit einigen Tieren ihr neues Leben einrichtet u. den plötzlich auftauchenden existenzbedrohenden Mann tötet. Der Preis für die gelungene Selbstfindung der Heldin ist hier die Vernichtung der Menschheit. Kompositorisch wendet H. ein ähnl. Prinzip des tagebuchartigen Erzählens an wie in ihrem letzten Roman Die Mansarde (Düsseld. 1969), der mit illusionslosem Witz die Geschichte einer Ehe erzählt – H. u. ihr
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Mann hatten 1958 wieder geheiratet. Ver- Hausmann, Manfred (Georg Andreas), schiedene Zeitebenen werden miteinander * 10.9.1898 Kassel, † 6.8.1986 Bremen. – verschränkt, durch reflektierendes Monolo- Epiker, Dramatiker, Lyriker, Übersetzer. gisieren über äußere Erscheinungen entsteDer evang. Fabrikantensohn besuchte das hen Assoziationsketten, die auf der SprachHumanistische Gymnasium in Göttingen, ebene die Lebensmonotonie der Frau widerwar 1916–1918 Soldat u. studierte anschliespiegeln. Neben Stilmitteln wie Ironie, ßend Philologie, Kunstgeschichte u. PhilosoÜbertreibung, Satire u. humoristischen Efphie in Göttingen, Heidelberg u. München, fekten weist die bilderreiche Sprache (Natur-, wo er 1922 mit der Arbeit Kunstdichtung und Tiermetaphern) H. als Meisterin einer einVolksdichtung im deutschen Soldatenlied 1914/18 gängigen, leicht lesbaren Prosa aus. H. sipromovierte. H. arbeitete als Dozent, Dracherte sich ihren größten Publikumserfolg durch zahlreiche Kinderbücher wie Brav sein maturg, Kaufmann u. Redakteur. Ab 1950 ist schwer (Wien 1965) u. Schlimm sein ist auch lebte er als freier Schriftsteller in Bremen. kein Vergnügen (Wien 1970), die ihr jeweils den Zahlreiche Reisen führten ihn u. a. in die USA Kinder- u. Jugendbuchpreis der Stadt Wien (Kleine Liebe zu Amerika. Bln. 1931. Ffm. 2000) einbrachten. Nach Erscheinen ihres letzten u. in die nordeurop. Länder. Eine intensive Erzählbands Schreckliche Treue (Düsseld. 1968) Auseinandersetzung mit Karl Barth u. Kiererhielt sie den Österreichischen Staatspreis kegaard führte ab 1933 zu einer immer stärfür Literatur. 1970 erlag H. einem jahrelan- keren Hinwendung zum christl. Existenzialismus. Sein umfangreiches Werk erreichte gen Knochenkrebsleiden. hohe Auflagen. Weitere Werke: Die Tapetentür. Wien 1957 H.s Frühwerk weist ihn als pessimisti(R.). – Bartls Abenteuer. Wien 1964 (R., Kinderschen, zum Nihilismus tendierenden Robuch). – Lebenslänglich. Graz 1966 (E.). – Begegmantiker aus, dessen Protagonisten in einer nung mit dem Fremden. Düsseld. 1985 (E.en, z.T. pantheistischen, von Jugendbewegung u. bisher nicht in Buchform ersch.). Literatur: Oskar Jan Tauschinski: Die neue Naturerlebnis geprägten Welt agieren. Der Phase in M. H.s Prosa. In: LuK 47/48 (1970), Roman Lampioon küßt Mädchen und kleine BirS. 483–488. – Dagmar C. Lorenz: Biogr. u. Chiffre. ken. Abenteuer eines Wanderers (Bremen 1928) Diss. Cincinnati 1974. – Anne Duden u. a.: ›Oder schildert aus der Ich-Perspektive die Bemüwar da manchmal noch etwas anderes?‹ Texte zu hungen eines Mörders, als vagabundierender M. H. Ffm. 1986. – Regula Venske: ›... das Alte Landstreicher seine innere Unruhe u. Entverloren u. das Neue nicht gewonnen ...‹. In: Inge fremdung durch myst. Naturverbundenheit Stephan, R. Venske u. Sigrid Weigel: Frauenlit. zu überwinden. Die Erfahrungen Lampioons ohne Tradition? Ffm. 1987, S. 99–130. – Christine Hoffmann: Die Verrücktheit einer Generation. finden ihre Fortsetzung in dem Roman Salut Schreibweisen von ›Jungen Autorinnen‹ in den gen Himmel (Bln. 1929). Sein größter Erfolg Romanen M. H.s. Diss. Wien 1988. – Elke Brüns: gelang H. mit dem – später auch verfilmten – außenstehend, ungelenk, kopfüber weiblich. Psy- Roman Abel mit der Mundharmonika (Bln. 1932. chosexuelle Autorpositionen bei M. H., Marieluise Mchn. 2003). Fleißer u. Ingeborg Bachmann. Stgt./Weimar 1998. H.s Lyrik ist beeinflusst von Eichendorff u. – Daniela Strigl: ›Eine große Lüge‹. Anmerkungen Storm. Neben Gedichtbänden, die geprägt zur Biogr. M. H.s. In: Wespennest Nr. 119 (Juni sind von der norddt. Landschaft (Die Jahres2000), S. 31.-34. – Anke Bosse u. Clemens Ruthner zeiten. Bremen 1924), veröffentlichte er Lie(Hg.): ›Eine geheime Schrift aus diesem Splitterbeslyrik (Füreinander. Bln. 1946. Irrsal der Liebe. werk enträtseln ...‹. M. H.s Werk im Kontext. Tüb./ Ffm. 1960), orientiert auch an altgriech. Basel 2000. – Iris Denneler: M. H. In: KLG. – D. Strigl: ›Wahrscheinlich bin ich verrückt ...‹. M. H. Vorbildern (Der golddurchwirkte Schleier. GeDie Biogr. Mchn. 2007. – Lorraine Markotic: dichte um Aphrodite. Sigmaringen 1983), u. Melancholy and Lost Desire in the Work of M. H. übersetzte fernöstl. Lyrik u. Eskimo-Lieder. In: MAL 41 (2008), H. 1, S. 65–93. In H.s Dramatik dominieren Mysterien- u. Christine Schmidjell / Daniela Strigl Legendenspiele; sie ist, wie auch seine es-
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sayistischen Arbeiten, zunehmend geprägt von seinem engagierten Christentum. Weitere Werke: Lilofee. Bln. 1929 (dramat. Ballade). – Abschied v. der Jugend. Bremen 1937 (R.). – Alte Musik. Bln. 1941 (L.). – Einer muß wachen. Bln. 1942 (Ess.s). – Der Fischbecker Wandteppich. Ffm. 1955 (Legendensp.). – M. H. neu entdeckt. Ausgew. u. hg. v. Ulf Fiedler. Bremen 1998. – Meine Seele hat ein Loch. Frühe unveröffentlichte Werke. Hg. Regina Jung-Schmidt. Neukirchen-Vluyn 2005. Literatur: Karl Brinkel: Wo kein Sinn mehr ist. Das Lebensproblem in der Dichtung M. H.s. Bln. 1953. – Carl Peter Fröhling: Sprache u. Stil in den Romanen M. H.s. Diss. Bonn 1964. – Karlheinz Schrauder: FS M. H. Neukirchen-Vluyn 1974. – Alexander Gabriel (Hg.): M. H. Wuppertal/Gütersloh 1994. – Ulf Fiedler: Dichter an Strom u. Deich. Hermann Allmers, Alma Rogge, M. H., Tami Oelfken, Magda Pauli, Rudolf A. Schröder u. a. Bremen 1995. – Artur Nickel: Zwischen literar. Tradition u. existentiellem Neubeginn: Wolfdietrich Schnurres Kontroversen mit M. H. u. Walter Kolbenhoff. In: Walter Erhart u. Dirk Niefanger: Zwei Wendezeiten. Tüb. 1997, S. 71–92. – Arn Strohmeyer: Der Mitläufer. M. H. u. der NS. Bremen 1999. – Klaus Seehafer: M. H., geboren am 10. Sept. 1898 in Kassel, gestorben am 6. Aug. 1986 in Bremen. In: Klaus Seehafer (Hg.): Dichter, Denker, Eigenbrötler – 30 niedersächs. Klassiker. Leer 2003, S. 276–286. – Silke Beinssen-Hesse: Dichtung u. Gemeinschaft. Zur Lyrik M. H.s. In: Joseph P. Strelka (Hg.): Lyrik – Kunstprosa – Exil. Tüb./Basel 2004, S. 41–64. – Regina Jung-Schmidt: Sind denn die Sehnsüchtigen so verflucht? Die verzweifelte Suche nach Gott im Frühwerk des Dichters M. H. Neukirchen-Vluyn 2006. – Wilfried Schröder: Betrachtungen zu M. H. u. Alma Rogge. Potsdam 2007. – Ulrich Kriehn: Zwischen Kunst u. Verkündigung. M. H.s Werk zwischen Lit. u. Theologie. Marburg 2008. Karin Rother / Red.
Hausmann, Raoul, * 12.7.1886 Wien, † 1.2.1971 Limoges/Frankreich. – Experimenteller Schriftsteller, Maler, Fotograf, Tänzer. H., straßburgisch-ital. Herkunft, kam 1900 nach Berlin, nahm bei seinem Vater, dem akadem. Maler Viktor Hausmann, Unterricht in Malerei u. führte Restaurierungsarbeiten durch. 1912, im Jahr der Futuristenausstellung, trat er mit zwei Kunstkritiken in Herwarth
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Waldens »Sturm« erstmals an die Öffentlichkeit, wandte sich aber ab 1916 der anarchistisch-radikalen Richtung um Pfemferts »Aktion« u. Franz Jungs »Die freie Straße« zu. Vom Kriegsdienst blieb er aufgrund seines tschech. Passes u. wegen seines Augenleidens verschont. 1917/18 gründete er mit dem aus Zürich zurückgekehrten Huelsenbeck u. mit Jung den »Club Dada« u. war als »Dadasoph« eine treibende Kraft der politisch u. aktivistisch ausgerichteten Berliner Dada-Bewegung. Durch Jung lernte er die Theorien des Anarchisten u. Psychoanalytikers Otto Groß kennen. Die Themen von H.s sarkastischen Zeitschriftenbeiträgen waren denn auch Besitz u. Spießertum, die Unterdrückung der Sexualität u. der Frau in Familie u. bürgerl. Gesellschaft. 1920 veröffentlichte er zwölf antimilitaristische Satiren u. d. T. Hurra! Hurra! Hurra! (Bln. Neuaufl. Steinbach/Gießen 1970). Die Radikalität seiner gesellschaftstheoret. Überlegungen brachte H. auch im ästhetischen Bereich zur Geltung. So »erfand« er zusammen mit Hannah Höch die sog. Fotomontage als Spezialform der Collage sowie die phonetisch-lettrist. Gedichte, die aus Buchstaben bzw. Lauten eigengesetzlich u. inhaltlich bedeutungsfrei komponiert u. nicht mehr – wie bei Hugo Ball – in Pseudowörtern organisiert waren. Von den Plakatgedichten (1918) hat Kurt Schwitters das erste mit dem Titel fmsbw als musikal. Motiv in seiner Ursonate verwendet. Mit Schwitters gab H. 1921 in Prag zwei Abende »Anti-Dada und Merz«. H.s dadaistischer Mission entsprach es, möglichst oft in Erscheinung zu treten. So nahm er an allen Dada-Matineen u. -Soireen teil, gab die Zeitschrift »Der Dada« heraus (1919 u. 1920, die dritte u. letzte Nummer zus. mit George Grosz u. John Heartfield im Malik-Verlag) u. war Mitorganisator der »Ersten Internationalen Dada-Messe« (1920) sowie anderer Dada-Ausstellungen. 1923 wandte er sich dem Konstruktivismus zu u. publizierte in dessen Zeitschriften »Mecano« (Leiden), »MA« (Wien) u. »G« (Berlin). Für H. begann damit eine Phase der Abkehr vom dadaistischen Aktivismus u. eine Hinwendung zur wissenschaftl. Beschäftigung mit Wahrnehmungsvorgängen. Das Ergebnis
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seiner opt. u. akust. Studien ist das Optophon, ein Apparat zur Transformation von opt. in akust. Phänomene u. umgekehrt. Um 1930 setzte auch eine intensive fotografische Tätigkeit H.s ein. »Aus den Lese- und Sehgewohnheiten des Auges leitete H. seine Theorie über den formalen Aufbau von Bildern ab und entwickelte eine Theorie des aktiven Sehens« (aus: Gegen den kalten Blick der Welt: R. H. – Fotografien 1927–1933. Wien 1986, S. 28). 1933 emigrierte H. über Prag, Paris u. Barcelona nach Ibiza, wo er sich bis 1936 aufhielt u. seine Tätigkeit um archäolog., ethnolog. u. anthropolog. Studien erweiterte, aber auch die Arbeit an seinen 1926 begonnenen u. 1955 abgeschlossenen »lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen«, dem Roman Hyle. Ein Traumsein in Spanien, wieder aufnahm (teilweise veröffentlicht: Ffm. 1969. Neuausg. hg. u. mit einem Nachw. von Adelheid Koch-Didier. Mchn. 2006). Über Zürich, Prag u. Paris kam er 1944 nach Limoges. Nach dem Krieg nahm er an zahlreichen Ausstellungen zu Dada sowie von Collagen u. Fotografien teil (1967 Retrospektive im Moderna Museet Stockholm). In Frankreich schrieb er eine Geschichte des Dadaismus (Courrier Dada. Paris 1958) u. bereitete seine Darstellung des Berliner Dadaismus (Am Anfang war Dada. Hg. Karl Riha u. Günter Kämpf. Steinbach/Gießen 1972) vor. Trotz der Versuche von Künstlern wie Daniel Spoerri, Jasper Johns, Wolf Vostell, Friederike Mayröcker oder Ernst Jandl, mit ihm Kontakt aufzunehmen, argwöhnte H., seine histor. Leistung werde nicht entsprechend gewürdigt. Tatsächlich jedoch wirkte sein »Vorstoß vor die Kategorien« (Hausmann) exemplarisch auf jene Tendenzen in der Kunst u. Literatur, für die das Material – Stimme, Laut, Buchstabe oder Bild – Ausgangspunkt u. die Sinnlichkeit der Erfahrung Zweck ist. Die Rezeption H.s war lange Zeit vernachlässigt, sodass Adelheid Koch sogar von einer »(Nicht-)Rezeptionsgeschichte« H.s sprach. Der Grund dafür wird einerseits im schwierigen Charakter H.s, andererseits in seiner method. Grenzgängerei zwischen den Künsten gesehen, welche die Einordnung seiner
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Werke erschwert. Corinna Hübner unterscheidet drei Rezeptionsphasen: 1. erste Rehabilitationsansätze seiner dadaistischen Werke im Zusammenhang großer DadaAusstellungen in den 1960er/1970er Jahren; 2. Hausmann-Retrospektiven oder Ausstellungen zu einzelnen Werkphasen in den 1980er Jahren; zgl. damit Eröffnung des wissenschaftl. Dialogs; 3. Dokumentation u. Erforschung der interdisziplinären Arbeitsweise H.s anhand von Ausstellungen u. Symposien sowie wissenschaftl. Arbeiten zum Gesamtwerk seit den 1990er Jahren. Weitere Werke: Material der Malerei, Plastik, Architektur. Bln. 1918 (Aufsätze). – Traité de questions sans solutions importantes. Basel 1957. – Auf der Suche nach einer neuen Zeichensprache. In: Alte u. moderne Kunst 3 (1958), H. 4, S. 26 f. – Siebensachen. Stgt. 1961. – Pin and the story of Pin (zus. mit Kurt Schwitters). Engl. London 1962. Neuausg. dt. u. engl. Gießen 1986. – Melanographie. Paris 1968 (Texte u. Fotos). – La sensorialité excentrique. Cambridge 1970. Neuausg. v. Adelheid Koch: La sensorialité excentrique. Die exzentr. Empfindung. Wien 1994. – Palisander u. Melasse. Ein Mondhörsp. In: manuskripte 13 (1973), H. 40, S. 22–26. – Documents R. H. Paris 1975. – Die Sprache der Fische u. Vögel u. die Phonie. Nachw. v. Karl Riha. Ffm. 1977 (Aufsätze). – Poèmes Phonetiques Complètes. Köln 1979 (Kassette). – Kamerafotografien 1927–1957. Hg. Andreas Haus. Mchn. 1979. – material 2. Hann. 1981. – R. H. Texte bis 1933. Hg. Michael Erlhoff. Bd. 1: Bilanz der Feierlichkeit. Bd. 2: Sieg, Triumph, Tabak mit Bohnen. Mchn. 1982. – R. H. (1886–1971). Briefe an Timm Ulrichs u. a. Texte. Hg. Andreas Berns u. K. Riha. Siegen 1985. – R. H. Briefe. Neue Texte 36/37. Hg. Heimrad Bäcker. Linz 1988. – Geist im Handumdrehen. Hg. Uta Brandes u. M. Erlhoff. Hbg. 1989. – Elektronische Eidophonie u. a. Aufsätze. Hg. Marcel Beyer u. K. Riha. Siegen 1991. – R. H. (1886–1971). Briefw. mit Eugen Gomringer. Hg. K. Riha. Siegen 1992. – Umbruch. Hg. Adelheid Koch. Innsbr. 1997. – Scharfrichter der bürgel. Seele. R. H. in Berlin 1900–1933. Unveröffentlichte Briefe, Texte, Dokumente aus den Künstler-Archiven der Berlinischen Galerie. Hg. Eva Züchner. Ostfildern 1998. Literatur: Bibliografien: Richard Sheppard in: R. H.: Am Anfang war Dada. Gießen 21980, S. 175 ff. – Adelheid Koch u. Maria Renhardt in: R. H. Hg. Kurt Bartsch u. Adelheid Koch. Graz/Wien 1996, S. 325–410. – Sonderhefte: manuskripte 16. Graz 1966. – Phantomas. H.e 68–72. Brüssel 1967. –
Havemann
97 Apeiros. Nr. 6, Vaduz 1974. – Weitere Titel: Michel Giroud: R. H. ›Je ne sui pas un photographe‹. Paris 1975. – Reinhard Priessnitz: ›fmsbwtözäu‹. Der wiederentdeckte österr. Dadaist R. H. In: Die Presse (10./11.11.1979). – R. H. Retrospektive. Hann. 1981 (Ausstellungskat.). – Michael Erlhoff: R. H., Dadasoph. Versuch einer Politisierung der Ästhetik. Hann. 1982 (Diss.). – Franz Josef Czernin: Der Dadaist R. H. Fragmentarisches zu einer persönl. Literaturgesch. In: Kurt Schwitters Almanach. Hg. M. Erlhoff. Hann. 1986, S.101–145. – Gegen den kalten Blick der Welt. R. H. – Fotografien 1927–1933. Hg. Hildegund Amanshauser u. Monika Faber. Wien 1986 (Ausstellungskat.). – Timothy O. Benson: R. H. and Berlin Dada. Ann Arbor, Michigan 1987. (Diss.). – A. Koch: Ich bin immerhin der größte Experimentator Österreichs. R. H. Dada u. Neodada. Innsbr. 1994. – Der dt. Spießer ärgert sich. R. H. 1886–1971. Hg. Jean-Françoise Chevrier, Bartomeu Mari u. a. Bln. 1994 (Ausstellungskat.). – Wir wünschen die Welt bewegt u. beweglich (R. H.-Symposion). Hg. Eva Züchner. Bln. 1995. – R. H. Hg. K. Bartsch u. A. Koch, a. a. O. – Cornelia Frenkel: R. H. Künstler, Forscher, Philosoph. St. Ingbert 1996. – Corinna Hübner: R. H.: Grenzgänger zwischen den Künsten. Bielef. 2003. Walter Ruprechter
Hausrath, Adolf, auch: George Taylor, * 13.1.1837 Karlsruhe, † 2.8.1909 Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedhof. – Romancier u. evangelischer Theologe.
3
1879. Luthers Leben. 2 Bde., Bln. 21905. David Friedrich Strauß und die Theologie seiner Zeit. 2 Bde., Mchn. 1875–77); sie dienen hauptsächlich der Aufbereitung kulturhistor. u. bibelkrit. Erkenntnisse für breitere Kreise des gebildeten Bürgertums. Dabei wird im Sinne der histor. Hermeneutik Droysens die geschichtstreibende Kraft großer, psychologisch gedeuteter, siegender oder scheiternder Individuen betont. Denselben Zielsetzungen u. Gestaltungsprinzipien sind auch die histor. Romane (»Professorenromane«) H.s verpflichtet (u. a. Antinous. Lpz. 1880. Die Albigenserin. Lpz. 1902). Trotz kulturgeschichtl. Überfrachtung u. unübersehbarer Strukturmängel gleiten aber die gelungensten unter ihnen (Klythia. Lpz. 1883. Jetta. Lpz. 1884) nicht in aggressiv-nationalistisches Pathos, anachronistische Kulturkampfatmosphäre oder museale Dekorationslust ab; gewissenhafte Recherchen, ausgewogene Präsentation u. iron. Untermalung heben sie heraus aus der Publikationsflut histor. Romane. Literatur: Theodor Kappstein: A. H. Der Mann, der Theolog, der Dichter. Bln. 1912 (Werkverz.). – Harald Mielsch: Das Bild der Antike in histor. Romanen des 19. Jh. In: Gymnasium 87 (1980), S. 377–400. – Eugen Teucher: Sprachl.-literar. Wanderungen in die Vergangenheit. Tl. 3: A. H. In: Sprachspiegel 41 (1985), S. 42 f. – Michael Limlei: Gesch. als Ort der Bewährung. Menschenbild u. Gesellschaftsverständnis in den dt. histor. Romanen (1820–90). Ffm. 1988 (Lit.). – Friedrich Wilhelm Bautz: A. H. In: Bautz. – Goedeke Forts. – Gottfried Gerner-Wolfhard: A. H. (1837–1909). Kirchenpolit. Akteur – theolog. Lehrer – histor. Schriftsteller. In: Lebensbilder aus der evang. Kirche in Baden im 19. u. 20. Jh. Bd. 5. Hg. Gerhard Schwinge. Heidelb. 2007, S. 101–121.
H. entstammte einer angesehenen Karlsruher Pastorenfamilie. Nach dem Besuch des dortigen Lyzeums (1849–1856) beendete er das Theologiestudium an den Universitäten von Jena, Göttingen, Berlin u. Heidelberg 1861 mit der Promotion. Der anschließenden Tätigkeit als Vikar in Heidelberg folgte 1864 Adrian Hummel / Red. seine Berufung in die badische Kirchenleitung. Schon 1867 zum a. o. Prof. ernannt, hatte H. von 1871 bis zu seinem Tod den Havemann, Robert, * 11.3.1910 MünLehrstuhl für Kirchengeschichte u. neutestachen, † 9.4.1982 Grünheide/DDR. – Chementl. Exegese der Heidelberger Universität miker; Verfasser politisch-philosophiinne. Er profilierte sich als gemäßigt natioscher Schriften. nalliberal gesonnener Theologe u. entschiedener Gegner von Pietismus, Restaurations- Für viele Intellektuelle u. Künstler war H., theologie u. strenger Kirchlichkeit. Sohn eines Lehrers, eine Leitfigur in der H.s theolog. Werke behandeln Themen Auseinandersetzung um die Demokratisiebibl. Zeit-, mittelalterl. Kirchen- u. neuzeitl. rung des Sozialismus in der DDR. 1932 war er Theologiegeschichte (Neutestamentliche Zeitge- der KPD beigetreten, von 1933 an hatte er im schichte. 4 Bde., Mchn. 1868–79. Bde. 1–3: antifaschistischen Widerstand gearbeitet. Ein
Hawart
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1943 vom Volksgerichtshof gefälltes Todes- diesen Weg nicht gehen, da er für sich nach urteil wurde nicht vollstreckt, da man H. für wie vor die Aufgabe sah, auf eine demokramilitärische Forschungen brauchte. Auch im tische Reformierung des sozialistischen Zuchthaus Brandenburg, in dem er bis zur Staats hinzuwirken. In seinem Buch Morgen. Befreiung durch die Rote Armee 1945 inhaf- Die Industriegesellschaft am Scheideweg (Mchn. tiert blieb, setzte er den illegalen Widerstand 1980. Halle 1990) bekräftigte H. die Notfort. Nach Kriegsende leitete H. zunächst das wendigkeit des Übergangs zur sozialistischen Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Demokratie als den einzig mögl. Weg, die Chemie u. Elektrochemie in Berlin-Dahlem u. sozialen u. ökolog. Probleme der modernen wurde Ordinarius an der Humboldt-Univer- Industriegesellschaft zu lösen. – Im Novemsität in Ost-Berlin. Er war Mitgl. der SED u. ber 1989 wurde H. postum rehabilitiert u. gehörte 1949–1963 der Volkskammer an. zusammen mit Bloch in die Akademie der Doch bereits 1956 kam es zwischen ihm u. Wissenschaften wiederaufgenommen. der SED zu ersten Auseinandersetzungen, Weitere Werke: Fragen, Antworten, Fragen. weil H. für offenere Diskussionsformen ein- Aus der Biogr. eines dt. Marxisten. Mchn. 1970. trat. Die Differenzen spitzten sich 1963/64 31990. – Rückantworten an die Hauptverwaltung zu. In dieser Zeit hielt H. Vorlesungen über ›Ewige Wahrheiten‹. Mchn. 1971. – Berliner Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Schr.en. Bln. 1976. – Ein dt. Kommunist. RückbliProbleme. Darin kritisierte er den Dogmatis- cke u. Perspektiven aus der Isolation. Reinb. 1978. – Die Stimme des Gewissens. Texte eines dt. Antimus u. das Meinungsmonopol der Partei. Er stalinisten. Hg. Rüdiger Rosenthal. Reinb. 1990. – veröffentlichte diese Vorlesungen in der BR Warum ich Stalinist war u. Antistalinist wurde. Deutschland u. d. T. Dialektik ohne Dogma? Texte eines Unbequemen. Hg. Dieter Hoffmann u. Naturwissenschaft und Weltanschauung (Reinb. Hubert Laitko. Bln. 1990. 1964), nachdem ihm die Publikation in der Literatur: R. H. 70. In: europ. ideen 48 (1980). DDR untersagt worden war. Die SED rea- – Ein Marxist in der DDR. Für R. H. Mchn. 1980. – gierte mit Parteiausschluss, außerdem wurde Werner Theuer u. Bernd Florath: R.-H.-Bibliogr. H. aus dem Hochschuldienst entlassen. Ende Mit unveröffentlichten Texten aus dem Nachl. Hg. 1965 wurde er auch seines Postens als Leiter R.-H.-Gesellsch. Bln. 2007. – Florian Havemann: der Arbeitsstelle für Fotochemie bei der H. Ffm. 2007. Andrea Jäger / Red. Akademie der Wissenschaften enthoben. In dem Artikel Ja, ich hatte Unrecht. Warum Hawart, wahrscheinlich: Johann Hawart ich Stalinist war und Antistalinist wurde (in: Die d.Ä., * um 1250–1302. – Straßburger Zeit, 7.5.1965) stellte H. seinen polit. WerStadtadliger, Liederdichter. degang dar. Zunehmend wurde er nun auch als theoret. Vordenker unliebsamer Tenden- Von H. sind in den Heidelberger Liederhandzen in der Literatur attackiert. Im Anschluss schriften A u. C (bei gleichem Textbestand) vier an die 11. Tagung des ZK der SED im Dez. Lieder überliefert. Die Miniatur in C zeigt 1965 distanzierte sich der Schriftstellerver- einen Bärenkampf; der Jäger hat dem Tier band der DDR von Stefan Heym, Manfred den Jagdspieß durch die Brust gerannt; der Bieler u. Wolf Biermann, da sie sich in eine Bär erscheint auch auf dem Wappen u. der Reihe mit »einem Robert Havemann« stellten Helmzier. u. damit die »internationale Reaktion« Den Datierungsrahmen gibt Lied I mit eistärkten (Für klare Konturen unserer Literatur. ner Anspielung auf das Interregnum Erklärung des Deutschen Schriftstellerverbandes. (1254–1273) vor. Lied II ruft zu einem PaläsIn: Neues Deutschland, 14.1.1966). H.s Pro- tina-Kreuzzug auf; für den abgesteckten test gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns Zeitraum kommt der kleine oberrheinische wurde 1976 mit der gerichtl. Verhängung von Kreuzzug von 1267 in Frage (Bleck 1987). Hausarrest beantwortet. H. selbst verstand Dies macht unter den zahlreichen Trägern das als einen Versuch, ihn ebenso wie viele des Namens eine Identifizierung des Sängers seiner Freunde, etwa den Autor Jürgen Fuchs, mit dem Straßburger Stadtadligen Johann zur Ausreise zu bewegen. Doch H. wollte Hawart d.Ä. wahrscheinlich. Das Geschlecht
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führt einen Eber im Wappen (Etymologie Hauer-Eberzahn); Vertauschung mit dem Bärenkopf u. Ableitung der Szene auf dem Autorenbild in C sind denkbar (Bleck 1984). Lied III entwirft einen Minnedialog in Anlehnung an Walther von der Vogelweide. Die Dame eines hohen Minneverhältnisses willigt in die Unterredung mit dem Werber ein u. veranlasst ihn zu einer Definition der Minne als wechselseitiges Begehren der Herzen mit Erfüllungsanspruch. Sie zieht sich dann aber aus der Affäre u. lässt ihn im Bekenntnis seines bedingungslosen Dienstes zurück. Die anmutigen Wechselreden sind durch refrainartige Schlusswendungen verbunden. Lied IV kehrt das Schema des Tagelieds um: Der Natureingang evoziert eine tiefe Nacht, in der die Liebenden zusammenliegen, während der Sänger einsam leidet u. um Beendigung seiner Qualen bittet, »so daß ich zum Lachen komme in der Zeit des Morgenrotes« (d.h. dann, wenn den Tagelied-Paaren gerade die Stunde der Trennung schlägt). Ausgabe: Carl v. Kraus (Hg.): Liederdichter des 13. Jh. Tüb. 21978. Bd. 1, S. 143–147. Bd. 2, S. 175–177 (Komm.). Literatur: Norbert Richard Wolf: Tageliedvariationen im späten provenzal. u. dt. Minnesang. In: ZfdPh 87 (1968), Sonderh., S. 185–194, hier S. 190 f. – Ulrich Müller: Untersuchungen zur polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974 (Register). – Ders.: H. In: VL. – Reinhard Bleck: Versuch einer Datierung u. Lokalisierung v. H.s Kreuzzugsliedern. In: FS Elfriede Stutz. Wien 1984, S. 79–89 (ausführlichste Bibliogr.). – Ders.: Ein oberrhein. Palästina-Kreuzzug. In: Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 87 (1987), S. 5–27. Christoph Huber
Hawenreuter, Hauenreuter, Hauvenreut(h)er, Havenreut(t)er, Johann Ludwig, * 1.8. 1548 Straßburg, † 4.10.1618 Straßburg. – Philosoph u. Arzt. H. war der einzige Sohn des langjährigen Straßburger Stadtarztes u. Medizinprofessors am 1538 gegründeten (u. 1566 zur Akademie erhobenen) Gymnasium Sebald Hawenreuter (1508–1589). Nach dem Studium der Philosophie u. Medizin in seiner Heimatstadt u. a. bei Johann Sturm u. Andreas Planer u. in Augsburg bei dem eng mit seinem Vater be-
freundeten Rektor des Gymnasiums bei St. Anna, dem Gräzisten Hieronymus Wolf (1516–1580), wurde H. 1572/73 zunächst zum a. o., nach der Magisterpromotion am 9.2.1574 zum o. Prof. der aristotel. Physik u. Logik ernannt. Am 4.8.1576 heiratete er Magdalena von Bergheim, mit der er fünf Kinder, zwei Töchter u. drei früh verstorbene Söhne, hatte. 1577 erhielt H. ein Kanonikat am Straßburger St. Thomasstift; 1611 wurde er zum Dekan, 1614 zum Probst desselben gewählt. 1585 übernahm er zusätzlich die frei gewordene Medizinprofessur; er orientierte sich dabei, weitgehend praxisfern, an der antiken Medizin, las also über die Schriften Hippokrates’ u. Galens, dessen Ars medica er 1586 in Straßburg herausgab. Im selben Jahr wurde H. mit einer Dissertatio de epilepsia von Planer in Tübingen zum Dr. med. promoviert. Nebenher übte er eine intensive ärztl. Tätigkeit aus (u. a. wurde er von Catherine de Bourbon konsultiert). 1589 gab er die Medizinprofessur wieder ab u. lehrte – neben der Physik, die er weiterhin (wenn auch mit Unterbrechungen) bis zu seinem Lebensende vertrat – fortan Logik u. Metaphysik bis 1595/ 1597 oder 1605 (divergierende Angaben bei Adam, S. 444, u. Sebiz, S. 259, 278, 289), eine in den revidierten Statuten von 1604 (Fournier u. Engel, Nr. 2144, § 18) bestätigte Fächerverbindung, die erst durch H. in Straßburg eingeführt wurde. Sechsmal hatte er das Dekanat inne (1580/81, 1586/87, 1593/94, 1600/01, 1607/08, 1615/16); dreimal wurde er als Vertreter der Mediziner u. Philosophen zum »rector annuus« gewählt (1596/97, 1604/05, 1612/13). Ein Teil der frühen Publikationen H.s stand ganz im Dienst der Verbreitung der pädagog. Ideen seines Lehrers Sturm: Die Schola Argentinensis. Hoc est, epistolarum Ioannis Sturmii classicarum et academicarum schematismoi (Straßb. 1571, mit einer Vorrede Sturms, diese auch bei Fournier u. Engel, Nr. 2059) stellte dessen Straßburger Studiensystem didaktisch einprägsam in nach dihairet. Methode entworfenen Schautafeln dar, ein Verfahren, von dem bereits ein anderer Sturmschüler u. Lehrer H.s, Valentin Erythräus, in seinen oratorischen u. dialekt. Schematismoi (Straßb. 1547 u. 1551) u. Diagrammata
Hawenreuter
(Straßb. 1555) Gebrauch gemacht hatte. In den Bereich der humanistischen Bildung gehörten auch die Adagia classica scholis Argentinensibus digesta (Straßb. 1573), eine nach Unterrichtsklassen gegliederte Sammlung lat. u. griech. Sprichwörter. Doch der Schwerpunkt von H.s noch weitgehend unerforschten Werken lag auf logischem u. naturphilosophisch-medizinischem Gebiet. Verschiedentlich mit dem Ehrennamen ›Aristoteles Argentoratensis‹ bedacht, trat H. nachdrücklich für das Studium der aristotel. Quellen ein u. wandte sich damit nicht allein gegen die Ablehnung des Aristoteles aus religiösen Gründen, sondern – zumindest programmatisch – auch gegen das auf didakt. Vereinfachung abzielende melanchthon. Kompendienwesen auf den protestantischen Hochschulen: »A sexaginta enim [...] annis, compendiis contentae fuerunt Germanicae Academiae« (Vorrede der Zabarella-Ed.). Im Anschluss an den Paduaner Aristoteliker Giacomo Zabarella (1533–1589), dessen Opera logica er 1594 in Basel edierte (Köln [vermutl. fingierter Druckort] 31597. Nachdr. Hildesh. 1966; Ffm. 1608. Nachdr. Ffm. 1968; weitere Ausg.n bis 1623 sowie im Operum omnium [...] systema universale. Ffm. 1654), definierte er die Logik formal nicht als Wissenschaft (›scientia‹), sondern als Instrumentaldisziplin, als »ars instrumentalis« (Syzetesis [griech.] de natura logicae [...]. Resp.: Daniel Fabinus. Straßb. 1599), deren v. a. auch lebensprakt. Nutzen (»in omni vitae genere«) er allenthalben betonte, ohne deshalb die an Cicero anknüpfende humanistische Rhetorisierung dieser Disziplin gutzuheißen: Dialektik verstanden als ›ars disserendi‹ (= Topik) sei Teil der Logik, nicht umgekehrt (Disputatio de natura logicae [...]. Resp.: Philipp Reinhard. Straßb. 1591. Internet-Ed.: HAB. In mehreren Schriften (u. a. Physica oratio, de animi origine. In: V. Erythräus: Oratio, de honoribus academicis [...]: Item, de renunciatione magistrorum philosophiae [...]. Straßb. 1574, S. 56–68) zeigte sich H. als entschiedener Vertreter des Traduzianismus in der umstrittenen Frage des nach-adamitischen Ursprungs der menschl. Seele (»animum in semine humano facultate esse [...], a parentibus
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nostris animum nobis ingenerari«) u. war überzeugt, damit die wahre, d. h. zugleich die bibl. u. die dieser konkordierende aristotel. Lehre zu favorisieren. Von H. ist eine große Zahl von medizinischen u. philosophischen Disputationsthesen überliefert. In seinen sorgfältigen Kommentaren zur aristotel. Physik (Ffm. 1604. Verb. Ausg. Straßb. 1605. 1606 [Betz, Nr. 74]), Metaphysik (Ffm. 1604), Meteorologie u. Seelenlehre u. zu den Parva naturalia (Ffm. 1605), zu De coelo u. De generatione et corruptione (Ffm. 1605. Verb. Ausg. Straßb. 1606) wertete er umfassend die älteren, v. a. alexandrin., u. konfessionsübergreifend die neueren Kommentatoren aus, ohne die Textvorlage dadurch zu überfrachten. Eine von ihm nach dem katechetischen Frage- u. Antwortschema eingerichtete Epitome der gesamten aristotel. Naturphilosophie, die seinen Vorlesungen (nach Schindling, S. 249, bereits seit 1578) zugrundelag, wurde ohne sein Wissen u. gegen seinen Willen nach studentischen Mitschriften veröffentlicht (Compendium physicae [...]. Straßb. 1589. Verb. Ausg. 1593. 1600); sie blieb noch eine geraume Zeit im akadem. Unterricht in Gebrauch, scheint aber keine über Straßburg hinausgehende Wirkung gehabt zu haben. Weitere Werke: Übers.: Gnomologia Demosthenica: Hoc est, sententiae breves et illustres, ex Demothene et Aeschine [...] Hieronymi Wolfii authoritate collectae. Tom. 1: J. L. H. Argentoratense, interprete. Basel 1570. – Hg.: Jacques Bouchereau: Aristotelis florum illustriorum ex universa eius philosophia collectorum, et ad certa quaedam capita revocatorum, libri tres [...] opera J. L. H. Ffm. 1585. 1595. Straßb. 1598. – Oratio de arte medica. Ffm. 1586 (Antrittsrede, Aug. 1585). – Civitas platonica [...]. Resp.: Christian Bruno. Straßb. 1590. – Hg.: Johann Sturm: Partitionum dialecticarum libri IIII. Emendati et scholijs interlinearibus aucti, a J. L. H. Straßb. 1591. – Theses ex praecipuis philosophiae partibus, in Academia Argentoratensi privatis disputationibus propositae et disputatae. Straßb. 1593. 21611. – Sitne animus nobis ingeneratus a deo, necne. In: Psychologia [griech.]: hoc est, de hominis perfectione, animo, et inprimis ortu hujus, commentationes [...] quorundam theologorum et philosophorum nostrae aetatis [...]. Hg. Rudolph Goclenius. Marburg 1594, S. 292–299 (21597, S. 370–377).
101 Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Miriam Usher Chrisman: Bibliography of Strasbourg imprints, 1480–1599. New Haven/London 1982. – Jacques Betz: Répertoire bibliographique des livres imprimes en France au XVIIe siècle. Bd. 7: Alsace. Baden-Baden 1984. – Jean Muller: Bibliographie Strasbourgeoise [...]. Bd. 3, Baden-Baden 1986. – Wilhelm Risse: Bibliographia philosophica vetus. 9 Tle., Hildesh. u. a. 1998. – Porträts: Jean-Jacques Boissard u. Theodor de Bry: Bibliotheca chalcographica [...]. Tl. 7, Ffm. 1669, fol. hh2 (InternetEd.: CAMENA [Abt. Thesaurus Eruditionis: MATEO]. – Paul Freher: Theatrum virorum eruditione clarorum [...]. Nürnb. 1688, Bd. 2, S. 1337. – Weitere Titel: Threnodiae consecratae beatis manibus reverendi [...] J. L. Havvenreüteri [...]. Straßb. 1618 (Beitr. u. a.: Matthias Bernegger, Johann Michael Beuther, Caspar Brülow u. Samuel Gloner). – Johann Monachus (Münch): Christl. Leichpredigt bey der Begräbnuß [...] J. L. H. [...]. Sampt angehäfften Progammatibus, Oratione parentali [...]. Straßb. 1619. – Adam: Vitae germ. medic., S. 442–447 (Internet-Ed.: CAMENA). – Melchior Sebiz d.J.: Appendix chronologica. In: Straßburgischen Gymnasii christl. Jubelfest [...] 1638 celebrirt u. begangen. Straßb. 1641, S. 258 f., 275 f., 278, 289. – Jakob Freudenthal: J. L. H. In: ADB. – Oscar Berger-Levrault: Annales des professeurs des académies et universités alsaciennes 1523–1871. Nancy 1892. – Marcel Fournier u. Charles Engel: Gymnase, académie, université de Strasbourg (= Les statuts et privilèges des universités françaises [...]. Tl. 2, Bd. 4,1). Paris 1894. Nachdr. Aalen 1970 (Register). – Anton Schindling: Humanistische Hochschule u. Freie Reichsstadt. Gymnasium u. Akademie in Straßburg 1538–1621. Wiesb. 1977. – Théodore Vetter: J. L. H. In: NDBA. – Irena Backus: The teaching of logic in two protestant academies at the end of the 16th century. The reception of Zabarella in Strasbourg and Geneva. In: ARG 80 (1989), S. 240–251. – En Basileia polei te¯s Germanias [griech.]: Griech. Geist aus Basler Pressen. Einl. v. Frank Hieronymus. Basel 1992 (Kat.), Nr. 231 (zur ›Gnomologia Demosthenica‹, 1570), S. 327–331. – Jacques Héran: Histoire de la médecine à Strasbourg. Strasb. 1997. – Sachiko Kusukawa: Mediations of Zabarella in northern Europe: the preface of J. L. H. In: La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità [...]. Hg. Gregorio Piaia. Rom/Padua 2002, S. 199–213. Reimund B. Sdzuj
Hay
Hay, Julius, Gyula Háy, auch: Stefan Faber, * 5.5.1900 Abony/Ungarn, † 7.5.1975 Ascona. – Dramatiker, Erzähler. H., Sohn eines Ingenieurs, studierte zunächst Architektur in Budapest. Während der Räterepublik in Ungarn arbeitete er in einem von Georg Lukács geleiteten Volkskommissariat für Unterricht. Aufgrund der Zerschlagung der Revolution musste er nach Deutschland flüchten u. studierte Bühnenarchitektur in Dresden u. Berlin. Nach einem vorübergehenden Aufenthalt in Ungarn siedelte er 1929 endgültig nach Berlin über. In seinem Historiendrama Gott, Kaiser und Bauer (Zürich 1935) behandelt H. in aktualisierender Form die Hussiten-Revolte u. stellt als eigentl. Antrieb für die Kämpfe um Macht u. Religion das Streben nach Geld heraus. Die Berliner Aufführung wurde 1932 abgesetzt, da die SA unter dem Vorwand, H. entstelle »dem deutschen Volk [...] die Urmotive seines geschichtlichen Werdens«, einen Theaterskandal inszenierte u. seine Ausweisung forderte. Nach dem Reichstagsbrand floh der Kommunist H. nach Österreich, 1935 nach Moskau. Im sowjetischen Exil avancierte er zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Exildramatiker. Seine Stücke Haben (Moskau 1938. Bln. 1947) oder Tanjka macht die Augen auf (Moskau 1937) wurden bes. von Lion Feuchtwanger, Alfred Kurella u. Johannes R. Becher als modellhaft für den in dieser Zeit propagierten sozialistischen Realismus hervorgehoben u. damit in Zusammenhang mit der Realismusdiskussion dieser Jahre implizit den Theaterkonzeptionen Brechts u. Piscators entgegengestellt. In Haben versucht H., anhand der Verhältnisse in einem vorindustriellen Dorf in Ungarn die Konkurrenzstrukturen des Kapitalismus aufzuzeigen, u. in Tanjka thematisiert er das Problem faschistischer Agententätigkeit in der Sowjetunion. Die publikumswirksame Gestaltung von H.s Dramen resultiert v. a. aus Detailrealismus, pathet. Konflikten u. volksstückhaften Zügen. 1945 kehrte H. nach Ungarn zurück. Während seine Stücke in vielen europ. Theatern aufgeführt wurden, verschärften sich
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seine kulturpolit. Differenzen mit der ungar. Regierung. Wegen der Beteiligung am Oktoberaufstand war er 1956–1960 in Haft. Ab 1963 hatte H. die Möglichkeit zu verschiedenen Reisen in den Westen. Auf einer dieser Reisen blieb er 1965 in der Schweiz. In seiner Autobiografie Geboren 1900 (Reinb. 1971) schildert H. schließlich die Abkehr vom Kommunismus. Weitere Werke: Aus den Erfahrungen des Sowjettheaters (zus. mit Maxim Vallentin). Weimar 1945. – Gerichtstag. Eine dt. Tragödie. Bln. 1946. – Der Wellenjäger v. Schewtschenko. Wien 1947 (N.n). – Brücke des Lebens. Bln. 1951 (D.). – Dramen. 2. Bde., Bln. 1951–53. Reinb. 1964–66. Literatur: Herbert Ihering: J. H. u. das dt. Theater. In: Aufbau 1 (1945), S. 189–192. – Franz Norbert Mennemeier u. Frithjof Trapp: Dt. Exildramatik 1933 bis 1950. Mchn. 1980. – János Szabó: Der ›vollkommene Macher‹ J. H. Ein Dramatiker im Bann der Zeitgesch. Mchn. 1992. – Éva Hay: Auf beiden Seiten der Barrikade. Erinnerungen. Lpz. 1994. – Peter Gugisch: ›Gleichaltrig mit dem Jh.‹: J. H. (1900–1975). Köln, DLF 2000. – Lex. dt.jüd. Autoren. Mechthild Widdig / Red.
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stellung von bibl. Weisheit u. auf Lebenserfahrung beruhender Schläue versieht H. durchaus mit eigenen Akzenten. Dass auch die in Markolfs Verhalten demonstrierte List in den Augen des Dichters ihre Berechtigung hat, zeigt der Schluss: Markolf, der Salomon nicht nur mit Worten belehrt, sondern ihm auch eine Reihe übler Streiche spielt – weggelassen ist der derbe Backofenstreich der Vorlage –, wird, zunächst zum Tod verurteilt, nicht nur begnadigt, sondern sogar in den Kreis der Ratgeber des Königs aufgenommen. Ausgabe: Felix Bobertag (Hg.): Narrenbuch. Bln./Stgt. 1884. Nachdr. Darmst. 1964, S. 293–361. Literatur: Ernst Schaubach: G. H.s Salomon u. Marcolf. Diss. Lpz. 1881. – Irmgard Meiners: Schelm u. Dümmling in E.en des dt. MA. Mchn. 1967, bes. S. 161–179. – Michael Curschmann: Dialogus Salomonis et Marcolfi. In: VL. – Ders.: G. H. In: VL. – Sabine Griese: Salomon u. Markolfus. Ein literar. Komplex im MA u. in der frühen Neuzeit. Studien zur Überlieferung u. Interpr. Tüb. 1999. – Jutta Eming: Arbeit am Anti-Helden. Zu G. H.s Versversion von ›Salomon und Markolf‹. In: Elizabeth Andersen (Hg.): Texttyp u. Textproduktion in der dt. Lit. des MA. Bln./New York 2005, S. 163–179. Claudia Händl
Hayden, Gregor, 2. Hälfte des 15. Jh. – Verfasser einer deutschen (bairischen) Übersetzung der mittellateinischen Pro- Haym, Rudolf, * 5.10.1821 Grünberg/ saschrift Dialogus Salomonis et Marcolfi. Schlesien, † 27.8.1901 St. Anton/Arlberg. – Literaturhistoriker u. Publizist. In seinem Salomon und Markolf aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. nennt sich H. (vv. 1858 f.) selbst als Autor. Der wohl aus der Oberpfalz stammende Dichter schrieb nach eigener Aussage (VV. 5–7, 1851–1855) für Landgraf Friedrich von Leuchtenberg, den 1459–1487 bezeugten Friedrich VII. H. ist urkundlich nicht nachgewiesen. H.s Salomon und Markolf ist nur in einer Handschrift (zweite Hälfte des 15. Jh.) erhalten. 1870 paargereimte Verse gliedern sich wie die Vorlage, die mlat. Prosaschrift Dialogus Salomonis et Marcolfi, in zwei Teile (Tl. 1 bis v. 625); Vorrede u. Schlussbemerkung sind H.s Zutat. Das Gedicht handelt von der Auseinandersetzung zwischen dem weisen König Salomon u. dem schlauen Bauern Markolf, die ähnlich aus zahlreichen lat. u. volkssprachl. (außer dt. auch ital., tschech., engl. u. niederländ.) Bearbeitungen des Dialogus bekannt ist. Die Didaxe in der Gegenüber-
Der Sohn eines evang. Konrektors u. einer aus hugenott. Familie stammenden Mutter gab unter dem Einfluss der Junghegelianer das 1839 in Halle begonnene Studium der Theologie auf. Er schloss das Studium der Klassischen Philologie 1843 in Halle mit der Promotion u. in Berlin mit dem Staatsexamen für den Schuldienst an Gymnasien ab. Seine Opposition gegen die orthodoxe Kirchenpolitik des preuß. Königs vereitelte 1845 seinen Versuch der Habilitation. Als polit. Publizist veröffentlichte er viel gelesene Sammlungen von Reden u. Verhandlungen des Preußischen Vereinigten Landtags (1847) u. der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt, deren Mitgl. (Rechtes Zentrum) er war, ohne allerdings bes. hervorzutreten. Nach diesmal erfolgreichem Habilitationsversuch in Halle 1850 war H. Redakteur der »Konstitutionellen Zei-
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Hayn
tung«, wurde deshalb aus Berlin ausgewiesen gung gegen eine textgenaue Interpretation u. gründete 1858 die »Preußischen Jahrbü- hinderte ihn, einen Zugang zur Literatur cher«, die er bis 1864 herausgab u. redigierte. seiner Zeit zu finden. H.s Nachlass befindet sich in der UniversiSeit 1860 wirkte H. als a. o., seit 1868 als o. Prof. für Literaturgeschichte in Halle. Ge- täts- u. Landesbibliothek Halle u. in der genstände seiner zumeist in den »Preußi- Deutschen Staatsbibliothek Berlin. schen Jahrbüchern« – wie alle Artikel der Weitere Werke: Das Leben Max Dunckers. Bln. Zeitschrift anonym – publizierten, in glän- 1891. – Aus meinem Leben (bis 1866). Bln. 1902. – zendem Stil verfassten u. im Urteil teilweise Ges. Aufsätze. Bln. 1903. – Ausgew. Briefw. Hg. pointierten Essays waren Ernst Moritz Arndt, Hans Rosenberg. Stgt. 1930. – Briefe Wilhelm DilSchopenhauer, Fichte, Caroline Schlegel, theys an R. H. 1861–73. Hg. Erich Weniger. Bln. Thomas Macaulay u. Varnhagen von Ense, 1936. – Zur dt. Philosophie u. Lit. Ausgew. u. eingel. v. Ernst Howald. Zürich 1963. dessen postum veröffentlichte Tagebücher er Literatur: Hugo Bieber: R. H. In: Schles. Leeiner überaus polem. Kritik unterwarf, was bensbilder 2 (1926), S. 263–271. – Wolfgang HaVarnhagens Wirkung für die Folgezeit errich: R. H. Seine polit. u. philosoph. Entwicklung. heblich minderte. In: SuF 6 (1954), S. 482–527. – Ernst Howald: Der H.s sprachwissenschaftlich angelegtes Literaturhistoriker R. H. In: Dt.-frz. Mosaik. Zürich Frühwerk Wilhelm von Humboldt (Bln. 1856) 1963, S. 199–216. – Margot Krohn: R. H., der Pozeigt das Bemühen um philolog. Detailtreue, litiker u. Hg. der Preuss. Jbb. In: Jb. der Schles. ebenso seine berühmte Arbeit Hegel und seine Friedrich-Wilhelms-Univ. Breslau 15 (1970), Zeit (Bln. 1857. Neudr. Hildesh. 1962. Zuletzt S. 92–145. – Hildegard Herricht: R. H. 1821–1901. Hildesh. 2007), in der sich H.s tiefgreifende Kurzbiogr. u. bibliogr. Übersicht. Halle/S. 1992. – Auseinandersetzung mit der in histor. – u. Sandro Barbera: Eine Quelle der frühen Schopendas hieß bei H. überwundener – Perspektive hauer-Kritik Nietzsches. R. H.s Aufsatz ›Arthur Schopenhauer‹. In: Nietzsche-Studien 24 (1995), gedeuteten Philosophie Hegels widerspieS. 124–136. – Michael Ansel: Prutz, Hettner u. H.: gelt. In der Nachfolge Herders vertrat H. eine Hegelian. Literaturgeschichtsschreibung zwischen kulturgeschichtl. Konzeption, deren Ele- spekulativer Kunstdeutung u. philolog. Quellenmente Sprache, Literatur, Philosophie u. kritik. Tüb. 2003. – Ders.: Hegelian. LiteraturgeKunst bildeten. schichtsschreibung: R. H.s Artikel über Friedrich v. Die Romantik verstand H. als eine umfas- Gentz. In: Stil, Schule, Disziplin. Analyse u. Ersende geistige Bewegung, in der das gesamte probung v. Konzepten wissenschaftsgeschichtl. dt. Geistesleben seinen originären u. sinnfäl- Rekonstruktion (I). Hg. Lutz Danneberg. Ffm. ligen Ausdruck fand. Er hat diese Auffassung 2005, S. 291–317. Michael Behnen in seinem umfangreichen Buch Herder nach seinem Leben und seinen Werken (2 Bde., Bln. Hayn, Henriette Louise von, * 22.5.1724 1877–85. Neudr. Darmst. 1954. Zuletzt Bln. Idstein/Taunus, † 27.8.1782 Herrnhut/ 1978) dokumentiert, mehr noch in seinem Oberlausitz. – Liederdichterin. zweiten Hauptwerk über die Romantische Schule (Bln. 1870. Bearb. von Oscar Walzel Früh von der Frömmigkeit Zinzendorfs er3 1914. Neudr. der Erstausg. Darmst. 1961. griffen, schloss sich die Tochter eines herzogl. Zuletzt Hildesh. u. a. 1977). Dieses Werk ist Oberjägermeisters den Herrnhutern in deren bis in die zweite Hälfte des 20. Jh. von Be- neu errichteter Siedlung Herrnhaag in der deutung geblieben für die in der Literatur- Wetterau an, wo sie 1744 ins Ledige Schweswissenschaft vorherrschende Phaseneintei- ternhaus, zwei Jahre später als Erzieherin in lung der Romantik u. ihre Beurteilung, v. a. die Brüdergemeine aufgenommen wurde. die höhere Wertschätzung der Früh- gegen- 1750 übersiedelte sie nach Großhennersdorf, über der Spätromantik. Ähnlich wie sein 1751 nach Herrnhut u. war zeitlebens PfleHegel-Bild war auch H.s Romantik-Ver- gerin der ledigen Schwestern. H. dichtete zahlreiche Kirchenlieder, von ständnis von einem historisierenden Grundzug geprägt, der den Blick auf die poetischen denen 28 ins Brüdergesangbuch von 1778 Kategorien vielfach verstellte. Seine Abnei- aufgenommen wurden. Die wissenschaftlich
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gebildete Frau, die das NT im griech. Text las, äußert sich hier in tiefem Glauben. Am bekanntesten wurde das Abendmahlslied Weil ich Jesus Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten u. Du bist’s wert, Lamm, für deine Todesmüh, daß dich jeder Blutstropf ehre. Nur diese beiden Lieder wurden auch außerhalb der Brüdergemeine gesungen, in deren »Nachrichten« von 1846 der selbstverfasste Lebenslauf der Dichterin verbreitet wurde. Literatur: Albert Friedrich Wilhelm Fischer: Kirchenlieder-Lexikon. Gotha 1878/79, S. 342. – Joseph Theodor Müller: Hymnolog. Hdb. zum Gesangbuch der Brüdergemeine. Herrnhut 1916, S. 42 ff., 150, 229. – Koch 6, S. 443 ff. – Friedrich Wilhelm Bautz: H. L. v. H. In: Bautz. – Elisabeth Schneider-Böklen: H. L. v. H. Eine Dichterin des Herrnhuter Pietismus. Diss. Marburg 2005. Heimo Reinitzer / Red.
Hayneccius, Heinecke, Martin(us), * 10.8. 1544 Borna, † 28.4.1611 Grimma. – Humanist, Pädagoge u. Schuldramatiker. H. besuchte die Grimmaer Fürstenschule u. studierte seit dem Sommersemester 1562 Philologie in Leipzig; dort erwarb er im Sommer 1565 den Bakkalaureus- u. am 29.1.1568 den Magistergrad. Er war Lehrer in Chemnitz u. Amberg u. seit Ende 1585 Rektor an der Martinsschule in Braunschweig, 1588–1610 Rektor der Fürstenschule zu Grimma. Drei Schulschriften aus seiner Braunschweiger Zeit zeigen einen tiefen Pessimismus in Erziehungsfragen. Wie in ihnen behandelt H. auch in seinem ersten, fünfaktigen Drama Almansor, sive ludus literarius. Comoedia (Lpz. 1578. 21588. Internet-Ed.: CAMENA. Dt. u. d. T.: Almansor, der Kinder Schuelspiegel. Lpz. 1582. 21603 u. d. T. Schulteuffel) als Ursache von Erziehungsproblemen mangelnde Strenge im Elternhaus. Im Gegensatz zu anderen zeitgenöss. Schülerspiegeln behielt er hier die alte humanistische Form des Gesprächs- u. Rezitationsspiels bei. Weit gelungener wirkt H.’ zweites Drama. Hansoframea: sive Momoscopus (Lpz. 1581. 2 1604. Dt. u. d. T.: Hansoframea, Hans Pfriem: oder Meister Kecks [...]. Lpz. 1582. 21603. Magdeb. 1606) ist das Märchen des ewigen
Besserwissers u. Nörglers. Durch ein Versehen in den Himmel gekommen, darf er nur bleiben, wenn er nicht krittelt. Natürlich kann Hans diese Forderung nicht erfüllen. Aber alle, die ihm den Ausweisungsbefehl überbringen, weiß er in die Flucht zu schlagen, indem er sie mit ihren eigenen Sünden demütigt. Schließlich verführt er die unschuldigen Bethlehemitischen Kinder durch Lebkuchen u. Zuckerwerk. Aber – das ist das Neue in der Behandlung durch H. – im Spiel mit den Kindern bricht die harte Schale der Krittelsucht, zeigt sich der seel. Kern einfacher Liebenswürdigkeit. So wandelt sich ein grober Märchenschwank zu einem vertieften Lustspiel, das immer wieder gedruckt u. aufgeführt wurde. Beide Dramen übersetzte H. selbst ins Deutsche. Auch die Captivi des Plautus übertrug er als Der gefangenen leute Trew (Lpz. 1582). Metrisch folgt er Rebhun: metr. u. Sinnbetonung müssen zusammenfallen; doch anders als Rebhun beschränkt sich H. auf jamb. Metren. Vier, sechs-, acht-, zehn- u. zwölfsilbige Zeilen wechseln in derselben Szene ab. Weibliche Reime sind selten; dagegen findet man oft Verse mit zusätzl. oder ausgesparten Senkungen. Weitere Werke: Exequiae, sanctis manibus illustriss. [...] principis, Ludovici, Com. Palatini ad Rhenum [...] pie defuncti [...] Amberg 1583. – Hg.: P. Terentij Afri comoediae residuae sex [...]. Lpz. 1591 u. ö. – Encheiridion e¯thikon (griech.): Compendium moralium praeceptionum [...]. Lpz. 1594 u. ö. – S. S. crucis Iesu Christi salvatoris mundi soteria aeterna [...]. Lpz. 1603. – Medulla Terentiana: hoc est, sententiae, ethicae, politicae, oeconomicae; physicae quoque et historicae [...] e toto corpore superstitum sex comoediarum P. Terentij Afri [...] collecta. Lpz. 1608 u. ö. Ausgaben: Almansor (dt.). Hg. Otto Haupt. In: Neudr.e pädagog. Schr.en 5. Lpz. 1891 (ohne Chöre). – Hans Pfriem. Hg. Theobald Raehse. Halle 1882. – Almansor, der Kinder Schulenspiegel. Textauszüge u. Komm. [...]. Bearb. Hans-Wolfgang Nickel. Hann. 1994 (Textvorlage Ed. Lpz. 1891, modernisierter Text). – H. Pfriem. In: Dt. Dramen v. Hans Sachs bis Arthur Schnitzler. Hg. Markus Finkbeiner. Ffm. 2005 (CD-ROM). Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Jakob Franck: M. H. In: ADB. – Paul Meyer: Aus der Jugendzeit der Fürstenschule
105 Grimma u. dem Leben des M. H. In: Neue Jbb. für klass. Altertum, Gesch., Lit. u. Pädagogik 16 (1905), S. 98–109, 158–171. – Alice Tröthandl-Berghaus: Die Dramen des M. H. Wien/Lpz. 1927. – Frels, S. 120. – Rolf Tarot: M. H. In: NDB. – Barbara Könneker: M. H.: Hans Pfriem oder Meister Kecks. In: FS Marie Luise Dittrich. Göpp. 1976, S. 263–280. – Otto Haupt: Almansor. In: Der prakt. Schulmann 40 (1981), S. 545–566, 641–660. – Helmut Arntzen: ›Vom Himmel durch die Welt zur Hölle‹: drei Beispiele zu einer esoter. Gesch. der dt. Komödie: H. ›Hans Pfriem‹; Lessing ›Nathan der Weise‹; Horváth ›Pompeji‹. In: Komödiensprache [...]. Hg. Ders. Münster 1988, S. 129–151. – HansGert Roloff: Brecht u. das ältere dt. Drama. In: Bertolt Brecht. Actes du Colloque franco-allemand tenu en Sorbonne [...]. Hg. Jean-Marie Valentin. Bern u. a. 1990, S. 117–138. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 315–338 u. 1369–1374. – Estermann/ Bürger, Tl. 1, S. 597. Wolfgang F. Michael † / Red.
Hebbel, (Christian) Friedrich, * 18.3.1813 Wesselburen/Dithmarschen, † 13.12.1863 Wien; Grabstätte: ebd., Matzleinsdorfer Friedhof. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler. H.s Anfänge waren ungewöhnlich schwer. Der Sohn eines früh verstorbenen Tagelöhners wuchs unter Bedingungen auf, die heutzutage kaum mehr vorstellbar sind. Ungewöhnlich begabt u. ehrgeizig in seinem Lebensentwurf, ertrug er harte Entbehrungen, um sich die fehlende Bildung u. damit die Voraussetzung für sein literar. Werk zu verschaffen. 1827 wurde er vom Kirchspielvogt Johann Jakob Mohr als Laufbursche, 1829 als Schreiber in Dienst genommen. Mit 22 Jahren ging er nach Hamburg. Dort lernte er die neun Jahre ältere Näherin Elise Lensing kennen; die beiden Söhne, die aus dieser Verbindung hervorgingen, starben schon im Kindesalter. Sein Jurastudium führte ihn 1836 nach Heidelberg u. München – desillusioniert brach er es 1839 ab u. kehrte nach Hamburg zurück. Der Ertrag seiner literar. Arbeiten (Erzählungen, Gedichte u. bald auch Dramen) reichte nicht zum Leben. Ein karges, von dem Schriftsteller Adam Oehlenschläger vermitteltes Reisestipendium des dän. Königs führte H. 1843 nach Paris, später nach Rom u. Neapel. In Wien heiratete er 1846 die renommierte Burgschauspielerin Christine
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Enghaus (geb. 1817 in Braunschweig), deren Großmut die Versöhnung mit der verlassenen Elise gelang. In den Wiener Jahren erfreute sich H. einer wachsenden, freilich nicht ungetrübten Anerkennung. Auf dem Theater erreichte er erst mit den Nibelungen (Aufführungen in Weimar 1861, in Wien 1863/64) einen nachhaltigen Erfolg, für den er mit dem Schiller-Preis ausgezeichnet wurde. Erst 50jährig, starb H. an »Knochenerweichung«. In späteren autobiogr. Äußerungen hat H. behauptet, dass er nach dem Weggang aus dem Heimatort Wesselburen keine einzige neue »Idee« hinzugewonnen habe. Die Äußerung lässt erschließen, dass sein Weltbild in jungen Jahren zusammengewachsen ist aus dem Selbstgefühl seiner Jugendzeit u. den Leseerfahrungen, denen sich der grüblerische Autodidakt nach der anstrengenden Schreibarbeit in Mohrs Bibliothek überlassen hat. H. hing einem Synkretismus an, in dem sich deistische u. pantheistische, naturspekulative u. myst. Elemente der geistigen Strömungen um 1830 zusammenfanden. Die Spezialforschung hat sich um eine genauere Rekonstruktion dieser Einwirkungen u. Traditionsanschlüsse bemüht u. die Spuren Schellings, des romantisch-spekulativen Naturmystikers Gotthilf Heinrich Schubert sowie des frühen Feuerbach nachzuweisen versucht. Wie sich diese Elemente in H.s Vorstellungswelt verbinden, zeigt dicht zusammengedrängt der Aufsatz Ein Wort über das Drama (1843). Das Drama, das für H. den »Lebensproceß an sich« darstellt, muss die Dominanz des »Weltwillens« u. entsprechend die Depotenzierung des Individuums sichtbar machen, über das eine unvermeidl. Existenzschuld verhängt ist. Die Gottheit ist um den Preis der Selbstentzweiung in die Welt getreten; das Individuum, aus dem Nexus mit ihr entlassen, hat sich durch seine Ichhaftigkeit von ihr losgerissen – notwendig u. schuldhaft zugleich. Im Dualismus, der die Welt u. Gott durchzieht, stellt sich für H. das Sein dar: in einer letzten, nicht mehr zu überbrückenden Aufspaltung, wobei in die dem Individuum zugeteilte Rolle ein nihilistischer Grundzug eingeschrieben ist. In seinem Erstlingsdrama Judith (1839/40. Gedr. Hbg. 1841) gibt H. dem Verhältnis des
Hebbel
Menschen zu Gott eine kühne Deutung. Den Stoff entnahm er, streng protestantisch erzogen u. mit der Bibel vertraut, einem apokryphen Buch des AT; er gab ihm aber mit den Mitteln der modernen Religionskritik u., Jahrzehnte vor Freud, der Psychologie des Unbewussten eine Wendung zur Moderne. Judith geht hinaus vor ihre Heimatstadt, um diese von Holofernes zu befreien, der sie mit einem riesigen Heer belagert. Sie folgt dem Ruf Gottes, wird aber in Wirklichkeit vom libidinösen Drang nach dem insgeheim ersehnten Mann getrieben. Um Judiths Verhalten, ihr »Sich-Selbst-Herausfordern«, zu motivieren, hat ihr der Dramatiker einen prekären Sonderstatus zugewiesen: den einer »jungfräulichen Witwe«. Judith gibt sich dem Holofernes hin u. ermordet ihn aus Rache für ihre als Vergewaltigung erlebte u. erlittene Hingabe. H.s Deutung betont die Ohnmacht Gottes, der selbst diejenigen Menschen fallen lässt, die in seinem Namen handeln. So wird das Drama zu einem Zeugnis für die Religionskritik des 19. Jh. In dem Maße, wie die Gottheit als lenkende Instanz entmächtigt erscheint, gewinnt Judith gerade dadurch, dass sie ihre Schuld annimmt, an sittl. Format. Ihre Tragik wird von H. in Darstellung u. Kommentar (»in Bezug auf den zwischen den Geschlechtern anhängigen großen Proceß«) auch in den Kontext der Mann-Frau-Spannung gerückt, dem – nach E. Dosenheimer (1925) – »zentralen Problem« der H.schen Tragödie. Sein zweites Drama Genoveva (1840/41. Hbg. 1843) greift eine im Volksbuch nacherzählte Heiligenlegende aus dem 8. Jh. auf u. gibt sich als Kontrafaktur zu dramat. Versionen von »Mahler« Müller u. Tieck. H. zentriert sein Drama in der Figur des jungen Golo, dem der Pfalzgraf seine junge Frau für die Dauer seiner Teilnahme am Kreuzzug zum Schutz anvertraut hat. Golos Verehrung für die schöne Pfalzgräfin wird zum Besitzverlangen, da Genoveva durch ihre Reinheit in ihm die Lust des Bösen erregt, das – nach H.s metaphys. Spekulation – derselben »Weltwurzel« entwächst wie das Gute. Von ihr zurückgewiesen, unterwirft Golo die Pfalzgräfin in maßloser Selbstüberhebung einem Gottesurteil, wie er es versteht. Er
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sühnt sein hybrides Schicksalsspiel wie Ödipus theatralisch mit der Selbstblendung. Die in seinem Experiment aufgeworfene Frage, ob das Böse u. das Gute gleichermaßen aus Gott entspringen, wird allerdings weniger im Drama ausgetragen als, davon sekretiert, im Tagebuch (»Weggefallenes aus der Genoveva«). Das Kernstück der Legende – Genovevas Leben im Wald mit ihrem Sohn, ihre Verklärung nach der Wiederbegegnung mit dem Gatten Siegfried – hat H., zunächst ganz in die Golo-Figur verstrickt, erst 1851 als Nachspiel zur Genoveva hinzugefügt. Mit seinem »bürgerlichen Trauerspiel« Maria Magdalena (1843. Hbg. 1844), dem Spätling einer im 18. Jh. heimischen Gattung, ist H. auf der Bühne präsent geblieben. In seinem Drama vergegenwärtigte er weder das materielle Elend einer Familie, noch ging er, was nahe gelegen hätte, gegen Standesunterschiede in der Restaurationszeit an. Vielmehr wollte er, wie er in einem hegelianisch formulierten Vorwort programmatisch darlegte, den Nachweis führen, dass auch in der strikten Beschränkung auf die bürgerl. Lebenswelt eine zwingende tragische Struktur entstehen könne. Obwohl er also nicht versuchte, eine Sonderform der sozialen Tragödie zu entwickeln, tat er den genauesten Blick in das dt. Kleinbürgertum seiner Tage. Das tragische Geschehen entwickelt sich in seiner Zwangsläufigkeit aus der Familiennormalität u. fast alltägl. Vorfällen. Ein unveränderl. Gleichmaß an Pflichten u. Gewohnheiten regelt das Leben im Tischlerhaushalt, wobei ein rigoroses protestantisches Pflichtethos dafür sorgt, dass äußerl. Konventionen nicht minder streng beachtet werden als religiöse Gebote. Meister Anton hat sich aus ärml. Herkunft hochgearbeitet u. gegenüber dem Wohltäter seiner Jugend ein Beispiel von Anstand u. Hilfsbereitschaft gegeben. Doch seine Rechtschaffenheit verhärtet sich nach dem angebl. Diebstahl des Sohnes immer mehr zur Selbstgerechtigkeit. Die Ehre der Familie, ihre öffentl. Unbescholtenheit, geht ihm über alles. Sein Sohn Karl versucht am Ende den Ausbruch, weil ihn die väterl. Ordnungswelt wie ein Käfig einschnürt. Seine Tochter wird von Meister Anton in den Tod getrieben, weil sie ihre unehel. Schwan-
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gerschaft verheimlichen muss, nachdem er für den Fall einer solchen »Schande« seinen Selbstmord angedroht hat. Um der Vergangenheit zu entfliehen u. den Jugendfreund aus der Erinnerung zu verdrängen, hat sich Klara verwirrt dem ungeliebten Leonhard hingegeben, der aber nur auf ihre Mitgift spekuliert hat u. sich zurückzieht, als diese verloren ist. So gerät Klara in bitterste Verlassenheit, die ihr nur den Selbstmord als Ausweg lässt: ein unfreier Freitod ohne eine idealistische Sinngebung noch im Untergang. H. deutet mit dieser Wendung den bibl. Praetext von der Sünderin, der verziehen wird, zu einem düsteren Abgesang auf das Patriarchat im Kleinbürgertum um: Die Tochter opfert sich für den Vater, ohne ihn aus seinem Starrsinn reißen zu können. Nicht Klaras Tod im Brunnen gilt Meister Anton als das eigentl. Skandalon, sondern die befürchtete üble Nachrede der Leute: »Sie hat mir Nichts erspart – man hat’s gesehen!« Er hält auch diesem letzten Schicksalsschlag mit heroischer Kraft stand, ohne freilich in seiner Verblendung das Pharisäerhafte der bürgerl. Doppelmoral zu erkennen. Dass H. seinen bedeutenden Beitrag zur sozialen Dramatik als unvollendet gemäß der Problemstellung oder als inadäquat hinsichtlich der formalen Disposition einschätzte, zeigen Versuche der Fortsetzung bzw. des Gattungsexperiments. Sein Trauerspiel Julia (1845/47. Lpz. 1851) hat er mehrfach als »zweiten Theil zur Maria Magdalena« ausgewiesen: Das Stück stellt Klaras Notlage in ital. Verhältnissen nach, bringt zur Lösung des Problems einen Adligen ins Spiel, der Julia in ehrl. Bußgesinnung helfen, einem späteren Eheglück mit dem Geliebten aber auch nicht im Wege stehen will – eine künstl. Konstruktion, die den moralischen Appell der Maria Magdalena einem Träger im Drama selbst auferlegt, dessen Edelmut einen Gegenentwurf zum realen Adel der Zeit abgeben soll. Der Einakter Ein Trauerspiel in Sicilien (1846/47. Lpz. 1847) ist als »Tragicomödie« deklariert, interessanter freilich in seinem Vorwort, das zukunftsweisend die Mischgattung theoretisiert, die in den Stücken von Ibsen, Tschechow u. ihren Nachfolgern als modernisierte Form des Dramas entwickelt
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wird. H. kehrte in den Wiener Jahren zum Traditionstyp der Tragödie zurück, verzichtete auf die krit. Reflexion von Gegenwartsproblemen u. ließ diese nur implizit mitspielen in der dramat. Vergegenwärtigung von Stoffen aus der Vergangenheit, die er gemäß hegelian. Denkmuster gern an histor. Wendepunkten ansiedelte. Der Vergleich mit dem »Eintritt in eine Bilder-Gallerie« (an S. Engländer, 24.12.1862) unterstreicht rückblickend die bewusste Distanzierung, die H.s histor. Dramatik mit ihrer klassizistischen Stilisierung zu drängenden Fragen der eigenen Zeit einnimmt. Fortan stand sie zwar nicht im Einvernehmen, aber auch nur selten im Gegensatz zu den restaurativen Tendenzen der Nachmärzjahre. Darin sind auch die Rezeptionsschwierigkeiten angelegt, die sich im Umgang mit H.s Wiener Tragödien auf dem Theater u. in der Forschung beobachten lassen: Da ihre literar. Produktivität ein histor. Interesse voraussetzt, finden sie kein rechtes Verständnis mehr, wenn der Sinn für ein solches Aufblättern der fernen Vergangenheit schwindet. In der Tragödie Herodes und Mariamne (1847/48. Wien 1850), die auf antike Quellen (Flavius Josephus) zurückgeht, zeigt sich das wohl prägnanteste Beispiel der ›Geschlechtertragik‹ in der für H. typischen komplexen Motivation des Geschehens. Zwei Liebende richten einander nach mehreren Ehejahren zugrunde, weil ein wechselseitiger Vertrauensverlust eingetreten ist, der den Unterschied zwischen wahrer u. selbstbezogener Liebe, zwischen Schein u. Wirklichkeit nicht mehr erkennen lässt. Die Entfremdung ist bis zu einem gewissen Grad auf polit. Faktoren zurückzuführen: Der judäische König Herodes, der Stammesherkunft nach Idumäer, muss in der Ehefrau Mariamne die Makkabäerin – und also ihre Zugehörigkeit zum polit. Feindeslager – in Rechnung stellen. Seitdem Herodes aus Machtkalkül ihren Bruder hat ermorden lassen, drängt sich zwischen die Eheleute das Gespenst des schuldigen Gewissens. In seine Leidenschaft mischt sich ein Besitzwille, der sich der Frau noch über das eigene Lebensende hinaus versichern möchte, als Herodes zu seinem röm. Oberherrn Antonius – ohne die Ge-
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wissheit der Rückkehr – gerufen wird. Doch Mariamne unterwirft den Mann, dessen Sicherheitsverlangen sie nicht nachvollziehen kann, einer ausgeklügelten Probe, die ihn überfordern muss. Seine rohe Verfügung hat ihr Komplement in ihrem unzugängl. Stolz unter der Bedingung einer wechselseitigen Verkennung, an der sich auch spezif. Geschlechtsnormen von Mann u. Frau ablesen lassen. Herodes stellt seine Gattin zweimal unter einen Todesbefehl – zweimal erfährt sie davon, sieht sich um ihre menschl. Autonomie gebracht (»Ich war ihm nur ein Ding und weiter Nichts!«) u. stürzt schließlich in eine totale nihilistische Desillusionierung (»Ich hatte Nichts, ich habe Nichts, ich werde / Nichts haben!«). Aus Rache spielt sie dem heimgekehrten Herodes die untreue Ehebrecherin vor, als die sie sich von ihm eingeschätzt sieht. Damit zwingt sie ihn, das Todesurteil über sie zu verhängen – mit der einkalkulierten Konsequenz, dass ihn die verspätete Erkenntnis ihrer Unschuld selbst vernichten wird. Diese Ehetragödie, ausgestattet mit allem modernen psycholog. Raffinement, hat H. durch die Angabe ihrer Zeitstelle (»Um Christi Geburt«) strikt historisiert u. in ihren Ablauf ›Zeitmesser‹ eingeschaltet, die dem Despotismus, der Verdinglichung u. den religiösen Auseinandersetzungen ihren geschichtl. Ort anweisen. Am Ende treten drei Könige aus dem Morgenlande auf, die dem Christusknaben huldigen wollen – eine in der H.-Forschung strittig diskutierte abschließende Markierung der Epochenwende in der Vergangenheitsgeschichte, formal die Erfüllung des Hegel’schen Postulats der metatragischen »Versöhnung« im histor. Prozess. Sein »deutsches Trauerspiel« Agnes Bernauer (1851. Wien 1852) schrieb H. in sehr kurzer Zeit u. in Prosa im Hinblick auf eine Aufführung am Münchner Hoftheater (25.3.1852). Er hat damit den Verdacht auf sich gezogen, der obsolet gewordenen Feudaldynastie der in Bayern herrschenden Wittelsbacher seine Aufwartung gemacht zu haben. Den Stoff entnahm er den Vorgängen um ein Augsburger Bürgermädchen, das 1435 wegen Zauberei angeklagt u. in der Donau ertränkt wurde, nachdem der Thronfolger
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Albrecht mit ihr die Ehe eingegangen war. Das Drama stellt den unlösbaren Gegensatz dar, in den Staat u. Individuum in einer Ausnahmesituation geraten können. Albrecht besteht auf seinem individuellen Glück, ohne sich den staatl. Aufgaben entziehen zu wollen. Mit dem dritten Akt setzt die Gegenhandlung ein, durch die das Liebesdrama in ein Staatsdrama übergeführt wird. Der – in einem bayerischen Teilstück – regierende Herzog Ernst, Albrechts Vater, als Wittelsbacher zunächst von dynast. Interessen bestimmt, muss die Ehe des Sohnes missbilligen, ohne ihre sakramentale Verbindlichkeit aufheben zu können. Er bleibt aber nicht kalt kalkulierender Machtpolitiker, als er den Tötungsbefehl über die bürgerl. Schwiegertochter verhängt, sondern will einem sich abzeichnenden Notstand zuvorkommen. Eine ethische Rechtfertigung für den Mord an einem unschuldigen Menschen lässt sich mit allem juristischen Scharfsinn allerdings nicht erklügeln. Auch die polit. Begründung, der Tod eines Menschen sei angesichts eines den Staat bedrohenden Verderbens hinzunehmen, kann nicht überzeugen, denn sie würde ideolog. Missbrauch Vorschub leisten (wie die Konjunktur des Dramas in der NSZeit belegt). Das ausschlaggebende, seinem Gewalthandeln gemäß der Logik eines ›übergesetzlichen Notstands‹ freilich auch keine restlose Legitimation verschaffende Argument des regierenden Herzogs ist die Abwendung des von Albrechts Mesalliance heraufbeschworenen Bürgerkriegs, den die anderen bayerischen Teilherzogtümer aus dynast. Gründen anzetteln würden: »[...] im Namen der Wittwen und Waisen, die der Krieg machen würde [...]: Agnes Bernauer, fahr’ hin!« Der Herzog nimmt die Schuld bewusst auf sich – eine für H. unter den histor. Bedingungen des Feudalstaates unausweichl. Schuld. Je mehr Ernst an Einsicht in die Bedingtheit des fürstl. Tuns u. die Brüchigkeit des Staatsganzen gewinnt, desto mehr verliert Albrecht an Recht, als er im Aufstand gegen den Vater Unschuldige opfert, um den Tod seiner unschuldigen Frau zu rächen. Die Frage ist allerdings nicht abzuweisen, ob H. gut beraten war, den staatl. Auflösungstendenzen nach 1848 mit einem
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Drama auf dieser stoffl. Grundlage entgegenzutreten. Als »das reinste Opfer [...] der Nothwendigkeit«, als »Antigone der modernen Zeit« verherrlicht er die Titelfigur, doch unbefriedigend bleibt, dass H. die polit. Konstellation, in der ein solcher Mord unausweichlich scheinen mochte, nicht in ihrer histor. Kontingenz dargestellt u. wie in den anderen Wiener Wendepunkttragödien unter das Vorzeichen eines Wandels gebracht hat. Formale Meisterschaft erreichte H. mit Gyges und sein Ring (1853/54. Wien 1856), einem Drama ganz im Stil der klassizistischen haute tragédie. Die Fabel ist in den Historien Herodots vorgezeichnet, das Märchenmotiv des Zauberrings stammt aus Platons Politeia. Wieder klingt H.s Grundthema an, die Spannung zwischen den Geschlechtern, u. wieder vergeht sich der Mann an der Würde der Frau, als der Lyderkönig Kandaules im Besitzerstolz seinem Freund Gyges anträgt, mit Hilfe des Rings, der seinen Träger unsichtbar macht, der Entkleidung seiner Gattin Rhodope – ihrer »Entschleierung« – beizuwohnen. Dass diese Verletzung ihrer indischen »Sitte« mehr bedeutet u. dass der Voyeurismus einer schönen Frau gegenüber einen ihre Scham verletzenden Gewaltakt einhüllt, muss der Betrachter zur diskreten klassizistischen Andeutung mitbedenken. Im ebenso energisch wie subtil vorangetriebenen Prozess der Wahrheitsfindung deckt Rhodope die nächtl. Freveltat auf. Sie dringt auf Sühne für die ihr angetane Verletzung u. zwingt die Freunde zum Zweikampf. Kandaules stirbt einen unbegriffenen Tod, denn er fällt für Rhodopes sittl. Gesinnung, die er anerkennt, obwohl er sie in ihrer Bindung an eine abgelebte fernöstl. Kultur nicht versteht. Rhodope bleibt sich selbst treu, wenn sie am Ende ihre zweite Hochzeit nicht mit Gyges, sondern mit dem Tod feiert. Darin allerdings, dass sie Gyges die Ehe in Aussicht stellt (um ihn zum Duell zu motivieren), obwohl doch ihr Selbstmord von vornherein beschlossen ist, kann man das Merkmal eines genau kalkulierten Betrugs ausmachen – das Sittengesetz, auf das sich Rhodope beruft, verlangt nur die Bestrafung des Schuldigen u. nicht das Selbstopfer der »Befleckten«. Im klassizistischen Gewand zeichnen sich moderne
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Seelennöte, Motive von Freuds Hysterieforschung am Ende des Jahrhunderts, ab. In der Struktur liegt wiederum eine histor. Tragödie mit differenzierten Kulturstufen – Gyges steht für das Griechische – vor, deren versöhnender Ausblick in den Abschiedsreden des Kandaules vom »Schlaf der Welt« u. der Respektierung auch solcher Werte, denen nur noch eine fiktionalistische Schätzung zukommen kann, entworfen wird. Mit der Dramatisierung der Nibelungen (1855–60. 2 Bde., Hbg. 1862) stellte sich H. eine mühselige Aufgabe, denn die eigene Fantasie musste zugunsten einer in manchen Partien beinahe übersetzungstreuen Bewahrung des bekannten Stoffs zurücktreten, der im 19. Jh. für die Herbeiführung des Nationalstaates die rechte Heroenschmiede zu bieten schien. Allerdings widersetzen sich die archaischen Figuren des mhd. Epos jeder Modernisierung, wie der bekannte Ästhetiker F. Th. Vischer 1844 in einer Abhandlung dargelegt hatte, die ihrem Titel – Vorschlag zu einer Oper – gemäß auf eine musikal. Behandlung des Stoffs hinauslief. Auf der Linie dieser Empfehlung hat Richard Wagner mit seiner Tetralogie Der Ring des Nibelungen (1848–74. Uraufführung 1876) ein Monumentalwerk des Musiktheaters geschaffen u. den ›Nibelungen-Zweikampf‹ mit H. rezeptionsgeschichtlich klar gewonnen. In der langen Geschichte der Nibelungen-Dramatisierungen bildet H.s Trilogie dennoch ein herausragendes Ereignis. Sie bietet ein originales H.sches Drama mit charakterist. Grundmotiven: so im Männerbetrug gegen die Frau, in der Entwürdigung Brunhilds (»Ich ward nicht bloß verschmäht, / Ich ward verschenkt, ich ward wohl gar verhandelt!«), in der Ermordung Siegfrieds (weil der scheinbar Unverwundbare aus der menschl. Bedingtheit ins Übermaß herausgetreten ist), in Hagens Rachementalität u. seinem heroischen Todestrotz sowie in der Mischung von Raserei u. Erotik bei der mänadenhaften Kriemhild, die in Siegfried ihr Lebensglück verloren hat. Um die Vorgänge zur Kulturstufen-Tragödie zu erhöhen, ordnete H. sie einem triad. Schema zu: Die myth. Welt von Brunhild u. Siegfried, die noch halb heidnische, von den Burgundern repräsentiert,
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schließlich der christl. Äon in Wort u. Tat Dietrichs von Bern, der über einer versinkenden Welt aus dem Ethos des Dienens neue Maße u. Werte aufrichtet. Das Theaterpublikum feierte den Dichter der Nibelungen enthusiastisch; zu den Fürsprechern in der Kritik gesellte sich auch der Realismustheoretiker Julian Schmidt, der H. vorher stets mit polem. Schärfe attackiert hatte. Zwei ambitionierte dramat. Projekte H.s blieben unvollendet, so der Moloch, den er 1845 in Angriff nahm u. in offiziösen Äußerungen 1852 als »Hauptwerk« ausgab, u. der Versuch, Schillers letztes großes Dramenfragment – den Demetrius – zum Abschluss zu bringen, der im Zuge der Ausführung in ein eigenständiges Drama überging. Beide Dichter fassen den russ. Thronprätendenten als charismat. Figur auf, durchdrungen vom Glauben, der legitime Zarewitsch zu sein. In Schillers Entwurf setzt Demetrius auch nach der Einsicht, dass er nicht der Zarensohn ist, seinen Zug nach Moskau fort, vom Ehrgeiz getrieben u. auf sein Glück vertrauend. Bei H. will der Protagonist, als er seinen Thronanspruch verwirkt sieht, sofort auf die Krone verzichten, muss seine Kampagne aber fortsetzen, weil er seinem poln. Bündnispartner, der erhebl. Mittel in Demetrius’ Sache investiert hat, verpflichtet bleibt. Ohne sich auf das Recht oder eine sinngebende Idee berufen zu können, muss er den Widerspruch von uneigennützigem Wollen u. von den Umständen aufgenötigtem Sollen aushalten. H.s Drama, bis weit in den fünften Akt ausgearbeitet, verwendet viel Mühe an die histor. Details, zeigt aber auch die Schwierigkeit, in die Vorgänge mit den vielen Massenszenen u. gehäuften Desillusionierungen Strukturlinien hineinzuzeichnen, wie man sie in seinen früheren histor. Tragödien findet. Wie Schiller starb er über der Arbeit am Demetrius, der als Torso 1864 veröffentlicht wurde. Auch in der Gattung des Lustspiels hat sich H. – mit dem nach der Genoveva 1841 abgeschlossenen Stück Der Diamant (Hbg. 1847) – versucht, dem er in einem Knittelversprolog seine Komödientheorie vorausschickte. Die Entscheidung zwischen »Muse« u. »Aftermuse«, zwischen »Anspiel-Witzen« u. der schweren Aufgabe, am Einzelnen »das ganze
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Weltgetriebe« darzustellen, ist natürlich in der solchermaßen gestellten Alternative schon enthalten – H. verfolgt auch auf dem Feld der Komödie ein universalistisches Konzept u. will sich keinesfalls mit einem bloßen »Zeitbild« begnügen. Entsprechend versucht er – im Anschluss an die traditionelle Stiltrennung –, zwei Spielarten der Komik zu etablieren, eine derb-realistische u. eine fantastisch-nobilitierte. Im Grundmotiv des Lustspiels steckt einige Brisanz, zu der sich ein Gegenstück in den fast zeitgleichen Abhandlungen von Karl Marx’ Zur Judenfrage auffinden lässt: Ein Jude hat einen Diamanten verschluckt u. wird nun Objekt eines Jagdspiels, getrieben von bürgerl. Besitzgier u. höf. Wahn. Dennoch kann der Komödiendichter H. mit dem Theoretiker nicht annähernd Schritt halten – literarisch blitzt sein Diamant nicht. Ein zweiter, von vornherein auf Theatergängigkeit zielender Versuch im Lustspiel (Der Rubin. Lpz. 1851) blieb enttäuschend schwach. Größeres literar. Gewicht hat H.s lyr. Œuvre, in dem es freilich nur selten gelingt, in der Orientierung an dem ›naiven‹ Ton Uhlands die Dominanz des grüblerischen, zu Abstraktion u. Paradoxie tendierenden Individualstils einzudämmen. Auch in dieser Gattung erweist sich der Autor als »Universalist«, der seine Reflexionen nicht immer im gesuchten einfachen Sprachbild auflösen kann. Schon 1842 erschien ein Sammelband Gedichte; weitere Sammlungen folgten 1848 u. 1857. Das Gedicht Sie sehn sich nicht wieder (1841) diente Hofmannsthal als Beispiel für den Symbolcharakter der lyr. Poesie. Zu H.s wichtigsten Gedichten zählen nach verbreiteter Einschätzung Nachtlied (1836, von Robert Schumann vertont), Nachtgefühl (1836), Abendgefühl (1838, von Johannes Brahms vertont), Die Weihe der Nacht (1840), Requiem (1840), Vollendung (1842), Das Heiligste (1842), Welt und Ich (1842), Gebet (1843), Ich und Du (1843, beide von Max Reger vertont), Sommerbild (1844), Herbstbild (1852, von Hans Pfitzner vertont) u. der Zyklus Dem Schmerz sein Recht (1857 zusammengestellt). Bis auf zwei Ausnahmen (Matteo, 1841, u. Die Kuh, 1849) sind H.s Erzählungen vor seinen dramat. Arbeiten entstanden bzw. be-
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gonnen worden. Ihre innere Nähe zum Drama ist ebenso bemerkbar wie die Orientierung an den Mustern, die dem jungen Autor vor Augen stehen: darunter Jean Paul (deutlich in dem »niederländischen Gemälde« Schnock, begonnen 1835, abgeschlossen erst 1847), E. T. A. Hoffmann u. Kleist. Als formbewusster Künstler achtet H. dabei auf die Gattungs- u. Stilspezifika u. mahnt ihre Beachtung polemisch gegen Kritiker wie Julian Schmidt an (Abfertigung eines aesthetischen Kannegießers. 1851). Ein Romanprojekt hat der Autor, dem Gleichmaß u. Geduld als Voraussetzungen für die Bewältigung der epischen Großform versagt waren, nicht ernsthaft verfolgt – nur ein knappes Fragment (Ein Leiden unserer Zeit. Entstanden um 1839/40) wurde 1851 von ihm mitgeteilt. Auch manche Urteile über die Erzählkunst, so die Disqualifizierung Stifters (1858), zeigen H.s fehlenden Sinn für die Eigenart des Epischen. Dagegen gelang es ihm, den Plan eines an Goethes Herrmann und Dorothea angelehnten Versepos mit erstaunl. Geschicklichkeit im Hexameterversmaß auszuführen (Mutter und Kind. Hbg. 1859). Ein armes Paar lässt sich vor der Geburt seines Kindes auf die Abmachung ein, es für zwei Reiche zur Adoption freizugeben – doch die Mutterliebe verhindert die Ausführung dieses Handels. H. hat das Epos als sein »sociales Glaubensbekenntniß« bezeichnet (an Fürstin Karoline Sayn-Wittgenstein, 14.12.1858). Herausragende Bedeutung hat sich H. als Tagebuchautor verschafft, indem er das eigentlich unkünstlerische, das literar. Arbeiten allenfalls begleitende oder kommentierende Genre in den Kunstrang erhob. 28 Jahre hindurch, vom März 1835 an, führte er das »Notenbuch meines Herzens«, das den unmittelbarsten Blick in seine geistige Entwicklung erlaubt (zuerst veröffentlicht durch Felix Bamberg, 2 Bde., Bln. 1885–87). Einfälle (die er »Läuse der Vernunft« nannte) u. Eindrücke, Beobachtungen u. Erlebnisse, Exzerpte u. Briefkonzepte, Aphorismen (oft zum Paradoxon zugespitzt), Maximen u. Aperçus wechseln in dichter Folge. Die soziale u. polit. Welt ist Gegenstand der Betrachtung; das angestrengte Nachdenken gilt den Grundfragen des Daseins: der Schuld,
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dem Leid u. dem Tod, dem Göttlichen u. dem Sinn des Lebens angesichts von Vergänglichkeit u. unsicherer Transzendenz. Bei aller geistigen Experimentierfreudigkeit hält H. an einer moralischen Instanz fest: »Nur eine Uhr geht immer richtig: das Gewissen« (Notat 5457, 1856). Das Tagebuch zeigt H.s Lust am Bizarren u. Grotesken, seine Neigung zu dem Sonderbaren u. zu Geschehnissen, in denen der scheinbare Zufall die unausweichl. Notwendigkeit verlarvt. Durch u. durch subjektivistisch in seinem Gestus, wird H.s Tagebuch auf seine Art zu einem Kompendium des Jahrhunderts, an Faszinationskraft seinen großen Dramen zumindest gleichzustellen. Keineswegs zu hoch greift die Schätzung eines bedeutenden Goethe-Forschers: »Wirklich eines Königs Schatzkammer! [...] Hebbels [...] Tagebücher [...] sind die großartigste Aphorismensammlung, die es in deutscher Sprache gibt« (E. Beutler, 1943). Als Dramatiker trat H. apologetisch für den Traditionstypus der metaphys. Tragödie ein, setzte die Philosophie des Tragischen (Schelling, Solger u. Hegel) als theoret. Norm voraus u. führte formtypologisch weiter, was Schiller u. Kleist begonnen hatten. Sein persönl. Stilelement ist der zum Paradoxen drängende Aphorismus, nicht immer problemlos mit den respektierten Gattungsnormen verbunden, so dass manche Wendungen in den Dramen intellektuell ›übersteuert‹ wirken. Die komplexen Strukturen seiner Texte, verbunden mit diplomatischen Formulierungen in der Korrespondenz, verschaffen der Forschung ein immer wieder neu auszuleuchtendes Feld. Die ältere Forschung (z.B. A. Scheunert mit dem Leitbegriff des »Pantragismus« 1903) hat H.s Dramen als Ableger (»Pfropfreiser«) der Theorie des Tragischen beschrieben. Eine neue Wendung führte K. Ziegler 1938 ein, indem er die Dramen von den begleitenden Theoremen u. Selbstdeutungen H.s löste u. existenzialistische Problembeschreibungen unter dem Vorzeichen einer nihilistischen Weltentwertung einführte – mittlerweile vielfach widerlegt, doch forschungsgeschichtlich außerordentlich wirksam, auch durch die Provokation zum Widerspruch. Gegen Ziegler opponierten vor allem H. Kreuzer u. W. Witt-
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kowski in mehreren, über Jahrzehnte vorgelegten Forschungsbeiträgen. Wittkowski betonte gegen die Nihilismusthese die ethischen Gehalte in H.s Drama u. schloss sich damit an W. Liepe an (der zum anderen nach Paul Bornstein quellenphilolog. Nachweise zur Erforschung von H.s Anfängen geführt hat). Kreuzer knüpfte an E. Dosenheimers These von der »Geschlechtertragik« als dem »zentralen Problem« der H.schen Tragödie an u. rekonstruierte differenzierend die spezif. Normen, die für den Mann u. die Frau, aber auch den Jüngling gelten. In den Jahren nach 1970 erreichten die damals hervortretenden sozial- u. ideologiekrit. Fragestellungen (teils auf Spurensuche in seinen Texten, teils den Autor tribunalisierend) die Auseinandersetzungen um H. (u. a. L. Lütkehaus u. H. Martin, 1976). Auch die Zuordnung H.s zu der Gruppierung der »Junghegelianer« durch F. Sengle (1980) hat keine nachhaltige Resonanz gefunden. Die gegenwärtige Forschungslage ist nicht durch die Ausrichtung auf eine beherrschende These u. nachfolgende kontroverse Diskussionen gekennzeichnet, sondern zeigt ein Nebeneinander unterschiedl. Ansätze in der Einschätzung der Texte, ihrer kategorialen Erschließung u. ihrer epochengeschichtl. Einordnung, so dass die alte u. für entschieden gehaltene Frage wieder offen erscheint, ob H. mit seinem literar. Profil der »realistischen Literatur« zuzurechnen ist. Der bildungshungrige Autodidakt hinterließ trotz seines frühen Todes ein beeindruckendes, der Not abgerungenes, in seiner Formgesinnung von der Epochensignatur des »Realismus« nur partiell geprägtes Werk. In den späteren Jahren oft unterwegs zu fernen histor. Regionen – im Falle des Moloch sogar am Leitfaden einer eigenen Erfindung –, ist dieser Autor in seinem Œuvre facettenreich genug, um auch die künftige Forschung vor neue u. lohnende Aufgaben zu stellen. Dem Anspruch der tradierten Tragödienform ergeben, zeigt er zum anderen in der komplexen Motivation von Figuren u. Geschehnissen eine die Moderne antizipierende Psychologie, bes. in der immer wieder nicht nur von ihm thematisierten Frage nach dem Verhält-
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nis der »Geschlechter«, für die ihm eine diskursprägende Bedeutung zuzusprechen ist. Weitere Werke: Gesamtausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Emil Kuh. 12 Bde., Hbg. 1866. – F. H.s Tagebücher. Hg. Felix Bamberg. 2 Bde., Bln. 1885–87. – Sämtl. Werke. Hg. Hermann Krumm. 14 Bde., Lpz. 1913. – Historisch-kritische Ausgabe: Sämtl. Werke. Hg. Richard Maria Werner. 3 Abt.en in 24 Bdn., Bln. 1904–07 (die 3. Aufl. ist die sog. Säkularausg. v. 1911–13). – Auswahlausgaben: Sämtl. Werke nebst den Tagebüchern u. einer Ausw. der Briefe. Hg. Paul Bornstein. 6 Bde. [mehr nicht ersch.], Mchn. 1911–26. – Werke. Hg. Gerhard Fricke u. a. 5 Bde., Mchn. 1964–67. – Zeugnisse: F. H.s Briefw. mit Freunden u. berühmten Zeitgenossen. Hg. F. Bamberg. 2 Bde., Bln. 1890–92. – H. in der zeitgenöss. Kritik. Hg. Hans Wütschke. Bln. 1910. – F. H.s Persönlichkeit. Gespräche, Urteile, Erinnerungen. Hg. P. Bornstein. 2 Bde., Bln. 1924. – Der junge H., Wesselburen. Lebenszeugnisse u. dichter. Anfänge. Hg. ders. Bln. 1925. – F. H.: Briefw. 1829–1863. Hist.-krit. Ausg. Hg. Otfrid Ehrismann u. a. 5 Bde., Mchn. 1999. Literatur: Bibliografien: Hans Wütschke: H.-Bibliogr. Ein Versuch. Bln. 1910. – U. Henry Gerlach: H.-Bibliogr. 1910–1970. Heidelb. 1973 (Forts.en im H.-Jb. 1983, S. 157–189, im H.-Jb. 1986, S. 129–141 [v. Dieter Lohmeier], im H.-Jb. 1992, S. 117–141 u. im H.-Jb. 2003, S. 123–158). – Ders. (Hg.): H.-Museum. Verz. seiner Bibliotheks- u. Archivbestände. Wesselburen 1981 (Nachträge v. Martin-M. Langner im H.-Jb. 1986, S. 117–128). – Periodica: H.-Jb. (hg. v. der H.-Gesellsch. in Wesselburen) u. H.-Schriftenreihe (hg. v. der H.-Gesellschaft in Wien in loser Folge). – Gesamtdarstellungen: Emil Kuh: F. H. Eine Biogr. 2 Bde., Wien 1877. – Paul Bornstein: F. H. Ein Bild seines Lebens, auf Grund der Zeugnisse entworfen. Bln. 1930. – Anni Meetz: F. H. Stgt. 1962 (danach mehrere aktualisierte Neuaufl.). – Hayo Matthiesen: F. H. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1970. Nachdr. 1984. – Monografien und Sammelbände: Arno Scheunert: Der Pantragismus als System der Weltanschauung u. Ästhetik F. H.s. Hbg. 1903. – Oskar Walzel: F. H. u. seine Dramen. Lpz./Bln. 1913. – Martin Sommerfeld: H. u. Goethe. Studien zur Gesch. des dt. Klassizismus im 19. Jh. Bonn 1923. – Elise Dosenheimer: Das zentrale Problem in der Trag. F. H.s. Halle 1925. Neudr. Darmst. 1974. – Klaus Ziegler: Mensch u. Welt in der Trag. F. H.s. Bln. 1938. Neudr. Darmst. 1966. – Benno v. Wiese: Die dt. Trag. v. Lessing bis H. Hbg. 1948 (mehrere Neuaufl.n). – Joachim Müller: Das Weltbild F. H.s. Halle 1955. – Gerhard Fricke: Studien u. Interpr.en. Ausgew. Schr.en zur dt. Dichtung. Ffm. 1956
113 (mit mehreren H.-Studien). – Helmut Kreuzer: Die Trag.n F. H.s. Versuch ihrer Deutung in Einzelanalysen. Diss. Tüb. 1956. – Helga Frisch: Symbolik u. Tragik in H.s Dramen. Bonn 1961. – Fritz Martini: Dt. Lit. im Bürgerl. Realismus (1848–98). Stgt. 1962 (mehrere Neuaufl.). – Wolfgang Liepe: Beiträge zur Lit.- u. Geistesgesch. Neumünster 1963 (mit mehreren H.-Studien). – H. Kreuzer (Hg.): H. in neuer Sicht. Stgt. 1963. – Gert Kleinschmidt: Die Person im frühen Drama F. H.s. Lahr 1965. – Heinz Stolte: F. H. Welt u. Werk. Hbg. 1965. – Peter Michelsen: F. H.s Tagebücher. Eine Analyse. Gött. 1966. Neuaufl. Würzb. 1995. – Wolfgang Wittkowski: Der junge H. Zur Entstehung u. zum Wesen der Trag.n H.s. Bln. 1969. – Herbert Kraft: Poesie der Idee. Die trag. Dichtung F. H.s. Tüb. 1971. – Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. 3 Bde., Stgt. 1971–80 (zu H. u. a. eine Porträtstudie: Bd. 3, S. 332–414). – Wolfgang Ritter: H.s Psychologie u. dramat. Charaktergestaltung. Marburg 1973. – Hannelore u. Heinz Schlaffer: Studien zum ästhet. Historismus. Ffm. 1975 (mit einer H.-Studie). – Mechthild Keller: Studien zu H.s dramat. Technik. Köln 1975. – Ludger Lütkehaus: H. Gegenwartsdarstellung – Verdinglichungsproblematik – Gesellschaftskritik. Heidelb. 1976. – Helmut Martin: ›Besitzdenken‹ im dramat. Werk F. H.s. Studien zu einem histor. Verständnis des Dichters. Nürnb. 1976. – Birgit Fenner: F. H. zwischen Hegel u. Freud. Stgt. 1979. – Hilmar Grundmann (Hg.): F. H. Neue Studien zu Werk u. Wirkung. Heide 1982. – Herbert Kaiser: F. H. Geschichtl. Interpr. des dramat. Werks. Mchn. 1983. – Regine Fourie: Das ›Abgrund‹-Motiv in H.s Tagebüchern u. Trag.n. Stgt. 1984. – Ida Koller-Andorf (Hg.): H. Mensch u. Dichter im Werk. Wien 1985. – Dies. (Hg.): H. Mensch u. Dichter im Werk. Wegweiser zu neuem Humanismus. Wien 1987. – H. Kreuzer: F. H. Darmst. 1989. – Hartmut Reinhardt: Apologie der Trag. Studien zur Dramatik F. H.s. Tüb. 1989. – Volker Nölle: H.s dramat. Phantasie. Versuch einer Kategorialanalyse. Bern 1990. – I. Koller-Andorf (Hg.): H. Mensch u. Dichter im Werk. Neue Wege zu H. Wien 1990. – Heinz Stolte: Im Wirbel des Seins. Erkundungen über H. Heide 1991. – Günter Häntzschel (Hg.): ›Alles Leben ist Raub‹: Aspekte der Gewalt bei F. H. Mchn. 1992. – Hargen Thomsen: Grenzen des Individuums. Die Ich-Problematik im Werk F. H.s. Mchn. 1992. – Jens Dirksen: ›Die wurmstichige Welt‹. H.s Lyrik. Ffm. 1992. – I. Koller-Andorf (Hg.): H. Mensch u. Dichter im Werk. Wien 1995. – Andrea Stumpf: Literar. Genealogien. Untersuchungen zum Werk F. H.s. Würzb. 1997. – Claudia Pilling: H.s Dramen. Ffm. 1998. – Friedrich A. Kittler: H.s Einbildungskraft. Die dunkle Natur. Ffm. 1999. – Andrea
Hebel Rudolph: Genreentscheidung u. Symbolgehalt im Werk F. H.s. Ffm. 2000. – H. Kaiser: F. H. Schmerz u. Form. Perspektiven auf seine Idee des Tragischen. Ffm. 2006. – W. Wittkowski: Die Trag.n F. H.s. Ihre Aktualität heute. Ffm. 2006. Werner Keller / Hartmut Reinhardt
Hebel, Johann Peter, * 10.5.1760 Basel, † 22.9.1826 Schwetzingen; Grabstätte: ebd. – Verfasser von Gedichten in alemannischer Mundart u. von Erzählungen. Als Kind lebte H. sommers in Basel, wo die Eltern, Johann Jakob Hebel aus Simmern im Hunsrück, urspr. Leinweber, u. Ursula, geb. Örtlin, aus Hausen im Wiesental, im Dienste einer Basler Patrizierfamilie standen. Winters zog die Familie nach Hausen. Nach dem frühen Tod des Vaters (u. auch von H.s Schwester, 1761) behielt die Mutter diesen Turnus bei. H. besuchte an beiden Orten die Schule. Er wurde geprägt durch frühe Erfahrung der Verschiedenheit von Stadt- u. Landleben u. auch der Landschaften, durch das Innewerden seiner niederen Herkunft, durch die Nähe zu seiner Mutter, durch deren Frömmigkeit u. deren Tod an seiner Seite (1773), auf dem Wege von Basel nach Hausen. H. hatte zuletzt die Lateinschule in Schopfheim besucht. Förderung durch Lehrer u. Vormund sowie eine kleine Erbschaft ermöglichten ihm, 1774 in das Karlsruher Gymnasium illustre einzutreten, das er 1778 abschloss. Nach dem Studium der Theologie in Erlangen bestand H. 1780 in Karlsruhe das Examen u. wurde als Kandidat für das Schulu. Pfarramt aufgenommen. Zunächst bot sich ihm nur die Stelle als Hauslehrer bei einem Pfarrer im südbadischen Hertingen, auf dessen Betreiben er 1782 ordiniert wurde, so dass er in Predigt u. Seelsorge aushelfen durfte. Zugang zu dessen reichhaltiger Bibliothek ermöglichte H. in dieser Zeit, sich selbstständig in Theologie, Literatur u. Weltwissen umzusehen. 1783 erhielt er eine Lehramtsstelle (Präzeptoriatsvikar) am Pädagogium in Lörrach. Dort blieb er über acht Jahre; seine Unterrichtsfächer reichten von Religion, Latein, Griechisch bis zu Algebra, Geometrie u. Geografie. Daneben durfte er auch predigen. In dieser Zeit bildeten sich für H. bleibende
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Freundschaften aus; es entstand der mystagog. Bund der Proteuser, in dem Erfahrungen aus studentischen Geheimverbindungen u. eigenwilliger Philosophie in spielerischem Ernst fortbetrieben wurden. 1791 wurde H. als Subdiakon an das Karlsruher Gymnasium berufen. Neben der schulischen Lehrtätigkeit hielt er gelegentlich Predigten in der Schlosskirche. 1792 wurde er Hofdiakonus, 1798 Professor extraordinarius; er wurde mit dem Titel eines Kirchenrats ausgezeichnet, 1808 zum Direktor des Gymnasiums u. im folgenden Jahr zum Mitgl. der evang. Kirchen- u. Prüfungskommission ernannt. 1814 wechselte H. von der Schuldirektion in die evang. Ministerialsektion, erteilte aber weiterhin, wenn auch vermindert, Unterricht am Gymnasium. 1819 wurde er Prälat der evang. Landeskirche u. in dieser Position Mitgl. der ersten Kammer des Badischen Landtags sowie der kirchl. Generalsynode. Er förderte den Zusammenschluss der luth. u. der reformierten Kirche in Baden zur Union u. erhielt in Anerkennung hierfür 1822 das theolog. Ehrendoktorat der Universität Heidelberg. Am 22.9.1826 starb H. auf einer schulischen Inspektionsreise in Schwetzingen, wo er begraben wurde. Sein Lebensgang war bestimmt u. erfüllt durch seine Ämter im Dienste von Schule u. kirchl. Verwaltung. Er hielt durch Reisen u. Briefe Verbindung zu den Freunden in seiner südbadischen Heimat u. zu seiner – in Karlsruhe nicht beheimateten – alemann. Sprache. In diesem tätigen Leben stand das poetische Schaffen nicht eigentlich im Mittelpunkt; H. hat sich nie in einem klassifizierenden Sinne als Dichter oder Schriftsteller gesehen. Die Entstehung der alemann. Gedichte, die H. schlagartig berühmt machten, erscheint in seinem Lebensgang wie eine Episode. Er schrieb im Rückblick (1811): »Im 28sten Jahr, als ich Minnesänger las, versuchte ich den allemannischen Dialekt. Aber es wollte gar nicht gehn. Fast unwillkührlich, doch nicht ganz ohne Veranlassung fieng ich im 41.ten Jahr wieder an. Nun gings ein Jahr lang frölich von statten. ... Aber seit die Gedichte gedrukt sind, thut die Muse wieder kalt, als ob ich wider ihren Willen das Geheimniß ihrer Gunst verrathen hätte. Wenn ich mich
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recht fühle u. schätze, so kann ich seitdem nur noch mich selbst nachahmen« (Z. Nr. 309, nach der Handschrift korrigiert). Aus früherer Zeit ist Brieflich-Scherzhaftes im Dialekt bekannt, u. auf einer Vorstufe zum ernsthaften Unternehmen entstand eine übermütige, Derbes nicht vermeidende u. zgl. doch schon sehr um Form bemühte erste Fassung des Statthalter von Schopfheim. Die eigentliche schöpferische Periode des Dichtens im Dialekt – von H. als herculeum opus bezeichnet (Z. Nr. 55) – währte kaum länger als ein Jahr. Anfang des Jahres 1803 erschienen anonym Allemannische Gedichte. Für Freunde ländlicher Natur und Sitten (Karlsr.: Macklot. 2. Ausg. ebd. 1804, mit Nennung des Autors). Die 32 Gedichte handeln von der Natur u. dem bäuerl. Lebensalltag in H.s Oberländer Heimat. Sie erzählen Sagenstoff, auch biblischen, der zu heimischer Sage umgeformt ist, haben eine Spannweite vom heiteren Diesseits bis zum Jüngsten Tag, zeigen Grausames u. lassen schaudern, entbehren nie der Frömmigkeit u. erteilen manche Lehre. Es sind Lieder dabei (vier Vertonungen sind dem ersten Abdruck beigebunden) u. zur Erprobung der Sprache wurden verschiedene Versmaße versucht, bis hin zum Hexameter, in den sich die alemann. Sprache wohl einfügt. Der Erfolg, weit über die Grenzen des Dialekts hinaus, übertraf jede Erwartung u. erfüllte H. mit Stolz – u. zgl. mit Unbehagen. Große der Literatur schrieben begeisterte Rezensionen, so J. G. Jacobi u. Jean Paul. Goethe besprach sehr lobend u. sagte, H. habe auf die »naivste, anmutigste Weise durchaus das Universum verbauert« (Jenaer Allgemeine Literaturzeitung, 13.2.1805). Anregungen aufnehmend, machte H. für die dritte Ausgabe (1806) durch manche Glättung den Text dem des Dialekts Unkundigen verständlicher; diese neue Fassung wurde Grundlage der nachfolgenden Ausgaben, deren Text von H. nicht mehr beeinflusst wurde, indes durch Setzfehler manche kleine Änderung erfuhr. H. fügte der 5. Ausgabe (Aarau 1820) zwölf weitere, zwischen 1803 u. 1810 entstandene u., mit einer Ausnahme, bereits gedruckte Gedichte bei. Zu H.s Lebzeiten erhielten die Allemannischen Gedichte sechs autorisierte Auflagen; zehn
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unberechtigte Ausgaben wurden von Nachdruckern vermarktet. Es erschienen vier verschiedene hochdt. Übertragungen. Weitere Übersetzungen folgten nach, auch in anderem Dialekt. Der Erfolg hielt an. Im 19. Jh. waren die Allemannischen Gedichte einer der am häufigsten im Druck aufgelegten Titel der dt. Literatur. Im Gegensatz zu den Gedichten schrieb H. die Kalendergeschichten nicht spontan, sondern in Erfüllung eines Auftrags u. zum jährl. Termin. Der Vorgänger, der »Badische Landkalender«, war Privilegium u. Einnahmequelle des Karlsruher Gymnasiums u. fand wenig Anklang beim Publikum. H. wurde 1802 in die Kalenderkommission berufen u. aufgefordert, Beiträge zu liefern, für ihn zunächst lediglich ein Zuwachs an Amtsgeschäften; er klagte, man mache ihn »mit Gewalt zum Schriftsteller« (Z. Nr. 70). Aufgrund seines 1806 eingereichten Unabgeforderten Gutachtens über eine vortheilhaftere Einrichtung des Calenders wurde ihm die alleinige redaktionelle Verantwortung übertragen. Er gab dem Kalender ab 1808 eine freundlichere Aufmachung u. den Titel Der Rheinländische Hausfreund oder Neuer Calender auf das Schaltjahr 1808, mit lehrreichen Nachrichten und lustigen Erzählungen. Carlsruhe, im Verlag des Großherzogl. Lyceums. Der von H. verfasste Leseteil beginnt gelegentlich mit einer Vorrede des Hausfreunds; am eigentl. Beginn des Textteils steht ein kosmolog. Beitrag, der mit didakt. Geschick u. literar. Transformation von Abstraktem in sinnlich Fassbares die komplizierten Zusammenhänge begreifbar macht. Es folgen kurze Erzählungen, die das gesamte Spektrum menschl. Lebens umfassen. Sie handeln von Kaisern u. Dienstboten, schildern kluges, listiges oder dummes Verhalten, geben das Vorbild edler Taten, aber auch Gaunergeschichten u. derbe Späße. Die Erzählebene wird häufig durchbrochen durch Kommentare der Erzählerfigur, des Hausfreunds. »Dem Hausfreund ists aber bey dieser Geschichte nicht halb so angst, als dem geneigten Leser, denn ohne seinen Willen kann der Amtmann nicht sterben« (Vereitelte Rachsucht. 1810). Nur im Kontext dieses metakommunikativen Bereichs können die häufig kritisierten Moralregeln, mit denen H.
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die Geschichten schließt, verstanden werden. Sie sind ein Spiel mit dem Leserbedürfnis nach fassbarer Nutzanwendung, das nicht selten nur scheinbar befriedigt – »Das war fein und listig, aber eben doch nicht recht« (Der schlaue Husar. 1807) – oder auch explizit verweigert wird – »Der Hausfreund denkt etwas dabey; aber er sagt’s nicht« (Der Wasserträger. 1812) – u. gerade dadurch das Nachdenken über die Geschichte provoziert. Eingestreut ist Belehrend-Informatives wie die Warnung vor krankheitsinfizierten Kleidungsstücken oder die Erklärung neu eingeführter Maße u. Gewichte. Das polit. Zeitgeschehen wird beachtet, wenn auch nicht regelmäßig. H. setzte sich hohe Ziele: »Ich habe mich vom ersten Augenblick an nicht begnügt den Calender blos zu redigiren, und in Parallele mit andern großentheils durch kahle Auszüge aus Zeitungen, Anekdotenbüchern und wässerigen Volksschriften anzufüllen. Ich habe noch jeden Articel selber bearbeitet und dieser Arbeit die nemliche Zeit, den Fleiß und die Stunden der besten Laune gewidmet, die ich irgendeinem Werk auf eigenen Namen und eigene Rechnung hätte widmen können, und so leicht alles hingegossen scheint, so gehört bekanntlich viel mehr dazu etwas zu schreiben, dem man die Kunst u. den Fleiß nicht ansieht, als etwas dem man sie ansieht und das in der nemlichen Form um den Beyfall der Gebildetsten zugleich und der Ungebildetsten ringt.« (Z. Nr. 277) Der Name H.s ist im Kalender nirgends genannt. Am bekanntesten wurde Unverhofftes Wiedersehn (1811). Die dichterische Bearbeitung dieser Geschichte war in einem Preisausschreiben ausgelobt worden. An diesem beteiligte sich H. nicht, gab vielmehr seinen Kalenderbeitrag, der in seiner artifiziell strukturierten Komposition herausragt (vgl. Steiger 1998). Diese Erzählung wurde sehr bewundert; so ist überliefert, dass Goethe sie am 16.11.1810 in einer Gesellschaft vorlas u. die Zuhörer zum Weinen rührte. Der Stoff von H.s Erzählungen ist in aller Regel nicht eigene Erfindung, sondern übernommen von anderen Erzählungen, Anekdoten, Berichten usw. Was H. unterscheidet u. auszeichnet, ist seine sprachl. Umsetzung
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des vorgegebenen Stoffs in eine Prosa, die kunstvoll kompliziert ist u. doch immer leicht aufzunehmen, die den Leser als einen Hörenden anspricht, in einer Rhetorik der Mündlichkeit, die sich der Grammatik frei bedient, ungewöhnl. Wortstellungen u. den Anakoluth nicht scheut u. in ihrem Rhythmus den Sinn hervorlauten lässt. Es ist ein höchst bewusstes Sprechen, das sich als solches aber nicht verrät. Erfunden hat H. einige wiederkehrende Personentypen, wie den Zundelfrieder u. den Zirkelschmied, aber auch deren Handeln liegt übernommener Stoff zugrunde. Eine Geschichte des Jahrgangs 1815, Der fromme Rath, wurde vom kath. Klerus als Beleidigung der Religion missverstanden, der vollständig ausgedruckte Kalender wurde eingezogen u. die Seiten dieses Textes ausgetauscht. H. nahm das zum, vermutbar nicht ganz unwillkommenen, Anlass, die Redaktion niederzulegen. Später gab er indes nochmals den Jahrgang 1819 heraus. – Der Wegfall des Auftrags bedeutete zgl., dass H. keine literar. Prosa mehr produzierte. Eine einzige Erzählung H.s ist außerhalb des Kalenderauftrags entstanden, u. diese ist nicht Bearbeitung eines vorgegebenen Stoffs: Der Spaziergang an den See. Gedruckt wurde sie, ohne Nennung des Autors (u. deshalb von der späteren H.-Forschung nicht wahrgenommen), 1820 in Cottas »Morgenblatt für Gebildete Stände«. Es ist eine rationale u. emotionale Geschichte voller sich kreuzender philosophisch-theologischer, liebes- u. lebensvoller Motive, eindeutiger Interpretation sich ironisch entziehend – gänzlich in H.s funkelndem Sprachstil. Auf Wunsch des Verlegers Cotta stellte H. aus den Beiträgen der Jahre 1803 bis 1811 das Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes zusammen, das fast die Gesamtheit der Texte in der Reihenfolge ihrer urspr. Erscheinung (nicht also, wie oft behauptet, eine Auswahl der besten) enthielt, die nur geringfügig redigiert waren, um Kalendergemäßes der Veröffentlichung als Buch anzupassen. Den späteren Bitten des Verlegers, aus den danach erschienenen Geschichten einen zweiten Band zu bilden, kam H. nicht nach.
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Das letzte große Werk H.s, Biblische Geschichten, entstand abermals auf Grund eines Auftrags (1818), den er sich durch ein Gutachten in streitiger Auseinandersetzung über Einrichtung einer Biblischen Geschichte zum Gebrauch in den protestantischen Schulen Badens zugezogen hatte. Das Werk erschien zuerst als öffentl. Ausgabe bei Cotta im Dez. 1823; die intendierte Schulausgabe kam im April 1824 in billigerem Druck u. zu niedrigem Preis im Verlag des Karlsruher Lyceums heraus. Im Gegensatz zu den Kalendergeschichten, die in ihrer mehrschichtigen Rezeption auch in die Rubrik der Jugendliteratur verwiesen wurden, sind die Biblischen Geschichten tatsächlich für die Jugend, also für diesen begrenzten Adressatenkreis, geschrieben worden. Die sprachl. Stilmittel H.s finden sich auch hier, angewandt jedoch in bewusster Hinwendung auf das Verständnis junger Menschen. Das minderte die Chance der Biblischen Geschichten, als hohe Literatur wahrgenommen zu werden. Das Buch fand bald auch Verwendung im kath. Religionsunterricht, für den zwei Überarbeitungen angefertigt wurden, eine autorisierte, ebenfalls bei Cotta erschienene, u. eine unberechtigte. (Im Rahmen der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe verzeichnet die Edition der Biblischen Geschichten im Anhang die Abweichungen der berechtigten kath. Ausgabe.) Briefe H.s wurden seit 1860, dem Jahr des ersten groß begangenen H.-Jubiläums, in größerem Umfang veröffentlicht. Wurden sie zunächst vornehmlich als Lebenszeugnisse eines Mannes gelesen, dessen Biografie bei seiner repräsentativen Bedeutung für das Selbstverständnis des dt.-alemann. Raums immer schon von Interesse war, so wurde zunehmend ihr eigentümlicher literar. Gehalt wahrgenommen, zumal, nachdem Wilhelm Zentner sie publiziert hatte (Karlsr.: C. F. Müller, 1939. 21957 bis heute maßgeblich). Drei Brieffolgen haben in Quantität u. Qualität bes. Gewicht, die an Gustave Fecht (92), an Sophie u. Gottlieb Haufe (120) u. an Friedrich Wilhelm Hitzig (88) gerichteten. Daneben stehen kleinere Brieffolgen, darunter an Johann Friedrich Cotta (28) u. Henriette Hendel-Schütz (16) u. Einzelbriefe. Unter den Briefempfängern finden sich überwie-
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gend Personen, die ansonsten kaum in Erinnerung geblieben sind. Sie hatten ihre Bedeutung für H., der keine festeren Kontakte zu bekannten Zeitgenossen unterhielt. Neben den Informationen zu Biografie u. Werk zeigen die Briefe ein Wechselspiel von einfacher Reflexion u. artifizieller Inszenierung, die etwa H.s verborgene Präsenz beim Angesprochenen vorspiegelt, oder andere Fiktionen der Nähe u. Unmittelbarkeit. Hier kommt es durchaus vor, dass H. ein gut gelungenes Konstrukt gegenüber mehreren Adressaten verwendet (so Z. Nr. 235 u. 238). Wie in H.s Erzählungen aus einfacher Vorgabe durch Komposition, Sprache u. Anschauung ein kristallines Kunstwerk entsteht, so werden auch seine Briefe zu Literatur. Aber sie sind nicht zur Veröffentlichung gedacht, sie bleiben privat u. jeweils auf den Empfänger bezogen, jedoch nicht nur diesem bestimmt, sondern mit dem Ziel, ihn zgl. dem Schreibenden in gewünschte Nähe zu rücken. – Briefe an H. sind nicht überliefert. Es ist bleibendes Verdienst von Wilhelm Zentner, dass er die Briefe H.s aufnahm u. die Rezeption ihrer Gesamtheit ermöglichte. Seine Edition weist indes erhebl. Mängel auf. Die Transkription ist uneinheitlich u. nicht fehlerfrei, manches ist unvollständig, manches nicht treffend zugeordnet. Es bedarf einer neuen Erarbeitung, unter Einschluss inzwischen gewonnener Funde; diese ist im Rahmen der Historisch-Kritischen Ausgabe bereits weit fortgeschritten. Die Wirkungsgeschichte H.s ist v. a. bestimmt durch die Allemannischen Gedichte u. die Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes. Sie lässt sich in mehreren Strängen verfolgen, die separat verlaufen, immer wieder aber auch diffus sich berühren. Sie sind unterschiedlich für die Gedichte u. die Prosa, unterschiedlich aber auch in Regionen u. gesellschaftl. Bereichen. Die Allemannischen Gedichte fanden zunächst ihre Verbreitung im Sprachbereich des Dialekts. So wie einerseits H. selbst von Stolz erfüllt war, dass er der niederen Bauernsprache Würde u. literar. Rang verleihen konnte, so wurde andererseits regional der Autor zur identitätsstiftenden Person, hinter dessen gesellschaftl. Funktion der Gehalt des auslö-
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senden literar. Werks verschwimmen konnte. Ansätze hierzu zeigten sich schon früh, deutlicher zum ersten großen H.-Jubiläum 1860 u. in einer sich entwickelnden u. bis heute lebendigen Tradition von H.-Feiern, ja der H.-Folklore. Bald nach dem ersten Erscheinen hatten die Allemannischen Gedichte aber auch außerhalb der Region großen Beifall dt. Literaten gefunden. In der Folge fand im Deutschland des 19. Jh. eine bürgerl. Rezeption statt, die sich eher mit den idyllischen Momenten dieser Dichtung begnügte, unterstützt durch die Illustrationen Ludwig Richters, die in Verbindung mit der hochdt. Übersetzung durch Robert Reinick (1851) weite Verbreitung fanden. Ein weiterer Wirkungsstrang war die befruchtende Anregung für nachfolgende Dialektdichter in allen dt. Sprachbereichen, die sich vielfach auf H. beriefen. Die Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes hatten anfänglich ebenfalls glänzenden Erfolg. Sie verhalfen dem Kalender zum intendierten höheren Absatz. In vielen anderen Kalendern fanden sich alsbald Nachdrucke dieser Geschichten. Auch die Großen der Literatur hatten Beifall gespendet. Aber die Beachtung minderte sich; im 19. Jh. ist die Zahl der erschienenen Einzelausgaben des Schatzkästlein viel geringer als die der Gedichte. Einzelne Geschichten fanden Verbreitung in Schulbüchern; dies begann schon sehr früh. Tendenziell wurde H. mit seiner Prosa zum Kinder- u. Jugendautor, u. als Kinderbuch erscheinen ausgewählte Geschichten bis heute. Nach hundert Jahren wurde H.s Prosa als hohe Literatur wieder entdeckt. Franz Kafka u. Walter Benjamin sind zu nennen u. viele Nachfolgende. H. wurde zum Schriftsteller der Literaten, u. dies rückte ihn wieder in das allgemeine literar. Interesse; er wurde zum Klassiker. Ausgaben: Sämtl. Werke in 8 Bdn. Karlsr. 1832–34 (bis heute die vollständigste Ausgabe; Titelaufl. 1838). – Werke. Hg. Otto Behaghel. 2 Bde., Stgt. o. J. [1883/84]. – Sämtl. poet. Werke in 6 Bdn. Hg. Ernst Keller. Lpz. o. J. [1905]. – Werke. Hg. Wilhelm Altwegg. 3 Bde., Zürich [1943] (mit Erstdrucken). 21958. – Briefe. Hg. Wilhelm Zentner. 2 Bde., Karlsr. 21957 (zitiert: Z. u. Brief-Nr.). – Poet.
Hebenstreit Werke. Hg. Theodor Salfinger. Mchn. 1961. – Gesamtausg. in vier Bdn. Hg. W. Zentner. Karlsr. 1959–72. – Der Rheinländ. Hausfreund. Faks. der Jahrgänge 1808–15 u. 1819. Hg. Ludwig Rohner. Wiesb. 1981 (teilweise fehlerhafte Doppeldruckvorlagen). – Schatzkästlein des rhein. Hausfreundes. Hg. Winfried Theiss. Stgt. 1981. – Der Statthalter v. Schopfheim / Der Spaziergang an den See. Hg. Adrian Braunbehrens u. Peter Pfaff. Karlsr. 1988. – Eine hist.-krit. Gesamtausg. ist in Vorb. Hg. A. Braunbehrens, Gustav Adolf Benrath u. P. Pfaff. Erschienen sind: Bd. 2 u. 3: Erzählungen u. Aufsätze. Karlsr. 1990. Bd. 5: Bibl. Gesch.n (im Anhang: Verz. der kath. Bearbeitung durch Rudolf Eyth). Karlsr. 1991. In Vorb.: Bd. 1: Gedichte (2009). Bd. 4: Krit. Apparat der Bde. 1–3 (2009). Bd. 6 u. 7: Theolog. Schr.en (2009). – J. P. H.s [lat.] student. Reden (1776/77). Hg. Wilhelm Kühlmann. Übers. Georg Burkard. In: W. Kühlmann, 2009 (s. u.). Literatur: Wilhelm Altwegg: J. P. H. Lpz. 1935. – Wilhelm Zentner: J. P. H. Karlsr. 21965. – Rolf Max Kully: J. P. H. Stgt. 1969. – Lothar Wittmann: J. P. H.s Spiegel der Welt. Interpr.en zu 53 Kalendergesch.n. Ffm. 1969. – Ulli Däster: J. P. H. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1973. – Jan Knopf: Gesch.n zur Gesch. Krit. Traditionen des Volkstümlichen in den Kalendergesch.n H.s u. Brechts. Stgt. 1973. – Ludwig Rohner: Kalendergesch.n u. Kalender. Wiesb. 1978. – Rainer Kawa (Hg.): Interpr.en zu J. P. H. Stgt. 1981. – J. P. H. – Eine Wiederbegegenung zu seinem 225. Geburtstag. Ausstellungskat. Hg. Badische Landesbibl. Karlsruhe. Karlsr. 1985. – Reinhard Wunderlich: J. P. H.s ›Bibl. Gesch.n‹ – Eine Bibeldichtung zwischen Spätaufklärung u. Biedermeier. Gött. 1990. – Wolfgang Ritzel: J. P. H., Briefschreiber, Proteuser, Naturforscher, Poet, Hausfreund, Mann der Kirche. Waldkirch 1991. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): J. P. H. Mchn. 1991 (Text + Kritik. H. 151; mit Auswahlbibliogr.). – Robert Gillett: H. der Briefschreiber. In: ebd. – Johann Anselm Steiger: BibelSprache, Welt u. Jüngster Tag bei J. P. H. Gött. 1994. – Friedrich Voit: Vom ›Landkalender‹ zum ›Rheinländ. Hausfreund‹ J. P. H.s. Das südwestdt. Kalenderwesen im 18. u. beginnenden 19. Jh. Ffm. 1994. – Gerd Driehorst: Erzähltechnik u. Sprachgestaltung bei J. P. H. Marburg 1995. – Kurt Franz: Kalendermoral u. Deutschunterricht. J. P. H. als Klassiker der elementaren Schulbildung im 19. Jh. Tüb. 1995. – Carl Pietzcker u. Günter Schnitzler (Hg.): J. P. H., Unvergängliches aus dem Wiesental. Freib. i. Br. 1996 (zuvor schon in: Freiburger Universitätsbl., H. 124, 1994). – Guido Bee: Aufklärung u. narrative Form. Studien zu den Kalender-
118 texten J. P. H.s. Münster 1997. – J. A. Steiger: Unverhofftes Widersehen mit J. P. H. Studien zur poet. u. narrativen Theologie H.s. Heidelb. 1998. – Michael Stolleis: Brotlose Kunst. Vier Studien zu J. P. H. Ffm. 2006. – Joachim Eiden: J. P. H. Zwischen Lit. u. Recht. Baden-Baden 2008. – Franz Littmann: J. P. H. Humanität u. Lebensklugheit für jedermann. Erfurt 2008. – Wilhelm Kühlmann: Facetten der Aufklärung in Baden. J. P. H. u. die Karlsruher ›Lateinische Gesellschaft‹. Freib. i. Br. 2009. Adrian Braunbehrens
Hebenstreit, Wilhelm, * 24.5.1774 Eisleben, † 17.4.1854 Gmunden. – Journalist, Verfasser ästhetiktheoretischer Schriften. Nach dem Studium u. der Promotion in Göttingen ging H. 1811 nach Wien, wo er zunächst zwischen 1816 u. 1818 die Redaktion der »Wiener Zeitschrift für Kunst und Literatur« leitete; danach arbeitete er am »Sammler« mit, für den er, wie später für das »Wiener Conversationsblatt«, vorwiegend Theaterkritiken lieferte. 1836 übersiedelte H. nach Gmunden. Neben seinen journalistischen Arbeiten verfasste er einen mehrfach wiederaufgelegten Reiseführer durch Wien unter dem Titel Der Fremde in Wien und der Wiener in der Heimath (Wien 1829. Überarbeitete Fassung: Der Reisende nach Wien und der Aufenthalt des Reisenden in Wien. Wien 1843). H.s bekanntestes Werk ist jedoch seine Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache (Wien 1842. 21847. Nachdr. Hildesh./New York 1978), in dem er in populärwissenschaftl. Form u. in einer an der Terminologie der Hegelschule (Ruge, Vischer) orientierten Weise ästhetische Grundbegriffe u. Theorien vorstellt. Außerdem schrieb H. eine Monografie über Das Schauspielwesen. Dargestellt auf dem Standpunkte der Kunst, der Gesetzgebung und des Bürgerthums (Wien 1843), die jedoch schon von den Zeitgenossen ihrer Dogmatik u. Stockgelehrsamkeit wegen kritisiert wurde. Weitere Werke: Dictionarium editionum tum selector. tum optimor. auctorum classicorum et Graecorum et Romanorum ad optimos Bibliographorum libros collatum emend. supplevit notulisque criticis instruxit. Wien 1828. Literatur: Wurzbach 8.
Werner Jung / Red.
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Heberer, Michael, * um 1560 Bretten, † zwischen 1623 u. 1633. – Reiseschriftsteller u. Lyriker.
Hecker Gewalt in M. H. v. Brettens ›Aegyptiaca Servitus‹ (1610). In: Religion u. Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500–1800). Hg. Kaspar v. Greyerz u. Kim Siebenhüner. Gött. 2006, S. 85–108.
H., mütterlicherseits mit Melanchthon verGabriele Henkel / Red. wandt, ging zuerst in Bretten zur Schule u. später auf das Gymnasium in Heidelberg. Ab Heck ! Hegius, Alexander Okt. 1575 studierte er an der Universität Wittenberg, ab dem Sommersemester 1578 in Leipzig, möglicherweise auch in Heidelberg Hecker, Friedrich Karl Franz, * 29.9.1811 † 24.3.1881 St. (kein Eintrag in der Matrikel). Eine Reise Eichtersheim/Baden, führte ihn 1582 über Frankreich u. Italien bis Louis/Missouri (USA). – Revolutionär u. nach Ägypten. Im Mai 1585 geriet er in türk. Verfasser politischer Schriften. Gefangenschaft u. verbrachte fast drei Jahre Der Sohn des wohlhabenden königlich-bayeals Sklave in Ägypten u. auf einer Galeere. rischen Rentamtmannes u. Hofrats Josef Ende Dez. 1587 freigelassen, trat er 1592, Hecker u. seiner Frau Wilhelmine, geb. v. nach seiner Rückreise über Italien u. Spanien, Lueder, besuchte bis zum Sommer 1830 das in die Dienste des Kurfürsten von der Pfalz, in Lyzeum in Mannheim u. studierte danach denen er bis zum Kanzleiregistrator aufstieg. Rechtswissenschaften in Heidelberg, wo er Noch dreimal besuchte er 1592/93 andere im Mai 1834 die Staatsprüfung ablegte u. Länder. schon im Herbst desselben Jahres mit »sum1610 erschien in Heidelberg H.s Beschrei- ma cum laude« promoviert wurde. Während bung seiner Erlebnisse im Orient als Aegyp- seiner Studienzeit kam H. durch Vorlesungen tiaca servitus: Das ist, warhafte Beschreibung einer bei den Rechtsgelehrten Anton F. J. Thibaut dreyjährigen Dienstbarkeit (Neudr. u. d. T. Chur- u. Karl J. A. Mittermaier, dem späteren PräPfälzischer Robinson. Ffm./Lpz. 1747). Der Be- sidenten des Frankfurter Vorparlaments, mit richt ist in vier Bücher unterteilt u. umfasst liberalen polit. Vorstellungen in Kontakt u. 666 Seiten. In seiner anschaulich geschriebe- war über Mittermaier schon früh mit dem nen Reiseschilderung geht H., gestützt auf amerikan. Verfassungssystem vertraut. Nach eigene Aufzeichnungen wie auf die Ergeb- einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris ab nisse seiner humanistischen Studien, auf Sept. 1835 u. Anstellungen als Advokat u. fremde Lebensweisen, religiöse Bräuche, Bau- Prokurator an verschiedenen Gerichten in u. Kunstwerke sowie die Natur ein. H. ver- Mannheim, wo er auch Gustav Struve kennen fasste auch lat. u. dt. Gedichte. gelernt hatte, wurde H. im Sommer 1842 als Ausgaben: Aegyptiaca servitus (Heidelb. 1610). Abgeordneter des Wahlkreises LadenburgNachdr. mit einer Einl. v. Karl Teply. Graz 1967. – Weinheim in die Zweite Badische Kammer Voyages en Egypte de M. H. v. Bretten, 1585–1586. gewählt. In den dort gehaltenen Reden (abÜbers. Oleg V. Volkhoff. Le Caire 1976. – Brettenli gedruckt in: Verhandlungen der StändeverMichael Heberer’in anıları 1585–1588 [...]. Hg. sammlung des Großherzogtums Baden von Türkis Noyan. Istanbul 2003. 1842–1848) zeigt sich nicht nur H.s selbst von Literatur: Hugo Fröhlich: J. M. H. v. Bretten. seinen Gegnern bestätigtes rhetorisches TaDer ›Churpfältzische Robinson‹. Speyer 1965. – lent, sondern deutet sich auch schon seine Volker Press: M. H. In: NDB. – Kosch. – Fern der polit. Entwicklung vom Liberalen zum reHeimat: M. H., der ›Churpfälzer Robinson‹. Bretpublikan. (Radikal-)Demokraten an. ten 1990 (Ausstellungskat.). – Frank Westenfelder: Obwohl selbst kein Mitgl. einer freireli›... verdorben Brot u. stinckend Wasser‹. Für seine giösen Gemeinschaft, forderte H. mit Verweis Abenteuerlust bezahlte M. H. einen hohen Preis auf die Verfassung der USA die Trennung von [...]. In: Damals 29 (1997), H. 7, S. 58–65. – Thomas Freller: The life and adventures of M. H. von Kirche u. Staat u. unterstützte in seiner Bretten. The German Robinson Crusoe in Malta. Streitschrift Die staatsrechtlichen Verhältnisse der Valleta 1997. – Claudia Ulbrich: ›Hat man also bald Deutschkatholiken mit besonderem Hinblick auf ein solches Blutbad [...] gesehen [...]‹. Religion u. Baden (Heidelbg. 1845. 21846) die Bemühun-
Hecker
gen der Deutschkatholiken um eine staatl. Anerkennung u. deren Kritik an der Ausstellung des Heiligen Rocks in Trier (1844). Großes öffentl. Interesse fand die von H. zusammen mit Struve am 12.9.1847 in Offenburg bei einer Versammlung vorgestellte »13Punkte-Forderung des Volkes«, in der allerdings weitgehend liberale Ziele formuliert wurden (Presse- u. Versammlungsfreiheit, Vereidigung des Militärs auf die Verfassung, Bildungsmöglichkeiten für alle, Geschworenengerichte etc.). Völlig offen bekannte sich H. zu seinen republikan. Ansichten in der Märzrevolution 1848; er wandte sich aber enttäuscht von dem von Struve als »Dienstmagd der Reaktion« bezeichneten Frankfurter Vorparlament ab, um von Konstanz aus seinen als »Heckerzug« berühmt gewordenen Marsch Richtung Norden anzutreten, der aber beim Aufeinandertreffen mit konterrevolutionären Truppen im April 1848 bei Kandern u. der darauf folgenden Flucht H.s ins Schweizerische Muttenz sein Ende fand. Im Exil gab H. die Zeitschrift »Der Volksfreund« heraus u. schrieb Die Erhebung des Volkes in Baden für die deutsche Republik im Frühjahr 1848 (Basel 1848. 2., verb. Aufl. Straßb. 1848), in der er seine Teilnahme an der Revolution rechtfertigt u. die Gewalt gegen (Fürsten-)Gewalt als Naturrecht bezeichnet. An den weiteren Entwicklungen in Baden hatte H. nach seiner Auswanderung in die USA am 20.9.1848 keinen Anteil mehr, obgleich er nach der Reichsverfassungskampagne u. der dritten badischen Volkserhebung im Frühjahr 1849 von Joseph Fickler zurückberufen wurde, aber wegen eines Einreiseverbots nur bis Straßburg kam. Neben der Bewirtschaftung seiner Farm beteiligte sich H. wie viele andere polit. Auswanderer auch an der amerikan. Politik, unterstützte die »Civil Service Reform« u. meldete sich als Freiwilliger für die Unionisten im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865). Die dt. Politik unter Bismarck u. die Reichsgründung begrüßte H. in Gepfefferte Briefe über Kleinstaatler und Kleinstaatlerei (St. Joseph/ Missouri o. J. [1867]; erw. Fassung u. d. T. Gepfefferte Briefe. 12 Briefe von 1865–1867. Mannh. 1–21868); er zeigte sich aber nach einem letzten Besuch in Deutschland 1873 vom
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tatsächlichen polit. Zustand des Landes enttäuscht. In der deutschsprachigen Liedkultur des Vormärz u. der Revolution war H. eine zentrale Gestalt, was entscheidenden Anteil auch an seiner breiten Rezeption als »Volksheld« hatte. Selbst das berühmte Guckkasten-Lied vom Großen Hecker (1848), das von seinem Verfasser, Karl Gottfried Nadler, eigentlich als Kontrafaktur von Pro-Hecker-Liedern intendiert war, wurde bald auch von HeckerBegeisterten gesungen. Seine Bedeutung als Revolutionär u. Politiker wurde von der sowohl bürgerl. als auch linken Geschichtsschreibung immer wieder relativiert; als Ursache für H.s Stilisierung zum Revolutionshelden betonte man gerade auch seine frühe Auswanderung, die ihn vor einer Bewährungsprobe in der Politik nach 1848 bewahrt habe (Assion). Die neuere histor. Forschung (Freitag) hat bes. auf H.s polit. Profil hingewiesen, das radikalen Demokraten wie Struve, Fröbel u. Runge ebenso verpflichtet sei, wie sich in der Bewertung der Volksvertretung, Hochschätzung der Verfassung u. einem »partizipatorische[n] Bürgerideal« auch Berührungspunkte mit liberalem Gedankengut, namentlich eines Carl von Rotteck u. Adam von Itzstein, festmachen lassen. Weitere Werke: Das polit. Lied. In: Karl Heinrich Schnauffer: Neue Lieder für das teutsche Volk. Rheinfelden 1848, S. 3–6. – Reden u. Vorlesungen. St. Louis/Missouri 1871. – Betrachtungen über den Kirchenstreit in Dtschld. u. die Infallibilität. St. Louis/Missouri, Neustadt a.d. Haardt 1874. – Aus den Reden u. Vorlesungen v. F. H. Ausgew. u. mit einem Nachw. v. Helmut Bender. Waldkirch 1985. Literatur: Franz X. Vollmer: Der H.-Nachl. v. St. Louis/USA. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 136 (1988), S. 349–415. – Peter Assion: Der Heckerkult. Ein Volksheld von 1848 im Wandel seiner geschichtl. Präsenz. In: Ztschr. für Volkskunde 87 (1991), S. 53–76. – Sabine Freitag: F. H. Biogr. eines Republikaners. Stgt. 1998. Bernhard Walcher
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Heckmann, Herbert, auch: Fritz Schönborn, * 25.9.1930 Frankfurt/M., † 18. 10. 1999 Bad Vilbel/Hessen. – Erzähler, Kinderbuchautor, Verfasser kulturgeschichtlicher Essays. H. studierte Philosophie u. Germanistik in Frankfurt/M. u. promovierte 1957 über Elemente des barocken Trauerspiels. Am Beispiel des ›Papinian‹ von Andreas Gryphius (Darmst./ Mchn. 1959). Er war anschließend wissenschaftl. Assistent an den Universitäten Münster u. Heidelberg u. 1965–1967 Gastdozent in den USA. H. lebte als Schriftsteller, Fernseh- u. Funkautor bei Bad Vilbel. 1963–1979 gehörte er zu den Herausgebern der »Neuen Rundschau«. 1981–1995 war er Professor für Sprach- u. Literaturwissenschaft an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach u. 1984–1996 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung in Darmstadt. Er ist Vater von Moritz Eggert, einem der bedeutendsten jüngeren zeitgenöss. Komponisten. Als Erzähler wurde H. vor allem durch seine parabelhaften Erzählungen (Das Portrait. Ffm. 1958) u. surrealen Schwarzen Geschichten (Ffm. 1964) sowie durch seinen zeitkrit. Roman Benjamin und seine Väter (Ffm. 1962) bekannt. Dieser konventionell erzählte Roman schildert die Entwicklung des im Jahr des Versailler Vertrags 1919 geborenen Benjamin Weis. Unehelich zur Welt gekommen, sucht er nach Vaterfiguren u. damit zgl. nach der eigenen Identität. Ein anderes Motiv, das hier bereits anklingt, wird auch in dem Roman Der große Knock-out in sieben Runden (Mchn. 1972) thematisiert: die – in der dargestellten Realität – utop. Suche eines Auswanderers nach einer besseren Welt u. dessen Desillusionierung. H. hat sich auch durch zahlreiche Kinderbücher, durch Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Kulinarischen u. durch rege Herausgebertätigkeit einen Namen gemacht. Im Frühjahr 1994 ließ er sein »Vermächtnis« (H.-M. Gauger) u. d. T. Die Trauer meines Großvaters bei S. Fischer erscheinen: kein Roman, sondern autobiogr. collagierte »Bilder einer Kindheit« u. »einzelne Erinnerungen« an Frankfurt im »Dritten Reich«. »Die
Heckmann
Kindheitsbilder werden zu Bildern einer Stadt- und Zeitgeschichte« (Walter Hinck). H. erhielt u. a. 1963 den Bremer Literaturpreis u. 1990 den Johann-Heinrich-MerckPreis. Er war Mitgl. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Weitere Werke: Die sieben Todsünden. Mit Zeichnungen v. Arthur Fauser. Darmst. 1964. – Der kleine Fritz. Ein Roman für Kinder u. solche, die es werden wollen. Mit Zeichnungen v. Janosch. Köln 1968. Stgt./Bln. 1999. – Stefan George heute. Darmst. 1969 (Vortrag). – Gesch.n vom Löffelchen. Mit Zeichnungen v. Janosch. Köln 1970. – Der Sägmehlstreuer oder Wie man ein Clown wird. Bilder v. Michael Sauer. Köln 1973. – Ubuville, die Stadt des großen Ei’s. Aus den Papieren eines Deutschlandreisenden. Mit Originalgraphiken v. Thomas Jensch. Düsseld. 1973 (P.). – Chiron (zus. mit Moede Jansen). Homburg-Schwarzenacker 1975. – Dt. Dichterflora. Anweisungen zum Bestimmen von Stilblüten, poet. Kraut u. Unkraut. Mchn./Wien 1980 (Pseud. Fritz Schönborn). – Knolle auf der Litfaßsäule. Illustrationen v. Elfi Zechner. Frauenfeld 1979 (Kinderbuch). – Ein Bauer wechselt die Kleidung u. verliert sein Leben u. a. E.en aus den Jahren 1950 bis 1980. Mchn./ Wien 1980. – Stehaufgesch.n. Illustrationen v. Edith Schindler. Frauenfeld 1981. – Die andere Schöpfung. Gesch. der frühen Automaten in Wirklichkeit u. Dichtung. Ffm. 1982. – Für alles ein Gewürz. 2 Erzählungen. Warmbronn 1983. – Das Feuer ist ein Akrobat. 13 Gedichte. Warmbronn 1987. – Lit. u. Krankheit. Fernwald 1987 (Ess.s). – Wenn der Wein niedersitzt, schwimmen die Worte empor. 7 Weinpredigten. Zeichnungen v. Tobias Borries. Landau/Pfalz 1987. – Kasperls Aufstand. Eine Kindergesch. Mit Bildern v. T. Borries. Zürich/ Frauenfeld 1989. – Harlekins Abschied oder Die Vorzüge des Lachens. Mit 8 Radierungen v. Kurt Steinel. Ascona 1989. – Lob der Radierung. Bensheim 1989. – Johann Heinrich Merck – eine Ehrenrettung. Darmst. 1991. – Darmstädter Bücherlust. Mchn. 1992. – Gedanken eines Katers beim Dösen. Mit Zeichnungen v. Bruno Müller-Linow. Landau/Pfalz 1994. – Das Problem der Identität. E. T. A. Hoffmann, Ritter Gluck. Stgt./Bln. 1997 (Ess.). – Herausgeber: Kommt. Kinder, wischt die Augen aus, es gibt hier was zu sehen. Die schönsten dt. Kindergedichte (zus. mit M. Krüger). Mchn. 1974. – 80 Barock-Gedichte. Bln. 1976. – Die Freud des Essens. Ein kulturgeschichtl. Lesebuch vom Genuß der Speisen, aber auch vom Leid des Hungers. Mchn. 1979. – Lit. aus dem Leben. Autobiogr. Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsdichtung. Beobachtungen, Erfahrungen, Belege.
Hederich
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Mchn./Wien1984. – Wider das Vergessen. Schriftsteller des 20. Jh., unterdrückt in der Zeit des Nationalsozialismus, vergessen nach 1945 (zus. mit Ingulf Radtke). Darmst./Ffm. 1985 (Kat.). – Medium u. Maschine. Über das Zeitgemäße der Lit. (zus. mit G. Dette). Gött. 1994. – Hermann Kasack zu Ehren. Eine Präsidentschaft in schwerer Zeit (zus. mit Bernhard Zeller). Gött. 1996. Literatur: Dirk Baldes: H. H. In: KLG. Lutz Hagestedt
Hederich, Benjamin, auch: Heidenreich, Wolfgang Benjamin, * 12.12.1675 Geithain/Sachsen, † 18.7.1748 Großenhain. – Schulmann, Polyhistor, Lexikograf.
einem künftigen Bürger und anderen, so nicht eben studiren wollen, dienl. Sprachen u. Wissenschaften. Bln. 1743. Ausgaben: Anleitung zur Architectura civili. Wittenb. 21714. Nachdr. Stgt. 1965 (Teilnachdr. der: Anleitung zu den fürnehmsten mathemat. Wiss.en [...]). – Progymnasmata architectonica, oder Vor-Übungen in beyderley Bau-Kunst [...]. Lpz. 1730. Internet-Ed.: UB Heidelberg. – Gründl. mytholog. Lexikon (Lpz. 1770). Neusatz u. Faks. Bln. 2006 (CR-ROM). Literatur: Johann Gottlieb Biedermann: Nova acta scholastica. Bd. 1, Lpz. 1749, S. 873–884. – Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Histor.-literar. Hdb. berühmter u. denkwürdiger Personen. Bd. 3, Lpz. 1797, S. 35–39. – Heinrich Kämmel: B. H. In: ADB. – Joseph Broch: Hygins Fabeln in der dt. Lit. Quellenstudien u. Beiträge zur Gesch. der dt. Lit. Mchn. 1933. – DBA. – Walther Killy: Große dt. Lexika u. ihre Lexikographen, 1711–1835: H., Hübner, Walch, Pierer. Mchn. u. a. (1993). – BBHS.
Nach dem Besuch der Fürstenschule in Grimma nahm der Sohn eines Geistlichen im Sommer 1686 das Studium in Leipzig auf; am 18.6.1696 wurde er in die Matrikel der Universität Wittenberg eingetragen, an der er am Wolfgang Riedel / Red. 15.10.1697 den Magistergrad erwarb. 1702 wurde H. Lehrer an der Klosterschule zu Hedio, Caspar, eigentl.: Seiler (?), * 1494 Bergen bei Magdeburg u. war von 1705 an Ettlingen bei Karlsruhe, † 17.10.1552 Rektor in Großenhain. Er verfasste eine Reihe Straßburg. – Theologe, Reformator u. propädeut. Schriften für den Schulgebrauch Übersetzer. u. Wörterbücher zur griech. u. lat. Sprache, die ihm bald den Ruf eines verdienten Päda- Seine erste Schulbildung verdankte H. vielleicht dem Ettlinger Schulwesen, nicht ungogen u. Philologen eintrugen. Geistesgeschichtliche Bedeutung erwarb bedingt der Lateinschule in Pforzheim. Seit sich H. durch seine polyhistor. Lexika: Notitia Jan. 1513 studierte er an der Universität auctorum antiqua et media (Wittenb. 1714. Freiburg i. Br. (Bakkalaureat 1514, Magister Postum erw. u. d. T. Känntniß der vornehmsten artium 1516). Es folgte ab Febr. 1517 ein Schriftsteller vom Anfange der Welt bis zur Wie- Theologiestudium in Basel, wo er in Beziederherstellung der Wissenschaften. 2 Tle., Wit- hung zu Wolfgang Capito trat (Bacc. biblicus tenb./Zerbst 1767), Gründliches Antiquitäten- April 1519; Dez. 1519 Bacc. sententiarius u. Lexicon (Lpz. 1743. Nachdr. Graz 1972) u. vor Lic. theol. mit 24 Thesen über die Eigenallem Gründliches Lexicon Mythologicum (Lpz. schaften Gottes u. die Prädestination). 1523 1724. 21741. Zuletzt u. d. T. Gründliches my- wurde er in Mainz zum Dr. theol. promothologisches Lexicon. Überarbeitet v. Johann viert. H. war von 1518 bis Nov. 1519 Vikar an Joachim Schwabe. Lpz. 1770. Nachdr. der St.-Theodors-Kirche, von Nov. 1519 bis Darmst. 1996). Dieses wirkungsgeschichtlich etwa Okt. 1520 Kaplan am Aller-Heiligenwichtigste Lexikon H.s, dessen Artikel auch Altar bei St. Martin in Basel u. von Okt. 1520 (unlizensiert freilich) Eingang in Zedlers be- bis Nov. 1523 Domprediger in Mainz. Seit rühmtes Universal Lexicon (1732–1754) fan- den Basler Jahren nannte er sich Hedio oder den, war bis ins frühe 19. Jh. hinein der Hedius. Im Nov. 1523 ging H. nach StraßThesaurus, aus dem Künstler u. Dichter, auch burg, wo er bis Anfang 1550 (Einführung des Goethe, Schiller u. Kleist, mytholog. Kennt- Interims) Münsterprediger war. Im April 1524 erwarb er das Straßburger Bürgerrecht, nisse schöpften. Weitere Werke: Reales Schul-Lexicon [...]. Lpz. Ende Mai heiratete er Agnes Trentz. Im April 1717. Nachdr. Mchn. 1993 (Mikrofiche-Ed.). Lpz. 1748. – Kurtze Anleitung zu den fürnehmsten,
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Hedrich
1549 wurde er an Stelle Martin Bucers Präsi- 1881. – Edouard Sitzmann: Dictionnaire de biographie des hommes célèbres de l’Alsace [...]. Bd. 1, dent des Straßburger Kirchenkonvents. H. beteiligte sich ab 1525 am Aufbau des Rixheim 1909. Nachdr. Paris 1973, S. 728 f. (Lit.). – Schulwesens Straßburgs, an dessen Fürsor- Hans Leopold Zollner: C. H. [...]. Ettlingen 1959. – Jean Rott: Un traducteur et vulgarisateur. In: Révue gewesen, an der Gründung eines Internats für d’Allemagne 1 (1969), S. 101–103. – Robert arme Schüler (1543/44), an Kirchenvisitatio- Stupperich: C. H. In: NDB. – Hartwig Keute: Renen sowie an der Ausbreitung der Reforma- formation u. Gesch. K. H. als Historiograph. Gött. tion in den benachbarten Ländern. Theolo- 1980. – Rüdiger Stenzel: Ettlingen vom 14.-17. Jh. gisch auf Ausgleich gerichtet, griff H. in den (= Gesch. der Stadt Ettlingen. Bd. 2a). Ettlingen Abendmahlsstreit so wenig wie möglich ein 1982, S. 155–158. – Miriam U. Chrisman: C. H. In: u. pflegte freundschaftl. Beziehungen mit so Contemporaries. – Hermann Ehmer: Reformator. verschiedenen Persönlichkeiten wie Zwingli, Geschichtsschreibung am Oberrhein: Franciscus Erasmus, Oekolampad, Luther, Melan- Irenicus, K. H., Johannes Sleidanus. In: Historiographie am Oberrhein im späten MA u. in der chthon, Beatus Rhenanus, Gerbel, Capito u. Frühen Neuzeit. Hg. Kurt Andermann. SigmarinAlbrecht von Preußen. gen 1988, S. 227–245. – R. Bodenmann: C. H. aus In der erklärten Absicht, dem »gemeinen Ettlingen. Vorstufe zu einer ausführl. Biogr. In: Mann« behilflich zu sein, übersetzte H. Ettlinger H.e, Sonderh. 2 (o. J. [1989]), S. 81–97. – Werke aus der Antike (Josephus Teütsch [...]. Ders.: C. H. In: NDBA (Werkverz.). – Thomas Straßb. 1531, u. den christlich interpolierten Kaufmann: Die Abendmahlstheologie der StraßJosephus, damals ›Hegesippus‹ genannt: burger Reformatoren bis 1528. Tüb. 1992. – R. Egesippus Teütsch [...]. Straßb. 1532), der pa- Bodenmann: C. H. aus Ettlingen (ca. 1494–1552): trist. Zeit (Tertullian, Eusebius u. die Tripar- Historiographie u. Probleme der Forsch. In: Etttita, Ambrosius, Augustin u. Johannes Chry- linger Hefte 29 (1995), S. 47–62. – Martin Wallraff: Die Rezeption der spätantiken Kirchengeschichtssostomus), dem MA (Smaragdus u. Ursberger werke im 16. Jh. In: Auctoritas patrum II [...]. Hg. Chronik), dem späten MA (Bartolomeo Platina Leif Grane u. a. Mainz 1998, S. 223–260. – Melanu. Philipp Comines) u. der Gegenwart chthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. Heinz Scheible. (Oekolampad, Erasmus, Vives, Luther). Der Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 241–243. Charakter vieler dieser Übersetzungen wie Reinhard Bodenmann / Red. auch H.s Fortsetzung der Ursperger Chronik (1230–1545) u. der Enneades des Sabellius Hedrich, Franz (Ignaz Anton), * zwischen (1504–1538) machen H. zu einem der ersten 1823 u. 1825 Podskal bei Prag, † 31.10. protestantischen Chronografen. Eigene 1895 Edinburgh. – Romanschriftsteller, Schriften verfasste er nur wenige. Dramatiker. Ausgabe: Von dem Zehnten (1524). In: Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524). Hg. Adolf Laube u. a. Bd. 2, Bln. 1983, S. 1234–1249. Literatur: Bibliografien: Johann Adam: Versuch einer Bibliogr. H.s. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 31 (1916), S. 424–429. – Franz Josef Worstbrock: Dt. Antikerezeption 1450–1550. Tl. 1 [...]. Boppard am Rhein 1976, Nr. 192, 193, 206–209. – Josef Benzing u. Jean Muller: Bibliographie Strasbourgeoise [...]. Bd. 1–3, Baden-Baden 1981–86. – VD 16. – Weitere Titel: Melchior Adam: Vitae Germanorum theologorum. Ffm. 1620, S. 240–243. – Johannes Voigt: Briefw. der berühmtesten Gelehrten des Zeitalters der Reformation mit Hzg. Albrecht v. Preussen. Königsb. 1841, S. 297–335. – Charles Spindler: Hédion. Essai biographique et littéraire. These bacc. Straßb. 1864. – Emil Himmelheber: C. H. [...]. Karlsr.
H. ist hauptsächlich durch seine problemat. Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Alfred Meißner in die Literaturgeschichte eingegangen. Der Sohn eines Kaufmanns u. späteren Fagottisten tschech. Herkunft ist in Armut aufgewachsen u. lernte erst spät u. ohne vollkommene Sicherheit die dt. Sprache. 1848 zog H. als radikaler Politiker in die Frankfurter Nationalversammlung ein. Im selben Jahr stellte ihn Moritz Hartmann Alfred Meißner vor, der sich des ambitionierten Dramatikers annahm. H. war Mitverfasser von mehreren unter Meißners Namen veröffentlichten Romanen, darunter Der Freiherr von Hostiwin (2 Bde., Prag 1855), Neuer Adel (2 Bde., Lpz. 1861), Schwarzgelb (8 Bde., Bln. 1862–64), Die Kinder Roms (4 Bde., Bln. 1870)
Hedwigslegenden
u. Norbert Norson (Zürich 1883), um dann diese zwielichtige Arbeitsteilung zu Erpressungen zu benutzen, die Meißner schließlich in den Tod trieben. Die von H. in der aufsehenerregenden Enthüllungsschrift Alfred Meißner – Franz Hedrich. Geschichte ihres literarischen Verhältnisses [...] (Bln. 1890) erhobenen Eigentumsansprüche mögen übertrieben sein; jedoch dürfte die Stoffgebung, v. a. die grellfantastischen Züge dieser Sensationsromane, meist auf ihn zurückgehen. H.s dramat. Produktion geriet bald in Vergessenheit. Weitere Werke: Kain. Dramat. Gedicht. Lpz. 1851. – Lady Esther Stanhope, die Königin v. Tadmor. Lpz. 1853 (Trag.). – Moccagama. o. O. 1853 (D.). – Baron u. Gräfin. o. O. 1855 (D.). – Im Hochgebirge. Zwei Nachtstücke. Mit einem Vorw. v. Alfred Meißner. Bln. 1862. – Der verschollene Veith. Lpz. 1921 (R.). Literatur: Robert Byr (Bayer): Die Antwort Alfred Meißners. Mchn. 1889. – Ludwig Fränkel: F. H. In: ADB. – Rudolf Humborg: Alfred Meißner. Eine literarhistor. Studie. Diss. Erfurt 1911. – Goedeke Forts. Virginia L. Lewis
Hedwigslegenden. – Lateinische Prosalegenden u. deutsche Übertragungen seit etwa 1300. Hedwig, die Nationalheilige von Schlesien und Polen, wurde um 1178/80 als Tochter des Grafen Berthold IV. von Andechs-Meran geboren. Sie heiratete Herzog Heinrich I. von Schlesien u. brachte sieben Kinder zur Welt, bevor das Paar, der Legende zufolge, einen Enthaltsamkeitseid ablegte. Nach dem Tod ihres Mannes zog sich H. 1238 in das von ihm gegründete Zisterzienserinnenkloster Trebnitz zurück, wo sie bis zu ihrem Tod am 14.10.1243 lebte, ohne das Ordensgelübde abzulegen. H. war die Tante der hl. Elisabeth von Thüringen; sie selbst wurde 1267 heilig gesprochen. Um 1300 entstand unter Benutzung der Kanonisationsakten u. einer nicht erhaltenen Vita, die ein Leubuser Zisterzienser namens Engelhard 1262 verfasst hatte, die Legenda maior, die Vorlage für spätere Fassungen der Legende ist. Die Legenda maior zeigt mit gängigen hagiografischen Topoi ein idealisiertes Bild der Heiligen; der Autor präsentiert sich
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als versierter Legendenschreiber, indem er z.B. drei Wanderlegenden einfügt (Segnung durch den Gekreuzigten, Verwandlung von Wasser in Wein, Beschuhung der Barfüßigen). Von zwölf Kapiteln widmet sich die erste Hälfte der Beschreibung von H.s Tugenden, während die zweite ihren Visionen u. Wundern gilt. Nach dem Muster mittelalterl. Bekennerlegenden wird das gesamte Leben der Heiligen unter Betonung der strengen Gebets- u. Askesepraktiken sowie typischer Tugenden wie Keuschheit, Demut, Geduld u. Barmherzigkeit geschildert. Dass H. durch großzügige Almosen u. Armenfürsorge den passiven Frömmigkeitsformen eine sozial ausgerichtete vita activa hinzufügen konnte, ergibt sich aus ihrem Fürstenstand. Der bedeutendste Textzeuge, der Schlackenwerther Codex von 1353, enthält neben der Legenda maior eine Kurzfassung (Legenda minor), eine Genealogie sowie verschiedene Texte mit Bezug zu H.s Heiligsprechung. Als im SpätMA zunehmend lat. Legenden in der Volkssprache zugänglich wurden, entstanden auch sechs unabhängige, z.T. illustrierte dt. Übertragungen. Dabei standen die Auftraggeber oft in verwandtschaftl. Beziehung zu H. u. verfolgten ein Konzept der Geblütsheiligkeit. Eingang in dt. Legendare fand H. nicht. Die beiden wichtigsten Übertragungen sind die jüngste Handschrift von 1380, die im Auftrag von Herzog Albrecht III. von Österreich als Produkt der Wiener Übersetzerschule durch Rudolf Wintnauer hergestellt wurde (B, Brüssel, Kgl. Bibl., cod. 3408), sowie der in Breslau von einem anonymen Übersetzer angelegte u. durch Peter Freytag abgeschriebene Hornig-Codex von 1451 (W1, Universitätsbibl. Breslau, Cod. IV F 192), an dem sich Konrad Baumgartens Druck von 1504 orientierte. Ausgaben: Lateinische Legende: Acta Sanctorum. Begr. v. Jean Bolland. Antwerpen (Verlagsort wechselt) 1643 ff. Hier: Bd. 8, S. 224–264. – Wolfgang Braunfels (Hg.): Der H.s-Codex von 1353. Slg. Ludwig. 2 Bde., Bln. 1982. – Deutsche Fassungen: Trude Ehlert (Hg.): Legende der hl. H. Breslau 2000. – Jelko Peters (Hg.): Rudolf Wintnauers Übers. der Legenda maior de beata Hedwigi. Text u. Untersuchungen zu einem Frühwerk der Wiener
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125 Übersetzungsschule unter Herzog Albrecht III. Wien 2003. Literatur: Werner Williams-Krapp: H. v. Schlesien. In: VL. – Alois Schütz: Hedwig v. Andechs. Eine dt.-poln. Heilige. Jadwiga z Andechs polksi niemiecka Swieta. Mchn. 1992. – Eckhart Grunewald u. Nikolaus Gussone (Hg.): Das Bild der heiligen H. in MA u. Neuzeit. Mchn. 1996. Sandra Linden
Heer, Friedrich, auch: Hermann Gohde, * 10.4.1916 Wien, † 18.9.1983 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof (Ehrengrab). – Kultur- u. Religionshistoriker, Publizist, Essayist, Romancier u. Dramaturg. H. studierte nach der 1934 am Akademischen Gymnasium in Wien abgelegten Matura Geschichte u. Germanistik an der dortigen Universität; 1938 wurde er mit der Arbeit Reich und Gottesreich. Eine Studie zur politischen Religiosität des 12. Jahrhunderts promoviert. Von Januar 1940 bis Kriegsende Soldat, machte er sich seit 1946 v. a. als freier Mitarbeiter, ab 1948 als Redakteur der kath. Wochenzeitung »Die (österreichische) Furche« einen Namen. 1950 habilitierte sich H. an der Universität Wien mit der Studie Aufgang des Abendlandes (gedr. Wien/Zürich 1949 bzw. 1952 als Aufgang Europas. Eine Studie zu den Zusammenha¨ ngen zwischen politischer Religiosita¨ t, Fro¨ mmigkeitsstil und dem Werden Europas im 12. Jahrhundert u. Tragödie des Heiligen Reiches mit je einem Kommentarband) für das auf ihn zugeschnittene Fach »Geistesgeschichte des Abendlandes«. In seiner jetzt, im Unterschied zu 1938, ideologiekrit. Auseinandersetzung mit dem cäsaropapistischen Reichsgedanken der Staufer gelangte er zu dem Schluss, dass der Ursprung von Theorie u. Praxis des europ. Totalstaats im 12. Jh. zu finden sei. Die hier erstmals anklingende Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« erreichte ihren Höhepunkt in H.s großes Aufsehen erregendem Buch Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosita¨ t (Mchn./Esslingen 1968). Ebenso umstritten, aber auch bahnbrechend war der bereits 1967 erschienene Komplementärband Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des
¨osterreichischen Katholiken Adolf Hitler (Mchn./ Esslingen), für den H. 1968 mit der BuberRosenzweig-Medaille der Gesellschaften für christlich-jüd. Zusammenarbeit ausgezeichnet wurde. Schon im 1959 publizierten Band Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters (Ffm.) hatte sich der inzwischen prominente Linkskatholik als Vertreter eines so engagierten wie »offenen« Humanismus profiliert. Obgleich oder gerade weil Vertreter einer Offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers, war er, wie Ökumeniker avant la lettre, auch überzeugter Anti-Antikommunist, der sich seit seinem Gespräch der Feinde (Wien/Zürich 1949) entschieden gegen Kreuzzüge jegl. Art verwahrte, eben auch mit christlich-theolog. Argumenten. Freilich wurden diese immer mehr eingebunden in einen allg. humanistischen, nicht zuletzt poetischen u. auch insofern utop., partiell Ernst Bloch verpflichteten Diskurs, wie v. a. die beiden Großessays Europa, Mutter der Revolutionen (Stgt. 1964) u. Das Wagnis der schöpferischen Vernunft (Stgt. u. a. 1977. Neuausg. Wien u. a. 2003) belegen. Kirchen- u. theologiekritisch ist neben ihnen u. den beiden Bänden zu Hitler vor allem H.s dritter Großessay Abschied von Höllen und Himmeln. Vom Ende des religio¨ sen Tertia¨ r (Mchn./ Esslingen 1970), partiell auch schon der erste von insg. sechs, teilweise unpublizierten Romanessays, Der achte Tag. Roman einer Weltstunde (Innsbr./Wien 1950). Die Zahl seiner mehr oder weniger ausführl. religions- u. kulturphilosophischen, stets aktuell intendierten Statements in Presse, Rundfunk u. Fernsehen beläuft sich auf ca. 2000. H.s heuristisches Grundaxiom lautet: »Geschichte ist Gegenwart« bzw. ›Gegenwart ist Geschichte‹, woraus eine mehr oder weniger große Zeitbedingtheit seiner Arbeiten von selbst folgt. Freilich erweist sie sich, synchron gesehen, auch als nicht geringe Unzeitgemäßheit. Der in viele Sprachen übersetzte H. war einer der bedeutendsten »Nonkonformisten« der 1950er bis 1980er Jahre, weit über Österreich u. den deutschsprachigen Raum hinaus. In Österreich spielt bis heute sein mehrfach aufgelegtes Buch Der Kampf um die österreichische Identität (Wien/
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Köln/Graz 1981) eine wichtige Rolle, desgleichen seine, auch für die Bundesrepublik nicht hoch genug zu veranschlagenden antifaschistischen Denkanstöße. Diese bleiben verdienstvoll, obgleich neueste Forschung H.s angebl. Widerstandstätigkeit im »Dritten Reich« relativiert bis negiert hat. (Ein beträchtl. u. besonders wichtiger Teil seines Nachlasses befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek; er ist noch weitgehend unerschlossen.) Weitere Werke: Europ. Geistesgesch. Stgt. 1953. – Offener Humanismus. Bern/Stgt./Wien 1962. – Kreuzzüge – gestern, heute, morgen? Luzern/Ffm. 1969. – Ausgew. Werke in Einzelbdn. Hg. Konrad Paul Liessmann. Wien u. a. 2003 ff. Literatur: Adolf Gaisbauer: F. H. (1916–1983). Eine Bibliogr. Wien/Köln 1990. – Wolfgang Ferdinand Müller: Die Vision des Christlichen bei F. H. Innsbr./Wien 2000. – Richard Faber (Hg.): Offener Humanismus zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Über den Universalhistoriker, polit. Publizisten u. religiösen Essayisten F. H. Mit persönl. Erinnerungen v. Carl Amery u. Reinhold Knoll. Würzb. 2005. – R. Faber u. Sigurd Paul Scheichl (Hg.): Die geistige Welt des F. H. Wien/Köln 2008. Richard Faber / Adolf Gaisbauer
Heer, Jakob Christoph, * 17.7.1859 Töss bei Winterthur, † 20.8.1925 Zürich. – Romanschriftsteller. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Winterthur erwarb H., Sohn eines Monteurs u. Gemeindeammanns, 1879 am Seminar Küsnacht das Lehrerdiplom u. wurde 1882 Lehrer in Oberdürnten am Bachtel. Dank des Erstlings Ferien an der Adria (Frauenfeld 1888) u. seiner Reportagen über den Luftschiffer Spelterini (Im Ballon. Fahrten des Kapitäns Spelterini. Zürich 1892. Neuausg. 1980) wurde er als Nachfolger Carl Spittelers 1892 Feuilletonredakteur der »Neuen Zürcher Zeitung«. Dort erschien dann 1897 als Vorabdruck jenes Buch, das zusammen mit Der König der Bernina (Stgt. 1900) seinen Ruhm als neben Ernst Zahn erfolgreichstem Vertreter des Schweizer Heimatromans begründen sollte: An heiligen Wassern. Roman aus dem schweizerischen Hochgebirge (Stgt. 1898). Obwohl der Zeitungsabdruck in der Schweiz Proteste ausgelöst hatte, edierte Adolf Kröner den Band mit großem
Erfolg im Stuttgarter Cotta Verlag. H. erzählt, hineingestellt in die für den Bergroman typische alpin-pittoreske, von urtüml. Menschen bevölkerte Szenerie, die Geschichte eines Außenseiters, der seiner Walliser Bergheimat den Fortschritt sicherer Wasserleitungen förmlich aufzwingen muss u. erst nach bitteren Enttäuschungen die ihm gebührende Anerkennung findet. Wie hier die Technik, so wird im König der Bernina der Fremdenverkehr als Gewinn für die Bergwelt dargestellt, während spätere Romane gelegentlich auch kritischere Töne anschlagen. So geht in Felix Notvest (Stgt. 1901) die stärkste Bedrohung der dörfl. Gemeinschaft von der Technik u. vom Fortschritt aus, u. Der Wetterwart (Stgt. 1905) handelt von einem ehem. Ballonfahrer, der als Wetterwart auf dem Feuerstein (Säntis) lebt u. von dort aus resigniert u. illusionslos auf die Welt u. seine Mitmenschen hinunterblickt. Auch den schweizerischen Schauplatz, der am Erfolg seiner Bücher in Deutschland maßgeblich beteiligt war, gab H. bisweilen auf: so in Laubgewind (Stgt. 1908), einem in München spielenden Künstlerroman. H., der nach einem Zwischenspiel als »Gartenlaube«-Redakteur (Stuttgart) als freier Schriftsteller in Ermatingen/Bodensee, in Rüschlikon bei Zürich u. in Oberrode bei Hersfeld lebte, hat sein Bestes wohl in seinen autobiogr. Büchern gegeben: im Kindheitsroman Joggeli (Stgt. 1902) u. in Tobias Heider (Stgt. 1922), den romanhaften Erinnerungen an seine Jahre als Bergschullehrer u. angehender Schriftsteller. Aufschlussreich sind auch die postum erschienenen Erinnerungen (Stgt. 1930). H.s Heimatromane dagegen, die in Auflagen bis zu 744.000 Exemplaren (Der König der Bernina. 1958) gedruckt u. mehrfach verfilmt wurden, galten zumindest seit dem Ende des Ersten Weltkriegs als bloße Unterhaltungsliteratur u. wurden von der Kritik kaum mehr ernst genommen. – H.s Nachlass liegt im Jakob-Christoph-Heer-Archiv der Stadtbibliothek Winterthur. Werke: Gesamtausgabe: Romane u. Novellen. 10 Bde., Stgt. 1927. Literatur: Gottlieb Heinrich Heer: J. C. H. Frauenfeld 1927. – Margareta Maria Kulda: J. C. H.
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127 Versuch einer Monogr. Diss. Wien 1956. – Margrit Gsell-Heer: J. C. H. In: NDB. Charles Linsmayer / Red.
Heeren, Arnold (Hermann Ludwig), * 25.10.1760 Arbergen bei Bremen, † 6.3. 1842 Göttingen. – Historiker.
Literatur: Hans-Joachim Schild: Untersuchungen zu H.s Geschichtsauffassung. Diss. Gött. 1954. – Franz Uhle-Wettler: Staatsdenken u. EnglandVerehrung bei den frühen Göttinger Historikern. Diss. Marburg 1956. – Helmut Seier: H. u. England. In: Studien zur Gesch. Englands u. der dt.brit. Beziehungen. FS Paul Kluke. Hg. Lothar Kettenacker. Mchn. 1981, S. 48–78. – Ders.: A. H. L. H. In: Dt. Historiker. Hg. Hans-Ulrich Wehler. Bd. 9, Gött. 1982, S. 61–80. – Michael Behnen: Statistik, Politik u. Staatengesch v. Spittler bis H. In: Geschichtswiss. in Göttingen. Hg. Hartmut Boockmann. Gött. 1987, S. 76–101. Michael Behnen
Der Sohn eines evang. Dompastors in Bremen heiratete nach dem Studium in Göttingen 1796 Wilhelmine Heyne, eine Tochter des Altphilologen – u. Förderers von H. – Christian Gottlob Heyne. 1799 wurde er Nachfolger Ludwig Timotheus Spittlers als Professor für Geschichte in Göttingen. Er erweiterte die Heermann, Johann, * 11.10.1585 Raudhier gelehrte Disziplin »Statistik« durch ten/Schlesien, † 17.2.1647 Lissa/Polen. – Einbeziehung von Studien über Verfas- Lyriker u. Erbauungsschriftsteller. sungseinrichtungen, Finanzwesen, GesetzH. kam als Kind eines unvermögenden gebung, Manufakturen, Handel, militärische Kürschnermeisters zur Welt. Da vier ältere Macht u. Kolonien. Auch in der von seinem Geschwister gestorben waren, hatte die MutLehrer Spittler begründeten europ. Staatenter gelobt, sie werde den Sohn studieren lasgeschichte ging H. neue Wege. In seinem sen, wenn er überlebte. Nach erstem Schulmehrfach übersetzten Handbuch der Geschichte besuch in Raudten gaben ihn die Eltern 1597 des Europäischen Staatensystems und seiner Colonach Wohlau, wo er dem Medicus Jacob 5 nieen (Gött. 1809. 1830) schilderte er neben Fuchsius famulieren u. weiter die Schule beden Haupt- u. Staatsaktionen die Lebensbesuchen sollte. Doch das schwächl. Kind dingungen u. -formen, betonte die gesellmusste nach einem Jahr krankheitshalber schaftl. Unterschiede u. die kulturellen nach Hause zurückkehren. 1602 kam der Wechselbeziehungen. Einer seiner Schüler, Siebzehnjährige als Hauslehrer u. Amanuender Stein-Biograf Georg Pertz, erweiterte sis nach Fraustadt zu Valerius Herberger. später H.s Methoden um die systemat. QuelDazu hatte er Gelegenheit, sich in der Schule lenkritik. des angesehenen Rektors Johannes BrachNeu war H.s von Adam Smith beeinflusste mann weiterzubilden. Im Hause des als LieAuffassung von der Interdependenz zwischen derdichter hervorgetretenen Pastors dürfte stabiler Verfassung u. florierender Wirtschaft H. poetische Anregungen gewonnen haben. eines Staates. Er lehnte die Französische ReEbenso hat dessen von myst. Gedankengut volution u. die Volkssouveränität ab; sein geprägte HertzPostilla (Lpz. 1613) den späteIdeal war die konstitutionelle Monarchie u. ren Theologen beeinflusst. Durch Herbergers ein durch Freihandel gesicherter GleichgeVermittlung kam H. 1603 auf das Breslauer wichtszustand in Europa. Elisabeth-Gymnasium u. 1604 auf die FürsH. übte jahrzehntelang großen Einfluss auf tenschule in Brieg. Der dortige Rektor Jacob die Lehrstuhlbesetzungen seiner Universität Schickfuß vermittelte den Zwanzigjährigen aus. Die Protestation der Göttinger Sieben als Präzeptor für die jungen Herren von missbilligte er entschieden. Rothkirch u. Georg von Kottwitz. 1608 war Weitere Werke: Ideen über die Politik, den H. mit zumeist lat. Poesien bereits so rühmVerkehr u. den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt. 3 Bde., Gött. 1793–1812. 5 Bde., lich hervorgetreten, dass ihn Caspar Cunrad 4 1824–26. – Hdb. der Gesch. der Staaten des Al- in Brieg zum Dichter krönte. 1609 reiste er als terthums. Gött. 1799. 41821. – Histor. Werke. 15 Begleiter des älteren Rothkirch-Sohnes nach Straßburg u. bezog dort die Universität. Nach Bde., Gött. 1821–26. einjährigem Studium kehrte er wegen eines Augenleidens zurück u. wurde von seinem
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adligen Gönner als Diakonus nach Köben/ Oder (Chobienia) berufen. Dort rückte er noch 1611 zum Pfarrer der luth. Stadtgemeinde auf, die er bis 1639 betreute. 1612 heiratete er Dorothea Feige, Tochter des Bürgermeisters von Raudten. Die Ehe blieb kinderlos; schon nach 1617 starb Dorothea. Einer zweiten Verbindung, mit Anna Teichmann, entstammten vier Kinder. Bereits in diesen Jahren schrieb H. ein ganze Reihe von lat. Carmina, die z.T. auch über sein Leben Aufschluss geben. Gesammelt kamen sie als Epigrammatum Libelli IX (Breslau 1624) heraus. Nicht zu Unrecht wird H. von seinen Biografen der »Schlesische Hiob« genannt. Als Protestant lebte er in ständiger Bedrohung durch die Gegenreformation. Dazu kamen die Schrecken des Kriegs u. der Pest u. eine zeitlebens anhaltende Kränklichkeit, die ihn auch bei Ausübung seines Berufs behinderte. Dieser Umstand mag ihn u. a. bewogen haben, durch Schreiben sein pastorales Wirken zu unterstützen. 1639 gab H. krankheitshalber sein Pfarramt auf u. zog nach Lissa. Ob bei der Entscheidung für Lissa die Nähe zu Jan Amos Comenius eine Rolle spielte, ist ungewiss. Nach seinem Tod 1647 erschienen noch mehrere Schriften, u. a. die beiden Gedichtbände Poetische Erquickstunden (Nürnb. 1656). H.s schriftstellerisches Werk beschränkt sich, sieht man von Casualcarmina ab, auf den geistl. Bereich. Für den Prediger lag es nahe, sich den Schrifttexten der Sonn- u. Feiertage zuzuwenden. In der Tradition der Perikopendichtung stehen mehrere Werke H.s, so die zweisprachigen Flores ex odorifero annuorum evangelicorum vireto (1609), die als Exercitium Pietatis. Übung in der Gottseligkeit (Breslau 1630) neu bearbeitet erschienen, u. die deutschsprachige Sammlung Andechtige KirchSeufftzer, Oder Evangelische Schließ-Glöcklin (Lpz. 1616. Neu umbgegossenes und verbessertes Schließ=Glöcklein. Breslau 1632). Die genannten Werke verfolgen eine lehrhafte (Exercitium Pietatis: »für die liebe Jugend«) u. paränet. Absicht (KirchSeufftzer: »und damit seine Amtspredigten beschlossen hat«). Es handelt sich von der Form her eher um Lesetexte, also Epigramme, Alexandrinergedichte u. gereimte Gebete. Die drei Teile der Labores sacri (Breslau 1624, 1631, 1638) u. die Sonn- und
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Festtägliche Spruch-Postill (Nürnb. 1652) sind Predigtauslegungen der Perikopen u. wurden von Opitz hochgeschätzt. In den Sontags- und Fest-Evangelia (Breslau 1636. Neudr. Hg. Irmgard Scheitler. Ffm. 1992) u. in Allerley FestEvangelia (in: Poetischer Erquickstunden Fernere Fortsetzung. Nürnb. 1656) hat sich H. der liedhaften Form zugewandt. Auf diesem Gebiet zählt er zu den wichtigsten Autoren des 17. Jh. Seine mit Noten versehene Sammlung Devoti Musica Cordis, Hauß- und Hertz-Musica (Breslau 1630), die, wie die meisten Werke H.s, mehrfach neu aufgelegt worden ist, enthält so berühmte Lieder wie »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen«. H. hat seine Lieder zumeist auf bekannte Weisen geschrieben; jedoch regten sie vielfach Tonsetzer zu neuen Melodien u. Kompositionen an. Zunächst für die persönl. Frömmigkeitsübung gedacht, erreichten sie bald auch Verbreitung im öffentl. Gottesdienst. Von bes. Bedeutung sind dabei die Gesangbücher Johann Crügers. Zunehmende körperl. Schwäche u. eine anhaltende Krankheit der Atemwege zwangen H. in späteren Jahren dazu, seine Predigten vorlesen zu lassen. Dies mag deren Drucklegung befördert haben. Das Werk umfasst neben den erwähnten Sonntagspostillen Passionspredigten (Crux Christi. Breslau 1618. Heptalogus Christi. Ebd. 1619. Mons Oliveti. Nürnb. 1656) sowie Leichenpredigten (Christianae Euthanasias Statuae. Breslau 1621. Schola Mortis. Breslau 1628. Güldene Sterbekunst. Breslau 1628. Parma Contra Mortis Arma. Rostock 1645. Dormitoria. Rostock 1645). Eine lat.-dt. Sprichwortsammlung ist Praeceptorum Moralium & Sententiarum Libri III. Zucht-Büchlein für die Zarte Schul-Jugend (Breslau 1644). H. war als Poet durchaus ambitioniert. Dies zeigt schon sein Streben nach dem Dichterlorbeer. Auch bemühte er sich, die Regeln der Opitzianischen Prosodie zu beachten, u. überarbeitete frühere Werke. Bei der Wahl seiner Strophenformen griff er auch den neu eingeführten Alexandriner (»O Gott du frommer Gott«) oder die sapph. Odenform auf (»Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen«). Seine zahlreichen Ehren-, Widmungsu. Gelegenheitsverse, die er für wichtig genug hielt, sie in neun Büchern Epigrammen zu
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sammeln, beweisen seine lebhafte Teilnahme R. A. Schröder: J. H. in Dichtung u. Dichter der am poetischen Geselligkeitsleben seiner Zeit. Kirche. Werke 3. Bln. 1952, S. 531–560. – Hans Umgekehrt bezeugen Ehrengedichte von M. Peter Adolf: Das Kirchenlied J. H.s u. seine Stellung Opitz, Johann Matthäus Meyfart, Friedrich im Vorpietismus. Diss. Tüb. 1957. – Carl-Alfred Zell: Untersuchungen zum Problem der geistl. Logau, Andreas Tscherning, David Schirmer Barocklit. [...] J. H.s. Heidelb. 1971. – Heiduk/ u. Andreas Gryphius H.s Ruhm. Insbesondere Neumeister, S. 373–375. – Johannes Grünewald: J. der Letztere war von H.s Dichtung beein- H. Zur 400. Wiederkehr seines Geburtstages. In: Jb. flusst. für schles. Kirchengesch. 64 (1985) S. 184–191. – H.s Grundhaltung ist luth.-orthodox, doch Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. hängt seine Beliebtheit im 17. u. frühen 18. Bd. 2, Tüb. 1987 (Register). – John Roger Paas: Jh. wohl auch mit seinem Bemühen um eine Opitz in Praise of J. H. In: Chloe 10 (1990), Liedermacher im emotional vertiefte Frömmigkeit zusammen. S. 413–420. – Martin Rößler: Gesangbuch. Bd. 1. Stgt. 21992, S. 144–176. – GerJesusliebe u. Blut- u. Wundenverehrung, wie hard Kappner: J. H. In: Komponisten u. Liedersie das Liedgut des späteren 17. Jh. u. des dichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Pietismus prägten, finden sich schon bei ihm. Herbst. Gött. 22001, S. 135–137. – Bernhard Liess: Anregungen holte er sich u. a. aus den J. H. Prediger in Schlesien zur Zeit des Dreißigpseudoaugustin. Meditationes, den Werken jährigen Krieges. Münster 2003. – Ruth SchildBernhards von Clairvaux, Martin Mollers hauer-Ott: Der schles. Dichterkreis des Barock u. (Meditationes sanctorum patrum. Görlitz 1584), seine Bedeutung für das evang. Kirchenlied. AaJohann Arndts (Paradiß Gärtlein. Magdeb. chen 2004. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, 1612. Postilla. Jena 1616) u. Johann Gerhards S. 805–818. – Zu einzelnen Liedern: Gerhard Hahn u. Jürgen Henkys (Hg.): Liederkunde zum Evang. (Meditationes Sacrae. Jena 1606). Mit neun Gesangbuch. Gött. 2000 ff. Irmgard Scheitler Liedern, drei davon ökumenisch gebraucht, gehört H. noch heute zu den wichtigsten Dichtern im EG. Hefele, Herman(n) (Josef), * 13.10.1885 Weitere Werke: Sechserley Sontags-Andachten. Breslau/Lissa 1642. – Buß-Leyter. Beicht-Büchlein Communicanten-Büchlein. Ffm. 1652. – Concionum variarum fasciculus. Sonderbahre Predigten. Nürnb. 1656. Ausgaben: Philipp Wackernagel: J. H.s geistl. Lieder. Stgt. 1856. – Rudolf Alexander Schröder: J. H.s frohe Botschaft aus seinen evang. Gesängen. Bln. 1936. – Fischer/Tümpel 1, S. 254–388. – Abdanckung, nach gehaltener Leichproceßion [...]. Glogau 1620. In: Trauerreden des Barock. Hg. Maria Fürstenberg. Wiesb. 1973, S. 1–7 (Leichabdankung v. Ursula Kölich). – Von den Zeichen, welche kurtz für dem Jüngsten Tage geschehen. In: Predigten der Barockzeit. Texte u. Komm. Hg. Werner Welzig. Wien 1995, S. 3–14. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2036–2082. – Weitere Titel: Johann Holfeld: Bonus Pastor Gregis Christi. Lissa 1647 (Leichenpredigt). – Johann Caspar Wetzel: Hymnopoeographia, oder histor. Lebens-Beschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter. Herrnstadt 1719, S. 385–493. – Karl Friedrich Ledderhose: Das Leben J. H.s. Heidelb. 1876. – Heinrich Schubert: Leben u. Schr.en J. H.s In: Ztschr. des Vereins für Gesch. u. Altertum Schlesiens 19 (1885), S. 182–236. – Karl Hitzerot: J. H. Marburg 1907. New York 1968. –
Stuttgart, † 30.3.1936 Frauenburg/Ostpreußen. – Kulturkritiker. H., dessen Vater Präsident des kath. Oberkirchenrats war, studierte Philosophie, Geschichte u. kath. Theologie in Tübingen. 1909 promovierte er mit einer Arbeit über das religiöse Volksleben Italiens im MA. Die folgenden zehn Jahre war er Mitarbeiter an einem histor. Atlas für Bayern. Während dieser Zeit entfaltete er eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Neben literaturkrit. Aufsätzen veröffentlichte er Übersetzungen wichtiger ital. u. lat. Werke (Augustinus, Petrarca, Machiavelli, Cardano u. a.). Während des Ersten Weltkriegs entstand H.s wichtigstes Werk, Das Gesetz der Form (Jena 1919). Er behandelte darin die Klassiker des Abendlandes: Petrarca, Dante, Goethe, Schiller, Michelangelo u. auch Caesar, Napoleon u. Machiavelli. In ihrem Leben u. Werk sah er alle Merkmale eines strengen Klassizismus erfüllt, der aus röm. Geist lebt, auf Entsagung basiert u. Gesetz, Ordnung, Form u. Gemeinschaft als wesentl. kulturelle Werte beansprucht. Ebenso aufschlussreich wie die
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Liste seiner bewunderten Vorbilder liest sich die der immer wieder Kritisierten: Hölderlin, Mörike, Nietzsche, Wagner – dem ganzen 19. Jh. galt der Vorwurf, die objektive Form zersetzt, den Subjektivismus entfesselt, sich des Individualismus u. Liberalismus schuldig gemacht zu haben. Seine kulturkrit. Leitbegriffe der Zucht, Bildung, Entsagung usw. ließen H. auch zum heftigen Kritiker des Expressionismus werden, in dem er nur Anarchie u. Chaos am Werk sah. 1919–1929 arbeitete er als Regierungsrat in Stuttgart, danach nahm er eine Berufung auf den Lehrstuhl für Geschichte u. Literatur der Akademie Braunsberg an. Dass H., ohne sich parteipolitisch zu binden, stets gegen liberale Tendenzen seiner Zeit ankämpfte, früh den Begriff der »Volksgemeinschaft« verwendete u. in seinen Schriften den Caesarismus als Höhepunkt der »Demokratie« pries, wurde ihm von den Nationalsozialisten hoch angerechnet. Weitere Werke: Die Entsagenden. Heilbr. 1919 (N.). – Dante. Stgt. 1921 (Ess.). – Das Wesen der Dichtung. Stgt. 1923 (Ess.). – Die Reise. Kempten 1924 (N.). Literatur: Ludwig Hänsel. H. H. In: Hochland 26 (1928/29), Bd. 2, S. 358–374, 516–533. – Hermann Binder: H. H. In: Dichtung u. Volkstum 38 (1937), S. 157–171. Peter König / Red.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, * 27.8. 1770 Stuttgart, † 14.11.1831 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Philosoph. Kein Zweiter unter den dt. Philosophen ist so umstritten wie H. Schon sein Zeitgenosse u. Berliner Dozentenkollege Arthur Schopenhauer scheute vor barscher Kritik an H.s Denkstil nicht zurück: »Die ganze Literaturgeschichte, alter und neuer Zeit, hat kein Beispiel von falschem Ruhme aufzuweisen, welches dem der Hegelschen Philosophie an die Seite zu stellen wäre. Nie und nirgends ist das ganz Schlechte, das handgreiflich Falsche, Absurde, ja, offenbar Unsinnige und dazu noch, dem Vortrage nach, im höchsten Grade Widerwärtige und Ekelhafte mit solcher empörenden Frechheit, solcher eisernen Stirn, als die höchste Weisheit und das Herrlichste,
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was je die Welt gesehn, gepriesen worden, wie jene durchaus werthlose Afterphilosophie.« Eine Verurteilung, die sich bis heute in ähnl. Weise, etwa bei Karl Popper, findet. Ihr steht die außerordentl. Hochschätzung H.s von marxistischer, existenzialistischer, theolog., rechtsphilosophischer u. psycholog. Seite strikt entgegen. Der, der so angefeindet u. geschätzt zgl. dasteht, hatte zu Lebzeiten erst spät von sich reden gemacht. »Bei Hegel«, so schreibt 1844 sein erster Biograf Karl Rosenkranz, »ist der äußere Gang des Lebens höchst einfach. Es ist wenig davon zu sagen.« Nach dem Besuch der Deutschen u. der Lateinischen Schule seiner Vaterstadt wechselte der begabte Musterschüler aus einer alten Theologen- u. Beamtenfamilie an das Gymnasium illustre, das er 1788 nach der Matura verließ. Aufgrund seiner hervorragenden Leistungen erhielt er die Möglichkeit, als herzogl. Stipendiat im Tübinger Stift zu leben u. Theologie zu studieren. Dort schloss er mit dem gleichaltrigen Hölderlin u. dem fünf Jahre jüngeren Schelling einen engen Freundschaftsbund. Gemeinsam begeisterten sie sich für die Ideale der Französischen Revolution u. gemeinsam verständigten sie sich – weit über den bemerkenswerten Bildungsrahmen des Stifts hinaus – über ihre philosophischen, ästhetischen u. polit. Einsichten. Ihren nachträgl. Ausdruck fanden diese Verständigungsbemühungen im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (u. a. Ffm. 1984), das 1796/97 entstanden u. in H.s Handschrift überliefert ist. Die Urheberschaft ist umstritten; doch spricht alles dafür, dass H. nicht etwa eine Abschrift, sondern eine Mitschrift der anhaltenden Diskussion mit den Freunden angefertigt hat. Ein Thesenpapier also, das nichts Geringeres fordert, als dass das »Räderwerk des mechanischen Staates« aufhöre u. eine »Mythologie der Vernunft« die Aufgabe übernehme, die Beziehungen zwischen freien Subjekten ästhetisch zu vermitteln. Die bescheidene Stelle eines Hauslehrers, die H. bei wohlhabenden Familien in Bern u. von 1797 an in Frankfurt/M. wahrnahm, ließ ihm Zeit zur Abfassung der ersten großen
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philosophischen Veröffentlichung Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems (Jena 1801). Sie u. die Freundschaft mit Schelling, der schon 23-jährig einen Lehrstuhl erhielt, ebneten ihm den Weg zur Habilitation an der Universität Jena genau an seinem 31. Geburtstag. Dennoch verlief H.s Karriere – ganz anders als die glänzende Schellings – zögernd: Erst 1805 wurde er zum a. o. Prof. für Philosophie in Jena ernannt; 1807 musste er diese Kleinstadtmetropole der Intellektualität wegen der Kriegsereignisse verlassen, doch konnte er noch von Jena aus den Druck des ersten Bands des Systems der Wissenschaft veranlassen, der seinen Ruhm begründete: die Phänomenologie des Geistes (Bamberg 1807). Es folgten Tätigkeiten als Redakteur der »Bamberger Zeitung« (1807) u. von 1808 an als Rektor des Nürnberger Egidien-Gymnasiums. 1811 heiratete der inzwischen 41-Jährige die 20-jährige Marie von Tucher. Mit ihr hatte er drei Kinder; zeitweise lebte auch H.s unehel. erster Sohn Ludwig in der Familie. Neben seiner Tätigkeit als Rektor arbeitete H. an seinem Hauptwerk, der Wissenschaft der Logik (3 Bde., Nürnb. 1812–16. Bd. 1, Stgt. 2 1832). 1816 erfolgte endlich der erste Ruf auf ein philosophisches Ordinariat an der Universität Heidelberg. Sein Ruhm verstärkte sich noch, als 1817 die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Heidelb.) erschien. 1818 erhielt H. den renommiertesten dt. Lehrstuhl für Philosophie: Er wurde Nachfolger Fichtes an der Berliner Universität. Sein Leben aber verlief äußerlich weiterhin ruhig. Einige Reisen (1822 nach Brüssel, 1824 nach Prag u. Wien, 1827 nach Paris), eine Begegnung mit Goethe 1827, ein eher zufälliges Wiedersehen mit dem inzwischen fremd gewordenen Jugendfreund Schelling während einer Kur in Karlsbad 1829 – das sind die wenigen herausragenden Ereignisse eines Lebens, das sich ganz dem Denken verschrieben hatte. Bis zu seinem unerwartet frühen Tod entfaltete H. eine überaus erfolgreiche Lehrtätigkeit. Seine Vorlesungen über Geschichtsphilosophie u. Philosophiegeschichte, über Religion u. Ästhetik, über Logik u. über die Grundlinien der Philosophie des Rechts (Bln. 1821) zu hören, war eine gesell-
Hegel
schaftl. Verpflichtung für die ersten Berliner Kreise. Dabei mutet H.s Philosophie ihren Hörern u. Lesern sachlich u. formal viel zu. Bricht sie doch gleich mit mehreren gängigen Grundannahmen des Denkens, allem voran mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, dem zufolge, wie Aristoteles im vierten Buch seiner Metaphysik kanonisch formulierte, es »unmöglich ist, daß dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukomme und nicht zukomme« (1005 b). H. hat die platonische Tradition dialektischen Widerspruchsdenkens aus dem Ghetto der Rhetorik befreit. Schon die Vorrede zur Phänomenologie führt mit der berühmten »Dialektik des Satzes« (Bd. 3, S. 57 ff., Zitate nach den Werken in 20 Bänden, hg. von Michel/Moldenhauer) ein faszinierendes Musterstück des WiderspruchDenkens vor. Danach ist der Grammatik von Aussagesätzen selbst abzulesen, dass Denken in bloßen Identitätskategorien nicht begründet sein kann. Denn das, was einen Satz zu tragen scheint: das Satz-Subjekt (das lat. Wort »subjectum« heißt in diesem Zusammenhang das »zugrunde Liegende«), erfährt erst durch das Prädikat, was es ausmacht. Der Satz selbst ist nichts anderes als der Übergang vom Subjekt zum Prädikat. Und in diesem Übergang geht der Anspruch des Subjekts, das Substantielle des Satzes selbst zu sein, zugrunde oder, nach H.s Wortspiel, in seinen Grund zurück. Denn das, was dem Subjekt nachgeordnet zu sein scheint, da es doch nur seine Akzidenzien benennt, das Prädikat, wird, weil es benennt, was die Substantialität des Subjekts ausmacht (A ist/tut x, y, z), zur Substanz des Satzes selbst. »Es kommt«, so schrieb H., »nach meiner Einsicht [...] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen« (3/22 f.). Die Konsequenzen, die H. aus diesem Befund zog, sind weitreichend. Er vermutete nämlich, dass die Grundstruktur aller Verhältnisse – also auch des Verhältnisses von Denken u. Sein – nach dieser Dialektik organisiert sei. Das aber heißt, noch einmal an der Dialektik des Satzes vorgeführt: Das scheinbar Nachgeordnete, Begründete – das Prädikat – vermag seine Substanz, seinen Grund –
Hegel
das Subjekt – so zu übergreifen, dass es sich selbst zum Ganzen der Beziehung (die paradigmatisch der Satz ist) zu potenzieren vermag. Beziehungen (Relationen) sind folglich so strukturiert, dass die Relata je auch das andere ihrer selbst sind. Und eben wegen dieser ihrer mangelnden substantiellen Identität müssen die Elemente einer Beziehung danach trachten, sich zum dominierenden Moment der gesamten Beziehung zu machen. Das mutet abstrakt an u. ist es gewiss auch. Dennoch ist es kein Zufall, dass gerade H.s komplexe Dialektik vielen Realphilosophien u. -theorien – etwa dem Marxismus u. Leninismus u., vermittelt über Alexandre Kojèves Vorlesungen, dem frz. Existenzialismus u. der Psychoanalyse – Impulse verliehen hat. Denn H. verstand es, seine Analysen an konkrete Sachverhalte zu binden. So illustrierte er den Befund, nach dem »das Tun des Einen ebensowohl das Tun des Anderen ist«, am Verhältnis von »Herrschaft und Knechtschaft« ebenso eindringlich wie wirkungsmächtig (3/145 ff.). H.s Grundeinsicht gilt auch im Hinblick auf subjekthaftes Selbstbewusstsein. Er schloss Andeutungen dazu nicht ohne kompositor. Hintersinn gleich an seine Analyse der Dialektik des Satzes an. Er machte dabei bewusst Gebrauch von dem Umstand, dass »Subjekt« nicht nur eine grammatische, sondern auch eine personal bewusste Größe bedeutet. Dem bewussten Subjekt bzw. dem »wissenden Ich« wächst nämlich die Aufgabe zu, die Krise des Satz-Subjekts aufzuheben – im dreifachen Sinn von Lösen, Bewahren u. auf eine höhere Stufe Bringen. Ist es doch das sprechende Subjekt, welches »das Verknüpfen der Prädikate« leistet u. deshalb auch das »sie haltende Subjekt« heißen darf. Doch auch dieses bewusste Subjekt ist seinerseits in sich selbst widersprüchlich, kommt es doch gleichfalls doppelt vor: als wissendes u. als sich selbst wissendes Ich. In deutl. Absetzung von der absoluten Identitätsgleichung »Ich = Ich«, mit der Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 den Anfang macht u. die H. als bloß negatives Prinzip verstand, das »alles Endliche im Unendlichen versenkt« (2/95), heißt es in der Phänomenologie: »Ich ist der Inhalt der
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Beziehung und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein Anderes, und greift zugleich über dies Andere über, das für es ebenso nur es selbst ist« (3/137 f.). Das aber heißt: Selbstbewusstsein hat »einen gedoppelten Gegenstand«, den der »sinnlichen Gewißheit« u. »sich selbst«. Diesen Gesichtspunkt behielt H. auch in seinem Hauptwerk, der Wissenschaft der Logik, bei. Thema der Phänomenologie des Geistes ist, wie der Untertitel anzeigt, die Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins. H.s Logik aber thematisiert noch das, was sich nicht erfahren lässt, sondern aller Erfahrung zugrunde liegt. Leitender Gesichtspunkt auch dieses Unternehmens ist die Einsicht in die Struktur der »Identität der Identität und Nichtidentität« (5/74). H. hatte diese Wendung schon in seiner Differenzschrift von 1801 gebraucht, um die Struktur des Absoluten zu entwickeln. Dies geschieht, wie in anderen Schriften auch, am christolog. Paradigma: Der unendl. Gott wird in seinem Sohn das endl. Andere seiner selbst oder eben »Identität der Identität und Nichtidentität« (2/96). Die Wendung »Gott selbst ist tot« ist, entgegen der gängigen Ansicht, keine Neuprägung Nietzsches, sondern schon im 1641 von Johannes Rist gedichteten zweiten Vers des Kirchenlieds »O Traurigkeit, o Herzeleid« u. in H.s Aufsatz Glauben und Wissen (in: Kritisches Journal der Philosophie 2, 1, 1802) zu finden. Der dort entwickelten Idee des »spekulativen Karfreitags, der sonst historisch war« (2/432), ist noch H.s Hauptwerk verpflichtet. Es begreift nach christolog. Bild die Relation von Unendlichkeit u. Endlichkeit, Sein u. Denken, Grund u. Begründetem als nichtident. »Ganzes«, das sich in ein Moment seiner selbst übersetzt hat. H. ist der Erste, der das Absolute konsequent als Prozess (r)evolutionärer Selbstorganisation gedacht hat. Damit hat H. ein Strukturmodell kategorial entfaltet, das sich auch in seinen realphilosophischen Schriften bewährt. So können die Vorlesungen über die Ästhetik (Hg. Heinrich Gustav Hotho. 3 Bde., Bln. 1835–38. In einem Bd. hg. von Friedrich Bassenge. Bln./DDR 1955) deutlich machen, dass im Hinblick auf das Ganze des Erkenn-
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Hegeler
baren »der Gedanke und die Reflexion die H.s Lehre vom absoluten Geist [...]. Bln. 1970. – Dieter Henrich: H. im Kontext. Ffm. 1971. – Hansschöne Kunst überflügelt« haben (13/24). Kunst hat deshalb in der Moderne insofern Georg Gadamer: H.s Dialektik. Tüb. 1971. – O. ihr Ende gefunden, als sie »in der Wissen- Pöggeler: H.s Idee einer Phänomenologie des Geistes. Freib. i. Br./Mchn. 1973. – M. Riedel: schaft erst ihre echte Bewährung« (13/27) erStudien zu H.s Rechtsphilosophie. 2 Bde., Ffm. halte. Ähnlich konnte H. in seiner Rechts- 1975. – Klaus Düsing: Das Problem der Subjektiphilosophie argumentieren. Dort hat er sei- vität in H.s Logik. Bonn 1976. – Shlomo Avneri: H.s nen Ehrgeiz, den Satz des Parmenides zu er- Theorie des modernen Staates. Ffm. 1976. – Lothar neuern, nach welchem Denken u. Sein eines Eley: H.s Wiss. der Logik. Mchn. 1976. – M. seien, geradezu in einem Merkspruch for- Theunissen: Sein u. Schein. Die krit. Funktion der muliert: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; H.schen Logik. Ffm. 1978. – Vittorio Hösle: H.s und was wirklich ist, das ist vernünftig« (7/ System. 2 Bde., Hbg. 1987. – Hans Friedrich Fulda: 24). Ein Satz, der selbst bei späten u. modi- G. W. F. H. Mchn. 2003. – Ute Guzzoni: H.s Denken als Vollendung der Metaphysik. Eine Vorlefizierten Hegelianern wie Adorno geharsung. Freib. i. Br./Mchn. 2005. – Heinz Georg nischten Widerspruch ausgelöst hat. Ein Satz Kimmerle: G. W. F. H. interkulturell gelesen. aber auch, der zeigen will, dass nach den Nordhausen 2005. – Herbert Schnädelbach: G. W. grundstürzenden Ereignissen der abendländ. F. H. zur Einf. Hbg. 2007. Jochen Hörisch Geschichte – u. das sind in H.s Perspektive das Christentum u. die Französische Revolution – Vernunft selbst das dominierende Hegeler, Wilhelm, * 25.2.1870 Varel bei Moment der ganzen Beziehung von Wirk- Oldenburg, † 13.10.1943 Irschenhausen/ lichkeit u. Geist geworden ist. Bayern. – Romanautor. Ausgaben: Vollst. Ausg. durch einen Verein v. Freunden des Verewigten (Ludwig Boumann, Philipp Marheineke u. a.). 18 Bde., Bln. 1832–45. – Sämtl. Werke. Hg. Georg Lassen. Lpz., später Hbg. 1911 ff. – Sämtl. Werke. Jubiläumsausg. in 20 Bdn. Auf Grund des v. L. Boumann [...], P. Marheineke u. a. besorgten Originaldruckes. In neuer Anordnung hg. v. Hermann Glockner. Stgt. 1927–30. – Ges. Werke. Hg. im Auftrag der dt. Forschungsgemeinschaft. Hbg. 1968 ff. – Werke in 20 Bdn. Auf der Grundlage der Werke v. 1832–45. Hg. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Ffm. 1969–79 (Bd. 21: Register). – Vorlesungen. Hbg. 1983 ff. Literatur: Bibliografien: Fortlaufend in den Hegel-Studien. Bonn 1961 ff. – Biografie: Karl Rosenkranz: H.s Leben. Bln. 1844. Neudr. Darmst. 1969. – Arsen Gulyga: G. W. F. H. Ffm. 1974. – Gesamtdarstellungen: Rudolf Haym: H. u. seine Zeit. Bln. 1857. Neudr. Hildesh. 1962. – Otto Pöggeler (Hg.): H. Freib. i. Br./Mchn. 1977. – Charles Taylor: H. Ffm. 1978. – Weitere Titel: Alexandre Kojève: Indroduction à la lecture de H. Paris 1947. – Eric Weil: H. et l’Etat. Paris 1950. – Karl R. Popper: Die offene Gesellsch. u. ihre Feinde. 2 Bde., Bern 1958. – Karl Löwith: Von H. zu Nietzsche. Zürich 1958. – Theodor W. Adorno: Drei Studien zu H. Ffm. 1963. – Joachim Ritter: H. u. die Frz. Revolution. Ffm. 1965. – Manfred Riedel: Theorie u. Praxis im Denken H.s. Stgt. 1965. – Ernst Topitsch: Die Sozialphilosophie H.s als Heilslehre u. Herrschaftsideologie. Neuwied 1967. – Michael Theunissen:
Nach dem Tod seines Vaters, eines Seifenfabrikanten aus dem Oldenburgischen, wuchs H. mit Mutter u. Stiefvater, einem Gymnasiallehrer, in Elberfeld u. Düsseldorf auf. Nach dem Abitur begann er 1889 zunächst in München u. Genf ein Jurastudium, das er jedoch schon 1892 in Berlin abbrach, um, sich als »Übergangsmensch« zwischen den Klassen fühlend, in die Friedrichshagener Naturalisten-Kolonie zu ziehen u. sich als sozial engagierter Schriftsteller zu versuchen. Schon sein erster Roman Mutter Bertha (Bln. 1893. Überarb. Bln. 1916), die tragisch endende Liebesgeschichte zwischen einem Studenten u. einer Kellnerin, die ein unehel. Kind hat, wurde 1896 auf dem Gothaer Parteitag der SPD als Beispiel für die anstößigen Detailschilderungen der neuen Literaturbewegung kritisiert. H. griff aktuelle soziale Konflikte auf, kleidete sie jedoch zunehmend in Liebesgeschichten. Das gilt auch für seine bekannten Romane Ingenieur Horstmann (Bln. 1900) u. Pastor Klinkhammer (Bln. 1903), für den er 1904 den Bauernfeld-Preis erhielt. Schon 1896 zog sich H. aus Berlin nach München zurück u. lebte, durch eine Erbschaft materiell unabhängig, 1906–1939 in Weimar u. Blankenhain/Thüringen, seit 1939
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in Irschenhausen; am Ersten Weltkrieg nahm er als Pfleger u. Berichterstatter teil. Der äußere Rückzug aus der großstädt. Metropole sowie die Erfahrung von drei gescheiterten Ehen spiegeln sich in H.s späteren Romanen u. Erzählungen, pathet. Historiengemälden u. psychologisierenden Ehegeschichten, die kaum über konventionelle Kolportage hinausgelangen. Weitere Werke: Flammen. Bln. 1905. – Die frohe Botschaft. Stgt. 1910. – Bei unseren Blaujacken u. Feldgrauen. Bln. 1916. – Der verschüttete Mensch. Stgt. 1922. – Der Apfel der Elisabeth Hoff. Stgt. 1925. – Goya u. der Bucklige. Lpz. 1928. – Der Zinsgroschen. Hbg. 1928. – Der innere Befehl. Bln. 1936. Literatur: Heinrich Festner: W. H. Leben u. Werk. Freib./Schweiz 1954. – Herbert Scherer: Bürgerl.-oppositionelle Literaten u. sozialdemokrat. Arbeiterbewegung nach 1890. Stgt. 1974. Martin Rector / Red.
Hegendorff, Hegendorphinus, Hegendorfer, Christoph(orus), * 1500 Leipzig, † 8.8. 1540 Lüneburg. – Humanist.
Zivilrecht in Frankfurt/O. (Dr. jur. 1536). Im folgenden Jahr trat er als Syndikus in den Dienst der Stadt Lüneburg u. nahm hier zuletzt auch die Aufgaben des Superintendenten wahr. Die Stadt Rostock beauftragte ihn im Winter 1539/40 mit der Reorganisation der zerrütteten Universität. Das weitläufige Gesamtwerk ist erst ansatzweise erforscht, obwohl H.s Schriften auch übersetzt u. im Ausland gelesen wurden. Weitere Werke: Ratio epistolarum conscribendarum compendiaria. Lpz. 1520. Paris 1534 u. ö. – Christiana studiosae juventutis institutio. Hagenau 1526. Paris 1529 u. ö. – Methodus conscribendi epistolas. Hagenau 1526 u. ö. – Dialecticae legalis libri quinque. Lpz. 1531. Antwerpen 1534. Paris 1535 u. ö. – Declamationes octo. Straßb. 1533. – Oratio de rationibus restaurandi collapsas academias publicas. Rostock 1540. – Gustav Kawerau (Hg.): Zwei älteste Katechismen der luth. Reformation (u. a. v. H.). Halle/Saale 1890. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Aloys Bömer: Die lat. Schülergespräche der Humanisten. Tl. 1, Bln. 1897, S. 108 ff. – Gustav Bauch; Die Anfange der Universität Frankf./O. Bln. 1900, S. 72–78 (Werkverz.). – Heinrich Grimm: C. H. In: NDB. – Gerhard Streckenbach: Stiltheorie u. Rhetorik der Römer im Spiegel der humanist. Schülergespräche. Neuausg. Gött. 1979. – Franz Bierlaire: Les ›Dialogi Pueriles‹ de C. H. In: JeanClaude Margolin (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Turonensis. Paris 1980, S. 389–401. – Ders.: C. H. In: Contemporaries 2, S. 171 f. – Michael Höhle: Universität u. Reformation. Die Universität Frankfurt (Oder) v. 1506–1550. Köln 2002, S. 187–189 u. ö. – Jaumann Hdb. – Melanchthons Briefw. Bearb. v. Heinz Scheible. Bd. 12. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 246 f. Wilhelm Kühlmann
In seiner Vaterstadt besuchte H. Schule u. Universität (Magister 1520/21). Seine Interessen umfassten die Humaniora ebenso wie Theologie u. Jura. Als Nachfolger von Petrus Mosellanus wirkte er zunächst als Professor der Gräzistik in Leipzig (1525). Schon vorher hatte er sich anlässlich der Leipziger Disputation zu Luther bekannt (1519) u. die ältere Verslehre Huttens herausgegeben (1518). Im Sinne Melanchthons schrieb H. Handbücher der Brieflehre u. Rhetorik, z.T. ausdrücklich für Juristen bestimmt, veröffentlichte akadem. Deklamationen, darunter Hegenitz, Hegenitius, Gottfried, getauft auch iron. Enkomien, u. edierte antike Texte, 21.3.1598 Görlitz, † nach 1646, vor 1669. u. a. Reden Ciceros. Zum weiteren Umkreis – Schriftsteller u. Übersetzer. seiner pädagog. Schriften zählen die von Mosellanus beeinflussten Schülergespräche Anders als seine Brüder Christfried (Pfarrer in (Dialogi pueriles. Lpz. 1519 u. ö. Weitere Dru- Kopenhagen u. Königsberg) u. Trostfried cke in Nürnb., Münster u. Straßb.). Sie ver- (Stadtphysikus in Kronstadt/Siebenbürgen) mitteln den kolloquialen Gebrauch des La- scheint H. es im Leben zu nichts Dauerhaftem teins. Damit berühren sich in Prosa verfasste gebracht zu haben. Noch der 48-Jährige verSchulkomödien, die auf Terenz zurückgrei- diente sich in Amsterdam den Lebensunterfen (Comedia nova. Lpz. 1520 u. ö. De sene halt mit Übersetzungen für den Verleger amatore. Lpz. 1521 u. ö.). Ludwig Elzevier. Von Jugend an hat H. ein Nach Lehrjahren am akadem. Gymnasium ruheloses Leben geführt. Er war an vielen zu Posen (1530–1535) wurde H. Professor für Universitäten immatrikuliert (schon mit elf
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Hegewald
Jahren in Frankfurt/O., 1616 in Jena, 1617 in Hegewald, Wolfgang, * 26.3.1952 DresMarburg, 1622 in Altdorf, 1623 in Tübingen, den. – Erzähler, Romancier, Hörspiel1624 in Straßburg, 1627 in Leiden), stand in autor. Verbindung mit bedeutenden Gelehrten (u. a. Matthias Bernegger, Joachim Morsius, Jo- H. studierte Informatik u. evang. Theologie hannes Gronovius) u. war Hauslehrer in in Dresden u. Leipzig u. arbeitete in der InAdelsfamilien. Um 1629 trat er mehrfach in dustrie u. als Friedhofsgärtner. Da er in der kurzfristige diplomatische Dienste (für Tilly DDR nicht publizieren konnte, stellte er eiu. für August d.J. von Braunschweig-Wol- nen Ausreiseantrag u. ging 1983 in die Bunfenbüttel) u. nannte sich daher bisweilen desrepublik. 1983–1993 war er als freier Autor in Hamburg, Garbsen, Loccum u. Bre»Fürstlich Braunschweigischer Rat«. H. war ein Wegbereiter u. Weggefährte merhaven tätig; 1987 erhielt er ein StipendiPhilipp von Zesens in den Niederlanden. um der Villa Massimo in Rom. 1993–1996 Zusammen mit Zesen hat H. die später nur war H. Leiter des Studios Literatur und noch unter dessen Namen gebuchte Überset- Theater an der Universität Tübingen; seit zung von Vital d’Audiguiers Roman Lysandre 1996 ist er Professor für Rhetorik, Poetik u. et Caliste geschaffen: Liebesbeschreibung Lysan- Creative Writing am Fachbereich Design der ders und Kalisten (Amsterd. 1644); gemeinsam Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit Zesen übersetzte er weiteres für die El- Hamburg. Er ist seit 1995 Ordentliches Mitgl. zeviers (Matthias Dögen: Heutiges tages Übliche der Freien Akademie der Künste zu Leipzig u. Kriges Baukunst. Amsterd. 1648) u. veröffent- seit 2006 der Freien Akademie der Künste lichte bei diesen auch eigene Bücher; in Ze- Hamburg. In seiner Prosa setzt sich H. vorrangig mit sens Deutschgesinneter Genossenschaft wurden Folgen der dt.-dt. Teilung auseinander. de H. nach den drei Gründern das erste »ordentliche« Mitgl. (Zunftname: Der Ernstsit- Sein Erstling Das Gegenteil der Fotografie. Fragtige); schließlich hatte er wie Zesen Kontakte mente einer empfindsamen Reise (Ffm. 1984) zum dänisch-dt. Umfeld Johann Rists in handelt von der Verhaftung eines jungen Paares aus der DDR an der tschechisch-österr. Wedel u. Glückstadt. Von H. stammen außer einem lat. Philautus, Grenze wegen – unbegründeten – FluchtHoc est, de amore sui maxime approbo discursus verdachts. Jakob Oberlin oder Die Kunst der Heiethico-philologicus (Segoduni [= Nürnberg] mat (Ffm. 1987) erzählt die autobiogr. Ge1623) ein gleichfalls lat. verfasster Reisefüh- schichte zweier Friedhofsarbeiter, deren rer Itinerarium Frisio-Hollandicum (Leiden Wege sich schließlich trennen: Niklas 1630. Weitere Aufl.n 1660 u. 1661) sowie eine Scheuner stürzt in ein Grab u. führt dort, in Edition der Epigramme John Owens (Leiden Fortsetzung seiner oberird. Existenz, sein 1628); außerdem Stammbuchpoesie u. Eh- mentales Leben weiter; Jakob Oberlin sturengedichte, an Gelehrte u. Literaten gerich- diert Theologie, möchte seinem Namen nach Oberlin in Ohio nachreisen u. verlässt deshalb tet. Weiteres Werk: De concurrentibus actionibus die DDR. Der Band Der Saalkandidat (Lpz. disputatio [...] in acroaterio jurisconsultorum ad 1995) enthält außer der um 1993/94 entLanum. Praes.: Johannes Goddaeus. Marburg 1619. standenen Titelerzählung auch Verabredung in Literatur: Friedrich Ratzel: G. H. In: ADB. – Rom, die um 1987/88 geschriebene komischHerbert Blume: Søren Terkelsen, Philipp v. Zesen, absurde Geschichte eines skurrilen StasiG. H. u. Konrad v. Höfeln. In: Daphnis 2 (1973), Agenten, der auf eine Gruppe nicht weniger S. 54–70. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 689 f. verrückter ehem. DDR-Bürger in Rom angeHerbert Blume / Red. setzt ist. Erst nach u. nach wird erkennbar, dass es sich bei dem »anonymen Erzähler« des Textes um den Spitzel selbst handelt, der trotz wechselnder Identitäten zunehmend vom Jäger zum Gejagten seiner Opfer bzw. Figuren wird. Um einen Stasi-Agenten geht
Hegius
es auch in der Titelnovelle. Dieser befindet sich lange nach dem Ende der DDR auf einer Reise, während der er von einem seiner ehem. Opfer erkannt, unter einem Vorwand in eine »Nonstop-Nonsense-Show« gelockt u. dort öffentlich enttarnt wird. Zwar verhöhnt das grölende Publikum den Spitzel gnadenlos, der Zynismus des Talkshowmasters bzw. die Regeln der Vergnügungssendung aber lassen auch das Opfer nicht ungeschoren davonkommen. Der erkennbar autobiogr. Roman Ein obskures Nest (Lpz. 1997) erzählt die Wochen der Maueröffnung, welche der aus der DDR ausgewanderte Ich-Erzähler in Loccum erlebt, wo ihn Verwandte u. frühere Freunde, aber auch die ihn bespitzelnde einstige Geliebte besuchen u. Jahrzehnte zurückliegende Träume u. Konflikte wachrufen. H. erzählt nicht linear, er wechselt fortwährend die Zeitu. Erzählebenen wie die Perspektiven – die selben Personen tauchen in der ersten u. dritten Person auf – u. unternimmt Ausflüge ins Surreale u. Groteske. Weitere Werke: Hoffmann, Ich u. Teile der näheren Umgebung. Ffm. 1985. – Die Zeit der Tagediebe. Hildesh. 1993 (R.). – Eine kleine Feuermusik. Mit einem Nachw. v. Heinz Ludwig Arnold. Hildesh. 1994 (E.). – Was uns ähnlich sieht. Künstlerbuch mit Holzschnitten v. Karl-Georg Hirsch. Witzwort 2004. Literatur: Jan Strümpel: W. H. In: KLG. – Petra Ernst: W. H. In: LGL. Karl Corino / Birgit Dahlke
Hegius, Alexander, auch: Sander(us) He(c)k, * wohl 1439/40 Burgsteinfurt, † Dezember 1498 Deventer; bestattet am 27. Dezember in der Lebuinuskirche. – Humanist u. Pädagoge. H. studierte 1456/57–1462/63 in Rostock Artes (Bacc. artium 1457/58, Mag. artium 1462/63) u. übernahm 1469 die Leitung der Großen Schule in Wesel; 1473/74 wurde er an die Stiftsschule bei St. Martin in Emmerich berufen. Von 1483 bis zu seinem Tod war er Rektor der Stiftsschule bei St. Lebuin in Deventer. Geprägt von seinem Leben in der Frömmigkeit der Devotio moderna u. gefördert durch die Freundschaft mit Rudolf Agricola, reformierte er die Schule nach humanistischen Grundsätzen; insbes. führte er
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das Griechische ein. Berühmte Humanisten wie von dem Busche, Erasmus, Gratius, Horlenius, Jacob Montanus, Murmellius, Mutianus Rufus gingen aus ihr hervor. Als Lehrer verbreiteten seine Schüler sein pädagog. Programm in Westfalen u. den Niederlanden. Unter seinem Einfluss nahm die Zahl der in Deventer hergestellten Drucke – bes. klass. Autoren – rasch zu. H. schrieb lateinisch; seine Werke, Carmina sowie Dialogi, Schriften zur Grammatik u. zwei Briefe, erschienen z.T. in Einzeldrucken u. wurden postum von seinem Schüler u. Kollegen Jacobus Faber in zwei Bänden veröffentlicht (Deventer: Richard Pafraet 1503). Von den 42 zur Zeit bekannten, in einzelnen Fällen auch in Handschriften überlieferten Gedichten behandeln 17 religiöse Themen, u. a. H.s Frömmigkeitsideal der Nachfolge Christi; 13 sind moralischen Erörterungen gewidmet. H. pflegte seine Gedichte an herausgehobenen Tagen »allen« vorzutragen. Seine Dialoge, von denen vier in einer Handschrift der Diözesanbibliothek in Münster tradiert sind, führen seine philosophisch-pädagog. Intentionen in der mittelalterl. Form des Lehrer-Schüler-Gesprächs aus. Im ersten Dialog nach Fabers Anordnung legt H. seine erkenntnistheoret. Vorstellungen u. sein Wissenschaftsverständnis dar: Die Metaphysik gilt ihm als höchste Wissenschaft, aber die Grammatik, die Lehre von der Sprache, ist die Grundlage aller menschl. Lebensäußerungen. Die »ars rhetorica« genießt bes. Wertschätzung; H. widmet ihr, neben zwei Dialogen über die Artes, eine eigene Darstellung. Als Wissenschaft vom richtigen Leben steht jedoch die Ethik, wichtigster Teil der Philosophie neben Logik u. Physik, über allen Artes. In vier Dialogen behandelt H. die scholast. Lehre von der Seele; andere erörtern theolog. Probleme. Im Dialog Quaestiones de verbo incarnato hat H. eigene Gedichte in den Text eingefügt. H.s grammat. Schriften Farrago u. Invectiva in modos significandi wenden sich gegen die spekulative Grammatiktheorie (»modi significandi«) im Sprachunterricht; den ital. Humanisten folgend, kann ein »grammaticus« nur der genannt werden, der den korrekten Sprachgebrauch beherrscht. Alle schlechten,
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bes. einige spätmittelalterl. Schulbücher sind daher zu verwerfen. Dennoch verfasste H. zusammen mit Johannes Synthen anonym erschienene Kommentare (Deventer: Richard Paffraet 1495 u. um 1495) zu den zwei Teilen des Doctrinale von Alexander de Villa-dei (etwa 1199), dem meist benützten u. kommentierten Lateinlehrbuch des späteren MA. Ausgaben: Jan Cornelis Bedaux: H. poeta. Het leven en de Latijnse gedichten van A. H. Deventer 1998. – Ders.: Quaestiones de verbo incarnato. Ein unbekannter Dialog v. A. H. (1439/40–1498). In: Lias 30 (2003), S. 151–168. Literatur: Josef Wiese: Der Pädagoge A. H. u. seine Schüler. Bln. 1892. – Terrence Heath: Logical Grammar, Grammatical Logic, and Humanism in Three German Universities. In: Studies in the Renaissance 18 (1971), S. 9–64. – Jozef IJsewijn: A. H. († 1498) ›Invectiva in modos significandi‹. Text, Introduction and Notes. In: Forum for Modern Language Studies 7 (1971), S. 299–318. – Korrekturen: Ders. in: Humanistica Lovaniensia 22 (1973), S. 334 f. – Ders.: Prudentius instead of H. (Ms. Prague 44 G. 79). In: ebd., S. 332. – Lawrence J. Johnson: A. H., Humanist Pedagogue. In: Actes du troisième Congrès international d’études néo-latines. Bd. 1, Paris 1980, S. 377–388. – Franz Josef Worstbrock: Zur Biogr. des A. H. In: Humanistica Lovaniensia 29 (1980), S. 161–165. – Ders.: H. In: VL (Lit.). – Peter Walter: A. H. In: LThK, 3. Aufl. – Catrien Santing: ›Liberation from the Trivial Yoke‹: Dutch Renaissance Educators and their Cultural and Socio-Political Objectives. In: Centres of Learning. Learning and Location in Pre-Modern Europe and the Near East. Hg. Jan Willem Drijvers u. Alasdair A. MacDonald. Leiden/New York/Köln 1995, S. 315–327. – J. C. Bedaux: A. H. als Dichter. In: Northern Humanism in European Context, 1469–1625. From the ›Adwert Academy‹ to Ubbo Emmius. Hg. Fokke Akkerman, Arjo Vanderjagt u. Adrie van der Laan. Leiden/Boston/Köln 1999, S. 52–62. – Hellmut Zschoch: A. H. In: RGG, 4. Aufl. – Norbert Schauerte: A. H. Ein Pädagoge an der Schwelle zum Humanismus. In: Westf. Ztschr. Ztschr. für vaterländ. Gesch. u. Altertumskunde 151/152. 2001/2002 (2002), S. 47–68. – VL (Nachträge u. Korrekturen). Sabine Schmolinsky
Hegner, (Johann) Ulrich, * 7.2.1759 Winterthur, † 3.1.1840 Winterthur. – Verfasser von Romanen u. Reisebeschreibungen. Der Arztsohn studierte 1776–1781 ohne Neigung Medizin in Straßburg u. kehrte als
Hegner
Dr. med. in seine Vaterstadt zurück; dort amtierte er bis 1814 in verschiedenen Richterpositionen sowie als Stadtrat; 1814–1829 war er Mitgl. des Winterthurer Kantonalrats. H.s Werke kennzeichnen seine präzise Beobachtungsgabe, seine Fähigkeit, das Charakteristische von Menschen u. Lebensumständen in plast. Miniaturen einzufangen. Davon zeugt die Beschreibung seiner Frankreichreise von 1801 Auch ich war in Paris (3 Bde., Winterthur 1803/04) ebenso wie der viel gelesene Reiseroman Die Molkenkur (Zürich 1812. Neudr. mit Vorw. von Peter Faessler. Herisau 1983. Mikrofiche Mchn. 1990–94), eine witzig-iron. Hommage an die Schweiz u. ihre Bewohner. Aus den Erlebnissen u. Beobachtungen einer kleinen Reisegesellschaft entwickelt H. das ambivalente Bild einer Schweiz zwischen ländl. Bodenständigkeit u. weltläufiger Geschäftigkeit, biederem Bürgersinn u. exaltierter »Zeitgeistmode«. Die »bedrohte Idylle« ist auch das Thema zweier weiterer Romane: Suschens Hochzeit (2 Bde., Zürich 1819), Fortsetzung der Molkenkur, widmet sich den Wechselfällen bürgerl. Familienlebens; Saly’s Revolutionstage (Winterthur 1814) schildert den Kampf der Eidgenossen um ihre nationale Identität während der frz. Okkupation 1798–1801. – Mit seinen Romanen war H. einer der bedeutendsten Vertreter des Schweizer Biedermeier, dessen Lebenshaltung u. Weltsicht er kongenial Ausdruck verlieh. Noch im Alter bewies H. mit mustergültigen Monografien wie Hans Holbein der Jüngere (Bln. 1827) u. Beiträge zur näheren Kenntnis Johann Kaspar Lavaters (Lpz. 1836), dass er zu den maßgebenden Schweizer Schriftstellern des frühen 19. Jh. zählt. Weitere Werke: Berg-, Land- u. Seereise. Zürich 1815. – Ges. Schr.en. 5 Bde., Bln. 1828–30. Literatur: Hedwig Waser: U. H. Halle 1901. – Emil Ermatinger: Dichtung u. Geistesleben der dt. Schweiz. Mchn. 1933, S. 537–541. – Rudolf Hunziker: U. H. In: Jb. der Literar. Vereinigung Winterthur (1943), S. 45–56. – Emanuel Dejung: U. H. In: Winterthurer Jh. (1959). – Peter Faessler: U. H. – Satire u. Idylle im helvet. Biedermeier. In: NZZ 115 (1982), S. 49. – Alfred Bütikofer u. Meinrad Suter: Winterthur im Umbruch. Zürich 1998, S. 20 f. Walter Weber / Red.
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Hehel, Petrus, * 6.7.1679 Wien, † 2.10. Hehn, Viktor (Amadeus), auch: Justus 1728 Graz. – Prediger aus der Gesellschaft Moller, * 8.10.1813 Dorpat/Livland, Jesu. † 21.3.1890 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof der St.-Matthäi-Gemeinde. – H.s Lebenslauf ist in seinem postum publiKulturhistoriker, Literatur- u. Sprachforzierten, dreiteiligen Sonn- u. Feiertagszyklus scher, Essayist. Christliche Glaubens-Lehr (Hg. Joseph Hentschitt SJ. Augsb./Graz 1735) skizziert. Der meist kränkl., hochbegabte Knabe wurde schon im Wintersemester 1686/87 an der Universität Wien immatrikuliert; 1695 trat er in den Jesuitenorden ein. Nach weiteren Studienjahren in Graz unterrichtete er die Schuljugend österr. Provinzstädte in Rhetorik u. Poetik, wurde 1713 im Wiener Kolleg zum Dr. phil. promoviert u. versah danach die Kanzel in der St.-Aegidien-Hofkirche zu Graz. Gerühmt wurde H.s künstlerische Begabung bei der Gestaltung des Kirchenschmucks zu festlichen Anlässen. Die Predigertätigkeit schlug sich in weiteren postumen, wiederum je drei Teile umfassenden Sammlungen nieder: Christliche Sitten-Lehr (Augsb. 1738), Grössere Ehre Gottes, und Ruhm deren Heiligen, auf verschiedenen Cantzlen vorgetragen (Augsb./Graz 1741) u. Verbum dei incarnatum praedicatum. Das eingefleischte, und gepredigte Wort Gottes (Augsb./Graz 1748). H. pflegte einen herzhaften Predigtstil mit Anleihen bei Georg Stengel, Abraham a Sancta Clara u. anderen. Die späte Drucklegung in stattl. Foliobänden zeugt von der Wertschätzung dieser Kanzelrhetorik bis weit ins 18. Jh. Eine bearbeitete Ausgabe der SittenLehr erschien noch 1861 in Schaffhausen.
Literatur: Bibliografie: Backer/Sommervogel. Bd. 4, Sp. 206–208. – Weitere Titel: Bernhard Duhr SJ: Gesch. der Jesuiten in den Ländern dt. Zunge. Bd. 4, Regensb. 1928 (Register). – Predigtmärlein der Barockzeit. Hg. Elfriede Moser-Rath. Bln. 1964, S. 385–395 (Textauszüge), 499–501. – Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, Nr. 284, 322; Bd. 2, Wien 1987, S. 650. – DBA. Elfriede Moser-Rath † / Red.
H. entstammte einer Pastoren- u. Literatenfamilie; der um die Erforschung u. Ausbildung der estn. Sprache verdiente Pastor Johann Martin Hehn war sein Großvater; mit dem Dorpater Justizbürgermeister u. Sammler zur livländ. Landesgeschichte Friedrich Konrad Gadebusch war er mütterlicherseits verwandt. Der Tod des Vaters Gustav Heinrich Hehn, eines früheren Pfarrers, der nach dem Jurastudium Landgerichtssekretär u. Advokat zu Dorpat wurde, ließ die Familie in bedrängten Verhältnissen zurück. H. besuchte zunächst eine Privatschule u. kam 1822 auf das Gymnasium u. 1830 als Student der Klassischen Philologie an die Dorpater Universität, wo Karl Morgenstern zu seinen Lehrern zählte. Nachdem er 1835 eine Stelle als Hauslehrer angetreten hatte, um die Mittel zu einer Reise in den Süden zu erwerben, nahm er im Winter 1838 seine Studien in Berlin wieder auf, hörte u. a. bei Bopp, Gans, Lachmann, Michelet, Ritter u. dem bewunderten August Boeckh u. geriet in den Bann der Identitätsphilosophie Hegels u. Schellings. 1839 bereiste H. erstmals Italien, dessen Natur u. Volksleben ihm zum prägenden Erlebnis wurden. Über die Klärung der ital. Erfahrung fand er zu Goethe, unter dessen Zeichen er fortan sein Leben stellte. Nach Livland zurückgekehrt, trat H. 1841 der Gelehrten Estnischen Gesellschaft in Dorpat bei. Im selben Jahr wurde er Oberlehrer der Alten Sprachen an der Höheren Kreisschule in Pernau. Für deren Programme entstanden vielfach nachgedruckte Essays (Zur Charakteristik der Römer. Pernau 1843. Über die Physiognomie der italienischen Landschaft. Pernau 1844). Letzterer verrät den Einfluss Alexander von Humboldts, an dessen auf das Integral von Mensch u. Natur bezogene Wissenschaft H. anschloss. 1846 kehrte er als Lektor der dt. Sprache zurück an die Universität Dorpat. Die Freiheit von den Methodenzwängen des Faches nutzte er zu unzeitgemäßen Vorle-
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sungen, in denen die philosophisch-ästhet. Auslegung von Texten Goethes u. Schillers mehr u. mehr in den Mittelpunkt rückte (Über Goethes Hermann und Dorothea. Hg. Albert Leitzmann u. Theodor Schiemann. Stgt. 1893. Stgt./Bln. 31913. Über Goethes Gedichte. Hg. Eduard von der Hellen. Stgt./Bln. 1911. 2 1912. Aus Victor Hehns Vorlesungen über Goethe. Hg. T. Schiemann. In: Goethe-Jb. 15, 1894. Aus Victor Hehns Vorlesungen über Faust. Hg. ders. In: Goethe-Jb. 16, 1895). Daneben wirkte H. als Redakteur an der regional bedeutsamen Dorpater Wochenschrift »Das Inland« mit. Die Verhaftung durch die russ. Staatspolizei aufgrund des (unbegründeten) Verdachts aufrührerischer Tätigkeit setzte beidem im Sommer 1851 ein Ende. H. saß vier Monate auf der Peter-Pauls-Festung in St. Petersburg ein, ehe er zu einem Zwangsaufenthalt in Tula »begnadigt« wurde. Hier trieb er Kultur- u. Sprachstudien u. führte die Beschäftigung mit Goethe fort. Als Alexander II. 1855 den Thron bestieg, wurde H.s Verbannung aufgehoben. Nach Dorpat zurückkehren durfte er nicht; er folgte seinem Freund Georg Berkholz als Oberbibliothekar an die Kaiserliche Öffentliche Bibliothek in St. Petersburg. Die Tätigkeit inmitten einer der reichsten Büchersammlungen der Welt gab H. Muße zu eigenen Studien. So entstand die kulturgeografisch-umweltgeschichtliche Untersuchung Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa (Bln. 1870. 8. Aufl., hg. Otto Schrader. 1911. Neudr. Hildesh. 1963. Darmst. 1963). Gegen die Auffassung von der Reinheit ›echter‹ Kultur kann H. hier die Vorbildkulturen Alteuropas wesentlich auf Kulturtransfer aus Vorderasien zurückführen. Vor allem für dieses Buch, das postum über zwei Jahrzehnte hin von Indogermanisten u. Ethnobotanikern à jour gehalten wurde, verliehen ihm 1888 die Universitäten Dorpat u. (vermutlich) Marburg die Ehrendoktorwürde. Zugleich stellt das Werk, in dem Sprachforschung, Geschichte u. Naturstudium zu einer Kulturwissenschaft avant la lettre zusammentreten, ein seltenes Beispiel für »schwerelos gewordenes Wissen« (R.-R. Wuthenow) dar. Hofmannsthal nahm einen
Hehn
Auszug in sein Deutsches Lesebuch auf. Ein Seitenstück bildet Das Salz. Eine kulturhistorische Studie (Bln. 1873. Neudr. Darmst. 1964), der Entwurf einer Kulturgeschichte als Geschichte von Verkehr u. Austausch. Für Berkholz’ »Baltische Monatsschrift« lieferte H. u. a. den apologetischen Blick auf die Geschichte der Juden in Europa (1862), die St. Petersburger Correspondenz (1863/64) u. die Essayfolge Italien. Ansichten und Streiflichter (1864). Das daraus hervorgegangene Buch (St. Petersburg 1867. Bln. 12–141917. Neuausg. Innsbr./Wien/Bozen 2002) sicherte ihm in der Italienliteratur einen Namen neben Goethe, Burckhard u. Gregorovius; es wirkte nachhaltig noch auf Rudolf Borchardt. Als H. 1873 als Wirklicher Staatsrat mit dem Titel Exzellenz in den Ruhestand trat, übersiedelte er nach Berlin, wo ihn jedoch das Treiben der Gründerzeit abstieß u. seine Arbeiten ins Stocken gerieten. Unerfüllt blieb auch der Plan zu einer Goethe-Monografie. Immerhin versammelte H. auf Drängen Ludwig Geigers nach Aufsätzen im GoetheJahrbuch noch einige Studien u. d. T. Gedanken über Goethe (Bln. 1887. 7–91909. Neuausg. Bern 1946). Manche dieser Untersuchungen arbeiten späteren Ansätzen der Literaturwissenschaft vor, Nordost und Südwest der Konzeption regionaler Literaturräume, Goethe und das Publikum der empir. Rezeptionsforschung. Nietzsche entnahm dem Buch Anregungen für den Fall Wagner. Aus H.s Nachlass veröffentlichte sein balt. Landsmann T. Schiemann, der spätere Leibhistoriker Wilhelms II., nicht für den Druck bestimmte und z.T. mit Unterschiebungen versetzte ›völkerpsychologische‹ Notizen, die H. in den Ruch der Russophobie u. des Antisemitismus brachten (De moribus Ruthenorum. Zur Charakteristik der russischen Volksseele. Stgt. 1892. Nachdr. Osnabr. 1966. T. Schiemann: V. H. Ein Lebensbild. Stgt. 1894). H.s Nachlass befindet sich im Cotta-Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Weitere Werke: Reisebilder aus Italien u. Frankreich. Hg. Theodor Schiemann. Stgt. 1894. Neudr. Ffm. 1996. – Aus V. H.s Nachl. Hg. Karl Deichgräber. Abh.en der Akademie der Wiss.en u. Lit. Mainz, geistes- u. sozial-wiss. Klasse 9, 1957.
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Literatur: Otto Schrader: V. H. In: Bibliogr. Jb. der Altertumskunde 14 (1891), S. 1–62. – Hugo Semel: V. H. Eine Studie. In: Balt. Monatsschr. 63 (1907), S. 41–65, 131–162. – Walter Rehm: Nachw. In: V. H.: Italien. Mchn. [1943?], S. 303–338. – Theodor Heuss: V. H. In: Ders.: Dt. Gestalten. Studien zum 19. Jh. Stgt./Tüb. 1947, S. 137–144. – Eugen Thurnher: Nachw. In: V. H.: Goethe u. das Publikum. Bln. 1988, S. 148–171. – Klaus v. See: V. H.s Kulturtheorie. In: V. H.: Olive, Wein u. Feige. Ffm. 1992, S. 106–151. – Thomas Taterka: Goethe bei V. H. In: Triangulum. Germanist. Jb. für Estland, Lettland u. Litauen 6 (1999), S. 128–139. – Peter Thiergen: V. H.s ›De moribus Ruthenorum‹. Zu Einordnung, Struktur u. Wirkung einer xenophoben Schrift. In: Balten – Slaven – Deutsche. Aspekte u. Perspektiven kultureller Kontakte. FS Friedrich Scholz. Hg. Ulrich Obst. Münster 1999, S. 309–335. – Friedrich Kittler: V. H. In: Ders.: Eine Kulturgesch. der Kulturwiss. Mchn. 2000, S. 142–145. – Michael Schwidtal: ›Goethe steht außer der Geschichte‹. Anmerkungen zu Goethebild u. Kulturtheorie V. H.s. In: Triangulum 9 (2002), S. 139–153. – Ralph-Rainer Wuthenow: V. H.s Kulturgesch. im Medium der Namen v. Pflanzen u. Tieren. In: ebd., S. 154–165. – Goedeke Forts. – Jaan Undusk: Peamiselt V. Hehnist, aga veidi ka Faehlmannist [Über V. H., auch im Zusammenhang mit F. R. Faehlmann; mit dt. Zusammenfassung]. In: Keel ja Kirjandus (Tallinn) 2006, Nr. 7, S. 463–476, 557–571. Eugen Thurnher / Thomas Taterka
Apotheker Heinrich (Lpz. 1885), den Fontane einen »deutschen Musterroman« nannte. H. wurde deshalb auch von den Frühnaturalisten gelobt. Seine Novellen u. Skizzen, am gelungensten Ernsthafte Geschichten (Lpz. 1883), spiegeln wie die besten Romane (Ein Weib. Lpz. 1887) Reife u. Welterfahrung. H.s Stil ist Genremalerei voller Frischluft, Geist u. Humor, doch in unsteter, stofflichadditiver Erzähltechnik. Die Darstellung der Liebes- u. Ehekonflikte wird fast nie geistigethisch vertieft u. bleibt meist gewollt anspruchslos.
H., Enkel von Friedrich Ludwig Schröder, durchlief eine Buchhandelslehre, leitete einen Schulbuchverlag in Schleswig u. seit 1870 die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung«, dann die »Spenersche Zeitung«. Danach bereiste er für Bank- u. Versicherungshäuser, später selbstständig in vielerlei Geschäften Europa. Davon enttäuscht, versuchte er sich 1881 literarisch mit Plaudereien mit der Herzogin von Seeland (Hbg.). Das Schreiben wurde zum Beruf; seit 1892 lebte er wieder in Schleswig. Bevor H. zum Produzenten unterhaltender Massenware wurde, schrieb er vielversprechende Erzähltexte mit detailgetreuem norddt. Lokalkolorit u. stimmungsvoller Realistik. Prägnante Charaktere sind in ein Milieu gestellt wie das kleinstädtische in
Aus einem Geschlecht reformierter Pfarrer u. Theologen stammend, bereitete sich H. (wohl auf der Lateinschule in Stein am Rhein) auf das Theologiestudium vor. Er bezog 1681 das Alumnat in Zürich. Nach abgeschlossenem Studium erhielt er 1688 seine erste Pfarrstelle in Langrickenbach/Thurgau. Im selben Jahr wurde er von der Gemeinde St. Margrethen im Rheintal zum Pfarrer gewählt. 1696 machte er sich mit einer Schrift gegen den Kapuziner Rudolf Gasser verhasst u. wurde von der Kirchenleitung in Zürich abberufen. Er wurde Pfarrer in Rorbas, einer Kleinstadt. 1705 wurde H. zum Inspektor des Alumnats in Zürich gewählt. Er schrieb Lehrbücher u. übernahm kurz vor seinem Tod, 1710, die Redaktion der Monatsschrift »Mercurius Historicus«.
Weitere Werke: Ausgetobt. Lpz. 1883 (R.). – Die goldene Schlange. Lpz. 1884 (R.). – Schr.en. 12 Bde., Lpz. 1885–88. – Eine vornehme Frau. Lpz. 1886 (R.). – Der Januskopf. Lpz. 1888 (R.). – Dunst aus der Tiefe. Lpz. 1890 (R.). – Höchste Liebe schweigt! Lpz. 1891 (E.). – Das Schicksal auf Moorheide. Bln. 1893 (E.). – Ges. Werke. 18 Bde., Lpz. 1895/96. – Hinterm Lebensvorhang. Novelletten. Bln. 1898. – Ringen u. Kämpfen u. a. E.en. Reutlingen 1910. Literatur: Hans Merian: H. H. Lpz. 1891. – Wilhelm Lobsien: Die erzählende Kunst in Schleswig-Holstein v. Theodor Storm bis zur Gegenwart. Altona-Ottensen 1908. – Olaf Klose: H. H. In: NDB. Gerhard Stumpf
Heidegger, Gotthard, Pseud.: Winckelriedt, * 5.8.1666 Stein am Rhein, † 22.5. Heiberg, Hermann, * 17.11.1840 Schles- 1711 Zürich. – Reformierter Theologe, Pädagoge u. Romantheoretiker. wig, † 16.2.1910 Schleswig. – Erzähler.
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Literatur: Otto Schrader: V. H. In: Bibliogr. Jb. der Altertumskunde 14 (1891), S. 1–62. – Hugo Semel: V. H. Eine Studie. In: Balt. Monatsschr. 63 (1907), S. 41–65, 131–162. – Walter Rehm: Nachw. In: V. H.: Italien. Mchn. [1943?], S. 303–338. – Theodor Heuss: V. H. In: Ders.: Dt. Gestalten. Studien zum 19. Jh. Stgt./Tüb. 1947, S. 137–144. – Eugen Thurnher: Nachw. In: V. H.: Goethe u. das Publikum. Bln. 1988, S. 148–171. – Klaus v. See: V. H.s Kulturtheorie. In: V. H.: Olive, Wein u. Feige. Ffm. 1992, S. 106–151. – Thomas Taterka: Goethe bei V. H. In: Triangulum. Germanist. Jb. für Estland, Lettland u. Litauen 6 (1999), S. 128–139. – Peter Thiergen: V. H.s ›De moribus Ruthenorum‹. Zu Einordnung, Struktur u. Wirkung einer xenophoben Schrift. In: Balten – Slaven – Deutsche. Aspekte u. Perspektiven kultureller Kontakte. FS Friedrich Scholz. Hg. Ulrich Obst. Münster 1999, S. 309–335. – Friedrich Kittler: V. H. In: Ders.: Eine Kulturgesch. der Kulturwiss. Mchn. 2000, S. 142–145. – Michael Schwidtal: ›Goethe steht außer der Geschichte‹. Anmerkungen zu Goethebild u. Kulturtheorie V. H.s. In: Triangulum 9 (2002), S. 139–153. – Ralph-Rainer Wuthenow: V. H.s Kulturgesch. im Medium der Namen v. Pflanzen u. Tieren. In: ebd., S. 154–165. – Goedeke Forts. – Jaan Undusk: Peamiselt V. Hehnist, aga veidi ka Faehlmannist [Über V. H., auch im Zusammenhang mit F. R. Faehlmann; mit dt. Zusammenfassung]. In: Keel ja Kirjandus (Tallinn) 2006, Nr. 7, S. 463–476, 557–571. Eugen Thurnher / Thomas Taterka
Apotheker Heinrich (Lpz. 1885), den Fontane einen »deutschen Musterroman« nannte. H. wurde deshalb auch von den Frühnaturalisten gelobt. Seine Novellen u. Skizzen, am gelungensten Ernsthafte Geschichten (Lpz. 1883), spiegeln wie die besten Romane (Ein Weib. Lpz. 1887) Reife u. Welterfahrung. H.s Stil ist Genremalerei voller Frischluft, Geist u. Humor, doch in unsteter, stofflichadditiver Erzähltechnik. Die Darstellung der Liebes- u. Ehekonflikte wird fast nie geistigethisch vertieft u. bleibt meist gewollt anspruchslos.
H., Enkel von Friedrich Ludwig Schröder, durchlief eine Buchhandelslehre, leitete einen Schulbuchverlag in Schleswig u. seit 1870 die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung«, dann die »Spenersche Zeitung«. Danach bereiste er für Bank- u. Versicherungshäuser, später selbstständig in vielerlei Geschäften Europa. Davon enttäuscht, versuchte er sich 1881 literarisch mit Plaudereien mit der Herzogin von Seeland (Hbg.). Das Schreiben wurde zum Beruf; seit 1892 lebte er wieder in Schleswig. Bevor H. zum Produzenten unterhaltender Massenware wurde, schrieb er vielversprechende Erzähltexte mit detailgetreuem norddt. Lokalkolorit u. stimmungsvoller Realistik. Prägnante Charaktere sind in ein Milieu gestellt wie das kleinstädtische in
Aus einem Geschlecht reformierter Pfarrer u. Theologen stammend, bereitete sich H. (wohl auf der Lateinschule in Stein am Rhein) auf das Theologiestudium vor. Er bezog 1681 das Alumnat in Zürich. Nach abgeschlossenem Studium erhielt er 1688 seine erste Pfarrstelle in Langrickenbach/Thurgau. Im selben Jahr wurde er von der Gemeinde St. Margrethen im Rheintal zum Pfarrer gewählt. 1696 machte er sich mit einer Schrift gegen den Kapuziner Rudolf Gasser verhasst u. wurde von der Kirchenleitung in Zürich abberufen. Er wurde Pfarrer in Rorbas, einer Kleinstadt. 1705 wurde H. zum Inspektor des Alumnats in Zürich gewählt. Er schrieb Lehrbücher u. übernahm kurz vor seinem Tod, 1710, die Redaktion der Monatsschrift »Mercurius Historicus«.
Weitere Werke: Ausgetobt. Lpz. 1883 (R.). – Die goldene Schlange. Lpz. 1884 (R.). – Schr.en. 12 Bde., Lpz. 1885–88. – Eine vornehme Frau. Lpz. 1886 (R.). – Der Januskopf. Lpz. 1888 (R.). – Dunst aus der Tiefe. Lpz. 1890 (R.). – Höchste Liebe schweigt! Lpz. 1891 (E.). – Das Schicksal auf Moorheide. Bln. 1893 (E.). – Ges. Werke. 18 Bde., Lpz. 1895/96. – Hinterm Lebensvorhang. Novelletten. Bln. 1898. – Ringen u. Kämpfen u. a. E.en. Reutlingen 1910. Literatur: Hans Merian: H. H. Lpz. 1891. – Wilhelm Lobsien: Die erzählende Kunst in Schleswig-Holstein v. Theodor Storm bis zur Gegenwart. Altona-Ottensen 1908. – Olaf Klose: H. H. In: NDB. Gerhard Stumpf
Heidegger, Gotthard, Pseud.: Winckelriedt, * 5.8.1666 Stein am Rhein, † 22.5. Heiberg, Hermann, * 17.11.1840 Schles- 1711 Zürich. – Reformierter Theologe, Pädagoge u. Romantheoretiker. wig, † 16.2.1910 Schleswig. – Erzähler.
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H.s Werk ist vielfältig, umfangreich u. für ein sozial breit gestreutes Publikum bestimmt. Es umfasst einerseits populäre Schriften zur Gesundheitslehre (Heilsame und unverwerffliche Kunst-Regeln. o. O. 1703; eine Gesundheitslehre in Versen nach der Salernitanischen Schule) u. zum Tabaksgenuss (Lobschrift des Tabackes. In: Theodor Zwinger: Theatrum Botanicum. Basel 1696). Hinzu kommen humanistische Lehrwerke wie die Apophoreta moralia (Zürich 1707; eine Bearbeitung von Erasmus’ De civilitate morum), eine erweiterte Fassung der Acerra philologica Peter Laurembergs (Zürich 1708) u. eine Phraseologie mit Beispielsätzen (Manuductor. Zürich 1709). In dt. u. lat. Streitschriften zur konfessionellen Auseinandersetzung nahm sich H. Fragen der Bibelexegese, der Rechtfertigungs- u. Abendmahlslehre vor. Das für die Literaturgeschichte bedeutendste Werk, die Mythoscopia romantica: oder Discours von den so benanten Romans (Zürich 1698. Nachdr. Hg. W. E. Schäfer. Bad Homburg v. d. H. 1969), ist eine Polemik gegen die nun auch das reformierte Lesepublikum der Schweiz erreichende Romanliteratur. Insgesamt spiegeln die Vielzahl der Themen u. die Spannweite zwischen dem »lustigen« (pointiert-iron.) Stil seiner populären Schriften u. dem grimmigsarkast. Ton seiner Konfessionspolemiken u. der Mythoscopia den Wechsel seiner Aufgaben als Landpfarrer, als Leiter einer höheren Lehranstalt u. schließlich als Redakteur des »Mercurius Historicus« in Zürich. Die Mythoscopia Romantica ist das Resultat von Konversationsabenden im großbürgerl. Milieu St. Gallens. Die beiden Kaufleute Paul Schlumpf u. Edmund Witz luden in den 1690er Jahren zur Geselligkeit in ihre St. Gallener Stadthäuser u. auf ihre Landsitze ein. Zu ihren Gästen gehörten schriftstellernde Damen wie Hortensia von Salis, wahrscheinlich auch der Epigrammatiker Johannes Grob, der wie H, die stattl. Bibliothek von Witz nutzte. Man besprach Neuerscheinungen des dt. Literaturmarkts, so auch den 1689 erschienenen Arminius Lohensteins. Die kontroverse Bewertung dieses Werks gab den Anstoß zur Niederschrift der Mythoscopia, die in ihrer Anlage als eine Art Gesprächsspiel mit wechselnden Rollen (als »halbes Drama«,
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wenn auch ohne Nennung von Personen) die geführten Diskussionen abzubilden versuchte. Allerdings dominieren eindeutig die Gesichtspunkte u. Argumente H.s selbst, wie auch dessen dialektgefärbtes drast. Idiom, das in bewusster Opposition zur »sächsischen Schreibart« steht u. der gesamten Schrift Farbe gibt. H. setzt sich als reformierter Seelsorger mit der Romanliteratur auseinander. Moralpädagogische Absichten beherrschen literarhistor. u. poetolog. Gesichtspunkte. Von den oft zitierten Kernsätzen der Bibel 1 Tim 4,7; Tit 1, 14 aus, die nach Auffassung der reformierten Kirche eine Beschäftigung mit fiktionaler Literatur nicht zuließen, u. gestützt auf Argumente der Kirchenväter, geht H. gegen die Flut der heroisch-galanten Romane wie auch erot. Erzählungen allgemein an, sei es der älteren Schicht der Volksbücher oder auch der aktuellen Memoirenliteratur aus dem Umkreis des Pariser Hofes. Die seelsorgerl. Absicht führt folgerichtig in den letzten 13 Kapiteln zu einer Ermahnung des Lesers im Predigtstil, die ihm geschenkte Zeit »auszukaufen« (Eph 5, 16; Kol 4,5). H. zeigt breit gestreute, wenn auch gelegentlich nur oberflächl. Kenntnis dt. u. frz. Literatur. Er zitiert häufig theoret. Ausführungen zum Roman (Madeleine de Scudéry, de Segrais, Harsdörffer, Bucholtz, Morhof), stützt sich aber im Wesentlichen auf die erste systematisch entwickelte Romantheorie Pierre Daniel Huets, Traité de l’origine des romans (H. wohl in der lat. Fassung von 1682 bekannt), den er ausschreibt u. zgl. – Huet ist kath. Bischof – als Autorität abzuschwächen sucht. In der Fülle literarhistor. Details kommt H. an Huet heran, doch kann sich seine assoziative Argumentationsweise mit dessen gedankl. Stringenz nicht messen. Dennoch fand die Mythoscopia starken Widerhall. Sie löste eine Literaturfehde aus, die sich bis in die 30er Jahre des 18. Jh. erstreckte u. schließlich in den Streit Bodmers u. Breitingers mit Gottsched mündete. Weitere Werke: Petrus Christum abnegans. Zürich 1687. – Appollo auricomus, oder: SchutzRede der schönen Haare. Zürich 1692. – Neu-geflochtene Zucht-Ruthe [...]. Zürich 1696. – Prytaneum sacrum, oder grundl. Verhandlung der zwi-
Heidegger schen den Reformierten u. Päpstischen schwebender Haupt-Streit-Frag, betreffend den Richter in spänigen Glaubens-Sachen [...]. o. O. 1700. – Die Leyr Tyri [...]. o. O. 1707 u. ö. – Kleinere dt. Schrifften. Hg. Johann Jacob Bodmer. Zürich 1732. Literatur: Das geistige Zürich im 18. Jh.: Texte u. Dokumente v. G. H. bis Heinrich Pestalozzi. Hg. Max Wehrli. Zürich 1943. Nachdr. Basel 1989. – Ursula Hitzig: G. H. [...]. Winterthur 1954. – Ursula Villiger: G. H. In: NDB. – René Stempfer: Roman baroque et clergé réformé. La ›Mythoscopia Romantica‹ de G. H. (1698). Introduction, traduction, notes. Bern u. a. 1985. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 690. – Jörg Löffler: Kaleidomythoskopie: G. H. ›Mythoscopia romantica‹ u. die ›digressio‹ im Roman des Barock. In: Lit. als Blätterwerk [...]. Hg. Jürgen Gunia u. Iris Hermann. St. Ingbert 2002, S. 205–219. – Ursula Kundert: Ist Fiktion Lüge? Lügenvorwurf im fiktionalen Gewand in G. H.s ›Mythoscopia Romantica‹ (1698). In: Text u. Wahrheit [...]. Hg. Katja Bär. Ffm. u. a. 2004, S. 51–62. – Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Tüb. 2005. Walter E. Schäfer / Red.
Heidegger, Martin, * 26.9.1889 Meßkirch bei Sigmaringen, † 26.5.1976 Freiburg i. Br.; Grabstätte: Meßkirch, Friedhof. – Philosoph. H. wurde als ältester Sohn des Küfers u. kath. Mesners von Meßkirch geboren; so war ihm der Weg zur Theologie vorgezeichnet. Doch wechselte der Theologiestudent schon nach zwei Jahren zum Studium der Philosophie in Verbindung mit Mathematik u. Naturwissenschaften. Seine Dissertation u. seine Habilitationsschrift galten log. Fragen sowie, in Anknüpfung an mittelalterl. Theorien, dem Verhältnis von Logik u. Sprache. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gab H. die aushilfsweise übernommene philosophische Lehre für die Freiburger Theologen auf u. wurde Assistent des Phänomenologen Edmund Husserl. So zog er als Freiburger Privatdozent, seit 1923 in Marburg, mit seiner Lehre die Besten unter den jüngeren Philosophierenden an. Als 1927 Sein und Zeit (Halle) erschien, trat H. mit einem Schlag an die Spitze der phänomenolog. Bewegung. Doch blieb diese Publikation Fragment. 1928 kehrte er als Nachfolger Husserls nach Freiburg zurück.
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Im Krisenwinter 1929/30 hielt H. eine Vorlesung über Die Grundbegriffe der Metaphysik (Ffm. 1983). Im Anschluss an die letzten Vorträge u. Arbeiten Max Schelers fasste er die Konstellation der Zeit vom Gegensatz zwischen Leben u. Geist. Nietzsche habe diesen Antagonismus als Gesetz abendländ. Geschichte dargestellt, als er aus dem dionys. Erleiden des Werdens die apollin. Form habe gewinnen wollen. In der Not der Zeit eignete sich H. auch die »große Politik« Nietzsches an, die in einem Weltbürgerkrieg die Erfahrung der Tiefe des Lebens an die Bewahrung von Rang u. Unterschied knüpfen u. gegen die nivellierenden sozialistischen u. liberalistischen Tendenzen als letzte Ausläufer des hellenistisch-christl. »Sklavenaufstands« zugunsten der Gleichheit behaupten wollte. So konnte sich H. 1933 als Rektor der Freiburger Universität für die nationalsozialistische Revolution einsetzen, ohne alle Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung, wie den Rassenwahn, zu akzeptieren. Er brach dieses polit. Engagement jedoch bald ab – wobei fraglich ist, ob H. aus Einsicht sich abwendete oder weil er seinen Einfluss nicht geltend machen konnte. Er kritisierte den Nationalsozialismus zusammen mit den anderen Tendenzen der Zeit als totale Mobilisierung aller Energien im Kampf um die Weltherrschaft. Die Beiträge zur Philosophie (Ffm. 1989), die 1936–1938 geschrieben, aber unfertig liegengelassen wurden, zeigen als zweites Hauptwerk den neuen Ansatz. H. hatte 1935/36 in Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerkes gehandelt (Holzwege. Ffm. 1950). Als der Zweite Weltkrieg die Katastrophe Europas engültig offenlegte, suchte er immer entschiedener die Partnerschaft zwischen dem Denken u. dem Dichten oder der Kunst; das »Dichterische« sollte rettende Wege im Zeitalter des universalen technolog. Zugriffs finden. Dabei ging es nicht mehr – wie noch in den Beiträgen zur Philosophie – um einen letzten »Aufbruch«, der einem Volk unter den anderen Völkern geschichtl. Größe zurückgewinnen sollte, sondern um bescheidene andere Anfänge. Dem Hauptwerk Sein und Zeit ist die Frage des platonischen Dialogs Sophistes vorangestellt, was wir eigentlich mit dem Ausdruck
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»seiend« meinen. Nach den platonischen Spätdialogen schlagen Grundbegriffe wie »seiend-nichtseiend« plötzlich ineinander um. Dieses »Plötzliche« (exaiphnes) wurde von Kierkegaard in einer langen Anmerkung zu seiner Schrift über den Begriff der Angst (1844) als Kreuzungspunkt von Zeit u. Ewigkeit gedeutet; mit dem Apostel Paulus (1 Kor 15, 52) gebrauchte Kierkegaard dafür den poetischen Ausdruck »Augenblick«. Die philosophische Dialektik wurde auf den Augenblick der Entscheidung bezogen u. damit zu einer experimentierenden Dialektik, die das sokrat. Fragen zur christl. Glaubensentscheidung in Furcht u. Zittern führte. Diese »Logik« suchte H. als solche – unabhängig von Kierkegaards theolog. u. erbaul. Absichten – herauszustellen. Er sprach von einer formal anzeigenden Hermeneutik: Da das Leben oder Dasein auf den Augenblick bezogen u. als faktisches u. historisches gefasst wurde, konnte es nur verstanden u. ausgelegt werden; da die Entscheidung im Augenblick nicht als Sache der Philosophie gesehen wurde, konnte diese nur formal anzeigend in sie einweisen. H. hatte innerhalb der Katholisch-Theologischen Fakultät noch eine Vorlesung über Hermeneutik hören können; in seiner eigenen Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität vom Sommer 1923 gab er auch eine Geschichte der Hermeneutik seit Platon u. Aristoteles. Schleiermachers u. Diltheys Universalisierung der Hermeneutik zu einer neutralen Methode wurde dabei kritisiert, da sie die vorher wichtige Frage nach der Anwendung auf das Leben ausließ. (Diese Motive wurden von Hans-Georg Gadamer, der die Vorlesung von 1923 hörte, 1960 in Wahrheit und Methode ausgestaltet.) H. konnte in diesen Bemühungen die leitenden Motive der Philosophie der Zeit aufnehmen. Unter dem Eindruck der neuen wissenschaftl. Entdeckungen hatte Bergson auch der Philosophie mit den Begriffen der erlebten oder gelebten Zeit den Ansatzpunkt gegeben; Dilthey hatte gezeigt, dass nur eine vielschichtige Selbstbesinnung u. Hermeneutik diesen Ansatz entfalten könne. H. suchte diesen neuen philosophischen Tendenzen nun mit Hilfe der Phänomenologie Husserls eine method. Formung zu geben,
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bei der die Phänomenologie zu einer hermeneutischen wurde. Husserl hatte in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) die Generalisierung, die zu immer höheren Allgemeinheiten aufsteigt, von der Formalisierung unterschieden, die zurückgeht zu den immer schon vorausgesetzten logischen u. kategorialen Formen. Für H. wurde wichtig, dass eine formale Anzeige das Zusammenspiel von Generalisierung u. Formalisierung im Erkennen vorweg auf unterschiedl. Bereiche bezieht: Bei einem zuhandenen Möbelstück sind wir durch die Vertrautheit mit unserer Umwelt vorweg mit einem Was vertraut, für welches das bestimmte Möbelstück – z.B. ein Schreibpult – nur eine beliebige Realisierung ist; der Mensch, der nach Kierkegaard Existenz ist, mag erst im Vollzug eines bestimmten Augenblicks sein jeweiliges Was oder Wesen gewinnen. H. hatte früh vom mittelalterl. Aristotelismus die Lehre von der Analogie des Seins aufgenommen, u. so wollte er seine Auffassung von der Phänomenologie als einer Hermeneutik in einem Buch über Aristoteles darstellen. Das sechste Buch der Nikomachischen Ethik zeigte in den dianoet. Tugenden eine Pluralität des Logos u. des Wahrheitsbezugs, z.B. die Episteme in der Theorie, die Techne in der Poiesis, die Phronesis in der Praxis. Die wechselnde Situation, in der die Phronesis orientieren soll, war schon in Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen zu den Grenzsituationen z.B. von Tod u. Schuld verschärft u. so auf den Augenblick ausgerichtet worden; parallel zu diesem Bezug auf Kierkegaard hatte die Theologie den eschatolog. Grundzug des urchristl. Glaubens wieder ernst genommen. H. stand in seinen Marburger Jahren in einem intensiven Arbeitskontakt mit Rudolf Bultmann. Da das formal Angezeigte in Sein und Zeit auch als Existential gefasst wurde, konnte Bultmann Theologie als existentiale Interpretation der christl. Botschaft fassen: Die existentielle Glaubensentscheidung wird vorausgesetzt, aber existential von den allg. menschl. Fragen her verständlich gemacht, was eine »entmythologisierende« Zurückführung des unverständlich Gewordenen auf das Verständliche einschließen kann. So
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konnte Sein und Zeit zwei Generationen von Theologen prägen. Das Werk nahm auch, angeregt durch einen Faust-Aufsatz Konrad Burdachs, eine alte Fabel auf, um den Grundbegriff der Sorge auf das vorphilosophische u. dichterische Sprechen zurückzubeziehen. Die Weiterführung der Geistesgeschichte Diltheys durch Ungers motivgeschichtl. Literaturwissenschaft galt H. als Krisis, die diese Wissenschaft auf neue Wege führe. Unklar blieb, ob das formal Angezeigte (die Existentialien, die Motive) etwas Übergeschichtliches sein sollte oder selber erst der Geschichte zu entnehmen sei. H. selbst hat darauf hingewiesen, dass sein Denken seit 1930 eine »Kehre« vollzogen habe: Das Dasein sollte nicht mehr vorgängig als Fundament allen Seinsverstehens in seinen Strukturen erfasst werden, sondern sich selbst aus der Geschichte der Wahrheit des Seins ergreifen. Diese Wahrheit wurde verstanden als eine Unverborgenheit auf dem Grunde einer bleibenden Verbergung, so dass sich also das Sein der Kunst bei den Griechen aus einer anderen Konstellation ergibt als das Sein der Kunst im techn. Zeitalter. Die Beiträge zur Philosophie fassen diese Wahrheit des unterschiedl. Seins als Ereignis: Die Wahrheit übereignet sich dem Dasein, das seinerseits dem Geschehen der Wahrheit vereignet wird. Das Denken, das dieses Ereignis erfährt, macht Dichtung nicht durchsichtig von allg. menschl. Motiven her; vielmehr findet es gerade in der Zeit eines geschichtl. Übergangs im Dichten einen helfenden Partner. So fasst die Vorlesung Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹ vom Winter 1934/35 (Ffm. 1980) mit der Hymne Germanien Wahrheit als Wahrheit für eine epochale Gemeinschaft; die »großen Schaffenden« im Sinne Nietzsches werden mit der Rheinhymne von den Strömen her gefasst, die ein ganzes Land bewohnbar machen. Die Vorlesung Einführung in die Metaphysik vom Sommer 1935 (Tüb. 1953) findet im ersten Standlied der Sophokleischen Antigone den Hinweis auf den »tragischen« Menschen, durch den allein geschichtl. Größe gewonnen werde. So konnte H. nach dem Zweiten Weltkrieg der Vertonung von Hölderlins Sophokles-Übertragungen durch Carl Orff bes. Beachtung schenken.
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Seit dem Winter 1936/37 führte H. in Vorlesungen u. Aufsätzen seine Auseinandersetzung mit Nietzsche mehr u. mehr als Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, der sich im polit. Totalitarismus u. im universalen techn. Zugriff zeigte. Aus autobiogr. Notizen wird sichtbar, dass H. 1938 aus Scham über seine Verirrung von 1933 aus dem Leben scheiden und sein Werk als »Nachlass« kommenden Generationen überlassen wollte (Besinnung. Ffm. 1997, S. 407 ff.). Als H. jedoch sein Werk fortsetzte, schienen Heraklit u. Hölderlin allein auf die Anfänge einer anderen Geschichte zu verweisen. Die dritte Hölderlin-Vorlesung vom Sommer 1942 (Hölderlins Hymne ›Der Ister‹. Ffm. 1984) geht nicht vom Rheinstrom aus, sondern vom Ister, der oberen Donau. Der heimatl. Fluss mit seinem zögernden Lauf hat die Ferne des Asiatischen u. Griechischen bei sich; so kann er Sonne u. Mond spiegeln u. die »Himmlischen« im Gemüte tragen. Mehr vermag auch der Dichter nicht; seine reine Empfänglichkeit kann in ersten Anfängen doch wieder Heiliges zeigen. Von diesem Zwiegespräch mit Hölderlin aus konnte sich H. 1946/47 um Laotse u. die ostasiatischen Traditionen bemühen; dabei wandelte sich auch sein lebenslanger Bezug zu Meister Eckhart. Rilke u. Trakl, dazu die letzten Gedichte Stefan Georges wurden interpretiert als Echo Hölderlins in dürftiger Zeit. H. bezog sich auch auf Hebels alemann. Gedichte u. auf den barocken Prediger Abraham a Sancta Clara, der aus der Umgebung Meßkirchs, H.s Heimat, stammte. Das lyr. Gedicht stand im Vordergrund seines Interesses, u. auch H. selbst versuchte sich in unzähligen kleinen Gedichten auf seine Grundgedanken einzustimmen. H. hat die Partnerschaft zwischen Denken u. Dichten in eine Formel gefasst: »Der Denker sagt das Sein. Der Dichter nennt das Heilige« (in: Wegmarken. Ffm. 1967, S. 107). Das Denken als Sagen des Seins sucht Strukturen einer seinsgeschichtl. Konstellation, wie das Verhältnis von Technik u. Kunst, zu erfassen. Doch dem Menschen geht es nicht nur um die Offenheit dessen, was ist; er sucht in dieser Offenheit jenes Sinngebende u. Rettende, das als das Heilige die Menschen
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verbindet. In diesem Heiligen kann sich das Göttliche zeigen; dem Anspruch des Göttlichen sucht das Nennen des Dichters zu entsprechen. Sein und Zeit sprach aus der Nähe zur Theologie vom Ruf, der im Wissen aufgenommen wird. Mit Hölderlin fand H. dann die Sprache der Götter im Wink, der vom Dichter weiterzuwinken ist in sein Volk. Gedacht ist an das Winken, in dem ein Weitergehender u. Abschiednehmender zuwinkt. Damit wird die Ewigkeit als Charakter des Göttlichen zum Plötzlichen u. Flüchtigen des Vorbeigangs, der jeweils seine einmalige Stunde hat. Das Moment der Abwesenheit in solcher Anwesenheit wird verstärkt in der Konzeption der Spur: Nach Hölderlins Elegie Brot und Wein müssen die Dichter auch in dürftiger Zeit die Spur des Göttlichen halten. Die Brücke, die Sein und Zeit zur motivgeschichtl. Literaturwissenschaft zu schlagen suchte, ist kaum betreten worden; Parallelen zur Übernahme der existentialen Interpretation in der Theologie fehlen. Dagegen wurden existenzphilosophische Motive, wie sie H. mit Jaspers teilte, stärker von der Literaturwissenschaft rezipiert. Doch kam es früh zu grundsätzl. Kritik. So hat Johannes Pfeiffer von der Ästhetik seines Lehrers Oskar Becker die These übernommen, H.s existenzphilosophische Ausrichtung übersehe die Momente der Natürlichkeit u. Genialität sowie die Tendenz zur Idealisierung u. zum Überzeitlichen im Dichten. Emil Staiger nahm, wie Ludwig Binswanger in der Psychiatrie, H. von der Wesensphänomenologie Husserls her auf, um so die Poetik als Teil einer philosophischen Anthropologie zu entfalten; dabei stand der Zeitbezug des menschl. Daseins u. des Dichtens im Vordergrund. H.s Hinweise auf Hölderlin führten zu neuen Auseinandersetzungen: H. nahm Dichtung mit einem letzten Ernst auf, doch konnte die Literaturwissenschaft die Gewaltsamkeit seiner Erläuterungen nicht hinnehmen. Der neue Bezug zu Hölderlin, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Streit um die Friedensfeier gipfelte, war durch die Auseinandersetzung mit H. mitgeprägt. Als frz. Bemühungen Hölderlin – gerade von seinem Scheitern aus – zu einem exemplarischen europ. Dichter machten, waren
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H.s Hinweise leitend. Seit 1955 stand H. auch in einem engeren Freundschaftsverhältnis zu dem Dichter René Char. Für beide war die Provence mit dem Berg Cézannes eine Brücke nach Griechenland; sie suchten gemeinsam mit Bezug auf Rimbaud deutlich zu machen, was Dichtung sei u. was sie in Zukunft werden könne. Als in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre detailliert aufgedeckt wurde, wie intensiv sich H. nach 1933 für den Nationalsozialismus engagiert hatte u. wie tief er in den angebl. Aufbruch verwickelt gewesen war, erschütterte eine »Heidegger-Kontroverse« den alles durchdringenden Einfluss H.s auf das frz. Philosophieren. Zeigte nicht auch H.s Nähe zu den Dichtern, dass der Faschismus die Politik ästhetisiert hatte? Maurice Blanchot nahm mit H. Hölderlins Scheitern als Siegel wahren Dichtertums; doch sprach er H. einen Bezug zu den Juden ab, die als Verfolgte gerade nicht mehr eine mythisch abgestützte »Heimat« hatten suchen können. Blanchot meinte wie viele andere, Paul Celan habe als jüd. Dichter dt. Sprache bei H. kein Gehör u. keine Antwort auf seine Anfragen gefunden. Als Jacques Derrida H.s »Destruktion« in einer »Dekonstruktion« fortführte, konnte diese durch das Wirken Paul de Mans in der amerikan. Literaturwissenschaft u. -kritik aufgenommen werden. Gerade deshalb führte die Entdeckung, dass de Man in früher Jugend auch mit faschistischer u. antisemitischer Tendenz geschrieben hatte, zu einer Erschütterung dieser Schule. Die dekonstruktivistische Literaturwissenschaft, die H.s Logoskritik durch Nietzsche steigerte, wurde der Verdrängung der einfachen menschl. u. polit. Fragen beschuldigt. Paul Celan hatte auch René Chars Tagebuch aus der Zeit des Widerstands gegen die dt. Okkupation übersetzt. H. u. Celan tauschten mehr als ein Jahrzehnt lang ihre Arbeiten aus, ehe Celan 1967 H. in Freiburg u. Todtnauberg besuchte. Von diesem Besuch bei H., dem Celan die Aktivitäten des Jahres 1933 nicht verzeihen konnte, spricht Celans Gedicht Todtnauberg. Kurz vor seinem Tod besuchte Celan ein zweites Mal H. in Freiburg; er ging aber nicht zu dem verabredeten Gespräch mit dem Romanisten Hugo Friedrich. Celan hatte immer Anstoß daran ge-
Heidelberger Liederhandschrift
nommen, dass Friedrich in seiner Struktur der modernen Lyrik (ähnlich wie Gottfried Benn) das moderne Gedicht auf eine Artistik festlegen wollte, die in einer diktatorischen Fantasie das Leben dem Wort unterwerfe u. in einer solchen Enthumanisierung zum Beispiel Liebe u. Totengedächtnis als Themen aufgeben müsse. Demgegenüber fand Celan bei H. ein anderes Dichtungsverständnis, das Dichten u. Denken auf das Andenken u. Gedenken zurückbezieht u. so im Leben andere Anfänge öffnet. Weitere Werke: Gesamtausg. Ffm. 1975 ff. – Vorträge u. Aufsätze. Pfullingen 1954. – Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959. – Nietzsche. 2 Bde., Pfullingen 1961. – Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Erw. Ffm. 41971. – Hölderlins Hymne ›Andenken‹. Ffm. 1982. – Aus der Erfahrung des Denkens. Ffm. 1983. – Marginalien zu Celans Meridian-Rede. In: Otto Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie. Freib. i. Br./Mchn. 1994, S. 436 f. – ›Mein liebes Seelchen!‹ Briefe M. H.s an seine Frau Elfride 1915–1970. Hg. Gertrud Heidegger. Mchn. 2005.
146 terwegs zu seiner Biogr. Ffm. 1988. – A. Gethmann-Siefert (Hg.): Poesie u. Philosophie. 2 Bde., Stgt. 1989. – Walter Biemel u. a. (Hg.): Kunst u. Technik. Gedächtnisschr. zum 100. Geburtstag v. M. H. Ffm. 1989. – George Steiner: M. H. Eine Einf. Mchn. 1989. – M. H. Kunst – Politik – Technik. Hg. C. Jamme u. Karsten Harries. Mchn. 1992. – Friedrich Wilhelm v. Herrmann: Die zarte, aber helle Differenz. H. u. Stefan George. Ffm. 1999. – ›Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser Erde‹. H. u. Hölderlin. Hg. Peter Trawny. Ffm. 2000. – O. Pöggeler: Schicksal u. Gesch. Antigone im Spiegel der Deutungen u. Gestaltungen seit Hegel u. Hölderlin. Mchn. 2004. – Daniel Morat:›Von der Tat zur Gelassenheit‹. Konservatives Denken bei M. H., Ernst Jünger u. Friedrich Georg Jünger. 1920–1960. Gött. 2007. Otto Pöggeler
Große Heidelberger Liederhandschrift, um 1300 bis 1340, auch: Manessische Handschrift, Codex Manesse. – Umfangreichste Sammlung von Minnesängern u. Sangspruchdichtern, mit BilLiteratur: Bibliografie: M. H.: Bibliography and dern, ohne Melodien.
Glossary. Bowling Green 1982 (über 6350 Eintragungen). – Weitere Titel: Carlos Astrada u. a. (Hg.): M. H.s Einfluß auf die Wiss.en. Bern 1949. – Jean Wahl: La pensée de H. et la poésie de Hölderlin. Paris 1952. – Else Buddeberg: H. u. die Dichtung. Hölderlin – Rilke. Stgt. 1953. – Beda Allemann: Hölderlin u. H. Zürich 1954. – Karl Löwith: H. Denker in dürftiger Zeit. Gött. 21960. – Werner Marx: H. u. die Tradition. Stgt. 1961. – Oskar Becker: Dasein u. Dawesen. Pfullingen 1963. – Joseph J. Kockelmans (Hg.): On H. and Language. Evanston 1972. – Walter Biemel: M. H. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1973. – William Spanos (Hg.): M. H. and the Question of Literature. Bloomington 1979. – Thomas Sheehan (Hg.): H. The Man and the Thinker. Chicago 1981. – HansGeorg Gadamer: H.s Wege. Tüb. 1983. – Otto Pöggeler: H. u. die hermeneut. Philosophie. Freib. i. Br. 1983. – Michael Haar (Hg.): M. H. (Cahiers de l’Herne). Paris 1983. – O. Pöggeler: Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu H. Freib. i. Br. 1984. – Graham Parkes (Hg.): H. and the Asian Thought. Honolulu 1987. – Eric Bolle: Die Kunst der Differenz. Amsterd. 1988. – Annemarie Gethmann-Siefert: H. u. Hölderlin. Die Überforderung des ›Dichters in dürftiger Zeit‹. In: Dies. u. O. Pöggeler (Hg.): H. u. die prakt. Philosophie. Ffm. 1988. – Günther Neske u. a. (Hg.): Antwort. M. H. im Gespräch. Pfullingen 1988. – Hugo Ott: M. H. Un-
G. H. L. wird der berühmte Codex genannt, seit er 1888 für Deutschland zurückgewonnen u. als Cod. Pal. germ. 848 den dt. Handschriften der ehem. Bibliotheca Palatina in der Universitätsbibliothek Heidelberg zugesellt werden konnte, die bereits andere wichtige Liedersammlungen, darunter die Kleine Heidelberger Liederhandschrift, beherbergte. In Heidelberg war der Codex vermutlich schon vor 1600 für kurze Zeit gewesen u. dann wieder, im Besitz der pfälz. Kurfürsten, von 1607 bis in den Dreißigjährigen Krieg. 1657 gelangte er in die Bibliothek König Ludwigs XIV. u. verließ Paris bis 1888 nur einmal: als er 1746/47 Johann Jacob Bodmer u. seinem Freund Breitinger zum Studium nach Zürich ausgeliehen wurde. Bodmer entdeckte darin Johann Hadlaubs Preislied auf die Liederbuchsammlung des Zürcher Patriziers Rüdiger Manesse († 1304) u. seines Sohns Johann († 1297), bezog es direkt auf den Codex, in dem weder Zeit noch Ort der Entstehung noch ein Auftraggeber vermerkt sind, u. gab diesem in den Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreizehnten Jahrhunderts (1748) stolz den »zuvor nimmer ge-
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hörten Namen der Manessischen Handschrift«. Dichterische Gestalt hat die der Wirklichkeit zumindest nahekommende These in Gottfried Kellers Novelle Hadlaub (1876) gewonnen. In der von Bodmer inaugurierten Minnesangforschung trägt der Codex seit der ersten krit. Edition eines mhd. Liederdichters, Karl Lachmanns Gedichten Walthers von der Vogelweide (1827), die Sigle C; A heißt die ältere Kleine Heidelberger Liederhandschrift, B die altertümlichere bebilderte Weingartner Liederhandschrift in Stuttgart. Die G. H. L. wurde höchstwahrscheinlich in Zürich um oder nach 1300 begonnen (vom Schreiber des Hadlaub-Corpus stammt auch eine Abschrift des Zürcher Richtebriefs von ca. 1301/04) u. bis etwa 1330/40 ergänzt. Unter den zeitgenöss. Handschriften dt. profaner Literatur hat der Codex nach Format (35,5 · 25 cm), Umfang (426 Blätter) u. Reichtum des Bildschmucks (137 farbenprächtige Miniaturen) kaum seinesgleichen. Unersetzlich ist er als Textsammlung: In dem kostbaren Buch gipfelt der vor der Mitte des 13. Jh. einsetzende Prozess einer umfassenderen Kodifizierung der neuen volkssprachl. Lieddichtung literar. Anspruchs, die sich mit der Adaptation von Liebeskonzept u. Formkunst der Trobadors u. Trouvères konstituiert hatte. Mehr als 5200 Strophen u. 36 Leichs aus dem letzten Drittel des 12. bis ins erste Drittel des 14. Jh. sind unter 140 Namen zusammengetragen, u. weit über die Hälfte der Texte findet man nur hier. Die Redaktoren hatten offenbar Zugang zu einer Vielzahl verlorener schriftl. Quellen verschiedenster Art u. Provenienz, darunter Sammlungen, die eng mit der Weingartner u. der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift verwandt waren; mündl. Überlieferung spielte allenfalls eine periphere Rolle. Anordnung u. Illustrationsmodus knüpfen an Vorläufer an, wie aus dem Vergleich wiederum mit der Weingartner u. mit Resten weiterer bebilderter Handschriften hervorgeht (Naglersches Bruchstück, früher Berlin, jetzt Krakau; Budapester Liederhandschrift, erst 1985 entdeckt). Neu scheint der Ehrgeiz, die bis dahin bloß auswahlweise gesammelte Liedkunst der Laien von den Anfängen bis in die eigene Zeit – u. darüber hinaus – in größtmögl. Voll-
Heidelberger Liederhandschrift
ständigkeit in ein em Buch zu vereinen. Im »Grundstock« (110 Sänger) erkennt man mannigfache Spuren fortwährender Erweiterungen, nach dem vorläufigen Abschluss kamen Einschübe mehrerer Schreiber u. Maler hinzu; erst nach einer Generation erlahmte der Sammeleifer, sodass viele für Ergänzungen vorgesehene Seiten schließlich leer geblieben sind. Unzweifelhaft besteht eine Beziehung zu der von Hadlaub gerühmten Sammlung der beiden Manesse. Der Codex ist wohl mit ihrer »Liederbuch-Bibliothek« nicht identisch, aber er wäre ohne sie kaum in Angriff genommen worden, u. indem er zusätzl. Material berücksichtigte, führte er sie in anderer Form fort. Rüdiger († 1304) mag den Buchplan selber initiiert u. eine Frühphase der Verwirklichung noch erlebt haben. Anteil am Zustandekommen der Handschrift hatte gewiss Hadlaub, darauf lassen Art u. Weise der Präsentation seines Œuvre schließen. Dass es im Umkreis Zürichs an Liedkundigen u. mögl. Förderern des großen Unternehmens nicht mangelte, belegen Hadlaubs Lieder u. der Codex selbst. Die G. H. L. hält nicht literarhistor. Rückschau. Eher dokumentiert sie ein imaginäres Sängersymposion: Unter dem Vorsitz Kaiser Heinrichs (VI.) sind Angehörige des hohen Adels, eine große Zahl von »herren«, endlich »meister« u. »gernde« versammelt – all jene, von denen man in Erfahrung bringen konnte, dass sie der Kunst des »edelen sanges« gedient hatten u. dienten, ob mit 450 oder zwei Strophen, als weitberühmter Meister oder vergessener Dilettant, ob höchsten Standes oder armer Fahrender. (Anonyma blieben also beiseite; beträchtl. Lücken resultieren aus der je nach Genre, Zeit u. Autor verschiedenen Quellensituation u. der trotz allem begrenzten Reichweite der Zürcher Redaktoren.) Das Hauptinteresse der Sammler des 13. Jh. hatte dem vornehmsten Genre, dem Ich-Lied der höf. Liebe, gegolten. Die G. H. L. ist das Buch des Minnesangs schlechthin, Liebeslust u. -leid in vielen Facetten sind Thema der meisten Lieder. Die anderen Genres werden jedoch systematisch mitgesammelt, sogar vielstrophige Lehr- u. geistl. Gedichte. Ohne die G. H. L. wüssten wir weniger vom »Frühling« des Minnesangs u. von
Heidelberger Liederhandschrift
der Klassik u. fast nichts vom Minnesang nach Walthers Tod, aber auch sehr wenig von der Minneleichdichtung. Und unsere Kenntnis der Sangspruchdichtung wäre, trotz der breiteren Tradierung im 14./15. Jh. – v. a. in der Jenaer Liederhandschrift –, entschieden fragmentarischer. Vor den Strophen eines jeden Sängers steht eine ganzseitige gerahmte Miniatur, die ihn allein oder mit anderen Figuren darstellt u. fast immer Wappenschild u. Helmzier einbezieht. Der einzigartige Zyklus von 137 »Autorenbildern«, eins der wichtigsten Zeugnisse oberrheinischer profaner Buchmalerei der ersten Hälfte des 14. Jh., zeigt nicht nur Sänger u. Dichter, sondern ein ganzes Panorama höf. Lebens, in dem blutige u. burleske Szenen keineswegs fehlen; im Zentrum steht allerdings auch hier die Liebe. Der Zyklus geht im Kern auf eine Serie zurück, die um 1250 für eine kleinformatige Sammlung von 20 bis 30 zumeist adligen Minnesängern (vermutlich mit Kaiser Heinrich an der Spitze) geschaffen worden sein dürfte. In der G. H. L. sind die wenigen Grundtypen einfallsreich variiert u. neue, z.T. aus Sängernamen, -beinamen, Liedpassagen oder »literarhistorischem« Wissen herausgesponnene Bildmotive hinzugekommen. Fresken, Teppiche u. die Kleinkunst der Zeit haben wohl neben der Buchmalerei als Quellen gedient; als direkte Vorlage nachgewiesen ist eine Handschrift von Rudolfs von Ems Minneroman Wilhelm von Orlens. Wie lange der Codex in Zürich blieb, ist ungewiss. Seine Wirkung im 15. Jh. bezeugt das Troßsche Bruchstück einer bebilderten Abschrift (früher Berlin, jetzt Krakau), das sich nicht genauer lokalisieren lässt. Eine in Paris gefundene Kopie aller Wappen wurde etwa 1575/80 in Nordfrankreich oder den belg. Niederlanden angefertigt. Dort könnte ein Verwandter der Sänger Eberhard u. Heinrich von Sax, der den pfälz. Kurfürsten verbundene Schweizer Frhr. Johann Philipp von Hohensax, in den Besitz der Handschrift gelangt sein. 1588 kehrte er nach Heidelberg, 1594 in die Heimat zurück. In seinem Nachlass taucht der Codex 1596 auf. Unter den Schweizer Gelehrten, die sich um 1600 mit ihm beschäftigen, ragt Melchior Goldast von
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Haiminsfeld heraus. Ein geplanter Gesamtabdruck unterblieb damals; aber Goldasts Edition der Lehrdichtungen König Tirol, Winsbecke, Winsbeckin (in: Paraeneticorum veterum pars I, 1604) sowie Nachrichten über die Handschrift u. Liedexzerpte in mehreren Veröffentlichungen verbreiteten unter den an altdt. Literatur Interessierten die Kunde von dem »aureum monumentum« u. ließen es nicht mehr in Vergessenheit geraten, bis schließlich Bodmer u. Breitinger mit der ersten annähernd vollständigen Ausgabe (Sammlung von Minnesingern aus dem schwæbischen Zeitpuncte, 1758/59) den Grund für die Rezeption der hochmittelalterl. dt. Liedkunst u. ihre Erforschung legten. Zur Berühmtheit des Codex in jüngerer Zeit haben mehr noch die zahllosen Reproduktionen u. Adaptationen der Miniaturen seit dem 19. Jh. beigetragen. Ausgaben (nur vollständige): Faksimiles: Die Manessische Lieder-Hs. [I.] Faks.-Ausg. Lpz. 1925–27. [II.] Einl.en v. Rudolf Sillib, Friedrich Panzer, Arthur Haseloff. Lpz. 1929. – Codex Manesse. Die G. H. L. [I.] Vollfaks. Mit Interimstexten v. Ingo F. Walther. Ffm. 1975–79. [II.] Walter Koschorreck u. Wilfried Werner (Hg.): Komm. Ffm./ Kassel 1981. – Die G. H. (›Manessische‹) L. In Abb. hg. v. Ulrich Müller. Göpp. 1971 (verkleinerte Schwarzweißreproduktion). – Digitalisat: http:// digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848. – Bildseiten: Die Miniaturen der Manesse’schen Liederhs. In unveränderl. Lichtdr. hg. v. Franz Xaver Kraus. Straßb. 1887. – Sämtl. Miniaturen der ManesseLiederhs. Hg. I. F. Walther unter Mitarb. v. Kurt Martin u. a. Aachen/Gütersloh 1981. – Codex Manesse. Die Miniaturen der G. H. L. Hg. u. erl. v. I. F. Walther unter Mitarb. v. Gisela Siebert. Ffm. 21988. – Texte: Minnesinger. 1. u. 2. Tl.: Manessische Slg. aus der Pariser Urschrift. Hg. Friedrich Heinrich v. der Hagen. Lpz. 1838. – Die g. H. L. In getreuem Textabdr. hg. v. Fridrich Pfaff. Heidelb. 1909. 2., verb. u. erg. Aufl. bearb. v. Hellmut Salowsky. Heidelb. 1984. Literatur: Bibliografie (bis etwa 1975): Minnesangs Frühling 2, S. 42–47. – Weitere Titel: Rudolf Sillib, Friedrich Panzer, Arthur Haseloff in: Die Manessische Lieder-Hs. [II.] Lpz. 1929 (s. Ausg.; mit Lit.). – Ewald Jammers: Das Kgl. Liederbuch des dt. Minnesangs. Heidelb. 1965 (Lit.). – Herta-Elisabeth Renk: Der Manessekreis, seine Dichter u. die Manessische Hs. Stgt. u. a. 1974. – Hella FrühmorgenVoss: Bildtypen in der Manessischen Liederhs. In:
149 Dies.: Text u. Illustration im MA. Hg. Norbert H. Ott. Mchn. 1975, S. 57–88. – Joachim Bumke: Ministerialität u. Ritterdichtung. Mchn. 1976. – Hugo Kuhn: Die Voraussetzungen für die Entstehung der Manesseschen Hs. u. ihre überlieferungsgeschichtl. Bedeutung. In: Ders.: Liebe u. Gesellsch. Hg. Wolfgang Walliczek. Stgt. 1980, S. 80–105. – Gisela Kornrumpf: Heidelberger Liederhs. C. In: VL (Lit.). – Wilfried Werner, Ewald M. Vetter, Walter Koschorreck, H. Kuhn, Max Wehrli, E. Jammers in: Codex Manesse. Die G. H. L. [II.] (s. Ausg.; mit Lit.). – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982. – Werner G. Zimmermann: Die Manessische Liederhs. im Spiegel v. Wahrheit u. Dichtung. In: Manesse Almanach auf das 40. Verlagsjahr. Zürich 1984, S. 309–472. – Elmar Mittler u. W. Werner (Hg.): Codex Manesse. Heidelb. 1988 (mit Beiträgen v. dens., Lothar Voetz, Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Hellmut Salowsky u. a.; Lit.). – Ingo F. Walther in: Codex Manesse. Die Miniaturen der G. H. L. (s. Ausg.). – Walter Berschin, Hans Lieb u. E. M. Vetter: Manesse in Randegg u. Schaffhausen. In: Philobiblon 32 (1988), S. 97–105. – Burghart Wachinger: Was ist Minne? In: PBB 111 (1989), S. 252–267. – Claudia Brinker u. Dione Flühler-Kreis: Die Manessische Liederhs. in Zürich. Zürich 1991. – Rudolf Gamper: Der Zürcher Richtebrief von 1301/ 1304. In: Zentralbibl. Zürich. Alte u. neue Schätze. Hg. Alfred Cattani u. a. Zürich 1993, S. 147–151. – H. Salowsky: Codex Manesse. Beobachtungen zur zeitl. Abfolge der Niederschrift des Grundstocks. In: ZfdA 122 (1993), S. 251–270. – Max Schiendorfer: Ein regionalpolit. Zeugnis bei Johannes Hadlaub (SMS 2). Überlegungen zur histor. Realität des sog. ›Manessekreises‹. In: ZfdPh 112 (1993), S. 37–65. – RSM 1, Tüb. 1994, S. 59–318: Handschriftenverz. Bearb. v. F. Schanze u. Eva Klesatschke, hier S. 178 f. (Lit.). – Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen u. Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik. Tüb./Basel 1995. – Entstehung u. Typen mittelalterl. Lyrikhss. Akten des Grazer Symposiums 13.–17. Okt. 1999. Hg. Anton Schwob u. András Vizkelety. Bern u. a. 2001. – Ursula Peters: Ordnungsfunktion – Textillustration – Autorkonstruktion. Zu den Bildern der roman. u. dt. Liederhss. In: ZfdA 130 (2001), S. 393–430. – Michael Curschmann: Wort – Bild – Text. Studien zur Medialität des Literarischen in HochMA u. früher Neuzeit. 2 Bde., Baden-Baden 2007, bes. Bd. 1, S. 253–281 (zuerst 1992). – Christiane Henkes-Zin: Überlieferung u. Rezeption in der G. H. L. (Codex Manesse). Diss. Aachen (2004), publiziert 12.02. 2008, http://darwin.bth.rwth-aachen.de/opus3/ volltexte/2008/2161/. – G. Kornrumpf: Vom Codex
Heidelberger Liederhandschrift Manesse zur Kolmarer Liederhs. I. Tüb. 2008. – Martin Schubert: Sprechende Leere. Lücke, Loch u. Freiraum in der G. H. L. In: editio 22 (2008), S. 118–138. – Karin Schneider: Got. Schriften in dt. Sprache II. Wiesb. 2009. Gisela Kornrumpf
Kleine Heidelberger Liederhandschrift, ca. 1270 bis Anfang des 14. Jh. – Älteste Sammlung von Minnesängern, ohne Melodien. Der Codex Palatinus germanicus 357 der Universitätsbibliothek Heidelberg, ein sorgfältig, aber raumsparend geschriebenes Bändchen von 45 Blättern, ist aufgrund der Schrift ins dritte Viertel, spätestens in die 70er Jahre des 13. Jh. zu datieren (Schneider); Nachträge auf den Blättern 40–45 stammen aus dem 14. Jh. Wohl im Elsass entstanden, lässt sich die K. H. L. erstmals 1558 als Eigentum des bücherliebenden Kurfürsten Ottheinrich von der Pfalz in Heidelberg nachweisen. Von dort aus wurde sie während des Dreißigjährigen Kriegs mit der Bibliotheca Palatina 1623 nach Rom verbracht. 1816 gab der Vatikan die 847 Codices Palatini germanici zurück. Durch Friedrich Adelungs Nachrichten von altdeutschen Gedichten in diesem Fonds wurde der Forschung die K. H. L. – als letzte der drei wichtigsten Minnesängerhandschriften – 1796 bekannt. Der »Grundstock« der K. H. L., für den Karl Lachmann die Sigle A eingeführt hat (Walther-Ausgabe, 1827), vereinigt in 34 Abteilungen nahezu 800 Strophen u. zwei Minneleichs. Nicht Kaiser u. Fürsten eröffnen die Sammlung wie in der Weingartner u. der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Ähnlich wie in manchen provenzal. Chansonniers stehen vielmehr diejenigen Minnesänger an der Spitze, denen man den höchsten literar. Rang zuerkannte: Reinmar (mit den Namensvettern Reinmar dem Fiedler u. Reinmar dem Jungen) u. Walther von der Vogelweide. Ihnen folgen Heinrich von Morungen, Ulrich von Singenberg u. Rubin. Die Reihe stattl. Minnesänger-Corpora wird in der zweiten Hälfte des »Grundstocks« durch eine bunte Folge von Liedern ergänzt, die sich den Anschein gibt, ebenfalls nach Autoren geordnet zu sein. Die 27 Abteilungen unter 22 –
Heidelberger Liederhandschrift
öfter unzutreffenden – Namen (fünf begegnen zweimal) umfassen meist wenige Strophen. Repertoirehefte von Fahrenden will man in drei umfänglicheren Gruppen unter den Namen Niune, Gedrut, Leuthold von Seven bewahrt sehen, die viele von anderen, gut bekannten Sängern gedichtete Texte bieten. Wahrscheinlich liegen aber nicht eigenständige Liederbücher zugrunde, sondern im Zuge einer Neuorganisation des gemischten zweiten Teils der Sammlung wurden längere Partien ohne Autorangaben (mit denen urspr. im Prinzip jedes Lied versehen war) unter diese drei Namen subsumiert. – Die Nachträge (a), 61 Strophen u. ein Minneleich ohne Beischriften, vervollständigen bes. das Walther- u. das Rubin-Corpus. In A sind Strophen aus etwa 100 Jahren versammelt. Der Minnesang aus klass. u. früher nachklass. Zeit dominiert eindeutig, Lieder der Frühzeit in Langzeilenstrophen u. nach romanischem Vorbild begegnen ganz vereinzelt. Das Themen- u. Typenspektrum ist jedoch bemerkenswert breit. Neben die Lieder der höf. Liebe treten v. a. Tagelieder, auch Frauenklagen, Scherzhaftes u. Parodistisches. Neidhart u. seine Nachfolger sowie die Sangspruchdichtung sind nur am Rande berücksichtigt. Um so mehr überrascht die Aufnahme vorwaltherscher Sprüche unter den Namen Spervogel u. Junger Spervogel. Zu den jüngsten Strophen muss ein Spruch Hawarts gerechnet werden, den man auf das Interregnum (1256–1273) bezieht. A ist die älteste Liedersammlung in dt. Sprache, die wir kennen, u. für fast alle Texte, die sie überliefert, das erste, für rund 70 Strophen sogar das einzige Zeugnis. Aus der Zeit vor etwa 1270 sind an Minnesangaufzeichnungen lediglich ein paar Einträge in Codices anderen Inhalts u. die Strophen Morungens, Walthers u. a. zu nennen, die die Carmina Burana (um 1230) an lat. Lieder anhängen; von den Bruchstücken ist kaum eines vor A anzusetzen. Freilich wäre es falsch, daraus zu schließen, die umfassendere Kodifizierung von Minnesang habe erst eine Generation nach Walthers Tod mit A eingesetzt u. bis dahin seien die Lieder hauptsächlich durch die mündl. Aufführungspraxis – für die sie ja primär bestimmt waren – weiter-
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tradiert worden, schriftlich allenfalls einzeln oder in Kleingruppen auf Blättern, Rollen u. in Heftchen, die leicht verlorengingen. Analyse u. Vergleich der bekannten Liederhandschriften ergeben ein anderes Bild: A geht offenbar über Zwischenglieder, die den Bestand teils erweitert, teils umgeordnet haben, auf eine Sammlung zurück, die um 1230/50 (vielleicht im bairisch-österr. Sprachgebiet) angelegt worden ist u. ihrerseits auf Vorsammlungen verschiedenen Typs (Autorcorpus, Liederkollektion) aufbaute. Und insg. muss angenommen werden, dass der Prozess, in dem der Minnesang auf vielfältige Weise Buchgestalt gewonnen hat, weit ins 13. Jh. zurückreicht. Ausgaben: Die alte H. L. Hg. Franz Pfeiffer. Stgt. 1844 (Transkription). – Die k. H. L. In Nachbildung. Mit Geleitwort v. Carl v. Kraus. Stgt. 1932. – Die K. H. L. [I.] Vollfaks. [II.] Einf. v. Walter Blank. Wiesb. 1972. – Digitalisat: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg357. Literatur: Blank, a. a. O. (ältere Lit.). – George F. Jones, Ulrich Müller u. Franz V. Spechtler: Verskonkordanz zur K. H. L. Göpp. 1979. – Hugo Kuhn: Die Voraussetzungen für die Entstehung der Manesseschen Hs. u. ihre überlieferungsgeschichtl. Bedeutung. In: Ders.: Liebe u. Gesellsch. Hg. Wolfgang Walliczek. Stgt. 1980, S. 80–105, bes. S. 92–94. – Gisela Kornrumpf: Heidelberger Liederhs. A. In: VL (Lit.). – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982. – Karin Schneider: Got. Schriften in dt. Sprache I. Wiesb. 1987, bes. S. 184–188. – Lothar Voetz: Überlieferungsformen mhd. Lyrik. In: Elmar Mittler u. Wilfried Werner (Hg.): Codex Manesse. Heidelb. 2 1988, S. 224–274, bes. S. 232–234. – RSM 1, Tüb. 1994, S. 59–318: Handschriftenverz. Bearb. v. Frieder Schanze u. Eva Klesatschke, hier S. 175 (Lit.). – Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen u. Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik. Tüb./Basel 1995. – Matthias Miller u. Karin Zimmermann: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibl. Heidelberg (Cod. Pal. germ. 304–495). Wiesb. 2007, S. 208–229 (auch online). – G. Kornrumpf: Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhs. I. Tüb. 2008, bes. S. 54–76, 77–100. Gisela Kornrumpf
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Heidelberger Passionsspiel, 1514 aufgezeichnet. – Geistliches Spiel von 6125 Versen. Obwohl der Schreiber (Wolfgang Stüeckh) des H. P. u. sein Auftraggeber (Konrad von Waldeck-Yben) bekannt sind, lässt sich bislang nicht sagen, wo das nach seinem Aufbewahrungsort (Universitätsbibl. Heidelberg) benannte H. P. entstanden ist. Während von Stüeckh außer seinem Namen keinerlei biogr. Daten überliefert sind, weiß man immerhin, dass Konrad einem Mainzer Dienstmannengeschlecht entstammte, so dass die Heimat des H. P. vielleicht in Mainz zu suchen sein wird. Die Sprache des Spiels (rheinfränkisch) u. seine Eingebundenheit in die hess. Spieltradition (Verbindung zu den Frankfurter Passionen) würden eine solche Zuweisung ohne Weiteres erlauben. Die 1514 zu Lesezwecken angefertigte Abschrift eines offenbar mehrtägigen Passionsspiels (6125 Verse) geht mit Sicherheit auf einen ehemals zur Aufführung bestimmten u. vermutlich noch umfangreicheren Text zurück, der dann von Stüeckh oder einem früheren Redaktor seiner neuen Bestimmung entsprechend überarbeitet worden ist. Aus diesem Verfahren erklärt sich z.B. die ganz ungewohnte Abgrenzung der einzelnen »Szenen« voneinander durch lat. Überschriften oder auch die Fülle lat. Bibelzitate, die jeweils den dt. Texten vorangehen u. sicherlich nicht für die Bühne, sondern – zumal dort, wo sie mit einer genauen Quellenangabe versehen sind – als Stellennachweis für den intendierten Leser gedacht waren. Gleichwohl ist durchgängig die enge Verbindung zur Aufführungsrealität der Vorlage erhalten geblieben, u. so beginnt das H. P. wie viele andere mittelalterl. Spiele mit der für den Regisseur bedeutsamen, für einen Leser aber unnötigen Anweisung, dass die Darsteller in einer Prozession auf die Bühne geführt werden u. sich dort an ihren Bühnenstand begeben sollten. Noch vor dem Prolog stehen zwei lat. Gesänge, in denen der Hl. Geist angerufen u. um Beistand gebeten wird – eine Einleitung, wie sie in ähnl. Form z.B. im Frankfurter Passionsspiel zu finden ist. Die Vorrede, hier vom
Heidelberger Passionsspiel
»regeirer des spils«, dem Spielleiter, gesprochen, umfasst zwar lediglich 26 Verse, doch darf sie trotz ihrer Knappheit als programmatisch gelten. In ihr wird jene Besonderheit des H. P. angesprochen, die das Spiel von anderen Vertretern seiner Gattung abhebt: die Kombination verschiedener Ereignisse aus dem Leben u. der Passion Christi mit als vorbildhaft empfundenen Präfigurationen aus dem AT, die jeweils von einem Propheten kommentiert werden. Entgegen dieser Ankündigung setzt die eigentl. Spielhandlung jedoch nicht mit einem Ereignis aus dem AT ein, sondern beginnt mit der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer. Ebenfalls ohne entsprechende Präfigurationen folgen weitere »Szenen« aus dem Leben Jesu (Wunder, Jüngerberufung, Lehrtätigkeit) von ganz unterschiedl. Länge: So umfasst die Versuchung Christi durch den Teufel 60 Verse, die Berufung des Apostels Matthäus jedoch nur sechs. Diese »Szenen« aus dem öffentl. Leben Christi werden unterbrochen von zwei offenbar als sehr wichtig empfundenen, weil vom übrigen Spielgeschehen durch »Silete«-Gesänge abgegrenzten Handlungsteilen: der Enthauptung Johannes des Täufers u. der Einsetzung des Pilatus als Landpfleger durch Kaiser Tiberius. Erst nach Vers 1342 b findet sich dann die erste von insg. 13 Präfigurationen: gegenübergestellt u. im Sinne von Typus u. Antitypus gedeutet werden die Werbung um Rebekka u. die Begegnung Christi mit der Samariterin. Wie alle nun folgenden »Doppelszenen« wird auch dieser Handlungskomplex mit einem »Silete«-Gesang eingeleitet. Durch die nun folgende kontinuierliche Aneinanderreihung von Präfigurationen u. Ereignissen aus den Evangelien sowie deren schemat. Auslegung durch einen der vier Propheten (Jesaja, Jeremias, Ezechiel, Malachias) bekommt das H. P. formal einen revuehaften, inhaltlich einen lehrhaft-dogmat. Charakter. Das Spiel schließt, jäh u. unerwartet, nach der Grablegung Christi, der Bestellung der Grabwächter u. der Versiegelung des Grabs durch diese mit der Gefangennahme u. Einkerkerung des Joseph von Arimathia. Obschon der Schreiber nach dieser »Szene« ein »Finis« gesetzt hat, herrscht in
Heidenreich
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der Forschung Übereinstimmung, dass das H. P. in seiner Vorlage nicht in dieser Form, sondern vielmehr mit einem noch folgenden Osterspiel beendet worden ist. Ausgaben: H. P. Hg. Gustav Milchsack. Tüb. 1880. – H. P. In: Die hess. Passionsspielgruppe. Ed. im Paralleltext. Hg. Johannes Janota. 3 Bde. u. Erg.Bd., Tüb. 1997–2004; Bd. 3. Literatur: Toni Weber: Die Praefigurationen im geistl. Drama Deutschlands. Ffm. 1919, S. 33–47. – Hanns Ott: Personengestaltung im geistl. Drama des MA. Diss. Bonn 1939. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 174–181. – Hansjürgen Linke: H. P. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. – Elisabeth Meyer: Zur Überlieferungsfunktion des H. P. In: Leuvense bijdragen 90 (2001), S. 145–159. Bernd Neumann / Red.
Heidenreich, David Elias, * 21.1.1638 Leipzig, † 6.6.1688 Weißenfels. – Jurist, Übersetzer u. Gelegenheitsdichter. Nach dem Tod des Vaters, eines Leipziger Assessors, ging der Nikolaischüler H. 1651 nach Dresden, wo ihn Christian Brehme betreute u. er die Kreuzschule besuchte. Er schloss seine Gymnasialzeit als Hauslehrer in Halle ab u. widmete sich seit dem 30.6.1655 dem Poesie- u. Jurastudium in Wittenberg u. ab dem Wintersemester 1656 in der Heimatstadt, wo er bereits im Winter 1646 gratis immatrikuliert worden war. Hier verdiente er seinen Lebensunterhalt, indem er für seinen Vetter, den Verleger Timotheus Ritzsch, aus dem Holländischen übersetzte. Ab 1664 hatte H. Beamtenstellen bei den Herzögen August von Sachsen-Weißenfels inne. Er war u. a. Geheimsekretär des Erzstifts Magdeburg in Halle, wo er am 28.9.1675 das Bürgerrecht erwarb, Lehnsekretär der thüring. Länder, 1673 Sekretär der Fruchtbringenden Gesellschaft, in die er im Jahr zuvor als »Der Willige« (FG 837) aufgenommen worden war, u. ab 1680 Hof-, Appellations-, Konsistorial- u. Bergrat für Herzog Johann Adolph von Sachsen-Weißenfels. Schon als Student hatte H. eine Übersetzung von J. van den Vondels Gebroeders (1640)
u. d. T. Rache zu Gibeon oder die sieben Brüder aus dem Hause Sauls (Lpz. 1662. Nachdr. Bern 1987) veröffentlicht, die durch ihre gelungene Charakterisierung u. Theatralisierung der Übertragung von Gryphius überlegen ist. Außerdem übersetzte H. Corneilles Drama Horace (Horatz. Lpz. 1662) u. Desmarets de Saint-Sorlins Drama Mirame (1640. Dt. Lpz. 1662). Er publizierte zahlreiche Gelegenheitsgedichte u. ließ 1665 eine Gedichtu. Kirchenliedersammlung u. d. T. Geistliche Oden (Halle) drucken. H. gilt auch als Verfasser anonym erschienener höf. Singspiele, für die David Pohle die Musik komponierte. Weitere Werke: Singspiele: Eintracht stärckt Heyrath [...]. Halle 1669. – Heyrath macht Friede: oder, der erkannte Tuisco. Halle 1669. – Liebe kröhnt Eintracht [...]. Halle 1669. – Der siegende Hof-Mann Daniel [...]. o. O. [Halle] 1671. – Die verliebte Jägerin, Diana. Halle 1671. Gotha 1687. – Der verliebte Mörder Herodes [...]. Halle 1673. – Der glückl. Liebes-Fehl Printz Walrams [...]. Halle 1673. Ausgaben: Fischer/Tümpel 4, S. 361 f. – Rache zu Gibeon (1662). Internet-Ed.: Vd17. – InternetEd. diverser Texte in: Festkultur online: Dt. Drucke des 17. Jh. zur Festkultur des Barock: http:// www.hab.de/bibliothek/wdb/festkultur/index.htm. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2083–2088. – VD 17. – Weitere Titel: L.: D. E. H. In: ADB. – Heiduk/Neumeister, S. 49 f., 184, 377. – Egbert Krispyn: D. E. H. Zur Biogr. einer literar. Randfigur. In: Daphnis 13 (1984), S. 275–298. – Gottfried Gille: Der Kantaten-Textdruck von D. E. H., Halle 1665, in den Vertonungen David Pohles, Sebastian Knüpfers, Johann Schelles u. a. In: Die Musikforsch. 38 (1985), S. 81–94. – Andrea Fischbacher-Bosshardt: Die Darstellungsmittel der Singspielvorreden des Librettisten D. E. H. In: Simpliciana 12 (1990), S. 443–477. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. [...]. R. I, Abt. C, Halle. Hg. Martin Bircher. Tüb. 1991, passim. – Judith P. Aikin: Misattributed ›Melissa‹, or let’s give D. E. H. his due! In: Daphnis 23 (1994), S. 37–60. – Wolfram Steude: Anmerkungen zu D. E. H., Erdmann Neumeister u. den beiden Haupttypen der evang. Kirchenkantate. In: Weißenfels als Ort literar. u. künstler. Kultur im Barockzeitalter. Hg. Roswitha Jacobsen. Amsterd./ Atlanta 1994, S. 45–61. – Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit [...]. Stgt.-Bad Cannstatt 1998 (Register). Robert J. Alexander / Red.
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Heidenreich, Elke (Helene), geb. Riegert, * 15.2.1943 Korbach/Hessen. – Schriftstellerin, Kolumnistin, Moderatorin. H., Tochter eines Kfz-Mechanikers u. Tankstelleninhabers, verbrachte ihre Kindheit in Essen, verließ 1958 ihr Elternhaus u. bestand 1963 ihr Abitur in Bonn. 1963–1969 studierte sie Germanistik, Publizistik, Religionswissenschaft u. Theatergeschichte in München, Hamburg u. Berlin. 1965 heiratete sie Gert Heidenreich, in zweiter Ehe 1972 Bernd Schroeder. Ab 1970 war H. als freie Mitarbeiterin für das SWR-Fernsehen u. den Hörfunk tätig. 1971 verfasste sie mit Bernd Schroeder das Hörspiel Die Geburtstage der Gaby Hambacher. Für die Sender ZDF, WDR, SWF, SFB u. BR schrieb sie Drehbücher für TV-Filme u. -Serien. 1972 entstand ihr Drehbuch zu dem Film Nestwärme, 1983 zu dem Fernsehfilm Unter deutschen Dächern u. 1987 zur Familienserie Dreifacher Rittberger. Sie schrieb ein Theaterstück mit dem Titel Unternehmen Arche Noah (1986). 1976 erfand H. die Metzgersgattin Else Stratmann aus Wanne-Eickel, die über zeitgenöss. Themen räsoniert u. sie aus der Perspektive der kleinen Leute kommentiert. Durch Else Stratmanns Kommentare während der Olympischen Spiele von Los Angeles (1984) u. Seoul (1988) erlangte H. große Popularität. Auch als Kolumnistin der Frauenzeitschrift »Brigitte« (1983–2000) warf H. einen krit. Blick auf die bundesdt. Gesellschaft u. begegnete deren Widersprüchen mit bissigem Humor. Ab 1981 moderierte H. Talkshows wie »Kölner Treff« für den WDR, »Leute« für den SFB, »ZDF-Klassentreffen« (ab 1989) u. »live« (ab 1990) für das ZDF. Sie leitete im Schweizer Fernsehen die Sendung »Literaturclub« u. die Kindersendung »Durchblick« u. führte seit 2003 durch die Literatursendung »Lesen!« (ZDF), die im Okt. 2008 mit einem Eklat endete u. abgesetzt wurde. 1992 erschien der Erzählungenband Kolonien der Liebe (Reinb.). Bereits die erste Geschichte Erste Liebe versammelt die zentralen Themen von H. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob ein erfülltes Leben vor dem Hin-
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tergrund der scheiternden Ehe der Eltern, von herrschsüchtigen, gefühllosen Müttern u. schwachen, fremdgehenden Vätern u. miefigen Kleinbürgerhaushalten möglich ist. Destruierendes Moment aller Lebensläufe scheinen die Mütter zu sein, die ihre eigenen Frustrationen auf die Töchter projizieren. Im Zuge der Frauenbewegung gewinnt die lesb. Liebe in den Werken H.s an Bedeutung. Die Erzählung Die schönsten Jahre (Mchn. 2001) lässt eine Annäherung von Mutter u. Tochter zu, weil auch die Mutter während der Kriegsjahre eine erfüllte Beziehung zu einer Frau hatte. Die Konflikte zwischen Männern u. Frauen bleiben meist unüberwindbar. Im Gegensatz dazu können Tiere in H.s Büchern Beziehungen eingehen, ohne sich zu verbiegen. Besonders deutlich wird dies in der Lebensgeschichte des Katers Nero Corleone (Mchn. 1995), dem der Spagat zwischen gefülltem Fressnapf u. individueller Freiheit gelingt. Für dieses Buch erhielt H. 1997 zwei internat. Auszeichnungen (Prix de la Lecture à Deux Voix, Vlag en Wimpels). Anrührend ist die Geschichte von Nurejews Hund oder Was Sehnsucht vermag (Mchn./Wien 2005), die zuerst in dem Erzählungenband Rudernde Hunde (zus. mit Bernd Schroeder. Mchn. 2002) erschien u. für den selbstständigen Druck erweitert wurde. Der Hund Oblomow zeigt seine grenzenlose Zuneigung noch nach dem Tod des Tänzers Nurejew, indem er selbst – obwohl viel zu dick u. plump – zu tanzen beginnt. Im Mittelpunkt von H.s Kinderbüchern stehen auch Tiere oder die Beziehung zu Tieren. In Sonst noch was (Mchn./Wien 1999) blockiert der frustrierte Satz von Katharinas Mutter jeden Wunsch der Tochter, der über die Grenzen ihrer engen Kleinbürgerwelt hinausgeht. Erst als das Mädchen die Tiersprache von Roswitha Gansauge u. deren Hund Gustavo erlernt, beherrscht es darüber hinaus die »Kunst, miteinander zu reden«. In dem Kinderbuch Am Südpol, denkt man, ist es heiß (Mchn. 1998) beweist sich H.s Leidenschaft für die Oper. Indem sie das Geheimnis der Pinguine lüftet – sie warten stets im Frack auf das Opernschiff aus Wien – schreibt sie eine Hommage an Giuseppe Verdi u. dessen Oper La Traviata. 2007 erschien in Zusam-
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menarbeit mit Christian Schuller unter dem Julia Schröder: E. H. In: LGL. – E. H.: Ganz so leicht Titel Das geheime Königreich (Köln) die Ge- muss es auch nicht sein. Dokumentation. Ein Film schichte der Kölner Kinderoper, für die H. v. Claudia Müller. SWR 2004. Elke Kasper sich seit 1996 engagiert. Auf die Spuren Verdis begibt sich H. auch Heidenreich, Gert, * 30.3.1944 Eberswalzusammen mit dem Fotografen Tom Krausz de. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Esin dem Bildband Eine Reise durch Verdis Italien sayist. (Mchn. 2008). Mit Tom Krausz verfasste sie bereits für die Zeitschrift »Brigitte« sechs H. wuchs in Darmstadt auf u. studierte in Jahre lang Reisereportagen, die u. d. T. Mit München. Er war Mitbegründer des Theaters in der Kreide TiK München 1969. 1967–1983 unseren Augen (Mchn. 2007) erschienen. H. erhielt 1981 die Goldene Kamera, 1982 arbeitete er als Journalist, v. a. für den Bayeden Wilhelmine-Lübke-Preis, 1985 den Adolf rischen Rundfunk, »Die Zeit« u. die »SüdGrimme-Preis, 1996 den Medienpreis für deutsche Zeitung«. Essays erschienen u. a. in Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche »L’80«, »Neue Rundschau« u. »Akzente«, Sprache, 2002 den Offenbacher Literatur- Kindergeschichten u. -gedichte in verschiepreis, 2003 den Großen Kulturpreis der denen Anthologien. Seit 1984 lebt H. als Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland, 2003 freier Schriftsteller bei München. 1991–1995 den Bambi in der Kategorie TV-Moderation, war er Präsident des Deutschen P.E.N.-Zen2006 den Ehrenpreis des Adolf-Grimme- trums. Alle Arbeiten H.s zeichnen sich durch gePreises u. 2008 den Hans-Bausch-Mediapreis sellschaftspolit. Engagement für die Aufklädes SWR. rung im Sinne Kants aus. Die präzise BeWeitere Werke: Alle sind an allem schuld. BR 1972 (Hörsp.). – ›Darf’s ein bißchen mehr sein?‹ schreibung der »selbstverschuldeten UnElse Stratmann wiegt ab. (Texte v. 1975–1984). mündigkeit« führte ihn folgerichtig zu imReinb. 1984. Neuausg. ebd. 2005. – Kein trautes mer neuer Auseinandersetzung mit dem Heim. SWF 1984 ff. (Hörsp.-Serie). – Kein schöner Trauma seiner Generation: der Schuld der Land. Ein Deutschlandlied in sechs Sätzen. Bühl- Väter u. dem Fortwirken nationalsozialistiMoos 1985. Reinb. 1987. Erw. Neuausg. ebd. 2003. schen Ungeists. Die Gnade der späten Geburt – Dein Max. Erzählungen. Reinb. 1996. – Kleine (Mchn. 1986) heißt sein erster ErzählungsReise. Erzählungen. Reinb. 1996. – Der Welt den band, Eisenväter (Mchn. 1987) die wichtigste Rücken. Gesch.n. Mchn./Wien 2001. Tb. Reinb. Gedichtsammlung. Sein Schauspiel Magda – 2003. 172006. – Köln. Bilder u. Gesch.n (zus. mit Finis Tertii Imperii (Urauff. Chemnitz 1993) Stefan Worring). Köln 2001. – Wörter aus 30 Jahren. 30 Bücher, Menschen u. Ereignisse. Reinb. paraphrasiert die letzten Stunden einer ku2003. 72004. – Passione. Liebeserklärung an die riosen Hitler-Goebbels-Gesellschaft im BunMusik. Mchn. 2009. – Drehbücher: Nestwärme (zus. ker unter der Reichskanzlei in Berlin. Wie mit Bernd Schroeder). ZDF 1973. – Sonntagsge- eine Medea zerstört die Mustermutter des sch.n mit Anna. ZDF 1974. – Die Herausforderung/ »Dritten Reiches«, paradigmatisch für die Rest des Lebens (zus. mit B. Schroeder). SWF 1975. Tödlichkeit der NS-Ideologie, alle verbliebe– Verführungen. SFB 1979. – Freundinnen. Serie nen Brücken zum Leben. Das Berliner Polizeimit sieben Filmen. SWF 1980. – Kein schöner Land Codewort Füchse jagen ist Titel von H.s Schau(zus. mit B. Schroeder). WDR 1984/85. – Kinofilme: spiel auf das Jahr 1968 (Nachw. von Walter Jens. Gefundenes Fressen (zus. mit B. Schroeder). Mchn. Mchn. 1988). Der Wille, nicht verfügbar zu 1975. werden wie die Väter, eskaliert zur selbstLiteratur: Denis Scheck: ›Wenn ich schreibe, mörderischen Phobie des 17-jährigen Ted in bin ich jemand anderes‹. Gespräch mit E. H. In: H.s achtem Theaterstück Strafmündig (Urauff. Börsenblatt für den dt. Buchhandel (1992), Nr. 56, S. 20–24. – Medienpreis für Sprachkultur 1996. In: Braunschw. 1981. Ersch. Ffm. 1984), das Der Sprachdienst 40 (1996), H.3/4, S. 90–102. – weltweit inszeniert wurde u. den Autor allg. Marga Drebenstedt: Ellipt. Satzstrukturen in E. H.s bekannt machte. Ein Vierteljahrhundert spä›Katzengeschichte‹. In: Christine Kessler u. a.: ter ist der 17-jährige Protagonist Mick in H.s Sprachsystem – Text – Stil. Ffm 1997, S. 23–34. – Theaterstück Endgeil (Urauff. 2005 Heidelb.)
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ein Spross der Spaß- u. Geldgesellschaft, elle. Arun wird zum Gejagten, sein Förderer aufgewachsen mit Fernsehen u. Computer- u. Lehrer, ein Schöpfer künstl. Welten, zum spielen, u. liefert sich ein Duell mit seinem Opfer. Das Wunder steht der Normalität im Großvater, einem 68er, dem Sprache u. Wege. Im Dunkel der Zeit (Mchn. 2007), H.s erster Kriminalroman, dem eine Fortsetzung Selbstbestimmtheit lebenswichtig sind. Dem Verlust menschl. Selbstbestimmung folgen soll, wird in der Verbindung von setzt H. seine Geschichte einer Frau (Die Stei- Spannung, literar. Erzählkunst u. Zeitgenesammlerin. Roman. Düsseld. 1984. Neufas- schichte als Glücksfall für die dt. Literatur sung Hbg. 2004) entgegen, die eine öffentlich gewürdigt. Die literar. Kritik bescheinigt H. unangenicht anerkannte Schuld zu sühnen versucht. H.s moralischer Impetus richtet sich auf ka- strengtes Fabulieren mit sprachl. Meistertegor. Gegenentwürfe der Selbstvergewisse- schaft in einer Vielzahl von Erzählformen mit rung (»das Vergebliche muss getan werden«), gleichwohl aufregend brisanten Themen der so auch in seinem Roman Belial oder Die Stille postideolog. Datengesellschaft. Seine Essays (Mchn. 1990), in dem er prometheisches zeichnen sich durch gedankl. Klarheit u. Zeitalter u. Okkultismus zu einer zeitgenöss. sprachl. Präzision aus. Dramaturgisch u. Dr.-Faustus-Variation verarbeitet. Beide sprachlich unterschiedlichste Mittel kennProtagonisten sind auf der Suche nach dem, zeichnen seine bühnensicheren Theaterstüwas die Welt im Innersten zerfallen lässt: cke. H. erhielt u. a. 1985 den Fernsehspielpreis »Das Gute bewegt uns, aber das Böse hat unser Interesse.« Belial stellt die Frage nach der Akademie der Darstellenden Künste der Schuld noch bitterer u. grundsätzlicher, Frankfurt/M., 1986 den Adolf-Grimme-Preis, nach unserer Schuld gegenüber dem Planeten 1989 den Literaturpreis der Stadt München u. oder der Schöpfung. Gegen das Sterben, ge- 1998 den Marieluise-Fleißer-Preis. Er ist gen den Tod, setzt der Erzähler, wie Schehe- Mitgl. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. razade, sein Erinnern. Das Erzählen erdachter Wirklichkeiten Literatur: Liz Wieskerstrauch: Schreiben zwiprägt immer stärker die Perspektive in H.s schen Unbehagen u. Aufklärung. Literar. Porträts Romanen. Mit der Heilsbotschaft emporge- der Gegenwart. Weinheim/Bln. 1988. – G. H. stiegen, die Menschheit müsse aufhören, sich Mchn. 1991. – Helmar Harald Fischer: ›Das Herz Bilder von der Welt zu machen – erst dann schlägt, als wär nichts‹ – G. H. auf der Suche nach könne sie wieder lernen, die reale Welt der verlorenen Schuld. Literaturfeature, DLF, 2000. – Thomas Kraft: G. H. In: LGL. wahrzunehmen u. zu bewahren –, ruft ein Helmar Harald Fischer messian. Utopist in Die Nacht der Händler (Mchn. 1995) die Bewegung von »Antimagisten« ins Leben, die Anschläge gegen Die Heidin. – Mittelhochdeutsche VersFernsehsender, Fotokonzerne u. Datenspeinovelle seit Mitte des 13. Jh. cher verüben. Ihre Terroranschläge treffen auch ins Zentrum der fiktivsten aller Welten, Zwischen der Mitte des 13. u. der Wende zum die der großen Finanzmärkte. Das faustische 14. Jh. entstanden vier Fassungen – drei im »Ich« kämpft als »Dokument« im Labyrinth Bairischen, eine im Ostfränkischen (H. IV) – vernetzter Datenwüsten. Im Roman Abschied der Geschichte des christl. Ritters, der, in von Newton (Stgt. 1998) versetzt Arun, der Fernliebe entbrannt, in den Orient zieht. Junge aus einem nepales. Bergdorf, die von Dort hat er, um eine wegen ihrer Schönheit u. ihren digitalen Bildertricks gelangweilte Tugend weithin gerühmten Heidin werbend, Mediengesellschaft Europas in einen Taumel zwischen ihrem oberen u. ihrem unteren Teil von Realitätsbegeisterung, als er Newtons zu wählen. Dieses Motiv der geteilten Dame Gesetze der Schwerkraft überwindet. Denn ist vorgebildet im Abschnitt »De muliere a natürlich ist Aruns Fähigkeit zur Levitation duobus amata« von De amore, der minneauch die Möglichkeit zu einem Riesenge- theoret. Schrift des Andreas Capellanus (Hg. schäft für alle, Kirchen, Politiker u. Industri- Emil Trojel. Kopenhagen 1892. Neudr.
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Mchn. 21972, S. 206–213), in dem ein Ritter Konsistenz: Es dominieren innere Monologe von einer Dame aufgefordert wird, die ver- u. pointierte Dialoge, die Entscheidungssischiedene Wahl zweier Minnediener zu prü- tuationen sind psychologisiert, Übernahmen fen, u. dabei eindeutig zugunsten des »pars u. a. aus dem Wigalois u. Anspielungen auf die Heldenepik eröffnen eine literar. Bezugswelt. superior« entscheidet. Version I (rund 1100 Verse) erzählt knapp Dem idealen heidn. Minnepaar des Anfangs u. ohne Tiefenschärfe das Werben des Ritters, steht am Ende ein ebenso ideales christliches der vom heidn. Gemahl seiner Angebeteten gegenüber; der heidn. Gemahl bleibt klagend zwar ehrenvoll aufgenommen, von dieser in der Ferne zurück. In den einzelnen Fassungen durchdringen selbst jedoch abgewiesen wird. Sieben Jahre zieht er daraufhin durch die heidn. Lande, bis einander in je anderer Weise Muster aus ihn die Geliebte, mittlerweile selbst der Brautwerbungserzählung, Orientroman u. Minne verfallen, zurückruft. Sie stellt ihn vor Schwankmäre, Versnovelle u. erzählter Mindie Wahl zwischen dem Teil »nedirhalp ze nekasuistik. Das intertextuelle Umfeld intale hin« u. dem »ubir dem gortil«. Er ent- nerhalb der erzählerischen Kleindichtung ist scheidet sich für die obere Hälfte u. gewinnt entsprechend vielfältig – wie auch die Varidurch List (indem er dem oberen Teil der anten des in der Folgezeit oft anklingenden u. Geliebten aufträgt, sich mit ihrem Gemahl zu transformierten Motivs der geteilten Dame. entzweien) auch noch die untere dazu. Im In Reinform begegnet es zunächst nur in Der Zentrum der Geschichte steht der Konflikt Minne Regel des Eberhard von Cersne, dort der Dame zwischen Treue gegenüber dem direkt auf Andreas Capellanus fußend. Ehemann u. Dienstverpflichtung gegenüber Ausgaben: Karl Bartsch (Hg.): Mitteldt. Gedichdem Ritter. Das Muster der gefährl. Braut- te. Stgt. 1860. Neudr. Amsterd. 1969, S. 40–72 (I). – werbung wird am Ende, indem der Ritter al- Ludwig Pfannmüller: Die vier Redaktionen der lein in die Heimat zurückkehrt, abgewiesen. ›H.‹. Bln. 1911, S. 229–472 (I-III). – Klaus GrubDie Versionen II u. III füllen u. erweitern müller (Hg.): Novellistik des MA. Ffm. 1996, das Erzählgerüst (auf über 4600 Verse in der S. 364–469, 1153–1171 (IV, mit Übers. u. Komm.). Literatur: Pfannmüller, a. a. O. – Karl-Heinz umfangreichsten Handschrift). Sie fügen Szenen (H. III u. a. einen Drachenkampf) u. Schirmer: Stil- u. Motivuntersuchung zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969. – Ders.: D. H. In: VL. – Details (H. II nennt den Helden Wittich vom Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Jordan u. gibt auch für andere Figuren Na- Tüb. 21983 (Register; Bibliogr. S. 346 f.). – Hansmen, Stand u. Herkunft an) ein u. lassen die Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn. Liebenden gemeinsam in die Heimat des 1985. – Klaus Hufeland: Der auf sich selbst zornige Ritters fliehen, wo die Heidin zum christl. Graf. ›H. IV‹ als Manifestation höf. Liebe. In: FS Glauben übertritt. In H. II, der einzigen Heinz Rupp. Bern 1989, S. 135–163. – Ders.: Die Fassung, die im Prolog zweier Handschriften mit sich selbst streitende Heidin. In: Gert Rickheit einen May von Wunnenhofen als Autor u. Sigurd Wichter (Hg.): Dialog. Tüb. 1990, S. 3–24. namhaft macht, werden die beiden in Ana- – Max Schiendorfer: ›Frouwen hulde – gotes hullogie zum Willehalm Wolframs von Eschen- de‹. Zu Erzählstruktur u. -strategie in ›Die halbe Birne (A)‹ u. ›D. H. (A)‹. In: FS Alois Haas. Bern u. a. bach vom heidn. Gemahl in einem Rachezug 1999, S. 471–485. – Albrecht Classen: Die H.: A verfolgt, doch mündet das Geschehen in eine Late-Medieval Experiment in Cultural Rapprocheversöhnl. Doppelhochzeit. Eine illustrierte ment Between Christians and Saracens. In: MedieFassung dieser Handschrift, in der Werkstatt val Encounters 2.1 (2005), S. 50–70. von Ludwig Henfflin hergestellt, befand sich Christian Kiening im Besitz der literaturinteressierten Margarethe von Savoyen. Heiduczek, Werner, * 24.11.1926 HinVersion IV (1902 Verse), wo der Held als denburg (Zarbze). – Romancier, Erzähler, Rheingraf Alpharius von Lebenberc erscheint, Hörspiel- u. Kinderbuchautor. bietet eine wiederum H. I näher stehende reduzierte Handlung u. gewinnt zgl. in Dar- Neben seiner Herkunft ist H.s Leben u. Werk stellungstechnik u. Erzähllogik stärkere durch die Erfahrung von drei polit. Systemen
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geprägt: In der Zeit des Nationalsozialismus wuchs H., Sohn eines Maschinenbauschlossers, im kath. Milieu Oberschlesiens auf. Er erlebte den Zweiten Weltkrieg als Luftwaffenhelfer u. Soldat u. geriet kurzzeitig in sowjetische Gefangenschaft. H. absolvierte ein Pädagogikstudium u. arbeitete als Lehrer, zwischenzeitlich auch als Schulinspektor u. Kreisschulrat. 1961–1964 war er Deutschdozent in Burgas (Bulgarien). Seit 1965 als freier Schriftsteller tätig, lebte er zunächst in Halle/ Saale u. ging später nach Leipzig. Als Pädagoge wie als Autor setzte er sich mit der Kulturbürokratie der DDR auseinander, bis sich die polit. Rahmenbedingungen durch die Wiedervereinigung änderten. In seinen Erzählungen verwendet H. nicht selten autobiogr. Bezüge. So findet sich bereits in seinem frühen Kinderbuch Matthes und der Bürgermeister (Halle/Saale 1961) die Figur eines verwaisten Mädchens aus Böhmen, während die vier Brüder in der gleichnamigen Novelle (1962) ihre Mutter auf der Flucht aus Schlesien verlieren. Die Erfahrung des Heimatverlustes prägt auch die Figuren in seinem ersten Roman Abschied von den Engeln (Halle/Saale 1968), für den H. 1969 den Heinrich-Mann-Preis erhielt. Der Roman folgt dem Muster des Familienromans u. greift anhand einer auf die beiden dt. Staaten verteilten Familie polit. u. zeitgeschichtl. Fragen auf. Streckenweise ideologisch gefärbt, war der Text auch als Bühnenfassung erfolgreich. Zugleich markierte dieser Roman den äußeren Höhepunkt der literar. Laufbahn H.s: Vier Jahre nach dem Prager Frühling offenbart H. in seinem Aufsatz Bitterfelder Tagebuch (1972) einen zunehmend krit. Blick auf den sozialistischen Alltag; eine Druckgenehmigung wurde verweigert. Die Tendenz zu gesellschaftlich u. kulturpolitisch umstrittenen Themen findet sich auch in dem Roman Tod am Meer (Halle/Saale 1977. Lpz. 1995). Der Text kreist um die skept. Lebensbilanz des Schriftstellers Jablonski, der während eines Schwarzmeeraufenthalts tödlich erkrankt u. die Zeit im Krankenhaus zu einer selbstkrit. Rückschau nutzt. Das Gespräch mit dem Bettnachbarn thematisiert die Stellung des Schriftstellers u. seine gesellschaftl. Verantwortung: Der berufl. Aufstieg vom
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Neulehrer zum erfolgreichen Schriftsteller wird als polit. Opportunismus entlarvt. Das Werk markiert eine deutliche Zäsur: Wie H. in seiner auch literarisch gehaltvollen Autobiografie Die Schatten meiner Toten (Lpz. 2005) beschreibt, zog die Veröffentlichung von Tod am Meer anhaltende Schwierigkeiten mit Verlag u. Partei nach sich. Vor allem die krit. Passagen über die Sowjetarmee in Deutschland führten zu einem Verbot des Romans nach der zweiten, bereits ausverkauften Auflage. In der Folge widmete sich H. verstärkt dem Kunstmärchen u. der Adaption von Sagen. Die Konzentration auf den Mythos bedeutet für ihn nicht nur einen Ausweg aus polit. Fallstricken, sondern v. a. die Möglichkeit, jenseits ideolog. Denkverbote zu existenziellen Fragen vorzustoßen. Bekannte Motive des Märchens werden bei H. nicht selten umgedeutet u. mit Elementen der Gegenwart verknüpft. So ist es z.B. das »verschenkte Weinen« der Protagonistin in der gleichnamigen Erzählung (1977), mit dem eine neurochirurgische Operation ermöglicht wird – der Schmerz erscheint hier als ein Wesensmerkmal des Menschen, als Gegenpol zu sozialistischem Fortschrittsoptimismus u. moderner Technikgläubigkeit. Wie die zahlreichen Auflagen u. Verfilmungen zeigen, sind die poetischen, teils surrealen Märchenwelten H.s nicht nur für minderjährige Leser interessant. H. erhielt 1969 den Händel-Preis der Stadt Halle u. 1995 den Eichendorff-Literaturpreis der Stadt Wangen im Allgäu; seit 1992 ist er Mitgl. der Freien Akademie der Künste zu Leipzig. Weitere Werke: Jana u. der kleine Stern. Bln./ DDR 1968 (Kinderbuch). – Mark Aurel oder ein Semester Zärtlichkeit. Bln./DDR 1971 (E.). – Die seltsamen Abenteuer des Parzival. Nach Wolfram v. Eschenbach neu erzählt v. W. H. Bln./DDR 1974. – Der Schatten des Sijawusch. Eine Legende. Halle/ Saale 1986. – Reise nach Beirut. Verfehlung. Halle/ Saale 1986 (N.). – Im gewöhnl. Stalinismus. Meine unerlaubten Texte. Tagebücher – Briefe – Essays. Lpz./Weimar 1991. – Das verschenkte Weinen. Ges. Märchen. Lpz. 2005. Literatur: Heinz Plavius: Lit. u. Öffentlichkeit. Gespräch mit W. H. In: NDL 19 (1971), H. 8, S. 19 f.
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– Carsten Wurm: Leipzig als geistige Lebensform. In: W. H. zum 70. Geburtstag. Hg. v. der Stadt Leipzig. Lpz. 1996. – Beatrix Langner: W. H. In: LGL. Markus Neuschäfer
Heigel, Karl August von (geadelt 1881), * 25.3.1835 München, † 6.9.1905 Riva/ Gardasee. – Erzähler, Dramatiker, Biograf. H., Sohn eines Oberregisseurs am Hoftheater, studierte in München Philosophie u. ging 1863 nach Berlin, wo er als literaturkrit. Redakteur der Zeitung »Bazar« arbeitete. 1875, angeblich auf persönl. Wunsch von König Ludwig II. von Bayern, zog er in die Nähe Münchens, 1886 nach Riva. Neben zwei Biografien (Karl Stieler. Bamberg 1891. König Ludwig II. von Bayern. Stgt. 1892) u. einem selten aufgeführten histor. Drama (Bar Cochba. Der letzte Judenkönig. Hann. 1857) verfasste H. patriotische Stücke für die private kgl. Bühne (Marsa. 1876) u. lokalgeschichtl. Szenen (Walpurg. Eine Geschichte aus der Zeit Max Emanuels. Hann. 1859). Sein erzählerisches Werk ab den frühen 1870er Jahren, durch das er einem breiten Lesepublikum bekannt wurde, verherrlicht das Adelsleben in zunehmend bürgerlich bestimmter Zeit. Hauptthemen sind tragisch endende Liaisons zwischen Bürgerlichen u. Adligen u. der Konflikt zwischen persönl. u. Vaterlandsliebe. Weitere Werke: Novellen. Bln. 1866. – Ohne Gewissen. Bln. 1871 (R.). – Neue Novellen. 2 Bde., Bln. 1872. – Die Dame ohne Herz. Bln. 1873 (R.). – Der Theaterteufel. Lpz. 1878 (R.). – Erzählungen: Mosaik. Lpz. 1886. – Der Weg zum Himmel. Mchn. 1890. – Das Geheimnis des Königs. Bln. 1891. – Der reine Thor. Stgt. 1891. – Baronin Müller. Stgt. 1893. – Der Volksfreund. Stgt. 1895. – Am blauen Gardasee. Lpz. 1898. – Der Maharadscha. Dresden 1900. – Im Isarthal. Dresden 1902. Literatur: Goedeke Forts. – K. v. H. (1835–1905). Il ›poeta di Ludwig‹ da Monaco a Riva del Garda. Hg. Paolo Boccafoglio. Trento 2006. Ulrich Rose / Red.
Heilborn, Ernst (Friedrich), * 10.6.1867 Berlin, † 16.5.1942 Berlin. – Kritiker, Erzähler, Herausgeber; Kulturhistoriker. Seine Heimatstadt Berlin u. die Herkunft aus dem gebildeten protestantischen Bürgertum (der Vater war Kaufmann) prägten H.s Lebensweg. Nach dem Besuch des Französischen Gymnasiums studierte er in Jena u. Berlin u. promovierte 1890 mit einer Arbeit über den wortschatz der sogenannten ersten schlesischen dichterschule (Bln.). Umfangreiche journalistische Praxis erwarb er u. a. in der Redaktion der »Frau« u. als Leiter der internat. Revue »Cosmopolis« (1896–1898); er profilierte sich als Berliner Theaterkritiker der »Frankfurter Zeitung« (ab 1901). Als langjähriger Herausgeber (1911–1933) der renommierten Zeitschrift »Das literarische Echo« (1923 umbenannt in »Die Literatur«) nahm H. einen wichtigen Platz im damaligen literar. Leben ein. Schon 1933 schränkte das nationalsozialistische Regime seine Tätigkeit ein; ab Nov. 1936 verhängte sie über ihn Schreibverbot. Dennoch kehrte H. von einer Palästinareise 1937 nach Deutschland zurück. Der Versuch, 1942 in die Schweiz zu emigrieren, scheiterte. Auf der Flucht wurde er mit seiner zweiten Frau Lucie verhaftet u. starb im Gefängnis. H.s Werk war bleibende Resonanz versagt. Dies gilt auch für sein wichtiges krit. Œuvre, wohl, weil nicht Schärfe oder Verriss H.s Sache war, sondern das verständnisvolle, behutsame u. sprachlich genaue Ergründen des Gehalts. Sein Schreiben ist dem 19. Jh. u. Berlin als Zentrum liberalen Preußentums, der Romantik u. des Protestantismus verpflichtet. Die kulturhistor. Arbeiten rekonstruieren Die gute Stube. Berliner Geselligkeit im 19. Jahrhundert (Wien 1922), den Geist der Schinkelzeit als der »letzten ›organischen‹ Zeit, von der wir wissen«, u. den Geist der Bismarckzeit (Zwischen den Revolutionen I u. II. Bln. 1927 u. 1929); sie befassen sich mit Novalis (Novalis, der Romantiker. Bln. 1901) u. E. T. A. Hoffmann (Der Künstler und die Kunst. Bln. 1926). H.s heute vergessene Romane sind handlungsarm, aber reich an Charakterstudien; emotionale Regungen in zwischen-
Heiligen Leben
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menschl. Begegnungen werden genau beobachtet.
litik. Zürich 1937. – Meine Wanderungen. New York 1942 (L.). – Anrufe. Starnberg 1962 (L.).
Weitere Werke: Kleefeld. Stgt. 1900 (R.). – Der Samariter. Bln. 1901 (R.). – Ring u. Stab. Bln. 1905 (E.en). – Das Tier Jehovas. Bln. 1905 (Ess.). – Josua Kersten. Bln. 1908 (R.). – Die steile Stufe. Bln. 1910 (R.). – Die kupferne Stadt. Bln./Stgt. 1918 (Legende). – Vom Geist der Erde. Bln./Stgt. 1921. – Tor u. Törin. Lpz. 1927 (N.). – Deutschlandreisen in alter Zeit. Ffm. 1934. – Herausgeber: Novalis: Schr.en. Krit. Neuausg. Bln. 1901. – Eduard v. Keyserling; Ges. E.en in 4 Bdn. Bln. 1922. – Ders.: Balt. Romane. Bln. 1933. – Ders.: Romane der Dämmerung. Bln. 1933.
Literatur: Maria Luise Caputo-Mayr: I. G. H. In: Dt. Exillit. Bd 2, S. 342–357.
Literatur: Julius Bab: In memoriam E. H. In: Aufbau. New York 1942. – Fritz Schotthöfer: In memoriam E. H. In: Die Gegenwart 10/11 (1946). – Beate Wegener: Bibliogr. E. H. Opladen 1994. Anneli Hartmann / Red.
Heilbut, Iven George, eigentl.: Ivan H., auch: Jan Helft, * 15.7.1898 Hamburg, † 15.4.1972 Bonn. – Erzähler, Lyriker. 1923–1933 publizierte H. Feuilletons, Kurzprosa u. Lyrik in verschiedenen Zeitungen u. Zeitschriften. Sein Roman Kampf um Freiheit (Bln. 1930) zeichnet das Leben Hebbels u. dessen Flucht aus kleinbürgerl. Enge nach. 1933 emigrierte H. nach Paris, wo er als Kulturkorrespondent der »National-Zeitung« (Basel) arbeitete. H.s Schriften wurden in Deutschland verboten. 1941 floh er in die USA, veröffentlichte in Emigrationszeitschriften wie »Das Neue Tage-Buch« u. »Aufbau« u. hielt ab 1945 am Hunter College (New York) Vorlesungen über dt. Literatur. 1943 erschien in New York der Roman Birds of passage, in dem H. die Situation in Frankreich in den Jahren 1939/40 schildert. In subtiler Erzählweise thematisiert er seine Exilerfahrungen in dem Roman Liebhaber des Lebens (Bln./Hbg. 1949). Wie in seinen anderen Büchern, z.B. den Erzählungen Höher als Mauern (Mchn. 1965), enthält er sich auch hier der polit. Problematik zugunsten der Beschwörung einer nicht umkehrbaren Vergangenheit. Weitere Werke: Triumph der Frau. Lpz. 1928 (R.). – Frühling in Berlin. Bln. 1931 (R.). – Die öffentl. Verleumder: Die ›Protokolle der Weisen v. Zion‹ u. ihre Anwendung in der heutigen Weltpo-
Heiner Widdig / Red.
Der Heiligen Leben. – Meistverbreitetes volkssprachliches Legendar des europäischen Mittelalters, um 1400. Die in ca. 200 Handschriften u. bis 1521 in 41 oberdt. u. niederdt. Drucken tradierte Sammlung (früher auch Wenzelspassional u. Prosapassional genannt) enthält 251 nach dem Kirchenjahr geordnete Heiligenlegenden. Sie ist in zwei Bücher aufgeteilt, die mit der Osterzeit beginnen: Sommerteil (Ambrosius bis Furseus) u. Winterteil (Michael bis Anuphus). Das Legendar ist höchstwahrscheinlich um 1400 im Dominikanerkloster Nürnberg entstanden (schon das Urcorpus enthielt eine ausführl. Legende des Nürnberger Patrons Sebald). Das 1396 reformierte Kloster gehörte zu den treibenden Kräften der in den 1390er Jahren einsetzenden Erneuerung des Ordenslebens. Es ist anzunehmen, dass das Werk als Tischlektüre für den weibl. Zweig des Ordens konzipiert wurde (dominikan. Heilige erhalten stets relativ umfangreiche Legenden, zahlreiche in anderen Legendaren seltene weibl. Heilige werden aufgenommen), doch fand es dank der Ordensreformbewegungen des 15. Jh. u. dank seiner Attraktivität auch für nicht-klösterl. Laien rasch eine großräumige Verbreitung in Handschrift u. Druck. Die hohen Auflagen lassen darauf schließen, dass im dt. Sprachraum u., vermittelt über die niederdt. Drucke, auch in Skandinavien insg. 30.000 bis 40.000 Exemplare kursierten. Anders als die dt. Legenda-aurea-Übersetzungen basiert das H. L. nicht auf einem vorgefertigten lat. Legendar, sondern stellt eine kompilierende Bearbeitung verschiedener, meist volkssprachl. Quellen dar. Hauptquellen sind die Verslegendare Passional u. Buch der Märtyrer, die der Verfasser als Grundstock prosifiziert hat. (Dokument dieser Vorarbeit zum H. L. ist das sog. Bamberger Legendar.) Nach dem gleichen Muster werden dann ebenfalls der Gregorius Hartmanns von
Heiligen Leben
Aue, Heinrich und Kunigunde Ebernands von Erfurt, der Hl. Georg Reinbots von Durne, der Münchener Oswald u. a. m. eingebaut u. auch umfangreiche Prosaquellen wie die Übersetzung der Briefe des Pseudo-Eusebius, -Augustinus und -Cyrillus durch Johannes von Neumarkt oder das Bamberger Marienleben auf Legendarumfang abbreviiert. In einem aufwändigen Mosaikverfahren hat der Verfasser oft nicht nur mehrere dt. Quellen ineinander gearbeitet, sondern sie auch mit lat. Quellen verglichen u. korrigiert. Seine lat. Hauptquellen sind neben der Legenda aurea des Jacobus de Voragine das Speculum historiale des Vinzenz von Beauvais, die Vitas patrum u. zahlreiche Einzelviten. Dabei hebt sich das H. L. von anderen volkssprachl. Legendaren der Zeit durch die starke Berücksichtigung auch lokaler – speziell süddt. – Heiliger ab, während etwa die Legenda-aurea-Übersetzungen meist nur die in der Quelle vorhandenen, vorwiegend mediterranen Kultverhältnisse übernehmen. Der Erzählstil des H. L.-Verfassers ist kalkuliert »schlicht« u. formelhaft, auf klare Disposition u. leicht verständl. Vermittlung der jeweiligen Geschichte hin angelegt. Die Heiligen sind als Helfer in der Not dargestellt, d.h. sie werden – wie es in der Umbruchszeit des SpätMA als Antwort auf Orientierungsprobleme häufig begegnet – stark funktionalisiert. Als Beleg für ihre Schutz u. Geborgenheit verheißende Kraft fügt der Verfasser gern längere Mirakelreihen hinzu. Im Lauf seiner Überlieferungsgeschichte erfuhr das H. L. im Gegensatz zu anderen volkssprachl. Legendaren nur wenige Änderungen; meist wurden – auch im Sinn eines Wettkampfs der Druckeroffizinen um das Werk, was Inhalt (»mit vil me neu heiligen«) u. Ausstattung (die Holzschnitte werden immer kunstvoller) betrifft – Legenden weiterer Regionalheiliger (etwa Meinrad im Südwesten, Simpertus in Augsburg) hinzugefügt. Allerdings wurde das Werk bald nach seiner Entstehung in das umfangreichste Legendar des dt. MA integriert. Dieses wohl gleichfalls im Bistum Bamberg (in Nürnberg?) entstandene, mit dem Titel Redaktion des H. L. versehene Legendar kombiniert die kurzen tägl. Einträge eines »historischen« Martyrologi-
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ums mit den entsprechenden Legenden der Tagesheiligen. Es verwertet das H. L. zwar als Hauptquelle, trägt aber über 100 eigenständige Übersetzungen bei. Auch hier ist an ein klösterl. Zielpublikum zu denken, dem die Texte, wie für das Martyrologium vorgesehen, während des Stundengebets vorgelesen wurden. Anders als das H. L. fand dieses Werk keine größere Verbreitung. Das H. L. kann als das Standardwerk volkssprachl. Hagiografie im SpätMA gelten. Mit seinem enzyklopäd. Format diente es als Vorlage für zahlreiche Einzellegenden u. Legendenkompilationen, für Lieder der Meistersinger u. Chroniken u. wurde ebenfalls für das habsburgische Heiligenbuch Jakob Mennels verwendet. Auch die bildende Kunst fand Motive im H. L. (u. a. Dürer). Die Popularität u. der »fabulöse« Inhalt des H. L. veranlassten Luther 1535, das Werk in Form eines mit spött. Randglossen versehenen Abdrucks der Johannes-Chrysostomus-Legende als Beispiel für kath. »Lügenden« vorzuführen. Dennoch blieb das H. L. noch lange in Gebrauch, diente u. a. im späten 17. Jh. Martin von Cochem als Vorlage u. wurde bis ins 18. Jh. auch von Protestanten gelesen. Ausgaben: Margit Brand, Kristina FreienhagenBaumgardt, Ruth Meyer u. Werner WilliamsKrapp: D. H. L. I (Sommerteil). Tüb. 1999. – M. Brand, Bettina Jung u. W. Williams-Krapp: D. H. L. II (Winterteil). Tüb. 2004. Literatur: Friedrich Wilhelm: Dt. Legenden u. Legendare. Lpz. 1907, S. 174–212. – Maria Höbing: Legendar. Erzählformen des Wenzelpassionals. Diss. Münster 1935. – Arno Borst: Die Sebaldslegende in der mittelalterl. Gesch. Nürnbergs. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 26 (1966), bes. S. 59–70 u. 100–105. – Roland Söder: Märterbuch u. Prosapassional. Diss. Würzb. 1972. – Karl Firsching: Die dt. Bearbeitungen der Kilianslegende unter bes. Berücksichtigung dt. Legendarhss. des MA. Würzb. 1973, S. 64–103. – Volker Mertens: Verslegendar u. Prosalegendar. In: Volker Honemann u. a. (Hg.): Poesie u. Gebrauchslit. im dt. MA. Tüb. 1979, S. 265–289. – André Schnyder: Legendenpolemik u. Legendenkritik in der Reformation. In: ARG 70 (1979), S. 122–140. – Konrad Kunze: D. H. L. In: VL. – W. Williams-Krapp: Die dt. u. niederländ. Legendare d. MA. Tüb. 1986. – Ders.: Mittelalterl. dt. Hagiographie in Skandinavien. In: Lennart Elmevik u. Kurt Erich Schöndorf (Hg): Niederdt. in
Heimann
161 Skandinavien 3 (Beih. 6 zur ZfdPh). Bln. 1991, S. 179–183. – Ders.: Das Bamberger Legendar. Eine Vorarbeit zu D. H. L. In: ZfdA 123 (1994), S. 45–54. – Ders.: Die Bedeutung der reformierten Klöster des Predigerordens für das literar. Leben in Nürnberg im 15. Jh. In: Falk Eisermann u. a. (Hg.): Studien u. Texte zur literar. u. materiellen Kultur der Frauenklöster im späten MA. Leiden u. a. 2004, S. 311–330. – Edith Feistner: Histor. Typologie der dt. Heiligenlegende des MA von der Mitte des 12. Jh. bis zur Reformation. Wiesb. 1995, bes. S. 271–292. – Hans-Joachim Ziegeler: Wahrheiten, Lügen, Fiktionen. Zu Martin Luthers ›Lügend von S. Johanne Chrysostomo‹ u. zum Status literar. Gattungen im 15. u. 16. Jh. In: Walter Haug (Hg.): MA u. frühe Neuzeit, Umbrüche u. Neuansätze. Tüb. 1999, S. 237–262. Werner Williams-Krapp / Edith Feistner
Heimann, Erwin, * 20.2.1909 Bern, † 21.8.1991 Heiligenschwendi/Kt. Bern. – Erzähler, Dramatiker, Essayist.
bot der Stunde sei. Solchem helvet. Pragmatismus, angereichert um einen nie völlig unkrit. Patriotismus, sind auch H.s weitere Romane verpflichtet, die er während u. nach dem Krieg als Verlagslektor in Bern schrieb: u. a. Welt hinter Wäldern (Bern 1943. 1954), Der Mut zum Glück (Bern 1945. 1965), Der letzte Optimist (Bern 1948. 1964), Hast noch der Söhne ja ... (Bern 1956. 1960), Wie sie St. Jakob sah (Bern 1970). Seit den 1960er Jahren war H., der eher als polit. denn als literar. Autor von Bedeutung ist, mit histor. u. sozialkrit. Hörfolgen (z.B. Sturmzyt. 1964. Der Fall Oppliger. 1965) auch erfolgreich als Rundfunkautor tätig. Nachdem er sich lange dagegen gewehrt hatte, fand er in Büchern wie Wätterluft (Bern 1988) in hohem Alter noch zum Erzählen im Berner Dialekt. Seine Autobiografie hat er mit Ein Blick zurück (Bern 1974) geliefert. Immer wieder war H., der mit der Kinderbuchautorin Gertrud Heizmann verheiratet war u. seit Mitte der 1960er Jahre in Heiligenschwendi bei Thun lebte, als konsequenter Vertreter seiner Generation ein verlässl. Gesprächspartner für die jüngeren Schweizer Schriftsteller. Charles Linsmayer / Red.
Der Sohn eines Eisenbahners arbeitete in Bern kurze Zeit in seinem Beruf als Mechaniker, ehe er nach Paris übersiedelte. Er fand eine Stelle als Monteur, begann aber daneben Reportagen für Schweizer Zeitungen zu schreiben. 1932 kehrte er, arbeitslos geworden, in die Schweiz zurück u. wurde als Heimann, Moritz, auch: Hans Pauli, ToHeizungsmonteur in Zürich direkt beteiligbias Fischer, * 19.7.1868 Werden bei ter Zeuge eines damals viel diskutierten ArRehfelde/Mark Brandenburg, † 22.9.1925 beitskonflikts. Wieder in Paris, schrieb er in Berlin; Grabstätte: Berlin Weißensee. – sechs Wochen seinen ersten Roman, Wir Essayist, Kritiker, Novellist, Dramatiker, Menschen (Bern 1935. Neuausg. 1980). Das Aphoristiker, Lektor. Buch, das in Deutschland aus polit. u. in Österreich aus sittl. Gründen verboten wur- Aus einer preuß.-jüd. Kleinbürgerfamilie de, erzählt von einem politisch links enga- stammend, besuchte H. eine Dorfschule in gierten Schweizer namens Xander, der in Kagel bei Herzfelde (Mark Brandenburg), ehe Paris ein Verhältnis mit einer Kriegerwitwe er, nach dem Abitur in Schneidemühl, unterhält, die Geliebte jedoch sitzenlässt, als 1886–1890 Philosophie u. Literatur in Berlin er in der Schweiz eine bessere Partie findet. studierte. 1895 vermittelten Gerhart HauptDie Witwe bringt sich um, u. er will es ihr mann u. Otto Brahm die Bekanntschaft mit zunächst nachtun, erkennt dann aber, dass Samuel u. Hedwig Fischer, die noch im selben ein nüchterner Pragmatismus höher einzu- Jahr zum Engagement als Cheflektor des Fischätzen sei als die Forderungen einer idea- scher Verlags führte. Er blieb beides bis zu listischen Liebe. Hetze (Bern 1937), H.s zwei- seiner krankheitsbedingten Ablösung durch tes Buch, ist ein eigentl. Arbeiterroman, zieht den befreundeten Loerke 1925. Für die »Neue aber aus den Erfahrungen des Zürcher Mon- Rundschau«, die »Zeit« u. »Das Theater« teurstreiks von 1932 den Schluss, dass ange- schrieb H. zwischen 1895 u. 1922 rund 100 sichts der faschistischen Bedrohung nicht Zeitschriftenbeiträge krit., essayistischen u. Klassenkampf, sondern Aussöhnung das Ge- novellistischen Charakters.
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H.s dramat. Produktionen, angefangen bei aus seinem Werk. Nachw. v. Willy Haas. Ausgew. v. dem Lustspiel Der Weiberschreck (Bln. 1896) Gerhard Maltz. Ffm. 1958. – M. H. Eine Einf. in über die Tragödie Der Feind und der Bruder (Bln. sein Werk u. eine Ausw. v. Wilhelm Lehmann. 1911) bis zu den späten Dramen Armand Carrel Wiesb. 1960. – Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Nachw. v. W. Lehmann. Ffm. 1966 (Ess.s). – (Bln. 1920) u. Das Weib des Akiba (Bln. 1922), Krit. Schr.en. Ausgew., eingel. u. erl. v. Helmut hier auch zum Problem jüd. Identität im Prang. Zürich 1969. – Hugo v. Hofmannsthal: Horizont moderner Glaubenslosigkeit, hat- Briefw. [u. a.] mit M. H. Ffm. 1973. – M. H. Was ist ten – mit Ausnahme von Armand Carrel das: ein Gedanke? Hg. u. mit einem Nachw. v. Gert (Urauff. 1921) – wegen ihres wenig bühnen- Mattenklott. Ffm. 1986 (Ess.s). – Märkische Nowirksamen, philosophischen Charakters vellen. Ffm. 1993. – Die Mark, wo sie märkischsten kaum Erfolg. Zu den von ihm entdeckten ist. Novellen u. Betrachtungen. Hg. Günter de beziehungsweise geförderten Autoren gehö- Bruyn. Bln. 1996. Literatur: Dirk Baay: M. H. (1868–1925). Critic ren neben Hauptmann, mit dessen Schwägerin er verheiratet war, Wassermann, mit dem and Writer. Ann Arbor/Michigan 1959. – Renate v. er eng befreundet war, Stehr, Thomas Mann, Heydebrand: M. H. Über den Zusammenhang v. Weltbild u. Literaturkritik. In: Zeit der Moderne. Döblin, Hofmannsthal, Loerke u. Lehmann. FS Bernhard Zeller. Hg. Hans-Henrik KrummaH. war ein persönlich hochgeachteter, mora- cher. Stgt. 1984. – Gert Mattenklott: Literar. Kritik lisch u. politisch einflussreicher Ratgeber. im Kontext dt. Judiaca (1895–1933): M. H. u. EfNach 1920 wurde H. Feuilletonmitarbeiter raim Fritsch. In: Literaturkritik. Anspruch u. der wichtigsten Zeitungen der Weimarer Re- Wirklichkeit. Hg. Wilfried Barner. Stgt. 1990, publik. Sein Ansehen als Novellist beruhte S. 87–97. – Marcel Reich-Ranicki: M. H. Der träuauf psycholog. Differenziertheit, als einer der mende Praktiker. In: Ders.: Die Anwälte der Lit. bedeutendsten Essayisten des ersten Jahr- Stgt. 1994, S. 144–166. – Daniel Hoffmann: Die hundertviertels auf der liberalen Gesinnung, Gewißheit des Glaubens. Richard Beer-Hofmann u. M. H.s jüd. Dramen. In: Richard Beer-Hofmann. mit der er den widerspruchsreichen Bindun›Zwischen Ästhetizismus und Judentum‹. Hg. gen gerecht zu werden versuchte, die ihn Dieter Borchmeyer. Paderb. 1996, S. 101–118. – seiner jüd. u. dt., christlich geprägten u. Dierk Rodewald: M. H.: Lektor, Autor, Deutscher, aufklärerisch gebildeten Identität verpflich- Preuße, Jude. In: Jüd. Intellektuelle u. die Philoteten. Ein platonischer Glaube an den »Geist« logien in Dtschld. 1871–1933. Hg. W. Barner u. u. das »Wahrheitsmoment des Schönen« Christoph König. Gött. 2001, S. 41–51. – Lex. dt.verbindet sich bei H. mit der Hinwendung jüd. Autoren. zum einzelnen Werk u. der »Bescheidenheit Gert Mattenklott / Wilhelm Kühlmann des Essayisten, dem kein Anlaß zu gering für eine Würdigung ist« (Mattenklott). In der Heimburg, Gregor, * kurz vor 1400 großstädtisch geprägten Kultur der Weima- Schweinfurt, † August 1472 Schloss rer Republik wollte er das Dörfliche u. Pro- Wehlen/Elbe; Grabstätte: Dresden, Sovinzielle zur Geltung bringen, in seiner phienkirche. – Jurist, Humanist. Loyalität zu einem jüd. Palästina die negativen Erfahrungen Europas mit übersteigertem H., wahrscheinlich Sohn eines Schweinfurter Nationalismus darstellen. Für die westl. Mo- Bürgermeisters, schloss sein 1413 an der derne erhoffte er sich einen heilsamen Aus- Universität Wien begonnenes juristisches gleich vom Einfluss östl. Lebensphilosophie. Studium 1430 mit der Promotion in beiden Seine dt. u. jüd. Identität (als »Zionist in Rechten wohl in Padua ab u. war ab 1430 partibus«) verglich er 1912 mit einer ellipt. Rechtsbeistand u. Berater von Königen, Fürsten, Bischöfen u. Städten. Er brachte es Bahn, die um zwei Mittelpunkte verläuft. zu beträchtl. Besitz. Weitere Werke: Joachim v. Brandt. Bln. 1908 H. vertrat das Prinzip des Konziliarismus (Kom.). – Novellen. Bln. 1913. – Prosaische Schr.en in 3 Bdn. Bln. 1918. – Wintergespinst. Bln. 1921 gegen den päpstl. Primatanspruch u. wurde (N.n). – Nachgelassene Schr.en. Hg. Oskar Loerke. nach dem Scheitern dieser Politik zu einem Bln. 1926. – Die Spindel. Eine Ausw. aus seinem leidenschaftl. Gegner des Papsttums. Auf Werk. Wien 1937. – Wintergespinst. Eine Ausw. dem Kongress zu Mantua trat er 1459 als
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Heimburg
Literatur: Paul Joachimsohn: G. H. Bamberg Sprecher der Fürstenopposition gegen die Kreuzzugspläne Pius II. (Enea Silvio Piccolo- 1891. – Alfred Wendehorst: G. H. In: Fränk. Lemini) hervor u. unterstützte mit Invektiven u. bensbilder 4 (1971), S. 112–129. – Peter Johanek: G. Appellationen Hzg. Sigismund von Tirol in H. In: VL. – Raimund Kemper: ›Gewalt sunder rat vervellet vnder seinem Laste‹. G. H.s Manifest in dessen Streit mit dem Bischof von Brixen, der Auseinandersetzung mit Pius II. Mannheim Nikolaus von Kues. Mit seinem Auftraggeber 1984 (mit Transkription u. Faks.). – A. Wendehorst: wurde er im Spätherbst 1460 exkommuni- G. H. In: LexMA. – Kurt Stadtwald: Roman Popes ziert, seine fränk. Güter u. Besitzungen and German Patriots. Antipapalism in the Politics wurden konfisziert. 1466 trat er in die of the German Humanist Movement from G. H. to Dienste des ebenfalls als Ketzer verfolgten Martin Luther. Genève 1996. – Heinz-Dieter HeiBöhmenkönigs Georg von Podiebrad u. be- mann: G. v. H. In: LThK. 3. Aufl. – Peter Landau: gab sich nach dessen Tod 1471 in den Schutz Die Bedeutung der Kanonistik für die Karriere eider Herzöge von Sachsen. Auf deren Betrei- ner aufsteigenden Bürgerschicht. In: Nikolaus v. ben wurde H. am 19.3.1472 aus dem Kir- Kues als Kanonist u. Rechtshistoriker. Hg. Klaus Kremer u. Klaus Reinhardt. Trier 1998, S. 41–61. – chenbann gelöst. Hans-Jürgen Becker: Der Streit der Juristen: NikoH. förderte histor. Studien, sammelte in laus v. Kues in der Auseinandersetzung mit Hzg. Nürnberg einen Kreis von humanistisch Ge- Sigismund 1460–1464. In: ebd., S. 81–102. – sinnten um sich u. gab literar. Anregungen Gundula Caspary: Späthumanismus u. Reichspa(so für die Translatzen des Nikolaus von Wyle). triotismus. Melchior Goldast u. seine Ed.en zur Er selbst verfasste nur lat. Fach- u. Ge- Reichsverfassungsgesch. Gött. 2006. – VL (Nachbrauchsschriften: Manifeste, Appellationen, träge u. Korrekturen). – http://www.handschrifReden, Briefe, Invektiven u. Apologien. Doch tencensus.de/werke/5278. Jörn Reichel / Sabine Schmolinsky entfalteten sie, z.T. wohl von ihm selbst ins Deutsche übertragen u. als Flugschriften verbreitet, Breitenwirkung, da sie eine latente Heimburg, Wilhelmine, eigentl.: Bertha antikuriale Stimmung aufnahmen, u. wirkBehrens, * 7.9.1850 Thale/Harz, † 9.9. ten durch die Übertragung der an antiken 1912 Kötzschenbroda. – Erzählerin. Vorbildern geschulten Form der Satire u. persönl. Invektive auf das juristische Schrift- Der Erfolg ihres ersten Werks Aus dem Leben tum stilbildend. Enea Silvio bezeichnete es meiner alten Freundin (Magdeb. 1878) in der als H.s Verdienst, die Beredsamkeit von Ita- »Gartenlaube« trug H., der Tochter eines lien nach Deutschland gebracht zu haben. H. Militärarztes, den Auftrag ein, den Roman hat das Verhältnis von Rhetorik u. Jurispru- Eulenhaus der soeben verstorbenen Eugenie denz v. a. in seiner Doktorrede u. in einem Marlitt zu Ende zu schreiben, worauf sie 1886 weit verbreiteten Brief an Johannes Rot von Hauptmitarbeiterin des Romanteils dieser 1454 theoretisch begründet. Die größte Öf- auflagenstärksten dt. Familienzeitschrift fentlichkeitswirkung hatten seine Tiroler wurde. Wie im Fall der Marlitt war der Erfolg antipäpstl. Manifeste. ihrer Werke dadurch gesichert, dass ihre dort Ausgaben: Melchior Goldast (Hg.): Monarchia S. serialisierten Romane in Buchform beim Romani Imperii. Bd. 2, Ffm. 1614. Neudr. Graz Verlag der »Gartenlaube«, Ernst Keils Nach1960, S. 1580–1631. – Marquard Freher u. Burk- fahren, erschienen. Begeisterte Leserinnen hard Gotthelf Struve (Hg.): Rerum Germanicarum überschütteten H. mit Briefen u. Geschenken Scriptores. Bd. 2, Straßb. 1717, S. 193–265. – Con- (Zimmermann). Sie veröffentlichte bis zu ihstantin Höfler (Hg.): Das kaiserl. Buch des Mark- rem Tod fast jährlich mehrere Erzählbände. grafen Albrecht Achilles. Vorkurfürstl. Periode Schöne Illustrationen u. stilvolle Aufma1440–70. Bamberg 1850, S. 197–219. – Franz Pachung erhöhten die Attraktivität der flüssig lacky (Hg.): Urkundl. Beiträge zur Gesch. Böhmens gefühlsseligen Unterhal[...] im Zeitalter Georgs v. Podiebrad. Wien 1860, geschriebenen S. 454–458, 646–660. – Paul Joachimsohn: G. H. tungsliteratur. Das stark auf Identifikation von Leser(in) u. Fiktion ausgerichtete ErBamberg 1891, S. 302–324 (Reden u. Briefe). zählmuster richtete sich vielfach an Menschen in begrenzter Lebenssphäre. Die Hel-
Heimeran
dinnen etwa der Romane Ein armes Mädchen (Lpz. 1886), Eine unbedeutende Frau (2 Bde., Lpz. 1891), Mamsell Unnütz (Lpz. 1893) u. des äußerst erfolgreichen Romans Trotzige Herzen (Lpz. 1897. 431923) versprachen der Leserin einen Ausweg aus bedrängten Umständen durch Pflichtausübung u. Schicksalsergebenheit. Zunächst für Mädchen u. Frauen aus der Arbeiterwelt kaum erschwinglich (6 bis 7 Mark für einen zweibändigen Roman), wurde ihr Erzählwerk in der illustrierten Ausgabe der Gesammelten Romane und Novellen (Lpz. 1891–93), die in Lieferungen zu je 40 Pfennigen zu beziehen war, in allen Ständen gelesen. Die Ausgabe war sofort ausverkauft; bereits 1905 erschien die fünfte Auflage. Ihr bis heute bekanntester Roman mit der trotz ärml. Geburt unbeirrten, lebensklugen Titelheldin Lumpenmüllers Lieschen (Lpz. 1879) erreichte im Todesjahr H.s die achte Auflage. Literatur: Pataky 1. – Magdalene Zimmermann (Hg.): Die Gartenlaube als Dokument ihrer Zeit. Mchn. 1963. – Urszula Bonter: Der Populärroman in der Nachfolge von E. Marlitt: W. H., Valeska Gräfin Bethusy-Huc, Eufemia v. Adlersfeld-Ballestrem. Würzb. 2005. Eda Sagarra
Heimeran, (Georg Arthur) Ernst, * 19.6. 1902 Helmbrechts/Frankenwald, † 31.5. 1955 Starnberg; Grabstätte: ebd., Starnberger Friedhof. – Verleger, Erzähler, Essayist. H.s Vater, Direktor einer Weberei, ließ seinen Sohn nach Abschluss der Oberrealschule in München eine Schlosserlehre absolvieren. Anschließend studierte H. Philosophie u. Kunstgeschichte in München u. Erlangen, wo er über Michelangelo und das Porträt (Mchn. 1925) promovierte. 1928–1933 war H. Redakteur der »Münchener Neuesten Nachrichten«, 1933, nach der Entfernung aus diesem Amt durch die Nationalsozialisten, Verleger u. Schriftsteller. H.s verlegerische Aktivitäten begannen bereits während der Schulzeit. Seit Nov. 1917 gab er drei Jahrgänge der Zeitschrift »Der Zwiestrolch« heraus, eine »Zweimonatsschrift der Unmündigen für Literatur, Musik und Originalgraphik«. In seinem Verlag publizierte er seit 1922 eigene Bücher, die seines
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Freundes u. späteren Schwagers Ernst Penzoldt sowie die bedeutende Tusculum-Reihe antiker Autoren in zweisprachigen Ausgaben. Befreundet war H. auch mit Eugen Roth. Themen für seine heiteren Prosawerke nach dem Vorbild Jean Pauls u. Matthias Claudius’ fand er im häusl. Umkreis (Die lieben Verwandten. Mchn. 1938. 1992. Der Vater und sein erstes Kind. Mchn. 1938), in seinen Hobbies (Das stillvergnügte Streichquartett. Mchn. 1936), dem Beruf oder der eigenen Biographie (Lehrer, die wir hatten. Mchn. 1954. 6 1991). Weitere Werke: Grundstück gesucht. Mchn. 1947. 1992. – Sonntagsgespräche mit Nele. Mchn. 1955. 1991. Literatur: Karl Ude: E. H. In: Welt u. Wort 3, H. 2 (1948), S. 42 ff. – Horst Kunze: Meine Erinnerungen an E. H. In: Marginalien (1992), H. 128, S. 13–20. – Dirk Heißerer: Einl. In: Autographenslg. E. H. (1902–1955). Tutzing 2003. Winfried Hönes † / Red.
Der Heimliche Bote. – Früheste deutsche Minne- u. Tugendlehre in Reimpaaren, um 1150–1180. Die Datierung des unikal überlieferten Textes (100 Verse) folgt paläograf. u. literaturgeschichtl. Indizien. Zu Beginn wendet sich der »heimliche Bote« eines weitbekannten Mannes werbend an eine Dame u. mahnt sie, sich nur einem minnefähigen Partner zuzuwenden. Eine allg. Frauenlehre warnt dann vor Männern, die sich viel auf ihre Stärke, Körpergröße, Schönheit, Haarpracht usw. einbilden oder im Streben nach Ritterschaft ständig zu Kämpfen u. Turnieren reiten u. deshalb selten zu Hause sind. Maßgeblich sei dagegen ein gutes Leben, wie es das Buch »Phaset« lehre, u. die Beherrschung von Liebe als Kunst. Ein zweiter, von anderer Hand geschriebener u. weitgehend selbstständiger Teil belehrt die Männer der höf. Gesellschaft. Sie sollen denen in Demut dienen, die dies zu würdigen wissen, verständig sein u. den Verleumdern mit Klugheit begegnen, die Armut nach außen mit Anstand u. Würde bedecken, ihre Tüchtigkeit mehren, sich höflich benehmen u. so die Gunst der Welt gewinnen.
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Der Eingang des H. B. wurde als Briefform oder Botenfiktion interpretiert, doch sind beide Vorstellungen kombinierbar. (Mhd. Liebesbriefe tauchen seit dem 12. Jh. im höf. Roman auf.) Die Verbindung der beiden Teile wurde teils als zufällig beurteilt, teils inhaltlich u. gattungsgeschichtlich begründet, was keine urspr. Verfassereinheit implizieren muss. Als Quellenbereich zeichnet sich lat.gelehrte Tradition ab. Das Buch »Phaset« weist auf die ovidian. Liebeslehre Facetus moribus et vita in einer Fassung, die vor den überlieferten Versionen anzusetzen ist. Außerdem finden sich Parallelen zum Liebestraktat des Andreas Capellanus. Für diesen Umkreis ist der Weg zur Minne über moralische Vervollkommnung u. damit die Mischung von Minne- u. Tugendlehre typisch. Ausgaben: Fischer, a. a. O., S. 423 (nur 1. Tl.). – Heinrich Meyer-Benfey: Mhd. Übungsstücke. Halle/Saale 21920, S. 30–32. Literatur: Ottokar Fischer: Die sog. ›Ratschläge für Liebende‹. In: ZfdA 48 (1906), S. 421–425. – Gustav Ehrismann: Phaset. In: ZfdA 64 (1927), S. 301–306. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 18–20. – Josef Purkart: ›D. h. B.‹. – Liebesbrief oder Werbungsszene? In: ABäG 2 (1972), S. 157–172. – Horst Wenzel: Frauendienst u. Gottesdienst. Bln. 1974, S. 126–133. – Peter Dronke: Pseudo-Ovid, Facetus, and the Arts of Love. In: Mlat. Jb. 11 (1976), S. 126–131. – Dietrich Huschenbett: D. h. B. In: VL (Lit.). Christoph Huber
Hein, Christoph, * 8.4.1944 Heinzendorf/ Schlesien. – Dramatiker, Romancier, Erzähler, Essayist. H. wuchs in einer sächs. Kleinstadt auf u. besuchte, da ihm als Pfarrerssohn die DDROberschule zeitweise versperrt war, 1958–1960 ein West-Berliner Gymnasium. Nach dem Abitur in der DDR war er Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler u. Regieassistent. 1967–1971 studierte er in Leipzig u. Berlin Philosophie u. Logik. Danach wurde er Dramaturg u. Hausautor an der Ost-Berliner Volksbühne; seit 1979 ist er freischaffender Schriftsteller. 1998–2000 war H. Präsident des gesamtdt. P.E.N.-Clubs. Vor dem fast sensationellen Erfolg seiner Novelle Der fremde Freund (Bln./Weimar 1982.
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U. d. T. Drachenblut. Darmst. 1983) war H. als Verfasser viel diskutierter, aber wenig gespielter Theaterstücke bekannt. Seine Selbsteinschätzung als Dramatiker, der bei gelegentl. Fingerübungen Prosa verfertige, ist kokett untertrieben. In beiden Genres hat er wichtige Werke hervorgebracht u. daneben noch eine Reihe scharfsinniger Essays zu Kunst u. Politik verfasst. Im Mittelpunkt seiner Theaterarbeit steht die Frage nach den treibenden Kräften der Geschichte. H.s Geschichtsbegriff ist durchaus marxistisch; an die Stelle eines dogmat. Optimismus tritt bei ihm allerdings eine in histor. Erfahrung gründende Skepsis in der Denktradition Walter Benjamins, für die Fortschritt immer auch mit drohender Katastrophe verbunden ist. Darum geht es in Cromwell (1978), in Lassalle fragt Herrn Herbert nach Sonja (1982) oder in Passage (1988), einem Kammerspiel über die Flucht dt. Intellektueller vor den Nazis. Die Fragen, die diese Stücke aufwerfen, drängen über den bloß histor. Stoff hinaus u. zielen auf gegenwärtige Konflikte. Im Kontext der Revolutionsproblematik ist für H. die Haltung von Intellektuellen in gesellschaftl. Wandlungsprozessen wichtig; eindrucksvoll wird dieses Thema in Die wahre Geschichte des Ah Q. (Urauff. 1983) gestaltet, einer kongenialen Synthese von Beckett’schem Theater u. Brecht’schen Traditionen. Besonders erfolgreich war Die Ritter der Tafelrunde (Urauff. 1989), der Blick auf eine ›Artusrunde‹ alternder Männer u. Frauen, die den Glauben an ihre gemeinsamen Ideale verloren haben u. ihre Tage mit Langeweile, Zank u. Zynismus zubringen. Obwohl das Stück keine Parabel über das Politbüro der SED sein wollte, wurde es von den Zeitgenossen so rezipiert – u. in den Wendejahren 1989/1990 zum meistgespielten Stück auf DDR-Bühnen. Von den Folgen dieser Wende handelt die Komödie Randow (Bln. 1994), die in einem abgeschiedenen Dorf an der Grenze zu Polen spielt. In Bruch (Urauff. 1999), vordergründig ein Stück über einen Arzt, der nach erfolgreichem Berufsleben in seinen letzten Lebensjahren mittellos u. krank dahinvegetiert (u. an den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch erinnert), gestaltet H. das Thema eines zu
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lang gelebten Lebens – u. zgl. einen histor. Umbruch, eine Wendesituation. 1999 entstanden außerdem die Einakter In Acht und Bann, Zaungäste u. Himmel auf Erden. Der erste schreibt gewissermaßen Die Ritter der Tafelrunde fort u. zeigt, was aus den Artusrittern geworden ist; mit – teilweise böser – Ironie werden Menschen vorgeführt, die in jedem System ihren Platz finden, Zeitgenossen also. Anders als seine der aufklärerischen Schreib- u. Denktradition verpflichtete Dramatik, schlug H.s Prosa einen für die DDR ungewöhnl. Ton an. Sie zeichnete alltägl. Konflikte, beobachtet aus der Sicht eines Erzählers, dem die Leiden u. Nöte seiner Figuren nicht fremd waren, der sie aber im Gegensatz zu jenen theoretisch begreifen u. deshalb erklären konnte. In der Novelle Der fremde Freund werden so die Entfremdungsprozesse u. -strukturen in einer Gesellschaft enthüllt, die nicht nur vom sozialistischen Programm, sondern auch von ihrer industriellen Produktionsweise geprägt ist. H.s Erzählweise provozierte einen Lesestandpunkt distanzierter Beobachtung; gleichwohl ermöglichten es histor. u. literar. Referenzen – von der Lutherbibel bis zu Christa Wolf –, die Handlung u. die Figurenkonflikte in einem kulturgeschichtl. Zusammenhang zu begreifen. Dieser ist zwar in der Frühphase der bürgerl. Gesellschaft begründet, in der sozialistischen Übergangsgesellschaft aber noch lange nicht anachronistisch. Die Selbstbestimmungsversuche der Protagonisten enden sämtlich in Isolation. Im Roman Horns Ende (Bln./Weimar u. Darmst. 1985) wurde diese Tradition von Triebunterdrückung u. Ausgrenzung Andersartiger bes. zugespitzt thematisiert. (Klein)bürgerlich-mittelmäßige Wohlanständigkeit, die – das machen Rückblenden u. Figurenerinnerungen deutlich – vor dem Faschismus verbreitet u. unter den Nationalsozialisten funktional war, waren auch in der Phase des sozialistischen Aufbaus noch nützlich. Da H. sich in erster Linie für die psychosozialen Dimensionen von Geschichte interessierte, wirkte seine Romanwelt der Kälte u. Liebesunfähigkeit merkwürdig gesamtdt. – auch wenn der Autor in Interviews immer beteuerte, er schreibe nur über die DDR. In Der Tangospieler (Bln./Wei-
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mar 1989) ist der DDR-Bezug offensichtlicher – der Roman spielt 1968 kurz vor dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die CˇSSR –, die Bilder u. Motive allerdings, in denen sich Resignation u. Entfremdung eines nach ungerechtfertigter Haft arbeitslosen u. arbeitsunwilligen Historikers artikulieren, waren auch den Lesern westdt. Alltagsliteratur vertraut. H.s zwischen 1982 u. 1989 entstandene Prosa kann als Versuch verstanden werden, mittels Literatur einen öffentl. Diskurs über Tabuisiertes u. Inkriminiertes in Gang zu setzen. »Erziehung zum Schweigen« war ein zentrales Motiv in Der fremde Freund; zgl. unternahmen es diese Novelle u. die folgenden Romane, das öffentl. Schweigen über Kontinuitäten der dt. Geschichte zu brechen. Sie artikulieren solche Themen scheinbar privat, im Befinden der Figuren. Gleichwohl sind sie durchsetzt von polit. Merkzeichen – Referenzen auf Philosophen, denen H. sich nahe fühlt: histor. Materialisten, die – wie Benjamin u. Adorno – den Geschichtsoptimismus von Marx u. Engels nicht mehr teilen. Mit dem Ende der DDR sind solche Themen nicht obsolet. H.s jüngere Texte zeugen aber auch von der Suche nach einem neuen Standpunkt. Sein gesellschaftskrit. Instrumentarium wird nun zur Waffe gegen neue Ungerechtigkeiten. In Das Napoleonspiel (Bln./ Weimar 1993) wird am Beispiel eines Mörders ohne Motiv die Sucht nach dem Neuen, die durch Erfüllung nicht befriedigt, sondern nur auf neue Objekte gelenkt wird, zur Metapher für den Alltag einer durch Sozialideologien nicht länger gebändigten Industriegesellschaft. Exekution eines Kalbes (Bln./ Weimar 1994), eine Sammlung von meist noch in der DDR entstandenen, dort aber nicht veröffentlichten Geschichten u. Anekdoten, zeichnet das Bild einer Gesellschaft, von der H. immer behauptete, es sei nur die DDR – u. erlaubt doch erschreckend-erhellende Blicke auf das ganze Deutschland des 20. Jh. In Von allem Anfang an (Bln./Weimar 1997), einer Sammlung stark autobiogr. gefärbter Episoden, erscheint dieser ›gesamtdeutsche Blick‹ noch geschärfter. Zwischen Erinnerungen an Kindheit u. Jugend in einem sächs. Pfarrhaus blitzen neue Ansichten
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Weitere Werke: Einladung zum Lever Bourauf dt. Nachkriegsgeschichte auf, Perspektiven, die alte polit. Gewissheiten in poetischer geois. Bln./Weimar 1980. U. d. T. Nachfahrt u. Differenzierung aufheben. Daneben hat H. früher Morgen. Hbg.1982 (P.). – Das Wildpferd neue Themen aufgegriffen. Willenbrock (Ffm. unterm Kachelofen. Bln./DDR 1984 (Kinderbuch). – Mama ist gegangen. Roman. Ffm. 2002. – Die 2000) setzt sich – am Beispiel eines in OstStücke. Ffm. 2005. europageschäfte verwickelten Magdeburger Literatur: Antje Janssen-Zimmermann: GeGebrauchtwagenhändlers – mit dem Alltag genwürfe. Untersuchungen zu Dramen C. H.s. der europ. ›Osterweiterung‹ auseinander. In Ffm. 1988. – Lothar Baier (Hg.): C. H. Texte, Daten, seiner frühen Kindheit ein Garten (Ffm. 2005) Bilder. Ffm. 1990. – Bernd Fischer: C. H. Drama u. zeichnet die Biografie eines ehem. RAF-Ter- Prosa im letzten Jahrzehnt der DDR. Heidelb. 1990. roristen nach, der bei seiner Festnahme er- – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): C. H. Mchn. 1991 schossen wurde. Gleichwohl begegnen uns in (Text + Kritik. H. 111). – Klaus Hammer (Hg.): Willenbrock aus früheren Texten vertraute Chronist ohne Botschaft. C. H. Ein Arbeitsbuch. Typen; die Entfremdung ist nach der dt. Materialien, Auskünfte, Bibliogr. Bln./Weimar Vereinigung nicht verschwunden. Deshalb ist 1992. – Manfred Behn: C. H. In: KLG. – Terrance es wohl nur konsequent, wenn zwei andere Albrecht: Rezeption u. Zeitlichkeit des Werkes C. H.s. Ffm.2000. – Lit. der Moderne. Walter-HasenRomane H.s wieder in der DDR spielen: clever-Jb. 6 (2008/09). Hannes Krauss Landnahme (Ffm. 2004) erzählt die Geschichte eines schles. Flüchtlingsjungen, der sich nach 1945 gegen selbstgerechtes TraditionsbeHein, Manfred Peter, * 25.5.1931 Darkehwusstsein durchsetzen muss – u. greift zahlmen/Ostpreußen (heute Oziersk/Polen). – reiche Themen u. Motive aus Horns Ende auf. Lyriker, Essayist u. Übersetzer. Frau Paula Trousseau (Ffm. 2007) blickt auf das Leben einer DDR-Malerin zurück, der beim H. wuchs in Westpreußen, Hessen u. Holstein Kampf gegen einen tyrannischen Vater, auf, studierte Geschichte u. Germanistik an egoistische Männern u. dogmat. Kunstpro- verschiedenen Universitäten u. lebt seit 1962 fessoren die eigene Liebesfähigkeit abhanden als Schriftsteller in Espoo/Finnland. kommt – u. die unverkennbar eine GeistesAls Übersetzer u. Vermittler der finn. u. verwandte der Claudia aus Der fremde Freund tschech. Literatur hat sich H. große Verist. dienste erworben. Seine eigene Lyrik nimmt Komplettiert wird H. s Werk durch zahl- das Erbe des Hermetismus auf. In meist reiche Essaysammlungen: Öffentlich arbeiten knappen, kurzzeiligen Gedichten, die den (Bln./Weimar 1987), Als Kind habe ich Stalin Bildern einer absurd gewordenen Realität gesehen (Bln./Weimar 1990), Die fünfte Grund- misstrauen, nähert sich H. den »Verwerfunrechenart (Darmst. 1990), Aber der Narr will nicht gen der Geschichte«. Seine Poesie, gruppiert (Ffm. 2004). Auch hier erweist der Autor sich um dicht gefügte Schlüsselworte wie »Atem«, als engagierter u. origineller Zeitgenosse. »Schnee«, »Schweigen«, »Stein« oder »LeeSeine Themen sind vertraut: Kunst u. Politik, re«, ist Totengedächtnis: Geschichte erSubjekt u. Geschichte, Macht der Sprache, scheint in ihr als blutiges Schlachtfeld. Macht der Gedanken, Prägungen durch priSeit dem Band Taggefälle (1962) erzählen vate u. polit. Sozialisation. Nach der dt. Ver- H.s Gedichte vom »Dies irae«, dem großen einigung hat H. die Position des Querdenkers Tag des Zorns, u. von geschichtl. Verwerfunu. -schreibers nicht aufgegeben. Nach wie vor gen in jenen osteurop. Landschaften, die der versteht er den Schriftstellerberuf als polit. Autor auf seiner langen Fluchtfährte (Zürich) – Verpflichtung. so der Titel einer autobiogr. Erzählung von H. erhielt zahlreiche Preise, darunter den 1999 – durchquert hat. H.s Vater folgte als Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Angestellter beim Königsberger Institut für Künste der DDR (1982), den Lessingpreis der Osteuropäische Wirtschaft nationalsozialistiDDR (1989), den Peter-Weiss-Preis (1998), schen Wahnideen. Der in einer westpreuß. den Schiller-Gedächtnispreis (2004) u. den »Napola« (»Nationalpolitische ErziehungsWalter-Hasenclever-Preis (2008). anstalt«) gedrillte Sohn träumte davon, sich
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nach dem »Endsieg« auf einem Ostlandwehrhof im Baltikum niederzulassen u. als Forstmeister in Litauen für dt. Zucht u. Ordnung zu sorgen. Mit solchen Erfahrungen geschichtl. Verblendung sind die Gedichte H.s auch in späteren Gedichtbänden noch befasst. An sein lyr. Ich hat H. die Aufgabe delegiert, »Registrator von Brandmalen« zu bleiben. H. erhielt u. a. 1974 den Finnischen Staatspreis, 1984 den Peter-Huchel-Preis, 1992 den Förderpreis zum Horst-BienekPreis für Lyrik, 1999 den Paul-ScheerbartPreis für Übersetzung von Lyrik, 2002 den Hans-Erich-Nossack-Preis für Dichter und ihre Übersetzer, 2004 den Literaturpreis Lettlands für das übersetzerische Lebenswerk u. 2006 den Rainer-Malkowski-Preis. Weitere Werke: Ohne Geleit. Mchn. 1960 (L.). – Gegenzeichnung. Gedichte 1962–72. Darmst. 1974. – Gegenzeichnung. Das Gedichtwerk 1–3. 1962–82. Bln./Darmst. 1983. – Selbstauskunft. In: Peter-Huchel-Preis 1984. Ein Jb. Moos/Baden-Baden 1987, S. 52–56. – Zwischen Winter u. Winter. Reinb. 1987 (L.). – Rhabarber Rhabarber. Gedichte u. Gesch.n. Zürich 1991. – Ausgew. Gedichte 1956–1986. Zürich 1993. – Über die dunkle Fläche. Gedichte 1986–1993. Zürich 1994. – Hier ist gegangen wer. Gedichte 1993–2000. Zürich 2001. – Aufriß des Lichts. Späte Gedichte 2000–2005. Gött. 2006. – Nachtkreis. Gedichte 2005–2007. Gött. 2008. Literatur: Auswahlbibliogr. M. P. H. In: PeterHuchel-Preis 1984, a. a. O., S. 58 ff. – Bazon Brock: Laudatio auf M. P. H. In: ebd., S. 37–48. – Andreas F. Kelletat: Stichwörter. Aus einem Zettelkasten zu M. P. H.s Prosabuch ›Fluchtfährte‹. Regensb. 1998. – Klaus Böldl: M. P. H. In: LGL. – A. F. Kelletat: Unterwegs mit zehn Fingern. M. P. H. – Lyrik, Prosa, Übers., Aufsätze. Köln 2006. – Ders.: M. P. H. In: KLG. Michael Braun
Heine, Anselma, urkundl. Selma H., auch: Feodor Helm, Anselm Heine, * 18.6.1855 Bonn, † 9. 11.1930 Berlin. – Verfasserin von Novellen, Erzählungen, Romanen, Kunstmärchen, Autobiografischem. Die Tochter des Mathematikprofessors Eduard Heine (1821–1881) wuchs ab 1856 in Halle/Saale u. ab 1896 in Berlin auf u. wurde durch Hauslehrer erzogen. Früh als talentiert
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erkannt, legte sie erste literar. Versuche mit acht Jahren vor; kleinere Veröffentlichungen erschienen in Halleschen Tageszeitungen, später u. a. in »Gartenlaube«, »Deutsche (Neue) Rundschau« u. »Pan« – alles unter dem Pseud. Feodor Helm. Die ersten vier Bücher (1896, 1897, 1900 u. 1902) von insg. 19 bis 1926 (ohne diverse Einzelausgaben aus Novellensammlungen) wurden unter dem Pseud. Anselm Heine veröffentlicht. Das erste Buch unter ihrem Namen war die Monografie Maeterlinck (Bln./Lpz. 1904), der erste größere Erfolg der Roman Mütter (Lpz. 1905), der die Stellung der Frau in der Familie u. in der Gesellschaft der späten Kaiserzeit sowie die Frauenemanzipation thematisiert. H. erweist sich hier als einfühlsam, genau beobachtend, verhalten sozialkritisch, aber politisch autonom. Mit der Novelle Die Erscheinung (Bln. 1912) wurde die literar. Welt auf H. aufmerksam. Erzählt wird im kriminalistischen Rahmen von einem Hotelier u. hohen Beamten, die aus Geldgier u. Staatsräson den Ausbruch einer tödl. Epidemie verschweigen (Motiv von Thomas Mann 1913 in Tod in Venedig aufgenommen; 1919 verarbeitet im ersten dt. Horror-Stummfilm Unheimliche Geschichten, Rekonstruktion Arte 2002). Ab 1896 gehörte H. der Berliner Künstlerszene an u. hatte Kontakte u. a. zu F. Wedekind u. G. Hauptmann. Sie unternahm Reisen durch ganz Europa, insbes. in das Elsass, nach Südosteuropa u. Finnland. Weitere Werke: Aus Suomi-Land. Stgt. 1905. Neuausg. u. d. T. Finn. Novellen. Bln. 1923. – Vom Markte der Liebe. Bln. 1907 (E.). – Fern v. Paris. Bln. 1915 (E.en). – Die verborgene Schrift. Ein Roman aus dem Elsaß. Bln./Wien 1918. – Der Zwergenring. Erzählung aus Goethes Jugendland. Bln. 1925. – Mein Rundgang. Erinnerungen. Stgt./Bln./ Lpz. 1926. Literatur: Erika Seidl: A. H. – Versuch einer Monogr. Diss. Wien 1956. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Michael Pantenius: Gelehrte, Weltanschauer, auch Poeten ... Literar. Porträts berühmter Hallenser. Halle/S. 2006, S. 164–167. – Annette Kliewer: A. H.: ›Ein moderner Perseus‹. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 197 f. Michael Pantenius
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Heine, Heinrich (Christian Johann), bis 1825: Harry, * 13.12.1797 Düsseldorf, † 17.2.1856 Paris; Grabstätte: ebd., Cimetière Montmartre. – Lyriker, Erzähler, Essayist, Journalist, Dramatiker. Drei Erfahrungen prägen bis 1816 die Kinder- u. Jugendjahre im niederrheinischen Residenzstädtchen Düsseldorf: das jüd., von Abkapselung freie Elternhaus, eine sorgfältige schulische Erziehung u. die Eindrücke wechselnder polit. Herrschaft. Das lebendigste Bild von dem bürgerl. Haushalt, in dem H. als ältestes von vier Kindern heranwächst u. ein bleibendes Gefühl für Familie u. Großfamilie entwickelt, vermitteln die unvollendet gebliebenen Memoiren. Der Vater Samson, ein nicht unbemittelter Textilkaufmann, wird von H. als leichtlebige Natur charakterisiert, während die Mutter Betty (Peire), geb. van Geldern, ehrgeizige Lebenspläne entwirft. In der angesehenen Familie werden Glaubensregeln nicht mit bes. Strenge gehandhabt; das Jiddische lernt H. beiläufig, das Hebräische wird in Grundzügen vermittelt. Seine Schulbildung setzt mit einer Grundstufe im Franziskanerkloster ein u. wird mit dem Gymnasiumsbesuch bis etwa 1815 weitergeführt. Ein spätaufklärerischfrz. Geist prägt das Institut, das einen umfassenden Überblick anbietet. H. hat zunächst noch Privatunterricht erhalten, um »Strategiker« oder »Administrator« unter Napoleon zu werden, u. später eine Handelsschule besucht, die den Grundstock zu seinen Englischkenntnissen gelegt hat. In die individuelle Entwicklung greifen die Revolutionskriege ein: Seit 1795 ist die andere Rheinseite ein Stück Frankreich, im März 1806 wird das rechtsrheinische (Groß-)Herzogtum Berg ein frz. Vasallenstaat, von Juli 1808 bis Nov. 1813 von Napoleon regiert. Der Code Napoléon, 1810 eingeführt, räumt Juden eine leicht erweiterte Rechtsstellung ein. Eine Welle des religiösen Nationalismus erfasst 1814, als die preuß. Verwaltung beginnt, auch H. Die spätere scharfe Kritik an den Deutschtümlern ist Folge einer Neuorientierung in den 1820er Jahren. Die Jahre berufl. Ausbildung setzen 1815 mit kurzen Volontariaten in Frankfurt/M.
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ein, in einem Bankhaus u. bei einem Gewürzhändler. 1816–1819 ist H. in Hamburg, zunächst als kaufmänn. Lehrling im Bankhaus seines millionenschweren Onkels Salomon, der ihm 1818 die Gründung eines Manufakturwarengeschäfts ermöglicht. Das Unternehmen scheitert, weil H.s Vater, der unter epilept. Anfällen leidet, sein Geschäft über Wechsel auf den Sohn (u. damit mittelbar auf den Bruder Salomon) zu retten sucht. 1819 werden beide Geschäfte liquidiert. Die drei Jahre in der Hansestadt stehen im Zeichen erster, konventioneller oder schauerromant. lyr. Versuche u. der unerfüllten Liebe zu seiner Kusine Amalie. 1817 erscheinen als erste Veröffentlichungen in »Hamburgs Wächter« die »Minnelieder« Der Traum u. Die Weihe, Gedichte des rheinischen Madonnenkults, der in der Wallfahrt von Kevlaar seinen Höhepunkt finden wird. Intensiver fällt jetzt die Beschäftigung mit zeitgenöss. Literatur aus, mit der Romantik (Fouqué, Hoffmann, Kerner, Müllner) wie mit dem Goethe des Tasso u. des Faust. Er liest u. übersetzt Byron. Der Erfolg des sechsjährigen, vom Onkel finanzierten Studiums, das H. im Juli 1825 mit einer Promotion über zivilrechtl. Thesen abschließt, verdeckt, wieviel Spielraum er sonstigen Interessen gegeben hat. In seinem Fach hört der als fleißig geschilderte Jurastudent seit dem Winter 1819 an der preuß. Rheinuniversität Bonn nur die Pflichtkollegs, verfolgt aber ebenso eifrig Lehrveranstaltungen zur dt. Geschichte u. zur dt. Literatur. Der liberale Jurist Welcker, der spätaufklärerische Historiker Hüllmann, Arndt u. vor allem August Wilhelm Schlegel gehören dort zu seinen Lehrern. Das Bild vom flanierenden, geistreichen Spötter H. beginnt sich bei den Kommilitonen auszubreiten. H.s Interesse an der Tragödie wird geweckt, u. er beginnt mit dem histor. Drama Almansor, für das er sich ein span. Kolorit (mit Muslimen, Christen u. Juden) systematisch erarbeitet. Die Lektüre u. Ausarbeitung wird während des Winters 1820/21 fortgeführt, als er nach Göttingen überwechselt, von Benecke in altdt. Dichtung eingeführt wird u. bei dem Historiker Sartorius eine liberale Sicht der dt. Geschichte vom MA bis zur Französischen Revolution kennen
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lernt. Der erweiterte, europ. Horizont macht sich u. a. in der Vertiefung der ShakespeareKenntnisse, der Lektüre von Herders Stimmen der Völker in Liedern, von Gibbon, Scott, Fielding bemerkbar. Von einschneidender Bedeutung ist H.s Ausschluss aus der Burschenschaft, für die antijüd. Ressentiments ausschlaggebend sind: Sein Deutschtum wird ihm abgesprochen, der ungebrochene Weg der Ausbildung einer dt. Identität verwehrt. Eine befristete Ausschließung vom Studium nach einem Duell beendet H.s Göttinger Aufenthalt fürs Erste. H.s Semester, die sich vom Sommer 1821 bis 1823 in der preuß. Hauptstadt anschließen, stellen durch vier Lebensbereiche eine sprunghafte Entwicklung dar: die um Hegel zentrierte Universität, das Engagement für nationaljüd. Ziele, den Salon der Rahel Varnhagen, das Hineinwachsen in das literar. Leben. Die Begegnung mit der Philosophie Hegels, mit der Betrachtung der Welthistorie unter dem Blickwinkel von Notwendigkeit u. Transitorik wesentl. Momente auf dem Weg des Fortschritts, wird zum prägenden Erlebnis für H., den daneben Bopps Indien-Vorlesungen u. Wolfs Aristophanes-Deutungen beeindrucken. Er beteiligt sich aktiv an dem »Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden«, der ein erster Kristallisationspunkt nationaljüd. Geschichtsschreibung ist. Einen letzten Höhepunkt des Romantikersalons bildet der von Rahel, deren Goethe-Verehrung H. beeinflusst; er lernt u. a. die Familie Beer, aus welcher der Paria-Dichter u. Meyerbeer kommen, Chamisso, Fouqué, Hegel, Alexander von Humboldt kennen. H., der 1822 sein erstes Buch Gedichte vorlegt, 1823 Tragödien u. erste journalistische Arbeiten wie die Briefe aus Berlin u. Über Polen publiziert, mit autobiogr. Skizzen beginnt, verkehrt zgl. im Kreis um E. T. A. Hoffmann u. Grabbe. Enge Freundschaft knüpft H., zunächst brieflich, mit Immermann. Erst die Rückkehr nach Göttingen im Jan. 1824 gibt dem Studium sein Gewicht zurück, auch wenn die Harzreise u. eine Vorstufe des Rabbi von Bacherach entstehen. Wenige Wochen vor der Promotion, am 28.6.1825, hat H. sich taufen lassen. Für die nächsten 15 Jahre, bis zum Damaskus-
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Pogrom im Frühjahr 1840, geriert er sich als entschlossener Protestant. Das mit der Taufe, dem »Entréebillett zur europäischen Kultur«, angestrebte Ziel einer Sicherung des Lebensunterhalts in einer staatl. Stellung oder durch eine Advokatur wird auch nach sechsjähriger Bemühung nicht erreicht. Gedichte, die H. von einem Badeaufenthalt auf Norderney mitbringt, liefern ein drittes Interpretationsklischee für die frühe Lyrik: nach dem Dichter der Liebe u. der »Zerrissenheit« nun als Dichter des Meeres bzw. der Nordsee. Von entscheidender Bedeutung ist die Begegnung mit Julius Campe Anfang 1826 in Hamburg, dessen Verlagshaus zum führenden Repräsentanten der modernen Literatur der Zeit aufsteigt. Mit der Publikation des ersten Reisebilder-Bands im Frühjahr 1826 beginnt eine bis zuletzt von Freundschaft bestimmte Beziehung zwischen Verleger u. Autor, die jedoch auch Spannungen u. Schlitzohrigkeiten kennt. – Der zweite Reisebilder-Band, erneut eine Mischung aus Prosa u. Gedichten, etabliert den frühen Ruhm H.s; sein Name wird seitdem mit dem Napoleonkult u. dem Bonapartismus verbunden. Im Schatten der Reisebilder steht das Buch der Lieder (1827) bis zum Ende der 1830er Jahre. Zwei Reisen, Aufenthalte in London u. Südostengland (April bis Aug. 1827) u. in Norditalien (Aug. bis Dez. 1828), sind Ausdruck einer Horizonterweiterung. Die Konfrontation mit der weitaus größten Stadt der Welt wird zu einer Enttäuschung: Die Eindrücke, die diese moderne Industriewelt bei dem relativ isoliert lebenden H. hinterlässt, sind überwiegend negativ; die spätere Karikatur des langweilig-egoistischen Maschinenmenschen für die (männl.) Engländer wird hier vorbereitet. Ein Angebot Cottas, die »Neuen allgemeinen politischen Annalen« redaktionell aus ihrem Tief herauszuführen, zieht H. im Herbst 1827 nach München. Hier publiziert er Bruchstücke seiner Englandeindrücke, deren liberales Profil Gegnerschaft hervorruft u. die konkrete Aussicht auf eine Professur (für dt. Literatur des MA) zerschlägt. Eindrücke der Fahrt über Innsbruck, Verona, Mailand, Genua, Pisa zu den mondänen Bagni di Lucca, in denen er glückl. Wochen verlebt, u. nach Florenz, zurück über
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Bologna u. Venedig, verwendet er in der humoristischen Reise von München nach Genua zu der schon praktizierten Doppelverwertung in Zeitschrift u. Buch. Die Einstellung der »Annalen«, für deren Fortführung H. eine Zeitschrift mit dem Motto »Es gibt in Europa keine Nationen mehr, sondern nur Parteien« vorschlägt, u. der Tod des Vaters in Hamburg führen im Dez. 1828 zur Abreise aus München. Als er von Febr. bis Juli 1829 in Potsdam u. Berlin ist, treibt er die Arbeiten an den Italienschriften, die in der Tradition der polit. Beschreibungen von Archenholtz u. der Lady Morgan stehen, energisch voran. In Hamburg schließt er den dritten ReisebilderBand ab, dessen Platen-Kritik – Anprangerung des adligen Homoerotikers als Antwort auf dessen antijüdisch akzentuierte Invektive (»Petrark des Lauberhüttenfests«) – am Schluss der Bäder von Lukka H.s Ruf als gefürchteter Polemiker begründet. Die Verbindung von Thron u. Altar gehört zu den wichtigsten Angriffszielen in diesen Jahren, obwohl die systemat. Erarbeitung eines roten Fadens sozialrevolutionärer Geschichte schon mit einem säkularisierten Positivverständnis des Christentums operiert (Luther, Täufer, Bauernkrieg, Cromwell, Glorious Revolution 1688/89, Irland, Thiers’ Revolutionsgeschichte, später Spartacus). Die Nachricht von der Julirevolution in Frankreich beendet Jahre, deren polit. Stickluft H. wiederholt charakterisiert hat. Die Betonung von Freiheit u. Gleichheit im vierten Reisebilder-Band, u. a. durch die neue Gattung der quasi-journalistischen Vor- u. Schlussworte, geht an den Rand des Zensurmöglichen. Der »Globe«, in der Zwischenzeit zum Organ der SaintSimonisten umfunktioniert, findet in H. einen begeisterten Anhänger, einen Gläubigen des »neuen Christentums«. Die Adelskritik der »Einleitung« zu Wesselhöfts Kahldorf über den Adel (Nürnb. 1831) ist, schon mit dem Blick nach Westen geschrieben, ein erfolgreicheres Entrébillett. Die endgültige Entscheidung für das Exil in Paris, seit 1823 mehrfach erwogen, fällt nach letzten, verzweifelten Versuchen, ein staatl. Unterkommen zu finden. Den Einzug in Paris am 19.5.1831 macht H. in den Geständnissen zu
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einem Glanzpunkt (in der frz. Fassung noch erweitert). Ein Vierteljahrhundert hat H. in Paris gelebt, doch die knappe Lebenshälfte entspricht nicht dem inneren Gewicht dieser Zeit, in der etwa zwei Drittel seiner Werke erscheinen u. die Vermittlung zwischen Vater- u. Gastland zum prakt. polit. Zentrum wird. Er spricht bald fließendes, aber nicht fehlerfreies Französisch; seine spitze Zunge wird auch in den frz. Salons gefürchtet. Seine Werke schreibt er in Deutsch, lässt sie in einer Grundschicht von einem Dritten übersetzen u. redigiert diese Übersetzung dann. Den Anschein doppelter Schreibkompetenz verstärken die fehlenden Hinweise auf die Übersetzer in den frz. Werkausgaben. Das relativ konstante Gleichgewicht von Vers- u. Prosaarbeiten setzt sich auch in der frz. Zeit fort. Die biogr. entscheidende Zäsur der Pariser Jahre bringt das Jahr 1848, als der gesundheitl. Zusammenbruch ihn bettlägerig macht. Eine staunenswerte Integrationsleistung vollbringt H. im ersten Jahrzehnt in Paris: Er wird eine anerkannte Gestalt des künstlerischen u. politisch-gesellschaftl. Lebens in Frankreich. Am Beginn stehen in Paris dt. Zirkel u. die Häuser familiär befreundeter jüd. Bankiers. Unter den zahlreichen dt. Republikanern, für die Paris bis 1848 vor London der Hauptzufluchtsort ist, bietet sich für H. zunächst Börne an, mit dem er seit gemeinsamen Tagen in Frankfurt/M. 1827 freundschaftlich verbunden ist. Die Salons von Nanette Valentin u. Sophie Leo vermitteln Bekanntschaft mit der großen Gesellschaft. Das Haus der Foulds u. Furtados öffnet sich ebenso wie das der Rothschilds. Die Mitarbeit an Cottas »Allgemeiner Zeitung«, dem bedeutendsten deutschsprachigen Blatt, führt zu den zahlreichen Korrespondententreffs in Buchhandlungen u. Lesekabinetten. Über Mendelssohn, Meyerbeer, Liszt, Wagner, Offenbach u. andere ist H. eng mit dem Pariser Musikleben verbunden, er lernt Rossini, Bellini, Berlioz u. Chopin kennen. Die Begeisterung für den meritokrat. Sozialismus der Saint-Simonisten, der sich die Abschaffung der »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« u. die »Verbesserung des moralischen, physischen und geistigen Lo-
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ses« der Arbeiterklasse zum Ziel setzt, bringt ihn mit dieser einflussreichen Gruppe zusammen. Über Pierre Leroux, den Berater George Sands, stellt sich für H. der unmittelbare Anschluss an die sozialreformistische Literatur im Frankreich der 1840er Jahre her. Als Mittler, der eine Allianz beider Nationen anstrebt, stößt er auf das von Madame de Staël geweckte Interesse der frz. Intellektuellen an Deutschland, die nicht selten zu den Unsterblichen der Akademie zählen u. zgl. Spitzenpolitiker sind (u. a. Cousin, Guizot, Michelet, Rémusat, Thiers). Seine Einbindung in die frz. Literatur dokumentiert sich in seiner Mitarbeit an der »Revue des deux Mondes« ab Juli 1832, in Werkausgaben des Romantikverlegers Renduel (1834/35) u. des Realismusverlegers Lévy (1854ff.), in Kontakten mit Vigny, Gautier, Musset, Hugo, Sainte-Beuve u. Freundschaften mit Balzac, George Sand, dem älteren Dumas, Nerval. Ende 1834 lernte H. Augustine Crescence (gen. Mathilde) Mirat kennen u. nahm sie zu sich; 1841 heirateten sie mit kath. Segen. Dominiert in der Lyrik der Ton des Sensualismus, der »Emanzipation des Fleisches«, so auf dem Gebiet der Prosa ein Programm, die Beziehungen zwischen Deutschland u. Frankreich zu objektivieren, indem die Fremd- u. Eigenbilder von Verklärung u. Ressentiment gereinigt werden sollen. Primär an Deutschland gerichtet sind 1831 die polit. Gemäldebeschreibungen Französische Maler, publizistische Feuilletons, die H. in den ersten der vier Salon-Bände (1834–40) eingegliedert hat. Als Auslandskorrespondent betätigt sich H. 1831/32 in den Artikeln Französische Zustände; er berichtet kritisch über das Bürgerkönigtum, das aus der Julirevolution hervorgegangen ist. Primär an Frankreich gerichtet sind die Großessays Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland u. Die romantische Schule, die volkskundl. Schilderung der Elementargeister. Erzählungen, die pikaresken Memoiren des Herren von Schnabelewopski u. die beiden Florentinischen Nächte, begleiten diese Jahre. Metternich, der den künstlerischen Wert von H.s Prosa u. Lyrik durchaus zu schätzen weiß, setzt gegen ihn u. die Jungdeutschen durch das Bundesverbot vom 10.12.1835 eine
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verschärfte Zensur in den Einzelstaaten in Gang, die H.s Werk im bedeutendsten dt. Absatzgebiet, Preußen, unter Sonderzensur stellt. H. hat daraufhin 1836 u. erneut ab 1840 eine beträchtl. jährl. Unterstützungssumme aus einem Fonds des frz. Außenministeriums erhalten. In der zweiten Hälfte der 1830er Jahre begann der Siegeszug des Buchs der Lieder; H.s »Einleitung« zu einer Don Quixote-Ausgabe u. das Shakespeare-Buch, ein Kommentar zu Kupferstichen, bezeugen sein weltliterar. Interesse, u. selbst innerliterar. Fehden wie der gegen die »Schwäbische Schule« gerichtete Schwabenspiegel verstärken die Resonanz. Die Bedrohung durch die Zensur rief bei H. vielfältige Reaktionsweisen hervor: die Preußenkritik der Vorreden zu den Französischen Zuständen, ein luth. Pathos der Standfestigkeit (An eine hohe Bundesversammlung), Polemik gegen den nationalistischen Gegenspieler Menzel (Über den Denunzianten) oder krisenhafte Schreibkonflikte wie in den Schriftstellernöten. Ein Lyrikband, der 1838 druckfertig ist (eine Vorstufe der Neuen Gedichte), erschien nicht wegen verlagsinterner Einsprüche, die auf Gutzkows Frivolitätskritik zurückgehen. Beide Stränge des dt.-frz. Programms flossen nach dem Tod Börnes während des Pariser Exils im Rückblick Ludwig Börne (1840) zusammen, der als Kritik an einem Säulenheiligen in Deutschland zum »russischen Feldzug« H.s wird. Im selben Jahr nahm H. die Berichterstattung nach Deutschland wieder auf, kommentierte eine europ., durch einen türkisch-ägypt. Krieg ausgelöste Krise, die das Annektionswünsche artikulierende Frankreich u. den Deutschen Bund an den Rand eines Kriegs brachte. In den Artikeln, deren Schwerpunkt bis in den Sommer 1844 reichte, trat der jüngste sozialistische Flügel, die Kommunisten, als eine weltgeschichtl. Erscheinung auf, die in die Nähe des Aufstiegs des Christentums gerückt, aber zgl. in den Zusammenhang einer vorübergehenden Proletarierherrschaft gestellt wird. Folie ist ein Paris, in dem »Gold« der »Gott des Tages« ist. Das Versepos Atta Troll satirisiert daher die nationale Opposition in Deutschland als rückständig. Die Jahre von etwa 1835 bis zu den Deutschlandreisen
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1843/44 lassen sich als Tannhäuser-Jahre H.s umschreiben: Der Attraktion des sündvollen Paris entspricht eine Sehnsucht nach dem stillen Deutschland, die Sehnsucht Tannhäusers nach Schmerzen. Der neue Augenschein geht in die Verse der Reisebeschreibung Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) ein. Der Freundeskreis in Paris hat sich jetzt um Marx erweitert. 1843 entstand H.s erstes Testament, am 13.11.1851 die rechtsgültige Fassung; die getroffenen Verfügungen geben Mathilde auch den literar. Nachlass in die Hand, die ihn jedoch nur begrenzt zusammenhalten kann. Nach dem Tod des Onkels im Dez. 1844 kam es zu einem öffentlich ausgetragenen Erbschaftsstreit, bei dem H. die Fortzahlung der Familienpension nur gegen die Zusicherung erhielt, Familienmitglieder in Veröffentlichungen nicht zu erwähnen. Als Auftragsarbeiten für die kgl. Opernbühne in London entstanden zwei Ballette, Die Göttin Diana (1846) u. Doctor Faust (1847). Der Zusammenbruch im Mai 1848 ging auf eine myatroph. Lateralsklerose zurück. Die Krankheit (Muskelschwund; auch eine Syphilis-Nebenform und Bleivergiftung werden diskutiert) hat sich während der Studentenjahre in häufigen Kopfschmerzen angekündigt, sich 1832 in Lähmungserscheinungen in der linken Hand, 1837 mit der Lähmung des Augenlids, seit Mitte der 1840er Jahre in Gehbehinderungen bemerkbar gemacht. Nach dem romantisch-»zerrissenen« Jüngling der 1820er Jahre, dem heiteren Spötter der 1830er u. frühen 1840er Jahre etablierte sich in der Leidensgestalt der »Matratzengruft«, verbreitet durch zahlreiche Parisbesucher, die letzte Stereotype. Mit christusähnl. Zügen ausgestattet, durch Morphium gelegentlich von Schmerzen befreit, zu Verlagerungen nur durch Griffe an der Decke in der Lage, schrieb er jetzt mit Bleistift große Buchstaben auf großformatige Blätter. Der Stil ist keineswegs abgeklärt-milde, sondern steigert bis in die Reime hinein kontrastive Extreme, sucht Bizarr-Exotisches. Unter den Sekretären, die Material herbeischaffen, vorlesen, nach Diktat korrespondieren, Reinschriften anfertigen, sind Karl Hillebrand, der Hauptübersetzer jener Jahre, Richard
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Reinhardt u. Elise Krinitz, die H. zur geliebten »Mouche« verklärt. Zum öffentl. Bild zählt auch H.s Rückkehr zur Vorstellung eines transzendenten Gottes, ohne dass damit die Hinwendung zu einer Kirche gegeben wäre. Die zunächst freudig begrüßte Februarrevolution, die Republik, das Präsidialregime u. das demokratisch legitimierte Second Empire finden in H. einen aufmerksamen Beobachter, der auch das selbstverschuldete Scheitern der dt. Revolutionäre 1848/49 mit sarkast. Kommentaren begleitet. 1851 erscheint das Faust-Ballett mit hinzugekommenen Erläuterungen sowie das dritte LyrikBuch: der außerordentlich erfolgreiche Romanzero. Der »colorirte« Stil der späten Lyrik, zum Epischen tendierend, verbindet moderne Sprachelemente mit exotischen Bildwelten. Im Historien-Zyklus spricht sich ein transzendentaler Sarkasmus aus, der den Schlechteren siegen sieht. Den satir. Lamentationen sind Lazarus-Gedichte des »sterbenden Aristophanes« zugeordnet. Die Spiegelung der Existenz als Jude u. Dichter nehmen die Hebräischen Melodien auf. Fragmentarisch bleiben Memoiren-Ansätze u. das Versepos Bimini. Die nachlassähnl., dreibändige Sammlung der Vermischten Schriften (1854) vereinigt u. a. autobiogr. Geständnisse, einen weiteren Lyrikzyklus, Gedichte (1853 u. 1854), den mytholog. Essay Die Götter im Exil u. die zur Künstlerschrift umgeformte, v. a. um satirisch-karikaturistische u. aktualisierende Elemente angereicherte Sammlung von früheren Auslandskorrespondenzen, Lutezia. Eine frz. Übersetzung bei Lévy, im Febr. 1855 mit De L’Allemagne begonnen, bleibt nicht, wie in den 1830er Jahren, stecken, sondern erlebt mit der adressatenbezogen angepassten Publikation von Lutèce im Frühjahr 1855 einen Sensationserfolg, der die Grundlage für den frz. Ruhm H.s legt. Die Arbeit an der Übersetzung mit Poèmes et Légendes I u. den Tableaux de voyage, mit Vorarbeiten zu Poèmes et Légendes II u. De la France füllt die nächsten Monate aus. Kein Geistlicher spricht, als eine kleinere Menschenmenge, darunter Dumas, Mignet u. Gautier, dem Sarg am 20.2.1856 folgt. Nicht der erste Grabstein oder das heutige Monument tragen die Worte, die er sich im Werk wünscht: »Hier ruht ein deutscher Dichter«.
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Über H. lässt sich trefflich streiten, denn wer nur auf einzelne Partien oder Züge seines Werks u. seiner Person blickt, reproduziert sehr schnell die zeitgenöss. Debatten. Die Wirkungsgeschichte – sein Ruhm als Liederdichter u. engagierter Intellektueller, seine Verkörperung dt.-jüd. Symbiose – bietet Anhaltspunkte, ihn als herausragende Gestalt der Biedermeierzeit zu begreifen. Die Konsistenz seiner komplex-vieldeutigen, ironisch-selbstiron. Erscheinung erschließt sich erst einer systemat. Betrachtung, die zusammenführt, was die Zensur u. H.s digressivkleinteiliger Stilwille parzelliert haben. H.s Kunstverständnis bewegt sich zwischen den Polen der dialektischen Einbettung der Literatur in den sozialen Rahmen u. der Zweckfreiheit, die im ästhetischen »Supranaturalismus« eine letzte Begründung findet. Der Übergang vom Dichter zum Schriftsteller drückt sich poetologisch in der verstärkten Hinwendung zu Zweckformen wie Reisebeschreibung, Feuilleton, Rezension, Vor- u. Nachwort, zur Journalistik u. zur literar., philosophischen u. mytholog. Essayistik aus. Die Verwendung politisch brisanter Begriffe, Bilder u. Themen sowie sein machiavellistisch-kämpferischer Impetus führen ihn oft in die Nähe von Satire u. Karikatur, begründen seine Vorliebe für drast. Tiervergleiche. Die Personen- u. Werkcharakteristiken, oft von der »göttlichen Bosheit«, die Nietzsche zu würdigen wusste, ersetzen mit wenigen Strichen ganze Bibliotheken. Zu den stilistischen Kennzeichen gehört in der Prosa wie in der Lyrik eine blasphemisch-religiöse Doppeltendenz, die christl. Sprachelemente säkularisiert u. zgl. weltl. Phänomene sakralisiert. Bildlichkeit u. Darstellung unbewussten Seelenlebens, z.B. im Salome-Motiv, nehmen symbolistische Muster vorweg. In der Nähe der Salon-Sprache stehen Szenen impressionistischer Intellektualisierung, die Augenblickseindrücke in einen übergeordneten Argumentationszusammenhang einbetten. Wegen der Klarheit der Gedankenführung u. der Eleganz seines Stils ist H. wiederholt in die Nähe der frz. Esprit-Tradition gerückt worden. Die lyr. Form der iron. Schlussvolte, die gefühlvoll-pathet. Passagen umkehrend aufbricht, findet ihre Prosa-
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Parallele im Witz, mit dem es H. zur unangefochtenen Meisterschaft in der dt. Literatur bringt. Sein aufklärerischer Impetus verbindet sich mit den universellen Traditionen der dt. Klassik u. Romantik. Seine ambivalente Hochachtung für Goethe mündet in ein bewusstes Verhältnis konkurrierender Nachfolge ein. H.s Verhältnis zur Religion ist von der Spannung zwischen einer durchgehend antiklerikalen Ablehnung etablierter Kirchen u. der Hochachtung für emanzipatorisch verstandene Gehalte u. Unterstreichung der künstlerischen Qualitäten des AT u. NT geprägt. Die Historisierung des Denkens im 19. Jh. erfasst bei H. auch die Gottesvorstellung, lässt ihn das Bild eines sterbenden jüdischchristl. Gottes entwerfen. Auch nach der Rückkehr zu einem personalen Gottesbild bleiben anthropomorphe u. funktional-spielerische Züge erhalten. Säkularisierte Aktualität gewinnt die unterdrückte antike, kelt., german. u. mexikan. Mythologie in der Repräsentanz sensualistischer Lebensformen, die drohend oder Mitleid erregend ein umfassenderes Verständnis des Menschen einklagen. Bezugspunkt sozial-menschheitl. Verpflichtung wird ihm Jesus von Nazareth. Der Katholizismus verbindet sich für ihn mit der Erinnerung an rheinische Jugendtage, Gottesergebenheit u. Prachtliebe, der Protestantismus mit der Begründung freiheitl. Vernunftautorität u. emotionaler Nüchternheit. Dem Judentum entsagt er in der Taufe opportunistisch: Seine Bindung an die Familie oder jüd. Freundes- u. Künstlerkreise wird deshalb zu keiner Zeit unterbrochen. Nach einer Phase der Ablehnung, die in Kritik an anderen Konvertiten fasst, was Selbstkritik sein könnte, entstehen eindringl. Bilder jüd. Religion, Mythologie, Geschichte. Die Weltoffenheit seines Denkens manifestiert sich in seiner einfühlenden Darstellung des arabisch-islamischen Orients – in einer Ära des Kolonialismus. Fortschritt als bürgerl. Gleichstellung unterdrückter Minderheiten u. als Durchsetzung einer universellen Demokratie mit revolutionären Mitteln gehört ins Zentrum von H.s polit. Denken, doch seine damit verbundene Theorie eines Cäsarismus hebt ihn von
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der ähnlich orientierten republikanischsozialistischen Linken ab. Die Vorstellung eines demokratisch legitimierten Alleinherrschers, der ohne Vermittlung von geburtsprivilegiertem Adel u. besitzprivilegiertem Bürgertum als Revolutionär von oben für das Wohl des Volks arbeite, findet in so unterschiedl. Ausprägungen wie einem Volkskönigtum, dem Zaren Nikolaus, dem Bonapartismus Napoleons u. seines Neffen Napoleon III. seine Zustimmung; die Suche nach einer sozialistischen Führergestalt ergänzt dieses Prinzip. Nationen treten in dem weltbürgerl. Konzept hinter einem weitgefassten Parteienbegriff zurück, obwohl sie als mentalitätsgeschichtl. Konstanten typisiert erhalten bleiben. Nationalismus, wie ihn die Deutschtümler verkörpern, stößt auf H.s leidenschaftl. Hass. Deutschland, für das er Einigung u. revolutionäre Umgestaltung erhofft, wird in seinen Hauptmächten unterschiedlich beurteilt: Respekt bringt er Österreich als einer stets konservativen Macht entgegen, während seine enttäuschte Liebe zu dem reformerisch-liberalen Preußen in wachsame Ablehnung umschlägt. Mit etwa 130 Zeitungsbeiträgen sucht er von Frankreich aus in die Entwicklungen einzugreifen. Auf die soziale Frage des Massenhungers antwortet er mit einem Sozialismus, der die Idee der Gleichheit mit der Utopie der Menschen als gleichherrl. Götter verbindet. Lässt er in Frankreich adlige Legitimisten rechts liegen, so kritisiert er an den Republikanern, später den Kommunisten nivellierende, genuss- u. kunstfeindl. Tendenzen. Stets hat er ein waches Interesse für die verschiedenen Theorien des Sozialismus in Frankreich. Der weltliterar. Normalfall des Ruhms in einer Sprachgemeinschaft, der durch die Aufnahme in andere verbreitert wird, ist erst in jüngster Zeit wieder für H. gültig. Nach der Ausbürgerung seines Werks in der nationalsozialistischen Ära setzte die erneute Aneignung seit 1945 in Westdeutschland zögernd ein u. konnte sich erst nach 1968 durchsetzen. In der SBZ/DDR führte die frühe Kanonisierung als frühsozialistischer Vorläufer u. Freund von Marx zunächst zu einer selektiven u. verkürzenden Anerkennung. Schwierigkeiten mit dem eminent
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polit. Schriftsteller H. hatten auch schon die dt. Zeitgenossen, doch das Buch der Lieder u. die zahllosen Vertonungen machen seit den 1840er Jahren einen Reputationskern aus, für den stellvertretend Silchers Loreley stehen mag; Schubert, Schumann, Mendelssohn u. Liszt verkörpern H.s Symbiose mit dem dt. Kunstlied, die beinahe an Goethe heranreicht. Der aggressive Antisemitismus seit den 1880er Jahren (Treitschke) bereitet den Boden für die völk. Ablehnung – »Denkmalstreite« verhindern die Aufstellung einer Skulptur in Deutschland. Um die Jahrhundertwende distanzieren sich auch Dichter wie George oder Intellektuelle wie Karl Kraus (Heine und die Folgen. 1910) von H.s Werk. Erscheinungen der H.-Nachfolge wie Feuchtwanger, Heinrich u. Thomas Mann werden Ausnahmen, obwohl Denk’ ich an Deutschland in der Nacht im Exil Allgemeingut ist. Die Benennung der Universität Düsseldorf nach H. (1989) setzt einen Schlusspunkt unter eine Wiedereinbürgerung, die im H.Preis, einem H.-Institut (Düsseldorf), einer H.-Gesellschaft, H.-Denkmälern (1981 Düsseldorf, 1982 Hamburg) u. H.-Ausgaben greifbar ist. Die jüngere wissenschaftl. Auseinandersetzung, 1997 kulminierend, akzentuiert die Bedeutung des Judentums für H., sein Verhältnis zu Religionen überhaupt und die Wirkung in anderen Ländern. Weitere Werke: Historisch-kritische Ausgabe: Säkularausg. Hg. Nationale Forschungs- u. Gedenkstätten der klass. Dt. Lit. in Weimar u. Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Bln./ Paris 1970 ff. (= HSA). – Hist.-krit. Gesamtausg. der Werke. Hg. Manfred Windfuhr. Hbg. 1973–97 (= Düsseldorfer H.-Ausg.; DHA). – Gesamtausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Adolf Strodtmann. 21 Bde., Hbg. 1861–66. 2 Suppl.-Bde. 1869 u. 1884 (Bde. 19–21: Briefe). – Sämtl. Werke. Hg. Ernst Elster. 7 Bde., Lpz. 1887–90. – Sämtl. Werke. Hg. Oskar Walzel u. a. 10 Bde. u. Registerbd., Lpz. 1910–20. – Sämtl. Schr.en. Hg. Klaus Briegleb. 6 Bde., Mchn. 1968–76 (CD-ROM 1997). – Dichter über ihre Dichtungen: H. H. Hg. Norbert Altenhofer. 3 Bde., Mchn. 1971. – Briefe: Briefe. Hg. Friedrich Hirth. 6 Bde., Mainz 1949/50. – Briefw. Bde. 20–27 u. Registerbd. der HSA. – Gespräche: Begegnungen mit H. Ber.e der Zeitgenossen. Hg. Michael Werner. 2 Bde., Hbg. 1973 (Fortführung v. Hugo Bieber 1926, v. H. H. Houben 1926). – Ein-
Heine zelwerke, Erstausgaben: Gedichte. Bln. 1822. – Tragödien nebst einem lyr. Intermezzo (William Ratcliff; Lyr. Intermezzo; Almansor). Bln. 1823. – Reisebilder I (Die Heimkehr; Gedichte, Romanzen, Balladen; Die Harzreise). Hbg. 1826. 51836 (L., E.) – Reisebilder II (Die Nordsee II u. III; Ideen. Das Buch Le Grand; Briefe aus Berlin). Hbg. 1827. 51856 (L., E., Korrespondenz). – Buch der Lieder. Hbg. 1827. 2 1837. 131855. – Reisebilder III (Italien. 1828. I: Reise v. München nach Genua. II: Die Bäder v. Lukka). Hbg. 1830. 51856 (eigentl. 4. Aufl.; E.). – Nachträge zu den Reisebildern (Italien III: Die Stadt Lukka; Engl. Fragmente. 1828). Hbg. 1831 (E.; Reiseber.). Ab 21834 u. d. T. Reisebilder IV. 5 1856 (eigentl. 4. Aufl.). – Frz. Zustände. Hbg. 1833 (eigentl. 1832; Korrespondenz). – Zur Gesch. der neueren schönen Litteratur in Dtschld. 2 Bde., Paris/Lpz. 1833 (Ess.; Vorstufe zur Romant. Schule). – De la France. Paris 1833 (ein Teil der Aufl. mit dem Vorsatzblatt Œuvres IV). 21857 (Übers.). – Vorrede zu H. H.s Frz. Zuständen. Lpz. 1833 (unzensierter Text u. Vorrede zur Vorrede). – Der Salon I (Frz. Maler; Verschiedene; Aus den Memoiren des Herren v. Schnabelewopski). Hbg. 1834 (eigentl. 1833). 2 1849 (Feuilletons, L., E.). – Œuvres II/III (Reisebilder. Tableaux de Voyage). 2 Bde., Paris 1834. 2 1857 (Übers.). – Œuvres V/VI (De l’Allemagne). 2 Bde., Paris 1835. 21855 (Übers.). – Der Salon II (Zur Gesch. der Religion u. Philosophie in Dtschld.; Neuer Frühling). Hbg. 1835 (ein Teil der Ausg. 1834). 21852 (Ess., L.). – Der Salon III (Florentin. Nächte; Elementargeister). Hbg. 1837 (E., Ess.). – Über den Denunzianten. Eine Vorrede zum dritten Theile des Salons. Hbg. 1837. – Shakespeares Mädchen u. Frauen. Hbg. 1839 (eigentl. 1838; Kupferstichkomm.). – Ludwig Börne. Eine Denkschr. (zunächst u. d. T. H. H. über Ludwig Börne). Hbg. 1840. – Der Salon IV (Der Rabbi v. Bacherach; Katharina; Romanzen; Über die frz. Bühne). Hbg. 1840 (R., L., Feuilletons). – Neue Gedichte (Neuer Frühling; Verschiedene; Romanzen; Zeitgedichte; Dtschld. Ein Wintermärchen) Hbg. 1844. 41853 (L., Epos; das Dtschld.-Epos wird ab 31852 ausgeschieden). – Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Hbg. 1847 (Epos). – Romanzero. Hbg. 1851. 41852 (eigentl. 1851; L.). – Der Doctor Faust. Ein Tanzpoem, nebst kuriosen Ber.en über Teufel, Hexen u. Dichtkunst. Hbg. 1851 (Ballettlibr., Ess.). – Vermischte Schr.en (Geständnisse, Gedichte. 1853 u. 1854; Die Götter im Exil; Die Göttin Diana; Ludwig Marcus. Denkworte; Lutezia. Ber.e über Politik, Kunst u. Volksleben). 3 Bde., Hbg. 1854. Doppeldr. 1854 (Autobiogr., L., Ess., Ballettlibr., Nachruf, Korrespondenz). – Lutèce. Lettres sur la vie politique, artistique et sociale en France. Paris
176 1855. 21855 (Übers. im Rahmen der Œuvres complètes). – Poèmes et Légendes I. Paris 1855 (Übers.). Literatur: Bibliografien: Gottfried Wilhelm u. Eberhard Galley: H.-Bibliogr. 2 Bde., Weimar 1960. Tl. 1: Primärlit. 1817–1953. Tl. 2: Sekundärlit. 1822–1953. – Siegfried Seifert: H.-Bibliogr. 1954–64. Bln./Weimar 1968. – S. Seifert u. Albina A. Volgina: H.-Bibliogr. 1965–82. Bln./Weimar 1986. – E. von Wilamowitz-Moellendorff u. G. Mühlpfordt: Heine-Bibliogr. 1983–1995. Stgt./ Weimar 1998. – Den aktuellen Stand der Ausg.n u. der Sekundärlit. verzeichnet jährlich das H.-Jb. sowie im Internet das H.-H.-Portal http://www.unitrier.de. – Haine-kenkyû. Tokyo 1977 ff. – Zeitschrift: H.-Jb. Hbg. 1962 ff. – Gesamtdarstellungen: Ludwig Marcuse: H. H. Ein Leben zwischen Gestern u. Morgen. Bln. 1932 u. ö. – Max Brod: H. H. Lpz. 1934. Amsterd. 1934 u. ö. – Jeffrey L. Sammons: The elusive poet. New Haven/London 1969. – M. Windfuhr: H. H. Revolution u. Reflexion. Stgt. 1969. 21976. – Dolf Sternberger: H. H. u. die Abschaffung der Sünde. Hbg./Düsseld. 1972 u. ö. – Walter Wadepuhl: H. H. Sein Leben u. seine Werke. Köln/Wien 1974. – K. Briegleb: Opfer H.? Versuche über Schriftzüge der Revolution. Ffm. 1986. – Stefan Bodo Würffel: Der produktive Widerspruch. H. H.s negative Dialektik. Bern 1986. – Überblicke: J. L. Sammons: H. H. Stgt. 1991. – Bernd Kortländer: H. H. Stgt. 2003. – Gerhard Höhn: H.-Hdb. Zeit, Person, Werk. Stgt. 32004. – Marie-Ange Maillet: H. H. Paris 2006. – Jost Hermand: H. H. Kritisch, solidarisch, umstritten. Köln u. a. 2007. – Sammelbände und Aufsatzsammlungen: Benno v. Wiese: Signaturen. Zu H. H. u. seinem Werk. Bln. 1976. – Markus Winkler (Hg.): H. H. u. die Romantik. H. and Romanticism. Tüb. 1997. – M. Windfuhr: Rätsel H. Heidelb. 1997. – J. A. Kruse: H.-Zeit. Stgt. 1997. – Alida Fliri Piccioni (Hg.): H., cittadino d’Europa. H. H. als Europäer. Milano 1999. – Joseph A. Kruse, Bernd Witte u. Karin Füllner (Hg.): Aufklärung u. Skepsis. Internationaler H.-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Stgt. 1999. – T. J. Reed u. Alexander Stillmark (Hg.): H. u. die Weltlit. Oxford 2000. – J. L. Sammons: H. H.: alternative perspectives 1995–2005. Würzb. 2006. – Sikander Singh: ›Aber der Tod ist nicht poetischer als das Leben‹. H. H.s 18. Jh. Bielef. 2006. – Arnold Pistiak u. Julia Rintz (Hg.): Zu H. H.s Spätwerk ›Lutezia‹. Kunstcharakter u. europ. Kontext. Bln. 2007. – Biografie: Fritz Mende: H. H. Chronik seines Lebens u. Werkes. Bln. 1970. 21981. – J. A. Kruse: H.s Hamburger Zeit. Hbg. 1972. – Edda Ziegler: Julius Campe – Der Verleger H. H.s. Hbg. 1976. – Michael Werner: Genius u. Geldsack. Zum Problem des Schriftstellerberufs bei H. H. Hbg. 1978. – Jan-
177 Christoph Hauschild u. M. Werner: ›Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst‹. H. H. Eine Biogr. Bln. 2 1999 (frz. 2001). – M.-A. Maillet: H. H. et Munich. Paris 2004. – Ästhetik: Wolfgang Preisendanz: H. H. Werkstrukturen u. Epochenbezüge. Mchn. 1973. – Sabine Bierwirth: H.s Dichterbilder. Stationen seines ästhet. Selbstverständnisses. Stgt. 1995. – Lyrik und Versepos: S. S. Prawer: H. The Tragic Satirist. A Study of Later Poetry 1827–56. Cambridge u. a. 1961. – Gerhard Storz: H. H.s lyr. Dichtung. Stgt. 1971. – Erich Mayser: H. H. ›Buch der Lieder‹ im 19. Jh. Stgt. 1978. – Hiroshi Kiba: [Der Kampf mit dem Nationalismus. Eine Untersuchung über ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹ von H. H.; jap.]. Kyoto 1987. – Prosa: Lion Feuchtwanger: H. H.s ›Rabbi v. Bacherach‹. Mchn. 1907. – Albrecht Betz: Ästhetik u. Politik. [I] H. H.s Prosa. Mchn. 1971; II. ›Der Charme des Ruhestörers‹. Aachen 1997. – Günter Oesterle: Integration u. Konflikt. Die Prosa H. H.s im Kontext oppositioneller Lit. der Restaurationsepoche. Stgt. 1972. – Bühne: Max Niehaus: Himmel, Hölle u. Trikot. H. H. u. das Ballett. Mchn. 1959. – Beziehung, Künste: Michael Mann: H. H.s Musikkritiken. Hbg. 1971. – Irmgard Zepf: H. H.s Gemäldeber. Mchn. 1980. – Günther Metzner: H. in der Musik. Bibliogr. der Vertonungen. 12 Bde., Tutzing 1989–94. – Arbeitsweise und Stil: Erhard Weidl: H. H.s Arbeitsweise. Kreativität der Veränderung. Hbg. 1974. – Margaret A. Rose: Die Parodie. Eine Funktion der bibl. Sprache in H.s Lyrik. Meisenheim am Glan 1976. – H. Kiba: [Der gesprächige Körper in H.s Prosawerken; jap.]. Kyoto 2004. – H. Kiba: [H.s Sprachzauberteppich. Untersuchung zu den Ding- u. Tiermetaphern in seinen Prosawerken; jap.]. Kyoto 2007. – Philosophie, Geschichte, Natur: Jean Pierre Lefebvre: Der gute Trommler. H.s Beziehung zu Hegel. Hbg. 1986. – Michel Espagne: Federstriche. Die Konstruktion des Pantheismus in H.s Arbeitshandschr.en. Hbg. 1991. – Religionen: Mounir Fendri: Halbmond, Kreuz u. Schibbloeth. H. H. u. der islam. Orient. Hbg. 1980. – S. S. Prawer: H.’s Jewish Comedy. A Study of his Portraits of Jews and Judaism. Oxford 1983. – H. Kiba: [Der mit Gott Kämpfende. Über das Jüd. bei H. H.; jap.]. Kyoto 1995. – K. Briegleb: Bei den Wassern Babels. H. H. Jüd. Schriftsteller in der Moderne. Mchn. 1997. – Edith Lutz: Der ›Verein für Kultur und Wissenschaft der Juden‹ u. sein Mitgl. H. H. Stgt. 1997. – Politik: Giorgio Tonelli: H. H.s. polit. Philosophie (1830–45). Hildesh./New York 1975. – Walter Grab: H. H. als polit. Dichter. Heidelb. 1982. – H. Kiba: [H. u. Ortega; jap.]. Kyoto 1991. – Bodo Morawe: H.s ›Französische Zustände‹. Über die Fortschritte des Republikanismus u. die anmarschierende Weltlit. Heidelb. 1997. – Koon-Ho Lee: H. H. u. die Frauenemanzipation.
Heine Stgt./Weimar 2005. – Beziehungen, Romantik: Sandra Kerschbaumer: H.s moderne Romantik. Paderb. u. a. 2000. – Ulrich Pongs: H. H.: Klassik, Aufklärung u. Romantik: Rochester 22002. – Beziehungen, Junges Deutschland: Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. 3 Bde., Stgt. 1971–80. – Beziehungen, Länder (Wirkungsgeschichte): Eberhard Galley u. Alfred Estermann (Hg.): H. H.s Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Hbg. 1981 ff., fortgeführt durch Christoph auf der Horst u. S. Singh. Stgt. 2002 ff. – Europa: Renate Stauf: Der problemat. Europäer. H. H. im Konflikt zwischen Nationenkritik u. gesellschaftl. Utopie. Heidelb. 1997. – Deutschland: Georg Lukács: H. H. als nationaler Dichter. In: Ders.: Dt. Realisten des 19. Jh. Bln. 1951 u. ö. – Theodor W. Adorno: Die Wunde H. In: Ders.: Noten zur Lit. Bd. 1, Ffm. 1958. – W. Gössmann (Hg.): Geständnisse. H. im Bewußtsein heutiger Autoren. Düsseld. 1972. – Volkmar Hansen: Thomas Manns H.Rezeption. Hbg. 1975. – Hans Mayer: Außenseiter. Ffm. 1975. – Bernd Füllner: H. H. in dt. Literaturgesch.n. Ffm. u. a. 1982. – Paul Peters: Die Wunde H. Zur Gesch. des H.-Bildes in Dtschld. Darmst. 21997. – George F. Peters: The Poet as Provocateur. H. H. and His Critics. Rochester 2000. – Dietmar Goltschnigg u. Hartmut Steinecke (Hg.): H. u. die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern. Texte u. Kontexte, Analysen u. Komm.e. Bd. 1–2, Bln. 2006–08. – Frankreich: Louis B. Betz: H. in Frankreich. Zürich 1895. – Joseph Dresch: H. à Paris (1831–56). Paris 1956. – Claude Porcell: H., écrivain français? Les œuvres françaises d’Henri H. vues à travers les manuscrits: genèse, publication et reception. 3 Bde., Paris 1976 (masch.). – Lucienne Netter: H. et la peinture de la civilisation, parisienne 1840–48. Ffm. u. a. 1980. – Hans Hörling (Hg.): Die frz. H.Kritik. 3 Bde., Stgt. 1996–2001. – C. auf der Horst: H. H. u. die Gesch. Frankreichs. Stgt. u. a. 2000. – England: S. S. Prawer: Frankenstein’s Island. England and the English in the writings of H. H. Cambridge 1986. – Russland: German Ritz: 150 Jahre russ. H.-Übers. Bern u. a. 1981. – Jakov Il’icˇ Gordon: H. in Rußland 1830–1860. Hbg. 1982. – Constanze Wachsmann: Der sowjet. H. Bln. 2001. – Südosteuropa: Michael M. Dobrinac: Die H.-H.-Rezeption des ehem. Jugoslawien [...]. Ffm. 1995. – Georgien: Verena Kawtiaschwili: H. in der georg. Lit. Tiflis 1978. – Portugal: Maria Manuela Gouveia: A Recepção Litteraria de H. H. no Romantismo Português (de 1844 a 1871). Lissabon 1984. – Niederlande: Martin van Amerongen: H. en Holland. Amsterd. 1997. – Polen: Ernst Josef Krzywon: H. H. u. Polen. Köln/Wien 1972. Volkmar Hansen
Heine
Heine, Thomas Theodor, eigentl.: David Theodor Heine, * 28.2.1867 Leipzig, † 26.1.1948 Stockholm. – Maler, Karikaturist, Illustrator; Verfasser von Erzählungen, modernen Märchen u. einem halbautobiografischen Roman. Der Sohn eines Chemikers u. Gummiwarenfabrikanten musste die Leipziger Thomasschule wegen einiger veröffentlichter Karikaturen vorzeitig verlassen. 1885/86 studierte H. Malerei an der Düsseldorfer Akademie, von der er aber dann aus unbekanntem Grund für ein Jahr ausgeschlossen wurde. Dieses Jahr verbrachte er in München, machte seinen Abschluss aber dann doch in Düsseldorf. 1889 ließ er sich endgültig in München nieder; 1918–33 lebte er überwiegend in Dießen am Ammersee. H. wollte eigentlich Maler werden, zeichnete aber zum Broterwerb 1892–1896 für die »Fliegenden Blätter«, 1895/96 für »Pan«, 1899 für die »Insel«. Damals u. später entwarf er Buchumschläge, Vignetten u. Plakate (z.B. 1901 für das Münchner Kabarett »Die elf Scharfrichter«), gelegentlich auch Stoffmuster u. Möbel. Als der Verleger Albert Langen 1896 den »Simplicissimus« begründete, war H. von Anfang an dabei u. alsbald Spiritus rector des Blatts, u. bis 1933 erschien fast kein Heft ohne mindestens einen Beitrag von ihm. Die von H. gezeichnete rote Bulldogge wurde zum Symbol für die antiwilhelmin. u. sozialkrit. Richtung der Zeitschrift. In seinen »Simplicissimus«-Karikaturenreihen Bilder aus dem Familienleben (1896–1909), Durchs dunkelste Deutschland (1899–1910) u. Bilder aus dem deutschen Pastorenleben (1904) sowie in seinen sonstigen Blättern attackierte H. Philistertum, Obrigkeitshörigkeit, Bürokratie, nationalen Größenwahn u. militärische Borniertheit. Wesentlicher Teil seiner Karikaturen sind die immer von H. selbst verfassten Über- u. Unterschriften, die häufig erst die entscheidende Pointe bieten. Als bekannter Gegner der Nationalsozialisten u. Jude musste H. schon 1933 Deutschland verlassen. Bis 1938 lebte er in Prag u. Brünn, wo er für verschiedene Zei-
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tungen zeichnete u. gelegentlich Porträts malte. Mit Rücksicht auf seine in Deutschland verbliebene Familie mäßigte er jedoch seine polit. Schärfe. 1938 floh er weiter nach Oslo, 1942 nach Stockholm. Bis zu seinem Tod zeichnete er für norweg. u. schwed. Tageszeitungen; erst nach dem Tod seiner Frau (1939) u. seiner Tochter (1942) wagte er es, aggressiv antifaschistische Karikaturen zu publizieren. H. war immer wieder schriftstellerisch tätig. Für den »Simplicissimus« verfasste er zahlreiche Texte, die aber unter verschiedenen Pseudonymen erschienen u. bis heute nur zum geringsten Teil identifizierbar sind. Im tschechoslowak. Exil veröffentlichte er zwei Bücher: Das spannende Buch (Mährisch-Ostrau 1934, ältere unpolit. Zeichungen) u. Die Märchen (Amsterd. 1935, moderne Märchen mit eigenen Illustrationen. Stark erw. Ausg. u. d. T. Seltsames geschieht. Stockholm 1946, schwed.). In tschech. Tageszeitungen erschienen heitere Erzählungen, Erinnerungen u. Texte über Wedekind, Lenbach, Hartleben usw. Sein satir., halbautobiogr. Roman Ich warte auf Wunder (zuerst schwed., Stockholm 1944, dann dt., Stockholm 1945, u. engl., New York 1947) schildert, humorvoll verfremdet, polit. u. persönl. Ereignisse aus H.s Leben. Ironisch werden dabei die Zeit der Münchner Räterepublik u. das »Dritte Reich« vermischt. Viele histor. Persönlichkeiten lassen sich erkennen, sind aber ebenfalls in freier Erzählung verfremdet u. zum Teil mit anderen Figuren vermengt. Literatur: Eberhard Hölscher: Der Zeichner T. T. H. Freib. i. Br. 1955. – Elisabeth Stüwe: Der ›Simplicissimus‹-Karikaturist T. T. H. als Maler. Ffm. u. a. 1978. – Timothy W. Hiles: T. T. H. Finde-Siècle Munich and the Origins of ›Simplicissimus‹. New York u. a. 1996. – Thomas Raff: T. T. H. Der Biss des Simplicissimus. Das künstler. Werk. Mchn. 2000. – Monika Peschken-Eilsberger: T. T. H. Der Herr der roten Bulldogge. Biogr. Mchn. 2000. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – T. Raff (Hg.): Die Wahrheit ist oft unwahrscheinlich. T. T. H.s Briefe an Franz Schoenberner aus dem Exil. Gött. 2004 (darin auch einige Texte H.s). Oliver Riedel / Thomas Raff
Heinrich
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Heinel, Eduard (Friedrich Richard), auch: Palaiophilus Prutenos, * 5.9.1798 Marienburg, † 17.2.1865 Königsberg. – Epiker u. Erzähler. H. studierte ab 1818 Theologie u. Philosophie bei Johann Friedrich Herbart in Königsberg; 1825 wurde er Pfarrer u. 1842 Diakon. Neben Schul- (Versuch einer Bearbeitung der Geschichte Preußens für Volksschulen. Danzig 1823) u. volkstüml. Geschichtsbüchern schrieb H. versifizierte Geschichtsdramen. Liberal ausgerichtet – während seines Studiums wäre er beinahe einem Berufsverbot wegen Demagogie zum Opfer gefallen –, bemühte er sich um die Popularisierung des Forschungsstands der theolog., philosophischen, v. a. aber histor. Wissenschaften. Sein lyr. Werk besteht in erster Linie aus Idyllen. Weitere Werke: Wolfgang v. Wallenfels. Lpz. 1828 (D.). – Kränze um Urnen preuß. Vorzeit. Königsb. 1828 (L. u. P.). – Gesch. Preußens für das Volk u. die Jugend. Königsb. 1829. – Tobias. Idyll. Erzählung frei nach der hl. Urkunde. Königsb. 1832. – Das Pfingstfest. Königsb. 1833 (Ep.). – Gesch. des preuß. Staates u. Volkes, für alle Stände bearbeitet. Königsb. 1834–41. – Gedichte. Hg. Karl Heinrich Bartisius. Königsb. 1865. Literatur: Goedeke 10 u. 14.
Ulrich Rose
Kaiser Heinrich. – Minnesänger des 12. Jh. Bei dem Minnesänger handelt es sich mit zieml. Sicherheit um den Stauferkaiser Heinrich VI. (* Herbst 1165 Nimwegen, † 28.9.1197). Der Sohn Friedrichs I. Barbarossa wurde bereits 1169 zum dt. König gekrönt. 1186 heiratete er in Mailand Konstanze von Sizilien, wurde zum König von Italien gekrönt u. vertrat nun die Interessen des Vaters in Italien. Bei seinem Aufbruch zum dritten Kreuzzug übergab Friedrich dem Sohn die Regierung als Reichsverweser. Nach Friedrichs Tod 1190 wurde H. zum Alleinherrscher; 1191 krönte Papst Coelestin III. ihn auf seinem ersten Italienfeldzug in Rom zum Kaiser. H. erlag der Malaria, an der er am 26.8.1197 erkrankt war. Sein Grabmal befindet sich im Dom zu Palermo. Im Umkreis H.s hielten sich Minnesänger wie Friedrich von Hausen, Bligger von
Steinach u. Ulrich von Gutenburg auf. Die unter H.s Namen überlieferten drei Minnelieder (acht Strophen) führen die Sammlungen mhd. Lieddichtung in der Weingartner u. der Großen Heidelberger Liederhandschrift an. Wurde die Autorschaft des Kaisers früher in Frage gestellt, zweifelt sie die neuere Forschung nicht mehr ernsthaft an. Vermutlich entstanden die Lieder, angeregt wohl von der Minnesangkunst im Umkreis des stauf. Hofs (vgl. Friedrich von Hausen), um die Zeit des berühmten Mainzer Hoffestes Pfingsten 1184, als H. kurz vor der Verlobung mit Konstanze zum Ritter geschlagen wurde. Die Lieder I u. II gehören formal, stilistisch u. thematisch noch dem frühen, sog. donauländ. Minnesang an. In dem Wechsel I stellt der Ritter die Nähe seiner Geliebten über seine gesellschaftl. Stellung (»rîche«); Ausgangspunkt für seinen Frauenpreis ist die Fiktion einer erfüllten Minnebeziehung. Die Frauenstrophe enthält das Motiv des Rivalinnenneids. Nicht eindeutig ist die Strophenform. Es könnte sich um Reimpaarstrophen aus Langzeilen, um stollig gebaute Strophen mit Kurzzeilen im Aufgesang u. einem Abgesang aus Kurz- u. Langzeilen oder um Kurzzeilen mit doppeltem Kreuzreimkursus handeln. Auch Lied II, eine Abschiedsklage, ist wohl ein Wechsel, wenn man das Wort »geselle« (2, 1) wie üblich als Anrede an die Frau interpretiert. Man könnte »geselle« jedoch auch auf den Mann beziehen; dann wäre das zweistrophige Lied als monologische Frauenklage aufzufassen. Wie in I lässt die Strophenform mehr als eine Deutungsmöglichkeit zu: Langzeilenstrophen oder Stollenstrophen mit Waisenzeile zwischen Auf- u. Abgesang. Das vierstrophige Frauenpreislied III, das in den Handschriften an erster Stelle steht, beginnt mit dem auch von Friedrich von Hausen, Heinrich von Morungen u. Neidhart verwendeten Motiv des Sängers, der die Geliebte aus der Ferne mit einem Lied grüßt. Die Intensität der Minnebeziehung – Macht u. Reichtum des Liebenden verlieren in der Trennungssituation jegl. Bedeutung, er würde für sie sogar auf die Krone verzichten –, aber auch das geschickte Spiel zwischen Sängerrolle u. gesellschaftl. Realität machen
Heinrich
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das Lied zu einem der reizvollsten Beispiele tandi aus dem frühen 13. Jh. In: Dt. Archiv für für diese frühe Phase des Minnesangs. Die Erforschung des MA. 54 (1998), S. 121–139. Claudia Händl Konfrontation von Minnebeziehung u. gesellschaftl. Macht wird im späteren Minnesang topisch. Daneben enthält das Lied in I,5 Heinrich. – Dichter der um 1170 enteinen der im dt. Minnesang seltenen Hinstandenen Litanei. weise darauf, dass Verfasser u. Vortragender eines Minnelieds – wie in der Romania Der Titel ist – ungewöhnlich für diese Zeit – durchaus üblich – verschiedene Personen sein durch handschriftl. Überlieferung bezeugt. können. Das Versmetrum des aus Stollen- Sachlich trifft er insofern zu, als die geregelte strophen mit Dreireimabgesang gebauten Folge der in der lat. Litaneiliturgie angeruLieds erlaubt mehrere Deutungen; die fenen Heiligengruppen u. einzelnen Heiligen mehrsilbigen Auftakte, Hebungen u. Sen- den Rahmen für den Aufbau des dt. Gedichts kungen u. die unregelmäßige Kadenzvertei- bildet, das so die Litanei als liturgisch sakralung machen eine Schematisierung unmög- len Bezugstyp in Anspruch nimmt. Das dt. lich. Das Lied, das einer jüngeren Form- u. Gedicht selbst entwickelt dann aber, weit Stilschicht als I u. II angehört, wurde ver- über Ansätze in der mlat. Dichtung hinaus, schiedentlich – wohl zu Unrecht – H. abge- aus dem liturg. Typ ein eigenständiges, neusprochen; als Verfasser wurde u. a. Heinrich artiges u. literarhistorisch einmaliges poetiVII. erwogen. Dem ist entgegenzuhalten, dass sches Gebilde. Der vorgegebene Rahmen auch andere Minnesänger der Zeit Lieder bloßer Heiligennennungen u. -anrufungen, unterschiedl. Stilstufen nebeneinander in ih- welche selbst – häufig sogar im lat. Wortlaut rem Repertoire haben. Wie diese ist auch H. – beibehalten werden, wird aufgefüllt mit als Übergangsgestalt zwischen frühem do- Lob- u. Bittgebeten, Sündenklagen u. Ernauländ. u. rheinischem Minnesang zu se- zählskizzen legendarischen Inhalts. Der Stil hen, als Sänger, der die verschiedenen for- des Gedichts wechselt von emphat. Anamalen, stilistischen u. themat. Elemente in phernketten über Passagen in hymnisch verseinem schmalen, eigenwilligen Œuvre ver- dichteter, allegor. Bildlichkeit zu Abschnitten in exemplarisch andeutender Erzähltechnik. einigt. Die Litanei ist erhalten in der älteren, Ausgaben: Minnesangs Frühling 1, S. 70–72 sprachlich österr. Fassung einer kalligrafisch (zitiert). – Günther Schweikle: Die mhd. Minnelyrik I. Mit nhd. Übertragung u. Komm. Darmst. ausgeführten Grazer Handschrift (950 Verse), 1977, S. 250–265, 506–510. – Dt. Lyrik des frühen die aus dem Augustinerchorherrenstift Seu. hohen MA. Hg. u. komm. v. Ingrid Kasten. ckau/Steiermark stammt u. dort im Gebrauch Übers. v. Margherita Kuhn. Ffm. 1995, S. 104–109, der Chorfrauen war (12. Jh., drittes Viertel), sowie in einer jüngeren, sprachlich west631–636. Literatur: Bibliografie: Tervooren, Nr. 484–492. mitteldt. (ripuarischen?) Bearbeitung (1648 – Weitere Titel: Hans Martin Schaller: H. VI. In: Verse), die Eingang in die (nach 1187 geNDB. – Peter Bründl: unde bringe den wehsel, als schriebene) Straßburg/Molsheimer Sammelich waen, durch ir liebe ze grabe. In: DVjs 44 (1970), handschrift dt. Gedichte des 12. Jh. fand. S. 409–432. – Peter Wapnewski: Kaiserlied u. Kai- Zeitlich vor der mitteldt. Bearbeitung liegt sertopos. Zu K. H. 5,16. In: Ders.: Waz ist minne? eine zu erschließende des Autors H. selbst. Sie Mchn. 1975, S. 47–64. – Ulrich Pretzel: K. H.s wurde ihm laut eigener Aussage von einem ›Königslied‹ (MSF 5,16). In: FS Marie-Luise DittAbt Engelbrecht aufgetragen, der am ehesten rich. Göpp. 1976, S. 79–94. – Günther Schweikle: mit dem aus Seckau stammenden Präpositus K. H. In: VL. – Olive Sayce: The Medieval German Engelbert (1172–1203) des AugustinerchorLyric 1150–1300. Oxford 1982, S. 98–101. – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. herrenstifts St. Florian bei Linz identifizier1988 (Register). – Jens Köhler: Der Wechsel. Text- bar ist. Von diesem führt die Spur auf einen struktur u. Funktion einer mhd. Liedgattung. der in der zweiten Hälfte des 12. Jh. für SeHeidelb. 1997, S. 116–123. – Thomas Ertl: Man- ckau bezeugten Chorherren namens Heinrich date Heinrichs VI. u. Konrads IV. in einer ars dic- als Autor zurück. Als primärer Rezipienten-
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kreis des Gedichts wird damit der dem Seckauer Chorherrenstift angegliederte Frauenkonvent fassbar. Entsprechendes gilt wohl für die Chorfrauen Engelberts in St. Florian. Ausgabe: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 3, Tüb. 1970, S. 128–251. Literatur: Friedrich Vogt: Über die Letanie. In: PBB 1 (1874), S. 109–146. – Max Roediger: Die Litanei u. ihr Verhältnis zu den Dichtungen Heinrichs v. Melk. In: ZfdA 19 (1876), S. 241–346. – Edgar Papp: H. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ernst Hellgardt: Seckauer Hss. als Träger frühmhd. Texte. In: Alfred Ebenbauer u. a. (Hg.): Die mittelalterl. Lit. in der Steiermark. Bern u. a. 1988, S. 103–130. – Christoph Mackert: Eine Schriftprobe aus der verbrannten ›StrassburgMolsheimer Handschrift‹. In: ZfdA 130 (2001), S. 143–165. Ernst Hellgardt / Red.
Heinrich. – Verfasser des mittelhochdeutschen Versepos Reinhart Fuchs aus dem späten 12. Jh. Der H. gelegentlich zugeschriebene Beiname »der glichesere« (Gleißner) beruht wohl auf einem Überlieferungsfehler. Seine Namensnennung im Werk ist das einzige Zeugnis, das wir von ihm besitzen. Der Reinhart Fuchs ist in Fragmenten vom Beginn des 13. Jh. (S, elsässisch) sowie in zwei Handschriften von etwa 1320–1330 (P, K, ostmitteldt.) erhalten. Allein im Text von P/K erscheint zweimal der Name H. (V. 1788, 2253), u. dies beide Male zweifelsfrei in Verbindung mit der (Fremd-) Bezeichnung »glichsere, glichsenere«, was als »Gleißner, Heuchler« übersetzt werden muss. Inwieweit dieses Epitheton, das ein jüngerer Redaktor setzte (v. 2255), mit dem Selbstverständnis H.s übereinstimmt, muss freilich offen bleiben. Auf Grund seiner weit reichenden Kenntnisse dürfte H., wie der Verfasser des lat. Isengrimus (um 1148/49), mit dem sein Gedicht einige Episoden teilt, Geistlicher gewesen sein. Erschließen lässt sich, dass H. den Reinhart Fuchs (2268 Verse) für ein elsäss. Publikum geschrieben hat. Er könnte den Grafen von Dagsburg, die 1162 die im Text geschmähten Grafen von Horburg (V. 1024) befehdeten, nahe gestanden haben. Auf das Elsass u. auf antistauf. Interessen, die die Dagsburger an
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führender Stelle vertraten, weist neben der Sprache der alten Fragmente (S) v. a. eine Reihe von histor. Anspielungen, die Übergriffe oder Niederlagen stauf. Herrscher (Friedrich Barbarossas, Heinrichs VI.) satirisch beleuchten. Terminus post quem wird das Jahr 1192 sein (Stornierung der unrechtmäßigen Schenkung des Klosters Erstein durch Heinrich VI.), sofern nicht im Gifttod des Löwenkönigs »Vrevel« auf die vermeintl. Ermordung Heinrichs VI. 1197 angespielt wird. Der Reinhart Fuchs geht auf den altfrz. Roman de Renart zurück, eine zykl. Folge von anfangs wohl für den mündl. Vortrag konzipierten Tiergeschichten, die ihre Einheit in den listig-bösartigen Streichen des Fuchses findet u. seit Mitte des 12. Jh. in rascher Folge ausgebaut u. ergänzt wurde. H. ist wohl bereits von den ersten schriftlich fixierten Episodengedichten des Pierre de Saint-Cloud (Branche II u. Va von ca. 1174–1176) ausgegangen, hat sie unter Beiziehung anderer Materialien (äsop. Fabeln oder auch dt. Rechtsbräuche) auf seine Intentionen hin neu geordnet u. so ein in sich abgeschlossenes Buchepos geschaffen, das er wohl unter den zusammenfassenden Titel Îsengrines nôt (nach S: V. 1190) gestellt hat (P: »vuchs Reinhart«). H. komponiert seine Geschichte genau u. treffsicher als bittere Satire auf die Schlechtigkeit der Welt, die der Fuchs Reinhart, in seinen Untaten die »Inkarnation des Bösen« (Jauß), verkörpert u. zgl. aufdeckt. Die Komposition ist dadurch bestimmt, dass dem Fuchs eine Folge von Partnern u. Gegnern zugeordnet wird, die schon in ihrem Erscheinungsbild auf fortwährende Steigerung angelegt ist: In einem ersten Teil (VV. 11–384) lässt Reinhart sich mit einer Reihe von deutlich unterlegenen Tieren ein (Hahn, Meise, Rabe, Kater), scheitert in seinen Übertölpelungsversuchen aber an deren Klugheit; im zweiten (VV. 385–1338) schließt er ein Bündnis mit dem Wolf Îsengrin zu dessen sich beständig steigerndem Schaden (Verprügelung, Entmannung u. Verlust des Schwanzes, Vergewaltigung der Ehefrau, Skalpierung). Im dritten Teil (VV. 1239–2248) tritt ihm der König, der Löwe Vrevel (bezeichnende Umbenennung des frz. Noble),
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mit dem Versuch entgegen, das Recht zu wahren (Hof- u. Gerichtstagsepisode), entlarvt sich dabei aber selbst als eigensüchtiger Rechtsbrecher, der die gewalttätige Usurpation des Ameisenreiches durch quälende Schmerzen büßt, darüber seine Aufgabe völlig aus den Augen verliert, seine Untertanen zu schützen, u. sie am Ende auch noch für den Versuch opfert, das eigene Leben zu retten: Wolf, Bär u. Katze werden auf Anraten des als Arzt auftretenden Reinhart geschunden, das Huhn wird gesotten, dem Eber ein Stück Fleisch aus dem Leib u. dem Hirsch ein Gürtel aus der Haut geschnitten. Zwar erkauft sich der Löwe so die Heilung durch den Fuchs, der vom auf den Tod angeklagten Verbrecher zum begehrten Helfer wird, am Ende wird aber auch er noch vergiftet; ohne erkennbaren Gewinn macht sich der Fuchs mit seinem treuesten Bundesgenossen, dem Dachs, schließlich davon. Der Reinhart Fuchs lässt sich nicht auf die bloße polit. Satire verkürzen. Die polit. Verfehlungen sind nur Teil einer in allen ihren Erscheinungsformen für das Böse anfälligen Welt. Der Spott H.s richtet sich ebenso auf Reliquienkult u. Visionswesen, Mönchstugenden u. (zisterziensische) Klosterkultur, Bestattungsriten, literar. Schemata (Ausfahrt des Helden) u. die höf. Mode des Minnedienstes. Das Epos wirkt in der Reduzierung des Menschen auf seine triebhafte Natur wie ein nüchtern skept., die Katastrophe des Nibelungenlieds zitierender Gegenentwurf zu den idealistischen Programmen der aufkommenden höf. Literatur-»Klassik«, bes. zur Gefühlskultur des Minnesangs u. zu den Entwürfen des frühen Artusromans (Hartmann von Aue), die eine anspruchsvolle ritterl. Laienethik ins Bild zu setzen versuchen. Tierschwänke aus dem 13. (Der Fuchs und der Rabe, Der Fuchs und der Wolf), 14. (Henne und Fuchs, Fuchs, Esel und Wolf) u. 15. Jh. (Das Rad und die Geistlichkeit) zeugen von der Fortwirkung des Reinhart Fuchs. Die weitere Rezeption des Stoffs in der dt. Literatur nimmt ihren Ausgang nicht von der mhd. Bearbeitung H.s, sondern knüpft, wie zuvor schon Des hundes nôt (14. Jh., Branche XI), auf anderen Wegen an die frz. Fassungen an: Über ihre mittelniederländ. Überarbeitung durch einen sonst
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unbekannten Willem (Van den Vos Reynaerde, erste Hälfte des 13. Jh.), deren Fortsetzung Reynaert II (Ende 14. Jh.) u. dann deren Übertragung ins Mittelniederdeutsche (Reynke de Vos. Lübeck 1498) wird er in der dt. Literatur des 16. u. 17. Jh. heimisch, von Gottsched hochdt.-niederdt. herausgegeben (1752) u. von Goethe (1794) schließlich in seine klass. Form gebracht. Obwohl die zeitkrit. Schärfe von H.s Satire in späteren Fassungen kaum erreicht wurde u. oft hinter didakt. Intentionen oder humoristischer Typenkomik zurücktrat, bezeugen zahlreiche Aktualisierungen des Stoffs gerade in Zeiten des Umbruchs u. der Krise (etwa das barocke Lust= und Sinn=reiche Büchlein im Rostocker Druck von 1650, 1662 verdeutlichend als Staats=Büchlein, oder Des durchtriebenen R. Fuchs Leben und Buben=Stücke. Hbg. 1690/1700) weiterhin sein Potenzial als polit. Warnfabel. Ausgaben: Der mhd. Reinhart Fuchs. Abb.en u. Materialien zur handschriftl. Überlieferung. Hg. Otfrid Ehrismann. Göpp. 1982. – Der Reinhart Fuchs des Elsässers H. Hg. Klaus Düwel u. a. Tüb. 1984. – H. der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mhd. u. nhd. Hg. Karl-Heinz Göttert. Stgt. 1995 (zuerst 1976). Literatur: Klaus Düwel: H. In: VL (Bibliogr.). – Uwe Ruberg: Verwandtschaftsthematik in den Tierdichtungen um Wolf u. Fuchs vom MA bis zur Aufklärungszeit. In: PBB 110 (1988), S. 29–62. – Michael Schilling: Vulpekuläre Narrativik. In: ZfdA 118 (1989), S. 108–122. – Sigrid Widmaier: Das Recht im ›Reinhart Fuchs‹. Bln./New York 1993. – Karl Ferdinand Werner: Reineke Fuchs. Burgundischer Ursprung eines europ. Tierepos. In: ZfdA 124 (1995), S. 375–435. – Christoph Fasbender: Pfaffensatire im Fuchsepos? Überlegungen zu anti-geistl. Elementen im ›Reinhart Fuchs‹ des Elsässers H. In: Archiv 234 (1997), S. 78–89. – Theo Broekmann: ›Süenen‹ u. ›bescheiden‹. Der ›Reinhart Fuchs‹ des Elsässers H. im Spiegel mittelalterl. Verhaltenskonventionen. In: FMSt 32 (1998), S. 218–262. – Klaus Düwel: Reineke Fuchs. In: EM (Stoffgesch.). – Otto Neudeck: Frevel u. Vergeltung. Die Desintegration v. Körper u. Ordnung im Tierepos ›Reinhart Fuchs‹. In: Tierepik u. Tierallegorese. Studien zur Poetologie u. histor. Anthropologie vormoderner Lit. Hg. Bernhard Jahn u. Otto Neudeck. Ffm. u. a. 2004, S. 101–120. Klaus Grubmüller / Christoph Fasbender
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Heinrich von Beringen, * wohl erste Hälfte des 14. Jh. – Verfasser eines Schachbuchs u. vermutlich vierer Gedichte.
Heinrich Julius
liebten. Ein Lied in Kanzonenstrophen u. zwei Refrainlieder sprechen von Liebeshoffnung u. -leid sowie dem Unglück eines klagenden Ich. Ausgaben: Das Schachgedicht H.s v. B. Hg. Paul
H. nennt sich am Ende seines mhd. SchachZimmermann. Tüb. 1883 (erg. Bruchstück: Hg. zabelbuchs in alemann. Dialekt (V. 10.707); Hubert Schiel. In: ZfdA 74, 1937, S. 132–134). – unter demselben Namen überliefert eine Thomas Cramer (Hg.): Die kleineren Liederdichter ostschwäb., um 1348 geschriebene Hand- des 14. u. 15. Jh. Bd. 1, Mchn. 1977, S. 365–370, schrift eine Reimpaarrede u. drei Lieder. Der 476. Autor lässt sich vielleicht mit einem ritterLiteratur: Morgan David Idwal Lloyd: Studien bürtigen Geistlichen, der 1323–1354 nach- zu H. v. B.s Schachgedicht. Bln. 1930. – HeinzJürgen Kliewer: Die mittelalterl. Schachallegorie weisbar ist, identifizieren. H.s Schachbuch ist eine – vielleicht die [...]. Gießen 1966. – Oliver Plessow: Mittelalterl. früheste (wohl zweites Viertel des 14. Jh.) – Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik u. von vier mhd. Versbearbeitungen einer lat. Wertevermittlung. Der Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext seiner spätmittelalterl. ReSchachallegorese Liber de moribus hominum [...] zeption [...]. Münster 2007. – Gerard F. Schmidt u. (um 1300) des Dominikaners Jacobus de Burghart Wachinger: H. v. B. In: VL (Lit.) u. VL Cessolis, der 1317–1322 im Konvent zu Ge- (Nachträge und Korrekturen). – http://www.handnua bezeugt ist. Sein Werk war bis zum Ende schriftencensus.de/werke/1208 u. 1576 u. 1577. des 15. Jh. eines der meistgelesenen Bücher Sabine Schmolinsky des MA. Das Schachspiel wird eingeführt als Erfindung eines Philosophen zur Besserung eines grausamen Herrschers sowie allg. zur Heinrich Julius, Herzog von BraunMinderung des Müßiggangs u. Vermehrung schweig und Lüneburg (Wolfenbüttel), nützl. Wissens. Die sechs Figuren u. ihre * 16.10.1564 Schloss Hessen (heute Kr. Züge im mittelalterl. Schach werden be- Halberstadt), † 20.7.1613 Prag; Grabstätschrieben u. auf König, Königin, Richter, te: Wolfenbüttel, Marienkirche. – DraRitter, hohe Amtsträger u. das Volk in seinen matiker. vielfältigen Berufen ausgelegt. Ihre erforderl. Unter den Reichsfürsten seiner Zeit war H. J. moralischen Eigenschaften illustrieren zahl- einer der Gebildetsten. Die Ausbildung am reiche Exempel vornehmlich antiker Auto- Paedagogium Illustre in Gandersheim (wo er, ren, die H. nur z.T. übernimmt. Breiter als damals ein Novum, Unterricht auch in der seine Vorlage führt er höf. Themen u. Min- Aussprache des Hochdeutschen erhielt) u. das negeschichten aus. Studium an der 1576 von seinem Vater Julius H.s Werk hat sich in einer fast vollständi- gegründeten Universität Helmstedt (deren gen, auf 1438 datierten Handschrift mit erster Rektor er als Zwölfjähriger wurde) Fragment sowie in einem Auszug von fast hatten aus ihm einen vielseitig interessierten 6000 Versen (zweite Hälfte des 15. Jh.) er- Gelehrten, insbes. einen versierten Juristen halten, die beide auf eine Verbreitung in gemacht. Es gelang ihm, das kleine FürstenSüddeutschland verweisen. Die Übernahme tum Braunschweig-Wolfenbüttel im Wege von elf seiner Exempel in die chronikal. legaler Erbfolge, aber auch aufgrund dubioKompilation des Heinrich von München so- ser Erbansprüche u. durch Gebietsannexion wie eine Sammlung von 57 seiner Geschich- zu mehr als dreifacher, später nie wieder erten in einer Handschrift aus der zweiten reichter Größe auszudehnen. Dagegen scheiHälfte des 15. Jh. zeigen, dass sein Schach- terte er bei seinen Versuchen, die Hansestadt gedicht als Exempelsammlung wie die Gesta Braunschweig, Hauptort seines Territoriums, Romanorum, die wohl eine Quelle für ihn wa- zu unterwerfen. 1606 zog er sich, sein Herren, rezipiert werden konnte. zogtum vernachlässigend, an den kaiserl. Hof In der H. zugeschriebenen Reimrede ver- in Prag zurück, wo Rudolf II. ihn zu seinem spottet eine Frau den Verleumder ihres Ge- Geheimen Rat machte.
Heinrich von Burgeis
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Seit seinem Regierungsantritt 1589 hatte auch Johan Bouset (die stets auftretende kom. H. J. seinen Wolfenbütteler Hof zu einem Ort Person), sprechen je ihren Dialekt, beherrder Wissenschaften u. Künste ausgebaut: schen das damals erst entstehende Standardseine Hofkapelle vergrößerte er alsbald um Hochdeutsch also noch nicht. Aus dem hierviele Musiker, verpflichtete John Dowland aus erwachsenden gegenseitigen Missverste(nur kurz) u. Michael Praetorius (dauerhaft ab hen gewinnt H. J. das kom. Potential seiner 1594) als Hofkomponisten, berief Gelehrte, Dramen. Die Sprachbarriere, die H. J. so um Maler, Baumeister u. entfaltete eine rege seine Stücke errichtete, hat bewirkt, dass ihm Bautätigkeit (u. a. Marienkirche Wolfenbüt- – unverdient - nie der Nachruhm etwa eines tel, Universität Helmstedt, Schloss Hessen). Hans Sachs zuteil geworden ist. Früh verwitwet, hatte H. J. 1590 in zweiter Ausgaben: Wilhelm Ludwig Holland (Hg.): Die Ehe Elisabeth, eine Tochter König Friedrichs Schauspiele des Hzg. H. J. v. B. Stgt. 1855. Neudr. II. von Dänemark, geheiratet. Beeindruckt Amsterd. 1976. von der für ihn neuen Kunst engl. KomödiLiteratur: Richard Friedenthal: Hzg. H. J. v. B. anten, die er während der Hochzeitsfeier auf als Dramatiker. Diss. masch. Mchn. 1922. Hg. u. Schloss Kronborg erlebte, u. wohl auch, um mit einem Nachw. vers. v. Gerd Biegel. Braunschw. seiner jungen Frau zu gefallen, engagierte H. 1996. – A. H. J. Knight: H. J., Duke of Brunswick. J. 1593 eine engl. Schauspieltruppe dauerhaft Oxford 1948. – Ingrid Werner: Zwischen MA u. Neuzeit. H. J. v. B. als Dramatiker der Übergangsnach Wolfenbüttel. Das von ihm dort eingezeit. Ffm./Bern 1976. – Hilda Lietzmann: Hzg. H. J. richtete Hoftheater wurde so zum ersten zu B. u. L. o. O. [Braunschw.] 1993. – Herbert Bluortsfesten Theater Deutschlands. me: Babylon in Wolfenbüttel? Zur Sprachenvielfalt Um für seine Bühne ein Repertoire zu in den Dramen Hzg. H. J.’ v. B. u. L. In: H. J.: Von schaffen, das seinen Wünschen entsprach, einem Wirthe oder Gastgeber. Hg. [...] v. H. Blume. ließ H. J. 1593/94 elf eigene Dramen im Braunschw. 1996, S. 61–79. – Barton W. Browning: Druck erscheinen, je nach ihrem Ausgang als H. J. v. Braunschweig’s 1590 welcoming celebration »Comoedia«, »Tragoedia« oder »Tragica for princess Elisabeth of Denmark. In: Pomp, Comoedia« bezeichnet. Allen gemeinsam ist power, and politics [...]. Hg. Mara R. Wade. Amseine moralistisch-didaktische Grundtendenz. terd. u. a. 2003, S. 73–82. – Ders.: Yet another H. J. ›Susanna‹. In: WBN 30 (2003), S. 81–85. So wie er als Herrscher über einen frühmoHerbert Blume dernen (im Werden begriffenen) Verwaltungsstaat seine Untertanen mit Hilfe zahlreicher Verordnungen zu sittlichem u. öko- Heinrich von Burgeis (Burgus), zweite nomischem Wohlverhalten verpflichtete, so Hälfte 13./Anfang 14. Jh. – Verfasser eines führte er ihnen in seinen Dramen vor Augen, spätmittelalterlichen allegorischen Gewie verderblich das Abweichen vom mora- dichts. lisch rechten Wege ist. Die Protagonisten Man hält H. gewöhnlich für einen Laienseelseiner Stücke verkörpern die jeweilige Untu- sorger u. Angehörigen des Bozener Franzisgend paradigmatisch-real, nicht allegorisch. kanerklosters, der mit dem Gedicht Der Seele In dieser Hinsicht stehen H. J.’ Dramen der Rat möglicherweise gegen die restaurativen Exempelliteratur nahe. Es geht z.B. um Ehe- Tendenzen innerhalb des Tiroler Adels nach bruch (u. a. Von einem Buler vnd Bulerin; Von dem Tod Meinhards II. von Görz-Tirol einer Ehebrecherin), um die Großmannssucht († 1295) protestierte (Margetts). Nach neueeines Miles gloriosus (Von Vincentio Ladislao), ren Forschungen (Max Siller, noch nicht erum parteiisch-ungerechte Justiz (Susanna) schienen) stammte H. aus dem seit 1175 bei oder um den Betrug von Gastwirten an ihren Bozen ansässigen Geschlecht der titellosen Gästen (Von einem Wirthe). In seine Dramen- Edelfreien von Wangen, wäre in Trient Dotexte hat H. J. hier u. da Passagen aus seinen minikaner u. 1272/73 Begründer u. zgl. erster Dekreten fast wörtlich übernommen. Prior des Bozener Dominikanerklosters geEine Besonderheit von H. J.’ Dramen ist die wesen. auf die Personen verteilte Vielfalt der Sprachen. Besonders die zahlreichen Bauern, aber
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Heinrich von Freiberg
H.s Werk Der Seele Rat (6548 vierheberähnl. Heinrich von Freiberg. Ende 13. Jh. – Verse), am Anfang unvollständig, stellt eine Fortsetzer des Tristan Gottfrieds von allegor. Debatte zwischen der Seele u. den Straßburg u. Verfasser zweier kleinerer Frauen Beichte, Buße, Gewissen, Gottes- Reimpaargedichte. furcht u. Reue dar: Die Seele wird zur Einsicht u. Umkehr ermahnt. Dieser großteils H. nennt sich wohl nach dem sächs. Freiberg. monoton wirkende Beicht- bzw. Bußspiegel, Er ist urkundlich nicht bezeugt. Seine Tristander außerhalb Tirols wenig bekannt gewesen Fortsetzung entstand im Auftrag des noch zu sein scheint (nur Jakob III. Püterich von jugendlichen böhm. Adligen Reimund von Reichertshausen erwähnt in seinem Ehrenbrief Lichtenburg; dieser urkundet 1261–1329, von 1462 »Ain Puech vom Rath der Sell«), woraus auf eine Abfassung der Dichtung um kann als eines der ersten volkssprachl. Werke 1285/90 oder gegen 1300 geschlossen wird. dieser Art u. vor allem als der älteste um- Die Anspielung des von Marke gegründeten fangreiche volkssprachl. Beichtspiegel in Ti- Klosters Marienstern auf das gleichnamige rol gelten. Das Werk ist in einer einzigen Zisterzienserinnenkloster in der Lausitz, Papierhandschrift (Bibliothek des Priesterse- vollendet 1284, bleibt unklar. Die Ritterfahrt minars Brixen, Signatur: R 7) aus der Mitte des Johann von Michelsberg, die H. in einem kleineren Gedicht preist, wird in den Chrodes 15. Jh. tradiert. Erstaunlich in seiner Komik u. Lebhaftig- niken zwischen 1293 u. 1297 datiert; der keit ist der Schlussteil des Werks (ab V. 5267): Text muss vor Johanns Tod 1306 verfasst In einem Streit mit Engeln vor dem himml. sein. H.s Schaffen ist somit der Prager HofGericht fordert Satan aus Angst vor der un- kultur u. ihrer Literatur zuzuordnen. Der Tristan (6890 Verse) ist in drei Handvermeidl. Niederlage u. dem Verlust der schriften (dazu ein Fragment, ein weiteres umkämpften Seele seine Gefolgsleute auf, zu Unrecht erworbenes Gut in die Waagschale verschollen) als Schluss von Gottfrieds fragzu legen, um die »Sündenschale« zu be- mentar. Roman überliefert. Nach dem Werk schweren u. den Sieg zu erzwingen. In den Ulrichs von Türheim (um 1235) ist dies der Versen 5684–5742 wird eine der ersten u. in zweite Versuch, den klass. Torso abzuschliedieser Form innerhalb der volkssprachigen ßen. Die dabei verwendeten Vorlagen u. die Ständedidaktik des 13. Jh. einmalige Be- Reichweite des Konzeptwechsels gegenüber schreibung der wirtschaftl. Ausbeutung des Gottfried werden diskutiert. – Der Prolog Bauerntums geboten. Die Darstellung von preist Gottfrieds Kunstmeisterschaft u. beGerichtsszenen in der bildenden Kunst Tirols klagt seinen Tod. Nach dem Lob des Gönners u. Einflüsse von geistl. Spielen können diese u. der Selbstnennung erzählt H. die IsoldeWeißhand-Episode weiter. Er schildert TrisPassagen beeinflusst haben. Ausgabe: Der Seele Rat. Hg. Hans-Friedrich tans Schwanken zwischen den zwei Isolden, seinen Entschluss zur Ehe, die Vorbereitung Rosenfeld. Bln. 1932. Literatur: John Margetts: [...]. Einstellungen u. glanzvolle Feier der Hochzeit u. – erotisch zur Ausbeutung der Landbevölkerung in der zugespitzt – das Versagen des Bräutigams in deutschsprachigen Welt um 1300. In: Volker Ho- der Brautnacht, als er den Ring der Blonden nemann u. a. (Hg.): Poesie u. Gebrauchslit. im dt. Isolde erblickt. Durch ein erlogenes KeuschMA. Tüb. 1979, S. 107–126. – Peter Kesting: H. v. heitsgelübde entzieht sich Tristan für ein Jahr B. (Burgus). In: VL (Lit.). – Max Siller: Der Südti- den ehel. Pflichten. roler Dichter H. v. B. u. die Entstehung des Bozner Es folgt ein Aufenthalt am Artushof in Dominikanerklosters (1272–1276). In: Bozen – Von Cornwall mit Kämpfen gegen Gawan (hier den Anfängen bis zur Schleifung der Stadtmauer. Berichte über die internat. Studientagung, veran- Tristans Neffe), Keie u. Dalcors. Gawan stellt staltet vom Assessorat für Kultur der Stadtge- den Kontakt zu dem in der Nachbarschaft meinde Bozen, Schloß Maretsch, April 1989. Bozen residierenden Marke her u. führt Tristan mit den Artusrittern straffrei in Tintajel ein. Als 1991, S. 223–231. John Margetts / Red. der Liebhaber bei seinem nächtl. Besuch bei Isolde in die von Marke aufgestellte Sensen-
Heinrich von Freiberg
falle läuft, verwunden sich, um die Spur zu vertuschen, auch alle anderen Artusritter in einer burlesken Keilerei. Tristan darf sich nun wieder frei bewegen u. fällt bald in seine alten Gewohnheiten zurück. Marke ertappt das Paar in flagranti, lässt es verurteilen u. zum Tode führen. Aber Tristan rettet sich durch den »Kapellensprung«, befreit Isolde vom Scheiterhaufen u. flieht mit ihr in den Wald. Hier steht ihnen nun nicht mehr die Grotte zur Verfügung. Sie nähren sich von der Jagd u. – in Kombination mit dem Gottfriedschen Motiv – von der geistigen Speise der Minne. Während einer Abwesenheit Tristans wird Isolde mit ihrem Knappen von dem jagenden Marke aufgelesen. Die beiden fingieren ein Gespräch, das bewirkt, dass der König seine Frau entschuldigt u. in Ehren wieder aufnimmt. – Tristan ist indes nach Karke zurückgekehrt. Seine immer noch unberührte junge Frau durchquert auf der Jagd einen Bach, der ihr unter den Rock spritzt, u. lässt das Wort fallen vom »Wasser, das kühner sei als Tristans Hand«, für das ihr Bruder Kaedin Aufklärung verlangt. Tristan kann sich nur durch eine Wette der Rache entziehen. Er nimmt Kaedin mit nach Cornwall u. beweist durch ein listiges Arrangement, dass seine Freundin Isolde die Schönste aller Frauen sei u. ihr Hündchen Petitcreiu besser behandle als Kaedins Schwester ihren Ehemann. Tristan begibt sich nun in der Rolle eines gewalttätigen Narren an Markes Hof u. findet freie Bahn. Sein Name Peilnetosi (Anagramm von »Isotenliep«) wird jedoch entschlüsselt, Tristan kann sich vor den Verfolgern nach Arundel retten. Hier stellt er sich Kaedin in einer Ehebruchsaffäre als Helfer zur Verfügung u. wird auf der Flucht durch einen vergifteten Speer tödlich verwundet. Von Karke schickt er Kurvenal nach der Blonden Isolde. Sie eilt herbei, doch die Weißhändige verkündet dem Kranken statt des weißen das schwarze Segel. Das Nichtwissen des Autors, ob sie eifersüchtig oder nicht, im Ernst oder im Scherz handle, scheint Methode zu haben. Tristan stirbt auf der Stelle, Isolde bricht mit einem wie ein Scheiterhaufen aufprasselnden Herzen über der Leiche des Freundes tot zusammen. Marke, der Isolde nachgesegelt ist, bedauert, dass er erst jetzt Aufklärung über
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den Minnetrank erhält. Er lässt die Leichen nach Tintajel überführen u. auf der Burg begraben, zieht sich in das eigens gestiftete Kloster Marienstern zurück u. überlässt Kurvenal die Regierung über England u. Cornwall. Rose u. Rebe wachsen aus den Gräbern der Liebenden u. verschlingen sich. H. allegorisiert das Motiv im Epilog, vor der weltl. Liebe warnend, als Vereinigung Christi mit der liebenden Seele. Als Vorlagen H.s werden neben Gottfried (bes. stilistische Anregungen) Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim u. eine wohl fiktiv zitierte lombard. Version des Thomas von England (VV. 6842 ff.) diskutiert. Dazu kommen arthurische Traditionen. Die vorliegende Komposition verantwortet H. selbst. Er gestaltet ein Minnekonzept, nach dem das ehebrecherische Paar seine erot. Vorbildlichkeit behält, der gesellschaftsnegierende Charakter der Tristanminne aber ausdrücklich zurücktritt. Hierzu addiert er die Perspektive des contemptus mundi u. eine geistl. Überhöhung des Ganzen im Epilog. Naturgesetzliches gewinnt motivierende Kraft: Tristans Entschluss zur Ehe wird mit dem Nachlassen der Wirkung des Minnetranks durch eine astrolog. Konstellation erklärt. Die Kreuzholzlegende (882 Verse) gilt als Frühwerk H.s. Es beruft sich auf eine lat. Quelle, die in vielen Varianten u. in zahlreichen volkssprachl., auch dt. Bearbeitungen im MA verbreitet war. Der schlichte Bericht lässt für literar. Akzentsetzungen kaum Raum. Die Ritterfahrt des Johann von Michelsberg (330 Verse) bearbeitet ein histor. Ereignis, die Fahrt eines böhm. Adligen an den frz. Königshof, u. stellt dieses in den Rahmen literar. Ritteridealität. Geschildert werden das Anlegen der Prunkrüstung, der exotische Aufzug vor dem König von Frankreich als »der niuwe Parzival ûf ritterlîcher êren pfat« (V. 178 f.) u. den Sieg über zwei frz. Ritter in der Tjost. Ausgaben: H. v. F. Hg. Alois Bernt. 2 Bde., Halle/Saale 1906. Neudr. Hildesh./New York 1978 (›Tristan‹ u. kleinere Gedichte). – Tristan. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1982 (Paralleldruck der drei Handschriften). – Tristan u. Isolde. Hg. Danielle Buschinger (Handschrift F), mit einer Versübers. v. Wolfgang Spiewok. Greifsw. 1993 (Wo-
187 dan, 16). – Helmut de Boor (Hg.): MA. Texte u. Zeugnisse. Mchn. 1965. (›Ritterfahrt‹: Bd. 2, S. 1336–1340; ›Kreuzholzlegende‹ [VV. 149–394]: Bd. 1, S. 207–210). Literatur: Hans-Hugo Steinhoff: H. v. F. In: VL (Lit.). – Zum ›Tristan‹: Silke Grothues: Der arthur. Tristanroman. Werkabschluß zu Gottfrieds ›Tristan‹ u. Gattungswechsel in H.s v. F. Tristanfortsetzung. Ffm. u. a. 1991. – Alan Deighton: Die Quellen der Tristan-Fortsetzungen Ulrichs v. Türheim u. H.s v. F. In: ZfdA 126 (1997), S. 140–154. – Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangesch. im Hohen MA. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. u. 13. Jh. Mchn. 1999. – A. Deighton: Ein Anti-Tristan? Gottfried-Rezeption in der Tristan-Fortsetzung H.s v. F. In: Dt. Lit. des MA in u. über Böhmen II. Hg. Václav Bok u. Hans-Joachim Bähr. Hbg. 2004, S. 111–126. – Hans-Joachim Behr: ›Mîn kranker sin, mîn unvernunst / gestaten mir ze reden nicht‹. Repräsentation u. höf. Verhaltensmuster im Tristan H.s v. F. Ebd., S. 127–144. – Zur ›Kreuzholzlegende‹: Werner Williams-Krapp: Kreuzholzlegende. In: VL. – Martin Bazel: Zu der H. v. F. zugeschriebenen Kreuzholzlegende. In: Lit. des MA in Böhmen u. über Böhmen. Hg. Dominique Fliegler u. Václav Bok. Wien 2001, S. 47–61. – Zur ›Ritterfahrt‹: H.-J. Behr: Ein niuwer Parzival in Paris. Artusidealität u. ritterl. Selbstdarstellung in der Ritterfahrt Johans v. Michelsberg. In: ebd., S.63–80. Christoph Huber
Heinrich von Friemar d.Ä., * um 1245 Friemar bei Gotha/Thüringen, † 18.10. 1340 Augustinerkloster Erfurt. – Augustinertheologe. Wohl schon in jungen Jahren trat H. in den Augustinereremitenorden ein. Nach einem Studium in Bologna (Studienanfang vor 1265) hatte er 1290–1299 das Amt des Provinzials der dt. Ordensprovinz inne. Ab 1300 studierte er in Paris, erwarb dort den Magistergrad u. hatte 1305 den Ordenslehrstuhl an der Universität inne. Ab 1315 ist er wieder im Augustinerkloster zu Erfurt bezeugt, wo er bis zu seinem Lebensende blieb u. neben hohen Ordenspflichten wohl auch einen Großteil seines umfangreichen, über 30 Schriften umfassenden, ausschließlich lat. Œuvre schrieb. Die Schriften H.s befassen sich mit einem breiten Spektrum geistl. Themen, vom wis-
Heinrich von Friemar d.Ä.
senschaftl. Ethikkommentar über Ordensgeschichte bis hin zu Fragen prakt. Seelsorge; das Hauptgewicht seiner literar. Produktion liegt zweifellos auf seinen pastoral ausgerichteten Werken u. Predigten, die größte Verbreitung fanden. Nur zwei Schriften H.s wurden ins Deutsche übersetzt. Der Traktat zu dem im SpätMA beliebten Thema der Unterscheidung der Geister De quattuor instinctibus, in über 150 Handschriften bezeugt, ist in 18 voneinander unabhängigen Fassungen im ganzen dt. u. niederländ. Sprachgebiet überliefert – in vollständigen Übersetzungen, Kurzfassungen u. Bearbeitungen von bekannten Autoren wie Johannes Diemar, Johannes Pauli u. Thomas von Kempen. Die Schrift handelt von den vier inneren Einsprechungen, der göttl., engl., teufl., u. natürl. (d.h. menschlichen), die um die Seele des Menschen kämpfen. In vier nach scholastischer Methode mehrfach untergliederten Kapiteln leitet H. an, die Unterschiede erkennen zu lernen u. die als schlecht erkannten Einsprechungen zu bekämpfen. Von dem lat. in über 300 Handschriften tradierten Zehn-Gebote-Traktat H.s, De decem praeceptis, sind in dt. (Teil-)Übersetzung dagegen bisher nur fünf Textzeugen bekannt. Die zehn Gebote werden nach scholastischem Muster in ihrer Bedeutung für den christl. Alltag erklärt u. mit zeitkrit. Bemerkungen anschaulich gemacht. Ausgaben: Der Traktat H.s v. F. über die Unterscheidung der Geister. Hg. Robert G. Warnock u. Adolar Zumkeller. Würzb. 1977 (lat.-mhd.). – Johannes Geffcken: Der Bildercatechismus des 15. Jh. [...]. Lpz. 1855, Sp. 20–29 (Teilausg. des Zehn-Gebote-Traktats). Literatur: Clemens Stroick: H. v. F. Leben, Werke, philosoph.-theolog. Stellung in der Scholastik. Freib. i. Br. 1954. – Adolar Zumkeller: H. v. F. In: Dictionnaire de spiritualité. Bd. 7, Sp. 191–197 (Werkübersicht). – Robert G. Warnock: H. v. F. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Uta Störmer-Caysa: Mystik, wo sie niemand erwartet. Beobachtungen am Dekalogtraktat H.s v. F. u. seiner hochdt. Übersetzung. In: JOWG 6 (1990/91), S. 163–172. – Niklaus Largier: Rhetorik des Begehrens. Die ›Unterscheidung der Geister‹ als Paradigma mittelalterl. Subjektivität. In: Martin
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Baisch u. a. (Hg): Inszenierungen v. Subjektivität in der Literatur des MA. Königst. 2005, S. 249–270. Ulla Williams / Red.
Heinrich von St. Gallen, * um 1350. – Spätmittelalterlicher Theologe u. Prediger.
Marias, welches unter Verwendung mehrerer Quellen (u. a. Alanus ab Insulis, Birgitta von Schweden) ausgelegt wird. Schließlich wird ein kurzer, unikal überlieferter Traktat über Hindernisse auf dem Weg zu geistl. Vollkommenheit H. zugewiesen. Ausgaben: Kurt Ruh: Der Passionstraktat H.s v. St. G. Diss. Zürich 1940. – Wolfram Legner (Hg.): H. v. St. G. Die Magnificat-Auslegung. Mchn. 1973. – Hardo Hilg: Das ›Marienleben‹ des H. v. St. G. Mchn. 1981. Literatur: Hardo Hilg u. Kurt Ruh: H. v. St. G. In: VL. – K. Ruh: Studien über H. v. St. G. u. den ›Extendit-manum‹-Passionstraktat. In: Ztschr. für Schweizer. Kirchengesch. 47 (1953), S. 210–230. – Christoph Huber: Die Aufnahme u. Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mhd. Dichtungen. Mchn. 1988, S. 236–243. – Mette Nordentoft: Zum (nord)europ. Stemma des Passionstraktates H.s v. St. G. In: Hubertus Menke u. Kurt Erich Schöndorf (Hg.): Niederdeutsch in Skandinavien IV. Bln. 1993, S. 168–195. Werner Williams-Krapp / Red.
H. dürfte um die Mitte des 14. Jh. in St. Gallen geboren sein. Er studierte u. wirkte bis zu Beginn des 15. Jh. in Prag (Auszug der Deutschen 1409). An der Universität wurde er 1371 Baccalaureus u. promovierte 1373 zum »magister in artium«. Er wird zuletzt 1397 als »baccalarius in theologia« erwähnt. Nach der Prager Zeit predigte er u. verfasste volkssprachl. Erbauungsschriften, wahrscheinlich im bair. u. alemann. Raum. Ihm werden fünf z.T. außerordentlich breit überlieferte Werke zugeschrieben. Für manche Texte steht der Echtheitsbeweis noch aus, da die Handschriften zumeist nur einen »meister ze Prag« als Autor nennen. Heinrich von Hesler, * vor ca. 1250 wohl Ein noch unedierter Predigtzyklus über die Burghesler bei Naumburg/Saale. – VerAcht Seligkeiten ist offenbar in Prag gehalten fasser geistlicher Dichtungen. worden. Sieben menschl. Gebrechen werden hier mit sieben Tugenden konfrontiert. Da Über H.s Person ist nur bekannt, was sich aus jede »Seligkeit« auf der anderen aufbaut, seinem Werk erschließen lässt: In einer Inverzichtet H. auf die achte, zumal sie in den terpretation der Johannes-Apokalypse (A.) anderen enthalten sei. nennt er sich H. aus dem »hus« Hesler (V. Zu den meist verbreiteten Werken mittel- 154 f.) u. erwähnt den im MA thüring. Ort alterl. Literatur (etwa 180 erhaltene Hand- Nebra (V. 16.471); in den Fragmenten der schriften), obwohl nicht eindeutig als Werk Erlösung (E.) bezeichnet er sich als »Heinrich H.s erwiesen, gehört ein Passionstraktat, der von Hasiliere« (XVIII, Z. 60 f.). Das ihm zumit dem Bibelwort »Extendit manum [...]« geschriebene Evangelium Nicodemi (E. N.) hin(Gen 22, 10) beginnt. Er ist in zwei Redak- gegen ist anonym überliefert. Sein Dialekt, tionen überliefert. Die Zeit von Christi An- das Ostmitteldeutsche, enthält Merkmale des kunft in Bethanien bis zu seinem Tod wird Niederdeutschen. H.s Dichtungen zählen hier in beeindruckender Prosa kommentiert. aufgrund ihrer Rezeption zur Literatur des Der Text verbindet drast. Beschreibungen der Deutschen Ordens; er selbst scheint ihm nicht Passionsereignisse mit scholast. Exkursen u. angehört zu haben, denn er kennzeichnet affektbetonten Appellen. Der erste Teil des sich als Laie (A., V. 13.098) u. Ritter (A., Traktats geht größtenteils auf die lat. Historia V. 16.480). passionis Jesu Christi Michaels von Massa zuDie Bruchstücke der ältesten Handschrift rück. des E. N., die um 1300 (bis 1305) geschrieben Große Verbreitung fanden auch eine Ma- worden ist, bieten einen terminus ante quem gnificat-Auslegung u. ein Prosa-Marienleben, für die Entstehung des Textes. Die A. muss H. die beide eindeutig von einem Autor stam- als noch unbekannter Autor (A., V. 140) vor men. Allerdings wird nur ersteres in den 1312 verfasst haben, da er den Templerorden Handschriften H. zugeschrieben. Die 19 Ka- als bestehend erwähnt (A., V. 5827). Dem pitel umfassende Legende erzählt das Leben Colmarer Fragment zufolge könnte die A.
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bereits um 1250/1260 entstanden sein. Im Prologfragment der sog. E. führt H. sich als ein den »werden« bekannter Dichter ein (E., XVIII. Z. 59–61). Im Gegensatz zu vielen anderen Werken der Deutschordensliteratur weist H.s Bibelepik keinerlei Einfluss des gegen Ende des 13. Jh. entstandenen Legendenwerks Passional auf. Seine literar. Vorbilder dürften im Bereich der höf. mhd. Epik sowie westl. Autoren des 13. Jh. zu suchen sein. Er gilt als einer der stilbildenden Dichter der Deutschordensliteratur; insbes. wurden seine metr. Regeln, wie er sie zum Beweis seiner Kunst in der A. (VV. 1354–1482) dargelegt hatte, nachgeahmt. Anders als die Mehrzahl der im Deutschen Orden bearbeiteten Bibelstoffe sind H.s Vorlagen Texte der neutestamentl., von ihm als Gegenwart aufgefassten zweiten Zeit seit Christus (A., VV. 7515–7532, 17.761–17.791). Die in der wohl urspr. Fassung 23.254 Verse umfassende A. übersetzt u. deutet Apk 1–12,9, vier Verse des 13. Kapitels u. den Rest des Buchs (21 f.): Da der trinitar. Gott Johannes in einer »visio intellectualis« die endzeitl. Leiden der Christenheit offenbart hat (A., VV. 347–402), interpretiert H. von der Apokalypse nur die erste Hälfte, die in immer neuen, der Lehre dienenden Bildern von Christi Tod, der Predigt der Kirche u. ihrer Gefährdung durch Juden, Heiden u. Ketzer sowie den Antichrist handelt; das neue Jerusalem der beiden Schlusskapitel symbolisiert für H. das ihn bes. beschäftigende Verhältnis von Sündenfall u. Erlösung, da Christus den Bau der ewigen Stadt bei der Vertreibung aus dem Paradies in der ersten alttestamentl. Zeit begann u. dieser nach dem Jüngsten Gericht in der dritten künftigen Zeit vollendet werden wird (A., VV. 20.517–20.534). In allegor. Auslegungen u. theolog. Erörterungen beweist H. für einen Laien erstaunl. Kenntnisse. Er nennt Beda, Albertus Magnus u. Ambrosius; Bonaventura wurde als Quelle seines heilsgeschichtl. Denkens erschlossen. In Anspielungen auf seine Gegenwart fällt die heftige Kritik an Klerus u. Orden auf. Als sein Publikum spricht er Männer u. Frauen an; die erhaltenen Handschriften u. Fragmente aus dem 14. u. 15. Jh. (teilweise illuminiert) bezeugen jedoch – soweit erkennbar – eine
Heinrich von Hesler
Verbreitung der A. im Deutschordensland. In der Deutschordensdichtung Daniel wird die A. erwähnt; H.s Übersetzung beeinflusste die in dt. Prosa abgefasste Königsberger Apokalypse. Der Inhalt der sog. E. ist nicht rekonstruierbar: Dem fragmentar. Prolog folgt der Anfang eines Marienlobs; im zweiten Bruchstück wird über den Sündenfall Adams u. Gottes Erbarmen im Vergleich mit der Verstoßung des Teufels gehandelt. Das E. N. ist eine 5392 Verse umfassende Nachdichtung des im MA in seiner lat. Version sehr beliebten apokryphen Evangelium Nicodemi. Ausgehend von einem Lehrgespräch über Sündenfall u. Erlösung wird Christi Passion u. Höllenfahrt dargestellt u. die Legende vom Tuch der hl. Veronika erzählt. An Vespasians Sieg im Jüdischen Krieg knüpft sich eine krit. Erörterung des Unglaubens der Juden u. ihrer wirtschaftl. Macht, die von den Fürsten gestützt werde, während deren Untergebene, zu denen der Autor sich zählt, im Dienst leiden (E. N., VV. 4856–4931). Er schließt mit einem Aufruf an die Juden, sich zum christl. Glauben zu bekehren. H.s E. N. war die bekannteste Bearbeitung des apokryphen Textes. Sie hat sich in unterschiedl. Länge in vier Handschriften u. einigen Fragmenten erhalten. Zudem wurden Partien in historisch-neutestamentl. Dichtungen aufgenommen: Inserate – z.T. kontaminiert mit Christi Hort des Gundacker von Judenburg – finden sich in der chronikal. Kompilation Heinrichs von München, über deren sog. Schwellhandschriften sie in die neutestamentl. Historienbibel Die Neue Ee gelangten. Ebenso wurden Stücke in Handschriften von Bruder Philipps Marienleben interpoliert. Ausgaben: A.: Hg. Karl Helm. Bln. 1907. – E.: Hg. Elias Steinmeyer. In: ZfdA 32 (1888), S. 111–117, 446–449. – E. N.: Hg. Karl Helm. Tüb. 1902. – A.: H. v. H. Die Apokalypse. Königsberger Apokalypse. Mikrofiche-Ed. der Hss. Torun´, Biblioteka Uniwersytetu Mikolaja Kopernika, ms. Rps. 64 u. ms. Rps. 44. Einf. zum Werk u. Beschreibung der Hss. v. Volker Honemann. Mchn. 2000. – http://www.manuscripta-mediaevalia.de/ hs/HS_MR_StA_Hr10–15/HS_MR_StA_Hr10–15. htm – E.N.: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg342. /
Heinrich von Hessen Literatur: Peter Wiedmer: Sündenfall u. Erlösung bei H. v. H. Bern 1977. – Kurt Gärtner: Neue Fragmente v. H.s v. H. ›E. N.‹. In: ZfdA 107 (1978), S. 206–215. – Achim Masser: H. v. H. In: VL (Lit.). – Richard Kenneth Emmerson u. Suzanne Lewis: Census and Bibliography of Medieval Manuscripts Containing Apocalypse Illustrations, ca. 800–1500. In: Traditio 42 (1986), S. 446 f. (Lit.). – Kat. der deutschsprachigen illustrierten Hss. des MA. Hg. Kommission für Dt. Lit. des MA der Bayer. Akademie der Wiss.en. Bd. 1, Mchn. 1988, S. 234–240. – Danielle Buschinger: Deutschordensdichtung. In: Etudes de linguistique et de littérature en l’honneur d’André Crépin. Hg. ders. u. Wolfgang Spiewok. Greifsw. 1993, S. 61–91. – Werner J. Hoffmann: The ›Gospel of Nicodemus‹ in High German Literature of the Middle Ages. In: The Medieval ›Gospel of Nicodemus‹. Texts, Intertexts, and Contexts in Western Europe. Hg. Zbigniew Izydorczyk. Tempe, AZ 1997, S. 287–336. – Eva Tobler: ›Leit von valschen predigeren‹. Untersuchungen zur Aufgabe des Predigers in H. v. H.s Apokalypsekomm. In: Homo Medietas. Aufsätze zu Religiosität. Lit. u. Denkformen des Menschen vom MA bis in die Neuzeit. FS Alois Maria Haas. Hg. Claudia Brinker-v. der Heyde u. Niklaus Largier. Bern u. a. 1999, S. 139–152. – Ursula Schulze: ›wan ir unhail ... daz ist iwer hail‹. Predigten zur Judenfrage vom 12. bis 16. Jh. In: Juden in der dt. Lit. des MA. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. dies. Tüb. 2002, S. 109–133. – Arno Mentzel-Reuters: Arma spiritualia. Bibl.en, Bücher u. Bildung im Dt. Orden. Wiesb. 2003. – VL (Nachträge u. Korrekturen). – Susanne Bäurle: ›Als da man labet siechen mit meselicher spize‹ – Essen u. Predigt in der ›A.‹ des H. v. H. In: Mediaevistik 18 (2005), S. 5–18. – Thomas Klein: H. v. H. u. ›Athis u. Prophilias‹. In: ›mit clebeworten underweben‹. FS Peter Kern. Hg. Thomas Bein, u. a. Ffm. 2007, S. 97–124. – http://www.handschriftencensus.de/werke/156 u. 157 u. 488. Sabine Schmolinsky
Heinrich von Hessen ! Heinrich von Langenstein Heinrich von Kettenbach ! Kettenbach, Heinrich von
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Heinrich von Langenstein, auch: He(i)nricus [He(i)nbuche/Hembuche] de Hassia oder Heinr(e)ich von Hessen, * um 1325 Langenstein, † 11.2.1397 Wien. – Theologe. Was über H. bekannt ist, überliefern die Akten der Universitäten Paris u. Wien u. Hinweise in seinen Schriften. Demnach stammte er aus dem oberhess. Dorf Langenstein bei Marburg. Gesicherte Nachrichten setzen erst 1363 ein, als H. in Paris Baccalaureus, Lizentiat u. Magister der Artes wurde. Nach zehnjähriger Tätigkeit an der Artistenfakultät u. gleichzeitigem Theologiestudium wurde H. 1375 Lizentiat der Theologie u. begann 1376 den theolog. Unterricht. Als 1378 das Große Schisma ausbrach, bezog H. eine neutrale Stellung u. setzte sich zur Lösung für ein allg. Konzil ein. Da er sich nicht der Obedienz für Papst Clemens VII. anschloss, musste er 1382 gleich anderen Professoren Paris verlassen u. begab sich ins Zisterzienserkloster Eberbach im Rheingau u. nach Worms. 1384 folgte er mit anderen Pariser Professoren dem Ruf Herzog Albrechts III. nach Wien an die neu errichtete Theologische Fakultät der 1365 gegründeten Universität. In Wien entfaltete H. nicht nur eine vielseitige literar. Tätigkeit, sondern organisierte u. reformierte auch die Studien. Er war 1388/89 Dekan seiner Fakultät u. 1393/94 Rektor der Universität. Durch sein umfängl. u. inhaltlich weitgespanntes Œuvre (ausschließlich lateinisch, nur z.T. ediert) zählt H. zu den bedeutendsten Gelehrten des SpätMA. Während seiner Pariser Artistenzeit widmete er sich der Naturwissenschaft u. trat gegen den astrolog. Irrglauben seiner Zeit u. gegen die Meinung außerird. Beeinflussung der Natur auf. Rationalistisch-kritizist. Denken des Nominalismus bestimmte auch seine theolog. Frühschriften, den Isaiaskommentar u. die Lectura supra Pater noster. Mit kirchenpolit. Schriften trachtete H. zur Beilegung des Schismas beizutragen (Epistola pacis, Epistola concilii pacis). Während seines Aufenthalts in Eberbach wurde H. mit der Mystik Bernhards von Clairvaux bekannt, die seine nominalistische Haltung ebenso milderte wie dann in der Wiener Zeit der Einfluss der Lehren des
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Thomas von Aquin. Sie fand ihren Niederschlag in myst. u. asketisch-spirituellen Schriften. In Wien entstand als Ergebnis der elfjährigen Lehrtätigkeit von 1385–1396 der Genesiskommentar in sieben Bänden, der bloß den Prolog u. die ersten drei Kapitel umfasst u. dabei alle Wissensgebiete der Zeit mit Fragen zur Naturwissenschaft, Theologie, Philosophie, Kirchenpolitik, Ethik u. Ökonomie aufgreift, aber weitgehend noch nicht erforscht ist. Ferner verfasste H. Briefe an den Herzog zur Universitätsorganisation, Schriften zur Volkswirtschaft, Predigten v. a. vor Universitätsangehörigen, eine hebräische Grammatik sowie dogmatische, pastorale, liturg. u. erbaul. Werke. Auf ihn gehen auch die ersten erhaltenen Predigten zur Judenbekehrung zurück. Im Rahmen der dt. Literatur liegt H.s Bedeutung in der Förderung der Laienkatechese u. damit verbunden in der vom Wiener Herzogshof unter Albrecht III. (1365–1395) u. Albrecht IV. (1395–1404) unterstützten Entwicklung einer religiösen scholastisch-moralischen Unterweisungs- u. Erbauungsliteratur in dt. Prosa, die als »Wiener Schule« zusammengefasst wird. Sie war zunächst bestimmt für die des Lateins unkundigen gebildeten Hofkreise u. den Adel, erfasste aber auch das höhere Bürgertum, den niederen Klerus u. die Klöster. In erster Linie waren es auch die verschiedenen Männer- u. Frauenklöster, die dieses religiöse Schrifttum vom Ende des 14. bis ins ausgehende 15. Jh. immer wieder abschrieben u. tradierten. Seit dem Jahr 1400 geht unter H.s Namen der zweiteilige dt. Traktat Erkenntnis der Sünde, der seit 1393 in über 80 Handschriften v. a. aus dem österr. u. bayer. Raum überliefert ist. Lange Zeit fälschlich als dt. Originalprosa angesehen, ja sogar in Überschätzung als Ausdruck eines dt. Frühhumanismus gewertet, basiert er auf älteren lat. Werken. Während sein erster Teil eine freie Bearbeitung des dritten Buchs der Summa de poenitentia des span. Dominikaners Raymund von Penyaforte von 1334/44 u. der Summa confessorum des Johannes von Freiburg von 1280/98 verkörpert, folgt der zweite Teil wesentlich enger der Summa de vitiis et virtutibus des frz. Dominikaners Gulielmus Peraldus von etwa
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1240. Trotz seiner rund 100 bis 150 Jahre älteren Quellen entsprach das Werk sichtlich den Vorstellungen des ausgehenden 14. u. des 15. Jh. Es bietet in seinem kürzeren ersten Teil eine Unterweisung in Fragen der Buße, der Reue u. der Beichte, wobei das Kapitel »Wem ein fürst peichten schol« ohne ältere Vorlage direkt auf Herzog Albrecht III. als Widmungsträger Bezug nimmt. Der längere zweite Teil behandelt die sieben Todsünden nach ihren Erscheinungsformen u. gibt Ratschläge zu ihrer Vermeidung. Die Kompilation verschiedener Quellen setzt ein bis jetzt nicht gefundenes lat. Original voraus. Aufgrund seines bair. Wortschatzes ohne westmitteldt.-hess. Kennzeichen scheidet H. als eigener Übersetzer aus. Als solchen nennt eine Regensburger Handschrift von 1445 (München, Cgm 5937) H.s Wiener Universitätskollegen u. Juraprofessor Marquard von Randegg, der dann 1398 Bischof von Konstanz wurde. In seiner Sprache folgt es dem schlichten Stil der »gemainen deutsch« mit einfachem, natürl. Satzbau. Es unterscheidet sich dadurch vom hohen Stil der »aigen deutsch«, der den lat. Satzbau nachzuahmen versucht u. bei der Übersetzung von H.s Traktat De discretione spirituum angewandt wurde. Die Beliebtheit der »Erkenntnis«Schrift spiegelt sich im Gegensatz zur geringen Verbreitung einiger anderer dt. Übersetzungen von H.s Schriften – u. a. drei vollständigen u. zwei Teilübersetzungen des »Speculum animae« (mit Druck Nürnberg 1519) – nicht nur in der breiten Überlieferung, sondern auch in einer bair. u. einer ostmitteldt. Bearbeitung des 15. Jh. sowie in Michel Beheims darauf fußendem Büchlein von den sieben Todsünden. Scheidet H. auch als Autor dt. Werke aus, so war er doch der Anführer des Wiener Kreises mit Leopold Stainreuter, Ulrich von Pottenstein u. Thomas Peuntner als den wichtigsten Verfassern u. Übersetzern religiöser dt. Literatur. Ausgaben: Erchantnuzz der sund. Hg. P. Rainer Rudolf. Bln. 1969. – Unterscheidung der Geister lat. u. dt. Hg. Thomas Hohmann. Zürich 1977. Literatur: Konrad Josef Heilig: Krit. Studien zum Schrifttum der beiden Heinriche v. Hessen. In: Röm. Quartalschr. für christl. Altertumskunde 40 (1932), S. 105–76. – Winfried Trusen: Spätmittel-
Heinrich von Lettland alterl. Jurisprudenz u. Wirtschaftsethik. Wiesb. 1961. – P. Rainer Rudolf: H.s v. L. ›Erchantnuzz der sund‹ u. ihre Quellen. In: FS Gerhard Eis. Stgt. 1968, S. 53–82. – Thomas Hohmann: Dt. Texte unter dem Namen ›H. v. L.‹. In: Peter Kesting (Hg.): Würzburger Prosastudien 2. Mchn. 1975, S. 219–236. – Ders.: Initienregister der Werke H.s v. L. In: Traditio 32 (1976), S. 399–426 (mit Nennung der Ausg.n). – Nicholas H. Steneck: Science and Creation in the Middle Ages: Henry of L. on Genesis. Notre Dame/Ind. 1976. – Peter Wiesinger: Zur Autorschaft u. Entstehung des H. v. L. zugeschriebenen Traktats ›Erkenntnis der Sünde‹. In: ZfdPh 97 (1978), S. 42–60. – Oskar Putzer: Konjunktionale Nebensätze u. äquivalente Strukturen in der H. v. L. zugeschriebenen ›Erkenntnis der Sünde‹. Wien 1979. – T. Hohmann u. Georg Kreuzer: H. v. L. In: VL. – G. Kreuzer: H. v. L. Studien zur Biogr. u. zu den Schismatraktaten. Paderb. u. a. 1987. – Fritz Peter Knapp: H. v. L. Sermones Wiennenses ad Iudaeos convertandos. Die ältesten aus dem dt. Sprachraum erhaltenen Judenbekehrungspredigten. In: MIÖG 109 (2001), S. 105–117. – Klaus Wolf: Hof – Universität – Laien. Literaturu. sprachgeschichtl. Untersuchungen zum dt. Schrifttum der Wiener Schule des SpätMA. Wiesb. 2006. Peter Wiesinger
Heinrich von Lettland, Henricus de Lettis,* um 1187/88, † nach 1259. – Hochmittelalterlicher Chronist. H. schrieb sein Chronicon Livoniae als unmittelbarer Zeitzeuge u. Teilnehmer an den beschriebenen Geschehnissen – die Eroberung u. Missionierung des Ostbaltikums u. die Anfänge des Schwertbrüderordens – zwischen 1225 u. 1227. H.s Lebensstationen lassen sich nur aus dem Werk selbst rekonstruieren. Geboren um 1187/88 wahrscheinlich in der Umgebung Magdeburgs, ausgebildet vermutlich im Augustinerchorherrenstift Segeberg, folgte er 1205 Bischof Albert als Dolmetscher nach Riga u. nahm an der Missionierung Livlands teil. 1208 zum Priester geweiht, war er Seelsorger der Letten an der Ymera in Papendorf, wo er bis zu seinem Tod (nach 1259) lebte, mit Unterbrechung nur durch eine Reise zum 4. Laterankonzil 1215 u. einigen Fahrten in die Missionsgebiete. Seine Chronik ist in 16 Handschriften des 14.-18. Jh. überliefert.
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Das Chronicon basiert im Wesentlichen auf H.s Augenzeugenschaft, Mitteilungen von befreundeten Beteiligten u. wenigen diplomatischen Quellen zu den Jahren 1180–1227. Es beschreibt hauptsächlich eine 1208 beginnende Abfolge von Eroberungsfeldzügen u. Schlachten christl. Heere gegen Esten, Russen u. Semgaller, dazu die Estenmission bis zu deren Abschluss. Die »autobiografisch« akzentuierte Sichtweise vernachlässigt größere verfassungsrechtl. u. polit. Zusammenhänge. H.s Urteil ist parteiisch. Die Taten der dt. u. lett. Krieger werden positiv hervorgehoben, Russen, Litauer u. Dänen negativ bewertet. Die bewusst glanzlose Chronik – das Schlusswort bezeichnet sie als »humilis scriptura« – greift an vielen Stellen die Sprache u. beschriebenen Ereignisse des AT u. des NT auf, um Parallelen zwischen den Heiligen Texten u. dem Missionsgeschehen aufzuzeigen. Viele Entlehnungen stammen, offensichtlich gezielt mit der Kreuzzugsthematik verknüpft, aus dem ersten Makkabäerbuch. Missionsgeschichte wird als Ausbreitung des göttl. Friedens gedeutet. Auf die deutschsprachige Ordenschronistik wirkte das lat. Chronicon Livoniae offenbar nicht direkt ein. Hermann von Wartberge verwertete den Text zwar in seiner nach 1378 verfassten, ebenfalls lat. Chronik, nicht aber die kurz nach 1290 entstandene (Ältere) Livländische Reimchronik, die als älteste große Deutschordenschronik u. erste deutschsprachige Dichtung Livlands zeitlich unmittelbar an die von H. geschilderten Ereignisse anschließt. Ausgaben: Heinrici Chronicon Lyvoniae. Hg. Wilhelmus Arndt. Hann. 1874 (MGH SS 23, S. 231–322). – H.s Livländ. Chronik. 2. Aufl. bearb. v. Leonid Arbusow u. Albert Bauer. Hann. 1955 (MGH SS rer. Germ. 31). – The Chronicle of Henry of Livonia. Henricus Lettus, translated and with a new introduction and notes by James A. Brundage. New York 2003 (überarb. Fassung v. 1961). Literatur: L. Arbusow: Die handschriftl. Überlieferung des ›Chronicon Livoniae‹ H.s v. L. In: Latvijas Universitates Raksti 15 (1926), S. 189–341. 16 (1927), S. 125–198. – Paul Johansen: Die Chronik als Biogr. H.s v. L. Lebensgang u. Weltanschauung. In: Jbb. für Gesch. Osteuropas N. F. 1 (1953), S. 1–24. – A. Bauer: Einl. In: Arbusow/ Bauer, a. a. O., S. V-LIV (Lit.). – Dieter Berg: H. v. L.
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193 In: VL (Lit.). – Andres Kasekamp: Characteristics of Warfare in the Times of Henry of Livonia and Balthasar Russow. In: Lithuanus. Lithuanian Quarterly of Arts and Sciences 36/1 (1990), S. 1–8. – Simon Gerber: H. v. L. – ein Theologie des Friedens. In: ZKG 115 (2004), S. 1–18. Norbert H. Ott / Gudrun Gleba
Heinrich von Meißen ! Frauenlob Markgraf Heinrich III. von Meißen, genannt der Erlauchte (»illustris«), * 1215/16 oder 1218, † 8.2.1288; Grabstätte im Zisterzienserkloster Altzella. – Minnesänger, Komponist u. Mäzen
nissen Reinmars weist H.s Œuvre Einflüsse von Heinrich von Morungen, Walther, Gottfried von Neifen u. auch Otto von Botenlauben auf, dem er zudem verwandtschaftlich verbunden war. Literatur: KLD I, S. 153–156 (Text), II, S. 182–186 (Komm.). – Friedrich Heinrich v. der Hagen: Minnesinger. Lpz. 1838. Neudr. Aalen 1963. Bd. 1, S. 13 ff. (Text), Bd. 4, S. 29–35 (Biogr.). – Friedrich Wilhelm Tittmann: Gesch. H.s des Erlauchten. 2 Bde., Lpz. 1845/46. – Heinrich Theodor Flathe: H. III., Markgraf v. Meißen. In: ADB. – Adolf Frisch: Untersuchungen über die verschiedenen mhd. Dichter, welche nach der Überlieferung den Namen Meissner führen. Jena 1887. – Karl Bosl: H. v. M. In: Biogr. Wörterbuch zur dt. Gesch. Bd. 1, Mchn. 1973, Sp. 1094 f. – Helmut de Boor: Drei Fürsten im mittleren Dtschld. In: FS Ingeborg Schröbler. Tüb. 1973, S. 238–257 (PBB Bd. 95, Sonderh.). – Joachim Bumke: Mäzene im MA. Mchn. 1979, bes. S. 207–219. – Volker Mertens: Markgraf H. III. v. Meißen. In: VL. – Jörg Rogge: Die Wettiner. Aufstieg einer Dynastie im MA. Ostfildern 2005. Jens Pfeiffer
H. wurde zu einem nicht genau festlegbarem Datum zwischen dem 30.8.1215 u. Juni 1216 (Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, 2. Aufl.) oder zwischen dem 21.5. u. 23.9.1218 (Mertens in VL) geboren. Seine Eltern waren Dietrich von Meißen u. Jutta, die Tochter Hermanns von Thüringen. Neben seinen polit. Verdiensten, der Festigung u. Erweiterung der wettin. Landesherrschaft, u. Heinrich (von Melk?), * zweite Hälfte des der Ausrichtung prunkvoller Turniere trat er 12. Jh. – Geistlicher Dichter. als Komponist geistl. Lieder, Dichter u. Mäzen hervor. Der Tannhäuser spricht ihm in H., armer Knecht Gottes, nennt sich ein sechsten Leich (VI, 102 ff., hg. Siebert) den Dichter im Schlussgebet seines Gedichts Von Anspruch auf die Reichskrone zu; Reinmar des todes gehugede, heute gewöhnlich Erinnevon Zweter widmete ihm ein Loblied (hg. rung an den Tod betitelt (1042 Verse), u. Roethe, Lied 227); Konrad von Würzburg schließt einen Abt Erkenfried in seine Bitte erwähnt ihn im Turnier von Nantes (V. 1002 ff., um das ewige Heil ein (V. 1032 f.). Um in 1021, hg. Schroeder). Erkenfried den Abt zu erkennen, der H.s eigene Lieder sind ausschließlich in der 1122–1163 dem reformierten BenediktinerGroßen Heidelberger Liederhandschrift überlie- kloster Melk an der Donau vorstand, fehlt es fert. Die dort den Texten beigefügte Miniatur an hinreichend sicheren Anhaltspunkten. zeigt ihn zu Pferd u. mit Gefolge auf der Nach mundartl. u. metr. Merkmalen erFalkenjagd. Überliefert sind sechs zwei- (II; scheint lediglich eine Zuordnung zum baIV) bzw. dreistrophige (I; III, V, VI) Lieder. irisch-österr. Sprachraum der zweiten Hälfte Thematisch bietet H. nicht viel Überra- des 12. Jh. möglich u. wahrscheinlich. H. schendes: Frauenpreis, Bitte um Erhörung, selbst rechnet sich (Erinnerung, V. 225) dem erfüllte Liebe. Bemerkenswert ist immerhin Laienstand zu. Man hat ihn früher für einen Lied I mit einem negativ gewendeten Natur- Konversen gehalten, der nach einem Leben in eingang in der ersten (»Lâzen wir die bluo- der Welt in reiferem Alter ins Kloster geganmen rôt belîben, / die sint verdorben ...«) u. gen sei. Dagegen spricht H.s beträchtl. literar. einem ebenfalls ins Negative gewendeten, an u. theolog. Bildung. Nach neuerer AuffasReinmar (MF 154, 32) erinnernden Tage- sung kann man in ihm einen klerikal gebilliedanklang (»Ich hœre sagen, im sî wol ze deten Laien ohne geistl. Weihen u. ohne ein muote, / der tougenliche minne künne pfle- geistl. Amt sehen, der vielleicht eine literar. ge«) in der zweiten Strophe. Neben Kennt- Existenz im Sinne u. im Auftrag der seit dem
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12. Jh. entstehenden Laienfrömmigkeitsbewegungen (»pauperes Christi«) hatte. In dem um 1300 geschriebenen Kodex (Wien, Österr. Nationalbibl. 2696), der allein Erinnerung überliefert, stand dieser urspr. ein weiteres, ebenfalls nur hier erhaltenes Gedicht unmittelbar voran, das heute u. d. T. Vom Priesterleben zitiert wird. Es ist mit seinen 748 erhaltenen Versen v. a. zu Anfang, aber auch wohl am Ende unvollständig überliefert u. an falscher Stelle in die Handschrift eingebunden. Der Umfang des Verlorenen wird sehr unterschiedlich eingeschätzt: entweder etwa 300 Verse oder mehr als 1900 Verse. Mit Einleitung u. Schluss des Priesterlebens gingen vermutlich auch der originale Titel u. die Selbstnennung des Dichters verloren. Aufgrund der Wesensverwandtschaft beider Gedichte, der Gemeinsamkeit einzelner, charakterist. Themen, Motive u. Formulierungen sowie ganzer, wortgleicher Verspartien in beiden Werken u. aufgrund ihrer unmittelbaren Überlieferungsnachbarschaft nahm man mit diskutierbaren Gründen gewöhnlich für das Priesterleben ebenso wie für die Erinnerung die Verfasserschaft H.s an. Das Gedicht Vom Priesterleben geißelt mit scharfen Worten die entartete Lebensweise der Priester. Es lässt sich der Klerikerkritik u. -satire in der lat. Dichtung u. Publizistik des ausgehenden 11. u. 12. Jh. an die Seite stellen. Deren Kenntnis wie auch die vagantischer Liebeslyrik darf vorausgesetzt werden. Einmalig ist aber, dass hier eine Thematik vor der Öffentlichkeit eines volkssprachigen Laienpublikums literarisch aufgegriffen wird, die bisher nur intern vor dem lat. Publikum des Klerus denkbar gewesen war. Simonie, höf. Eitelkeit, Völlerei u. vor allem Hurerei wird den Priestern vorgeworfen. Breit wird die Frage behandelt, ob das Messopfer eines unkeuschen Priesters Gültigkeit habe. Seine Adressaten sucht das Gedicht nicht nur unter den Priestern, sondern auch unter den Laien, die sich hinter deren Verworfenheit verschanzen, wie unter den Weibern, die ihnen zu Willen sind u. sie ausnutzen. Abschreckende u. vorbildl. Beispiele aus der Bibel – Salomon u. die Weiber, Susanna, Daniel u. die unkeuschen Priester, Noah u. Hiob – ruft der Dichter auf. Seine Verse, in die er gelegentlich
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auch lat. Wendungen einflicht, sind gespickt mit bibl. Zitaten u. Anspielungen. Er kennt die theolog. Literatur der Väterzeit u. des frühen MA, wenn sich auch bestimmte Vorlagen nicht festmachen lassen. Sein Stil ist in langen hypotakt., anakoluth. u. parenthesenreichen Sätzen deutlich geprägt von Argumentationsstrukturen u. -strategien dialektischer Disputation. Dabei liebt der Dichter den kraftvollen Ausdruck u. deftige Bildlichkeit. Auch gestaltet er mit großer Lebendigkeit kleine fiktive Szenen (der abgewiesene, bedürftige u. herbergssuchende Fremdling vor der Tür des schlemmenden Pfaffen). H.s Erinnerung benutzt das traditionelle Memento-mori-Motiv als Rahmen einer umfassenden Stände- u. Sittenkritik. Eher assoziativ ergibt sich eine Gliederung in zwei, jeweils als Lied bezeichnete Teile: eine allg. Ständekritik u. die eigentl. Erinnerung. Erstere straft die Sünden der Pfaffen u. Laien gleichermaßen. Den Pfaffen wird hier v. a. Simonie, Bestechlichkeit, Streitsucht u. öffentl. Geltungssucht zur Last gelegt. Demgegenüber vernachlässigen sie ihre Hauptaufgabe als Seelsorger des ihnen verantwortlich anvertrauten Christenvolks. Den weltl. Großen wird v. a. ihr Streben nach Reichtum vorgeworfen, über dem sie alle verwandtschaftl. u. sozialen Treuepflichten vergessen. Kritik an den ritterl. Damen wird nur angedeutet; H. verschont sie offensichtlich aus höf. Taktrücksichten. Den Rittern selbst aber wird schonungslos die Hauptsünde der superbia zugerechnet, bes. in Gestalt ihres scham- u. gewissenlosen Prahlens mit erot. u. kriegerischen Großtaten, die H. unumwunden als Hurerei u. Totschlag einstuft. Der Memento-mori-Teil gemahnt, lose orientiert am Leitfaden des Lebenslaufs von der Kindheit bis zur Bahre, an die Nichtigkeit allen ird. Lebens. Der ständekrit. Grundton bleibt beibehalten: Als Beispielerzählung (»spel«, V. 913) dient der exemplarische Lebenslauf eines fiktiven Königssohns, der, im Leben zwischen dem Streben nach Reichtum u. Ehre einerseits, der Furcht vor Sünde u. ewiger Verdammnis andererseits hin- u. hergerissen, schließlich in seinen grauenvollen Überresten dem eigenen herangewachsenen Sohn aus der Hölle her erscheint u. dabei eine
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lange Buß- u. Mahnrede hält, die an den literar. Typ der Jenseitsvision anknüpft. Eine Schilderung der höll. Qualen wie der himml. Seligkeit bildet den Beschluss. In der Häufigkeit der bibl. Anspielungen steht die Erinnerung dem Priesterleben nicht nach; für theolog. Gelehrsamkeit u. Argumentationsweise bot der Gegenstand weniger Veranlassung. Sprachgestaltung u. Stil beider Gedichte sind gleichartig. Nur die Reimkunst der Erinnerung zeigt ein vergleichsweise geringeres Niveau. Ausgaben: H. v. M. Hg. Richard Heinzel. Bln. 1867. Neudr. Hildesh./Zürich/New York 1983 (Einl., Komm.). – Der sog. H. v. M. Hg. Richard Kienast. Heidelb. 21960. – H. v. M., Von des todes gehugde – Mahnrede über den Tod. Mhd./nhd., übers., komm. u. mit einer Einf. in das Werk hg. v. Thomas Bein u. a. Mit Beitr. zu Text, Übers. u. Komm. v. Susanne Kramarz-Bein. Stgt. 1994. Literatur: Peter-Erich Neuser: Zum sog. ›H. v. M.‹. Köln/Wien 1973. – Ders.: H. v. M. In: VL. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I/2). Ffm. 1986, S. 121–125, 165–171. – Johan H. Winkelman: Over H. v. M., Chrétien de Troyes en de begrippen ›aventure‹ en ›queeste‹ in de ›Queeste van den Grale‹. In: De kunst van het soeken. Studies over ›avontuur‹ en ›queeste‹ in de middeleeuwse literatuur. Hg. Bart Besamusca u. a. Amsterd. 1996, S. 75–88. – Wernfried Hofmeister: Die Ed. als ›offenes Buch‹. Chancen u. Risiken einer Transponierungs-Synopse, exemplarisch dargestellt an der Dichtung ›Von des todes gehugede‹ des sog. Henrich v. M. In: Arbeitsgemeinschaft für Germanist. Ed. Produktion u. Kontext. Beiträge der Internat. Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für Germanist. Ed. im Constantijn Huygens Instituut, Den Haag, 4. bis 7. März 1998. Hg. H. T. M. van Vliet. Tüb. 1999 (Editio, Beih.e 13), S. 23–40. – Hannes Kästner: Minnegespräche: Die galante Konversation in der frühen dt. Lyrik. In: Historical dialogue analysis. Hg. Andreas H. Jucker, Gerd Fritz u. Franz Lebsanft. Amsterd. u. a. 1999, S. 167–188. Ernst Hellgardt
Heinrich von Morungen. – Um 1200 tätiger Minnesänger. Gestützt auf sprachl., formale u. themat. Elemente seiner Lieder, die wohl um 1200 im ostmitteldt. Sprachraum entstanden, identifiziert man den Minnesänger gemeinhin mit dem 1217 u. 1218 in Urkunden Markgraf
Dietrichs von Meißen bezeugten »miles Hendricus de Morungen«. Demnach ist H. Thüringer u. hat seinen Namen von der Burg Morungen bei Sangerhausen; er lebte um 1200 u. bezog von Dietrich eine Pension als »miles emeritus«, die auf Wunsch H.s 1217 dem Leipziger Thomaskloster überschrieben werden sollte. Nicht glaubwürdig sind Quellen aus dem 16. Jh., denen zufolge H. nach einer Reise nach »Indien« (= Persien) im Thomaskloster lebte u. dort 1222 starb. Die Moringer-Ballade, deren Überlieferung um die Mitte des 15. Jh. einsetzt, ist kein sicherer Beleg für eine Reise des Sängers ins Land der Thomaschristen. Die Wappen H.s in der Weingartner (B) u. der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) sind später für ein Geschlecht Morungen bezeugt. Die H. zugeschriebenen 115 Strophen in 35 Tönen sind in der Hauptsache in den großen alemann. Liederhandschriften vom Ende des 13. bzw. Anfang des 14. Jh. aufgezeichnet: in C 104 Strophen, in B 28 Strophen (darunter drei unter dem Namen Dietrichs von Aist) u. in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (A) 26 Strophen. Unter den anderen Textzeugen ist die heute in München aufbewahrte Handschrift der Carmina Burana zu erwähnen, die eine neumierte Strophe (XXVIII I = C 87) anonym überliefert. Im Gegensatz zu früheren Herausgebern belässt man heute dem Sänger nahezu alle unter seinem Namen tradierten Strophen; Athetese wird für ein Lied (XXXIII 2) u. für einzelne Strophen (XVIII 3–5; B 22 = Minnesangs Frühling I, S. 257 im Anschluss an XII) erwogen. Problematisch bleiben die vielfältigen Versuche einer chronolog. oder zykl. Reihung der Lieder. Minnesangs Frühling hält sich weitgehend an die Abfolge des umfangreichsten Textzeugen (C). Abgesehen von XIV, XIX, XX, XXXIV u. XXXV sind H.s Lieder mehrstrophig, doch bilden eine Reihe von Strophen in sich relativ abgeschlossene Einheiten. Die Strophen haben durchweg Kanzonenform, wobei einfache Bauformen wie in X, XI oder XVIII neben komplizierteren Strukturschemata wie in II, XXVI oder XXX stehen. Ungewöhnlich für diese Phase des Minnesangs ist der souveräne Umgang mit Reimstrukturen (z.B. in XIII), die H. bewusst als Bau- u. Gliederungsele-
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mente einsetzt. In der Formgestaltung ist H. nicht nur vom dt., insbes. vom rheinischen Minnesang beeinflusst, sondern auch von der provenzal. Lyrik, so bei den daktyl. Rhythmen (VIII, XIII, XVI, XXV, XXVI, XXVII) u. der häufigen Durchreimung (XIII, XIV, XV, XVII, XXI, XXIII, XXXII). Auch inhaltlich liegt eine Beeinflussung H.s durch die Provenzalen nahe, so im Motiv des aufgekündigten Dienstes (XXVII), in den komplizierten Bildstrukturen u. der Beschreibung der Dame, die hier weniger idealisiert wird, als es im hochhöf. Minnesang üblich ist. Einzelne Motive lassen sich auf bestimmte Trobadors zurückführen, so auf Bernart de Ventadorn der Preis des weißen Leibs u. das Lichtsymbol des Schnees in XXX oder die Rache an der spröden Dame in III. Ob Elemente der Marienlyrik direkt entlehnt oder über die Trobadorlyrik vermittelt sind, ist im einzelnen nicht zu klären, während andere Übernahmen aus dem kirchl. Bereich, wie Anklänge an Hymnen u. liturg. Gesänge (vgl. etwa IV), wohl direkt erfolgen. Zahlreiche Elemente u. Motive in H.s Lyrik legen einen Einfluss klassisch antiker Literatur nahe, so die Anweisungen für die Inschrift auf dem Grabstein des Sängers (VIII 3), der Topos vom Schwanengesang (XXXII 5), v. a. aber die Ovid-Reminiszenzen in der Fabel von Prokne u. Philomela (VII) u. im Narzissmotiv (XXXII). Direkte Ovid-Kenntnis H.s aufgrund der antikisierenden Bemühungen am Thüringer Hof der Zeit, wo Heinrichs von Veldeke Eneide beendet wurde u. Albrecht von Halberstadt Ovids Metamorphosen übersetzte, ist nicht sicher nachzuweisen. So erscheint das Schwanenmotiv zu der Zeit nicht nur bei Veldeke, sondern auch in der Romania. Das Narzissmotiv ist dem gesamten europ. MA bekannt: Die früheste Berufung auf den Mythos im Rahmen der hohen Minne findet sich bei Bernart de Ventadorn in seiner Kanzone Can vei la lauzeta mover; als antikisierendes episches Erzählmotiv manifestiert es sich in der zweiten Hälfte des 12. Jh. Der Venusvergleich (XXII 3), das Bild von Rosen u. Lilien auf den Wangen der Dame (XVII 1) u. der als rhetorische »descriptio« angelegte Schönheitskatalog (I; XXV) könnten direkt auf mlat. Lyrik zurückgehen, aber auch über die
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Trobadorlyrik vermittelt sein. Im übrigen steht H. in der Tradition des dt. hochhöf. Minnesangs, kennt aber auch ältere Formen u. Motive (Wechsel, Botenmotiv). Die meisten Lieder H.s sind von der Thematik der hohen Minne geprägte Kanzonen. Daneben hat er zwei Wechsel, einen Tageliedwechsel u. ein szenisch gestaltetes Lied mit pastourellesken Elementen in seinem Repertoire. Bei dem vierstrophigen Doppelwechsel X, einer Kombination aus zwei Männer- u. zwei Frauenstrophen, handelt es sich mit Doppelung, Refrainbindung u. dem Anklang an die Tageliedsituation bereits um eine Weiterbildung des v. a. im frühen dt. Minnesang gepflegten Genres, während sich XXVIII in Gestaltung u. Gedankenführung eng an früheste Realisierungen des Liedtyps anschließt. Als Neuschöpfung H.s kann der sog. Tageliedwechsel gelten, der das Genre des Wechsels mit dem des Tagelieds verknüpft. Damit schafft H. eine eigentüml. Spannung. Die Liebenden sind nur in der Erinnerung verbunden, doch steht der Distanz schaffenden Form des Wechsels die Vergegenwärtigung der Minneerfüllung durch die von beiden Partnern in der Trennung beschworene Tageliedsituation gegenüber. Eine Sonderstellung in der dt. Minnelyrik der Zeit nimmt XVIII ein. Formal ist das Lied nachhaltig durch die Reimgestaltung, insbes. die Klangspielereien, geprägt. Drei Szenen, möglicherweise Traumvisionen, schildern Begegnungen der Liebenden beim Tanz auf der Heide (1), an einem verborgenen Ort (2) u. auf der Zinne (3); die z.T. dunklen Bilder entziehen sich einer zufrieden stellenden Deutung. Die Begegnung in der Natur (1) u. die Einleitungsformel »Ich vant« der zweiten u. dritten Strophe erinnern an die romanische Pastourelle; ob es sich um eine – bewusste – Übernahme handelt, muss offen bleiben. Von den Minnekanzonen in der Tradition des hohen Sangs ist neben dem Preislied IV, einem Freudelied mit deutl. Anklängen an Marienlyrik u. religiöse Hymnik, v. a. das Lied vom Spiegel u. von Narziss (XXXII) hervorzuheben, das als eines der schönsten u. zgl. schwierigsten Lieder H.s gilt. In komplizierten Bildern u. Vergleichen thematisiert
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er das Freude-Leid-Paradox hoher Minne. Um die Traumerinnerung in der dritten Strophe – Anregung für die Dichterminiatur in C – gruppieren sich zwei Vergleichsbilder: das Kind, das nach dem Spiegel greift u. ihn zerbricht (1), u. der Jüngling, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt (3); die vierte Strophe enthält eine Reflexion des Sängers über die Minne. Insbesondere die Deutung des Mundes der im Traum erblickten Geliebten, der »ein lützel was versêret« (2,7 f.), ist umstritten. Die Interpretation als Symbol für die Gefahr, in welche die Idealität der Dame bei Erfüllung der Minnesehnsucht des Sängers gerät (vgl. Reinmar XXVIII 5), wird durch die Absage des Sängers an den »wân«, erhört zu werden, gestützt. Bei der von Karl Bartsch 1858 in der »Germania« präsentierten provenzal. Vorlage dürfte es sich um eine Fälschung handeln. Der im dt. Minnesang seltene Vergleich der Geliebten mit Venus (Str. 3) u. der Topos vom sterbenden Schwan (Str. 5) prägen die Minneklage XXII. Wie im Elbenlied V könnte durch den Venusvergleich die dämonische Kraft der Minne thematisiert sein; das Schwanenmotiv könnte der Darstellung der Minnesängersituation dienen: Der klagende Sänger singt auch noch angesichts des Minnetods. Das Motiv des Singens u. die Reflexion der Sängertätigkeit durchziehen H.s ganzes Werk. Singen ist Minnedienst – »ir lop, ir êre unz an mîn ende ich singe und sage« (VII 6,6; vgl. auch XVI 2,6 f. u. XXV 3,1) –, aber auch Dienst an der Gesellschaft, was zu der Überlegung führt, ob Singen unabhängig vom Minneglücksgefühl möglich ist (VII, XIII). Den vereinzelten älteren Ansätzen zu einer solchen Reflexion im dt. Minnesang fehlt die Radikalität H.s, die in der Aussage gipfelt: »wan ich dur sanc bin ze der welte geborn« (XIII 1,7). Diese Unbedingtheit spiegelt sich in der Minnebindung wider. Im Motiv des Minnedienstes noch im Jenseits (XXXIV) hat H. ein einzigartiges Bild für die vergeistigte hohe Minne geschaffen. Daneben kennt er andere Realisierungen der Minnebeziehung: In XXVII führt das Verhalten der Dame zur Aufkündigung des Minnedienstes, ein im dt. Minnesang seltenes Motiv. In III will sich der
Heinrich von Morungen
Sänger an der Frau rächen. Sie soll sich in seinen Sohn verlieben, der sie so abweisend behandeln soll, wie sie den Sänger behandelt hat, so dass ihr Herz bricht. Dagegen wünscht er sich in VIII nach seinem Minnetod eine Grabinschrift, die das abweisendende Verhalten der Frau – als »vil grôze sünde« (3,9) bezeichnet – öffentlich anprangert. Im übrigen verwendet H. bekannte Minnesangmotive wie die Liebe von Kind an (so in XV u. XVI), die Klage über die »huote«, die höf. Aufsichtsinstanz (XVIII, XXIX), den Verlust von Sprache u. Sinnen beim Anblick der Dame (XVI, XXVI) u. Bilder des Liebeskriegs (IX, XXVII, XXXIII). Die Vorstellung von Gott als »artifex« (XXV 3) geht auf den antiken Topos von der »natura formatrix« zurück. Natureingang hat nur Lied XXV. Vorgefundene Motive u. Bilder setzt H. häufig mit neuen Akzenten ein. Bei der Verwendung von Vergleichen entwickelt er eine neue poetische Technik (vgl. Kesting 1965 u. Ludwig 1968): Die Vergleichsstruktur wird nur angedeutet, das Publikum zu eigener Deutungsleistung aufgerufen. H.s Dichtung ist »anschaulich« in dem Sinn, dass sie das Publikum in ihren Bann zieht, indem sie Bilder u. Szenen vor seinen Augen entstehen lässt – so scheint die Geliebte greifbar nahe, selbst wenn sie in einer Traumvision beschworen wird. Die Zeichenhaftigkeit u. Offenheit dieser Bilder machen neben dem formalen u. sprachl. Können H.s den eigentl. Reiz seiner Lieder aus. Bei aller Gebundenheit an gängiges Formel- u. Motivgut erweisen seine Lieder H. als einen der eigenwilligsten Minnesänger seiner Zeit u. als einen der bedeutendsten Lyriker des dt. MA überhaupt. Er wirkte v. a. auf Walther von der Vogelweide, daneben auf Neidhart, Hiltbolt von Schwangau u. Ulrich von Lichtenstein; dazu zeigt sich ein gewisser lokaler Einfluss auf Thüringer Sänger wie Christan von Luppin, Christan von Hamle u. Heinrich Hetzbold von Weißensee. Im 13. Jh. wird H. bei Hugo von Trimberg (Renner, v. 1184) u. Seifried Helblinc erwähnt. Später erscheint sein Name im Losbuch Konrad Bollstatters (15. Jh.) u. in der Zimmerschen Chronik (16. Jh.). Neben einem Zitat in einem Privatbrief vom Anfang des 14. Jh. aus Lied VI ist das Eingehen in die Dich-
Heinrich von Mügeln
tersage der signifikanteste Beleg für ein Weiterwirken H.s außerhalb der Minnelyrik von Zeitgenossen u. Nachfahren, die er – anders als etwa Friedrich von Hausen u. Reinmar – nur in Einzelzügen anregte. Ausgaben: Minnesangs Frühling I, S. 236–282 (zitiert). – Ulrich Müller (Hg.): H. v. M. Abb.en zur gesamten handschriftl. Überlieferung. Göpp. 1971. – H. v. M.: Lieder. Mhd. u. nhd. Text, Übers., Komm. v. Helmut Tervooren. Stgt. 32003 (mit Lit.). Literatur: Bibliografie: Tervooren Nr. 575–636/4 (bis 1968). – Ergänzungsbibliogr. zu H. v. M. Erstellt v. Sonia Glauch (Erlangen, Stand 8/2006): Mediaevum.de/bibliographien/morungen-biblio. htm. – Weitere Titel: Helmut Tervooren: H. v. M. In: VL (Lit.). – Gert Kaiser: Narzißmotiv u. Spiegelraub. Eine Skizze zu H. v. M. u. Neidhart v. Reuental. In: FS John Asher. Bln. 1981, S. 71–81. – G. Schweikle: Doppelfassungen bei H. v. M. In: ebd., S. 58–70. – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982, S. 166–180. – Ernst v. Reusner: ›Jâ ist mîn geloube boese u. ist wider got.‹ Zu M. XXII. In: ZfdPh 103 (1984). S. 366–370. – Ders.: Hebt die Vollendung der Minnesangkunst die Möglichkeit v. Minnesang auf ? In: DVjs 59 (1985), S. 572–586. – Christoph Huber: Narziß u. die Geliebte. In: ebd., S. 587–608. – Elisabeth Schmid: Augenlust u. Spiegelliebe. In: ebd., S. 551–571. – Cyril Edwards: Die ›Räuberin‹ H.s v. M. im Benediktinerstift Kremsmünster. In: PBB 108 (1986), S. 202–211. – Jürgen Kühnel: H. v. M., die höf. Liebe u. das ›Unbehagen in der Kultur‹. In: Ulrich Müller (Hg.): Minne ist ein swaerez spil. Göpp. 1986, S. 253–282. – Klaus Speckenbach: Gattungsreflexion in Morungens Lied ›Mir ist geschehen als einem kindelîne‹. In: Frühmittelalterl. Studien 20 (1986), S. 36–53. – Heinrich Götz: Zu H.s v. M. Lied MF 139,19. In: Sabine Heimann u. a. (Hg.): Soziokulturelle Kontexte zur Sprach- u. Literaturentwicklung. FS Rudolf Große. Stgt. 1999, S. 415–431. – Glenn Ehrstine: Die Nacht zum Tag gemacht. Zu Elementen des Tageliedes bei H. v. M. MF 136,25. In: Euph. 87 (1993), S. 187–199. – Rod Fisher: The singer’s confrontation with beauty: some observations on the performance of M.’s songs. In: GLL 50 (1997), S. 267–282. – Beate Kellner: Gewalt u. Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept u. Ich-Rolle im Liedcorpus H.s v. M. In: PBB 119 (1997), S. 33–66. – Jens Köhler: Der Wechsel. Textstruktur u. Funktion einer mhd. Liedgattung. Heidelb. 1997, S. 163–178. – Markus Stock: Die unmögl. Empörung des Sängers. Zu H.s v. M. ›Ich wil ein reise‹ u. Burkharts v. Hohenfels ›Mich müet daz sô manger sprichet‹. In: LiLi 29 (1999), S. 156–166. – Christopher Young: Vision
198 and discourse in the poems of H. v. M. In: Mark Chinca (Hg.): Blütezeit. FS L. Peter Johnson. Tüb. 2000, S. 29–51. – K. Speckenbach: M.s Umspielen der Gattungsgrenzen. In: Volker Honemann u. Tomas Tomasek (Hg.): Germanistische Mediävistik. Münster 2000, S. 123–146. – Dagmar Hirschberg: M.s Konzept der herzeliebe. Zu einem Element der hochhöf. Minnesangdiskussion. In: Hedda Ragotzky (Hg.): Fragen der Liedinterpr. Stgt. 2001, S. 40–56. – Hans Irler: Minnerollen – Rollenspiele. Fiktion u. Funktion im Minnesang H.s v. M. Ffm. u. a. 2001. – Thomas Neukirchen: Zur Ed. des Liedes ›Mîn liebeste und ouch mîn êrste‹ H.s v. M. In: Euph. 96 (2002), S. 303–320. – Christoph Leuchter: Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik u. Poetik H.s v. M. Ffm. u. a. 2003. Claudia Händl
Heinrich von Mügeln. – Sangspruchdichter, Übersetzer/Bearbeiter theologischer u. chronistischer Werke, drittes Viertel des 14. Jh. H. nennt sich nach einem von zwei Orten mit dem Namen Mügeln in der Markgrafschaft Meißen; urkundlich ist er nicht bezeugt. Er bezeichnet sich selbst als »Laie«; dass er Kleriker gewesen sei (Hennig), ist nicht stichhaltig. Als einziges Datum steht die Widmung der Valerius-Maximus-Auslegung von 1369 an Herneid von Pettau (Steiermark) fest. Im Dienst Karls IV. hat H. wohl bald nach dessen Kaiserkrönung 1355 das allegor. Gedicht Der meide kranz verfasst. Lobstrophen auf Karl, in ihnen auch eine Anspielung auf dessen Vater Johann I. von Böhmen († 1346), enthält das Spruchwerk. Einige Strophen gelten vielleicht schon Karls Nachfolger Wenzel. Die dt. Ungarnchronik ist einem Gegner Karls, Herzog Rudolph IV. von Österreich (Regierungszeit 1358–1365), gewidmet, die von ihr abhängige lat. Ungarnchronik König Ludwig I. von Ungarn (Regierungszeit 1342–1382), der 1359–1362 in engeren polit. Beziehungen zu Rudolph stand. Ein Psalmenkommentar, der geraume Zeit vor einer 1372 abgeschlossenen Handschrift entstanden sein muss, kann nach neueren Erkenntnissen nicht mehr für H. selbst in Anspruch genommen werden. Im einzelnen sind die Chronologie der Werke u. die Gönnerwechsel H.s umstritten.
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Die in vier Handschriften überlieferte Allegorie Der meide kranz (Krone der Jungfrau Maria) entwirft in über 2500 Reimpaarversen ein umfassendes Bildungsmodell. Nach einem Anruf des Schöpfergottes, aus dem die Natur emaniert u. zu dem sie im Erkennen des Menschen zurückkehrt, nach einer Bitte an Maria u. Karl IV. treten im »Saal der Seele« zwölf Frauen auf, Personifikationen der Künste, die im Streit um den Vorrang den Kaiser als Universalherrscher u. »rex litteratus« um sein Urteil bitten. Sie stellen sich in zwölf Reden vor. Karl befragt zuerst seinen Rat, dann den Autor H., der das Urteil voraussieht, u. spricht schließlich den Sieg der Theologie zu. Dann verweist er die Klagenden an Natura in die nächst höhere Instanz. Sie reisen also in »das Land der Natur«, wo Residenz u. Herrscherin beschrieben werden. Natura bedarf zu ihrer Entscheidung der Hilfe der Tugenden. Diese eilen in einem allegor. Wagen herbei u. bestätigen nach einer ›Probevorlesung‹ der Theologie Karls Urteil. Theologie wird mit ihren Gefährtinnen in die Krone Marias, die Sternenkrone des Apokalyptischen Weibes, versetzt. Das nächste Buch gilt dem Rangstreit zwischen Natur u. den Tugenden. Nach einer Konfrontation der Standpunkte mit je drei Argumenten in der Aristoteles-Tradition stellen die zwölf Tugenden ihr Wesen vor. Theologie erteilt ihnen den Sieg. Ein Nachtragsbuch enthält die Selbstdarstellung der Natura, die ihre Wirkkraft astrologisch begründet u. an den zwölf Tierkreiszeichen demonstriert. Der Autor bestätigt noch einmal das bereits gesprochene Urteil. H. zeichnet in den drei Zwölfergruppen eine enzyklopäd. Überschau über die Natur-, Wert- u. Wissenschaftsordnung samt ihren Wechselbeziehungen. Für die Verwirklichung von Tugenden u. Künsten in Geschichte u. Gesellschaft ist der Kaiser an der Spitze der Ständehierarchie verantwortlich; auch dem gelehrten Dichter kommt ein Beitrag zu. Man hat erwogen, das Gedicht als Huldigung der Universität Prag nach Karls Kaiserkrönung zu verstehen. Zu H.s wohl bedeutendster literar. Leistung, der Sangspruchdichtung, verzeichnet
Heinrich von Mügeln
das Repertorium (Bd. 4, 1988) 32 Handschriften, einschließlich des unechten Guts. Fast das gesamte authent. Spruchwerk ist in der Göttinger Sammelhandschrift von 1463 überliefert. Sie enthält, verteilt auf 15 Bücher, 383 Sprüche, dazu in Buch XVI acht Minnelieder zu je drei Strophen (einige Liedgruppen auch in früheren Büchern). Die übrigen Handschriften sind hauptsächlich meistersingerischer Herkunft; zu bestimmten Themen (z.B. Astronomie) findet sich Streuüberlieferung. H. benützt vier eigene Töne. Charakteristisch ist das erste Buch der Göttinger Sammlung im langen Ton. Auf zwei Einleitungsstrophen zur Kompetenz des dichtenden Meisters u. Widmungen an »den vater aller göter« u. den »keiser« (Karl IV.) folgen 15 Sprüche zur Ordnung des Kosmos in anspruchsvoller philosophischer u. theolog. Terminologie u. gespickt mit Autoritätenzitaten. H. verknüpft in einem Bogen Schöpfungslehre, Metaphysik, Kosmologie, Inkarnation, Passion, Eucharistie, Eschatologie; er konfrontiert naturphilosophische u. theolog. Erkenntnis u. reflektiert seine Aussagen unter sprach- u. literaturtheoret. Aspekten. Buch II gilt v. a. der ird. Herrschaft mit einem Preis Karls IV. u. einer Reihe von Herrscherexempeln. Zusammenhängend angelegt sind dann bes. das Fabelbuch (IV), ein Überblick über die Bücher des AT (V), ein subtil gebauter, hochgelehrter Marienpreis (VI, der »Tum«; ein weiteres Marienlob in VIII), ein Durchgang durch die Artes liberales (VII) u. eine Darstellung der Astronomie (XII). Die moraldidaktischen Sprüche bringen v. a. Herren- u. Minnelehren u. zahlreiche Exempel aus Antike u. AT. H. schließt so an die ältere Sangspruchdichtung an, stellt die überkommenen Themen aber auf eine neue, »wissenschaftliche« Basis mit enzyklopäd. Anspruch. Gegenüber Frauenlobs Experimenten bleibt der Rahmen seines Denkens eher orthodox. H. treibt die Techniken rhetorischer »Blümung« voran, setzt sie aber stets funktionsgebunden ein. Die Minnelieder (Buch XVI) fanden neuerdings als experimentelle Fortführung der Minnesangtradition Beachtung.
Heinrich von Mügeln
Die dt. Prosachronik für Rudolph IV. von Österreich erzählt die Geschichte Ungarns von der Sintflut bis ins Jahr 1333. Sie bearbeitet eine nicht erhaltene lat. Vorlage aus der Familie der sog. Buda-Chroniken, mit der Chronik der Wiener Bilder-Handschrift (1358) als nächster Verwandten. Auf der Prosa fußt die Ludwig I. gewidmete lat. Reimchronik Ungarns. Sie ist in vier formal korrespondierende Teile gegliedert. Auf eine Prosapassage folgt jeweils eine Reihe von Metren in Tönen der dt. Sangspruchdichtung, auf welche die Zwischentitel ausdrücklich verweisen. Aufgrund dreier Töne, die als »notae mensuratae auctoris« bezeichnet werden u. mit Tönen H.s identisch sind, wird ihm die Verfasserschaft zugesprochen. Weiter erscheinen neun ältere Strophenformen. Da der vierte Abschnitt vor dem Durchlauf durch das Formschema endet u. bereits 1072 abbricht, ist die lat. Chronik als Fragment zu betrachten. Die Valerius-Maximus-Auslegung in dt. Prosa (vor 1372, 21 Textzeugen, darunter zwei Fragmente u. eine Inkunabel, unediert) verarbeitet neben den im MA verbreiteten Exempelerzählungen des lat. Autors, den Facta et dicta memorabilia (um 31 n. Chr.), auch einen Kommentar des Augustinereremiten Dionysius de Burgo (etwa 1280–1342). Sie wird als Nebenquelle in Hans Vintlers Blumen der Tugend benutzt. Der dt. Psalmenkommentar (nicht ediert), den man heute wohl H. absprechen muss, ist eine Übersetzung des bedeutenden u. damals modernen Kommentars des Franziskaners u. Pariser Professors Nikolaus von Lyra († 1340). Er ist in etwa 50 Textzeugen (darunter zwei Drucken) u. einem Fragment erhalten. Der Text variiert stark. Wie weit der Übersetzer/ Redaktor bearbeitend in die Vorlage eingriff, ist schwer abzusehen, zumal unbekannt ist, in welcher Form ihm das Werk des Nikolaus vorlag. In einem Teil der Handschriften ist ein »schlichter Psalmentext« dem Kommentar vorangestellt; er wird, obwohl zum urspr. Werk gehörig, in der Tradierung abgewandelt (grundsätzlich zwei Fassungen). Aufmerksamkeit verdient die Vorrede, die in drei Typen überliefert ist (Text bei Ratcliffe 1965). Der erweiterte, sog. »ketzerische« Typ C
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verteidigt die Übersetzung der Bibel ins Deutsche u. wurde mit einem entsprechenden Verbot Karls IV. von 1369 in Zusammenhang gebracht. Die Zuschreibung weiterer Bibelkommentare an H. ist gleichfalls nicht zwingend. In den Rahmen eines Bibelwerks fällt auch der Überblick über die Bücher des AT in lat. Prosa (Ludwig 1966), dessen dt. Äquivalent im Spruchwerk das Buch V bildet. H. repräsentiert eine spezif. dt.-lat. literar. Kultur. Er war, entgegen älteren Einschätzungen, fundiert lateinisch gelehrt. Neben der lat. Scholastik, v. a. in der AristotelesTradition, verwertete er auch bereits dt. adaptierte Scholastik (z.B. Konrad von Megenberg). Außerdem überblickte er die dt. Literaturtradition (z.B. Konrad von Würzburg, Frauenlob). Bei enzyklopäd. Interessen nahm H. auch zu aktuellen wissenschaftl. Fragen Stellung u. setzte eigene Akzente (SondergutMotive). Er übertrug gelehrtes Wissen in den literar. Diskurs; sein Beitrag zur Gattungsgeschichte der Allegorie u. der Spruchdichtung im Deutschen ist beachtlich. H. wurde lateinisch (auch mit seinem dt. Werk) u. deutsch rezipiert. Im Meistersang zählte er zu den »zwölf alten Meistern«. Ausgaben: Spruchwerk: Die kleineren Dichtungen H.s v. M. Erste Abt.: die Spruchslg. des Göttinger Cod. Philos. 21. Hg. Karl Stackmann. 3 Bde., Bln. 1959. – Ausw. mit nhd. Übers. u. Komm. in: Dt. Lyrik des späten MA. Hg. Burghart Wachinger. Ffm. 2006, S. 440–475, 907–941. – Der meide kranz: Die kleineren Dichtungen H.s v. M. Zweite Abt. Mit Beiträgen v. Michael Stolz. Hg. K. Stackmann. Bln. 2003. – Die Ungarnchroniken. In: Emericus Szentpétery (Hg.): Scriptores Rerum Hungaricarum. Bd. 2, Budapest 1938, S. 87–272. Literatur: Helmut Ludwig: H.s v. M. Ungarnchronik. Bln. 1938. – K. Stackmann: Der Spruchdichter H. v. M. Heidelb. 1958. – Johannes Kibelka: der ware meister. Denkstile u. Bauformen in der Dichtung H.s v. M. Bln. 1963. – F. W. Ratcliffe: Die Psalmenübers. H.s v. M. In: ZfdPh 84 (1965), S. 46–76. – H. Ludwig: H. s v. M. AT lat. Bln. 1966. – Jörg Hennig: Chronologie der Werke H.s v. M. Hbg. 1972 (dazu Heribert A. Hilgers in: ZfdPh 98, 1979, S. 122–128). – H. A. Hilgers: Die Überlieferung der Valerius-Maximus-Auslegung H.s v. M. Köln/Wien 1973. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975. – Klaus Grubmüller: Meister
201 Esopus. Mchn. 1977, S. 280–296. – K. Stackmann: H. v. M. In: VL. – Gerd Dicke u. K. Grubmüller: Die Fabeln des MA u. der frühen Neuzeit. Mchn. 1987 (Register). – C. Huber: Die Aufnahme u. Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mhd. Dichtungen. Mchn. 1988, S. 247–313 u.ö. – RSM, Bd. 4 (1988), S. 41–111. – Heimo Reinitzer (Hg.): Dt. Bibelübers.en des MA. Ffm. u. a. 1991. – Kurt Gärtner: Die erste dt. Bibel? Zum Bibelwerk des österr. Bibelübersetzers aus der ersten Hälfte des 14. Jh. Mit zwei neuen Handschriftenfunden zum ›Klosterbeuburger Evangelienwerk‹ u. zum ›Psalmenkommentar‹. In: H. Brunner u. Norbert Richard Wolf (Hg.): Wissenslit. im MA u. in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. Wiesb. 1993, S. 273–295. – Michael Stolz: ›Tum‹-Studien. Zur dichter. Gestaltung im Marienpreis H.s v. M. Tüb./Basel 1996 (Spruchbuch VI). – Annette Volfing: H. v. M., Der meide kranz. A commentary. Tüb. 1997. – Studien zu Frauenlob u. H. v. M. FS Karl Stackmann zum 80. Geburtstag. Hg. Jens Haustein u. a. Freiburg/Schweiz 2002. – K. Stackmann: Frauenlob, H. v. M. u. ihre Nachfolger. Hg. J. Haustein. Gött. 2002. – Susanne Köbele: Frauenlobs Lieder. Parameter einer literarhistor. Standortbestimmung. Tüb./Basel 2003 (Register). – Fritz Peter Knapp: Die Lit. des SpätMA in den Ländern Österr., Steiermark, Kärnten, Salzburg u. Tirol v. 1273 bis 1439. 2. Halbbd. Graz 2004, S. 47–67. – K. Stackmann: Philolog. Untersuchungen zur Ausg. der kleineren Dichtungen H.s v. M. Gött. 2004. – Dietlind Gade: Wissen – Glaube – Dichtung. Kosmologie u. Astronomie in der meisterl. Lieddichtung des 14. u. 15. Jh. Tüb. 2005 [zu Spruchbuch I, S. 183–315, u. Register]. – C. Huber: Wege aus der Liebesparadoxie. Zum Minnesang H.s v. M. im Blick auf Konrad v. Würzburg. In: Gattungen u. Formen des europ. Liedes vom 14. bis zum 16. Jh. Hg. Michael Zywietz u. a. Münster u. a. 2005, S. 89–109. – K. Stackmann: ›Der meide kranz‹. ›Das nuwe ticht‹ H.s v. M. In: ZfdA 135 (2006), S. 217–239. – C. Huber: ›nach rate zweier hande schrift‹: Mythologie als literar. Erkenntnisform. Zu Buch X der Spruchsammlung H.s v. M. In: Universitas. Die mittelalterl. u. frühneuzeitl. Universität im Schnittpunkt wiss. Disziplinen. Hg. Oliver Auge u. Cora Dietl. Tüb./Basel 2007, S. 43–62. Christoph Huber
Heinrich von München. – Redaktor, Kompilator oder Leiter einer Chronikwerkstatt, letztes Viertel des 14. Jh. Mit dem Namen H.s v. M. verbinden wir eine monumentale gereimte Weltchronik aus dem
Heinrich von München
letzten Viertel des 14. Jh., die auf der Basis älterer Kompilationen entstand, durch weitere Texte, auch Neudichtungen, ergänzt u. in relativ kurzer Zeit wiederholt überarbeitet wurde; der Textbestand der 18 vollständigen Handschriften variiert zwischen rund 56.000 u. rund 100.000 Versen. An diesem Komplex war eine ganze Gruppe von Autoren bzw. Redaktoren beteiligt. Text- u. überlieferungsgeschichtl. Indizien legen den Schluss nahe, dass es sich um eine Art Chronikwerkstatt handelte, die mit Quellentexten, auch mit Exemplaren verschiedener Fassungen eines Textes, gut ausgestattet war. Der Name H. v. M., von dem sonst nichts bekannt ist, erscheint nur in den elf Handschriften der Redaktion b. Vielleicht war er der Redaktor dieser sekundären Bearbeitung; denkbar ist aber auch, dass dieser Redaktor, der Kompilator der Erstfassung u. der Leiter des vermuteten Autoren- u. Redaktorenteams ein u. dieselbe Person waren. Die Chronik verfolgt das ehrgeizige Ziel, die Weltgeschichte möglichst vollständig u. genau von der Erschaffung der Welt bis in die Zeit Ludwigs des Frommen (in der Basiskompilation u. Redaktion a) bzw. bis in die Zeit der stauf. Kaiser (in der wiederum auf a folgenden Redaktion b) darzustellen. Um dieses universalgeschichtl. Programm einzulösen, wurden Texte verschiedener Provenienz u. verschiedener historiografischer Gattungen zusammengetragen u. miteinander kombiniert. Bibel u. Bibeldichtung, Legenden u. Chroniken gehören ebenso dazu wie Antikenroman u. Epen aus der Tradition der Chansons de geste. Wo gereimte Quellen nicht zur Verfügung standen, wurden im Interesse einer einheitl. formalen Gestaltung lat. u. dt. Prosaquellen in Verse umgesetzt. Als wissensorganisatorische Leistung gibt es im dt. MA kaum etwas Vergleichbares. Den Grundstock für die Erstfassung bildet die sog. Erweiterte Christherre-Chronik: eine durch Partien aus der Weltchronik des Jans Enikel u. durch eine Trojanerkriegskompilation erweiterte u. mit der Weltchronik Rudolfs von Ems fortgesetzte Christherre-Chronik. Sie deckt den größeren Teil der alttestamentl. Geschichte u. der mit ihr synchronisierten Profangeschichte, von Genesis bis III Regum,
Heinrich von München
ab. Für seine Neudichtung, mit welcher der Kompilator die Lücke von IV Regum bis II Machabeorum schloss, benutzte er in erster Linie die Vulgata, die lat. Übersetzung der Bibel, u. die ebenfalls lat. Historia scholastica Petrus Comestors, sowie die Sächsische Weltchronik u. das Buch der Könige alter ê, eine biblisch-geschichtl. Einleitung zum Schwabenspiegel. Für das – in das Buch Esra eingelassene – Alexanderleben wiederum wurden umfangreiche Exzerpte aus dem Alexanderroman Ulrichs von Etzenbach montiert. Hauptquelle für die neutestamentl. Ereignisse ist das Marienleben Bruder Philipps, zusammen mit einer Passionskompilation auf der Basis von Gundackers von Judenburg Christi Hort, für die Zeit Karls des Großen ist es die Willehalm-Trilogie mit der Arabel Ulrichs von dem Türlin, Wolframs von Eschenbach Willehalm u. Ulrichs von Türheim Rennewart. Für seine Versifizierung der Papstu. Kaiserreihe stützte sich der Kompilator der Erstfassung hingegen im Wesentlichen auf die Flores temporum u. die Sächsische Weltchronik. Mit diesem universalhistor. Kompendium wurden erstmals die älteren Ansätze zu einer möglichst ausführlichen u. vollständigen Weltchronik in der Volkssprache erfolgreich zu Ende geführt. Der Chronikkomplex wurde schon bald nach seiner Entstehung revidiert. In dieser ersten Überarbeitung, der Redaktion a, ging es nicht so sehr um die inhaltl. Ergänzung der Basiskompilation (u. a. mit Exzerpten aus der Kreuzholz- u. der Dreikönigslegende) als vielmehr um Rekompilation mit den Basisquellen in quellenkrit. Absicht. Die Folgeredaktion b ändert die Großgliederung – sechs Weltalter statt der sieben in Erstfassung und Redaktion a –, ist aber v. a. auch bestrebt, die Vorlage zu korrigieren u. zu vervollständigen u. den Ereignisbericht auszubauen. Die lat. Primärquellen Vulgata u. Historia scholastica wurden dafür ebenso herangezogen wie volkssprachige, z.B. Wolframs Parzival u. Heinrichs von Beringen allegor. Schachgedicht. Von Grund auf revidiert wurde vermutlich in Redaktion b auch der Schluss der Chronik, der nun bis Kaiser Friedrich II. fortgeführt wurde. Innerhalb der beiden Hauptredaktionen sind weitere, einmal mehr, einmal we-
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niger intensive Bearbeitungen erkennbar, die je eigene Kompositionen der universalhistor. Materie u. spezif. Akzentsetzungen hervorbrachten. So wird in einer Handschriftengruppe, indem sie nahezu alle profangeschichtl. »incidentia« unterdrückt, die universalgeschichtl. Perspektive – zumindest tendenziell – zugunsten der reinen Heils- u. Bibelgeschichte aufgegeben; in einer anderen werden die beiden alle Proportionen sprengenden profangeschichtl. Großkomplexe Trojanerkrieg u. Alexanderleben durch entsprechende Kurzversionen ersetzt; u. eine einzelne Handschrift erweitert den Chronikkomplex um Ottes Eraclius u. das (beinahe) komplette Karlsepos des Strickers (vgl. die systemat. Aufarbeitung der ganzen Überlieferung in den Studien zur Weltchronik H.s v. M.). Konzeptionell Neues, gar neue Geschichtsbilder bietet kaum eine der Fassungen. Gemeinsam ist allen ein Ansatz, den man beinahe philologisch nennen möchte: das Bemühen um den richtigen u. vollständigen Text, um die authentische u. möglichst vollständige Vermittlung bibl. u. außerbibl. Geschichtswissens. Dahinter verbirgt sich der Anspruch, dem nichtlateinkundigen Laien – hier vor allem der weltl. Oberschicht – zuverlässig u. in großem Zusammenhang ein Buchwissen zu erschließen, das in dieser Form bisher nicht zur Verfügung stand. Die Weltchronik H.s v. M. in ihren verschiedenen Ausformungen orientiert über die Heils- u. Bibelgeschichte ebenso wie über die Geschichte des röm. Reiches, in dem alle Herrschaften, ob klein oder groß, früher oder später aufgegangen sind; sie vermittelt aber auch enzyklopäd. Wissen über die Ursprünge der Zivilisation u. Kultur wie über die Entstehung von Völkern, Ländern u. Städten, u. sie bietet – namentlich in der Alten Ee – (Fall-) Geschichten u. Anekdoten in großer Zahl, die Ereignisse u. Figuren als verbindl. Deutungsmuster für aktuelle Erfahrung präsentieren. Insofern ist die Weltchronik – auf Geschichte u. Geschichten konzentrierte – Laienbibel, histor. Kompendium, Realenzyklopädie u. anthropologisch-didakt. Veranstaltung in einem.
203 Ausgaben: Es existieren nur Teileditionen. – Jacob u. Wilhelm Grimm (Hg.): Die dt. Heldensage aus der Weltchronik. In: Altdt. Wälder 2. Ffm. 1815, S. 115–134. – Hans Ferdinand Massmann (Hg.): Der keiser u. kunige buoch oder die sog. Kaiserchronik III. Quedlinburg/Lpz. 1854, S. 95–103, 189–191. – Carl Schröder: Hester. Von H. v. M. In: Herrigs Archiv 50 (1872), S. 311–318. – Werner Schröder (Hg.): Die Exzerpte aus Wolframs ›Willehalm‹ in der ›Weltchronik‹ H.s v. M. Bln. 1981. – Frank Shaw: Die ›Parzival‹-Zitate bei H. v. M. In: FS Werner Schröder. Tüb. 1989, S. 183–196. – Studien zur ›Weltchronik‹ H.s v. M. Bd. 1: Überlieferung, Forschungsber., Untersuchungen, Texte. Hg. Horst Brunner; Bd. 2,1 u. 2,2: Johannes Rettelbach: Von der ›Erweiterten ChristherreChronik‹ zur Redaktion a; Bd. 3,1 u. 3,2: Dorothea Klein: Text- u. überlieferungsgeschichtl. Untersuchungen zur Redaktion b. Wiesb. 1998 (darin Abdruck großer Partien aus der Alten Ee, insbes. Abdruck der Eigendichtungen des Erstkompilators u. der weiteren Redaktoren). – F. Shaw, Johannes Fournier u. Kurt Gärtner (Hg.): Die Weltchronik H.s v. M.: Neue Ee. Bln. 2008 (Gesamted. der Neuen Ee in der Erstfassung, allerdings ohne die ›Willehalm‹-Trilogie; Nachweis älterer Teiled.en der neuen Ee S. XXVIII Anm. 3) Literatur: Paul Gichtel: Die Weltchronik H.s v. M. in der Runkelsteiner Hs. des Heinz Sentlinger. Mchn. 1937. – Norbert H. Ott: H. v. M. In: VL. – Frank Shaw: Die Darstellung Karls des Großen in der ›Weltchronik‹ H.s v. M. In: Walter Haug u. a. (Hg.): Zur dt. Lit. u. Sprache des 14. Jh. Heidelbg. 1983, S. 173–207. – Kurt Gärtner: Philipps ›Marienleben‹ u. die ›Weltchronik‹ H.s v. M. In: Wolfram-Studien 8 (1984), S. 199–218. – Gisela Kornrumpf: König Artus u. das Gralsgeschlecht in der ›Weltchronik‹ H.s v. M. In: ebd., S. 178–198. – Dies.: Heldenepik u. Historie im 14. Jh. Dietrich u. Etzel in der Weltchronik H.s v. M. In: Christoph Gerhardt u. a. (Hg.): Geschichtsbewußtsein in der dt. Lit. des MA. Tüb. 1985, S. 88–109. – N. H. Ott: Kompilation u. Zitat in Weltchronik u. Kathedralikonogr. In: ebd., S. 119–135. – G. Kornrumpf: Die Weltchronik H.s v. M. Zu Überlieferung u. Wirkung. In: FS Ingo Reiffenstein. Göpp. 1988, S. 493–509. – Jörn-Uwe Günther: Die illustrierten mhd. Weltchroniken in Versen. Kat. der Hss. u. Einordnung der Illustrationen in die Bildüberlieferung. Mchn. 1993. – F. Shaw: Die KaiserchronikRezeption in der ›Weltchronik‹ H.s v. M. In: FS Eberhard Nellmann. Göpp. 1995, S. 380–392. – Studien zur ›Weltchronik‹ H.s v. M. 5 Bde. (s. o.). – Johannes Rettelbach: Erweiterte Christherre-Chro-
Heinrich von Neustadt nik. In: VL. – Ralf Plate: Die Überlieferung der ›Christherre-Chronik‹. Wiesb. 2005. Dorothea Klein
Heinrich von Neustadt. – Verfasser eines Liebes- u. Abenteuerromans u. einer geistlichen Dichtung, um 1300. H. stammte aus der Wiener Neustadt u. wirkte als Arzt in Wien. Italienische Spuren in seinem Werk deuten auf ein Studium in Italien hin. Er war zweimal verheiratet, mit Katarina Möllin u. mit einer Alheit (Adelheid). Mit dieser mietete er nach einer Urkunde von 1312 ein Haus am Wiener Graben, den heutigen Trattnerhof. Dies hindert nicht, dass er schon vorher am Graben wohnte, worauf er im Epilog des Apollonius verweist (V. 20.606). In dieser Dichtung nennt er noch mehrere Namen aus seinem Bekanntenkreis, darunter den Pfarrer Niklas von Stadlau (bezeugt 1297–1318), der ihm die lat. Vorlage verschaffte. H.s Lebensgang u. die Chronologie seiner Werke sind teils unklar. Da sie von Endzeitstimmung geprägt sind – H. ist überzeugt, dass der Antichrist bereits geboren sei –, setzt man sie um 1300 an; literarhistorisch sind sie im Rahmen der Wiener Stadtliteratur der Zeit zu sehen. Der Apollonius von Tyrland gilt aus stilistischen Gründen als das frühere Werk (zur Datierung Achnitz 2002). Er ist in vier (davon zwei illuminierten) Handschriften überliefert. Quelle der Haupthandlung ist die lat. Historia Apollonii, ein Liebes- u. Abenteuerroman aus dem 2./3. Jh. n. Chr. nach einem verlorenen griech. Original, der im MA in verschiedenen Fassungen verbreitet war; H. fußt auf einer Mischredaktion u. legt die erste dt. Bearbeitung des Stoffs vor. Der Roman erzählt zunächst den Inzest des Königs von Antiochien mit seiner Tochter. Deren Werber müssen unter Einsatz ihres Lebens ein Rätsel lösen, das eben diese Situation verschlüsselt. Apollonius, ein reicher Jüngling aus kgl. Haus, findet die Lösung, muss aber vor den Nachstellungen des Königs fliehen. Er wird nach Kyrene verschlagen u. erringt dort die Hand der Königstochter Lucina. Mit ihr will
Heinrich von Neustadt
er nach dem Tod des schlimmen Herrschers nach Antiochien zurückkehren. Die Handlung verläuft nun nach dem Schema der Trennung u. Wiedervereinigung einer Familie. Lucina gebiert auf dem Schiff eine Tochter u. scheint daran zu sterben. Sie wird aber in ihrem Sarg nach Ephesus getrieben, von einem Arzt wiederbelebt u. kommt als Dianapriesterin unter. Indes gibt Apollonius die Tochter in Tarsus in Pflege; man trachtet ihr nach dem Leben, sie wird entführt u. in ein Bordell in Mytilene verkauft, wo sie aber ihr Geld verdienen kann, ohne sich preiszugeben. Als der Vater sie nach 14 Jahren abholen will, erklärt man ihm, sie sei gestorben. Es folgt in zwei Stationen die wunderbare Wiedervereinigung. Diese Handlung nimmt bei H. nur knapp 5000 der insg. 20.639 Verse ein. Das übrige füllen die in der Vorlage übersprungenen 14 Jahre der Trennung mit einer schier endlosen Kette von Orientabenteuern. H. stützt sich hier auf breite Lektüre, vielleicht eine verlorene byzantin. Quelle des 13. Jh. u. dt. Romanliteratur. Apollonius durchreist wunderbare Länder, heiratet dreimal u. erwirbt mehrere Reiche. H. erweitert auch am Ende: Nach der Verheiratung der Tochter bewährt sich Apollonius als Herrscher, gründet die Tafelrunde (VV. 18.425 ff.), erobert Jerusalem u. wird christl. Kaiser in Rom. Erzähltechnisch ist dieses Kompilat eine Klitterung aus verschiedenen Romantypen, die keinen zusammenhängenden Erfahrungsweg des Helden aufbauen. Entsprechend heterogen ist auch das Normen- u. Sinnangebot. Das geistl. Gedicht Gottes Zukunft (drei Handschriften, drei Fragmente, 8117 Verse) behandelt die verschiedenen Arten des Ankommens Gottes auf Erden, für die das MA diverse Schemata kennt. H. verteilt auf drei Bücher die Inkarnation Christi (1), sein Leben u. seine Passion (2) u. seine Wiederkunft zum Jüngsten Gericht (3). Buch 1 beruft sich als Quelle auf den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis († 1203), bearbeitet aber nicht dieses allegor. Epos von der Erschaffung des Neuen Menschen durch Natur u. die Tugenden selbst, sondern dessen Prosakurzfassung u. heilsgeschichtl. Auslegung auf Christus im Compendium Anticlaudiani (Niederösterreich,
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Ende 13. Jh.). Zudem wird die Figur des visionären Alanus selbst u. eine Schilderung der personifizierten Natur u. ihres Reichs nach dem Planctus Naturae des Alanus eingebaut. H. verstärkt die heilsgeschichtl. Rückbindung der allegor. Handlung, indem er auch den Erlösungsrat Gottes u. die Adamslegende einflicht. Andererseits erweitert er durch traktatartige Reflexionen, ein Marienlob u. die Zeichen bei der Geburt Christi. Das zweite Buch verwertet v. a. den Sermo de Vita et Passione Domini des Ps.-Bernhard u. eine Magdalenen-Predigt des Ps.-Origenes. Besonderer Wert ist auf die emotionale Erregung des Lesers gelegt, so in der Klage Marias unter dem Kreuz u. der Trauer Maria Magdalenas. Für das dritte Buch sind Hauptquellen das Compendium theologicae veritatis des Hugo Ripelin von Straßburg u. die Legende aurea des Jacobus a Voragine. Berichtet wird vom Leben des Antichrist, den 15 Vorzeichen zum Jüngsten Gericht u. dem Gericht selbst. Die vergebl. Fürbitte Marias u. der beiden Johannes für die Verdammten erscheint hier zum ersten Mal. In der Heidelberger Handschrift von Gottes Zukunft folgt auf die 15 Zeichen des Jüngsten Gerichts (nach V. 6167) eine freie Bearbeitung der Visio Philiberti (Frankreich, 12. Jh., mit breiter Rezeption). Ein Visionär beobachtet den Rechtsstreit der Seele mit dem Leib nach dem Tod, die Entführung der Seele in die Hölle u. ihre Qualen. Der in sich geschlossene Abschnitt (592 Verse) fügt sich als Urteil über die Einzelseele vor dem Endgericht sinnvoll ein u. wird in dieser Funktion durch Überlieferungsparallelen bestätigt. Ausgaben: H.s v. N. ›Apollonius v. Tyrland‹, ›Gottes Zukunft‹ u. ›Visio Philiberti‹. Hg. Samuel Singer. Bln. 1906. – Übersetzung: Leben u. Abenteuer des großen Königs Apollonius v. Tyrus zu Land u. zur See. Ein Abenteuerroman v. H. v. N., verfaßt zu Wien um 1300 nach Gottes Geburt. Übertr. mit allen Miniaturen der Wiener Hs C, mit Anmerkungen u. einem Nachw. v. Helmut Birkhan. Bern u. a. 2001. Literatur: Peter Ochsenbein: H. v. N. In: VL (ältere Lit.) u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Nigel F. Palmer: Visio Tnugdali. Mchn. u. a. 1982. – Claude Lecouteux: Der Menschenmagnet. Eine oriental. Sage in H.s v. N. ›Apollonius v. Tyrland‹.
205 In: Fabula 24 (1983), S. 195–214. – Václav Bok: Herr ›Dobisch v. Pehaymen‹ im spätmhd. ›Apollonius‹-Roman H.s v. N. In: Philologica Pragensia 27 (1984), S. 218–224. – Alfred Ebenbauer: Der ›Apollonius v. Tyrland‹ des H. v. N. u. die bürgerl. Lit. im spätmittelalterl. Wien. In: Zeman I, S. 311–347. – Ulrich Wyss: Religiöse Epik im österr. SpätMA. In: ebd., S. 259–309, bes. S. 305–309. – Christoph Huber: Die Aufnahme u. Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mhd. Dichtungen. Mchn. 1988, S. 200–246 u. ö. (zu ›Gottes Zukunft‹). – Werner Röcke: Die Wahrheit der Wunder. Abenteuer der Erfahrung u. des Erzählens im ›Brandan‹ u. ›Apollonius‹-Roman. In: Thomas Cramer (Hg.): Wege in die Neuzeit. Mchn. 1988, S. 252–269. – Burghart Wachinger: H. v. N., ›Apollonius v. Tyrland‹. In: Walter Haug u. B. Wachinger (Hg.): Positionen des Romans im SpätMA. Tüb. 1991, S. 97–115. – Fritz Peter Knapp: Die Lit. des SpätMA in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg u. Tirol v. 1273 bis 1439. 1. Halbbd., Graz 1999, S. 280–297. – Helmut Birkhan: ›Ditz sind abenteure‹. Zur Herkunft einiger Motive im Apolloniusroman des H. v. N. In: ›swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch‹. FS für András Vizkelety zum 70. Geburtstag. Hg. Márta Nagy u. Lázló Jónácsik. Budapest 2001, S. 117–131. – Christian Kiening: Apollonius unter den Tieren. In: Literar. Leben. FS Volker Mertens. Hg. Matthias Meyer u. a. Tüb. 2002, S. 415–431. – Wolfgang Achnitz: Babylon u. Jerusalem. Sinnkonstituierung im ›Reinfried von Braunschweig‹ u. im ›Apollonius v. Tyrland‹ H.s v. N. Tüb. 2002. – Freimut Löser: Maria Magdalena am Grab. ›Der Saelden Hort‹, ›Von Gottes Zukunft‹ u. die ›Bairische Magdalenenklage‹ als poet. Bearbeitung einer Pseudo-Origines-Predigt. In: Studien zur dt. Sprache u. Lit. FS für Konrad Kunze zum 65. Geburtstag. Hg. V. Bok u. a. Hbg. 2004, S. 156–177. – Bram Rossano: Die dt. u. niederländ. Bearbeitungen der Pseudo-Origines-Magdalenenklage. In: Beiträge zur Gesch. der dt. Sprache u. Lit. 126 (2004), S. 233–260. – Almut Schneider: Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns v. Würzburg ›Wilhelm v. Österreich‹ u. in H.s v. N. ›Apollonius v. Tyrland‹. Gött. 2004. – W. Achnitz: Textproduktion u. Sinnkonstituierung. Zur Affinität v. Textlinguistik u. Rhetorik am Beispiel des ›Apollonius‹-Romans. In: Texttyp u. Textproduktion in der dt. Lit. des MA. Hg. Elizabeth Andersen u. a. Bln. u. a. 2005, S. 121–141. – Meinolf Schumacher: Gemalte Himmelsfreuden im Weltgericht. Zur Intermedialität der Letzten Dinge bei H. v. N. In: Ästhet. Transgressionen. FS für Ulrich Ernst
Heinrich von Nördlingen zum 60. Geburtstag. Hg. Michael Scheffel u. a. Trier, 2006, S. 55–80. Christoph Huber
Heinrich von Nördlingen, nachweisbar zwischen 1332 u. 1351. – Weltpriester u. Mystikerfreund; Briefautor. Der wohl um 1300 in Nördlingen geborene H. war zunächst in seiner Heimatstadt u. in mehreren Klöstern der Umgebung als Seelsorger tätig. Besonders intensiv war seine Beziehung zum Dominikanerinnenkloster Maria Medingen, wo ihn eine enge Seelenfreundschaft mit der mystisch begnadeten Nonne Margareta Ebner verband. 1338 sah sich H., ein entschiedener Anhänger von Papst Johannes XXII., gezwungen, das auf der Seite Ludwigs des Bayern stehende Nördlingen zu verlassen. Wie viele andere papsttreue Kleriker – so auch der H. befreundete Tauler – fand er schließlich in Basel Zuflucht. Dort wirkte er sehr erfolgreich als Prediger u. war Zentrum eines von myst. Sehnsucht erfüllten frommen Zirkels. Nachdem H. Basel verlassen hatte (1348/49), scheint er vornehml. als Wanderprediger tätig gewesen zu sein. Die letzte sichere Nachricht über ihn stammt aus dem Jahr 1351 (Besuch im Kloster Engelthal); ein späterer Aufenthalt im Kloster Pillenreuth bleibt nur eine – wenn auch sehr ansprechende – Vermutung. Von Basel aus setzte H. seinen 1332 begonnenen Briefwechsel mit Margaretha fort (56 der erhaltenen Briefe sind an sie, zwei an ihre Mitschwestern gerichtet). Die aufgezwungene Trennung von ihr u. das als schmerzlich empfundene Exil verstärkten noch den ungewöhnlich persönl. Charakter dieser Korrespondenz, die die Heimatlosigkeit des Autors u. seine daraus resultierende Sehnsucht nach Geborgenheit widerspiegelt. Mit dieser Korrespondenz steht H. am Beginn der Geschichte des Privatbriefs in dt. Sprache. Doch H. war nicht nur Briefautor, sondern auch Anreger u. Bewahrer literar. Werke. Er bewegte Margaretha Ebner zur Aufzeichnung ihrer Offenbarungen u. begleitete anspornend u. bestätigend deren Werk, das ohne sein Drängen kaum begonnen u. ohne
Heinrich von Ofterdingen
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sein anhaltendes Interesse wohl nicht zu Ende geführt worden wäre. Zumindest in diesem Sinne kann man von einer fruchtbaren Zusammenarbeit von Visionärin u. Seelenführer sprechen, auch wenn H. sich einer redigierenden Einflussnahme enthielt. Ein weiteres Werk der mhd. Literatur verdankt H. zwar nicht seine Entstehung, wohl aber seine Bewahrung. Er veranlasste die Übertragung des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg aus dem Niederdeutschen ins Oberdeutsche. Nur in dieser Form ist das »lustigistz tütsch« (Strauch, S. 246) dieses zentralen Werkes der voreckhartischen dt. Mystik erhalten geblieben.
ihm zwei weitere Töne zugeschrieben. Die jüngere Vulgatfassung des Laurin nennt ihn als ihren Verfasser oder ihre Quelle. Die neuzeitl. Rezeptions- u. Wirkungsgeschichte H.s ist schillernd. Sie verdichtet sich v. a. im Gefolge von Novalis gleichnamigem Roman (1802), beispielsweise in E. T. A. Hoffmanns Der Kampf der Sänger, R. Wagners Thannhäuser, bei J. V. von Scheffel oder in A. Stifters Witiko. Der Mythos H. blieb aber nicht auf literar. Rezeption beschränkt, sondern beeinflusste auch philolog. Forschungen des 19. u. noch des 20. Jh., die in ihm u. a. den Autor des Wartburgkriegs, von Nibelungenlied u. Klage sowie Teilen des Heldenbuchs sahen.
Ausgaben: Philipp Strauch: Margaretha Ebner u. H. v. N. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Mystik. Freib. i. Br./Tüb. 1882. Neudr. Amsterd. 1966.
Literatur: Konrad Burdach: H. v. O. In: ADB 24. – Paul Riesenfeld: H. v. O. in der dt. Lit. Bln. 1912. – Tom Albert Rompelmann (Hg.): Der Wartburgkrieg. Diss. Amsterd. 1939. – Burghart Wachinger: H. v. O. In: VL. – Werner Wunderlich: Wer war der Greis, den Worms solch Lied gelehrt? Der erfundene Dichter. Joseph Viktor von Scheffels Version vom Autor des Nibelungenliedes. In: Euph. 89 (1995), S. 239–270. – Johannes Rettelbach: H. v. O. zwischen Dichtung u. Philologie. In: Archiv 151 (1999), S. 33–52. – Beate Kellner u. Peter Strohschneider: Wartburgkriege. Eine Projektbeschreibung. In: Martin J. Schubert (Hg.): Dt. Texte des MA zwischen Handschriftennähe u. Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1.-3. April 2004. Tüb. 2005, S. 173–202. Norbert Kössinger
Literatur: Manfred Weitlauff: H. v. N. In: VL. – Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literar. Faktum. Tüb. 1988, bes. S. 142–155. – Johannes Janota: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III/1). Tüb. 2004, S. 122–128. Gisela Vollmann-Profe
Heinrich von Ofterdingen. – (Fiktiver?) Autor des 13. Jh.
Ob es sich bei H. um eine histor. Person handelt oder ob er eine reine literar. Fiktion darstellt, ist umstritten. 1257 ist ein »HenriHeinrich von Rugge. – Lied- u. Leichcus dictus de Oftindinh filius Henrici de dichter des 12. Jh. Rospe« urkundlich bezeugt, ein Ministeriale der Gräfin Mechthild von Sayn, der Enkelin Der Dichter dürfte mit dem Heinricus de Ludwigs III. von Thüringen. Seine Identität Rugge identisch sein, der in einer zwischen mit H. kann aber nicht mit Sicherheit fest- 1175 u. 1178 ausgefertigten Urkunde des gestellt werden. Das älteste literar. Zeugnis, Abts Eberhard von Blaubeuren als Zeuge das H. erwähnt u. von dem die jüngeren li- aufgeführt wird. Danach wäre er ein Angeterar. u. chronikal. Erwähnungen abhängen, höriger der Ministerialenfamilie von Rugge ist das Fürstenlob des Wartburgkriegs (ca. mit Stammburg auf dem Ruckberg bei Blau1240/1260). Dort nimmt er die fiktive Rolle beuren, die im Dienst der Pfalzgrafen von des Herausforderers ein, der mit seinem Lob Tübingen stand. H.s Name erscheint neben Herzog Leopolds VI. von Österreich denen anderer bekannter Lyriker ferner in (1198–1230) denjenigen unterliegt, die einer Reihe mhd. Dichterzeugnisse, so in der Landgraf Hermann I. von Thüringen Crône Heinrichs von dem Türlin (um 1220), in (1190–1217) preisen. Die Jenaer u. die Kol- einer Reinmar von Brennenberg zugeschriemarer Liederhandschrift führen ihn in den benen, wohl um die Mitte des 13. Jh. entÜberschriften zum Fürstenlob u. anderen standenen Totenklage auf Minnesänger, in Strophen im sog. Fürstenton als Melodie- einer auf etwa 1260 datierten Strophe des erfinder auf. In der frühen Neuzeit werden Marner u. im dritten Leich Des von Gliers
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(13. Jh.), wo H. als Leichdichter gepriesen wird. Seine Schaffenszeit wird gemeinhin um 1190 angesetzt. Unter H.s Namen sind ein Kreuzleich u. Minnelieder überliefert. Während die Verfasserschaft H.s für den Leich nicht in Frage gestellt wird, bereitet die Abgrenzung des Liedœuvres erhebl. Schwierigkeiten. Einen großen Teil der durchweg ohne Melodien überlieferten Lieder zeichnen die Handschriften auch unter anderen Namen auf: Liutold von Seven, Friedrich von Hausen, ein sonst nicht bekannter Heinrich der Riche – fälschlich für Rugge? – u. bes. Reinmar der Alte. So erscheinen von den 34 Strophen, die die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) unter seinem Namen sammelt, 21 Strophen nochmals unter dem Namen Reinmars. Die Zuordnung ist bis heute umstritten: Während Moriz Haupt in seiner Ausgabe von Minnesangs Frühling H. alle für ihn bezeugten Töne beließ, erklärten spätere Forscher (v. a. Carl von Kraus, Hennig Brinkmann u. Franz J. Paus) nur einen Teil – Brinkmann nur zwei Lieder u. sieben Strophen – für H.s. Eigentum. Helmut Tervooren nimmt diese Reduzierung in der Neuausgabe von Minnesangs Frühling zurück. Die häufige Erwähnung des Dichternamens in der mhd. Literatur, neben bekannten u. vielseitigen Dichtern wie Albrecht von Johansdorf, Reinmar dem Alten u. Walther von der Vogelweide, stützt die neuere Forschung, die H. ein umfangreicheres Œuvre als noch von Kraus oder Brinkmann zuschreibt u. dem Dichter damit eine größere Bandbreite an formaler u. inhaltl. Gestaltung zugesteht. Die Vermischung von H. u. Reinmar zugeschriebenen Strophen lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass Reinmar Einzelstrophen u. Lieder H.s – unter Umständen als sein »Schüler« – übernommen u. weiter- bzw. umgedichtet hat (Schweikle 1965). Da eine eindeutige Zuordnung der Strophen insbes. zu H. oder Reinmar nicht möglich ist, kann hier nur ein unter H.s Namen gesammeltes Corpus charakterisiert werden. Beherrschendes Thema der Lieder ist die Minne, oft lehrhaft behandelt wie in IX, wo die inneren Werte der Frau über rein äußerl. Schönheit gestellt werden. Durch den Einsatz
Heinrich von Rugge
von Frauenstrophen (in I, IV, VII, VIII, IX) gelingt es H., die Minnebindung aus der Perspektive beider Partner zu beleuchten. Auch wenn dabei die Fiktion einer persönl. Beziehung aufgebaut wird, in der auch die Frau über eine mögl. Bindung nachdenkt, wird doch gerade in den didaktisch geprägten Minneliedern H.s deutlich, dass die im Minnesang besungene Frau für eine eth. Idee steht u. das Minnelied ein mögliches Forum für eine gesellschaftl. Wertediskussion bildet. Neben reinen Minneliedern (in I u. VIII mit Natureingang) hat H. auch ein Kreuzlied (IV) u. rein didakt. Lieder in seinem Repertoire: Lied V gegen die falschen Freunde u. X gegen Uneinigkeit, Unvernunft u. Besitzstreben in der Welt (mit Parteinahme für die Frauen in der dritten Strophe). Die Kreuzzugsverpflichtung stellt sich H. als durchaus vereinbar mit der Minneidee dar. Auch wenn sich in Thematik u. Stil Anklänge an andere Sänger der Zeit finden – stilistisch steht H. bes. Friedrich von Hausen nahe –, lassen sich doch keine eindeutigen Vorbilder für seine Liedkunst bestimmen. Dies gilt auch für die formale Gestaltung, bei der H.s Eigenständigkeit bes. deutlich hervortritt. Vielseitig zeigt er sich bei der Verwendung komplizierter Reimstrukturen (v. a. in II, IV, V, VIII, XII). Lied III weist neben Binnenreim auch variierenden Refrain auf. Neben stollig gebauten Strophen setzt H. auch Periodenstrophen ein (V mit Fünfer-Reimband u. abschließendem Paarreim, der in der zweiten Strophe wiederholt wird; XII). Die Lieder III. u. X haben daktyl. Rhythmus. H.s Verfasserschaft für den Leich gilt durch Namensnennung im letzten Abschnitt als gesichert. Dieser früheste religiöse Leich in dt. Sprache – vielleicht der erste dt. Leich überhaupt – ist bemerkenswerterweise nicht wie andere mhd. Leichs in den großen Liederhandschriften überliefert. Er findet sich vielmehr in einer Benediktbeurer, heute in München aufbewahrten lat. Sammelhandschrift religiösen Inhalts (datiert 20.3.1180) als Nachtrag vom Ende des 12. Jh. H.s Leich, der bald nach dem Tod Barbarossas (1190) entstanden sein muss, wurde also nicht lange nach seinem Entstehen niedergeschrieben. Der leich von deme heiligen grabe, wie er im
Heinrich von Sax
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Literatur: Bibliografie: Tervooren, Nr. 565–569. Schlusstitel genannt wird, ist ein Kreuzzugsaufruf unter dem Eindruck des Todes – Weitere Titel: Erich Schmidt: Reinmar v. Hagenau Barbarossas auf dem dritten Kreuzzug: Ge- u. H. v. R. Straßb. 1874. – Kurt Herbert Halbach: rade nach diesem trag. Ereignis bestehe An- Walther v. der Vogelweide, H. v. R. u. ›PseudoReimar‹. In: ZfdA 65 (1928), S. 145–176. – Hennig lass zur Kreuznahme. Die Heilserwartung Brinkmann: H. v. R. u. die Anfänge Reimars. In: FS wird klar ausgedrückt. Wie der Kaiser von Paul Kluckhohn u. Hermann Schneider. Tüb. 1948, Gott belohnt wurde, so könne auch auf Gnade S. 498–527. – Franz Josef Paus: Das Liedercorpus hoffen, wer sich jetzt auf Kreuzfahrt begebe des H. v. R. Diss. Freib. i. Br. 1965. – Hermann (V, 5–7). Der Leich präsentiert sich schon im Ingebrand: Interpr.en zur Kreuzzugslyrik FriedEingang als moralische Unterweisung: »Ein richs v. Hausen, Albrechts v. Johansdorf, H.s v. R., tumber man iu hât gegeben disen wîsen rât«; Hartmanns v. Aue u. Walthers v. der Vogelweide. diese Wendung wird in der Schlussformel Diss. Ffm. 1966. – Friedrich Maurer: Die ›Pseudoreinmare‹. Heidelb. 1966. – Hugo Kuhn: Minneleicht variiert wieder aufgenommen. Der sangs Wende. Tüb. 21967, S. 129 f. – F. J. Paus: H. v. Leich enthält zahlreiche Motive der Kreuz- R. u. Reinmar der Alte. In: DU 19 (1967), H. 2, zugspredigt. Die Schelte gegen die Drücke- S. 17–31. – Minnesangs Frühling 2, S. 89–93 (mit berger – sie vertreiben sich die Zeit lieber auf tabellar. Übersicht der Überlieferung S. 92). – G. angenehme Weise in der Heimat – wird durch Schweikle: H. v. R. In: VL (Lit.). – Olive Sayce: The einen eingeschobenen Gespielinnendialog Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982, noch unterstrichen: Ein Liebhaber, der sich S. 133–137, 388 f. – Manfred Eikelmann: Denkvor dem Dienst für Gott auf dem Kreuzzug formen im Minnesang. Tüb. 1988 (Register). – Jens drückt, so ein Mädchen zur Freundin, taugt Köhler: Der Wechsel. Textstruktur u. Funktion einer mhd. Liedgattung. Heidelb. 1997, S. 35–37, nichts (xb). H.s eindringl. u. klare Kreuz- 131–153. – Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne zugspropaganda manifestiert sich hier in der kunst? Lyrik im 13. Jh. Studien zu ihrer Ästhetik. kunstvollen Form eines Leichs, der in Se- Bln. 1998, S. 71–76. Claudia Händl quenzform aus 16 in Versikel u. Halbversikel untergliederten Abschnitten aufgebaut ist, die z.T. variierend wiederholt werden. Das Heinrich von Sax. – Lied- u. Leichdichter Spiel von metr. Variation u. Wiederholung des 13. Jh. wird wie die Binnengliederung der Versikel Bei dem Sänger handelt es sich vermutlich auf der Textebene gestützt. Die Melodie ist um den 1235–1289 bezeugten Heinrich II. nicht erhalten. von Sax, einen Angehörigen des FreiherrenH.s bedeutende Stellung in der dt. höf. Ligeschlechts derer von Sax u. Hohensax mit teratur des MA basiert v. a. auf dem KreuzStammburg bei Feldkirch im Kanton St. leich, der auch auf spätere Dichter wirkte. In Gallen. Daneben wird der 1208–1235 urder Selbstnennung des Dichters im letzten kundende Großvater Heinrichs II. in ErwäAbschnitt (»Der tumbe man von Rugge hât gung gezogen. Das Wappen in der Großen gegeben disen wîsen rât«), die in der dt. Lied- Heidelberger Liederhandschrift (C), dem einzigen u. Leichdichtung der Zeit äußerst unge- Überlieferungsträger für die vier Minnelieder wöhnlich ist – der Tannhäuser verwendet sie u. den Leich H.s, spricht für den jüngeren später in seinen Leichs nahezu markenzei- Namensvertreter. chenartig –, zeigt sich eine neue Haltung. Der Kennzeichnend für H.s ganzes Werk ist die Autor versieht das Werk selbstbewusst mit mehrfache Gestaltung des traditionellen dem eigenen Namen; die Demutsformel er- Kontrasts zwischen allg. Frühlings- u. Somklärt sich aus der religiösen Thematik des merfreude u. den Klagen des auf Erhörung Leichs. Das hier ausgedrückte dichterische hoffenden Liebenden. H.s Tanzleich (Nr. 1, Selbstbewusstsein darf durchaus im Zusam- 141 Verse) nimmt Elemente der Leichdichmenhang mit der häufigen lobenden Erwäh- tung Ulrichs von Winterstetten u. des Tannnung H.s bei Dichtern des 13. Jh. gesehen häusers auf. Klagend wendet sich der Sänger werden. in den Eingangsversen an sein Publikum u. bittet es in der Folge um Beistand in seiner Ausgabe: Minnesangs Frühling 2, S. 196–223.
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Minneangelegenheit. Im Anschluss an Frauenpreis u. Schilderung seiner Abhängigkeit von der Frau wendet er sich der Sommer- u. Tanzsituation zu. Trotz seines Kummers ist er sich seiner Sängerpflichten bewusst u. ruft zu Freude u. Tanz auf. Erst zu Ende des Leichs thematisiert er erneut die unbedingte Minnebindung an seine Geliebte mit ihrem roten Mund (v. 137: »ir vil süezes mündel rôt«), traditionelle Minnesangformel für die erot. Anziehungskraft der Frau. Diese Formel (vgl. Lieder 2, 3 u. 5) stellt neben dem Topos Sängerklage versus Frühlings-/Sommerfreude die Verbindung zu den Minneliedern her: jeweils fünfstrophigen Minneklagen, traditionsgebunden im Formel- u. Motivgut, aber souverän im Umgang mit den formalen Möglichkeiten der Minnesangkunst. Als Leichdichter steht H. neben anderen Schweizer Vertretern des Genres im 13. Jh. Die Aufnahme seines Œuvres in die Prachthandschrift C zeugt von einem zumindest lokalen Interesse an seiner Dichtung. Ausgabe: Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausg. v. Karl Bartsch neu bearb. u. hg. v. Max Schiendorfer. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990. Literatur: Friedrich Grimme: Die Schweizer Minnesänger. In: Germania 35 (1890), S. 302–339. – Konrad Burdach: H. v. S. In: ADB. – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 21967, S. 126 f. (zum Leich). – Günther Schweikle: H. v. S. In: VL. – Olive Sayce: The Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982, S. 370–407, passim (zum Leich). – Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 (Register). – Peter Strohschneider: Tanzen u. Singen. Leichs v. Ulrich v. Winterstetten, H. v. S: sowie dem Tannhäuser u. die Frage nach dem rituellen Status des Minnesangs. In: Thomas Cramer u. Ingrid Kasten (Hg.): Mittelalterl. Lyrik. Bln. 1999, S. 197–231. Claudia Händl / Red.
Heinrich der Teichner, * wohl um 1310, † spätestens 1377. – Verfasser mittelhochdeutscher Reimpaarreden. Über Lebenszeit u. -umstände H.s sind keine genauen Angaben möglich, da er urkundlich nicht belegt ist u. sein Werk kaum Bezüge zu konkreten histor. Ereignissen aufweist. Sein ungefähres Sterbedatum ergibt sich daraus, dass der Nachruf, den Peter Suchenwirt auf ihn geschrieben hat, zwischen 1372/73 u.
Heinrich der Teichner
1377 verfasst sein muss. Aus Gedicht Nr. 183,20 geht hervor, dass H. mindestens 60 Jahre alt wurde. Einen Hinweis auf H.s Herkunft gibt wahrscheinlich sein Beiname »Teichner«, der wohl weniger, wie es früher geschah, im Sinne eines Büßers, Schleichers oder Teichgräbers zu deuten denn als Herkunftsbezeichnung aufzufassen ist. Die von der Forschung genannten mögl. Heimatorte konzentrieren sich auf die Gebiete Steiermark u. Kärnten; auf letzteres weist auch der Dialekt der Reime. Verschiedene Versuche, den Lebensweg H.s genauer nachzuzeichnen (städt. oder klösterl. Schulbildung in Villach, Beschäftigung in der Kartause Mauerbach auf Empfehlung der Herzöge von Österreich 1335, Reisen im Gefolge Herzog Albrechts II., die ihn u. a. nach Südwestdeutschland führten), sind als Spekulationen zu bezeichnen. Auch die Schaffenszeit H.s ist nicht bekannt; manche Forscher schränken sie auf die Jahre zwischen 1350 u. 1365 ein, manche lassen sie vor 1350 beginnen. Sicher datieren lässt sich nur Lied Nr. 661, das in einem Abstand von zehn Jahren auf das große Peststerben von 1348 Bezug nimmt. Auch die Scheltreden auf die »rheinische« Kleidermode (z.B. Nr. 726) sind in die Zeit um 1350 zu setzen. Autobiografisch kann wohl Nr. 632 interpretiert werden: Als H. nach einem Beinbruch darniederlag, verklagte ihn eine Frau wegen Nichteinhaltung des Eheversprechens; die Kraft u. Zeit, die er zu seiner Verteidigung aufbringen musste, hielten ihn vier Wochen lang vom Dichten ab. Dem Nachruf Suchenwirts kann man entnehmen, dass H. jedenfalls in seinen späteren Jahren kein von einem Hof abhängiger fahrender Berufsdichter war. Eher ist anzunehmen, dass er, ähnlich wie später Hans Sachs, beruflich abgesichert war. Einiges spricht dafür, dass seine Dichtung zumindest z.T. Auftragsarbeit war. Am Ende seines Lebens war er so begütert, dass er Kirchen, Spitälern u. Armen Unterstützung zukommen lassen konnte. Begraben ist er nach dem Bericht Ladislaus Sundheims in St. Coloman in Wien, wo er wohl auch einen großen Teil seines Lebens zubrachte u. möglicherweise Verbindung zu einer Laienbruderschaft hatte.
Heinrich der Teichner
Unter dem Namen H.s ist ein umfangreiches Œuvre von etwa 720 Reimpaarreden überliefert (durchschnittlich 30–120 Verse). Lediglich Gedicht Nr. 464, in dem H. unter Hinweis auf verschiedene kirchl. Autoritäten wie Augustinus u. Anselm die unbefleckte Empfängnis Marias verteidigt (2066 Verse), u. das Gespräch mit der Weisheit (Nr. 564; 4092 Verse), das verschiedenste weltl. u. religiöse Themen wie Sein u. Wirken Gottes oder richtigen Umgang mit ird. Besitz erörtert, übertreffen den übl. Umfang um ein Vielfaches. Die themat. Vielfalt von H.s Werk lässt eine zusammenfassende Beschreibung nicht zu. Gemeinsam ist allen Gedichten jedoch das lehrhafte Anliegen: H. will seinen Zuhörern prakt. Ratschläge für ein maßvolles, an christl. Grundsätzen orientiertes Leben geben. Das zeigt sich z.B. an der Behandlung eines Themas wie der Trinität (Lied Nr. 1): H. kennt die übl. Appropriationen (Gewalt, Macht, Güte), will aber nicht mit deren Hilfe die Größe des göttl. Geheimnisses darstellen, sondern den Nutzen für den Menschen herausarbeiten. Für diesen ist der Hl. Geist von herausragender Bedeutung, da er die Inkarnation des Sohnes u. damit die Erlösung der Menschen veranlasst hat u. außerdem die Gaben verleiht, die zum ewigen Leben führen. Immer wieder weist H. auf das Trügerische der Welt hin u. fordert dazu auf, den Blick auf das wahre Leben nach dem Tod auszurichten (z.B. Nr. 18, 21, 22). Wiederholt warnt er vor der Sünde (z.B. Nr. 4, 5, 6). Oft sind H.s Ratschläge sehr eng auf das tägl. Leben bezogen: Er stellt u. a. die Vorteile des frühen Aufstehens vor Augen (Nr. 382, 631, 706, 708, 721) u. warnt vor Modetorheiten (z.B. Nr. 141, 360, 726). Er setzt sich sehr detailliert mit einzelnen Ständen u. Berufsgruppen (so mit den Priestern in Nr. 407 u. 558) auseinander u. befasst sich objektiv mit deren Tugenden u. Lastern. Etwas aus dem themat. Rahmen fallen die Dorotheen- u. die Crescentia-Legende (Nr. 216 u. 565), das Märe Die Roßhaut (Nr. 360) u. die an Neidhart erinnernde Schilderung der grotesken Kleidung zweier Müller in dem Gedicht Vom Wams (öfter auch u. d. T. Die beiden Müller; Nr. 586).
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Wohl um sein Ziel der Laienunterweisung zu erreichen, bediente sich H. der einfachen Form der Reimpaarrede u. eines schlichten, am sermo humilis der Predigt orientierten Stils. Häufig wird eine Frage (Quaeritur-Formel) oder ein Exempel zum Ausgangspunkt der Reden, die im folgenden z.T. assoziativ verschiedene Gesichtspunkte zu einem Thema aneinanderreihen. Der Bezug zwischen Exempel u. Auslegung ist meist sehr locker; das Erzählerische ist auf ein Minimum reduziert, alles Übertriebene (wie Allegorien, Personifikationen, geblümter Stil) wird weitgehend gemieden. Die Überlieferung von Teichnerreden in zahlreichen mittelalterl. Handschriften zeugt von deren großer Beliebtheit v. a. in stadtbürgerl. Kreisen. Wie viele der Gedichte, die mit der üblichen, leicht nachzuahmenden Formel »also sprach der Teichner« enden, vom Teichner selbst stammen, bleibt zu untersuchen. Es scheint, dass der Name Teichner bald zu einer Gattungsbezeichnung für eine Form der Gebrauchsdichtung wurde, die je nach Situation u. Publikum vom Dichter oder von anderen Vortragenden variiert werden konnte. So existieren von manchen Gedichten Doppelfassungen; z. T. lassen sich Versatzstücke erkennen, die in verschiedene Gedichte eingearbeitet sind. H. zitiert den Stricker u. Freidank u. beruft sich auf kirchl. Autoritäten (Augustinus, Hieronymus, Gregor den Großen, Bernhard von Clairvaux) u. Berthold von Regensburg. Die Hochschätzung H.s beweist auch der Nachruf Peter Suchenwirts. Direkter Einfluss ist bei Lienhard Peuger, Konrad Bollstatter u. Heinrich Kaufringer nachweisbar. Doch wurden seine Gedichte vom frühen Buchdruck nicht mehr erfasst. Ausgaben: Die Gedichte H.s d. T. Hg. Heinrich Niewöhner. 3 Bde., Bln. 1953–56. – Teichnerreden. Hg. Kurt Otto Seidel. Göpp. 1978. Literatur: Theodor G. v. Karajan: Über H. d. T. In: Denkschr.en der Kaiserl. Akademie der Wiss.en Wien, phil.-hist. Cl. 6 (1855), S. 84–174. – Heinrich Niewöhner: Des Teichners Gedichte. In: ZfdA 68 (1931), S. 137–151. 69 (1932), S. 145–208. – Hans Rupprich: Das Wiener Schrifttum des ausgehenden MA. In: Sitzungsber.e der österr. Akademie der Wiss.en 288/5 (1954), S. 89–94. – Hermann Men-
211 hardt: Der Stricker u. der Teichner. In: PBB 84 (1962), S. 266–295. – Ders.: H. d. T., ein Dichter aus Kärnten. In: FS Gotbert Moro. Klagenf. 1962, S. 188–196. – Christa-Maria König: Die dogmat. Aussagen H.s d. T.s. Diss. Freib. i. Br. 1967. – Eberhard Lämmert: Reimsprecherkunst im SpätMA. Stgt. 1970. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 189–195. – Heribert Bögl: Soziale Anschauungen bei H. d. T. Göpp. 1975. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 2 1983, S. 166–168 u. ö. – I. Glier: Kleine Reimpaargedichte u. verwandte Großformen. In: Dies. (Hg.): Die dt. Lit. im späten MA (1250–1370). Tl. 2, Mchn. 1987, S. 39–43. – Dies.: H. d. T. In: VL. – Johannes Janota: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III/1). Tüb. 2004, S. 310–316. – Fritz Peter Knapp: Die Lit. des SpätMA in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg u. Tirol v. 1273 bis 1439. Bd. 2,2, Graz 2004, S. 68–89. Elisabeth Wunderle
Heinrich von dem Türlin, erste Hälfte des 13. Jh. – Verfasser des Artusromans Krone. Der Autor nennt seinen Namen mehrfach im Text (VV. 246 f., 8774, 10.443 f., vgl. 30.011) u. in einem Akrostichon (VV. 183–217). Die Sprache des Romans ist als südostbairisch bestimmt worden; daneben hat man wienerische u. westmitteldt. Eigenheiten geltend gemacht. Von hier aus auf die Herkunft des Verfassers zu schließen, der über eine gewisse lat. Bildung u. über eine außerordentlich breite Kenntnis nicht nur der dt., sondern auch der frz. Artusliteratur verfügt, ist unsicher. Da Rudolf von Ems H. um 1230 in seinem Alexander (VV. 3219–3228) nennt, die Krone nach dem Parzival Wolframs von Eschenbach auch noch den Wigalois Wirnts von Grafenberg kennt, ist ein zeitl. Ansatz zwischen 1215 u. 1230 wahrscheinlich. Darüber hinaus lassen sich keine gesicherten Aussagen zum Verfasser machen: Ob das für das Ende des 13. Jh. nachweisbare kärntnerische Bürgergeschlecht »de Portula« in St. Veit/Glan in Beziehung zum Autor zu setzen ist, scheint sehr zweifelhaft, ebenso wie die Identifizierung eines zweiten Akrostichons als Gönnerangabe (VV. 13.988–13.995) sehr unsicher ist.
Heinrich von dem Türlin
In der Krone findet sich der Hinweis auf ein weiteres Werk H.s, den Mantel (V. 23.505), der dem Typus der beiden in der Krone enthaltenen Tugendproben entsprochen haben muss. Die frühe Forschung hat diesen Text mit der fragmentarischen Mantel-Erzählung des Ambraser Heldenbuches identifiziert, wovon inzwischen verschiedentlich abgerückt wird. Die Krone ist der umfänglichste mhd. Artusroman in Versen (ca. 30.000 Verse), zgl. der erste, der sich selbst eine Art Titel gibt (bes. VV. 29.966–70). Seine Handlung wird vor dem Hintergrund einer Tugendprobe erzählt, der sich anfangs alle bekannten Mitglieder des Artushofes unterwerfen müssen. Indem ein wundersamer Becher die Verfehlungen zentraler Figuren früherer Romane anzeigt, ruft der Text den Gattungshorizont des Artusromans über ein Panorama narrativer Kerne fast zur Gänze auf. Danach teilt sich die Handlung in zwei Stränge: Während Artus mit dem Auftritt des singenden Minneritters Gasozein konfrontiert wird, der seinen Minne-Anspruch auf Ginover reklamiert, gelangt Gawein, der Musterritter des Artushofes, aufgrund seiner ritterl. Qualitäten in Minnegefangenschaft bei Amurfina, mit der er sich verbindet, was vorübergehend zu einem Identitätsverlust des Helden führt. Durch die Erinnerung an seine Vergangenheit angesichts eines Bildkunstwerkes kommt Gawein jedoch wieder zu sich u. qualifiziert sich dann nochmals in einer Reihe von Befreiungsaventiuren: Deren letzte gilt der Königin Ginover, die inzwischen vom Minneritter Gasozein vom Artushof entführt wurde u. im Begriff ist, von ihm vergewaltigt zu werden. Nach einem unentschiedenen Zweikampf mit Gawein gibt Gasozein seinen Anspruch auf u. wird im Gegenzug am Artushof mit der Schwester von Gaweins Frau Amurfina, Sgoidamur, verheiratet. Die Ehe bedeutet zgl. das Ende eines Schwesternstreits, in dem Gawein unwissentlich vermittelt. Da Gawein für Sgoidamur in einer anderweltl. Aventiure einen wunderbaren Maultierzaum als Zeichen eines Herrschaftsanspruchs erringt, der zgl. nochmals sein Anrecht auf Amurfina bestätigt, vereinigt Gaweins Erfolg die antagonistischen Positionen der Schwestern ebenso, wie sich über ihn der Minne-Ant-
Heinrich von dem Türlin
agonismus von Gawein u. Gasozein praktisch befrieden lässt. Im zweiten Teil wird der Text thematisch zu einem Fortuna- u. Gralroman u. verändert dabei zusehends seinen Darstellungsmodus: Gawein gelangt auf einem gefahrvollen Weg, der ihn zweimal an phantasmat. Erscheinungen vorbeiführt, zum Palast der Saelde. Auf diesen Weg wird Gawein von der Schwester der Saelde, Giramphiel, in betrügerischer Absicht geschickt, weil Gawein einst ihren zauberbewährten Geliebten besiegt hatte. Doch Gawein trotzt der Gefahr u. erreicht den Palast, wo ihm die Saelde in Gestalt einer stillgestellten Fortuna-Allegorie erscheint u. ihm einen heilsversprechenden Ring für den Artushof schenkt. Parallel dazu versinkt indes der Artushof durch die falsche Nachricht vom Tod Gaweins in eine tiefe Krise. Diese Krise wird zwar vorläufig über die Rückkehr Gaweins behoben, in deren Verlauf er Mutter u. Großmutter des Königs u. seine eigene Schwester erlöst. Doch daraufhin taucht erneut eine Tugendprobe am Artushof auf, die einerseits Gelegenheit gibt, nunmehr auch die im Textverlauf der Krone hinzugekommenen Figuren in den Gattungshorizont einzublenden, die aber andererseits auch zum Raub des Heilsrequisits durch einen Boten Giramphiels u. einer neuerl. Krise des Hofes führt. Gawein gelingt der Rückerwerb des Heilssymbols in einem weiteren Zweikampf gegen den Geliebten Giramphiels, was für das besiegte Paar zgl. eine Neuordnung ihrer Minnebeziehung bedeutet. Abschließend gelangt Gawein, nach der dritten Querung von Phantasmen, zur Gralsburg, die der Artusritter zu erlösen vermag. Das offensichtlichste themat. Anliegen des Textes ist es, die Bereiche von Artusroman u. Gralroman dadurch zu synthetisieren, dass Minne- u. Erlösungshandlung verschränkt werden u. Gawein als dem ersten Vertreter der Artusgesellschaft die Erlösung der Gralsgesellschaft möglich wird. Dazu importiert der Roman in reichem Umfange Material frz. Erzählungen u. Romane (mindestens die erste Fortsetzung des Perceval Chretiens de Troyes, ferner Paien de Maisières: La Mule sans frein; den Chevalier à l‘épée, Les Enfances Gau-
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vain, Du mantel mautaillé sowie Le Lai du Cor des Robert Biket). In formaler Hinsicht wagt der Text indes einen radikalen Neuansatz: Die Krone zitiert in bisher unbekanntem Maße narrative Verläufe der Gattungsvorgänger als Vergangenheit der eigenen Erzählwelt herbei u. organisiert ihre Handlung dann in streng symmetr. Verschachtelung u. mit Hilfe von variierenden Wiederholungen. Sie ist darum aber gerade kein narrativer Text wie die Gattungsvorgänger, da sie in den Tugendproben die Handlung an zentralen Stellen diskursiviert, den Zeitverlauf der erzählten Geschichten durch ein auf der Handlungsebene verankertes »hysteron proteron« konterkariert u. nicht zuletzt die Wirkung von Bildwerken u. Phantasmen inszeniert, was im Falle der Fortuna-Allegorie in die Nähe eines bildl. Kommentars zum Erzählproblem des Textes führt: Den Musterritter Gawein zum Protagonisten einer Geschichte zu machen, führt durch dessen Erfolgsgewissheit zu einem kausalen Spannungsverlust, der die zeitl. Sequenzialität der Handlung unterläuft. Da zudem auch noch epische Figuren aus lyr. Fiktionen zu stammen scheinen, erscheint der Roman insg. als ein irritierendes Gebilde, das darauf zielt, die Grenzen der narrativen Fiktionen imaginativ zu erweitern, wenn nicht zu überschreiten. Die Rezeption des Textes blieb offenbar stark begrenzt: Die Überlieferung (zwei Handschriften, davon eine nur VV. 1–12.281, fünf Fragmente) ist schmal; über die Würdigung bei Rudolf von Ems hinaus erzählt nur Ulrich Füetrer im Buch der Abenteuer die GasozeinGeschichte nach. Ausgaben: Das Ambraser ›Mantel‹-Fragment. Hg. Werner Schröder. Stgt. 1995. – Die Krone. Tl. 1 u. 2. Hg. Alfred Ebenbauer, Florian Kragl, Fritz P. Knapp u. Manuela Niesner. Tüb. 2000 u. 2005. Literatur: Hartmut Bleumer: Die ›Crône‹ H.s v. d. T. Tüb. 1997. – Christoph Cormeau: ›Wigalois‹ u. ›Diu Crône‹. Zürich/Mchn. 1977. – Lewis Jillings: Diu Crone of H. v. d. T. Göpp. 1980. – Christoph Cormeau: H. v. d. T. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Johannes Keller: ›Diu Crône‹ H.s v. d. T. Bern u. a. 1997. – Nicola Kaminski: ›Wâ es sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt‹. Abgründiges Erzählen in der Krone H.s v. d. T. Heidelb. 2005. – Markus Wennerhold: Späte
213 mhd. Artusromane. ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹, ›Daniel von dem Blühenden Tal‹, ›Diu Crône‹. Würzb. 2005 (S. 182–255, Forschungsber.). – Gudrun Felder: Komm. zur ›Crône‹ H.s v. d. T. Bln./New York 2006. – Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterl. Erzählungen. Raum u. Zeit im höf. Roman. Bln./New York 2007. Hartmut Bleumer
Heinrich von Veldeke, auch: Heinric van Veldeken, * zweite Hälfte des 12. Jh. – Epiker u. Minnesänger. Die einzigen festen Daten für H.s Leben ergeben sich aus dem Bericht über den Diebstahl seines weit gediehenen Romanmanuskripts im Jahr 1174 oder 1175 mit der Wiederaufnahme der Arbeit neun Jahre später (Eneasroman 352,26–354,1) u. der Tatsache, dass Wolfram im achten Buch des Parzival (404,28 f.), d.h. etwa 1205, seinen Tod beklagt: »ouwê daz sô vruo erstarp von Veldeke der wîse man!« H. war also eher ein etwas älterer Zeitgenosse der »Klassiker« Hartmann, Wolfram u. Gottfried, als von ihnen im Generationenabstand getrennt. Gottfried pries ihn (Tristan, V. 4738 f.) als Schöpfer der neuen Formkunst, Wolfram kritisch (Parzival 292,18 ff.) als Dichter der neuen Lebensmacht Minne (vgl. auch Parzival 404,28; 419,11 ff.; 481,30 ff.; 504,25 ff.; Willehalm 76,24 f.). H. gilt als Begründer des dt. höf. Romans, sein Eneasroman als Schlüsselwerk der dt. Literatur des MA. H. entstammte nach dem Zeugnis der Manessischen Liederhandschrift einem Ministerialengeschlecht aus der Nähe von Hasselt im heutigen Belgien (Provinz Limburg). Die sprachliche – keineswegs literarische! – Randlage hat sein Œuvre entscheidend bestimmt; denn er schrieb sein Hauptwerk, den Eneasroman (um 1170/80), nicht in seiner Heimatmundart, sondern bediente sich einer westmitteldt. Sprachform, wobei er die Reimwörter so »neutralisierte« u. damit beschränkte, dass der Text sowohl in seine niederfränk. Heimatmundart umgesetzt werden konnte als auch den Zugang zu den hochdt. literar. Zentren öffnete. Die früheste feststellbare Wirkung ging von Oberdeutschland (Bayern, Schwaben) aus. Überliefert sind sieben vollständige oder fast vollständige
Heinrich von Veldeke
Handschriften u. sieben Fragmente, überwiegend oberdt., in einigen Fällen mitteldt.; kein einziger Text weist auf das Niederfränkische. H. gegen das Niederländische abzusetzen, bleibt ebenso anachronistisch, wie ihn für die niederländ. Literatur zu reklamieren. Die beiden epischen Werke – neben dem Eneas mit etwa 13.500 Reimpaarversen noch eine Verslegende mit ca. 6200 Versen – u. das lyr. Corpus bezeugen gleicherweise H.s Bildung. Es spricht vieles dafür, in ihm einen zum Geistlichen (»clericus«) ausgebildeten Hofmann zu sehen, der Latein u. Französisch konnte. Als Gönner nennt er die Gräfinnen Agnes von Loon (heute: Looz) u. Margarethe von Cleve sowie v. a. den berühmtesten Mäzen der »klassischen« Zeit, (den späteren) Landgrafen Hermann von Thüringen, an dessen Hof er den Eneasroman vollendete. Kurz nach der Jahrhundertmitte, etwa gleichzeitig oder ein wenig früher als die ersten Artusromane mit kelt. Sagenstoff (Chrétien de Troyes), entstanden am anglonormann. Hof drei höf. Romane, welche antike »Geschichte« in zeitgenöss. Ritterkolorit nacherzählten und insbes. die Entstehung der Liebe in ihren psych. u. phys. Details ausmalten. In ihnen suchte die neue Gesellschaft ihre ritterl. Ahnen; denn in den trojan. Helden sah man den Ursprung des abendländ. Rittertums. Aeneas war derjenige, der das Rittertum von Troja nach Rom gebracht hatte. Der sog. Antikenroman war also ein Mittel der Herrschafts- u. Gesellschaftslegitimation u. -identifikation. H.s Vorlage war der anonyme Roman d’Eneas, wohl in den fünfziger Jahren des 12. Jh. entstanden. Dessen Hauptquelle war unmittelbar die Aeneis Vergils. Auch H. hat sie gekannt u. herangezogen, aber er ist primär dem frz. Text gefolgt, den sein Roman mit seinen ausführl. Beschreibungen höfisch-repräsentativer Details (u. a. Pferde, Rüstungen, Grabmäler) um 3000 Verse übertrifft. Die mittelalterl. Eneasromane erzählen die Einnahme Trojas durch die List des hölzernen Pferdes u. die Flucht des ritterl. Helden u. Venussohns Eneas mit mehreren tausend Gefolgsleuten, die auf einen Götterbefehl hin sich nach Italien einschiffen, um dort das neue Troja zu gründen. Die Flotte wird bei
Heinrich von Veldeke
Karthago durch einen Sturm an Land getrieben, Eneas wird zum Geliebten (oder zum Gemahl) der von Leidenschaft getriebenen Königin Dido. Als die Götter ihn an seine Bestimmung erinnern, bricht er mit den Seinen auf; die verzweifelte Dido gibt sich auf dem Scheiterhaufen selbst den Tod. Auf der zur Höllenfahrt umstilisierten Unterweltsfahrt begegnet Eneas nicht nur Dido, sondern auch seinem toten Vater Anchises, der ihm die künftige Herrschaft in Latium u. das Fortleben seines Geschlechts erläutert. Nach der Landung an der Tibermündung wird Eneas zwar von dem dortigen König Latinus unterstützt, der den Willen der Götter respektiert, aber zgl. in verlustreiche Kämpfe mit dem Kronprätendenten u. designierten Schwiegersohn des Latinus, Turnus, verwickelt. Der jugendl. Pallas fällt auf Seiten der Trojaner, die Amazonenherrscherin Camilla auf der Gegenseite. Lavinia, die Königstochter, entbrennt gegen den heftigen Widerstand ihrer Mutter für den Trojaner, gesteht ihm ihre Minne, u. mit dem harten Zweikampf zwischen Eneas u. Turnus, für den Venus durch ihren Mann Vulcanus ihrem Sohn besondere Waffen schmieden lässt u. den Eneas für sich entscheidet, sind Frau u. Herrschaft errungen. Das Fest, das Lavinia, die Stammmutter des kommenden Geschlechts, u. Eneas verbindet, erinnert den Dichter an Friedrich Barbarossas Mainzer Hoffest im Jahre 1184. Der auch quantitativ gewichtigere LaviniaTeil mit seinen Minnemonologen u. -dialogen wurde von H., teils in Anlehnung an die Dido-Handlung, erfunden u. ausgestaltet. In ihm wird die geistige Minneerfahrung der Zeit narrativ entfaltet. Liebe ist hier eine magische Gewalt, die den Menschen überwältigt u. ihn seiner Sinne beraubt. Der große Lehrmeister ist Ovid, Schulautor seit dem 12. Jh., nicht nur für die Symptome der Minnekrankheit, sondern für den leichten, unpathet. u. damit unvergilischen Ausdruck im höchst flexiblen, teils ironisch, teils psychologisch nuancierten Dialog. Es sind diese rhetorischen Paradestücke, die H. zum Dichter der Minne gemacht haben, als den ihn Wolfram rühmte. Hinzu kommen die poetische Verfeinerung u. Höfisierung des Stoffes
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sowie die Abschwächung u. Reduktion der mytholog. Elemente, insbes. der antiken Götterwelt. Der Roman hat, wie die reiche Überlieferung zeigt, das ganze MA hindurch seine Leser gefunden. Berühmt ist die aufwändig illustrierte Berliner Handschrift (B) aus dem zweiten Jahrzehnt des 13. Jh. Der Roman muss in seiner Zeit eine »literarische Sensation« gewesen sein (Bumke). Die Sprache von H.s Minneliedern ist umstritten. Das lyr. Œuvre – 37 meist einstrophige Lieder, erhalten in den drei großen Liederhandschriften – wurde entweder niederfränkisch-altlimburgisch abgefasst oder in einer hochdt.-niederdt. Mischung, wie sie aus der Überlieferung deutlich wird. H. gehört – mit Friedrich von Hausen – zu den ersten, die mit den Formen, Motiven u. der »Ideologie« des romanischen Minnesangs arbeiten. Im Gegensatz zu anderen Vertretern des romanisch inspirierten Minnesangs lassen sich bei ihm keine genauen Vorbilder (Kontrafakturen u. ä.) finden; seine Kenntnis war umfassender u. tiefer als die der anderen, daher weniger auf Nachahmung im Einzelnen u. Äußeren angelegt. Starke reflexive Elemente, die den Liedsang auch als ein Spiel auffassen lassen, u. eine ausdrucksstarke Bildsprache geben auch dem Lyriker ein eigenes Profil. Das ist keine »Jugendlyrik«, wie man gemeint hat. Schon in dem klug gedrosselten Anteil von Bildungsgut, teils auch aus lat. Lyrik, erweist sie den reifen Autor. Im Mittelpunkt der Lieder steht die Minne: das vergebliche Werben um eine Dame, vielfach verbunden mit kunstvollen Naturschilderungen. Sicher vor dem Eneas (um 1160/70) entstand das dritte erhaltene Werk, die Verslegende über Leben, Tod u. Wunder des hl. Bischofs Servatius, der Maastrichter Kirchenpatron war u. von dessen Verehrung noch der berühmte Servatiusschrein Zeugnis ablegt. Vorlage ist eine lat. Heiligenvita (Gesta Sancti Servatii, nach 1126). H.s Darstellung bleibt inhaltlich konventionell. Nur so konnte sie ihre Funktion erfüllen, die Verehrung durch lateinunkundige Pilger zu stärken. Auftraggeberin war die schon genannte Gräfin Agnes von Loon, die bis 1175 in Urkunden bezeugt ist. Gefördert wurde das
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Werk zudem durch den Küster der Maastrichter Kirche (»her Hessel«; VV. 3228–3245 u. 6172–6182). Die einzige vollständige Handschrift stammt aus dem Begardenkloster Maastricht (zweite Hälfte des 15. Jh.; heute Universitätsbibliothek Leiden). Ein Fragment noch vom Anfang des 13. Jh. in altlimburgischer Mundart hat in der Sprachdiskussion u. bei der Rekonstruktion des »originalen« H. eine entscheidende Rolle gespielt. Das Werk enthält mit der Schilderung der Stadt Maastricht das erste Städtelob in dt. Sprache. Der dt. Antikenroman des 12. Jh. hat bei Weitem nicht die Bedeutung als eigene Gattung erringen können wie in Frankreich. Der Dichtung H.s folgt allein, wohl kurz darauf am gleichen thüring. Hof, ein weiterer gelehrter Kleriker, Herbort von Fritzlar, mit der Übertragung des frz. Trojaromans. H.s Eneas blieb durch das gesamte dt. MA die einzige Bearbeitung des vergilischen Stoffs. Stärker als seine Quelle bindet er die höf. Ritterwelt mit dem Bewusstsein zusammen, Frühgeschichte darzustellen, u. dieses historiografische Element schafft Brücken zur vorausgehenden Dichtung des 12. Jh. Wenn er auch am Schluss (352,2 ff.) die Herrschergeschichte Roms mit dem Ausblick auf Christus heilsgeschichtlich verlängert, so hat er sich doch zgl. gehütet, der Antike ihre Eigenwelt abzusprechen. Das Fatum, auf das »die gote« (die Götter) reduziert werden, wird nicht christlich. Das Bewusstsein einer großen u. fremden Welt bleibt trotz aller ritterl. Einfärbung ihm u. auch dem heutigen Leser. Seinem wachen Geschichtssinn entsprach eine bedeutende Gestaltungskraft. Die Sprache, die ihm seine Zeit zur Verfügung stellen konnte u. die er selbst im Gesetz des »neutralen Reims« noch in ihren Möglichkeiten beschränkte, ließ diese Kraft nicht immer zur Entfaltung kommen. Die Zukunft gehörte nicht dem Antikenroman. Als der Eneasroman vollendet war, hatte »der modernere Artusroman auch in Deutschland seinen Siegeszug schon begonnen« (Schröder). Ausgaben: Eneasroman: Hg. Ludwig Ettmüller. Lpz. 1852 (Rekonstruktionsversuch eines mitteldt. Archetypus). – Hg. Otto Behaghel. Heilbr. 1882. Neudr. 1970 (Rekonstruktion des ›Originals‹ auf
Heinrich von Veldeke junglimburg. Grundlage). – Hg. Gabriele Schieb u. Theodor Frings. 3 Bde., Bln. 1964–70 (Rekonstruktion einer altlimburg. ›originalnahen‹ Fassung. Abdr. der Gothaer Hs., Untersuchungen u. Wörterbuch). – Hg. Dieter Kartschoke. Stgt. 1986 (Ettmüllers Text mit Übers. u. Komm.). – Hg. Hans Fromm. Ffm. 1992 (maßgebl. Ed. der Berliner Hs. mit Übers. u. Komm.). – Lieder: Minnesangs Frühling 1, S. 97–149 (die Lieder synoptisch in normalisiertem Mhd. u. dem v. Schieb u. Frings rekonstruierten Altlimburgisch). – Servatius-Legende: Hg. Theodor Frings u. Gabriele Schieb. Halle 1956 (altlimburg. Rekonstruktion aufgrund der alten Fragmente). Literatur: Bibliografien: Schieb/Frings. Bd. 2 (s. o.), S. 590–609. – Ludwig Wolff u. Werner Schröder: H. v. V. In: VL. – Thomas Klein u. Cola Minis: Zwei Studien zu V. u. zum Straßburger Alexander. Amsterd. 1985, S. 102–119. – Dieter Kartschoke, a. a. O., S. 827–840. – Jan Goossens: H. v. V. In: LexMA. – Elisabeth Lienert: Dt. Antikenromane des MA. Bln. 2001, S. 101 f., 203–207. – Forschungsliteratur: Gustav Ehrismann: Gesch. der dt. Lit. bis zum Ausgang des MA. Tl. 2/2,1, Mchn. 1927, S. 79–95. – T. Frings u. G. Schieb: Drei V.Studien. Das V.-Problem. Der Eneideepilog. Die beiden Stauferpartien. Bln. 1949. – Helmuth Thomas: Zu den Liedern u. Sprüchen H.s v. V. In: PBB 78 (1956), S. 158–264. – G. Schieb: H. v. V. Stgt. 1965. – Dies.: V.s Grabmalbeschreibungen. In: PBB 87 (Halle 1965), S. 201–243. – Marie-Luise Dittrich: Die ›Eneide‹ H.s v. V. Tl. 1: Quellenkrit. Vergleich mit dem ›Roman d’Eneas‹ u. Vergils ›Aeneis‹. Wiesb. 1966. – Ludwig Wolff: Die mytholog. Motive in der Liebesdarstellung des höf. Romans. In: Ders.: Kleinere Schr.en zur altdt. Philologie. Bln. 1967, S. 143–164. – Wolfgang Brandt: Die Erzählkonzeption H.s v. V. in der ›Eneide‹. Ein Vergleich mit Vergils ›Aeneis‹. Marburg 1969. – Werner Schröder: V.-Studien. Bln. 1969. – Helmut Tervooren: Maasländisch oder Mhd.? In: Gilbert A. R. de Smet (Hg.): H. v. V. Antwerpen/Utrecht 1971, S. 44–69. – Kurt Ruh: Höf. Epik des dt. MA 1. Bln. 2 1977, S. 70–88. – Alois Wolf: Die ›adaptation courtoise‹. Krit. Anmerkungen zu einem neuen Dogma. In: GRM N. F. 27 (1977), S. 257–283. – Helmut de Boor: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 2, Mchn. 1979, S. 39–46. – Dieter Kartschoke: Didos Minne – Didos Schuld. In: Rüdiger Krohn (Hg.): Liebe als Lit. Mchn. 1983, S. 99–116. – T. Klein: H. v. V. u. die mitteldt. Literatursprachen. Untersuchungen zum V.-Problem. In: Klein/Minis (s. Bibliogr.), S. 1–121. – Hans Fromm: Der Eneasroman H.s v. V. Die Unterwelt des Eneas. Doppelweg. In: Ders.: Arbeiten
Heinrich der Vogler zur dt. Lit. des MA. Tüb. 1989, S. 80–136. – Rolf Bräuer (Hg.): Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 2, Bln. 1990, S. 125–148. – Joachim Bumke: Gesch. der dt. Lit. im hohen MA. Mchn. 1990, S. 139–143. – Rolf Bräuer (Hg.): Dichtung des europ. MA. Ein Führer durch die erzählende Lit. Mchn. 1991, S. 263–267. – Anette Syndikus: Dido zwischen Herrschaft u. Minne. In: PBB 114 (1992), S. 57–107. – Ingrid Kasten: H. v. V.: ›Eneasroman‹. In: Horst Brunner (Hg.): Mhd. Romane u. Heldenepen. Stgt. 1993, S. 75–96. – Renate Kistler: H. v. V. u. Ovid. Tüb. 1993. – Bernd Bastert: ›Dô si der lantgrâve nam‹. Zur ›Klever Hochzeit‹ u. der Genese des Eneas-Romans. In: ZfdA 123 (1994), S. 253–273. – Karen Opitz: Gesch. im höf. Roman. Historiographisches Erzählen im ›Eneas‹ H.s v. V. Heidelb. 1998. – L. Peter Johnson: Die höf. Lit. der Blütezeit (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 2,1), Tüb. 1999, S. 231–240. – Elisabeth Lienert: Dt. Antikenromane des MA. Bln. 2001, S. 72–102. – Silvia Schmitz: Die Poetik der Adaptation. Literar. ›inventio‹ im ›Eneas‹ H.s v. V. Tüb. 2007. Hans Fromm † / Heiko Hartmann
Heinrich der Vogler ! Dietrichs Flucht und Rabenschlacht Heinrich, Jutta, * 4.4.1940 Berlin, – Verfasserin von Kurzprosa, Essays, Romanen u. Theaterstücken. Nach der mittleren Reife arbeitete H. in verschiedenen Berufen, bevor sie in Hamburg ab 1972 Sozialpädagogik u. ab 1975 Germanistik u. Literaturwissenschaften studierte. Sie gilt als Vertreterin der modernen feministischen Literatur. Seit 1988 erhielt sie zahlreiche Lehraufträge an Universitäten; zuletzt hatte sie eine Gastdozentur an der Universität der Künste in Berlin inne (2005–2008). 1978 debütierte H. mit dem Roman Das Geschlecht der Gedanken (Mchn. Als Drama 1985 in Zürich uraufgeführt; verfilmt 1983 u. d. T. Josephs Tochter), in dem sie die dressurhafte Erziehung eines Mädchens schildert. Die traditionellen Rollenzwänge von Mann u. Frau sind auch immer wiederkehrendes Thema ihrer Theaterstücke. In ihrem zweiten Roman Mit meinem Mörder Zeit bin ich allein (Mchn. 1981) verzichtet H. auf ihre knappe, oft satir. Sprache u. verwendet bewusst Klischees, um auf den ver-
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schleiernden Sprachgebrauch in der geschilderten Realität – der Zeit nach dem Atomunfall von Harrisburg – hinzuweisen. Die Katastrophe von Tschernobyl bildet den Hintergrund des Buchs Eingegangen (Bln. 1987). In Form fiktiver, stilistisch unterschiedl. Briefe an eine Radioanstalt stellt H. darin die schleichenden Ängste der Menschen dar. H.s Erzählungen u. Essays, veröffentlicht in den zwei Bänden Alles ist Körper. Extreme Texte (Ffm. 1991) u. Im Revier der Worte. Provokationen, Gegenreden, Zwischenrufe (Ffm. 1994), könnte man mit ihren eigenen Worten als »geistreich, alltagsfern und künstlich« bezeichnen. Sie wurzeln im »Nährboden des menschlichen Zwangselendes« u. sind geprägt von einem überscharfen u. satir. Blick auf alltägl. gesellschaftl. Zustände, v. a. auf das Zusammenleben der Geschlechter. »Die Boshaftigkeit ist das Messer, um in das Fleisch der Lüge zu schneiden«, heißt es programmatisch. H.s Selbststilisierung als präzise Diagnostikerin scheitert allerdings an der Verschwommenheit u. Gesuchtheit vieler ihrer Metaphern. In ihrem bislang letzten Roman Unheimliche Reise (Hbg. 1998) experimentiert H. mit Elementen surrealer Literatur, des Schauerromans u. der Science Fiction. Erklärter Prätext ist Shelleys Frankenstein. Eine empfindsame Ich-Erzählerin gerät mitten hinein in das Treiben einer obskuren Wissenschaftsloge, die in Tierleibern Menschen u. in Frauenleibern bizarre Chimären züchtet. Es geht um die Wiederkunft des Tierischen, Bestialischen bei dem Versuch, es gentechnisch zu beseitigen. Das ist spannender Stoff. H. stößt jedoch an sprachl. Grenzen, wo sie das Erleben der Erzählerin, in dem sich alle Ereignisse brechen, rhetorisch zu rekonstruieren versucht. Die Überfülle der bildhaften Ausdrücke u. Vergleiche führt oftmals zu Katachresen, Tautologien u. Kitsch. Weitere Werke: Brokdorf – eine Vision. Hbg. 1977 (Sprechplatte). Auch in: Karin Reschke (Hg.): Texte zum Anfassen. Mchn. 1978, S. 34–39. – Lautlose Schreie. Urauff. Mchn. 1983 (Tanztheaterstück). – Die Phantome eines ganz gewöhnl. Mannes oder Männerdämmerung. Ein Lust-Spiel. Ffm. 1986.
Heinrich
217 Literatur: Mona Winter: Paradise now. Berührungsverbote u. a. Unantastbarkeiten. In: Kursbuch 60 (1980), S. 107–116. – Friederike Fecht: J. H. In: Heinz Puknus (Hg.): Neue Lit. der Frauen. Mchn. 1980, S. 214–216. – J. H. Texte, Analysen, Portraits. Frauen Lit. Forum 27/28 (1985). – Annegret Schmidjell: ›Küss tot, den Blick‹. Über die (Theater-)Autorin J. H. In: Fürs Theater schreiben. Über zeitgenöss. deutschsprachige Theaterautorinnen (Schreiben 9. Jg., Nr. 29/30). Bremen 1986, S. 96–103. – Liz Wieskerstrauch: J. H. In: Dies.: Schreiben zwischen Unbehagen u. Aufklärung. Literar. Portraits der Gegenwart. Weinheim/Bln. 1988, S. 33–50. – Hannelore Scholz: J. H. In: Ute Hechtfischer u. a. (Hg.): Autorinnen Lexikon. Stgt. 1998, S. 221 f. – Magdalene Heuser: J. H. In: KLG. Bettina Mähler / Marco Schüller
Heinrich, Karl Borromäus, auch: Karl Borromäus, * 22.7.1884 Hangenham/ Oberbayern, † 25.10.1938 Einsiedeln/Kt. Schwyz. Grabstätte: Friedhof Einsiedeln. – Lyriker, Essayist, Romancier, Erzähler, Journalist. H. studierte ab 1902 in München, Heidelberg, Genf, Paris u. Erlangen Geschichte, Literatur, Philosophie, Medizin u. Theologie u. promovierte 1908 in Erlangen mit der Arbeit Nietzsches Stellung zur Geschichte (Mchn. 1909). Er war Redakteur des »Simplicissimus« (1909–1912), Lektor im diese Zeitschrift herausgebenden Albert Langen Verlag in München (1912/13), Hauptmitarbeiter der Zeitschrift »Der Brenner« (1913/14) u. Mitarbeiter der reformkath. Kulturzeitschrift »Schweizerische Rundschau« (Benzinger Verlag, Einsiedeln). Mehrere Selbstmordversuche u. Depressionstherapien zeugen von patholog. Schwermütigkeit. Nach zahlreichen Auslandsaufenthalten – eine förml. Attachierung bei der dt. Gesandtschaft in der Schweiz (Bern) während des Ersten Weltkriegs ist wegen nicht nachweisbarer Gehaltszahlungen auszuschließen, nicht aber eine Tätigkeit im Rahmen der Kulturpropaganda Harry Graf Kesslers) – schloss sich H. 1925 zusammen mit seiner dritten Frau Olga Ritschard als Weltoblate der Benediktinerabtei Einsiedeln an (Oblation am 21.12.1927 auf den Namen Maria Meinradus). H. war ab 1928 beamteter Mitarbeiter der Zentralstelle
des Volksvereins für das katholische Deutschland (Mönchengladbach), der die christlich-kath. Soziallehre durch Erwachsenenbildung im Sinne der Demokratisierung, Laisierung u. Öffnung für die polit., religiösen, sozialen u. medizinischen Fragen der Zeit in die Praxis umsetzte u. an den der Zentrumspartei nahestehenden Verbandskatholizismus in Form von Arbeitervereinen, Gewerkschaften, Handwerker- u. Bauernverbänden vermittelte. H. war auch Mitgeschäftsführer des Volksvereinsverlags, der in aller Breite Schriften mit sozialwissenschaftl. u. gemeinnützigen Themen herausgab zur Verbesserung der Allgemeinbildung u. Ausbildung von kath. Führungskräften in den Krisenjahren der Weimarer Republik, bis der Verein 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Wohnhaft in Unterseen (Interlaken, Kt. Bern) schuf H. das Freilichtspiel Der Antichrist für Einsiedeln u. beteiligte sich an der Aufführung des seit 1924 inszenierten barocken geistl. Spiels Großes Welttheater von Caldéron de la Barca auf dem Platz vor dem Klosterstift Einsiedeln, wo er im Krankenhaus nach langer, schwerer Krankheit starb. Seine Frau wechselte in das Benediktinerinnenstift Nonnberg in Salzburg. Der Roman Karl Asenkofer. Geschichte einer Jugend (Mchn. 1907) ist als autobiogr. Bildungsroman lesbar. Neben der Sozialkritik nach Schopenhauer- u. Nietzsche-Lektüre, die auf eine Willensethik des Leidens sowohl der Schwachen als auch der Starken zielt, wird die Auseinandersetzung mit der kath. Kirche im Bild eines Kampfes zwischen der Ablehnung von deren Bigotterie u. repressiver Gewalt durch den »Instinkt« auf der einen Seite u. der Zuwendung des »Intellekts« zu den sozialreformerischen Ideen u. der Gleichstellung der Armen gegenüber den Reichen auf der anderen Seite geschildert. Der Roman endet mit einem missglückten Selbstmordversuch u. weist auf die epochale Stimmung apokalypt. End- u. Spätzeit u. des Untergangs. Im »Brenner« erschienen Stellungnahmen zu Karl Kraus u. kulturphilosophische Betrachtungen: Briefe aus der Abgeschiedenheit I; Tempo, Zeit und Stellungslosigkeit; Furcht vor dem Tod und Wert des Lebens; Die Erscheinung Georg
Heinrich
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Trakls). H. war geistesverwandter Lektor u. Heinrich, Willi, * 9.8.1920 Heidelberg, Freund Trakls seit Dez. 1912, der seinem † 12.7.2005 Dobel. – Romanautor. »Bruder« zwei seiner wichtigsten Gedichte, Untergang (Der Brenner, 1.3.1913) u. Gesang Wie sein Vater übte H. nach dem Handelsdes Abgeschiedenen (Der Brenner, 1.4.1914), schulabschluss 1937 in Karlsruhe einen widmete u. den »ein Gefühl wilder Ver- kaufmänn. Beruf aus. Nach dem Krieg, an zweiflung und des Grauens über dieses dem er als Infanterist teilgenommen hatte, chaotische Dasein« angesichts von H.s arbeitete er 1946–1954 als kaufmänn. AngeSelbstmordversuch Anfang März 1913, zu stellter, seitdem als freier Schriftsteller in dem Trakl ihm Schlafmittel verschafft hatte, Karlsruhe, Baden-Baden, Bühl u. wieder Karlsruhe. H. starb zurückgezogen in einem überkam. Rekatholisiert vom Gedanken des ›Unter- Altenheim in Dobel. Großen Erfolg hatte H. bereits mit den gangs‹ zu dem des ›Übergangs‹ bzw. der ›Flucht‹ zur ›Zuflucht‹, schrieb H. religiöse ersten Romanen, in denen er seine KriegserKonfessionen, die Kulturkritik in der Utopie fahrungen verarbeitete. Im Roman Das geduleines »neuen Menschen« in Anlehnung an dige Fleisch (Stgt. 1955) schildert er den Nietzsche vermitteln sollten (Menschen des Frontkampf schonungslos realistisch (verÜbergangs. Mchn. 1931). Die Form moderner filmt u. d. T. Steiner – Das eiserne Kreuz. 1977). Heiligenlegenden – oft als Tagebuchblätter – Noch drastischer wendet er sich in dem Roverbindet Kult, Religion u. sprachl. Gebärde man Der goldene Tisch (Karlsr. 1956. Neuaufl. zum Ausdruck tätiger Tugend (»Irgend etwas u. d. T. In stolzer Trauer. Gütersloh 1970) gegen muss geschehen, irgend etwas muss ich tun«, die Sinnlosigkeit des Kriegs. Mit der GeMenschen von Gottes Gnaden, Mchn. 1910. schichte eines Spätheimkehrers greift er in 2 1924) u. verwirklicht damit die 1930 for- Die Gezeichneten (Karlsr. 1958) die bis dahin mulierten Theorien der Literaturwissen- meist verdrängte nationalsozialistische Verschaftler Günther Müller u. André Jolles zur gangenheit auf. Seine Darstellung der SoldaGattung Legende. tenschicksale ohne jegl. Pathos begründete Weitere Werke: Karl Asenkofers Flucht u. Zu- auch H.s großen Erfolg in den USA. flucht. Mchn. 1909. – Kasimir. Novelle. MönchenIn den folgenden, konventionell geschriegladbach 1922. 21929. – Der Hl. Johannes v. Cobenen Unterhaltungsromanen, die weltweit – lombini u. a. religiöse E.en. Mönchengladbach 1927 (Legenden). – Maria im Volk. Mönchenglad- in 20 Sprachen übersetzt – eine Auflage von bach 1927 (E.). – K. B. H. Eine Ausw. seiner Werke. rund 40 Millionen Exemplaren erreicht haEinf. v. Eduard Schröder. Mönchengladbach 1927. ben, thematisiert H. die Situation von Au– Maria im Volk. Neue Folge. Mönchengladbach ßenseitern, zeigt selbstbewusste Frauen, die 1928. – Schloss Vierturm. Mchn. 1932 (R.). – sich vom weibl. Rollenklischee emanzipieren Weisheit der Altväter. Mchn. [ca. 1936]. – Bergwart (Maiglöckchen oder ähnlich. Mchn. 1965), u. Johannes. Bl. aus einem Tgb. Postum Luzern 1942 weist auf gesellschaftl. Probleme wie Rassis(R.). mus, Umweltschutz, Wertverlust, sexuelle Literatur: Günther Müller: Die Form der LeLibertinage u. absurde Leistungszwänge hin gende u. K. B. H. In: Euph. 31 (1930), S. 454–468. – Richard Detsch: Die Beziehungen zwischen K. B. H. (Männer zum Wegwerfen. Mchn. 1985). Der Väter u. Georg Trakl. In: MAL 16 (1983), H. 2, S. 83–104. Ruhm (Mchn. 1988), erworben in feindl. La– Albrecht v. Schirnding: C. B. H. Ein Dichter aus gern, ist zgl. Synonym für ihre Schuld. München, für Dietz-Rüdiger Moser aus der VerDiese gesellschaftskrit. Themen bilden jegessenheit geholt. In: Lit. in Bayern. Sonderh. doch oft nur den Hintergrund der aktions- u. 2004, S. 89–91. Maria Behre dialogreichen, im Stil der Trivialliteratur mit sex and crime gewürzten Romane, von denen einige auch als Film erfolgreich waren (Gottes zweite Garnitur. Hbg. 1962, verfilmt 1967. Schmetterlinge weinen nicht. Gütersloh 1969, verfilmt 1970).
Heinroth
219 Weitere Werke: Rape of honour. New York 1958. Dt. u. d. T. In einem Schloß zu wohnen. Gütersloh 1976. – Alte Häuser sterben nicht. Ffm. 1960. – Ferien im Jenseits. Mchn. 1964. – Mittlere Reife. Mchn. 1966. – Geometrie einer Ehe. Mchn. 1967. – Jahre wie Tau. Gütersloh 1971. – So long, Archie. Gütersloh 1972. – Liebe u. was sonst noch zählt. Mchn. 1974. – Eine Handvoll Himmel. Mchn. 1976. – Ein Mann ist immer unterwegs. Mchn. 1978. – Herzbube u. Mädchen. Mchn. 1980. – Allein gegen Palermo. Bergisch Gladbach 1981. – Vermögen vorhanden. Bergisch Gladbach 1982. – Traumvogel. Mchn. 1983. – Die Freundinnen. Mchn. 1985 (E.en). – Die Verführung. Mchn. 1986. – Zeit der Nymphen. Mchn. 1987. – Der Reisende der Nacht. Mchn. 1989. – Eine span. Affäre. Mchn. 1990. – Ein Herz für Frauen. Mchn. 1992. – Puppenspiele. Mchn. 1993. – Der Gesang der Sirenen. Mchn. 1994.
deln von Einzelschicksalen (u. a. Der Commerzienrath. Hann. 1865. Der Stadtschreiber von Osnabrück. Osnabr. 1865) oder sozialpolit. Themen: Leibrenten. Roman aus der Gegenwart (2 Bde., Hann. 1865), Auf der Menschheit Höhen. Roman aus der jüngsten Vergangenheit (Bln. 1868), Im Irrenhause (Hbg. 1873). Im Spätwerk häufen sich Geschichten mit exotischen (insbes. kolonialistischen) Sujets, darunter Die Tochter des Mohrenfürsten (Hbg. 1878), Das Opfer des großen Sterns, oder der Messer-Häuptling. Eine Indianer-Geschichte (Hbg. 1879) u. Die Frau des Auswanderers. Erlebnisse einer Kolonistenfrau in Südbrasilien (Freib. i. Br. 1921). Wiederum mit polit. Lyrik trat H. 1870/71 hervor (Ernst Wachsmann: Sammlung der Deutschen Kriegsund Volkslieder des Jahres 1870. Bln. 1870).
Literatur: Heinz Puknus (Hg.): W. H. Der Autor u. sein Werk. Mchn. 1977. – Ders.: W. H. In: KLG.
Weitere Werke: Kaleidoskop. N.n, E.en u. G.e. Hann. 1855. Gold u. Ehre. Histor. Roman. Hann. 1858. Ein dt. Held. Original-Schausp. in 5 Aufzügen. Hann. 1859. Zur hundertjährigen Geburtsfeier Schillers. Hann. 1859.
Monika Heffels / Günter Baumann
Heinrichs, (Caroline Louise) Emilie, geb. Literatur: Goedeke Forts. Antonia Egel Schmidt, auch: E. v. Linden, * 1.3.1823 Schleswig, † 19.2.1901 Braunschweig. – De Heinrico ! Carmina Cantabrigiensia Lyrikerin, Erzählerin. H., Tochter eines Bereiters, lebte 1845–1850 Heinroth, Johann Christian August, auch: in Hamburg u. Altona, ab 1850 in Hannover, Treumund Wellentreter, * 17.1.1773 ab 1872 wieder in Altona u. ab 1878 in Leipzig, † 26.10.1843 Leipzig. – Arzt u. Braunschweig. In ihren jungen Jahren trat sie Psychologe; Verfasser kleinerer Dichtunmit polit. Gedichten (deutsch-national), gen. insbes. im Zusammenhang mit der schleswigholsteinischen Erhebung 1848, an die Öf- H., Sohn eines Chirurgen, studierte von 1791 fentlichkeit. Nach ihrer Heirat 1849 oder an Medizin in Leipzig, dann in Wien u. pro1850 u. dem damit verbundenen Umzug movierte 1805 in Leipzig. Nach mehrjähriger nach Hannover begann eine Zeit großer lite- Praxis als Militärarzt wurde er 1811 Professor rar. Produktivität. Es entstanden zahlreiche für Medizin in Leipzig u. praktizierte am Novellen u. Romane. dortigen »Waisen-Zucht- und VersorgungsThematisch umfasst das Werk v. a. zeit- u. haus« St. Georgen. 1827 wurde er Ordinarius lokalgeschichtl. Sujets wie Friedrich Wildt. Eine der psych. Medizin. Erzählung nach Thatsachen aus Schleswig-HolH.s Vielseitigkeit dokumentiert sich in steins jüngster Vergangenheit (Bln. 1865); die Schriften zur Anthropologie (Lehrbuch der AnNovellen sind ebenfalls meistens histor. thropologie. Lpz. 1837), spekulativen PhilosoStoffen gewidmet. Daneben beschäftigte sich phie (Über die Wahrheit. Lpz. 1824), Pädagogik H. mit Familiengeschichten (u. a. Norddeut- (Von den Grundfehlern der Erziehung und ihren sches Familienbuch. 3 Bde., Hann. 1856/57. Folgen. Lpz. 1828) u. forens. Medizin. 1825 Hannovera. Ein Familienbuch. Hann. 1861). Die setzte er sich mit den gerichtsärztl. Gutachten histor. Romane beschränken sich auf die dt. zum Fall Woyzeck auseinander. Vergangenheit (u. a. Der Bruderzwist. Hann. Als einer der maßgebl. Vertreter der 1862. Dunkle Tage. 2 Bde., Hann. 1863. Ein Psychiatrie der Restaurationszeit sieht H. in deutscher Kaiser. Bln. 1864). Die Romane han- seinem Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens
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(Lpz. 1818) seel. Leiden zwar von organischen Heinse, (Johann Jakob) Wilhelm, eigentl.: Beschwerden begleitet, gibt als deren Ursache J. J. W. Hein(t)ze, * 15.2.1746 Langewieaber wiederum psych. Defekte an. Der Leib sen/Thüringer Wald, † 22.6.1803 Aschafwird als »Organ der Seele« gesehen. Seine fenburg; Grabstätte: ebd., Altstadtfriedwesentlich theologisch fundierte, von der hof. – Romanautor u. Kunstschriftsteller. Philosophie Kants, Schellings u. Schillers beeinflusste Theorie des Bösen (Grundzüge der H.s Vorfahren, seit Generationen im ThürinCriminal-Psychologie [...]. Bln. 1833) sieht in ger Wald ansässig, waren Bürgermeister, moralischem Fehlverhalten einen menschl. Kantoren oder Pfarrer. Sein Vater versah das Willen wirksam, der gegen die Vernunft als Amt des Bürgermeisters im Marktflecken eine das Selbst des Menschen transzendie- Langewiesen. Die zehnköpfige Familie lebte rende Kategorie u. als Medium des göttl. in kärgl. Verhältnissen. 1760–1766 besuchte Geistes opponiert. H. unterstellt dem Willen H. die Gymnasien von Arnstadt u. Schleueinen »Hang zum Bösen«, den er als Anti- singen. Im Nov. 1766 immatrikulierte er sich poden des göttl. Prinzips betrachtet. Er be- an der Universität Jena. 1768 folgte H. seitont auch die Wirksamkeit von Einflüssen des nem Lehrer Friedrich Justus Riedel an die sozialen Milieus auf das menschl. Verhalten. Universität Erfurt, welche mit der Berufung Unter Pseud. publizierte H. erbaulich- Wielands neuen Glanz erhielt. Wieland wurdidakt. Schriften, epigrammat. u. lyr. Dich- de für H. das große Vorbild, aber ihre persönl. tungen sowie das Zauberspiel nach Musäus, Beziehungen gestalteten sich schwierig: Der Dichter der Grazien schreckte vor dem unRübezahl (Lpz. 1826). gestüm bekundeten Hedonismus seines Weitere Werke: Ges. Bl. v. Treumund Wellentreter. 4 Bde., Lpz. 1818–26. – Über die gegen das Adepten zurück. Die finanzielle Lage des Gutachten v. des Herrn Hofrath D. Clarus v. Herrn Studenten blieb immer prekär, obwohl er Dr. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift: War bereits publizistisch tätig war, so als Mitarder am 27. Aug. 1824 zu Leipzig hingerichtete beiter der Wochenschrift »Thüringischer Mörder J. C. Woyzeck zurechnungsfähig? Lpz. Zuschauer« (1770). 1825. – Die Psychologie als Selbsterkenntnislehre. Ohne förml. Studienabschluss ging H. im Lpz. 1827. – Die Lüge. Lpz. 1834. Herbst 1771 auf Reisen u. hielt sich längere Literatur: Werner Leibbrand u. Annemarie Zeit in Erlangen auf. Im Herbst 1772 kam er Wettley: Der Wahnsinn. Gesch. der abendländ. nach Halberstadt, wo ihm »Vater« Gleim eine Psychopathologie. Freib. i. Br./Mchn. 1961, Hauslehrerstelle besorgt hatte, wurde in S. 492–497. – H. G. Schomerus: Gesundheit u. Krankheit der Person in der medizin. Anthropolo- dessen poetischen Kreis aufgenommen u. gie J. C. H.s. In: Jb. für Psychologie, Psychotherapie genoss den vertrauten musischen Umgang u. medizin. Anthropologie 14 (1966). – Klaus Dör- mit Elisabeth von Massow, der Mutter seines ner: Bürger u. Irre. Zur Sozialgesch. u. Wissen- Zöglings. Im Frühjahr 1774 begleitete er Joschaftssoziologie der Psychiatrie. Ffm. 1975, hann Georg Jacobi, den anakreont. Freund S. 273–281. – Monika Lidl: J. C. A. H. u. sein the- Gleims, nach Düsseldorf, um die Redaktion rapeut. Konzept. Diss. Würzburg 1981. – Sebastian der neuen Damenzeitschrift »Iris« Schmideler u. Holger Steinberg: Eine musikhistor. (1774–1776) zu übernehmen. H. lebte viele Überraschung: Der Liederzyklus ›Die Jahreszeiten‹ Jahre im Haus der Brüder Jacobi in Pempelwurde v. dem Psychiater J. C. A. H. gedichtet. In: fort. Er begegnete nun den Wortführern des Schriftenreihe der Dt. Gesellsch. für Gesch. der Sturm und Drang. Zusammen mit Friedrich Nervenheilkunde 12 (2006), S. 557–590. Heinrich Jacobi lernte er Goethe kennen u. Ursula von Keitz / Red. bewundern (Juli 1774); mit Klinger schloss er Freundschaft (1777). H.s erste Buchveröffentlichung waren die Sinngedichte (Halberst. 1771). Seine Übersetzung des Satyricon von Petron, Begebenheiten des Enkolp (Rom, recte Schwabach 1773), wurde als stilistische Leistung gewürdigt u.
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wegen der provokanten Vorrede getadelt. Sein erster Roman Laidion oder die Eleusinischen Geheimnisse (Lemgo 1774. 21799) wird noch vom Geist der Rokoko-Antike (aus Wielands Verserzählung Musarion) inspiriert, entwickelt aber zugleich einen konsequent sensualistischen Diskurs. Das angehängte Fragment einer erotischen Erzählung in formvollendeten Stanzen hat Goethe beeindruckt. Stark beachtet wurden die Briefe Über einige Gemälde der Düsseldorfer Galerie (1776/77 im »Teutschen Merkur«), mit denen sich H. als Meister der Kunstbetrachtung präsentierte. Er verwirft das zeitlos normative Schönheitsideal u. betont die histor. u. nationale Prägung des Künstlers: »Alle Schönheit entspringt aus Art und Charakter«. An Rubens wird das beispielhaft veranschaulicht. Im Juni 1780 konnte H. endlich zur lang ersehnten Italienreise aufbrechen. Als »Naturkind« von erprobter Bedürfnislosigkeit machte er die Reise größtenteils zu Fuß. Über die Schweiz (berühmt wurde seine Schilderung des Rheinfalls bei Schaffhausen), Marseille, Genua, Venedig, Florenz gelangte er im folgenden Sommer nach Rom u. lebte dort etwa 20 Monate, eng verbunden mit Friedrich (»Maler«) Müller. Lange Briefe berichten von seinen Natur- u. Kunsterlebnissen, geben Landschaftsschilderungen von großer Intensität. Als Brot- u. Fleißarbeit entstanden in diesem Zeitraum die Übersetzungen der großen Versepen von Tasso u. Ariost. Im Sept. 1783 traf H. wieder in Düsseldorf ein u. widmete sich der Abfassung seines Hauptwerks. Nach drei Vorabdrucken im »Deutschen Museum« (Juni u. Sept. 1785, Febr. 1786) erschien es anonym: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert (2 Bde., Lemgo 1787. 21794. Frz. Übers. 1800). Nachlässig komponiert, von einem Ich-Erzähler sowie in Briefform dargeboten, mit eingehenden Erörterungen über Kunst u. Philosophie, fesselt dieser Roman mehr durch seine schwungvolle Schreibart als durch die nicht sehr tragfähige Handlung. Der Held ist Maler u. Virtuose, aber auch Rebell u. Pirat, Reformer u. Staatsgründer. In ihm vereinigt sich der »universale Mensch« der Renaissance mit dem »Kraftgenie« des
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Sturm und Drang. Er verkörpert die ganze Lebensfülle zwischen Aktivität u. Genuss; er verachtet alle Konventionen im Namen der »Natur«. Seinen Leidenschaften, ob Rachsucht oder Erotik, überlässt er sich ohne Bedenken. Die am Ende in der Ägäis errichtete utop. Inselrepublik setzt die affektiven Bande von Freundschaft u. freier Liebe voraus u. festigt den Zusammenhalt durch Gütergemeinschaft u. eine neue Naturreligion. Bei den Zeitgenossen erregte der Ardinghello großes Aufsehen. Als Spätling der GenieEpoche passte er allerdings nicht zum Geschmack der Weimarer Klassik. Die ablehnenden Äußerungen Schillers u. Goethes haben später das Urteil der Germanistik nachhaltig beeinflusst. Aber es gibt auch einen anderen Rezeptionsstrang. Auf Hölderlin hat v. a. das Pantheismus-Gespräch gewirkt; die Romantiker schätzten den ersten dt. Künstlerroman; das Junge Deutschland fand hier seine Losung der »Emanzipation des Fleisches« vorweggenommen (Heinrich Laube besorgte 1838 eine H.-Werkausgabe). – H. veröffentlichte noch zwei weitere romanartige Bücher. Was die bildende Kunst für den Ardinghello, ist die Musik, bes. die ital. Oper, für Hildegard von Hohenthal (Bln. 1795/96). Dabei wird noch weniger Sorgfalt auf eine Integration des ästhetischen Diskurses in den Handlungsablauf verwendet. In H.s Todesjahr erschien Anastasia und das Schachspiel (Ffm. 1803), ein Traktat über Schachstrategie mit einem ganz rudimentären Erzählfaden. Am 1.10.1786 trat H. in den Dienst des Erzbischofs u. Kurfürsten von Mainz, zunächst als Vorleser; 1788 wurde er zum Bibliothekar u. Hofrat ernannt (wie gleichzeitig Georg Forster). Eine dauerhafte Freundschaft verband ihn mit dem Anatomen Sömmerring, der sein Nachlassverwalter werden sollte. In die so weit gesicherte Existenz brachte der Revolutionskrieg erneut Unruhe. Während der Mainzer Republik war H. an den Niederrhein ausgewichen, Ende 1794 musste er mit der kurfürstl. Bibliothek in das Aschaffenburger Schloss umziehen. Im Sommer 1796 reiste er mit Hölderlin u. Susette Gontard nach Driburg/Westfalen. Ohne größere Amtspflichten, war H. doch genötigt, seine letzten Jahre ziemlich isoliert im »öden
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und freudeleeren« Aschaffenburg zu ver- Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass. Hg. Markus Bernauer u. a. 5 Bde., Mchn. (Bd. 1–2: Texte. bringen. Zeitlebens war H. ökonomisch abhängig 2003. Bd. 3–4: Komm. 2005. Bd. 5: Nachworte, von Personen, denen er mit seiner antikleri- Register [etc.]. 2005) [AFN]. Literatur: Bibliografie: AFN, Bd. 5, S. 83–236. – kalen, in religiöser, moralischer u. polit. Hinsicht libertinen Geisteshaltung fremd Weitere Titel: Karl Detlev Jessen: H.s Stellung zur bildenden Kunst u. ihrer Ästhetik. Bln. 1901. gegenüberstand. So wurde es ihm zur GeNeudr. New York/London 1967. – Walther Brecht: wohnheit, seine innersten Überzeugungen H. u. der ästhet. Immoralismus. Bln. 1911. – Albert nur in privaten Notizheften auszusprechen. Zippel: W. H. u. Italien. Jena 1930. – W. H. in Diese Aufzeichnungen, von 1774 bis 1803 Zeugnissen seiner Zeitgenossen. Hg. Albert Leitzreichend, sind im strengen Sinn weder »Ta- mann. Jena 1938. – Max L. Baeumer: Das Dionygebücher« noch »Aphorismen«. Sie doku- sische in den Werken W. H.s. Bonn 1964. – Ders.: mentieren die wahrhaft enzyklopäd. Weite H.-Studien. Stgt. 1966. – Hans Zeller: W. H.s Itaseiner Beschäftigungen, die Themenvielfalt lienreise. In: DVjs 42 (1968), S. 23–54. – Heinrich seiner Lektüre. Ausgehend von Exzerpten, Mohr: W. H. Das erot.-religiöse Weltbild u. seine naturphilosoph. Grundlagen. Mchn. 1971. – Rita Paraphrasen, Kommentaren entfaltet sich in Terras: W. H.s Ästhetik. Mchn. 1972. – Otto Keller: spontanen, oft drast. Formulierungen die W. H.s Entwicklung zur Humanität. Bern 1972. – ureigene Gedankenwelt H.s. Heute kann Manfred Dick: Der junge H. in seiner Zeit. Mchn. dieser Nachlass als integraler Bestandteil sei- 1980. – Jürgen Schramke: W. H. u. die Frz. Revones Gesamtwerks gelten. lution. Tüb. 1986. – Gottfried Boehm: Eins zu sein Von den Germanisten des 19. Jh. nur am u. Alles zu werden. W. H. u. die bildende Kunst. In: Rande beachtet, erfuhr H. im 20. Jh. eine HölderlinJb 26 (1988/89), S. 20–37. – Das Maß des entschiedene Aufwertung. Unter den Auspi- Bacchanten. W. H.s Über-Lebenskunst. Hg. Gert zien der Geistesgeschichte wurde er als Ver- Theile. Mchn. 1998 [Beiträge H.-Kolloquium Weimar 1996]. – W. H. u. seine Bibl.en. Hg. Gernot künder einer Art Lebensphilosophie, als VorFrankhäuser u. a. Mainz 2003 [Aufsätze u. Kat.]. – läufer Nietzsches und Wegbereiter eines »äs- Gerold Schipper-Hönicke: Im klaren Rausch der thetischen Immoralismus« beansprucht. Sinne. Wahrnehmung u. Lebensphilosophie in den Später hat man sich bemüht, ihn vorrangig Schr.en u. Aufzeichnungen W. H.s. Würzb. 2003. – aus seinem eigenen Zeitalter heraus zu ver- W. H. Der andere Klassizismus. Hg. Markus Berstehen; beispielsweise ist seine Affinität zu nauer u. Norbert Miller. Gött. 2007. materialistisch-sensualistischen Strömungen Jürgen Schramke der frz. Aufklärung nachgewiesen worden. Seither hält sich das Fachinteresse unver- Heinz der Kellner. – Verfasser des mindert; auch die Anteilnahme seitens der schwankhaften Märe Konni (vermutlich Kunst- bzw. Musikwissenschaft ist nicht er- Ende des 14. Jh.). lahmt. Veranstaltungen u. Würdigungen zum 200. Todestag des Autors (insbes. die Der Dichter ist nur durch eine Nennung in V. Ausstellung in Aschaffenburg u. Mainz) er- 224 der nach ihrem Protagonisten benannten reichten ein breiteres literar. Publikum. Etwa spätmittelalterl. Kurzerzählung Konni bezeitgleich wurde die bisher wichtigste Leis- kannt. Die Sprache des Verfassers lässt auf tung der H.-Philologie vorgelegt: die (erst- eine Herkunft aus dem südwestdt. Raum malig) vollständige, kritische, eingehend schließen. Das schwankhafte Märe Konni (228 Verse) kommentierte Edition der Nachlassaufzeichist unikal in der sog. Liedersaal-Handschrift nungen. (30er Jahre des 15. Jh.) überliefert. Die als Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Carl Schüddekopf »bîspel« (V. 13; lehrhaft-exemplarische u. Albert Leitzmann. 10 Bde. (13 Teilbde.), Lpz. 1902–25. – Ardinghello. Krit. Studienausg. v. Max Kurzerzählung) u. als »mære« (V. 223; mhd. L. Baeumer. Stgt. 1975. – Über einige Gemälde der Neuigkeit; Nachricht; fiktiv-unterhaltsame Düsseldorfer Galerie. In: Frühklassizismus. Positi- Erzählung) bezeichnete Geschichte möchte on u. Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. nach Aussage des Erzählers davor warnen, Hg. Helmut Pfotenhauer u. a. Ffm. 1995. – Die sich durch Spott u. List über andere zu erhe-
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ben. Als Negativexempel fungiert hier eine bis zur Gegenwart. Bd. 1, Bern/Mchn. 1962, Königstochter, die nur jemanden heiraten S. 222–225. Literatur: Hans-Friedrich Rosenfeld: H. d. K. will, der sie durch seine Schlagfertigkeit bzw. rhetorische Kunst (»über reden«) so in Verle- In: VL. – L. Röhrich: [Komm.]. In: s. o., S. 299–302. genheit zu bringen weiss, dass ihr keine – Mireille Schnyder: Märenforschung u. Geschlechterbeziehungen. In: JOWG 12 (2000), Antwort mehr einfällt. Alle scheiternden S. 123–134. Corinna Laude Kandidaten werden geköpft. Diese Prinzessin gerät nun an Konni, den Protagonisten. Er ist ein bäur. Tor, der unbedingt an den Hof Heinzelin von Konstanz. – Verfasser möchte, unterwegs wertlose Gegenstände zweier Streitgedichte, wahrscheinlich um aufsammelt u. schließlich auf einen jungen 1320–1340 entstanden. Edelmann trifft, der zu den Bewerbern um In einer Berner Handschrift wird H. als »kúdie Prinzessin zählt u. Konni als Hofnarren in chin meister« (d. h. Hofbeamter) Graf Alsein Gefolge aufnimmt. Nach einem – für brechts von Hohenberg bezeichnet – verKonni sehr üppigen – Essen u. einer unap- mutlich Albrecht V., der in seiner Laufbahn petitl. Nachtruhe, während derer Konni seine Domherr zu Konstanz, Landvogt im Elsass, Fäkalien in seinem Hut sammelt, wird der Kanzler Ludwigs des Bayern u. Bischof von junge Adlige von der Prinzessin auf die Re- Freising war. Der sich stilistisch an Konrad von Würzdeprobe gestellt: Er versagt u. wird hingerichtet. Konni gelangt vor die Königstochter burg orientierende H. behandelt in seinen u. vermag es, dreimal durch seine Rede u. den Werken beliebte Themen der mittelalterl. darauf abgestimmten Einsatz seiner Requisi- Literatur. In dem derben Stück Von dem Ritter ten (wie u. a. dem Hut) seine Kontrahentin zu und von dem Pfaffen wird die Frage, ob Ritter »über reden«, so dass am Ende der König oder Kleriker die besseren Liebhaber seien, seine Tochter dem Narren zur Frau geben von zwei Frauen lebhaft (in eher ungewöhnl., muss. Der Erzähler schließt mit einer knap- winterl. Atmosphäre) erörtert. Der Disput pen Ermahnung, eingedenk des Schicksals geht letztlich unentschieden aus, das der Prinzessin andere nicht zu verspotten, Schlusswort der personifizierten Minne weil man anderfalls leicht selbst zum Spott bleibt unbekannt. Im Gedicht Von den zwein Johannsen disputieren zwei Nonnen um den werden könne. Die stoffgeschichtlich zu den internat. bis Vorrang Johannes des Täufers oder Johannes ins 20. Jh. (z.B. in Märchensammlungen) weit des Evangelisten, ein Streit, der bisweilen verbreiteten Erzählungen gehörende Ge- tatsächlich in Frauenklöstern ausgetragen schichte von der Überwindung einer rheto- wurde (berichtet etwa im Diessenhofener risch versierten adligen Frau durch einen die Schwesternbuch). Die beiden Heiligen erscheinen ihren jeweiligen Proponenten im Traum Zote nicht scheuenden Bauerntölpel ist nicht u. weisen auf die Vorzüge des anderen hin, nur ein Beispiel für die derbe Fastnachtsworauf sich die Nonnen versöhnen. spielkomik des SpätMA. Darüber hinaus Ausgaben: Franz Pfeiffer: H. v. K. Lpz. 1852, handelt es sich hier auch um einen interesS. 99–133. – Thomas Cramer (Hg.): Die kleineren santen Zeugen für den zeitgenöss. »gender«Liederdichter des 14. u. 15. Jh. Bd. 1, Mchn. 1977, Diskurs u. seine eminent sprachlich-rhetori- S. 375–403, 478 f. sche Ausrichtung in der literar. Verhandlung, Literatur: Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. die immer auch dichtungstheoret. Aspekte 1971, S. 94–98. – Ingrid Kasten: Studien zur Thebirgt – hier eine androgyne Poetik (vgl. matik u. Form des mhd. Streitgedichtes. Diss. Hbg. Schnyder), die die Macht der Rede gleichzei- 1973, S. 86–90. – I. Glier: H. v. K. In: VL. tig ausstellt u. demontiert. Werner Williams-Krapp / Red. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg): Gesammtabenteuer. 3 Bde., Stgt. 1850, Bd. 3, S. 179–185. – Lutz Röhrich: Erzählungen des späten MA u. ihr Weiterleben in Lit. u. Volksdichtung
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Heinzen, Karl (Peter), * 22.2.1809 Heinzmann, Johann Georg, * 27.11.1757 Grevenbroich, † 12.11.1880 Boston/USA. Ulm, † 23.11.1802 Basel. – Buchhändler; – Politischer Publizist, Herausgeber, Ly- Essayist, Journalist, Herausgeber, Komriker, Lustspieldichter. pilator. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium in Bonn (1827–1829, Relegation wegen polit. Betätigung) u. anschließendem Militärdienst wurde H., Sohn eines Forstinspektors, zunächst Verwaltungsbeamter, dann Journalist u. Herausgeber polit. Zeitschriften. Durch Artikel in der »Leipziger Allgemeinen Zeitung« u. der »Rheinischen Zeitung« sowie durch mehrere Flugschriften (Die Ehre. 1842. Die geheimen Konduitenlisten der Beamten. 1843. Die preußische Bureaukratie. Darmst. 1845, recte: 1844) erwies er sich als scharfer Kritiker preuß. Bürokratie. Um sich einem Gerichtsverfahren zu entziehen, floh er 1844 nach Belgien, von da aus in die Schweiz, dann in die USA. Anlässlich der 48er-Revolution, an der er sich auf Seiten der badischen Aufständischen beteiligte, kehrte er nach Deutschland zurück, emigrierte dann aber endgültig über die Schweiz u. England in die USA, wo er 1853 die politisch-satir. Zeitschrift »Pionier« gründete, die er bis 1879 herausgab. In Boston gründete er einen der durch dt. Emigranten initiierten Turnvereine mit sozialistischem Programm. Daneben publizierte H. in mehreren anderen Zeitschriften Artikel radikal-demokratischer Ausrichtung, die sich gegen jede Form von auf Gewalt beruhender Hierarchie wandten. Weitere Werke: Reise nach Batavia. Köln 1841. U. d. T. Reise eines teutschen Romantikers nach Batavia. 21845 (Autobiogr. R.). – Gedichte. Köln 1841. – Doktor Nebel. New York 1842 (Kom.). – Lustspiele. New York 1859. – Ges. Schr.en. 5 Bde., Boston 1864–74. Literatur: Carl Wittke: Against the current. The life of K. H. 1809–80, Chicago 1945. – Helmut Hirsch: K. H. In: NDB. – Trotz alledem u. alledem. Ferdinand Freiligraths Briefe an K. H. 1845 bis 1848. Mit einem Verz. der Schr.en H.s. Hg. Gerhard K. Friesen. Bielef. 1998. – Peter Ströher: K. H. (1809–1880). In: Lebensbilder aus dem Kreis Neuss. Neuss 1999, Bd. 4, S. 84–93. – Goedeke Forts. Ulrich Rose
Der Sohn eines verarmenden Kaufmanns musste mit 13 Jahren das Gymnasium verlassen u. arbeitete als Buchhandelsgehilfe 1770–1776 bei Löffler (Mannheim), dann bei Stettin (Ulm). 1778 übersiedelte er nach Bern als Commis der Haller’schen Buchhandlung u. entfaltete eine überaus rege publizistische Tätigkeit. Ein Rückkehrversuch in die Heimatstadt 1798 scheiterte; H. wurde wegen revolutionärer Gesinnung ausgewiesen u. verbrachte den Sommer in Paris. Dann Geschäftsführer der Typographischen Gesellschaft Bern, starb der erst 45-Jährige auf einer Geschäftsreise in Basel. Mit über 30 Büchern zählt H. zu den typischen Schnell- u. Vielschreibern seiner Zeit (u. a. Jugendbücher, Lexika, Wörterbücher, Reisewerke). Seine literaturkrit. u. historischpolit. Publizistik ist durch Vehemenz wie Inkonsequenz gekennzeichnet. Er begann mit Textsammlungen aufklärerischer Autoren, z.T. für ein weibl. Lesepublikum: Feyerstunden der Grazien (6 Bde., Bern 1780–89), Litterarische Chronik (3 Bde., Bern 1785–88), Analekten für die Litteratur. Von G. E. Lessing (5 Bde., Bern 1785–88), Gemählde aus dem aufgeklärten achtzehnden Jahrhundert (2 Bde., Bern 1786). H.s wichtigstes Werk erschien 1795 in Bern: Über die Pest der deutschen Litteratur. Appel an meine Nation [...]. Auf gut 500 Seiten rechnet H. polemisch mit dem norddt. Rationalismus (verkörpert u. a. durch Friedrich Nicolai) ab, dem er nicht nur die Schuld am spekulativen Buchmarkt, der Professionalisierung des Autors u. der »Lesewut« gibt, sondern den er als antichristl. Verschwörung denunziert. Damit wird das Werk zu einer Hauptquelle für die »Komplott-Theorie« der Gegenaufklärung u. wirkt auf die Restaurationsideologie ein. Als Parteigänger der Helvetischen Republik sympathisierte H. mit der Französischen Revolution im Sammelwerk Bürger-Journal oder kleine Familienbibliothek für Schweizer (3 Bde., Bern 1790–92) u. in seinen »Eidgenössischen Nachrichten« (später »Neue Berner
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Zeitung. Republikanischer Weltbeobachter«, 1798/99). Er widmete Napoleon schon 1800 eine Biografie (Leben und Heldenthaten von Bonaparte. Winterthur). Weitere Werke: Briefe eines Schweizer Jünglings an seine Braut. Bern 1791. – Die Feyerstunden des Geschäftsmanns. Bern 1792. – Rathgeber für junge Reisende. Bern 1793. – Beschreibung der Stadt u. Republik Bern. 2 Bde., Bern 1794–96. – Kleine Chronick für Schweizer. 3 Bde., Bern 1795–1804. – Akademie junger Schweizer. 2 Bde., Bern 1797. – Meine Frühstunden in Paris. Basel 1800. – Herausgeber: Albrecht v. Hallers Tgb. seiner Beobachtungen über Schriftsteller u. über sich selbst. Bern 1787. Literatur: Rudolf Ischer: J. G. H. In: Slg. Bern. Biogr.n 3 (1898), S. 376–409. – Reinhard Wittmann: Nachw. In: J. G. H.: Appel an meine Nation. Neudr. Hildesh. 1977. – Gerhard Sauder: Gefahren empfindsamer Vollkommenheit für Leserinnen u. die Furcht vor Romanen in einer Damenbibl. In: Leser u. Lesen im 18. Jh. Heidelb. 1977, S. 83–91. Reinhard Wittmann
Heise, Hans-Jürgen, auch: Werner Birk, Hanns-Werner Krüger, eigentl. HansJürgen Scheller, * 6.7.1930 Bublitz/Pommern. – Lyriker, Essayist, Literaturkritiker u. Übersetzer. H. wuchs als Halbwaise in kleinstädt. Milieu auf. Eine Ausbildung zum Postbeamten brach er ab. Beeinflusst von Rilke u. Erich Kästner, schrieb er schon als Jugendlicher erste, konventionell gereimte Gedichte. Seine ersten literar. Aufsätze, Gedichte u. Buchbesprechungen erschienen v. a. in Berliner Blättern, in der Exilzeitung »Aufbau«, den »Akzenten« u. in zahlreichen anderen literar. Zeitschriften. 1949/50 arbeitete H. als Redaktionsvolontär bei der Kulturbund-Wochenzeitung »Sonntag«; 1950 floh er nach West-Berlin. Den frühen Jahren widmet sich Die Zeit kriegt Zifferblatt und Zeiger (Gött. 2003). 1958–93 war H. Archivlektor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, wo er zusammen mit seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Annemarie Zornack, lebt. H. wandte sich von traditionellen Formen ab u. erarbeitete einen unabhängigen Stil, frei auch von experimentellen Formen, den er seit Jahrzehnten pflegt. Sein erstes Lyrikbänd-
chen, Vorboten einer neuen Steppe (Wiesb. 1961), nahm ein Thema vorweg, das 20 Jahre später wieder Gegenstand lyr. Reflexion wurde: die Umwelt u. ihre Bedrohtheit (Ohne Fahrschein reist der Seewind. Düsseld. 1982. Der große Irrtum des Mondes. Kiel 1988). In den Gedichtauswahlen Der Phantasie Segel setzen (Freib. i. Br./Heidelb. 1983) u. Gedichte und Prosagedichte 1949–2001 (Gött. 2002) versammelte H. einen Querschnitt seines lyr. Schaffens seit 1950. Das kumulative Prinzip dieser Bände verdeutlicht fortgesetzte Überarbeitungen. Die polit. Dimension gewinnt Konturen, ohne dass pauschale Kritik an Gesellschaft u. Machtverhältnissen laut wird. Implizite Appelle richten sich an die Vernunft des Lesers, der zum Reisebegleiter H.s wird u. dem die Augen geöffnet werden für das leicht Übersehbare. H.s außerordentlich zahlreiche aphoristische Gedichte balancieren zwischen lässiger, gar schnoddriger Alltagssprache u. lakon. Präzision. Pointen sind oft kauzig u. geben sich definitiv. Sorgfalt der Beobachtung steht in produktiver Spannung mit einer gewissen Respektlosigkeit. Zwischen Fremdheit u. kulturellem, sozialem u. ökolog. Niedergang leuchten Melancholie u. Heiterkeit. H.s Lyrik ist konkret, aber nicht privatistisch. Unter dem Titel Drehtür (Hbg./Düsseld.) veröffentlichte H. 1972 eine Reihe von Parabeln, die auf den entfremdeten Menschen verweisen, der seiner Verplanung ohnmächtig gegenübersteht. Eine Tendenz zur Groteske zeigen auch die Prosagedichte Meine kleine Freundin Schizophrenia (Mchn. 1981). Als hintergründiger Satiriker tritt H. in Der lange Flintenlauf zum kurzen Western (Köln 1977) auf: Surreale Szenen verweisen auf Ulenspiegel u. Simplizissimus. Viele von H.s Prosagedichten (jüngst in Ein Kobold von Komet. Gött. 2007) sind von magischem Realismus u. Surrealismus geprägt u. erinnern an Traumprotokolle. Zuweilen enthalten sie dialogische Passagen. Seit seinem ersten Essayband Das Profil unter der Maske (Düsseld. 1974) zeigt sich H. als belesener Interpret u. als psychologisch einfühlsamer Betrachter der europ. Kultur. Beiträge zu Celan u. Ball sind ebenso vertreten wie zu den span. Lyrikern der 27er-Generation, zur Hermetik Ungarettis oder zu den
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Malern des Surrealismus. In Einen Galgen für Ges. Gedichte in zwei Bänden. Weilerswist 1998. – den Dichter (Weingarten 1986) fordert H. zu Einzeltitel: Wegloser Traum. Wiesb. 1964 (L.). – einer krit. Auseinandersetzung mit Form, Beschlagener Rückspiegel. Darmst. 1965 (L.). – Inhalt u. Intention moderner Dichtung auf, Worte aus der Zentrifuge. Darmst. 1966 (L.). – Ein bewohnbares Haus. Ffm. 1968 (L.). – Küstenwind. wobei er sich auf Dadaismus, Surrealismus u. Darmst. 1969 (L.). – Uhrenvergleich. Hbg./Düsseld. die Natur- u. Großstadtlyrik bezieht. 1971 (L.). – Besitzungen in Untersee. Hbg./Düsseld. H. ist im Lauf der letzten Jahrzehnte stets 1973 (L.). – Vom Landurlaub zurück. Düsseld. 1975 auch durch Rezensionen u. krit. oder pro- (L.). – Die zwei Flüsse v. Granada (zus. mit Annegrammat. Äußerungen zur dt. u. europ. Lyrik marie Zornack). Düsseld. 1976 (Reiseber.e). – u. Poetik des 20. Jh. hervorgetreten, u. a. in Nachruf auf eine schöne Gegend. Düsseld. 1977 (L. Wenn das Blech als Trompete aufwacht (Bln. u. P.). – Ariels Einbürgerung im Land der Schwer2000). Im Mittelpunkt stehen Enzensberger, kraft. Düsseld. 1978 (Ess.s). – In schönster TiefAlfred Lichtenstein, Eich, Grünbein, Huchel, fluglaune. Düsseld. 1980 (L.). – Natur als Erlebnisraum der Dichtung. Düsseld. 1981 (Ess.s). – Der Hilde Domin, Ernst Meister, jüngst auch Macho u. der Kampfhahn. Kiel 1987 (Reiseprosa). – vermehrt Dichter der klass. Moderne wie Vermessungsstäbe bilden den Gottesbegriff. Über Benn, Celan, Rilke u. Stramm. Dichtung wird Gottfried Benn, Günter Eich, Ernst Meister u. Paul stets auch sozial verortet u. in ihrer anthro- Celan. Warmbronn 1985 (Ess.s). – Einen Galgen für polog. Relevanz verdeutlicht. H.s Stil ist zu- den Dichter. Stichworte zur Lyrik. Kiel 1990 (Ess.s). gänglich u. verteidigt zunehmend kämpfe- – Zikadentreff. Andalus. Motive (zus. mit Annemarie Zornack). Bln. 1990 (L., Kompositionen, risch die menschl. Empfänglichkeit. Die Essaysammlung Die zweite Entdeckung Holzschnitte). – Schon mal gelebt? Amerikan. GeAmerikas (Kiel 1987) enthält H.s erstes Plä- dichte des 20. Jh. Hg. mit A. Zornack. Kiel 1991. – doyer für die Literatur des lateinamerikan. Katzen fallen auf die Beine. Kiel 1993 (P.). – Schreiben ist Reisen ohne Gepäck. Auskünfte über Subkontinents. Einführungen in die Dichmich selbst. Kiel 1994 (Autobiogr.). – Heiterkeit tungen von Alejo Carpentier, Neruda, Paz, ohne Grund. Kiel 1996 (L.). – Die Süße des FlieFuentes u. García Márquez stehen neben genpapiers. Stationen meines Lebens. Weilerswist Untersuchungen zu einzelnen Begriffen, 1998 (Autobiogr.). – Das Zyklopenauge der Verzum Geschichtsmythos u. zum magischen nunft. Gött. 2005 (L.). Realismus. Iberischer Literatur u. Kultur Literatur: Innehalten ohne zu verweilen. H.-J. widmet sich auch der Essayband Schach der H.s Werk im Spiegel der Kritik. Hg. v. Giuseppe de Ewigkeit (Gött. 2006). H. nähert sich außer- Siati. Kiel 1995. – Gunnar Müller-Waldeck: Geeurop. Literatur als Leser, Reisender u. dichte tippen mir auf die Schulter. Gespräch mit Übersetzer. H. übersetzte T. S. Eliot, Archi- H.-J. H. In: NDL 52 (2004), H. 1, S. 51–64. – Rafael bald MacLeish u. eine Reihe spanischspra- Sevilla: H.-J. H. In: KLG. Nicolai Riedel / Christophe Fricker chiger Lyriker. H.s eigene Gedichte sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt worden. Zweisprachige Lyriksammlungen erschienen Heise, Wolfgang, * 8.10.1925 Berlin, in Italien (1967) u. den USA (1972). † 10.4.1987 Berlin/DDR; Grabstätte: H. war 1988/89 Poetikdozent an der Uni- ebd., Friedhof Rahnsdorf. – Philosoph, versität Mainz u. 1989 Ehrengast der Villa Essayist. Massimo in Rom. Er erhielt 1994 den Andreas-Gryphius-Preis, 1990 durch das Land H., Sohn eines Studienrats, lehrte als marSchleswig-Holstein den Professorentitel u. xistischer Philosoph u. Kunsttheoretiker seit 2002 den Kunstpreis des Landes Schleswig- 1955 an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er von 1969 bis zu seiner Emeritierung ein Holstein. Jahr vor seinem plötzl. Tod den Lehrstuhl für Weitere Werke: Ausgaben: Ausgew. Gedichte 1950–78. Königst. 1979. – Einhandsegler des Geschichte der Ästhetik innehatte. Als »Halbjude« wurde H. während der Zeit Traums. Gedichte, Prosagedichte, Selbstdarstellungen. Kiel 1989. – Die Wirklichkeit erfindet des Nationalsozialismus verfolgt u. 1943 in mich. Das lyr. Werk 1948–1993. Kiel 1994. – Die einem Arbeitslager der nationalsozialistiSprache des Windes. Ein Leben in lyr. Abläufen. schen Organisation Todt bei Zerbst inter-
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niert. Nach der Befreiung vom Faschismus engagierte sich H. als Student im Antifa-Jugendausschuss, im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands u. an der Humboldt-Universität in der antifaschistisch-demokratischen Bewegung. Er promovierte 1954 mit einer Arbeit über Johann Christian Edelmann u. habilitierte sich 1963 mit einer krit. Studie zur neueren dt. Philosophie (Philosophie als Krisenbewußtsein und illusionäre Krisenüberwindung. U.d.T. Aufbruch in die Illusion. Bln./DDR 1964). Sie ist ein impliziter Gegenentwurf zu Georg Lukács’ Theorie der Zerstörung der Vernunft in der nachhegelian. Geschichte der idealistischen Philosophie. Mit Lukács’ Ästhetik, die H. eine vor-industrielle nannte, setzte er sich immer wieder kritisch auseinander. H.s Anliegen war eine von der Vorliebe für die karnevalesken u. plebejischen Traditionen der Kulturgeschichte geprägte nicht-kanonische Ästhetik des Lebendigen, deren unsystematische geschichtl. u. theoret. Umrisse seine zahlreichen Essays zur dt. Literatur u. Kunst entwerfen. Bevorzugte Gegenstände seiner Reflexion sind die dt. Aufklärung (Lessing) u. Klassik – hier ist zu nennen die krit. Auseinandersetzung mit der Kunsttheorie Adornos in den Zehn Paraphrasen zu ›Wanderers Nachtlied‹ (in: Jürgen Kuczynski u. W. H.: Bild und Begriff. Studien über die Beziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft. Bln./ Weimar 1975, S. 274–354) –, die Frühromantik (Hölderlin), die Tradition einer dt. Moderne (Heine, Büchner, Menzel) u. Kunst u. Literatur der DDR. Am Beispiel des Theaters seines Freundes Heiner Müller entwarf H. in den 1970er Jahren eine Theorie des Theaters als »Laboratorium sozialer Phantasie«. In seinem Buch Hölderlin. Schönheit und Geschichte (Bln./Weimar 1988) u. in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Brecht 88. Anregungen zum Dialog über Vernunft am Jahrtausendende (Bln./ DDR 1987) erweiterte H. diese Überlegungen zum Entwurf einer ästhetischen Theorie gesellschaftl. Selbsterkenntnis. In der DDR präsentierte H. mit seinem Œuvre – u. durch intensive Arbeitsbeziehungen zu vielen zeitgenöss. Künstlern – den singulären Fall eines Philosophen, dem marxistisches Denken im
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engen Kontakt mit der zeitgenöss. Kunst selbst zum Experimentierfeld sozialer Fantasie wurde. Weitere Werke: Hegel u. das Komische. In: SuF 16 (1964), H. 6, S. 811–830. – Zur Krise der bürgerl. Philosophie. In: Dt. Zeitschr. für Philosophie 14 (1966), H. 2, S. 153–177. – Warum Poesie? In: Kürbiskern 3 (1969), S. 474–485. – Zur Krise des Klassizismus. In: Die hellen. Poleis. Bd. 3, Bln./ DDR 1974. – Grundlegung der Realismustheorie durch Marx u. Engels. In: WB 23 (1977), H. 2, S. 99–120, H. 3, S. 123–144. – Realistik u. Utopie. Aufsätze zur dt. Lit. zwischen Lessing u. Heine. Bln./DDR 1982. – W. H. (Hg.): Unzeit des Biedermeier. Histor. Miniaturen zum Dt. Vormärz (zus. mit Helmut Bock). Lpz. 1985, Köln 1986. – Die Wirklichkeit des Möglichen. Dichtung u. Ästhetik in Dtschld. 1750–1850. Bln.Weimar 1990. Literatur: Bibliografie in: Wiss. Ztschr. der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschaftswiss. Reihe 9 (1986), S. 806–811 (Ausw.). – Weitere Titel: Günter Mayer: Gedenkstunde für W. H. In: WB 33 (1987), H. 11, S. 1765–1773. – Heiner Müller: Ein Leben ohne Maske u. ein Feuer im Garten. In: Explosion of a Memory Heiner Müller DDR. Ein Arbeitsbuch. Bln./West 1988, S. 93. – Renate Reschke u. a. (Hg.): Künstler über einen Philosophen. Eine Hommage an W. H. Bln. 1995. – Claudia Salchow: Plädoyer für das Erinnern. Anmerkungen zu Leben, Werk u. Nachl. W. H.s. In: Hochschule Ost 5 (1996), H. 3, S. 92–102. – Dies.: Theaterkritik, Theatertheorie, Theaterdebatte. Zwei Studien zu W. H.s Teilhabe an den Diskussionen um das Berliner Theater der Nachkriegszeit sowie um das DDRTheater. Diss. Bln. 1999. – Das W.-H.-Archiv. Plädoyers für seine Zukunft. Hg. Der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin. Red.: Gudrun Kramer. Bln. 1999. – Achim Trebeß: Entfremdung u. Ästhetik. Eine begriffsgeschichtl. Studie u. eine Analyse der ästhet. Theorie W. H.s. Stgt./Weimar 2001. – Rosemarie Heise: Zum Brief W. H.s an das Mitgl. des Politbüros der SED Kurt Hager zur Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976. In: Dt. Ztschr. für Philosophie 51 (2003), H. 5, S. 863 ff. – Helmut Pillau: Adorno in der DDR. Zur krit. Rezeption seiner Ästhetik bei W. H. In: Günter Figal u. a. (Hg.): Adorno im Widerstreit. Freib. i. Br./Mchn. 2004. Karlheinz Barck / Red.
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Heiseler, Bernt von, * 14.6.1907 Brannenburg/Inn, † 24.8.1969 Brannenburg/ Inn. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Essayist, Herausgeber.
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Kunst. Krefeld 1947). Seine Autobiografie Haus Vorderleiten (Stgt.) erschien 1971. Weitere Werke: Ausgaben: Ausgew. Schausp.e in 3 Bdn. Gütersloh 1949–51. – Ges. Ess.s zur alten u. neuen Lit. 2 Bde., Stgt. 1966/67. – Bühnenstücke. 3 Bde., Stgt. 1968–70. – Einzeltitel: Henry v. Heiseler. Sein Weg in seinen Werken. Radolfzell 1932. – Die Unverständigen. Potsdam 1936 (E.en). – De profundis. Krefeld 1947 (L.). – Der persönl. Gott. Mchn. 1947 (Traktat). – Philoktet. Mchn. 1948 (D. nach Sophokles). – Briefe aus Rom. Gütersloh 1950. – Tage. Gütersloh 1954 (Erinnerungen). – Allerleirauh. Gütersloh 1955 (L., Balladen, M.). – Der Tag beginnt um Mitternacht. Gütersloh 1956 (E.). – Katharina. Das Ehrenwort. Paderb. 1959 (2 E.en). – Das verschwiegene Wort. Stgt. 1964 (R.). – Briefw. mit Reinhold Schneider. Stgt. 1965. – Leben, Zeit u. Vaterland. Stgt. 1967 (Ber.). Literatur: Eberhard Völker: B. v. H. als Novellendichter. In: Süddt. Vierteljahrsbl. 19 (1970), S. 175 f. – D. Brüggemann: B. v. H. [...]. In: Tribüne 6 (1967), H. 22, S. 2340 f. – Rüdiger Brandt: Die List der [Lit.-]Gesch. [...]. B. v. H.s ›Till Eulenspiegel u. die Wahrheit‹. In: Eulenspiegel Jb. 28 (1988), S. 91–113. – Eckard Lefèvre: Sophokles’ u. B. v. H.s ›Philoktet‹. In: Orchestra. FS Hellmut Flashar. Hg. Anton Bierl. Stgt. 1994, S. 211–233. – Galina Potapova: ›Sie werden es nicht als eine Unbescheidenheit verstehen ...‹. B. v. H. als Popularisator u. Hg. seines Vaters Henry v. H. Tl. 1. In: Germanoslavica 16 (2005), S. 169–195.
H., Sohn des Schriftstellers Henry von Heiseler, besuchte das Gymnasium in Rosenheim/Obb. u. studierte anschließend Geschichte u. Theologie in München u. Tübingen. Er unternahm ausgedehnte Reisen durch West- u. Südeuropa sowie durch Amerika u. war ab Anfang der 1930er Jahre als freier Schriftsteller u. Herausgeber tätig. Von 1940 an gab er die Werke von Klassikern u. die seines Vaters heraus. Wie dieser bereits, war H. vom Gedankengut des Stefan-GeorgeKreises beeinflusst. H. unterstützte die am klass. Humanismus orientierte Dichtung, bes. durch die Herausgabe der Zeitschrift »Corona«, die auch in gewissem Umfang den Kontakt zu den »elitär«-konservativen Vertretern der ausländ. Dichtung während des »Dritten Reichs« aufrechterhielt. Auf Formvollendung im traditionellen Sinn bedacht, stellten H.s bekannteste Werke inhaltlich einen Rückzug auf das »Innere Reich« dar (Was des Kaisers ist. Dramat. Trilogie. 1939–48). In der Lyrik teilte H. das magische NaturChristian Schwarz / Red. verständnis zahlreicher Dichter der 1940er Jahre, vertrat jedoch eine mehr quietistische Auffassung: Er spricht von einer »gewissen Heiseler, Henry von, * 11./23.12.1875 St. biedermeierliche(n) Behaglichkeit, die Lust Petersburg, † 25.11.1928 Vorderleiten bei Brannenburg/Inn; Grabstätte: St. Margaund Leid in ihre freundlichen Reime faßt«. Nach dem Krieg wandte sich H. stärker rethen/Brannenburg. – Lyriker, Dramatidem Katholizismus zu u. schrieb geistl. ker, Erzähler, Essayist u. Übersetzer. Spiele. In seinem erzählerischen Hauptwerk H. entstammte einer im dt.-balt. Gebiet (LivVersöhnung (Gütersloh 1953) legte er einen land) seit 1509 nachweisbaren, im 18. Jh. Familienroman vor, in dem anhand von nach Petersburg übergesiedelten Familie. Einzelschicksalen einer um einen altbayeri- Sein Vater Paul, in der Versicherungsbranche schen Gutshof zentrierten Sippe konservati- tätig, wurde in den russ. Adelstand erhoben; ver Intellektueller Probleme u. Wandlungen H.s Mutter Auguste Leopoldine, geb. von der Generationen zwischen 1928 u. 1954 ge- Bettzich, kam ebenfalls aus einer in Russland spiegelt werden. Er wollte der »gestörten ansässigen dt. Familie. H.s Bildung umfasste Ordnung« mit christlich fundiertem Ethos das russ. Curriculum; später schrieb er: »Ich entgegentreten u. zgl. mit seiner Dichtung bin ein halber Russe, in Russland erzogen Lebenshilfe bieten. H., der mit den meisten und spreche und lese Russisch ebenso frei Autoren der Inneren Emigration bekannt und selbstverständlich wie Deutsch.« Nach war, trat auch als Biograf u. Essayist hervor Abschluss des Privatgymnasiums von Dr. (u. a. Stefan George. Lübeck 1936. Gespräche über Wiedemann studierte er 1894/95 an der His-
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torisch-Philologischen Fakultät der Univ. St. Petersburg, leistete 1896/97 freiwilligen Militärdienst ab u. übersiedelte im Frühjahr 1898 nach München. Als Volontär bei der Münchner Rückversicherungsgesellschaft traf er Emy (Emilie Natalie) Thieme (1873–1960), eine Tochter des Direktors Paul (von) Thieme u. heiratete sie im Juni 1899. München wurde H. zur Wahlheimat. Frühe Gedichte mit Motiven aus der russ. Folklore sind in die Einzelreden (1903) eingegangen (Halle/Saale 1933). Entscheidend für H.s Durchbruch zur geistigen Selbstfindung u. sublimen Verstechnik wurde 1901 die Begegnung mit Stefan George u. dessen Kreis; George widmete ihm das Gedicht »An Henry« aus dem Siebenten Ring (1907). Seit 1903 war H. Mitarbeiter der »Blätter für die Kunst«. Das russ. Element in H.s Schaffen blieb diesem Kreis fremd. Die materielle Lage erlaubte es H., sich gänzlich der Literatur zu widmen. Nach dem Erwerb eines alten Bauernhauses 1905 (Haus Vorderleiten bei Brannenburg; später von August Endell umgestaltet) entfaltete H. ein reiches künstlerisches Leben mit Musikabenden, Lesungen u. Theateraufführungen. In Bayern sowie während der Aufenthalte in Berlin (Winter 1905/06 u. 1906/07) traf er G. Hauptmann, R. M. Rilke, H. v. Hofmannsthal, R. A. Schröder, E. Strauss, A. Moissi u. M. Reinhardt. In Vorderleiten entstand sein bühnenwirksames Vater-Sohn-Drama Peter und Alexéj (abgeschlossen 1906. Lpz. 1912. Urauff. Lpz. 1913); als eine Quelle der Inspiration diente H. Karl Immermanns Trilogie Alexis. Hier wird deutlich, auf welch tiefgründige Weise H. Verbindungen zwischen der ihm auch in den Originalfassungen zugängl. Überlieferung aus der russ. Geschichte u. der dt. literar. Tradition zu schaffen vermochte. Dieser Zugang ist wesentlich für sein gesamtes Schaffen. Von den zahlreichen Versuchen der Bearbeitung antiker Themen zeugt Die Rückkehr der Alkestis (1907). Mit seinem nächsten Stück, dem »märchenhaften Lustspiel« Die magische Laterne (1909. Mchn. 1919), kehrte er zur russ. Thematik zurück. Diesmal widmete er sich der Epoche des ersten Zaren, Iwan IV. (Schrecklichen), dem er menschlich-versöhnl. Züge verlieh. Angeregt
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von Kleists nicht ausgeführtem Bühnenprojekt, verfasste H. 1910 den psycholog. Einakter Die jungen Ritter von Sempach (Bln. 1930). 1911–1913 schloss H. seine bedeutendste Leistung als Übersetzer ab – die sprachgewaltige Übertragung der Dramen Alexander Puschkins ins Deutsche (Mchn. 1935). Die eigene dramaturgische Begabung H.s geht hier mit dem adäquaten Verständnis der russ. dichterischen Tradition einher. H.s Übersetzungen aus Puschkins lyr. Werk (Mchn. 1937) gehören ebenfalls zu den wertvollsten Zeugnissen der deutschsprachigen Rezeption des russ. Nationaldichters. Der Tod seines Vaters im Mai 1914 veranlasste H., zu seiner Familie in St. Petersburg zu fahren; während ihres Aufenthalts an der Finnischen Küste brach der Erste Weltkrieg aus. H. wurde als russ. Offizier in den aktiven Dienst in Nordrussland eingezogen, wobei seine zwei Söhne bis 1915, seine Frau bis 1916 bei ihm bleiben konnten, dann jedoch das Land über Schweden verlassen mussten. Dass Deutsche u. Russen in diesen Krieg getreten waren, bedeutete für H. eine schmerzl. Wunde, auch wenn das Schicksal ihm ersparte, direkt gegen die Deutschen kämpfen zu müssen. In jenen Jahren entstanden Gedichtzyklen (Die drei Engel. Mchn. 1926) u. zahlreiche Übersetzungen (W. B. Yeats); 1916 wurde Grischa abgeschlossen, ein Drama des »blinden und sinnlosen Weltleidens«, Dostojewskijs Untergrundwelt nahestehend, sowie H.s erste Erzählung über einen unheiml. Begleiter, der dem Offizier Kyrill Verderben u. Wahnsinn bringt. Die beiden Werke gelangten nach Deutschland u. wurden 1919 in München verlegt. Ein Zeugnis von H.s gequälter Seelenlage in »düsteren Zeitläufen« legt der Briefwechsel mit seiner Familie in Deutschland ab, den sein Sohn Bernt von Heiseler 1969 veröffentlichte. Nach der Oktoberrevolution 1917, dem Zerfall der Armee u. dem Kriegsende 1918 war es H. nicht möglich, den Militärdienst sofort zu quittieren; erst 1921 konnte er nach Petrograd zurückkehren. Am 23.8.1922 gelang ihm die Flucht nach Deutschland; am 2. Sept. sah er seine Familie in Brannenburg wieder, nach fast achtjähriger unfreiwilliger Abwesenheit aus Deutschland. In Haus Vor-
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derleiten schloss er sein bedeutendstes Trau- tes- und Kulturgemeinschaft, wie sie seit erspiel, Die Kinder Godunófs, ab, an dem er seit Leibniz immer wieder angestrebt und nie 1913 gearbeitetet hatte (Chemnitz 1929. verwirklicht wurde«. Urauff. Regensb. 1930), ferner das HochWeitere Werke. Hg. Bernt v. Heiseler: Verse. zeitsspiel Der junge Parzival (Mchn. 1927. Mchn. 1935. – Ges. Werke. 3 Bde., Lpz. 1937/38. – Urauff. Wuppertal 1933) u. das Adventsspiel Sämtl. Werke. Heidelb. 1965. – Zwischen Die Nacht der Hirten (Mchn. 1927). Überset- Deutschland u. Rußland. Briefe v. H. v. H. Heidelb. zungen von Dostojewskij, Leskow u. Tur- 1969. Literatur: Johannes v. Guenther: Erinnerungenjew folgten 1924. Besondere Freundschaft verband H. seit 1925 mit dem ebenfalls aus gen an Begegnungen u. Gespräche mit H. v. H. In: Petersburg stammenden Dichter u. Überset- H. v. H.: Aus dem Nachl. Mit der Totenmaske des Dichters u. einem Vorw. v. J. v. Guenther. Chemnitz zer Reinhold von Walter (1882–1965), der in 1929. – Bernt v. Heiseler: H. v. H. Sein Weg in den Vorderleiten ein Jahr verbrachte; Pläne für Werken. Radolfzell 1932. – Arthur Luther: Rußgemeinsame Übertragungen aus dem Russi- land im Schaffen H. v. H.s. In: Germanoslavica 3 schen (Puschkins Versroman Jewgenij Onegin) (1935), S. 128–134. – André v. Gronicka: H. v. H.: A konnten nicht realisiert werden. 1925 ent- Russo-German Writer. New York 1944. – B. v. stand Erlebtes aus Sowjetrußland. Zutiefst er- Heiseler: Lebenswege der Dichter. Gütersloh 1958. schütternd ist das Zeitdokument aus der Re- – Gerda Bell: H. v. H. as a Translator of English volutionszeit, die Novelle Wawas Ende (abge- Poetry. In: Monatshefte 60 (1968), S. 379–393. – schlossen 1926. Mchn. 1933): Ein junger Of- Helga Fleiss: Traum u. Wirklichkeit bei H. v. H. fizier, ins Gefängnis geworfen, erniedrigt u. Diss. Graz 1970. – B. v. Heiseler: Haus Vorderleiten. Stgt. 1971. – Erich Franz Sommer: ›... doch zum Tod verurteilt, überwindet seine Todiesmal kommt von osten nicht das licht ...‹ Stefan desangst durch die Besinnung auf seinen Le- George u. H. v. H. – das geistige Medium des alten bensweg u. die Verbundenheit mit der Rußland im Freundeskreis des Dichters. In: Neue Schöpfung. Die Exaktheit psycholog. Schil- Beiträge zur George-Forsch. 12 (1987), S. 51 f. derung legt nahe, dass H. viele Begebenhei- Nachgedruckt in: Russ. Spuren in Bayern. Portraits, ten aus den Kriegs- u. Revolutionsjahren be- Gesch.n, Erinnerungen. Hg. v. MIR e.V., Zentrum wusst aus dem erwähnten Erlebnisbericht russ. Kultur in München. Mchn. 1997, S. 99–114. – Fedor B. Poljakov u. Carmen Sippl: A. S. Pusˇ kin im von 1925 ausgeklammert hat. Die phys. u. seel. Leiden jener Zeit brachen Übersetzungswerk H. v. H.s (1875–1928). Ein euseine Gesundheit: H. starb an plötzl. Herz- rop. Wirkungsraum der Petersburger Kultur. Mchn. 1999. – Dies.n: Dramen der russ. Moderne versagen u. hinterließ zahlreiche nur im in unbekannten Übers.en H. v. H.s. Mchn. 2000. – Manuskript vorhandene Werke u. Entwürfe. Galina Potapova: ›Sie werden es nicht als eine UnDass sein Œuvre schließlich in gedruckter bescheidenheit verstehen ...‹. Bernt v. Heiseler als Fassung vorliegt, ist ein Verdienst seines Popularisator u. Herausgeber seines Vaters H. v. H. Sohnes Bernt von Heiseler. Er nahm erhebl. Teil 1. In: Germanoslavica 16 (2005), H. 2, Mühe auf sich, damit selbst unter den ideo- S. 169–195. log. Bedingungen des »Dritten Reiches« H.s Erich Franz Sommer † / Fedor B. Poljakov Übertragungen russ. Literatur erscheinen konnten. Die damals verbreitete, erzwungene Heißenbüttel, Helmut, * 21.6.1921 RüRhetorik (H. sei »kein Russe, der in deutscher stringen (heute: Wilhelmshaven), † 19.9. Sprache dichtete, sondern ein deutscher 1996 Glückstadt. – Lyriker, Erzähler, Dichter mit einer deutschen Seele«, FeststelHörspielautor, Essayist, Kritiker. lung aus dem Jahr 1935) kann die Existenz jener besonderen dt.-russ. kulturellen Welt in H. begann in den 1950er Jahren zu publizieH.s gesamtem Schaffen nicht negieren. Nach ren. Die Gedichtbände Kombinationen (EsslinWorten eines bedeutenden Übersetzers u. gen 1954) u. Topographien (Esslingen 1956) Literaturwissenschaftlers russlanddt. Her- stellen Reverenzen an traditionelle Schreibkunft, Arthur Luther (1876–1955), aus dem weisen dar; gleichzeitig aber wird dieses Jahr 1948 lieferte H. einen »Beweis für die Überlieferte bereits in Frage gestellt. Es hanMöglichkeit einer deutsch-russischen Geis- delt sich also – rückblickend – um Gedichte
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des Übergangs, die den Autor auf seinem Weg zu einer avancierten, von der Arbeit mit dem ›authentischen Material‹ inspirierten Literatur zeigen. H.s umfangreiches essayistisches u. literaturkrit. Werk umkreist den Gegensatz zwischen vorgefundenem u. erfundenem Material. Weil der Mensch im 20. Jh. nicht mehr als selbstständiges Subjekt gedacht werden kann, zerfallen (für H.) auch die zeitgenöss. literar. Texte in einzelne Splitter, deren Anordnung keiner Hierarchie mehr gehorcht. Es bilden sich dagegen gravitative semant. Zentren aus, die nach intensiver Lektüre einen Kontext erkennen lassen. Die Herstellung dieses Zusammenhangs bleibt aber dem Leser überlassen. H.s Literatur besitzt somit einen didakt. Einschlag; sie ruft den Rezipienten zur Eigentätigkeit auf. Die Grenzen zwischen Autor u. Leser werden durchlässig. Seine Affinität zu avantgardistischer Literatur, sein Faible für Autoren wie Gertrude Stein, Kurt Schwitters oder auch August Stramm, hat persönl. u. polit. Gründe. Die Literatur der Bilderstürmer, der radikalen Neuerer aus dem ersten Drittel des 20. Jh. war durch die NS-Herrschaft zwischen 1933 u. 1945 in Deutschland nicht zugänglich. Der Kriegsteilnehmer H., der 1941 im Russlandfeldzug seinen linken Unterarm verlor, beschreibt in autobiogr. angelegten Texten, wie er erstmalig (sogar noch im Krieg) auf diese von den Nationalsozialisten unterdrückten Werke aufmerksam wurde. Bereits während des Kriegs begann der Autor mit dem Studium der Architektur in Dresden, wechselte dann nach Leipzig mit den Fächern Germanistik, Kunstgeschichte u. Philosophie u. setzte seinen akadem. Weg nach dem Krieg in Hamburg fort. H.s Dissertation über den Anakreontiker Johann Nikolaus Götz blieb Fragment. 1955–1957 war er als Lektor in Hamburg tätig. Danach löste er Hans Magnus Enzensberger als Assistent von Alfred Andersch in der Redaktion »Radio-Essay« beim SDR ab. Von 1959 bis zu seiner Pensionierung 1981 leitete H. diese Redaktion. Starken Einfluss auf sein literar. Werk übte die Arbeit beim Rundfunk, die Tätigkeit im Literaturbetrieb, aus. Durchgehend erkennbar von den frühen sechs Text-
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büchern (Textbuch 1. Olten/Freib. i. Br. 1960. Weitere Bände fortlaufend nummeriert, ebd. 1961–67) bis über die drei Projekte hin zu den vier späten Textbüchern (Textbuch 8. Stgt. 1985. Fortlaufend nummeriert, ebd. 1986/ 87), sind die satir. Momente. H.s literar. Impuls besitzt hier entlarvenden Charakter. Er überprüft die Lauterkeit der Motive bei Protagonisten des Kulturbetriebs. Wem geht es um bloße Macht? Wer interessiert sich tatsächlich für die Sache, für Literatur? Wer will sich profilieren? Seine Großcollage D’Alemberts Ende (Projekt Nr. 1. Neuwied/Bln. 1970) bezeichnet er somit selbst als »Satire auf den Überbau«. H. trennt also Schein u. Wesen in einem System, in das auch er integriert ist. Dabei sind die Verweise meistens verschlüsselt; in vielen Fällen lässt sich nur erahnen, welche authent. Personen hinter der Fiktion stehen. Die Öffnung des autobiogr. Bezugsfelds stellt eines der Kernprobleme im Werk dieses Schriftstellers dar. Hatte H. vor allem in den sechziger Jahren versucht, seine Literatur des Zitats, seine polyphone Schreibweise mit der histor. Unmöglichkeit eines autonom formulierenden Subjekts zu begründen, so wird neben dieser objektiven eine subjektive Dimension deutlich. H. macht »Vorbehalte« – so ein Ausdruck, der häufig in seinen Texten auftaucht. Das Sprechen über die eigene Person fällt ihm schwer. Hier liegt auch der Grund für seine Überlegungen bezüglich einer »Literatur der Selbstentblößer« (enthalten in dem Band: Zur Tradition der Moderne. Neuwied/Bln. 1972). Für H. erfordert die konsequente Arbeit mit authent. Materialien, die Vermeidung imaginierender Verfahren, gleichzeitig den Rückgriff auf die autobiogr. Tatsachen. Gewährsmänner für diese Form der Selbstdarstellung waren für ihn Schriftsteller wie Henri Michaux, Henry Miller u. v. a. Michel Leiris. Die Auseinandersetzung mit dem »Ich« sorgte Mitte der siebziger Jahre für eine Zäsur im Werk des Autors; H. versuchte – manchmal fast gewaltsam –, die erwähnten »Vorbehalte« zu durchbrechen, um seine Erfahrungswelt unverschlüsselt zu interpolieren. Diese veränderte Schreibweise ist im Vergleich von Das Durchhauen des Kohlhaupts. Dreizehn Lehrgedichte. Projekt Nr. 2
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(Neuwied/Bln. 1974; enthält auch die Hör- hielt u. a. 1969 den Georg-Büchner-Preis, spiele) zum Projekt 3 mit den Bänden Eichen- 1970 den Hörspielpreis der Kriegsblinden u. dorffs Untergang und andere Märchen (Stgt. 1990 den Österreichischen Staatspreis für 1978), Wenn Adolf Hitler den Krieg nicht gewon- europäische Literatur. nen hätte (Stgt. 1979) u. Das Ende der Alternative Weitere Werke: Briefw. über Lit. (zus. mit (Stgt. 1980) deutlich erkennbar. Vor allem die Heinrich Vormweg). Neuwied/Bln. 1969. – GeleTextbücher der sechziger Jahre nutzte H., um genheitsgedichte u. Klappentexte. Darmst./Neudie gängigen Gattungsbegriffe zu hinterfra- wied 1973. – Die Goldene Kuppel des Comes Argen. Gleichzeitig verweigerte er ein Sprechen, bogast oder Lichtenberg in Hamburg. Stgt. 1979. – das die konventionellen grammat. Regeln Ödipuskomplex made in Germany. Gelegenheitsgedichte Totentage Landschaften 1965–1980. Stgt akzeptierte. Projekt 3 unterscheidet sich von 1981. – mehr ist dazu nicht zu sagen. neue herbste. diesen Versuchen; H. drosselt die sprachre- Stgt. 1983. – Schreibheft. Ztschr. für Lit. Nr. 67 (mit flexiven Momente zugunsten eines Erzäh- einem umfangreichen Dossier zu H.) Essen 2006. lens, das stärker auf den Transport von In- S. 101–192. – ›Neue Blicke durch die alten Löcher‹. halten vertraut. Außerdem greift er auf Gat- Ess.s über Georg Christoph Lichtenberg. Hg. u. tungen wie das Märchen oder die histor. Nachw. Thomas Combrink. Gött. 2007. – Über Benjamin. Hg. u. Nachw. T. Combrink. Vorw. Novelle zurück. Auch in seinem essayistischen Werk ent- Christina Weiss. Ffm. 2008. Literatur: Bibliografie: Armin Stein: Bibliogr. H. wickelt der Autor neue Perspektiven: Gaben die Sammelbände Über Literatur (Olten/Freib. H. Bielef. 1999. – Weitere Titel: Otto Lorenz: H. H. i. Br. 1966) u. Zur Tradition der Moderne noch In: KLG. – Bernd Hagelstange: Die Thematisierung forciert Auskunft über den Standort zeitge- der Sprache im zeitgenöss. Roman. Münster 1974. – Karl Heinz Köhler: Reduktion als Erzählverfahnöss. Literatur (u. deren Herkunft), so unterren in H.s Textbüchern. Ffm. 1978. – Heinz Ludsucht H. in dem Band Von fliegenden Fröschen, wig Arnold (Hg.): H. H. Mchn. 1981 (Text + Kritik. libidinösen Epen, vaterländischen Romanen, H. 69/70). – Christina Weiss (Hg.): Schrift écriture Sprechblasen und Ohrwürmern (Stgt. 1982) u. a. geschrieben gelesen. Für H. H. zum siebzigsten die Unterhaltungsliteratur des 19. Jh. auf die Geburtstag. Stgt. 1991. – Renate Kühn: Der poet. Antizipation psychoanalyt. Erkenntnisse. Imperativ. Interpr.en experimenteller Lyrik. Bielef. H. verfasste nach einem Schlaganfall 1987 1997 (enthält Interpr.en v. H.s ›der heilige Hain‹ u. nur noch wenige Texte. Nach dem zweiten ›konkretes Gedicht mit Carl Friedrich Krause und Hirnschlag, Ende 1990, der ihn bis zu seinem Aloys Blumauer‹). – Sabine Sanio: Alternativen zur Tod an den Rollstuhl fesselte, brach die Pro- Werkästhetik. John Cage u. H. H. Saarbr. 1998. – Thomas Combrink: Keine Elite, keine Auserwählduktion endgültig ab. – Er gehört zu den ten, keine Bescheidwisser. H. H. u. die Avantgarde. wenigen Autoren, die sowohl auf dichteri- In: Merkur (2007), H. 5, S. 421–424. scher als auch auf diskursiver Ebene BedeuThomas Combrink tendes geleistet haben. Sein Interesse galt dem diffizilen Verhältnis zwischen histor. Heitmann, Hans, * 5.1.1904 Groß-FlintSituation u. ästhetischem Ausdruck. H.s Bebek bei Kiel, † 4.9.1970 Lübeck. – Lehrer; deutung für die dt. Literatur nach 1945 liegt niederdeutscher Mundartdichter. in der Überprüfung eingeschliffener Redeweisen, in der Vermessung des literar. Nach Schulzeit u. Lehramtsstudium in Kiel Sprechraums, in der Skepsis gegenüber einer war H. als Sonderschullehrer in Holstein, unreflektierten Doppelung von Schreibver- Dithmarschen, Nordfriesland u. seit 1934 in fahren. Seine Wirkung geht dabei über den Lübeck tätig. Der produktive Autor wurde engen Rahmen der literar. Produktion weit durch niederdt. Komödien, Dramen u. allehinaus. Als Vermittler u. Förderer avancierter gor. Bühnenspiele bekannt. Im komischen Literatur hat er sich für Schriftsteller einge- wie im ernsten Genre stellt er meist Konflikte setzt, die für ein Offenhalten der literar. zwischen egoistischem Verhalten u. reiner Grenzen plädierten. Menschlichkeit dar. So wird in Kruut gegen H. nahm an den Treffen der Gruppe 47 teil Dood (Verden 1952) nach einem Märchen der u. war Mitgl. zahlreicher Akademien. Er er- Brüder Grimm in schlichter Sprache u. ohne
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dramat. Pathos geschildert, wie ein Arzt göttl. Verzeihung erlangt, nachdem er aus Liebe zu seiner sterbenden Frau den Tod um seinen Lohn betrogen hat. Im histor. Heimatroman Carsten Wulf. En Weg in’t Riek (Hbg. 1938) geht es um Konflikte zwischen persönl. u. gemeinschaftl. Interessen unter den Bewohnern eines Bauerndorfs bei Rendsburg, die in die dänisch-dt. Machtkämpfe um SchleswigHolstein zwischen 1848 u. 1864 hineingezogen werden. H. schrieb auch Balladen, eine Biografie (Theodor Storm. Stgt. 1940) u. zahlreiche Hörspiele. 1964 wurde er mit dem Stavenhagen-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke: Grise Wulf. Verden 1937 (D.). – Schimmelrieder. Verden 1938 (D.). – Fockenstedt. Verden 1939 (D.). – Staan un strieden. WolfshagenScharbeutz 1939 (Ballade). – Die Fehde. Stgt. 1939 (N.). – Die Flut. Stgt. 1942 (R.). – Isern Hinnerk. Hbg. 1947 (R.). – Olenklinten. Urach 1948 (R.). – Oprümen. Verden 1949 (D.). – Über das plattdt. Drama. Verden 1950 (Vortrag). – Blauen Maandag. Hbg. 1952 (E.). – De Windfahn. Verden 1955 (Kom.). – Rode Haan. Hbg. 1960 (E.). – Der Deich vor Horsbüll. Hbg. 1964 (E.). – Swart Schaap. Hbg. – Wellingsbüttel 1968 (N.). – Vertell mal wat, un wenn’t och lagen is. Neumünster 1968 (E.en). – De hölten Deern. Verden 1969 (D.). Matías Martínez
Helbig
Trilogie markiert H. hingegen die Grenzen literar. Ausdrucksmöglichkeiten. Auf experimentelle Weise verdeutlicht er in Die Lektüre (Aarau u. a. 1982), O (ebd. 1983) u. Anatomie der Nacht (ebd. 1985), wie sich rauschhafte Naturerlebnisse, die Grenzen zwischen Traum u. Wirklichkeit sowie die Chronologie der Ereignisse der Versprachlichung entziehen können. H. wurde u. a. mit Literaturpreis der Stadt Bern (1986), dem Literaturpreis des Kantons Bern (1989) u. den Preisen der Stadt (1988) u. des Kantons Zürich (1998) ausgezeichnet. Weitere Werke: Rahmenbedingungen/Les petits Riens (Ausstellungen v. Bild- u. Textzyklen zwischen 1978 u. 1980 in Zürich, Bern, Paris u. Chicago). – Satz zum Gesamtkunstwerk. In: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Hg. Harald Szeemann. Aarau u. a. 1984, S. 450–478 (Ess.). – Endzeit ohne Ende. Die Lust am Untergang. Aarau u. a. 1989 (Ess.). – Yoyo. Roman einer Liebe. Ebd. 1989. – Sommersprossen. Liebeserklärungen an die Ungleichzeitigkeiten der Sprache. Zürich 1996 (P). – Liliane u. Domian. Die ersten vierzehn Tage der Liebe. Ebd. 1997 (P). Literatur: Matias Martinez-Seekamp: A. V. H. In: KLG. Guido Stefani / Sabine Buck
Heiz, André Vladimir, * 27.8.1951 Langenthal/Schweiz. – Erzähler; bildender Künstler; Publizist.
Helbig, Johann Lorenz (Laurenz), * 12.3. 1662 Bischofsheim/Rhön, † 24.6.1721. – Katholischer Theologe u. Predigtschriftsteller.
H. studierte Literatur, Linguistik u. Semiotik in Zürich u. Paris u. promovierte 1976 mit der Studie Wie argumentiert Werbung? Zur verbalen und imaginalen Konzeption von Werbebotschaften (Mchn. 1978). Er arbeitet als bildender Künstler, Schriftsteller u. Dozent für angewandte Semiotik u. Theorie der Ästhetik. 2007 wurde H. Mitgl. der Jury des IngeborgBachmann-Preises. Wie in H.s wissenschaftl. Arbeiten ist das Grundthema seines Prosawerks das Verhältnis von Visuellem u. Verbalem. Der Versuch, das Nichtdarstellbare literarisch auszudrücken, ist gleichzeitig Thema u. Ziel von H.s Poetik. Die Novelle Knapp (Zürich 1993) beschreibt einen Spaziergang des Protagonisten als Versuch, unmittelbare Wahrnehmungseindrücke durch Verlangsamung sprachlich darzustellen. Mit den Romanen seiner Pariser
H. nahm am 25.12.1676 in Fulda das Studium auf, zugelassen zunächst in der Sodalitas minor, ab 1678 in der Poetikklasse der Sodalitas maior. Um sich der Theologie zu widmen, setzte er am 8.1.1681 sein Studium als fürstl. Stipendiat in Würzburg fort. 1686 zum Priester geweiht u. zunächst Kaplan in Dettelbach, war er 1688–1690 Pfarrer zu Geiselwind u. wurde über mehrere Stationen in fränk. Städtchen für 18 Jahre – nun bereits Dr. theol. – Stadtpfarrer von Kissingen u. Dechant des Landkapitels Münnerstadt, schließlich mit dem Titel eines hochfürstl. Geistlichen Rats. Als letztes Amt versah er die Pfarrei in Haßfurt u. das Dekanat Gerolzhofen. Zu H.s Hinterlassenschaft gehören eine Sammlung von Marienpredigten u. ein zweibändiger Sonn- u. Feiertagszyklus über
Helbling
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Tugenden u. Laster u. d. T. Weiß und Schwarz Helbling, Seifried. – In der Forschung (Nürnb. 1699/1700), ein Band Leichpredigten üblicher Verfassername für eine spätmitTraurige Gedancken zur nutzlichen Zeit-Vertrei- telalterliche Sammlung von zeitkritischen bung (Nürnb. 1704), ein Festivale Alveare Ca- u. satirischen Dichtungen. tholicum [...] Das ist: Catholisches Bien-Haus Die Wiener Papierhandschrift 2887 (ÖNB) aus (Nürnb. 1714) u. ein Dominicale Anatomia dem ausgehenden 16. oder frühen 17. Jh. canis mystica et moralis. Das ist: Die Eigenschaffüberliefert 15 Reimpaargedichte, deren Entten eines Hunds (Würzb. 1720). Im Alveare castehung sich überwiegend aufgrund relativ tholicum u. in der Anatomia canis greift H. die präziser zeitgeschichtl. Anspielungen auf die Tiersymbolik des geistl. Schrifttums des MA Jahre zwischen 1282 u. 1299 datieren lässt. auf. Er erweist sich als ungemein belesen u. Nur einer der Texte (XV) ist auch in einer eloquent, verstand jedoch auch, die Predigtannähernd zeitgenössischen kleinformatigen themen dem Kirchenvolk mundgerecht darPergamenthandschrift erhalten. Der Name zubieten, indem er häufig an die jeweiligen für die Sammlung wurde aus Gedicht XIII Bräuche des Jahres anknüpfte u. seine Moabgeleitet, in dem der Erzähler einen Brief rallehren mit geistl. Historien, weitausgedes verlotterten u. mittlerweile verstorbenen sponnenen Tierfabeln u. Schwänken exemHofspielmanns »Seifrit Helblinch« mitteilt, plifizierte. Unliebsames Aufsehen bei seinen der vorbildhafte Adlige der jüngeren VerVorgesetzten erregte die anonym erschienene gangenheit mit ihren Wappen beschreibt, auf Beschwerdeschrift Parochus duodenario pressus Romanhelden Wolframs von Eschenbach beoder Erzählung der 12 Hauptbeschwernisse eines zieht u. mit den saufenden Raubgesellen der Pfarrers (o. O. 1719) über die ungenügende Ausbildung von Amtsbrüdern u. andere Gegenwart kontrastiert. Der fingierte Status kirchl. Missstände wie auch die eigene Ar- der (Binnen-)Erzählerrolle ist hier wie anbeitsüberlastung. Vom Kaplan verraten, dernorts evident u. lässt keine Rückschlüsse wahlweise zum Verlust der Ratsinsignien auf die Biografie des anonymen Autors zu. Dieser entwickelt in seinen Gedichten eine oder zu 100 Talern Geldstrafe verurteilt, zog umfassende Zeitkritik, die sich anfangs v. a. H. es vor, zu zahlen. gegen die Habsburger richtet, in anderen Ausgabe: Textausw. in: Bayer. Bibl. [...]. Bd. 2. Texten aber auch die Landherren betrifft u. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1986, S. 821–828, generell in beißender oder subtil iron. Form 1256. polit., rechtl. u. soziale Zustände der GegenLiteratur: Walter Mahr: Gesch. der Stadt Bad Kissingen. Kissingen 1959, S. 123 f. – Predigtmär- wart aufs Korn nimmt. Ihnen wird im Sinne lein der Barockzeit. Hg. Elfriede Moser-Rath. Wien mittelalterl. Moral- u. Ständekritik die ›gute 1964, S. 79, 347–371 (Textauszüge), 492–495. – Vergangenheit‹ entgegengehalten. Die PerKat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. spektive ist oft diejenige des niederen Adels, Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, Nr. 187, 211; wobei sich bes. Affinität zu einigen niedeBd. 2, Wien 1987, S. 651 f. – E. Moser-Rath: Dem rösterr. Fürstengeschlechtern wie den KuenKirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel ringern zeigt, in denen der Erzähler eine ansüddt. Barockpredigten. Stgt. 1991 (Register). – Urs sonsten vergangene »werdekeit« (XIII, 29) Herzog: Ein Barocker Geistl. Ganspfeffer. Die fortleben sieht. Acht der Dichtungen (I-IV, Martini-Predigten des J. L. H. (1662–1721). In: VIII-X, XV) schließen sich formal durch die MLN 106 (1991), S. 675–684. – Ders.: Geistl. Wohlredenheit. Die kath. Barockpredigt. Mchn. Rahmensituation des lehrhaften Dialogs 1991 (Register). – E. Moser-Rath: Kleine Schr.en zwischen Ritter u. Knecht zusammen, den zur populären Lit. des Barock. Gött. 1994 (Regis- der Autor selbst u. d. T. Kleiner Lucidarius (1, ter). – Barbara Scheicher: Dr. J. L. H. u. sein Werk 29) stellt. Themen sind hier die richtige ›Traurige Gedancken zur nutzl. Zeit-Vertrei- Nutzung von Reichtum, die Suche nach dem bung ...‹. Ein Beitr. zur Untersuchung barocker wahren Österreicher, Klage über VerschiePredigergestalten u. ihres literar. Schaffens. In: bungen innerhalb der Stände, Überfremdung Würzburger Diözesangeschichtsbl. 60 (1998), u. Sittenverfall, persönl. Unbehagen u. VerS. 391–419. Elfriede Moser-Rath † / Red. zweiflung, teilweise ins Religiöse gewendet
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Held
(IX, X). Das Verhältnis zwischen Herr u. Umgebung des Stiftes Zwettl. Göpp. 1995. – ZeKnecht ist, ohne dass eine stringente Ent- man Gesch., Tl. 1, S. 264–276. – Inés de la Cuadra: wicklung feststellbar wäre, einfallsreich vari- Diskurse über soziale Mobilität im Spiegel von iert: Ein Text zeigt die beiden in einer Ge- Fiktion u. Historie. In: ZfdPh 119 (2000), S. 75–97. Christian Kiening richtssitzung, bei der personifizierte hohe Werte wie Wahrheit, Zucht u. Ehre peinlich befragt werden (II), der darauf folgende sie in Held, Franz, eigentl.: F. Herzfelde, * 30.5. einer detailliert ausgemalten Badehausszene, 1862 Düsseldorf, † 4.2.1908 Valduna/ die eigentlich Erholung bringen soll u. doch Vorarlberg; Grabstätte: Berlin-Frieddie vorherigen Anklagen wieder aufgreift richsfelde. – Dramatiker, Erzähler, Lyri(III). Auch ihr Verhältnis wandelt sich, wird in ker. ein Zerwürfnis u. eine Wiederbegegnung Nachdem H., Sohn eines Fabrikbesitzers, bis hineingeführt, dann auch ganz in die Erin- 1886 in Bonn, Leipzig, München u. Berlin nerung verlagert (IV). Jura u. Literaturgeschichte studiert hatte, Kürzere religiöse Gedichte (XI: Ave Maria, lebte er als freier Schriftsteller u. a. in MünXII: Gebet), eine Psychomachie (VII), eine chen, Berlin, Paris, Venedig. Seit ca. 1890 gerichtl. Klage Österreichs (v. 6: »ich armez geisteskrank, wurde er 1900 in eine Anstalt in lant«) ergänzen das Bild eines vielseitigen, Tirol eingewiesen. engagierten u. krit. Œuvres, das souverän H., Vater von John Heartfield u. Wieland verschiedene literar. Formen zum Einsatz Herzfelde, gehörte zum weiteren Umfeld des bringt u. verschiedene Wirklichkeitsebenen Friedrichshagener Kreises, war Mitgl. des einander durchdringen lässt (bes. IV, 91 ff.). Vereins »Durch« um Leo Berg u. Eugen Wolff So wie der Erzähler zwischen Vergangenheit u. häufiger Beiträger für Conrads »Gesellu. Gegenwart, Literatur u. Realität wechselt, schaft«. Der zeit- u. sozialkrit. Zündstoff des so zieht er auch das Publikum in sein Spiel als einziger Teil seiner Revolutionstrilogie mit der Fiktion hinein. Selbstbewusst spricht Massen erschienenen Vorspiels (Bln. 1889) u. er davon, Wolfram von Eschenbach habe sei- des sozialen Dramas Manometer auf 99! (Bln. ne Helden Gahmuret u. Parzival nie gesehen, 1893) führte zu ihrem sofortigen Verbot nach während ihm selbst die gegenwärtigen wohl der Uraufführung. bekannt wären (XIII, 78 ff.) – doch die AusWeitere Werke: Gorgonenhäupter. Lpz. 1887 sage stammt aus der Feder des Spielmanns H. (L.). – Der abenteuerl. Pfaffe Don Juan oder Die u. schillert wie die Zeitkritik aus dem Mund Ehebeichten. Das ist: Eines Stadtbuhlers Sündnis u. des Knappen, die treffend ist u. von seinem Läuterung. Lpz. 1889 (R.). – Eine Afrikareise durch Herrn doch als zu scharf eingestuft werden das Marsfeld. Pariser Ausstellung 1889. Bln. 1890 kann. Der Verfasser, namenlos bleibend, be- (R.). – Groß-Natur. Bln. 1893 (L.). – trotz alledem! Bln. 1894 (autobiogr. E.en). – Au delà de l’eau. nennend u. verschleiernd, konnte sich so die Gesch.n u. Walzertacte vom Boul’ Mich’. Bln. 1898 Option offenhalten, hinter den Masken zu (E.en). Ulrich Rose verschwinden. Ausgabe: S. H. Hg. Joseph Seemüller. Halle/ Saale 1886. Nachdr. Hildesh. 1987.
Held, Heldt, (Johann) Friedrich Wilhelm Literatur: J. Seemüller: Studien zum Kleinen (Franz), * 11.8.1813 Neisse, † 26.3.1872 Lucidarius (S. H.). Wien 1883. – Ingeborg Glier: S. Berlin. – Politischer Publizist, Dramatiker H. In: VL. – Ursula Liebertz-Grün: S. H. Satiren u. Erzähler. kontra Habsburg. Mchn. 1981. – Dieter Vogt: Ritterbild u. Ritterlehre [...] im sog. ›S. H.‹. Ffm. u. a. 1985. – Gerhard Wolf: Die Kunst zu lehren. Studien zu den Dialoggedichten (›Kleiner Lucidarius‹) der ›S. H.‹-Sammlung. Ffm. u. a. 1985. – Helmut Birkhan: Ständedidaxe u. Laienmoral in der österr. Lit. des SpätMA. In: Zeman 1 (1986), S. 367–397. – Reinhold Hangler: S. H. Ein mhd. Dichter aus der
Der Offizierssohn H. brach nach fünf Jahren seine militärische Laufbahn ab u. wurde 1836 zunächst Schauspieler, dann freier Schriftsteller u. Journalist. In Leipzig gab er seit 1842 mit Otto von Corvin die Zeitschrift »Locomotive« heraus, ein liberal-demokratisches Blatt, das in hoher Auflage bis zum
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endgültigen Verbot 1849 unter wechselnden Held, He(i)nrich, * 21.7.1620 Guhrau/ Titeln erschien. Ebenfalls mit Corvin gab er Schlesien, † 16.8.1659 Stettin. – Jurist u. die achtbändige Illustrierte Weltgeschichte (Bln. Lyriker. 1844–52) heraus. Ab 1848 lebte H. in Berlin u. nahm aktiv In Guhrau, dessen bürgerl. Oberschicht sein (mit federgeschmücktem Hecker-Hut) an der Vater entstammte, begann H.s schul. Ausbil48er-Revolution teil. Daneben veröffentlichte dung. Sie wurde in Glogau, dann in Fraustadt er eine Reihe zeitkrit. polit. Schriften, für die u. 1637/38 auf dem Gymnasium in Thorn er mehrfach inhaftiert wurde. Zeitgenossen fortgesetzt. Sein mehrmals unterbrochenes bescheinigten ihm ein großes agitatorisches Rechtsstudium in Königsberg (29.10.1638 – Talent. Allerdings geriet er durch aufwändige 1640), Frankfurt/O. (Wintersemester 1642) u. Lebensführung u. den Anschein unsteter, Rostock (1647) beendete H. in Greifswald, wo durch private Launen bestimmter polit. Hal- er sich 1648 mit einer Disputatio juridica de tung ins Zwielicht. Wiederholt sah sich H. dilationibus (Praeses: Petrus Stephani) qualifidem nie ganz ausgeräumten Verdacht ausge- zierte. Eine Zuwendung des Herzogs Gustav setzt, agent provocateur zu sein. Bis 1850 war Adolf von Mecklenburg-Güstrow ermöglicher Redakteur des »Volksblatts«; danach te ihm 1650 eine Bildungsreise durch Holschrieb er Theaterkritiken u. gab die Zeit- land, Frankreich u. England. H. hatte dem schrift »Theatralia« heraus. Ab 1863 wieder jugendl. Fürsten eine Lucretie (Leiden 1649) verstärkt politisch tätig, vertrat er die Inter- gewidmet. 1651 kehrte er als Advokat nach essen der Arbeiterpartei in der »Berliner Fraustadt zurück, doch veranlassten ihn 1657 Staatsbürger-Zeitung«. Er geriet wiederum polit. Unruhen, nach Altdamm bei Stettin in den Verdacht, im Sold der Regierung zu abzuwandern. Dort war er zunächst Stadtsestehen, u. verlor jegl. Einfluss. 1871 gründete kretär u. wurde 1658 Kämmerer u. Ratsherr. H.s Hoffnung, in der Nachfolge von Opitz er die sozialistisch orientierte »[Alte Heldsche] Staatsbürger-Zeitung«, nachdem er sich – neben Andreas Tscherning u. Simon Dach – mit seinem vorherigen Arbeitgeber über- zu literar. Bedeutung zu gelangen (vgl. seine worfen hatte. H.s wenige Dramen (z.B. Liebe. Vorrede zu Sechsverse. o. O. [Küstrin] 1658), hat Erfurt 1841) u. Romane (Der Justizmörder. 3 sich nicht erfüllt; seine Dichterkrönung Bde., Bln. 1867) greifen sozialkritisch poli- (durch Petrus Götze) ist nicht sicher bezeugt. Anscheinend wurde er auch während seiner tisch relevante Themen auf. Weitere Werke: Johanna d’Arc. Saarbr. 1836 Studienzeit in Königsberg von Dach nicht (Trag.). – Preußens Helden. Biogr. Monumente für persönlich gefördert. Die Anregung zum Preußens brave Soldaten. 6 Bde., Erfurt 1841. – Schreiben kam in dieser Zeit von dem Studi1813, 1814, 1815. Erfurt 1841 (Schausp.). – enfreund u. späteren Kirchenlieddichter JoFreundschaft. Erfurt 1842 (Trag.). – Irrfahrten ei- hann Franck. Mehrere an Franck gerichtete nes Komödianten. Erfurt 1842 (autobiogr. R.). – Gedichte bezeugen dessen Einfluss. Die AbGesch. des Revolutionszeitalters 1789 bis 1850. lehnung, die H.s Erstlingswerk Deutscher GeLpz. 1850. – Dtschlds. Lehrjahre oder dt. Revoludichte Vortrab (Frankf./O. 1643. 21649) im tionsgesch.n 1848–60. Bln. 1859. Freundeskreis erfuhr, veranlasste ihn, jahreLiteratur: Karl Griewank: F. W. H. u. der vullang zu verstummen. gäre Liberalismus [...]. Diss. Rostock 1922. – Kurt H.s erneute Hinwendung zur Literatur erKoszyk: Das Bild des Demagogen im Berliner tollen folgte 1647 unter der Gönnerschaft TscherJahr 1848. F. W. H.s publizist. Tätigkeit während der Märzrevolution. In: Publizistik 5 (1960), nings. Als Professor an der Universität RoS. 156–170. – Wilmont Haacke: F. W. H. In: NDB. – stock sorgte dieser dafür, dass H., der seit Goedeke Forts. Ulrich Rose 1643 ohne Studienabschluss in Stettin tätig war, sein juristisches Studium in Rostock fortsetzen konnte, aber auch gleichzeitig dort einen Lehrauftrag erhielt (collegia poetica). Im folgenden Jahr entstand sein bekanntestes Gedicht, Poetische Lust und Unlust (Königsb.
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1650), in dem er – in Opitz’ Sinne – Dichtung als göttlich inspirierte Kunst verteidigte, für das gesellschaftl. Ansehen des Dichters eintrat u. scharf gegen geschäftsgewandte Kasualpoeten vorging, die ihr »schmierig Pech« als »Nectarsafft« verkauften. Noch Gottfried Wilhelm Sacer sah in H. einen Gesinnungsgenossen u. setzte dessen Poetische Lust und Unlust seiner satir. Schrift Reime dich / oder ich fresse dich (Nordhausen 1673) voran. Auch Erdmann Neumeister fand lobende Worte für H. Von den religiösen Gesängen des Vortrab haben sich zwei als Kirchenlieder bis in die Gegenwart gehalten. Ausgabe: Fischer/Tümpel 1, S. 360–366. Literatur: Johann Caspar Wetzel: Hymnopoeographia, oder, histor. Lebens-Beschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter. [Tl. 1]. Herrnstadt 1719, S. 406 f. – Jentsch: H. H. In: ADB. – Goedeke 3, S. 164 f. – E. Krause: Zur Lebensgesch. H. H.s. In: Monatsschr. für Gottesdienst u. kirchl. Kunst 4 (1899), S. 42 f. – Hdb. zum EKG 2, 1, Nr. 101. – Heiduk/Neumeister, S. 48, 183, 372. – DBA. – Ulrich Maché: H. H. (1620–1659): Misere zwischen Lorbeerkranz u. ›Nesselstrauch‹. In: Chloe 10 (1990), S. 351–366. – Hans-Jürgen Kalberlah: H. H. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 22001, S. 137 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 825–827. Ulrich Maché / Red.
Held, Kurt ! Kläber, Kurt Heldenbuch. – Sammlung spätmittelalterlicher Heldendichtung. Im Jahr 1479 erschien in Straßburg, vermutlich in der Offizin von Johann Prüß d.Ä., ein 282 Blatt starker, mit 230 Holzschnitten üppig bebilderter Druck im Folioformat, der sich in der Titelschrift als der helden bu8 ch / das man nennet den wolfdieterich vorstellt. Mit H. ist im zeitgenöss. Sprachgebrauch nicht unbedingt Heldendichtung gemeint – auch ein Roman wie Wolframs von Eschenbach Parzival konnte so genannt werden –, doch handelt es sich hier tatsächlich um eine Sammlung von Heldenepik. Und gerade durch diesen Druck u. seine Nachfolger ist dem Wort schließlich die terminolog. Bedeutung zugewachsen, in der es sich in der Germanistensprache eingebürgert hat: Sammelausgabe
von Heldendichtung. Der Druck vereinigt vier solcher Werke aus dem 13. Jh.: Ortnit, Wolfdietrich (warum das H. gerade nach ihm benannt wird, ist nicht ganz klar), Rosengarten zu Worms, Laurin. Die Epen werden eingerahmt von einer gereimten Vorrede, die das Buch dem geneigten Leser empfiehlt, u. der Heldenbuch-Prosa: einem im Stil der zeitgenöss. Chronistik gehaltenen, historisch-genealogisch-geografisch ausgerichteten Prosabericht über das Zeitalter der Helden, seinen Beginn, seine wichtigsten Gestalten u. Ereignisse, sein Ende (die Prosa wird in der älteren Forschung auch »Vorrede« oder »Anhang zum Heldenbuch« genannt – »Vorrede« deshalb, weil sie in einer Handschrift u. in der Druckausgabe von 1590 tatsächlich am Anfang steht u. auch in zwei Exemplaren des Erstdrucks irrtümlich als erste Lage eingebunden ist). Die vier Epen sind typische Vertreter der spätmittelalterl. Heldendichtung, in der sich das heroische Geschehen in einer bunten, oft bizarren, von Riesen, Zwergen, Drachen bevölkerten Abenteuerwelt abspielt; im Ortnit/Wolfdietrich-Komplex treten dazu noch die literar. Erfolgsschemata von Brautwerbung u. Orientfahrt mit Heidenkämpfen. Die Zusammenstellung der Texte hat Zykluscharakter: Wolfdietrich ist der Rächer des von einem Drachen getöteten Ortnit u. Erbe seiner Frau u. seines Reichs; am Ende des Wolfdietrich öffnet sich die zykl. Perspektive genealogisch auf den Stoffkreis um Dietrich von Bern: Dietrich u. seine wichtigsten Gesellen sind Nachkommen von Wolfdietrich u. dessen Mannen. Handlungsmäßig verzahnt sind jedoch nur die Geschichten von Ortnit u. Wolfdietrich; Rosengarten u. Laurin bleiben selbstständig u. sind nur über die Gestalten des Helden u. seiner Gesellen sowie durch das gemeinsame Motiv des Kampfes in einem Rosengarten verbunden. Über die auf stoffl. Zusammenhang gerichtete Konzeption hinaus lässt sich wenigstens ansatzweise auch ein Bemühen erkennen, die von alters her unter einem gewissen Legitimierungsdruck stehende, von Gelehrten u. Geistlichen als lügenhaft u. unnütz angeschwärzte Heldendichtung für ein Programm der Unterweisung u. Lebensorientierung nutzbar zu machen, wie es das zeitgenöss. Literaturver-
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Die H.-Drucke haben wesentlich dazu beiständnis beherrscht u. in der Vorrede ausgetragen, dass die Kenntnis der mhd. Heldrücklich formuliert wird. Als H. im terminolog. Sinn repräsentiert dendichtung auch im 17. u. 18. Jh. niemals der Druck einen Überlieferungstypus von ganz verlorenging. Im späten 18. u. frühen Heldendichtung, der damals schon auf eine 19. Jh. waren sie dann ein Ausgangspunkt für lange handschriftl. Tradition zurückblicken die sich entwickelnde germanistische Helkonnte. Die älteste, nur in wenigen Frag- densagenforschung. Von ihnen ist schließlich menten erhaltene H.-Handschrift stammt aus auch die Bezeichnung H. für eine Reihe von der ersten Hälfte des 14. Jh. Die wichtigsten Sammlungen mhd. Heldendichtung (Editiogehören in die nächste zeitl. Nähe des Erst- nen u. Bearbeitungen) im 19. u. frühen 20. Jh. drucks: das (nach dem heutigen Aufbewah- abgeleitet. Ausgaben: Das dt. H. Hg. Adelbert v. Keller. rungsort so genannte) Dresdner Heldenbuch, um 1472 von einem gewissen Kaspar von der Stgt. 1867. Neudr. Hildesh. 1966 (Abdr. der Texte Rhön u. einem oder zwei weiteren Schrei- des Erstdrucks). – H. Hg. Joachim Heinzle. 2 Bde., Göpp. 1981–87 (Bd. 1: Faks. des Erstdrucks. Bd. 2: ber(n) vielleicht in Nürnberg für Herzog Komm., Bibliogr.). – Die H.-Inkunabel v. 1479. Alle Balthasar von Mecklenburg geschrieben; das Exemplare u. Fragmente in 350 Abb.en. Hg. Walter Heldenbuch des Linhart Scheubel, eines Nürn- Kofler. Göpp. 2003. berger Bürgers, für den die Handschrift etwa Literatur: J. Heinzle: Heldenbücher. In: VL 1480/90 angefertigt wurde; das Heldenbuch des (Bibliogr.). – Jens Haustein: Der Helden Buch. Zur Diebolt von Hanowe, eines Straßburger Gold- Erforschung dt. Dietrichepik im 18. u. frühen 19. schmieds, der die Handschrift wohl um 1480 Jh. Tüb. 1989. – J. Heinzle: Einf. in die mhd. geschrieben hat. Die Textauswahl dieser u. Dietrichepik. Bln./New York 1999, S. 41–50. Joachim Heinzle weiterer H.-Handschriften ist im einzelnen unterschiedlich, doch enthalten sie alle, soweit erkennbar, Ortnit/Wolfdietrich u. (aven- Heldenbücher ! Ambraser Heldenbuch tiurehafte) Dietrichepik. Die Handschrift des ! Dresdner Heldenbuch ! Scheubel, Diebolt von Hanowe entspricht in ihrem Linhart (Heldenbuch) heldenepischen Hauptbestand mit Heldenbuch-Prosa (als Vorrede), Ortnit, Wolfdietrich, Helding, Michael, * 1506 LangenenslinRosengarten, Laurin, Sigenot (einem weiteren gen (Hohenzollern), † 30.9.1561 Wien. – Dietrichepos) weitgehend dem Druck u. führt Katholischer Theologe, Prediger. mit einer zweiten Straßburger Handschrift H. studierte seit 1525 in Tübingen, wo er (von 1476) auf einen Straßburger Prototyp. 1528 zum Magister promoviert wurde. H. Das verlegerische Wagnis, den hand- leitete seit 1531 die Mainzer Domschule u. schriftl. Überlieferungstypus in eine auf- war dort seit 1533 Dompfarrer. Er wurde wändige Druckausgabe umzusetzen, hat sich 1537 durch Kardinal Albrecht von Brandenoffenbar gelohnt. Die Beliebtheit der Stücke, burg zum Weihbischof u. 1538 von Papst die Fülle u. die hervorragende Qualität der Paul III. zum Titularbischof von Sidonien Holzschnitte u. vielleicht auch das auf Nut- ernannt, woher H.s Beiname Sidonius rührt. zen der Lektüre gerichtete Programm haben 1540 nahm er am Wormser Religionsgedas Werk anscheinend zu einem Publikums- spräch teil. 1543 wurde er in Mainz zum Dr. erfolg gemacht. Schon 1491 druckte es der theol. promoviert u. 1545 als Gesandter AlAugsburger Drucker Johannes Schönsperger brechts von Brandenburg auf das Trienter nach, u. im 16. Jh. erlebte es noch vier Neu- Konzil geschickt, nahm jedoch nur an den ausgaben: 1509 durch Heinrich Gran in Ha- ersten beiden Sitzungen teil, da ihn Erzbigenau (für Johann Knobloch in Straßburg), schof Sebastian von Heusenstamm bereits im 1545 durch Heinrich Steiner in Augsburg, Jan. 1546 zurückrief. Von Kaiser Karl V. auf 1560 durch Weigand Han u. Sigmund Feier- den Reichstag von Augsburg 1547/48 beruabend in Frankfurt/M. u. 1590 abermals fen, wirkte H. dort als kontroverstheolog. durch Sigmund Feierabend in Frankfurt/M. Prediger u. nahm (mit Julius Pflug u. a.)
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maßgeblich an der Ausarbeitung des Augsburger Interims teil. Von 1550 an war H. der letzte kath. Bischof von Merseburg u. war bestrebt, das altgläubige Bekenntnis zu restituieren, was ihm den Widerstand der mehrheitlich reformatorisch gesinnten Geistlichkeit u. Gemeinden eintrug. 1555 u. 1556 nahm er am Augsburger bzw. Regensburger Reichstag teil u. beteiligte sich am Wormser Religionsgespräch (1557), woraufhin Kaiser Ferdinand H. 1558 zum Mitgl. des Reichskammergerichts in Speyer sowie 1561 zum Vorsitzenden des Reichshofrats in Wien ernannte. Dieses Amt hatte H. freilich nur kurz inne. Er wurde im Stephansdom zu Wien beigesetzt. Den größten Teil von H.s literar. Œuvre machen Predigtsammlungen aus, so z.B. die auf dem Augsburger Reichstag gehaltene Predigtreihe (Von der hailigsten Messe. 1548), die 1542–1544 im Dom zu Mainz gehaltenen u. mehrfach gedruckten Katechismuspredigten (Catechismus Christliche Underweißung. 1551), die Homilien über den Propheten Jona (Jonas propheta. 1558) sowie die EvangelienPostille (1565). H. hat darüber hinaus einen mehrfach aufgelegten Katechismus unter dem Titel Brevis institutio ad Christianam Pietatem verfasst (1549). Sowohl H.s Predigten über die Messe als auch seinem Katechismus ließ Matthias Flacius eine »Widderlegung« (beide 1550) angedeihen. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Klaiber, Nr. 1467–1485. – Anton P. Brück: M. H. In: NDB. – Ernst Reiter: M. H. In: TRE. – Heribert Smolinsky: M. H. In: Kath. Theologen der Reformationszeit 2. Hg. Erwin Iserloh. Münster 21996, S. 124–136. Johann Anselm Steiger
nig in distanzierter Du-Rede auf Schulzeit u. homosexuelle Initiation zurück, um zuletzt zu einem befreienden »Ich« zu finden. Diesen Prozess der Selbstfindung setzt H. im Roman Cohn & König (Ffm. 1998) fort, indem er Königs Freundschaft mit dem weltgewandten, älteren Kunsthändler Pierre Cohn als eine unruhige, existenzielle Fluchtbewegung erzählt, die H. am Ende mit »du Idiot – ich liebe dich!« abschließt. Beide Romane zeichnen sich durch kunstvoll arrangierte, gewundene Satzschlaufen aus, die hin u. wieder leicht ins Manieristische kippen. Die Figur Florians spielt nochmals eine Rolle im Novellenband Nicht zu zweit (Ffm. 2005): Die Mutter verlässt das Kind ohne Gutenachtkuss. Diese melanchol. Reminiszenz verrät, dass H. gerne auf klass., an Thomas Mann oder Proust erinnernde Motive anspielt. Immer wieder mischt sich H. auch kulturkritisch in aktuelle Diskussionen ein. 2006 löste er selbst mit Die Verschwulung der Welt (Ffm.) eine brisante Debatte aus. Im Dialog mit dem libanes. Autor Rashid al-Daif befragt er pointiert das Verständnis der Homosexualität in der europ. resp. arab. Kultur u. provoziert so klärende Missverständnisse. H. erhielt 1992 u. 1999 den Literaturförderungspreis der Freien u. Hansestadt Hamburg, 1998 den Literaturpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie u. 2000 den Literaturpreis der Irmgard-Heilmann-Stiftung. Weitere Werke: Nicht Himmel, nicht Meer. Ffm. 2002 (R). Literatur: Wolfgang Bunzel: J. H. In: LGL. – Bernhard Viel: J. H. In: KLG. Beat Mazenauer
Heliand. – Leben-Jesu-Dichtung in gut 6000 altsächsischen Stabreimversen, am Schluss unvollständig erhalten; entstanden wohl im Auftrag Ludwigs des FromNach Abschluss des Anglistikstudiums in men (814–840).
Helfer, Joachim, * 26.8.1964 Bonn. – Prosaautor.
Hamburg unternahm H. ausgedehnte Reisen, bevor er sich 2001 als freier Autor u. Journalist in Berlin niederließ. Reisen spielen in den Romanen von H. eine tragende Rolle u. verbinden sich mit dem Genre des Bildungsromans. In seinem autobiografisch geprägten Erstling Du Idiot (Mchn. 1994) blickt der Erzähler Florian Kö-
Lateinische, anonyme Nachrichten des 9. Jh. über das Werk sind wahrscheinlich in der Prosa-Präfatio u. den sog. Versus de poeta einer heute verschollenen, aber noch für Naumburg nachweisbaren Handschrift erhalten, in welcher der H. gestanden haben kann u. weitere altsächs. Dichtung zu Stoffen des AT
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gestanden haben muss, insbes. vielleicht die Altsächsische Genesis. Präfatio u. Versus sind nur separat durch die Druckpublikation des luth. Theologen Matthias Flacius Illyricus bewahrt, der sie 1561 in der zweiten Auflage einer Sammlung alter histor. Zeugnisse herausgab, die er für die Wahrheit der luth. Lehre in Anspruch nahm. Die Zugehörigkeit von Präfatio u. Versus zum H. (und zur as. Genesis) ist wahrscheinlich, aber nicht definitiv gesichert. Die Präfatio stimmt das Lob eines »Ludovicus piissimus Augustus« an, der sich v. a. den rechten Glauben seines Volks angelegen sein lasse. Insbesondere sei es vor kurzem auf sein Betreiben hin u. unter seiner Regierung, aber zgl. durch Gottes Allmacht u. Veranlassung geschehen, dass die Hl. Schrift im vorliegenden Werk der ganzen, ihm untergebenen volkssprachigen (»Theudisca loquens lingua«) Bevölkerung erschlossen worden sei, während sie vorher nur den lat. Gebildeten zugänglich war. Diese Stelle wurde in neuerer Zeit (Haubrichs) auch so verstanden, dass auf Betreiben Ludwigs, noch zur Zeit der Reichseinheit, das Volk den Zugang zu den Hl. Schriften erhalten hätte usw. Das würde voraussetzen, dass der Text nach der Reichsteilung von 843, damit unter Ludwig dem Deutschen (843–876), geschrieben wurde. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand (Hummer, vgl. auch Hellgardt, Präfatio) ist diese These nicht mehr aufrecht zu halten. Im folgenden berichtet die Präfatio davon, dass Ludwig einem Mann aus dem Sachsenstamm, der bei den Seinen als bedeutender Dichter galt, aufgetragen habe, das AT u. NT poetisch in die »lingua Germanica« zu übertragen. Gehorsam u. bescheiden sei der Dichter dem Auftrag umso lieber gefolgt, als er schon vorher durch göttl. Ermahnung zu dem mühevollen Werk angehalten worden sei. Die Hauptereignisse beider Testamente habe er gestaltet, indem er sich an die geschichtl. Wahrheit der Bibel gehalten u. gelegentlich auch deren tieferen Sinn ausgemalt habe. Wie in volkssprachiger Dichtung üblich, sei das Werk in Fitten, d.h. in Vorleseoder Sinnabschnitte unterteilt. Es heißt auch, dass der bisher des Dichtens unerfahrene Autor im Traum zur Gestaltung der Bibel
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nach der Art volkssprachiger Dichtung ermahnt worden sei. Die Versus de poeta besingen, Versatzstücke lat. Hirtendichtung verarbeitend, das einfache Leben eines bescheidenen Ackerbauern u. Rinderhirten, der eines Tages im Schlaf von einer himml. Stimme angerufen wird, die ihn als Dichter anspricht u. ihm befiehlt, der Reihe nach die göttl. Gesetze u. Lehren in poetischem Vortrag in die Volkssprache zu übertragen. Mit dem Wunder dieser Berufung wird aus dem Bauern alsbald ein Dichter. Seine Gedichte beginnen mit der Erschaffung der Welt, durchlaufen fünf Weltzeitalter u. reichen bis zum sechsten, in welchem Christus die Welt mit seinem Blut erlöste. Diese Erzählung greift ein internat. Mirakelmotiv auf, dessen Vorbild in manchen, aber nicht in allen Zügen wohl in der Caedmonlegende des engl. Kirchenschriftstellers Beda († 735) zu suchen ist. Beda erzählt in seiner verbreiteten angelsächs. Kirchengeschichte (IV, 24) von der wunderbaren Berufung des zum Singen bis dahin gänzlich unfähigen, illiteraten Landarbeiters Caedmon, der im Traum die göttl. Berufung zum volkssprachigen Dichter erfährt u. zum Begründer der angelsächs. geistl. Dichtung wird. In den Vorreden zur altsächs. Bibeldichtung werden der H. u. sein Dichter einerseits relativ zu einer speziellen histor. Situation (Autor, Auftraggeber, Funktion der Dichtung) gesehen. Andererseits wird die altsächs. Bibelepik hier theologisch, d. h. überhistorisch absolut legitimiert als Ergebnis göttl. Handelns mit den Menschen, für welches das jederzeit mögl. Wunder göttl. Inspiration entscheidend ist, während die Einzelheiten seiner histor. Konkretisation nebensächlich bleiben. Die Versus repräsentieren nur den theolog. Aspekt, in der Prosa sind der literarhistor. u. der theolog. Aspekt miteinander verwoben. Dies mag das Ergebnis einer redaktionellen Abstimmung der urspr. voneinander unabhängigen Stücke sein. Doch was unter rein histor. Aspekt als Widerspruch erscheinen kann, ist nach dem Selbstverständnis der Vorreden in der überlieferten Form aufgehoben durch die Absolutheit des Transzendenten. Dem herrscherl. Auftrag
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zur volkssprachigen Bibeldichtung geht die göttl. Berufung zeitlich u. dem Verbindlichkeitsgrad nach voran. Die poetische Konzeption für sein geistl. Werk erwächst dem Dichter einzig u. allein aus göttl. Berufung u. Inspiration. Wenn er schon vorher als bedeutender Poet gegolten hat, kann das nur aufgrund profaner Dichtung aus seinem Munde zutreffen. Während also vom theolog. Aspekt her die Vorreden eine widerspruchsfreie Grundlage für das Verständnis des H. im historisch-typolog. u. funktionalen Sinn bieten, bereitete die Identifikation des Auftraggebers Schwierigkeiten u. damit auch die genauere Datierung des Werks u. eine konkrete Einordnung des anonymen Autors. Gewöhnlich – und jetzt wieder (Hummer) – sah man in dem »Ludovicus piissimus Augustus« der Präfatio Ludwig den Frommen, wobei man sich u. a. auf die kaiserl. Titulatur bezog. Der H. ließe sich dann auf dessen Regierungszeit datieren, u., da er nachweislich den 822 abgeschlossenen Matthäuskommentar des Hrabanus Maurus benutzt, noch genauer auf die Zeit zwischen 822 u. 840. Nimmt man aber an, dass die Vorrede auf die karoling. Reichsteilung von 843 Bezug nimmt, so kann nur Ludwig »der Deutsche«, seit 843 König des karoling. Ostreichs, gemeint sein. Dass – sehr sporadisch – auch auf ihn die kaiserl. Titulatur angewandt werden konnte, lässt sich nachweisen. Aber diese Sicht würde bedeuten, dass nach Meinung der Vorrede Ludwig als literar. Auftraggeber kaiserl. Herrschaftsfunktionen ausübte, bevor ihm diese de facto zukamen. Überliefert ist der H. in den mehr oder weniger vollständigen Handschriften M u. C, in zwei Fragmenten sowie einem Exzerpt, das zgl. Auszüge aus der Altsächsischen Genesis tradiert. Außer C sind alle Handschriften um 850 oder wenig später entstanden. Für M wurde Entstehung im Kloster Corvey im Weserbergland erschlossen. Über verwandtschaftl. Beziehungen der Corveyer Äbte lässt sich ein Weg des Besitzerwechsels der Handschrift bis zu den späten Ottonen am Beginn des 11. Jh. rekonstruieren, welcher zgl. als Spanne der mittelalterl. Rezeptionsgeschichte des Werks verstanden werden kann. Ein entsprechendes Zeugnis bietet die Hand-
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schrift C, die in der zweiten Hälfte des 10. Jh. in England von einem angelsächs. Schreiber nach kontinentaler Vorlage kopiert wurde. Im Hintergrund werden auch hier die Ottonen mit ihren familiären Bindungen zum angelsächs. Adel gestanden haben, wie sich auch sonst noch Spuren otton. Rezeption der angelsächs. Bibeldichtung nachweisen lassen. – Sprachlich zeigt bereits die Überlieferung um 850 deutl. Überformungserscheinungen des für das Original anzusetzenden Altsächsisch. Im Sinne einer Frühdatierung des Werks lassen sie sich als Folge eines bereits längeren Überlieferungsprozesses verstehen. Wo man von der Spätdatierung ausging, wurde die Erklärung konstruiert, dass der Text des Originals auf zentrale Veranlassung hin von Anfang an in unterschiedl. dialektaler, auf verschiedene Gegenden des sächs. Sprachraums zielender Aufbereitung verbreitet worden sei. Stoffauswahl u. -anordnung geben zu erkennen, dass sich der gelehrte Dichter an der Evangelienharmonie des syr. Kirchenschriftstellers Tatian (2. Jh.) orientiert. Darüber hinaus hat er die im 9. Jh. gebräuchl. Bibelauslegungen, bes. den Matthäuskommentar des Hrabanus Maurus, benutzt. Da die lat. Musterversion des Tatian im frühen 9. Jh. in Fulda vorhanden war u. in den 820er Jahren unter Hraban als Abt auch ins Althochdeutsche übersetzt wurde, hat man an Entstehung des H. unter Hrabans Einfluss in Fulda gedacht. Eine genauere Lokalisierung mit den Mitteln der histor. Dialektologie stößt auf Schwierigkeiten. Paläografische Argumente für Kloster Werden an der Ruhr haben nach neuerem Forschungsstand sehr an Überzeugungskraft verloren. Die epochale Bedeutung der H.-Dichtung liegt darin, dass sie die Tradition christl. Bibelepik der lat. Spätantike fortsetzt, welche die Gattung des heidn. antiken Epos der lat. Klassik im Sinne einer »sacra poesis« christlich erneuert hatte. Fortsetzung dieser Tradition höchsten literar. Anspruchs bedeutet im H. aber zgl. Übertragung in das neue, literarisch innovative Medium der Volkssprache gegenüber dem konventionellen Latein literar. Bildung u. darüber hinaus Verschmelzung der schriftliterar. Sprachkultur
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lat. Bibelepik mit der mündl. Sprachkultur traditioneller volkssprachiger Dichtung. Wenn die lat. Bibelepik der Spätantike die (pseudo-)religiös polit. Gattung röm. Staatsepik im christlich universalen Sinn umgewertet hatte, so wiederholt sich dieser Vorgang unter neuem Vorzeichen, indem im volkssprachigen Bibelepos des H. die germanisch heidn., traditionell anonyme Epik nicht nur aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit, sondern zgl. aus dem Heidentum ins Christentum überführt wurde. Man kann dem H. bei aller Rückgebundenheit an die Poetik mündlich-german. Dichtungstradition durchaus die Aufgabe der Glaubensfestigung der erst vor kurzem christianisierten, noch 842 im Stellinga-Aufstand von heidn. Reaktion bedrohten Sachsen zuschreiben. Im Rahmen der altsächs. Bibelepik stellt er typologisch, literarhistorisch u. überlieferungsgeschichtlich keine isolierte Erscheinung dar. H. wie Altsächsische Genesis stehen vielmehr in Zusammenhang u. Wechselwirkung mit der wesentlich reicher überlieferten angelsächs. Bibeldichtung. Dafür ist u. a. die Anknüpfung an die Caedmonlegende als Zeugnis zu werten. Die gemeinsamen, diese Dichtung entscheidend konstituierenden Merkmale sind die Form des german. Stabreimverses, für den durch Neumennotation in der Handschrift M gesangl. Vortrag des H. bezeugt ist, u. der Gebrauch eines poetischen Formelschatzes, der aus der Tradition gemeinsamer, vorliterarisch mündl. Sprachkultur ererbt war. Dass der Dichter illiterat gewesen sei, wie neuerdings wieder erwogen wird (Haferland), ist deshalb nicht anzunehmen. Als Publikum der altsächs. Bibelepik wird man sich innerhalb u. außerhalb von Klöstern u. Domstiften illiterate oder literarisch wenig gebildete Laien, insbes. auch Frauen, vornehmlich aus dem Adelsstand vorstellen können. Die in der Präfatio erwähnten Kapitelüberschriften, unter denen man sich wohl die lat. Capitula bibl. Texte vorstellen muss, sind ein Indiz u. a. dafür, dass aber durchaus auch an gebildete Leser/Vorleser als Rezipienten gedacht war. Die gestalterische Intention des H.-Dichters zielt auf Anpassung des Stoffs an die traditionellen Stil-, Denk- u.
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Lebensformen der sächs. Adelskultur im 9. Jh., ohne dass dadurch der christl. Gehalt u. das christl. Ethos des Evangeliums in Frage gestellt wird. Berührungsängste gegenüber allem Germanischen, wie sie in der gegenwärtigen dt. Forschung manchmal auftreten, sind unangebracht. Ausgaben: H. Hg. Eduard Sievers. Halle 1878. – Hiervon: Titelaufl. vermehrt um das Prager Fragment des ›H.‹ u. die vatikan. Fragmente v. ›H.‹ u. ›Genesis‹. Halle 1935. – ›H.‹ u. ›Genesis‹. Hg. Otto Behagel. 10., überarb. Aufl. v. Burkhard Taeger. Tüb. 1996. – Der ›H.‹. Abb.en zur Überlieferung. Hg. ders. Göpp. 1985. – Hans Ulrich Schmid: Ein neues ›H.‹-Fragment der Universitätsbibl. Leipzig. In: ZfdA 135 (2006), S. 180–209. Literatur: Johanna Belkin u. Jürgen Meier: Bibliogr. zu Otfrid v. Weißenburg u. zur altsächs. Bibeldichtung (›H.‹ u. ›Genesis‹). Bln. 1975. – B. Taeger: H. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1,1). Ffm. 1988, S. 330–348. 2., durchges. Aufl. Tüb. 1995, S. 272–292. – Franz H. Bäuml: Verschriftlichte Mündlichkeit u. vermündlichte Schriftlichkeit. Begriffsprüfungen an den Fällen ›H.‹ und ›Liber Evangeliorum‹. In: Ursula Schaefer (Hg.): Schriftlichkeit im frühen MA. Tüb. 1993, S. 254–266. – G. Ronald Murphy: The Saxon savior. The Germanic transformation of the gospel in the ninth-century H. New York 1995. – James E. Cathey: Die Rhetorik der Weisheit u. Beredtheit im altsächs. ›H.‹. In: Literaturwissenschaftl. Jb. N.F. 37 (1996), S. 31–46. – Klaus Gantert: Akkomodation u. eingeschriebener Komm. Untersuchungen zur Übertragungsstrategie des H.dichters. Tüb. 1998. – W. Haubrichs: H. u. altsächs. Genesis. In: Reallexikon der german. Altertumskunde 14 (1999), S. 297–308. – Ute Schwab: Die vielen Kleider der Passion. Ihr Wechsel im ›Tatian‹ u. im ›H.‹ u. auf dem Ruthwell Cross. In: W. Haubrichs u. a. (Hg.): Theodisca. Beiträge zur ahd. u. altniederdt. Sprache u. Lit. in der Kultur des frühen MA. Eine internat. Fachtagung in Schönmühl bei Penzberg, vom 13. bis 16. März 1997. Bln. u. a. 2000 (Reallexikon der german. Altertumskunde, Erg.-Bd. 22), S. 207–259. – Harald Haferland: Der Haß der Feinde. German. Heldendichtung u. die Erzählkonzeption des ›H.‹. In: Euph. 95 (2001), S. 237–256. – Thomas Klein: Altsächsisch oder altniederländisch? Zur Frage des Helianddichters. In: Vulpis Adolatio. FS Hubertus Menke zum 60. Geburtstag. Hg. Robert Peters u. a. Hei-
Hell
243 delb. 2001, S. 375–384. – H. Haferland: Mündl. Erzähltechnik im ›H.‹. In: GRM 52 (2002), S. 237–259. – H. Haferland: War der Dichter ›H.‹ illiterat? In: ZfdA 131 (2002), S. 20–48. – W. Haubrichs: Ludwig der Deutsche u. die volkssprachige Lit. In: Wilfried Hartmann (Hg.): Ludwig der Deutsche u. seine Zeit. Darmst. 2004, S. 203–232. – Ernst Hellgardt: Die ›Praefatio in librum Antiquum lingua Saxonica conscriptum‹, die ›Versus de poeta & interprete huius codicis‹ u. die altsächs. Bibelepik. In: Albrecht Greule u. a. (Hg.): Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach. Heidelb. 2004, S. 173–320. – Hans Hummer: The Identity of Ludouicus piisimus augustus in the praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum. In: Francia 31,1 (2004), S. 1–14. – Yasuchi Kawasaki: Eine graphemat. Untersuchung zu den H.-Hss. Mchn. 2004. – Augustyn Prisca: Thor’s hammer and the power of God. Poetic strategies in the old Saxon ›H.‹ gospel. In: Daphnis 33 (2004), S. 33–51. – Alexander Scheufens: Begriffe des Ethischen im ›H.‹. In: ABäG 60 (2005), S. 51–66. – Heinrich Tiefenbach: Beobachtungen zu makrostrukturellen Gliederungssignalen in den ›H.‹-Hss. In: Strukturen u. Funktionen in Gegenwart u. Gesch. FS Franz Simmler. Hg. Claudia Wich-Reif. Bln. 2007, S. 351–369. – Heike Sahm: Neues Licht auf alte Fragen. Zur Stellung des Leipziger Fragments in der Überlieferungsgesch. des H. In: ZfdPh 126 (2007), S. 81–98. Ernst Hellgardt
Hell, Bodo, * 15.3.1943 Salzburg. – Verfasser von experimenteller Prosa, Theaterstücken u. Hörspielen. H. studierte am Mozarteum in Salzburg Orgel, an der Akademie für Musik u. darstellende Kunst in Wien das Fach Film u. Fernsehen u. an der Universität Wien Philosophie, Germanistik u. Geschichte. Er lebt als freier Schriftsteller in Wien u. arbeitet als Senner auf steir. Almen. H.s erste literar. Publikation, Dom. Mischabel. Hochjoch. Drei Bergerzählungen (Linz 1977), ist keine Bergsteiger-Erlebnisliteratur, vielmehr will der Autor die Affinität von Körperu. Sprachbewegung vorführen. Sprache wird auf Bewegungsabläufe, Formen u. Brüche untersucht, Wortbedeutung durch assoziativen Gedankenstrom hinterfragt. Die Verbindung von Text u. Fotografie bestimmt die Spuren- u. Strukturensuche in H.s Stadtschrift (Linz 1983), einer Collage von Werbeschrif-
ten, Straßenschildern, Geschäftsportalen, Geu. Verboten u. anderen optisch-semant. Signalen. Material wird auch hier gegen- u. nebeneinandergestellt bzw. assoziativ gereiht. Die 2003 erschienene Sammlung von »Lese- & Sprechtexten«, Tracht : Pflicht (Mit zwei Bildreihen von Hil de Gard. Graz/Wien), enthält Texte zu beiden themat. Schwerpunkten der Literatur H.s: Fundstücke aus der Natur (u. a. »vom Hunerkogel zum Stoderzinken«, »Wegbeschreibung«) u. der urbanen Welt (u. a. »Stichwort Stadt«) werden zu Sprachkonvoluten verschnitten, montiert. Zu seinem (anti-)literar. Verfahren heißt es in H.s Dankesrede zum Erich-Fried-Preis 1991: »also dann überhaupt keine Mimesis mehr, weder Vorstellung noch Nachahmung, das geschieht hie in der Literatur des Fakts, also in einer Wendung zum wirklichen Gegenstand und das geschieht da in der Anonymität von Collage- und Zitationsverfahren, also in einer Wendung vom Bezeichneten weg zum Bezeichnenden hin [...].« Als einen »Griff ins emblematische Alltagstheater« verstand H. sein 1995 im Rahmen des »steirischen herbstes« uraufgeführtes Theaterstück Herr im Schlaf, dem das Sprechstück Tassen im Schrank (Urauff. Salzb. 1996), Gold im Mund. Stück für Tänzer, 2 Sprecherinnen und 1 Sprecher (Urauff. Salzb. 1999) u. Mohr im Hemd. Stück für 2 Paare und einen Wirt/ Hirt (Urauff. bei den 30. Rauriser Literaturtagen 2000) folgten. In der »Racheoper« Ria nackt (Musik: Renald Deppe. Urauff. Krems 2002) setzte er sich mit dem Ariadne-Mythos auseinander. Intensiver als jene in Pflaster (zus. mit Johann Kräftner. St. Pölten 1980) u. Stadtschrift betonen die Fotos in H.s späteren Arbeiten die zwischen Text u. Bild bestehende Spannung: In der Erzählsammlung 666 (Wien/ Graz 1987) sind Fotos von Markierungen des Wanderwegs 666 als Gliederungspunkte in den Text eingebaut; der Band Gang durchs Dorf: Fingerzeig (Hg. Franz Krahberger. Weitra 1992) illustriert anhand von Aufnahmen mit der Panoramakamera einen Text von Friederike Mayröcker. Zu einem anderem Medium in Beziehung gesetzt wird die Sprache der Literatur u. a. in den Prosabänden wie geht’s? (Wien/Graz 1989) u. mittendrin (Graz/Wien
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1994), in denen die einzelnen Textblöcke durch Piktogramme bzw. Strickbilder von Hil de Gard ergänzt werden. H. wirkte an mehreren Filmproduktionen mit; er gestaltete u. a. Linie 13 A (Saarländischer Rundfunk 1981) u. 1 Häufchen Blume 1 Häufchen Schuh (ORF 1990), einen Film über Friederike Mayröcker, u. war Darsteller in dem Animationsfilm Im Anfang war der Blick (2002) von Bady Minck. H. erhielt u. a. 1972 den Rauriser Literaturpreis, 1991 den Erich-Fried Preis, 1998 den Berliner Literaturpreis, 1999 den Preis der Stadt Wien für Literatur, 2003 den Preis der Literaturhäuser u. 2006 den TelekomAustria-Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Weitere Werke: Zwettl Gmünd Scheibbs (zus. mit Liesl Ujvary). ORF 1974 (Hörsp.). – Aber ich aber ich (zus. mit L. Ujvary). RIAS Berlin 1976 (Hörsp.). – Kopf an Kopf (zus. mit L. Ujvary). NDR 1978 (Hörsp.). – Akust. Porträt (zus. mit L. Ujvary). SDR 1981 (Hörsp.). – Autorenmusik. SDR 1982 (Hörsp.). – Larven Schemen Phantome / der Donner des Stillhaltens (zus. mit Friedrike Mayröcker). Wien/Graz 1986 (P.). – Ziegenmelken. ORF 1989 (Hörsp.). – Rede über so etwas: Lit. In: die wirkl. Möglichkeiten. Zwei Reden zum Erich-Fried-Preis 1991 (zus. mit Ernst Jandl). Graz/Wien 1992, S. 5–16. – In allen Strophen geläufig. Geschrieben u. gezeichnet v. Martin Lachmair. Wien 1993 (Textinterventionen zu 23 Chorälen des Orgelbüchleins v. Johann Sebastian Bach). – 2 x 2. Sprechhaltungen. ORF 1996 (Hörsp.). – Geeister Tee oder Geistertee u. Man zehrt ja davon. ORF 1996. – An der Wien. Holzschnitte v. Linde Waber. Text u. Fotos v. B. H. – Ma(h)lzeit. Bilder v. L. Waber u. Hil de Gard. Horn 1997. – die Devise lautet. Wien 1999 (E.). – Das Gericht – Ein Gedicht. Dokumentierte KochKunst grenzüberschreitend (zus. mit Hil de Gard u. L. Waber). Wien 2000. – Augenklappe (zus. mit Otto Saxinger, Fotos). Hg. Christian Steinbacher. Linz/Wien 2000. – im prinzip gilt. Wien 2001 (E.). – dableib/wegwill. Offsetlithographien v. Ernst Skricˇka. Horn 2001. – Ariadne im Garn. Ria nackt. Eine Racheoper (zus. mit Renald Deppe u. Othmar Schmiderer). Wien 2002. – innen ein bild. Kunstobjekte v. Kurt Straznicky. Wien 2002. – Tracht : Pflicht. Urauff. Salzb. u. Graz 2003 (Performance). – Auf der Alm ... (zus. mit Eva Kreissl u. Franz Mandl). Trautenfels 2004. – Mein Radio u. ich (O-Ton). ORF 2004 (Hörsp.). – Singende Eisen, Spangen u. Gleise (zus. mit Anton Bruhin, Michel Mettler u. Peter Weber). HR
244 2005 (CD). – Donna Juanna. Musiktheater für 6 Musiker, Sprecher u. eine Frauenstimme. Urauff. Rauris 2006. – Admont Abscondita. Denk-Bilder aus der barocken Klosterbibl. (zus. mit Norbert Trummer). Weitra [2008]. – Nothelfer. Graz/Wien 2008. Literatur: Sigurd Paul Scheichl: Thematisierung v. parole u. Sprachnorm in experimentellen Texten. Am Beispiel v. Elfriede Czurda, Liesl Ujvary, B. H. In: Thematisierung der Sprache in der österr. Lit. des 20. Jh. Hg. Michael Klein u. S. P. Scheichl. Innsbr. 1982, S. 135–153. – Ernst Jandl: Laudatio auf B. H. anläßlich der Verleihung des Erich Fried Preises 1991 [...]. In: B. H. u. ders.: die wirkl. Möglichkeiten, a. a. O., S. 17–36. – Ernst Grohotolsky: Eine kleine Autorenrede. Interview. In: Provinz, sozusagen. Österr. Literaturgesch.n. Hg. ders. Graz/Wien 1995, S. 119–129. – Dagmar Winkler: Die neo-kybernet. Lit. Amsterd./Atlanta, GA 1996. – Manfred Mittermayer: Die Sprach-Welt des B. H. In: ›Moderne‹, ›Spätmoderne‹ u. ›Postmoderne‹ in der österr. Lit. Hg. Dietmar Goltschnigg u. a. Wien 1998, S. 155–179. – Ping+Pong. B. H. im Porträt. SALZ. Ztschr. für Lit. 28 (2003), H. 112. – Tobias Lehmkuhl: B. H. In: LGL. – M. Mittermayer: B. H. In: KLG. Kristina Pfoser-Schewig / Bruno Jahn
Hell, Theodor, eigentl.: Karl Gottlieb Theodor Winkler, * 9.2.1775 Waldenburg/Sachsen, † 24.9.1856 Dresden. – Dramatiker, Lyriker, Erzähler, Übersetzer, Herausgeber, Kritiker. Nach Jura- u. Geschichtsstudium in Dresden ansässig, durchlief der Sohn eines Geistlichen bis 1812 verschiedene Ämter im Staatsdienst. Während der russ. Besatzung war er der verbliebenen sächs. Regierungskommission zugeordnet u. Schriftleiter beim »Generalgouvernementsblatt«. Mit dem russ. Hofratstitel seit 1814 Intendant der Bühnen von Dresden u. Leipzig, wurde er nach der Rückkehr des Königs Theatersekretär, kurz darauf zgl. Sekretär bei der Akademie der bildenden Künste. Inzwischen auch sächs. Hofrat, wirkte er 1825–1832 als Regisseur an der ital. Oper. 1841 erfolgte seine Ernennung zum Vizedirektor des Hoftheaters, wo er zuvor schon in der Dramaturgie »schädlichen Einfluß« (Tieck) auf die Geschmacksbildung des Publikums genommen hatte.
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Heller
Als Schriftsteller wie als literar. Organisator Heller, André, eigentl.: Franz H., * 22.3. erstreckte sich H.s rastlose Geschäftigkeit auf 1947 Wien. – Poet, Sänger, Komponist, sämtl. Gattungen. Dabei übertraf der Erfolg Schauspieler, Regisseur, Impresario. seiner Gedichte (Lyratöne. 2 Bde., Dresden 1821) den der spärlicheren Prosa bei weitem. Der Sohn eines Wiener Süßwarenfabrikanten Seine bevorzugte Domäne aber war die Büh- war Schauspielschüler u. 1967 Rundfunkne, für die er, neben zahlreichen eigenen moderator in Wien. Seine in üppiger MetaStücken (z.B. Lustspiele. 2 Bde., Lpz. 1805 f.), phorik schwelgenden Chansons (›sie nennen über 100 geschickte, doch unbedeutende Be- mich den messerwerfer‹. lieder, worte, bilder. Ffm. arbeitungen zumeist frz. Dramen u. Libretti 1974) – H. produzierte zwischen 1967 u. 1985 lieferte (Bühne der Ausländer. 3 Bde., Dresden 14 LPs – u. impressionistischen, teils auto1819/20. Dramatisches Vergißmeinnicht. 26 biogr. Prosaminiaturen (Auf und davon. ErBde., Dresden 1823–49). Unter H.s sonstigen zähltes. Hbg. 1979. Schattentaucher. 61 BeÜbersetzungen ist die von Camões’ Lusiade schreibungen aus dem Leben des Ferdinand Alt. (zus. mit Friedrich Adolph Kuhn. Lpz. 1807) Ffm. 1987. Mchn. 2003. Schlamassel. Ffm. künstlerisch am wertvollsten. Großen Fleiß 1993) entwerfen Traum- u. Fantasiewelten u. entwickelte er auch als Mitarbeiter repräsen- zeichnen ein melancholisch-skurriles Bild tativer Taschenbücher u. Almanache, von von Wien. Das barocke Zaubertheater, der frz. denen er einige selbst herausgab (z.B. »Pe- Kinopionier Georges Meliès u. der Filmemanelope«. Lpz. 1811–13. 1815–48). Insbeson- cher Federico Fellini inspirierten H. zu dere aber verbindet sich H.s Name mit seiner spektakulären Großaktionen u. artistischen führenden Stellung im (seit 1814 bestehen- Revuen wie »Circus Roncalli« (Es werde Zirkus. den) »Dresdener Liederkreis« (urspr. »Dich- Ein poetisches Spektakel. Ffm. 1976), Flic Flac. ter-Thee«), einer Hochburg der trivialen Ein poetisches Varieté (Mchn. 1981. 2., veränPseudoromantik. 1817–1843 (bis 1821 zu- derte Fassung. Wien 1982), »Theater des sammen mit Friedrich Kind) redigierte er das Feuers« (Die Trilogie der möglichen Wunder. Organ des Kreises, die vielgelesene »Abend- Wien/Bln. 1983), Begnadete Körper. Großmeister Zeitung«, die, sich bewusst auf harmlose der Akrobatenschulen von Anhui und Peking Unterhaltung beschränkend, rasch als »Sym- (Nördlingen 1986), Luna Luna (Mchn. 1987), bol der grauen Mittelmäßigkeit« (Laube) in Jagmandir. Traum als Wirklichkeit. Das exzentrische Privattheater des Maharana von Udaipur Verruf geriet. Weitere Werke: Lottchen. Lpz. 1803 (E.). – (Wien 1991) oder Afrika! Afrika! Das magische Neue Lustsp.e. 5 Bde., Lpz. 1807–17. – Neue Ly- Zirkusereignis vom Kontinent des Staunens (Wien/ ratöne. Braunschw. 1830 (L.). – Übersetzungen: Ma- Mchn. 2005). zeppa. Ein Gedicht v. Lord Byron. Lpz. 1820. – In dem autobiografisch gefärbten Buch Wie Oberon. König der Elfen. Romant. Feenoper v. ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein. Eine ErzähJames Robinson Planché. Dresden/Lpz. 1826. – lung (Ffm. 2008) schildert H. das Leben eines Mitübers.: Exoteren oder das Neueste u. Anzie- Heranwachsenden, der sich mühsam ein hendste aus der Unterhaltungslit. des Auslandes. Selbstwertgefühl erarbeitet, wissend, »daß Dresden/Lpz. 1835 f. – Herausgeber: Neue E.en für die Lösung das Verwirklichen meiner Vorhäusl. Zirkel. 6 Bde., Lpz. 1811–17. – Komus. Lpz. 1815 u. 1817/18. – Tgb. der dt. Bühnen. Dresden stellungen sein muß als Gegenmittel gegen 1816–35. – Das Liebhabertheater. Eine Slg. für die Ängste«. H. entwickelte zahlreiche Gartenkonzepte Privatbühnen u. Liebhabertheater. Dresden 1846. Literatur: Hermann Anders Krüger: Pseudo- (u. a. ›Giardino Botanico‹ der Fondazione romantik. Friedrich Kind u. der Dresdener Lieder- André Heller in Gardone Riviera) u. entwarf kreis. Lpz. 1903, bes. S. 134–138. – Hellmut für die 20. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie Fleischhauer: T. H. (Winkler) u. seine Tätigkeit als (24 Bde., 1998) die Buchdeckel mit mehreren Journalleiter, Herausgeber, Übersetzer u. am eingelassenen kleinen Acrylschaukästen, die Theater. Diss. Mchn. 1930. Hans-Rüdiger Schwab von außen sichtbare, jeweils ein Stichwort des betreffenden Bandes verkörpernde Objekte enthalten. 2002 gewann der 2000 entstande-
Heller
ne Dokumentarfim über Hitlers Sekretärin Traudl Junge, Im toten Winkel (zus. mit Othmar Schmiderer), den Panorama-Publikumspreis der Berlinale. 2003 produzierte H. mit Jessye Norman in Paris das Theaterstück Erwartung / La Voix Humaine. 2004 wurde er für die Retrospektive Ruf und Echo (3 CDs, Wien 2003) mit dem Amadeus Austrian Music Award ausgezeichnet. Weitere Werke: King-Kong-King-MayerMayer-Ling. Ein Stück Theater. Urauff. Wien 1972. – Die Ernte der Schlaflosigkeit in Wien. Wien/ Mchn./Zürich 1975 (Anth.). – Die Sprache der Salamander. Lieder 1971–1981. Mit einem Vorw. v. Gert Jonke. Hbg. 1981 (mit Discografie). – Himmelszeichen. Flying sculptures. Mit einem Essay v. Jürgen Kesting. Mchn. 1986 (Dokumentation). – Sitzt ana, u. glaubt, er is zwa. Verlorengeglaubte Gelegenheitsgedichte (zus. mit Helmut Qualtinger). Wien 1996. – Die Zaubergärten des A. H. Wien 1996. – Wallfahrten zum Allerheiligsten der Phantasie. Lieder, Prosa, Tagebücher. Hg. u. mit einem Nachw. v. Walter Rösler. Bln. 1990. – Als ich ein Hund war. Liebesgesch.n u. weitere rätselhafte Vorfälle. Bln. 2001. – Augenweide. Der Garten der Gärten. (zus. mit Julia Kospach). Wien/Mchn. 2003. 2 2007. – Vienna, Warhol, Vienna. Photo-Essay (zus. mit Gabriela Brandenstein). Wien 2005. – Herausgeber: Liebesgedichte an Frauen. Mit einem Nachw. v. Elke Heidenreich. Ffm. 2009. Literatur: Wirklichkeiten v. H. In: du 7 (1979), S. 28–73. – André Müller: Österreicher(innen). Gespräche mit Rosa Albach-Retty [...] A. H. [...]. Weitra 1994, S. 169–189. – A. H. Bilderleben. Öffentliches & Privates. 1947–2000. Hg. Christian Brandstätter u. Wolfgang Balk. Wien/Mchn. 2000. Ursula Weyrer / Bruno Jahn
Heller, (Wilhelm) Robert, * 24.11.1814 Groß-Drebnitz bei Stolpen/Sachsen, † 7.5. 1871 Hamburg. – Erzähler, Journalist. Sein 1835 in Leipzig abgeschlossenes Jurastudium eröffnete H., dem Sohn eines Schulmeisters, die Beamtenlaufbahn. Der Anklang, den seine 1836 in der Dresdner »Abend-Zeitung« veröffentlichte Novelle Die Eroberung von Jerusalem fand, ließ ihn die Schriftstellerei als Beruf ergreifen. Er gründete 1838 die belletristische Zeitschrift »Rosen«, 1842 das Taschenbuch »Perlen« (bis 1847); 1849 wurde er Nachfolger Gervinus’ bei der »Deutschen Zeitung«, ab 1851 war er
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Theater- u. Literaturkritiker der »Hamburger Nachrichten«. H.s Erzählwerke, wegen Plastizität, Spannungs- u. Erfindungsreichtum der Darstellung bei den Zeitgenossen beliebt, basierten meist auf – mitunter frei ausgeschmücktem – »geschichtlichem Hintergrunde« der nationalen (u. a. Florian Geyer. 3 Bde., Lpz. 1848) oder auch, wie in Das Erdbeben von Caraccas (2 Bde., Altenburg 1846), der span. (Kolonial-)Vergangenheit, wobei die Sympathien des Republikaners H. ganz auf Seiten der Unterdrückten waren. Weitere Werke: Novellen aus dem Süden. 3 Bde., Altenburg 1841/42. – Die Kaiserlichen in Sachsen. 2 Bde., Lpz. 1846. – Ausgew. Erzählungen. 3 Bde., Ffm. 1857–62. – Posenschrapers Thilde. Roman aus Hamburgs Vergangenheit. Lpz. 1863. – Primadonna. Roman aus der kursächs. Vergangenheit. 2 Bde., Bln. 1871. – Nachgelassene Erzählungen. Hg. Heinrich Laube. 5 Bde., Bremen 1874. Literatur: Kneschke: R. H. In: ADB. – Goedeke Forts. Arno Matschiner / Red.
Hellingrath, Norbert (Theodor) von, * 21.3.1888 München, † 14.12.1916 Verdun. – Literaturwissenschaftler. Der Sohn eines bayer. Offiziers u. einer Prinzessin Cantacuzène, deren Vorfahren Kaiser von Byzanz waren, studierte von 1906 an in München Philosophie, griech. u. dt. Philologie u. promovierte 1910 mit den Prolegomena zu einer Erstausgabe der Pindar-Übertragungen von Hölderlin (Jena 1911). Gleichzeitig erschien in Stefan Georges »Blättern für die Kunst« der Erstdruck dieser von H. in Stuttgart entdeckten Interlinearversionen von 16 Oden Pindars (Bln. 1910). H. stellte sie mit Hilfe des antiken Begriffs der »harten Fügung« als einziges dt. Beispiel geglückter Wiedergabe originalen antiken Kunstcharakters vor. Seine Gewissheit, in Hölderlin den größten dt. Dichter entdeckt zu haben, wertete er selbst als religiöse Erfahrung, die ihn antrieb, nach einem als Lektor an der École Normale Supérieure in Paris zugebrachten Jahr, in der knappen Zeit zwischen 1912 u. 1914 zwei Bände der ersten historisch-krit. Ausgabe von Hölderlins Sämtlichen Werken (Mchn./Lpz.) mit umfangreichem Lesartenapparat u. sparsa-
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Hellmert
men Kommentaren fertigzustellen: den die Deutschen u. Hölderlins Wahnsinn. Mchn. fünften Band mit allen Übersetzungen und 1921. Wiederabgedr. in: Hölderlin-VermächtBriefen von 1800–1806 (Mchn./Lpz. 1913) u. nis. Mchn. 1936. 21944), die Rilke bes. beeinden 1916 im Todesjahr erschienenen vierten druckten, vermitteln H.s von Nietzsche u. Band, die Gedichte 1800–1806 (Bln. 31943), George geprägte kulturkrit., prophetische u. »Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen auf ein neues Deutschland vertrauende HölWerkes«, die er mit Berufung auf Hölderlin derlinsicht, für deren Folgen H. nicht verselbst als »Wort Gottes« zu verstehen auf- antwortlich gemacht werden kann. forderte. Literatur: Edgar Salin: Um Stefan George. Zum ersten Mal brachte der Haupttext Godesberg 1948, S. 137–181. Erw. Mchn. 1954. – etwa 1500 Verse aus der Zeit um 1800 bis zu Herbert Singer: Rilke u. Hölderlin. Köln 1957, Hölderlins Zusammenbruch 1806: als be- S. 20–41. – Friedrich v. der Leyen: N. v. H. [...]. In: deutendste Entdeckungen mehrere große HölderlinJb 11 (1958–60), S. 1–16. – Ludwig v. PiHymnen oder spätere Hymnen-Bearbeitun- genot: Briefe aus N. v. H.s Nachl. In: HölderlinJb13 (1963/64), S. 104–146. – Heinrich Kaulen: Der ungen sowie die Mehrzahl der hymn. Bruchbestechl. Philologe. [...] In: HölderlinJb 27 (1990/ stücke u. Entwürfe, zudem eine Auswahl von 91), S. 182–209. – Henning Bothe: ›Ein Zeichen Varianten. Sie bewirkten den Durchbruch zu sind wir, deutungslos‹. [...] Stgt. 1992, S. 96–114. – einem vollständig erneuerten Hölderlinbild, Bruno Pieger: Unbekanntes aus dem Nachlass N. v. das v. a. von der originalen Sprachform, der H.s. In: JbDSG 36 (1992), S. 3–38. – Ders.: Ed. u. komposit. Gesetzlichkeit u. der von antiker Weltentwurf [...] In: Hölderlin entdecken. [...]. Hg. Dichtung geprägten rhythm. Gewalt ausgeht. Werner Volke u. a. Tüb. 1993, S. 57–114. – Paul H. befreite Hölderlin so von der ein Jahr- Hoffmann: H.s ›dichterische‹ Rezeption Hölderhundert währenden Verkennung durch bio- lins. In: Hölderlin u. die Moderne [...]. Hg. Gergrafisch fundierte Vorurteile gegenüber dem hard Kurz u. a. Tüb. 1995, S. 74–104. – Ute Oelmann: N. v. H. In: Hölderlin-Hdb. Hg. Johann geisteskranken Dichter u. vom Zugriff verKreuzer. Stgt. 2002, S. 422–425. – Heinrich Kauharmlosender Philologie. Der Textteil dieser len: N. v. H. In: IGL. – B. Pieger: N. v. H.s HölAusgabe wurde schon 1914 in Sonderdrucken derlin. In: Wissenschaftler im George-Kreis. Hg. den mit H. befreundeten Dichtern George u. Bernhard Böschenstein u. a. Bln. 2005, S. 115–135. Rilke, vielleicht auch Trakl zugänglich. An Bernhard Böschenstein Rilkes Zyklus Fünf Gesänge u. seinem Gedicht An Hölderlin (1914) u. an Georges Lobrede auf Hölderlin (1919), vielleicht auch an Trakls Hellmert, Wolfgang, eigentl.: Adolf spätesten Gedichten in freien Rhythmen sind Kohn, * 15.8.1906 Berlin, † 24.5.1934 Padie bedeutendsten Folgen dieser Ausgabe zu ris. – Lyriker u. Prosaist. greifen, in einem weiteren Sinn dann an Rilkes Duineser Elegien. George u. sein Kreis, bes. H. wurde als Sohn eines jüd. Kaufmanns geWolfskehl u. Gundolf, machten sich H.s Pin- boren. Nach dem vorzeitigen Abgang vom dar-Fund sogleich zu eigen u. begleiteten Gymnasium war er Banklehrling, dann seine Arbeit an der Hölderlin-Ausgabe, zumal Filmstatist u. Schauspielschüler. Seit 1926/27 in H.s produktiven Heidelberger Monaten gehörte er u. a. mit Herbert Schlüter, Willi (1913/14). Seine Teilnahme als Kriegsfreiwil- Fehse, Annemarie Schwarzenbach u. dem liger am Ersten Weltkrieg u. sein Tod auf dem späteren Soziologen René König zum FreunSchlachtfeld bereiteten seiner weiteren Edi- deskreis des jungen Klaus Mann. 1928 war er tionsarbeit u. seinen Plänen einer umfassen- Mitgl. des Hamburger Autorenkreises der den Hölderlin-Monografie u. eines Barock- »Norag« (Beheim-Schwarzbach, Ebermayer, buchs ein jähes Ende. Ernst Glaeser, Hausmann, Süskind u. a.), der Georges Nachrufgedicht Norbert (in: Das sich dem neuen Medium des Rundfunks Neue Reich) würdigt H. gleichzeitig als verschrieben hatte. H. musste Ende März »Mönch« u. als Soldaten. Zwei 1915 im 1933 aus Deutschland emigrieren u. ging Rahmen der »Kriegshilfe für geistige Berufe« nach Paris. Dort starb »der giftsüchtige, toin München gehaltene Vorträge (Hölderlin und dessüchtige junge Poet« (Klaus Mann in:
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Wendepunkt) bereits im folgenden Jahr als Morphinist. Neben einigen wenig eigenständigen, anfangs Rimbaud u. Benn, später v. a. Rilke verpflichteten Gedichten u. einigen kleinen Prosaskizzen (einiges wurde in der Exilzeitschrift »Die Sammlung« 1934 gedruckt) erschien zu Lebzeiten H.s nur ein größeres Werk, die Klaus Mann gewidmete Erzählung Fall Vehme Holzdorf (Lpz. 1927). Das spannende Sujet, der fiktive Fememord eines 17-jährigen Jungen an einem befreundeten polit. Spitzel, verhalf der Erzählung zu beträchtl. Publizität (Thomas Mann lobte sie in einer Umfrage 1928). H. versuchte in seiner literar. Gestaltung des für die Anfangsjahre der Weimarer Republik so brisanten polit. Themas des »Rechtsputschismus« (so Hellmert) das Psychogramm eines sozial u. materiell depravierten, diffusnationalistischen u. leicht verführbaren Jugendlichen zu zeichnen. Sprachlich geprägt vom »nüchternen« Pathos der Neuen Sachlichkeit, gemahnt der Stil der Erzählung daneben auch an die radikale Seelenanalyse in der Art Dostojewskijs. Ausgaben: Lyrik u. Prosa 1924–34. Mit einem Nachw. v. Klaus Täubert. Gerbrunn bei Würzb. 1980. Literatur: Klaus Täubert: Ein bemühter Adept. Das kurze Leben des W. H. (1906–1934). In: Exil 21 (2001), H. 1, S. 14–23. Wilhelm Haefs / Red.
Hellwig, Helwig, Helbig(ius), Christoph von (geadelt 1716), * 15.7.1663 Kölleda/Thüringen, † 27.5.1721 Erfurt. – Publizist medizinisch-naturkundlicher Fachschriften. Nach Schulbesuch in Naumburg (1680) u. Studien in Jena (1681) u. Erfurt (1685) erwarb H. die Würde eines Licentiaten der Medizin u. eines Poeta Laureatus Caesareus (Erfurt 1693). Stationen seiner ärztl. Praxis waren Weißensee u. Frankenhausen; seit 1696 betätigte er sich als Stadtphysikus in Tennstedt; ab 1712 lebte er in Erfurt. H. verband herausgeberisches Wirken – u. a. verhalf er Mauritius Knauers Calendarium Oeconomicum Practicum Perpetuum (zuerst Erfurt 1700), dem »Hundertjährigen Kalender«, zu seiner bestsellerartigen Karriere –
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mit übersetzerischen Tätigkeiten (Sebastian Wirdig: Nova medicina spirituum. Ffm./Lpz. 1706. Severus Pinaeus: Notae Virginitatis. Ffm./Lpz. 1717). Hauptsächlich aber vollbrachte er eine redaktorisch-kompilatorische Leistung. H. schuf für medizinisch-pharmazeutische Fachleute aller Ränge eine Reihe deutschsprachiger Werke, darunter ein Teutsch- und Lateinisches Physicalisch- und Medicinisches Lexicon (Hann. 1713) u. andere fachsprachgeschichtlich wichtige Schriften. Zum anderen veröffentlichte er für den »gemeinen Mann« u. die »gemeine Frau« eine Fülle von Unterrichtswerken zur medizinisch-pharmazeutischen Selbsthilfe (z.B. Frauenzimmer-Apotheckgen. Lpz. 1700. PestApotheckgen. Ffm./Lpz. 1714). Wieder andere Drucke richtete H. unterschiedslos an Fachleute u. Laien, so die Grund- und Lehrsätze der [...] Medicin (Lpz. 1715), ein Lexicon pharmaceuticum (Ffm./Lpz. 31714) oder ein TeutschMedicinisches Recept-Buch [...] vor die meisten Kranckheiten der Mannes-Personen (Ffm./Lpz. 1715. Nachdr. mit Nachw. von Werner Dobras. Lindau 1979). Die Zahl seiner von hauswirtschaftl. Schriften flankierten Werke medizinischpharmazeutischen u. alchemisch-naturkundl. Inhalts ist beträchtlich u. gibt in H. einen äußerst regen Fachbuchpublizisten zu erkennen. Hinzu kommen einige von H. unter dem Namen »Caspar Schröder/Schröter« veröffentlichte Texte, etwa eine Jagd-Kunst (Ffm./Lpz. 1717). Auch wenn sich bestätigen sollte, dass H. an dem umfangreichen u. mit dem Curieusen und vernünfftigen Zauber-Artzt (Ffm./Lpz. 1725. Nachdr. mit Nachw. von Werner Dobras. Lindau 1979) ein Hauptwerk der sympathetisch-magischen Heilkunde einbegreifenden Valentin-Kräutermann-Corpus einen schriftstellerisch allenfalls »minimalen Anteil« hatte (Strein, 2003), – auch dann wäre H. weiterhin sowohl zu den bedeutsameren Vertretern der medizinischen Frühaufklärung als auch zu den um die Durchsetzung des Deutschen als anerkanntem Medium der Medizin u. Naturkunde bes. verdienten Fachschriftstellern zu zählen. Weitere Werke: Praxis medica. Lpz. 1710. – Casus [...] medicinales. Ffm./Lpz. 1710. – Lexicon anatomico-chirurgicum. Lpz. 1711. – Reise- u.
249 Hausapotheckchen. Ffm./Lpz. 1711. – Thesaurus pharmaceuticus. Lpz. 1711. – Regulae [...] Vom Recept-Schreiben. Ffm./Lpz. 21712. – Nosce te ipsum [...] / Oder [...] anatom. Werk. Ffm./Lpz. 1715. – Medicus clinicus oder [...] Leib- u. Land-Arzt. Ffm./Lpz. 1716. – Chirurgia in nuce. Mühlhausen 1718. – Lexicon medico-chymicum. Ffm./Lpz. 1718. – Armer Leute [...] Haus-Medicus. Ffm./Lpz. 1719. – Herausgeber: Konrad Khunrath: Medulla destillatoria et medica. Ffm./Lpz. 1703. – Christian Franz Paullini: Bauren-Physic. Ffm./Lpz. 1711. – Johann Otto v. Hellwig (Bruder C. H.s): Arcana maiora. Ffm./Lpz. 1712. – Georg Franck v. Franckenau: Flora Francica rediviva. Lpz. 1713. 61766. – Johann Otto v. Hellwig: Curiosa physica. Ffm./Lpz. 2 1714. – Fasciculus philosoph. Schr.en. vom Stein der Weisen. Lpz./Bremen 1719. – Johann Remmelin: Catoptrum (›Nosce te ipsum‹. Ffm./Lpz. 31744). Ausgaben: Von der Weiber Natur (1717). Nachdr. Ansb. 1962. – Der Thüring. Theophrastus Paracelsus [...] oder der [...] vernünftige Zauber-Arzt (Arnstadt/Lpz. 1730). Nachdr. Freiburg/Br. 1978. – Der sichere Augen- u. Zahn-Artzt. Arnstadt 1732. Nachdr. Lpz. 1983. Literatur: Just Christoph Motschmann: Erfordia literata oder Gelehrtes Erffurth. Erfurt 1729, Bd. 1, S. 135–161. – John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 1, Glasgow 1906, S. 374–377. – Gerhard Eis: Valentin Kräutermanns ›Kunst- u. Wunderarzt bey Menschen u. Viehe‹ u. das ›Neuvermehrte Vieh-Büchlein‹. In: Beiträge zur Gesch. der Veterinärmedizin 3 (1940/41), S. 375–380. – Ernst Heimeran: Echter Hundertjähriger Kalender. Mchn. 1951. – Will-Erich Peuckert: Gabalia. Bln. 1967, S. 367–385. – Joachim Telle: Petrus Hispanus in der altdt. Medizinlit. Diss. Heidelb. 1972, S. 275–278. – Peter Nasse: Die Frauenzimmer-Bibl. des Hamburger ›Patrioten‹. Stgt. 1976, S. 591–597. – Sabine Sander: Ein Polygraph aus Kölleda. C. v. H. (1663–1721) – Arzt u. Publizist der Barockzeit. In: Sömmerdaer Heimatheft 10 (1998), S. 18–36; ebd., 12 (2000), S. 53–74. – Dies.: Aufklärung vor der Aufklärung? Zum populärmedizin. Werk des Arztes u. Bestsellerautors C. v. H. (1663–1721). In: Medizinhistor. Journal 34 (1999), S. 245–308 (mit Bibliogr.). – Jürgen Strein: Der Arzt als Apotheker. C. v. H. (1663–1721) u. sein Versandhandel mit Medikamenten. In: Gesch. der Pharmazie 55 (2003), S. 25–35. – DBE. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 835–837. Joachim Telle
Hellwig
Hellwig , Helbigius, Helbig, Helbigk, Johann Otto von, * 1654 Kölleda/Thüringen, † 1698 Bayreuth. – Hermeticapublizist. Nach Schülerjahren in Schulpforta u. Medizinstudium erlangte H. in Erfurt die Würde eines Dr. med. Von 1676 bis spätestens 1680 lebte er in Diensten der ›Ostindischen Compagnie‹ in Batavia (Djakarta), wo er medizinisch-pharmazeutisch tätig war. Seit 1680 war er Arzt des pfälz. Kurfürsten Karl II., der H. an der Heidelberger Universität als Medizinprofessor wissen wollte (1681). Es folgten Dienste für Herzog Friedrich I. von SachsenGotha (1684/86) u. den dän. König Christian V. Aufgrund seiner alchem. Arbeiten unterhielt H., 1682 vom engl. König Karl II. nobilitiert, Beziehungen zu Prinz Ruprecht, dem Urheber des ›Prinzenmetalls‹, u. Robert Boyle. Bereits H.s naturmystisch-theoalchem. Introitus In veram atque Inauditam physicam (Batavia 1678. 1680: Heidelb. Hbg. Amsterd. u. ö.) löste bis ins 18. Jh. publizistisch ausgetragene Kontroversen aus, in deren Zuge H. eine Epistola [...] Ad Fraternitatem Rosae Crucis Exerata (1680) richtete. Auch seine hermet. Schöpfungslehren samt seiner neuplatonistisch inspirierten ›Geistsalz‹-Doktrin (Curiosa Physica. Hg. Christoph von Hellwig. Sondershausen 1701 u. ö.) sowie seine Arcana Maiora, oder [...] Beschreibung vieler [...] Physicalischen / Medicinischen / Chymischen [...] Geheimnisse (Hg. Ch. von Hellwig. Ffm./Lpz. 1712) bereicherten die hermetistische Naturkunde u. Popularphilosophie des 18. Jh. Zähe Beharrungskräfte waren insbes. einer von H. angeblich aus dem Portugiesischen übersetzten Schrift beschieden (Ali Puli: Centrum Naturae Concentratum: Oder Ein Tractat Von dem Wiedergebohrnen Saltz, [...] genandt Der Weisen Stein. o. O. 1682 u. ö.), einem wohl von H. verfassten, ins Holländische (1694), Englische (1696) u. Italienische (1979) gelangten u. in der neuzeitl. Esoterik präsenten Traktat alchemoreligiösen Inhalts. Weitere Werke: Epistola ad [...] libelli, qui intitulatus est, vis aliena tessae, Autorem. 1680 u. ö. – Gründl. Antwort/ Auff [...] Drey Fragen (Sendschreiben über den ›Lapis philosophorum‹ u. Fürstenalchemie). Heidelb. o. J. [1681 u. ö.]. – Ju-
Helm dicium De Duumviris Hermeticis Foederatis. Jena 1683 u. ö. – Gotha, Staatsarchiv, Geheimes Archiv E XI, Nr. 73, 73*, 104 (Alchem. Briefe H.s an Friedrich I.). Literatur: John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 1, Glasgow 1906, S. 377–379. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon 1652–1802. Bln 1991, S. 60 f. – Wolfgang Michel: Ein ›Ostindianisches Sendschreiben‹. Andreas Cleyers Brief an Sebastian Scheffer vom 20. Dezember 1683. In: Doku-Futsu Bungaku Kenkyo (1991), H. 41, S. 15–98, hier S. 61 f. (betrifft H.s Aufenthalt in Djakarta). – Jürgen Strein: Alchemie u. Hofkultur oder: Eine Million bar in Händen. Zu den Briefen des Arztalchemikers J. O. v. H. (1654–1698) an Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha. In: Pharmazie in Vergangenheit u. Gegenwart. Festgabe für Wolf-Dieter Müller-Jahncke zum 65. Geburtstag. Hg. Christoph Friedrich u. Joachim Telle. Stgt. 2009. Joachim Telle
Helm, Henriette Clementine, verh. Beyrich, * 9.10.1825 Delitzsch, † 26.11.1896 Berlin. – Mädchenbuchautorin.
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len Ehe in gutbürgerl. Wohlstand entlohnt. Mit pädagog. Absicht zeichnen dabei stereotype Figuren ein von passiven Tugenden geprägtes Frauenideal. Die heftigen Kritiken etwa Heinrich Wolgasts (u. a. in Das Elend unserer Jugendliteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. Hbg. 1896) konnten das Interesse des Publikums an H.s teils autobiografisch beeinflussten Romanen nicht bremsen. Weitere Werke: Märchen. Stgt. 1860. – KinderLieder. Lpz. 1861. – Licht- u. Schattenbilder. Ebd. 1864. – Schloß Herzberg. Ein Harzgedicht. Bln. 1869. – Lilli’s Jugend. Lpz. 1871. – Das Kränzchen. Bielef./Lpz. 1873. – Frau Theodore. Ebd. [1874]. – Prinzeßchen Eva. Ebd. 1875. – Dornröschen u. Schneewittchen. Ebd. 1877. – Das vierblättrige Kleeblatt. Ebd. 1878. – Unter’m Schnee erblüht. Stgt. 1880. – Unsere Selekta. Bielef./Lpz. [1881]. – Elfchen Goldhaar. Ebd. 1882. – Professorentöchter. Ebd. 1884. – Röschen im Moose. Ebd. 1885. – Die Glücksblume von Kapri. Mchn. 1886. – Die Stiefschwestern. Bielef./Lpz. 1887. – Klein Dina’s Lehrjahr. Ebd. 1888. – Vom Backfisch zur Matrone. Ebd. 1889. – Seines Glückes Schmied. Ebd. 1890. – Die Geschwister Leonhard. Ebd. 1891. – Tante Regine. Ebd. 1892. – Das Heimchen. Ebd. 1894. – Unser Sonnenschein. Ebd. 1897. Literatur: Bibliografie Aiga Klotz: Kinder- u. Jugendlit. in Dtschld. 1840–1950. Gesamtverz. der Veröffentlichungen in dt. Sprache. Bd. 2, Stgt. 1992, S. 203 ff. – Weitere Titel: Hermann Arthur Lier: C. B. In: ADB 46. – Brümmer 1. – Susanne Zahn: Anhang. In: C. H., Backfischchens Leiden u. Freuden, Nachdr. 1981, a. a. O., S. 243–318. – Gisela Wilkending: C. H. In: HKJL. Von 1850 bis 1900. Philipp Redl
Als früh verwaiste Kaufmannstochter wuchs H. bei Verwandten in Merseburg u. Berlin auf u. besuchte die Berliner Königliche LuisenStiftung, an der sie dann als Erzieherin arbeitete. 1848 heiratete sie den Geologen Heinrich Ernst Beyrich. H. wurde v. a. durch ihre viel gelesenen »Erzählungen für junge Mädchen« (der Untertitel vieler ihrer Bücher) bekannt. Mit Backfischchen’s Leiden und Freuden (Lpz. 1863) begründete sie die Gattung der Backfischliteratur, der sie aufgrund des einschlagenden Erfolgs ihres Romanerstlings (über 70 AuflaHelmbold, Ludwig, * 2.1.1532 Mühlhaugen. Nachdr. Hg. Johannes Merkel u. Dieter sen/Thüringen, † 7.4.1598 Mühlhausen/ Richter. Mchn. 1981) fortan sehr produktiv Thüringen – Evangelischer Theologe, treu blieb. Auch durch Übersetzungen u. neulateinischer Lyriker, KirchenlieddichBearbeitungen frz. Vorlagen – stark gefragt ter. war Vater Carlet’s Pflegekind (Lpz. 1877) nach Joséphine Colombs La Fille de Carilès – sowie Der Sohn des Wollwebers u. Ratsherren Stedurch die Herausgabe von Junge Mädchen. Ein phan Helmbold besuchte die evang. BarfüAlmanach (zus. mit Frida Schanz. Bielef. 1896; ßerschule Mühlhausens, wo Hieronymus Fontane konnte für das Projekt nicht ge- Wolf zu seinen Lehrern zählte. Seit dem wonnen werden) trat H. hervor. H.s oft il- Wintersemester 1547 studierte er in Leipzig lustrierte Backfischbücher verlaufen weitge- u. seit dem Frühjahr 1548 in Erfurt. Nach der hend nach demselben Muster: Eine ›höhere dort am 24.9.1550 abgelegten BakkalarprüTochter‹ erlernt anständiges, damenhaftes fung war er in Mühlhausen Rektor der MaBenehmen u. wird mit einer hingebungsvol- rienschule. 1552 nahm er das Studium in
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Helminger
Erfurt wieder auf, erwarb am 31.1.1554 den weisen so auf das Kirchenlied des kommenMagistergrad u. war dort als Prof. für Latein den Jahrhunderts voraus. u. Poesie, später auch als Lehrer des am Weitere Werke: Parvus catechismus D. Martini 13.1.1562 eröffneten Pädagogiums im Au- Lutheri, elegiacis versibus redditus [...]. Mühlhaugustinerkloster u. 1566 als Dekan der Philo- sen 1576. – Monosticha, in singula sacrorum bisophischen Fakultät tätig. Am 23.5.1566 bliorum capita, memoriae theologorum inservire krönte Kaiser Maximilian II. H. in Augsburg iussa. Mühlhausen 1574 u. ö. Dt. Erfurt 1587. – zum Dichter. Ein eskalierender Streit mit Liber piarum meditationum [...]. Mühlhausen 1584. – Schöne geistl. Lieder uber alle Evangelia seinem Fakultätskollegen, dem Dichter u. [...]. Erfurt 1615. Mathematiker Bartholomaeus Hübner, u. Ausgaben: Gedichte (aus den Delitiae Poetarum dem Stadtphysikus Johannes Hebenstreit Germanorum) in: CAMENA. – Wackernagel 1, Nr. wegen eines astrologisch-histor. Kalenders 552–568, S. 313–320; 4, Nr. 903–1008, S. 630–691. führte zu H.s Entlassung aus seinen StellunLiteratur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weigen an der Universität u. am Pädagogium u. tere Titel: Wilhelm Thilo: L. H. nach Leben u. zwang ihn 1570 zur Rückkehr nach Mühl- Dichten. Bln. 1851. 21856. – Koch 2, S. 243 ff., hausen, wo er Lehrer, Diakon (ordiniert 355 f. – Ellinger 2, S. 172–178. – Fred Fischer: L. H. 2.12.1571) u. ab 1586 Superintendent war. [...]. In: Mühlhäuser Geschichtsbl. 31 (1932), Die mit ihm befreundeten Komponisten Jo- S. 147–163. – Johannes Biereye: Einiges aus Erfurt hann Eccard u. Joachim von Burgk vertonten über L. H. In: Ebd., S. 251–256. – Waldtrautlat. u. dt. Verse H.s (Crepundia sacra [...]. Ingeborg Sauer-Geppert: L. H. In: NDB. – Erich Mühlhausen 1578 u. ö.). Gegen die »Krypto- Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis [...]. calvinisten« vertrat H. konsequent die sich Tl. 3: Die Zeit der Reformation u. Gegenreformation 1521–1632. Lpz. 1980 (Register). – DBA. – herausbildende luth. Orthodoxie. Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. H.s lat. Dichtung ist v. a. Ausdruck seines Bd. 2, Tüb. 1987 (Register). – HKJL. Von 1570 bis Bekenntnisses in didaktischer, gelegentlich 1750, Sp. 1382–1384. – Christine Kröhner: Kantowohl auch nur mnemotechn. Absicht. Prä- ren u. Kantorate in Mühlhausen am Beginn des 18. gend ist die Erfahrung der Gegenreformation Jh.: In: Struktur, Funktion u. Bedeutung des dt. im zu Kurmainz gehörenden Thüringen; im protestant. Kantorats im 16. bis 18. Jh. Hg. Wolf Katholizismus wirken für den strengen Lu- Hobohm u. a. Oschersleben 1997, S. 122–132. – theraner die Kräfte der Unterwelt (vgl. Offen- Inger Ekrem: Die imitatio dän. u. dt. zeitgenöss. barung der Jesuiter [...]. Mühlhausen 1593). Humanisten. Das Beispiel eines norweg. Lektors. Vierzig Oden sind den Gegenständen des In: Humanismus im Norden [...]. Hg. Thomas Haye. Amsterd./Atlanta 2000, S. 319–339. – MarKatechismus gewidmet; eine große Zahl kus Rathey (Martin Ruhnke): L. H. In: MGG, 2. weiterer Oden gilt der Schöpfung u. einzel- Aufl., Bd. 8 (Pers.), Sp. 1267–1269. – Gero Soergel: nen Werken des Schöpfers (dessen Wunder H. L. H. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. immer wieder in Mühlhausen anschaulich Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 22001, werden). Hymnen beschäftigen sich mit dem S. 139 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 828–830. Abendmahl u. dem Gang Christi auf den Öl- – Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 4, berg; außerdem versifizierte H. die Sonn- Lpz. 2006, S. 78. Heinz Wittenbrink / Red. tagsevangelien u. Sonntagsepisteln, die bibl. Bücher u. die Confessio Augustana (Confessio Augustana, versibus elegiacis reddita. MühlhauHelminger, Guy, * 20. 1. 1963 Esch-sursen 1575). Alzette (Luxemburg). – Lyriker, Theater-, Bekannt blieb H. durch einige dt. geistl. Hörspiel- u. Prosaautor. Lieder, von denen zwei (›Von Gott will ich nicht lassen‹ u. ›Nun laßt uns Gott dem H., der jüngere Bruder des luxemburgischen Herren Dank sagen und ihn ehren‹) Aufnah- Schriftstellers Nico Helminger, studierte me in das EKG fanden. Sie sind in der Allge- Germanistik u. Philosophie in Luxemburg, meinheit ihrer theolog. Aussage Bekenntnis- Heidelberg u. Köln, wo er seit 1985 lebt. Er lieder der Gemeinde, geben aber doch sub- arbeitete u. a. als Barkeeper, Schauspieler, jektiver Frömmigkeit eindringl. Ausdruck u. Regieassistent u. Grafiker.
Helmlé
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H. trat ab Mitte der 1980er Jahre zunächst Helmlé, Eugen, * 7.9.1927 Ensdorf/Saar, v. a. als Lyriker hervor. Kennzeichen seiner † 27.11.2000 Sulzbach/Saar. – Erzähler, Gedichte – bes. in jüngeren Veröffentlichun- Essayist, Übersetzer. gen wie Leib eigener Leib (Echternach 2000) u. Ver-wanderung (Esch-sur-Alzette 2002, illus- H., Sohn eines Bäckers, lebte seit 1949 in triert von Michel Geimer) – sind ein spiele- Sulzbach, arbeitete zunächst in verschiederisch-lustvoller Umgang mit Wortklängen u. nen Berufen u. studierte dann Romanistik an präzise Beobachtungen, die sprachlich stark, der Universität des Saarlandes in Saarbrüteils bis auf Phonemebene reduziert (z.B. in cken, an der er nach Aufenthalten in Spanien Form von »Sprachskulpturen«) u. oftmals u. Frankreich 1970–1982 als Lehrbeauftragter für Spanisch tätig war. Sein Durchbruch hermetisch erscheinen. Nach seinem bereits 1994 selbstverlegten als Übersetzer gelang ihm 1960 mit Zazie in Romandebüt Die Ruhe der Schlammkröte (Wie- der Metro (Ffm.) von Raymond Queneau, von derentdeckt, hg. u. mit Anmerkungen vers. dem er dann das gesamte Romanwerk, Ervon Manuel Andrack. Köln 2007) erschien zählungen u. die Stilübungen (zus. mit Ludwig 2001 der Kurzgeschichtenband Rost (Echter- Harig. Ffm. 1961) übersetzte. Neben der nach), der einen längerfristigen Genrewechsel Prosa u. den Hörspielen von Georges Perec einleitete. H.s Erzählungen – in Rost ebenso sowie der Prosa u. den Theaterstücken von wie im Nachfolgeband Etwas fehlt immer (Ffm. René de Obaldia übersetzte er Werke von 2005) – kreisen häufig um Figuren auf der Pierre Albert-Birot, Louis Aragon, André Kippe zwischen Wahn u. Wirklichkeit. Es Breton, Marguerite Duras, Étiemble, Alfred herrscht eine Atmosphäre subtiler Bedro- Jarry, Valéry Larbaud, Christiane Rochefort, hung u. Gewalt, in der mehr angedeutet oder Georges Simenon, Philippe Soupault u. Boris metaphorisch verschlüsselt als offen darge- Vian ins Deutsche. Zu seinen Übersetzungen stellt wird. Hinzu kommen surreale Ele- aus dem Spanischen gehören Werke von Max mente u. eine oftmals ironisch distanzierte Aub, Juan Goytisolo u. Luis Martín-Santos. Erzählerinstanz. Besondere Beachtung fand H.s Übersetzung H. erhielt 2002 den Prix Servais u. den von G. Perecs Roman La disparition (1969) Förderpreis für Jugend-Theater des Landes u. d. T. Anton Voyls Fortgang (Ffm. 1986. 31998), Baden-Württemberg, 2004 den 3sat-Preis in der wie im frz. Original, zu der er die kurze beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb u. Erzählung Das Landhaus beigesteuert hatte, 2006 den Prix du mérite culturel de la ville der Buchstabe e fehlt. d’Esch. Von Juni bis Juli 2006 war er StadtH. schrieb selbst zwei lipogrammat. Roschreiber in Hyderabad (Indien). mane: Beim ersten, Im Nachtzug nach Lyon Weitere Werke: Die Gegenwartsspringer. Ge(Bln. 1993), bei dem zwölf Themen vorgegedichte. Esch-sur-Alzette 1986. – Entfernungen (in Zellophan). Gedichte. Echternach 1998. – Vene- ben waren, die in fünf Blöcken von unterzuela. London 2003. Dt.: Esch-sur-Alzette 2004 schiedl. Länge abgehandelt wurden, verzich(Theaterstück). – Morgen war schon. Roman. Ffm. tete er auf die Buchstaben r und e. In Knall und 2007. Fall in Lyon (Bln. 1995) stehen sich zwei lipoLiteratur: Claude D. Conter: Experimental- grammat. Texte gegenüber, ein e-loser u. ein poesie, Poetik des Augenblicks, Irrationalität u. r-loser. Nachtseiten des Menschen. Einf. in das Werk v. G. H. erhielt 1972 den Kunstpreis des SaarH. In: Dt. Bücher. Forum für Lit. 34 (2004), H. 4, landes u. 1985 den Prix Lémanique de la S. 263–270. – Georg Guntermann: Grenzübergang Traduction der Universität Lausanne. 2004 als Form. Ein Versuch zu G. H.s Lyrik (u. Prosa). In: Über Grenzen. Lit.en in Luxemburg. Hg. Irmgard wurde vom Saarländischen Rundfunk u. der Honnef-Becker u. Peter Kühn. Esch-sur-Alzette Stiftung des Verbandes der Metall- u. Elektroindustrie des Saarlandes der Eugen2004, S. 221–236. Marcel Diel Helmlé-Übersetzerpreis ins Leben gerufen, der seit 2005 jährlich abwechselnd an einen dt. u. einen frz. Übersetzer verliehen wird.
253 Weitere Werke: Übersetzend die eigene Sprache erweitern. In: Sprache fürs Leben, Wörter gegen den Tod. Ein Buch für Ludwig Harig. Hg. Benno Rech. Blieskastel 1997, S. 249–257. – Herausgeber: Résonances. Frz. Lyrik seit 1960. Mchn. 1989 (mit Übersetzungen v. E. H., Felicitas Frischmuth, Ludwig Harig, Hinrich Schmidt-Henkel u. Simon Wehrle). Literatur: Bruno Rauch: Sprachl. Spiele – Spielerische Sprache. Slg., Erklärung u. Vergleich der Wortspiele in vier ausgew. Romanen v. Raymond Queneau u. in den entsprechenden Übers.en v. E. H. Diss. Univ. Zürich 1982. – Ludwig Harig: Auch das Saarland tat, was machbar ist. Dem Dichter u. Übersetzer E. H. auf der Spur. In: OPUS. Kulturmagazin Saarland, Rheinland-Pfalz, Lothringen u. Luxembourg (2008), 8, S. 60–64. Bruno Jahn
Helmold von Bosau, * kurz vor 1120, † nach 1177. – Mittelalterlicher Chronist. Wohl kurz vor 1120, vielleicht im nordwestl. Harzvorland, geboren, wurde H. zwischen 1134 u. 1138 in das von dem Wagriermissionar Vizelin gegründete Augustinerchorherrenstift Segeberg aufgenommen. Er floh 1138 vor dem Slaweneinfall unter Pribislaw in das Kloster Faldera (Neumünster), ging anschließend nach Braunschweig u. erhielt dort 1139–1143 beim späteren Bischof Gerold von Lübeck seine Schulbildung. Seit 1143 wieder in Neumünster, erlebte er die Slawenmission bes. in Wagrien aus nächster Nähe u. im engsten Umkreis der Bischöfe v. Oldenburg bzw., nach der Verlegung 1160, im Bistum Oldenburg/Lübeck mit. Von Gerold erhielt er, vermutlich 1156, mit Bosau am Plöner See das einzige intakte Pfarramt Wagriens zugesprochen, wo (mit Unterbrechungen?) ca. 1167/68 (Buch I) u. 1172 (II) seine Chronica Slavorum entstanden. Dieser erst später aufgekommene Titel des Werks ist missverständlich, da H. keine ›Geschichte der Slawen‹ schrieb, sondern eine Missionschronik der Elb- u. Ostseeslawen durch das Bistum Oldenburg/Lübeck. Sein Interesse richtet sich daher v. a. auf die Missionierung u. Kolonisation Wagriens, einen Kristallisationspunkt der Missions- u. Siedlungspolitik. Laut Prolog verfasste H. die mit den Sachsenkriegen Karls des Großen u. der
Helmold von Bosau
Gründung des Bistums Oldenburg beginnende u. mit der Unterwerfung u. Bekehrung Rügens u. Mecklenburgs endende Chronik auf Zuspruch Gerolds; ihr Adressat ist das Lübecker Domkapitel. Die Ostkolonisation schildert H. nicht nur als Kämpfe zwischen Sachsen bzw. Deutschen u. Slawen, sondern auch vor dem Hintergrund der Reichspolitik als Auseinandersetzung zwischen geistl. u. welt. Macht um Herrschaftsräume. Protagonisten der Mission sind ihm die eigenen Bischöfe; v. a. in Buch II erhält Herzog Heinrich der Löwe eine herausragende Stellung. Die insg. regionale Akzentsetzung hängt mit H.s Interessen u. Absichten zusammen, vielleicht auch mit der (unklaren) Quellenlage: H. konnte sich womöglich nur auf den bescheidenen Handschriftenbestand seiner Pfarrei in Bosau stützen u. musste so vielleicht Quellen aus dem Gedächtnis aus seiner Braunschweiger Zeit zitieren (Berg). Für Ereignisse bis etwa 1066 diente ihm Adams von Bremen Kirchengeschichte als Hauptquelle; er verwendete jedoch auch andere Schriften, z.B. die Viten Willehads u. Ansgars oder die Weltchronik Ekkehards. In der oft als unzulänglich beurteilten Sprache u. im Stil können zahlreiche Anlehnungen an klass. u. kirchl. Werke nachgewiesen werden. H.s Chronica stellt die wichtigste Quelle zur Missionierung u. Kolonisation Wagriens u. Nordalbingiens im 12. Jh. dar u. enthält bedeutende Abschnitte zur Geschichte Heinrichs des Löwen; sie wurde im 13. Jh. u. a. von Arnold von Lübeck, der sich als direkter Fortsetzer verstand, u. von Albert von Stade rezipiert. Mit Arnolds Chronik wurde H.s Werk gemeinsam handschriftlich überliefert. Im 14. u. 15. Jh. schöpften Heinrich von Herford, Hermann von Lerbeke, Hermann Korner u. andere aus H.s Werk. Ausgaben: Helmoldi presbyteri Chronica Slavorum. Hg. Johann Martin Lappenberg. Hann. 1869 (MGH SS 21, S. 1–99). – H.s Slavenchronik. Hg. Bernhard Schmeidler. Hann. 31937 (MGH SS rer. Germ. in us. schol. 32, S. 1–218). – H. v. B., Slawenchronik. Hg. Heinz Stoob. Darmst. 62002 (lat.dt.). Literatur: H. Stoob, a. a. O., S. IX-XIII.; ebd., Volker Scior, Nachtrag, S. 407–410. – Dieter Berg: H. v. B. In: Wilhelm Wattenbach u. Franz-Josef
Helvig Schmale: Dtschld.s Geschichtsquellen im MA 1. Darmst. 1976, S. 427–433 – Ders.: H. v. B. In: VL. – V. Scior: Das Eigene u. das Fremde. Bln. 2002, S. 138–222. Norbert H. Ott / Volker Scior
Helvig, (Anna) Amalie von, geb. Freiin von Imhoff, * 16.8.1776 Weimar, † 17.12. 1831 Berlin. – Dichterin, Übersetzerin; Malerin.
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herausragende Prosaerzählung (Illustrationen von Cornelius). Unter dem Eindruck der Boisserée’schen Gemäldesammlung verfasste H. die Beschreibung altdeutscher Gemälde (1812 u. 1813) für Schlegels »Deutsches Museum«. Ihr zweites »Taschenbuch« (1817) gestaltete nord. Themen. Neben wichtigen Übersetzungen von Dichtungen Geijers u. Atterboms legte H. eine vorbildl., von Goethe anerkannte Übersetzung der Frithiofs-Sage Esaias Tegnérs vor (Stgt. 1826. 81879).
Die Tochter eines Kapitäns im Dienst der East Indian Company zeigte früh außergewöhnl. Weitere Werke: Abdallah u. Balsora. In: Die Sprachbegabung, welche die Eltern durch Horen 1797. – Die Tageszeiten. Ein Zyklus griech. Reisen ins westeurop. Ausland förderten. Zeit u. Sitte, in 4 Idyllen. Amsterd. u. Lpz. 1812. – Nach Jugendjahren auf dem väterl. Gut bei Die Schwestern auf Corcyra. Dramat. Idylle. Ebd. Nürnberg übersiedelte H. 1891 mit der 1812. – An Dtschld.s Frauen. Von einer ihrer Mutter (einer Schwester Charlotte von Steins) Schwestern. Lpz. 1816. – Helene v. Tournon. Bln. 1824 (E.). nach Weimar, wo ihr Maltalent von Heinrich Literatur: Henriette v. Bissing: Das Leben der Meyer schulgerecht ausgebildet wurde. Von Dichterin A. v. H. Bln. 1889 (TagebuchaufzeichSchiller u. Goethe gefördert, in deren Benungen, Briefe an Schiller u. a.). – Max Hecker: A. v. trachtungen zum künstlerischen Dilettantis- H. In: Preuß. Jbb. 107 (1902), S. 498–540. – Oskar mus sie eine wesentl. Rolle spielt, lebte sie Walzel: A. v. H.-I. In: Vom Geistesleben des 18. u. teils bei ihrer Tante, teils im Jenaer Haus 19. Jh. Lpz. 1911, S. 179–194. – August Oberreuter: Schillers. Nach ihrer Heirat mit einem A. v. H. als Mittlerin zwischen Schweden u. schwed. Obersten 1803 ging sie nach Stock- Dtschld. In: Beiträge zur dt. u. nord. Lit. FS Leoholm. 1810 zurückgekehrt, lebte sie in Hei- pold Magon. Hg. Hans Werner Seiffert. Bln. 1958, delberg, dann in Berlin (Kreis um Bettine von S. 304–328. – Adalbert Elschenbroich: A. H. In: Arnim). 1814–1816 hielt sich H. noch einmal NDB. – Ariane Neuhaus-Koch: Bettina v. Arnim im Dialog mit Rahel Varnhagen, A. v. H., Fanny Tarin Schweden auf. now u. Fanny Lewald. In: ›Stets wird die Wahrheit H.s literar. Schaffen zerfällt in eine klass. u. hadern mit dem Schönen‹. FS Manfred Windfuhr. eine altdt.-romant. Periode. Nachdem sie, seit Hg. Gertrude Cepl-Kaufmann u. a. Köln u. a. 1990, 1791 Hofdame, Griechisch gelernt u. kleinere S. 103–118. – Detlef Brennecke: Vom ›braven klassizistische Lyrik, Balladen u. Versepen Mann‹ A. v. H. Eine Erinnerung. In: Sozusagen. FS geschrieben hatte, verfasste sie ein idyllisches Helmut Müssener. Hg. Edelgard Biedermann u. a. Hexameterepos in sechs Gesängen, das sie Stockholm 1996, S. 65–84. – Janet Besserer Holmmit Goethe überarbeitete, Die Schwestern von gren: The women writers in Schiller’s Horen: paLesbos (in: Schillers Musenalmanach für 1800. trons, petticoats, and the promotion of Weimar Als Buch: Heidelb. 1801); »Das Werk ist wie classicism. Newark 2007. Christian Schwarz / Red. eine bronzene Statue, artig gedacht und gut modellirt, wobei aber der Guß versagt hat« Helwig, Johann, * 29.7.1609 Nürnberg, (Goethe an Schiller). Unter dem Einfluss der † 24.5.1674. – Arzt; Übersetzer u. Lyriker. Romantiker steht die Periode nach ihrer Rückkehr vom ersten, unter dem Einfluss Der Kaufmannssohn studierte nach Schulbenord. Romantik u. Sagen diejenige nach dem such in Erfurt u. Nürnberg seit 1627 in Altzweiten Schwedenaufenthalt (Kontakte zu dorf u. Straßburg, hielt sich 1630–1632 zu Atterbom u. Geijer in Uppsala, 1816). Hatte medizinischen Studien in Montpellier auf u. sie zunächst Idyllen nach Voß’ Vorbild ge- reiste dann mit dem Jesuiten Kircher nach schrieben, so weisen die Legenden ihres Genua, Mantua u. Padua, wo er 1634 in Me»Taschenbuchs der Sagen und Legenden« dizin promovierte. Im selben Jahr trat H. als (1812; Mithg. Fouqué) katholisierende u. Arzt in die Dienste der Reichsstadt Nürnberg. altdt. Züge auf; Der Gang durch Cöln ist die 1639 kam er durch Heirat in Verbindung mit
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Helwig
dem Nürnberger Patriziat. Sein Schwager 1662. – Handschrift: Sacrarium bonae memoriae Harsdörffer nahm ihn schon 1645 als »Mon- Noribergensium in der ÖNB Wien. Literatur: Johann Herdegen: Histor. Nachricht tano/ der Hängende« in den Pegnesischen Blumenorden auf. 1649 ging er als Leibarzt von deß löbl. Hirten- u. Blumen-Ordens an der des Kardinals Franz Wilhelm von Wartenberg Pegnitz Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 242–245. – Heinrich Meyer: Der dt. Schäferronach Regensburg. man des 17. Jh. Dorpat 1928, S. 32–34. – Werner H. wirkte an Gemeinschaftsarbeiten der Schultheiß: Woher stammt die Bezeichnung ›NoPegnitzschäfer mit (Lustgedicht. Nürnb. 1645. ris‹? In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Schäferische Hochzeitgemähle. Nürnb. 1648), Nürnberg 52 (1963/64), S. 551–553. – Jeremy Adschrieb Gedichte für Harsdörffers Frauenzim- ler: Pastoral typographic: Sigmund v. Birken and mer-Gesprächspiele (1646/47) u. beteiligte sich the ›Picture-Rhymes‹ of J. H. In: Visible language mit Beiträgen an zahlreichen Gelegenheits- 20 (1986), S. 121–135. – Roland Max D. Reinhart: schriften für Nürnberger Gelehrte, Kaufleute An annoted edition of J. H.s ›Die Nymphe Noris‹ (1650). Diss. Ohio State Univ. 1987. – Ders.: The u. Patrizier. 1648 widmete er Anton Ulrich privileging of the poet in J. H.’s prose eclogue ›Die von Braunschweig-Lüneburg seine Überset- Nymphe Noris‹. In: Daphnis 17 (1988), S. 647–661. zung von Francesco Ponas Ormund/ das ist: / – Ders.: Historical, poetic and ideal representation Lieb- und Helden-Gedicht (Ffm. 1648. 21666) u. in H.’s prose eclogue ›Die Nymphe Noris‹. In: machte dem dt. Leser Pirckheimers Beschrei- Daphnis 20 (1991), S. 199–229. – Ders.: ›De conbung des Flekkens Neuhofes (Nürnb. 1648) aus solatione philosophiae‹ in seventeenth-century einem Brief an Bernhard Adelmann von Germany: translation and reception. In: Daphnis Adelmannsfelden in einer kommentierten 21 (1992), S. 65–94. – Ders.: A descriptive Bibliography. Rochester, NY 1993. – Ders.: Ein treuer Übersetzung mit eigenen Poetischen Gedanken Sammler seines Vaterlandes. Patriotisches Gedenzugänglich, die noch 1758 unverändert ken in J. H.s Epitaphienslg. ›Sacrarium bonae menachgedruckt wurde. In seinem Hauptwerk, moriae Noribergensium consecratum‹. In: Chloe 36 der durch Birkens Fortsetzung der Pegnitz-Schä- (2005), S. 733–757. – Jürgensen, S. 145–156. ferey angeregten Nymphe Noris (Nürnb. 1650), Renate Jürgensen nutze H. als erster die pastorale Mischform aus Vers u. Prosa – massen dem nidrigen Schä- Helwig, Werner, auch: Einar Halvid, ferstand die offenhertzige Einfalt/ und die Unbe- * 14.1.1905 Berlin, † 4.2.1985 Thonex bei schmikte und der Natur ähnliche Gespräche / als Genf. – Erzähler, Lyriker, Kritiker, Jourgetreue Glaitsleute / sich allezeit zugesellen – nalist u. Übersetzer. konsequent zur historisch-polit. Panegyrik Der Sohn eines Malers u. Grafikers wuchs in Nürnbergs. Sein Lobpreis in Gestalt eines Berlin auf u. schloss sich der JugendbeweSpaziergangs durch das Nürnberger Land ist gung an. Die landwirtschaftl. Lehre in Parmit Beschreibungen der Nürnberger Land- chim brach er ab, um in Hamburg u. Frankschaft, Berichten über die Friedensfeierlich- furt/M. Völkerkunde, Literaturwissenschaft keiten von 1648/49 u. Diskussionen über den u. Musik zu studieren. Abenteuerliche Reisen Begriff des wahren Adels durchsetzt. führten ihn nach Skandinavien, Island, Irland In Regensburg verfasste H. Beiträge für u. Schottland. 1933 verließ er Deutschland, Gelegenheitsschriften, sammelte Material lebte längere Zeit in Griechenland unter Fizur Nürnberger Gelehrtengeschichte u. schern u. Bauern, später auf Capri, Sizilien u. übersetzte die Consolatio philosophiae des Bo- in anderen Mittelmeerländern. Sein dokuëthius (Nürnb. 1660). Seine Observationes phy- mentar. Roman Raubfischer in Hellas (Lpz. sico-medicae wurden erst 1680 von Lucas 1939) machte H. auch über die Grenzen Schröck in Augsburg herausgegeben. Deutschlands hinweg bekannt. Es ist die GeWeitere Werke: Alphabe¯ton Iatrikon hoc est schichte einer Umweltzerstörung aus ProfitBrevis totius medicinae hippocraticae in paucas ta- gier u. Not. Eine überarbeitete Fassung kam bellas redactae delineatio. Nürnb. 1631. – Prodro- 1960 als erster Band der Hellas-Trilogie heraus, mus apologeticus super relatione medica de [...] Cardinalis de Wartenberg morbo et obitu. o. O. u. J.
Hemeling
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zu der außerdem Im Dickicht des Pelion (Lpz. Hemeling, Hemelingius, Johann, * 1610 1941. Stgt. 1991) gehört. Hildesheim, † 9.12.1684 Hannover. – H. war literar. Außenseiter. Seine Prosa, oft Schreib- u. Rechenmeister. kunstvoll rhythmisiert, ist sinnlich u. beschwört myth. Hintergründe; Mensch u. H. entstammte einer alten Hildesheimer Natur bilden eine gefährdete Einheit. Er in- Schreibmeisterfamilie; sein Vater war Klosteressierte sich für die Frühgeschichte der terschreiber zu St. Michael. Seit 1641 übte H. Menschheit. Die Sagen u. Mythen der Völker den Beruf eines Schreibmeisters in Hildesfaszinierten ihn. In seinem autobiogr. Buch heim aus. 1646 übernahm er die Stelle des Auf der Knabenfährte (Stgt. 1951) erzählt er vom Schreib- u. Rechenmeisters der Stadt HannoAufbruch der »bündischen Jugend«, ihren ver, die er bis zu seinem Tod innehatte. Am Idealen u. Zielen, denen er selbst immer ver- 16.1.1656 wurde er »ex commissione Herrn bunden blieb. Die blaue Blume des Wandervogels Johan Risten« in Hannover mit dem poeti(Gütersloh 1960. Baunach 1998) ist eine schen Lorbeerkranz geehrt. Die Werke der Schreibmeister, v. a. ihre Kulturgeschichte der Jugendbewegung von den Anfängen des Wandervogels um 1900 bis Rechenbücher, trugen im 16. u. 17. Jh. maßgeblich zur Verbreitung der Schriftkultur im zum Beginn des »Dritten Reichs«. H. war Kunstkritiker u. Feuilletonist an- dt. Sprachbereich bei. Sie gehören in den gesehener Zeitungen u. Zeitschriften. Sein Strom unterhaltender u. allgemeinverständl. Leben lang verband ihn die Freundschaft zu Erzählkunst. Die eigentl. Rechenoperationen Hans Henny Jahnn. Die Parabel vom gestörten nahmen häufig nur eine untergeordnete Kristall (Mainz 1977) ist sein Rückblick auf Rolle ein. H. war einer der produktivsten u. diese Wahlverwandtschaft. H. schrieb auch anerkanntesten Schreibmeister seines JahrHörspiele u. Gedichte. Fernöstliche Lyrik, hunderts. Seine Rechenbücher hat er in groinsbes. japanische Haikus, dichtete er nach u. ßer Breite mit moralisch-aufmunterndem übersetzte sie ins Deutsche: Klänge und Schat- Gedankengut epikureischen Gepräges austen (Hbg. 1972), Wortblätter im Wind (Hbg. gestattet. Das Wechselspiel zwischen Wort u. 1945). Zahl führte ihn früh zur spielerischen WortEine seiner letzten Veröffentlichungen ist akrobatik einer »arithmetisch zu ergründendie bewegende Totenklage (Ffm. 1984) um den Letterwechselung«. Im Alter verfasste er seine verstorbene erste Frau Ivonne. geistl. Lieder, Ausdruck einer verinnerlichten Weitere Werke: Die Ätna-Ballade. Bln. 1934. – luth. Frömmigkeit. Einige davon sollen in Isländ. Kajütenbuch. Zürich 1950. – Reise ohne das Gesangbuch der Landeskirche Aufnahme Heimkehr. Hbg. 1954. Stgt. 1993. – Das Steppenverhör. Düsseld. 1957. – Capri, liebl. Unfug der gefunden haben. Von der Beliebtheit seiner Götter. Düsseld. 1957. – Briefe um ein Werk (zus. Rechenwerke zeugen die noch ein Jahrhunmit Hans Henny Jahnn). Ffm. 1959. – Ich lebe nicht dert späteren Nachdrucke; sein Arithmetischer in der BR Deutschland. Hg. Hermann Kesten. Anfang, oder kleines Rechnebuch (Hann. 1656. Mchn. 1964. – Letzte Gedichte. Reicheneck 1985. 21669 u. ö.) erschien noch bis 1827. Literatur: W. H. zum 75. Geburtstag. Heidenheim 1980. – Joachim Günther: ›Totenklage‹. In: NDH 31 (1984), S. 824 f. – Erik Martin: Das Werk W. H.s. Viersen 21991. – Richard Bersch: Pathos u. Mythos. Studien zum Werk W. H.s. mit einem biobibliogr. Anhang. Ffm. u. a. 1992. Maria Frisé / Red.
Weitere Werke Arithmetisch- u. geometr. Reim-Auffgaben [...]. Hann. 1648 u. ö. – Anagramma oder Letterwechsel [...]. Hann. 1652. – Selbst lehrende Rechne-Schuel [...]. Hann. 1655 (weitere Ausg.n bis 1753). – Arithmetisch-poetischu. historisch-Erquick Stund [...]. Hildesh. 1660. – Anfengl. Anweisunge zur Schreibkunst. Hann. 1666. – Arithmetica historica [...]. Hann. 1667. – Geistlich poet. Sonntags-Feyer. o. O. 1667. – Anfängl. Versal- u. Zug-Buchstaben. Hann. o. J. [1670?]. – Arithmet. Trichter [...]. Hann. 1677 (weitere Ausg.n bis 1783). – Neu-gemehrt christlich-poet. Seelen-Ergetzung [...]. Ffm./Hann. 1680.
257 Literatur: Bibliografien: Eckelmann 1971 (s. u.). – VD 17. – Weitere Titel: Helmut Eckelmann: J. H. [...]. Hbg. 1971. – Heiduk/Neumeister, S. 48, 183, 372 f. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1385 f. (Register). – Barbara Gärtner: Johannes Widmanns ›Behende vnd hubsche Rechenung‹. Die Textsorte ›Rechenbuch‹ in der Frühen Neuzeit. Tüb. 2000 (Register). – Karin Reich: Lehrbücher. In: Maß, Zahl u. Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu Weltverständnis u. Weltbeherrschung. Hg. Menso Folkerts u. a. 2., überarb. u. erg. Aufl. Wiesb. 2001, S. 217–242. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 837–839. Helmut Eckelmann / Red.
Hemmer, Johann Jakob, auch: Jakob Domitor, * 13.6.1733 Horbach/Pfalz, † 3.5. 1790 Mannheim. – Naturwissenschaftler u. Sprachforscher.
Hemmingstedt
Beschäftigung mit der Sprachwissenschaft aufgeben. H.s Arbeitsschwerpunkt lag auf mathematisch-physikal. Gebiet (Blitzableiter). Im Rahmen der 1780 von ihm mitbegründeten Kurpfälzischen Meteorologischen Gesellschaft gelang es ihm, ein internat. meteorolog. Beobachtungsnetz aufzubauen, dem erstmals einheitl. Methoden zugrunde lagen. Anerkennung fand H. unter anderem durch Aufnahme in die Akademien zu Bologna, Dijon u. Stockholm. Weitere Werke (zur dt. Sprache): Dt. Rechtschreibung [...]. Mannh. 1775. – Unter Pseud.: Grundris einer dauerhaften Rechtschreibung. Mannh. 1776. – Kern der dt. Sprachkunst u. Rechtschreibung. Mannh. 1780. Literatur: Angelika Haller-Wolf: Der Liebhaber der Wahrheit. Bemerkungen zu einem bisher unbekannten Kritiker des Grammatikers J. J. H. In: Sprachwiss. 12 (1987), S. 220–233. – Michio Kamitake: J. J. H. u. sein Beitr. zur Verbreitung der nhd. Schriftsprache in der Pfalz. Ffm. 1987. – BBHS. – Gerhard Bauer: Neues aus der Provinz – zum Streit zwischen J. J. H. u. Anton Klein. In: Mannheimer Geschichtsbl. 16 (2008), S. 52–71. Angelika Haller-Wolf / Red.
H. entstammte einer mittellosen Bauernfamilie. Nach dem Besuch der Lateinschule in Kaiserslautern u. des Jesuitengymnasiums in Köln studierte er dort Philosophie, Mathematik u. kath. Theologie. Seit 1760 war er Hofkaplan Karl Theodors am Mannheimer Hof, seit 1767 Mitgl. der Mannheimer Akademie der Wissenschaften. H. veröffentlichte in den 1770er Jahren eine Reihe von Schriften zur dt. Sprache. Mit Hemmingstedt, Schlacht bei. – Lieder, der Abhandlung über die deutsche Sprache zum Sprüche und chronistische Nachrichten Nutzen der Pfalz (Mannh. 1769) u. mit der von zum Sieg der Dithmarscher gegen das staatl. Seite als Grammatik eingeführten Heer der Dänen u. Schleswig-Holsteiner Deutschen Sprachlehre, zum Gebrauche der kuhram 17.2.1500. pfälzischen Lande (Mannh. 1775) trug er – noch ganz in der Tradition Gottscheds – wesent- Die Herzöge von Schleswig u. Grafen (seit lich zur Verbreitung der nhd. Schriftsprache 1474 Herzöge) von Holstein versuchten wiein der Pfalz bei. Diesem Anliegen diente auch derholt, das Land Dithmarschen, seit 1227 die von ihm mitbegründete »Kurpfälzische nominell dem Erzbistum Bremen untertan, Deutsche Gesellschaft« in Mannheim. In de facto aber ein freies Gemeinwesen, in ihre weiteren Publikationen legte H. seine sich Landesherrschaft einzuverleiben. Herzog schrittweise radikalisierenden Vorstellungen Gerhard VI. hatte bereits 1404 den unbeugvon einer strikt rationalistischen u. phonet. samen Freiheitswillen der Dithmarscher zu Rechtschreibung dar, bei der er auf ein ma- spüren bekommen u. eine vernichtende Niethemat. 1:1-Abbildungsverhältnis zwischen derlage erlitten. Ein neuerl. Versuch, das Laut u. Schrift abzielte. Daraus ergaben sich Land unter Kontrolle zu bekommen, war u. a. Forderungen nach Abschaffung der 1474 juristisch zunächst erfolgreich. ChristiKonsonantenverdoppelung u. Tilgung aller an I. von Dänemark wurde als Herr von Dehnungszeichen sowie konsequenter Schleswig u. Holstein von Kaiser Friedrich III. Kleinschreibung. Zwar fand H. dafür u. a. bei mit Dithmarschen belehnt. Der juristische Klopstock Unterstützung, die Ablehnung Schachzug blieb allerdings ohne Folgen, seiner Orthographievorschläge u. damit ver- denn Gewalt über das Land zu bekommen, bundene Anfeindungen ließen ihn jedoch die gelang nicht. Als 1481 diese Belehnung wie-
Hemmingstedt
der für ungültig erklärt worden war, wurden die Ansprüche dennoch nicht fallen gelassen. Der Konflikt eskalierte 1499, als sich die Dithmarscher im Streit wegen der Fischereirechte um die Insel Helgoland weigerten, die von den Dänen gestellten Bedingungen zu akzeptieren. König Johann von Dänemark u. sein Bruder, Herzog Friedrich I. von Schleswig, wollten diese Gelegenheit nutzen, um die Dithmarscher Frage endgültig in ihrem Sinne zu lösen. Am 11.2.1500 fielen sie mit einem großen Heer, darunter die kampferprobten Söldner der Schwarzen Garde, in Dithmarschen ein. Die Dithmarscher gaben zunächst weite Landstriche kampflos preis. Vor allem die Schwarze Garde wütete nun mit entsetzl. Grausamkeit unter der zurückgebliebenen Zivilbevölkerung. Unter geschickter Ausnutzung der Besonderheiten des Marschlandes, das geflutet wurde, gelang es den Dithmarschern schließlich, die schwer bewaffnete Invasionsarmee am 17. Febr. bei Hemmingstedt in eine Falle zu locken. In der folgenden Schlacht erlitten sowohl die Schwarze Garde als auch das Aufgebot der Adligen Holsteins u. Dänemarks vernichtende Verluste. Gegen den Kriegsbrauch blieben selbst hochadlige Gefallene unbestattet auf dem Schlachtfeld liegen. Bereits unmittelbar nach der Schlacht wurde das Aufsehen erregende Ereignis in lat. u. dt. Liedern u. Sprüchen publik gemacht. Vor allem die Drucker in den benachbarten Metropolen Lübeck (Mohnkopf-Druckerei; St. Arndes), Hamburg (Drucker des Jegher), aber auch in Köln (van Renchen) brachten in schneller Folge verschiedene Lieder/Sprüche zur Schlacht z.T. in mehreren Auflagen auf den Markt. Die herausragende Rolle hinsichtlich der publizistischen Aufbereitung der Schlacht spielt dabei das wegen wirtschaftl. Interessen eng mit Dithmarschen verbundene Lübeck. Neben den Druckerzeugnissen kursierten Lieder, Sprüche u. Geschichten, die schnell auch überregionale Verbreitung fanden. Von einem Fastnachtspiel, das wenige Wochen nach der Schlacht in Lübeck aufgeführt worden sein soll, ist nur noch der Titel bekannt: woe de adel vorleydet wart van den schelken ueth der garden. Selbst zwei dän. Lieder sind überliefert. Für die norddt. u. dän. Geschichtsüber-
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lieferung war das Ereignis von derart grundlegender Bedeutung, dass einzelne Episoden, Sprüche, Verse, Strophen über Jahrhunderte sprichwörtl. Charakter behielten. Vor allem in der Dithmarscher Chronistik ist das Ereignis bis über das 17. Jh. hinaus fester Bestandteil der histor. Überlieferung. 1. Lateinische Inkunabeldrucke: Super novissima strage in Theomarcia elegia praecipitata bzw. Super novissima strage in Theomarcia, vulgariter Dietmerschen. Die von dem Rostocker Theologen u. Poeten Hinrich Boger in 136 bzw. 140 Versen verfasste lat. Elegie erlebte noch 1500 mindestens zwei Inkunabelauflagen. In Hamburg brachte der Drucker des Jegher einen Einblattdruck heraus (GW 4605 = VE B 62) u. in Köln Ludwig von Renchen (GW 4605/10 = VE B 63). Als Abschrift erhalten hat sich die Elegie zudem in Bogers handschriftl. Etherologium, einer Sammlung seiner Gedichte, u. als Vorspann in einer Handschrift der Mecklenburgischen Reimchronik des Ernst von Kirchberg (Schwerin, LHA). 2. Deutsche Inkunabeldrucke: a) Reimpaargedicht Van den detmerschen is dyt ghedicht. Wohl ein Kleriker aus Sachsen kleidete seinen Schlachtbericht in allg. Reflexionen über das Goldene Jahr 1500. Den Sieg der Dithmarscher gegen die hochgerüstete u. nach seinen Ausführungen gottvergessene Söldnertruppe erklärt er mit ihrer vorbildl. Frömmigkeit, die den Dank u. Schutz Gottes herausgefordert habe. Für die Schlussstrophe adaptiert er die Form des Henselin. Gedruckt wurde das 262 Verse u. 4 Strophen umfassende Gedicht noch 1500 in der Lübecker Mohnkopfdruckerei (GW 18279). b) 84 Vierzeiler Wat in hundert iaren vnde nu is ghescheen. Der Dichter verbindet die aktuellen Geschehnisse des Jahres 1500 mit weit zurückliegenden histor. Ereignissen. Anknüpfungspunkt ist der überwältigende Dithmarscher Sieg 1404. Es wird deshalb vermutet, der Dichter habe ein älteres erzählendes Gedicht in seinen aktuellen Text inseriert. Der eigentl. Bericht schildert die Ereignisse im Febr. 1500 vom Einmarsch der Invasionstruppen, ihren grausamen Verfehlungen bis zur Schlacht detailliert u. chronologisch exakt. Im letzten Teil stellt er das Wunder des Sieges heraus u. führt dies auf
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Hempel
Gott zurück. Ein Hinweis auf eine schriftl. Claussen: Ein niederdt. Gedicht auf die ›S. b. H.‹. Quelle deutet darauf hin, dass er die Elegie In: Ztschr. der Gesellsch. für Schleswig-Holstein. Bogers kannte. Der in einem kleinen Heft- Gesch. 41 (1911), S. 273–282. – Nachweise zu den chen mit acht Quartblättern publizierte Text Inkunabelausgaben: Gesamtkat. der Wiegendrucke (GW): 4605, 4605/10, 18277, 18279. – Verz. der erlebte in schneller Folge mindestens drei Einblattdrucke des 15. Jh. (VE): B 62–63. Auflagen, die allesamt noch aus dem Jahr der Literatur: Walther Lammers: Die S. b. H. Freies Schlacht stammen dürften. Zwei erschienen Bauerntum u. Fürstenmacht im Nordseeraum. Eine in der Lübecker Offizin von St. Arndes (GW u. Studie zur Sozial-, Verfassungs- u. Wehrgesch. des 18277), einer in der Offizin des Jegher-Dru- SpätMA. 2., durchges. Aufl. Heide in Holstein 1982 ckers in Hamburg (GW). (grundlegend). – Erich Hoffmann: SpätMA u. Rec) Handschriftliche Fassungen: Die ge- formationszeit. Neumünster 1990, S. 309–321. – druckten Gedichte u. Lieder finden sich in Frieder Schanze: ›S. b. H.‹. In: VL. – Ders.: Inkuwechselnder Kombination auch in zahlrei- nabeln oder Postinkunabeln? In: Einblattdrucke chen handschriftl. Sammlungen aus dem des 15. u. frühen 16. Jh. Tüb. 2000, S. 45–122, hier Umfeld der Dithmarscher Chronistik, wobei S. 66 f. – Enno Bünz: Ein Dithmarscher Pfarrherr um 1500. In: Nordelbingen 74 (2005), S. 7–46, hier einzelne dieser Sammlungen erst im 17. Jh. bes. S. 29 f. Jürgen Wolf entstanden. Der Bestand entsprechenden Text- u. Liedmaterials reicht in den handschriftl. Sammlungen weit über die Drucke Hempel, Christian Gottlob, * November hinaus. Hier werden Spuren einer reichen 1748 Horburg bei Merseburg, † 11.2.1824 mündl. Tradition greifbar. Schanze ver- Leipzig. – Verfasser satirischer u. zeitgezeichnet mindestens acht weitere Lieder mit schichtlicher Schriften. Zwei-, Vier-, Fünf- u. Sechszeilern. Einige H., der sein Theologiestudium in Leipzig dieser in die verschiedenen Sammlungen in1772 mit dem Magisterexamen abgeschlosserierten Lieder bieten reine Schlachtschildesen hatte, war Privatgelehrter. Über die weirungen, andere balladenartige Strukturen, teren Lebensumstände ist nichts bekannt. was auf eine Nutzung als Tanzlied hindeutet. Seine literar. Tätigkeit begann H. – anonym Am wirkmächtigsten (bis hin zur gleichna- publizierend – mit einer Sammlung Epimigen Ballade Theodor Fontanes) sind aber grammatischer Gedichte (Lpz. 1776). Gegen Badie chronistischen Berichte aller Art, so etwa sedows Philanthropinismus ist seine in Verin den zeitgenöss. Aufzeichnungen des Bü- sen verfasste Trivialkomödie Der Lehrmeister sumer Pfarrers Andreas Brus oder der be- nach der Mode (Lpz./Schleiz 1778) gerichtet. kannten Geschichtsschreiber Hans Detlef u. Der Kurze Abriß der neuesten europäischen DenkJohann Adolf Köster gen. Neocorus im 17. Jh. würdigkeiten, Politick, Religion, Sitten, Geschmack Ausgaben: Rochus v. Liliencron: Die histor. und Litteratur betreffend (2 Tle. in 1 Bd., Bln. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. Bd. 2, 1788/89) ist eine lockere Folge von PolemiLpz. 1867, S. 432–456, Nr. 213–220. – K. E. H. ken, Kritik am moralischen Verfall des Adels Krause: Nachtr. zu den Dithmarschen-Liedern auf u. von Anekdoten. H. verfasste außerdem die ›S. b. H.‹. In: Ztschr. der Gesellsch. für Schlesmehrere antikatholische histor. u. polit. wig-Holstein-Lauenburg. Gesch. 5 (1875), S. 364–373. – L. Weiland: Beitr. zu den Dithmar- Schriften, u. a. Die Rechte eines deutschen Kaisers scher Volksliedern auf die ›S. b. H.‹. In: Jb. für die über den Pabst und über Rom [...] (Lpz. o. J. Landeskunde der Herzogtümer Schleswig, Hol- [1818]). stein u. Lauenburg 9 (1867), S. 107–116. – K. Müllenhoff in W. H. Kolster: Karsten Schröders Ditmarsische Chronik. In: Ztschr. der Gesellsch. für Schleswig-Holstein-Lauenburg. Gesch. 8 (1878), S. 219–238. – K. E. H. Krause: Zur Dithmarschenschlacht von 1500. In: Ztschr. der Gesell. für Schleswig-Holstein-Lauenburg. Gesch. 11 (1881), S. 1–24. – F. Prien: Van den Detmerschen is dyt ghedicht. In: Nd. Jb. 10 (1884), S. 89–102. – B.
Weitere Werke: Peter der Große, Kaiser v. Rußland. Lpz. 1780 (musikal. D.). – Zwo Satyren über den Geschmack u. die Göttin der Gerechtigkeit. Bremen 1782. – Irrlichter u. ihre Irrgänge, oder Irrthümer, zu welchen eine falsche Bescheidenheit u. Nachgiebigkeit die Lehrer des Christenthums verleiten könne. Cöthen 1790. – Geistl. Volkslieder, nach Kirchenmelodien. Lpz. 1795. – Was versteht man unter dem Glauben an Christum
Henckell zu Anfange des 19. Jh.? [...]. Lpz. 1802. – Napoleon Bonaparte oder: Lebens- u. Heldengesch.n des vormaligen Kaisers [...] in einer Reihe v. Bardengesängen. Lpz. 1815. Matthias Luserke-Jaqui
Henckell, Karl (Friedrich), * 17.4.1864 Hannover, † 30.7.1929 Lindau. – Lyriker.
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(Mchn./Stgt. 1911) oder Weltmusik (Mchn. 1918). Der Ausgang des Ersten Weltkriegs u. vor allem die nachfolgenden Friedensregelungen enttäuschten H. zutiefst. Er sah darin das Scheitern seiner hehren Vorstellungen einer internat. Solidarität der ästhetischen Idealisten. Diese Desillusionierung seiner sozialistischen Verbrüderungseuphorie verbitterte H., verleidete ihm das Interesse an der Politik u. führte schließlich zu seinem literar. Verstummen. So spiegelte H.s Entwicklung das Dilemma des fortschrittlich gesinnten Bürgertums gegenüber den Herausforderungen der sozialen Frage. Trotz seines Verbalradikalismus, der sich der Termini des Marxismus u. der Floskeln staatsfeindl. Opposition bediente, lebte er in völliger Unkenntnis ökonomischer Realitäten u. schreckte vor grundlegenden sozialen Umwälzungen zurück. In diese Richtung deutete auch H.s Selbststilisierung zum »Arbeiterdichter« im Dienst einer Klasse, deren Lebensbedingungen ihm jedoch fremd blieben u. die er vielmehr – ganz in der Tradition der Arbeiterbildungsbewegung des 19. Jh. – zu den ästhetischen Vorstellungen des Bürgertums emporbilden wollte. Als Anreger, Förderer u. Wegbereiter blieb H. für die jüngste Generation früher Expressionisten (z.B. Johannes R. Becher) wichtig, deren Menschheitspathos in ihm einen ihrer Vorläufer finden konnte.
H. stammte aus einem bildungsbürgerl., protestantischen u. deutschnationalen Elternhaus; der Vater war Kaufmann, Landwirt u. Bürgermeister. Nach seiner Schulzeit in Kassel studierte er in Berlin, später in Heidelberg, München u. Zürich v. a. Philosophie. In Berlin wandelte sich H. vom kritiklosen Verfechter eines dt. Hurra-Patriotismus zum »Sozialisten«, allerdings weniger in der Auseinandersetzung mit den aktuellen sozialen Problemen als durch die engen Kontakte zur damaligen literar. Avantgarde des Naturalismus; er verfasste das kämpferische Vorwort zu den von Arent herausgegebenen Modernen Dichter-Charakteren (1885). Seine eigene, an Herwegh u. Freiligrath orientierte frühe sozialpathet. u. im hohen Ton des Mahnens angelegte Lyrik (u. a. Poetisches Skizzenbuch. Minden 1882. Diorama. Zürich 1890) wurde in Deutschland während der Sozialistengesetze verboten u. dadurch bekannt; ihr Verfasser entzog sich in die Schweiz ins Exil (seit 1890 mit eidgenöss. Bürgerrecht). Hier war H., mittlerweile mit eigenem Verlag, Mittelpunkt der »Zürcher Kolonie«, einer Gruppe Weitere Werke: Amselrufe. Zürich 1888 (L.). – zeitweise oder auf Dauer exilierter Reprä- Trutznachtigall. Stgt. 1891 (L.). – Sonnenblumen. sentanten des reichsdt. Literatur- u. Kultur- Flugbl. der Lyrik. 4 Jahrgänge, Zürich 1896–99. – betriebs, unter ihnen Gerhart Hauptmann, Ges. Werke. 4 Bde., Mchn./Bln. 1921. 5 Bde., 21923. Literatur: Magda Janssen: K. H. Ein DichterWedekind u. die Brüder Hart. Erst zu Beginn des 20. Jh. kehrte H. zurück bild. Mchn. 1911. – Karl Friedrich Schmid (Hg.): K. u. ließ sich 1902 in Berlin, 1908 in München H. im Spiegel seiner Umwelt. Aufsätze, Briefe, als freier Schriftsteller nieder. In dieser Phase Gedichte als Gedenkschr. Lpz. 1931. – Fritz Hüser: Rolf Selbmann / Red. nahm H. mehr u. mehr Abschied von seinen K. H. In: NDB. bisherigen sozialen u. polit. Themenstellungen. Er selbst empfand diesen Schritt von der Henel von Hennenfeld, Nicolaus, * 11.1. »Klassendichtung« hin zur »Menschheits1582 Neustadt/Schlesien, † 23.7.1656 dichtung« als programmat. Entwicklung zur Breslau. – Landeskundler u. Historiograf. reinen Poesie. In dichter Folge u. mit gleichmäßigem Anklang beim Publikum erschie- Der Pastorensohn studierte nach dem Besuch nen nun Lyrikbände wie Neues Leben (Zürich/ des Breslauer Elisabeth-Gymnasiums ab 1600 Mchn. 1900), Gipfel und Gründe (Bln. 1904), in Jena Medizin, dann Philosophie u. Schwingungen (Bln./Mchn. 1906), Im Weitergehn Rechtswissenschaft u. übernahm eine Haus-
Henckell zu Anfange des 19. Jh.? [...]. Lpz. 1802. – Napoleon Bonaparte oder: Lebens- u. Heldengesch.n des vormaligen Kaisers [...] in einer Reihe v. Bardengesängen. Lpz. 1815. Matthias Luserke-Jaqui
Henckell, Karl (Friedrich), * 17.4.1864 Hannover, † 30.7.1929 Lindau. – Lyriker.
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(Mchn./Stgt. 1911) oder Weltmusik (Mchn. 1918). Der Ausgang des Ersten Weltkriegs u. vor allem die nachfolgenden Friedensregelungen enttäuschten H. zutiefst. Er sah darin das Scheitern seiner hehren Vorstellungen einer internat. Solidarität der ästhetischen Idealisten. Diese Desillusionierung seiner sozialistischen Verbrüderungseuphorie verbitterte H., verleidete ihm das Interesse an der Politik u. führte schließlich zu seinem literar. Verstummen. So spiegelte H.s Entwicklung das Dilemma des fortschrittlich gesinnten Bürgertums gegenüber den Herausforderungen der sozialen Frage. Trotz seines Verbalradikalismus, der sich der Termini des Marxismus u. der Floskeln staatsfeindl. Opposition bediente, lebte er in völliger Unkenntnis ökonomischer Realitäten u. schreckte vor grundlegenden sozialen Umwälzungen zurück. In diese Richtung deutete auch H.s Selbststilisierung zum »Arbeiterdichter« im Dienst einer Klasse, deren Lebensbedingungen ihm jedoch fremd blieben u. die er vielmehr – ganz in der Tradition der Arbeiterbildungsbewegung des 19. Jh. – zu den ästhetischen Vorstellungen des Bürgertums emporbilden wollte. Als Anreger, Förderer u. Wegbereiter blieb H. für die jüngste Generation früher Expressionisten (z.B. Johannes R. Becher) wichtig, deren Menschheitspathos in ihm einen ihrer Vorläufer finden konnte.
H. stammte aus einem bildungsbürgerl., protestantischen u. deutschnationalen Elternhaus; der Vater war Kaufmann, Landwirt u. Bürgermeister. Nach seiner Schulzeit in Kassel studierte er in Berlin, später in Heidelberg, München u. Zürich v. a. Philosophie. In Berlin wandelte sich H. vom kritiklosen Verfechter eines dt. Hurra-Patriotismus zum »Sozialisten«, allerdings weniger in der Auseinandersetzung mit den aktuellen sozialen Problemen als durch die engen Kontakte zur damaligen literar. Avantgarde des Naturalismus; er verfasste das kämpferische Vorwort zu den von Arent herausgegebenen Modernen Dichter-Charakteren (1885). Seine eigene, an Herwegh u. Freiligrath orientierte frühe sozialpathet. u. im hohen Ton des Mahnens angelegte Lyrik (u. a. Poetisches Skizzenbuch. Minden 1882. Diorama. Zürich 1890) wurde in Deutschland während der Sozialistengesetze verboten u. dadurch bekannt; ihr Verfasser entzog sich in die Schweiz ins Exil (seit 1890 mit eidgenöss. Bürgerrecht). Hier war H., mittlerweile mit eigenem Verlag, Mittelpunkt der »Zürcher Kolonie«, einer Gruppe Weitere Werke: Amselrufe. Zürich 1888 (L.). – zeitweise oder auf Dauer exilierter Reprä- Trutznachtigall. Stgt. 1891 (L.). – Sonnenblumen. sentanten des reichsdt. Literatur- u. Kultur- Flugbl. der Lyrik. 4 Jahrgänge, Zürich 1896–99. – betriebs, unter ihnen Gerhart Hauptmann, Ges. Werke. 4 Bde., Mchn./Bln. 1921. 5 Bde., 21923. Literatur: Magda Janssen: K. H. Ein DichterWedekind u. die Brüder Hart. Erst zu Beginn des 20. Jh. kehrte H. zurück bild. Mchn. 1911. – Karl Friedrich Schmid (Hg.): K. u. ließ sich 1902 in Berlin, 1908 in München H. im Spiegel seiner Umwelt. Aufsätze, Briefe, als freier Schriftsteller nieder. In dieser Phase Gedichte als Gedenkschr. Lpz. 1931. – Fritz Hüser: Rolf Selbmann / Red. nahm H. mehr u. mehr Abschied von seinen K. H. In: NDB. bisherigen sozialen u. polit. Themenstellungen. Er selbst empfand diesen Schritt von der Henel von Hennenfeld, Nicolaus, * 11.1. »Klassendichtung« hin zur »Menschheits1582 Neustadt/Schlesien, † 23.7.1656 dichtung« als programmat. Entwicklung zur Breslau. – Landeskundler u. Historiograf. reinen Poesie. In dichter Folge u. mit gleichmäßigem Anklang beim Publikum erschie- Der Pastorensohn studierte nach dem Besuch nen nun Lyrikbände wie Neues Leben (Zürich/ des Breslauer Elisabeth-Gymnasiums ab 1600 Mchn. 1900), Gipfel und Gründe (Bln. 1904), in Jena Medizin, dann Philosophie u. Schwingungen (Bln./Mchn. 1906), Im Weitergehn Rechtswissenschaft u. übernahm eine Haus-
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Hengstler
lehrerstelle bei Nikolaus von Rhediger, des- Oberschles. Autoren 1450–1620. In: Ebd., sen Biograf er wurde. Eine Ausbildungsreise S. 486–547, hier S. 510–515. – Gunhild Roth: N. H. mit dessen Söhnen führte 1609–1612 über v. H. u. seine Stellung in der schles. GeschichtsHeidelberg (Gruter), Nancy, Paris (Bongars, schreibung. In: Die oberschles. Literaturlandschaft im 17. Jh. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2001, Godefroy, de Thou) nach Orléans (Dr. jur. utr. S. 247–268. – Wojciech Mrozowicz: Hss. v. u. über 1610); Mailand, Venedig u. Süditalien N. H. v. H. in der Universitätsbibl. Breslau. In: ebd. schlossen sich an. S. 269–315. – Klaus Garber: Quellenkunde zu N. H. Ein Jahr nach der Rückkehr erschienen H.s v. H. In: Ders.: Martin Opitz, Paul Fleming u. Silandeskundl. Arbeiten Silesiographia u. Breslo- mon Dach auf der Reise in den Osten. Köln/Weigraphia (Ffm. 1613). Seit 1618 Syndikus u. mar/Wien 2009. Klaus Garber später Prokanzler des Herzogtums Münsterberg, erwarb er 1631 den Ratstitel, avancierte Hengstler, Wilhelm, * 3.1.1944 Graz. – 1639 zum Syndikus des Breslauer Rats sowie Prosaist, Dramatiker, Essayist; Drehzum Rat des Fürstentums Liegnitz u. wurde buchautor u. Filmemacher. 1642 als Protestant (mit calvinistischen Sympathien) zum Kaiserlichen Rat u. in den erbl. H. studierte 1964–1969 RechtswissenschafAdelsstand erhoben. 1653 kam die Pfalzgra- ten an der Universität Graz, arbeitete danefenwürde hinzu. H. nutzte die Mußestunden ben immer wieder als Lehrer u. publiziert ab zur Fortführung seiner Breslau- u. Schlesi- 1965 in der Literaturzeitschrift »manuskripenstudien, konnte Neuauflagen jedoch nicht te« (kontinuierlich ab Nr. 17), v. a. Erzähmehr verwirklichen. Seine Silesiographia re- lungen. Nach der Promotion widmete er sich novata erschien erst in einer Neubearbeitung 1970–1974 Postgraduatestudien in Graz u. des Prälaten Michael Joseph Fibiger (Breslau Wien (Staatswissenschaften/Rechtsphilosou. Lpz. 1704); Breslographia renovata u. Silesia phie, Ökonometrie, Technische Mathematik) togata blieben ungedruckt, obgleich sie – wie u. war zgl. Richteramtsanwärter; daneben das Otium Vratislaviense (1658) – einen kul- war er literarisch tätig. Sein Roman Slow Moturgeschichtl. Schatz ohne Parallele darstel- tion wurde in »manuskripte« in Fortsetzunlen. H. war nicht nur nlat. Dichter (Epigram- gen abgedruckt (abgeschlossen mit dem 9. matum liber I-III. 1615/16), sondern auch ein Kapitel in H. 56, 1977). 1975–1979 war H. Verehrer der dt. Sprache, förderte die jungen Assistent am Institut für Arbeits- und SoziDichter u. schrieb seine Chronik des Her- alrecht der Universität Graz, 1979–1983 der »Steirerkrone«. zogtums Münsterberg u. des Weichbilds Kulturredaktuer Frankenstein auf Deutsch (auszugsweise 1982–1984 entstand Hundeliebe (16mm, 50’), gedr. in: Friedrich Wilhelm von Sommers- eine Alltagsanthropologie. 1984–1988 war H. berg: Scriptores rerum Silesiacarum. Bd. 1, Lpz. als Filmregisseur tätig; daneben entstanden journalistische u. schriftstellerische Arbeiten. 1729). Literatur: Christian Gottlieb Jachmann: Bei- Der 1987 erschienene Band Die letzte Premiere träge zur jurist. Lit. Schlesiens (mit Selbstbiogr. (Ffm.) enthält Geschichten aus 20 Jahren – H.s). Breslau 1782. – Johann Gerog Peuker: Kurze gekennzeichnet von großer Liebe zum Detail biogr. Nachrichten der vornehmsten schles. Ge- u. zu mancherlei Kuriositäten. In pointierter lehrten [...]. Grottkau 1788, S. 45–51. – Hermann Form hält H. der Realität seine eigenen soziMarkgraf: N. H.s v. H. [...] Leben u. Schr.en. In: alkritisch-utop. Wahrnehmungen entgegen. Ztschr. des Vereins für Gesch. u. Altertum Schlesi- So heißt es in seinem 1965 verfassten Text in ens 25 (1891), S. 1–41. – Kosch. – Klaus J. Heinisch: 28 Punkten – Der Revolvermann: »Ein RevolvN. H., ein schles. Gelehrter der Barockzeit. In: Jb. ermann überlebt, weil er unzählige Kleinigder Schles. Wilhelms-Universität zu Breslau 20 keiten beachtet; aber Professionalität ist nie(1979), S. 111–131 (mit Bibliogr.). – Manfred Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. München mals eine Garantie.« Von den Filmen Jean-Luc Godards u. Jeano. J., S. 49–91. – Wolfgang Kessler: N. H. als Historiograph. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte v. Pierre Melvilles beeindruckt, begann H. seine Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosel- Auseinandersetzung mit diesem Medium. lek. Bielef. 2000, S. 205–219. – Klaus-Peter Möller: Die Verfilmung des autobiogr. Romans Fege-
Henisch
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feuer von Jack Unterweger 1988 (35mm, 85’, mit Jürgen Goslar) erregte großes Aufsehen. Der Film, an dessen Drehbuch Jack Unterweger mitgearbeitet hat, schildert lakonisch in Schwarz-Weiß-Bildern den fatalen Kreislauf aus Strafdelikten u. kriminellen Handlungen, die die Hauptfigur ins Gefängnis bringen. Danach arbeitete H. als Kulturredakteur u. freier Schriftsteller u. führte Regie bei dem Film Lust & Leid (kulturhistor. Essay für den ORF, Video, 45’, 1992). 1991–1994 war er Leiter des Filmfestivals »Filmtage im steirischen herbst«, 1994 künstlerisch-wissenschaftl. Leiter der steirischen Landesausstellung »Wege zur Kraft«. 1995 folgte H.s zweiter Spielfilm Tief Oben (35mm, 90’, Farbe, mit Peter Simonischek u. Barbara Steele). 1996–2003 war er als Theaterkritiker u. Essayist tätig. Daneben entstanden eine Filmarbeit für den ORF (Vorname Maria. Video über Wallfahrt Mariazell, 45’, 1996) sowie Fernsehaufzeichnungen des multimedialen Events »Ein Leben für die Technik« mit Klaus Maria Brandauer (1996) u. der Technikshow »Science on Stage« mit Niki Lauda. 1999 inszenierte H. für das Theater Herz der Finsternis nach Joseph Conrad mit Gerhard Balluch u. den »Time Bandits« u. 2000 zur GauguinAusstellung die Show »Kopfbilder« im Landesmuseum Joanneum (Graz). 2003 führten ihn projektbezogene Reisen nach Bhutan, Bangladesh, Nepal u. Indien. 2004 erschien der Text fare (Graz/Wien), 2006 das Buch (Weitra) zum Film HANNS in der Zeit (2005, Video, 60’, Farbe), ein Spielfilm über den charismatisch visionären Kulturpolitiker Koren. Seit 2004 arbeitet H. am Roman Zulm, der in Indien u. Österreich handelt. H. erhielt u. a. 1972 den Theodor-Körner Preis, 1977 den Literaturförderungspreis der Stadt Graz, 1989 den Viennalepreis für Fegefeuer, den Buchebner-Preis u. 2004 den »manuskripte«-Preis. Gerhard Jaschke / Andreas Weber
Henisch, Peter, * 27.8.1943 Wien. – Prosaschriftsteller, Lyriker, Dramatiker, Journalist; Liedtexter u. Sänger. Der Sohn des Pressefotografen Walter Henisch studierte Germanistik, Philosophie,
Geschichte u. Psychologie u. war Mitbegründer der Gruppe »Wespennest«, aus der 1969 die gleichnamige Zeitschrift entstand. H. bezog in der Diskussion über eine adäquate »realistisch kritische« Schreibweise in den literaturtheoret. Auseinandersetzungen der 1970er Jahre einen Standpunkt sowohl gegen die rein formalistische konkrete Poesie u. die bloße Nachahmung des Literaturkonzepts der Avantgarde (wie etwa der »Wiener Gruppe«) als auch gegen die reine Widerspiegelungstheorie der marxistischen Literatur. Er war Mitbegründer, Liedtexter u. Sänger der Gruppe »wiener fleisch & blut«, 1970–1973 Mitgl. des »Arbeitskreises österreichischer Literaturproduzenten« u. trat 1972 in die Literaturredaktion der Zeitschrift des Theaters der Jugend, »Neue Wege«, ein. In seinem Band Vom Baronkarl. Peripheriegeschichten und andere Prosa (Ffm. 1972), einer Mischung aus Prosa u. Lyrik in dialektgefärbter Umgangssprache, verarbeitete er sozial engagiert die Geschichte eines Wiener Vagabunden. Die Prosapublikation Hamlet bleibt (Ffm. 1971), in der H., der Bewusstseinsspaltung der Hamletfigur auf der Spur, seine eigene Identität als Autor befragt, ist eine Art »Reihenepigramm«. Selbstbeschreibung ist für H. unbedingt »Umweltbeschreibung«. Auch in den späteren Texten sind seine Themen Ich-Verlust, Bewusstseinsspaltung, Entfremdung u. Identitätssuche. Im autobiogr. Roman Die kleine Figur meines Vaters (Ffm. 1975. Erste überarb. Ausg. Mchn./Wien 1980. Zweite überarb. Ausg. Salzb./Wien 1987. Dritte überarb. u. erw. Ausg. mit Fotos von Walter Henisch sen. Salzb./Wien/Ffm. 2003) etwa ist die akrib. Erforschung der Persönlichkeit des Vaters u. Suche nach sich selbst, u. der Roman Der Mai ist vorbei (Ffm. 1978. Neuaufl. mit Auszügen aus dem gleichnamigen Drehbuch von H. u. Robert Schindel. Mchn. 1982), Erinnerung u. Korrektur der schon zum Mythos stilisierten Ereignisse des »Mai ’68«, entwickelt sich zur Standortbestimmung des Protagonisten. Um Vergangenheitsbewältigung in Österreich geht es auch in dem in »seismographischer Sensibilität« geschriebenen Roman Steins Paranoia (Salzb./Wien 1988): Ein versäumter Widerspruch nach einer antisemitischen Äu-
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ßerung in einer Trafik löst bei Max Stein, 1945 in Kanada geboren u. 1950 mit seiner jüd. Familie nach Wien gekommen, eine Krise aus u. macht ihn krank. H. greift zudem tagespolit. Diskussionen auf u. erinnert an Orte nationalsozialistischer Verbrechen in Wien. Neben anderen Texten aus mehr als zwanzig Jahren enthält der Gedichtband Hamlet, Hiob, Heine (Salzb./Wien 1989) den 1973–1975 entstandenen, 1988/89 überarbeiteten u. erweiterten Gedichtzyklus Wegwärts von Wien (auf CD zusammen mit Woody Schabata u. Hans Zinkl. Weitra [1991]). Abgesehen vom Buch der Lieder ist H. als Lyriker v. a. von William Carlos Williams, Charles Olson u. Robert Creeley geprägt. Morrisons Versteck (Salzb./Wien 1991. Überarb. Ausg. Mchn. 2001) ist der erste einer Reihe von Texten, die sich mit den USA beschäftigen. Wie bereits in dem Roman Hoffmanns Erzählungen. Aufzeichnungen eines verwirrten Germanisten (Mchn. 1983) findet sich hier das Widergängermotiv, dieses Mal in der Gestalt des tot geglaubten Texters u. Sängers der Rockgruppe »The Doors«. Der Ich-Erzähler Paul, ein Journalist, will »der ihn immer ärger bedrängenden fantastischen Geschichte eine (seine) realistische Geschichte entgegensetzen«. Indirekt mit den USA zu tun hat die Literatursatire Vom Wunsch, Indianer zu werden. Wie Franz Kafka Karl May traf und trotzdem nicht in Amerika landete (Salzb./Wien 1994. Als Hörsp. ORF 1992), in der im Jahr 1908 Karl May auf seiner ersten Amerikareise u. Franz Kafka auf seiner ersten Dienstreise für die Arbeiter-Unfall-Versicherung einander auf einem Schiff begegnen. Der im Titel erwähnte kleine Erzähltext Kafkas Wunsch, Indianer zu werden wird vollständig zitiert. Als Ergebnis eines Literaturspiels entwerfen May u. Kafka die ersten Sätze von Amerika (Der Verschollene). H.s Neigung, »die Peripherie zu stilisieren«, zeigt sich auch in dem Entwicklungsroman Schwarzer Peter (Salzb./Wien 2000): In einer Bar in New Orleans erzählt der Pianist Peter Jarosch, Sohn einer Wiener Straßenbahnschaffnerin u. eines schwarzen amerikan. Besatzungssoldaten, mit wachem Blick für jegl. Form von Ausgrenzung u. Rassismus sein Leben. Er, der auf der Suche
Henisch
nach seinem Vater und auf der Flucht vor seiner kaputten Ehe nach Louisiana gekommen ist, berichtet von der »mystischen Donaukanalheimat«, wo er sich als »Kind des lateralen und peripheren Wien« fühlte, vom Umzug in ein neues, ungeliebtes Stadtviertel, von der voreilig geschlossenen Ehe, der nicht geglückten sexuellen Emanzipation u. den Ansätzen einer Studentenrevolte 1968. Das Milieu u. manche Details sind aus H.’ früheren Büchern bekannt. Als »Leitfiguren für literarische Geistreisen« bevorzugt H. »Außenseiterfiguren«, angefangen vom Baronkarl über seinen Vater bis zu Morrison u. zum Schwarzen Peter; aber auch Karl May gehört dazu, der in einem inneren Monolog sein Scheitern reflektiert, während seine Frau u. Kafka sich miteinander vergnügen. Immer wieder die Technik der Zitatmontage einsetzend, nahm H. in Kommt eh der Komet. Eine Erzählung (Salzb./Wien 1995. Als Hörsp. ORF 1996) einen Stoff von Nestroy auf, den er bereits in lumpazimoribundus. antiposse mit gesang (Eisenstadt, Wien/Mchn. o. J. [1975]. Urauff. Wien 1976) u. 1980 in einer ersten Novellenfassung verarbeitet hatte. Neben intertextuellen Beziehungen innerhalb des eigenen Werks gibt es auch solche zu anderen literar. Werken, in dem Roman Die schwangere Madonna (Salzb./Wien 2005) sowohl zu Nabokovs Lolita als auch zu Thomas Manns Tod in Venedig. Als eine »Paraphrase« des Doktor Faustus versteht H. den Roman Pepi Prohaska Prophet (Salzb./Wien 1986. Überarb. u. erw. Neuausg. St. Pölten/Salzb. 2006), der sich durch das Spiel Erzähler/Protagonist/ Biograf auszeichnet. Mit seinem Buch über die Großmutter (Eine sehr kleine Frau. Wien 2007) näherte er sich thematisch stark dem Buch über seinen Vater an. H. erhielt u. a. 1971 den Förderungspreis zum österreichischen Staatspreis, 1973 den Luitpold-Stern-Preis, 1975 den Förderungspreis der Stadt Wien für Literatur, 1976 den Sonderpreis des Landes Salzburg zum Rauriser Literaturpreis, 1977 den Anton-WildgansPreis, 1981 den UNDA-Preis der Internationalen katholischen Vereinigung für Rundfunk und Fernsehen Monte Carlo (zusammen mit Wolfgang Glück) u. 2005 den Würdigungspreis des Landes Niederösterreich.
Henkel Weitere Werke: Lit. der Zukunft / Zukunft der Lit. – oder was? In: LuK 7 (1972), H. 63, S. 141–144. – wiener fleisch & blut. Wien/Mchn. 1975. – mir selbst auf der spur / hiob. gedichte. Baden bei Wien 1977. – Die kleine Figur meines Vaters (zus. mit Jörg Eggers u. Wolfgang Glück). BR/MTV/ORF 1979 (Drehb.). – Zwischeneiszeit. Mit 4 Originallinolschnitten v. Sonja Henisch. Wien 1979. – Vagabunden-Gesch.n. Mchn./Wien 1980. – Bali oder Swoboda steigt aus. Mchn./Wien 1981 (R.). – Zwischen allen Sesseln. Gesch.n, Gedichte, Entwürfe, Notizen, Statements 1965–1982. Wien 1982. – Hoffmann oder die Renitenz. Bühnenstück in 4 Akten. Wien/Mchn. 1984. Als Hörsp. ORF 1987. – Baronkarl. Alte u. neue Peripheriegesch.n. Mit Fotos v. Sepp Dreissinger. Weitra 1992. 21993. – Geht’s mir, bittschön, aus der Sonn! ORF 1992 (Hörsp.). – Black Peter’s Songbook. Salzb./Wien/ Ffm. 2001 (mit CD, zus. mit Woody Schabata u. Hans Zinkl). – Figurenwerfen. Der P.-H.-Reader. Hg. u. mit einem Ess. v. Franz Schuh, unter Mitarbeit v. Christian Gastgeber. Salzb./Wien/Ffm. 2003. – Der verirrte Messias. Wien 2009 (R.). Literatur: Joseph P. Strelka: Eine Phänomenologie des Mitmachens. Zur frühen, autobiogr. Erzählprosa v. P. H. In: MAL 13 (1980), Nr. 1, S. 149–161. – Ludwig M. Fischer: P. H. In: DLB 85 (1989), S. 188–192. – Craig Decker: Photographic Eye, Narrative I: P. H.’s ›Die kleine Figur meines Vaters‹. In: Monatshefte 83 (1991), Nr. 2, S. 147–160. – Regina Kecht: Faschistische Familienidyllen – Schatten der Vergangenheit in H., Schwaiger u. Reichart. In: Austrian Writers and the Anschluss: Unterstanding the Past – Overcoming the Past. Hg. Donald G. Daviau. Riverside, CA 1991, S 313–337. – Hans-Joachim Bernhard: Traumkorrekturen. Anmerkungen zur jüngsten österr. Lit. am Beispiel v. Michael Scharang u. P. H. In: ›Sein u. Schein – Traum u. Wirklichkeit‹. Zur Poetik österr. Schriftsteller/innen im 20. Jh. Hg. Herbert Arlt u. Manfred Diersch. Ffm. u. a. 1994, S. 121–131. – Jennifer E. Michaels: Is Stein Paranoid? P. H.’s Reflections on the Jewish Experience in Austria after the Presidential Election of 1986 in his Novel ›Steins Paranoia‹. In: MAL 27 (1994), Nr. 3/4, S.107–125. – Eva Schobel. P. H. Eine Monogr. 2 Bde., Wien 1998. – Linda C. DeMeritt: Identity as Schizophrenia: The Autobiography of P. H. In: The Fiction of the I. Contemporary Austrian Writers and Autobiography. Hg. Nicholas J. Meyerhofer. Riverside, CA 1999, S. 61–79. – J. Michaels: An Experiment with Himself: P. H.’s Autobiographical Writing in ›The Small Figure of My Father‹, ›May Is Gone‹, and ›Stein’s Paranoia‹. In: ebd., S. 80–100. – Andrea Kunne: Jüd. Identität in der österr. Nach-
264 kriegslit. P. H., Robert Schindel, Robert Menasse u. Doron Rabinovici. In: Jüd. Identitäten. Einblicke in die Bewußtseinslandschaft des österr. Judentums. Hg. Klaus Hödl. Innsbr. u. a. 2000, S. 271–306. – Todd C. Hanlin: Professionalism, Patriotism, or Opportunism? – An Austrian Dilemma. P. H.’s ›Die kleine Figur meines Vaters‹. In: Modern Austrian Prose. Interpretations and Insights. Hg. Paul F. Dvorak. Riverside, CA 2001, S. 86–106. – Christoph Parry: Von den Vorzügen der Fiktionalisierung. P. H.s u. Peter Handkes Elternbiogr.n u. die Suche nach einer adäquaten literar. Form der Wahrheitsfindung. In: Jb. Int. Germ. 33 (2001), H. 2, S. 81–100. – Ders.: P. H. In: KLG. – C. Decker (Hg.): Balancing Acts. Textual Strategies of P. H. Riverside, CA 2002. – Walter Grünzweig u. Gerhard Fuchs (Hg.): P. H. Graz/Wien 2003. – Anthony Bushell: Family History as National History: P. H.’s Novel ›Die kleine Figur meines Vaters‹ and the Issue of Memory in Austria’s Second Republic. In: Orbis Litterarum 59 (2004), S.100–113. – P. F. Dvorak: P. H.’s ›Schwarzer Peter‹: Formulating Self-Identity on an Austrian Backdrop. In: Visions and Visionaries in Contemporary Austrian Literature and Film. Hg. Margarete Lamb-Faffelberger u. Pamela S. Saur. New York u. a. 2004, S. 187–198. – Gary Schmidt: Austrian Identity and the Sexualized Racial Other: Lilian Faschinger’s ›Wiener Passion‹ and P. H.’s ›Schwarzer Peter‹. In: CG 39 (2006), 2, S.185–208. – ›Ich bin recht schwer in eine Lade zu stecken.‹ P. H. über P. H. u. a. Lit. Ein Gespräch mit Günter Haika. In: praesent (2007), S. 99–112. – Stefanie Harris: Dis-Orienting Photography: Making, Reading, Exhibiting Images in P. H.’s ›Die kleine Figur meines Vaters‹ (2003). In: MAL 40 (2007), Nr. 3, S. 73–94. – Helmut Hofbauer: Von der Unmöglichkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden u. dieses seinen Mitmenschen verständlich zu machen. Ein Versuch über P. H.s Roman ›Der Mai ist vorbei‹. In: Orbis Linguarum 32 (2007), S. 59–84. Jutta Freund / Bruno Jahn
Henkel, Heinrich, * 12.4.1937 Koblenz. – Theaterautor. H., von Beruf Malermeister, lebt seit 1964 in Basel u. war 1970–1975 Mitarbeiter u. Hausautor des Basler Theaters. Er geht in seinen Theaterstücken vom Arbeitsalltag aus, den er mit dokumentar. Genauigkeit nachzeichnet. Die Dialoge, in denen die eigentl. Handlung der Stücke liegt, gleiten aber immer unüberhörbarer von den stereotypen Floskeln der Alltagsunterhaltungen ab u. le-
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gen das Innere der von der Arbeitswelt beschädigten Figuren bloß, die zwischen Auflehnung u. resignierter Anpassung schwanken. Besondere Beachtung fand das Stück Eisenwichser (Ffm. 1970. Urauff. Basel 1970; etwa 70 mal nachgespielt), das die exakte Wiedergabe von Arbeitsvorgängen mit hintergründiger Dialogführung verbindet. Schauplatz des Stücks ist der unterird. Röhrenkanal eines Großbetriebs – ein beeindruckendes Sinnbild für die dunklen Seiten der Industriegesellschaft, wo Menschen mit ihrem Leben für den Profit anderer bezahlen u. wo die ökolog. Katastrophen schlummern. Das psycholog. Gespür, über das H. neben seinem krit. Blick verfügt, zeigt sich im Besonderen in der Zeichnung alter Menschen, etwa der pensionierten, alleinstehenden Frau im Stück Altrosa (Ffm. 1983). Weitere Werke: Spiele um Geld. Basel 1971. – Frühstückspause. Ffm. 1971. – Olaf u. Albert. Ffm. 1973. – Die Betriebsschließung. Ffm. 1975. – Still Ronnie. Ffm. 1981. – Lohnhof. Ffm. 1996 (als Ms. gedruckt). Dominik Müller / Red.
Henle, Elise (Sara), auch: Elise Levi, verh. Levi, * 10.8.1831 München, † 18.8.1892 Frankfurt/Main. – Verfasserin von Lustspielen, Opernlibretti, Gedichten u. Kochbüchern. H. entstammt einer bedeutenden jüd. Familie Bayerns. Ihr Großvater, Elkan Henle, war ein Vorkämpfer der Judenemanzipation, ihr Bruder Siegmund von Henle Anwalt des bayerischen Königshauses u. Abgeordneter im Bayerischen Landtag. Bei H. spielt das Judentum keine explizite Rolle. Auf Harmonisierung bedachte polit. Untertöne durchziehen ihr gesamtes Werk u. zeigen sich v. a. im frühen Lustspiel Der 18. Oktober (Stgt. 1871). Erste Anregungen zur dramat. Arbeit erhielt H. im Mädcheninstitut in München. Ihre dort aufgeführten Stücke publizierte sie später (Backfischchens Theaterfreuden. Stgt. [1887]). Auch ihr musikal. Talent bekundete sich schon hier in eigenen Kompositionen u. lässt die spätere Librettistin erkennen (Murillo. Lpz. [1887] u. ö. Manon. Lpz. [1887]).
Henle
1853 heiratete H. den Fabrikanten Leopold Levi u. lebte fortan in Esslingen. 1854 wurde die Tochter Mathilde geboren. 1881 meldete die Firma ihres Mannes Konkurs an u. H. zog zunächst allein zu ihrer Tochter nach München. Ihr Lustspiel Entehrt (Stgt. 1879 u. ö.) behandelt die Problematik sich entfremdender Eheleute, die sich durch charakterl. Defizite u. Schicksalsschläge voneinander entfernen. 1889 zog H. zu ihrer Schwester nach Frankfurt/M., wo sie 1892 starb u. auf dem jüd. Friedhof beigesetzt wurde. Ihre Komik beziehen H.s Lustspiele durch das Ausstellen der Etikette. In oft stereotyper Figurenzeichnung werden die Standes- u. Geschlechterunterschiede traktiert. So durchzieht der Kontrast eines unabhängigkoboldhaften u. eines sanft-nachgiebigen Frauentyps ihr Werk (v. a. Durch die Intendanz. Stgt. 1879. Der Erbonkel. Lpz. [1880] u. ö.). Die Frauenemanzipation wird verhandelt, beschränkt sich jedoch auf die Gattenwahl u. wird nicht politisch verstanden. Das Spiel um Sein u. Schein verlängert sich in die Künstlerthematik ihrer Stücke. Die Rahmenbedingungen künstlerischen Schaffens werden beleuchtet. So nimmt Durch die Intendanz die gescheiterte Inszenierung von Aus Göthes lustigen Tagen (Stgt. 1878 u. ö.) auf u. schildert Intrigen hinter der Bühne von Theater, Presse u. Politik. H.s Werk gehört mit seiner teils gereimten, teils in Blankverse gebundenen Rede in den Kontext der klassizistischen Bestrebungen der Gründerjahre. Mit Referenzen an den »bekehrten« jungdt. Schriftsteller Heinrich Laube verortet sich H. selbst im Umkreis einer gemäßigt-gesellschaftskrit. Literatur. H.s Stücke wurden auf deutschsprachigen Bühnen oft gespielt u. in hoher Auflage publiziert. In zeitgenöss. Literaturgeschichten u. der Presse fanden sie ein breites Echo. Heute gilt es, ihr Werk erst wieder neu zu entdecken im Zuge einer feministisch u. sozialgeschichtlich interessierten Literaturwissenschaft. Weitere Werke: Die Wiener in Stuttgart. Stgt. 1879. – Liebesqualen. Bln. 1881. – Guat is’s. Kochrecepte in oberbayr. Mundart. Mchn. [1884] u. ö. Neuausg. Mchn. [1988]. – Auf dem Meeresgrund. Mchn. 1888. – Zeitgemäß. Excentrisch. Ruhbedürftig. Lpz. 1890. – So mag i’s. Kochrecepte
Henneberg in schwäb. Mundart. Mchn. [1892]. Neuausg. Stgt. 1988. – Wer will frz. lernen? Stgt. [1893]. – Herausgeberin: Was soll ich deklamieren? Stgt. [1885]. – Bearbeitung: Rosa v. Tannenburg. Das Blumenkörbchen. Das Johanniskäferchen. Frei nach Christoph v. Schmid. Ravensburg 1896. Literatur: Meyer Kayserling: Die Jüd. Frauen in der Gesch., Lit. u. Kunst. Lpz. 1879. – Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Stgt. 1992. – Ingrid Gierhake: E. H., Theaterautorin. In: Stadt Esslingen (Hg.): Frauen leben Gesch. Esslingen 1996. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Marion Schmaus: E. H.: ›Aus Göthes lustigen Tagen‹. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 202 f. Marion Schmaus
Henneberg, Claus, * 18.7.1928 Hof/Saale. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Hörspielautor.
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zipiell unterscheidet: »Hennebergs Gebilde«, schreibt Helmut Heißenbüttel, »haben [...] nichts mit Sprachspielerei und -experiment zu tun. Sie spiegeln Erfahrungen.« So berichtet etwa der Prosaband Jugend-Geschichten (Hof 1995) von verschiedenen Kindheitserinnerungen (»Orte. Dinge«) in perspektivisch beschränkten, sinnlich akzentuierten Momentaufnahmen: »Lange Winternachmittage in der Schule, über eine einfache Schreibübung gebeugt, das Summen der Gasheizung im Ohr.« Reduktion kennzeichnet ebenso, wenn auch in ganz anderer Weise, H.s »Siebtexte«, vornehmlich gesammelt im Hauptbuch (Baldham/Mchn. 1983), in denen Prosastücke, z.B. von Jean Paul, Goethe u. Melville, Kleists Marionettentheater u. Stifters Sonnenfinsternis, auf ihren basalen Aussagekern konzentriert werden; der Tristan beispielsweise, mehrfach durchgesiebt, schrumpft auf einen einzigen Satz zusammen: »König / sucht / süße / Gattin / mit / List.« H. wurde 1968 der Förderungspreis der Stadt Nürnberg u. 1998 die Johann-Christian-Reinhart-Plakette der Stadt Hof verliehen.
Nach seinem Einsatz als Luftwaffenhelfer im Zweiten Weltkrieg studierte der Sohn eines Rechtsanwalts an der Universität München Jura; daneben war er Herausgeber der Literaturzeitschrift »Ophir«. H. steht der Avantgarde der 1960er Jahre um Gomringer, HeiWeitere Werke: Monologe. Neuwied/Bln.ßenbüttel, Jandl, Mayröcker u. Bayer sowie Spandau 1963. – Wörterbuch zu Homer u. a. Siebder »Stuttgarter Schule« von Max Bense texte. Hof 1970. – he, Schwestern. Urauff. Hof 1988 nahe. Zwischen 1966 u. 1970 veranstaltete er (D.). – Kinder u. Narren. Hof 1996 (P.). – Rabenpost. die Tage für »neue literatur in hof«, ein Fo- Hof 1998 (P.). – Zeitsprünge. Hof 2001 (P.). – rum des Sprachexperiments u. der konkreten Selbstporträt. Hof 2003 (P.). – Eine Liebesgesch. Hof 2004 (P.). – Auferstehung. Drei Gesch.n. Hof Poesie, konzipiert als Gegenveranstaltung zu 2008 (P.). den Treffen der Gruppe 47. 1970 gründete er Literatur: Helmut Heißenbüttel: Punktuelle den »verlag für neue literatur«. 1972–1993 Gedichte. In: Dt. Ztg., 28./29.7.1962. – Reinhard war H. als Buchhändler in Hof tätig, wo er Baumgart: Zweimal sog. Avantgarde. In: Die Zeit, heute als freier Schriftsteller lebt. 17.8.1962. – Ludwig Harig: Man spricht, um zu H.s Werk kennzeichnet insg. ein Prinzip sprechen. In: Die Zeit, 23.3.1984. – Ders.: Die der Reduktion, sowohl hinsichtlich der ge- Ordnung der Dinge. In: SZ, 30./31.3.1996. wählten Sujets wie auch der poetischen VerKlaus Hensel / Kai Sina fahrensweisen. Seine Texte und Notizen (Neuwied/Bln.-Spandau 1962), eine frühe SammDer Henneberger. – Sangspruchdichter lung von Lyrik u. fragmentar. Prosastücken, aus dem 2. Drittel des 13. Jh. erzählen vom »beben eines kleinen vogels in der hand« oder »etwas ganz kleine[m] run- Die Jenaer Liederhandschrift (J, um 1330) ist der de[n] rote[n]«, geschildert in einem durchge- einzige Überlieferungszeuge für ein Corpus hend abbreviatorischen Duktus. Kennzeich- von elf Strophen gleichen Tons, das unter nend ist dabei die betonte Subjektivität der dem Rubrum »Der Hynnenberger« notiert Erfahrungen, die hier jeweils unterschiedli- wurde. Der Name verweist auf die fränk. chen poetischen Versuchsanordnungen un- Grafschaft Henneberg, deren führende Köpfe terworfen werden, eine Fokussierung, die H.s – insbes. die Grafen Poppo VII. (gest. 1245) u. Ansatz von dem der konkreten Poesie prin- Hermann I. (gest. 1290) – mehrmals in
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Hennecke
Literatur: Erdmute Pickerodt-Uthleb: Die JePreisstrophen der Sangspruchdichter (u. a. Bruder Wernher, Marner, Wartburgkrieg) er- naer Liederhs. Göpp. 1975, S. 442. – RSM. – Helwähnt wurden. Es ist aber völlig unklar, ob mut Tervooren: Der H. In: VL. – Ders.: Sangwir es beim H. mit einem adligen Dilettanten spruchdichtung. Stgt. 1995. Christoph Fasbender oder einem sich nach der Grafschaft nennenden Berufsdichter bzw. bloßen Vortrags- Hennecke, Hans, * 30.3.1897 Betheln, künstler zu tun haben. Dafür, dass die Kreis Gronau/Hannover, † 21.1.1977 J-Strophen vortragsbedingt umgeformt wur- Gröbenzell bei München. – Literaturkriden, spricht, dass in acht Strophen die An- tiker, Essayist u. Übersetzer. fangszeile des ersten Stollen um einen Takt länger als die entsprechende Zeile des zwei- H., Sohn eines Pfarrers, wuchs in Düren/ ten Stollens erscheint. Nie wird der H. von Rhld. auf u. ging dort zur Schule. Aus dem den Sangspruchdichtern apostrophiert oder Krieg verwundet zurückgekehrt, studierte er attackiert, noch setzt er sich selbst explizit zu ab 1918 Germanistik, Philosophie, Anglistik ihnen in Beziehung. Gemeinsam mit ihnen u. Romanistik in Berlin, Heidelberg u. Götbeklagt er aber den Zustand der »armen tingen. In Berlin war H. zwischen 1930 u. kristenheit« (J 3), worin man eine Anspielung 1939 für Verlage tätig. 1946 ging er nach auf das Interregnum (1254–1273) nach dem München. Er redigierte 1946–1948 die ersten beiden Jahrgänge der Zeitschrift »Die Fähre« Tod der letzten Staufer erkennen kann. u. war anschließend als freier Kritiker MitDas H.-Corpus gilt ausweislich der Reimarbeiter zahlreicher Zeitungen u. Zeitschrifsprache als mitteldeutsch. Die Strophen doten. Neben dem Übersetzerpreis der Deutminiert eine gattungsspezif., im Ton durchschen Akademie für Sprache und Dichtung in aus optimistische Adelskatechese. Besitz u. Darmstadt (1969) erhielt er zahlreiche andere Privilegien der Fürsten implizieren deren literar. Auszeichnungen. 1962–1968 hatte H. soziale Verantwortung, ihnen obliegen Gastprofessuren an verschiedenen UniversiSchaffung u. Wahrung des Friedens (J 3). Sie täten der USA u. Kanada inne. sollen sich nicht auf schlechte Ratgeber herH. ist einer der bedeutenden Vermittler ausreden (J 5) u. darauf achten, dereinst mit frz., v. a. aber neuerer angloamerikan. Litegutem Gewissen abtreten zu können (J 10). ratur in Deutschland. Er setzte sich seit den Freunden soll man beistehen, notfalls für sie 1930er Jahren in Essays, Kritiken u. mit sterben (J 2). Auffällig ist ein Interesse an Übersetzungen für Autoren wie Joyce, Pound, geistl. Themen, wobei den H. gerade die un- Faulkner, T. S. Eliot, Wyndham Lewis u. ergründl. Geheimnisse (Schöpfung: J 7, Er- Cummings, für D. H. Lawrence, Saroyan u. lösungswerk: J 6, Gottesmutter: J 8) faszi- Yeats ein. Er verbreitete die Prinzipien des nierten, deren Erhellung er weder Laien noch New Criticism in Deutschland u. verknüpfte Pfaffen wirklich zutraut (J 7). Der Zweifel an sie in seinen eigenen Arbeiten mit den der verzeihenden Gnade, die »desperatio«, Grundlagen von Philologie u. Hermeneutik, wird als Todsünde vor Gott und der Schöp- formbewusst geleitet vom Stil als dem fung ausgemalt (J 4). Sehr ungewöhnlich ist »Magma« der Gehalte. H. bemühte sich auch eine Fürbittstrophe mit Zügen einer Mari- um die in Deutschland noch kaum entwienklage (J 9). Wenn der H. tatsächlich eine ckelte Poetik des Übersetzens (Gedichte von »gelehrte Ausbildung« genossen hat (Ter- Shakespeare bis Ezra Pound. Wiesb. 1955. Erw. vooren), dann begriff er seine Aufgabe wohl Fassung von Englische Gedichte von Shakespeare in der Bearbeitung religiöser Anliegen eines bis W. B. Yeats. Einf., Urtexte, Übertragungen. Laienpublikums im Medium der Dichtung, Bln. 1938). ohne sich dabei vom konkurrierenden Klerus In Aufsätzen u. mit Editionen wies H. in Kontroversen verwickeln zu lassen. nachdrücklich auf vergessene Dichter hin, die Ausgabe: Die Jenaer Liederhs. I. Hg. Georg Holz, ihm für die Entwicklung der dt. Literatur im Franz Saran u. Emil Bernoulli. Lpz. 1901. Nachdr. 20. Jh. wichtig erschienen, etwa Arno Holz, Otto Zur Linde, Alfred Mombert, Konrad 1966, S. 63–66 (zit.).
Hennig von Lange
Weiss u. Albrecht Schaeffer. Sein literaturkritisch-essayistisches Vermächtnis, das ihn an die Seite von Essayisten u. Kritikern wie Curtius u. Rychner rückt, sind die Bände Dichtung und Dasein. Gesammelte Essays (Bln. 1950) u. Kritik. Gesammelte Essays zur modernen Literatur (Gütersloh 1958). Literatur: Fritz Usinger: Universale Literaturkritik. In: Dt. Rundschau 78 (1952), S. 988 f. – Hans Egon Holthusen: Die Lust am Englischen. In Hochland 49 (1956/57), S. 475–479. – Ludwig Rohner: Der dt. Essay [...]. Neuwied/Bln. 1966. – Joachim Günther: H. In: NDH 24 (1977), S. 220 f. (Nachruf). – Karl Korn: Gedenkwort für H. H. In: Jb. der Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung 1977. Heidelb. 1978, S. 168 ff. – Ulrich Weisstein: H. H. In: Yearbook of Comparative and General Literature 27 (1978), S. 128 f. – Peter Schulz: Exkurs – zum Gedenken an H. H. In: Rudolf Borchert, Jürgen Kniesz (Hg.): Für Demokratie u. Freiheit. Banzkow 2004, S. 134 ff. Wilhelm Haefs / Red.
Hennig von Lange, Alexa, * 21.3.1973 Hannover. – Roman- u. Jugendbuchautorin.
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die um eine kindl. Lelle (Hbg. 2002) u. Erste Liebe (Bln. 2004) ergänzt wird. Die Abnabelung von den Eltern, das Bewusstsein für die unwiederholbare Kindheit u. der gleichzeitig anhaltende Wunsch nach Geborgenheit in einer eigenen Familie markieren Sujets, die auch von den weiteren Werken der Autorin fortgeschrieben werden, mal melancholisch reflektierend wie in Woher ich komme (Bln. 2003) oder Warum so traurig? (Bln. 2005), mal mit den sezierenden Techniken des Thrillers wie in Risiko (Köln 2007). Ein Faible für dramat. Stoffe beweist H. mit Flashback (zus. mit Stefan Pucher; Urauff. Bln. 1998), Faster Pussycat! Kill! Kill! (Urauff. Gött. 2001) u. Baal und ich (Urauff. Hann. 2001) sowie mit der Bühnenfassung von Ich habe einfach Glück (Urauff. Hann. 2003). Weitere Werke: Ich bin’s. Hbg. 2000. – Mai 3D. Ein Tagebuchroman (zus. mit Till Müller-Klug u. Daniel Haaksmann). Bln. 2000. – Mira reicht’s. Reinb. 2004. – Mira schwer verliebt. Reinb. 2006. – Leute, ich fühle mich leicht. Mchn. 2008. – Leute, mein Herz glüht. Mchn. 2009. – Peace. Köln 2009. Literatur: Hubert Winkels: Grenzgänger. Neue
Nach dem Abitur 1992 arbeitete H. als Model dt. Popliteratur. In: SuF 51 (1999), H. 4, S. 581–610. – Christiane Caemmerer u. a. (Hg.): sowie als Moderatorin u. Daily-Soap-Autorin Fräuleinwunder literarisch. Lit. v. Frauen zu Befür das Fernsehen, bevor ihrem Debütroman ginn des 21. Jh. Ffm. u. a. 2005. – Annette Wagner: Relax (Hbg. 1997) auf Anhieb große, aber Postmoderne im Adoleszenzroman der Gegenwart. auch kontroverse Aufmerksamkeit zuteil Studien zu Bret Easton Ellis, Douglas Coupland, wurde. Das als Rollenprosa abgefasste Proto- Benjamin v. Stuckrad-Barre u. A. H. v. L. Ffm. u. a. koll eines Wochenendes schildert Party-, 2007, S. 346–380. – Simone Depner: A. H. v. L. In: Drogen- u. Sexerfahrungen einer nach Ge- KJL. – Sandra Mehrfort: Poplit. Zum literar. Stelgenwart hastenden Generation, die sich in lenwert eines Phänomens der 1990er Jahre. Karlsr. ihrem (Geschlechter-)Verhalten an klischee- 2008. Marc Reichwein haften Versatzstücken aus Pornografie, Comics u. Medien orientiert. Mit seiner (auch Henniger, Gerd, * 26.6.1930 Chemnitz, sprachlich) radikal oberflächl. Perspektive, † 14.10.1990 Berlin. – Übersetzer, Lyriker die auf jede moralische Brechung u. psychou. Essayist. log. Tiefe seiner beiden adoleszenten Protagonisten verzichtet, wurde Relax in der De- Nach dem Studium der Geschichte, Kunstbatte um neue dt. Popliteratur stark kritisiert, geschichte, Germanistik, Philosophie u. Puaber auch lobend verglichen mit der Direkt- blizistik in Jena u. Berlin promovierte H. heit u. Unmittelbarkeit eines Rainald Goetz. 1955 über Paul Klees Theorie von der Malerei im Ich habe einfach Glück (Hbg. 2001) wurde Verhältnis zur Struktur seines Gesamtwerkes. 2002 mit dem Jugendliteraturpreis ausge- 1955/56 an der Ècole du Louvre tätig, überzeichnet. Der tragikom. Roman, der vom Er- nahm er zwischen 1957 u. 1960 eine Dozenwachsenwerden der 15-jährigen Protagonis- tur für Kunstgeschichte an der Meisterschule tin Lelle in materiell wohlbehüteten, psy- für Graphik und Buchgewerbe in Berlin. chologisch jedoch fragilen Familienverhält- 1958–1965 war er Lektor im Berliner Henssel nissen erzählt, begründet eine kleine Serie, Verlag. In diese Zeit fielen erste poetische
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Versuche u. Reisen nach Italien, Griechenland u. Frankreich. Zwischen 1959 u. 1963 gab H. die »Schriftenreihe für Literatur« Das Neue Lot heraus, für die er Essays, Gedichte u. Prosatexte von Blanchot, Ponge, Artaud u. de Sade übersetzte (Das neue Lot. Rückblick auf eine Schriftenreihe. Selbstinterview. In: Park Nr. 29/ 30, 1987). Zu den bis heute gültigen Übersetzungen dieser Zeit gehört insbes. H.s. Übertragung von Maurice Blanchots L’espace littéraire (Die wesentliche Einsamkeit. Bln. 1959. Bln. 1984). Die im Zuge der Übersetzungen intensiv studierten Themen, Motive u. Schreibweisen des frz. Symbolismus, Existenzialismus u. der an Heidegger geschulten frz. Essayistik bildeten für H. den poetischen Grundstock der 1965 begonnenen Tätigkeit als freier Autor. Die Fixsterne der ästhetischen Moderne – Leben u. Tod, fragmentiertes Subjekt u. gesichtslose Masse, die Rätsel des Menschseins u. die Wunder der Liebe – verband H. zu einem emphatisch aufgeladenen Verständnis von »Schreiben« u. »Dichtung«. »Schreiben«, so Blanchot, dessen Position H. übernahm, »heißt in die Bejahung der Einsamkeit eintreten« (Die wesentliche Einsamkeit). Um den Zwängen des relationalen Denkens zu entgehen, beanspruchte H. im Akt des Schreibens einen Raum abwesender Anwesenheit u. vice versa zu konstituieren. Dafür entwickelte er eine Poetik, die aus der Literatur heraus eine Formsprache gewinnt, die dem ›Leben‹ gerecht werden soll. »Man muß sich definieren, unbedingt, einmal für immer. Durch sprachliche Ereignisse, die nur Gedichte sein können.« (Wie die Poesie über mich kam. In: Texte und Briefe. Bibliographie. Warmbronn 1994) Erste Ansätze einer derart dezidierten künstlerischen Ethik hatte H. bereits in seiner Dissertation entwickelt. Im Vordergrund steht Klees Begriff des »Formdenkens«, der »besagt, daß das Formen und das Denken eine analoge Struktur aufweisen und in einem ursprünglichen Vergleichsverhältnis stehen, in dem die Aktion der einen Betätigungsweise notwendig eine gleichartige Aktion der anderen nach sich zieht.« (Paul Klees Theorie von der Malerei) Zwei Gedichtbände stehen paradigmatisch für H.s Denken u. Schreibweise ein. Bei le-
Henniger
bendigem Leib (Bln. 1978) orientiert sich einerseits an der verrätselten, mythopoetischen Bildersprache des frz. Modernismus, andererseits an durchaus ›realistischen‹, der Welt kritisch bis ablehnend zugewandten Wortassoziationen u. Alltagsbeobachtungen. Zeilen wie »Arbeit ist der größte Feind der trinkenden Klasse« (»Trubel«) oder »Auch jetzt noch / gibt’s Strand unterm Pflaster / selbst wenn Blinde nichts davon wissen wollen« (»Baustelle«) zielen auf die Gegenwart einer Gesellschaft, die sich selbst aufgegeben hat u. nur in politisch erstarrten Überzeugungen weiterlebt. Dagegen setzt H. eine Poesie, die Sprache u. Welt, Wort u. Leben anspielungsreich in Beziehung zu setzen sucht. »Atem als Wort« heißt es im Gedicht »Stadtluft«, das der Dichtung einen Raum jenseits des Sozialen zuweist. Bei lebendigem Leib bewegt sich auf einem schmalen Grad zwischen ästhetizistischer Weltflucht u. poetischer Weltverwandlung. H. positioniert sich in einer poetischen Konstellation, die von John Cages minimalistischen Traktaten (vgl. H.s Aufsatz Die Provokation der Stille. John Cage als Schriftsteller. In: Sprache im technischen Zeitalter 58, 1976, S. 143–162) bis zu Rolf Dieter Brinkmanns letzten Gedichten reicht (Westwärts 1 & 2. Reinb. 1975), u. in denen der Rückzug des synästhetisch zusammengesetzten Menschen in die Gefilde des Verborgenden inszeniert wird, hin zu einer Existenzform, die sich der Kontingenz der Moderne anvertraut, nicht ihrer Vorbestimmtheit. Weiße Musik. Gedichte in Prosa (Bln. 1986) setzt diese Bewegung zur musikal. Form konsequent fort. Der erste Teil »Hellwach ins Offene entschlafen« exponiert gleich zu Beginn den zentralen Begriff, an dem sich das poetische u. das Autor-Ich orientieren wollen: das »Offene«. »Offen« ist das Unbekannte, das Unerwartete, die Zwischenwelt, das Andere. »Schützt ruhig Kunst vor, damit euer Nervenkostüm nicht platzt. Es könnte sonst sein, daß im Schock einer Pause Unendlichkeit in euch fährt.« Dem Schock des Unendlichen versucht H. eine Form zu geben, indem er literarische mit musikal. Ordnungsideen mischt. Neben Anspielungen auf Mallarmé, der für H. gegen Ende seines Lebens immer wichtiger wurde, waren es Kompo-
Henning
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Literatur: Salcia Landmann: Spiel mit dem nisten wie Buxtehude oder der Bousoq-Spieler Matar Mohammed, die zu Inspirations- Entsetzen. G. H.s ›Brevier des schwarzen Humors‹. In: Die Welt der Lit., 7.7.1966. – Richard Anders: quellen seiner poetischen Prosa wurden. Die zeitgenöss. Literatur hat H. ausneh- Banalität mit Hintergrund. G. H., ›Bei lebendigem Leib‹. In: Der Tagesspiegel, Berlin, 6.5.1979. – mend kritisch begleitet, als Redner, Essayist Gérald Froideveaux: Der Ess. ist eine Geisteshalu. Kritiker für Zeitschriften u. den Rundfunk. tung. In seinen Aufsätzen sucht G. H. ›Spuren ins Im Vorwort zu Spuren ins Offene (Mchn./Wien), Offene‹. In: FAZ, 2.11.1984. – Helmut Heißender 1984 erschienenen Sammlung seiner büttel: Alte u. neue Rhetorik. G. H.s Ess.s über Lit.: wichtigsten Essays zwischen 1966 u. 1981, ›Spuren ins Offene‹. In: SZ, 19.1.1985. – Jürgen rechnet H. radikal mit der dt. Gegenwartsli- Wellbrock: Stille, Emblem des Todes. Nachruf auf teratur ab. Seine lebenslange Parteinahme für G. H. In: Park 15 (1991), H. 39/40, S. 19 f. die Außenseiter der Literatur, zu denen er Claas Morgenroth sich auch selbst zählte, greift hier ablehnend um auf die so genannte polit. Literatur nach Henning, Aegidius, auch: Vincentius Fa1945, auf den sozialistischen Realismus, mit bullus, Aemulus Hättgern, Florentinus dem H. durch seine Studienjahre in Jena Wahrmund, Gustav Rundraus, Veroander vertraut war. Vor dem Hintergrund dieser aus Wahrburg, * um 1630 Herborn, Erfahrung wandte er sich in seinen Essays † 28.2.1686 Eichen. – Satiriker, Verfasser vorwiegend jenen Vertretern der ›schwarzen‹ moralisch-didaktischer Schriften. Moderne zu, für die Gesellschaftskritik stets Sprachkritik ist: Autoren wie Apollinaire, Der Sohn des reformierten Pfarrers u. nachFrancis Ponge, Sade oder Nietzsche. maligen Hanauer Hofpredigers Conrad HenIn dem postum erschienenen Aufsatz ning studierte Theologie in Bremen, Kassel, Montaigne oder Das Wagnis durch Sprache zu leben Herborn u. Basel. Nach einem Aufenthalt in (in: Park 16, 1992, Nr. 43/44. Nachdr. Amsterdam (1653/54) war er ab 1655 Pfarrer Warmbronn 2000) entdeckt H. bei Montaigne u. a. in Mittelbuchen, Dorheim u. Eichen. H.s schließlich eine Schreibhaltung, die für sein Erstling Güldene Narrenkappe (Hanau 1654) eigenes Leben kennzeichnend ist. So als steht als Ständesatire in der Tradition von würde er über sich selbst schreiben, notiert Erasmus’ Laus stultitiae. Don Iro (Hanau 1665), er: »Schreiben ist ihm eine notwendige Dis- ein iron. Enkomium des Bettelwesens, das ziplin, den Zustand der Klarheit zu erzeugen; Abschnitte aus Alemáns Guzmán de Alfarache der literarische, ja selbst der philosophische in dt. Übersetzung enthält, war für die VerEffekt werden demgegenüber zu materiellen mittlung pikaresker Literatur von BedeuRückständen [...]«. tung. H. bekennt sich hier wie in seinem GeH. erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, priesenen Büchermacher (Ffm. 1666) ausdrückdarunter den Kritikerpreis für Literatur lich zur Nachfolge Johann Balthasar Schupps. (1985) u. den Wieland-Übersetzerpreis Früchte eines barocken Polyhistorismus sind (1987). die Quodlibetanea-Sammlungen Mischmasch Weitere Werke: Rückkehr vom Frieden. Bln. (Ffm. 1665) u. Drey-Hundert und Siebentzig 1969 (L.). – irrläufer. Bln. 1972 (L.). – Träume (zus. Geist- und Sinnreiche Warheiten (Ffm. 1667), in mit Christoph Meckel). Leonberg 1987 (P.). – Glä- denen auch zeitkrit. Töne anklingen. Als Reserne Schlüssel. Zwölf physiognom. Versuche. gierkunst in der Tradition der antiken FürsWarmbronn 1992. – Herausgeber: Marquis de Sade. tenspiegel präsentiert sich der Gewissenshaffte Werke. Basel/Mchn. 1965. – Brevier des schwarzen Königliche Estats-Raht (Ffm. 1667). Gegenstück Humors. Mchn. 1966. – Beispiele manierist. Lyrik. auf der Dienerebene u. Hofkritik ist die Mchn. 1970. – Übersetzer: Paul Eluard: Hauptstadt Trostschrift Der Betrübte und Getröstete Herrender Schmerzen. Bln. 1958. – Antonin Artaud: Das Theater u. sein Double. Ffm. 1969. – Henri Mi- Diener (Ffm. 1673). H.s Hauptwerk ist die chaux: Unseliges Wunder. Das Meskalin. Mchn. Satire Nagelneue Bauren Anatomie (o. O. 1674), die unter wechselnden Titeln u. Pseudony1986. men dreimal neu aufgelegt wurde (1682, 1684, 1714). Sie sicherte H. Einfluss auf die
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satir. Bauerndarstellung bis ins 18. Jh. hinein (vgl. z.B. Urban Dorffgast [Pseud.]: Curiöse Bauer-Historien. o. O. 1709). Literatur: Leo van Santen: Das Dorf als literar. Kosmos. A. H. (um 1630–1686). Leben, Werk u. Literaturprogramm. Aachen 2005. Guillaume van Gemert
Hennings, August (Adolph Friedrich) von, * 19.7.1746 Pinneberg, † 17.5.1826 Rantzau. – Politischer Publizist.
Hennings
rung u. politisch-ökonomisch an engl. Vorbildern u. physiokratischen Konzepten orientierte, kennzeichnet die frühliberale Strömung im dt. Bürgertum vor u. während der Französischen Revolution. Mit umfassenden, aus prakt. Bedürfnissen entwickelten polit. u. ökonomischen Reformen, die sich bes. gegen die Stellung des Adels richteten, sollte die Emanzipation des Bürgertums im Rahmen einer aufgeklärten Monarchie erreicht werden. Dementsprechend waren etwa Pressefreiheit u. Sicherheit des Eigentums zentrale Forderungen, deren Erfüllung bürgerl. Freiheit u. allg. Wohlstand – sich wechselseitig bedingend – ermöglichen sollte.
Nach dem Besuch des Gymnasiums in Hannover, dann in Altona, u. einem Jurastudium in Göttingen (Promotion 1766) verbrachte H., oft gemeinsam mit seinem Freund Ernst Weitere Werke: Olavides. Kopenhagen 1779. – von Schimmelmann, dem Sohn des dän. Philosoph. Versuche. 2 Tle., Kopenhagen 1779. – Schatzmeisters, mehrere Jahre in Pinneberg, Philosoph. u. statist. Gesch. des Ursprungs u. des Hamburg u. Kopenhagen. 1771 wurde er Fortgangs der Freiheit in England. Kopenhagen Archivsekretär der Rentenkammer in Ko- 1783. – Über die wahren Quellen des Nationalpenhagen; er ging 1772 als Legationssekretär wohlstandes [...]. Kopenhagen, Lpz. 1785. – Vorurtheilsfreie Gedanken über Adelsgeist u. Aristoder dän. Gesandtschaft nach Berlin u. war kratism. o. O. [Braunschw.] 1792. Neudr. Kronberg/ 1774–1776 als Chargé d’affaires am sächs. Taunus 1977. Hof in Dresden tätig. In Berlin trat H., verLiteratur: Joachim Hild: A. H. Erlangen 1932. mittelt durch seinen Schwager Johann Albert – Hans Wilhelm Ritschl: A. A. F. v. H. Hbg. 1978. – Heinrich Reimarus, in Verbindung zu Men- Rolf Schempershofe: A. H. u. [...] ›Der Genius der delssohn. Anschließend stieg er in Kopenha- Zeit‹. In: Jb. des Instituts für Dt. Gesch. 10 (1981), gen in dem von Schimmelmann geleiteten S. 137–167. – Erika Süllwold: ›Der Genius der Commerzcollegium bis zum Kammerherrn Zeit‹. Köln 1985. – Gerhard Kay Birkner: ›Es fährt ein neuer Geist daher; und alte Festen wanken [...]‹. (1784) auf. Infolge polit. Umbrüche wurde H., der A. v. H. u. die ›Plöner Aufklärung‹. In: Carl Frieddurch seine aufgeklärten philosophischen u. rich Cramer (1752–1807). Revolutionär, Professor politisch-ökonomischen Schriften unbequem u. Buchhändler (Ausstellungskat.). Nordhausen 2002, S. 456–477. Christoph Weiß / Red. geworden war, aus Kopenhagen entfernt. Im gleichen Maße wie ihn seine Tätigkeiten als Amtmann in Plön (seit 1787) u. als AdminisHennings, Emmy, auch: E. Ball-H., trator der Grafschaft Rantzau (seit 1807) von * 17.1.1885 Flensburg, † 10.8.1948 Sopolit. Einflussnahme ausschlossen, verstärkte rengo/Lugano. – Lyrikerin, Erzählerin. er seine publizistische Arbeit. Vor allem durch die von ihm herausgegebenen Zeit- H. entstammte einer dt.-dän. Seemannsfaschriften wurde H. zu einem der wichtigsten milie. Sie verdiente nach der Volksschule ihpolit. Publizisten seiner Zeit: »Schleswig- ren Lebensunterhalt als Dienstmädchen u. sches Journal« (1792/93), »Der Genius der heiratete mit 18 Jahren den Schriftsetzer Zeit« (1794–1800), »Der Musaget. Ein Be- Hennings. Bereits wenige Wochen nachdem gleiter des Genius der Zeit« (1798/99), die beiden sich einer Wanderbühne ange»Annalen der Leidenden Menschheit« schlossen hatten, trennten sie sich. H. reiste (1795–1801), »Der Genius des neunzehnten als Vortragskünstlerin durch viele Städte. Ab Jahrhunderts« (1801/02; alle Neudr. Nendeln 1914 arbeitete sie am »Simplicissimus« in 1972). München mit. Dort lernte H. die Dichter H.’ Position, die sich philosophisch we- Georg Heym, Hardekopf, Wedekind, Werfel sentlich an den Ideen der frz. u. dt. Aufklä- u. ihren späteren Mann Hugo Ball kennen.
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1915 emigrierte sie mit ihm nach Zürich u. Kommunikation zwischen E. H. (aus Flensburg) u. wurde Mitbegründerin des »Cabaret Vol- Hugo Ball (aus Pirmasens). In: Joachim Jacob (Hg.): taire« u. der »Galerie Dada«. Ihre letzten Le- Palimpseste. FS Norbert Altenhofer. Heidelb. 2004, bensjahre verbrachte H. im Tessin. Enge S. 163–172. – Stefanie Rinke: Körper u. Medien. Spuren des Traumas bei E. H. u. Irmgard Keun. In: Freundschaft verband sie mit Hesse, der 1956 Bettina Fraisl u. Monika Stromberger (Hg.): Stadt ihre Briefe an Hermann Hesse (Neuaufl. Ffm. u. Trauma. Würzb. 2004, S. 281–296. – Regina 1985) veröffentlichte. Bucher u. Bernhard Echte (Hg.): E. B.-H. Muse, H. schrieb bildhaft expressionistische, das Diseuse, Dichterin. Wädenswil 2006. eigene Leben u. Zeitgeschehen reflektierende Angelika Müller / Red. Gedichte (Die letzte Freude. Lpz. 1913. Der Kranz. Einsiedeln 1939) u. verfasste Märchen- Henrich-Wilhelmi, Hedwig, * 1838 u. Legendennacherzählungen (Märchen am Mainz, † nach 1913 Stuttgart. – DramatiKamin. Einsiedeln 1943. Ffm. 1990. Das irdi- kerin u. Publizistin. sche Paradies und andere Legenden. Luzern 1945). Mit Hugo Ball, dessen Gedenken sie ihr Frühreif debütierte die Tochter eines Arztes Hauptwerk widmete (Hugo Ball. Sein Leben in u. der Schriftstellerin Albertine Henrich mit Briefen und Gedichten. Bln. 1930. Ffm. 1991. ihrem Trauerspiel Virginie (nebst einem GeHugo Balls Weg zu Gott. Mchn. 1931. Ruf und dichtanhang. Stgt. 1853). Nach ihrer Heirat Echo. Mein Leben mit Hugo Ball. Einsiedeln lebte sie in Granada, wo führende Schrift1953. Ffm. 1990; mit einem Nachw. von steller, darunter Benito Pérez Galdós u. Pedro Christian Döring), verband sie die Sehnsucht de Alarcón, in ihrem Salon verkehrten u. auch der »Seele nach geistigen Werten« (in: Das der österr. Kronprinz Rudolf sie besuchte. Für ihre agitatorische Tätigkeit bekannt, flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau. hielt H. zunächst in den USA u. Kanada VorEinsiedeln 1940). Weitere Werke: Gefängnis. Bln. 1918 (R.). – träge, die unter dem Titel Gesammelte Vorträge Das Brandmal. Ein Tgb. Bln. 1920. Ffm. 1999, mit von der Freidenker Verlagsgesellschaft in einem Nachw. v. Erika Süllwold. – Blume u. Milwaukee 1889 verlegt wurden. Im Berlin Flamme. Gesch. einer Jugend. Einsiedeln 1938. – der 1890er Jahre wurden ihre öffentl. VorBetrunken taumeln alle Litfaßsäulen. Frühe Texte träge zur sozialen u. Frauenfrage (Recht der u. autobiogr. Schr.en 1913–1922. Mit einem Frau auf Studium u. freie Berufswahl) u. Nachw. hg. v. Bernhard Merkelbach. Hann. 1990. – insbesondere ihre Attacken auf die StaatskirBriefw. 1921 bis 1927. Hermann Hesse, E. B.-H., che zum Ärgernis (vgl. ihren Vortrag Der BeHugo Ball. Hg. u. komm. v. Bärbel Reetz. Ffm. griff der Gotteslästerung. Bericht über Verhaftung, 2003. – Ein Traum, bfirr bfirr. Gedichte v. E. B.-H. Steckbrief und Verurteilung der Frau Henrich-Wilu. Hugo Ball. Sulzbach 2007. helmi. Bln. 1891). Eda Sagarra Literatur: E. Ball zum 100. Geburtstag. Pirmasens 1984 (= Hugo Ball Almanach 8, 1984). – Ernst Teubner: E. B.-H.-Bibliogr. 1. Nachtr. 1984–1994. In: Hugo-Ball-Almanach 18 (1994), S. 157–183. – René Gass: E. B.-H. Wege u. Umwege zum Paradies. Biogr. Zürich 1998. – Erika Süllwold: Das gezeichnete u. ausgezeichnete Subjekt. Kritik der Moderne bei E. H. u. H. B. Stgt./Weimar 1999. – Bernhard Echte (Hg.): E. B. H. 1885–1948: ›ich bin so vielfach ...‹. Texte, Bilder, Dokumente. Ffm./Basel 1999. – Thomas Kling: ›Liebling, soeben ist die Maschine angekommen‹. Hugo Ball u. E. H. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Aufbruch ins 20. Jh. Mchn. 2001, S. 217–225. – Bärbel Reetz: E. B.-H. Leben im Vielleicht. Eine Biogr. Ffm. 2001. – Willy Wottreng: Zürcher Revolutionäre. Zürich 2002 (2005 u. d. T. Revolutionäre u. Querköpfe). – Karl Riha: ›Liebe ist Leben‹. Zur (nicht nur) literar.
Henrici, Christian Friedrich ! Picander Henricks, Paul, eigentl.: Edward Hoop, * 19.5.1925 Büdelsdorf bei Rendsburg. – Verfasser von Kriminalromanen; Historiker. Nach dem Abitur 1946 studierte H. Geschichte u. Germanistik in Kiel u. promovierte 1951 über Die Innenpolitik der Reichskanzler Michaelis und Graf Hertling (Kiel 1951). Er lebt heute als Studiendirektor a. D. in Rendsburg-Büdelsdorf u. beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte seiner Heimat. Hierüber veröffentlichte er zahlreiche Artikel
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u. Bücher, insbes. eine umfangreiche Geschichte der Stadt Rendsburg (2 Bde., Rendsburg 1989 u. 2000; als Edward Hoop). Schon H.’ erstes Werk Sieben Tage Frist für Schramm (Reinb. 1966. Hörsp. WDR 1974) machte den Autor zu einem der Pioniere des neuen, literarisch anspruchsvollen dt. Kriminalromans. Der im Schulmilieu angesiedelte Roman zeigt zentrale Merkmale auch weiterer Werke H.’: die Auseinandersetzung mit dem Generationskonflikt u. die Frage nach Schuld in der NS-Zeit bei spannender Handlung u. formal relativ komplexer Gestaltung. Dabei interessieren H. bes. die Motive u. psych. Zustände der Handelnden. Auch Eine Maßnahme gegen Franz (Reinb. 1977) spielt im Schulmilieu: Der Autor hat hier sogar Krimitexte von Schülern einmontiert. Keine Stimme für Krüß (Reinb. 1980) verarbeitet Erfahrungen aus H.’ Tätigkeit als Bürgervorsteher in Büdelsdorf. Weitere Werke: Der Toteneimer. Reinb. 1967. – Der Ameisenhaufen. Reinb. 1969. – Pfeile aus dem Dunkel. Reinb. 1971. – Das Tabu. WDR 1976 (Hörsp.). – Viktors langer Schatten. Reinb. 1996. – Ein Schlaflied für Corinna. Reinb. 1997. – Venedig für immer. Reinb. 1998. – Aufgegebene Zeiten. Hbg. 1998 (R.). – Außenseiter. Geschichten aus einem Leben. Rendsburg 2001 (E.en). – Rendsburger Köpfe aus sieben Jahrhunderten. Rendsburg 2003. – Seines Vaters Zahn u. anderes aus früheren Tagen. Rendsburg 2005 (E.en). – Rendsburg. ›Wenn Steine reden ...‹. Schleswig 2005. Literatur: Ernst Joachim Fürsen: Dr. phil. Edward Hoop. Dem Lehrer, Schriftsteller u. Historiker zum 80. Geburtstag. Rendsburg 2005. Walter Olma
Henscheid, (Hans-)Eckhard, * 14.9.1941 Amberg. – Erzähler, Publizist, Essayist u. Humorist. Nach dem Studium der Germanistik u. Publizistik in München arbeitete H. als Journalist u. Redakteur in Regensburg. Er lebt seit 1971 als freier Schriftsteller in Amberg u. Frankfurt/M. H. wurde bekannt mit dem zunächst im Selbstverlag, später durch Zweitausendeins vertriebenen Buch Die Vollidioten. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972 (Amberg 1973. Ffm. 1978), der mit den beiden Romanen Geht
in Ordnung - sowieso - - genau - - - (Ffm. 1977) u. Die Mätresse des Bischofs (Ffm. 1978) die Trilogie des laufenden Schwachsinns bildet. Die lange unterschätzten Romane knüpfen an die Tradition des humoristisch-realistischen Romans an. Als dessen Prototyp werden Dostojewskij u. Svevo namhaft gemacht, die H. ebenso wie Kafka (Roßmann, Roßmann ... Drei Kafka-Geschichten. Ffm. 1982) als Humoristen begreift. Die Romane entfalten anhand der von der Großstadt in die Provinz wechselnden Handlungsorte ein Panorama linksintellektueller Befindlichkeit in den 1970er Jahren. H.s Erzählen kontrastiert modernetypisch eine hochartistische, intertextuelle epische Anlage mit themat. Nichtigkeit u. Reduktion. Deren geistiger Kontext ist in den kulturkrit. Annahmen der Frankfurter Schule zu sehen, die mittels musikal. Kompositionstechnik, parodistischem Duktus u. stilistischer Vielstimmigkeit wirksam gemacht werden. Der Schlussroman bildet zgl. den Auftakt der Marientrilogie, die mit Dolce Madonna Bionda (Zürich 1983) u. Maria Schnee. Eine Idylle (Zürich 1988) neu ansetzend das ästhetische Modell der ersten Trilogie radikalisiert. Als holistischer semantisch-symbolischer Resonanzraum fungiert der Katholizismus in entzauberter Schwundstufe. Die weiteren Romane Beim Fressen beim Fernsehen fällt der Vater dem Kartoffel aus dem Maul (Mchn. 1981) u. auweia. Infantilroman (Mchn. 2007) verwenden sinnentleertes u. klischeehaftes Sprachmaterial zur Konstruktion medial vorgeprägter Welt. Neben dem erzählerischen Werk hat H. ein reichhaltiges publizistisch-essayistisches Werk veröffentlicht, das nach Formen (Glosse, Anekdote, Satire, Polemik, Feuilleton, Essay usw.) u. Themenwahl breit gefächert ist u. aus einem reichhaltigen jahrelang angesammelten Archiv der »schwarzen Magie« (Karl Kraus) gespeist wird. Die erst in »Pardon«, »Titanic« – deren Mitbegründer H. war –, »Rabe«, »Zeit« u. zahlreichen weiteren Organen publizierten Kleintexte entfalten in kompositorischer Anordnung ihre eigentl. Wirkung u. geben die großen Linien ihrer Stoßrichtung zu erkennen. Schwerpunkte bilden Kulturkritik (Kulturgeschichte der Miß-
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verständnisse. Zus. mit Gerhard Henschel u. (Hörsp.). – Welche Tiere u. warum das HimmelBrigitte Kronauer. Stgt. 1997. Jahrhundert der reich erlangen können. Neue theolog. Studien. Obszönität. Zus. mit Gerhard Henschel. Bln. Stgt. 1995. – Über Manches. Ein Lesebuch. Zürich 2000. Alle 756 Kulturen. Ffm. 2001. Die Nackten 1996. – Die Lieblichkeit des Gardasee. Zürich 1997 (E.). – 10:9 für Stroh. Bln. 1998 (E.). – Herausgeber: und die Doofen. Springe 2003), Sprachkritik Unser Goethe (zus. mit F.W. Bernstein). Zürich (Dummdeutsch. Ein satirisch-polemisches Wörter- 1982. – Mein Lesebuch. Ffm. 1986. – Sentimentale buch. Zus. mit Carl Lierow u. Elsemarie Ma- Tiergesch.n. Stgt. 1997. letzke. Ffm. 1985. Erw. Neuausg. u. d. T. Literatur: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): E. H. Dummdeutsch. Ein Wörterbuch. Stgt. 1993. Ero- Mchn. 1990 (Text + Kritik. H. 107). – Michael tik pur mit Flirt-Faktor. Zus. mit Oliver Maria Matthias Schardt (Hg.): Über E. H. Paderb. 1990. – Schmitt. Ffm. 2002), Politik (Helmut Kohl. Thomas Georg Ringmayr: Humor u. Komik in der Zürich 1985. Was ist eigentlich der Herr Engholm dt. Gegenwartslit. Arno Schmidt, E. H. u. Robert für einer? Zürich 1989. Hoch lebe Erzbischof Paul Gernhardt. Ann Arbor 1998. Hans-Edwin Friedrich Casimir Marcinkus! Zürich 1990. Die Zwicks. Zus. mit Regina Henscheid. Zürich 1995) – wobei H.s bes. Aufmerksamkeit den Miss- Henschel, Gerhard, * 28.4.1962 Hannoständen der eigenen linken Fraktion gilt (Er- ver. – Schriftsteller u. Übersetzer. ledigte Fälle. Ffm. 1986) –, Literatur (Literarischer Traum- und Wunschkalender auf das Jahr H. verbrachte seine Kindheit u. Jugend in 1985. Zürich 1984. Aus der Heimat hinter den Hannover, Koblenz, Vallendar u. Meppen. Im Blitzen rot. Mchn. 1999. Goethe unter Frauen. Anschluss an Abitur u. Zivildienst begann er Bln. 1999), Musik (Über Oper. Zus. mit 1983 ein Studium der Germanistik, SozioloChlodwig Poth. Luzern/Ffm. 1979. Erw. gie u. Philosophie, das er jedoch nach drei Neuausg. u. d. T. Verdi ist der Mozart Wagners. Jahren u. Stationen in Bielefeld, West-Berlin Stgt. 1992. Musikplaudertasche. Hbg. 1990. u. Köln aufgab. Mit einer Unterbrechung Warum Frau Grimhild Alberich außerehelich zwischen 1993 u. 1995, in der er Redakteur Gunst gewährte. Bln. 2001) u. Fußball (Fuß- des Satiremagazins »Titanic« war, ist H. seit ballkalender. Hersbruck 1985. Standardsituatio- den späten 1980er Jahren als freier Schriftnen. Zürich 1988. Da lacht das runde Leder. steller tätig, zunächst in Berlin, dann in Zürich 1990. Meine Jahre mit Sepp Herberger. Göttingen u. seit 1998 in Hamburg. H.s vielfältige publizistische u. literar. AkBln. 1999). – Seit 2003 erscheint eine auf tivitäten setzten um 1990 ein, mit regelmäfünfzehn Bände projektierte, vom Autor beßigen, zumeist satirisch ausgerichteten Artisorgte Werkausgabe. keln, Glossen, Parodien, Reportagen u. ReWeitere Werke: Im Kreis. Amberg 1968. (R.) – zensionen für Zeitungen wie »taz«, »Junge Unser liebes Amberg. Amberg 1975. – Ein scharmanter Bauer. Ffm. 1980 (E.en.). – Der Neger Welt«, »Frankfurter Rundschau« oder »FAZ« (Negerl) (zus. mit Immanuel Kant). Mchn. 1982. – u. Zeitschriften wie »konkret«, »konkursWie Max Horkheimer einmal sogar Adorno her- buch«, »Kowalski« oder »Titanic«. In den einlegte. Zürich 1983 (Anekdoten). – Frau Killer- frühen 1990er Jahren begann er satir. Kurzmann greift ein. Zürich 1985. (E.en.). – Erläuterung prosa zu schreiben, die in Bänden wie u. kleiner Komm. zu E. H.s Romantrilogie (zus. mit Menschlich viel Fieses. Stasi, Donalds, Dichter und Herbert Lichti). Ffm. 1986). – Sudelblätter. Zürich Pastoren (Bln. 1992) oder Falsche Freunde fürs 1987. – TV-Zombies. Bilder u. Charaktere (zus. mit Leben. Von Käuzen und keuschen Deutschen (Bln. F. W. Bernstein). Zürich 1987. – Wir standen an 1995) auch in Buchform erschienen ist. Daoffenen Gräbern. Zürich 1989. – Die drei Müllersneben entstehen umfangreichere sprach-, söhne. Zürich 1989. – Wie man eine Dame verkultur- u. medienkrit. Arbeiten, darunter der räumt. Zürich 1990 (Satiren). – Die Wolken ziehn dahin. Zürich 1992 (Feuilletons). – Kleine Poesien. Essayband Das Blöken der Lämmer (Bln. 1994), Zürich 1992. – Über die Wibblinger. Zürich 1993 der dem Phänomen des ›linken Gesinnungs(E.). – Hersbrucker Trilogie. Cadolzburg 1993. – An kitsches‹ nachgeht, oder das gemeinsam mit krummen Wegen. Zürich 1994 (L.). – Eckermann u. Klaus Bittermann herausgegebene Lexikon sein Goethe (zus. mit Bernd Eilert). Zürich 1994 Das Wörterbuch des Gutmenschen (Bln. 1994),
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das den Jargon ›moralischer Korrektheit‹ ko- (Mchn. 2009) beleuchtet zentrale Aspekte von difiziert. Eine ähnl. Stoßrichtung haben die Walter Kempowskis Leben u. Werk. Seit 2003 veröffentlicht H. neben Romaenzyklopädisch angelegten satir. Kompendien Kulturgeschichte der Mißverständnisse. Studien nen, Satiren u. Sachbüchern auch Übersetzum Geistesleben (zus. mit Eckhard Henscheid zungen. Beachtung haben v. a. seine gemeinu. Brigitte Kronauer. Stgt. 1997) u. Das Jahr- sam mit Kathrin Passig erarbeiteten Überhundert der Obszönität. Eine Bilanz (zus. mit E. setzungen von Bob Dylans Autobiografie Chronicles (Hbg. 2004) u. dem Bob Dylan Henscheid. Bln. 2000). Seit Mitte der 1990er Jahre ist H. auch als Scrapbook. 1956–1966 (Hbg. 2005) gefunden. Autor thematisch, formal u. konzeptionell Weitere Werke: Moselfahrten der Seele. Refesehr unterschiedl. Romane hervorgetreten. In rate u. Räuberpistolen. Vorw. v. Eugen Egner. Greiz der gemeinsam mit Wiglaf Droste verfassten 1992. – Das erwachende Selber. Eine Flaschenpost Krimigroteske Der Barbier von Bebra (Hbg. aus dem Wassermannzeitalter. Mit Zeichnungen v. 1996) u. der Jugendbuchpersiflage Bruno in Yvonne Kuschel. Greiz 1993. – Die gnadenlose tausend Nöten (Hbg. 1998) führt er mit epi- Jagd. Ein Kriminalroman. Mit einem Vorw./Grußwort v. Max Goldt. Illustriert v. F. W. Bernstein. schen Mitteln die Kultur- u. Medienkritik Greiz 1994. – Lesen ist Essen auf Rädern im Kopf. fort, die seine publizistischen Arbeiten be- Elegante Gesch.n. Greiz 1995. – Drin oder Linie? stimmt. Mit den Romanen Die Liebenden (Hbg. Alles übers dritte Tor (mit Günther Willen). Lpz. 2002) u. Kindheitsroman (Hbg. 2004), die ihm 1996. – Der Mullah von Bullerbü (mit Wiglaf breite Anerkennung einbrachten, schlug H. Droste). Illustriert v. Ernst Kahl. Hbg. 2000. – Wo eine neue Richtung ein: Gestützt auf die ist die Urne von Roy Black? Schonungslose Reporjahrzehntelang geführte Korrespondenz sei- tagen. Reinb. 2000. – Die wirrsten Grafiken der ner Eltern, lässt er in Die Liebenden aus einem Welt. Hbg. 2003. – Wiglaf Droste: Zen-BuddhisBriefwechsel eine Liebes-, Ehe- u. Familien- mus u. Zellulitis. Polemiken, Glossen, Satiren u. geschichte von der Nachkriegszeit bis in die Reimgedichte. Mit einer Gastgesch. v. G. H. u. einem Nachruf auf Bernd Pfarr. Reinb. 2005. – 1980er Jahre entstehen. In offenbar enger Danksagung (mit Alexandra Engelberts). Gött. Anlehnung an H.s eigene Erlebnisse, ergänzt 2005. Kindheitsroman die aus der Sicht der Eltern Literatur: Horst Denkler: G. H. In: LGL. erzählte Geschichte um die Beobachtungen Tom Kindt eines ihrer Kinder; in dem Buch präsentiert der zweite Sohn der Familie in einer kindl., impressionistisch-assoziativen Form seine Hensel, Georg, * 13.7.1923 Darmstadt, Erinnerungen an die späten 1960er u. be† 17.5.1996 Darmstadt. – Theaterkritiker ginnenden 1970er Jahre. Beide Romane entu. Schriftsteller. falten mit der vielschichtigen Familienchronik zgl. eine facettenreiche Alltagshistorie H., Sohn eines Lokführers u. einer Schneideder Bundesrepublik. rin, meldete sich 1941 zur Kriegsteilnahme u. Nach dem Roman Der dreizehnte Beatle (Hbg. ließ sich zum Dienst an Horch- u. Funkgerä2005), in dem der Ich-Erzähler, ein zeitrei- ten, den er vorwiegend in Russland ausübte, sender Beatlesfan, die Geschichte der Band ausbilden. Nach 1945 u. Wiederholung des aus den histor. Fugen katapultiert, hat sich H. aberkannten Kriegsabiturs war er beim wieder verstärkt medienkrit., kultur- u. lite- »Darmstädter Echo« zuerst als Theaterkritirarhistor. Projekten zugewandt: Die Bücher ker u. ab 1952 als Feuilletonchef tätig, bis er Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung 1975 Redakteur u. später leitender Theater(Bln. 2006) u. Die Springer-Bibel (Hbg. 2008) kritiker bei der »Frankfurter Allgemeinen setzen sich in Form satirisch zugespitzen Zeitung« wurde. H. wurde v. a. durch seine Reportagen mit dem »Kulturproblem der (gesammelten) theaterkrit. Arbeiten, darunBild-Zeitung« auseinander, die Abhandlung ter Kritiken. Ein Jahrzehnt Sellner-Theater Neidgeschrei (Hbg. 2008) widmet sich dem (Darmst. 1961), Wider die Theaterverhunzer Zusammenhang von Sexualneid u. Juden- (Zürich 1972), Theater der siebziger Jahre (Stgt. feindlichkeit u. der Band Da mal nachhaken 1980) u. Spiels noch einmal. Das Theater der
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achtziger Jahre (Ffm. 1990) bekannt. Sein bis Leben (Ffm. 1995) die fortschreitende Herzheute in zahlreichen Verlagen aufgelegter erkrankung u. die anstehende Operation. Bis ebenso informativ-konziser wie unterhaltsa- zu seinem Tod kennzeichnet eine Kombinamer Schauspielführer Spielplan (Ffm. 1966) tion aus sprachl. Witz, Selbstironie u. Zuliefert fundiertes Überblickswissen von der kunftsoptimismus H.s Darstellungen u. Werk, für das er zahlreiche Auszeichnungen Antike bis zur Gegenwart. H.s literar. Arbeit begann mit dem Werk erhielt. Nachtfahrt (Stgt. 1949. Nachdr. Darmst. 1994), Weitere Werke: Griechenland für Anfänger. einem sprachl. dunkel gestalteten Heim- Zürich 1960. – Ägypten für Anfänger. Zürich 1962. kehrerroman, der Erfahrungen u. Außenbil- – Samuel Beckett. Velber/Hann. 1968. der des Kriegs in traumhaft-verzerrte, surLiteratur: Henning Rischbieter: ›Man wird reale bis groteske Innenbilder übersetzt; mehr‹. Zum Tod von G. H. In: Theater heute Zeitebenen vor, während u. nach dem Krieg (1996), H. 7, S. 57 f. – Raffaele Louis: Gleichnisse schieben sich ineinander. Die traumwandle- vom verlorenen Sinn. G. H.s ›Nachtfahrt‹, Jens rische Bewusstseinsreise führt den Protago- Rehns ›Feuer im Schnee‹, Werner Warsinskys ›Kimmerische Fahrt‹ u. Herbert Zands ›Letzte nisten dabei zu einer »Organisation der LeAusfahrt‹. In: treibhaus 3 (2007), S. 125–156. benden«, die die gemeinsame KriegserfahRaffaele Louis rung literarisch ausbeuten will. H.s eigener Aussage zufolge handelt es sich hier um eine parodistisch-scharfe, vom Publikum aber Hensel, Jana, * 1976 Leipzig. – Journalisnicht als solche erkannte Anspielung auf die tin, Essayistin. »Gruppe 47«, deren Einladungen zur Tagungsteilnahme H. zeitweilig Folge leistete. H. studierte Romanistik und Germanistik in Über den Widerstand gegen diese ›Gemein- Leipzig, Marseille, Berlin u. Paris. Sie gab schaft‹ werden die Gestaltungsproblematik 1999 die Leipziger Literaturzeitschrift eines (Nach-)Kriegromans, die Rolle des »EDIT« heraus u. war Mitherausgeberin der Schriftstellers nach dem Zweiten Weltkrieg von Thomas Hettche initiierten Internetwie auch Dynamisierungsprozesse der Ka- anthologie »NULL« (2000). H. lebt in Berlin nonbildung reflektiert. Allgegenwärtig ist u. ist als Journalistin u. a. für die »Süddie Figur mit dem sprechenden Namen Iggs, deutsche Zeitung«, die »Welt am Sonntag« u. Leiter der Organisation der Lebenden u. der die »Berliner Illustrierte« tätig. grafischen Kunstanstalt. Mit dieser Maske – Bekannt wurde H. mit ihrer 2002 erschieIggs (X) steht für das Kreuz als Christussym- nenen Essaysammlung Zonenkinder (Reinb.), bol genauso wie für den schöpfer. Anspruch mit der sie einen überraschenden Publides Künstlers auf Gottähnlichkeit, aber eben kumserfolg feierte. Das Buch wurde über ein auch für das Unbekannte, Nicht-zu-Greifen- Jahr auf der Sachbuch-Bestseller-Liste des de – schafft H. eine Leerstelle, die nicht ein- »Spiegel« geführt u. verkaufte sich mehr als deutig zu füllen ist. Dass der Roman wenig 300.000 Mal. H., die zum Zeitpunkt des Beachtung fand, verleitete H. dazu, dies zu Mauerfalls 13 Jahre alt war, erzählt in ZonenUnrecht der eigenen schriftstellerischen kinder in acht Kapiteln von ihrer Jugend in der Leistung zuzuschreiben u. sich fortan ver- DDR, dem plötzl. Verlust der kindl. Idylle stärkt dem theaterkrit. Tagesgeschäft zuzu- durch den Fall der Mauer u. dem Erwachwenden. 1994 erschien H.s autobiogr. Werk senwerden im Westen, das sie als eine mitGlück gehabt. Szenen aus einem Leben (Ffm.), das läuferische Anpassung der DDR-Jugend an die Kindheit in Darmstadt, die Geschehnisse die westdt. Gesellschaft desavouiert. Der Text nach Hitlers Machtergreifung, Kriegserfah- provozierte im Feuilleton erregte Diskussiorungen u. die theaterkrit. Laufbahn ebenso nen mit z.T. harscher Kritik. H. wurde vorerzählt wie es Elemente aus Nachtfahrt erneut geworfen, die DDR zu romantisieren, sie im aufgreift u. rückwirkend erhellt. Am Ende kindlich-naiven Blick zu idealisieren u. zu beschreibt Glück gehabt wie Glücks-Pfennige. einer schemat. Kitschpostille zu verklären. Lustvolles Nachdenken über Theater, Literatur und Andere Autoren bemängelten die vielen Un-
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genauigkeiten u. zahlreichen Sachfehler, den saloppen Erzählstil, das Ausklammern der für ihre Generation viel entscheidenderen Sozialisation in den 1990er Jahren im wiedervereinigten Deutschland u. attestierten ihr ein unkrit. Schwelgen in »Ostlagie«. Weitere Werke: Neue dt. Mädchen (zus. mit Elisabeth Raether). Reinb. 2008. – Übersetzung: Camille de Toledo: Goodbye Tristesse. Bekenntnisse eines unbequemen Zeitgenossen. Bln. 2005. Literatur: Tom Kraushaar (Hg.): Die Zonenkinder u. Wir. Die Gesch. eines Phänomens. Reinb. 2004. – Martina Ölke: Im Rückblick Heimat. Die DDR in J. H.s Zonenkinder u. anderen Text- u. Bildbeispielen. In: WW 56 (2006), H. 2, S. 261–278. Hania Siebenpfeiffer
Hensel, Kerstin, * 29.5.1961 Karl-MarxStadt (Chemnitz). – Verfasserin von Lyrik, Prosa, Dramatik u. Essays. Aufgewachsen u. zur Autorin geworden in der ehem. DDR, gehörte H. dort zur Generation der »Hineingeborenen«. Der Vater war Mechaniker, die Mutter Krankenschwester. H. selbst durchlief nach der Schule eine Ausbildung als Krankenschwester u. war dann als chirurgische Schwester tätig. Aus der Teilnahme an einem Zirkel schreibender Arbeiter heraus wurde sie zum Studium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig (1983–1985) ermutigt. Danach arbeitete sie am Leipziger Theater mit u. hatte seit 1987 Lehraufträge u. Professuren an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin, an der Filmhochschule in Potsdam u. am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit 1987 lebt H. als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie veröffentlichte in Zeitschriften u. im Eigenverlag seit 1983. Die erste eigenständige Veröffentlichung war 1986 ein Band in der Reihe »Poesiealbum«, dem der Gedichtband Stilleben mit Zukunft (Halle/Lpz. 1988) u. der Prosaband Hallimasch (Halle/Lpz. u. Ffm. 1989) folgten. »Um uns der zarte Irrsinn des Alltags«, heißt die letzte Zeile des Gedichts Wochenend aus Stilleben mit Zukunft, u. in einem Interview kurze Zeit nach dessen Erscheinen meinte sie: »Der Irrsinn unseres Alltags, die wahnwitzigen Abläufe einer jeden auf dieser Welt
herrschenden Gesellschaft sind durch Literatur nur faßbar, wenn sie groß und übertrieben dargestellt werden« (K. Ney: »Letztlich will ich nichts, als Aufklärer sein ...« Ein Gespräch mit K. H. In: TEMPERAMENTE. Blätter für junge Literatur 3, 1989, S. 3–7, hier S. 5). Dieser Maxime ist H. in allen Gattungen bis heute treu geblieben. In ihrer Prosa u. Dramatik schreibt H. Geschichten von unten u. von den gesellschaftl. Rändern her. Vieles davon stammt aus der eigenen Erfahrungswelt, aber ihre Fiktion umspannt einige Jahrhunderte u. findet oft in real-fiktiven Räumen mit Namen wie Stinopel oder Sankt Veits statt. In der dramat. Gattung hat H. Schauspiele, Opernlibretti, Hörspiele u. Filmszenarien vorgelegt. In ihre Gedichte webt sie Sprüche, Redewendungen u. sprachl. Versatzstücke u. komponiert daraus ein waches, böses u. abgründig schönes Werk. Ihre charakterist. Sprache sowie die wichtigsten Themen, Schreibtechniken, Figurentypen u. Geschichtenverläufe sind bereits in den frühen Publikationen entworfen u. werden in den folgenden Jahren entfaltet, aus anderer Perspektive, in anderen Kombinationen u. neuen raum-zeitl. Kontexten präsentiert. Folgerichtig tauchen auch Orte, Figurennamen u. -konstellationen in ihrem Werk wiederholt auf. Direktheit, Witz u. makabre Ironie gehören zu den einschlägigen Etiketten für H.s Schreibweise, die es ihr erlaubt, die in verschiedensten Gesellschaften auffindbaren Formen repressiver Normalität erkennend der Lächerlichkeit preiszugeben. Besondere Aufmerksamkeit erregte die Erzählung Tanz am Kanal (Ffm. 1994), die, erschienen im Zuge einer Welle autobiogr. Bekenntnisse von ostdt. Autoren, ein deftiges literar. Spiel mit dem Genre Autobiografie vollführt. H. wurde mit dem Anna-Seghers-Preis (1987), dem Leonce-und-Lena-Preis (1991), dem Gerrit-Engelke-Preis (1999) u. dem IdaDehmel-Preis der GEDOK (2004) geehrt u. erhielt 1995 ein Stipendium für den Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom. Weitere Werke: Poesiealbum. Bln. 1986 (L.). – Catull. Schauspiel. 1989. – Auditorium panoptikum. Halle 1991 (R.). – Ulriche u. Kühleborn. Erzählungen. Lpz. 1991. – Angestaut. Aus meinem
Hensel Sudelbuch. Halle 1993. – Im Schlauch. Ffm. 1993 (E.). – Grimma. Komödie. Rom 1995. – Neunerlei. Lpz. 1997 (E.en). – Gipshut. Lpz. 1999 (R.). – Bahnhof verstehen. Gedichte 1995–2000. Mchn. 2001. – Im Spinnhaus. Mchn. 2003 (R.). – Falscher Hase. Mchn. 2005 (R.). – Alle Wetter. Gedichte. Mchn. 2008. – Lärchenau. Mchn. 2008 (R.). Literatur: Birgit Dahlke: Papierboot. Autorinnen aus der DDR – inoffiziell publiziert. Würzb. 1997. – Hermann Korte: K. H. In: KLG. – B. Dahlke. u. Beth Linklater (Hg.): K. H. Cardiff 2002 (mit Bibliogr.). – Tanja Nause: Inszenierungen v. Naivität. Tendenzen u. Auswirkungen einer Erzählstrategie der Nachwendelit. Lpz. 2002. – Lyn Marven: Body and Narrative in Contemporary Literatures in German. Oxford 2005. – Astrid Köhler: Brückenschläge. DDR-Autoren vor u. nach der Wiedervereinigung. Gött. 2007. Astrid Köhler
Hensel, Klaus, * 14.5.1954 Bras¸ ov (Kronstadt). – Lyriker u. Journalist.
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nung für Originalität, Sprachspiel u. Groteske. Stradivaris Geigenstein (Dreieich 1989) versammelt sechs Abteilungen kurzer Gedichte u. Prosagedichte, eingeleitet von poetolog. Kommentaren H.s. 2001 erschien Humboldtstraße, römisches Rot (Ffm. 2001), eine Sammlung erot. u. Liebesgedichte, inspiriert von der Stadt Rom. Celan u. Brecht, Benn u. Pastior, Jandl u. Huchel gelten als literar. Vorbilder H.s, v. a. jedoch Johannes Bobrowski. Wiederkehrende Motive bilden Natur u. Jahreszeiten, bes. das Licht, Liebe, Sterblichkeit u. Endlichkeit der Menschen, aber auch das tagesaktuelle Leben in der BR Deutschland. Formales Kennzeichen ist ein Spiel mit Zeilen- u. Strophenenjambements im dt. zusammengesetzten Wort; verfremdende u. neuartige poetische Bilder für altbekanntes Menschliches speisen sich überdies aus den zeitgenöss. Naturwissenschaften, insbes. aus Biotechnologie u. Neurophysiologie.
Anders als die »Aktionsgruppe Banat« oder ungleich bekanntere Landsleute wie Herta Weitere Werke: Summen im Falsett. Gedichte Müller u. Oskar Pastior, kommt H. »in der u. Bilanzen aus dem Stracciafoglio Romano. Rom rumäniendeutschen Literaturgeschichte so 1995. – Poetolog. Aussagen. Was aber sagen die gut wie nicht vor [...]« (Kegelmann 133) – zu Wörter? Ungeordnete Gedanken über die unreine Unrecht. Der gebürtige Siebenbürger stu- Sprache. In: Von Büchern & Menschen 1990, dierte in Bukarest Germanistik u. Anglistik, S. 35–42. – Apoetologie. Alles, was man v. Poesie denken kann, ist Nichtpoesie. In: Ulrich Janetzki u. unterrichtete kurzzeitig an einer Schule u. Wolfgang Rath (Hg.): Tendenz Freisprache. Texte arbeitete ab 1979 als Verlagslektor. Zwei zu einer Poetik der achtziger Jahre. Ffm. 1992, Jahre später in die BR Deutschland überge- S. 67–73. – Filme: Dichter, Rebell u. Tramp. Panaït siedelt, war er zunächst als freischaffender Istrati, der balkan. Gorki. HR 1994. – Der Rheingau Autor u. Stipendiat, seit Mitte der 1980er (zus. mit Peter de Leuw). HR 1996. – Zwischen SeJahre auch als Moderator sowie als Rund- ligenstadt u. Fulda. Der hess. Spessart (zus. mit P. funk- u. Fernsehjournalist tätig – u. a. für de Leuw). HR 1997. – Die Schwalm, Alsfeld u. Burg »titel, thesen, temperamente«, »Kulturre- Herzberg (zus. mit P. de Leuw). HR 1999. – Exisport« u. »Kulturzeit«. Gegenwärtig arbeitet tenzbeweise. Die poln. Schriftstellerin Hanna Krall. H. als Redakteur bei den Fernsehsendern HR HR 2000. Literatur: René Kegelmann: ›An den Grenzen u. ARTE. des Nichts, dieser Sprache ...‹. Zur Situation ruSeit 1974 publiziert H. Gedichte. Nach mäniendt. Lit. der achtziger Jahre in der BR Veröffentlichungen in Zeitschriften u. AnDtschld. Bielef. 1995 [Kap. 2.2 zu H.]. thologien erschien der erste Gedichtband Michael Bauer / Kathrin Klohs kurz vor seiner Emigration (Das letzte Frühstück mit Gertrude. Klausenburg 1980). Zahlreiche Widmungen belegen den engen ZuHensel, L(o)uise (Maria), auch: Ludwiga, sammenhalt rumänisch-dt. Studenten, * 30.3.1798 Linum bei Fehrbellin, Künstler u. Intellektueller, denen Sieben† 18.12.1876 Paderborn; Grabstätte: bürgen oder das Banat fremd zu werden beebd., Ostfriedhof. – Lyrikerin. gann. Der folgende Band Oktober Lichtspiel (Ffm. 1988. 1990), überwiegend Naturlyrik u. Die Tochter eines pietistisch gesinnten Pfarsprachskept. Reflexion, fand große Anerken- rers zog nach dessen frühem Tod mit der
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Familie 1810 nach Berlin, wo sie kurze Zeit Schlüter, Briefe aus dem dt. Biedermeier 1832–76. die Realschule besuchte, später jedoch den Regensb. 1962. Literatur: Ferdinand Bartscher: Der innere Lebensunterhalt der Familie mitbestreiten musste. Im Künstlerkreis um Friedrich von Lebensgang der Dichterin L. H. nach den OrigiStaegemann, der auf ihre Kriegs- u. Frei- nalaufzeichnungen in ihren Tagebüchern. Paderb. heitslieder (gegen Napoleon) aufmerksam 1882. – Hans Rupprich: Brentano, L. H. u. Ludwig v. Gerlach. Wien 1927. – Frank Spiecker: L. H. als geworden war, wurde H. bekannt mit den Dichterin. Eine psycholog. Studie ihres Werdens Brüdern Gerlach, Amalie von Helvig, Fried- auf Grund des herausgegebenen Nachl. Freib. i. Br. rich Förster, Gneisenau u. Wilhelm Müller, 1936. – Hubert Schiel: C. Brentano u. L. H. Mit der um sie warb, u. 1816 mit Clemens Bren- bisher ungedr. Briefen. Aschaffenb. 1956. – Siegtano. Aus dem in diesem romantisch-christl. fried Sudhof: Brentano oder L. H.? UntersuchunKreis gepflegten »Liederspiel« entstanden gen zu einem Gedicht aus dem Jahr 1817. In: FS u. a. Brentanos Die hl. fünf Wunden u. H.s Gottfried Weber. Hg. Heinz Otto Burger. Ffm. 1967, S. 225–264. – Wolfgang Frühwald: L. H. In: Gärtnerlieder. Der Freundschaft mit Brentano, der in H. NDB. – Winfried Freund: Müde bin ich geh’ zur den »Engel in der Wüste« sah, verdanken sich Ruh. Leben u. Werk der L. H. Wiedenbrück 1984. – Oskar Köhler: ›Müde bin ich, geh’ zur Ruh‹. Die zahlreiche gemeinsame Gedichte, deren Ur- hell-dunkle Lebensgesch. der L. H. Paderb. u. a. heberschaft sie selbst später nicht mehr im 1991. – Kristina Hasenpflug: Clemens Brentanos Einzelnen feststellen konnte. Sie riet Brenta- Lyrik an L. H. Mit der histor.-krit. Ed. einiger Geno, die stigmatisierte Nonne Anna Katharina dichte u. Erläuterungen. Ffm. u. a. 1999. – Barbara Emmerick aufzusuchen, u. konvertierte Stambolis: L. H. (1798–1876). Frauenleben in hisselbst 1818 zum Katholizismus. Die Eifer- tor. Umbruchszeiten. Köln 1999. – Michael Grus: sucht Brentanos auf Ludwig von Gerlach Clemens Brentano u. L. H. Eine Vormundschaftsführte zum Ende der Beziehung. H. war dann angelegenheit. In: Auf Dornen oder Rosen hingeGesellschafterin, Hauslehrerin u. Erzieherin. sunken? Eros u. Poesie bei Clemens Brentano. Ausstellungskat. Bln. 2003, S. 135–164. 1825 leitete sie mit zwei Freundinnen das Christian Schwarz / Red. Bürgerspital in Koblenz u. war bis 1833 Lehrerin, zuletzt in Aachen. Bis 1838 lebte sie im Berliner Haus ihres Bruders Wilhelm (der Hensel, Sophie Friederike, geb. SparHistorienmaler geworden u. mit Fanny mann, ab 1772 verh. Seyler, * 1738 DresMendelssohn verheiratet war), danach in den, † 22.11.1789 Schleswig. – SchauWiedenbrück u. Paderborn. spielerin und Dramatikerin. Das lyr. Werk H.s, die früh mit Böhmes Schriften vertraut war, zählt zur bedeuten- Die Tochter eines Mediziners stand mit neun deren dt. religiösen Dichtung. Geprägt ist es Jahren erstmals auf der Bühne. Nach der durch die Verbindung von Pietismus u. Ro- Scheidung ihrer Eltern lebte H. bei Vermantik, von inniger Meditation u. Gefühls- wandten, floh aber nach wiederholten Kontiefe (u. a. Hingebung, Schule der Dornen). Einige flikten mit ihrem Onkel vor einer arrangierihrer Schöpfungen wurden Allgemeingut, so ten Heirat 1754 zum Theater. 1755 heiratete das Abendgebet Müde bin ich, geh’ zur Ruh’ sie den Schauspieler Johann Gottlieb Hensel; (1817) oder Immer muß ich wieder lesen (1815). ab 1759 lebte das Paar getrennt. H., die sich H. musste ihr Leben lang um Eigenständig- vor allen mit trag. Rollen den Ruf einer grokeit kämpfen; Brentano behandelte ihr ßen Schauspielerin erwarb, beschloss nach Frühwerk wie sein geistiges Eigentum u. ließ einem frustrierenden Engagement in Wien es 1829 in Diepenbrocks Geistlichem Blumen- 1763, sich von der Bühne zurückzuziehen, folgte aber 1764 dem Ruf an das herzogl. strauß in eigener Bearbeitung drucken. Weitere Werke: Lieder. Hg. Christoph Bern- Theater in Hildburghausen. 1765 ging sie hard Schlüter. Paderb. 1869. – Lieder. Vollst. Ausg. erneut nach Wien u. anschließend nach Hg. Hermann Cardauns. Regensb. 1923. – Briefe: Hamburg, wo sie an der Seite von Conrad Briefe der Dichterin L. H. Hg. C. B. Schlüter. Pa- Eckhof Triumphe feierte. Zu ihren Bewunderb. 1878. – Josefine Nettesheim: L. H. u. C. B. derern gehörten Heinrich Leopold Wagner,
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August Wilhelm Iffland u. Lessing, der sie 1791 in Hamburg aufgeführt u. mehrfach mehrfach in seiner Hamburgischen Dramaturgie nachgedruckt. Trotz des Erfolgs ihrer Bühnenwerke (115. u. 142. Stück) erwähnt. Gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Abel Seyler war sie gründet H.s Ruhm in erster Linie auf ihrer maßgeblich an der Gründung des Hambur- schauspielerischen Leistung, wobei ihr liteger Nationaltheaters beteiligt, das der ehr- raturgeschichtl. Nachleben vor allem auf ihr geizigen Schauspielerin ein Forum bieten Wirken am Hamburger Nationaltheater u. sollte. Nach dem Scheitern dieses Unterneh- Lessings Lob zurückzuführen ist. Weitere Werke: Übers.: Melanide. Urauff. mens ging sie 1771–1772 nach Wien. 1772 wurde sie von Hensel geschieden u. heiratete Hbg. 1767. – Der Hinkende u. der Stotternde. Seyler. 1785–1787 war H. Mitgl. der Schrö- Lustspiel. Urauff. Gotha 1776. Literatur: Susanne Kord: Tugend im Ramder’schen Schauspielergesellschaft in Hamburg, danach bis zu ihrem Tod Schauspielerin penlicht. In: The German Quarterly 66 (1993), S. 1–19. – Anne Fleig: Nachw. In: F. S. H.: Die an dem von ihrem Mann geleiteten HoftheaEntführung. Hg. Anne Fleig. Hann. 1998, S. 62–71. ter in Schleswig. – Dies.: Handlungs-Spiel-Räume. Würzb. 1999, Obgleich H.s literar. Werke auf zeitgenöss. S. 145–167. – Lexikon deutschsprachiger Epik u. Publikationen basieren, sind sie inhaltlich Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun eigenständig. 1770 erschien in Braunschweig Loster-Schneider u. Gaby Payler. Tüb./Basel 2006, Die Familie auf dem Lande. Ein Drama in fünf S. 206–208. Karin Vorderstemann Aufzügen (Urauff. Hann. 1770), eine Dramatisierung des letzten Teils der Conclusions of the Memoirs von Miss Sidney Bidulph von Frances Henselin, Henselyns boek. – NiederdeutSheridan (1767). Inhaltlich lassen sich Bezüge sches Fastnachtspiel des 15. Jh. zu Diderots Père de Famille (1756) u. Lessings Das wohl zwischen 1497 u. 1500 in Lübeck Miss Sara Sampson nachweisen, die H. in gedruckte anonyme Fastnachtspiel in mittelHamburg selbst gespielt hatte, allerdings niederdt. Sprache belehrt über die »rechtferverknüpft H. das Motiv der verführten Undicheyt« (Rechtschaffenheit). schuld mit der Ehethematik des bürgerl. FaEin Vater verspricht seinen drei Söhnen in milienstücks u. problematisiert stärker als einem »testament« die Rechtschaffenheit, die Lessing die empfindsame Tugendkonzeptisie aber selbst finden müssen. Begleitet von on. 1772 publizierte H. unter dem Titel Die dem weisen Narren Henselin machen sie sich Entführung oder: die zärtliche Mutter (in: Neue auf die Suche; eine Ständerevue lässt sie, ohne Schauspiele aufgefuehrt in den k. k. Theatern zu die Rechtschaffenheit zu finden, von Papst u. Wien, Preßburg und Leipzig. Loewen 1772, Kaiser über Fürsten, Edelleute, LandsknechS. 1–88) eine überarbeitete Fassung, in der te, Bauern, Geistliche, Trinker, Prasser u. die empfindsamen Elemente zugunsten einer Frauen schließlich zu Mönchen gelangen, die strafferen Szenenfolge u. eines weniger opti- enthüllen, dass die Rechtschaffenheit »in der mistischen Schlusses reduziert sind. Bereits werlt« in den letzten Zügen liegt. Nun sehen im Titel als Adaption erkennbar ist H.s Li- die Brüder die Vergeblichkeit ihres Tuns ein bretto Hüon und Amande. Ein Romantisches u. kehren zurück, um sich von ihrem Vater Singspiel in fünf Aufzügen nach Wielands Oberon belehren zu lassen. Zu Hause verstehen sie (Flensburg u. a. 1789, Urauff. mit der Musik das Vermächtnis: Die Rechtschaffenheit kann von Karl Hanke, Schleswig 1789), das u. d. T. der Mensch nur in sich selbst finden. Die Oberon, oder König der Elfen. Singspiel in drei Ak- Söhne geloben dem Vater rechtschaffenes ten 1789 in der Bearbeitung von Karl Ludwig Handeln u. fordern Henselin zu einem Giesecke u. der Vertonung von Paul Wran- Schlusswort auf, in dem dieser im Schutz der itzky auch in Wien aufgeführt wurde (gedr. Narrenfreiheit seine Sicht der RechtschaffenAugsb. 1792). Eine Bearbeitung dieser Versi- heit darlegt. on durch Heinrich Gottlieb Schmieder (MuProlog u. Epilog heben sich formal vom sik: Carl David Stegmann) wurde 1790 u. eigentl. Spiel ab, das aus vier- bzw. fünfhe-
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bigen kreuzgereimten Versen besteht. Während der Prolog durchgehend Paarreim aufweist, lösen im Epilog zwei Reimketten mit jeweils nur einem Reim die anfängl. Reimpaare ab. Am Schluss des illustrierten Drucks kommen nach einer Prosanachschrift des »Dichters« noch einmal Henselin u. ein »Tytke Druckeworst« zu Wort. Bei dem moralisierenden Spiel, in dem der weise Narr drei Brüder auf der Suche nach der Rechtschaffenheit in der Welt begleitet u. die Gesellschaft im Zustand der Unrechtmäßigkeit vorgeführt wird, handelt es sich wahrscheinlich um eine Überarbeitung des laut einer erhaltenen Titelliste 1484 in Lübeck aufgeführten Spiels van der rechtverdicheyt. Andere Stücktitel dieser Liste wie van der truwe unde warheyt zeigen, dass das Henselyns boek, in der uns überlieferten Fassung als Lesetext konzipiert, mit seiner moralisierenden Tendenz in der von Patriziern getragenen Lübecker Fastnachtspieltradition keinen Einzelfall darstellt. Ausgabe: C. Walther: Das Fastnachtspiel H. oder Von der Rechtfertigkeit. In: Jb. des Vereins für niederdt. Sprachforsch. 3 (1877), S. 9–23 (Text) u. S. 24–36 (Untersuchung). Literatur: Eckehard Catholy: Das Fastnachtspiel des SpätMA. Tüb. 1961, bes. S. 303–306. – Ingeborg Glier: Personifikationen im dt. Fastnachtspiel des SpätMA. In: DVjs 39 (1965), S. 542–587, bes. S. 546, 582 f. – E. Catholy: Fastnachtspiel. Stgt. 1966, bes. S. 69 f. – Ulf Bichel: H. In: VL (Lit.). – Brigitte Schulte: Das Henselynsboek als Erbauungsschr. Versuch einer Interpr. In: Robert Damme u. a. (Hg.): Franco-Saxonica. FS Jan Goossens. Neumünster 1990, S. 319–342. – Eckehard Simon: Organizing and staging carnival plays in late medieval Lubeck: a new look at the archival record. In: The Journal of English and Germanic Philology 92 (1993), S. 57–72. Claudia Händl
Hensler, (Albrecht) Karl Friedrich, * 1.2. 1759 Vaihingen/Enz, † 24.11.1825 Wien. – Theaterdichter, Schauspieldirektor. H., Sohn eines Leibarztes, wurde während des Theologiestudiums in Göttingen mit den Dichtungen Bürgers bekannt, erwarb sich eine breite literar. Bildung, ging als Hauslehrer nach Mülheim u. hatte einen ersten Theatererfolg in Köln. 1784 schlug er in Wien
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die diplomatische Laufbahn ein, revidierte aber nach der erfolgreichen Aufführung seines Stücks Der Soldat von Cherson (1.5.1785. Gedr. Wien 1790) sein Berufsziel; Karl von Marinelli, der Leiter des Leopoldstädter Volkstheaters, stellte ihn als Hausdichter ein. 1798 heiratete H. die Schauspielerin Karoline Amon (1773–1821). Nach dem Tod Marinellis pachtete H. 1803 das Leopoldstädter Theater, dessen Direktor er zehn Jahre lang war. Danach leitete er für ein Jahr das von Schikaneder gegründete Theater an der Wien u. übernahm anschließend die Bühnen in Baden bei Wien u. in Pressburg. Am 4.10.1822 eröffnete H. glanzvoll das neu erbaute Theater in der Josefstadt. Beethoven dirigierte seine zu diesem Anlass komponierte Ouvertüre Die Weihe des Hauses. Als Theaterdichter war H. ungemein produktiv; allein für Marinelli schrieb er etwa 90 Stücke. Inspiriert vom Genius loci der Wiener Vorstadttheater mit ihrem begeisterungsfähigen Publikum u. in freundschaftl. Konkurrenz zu Schikaneder, entwickelte H. neue Formen der Wiener Volkskomödie: Ritter- u. Geisterstücke, Singspiel-Kasperliaden u. vor allem das dramatisierte romantisch-kom. Volksmärchen, wobei in der Praxis zahlreiche Varianten dieser Gattungen entstanden. Dafür sorgt Kasperl, die Wiedergeburt des durch die josephin. Theaterreform der Hofbühne verwiesenen Hanswursts in der Vorstadt. Dem berühmten Kasperl-Darsteller Johann Laroche am Kasperl- oder auch Lachtheater gen. Leopoldstädter Theater schrieb H. die Rollen auf den Leib (z.B. Kasperl, der Besenbinder. Wien 1787. Sophie Romani [...] Schauspiel [...], wobey Kasperl einen Wirt spielt. Wien 1790. Kaspar der Schornsteinfeger. Wien 1791). H. verarbeitete in seinen Stücken Stoffe unterschiedl. Herkunft. Wieviel er der dt. Literatur der Aufklärung u. des Sturm und Drang verdankt, zeigen Shakespeare-Adaptionen mit wortgetreuen Wendungen (Eugenius Skoko, Erbprinz von Dalmatien. Wien 1798; nach Hamlet. Der Sturm [...]. Wien 1798; nach The Tempest) ebenso wie Anlehnungen an Lessing u. Schiller. H. verband das dt. bürgerl. Schauspiel mit der Tradition der AltWiener Volkskomödie; er wendete den trag. Gehalt der Fabeln im Sinne des in seinem
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Weitere Werke: Handeln macht den Mann, humanistischen Weltbild verankerten vernünftigen Glücksanspruchs zum Guten. Für oder der Freimäurer. Wien 1785. – Marinellische H., Gegner der Französischen Revolution, Schaubühne. 4 Bde., Wien 1790/91. – Der Orangwar der gute Fürst Garant der glückl. Auflö- Outang oder das Tigerfest. Wien 1792. – Das Judenmädchen v. Prag, oder Kaspar der Schuhflicker. sung aller Konflikte u. Intrigen. – H. nutzte Wien 1792. – Alles in Uniform für unsern König. auch die populäre Trivialliteratur; er be- Wien 1795. – Gute Menschen lieben ihre Fürsten, diente z.B. den Bedarf an Rittern in Wien: In oder die Jakobiner in Dtschld. Wien 1799. der Enge des unter Zensur stehenden StänLiteratur: Otto Rommel: Die Alt-Wiener destaats waren sie, die in Kampf u. Gefahr Volkskomödie [...]. Wien 1952. – Herbert Zeman: Mut zeigen, Projektionen eines freieren Le- Vom Kasperl zum Valentin: Die Entwicklung der bens. Vorlagen lieferten insbes. Karl Gottlob Alt-Wiener Volkskomödie an der Wende vom 18. u. Cramer, Spieß u. Vulpius. – Eine wichtige 19. Jh. Mehrfach, so in: Werner Bauer (Hg.): FS Quelle der Wiener Geisterstücke war Wie- Eugen Thurnher. Innsbr. 1982, S. 225–237. – Gudrun Langer: V. A. Zukovskij u. der Wiener lands Sammlung Dschinnistan, oder auserlesene Dramatiker K. F. H. Das Opernlibretto ›Bogatyr‹ Feen- u. Geister-Mährchen (1786). Nach dem von Alesa Popovic’ u. seine Vorlage. In: Welt der Slaven Vulpius bearbeiteten thüring. Märchen von 28 (1983), S. 418–445. – Franz Hadamowsky: Wien der Saalnixe schuf H. sein wohl bekanntestes – Theatergesch. Von den Anfängen bis zum Ende Stück Das Donauweibchen. Ein romantischkomi- des Ersten Weltkriegs. Wien/Mchn. 1988. sches Volksmärchen mit Gesang (2 Tle., Wien Ulrike Leuschner / Red. 1798). Von Goethe geschätzt, von Tieck nachgeahmt, wurde es nach Erfolgen in Wien Henz, Rudolf, auch: R. Miles, * 10.5.1897 (über 100 Aufführungen) auf fast allen dt. Göpfritz/Niederösterreich, † 12.2.1987 Bühnen gespielt. Reminiszenzen an die Wien. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Feenmärchen des Rokoko, volkstüml. Sagen- Hörspielautor. motive, vorweggenommene Effekte der H., Sohn eines Volksschullehrers, nahm nach Schauerromantik u. die Liedeinlagen (Musik: der Kriegsmatura 1915 am Ersten Weltkrieg Ferdinand Kauer) in Verbindung mit der teil. Nach Wien zurückgekehrt, studierte er sentimentalen Anbindung an den DonauGermanistik u. Kunstgeschichte (Promotion raum lassen das Stück zum Inbegriff des 1923, Die Landschaftsdarstellung bei Jean Paul). Wienerischen werden. Mit dem »Volksmär1925 begann seine Tätigkeit als Volksbildner chen« Die Teufelsmühle am Wienerberg [...] mit der Errichtung einer »Christlichen (Wien 1801) konnte H. an diesen Erfolg an- Volkshochschule«. Bald konzentrierte sich knüpfen (163 Aufführungen). H.’ Arbeit jedoch auf den Rundfunk, zu desMotive aus Kasperls Ehrentag (Wien 1789) u. sen Pionieren in Österreich er zu zählen ist: der exotische Schauplatz in Das Sonnenfest der 1932 führte er als Direktor der WissenBraminen (Wien 1790) führten zu Schikan- schaftlichen Abteilung der RAVAG (= Radioeders/Mozarts Die Zauberflöte (1791) hin, auf Verkehrs-Aktien-Gesellschaft) den Schulfunk die H. in späteren Stücken dann wiederum ein u. unterstützte als Mitgl. des Bundeskulliebevoll-ironisch anspielte (z.B. Die Nymphe turrats die polit. Linie des Ständestaats. Nach der Donau. Wien 1803). dem »Anschluss« fristlos entlassen, konnte er Auch als Theaterdirektor pflegte H. die als Mitarbeiter des Denkmalamts u. GlasWiener Volkskomödie; er förderte Josef Fer- scheibenrestaurator überleben. Unter seiner dinand Kringsteiner u. Hermann Herzens- Leitung als Programmdirektor der RAVAG kron, beschäftigte Josef Anton Gleich, Adolf (1945–1957) wurden die österr. RundfunkBäuerle u. Karl Meisl, die zur Blüte der Gat- programme ausgebaut. 1957, im Grüntung unter Nestroy u. Raimund überleiteten. dungsjahr des ORF, schied er aus dem Durch geschickte Mischung von bewährten Rundfunk aus, blieb aber weiterhin einflussStücken mit neuen Formen u. umsichtige reich. Führung des Theaterbetriebs war H. geUnter Pseud. veröffentlichte H. seinen ersschäftlich stets erfolgreich. ten Gedichtband Lieder eines Heimkehrers (Lpz.
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1919), in dem er sich mit dem Ende seiner Kreis. Graz 1964 (L.). – Neue Gedichte. Wien 1972. Soldatenlaufbahn auseinandersetzt. Mit den – Kleine Apokalypse. Lyr. Pamphlet. Graz 1977. – Lyrikbänden Unter Brüdern und Bäumen (Wien Die Gedichte. Graz 1984. – Die Geprüften. Graz 1929) u. Döblinger Hymnen (Salzb. 1935) 1985 (R.). Literatur: Irmtraud Letzner: Die Bedeutung wandte er sich dem Gegensatz von hohler städt. Zivilisation u. dörfl. Leben zu, ver- des ›Wortes‹ im poet. Werk v. R. H. Diss. Graz 1966. – Viktor Suchy (Hg.): Dichter zwischen den Zeiten. zichtete jedoch auf die populäre Flucht in die FS für R. H. zum 80. Geburtstag. Wien 1977. – Provinz. Der Weg nach Innen, zu Religion u. Theodor Venus: R. H. – Versuch über einen kath. Humanismus wird entscheidend. Pflichter- Medienpolitiker. In: Medien & Zeit (1986), H. 1/2, füllung im Vertrauen auf Gott u. sittl. Inte- S. 5–48. – Wolfgang Hackl: Kein Bollwerk der alten grität propagiert der autobiogr. Kriegsroman Garde – keine Experimentierbude. Wort in der Zeit Dennoch Mensch (Salzb. 1935). Mit dieser (1955–1965). Eine österr. Literaturztschr. Innsbr. weltanschaul. Position wurde H. zum »Hof- 1988. – Erika Wögerer: Innere Emigration u. hisdichter« des Ständestaats. Sprüche u. Spiele tor. Camouflage in Österr. Zum Widerstandspozu staatl. Feiern enthält der Band Festliche tenzial in den histor. Romanen des R. H. Ffm. u. a. Johannes Sachslehner / Red. Dichtung (Wien 1935. Darin ist auch das 2004. Festspiel 1. Mai 1934 – Die Huldigung der Stände, Henzen, (Karl Georg) Wilhelm, auch: Fritz Einzeldr. Wien 1934, enthalten). Während des Zweiten Weltkriegs zog sich von Sakken, Sincerus, * 30. 11. 1850 BreH. in die »innere Emigration« zurück u. men, † 11.9.1910 Leipzig. – Dramatiker. verfasste Romane aus der österr. Geschichte, H., Sohn eines Großkaufmanns, besuchte ab z.B. Der Kurier des Kaisers (Bonn 1941. Wien 1870 das Konservatorium in Leipzig u. stu1947. 2., neu bearb. Aufl. Graz 1982). Zu eidierte ab 1871 dort und u. Jena Philosophie. ner großangelegten Kritik des faschistischen 1874/75 bereiste er Italien, lebte dann in Staats bzw. totalitärer Systeme im AllgemeiMünchen u. kehrte 1877 nach Leipzig zunen setzt er im 1943 begonnenen Terzinenrück, wo er bis 1879 die Leitung der MoEpos Der Turm der Welt (Wien 1951. Neuaufl. natsschrift »Dramaturgische Blätter« inneGraz 1983) an. Fortgeführt wird die Verbinhatte (1777/78 zus. mit Otto Hammann). dung von aktueller Zeitkritik u. Utopie in 1881 arbeitete H. als Redakteur für das Deutden Romanen Das Land der singenden Hügel sche Tageblatt in Berlin, bevor er im folgenden (Wien 1954) u. Unternehmen Leonardo (Graz Jahr endgültig nach Leipzig zurückkehrte u. 1973). Die Bilanz seines Lebens als Katholik die Stelle des Dramaturgen am Stadttheater u. österr. Patriot zieht die Autobiografie Füannahm. Das 1887 begonnene Germanistikgung und Widerstand (Graz 1963. Erw. Aufl. studium schloss er 1890 mit der Promotion 1981). H. war Herausgeber von »Wort in der ab. 1893–1899 war er Direktor der »DeutZeit« (ab 1955). 1953 erhielt er den Großen schen Genossenschaft dramatischer Autoren Österreichischen Staatspreis für Literatur. und Komponisten«. Als Vorstand des SchilWeitere Werke: Das Wächterspiel. Bln. 1931. lervereins in Leipzig machte H. Ereignisse aus Neuaufl. Wien 1949. Mchn. 1951. 31959. – Die Schillers Leben zum Gegenstand von DraGaukler. Mchn. 1932. Neuaufl. Graz 1980 (R.). – men, darunter das Lustspiel Schiller und Lotte Kaiser Joseph II. Wien 1937 (D.). – Begegnung im (Lpz. 1890) u. das Festspiel Schillers Todesfeier Sept. Mchn. 1939. 2. Aufl. Wien o. J. [1949] (R.). – Ein Bauer greift an die Sterne. Bonn 1943. Neu- (Lpz. 1905). Zu seinen histor. Dramen zählen ausg. u. d. T. Peter Anich, der Sternsucher. Wien die Reformationsdramen Martin Luther (Lpz. 1946. 21947 (R.). – Der große Sturm. Mchn. 1943. 1883) u. Ulrich von Hutten (Lpz. 1884) sowie Wien 31972. Graz/Wien/Köln 1989 (R.). – Wort in Der Tod des Tiberius (Lpz. 1895). der Zeit. Wien 1945. 21947 (L.). – Bei der Arbeit an den Klosterneuburger Scheiben. Graz 1950 (L.). – Österr. Trilogie. Klage/Preislied/Mahnung. Wien 1950 (L.). – Die große Entscheidung. Wien 1954 (D.). – Lobgesang auf unsere Zeit. Wien 1956 (L.). – Der Büßer. Graz 1957 (D.). – Der geschlossene
Weitere Werke: Die Kypseliden. Lpz. 1874. – Ossian. Lpz. 1877. – Dt. Studenten. Lpz. 1887. – Im Escorial. Lpz. 1905. – Turnvater Jahn. Lpz. 1908.
Heraeus Literatur: Nachruf in: Neuer Theater-Almanach. Theatergeschichtl. Jahr- u. Adressen-Buch 22 (1911), S. 181. – Goedeke Forts. Annette Schöneck
Heraeus, Karl Gustav, auch: Carolus Gustavus, * 1671 Stockholm, † 6.11.1725. – Gelehrter; Beamter am Wiener Hof; Gelegenheitsdichter. H. besuchte ab 1687 das Gymnasium in Stettin, studierte 1690/91 in Frankfurt/O. u. unternahm laut Ausweis des erhaltenen Stammbuchs in den folgenden Jahren ausgedehnte Reisen (u. a. 1691 Dresden; 1692 Leipzig, süd- u. südwestdt. Städte, Paris; 1693 Rotterdam; 1695 Hamburg, Kopenhagen, Stockholm). Wechselnde Aufenthalte in Hamburg u. Uppsala folgten. Seit 1701 wirkte H. als Hofrat im Dienst des Grafen Anton Günter von Schwarzburg-Sondershausen; er verwaltete dessen Münzkabinett, schrieb Kasualgedichte u. Konzepte für Bühnen- u. Festdekorationen. 1709 konvertierte er u. ging nach Wien. Seit dem 30.9.1710 lebte er als Medaillen- u. Antiquitäteninspektor am Hof Josephs I., später Karls VI. Ab 1719 engagierte er sich erfolglos u. unter Verlust seines Vermögens im Kupferbergbau der Steiermark. Am Wiener Hof war H. vielseitig tätig (Arbeitsjournal 1717–1719 erhalten). Er führte eine ausgebreitete Korrespondenz u. a. mit Prinz Eugen von Savoyen u. Leibniz (Akademiepläne u. a.) u. arbeitete mit Johann Bernhard Fischer von Erlach zusammen. H. verfasste von 1711 bis in die 1720er Jahre die Konzepte aller Trauergerüste des Hofs u. zahlreicher Festdekorationen an Wiener Palästen; damit u. mit den begleitenden Huldigungsgedichten, Inschriften, Devisen u. emblemat. Erläuterungen gehört er zu den wichtigsten Erfindern u. Mitgestaltern der Ikonografie Karls VI. u. seiner Hofkunst. Die Sammelausgabe der Gedichte (Wien 1721) enthält den versgeschichtlich bemerkenswerten Versuch einer neuen Teutschen ReimArt in vierzeiligen Strophen mit gereimten Distichen (S. 68; geschrieben 1713 als Huldigungsgedicht auf Karl VI.). Möglicherweise wirkten hier schwed. Anregungen ebenso wie
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in H.’ kulturgeschichtlich interessanter Beschreibung einer wilden nordischen Nation (d. h. der Lappen. In: Gedichte, S. 236 f.). Auf Leibnizens Akademiepläne u. die Sozietäten Gottscheds weisen Unvorgreiffliche Gedanken über die Auf- und Einrichtung einer Teutschen Sprach-Gesellschaft (in: Gedichte, S. 264 ff. Abgedr. in Gottscheds Beiträgen zur kritischen Historie der teutschen Sprache. Bd. 1, 1732). Weitere Werke: Brevis Explicatio numismatum aliquot ex historia Imp. Caroli VI. o. O. u. J. – Trauer-Pracht mit welcher [...] Kayser Josepho I. [...] die letzte Ehre erwiesen worden. Wien: Johann v. Chelen 1711. – Vermischte Neben-Arbeiten. Wien: Andreas Heyinger 1715. – Bedeutungen u. Innschr.en [...] Bey Welt-erwünschter Geburt / Des Durchlauchtigsten Erz-Hzg. Leopoldi. Wien: Johann Baptist Schönwetter 1716. – Beschreibungen der Beleuchtungen / So [...] Dem Königl. Poln. u. Chur-Sächs. Erb-Prinzen [...]. Wien: Reichs-HofBuchdruckerei 1718. – Johann Bernhard Fischer v. Erlach: Entwurf einer histor. Architectur. Wien 1721. 21728 (Mitarb.). – Inscriptiones et Symbola varii argumenti. Nürnb.: Peter Conrad Monath 1721. – Thesaurus numismatum recentiorum Caroli VI. Imperatoris jussu [...] exhibitus. o. O. u. J. – Anton v. Steinbüchel (Hg.): Bildnisse der regierenden Fürsten u. berühmten Männer v. 14. bis zum 18. Jh. in einer Folgenreihe v. Schaumünzen zusammengestellt. Wien: Heubner 1828 (Mitarb.). Literatur: J. Jacobs u. H. Döring: H. In: Ersch/ Gruber. – Wurzbach 8, S. 320–323. – Joseph Bergmann: Leibniz in Wien. In: Sitzungsber. der Kaiserl. Akademie der Wiss.en, phil.-hist. Classe. Bd. 13 (1854), S. 4–24. – Ders.: Über K. Carls Rath u. Hof-Antiquarius C. G. H., dessen Stammbuch u. Correspondenz. In: ebd., S. 539–625. – Ders.: Über die Historia metallica seu numismatica Austriaca u. H.’ 10 Briefe an Leibniz. In: ebd., Bd. 16 (1855), S. 132–168. – Ders.: Die Pflege der Numismatik in Oesterr. im XVIII. Jh. In: ebd., Bd. 19, S. 31–108 (auch separat). – Ders.: C. G. H. aus Stockholm. In: Ders.: Medaillen auf berühmte u. ausgezeichnete Männer des österr. Kaiserstaates. Bd. 2, Wien 1844–57, S. 3294–3424 (Nachtr. dazu in: Sitzungsber. der Kaiserl. Akademie der Wiss., phil.hist. Classe 63 [1869], S. 7–32). – Alphonse Lhotsky: Die Gesch. der Slg. [des kunsthistor. Museums]. 1. Hälfte, Wien 1941–45, S. 388 ff. – Günther Probszt: Der kaiserl. Antiquitäten-Inspektor H. als Gewerke in der Veitsch. In: Ztschr. des histor. Vereins Steiermark 57 (1966), S. 75–88. – Brief des Prinzen Eugen v. Savoyen an [...] H. [...] 1717. Wien 1969 (Faks.). – Franz Matsche: Die Kunst im Dienst
285 der Staatsidee Karls VI. 2 Bde., Bln./New York 1981 (Register). – Bibliotheca Eugeniana. AusstellungsKat. Wien 1986, S. 236–238. – Anders Hammerlund: Entwurf einer histor. Topographie. Carl G. H. auf dem Wege v. Tessins Stockholm nach Fischers Wien. Bildungsgesch. eines Konzeptverfassers. In: Barock als Aufgabe. Hg. Andreas Kreul. Wiesb. 2005, S. 93–108. Wilhelm Kühlmann
Herbart, Johann Friedrich, * 4.5.1776 Oldenburg, † 14.8.1841 Göttingen; Grabstätte: ebd., Albani-Friedhof. – Pädagoge u. Philosoph. Während seines Studiums in Jena (1794 bis 1797) wandelte sich H. von einem begeisterten Schüler Fichtes zum entschiedenen Opponenten des bewusstseinsphilosophischen Idealismus, den er später als Abweichung von Kants urspr. Einsichten verurteilte u. (gegen Schelling u. Hegel gerichtet) als »Modephilosophie« bekämpfte. Sein eigenes System, dargestellt insbes. in seinem Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (Königsb. 1813. 4 1837) u. in der Allgemeinen Metaphysik (2 Bde., Königsb. 1828 f.), weist Züge eines krit. Realismus auf, den H. aus einer eigentüml. Verbindung von Kants Lehre der Erscheinungswelt mit Leibniz’ Monadologie ableitete. In Jena gehörte H. dem von Fichtes radikaldemokratischen Ideen inspirierten »Bund der freien Männer« (um Hülsen, Boehlendorff, Gries u. a.) an, dessen sozialreformerischer Enthusiasmus sich auf die »Bildsamkeit« des Menschen zu selbstbestimmtem Denken u. Handeln richtete. Erste pädagog. Erfahrungen sammelte er als Hauslehrer in der Schweiz, wo er auch Pestalozzi kennen lernte (1799) u. sich mit dessen Methoden vertraut machte. 1802 in Göttingen promoviert u. habilitiert, nahm H. noch im selben Jahr seine akadem. Lehrtätigkeit auf (seit 1805 als a. o. Professor). Die Veröffentlichung der Allgemeinen Pädagogik (Gött. 1806) verschaffte ihm große Beachtung, so dass er 1808 durch Vermittlung Wilhelm von Humboldts auf den Lehrstuhl Kants nach Königsberg berufen wurde. Neben philosophischen Vorlesungen eröffnete sich ihm hier ein weites Tätigkeitsfeld als Leiter eines neu gegründeten pädagog. Seminars. 1833 kehrte er nach
Herbart
Göttingen zurück. Als Dekan setzte er sich 1837 heftiger Kritik wegen seiner indifferenten Haltung bei der Entlassung der Göttinger Sieben aus. H. war ein Wegbereiter naturwissenschaftl. Verfahren auf dem Gebiet der Wahrnehmungs- u. Vorstellungspsychologie (Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. 2 Bde., Königsb. 1824 f.). Er postulierte, dass die wechselnden Zustände des Ich als mathematisch-quantitativ darstellbare Dynamik von psych. Energie zu erfassen seien; mit diesem Konzept u. seiner Begrifflichkeit (u. a. »Hemmung«, »Verdrängung«, »Schwelle« usf.) wird er zum wichtigsten systemat. Vorläufer Freuds. Von ca. 1850–1880 war der Herbartianismus bzw. die auf ihm beruhende Formalästhetik v. a. in der Donaumonarchie die führende philosophische Schule an den Gymnasien u. Universitäten; ihre Auswirkungen auf Ästhetik u. Wissenschaftstheorie lassen sich kaum überschätzen. Auch H.s pädagog. Prinzipien der objektiven u. der subjektiven Charakterbildung fanden nach 1850 verstärkt Anerkennung. H. gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der humanistisch-eth. Pädagogik. Weitere Werke: Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung. Gött. 1802. 21804. – Lehrbuch zur Psychologie. Königsb./Lpz. 1816. 61900. Würzb. 2003. – Über die Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. Königsb. 1822. – Kurze Enzyklopädie der Philosophie. Halle 1831. – Umriß pädagog. Vorlesungen. Gött. 1835. 21841. – Kleinere philosoph. Schr.en. Hg. Gustav Hartenstein. 3 Bde., Lpz. 1842 f. – Sämmtl. Werke. Hg. ders. 12 Bde., Lpz. 1850–52. 2 1883 f. – H.s pädagog. Schr.en. Hg. Otto Willmann. 2 Bde., Lpz. 1873–75. 21880. – Sämtl. Werke. Hg. Karl Kehrbach u. a. 19 Bde., Langensalza 1887–1912. Neudr. Aalen 1964. – Pädagog. Schr.en. Hg. Walter Asmus. 3 Bde., Düsseld. 1964 f. Stgt. 21982. – Hauslehrerber.e u. pädagog. Korrespondenz 1797–1807. Hg. Wolfgang Klafki. Weinheim 1966. – Lehrbuch zur Einl. in die Philosophie. Textkritisch rev. Ausg. mit einer Einl. hg. v. Wolfhart Henckmann. Hbg. 1993. Literatur: Bibliografie: Josef N. Schmitz: H.-Bibliogr. 1842–1963. Weinheim 1964. – Weitere Titel: Alfred Ziechner: H.s Ästhetik. Diss. Lpz. 1908. – Theodor Fritzsch: H.s Leben u. Lehre. Lpz. 1921. – M[aria] Dorer: Histor. Grundlagen der Psychoana-
Herbeck lyse. Lpz. 1932. – Artur Brückmann: Pädagog. u. philosoph. Denken bei H. Zürich 1961. – Walter Asmus: J. F. H. 2 Bde., Heidelb. 1968–70. – Josef Kühne: Der Begriff der Bildsamkeit u. die Begründung der Ethik bei H. Zürich 1976. – Georg Jäger: Die Herbartian. Ästhetik – ein österr. Weg in die Moderne: In: Die österr. Lit. Ihr Profil im 19. Jh. (1830–1880). Hg. Herbert Zeman. Graz 1982, S. 195–219. – Wolfgang Neuber: Paradigmenwechsel in psycholog. Erkenntnistheorie u. Lit. Zur Ablöse des Herbartianismus in Österreich (H. u. Hamerling, Freud u. Schnitzler). In: Die österr. Lit. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980). Hg. H. Zeman. Graz 1989, S. 441–474. – Friedhelm Jacobs: Von H. zum Herbartianismus. Eine religionspädagog. Wende. Bochum 1993. – H.s Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jh. Hg. Andreas Hoeschen u. Lothar Schneider. Würzb. 2001. – W. Neuber: Nationalismus als Raumkonzept. Zu den ideolog. u. formalästhet. Grundlagen v. Josef Nadlers Literaturgesch. In: Kulturwissenschaftler des 20. Jh. Ihr Werk im Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit. Unter Mitwirkung v. Sabine Kleymann hg. v. Klaus Garber. Mchn. 2002, S. 175–191. – Nadia Moro: Der musikal. H. Harmonie u. Kontrapunkt als Gegenstände der Psychologie u. der Ästhetik. Würzb. 2006. Jochen Fried / Wolfgang Neuber
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literarisch tätiger Patient im 1981 gegründeten Haus der Künstler auf dem Gelände der Nervenheilanstalt erregte H. die Aufmerksamkeit von W. G. Sebald, Gerhard Roth, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl u. a. Die unbewusste Nähe seiner Texte zur zeitgenöss. Avantgardeliteratur führte zunehmend zu einem literaturkrit. Interesse an H. Im Gegensatz zur verklärenden Appropriation als »Schizo« durch Kipphardt in den verschiedenen März-Texten, welche die Krankengeschichte u. Texte H.s frei verarbeiteten, erkannten Sebald u. a. den Rang seiner Texte als paradigmat. Zeugnisse einer »minderen« Literatur. Weitere Werke: Alexanders poet. Texte. Hg. Leo Navratil. Mchn. 1977. – Im Herbst da reiht der Feenwind. Ges. Texte 1960–1991. Hg. L. Navratil. Salzb./Wien 1999. – E. H. – die Vergangenheit ist klar vorbei. Hg. Carl Aigner u. L. Navratil. Wien 2002. Literatur: Gisela Steinlechner: Über die VerRückung der Sprache. Analyt. Studien zu den Texten Alexanders. Wien 1989. – W. G. Sebald: Eine kleine Traverse. Das poet. Werk E. H.s. In: Ders: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österr. Lit. v. Stifter bis Handke. Salzb./Wien 1985, S. 131–148. – Helmut Gollner: E. H. (1920–1991). In: LuK 34 (1999), H. 339/340, S. 97–109. H. Wolf Käfer / Uwe Schütte
Herbeck, Ernst, auch: Alexander, Alexander Herbrich, * 9.10.1920 Stockerau/ Niederösterreich, † 11.9.1991 Gugging/ Herberger, Valerius, auch: Valerius MiniNiederösterreich. – Lyriker. mus, * 21.4.1562 Fraustadt/Polen, † 18.5. 1627 ebd. – Prediger u. ErbauungsH. stammte aus kleinbürgerl. Verhältnissen schriftsteller. u. litt seit seinem 20. Lebensjahr an einer schizophrenen Psychose. Nach kürzeren Krankenhausaufenthalten war er ab 1946 dauerhaft in der Niederösterreichischen Landesnervenheilanstalt Gugging bei Wien hospitalisiert. 1960 schlug der Psychiater Leo Navratil seinem Patienten vor, Gedichte zu schreiben, für die er selbst die Titel lieferte. H. verfasste seitdem auf Aufforderung kurze lyr. Texte, deren Faszination u. Eindringlichkeit v. a. in plötzl. Perspektivwechseln, überraschenden Verknüpfungen u. insbes. dem Kontrast zwischen bizarren Sprachentgleisungen aufgrund der psychot. Störung einerseits bei gleichzeitiger Präsenz scharfsinniger Einsichten in soziale Regulierungsnormen andererseits liegt. Als ausschließlich
H. hat nur 1579–1584 seine vielfach wechselnden polit. Geschicken unterworfene Geburtsstadt Fraustadt verlassen – zu Aufenthalten an Gymnasium u. Universität. Fraustadt war damals Königlich-Polnische Stadt nördlich der Grenze zu Schlesien, an der wichtigen Handelsstraße Glogau-Warschau u. mit überwiegend deutschsprechender Bevölkerung von Lutheranern, Reformierten u. Böhmischen Brüdern. Eine Tante mütterlicherseits, Barbara Hoffmann, nahm sich nach 1571, dem Todesjahr von H.s auch als Dichter u. Meistersinger tätigen Vaters, des Waisen an. Die Mutter u. der Pate, der Verfasser einer Fraustadter Kirchenordnung (1576), Pastor Martin Arnold, setzten gegen den Stiefvater
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ein von der Stadt unter der Auflage des sonntägl. Sieben-Bußpsalmen-Betens ermöglichtes Theologiestudium für H. durch, einst vom Vater gewünscht, der H. anfangs selbst unterrichtet hat. Von dem Prediger Abraham Buchholzer (1529–1584) in Freystadt, wo H. auch Hauslehrer des Stadtschreibers war, ebenso wie von dem luth. Theologen Nikolaus Selnecker (1530–1592) in Leipzig gleichermaßen beeindruckt, wurde H. ein Anhänger der Theologie Luthers u. Melanchthons. Ehrenvolle Berufungen u. a. nach Breslau lehnte er sämtlich zugunsten von Fraustadt ab: Hier wurde er 1584 Baccalaureus u. dritter Lehrer an der (für die unter der Gegenreformation in Schlesien schon eher Leidenden wichtigen) Lateinschule, 1590 Diakon an der Stadtkirche St. Marien u. 1599 – nachdem er 1596 dem zu Unrecht vertriebenen Leonhard Krenzheim (1532–1598) den Vortritt gelassen hatte, als sein Nachfolger – ebendort Pfarrer. 1590 hatte er Anna Rüdiger geheiratet. Zwei einschneidende Ereignisse haben sich dem Gedächtnis eingegraben: nach der Übergabe der Stadtkirche an die Katholiken die Einrichtung einer Häuserkirche als »Kripplein Christi« am 24./ 25.12.1604 u. das in einer großen Pestkatastrophe Herbst 1613 entstandene, europaweit verbreitete, bis heute rezipierte u. konträren Interpretationen unterworfene Lied VALEt wil ich dir geben, Du arge, falsche Welt (mit der Signatur des Dichters als Akrostichon VALE.R.I.V.S), womit die Evangelischen »Gott dem HERRN das hertz erweichet ha[ben], daß er seine scharffe Zornruthe [...] in Gnaden hat niedergelegt«. – Der Kraft des Gebetes H.s u. seiner Gemeinde wurde auch der Sieg über die Türken bei Choczin (Chotyn) 1621 zugeschrieben. H.s Wirken war dezidiert Predigtamt. Die überkommenen umfangreichen Predigtsammlungen zeigen ihn als unkonventionellen Homileten. Von den Perikopenreihen wurden die Evangelien-Predigten noch zu Lebzeiten H.s als (ab 1694: Evangelische) HertzPostilla (Lpz. 1613. 211732) veröffentlicht, während die Epistolische Hertz-Postilla (Lpz. 1693. 51724) erst postum erschien. Er predigte aber auch über »schöne Texte, die sonst nicht überall gehandelt [...] worden
Herberger
sind«. Formal wie hinsichtlich der Stilmittel sind H.s Predigten schwer zu schematisieren. Hier entfaltet er am Beginn einer neuen Frömmigkeitsbewegung an der Wende zum 17. Jh. höchst eigenständig sein theolog. Programm als eine Jesusfrömmigkeit, auch als Jesusfreundschaft beschrieben nach Sirach 6, aus welchem Buch H. auch für seine ›Theologia medicinalis‹ schöpft. Sein theolog. Hauptwerk, MAGNALIA DEI, DE IESV, scripturae nucleo et medulla in zwölf Teilen (Lpz. 1603–1618/22/31 u. ö., mehrfach zusammen mit anderen Werken H.s. Schleusingen 1626. Hbg. 1661. Hg. Johann Adam Scherzer. Lpz. 4 1678) sucht in 771 Meditationen auf typologisch-allegor. Weise Texte von 1. Mose bis zum Buch Ruth auf Jesus zu beziehen (1. Samuel bis Hiob erhoffte der 62-jährige H. durch den Sohn Zacharias bearbeitet): »da stehen die Geheimnisse von dem HErrn JEsu / gleichwie ein dicker Wald beisammen«. Unter dem Motto »JESVS: PSALMORVM · NVCLEVS« ergänzt das an Prinzessin Anna Wasa von Schweden (17-jährig lutherisch gewordene Schwester von König Sigismund III.) gewidmete Florilegium ex Paradiso Psalmorum = Paradiß-Blümlein (Lpz. 1625. 1670. Unselbstständig 1700) die Magnalia Dei. Von Gewicht sind 147 Leichenpredigten u. d. T. Geistliche Trawrbinden (Tl. 1–7, Lpz. 1611–22). Biografische Passagen sind hier noch knapp, viel wird mit Beispiel, Allegorie, auch Wortspielen gearbeitet. H., innerprotestantisch irenisch denkend, predigt durchaus theologisch zugespitzt: gegen einen gegenreformatorisch-jesuitischen Katholizismus u. den in Polen verbreiteten Sozinianismus (beide bestreiten auf je ihre Weise die Alleinerlösung durch Christus). Den Kryptocalvinisten Johann Caper (Jan Koziol = ›Bock‹) überzieht H. nach dessen Wiedertaufe u. Hinwendung zum Unitarismus mit einem unerwartet scharfen Schmähgedicht »Auf Johannem Caprum, den Pfar-Herren in Meseritz, der, den letzten Iulii, Anno 1588. eingetaucht worden, in einem Teiche, beym Schmiegel [...]«: »[...] Er will für wahren GOtt, | nicht Christum halten mehr, | Pfui! Pfui! Wie stinkt der Bock, | wie stinkt er doch so sehr! | [...] Fahr, schnöder Bock, fahr hin, | ins ew’ge HöllenBad, | Wo man nur halbe Böck’, | und halbe
Herberger
Männer hat | [...]!« (Lauterbach 1725, S. 258 f.) Schließlich bemüht sich H., die Predigthörer zu christl. Leben anzuleiten. Das Herz des Menschen muss erreicht werden – durch mit drast. Mitteln erzählte Geschichte von Jesu Taten u. Leiden für die Menschen. Die bei H. beobachtete myst. Prägung, durch Martin Moller beeinflusst, steht H.s Weltzugewandtheit nicht im Wege – bewährt in Katastrophen wie dem Stadtbrand 1598 (H. wurde hierzu seherische Kraft nachgesagt), dem Kirchenverlust 1604 u. der Pest 1613. H. stellt innerhalb des »Aufkommens der neuen Frömmigkeitsbewegung« (M. Brecht) eine Weiche in Richtung Pietismus. Mit den bedeutenden evang. Erbauungsschriftstellern Johann Arndt, Philipp Nicolai, Johann Heermann (1602 Hauslehrer von Zacharias Herberger) u. Christian Scriver wird H. in einem Zusammenhang gesehen. In der Aufklärung wurde H. nicht rezipiert, erfuhr aber – nach einem Signal 1830 in Ernst Wilhelm Hengstenbergs »Evangelischer Kirchenzeitung« – 1840–1892 eine erstaunl. »Renaissance« im Zuge der auf Texte u. Lieder der »Alten Tröster« zurückgreifenden evang. Erweckungsbewegungen. Gar zugunsten von Wilhelm Löhes (1808–1872) Amerika-Arbeit der »Gesellschaft für innere Mission im Sinne der lutherische Kirche« erschien 1863 im Verlag Andreas Deichert in Erlangen eine H.Anthologie. Die Biografik u. Predigtgeschichte schenkte H. viel Beachtung; letztere löste sich freilich erst spät aus der Sicht einer großen Nähe H.s zu J. Arndt (Johann Gustav Diegel 1882 gegen Schuler 1792). In evang. Namenskalendern hat H. bis ins 20. Jh. seinen Platz gefunden. Biblio-biografischer u. weiterer Forschung ist die Erhellung von H.s weiteren Abhängigkeiten (Caspar Huberinus, Johannes Mathesius, Prof. med. Michael Barth/Lpz., Sigismund Suevus u. a.), der theologisch-frömmigkeitl. Prägung u. seiner vielfältigen Wirkungen aufgetragen. Weitere Werke: HOROSCOPIA PASSIONIS Domini. Passionsanzeiger. Jesu Christi Freyertag [...]. Lpz. 21611. – Jungfraw-Kräntzlin: Aus dem schönen Sprüchlein: Apoc. 14 [...]. Lpz. (1613). – VALEt wil ich Dir geben (1613/14). In: Fischer/ Tümpel, Bd. 1, S. 97–99; auch in: Das Zeitalter des
288 Barock. Texte u. Zeugnisse. Hg. Albrecht Schöne. Mchn. 21968, S. 199 f. – Jesus der Herr, mein Artzt [...]. Lpz. 1618 (auch u. d. T. Jesus Omnium Medicorum Princeps Et Dominus. In: ebd. 1618). – Leichenpredigt für Flaminius Gasto (1618). Ed. in: Steiger 2005, S. 266–321. – Außerlesene absonderl. Schrifften. Lpz. 1667 (Slg.). – Sirachs hohe Weißheit- u. Sitten-Schule [...]. Lpz. 1698. – Geistreiche Stoppelpostille. 1715. – Geistl. Herzens-Lust u. Freude [...]. Andachten [...] aus [...] H.’s Schr.en. [...] Zum Besten der inneren Mission, im Sinne der luth. Kirche [...] v. J. J. Weigel [...] Pfarrer in Großgründlach. Erlangen 1863. Literatur: Bibliografien: Pyritz, Nr. 3789–97. – VD 17. – Weitere Titel: Samuel Friedrich Lauterbach: Vita [...] Valerii Herbergeri. Lpz. 1708. Forts. in: Ders.: Fraustädtische Zion [...]. Lpz. 1711. – Ders.: Arcano-Socinismus olim in Polonia. Der ehem. [...] Socinismus. Ffm./Lpz. 1725, S. 257–260. – Karl Friedrich Ledderhose: V. H. Bielef. 1851. – Koch 2, S. 301–310. – Wilhelm Beste: Die bedeutendsten Kanzelredner der luth. Kirche des XVII. Jh. [...]. Dresden 1886, S. 76–103 (mit zwei Predigten). – Adolf Henschel: V. H. Halle/S. 1889. – Hugo Orphal: V. H. Lpz. 1892. – Die Alten Tröster. Ein Wegweiser in die Erbauungslitt. der evang.-luth. Kirche des 16. bis 18. Jh. Hg. Constantin Große. Hermannsburg 1900, S. 156–171, 688 f. (unter 1610 f., 1618). – W. Bickerich: Leben u. Wirken V. H.s. In: V. H. u. seine Zeit. Fraustadt 1927, S. 21–69. – Volker Meid: Sprichwort u. Predigt im Barock. Zu einem Erbauungsbuch [Magnalia Dei] V. H.s. In: Ztschr. für Volkskunde 62 (1966), S. 209–334. – Eberhard Winkler: Die Leichenpredigt im dt. Luthertum bis Spener. Mchn. 1967, S. 104–127. – Wilhelm Jannasch: V. H. In: NDB. – Wilfried Zeller: Theologie u. Frömmigkeit Bd. [1]–2. Marburg 1971, 1978 (jeweils Register). – Hans Henrik Krummacher: Der junge Gryphius u. die Tradition [...]. Mchn. 1976, S. 234 ff. – HansGeorg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2: Konfessionalismus. Tüb. 1987, S. 245 f. – Christian-Erdmann Schott: Die H.-Renaissance im 19. Jh. In: Jb. für Schles. Kirchengesch. N. F. 67 (1987), S. 125–139 (Lit.). – Ders.: Die Mystik des V. H. In: ebd. 68 (1989), S. 27–42. – Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Dtschld. In: Gesch. Piet., Bd. 1, S. 113–203. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 12, S. 324 f. – Franz M. Eybl: Predigt/Erbauungslit. In: Hansers Sozialgesch. der dt. Lit. Bd. 2: Die Lit. des 17. Jh. Hg. Albert Meier. Mchn./Wien 1999, S. 401–419, 648–651, 772 f. – C.-E. Schott: V. H. (1652–1627). In: Schles. Lebensbilder 7 (2001), S. 30–35. – Mechthild Sobiela-Caanitz. H., V. In: Hdb. zum
Herberstein
289 Evang. Gesangbuch 2. Gött. 22001, S. 143. – Elke Axmacher: Johann Arndt u. Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit u. geistl. Dichtung des 17. Jh. Tüb./Basel 2001, S. 245–252, 315 f. – Bernhard Liess: Johann Heermann (1585–1647). Prediger in Schlesien [...]. Münster 2003, S. 31 f., 75, 77, 175–176, 294 f. – Johann Anselm Steiger: Medizinische Theologie [...] im Luthertum der Barockzeit. Mit Ed. [...] V. H., Leichenpredigt auf Flaminius Gasto (1618). Leiden 2005, S. 114–116, 123–136. Dietrich Blaufuß
Herberstein, Sigmund Frhr. von, * 23.8. 1486 Schloss Wippach/Innerkrain, † 28.3. 1566 Wien; Grabstätte: ebd., Michaelskirche. – Verfasser landeskundlicher u. autobiografischer Werke. Nach Besuch der Domschule u. Jurastudium in Wien wurde H. 1502 zum Baccalaureus promoviert; 1509 trat er in den Dienst Kaiser Maximilians I. u. im Dez. 1514 in den der niederösterr. Regierung. Der humanistisch gebildete u. sprachkundige H. wurde mit zahlreichen diplomatischen Missionen beauftragt, die ihn nach Italien, Spanien, Dänemark u. vor allem nach Osteuropa führten. Sein Augenzeugenbericht Rerum Moscoviticarum commentarii (Wien 1549. Dt. Wien 1557; 20 Aufl.n bis 1600), eine Beschreibung seiner Gesandtschaftsreisen zu den Moskauer Großfürsten (zuerst 1516/17), bietet kulturhistorisch u. historiografisch wichtige Informationen über das Russland des 16. Jh. Als Vorlagen dienten neben russ., heute z.T. verschollenen Chroniken Schriften des Nikolaus von Kues, Johannes Fabris u. anderer sowie die griech. Originalhandschrift der Cosmographia des Ptolemäus, die er in der Bibliothek des ungar. Königs Matthias Corvinus las. Die Aussagen dieser Quellen hat H. nicht kritiklos übernommen, sondern während seiner Reisen überprüft u. vielfach korrigiert, wie der mit ihm befreundete Hutten im Brief vom 25.10.1518 an Willibald Pirckheimer anerkennend hervorhebt. H.s Lebenserinnerungen enthalten kultur- u. mentalitätsgeschichtlich wertvolles Material; handschriftlich überliefert sind die beiden Fassungen von 1545 (Budapest, NationalBibl.) u. 1563 (Wien, Haus-, Hof- u. Staatsar-
chiv); fünf weitere autobiogr. Aufzeichnungen veröffentlichte H. im Druck. Ausgaben: Selbstbiogr. 1486–1553. In: Fontes rerum austriacarum. 1. Abt., Bd. 1, Wien 1855, S. 67–396. – Rerum Moscoviticarum commentarii. Basel 21556. Nachdr. Ffm. 1963. – Dass.: Basel 1571. Nachdr. Ffm. 1964. – Beschreibung Moskaus [...] samt des moskowit. Gebietes (1557). Übertragung u. Einl. v. Bertold Picard. Graz 1966. – Das alte Rußland. Übertragung v. Wolfram v. den Steinen. Nachw. v. Walter Leitsch. Zürich 1984. – Rerum Moscoviticarum Commentarii. Synopt. Ed. der lat. u. der dt. Fass. letzter Hand Basel 1556 u. Wien 1557. Hg. Hermann Beyer-Thoma. Mchn. 2007. – Corpus epistularum Ioannis Dantisci. Tl. 2, Bd. 1: Epistulae Sigismundi de H. et Ioannis Dantisci. Hg. Jerzy Axer u. a. Warschau 2008. Literatur: Bertold Picard: Das Gesandtschaftswesen Ostmitteleuropas in der frühen Neuzeit [...]. Graz 1967. – Christine Harrauer: Die zeitgenöss. lat. Drucke der Moscovia H.s u. ihre Entstehungsgesch. [...]. In: Humanistica Lovaniensia 31 (1982), S. 141–163. – S. v. H. Kaiserl. Gesandter u. Begründer der Rußlandkunde u. die europ. Diplomatie. Hg. Gerhard Pferschy. Graz 1989. – Walter Leitsch: S. v. H. bei Süleyman dem Prächtigen. In: Wiener Zeitschr. für die Kunde des Morgenlandes 82 (1992), S. 269–288. – Frank Kämpfer: H.s nicht eingestandene Abhängigkeit v. Johann Fabri aus Leutkirch. In: Jbb. für Gesch. Osteuropas 44 (1996), S. 1–28. – Das Rußlandbuch S.s v. H. ›Rerum Moscoviticarum commentarii‹. 1549–1999 [...]. Hg. Frank Kämpfer. Hbg. 1999. – Marshall T. Poe: ›A people born to slavery‹. Russia in early modern european ethnography, 1476–1748. Ithaca, NY 2000. – Anne Schnirch: Rußlandber.e aus drei Jh. H., Olearius u. Weber im Vergleich. In: Kultursoziologie. Aspekte, Analysen, Argumente 10 (2001), S. 9–73. – 450 Jahre S. v. H.s ›Rerum Moscoviticarum commentarii‹. 1549–1999. Jubiläumsvorträge. Hg. F. Kämpfer. Wiesb. 2002. – Xenja v. ErtzdorffKupffer: S. v. H. Der Botschafter als Erzähler der ›Rerum Moscoviticarum commentarii‹ (1549 ff.) u. seiner dt. Ausg. der ›Moscovia‹ (Wien 1557). In: Erkundung u. Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- u. Länderber.e [...]. Hg. dies. Amsterd. 2003, S. 335–363. – Floyd Gray: Voyage à Moscou au XVIe siècle. La Russie vue par un ambassadeur occidental et un mousquetaire français. In: Romanic review 94 (2003), S. 43–59. – Wolfgang Geier: Russ. Kulturgesch. in diplomat. Reiseber.en aus vier Jh.: S. v. H., Adam Olearius, Friedrich Christian Weber, August v. Haxthausen. Wiesb. 2004. – Christine Harrauer: ›... so vill leydt darnach fragn ...‹. S. v. H. s ›Rerum Moscovitarum Commentarii‹. In:
Herbert
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Biblos 54 (2005), S. 65–79. – F. Kämpfer: ›Homines nigri ab lacu kitai‹. Chines. Perlenhändler in H.s ›Rerum Moscoviticarum Commentarii‹. In: Jbb. für Gesch. Osteuropas 54 (2006), S. 410–422. – Karl A. E. Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiogr. des frühneuzeitl. Humanismus v. Petrarca bis Lipsius. Bln./New York 2008, S. 546–574. Reinhard Tenberg / Red.
Herbert, Hubert, Petrus, * um 1530 Fulnek/Mähren, † 1.10.1571 Eibenschitz bei Brünn (tschechisch: Ivancˇice). – Theologe, Kirchenlieddichter.
Literatur: Carl Bertheau: P. Hubert. In: ADB. – Rudolf Wolkan: Das dt. Kirchenlied der Böhm. Brüder im 16. Jh. Prag 1891. – Joseph Theodor Müller: Hymnolog. Hdb. zum Gesangbuch der Brüdergemeine. Herrnhut 1916. Nachdr. Hildesh. 1977. – Gerhard Meyer: P. H. In: NDB. – Jörg Erb: Dichter u. Sänger des Kirchenliedes. Bd. 1, LahrDinglingen 21981. – D. Meyer: P. H. In: RGG. – Klaus-Peter Möller: Oberschles. Autoren 1450–1620. In: Oberschles. Dichter u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 486–547, hier S. 515 f. – Wolfram Steude: P. H. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 22001, S. 143 f. – Rudolf Rˇícˇan: Die Böhm. Brüder. Ursprung u. Gesch. 2., überarb. Aufl. Basel 2007 (11961). Dietrich Meyer / Red.
H. wurde 1552 in Königsberg, 1557 in Wittenberg immatrikuliert u. 1562 in Jungbunzlau zum Priester der Brüderunität geweiht. Er war Prediger in den beiden Herbort von Fritzlar, * um 1200. – Verdeutschsprachigen, von Waldensern der fasser eines mittelhochdeutschen TrojaMark Brandenburg besiedelten Brüdergeromans. meinen Landskron – der Michael Weiße bis 1534 gedient hatte – u. Fulnek, der er nach H. schrieb im Auftrag des Landgrafen Herdem Tod Johann Jelecky´s 1568 vorstand. H. mann von Thüringen (1190–1217), den er im wurde 1567 als Konsenior in den Engen Rat, Prolog seines liet von Troye nennt (Hg. Karl das Leitungsgremium der Brüderunität, ge- Frommann. Quedlinb./Lpz. 1837. Neudr. wählt, übersetzte 1561 die tschech. Brüder- Amsterd. 1966). Wenn er sich darin selbst als konfession ins Deutsche (Confessio, das ist, Be- Schüler (»iungere«) oder (im Epilog) als gekenntnis des Glaubens. o. O. 1564) u. vertrat die lehrten Scholar bezeichnet, so lässt dies auf Unität mehrfach nach außen, z.B. 1560/61 in die Ausbildung an einer Lateinschule schlieden Gesprächen mit Bullinger, Musculus u. ßen; sie kann jedoch schon länger zurücklieCalvin sowie 1564 vor Kaiser Maximilian II. gen, denn die Selbstverkleinerung – er müsse Gemeinsam mit Michael Tham u. Jelecky´ beim Dichten noch hinzulernen – kann auch gab H. eine erweiterte, typografisch aufwän- als Mittel zur Publikumsgewinnung dienen. dig gestaltete Auflage des dt. Brüdergesang- Sein Mäzen, einer der bedeutendsten der buchs Kirchengeseng darinn die Heubtartickel des Zeit, hatte offensichtlich die Vorgeschichte Christlichen glaubens kurtz gefasset und ausgeleget zum Eneasroman des Heinrich von Veldeke sind (Eibenschitz 1566) heraus, die einen gewünscht, den er ebenfalls gefördert hatte: großen Teil der Lieder Weißes u. auch Lu- Auf diesen Vorgänger verweist H. in der Erthers enthält. Von H. dürften 93 Lieder zählung von den weiteren Schicksalen der stammen, davon 42 Übertragungen aus dem griech. u. trojan. Helden. (Das legt eine DaTschechischen. Lieder wie Preis, Lob und Dank tierung um 1190 nahe, obgleich früher auch sei Gott dem Herren (EKG 206) u. Die Nacht ist eine Abfassung um 1210 erwogen wurde.) kommen, drin wir ruhen sollen (EKG 356) gehö- Ohne die Vermittlung frz. Adaptionen des ren noch heute zum Grundbestand evang. trojan. Sagenkreises, die am Hof der PlantaLiedguts. H. überreichte das Gesangbuch als genets entstanden sind, wäre die Aneignung Zusammenfassung des brüderischen Be- allerdings kaum denkbar gewesen. Darüber kenntnisses mit einer Abordnung am 27.11. hinaus zeigen diese Beziehungen zu anderen 1566 Maximilian II., dem es in der später antikisierenden Romanen, welche Rolle die enttäuschten Hoffnung auf eine öffentl. To- persönl. Interessen des thüring. Landgrafen lerierung der Brüderunität gewidmet ist. für die deutschsprachige Antikenrezeption Ausgabe: Wackernagel 4, Nr. 543–620, spielen; in dessen Umkreis gehören auch die Metamorphosen des Albrecht von Halberstadt. S. 384–449.
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Die Vorlage für H.s Bearbeitung beschaffte Landgraf Hermann unter Vermittlung des Grafen Friedrich von Leiningen. In seinem Roman de Troie (um 1165) stützt sich Benoît de Sainte-Maure seinerseits auf zwei antike Pseudohistoriografen, Dares u. Dictys. Auch H. ist diese Herkunft des Stoffs bekannt: Er stellt sich in eine Reihe mit dem griech. »Augenzeugen« Dares, dessen (fiktivem) lat. Übersetzer Cornelius Nepos u. dem Franzosen, der ihm – nach eigener Aussage – als direkte Vorlage dient. Am Handlungsgerüst ändert H. nichts: Die Vorgeschichte beginnt mit der Fahrt der Argonauten u. ihrer Abweisung durch die Trojaner; in Übereinstimmung mit Dares/Benoît führt nicht allein der Raub der Helena, sondern eine ganze Kette von wechselseitigen Vergeltungstaten zum Krieg der Griechen gegen Troja. Auch die insg. 22 Kämpfe sowie der Fall Trojas durch Verrat des Eneas u. Antenor sind aus der Vorlage übernommen. Doch im Übrigen gestaltet H. sie oft recht selbstständig um. Sie zu kürzen, ist sein erklärtes Ziel: Er drängt 30.108 Verse auf 18.458 zusammen. Wiederholt zeigt sich H.s grammat. u. rhetorische Schulung – etwa wenn er Eigennamen korrigiert u. lat. flektiert oder rhetorischen Beschreibungsschemata folgt. Einen bes. Akzent erhält seine Bearbeitung durch die Kenntnis zahlreicher Schulautoren, darunter solchen, die den Troja-Stoff unabhängig von Dares überliefern (Ovid, Statius, mytholog. Handbücher wie Hygin oder Fulgentius). Sie sind nicht durchgängig benutzt, doch in einigen Fällen (z.B. beim Sirenenabenteuer des Ulixes) wird die Vorlage sachlich vervollständigt. – Grundsätzlich ist der antike Stoff den mittelalterl. Lebensformen angepasst: Wie schon in den frz. Romanen u. bei Heinrich von Veldeke kämpfen die Heroen als »ritter« u. rufen immer wieder den Christengott an. Der Götterwelt, die eine größere Rolle als bei Heinrich von Veldeke spielt, wird eher stoffl. Interesse entgegengebracht; nur gelegentl. bezeichnet H. den heidn. Glauben als Teufelswerk, ordnet ihn dabei aber gleichzeitig einer fernen Vergangenheit zu. Auf die antike rhetorisch-poetische Tradition geht auch H.s Darstellung des Achilles zurück. Sein Zorn ist nur bei H. als unver-
Herbort von Fritzlar
wechselbares Kennzeichen u. Vorbedingung seiner kriegerischen Erfolge gesehen. So führt in diesem Fall das Schulwissen zu einer tiefgreifenden Konzeptionsänderung. Gegenüber Dares u. Benoît ist Achill konsequent aufgewertet; er u. der trojan. Hauptheld Hektor sind ins Zentrum der ersten Schlachten gerückt. Achill ermordet ihn nicht heimtückisch, sondern ist sogar bereit, den Wert seines sterbenden Gegners anzuerkennen: »Du hast den lip hie verlorn / Durch truwe und durch ere« (V. 10.426 f.). Auch mit seiner Liebe zu Polyxena, der Schwester Hektors, nimmt Achill eine Sonderstellung ein. Alle anderen Minneverhältnisse bleiben ohne inneren Bezug zum Kampfgeschehen. Allein Achill gerät in einen Konflikt zwischen der Minne, die ihm die Kampfkraft raubt, u. seinen Verpflichtungen für die Griechen. Beide Bereiche sind letztlich unvereinbar. In der Hoffnung auf ein Treffen mit Polyxena fällt er einem Anschlag der trojan. Königin zum Opfer: »er hette sin blut und sin leben / Um ir minne gegeben« (V. 13.769 f.). Für höf. Tendenzen, die als entscheidende Neuerung gerade die Liebesepisoden des frz. Romans auszeichneten, ist in H.s ungeschminkter Darstellung von Entführung u. Verführung kein Platz. Frauen zeichnet er mit iron. Vorbehalt, verliebte Ritter bisweilen sogar mit sarkast. Humor. Hier u. vor allem in den Kampfesgräueln u. Grausamkeiten des Kriegs wird die Differenz zur Idealwelt des zeitgenöss. Artusromans deutlich. Mit seinem »Realismus« weist H. über die eigene Zeit hinaus; in den späteren Trojaromanen wird er allerdings nicht rezipiert. Sein Werk ist nur in einer einzigen Handschrift vollständig überliefert, zusammen mit dem ungleich erfolgreicheren Eneasroman Heinrichs von Veldeke. Literatur: Franz Josef Worstbrock: Zur Tradition des Trojastoffes u. seiner Gestaltung bei H. v. F. In: ZfdA 92 (1963), S. 248–274. – Kurt Ruh: Höf. Epik des dt. MA 1. Bln. 21977, S. 88–92. – Rose B. Schäfer-Maulbetsch: Studien zur Entwicklung des mhd. Epos. Göpp. 1972, S. 83–110, 195–215, 527–575. – Helga Lengenfelder: Das ›Liet v. Troye‹ H.s v. F. Bern/Ffm. 1975. – Rüdiger Schnell: Andreas Capellanus, Heinrich v. Morungen u. H. v. F. In: ZfdA 104 (1975), S. 131–151. – Ursula Peters:
Herbst Fürstenhof u. höf. Dichtung. Der Hof Hermanns v. Thüringen als literar. Zentrum. Konstanz 1981. – W. H. Jackson: The concept of knighthood in H. v. F.’s ›Liet v. Troye‹. In: Ders. (Hg.): Knighthood in Medieval Literature. Woodbridge 1981, S. 39–53. – Hans-Hugo Steinhoff: H. v. F. In: VL. – Ricarda Bauschke: Geschichtsmodellierung als literar. Spiel. Zum Verhältnis v. gelehrtem Diskurs u. Geschichtswahrheit in H.s ›Liet v. Troye‹. In: Eine Epoche im Umbruch.Volkssprachl. Literalität 1200–1300. Hg. Christa Bertelsmeier-Kierst u. Christopher Young. Tüb. 2003, S. 155–174. – Dies.: Strategien des Erzählens bei H. v. F. In: WolframStudien 18 (2004) S. 347–365. – Vgl. den Artikel ›Excidium Trojae‹. Anette Syndikus
Herbst, Alban Nikolai, eigentl. Alexander v. Ribbentrop, * 7.2.1955 Refrath bei Köln. – Autor von Romanen, Erzählungen, Reiseprosa, Verswerken, Gedichten, Funkarbeiten u. von theoretischen Arbeiten zu einer »Poetik nach der Postmoderne«. H. holte das Abitur auf dem Abendgymnasium nach, studierte seit 1981 in Frankfurt/M. v. a. Philosophie u. veröffentlichte daneben erste Prosawerke. 1987–1993 führte er ein Doppelleben als Autor u. als Aktien- u. Devisenbroker. 1985–1989 gab er in einem Göttinger Verlag »Dschungelblätter. Zeitschrift für die deutschsprachige Kulturintelligenz« heraus. Preise u. Stipendien erleichterten die Existenz: Niedersächsisches Nachwuchsstipendium für Literatur (1981), Jahreskunstpreis des Frankfurter Vereins für Künstlerhilfe (1984), Stipendium der alten Hauptfeuerwache in Mannheim (1985), Aufenthalt in der Casa Baldi, Olevano Romano (1987), Grimmelshausen-Preis (1995 für den Roman Wolpertinger oder Das Blau), Villa-Massimo-Stipendium (1998), Ledig House Ghent/ NY, USA (1998), Phantastik-Preis (1999 für den Roman Thetis. Anderswelt), Writer in Residence der Keio-Universität Toyko (2000), Jahresaufenthalt der Villa Concordia, Bamberg (2006). 2007/08 nahm er eine Poetikdozentur an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg wahr u. leitet dort seitdem ein Poetikseminar. H. lebt in Berlin. Realität erscheint in H.s bedeutendsten Werken als ein Universum des literarisch
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entgrenzten Bewusstseins, in dem die Kluft zwischen Alltagswelt, Zeitgeschichte u. Fantasie, zwischen Reflexion, Einbildung u. literar. Erinnerung aufgehoben ist. Das Ich u. seine Erfahrungen, damit auch die Gesamtheit der außerliterar. Faktizität, lösen sich in einen epischen Kosmos auf, der die Hierarchie der fiktionalen Instanzen u. Wirklichkeitsebenen einebnet. Erkennbare zeitgeschichtl. Personen bevölkern zusammen mit den Spaltungsfiguren des Autors (Arndt, Deters usw.) u. einer Fülle erfundener, die Werke miteinander verknüpfender Gestalten einen intertextuell wie intratextuell komponierten, einen schließlich als »Cyberwelt« futuristisch imaginierten Erzählraum, in dem das Recht des fiktionalen Tagtraums gegen alle Ansprüche alltagsweltl. Bestimmbarkeit verteidigt wird. Dieser narrative Totalitätsanspruch ist auch gegründet in einer geradezu polyhistorischen, alte u. aktuelle Literatur umfassenden Belesenheit, wie sie sich auch in den Funkarbeiten präsentiert. H.s frühes Prosawerk, offenbar von der »Frankfurter Schule« beeinflusst, artikulierte zunächst noch den gängigen sozial-, medienu. konsumkrit. Protest gegen das reflexionslose Elend u. die Verdrängungsakrobatik der Nachkriegsgesellschaft. Marlboro ( Hann. 1981) versammelt Kurzerzählungen u. monologische Figurenporträts, in denen v. a. die Überwältigung des Ichs durch die Schablonen der öffentl. Rede sichtbar wird. Das hier bevorzugte Verfahren, Figuren ohne auktoriale Kommentare ganz aus ihrer eigenen Sprache u. Psyche heraus zu konstruieren, baute H. in Die blutiger Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger (Gött. 1986. Ffm. 2000) zu einem atemlosen Romanmonolog aus, in dem sich die Glücksfantasien u. Aggressionen eines antibürgerl. Aussteigers Luft verschaffen. Prosaetüden wie die Erzählungen Joachim Zilts Verirrungen (St. Gallen 1986), eine kafkaeske Kette alptraumhafter Zwangsvorstellungen, u. Die Orgelpfeifen von Flandern (Ffm. 1993), eine in Paris angesiedelte trag. Liebesgeschichte, lassen sich als Stationen auf dem Weg zum Großroman des Wolpertinger verstehen. Schon in dem Roman Die Verwirrung des Gemüts (Mchn. 1983) hatte H. seine fiktionalen Spiele mit der Erzählerfigur be-
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gonnen u. damit jenes strukturelle Motivgeflecht angedeutet, das fortan fast obsessiv sein episches Œuvre charakterisieren sollte: Aufbruch, auch Flucht des Ichs in der Spaltung u. Multiplikation seines Selbst, d. h. in der Auffaltung des Ichs in eigenständige Figuren, die in die erzählte Welt eingehen, sich dort auf verwirrende Weise substituieren, verlieren oder gar bedrohen. H.s Meisterwerk, der Großroman Wolpertinger oder das Blau (Ffm. 1993), bietet ein im markierten Rückgriff auf Jean Paul und Thomas Manns Zauberberg nach musikal. Prinzipien gearbeitetes u. fantastisch umspieltes Epochenpanorama, zgl. eine mentalitätshistor. Diagnose der späten sechziger bis frühen achtziger Jahre. Die Zeit des primären Geschehens, als deren Zeuge Deters fungiert, wird zumal im Prolog u. in den Epilogen mehrfach überblendet bzw. durchbrochen durch Bezüge auf die Jahre 1976, 1985 u. 1989, so dass interne Zeitstufungen auf verquere Weise im Geflecht des Erzähleru. Figurenkommentars verwischt erscheinen. Literaten, Privatgelehrte u. Kulturfunktionäre bilden hier eine bildungsträchtige Schickeria mit deutl. Bezug auf das H. wohl bekannte intellektuelle Binnenklima Frankfurts. Es entsteht so ein Filigranwerk von Dialogstimmen, in dem Brutalität u. Sehnsucht, Eskapismus u. endzeitl. Wut, private Leiden u. kulturphilosophische Diagnosen zusammen mit einem Chor kontrastiver Sprachporträts (Trupp von Wanderern, Verkaufstrainer, Figurentypen der 68er-Protestszene) zu einem polyphonen, nicht selten komischen bzw. humoristischen Gebilde verschränkt werden. Immer wieder erscheint Welt dabei im Widerschein des Gelesenen u. Gedachten (Shakespeare, Benn, Döblin, A. Schmidt, Th. Mann, Adorno u. Nietzsche, auch Wolf Biermann). Mythische Modelle u. psych. Tiefenstrukturen, H. durch A. Schmidt gewiss wohlbekannt u. im späteren Werk, auch im UndineStück (Ffm.1995), immer deutlicher hervortretend, machten auch aus seinem sizilian. Reisebuch (Ffm. 1995) mehr als einen literarisch versierten Baedeker oder ein Protokoll der mafiosen Inselwirklichkeit. Der Reisende, bald in H.s Manier fiktionalisiert, wird wie der Leser in eine zweite, eine archaisch-fan-
Herbst
tastische Atmosphäre u. Handlungsfolge hineingezogen, in welcher der alte DemeterKult von neuem bezwingende Kraft gewinnt u. eine Geschichte aus Ovids Metamorphosen (die Verwandlung der Nymphe Cyane in Syrakus) als zeitlos erfahrbare Bewusstseinswirklichkeit aufleuchtet. Größeres Gewicht als dem folgenden kleinen Manhattan-Roman (In New York. Ffm. 2000) kommt einer Der Arndt-Komplex betitelten »Novellen«-Sammlung (Reinb. 1997) zu, die das aussichtslose Unterfangen erprobt, sich selbst in der totalen Kontrolle über alle affektiven Impulse der Physis im Sinne des cartesian. Verstands u. einer fast platonisch wirkenden »Reinheit« u. »Freiheitlichkeit« des Denkens zu programmieren. Während der Arbeit an diesen Werken wuchs H.s ehrgeizigstes, sein utopischfantastisches Romanwerk heran: das bisher in zwei Bänden (Thetis. Anderswelt. Fantastischer Roman. Reinb. 1998. Buenos Aires. Anderswelt. Kybernetischer Roman. Bln. 2001) vorliegende, als Trilogie geplante, sich an Thomas Pynchon messende Anderswelt-Projekt. Im Berliner Café Silberstein wird von dem wiederum fiktional verfremdeten u. multiplizierten Autor ein durch abrupte Perspektivenwechsel verrätselter apokalypt. Zustand ausfantasiert, in dem ein »Resteuropa« ringsum nur durch eine hohe Mauern von dem Thetismeer getrennt ist. In dieser imaginären Festung wuchern unter einem künstl. Klimaschirm die aktuellen Konflikte zwischen Ost u. West u. die in Ängsten kultivierten Bedrohungsmomente (Probleme u. Skandale der Umweltverschmutzung, der künstl. Intelligenz, Gentechnologie, Kinderschändung, Biowaffen usw.). Buenos Aires, die Makrostadt, so groß wie ganz Westdeutschland, nimmt in changierender Irritation Züge der verschiedensten Metropolen verschiedener Epochen an. Das Personal wird charakterisiert in der Überblendung myth. Archetypen, quasi realistischer Figurenkombinationen u. computergenerierter virtueller Gestalten. Geschehnisse, Figurenhandeln u. Verhältnisse des fantastischen Landes rekapitulieren u. zitieren ein riesiges Arsenal oft kolportagehafter Motive u. Bilder nicht nur der ScienceFiction-, Horror- u. Fantasy-Literatur, sondern in aller Deutlichkeit auch die Trivial-
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mythen des Films. Die Produktion der letzten Jahre ist gekennzeichnet durch einen als autobiografisch angesehenen, von Betroffenen wegen offenherziger Szenen verklagten u. deshalb bald gerichtlich verbotenen, durch gerichtl. Einigung dann aber wieder freigegebenen Roman (Meere. Hbg. 2003. Druck der revidierten Fassung in: Volltext. Zeitung für Literatur. Wien 2007), durch eine neue Erzählsammlung (Die Niedertracht der Musik. Köln 2005), durch literaturkrit. Essays sowie durch überraschende Experimente mit filigraner, zweisprachig dargebotener Liebeslyrik (Très Proche Orient. Dem Nahsten Orient. Dt.frz. Ausg. Ausgew. u. übertragen von Raymond Prunier. Ffm. 2007). Dazu kommen aktuelle Versuche in quasi-klassizist. Formen der Versdichtung (Aeolia. Gesang. In: Stromboli. Bielef. 2008. In Vorbereitung: Bamberger Elegien, vorab einzeln veröffentlich in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 68, 2007, sowie in L. Der Literaturbote, Nr. 88, 2008). Eine ausführl. Einführung in H.s Poetik gibt Kybernetischer Realismus. Heidelberger Vorlesungen zur Poetik (Heidelb. 2008) an die Hand, ebenso wie der Themenband der Zeitschrift »die horen« (Nr. 231, 2008), v. a. zu H.s Anderswelt-Romanen. Die radikalste poetische Synthese aus Realität, Fiktionen, ununterscheidbaren tatsächl. u. erfundenen Figuren, Theoriepartikeln, Kritiken zur Musik, Kunst u. Literatur sowie aus Alltagsaufzeichnungen u. Reiseerzählungen wird in H.s seit 2004 gegründetem öffentl. Literarischen Weblog »Die Dschungel. Anderswelt« in permanenter Fortschreibung betrieben. Weitere Werke: Lyrik: der engel ordnungen. Ffm. 2009. – Erzählprosa: Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen. Zus. mit Barbara Bongartz. Hg. Norbert Wehr. Essen 2002 (Schreibh., Nr. 58). – Theaterarbeiten: Rühm. Ein Arrangement nach Gerhard Rühm. Urauff. Ffm. 1983. – Dracula ist ein postmoderner Sänger aus Dtschld. Eine Hörmontage für vier Literaten. Steinheim/Hanau 1985. – Nicht Sirius. Fantasiestück. Ffm. 1997. – Goegg. Ein Bürgerl. Revolutionsspiel. Urauff. Renchen 1997. Ffm. 1997. – Funkarbeiten (teilweise in eigener Regie): Das Leda-Projekt. Hörsp. SFB 1996. – Es wird uns nicht verziehen werden, umsonst gelebt zu haben. Eine d’Annunzio-Fantasie. DLF 1996. – Der Blaue Kammerherr. Ein Radio-Fantasie über Wolf v.
294 Niebelschütz. DRadio 1996. – Die Sprache der Trottoirs. Eine Passage. SFB 1996. – Der Fürst der Romane. Eine Radio-Unterhaltung über Anthony Burgess. DRadio 1997. – Die Muschelerde der Träume. Eine Radio-Fantasie über Louis Aragon. DLF 1997. – Notturno: Nach Palermo! O-TonHörstück. DLF 1999. – So ist es. Ist es so? Eine Pirandello-Redoute. DLF 2000. – Das Ohr an der Straße oder Im Glanz u. Elend der Stadt Bombay. O-Ton-Hörstück. DLF 2000. – Der walis. Blocksberg oder Länder gibt es, vertrackte. Ein Hör- u. Kunst-Stück über John Cowper Powys. DLF 2001. – Slothrop’s Verschwinden oder das war Thomas Pynchon. Eine Collage. DLF u. a. 2002. – Tokyos Lächeln. Entfernungen an eine ferne Stadt. DLF 2003. – Das gelbe Licht des Friedens. Gänge durch das alte Jerusalem. WDR 2003. – Delta-Plus u. Grabeswelten. Science Fiction u. Psychose. WDR 2003. – Das widerl. Genie. Ein Haß-Stakkato über Louis-Ferdinand Céline. DRadio 2003. – Briefe aus Catania. DLF 2004. – Die Illusion ist das Fleisch auf allen Dingen. Eine Poetik für Kavita Janine Chohan. DLF 2004. – Das Wunder v. San Michele. Fantasie mit Tönen um einen kleinen Palast. DLF 2006. – Leidenschaftlich ins Helle erzürnt oder die vergessene Dichtung Johannes Verbeens. SWR 2006. – Musik-Sprache-Arbeiten: ›plötzlich wird vieles klar‹. Minioper für 7 Gesangsstimmen u. 4 Streicher v. Caspar Johannes Walter (nach Goegg). Urauff. Stgt. 1999. – Städtebilder für Stimme, Klavier u. Zuspielband auf Gedichte von A. N. H. v. Caspar Johannes Walter. Urauff. Expo Hann. 2000. – Weltwechsel, Hörstück I, Zeitstrahl, Hörstück II. Libretti mit der Musik v. Caspar Johannes Walter (CD-Produktion des HR). 2002. Literatur: Stefan Scherer: A. N. H. In: KLG. – Wilhelm Kühlmann: A. N. H. In: LGL. – Ders.: Postmoderne Phantasien. Zum mytholog. Schreiben im Prosawerk v. A. N. H. (geb. 1955). In: Euph. 97 (2003), S. 499–516. – Thomas Malsch: Vom Wiedereintritt des Autors in seine Gesch. Buenos Aires. Anderswelt. Ein kybernet. Roman v. A. N. H. In: Die Gesellsch. der Lit. Hg. Thomas Kron u. Uwe Schimank. Opladen 2004, S. 45–80. – Christoph Jürgensen: Ich sind auch andere. Zur Pluralisierung des Selbst in der Erzählprosa von A. N. H. In: Moderne, Postmoderne – u. was noch? Hg. Ivar Sagmo. Ffm. 2007. – Panoramen der Anderswelt. Expeditionen ins Werk v. A. N. H. Hg. Ralf Schnell (die horen, 53, 2008, H. 231). Wilhelm Kühlmann
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Herbst
Herbst, Hans, * 22.9.1941 Hamburg- Herbst, Werner, * 20.1.1943 Wien, 17.3. St. Pauli. – Verfasser von Erzählungen, 2008 Wien. – Lyriker u. Erzähler, Hörspielautor, visueller Poet u. Essayist. Romanen u. Reportagen. Nach einer Autoschlosserlehre bereiste der Sohn eines Seemanns als Hilfsarbeiter in verschiedenen Berufen Europa (einjähriger Paris-Aufenthalt), Mexiko, Nordamerika, Brasilien u. die Karibik. Seit 1979 veröffentlichte H. regelmäßig Erzählungen u. Reportagen. Er lebte als Schriftsteller, Musiker u. Weinhändler zunächst in München, jetzt als freier Schriftsteller in Hamburg. H.s Erzählungen führen in eine Welt der Außenseiter. Der Cadillac ist immer noch endlos lang und olivgrün (Mchn. 1981) schildert Verfolgungsjagden, Schlägereien, Knast- u. Sexgeschichten rund um den vornamenlosen Protagonisten Krebs. Weitere Sammlungen von Erzählungen, Siesta (Mchn.1984) u. Gringo und andere Geschichten (Augsb. 1992), erzählen mit trockenem, gelegentlich iron. Pathos u. a. vom amerikan. Drogenhandel u. von Abseitigem aus Pariser Vorstadtstraßen. Männersachen (Mchn. 1987) versammelt 1979–1984 im dt. »Playboy« erschienene Reportagen, die ein zwischen Kampf u. Leiden changierendes Männerbild entwerfen. Besondere Ausgestaltung erfährt dieses im Roman Mendoza (Mchn.1986) u. dessen unter den Folgen faschistischer Folter in Chile leidendem Protagonisten; das Schicksal des Exilanten gibt Anlass zu scharfer Kritik am polit. u. sozialen System der westl. Welt. Der Erzählungsband Cuba Linda (Hbg. 2002) greift die westl. Konsumwelt an u. verbindet mit der Hommage an das Land Bilder der katastrophalen Situation in den finsteren Vierteln Havannas. Der zuletzt erschienene Band Stille und Tod (Augsb. 2004) zeichnet sich durch eine düstere Grundstimmung aus: Alt gewordene Ganoven u. Verlierer gewärtigen »Augenblicke auf der Kippe«; der »Augenblick der Wahrheit« (Jörg Fauser) scheint stets der letzte zu sein. Weitere Werke: Ein Sohn Ogums. Ffm. 1988 (P.). – Zwischen den Zeilen. Bickenbach 1997 (P.). Literatur: Jörg Fauser: Warum will der Krebs nicht sterben? In: tip 10 (1981), Nr. 8, S. 66. – Thomas Kraft: H. H. In: LGL. Stefan Alker
H. absolvierte die Pädagogische Akademie in Wien, um anschließend nahezu 20 Jahre den Beruf des Volksschullehrers auszuüben. 1970 publizierte H. erstmals v. a. Prosa in der Wiener Literaturzeitschrift »Wespennest« u. experimentelle Arbeiten in der Linzer Zeitschrift »neue texte«. In den Folgejahren beteiligte er sich am Vostell-Antworthappening, erschienen seine Texte in Anthologien (z.B. »Tintenfisch« 16. Bln. 1979), Zeitschriften (»orte«, »Neues Forum«) u. wurden im Rundfunk gesendet (feierabend. ORF 1985; Hörsp.). Visuelle Poesie von H. wurde in Wien, Linz, Madrid u. Bondeno ausgestellt. Für seine reichhaltige literarischkünstlerische Tätigkeit, über die der Sammelband Erste Wahl (Wien 1989) Auskunft gibt, wurde er 1983 mit dem TheodorKörner-Preis u. 1988 mit dem Förderungspreis der Stadt Wien ausgezeichnet. Seit 1971 verlegte H. Einblattdrucke, Taschenbücher, Tonbandkassetten, Hefte u. Schachteln mit Grafiken (unter anderem von Friederike Mayröcker, Karl Riha, Hannes Vyoral u. Gerald Bisinger) in der »herbstpresse«. Seit 1986 war er Mitarbeiter in einer Schreibwerkstatt der Stiftung Märtplatz, Schweiz. Legendär waren seine Gruppenarbeiten unter den Namen »Wohlklang«, »Neuer Wohlklang« u. »Die Herren«.1993 erhielt H. den V.-O.-Stomps-Preis. Weitere Werke: zur eisernen zeit. gesch.n u. gedichte vom naschmarkt. Wien 1980. – zwischendort, ein poem. Wien 1983. Köln 1991. – drucksachen. Linz 1989 (Stempeltexte, teilweise mehrfarbig). – das (apfel)mus, (bist) du’s? Ausgew. Gedichte. Köln 1989. – werner geht in die schule. Wien 1989. – eine gute wiener familie. Prosa. Texing 1993. – alfabet. Linz/Wien 1995. – ganz ohne kunst. und doch sehr schön. stempel zum tag. Horn 1999. – Vom Häkchen zum Haken. Literar. Duett-Duelle 1988–1998 (mit Gerhard Jaschke). Wien 1999. – schöne stunden. ein literar. duettspiel (mit G. Jaschke). Wien 2001. – hin u. her. ein stadtland-fluchtspiel. St. Pölten 2001. – W. H. Ausgew. Texte. Vorw. v. Jürg Jegge. St. Pölten/Wien 2002. – hurra hurra hurra. Wien 2003. – Der Popanz. Poem.
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Köln 2003. – knickerbocker im kakao. zur fremdsprache golf (mit G. Jaschke). Wien 2004. Gerhard Jaschke / Red.
Herbst und Mai, Gedicht von. – Anonym überliefertes Streitgedicht, um 1300.
Elemente wie der einleitende Spaziergang des Dichters u. die Personifikation der Kontrahenten. Auch wenn der Kampf häufiges Motiv der Minneallegorie ist, so überraschen hier doch bei Rüstungs-, Auszugs- u. Kampfritual die Übereinstimmungen im Detail mit mittelalterl. Turnierschilderungen in Chroniken u. im höf. Roman. Die Figuren des Schlemmers u. des Minnerleins könnten auf das bekannte Herbstlied des Schweizer Minnesängers Steinmar zurückgehen.
Das 244 vierhebige Verse umfassende Gedicht inszeniert die im späten MA topische Überlegenheit kulinar. Freuden über die Minne als Zweikampf zwischen Herbst u. Mai. Der Verfasser des wohl um 1300 im alemann. Ausgaben: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. MärenRaum entstandenen u. im 14. Jh. aufge- dichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 462–470. zeichneten Gedichts ist unbekannt. Literatur: Hermann Jantzen: Gesch. des dt. Der Dichter erzählt in der Ich-Rolle von Streitgedichtes im MA. Breslau 1896, S. 38–41. – einem Sommerspaziergang in die Natur, bei Eckhard Grunewald: Die Zecher- u. Schlemmerlit. dem er auf einen schönen Mann, den Mai, des dt. SpätMA. Diss. Köln 1976, v. a. S. 97–102. – trifft, der zum ritterl. Wettkampf (V. 11: Wolfgang Adam: Die ›wandelunge‹. Heidelb. 1979, »durnieren unde stechen«) um höf. Damen v. a. S. 145–151. – Rolf Max Kully: Der H. u. der M. In: VL. Claudia Händl / Red. willen aufgerufen hat. Gerüstet mit Blumenschmuck u. bewaffnet mit Vogelsang, die blühende Heide als Streitross, wartet er auf Herbst und Mai, Spiele von. – Anonym Gegner. Der Herbst nimmt die Herausfordeüberlieferte weltliche Spiele, ab dem 14. rung an u. begibt sich zum Kampfplatz, geJh. wappnet mit kulinar. Genüssen: so besteht sein Panzer aus gerösteten Ochsennieren (VV. Der Streit zwischen Mai u. Herbst ist Gegen67–70: »er leite an ein spaldinier: maniges stand eines älteren Schweizer u. eines jüngeveisseten ochsen nier, gespalten und gesalzen ren Sterzinger Spieltextes. Der zeitl. u. rewol, darzuo geröstet uf den koln«). Sein gionale Abstand der Überlieferung spricht Streitross, dessen Körper aus einem Weinfass wie die unterschiedl. Gestaltung dieses in der mit einer Haut aus Fleisch u. Kraut besteht, Literatur des SpätMA beliebten Themas gewird dem Mai zum Verhängnis. Beim Waf- gen ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältfengang rennt der Herbst den Mai mit seinem nis der Spiele. Aufführungen sind nicht beSpeer, einer riesigen Wurst, so heftig an, dass legt. nicht nur der Speer in drei Stücke zerbricht, Die Entstehung des Schweizer Spiels, in sondern auch das Pferd des Herbstes verletzt einer aus Zürich stammenden Churer Samwird u. der gegnerische Mai in einer Flut von melhandschrift des späten 15. Jh. überliefert, Most aus der Wunde ertrinkt. Der Knappe des fällt wohl noch in das 14. Jh. Es gilt neben Herbstes, ein »luoderer« (Schlemmer), macht dem St. Pauler Neidhartspiel u. dem Spiel von sich nun daran, die Rüstung seines Herrn zu Aristoteles und der Königin als ältestes erhaltenes verspeisen, unterstützt von dem übergelau- weltl. Spiel in dt. Sprache. fenen Knappen des Maies, einem Minnerlein, In einer Art Vorspiel klagt die Tochter des das ob der ungewohnt üppigen Genüsse wie Maies, die schöne Gotelint, dem Herbst, dass tot hinsinkt (VV. 233–235: »es aß unde trang, es bei ihrem Vater nur grüne Kräuter zu essen das es einhalp hinesang rechte als ein toter gebe. Der Herbst verspricht ihr gute Speisen man«). in Fülle u. gewährt ihr Aufnahme, was vom Das Gedicht steht in der Tradition mittel- Vater u. dessen Gefolge als Anlass zur kämpalterl. Streitgedichte; die Entscheidung wird ferischen Auseinandersetzung genommen jedoch nicht durch einen Schiedsspruch, wird. In der Art eines Reihenspiels treten nun sondern durch einen Zweikampf herbeige- auf jeder Seite zwölf Ritter auf, die sich mit führt. Auf die Gattung Minnerede weisen sprechenden Namen wie »Rosenblatt« oder
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»Nimmervoll« in paargereimten Vierzeilern des SpätMA. In: DVjs 39 (1965), S. 542–587, bes. vorstellen, Reizreden gegen die Gegner rich- 548–555. – Eckehard Simon: The Alemanic ›Herbst ten u. ihre Lebensführung anpreisen: Frau- u. Mai‹ play and its literary background. In: Moendienst u. Frühlingsfreude bzw. Fressen u. natsh.e 62 (1970), S. 217–230. – Ders.: Shrovetide Plays in Late-Medieval Switzerland: An Appraisal. Saufen. Der eigentliche Kampf wird durch In: Modern Language Notes 85, 1970, S. 323–331. knappe Parolen eingeleitet, der Ausgang zu- – Eckhard Grunewald: Die Zecher- u. Schlemmergunsten des Herbstes von einem Herold ver- lit. des dt. SpätMA. Diss. Köln 1976, bes. S. 96 f., kündet. 102–115. – Wolfgang Adam: Die ›wandelunge‹. Eine eindeutige Gattungseinordnung des Heidelb. 1979, bes. S. 141–145. – E. Simon: Zu den ohne Regieanweisungen u. Rollenüberschrif- Anfängen des weltl. Schauspiels. In: JOWG 4 (1986/ ten überlieferten Spiels ist nicht möglich. 87) [1988], S. 139–150. – Gerd Simon: Die erste dt. Glier charakterisiert es als eine Art »Fest- Fastnachtspieltradition. Husum 1998. – E. Simon: spiel« mit literar. u. brauchtüml. Elementen, Die Anfänge des weltl. dt. Schauspiels 1370–1530. typologisch eine Vorform der Fastnachtspiele Untersuchung u. Dokumentation. Tüb 2003. Claudia Händl des 15. Jh. Das 1512 vom Tiroler Spielleiter Vigil Raber wohl zum Zweck der Aufführung aufge- Herburger, Günter, * 6.4.1932 Isny/Allzeichnete Sterzinger Spiel gilt trotz der Früh- gäu. – Erzähler, Lyriker, Hörspiel- u. ling-Herbst-Thematik als Fastnachtspiel. Die Drehbuchautor, Verfasser von KinderbüKampfmotivierung durch die Gotelint- chern und Foto-Büchern, Übersetzer; Episode fehlt. Ein »praecursor« stellt dem Fernsehredakteur u. Journalist. Publikum die Figuren vor. Nach einer Wechselrede zwischen Mai u. Herbst treten je H., Sohn eines Tierarztes, verbrachte die Jusechs Ritter im Gefolge der Gegner auf u. gendjahre bei seinem Großvater im Allgäu u. preisen die Freuden ihrer Jahreszeit. In der studierte nach dem Abitur einige Semester vorliegenden Fassung endet das Spiel mit Literatur- u. Theaterwissenschaften, SozioloReizreden von Mai u. Herbst; der Herbst hat gie, Philosophie u. Sanskrit in München. das letzte Wort. Daraus wurde in der For- Nach mehrjähriger Tätigkeit als Gelegenschung immer wieder auf einen Sieg des heitsarbeiter in Frankreich (wo er Joseph Herbstes geschlossen, doch hat Glier darauf Breitbach kennen lernte), Italien, Nordafrika hingewiesen, dass zwar laut Ankündigung u. Spanien arbeitete er zunächst als Fernsehdes »praecursor« wohl ein Schlusskampf redakteur beim Süddeutschen Rundfunk u. stattgefunden habe, dessen Ausgang aber of- ging 1964 nach Berlin. Im selben Jahr las er fenbleibe u. in den Aufführungen unter anlässlich einer Auslandstagung bei der Umständen unterschiedlich realisiert werden Gruppe 47 in Sigtuna/Schweden. 1969 kehrte er nach München zurück u. trat 1973 in die konnte. Auch wenn manche Fragen, insbes. zu Zeit, DKP ein, von der er sich jedoch Anfang der Ort u. Anlass der Aufführung, nicht eindeutig 1980er Jahre distanzierte. Heute lebt er wiezu klären sind, zeigen die Spieltexte doch, der in seinem Geburtsort Isny. H.s Debüt 1962 mit einer Erzählung in der dass das im Anschluss an Hadlaubs u. Steinmars Lieddichtung immer wieder variierend von Dieter Wellershoff herausgegebenen Angestaltete Thema der kontrastierenden thologie Ein Tag in der Stadt (Köln/Bln. 1962) Herbst- u. Frühlingsfreuden Eingang in das u. der folgende Prosaband Eine gleichmäßige Landschaft (ebd. 1964) mit ihren akrib. Miweltl. Spiel des MA gefunden hat. Ausgaben: Oswald Zingerle (Hg.): Sterzinger lieuschilderungen u. Darstellungen provinSpiele nach Aufzeichnungen des Vigil Raber. Bd. 2, zieller Lebensformen zeigen stilist. Nähe zur Wien 1886, S. 1–13. – Friederike Christ-Kutter Kölner Schule des Neuen Realismus. Vielfach (Hg.): Frühe Schweizerspiele. Bern 1963, S. 5–19. kreisen diese frühen Prosawerke um die FraLiteratur: Eckehard Catholy: Das Fastnacht- ge von Anpassung an oder Widerstand gegen spiel des SpätMA. Tüb. 1961, S. 318–324. – Inge- ein kleinbürgerl. Ambiente oder eine als deborg Glier: Personifikationen im dt. Fastnachtspiel praviert geschilderte Industriegesellschaft: In
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dem Roman Die Messe (Darmst./Neuwied 1969) versucht der Protagonist, aus einem ihm von seiner Familie zubestimmten Leben in engen kleinbürgerl. Verhältnissen auszubrechen, lernt dabei (wie der Autor selbst) die Subkulturen u. Milieus der gesellschaftl. Außenseiter kennen u. integriert sich am Ende resigniert als Vertreter in das Familienunternehmen. Jesus in Osaka (ebd. 1970), der als anarch. Messias mit Hippie-Zügen in einem menschenfeindlich technisierten Gemeinwesen »Liebe als direkte Demokratie« propagiert, gelingt es in Einzelsituationen, eine – allerdings z.T. ins Satirisch-Absurde überzeichnete – Massenverbrüderung herbeizuführen, ohne dass eine Hoffnung auf eine tatsächl. Gesellschaftsveränderung sich abzeichnete. Das Interesse des Erzählers gilt dabei weniger dramat. Spannungsabläufen oder einer psychologisch konsequenten Darstellung der Figuren als einer Fülle von Einzelbeobachtungen; sein Einsatz von Rückblenden, harten Schnitten u. schroffen Überblendungen zeigt Einflüsse seiner Erfahrungen als Drehbuchautor. H. selbst sieht seinen reportageartigen Chronistenstil aus einem ethischen Impuls motiviert: Durch eine Neuentdeckung des Banalen u. Alltäglichen in der Literatur will er eine »größere Gerechtigkeit herausfordern, die einmal in eine Befreiung des Menschen münden« soll. In Kongs Kinder, einer Novelle des Erzählbands Die Eroberung der Zitadelle (Darmst./ Neuwied 1972), treten zwei leitmotivisch wiederkehrende Ideen H.s hervor, nämlich die Kinder als Hoffnungsbringer für eine sich auflösende Zivilisation u. (von einem Altarbild des ital. mittelalterl. Malers Stefano di Giovanni inspiriert) die »Fliegende Festung« als utop. Fluchtpunkt jener Gedankenbewegung, auf die auch H.s Gedichte als »Luftschiffe« – als Erhebung aus den Zwängen des Realen – immer wieder zielen. In seiner Prosa nimmt diese Faszination durch die Vertikale u. a. die Form einer eingehenden Beschäftigung mit dem Ulmer Münster an: Es wird als »höchster Kirchturm der Welt« mythisiert, auf den sich der Erzähler am Ende des monologischen Briefromans Elsa (Mchn. 1999) flüchtet, u. sein Mittelschiff in der letzten Sektion von H.s Band Humboldt. Reise-Novellen
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(ebd. 2001) als Hort von »Sucht und Erhabenheit« bestaunt. Die über einen Zeitraum von ca. 20 Jahren hinweg entstandene Thuja-Trilogie verarbeitet die Entwicklung der BRD u. DDR von den 1970er Jahren bis zur Wende 1989. Ausgehend von einem humangenet. Experiment, das zur Geburt zweier behinderter Kinder führt, wird in Flug ins Herz (2 Bde., Darmst./ Neuwied 1977) das Scheitern einer Sozialrevolution geschildert. In Die Augen der Kämpfer (2 Bde., ebd. 1980–83) liegt der narrative Schwerpunkt auf der – anspielungsreich benannten – »Morgenthau«-Idylle, einem Reservat, das sich gegen die umgebende Zivilisation abschottet, in dem aber keineswegs wünschenswert utop. Zustände, sondern v. a. ein morbid abgestumpfter Vitalismus, harte Arbeitsbedingungen u. zum Teil faschistoide Disziplinierungsmethoden herrschen. Zum einen werden hier mögliche utop. Gedanken auf ihr reales positives Potential ausgelotet, zum anderen entgrenzt sich das Erzählen immer wieder in surrealistisch traum- oder märchenhafte Episoden, bizarre Visionen oder theoret. Reflexionen über Genetik oder Sozialismus. Der letzte Teil der Trilogie Thuja (Hbg./Zürich 1991) ist zentriert um die beiden kindl. Protagonisten des ersten Teils, die mit den Toten u. mit verschiedensten Personen der fiktiven Welt wie der Realität in Zwiesprache treten u. gerade aufgrund ihrer Behinderung einen unverstellten, sich aus einem myth. Verständnis speisenden Zugang zur Wirklichkeit u. zu einzelnen Menschen finden. Die Thuja, der Friedhofsbaum, wird hier zum Symbol der Hoffnung auf ein glückl. Dasein, in dem die schmerzhaften Diskrepanzen u. Unzulänglichkeiten der Wirklichkeit für kurze Zeit aufgehoben wären. 1983 entdeckte der 52-jährige Autor das Laufen für sich u. nimmt seitdem an Marathon- u. Ultramarathonläufen rund um den Globus teil. Aus dieser Erfahrung gingen zunächst die – schon mit ihren Titeln eine gedankl. Verwandtschaft signalisierenden – Bände hervor: Lauf und Wahn (Darmst. 1988), Traum und Bahn (1994) u. Schlaf und Strecke (Mchn. 2004). Als geografische Streifzüge durch Europa, Nordamerika, Afrika u. Vor-
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derasien bis Russland sind diese »Laufbücher« auch Entdeckungsreisen in Randzonen des Bewusstseins, mit Exkursen in Biologie, Chemie u. Mathematik, Literatur- u. Zeitgeschichte, u. verdanken sich u. a. den Rauschzuständen, die durch biochem. Prozesse im überstrapazierten Körper des Langstreckenläufers ausgelöst werden. In der Trance des Laufens, so H., stelle sich das Vertrauen her, »daß es keine Unordnung gebe, sondern überall nur Beziehungen«, u. er formuliert als Poetik dieser Bände »Bann plus Vielfalt gleich Poesie«. Seit seinem frühem lyr. Werk verschreibt sich H. einer Poetik des »langen« Gedichts (was freilich nicht bedeutet, dass sich in seinem Werk nicht immer wieder auch sehr fassliche kürzere, auf eine Pointe zielende Texte finden). In den Anfängen dominieren Bestandsaufnahmen u. Zustandsbilder in freien Versen u. prosanaher Sprache, die vor dem Hintergrund der Wegwerfgesellschaft anrührende menschl. Geschichten entstehen lassen. In der Folgezeit entgrenzt sich das themat. Spektrum u. integriert Politik, Geschichte, Literatur, Kunst, Musik, Philosophie u. die Medien, aber auch Autobiografisch-Persönliches, wobei die Lyrik – nach H.s eigener Aussage – als Experimentierfeld für seine Prosa dient. Neben das beschreibende lange Gedicht treten dialogische Texte oder auch – mit Anklängen an gereimte Formen – sich dem Balladesken nähernde Stücke. Als programmatisch kann eine Äußerung H.s von 2002 gelten: »Gedichte bereiten sich wie Träume vor. Sie benötigen verschiedene Zeiten und zahlreiche Räume, aus denen sie Gerüche, Bewegungen, Namen und Teile von Erinnerungen pflücken [...]. Auf erschöpfende Weise gehören diese umherwirbelnden Partikel zusammen. Sie erzeugen Angst, zugleich Zuversicht und Lust, woraus ein gedanklicher Zusammenhalt entsteht, der kaum zu bändigen ist, als herrsche chaotischer Verkehr.« (Die fliegende Festung. Mchn. 2002). Wiederkehrende Themen in dieser vorurteilslos für alle Aspekte der Wirklichkeit empfängl. Zusammenschau sind wiederum: Kinder, die Zerstörung von Welt u. Natur, Gesellschaftskritik, das Eintreten für rechtlose Minderheiten u. in den letzten Jahren
Herburger
immer wieder der Tod. Sehr viele der Gedichte zeigen ein namenloses »Wir« oder eine unbenannte oder durch ihren Namen als grotesk markierte dritte Person, die in einer sich apokalyptisch zersetzenden Welt mit abstrusen u. erklärungslosen Handlungen befasst ist u. für die sich nur in raren Momenten etwas wie Befriedung einstellt. Auch die Bände von H.s Trilogie der Verschwendung (Mchn. 2006) – zuvor sukzessive erschienen als Das Glück (Mchn. 1994), Die Liebe (ebd. 1996) u. Der Tod (2006) –, entstanden aus seinen Lauf- u. Reiseerfahrungen: Diese »Photonovellen«, wie H. sie nennt, enthalten von ihm selbst geschossene Momentaufnahmen von Natur u. Landschaft, Bauten oder Bauruinen, Friedhöfen, Graffity u. Straßenschildern, Tieren, Abraumhalden oder Abfall. Den Photos sind kurze Prosagedichte von drei bis zehn Zeilen beigegeben, die das Bildsujet in einen weiten kulturellen oder fantastischen Assoziationsraum einrücken; dabei werden auch – heitere oder erschütternde – Schlaglichter auf menschl. Schicksale geworfen, etwa auf den ital. Erinnerungskünstler Memmo, auf die linksradikale Kommunistin Gisela Elsner, die im Freitod endete, oder auf H.s Mutter u. deren Sterben. In ihrem Zusammenwirken von Text u. Bild sind diese Bände Dokumentationen einer ins Verfallsstadium übergehenden Zivilisation (belegt insbes. an der landschaftl. u. soziokulturellen Zerstörung von H.s Heimatgegend um Isny, wohin die Bücher immer wieder gravitieren). Breite Resonanz fanden H.s Abenteuerbücher für Kinder u. Erwachsene: Birne kann alles (Darmst./Neuwied 1971), Birne brennt durch (ebd. 1975), Birne kehrt zurück (ebd. 1996), in denen eine Straßenlampe mit menschl. u. zauberischen Eigenschaften als stets siegreicher Held Kinder in techn., soziale u. histor. Zusammenhänge einführt. Sozialkritisches Engagement prägt auch H.s zahlreiche literar. u. soziolog. Essays, die zumeist in linksorientierten Zeitschriften erschienen sind; eine Sammlung seiner essayistischen Arbeiten bietet Das Flackern des Feuers im Land (1983; bedeutsam ist hier v. a. der Aufsatz Dogmatisches über Gedichte). Weitere poetolog. Stellungnahmen enthalten
Herchenröder
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zwei 1991 – im Umfeld der Verleihung des Poetik G. H.s. Mchn. 1999. – Italo Battafarano u. Peter-Huchel-Preises an H. – erschienene Hildegard Eilert: Von Linden u. roter Sonne. Dt. Bände. Diese belegen auch bibliografisch das Italien-Lit. im 20. Jh. Bern/Bln. u. a. 2000, Einsetzen der literaturwiss. Erforschung die- S. 295–308. Pia-Elisabeth Leuschner ses Autor, die jedoch seither eher ab- als zuHerchenröder, Jan, auch: Christian G. genommen hat. * 5.4.1911 Langen/Hessen, H. wurde u. a. mit dem Literaturpreis der Langen, Freien Hansestadt Bremen (1973), dem Ger- † 13.8.1986 Lübeck. – Feuilletonist, Errit-Engelke-Literaturpreis der Landeshaupt- zähler, Satiriker, Essayist, Autor von Kostadt Hannover (1980), dem Peter-Huchel- mödien u. Reiseführern. Preis (1991), dem Tukanpreis der Stadt H. wuchs in einem großbürgerl., liberalen München (1991), dem Hans-Erich-NossackElternhaus in Langen auf. Mit 17 Jahren Preis (1992) u. dem 1997 Literaturpreis der schrieb er seinen ersten Beitrag für die Stadt München (1997) ausgezeichnet. »Frankfurter Zeitung« u. nach dem Abitur Weitere Werke: Ventile. Gedichte. Köln/Bln. gelang ihm dort über den Sportjournalismus 1966. Neuaufl. Mchn. 2000. – Training. Gedichte. der Einstieg in die Redaktion. Daneben verDarmst./Neuwied 1970. – Helmut in der Stadt. öffentlichte er auch in der »Kölnischen« u. Erzählung für Kinder. Reinb. 1972. – Operette. Gedichte. Darmst./Neuwied 1973. – Die amerikan. der »Vossischen Zeitung« u. lernte die damals Tochter. Ebd. 1973. – Schöner Kochen in 52 Arten bes. harten Bedingungen des Journalismus mit ebensoviel Versen. Erot. Zeichnungen v. Birte kennen. Sein Kriegseinsatz in einer »PropaLenau. Düsseld. 1974. – Hauptlehrer Hofer. Köln/ ganda-Kompanie« als Kriegsberichterstatter Bln. 1975. – Ziele. Gedichte. Reinb. 1977. – Orchi- trug ihm später eine siebenjährige Haft in dee. Gedichte. Darmst./Neuwied 1979. – Birne. Die russ. Lagern u. in der DDR ein, aus der er schönsten Gesch.n aus ›Birne kann alles‹, ›Birne 1952 nach Frankfurt/M. zurückkehrte. kann noch mehr‹ u. ›Birne brennt durch‹. Darmst./ 1961–1978 war er Feuilletonchef der »LüNeuwied 1980. – Blick aus dem Paradies. Thuja. becker Nachrichten« u. gewann im nahen Zwei Spiele eines Themas. Darmst./Neuwied 1981. Timmendorfer Strand eine neue Heimat als – Makadam. Gedichte. Darmst./Neuwied 1982. – »norddeutscher Hesse«. Hiervon geben der Das Flackern des Feuers im Land. Ebd. 1983. – Capri. Die Gesch. eines Diebs. Ebd. 1984. – Das Roman Mein Strandkorb hat ein Loch (Hameln Lager. Ausgew. Gedichte 1966–83. Ebd. 1984. – 1957) u. später die lebendigen, bewegenden Kinderreich Passmoré. Darmst./Neuwied. 1986. – »Geschichten von der See« Ein Mädchen läuft Kreuzwege. Ravensburg 1988. – Das brennende aus dem Ruder (Hbg. 1978) beredt Zeugnis. Haus. Ffm. 1990. – Sturm u. Stille. Hbg. 1993. – Im Die beiden Komödien Pappkameraden (1974) Gebirge. Mchn. 1998. – Der Schrecken Süße. Ebd. u. Die Schnorrer (1977; beide nicht veröffent1999. – Der Kuss. Mchn. 2008. licht) sowie die Revue zu Lübeck Du seltsame Literatur: Thomas Koebner: G. H. In: Dietrich Schöne (1983) erlebten in Lübeck u. zum Teil Weber (Hg.): Dt. Lit. der Gegenwart in Einzeldar- in Frankfurt/M. am Theater erfolgreiche stellungen. Bd. 2, Stgt. 1977, S. 228–253. – Georg Aufnahme. H. schrieb zahlreiche Satiren u. Mosing: Selbstverständnis u. Verfahren am Beispiel Reiseführer. Er war Mitbegründer der Deutder Erzählprosa von G. H. Salzb. 1978. – Ulrich schen Thomas-Mann-Gesellschaft 1965 u. ab Gerber: Aspekte des ›Utopischen‹ in G. H.s Prosa. 1981 Redakteur ihrer Jahreshefte. Greifsw. 1984. – Klaus Siblewski (Hg.): G. H. Texte, Daten, Bilder. Hbg./Zürich 1991. – Ders.: Thuja verheißt Glück. Zu G. H.s verzweigter Romantrilogie. In: Sprache im techn. Zeitalter 122 (1992), S. 229–239. – Wolfgang Heidenreich (Hg.): G. H. Texte – Dokumente – Materialien (Peter-Huchel Preis 1991. Ein Jh.). Moos/Baden-Baden 1992 (mit Auswahlbibliogr). – Werner Jung: Lit. ist subversiv: Gespräch mit G. H. In: NDL 43 (1995), H. 5, S. 7–19. – Peter Bekes: G. H. In: KLG. – Gerd Holzheimer: Kurier zwischen den Lagern. Zur
Weitere Werke: Fahrt in die Heimat. Offenbach 1943 (E.). – Happy Enten. Satiren um die Ehe. Offenbach 1954. – Rum ist in der kleinsten Hütte. Satiren um den Alkohol. Offenbach 1956. – Jedem Junggesellen seine Flamme. Satir. Kochbuch. Offenbach 1962. Ulrich Thoemmes
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Herdan-Zuckmayer, Alice, geb. von Herdan, * 4.4.1901 Wien, † 11.3.1991 Visp/Kt. Wallis. – Verfasserin autobiografischer Erzählprosa.
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zig-nüchternen, eigenständigen Sprache, die an nuancenreiche, lebendige Konversation erinnert. Ohne zu verharmlosen oder zu übertreiben, macht sie ihre vielfältige Lebenserfahrung zum Erzählstoff, der über das Unterhaltende hinaus histor. Realität vermittelt.
Über ihre Wiener Schulzeit im Lyzeum der Pädagogin Dr. Eugenie Schwarzwald berichtet H., Tochter einer BurgtheaterschauspieWeitere Werke: Das Kästchen. Geheimnisse lerin – ihren Vater, der sich nach dem Verlust einer Kindheit. Ffm. 1962. 2000. – Das Scheusal. von viel Geld bei Finanzspekulationen nach Die Gesch. einer sonderbaren Erbschaft. Ffm. 1972. Südamerika abgesetzt hatte, lernte sie nicht 1995. – Carl Zuckmayer/Gottfried Bermann Fikennen –, in ihrem Buch Genies sind im Lehr- scher: Briefw. Mit den Briefen v. A. H.-Z. u. Brigitte plan nicht vorgesehen (Ffm. 1979. 1991). Ihre Bermann Fischer. Hg. Irene Nawrocka. 2 Bde., Lehrer an diesem Institut waren Berühmt- Gött. 2004. Literatur: Inge Aures: Komm, sieh die Welt mit heiten wie der Architekt Adolf Loos, der Komponist Eugen Wellesz u. der Maler Oskar meinen Augen. Ehe-Paare im Exil. Ann Arbor, Kokoschka, mit dem sie eine lebenslange Mich. 1997. – LöE. Leonore Schwartz † / Red. Freundschaft verband. Danach war sie einige Jahre in Berlin als Schauspielerin tätig, weniger aus Neigung zu diesem Beruf als aus Herder, (Maria) Carolina, Karoline, geb. der Notwendigkeit, Geld zu verdienen. 1925 Flachsland, * 28.1.1750 Reichenweier/Elheiratete sie Carl Zuckmayer u. zog 1933, auf sass, † 15.9.1809 Weimar; Grabstätte: der Flucht vor dem NS-Regime, mit ihm nach ebd., Alter Friedhof. – Briefpartnerin, Henndorf bei Salzburg. Nach dem Einmarsch Mitarbeiterin u. erste Biografin ihres Hitlers erneut zur Emigration gezwungen, Ehemanns Johann Gottfried Herder; gingen die Zuckmayers zunächst in die Korrespondentin zahlreicher Literaten. Schweiz, dann nach Amerika. 1939 ließen sie Nach dem frühen Verlust ihres Vaters (1755), sich auf einer Farm in Vermont (USA) nieder, eines herzoglich-württembergischen Amtsmit der Absicht, Landwirtschaft u. Viehzucht schaffners, u. ihrer Mutter (1765) kam H., die zu ihrer Existenzgrundlage zu machen. bis dahin keine systemat. Ausbildung genosH. wurde durch eine Umgebung, die sich sen hatte, in das Haus ihres Schwagers, des ganz u. gar von dem ihr aus Europa ge- Geheimrats Andreas Peter von Hesse, nach wohnten hochliterar. Milieu unterschied, Darmstadt. Sie erhielt dort Zugang zu intelzum Schreiben animiert. Aus briefl. Berich- lektuellen Kreisen im Umfeld des landgräfl. ten an die in Deutschland verbliebenen Hofes, durch deren Aktivitäten auch der Schwiegereltern, in denen das mühevolle Le- Briefwechsel beeinflusst wurde, den sie nach ben der Amateurfarmer detailreich u. mit einem Besuch Johann Gottfried Herders im reportageartiger Genauigkeit festgehalten Sommer 1770 mit diesem begann. Bald kam wurde, entstand ihr erstes erfolgreiches Buch es zu einer – zunächst geheim gehaltenen – Die Farm in den grünen Bergen (Hbg. 1949. Ffm. Verlobung mit Herder, den sie bis zur Ehe1994), das exemplarisch ist für einen von in- schließung 1773 nur noch ein weiteres Mal dividueller Sicht, Humor u. Weltoffenheit sah. Der zu weiten Teilen überlieferte Brautgeprägten Dokumentarstil. Konrad Lorenz briefwechsel gewährt einen hervorragenden lobte ihre scharfe Beobachtungsgabe u. ihre Einblick in die unterschiedl. Diskurse u. unsentimentale Darstellung des zwangsläu- Kommunikationsstrategien, mit denen fig symbiot. Zusammenlebens von Mensch u. bürgerl. Frauen des späteren 18. Jh. (nach Tier auf der Farm. dem epochalen Paradigmenwechel vom Ideal Auch ihre weiteren Werke bewegen sich im des »gelehrten« zu dem des »empfindsamen persönl. Bereich. Sie gestaltet Kindheits- u. Frauenzimmers«) konfrontiert wurden. InJugenderinnerungen u. vor allem das weite tensität u. thematisch-argumentative AbFeld der Emigrationserlebnisse in einer wit- messung des geschlechterübergreifenden
Herder
Austausches speziell über literar. Fragestellungen lassen sich anhand der vielfach parallel geführten Briefkommunikation Herders mit H. u. dem Literaten Johann Heinrich Merck anschaulich dokumentieren. Im sog. Darmstädter Kreis unter dem Gesellschaftsnamen »Psyche« auftretend, inspirierte H. u. a. Goethe zu seinem Fels-Weihegesang an Psyche (1772) u. knüpfte Kontakte zu Wieland, Sophie von La Roche u. Gleim, dem wichtigsten Briefpartner ihrer späteren Jahre. Nach der Übersiedelung der Herders nach Bückeburg (1773) u. bald darauf nach Weimar (1776) übernahm H. praktisch allein die Organisation des Hauswesens, wozu neben der Aufzucht der sieben Kinder u. der Sicherung der Einkünfte – wegen der unterschiedl. Deutung einer herzogl. Zusage kam es 1795 zum Bruch mit Goethe – auch die Unterstützung Herders bei Abfassung u. Verbreitung seiner Schriften gehörte. Das Verhältnis H.s zu ihrem Mann ist besonders gut dokumentiert für die Zeit der räuml. Trennung während Herders Italienreise 1788/89, als erneut ein reger Briefwechsel entstand; im Übrigen liegen divergierende Äußerungen der Zeitgenossen vor, die wohl mehr über die Weimarer Klatschkultur als über die realen Lebensverhältnisse des Ehepaars aussagen. H. nahm nicht nur am Entstehen der Werke ihres Gatten, der sie gegenüber Hamann als »Autor autoris« bezeichnete, teil, sondern war auch wichtige literar. Gesprächspartnerin für Goethe oder die zeitweiligen Weimarer Gäste Karl Philipp Moritz u. Jean Paul. Als lebenslange »Schülerin« ihres Mannes erwarb sie überblicksartige, in Teilen wohl auch fundiertere Kenntnisse in verschiedenen Bereichen etwa der Moral- u. Naturphilosophie; engagiert äußerte sie sich z.B. mehrfach zugunsten von Herders späten Schriften gegen Kant u. die idealistische Philosophie. Vor allem aber zeugen ihre Stellungnahmen in literar. Angelegenheiten von Belesenheit, Einsicht in poetolog. Fragen u. einer verhältnismäßig eigenständigen, krit. Position, die sich allerdings zuweilen in recht rigiden Urteilen – etwa über den zeitgenöss. Theaterbetrieb – artikuliert. Außer ihren zahlreichen Briefen – u. a. auch an Karl Ludwig Knebel oder Johann
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Georg u. Johannes von Müller – verfasste H. Erinnerungen aus dem Leben Johann Gottfrieds von Herder. Gesammelt und beschrieben von Maria Carolina von Herder, geb. Flachsland. Herausgegeben durch Johann Georg Müller (2 Bde., Tüb. 1820). Es handelt sich um die erste Biografie Herders, die gerade in ihrer apologetischhagiografischen Anlage die genuine Leistung einer Frau darstellt, die sich, wie auch ihre Bemühungen um die postume Gesamtausgabe ihres 1803 verstorbenen Mannes zeigen, nicht nur der Bedeutung, sondern wohl auch der potentiellen Zeitgebundenheit von dessen Werk bewusst war. Die Ausgabe der Erinnerungen durch J. G. Müller gibt freilich nur einen Teil von H.s handschriftl. Aufzeichnungen wieder, die sich im HerderNachlass der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, befinden. H. wurde gelegentlich Gegenstand biogr. Forschungen (Dobbek), meist im Kontext der Vita ihres Mannes (Haym, Fasel). Seit einigen Jahrzehnten hat eine sozialhistorisch ausgerichtete Literaturwissenschaft sich der Korrespondenz H.s, inbes. des Brautbriefwechsels, angenommen u. auch das Moment der literar. »Inszenierung« herausgestrichen. Neben allgemeinen epochen-, textsorten- u. genderspezif. Fragen (Schütte-Bubenik) verfolgt die diesbezügl. Forschung auch psychoanalyt. (Prokop) u. bildungsgeschichtl. (Seidel) Ansätze. Die Modalitäten von H.s Zusammenarbeit mit ihrem Mann u. ihr Anteil an der philolog. Aufbereitung seiner Schriften sind bislang ebenso wenig systematisch untersucht wie ihre eigenständigen Stellungnahmen zu literar. u. kulturellen Fragen. Teile ihrer Korrespondenz sind noch nicht bzw. nicht zuverlässig ediert. Weitere Werke: Herders Briefw. mit Caroline Flachsland [...]. Hg. Hans Schauer. 2 Bde., Weimar 1926–28 (Brautbriefw. 1770–73). – Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausg. 1763–1803. Hg. Günter Arnold u. a. 10 Bde., Weimar 1977–96. – Nachweis der Korrespondenzen bei Dobbek (s. u.), S. 236–239; Ergänzungen dazu u. a. bei Moering (s. u.). Literatur: Bibliografie: Gottfried Günther u. a.: Herder-Bibliogr. Bln./Weimar 1978. – Weitere Titel: Rudolf Haym: Herder. 2 Bde., Halle 1877–85. Neudr. Berlin 1958. – Ernst Martin: K. H., eine
303 Elsässerin am Musenhofe zu Weimar. In: Erwinia 12 (1905), S. 67–83. – Wilhelm Dobbek: K. H. Ein Frauenleben in klass. Zeit. Weimar 1963. – Ulrike Prokop: Liebe u. Lektüre oder: Was bedeuten die Tränen einer Leserin? Aus dem Briefw. zwischen C. Flachsland u. Johann Gottfried Herder 1770–1773. In: Zur Idee einer psychoanalyt. Sozialforsch. [...]. Hg. Jürgen Belgrad u. a. Ffm. 1987, S. 259–302. – Christoph Fasel: Herder u. das klass. Weimar. Kultur u. Gesellsch. 1789–1803. Ffm. u. a. 1988. – Norgard Kohlhagen u. Siegfried Sunnus: Eine Liebe in Weimar. C. Flachsland u. Johann Gottfried Herder. Stgt. 1993. – Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger Bestimmung. Hg. v. der Stiftung Weimarer Klassik [...]. Stgt./Weimar 1994. – Annette C. Anton: Authentizität als Fiktion. Briefkultur im 18. und 19. Jh. Stgt./Weimar 1995, S. 33–57. – Renate Moering: ›Ewigtreue Mutter Caroline Herder‹. C. Herder, geb. Flachsland, in ihren letzten Lebensjahren – im Spiegel unbekannter Briefe. In: JbFDH 2000, S. 96–163. – Andrea Schütte-Bubenik: ›Empfindsamkeit‹ auf Abwegen. Die Korrespondenzen der C. H. Bln. 2001. – Robert Seidel: Literar. Kommunikation im Territorialstaat. Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung. Tüb. 2003, passim. – Gunter E. Grimm: ›Halb zog sie ihn, halb sank er hin ...‹. Lektüre im Briefw. zwischen Johann Gottfried Herder u. C. Flachsland. In: Geselligkeit u. Bibl. Lesekultur im 18. Jh. Hg. Wolfgang Adam u. a. Gött. 2005, S. 115–133. Robert Seidel
Herder, Johann Gottfried, * 25.8.1744 Mohrungen/Ostpreußen, † 18.12.1803 Weimar; Grabstätte: ebd., Stadtkirche. – Kulturphilosoph, Theologe. Geboren in die pietistische Atmosphäre eines Lehrerhauses, in seinen frühreifen Anlagen von Geistlichen u. vom Schulrektor des Ortes gefördert, fasste der junge H. den Entschluss zum Theologiestudium, das er 1762 nach einigen Schwierigkeiten in Königsberg begann. Von entscheidender Bedeutung wurden die Begegnungen mit Kant, der ihn zum unentgeltl. Besuch seiner Vorlesungen in Philosophie, Mathematik u. Physischer Geografie einlud, u. mit Hamann, der ihn mit engl. Sprache u. Literatur, v. a. mit Sterne, den Ossian-Dichtungen Macphersons u. Shakespeare bekannt machte. Gleichzeitig unterrichtete H. in Königsberg am Collegium Fridericianum u. lieferte Beiträge für Rigaer u. Kö-
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nigsberger gelehrte Zeitungen. Bedeutendste Dokumente dieser Zeit sind ein Versuch über das Seyn, das Fragment einer Abhandlung über die Ode u. der Beginn eines Versuchs einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst. Ausgangslage des H.schen Denkens u. Grundzüge seiner Arbeitsweise zeichnen sich hier bereits ab: Der Zweifel an der abstrakten Philosophie, die Hinwendung zum Konkreten der Erscheinungen, zum »Sein« als dem »allersinnlichsten Begriff«, fordern eine Philosophie der »Evidenz«, die dem Menschen in seiner Doppelstruktur als leib-seel. Wesen angemessener ist als jener cartes. Dualismus, der seine Unfruchtbarkeit längst dargetan hatte. Denn das »Sein« ist für H. »unzergliederbar«, nur im Ausdruck der Kulturproduktion des Menschen erfassbar, v. a. im Phänomen der Sprache u. in ihren Ausdrucksformen. So plante er mit jenen drei Schriften eine Geschichte der poetischen Gattungen, aber es zeigt sich, dass sein Interesse über das rein Literarische hinausweist. Was sich im Scheitern der beiden ästhetischhistor. Abhandlungen andeutet, ist die Erkenntnis H.s, dass die Systematisierung von ästhetischen Erfahrungen u. ihre geschichtlich-genet. Beschreibung eines anthropolog. Fundaments bedarf. Dieses Defizit beseitigte H. nach seiner Übersiedlung nach Riga (Nov. 1764). Seit 1765 war er dort als Kollaborator, seit 1767 als Pastor adjunctus an der Jesus- u. Gertrudenkirche tätig. Im Nov. 1768 schrieb er, im Bewusstsein seiner veränderten Position, an seinen »hochgeschätzten Lehrer und Freund« Kant über seine Zweifel an der Funktion der abstrakten Spekulation für »den ehrwürdigen Theil der Menschen«, »den wir Volk nennen« (Dobbek/Arnold: Briefe 1, Nr. 120). »Menschliche Philosophie« wird das Schlüsselwort einer ganzen Serie von Entwürfen, in denen H. die Rückführung aller Philosophie auf Anthropologie erwägt. Dies ist eng verknüpft mit seiner Begegnung mit Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746), in dem versucht wird, Abstraktion als Metamorphose urspr. sinnl. Eindrücke darzustellen. Zusammen mit Diderots Briefen über die Blinden u. die Taubstummen (1749 u. 1751) u. dessen Gedanken
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über die Interpretation der Natur (1757) wird dieser Einfluss der frz. Aufklärung für H.s Konzept einer neuen Wissenschaft vom Menschen von entscheidender Bedeutung sein. Zunächst stand H. unter dem Eindruck ganz anderer literar. Ereignisse: 1765 hatten die von Nicolai, Mendelssohn u. Lessing herausgegebenen Briefe, die neueste Litteratur betreffend (seit 1759) ihren Abschluss gefunden, u. ein Jahr zuvor war Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums erschienen. Zusammen mit den Versuchen Baumgartens, Mendelssohns u. Sulzers auf dem Gebiet der Ästhetik u. ihrer Hinwendung zu den »unteren Seelenkräften« – verstärkt durch Leibniz’ Nouveaux essais sur l’entendement humain (1765) – ergab sich für H. eine Sammlung von Tendenzen für eine kommende Literatur, deren Vorbild die griech. Kultur liefern sollte: nicht durch sklav. Nachahmung, sondern durch Besinnung auf die eigenen, gesamtkulturellen Möglichkeiten. Die Litteraturbriefe hatten sich mit dem gesamten Gebiet der »Schönen Künste und Wissenschaften« auseinander gesetzt. Mit seinen »Fragmenten« Über die neuere deutsche Literatur (3 Bde., Riga 1766/67) wollte H. einen Kommentar zu den Litteraturbriefen liefern u. zeigen, wie die »Litteratur« der Deutschen, bis dahin abhängig von Modellen anderer Nationen, nun eine eigenständige u. urspr. Sprach- u. Wissenschaftskultur entwickeln sollte. Er versuchte eine Fortsetzung u. Überbietung der krit. Unternehmungen Lessings u. seiner Mitstreiter, u. die anonyme Publikationsform sicherte ihm ebenso die Aufmerksamkeit der Angesprochenen, wie der Stil, das freie Urteil u. die kühne Zuspitzung der diskutierten Probleme Aufsehen erregten. Später sollten H.s Ausführungen zum Stil erhabener Dichtung bei dem jungen Goethe bewundernde u. produktive Resonanz finden. Unzufrieden mit der eigenen Leistung, begann H. 1767 eine Umarbeitung, die unvollendet blieb, nicht zuletzt, weil H. sich einem neuen Werk zugewandt hatte, den Kritischen Wäldern, in denen er sich mit Lessings Laokoon u. mit den Schriften des Altphilologen Christian Adolf Klotz u. von dessen Parteigänger Friedrich Justus Riedel aus-
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einander setzte. Die Beschränkung der ersten drei Bände (Bd. 1 u. 2, o. O. u. J.; Bd. 3, Riga 1769) wiederum auf bekannte Vorlagen u. die polem. Überbietung ihrer Thesen durchbrach H. endgültig im erst aus dem Nachlass 1846 veröffentlichten Vierten kritischen Wäldchen. Er setzte sich dort mit Riedels Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1767) auseinander, kritisierte aber implizit alle Vorgänger wie Baumgarten, Meier oder Sulzer u. Mendelssohn, die eine eigene Wissenschaft des »Schönen« oder des »Geschmacks«, also eines subjektiven u. variablen Vermögens, für möglich gehalten hatten. Es muss eine anthropolog. Konstante der Erscheinungsformen des Schönen geben, auch wenn ihre Metamorphose die Identität seiner Hervorbringung nicht mehr erkennen lässt. Der Mensch sieht sich immer u. überall in Naturzusammenhänge gestellt, an denen er seine Wahrnehmung übt, die das allg. Gefühl u. speziell der Tastsinn, das Gehör u. das Auge liefern. Das Schöne für jeden dieser Sinne ist ein anderes, u. damit ist eine generelle Erkenntnis des Schönen an sich nicht möglich. In dieser Schrift wird der von Condillac gegebene anthropolog. Impuls, der auf Ansätzen Lockes basiert, zusammen mit Diderots bereits genannten Texten u. seinem grundlegenden Artikel über das »Schöne« im zweiten Band der Encyclopédie wirksam: Die Suche nach genet. Gesetzen des »Schönen« der Fragmente u. der Kritischen Wälder weicht einer psychologisch-histor. Reflexion der Grundformen des Erkennens. Dies manifestiert sich in der bedeutenden Skizze Zum Sinn des Gefühls, die, 1960 von Hans Dietrich Irmscher rekonstruiert, die intellektuelle Situation H.s kennzeichnet: »Es ist sonderbar, dass die höchsten Begriffe der Philosophie von Anziehung und Zurückstoßung, die einfachsten Sachen des Gefühls sind, so wenig wissen wir! das Höchste der Philosophie ist zugleich das Erste und bekannt. Vom Gefühl aus muss sich also wie dies so alles ausgehen, und dahin zurückkommen – welche vortreffliche Unternehmung alle Begriffe dahin zu reducieren! zum Gefühl und auf die Sinne« (S. 286). Dieses Modell der geistigen Prozesse wird auf die Welt übertragen: »Gottes Kraft ist also All-
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macht: er würkt ins Universum, das sein Körper ist: der Körper seines Gedankens [...]. Gott gehört also zur Welt, und hat sie so durch seinen Gedanken gebauet [...]. Er ist der Gedanke, die Kraft der Welt: ich stehe unter ihm, wie die Erde unter der Sonne; ich habe aber auch meinen Mond, meine Sphäre: ich bin ein Gott in meiner Welt« (S. 287). H. wehrt damit alle theolog. Ansprüche auf das Feld humaner Tätigkeit ab u. erklärt den Menschen zum sich selbst produzierenden Wesen in der ihn umgebenden natürl. Welt. Der Mensch lebe, schreibt er 1769 an Mendelssohn, wie das gesamte Universum, in einem »Kreislauf des Selbstgenusses«, u., wenn man über den Tod hinaus etwas sagen könne, er kehre vielleicht in einer Form der Seelenwanderung wieder in diesen Kreislauf zurück (Briefe 1, Nr. 58 u. 76). H. nähert sich damit wieder der frz. Aufklärung, dem Werk des Berliner Akademiepräsidenten Maupertuis: Système de la nature, in dem ebenfalls das Anwachsen des Selbstbewusstseins als ein Resultat des Entfaltungsprozesses der Natur beschrieben worden war. Mit diesem Entwurf ist zgl. über eine Reihe von Fragestellungen entschieden, die H. sich künftig zu behandeln vornahm u. die systematisch, als »Geschichte des Menschlichen Verstandes«, aufeinander Bezug nehmen. Zunächst wäre zu schreiben über den Begriff der »Kraft«, eine intensive Debatte mit Leibniz u. seiner Rezeption durch Diderot u. mit Maupertuis, die zgl. bereits eine Auseinandersetzung mit der verfemten Philosophie des Spinoza bedeutete. Diese Erörterung um die Kräfte, die das Universum bewegen u. zgl. im erkennenden Menschen wirken, ja ihre Identität garantieren, wird erst 1787 in den Spinoza-Gesprächen stattfinden. Zweitens ist eine Abhandlung über den Sinn notwendig, der am unmittelbarsten Körpergefühle vermittelt, den Tastsinn; diese Problematik sollte in der Plastik (1770. Überarb. Weimar 1778) diskutiert werden. Zum Dritten war eine Schrift über den Zusammenhang von Gehör, Sprache u. Vernunft zu verfassen, in deren Zusammenspiel das bedeutendste Mittel der Selbstkonstitution des Menschen begründet ist: die Sprache. Schließlich sollte eine Abhandlung über das Problem des Zu-
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sammenhangs von Sinneseindruck u. Abstraktion geschrieben werden, das den immer noch – trotz Locke u. Condillac – geltenden Qualitätssprung zwischen beiden zu erläutern versuchte. Die beiden letztgenannten Abhandlungen kamen motiviert durch Preisfragen der Berliner Akademie zustande (Abhandlung über den Ursprung der Sprache. 1770. Gedr. Bln. 1772. Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. 1774. Umarbeitungen 1775 u. 1778). Gleichzeitig intensivierte H. seine Arbeiten auf dem Gebiet histor. Analysen, zunächst auf dem ihm ureigenen der Theologie. Vor dem Verlassen Rigas entstanden Bruchstücke einer Archäologie des Morgenlandes, in der er die Bibel, v. a. den Genesis-Bericht, als symbolisch-dichterischen Ausdruck des Weltverständnisses eines Volkes unter bestimmten nationalen wie lokalen Voraussetzungen darstellt. Die Religionsauffassung wird dabei von Humes Natural History of Religion (1755) u. ihrer von Lukrez u. Spinoza geprägten Offenbarungskritik bestimmt: »Glaube« ist für Hume ein »viel eigentlicher Akt des fühlenden als des denkenden Teils unserer Natur«, u. auf dieser Grundlage der Interpretation des Gefühls, mit der H. sich von Rousseau ab- u. Hume zuwendet (vgl. Briefe 1, Nr. 119), verbindet er histor. Religionsanalyse mit ästhetikgeschichtl. Analyse (Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst) u. seinem anthropolog. Ansatz. Der Impuls der Archäologie wird sich in den Studien über die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (4 Tle., Riga 1774–76) u. Von dem Geist der Ebräischen Poesie (2 Tle., Dessau 1782/83) fortsetzen, u. trotz der Wiederannäherung H.s an Hamann, die sich v. a. in der Ältesten Urkunde manifestiert, bleibt seine Auffassung alles Religiösen u. damit auch aller Theologie von einer »Menschlichen Philosophie« des Immanentismus bestimmt. Diese Tendenz wird sich unter dem wachsenden Einfluss der Auseinandersetzung mit Spinoza u. den Problemen der Naturgeschichte in den 1780er Jahren verstärkt artikulieren (Briefe, das Studium der Theologie betreffend. 4 Tle., Weimar 1780/81). Das »große Thema«, die »Universalgeschichte der Bildung der Welt«, trat mit dem Abschied von Riga in H.s Blickfeld. Am
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5.6.1769 schiffte sich H. ein, zunächst um von Kopenhagen aus Klopstock zu besuchen; dann aber begleitete er seinen Reisegefährten Johann Christoph Berens nach Nantes. Am 4. Nov. reiste er nach Paris weiter, wo er vermutlich einige der großen Vertreter der frz. Aufklärung, darunter Diderot, getroffen hat. Auf einen Antrag des Fürstbischofs von Lübeck, seinen Sohn auf einer Kavalierstour für drei Jahre zu begleiten, verließ er Paris noch im Dezember, reiste über die Niederlande nach Hamburg, wo er im März 1770 Lessing u. Claudius traf. Die Bildungsreise führte über Hannover, Kassel, Göttingen u. Darmstadt – wo H. in einem gesellig-empfindsamen Zirkel seine spätere Frau Caroline Flachsland kennen lernte – nach Straßburg (Ankunft 4.9.1770). Dort gab er sein Mentorenamt auf, nachdem ihn Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe als Konsistorialrat an den Hof zu Bückeburg (zum Nachfolger Abbts) berufen wollte. Ein komplizierter chirurgischer Eingriff, die Beseitigung einer Tränenfistel, dem er sich zuvor unterzog, missglückte. Ende Sept. begegneten sich H. u. der junge Goethe im Gasthof »Zum Geist«; Goethe hat in Dichtung und Wahrheit (Buch 10) den Beginn ihres spannungsvollen Verhältnisses dargestellt. Die Lektüre der Fragmente, die Einführungen in die Welt Shakespeares u. Ossians, die Teilnahme an der entstehenden Abhandlung über den Ursprung der Sprache haben in der Sturm-und-Drang-Phase Goethes bedeutende Spuren hinterlassen. H. selbst schrieb in dieser Zeit das Journal meiner Reise im Jahre 1769, die Vorstudien u. erste Fassung der Plastik u. eine erste Version des ShakespearAufsatzes. Am 18.4.1771 traf H. in Bückeburg ein. Die Bedeutung der Reise liegt jedoch nicht in der bloßen Erfahrung einer notwendigen Abkehr von Frankreich, wie sie der H.-Forschung gerade auch durch Goethes Berichte in Dichtung und Wahrheit (v. a. anlässlich der Diskussion um Holbachs Système de la nature von 1770. Vgl. Buch 11) suggeriert worden ist: Die Unterscheidung der frz. »mechanischen« von der dt. »organischen« Philosophie der Natur ist ein Relikt des dt. Historismus, wenn man in Betracht zieht, dass die Konjunktur des Organismus-Begriffs bei Buffon,
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Diderot, Holbach oder Robinet in Frankreich, u. zwar im Zeichen einer Wiederbelebung Spinozas, ihren Ausgang nahm. H. hat diese Strömungen trotz aller Protestationen gegen den »französischen Naturatheismus« aufgenommen u. vor allem in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (4 Tle., Lpz. 1784–91) verarbeitet. Zugleich war es Frankreich, von wo aus der Mythos des NordischGermanischen entscheidende Impulse empfing. Schon Montesquieu hatte im Esprit des loix Süden u. Norden als Regionen der Sklaverei u. der Freiheit kontrastiert, u. 1770 propagierte Raynal in seiner Histoire philosophique et politique das Deutsche als die »langue mère«, die Mutter aller europ. Sprachen. Hatte H. noch im Reisejournal Deutschland als »grob« bezeichnet im Vergleich zur Überfeinerung der Franzosen u. davon geträumt, in Italien der »wahren Natur« der Menschen zu begegnen, so hat ihn nicht zuletzt der frz. Mythos vom Norden in der Interpretation des »Volkhaften« der »germanischen« Länder – zu denen auch Kelten, Skandinavier, Angelsachsen gehörten – beeinflusst. Auch die Abhandlung über den Ursprung der Sprache, meist als schwärmerisches Dokument des Sturm und Drang betrachtet, ist ohne frz. Gedankengut nicht verständlich. In ihr geht es H. exemplarisch um die Darstellung des Menschen als eines sich selbst produzierenden Wesens, das aller Eingriffe Gottes in die Welt entraten kann. Denn der Mensch ist eingebettet in die Ökonomie der Natur, so dass er zwar zu den Tieren gehört, aber was ihn als »Geist« auszeichnet, ist nur Kompensation für die mangelhafte Instinktausrüstung des komplexesten aller Tiere. Die Prägung von Merkmalen in Lautformen führt zur Bildung des Bewusstseins u. ist damit Voraussetzung für die Entwicklung geistigen Vermögens überhaupt; allerdings ist dies ein langwieriger Vorgang, der erst spät zu den uns geläufigen Formen der abstrakten Sprachen führt. Der Prozess wird unterstützt durch äußere Umstände, v. a. die Entwicklung kollektiver Zusammenhänge. Anthropologische u. histor. Konstruktion greifen hier bereits aufs Engste ineinander u. bleiben modellhaft für die späteren histor. Schriften H.s, sowohl für die Streitschrift Auch eine Philosophie (o. O. 1774)
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als auch für die späteren Ideen. Das Konzept einer historisch umfassenden, materialreichen Geschichtskonstruktion hatte jedoch das Reisejournal entworfen. H. schwebte eine Verbindung der Leistungen Newtons – für einen neuen Weltbegriff – u. Montesquieus – auf die Formen kulturellen Handelns allg. erweitert – vor, eine »Universalgeschichte der Bildung der Welt«. Die in Bückeburg entstandenen Schriften über Ossian und die Lieder alter Völker (in: Von deutscher Art und Kunst. Hbg. 1773), Shakespear (in einer zweiten u. dritten Fassung) u. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (o. O. 1774) entwickeln die gewonnenen Ansätze zunächst an konkreten ästhetisch-histor. Phänomenen u. polemisieren, angesichts des neuen Verhältnisses von Emotion u. Vernunft, gegen die Aufrechterhaltung des alten Dualismus. Dies gilt für die »Urkunden« der Bibel wie der Ossian-Fälschung Macphersons, die H. zeitlebens für echt gehalten hat, u. für die Beurteilung Shakespeares. H.s psychologisch-philolog. Analyse der Lieder alter Völker zeigt, warum diese Texte eine bestimmte, ganz aus dem anthropolog. Ursprung der Sprache u. des Kollektivverhaltens geprägte Form annehmen mussten, u. der Shakespear-Aufsatz verdeutlicht, in Anlehnung an die Sprachschrift u. ihre Unterscheidung von eingeengter Instinktsphäre der Tiere u. erweiterter Sphäre des Menschen, die Unterscheidung von den Bedingungen antiker u. moderner Situation des Dichters: Sophokles steht in einer eingeschränkten Welt der antiken Stadtrepublik, die »Polis« des modernen Shakespeare ist die ganze Welt, u. daraus resultieren die so unterschiedl. ästhetischen Formen, für die der klassizistische Maßstab der Franzosen keinesfalls ausreicht. Zusammen mit der in der zweiten Fassung der Fragmente geäußerten Kritik an Winckelmanns Unverständnis für die ägypt. Kunst (Suphan 2, 128–136) liegt hier der Ansatzpunkt für H.s erste geschichtsphilosophische Schrift, über deren Polemik gegen Voltaires Essai sur les mœurs u. gegen Isaak Iselins Philosophische Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit (1764) u. durch deren scheinbar enthusiastisch-iron. Stil Aufbau u. log. Duktus, ja z.T. selbst die
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Inhalte der Schrift unbeachtet blieben. Von der »Entdeckung des Mittelalters«, die der Schrift Auch eine Philosophie zugeschrieben wird, ist darin nichts zu finden; dieses wird, in wenigen Sätzen, als wirres Zeitalter papistischer Machenschaften apostrophiert, deren Finsternis erst vor der Reformation Luthers u. der Tätigkeit der Humanisten zerstoben sei. H. präsentiert hier ein Geschichtsbild in zwei großen Abschnitten, den »Stamm« der »einfachen« Antike u. die »Äste und Zweige« der zweiten Epoche, die mit der Gegenwart der Aufklärung endet. Jede dieser Kulturepochen ist vierfach unterteilt: Symmetrisch stehen einander jüd. Nomaden u. die Germanen der Völkerwanderung, Ägypter/Phönizier u. das MA, Griechenland u. Renaissance/Reformation u. schließlich Römer u. der rationale Machtstaat der Aufklärung gegenüber. Die beiden großen Kulturepochen sind getrennt durch die Einschnitte des entstehenden Christentums u. der Völkerwanderung. Jede neue Kultur stellt eine Metamorphose der vorangegangenen dar. Es gibt zwar nur ein anthropolog. Prinzip der Genese von Kultur, aber eine fast unbegrenzte Varietät, in der es sich manifestiert. Und die »Metamorphose« der Lebensformen ist eine Notwendigkeit, da Kulturen sich ebenso wie einzelne Menschen in ihrer Vitalität erschöpfen; aus diesem Grund prognostizierte H. der Zeit der Aufklärung ihr Ende durch eine »Revolution« der Verhältnisse, die zum Aufblühen einer neuen Kultur mit verjüngten Kräften führen werde. H.s Bückeburger Zeit gehörte zu den glücklichsten Abschnitten seines Lebens, trotz des schwierigen Verhältnisses zu dem Grafen. Der Gräfin Maria war er eng verbunden; er fand in Bachs jüngstem Sohn Johann Christian einen musikal. Partner, für den er Texte (Brutus. o. O. 1774. Die Kindheit Jesu) verfasste, u. schließlich begann hier 1773 seine glückl. Ehe mit Caroline Flachsland. Aussichten auf eine Berufung H.s auf einen theolog. Lehrstuhl nach Göttingen, die mehrfach durch den Hinweis auf seine Heterodoxie hintertrieben worden war, erledigten sich durch die Berufung nach Weimar, die Goethe beim Herzog Karl August durchgesetzt hatte. Aber von Anfang an (Okt. 1776)
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war das Verhältnis gespannt, auch zu Wieland, der H. zunächst mit großer Offenheit entgegengekommen war. H. bedrückte das Ausmaß seiner Amtsgeschäfte, die neben Seelsorge u. kirchl. Verwaltungsaufgaben auch die Aufsicht über das Schulwesen einschlossen. Letzterem galt seine bes. Aufmerksamkeit, ohne dass er seine Reformpläne »unter dem alten sächsischen Dreck« der hergebrachten Verwaltungsmethoden hätte fruchtbar umsetzen können. Trotzdem begannen zgl. die fruchtbarsten Arbeitsjahre im Leben H.s; neben den definitiven Versionen der Plastik u. der Schrift Vom Erkennen und Empfinden (beide Riga 1778) wurde die Sammlung der Volkslieder (Lpz. 1778/79) zum Abschluss gebracht. Ab 1781 begannen die Vorarbeiten zu den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit; 1787 publizierte H. in Gotha seine Schrift über Spinoza (Gott. Einige Gespräche). Zunehmend distanzierte er sich von Lavaters u. Jacobis schwärmerischer Glaubensphilosophie u. näherte sich, im Zeichen der Naturphilosophie, wiederum Goethe, der ebenfalls mit dem Studium der Naturgeschichte begonnen hatte. Hatte H. in Auch eine Philosophie die Einheit u. Stetigkeit des Geschichtsprozesses auf der Ebene der kulturellen Selbstproduktion des Menschen darzulegen versucht, so erweiterte er seine Betrachtungsweise nun um die Entstehungsgeschichte des Menschen aus der Natur, wie sie ansatzweise bereits in der Sprachschrift vorgelegen hatte. Der erste Band behandelt die Stellung der Erde im Kosmos, die Reiche der Natur u. die Stellung des Menschen in ihnen, die organischen Unterschiede von Mensch u. Tier u. den Fortschritt des Naturprozesses zum Menschen hin. Der zweite untersucht die systemat. Beziehung von Mensch u. Umwelt in verschiedenen Klimata u. ihre daraus resultierenden unterschiedl. Formen der Kulturproduktion. Der dritte gibt eine Geschichte der alten Welt u. schließt im 15. Buch mit einer Übertragung der Spinoza-Interpretation H.s auf die Menschheitsgeschichte: »Humanität ist Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben.« Der Schlussband, der erst 1791 erschien, behan-
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delt die Geschichte der nordischen Völker im MA. Während Freunde wie Goethe, Forster, Karl Ludwig von Knebel oder August von Einsiedel, dessen Skizzen zum Problem der Naturinterpretation H. Wesentliches verdankte, das Werk beifällig begrüßten, waren es Kants Rezensionen der ersten beiden Bände, die H. die Arbeit verleideten. Was Kant v. a. anstößig erschien, war die in H.s Interpretation wirksame Kraft einer tätigen Natur, die selbst ohne Bewusstsein ist, aber planvoll alle Erscheinungen des Naturprozesses u., gleichsam als seine Verlängerung, der Kulturtätigkeit des Menschen hervorbringt, ohne diese logisch begreiflich machen zu können. H.s Spinoza-Schrift von 1787 ist gleichermaßen Antwort auf diese Kritik wie auf den von Friedrich Heinrich Jacobi ausgelösten Streit um Spinoza, in dem es um die Rettung eines persönl. Gottesglaubens u. die Möglichkeit der Offenbarung ging. Dem stellte H. sein Bekenntnis zu einem Pantheismus entgegen, dessen Summe in der Erfahrung eines sich immer wandelnden Daseins nach Gesetzen einer weisen Notwendigkeit bestand u. der dieses persönl. extramundanen Gottes nicht bedurfte. Erschöpft von berufl. Überlastung u. missmutig ob der Auseinandersetzungen um seine Schriften, ergriff H. im Sommer 1788 die Möglichkeit zu einem Italienaufenthalt. Aber auch dieser trug wenig zur Besserung seiner Stimmung bei; enttäuscht über die ihm kalt u. tot erscheinende Pracht der röm. Ruinen, fand er nur seine Leidenschaft für Skulpturen (Plastik) bestätigt. Nach seiner Rückkehr (Juli 1789) entschied er sich auf Zuraten Goethes, einem erneuten Ruf auf einen theolog. Lehrstuhl nach Göttingen nicht zu folgen. Der Herzog versprach eine Verbesserung der Stellung u. die Versorgung der Söhne während ihrer Ausbildung, allerdings bezahlte H. die finanzielle Besserstellung mit einer zunehmenden Arbeitsbelastung. Anstelle der Fortsetzung der Ideen wandte sich H. einem neuen Projekt zu, den Briefen zu Beförderung der Humanität (Riga 1793–97). In der urspr. Form enthielten sie eine uneingeschränkt positive Beurteilung der Französischen Revolution bis zum Stadium der Absetzung des Königs (Herbst 1792) u. gleich-
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zeitig eine Anerkennung der philosophischen Revolution Kants, bes. im Hinblick auf dessen Kritik der praktischen Vernunft (1788). Aber die rasche Radikalisierung der Revolution verbot die Veröffentlichung dieser Fassung; auch wich H.s positives Urteil der Enttäuschung über den Terreur. So entfaltete er in den zehn Sammlungen eine Reihe von politisch-pädagog. Themen, die sich um die Frage der Verwirklichung der »Humanität« drehen. Von bes. Bedeutung ist dabei die siebte u. achte Sammlung (entstanden 1795/96; gedr. 1796), weil in ihr H.s nunmehr völlig verändertes Verhältnis zur literar. Situation deutlich wird. In einem Vergleich zwischen Antike u. Moderne nach Art der Fragmente wird von Goethes u. Schillers Produktion keine Notiz genommen u. der Gang der Literaturentwicklung, wie ihn Schiller definiert hatte (Über naive und sentimentalische Dichtung. 1795), ignoriert. Implizit bedeutet dies die Ablehnung des klassizistischen Literaturprogramms u. den Rückverweis auf H.s eigene, bereits in den Fragmenten gegebene Anschauung von der Literatur als einer Form von »Ethopöie«, d.h. einer Schöpfung, die sich aus Lebensumständen u. Entwicklungsstand eines Volkes herausbildet – u. damit ist der Klassizismus für H. ein Rückfall in die alte rationalistische Geschmackspoetik. Zugleich erwies sich an seinem für Schillers »Horen« geschriebenen Aufsatz Iduna oder der Apfel der Verjüngung (1796), der den Aspekt des Ethopoietischen im Vorschlag mit einer Wiederbelebung nordischer Mythologie verstärkte, dass H. in Schillers ästhetischer Theorie u. in der Idee einer Kunst des Spiels u. des schönen Scheins eine Entkoppelung aller Kunst von eth. Fragestellungen sah u. zgl. eine Kunst des anthropolog. Defizits. Alle Kunst, so führte H. in einer Gegenschrift zu Kants Kritik der Urteilskraft (Kalligone. Lpz. 1800) aus, mit der er auch Schiller u. die Frühromantiker treffen wollte, bedarf des sinnl. Reizes. Gleichermaßen war durch die Ausbreitung des Kritizismus, seine Fortbildung bei Reinhold, Fichte, in den Frühschriften Schellings u. Hegels, H.s Argwohn gegen die Wiederkehr der dürren Wortphilosophie der Scholastik geweckt worden, die es am Urheber Kant zu bekämpfen galt (Metakritik zur Kritik der reinen
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Vernunft. Lpz. 1799). Einzig der junge Jean Paul bekannte sich als Vertreter der jüngeren Generation zu H.s Anschauungen, deren Einfluss auf die Romantiker doch weit größer war, als diese – gerade wegen dieser KantKritiken – erkennen ließen. Neben zahlreichen Schriften zur Theologie u. Altertumsgeschichte sowie Übersetzungen, u. a. der lat. Dichtungen Jacob Baldes (Lübeck 1795/96) oder des Cid (Tüb. 1805), unternahm H. noch die Publikation eines umfangreichen Miszellenwerks, der Adrastea (6 Bde., Lpz. 1801–03), in dem er einen Rückblick auf die Kultur v. a. des 18. Jh. gab. Persönliche Auseinandersetzungen mit Goethe oder um die Erhebung in den Adel durch den bayerischen Kurfürsten trugen zur Verbitterung von H.s letzten Lebensjahren bei. Das Werk H.s, das wegen seiner Vielschichtigkeit u. seiner Auseinandersetzung mit allen Tendenzen des 18. Jh. zu den bedeutendsten Zeitdokumenten gehört, ist durch seine missbräuchl. Verwendung für die dt. Nationalideologie in den letzten Jahrzehnten zu wenig beachtet worden; im Zeitalter wissenschaftsgeschichtl. Interesses wird es in seiner Bedeutung für anthropolog. Denken neu erforscht. Werke: H.s sämmtl. Werke. Hg. Bernhard Suphan. 33 Bde., Bln. 1877–1913. Neudr. Hildesh. 1967/68. – Werke. Ausgew. u. eingel. v. Wilhelm Dobbek. Weimar 1957. – Ausgew. Werke in Einzelausg.n. Bln./DDR, Weimar 1965 ff. – Werke. Hg. Wolfgang Proß. Mchn./Wien 1984 ff. – Werke. Ffm. 1985 ff. – Einzelausgaben: Von dt. Art u. Kunst. Hg. Hans Dietrich Irmscher. Stgt. 1968. – Stimmen der Völker in Liedern. Hg. Heinz Rölleke. Stgt. 1975. – Auch eine Philosophie der Gesch. zur Bildung der Menschheit. Hg. Hans-Georg Gadamer. Ffm. 1976. – Journal meiner Reise im Jahre 1769. Hist.-krit. Ausg. Hg. Katharina Mommsen. Stgt. 1976. – Abh. über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Komm. Hg. W. Proß. Mchn./Wien 1978. – Ital. Reise. Briefe u. Tagebuchaufzeichnungen 1788/89. Hg. Albert Meier u. Heide Hollmer. Mchn. 1988. – Briefe: Gesamtausg. 1763–1803. Hg. W. Dobbek u. Günter Arnold. 9 Bde., Weimar 1977–88. Bd. 10: Register. Weimar 1996. Bd. 11: Komm. zu den Bdn. 1–3 (1763–1776). Bearb. v. G. Arnold. Weimar 2001. Bd. 12: Komm. zu den Bdn. 4–5 (1776–1788). Bearb. v. G. Arnold. Weimar 2005. – Nachlass: H. D. Irmscher u. Emil Adler: Der handschriftl. Nachl. J. G. H.s (Staatsbibl. Preuß. Kul-
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311 nen der Schöpfung. Das Menschenbild J. G. H.s im Kontext v. Theologie u. Philosophie der Aufklärung. Hg. Ulrich Kühn. Ffm. u. a. 1998. – Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpr. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik u. Interpr. bei J. G. H. Hbg. 1998. – Christoph Bultmann: Die bibl. Urgeschichte in der Aufklärung: J. G. H.s Interpr. der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tüb. 1999. – Wan-Kyun Kim: Der Individualitätsgedanke bei J. G. H. In Bezug auf Nation u. Nationalliteratur. Gött. Diss. 1999. – Irene Polke: Selbstreflexion im Spiegel des Anderen. Eine wirkungsgeschichtl. Studie zum Hellenismusbild Heynes u. H.s. Würzb. 1999. – Bärbel Schneider: H.s Entleihungen aus der Weimarer Bibl. Eine Bibliogr. Wien 1999. – ErnstRichard Schwinge: ›Ich bin nicht Goethe‹. J. G. H. u. die Antike. Gött. 1999. – Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. H. u. die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tüb. 2000. – Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann u. H. als Wegbereiter autorzentr. Schreibens. Ein philolog. Beitr. zur Charakterisierung der literar. Moderne. Tüb. 2001. – Hans Dietrich Irmscher: J. G. H. Stgt. 2001. – Markus Pohlmeyer-Jöckel: Poesie u. Gesch. Formen der Erkenntnis beim frühen J. G. H. Münster 2001. – Andrea Schütte-Bubenik: ›Empfindsamkeit‹ auf Abwegen. Die Korrespondenzen der Caroline Herder. Bln. 2001. – Wolfgang Kayser: Die iber. Welt im Denken J. G. H.s. Mit einem Nachw. v. H. D. Irmscher. Tüb. u. a. 2002. – Dae Kweon Kim: Sprachtheorie im 18. Jh. H., Condillac u. Süßmilch. St. Ingbert 2002. – T. Markworth: Immortality and identity in the early H. Ann Arbor, MI 2002. – Michael Zaremba: J. G. H. Prediger der Humanität. Eine Biogr. Köln u. a. 2002. – Thorsten Kindermann: Poetische Geschichte. Zum Geschichtsverständnis Hamanns, H.s u. Novalis’. Tüb. 2003. – Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jh. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Bln./New York 2003. – Nicole Welter: H.s Bildungsphilosophie. St. Augustin 2003. – Anne Löchte: J. G. H. Kulturtheorie u. Humanitätsidee der ›Ideen‹, ›Humanitätsbriefe‹ u. ›Adrastea‹. Würzb. 2005. – T. Markworth: Unsterblichkeit u. Identität beim frühen H. Paderb. u. a. 2005. – Alexander J. Cvetko: ›... durch Gesänge lehrten sie ...›. J. G. H. u. die Erziehung durch Musik. Mythos, Ideologie, Rezeption. Ffm. u. a. 2006. – Barbara Mahlmann-Bauer: H.s BaldeÜbertragungen u. die Poetik der ›Terpsichore‹. Ein Reaktion auf das Programm der ›Horen‹ u. auf Goethes ›Römische Elegien‹. In Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Hg. Thorsten Burkard u. a. Regensb. 2006, S. 409–463. – Rüdiger Singer: ›Nachgesang‹. Ein Konzept H.s, entwickelt
Heresbach an ›Ossian‹, der ›popular ballad‹ u. der frühen Kunstballade. Würzb. 2006. – Valerio Verra: Linguaggio, mito e storia: studi sul pensiero di H. Pisa 2006. Wolfgang Proß / Red.
Heresbach, Hersbec, Konrad, * 2.8.1496 Gut Heresbach/Kreis Mettmann, † 14.10. 1576 Lorward. – Jurist, Politiker, Humanist u. Fachschriftsteller. Nach dem Besuch der Lateinschulen in Werden, Hamm u. Münster, wo ihn Johannes Murmellius unterrichtete, studierte der jüngste Sohn eines Gutsbesitzers die freien Künste in Köln. Er wurde am 20.10.1512 als Conr. Hersbeck de Metman in die Matrikel eingetragen u. in die Montanerburse aufgenommen; am 2.11.1513 legte er die artistische Bakkalar- u. am 31.7.1515 die Magisterprüfung ab. Theologische Studien gab er bald zugunsten der jurist. Ausbildung auf, die er 1517–1519 an verschiedenen frz. Hochschulen, u. a. in Paris u. Orléans, beendete. Ende 1520 arbeitete H., vermittelt durch Erasmus von Rotterdam, den er in Köln kennen gelernt hatte, als Korrektor in der Werkstatt Johann Frobens in Basel. Auf Empfehlung des Erasmus wurde er im Juli 1521 Professor für Griechisch in Freiburg, wo er Ulrich Zasius kennen lernte, u. im Herbst 1523, abermals auf Empfehlung des Erasmus, an den Hof des Herzogs Johann von JülichCleve berufen, um den damals 7-jährigen, künftigen Herzog Wilhelm zu erziehen, ein Amt, das er bis 1534 versah. 1532 reiste H. (ein zweites Mal) nach Italien, u. a. nach Ferrara, wo er am 22. Okt. zum Dr. beider Rechte promoviert wurde. Ab Juni 1534 wirkte er als Geheimer Rat des Herzogs für dessen Friedenspolitik, die er mit der Defensio iuris [...] principis [...] Wilelmi (Solingen 1542) verteidigte. Nach seiner zweiten Heirat (1562) zog er sich auf die Rheininsel Lorward bei Wesel zurück u. nahm seine Studien wieder auf. Nun entstanden zahlreiche, z.T. noch ungedruckte bzw. verlorengegangene selbstständige Schriften. H. war ein vielseitig begabter, irenisch gesinnter, aktiver Humanist, der u. a. mit Erasmus, Melanchthon, Bucer u. Camerarius
Herfurtner
korrespondierte u. sich für eine tolerant christliche staatl. Ordnung einsetzte. Seine wichtigsten Werke sind, neben den beiden mit lat. Übersetzungen versehenen Editionen Theodori Gazae introductionis grammaticae libri quatuor (Basel 1523) u. Herodoti [...] de genere vitaque Homeri libellus (Köln 1526. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg), die Erziehungs- u. Staatslehre De educandis erudiendisque principum liberis [...] libri duo (Ffm. 1570. 1592. Internet-Ed.: CAMENA [Abt.: Historica et Politica]), das landwirtschaftl. Handbuch Rei rusticae libri quatuor (Köln 1570 u. ö.), das einen originellen Anhang über die Jagd enthält, die Gebetsammlung Diarium, seu quotidianae preces (Basel 1574), der Psalmenkommentar Psalmorum Davidicorum simplex et dilucida explicatio (Basel 1578) u. eine geistl. Betrachtung über den Tod: Celeuma exhortatorium ad praeparationem christiane moriendi (Ffm. 1592). Das lakon., aber an histor. Details reiche lat. Tagebuch (1533–1576) ist nur in einem Auszug für die Jahre 1537–1544 ediert. Weitere Werke: De laudibus graecarum literarum oratio, olim Friburgi habita. Straßb. 1541. 2 1551. – Christianae iurisprudentiae epitome. Neustadt 1586. Ausgaben: Historia anabaptistica, de factione Monasteriensi, anno 1534. et seqq. ad Erasmum Roterodamum epistolae forma anno 1536. descripta, nunc demum ex authoris autographo [...] edita. Hg. Theodor Strack. Amsterd. 1637. InternetEd.: UB Münster. – Historia factionis excidiique Monasteriensis. Hg. Karl Wilhelm Bouterwek. Elberfeld 1866. – Tgb. K.s v. H. aus den Jahren 1537–44 (Auszug). In: Ztschr. des Berg. Geschichtsvereins 23 (1887), S. 57–83. – Freundesbriefe C.s v. H. an Johann v. Vlatten. (1524–1536). Hg. Otto R. Redlich. In: Ztschr. des Berg. Geschichtsvereins 41 (1908), S. 160–184. – Rei rusticae libri quatuor (Köln 1570). Nachdr. mit dt. Übers. u. krit. Komm. hg. v. Wilhelm Abel. Meisenheim 1970 (Teilausg.). – De educandis erudiendisque principum liberis (ed. 1592). Textausw. (in dt. Übers.) u. Einl. v. Michael Philipp. In: Fürstenspiegel der frühen Neuzeit. Hg. Hans-Otto Mühleisen u. a. Ffm./Lpz. 1997, 166–218. – Thereutices hoc est de venatione aucupio atque piscatione compendium [...] / Handbüchlein der Thereutik [...]. Krit. Textausg. u. dt. Übers. mit einer Einl. u. komm. Anm. v. Jürgen Blusch. Boppard/Rhein 1977. – Foure books of husbandry. London 1577. Nachdr. Amsterd. 1971.
312 Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Albrecht Wolters: K. v. H. u. der Clev. Hof zu seiner Zeit. Elberfeld 1867 (mit Werkverz.). – Roderich v. Stintzing: Gesch. der dt. Rechtswiss. Abt. 1, Mchn./ Lpz. 1880. Nachdr. Aalen 1978, S. 228–230. – Leonhard Ennen: K. H. In: ADB. – Adalbert Horawitz: Erasmiana. Tl. 4. (Aus der Rhedigerana zu Breslau. 1530–1536). Wien 1885, S. 51–54 (mit Abdr. eines Briefes v. H. an Erasmus vom 28. Juli 1535 über die Einnahme von Münster, S. 80–86). – Bruno Lebermann: Die pädagog. Anschauungen C. H.s. Diss. Hbg. 1906. – Hartwig Lohse: K. H. In: NDB. – Jean-Claude Margolin: Un humaniste réformiste rhénan: C. H. In: Réforme et humanisme. Actes du IVe Colloque [...]. Hg. Jean Boisset. Montpellier 1977, S. 113–148. – Corinne Beutler u. Franz Irsigler: K. H. In: Rheinische Lebensbilder 8 (1980), S. 81–104. – Premier livre des procurateurs de la nation germanique de l’ancienne Université d’Orléans 1444–1546. Seconde Partie: Biographies des étudiants. Vol. 2, Leiden 1980, S. 502. – Anton J. Gail: K. H. In: Contemporaries. – K. H. Versuch einer Annäherung zu seinem 500. Geb. Hg. Herbert Prokasky u. Manfred Weise. Mettmann 1996. – Humanismus als Reform am Niederrhein: K. H. 1496–1576 [...]. Hg. Jutta Prieur. Bielef. 1996 (Kat.). – Heinz Finger: Reformation u. kath. Reform im Rheinland [...]. Düsseld. 1996. – Der Niederrhein im Zeitalter des Humanismus: K. H. u. sein Kreis [...]. Hg. Meinhard Pohl. Bielef. 1997. – Geist u. Macht: K. H., Humanist u. Diplomat am jülich-klev. Hof. Hg. Marcus Bernhardt. Jülich 1999 (Kat.). – Melanchthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 274 f. Fidel Rädle / Reimund B. Sdzuj
Herfurtner, Rudolf, * 19.10.1947 Wasserburg/Inn. – Kinder- u. Jugendbuchautor, Verfasser von Hörspielen u. Theaterstücken. H. verlor früh seine Eltern. Nach dem Studium der Germanistik, Anglistik u. Theaterwissenschaften in München, wo er auch heute noch lebt, arbeitete er zunächst als Journalist u. absolvierte ein Volontariat beim Fernsehen; seit 1975 ist er als freier Autor tätig. H., der sich bereits in seiner Magisterarbeit mit der Figur des Außenseiters in der dt. Kinderbuchliteratur beschäftigte, schildert in seinen Texten das Schicksal von Randfiguren u. Unangepassten, die lernen müssen, ihre Träume in einer feindseligen Welt zu bewahren. Seine Romane u. Erzählungen ge-
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Hergot
stalten dabei eine Vielzahl z.T. sehr unter- pedia of Children’s Literature. Hg. Jack Zipes. Oxschiedl. Geschichten u. Themen: Sie erzählen ford u. a. 2006, S. 223. Birgit Dankert / Christine Henschel von Anpassungsschwierigkeiten u. Isolation im Schülerheim bzw. der spießbürgerlichengen Kleinstadt (Hinter dem Paradies. Ra- Herger ! Spervogel vensburg 1973. Die Umwege des Bertram L. Ravensburg 1975), berichten aus der Rockszene Hergot, Hergott, Herrgott, Hans, auch: Jo(Hard Rock. Zürich 1979) u. der großstädt. hannes H., † 20.5.1527 Leipzig. – BuchSubkultur (Rita, Rita. Aarau 1984) u. themadrucker; vermutlich Verfasser einer tisieren Flucht u. Vertreibung nach dem christlichen Sozialutopie. Zweiten Weltkrieg (Mensch Karnickel. Wien 8 1990. Mchn. 2002) oder das Schicksal von Eventuell ist H. identisch mit dem NordStraßenkindern (Milo und die Jagd nach dem häuser Augustinereremiten Johannes Hergot, grünhaarigen Mädchen. Mchn. 2000). der zwischen 1506/7 u. 1516/17 z.T. zeitErfolgreich ist H. auch als Autor von gleich mit Martin Luther an der Universität Theaterstücken für Kinder u. Jugendliche, Wittenberg Theologie lehrte u. dort im Audarunter das zunächst als Bilderbuch konzi- gustinerkonvent lebte. Zwischen 1517 bis pierte Stück Waldkinder (mit Musik von Wil- 1524 verliert sich H.s Spur. 1524–1527 fried Hiller, Urauff. 1995), das die Geschichte druckte er in Nürnberg mehr als 100 von vernachlässigten Kindern erzählt, die zu deutschsprachige Werke, meist Bauernkriegseiner gemeinsamen Sprache finden u. erfah- u. reformationsfreundl. Schriften. 31 Drucke ren, was Freundschaft bedeutet. Das Stück erschienen firmiert. Bedeutend sind illusDer Nibeljunge (Urauff. 1994) ist eine krit. Va- trierte AT- u. NT-Ausgaben Luthers, drei riation des Siegfried-Stoffes u. ein Plädoyer Erstdrucke u. verschiedene Nachdrucke; gegen Gewalt: Das Findelkind Sigfrid wird Thomas Müntzers Ausgedrückte Entblößung des von seinem Meister zu einer Kampfmaschine falschen Glaubens, die H.s Gesellen im Herbst ausgebildet, durchschaut jedoch dessen Be- 1524 angeblich ohne sein Wissen druckten. weggründe u. kann sich schließlich befreien. H. hatte Kontakt zu verschiedenen ReformaH. wurde mit zahlreichen Literaturpreisen tionsdruckern u. hat zumindest eigene Druausgezeichnet, u. a. mit dem Hans-im-Glück- cke selbst vermarktet u. als Buchführer die Preis (1985), dem Deutschen Kinderhörspiel- Leipziger Messe besucht. Nicht nachweisbar preis (1993), dem Deutschen Kindertheater- sind Kontakte zu radikal-reformatorischen preis (1996) u. dem Großen Preis der Deut- Kreisen. Wegen des Vertriebs der anonym schen Akademie für Kinder- und Jugendlite- erschienenen u. von M. Blum in Leipzig geratur (2002). druckten Flugschrift Von der newen wandlung Weitere Werke: Das Ende der Pflaumenbäume. eynes Christlichen lebens wurde H. 1527 in Aarau 1985 (R.). – Das Taubenmädchen. Mit Illus- Leipzig hingerichtet. H.s Witwe Kunigunde trationen v. Rita Mühlbauer. Mchn. 1987 (Bilder- (gest. 1547) betrieb die Druckerei zuerst albuch). – Muschelkind. Hbg. 1995. Mchn. 2003 (R.). lein, später mit ihrem Mann Georg Wachter – Das Geheimnis v. Burg Wolfenstein. Mchn. 2004 weiter. Zugeschrieben werden ihr über 200 (E.). Drucke. Literatur: Steffen Peltsch: R. H. In: Lexikon Mit letzter Sicherheit lässt sich nicht sagen, Deutsch. Kinder- u. Jugendlit. Hg. ders. u. Jörg ob H. die Neue Wandlung selbst verfasst oder Knobloch. Freising 1998, S. 54–56. – Gunter Reiß: nur verlegt u. vertrieben hat. Die Schwere der Musik als soziale Utopie. Wilfried Hillers u. R. H.s Bestrafung lässt eine Verfasserschaft vermuMusiktheater für Kinder ›Waldkinder‹. In: Theater u. Musik für Kinder. Hg. ders. Ffm. u. a. 2001, ten. Heute existieren noch drei Exemplare S. 109–121. – Manfred Jahnke: R. H. In: KJL. – der 36-seitigen Schrift in Leipzig, Zwickau u. Maria-Venetia Kyritsi: R. H. In: Oxford Encyclo- Dublin. Die urspr. Auflagenhöhe ist unbekannt. Das durchkomponierte Werk besteht aus zwei Hauptteilen, in denen eine neue, zukünftige einer alten, gegenwärtigen Welt
Hergouth
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gegenübergestellt wird. Es ist eine in pro- 1985. – Carola Schelle-Wolff: Zwischen Aufruhr u. phetischer Rede verfasste Vision einer mo- Empörung. Die Flugschr. ›Von der newen wanddellhaft beschriebenen besseren Zukunft u. lung eynes Christlichen lebens‹ u. der Nürnberger eine Abrechnung mit der ungerechten Ge- Drucker H. H. Ffm. 1996. – Claudia Brinker-v. der Heyde: Ein Staat des Friedens im Angesicht des genwart. Der Autor, der sich selbst als »armer drohenden Weltendes. Die Newe Wandlung eines Mann« bezeichnet, sagt eine Befreiung der christl. Lebens des H. H. In: Monatshefte 88 (1996), Welt durch den Heiligen Geist voraus. Er S. 298–309. – Lothar Schmidt: H. H. In: MGG, verheißt die Schaffung einer die Ehre Gottes Personenteil. Carola Schelle-Wolff u. den Gemeinnutz achtenden egalitären Welt, die in Gemeinden, Ländern, Vierteln u. Zungen organisiert ist u. in der es weder Hergouth, Alois, auch: Veit Krambach, Privateigentum noch Stände geben soll. Die * 31.5.1925 Graz† 17. 1. 2002 ebd. – LyZwangsläufigkeit der Wandlung begründet riker, Prosaist. er mit der durch Gottlosigkeit u. Eigennutz geprägten erlebten Gesellschaft; als bes. ver- H. war das elfte u. letzte Kind einer Grazer werflich gelten dem Autor die Schriftgelehr- Familie slowen. Herkunft. Sein Vater, ein ten. Er begrüßt, dass durch den Buchdruck Maurer, verunglückte tödlich, als H. vier gesellschaftl. Missstände öffentlich werden. Jahre alt war. Trotz der beengenden VerhältDie Kriege u. den Aufruhr der Bauern 1525 nisse, in denen er aufwuchs, konnte er, dank betrachtet er als Ausdruck göttl. Zorns u. der Unterstützung durch einen älteren BruMahnung an die Herrschenden, Zwietracht u. der, ein Gymnasium besuchen. Unmittelbar Ungerechtigkeit aufzugeben. Die brutalen nach bestandener Reifeprüfung 1943 wurde Bestrafungen u. die folgende stärkere Unter- er zunächst zum Reichsarbeitsdienst, im Andrückung prangert er an. Er fordert von allen schluss daran zum Militär eingezogen. Kurz Teilen der Gesellschaft eine Hinwendung zu vor Kriegsende desertierte er u. geriet auf der Gott u. mahnt zur Umkehr, da sonst Gott die Flucht in brit. Gefangenschaft, aus der er aber alte Ordnung stürzen u. eine neue ohne Un- bald entlassen wurde. Nach Graz zurückgeten und Oben errichten wird. Von den Zeit- kehrt, begann er verschiedene Studien, dargenossen als »aufrührerische« Schrift u. unter Germanistik u. Ethnologie, trat durch Traum bezeichnet, enthält die Neue Wandlung regelmäßige Anthologie- u. Zeitschriftenbeials frühneuzeitl. Flugschrift zgl. Elemente träge als Lyriker in Erscheinung u. hielt sich von Predigt, Reformschrift, prognostischer u. mit Gelegenheitsjobs u. journalistischen Arprophetischer Literatur sowie christl. Sozial- beiten über Wasser. In diese Zeit fällt auch utopie. Ihre Rezeption als Schrift mit revo- H.s polit. Engagement (1945–1951 war er lutionärem Charakter beginnt mit Kirchhoff. Mitgl. der KPÖ) u. seine Beschäftigung mit Das u. die Neuherausgabe von Götze/Schmitt dem dichterischen Werk des von den Nationalsozialisten hingerichteten Widerstandsbegünstigten die Rezeption in der DDR. Literatur: Albrecht Kirchhoff: Johann H., kämpfers Richard Zach, die in seiner frühen Buchführer v. Nürnberg, u. sein trag. Ende 1527. Lyrik tiefe Spuren hinterlassen hat. Mit 28 In: Archiv für Gesch. des Dt. Buchhandels 1 (1878), Jahren nahm H. das Studium wieder auf u. S. 15–55 (Teilabdr.). – Aus dem sozialen u. polit. fand eine Anstellung als »wissenschaftliche Kampf. Die zwölf Artikel der Bauern 1525. H. H., Hilfskraft« am Institut für Volkskunde der Von der neuen Wandlung 1527. Hg. Alfred Goetze Universität Graz. Dort war er nach der Prou. Ludwig Erich Schmitt. Halle/Saale 1953. (Nach- motion 1960 (Das Faschingrennen im oberen dr.). – H. H. u. die Flugschr. Von der Newen Murtal) bis zu seiner vorzeitigen Pensioniewandlung eynes Christl. Lebens. Mit einem Vorw. rung 1978 als Assistent tätig. v. Max Steinmetz u. einem Anhang v. Helmut An H.s ersten beiden Gedichtbänden, Neon Claus. Lpz. 1977 (Faks. u. Umschrift). – Ferdinand Seibt: Johannes H. Die Reformation des ›Armen und Psyche (Graz/Wien/Mchn. 1953) u. Mannes‹. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Radikale Schwarzer Tribut (Graz 1958), lässt sich noch Reformatoren. Mchn. 1978, S. 84–92. – Frank eine gewisse Unentschiedenheit in der DikGanseuer: Der Staat des ›gemeinen Mannes‹. Ffm. tion erkennen. Zornige Anklagen gegen jede
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Herhaus
Form von Militarismus u. gegen die morali- genf./Wien 2005. – Prosa: Vom einfachen Glück. sche Indifferenz einer auf materiellen Wohl- 9 wundersame Märchen u. noch eines. Graz 1996. Literatur: Heinz Gerstinger: A. H., der Poet. stand fixierten Nachkriegsgesellschaft stehen unvermittelt neben verträumten, eleg. Na- In: Pannonia 3 (1975), H. 1/2, S. 15–19. – Alfred turgedichten, freie, der Alltagssprache ange- Holzinger: Große Hoffnungen u. langsamer Neunäherte lyr. Strukturen neben konventionel- beginn. In: Lit. in der Steiermark 1945–1976. Graz 1977, S. 9–48. – Elisabeth Ploteny: Bestandsauflen, strophisch gebauten, gereimten Gedichnahme: Dr. phil. A. H., Wissenschaftlicher Oberrat ten. Der Durchbruch zu einem eigenständi- i. R., empfiehlt sich als Kleinlandwirt & Gelegengen Stil gelang H. erst in den frühen sechzi- heitslyriker. Diplomarbeit, Univ. Graz 1992. – ger Jahren mit dem großen Gedichtzyklus Gerhard Fuchs: Der Schwebemond des A. H. In: Sladka Gora – Der süße Berg (1965. Erw. Neu- Lichtungen 61 (1995), S. 22–24. – Kajetan Kovicˇ : A. ausg.n 1974 u. 1990). Die darin erreichte H. u. Sladka gora. In: Gerald Brettschuh u. Kajetan Form von grenzüberschreitender Heimat- Kovicˇ : A. H. in Sladka gora. Graz 1995, S. 7–19. – dichtung hat mit der antimodernen Blut- Christian Teissl: A. H. (1925–2002). In: LuK 41 Christian Teissl und-Boden-Dichtung ebenso wenig gemein (2006), H. 409/410, S. 95–109. wie mit der Antiheimatliteratur der 1970er und 1980er Jahre. Daneben u. danach ent- Herhaus, Ernst, * 6.2.1932 Ründeroth bei stand eine Vielzahl von Gedichten, die v. a. im Köln. – Romancier. mediterranen Raum gesammelte Reiseimpressionen verarbeiten (u. a. Flucht zu Odys- Bevor er sich der Schriftstellerei widmete, durchlief H. eine Verwaltungslehre u. arbeiseus. Graz/Wien/Köln 1975). Anklang bei Kritik u. Publikum fand H. in tete in einem Krankenhaus, brach jedoch bespäteren Jahren v. a. mit dem Prosaband Der reits 1954 diese Tätigkeit ab u. führte ein Mond im Apfelgarten (Graz/Wien/Köln 1980), unstetes Wanderleben, das ihn nach Paris, einem Mosaik aus vorwiegend autobiogr. Wien, Zürich u. später auch in die USA Erzählungen, die großteils bereits in den führte. In Frankfurt/M. besuchte er Vorlefünfziger u. sechziger Jahren entstanden sungen von Adorno u. Horkheimer. Dort arsind, ferner mit seinen zahlreichen, für eine beitete er ab 1965 auch als Angestellter in Grazer Tageszeitung verfassten zeitkrit. Epi- einem Verlag. Im ersten Teil der autobiogr. grammen (erstmals gesammelt in dem Band Trilogie Kapitulation. Aufgang einer Krankheit Es bleibt dabei. Graz 1977) u. schließlich mit (Mchn. 1977), Der zerbrochene Schlaf (Mchn. seinen humoristischen Gedichten (Aloys und 1978) u. Gebete in die Gottesferne (Mchn. 1979) Aloïse. Exhumierte Galgenfragmente aus dem legt sich H. als Jugendlichem den Satz in den Nachlaß von Christian Ringelbusch und Wilhelm Mund: »Vom Menschen alles sagen, ohne einen Menschen zu verletzen, im Gegenteil, um Morgennatz. Graz 1987). H. erhielt nur wenige Literaturpreise, dar- Verletzungen deutlich zu machen und um sie unter 1965 den Peter-Rosegger-Preis des in Freude zu verwandeln, das ist Kunst – der Landes Steiermark. Wesentlichen Anteil hatte Rest ist spießige Geschicklichkeit.« Die Trier an der Gründung des Grazer »Forum logie löst dies in der Wiedergabe seiner Krankengeschichte als Alkoholiker ein. Stadtpark« u. von dessen Zeitschrift »manu»Freude« kommt in dem eindrucksvollen skripte«, entfremdete sich jedoch schon nach Hymnus auf die Alkoholiker-Selbsthilfewenigen Jahren von dieser Künstler- u. gruppen zum Ausdruck. Eine scheinbar Schriftstellervereinigung. kunstlose Lust am Erzählen u. eigenwilligen Weitere Werke: Lyrik: Stationen im Wind. Gebrauch der Sprache ließen hier ein authent. Graz/Wien/Köln 1973. – Z. B. Therapeutische Werk der in den 1970er Jahren geschätzten Texte. Graz 1974. – Im Süden notiert. Graz 1976. – Zypern. Graz 1983. – Umkreisung der Nacht. Graz/ dokumentar. Autobiografik entstehen. Im Wien/Köln 1985. – Grenzgänger. Graz 1988. – Jahr dritten Teil der Autobiografie orientiert sich um Jahr. Graz 1991. – Inseln im Gegenlicht. Graz/ H. – obgleich von jegl. Konfessionalität losWien/Köln 1996. – Magische Räume. Graz/Wien/ gelöst – stark an der Selbstinszenierung des Köln 1999. – Das lyr. Werk. Hg. Georg Frena. Kla- aufschreienden Beters, wie sie durch von ihm
Heribert von Salurn
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bewunderte Vertreter des frz. »renouveau Ffm. 1987. – Norbert Schachtsiek-Freitag: E. H. In: catholique« (v. a. Léon Bloy) praktiziert wur- KLG. – Thomas Kraft: E. H. In: LGL. Walther Kummerow † / Torsten Voß de. Er verbindet diese mit sexuellen Konnotaten bzw. dem Scheitern des Eros während seines Kampfes gegen die Sucht u. schafft in Heribert von Salurn, bürgerlich: Anton dieser Rhetorik der Verzweiflung – mit einer Mayr, * 1637 Salurn, † 12.2.1700 Meran. – deutl. Affinität zum Mystischen – ein auPrediger aus dem Kapuzinerorden. thent. Dokument von Selbstanklage. Unter anderem beruft sich H. in seiner Trilogie auf Der Sohn eines Gastwirts wurde am Ernst Jünger u. die normann. Ordens- 21.6.1656 im Kapuzinerkloster zu Schärding schwester Juliana von Norwich als geistige am Inn als Student der Rhetorik eingekleidet. Er absolvierte dort seine Studien u. wirkte Wegweiser aus seinem Alkoholismus. Groteske Fantasie u. originelle Sprachko- danach als Lektor u. Prediger für seine Ormik als Mittel der Kritik bundesdt. Bürger- densbrüder. Die Klosterannalen rühmen ihn lichkeit hatten auch H.’ Romanerstling Die als sprachgewandt u. gelehrt. 1671 wurde H. homburgische Hochzeit (Mchn. 1967) Ansehen als Fastenprediger nach Klausen/Südtirol beverschafft. Daneben aber stehen mehrere rufen, 1674 u. 1675 in gleicher Funktion nach Werke, die zu Recht übergangen oder ener- Innsbruck, was als Anerkennung seiner Begisch verrissen wurden, weil H. in ihnen zu redsamkeit zu werten ist. Ein Fußleiden hinderte ihn später an der zynisch auf seine »spießige Geschicklichkeit« Kanzeltätigkeit; er musste sich mit dem Amt u. die Authentizität unkontrollierter Gefühle vertraute. Auch diese Verachtung einer des Beichtvaters begnügen, konnte sich jeselbstgerechten Bourgeoisie übernimmt H. in doch Publikationen widmen. Außer Anihrer beißend-spontanen u. oft unreflektiert dachtsbüchlein brachte er einen umfangreianmutenden Schärfe vom »renouveau catho- chen, jeweils dreibändigen Zyklus von Sonnu. Feiertagspredigten unter dem Titel Domilique«. Nur von gesellschaftl. u. psycholog., nicale (bzw. Festivale) Concionum Pastoralium nicht aber von literar. Bedeutung ist als Ge[...] für die Seelsorger auf das gantze Jahr (Salzb. meinschaftsprojekt die Skandalbiografie des 1693–1698) zum Druck (weitere Auflagen gescheiterten Verlegers Jörg Schröder, Siegpostum bis 1705). Diese Kanzelreden galten fried (Ffm. 1972), die H. nach dessen Tonschon im 19. Jh. als Fundgrube für den banderzählungen schrieb u. Mechanismen Sprachschatz der Barockzeit, für Sprichwort des Literaturbetriebs enthüllte, was beiden u. Redensart, u. liefern zudem je nach PreAutoren juristische Konsequenzen einbrachdigttermin überaus lebendige Brauchschilte. Sein letzter – historisch angelegter – Roderungen. man Der Wolfsmantel (Zürich 1983) wurde von Besondere Bedeutung kommt H. als »Erder Kritik verrissen. zähler auf der Kanzel« zu. Er flocht, wie Weitere Werke: Roman eines Bürgers. Mchn. zeitüblich, moralisierende Exempel aus mit1970. – Die Eiszeit. Mchn. 1970 (R.). – Notizen telalterl. Quellen (Caesarius von Heisterbach), während der Abschaffung des Denkens. Ffm. 1970. der Jesuitenliteratur (Bidermann) oder auch – Kinderbuch für kommende Revolutionäre. Mchn. von Autoren des Kapuzinerordens ein. Als 1970. Neuausg. u. d. T. Poppie Höllenarsch. Mchn. Ostermärlein verwendete er Tierfabeln u. 1979. – Phänomen Bruckner. Hörfragmente. Wetzlar 1995. – Meine Masken. Zum 70. Geburts- Schwänke, mit Vorliebe Geschichten von tag [...]. Dozwil 2002 (Notate, G.e, Skizzen). – Das streitbaren Eheleuten mit deutlich frauenInnere der Nacht. Geistlich-polit. Testament. feindl. Tendenz. Dabei sparte er nicht an Wortwitz u. deftigen Ausdrücken, um den zu Kreuzlingen 2002. Literatur: André Müller: Besuch bei dem al- diesem Termin erwünschten Lacherfolg bei koholkranken Schriftsteller E. H. In: Die Zeit, der Zuhörerschaft auszulösen. 19.6.1981. – Wolfgang Nitz: Die Kraft am Abgrund. Über die Beziehungen zwischen dem Leben u. dem Werk des Schriftstellers E. H. Diss. masch.
Literatur: Adolf Hueber: Über H. v. S. [...]. Innsbr. 1872. – Heinrich Schmidt: Pater H. O. M. C. (1637–1700) als Prediger. Diss. Innsbr. 1946. –
Herlicius
317 Predigtmärlein der Barockzeit. Hg. Elfriede MoserRath. Bln. 1964, S. 118–132 (Textauszüge), 438–443. – DBA. – Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, Nr. 130; Bd. 2, Wien 1987, S. 654. – Urs Herzog: Geistl. Wohlredenheit. Die kath. Barockpredigt. Mchn. 1991 (Register). – E. Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stgt. 1991 (Register). – Dies.: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Gött. 1994 (Register). Elfriede Moser-Rath † / Red.
Hering, Johanna ! Eschenbach, Olga Herklots, Carl Alexander, * 19.1.1759 Dulzen bei Eilau / Ostpreußen, † 23.3. 1830 Berlin. – Verfasser von Prologen, Sing- u. Lustspielen; Übersetzer. H., Sohn eines Gutsbesitzers, studierte Jura in Königsberg, wo er 1779 Referendar am preuß. Hofgericht wurde. 1790 ging er als Kammergerichtsreferendar nach Berlin. Seit 1780 nebenberufl. Autor, arbeitete er in Berlin als Theaterdichter für das Königliche Hoftheater. Seine etwa 30 Lustspiele u. Prologe sind Gebrauchstexte, die den Bedarf des Hofbühnenpublikums nach »Novitäten« befriedigten. Daneben verfasste H. vor allem Singspiele. Originalstücke wie Gesänge aus Mudarra (Breslau o. J. [um 1800]. Musik: Bernhard Anselm Weber), das Kampf u. Versöhnung zwischen Sarazenen u. Christen in Spanien darstellt, stehen neben Bearbeitungen frz. Vorlagen wie Die Lotto-Nummern (Bln. 1817. Musik: Nicolo Isouard). Hier fügen sich das Glück im Spiel u. in der Liebe zu trivialer Harmonie. Beide Varianten sollten als »vaterländische Früchte« (Herklots) das ausländ. Singspiel von der Hofbühne verdrängen. Unter H.’ Übersetzungen frz. u. ital. Opern ist Die verfängliche Wette (Bln. 1820) zu erwähnen, ein »komisches Singspiel in Versen« nach Mozarts Così fan tutte, für Eduard Devrient in der kom. Baritonpartie geschrieben. H.’ Version verharmlost die Liebesprobe: An die Stelle der beiden Offiziere, die verkleidet jeweils um die Verlobte des anderen werben, treten zwei Fremde. Weitere Werke: Operetten. Bln. 1793 (Singsp.Slg.). – Das Opfer der Treue. Bln. 1793 (Prolog). –
Der Proceß, oder Verlegenheit aus Irrthum. Bln. 1794 (Lustsp.). – Pygmalion, oder die Reformation der Liebe. Bln. 1794 (lyr. D.). – Alcidor. Bln. 1825 (Oper aus dem Frz. Musik: Gaspare Spontini). Literatur: Hamberger/Meusel 3 (1797), S. 240. – Karl Herloßsohn u. a.: K. A. H. In: Allg. TheaterLexikon 3 (1846), S. 223. – Brümmer 1 (1885), S. 350. – Adolf Oppenheim u. a.: K. A. H. In: Dt. Theater-Lexikon. Lpz. 1889, S. 378 f. Alain Michel / Red.
Herlicius, Herlitz, David, * 28.12.1557 Zeitz, † 15.8.1636 Stargard. – Astrologischer u. medizinischer Publizist. Nach Studien in Leipzig, Wittenberg (1579) u. Rostock (1580 immatrikuliert als Magister artium) lebte H. als Korrektor in Güstrow (1581); dann folgten ärztl. Tätigkeiten in Prenzlau (1582) u. Anklam (1583). Seit 1585 lehrte er an der Universität Greifswald Mathematik; bald dann Dr. med. (1596) u. Poeta laureatus, lebte H. als ›bestallter Physicus‹ in Stargard (1598), Lübeck (1606) u. seit 1614 wieder in Stargard. H. beteiligte sich mit einem Unterrichtswerk für Hebammen u. ›tugendsame Frauen‹ sozialer Ober- u. Mittelschichten (De cura gravidarum. Greifsw. 1597 u. ö.), einer »Ruhr«- (Speculatio [...] de Dysenteria) u. »Bocken«-Monografie für den »gemeinen Mann« (De variolis. Lübeck 1609) sowie mit Pestschriften (Pestilentz Ordnung. Stettin 1598. Consilium politico-physicum. Frankfurt/O. 1621 u. ö.) an der Produktion deutschsprachiger Vor- u. Frühformen medizinischer Aufklärung. Schwerpunkt seines publizistischen Wirkens bildeten populare Schriften astronomisch-astrolog. Inhalts; sie galten bestimmten ›Feuerzeichen‹, dem Regenbogen, Kometen von 1604, 1607 u. 1618 sowie weiteren Himmelserscheinungen, aber auch einem Erdbeben oder strittigen Fragen der Kalenderreform. H. beschäftigte sich mit Horoskopie (zu seinen Auftraggebern zählte 1628 Wallenstein) u. mehrte das Tagesschrifttum zur Türkenfrage (Astronomische Schreiben [...] Von deß [...] Türckischen Reichs Vntergang. Tl. 1/2. Lich 1597 [mit Eustachius Poyssel]. Tl. 3–5. Stettin 1597. Tl. 6. Stettin 1598. Tractatus Theologastronomistoricus. Greifsw. 1596). Eine Vielzahl seit den 1580er
Herlin
Jahren gedruckter, auch außerhalb des dt. Sprachbereichs verbreiteter ›Schreibkalender‹, ›Prognostiken‹ u. ›Praktiken‹ verraten in H. einen führenden Kalenderschriftsteller seiner Zeit. – H. figuriert in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994). Weitere Werke: Carmen [...] De nuptiis [...] Pauli Laurentii. Lpz. 1579. – De [...] causis Lachrymarum, et Risus. Greifsw. 1584. – Praesepe Christi, pueri [...] Carmine expositum. Greifsw. 1588. – Explicatio [...] Libri Primi Metamorphoseon Ovidii. Greifsw. 1591. – Disticha Latino-Germanica evangeliorum dominicalium. Stettin 1592. – De pluviis prodigiosis [...]. Von Blutregen. Greifsw. 1597. – Erklerung [...] Von Verenderung der Regimenten. Stettin 1599. – De distantiis locorum arithmetice supputandis. Greifsw. 1602. – Carmen [...] In obitum [...] Ernesti Ludovici. Greifsw. 1602. – Liber primus orationum. Stettin 1602. – Historische Sternglocke. Stettin 1603. – Nützliche Erklerung Von der Dreyzehen Monschein [...] ursprung. Stettin 1603. – De Fulmine. Stettin 1604. – Refutation des Bäbstischen Calenders. Stettin 1605. – Carminum variorum volumen primum. Stettin 1606. – Wiederlegung der [...] Schmekarten [...] von [...] Bernhardum Messingium. Stettin 1606. – Epistola [...] Von seiner Calendariographia. Stettin 1608. – De Iride Lunari. Lübeck 1609. – Discursus [...] Von den Parelijs oder fünff Sonnen. Stettin 1610. – Wiederholung Von den Pareliis oder dreyen Sonnen. Stettin 1615. – Prodromus [...]. Erster Vortrab [...] des Pommer. Histor. Calenders. Stettin 1617. – Preisgedicht in: T. Tasso: Aminta. Übers. v. Andreas Hilteprant. Ffm. 1624. – [...] Discurß Von Thewrung unnd [...] HungersNoth. Hbg. 1625. – Bericht v. dem [...] Erdbidem. Nürnb. 1627. Literatur: Johann Christoph Adelung: Gesch. der menschl. Narrheit. Tl. 4, Lpz. 1787, Nr. 49, S. 323–342. – Theodor Pyl: D. Herlitz. In: ADB. – Gottfried v. Bülow: Der Komet von 1618. In: Balt. Studien 35 (1885), S. 139–153. – Otto Heinemann: David Herlitz’ ›Fasti Pomeranici‹. In: Balt. Studien N. F. 7 (1903), S. 223–254. – Ders.: D. Herlitz’ ›Prodromus vel primum specimen ac declineatio Fastorum vel Calendarii historici Pomeraniae‹ (1617). In: Balt. Studien N. F. 9 (1905), S. 137–158. – H. Frederichs: Zur Lebensgesch. des D. H. In: Monatsbl. der Gesellsch. für Pommersche Gesch. u. Altertumskunde 44 (1930), S.162–166. – Walther Schönfeld: D. H. In: ebd., S. 142–153 (mit Schriftenverz.). – Klaus Matthäus: Zur Gesch. des Nürnberger Kalenderwesens. In: AGB 9 (1967), Sp.
318 965–1396, hier Sp. 1049–1055, 1353. – Thomas Kaufmann: 1600 – Deutungen der Jahrhundertwende im dt. Luthertum. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- u. Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jh. Hg. Manfred Jakubowski-Tiessen u. a. Gött. 1999, S. 73–128, hier S. 99–104. – Claudia Brosseder: Im Banne der Sterne. Caspar Peucer, Philipp Melanchthon u. a. Wittenberger Astrologen. Bln. 2004, s. v. Herlitz. – DBE. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, 2006, S. 850–855. – Marion Gindhart: Das Kometenjahr 1618. Antikes u. zeitgenöss. Wissen in der frühneuzeitl. Kometenlit. des deutschsprachigen Raumes. Wiesb. 2006, S. 130–138. Joachim Telle
Herlin, Hans, * 24.12.1925 Stadtlohn/ Westfalen, † 20.12.1994 Autun/Frankreich. – Erzähler, Übersetzer, Journalist. H., der nach Jahren in München u. Zürich zuletzt in Burgund lebte, war bei dt. u. österr. Verlagen in Managerpositionen sowie bei der Illustrierten »Stern« als Serienautor tätig u. wurde nach Erfolgen seiner ersten Bücher (Ernst Udet – eines Mannes Leben und die Geschichte seiner Zeit. Hbg. 1958. Verdammter Atlantik. Hbg. 1959) freier Schriftsteller. Obwohl immer wieder auf das journalistische Genre des Tatsachenberichts zurückgreifend (Der letzte Mann von der Doggerbank. Mchn. 1979. Die Sturmflut. Mchn. 1980), ist H.s eigentl. Gebiet die Erzählung mit zeitgeschichtl. Hintergrund. Verdammter Atlantik, ein Buch über die Schicksale dt. U-Boot-Fahrer, wurde mehrfach aufgelegt. H. widmete sich auch erfolgversprechenden Thrillerstoffen. Die Romane Grishin oder Das Lächeln Lenins (Bergisch Gladbach 1985) u. Sibirien-Transfer (ebd. 1988) behandeln Ereignisse aus der russ. Revolution 1917–1920, ein Attentat auf Lenin u. die Suche nach dem Goldschatz der Zarenfamilie. H. war einer der wenigen neueren dt. Autoren, von denen so gut wie alle Romane auch auf dem amerikan. Markt erschienen. Er selbst übersetzte Bruce Marshall, Conan Doyle u. andere. Weitere Werke: Funkreporter Piet. Recklinghausen 1954 (Jugendbuch). – Kain, wo ist dein Bruder Abel? Die Flieger v. Hiroshima u. Nagasaki. Hbg. 1960. – Kein gelobtes Land. Die Irrfahrt der ›Saint Louis‹. Hbg. 1961. – Die Welt des Über-
319 sinnlichen. Mchn. 1965. – Freunde. Mchn. 1974 (R.). – Feuer im Gras. Mchn. 1976 (R.). – Tag- u. Nachtgesch.n. Mchn. 1978 (E.). – Die Geliebte. Mchn. 1980 (R.). – Satan ist auf Gottes Seite. Düsseld. 1983 (R., verfilmt). – Der letzte Frühling in Paris. Düsseld. 1983 (R.). – Die Belmonts. Bergisch Gladbach 1992 (R., als TV-Zweiteiler verfilmt). – Das Erbe. Mchn. 1996 (R.). Hermann Schreiber
Herloßsohn, Karl (Georg Reginald); eigentl.: Karl Borromeus Sebastian Herloß, auch: Heinrich Clauren, Eduard Forstmann, Susanna Rümpler, L. Schäfer, * 1.9. 1802 Prag, † 10.12.1849 Leipzig; Grabstätte: ebd., Alter Johannisfriedhof (mit dem falschen Geburtsjahr 1804). – Erzähler, Lyriker, Publizist, Herausgeber, Übersetzer. Als zweitjüngstes Kind des böhm. Schneiders Johann Anton Herloß u. seiner Frau Anna, geb. Kopetzkin, wuchs H. in ärml. Verhältnissen in Prag auf. Seine Ausbildung auf der Pfarrschule St. Niklas u. ab 1813 am Kleinseitner Gymnasium erlaubte ihm 1820 den Besuch der Prager Universität, von der er 1821 an die Universität Wien wechselte. Ohne Anschluss an die dortige literar. Szene gefunden zu haben, kehrte H. 1822 nach Prag zurück, studierte Jura (ohne Abschluss) u. erhielt Ende 1823 eine Hauslehrerstelle in Dejwitz bei Prag. Um der Enge der literar. Szene Prags u. der österr. Zensur zu entkommen, floh H. Ende 1825 nach Leipzig, wo er bis an sein Lebensende wirkte. H. etablierte sich rasch als Beiträger u. redaktioneller Mitarbeiter verschiedener Periodika (»Abend-Zeitung«, »Der Gesellschafter«, Brockhaus’ »Literarisches Conversations-Blatt«) sowie als enorm produktiver Erzähler, Lyriker u. Übersetzer (bes. aus dem Serbischen). Sein Werk der späten 1820er Jahre umfasst v. a. histor. Erzählungen im Modestil des Walter Scott (Die Fünfhundert vom Blanik. Lpz. 1826. Der Montenegriner-Häuptling. Lpz. 1828) u. Literatursatiren, mit denen H. in die Polemik gegen Carl Heun einstimmte (Emmy oder der Mensch denkt, Gott lenkt. Lpz. 1827. Der Luftballon oder die Hundstage in Schilda. Lpz. 1827). Seine Hauff u. E. T. A. Hoffmann verpflichteten Löschpapiere aus dem
Herloßsohn
Tagebuch eines reisenden Teufels (Lpz. 1827), deren zweiter Teil (auch u. d. T. Mixturen) wegen der Zensur in Hamburg erschien, enthalten (vor Büchner!) eine visionäre Vergegenwärtigung von Woyzecks Hinrichtung. H.s liberal-krit. Haltung zeigt sich nicht nur in seinen Gesellschaftssatiren Vier Farben (Lpz. 1828) u. Hahn und Henne (Lpz. 1830), sondern auch in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Der Komet« (1830–1848) u. in seinem »politisch-satyrischen Taschenbuch« Mephistopheles (Lpz. 1833). Verschafften ihm diese Schriften Ansehen u. Anfeindungen in literar. Kreisen, so erreichte H. eine breite Leserschaft durch die »historisch-romantischen Gemälde« Der Venetianer (Lpz. 1829), Der Ungar (Lpz. 1832) u. die Wallenstein-Trilogie (Wallensteins erste Liebe. 3 Bde., Hann. 1844; Die Tochter des Piccolomini. 3 Bde., Altenburg 1846; Die Mörder Wallensteins. 3 Bde., Lpz. 1847). Von H.s umtriebiger Produktivität, die seine Gesundheit früh ruinierte, zeugen die Mitherausgeberschaft am DamenConversations-Lexikon (10 Bde., Lpz. 1834–38) u. am Allgemeinen Theaterlexikon (7 Bde., Al2 tenburg 1839–43. 1846) sowie die Mitwirkung an dem mehrfach aufgelegten Stahlstichalbum Wanderungen durch das Riesengebirge (zuerst Lpz. 1840). Über seinen Tod hinaus wirkte H., dessen Schriften zuletzt in den 1860er Jahren versammelt wurden, bes. durch einzelne im Buch der Liebe (Lpz. 1842) enthaltene Gedichte, die als vertonte Lieder bis um 1900 populär waren. Werke: Ges. Schr.en. 8 Bde. u. N. F. mit 4 Bdn. Lpz. 1836/37. – Zeit- u. Lebensbilder. Novellen, Humoresken, Ironien u. Reflexionen. 6 Bde., Lpz. 1839–44. – Kleine Erzählungen, Novellen u. humorist. Aufsätze. 4 Bde., Lpz. 1844. – Buch der Lieder. 2 Bde., Lpz. 1848 u. 1851 (u. ö.). – Ausgew. Romane. 7 Bde., Grimma/Lpz. 1851/52. – Histor. Romane. 16 Bde. in 8 Abt.en. Prag 1863–65. – Ges. Schr.en. Erste Gesammtausg. 12 Bde., Prag 1865–68. Literatur: Bibliografien: Wurzbach 8 (1862), 370–377. – Goedeke 10, 450–466. – Biografie: K. H.: Ein Gespräch mit F. L. Z. Werner. In: Der Gesellschafter 1826, Nr. 27–30, S. 134 f. – K. H.: Meine Auswanderung aus Österreich. In: Die Grenzboten 4 (1845), Tl. 3, S. 49–67. – Paul Aloys Klar (Moldawsky): K. H. In: Libussa. Jb. für 1849, S. 414–484. – Julius Reinwarth: K. H.s Leben. In: Dt. Arbeit 7
Hermann (1907/08), S. 346–363. – Dieter Sudhoff: C. H. (1802–1849). In: Corvey-Journal 2 (1990), H. 4, S. 11–20. – Literarhistorisches: Ursula Fritzen-Wolf: Trivialisierung des Erzählens: Claurens ›Mimili‹ als Epochenphänomen. Ffm. u. a. 1977. – Dieter Martin: Woyzeck vor Büchner. K. H.s unbekannte poet. Verarbeitung des histor. Falls. In: JbDSG 44 (2000), S. 118–135. – Michael Niehaus: Autoren unter sich. Walter Scott, Willibald Alexis, Wilhelm Hauff u. a. in einer literar. Affäre. Heidelb. 2002. – Hélène Leclerc: C. H.s ›Komet‹ in Leipzig (1830–1848). Eine Ztschr. der Vermittlung zwischen Böhmen u. Dtschld. In: Brücken N. F. 16 (2008), S. 73–96. Dieter Martin
Bruder Hermann, * um 1250 (?), † nach 1300 (?). – Verfasser einer Verslegende zum Leben der luxemburgischen Grafentochter Yolande von Vianden (1231–1283) Der Dominikaner »bru8 der Hereman« (V. 395) kannte Yolande ausweislich seiner Legende persönlich. Ob es sich bei H. um den seit 1270 als Dominikaner, 1275 Priester u. später als Pfarrer in Sterpenich (Luxemburg) sowie einem Nonnenkloster (Mariental?) nachweisbaren Hermann von Veldenz aus dem Grafengeschlecht Veldenz bei Bernkastel handelt, ist allerdings unklar. H.s kurz nach dem Tod der Yolande entstandene Verslegende skizziert in 5963 Versen relativ faktengetreu das Leben der Grafentochter. Gegen den erklärten Widerstand ihrer Mutter Margarete von Courtenay († 1270) ging Yolande in das Kloster Mariental u. strebte fortan unter dem Einfluss ihres Mentors Walther von Meisenburg nach einem gottgefälligen Leben. In H.s Darstellung fließen neben hagiografischen auch höf. Stilelemente u. Formeln der höf. Klassik ein. Anklänge an Verse Walthers von der Vogelweide u. Konrads von Würzburg deuten auf eine Vertrautheit des Verfassers mit den Werken der höf. Literatur. Bis in die jüngste Vergangenheit war die Yolande nur durch eine neuzeitl. Abschrift des in Vergessenheit geratenen Codex Mariendalensis bekannt. Diese augenscheinlich einzige erhaltene mittelalterl. Handschrift hatte der belg. Jesuit Alexander Wiltheim 1655 im Kloster Mariental eingesehen u. eine Abschrift angefertigt. Die Abschrift diente ihm
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als Grundlage für seine relativ freie lat. Übertragung, die 1674 unter dem Titel Vita venerabilis Yolandae [...] erschien. Die lat. Übertragung u. deren zahlreiche Übersetzungen u. a. ins Deutsche (1691) u. ins Französische (1736) erschlossen die Legende schon im 17./18. Jh. einem weiteren Publikum. Wiltheims Abschrift ist mittlerweile verschollen, aber der Codex Mariendalensis konnte jüngst in Ansemburg/Luxemburg (Bibliothèque Nationale de Luxembourg, Département de la Réserve précieuse, Ms. 860) wiederentdeckt werden, womit sich eine neue Forschungslage ergibt. Im Rahmen der geplanten Neuausgabe sind grundlegende Erkenntnisse zu Textgestalt, Wirkung u. Überlieferung des Werks zu erwarten. Ausgaben: B. H.s Leben der Gräfin Iolande v. Vianden. Hg. John Meier. Breslau 1889. – Das ›Yolanda‹-Epos. Bruder H.s Dichtung im Urtext mit einer metr. Übers. u. einer histor.-literar. Einf. Hg. Pierre Grégoire. Luxemburg 1979 (ohne Kenntnis des Ansemburg-Codex). – Yolanda v. Vianden. Moselfränk. Text aus dem späten 13. Jh. mit Übertragung. Hg. Gerald Newton u. Franz Lösel. Luxemburg 1999 (ohne Kenntnis des AnsemburgCodex). – Die zukünftig maßgebl. Neuausg. entsteht derzeit. Literatur: Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973, S. 243–245. – Wolfgang Jungandreas: B. H. In: VL (Lit.) u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Cathérine Hollerich: Fiktion u. Realität in Bruder H.s ›Iolande v. Vianden‹. Die literar. Verarbeitung histor. Wirklichkeit in der ›Iolande‹-Vita unter dem Aspekt der Autorenintention u. der Publikumserwartung. In: Hémecht 51 (1999), S. 5–71. – Guy Berg: Codex Mariendalensis. Zur Wiederauffindung, Erschließung u. Ed. In: Bulletin Linguistique et Ethnologie 30 (2000), S. 7–26. – Claudine Moulin: Bruder H.s ›Yolanda v. Vianden‹. Zur Erschließung u. textgetreuen Ed. In: Bulletin Linguistique et Ethnologie 30 (2000), S. 39–45. – Ruth Christmann: Untersuchungen zur Sprachgesch. Luxemburgs: Bruder H.s ›Yolanda v. Vianden‹. In: Man mohte schrîven wal ein buch. Ergebnisse des Yolanda-Kolloquiums. Luxemburg 2001, S. 26–38. – Kurt Gärtner: Bruder H.s ›Yolanda v. Vianden‹: Überlieferung u. Ed. In: ebd., S. 39–51. – http:// gaer27.uni-trier.de/CLL/Yolanda/Yvorspann.htm. Jürgen Wolf
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Hermann von Fritzlar. – Auftraggeber zweier religiöser Werke des 14. Jh.
Hermann von Reichenau Ausgaben: Blume: Wilhelm Preger: Gesch. der dt. Mystik im MA. Bd. 2, Lpz. 1881, S. 426–434. – Heiligenleben: Franz Pfeiffer: Dt. Mystiker des 14. Jh. Bd. 1, Lpz. 1845. Neudr. Aalen 1962, S. 3–285.
H. war wohl begüterter Laie aus Fritzlar in Hessen u. nennt sich ein »heimlicher GotLiteratur: Friedrich Wilhelm: Dt. Legenden u. tesfreund«, der offenbar in enger geistiger Legendare. Lpz. 1907, S. 146–174. – Wilfried WerBeziehung zu den sich mit Fragen der Mystik ner u. Kurt Ruh: H. v. F. In: VL. – Werner Williamsbeschäftigenden Franziskanern u. Domini- Krapp: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. kanern der Generation nach Meister Eckhart Tüb. 1986, bes. S. 21 f. – K. Ruh: ›Die Blume der Schauung‹. Zu Überlieferung u. Textgesch. eines stand. myst. Traktates. In: FS Gilbert A. R. de Smet. LeuNäheres zu seiner Person lässt sich nicht ven/Amersfoort 1986, S. 401–409. – Bettina Wagermitteln. Noch vor 1343 gab er das scholas- ner: Die Darmstädter Hs. 1886. Ein dt. Prosaletisch geprägte Werk Blume der Schauung in gendar des späten MA. In: Bibl. u. Wiss. 21 (1987), Auftrag. Während sich dessen erster Teil noch S. 1–37. – Sibylle Jefferis: Die Überlieferung u. mit katechetischen u. asketischen Grundfra- Rezeption des ›Heiligenlebens‹ H.s v. F., eingen befasst, werden im zweiten Teil an- schließlich des niederdt. ›Alexius‹. In: JOWG 10 (1998), S. 191–209. Werner Williams-Krapp / Red. spruchsvolle theolog. Themen erörtert: das Wesen Gottes, die hypostat. Union, die Frage nach dem Vorrang der Vernunft oder des Hermann von Reichenau, auch: HeriWillens. Im dritten Teil wird die Schauung in mannus contractus, H. der Lahme, * 18.7. den Mittelpunkt gerückt. Die »vita contem- 1013, † 24.9.1054 Reichenau. – Matheplativa« erhält den Vorzug vor der »vita ac- matiker, Geschichtsschreiber, Dichter, tiva«, Aspekte der myst. Entrückung werden Komponist. angesprochen. Der vierte Teil beschäftigt sich v. a. mit den Lehren Eckharts (etwa dem Ver- Die Kenntnisse über H.s Leben gehen auf hältnis des menschl. Geistes zur Gottheit), verstreute eigene Notizen seiner Chronik die, da Eckhart als Häretiker exkommuni- zurück u. auf die Vita, die sein Schüler Bertziert wurde, z.T. als die des Thomas von hold deren Fortsetzung voranstellte. H. wurde als Sohn des Grafen Wolfrad von Aquin ausgegeben werden. Das zweite von H. in Auftrag gegebene, nur Altshausen im Saulgau geboren. Über die väterl. Linie war er, wie er selbst mehrfach in einer Handschrift überlieferte Werk ist ein andeutet, mit dem hl. Ulrich von Augsburg umfangreiches Legendar, das zwischen 1343 verwandt. Seiner Mutter Hiltrud († 9.1.1052) u. 1349 entstand u. aus einer Vielzahl von setzte H. mit einem pietätvollen Epitaph, das Quellen zusammengestellt wurde. Neben er in seine Chronik einrückte, ein würdiges gewöhnl. Heiligenlegenden, die bisweilen Denkmal. H. war von klein auf gelähmt. durch Erörterungen myst. Fragen bereichert Unter Schmerzen musste er in einem Sessel werden, stehen mystisch geprägte Predigten. getragen werden, u. selbst das Sprechen beNamentlich genannte Autoren sind Hartwig reitete ihm große Mühe. Am 15.9.1020, gevon Erfurt, Gerhard von Sterngassen, Her- rade siebenjährig, wurde er »den Wissenmann von Schildesche u. Eckhart Rube. Das schaften übergeben«, d.h. der Schule der BeLegendar ist nach dem Kirchenjahr geordnet. nediktinerabtei Reichenau. Hier hatte sich Charakteristisch für die redaktionelle Arbeit bereits 1006 Rupert, ein Oheim von H.s des Kompilators ist die Kürzung der Vorla- Mutter, als Opponent des Reformabtes Immo gen. Es scheint, als habe sich H. ein Medita- literarisch hervorgetan. Später trat auch H.s tions- bzw. Erbauungsbuch zusammenstel- acht Jahre jüngerer Bruder Werner dem Reilen lassen, welches Texte zu den wichtigsten chenauer Konvent bei. Abt der Reichenau war Herren- u. Heiligenfesten enthält u. zur als Nachfolger des 1008 abgesetzten Immo Lektüre am entsprechenden Festtag be- bis zum 7.6.1048 Bern (Berno), der nach dem stimmt war. H.s Sammelwerk ist eines der missglückten Versuch des tyrannischen Immo die Reform nach lothring. u. cluniaersten dt. Prosalegendare überhaupt.
Hermann von Reichenau
zens. Beispiel mit konzilianteren Mitteln auf der Reichenau durchführte. Unter seinem Abbatiat kamen Wissenschaft, Literatur, Musik u. Malerei zu großer Blüte. Berns eigenes literar. Werk lässt sich in vieler Hinsicht dem H.s vergleichen, insbes. mit seinen theoret. u. prakt. Schriften zur Musik u. Komputistik (Kirchenzeitrechnung). Von Bern erfuhr H. entscheidende Anregung u. Förderung. Trotz seinen schweren Behinderungen wurde er zum Lehrer der Klosterschule bestimmt u. 1043 zum Priester geweiht. Von der Fülle seines Wissens u. von seiner Liebenswürdigkeit als Lehrer erzählt die Vita Bertholds. Die knappe Nüchternheit von H.s eigenen Schriften lässt dagegen, gleichsam telegrammstilartig einem kurzen, mühsalbeladenen Leben abgetrotzt, kaum etwas von der Eigenart seiner Persönlichkeit spüren. Der Überlieferungsbefund von H.s Werk ist bei mehreren seiner Schriften recht verwickelt. Erst nachdem der neueren historiografischen u. mathematikgeschichtl. Forschung die Klärung wesentl. Fragen gelungen ist, wurde eine Wertung der histor. Leistung H.s möglich. Aus dem Zentrum seiner mathemat. Interessen heraus erschließen sich die meisten Bereiche von H.s wissenschaftl. Werk. Sein Traktat Qualiter multiplicationes fiant in abaco zeigt ihn auf der Höhe des Kenntnisstandes seiner Zeit, was den Umgang mit dem im röm. Altertum gebräuchl., im 10. Jh. wiederentdeckten u. gewandelten Abacus als Hilfsmittel der operativen Arithmetik angeht. Zur Markierung der Rechensteine werden bei H. noch die griech. Zahlzeichen, nicht die erst später im 11. Jh. eingeführten Ghubar-Ziffern (eine Spielart der arab. Ziffern) gebraucht. H.s erst nachmals De conflictu rithmimachiae oder ähnlich bezeichnete Schrift ist nach neuester Forschung als Stellungnahme zu einem Rundschreiben zu verstehen, in welchem Asilo von Würzburg um 1030 das von ihm erfundene, sog. mittelalterl. Zahlenkampfspiel vorgestellt hatte. H. verbesserte die Spielanweisung u. machte Vorschläge zur Weiterentwicklung des Spiels. Besonders diese Schrift zeigt ihn vollkommen vertraut mit der Arithmetik des Boethius.
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Auf dieser Voraussetzung baut auch seine musiktheoret. Arbeit über Tonarten u. Tonabstände auf. Sie enthält u. a. die Erfindung einer auf der Kennzeichnung der Intervalle beruhenden Notenschrift, die sich freilich neben der praktischeren, zeitgleichen des Guido von Arezzo nicht durchzusetzen vermochte. Liturgische Dichtungen u. Kompositionen, darunter die berühmte Mariensequenz Ave praeclara maris stella, runden nach der prakt. Seite hin das musikal. Werk H.s ab. – Die bedeutendsten Leistungen auf mathemat. Gebiet gelangen ihm jedoch im Bereich der astronom. Zeitmessung. Seine beiden Abhandlungen über das Astrolabium (De utilitatibus astrolabii, De mensura astrolabii) zeigen nicht nur H.s über seinen Vorgänger Gerbert von Reims hinausführende Fähigkeit zur Konstruktion u. prakt. Nutzung des Astrolabs für die Zeitmessung. Noch darüber hinaus entwickelte er mit Hilfe dieses Instruments eine Methode der Berechnung des Erdumfangs u. erschloss so selbstständig u. innovativ einen neuen Anwendungsbereich für das Astrolab. Zusammengenommen wurden die beiden Astrolabtraktate zur Grundlage für die astronomische Zeitmessung bis ins 14. Jh. Noch nicht ediert ist eine kleine Schrift Prognostica de defectu solis et lunae. Die Chronik H.s, durch welche er v. a. in der Geschichtsforschung berühmt wurde, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seinen mathematisch-chronograf. Interessen. Denn seine astronomisch-komputist. Studien finden in der Anlage der Chronik ihre unmittelbare Nutzanwendung. Als größte Leistung der Chronik gilt deren prinzipielle Zuordnung aller histor. Ereignisse zu je einem bestimmten Jahr seit Christi Geburt, während die ältere mittelalterl. Geschichtsschreibung nur grob nach größeren Zeitabschnitten, etwa der Regierungszeit eines Herrschers, datiert hatte. Besonders für die schlecht dokumentierte Zeit des 6.-8. Jh. erzielen H.s Berechnungen der Zeitansätze eine Genauigkeit, die bewundernswert ist. Im Übrigen präsentiert H.s Chronik nur bedingt einen universalhistor. Anspruch. Denn sie beginnt erst mit Christi Geburt u. gibt vom Ende der Karolingerzeit an auch den geografisch universalen Zuschnitt zugunsten ei-
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Hermann von Sachsenheim
ner Konzentration auf das ostfränkisch-dt. H. der Lahme. Gelehrter u. Dichter (1013–1054). Königreich auf. Der dt. König u. das »reg- 2., erw. Aufl. Heidelb. 2005. Ernst Hellgardt num« sind ihr wichtiger als ein universales »imperium« u. die Kaiserideologie. Auch Hermann von Sachsenheim, * zwischen Züge eines dt. Nationalbewusstseins werden 1366 u. 1369, † 5.6.1458 Stuttgart; greifbar, mit dem H. die Deutschen von den Grabstätte: ebd., Stiftskirche. – Jurist u. Italienern, den Griechen u. den Sarazenen Verfasser von acht Versdichtungen (u. a. Unteritaliens, den Slawen, Ungarn u. WestMinnereden). franken abgrenzt. Die erwähnten Einflechtungen familiengeschichtl. Daten der eigenen H. entstammte einem seit 1277 kontinuierSippe bilden ebenfalls eine Besonderheit, in lich urkundlich erwähnten edelfreien Ritterder sich weniger der private Familiensinn des geschlecht u. diente den Württembergischen Chronisten als seine typisch frühmittelalterl., Grafen als Württembergischer Rat, Vogt von Neuenburg u. Eichelberg bei Weinsberg u. als aristokratische Mentalität dokumentiert. Ausgaben: Gesamtausg. in: PL 143, Sp. 55–262 Lehensrichter. Verheiratet war er mit der (veraltet). – Qualiter multiplicationes: Hg. Peter Straßburger Ratsherrentochter Agnes Mönch Treutlein. In: Bulletino di bibliographia e di storia († 1431) u. mit Anna von Straubenhardt delle scienze matematiche e fisiche 10 (1877), († 1459); Kinder sind Georg u. Hermann S. 643–647. – De conflictu rithmimachiae: In: Arno (1466–1508 Landhofmeister); einen dritten Borst: Das Mittelalterl. Zahlenkampfspiel. Hei- Sohn weist Heinzer als Mönch im Kloster delb. 1986, S. 335–339. – De mensura astrolabii: Hg. Hirsau nach; Martin (S.12) erwähnt zudem J. Drecker. In: Isis 16 (1932), S. 203–212. – Musica eine Tochter, eine »als jungfrau verstorbene Hermanni contracti: Hg. Leonard Ellinwood. RoAgnes«. H. war ein brillanter Jurist (s. 2 chester 1952. – Die Intervallnotation des Hermannus Contractus in Gradualien des 11. und 12. Loersch) u. Literaturkenner (s. u.), der im AlJh. Das Basler Fragment N I 6 Nr. 63 u. der En- ter acht Versdichtungen verfasste; über den gelberger Codex 1003. Hg. Ann-Katrin Heimer u. Vorgang der Schreibens äußert er sich mehrPeter Cahn. In: De musica et cantu. Studien zur fach (s. Huschenbett 2007 unter ›abentür‹, Gesch. der Kirchenmusik u. der Oper. Helmut ›Aubentür‹, ›Autor‹, ›dichten‹, ›dichter‹, Hucke zum 60. Geburtstag hg. v. Peter Cahn u. a. ›frowe min‹). Hildesh. u. a. 1993, S. 243–256. – Antidotum vitae: Die Unminne (1 Handschrift, s. Brandis Nr. Die Sequenzen Hermanns des Lahmen. Hg. Bettina 295), nach 1444 u. ohne Namensnennung, Klein-Ilbeck [Mikrofiche-Ausg.] 1998. – Abbrevatio erörtert in 63 Titurel-Strophen die Minne aus compoti cuiusdam idiotae: In: Nadja Germann: De der Perspektive ihres Gegenteils u. verweist temporum ratione. Quadrivium u. Gotteserkenntnis am Beispiel Abbos v. Fleury u. H.s v. R. Leiden auf ihre verheerenden Folgen in allen gesellu. a. 2006, S. 314–340. – De utilitatibus astrolabii: In: schaftl. u. ›staatlichen‹ Bereichen. – Die Nicolai Bubnov: Gerberti postea Silvestri II. Papae Grasmetze (8 Handschriften, s. Brandis Nr. opera mathematica 2. Bln. 1899. Neudr. 1963, 246), vor 1453, greift die Form der PastouS. 109–147. – Chronica: MGH SS 5, S. 74–133. – relle auf, wobei der adlige Galan als altes Bertholds Vita: Ebd., S. 267–269. – Historia Sanctae Ritter-›Ich‹ auftritt. Der Titel stammt nicht Afrae martyris Augustensis: Einf. u. Ed. v. David Hiley. von H., doch scheint das Werk unter diesem Ottawa 2004. Titel rasch bekannt geworden zu sein, wesLiteratur: Hans Oesch: Berno u. H. v. R. als halb H. es in der Mörin (V. 123) als AutorMusiktheoretiker. Bern 1961. – Werner Bergmann: kennung u. zugleich als Verweis auf WittenDer Traktat ›De mensura astrolabii‹ des H. v. R. In: wilers Ring verwenden kann (s. Huschenbett Francia 8 (1980), S. 65–103. – Franz-Josef Schmale. 2007, S. 123). – Der Spiegel (5 Handschriften, H. v. R. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – s. Brandis Nr. 465), wohl 1452, folgt dem W. Bergmann: Innovationen im Quadrivium des 10. u. 11. Jh. Wiesb./Stgt. 1985. – Arno Borst: Das Schema der Minnereden. Frau Treue bringt mittelalterl. Zahlenkampfspiel. Heidelb. 1986, bes. das ›Ich‹ ins Reich der Abstraktionen als ›leS. 81–97. – Michael Walter: Kirchenmusik u. Zeit- benden‹ Beweis der Existenz ihrer Tugend, rechnung im MA. In: Mediävistik 5 (1992), doch wird das ›Ich‹ von einem Spiegelbild S. 169–186. – Walter Berschin u. Martin Hellmann: verführt, was zur Anklage der königl. Ab-
Hermann von Sachsenheim
straktionen in einem Minneprozess führt, dessen Urteil Kaiserin Frau Abenteuer verkünden soll, die jedoch dazu nicht imstande ist, weil ihr ›Name‹ sie verpflichtet, allem Geschehen seinen Lauf zu lassen: »darumb so ist nit fremd, / ob ich uch all gewer« (VV. 2260 f.); wieder in der Mörin (s. Huschenbett 2007, S. 12 f.). Die Mörin (7 Handschriften, 5 Drucke zwischen 1512 u. ca. 1570, s. Schlossers Ausg. S.15–28, Brandis Nr. 466), beendet 1453 zwischen dem 20. Mai u. 28. Okt., das bedeutendste Werk, dessen reiche Überlieferung den Autor v. a. bekannt gemacht hat, wie die aufwändigen ersten drei Drucke im Folioformat sowie spätere Verweise bei Hans Sachs, im Fastnachtspiel Das hoffgesind der Veneris, in der Zimmerischen Chronik u. bei Johann Fischart zeigen (s. Huschenbett 1962, S. 134 f.). Wieder wird ein Minneprozess geschildert, doch jetzt über die präzise Frage, ob der – nun sehr alte – Ritter in jungen Jahren gegenüber der Königin Venus-Minn einen Eid geleistet habe. Er verneint den Schwur. Das Thema ›Eid‹ wird H. wohl der Minnelehre des Johann von Konstanz entnommen haben. Frau Venus-Minn strengt gegen das alte Ritter-Ich einen Prozess auf Leben u. Tod an. Aus dem Rahmen fallen Prozessort (in der Nähe von Bagdad) u. Prozesspersonal: Anwältin der Königin ist die ›schwarze‹ Mörin; beide sind islamischen Glaubens wie die Leute am Prozessort; Christen sind dagegen das angeklagte alte Ritter-›Ich‹ u. dessen Verteidiger, der ›getreue Eckhart‹ der Heldensage (s. Huschenbett 2007 unter Echkart 2). Oberster Richter ist ›König Tannhäuser‹, Gemahl der Königin u. ihr willfährig. H. greift hier auf eine bereits existierende Tannhäuser-Sage zurück (s. Huschenbett 2007, ›Tanhuser‹, ›TanhuserTüfel‹ u. ›‹Venus berg‹). Das Gerichtsverfahren erstreckt sich über fünf Tage, wobei die Tageseinteilung (s. Huschenbett 2007, S. 272 f.) von Bedeutung ist, weil in einem Prozess über Leben u. Tod nur nüchtern, d.h. nur vormittags verhandelt werden darf. Die verbleibenden Tages- u. Nachtzeiten bieten Gelegenheiten zu zahlreichen Gelagen u. Diskussionen – der eigentl. Reiz der Mörin – von ständisch ganz unterschiedl. Vertretern
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aller drei Buchreligionen. Wachinger sieht sogar »vor Luthers Tischreden ... Konversation als von unmittelbaren Zwecken und thematischen Bindungen freies Gespräch in gesellschaftlichem Rahmen ... nirgends so breit entfaltet wie in der ›Mörin‹« (S.139). H. lässt Vertreter der drei Religionen in ›freien Gesprächen‹ auch über zentrale Glaubensfragen der Christen (z.B. Jungfrauengeburt, Trinitätslehre, Zweinaturenlehre, Reformatoren wie Hus ), der Muslime u. der Juden diskutieren u. nimmt damit im Ansatz Aspekte von Lessings Nathan der Weise vorweg; H. schreibt seinen ›Prozess-Roman‹ zu der Zeit, als die Türken im Begriff sind, Konstantinopel zu erobern (29.5.1453, s. Huschenbett 2007, S. 116, ›gesprech‹, u. S. 285 f., ›Unterredungen‹). Der Jurist Hugo Loersch erkannte schon 1871 an der Darstellung der Prozessführung in H. den ausgezeichneten Juristen u. lobte »die fast peinliche Genauigkeit, mit der das gesamte Verfahren in allen seinen Abschnitten geschildert wird ... Wir finden ... den Brauch streng eingehalten, der das deutsche Verfahren seit ältester Zeit umgibt« (S. 63; s. Huschenbett 2007, S. 8 u. unter ›gericht‹). Das Schleiertüchlein (3 Handschriften, s. Brandis Nr. 226), nach 1453, schildert ein Minnepaar, das sich durch die Pilgerfahrt des jungen Adligen zum Ritterschlag in der Grabeskirche von Jerusalem die gesellschaftl. Legitimation verschaffen will. Doch stirbt das adlige Fräulein (»von rittes art geborn«, V. 1771) während der Abwesenheit des Helden, der die Liebes- u. Pilgergeschichte, die wohl nicht ohne Kenntnis der antiken Fabel von Pyramus u. Thisbe geschrieben wurde, klagend dem alten Ritter-Ich erzählt (s. Huschenbett 2007, ›duchlin‹). – Der Goldene Tempel (2 Handschriften, s. Schlossers Ausg. S. 18 f.), verfasst 1455 (VV. 1291–1295), ein kosm. ›Wort-Gebäude‹ als Marienpreis (VV. 210 f.), der Mariens Anteil an der Trinität in schwerem geblümten Stil verherrlicht, angeregt wohl von der Graltempel-Beschreibung im Jüngeren Titurel. – Jesus der Arzt (1 Handschrift): eine 20-strophige Alters- u. Sündenklage des Autors am Lebensende. – Grabschrift (s. Huschenbett 1962, S. 21, Anm. 20).
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H. widmet Mörin (VV. 6042–6045) u. Unminne (V. 337 bzw. V. 281) der Erzherzogin Mechthild, Tochter Ludwigs III., des Pfalzgrafen und Kurfürsten von Bayern, in erster Ehe mit Graf Ludwig von Württemberg (1419–1450), in zweiter Ehe mit Erzherzog Albrecht VI. von Österreich (1451–1463) verheiratet, u. ihrem Bruder, Pfalzgraf Friedrich dem Siegreichen. Im Spiegel wird Mechthild indirekt erwähnt (V. 1452–1463). H.s herausragende Bedeutung begründet neben der brillianten ›literarischen‹ Prozessführung in der Mörin eine stupende, durch Zitate u. genaue Verweise nachgewiesene (s. Huschenbett 2007, S. 196–198) Kenntnis sowohl der Bibel, vorwiegend des AT (100 verschiedene Stellen von 48 Autoren) als auch der mhd. Literatur (130 verschiedene Stellen von 35 verschiedenen Autoren bzw. Werken), von Herzog Ernst über Heinrich Wittenwilers Ring (s. Huschenbett, 2005) bis hin zu den Übersetzungen frz. ›Chansons des gestes‹ der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken; seine ganze Liebe gilt jedoch den Werken Wolframs von Eschenbach, denen er auch den Jüngeren Titurel Albrechts – wie allg. im MA – zurechnet. Ausgaben: H. v. S. Hg. Ernst Martin. Tüb. 1878 (›Mörin‹, ›Goldener Tempel‹, ›Jesus der Arzt‹). – Mhd. Minnereden II. Hg. Gerhard Thiele. Bln.1938. Dublin/Zürich 2 1967 (›Grasmetze‹, ›Unminne‹). – Die Mörin. Hg. Horst Dieter Schlosser. Wiesb. 1974. – Schleiertüchlein. Hg. Donald K. Rosenberg. Göpp. 1980. – Des Spiegels Abenteuer. Hg. Thomas Kerth. Göpp. 1986. – Grabschrift: s. u. Huschenbett 1962. Literatur: Hugo Loersch: Der Process in der Mörin des H. v. S. In: Drei Abhandlungen zur Gesch. des dt. Rechts. Festgruß aus Bonn an Carl Gustav Homeyer. Bonn 1871, S. 35–70. – Philip Stephan Barto: Tannhäuser and the Mountain of Venus. New York/Oxford 1916. – D. Huschenbett: H. v. S. Bln. 1962. – Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 313–334. – Dietz-Rüdiger Moser: Die Tannhäuser-Legende. Bln./New York 1977. – Dieter Welz: Witz, Komik u. Humor in der ›Mörin‹. In: ZfdA 109 (1980), S. 337–361. – D. Huschenbett: H. v. S. In: VL (Bibliogr.). – Christelrose Rischer: Die Minnereden H.s v. S. In: IASL 7 (1982), S. 21–64. – Bernhard Theil: Lit. u. Literaten am Hof der Erzherzo-
Hermann gin Mechthild in Rottenburg. In: Ztschr. für Württemberg. Landesgesch. 42 (1983), S. 125–144. – Peter Strohschneider: Ritterromant. Versepik im ausgehenden MA. Ffm./Bern/New York 1986, S. 7–290. – Jürgen Glocker: ritter – minne – trüwe. Untersuchungen zur ›Mörin‹ H.s v. S. Münster 1987. – P. Strohschneider: ›Lebt Artus noch zuo Karydol, So stünd es in der welte baß‹. In: LiLi 70 (1988), S. 70–94. – Karin Cieslik: Studien zu Elementen der Komik in der ›Mörin‹ H.s v. S. Greifsw. 1989, S. 79–90. – Renate Kruska: Mechthild v. der Pfalz. Ffm./Bern/New York 1989. – Felix Heinzer: Buchkultur u. Bibliotheksgesch. Hirsaus. In: Forsch.en u. Ber.e der Archäologie des MA in BadenWürttemberg 10 (1991), 2, S. 259–296. – H. D. Schlosser: Das polit. Ende der Minnereden in der ›Mörin‹ H.s v. S. In: FS Werner Hoffmann. Hg. Waltraud Fritsch-Rößler. Göpp. 1991, S. 291–308. – Ralf Schlechtweg-Jahn: Erzählen im Umbruch. Dialogisierung u. Autorfunktion in der ›Mörin‹ H.s v. S. In: Fifteenth-Century Studies. Vol. 26. Ed. by Edelgard E. DuBruck and Barbara I. Gusick. Rochester/New York 2001, S. 141–157. – Otto Neudeck: Gefahren allegor. Kommunikation (zur ›Unminne‹). In: PBB 124 (2002), S. 74–91. – D. Huschenbett: H. v. S. u. Heinrich Wittenwiler. In: ZfdA 134 (2005), S. 477- 489. – Burghart Wachinger: Gespräche in der ›Mörin‹ H.s v.S. In: Lit. u. Wandmalerei II. Hg. v. Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali u. René Wetzel. Tüb. 2005, S. 139–154. – D. Huschenbett: H. v. S., Namen u. Begriffe – Komm. zum Verz. aller Namen u. ausgew. Begriffe im Gesamtwerk. Würzb. 2007. Dietrich Huschenbett
Hermann, Georg, eigentl.: Georg Borchardt, * 7.10.1871 Berlin-Mitte, † 19.11. 1943 Auschwitz. – Romanschriftsteller, Kunstkritiker, Essayist. Wie H. in seinem Erstlingsroman Spielkinder (Bln. 1897) beschreibt, war seine Kindheit u. Jugend vom finanziellen Bankrott seines Vaters überschattet. Gezwungen, einen sicheren Lebensunterhalt zu verdienen, begann er erst als Mittzwanziger, kunst- u. literaturwissenschaftl. Vorlesungen an der Berliner Universität zu besuchen, erste Erzählungen u. kunstwissenschaftl. Studien (u. a. Die deutsche Karikatur im 19. Jahrhundert. Bielef./Lpz. 1901) zu veröffentlichen u. sich als Kunstkritiker u. Feuilletonist zu etablieren. Der eigentl. Durchbruch als Romanautor gelang ihm 1906 mit seinem in der Tradition
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des Realismus verfassten Familienroman Eine Zeit stirbt (Bln.: Jüdische Buch-VereiniJettchen Gebert u. dessen Fortsetzung Henriette gung 1934). H., der sich bis zum Ersten Weltkrieg fast Jacoby (Bln. 1908). Die im Berlin des Biedermeier angesiedelte Geschichte der Bürger- problemlos als Deutscher jüd. Abstammung tochter aus altangesehener u. kultivierter jüd. u. Träger der dt. Kultur verstanden hatte, Familie, die gegen ihren Willen an einen erfuhr die Kriegsjahre als Enttäuschung u. osteurop. Cousin verheiratet wird, erlangte Bruch dieses Selbstverständnisses. Im März große Beliebtheit, nicht zuletzt aufgrund der 1933 ging er ins niederländ. Exil. Mit seinem liebevoll-detaillierten Schilderung der Le- Roman Rosenemil (Amsterd. 1935) fing er nach bensformen des biedermeierl. Berlin. An- Meinung Sigmund Freuds noch einmal »ein knüpfend an das nostalg. Interesse des großes Stück vom seltsamen Zauber des Großstädters im 20. Jh., schildert H. sowohl garstigen Berlin« um die Jahrhundertwende das Liebenswürdige als auch das Beengende ein; in B. M., der unbekannte Fußgänger (Amsder Zeit u. kontrastiert kritisch das in der terd. 1935) u. Der etruskische Spiegel (Amsterd. Aufklärung verwurzelte Bürgertum mit dem 1936) dagegen griff er die Exilthematik auf. Nach H.s Tod geriet sein Werk weitgehend kruden Materialismus der aufsteigenden in Vergessenheit; es findet erst seit den Mittelschichten. In seinen folgenden Romanen wandte sich 1980er Jahren wieder stärkere Beachtung. Die H. dem zeitgenöss. Berlin zu. Wenn auch die zwischen 1996 u. 2001 vom Verlag Das Neue humorvolle u. impressionistisch anmutende Berlin vorgelegte Werkausgabe hat das erSchilderung Berlins des im Dienstmädchen- neute Schätzen dieses stillen u. nachdenklimilieu angesiedelten Kubinke (Bln. 1910) u. chen u. doch visuell detailliert u. packenden die an der literar. Moderne ausgerichtete Be- Schilderers Berlins unterstützt. wusstseinsanalyse eines Intellektuellen u. Weitere Werke: Um Berlin. Bln. 1912 (E.). – Ästheten, die er in Die Nacht des Dr. Herzfeld Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit. Bln. 1913. – (Bln. 1912) vorlegte, zunächst nicht viel mit- Spaziergang in Potsdam. Bln. 1926. – Der doppelte einander gemein zu haben scheinen, so ver- Spiegel. Bln. 1926 (E). – Tränen um Modesta binden sie doch der klug beobachtete u. mit Zamboni. Stgt. 1927 (R.). Literatur: Cornelius G. van Liere: G. H. Amsgroßem eidet. Geschick geschilderte Blick auf die großstädt. Umwelt, das themat. Interesse terd. 1974. – Hans Otto Horch: Über G. H. In: am Schicksal des Außenseiters u. der leicht Bulletin des Leo Baeck Instituts 77 (1987), S. 73–95. – Laureen Nussbaum (Hg.): Unvorhanden u. distanzierte, ironisch-melanchol. Grundton – stumm, doch zu Menschen noch reden. G. H. alles Merkmale, die sich durch H.s gesamtes Mannheim 1991. – Kerstin Schoor (Hg.): ... aber ihr schriftstellerisches Werk ziehen. Ruf verhallt ins Leere hinein. Der Schriftsteller G. In der 1915 veröffentlichten Essaysamm- H. Bln. 1999. – Godela Weiss-Sussex: Metropolitan lung Vom gesicherten und ungesicherten Leben Chronicles. G. H.’s Berlin novels 1897–1912. Stgt. (Bln.) tritt H. als Vertreter der Ideale der 2001. – Dies. (Hg.): G. H. Tüb. 2004. Aufklärung u. liberalen Gedankenguts herGodela Weiss-Sussex vor. Diese Haltung unterliegt auch seinen Randbemerkungen (Bln. 1919), einer Sammlung Hermann, Judith, * 15.5.1970 Berlin. – antimilitaristischer u. antinationalistischer Verfasserin von Erzählungen. Notizen zum Ersten Weltkrieg. 1917 erschien Einen Sommer lang, der erste Aufgewachsen im Westteil Berlins, studierte Band einer fünfteiligen autobiogr. Roman- H. an der Freien Universität Germanistik u. folge (Die Kette), in der H. »das Ich als peren- Philosophie. Nach vier Semestern brach sie nierende Kette, stets sich selbst überwindend, das Studium ab. Eine Pianistenausbildung und doch stets sich gleich« darzustellen blieb ebenso erfolglos wie die Bewerbung an suchte. Weitere Bände sind: Der kleine Gast verschiedenen Schauspielschulen. H. arbeite(Stgt. 1925) u. November achtzehn (Stgt. 1930) te in Cafés u. für die Band »Poems for Laila«, sowie die beiden im Exil geschriebenen Ro- deren Sänger sie heiratete, doch sich schon mane Ruths schwere Stunde (Amsterd. 1934) u. bald von ihm trennte. Vom Wunsch getrie-
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ben, Reisereporterin zu werden, besuchte sie fen, die das große Glück suchen u. manchmal die Berliner Journalistenschule. Ein Reporter das kleine Glück finden. Trotz der Nähe beivom »Spiegel« begrub ihre Hoffnungen, als der Bücher reagierte die Kritik auf Nichts als er befand, ein Übungstext von ihr sei der Gespenster überwiegend ablehnend. Eine »erschlechteste der Klasse. H. beschloss ihre schreckende Stofflosigkeit« (Gregor DotzauAusbildung mit einem halbjährigen Zei- er) konstatierte der »Tagesspiegel«, die tungsvolontariat in New York. Dort machte »Weltwoche« tadelte den »Wohlstandsegoissie ihre ersten erzählerischen Versuche; zwei mus der Handelnden« (Sacha Verna), »frapKurzgeschichten verschafften ihr in pierende Erfahrungsarmut« (Ina Hartwig) Deutschland gleich drei Stipendien in Folge. bemängelte die »Frankfurter Rundschau«. 2007 kam die Verfilmung Nichts als Gespenster H. lebt in Berlin. Ihr Erstling Sommerhaus, später (Ffm. 1998) unter der Regie von Martin Gypkens in die enthält neun Erzählungen. Die von einem Kinos, ein Verschnitt verschiedener ErzähGrundton der Melancholie getragenen Kurz- lungen aus H.s erstem u. zweiten Buch. H. erhielt 1999 den Literaturförderpreis geschichten, die eine junge, illusions- u. emotionsfreie Bohème auf der Suche nach der Stadt Bremen u. den Hugo-Ball-FörderGlück im aufstrebenden Berlin der 1990er preis, 2001 den Kleist-Preis u. 2009 den Jahre schildern, trafen den Geschmack der Friedrich-Hölderlin-Preis. Leser. Kritiker sprachen vom »Sound einer Weiteres Werk: Alice. Ffm. 2009. neuen Generation« (H. Karasek), von der Literatur: Thomas Kraft: J. H. In: LGL. – »Poesie des Banalen, der fehlgeschlagenen Christoph Baldes: Fremdwahrnehmung in J. H.s Liebschaft, der Niederlage« (M. Naumann), ›Nichts als Gespenster‹. Trier 2004. – Daniel die zum Wichtigsten gehöre, »was die deut- Schnorbusch: Rhythmus in der Prosa. Zu den sche Literatur unserer Jahre zu bieten hat« rhythm. Eigenschaften dt. Kunstprosa am Beispiel (M. Reich-Ranicki). H.s Erfolg fiel in eine der Erzählung ›Rote Korallen‹ von J. H. In: LiLi 36 Zeit, zu der eine ganze Reihe junger (2006), H. 141, S. 120–158. Sven Behrisch deutschsprachiger Autorinnen, darunter Zoë Jenny u. Julia Franck, ihre gefeierten ErstHermann, Herman, Nicolaus, Nikolaus, lingswerke vorlegten – ein Phänomen, dem Niklas, * 1500 Altdorf bei Nürnberg, das Feuilleton die oft kritisierte Bezeichnung † 15.5.1561 St. Joachimsthal (heute: »Fräuleinwunder« verlieh. Der ebenfalls Jáchymov). – Kirchenlieddichter; reforEnde der 1990er Jahre verbreiteten Kategorie matorischer Publizist. der »Popliteratur« ist H. insofern verwandt, als sie in ihren Geschichten die Befindlichkeit Bis zum Antritt seiner Tätigkeit als Organist, junger Szenegänger thematisiert u. durch Kantor u. Lehrer an der Lateinschule in JoaPopsongs charakterisiert – das Motto von chimsthal um 1518 gibt es keine biogr. Sommerhaus, später »The doctor says, I’ll be Zeugnisse. 1560 musste H. wegen fortallright but I’m feeling blue« stammt von schreitender Podagra sein Amt aufgeben u. dem US-amerikan. Sänger Tom Waits. verlor so einen Teil seiner ohnehin zeitlebens 1999 dramatisierte H. die Erzählungen beschränkten materiellen Mittel. Sonja u. Rote Korallen für das Theater Bielefeld. H. wandte sich früh der Reformation zu, 2003 erschien ihr zweiter Erzählungsband, rief mit der Flugschrift in Form eines HimNichts als Gespenster (Ffm. 2003). Sieben Ge- melsbriefs Eyn Mandat Jhesu Christi (Wittenb. schichten versammelt das Buch; sie sind län- 1524. 271613) zum Kampf gegen Rom auf u. ger als die früheren, u. die Schauplätze sind trat zu Luther in nähere Beziehung. In dem über die Welt verteilt – »Tristesse globale«, Sendschreiben Eyn gestreng urtteil Gottes uber urteilte Iris Radisch in der »Zeit«. Unerfüllte die ungehorsamen kinder u. yhre Eltern (Lpz. 1526 Liebe ist hier noch stärker als in Sommerhaus, u. andere Ausg.n) leitete er Erziehungsprinspäter das Leitmotiv des Buchs. Das Personal zipien aus der Bibel her. Mit Johannes Mableibt weitgehend unverändert: Männer u. thesius, der 1532–1540 als Rektor der LaFrauen um die Dreißig mit kreativen Beru- teinschule u. von 1545 bis zu seinem Tod
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1565 als Prediger in Joachimsthal wirkte, ar- In: TRE. – DBA. – Martin Rößler: Liedermacher im beitete H. eng zusammen; er übersetzte des- Gesangbuch. Bd. 1: Martin Luther, Ambrosius N. H., Philipp Nicolai, Johann Heermann. sen Oeconomia (in: J. Mathesius: Vom Ehestandt Blarer, 2 Stgt. 1992, S. 85–116. – Schmidt, Quellenlexikon, u. Haußwesen [...]. Nürnb. 1563). Bd. 12 (31997), S. 399 f. – Irmgard Scheitler: Der In den fast 40 Jahren seines Kantorats hat Beitrag der böhm. Länder zur Entwicklung des H. für den Gottesdienst lat. Sequenztexte Gesangbuchs u. des dt. geistl. Liedgesangs nach den jeweiligen Bibellesungen verfasst u. (1500–1620). In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 38 im Alter anschließend daran zahlreiche geistl. (1999), S. 157–190. – Thomas Schmidt-Beste (W. Lieder gedichtet. 1554 erschien Ein christlicher Blankenburg): N. H. In: MGG, 2. Aufl., Bd. 8 Abentreien, vom Leben und ampt Johannis des (Pers.), Sp. 1387–1389. – Dietmar Pistorius: N. H. Taufers (Lpz.), 1560 folgten Die Sontags Evan- In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Ge2 gelia uber das gantze Jar (Wittenb.), postum sangsbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 2001, schlossen sich Die Historien von der Sindfludt S. 145–148. – Hans-Hermann Schmidt: Kirch’ u. (Wittenb. 1562 u. ö.) an. Seine insg. 176 Lie- Schul’ zu Joachimsthal in den Musikalien des Kantors N. H. In: Sächsisch-böhm. Beziehungen im der verbinden in Reimweise u. Strophenform 16. Jh. [...]. Hg. Friedrich Naumann. Chemnitz Volksliedhaftes u. Meistersingerisches. An 2001, S. 134–141. Klaus Düwel / Red. Kinder u. christl. Hausväter gerichtet, zeichnet sie eine einfache Sprache aus, in der die Glaubensaussagen mit schlichter religiöser Hermann, Wolfgang, * 27.9.1961 BreEmpfindung ausgedrückt werden. In den genz. – Romancier, Prosaist, Lyriker, Sontags Euangelia erzählen die Lieder das LeDramatiker u. Übersetzer. ben u. die Gleichnisse Jesu über das Kirchenjahr hin. Mit ihnen beginnt eine weit- H. wuchs in Dornbirn auf, studierte Philosoreichende zykl. Perikopendichtung. Zwölf phie u. Germanistik in Wien und promovierte Lieder H.s mit eigenen Melodien gehören 1986 mit einer Arbeit über Hölderlin. Seitzum Kernbestand des EKG, darunter das dem ist er als freier Autor tätig. Reisen u. Weihnachtslied Lobt Gott, ihr Christen alle gleich Auslandsaufenthalte führten ihn nach Nord(EKG 21). Auch als Melodienschöpfer ist H. afrika, Sizilien, Berlin, Paris, in die Provence bedeutend. Seine volkstüml. Weisen sind in u. nach Tokio. H. lebt in Bregenz. H.s eigenständiges Werk, mit einer Reihe Anlehnung an mittelalterl. liturg. Gesänge (Antiphon) u. volksliedartige Berg- u. von Preisen ausgezeichnet, wird immer noch zu wenig gelesen. Das mag an seinen zuAbendreihen entstanden. Einfluss u. Wertschätzung H.s reichen rückhaltenden, teils introspektiven, teils weit; für Herder war in den Liedern »Alles vermeintlich Nebensächlichem gewidmeten Texten liegen, vielleicht auch an häufigen Klang, wie eines Engels aus den Lüften«. Ausgaben: N. H.s u. J. Mathesius’ geistl. Lieder Verlagswechseln, nach denen er sich im Lite[...]. Hg. Karl Friedrich Ledderhose. Halle 1855 raturbetrieb mehrfach neu positionieren (Ausw.). – Wackernagel 3, Nr. 1351–1453, musste. Im Zentrum des Werks stehen AufS. 1161–1243. – Die Sonntags-Evangelia (1561). zeichnungen (dazu gehören auch ProsageHg. Rudolf Wolkan. Prag u. a. 1895. – Eyn Mandat dichte u. Reisebilder) u. Romane. Die Bücher Jhesu Christi (1524). In: Flugschr.en der Bauern- Das schöne Leben (Mchn./Wien 1988), Die Nakriegszeit. Hg. Adolf Laube u. Hans Werner Seif- men die Schatten die Tage (Bln. 1991) oder Das fert. Bln. 1975 (21978), S. 276–284. Gesicht in der Tiefe der Straße (Salzb./Wien 2004) Literatur: Bibliografien: VD 16. – Hans-Joachim enthalten Texte, die in ihrer Verdichtung, Köhler: Bibliogr. der Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1: Musikalität, Reflexion u. Beschreibung zwiDas frühe 16. Jh. Bd. 2. Tüb. 1992, Nr. 1540–1547. schen Prosagedicht u. Aufzeichnung oszillie– Weitere Titel: Carl Bertheau: N. H. In: ADB. – Hdb. zum EKG II, 1 (1957), S. 58 f. – Siegfried Fornaçon: ren. In Zeiten extremer Beschleunigung fanN. H.s Geburtsjahr. In: Jb. für Liturgik u. Hym- gen sie Begegnungen mit Dingen u. Natur nologie 4 (1958/59), S. 109–111. – Adalbert El- ein, Atmosphären u. (mitunter epiphanische) schenbroich: N. H. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, Augenblicke u. bewahren sie in der Schrift. S. 49, 184, 375, 545. – Walter Blankenburg: N. H. Auch H.s lakon. Romane zeigen seine Sensi-
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bilität für äußere u. innere Stimmungen. Die Farbe der Stadt (Bensheim/Düsseld. 1992) erzählt von einem sich u. anderen fremden jungen Mann, der durch Paris flaniert u. schließlich ins offene Land geht. Ein Satz daraus gilt auch für H.s Poetik: »Niemals soll es so sein, daß alles da ist, daß nichts fehlt, daß alles ganz ist. Immer nur Bruchstücke, Unterwegssein, Schimmern am Augenrand.« In Fliehende Landschaft (Innsbr. 2000) erleidet ein Autor einen Herzinfarkt. Er, der wie getrieben durch die Welt zog, ist plötzlich unbeweglich. Aber dann lösen Infarkt u. Todesnähe eine andere Bewegung aus: die der Erinnerung. Auch in Herr Faustini verreist (Wien 2006) gibt es das Reisemotiv, doch wechselt H. überraschend zur Komödie: Ein einsamer alter Mann erfährt durch eine Tessinfahrt, dass er nicht allein ist u. auch ohne Gewohnheitspanzer leben kann. Es ist H.s leichtestes Werk, entspannt, mit feinem Humor, das auch Zauderern helfen könnte, ihr Leben zu ändern. Weitere Werke: Mein Dornbirn. Hard 1991 (Ess.). – Paris Berlin New York. Verwandlungen. Bln. 1992. Neuausg. Hohenems 2008 (P.). – Schlaf in den Fugen der Stadt. Salzb./Wien 1993 (L.). – In kalten Zimmern. Ffm. 1997 (E.en). – Bruno. Urauff. Bregenz 2000 (Theaterst.). – Ins Tagesinnere. Salzb./Wien 2002 (L.). – Das japan. Fährtenbuch. Feldkirch/Graz 2003 (P.). – Die Unwirklichkeit. Horn 2006 (E.en). – Fremdes Ufer. Legenden. Hohenems 2007. – Herr Faustini u. der Mann im Hund. Wien 2008 (R.). – Übersetzer: Andy Warhol, Truman Capote: Ein Sonntag in New York. Bln. 1993. – Herausgeber: Kein Innen. Kein Außen. Texte über Leben in Vorarlberg. Bregenz 1994. Literatur: Matthias Kußmann: W. H. In: KLG. Matthias Kußmann
Hermes, Johann Timotheus, auch: Cyllenius, F. Bothe, H. Meister, T. S. Jemehr, * 31.5.1738 Petznick bei Stargard/Pommern, † 24.7.1821 Breslau. – Theologe u. Romanautor. H., Sohn eines Predigers, studierte nach einer teils privat, teils an öffentl. Schulen erhaltenen Ausbildung zwischen 1757 u. 1761 Theologie in Königsberg, ging dann als Hauslehrer nach Danzig u. um 1763 nach Berlin. Dort verfasste er sein erstes theolog.
Werk Versuch über die Ansprüche eines Christen auf die Güter des gegenwärtigen Lebens (Bln. 1764) u. seinen ersten Roman Geschichte der Miß Fanny Wilkes so gut als aus dem Englischen übersetzt (2 Bde., Bln. 1766. 3 Bde., 21770. 31781. Reprint Ffm. 1970). Nach zweijähriger Lehrtätigkeit an der Ritterakademie in Brandenburg u. der am 15.3.1766 erfolgten Ordination in Potsdam begann H.’ Karriere als Theologe. Zunächst Feldprediger bei einem in Lüben/Schlesien stehenden Dragonerregiment, ging er 1769 als Fürstlich Anhaltischer Hofprediger nach Pless/Oberschlesien. Mit dem Predigeramt verband sich in dieser Zeit – entsprechend der gesellschaftl. Rolle der Kirche – meist auch ein für das Einkommen wichtiges Schulamt. Als Pastor primarius war H. zgl. Inspektor der Schulen. Diese Anstellung ermöglichte ihm die Heirat (19.6.1769) mit der zehn Jahre jüngeren Karoline Christiane Bräuer. 1772 berief man H. als Prediger von St. Maria Magdalena, Professor u. Inspektor des Realgymnasiums nach Breslau, wo er bis an sein Lebensende wirkte. 1791 wurde H. Pastor primarius von St. Maria Magdalena, nachdem ihn der Magistrat 1775 zum Probst von Hl. Geist u. Prediger an der Hauptkirche von St. Bernhardin ernannt hatte. Er folgte in allen Positionen seinem 1791 nach Berlin berufenen Bruder Hermann Daniel Hermes, einem Günstling des antiaufklärerischen Ministers Wöllner. 1808 wurde H. Superintendent der Kirchen u. Schulen im Fürstentum Breslau (bestätigt erst 1810; niedergelegt 1817), Pastor primarius zu St. Elisabeth u. Professor der Theologie an den Gymnasien von St. Elisabeth u. St. Maria Magdalena. Die späten Ehrungen – 1803 Dr. phil. h. c., 1816 Dr. theol. h. c. – können nicht verdecken, dass H. im geistl., geistigen u. polit. Leben der Stadt kaum noch eine Rolle spielte. Als theolog. Aufklärer, in dessen eklektizistische Züge tragende Predigten sich Orthodoxie u. Wolff’sche Philosophie mischen, hatte er sich selbst überlebt. Mit der neuen Theologie eines Schleiermacher oder der Philosophie Fichtes wusste er wenig anzufangen. Seine Zeitbetrachtungen in der napoleonischen Ära (z.B. Predigten für das Zeitbedürfnis [...]. Breslau 1808) erfolgten unter en-
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gen religiösen u. hausbacken rationalistischen Aspekten. Der 1811 gegründeten Universität, Ausdruck grundlegender Bildungsreformen in Preußen, stand er ablehnend gegenüber. Das Schicksal des Theologen ereilte auch den Romanautor H., dessen neun Romane 40 Jahre Gattungsgeschichte begleiten. Mit der Geschichte der Miß Fanny Wilkes, einem eng an Richardsons Grandison (1753/54) angelehnten Roman, u. Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (5 Tle., Lpz. 1770–72. 6 Tle., 21776. 31778. Zahlreiche Raubdrucke u. Übersetzungen. Neuausg. Bln. 1991) wurde H. zum Publikumsliebling u., als Repräsentant des neuen pragmat. Romans, Vorbild für Romanschreiber wie Johann Paul Sattler (Friederike. 1774. Siehe auch die anonym erschienenen: Anhang zu Sophiens Reise. 1776. Einer jüngern Sophie Reise aber nicht von Memel nach Sachsen. 1780) u. Romantheoretiker wie Christian Ludwig Willebrand (Etwas für Mütter In Zwo Erzählungen Welchen Eine Abhandlung von Romanen [...] vorgesetzt ist. Breslau 1774). H. wollte »belehren, bessern, wenigstens warnen«, weil Deutschland »Tugend und Wahrheit nicht mehr ungeschmückt« zu sehen wünschte (Sophiens Reise. 3. Tl., 31778, S. 177 f., Anmerkung). Als Verfechter eines moralisierenden Pragmatismus war für ihn der Roman eine Zweckform – u. nur als solche legitimiert –, in der die Sittenlehre den Gang der Handlung u. die Rollen der Figuren bestimmte. Obgleich zunächst erfolgreich, weil er normsetzend bürgerl. Lebenspraxis reflektierte u. ein Bildungsorgan für die weibl. Leser schuf, befand er sich doch schon im Gegensatz zu dem zukunftsweisenden Romantypus, dem Roman pragmat. Erzählform, wie ihn Friedrich von Blanckenburg zur gleichen Zeit theoretisch beschrieben hat. Der für diesen Typus konstitutive Begriff der ästhetischen Wahrheit war H. ebenso fremd wie die kausalgenet. Darstellungsweise, welche die Figurenrede als Handlungselement integrierte. Wieland kritisierte denn auch, dass H. »die Moral im Menschen und nicht den Menschen in der Moral« studiere (Teutscher Merkur, 1776, 2. Stück, S. 106). An H.’ späteren Werken lässt sich der Verfall des Romans eines moralisierenden Pragmatismus
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ablesen. Er degeneriert zu einem unterhaltend aufgemachten Kompendium der Lebensweisheit (Manch Hermäon im eigentlichen Sinn des Worts vom Verfasser von Sophiens Reise. Lpz. 1788. Für Eltern und Ehelustige unter den Aufgeklärten im Mittelstande eine Geschichte vom Verfasser von Sophiens Reise. Lpz. 1789/90. Raubdruck Karlsr. 1789/90). H. sucht sein Publikum v. a. durch sensationellen Stoff u. abenteuerlich verwickelte Handlungen zu halten. Für Töchter edler Herkunft Eine Geschichte (Wien/Lpz. 1787. Raubdruck Karlsr. 1789) schildert Formen sexueller Ausschweifung. Die Disziplinierung der Gefühle ist hier wie in den übrigen Romanen das Hauptthema. Dabei sind die H.schen Helden meist durch eine ausgeprägte Bindungsangst gekennzeichnet. Mit seinen späten Romanen war H. jedoch weniger erfolgreich (Zween litterarische Märtyrer und deren Frauen [...]. Lpz. 1789. 2. Aufl. u. d. T. Meine, Herrn Grundlegers und unserer Frauen Geschichte. Lpz. 1798. Anne Winterfeld, oder Unsere Töchter eingewiesen in ihr gekränktes Recht. Eine Geschichte in Briefen von H. Meister. Gotha 1801. Verheimlichung und Eil, oder Lottchens und ihrer Nachbarn Geschichte. Von T. S. Jemehr. Bln. 1802. 21821. Mutter, Amme und Kind, in der Geschichte Herrn Leopold Kerkers. Bln. 1809. 21811). Er spielte im literar. Leben um 1800 nur noch als Objekt der Satire eine Rolle (vgl. Schillers Xenien Für Töchter edler Herkunft. Pfarrer Cyllenius). Eine Generation später hat Robert Prutz ihn als Repräsentanten des dt. Familienromans gewürdigt. Heute gilt H. als Vertreter jener Variante des Aufklärungsromans, die mit ihrem moralisierenden Pragmatismus die Leser der Moralischen Wochenschriften für den Roman in seiner Funktion als Medium der sozialen Selbstverständigung des Bürgertums gewinnen konnte. Weitere Werke: Lieder u. Arien aus Sophiens Reise. Melodien v. Adam Hiller. Lpz. 1779. – Lieder für die besten bekannten Kirchenmelodien. Breslau 1800. – Briefe u. Erzählungen [...] 1770–1800. Wien 1808. – Verz. der theolog. Lit. In: Georg Hoffmann, a. a. O. S. 186 f. u. 216 f. Literatur: Robert Prutz: J. T. H. In: Ders.: Menschen u. Bücher. Lpz. 1862, S. 1–164. – G. Hoffmann: J. T. H. Ein Lebensbild der evang. Kir-
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331 che Schlesiens. Breslau 1911. – Konstantin Muskalla: Die Romane v. J. T. H. Breslau 1912. – Gerhard Schulz: J. T. H. u. die Liebe. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelm-Univ. zu Breslau 6 (1961), S. 369–386. – Ernst Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – Friedrich Wilhelm Bautz: J. T. H. In: Bautz. – Lucian Schiwietz: Manch musikschriftstellerischer Hermäon aus J. T. H.’ Feder. In: Aufklärung in Schlesien im europ. Spannungsfeld. Hg. Wojciech Kunicki. Bd. 1, Wroclaw 1996, S. 151–160. – Bettina Recker: ›Ewige Dauer‹ oder ›Ewiges Einerlei‹. Die Gesch. der Ehe im Roman um 1800. Würzb. 2000, S. 106–132. Ernst Weber /
Hermlin, Stephan, eigentl.: Rudolf Leder, * 13.4.1915 Chemnitz, † 6.4.1997 Berlin. – Lyriker, Erzähler, Publizist, Essayist u. Funkautor. Aus jüd. Elternhaus stammend, wuchs H. in Berlin auf. Als Gymnasiast trat er 1931 dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands bei. Nach dem Abitur 1933 arbeitete er in einer Druckerei u. war illegal politisch tätig. 1936 emigrierte H. über Ägypten, Palästina u. Großbritannien nach Frankreich. 1940 gehörte er einer Hilfstruppe der frz. Armee an. 1945 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er zunächst zusammen mit Hans Mayer beim literar. Programm von Radio Frankfurt/ M. arbeitete. 1947 zog H. nach Berlin u. engagierte sich in polit. u. kulturpolit. Gremien der SBZ u. der DDR. Er wurde Mitgl. der SED, Sekretär der Sektion Dichtkunst der Akademie der Künste in Berlin u. Vizepräsident des Deutschen Schriftstellerverbands. Nach Kritik im Umfeld des VI. Parteitags der SED trat er 1963 von allen öffentl. Ämtern zurück. Ab 1975 Vizepräsident des Internationalen P.E.N.-Clubs, wurde er 1990 Ehrenpräsident des DDR-P.E.N.-Zentrums u. der Akademie der Künste der DDR. Die lyr. Anfänge H.s (Zwölf Balladen von den großen Städten. Zürich 1945. Die Straßen der Furcht. Singen 1946) sind geprägt von der Erinnerung an den Terror des Nationalsozialismus. H. stellt sich bewusst in einen Zusammenhang mit frz. Widerstandsliteratur u. nennt Louis Aragon als großes Vorbild u. Anreger der eigenen Kunst. Seine lyr. Formsprache ist gekennzeichnet durch die
Vergewisserung der reichhaltigen dt. Literatur vom Barock über Hölderlin u. Platen zum Expressionismus. Zugleich ist der Lyrik H.s aber auch Internationalität eingeschrieben, wie seine Orientierung an Paul Eluard, Pablo Neruda, Nazim Hikmet, Attila József u. Paul Verlaine bezeugt. In den 1950er Jahren wandelte sich seine Lyrik u. stand ganz im Dienst seines Engagements für die DDR. Der Flug der Taube (Bln./DDR 1952) illustriert diese Indienstnahme für den Marxismus u. enthält hymn. Dichtungen auf die russ. Revolution, Stalin u. Wilhelm Pieck. Ab 1958 legte H. keine weiteren Gedichte vor. H.s Prosaschaffen ist ebenfalls von der Verarbeitung des Nationalsozialismus gekennzeichnet. Nach der Lektüre von Ambrose Bierces Erzählung An Occurence at Owl Creek Bridge begann H. mit dem Verfassen eigener Erzähltexte. Der Leutnant Yorck von Wartenburg (Singen 1946) berichtet von der letzten Minute des Widerstandskämpfers vor dessen Hinrichtung. Er träumt von seiner Befreiung, dem Anschluss an die Rote Armee u. einem Volksaufstand, in dem das dt. Volk die Fesseln der Diktatur abwirft. Im Angesicht der Hinrichtung wird hier eine Utopie entworfen, die der brutalen Wirklichkeit nicht standhalten kann. H.s Widerspruch zur offiziellen Theorie eines literar. Sozialismus schlägt sich in seiner Erzählung Die Kommandeuse (in: NDL 10, 1954, S. 19–28) nieder. H. schildert darin den authent. Fall einer aus der Haft entlassenen KZ-Leiterin, um den 17.6.1953 als Ergebnis einer fortwirkenden faschistischen Mentalität zu deuten. Die scharfe Kritik, auf die seine Erzählung in der DDR stieß, ließ H. weitgehend verstummen. Die weiteren Veröffentlichungen der 1960er u. 1970er Jahre sind v. a. essayistischer Natur. So vereinte H. seine Rezensionen u. Essays unter dem Titel Lektüre 1960–1971 (Bln./DDR 1973, Ffm. 1974). Zudem bestimmten autobiogr. Berichte immer stärker H.s Werk. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist der 1979 erschienene Band Abendlicht (Bln.), in dem biogr. Hintergründe, aber auch Reflexionen von Kunst, Literatur u. Musik sich zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit u. den polit. Hoffnungen u. Enttäuschungen verdichten. Solche biogr.
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Annäherungen an das eigene Ich hat H. in der S. H.s Verhältnis zur Arbeiterklasse. Zwischen Folge weiter vorgenommen; gesammelt sind Bürgertum u. Sozialismus. Eine literatursoziolog. die kurzen Texte in Bestimmungsorte (Bln. Untersuchung auf der Grundlage von Pierre 1985). Gerade diese autobiogr. Texte sind Bourdieus Theorie des sozialen Raumes. Bln. 2000. – Bernd Witte u. Frauke Meyer-Gosau: S. H. In: 1996 von dem Literaturredakteur Karl Corino KLG. – Claus-Ulrich Bielefeld: S. H. In: LGL. – einer genaueren Betrachtung unterzogen u. Hanjo Kesting: Nach den Kämpfen der Zeit. S. H. auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden. In: Ders.: Ein bunter Flecken am Kaftan. Essays zur Corino konnte nachweisen, wie stark H. seine jüd.-dt. Lit. Gött. 2005, S. 208–222. – Elke MehLebensgeschichte verfälscht hat. So stammte nert: Komponierte Dichtung. Ein InterpretationsH. keineswegs aus einer großbürgerl. Fami- ansatz zu S. H.s ›Abendlicht‹. In: Dies.: Ost-westl. lie, noch war sein Vater im KZ umgekommen, Spiegelungen. Bln. 2005, S. 31–39. – Helmut wie er erzählt hatte. Auch H.s Teilnahme am Peitsch: Hans Mayers u. S. H.s Blick von Osten auf die Gruppe 47. In: Irmela von der Lühe u. a. (Hg.): Spanischen Bürgerkrieg oder der Résistance Fremdes Heimatland. Remigration u. literar. Leben war eine Erfindung des Autors. Corino zeigte, nach 1945. Gött. 2005, S. 119–136. dass H. alle Elemente seiner Biografie, die Gunnar Müller-Waldeck / Tim Lörke bes. zu seinem Ruhm als aufrechtem Kämpfer beitrugen u. seine literaturpolit. Bedeutung konstituierten, sich durch Fälschungen zu- Herms, Uwe, * 9.9.1937 Salzwedel/Altgeschrieben hatte. mark. – Lyriker, Erzähler u. DrehbuchWeitere Werke: Reise eines Malers in Paris. Wiesb. 1947. – Russ. Eindrücke. Ber.e. Bln./DDR 1948. – Die Zeit der Gemeinsamkeit. Erzählungen. Bln./DDR 1949. – Mansfelder Oratorium. Eisleben 1950. Lpz. 1951. – Die Zeit der Einsamkeit. Lpz. 1951. – Ferne Nähe. Bln./DDR 1954. – Begegnungen 1954–1959. Essays u. Reden. Bln./DDR 1960. – Balladen. Lpz. 1965. – Scardanelli. Ein Hörsp. Bln. 1970. – Ges. Gedichte. Mchn. 1979. – Die erste Hilfe. Erzählungen. Dortm. 1980. Literatur: Reinhard Weisbach: Probleme der Übergangszeit. Zur ästhet. Position S. H.s. In: Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR. Hg. Werner Mittenzwei. Lpz. 1969, S. 179–209. – Fritz J. Raddatz: Bindung, Geborgenheit oder Solidarität. S. H. In: Ders.: Traditionen u. Tendenzen. Materialien zur Lit. der DDR. Ffm. 1972, S. 146–157. – Silvia Schlenstedt: S. H. Leben u. Werk. Bln./DDR 1985. – Heinrich Detering: ›Die Stimme im Dornbusch‹. Jüd. Motive u. Traditionen in den Exilgedichten S. H.s. In: Itta Shedletzky u. Hans Otto Horch (Hg.): Dt.-jüd. Exilu. Emigrationslit. im 20. Jh. Tüb. 1993, S. 253–270. – Kerstin Hensel: Das große Fugato. S. H.: ›Abendlicht‹. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Lit. Hg. Karl Deiritz u. Hannes Krauss. Bln. 1993, S. 109–113. – Eckehard Thiele: Lit. nach Stalins Tod. Sowjetlit. u. DDR-Lit. Ilja Ehrenburg, S. H., Erwin Strittmatter, Christa Wolf, Juri Trifonow. Ffm. 1995. – Karl Corino: Außen Marmor, innen Gips. Die Legenden des S. H. Köln 1996. – Christoph Lorey: Zur Innen- u. Außenperspektive in S. H.s Erzählung ›Die Kommandeuse‹. In: Seminar 1997, H. 2, S. 134–148. – Gregor Ohlerich:
autor. Nach einem 1963 abgeschlossenen Studium der Philosophie, Kunstgeschichte u. Germanistik in Heidelberg, Hamburg u. Evanston/ Illinois war H. ab 1966 Mitarbeiter der Zeitschrift »konkret«, Gastdozent in England, den USA, China u. 1972–1977 Redakteur beim NDR. 1988–1996 war er ehrenamtl. Vorsitzender des Hamburger Literaturzentrums »lit«. Seit den ersten Gedichten u. Prosatexten der frühen 1960er Jahre zeigt H. sich beeinflusst von den Traditionen des Expressionismus, Dadaismus u. Surrealismus, arbeitet er mit Mitteln der Groteske, des Zitats u. der Travestie konventioneller literar. Form. Er selbst charakterisiert sich in einem Kommentar von 1965 als »inhaltlichen Manieristen« (druck-sachen. Junge deutsche Autoren. Hg. U. H. Hbg. 1965, S. 185), eine Kennzeichnung, die auch für die Gedichtreihe Selbstportrait I-VIII (Ansichten. Junge Lyriker des deutschen Sprachraums. Hg. Peter Hamm. Mchn. 1966, S. 189–193) gelten kann. Im Umfeld der Studentenbewegung wurde H. das formale Experiment zgl. Mittel zu allgemein gesellschaftskrit. u. konkret polit. Engagement. Beispielhaft hierfür ist seine Zitatmontage Deutscher Zeuge, die zusammengeschnitten wurde aus Zeugenaussagen des damaligen Bundeskanzlers Kurt Georg
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Herold
Kiesinger vom 4.7.1968 zur Judenverfolgung Hero und Leander. – Vermutlich zu Be(Nachkrieg und Unfrieden. Gedichte als Index ginn des 14. Jh. entstandene Versnovelle. 1945–1970. Hg. Hilde Domin. Neuwied 1970, Der alemann. Verfasser kennt den Stoff aus S. 113 f.). Ovids Heroides; er übernimmt daraus Details Die Brokdorfer Kriegsfibel (Hbg. 1977), verfür seine Liebesbriefe Heros u. Leanders, die anlasst durch die Protestaktionen gegen das zusammen mit dem Todeskampf Leanders Kernkraftwerk Brokdorf u. im Selbstverlag die Höhepunkte der Handlung bilden (hg. u. erschienen, erweitert das Collageprinzip auf übers. von Richard E. Ottmann. Lpz. 1895. eine Kombination aus Text u. Fotografie. Auch in: Samuel Singer: Mhd. Lesebuch. In seinem Prosatext Die Papageien von New Bern 1945, Nr. 10). Ihre unverbrüchl. Treue – York (3. Preis in Klagenfurt) benennt H. das ein beliebtes Thema höfisch-ritterl. Mären – Verfahren u. die Wirkung des »cut up« als ist so groß, dass beide den Liebestod erleiden: »Enthüllung durch Verfremdung« (KlagenLeander ertrinkt in einer Sturmnacht auf dem furter Texte zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1983. Weg zur Geliebten, die durch das Meer von Hg. Humbert Fink u. Marcel Reich-Ranicki. ihm getrennt ist; Hero überlebt die TrauerMchn. 1983, S. 40 f.) u. bebildert dies zgl. botschaft nicht. Dass diese Minne dennoch in einer grotesk erfundenen Parabel von nicht vorbildhaft ist, wird in der EingangsSprachfetzen montierenden Papageien. Der sentenz u. in lehrhaften Einschüben betont: erzählerische Rahmen allerdings ist konvenBeide können ihre Leidenschaft nicht mäßitioneller Form wieder angenähert. gen. So wird ihnen – wie in den Mären PyraIn einer ähnl. Doppelung von allegorisiemus und Thisbe oder Der Schüler von Paris – das rend irrealer Überhöhung einzelner Erzählwidrige Geschick zum Verhängnis. Die Bemomente (zum Beispiel durch Anleihen etwa sonderheit von H. u. L. liegt im direkten bei Jean Paul oder Søren Kierkegaard) einerRückgriff auf ein antikes Vorbild, zugespitzt seits u. einem deutlich realistisch gemeinten dadurch, dass Hero voll Sehnsucht das Komu. beschreibenden Handlungsrahmen andemen des Geliebten herausfordert. rerseits erzählt H. auch in Das Haus in EiderAusgaben: Richard E. Ottmann (Hg. u. übers.): stedt (Mchn. 1985). Der Ich-Erzähler erprobt Das mhd. Gedicht v. H. u. L. Lpz. 1895, S. 38–59. – dort eine nur vage gelingende Sinnsuche in Jürgen Schulz-Grobert (Hg., übers. u. komm.): der »entfremdeten Welt« (S. 91) einer von Kleinere mhd. Verserzählungen. Stgt. 2006, ihrer verdrängten Vergangenheit geprägten S. 114–141 u. 274–278. bundesrepublikan. Gegenwart. Literatur: Karl-Heinz Schirmer: Stil- u. MoWeitere Werke: Der Mann mit den verhodeten Hirnlappen erfindet Transportmittel u. anderes. In: Walter Aue (Hg.): Typos I. Zeit/Bezüge. Bad Homburg v. d. H. 1971, S. 9–17 (P., L.). – Jan Hans, U. H. u. Ralf Thenior (Hg.): Mit gemischten Gefühlen: Lyrik-Kat. BRD. Mchn. 1978, S. 163–166, 395 f. – Im Land zwischen den Meeren. Reisen in das unbekannte Schleswig-Holstein [mit einem Vorw. v. Siegfried Lenz]. Hbg. 1996. – Wundertüte eines halben Tages. Hbg. 1997 (E.). – Schrauben, aha. Bamberg 2001 (P., L.). – Wal u. Wettermacher. Bln. 2002 (E.). – Das verlorene Haus. Hann. 2002 (R.). Literatur: Martin Hielscher: Die Botenstoffe der Erinnerung. In: Die Horen 36 (1991), H. 161, S. 47–67. Bernadette Ott / Red.
tivuntersuchungen zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969, passim. – Brian O. Murdoch: Die Bearb.en des H. u. L.-Stoffes. In: Studi Medievali, Seria 3, 18/ 1 (1977), S. 231–247. – Werner Fechter: H. u. L. In: VL. – Jaromir Jelk: H. u. L. In: EM. Anette Syndikus / Red.
Herold, Franz, * 15.2.1854 Cˇeská Lipá (Böhmisch-Leipa), † 12.8.1943 Wien. – Lyriker, Reiseschriftsteller. H. war Lehrer für Deutsch, Geschichte u. Geografie in Budweis, Kremsier u. Prag, ehe er als Dichter an die Öffentlichkeit trat. Seine Heimatverbundenheit zeigt schon der erste Gedichtband Wachsen und Werden (Dresden/ Lpz. 1892), der von der »Gesellschaft für Förderung der deutschen Literatur und Kunst in Böhmen« preisgekrönt wurde. Nach
Herold
seinem Wechsel an ein Wiener Gymnasium schloss sich H. dem Schriftstellerkreis »Iduna« an, der eine antimoderne Programmatik vertrat. In diesem Sinn versuchte er in seinen folgenden Werken (Spuren. Ausgewählte Gedichte. Dresden/Lpz. 1893. Fremde und Vaterland. Vermischte Dichtungen. Wachwitz-Dresden 1895) an die Lyrik der Romantik u. den Stil des Münchner Dichterkreises um Paul Heyse anzuknüpfen. Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich der Einfluss völk. Gedankenguts auf sein Schaffen (Aus Einsamkeit und Zeit. Neue Gedichte und Sprüche. Wien 1924). Neben dem lyr. Werk schrieb H. »Reisebilder« (Aus sonnigen Ländern. Wien 1924), in denen er von seinen Erlebnissen in Nordafrika u. Vorderasien berichtet. Weitere Werke: Ernte. Ausgew. Dichtungen. Dresden o. J. [1908]. – Stilleben. Neue Gedichte. Teschen o. J. [1914]. Stefan Bauer
Herold, Johannes Basilius, Beiname: Acropolita (= von Höchstadt), * 17.12. 1514 Höchstadt/Donau, † 1567 Basel. – Humanist, Historiker u. Übersetzer. Der Vater H.s stand in den Diensten der Fugger. Nach dem Besuch der Lateinschule in Donauwörth fristete H. ein zehnjähriges Scholarendasein. Von Augsburg aus bemühte er sich um ein Erasmus-Stipendium, um in Basel seine Studien abschließen zu können. Als unehelich Geborener konnte er dort kein akadem. Examen ablegen, so dass ihm Bonifaz Amerbach keine ordentl. Mittel aus dem Legat des (ebenfalls unehel.) Erasmus bewilligen konnte. H. blieb zeitlebens der Universität auf der untersten Stufe eines »Zugewandten« verbunden, womit Privilegien (Steuerfreiheit), aber keine finanzielle Absicherung verbunden waren. Aus seiner Tätigkeit für Basler Drucker (ab 1539; zunächst v. a. für Robert Winther, dann für Oporin) konnte er anfangs den Lebensunterhalt seiner Familie kaum bestreiten. Versuche, ihn über ein Pfarramt abzusichern, scheiterten an seiner mangelnden Eignung. Ab 1552 lebte H. ständig in Basel. Er erhielt 1556 das Bürgerrecht, worauf er sich den Beinamen Basilius zulegte, kaufte das Haus Luftgässlein 9 u. war
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ab 1559 (Augsburger Reichstag) für den Rat tätig. H.s Œuvre wurde bisher noch nicht vollständig aufgelistet. Fast immer handelt es sich um Auftragsarbeiten seiner Basler Verleger, selten um von ihm aufgefundene Texte; auf eigene Rechnung arbeitete er nie. Seine Interessen gehen erkennbar in drei Richtungen: Er edierte u. übersetzte humanistische Texte, publizierte Materialien zur dt. Reichsgeschichte u. nahm zu aktuellen polit. Fragen Stellung. Für den konfessionellen Gegensatz interessierte sich H. nur insoweit, als er den Konflikt mit dem röm. Papst betraf. Als Humanist fühlte sich H. Erasmus u. Beatus Rhenanus verpflichtet. Mit dem Philopseudes zur Verteidigung des Erasmus gegen Ortensio Lundi (1542) druckte er seine einzige Declamatio vor der Universität Basel. Neu ins Deutsche übersetzte er Lingua – Von der Zung (Straßb. 1544) u. die beiden Eheschriften des Erasmus Encomium matrimoniae u. Christianae matrimoniae institutio (Straßb. 1542). In seinem späteren Werk verbinden sich humanistische mit nationalen u. reichsgeschichtl. mit polit. Momenten. Bemerkenswert ist bes. die für Kurfürst Friedrich 1556 in einem monumentalen Druckwerk von 21 Holzschnitt-Tafeln herausgegebene pfälz. Ahnentafel, der er dt. u. lat. Erläuterungen folgen ließ. Für sein großangelegtes Werk Vom Auffgang Teutscher Nation, eine auf 130 Bände angelegte Geschichte des Reichs, hat er nur Vorarbeiten veröffentlicht. Dazu zählt eine Ausgabe der german. Stammesrechte, darunter das von ihm selbst entdeckte Frisionum Lex (1559). Eindeutig politisch waren Schriften zum Türkenkrieg, die auf der Schrift von Wilhelm von Tyrus basierende Continuatio de bello sacro (1549) für den Zeitraum bis 1521 u. die Edition von Chalcondylas De origine Turcorum (1545–46). Mit Panegyriken bzw. Nachrufen auf Kaiser Ferdinand I. u. Maximilian II. suchte H. sich auch als Vertreter der Stadt Basel zu profilieren. Mit lat. u. dt. Ausgaben spätmittelalterl. Texte, etwa der Übersetzung von Dantes Monarchia (1559, Faks.-Neudr. 1965) ergriff er Partei für den Kaiser u. gegen
Herr
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den Papst wie auch mit Flacius Illyricus’ De translatione imperii (1566). Weitere Werke (Erscheinungsort ist immer Basel): De Romanorum in Rhaetia littorali stationibus. 1555. – De Germaniae veteris locis antiquissimis. 1556. – Exegesis sive successionis Palatinae Francicae stirpes. 1556. – Bericht u. kurtzbegriffene erläuterung der Geburttafel des Churfürstl. Hauses der Pfalz. 1561. – Herausgeber bzw. Übersetzer: Agrippa v. Nettesheim: Von Adel u. Fürtreffen Weibl. Geschlechts. 1540. – Francesco Petrarca: Opera quae extant omnia. 1544 (erste u. bisher einzige Gesamtausg.). – Andreas Alciati: De formula Romanae Imperii libellus. – Alexander v. Roes: Chur oder v. der Churfürsten whale. – Landolfo Colonna: De translatione Imperii. – Enea Silvio: De ortu et autoritate Romani Imperii. – Gottfried v. Viterbo: Pantheon. (Sämtlich 1559). – Beda Venerabilis: Opera. 1563. – Giovanni Boccaccio: Von Adelichen Fürtrefflichen Weibl. Geschlechts. 1566. Literatur: Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Bd. 2, Amsterd. 51740, S. 105 f. – Theophil Burckhardt-Biedermann: Bonifaz Amerbach u. die Reformation. Basel 1894. – Die Amerbachkorrespondenz. Bd. 5, Basel 1958, S. 472 f. (A. Hartmann). Bd. 6, 1967, S. 180–183 (Beat Jenny). – Peter Bietenholz: Der ital. Humanismus u. die Blütezeit des Buchdrucks in Basel. Diss. Basel 1959. – Andreas Burckhardt: Johann B. H. Diss. Basel 1966 (ohne Schriftenverz. u. Bibliogr.). – Ders.: J. H. In: NDB. – Martin Steinmann: Johannes Oporinus. Diss. Basel 1966. – Carlos Gilly: Spanien u. der Basler Buchdruck bis 1600 [...]. Basel/Ffm. 1985 (Register). – Nurdan Melek Aksulu: Bartholomäus Georgievic´s Türkenschr. ›De Turcarum ritu et caeremoniis‹ (1544) u. ihre beiden dt. Übers.en v. 1545. Stgt. 2005 (Diss. Ankara 1989). Heinz Holeczek
Herr, Michael, * Ende 15. Jh. Speyer, † nach 1551 Straßburg. – Arzt u. Fachschriftsteller. H. immatrikulierte sich 1508 an der Univ. Heidelberg, die er wohl ohne Abschluss verließ. In Straßburg lebte er als Kartäuser u. veröffentlichte 1515/16 sein erstes Werk Die Ritterlich und lobwürdig reisz des gestrengen und über all ander weyt erfarnen Ritters und landtfarers herren Ludowico Vartomas von Bologna. 1525 verließ er unter dem Einfluss der Reformation die Kartause u. studierte Medizin an der Universität Wien bei Georg Tannstätter, des-
sen Vorlesung Artificium de applicatione Astrologiae ad Medicinam Otto Brunfels 1531 nach H.s Mitschrift herausgab. Das Studium setzte er, unterstützt von der Stadt Straßburg 1527 in Montpellier fort, wo er mutmaßlich zum Dr. med. promoviert wurde. 1528 erhielt H. das Straßburger Bürgerrecht; 1534 übertrug ihm die Stadt nach dem Druck seiner Übersetzung des Tacuinum sanitatis von Ibn But¸ la¯n u. d. T. Schachtafelen der Gesundheyt (1533. Neudr. Lpz. 1988) die Leitung des Hospitals mit der Aufgabe, die Hospitalapotheke neu zu ordnen. In dieser Position stellte er Apothekerknechte ein u. reiste 1535 zum Arzneimittelkauf nach Frankfurt/M. 1537 heilte er den Grafen Robert de la Marck in Sedan u. wurde 1547 Mitarbeiter an der astronomischen Uhr des Straßburger Münsters. Das Todesjahr ist unbekannt. H.s literar. Leistung ist breit gefächert: So übersetzte er Plutarchs (1535) u. Senecas (1536) moralische Schriften, die Ökonomica des Columella (1536) u. des Cassius Bassus (1545) u. veröffentlichte Reiseberichte in dt. Übersetzung. Neben seinen medizinischpharmazeutischen Werken Schachtafelen u. dem Naturbu8 ch gab er das dritte Buch der Herbarum vivae eicones (1536) u. der dt. Übertragung Ander Teyl des Teütschen Contrafayten Kreüterbuchs (1537) von Otto Brunfels heraus. Nachruhm brachte H. v. a. das Tierbuch Gründtlicher vnderricht/warhaffte vnd eygentliche beschreibung/wunderbarlicher setzamer art/natur/ krafft vn[d] eygenschafft aller vierfüßigen thier [...] Mit klarem bericht/was von eim yeden thier in sunderheit zur ertzey nütz/oder zu8 anderm gebrauch der menschen dienstlich sey (Straßb. 1546). In dieser Kompilation benutzt H. vor allem antike Quellen wie Plinius u. Aristoteles u. verwirft Autoritäten wie Albertus Magnus. Er erstellt jedoch keine naturkundl. Systematik der Tiere im Tierreich ein u. weist v. a. auf ihren Gebrauch bei den Menschen hin. Weitere Werke: Naturbu8 ch / Vonn nutz / eigenschafft / wunderwirkung vnnd Gebrauch aller Geschoepf / Element vnnd Creaturn / Dem menschen zu gu8 t beschaffenn [...]. Ffm. 1536. – [Simon Grynaeus] Die New Welt, der Landschaften u. Jnsulen, so bis hie her allen Altweltbeschrybern unbekant / Jungst aber von den Portugalesern unnd
Herr von Falkenstein Hispaniern im Nidergenglichen Meer herfunden [...]. Straßb. 1534. Literatur: Ernest Wickersheimer: Les Tacuini Sanitatis et leur traduction allemande par Michel H. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 12 (1950), S. 85–97. – Ders.: Le livre des Quadrupèdes de Michel H., Médecin Strasbourgeois (1546). In: La science au seizième siècle. Colloque international de Royaumont, 1.-4. juillet 1957. Paris 1957, S. 265–283. – Ders.: M. H. In: NDB. – Franz Josef Worstbrock: Dt. Antikenrezeption 1450–1550. Tl. 1. Verz. der dt. Übers.en antiker Autoren. Mit einer Bibliogr. der Übersetzer. Boppard 1976. – Joachim Telle (Hg.): Pharmazie u. der gemeine Mann. Hausarznei u. Apotheke in der frühen Neuzeit. 2., verb. Aufl. Weinheim 1988. – Théodore Vetter: M. H. In: NDBA. – Udo Friedrich: Naturgesch. zwischen artes liberales u. frühneuzeitl. Wiss. Conrad Gessners ›Historia animalium‹ u. ihre volkssprachl. Rezeption. Tüb. 1995. – Histoire de la Médecine à Strasbourg. Hg. Jacques Héran. Strasbourg 1997, S. 84 f. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: M. H., Arzt in Straßburg. Ein Vorber. In: Iliaster. Lit. u. Naturkunde in der Frühen Neuzeit. Festgabe für J. Telle zum 60. Geburtstag. Hg. Wilhelm Kühlmann u. W.-D. MüllerJahncke. Heidelb. 1999, S. 201–209. – Rosemarie Eichinger: Georg Tannstetters ›Artificium ad applicatione astrologiae ad medicinam‹. Eine iatromathemat. Vorlesung u. wissenschaftsgeschichtl. Rarität. In: Mensch, Wiss., Magie 22 (2002), S. 3–19. Wolf-Dieter Müller-Jahncke
Herr von Falkenstein, seit dem 15. Jh. bezeugt. – Volksballade Der »Herr von Falkenstein« (H.) ist die handelnde Person einer älteren dt. Volksballade: »Es reit der Herr von Falckenstein wohl über ein breite Haide ...« Der Liedtext wird in einer Fassung des 16. Jh. in »Hessen« lokalisiert; eine Nürnberger Liedflugschrift um 1530 hat »Im Wirtenberger land do leyt ein Schloss ...«. Auch ein Bezug zur Burg Falkenstein bei Freiburg i. Br. ist vom Lied her nicht nachweisbar. Eine genauere regionale Zuordnung der Handlung entspricht nicht den Gattungscharakteristika; die fiktive Person handelt in einer stilisierten Umgebung. Enthistorisierung gehört zum Stilmerkmal der Volksballade. H. reitet »über die Heide« (unheilkündende epische Formel). Er begegnet einer Frau,
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will aber seinen Gefangenen, ihren Mann, nicht herausgeben; ein Grund für die Gefangennahme des Mannes ist nicht genannt. (Eine Fassung: Sie soll nicht trauern, sondern sich einen anderen Mann nehmen.) Szenenwechsel: Sie geht »zum Turm« des Herrn (epische Formel der Konfrontation). Die Frau will nun selbst kämpfen. Da das gegen die ritterl. Ehre verstößt, darf sie ihren Liebsten mitnehmen. (In einigen Varianten fordert sie sogar einen Geleitbrief.) »Aus dem Land« will das Paar jedoch nicht flüchten; der Mann beharrt auf seiner Unschuld. Die konzentrierte Handlung wird durch eine stereotype Verfasserformel abgeschlossen. Die für dt. Volksballadentexte ungewöhnl. Tatkraft der Frau bricht die Enge feudaler u. weitgehend männlich bestimmter Standesherrlichkeit auf. Dieses Problem diskutiert ein solcher Text vom Anfang des 16. bis zum 18. Jh. u. birgt damit ein krit. Potential. Eine nähere Datierung ist allerdings nicht möglich. Die Verwendung des Liedanfangs als Tonangabe (Melodieverweis für ein anderes Lied) dokumentiert die Popularität der Volksballade bereits vor 1500 (vgl. Franz Jostes. In: Niederdt. Jb. 14, 1888, S. 79: »Ic sach den here van Nazareth op enen ezel rijden ...« im Ton: »Ic sach den heren van Valkensteen« [niederländ. Melodie dazu belegt 1539]). Die Stralsunder Chronik nennt das Lied unter dem Jahr 1543. »Ich sahe mir den Herrn von Falchenstein, schenck ein, sauff aus, trinck rumb, kole meh ...« steht im Venus-Gärtlein (1656; Hg. Freiherr von Waldberg. Halle 1890, S. 198 f.). Ott (1544) hat eine Melodie zu »Es ligt ein hauß im Oberlandt ... da reyt der Herr von Falckenstein«. Abgesehen von niederländ. Frühbelegen im 15. Jh. (Tonangaben mit Liedanfang), deren Zuordnung unsicher bleibt, ist diese Volksballade niederdt. (Reifferscheid, Westfalen 1879, mit Melodie: Ick sach min Heern van Valkensteen ..., [mit Kommentar]; Paul Alpers: Alte niederdt. Volkslieder. Münster 1960, Nr. 12, mit Melodie) u. hochdt. überliefert: Wunderhorn Bd. 1, 1806, S. 255 (nach Herder 1777; das angegebene »Fliegende Blatt« [Liedflugschrift] hat sich nicht ermitteln lassen; vertont von Johannes Brahms); Erk-Böhme (1893/94) Nr. 62; Dt. Volkslieder
Herrad von Hohenburg
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mit ihren Melodien: Balladen Bd. 1. Bln. 1935, Nr. 21 (Edition u. Kommentar zu Text u. Melodie; weitere Hinweise); RöhrichBrednich Bd. 1, 1965, Nr.31 (mit Melodie); Strobach: Droben auf jenem Berge (1984), Nr. 7 d u. f (mit Melodie u. Kommentar); Wunderhorn-Rölleke Bd. 1, 1987, S. 255; Otto Holzapfel: Das große dt. Volksballadenbuch. Düsseld. 2000, S. 174 (mit Kommentar); Otto Holzapfel: Liedverzeichnis. Hildesh. 2006 (Volksballaden-Index G 7, Kommentar u. weitere bibliogr. Hinweise). – Das Lied steht in gängigen Gebrauchsliederbüchern: Hans Breuer: Zupfgeigenhansl (Auflage 1913/30), S. 60 (mit Melodie); Kaiserliederbuch (1915) Nr. 480 (mit Melodie); Lautenlied (1931/39; mit Melodie); Unser dickes Liederbuch (1985; mit Melodie). – Verwiesen wird auf eine engl. Volksballade mit einem vergleichbaren Inhalt (Child Nr. 209) u. auf skandinav. Parallelen (Otto Holzapfel, Folkevise u. Volksballade. München 1976, S. 44: DgF 186–188, TSB E 32, D 203, E 31). Literatur: Uhland (1844/45) Nr. 124 A–C. – Paul Alpers. In: Niederdt. Jb. 38 (1912), S. 30–34. – Louis Pinck: Volkslieder v. Goethe im Elsaß gesammelt [1771] (1932), S. 72. – Jürgen Dittmar: H. v. F. In: VL. – Hermann Strobach: Volkslieder, gesammelt v. Johann Wolfgang Goethe [1771]. Weimar 1982, S. 43 f. – Heinz Rölleke (Hg.): Das Volksliederbuch. Köln 1993, S. 160 (mit Melodie)
zum Stelldichein. Der Ehemann glaubt nun, seine Frau der Untreue überführen zu können u. erscheint verkleidet anstelle des Werbers, wird aber von den Knappen so jämmerlich verprügelt, dass er sich zu erkennen geben u. sein ungerechtfertigtes Misstrauen eingestehen muss. Das Epimythion rügt das Misstrauen u. warnt davor, übertriebene Freundschaftsbeweise zu verlangen. Die schwankhaften Elemente der Erzählung treten gegenüber dem ernsten Grundton zurück. Eine Variante des Stoffs (ohne die Vorgeschichte der missglückten Ehen) erzählt das Märe Bestraftes Mißtrauen. Ausgabe: Heinrich Niewöhner: Neues Gesamtabenteuer. 2. Aufl. hg. v. Werner Simon. Dublin/ Zürich 1967, S. 192–201. Literatur: Karl-Heinz Schirmer: Stil- u. Motivuntersuchungen zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969, S. 223–226 u. ö. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 351 (Bibliogr.). – Werner Williams-Krapp: H. m. d. v. F. In: VL. – Mittelalterl. Novellistik im europ. Kontext. Kulturwiss. Perspektiven. Hg. Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber u. Christopher Young. Bln. 2006. – Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA. Tüb. 2006 (Register). Ulla Williams / Red.
Herrad von Hohenburg, früher irrig H. von Landsberg genannt, † nach 1196. – Äbtissin des Augustinerkanonissenstifts Hohenburg im Elsass (heute: MontHerr mit den vier Frauen. – Spätmit- Sainte-Odile/Odilienberg, Bas-Rhin). telalterliches Märe, Anfang 14. Jh. Otto Holzapfel
Das anonym überlieferte Märe (570 Verse) erzählt die Geschichte eines reichen Herrn, dem kein Eheglück beschieden zu sein scheint. Seine drei ersten Frauen ertappt er beim Ehebruch, wofür er sie tötet. Ein Zufall führt ihn schließlich zum edlen, aber armen Nachbarn, dessen älteste Tochter er heiratet. Trotz des makellosen Wandels seiner vierten Frau kann er sein zwanghaftes Misstrauen nicht überwinden. Um sie zu prüfen, beauftragt er seinen Lehnsmann, sie zu umwerben. Um den lästigen Freier nach zweijähriger erfolgloser Werbung endlich loszuwerden, gibt die Frau seinen Wünschen scheinbar nach, bestellt aber auch ihre beiden Knappen
Für die Jahre 1178–1196 ist H. als Äbtissin von Hohenburg urkundlich genannt. Dies sind die einzigen gesicherten äußeren Lebensnachrichten. In ihrer Sammelhandschrift Hortus deliciarum (Garten der Wonnen), einem Hauptwerk stauf. Literatur u. Kunst, spiegeln sich Züge ihrer Persönlichkeit: Intelligenz, Tatkraft, Belesenheit, eine intensive Beziehung zu den ihr anvertrauten Kanonissen, denen sie den Hortus widmete, u. Verehrung für ihre Amtsvorgängerin Relindis (mit der gemeinsam H. sich auf einem in Odilienberg erhaltenen steinernen Bildpfeiler darstellen ließ). Die Handschrift des Hortus ist 1870 in der Straßburger Bibliothek verbrannt. Ältere
Herrad von Hohenburg
Abschriften, Pausen u. Beschreibungen vermitteln aber eine detaillierte Vorstellung von Aufbau, Text u. Illustrierung des riesigen (etwa 50 x 37 cm), damals noch 324 Folien umfassenden Codex. Sie ermöglichten die Rekonstruktion von 1979. Über Entstehungsumstände des Hortus ist nur bekannt, dass H. sich im Vorwort die Kompilation selbst zuschreibt. Die mehrfache rühmende Erwähnung der Relindis hat vermuten lassen, diese habe das Werk begonnen; die als Stütze angeführten, 1159 u. 1175 datierten Kalendertabellen geben jedoch keinen Hinweis auf den Zeitpunkt ihrer Übertragung in den Hortus. Man darf annehmen, dass das umfangreiche Unternehmen längere Zeit beansprucht hat u. dass H. theologisch versierte Helfer besaß (GedichtAkrostichen nennen Hugo sacerdos, Conradus Hohenburgensis u. Godescalcus). Zahlreiche Blätter kleineren Formats waren eingefügt. Eine Änderung im redaktionellen Verfahren deutete sich ab fol. 264r durch Bilderlosigkeit u. ein überlanges Sentenzenzitat an. Ob H. den Hortus vollendet sah, wird oft bezweifelt; allerdings scheint die Miniaturenausstattung aus einem Guss gewesen zu sein, eine Papstliste gegen Ende der Handschrift hat ihre Endgestalt 1188–1191 (Clemens III.) erhalten, u. das Schlussbild (fol. 323r) zeigte H. mit den Hohenburger Stiftsdamen »temporibus Rilindis et Herradis abbatissarum«. Der Titel stellt das Werk in eine Tradition geistl. Anthologien. Wie H. im Vorwort ausführt, soll es den Stiftsdamen als Anleitung zum vollen Verständnis ihrer Lebensform u. als Wegweiser zum Paradies dienen. Es bietet eine Art Enzyklopädie des christl. Glaubens in prakt. Zusammenfassung. Das Grundkonzept hat Parallelen in der zeitgenöss. theolog. Literatur: Als Rahmen dient die Heilsgeschichte; sie gibt Gelegenheit zu sorgsam geplanten Exkursen. So führt z.B. die Schöpfung zu Erläuterungen über die Trinität u. kosmolog. sowie geografische Fragen. Von Noe ausgehend kommt die Rede auf Philosophie u. Freie Künste. Abrahams Zehntgabe an Melchisedech führt auf die Rechtmäßigkeit des Zehnten, die babylonische Gefangenschaft auf die Übersetzerle-
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gende der Septuaginta. AT u. NT erscheinen, im Sinne der zeitübl. Typologie, als konsequente Folge. Nach Schilderung der Apostelzeit verlässt H. das Prinzip einer Darstellung nach der Reihenfolge der histor. Ereignisse. Mittels komplexer textl. u. bildl. Allegorien deutet sie die Kirche u. das Leben des Christen im myst., überzeitl. Sinn. Nachapostolische Welt- u. Kirchengeschichte haben im Hortus so gut wie keinen Platz. Bezeichnend für diesen Teil des Codex sind Bildthemen wie die Krönung der Kirche durch Christus, ein breit dargestellter Kampf zwischen Tugenden u. Lastern, ein allegor. Salomonzyklus, Fortuna-Rad u. Tugendleiter. Es folgten Apokalypse, Weltgericht u. eine Art Anhang mit theolog., kirchenrechtl. u. sonstigen Informationen. H. entnimmt die 1165 unterschiedlich großen Texteinheiten ihres Werks nur zum kleinsten Teil der Bibel. Vielmehr ist der Hortus geprägt durch Lieblingsautoren des 12. Jh.: Honorius Augustodunensis, Rupert von Deutz u. Petrus Lombardus. Namentlich der popularisierende Honorius kam offenkundig H.s Absichten entgegen. Einige moderne Autoren sind vertreten: Petrus Comestor, Walther von Châtillon, Geoffroy de Saint-Thierry. Ein Teil der übrigen Texte, darunter die patristischen Zitate, dürfte Florilegien entnommen sein. Konzept u. Verwirklichung der Sammlung sind als Leistung zu sehen, der wenig Vergleichbares an die Seite zu stellen ist (ebenfalls illustriert, aber weniger systematisch der früher entstandene Liber floridus des Lambert von Saint-Omer). Die lat. Texte waren mit rund 1250 marginal oder interlinear gesetzten Glossen versehen. Teils handelte es sich bei diesen auf der Isidor-Bearbeitung Summarium Heinrici fußenden Erläuterungen um lat. Synonyme, teils um frühmhd. Übersetzungen in grammatikalisch angeglichener Form. Deren Sprache ist Oberdeutsch mit gelegentlichen lokalen Neubildungen. Gewisse moderne Merkmale deutet Curschmann als Indiz für bair. Einfluss; auch die Namen mehrerer im Hortus aufgeführter Kanonissen deuten auf diese Region.
Herrand von Wildonie
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Ein Merkmal des Hortus war seine reiche, künstlerisch wie ikonografisch hochrangige Illustration: 153 fast durchweg ganzseitige Bilder mit fast 350 Szenen, Federzeichnungen mit Deckfarben. Gemeinsam mit den Texten konzipiert, dienten sie teils zur Illustration im konventionellen Sinn. Andere, etwa der gefangene Leviathan (fol. 84r), die Sirenen (fol. 221v) u. die Kirchenallegorien, sind originell u., zumindest teilweise, sicher ad hoc erfunden, weil nur im Kontext des Hortus verständlich u. dessen Texte ergänzend. Namentlich der (Straßburger?) Hauptmeister war nicht nur ein souveräner Zeichner, sondern er verstand es auch, die vom Auftraggeber gestellten, mitunter höchst komplizierten Aufgaben in plausible Kompositionen umzusetzen. Ausgaben: Rosalie Green, Michael Evans, Christine Bischoff, Michael Curschmann, T. Julian Brown u. Kenneth Levy: H. of H., ›Hortus deliciarum‹. Bd. 1: Commentary. Bd. 2: Reconstruction. London/Leiden 1979 (ältere Lit.). Literatur: Michael Curschmann: Texte, Bilder, Strukturen. Der ›Hortus deliciarum‹ u. die frühmhd. Geistlichendichtung. In: DVjs 55 (1981), S. 379–418. – Ders.: H. v. H. In: VL. – Christina Lutter: Text u. Geschlecht. Lesende u. schreibende Frauen im 12. Jh. In: Text als Realie. Wien 2003, S. 63–80. – Otto Gerhard Oexle: Relind u. H. v. H. u. die Entstehung des ›Hortus deliciarum‹. In: Retour aux sources. FS Michel Parisse. Paris 2004, S. 551–561. – Fiona J. Griffiths: The Garden of Delights. Reform and Renaissance for Women in the Twelfth Century. Philadelphia 2007. Peter Diemer / Red.
Herrand von Wildonie, H. von Wildon, * um 1230 (?), † zwischen 1278 u. 1282 (?). – Verfasser von Minneliedern u. Verserzählungen. Bei dem Dichter handelt es sich mit zieml. Sicherheit um den 1248–1278 häufig urkundenden Herrand (II.) von Wildonie, der einer steiermärk. Ministerialenfamilie entstammte u. in der Zeit des Interregnums als Truchsess von Steier eine wichtige Rolle in der österr. Landespolitik spielte. H. verfolgte die gleichen polit. Ziele wie sein Schwiegervater Ulrich von Lichtenstein, der ihn auch literarisch beeinflusste. In der Österreichischen Reimchro-
nik Ottokars von Steiermark u. im Renner Hugos von Trimberg wird er mehrfach erwähnt. Die Nennung H.s als Lieddichter im Renner neben bekannten Sängern des 12. u. 13. Jh. lässt vermuten, dass sein lyr. Werk umfangreicher war, als die Überlieferung es dokumentiert. Mit Elementen wie Natureingang, Frauenpreis, Anrufung der Minne u. der Aufgabe des Sängers, dem Publikum Freude zu vermitteln, schließen sich die drei Lieder in der Großen Heidelberger Liederhandschrift eng an die hochhöf. Minnesangtradition an. Bedeutender sind vier kurze Verserzählungen, die im Ambraser Heldenbuch – Der nackte Kaiser zudem als Prosaauflösung des 15. Jh. – überliefert sind. Die von H. selbstbewusst mit seinem Namen versehenen Erzählungen gehen auf gemeineurop. Erzählgut zurück; doch gestaltet er die Stoffe eigenständig u. thematisiert dabei allg. Anliegen höf. Lebens. Während das höf. Märe Die treue Gattin u. das Schwankmäre Der betrogene Gatte die ehel. Treue behandeln, geht es in den beiden anderen Erzählungen – vor dem Hintergrund des Interregnums – um die Treuebindung im gesellschaftl. Leben. Der Fürstenlehre in der Mirakelerzählung Der nackte Kaiser – der pflichtvergessene, überhebl. Kaiser Gorneus wandelt sich zum vorbildl. Herrscher – steht in der Fabel Die Katze – ein Kater verlässt seine Frau auf der Suche nach einer mächtigeren Gebieterin, eine Queste, die ihn am Ende zur Katze zurückführt – eine Verhaltenslehre für Lehensleute gegenüber. H. ist der erste adlige Gelegenheitsdichter, der in der neuen Gattung Märe produktiv wird. Neben Ulrich von Lichtenstein wirkte v. a. der Stricker auf seine Dichtung. Ausgaben: H. v. W.: Vier E.en. Hg. Hanns Fischer. Tüb. 21969. – Carl v. Kraus (Hg.): Dt. Liederdichter des 13. Jh. Bd. 1: Text. Tüb. 21978, S. 588 f. – Wernfried Hofmeister: Die steir. Minnesänger. Ed., Übers., Komm. Göpp. 1987, S. 79–102. – Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MA. Märendichtung. Ffm. 1996, S. 96–111; 1064–1070: ›Die treue Gattin‹ (mit nhd. Übers.). – Kleinere mhd. Verserzählungen. Ausgw., übers. u. komm. v. Jürgen Schulz-Grobert. Stgt. 2006, S. 64–85; 260–264: ›Der betrogene Gatte‹.
Herrenschmidt Literatur: Edward Schröder: H. v. W. u. Ulrich v. Lichtenstein. In: Göttinger Gelehrten Nachrichten (1923), S. 23–62. – Michael Curschmann: Zur literarhistor. Stellung H.s v. W. In: DVjs 40 (1966), S. 56–79. – Ders.: Ein neuer Fund zur Überlieferung des ›Nackten Kaisers‹ v. H. v. W. In: ZfdPh 86 (1967), S. 22–58. – John Margetts: Scenic Significance in the Work of H. v. W. In: Neoph. 54 (1970), S. 142–148. – Heribert Hoven: Studien zur Erotik in der dt. Märendichtung, Göpp. 1979, S. 65 f. – J. Margetts: H. v. W.: The political intentions of ›Der blöze keiser‹ and ›Diu katze‹. In: Glyn S. Burgess (Hg.): Court and Poet. Liverpool 1981, S. 249–266. – M. Curschmann: H. v. W. In: VL (Lit.). – Hansjürgen Linke: Schein u. Sein in den Erzählungen H.s v. W. In: Horst Brunner u. Werner WilliamsKrapp (Hg.): Forsch.en zur dt. Lit. des SpätMA. FS Johannes Janota. Tüb. 2003, S. 1–13. – Barbara Weber: Œuvre-Zusammensetzungen bei den Minnesängern des 13. Jh. Göpp. 1995 (Register). – Christiane Witthöft: Ritual u. Text. Formen symbol. Kommunikation in der Historiographie u. Lit. des SpätMA. Darmst. 2004 (Register). Claudia Händl
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Buße aufzurufen. Sozialkritische Töne, Angriffe auf die Erscheinungsformen des A-lamode-Wesens, verbanden sich dabei mit einer typolog. Allegorese der bibl. Exempel (Hierosolyma Nordlingensis Oder das Nördlingische Jerusalem. o. O. 1635). Weitere Werke: Neu-Jahrs-Predigten. Ulm 1619. – Thaumaturgia Sacra. Nürnb. 1625. – Geistl. Posaunen-Schall. Nürnb. 1629. – Geistl. Sommeru. Winter Freud. Nürnb. 1631. – Salomo Suedicus (zum Tod Gustav Adolphs). Nördlingen 1633. – Postilla neo-symbolica. Wittenb. 1634. – Jobi Diarium. Nördlingen 1637. – Evang. Garten-Postill. Nördlingen 1637. – Evang. Bibl. Nördlingen 1638. – Die geistl. Sprichwörter-Postill. Nördlingen 1638. Literatur: Jöcher (ergänzend dazu: Johann Georg Angerer in: Gesammlete Früchte der Bemühungen der zu Oettingen im Ries vereinigten Gesellsch. der schönen Wiss.en. 5. Stück, Tl. 2 [1752], S. 355–367). – Heiduk/Neumeister, S. 376. – Philippe Herrenschmidt: Survol d’une famille alsacienne [...]. La famille Herrenschmidt. Straßb. 1985. Wilhelm Kühlmann
Herrenschmidt, Jacob, * 14.10.1581 Oet- Herrig, Hans, * 10. 12. 1845 Brauntingen/Ries, † 5.3.1641 Nördlingen. – schweig, † 4. 5. 1892 Weimar. – JournaLutherischer Prediger u. Schriftsteller. list, Schriftsteller, Dramatiker. H. gehörte zu einer weitverzweigten u. bis ins 19. Jh. blühenden Gelehrten- u. Pfarrerdynastie. Er studierte in Jena (?) u. Wittenberg (1602) u. wurde dann Diakon in Oettingen (1605), Pfarrer in Klosterzimmern (1611) u. Superintendent von Harburg (1629–1634). Infolge der militärischen Katastrophe der Protestanten in Süddeutschland (Schlacht bei Nördlingen 1634) floh er nach Nördlingen u. wirkte dort seit 1635 ebenfalls als Superintendent. H.s Werk ist kaum übersehbar u. bisher selbst bibliografisch nur in Ansätzen erfasst. Es umgreift zunächst lat. Traktate, darunter eine Schrift über das Fastnachtswesen (Peripateticus orgiorum. Nürnb. 1626). In Predigten u. Erbauungswerken akzentuierte H. die Anliegen der luth. Reformorthodoxie, die Regelung des öffentl. u. privaten Lebens auf der Basis eines streng biblisch orientierten Christentums u. privater Andachtsübungen (Geistlicher Haus-Vatter. Nürnb. 1628). Die Geschicke seiner Heimatregion, das Elend des Kriegs u. der Pest, nahm H. zum Anlass, zur
Nach dem frühen Tod seines Vaters seit 1859 in Berlin von dem (gleichfalls aus Braunschweig gebürtigen) Schulmann u. Begründer neuphilologisch-humanistischer Studien, seinem Onkel Ludwig Herrig, erzogen, studierte H. zunächst Jurisprudenz in Göttingen u. arbeitete als Auskultator am Berliner Stadtgericht, ehe er sich 1871 dem Journalismus (als Feuilletonredakteur am »Deutschen Tageblatt«) u. dem freien Schriftstellerberuf zuwandte – in Berlin bis 1888, dann in Weimar, wo er 46-jährig an Gehirnerweichung starb (Beisetzung auf eigenen Wunsch in Braunschweig). In ästhetisch-dramaturgischen Schriften vertrat H., zur Förderung patriotisch-nationaler u. geschichtsidealistisch-christl. Gesinnung, volkspädagogisch wirksame Bühnenreformen u. eine ebensolche Theaterpraxis: Die Meininger, ihre Gastspiele und deren Bedeutung für das deutsche Theater (1879. 21880/81), Luxustheater und Volksbühne (1887), Ueber christliche Volksschauspiele (1890). Dem galt, im Rückgriff auf vorchristlich-antike, -jüd. u.
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Herrmann
-german., frühchristl., staufer-, reforma- Herrmann, Klaus, * 4.8.1903 Guben, tions- u. frühneuzeitl. Geschichtsparadig- † 22.4.1972 Weimar. – Romancier u. men, desgleichen seine Dramenproduktion: Dramatiker. Alexander (1872. 21879), Kaiser Friedrich der Der Sohn eines Fabrikanten studierte in Jena Rothbart (1873. 41890), Jerusalem (1874), Der u. Berlin Geschichte u. Germanistik. In den 2 3 Kurprinz (1876. 1884), Konradin (1881. 1885), 1920er Jahren war er Journalist, Verlagslektor Drei Operndichtungen (Alexius, Gemininanus, u. Redakteur beim Rundfunk, für den er 1929 Harald der Wikinger. 1881), Nero (1883), Coeine Hörspielfassung von Hans Falladas Kleilumbus (1887); insbes. sein zur Feier des 400ner Mann – was nun? schrieb. Seit Anfang der jährigen Geburtstags des Reformators als 1930er Jahre freier Schriftsteller, zog H. 1949 nationales »Volksschauspiel« u. »kirchliches in die DDR, wurde dort 1952 Mitgl. des Festspiel« 1883 erstmals in Worms (1888 P.E.N.-Clubs u. war 1959–1971 Generalseauch in der Braunschweiger Aegidienkirche) kretär der Deutschen Schiller-Stiftung. aufgeführtes Erfolgsstück Martin Luther Nach wenig erfolgreichen Bühnenstücken 7 (1883. 1888); nicht zuletzt auch das »Weihverfasste H. histor. Romane wie Babylonischer nachtsspiel für die Volksbühne« Christnacht Sommer (Hbg. 1948) u. Die Nacht sinkt auf Ba(1887). H.s christlich-nationales Kaiser- u. bylon (Bln./DDR 1971. Bln. 31990), in denen er Geschichtsbild demonstriert ebenso sein den Reiz antiker Bräuche u. Atmosphäre umfängliches, mit Initialen u. Abbildungen ausspielte. reich ausgestattetes »Prachtwerk« Das KaiserIn seinen beiden Erzählungen Der Abschied buch. Acht Jahrhunderte deutsche Geschichte von (Weimar 1959) u. Ankunft der Sieger (Bln./DDR Karl d. Gr. bis Maximilian I. (Bln. 1890). Pos1970) versuchte H., in Goethescher Manier tum, in Reclams »Universalbibliothek«, errevolutionäre Ereignisse in privaten Begeschienen seine Gesammelten Aufsätze über Schobenheiten u. alltägl. Gesprächen widerzupenhauer (Hg. Eduard Grisebach. Lpz. 1894), spiegeln. Das gelang ihm zwar nur epigonal in denen er zgl. die Kunstauffassung R. u. betulich, doch ist im Abschied die DarstelWagners, Darwins Evolutionstheorie, das lung von Schillers verlassener Geliebter Christentum u. die Philosophie SchopenCharlotte von Kalb – ihre halbbewusste Teilhauers (einschließlich seiner »Schüler« E. von nahme am Gespräch, ihre quasi automatische Hartmann u. J. Bahnsen) geschichtsidealisFantasietätigkeit, scharfe Urteilsfähigkeit bei tisch harmonisiert u. als zukunftsweisend gleichzeitiger Resignation – ein, wenn auch propagiert. noch einfacher, Vorgriff auf Christa Wolfs Weitere Werke: Auswahlausgabe: Ges. Schr.en. 7 Günderrode in Kein Ort. Nirgends. Bde., Bln. 1886–91. – Einzelne Werke: Ein unentH.s Roman Die guten Jahre (Weimar 1963) ist deckter Dramatiker [Hans Graf v. Veltheim]. In: Braunschweiger Tageblatt 1873 (Jan.), Nr. 3–6, 4–8 eine verdichtete Fassung einer in den 1950er (Ess.). – Die Schweine. Humoristisches Gedicht. Jahren geschriebenen Trilogie u. reiht sich in Bln. 1876. – Mären u. Gesch.n. Ges. kleinere die zu jener Zeit in der DDR modischen FaDichtungen. Bln. 1878. – Grundlinien einer dt. miliensagas ein, deren Geschichte irgendKunstanschauung. Aesthetische Anregungen. Bln. wann im Kaiserreich beginnt u. mit dem 1879. – Der dicke König. Bln. 1885 (Verserzählung). glückl. Ankommen in der sozialistischen – Drei Jahrhunderte am Rhein. Schausp. für die Gesellschaft endet. H. erzählt jedoch aus auVolksbühne. Bln. 1889. tobiogr. Gründen nicht etwa einen proletar. Literatur: Arnold Fokke: Über H. H. Wil- Lebenslauf, sondern den Weg einer Fabrihelmshaven/Emden 1891. – Ludwig Fränkel: H. H. kantenfamilie. In: ADB. – Kosch TL. – Eberhard Rohse: H. H. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. Günter Scheel. Hann. 1996, S. 266. Eberhard Rohse
Weitere Werke: Die ägypt. Hochzeit. Weimar 1951. – Der Brand v. Byzanz. Weimar 1955. Bln. 5 1990. – Der Erbe. Weimar 1956. – Der Sommer nahm kein Ende. Weimar 1958. – Schatten im März. Weimar 1959.
Herrmann-Neiße Literatur: Heinz Dieter Tschörtner: K. H. u. seine Bücher. In: Aus dem Antiquariat (2001), S. A284–A288 (mit Bibliogr.). Detlef Holland / Red.
Herrmann-Neiße, Max, eigentl.: M. Herrmann, * 23.5.1886 Neiße, † 8.4.1941 London; Grabstätte: ebd., Marylebone Friedhof. – Lyriker, Erzähler, Komödienautor, Kritiker. H., Sohn eines Kaufmanns, besuchte das humanistische Gymnasium in der schles. Provinzstadt Neiße. Seine ersten, während der letzten Schuljahre nach dem Vorbild Heines u. Liliencrons entstandenen Gedichte erschienen bereits 1906 u. d. T. Ein kleines Leben in Straßburg. In ihnen versuchte er, das »Leiden unter meinem körperhaften Missgeschick und unter der üblichen Brutalität meiner Mitschüler gegen den wehrlosen Buckligen« zu verarbeiten. 1905 begann er zunächst in München, dann in Breslau das Studium der Literatur- u. Kunstgeschichte, kehrte aber 1909 enttäuscht von dem schulmeisterl. Lehrbetrieb nach Neiße zurück u. arbeitete dort als Theaterkritiker für das »Neisser Tageblatt«. Ab 1911 hatte H. erste Kontakte zu Vertretern des Expressionismus. So veröffentlichten Franz Pfemfert in der »Aktion« u. Alfred Kerr im »Pan« Gedichte H.s. Sein Lyrikband Das Buch Franziskus (Bln. 1911) steht jedoch noch ganz in der Tradition der Jahrhundertwende u. ist stilistisch eher an Hofmannsthal oder dem jungen Rilke orientiert. Seinem Vorbild u. späteren Förderer Kerr widmete H. den Gedichtband Porträte des Provinztheaters (Bln. 1913), in dem er durch karikierende Beschreibungen die Provinzialität seiner Heimatstadt entlarvt. Die Thematik der kleinbürgerl. Enge, die gleichzeitig auch die Geborgenheit der Heimat vermittelt, nahm H. nochmals in seinem 1914 entstandenen, wegen Zensurschwierigkeiten erst 1920 erschienenen Roman Cajetan Schaltermann (Mchn.) auf. Dieser autobiografisch gefärbte Text zeugt von H.s pazifistischer Haltung; er war einer der wenigen, die nicht dem Kriegstaumel des Jahres 1914 erlagen.
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Zeitkritische Artikel veröffentlichte H. auch während des Kriegs in Zeitschriften wie »Die Weißen Blätter«, »Sirius« oder »ZeitEcho«. Um der bedrückenden Enge Neißes zu entfliehen, ging er Anfang 1917 mit seiner späteren Frau Leni Gebek nach Berlin. Bis 1924 waren seine Prosa, z.B. die Erzählungen Hilflose Augen (Wien/Prag/Lpz. 1920) oder der Roman Der Flüchtling (Potsdam 1921), wie auch seine Lyrik, z.B. Empörung. Andacht. Ewigkeit (Lpz. 1918), stark von expressionistischer Sprachgestaltung beeinflusst. Grundlegend für H.s Lyrik blieb aber stets, dass er in seinen Gedichten die Perspektive erlebender u. erleidender Subjektivität beibehielt. Sie vermitteln unmittelbar, ob in seiner Empörung über die Verhärtung der Gesellschaft (Preisgabe. Mchn. 1919) oder in der Klage der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat (Verbannung. Bln. 1919), die persönl. Gefühlslage des Autors u. können als eine »einzige große Autobiographie« (Feuchtwanger) angesehen werden. In den Jahren 1919–1922 trat H. auch als Komödienautor in Erscheinung. Sein erfolgreichstes Stück Joseph der Sieger (Dresden 1919) wurde u. d. T. Albine und Aujust in Berlin aufgeführt, eine Parodie auf Gerhart Hauptmanns Und Pippa tanzt. In romantisch-iron. Manier trat H. selbst in der Rolle des Autors in seinem Stück auf. Den weiteren, am Kabarett orientierten Einaktern u. Komödien im Wedekind’schen Stil blieb jedoch größerer Erfolg versagt. In den frühen 1920er Jahren war H.s publizistische Tätigkeit geprägt von Forderungen nach einer revolutionär-proletar. Kunst, die er im Umkreis von Pfemferts »Aktion« (z.B. Die bürgerliche Literatur und das Proletariat. Bln. 1922) veröffentlichte. Diese Absage an die bürgerl. Literaturtradition zugunsten einer klassenlosen Kunst fand jedoch keinen direkten Ausdruck in seiner Lyrik. Seine Buch- u. Theaterkritiken ab Mitte der 1920er Jahre, u. a. im »Berliner-Börsen-Courier«, »Kölner Tageblatt« u. 1926–1932 in der »Literarischen Welt«, zeugen wieder von einer stärkeren Aufnahme der literar. Tradition. Auch in der Lyrik nach den Jahren des Expressionismus suchte H. stilistisch wieder Anschluss an die Tradition des 19. Jh. Paral-
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Herrndorf
lelen zur Neuen Sachlichkeit zeigten sich Bln. 1991. – Jutta Kepser: Utopie u. Satire. Die höchstens im Motiv der oft behandelten Prosadichtung v. M. H.-N. Würzb. 1996. – Jelko Großstadtproblematik, nicht aber in der Peters: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. M. Nüchternheit des Sprachgestus. Sein Gespür H.-N. im Londoner Exil. In: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer für die Krisenhaftigkeit der Weimarer Repudes Nationalsozialismus. Bln. 2000, S. 189–201. – blik u. seine Vorausahnung der polit. Ent- Y.-P. Alefeld: Opferrituale. Vom Expressionismus wicklung lassen sich in den melancholisch- zur polit. Wirklichkeit. Georg Heym, Franz Jung, impressionistischen Gedichten der Bände M. H.-N. In: F.-L. Kroll (Hg.): Schlesien. Literar. Einsame Stimme (Bln. 1927) u. Musik der Nacht Spiegelungen im Werk der Dichter. Bln. 2000, S. 55–73. – Klaus Schuhmann: ›Ich gehe wie ich (Bln. 1932. Gütersloh 2004) ablesen. Trotz öffentl. Anerkennung – 1924 erhielt kam: arm u. verachtet‹. Leben u. Werk M. H.-N.s er den Eichendorff-Preis, 1927 den Gerhart- (1886–1941). Bielef. 2003. – Richard Dove: ›Fremd Hauptmann-Preis – blieb H. als Dichter ein ist die Stadt und leer ...‹. Fünf dt. u. österr. Schriftsteller im Londoner Exil 1933–1945. Aus Außenseiter der Literatur dieser Zeit. Nachdem Engl. v. Hellmut Roemer. Bln. 2004. dem er aus eth. Gründen emigriert war –1933 Heiner Widdig / Red. über Zürich u. Paris nach London; 1938 wurde ihm die dt. Staatsbürgerschaft aberkannt – geriet er immer mehr in Verges- Herrndorf, Wolfgang, * 12.6.1965 Hamsenheit. Im Exil konnte er nur den Gedicht- burg. – Prosaautor. band Um uns die Fremde (Zürich 1936) veröffentlichen, in dem er, wie in zahlreichen an- H. studierte an der Kunsthochschule Nürnderen Exilgedichten, seine Einsamkeit u. berg. Als Maler u. Illustrator arbeitete er u. a. Verlorenheit durch den Verlust der Heimat für die Satirezeitschrift »Titanic« u. gestalartikulierte. Sein Tod 1941 blieb ohne große tete Buchcover. Er lebt in Berlin. 2008 erhielt Resonanz, nur enge Freunde wie Alfred Kerr er den erstmals vergebenen Deutschen Eroder Stefan Zweig erinnerten in der Exil- zählerpreis. H.s Debütroman In Plüschgewittern (Ffm. presse an ihn. Versuche, das Werk H.s nach dem Krieg wieder ins Bewusstsein einer 2002) erzählt aus der Perspektive eines junbreiteren Öffentlichkeit zu bringen, blieben gen Mannes von den Orientierungslosigkeierfolglos. Erst mit den von Klaus Völker her- ten u. Ich-Schwächen einer Generation. Der ausgegebenen Gesammelten Werken (10 Bde., im saturierten Westdeutschland der 1980er Ffm. 1986 ff.) deutet sich eine neue Rezeption Jahre aufgewachsene Erzähler reist Anfang des neuen Jahrtausends ziellos durch die Rean. Weitere Werke: Sie u. die Stadt. Bln. 1914 (L.). publik, lässt sich durch das Berliner Nacht– Die Laube der Seligen. Dresden 1919 (Kom.). – leben treiben u. vermag seine Umwelt ledigDer letzte Mensch. Jena 1922 (Kom.). – Im Stern des lich passiv u. abgestoßen zu beobachten. Mit Schmerzes. Bln. 1924 (L.). – Die Begegnung. Bln. seinem zynisch defensivem u. dabei dennoch 1927 (E.en.). – Der Todeskandidat. Bln. 1927 (E.). – detailversessenem Blick auf Gegenwart erinLetzte Gedichte. Aus dem Nachl. hg. v. Leni Herr- nert In Plüschgewittern an Texte der Poplitemann. London 1942. – Mir bleibt mein Lied. Aus ratur der 1990er Jahre, v. a. stark an Christian dem Nachl. hg. v. L. Herrmann. London 1942. – Krachts Roman Faserland (Köln 1995). Einer Erinnerung u. Exil. Zürich 1946 (L.). – Im Fremden breiteren Öffentlichkeit wurde H. erst mit ungewollt zuhaus. Hg. Herbert Hupka. Mchn. seinem Auftritt beim Ingeborg Bachmann1956 (L.). – Lied der Einsamkeit. Hg. Friedrich Wettbewerb 2004 bekannt, der mit dem PuGrieger. Mchn. 1961 (L.). – Ich gehe, wie ich kann. blikumspreis prämiert wurde. Der vorgetraHg. Bernd Jentzsch. Mchn./Wien 1979 (L.). gene Text bildet die Titelgeschichte des ErLiteratur: Friedrich Grieger: M. H. Eine Einf. in sein Werk. Mchn. 1951. – Rosemarie Lorenz: M. zählungsbandes Diesseits des Van-Allen-Gürtels H. Stgt. 1966. – Yvonne-Patricia Alefeld (Hg.): Der (Ffm. 2007), in dem sich H.s Talent der ChaDichter u. seine Stadt. M. H.-N. zum 50. Todestag. rakterzeichnung u. Szenografie deutlich Ratingen 1991. – Klaus Völker: M. H.-N. Künstler, ausdrückt. Mittels pointiert das psycholog. Kneipen, Kabaretts – Schlesien, Berlin, im Exil. Geschehen kommentierender Alltagsdialoge
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u. kalkulierter Selbstauskünfte der Protagonisten werden beziehungsreiche »short stories« erzählt, die jedoch nie auf klar auszulegende Pointen hinsteuern. Sämtliche Geschehnisse wirken unterschwellig bedeutungsvoll; zugleich lassen die jeweiligen Erzähler durch ihre abermals ironisch-distanzierende Attitüde Zweifel an ihrer tatsächl. Einordnung aufkommen. Die unzuverlässigen Erzähler des Bandes sind in Art eines »Reigens« miteinander verbunden; Nebenfiguren einer Geschichte werden in einer anderen zu Handlungsträgern. Dabei beschreibt u. benennt H. zahlreiche nichtfiktionale Personen seines realen Umfelds; diese gehören meist dem seit ca. 2004 Aufmerksamkeit erzeugendem Berliner Kunstu. PR-Projekt »Zentrale Intelligenz Agentur« an. Die sechs langen Erzählungen sind so über ihre sprachl. Raffinesse u. aggressive Komik hinaus konkrete Beschreibungen eines spezif. Berliner Milieus von Künstlern u. Projektemachern der Gegenwart; die Selbstdiagnose innerhalb einer der Geschichten lautet, »dass ich niemanden mehr in meinem Bekanntenkreis hatte, der einen Beruf hatte, von dem ich die Berufsbezeichnung wusste«. Florian Kessler
Hersch, Hermann, * 30.10.1821 Jüchen, † 27.7.1870 Berlin. – Lyriker u. Dramatiker.
Alonso Guzman der Getreue (Mchn. 1855) mit Erfolg auf. Von den weiteren Schauspielen war nur das – ebenfalls von Dingelstedt – 1858 aufgeführte Lustspiel Die Anna-Lise (Bln.) ein Bühnenerfolg (Vertonung als Operette Der alte Dessauer durch Otto Findeisen, 2 1914). Die nicht standesgemäße Liebe zwischen der Apothekertochter Anna-Lise u. dem Fürstensohn Leopold von Dessau führt allen Intrigen zum Trotz am Ende zur Heirat. Dabei ist dem Stück mit seinen komödienhaften Zügen u. einer oft derben Sprache (stereotyper Soldatenjargon Leopolds) eine sozialkrit. Intention nicht abzusprechen. Bekannt ist noch H.s dramat. Bearbeitung des antiken Stoffes um die Karthagerin Sophonisbe (Bln. 1857), deren todesmutiger Vaterlandsliebe H. in oft allzu pathet. Rede Ausdruck verleiht. Ab 1865 engagierte sich H., der 1855 nach Berlin zurückgekehrt war, verstärkt politisch; er wurde stellvertretender Bezirksvorsteher zweier Berliner Bezirke. Seine weiteren Dramen blieben weitgehend unbeachtet. Weitere Werke: Ulrich von Hutten. Trauersp. in fünf Akten. Köln 1848. – Merope. Drama in fünf Akten. Bln. 1858. – Die Ravensberger. Schausp. in fünf Akten. Bln. [1859]. – Maria v. Burgund. Schausp. in fünf Aufzügen. Ffm. 1860. – Eintausendsiebenhundertundvierzig. Histor. Lustsp. in vier Akten. Bln. 1861. – Benedictus Schwartz. Schausp. in drei Aufzügen. Bln. 1865. – Der Schmied v. Homburg. Schausp. in vier Aufzügen. Bln. 1865. – Mode-Puppen. Lustsp. in vier Aufzügen. Bln. 1868.
H., Sohn eines jüd. Religionslehrers, konnte Literatur: Goedeke Forts. Franziska Kraft trotz Begabung aus finanziellen Gründen das Gymnasium nicht besuchen u. war nach der Realschule sieben Jahre als Kaufmann tätig, Hertz, Wilhelm (Carl Heinrich) von (geehe ihm Freunde 1847 ein dreijähriges Phiadelt 1897), * 24.9.1835 Stuttgart, † 7.1. losophie- u. Philologiestudium an der Univ. 1902 München; Grabstätte: ebd., NordBonn ermöglichten. Ab 1849 lebte er in Berfriedhof. – Lyriker, Epiker, Übersetzer, lin. Hatte H. während seines Studiums v. a. Literaturwissenschaftler. patriotische Gedichte u. konventionelle Liebeslieder verfasst (Von Westen nach Osten. Bonn H., Sohn eines Landschaftsgärtners, wurde 1848. 2. Aufl u. d. T. Gedichte. o. J. [1850]. nach dessen frühem Tod bei der Großmutter Thekla. Gesänge der Liebe. Bonn 1849), so fand väterlicherseits erzogen u. war als landwirtin München, wohin er nach vorübergehender schaftl. Praktikant tätig. Nach vierjähriger Verhaftung wegen Spionageverdachts gezo- Gymnasialzeit studierte er seit 1855 Literagen war, die für seine Karriere als Bühnen- turwissenschaft u. Philosophie in Tübingen autor entscheidende Begegnung mit dem als Schüler Uhlands. 1858 promovierte er mit Theaterintendanten Franz von Dingelstedt einer Arbeit über engl. Epik des MA u. ging statt. Dieser führte 1855 H.s erstes Drama nach München, wurde von Hopfen in die
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Weitere Werke: Hugdietrichs Brautfahrt. Stgt. Dichtergesellschaft »Krokodil« eingeführt u. publizierte seinen ersten Band Gedichte (Hbg. 1863 (Ep.). – Heinrich v. Schwaben. Stgt. 1867 1859). 1862 wurde er Privatdozent (Der Wer- (Ep.). – Gottfried v. Straßburg: Tristan u. Isolde. wolf. Ein Beitrag zur Sagengeschichte. Habil.- Stgt. 1877 u. ö. (Übers., Bearb.). – Wolfram v. Eschenbach: Parzival. Stgt. 1898 u. ö. (Übers., Schr. Stgt. 1862) an der Universität, 1869 Bearb.). – Ges. Dichtungen. Stgt. 1900. – Ges. Aba. o., 1878 o. Prof. für dt. Sprache u. Literatur handlungen. Hg. Friedrich v. der Leyen. Stgt. 1905. am Polytechnikum in München. Seit 1890 Literatur: Richard Weltrich: W. H. Stgt. 1902. war H. ordentl. Mitgl. der Bayerischen Aka- – Kurt v. Stutterheim: W. H. als Lyriker. Diss. Tüb. demie der Wissenschaften. 1914. – Erich Müller: W. H. als Epiker. Diss. Mchn. In ihrer geglätteten Form blieben H.’ 1922. – Gerhard Hay: W. H. In: NDB. – Walter Dichtungen (Lyrik, Romanzen, Epen) an Uh- Hettche: Der Dichter W. H. zu Besuch in England. land orientiert, weisen aber auch Einflüsse In: Exilanten u. a. Deutsche in Fontanes London. Geibels, Mörikes, Heines u. Goethes auf u. Hg. Peter Alter u. Rudolf Muhs. Stgt. 1996, sind inhaltlich teils von nachromant. Emp- S. 241–253. – Goedeke Forts. Christian Schwarz / Red. findsamkeit, teils von H.’ Forschungsgebiet, der europ. Literatur des MA, geprägt. Seine ästhetischen Auffassungen entsprachen Hertzog, Herzog, Bernhard, * 26.1.1537 weitgehend denen des von epigonaler HalWeißenburg, † 1596/97 Wörth/Elsass. – tung u. klassizistischen Normen bestimmten Autor einer Chronik u. einer SchwankMünchner Dichterkreises. Hier galt H. als sammlung. Inbegriff gelebter Harmonie von Humanismus u. Nationalgefühl, Wissenschaft u. Nach dem Besuch der Lateinschulen von Kunst, als »homo beatus« (Heyse: »ein stolzer Durlach u. Straßburg studierte H. seit dem Zecher am Tisch des Lebens«). Für seine Ad- 18.12.1550 in Heidelberg Rechtswissenaptionen mittelalterl. Dichtung sind charak- schaften (erneute Einschreibung am teristisch (von den Zeitgenossen gelobte) le- 19.10.1557) u. wurde 1561 Kanzleisekretär in bendige Frische, »moderne« Handhabung Zweibrücken, später Hanau-Lichtenbergider mittelalterl. Reimpaartechnik, Herausar- scher Amtmann in Wörth. Seine Tochter beitung der diesseitsbejahenden Elemente, Anna Elisabeth heiratete 1583 Johann Fiaber auch die Verherrlichung heldischer Zei- schart. ten u. die Vermittlung einer unpolit. HalIn seinen beiden überlieferten Werken tung. H.’ wirkungsmächtigstes Werk war sein präsentiert sich H. als einer der für das 16. Jh. humoristisches Versepos Bruder Rausch (Stgt. typischen Kompilatoren. 1562 veröffentlichte 1882. Neudr. Marbach 1967. Mikrofiche er die Schiltwacht [...] Ein kurtzweiligs Büchlein, Mchn. 1990–94), das die in einem Volksbuch mit vilen Historien und Dichtungen (o. O. des 16. Jh. enthaltene, einer Sage folgende [Straßb.?]. Magdeb. um 21580), um mit dieZeitsatire in ein »Klostermärchen« umfunk- sen Schwänken »schlefferige vnd Melanchotionierte u. die Verwandlung eines german. lische Gemüter [...] zu ermuntern«, wie er Lichtelben in einen christl. Teufel beschreibt. seine Intention mit einem gattungstypischen Die Kritik sah darin die symbolische Dar- Topos formuliert. Für zwei Drittel der hier stellung des allmähl. Wandels religiöser Vor- versammelten Erzählungen sind Quellenstellungen u. lobte die mit mäßigem Wort- nachweise erbracht worden (v. a. schreibt er aufwand erzielte eindringl. Bildhaftigkeit. Lindener, Frey, Wickram u. ä. aus); auch der Auch als Bearbeiter u. Übersetzer erzielte H. Rest unterscheidet sich thematisch u. stilisEigenständigkeit u. Leichtigkeit des Tons. Er tisch nicht von den bekannten Schwankübersetzte u. a. das Rolandslied (Stgt. 1861), sammlungen. Poetische Erzählungen (Stgt. 1862) der Marie de Das Chronicon Alsatiae, Edelsasser Cronick und France u. frz. Lyrik des MA (z.T. enthalten in außfurliche beschreibung des untern Elsasses [...] H.’ Spielmannsbuch. Stgt. 1866). biß auff gegenwertiges 1592. Jar (Straßb. 1592) gibt in zwei Büchern eine Kaisergeschichte von Cäsar bis Rudolf II., in den folgenden
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acht Büchern die Geschichte des Elsass, seiner Adelsgeschlechter, Städte u. Klöster, für die H. eine Reihe heute verlorener Quellen benutzte. Ähnlich kompilatorisch u. ohne erkennbare Strukturierungs- u. Deutungsleistung verfuhr er bei seinen (ungedruckten) Beschreibungen von Worms, Hanau u. Zweibrücken sowie des Was- u. Wormsgaues. Literatur: Bibliografie: Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 511 f.; Tl. 2: Drucke des 17. Jh. Baden-Baden 1994, S. 156. – Weitere Titel: Eugène Müntz: Le chroniqueur B. H. et son gendre le poète Jean Fischart. Documents inédits ou peu connus. In: Revue d’Alsace 1873, S. 360–380. – Franz Xav. Wegele: B. H. In: ADB. – Hermann Hahn: Der handschriftl. Nachl. B. H.s in der Frankfurter Stadtbibl. In: Vjs. für Wappen-, Siegel- u. Familienkunde 24 (1896), S. 1–18. – Martin Montanus: Schwankbücher (1557–1566). Hg. Johannes Bolte. Tüb. 1899. Nachdr. Hildesh. 1972, S. 523–525, 534–537 (Textauszüge), 643–651 (über B. H.s Schiltwacht). – Adolf Hauffen: Johann Fischart. Bln./Lpz. 1921/22. Bd. 1, S. 76–79. Bd. 2, S. 398. – Joseph Fuchs: B. H. In: NDB. – Jean Rott: B. H. (1537–1596/97), Chronist u. Amtmann zu Wörth. In: Ders.: Investigationes historicae [...]. Bd. 2, Straßb. 1986, S. 327–338. – François Joseph Fuchs: B. H. In: NDBA. – Johannes Melters: ›ein frölich gemüt zu machen in schweren zeiten ...‹. Der Schwankroman in MA u. Früher Neuzeit. Bln. 2004. Hans Jürgen Bachorski † / Red.
Herwegh, Georg (Friedrich Rudolf Theodor Andreas), * 31.5.1817 Stuttgart, † 7.4. 1875 Lichtenthal bei Baden-Baden; Grabstätte: Liestal/Schweiz. – Schriftsteller, Publizist, Übersetzer. »Herwegh hat eine Zukunft, wenn Deutschland eine Revolution erlebt, sonst nicht.« Dingelstedts Prognose (an Friedrich Oetker, 21.1.1843), getroffen zu einer Zeit, als H. durch seine Gedichte eines Lebendigen (Zürich/ Winterthur 1841. 71843) auf der Höhe seines Ruhms stand, sollte sich erfüllen. Die Revolution scheiterte, u. man vergaß oder verleumdete den »Bannerträger der politischen Richtung der Literatur« (Weerth an seinen Bruder Wilhelm, 25.4.1843). Kein Dichter des Vormärz blieb so umstritten wie H. Für die bürgerl. Literaturgeschichtsschreibung war
er eine gescheiterte Existenz, seine Lyrik bloß rhetorisch u. arm an Gehalt. Die sozialistischen Rezipienten sahen in ihm einen dichtenden Revolutionär, dessen Leben den revolutionären Anspruch seiner Gedichte u. Publizistik einzulösen schien. Der Sohn eines Mundkochs wurde 1835 – nach Besuch des Gymnasiums in Stuttgart, der Lateinschule in Balingen u. des theolog. Seminars in Maulbronn – ins Tübinger Stift aufgenommen, aber vor Ablauf eines Jahres wegen Insubordination relegiert. 1837 begann H. ein bald wieder abgebrochenes Jurastudium u. trat in Stuttgart in die Redaktion von August Lewalds »Europa« ein. 1838 wurde H. eingezogen, seinem Bittgesuch um Befreiung vom Militärdienst auf Fürsprache hin jedoch stattgegeben. Er war beurlaubt, nicht dispensiert. Die Auseinandersetzung mit einem Offizier führte 1839 zum Widerruf des Urlaubs; H. entzog sich der Einberufung durch die Flucht in die Schweiz. Dort lebte er zunächst in Emmishofen, bevor er auf Einladung August Ludwig Follens, der auch den Druck der Gedichte betreiben sollte, nach Zürich übersiedelte. In dieser Zeit übersetzte H. Lamartine (Sämmtliche Werke. 6 Bde., Stgt. 1839/40) u. schrieb neben Gedichten Aufsätze (u. a. über die gesellschaftl. Rolle des Dichters, volkstüml. Literatur, Hölderlin u. Platen) für »Die Waage« u. die »Deutsche Volkshalle« (ohne Wissen H.s veröffentlicht als Gedichte und kritische Aufsätze aus den Jahren 1839 und 1840. Belle-Vue bei Konstanz 1845). Die Artikel wie die Gedichte eines Lebendigen lassen erkennen, dass H. sich in seinem Selbstverständnis wie in den Themen u. literar. Formen von der publizistischen Funktion der Lyrik während der Befreiungskriege leiten ließ. Ihm gelang zwar die Emotionalisierung des sich nach individueller Freiheit u. nationaler Einheit sehnenden Bürgertums mit Hilfe der alten Schlagwörter (Freiheit, Vaterland, Hl. Krieg), doch musste die Agitation scheitern; denn anders als 1813–1815 waren weder Staat noch Monarchie bedroht. H.s zur Aktion drängender Lyrik fehlte jedes konkrete gesellschaftspolit. Konzept, so dass Friedrich Theodor Vischer zu recht kritisierte, H. fliege »immer bodenlos über die Wirklichkeit hin-
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weg« (Kritische Gänge. 2. Ausg., Bd. 2, S. 102). Auch Heine tadelte, wenn auch zunächst nicht öffentlich, den politisch-rhetorischen Aktionismus H.s (s. Georg Herwegh u. Der ExLebendige), nachdem er anfangs die geschickte Verbindung von Politik u. Ästhetik in den Gedichten eines Lebendigen gelobt hatte. Mit seiner triumphalen Reise 1842 durch Deutschland glaubte sich H. schon am Ziel seiner polit. Wünsche, zumal er am 19. Nov. zur Audienz bei Friedrich Wilhelm IV. gebeten wurde. Dass er einer Utopie folgte, zeigte sich schnell. Der durch Indiskretion bekannt gewordene Protestbrief H.s an den preuß. König auf das Verbot seiner geplanten Zeitschrift »Deutscher Bote aus der Schweiz« hin – die Beiträge (u. a. von Engels u. Moses Hess) erschienen dann als Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz (Zürich/Winterthur 1843) – führte zur Ausweisung aus Preußen (23.12.1842) u. zu einer allg. Verschärfung der Zensur, für die man H. verantwortlich machte. Sie hinderte auch die Verbreitung des zweiten Teils der Gedichte (Zürich/Winterthur 1843). Nach 1843 hat H. nur wenig geschrieben, vielleicht aus Zweifel an der polit. Wirksamkeit der Poesie. Doch vertrat er weiterhin illusionäre Vorstellungen von der Möglichkeit einer Republik. Die wenigen Gedichte während der Revolution von 1848/49 wurden meist erst nach seinem Tod veröffentlicht. H. heiratete im März 1843 Emma Siegmund, deren Vermögen ihm ein sorgenfreies Leben ermöglichte. Im April konnte er sich, nachdem der württembergische König seinem vierten Gnadengesuch entsprochen hatte, im Kanton Basel-Land niederlassen, zog aber schon im Herbst nach Paris, wo er u. a. mit Ruge, Marx, Heine, Hugo u. Béranger verkehrte. Die Teilnahme an der Revolution in Baden mit der schlecht bewaffneten Pariser Deutschen Legion zerstörte – befördert durch eine Rufmordkampagne in dt. Zeitungen – nachhaltig seine öffentl. Reputation. Bis 1849 blieb H. in Paris, ging dann nach Genf u. lebte ab 1851 in Zürich, wo er u. a. für den »Bieler Handelscourier« u. das »Züricher Intelligenzblatt« schrieb. 1866 konnte er, mittlerweile verarmt, aufgrund einer Amnestie nach Deutschland zurückkehren. Er ließ sich in Baden-Baden nieder.
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Anders als Dingelstedt oder Freiligrath, mit dem er 1842 öffentlich über die Parteilichkeit der Literatur diskutiert hatte, schloss H. nach 1848 keine polit. Kompromisse. Er entwickelte sich vom liberalen Demokraten zum Sozialisten. Erste sozialkrit. Verse erschienen 1842 in der »Rheinischen Zeitung« (Die kranke Lise, Der arme Jakob). Doch blieben sie folgenlos. Zum Weber-Aufstand in Schlesien 1844 hat sich H. nicht geäußert. Unter dem Einfluss Lassalles schloss er sich der Arbeiterbewegung an. Er wurde Bevollmächtigter des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins«, für den er das Bundeslied schrieb (o. O. 1863), u. unterstützte nach 1869 den revolutionären Flügel der Sozialdemokraten. Die Rezeption seiner späten Lyrik (Neue Gedichte. Zürich 1877), veröffentlicht z.T. im »Kladderadatsch«, wurde lange durch das Urteil Mehrings verstellt. H. gehörte für diesen »zu den glänzenden aber unglücklichen Talenten, die mit ihrem ersten Wurf gleich ihr Bestes oder selbst schon ihr Alles geben« (S. 328). Diese Lyrik überwindet jedoch die Lyrik vor 1848: mit der Erkenntnis des Zusammenhangs von Politik u. Klassengegensatz u. der Kritik am nationalen Chauvinismus (vgl. H.s Gedichte zur Reichsgründung) wie der Eliminierung der Naturmetaphorik u. dem satir. Einsatz von bekannten poetischen Stillagen u. Klassikerzitaten. H. führte nun einen konkreten Kampf gegen den preuß. Militärstaat u. die Handlungsunfähigkeit der bürgerl. Revolutionäre. Weitere Werke: Die dt. Flotte. Eine Mahnung an das dt. Volk. Zürich/Winterthur 1841. – Viertägige Irr- u. Wanderfahrt mit der Pariser dt.-demokrat. Legion in Dtschld. Stgt. 1850. – Die Schillerfeier in Zürich. Zürich 1860. – Gesamtausgabe: Werke u. Briefe. Krit. u. komm. Gesamtausg. Hg. Ingrid Pepperle. 6 Bde., Bielef. 2005 ff. (ersch. Bd. 1: Gedichte 1835–1848. 2006; Bd. 5: Briefe 1832–1848. 2005). – Teilausgabe: Werke. Hg. Hermann Tardel. 3 Bde., Bln. 1909. Literatur: Victor Fleury: Le Poète H. Paris 1911. – Franz Mehring: Sozialist. Lyrik. G. H. – Ferdinand Freiligrath – Heinrich Heine. In: Ders.: Zur Literaturgesch. v. Calderón bis Heine. Bln. 1929 (zuerst 1914). – Agnes Ziegengeist: Die Literaturkritik des jungen G. H. Diss. Bln./DDR 1965. – Giuseppe Farese: G. H. u. Ferdinand Freiligrath. Zwischen Vormärz u. Revolution. In: Demokra-
Herwig tisch-revolutionäre Lit. in Dtschld. Vormärz. Hg. Gert Mattenklott u. Klaus R. Scherpe. Kronberg/Ts. 1974, S. 187–244. – Ludwig Krapf: Rezeption u. Rezeptionsverweigerung. Einige Überlegungen zur polit. Lyrik G. H.s u. Georg Weerths. In: Rezeptionsgesch. oder Wirkungsästhetik. Hg. Heinz Dieter Weber. Stgt. 1979. – Werner Hahl: Realitätsverlust im rhetor. Zeitgedicht des Vormärz. Zu G. H.s Flottengedicht. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. Günter Häntzschel. Bd. 4, Stgt. 1983, S. 239–249. – Sylvia Peuckert: Freiheitsräume. G. H. u. die Herweghianer. Ffm./Bern 1985. – Karl Riha: G. H. in rezeptionsgeschichtl. Sicht. In: Antipod. Aufklärungen. Hg. Walter Veit. Ffm. 1987, S. 95–108. – Wolfgang Büttner: G. F. H. Poet u. Revolutionär. In: Männer der Revolution v. 1848. Hg. Helmut Bleiber u. a. Bd. 2., Bln./DDR 1987, S. 151–182. – Ingo Fellrath: Auf der Suche nach einer neuen Poetik. G. H.s Hinwendung zur sozialen Dichtung. In: Philosophie, Lit. u. Politik vor den Revolutionen v. 1848. Hg. Lars Lambrecht. Ffm. 1996, S. 455–462. – Ders.: G. H. u. das Spritzleder. Zur Genese eines Rufmords u. seinen Folgen. In: 1848 u. der dt. Vormärz. Bielef. 1998, S. 168–175. – Peter Stein: Nachmärz im Vormärz – Vormärz im Nachmärz. Heine u. H. In: Vormärzlit. in europ. Perspektive. Hg. Martina Lauster. Bd. 3, Bielef. 2000, S. 243–254. – Volker Giel: Dichtung u. Revolution. Die Lyrik Ferdinand Freiligraths u. G. H.s in der Revolution v. 1848/49. Ein analyt. Vergleich. In: ›Ich aber wanderte u. wanderte – Es blieb die Sonne hinter mir zurück‹. Hg. Friedrich Bratvogel. Detmold 2001, S. 324–350. – W. Büttner: Der andere H. Über sein Verhältnis zur internat. Arbeiterbewegung. In: Heine-Jb 42 (2003), S. 124–139. Ernst Weber
Herwig, Franz, * 20.3.1880 Magdeburg, † 15.8.1931 Weimar. – Erzähler u. Dramatiker, Verfasser von Mysterienspielen; Journalist. Seine Jugend verbrachte H., Sohn eines Regimentstambours u. Sergeanten u. späteren Beamten, in Magdeburg. Nach dem Besuch des dortigen Realgymnasiums, das er mit 16 Jahren aus finanziellen Gründen verlassen musste, begann er in einer Maschinenfabrik die Kaufmannslehre. 1900–1903 war er Feuilletonleiter der »Danziger Neuesten Nachrichten«. Nach Aufenthalten in München, Berlin u. Münster lebte er ab 1912 – mit Unterbrechung durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg – bis zu seinem Tod in
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Weimar, wo er 1922–1925 die »Hausschatzbücherei« u. 1925–1927 die kath. Zeitschrift »Der Bunte Garten« herausgab. Literaturgeschichtlich ist H.s Name mit der kath. u. der völkisch-nationalen Dichtung verbunden. Seit 1908 war er ständiger Mitarbeiter der Monatsschrift »Hochland«. Aufgrund seines Preußentums u. seines Katholizismus war H. schon früh Anhänger der Heimatkunstbewegung. Viele seiner Werke sind literar. Umsetzungen einzelner Programmpunkte der deutschnationalen Bewegung. Mit einer Reihe histor. Dramen (u. a. Herzog Heinrich. Lpz. 1904) u. Romane (u. a. Die letzten Zielinski. Lpz. 1906. Wunder der Welt. Bln. 1910. Jan van Werth. Lpz. 1913) entsprach er der Forderung nach der Rückkehr zur dt. Geschichte in der Literatur u. wandte sich der preuß. Vergangenheit zu, um die »verstopften Quellen wahren Deutschtums« dem Zerfall Preußens u. der »Unkultur« Berlins entgegenzusetzen. Durch die Erfahrung dieser Großstadt entstanden nach dem Krieg mehrere konservative, großstadtfeindl., teils in realistischem, teils in myst. Erzählstil gehaltene Anti-Berlin-Romane (u. a. Sankt Sebastian vom Wedding. Mchn. 1921. Fluchtversuche. Mchn. 1930), in denen er von dezidiert kath. Standpunkt die soziale Lage des Berliner Proletariats darstellte. Mit dem 1929 erschienenen Roman Willi siegt (Stgt.) versucht H. – wie schon in früheren Werken –, der naturalistischen Vererbungs- u. Milieutheorie die kath. Moral- u. Sittlichkeitslehre entgegenzuhalten u. damit den naturalistischen Roman christlich umzugestalten. Weitere Werke: Romane: Das Schlachtfeld. Stgt. 1920. – Dunkel über Preußen. Lpz. 1920. – Das Sextett im Himmelreich. Mchn. 1921. – Das märk. Herz. Stgt. 1923. – Die Eingeengten. Mchn. 1926. – Hoffnung auf Licht. Mchn. 1929. – Der große Bischof. Mchn. 1930. – Tim u. Clara. Breslau 1932. Literatur: Arthur Friedrich Binz: F. H. Würzb. 1922. – Hubert Spee: F. H. als Dichter u. Kritiker. Graz 1938. Sabina Becker / Red.
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Herz, Henriette, geb. de Lemos, * 5.9.1764 Berlin, † 22.10.1847 Berlin; Grabstätte: ebd., Jerusalemer Friedhof am Halleschen Tor. – Zentralfigur eines literarischen Salons.
Herz Ausgaben: H. H. Ihr Leben u. ihre Zeit. Hg. Hans Landsberg. Weimar 1913. Neudr. Eschborn 2000. – H. H. in Erinnerungen, Briefen u. Zeugnissen. Hg. Rainer Schmitz. Lpz. u. Ffm. 1984. – H. H.: Berliner Salon. Erinnerungen u. Portraits. Hg. Ulrich Janetzki. Ffm. u. a. 1984.
Literatur: Ingeborg Drewitz: Berliner Salons. H.’ Vater, ein jüd. Arzt aus urspr. portugies. 3 Familie, ließ dem auffallend schönen Mäd- Bln. 1965. 1984. – Norbert Altenhofer: H. H. u. chen eine überdurchschnittl. Ausbildung Louis Baruch [...]. In: Ludwig Börne 1786–1837. Hg. Alfred Estermann. Ffm. 1986, S. 211–221. – zukommen. Nach jüd. Sitte wurde sie schon Peter Seibert: H. H.: Erinnerungen. [...]. In: DU 41 als Zwölfjährige verlobt u. 1779 mit dem (1989), S. 37–50. – Liliane Weissberg: Bild u. Wort angesehenen Arzt Markus Herz verheiratet. bei H. H. In: Von einer Welt in die andere. Hg. Jutta Für H. begann nun die Teilnahme am ge- Dick. Wien u. a. 1993, S. 71–92. – Lex. dt.-jüd. sellschaftl. geistigen Leben, denn ihr ganz der Autoren. – Renate Heuer: Ludwig Börnes FreunAufklärung u. seinem Lehrer Kant verpflich- dinnen. H. H. aus Berlin, Jeanette Wohl aus teter Gatte hielt in seinem Haus Vorlesungen Frankfurt. In: Verborgene Lesarten. Hg. dies. Ffm. 2003, S. 230–241. Walter Olma / Red. über dessen Philosophie u. unterhielt Gesprächskreise zu wissenschaftl. u. philosophischen Themen. H.’ Interessen richteten Herz, (Naphtali) Markus, * 17.1.1747 Bersich mehr auf literar. Gegenstände, so dass sie lin, † 19.1.1803 Berlin. – Arzt u. Philobald in ihrem Haus eigene Kreise junger li- soph. teraturinteressierter Leute, ohne Ansehen von Stand u. Namen, um sich zu scharen begann. Der Sohn armer jüd. Eltern nahm 1766 nach Einem 1787 gegründeten »Tugendbund« Abbruch einer Kaufmannslehre in Königsgehörten die Brüder Humboldt u. die Tochter berg das Studium der Philosophie u. Medizin von Moses Mendelssohn, Dorothea Veit (spä- auf, das er 1774 in Halle mit der Promotion ter Schlegel), an, mit der H. seit ihrer Kind- zum Dr. med. abschloss. Als approbierter heit befreundet war. H.’ ungewöhnl. Aus- Arzt in Berlin pflegte er enge Kontakte zu den strahlung trug dazu bei, dass ihr Haus zum führenden Berliner Aufklärern. Gemeinsam beliebten Treff- u. für viele Jahre zu einem mit seiner Frau Henriette gestaltete er sein Haus zu einem der geistigen Mittelpunkte Mittelpunkt des geistigen Lebens in Berlin Berlins aus. Sein Ruf als Arzt u. medizinischer wurde. Hier wurde kritisiert, rezitiert u. geSchriftsteller trug ihm 1785 die Ernennung tändelt, wobei schließlich der literar. Salon zum Hofrat u. Leibarzt ein. Die Hoffnung auf der Madame H. fast täglich den Gästen offAufnahme in die Akademie der Wissenschafenstand. Als Schleiermacher sich 1797 mit ihr ten schlug 1792 fehl. Angeregt durch Menu. Friedrich Schlegel anfreundete, wurde der delssohn, befasste sich H. mit Fragen des JuSalon zu einem Zentrum der Berliner Früh- dentums. Mit ihrer Übersetzung (1782) von romantik. Schlegel u. Dorothea Veit verlieb- Manasse ben Israels Vindiciae Judaeorum (1656) ten sich hier ineinander; der Skandal um traten beide für eine Verbesserung der seine Lucinde (1799) war vorgebildet. Rechtsstellung der Juden ein. H.’ Schrift Über Der Tod ihres Mannes 1803 veränderte H.’ die frühe Beerdigung der Juden (Bln. 1787) dismaterielle Situation so einschneidend, dass kutiert die Erneuerung der religiösen u. mosie einige Jahre später ihren Salon ganz auf- ralischen Grundlagen des Judentums. geben musste. Sie unternahm noch einige Als Philosoph tat H. sich bes. mit seinem Reisen, v. a. 1817–1819 nach Rom, u. begann Versuch über den Geschmack und die Ursachen ihre Erinnerungen niederzuschreiben u. dem seiner Verschiedenheit (Lpz., Mitau 1776. 21790) späteren Herausgeber Joseph Fürst zu dik- hervor. Bleibende Bedeutung erlangte er tieren bzw. zu erzählen: Henriette Herz. Ihr durch sein Verhältnis zu Kant. Sowohl in Leben und ihre Erinnerungen (Bln. 1850. Neudr. Privatvorlesungen als auch mit seinen Betrachtungen aus der spekulativen Weltweisheit Lpz. 1977).
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(Königsb. 1771. Neuausg. Hbg. 1990. Mikrofiche Mchn. 1990–94) versuchte H. noch vor Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft Kants Philosophie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Sein Briefwechsel mit Kant gehört zu den wichtigsten Zeugnissen für die Entstehungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft. Weitere Werke: Briefe an Ärzte. 2 Bde., Mitau 1777 u. 1784. – Versuch über den Schwindel. Bln. 1786. – Ausgabe: Philosoph.-medizin. Aufsätze. Hg. Martin L. Davies. St. Ingbert 1997. Literatur: Schlichtegroll 19. Jh., Bd. 3, S. 27–56. – Elfriede Conrad, Heinrich P. Delfosse u. Birgit Nehren (Hg.): Betrachtungen [...]. In: Einl. der Neuausg. Hbg. 1990. – Martin L. Davies: Identity or history? M. H. and the end of the Enlightenment. Detroit 1995. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Birgit Nehren / Red.
Herzfeld, Marie (Anna Barbara), urkundl. Maria, auch: H. M. Lyhne, Marianne Niederweelen, Niederweeven, Niederweiden, * 20.3.1855 Güns/Ungarn, † 22.9. 1940 Mining/Oberösterreich. – Literaturkritikerin, Herausgeberin, Übersetzerin.
1888. – Ola Hansson: Parias. Bln. 1890. – Arne Garborg: Bei Mama. Bln. 1891. – Jonas Lie: Der Lotse u. sein Weib. Stgt. 1891. – A. Garborg: Müde Seelen. Bln. 1893. – Ders.: Frieden. Bln. 1893. – J. Lie: D’rauf los. Stgt. 1894. – Knut Hamsun: An des Reiches Pforten. Mchn. 1895. – J. Lie: Großvater. Bln. 1896. – Mathias Malling: Die Frau Gouverneurin v. Paris. Kopenhagen 1896. – A. Garborg: Bauernstudenten. Bln. 1902. – Jens Peter Jacobsen: Ges. Werke. 3 Bde., Lpz. 1902. – Sophus Michaëlis: Giovanna. Frankf. 1905. – Ders.: RevolutionsHochzeit. Bln. 31909. – Ders.: 1812. Der ewige Schlaf. Bln. 21912. – Herausgeberin: Leonardo da Vinci: Traktat v. der Malerei. Nach der Übers. v. Heinrich Ludwig. Jena 1909. – Das Zeitalter der Renaissance. Ausgew. Quellen zur Gesch. der ital. Kultur. 14 Bde., Jena 1910–26. Darin: Luca Landucci: Ein florentin. Tgb. 1450–1516. Übers. u. Einl. v. M. H. 2 Bde., Jena 1912/13. Neuaufl. Düsseld./Köln 1978. Literatur: Pataky. – Othmar Dublier in: Neue Freie Presse, 20.3.1925. – Salomon Wininger: Große jüd. National-Biogr. Bd. 3, Cernauti 1928, S. 84. – Max Mell in: Die Presse, 20.3.1955. – Sabine Strümper-Krobb: Zwischen Naturalismus u. Impressionismus: M. H. als Vermittlerin skandinav. Lit. In: Literaturvermittlung um 1900. Hg. Florian Krobb u. S. Strümper-Krobb. Amsterd. 2001, S. 113–130. – Lex. dt.-jüd. Autoren.
Die Arzttochter verbrachte ihre Jugend auf Arnulf Knafl / Lea Marquart dem Land u. wurde von ihrem Vater selbst unterrichtet. Ab 1885 studierte sie in Wien skandinav. Sprachen u. Literatur. Sie war Herzfelde, Wieland (Richard Felix), eiMitarbeiterin u. a. der Zeitschriften »Wiener gentl.: W. Herzfeld, auch: Hans vom Mode«, »Die Gesellschaft« u. »Moderne Bundschuh, Richard Stoltzenberg, * 11.4. Rundschau« sowie der »Zeit«, zunächst unter 1896 Weggis/Schweiz, † 23.11.1988 Berden Pseudonymen H. M. Lyhne u. Marianne lin/DDR. – Verleger u. Schriftsteller. Niederweiden. H. pflegte enge Kontakte zur literar. Szene »Jung-Wien«, bes. zu Hof- Wie Samuel Fischer dem Naturalismus u. mannsthal (Hugo von Hofmannsthal. Briefe an Kurt Wolff dem Expressionismus durch entMarie Herzfeld. Hg. Horst Weber. Heidelb. schiedene Förderung von Autoren u. Künst1967). Nach 1890 wurde sie zur bedeutenden lern zum Erfolg verhalfen, so verschaffte H., Vermittlerin skandinav. Literatur, nach 1900 Sohn des Schriftstellers Franz Held, der Limit Übersetzungen u. Textausgaben im Ver- teratur der revolutionären Linken in lag Eugen Diederichs Leitfigur bei der Wie- Deutschland öffentl. Wirksamkeit. In enger derentdeckung der ital. Renaissanceliteratur. Zusammenarbeit mit seinem Bruder John Für ihr Porträt Leonardo da Vinci [...] (Ausw., Heartfield (d.i. Helmut Herzfeld), der die Übers. u. Einl. v. M. H. Jena 1904. 41925) er- polit. Fotomontage populär machte, u. dem hielt sie 1904 den Bauernfeld-Preis. H. war Zeichner George Grosz, dessen aggressivEhrenmitgl. des Vereins der Schriftstellerin- satir. Blätter bis 1933 ausnahmslos in H.s Verlag erschienen, entwickelte er einen neuen nen in Wien. Weitere Werke: Die skandinav. Litteratur u. Buchtypus. Der Name des von H. 1917 gegründeten ihre Tendenzen. Bln./Lpz. 1898. – Übersetzungen: Björnstjerne Björnson: Kapitän Mansana. Halle Malik-Verlags geht zurück auf Else Lasker-
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Schülers Roman Der Malik, den H. in seiner Zeitschrift »Neue Jugend« (1916/17) in Fortsetzungen abdruckte; auch H.s eigener Lyrikband Sulamith (Bln. 1917) zeigt den Einfluss der Dichterin. H. publizierte oppositionelle Literatur u. polit. Kampfschriften, was ihn häufig in Konflikt mit der Justiz brachte. Die satir. Halbmonatszeitschrift »Jedermann sein eigner Fußball« (1919) wurde nach Erscheinen der ersten Ausgabe verboten u. H. in Schutzhaft genommen; das Nachfolgeorgan »Die Pleite« wurde nach der sechsten Nummer 1920 verboten, anschließend übernahm H. die bereits existierende Zeitschrift »Der Gegner«. Der Charakter dieser Blätter wird bestimmt durch die Mischung von polit. Radikalität u. dadaistischer Verhöhnung des Kunstbetriebs; Zeichnungen von Grosz brachten den Verleger wegen Beleidigung der Reichswehr, Verstoßes gegen die Sittlichkeit u. Gotteslästerung auf die Anklagebank. H. verstand es, mit Fantasie u. List die Zensur zu umgehen oder Verbote zu unterlaufen. Seit 1918 Mitgl. der KPD, hielt er seinen Verlag frei von dogmat. Literaturtheorien u. scheute nicht die Auseinandersetzung mit Parteifunktionären. Zu seiner Schrift Gesellschaft, Künstler und Kommunismus (Bln. 1921) notierte Kurt Tucholsky: »Herzfelde streicht den Künstler nicht aus seinem Weltbild: er ordnet ihn nur richtig ein« (in: Die Weltbühne, 2.10.1924). Oskar Maria Graf u. Franz Jung, beide mit H. befreundet, waren häufig im Verlagsprogramm vertreten; H. publizierte 1923 die folgenreiche Abhandlung Geschichte und Klassenbewußtsein von Georg Lukács u. edierte mit 30 Neue Erzähler des neuen Rußland (1929) u. 30 Neue Erzähler des neuen Deutschland (1930) zwei repräsentative Anthologien. Der Malik-Verlag machte die sowjetischen Autoren Wladimir Majakowski, Sergej Tretjakow u. Ilja Ehrenburg in Deutschland bekannt; besondere Verdienste erwarb er sich durch Werkausgaben von Tolstoj, Gorki u. Upton Sinclair. H., von der polit. Entwicklung kaum überrascht, führte gleich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung von Prag aus die Verlagsarbeit fort. Die gemeinsam mit Anna Seghers, Oskar Maria Graf u. – anonym – Jan Petersen herausgegebene Monatsschrift
Herzfelde
»Neue Deutsche Blätter« (1933–35) bemühte sich um die Einbeziehung aller antifaschistischer Positionen u. nahm die spätere Volksfrontpolitik vorweg. Auf dem Ersten Unionskongress der Schriftsteller in Moskau 1934 verteidigte H. James Joyce gegen die Angriffe von Karl Radek. Die vom Prager Malik-Verlag begonnene Ausgabe der Werke Brechts wurde durch den Einmarsch dt. Truppen in die Tschechoslowakei 1938 gestoppt; H. floh über London nach New York. Nach langwierigen Bemühungen, in den USA einen dt. Exilverlag ins Leben zu rufen, gründete er 1945 gemeinsam mit Bloch, Brecht, Döblin, Feuchtwanger u. Heinrich Mann den Aurora Verlag. 1949 kehrte H. aus der Emigration zurück u. ging in die DDR, wo er eine Professur an der Leipziger Universität übernahm. Einige nicht mehr in den USA verlegte Titel, darunter H.s autobiogr. Prosa Immergrün. Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen Waisenknaben (Bln./ DDR 1949. Bln. 1996), erschienen in der »Aurora-Bücherei« des Aufbau-Verlags; außerdem wirkte H. als Herausgeber, Übersetzer u. Essayist. Sein Engagement galt der Pflege der einstmals von ihm verlegten Literatur sowie dem Werk seines Bruders, über den er die erste umfangreiche Monografie verfasste (John Heartfield. Leben und Werk. Dresden 1962). Die Bücher des Malik-Verlags mit den Schutzumschlägen Heartfields sind heute Sammlerobjekte; zahlreiche Titel wurden in der originalen Ausstattung neu herausgebracht. Weitere Werke: Schutzhaft. Erlebnisse bei den Berliner Ordnungstruppen. Bln. 1919. – Tragigrotesken der Nacht. Träume. Bln. 1920. – Die Kunst ist in Gefahr (zus. mit George Grosz). Bln. 1925. – Im Gehen geschrieben. Bln./DDR 1956 (L.). – Unterwegs. Bl. aus 50 Jahren. Bln./DDR 1961 (L. u. P.). – Blau u. Rot. Lpz. 1971 (L.). – Zur Sache. Bln./ Weimar 1976 (Ess.s). – Gewöhnl. u. gefährl. Leben (zus. mit Anna Seghers; Briefw. 1939–46). Bln./ Weimar 1985, Darmst. 1986. – Tgb. eines Laien. Hg. Ulrich Faure u. Juergen Seuss. Assenheim 1996 (mit unveröffentlichten Briefen u. Dokumenten u. einem Text seines Sohnes George Wyland-Herzfelde). – Zum Klagen hatt’ ich nie Talent. Hg. Elisabeth Trepte. Kiel 1996 (mit einer Erinnerung v. Heinz Knobloch). – ›Wir haben das Leben wieder
Herzl vor uns‹. Briefw. 1938–1949. Ernst Bloch – W. H. Hg. Jürgen Jahn. Ffm. 2001. Literatur: Bibliografie: Helmut Praschek: Neue Dt. Bl., Prag 1933–35. Bibliogr. einer Ztschr. Bln./ Weimar 1973. – Weitere Titel: Der Malik-Verlag. Ausstellungskat. Bln./DDR 1967. – Jo Hauberg u. a. (Hg.): Der Malik-Verlag 1916–47. Kiel 1986. – Frank Hermann: Malik. Zur Gesch. eines Verlages 1916–47. Düsseld. 1989. – Ulrich Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs. H., Heartfield, Grosz u. der Malik-Verlag 1916–1947. Bln./Weimar 1992. – Jürgen Schebera: Strategien eines Verlegers im Exil: W. H. Prag-New York-Ostberlin 1933–1945. In: Dieter Sevin (Hg.): Die Resonanz des Exils. Amsterd. 1992, S. 51–65. – U. Faure: W. H. zum 100. Geburtstag. In: Aus dem Antiquariat (1996), H. 4, S. A149-A161. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Dieter Schiller: Über Ottwalt, H. u. den Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller in Prag. Studien u. Dokumente. Bln. 2002. Michael Töteberg / Red.
Herzl, Theodor, auch: Benjamin Seff, * 2.5.1860 Pest (heute zu Budapest), † 3.1. 1904 Edlach a. d. Rach/Niederösterreich; Grabstätte: Wien, Döblinger Friedhof. 1949 Überführung nach Jerusalem, Herzl-Berg. – Begründer des modernen Zionismus; Dramatiker, Essayist, Feuilletonist. Der Sohn wohlhabender jüd. Eltern – der Vater war Kaufmann – verlebte Kindheit u. Jugend in Pest bzw. Budapest, wo er am evang. Gymnasium maturierte. Von 1878 an studierte H. an der Juridischen Fakultät in Wien, u. a. bei Adolf Exner u. Anton Menger, u. promovierte 1884. In den folgenden Jahren entfaltete er sein schriftstellerisches Talent; neben ersten Veröffentlichungen (Die Glosse. Lustspiel in einem Act. Dresden/Lpz./Wien 1894. Unser Käthchen. Lustspiel in 4 Acten. Wien 1899) stellten sich auch Erfolge durch Aufführungen eigener Stücke sogar am Wiener Burgtheater ein (Wilddiebe. Lustspiel in 4 Acten. Zus. mit Hugo Wittmann. Urauff. 1889. Anonym gedr. Bln. 1889). Zur Erweiterung seines Horizonts unternahm H. in dieser Zeit wiederholt Reisen. 1891–1895 war er Pariser Korrespondent, von 1895 bis zu seinem Tod Feuilletonredakteur der Wiener »Neuen Freien Presse«. H. verfasste seit 1887 rund 280 Beiträge für das Feuilleton (anfangs auch
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für die »Wiener Allgemeine Zeitung«), die er selbst zunächst in dem Band Neues von der Venus. Plaudereien und Geschichten (Lpz. 1887) sammelte; 1895 erschien als Ergebnis seiner Korrespondententätigkeit in Frankreich der Band Das Palais Bourbon. Bilder aus dem französischen Parlamentsleben (Lpz.). Schon in seiner Studienzeit, v. a. aber in seiner Pariser Korrespondentenzeit während des Prozesses gegen den jüd. Hauptmann Dreyfus wurde H. mit dem Antisemitismus konfrontiert, der in Frankreich wie auch in seiner Heimat immer militanter u. gesellschaftsfähiger wurde. Die Beschäftigung mit der zumal nach den Judenpogromen in Russland am Ende des 19. Jh. als drängend empfundenen Judenfrage ließ ihn fortan nicht mehr los u. wurde zu seinem alle literar. Grenzen sprengenden Schicksal. Seine 1896 in dt. Sprache veröffentlichte u. bald vielfach übersetzte Schrift Der Judenstaat (Wien) war ein persönl. Durchbruch in eine neue Dimension der Wirksamkeit u. ein Fanal für die einer Lösung ihrer Probleme, ja einer Erlösung harrende jüd. Bevölkerung v. a. in Osteuropa. H. war damit der Begründer u. Prophet einer Bewegung geworden, die sich beim Ersten Zionistenkongress in Basel 1897 konstituierte u. noch zu Lebzeiten H.s sechs Kongresse abhielt. Die Botschaft, die H. einer skeptisch-feindl. u. einer staunend-begeisterten Mitwelt zu verkünden hatte, war die Schaffung eines eigenen jüd. Staats in Palästina, die Rückkehr der in alle Welt verstreuten Juden in ihre angestammte bibl. Heimat – wobei sich H. zunächst nicht unbedingt auf Palästina als jüd. Staat festlegen wollte, sondern dazu erst von den Teilnehmern des Zionistenkongresses gedrängt wurde. In seinem Roman Altneuland (Lpz. 1902. Neuausg. Wien 1962) malte H. die künftige jüd. Heimstatt u. Lebenswelt aus. Sein Leben war, ohne dass er seine journalistische Position u. berufl. Unabhängigkeit aufgab, hinfort der Verfolgung dieses Ziels gewidmet. Er verzehrte u. verbrauchte sich frühzeitig im Kampf um die für die Realisierung seines Traums notwendigen machtpolit. Unterstützung, so – auf Vermittlung Prinz Max von Badens – durch Kaiser Wilhelm II. u. den türk. Sultan. Wenn diese Bemühungen zu
Herzmanovsky-Orlando
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Lebzeiten H.s u. auch noch lange nach seinem Köln/Weimar 2003. – Luc Jochimsen: Dieses Jahr in Tod zu keinen greifbaren Erfolgen führten, Jerusalem. T. H. – Traum u. Wirklichkeit. Bln. so waren seine Worte u. Taten doch notwen- 2004. – T. H.: From Europe to Zion. Hg. Mark H. dige Vorarbeiten, die – wenn auch erst nach Gelber u. Vivian Liska. Tüb. 2007. Norbert Leser / Bruno Jahn der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten – Geschichte machten u. zur Gründung des Staates Israel führten, der H. als Herzmanovsky-Orlando, Fritz von, eiseinen Vordenker u. prophetischen Gründer gentl.: Friedrich Josef Franz von, * 30.4. ansieht u. ehrt. Das Motto seines program1877 Wien, † 27.5.1954 Schloss Rametz mat. Romans Altneuland: »Wenn Ihr wollt, Ist bei Meran; Grabstätte: Meran, protestanes kein Märchen« wurde schließlich Wirktischer Friedhof. – Erzähler u. Dramatilichkeit.
ker; Zeichner.
Weitere Werke: Ausgaben: Zionist. Schr.en. Hg. Leon Kellner. Bln.-Charlottenburg o. J. [1905]. – Tagebücher 1895–1904. 3 Bde., Bln. 1922/23. – Ges. zionist. Werke. 5 Bde., Bln. 1934/35. – The Complete Diaries of T. H. New York 1960. – Briefe u. Tagebücher. Hg. Alex Bein u. a. 7 Bde., Bln./ Ffm./Wien 1983–96. – Einzeltitel: Buch der Narrheit. Lpz. 1888. – Das neue Ghetto. Schauspiel in 4 Acten. Wien 1897. – Philosophische Erzählungen. Bln. 1900. 21919. – Feuilletons. 2 Bde., Wien/Lpz. 1903. – Ein echter Wiener. Feuilletons. Komm. v. André Heller. Wien o. J. [1986]. – Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Text u. Materialien 1896 bis heute. Hg. u. mit einem Nachw. v. Ernst Piper. Bln. 2004. – Die treibende Kraft. Feuilletons. Hg. Marcus G. Patka. Wien 2004. – Elegante Menschen u. Tiere. Erstaunliches über scheinbar Alltägliches. o. O. [Wien] 2007 (Feuilletons). Literatur: Alex Bein: T. H. Wien 1934. Neuausg. mit Vorw. v. Golda Meir. Wien 1974. – Amos Elon: T. H. Eine Biogr. Wien 1974. – Julius H. Schoeps: T. H. Gött. 1975. – Klaus Dethloff (Hg.): T. H. oder Der Moses des Fin de siècle. Wien u. a. 1986 (mit ausgew. Texten H.s). – Leah Hadomi: ›Altneuland‹ – ein utop. Roman. In: Juden in der dt. Lit. Hg. Stéphane Moses u. Albrecht Schöne. Ffm. 1986, S. 210–225. – Norbert Leser (Hg.): T. H. u. das Wien des Fin de siècle. Wien 1987. – Jacques Kornberg: T. H. From Assimilation to Zionism. Bloomington/Indianapolis 1993. – J. H. Schoeps: T. H. 1860–1904. Wenn Ihr wollt, Ist es kein Märchen. Wien 1995. – Ders.: T. H. u. die Dreyfus-Affäre. Wien 1995. – T.-H.-Symposion Wien. 100 Jahre ›Der Judenstaat‹. Wien 1996. – Gideon Shimoni u. Robert S. Wistrich: T. H. Visionary of the Jewish state. Jerusalem/New York 1999. – Serge-Allain Rozenblum: T. H. Biogr. Paris 2001. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Gennadi E. Kagan: Der Ruf aus Wien. Die zionist. Bewegung T. H.s unter dem Zarenadler. Wien/Köln/Weimar 2002. – Ders.: Der Prophet im Frack. T. H.s russ. Mission 1903. Wien/
H. war der einzige Sohn des aus Galizien stammenden Ministerialbeamten Emil Josef Ritter von Herzmanovsky u. der Aloisia von Orlando. Nach dem Besuch des Theresianums in Wien studierte er an der Technischen Hochschule Architektur u. schloss 1903 mit Diplom ab. Wahrscheinlich 1903 wurde er in München mit Kubin bekannt, durch den er neben Blei u. Thomas Mann auch die »Kosmiker« Wolfskehl, Klages u. Schuler kennen lernte, deren antirationalistische u. myst. Gedankenwelt ihn nachhaltig beeinflusste. Engere Kontakte entstanden auch mit Kubins Schwager Oscar A. H. Schmitz u. Meyrink. H.s Begegnung mit Kubin bedeutete den Beginn einer fast 50-jährigen Freundschaft, die sich in einem umfangreichen Briefwechsel dokumentiert (Briefwechsel mit Alfred Kubin 1903–1952. In: Werkausgabe. Bd. 7, Salzb./Wien 1983). In den Jahren 1913/14 unternahm er mit seiner Frau (»Carmen«) ausgedehnte Reisen nach Ägypten, Griechenland u. den venezianisch-griech. Inseln. 1916 übersiedelte H. aus gesundheitl. Gründen nach Meran. Finanzielle Unabhängigkeit erlaubte ihm, seinen Beruf aufzugeben u. als Privatier zu leben. Obwohl erste künstlerische Versuche bereits 1903 anzusiedeln sind, entfaltete sich H.s schriftstellerische u. zeichnerische Doppelbegabung erst »in der erzwungenen Einsiedeleistimmung« in Meran. Der Roman Der Gaulschreck im Rosennetz. Eine skurrile Erzählung (Wien 1928), 1917 entstanden, erschien in einer vom Autor illustrierten Ausgabe u. blieb neben einem Privatdruck (Der Kommandant von Kalymnos. Wien 1926. Getarnt als:
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Venezia, Maria S. Formosa) H.s einzige Buch- Briefw. mit Alfred Kubin 1903 bis 1952. 1983. veröffentlichung zu Lebzeiten. Das Wien der Bd. 8: Ausgew. Briefw. 1885–1954. 1989. Bd. 9: Biedermeierzeit bildet den Hintergrund die- Skizzen u. Fragmente. 1992. Bd. 10: Sinfonietta ses manierierten Sprachballetts, das in seinen Canzonetta Austriaca. Eine Dokumentation zu Leben u. Werk. 1994. – Einzeltitel: Im Garten der Ergrotesk-witzigen Miniaturen bereits sämtl. kenntnis. Skizzen u. Fragmente. Salzb./Wien 1988. Motive ins Spiel bringt, die H. in seinen spä- – Scoglio Pomo oder Rout am Fliegenden Hollänteren Werken immer wieder variiert: Die der. Hg. Klaralinda Ma-Kircher. St. Pölten/Salzb. Vermischung von Realem mit Erfundenem, 2007. – Prosa. E.en u. Skizzen. Hg. v. K. Ma-Kirdie Abhängigkeit der Figuren von überge- cher. Ebd. 2008. ordneten Mächten, der travestierte Mythos u. Literatur: Barbara Bronnen: F. v. H. Original u. die Verbindung Österreichs mit dem antiken Bearb. Diss. Mchn. 1965. – Alfred Barthofer: Das Griechenland sind Themen, die H.s bizarre Groteske bei F. v. H. Diss. Wien 1965. – Josef Ties: poetische Welt dominieren. Neben Erzäh- Das Bild Österr. bei F. v. H. Diss. Innsbr. 1966. – lungen schuf H. Dramen, Ballette u. Panto- Wendelin Schmidt-Dengler: Groteske u. geordnete mimen. Als sein Hauptwerk betrachtete er Wirklichkeit. Anmerkungen zur Prosa F. v. H.s. In: ÖGL 14 (1970), S. 191–201. – Monika v. Gagern: den utop. Roman Das Maskenspiel der Genien Ideologie u. Phantasmagorie F. v. H.s. Diss. Mchn. (Salzb./Wien 1989), in dem der Held Cyriac 1972. – Alois Eder: Zur Mutterlauge kristallhafter von Pizzicolli durch eine myth. Traum- u. Vorgänge. H., Torberg u. Lanz-Liebenfels. In: Das Märchenwelt irrt, die Züge des altösterr. Be- Pult 55 (1980), S. 55–81. – Michaela Hajnoczi: F. v. amtenstaats trägt. Den Kern des kunstvoll H: Scoglio Pomo oder Rout am Fliegenden Holgebauten Werks bildet eine Umdichtung des länder. Diss. Wien 1983. – Hubert Reitterer: Österr. Aktaionmythos, dessen Tragik durch ein Gesch. im Werk v. F. v. H. In: ÖGL 30 (1986), dichtes Netz absurder u. hintergründig sur- S. 275–284. – Gabriele van Zon: Word and Picture. A Study of the Double Talent in Alfred Kubin and F. realistischer Szenen verzerrt wird. v. H. Diss. The City Univ. of New York 1988. – Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit Astrid Wallner: Allotria in Artibus. Antike Mythobeschäftigte sich H. mit esoter. u. myst. Phä- logie bei F. v. H. Diss. Wien 1990. – Dies.: Das nomenen. Angeregt wurden diese pseudo- Schmutz- u. Schmecktheater. Zur Komik bei F. v. wissenschaftl. Forschungen zu Kabbalistik, H. In: W. Schmidt-Dengler, Johann Sonnleitner u. Ortsnamenskunde u. Androgynitätsmysteri- Klaus Zeyringer ( Hg.): Komik in der österr. Lit. Bln. en u. a. von den Schriften des Ariosophen 1996. – Maria Kerschbaumer: F. v. H. Seine okGuido von List. Sofern rassistisches Gedan- kulten u. myst. Studien untersucht am Briefw. mit kengut in H.s literar. Werk Niederschlag Karl Felix Wolff. Diplomarb. Wien 1997. – Bernfand, ist es auf den Einfluss Jörg Lanz von hard Fetz, Klaralinda Ma u. W. Schmidt-Dengler (Hg.): Phantastik auf Abwegen. F. v. H. im Kontext. Liebenfels’ zurückzuführen. Die Kriegsjahre Ess.s, Bilder, Hommagen. Wien/Bozen 2004. verbrachte H. in Malcesine am Gardasee, um Astrid Wallner der großdt. Einbürgerung zu entgehen. 1949 kehrte er nach Meran zurück u. zog auf Herzog, Marianne, * 10.1.1939 Breslau. – Schloss Rametz. Eine krit. u. kommentierte Autorin von Hörfunkdokumentationen, Ausgabe sämtl. Werke H.s erschien autobiografischen Schriften u. Prosa. 1983–1994. Der »genialisch verkauzte Amateur« aus dem Geiste Torbergs erweist sich Aufgewachsen in Waren/Müritz in Mecklendarin als ein ironisch gegen Ordnungen u. burg wechselte H. nach Abschluss einer Buchhändlerlehre 1957 zum ersten Mal von Konventionen fabulierender Autor. Weitere Werke: Gesamtausgabe: Sämtl. Werke. Ost- nach Westdeutschland, kehrte zwei Jahre Hg. unter der Leitung v. Walter Methlagl u. Wen- später in die DDR zurück u. floh 1961 erneut delin Schmidt-Dengler. Salzb./Wien. Bd. 1–3: in den Westen. Von Dez. 1971 bis Dez. 1973 Österr. Triologie. 1: Der Gaulschreck im Rosennetz. war sie im Gefängnis wegen des Verdachts der 1983 (R.). 2: Rout am Fliegenden Holländer. 1984 Mitgliedschaft in der RAF. Seit 1964 lebt H. (R.). 3: Das Maskenspiel der Genien. 1989 (R.). in (West-)Berlin. Bd. 4: Dramen. 1985. Bd. 5: Zwischen Prosa u. Drama. 1986. Bd. 6: Dramen. 1985. Bd. 7: Der
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»Ich habe ein starkes Bedürfnis danach, dass Sprache und Leben identisch sind«, schreibt H. in Suche (Darmst. 1988); in einer anderen autobiogr. Notiz heißt es: »Schreibe ich, weil ich ein Flüchtling bin, karg?« Ihre ersten Veröffentlichungen sind Rundfunkdokumentationen: Mädchen u. Frauen berichten von ihrem Leben im Heim, im Gefängnis, von der Arbeit in der Fabrik. Sie kommen selbst zur Sprache, so auch die Arbeiterin Vera Kamenko mit Unterstützung H.s in Unter uns war Krieg. Autobiographie einer jugoslawischen Arbeiterin (Bln. 1978). 1980 erschien H.s Prosaband Nicht den Hunger verlieren (Bln.), ein autobiogr. Bericht über die Isolation im Gefängnis u. über das Schweigen. H.s Sprache ist klar u. nüchtern, passagenweise eindringlich erzählend. In Suche beschreibt sie ihr Leben in den 1980er Jahren: den Alltag, Reisen u. die Suche nach ihrem Sohn. Weitere Werke: Rundfunkdokumentationen: Angelika B. Ber. aus einem geschlossenen Mädchenheim. SWF 1968. – Für eine Saison. In der Süßwarenindustrie am Band. NDR 1977. – Internowana. Interniert in Polen. Ein Gespräch mit Janina. SFB 1982. – ›Überhaupt das Spielen ist verboten‹. Gespräch mit Bahman Nirumand über Alltag im Untergrund in Teheran. SFB 1982. – Einzeltitel: Von der Hand in den Mund. Frauen im Akkord. Bln. 1976 (P.). Literatur: Helga W. Kraft: De/Kolonialisierung des Subjektes. Der Identitätskampf einer Frau aus dem Umkreis der RAF. Autobiogr. Texte von M. H. In: Heidy Margrit Müller (Hg.): Das erdichtete Ich – eine echte Erfindung. Aarau 1998, S. 149–169. Sabine Geese / Red.
Herzog, Rudolf, * 6.12.1869 WuppertalBarmen, † 3.2.1943 Rheinbreitbach; Grabstätte: Bad Honnef, Neuer Friedhof. – Romancier, Journalist, Bühnenautor. H., Sohn eines Buchbindereibesitzers, durchlief eine Kaufmannslehre u. war Farbentechniker in Düsseldorf u. Wuppertal, bevor er in Berlin 1891–1893 Philosophie studierte. 1894 Feuilletonredakteur bei der Monatszeitschrift »Schwarz-Rot« (Darmst.), war er 1897–1899 Chefredakteur der »Hamburger Neuesten Nachrichten«, 1899–1903 Feuilletonchef der »Berliner Neuesten Nachrichten«. Nach dem Erfolg seiner Romane
erwarb er 1908 die Obere Burg in Rheinbreitbach als Wohnsitz. Im Ersten Weltkrieg war er Begleiter verschiedener Stäbe. 1939 erhielt H. die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft. Nach Anfängen mit sentimentaler Lyrik (Vagantenblut. Lpz. 1892), Boulevardschauspielen (Protektion. 1893 u. a.) u. nachromant. Künstlerromanen (Nur eine Schauspielerin. Bln. 1897) stellte H. zunehmend Tatmenschen der Wirtschaft in den Mittelpunkt seines Schaffens. Seine Romane sind, obwohl in einer Sprache abgefasst, die »in ihrer Mischung aus Sentimentalität und Härte, Pomp und Flachheit der Kaiser Wilhelms II. gleicht« (Schmähling), rezeptionsgeschichtlich von großer Bedeutung (Gesamtauflage über sieben Mio.) als Spiegel des Bewusstseinsstands breiter bürgerl. Kreise in der wilhelmin. Ära. Die hier vermittelten Wertvorstellungen u. der durchgängige Optimismus entsprachen einer zeitgenöss. Erfolgsmentalität, die übersah, dass Tüchtigkeit zu Rücksichtslosigkeit, Familiensinn zu patriarchal. Verhalten gegenüber Arbeitern, Fleiß zur Überschätzung von Disziplin umgewandelt u. soziale Gegensätze verkleistert wurden. H.s Romane kamen den lokal- wie den nationalbezogenen Gefühlen entgegen. Industrieromane waren sie nicht durch realistische Darstellung der Arbeitswelt, sondern durch geschicktes Einbringen von Technik- u. Branchenkenntnissen. Als Heimatromane konnten sie der Zustimmung der gegen den »dekadenten« Großstadtroman gerichteten Heimatkunstbewegung sicher sein: Bartels bezeichnete Die Wiskottens (Oranienburg 1905) – in dem sämtl. in der Familie vorhandenen Talente gewissermaßen in Produktivkräfte zur Festigung des Imperiums umgewandelt werden – als besten Unterhaltungsroman der Zeit. H. greift meist das Milieu seiner rheinischen Heimat auf (Die vom Niederrhein. Stgt./ Bln. 1903). Die Verwurzelung in ihr vermittelt den Unternehmern die nötige »innere« Motivation im Kampf um techn. Fortschritt, Kapital u. Markt. Die Stoltenkamps und ihre Frauen (Stgt. 1917) wurde als Schlüsselroman zum Aufstieg des Hauses Krupp angesehen. In der Zeit um den Ersten Weltkrieg griff H.
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vaterländ. u. gegenwartsnahe Stoffe (Kameraden. Stgt. 1922. Wieland der Schmied. Stgt. 1924) auf u. veröffentlichte Reisebücher. 1934 publizierte er eine Geschichte des deutschen Volkes und seiner Führer (Lpz.). Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke. 18 Bde., 1920–25. – Einzeltitel: Frau Kunst. Stgt./Bln. 1893 (R.). – Herrenmoral. Stgt./Bln. 1894 (D.). – Das Recht der Jugend. Stgt./Bln. 1897 (D.). – Das goldene Zeitalter. Stgt./Bln. 1900 (R.). – Der Adjutant. Dresden 1901 (R.). – Die Condottieri. Stgt./Bln. 1905 (D.). – Der Abenteurer. Stgt./Bln. 1907 (Künstlerroman). – Hanseaten. Stgt./Bln. 1909 (R.). – Deutschland, mein Deutschland! Bln. 1929 (Städtebilder). – Über das Meer Verwehte. Stgt./Bln. 1934 (R-). – Mann im Sattel. Stgt./Bln. 1935 (autobiogr. R.). – Elisabeth Welsers Weggenossen. Stgt./ Bln. 1938 (R.). Literatur: Felix Leo Goeckeritz: R. H. Lpz. 1919. – Albert Herzog: R. H.s Leben u. sein Werk. In: Heimatrundschau für Berg. Land u. Niederrhein 17 (1943). – Walter Schmähling: H. In: NDB. – Hans-Thies Lehmann: Die Stoltenkamps u. ihre Frauen v. R. H. In: Wehrwolf u. Biene Maja. Der dt. Bücherschrank zwischen den Kriegen. Hg. Marianne Weil. Bln. 1986, S. 165–178. – Lex. ns. Dichter. – Dirk Hallenberger: R. H. (1869–1943). In: Bernd Kortländer (Hg.): Lit. von nebenan. Bielef. 1995, S. 144–151. – Pascal Jardin: L’œuvre de R. H. Littérature populaire et idéologie allemandes (1900–1938). Paris 1997. Christian Schwarz / Red.
Herzog, Wilhelm, auch: René Kestner, Julian Sorel, Junius Tertius, * 12.1.1884 Berlin, † 18.4.1960 München. – Publizist, Dramatiker, Übersetzer. Nach dem Studium der Germanistik u. Kunstgeschichte in Berlin arbeitete H., Sohn eines Kaufmanns, an einer Biografie über Heinrich von Kleist (Mchn. 1911). Seine journalistische Tätigkeit begann er 1910 als Mitherausgeber der Zeitschrift »Pan« (zus. mit Paul Cassirer); 1912/13 übernahm er die Leitung der Wochenschrift »März«. Als engagierter Pazifist gründete er 1914 die Zeitschrift »Das Forum«, die 1915–1918 verboten war. Während dieser Zeit gab er mit Walther C. F. Hirth die Wochenzeitschrift »Die Weltliteratur« heraus u. setzte sein Engagement für den Frieden nach dem Krieg mit der sozialistischen Tageszeitung »Die Republik« (1918/19) fort. Anlässlich des
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zweiten Kongresses der »Dritten Internationale« traf er in der Sowjetunion mit Trotzki u. Lenin zusammen; er gehörte jedoch nie einer Partei an. In dem Tatsachenbericht Im Zwischendeck nach Südamerika (Bln. 1924) über seine Reise nach Argentinien prangert H. das große Geschäft der Schifffahrtsgesellschaften mit den Auswanderern an u. stellt aufgrund seiner Erfahrungen mit der diktatorischen Willkür der argentin. Polizei, die ihm die Einreise verweigerte, Parallelen zu den Verhältnissen in der Weimarer Republik her. Da H. Jude war, hielt er sich angesichts der zunehmenden antisemitischen Kampagnen bereits seit 1929 vorwiegend in Südfrankreich u. der Schweiz auf. Als Übersetzer u. Herausgeber machte er sich v. a. um das Werk Romain Rollands verdient, dessen Revolutionsdramen er u. a. ins Deutsche übertrug. Zusammen mit Hans José Rehfisch verfasste er das Drama Die Affaire Dreyfus (Mchn. 1929. Ffm. 1957. Verfilmt 1930), das mit dem Thema Antisemitismus u. Rechtsprechung auch für die polit. Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik Bedeutung hatte. 1941 wurde H. auf der Flucht in die USA verhaftet u. war vier Jahre auf Trinidad interniert. Nach zweijährigem Aufenthalt in den USA kehrte er 1947 nach Europa zurück. Seit 1952 lebte H. in München u. erhielt 1956 den Kulturpreis der Stadt. Weitere Werke: Rund um den Staatsanwalt. Eine polit. Revue. Bln. 1928. – Panama. Wien 1931. Mchn. 1950 (Schausp.). – Barthou. Zürich 1938 (Biogr.). – Menschen, denen ich begegnete. Bern/ Mchn. 1959 (Autobiogr.). – Herausgeber: Der Weltweg des Geistes. Basel 1954. – Große Gestalten der Gesch. 1959/60. Liteartur: Michael Herzog: Thomas Mann u. sein ›Intimfeind‹ W. H. In: Lit. in Bayern (1991), H. 25, S. 40–46. – Carla Müller-Feyen: Engagierter Journalismus. W. H. u. ›Das Forum‹ (1914–1929). Zeitgeschehen u. Zeitgenossen im Spiegel einer nonkonformist. Ztschr. Ffm. u. a. 1996. – Claudia Müller-Stratmann: W. H. u. ›Das Forum‹. ›Lit.-Politik‹ zwischen 1910 u. 1915. Ein Beitr. zur Publizistik des Expressionismus. Ffm. u. a. 1997. – C. Müller-Feyen: W. H. In: Dt. Exillit. Bd. 3, Tl. 2, S. 160–183. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Christina Jung-Hofmann: Engagierte Lit. u. rhetor. Realismus. ›Panamaskandal‹ u. Weimarer Republik bei
357 W. H. u. Eberhard Wolfgang Möller. In: Stefan S. Neuhaus, Rolf Selbmann u. Thorsten Unger (Hg.): Engagierte Lit. zwischen den Weltkriegen. Würzb. 2002, S. 219–237. Mechthild Widdig / Red.
Herzog, Xaver, auch: Franz Xaver, vollständig: Franciscus Xaverius Vitalis Herzog, * 25.1.1810 Münster (heute Beromünster), Kt. Luzern , † 22.12.1883 ebd. – Katholischer Pfarrer, Publizist u. Volksschriftsteller. Der Sohn eines Schmieds studierte in Luzern u. Tübingen Philosophie u. Theologie (Priesterweihe Luzern 1836) u. war nach Verwendung auf verschiedenen Vikariats- u. Kaplansstellen 1841–1883 Pfarrer von Ballwil, einer kleinen Landgemeinde von rund 1000 Einwohnern im Luzerner Seetal. Wie viele kath. Publizisten u. Schriftsteller seiner Zeit schrieb »der alte Balbeler« (d.h. Einwohner Ballwils) unter dem Eindruck histor. Defensiverfahrungen, die 1847 in der Niederlage des Sonderbunds der sieben katholisch-konservativen Kantonsregierungen Luzern, Freiburg, Uri, Schwyz, Ob- u. Nidwalden, Zug u. Wallis kulminierten. Seit 1845 ständiger Schweizer Korrespondent der in Augsburg erscheinenden Kirchenzeitung »Neue Sion, eine Zeitschrift für katholisches Leben und Wissen«, wurde H. 1854 Herausgeber des »Katholischen Luzernerbieters«. Aus der anfangs eher unpolit. Kirchenzeitung formte er ein katholisch-konservatives Blatt, das bis zu seinem Ende nach 18 Nummern 1871 in zahlreichen Artikeln, Erzählungen, Reiseberichten u. Rezensionen für die Anliegen der konservativen Opposition im Großen Rat eintrat. Bedrohungen eines traditionalen Sozialkatholizismus im ländl. Raum sowie der Rechte der Kirche spiegeln die elf in Buchform publizierten Erzählungen u. die nach seinem unerreichten Vorbild Johann Peter Hebel geschriebenen rund drei Dutzend Kalendergeschichten, die H. als kath. Volksschriftsteller bekannt machten; die Bauern, die in althergebrachter Weise ihren Glauben leben wollen, unterliegen darin häufig den religionsfeindl., radikalen Fortschrittsvertretern. Besonderes Anliegen des Erzählers H. war es deshalb, seine Leser im standhaften
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Festhalten an den kath. Tugend- u. Pflichtenlehren zu bestärken. Seine mundartlich gefärbten Erzählungen entfalten exemplarisch in der patriarchal., liebevoll-krit. Darstellung einfacher Frauen- u. Mädchengestalten ein durch die modernen Versuchungen unbeirrtes Ethos, Anfechtung u. Bewährung oder auch das Verlassen des rechten Wegs mit allen Folgen materiellen u. sittl. Elends bis zur Verzweiflung. Kultur- u. standesgeschichtlich unverändert lesenswert sind der Geistliche Ehrentempel (1.-5. Reihenfolge, Luzern 1861–68), eine Sammlung von 82 Biografien kath. Geistlicher aus dem Luzernerbiet, sowie die Broschüre Die christliche Baukunst auf dem Lande (Einsiedeln 1852), mit der H. das Stilvorbild der ballwiler als eine der ersten im historisierenden Stil erbauten innerschweizer. Kirchen für weitere Sakralbauten empfahl. Während der polit. Publizist H. teilweise massiven Widerspruch im eigenen Lager erntete, erhielt er mit seinen Achtzehn lustigen Briefen, gewechselt zwischen einem katholischen und reformirten Geistlichen, zur gegenseitigen Verständigung (Luzern 1845) die briefl. Anerkennung des in diesem Punkt gleich irenisch gesonnenen protestantischen Amtsbruders Gotthelf: »Sie sind auch einer von denen, welche Frieden möchten, und gegen den Hund von Teufel streiten aus Leibeskräften [...]« (an H., 15.10.1845). In den letzten Jahren kampfesmüde geworden, ließ sich H. widerwillig zum Amtsverzicht bewegen u. wechselte auf eine Chorherrenpfründe in seinem Geburtsort, wo er nach wenigen Monaten starb. Weitere Werke und Neuausgaben: Ausgew. Werke von X. H., Pfarrer genannt ›Der alte Balbeler‹. Bearb. durch Ignaz Kronenberg. 6 Bändchen, Luzern 1913–21 (mit einer Einf. u. unvollst. Primärbibliogr. in Bd. 1, S. III–XVIII). – Des Hinterländers seine Reise an den eidgenöss. Schiesset u. a. Gesch.n vom alten Balbeler. Hg. Walter Haas. Hitzkirch 1983. – Achtzehn neue, lustige Briefe [...]. Hg. Philipp W. Hildmann u. Hubert Isopp. Nordhausen 2006. Literatur: Elisabeth Egli: Der alte Balbeler. Pfarrer X. H. v. Ballwil (1810–1883) u. sein Anteil an der Luzerner Publizistik des 19. Jh. Stans 1946. – H. Isopp: X. H. In: Bautz 26 (2006), Sp. 696–701
Herzog Ernst (Bibliogr.). – P. W. Hildmann u. H. Isopp: Biogr. Notiz. In: X. H.: Achtzehn neue, lustige Briefe [...], a. a. O., S. 59–85. Thomas Pittrof
Herzog Ernst. – Mittelalterliche Epen um Reich u. Orient aus dem 12. bis 15. Jh. Die Geschichte des einer Intrige zum Opfer fallenden, aus der Heimat fliehenden u. den Orient bereisenden bayerischen Herzogs gehört zu den beliebtesten der mittelalterl. Erzählliteratur. Allein neun Versionen – sechs dt. (A, B, D, F, G, Kl) u. drei lat. (C, E, Erf.) – sind zwischen dem 12. u. 15. Jh. überliefert. Im Hintergrund der Konstellation stehen zwei histor. Ereignisse: der Aufstand Luidolfs gegen seinen Vater Otto den Großen (953/54) u. die Empörung Ernsts II. von Schwaben gegen seinen Stiefvater Kaiser Konrad II. (1025–1030). Die meisten Versionen suchen allerdings keine direkte histor. Anbindung. Sie zielen auf die grundsätzl. Spannung zwischen Herrscher u. (privilegiertem) Untertan, die in der räuml. Zweiteilung der Geschichte, hier das vertraute Terrain des Reichs, dort das exotische des Orients, entfaltet wird. Der erste Teil schildert den glanzvollen Aufstieg Ernsts (nach der Heirat seiner Mutter Adelheid mit Kaiser Otto), den folgenden Fall (durch eine Verleumdung des eifersüchtigen Heinrich, Pfalzgraf bei Rhein) u. die offene Fehde zwischen Herzog u. Kaiser: eine exemplarische Demonstration zeitgenössischer polit. Mechanismen u. ihrer Aporien angesichts eskalierender Gewalt. Der zweite (umfangreichere) Teil berichtet von der mit Ernsts Flucht aus der Heimat einsetzenden »Exilsituation«, die zwar ein Ziel kennt (Jerusalem), den Helden aber an die Grenzen der bekannten Welt führt: Von einem Sturm abgetrieben, gelangt Ernst zusammen mit dem stets loyalen Grafen Wetzel u. einigen Getreuen in das Land Grippia. Dort steht er einer ind. Prinzessin gegen Kranichschnäbler bei u. wird auf der Flucht vor diesen vom Magnetberg angezogen, dem er nur mit unfreiwilliger Hilfe von Greifen (die die in Meerrinderhäute Eingenähten wegtragen) entkommen kann. Eine Floßfahrt auf einem unterird. Strom stellt dann den Wendepunkt
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dar. Auf ihr bricht Ernst einen Edelstein aus der Wand, der als der spätere »Waise« in der dt. Kaiserkrone gilt u. damit seine neuerl. Bindung an das Reich andeutet; zugleich ist dies der Startschuss für den polit. u. sozialen Aufstieg in der (aus Alexanderromanen, Enzyklopädien u. »mappae mundi« bekannten) Wunderwelt des Ostens. Ernst unterstützt die Schwächeren (Cyklopen, Pygmäen) gegen die Stärkeren (Plattfüßer, Langohren, Kranichschnäbler u. Giganten) u. erwirbt ein Lehen. In die geschichtl. Welt wieder eintretend, streitet er für den Mohrenkönig gegen den Heidenherrscher von Babylon u. kehrt schließlich von Jerusalem aus in die Heimat zurück, wo er sich mit dem Kaiser versöhnt, die mitgebrachten »Orientalen« vorführt u. den Auftrag zur Niederschrift seiner Fabelerlebnisse erhält. Ob die Zusammenfügung von Reichsgeschichte u. Orientfahrt dem Autor/Redaktor der Version A zuzuschreiben ist oder vielleicht schon in einer lat. Prosaversion vorlag (B u. D berufen sich mehrfach auf ein lat. Gedicht), bleibt dunkel. Aus der fragmentar. Überlieferung von A ist nur zu ersehen, dass schon diese früheste, in der zweiten Hälfte des 12. Jh. im Mittelfränkischen greifbare Textstufe alle wesentl. Episoden enthielt, die spätere Bearbeitungsstufen variieren u. umakzentuieren. Zeigt A Ernsts Verhaltenskodex unter dem Signum der »êre« u. die Beziehung zu seinen Getreuen als eine eher hierarchische, so rückt Version B aus dem Anfang des 13. Jh. (rund 6000 Verse) mit Begriffen wie »huld«, »milte« u. »triuwe« auch Aspekte von Innerlichkeit u. Fragen der Handlungsmotivation in den Vordergrund. Das aus der Historiografie bekannte Versöhnungsritual der »deditio« wird nuancenreich, in einer ausgewogenen Darstellung des Kaisers wie seines Vasallen durchgespielt. Auch zeigt sich, dass der zweite Teil nicht einfach additiv oder variierend zum ersten hinzukommt, vielmehr dazu dient, den aporet. Konflikt zwischen Zentralmacht u. Partikularfürst zu lösen – durch eine Verlagerung des Geschehens in den Orient, wo Elemente der polit. Problemkonstellationen verändert u. verfremdet wiederkehren. Zugleich lenken angedeutete Handlungsalternativen u. er-
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zählerische Autorisierungsstrategien das Augenmerk auf die Literarizität des Texts selbst. Einflüsse des höf. Romans werden greifbar. Sie verstärken sich in der vielleicht im böhm. Raum entstandenen Version D aus der zweiten Hälfte des 13. Jh., in der personalisierende u. psychologisierende Tendenzen sich mit harmonisierenden verbinden. Die lat. u. die späteren dt. Versionen gehen teilweise andere Wege. Sowohl die lat. Prosa aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. (C) wie die zwischen 1212 u. 1218 von Odo von Magdeburg im Auftrag Erzbischof Albrechts II. von Kefernburg verfasste Hexameterdichtung (E) stellen den Stoff durch die Einfügung von Gebeten, Predigten, bibl. Vergleichen, gelehrten Reminiszenzen u. die Verminderung von Schlacht- u. Festschilderungen stärker in klerikale Tradition; in C kommt es zu einer christl. Überhöhung u. zum Anschluss an die Hagiografie der Hl. Adelheid. Die spätmittelalterl. dt. Prosa F, die auf C basiert, u. die Liedfassung G (Berner Ton; überliefert u. a. im Dresdner Heldenbuch des Kaspar von der Rhön) lassen hingegen – wie schon die um 1200 entstandene lat. Prosa Erf. – die dt. Reichsgeschichte zurück- u. die Orientfahrt hervortreten. Doch kommt es in F auch zur Historisierung von Details. Als Reisebericht mit Wahrheitsanspruch wurde diese Version (überliefert etwa zusammen mit der Historia hierosolymitana des Robertus Monachus) offensichtlich ebenso gelesen wie Erf. (überliefert in der einzigen bekannten Handschrift zwischen den Reisen Mandevilles u. der Asienreisebeschreibung Marco Polos). Die Liedfassung G hingegen verleiht dem Geschehen eine mythisch-histor. Allgemeinheit: Kaiser ist nun der sagenhaft entrückte Friedrich I., Ernst wird dessen Nachfolger, empfängt dazu noch die Krone Indiens, die er Wetzel überlässt. Besonders die Orienterlebnisse des H. E. wirkten in mannigfacher Form auf die spätmittelalterl. dt. Literatur, auf Weltchroniken u. (pseudo-)histor. Dichtungen. Der Autor des Reinfried von Braunschweig (um 1300) u. Michael Wyssenherre in seinem buoch von dem edeln hern von Bruneczwigk als er uber mere fuor (einzige Hs. 1471/74) übernehmen in wesentl. Zügen die Abfolge der Orientreise aus dem H. E. u. verknüpfen sie mit
Herzog Ernst
der Sage um Heinrich den Löwen. Im Anschluss an Wyssenherre erfährt der Stoff, bereits im 14. Jh. auf einem Braunschweiger Rückenlaken in zwölf Bildszenen dargestellt, bildl. Umsetzung: auf einem oberrheinischen Webteppich u. einem Freskenzyklus in Karden/Mosel (beide Ende 15. Jh.). Die Verbindung mit Heinrich dem Löwen ist in Meisterliedern u. histor. Liedern des 16. Jh. (Adam Puschmann, Hans Sachs) aufgegriffen. Für das Weiterleben des Stoffs in der Neuzeit sorgte v. a. die Prosafassung F bzw. das aus ihr gewonnene Volksbuch von Herzog Ernst, das bis 1830 mehr als ein Dutzend Mal aufgelegt wurde u. auch die Romantiker mit dem Stoff bekannt machte. Ludwig Uhland bearbeitete ihn 1817 in seinem ersten Trauerspiel Ernst, Herzog von Schwaben. Ernst lässt hier im Kampf gegen die Truppen des Kaisers sein Leben, lebt am Ende aber, in den Worten der Mutter, »in dem Mund des Volks« fort. Peter Hacks lieferte in seinem frühen Stück Das Volksbuch von Herzog Ernst oder Der Held und sein Gefolge (1953, Urauff. 1967) eine parodistische Version; Lutz Dammbeck stellte in seinem poet. Animationsfilm Herzog Ernst (1993) dem Ende des Ritterstands die utop. Hoffnung auf eine tolerantere, friedfertigere u. fantasievollere Welt gegenüber. Ausgaben: Deutsche Texte: H. E. Hg. Karl Bartsch. Wien 1869. Neudr. Hildesh. 1969 (A, B, F, G). – H. E. Hg. Bernhard Sowinski. Stgt. 1970 u. ö. (A, B; Kl, die sog. Klagenfurter Bruchstücke, 92 Verse, Ende 14. Jh.). – Cornelia Weber: Untersuchung u. überlieferungskrit. Ed. des H. E. B mit einem Abdruck der Fragmente v. Fassung A. Göpp. 1994. – H. E. D. Hg. Hans-Friedrich Rosenfeld. Tüb. 1991. – Die Historie v. H. E. Aus dem Nachl. v. K. C. King hg. v. John L. Flood. Bln. 1992 (Kurzfassung v. Prosa F). – Das Lied v. H. E. Hg. K. C. King. Bln. 1959 (G). – Nikolaus Henkel: Ein Fragment des Liedes vom H. E. (G). In: FS H.-F. Rosenfeld. Göpp. 1989, S. 247–260. – Lateinische Texte: Thomas Ehlen: Hystoria ducis Bauarie Ernesti. Krit. Ed. des ›H. E.‹ C u. Untersuchungen zu Struktur u. Darstellung des Stoffes in den volkssprachl. u. lat. Fassungen. Tüb. 1996. – Odo v. Magdeburg: Ernestus. Hg. Thomas A.-P. Klein. Hildesh. 2000 (E). – Gesta Ernesti ducis. Hg. Peter C. Jacobsen u. Peter Orth. Erlangen 1997 (Erf.). Literatur: Jürgen Kühnel: Zur Struktur des ›H. E.‹. In: Euph. 73 (1979), S. 248–271. – Hans
Hesekiel Szklenar u. Hans-Joachim Behr: H. E. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Hans Simon Pelanda: Schein, Realität u. Utopie. Studien zur Einheit eines Staatsromans (H. E. B). Ffm. 1984. – H.-J. Behr: Lit. als Machtlegitimation. Mchn. 1989, S. 229–234. – Siegfried Grosse u. Ursula Rautenberg: Die Rezeption mittelalterl. dt. Dichtung. Tüb. 1989, S. 87–94 (Lit.). – Otto Neudeck: Ehre u. Demut. Konkurrierende Verhaltenskonzepte im H. E. B. In: ZfdA 121 (1992), S. 177–209. – H.-J. Behr u. Herbert Blume (Hg.): Vestigia Leonis. Spuren des Löwen. Das Bild Heinrichs des Löwen in der dt. u. skandinav. Lit. Braunschw. 1995. – Jens Haustein: ›H. E.‹ zwischen Synchronie u. Diachronie. In: ZfdPh 116, Sonderh. (1997), S. 115–130. – Alexandra Stein: Die Wundervölker des H. E. (B). In: Wolfgang Harms u. C. Stephen Jaeger (Hg.): Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Stgt./Lpz. 1997, S. 21–48. – Monika Schulz: ›Âne rede und âne reht‹. Zur Bedeutung der ›triuwe‹ im ›H. E.‹ (B). In: PBB 120 (1998), S. 395–434. – Herfried Vögel: Der ›Ernestus‹ des Odo v. Magdeburg. In: Gunter Schandera u. Michael Schilling (Hg.): Prolegomena zu einer Kultur- u. Literaturgesch. des Magdeburger Raumes. Magdeb. 1999, S. 33–60. – Kai-Peter Ebel: Huld im ›H. E. B‹. In: Frühmittelalterl. Studien 34 (2000), S. 186–212. – Robert Luff: [...]. Dichter, Publikum u. Konturen der Vortragssituation im ›H. E. B‹. In: Euph. 95 (2001), S. 305–340. – Corinna Dörrich: Poetik des Rituals. Konstruktion u. Funktion polit. Handelns in mittelalterl. Lit. Darmst. 2002. – Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹, im ›H. E. B‹ u. im ›König Rother‹. Tüb. 2002. – Elizabeth A. Andersen: Time as a compositional element in ›H. E.‹ (B). In: FS John L. Flood. Göpp. 2003, S. 3–22. – Carsten Morsch: Lektüre als teilnehmende Beobachtung. Die Restitution der Ordnung durch Fremderfahrung im ›H. E. (B)‹. In: W. Harms (Hg.): Ordnung u. Unordnung in der Lit. des MA. Stgt. 2003, S. 109–128. – Otto Neudeck: Erzählen v. Kaiser Otto. Zur Fiktionalisierung v. Gesch. in mhd. Lit. Köln u. a. 2003. – Stephen Mark Carey: ›Undr unkunder diet‹. Monstrous counsel in ›H. E. B‹. In: Daphnis 33 (2004), S. 53–77. – Rasma LazdaCazers: Hybridity and liminality in: ›H. E. B‹. In: ebd., S. 79–96. – Jasmin Schahram Rühl: Der ›H. E. D‹ u. seine Beziehungen zu Würzburg. In: Horst Brunner (Hg.): Würzburg, der Große Löwenhof u. die dt. Lit. des SpätMA. Wiesb. 2004, S. 51–66. Christian Kiening
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Hesekiel, (Johann) George (Ludwig), * 12.8.1819 Halle/Saale, † 26.2.1874 Berlin. – Lyriker, Romancier, Dramatiker, Journalist. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wuchs H. als Sohn eines protestantischen Pfarrers u. späteren Generalsuperintendanten bei seinem Großvater auf, der zum Freundeskreis Gleims zählte u. früh H.s Interesse für die Literatur weckte. Er besuchte die Klosterschule Roßleben in Thüringen u. studierte ab Herbst 1839 zunächst auf Wunsch seines Vaters Theologie in Jena, dann Geschichte u. Philosophie in Halle, wo er Heinrich Leo u. Friedrich Fouqué kennen lernte. Fouqués Einfluss zeigt sich thematisch im Frühwerk (Der Saga-Saal. Halle 1839). Ohne Studienabschluss ging H. zu Beginn des Jahres 1842 nach Berlin, reiste durch Frankreich u. kehrte 1843 nach Deutschland zurück. In Altenburg arbeitete er am Piererschen Universallexikon mit, übernahm die Herausgabe der belletristischen Zeitschrift »Rosen« (1845–1848) u. heiratete Elisabeth Förster, mit der er zwei Töchter hatte, darunter die spätere Schriftstellerin Ludovica Hesekiel. Neben patriotischer Lyrik wie den Preußenliedern (3 H.e., Magdeb. 1846–48) gab H. im Revolutionsjahr das Volksblatt »Der patriotische Hausfreund« (Zeitz 1848) heraus u. übersiedelte im selben Jahr nach Berlin, um in der Redaktion der »Neuen Preußischen Zeitung« mitzuarbeiten. H. trat der Dichtervereinigung »Tunnel über der Spree« bei, woraus sich eine Freundschaft mit dem Mitgl. Theodor Fontane entwickelte, der H.s Dichtung der »naiven Schule« zuwies. Bis zu seinem Tod veröffentlichte er neben Gedichten zahlreiche Romane u. Novellen. Die Bastardbrüder oder Geheimnisse von Altenburg (Altenburg 1845) sind hervorzuheben unter den frühen Gegenwartsromanen, welche noch eine gewisse Selbstständigkeit gegenüber seinem Vorbild Eugène Sue erkennen lassen, obgleich sie aufgrund der allzu realistischen Schilderung Altenburgs Kritik hervorriefen u. als Unterhaltungsroman abgewertet wurden. Auch in Faust und Don Juan. Aus den weitesten Kreisen unserer Gesellschaft (Altenburg 1846) befasst sich H. mit den so-
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zialen Problemen seiner Zeit: Fausts Kampf gegen die Unterdrückung der Arbeiter scheitert, der Held bleibt wie der Autor antirevolutionär. Später widmete sich H. histor. Romanen, die sich mit der frz. u. dt. Vergangenheit beschäftigen: Seine vaterländ. Romantetralogie Vor Jena (Bln. 1859), Von Jena nach Königsberg (Bln. 1861), Bis nach HohenZieritz (Bln. 1861), Stille vor dem Sturm (Bln. 1862) beschreibt den Zeitraum 1803–1813 u. bemüht sich um die Ehrenrettung des preuß. Adels. Unverkennbar ist die stilistische Orientierung an Walter Scott u. Willibald Alexis hinsichtlich des histor. Romans, ohne freilich die Vorbilder zu erreichen; H.s »monarchischer Kitsch« dominiert zu sehr. Sein Buch vom Fürsten Bismarck (Bielef. 1869) ist die erste Biografie des späteren Reichkanzlers, die weniger die histor. Bedeutung wissenschaftlich würdigt, als vielmehr eine Zusammenführung von Anekdoten u. einiger Briefe Bismarcks darstellt. War H. schon zu Lebzeiten kein großer literar. Erfolg beschieden, ist er heute nahezu vergessen u. wird lediglich im Zusammenhang mit Fontane erwähnt. Weitere Werke: Gedichte eines Royalisten. Bln. 1841. – Soldatengesch.n. Magdeb. 1851. – Frz. Hofgesch.n. Bln. 1859. – Die Dame v. Payerne. Sitten-Roman aus dem 17. Jh. Bln. 1864. – Absonderl. Menschenkinder. Portraits. Bln. 1867. – Gegen die Franzosen. Preußische Kriegs- u. Königslieder. Bln. 1870. – Das Siebenkönigbuch. Die Könige von Preußen. Bln. 1874. Literatur: Theodor Fontane: Zwischen Zwanzig u. Dreißig. Bln. 1898. – Otto Neuendorf: G. H. Bln. 1932. – Reinhard Wittmann: Das literar. Leben 1848–1880. In: Realismus u. Gründerzeit. Hg. Max Bucher u. a. Stgt. 1976, S. 161–257. – Erich Edler: Die Anfänge des sozialen Romans u. der sozialen Novelle in Dtschld. Ffm. 1977. – Christian Grawe: Preußen 1803 bis 1813 im »vaterländ. Roman«: Willibald Alexis, G. H., Theodor Fontane. In: Lit. u. Gesch. 1788–1988. Hg. Gerhard Schulz u. Tim Mehigan. Bern 1990, S. 141–180. Lea Sienknecht
Hesekiel, Ludovica (Karoline Albertine Emanuele), verh. Johnsen, * 3.7.1847 Altenburg/Thüringen, † 6.4.1889 Neustadt bei Coburg. – Schriftstellerin. Die älteste Tochter des Schriftstellers George Ludwig H. kam in ihrem Elternhaus schon
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früh mit der literar. Welt Berlins in Berührung u. wurde bald zur Gehilfin ihres Vaters, dessen konservative Anschauungen u. Bestrebungen sie zeitlebens teilte. 1868 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, Eine brandenburgische Hofjungfer. Historischer Roman aus Joachim Nestor’s Tagen (3 Bde., Bln.). Ihre karitative Tätigkeit während des DeutschFranzösischen Kriegs verarbeitete sie in dem Erzählungsband Barackenleben. Skizzen aus dem Berliner Militärlazarett 1870–71 (Bln. 1872). Nach dem Tod ihres Vaters 1874 wurde H. die Ernährerin der Familie, ein Umstand, der sich auch in ihrer enormen literar. Produktivität widerspiegelt. 1887 heiratete sie den Diakonus Johnsen u. zog nach Neustadt bei Coburg, wo sie 1889 an den Folgen eines Schlaganfalls starb. H.s umfangreiches Werk ist weniger durch Originalität als durch sorgfältige Recherchen u. Lokalkolorit geprägt. Ihre Sujets sind ausnahmslos historisch u. vaterländisch. Mit ihren christlich, preußisch u. konservativ gefärbten Romanen u. Erzählungen traf sie den Nerv der Zeit, wobei sie auch von der Popularität u. Anhängerschaft ihres Vaters profitierte. H.s zum Teil zuerst als Fortsetzungen veröffentlichte Romane wurden – auch nach ihrem Tod – mehrfach aufgelegt, gerieten nach 1945 jedoch in Vergessenheit. Weitere Werke: Lenz Schadewacht. Histor. Roman. 4 Bde., Bln. 1871. – Von Brandenburg zu Bismarck. 2 Bde., Bln. 1873 (R.). – Elisabeth Luise, Gemahlin König Friedrich Wilhem IV. Ein Lebensbild. Bln. 1881. – Agnes, Fürstin Reuß j. L., geb. Herzogin zu Württemberg. Ein Lebensbild. Lpz. 1887. Karin Vorderstemann
Heselloher, Hans, urkundlich 1451 bis 1483. – Liederdichter. Bei dem Liederdichter handelt es sich nach Ausweis des Genealogen Wiguläus Hundt († 1588) um Hans u. nicht um seinen bei Ulrich Fuetrer als Dichter erwähnten Bruder Andreas. H. urkundet 1451–1483. Er war seit 1453 Pfleger von Pähl in Oberbayern u. von 1465 an zudem Stadt- u. Landrichter von Weilheim. Er starb zwischen Februar 1485 (Brief des Herzogs Christoph von Bayern vom 12.2.1485 an H.) u. dem Mittwoch vor
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Literatur: Bibliografie: Reinhard Schmid: H. H.Pfingsten 1486, als in Weilheim ein MessopBibliogr. In: Weilheimer Heimatbl. 8 (1986), fer zu seinem Andenken gelesen wurde. Die frühe Überlieferung u. Wirkung seiner S. 43–50. – Weitere Titel: Michael Curschmann: TyLieder legt nahe, dass H. dichtete, bevor er in pen inhaltsbezogener formaler Nachbildung eines spätmittelalterl. Liedes. In: FS Hugo Kuhn. Stgt. herzogl. Dienste trat. Nur wenige Werke des 1969, S. 305–325. – Ders.: H. H. In: VL. – Heinz Verfassers »vil Schöner Teutscher lächerlicher Haushofer: H. H. – der ›liebe u. getreue Pfleger‹. unnd artlicher lieder« (Hundt) sind erhalten: In: Weilheimer Heimatbl. 8 (1986), S. 7–27. – Hans Vier Lieder (Hartmann Nr. I–IV) sind sicher Pörnbacher: ›Hannsl Heseloher wie lanng wilt von H., vielleicht auch ein fünftes im Stil H.s leppisch sein?‹. In: ebd., S. 29–41. u. mit der Strophenform von I. Ein weiteres Claudia Händl / Red. Lied, dessen Eingang Hundt zitiert, ist nicht erhalten. H.s Lieder sind Tanzlieder (IV mit Melodie) mit reimtechnisch z.T. komplizier- Hesenthaler , Hessenthaler, Magnus, * Okt. ten Strophenformen. 1621 (?) Hochdorf, † 2.4.1681 Stuttgart. – Thematisch stehen sie als Bauernsatiren in Erzieher, Politiker, Historiker, Redner, der literar. Tradition Neidharts u. der Neid- Liederdichter. hartianer. H. erzählt keine wahren Begebenheiten aus dem bäuerl. Milieu, sondern ver- Wohl schon seit seiner Straßburger Studienspottet Narrheit u. Geckentum überhaupt. zeit (u. a. hörte er Politik u. Geschichte bei Wie Neidhart bezieht sich der Sänger selbst- Boecler) unterhielt der Pfarrerssohn gute Beironisch in die Darstellung mit ein, bleibt ziehungen zum württembergischen Heraber – anders als der Riuwentaler Neidharts – zogshaus. Von ihm wurde er 1648 zum Ereher distanziert-beobachtend. Ob H. mit sei- zieher des Prinzen Johann Friedrich berufen, nen Tanzliedern einen neuen Tanz geprägt 1656 zum Professor für Politik, Geschichte u. hat (den heute noch bekannten Heß? – vgl. II, Beredsamkeit an der Tübinger Ritterakade2: »da man den Hesseloher sprang«) oder ob mie (Collegium Illustre) ernannt (als Nacher – in Anschluss an die Neidhart-Tradition – folger von Thomas Lansius), schließlich 1663 mit einer Gattungsbezeichnung spielt (vgl. als Hofhistoriograf nach Stuttgart geholt. H.s staatswissenschaftl. Veröffentlichungen ste»ain Nithart«), muss offenbleiben. Das um 1440/50 entstandene Tanzlied Von hen in der Nachfolge von Lipsius, Bernegger üppiglichen dingen (IV) über einen bäuerl. Tanz, u. Boecler, so der Antesignanus politicus, sive de der durch die Provokation eines Gecken in studii politici ortu et progressu (Tüb. 1662), »die eine allg. Prügelei ausartet (vgl. Wittenwilers erste Wissenschaftsgeschichte des Faches« Ring), die erst durch amtl. Eingreifen beendet (Michael Philipp), das kurzgefasste Lehrbuch wird, war eines der beliebtesten Lieder des 15. Athleta politicus; Hoc est, ad iudiciose variis in u. 16. Jh., wie Mehrfachüberlieferung u. congreßibus disserendi consequendam promtitudizahlreiche themat. u. musikal. Nachbildun- nem, introductio (Ffm. 1665), die Prob-Stücke der Regiments- und Sittenlehre (Stgt. 1666) u. die gen u. Variationen erweisen. H. ist kein bloßer Nachahmer. Formales erweiterte Neuausgabe der Universalgeschichte des älteren Denis Godefroy (Historia Können, geschickte Szenenregie u. souveräuniversalis [...]. 2 Bde., Stgt. 1667/68). Mit nes Spiel mit vorgegebenen Mustern zeichComenius eng befreundet, warb er für dessen nen ihn vor anderen Dichtern der »NeidhartIdeen 1679 auch öffentlich als Gutachter im Renaissance« im 15. Jh. aus. Zuge der württembergischen Schulreform. Ausgaben: August Hartmann: H. H.’ Lieder. In: Maßgeblich beteiligt war H. an den Plänen Romanische Forsch.en 5 (FS Konrad Hofmann). für eine literar. Propagierung der kabbalistiErlangen 1890, S. 449–528. – Michael Curschmann: Texte u. Melodien zur Wirkungsgesch. eines schen Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Zuspätmittelalterl. Liedes (H. H.: ›Von üppiglichen sammen mit Johann Michael Dilherr veröfdingen‹). Bern 1970. – Thomas Cramer (Hg.): Die fentlichte er ein Gesangbuch: Evangelische Jukleineren Liederdichter des 14. u. 15. Jh. Bd. 2, belstim [sic] / Oder Christliche Lieder (Amsterd. Mchn. 1979, S. 9–42, 489–491. 1669); einige Lieder fanden auch in andere
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Gesangbücher Eingang, z.B. Mein Jesu, wie so groß die Lieb’. Weitere Werke: Panegyricus nuptialis [...] Eberhardo, Wirtembergiae [...] duci [...] dictus. Tüb. 1656. – Thomae Lansii cineres, seu oratio de vita ejus beatoque excessu [...]. Tüb. 1657. – Joh. Wilhelm v. Bock [Resp.]: Plastes politicus, sive de civitatis origine, fine ac instituto dissertatio. Tüb. 1662. – Joh. Heinrich Schönberg [Resp.]: Metator politicus, sive doctrinae civilis ambitu, itemque difficultatibus et remediis diss. Tüb. 1662. – Joh. Nicolaus Schragmüller [Resp.]: Custos politicus, sive de vinculis rerumpublicarum mutuis, h. e. iure publico imperiorum universo. Tüb. 1663. – De patriae historiae eminentia oratio. Tüb. 1663. – Suada octennis Collegii Illustris Wirtembergici [...]. 2 Bde., Stgt. 1666. – Einige Briefe H.s an Boineburg u. Leibniz aus den Jahren 1670/71 siehe in Analecta Comeniana. Ioannes Kvacˇala (Hrsg.). Iurievi 1909, N. 46–53; vgl. ferner: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtl. Schr.en u. Briefe. II,1. 2., neu bearb. Aufl. Hg. Leibniz-Forschungsstelle der Univ. Münster. Bln. 2006, S. 885; Korrespondenzverz. der Akademie-Ausg. Hg. Leibniz-Archiv Hannover. Stand: 19.2.2009. Siehe: http://www.nlb-hannover.de/ Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/.
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richt. 1787 trat er auf Wunsch des Vaters in das in holländ. Diensten stehende Schweizer Garderegiment ein. Am Kampf gegen die frz. Revolutionsarmee nahm er als Offizier, zgl. aber auch als Flugblattautor u. Karikaturist teil (Hollandia regenerata. London 1796); nach Errichtung der Batavischen Republik 1797 kehrte er in die Schweiz zurück (Zwischenaufenthalt in Paris). 1800 übernahm er das väterl. Gut. 1803 wurde er in den Großen Rat gewählt. Bereits seit 1790 war H. Mitgl. der Zürcher, später der Schweizerischen Künstlergesellschaft, wo er mit politisch u. ästhetisch Gleichgesinnten wie Ebel, Hegner u. Usteri verkehrte. Trotz vielfacher Aktivitäten (auch als Zeichner u. Komponist) durchlitt H. immer wieder depressive Phasen, die durch seine zweifache Witwerschaft, den Tod des einzigen Sohns (1826) u. den polit. Umschwung von 1830, der H.s Austritt aus dem Großen Rat zur Folge hatte, noch verstärkt wurden. H., der sich zeitlebens als »Dilettant« verstand, entwickelte sich in seiner literar. Laufbahn vom eher sentimentalen Lyriker u. Verfasser von Prosaskizzen (Olla Potrida, Collectaneen aus der Vergangenheit. Zürich 1802) zum Humoristen u. realistischen Milieuschilderer. Kulturgeschichtlich aufschlussreich, auch stilistisch gelungen ist die Erzählung Die Badenfahrt (Zürich 1818; von H. illustriert). Daneben machte er sich durch Biografien einen Namen, v. a. durch sein lebensechtes, ungekünsteltes Porträt des »Landvogts von Greifensee« Salomon Landolt (Zürich 1820), dem Keller in den Zürcher Novellen ein Denkmal setzte. Obwohl H.’ polit. Weltbild biedermeierlich-konservativ geprägt war, verteilt sich sein Spott (in seinen Satiren u. Karikaturen) über Anmaßung u. Borniertheit gleichmäßig auf die Parteien.
Literatur: Joh. Caspar Wetzel: Hymnopoeographia [...]. Theil 1. Herrnstadt 1719, S. 419. – Ders.: Analecta hymnica [...]. Theil 2. Gotha 1756, S. 278. – August Ritter v. Eisenhart: M. H. In: ADB. – Wilfried Barner: Barockrhetorik. Tüb. 1970, S. 434 ff. – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung. Bln. 2 1993, S. 278 f. – Sabine Holtz: Bildung u. Herrschaft. Zur Verwissenschaftlichung polit. Führungsschichten im 17. Jh. Leinfelden-Echterdingen 2002. – Wolfram Hauer: Lokale Schulentwicklung u. städt. Lebenswelt. Das Schulwesen in Tübingen [...]. Stgt. 2003, S. 429 f. – Reinhard Gruhl: Der Antoniakreis. In: Johann Lorenz Schmidlin: Pictura docens. Hg. Fritz Felgentreu u. Widu-Wolfgang Ehlers. Stgt.-Bad Cannstatt 2007, S. XXI–XXXII. – Michael Philipp: Biobibliogr. dt. Politologen des späten 16. bis frühen 18. Jh. Siehe http:// www.philso.uni-augsburg.de/web2/Politik1/hesent. htm (21.02.2009). Reinhard Gruhl
Weitere Werke: Scherz u. Ernst in E.en. Zürich 1816. – Die Rose von Jericho. Zürich 1818 (E.).
Heß, David, auch: Daniel Hildebrand, * 29.11.1770 Zürich, † 11.4.1843 Zürich. – Lyriker, Erzähler, Biograf; Karikaturist, Komponist.
Literatur: Meyer v. Knonau: D. H. In: ADB. – Ernst Eschmann: D.H. Sein Leben u. seine Werke. Diss. Zürich 1910. – Eduard Korrodi: Schweizer Biedermeier. Bern 1936. – Verena Bodmer-Gessner: D. H. In: NDB. – Beatrice Meier: D. H. In: HLS. Christian Schwarz / Red.
H., Sohn eines Gutsbesitzers, erhielt nach dem frühen Tod seiner Mutter Privatunter-
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Heß, Heinrich Ludwig von, * 27.11.1719 vermutlich Göteborg, † 11.4.1784 Berlin. – Satiriker u. politischer Publizist.
364 Literatur: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 3, Hbg. 1857, S. 222–232 (Werkverz.). – BBHS. Michael Auwers / Red.
H. führte ein unstetes Leben. Nach dem Studium in Greifswald u. Leipzig fand er in Hess, Johann Jacob, * 21.10.1741 Zürich, Wismar eine Anstellung als Beamter, die er † 29.5.1828 Zürich. – Verfasser religiöser jedoch nach einer gegen den Stralsunder Schriften. Magistrat gerichteten Satire, Die Glückseligkeit der ungerechten Richter (Wismar 1746), aufge- H., Sohn eines Stadtuhrmachers, ging aus der ben musste. Ähnliches widerfuhr ihm 1767 in Zürcher Schule von Bodmer u. Breitinger Altona, wo ihm der Titel eines kgl. dän. Jus- hervor. 1795 wurde er Antistes u. damit tizrats wegen Verbreitung von dem dän. Vorgesetzter seines Freunds Lavater. Beider Reich schädl. Nachrichten aberkannt wurde; Werke wurden immer wieder neu aufgelegt der drohenden Verhaftung konnte er sich u. in mehrere Sprachen übersetzt. Lavater durch Flucht entziehen. Auch in Hamburg, beschrieb H. im dritten Band der Physiognowo er sich nach einem früheren Aufenthalt mischen Fragmente (10. Abschnitt, 2. Fragment, (damals war er mit Hagedorn befreundet) seit 1777, S. 248) als einen der »lesenswürdigsten 1771 wieder niederließ, zog er sich den Un- religiosen Schriftsteller unsers Jahrhunderts mut der Behörden zu. Seine kommentierende [...] nur in seiner Bibel lebend und webend«. Während der Revolutions- u. Kriegszeit in Schrift Unwiderrufliches Fundamentalgesetz [...] (Hbg. 1782) zur Hamburger Verfassung Zürich bewährte sich der Antistes H. als Prewurde auf Befehl des Senats dem Feuer diger, Seelsorger, Mensch u. gelehrter übergeben, H. selbst der Stadt verwiesen. Schriftsteller. Noch mehr als Lavater nahm er Nach einer Zwischenstation in Erfurt zog er Abstand von der Politik, wusste aber auch den Politikern standzuhalten u. suchte die Ausnach Berlin. H.’ außerordentl. Produktivität schlug sich söhnung von Stadt u. Land. Er war seit 1812 in einer Vielzahl satir. u. polit. Schriften nie- Präsident der zürcherischen Bibelgesellder. Neben Auftragsschriften für das dän. u. schaft, die sich an der weltweiten Verbreitung schwed. Königshaus finden sich etwa Histori- der Bibel beteiligte. Das Hauptwerk von H., sche und politische Anmerkungen über den Anti- seine Schriften zur Bibel – basierend auf inMachiavell (Wismar/Lpz. 1852), in denen er dividuellen Studien u. Inspiration – fand sich positiv mit der Schrift Friedrichs II. auch von kath. Seite Beifall u. wurde ebenfalls auseinandersetzt. Die wichtigsten polit. in Wien u. Mainz publiziert. Weitere Werke: Zwei Elegien auf den Tod eines Schriften sind in den Bänden Des Herrn Regierungsraths Ludewig von Heß Staatsschriften (Ffm. Jünglings. Zürich 1760. – Gesch. der drey letzten 1772) u. Freimüthige Gedanken über Staatssachen Lebensjahre Jesu. 6 Tle., Zürich 1768–73 u. ö. – (Hbg. 1775) gesammelt. Die Satiren sind z.T. Versuch v. dem Reiche Gottes. 2 Tle., Zürich 1771–74. – Gesch. u. Schr.en der Apostel Jesu. 2 von einer für die Zeit untyp. Schärfe; die Bde., Zürich 1775 u. ö. – Gesch. der Israeliten. 8 »juvenalische« Form des satir. Schreibens Tle., Zürich 1776–78. – Der Christ in den Gefahren erinnert gelegentlich an Liscow. Wie dieser des Vaterlandes. Predigtslg. Zürich 1799–1800. scheut H. auch vor persönl. Angriffen nicht Literatur: Georg Gessner: Blicke auf das Leben zurück. Eine Mittelstellung nimmt die u. Wesen des verewigten J. J. H. [...]. Zürich 1829. – Schrift Der Republikaner (Hbg. 1754) ein, die in Georg v. Wyß: J. J. H. In: ADB. – Paul D. Hess: Dialogform eine allg. polit. Satire darbietet. Antistes Dr. J. J. H. u. Pfarrer Caspar Lavater in Weitere Werke: Scherz- u. ernsthafte Schr.en. Wismar 1745. – Des Herrn Justizrath Ludewig v. H. Satyrische Schr.en, hg. durch S ****. Hbg. 1767.
ihren gegenseitigen Beziehungen. In: Zürcher Tb. auf das Jahr 1895. Zürich 1895, S. 84–141. – Ders.: Der Barde v. Riva. Landeshauptmann Franz Joseph Benedikt Bernold in Wallenstadt (1765–1841). Ein kath. Verehrer des Evangeliums u. des Antistes J. J. H. In: Zürcher Tb. auf das Jahr 1907. Zürich 1907, S. 72–117. – Paul Wernle: Der schweizer. Protes-
365 tantismus in der Zeit der Helvetik. 1798–1803. 2 Tle., Zürich, Lpz. 1938–42. – Friedrich Wilhelm Bautz: J. J. H. In: Bautz. – Friedhelm Ackva: J. J. H. u. seine Bibl. Gesch. Bern u. a. 1992. – Friedhelm Ackva: Die Bedeutung v. Lavater für das theolog. Werk v. J. J. H. (1741–1828). In: Karl Pestalozzi (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Gött. 1994, S. 280–290. Barbara Schnetzler / Red.
Hess, Moses, eigentl.: Moritz H., auch: Améro, * 21.1.1812 Bonn, † 6.4.1875 Paris; Grabstätte: Köln-Deutz, Alter jüdischer Friedhof. – Publizist, Philosoph u. Politiker. H., der nie eine öffentl. Schule besuchte, wurde bis zu seinem 14. Lebensjahr im Haus seines strenggläubigen Großvaters in Bonn erzogen. 1825, nach dem Tod der Mutter, trat er in das väterl. Handelskontor in Köln ein. 1833 entfloh er dem Elternhaus wegen einer Liebesaffäre u. um dem aufgezwungenen Beruf zu entgehen nach Holland, dann nach Frankfurt/M. (Aussöhnung mit dem Vater u. Rückkehr 1834). Noch während eines Studiums, das ihm ohne Maturitätsprüfung »zur Bildung für die höheren Lebenskreise« an der Universität Bonn gestattet wurde, erschien 1837 anonym sein Erstlingswerk Die heilige Geschichte der Menschheit, von einem Jünger Spinozas (Stgt.), das bedeutsam für die geschichtsphilosophische Theoriebildung der Frühsozialisten war, da es den Weg zu einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsordnung vor dem Hintergrund einer ökonomischen Verelendungs- u. Konzentrationstheorie als geschichtsnotwendig darstellte. Die positive Resonanz auf Die europäische Triarchie (Lpz. 1841), in der H. die geistige, sittl. u. polit. »Wiedergeburt« Europas durch einen Dreibund Deutschlands, Englands u. Frankreichs propagierte, ermöglichte es ihm schließlich, beruflich eigene Wege zu gehen. 1842/43 war er Redakteur u. Korrespondent der von ihm mitbegründeten »Rheinischen Zeitung«; 1845–1846 meldete er sich mit einem eigenen Journal, dem »Gesellschaftsspiegel« (Elberfeld), zu Wort. In Brüssel arbeitete er im selben Jahr gemeinsam mit Engels u. Marx am Manuskript der Deutschen
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Ideologie. 1847 wirkte er als kommunistischer Agitator in Paris u. Brüssel. Nach der Märzrevolution 1848 kurzzeitig in Köln, kehrte H. nach Auseinandersetzungen mit Marx um die Neugründung der »Rheinischen Zeitung« nach Paris zurück, wo er ab 1853 seinen festen Wohnsitz hatte. Die von Wilhelm I. anlässlich seiner Thronbesteigung 1861 erlassene Amnestie gestattete es H., wieder preuß. Boden zu betreten. 1863 wurde er von Lassalles Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein zum Bevollmächtigten in Köln ernannt. In der Folgezeit schrieb er für zahlreiche in- u. ausländ. Presseorgane u. publizierte neben Übersetzungen (Graetz, Huet) auch die programmat. Artikelserie Lettres sur la mission d’Israël dans l’histoire de l’humanité in den »Archives israélites«. 1870 aus Paris ausgewiesen, ging H. für die Dauer des Deutsch-Französischen Kriegs nach Brüssel, wo er mehrere antipreuß. Streitschriften publizierte. In Paris arbeitete er bis zu seinem Tod an der unvollendet gebliebenen Dynamischen Stofflehre (1. Tl., Paris 1877). Als hervorragender Theoretiker des Sozialismus u. Mitbegründer der dt. Sozialdemokratie war H. zgl. der erste bedeutende Propagandist der Idee eines nationalen Judenstaats (Rom und Jerusalem, die letzte Nationalitätsfrage. Lpz. 1863). Als sozialistischer Zionist stieß er bei assimilierten Juden wie beim liberalen Bürgertum u. den marxistisch orientierten Anhängern der Arbeiterbewegung auf Ablehnung. Zu Lebzeiten als »Kommunistenrabbi« (Ruge) diskreditiert, war er für Lukács kaum mehr als ein »gescheiterter Vorgänger von Marx«. Für H. bestand kein Gegensatz zwischen der nationalen Wiedergeburt des Judentums u. den Ideen des Sozialismus. Seine zionistische Utopie suchte gerade in der »Verbindung mit der internationalen Arbeiterbewegung den Geist der Propheten zu aktivieren« (Bloch). Weitere Werke: Die letzten Philosophen. Darmst. 1845. – Roter Katechismus für das dt. Volk. [Ffm. 1850]. – Jugement dernier du vieux monde social. Genf [1851]. – Rechte der Arbeit. Ffm. 1863. – Über sozialökonom. Reformen. Hbg. 1863. – La Haute Finance et l’Empire. Paris 1869. – Une Nation déchue. Coalition de tous les peuples contre l’Allemagne prussifiée. Brüssel 1871. – Briefw. Hg.
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Edmund Silberner. ’s-Gravenhage 1959. – Ausgew. Schr.en. Hg. Horst Lademacher. Köln 1962. – Ökonom. Schr.en. Hg. Detlef Horster. Darmst. 1972.
Literatur: Paul Wernle: Der schweizer. Protestantismus im 18. Jh. 3 Bde., Tüb. 1923–25. Bd. 2, S. 376, 383 f. – Wilhelm H. Ruoff: Stammliste der Familie Hess v. Zürich. Zürich 1959, Nr. 96.
Literatur: Theodor Zlocisti: M. H. Der Vorkämpfer des Sozialismus u. Zionismus 1812–75. Bln. 1921. – Georg Lukács: M. H. u. die Probleme der idealist. Dialektik. In: Archiv für die Gesch. des Sozialismus u. der Arbeiterbewegung 12 (1926), S. 105–155. – Irma Goitein: Probleme der Gesellsch. u. des Staates bei M. H. Lpz. 1931 (enthält ›Briefe an Iscander‹, S. 158–178). – Edmund Silberner: The Works of M. H. An Inventory [...]. Leiden 1958. – Ders.: M. H. Gesch. seines Lebens. Leiden 1966. – Horst Lademacher: M. H. in seiner Zeit. Bonn 1977. – Zvi Rosen: Der Einfluß v. M. H. auf die Frühschr.en v. Karl Marx. In: Jb. des Instituts für Dt. Gesch. 8 (1979), S. 143–174. – Shlomo Na’aman: Emanzipation u. Messianismus. Leben u. Werk des M. H. Ffm./New York 1982. – Gérard Bensussan: M. H. La philosophie, le socialisme (1836–1845). Paris 1985. – Svante Lundgren: M. H. on religion, Judaism and the Bible. Åbo 1992. – Ken Koltun-Fromm: M. H. and modern Jewish identity. Bloomington 2001. – Lex. dt.-jüd. Autoren. York-Gothart Mix / Red.
Barbara Schnetzler
Hess, Salomon, * 11.2.1763 Zürich, † 16.4. 1837 Emmishofen/Kt. Thurgau. – Historischer Schriftsteller. Als typisches Kind seiner Zeit u. seines Ortes – Spätaufklärung in Zürich – verfolgte H. mit Ausdauer, Akribie u. Quellentreue sein Ziel: Information, Aufklärung u. Bildung des Volks durch allgemeinverständl. Darstellung der Geschichte. Zuerst gab er eine zweibändige Biografie des Erasmus heraus (Zürich 1790), 1793 auch ein Leben des Oekolampad (Zürich). Zum Reformationsjubiläum von 1819 erschien sein Ursprung, Gang und Folgen der durch Ulrich Zwingli in Zürich bewirkten Glaubens-Verbesserung und Kirchen-Reform (Zürich, 1–21819). Im folgenden Jahr ließ er eine »aus Archiven und Familienschriften bearbeitete Denkschrift« erscheinen, die er »zunächst Zürichs christlichen Frauen und Töchtern« widmete: Anna Reinhard. Gattinn und Wittwe von Ulrich Zwingli Reformator (Zürich 1820). H.’ Geschichte der Pfarrkirche zu St. Peter (Zürich 1793) wurde von Paul Wernle »ein Muster einer Lokalgeschichte« genannt.
Hess, Tobias, getauft 31.1.1568 Nürnberg, † 27.11.1614 Tübingen (?). – Jurist, Laienmediziner u. -theologe, Miturheber der älteren Rosenkreuzerbewegung. Geboren als Sohn eines »Senators«, d. h. Ratsmitglieds, vielleicht verwandt mit dem Nürnberger Stadtphysicus Johannes Hess (gest. 1564), studierte H. Jurisprudenz in Altdorf (1583), Erfurt (1586) u. Tübingen (1587, Dr. jur. 1592). Er praktizierte als Jurist auch in Speyer u. Tübingen, wandte sich dann jedoch, angeekelt von den reinen Buchwissenschaften u. dem akadem. Treiben, der paracelsisch orientierten Medizin zu. Mit H.’ Namen verknüpfte Kurztexte (s. Paulus 1994) erinnern an seine alchemomedizinische Praxis, deretwegen er angegriffen wurde. Zusammen mit Johann Valentin Andreae gilt H. als Miturheber der Rosenkreuzermanifeste u. als einflussreicher Repräsentant jener religiösen Dissidenten, die abseits der Orthodoxie chiliastischen Spekulationen u. den auch von Valentin Weigel inspirierten Vorstellungen kirchenkrit. Frömmigkeit anhingen. In Tübingen scharte sich um. H. ein Freundeskreis, zu dem u. a. der österr. Adlige Abraham Hölzl, der Alchemiker Christoph Welling u. der bekannte Jurist Christoph Besold gehörten. H.’ Bibliothek, darunter auch Bücher aus dem Besitz des Dichters Johann Fischart, gingen in die Bibliothek Besolds über (s. Hoffmann 1996). Andreae, mit H. seit etwa 1601 bekannt, widmete dem Freund u. Gesinnungsgefährten einen rühmenden Nachruf: Tobiae Hessi Immortalitas (1619. Ausg. mit Übers. u. Komm. in: J. V. Andreae: Gesammelte Schriften. Bd. 2, Stgt.-Bad Cannstatt 1995, S. 291–351). Während H. von seinen orthodoxen Gegnern als »Utopiensis princeps« u. »somniorum interpres« verketzert wurde, ja in Tübingen 1605 gegen ihn ein Verfahren wegen chiliastischer Häresien angestrengt wurde, appellierte Andreae in
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diesem Nachruf an die Wahrheitsliebe des »christlichen Lesers«. Literatur: Martin Brecht: Chiliasmus in Württemberg im 17. Jh. In: PuN 14 (1988), S. 25–49. – Julian Paulus: Alchemie u. Paracelsismus um 1600. Siebzig Porträts. In: Analecta Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. 1994, bes. S. 364 f. – Christian Hoffmann: Bücher u. Autographen v. Johann Fischart. In: Daphnis 25 (1996), S. 489–579. – Cimelia Rhodostaurotica (Register). – Wilhelm Kühlmann: Rosenkreutzer. In: TRE. Wilhelm Kühlmann
Hesse, Hermann, * 2.7.1877 Calw, † 9.8. 1962 Montagnola/Tessin. Grabstätte: S. Abbondio bei Lugano/Tessin. – Erzähler u. Lyriker. H. entstammte einer Familie, deren enge Bindung an die Tradition des schwäb. Pietismus sowie an die weltumspannende Tätigkeit der Basler Mission seinem Schaffen wichtige, doch auch oppositionelle Impulse verlieh. Der zart u. vergeistigt wirkende Vater u. spätere Leiter des größten protestantischen Missionsverlags kam aus einer deutschstämmigen Arztfamilie in Weißenstein/Estland. Die Mutter hingegen war Angehörige einer Missionarsfamilie, deren Aufenthalt im westl. Indien erste Anregungen für die langjährige Beschäftigung H.s mit fernöstl. Kultur u. Gedankenwelt lieferte. Der Großvater mütterlicherseits, Dr. Hermann Gundert, war Leiter des Calwer Verlagsvereins u. hatte als langjähriger Missionar u. Indologe bedeutende philolog. Werke über ind. Sprachen, insbes. das Malayalam, herausgegeben. Durch H.s Zutritt zu Gunderts umfangreicher Bibliothek u. die publizistische Tätigkeit seiner Eltern erhielt er entscheidende literar. Anstöße, die gewiss zu seinem frühen Entschluss beitrugen, sich der Welt der Bücher zu widmen, jedoch jenseits aller konfessionellen Begrenzungen. Der junge H. zeichnete sich durch geistige Regsamkeit u. ein verletzbares, schwieriges Temperament aus, das ihn schon als Kind auf eigene Wege u. zu offenen Konflikten mit Eltern u. Schule führte. Die Ambivalenz seiner jugendl. Bindungen u. Gefühle sowie die daraus resultierenden Krisen wirkten in immer neuen Konstellationen in H.s Dichtung
bis in sein Alterswerk hinein fort. Charakteristisch für H.s Schaffen blieb die Wechselwirkung zwischen dem eigenwilligen u. mutigen Bruch mit der Tradition u. seinem harmonisierenden Bedürfnis, wieder in die Geborgenheit der Jugend zurückzukehren. Die Kette der oft dramat. Verwicklungen begann für den jungen H. damit, dass der zum Theologiestudium bestimmte l4-jährige Stipendiat nach neun Monaten unvermittelt aus der Klosterschule Maulbronn entlief, Mechanikerlehrling, später Buchhändler, aber dann schließlich auch der überaus erfolgreiche freie Schriftsteller wurde, der 1946 den Nobelpreis für Literatur erhielt. H.s literar. Anfänge sind der dt. Romantik verhaftet. Am stärksten zeigt sich dies in der Lyrik (Romantische Lieder. Dresden 1899), aber auch in der frühen Prosa, deren Naturverbundenheit u. lyr. Stil (Peter Camenzind. Bln. 1904) seinen Erstlingswerken das Echo verschaffte, das ihn literarisch etablierte u. finanziell unabhängig machte. Romantisch muten ebenso die Vagantenmotive an (Knulp. Bln. 1915), zunächst in den Gestalten der fahrenden Sänger, Musiker, Handwerksburschen (Aus der Werkstatt, Der Schlossergeselle, Hans Dierlamms Lehrzeit) u. Außenseiter (Berthold, Ladidel, Emil Kalb). Auch das Thema der Verlassenheit u. Einsamkeit wird noch weitgehend von der Romantik übernommen, ebenso das der ländl., volkstüml. Lebensformen u. einer Verknüpfung der Moderne mit den konstruktiven Traditionen der Vergangenheit, die ihn auch zur Beschäftigung mit Italien u. alter ital. Kunst u. Literatur führte (Boccaccio, Franz von Assisi; 1904). Doch nötigten ihn seine Veranlagung u. die Bedrohung des Individuums durch die Anpassungszwänge des beginnenden Industriezeitalters zu einer Auseinandersetzung mit der Gesellschaft u. zu scharfer Kritik des Erziehungssystems um die Jahrhundertwende (Unterm Rad. Bln. 1906). 1904 heiratete H. Maria Bernoulli aus altem Basler Gelehrtengeschlecht, die drei Söhne mit ihm hatte. Während seines ländl. Ehe- u. Familienlebens in Gaienhofen am Bodensee (1904–1912) begann H. sich mit der Problematik menschl. Beziehungen, der Ehe u. der Rolle des Künstlers in der modernen
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Gesellschaft zu befassen (u. a. in den Romanen Gertrud. Mchn. 1910. Roßhalde. Bln. 1914). Seine Dichtung antizipierte die eigenen, noch unbewussten Konflikte u. prophezeite in persönl. wie auch gesellschaftl. u. polit. Sicht das Kommende. H.s publizistische Tätigkeit in mehr als 60 verschiedenen überregionalen Zeitungen u. Zeitschriften führte bald zu verstärktem Engagement in nationalen u. internat. Fragen, was aber weniger einer polit. u. ökonomischen Sicht entsprang, als vielmehr einer kulturkritischen u. weltanschaulichen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienen seine völkerversöhnenden polit. Aufsätze u. offenen Briefe (»O Freunde, nicht diese Töne«) in dt., schweizerischen u. österr. Zeitungen u. Zeitschriften. Die pazifistische Tendenz führte zum Bündnis mit wenigen Gleichgesinnten wie Romain Rolland u. Theodor Heuss, setzte ihn aber auch schärfsten Anfeindungen von dt. Seite aus. H. reagierte auf den Horror des Kriegs sowie auf familiäre Krisen (Tod des Vaters, Trennung von der gemütskranken Frau) mit einer ernsten Depression (1916), die er mit Hilfe einer praktizierten Psychoanalyse (in einem Luzerner Sanatorium bei seinem späteren Freund Dr. J. B. Lang, einem Schüler Carl Gustav Jungs) allmählich überwand. Über Lang kamen nicht nur Motive der Gnostikforschung Jungs in sein neues Werk Demian (Bln. 1919), sondern auch Strukturelemente der Psychoanalyse u. ein schonungsloser Wille zur Wahrhaftigkeit, der nachhaltiges Echo fand. In Jung fand H. einen verwandten Geist, doch distanzierte er sich von ihm u. der wissenschaftl. Psychiatrie, da sie den Künstler um den Antrieb zu seiner Kreativität bringe. Gerade im Außenseitertum einer stark sensibilisierten Natur habe der Schaffensprozess seine Wurzeln u. werde erst im nachhinein der verstandesmäßigen Analyse zugänglich. H.s Aufsatz Künstler und Psychoanalyse (1918) wurde sowohl von Jung als auch von Freud mit Beifall aufgenommen. Demian: die Geschichte einer Jugend erschien 1919 unter dem Decknamen Emil Sinclair, der während der Kriegsanfeindungen H.s notwendig geworden war, jetzt aber den Beginn eines neuen Lebensabschnitts u. einer
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neuen psychologisch vertieften Schaffensperiode ankündigen sollte. Mit Demian sprach H. zur Generation der Kriegsheimkehrer, die, ebenso wie Sinclair, inmitten des Untergangs der Wertsysteme des Kaiserreichs u. der revolutionären Bewegungen in Russland u. Deutschland einen neuen Anfang suchte. Im Demian wurde die bibl. Symbolik neu interpretiert u. mit scharfer Kulturkritik durchsetzt. Unverkennbar war dabei H.s Auseinandersetzung mit Nietzsche, die sich in der polit. Flugschrift Zarathustras Wiederkehr: Ein Wort an die deutsche Jugend von einem Deutschen (Bln. 1919) fortsetzte. Der wahre Autor des Demian wurde zuerst von C. G. Jung u. Otto Flake erkannt u. daraufhin von Eduard Korrodi zu einer öffentl. Stellungnahme herausgefordert, so dass das Buch ab der 16. Auflage unter H.s eigenem Namen erschien. Mit dem biogr. Neubeginn (Ende 1918 hatte sich H. von seiner Familie getrennt u. sich im Mai 1919 im Tessin niedergelassen) macht sich auch eine starke, stilistisch dem Expressionismus verwandte Zäsur bemerkbar, so z.B. in den Novellen Klein und Wagner u. Klingsors letzter Sommer (Bln. 1919), in welcher sich H.s Erfahrungen mit der von ihm seit 1917 betriebenen Malerei niederschlugen. Publizistisch mit seiner kulturkrit. Zeitschrift »Vivos voco« u. weltanschaulich durch seine Auseinandersetzung mit ostasiatischer Philosophie (Buddhismus, Daoismus) suchte er ein Modell zur Überwindung der Krise des Abendlands u. schuf im Siddhartha (Bln. 1922) ein Werk, das sowohl stilistisch als auch thematisch ganz neue Akzente setzte. Zugleich vertiefte das verhältnismäßig schmale Buch, dessen Vollendung immerhin nahezu drei Jahre in Anspruch genommen hatte, in legendenähnl. Einfachheit u. bildl. Einprägsamkeit das Anliegen des Demian nach Selbstfindung. Nachdem Siddhartha, an dem H. den Werdegang des histor. Buddha nachzeichnet, die scheinbar konträren Sphären menschl. Existenz durchlaufen hat, endet er als Fährmann, der zwischen den Ufern über dem sich stets erneuernden Strom des Lebens hin- u. herpendelt u. deren Gegensätze verbindet. Im Steppenwolf (Bln. 1927) kehrte H., seit 1924. Schweizer Staatsbürger u. zum zweiten
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Mal verheiratet, wieder zu einem in der aktuellen Gegenwart angesiedelten u. zgl. auf ihn selbst bezogenen Thema zurück, bei dessen Darstellung er sich musikal. Strukturen bediente. Der Intellektuelle Harry Haller, dessen Vorläufern man schon im Kurgast (Bln. 1925), in der Nürnberger Reise (Bln. 1927) u. in dem erst 1928 veröffentlichten schockierenden Gedichtzyklus Krisis: Ein Stück Tagebuch (Bln.) begegnete, erlebt, nach außen hin der Gesellschaft zwar notdürftig angepasst, den Konflikt mit dem restaurativen, die Kriegsschuld verdrängenden Bildungsbürgertum der 1920er Jahre bis zum äußersten Lebensüberdruss. Sein Schicksal wird mitleidlos, ironisierend u. auch stilistisch innovativ von verschiedenen Perspektiven her beleuchtet u. variiert. Sein Konflikt löst sich durch die Bekanntschaft mit der Prostituierten Hermine, die Haller an sein verlorenes, herabgewürdigtes u. verdrängtes Selbst erinnert. An der Hand Hermines lernt er in der schmerzhaften Selbstanalyse des »Magischen Theaters« die schwierige Aufgabe zu meistern, sich zu akzeptieren u. den bedrohl. Symptomen der Zeit mit Humor zu widerstehen. Nach der kurzen zweiten Ehe mit Ruth Wenger folgte 1931 die dritte Ehe H.s mit Ninon Ausländer, die zum Ausgleich seiner Zerrissenheit beitrug u. bis zu seinem Tod dauerte. Mit dem nächsten Werk Narziß und Goldmund (Bln. 1930) hatte H. die bekenntnishaften Schriften der zweiten großen Schaffensperiode hinter sich gelassen, seine Thematik objektiviert u. weiterentwickelt. Das Geschehen wurde ins MA verlegt. Authentisches Kolorit u. pikareske Züge verdeckten vielen Lesern den eigentl. Sinn des Geschehens. Die Spaltung unseres Wesens in Natur u. Geist wird durch die beiden Hauptgestalten, den mit Don Juan u. Casanova verwandten Abenteurer Goldmund u. den an Hugo Ball u. H.s Vater Johannes erinnernden Lehrer u. Abt Narziß, dargestellt. Als es Goldmund gelingt, sein bewusstes Erleben der Sinneswelt durch Kunst zu vergeistigen u. darzustellen (nach einer Lehre bei einem an Tilman Riemenschneider erinnernden Bildhauer), erreicht er nach abenteuerl. Irrwegen wieder seinen Freund Nar-
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ziß, der aus dem kontrapunktischen Hintergrund des Romans in den Vordergrund rückt u. in dessen Armen er stirbt. Der Morgenlandfahrt (Bln. 1932) folgen die Entwürfe zum Glasperlenspiel (Zürich 1943). Während die Morgenlandfahrt viele biogr. u. werkgeschichtl. Elemente verschlüsselt, treten zwei Themen hervor: erstens der Verlust des Geheimnisses durch Analyse u. Intellektualisierung u. zweitens die »magische« Fähigkeit der Kunst, dieses Geheimnis dennoch darzustellen, dem Chaos das Spiegelbild einer ganzen Welt abzutrotzen, in der die Gegensätze nicht zur Verschmelzung in der Synthese, sondern zum musikal. Wechselspiel mit Kontrapunkt, zur Harmonie führen. Dieses Thema wird in H.s pädagog. Alterswerk Das Glasperlenspiel weiter verfolgt. Es schildert eine Art universitas litterarum, in welcher sämtl. Fakultäten sowohl der Geistes- als auch der Naturwissenschaften in eine interdisziplinäre Beziehung mit den Leistungen der Kunst gesetzt u. nach musikal. Gesetzen in einer Notensprache miteinander in Beziehung gebracht werden: »Wie man aus Notenzeichen ein Musikstück, aus mathematischen Zeichen eine algebraische oder astronomische Formel aufbauen kann, so haben die Glasperlenspieler sich in Jahrhunderten eine Zeichensprache aufgebaut, welche es ermöglicht, Gedanken, Formeln, Musik, Dichtung etc. aller Zeiten in einer Art Notensprache wiederzugeben. Das Neue dabei ist lediglich, dass dieses Spiel für alle Disziplinen eine Art Generalnenner besitzt, also eine Anzahl von Koordinatensystemen zusammenfasst und vereint«, so H. in einem Brief aus dem Jahr 1943. Er will darin etwas »noch nicht Existierendes, aber Mögliches und Wünschbares so darstellen, als wäre es wirklich, und die Idee dadurch um einen Schritt näher an die Möglichkeit der Verwirklichung heranführen«, wie es in seinem Motto zu dem Buch heißt. Konzipiert hat er das Werk u. somit den Werdegang seines Protagonisten Josef Knecht im Gelehrtenstaat u. »weltlichen Kloster« Kastalien seit 1930 als Gegenentwurf zu den polit. Entwicklungen in Deutschland, teilweise mit stark zeitkrit. Zügen, denen zufolge das Buch dort nicht
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erscheinen, sondern erst 1943 in der Schweiz ski: The Novels of H. H. A Study in Theme and Structure. Princeton 1965. – Volker Michels: Über publiziert werden konnte. Mit dem Glasperlenspiel hatte sich H. nach H. H. 3 Bde., Ffm. 1976. – Joseph Mileck: H. H. seinen eigenen Worten »einen geistigen Biography and Bibliography. Berkeley/Los Angeles 1977. – Siegfried Unseld: H. H. Eine Werkgesch. Raum aufgebaut, in dem ich atmen und leben Erw. Aufl. Ffm. 1977. – V. Michels: H. H. Sein Lekonnte, aller Vergiftung der Welt zum Trotz« ben u. Werk in Bilddokumenten u. Texten. Ffm. u. er vermochte »den Widerstand des Geistes 1979. – M. Pfeiffer: H. H.-Komm. zu sämtl. Wergegen die barbarischen Mächte zum Aus- ken. Mchn. 1980. – Bernhard Zeller: H. H. Reinb. druck zu bringen«. Parallel zu den sich 1981. Neuausg. 2005. – Ralph Freedman: H. H. überstürzenden polit. Entwicklungen erga- Autor der Krisis (dt. v. Ursula Michels-Wenz). Ffm. ben sich ab 1933 bemerkenswerte Modifika- 1982. – Christian Immo Schneider: H. H. Mchn. tionen in der Entstehungsgeschichte des 1991. – H. H. Romane. Interpr.en. Stgt. 1994. – Michael Limberg: H. H. Ffm. 2005. – Alois Prinz: Buchs, das zunehmend im Zeichen gesell›Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne‹. Die schaftl. Verantwortlichkeit stand. War zu- Lebensgesch. des H. H. Ffm. 2006. – Sikander nächst das zeitlose Ideal einer im Geiste Kas- Singh: H. H. Stgt. 2006. Günther Gottschalk taliens fortschrittl., aber auch elitären Gesellschaftsordnung im Vordergrund, zu deren Zentralfigur der Magister Ludi Josef Hesse, Max René, * 17.7.1885 Wittlich, Knecht aufrückte, so kommt es doch † 15.12.1952 Buenos Aires. – Romanschließlich zu seiner Abdankung, um Ein- autor. fluss nehmen zu können auf das Geschehen außerhalb Kastaliens u. die Gesellschaft Aus einer niederrheinischen Familie von Gutsbesitzern u. Offizieren stammend, studurch persönl. Einsatz zu verändern. Das war ein Ziel, das H. zeitlebens auch als dierte H. Medizin, Jura u. Geisteswissenkulturkrit. Publizist verfolgte mit mehr als schaften u. lebte 1910–1927 als Arzt in Ar3000 Buchbesprechungen, in Zehntausenden gentinien. Nach fünfjährigem Aufenthalt in Antworten auf Leserbriefe u. in vielen zeit- Berlin zog er 1933 nach Wien. 1943 wurde er krit. Stellungnahmen. H.s umfangreiches Korrespondent der »Kölnischen Zeitung« in Werk wird ergänzt durch mehr als 80 von Madrid u. kehrte 1944 nach Argentinien zuihm herausgegebene u. eingeleitete Werke rück. H.s gesellschaftskrit. Romane im Stil der sowie krit. Editionen, welche freilich nicht Neuen Sachlichkeit mischen persönl. Erfahdie immensen Auflagen seiner eigenen, in rung mit eindringl. Beschreibungen eines aller Welt bekannten u. übersetzten Romane jeweils scharf umgrenzten gesellschaftl. Sekerreichen (Weltauflage etwa 100 Mio.). Sein tors. In Partenau (Ffm. 1929) schildert er eine Nachlass u. seine weitverzweigte Korresponüberspannt idealistische, tragisch endende denz sind noch lange nicht ausgeschöpft u. Männerfreundschaft mit homoerot. Anklänwerden noch immer in sorgfältigen Editiogen unter Reichswehroffizieren in der Weinen der Wissenschaft u. den vielen Lesern marer Zeit. dieses Autors zugänglich gemacht. Die beiden Romanzyklen Morath u. Dietrich Ausgaben: Ges. Schr.en. 7 Bde., Ffm. 1957. – Kattenburg wurden ausgesprochene PubliGes. Werke: H. H. Werkausg. 12 Bde., Ffm. 1970. – kumserfolge u. machten H. auch im Ausland Sämtl. Werke in 20 Bdn. Ffm. 2002–2005. – Die bekannt. In Morath schlägt sich durch (Bln. Gedichte. 2 Bde., Ffm. 1977. – Politik des Gewissens. Ffm. 1977. – Ges. Briefe. Hg. Volker u. Ursula 1932) u. Morath verwirklicht einen Traum (Bln. 1935) erweitert H. die Geschichte eines junMichels. 4 Bde., Ffm. 1972–86. gen Arztes in der dt. Kolonie von Buenos AiLiteratur: Bibliografien: Martin Pfeiffer: H. H. Bln. 1973. – Rudolf Koester: H. H. Stgt. 1975. – res, der sich in einer korrupten Umwelt zu Jürgen Below: H. H. Bibliogr. Sekundärlit. behaupten hat, zu einem schillernden Pan1899–2007. 5 Bde., Bln./New York. 2007. – Weitere orama psychologisch überzeugend begrünTitel: Hugo Ball: H. H.: Sein Leben u. Werk. Bln. deter menschl. Verstrickungen. Er zeigt sich 1927. Neuausg. Gött. 2006. – Theodore Ziolkow- hier als Meister des realistischen Erzählens.
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Den Kampf der Geschlechter, den er mit nüchterner Skepsis verfolgt, kontrapunktiert er mit einer gelegentlich forcierten Ideologie asketischer Männlichkeit. Die Trilogie Dietrich und der Herr der Welt (Bln. 1937), Jugend ohne Stern (Bln. 1944) u. Überreife Zeit (Hbg. 1949) ist eine Entwicklungsgeschichte im großbürgerl. Milieu, die Orientierungsprobleme u. Konflikte der Jugend zwischen den Kriegen darstellt. In H.s Romanen verbinden sich Gesellschaftsintrige, erot. Zwänge u. krit. Einstellung gegenüber bürgerl. Lebensformen zu einem dichten Beziehungsnetz von wirkungsvoller formaler Geschlossenheit. Weitere Werke: Der unzulängl. Idealist. Bln. 1935. – Liebe u. Lüge. Hbg. 1950. Literatur: Rolf Bongs: La vie et l’œuvre de M. R. H. In: Documents 7 (1951), S. 75–77. Leonore Schwartz †
Hessel, Franz (Siegmund), auch: Hesekiel, Fürchtegott Hesekiel, Stefan Ulrich, * 21.11.1880 Stettin, † 6.1.1941 Sanarysur-Mer/Frankreich. – Verfasser von Lyrik, Romanen u. Kurzprosa; Übersetzer, Kritiker, Lektor. Der Sohn eines wohlhabenden jüd. Bankiers wuchs in Berlin auf u. studierte ohne Abschluss u. a. Literaturgeschichte u Orientalistik in München. In der literar. Boheme schloss er sich v. a. Franziska zu Reventlow an u. verfasste mit ihr den Schwabinger Beobachter (Mchn. 1904), der die Maskenfeste der Georgianer u. die neuheidn. Kosmiker (Klages, Schuler, Wolfskehl) parodierte. 1906 übersiedelte H. nach Paris, wo er sich bis 1913 überwiegend aufhielt. Paris u. Berlin, die beiden gegensätzl. Metropolen, waren ihm vertraut wie keinem anderen dt. Schriftsteller seiner Zeit u. bildeten den Erfahrungsraum seiner bes. Kunst der flanierenden Stadtwahrnehmung. H.s 1913 geschlossene Ehe mit der Malerin u. Journalistin Helen Grund, zeitweise eine Liebe zu dritt, lieferte den Stoff für einen Roman (Jules et Jim. Paris 1953), den der Dritte im Bunde, der frz. Autor HenriPierre Roché schrieb. Der Roman diente als Vorlage für einen berühmten Film: François Truffauts Jules et Jim (1962).
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Der größte Teil der vielfältigen literar. Produktion H.s entstand in den Jahren der Weimarer Republik neben seiner Tätigkeit als Lektor bei Rowohlt u. Übersetzer u. a. von Proust (zusammen mit Walter Benjamin), Casanova, Balzac, Stendhal u. Romains. Auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme beschäftigte Rowohlt seinen Lektor heimlich weiter. Erst im Herbst 1938 flüchtete H. nach Paris u. wurde 1940 im frz. Internierungslager Les Milles bei Aix-en-Provence inhaftiert. Wenige Monate nach seiner Freilassung starb H. an Entkräftung in Sanary-sur-Mer. Während H.s literar. Debüt, der Gedichtband Verlorene Gespielen (Bln. 1905), noch den Einfluss der Vorbilder George u. Hofmannsthal verrät, ist bereits sein erster Prosaband Laura Wunderl. Münchner Novellen (Bln. 1908. Neuausg. Mchn. 1998) ein Meisterwerk. Die erzählten Frauenschicksale aus der Münchner Boheme werden v. a. beherrscht von der Macht einer nicht domestizierbaren Sexualität, vor der sich der junge Erzähler in die Position des verstehenden, entsagenden Beobachters flüchtet. In Von den Irrtümern der Liebenden. Eine Nachtwache (Bln. 1922. Neuausg. Mchn. 1969) hat H. später noch einmal auf die Novellenform zurück gegriffen. Der zentrale Text des Zyklus ist Torso, in dem nicht nur die Liebe, sondern die unstillbare Sehnsucht nach einer idealisierten, antiken Vollkommenheit den Helden in den Tod treibt. »Wer kann erzählen, ohne von sich zu erzählen?« fragt eine der Figuren dieser Novellensammlung. Dies gilt in bes. Maße von H.s Romanen, deren literar. Erinnerungsarbeit seine prägendsten Lebenserfahrungen auf unterschiedl. Weise verwandelt u. reflektiert. Der Kramladen des Glücks (Ffm. 1913. Neuausg. Ffm. 1983) reinszeniert das Glück, aber auch die frühen Außenseitererfahrungen in der Kindheit des Autors u. führt seinen Helden Gustav in die Schwabinger Boheme der Jahrhundertwende. Eine Entwicklung des jugendl. Helden zeichnet sich nicht ab, sein Fluchtort bleibt eine nicht vergehende Kindheit. Die Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen (Bln. 1920. Neuausg. Ffm 1985) besteht aus fiktiven Briefen des dt. Rekruten
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Arnold Wächter an seinen frz. Freund Claude. Auf die Beschwörung der schwerelosen gemeinsamen Zeit im Künstlermilieu von Paris fällt der Schatten des Kriegs. Wächters Pariser Romanze dreht sich um Lotte, hinter der sich Helen Grund verbirgt. 1920 war H.s Ehe mit ihr bereits gescheitert, der Roman jedoch verwandelt die erlebte Passion in eine folgenlose Romanze u. erzählt sie als nachträgl. Vermeidung, nicht als Erfüllung. Eine eigentümlich schattenhafte Reichshauptstadt zur Zeit der Inflation entwirft H. in seinem dritten Roman Heimliches Berlin (Bln. 1927. Neuausg. Ffm 1982), in dem er das Geschehen weitgehend in Gespräche verlagert u. den psycholog. Zusammenhängen ein mytholog. Anspielungsnetz unterlegt. Seinem fiktiven Alter ego, dem gelehrten Philologen u. sokrat. Lehrer Kestner hat H. seinen Wahlspruch in den Mund gelegt: »Genieße froh, was du nicht hast.« Vor dem Hintergrund latenter Eifersucht u. Aggression im Verhältnis Kestners zu seiner Frau Karola – wiederum eine literar. Maskierung der Beziehung des Autors zu Helen Grund – erscheint H.s Selbststilisierung in diesem Werk jedoch als brüchig. 1984 wurde ein Romanfragment H.s entdeckt, das Bernd Witte u. d. T. Alter Mann (Ffm. 1987) herausgegeben hat. Dem überwiegend im Exil u. im Bewusstsein des nahen Todes geschriebenen Romanfragment gelingt es nicht mehr, die urspr. geplante Apologie eines bedürfnislosen Lebens poetisch umzusetzen. Die zunächst positive Identifikation H.s mit der Figur des alten Julius Küster schlägt um in (Selbst)kritik, die die Passivität seines distanzierten ästhetischen Zuschauens radikal in Frage stellt. H.s zum Teil für Stephan Großmanns »Tage-Buch«, die »Literarische Welt« u. renommierte dt. Tageszeitungen verfasste kleine Prosa ist in drei Bänden erschienen: Teigwaren leicht gefärbt (Bln. 1926. Neuausg. Bln. 1986), Nachfeier (Bln. 1929. Neuausg. Bln. 1988) u. Ermunterungen zum Genuß (Bln. 1933. Neuausg. Bln. 1987). Mit Ausnahme einiger zentraler Texte (z.B. Hermes, Vorschule des Jounalismus. In: Nachfeier) treten in diesen Geschichten u. Skizzen autobiogr. Bezüge zurück. Tucholsky pries die »bezaubernd leichten Dingelchen« in Teigwaren leicht gefärbt
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u. rückte die besten Stücke in die Nähe Robert Walsers. H.s Meisterschaft in diesem Genre erschöpft sich nicht nur in graziösen Stimmungsbildern von Liebe, Flirt u. Eifersucht. Der komplexe soziale Erfahrungsraum Berlins ist in vielen Texten eingefangen; v. a. in der Welt der Verkäuferinnen, Sekretärinnen u. Schauspielerinnen kennt der Autor sich aus u. beobachtet mit humorvoller Anteilnahme die sachlich gewordenen Liebesbeziehungen der Nachkriegszeit. Präsent bleibt auch Paris, welches H. erst 1926 wiedersah. Noch H.s letzte Texte, die er 1939 im Exil unter dem Pseud. Hesekiel in der »Pariser Tageszeitung« publizierte, waren Skizzen über die frz. Metropole. Eine davon, der Aufsatz Pariser Passagen, ist die Keimzelle von W. Benjamins Passagen-Werk (F. H.: Ein Garten voll Weltgeschichte. Berliner und Pariser Skizzen. Hg. u. mit einem Nachw. vers. von Bernhard Echte. Mchn. 1994). Eine nicht minder intime Kenntnis der dt. Reichshauptstadt zeigt H.s bekanntestes Werk Spazieren in Berlin (Wien/Lpz. 1929. Neuaufl. u. d. T. Ein Flaneur in Berlin. Bln. 1984), dem es erstmals gelang, die unverwechselbare Physiognomie der Stadt in einem histor. Moment hervortreten zu lassen. W. Benjamins bekannte Rezension des Buchs verrät, warum er den Freund als Wegbegleiter in die Vergangenheit der Berliner Kindheit betrachtete. »Spazieren in Berlin ist ein Echo von dem, was die Stadt dem Kind von früh auf erzählte. Ein ganz und gar episches Buch, ein Memorieren im Schlendern, ein Buch, für das Erinnerung nicht die Quelle, sondern die Muse war.« So unübersehbar auch ist, dass in Spazieren in Berlin nicht nur die erinnerte Kindheit des Spaziergängers, sondern auch die von H. virtuos genutzte Berlin-Literatur u. nicht zuletzt der »Baedeker« als Quell der Erinnerung dienten, so feiert Benjamin die »Wiederkehr des Flaneurs« am Beispiel H.s doch zu Recht. In dem Aufsatz Die Kunst spazieren zu gehen (In: Ermunterungen zum Genuß) hat H. seine Philosophie des Flanierens am prägnantesten formuliert. Spazierengehen wird vorgestellt als ein selbstvergessenes »Sichgehenlassen« ohne Ziel u. Zweck, abseits der offiziellen Sehenswürdigkeiten. So wird die Straße für den Spaziergänger zum
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Hessisches Weihnachtsspiel
»Wachtraum«, zur »Lektüre« u. lässt die Hesselbacher, Karl, * 29.5.1871 NeckarVergangenheit durch die Gegenwart hin- gmünd-Mückenloch bei Heidelberg, durchschimmern. Die Erkenntnis des Fla- † 11.1.1943 Baden-Baden. – Erzähler. neurs ist intentionaler Anstrengung entzogen Der Pfarrerssohn H. studierte in Halle u. u. ereignet sich, wenn sich die Dinge nicht Leipzig Theologie u. wurde anschließend Vimehr nur als Objekte, sondern gleichsam wie kar, dann Pfarrer in Karlsruhe, zuletzt in vertraute Subjekte dem Betrachter zuwenBaden-Baden. 1917 wurde ihm die Ehrenden: »Nur was uns anschaut, sehen wir. Wir doktorwürde wegen seiner Verdienste um die können nur –, wofür wir nichts können.« Neugestaltung des Verhältnisses zwischen (Vorschule des Journalismus) An diesem Glück Pfarrer u. kleiner ländl. Gemeinde verliehen. des Zuschauers hat H. eigensinnig auch dann Ausdruck dieser Bemühung ist auch H.s noch festgehalten, als sich längst abzeichnete, Schreiben als christl. Volkserzähler, das imdass die Zukunft dem Marschieren und nicht mer wieder das dörfl. Leben um seinen geistl. dem Flanieren gehörte. Mittelpunkt thematisiert (Daheim geblieben. H. wurde erst in den 1980er Jahren wieder Heilbr. 1917). Es besteht neben an die kirchl. entdeckt. Auf die Neuauflage seiner Romane Festtage gebundenen Erzählungen in erster u. Kurzprosabände folgte 1999 eine fünfLinie aus folklorist., volkstüml. Erzählungen bändige Gesamtausgabe, die auch den Lyriker aus seinen Kindheits- u. Jugendtagen (Ein u. Literaturkritiker H. u. seine weniger erdeutsches Handwerkerhaus vor hundert Jahren. hebliche dramat. Produktion vorstellt. Sie Stgt. 1940), Predigten (Aus der Dorfkirche. Tüb. vervollständigt das Bild eines Autors, der 1909), pastoraltheolog. Schriften (Die Seelsorge nicht mehr vergessen, aber außerhalb einer auf dem Dorfe. Gött. 1908) u. Biografien (Der Gemeinde von Eingeweihten immer noch Wandsbecker Bote. Leben und Schaffen von Matkaum bekannt ist. thias Claudius. Hbg. 1943). Ausgabe: Sämtl. Werke in fünf Bdn. Hg. Hartmut Vollmer u. Bernd Witte. Oldenb. 1999.
Literatur: Walter Benjamin: Die Wiederkehr des Flaneurs. In: Ders.: Ges. Schr.en. Bd. 3, Ffm. 1972. – Letzte Heimkehr nach Paris. F. H. u. die Seinen im Exil. Hg. Manfred Flügge. Bln. 1989. – Eckardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie u. kleine Form. Versuch zur Literaturgesch. des Flaneurs von 1830–1933. Bln. 1989. – M. Flügge. Gesprungene Liebe. Die wahre Gesch. zu Jules u. Jim. Bln 1993. – Jörg Plath: Liebhaber der Großstadt. Ästhetische Konzeptionen im Werk F. H.s. Paderb. 1994. – ›Genieße froh, was du nicht hast‹. Der Flaneur F. H. Hg. Michael Opitz u. Jörg Plath. Würzb. 1997. – F. H. ›Nur was uns anschaut, sehen wir‹. Ausstellungsbuch. Erarbeitet v. Ernest Wichner u. Herbert Wiesner. Literaturhaus Berlin. Bln. 1998. – Hartmut Vollmer: F. H. In: MLdjL. – Über F. H. Erinnerungen. Portraits. Rezensionen. Hg. Gregor Ackermann u. Hartmut Vollmer. Oldenb. 2001. – Dieter Sudhoff: ›Das Paradies ist der Augenblick‹. F. H.s Romanfragment ›Alter Mann‹. In: Euph. 98 (2004), S. 187–208. Paul Mog
Literatur: Hans Hermann Gaede (Hg.): Kreuz u. Lorbeer. K. H. zum 60. Geburtstag. Stgt. 1931. – Hans Schmiedel: K. H. In: Ekkhart 13 (1932), S. 73–77. – Otto Frommel: D. K. H. In: Dt. Pfarrerblatt 47 (1943), S. 20. – Elsbeth Haller: Pfarrer in Baden-Baden. Aus den unveröffentl. Erinnerungen von K. H. In: Zwischen Murg u. Kinzig, Nr. 372 (1971). – Friedrich Wilhelm Bautz: K. H. In: Bautz. Ulrich Rose
Hessisches Weihnachtsspiel, Kasseler Weihnachtsspiel, zweite Hälfte 15. Jh. aufgezeichnet. – Geistliches Spiel von 870 Versen. Das H. W., das in der zweiten Hälfte des 15. Jh. im nördl. Hessen (Friedberg?) aufgezeichnet wurde, ist, wie Streichungen, Umstellungen, Nachträge u. der Einschub eines Alternativtextes zeigen, in dieser Form wohl nicht zur Aufführung gelangt. Es handelt sich hier vielmehr um die Abschrift u. Bearbeitung einer in größerer zeitl. Distanz stehenden Vorlage durch fünf verschiedene Schreiber. Das Spiel, das nach Fronings Zählung – d.h. ohne Einbeziehung von Einschüben oder Nachträgen u. ohne Berück-
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sichtigung der vielen Gesangswiederholun- tire« mittelalterl. Osterspiele kennt (z.B. im gen – 870 Verse umfasst, beginnt nach einem Innsbrucker Osterspiel). Dem korrespondiert die für mittelalterl. Spiele typischen Prolog mit Warnung Luzifers vor schlechtem Hausgeder Verkündigung Mariae u. führt über Her- sinde, mit der er im einen Fall das Teufelsbergssuche, die offenbar (pantomimisch?) spiel, im anderen Fall – als Alternativschluss dargestellte Geburt Christi (»tunc Maria perit gedacht – das gesamte Spiel beschließt. Zupuerum«), das sog. Kindelwiegen, die Ver- dem wird durch diese Verse ein Gegenwartskündigung u. Anbetung der Hirten, Klagen bezug zur Welt der Zuschauer hergestellt, der Josephs über die Armut der Hl. Familie u. das Gesagte ebenso plastisch wie eindringlich seinen Streit mit zwei Mägden weiter zu ei- erscheinen lässt. Diesem Prinzip folgt der nem Teufelsspiel. Unter völligem Verzicht anonyme Verfasser bzw. Redaktor an vielen auf Dreikönigs- oder Herodesszenen endet Stellen: so, wenn er versucht, durch eine das H. W. mit der Warnung vor Herodes u. Personendarstellung u. Sprechweise, die vom Typischen fort aufs Individuelle zielt, eine dem Entschluss zur Flucht nach Ägypten. Im Mittelpunkt der Spielhandlung steht – größere Lebensnähe u. Zeitgebundenheit zu in enger Verbindung mit einem im SpätMA erreichen (z.B. Darstellung der drei Hirten, auch außerhalb der geistl. Spiele allenthalben Joseph u. die Mägde), oder wenn er genrehaft bezeugten Weihnachtsbrauch – das Kindel- u. realistisch Dinge des alltägl. Lebens aufwiegen, bei dem Joseph, sein Knecht Sellen- zählt u. dabei bis in kleinste Einzelheiten fro, fünf »cantores«, fünf »puellae« bzw. geht (z.B. Bitten der Hirten an Christus, Jo»virgines« (die sonst in keinem anderen sephs Klage über die Armut u. den fehlenden Weihnachtsspiel bezeugt sind) u. die Hirten Hausrat). um das in einer Wiege liegende Jesuskind Ausgaben: Richard Froning: Das Drama des MA. tanzen. Sein bes. Gepräge erhält das Spiel an Tl. 3, Stgt. 1892. Neudr. Darmst. 1964, S. 904–937. dieser Stelle durch die Vielzahl lat. u. volks- – Walther Lipphardt: Das ›H. W.‹. In: Convivium sprachiger Gesänge, die in der Hauptsache Symbolicum 2 (1958), S. 29–48, 66 f. Literatur: Erich Reinhold: Über Sprache u. von Engeln, aber – zum Erstaunen eines heutigen Lesers – u. a. auch vom neugebore- Heimat des ›H. W.‹. Diss. Marburg 1909. – Luise nen Kind selbst gesungen werden. Neben der Berthold: Die Kindelwiegenspiele. In: PBB 56 ständigen Aufforderung zur Weihnachts- (1932), S. 208–224. – Georg Bencker: Das dt. Weihnachtsspiel. Diss. Greifsw. 1933. – Hanns Ott: freude u. einer sich in stets variierendem Personengestaltung im geistl. Drama des MA. Diss. Marienlob u. -preis ausdrückenden Betonung Bonn 1939. – Walther Lipphardt: H. W. In: VL. – der Bedeutung Marias finden sich in den Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Texten dieses Handlungsteils Vorausdeutun- Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Algen auf die Passion Christi – u. a. wiederum brecht Classen: Das ›H. W.‹. Ein Dokument der durch das Christuskind –, seine Höllenfahrt spätmittelalterl./frühneuzeitl. Mentalitätsgesch. u. die Erlösung der Menschheit. Das Weih- In: Daphnis 21 (1992), S. 567–600. nachtsgeschehen wird im H. W. also nicht als Bernd Neumann / Red. quasi selbstständiges Ereignis vorgeführt, sondern als Bestandteil des Heilsplans Gottes, Hessus, Helius Eobanus, eigentl.: Coci, an dessen weitere Stationen der Zuschauer Koch(sohn), * 6.1.1488 Halgehausen bei sich hier u. heute gleichermaßen erinnern Frankenberg/Hessen (daher 1506–1508 soll. Auch im später folgenden Teufelsspiel, auch E. H. Francobergius), † 4.10.1540 in dem Luzifer seiner Furcht vor der HöllenMarburg/Lahn. – Neulateinischer Dichter fahrt Christi u. der Befreiung der Seelen aus u. Übersetzer; akademischer Lehrer. der Hölle Ausdruck gibt, wird der große Zusammenhang gewahrt, doch verfolgt diese H., dessen Vater Hans Koch im Dienst der »Szene« außerdem mit dem Hinweis auf die Zisterzienserabtei Haina stand, empfing dort vielen Sünder, mit denen man die Hölle bald den ersten Unterricht von Abt Ditmar Wagwieder füllen werde, deutlich jene didakt. ner. Hierauf besuchte er bis 1501 die LateinIntentionen, wie man sie aus der »Ständesa- schule seines Verwandten Johann Mebessen
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in Gemünden/Wohra u. bis 1504 die Schule des Jakob Horle in Frankenberg. Im Herbst 1504 immatrikulierte sich H. an der Universität Erfurt (B. A. 1506, M. A. 1509). Er befreundete sich hier bes. mit seinen Lehrern Ludwig Christiani u. Ludwig Platz sowie mit dem namhaften Gothaer Kanonikus Konrad Mutianus Rufus u. den Kommilitonen Crotus Rubeanus, Peter (Petrejus) Eberbach u. Ulrich von Hutten. Durch Vermittlung des Weihbischofs Johann Bonemilch von Laasphe wurde H. 1507 Rektor der Stiftsschule von St. Severi in Erfurt, verlor die Stellung jedoch im folgenden Jahr. Das Erfurter Universitätsleben bot die Stoffe für seine ersten Dichtungen. De recessu studentum ex Erphordia tempore pestilenciae ([Erfurt 1506]) schildert, wie die Studenten u. Magister im Aug. 1505 vor der Pest flohen u. erst zu Ostern 1506 aus Frankenberg/Hessen zurückkehrten. De pugna studentum Erphordiensium (Erfurt 1506) verherrlicht eine Straßenschlacht am 9.8.1506, in der die Studenten einen Überfall wütender Handwerker zurückschlugen. Auf diese kleineren Werke folgten ein Preisgedicht auf die Universität, De laudibus et praeconiis incliti [...] Gymnasii litteratorii apud Erphordiam (Erfurt 1507) u. eine prosimetr. Satire über das Unglück der Verliebten, De amantium infoelicitate (Erfurt 1508). Der moralisierende Grundzug des letzteren Werks, der den Einfluss des Baptista Mantuanus verrät, ist auch im Bucolicon (Erfurt 1509) erkennbar. Mit diesen elf zumeist allegor. Gedichten führte H. den Eklogenzyklus in die dt. Literatur ein. Hinter der Hirtenmaske verbergen sich der Dichter u. sein Freundeskreis: Mutianus Rufus, Georg Spalatin, Justus Jonas, Crotus Rubeanus, Hermann Trebelius u. a. Wie in den Eklogen des Mantuanus mischen sich bei H. auch satir. Töne ein. In einer Ekloge beklagt er die finanzielle Misswirtschaft des Erfurter Stadtrats, die zu einer Revolte geführt u. das bisher idyllische Studentenleben erschüttert hatte. In einer anderen Ekloge karikiert er den dalmat. Dichter Richard Sbrulius. Zwei weitere Eklogen führen die gefährl. Macht der leidenschaftl. Liebe vor Augen. Ein Loblied auf die Jungfrau Maria beschließt den Zyklus.
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Im Okt. 1509 verließ H. das von Volksunruhen geplagte Erfurt u. zog mit einigen anderen Studenten nach Leipzig. Als sich dort keine akadem. Stelle auftat, trat er als Sekretär in den Dienst des Bischofs von Pomesanien, Hiob von Dobeneck, dessen Residenz sich in Riesenburg/Preußen (jetzt Prabuty) befand. Im bischöfl. Gefolge wohnte H. im Febr. 1512 der Vermählung Sigismunds I. in Krakau bei u. dichtete das Hochzeitslied Encomium nuptiale divo Sigismundo, regi Poloniae (Krakau 1512). Als er sich kurz nach der Hochzeit in einen poetischen Wettstreit mit dem kgl. Sekretär Johannes Dantiscus einließ, schrieb er in kürzester Zeit das Kleinepos Victoria Christi ab inferis (1517 in revidierter Form veröffentlicht). Eine lange Elegie an den König über den Dt. Orden (Sylvae I, 1), für den Landtag in Piotrków gedichtet, entstand am Ende desselben Jahres. Um sich auf eine Karriere als Redner u. Gesandter vorzubereiten, studierte H. auf Wunsch des Bischofs ab Frühling 1513 Jura in Frankfurt/O., siedelte aber im Spätherbst nach Leipzig über. Im Jan. 1514 veröffentlichte er dort Sylvae duae, Prussia et Amor ([Lpz. 1514]). Das Werkchen enthält eine überarbeitete Fassung zweier schon 1510/11 verfasster Stegreifgedichte: Ad doctissimum virum Mutianum Rufum generalis Prussiae descriptio, mit einer lebhaften Beschreibung Preußens, u. Ad Theodorum Collucium sacerdotem illiciti amoris antidotarium, urspr. dem liebeskranken Kollegen u. späteren Priester Johannes Temonius zugedacht. In einer poetischen Beigabe legt der Dichter dar, warum er sich jetzt Helius nennt (weil er an einem Sonntag geboren wurde u. den Sonnen- u. Dichtergott Helios/Apollo verehrt). Im Juli 1514 erschien H.’s bis dahin bedeutendste Dichtung, die Heroidum christianarum epistolae (Lpz. 1514), an der er vier Jahre gearbeitet hatte. Die Sammlung enthält 22 Briefe hl. Frauen an ihre Geliebten. Es schreiben z.B. die Jungfrau Maria an Emmanuel u. an Johannes auf Patmos, Maria Magdalena u. Katharina von Alexandrien an Christus, Elisabeth von Thüringen an Ludwig, Helena an Kaiser Konstantin, Kunigunde an Kaiser Heinrich, Monika an Augustinus, Thais an Paphnutius. Ein Brief Emma-
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nuels an Maria u. einer von H. selbst an die göttl. Nachwelt bilden den Rahmen für die Frauenbriefe. Wichtigstes Vorbild neben Ovids Epistulae heroidum u. Baptista Mantuanus’ Parthenicae war die christl. Heroide »Epistola dive Marie Magdalene ad Christum in infirmitate Lazari fratris« des Jakobus von Gouda, gen. Magdalius, die in dessen Erarium aureum poetarum (Köln, 1501 u. ö.) erschienen war. Ende Juli 1514 nach Erfurt zurückgekehrt, wurde H. bald als Haupt der dortigen Humanisten gefeiert, ja (nach einem Ausspruch Johann Reuchlins) zum »Dichterkönig« gekrönt. Als solcher war er es, der 1516 die zwei (anonymen) Epigramme für den Haupteingang des Collegium majus der Universität lieferte. In diesen Jahren, in denen er sich zähe um einen Lehrstuhl an der Universität bewarb, gab H. eine stattl. Anzahl Dichtungen in den Druck: eine Osterhymne, Hymnus paschalis (Erfurt 1515); eine Elegie über den Seelenadel, De vera nobilitate ([Erfurt, im Juli 1515]); eine Elegie u. einige kürzere Epigramme über die Trunksucht, De vitanda ebrietate (Erfurt 1516); einen fingierten Brief Maximilians an die personifizierte Italia, in der H. auf Huttens heroischen Brief der hartbedrängten Italia antwortete (Epistola Italiae ad divum Maximilianum Caesarem [...] Ulricho Hutteno [...] autore. Responsio Maximiliani [...] Helio Eobano Hesso autore. Erfurt 1516); u. eine Revision des bereits 1512 verfassten Kleinepos über die Höllenfahrt Christi, Victoria Christi ab inferis (Erfurt 1517; auch postum u. d. T. Hymnus paschalis in victoriam ab inferis et a morte resurrectionem Christi [...]. Marburg 1542, nach einer von H. 1540 wiederaufgefundenen Hs. vom Jahre 1515). Das Kleinepos wurde später von Johann Spangenberg (1484–1550) bis zum Plagiat nachgeahmt: Triumphus Christi heroicus, zuerst (anonym) im Anhang zu Juvencus (Basel 1541; s. PL 19, S. 385–388), dann im Anhang zu Spangenbergs Epistolae per totum annum dominicis diebus in ecclesia legi solitae [...] (Ffm. 1545). Auch prosaische Schriften flossen in dieser Zeit aus H.’ Feder: eine Oratio sive praelectio in auspicio Officiorum M. Tullii Ciceronis et M. Accii Plauti comoediarum, die seine Privatvorlesungen über Ciceros Officia u. Plautus’ Amphitruo
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anpries ([Erfurt, im Mai 1515]), sowie eine lat.-dt. Satire gegen die Trunksucht, De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda ([Erfurt, im Herbst 1515]). Letzteres Werk, anonym erschienen, weil es der Form nach die scholastischen Disputationen verspottete, wurde bis ins 17. Jh. gern gelesen. Nachdem H. im Juli 1518 den Lehrstuhl für lat. Poetik u. Rhetorik in Erfurt erhalten hatte, unternahm er im Herbst eine Reise zu Erasmus in Löwen. Sehr anschaulich stellt er seine Erlebnisse in einem Hodoeporicon dar (Erfurt [1519]). Ein beigefügter Brief von Erasmus lobt H. als »christlichen Ovid«. Bei der Promotionsfeier im Sept. 1519 hielt H. die Festrede Oratio de studiorum instauratione in inclyta schola Erphurdiensi [...] (Erfurt [1520]), in der er die Wiedergeburt humanistischer Studien in Deutschland u. Erfurt lobt u. die Rolle des Bahnbrechers Erasmus mit enthusiastischen Worten würdigt. Als er dann kurz danach auf Bitte (u. auf Kosten) des Rektors Justus Jonas über den Enchiridion las, leitete er die Veranstaltung ein mit der Rede Praefaciuncula in Enchiridion christiani militis (zus. mit Justus Jonas’ Praefatio in Epistolas Divi Pauli Apostoli ad Corinthios [...] habita. Erfurt 1520). Im Streit gegen Edward Lee nahm H. mit anderen Erfurter Humanisten Stellung für Erasmus: In Eduardum Leeum [...] epigrammata (Erfurt 1520). H.’ Erasmus-Schwärmerei schlug 1521 in Luther-Begeisterung um. Tief beeindruckt von Luthers Einzug u. Aufenthalt in Erfurt (6.-8.4.1521) dichtete er vier Elegien auf den Reformator, Habes hic lector in Evangelici Doctoris Martini Lutheri laudem defensionemque elegias IIII (Erfurt 1521), zusammen mit einem Aufruf an Ulrich von Hutten u. einer Invektive gegen den »Lutheromastix« Hieronymus Emser. Auch der »Brief der in Banden geschlagenen Kirche an Luther«, Ecclesiae afflictae epistola ad Lutherum (Hagenau 1523), gibt Zeugnis von H.’ evang. Gesinnung. Der Klageton letzterer Elegie ist z.T. auf die traurigen Zustände in Erfurt zurückzuführen. Wie anderswo, so hatte die Reformation auch in Erfurt Volksunruhen herbeigeführt. Die evang. Prädikanten standen der humanistischen Bildung feindselig gegenüber; die Universität geriet in Verfall. H. strengte sich
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nach Kräften an, den Untergang der humaniora in Erfurt aufzuhalten. Zu diesem Zweck veröffentlichte er eine Sammlung von Briefen über die Notwendigkeit der Sprachstudien für den künftigen Theologen, die neben eigenen u. a. auch Beiträge von Luther u. Melanchthon enthielt (De non contemnendis studiis humanioribus aliquot clarorum virorum ad E. Hessum epistolae. Erfurt 1523). Den Briefen gab er vier Gedichte bei, darunter eine Ermahnung an den Erfurter Stadtrat zur Wiederherstellung der Universität. In den satir. Dialogi tres (Erfurt 1524) richtete H. sich gleichfalls gegen die antihumanistischen Prädikanten in Erfurt. Von evang. Seite verdächtigt u. durch den Verfall der Universität in Armut gestürzt, widmete sich H. 1523/24 dem Studium der Medizin. Seine Studien führten zwar nicht zum medizinischen Doktorgrad, wohl aber zu einem Lehrgedicht über die Erhaltung der Gesundheit, Bonae valetudinis conservandae praecepta (Erfurt 1524. Revidiert u. d. T. Bonae valetudinis conservandae rationes aliquot. [Nürnb. 1531]). Dieses humanistische Gegenstück zu dem mittelalterl., aber immer noch beliebten Regimen sanitatis Salernitanum stützt sich bes. auf Ficinos De vita u. die Diätetik des Paulos von Aigina. Das Buch wurde im 16. u. 17. Jh. über 30-mal aufgelegt, zweimal von renommierten Medizinern kommentiert u. von Johannes Episcopius (Bischoff) übersetzt u. d. T. De conservanda valetudine hominum, praecepta salutaria. Heilsame vnnd gar sehr nützliche Precepta vnnd lehren der Menschlichen gesundheit wol zu pflegen [...] (Nürnb. 1576). 1526 folgte H. einem Ruf als Lehrer der Poetik an das von Melanchthon gegründete Aegidien-Gymnasium in Nürnberg. Er besang die Schule in Elegiae tres de schola Norica (Nürnb. 1526) u. verfasste für sie eine Anleitung zum Versemachen (Scribendorum versuum maxime compendiosa ratio. Nürnb. 1526). Melanchthon zuliebe dichtete er einen »Ausruf gegen die Heuchelei der Mönchskutte« (In hypocrisim vestitus monastici ekphônêsis. Nürnb. 1527). Im selben Jahr verfasste er für Joachim Camerarius die Hochzeitslieder Venus triumphans u. In nuptiis Ioachimi Cam. epithalamion seu Ludus Musarum (Nürnb. 1527). Mit Came-
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rarius’ Hilfe studierte er jetzt systematisch Griechisch, lernte Theokrit im Original kennen u. fing an, seine jugendl. Eklogen in Idyllen umzuwandeln. Um fünf neue Gedichte bereichert erschienen sie als Bucolicorum idyllia XII. [...] His accessere ex recenti aeditione idyllia quinque (Hagenau 1528). Dem Griechischstudium entsprang auch eine Reihe philolog. Notizen zu Vergils Quellen, bes. den Idyllen Theokrits: In P. Virgilii Maronis Bucolica ac Georgica adnotationes [...] (Hagenau 1529). Die Zeiten waren indes alles andere als idyllisch. H. beklagte die Wirren des Zeitalters (insbes. Bauernkrieg u. »sacco di Roma«) in den sieben Gedichten De tumultibus horum temporum querela (Nürnb. 1528). Im Frühsommer 1530 reiste er zum Augsburger Reichstag. Dort richtete er einen Glückwunsch an Kaiser Karl V. mit der Bitte, den religiösen Zwiespalt Deutschlands zu heilen, sowie eine Aufforderung zum Türkenkrieg: Divo ac invicto Imp. Caes. Carolo V. Augusto Germaniam ingredienti urbis Norimbergae gratulatoria acclamatio. Ad eundem de bello contra Turcas suscipiendo adhortatio (Nürnb. 1530). H.’ finanzielle Lage in Nürnberg verschlechterte sich mit den Jahren. Er geriet in Schulden, aus denen er sich mit einer dem Stadtrat zugeeigneten Verherrlichung Nürnbergs rettete: Urbs Noriberga illustrata carmine heroico ([Nürnb. 1532]). Der Rat erließ ihm seine Schulden u. schenkte ihm darüber hinaus 40 Gulden. Trotz der materiellen Not blieb H. erstaunlich produktiv. Fortan bilden jedoch Übersetzungen, Bibelparaphrasen u. Überarbeitungen eigener Gedichte den Schwerpunkt seines Schaffens. Trauergedichte auf Freunde u. Gönner wie Albrecht Dürer, Ulrich von Hutten, Mutianus Rufus u. Willibald Pirckheimer sammelte er u. d. T. Illustrium ac clarorum aliquot virorum memoriae scripta epicedia (Nürnb. 1531), später um die Epicedien auf den Nürnberger Ratsherrn Hieronymus Ebner (Nürnb. 1532) u. Erasmus von Rotterdam (Marburg 1537) vermehrt. Eine im luth. Geist revidierte Fassung der Heldinnenbriefe erschien 1532 in Hagenau: Heroidum libri tres, nuper ab authore recogniti et ab aeditionis prioris iniuria vindicati. In den Sylvarum libri VI sam-
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melte H. 1532 eine große Zahl seiner Gelegenheitsgedichte (Hagenau 1535; um drei Bücher erweitert in den Operum farragines duae von 1539). Auch als Übersetzer Theokrits machte sich H. verdient (Theocriti Syracusani Idyllia triginta sex. Hagenau 1531). 1532 veröffentlichte er eine metr. Paraphrase des Predigers Salomo, 1533 eine Übersetzung einiger berühmter Passagen aus Homer, Homericae aliquot icones insigniores. Im Mai 1533 kehrte H. als Professor nach Erfurt zurück. Hier übersetzte er Kolluthos’ De raptu Helenae et iudicio Paridis (Erfurt 1534) sowie ein deutschsprachiges »Spiel über das Podagra« des Erfurter Kartäuserpriors Jodocus Hessus (Podagrae ludus. Mainz 1537). Nachdem Philipp von Hessen dem protestantischen Herzog Ulrich von Würtemberg wieder zur Macht verholfen hatte, verherrlichte H. den Sieg Philipps in dem Kleinepos De victoria VVirtembergensi (Erfurt 1534) u. bahnte sich so den Weg zurück in die Heimat. 1536 erhielt er den lang ersehnten Ruf als Professor der Geschichte an der Universität Marburg. Hier erschienen seine letzten Werke: die schon in Erfurt vollendete Paraphrase des ganzen Psalters in eleg. Distichen (1537; 1538 erweitert u. danach mehr als 50-mal aufgelegt); die »Elegie über die Verleumdung«, zur Verteidigung Philipp Melanchthons (Elegia, recens scripta de Calumnia. 1538); die Trostelegie an den Kollegen Philipp Pistorius (1539, zus. mit Descriptio Calumniae); ein Hochzeitsgedicht für den Marburger Juristen Justus Studaeus (Epithalamion seu ludus gratulatorius in nuptiis et receptione insigniorum Doctoratus Iurium [...] D. Iusti Studaei. Ffm. 1539); u. die erste metr. Übersetzung der gesamten Ilias (1540). Eine Sammelausgabe seiner bedeutendsten Dichtungen ließ er 1539 in Schwäbisch Hall erscheinen: Operum farragines duae (1549 u. 1564 in Ffm. wiederaufgelegt). Ausgaben: Harry Vredeveld (Hg.): Dichtungen. Lat. u. Dt. Bd. 3: Dichtungen der Jahre 1528–1537. Bern 1990 (mehr nicht ersch.). – Ders. (Hg.): The Poetic Works of H. E. H. Tempe 2004 ff. (Text, Übers., Komm.). – HL, S. 247–337, 1097–1143. – H. Vredeveld (Hg.): Digitale Ed.en in: CAMENA, Abt. Poemata.
378 Literatur: Bibliografie: VD 16. – Carl Krause: H. E. H. Sein Leben u. seine Werke. 2 Bde., Gotha 1879. Neudr. 1963. – Melanchthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 293–294. – Gerlinde Huber-Rebenich: H. E. H. In: VL Dt. Hum. – Weitere Titel: Ellinger 2, S. 3–23. – Heinz Entner: H. E. H. u. die luth. Reformation in Erfurt 1521–1525. In: Max Steinmetz u. Gerhard Brendler (Hg.): Weltwirkung der Reformation 2. Bln. 1969, S. 472–484. – Wolfgang Schmid: Antike Motive im Epicedion des E. H. auf den Tod Dürers. In: R. B. Palmer u. R. Hamerton-Kelly (Hg.): Philomathes. Den Haag 1971, S. 508–521. – Hans Rupprich: H. E. H. In: NDB. – Erich Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis 2. Lpz. 21992; 3. Lpz. 21983. – Ders.: H. E. H. In: Contemporaries. – Harry Vredeveld: H. E. H.’ ›Bonae valetudinis conservandae rationes aliquot‹: An Inquiry into its Sources. In: Janus 72 (1985), S. 83–112. – Friedrich Wilhelm Bautz: E. H. H. In: Bautz. – H. Vredeveld: A Forgotten Poem by E. H. to Mutianus Rufus. In: J. Hardin u. J. Jungmayr (Hg.): ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. FS H.-G. Roloff zum 60. Geburtstag. Bd. 2, Bern 1992, S. 1067–1083. – Ingeborg Grässer-Eberbach: Die Epicedien-Dichtung des H. E. H. Ffm. 1994. – H. Vredeveld: E. H. In: J. Hardin u. M. Reinhart (Hg.): Dictionary of Literary Biography 179: German Writers of the Renaissance and Reformation 1280–1580. Detroit 1997, S. 97–110. – Walther Ludwig: E. H. in Erfurt. In: Mlat. Jb. 33 (1998), S. 155–170. – Ingrid Keck: Die ›Noriberga illustrata‹ des H. E. H. Komm. Ffm. 1999. – Eckhard Bernstein: H. E. H. In: Paul F. Grendler (Hg.): Encyclopedia of the Renaissance 3. New York 1999, S. 148–149. – Erika Rummel: The Confessionalization of Humanism in Reformation Germany. Oxford 2000, bes. S. 34–40. – G. HuberRebenich: Der lat. Psalter des E. H. u. das Ideal der ›docta pietas‹. In: W. Ludwig (Hg.): Die Musen im Reformationszeitalter. Lpz. 2001, S. 289–303. – W. Kühlmann u. Werner Straube: Zur Historie u. Pragmatik humanist. Lyrik im alten Preußen: Von Konrad Celtis über E. H. zu Georgius Sabinus. In: K. Garber, M. Komorowski u. A. E. Walter (Hg.): Kulturgesch. Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Tüb. 2001, S. 657–736, bes. S. 669–682, 692–711. – G. Huber-Rebenich u. W. Ludwig (Hg.): Humanismus in Erfurt. Rudolstadt 2002, bes. S. 161–176 (H. Vredeveld), 177–194 (G. Huber-Rebenich) u. 195–211 (A. Stewing). – Dieter Stievermann: Marschalk (ca. 1470–1525), Spalatin (1484–1545), Mutian (ca. 1470–1526), H. (1488–1540) u. die Erfurter Humanisten. In: D. von der Pfordten (Hg.): Große Denker Erfurts u. der Erfurter Universität. Gött. 2002, S. 118–142. – Monika Rener: ›Quoniam sors omnia mutat‹. Zwei Elegien des H. E. H. zum sacco
Hester
379 di Roma. In: H. Marek, A. Neuschäfer u. S. Tichy (Hg.): Metamorphosen [...]. FS Bodo Guthmüller zum 65. Geburtstag. Wiesb. 2002, S. 111–127. – W. Ludwig: ›Pontani amores‹: Joachim Camerarius u. E. H. in Nürnberg. In: Thomas Baier (Hg.): Pontano u. Catull. Tüb. 2003, S. 11–45. – Georg Burkard u. W. Kühlmann (Hg.): Joachim Camerarius. Narratio de Helio Eobano Hesso / Das Leben des Dichters H. E. H. Heidelb. 2003. – Jaumann Hdb. – H. Vredeveld (Hg.): De H. Eobano Hesso narratio Ioachimi Camerarii Pabebergensis / The Story of H. E. H by Joachim Camerarius of Bamberg. In: The Poetic Works of H. E. H. Bd. 1, Tempe 2004, S. 1–91, 385–391. – Gernot M. Müller: Poet. Standortsuche u. Überbietungsanspruch. Strategien der Gattungskonstitution im ›Bucolicon‹ des H. E. H. zwischen intertextueller Anspielung u. autobiogr. Inszenierung. In: Reinhold F. Glei u. Robert Seidel (Hg.): ›Parodia‹ u. Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lat. Lit. der Frühen Neuzeit. Tüb. 2006, S. 111–170. – Karl A. E. Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiogr. des frühneuzeitl. Humanismus v. Petrarca bis Lipsius. Bln./ New York 2008, S. 429–466. – G. Huber-Rebenich u. Sabine Lütkemeyer. H. E. H. In: VL Hum. Harry Vredeveld
Hester. – Bibeldichtung von 2016 Versen aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. Zwei im Umkreis des Deutschen Ordens entstandene Sammelhandschriften aus dem 14. Jh. überliefern eine volkssprachige Paraphrase des alttestamentl. Buches Esther in Reimpaarversen. Den Gebrauch des Textes im Ritterorden bezeugen auch zwei weitere nachgewiesene, heute aber verlorene Handschriften aus Ordensbesitz. Ob die H. indes für die Korporation oder gar in deren Auftrag entstanden ist – eine These, die man vor allem aufgrund sprachl. Indizien zu erhärten versuchte –, wird neuerdings mit guten Argumenten bestritten. Den jüngsten Forschungen Michael Neeckes zufolge verdankt die H. ihre Entstehung wie andere Bibeldichtungen auch – etwa die (ostmitteldt.) Judith, die Makkabäer oder Heinrich Heslers Apokalypse – einem verstärkten Interesse mitteldt. Laienkreise an den histor. Büchern der Bibel, auf das der Prolog explizit Bezug nimmt. Der Deutsche Orden hat sich demnach erst sekundär die H., wie die anderen oben genannten Texte, angeeignet, wobei der
Transfer nach Ostpreuben u. in den Kontext der kriegerischen Kolonisation durch den heroisch-kämpferischen Stoff an sich wie durch bestimmte diskursive Elemente, z.B. die typolog. Bezüge auf Maria im Epilog, begünstigt wurde. Entstanden ist das in flüssigem, an späthöf. Epik erinnernden Stil geschriebene Werk sicherlich noch im 13. Jh. Den »terminus ante quem« liefert die auf die H. anspielende Ambrosiuslegende im dritten Buch des Passionals, das »frühestens nach 1272« (Manfred Caliebe) entstanden sein kann. Der geistl. Verfasser der H. ist unbekannt. Hauptquelle der Dichtung sind die kanonischen Teile des Esther-Buches der Vulgata, doch hat der Autor auch andere Texte herangezogen. An zwei Stellen, für die Gebete des Mardochäus u. Hesters um Gottes Beistand gegen Haman (insg. 204 Verse), dienten die Esther-Apokryphen als Vorlage, an zwei weiteren, so bei der Beschreibung des Königspalastes, die Historia scholastica des Petrus Comestor; 19 Passagen (nach Caliebe) stützen sich auf das elfte Buch der Antiquitates Judaicae des Flavius Josephus, wohl auf eine mlat. Übersetzung des griech. Originals. Die Paraphrase des Bibeltextes ist mit zahlreichen Verfasserzusätzen durchsetzt, v. a. mit erklärenden Partien, die den Bibeltext einem Laienpublikum durch »uzlegunge« verständlich machen wollen; dem Dichter anstöbig erscheinende Stellen wurden hingegen zensiert. Im Gebetsprolog ruft der Autor zunächst Jesus Christus an u. bittet um Inspiration (VV. 1–22); wer als Auftraggeber angesprochen wird, ob der Gottessohn oder ein anderer, bleibt, wie es scheint, bewusst in der Schwebe. Sein Unterfangen, den Laien zwecks Erbauung u. Belehrung den Bibeltext in der Volkssprache verfügbar zu machen, verteidigt der Autor gegen konservativ-geistl. Kritik u. mit dem Hinweis auf die Bitte der Freunde (VV. 23–58). Der Epilog (VV. 1945–2016) bezieht in typolog. Verfahren Hester auf Maria u. Ahasver auf Christus u. schliebt in einem langen Mariengebet. Nun erst wird das biblisch-histor. Geschehen typologisch transparent gemacht. Das Publikum soll Maria – »unse hester« – anrufen, damit sie »den kunic assuerum, den edelen
Hetmann
iesum christum«, um »helfe« u. Beistand gegen die bösen, das Seelenheil gefährdenden Feinde bitte. Im 15. Jh. u. damit in der Endphase des Literaturbetriebs des Deutschen Ordens wurde die gereimte H. in Prosa umgesetzt. Das sog. Historienbuch des Ordensritters Jörg Stuler, geschrieben 1479 oder kurz danach (Stuttgart, Württembergische Landesbibl., HB XIII 10), überliefert unmittelbar im Anschluss an eine Prosaauflösung der Judith u. mit dieser zu einer Moraldidaxe verschmolzen, eine Prosafassung der zur Deutschordensdichtung avancierten H. Dass Stuler selbst die Verse in Prosa transformiert u. dabei auf das stoffl. Substrat reduziert hat, ist möglich, aber nicht beweisbar. – Das in der Sammelhandschrift Car. C 28 der Zentralbibliothek Zürich enthaltene Buoch von Hester der kunigin, ebenfalls in Prosa, ist hingegen ein Auszug aus der Schwabenspiegel-Fassung des Buchs der Könige alter ê und niuwer ê, das, wie Weltchroniken u. Historienbibeln des späten MA auch, den Esther-Stoff in der Volkssprache bearbeitet. Ausgaben: Manfred Caliebe: H. Ed. u. Komm. Marburg 1985 (mit synopt. Abdr. der Prosaisierung Jörg Stulers). Literatur: Karl Helm u. Walter Ziesemer: Die Lit. des dt. Ritterordens. Gieben 1951, S. 74 f. – Achim Masser: Bibel- u. Legendenepik des dt. MA. Bln. 1976, S. 77 f. – Kurt Ruh: H. In: VL. – M. Caliebe, a. a. O., S. 126–326. – Gisela Kornrumpf: Jörg Stuler. In: VL. – Edith Feistner, Michael Neecke u. Gisela Vollmann-Profe: Krieg im Visier. Bibelepik u. Chronistik im Dt. Orden als Modell korporativer Identitätsbildung. Tüb. 2007, S. 67–79, 211–216, 239 f. Norbert H. Ott / Dorothea Klein
Hetmann, Frederik, eigentl.: HansChristian Kirsch, auch: Martin Federspiel, * 17.2.1934 Breslau, † 1. 6. 2006 Limburg. – Verfasser von Kinder- u. Jugendliteratur u. Biografien, Übersetzer, Herausgeber. H., Sohn eines Offiziers, flüchtete 1945 nach Thüringen u. kam 1949 in die Britische Besatzungszone. Er studierte ohne Abschluss Pädagogik, Romanistik, polit. Wissenschaften an den Universitäten Frankfurt, Berlin,
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München u. Madrid. Ausgedehnte Studienreisen nach Irland, England, Spanien, in die USA, nach Asien u. Afrika fanden ihren Niederschlag in seiner Autoren- u. Herausgebertätigkeit. H. arbeitete als Lehrer, Verlagslektor u. -redakteur. Seit 1963 war er als freier Medienautor u. Übersetzer tätig. Auch unter seinem Namen Hans-Christian Kirsch publizierte er viele Werke. Nach ersten lyr. Versuchen u. autobiografisch beeinflussten Milieuschilderungen der bundesrepublikan. Nachkriegsgesellschaft aus jugendlich-krit. Sicht wie im Roman Blues für Ari Loeb (Freib. i. Br. 1961. Überarb. Neuausg. Ravensburg 1978) wandte sich H. für zwei Jahrzehnte mehr der internat. Kinder- u. Jugendliteratur. Sozialkritische Betrachtungen dt., irischer u. amerikan. Geschichte u. Gegenwart, Vermittlung u. Adaption von Märchen, Sagen u. Mythen fremder Kulturen u. Biografien gehören zu den wichtigsten Themen. Dabei versuchte H., neue Stilelemente einzuführen. In der Amerika-Saga (Freib. i. Br. 1964) verfolgte er die Geschichte Nordamerikas anhand von Zeugnissen der Alltagskultur u. Folklore. Seit Beginn der 1970er Jahre entwickelte H. eine neue Technik der Biografie. In der Montage von Informationen, Reflexionen u. Stellungnahmen nähert er sich der Persönlichkeit von Freiheitskämpfern, Politikern, Künstlern u. Schriftstellern. Für seine CheGuevara-Biografie Ich habe sieben Leben (Weinheim/Basel 1972) erhielt H. den Deutschen Jugendliteraturpreis 1973, für seinen IrlandRoman Lorcan zieht in den Krieg (Baden-Baden 1977. Veränderte Neufassung Aarau 1989) den Zürcher Jugendbuchpreis »La vache qui lit«. Über die Beschäftigung mit der Volksliteratur fremder Kulturen fand H. seit Beginn der 1970er Jahre auch zur fantastischen Kinder- u. Jugend- u. zur Fantasy-Literatur. Er gab Märchen u. Mythen irischen u. kelt. Ursprungs heraus wie im Zyklus Irischer Zaubergarten (Düsseld. 1979), Reisen in die Anderswelt (Düsseld. 1981) u. Hinter der Schwarzdornhecke (Köln 1986). Er veröffentlichte Untersuchungen zu Märchen (Traumgesicht und Zauberspur. Ffm. 1982) u. zu Fantasy (Die Freuden der Fantasy. Ffm./Bln./Wien 1984) u. schrieb
Hettche
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selbst meist an kelt. Sagenstoff angelehnte fantastische Jugendromane wie Madru oder der große Wald (Köln 1984). Weitere Werke: Mit Haut u. Haar. Mchn. 1961. Neuausg. Mchn. 1990 (R.). – Sheriffs, Räuber, Texas Rangers. Gesetz u. Gesetzlosigkeit im Wilden Westen. Würzb. 1968 (E.). – Freispruch für Sacco u. Vanzetti. Baden-Baden 1978 (Sachbuch). – Martin Luther King. Hbg. 1979 (Biogr.). – Eine schwierige Tochter. Die Gesch. einer irischen Rebellin. Zürich/ Köln 1980 (Biogr.). – Georg B. oder Büchner lief zweimal v. Gießen nach Offenbach u. wieder zurück. Weinheim 1981. 1993 (Biogr.). – Jesus, ein Mann aus Nazareth. Mchn. 1982 (Biogr.). – Wagadu. Baden-Baden 1983 (R.). – Der Mann, der sich verbarg. Nachforschungen über B. Traven. Stgt. 1983 (Biogr.). – Konrad Adenauer. Hbg. 1984 (Biogr.). – Dermot mit dem roten Haar. Würzb. 1985 (R.). – Schlafe, meine Rose. Die Lebensgesch. der Elisabeth Langgässer. Weinheim 1987 (Biogr.). – Worpswede. Die Gesch. einer Künstlerkolonie. Mchn. 1987. – In Baals Welt. Kindheit u. Jugend des Bert Brecht. Augsb. 1993. – Zeitenwende. Bergisch Gladbach 2006. – Dichter leben. 35 Portraits v. Grimmelshausen bis Grass (mit Ingrid Röbbelen u. Harald Tondern). Weinheim 2008. – Herausgeber: Kelt. Märchen. Ffm. 1975. – Der Tanz der gefiederten Schlange. Märchen u. Mythen der Navaho-, Hopi- u. Pueblo-Indianer. Ffm. 1985. Literatur: Herbert Schwarz (Hg.): Der Schriftsteller F. H. 83 Titelnachweise mit Annotationen. Kronach 1993. – Gerhard Haas: F. H. In: KJL. Birgit Dankert / Thomas Kramer
Hettche, Thomas, * 30.11.1964 Treis bei Gießen. – Schriftsteller. H., der ab 1984 in Frankfurt/M. Germanistik u. Philosophie studierte, schloss das Studium 1991 mit einer Arbeit über Robert Musil ab. In seinem ersten Roman (Ludwig muß sterben. Ffm. 1988) findet sich bereits ein für seine spätere Prosa charakterist. Experimentieren mit der Erzählinstanz: Der Leser wird im Unklaren gelassen, ob er mit einem unzuverlässigen Erzähler oder einem fantastischen Weltentwurf konfrontiert ist. Inkubation (Ffm. 1992), das den Leser auch in Unsicherheit über die unterschiedl. Erzählstimmen lässt, besteht aus kürzeren Prosatexten, die sich auf eine komplizierte Weise miteinander verschränken u. in der gebundenen Erstausgabe durch die typografische Gestal-
tung ineinander geschoben sind. In seinen frühen Romanen erprobt H. häufig die materiellen Gestaltungsmöglichkeiten des Druckbilds auf der Buchseite. Der Erzähler der Handlung des kurzen Romans Nox (Ffm. 1995) ist ein verwesender Leichnam, der die Nacht des Mauerfalls in Berlin anhand einer allegor. Bildstrecke schildert, die den Schmerz der »Wende« in den Bildfeldern der sexuellen Grenzüberschreitung u. Überwältigung, Verstümmelung, Verwundung u. Vernarbung einfängt. Das Interesse an nichtlinearen Erzählformen, das bereits in Inkubationen deutlich wurde, fand in einem literar. Internetprojekt Ausdruck, das H. gemeinsam mit Jana Hensel initiierte. Die Schriftstellergruppe, die von Anfang bis Ende des Jahres 1999 Beiträge im Internet verfasste (NULL. 1999), nutzte die Möglichkeiten des neuen Mediums meist allerdings nur sehr verhalten – was einer Publikation der Beiträge als Buch (NULL. Literatur im Netz. Köln 2000) jedoch eher förderlich war. 1999 wurde H. in Frankfurt/M. mit einem ebenso erzählerischen wie theoret. Venedig-Essay (Animationen. Köln 1999) promoviert, der die Verbindung von Reflexionen zur Erzählpoetik u. zur Körperlichkeit fortführt. Der nächste Roman H.s (Der Fall Arbogast. Köln 2001) trägt die Gattungsbezeichnung »Kriminalroman«, obwohl er präziser als Gesellschaftsroman zu beschreiben wäre, der die westdt. Nachkriegszeit der 1950er u. 1960er Jahre ausgehend von einem dokumentierten Justizirrtum evoziert. Der Roman, der von der Literaturkritik gut aufgenommen wurde, bemüht sich auch darum, kulturtheoret. Wissensbestände (etwa Michel Foucaults Überwachen und Strafen) in den poetischen Text zu integrieren. Die Verwendung von dokumentarischen Elementen findet eine Fortsetzung in dem Roman Woraus wir gemacht sind (Köln 2006), der einerseits die Situation in den USA nach den Anschlägen des 11.9.2001 beschreibt, andererseits aber auch Amerika als (von Filmen induzierten) phantasmat. Raum entwirft. Woraus wir gemacht sind, von der Kritik als »Amerikaroman« wahrgenommen, bedient sich wie Der Fall Arbogast einiger Versatzstücke des Thrillers. H., dessen internat. Stipendienaufenthalte
Hettner
(u. a. Villa Massimo, Villa Aurora) auch in seinen Romanen Niederschlag finden, konzipiert in Woraus wir gemacht sind einen Protagonisten, dessen Agonie eine Erkundung von radikalen Formen der Passivität erlaubt. H.s Figuren sind häufig keine Handelnde, sondern Leidende, in denen Passion u. Passivität verwoben ist. 2005 veröffentlichte H. (z.T. mit Schriftstellerkollegen) in der »Zeit« u. der »FAZ« poetolog. Interventionen, die sich als programmat. Einforderung eines »relevanten Realismus« verstanden (Was soll der Roman? 2005. Die Moderne fällt ab von uns wie ein Traum. 2005). H., der 1994 den Ernst-Robert-CurtiusFörderpreis für Essayistik erhielt, findet mit seinen essayistischen Annäherungen an die bundesrepublikan. Geschichte, die häufig in biogr. Skizzen oder Reportagen eingefasst sind, zu einer überzeugenden literar. Form der Mentalitätsgeschichte; ein Teil dieser Annäherungen wurde im Fahrtenbuch 1993–2007 (Köln 2007) publiziert. H. lebt nach mehrfachen Wohnsitzwechseln in Berlin. Weitere Werke: Das Sehen gehört zu den glänzenden u. farbigen Dingen. Graz 1997. – Pietro Aretino: I modi / Stellungen. Die Sonette des göttl. Aretino zu den Kupfern des Marcantonio Raimondi. Nachgedichtet u. mit einem Ess. vers. v. T. H. Ffm. 1997. Literatur: Timo Kozlowski: T. H. In: KLG. – Thomas Kraft: T. H. In: LGL. Carlos Spoerhase
Hettner, Hermann (Julius Theodor), * 12.3.1821 Niederleysersdorf bei Goldberg/Schlesien, † 29.5.1882 Dresden. – Kunst- u. Literarhistoriker. H., Sohn eines Rittergutsbesitzers, war der Vater des Geografen Alfred u. des Malers Otto Hettner. Er besuchte das Hirschberger Gymnasium, wo der dortige Rektor u. Altphilologe Karl Linge u. der Oberlehrer u. GoetheInterpret Karl Ernst Schubarth nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübten. Anschließend studierte H. in Berlin bei August Boeckh u. Ranke, dann in Heidelberg u. Halle. Er promovierte 1843, verbrachte die nächsten drei Jahre in Italien u. habilitierte sich 1847 in Heidelberg; 1851 wurde er a. o. Prof. für Kunst- u. Literaturgeschichte in Jena, 1855
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Direktor der Antikensammlungen u. des Museums für Gipsabgüsse in Dresden. Sein Ausweichen auf einen leitenden Museumsposten war zgl. Zeugnis des Scheiterns seiner akadem. Laufbahn. In Berlin hatte H. begeistert die neue junghegelian. Richtung in der Philosophie verfolgt. In seinem ersten, 1842 erschienenen Aufsatz (Zur Beurteilung Ludwig Feuerbachs. Wiederabgedr. in: Kleine Schriften. Hg. Anna Hettner. Braunschw. 1884, S. 145–163) charakterisierte er Ludwig Feuerbach als den Verkünder der »Philosophie der Zukunft« u. behauptete: »Aufgabe der kommenden Geschichte ist es, diese gewaltige Lehre in Leben und Wissenschaft zu verwirklichen.« In seinem 1845 veröffentlichten Aufsatz Gegen die spekulative Aesthetik (wiederabgedr. in: Kleine Schriften, S. 164–208) rechnete H. mit Hegel ab, indem er die Ableitung des Empirischen aus dem begriffl. Denken verurteilte. Allerdings blieben seine Methoden durchaus hegelianisch, womit er die Anerkennung der philologisch ausgerichteten Germanistik nie gewinnen konnte. Zudem stand H.s außerordentlich starke Eitelkeit einem karrierefördernden Kompromiss entgegen. H.s Junghegelianismus war durch seine ital. Erfahrungen entschieden geläutert worden. Die Begegnung mit Theodor Mommsen, Wilhelm von Giesebrecht, Ernst Curtius u. Heinrich Brunn verstärkte sein Interesse an der antiken u. modernen Kunst. In die gleiche Zeit fallen seine Freundschaften mit Fanny Lewald, Adolf Stahr u. vor allem mit Friedrich Hebbel. Aus dem Philosophen wurde ein historisch geschulter Kunstbetrachter, der an einer grundsätzlich idealistischen Position festhielt. Er erkannte in Goethes Wirken den Höhepunkt der bisherigen literar. u. philosophischen Entwicklung: Aufgabe der eigenen Zeit sei, »diese Emanzipation der freien Individualität, des reinen Menschentums, die Goethe bloß subjektiv, in seiner eigenen Bildung durchgeführt hatte, zum Eigentum und Lebenselement aller zu machen«. In einer Abhandlung über Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhang mit Göthe und Schiller (Braunschw. 1850) – der Vorstufe zur dritten Abteilung seines Hauptwerks Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts – unter-
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suchte H. die Verwandtschaft von Sturm und Drang, Klassik u. Romantik, die er in ihrem Verhältnis zur gesellschaftl. Lage in Deutschland begründet sah. Er rügte den »falschen Idealismus« der Romantik: Eine »neue Glanzzeit unserer Kunst und Poesie« sei erst durch die Überwindung der polit. u. gesellschaftl. Bedingungen des Verfalls möglich. Zwei Jahre später veröffentlichte er prakt. Vorschläge zur künstlerischen Erneuerung in seiner einzigen sich mit zeitgenöss. Literatur befassenden Schrift Das moderne Drama (Braunschw. 1852. Bln. 1924), einem »Katechismus« zur Belehrung der »heutigen Dramatiker« nach den Vorbildern Sophokles, Shakespeare u. Calderón. Er forderte jedoch keine Rückkehr zur Klassik, sondern eine zeitgemäße Weiterentwicklung der dt. Nationalliteratur. Das übergreifende Thema beider Werke bildet der Zusammenhang von Kunst u. Gesellschaft, die Wechselwirkungen zwischen künstlerischem Schaffen u. gesellschaftl. Leben. Die Freundschaft mit dem Mediziner Jacob Moleschott wirkte anregend auf H.s erfolgreiche Vorlesungen in Heidelberg. Er las über Ästhetik, neuere Poesie u. bildende Kunst u. über Spinoza. Hörer in der Spinoza-Vorlesung war Gottfried Keller, der sich zunächst mit H. in der Begeisterung für Feuerbach zusammenfand – 1848 besuchten beide die Heidelberger Religionsvorlesungen des Philosophen – u. den mit H. schließlich eine lebenslange Freundschaft verband. In Heidelberg fasste H. seinen Plan einer Geschichte der Aufklärung. Unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution von 1848 dachte der Liberale zuerst daran, »die alte geächtete Aufklärungsphilosophie wieder geschichtlich zu Ehren zu bringen«. Hieraus entstand in Dresden sein sechsbändiges Hauptwerk, die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts (Braunschw. 1856–70), deren vierbändiger Hauptteil Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert noch zu Lebzeiten H.s mehrfach revidiert u. in Auszügen (Goethe und Schiller. 2 Bde., Braunschw. 1870) erschien. Methodisch ist diese »Geschichte der Ideen und ihrer wischenschaftlichen und künstlerischen Formen« durch einen geistesgeschichtl. – in dieser übergreifenden Weise
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zuerst von H. entwickelten – Ansatz gekennzeichnet, der die Synthese seiner Hegelu. Feuerbach-Rezeption darstellt. Die Aufklärung wird verstanden als literar. u. philosophische Ideenbewegung in der Nachfolge von Reformation u. Renaissance. Die ersten Anfänge erkannte H. im England des späten 17. Jh., in den naturwissenschaftl. Theorien Newtons, im Deismus, in der freiheitl. Staatsverfassung. Die zweite Phase verlagert sich nach Frankreich, wo Ökonomisten, Enzyklopädisten u. Materialisten die Aufklärung systematisieren u. politisieren. Die Darstellung der religiösen u. geistigen Kämpfe der nun folgenden dt. Aufklärung, die für H. auch den Rahmen für den Sturm und Drang u. die Klassik bildeten, unterstreicht die zentrale Bedeutung Spinozas u. des Deismus innerhalb der geistigen Bewegung. In der dt. Aufklärung, ihrem Ausgang in der Philosophie Kants u. im Humanitätsideal der Weimarer Klassik sah H. den Höhepunkt u. die Vollendung der Bewegung. Die mangelhafte staatl. u. nationale Entwicklung habe jedoch die Klassik zu manieristischer Antikisierung verdammt. An dieser, im Grunde immer noch gültigen u. der heutigen Germanistik geläufigen Periodisierung der ideengeschichtl. Abfolge lässt sich die beispiellose Wirkung der H.schen Literaturgeschichte in der Öffentlichkeit ermessen. Zwar sind viele Passagen keine originalen Leistungen H.s u. heute gründlich revidiert, wie etwa die von Schiller u. den Frühromantikern übernommene missgünstige Darstellung Wielands; doch ist zu der Darstellung des Gesamtzusammenhangs u. der zeitl. Begrenzung des Aufklärungszeitalters seit H. nichts grundlegend Neues oder ganz Abweichendes hinzugekommen. In seinem letzten großen Werk, den Italienischen Studien. Zur Geschichte der Renaissance (Braunschw. 1879), untersuchte H. die Wurzeln der europ. Aufklärung, auf die er in seinen vorhergehenden Arbeiten immer wieder abgehoben hatte. Hier analysierte er die Genese der »großen Ideen reinen und freien Menschendaseins«, die in den »großen Bildungskämpfen« des 18. Jh. wiederaufgenommen wurden u. die H. als Erbe u. zgl. Aufgabe seiner eigenen Zeit betrachtete.
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Weitere Werke: Vorschule zur bildenden Kunst der Alten. 1: Die Kunst der Griechen. Oldenb. 1848. – Griech. Reiseskizzen. Braunschw. 1854. – Robinson u. die Robinsonaden. Braunschw. 1859. – Schr.en zur Lit. Bln./DDR 1959. – Der Briefw. zwischen Gottfried Keller u. H. H. Bln./DDR 1964. – Schr.en zur Lit. u. Philosophie. Ffm. 1967. Literatur: Wilhelm Creizenach: H. H. In: ADB. – Jacob Moleschott: H. H.s Morgenrot. Gießen 1883. – Adolf Stern: H. H. Ein Lebensber. Lpz. 1885. – Ewald A. Boucke: Aufklärung, Klassik u. Romantik. Eine krit. Würdigung v. H. H.s ›Literaturgesch. des 18. Jh.‹. Braunschw. 1925. – Heinz Otto Burger: H. H. In: NDB. – Gotthard Erler: Einf. In: H. H.: Gesch. der Dt. Lit. im 18. Jh. Neudr. 2 Bde., Bln./Weimar 1979, S. XI–LXXIV. – Michael Schlott: H. H. Idealistisches Bildungsprinzip versus Forschungsimperativ. Zur Karriere eines ›undisziplinierten‹ Gelehrten im 19. Jh. Tüb. 1993. – Michael Angel: Prutz, H. u. Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdarstellung u. philolog. Quellenkritik. Tüb. 2003. – M. Schlott: H. H. In: IGL. Joachim Whaley
Heumann, Christoph August, Pseud. Gustavus Ferrarius, Gustavus Iansonius, Sebastianus Stadelius, * 3.8.1681 Allstedt bei Sangerhausen, † 1.5.1764 Göttingen. – Philologe, Philosoph, Theologe. Das Kind einer evang.-luth. Pfarrersfamilie besuchte die Schule seiner Heimatstadt u. 1696–1699 die Gymnasien in Saalfeld u. Zeitz. Es folgte ein Studium an der Universität Jena, wo H. 1702 den Magistergrad erwarb. Das Thema der Disputation De duellis principum habe er selbst gewählt u. in drei Monaten selbstständig ausgearbeitet, berichtet H. rückblickend (die Arbeit ging also nicht, wie damals üblich, auf den Präses der Disputation zurück). Unabhängigkeit u. Selbstständigkeit des Denkens waren zeitlebens H.s Anspruch. Sie orientierten den gelehrten Umgang mit den von ihm bearbeiteten philosophischen u. theolog. Traditionsbeständen. 1703 erhielt er, mit einer Disputation über Epiktet (De vita et philosophia Epicteti), die Befugnis, Vorlesungen in Jena zu halten. Doch waren dem selbstständigen Denken in seiner Zeit enge Grenzen gesetzt. H. musste das früh erfahren. 1705 unternahm er eine Reise durch die Niederlande, die er
später, in seinem Conspectus reipublicae literariae (Hann. 1718), als jenes Land neben England beschrieb, von dem die neuzeitl. »libertas philosophandi« ausgegangen sei. In den Niederlanden traf H. u. a. mit Pierre Bayle u. Jean le Clerc zusammen u. ließ sich von einem noch lebenden Bekannten Spinozas dessen Lehre erklären, wie aus dem autobiogr. Bericht hervorgeht, den Georg Andreas Cassius zusammen mit weiteren Dokumenten zu Leben u. Werk in Auszügen nach H.s Tod publizierte (Ausführliche Lebensbeschreibung des um die gelehrte Welt Hochverdienten D. Christoph August Heumanns. Kassel 1768). Zurück in Jena, veröffentlichte H. eine Dissertatio de fato uxoris Loti (Jena 1706. Erw. 1708 u. 1726/27), in der er, inspiriert von Bayles skeptischer u. le Clercs philolog. Kritik, bezweifelte, dass Lots Frau zur Salzsäule erstarrt sei. Das entscheidende Argument war neben der Überlieferungskritik die Vernunftwidrigkeit der Stelle. H.s Universitätskarriere war damit zunächst beendet. Erst nach 25 Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrer u. Schulorganisator in Eisenach u. (ab 1717) in Göttingen erhielt H., nachdem er 1728 an der Univ. Helmstedt zum Dr. theol. promoviert worden war u. Rufe u. a. an die Universitäten Jena u. Helmstedt abgelehnt hatte, 1734 einen Lehrstuhl für »historia literaria« u. eine außerordentl. (seit 1745 ordentl.) theolog. Professur an der neu gegründeten Göttinger Universität. Doch stieß er auch in Göttingen an die Grenzen theolog. Lehrfreiheit. 1758 wurde er auf Druck der Theologischen Fakultät u. des Ministeriums vorzeitig emeritiert, nachdem er öffentlich die reformierte Abendmahlslehre als einzig wahre bezeichnet hatte. Einen Eklat vermied H., indem er sein Urteil revidierte. Die Emeritierung wurde daraufhin, unter Beibehaltung von Gehalt u. Dienstwohnung, in Ehren gewährt u. mit H.s Alter begründet. Bereits 1714 hatte er ein solches Lavieren in Der Politische Philosophus (Ffm. u. Lpz. 1714. 31724. Nachdr. Ffm. 1972) als strateg. Mittel polit. Klugheit gerechtfertigt. Doch sorgte H. dafür, dass seine Überzeugung zumindest postum publik werden konnte. Er verfasste zu diesem Zweck den Erweiß, daß die Lehre der Reformirten Kirche von der Heil. Abendmahle die
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rechte und wahre sey, den der reformierte Berliner Hofprediger August Friedrich Sack kurz nach H.s Tod herausgab (Eisleben u. Wittenb. 1764). Die Schrift provozierte zahlreiche luth. Gegenschriften u. firmiert in der Theologiegeschichtsschreibung als »Heumann’scher Abendmahlstreit«. In welchem Maß H. jenseits dieser späten dogmat. Wende mit seinen bibelexegetischen Arbeiten, die er in vielen kleinen Schriften, gesammelt als Parerga critica (Jena 1712) u. Poecile (3 Bde., Halle 1722–32), veröffentlichte, an der Formierung der histor. Bibelkritik mitwirkte, ist noch näher zu erforschen. Walter Sparn hat hierfür wichtige Anstöße gegeben. H. gehört zu den interessantesten u. produktivsten Gelehrten der dt. Frühaufklärung. Er stand mit zahlreichen dt. u. europ. Gelehrten in regem Briefwechsel, wovon u. a. etwa 3000 Briefe an ihn in der GottfriedWilhelm-Leibniz Bibliothek Hannover zeugen (bereits zu Lebzeiten hatte er seine gelehrte Korrespondenz testamentarisch der damaligen Königlichen Bibliothek Hannover überlassen). Unzählige Rezensionen (annährend 500 erschienen allein 1710–1747 in den Leipziger »Acta Eruditorum«) u. mehrere hundert kleinere Abhandlungen, Disputationen, Dissertationen, Programmata, außerdem Herausgaben, Übersetzungen u. historisch-philolog. Kommentare antiker Texte u. der Bibel belegen die Vielfalt u. Intensität, mit der sich H. an den philolog., histor., philosophischen u. theolog. Debatten seiner Zeit beteiligte. Sein erfolgreichstes Buch war der Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam literariam (7. u. letzte Aufl. zu Lebzeiten Hann. 1763), eine Wissenskunde als Heuristik der Orte (Bibliothek), Instrumente (Bibliografie), Methoden (v. a.: Fähigkeit zur Auswahl) u. der Geschichte des gelehrten Wissens. H., in Göttingen erster Lehrstuhlinhaber der »historia literaria« in Deutschland, hat das Modell der »historia literaria« als Instrument der Eklektik, als krit. Selbstdenken, u. als Programm profiliert, nach dem universitäre Wissenschaft nicht mehr an wenige autoritative Texte gebunden ist, vielmehr ein offenes, problemorientiertes Forschungsfeld darstellt. Der Conspectus diente an vielen protestantischen dt. Universitäten als
Heumann
Lehrbuch u. wurde auch bei Privatunterweisungen, etwa von Christoph Martin Wieland, benutzt. Am wirkungsreichsten war H. als Erneuerer der Philosophiegeschichte. In seinen Acta Philosophorum (3 Bde., Halle 1715–27), Rezensionsorgan u. zgl. Projekt eines umfassenden Archivs zur Geschichte der Philosophie, »kommt die Philosophiegeschichte zu sich selbst und sucht in den Besitz ihres spezifischen Gegenstandes zu gelangen« (Braun). H. ging es um die Autonomie der Philosophie als Errungenschaft menschl. Vernunft. Nicht heilige Männer wie die bibl. Patriarchen haben die Philosophie erfunden, lautet seine gegen die traditionelle Vorstellung urspr. Wissensvollkommenheit ausgearbeitete These. Die Philosophie bildete sich erst bei den Griechen in einer vernunftorientierten Schule der Freiheit aus. H. verlieh der Figur des griech. Ursprungs der Philosophie bes. Signifikanz. Sie orientiert die philosophiegeschichtl. Synthese bis heute, beginnend mit H.s Schüler Johann Jacob Brukker, dem Verfasser der für die europ. Aufklärung mustergültigen Philosophiegeschichte. Weitere Werke: Weitgehend vollst. Verzeichnisse bei Cassius (s. o.) u. Matthias Freudenberg (in: Bautz 18, 2001, Sp. 614–635). Literatur: Lucien Braun: Histoire de l’histoire de la philosophie. Paris 1973. Dt.: Gesch. der Philosophiegesch. Übers. v. Franz Wimmer, bearb. v. Ulrich Johannes Schneider. Darmst. 1990, bes. S. 109–126. – Mario Longo: Historia philosophiae philosophica. Teorie e metodi della storia della filosofia tra Seicento e Settecento. Milano 1986, bes. S. 67–90. – Inge Mager: Die theolog. Lehrfreiheit in Göttingen u. ihre Grenzen. Der Abendmahlskonflikt um C. A. H. In: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hg. Bernd Möller. Gött. 1987, S. 41–57. – Walter Sparn: Philosophische Historie u. dogmat. Heterodoxie. Der Fall des Exegeten C. A. H. In: Histor. Kritik u. bibl. Kanon in der dt. Aufklärung. Hg. Henning Graf Reventlow u. a. Wiesb. 1988, S. 171–192. – Günter Mühlpfordt: Ein kryptoradikaler Thomasianer: C. A. H., der Thomasius v. Göttingen. In: Christian Thomasius 1655–1728. Interpr.en zu Werk u. Wirkung. Hg. Werner Schneiders. Hbg. 1989, S. 305–334. – Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Gesch. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jh. Hbg. 2003, bes. S. 96–131. – Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgesch. Philosophiegesch. zwischen Barock
Heune u. Aufklärung, Tüb. 2004, bes. S. 355–396. – Kaspar Risbjerg Eskildsen: How Germany Left the Republic of Letters. In: Journal of the History of Ideas 65 (2004), S. 421–432. – Sicco LehmannBrauns: Neukonturierung u. methodolog. Reflexion der Wissenschaftsgesch. H.s Conspectus reipublicae literariae als Lehrbuch der aufgeklärten Historia Literaria. In: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. u. 18. Jh. Hg. Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Bln. 2007, S. 129–160. Helmut Zedelmaier
Heune, Hüne, Hühne, Johannes, latinisiert: J. Gigas, * 22.2.1515 Nordhausen, † 12.7. 1581 Schweidnitz. – Neulateinischer Dichter, evangelischer Prediger, Kirchenlieddichter. Der Sohn von Niklas Heune u. Ursula, geb. Rieß, empfing den ersten Unterricht in Nordhausen bei Johann Spangenberg, dann seit Ostern 1530 bei Georg Major in Magdeburg. 1535 bezog er die Universität Wittenberg. Hier befreundete er sich mit seinem Lehrer Justus Jonas sowie mit Melchior Acontius, Georg Aemilius, Georg Sabinus u. Johann Stigel. 1537–1539 studierte er in Leipzig, wo er 1538 Georg Fabricius kennen lernte. Über Nordhausen kehrte er im Mai 1540 nach Wittenberg zurück. Bereits im folgenden September erwarb er dort den Magistertitel. Die lat. Dichtungen, die H. in dieser Zeit veröffentlichte, sind nach eigener Angabe besonders Eobanus Hessus u. Euricius Cordus verpflichtet. Nach Epicedien auf Johann II. von Sachsen u. Erasmus von Rotterdam (Lpz. 1537) erschien – zusammen mit einer Elegie u. einem Dialog über die Verachtung der humaniora u. der Dichtkunst – das Encomion Lipsiae (Lpz. 1538). In der Querela novem Musarum de nonnullorum erga ipsas ingratitudine (Lpz. 1539), in der die Musen in jeweils anderem Versmaß auftreten, beklagt sich H. über die erot., invektiv. Dichtungen der Zeitgenossen (insbes. die des Simon Lemnius) u. befürwortet eine Poesie im Dienste Gottes. Hymnen, Epigramme, Epicedien u. Epitaphe sammelte er in Sylvarum libri IIII (Wittenb. 1540). Ein autobiogr. Gedicht an den Leser beschließt die Sammlung. Seit 1540 als Schulmeister in Joachimsthal tätig, wurde H. 1542 Rektor der Lateinschule
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in Marienberg (Meißen). Am 29.6.1543 heiratete er Magdelena Pfeil, die Stieftochter des Joachimsthaler Bürgermeisters Wolf Wiebel. Kurz nachdem er im April 1544 die Hymni aliquot et innocua poemata in den Druck gegeben hatte (Lpz. 1544), ging H. als Rektor an die neu gegründete Landesschule Pforta bei Naumburg (Saale). Dort hielt er es jedoch nicht lange aus. Schon zu Michaelis 1545 verließ er Pforta u. wurde um die Jahreswende Pfarrer in Freystadt (Niederschlesien). In den 27 Jahren, die er dort wirkte, veröffentlichte er die Abhandlung De certitudine religionis christianae (Frankf./O. 1551), die 1558 in dt. Übersetzung erschien, sowie viele Predigten, die bis ins 17. Jh. gelesen wurden. Besondere Beliebtheit genoss seine Postilla der Sontags Euangelien vnd etlicher Festen (Stettin 1570. Erw. Frankf./O. 1571 u. 1575). Von Schwermut geplagt, siedelte H. 1573 als Oberpfarrer nach Leutmannsdorf über. 1575 zog er nach Schweidnitz, wo zwei seiner Schwiegersöhne als Prediger wirkten. Hier gab er seine letzten Predigten heraus, darunter Passion vnd Triumph unsers Herrn vnd Heylands Jhesu Christi geprediget zur Schweidnitz [...] anno 1576 zu guter Nacht (Frankf./O. 1577) u. XIX kurtze Valet oder Letzpredigten über Luthers Katechismus (Frankf./O. 1577. Neudr. als Catechismus, Frankf./O. 1578 u. ö.). Während seiner Tätigkeit als Pfarrer hat H. auch dt. Kirchenlieder gedichtet, wovon einige oft gesungen wurden: »Ach lieben Christen, seid getrost«, »Ich armer Mensch gar nichtes bin« (nach einem lat. Text Melanchthons) u. »Ach wie elend ist unser Zeit«. Ausgaben: Wackernagel 4, Nr. 257–261. – Otto Clemen: Zwei Schulmeisterbriefe von 1541 u. 1542. In: Neue Jbb. für Pädagogik 10 (1907), S. 465–470. Neudr. in: Ders.: Kleine Schr.en zur Reformationsgesch. 2. Lpz. 1983, S. 429–434. – Theodor Wotschke (Hg.): Briefe aus Schlesien an Paul Eber. In: Correspondenzbl. des Vereins für Gesch. der evang. Kirche Schlesiens 13 (1912), S. 1–55. – Heinz Scheible (Hg.): Melanchthons Briefw. Stgt.-Bad Cannstatt 1977 ff., Nr. 6048 (Brief vom 5.4.1551). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: H. E. Schmieder: Erinnerungs-Bl. Zur dritten Jubelfeier der Kgl.-Preuß. Landes-Schule Pforte. Lpz. 1843. – Eduard Jacobs: Der geistl. Liederdichter J. H. In: Ztschr. des Harz-Vereins für Gesch. u. Alterthumskunde 2 (1869), S. 204–207. – Heinrich
387 Kaemmel: J. Gigas (Heune). In: ADB. – Georg Loesche: Johannes Mathesius. Gotha 1895. Neudr. Nieuwkoop 1971, 1, S. 176–178; 2, S. 337 f. – Otto Clemen: Zur ältesten Gesch. von Schulpforta. In: Mitt.en der Gesellsch. für dt. Erziehungs- u. Schulgesch. 17 (1907), S. 238–241. Neudr. in: Ders.: Kleine Schr.en zur Reformationsgesch. 3. Lpz. 1983, S. 42–45. – Ellinger 2, S. 114–117. – Otto Albrecht: Ein altes Gebetslied des Melanchthon-Schülers Johann Gigas (1514–1581). In: Ztschr. des Vereins für Kirchengesch. der Provinz Sachsen u. des Freistaates Anhalt 31/32 (1936), S. 47–52. – Leonhard Radler: Das Schweidnitzer Franziskanerkloster im Besitz der Evangelischen. In: Jb. für schles. Kirchengesch. (1970), S. 41–43. – Martin Rößler: Die Liedpredigt. Gött. 1976, S. 78–82, 297–298. – Ders.: Bibliogr. der dt. Liedpredigt. Nieuwkoop 1976, S. 22 f., 43. – Erika Kartschoke (Hg.): Repertorium deutschsprachiger Ehelehren der Frühen Neuzeit 1/1. Bln. 1996, Nr. 42, S. 96 f. – Walther Ludwig: Musenkult u. Gottesdienst. In: Ders. (Hg.): Die Musen im Reformationsalter. Lpz. 2001, S. 28, 33–35. – Melanchthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. H. Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 146 f. Harry Vredeveld
Heuschele, Otto, * 8.5.1900 Schramberg/ Württemberg, † 16.9.1996 Waiblingen/ Württemberg. – Lyriker, Erzähler, Essayist, Herausgeber. H., Sohn eines Gärtners, lebte seit 1902 in Waiblingen. Nach dem Studium der dt., frz. u. engl. Literatur, Philosophie u. Kunstgeschichte in Tübingen u. Berlin arbeitete er als Verlagslektor u. war seit 1925 als freier Schriftsteller tätig. Ab 1943 unterrichtete er nebenberuflich Deutsch u. Geschichte an einem Gymnasium in Waiblingen. 1970 wurde H. zum Professor h. c. ernannt. Gemeinsamer Bezugspunkt im Schaffen des von der dt. Klassik u. Romantik, von Hölderlin, Stifter u. Hofmannsthal geprägten u. den Werten eines europ. Humanismus verpflichteten Autors ist die Bewahrung u. Vermittlung des geistigen Erbes u. dessen Verlebendigung in der Gegenwart. Diesem Ziel dient v. a. das umfassende essayistische u. herausgeberische Werk, dessen Anfänge (Briefe aus Einsamkeiten. Lpz. 1924. Im Wandel der Landschaft. Tüb. 1926) von Zweig u. Hofmannsthal begrüßt wurden u. das seither in allen Darstellungsformen – literar. Porträts, Essays zu Problemen von
Heuschele
Kultur u. Ethos, Herausgabe von Briefsammlungen (Soldaten-, Trost-, Reisebriefe), Anthologien (darunter das damals viel beachtete Lyrik-Jahrbuch Die Ausfahrt. Lpz. 1927), Auswahlbänden u. Brevieren – stets auf einen Kulturbegriff konzentriert ist, in dem heimatbezogene, nationale u. weltgültig-humane Aspekte verschmolzen sind (z.B. Geist und Nation. Bln. 1940. Geisteserbe aus Schwaben 1700–1900. Stgt. 1943. 31986. Weg und Ziel. Heidenheim 1959). H.s lyr. Werk ist der poetischen Beschwörung von Natur- u. Lebensmächten zugewandt u. äußert sich in freirhythm. Versgestalt. In Erzählungen u. Romanen gestaltet H. den Schicksalsweg junger Menschen, v. a. Angehöriger der Kriegsgenerationen, zu einem sinnerfüllten Leben (Die Sturmgeborenen. Stgt. 1938. Leonore. Stgt. 1939. 71949. Ins neue Leben. Stgt. 1950), den Konflikt zwischen gefährdenden u. heilenden Kräften in Kunst u. Leben u. das Geheimnis des Menschlichen, z.T. im Stil eines »magischen Realismus« (Der Knabe und die Wolke. St. Gallen 1951. Am Abgrund. Mühlacker 1961. Die Nacht des Prinzen Eugen. Gerabronn/Crailsheim 1979). In Essays u. Reiseskizzen bekennt sich H. zur Schönheit der Natur, ihrer Erhaltung u. Pflege. Weitere Werke: Dank an das Leben. Nachw. Herbert Meyer. Freib. i. Br./Mchn. 1950. – Die Gaben des Lebens. Gesch. einer Jugend. Heidenheim 1957 (Autobiogr.). – Inseln im Strom. Mühlacker 1965 (E.en). – Prisma. Mühlacker 1970 (L.). – Umgang mit dem Genius. Pullach 1974 (Ess.s). – Schwäb.-fränk. Impressionen. Nachw. Walter Riethmüller. Mühlacker 1980 (Landschaftsbuch). – Im Herzen der Welt. Einf. Heimo Schwilk. Asendorf 1986 (Ess.s). Literatur: Bibliografie: O. H. Schwäbisch Gmünd 1972. – Weitere Titel: Walter Mönch: Brücke über den Zeiten. Stgt. 1960. – Dino Larese: O. H. Amriswil 1965. – Otto Bantel: O. H./Bewahrer des Erbes, Künder des Eigenen. Stgt. 1970 (Privatdr.). – Erwin Jaeckle: Bürge O. H. In: O. H.: Das Unzerstörbare. Schwäbisch Gmünd 1971. – Walter Riethmüller: Wegmarken. Schramberg 1971. – Dittker Slark: Natur u. Geist. O. H. zum 95. Geburtstag. Darmst. 1995. – Bernhard Zeller: Überlieferung u. Auftrag. Zum Tode von O. H. In: Jb. der dt. Akademie für Sprache u. Dichtung 1997, S. 199 f. Walter Riethmüller / Red.
Heusenstamm
Heusenstamm zu Heißenstein und Gräfenhausen, Heussenstamm, Theodor Graf von, auch: Theodor Stamm, * 12.3.1801 Wien, † (24.?)25.5.1889 ebd. – Lyriker, Dramatiker, Epiker, Kritiker.
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dem Tod auf dem Hesperus in ätherischen Stimmungsbildern, wobei er myth. u. myst. Vorstellungen verbindet. Mit diesem Werk beginnt H.s produktivste Zeit. Mit Hilfe Lenaus publizierte er ein Jahr später seine an Klopstock, Goethe u. Heine geschulten Gedichte (Lpz.) u. schrieb vier Dramen im Stil Shakespeares, Schillers u. Halms, wobei zunächst nur das umfangreiche heroische Jambendrama Ein weibliches Herz 1840 im Burgtheater aufgeführt u. zwei Jahre später gedruckt wurde. Die anderen drei erschienen als Lesedramen erst 40 Jahre später. Hervorzuheben ist sein letztes Drama Die wunderlichen Pilger (Lpz. 1884), ein fantastisches Lustspiel in Shakespeare’scher Manier, das durch seine ungezwungene Leichtigkeit, seine plast. Figuren u. pointierten Dialoge besticht. Den Höhepunkt in H.s literar. Schaffen bilden die von Jean Paul, E. T. A. Hoffmann u. vielleicht auch von Boccaccio beeinflussten Novellen, die alle um das Thema Eros u. Thanatos kreisen. Ihr bes. Reiz liegt in der genauen Beschreibung komplizierter ›Seelenstände‹. Liebevoll schildert H. Wien bei Tag u. bei Nacht u. weist mit seiner gefühlvollen Art der Darstellung schon auf die Novellistik Ferdinand von Saars voraus. Auch prägt er bereits den Typus des süßen Mädels, den später Arthur Schnitzler ausbauen wird. In den 1880er Jahren trat H. nochmals mit den beiden Anthologien Im Abendstrahl. Dichtung und Betrachtung (2 Tle., Lpz. 1880–84) u. Maske und Lyra (Lpz. 1885) an die Öffentlichkeit.
Der Sohn eines niederösterr. Regierungsrats aus altadligem Geschlecht konnte sich aufgrund der familiären Vermögensverhältnisse zeitlebens einer ›vita contemplativa‹ widmen. Nach dem Gymnasium studierte er an der Univ. Wien u. besuchte die Akademie der bildenden Künste. Abgesehen von Bildungsreisen nach Deutschland, Italien u. Frankreich 1832–34 hat H. Wien nie verlassen. Er lebte sehr zurückgezogen u. starb fast völlig vergessen. Selbst von weicher u. empfindsamer Natur, fühlte sich H. stark zu seiner Mutter hingezogen. Nach ihrem Tod nahm Caroline Unger, die H. in Paris kennen lernte, ihre Stelle ein u. vollendete seine Erziehung, indem sie ihn von einem ästhetisch beschränkten Egoismus zu einem umfassenden Altruismus läuterte. In der enthusiastischen Skizze Die Primadonna (1844) setzte er der Sängerin ein literar. Denkmal. Obwohl zeitgenöss. Dichter wie Lenau, Anastasius Grün u. Marie von Ebner-Eschenbach H. schätzten u. mit ihm persönlich befreundet waren, fand er mit seinen stark autobiogr. gefärbten Werken keine Anerkennung. Sich selbst betrachtete er nicht als Prophet einer neuen Kunst, sondern als »Seelsorger einer kleinen Gemeinde«. Als rezeptiver Dichter der leisen Töne versuchte Werke: Ges. Werke. Hg. A. Mayer v. der Wyde u. er sich in allen drei Gattungen, wobei er über Otto Walzel. 6 Bde., Wien 1897–1900. einen gewissen Dilettantismus nicht hinausLiteratur: A. Mayer v. der Wyde: T. Graf zu H. kam. Gelungen u. innovativ dagegen sind In: Neue Freie Presse. Abendblatt 9480, 16.1.1891, seine scharfsichtigen Kritiken wie etwa der S. 4. – Goedeke Forts. Carolin Maikler Aufsatz Ferdinand Raimund und die Leopoldstadtbühne (1828), mit dem H. zum ersten Mal Heuss, Theodor, auch: Thomas Brackenan die Öffentlichkeit trat. Sein nachfolgendes heim, * 31.1.1884 Brackenheim bei Heidichterisches Debüt Schattenrisse aus Giulio’s delberg, † 12.12.1963 Stuttgart; GrabLeben (Mchn. 1832), ein wirrer Roman in stätte: ebd. Waldfriedhof. – Politiker, Briefen, steht noch ganz im Zeichen von Jean Journalist u. Biograf. Pauls schwärmerischer Gefühlsromantik, ebenso sein Epos Hesperus (Wien 1844), »die Der Sohn eines Regierungsbaumeisters studuftigste und phantasievollste Schöpfung dierte Nationalökonomie u. Literatur in H.s«. Am Sarg der verehrten Mutter dazu München (wo er u. a. Freundschaft mit Lulu inspiriert, skizziert H. in diesen drei Gesän- von Strauß und Torney schloss) u. in Berlin; gen Liebe, Trennung u. Wiederfinden nach er promovierte in Nationalökonomie bei Lujo
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Hevelius
Brentano. In den folgenden Jahren gehörte H. von Randfiguren der Geschichte – so der prozu den engsten Mitarbeitern Friedrich Nau- grammat. Untertitel der Sammlung Schattenmanns, dessen Wochenschrift »Die Hilfe« er beschwörung (Stgt. 1947. Tüb. 1999). 1905–1912 leitete. Anschließend war er Weitere Werke: Weinbau u. Weingärtnerstand Chefredakteur der »Neckar-Zeitung« u. in Heilbr. am Neckar. Heilbr. 1906 [zugl. Diss. Schriftleiter der von Ludwig Thoma u. Her- Mchn. 1905]. Brackenheim 2005. – Friedrich Naumann Hesse herausgegebenen Zeitschrift mann. Der Mann, das Werk, die Zeit. Stgt. 1937. – »März«. 1908 heiratete er die Sozialpolitike- Hans Poelzig, Bauten u. Entwürfe. Das Leben eines rin Elly Knapp. Seit 1918 arbeitete H. ge- Baumeisters. Bln. 1939 (1941 verboten). – Anton Dohrn. Stgt. 1940. – Justus v. Liebig. Vom Genius meinsam mit Axel Schmidt in Berlin als der Forsch. Hbg. 1942. – Robert Bosch. Leben u. Schriftleiter der Wochenschrift »Deutsche Werk. Stgt. 1946. Erw. Neuausg. 2002. – Dt. GePolitik«, von 1923 an als Redakteur der von stalten. Studien zum 19. Jh. Stgt. 1947. – Johann Harry Graf Kessler mitherausgegebenen Peter Hebel. Tüb. 1952. – Hugo v. Hofmannsthal. Zeitschrift »Die deutsche Nation«. Der Ge- Tüb. 1954. – Profile. Tüb. 1964. – T. H. Stuttgarter schäftsführer des »Deutschen Werkbunds« u. Ausg. Briefe. Hg. Stiftung Bundespräsident-TheoMitbegründer der DDP war 1920–1933 Do- dor-Heuss-Haus. Wiss. Leitung: Ernst Wolfgang zent an der Deutschen Hochschule für Politik Becker. Mchn. 2007 ff. Literatur: Margret Boveri: T. H. Die literar. in Berlin, seit 1919 Berliner Stadtverordneter, 1924–1933 (mit Unterbrechung 1928–1930) Gestalt. Stgt. 1954 (mit Bibliogr.). – Theodor Reichstagsabgeordneter der DDP bzw. der Eschenburg: T. H. als polit. Schriftsteller. In: Deutschen Staatspartei. Neben zahlreichen JbDSG 8 (1964), S. 309–323. – Karl Dietrich Bracher: T. H. u. die Wiederbegründung der Demopolit. Reden u. Aufsätzen veröffentlichte der kratie in Dtschld. Tüb. 1965. – Hans Bott: T. H. in engagierte Antifaschist das Buch Hitlers Weg seiner Zeit. Gött. 1966. – Eberhard Pikart: T. H. u. (Stgt. 1932). Nach der Machtergreifung durch Konrad Adenauer. Stgt. 1976. – Hildegard Hammdie Nationalsozialisten wurde ihm, nun Brücher u. a.: T. H. Eine Bildbiogr. Stgt. 1983. – Reichstagsabgeordneter der Gemeinschafts- Horst Möller: T. H. Staatsmann u. Schriftsteller. liste von Staatspartei u. SPD, zunächst die Bonn 1990. – Ekkehard Felder: Kognitive Muster Berliner Dozentur, dann – trotz seiner wi- der polit. Sprache. Eine linguist. Untersuchung zur derwilligen Zustimmung zum Ermächti- Korrelation zwischen sprachlich gefaßter Wirkgungsgesetz – sein Reichstagsmandat entzo- lichkeit u. Denkmustern am Beispiel der Reden v. gen; seine Bücher wurden öffentlich ver- T. H. u. Konrad Adenauer. Ffm. u. a. 1995. – Johannes Werner: Ein Literat in der Politik. Über T. brannt. Bis 1945 arbeitete H. zurückgezogen, H. u. seine Schr.en. In: Aus dem Antiquariat (1995), z.T. pseudonym, als Journalist u. Schriftstel- H. 5, S. A161-A165. – H. im Profil. Hg. Thomas ler. In diesen Jahren entstanden seine biogr. Hertfelder. Stgt. 1997. – Reiner Burger: T. H. als Werke. 1948 wurde H. erster Vorsitzender der Journalist. Beobachter u. Interpret v. vier Epochen FDP, 1949 zum ersten Bundespräsidenten dt. Gesch. Münster 1999. – Reden nach Hitler: T. der BR Deutschland gewählt. H. – die Auseinandersetzung mit dem NationalsoIn seinen meisterhaften Biografien wie zialismus. Hg. Ulrich Baumgärtner. Stgt./Mchn. auch in der von ihm mitherausgegebenen 2001. – Bücher u. ihre Gesch.n. Zur histor.-polit. zweiten Auflage des Sammelwerks Die großen Privatbibliothek v. T. H. Hg. T. Hertfelder. Stgt. Deutschen (5 Bde., Bln. 1956) bemühte er sich 2002. – T. H. Publizist – Politiker – Präsident. Begleitbd. zur ständigen Ausstellung im T.-H.um die Herausarbeitung einer bürgerlichHaus. Hg. T. Hertfelder. Stgt. 2003. demokratischen Tradition; in seinen polit. u. Heinrich Detering / Red. autobiogr. Werken (Vorspiele des Lebens. Tüb. 1953. Erinnerungen 1905–1933. Tüb. 1963) schilderte er Chancen u. Niederlagen der dt. Hevelius, Hevel, Johannes, latinisiert aus: Demokratie zwischen Kaiserreich u. NatioHewelcke, Höwelke, * 28.1.1611 Danzig, nalsozialismus. H.’ literar. Qualitäten zeigen † 28.1.1687 Danzig. – Astronom. sich in seinen histor. Miniaturen u. biogr. Porträts dt. Künstler, Reisender, Forscher, Der Sohn eines wohlhabenden Brauers erhielt Ökonomen u. Politiker u. den Darstellungen eine hervorragende Schulbildung (1618 bis
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1624 u. ab 1627 am Danziger Akademischen Gymnasium; dazwischen, v. a. um das Polnische zu erlernen, in Bromberg), studierte in Leiden (ab 1630), unternahm ausgedehnte Bildungsreisen (1631 London; 1632–1634 Paris u. Avignon), die ihn mit großen Gelehrten zusammenbrachten (Pierre Gassendi, Ismaël Boulliau, Athanasius Kircher) u. führte darauf in seiner Heimatstadt das Leben eines angesehenen Bürgers (1636 Aufnahme in die Brauereizunft, 1649 Übernahme der väterl. Brauerei; 1641 Schöffe, 1651 Ratsherr). Bereits auf dem Gymnasium u. in privatem Unterricht hatte der Mathematiker u. Astronom Peter Krüger (1580–1639) H. in die Astronomie u. die Instrumentenkunde eingeführt. Die mit Krüger unternommenen Beobachtungen setzte H. in Leiden fort u. schöpfte während seiner juristischen Studien auch die dort gegebenen guten Möglichkeiten aus, angewandte Mathematik (speziell Optik u. Mechanik) zu studieren. Am Sterbebett versprach er seinem Lehrer, sich wieder der Astronomie zu widmen, für die er nach seiner Rückkehr keine Zeit mehr gefunden hatte. Mit der Beobachtung der Sonnenfinsternis vom 1.6.1639 begann eine systemat. Beobachtungstätigkeit, die H. zu einem der bedeutendsten beobachtenden Astronomen aller Zeiten werden ließ – in einer eigenen Sternwarte, die insbes. aufgrund der selbstgebauten Instrumente zeitweilig das bedeutendste Observatorium Europas war. Riesige, unhandl. Fernrohre benutzte H. nur für topografische Untersuchungen (des Mondes, der Planeten u. der Sonne), deren Ergebnisse er größtenteils selbst in Kupfer stach. Seine zweite Ehe (1663) mit der reichen, 36 Jahre jüngeren Catharina Elisabetha Koopmann erlaubte ihm nicht nur noch größere Freiheiten bei seinem kostspieligen Hobby; die hochgebildete Frau stand ihm auch bei seinen astronomischen Untersuchungen zur Seite u. besorgte deren Veröffentlichung noch nach H.’ Tod. Sämtliche Werke H.’ erschienen in Danzig. 1664 wurde H. als eines der ersten auswärtigen Mitglieder in die Londoner Royal Society gewählt. 1679 zerstörte ein Feuer die Sternwarteneinrichtung u. einen Großteil der Aufzeichnungen u.
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Druckvorlagen. Umfangreiche Zuwendungen durch Freunde u. Gönner (auch den engl. König u. die Könige von Polen u. Frankreich, die dem Astronomen schon seit 1663 bzw. 1678 Jahrespensionen zukommen ließen) ermöglichten zwar 1681 einen Wiederaufbau, doch erholte sich H. von dem Schock über die Verluste nicht. Die in dem imposanten Erstlingswerk der Selenographia (1647. Neudr. 1967) u. a. enthaltenen 60 Mondkarten für alle Phasen blieben lange unübertroffen, wenn sich auch die vorgeschlagene Nomenklatur nicht durchzusetzen vermochte. H. gab stets Rechenschaft über seine Beobachtungsmethoden; in seinen Werken finden sich immer auch Abbildungen u. Beschreibungen der Geräte, speziell im ersten Teil seiner Machina coelestis (1673. Tl. II: Beobachtungen. 1679. Neudr. 1969). Trotzdem wurde insbes. von Robert Hooke die Genauigkeit seiner Beobachtungen speziell in Cometographia (1668) angezweifelt, da sie mit verbesserten herkömml. Messinstrumenten (großen Sextanten, Oktanten usw., aber auch Uhren u. Pendeln, die er unabhängig von Christiaan Huygens zu einer Pendeluhr mit Sekundenanzeige verband) größer sein sollte – u. tatsächlich auch war – als sie vor John Flamsteed mit teleskopischen Messgeräten erreicht wurde. 1679 konnte Edmond Halley, von der Royal Society zur Prüfung nach Danzig geschickt, H. voll rechtfertigen. Etwa 20.000 geprüfte Messungen, v. a. von Sternpositionen, hatte Teil II der Machina coelestis enthalten; 1685 folgten hauptsächlich Planeten- u. Kometenörter im Annus climacterius. Die größte Bedeutung erlangte jedoch der von H.’ zweiter Frau herausgegebene korrigierte Fixsternkatalog (Prodromus astronomiae. 1690), dessen Daten von Flamsteed als Teil III seiner Historia coelestis Britannica (1725) übernommen wurden; er wurde begleitet von einem Sternatlas (Firmamentum Sobiescianum, sive Uranographia. 1690. Nachdr. Wroclaw 1987), dessen größtenteils von H. selbstgestochene 56 Karten auf viele Himmelsgloben übertragen wurden. /
Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Johann Heinrich Westphal: Leben, Studien u. Schr.en des Astronomen H. Königsb. 1820. Neudr.
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391 Mchn. 1974 (mit Bibliogr.). – Eugene F. McPike: H., Flamsteed and Halley. London 1937. – J. D. North: H. In: DSB. – Ivan Volkhoff u. a.: J. H. and His Catalog of Stars. Provo, UT 1971. – HansJoachim Kämpfert: J. H. Bonn 1987. – On the 300th anniversary of the death of J. H. Hg. Robert Glebocki. Wroclaw u. a. 1992. – Malgorzata Czerniakowska: Sprawy ksiazki w dzialalnos´ci naukowej Jana Heweliusza (Büchersachen in der wiss. Tätigkeit v. J. H.). Gdan´sk 2002 (mit Zusammenfassung in dt. Sprache). – H.-J. Kämpfert: Jan Heweliusz / J. H.: ›Ksiaza astromomil‹ / ›Fürst der Astronomie‹. Hg. Westpreuß. Landesmuseum. Münster 2002. Fritz Krafft /
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Hevesi, Ludwig, auch: Onkel Tom* 20.12. 1843 Heves/Ungarn, † 27.2.1910 Wien; Grabstätte: Wiener Zentralfriedhof, evangelische Abteilung. – Kunstkritiker, Humorist.
1910 in seiner Wohnung in der Wiener Walfischgasse. Weitere Werke: ›Sie sollen ihn nicht haben‹. Heiteres aus ernster Zeit. Lpz. 1871. – Des Schneidergesellen Andreas Jelky Abenteuer in vier Welttheilen. Budapest 1873. – Budapest. Budapest 1878. – Auf der Sonnenseite. Stgt. 1886. – Almanaccando. Bilder aus Italien. Stgt. 1888. – Buch der Laune. Stgt. 1889. – Ein engl. September. Stgt. 1891. – Regenbogen. Stgt. 1892. – Von Kalau bis Säckingen. Stgt. 1893. – Wilhelm Junker. Lebensbild eines Afrikaforschers. Bln. 1896. – Blaue Fernen. Neue Reisebilder. Stgt. 1897. – Die Althofleute. Ein Sommerroman. Stgt. 1897. – Wiener Totentanz. Stgt. 1899. – Der zerbrochene Franz u. andere Gesch.n. Stgt. 1900. – Mac Eck’s sonderbare Reisen zwischen Konstantinopel u. San Francisco. Stgt. 1901. – Österr. Kunst im 19. Jh. Wien 1903. – Ewige Stadt, ewiges Land. Stgt. 1903. – Die fünfte Dimension. Wien 1906 (Humoresken). – Der Zug um den Mund. Neue Humore. Stgt. 1907. – Das große Kleinmalkeins. Hg. Gunther Martin. Wien/Darmst. 1990.
H., Sohn eines Arztes, wandte sich nach Medizin- u. Philologiestudium in Wien dem Literatur: Hermann Bahr: L. H. In: Die Zeit. Journalistenberuf zu. Seit 1866 arbeitete er Bd. 16, Nr. 197 (1898). – Hermann A. L. Degener: als Redakteur beim Pester »Lloyd«, leitete Wer ist’s? Zeitgenossenlexikon. Lpz. 41909. S. 580. 1871–1874 die Jugendzeitschrift »Kleine – Große jüd. National-Biogr. Hg. Salomon WininLeute«, deren sieben erste Bände er komplett ger. Bd. 3, Cerna˘ut¸ i 1928. S. 96 f. – ÖBL. selbst verfasste, u. schrieb ab 1875 für das Kristian Sotriffer / Lea Marquart Wiener »Fremden-Blatt«. Als Kunstkritiker trat er für das von der Gesellschaftsmalerei Hey, Richard, * 15.5.1926 Bonn, † 4.9.2004 der Makart-Zeit Abweichende ein, so für AuBerlin; Grabstätte: Berlin, Friedhof Grußenseiter wie Anton Romako oder Theodor newald. – Dramatiker, Hörspielautor, von Hörmann, den »ersten Secessionisten«. Romancier u. Verfasser von KriminalroFür den Wiener Jugendstil u. vor allem die manen. »Stilisten« der Klimt-Gruppe innerhalb der Sezession (für die er den Wahlspruch »Der H. studierte Musik, Theaterwissenschaften u. Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit« am Philosophie u. arbeitete als FilmregieassisGiebel des Olbrich’schen Gebäudes verfasste) tent, Journalist u. Dramaturg. Seit 1955 war er als Begleiter u. Mitkämpfer von nahm er an den Tagungen der Gruppe 47 teil. Durchgehendes Charakteristikum der litegrößter Bedeutung. Seine als Stimmungs- u. Zeitbilder wertvollen Aufsätze sind in den rar. Arbeiten H.s ist ihr sozial- u. gesellSammelbänden Acht Jahre Secession (Wien schaftskrit. Engagement. Dazu verwendet er 1906. Neudr. Klagenf. 1984) u. Altkunst – vielerlei Verfremdungsmöglichkeiten wie Neukunst (Wien 1909. Neudr. Klagenf. 1986) Groteske, Satire, Allegorie u. Märchen sowie zusammengefasst. Karl Kraus bezeichnete H. bes. auch Szenarien der Sciene-Fiction u. wegen seiner Vielseitigkeit (»Hevesis Metho- scheut auch kolportagehafte Elemente nicht. de war, dass er keine hatte«, Otto Breicha) als In dem Stück Thymian und Drachentod »Confusionsrath der Secession«. H. schrieb (Mchn. 1956. Urauff. Stgt. 1955) beispielsauch Novellen sowie zahlreiche Humoresken weise muss ein Freiheitskämpfer erkennen, (u. a. Das bunte Buch. Stgt. 1898) u. Reisebilder dass das irreale Asylland – leicht als BR (Sonne Homers. Heitere Fahrten durch Griechen- Deutschland zu identifizieren –, in das er aus land und Sizilien. Stgt. 1905). H. erschoss sich dem Nachbarland geflohen ist, letztlich von
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391 Mchn. 1974 (mit Bibliogr.). – Eugene F. McPike: H., Flamsteed and Halley. London 1937. – J. D. North: H. In: DSB. – Ivan Volkhoff u. a.: J. H. and His Catalog of Stars. Provo, UT 1971. – HansJoachim Kämpfert: J. H. Bonn 1987. – On the 300th anniversary of the death of J. H. Hg. Robert Glebocki. Wroclaw u. a. 1992. – Malgorzata Czerniakowska: Sprawy ksiazki w dzialalnos´ci naukowej Jana Heweliusza (Büchersachen in der wiss. Tätigkeit v. J. H.). Gdan´sk 2002 (mit Zusammenfassung in dt. Sprache). – H.-J. Kämpfert: Jan Heweliusz / J. H.: ›Ksiaza astromomil‹ / ›Fürst der Astronomie‹. Hg. Westpreuß. Landesmuseum. Münster 2002. Fritz Krafft /
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Hevesi, Ludwig, auch: Onkel Tom* 20.12. 1843 Heves/Ungarn, † 27.2.1910 Wien; Grabstätte: Wiener Zentralfriedhof, evangelische Abteilung. – Kunstkritiker, Humorist.
1910 in seiner Wohnung in der Wiener Walfischgasse. Weitere Werke: ›Sie sollen ihn nicht haben‹. Heiteres aus ernster Zeit. Lpz. 1871. – Des Schneidergesellen Andreas Jelky Abenteuer in vier Welttheilen. Budapest 1873. – Budapest. Budapest 1878. – Auf der Sonnenseite. Stgt. 1886. – Almanaccando. Bilder aus Italien. Stgt. 1888. – Buch der Laune. Stgt. 1889. – Ein engl. September. Stgt. 1891. – Regenbogen. Stgt. 1892. – Von Kalau bis Säckingen. Stgt. 1893. – Wilhelm Junker. Lebensbild eines Afrikaforschers. Bln. 1896. – Blaue Fernen. Neue Reisebilder. Stgt. 1897. – Die Althofleute. Ein Sommerroman. Stgt. 1897. – Wiener Totentanz. Stgt. 1899. – Der zerbrochene Franz u. andere Gesch.n. Stgt. 1900. – Mac Eck’s sonderbare Reisen zwischen Konstantinopel u. San Francisco. Stgt. 1901. – Österr. Kunst im 19. Jh. Wien 1903. – Ewige Stadt, ewiges Land. Stgt. 1903. – Die fünfte Dimension. Wien 1906 (Humoresken). – Der Zug um den Mund. Neue Humore. Stgt. 1907. – Das große Kleinmalkeins. Hg. Gunther Martin. Wien/Darmst. 1990.
H., Sohn eines Arztes, wandte sich nach Medizin- u. Philologiestudium in Wien dem Literatur: Hermann Bahr: L. H. In: Die Zeit. Journalistenberuf zu. Seit 1866 arbeitete er Bd. 16, Nr. 197 (1898). – Hermann A. L. Degener: als Redakteur beim Pester »Lloyd«, leitete Wer ist’s? Zeitgenossenlexikon. Lpz. 41909. S. 580. 1871–1874 die Jugendzeitschrift »Kleine – Große jüd. National-Biogr. Hg. Salomon WininLeute«, deren sieben erste Bände er komplett ger. Bd. 3, Cerna˘ut¸ i 1928. S. 96 f. – ÖBL. selbst verfasste, u. schrieb ab 1875 für das Kristian Sotriffer / Lea Marquart Wiener »Fremden-Blatt«. Als Kunstkritiker trat er für das von der Gesellschaftsmalerei Hey, Richard, * 15.5.1926 Bonn, † 4.9.2004 der Makart-Zeit Abweichende ein, so für AuBerlin; Grabstätte: Berlin, Friedhof Grußenseiter wie Anton Romako oder Theodor newald. – Dramatiker, Hörspielautor, von Hörmann, den »ersten Secessionisten«. Romancier u. Verfasser von KriminalroFür den Wiener Jugendstil u. vor allem die manen. »Stilisten« der Klimt-Gruppe innerhalb der Sezession (für die er den Wahlspruch »Der H. studierte Musik, Theaterwissenschaften u. Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit« am Philosophie u. arbeitete als FilmregieassisGiebel des Olbrich’schen Gebäudes verfasste) tent, Journalist u. Dramaturg. Seit 1955 war er als Begleiter u. Mitkämpfer von nahm er an den Tagungen der Gruppe 47 teil. Durchgehendes Charakteristikum der litegrößter Bedeutung. Seine als Stimmungs- u. Zeitbilder wertvollen Aufsätze sind in den rar. Arbeiten H.s ist ihr sozial- u. gesellSammelbänden Acht Jahre Secession (Wien schaftskrit. Engagement. Dazu verwendet er 1906. Neudr. Klagenf. 1984) u. Altkunst – vielerlei Verfremdungsmöglichkeiten wie Neukunst (Wien 1909. Neudr. Klagenf. 1986) Groteske, Satire, Allegorie u. Märchen sowie zusammengefasst. Karl Kraus bezeichnete H. bes. auch Szenarien der Sciene-Fiction u. wegen seiner Vielseitigkeit (»Hevesis Metho- scheut auch kolportagehafte Elemente nicht. de war, dass er keine hatte«, Otto Breicha) als In dem Stück Thymian und Drachentod »Confusionsrath der Secession«. H. schrieb (Mchn. 1956. Urauff. Stgt. 1955) beispielsauch Novellen sowie zahlreiche Humoresken weise muss ein Freiheitskämpfer erkennen, (u. a. Das bunte Buch. Stgt. 1898) u. Reisebilder dass das irreale Asylland – leicht als BR (Sonne Homers. Heitere Fahrten durch Griechen- Deutschland zu identifizieren –, in das er aus land und Sizilien. Stgt. 1905). H. erschoss sich dem Nachbarland geflohen ist, letztlich von
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Weitere Werke: Revolutionäre. Urauff. Bln. ähnl. Herrschaftsstrukturen geprägt ist. In der »Komödie« Das Ende des friedlichen Lebens 1953 (D.). – Olga 17. NDR 1956. In: Heinz der Else Reber (Schau- und Hörstücke. Mchn. Schwitzke (Hg.): Das tapfere Schneiderlein. Hbg. 1976. Urauff. Wuppertal 1977) versucht eine 1964 (Hörsp.). – Der Fisch mit dem goldenen Dolch. Urauff. Stgt. 1958. In: Joachim Schondorf ehem. Umweltministerin u. jetzige Bundes- (Hg.): Junges dt. Theater v. heute. Mchn. 1961. – tagsabgeordnete – das 21. Jh. hat gerade be- Weh dem, der nicht lügt. Köln 1962. Urauff. Hbg. gonnen – gegen Vorhaben eines multinatio- 1962 (D.). – Ende gut Alles schlecht. SDR 1972 nalen Konzerns anzugehen. (Hörsp.). – Feuer unter den Füßen. Mchn. 1981 (R.). Auch in den vielgelobten Kriminalroma- – Gipfelgespräch. SDR 1983 (Hörsp.). – Ein unnen, in denen H. es verstand, seine sozial- u. vollkommener Liebhaber. Hbg. 1990 (R.). – Die gesellschaftskrit. Themen in spannende Ge- Löwenbändigerin u. a. Gesch.n. Mchn. 1995. – Das schichten zu integrieren, steht eine Frau im bodenlose Mädchen. Bln. 1999 (R.). Literatur: Karin Tantow-Jung: ›Wachhund u. Mittelpunkt: die Kriminalkommissarin KaNarr‹. Gesellschaftskritik im Kriminalroman der tharina Ledermacher aus Berlin (Ein Mord am Gegenwart am Beispiel der Werke R. H.s. St. IngLietzensee. Mchn. 1973. Engelmacher & Co. bert 1997. – Michael Töteberg: R. H. In: KLG. – Mchn. 1975. Ohne Geld singt der Blinde nicht. Florian Wolfrum: R. H. In: LGL. Walter Olma Mchn. 1980). Im Unterschied zu den Dramen u. bes. zu seinem umfangreichen HörHey, (Johann) Wilhelm, * 26.3.1789 Leina spielœuvre verzichtet H. hier völlig auf forbei Gotha, † 19.5.1854 Ichtershausen; male Experimente. Grabstätte: ebd., Friedhof. – KinderEine Besonderheit seiner Hörspiele sind buchautor. fingierte, Authentizität vortäuschende Dokumentationen. So präsentiert er in Kewin Der Pfarrerssohn besuchte das Gymnasium Hewster Zomala (NDR 1967. In: Das Ende des illustre in Gotha, wo Friedrich Jacobs sein friedlichen Lebens der Else Reber) Tonbandmit- Lehrer war, studierte Theologie in Jena u. schnitte von Ansprachen eines vermeintlich Göttingen u. war nach dem Examen (1811) realen Predigers aus Harlem, dessen Ermor- Haus- u. Hilfslehrer in den Niederlanden u. dung sogar in der Ansage des Hörspiels ver- in Gotha; 1818 wurde er Pfarrer in Töttelmeldet wurde. In Nachtprogramm (NDR 1964) stedt, 1827 Hofprediger in Gotha. 1832 werden angeblich protestierende Höreranru- übernahm H., der rationalistische Tendenzen fe einmontiert. Die akust. Collage ist H.s ablehnte, die Superintendentur u. Bezirkszentrales Gestaltungsmittel. Darüber hinaus schulaufsicht in Ichtershausen u. leitete in verfertigte er für den Rundfunk Hörspiel- dieser Funktion eine Reihe zukunftweisender adaptionen von verschiedenen literar. Best- sozial-karitativer Maßnahmen ein (z.B. Hilfskassen für Handwerker, Fortbildungssellern. H. schrieb auch zahlreiche Film- u. Fern- schulen). Bei Veröffentlichung wenig erfolgreich sehdrehbücher. 1982 legte er einen originellen Science-Fiction-Roman mit literar. An- waren H.s Gedichte (Bln. 1816), die aber noch spruch vor: Im Jahr 95 nach Hiroshima (Hbg.). heute gesungene Kinderlieder wie Weißt du, Sein letztes, 2003 veröffentlichtes Buch Die wieviel Sterne stehen [...] enthalten. Ein Weltschlafende Schöne in Formalin und andere frühe erfolg dagegen wurden seine Funfzig Fabeln für Erinnerungen (Mchn.) besteht aus autobiogr. Kinder mit Illustrationen von Otto Speckter (Hbg. 1833. Neudr. Dortm. 1978. Forts.: Noch Erzählungen, die im »Dritten Reich« u. in der 50 Fabeln für Kinder. Hbg. 1837. Neudr. unmittelbaren Nachkriegszeit angesiedelt Dortm. 1978) durch zahlreiche Übersetzunsind. gen, Bearbeitungen u. Neuillustrationen. H. erhielt u. a. 1960 den Gerhart-HauptNeben Gelegenheitsgedichten für die Kinder mann-Preis, 1964 den Hörspielpreis der seiner Freunde finden sich hier auch gereimte Kriegsblinden (für Nachtprogramm) u. 1997 Szenen, in denen die liebevoll genaue Beobden Ehrenglauser für seine Verdienste um den dt. Kriminalroman.
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achtung von Tieren, häuslicher Umgebung u. Natur im Mittelpunkt steht.
Auflagen. Daneben veröffentlichte er auch unterhaltende Lustspiele u. Liebesromane.
Literatur: Johannes Bonnet: Der Fabeldichter W. H. Gotha 1886. – Arthur Rümann: H.-Speckters 50 Fabeln. In: Philobiblon 7 (1934), S. 297–313. – Margarete Dierks: J. W. H. In: LKJL. – W. H. Fabeldichter, Liederdichter, Pädagoge u. Kinderfreund (Ausstellungskat.). Eisenach 1989. – Annelore Pfeiffer: W. H. Ein Mensch unserer Heimat, ein Dichter für die Welt. In: Interessengemeinschaft Marlitt 5 (2004), S. 9–22. Walter Scherf / Red.
Weitere Werke: Der Außenseiter. Lpz. 1928 (R.). – Der Glückliche. Roman einer Diktatur. Lpz. 1935. – Liebessp. in Rom. Lpz. 1938 (N.). – Nordlicht. Gedichte eines Lebens. Mchn. 1956. – Dreimal Clausewitz. Histor. Skizzen. Schrobenhausen 1965. – Tgb. über meine Amerikareise, Sommer 61. Hg. Gerhard Friesen. Bremerhaven u. a. 1996. Literatur: Dittker Slark: H. H. zum Gedenken. In: Ders.: Literar. Kaleidoskop. Darmst. 1982, S. 85–91. Wolfgang Weismantel / Red.
Heyck, Hans, auch: Harro Loothmann, * 19.9.1891 Freiburg i. Br., † 24.6.1972 Heyden, Friedrich (August) von, * 3.9. Starnberg. – Erzähler u. Dramatiker. 1789 Nerfken bei Heilsberg/Ostpreußen, Der Sohn eines Historikers ging nach kauf- † 5.11.1851 Breslau. – Epiker, Dramatimänn. Lehre in Hamburg 1913 für ein Jahr ker, Lyriker, Novellist. als Kaufmann nach Südamerika. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Pilot teil u. arbeitete danach in verschiedenen Berufen, bis er sich als Autor durchsetzen konnte. In den 1920er Jahren thematisierte H. in seinen realistischen Romanen kritisch distanziert die Situation Deutschlands (Der Zeitgenosse. Lpz. 1925), griff die Jugendbewegung auf (Die Halbgöttin und die Andere. Lpz. 1926) u. zeichnete in satir. Zuspitzung ein düsteres Zukunftsbild (Deutschland ohne Deutsche. Lpz. 1929). Zentrales Thema war für ihn die Verarbeitung von Auswanderung u. Selbstfindung durch Rückkehr. In dem Roman Robinson kehrt heim (Lpz. 1934) findet der Held in das Deutschland der »nationalen Erweckung«, für H. eine ersehnte Wendung der dt. Geschichte (Deutschlands Befreiungskampf 1918–1933. Bielef. 1933). Bekannt wurde H. erst seit Anfang der 1930er Jahre durch seine histor. Romane. Psychologisierend, wie im Drama Kleist (Bln. 1933), oder idealisierend, wie in der Darstellung des Fürsten Armin der Cherusker (Bln. 1935), als Roman u. Hörspiel, bereitete er dabei dt. Geschichte im Sinne der NS-Ideologie auf. Mit den auf intensiven Studien beruhenden Preußenromanen über Friedrich Wilhelm I. Amtmann und Diener Gottes auf Erden (Bln. 1936) u. Friedrich II. Der große König (2 Bde., Bln. 1940) auch in einer Sonderausgabe für die Wehrmacht, erreichte H. sehr hohe
Nach Jurastudium in Königsberg, Berlin u. Göttingen u. Teilnahme an den Befreiungskriegen trat H., Sohn eines Hauptmanns, in den Staatsdienst u. führte ein unauffälliges Leben, seit 1826 in Breslau. Nur als dem Oberregierungsrat 1843 das Zensoramt aufgebürdet wurde, lehnte er sich auf. H.s literar. Anfänge standen im Zeichen der Spätromantik. Ein verklärtes Bild nationaler Vergangenheit zeichnen seine in der Stauferzeit angesiedelten Dramen, so das von Platen gerühmte Trauerspiel Conradin (Bln. 1818). Reflexe auf zeitpolit. Tendenzen (wie die Zensur) finden sich in seinen Gedichten (hg. von seinem Freund Theodor Mundt. Lpz. 1852) u. Theater-Stücken (3 Bde., Ffm. 1842) wie Die Modernen. In sämtl. gängigen Gattungen u. Mustern versiert, war H. am eigenständigsten in der Versepik. Vor allem mit seiner erfolgreichen »Festgabe« in Nibelungenstrophen Das Wort der Frau (Lpz. 1843. 23 1881) trug er bei zur Herausbildung eines »zwanglose[n] humoristische[n] Geschichtsepos« (Sengle). Die Entschlusskraft der findigen Pfalzgräfin Irmengard – für H. Idealbild der emanzipierten Frau der dt. Vorzeit: »stark, frei und bedeutend« (an Mundt, 22.10.1843) – entschärft den sich anbahnenden trag. Konflikt zwischen Liebe u. dynast. Kalkül. Weitere Werke: Dramat. Novellen. 2 Bde., Königsb. 1819. – Reginald. Bln. 1831 (Ep.). – Die Intriguanten. 2 Tle., Lpz. 1840 (R.). – Randzeich-
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nungen. 2 Bde., Lpz. 1841 (E.en. N.n). – Der Schuster v. Isphahan. Lpz. 1850 (Ep.).
est, artis canendi libri duo (Nürnb. 1537. 21540 u. d. T. De arte canendi [...] libri duo).
Literatur: Alexis Gabriel: F. v. H. [...]. Diss. Breslau 1900. – Walter Müller: F. v. H.s Novellen u. Erzählungen. Diss. Breslau. 1920. – Fritz Buch: F. v. H.s Dramenslg. ›Theater‹. Diss. Breslau 1920. – Erich Stein: Die Epen F. A. v. H.s. Diss. Breslau 1922. – Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. 2, Stgt. 1972, S. 702 f. Arno Matschiner
Ausgaben: Wackernagel 3, S. 553–560. – Nomenclatura rerum domesticarum (Nürnb. 1530) u. Nomenclatura rerum, innumeris quam antea nominibus cum locupletior tum castigatior (Mainz 1534). Nachdr. mit einer Einf. v. Peter O. Müller u. Gaston van der Elst. Hildesh. u. a. 1998 (auch digitale Ed.: Olms-online). – De arte canendi ac vero signorum in cantibus usu, libri duo [...]. Nürnb. 1540. Nachdr. New York 1969. Hildesh. (in Vorb.). – Formulae latine loquendi pueriles. Minden 1685. Nachdr. mit einem Nachw. v. Klaus Weddigen. Stgt. 1994.
Heyden, Haiden, Sebald(us), * 8.12.1499 Bruck bei Erlangen, † 9.7.1561 Nürnberg. – Schulmann, Komponist, Musiktheoretiker u. Kirchenlieddichter.
Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Alfred Kosel: S. H. [...]. Würzb. 1940. – Theodor Wohnhaas: S. H. In: NDB. – Clement A. Miller: S. H.’s ›De arte canendi‹: Background and contents. In: Musica disciplina 24 (1970), S. 79–99. – Peter O. Müller: S. H.s ›Nomenclatura rerum domesticarum‹. Zur Gesch. eines lat.-dt. Schulvokabulars im 16. Jh. In: Sprachwiss. 18 (1993), S. 59–88. – Jörg Riecke: S. H.s ›Formulae puerilium colloquiorum‹. Zur Gesch. eines lat.-dt. Gesprächsbüchleins aus dem 16. Jh. In: ZfdPh 114 (1995), S. 99–109. – Gilbert A. R. de Smet: S. H.s Formulae Puerilium Colloquiorum in den Niederlanden. In: Varietäten der dt. Sprache. FS Dieter Möhn. Hg. Jörg Hennig u. a. Ffm. 1996, S. 127–142. – Thomas Schlage: S. H. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 153. – Beat F. Föllmi: S. H. In: MGG, 2. Aufl. Bd. 8 (Pers.), Sp. 407–409 (Lit.). – Victor H. Mattfeld: S. H. In: New Grove, Bd. 10, S. 665–667 (Lit.). – Holger Klatte: Fremdsprachen in der Schule. Die Lehrbuchtradition des S. H. In: Die Volkssprachen als Lerngegenstand im MA u. in der frühen Neuzeit. Hg. Helmut Glück. Bln./New York 2002, S. 77–86. – Cristle Collins Judd: Reading Renaissance music theory, hearing with the eyes. Cambridge u. a. 2000. 22002. – Melanchthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 298. Heinz Wittenbrink / Red.
Der Sohn des Bierbrauers Hans Heyden studierte nach dem Schulbesuch in Nürnberg ab Mai 1513 in Ingolstadt, wo er 1519 den Magistergrad erwarb; danach war er kurze Zeit als Lehrer u. Kantor in der Steiermark (Knittelfeld, Bruck an der Mur, Loeben) tätig. Nach Nürnberg zurückgekehrt, wurde er noch 1519 Kantor der Spitalschule zum Heiligen Geist, 1521 deren Rektor. 1525 übernahm er – als Nachfolger des Hans Denck – das Rektorat der Schule von St. Sebald. H. bekannte sich schon früh zur Reformation; 1523 dichtete er während des Reichstags das Salve Regina zu einem Lobgesang auf Christus um (Salve Jesu Christe, rex misericordiae). Gegen Angriffe Kaspar Schatzgeyers konnte er sich, etwa mit seiner Schrift Adversus hypocritas calumniatores (Nürnb. 1524), erfolgreich verteidigen. In den heftigen Auseinandersetzungen während der Einführung der Reformation in Nürnberg erwies er sich als Anhänger Melanchthons; der Luther’schen Abendmahlslehre gegenüber verhielt er sich reserviert. Bei den Nürnberger Religionsgesprächen 1525 u. dann noch einmal 1554 während des Osiandrischen Streits war er Protokollführer. Heydenreich, Karl Heinrich, * 19.2.1764 H. verfasste eine Reihe geistl. Lieder, die bis Stolpen bei Dresden, † 26.4.1801 Burgins 18. Jh. über Nürnberg hinaus im Gotteswerben bei Weißenfels. – Philosoph, Lydienst gesungen wurden. Das bereits 1525 riker. gedruckte O Mensch, bewein dein Sünde groß über die Passion Christi war Vorbild von Paul Der schon als Kind lerneifrige u. aufnahmeGerhardts Lied O Mensch, beweine deine Sünd. fähige H. erwarb im elterl. Pfarrhaus seit dem Auch als Musiktheoretiker wirkte er lange, vierten Lebensjahr durch Hauslehrererziev. a. durch seine didaktisch geschickten, sich hung vertrauten Umgang mit antiker Philoüberall auf Beispiele stützenden Musicae, id sophie u. Dichtkunst. Der 14-Jährige be-
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suchte zunächst die Thomasschule, seit 1782 Philosoph. Abh.en. Bln. 1906, S. 183–200. – Paul die Universität Leipzig. Neben Philosophie u. Schlüter: K. H. H.s System der Ästhetik. Halle Historie beschäftigten ihn v. a. eigene Ge- 1939. – Hans-Jürgen Gawoll: Nebenlinien. Variadichte u. Dramen im kraftgenial. Sturm-und- tionen zu/v. Hölderlins ›Urtheil u. Seyn‹. In: HölderlinJb 26 (1988/89), S. 87–116. Drang-Stil Klingers. – Aus dem anfängl. SpiDieter Kimpel / Red. nozisten war längst der überzeugte Kantianer geworden, als H. in Leipzig 1785 zum Magister, 1787 zum Professor avancierte. Fortan Heydt, Karl von der, * 31.7.1858 Elberfeld lehrte er dort bis 1797 – gegen alle Anfein- (heute zu Wuppertal), † 9.8.1922 Wadungen – im Geist des Kantianischen Kriti- cholderhöhe/Godesberg. – Essayist, Drazismus insbes. Vernunftreligion, Natur- u. matiker. Staatsrecht, Morallehre, Logik, empir. Psy- H. wuchs mit seinem Bruder nach dem früchologie, Ästhetik u. Stilistik. Sein Biograf hen Tod des Vaters beim Großvater auf. Ihre Karl Gottlob Schelle attestierte ihm einen die Erziehung war streng calvinistisch geprägt. Hörerschaft begeisternden Vortrag, große In Rom u. Berlin studierte H. kurze Zeit Resonanz über Leipzig hinaus sowie die Philosophie, unternahm Reisen nach Ameriwohlwollende Aufmerksamkeit Kants. – Mit ka u. wurde 1881 Teilhaber des Bankhauses Stolz blickte H. auf sein System der Aesthetik Delbrück, Leo & Co. in Berlin. 1895 gründete (Bd. 1, Lpz. 1790), das wenige Monate vor er die Bank Von der Heydt & Co. in Berlin. Kants Kritik der Urteilskraft erschienen ist u. Als Vorsitzender der Deutsch-Ostafrikanider subjekt- bzw. reflexionsphilosophischen schen Gesellschaft publizierte H. Aufsätze u. Formulierung des Schönen nahesteht: »[...] Bücher über die wirtschaftl. Bedeutung der an den Dingen selbst, ohne Beziehung auf dt. Kolonien. Als engagierter Beobachter vorstellende und empfindende Wesen, ist zeitgenöss. Kunst u. Literatur schrieb er Renichts schön« (S. 141). zensionen u. a. zu Hauptmann u. Rilke. Als H. nach zehnjähriger Lehrtätigkeit eine Literarhistorisch ist H. vor allem als krit. Professur neuer Stiftung mit kurfürstl. Pen- Förderer u. Briefpartner Rilkes in den Jahren sion in Aussicht stand, geriet er in juristische 1905–1922 von Bedeutung, in denen das InHändel u. wurde mit Wechselarrest bestraft. teresse ihres briefl. Austausches u. a. dem Die Affäre nötigte ihn zum Verlassen des Werk Auguste Rodins gilt. Rilke widmete H. Lehramts. Kurzfristig lebte er in Köthen, u. dessen Frau den ersten Band seiner Neuen Hubertusburg u. wiederum in Leipzig. Zu- Gedichte (1907). letzt widmete er sich in Burgwerben nur Weitere Werke: Variationen über das Thema mehr literar. Arbeiten. H. starb vereinsamt u. Weib. Rhythmen vom Leben, v. der Liebe u. vom mittellos. Tode. Fünf Dialoge. Bln. 1903. – Johanne Arc. Bln. Weitere Werke: Betrachtungen über die Philosophie der natürl. Religion. 2 Bde., Lpz. 1790/91. – Originalideen über die interessantesten Gegenstände der Philosophie. 3 Bde., Lpz. 1793–96. – Propädeutik der Moralphilosophie. 3 Bde., Lpz. 1794. – System des Naturrechts. 2 Bde., Lpz. 1794/ 95. – Briefe über den Atheismus. Lpz. 1796. – Über den Selbstmord. Weißenfels 1796. – Vesta. Kleine Schr.en zur Philosophie des Lebens. 5 Bde., Lpz. 1798–1801. – Ges. Gedichte. Hg. A. H. Heydenreich. Lpz. 1802. Literatur: Karl Gottlob Schelle: K. H. H.s Charakteristik als Mensch u. Schriftsteller. Lpz. 1802. – Johann Georg Wohlfarth: Die letzten Lebensjahre K. H. H.s. Altenburg 1802. – Jördens 6 (1811), S. 819–845. – Georg Müller-Leipzig: K. H. H. als Universitätslehrer u. Kunsterzieher. In:
1904 (D.). – Aphrodite. Bln. 1907 (D.). Literatur: Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg: Ein Brief Rilkes an K. v. d. H. In: Bl. der Rilke Gesellsch. 7/8 (1980/81), S. 51–56. – Dies. (Hg.): Briefe an K. u. Elisabeth v. d. H., 1905–22. Ffm. 1986. – Sabine Fehlemann (Hg.): Die v. der Heydts. Bankiers, Christen u. Mäzene. Wuppertal 2001. Ursula von Keitz / Red.
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Heyking, Elisabeth Freifrau von, verwit- Heym, Georg (Theodor Franz Arthur), wete von Putlitz, geb. Gräfin Flemming, * 30.10.1887 Hirschberg/Schlesien, * 10.12.1861 Karlsruhe, † 4.1.1925 Ber- † 16.1.1912 Berlin; Grabstätte: Charlotlin; Grabstätte: Krossen, Schlosskapelle. – tenburg, Friedhof der Luisengemeinde, Erzählerin; Malerin. 1942 aufgelassen, Entfernung des (erhalten gebliebenen) Grabsteins. – Lyriker, Die Schwester von Irene Forbes-Mosse u. Erzähler, Dramatiker. Enkelin von Bettine u. Achim von Arnim heiratete 1884 nach dem lange als Skandal geltenden Freitod ihres ersten Mannes (1883) den preuß. Diplomaten Edmund von Heyking. Ihre Erlebnisse als Diplomatenfrau in Peking, Amerika u. Berlin fanden ihren Niederschlag in fiktiven Briefen an einen im Boxeraufstand Gefallenen u. d. T. Briefe, die ihn nicht erreichten. Diese »in so viel Kümmernis und Gram« (Tagebücher) entstandenen Briefe über das Leben in höchsten Kreisen u. im auswärtigen Dienst, die in verschlüsselter Form auch H.s Lebensgeschichte wiedergeben, wirkten durch Reichskanzler von Bülows Lob fördernd auf die Karriere des Ehepaars. Zunächst 1902 in der »Täglichen Rundschau« anonym erschienen, erreichten die Briefe allein im Erscheinungsjahr der Buchausgabe (Bln. 1903) 46 Auflagen (bis 1918: 85). Die Romane Der Tag Anderer (Bln.) u. Ille mihi (2 Bde., Bln.) erschienen 1905 u. 1912; 1914 folgte Tschun. Eine Geschichte aus dem Vorfrühling Chinas (Bln.), in der H. scharfe Kritik an der westl. Kolonialmentalität übte. Ihre Tagebücher aus 4 Weltteilen. 1886–1904 wurden von Grete Litzmann mit einer Kurzbiografie postum herausgegeben (Lpz. 1926). Weitere Werke: Die Orgelpfeifen. Aus dem Land der Ostseeritter. Lpz. 1918 (E.en). – Liebe, Diplomatie u. Holzhäuser. Eine Balkanphantasie v. einst. Stgt. 1919. – Das vollkommene Glück. Bln. 1920 (E.). Literatur: Julius Hart: E. v. H. In: Das literar. Echo 8 (1905/06). – Eckhard Schulz: E. v. H. In: NDB. – Irmgard Heilmann: Die wiederentdeckten ›Briefe, die ihn nicht erreichten‹. In: Der Literat 34 (1992), H. 2, S. 14 f. – Herward Sieberg: ›... eine Lebensspur hinterlassen‹. Die Schriftstellerin u. Diplomatenfrau E. v. H. (1861–1925). In: Identität u. Schreiben. FS Martin Walser. Hg. Werner Brändle. Hildesh. u. a. 1997, S. 91–120. Eda Sagarra
H. wurde als ältestes Kind des Staatsanwalts Hermann Heym, der aufgrund einer Nervenschwäche häufig krank war sowie zu Jähzorn u. Schwermut neigte, u. dessen Frau Jenny, der Tochter eines Gerichtspräsidenten u. Gutsbesitzers, geboren u. evangelisch getauft. Seine »Kindheit verging in einer schlesischen Bergstadt wie alle Kindheiten, langweilig und träumerisch. Dann wurde ich über verschiedene Gymnasien hinweg deportiert« (Brief H.s an Ernst Rowohlt vom Februar 1911). So besuchte H. in Posen die Grundschule, in Gnesen Grundschule u. Gymnasium; dort verfasste er als Elfjähriger seine ersten Gedichte. Aufgrund der Karriere seines Vaters, zu dem er ein wechselhaftes, zunehmend spannungsvolles Verhältnis hatte, kam H. 1899 an das Gymnasium in Posen; 1900 zog die Familie nach Berlin, da H.s Vater dort Kaiserlicher Militäranwalt am Berliner Reichskammergericht wurde. In der Hauptstadt besuchte H. im Oktober 1901 die Ausstellung der »Berliner Secession«, wo u. a. Martin Brandenburgs (verschollenes) Bild Die Menschen unter der Wolke gezeigt wurde, welches H. tief beeindruckte. Seit dem Ende des Jahres 1902 übertrug H. seine fertigen Texte in Gedichtbücher (dem ersten gab er den Titel Jungfernlieder), wobei sich insg. acht dieser Hefte im Nachlass erhalten haben. 1904 begann die Freundschaft mit Ernst u. Rudolf Balcke. Seit Dez. desselben Jahres führte H. ein Tagebuch; dem letzten, welches er im Dez. 1911 begann, gab er den Titel Tagebuch des Georg Heym. Der nicht den Weg weiß. Ostern 1905 wurde H. wegen mangelhafter Leistungen sowie eines Schülerstreichs vom Joachimsthal’schen Gymnasium relegiert; am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Neuruppin bestand er im März 1907 das Abitur. In dieser Zeit, H.s poetischer Frühphase, entstanden weitere Gedichte, insbes. unter dem
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Eindruck Hölderlins (vgl. Widmungsgedichte von H. u. Ernst Balcke aus dem Jahr 1905) u. überdies seine ersten dramat. Versuche. 1905 begann der Unterprimaner mit Entwürfen zu Arnold von Brescia – einer Arbeit, die er 1908 abbrach – u. schrieb an der Sizilischen Expedition; den ersten Akt des Trauerspiels Der Feldzug nach Sizilien veröffentlichte H. unter dem Titel Der Athener Ausfahrt (Würzb. 1907). Seit 1907 studierte H. zunächst in Würzburg, Berlin, sodann in Jena u. später erneut in Berlin widerwillig Jura. So schrieb er im selben Jahr an einen Schulfreund: »Es gibt Leute, für die es überhaupt keinen Beruf gibt. Ich rechne mich dazu« (Brief vom 21.10.1907 an Balduin Fischer). H. erwähnt nie den Beruf des Dichters, u. es ist fraglich, ob er je an ein Dasein als freier Schriftsteller gedacht hat; gleichwohl verfasste H. in dieser Zeit auch poetolog. wie programmat. Gedichte (Der Dichter, 1906). 1907 rechnete er zu seinen literar. Vorbildern Hölderlin, Nietzsche, Merezˇkovskij, Grabbe (»Die vier Helden meiner Jugend«); 1909 bewunderte er diejenigen, »die in sich ein zerrissenes Herz haben«, wozu er neben Hölderlin u. Grabbe Kleist, Büchner, Rimbaud u. Marlowe zählte. Seit 1909 arbeitete H. an seinem Drama Grifone, das jedoch Fragment blieb. Insgesamt vollendete H. lediglich drei Dramen; 17 blieben Entwürfe, wobei er stets histor. Stoffe (v. a. der Antike, der Renaissance sowie den Revolutionen von 1789 u. 1848) bearbeitete. Wegen seiner Tragödie Die Hochzeit des Bartolomeo Ruggieri (später umgearbeitet u. d. T. Atalanta oder Die Angst) stattete H. im April 1910 Wilhelm Simon Guttmann, dem Gründer der »Neuen Bühne«, einen Besuch ab u. trug ihm eigene Gedichte vor. Von dem Sonett Berlin I war Guttmann so begeistert, dass er den Autor in den frühexpressionistischen »Neuen Club« einführte u. ihm somit half, seine literar. Laufbahn zu beginnen. Im »Neuen Club«, dem u. a. Kurt Hiller, Ernst Blaß, Erwin Loewenson u. Jakob van Hoddis angehörten, fand H. Gleichgesinnte, v. a. aber die zuvor vermisste Resonanz. In dem vom »Neuen Club« veranstalteten »Neopathetischen Cabaret« trug er mit großem Erfolg Gedichte vor; Karl Kraus, Her-
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warth Walden u. Franz Pfemfert zählten zu den Zuhörern. Diese Leseabende steigerten H.s Verlangen nach Anerkennung, aber auch seine Selbstzweifel; ferner hatte er das Gefühl, in einer banalen Zeit zu leben (vgl. Tagebucheintrag vom 6.7.1910). Anfang September 1910 begann zwischen H. u. John Wolfsohn die Parallelismus-Diskussion um das Verhältnis der Bildenden Kunst – insbes. van Gogh, Munch, Hodler, Kubin u. Baluschek – zu H.s Dichtungen. So schreibt H., das Dichten sei »so unendlich leicht, wenn man nur die Optik hat« (Brief an Wolfsohn vom 2.9.1910), wobei er selbst für »Farben einen geradezu wahnsinnigen Sinn« (Tagebucheintrag vom 25.9.1910) habe. Es verwundert daher nicht, wenn in H.s Gedichten oft Farben u. starke Kontraste strukturierend wirken. Erste Veröffentlichungen im »Herold« sowie in der Wochenschrift »Der Demokrat« stießen auf große Resonanz u. führten erstaunlich schnell im selben Jahr zum Angebot einer Publikation durch den damals ebenfalls dreiundzwanzigjährigen Ernst Rowohlt sowie 1911 zur Veröffentlichung des Lyrikbands Der ewige Tag (Lpz.). Dieser Band ist das einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Buch H.s; gleichzeitig stellt es eine der ersten Publikationen des literar. Expressionismus dar. Doch auch für H.s Schaffen bedeutet Der ewige Tag eine Zäsur. Die meisten Dichtungen entstanden 1910, manche schrieb er noch, als der Band bereits gesetzt wurde, doch nahm er keine seiner 1899 bis 1909 entstandenen Jugendgedichte in die Sammlung mit auf. In formal weitgehend traditionellen Strophenformen entwirft H. vor allem Großstadtpanoramen, die von Anonymität u. Feindseligkeit geprägt sind. Die Großstadt wird dabei oft typisiert u. in apokalypt. Bildern zum Dämon stilisiert (vgl. Die Dämonen der Städte), was in dem Gedicht Der Gott der Stadt (30.12.1910) in paradigmat. Weise im Bild des Baal gefasst wird. Den Band beschließen die sechs Gedichte der Schwarzen Visionen; es zeigt sich somit auch hier H.s Vorliebe für Zyklen. Er schloss 1910 den aus 22 Sonetten bestehenden Marathon-Zyklus ab; zur gleichen Zeit entstanden die Berlin-Gedichte
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(Berlin I-VIII) u. im Frühjahr 1911 die zwölf Gedichte des Grundbuchamts. Mitte Jan. 1911 schloss H. sein verhasstes Studium mit der ersten juristischen Staatsprüfung ab u. wurde im Februar Mitarbeiter der von Pfemfert herausgegebenen Wochenschrift »Die Aktion«. Aus dem Vorbereitungsdienst wurde er nach vier Monaten entlassen, da er eine Grundbuchakte vernichtete. Er nahm diesen im Juli 1911 wieder auf, ließ sich jedoch bald beurlauben, da er nicht die Absicht hatte, in den Referendarsdienst zurückzukehren. Gleichwohl schmiedete er Pläne zu einer anderen Berufslaufbahn, weshalb er sich im Herbst am Orientalischen Seminar der Berliner Universität immatrikulierte u. Chinesisch lernte, um Dolmetscher (bzw. Dragoman) zu werden. Zur selben Zeit bewarb sich H. bei mehreren Regimentern, um die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Im Spätherbst wurde er zum Dr. jur. promoviert. H. widmete sich in dieser Zeit neben den Studien intensiv seinen dichterischen Arbeiten: Nachdem er im Frühsommer 1911 Hildegard Krohn kennen gelernt hatte, entstanden Liebesgedichte, unter dem Eindruck der Marokkokrise schrieb er Anfang September das Gedicht Der Krieg (»Aufgestanden ist er ...«). Ferner korrespondierte er mit Rowohlt über einen Separatdruck seines MorgueGedichts u. stellte die (sieben) Novellen für die Sammlung Der Dieb zusammen, welche jedoch erst postum erschien (Lpz. 1913). Das Kleine Viaticum für eine Dame wurde jedoch nicht gedruckt, obgleich diese Erzählung Rowohlt vorgelegen hatte (Brief vom 9.12.1911). Fünf Novellen – Der Irre, Der fünfte Oktober, Ein Nachmittag, Jonathan u. Die Sektion – hatte H. bereits Ende März 1911 abgeschlossen. Während Der fünfte Oktober wiederum H.s Interesse an histor. Stoffen (hier der Französischen Revolution) belegt, schildert die Erzählung Der Irre den Weg eines Wahnsinnigen durch Berlin. Hier wird die Psychopathologie ebenso literarisiert wie in der später entstandenen Novelle Der Dieb, zu welcher H. durch den Raub der Mona Lisa da Vincis im Herbst 1911 aus dem Pariser Louvre angeregt worden war. Insgesamt sind H.s Protagonisten der Novellen meist »Extrem-
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typen« (Inge Jens), so nicht zuletzt der im Krankenzimmer dahinvegetierende Jonathan. H. kam im Januar 1912 beim Schlittschuhlaufen auf der Havel ums Leben, als er vergeblich versuchte, seinen eingebrochenen Freund Ernst Balcke vor dem Ertrinken zu retten. Die Fülle seines lyr. Werks erschloss sich durch die Nachlasspublikationen. Der Nachlass (Staats- u. Universitätsbibliothek Hamburg) blieb, obgleich H.s Eltern den Dichtungen ihres Sohnes ablehnend gegenüberstanden, nahezu vollständig erhalten. 1912 erschien die nach einem Gedicht benannte Lyriksammlung Umbra vitae (Lpz.; Neuausg. mit 47 Holzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner Mchn. 1924). Die Gedichte dieser Sammlung sind von expressiven, drast. Metaphern geprägt, die eine apokalyptischvisionäre Szenerie von Verfall, Krieg, Todesfantasien u. Tod entwerfen; die untergehende Welt wird von Wahnsinnigen u. Todgeweihten bevölkert. Auch in der von Hiller im selben Jahr herausgegebenen Anthologie Der Kondor (Heidelb. 1912) war H. mit zehn Gedichten vertreten. Das Gedicht Umbra vitae, dieser ›Schatten des Lebens‹, folgte in der von Kurt Pinthus herausgegebenen Menschheitsdämmerung (Bln. 1920), die dreizehn Gedichte H.s enthielt, direkt dem einleitenden Weltende von van Hoddis. Diese Anthologie trug ebenso zu H.s weiterer Kanonisierung als expressionistischer Dichter bei wie die Ausgabe seiner Dichtungen (Hg. Kurt Pinthus u. Erwin Loewenson. Mchn. 1922), doch erst mit der Gesamtausgabe (Dichtungen und Schriften. Hg. Karl Ludwig Schneider. 4 Bde., Hbg./ Mchn. 1960–68) wurden die Umrisse des gesamten Werks H.s sichtbar. Ausgaben: Marathon. Bln. 1914 (12 Sonette; vollständig hg. v. Karl Ludwig Schneider, Hbg. 1956). – Ges. Gedichte. Mit einer Darstellung seines Lebens u. Sterbens. Hg. Carl Seelig. Zürich 1947. – Gedichte. Hg. Stephan Hermlin. Lpz. 1965 (u. a. wieder Ffm. 21999). – G.-H.-Lesebuch. Gedichte, Prosa, Träume, Tagebücher. Hg. Heinz Rölleke. Mchn. 1984. 1987. – Gedichte 1910–12. Hist.-krit. Ausg. Hg. Günter Dammann u. a. Tüb. 1993. – Werke. Mit einer Ausw. v. Entwürfen aus dem Nachl., v. Tagebuchaufzeichnungen u. Briefen. Hg. Gunter Martens. Stgt. 2006.
399 Literatur: Helmut Greulich: G. H. Leben u. Werk. Ein Beitr. zur Frühgesch. des dt. Expressionismus. Bln. 1931. Nachdr. Nendeln 1967. – Inge Jens: Studien zur Entwicklung der expressionist. Novelle. Hbg. 1953. – Karl Ludwig Schneider: Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen G. H.s., G. Trakls u. E. Stadlers. Heidelb. 1954. – Helmut Liede: Stiltendenzen expressionist. Prosa. Untersuchungen zu Novellen v. Alfred Döblin, Carl Sternheim, Kasimir Edschmid, G. H. u. Gottfried Benn. Diss. Freib. i. Br. 1960. – Kurt Mautz: Mythologie u. Gesellsch. im Expressionismus. Die Dichtungen G. H.s. Ffm./Bonn 1961. 31987. – Erwin Loewenson: G. H. oder Vom Geist des Schicksals. Hbg./Mchn. 1962. – K. L. Schneider: Zerbrochene Formen. Hbg. 1967. – Egbert Krispyn: G. H. A reluctant rebel. Gainesville 1968. – Russell E. Brown: Index zu G. H.: Gedichte 1910–1912. Ffm./ Bonn 1970. – Bernd W. Seiler: Die histor. Dichtungen G. H.s. Mchn. 1972. – Günter Dammann, K. L. Schneider u. Joachim Schöberl: G. H.s Gedicht ›Der Krieg‹. Untersuchungen zur Entstehungsgesch. u. Rezeption. Heidelb. 1978. – Hermann Korte: G. H. Stgt. 1982. – Peter Schünemann: G. H. Mchn. 1986. – G. H. Der Städte Schultern knacken. Bilder, Texte, Dokumente. Hg. Nina Schneider. Zürich 1987. – Heinz Rölleke: Die Stadt bei Stadler, H. u. Trakl. Bln. 21988. – G. H. 1887–1912. Eine Ausstellung der Staats- u. Universitätsbibl. Carl v. Ossietzky. Bln. 1988. – Helmut Heitkamp: Poesie der Depressionen. Untersuchung zur Raum- u. Zeitdarstellung G. H.s. Ffm. u. a. 1989. – Patrick Bridgwater: Poet of Expressionist Berlin. The Life and Work of G. H. London 1991. – Wilfried Steiner: Rausch – Revolte – Resignation. Eine Vorgesch. der poet. Moderne v. Novalis bis G. H. Wien 1993. – Eva Krüger: Todesphantasien. G. H.s Rezeption der Lyrik Baudelaires u. Rimbauds. Ffm. u. a. 1993. – Christa Siefert: Die Industrialisierung in der dt. Lit. der Jahrhundertwende. Eine Analyse ausgew. Texte Gerhart Hauptmanns, Heinrich Manns u. G. H.s. Diss. Bochum 1995. – Werner Sulzgruber: G. H., ›Der Irre‹. Einblicke in die Methoden u. Kunstgriffe expressionist. Prosa. Erzählen aus der Perspektive des Wahnsinns. Wien 1997. – Markku Klingelhöfer: Frühe Prosa expressionist. Dichter. Georg Trakl, G. H. u. Kasimir Edschmid. Diss. Wuppertal 1998. – Am Ufer des blauen Tages. G. H., sein Leben u. Werk in Bildern u. Selbstzeugnissen. Dargestellt v. Nina Schneider. Glinde 2000. – Hee-Jik Noh: Expressionismus als Durchbruch zur ästhet. Moderne. Dichtung u. Wirklichkeit in der Großstadtlyrik G. H.s u. Georg Trakls. Diss. Tüb. 2001. – Walter Hinck: ›Zerbrochene Harfe‹. Die Dichtung der Frühverstummten. G. H. u. Georg Trakl. Bielef. 2004. – Akane Nishioka: Die Suche nach dem wirkl.
Heym Menschen. Zur Dekonstruktion des neuzeitl. Subjekts in der Dichtung G. H.s. Würzb. 2006. Hans Peter Buohler
Heym, Stefan, eigentl.: Helmut Flieg, * 10.4.1913 Chemnitz, † 16.12.2001 Israel. – Romancier, Erzähler, Essayist u. Journalist, Politiker. Aufgrund der Veröffentlichung eines antimilitaristischen Gedichts in der »Chemnitzer Volksstimme« 1931 u. vor dem Hintergrund antisemitischer Stimmungen wurde H., Sohn eines jüd. Kaufmanns, vom Staatsgymnasium seiner Heimatstadt relegiert. Er emigrierte 1933 zunächst nach Prag, arbeitete dort für die deutschsprachige Prager Presse u. Exilzeitungen u. erhielt 1935 von einer jüd. Hilfsorganisation ein Stipendium für ein Germanistikstudium an der Universität Chicago, von wo er Berichte an die »Neuen Deutschen Blätter« nach Prag u. »Das Wort« nach Moskau schickte. 1937–1939 war H. in New York Chefredakteur des »Deutschen Volksechos«, in dem er die NS-Propaganda unter Deutsch-Amerikanern bekämpfte u. die Volksfrontpolitik der KPD unterstützte. Nach seiner Einbürgerung wurde H. 1943 zur USArmee eingezogen. Als Sergeant für psycholog. Kriegsführung nahm er an der Invasion in der Normandie teil u. organisierte unter Leitung von Hans Habe die amerikan. Pressearbeit. Ende 1945 kehrte er, der die USA inzwischen als sein Heimatland betrachtete, nach New York zurück, da ihm polit. Differenzen mit Habe die journalistische Arbeit in Deutschland unmöglich machten. H. lebte nun als freier Schriftsteller, ging 1951 über Warschau nach Prag u. 1952 in die DDR; nach öffentl. Kritik an der amerikan. Politik (McCarthy-Ära, Korea-Krieg) gab er seine Militärauszeichnungen zurück. Bis 1956 schrieb H. zahlreiche Kolumnen für die »Tägliche Rundschau« u. die »Berliner Zeitung«. Seine Kritik am sozialistischen Realismus führte 1956 zu scharfen Kontroversen auf der Tagung des Schriftstellerverbands der DDR; die Auseinandersetzungen eskalierten 1964/65, 1969, 1976 (nach H.s Unterstützung der Biermann-Petition) u. noch einmal 1979 nach der Westveröffentlichung seines Ro-
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mans Collin (Mchn.). H. wurde zu einer Geldstrafe verurteilt u. aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen; Neuveröffentlichungen gab es danach nur noch in der BR Deutschland. Die Lebensgeschichte wurde zum Stoff von H.s Memoiren Nachruf (Mchn. 1988, Bln./DDR 1990). Ende Nov. 1989 wurde H. wieder in den Schriftstellerverband der DDR aufgenommen. H. gilt als Nestor der DDR-Bürgerrechtsbewegung. 1994 zog er mit einem Direktmandat über die offene Liste der PDS in den Deutschen Bundestag ein, dessen Alterspräsident er war. Bereits 1995 legte er das Mandat aus Protest nieder. H. starb 2001 während eines HeineSymposiums in Israel. H.s Werk ist gekennzeichnet durch konventionelles, klar gegliedertes Erzählen, das im Anschluss an die amerikan. social novel – H. schrieb seine Werke zunächst in Englisch – seine Wirkung nicht zuletzt durch das Engagement des Autors für politisch-soziale Gegenwartsfragen gewinnt; dies gilt auch dann, wenn sich H. histor. oder myth. Stoffen zuwendet: parteinehmend gegen polit. u. soziale Unterdrückung, im Dissens auch mit dem polit. Mitstreiter, wenn sein Verständnis von demokratischem Sozialismus verletzt wird, das in seiner antifaschistischen Haltung begründet ist. Neben journalistischen Arbeiten schrieb H. zunächst Bühnenstücke, die es nicht bis zur Veröffentlichung brachten; seine ersten drei Bücher wurden Weltkriegsromane. Der Erstling Hostages (New York 1942. Verfilmt 1943. U. d. T. Der Fall Glasenapp. Lpz. 1958, Wien 1963) gehört zu den wenigen Bestsellern der Exilliteratur. Der spannende Politkrimi um das Schicksal der nach der Ermordung Heydrichs in Prag gefangen genommenen Geiseln war als Entlarvung des Nationalsozialismus u. als Plädoyer für die zweite Front gegen Hitler gedacht. Der dritte Roman The Crusaders (Boston 1948. U. d. T. Kreuzfahrer von heute. Lpz. 1950. U. d. T. Der bittere Lorbeer. Mchn. 1950) beruht auf H.s eigenen Erlebnissen als amerikan. Propagandaoffizier während der Zeit der Normandie-Invasion bis einige Monate nach der Kapitulation. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche moralischen Gründe die USA zum Krieg gegen den
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Nationalsozialismus berechtigten. Die Crusaders sind, trotz Desillusionierung am Ende, hervorgerufen durch das Paktieren der Besatzungsmacht mit ehem. Faschisten, eine Verteidigung der Ideale der amerikan. Gesellschaft. An dieser Einstellung – u. an seiner Verehrung für Roosevelt u. dessen Politik des New Deal – hält H. fest. Die Crusaders stießen, ebenso wie der folgende, wenig überzeugend geschriebene Roman The Eyes of Reason (Boston 1951. U. d. T. Die Augen der Vernunft Lpz. 1955, Mchn. 1983), eine Rechtfertigung der Machtübernahme der KP in Prag, in den USA auf scharfe Ablehnung. Mit Goldsborough (Dt. Lpz. 1954) wandte sich H. 1953 kritisch der sozialen Realität in den USA zu, indem er einen Bergarbeiterstreik zum Thema machte. Kurz nach dem 17. Juni 1953 begann H. seinen Roman Der Tag X zu schreiben, der in einer bearbeiteten Fassung 1974 u. d. T. Fünf Tage im Juni im Westen (Mchn.) erschien. Er richtete sich darin sowohl gegen die in der BR Deutschland vertretene These vom »Volksaufstand« als auch gegen die offizielle DDRBehauptung vom »konterrevolutionären Putschversuch«. Das Buch konnte in der DDR nicht erscheinen. Verzögert wurde die Veröffentlichung des Lassalle (Mchn./Esslingen 1969. Zweitfassung Bln./DDR 1974), in dem die Parallelen zwischen dem Paternalismus Lassalles u. dem Autokratismus Stalins unübersehbar sind. Die nachfolgende Erzählung Die Schmähschrift oder Königin gegen Defoe (Zürich 1970, Lpz. 1974) u. der Roman Der König-David-Bericht (Mchn. 1972, Bln./DDR 1973) sind satir. Auseinandersetzungen mit dem Byzantinismus offizieller Geschichtsschreibung u. der – durchaus selbstkritisch gesehenen – Haltung des Schriftstellers gegenüber Machthabern. Der König-David-Bericht – H.s satir. Meisterwerk – ist jedoch nicht nur als polit. Schlüsselroman (König Salomon = Stalin, Geheimdienstchef Benaja = Berija) bedeutsam, sondern ebenso als fundierte Religionskritik, als Säkularisation eines zentralen Mythos christlich-jüd. Glaubens. Daran schließt Ahasver (Mchn. 1981, Bln./DDR 1988) an, ein barockes Welttheater, in dem H. den Stoff des ewigen Juden auf mehreren Zeitebenen ironisch u. sprachgewaltig in ein Urbild des subversiven, antidogmat. Intellek-
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tuellen umdeutet. Nach einem Ausflug in die Taunus 1978. – Die sanfte Revolution (zus. mit Nomenklaturawelt des DDR-Schriftstellers in Werner Heiduczek). Lpz. 1990. Literatur: Henk de Wild: S. H. Eine Bibliogr. Collin kehrte H. mit Schwarzenberg (Mchn. 1984) zur Aufbruchshoffnung der Nach- zur Primär- u. Sekundärlit. Ffm. 2006. – Weitere kriegszeit, dem Ideal einer sozialistischen Titel: Reinhard Zachau: S. H. Mchn. 1982. – Hans demokratischen Republik, u. dem für H. da- Wolfschütz: S. H. In: KLG. – Hans-Peter Ecker: Poetisierung als Kritik. Tüb. 1987. – Regina Genemit eng verknüpften Motiv des Zweiflers ral u. Wolfgang Sabath: S. H. Bln. 1994. – Peter zurück; der chronolog., kolportierende Er- Hutchinson: S. H. – Dissident auf Lebenszeit. zählstil in Schwarzenberg erinnert an H.s Würzb. 1999. – Marc Temme: Mythos als Geselljournalistische Anfänge. Neben zahlreichen schaftskritik. Bln. 2000. – Hermann Gellermann: S. essayistischen u. kleineren literar. Arbeiten H. – Judentum u. Sozialismus. Bln. 2002. – Doris zu Mauerfall, dt. Identität u. Wiedervereini- Lindner: Schreiben für ein besseres Dtschld. gung entstand mit der Romanbiografie Radek Würzb. 2002. – Konrad Franke: S. H. in: LGL. Manfred Behn-Liebherz / Stefan Wieczorek (Mchn. 1995) ein weiterer histor. Roman, der die Revolutionsgeschichte von der Oktoberrevolution bis hin zu den stalinistischen Heymair Haymerin, Haymarin, Magdalena. Schauprozessen thematisierte. Beachtung er- – In der 2. Hälfte des 16. Jh. lebende fuhr die späte Publikation des in den sechzi- Schulmeisterin u. Lieddichterin. ger Jahren entstandenen Romans Die Architekten (Mchn. 2000). Der Roman schildert die Die Lebensumstände H.s sind nur in groben Verführbarkeit der intellektuellen Eliten der Umrissen bekannt. Aus Armut gezwungen, jungen DDR am Beispiel der Architekturge- einen Brotverdienst zu suchen, war sie zunächst als Hauslehrerin in Straubing tätig. schichte des sozialistischen Staates. Weitere Werke: Werkausg. 14 Bde. Mchn. Die Gespräche mit ihrer luth. Dienstherrin 1984 ff. – Of Smiling Peace. Boston 1944 (R.). – Die führten die Katholikin zur Konversion (VorKannibalen u. a. E.en. Lpz. 1953, Düsseld. 1957. – rede zu Das Büchlein Jesu Syrach. Regensb. Forschungsreise ins Herz der dt. Arbeiterklasse. 1571; sieben weitere Aufl.n bis 1609; MikroReportage. Bln./DDR 1953. – Reise ins Land der fiche-Ausg. Mchn. 1991). Auf Vermittlung unbegrenzten Möglichkeiten. Bln./DDR 1954. – Im des Kurprinzen Ludwig von der Pfalz fand sie Kopf sauber. Schr.en zum Tage. Lpz. 1955. – Offen 1564 eine Anstellung als »deutsche Schulgesagt. Neue Schr.en zum Tage. Bln./DDR 1957. – meisterin« im oberpfälz. Cham. Sechs Jahre das kosm. zeitalter. ein ber. Bln./DDR 1959. – später durch die Konkurrenz eines calvinist. Schatten u. Licht. Lpz. 1960 (E.en). – Die Papiere Schulhalters vertrieben, ging sie nach Redes Andreas Lenz. 2 Bde., Lpz. 1963. U. d. T. Lenz gensburg, wo sie noch 1578 nachweislich oder die Freiheit. Ffm. 1963 (R.). – Casimir u. lebte. 1585 erscheint sie als Erzieherin in Cymbelinchen. Bln./DDR 1966 (M.). – Cymbelinchen oder der Ernst des Lebens. Gütersloh 1975 Grafenwörth/Niederöstereich, im folgenden (M.). – Erzählungen. Bln./DDR 1976. – Die richtige Jahr als Hofmeisterin in einem adligen Einstellung u. a. E.en. Mchn. 1977. – Wege u. Haushalt in Kaschau (heute Kosˇ ice/Slowakei). Für den Elementarunterricht, v. a. der Umwege. Streitbare Schr.en aus fünf Jahrzehnten. Mchn. 1980. – Atta Troll. Versuch einer Analyse. Mädchen, bestimmt, brachte H. mit UnterMchn. 1983. – Reden an den Feind. Mchn. u. Bln./ stützung adliger Gönnerinnen vier LehrwerDDR 1986. – Einmischung. Gespräche, Reden, ke zum Druck, deren wiederholte Auflagen Ess.s. Hg. Inge Heym u. Heinfried Henninger. von ihrer Popularität im süddt.-österr. Raum Mchn. 1990. – Stalin verläßt den Raum. Lpz. 1990. zeugen. Nach dem Vorbild des bekannten – Auf Sand gebaut. Mchn. 1990. – filz. Gedanken Erbauungsdichters Nikolaus Herman (um über das neueste Dtschld. Mchn. 1992. – Der Win1480/1500–1561) unternahm sie Bearbeitunter unsers Mißvergnügens. Mchn. 1996. – Pargfrider. Mchn. 1996. – Immer sind die Weiber weg u. a. gen bibl. Texte in Liedform. In kindgerechter Weisheiten. Düsseld. 1997. – Immer sind die Sprache vermittelten die vielstrophigen ErMänner schuld. Mchn. 2002. – Herausgeber: Aus- zähllieder in den Sonteglichen Episteln (zwei kunft. Neue Prosa aus der DDR. Mchn. 1974. – Handschriften 1566, UB Heidelberg, Cod. Auskunft 2. Neue Prosa aus der DDR. Königst./ Pal. germ. 421 u. 426; Druck Nürnb. 1568;
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vier weitere Aufl.n bis 1733; MikroficheAusg. Mchn. 1993) u. im Büchlein Jesu Syrach gleichermaßen bibl. Grundwissen u. eth. Lebensweisheiten. Das Buch Tobiae (Bartfeld 1580, o. O. 1586) war als Ehespiegel angelegt. Ganz im luth. Sinn empfahl H. ihre Liederbücher nicht nur für den Schulunterricht, sondern auch für die häusl. Erziehung im Kreis der Familie. Weitere Werke: Das Gaistlich ABC sampt einem schönen geistl. Liede [in: Das Büchlein Jesu Syrach]. Regensb. 1571 u. ö. – Das Buch der Apostol. Gesch.n gesangsweiß. Zwei Hss. 1573 (UB Heidelb., Cod. Pal. germ. 381 u. 413). Druck Straßb. 1586. – Das Büchlein Ruth [in: Das Buch Tobiae]. Bartfeld 1580 u. ö. Literatur: Lotte Traeger: Das Frauenschrifttum in Dtschld. v. 1500–1650. Diss. Prag 1943, S. 44–51. – Maximiliane Mayr: M. H. Eine Kirchenlied-Dichterin aus dem Jh. der Reformation. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 14 (1969), S. 134–140. – Cornelia Niekus Moore: Bibl. Weisheiten für die Jugend. In: Gisela Brinker-Gabler (Hg.): Dt. Lit. v. Frauen I. Mchn. 1988, S. 172–184. – Siegrid Westphal: Reformator. Bildungskonzepte für Mädchen u. Frauen – Theorie u. Praxis. In: Elke Kleinau u. Claudia Opitz (Hg.): Gesch. der Mädchen- u. Frauenbildung I. Ffm./New York 1996, S. 135–151, bes. S. 147 f. – Albrecht Classen: ›Mein Seel fang an zu singen‹. Religiöse Frauenlieder des 15.-16. Jh. Leuven 2002, S. 318–335 (mit einer Ed. v. vier Liedern). – Linda Maria Koldau: Frauen – Musik – Kultur. Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, S. 369–374. – Manfred Knedlik. M. H. In: Bautz 29 (Lit.). Manfred Knedlik
Heymel, Alfred Walter, auch: Spectator Germanicus, Alfred Demel, eigentl.: Walter Hayes Misch, * 6.3.1878 Dresden, † 26.11.1914 Berlin; Grabstätte: Bremen, Riensberger Friedhof. – Lyriker; Verleger, Buchgestalter, Sammler u. Mäzen. H.s Vater ist unbekannt, seine Mutter Charlotte Elisabeth Dwyer war seit 1870 verwitwet. 1880 wurde H. von dem bei Dresden lebenden Bremer Großkaufmann u. Konsul Adolph Heymel adoptiert. Nach dessen Tod lebte er seit 1890 bei seinem Vormund Dr. jur. Gustav Nagel in Bremen in enger Bindung an die Familie seines Adoptivonkels Johannes Schröder. Von daher rührte die le-
benslange intensive Freundschaft zu Rudolf Alexander Schröder, seinem Vetter. Ihm folgte H. 1898 nach München, um Jura zu studieren, doch interessierte er sich mehr für Kunstgeschichte. Seit dieser Zeit pflegte H. eine gesellige u. intensiv künstlerisch orientierte Lebensform, die ihm durch eine große Erbschaft ermöglicht wurde. Befreundet war er u. a. mit Bierbaum, Hofmannsthal (Briefwechsel 1900–1914. Hg Werner Volke. Freib. i. Br. 1998), Richard Dehmel, Harry Graf Kessler u. Rudolf Borchardt (Briefe an H. in: R. Borchardt: Briefe 1907–1913 bzw. 1914–1923 [Gesammelte Briefe. Bd. 3 u. 4]. Bearb. v. Gerhard Schuster. Mchn. 1995). Als Schriftsteller, bes. als Lyriker, war H. thematisch wie formal den verschiedenen Tendenzen der Jahrhundertwende verpflichtet. Großen Anklang fand die von ihm herausgegebene Sammlung Deutsche Chansons (Bln./Lpz. 1900 u. ö., mehr als 100.000 verkaufte Exemplare bis 1920). In Verbindung mit Schröder u. Bierbaum gab H. seit 1899 die v. a. für die Buchgestaltung wegweisende Zeitschrift »Die Insel« heraus (bis 1902 Mchn.), aus der sich der ebenso berühmte Insel Verlag (Lpz. 1900) entwickelte. Nach seiner Heirat mit Marguerite (Gitta) von Kühlmann kehrte H. 1904 nach Bremen zurück u. entfaltete hier als Sammler u. Kunstförderer viele Aktivitäten, während seine Bemühungen um eine feste Anstellung scheiterten. Besonders unterstützte H. seit 1908 die »Süddeutschen Monatshefte«, in denen er publizierte u. für die er zeitweise als Redakteur wirkte. Zahlreiche Reisen führten H. 1908/09 u. 1910 zweimal in die USA, zudem 1912 u. 1913 jeweils nach Afrika, worüber er in den »Süddeutschen Monatsheften« berichtete. Obwohl H. 1913 an Tuberkulose erkrankte, nahm er als Leutnant der Reserve 1914 mit seinem Dragonerregiment am Ersten Weltkrieg teil. Noch im selben Jahr starb er. Später wurde er nach Bremen umgebettet. Der Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Weitere Werke: In der Frühe. Gedichte u. Sprüche. Bremen 1898. – Der Fischer u. a. Gedichte. Bln./Lpz. 1899. – Der Tod des Narcissus. Dramat. Gedicht. Bremen 1898. Bln./Lpz. 1901. – Ritter
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403 Ungestüm. Eine Gesch. Lpz./Bln. 1900. – Zeiten. Ein Buch Gedichte. Lpz. 1907. – Spiegel, Freundschaft, Spiele. Studien. Lpz. 1908. – Zeiten. Ges. Gedichte aus den Jahren 1895–1910. 2., verm. Aufl. Lpz. 1910. 1914. – Eduard II. Trag. v. Christopher Marlowe. Lpz. 1912 (Übers.). – Gedichte. Der Tag v. Charleroi. Feldpostbriefe. Hg. Rudolf Alexander Schröder. Lpz. [1925]. Literatur: Heinz Sarkowski: Aus den frühen Jahren des Insel Verlages 1899–1908. In: Aus dem Antiquariat 10 (1974), S. A305-A307 (mit Verlagsbibliogr.). – Werner Volke: Der Briefnachlaß A. W. H.s im dt. Literaturarchiv. In: JbDSG 19 (1975), S. 446–470 (mit bibliogr. Hinweisen). – Rudolf Borchardt, A. W. H., Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Dt. Literaturarchivs. Kat. Marbach 1978. – Theo Netler: A. W. H. u. sein Insel-Verlag. In: Aus dem Antiquariat (1994), 10, S. A 369–377. – Ders.: Verleger u. Herrenreiter. Das ruhelose Leben des A. W. H. Gött. 1995 (mit Lit.- u. Werkverz.). – Ders.: Die Bibliophilen A. W. H. u. Harry Graf Kessler. In: Aus dem Antiquariat (1997), 6, S. A 289–299. Detlev Schöttker / Wilhelm Kühlmann
Heyne, Christian Gottlob, * 25.9.1729 Chemnitz, † 14.7.1812 Göttingen; Grabstätte: ebd., Bartholomäusfriedhof. – Klassischer Philologe; Bibliothekar. Der nachmals so berühmte Gelehrte u. Wissenschaftsorganisator wuchs als Sohn eines Leinewebers in größter Armut auf. Immerhin konnte er 1741–1748 durch Unterstützung eines Paten das Lyzeum in Chemnitz besuchen. Das Studium der Theologie, Philologie u. Rechtswissenschaft in Leipzig 1748–1752, u. a. bei Johann Friedrich Christ, musste er sich durch Stundengeben selbst finanzieren. 1752 kam H. nach Dresden; die 100 Taler jährlich, die er seit 1753 als Kopist an der fürstl. Privatbibliothek des Ministers Graf Brühl erhielt, reichten kaum aus gegen das Verhungern. Er war daher genötigt, seine intensiven Studien, die er neben den Dienstpflichten betrieb u. welche die Voraussetzung für seine großen Leistungen auf philolog. u. »antiquarischem« Gebiet schufen, gleich in Geld umzusetzen. Früchte dieser Arbeiten »ums Brod« sind die 1755 erschienenen Gedichte des Tibull (3., verb. Aufl. Lpz. 1798) u. 1757 das Handbüchlein der Moral des Epiktet (2., verb. Aufl. Warschau/Dresden 1766). In
Dresden lernte er Winckelmann kennen, der ihm nachhaltige Anregungen gab, dessen Kunstauffassung u. Methode er sich jedoch fast diametral entgegensetzen sollte. 1757–1759 war H. Hofmeister eines Adligen. 1760 verlor er seine sämtl. Habe, v. a. die kleine Bibliothek mit seinen Exzerpten, durch den Brand beim preuß. Bombardement Dresdens. Dennoch heiratete er 1761 die gleichfalls mittellose Therese Weiß (in Göttingen später genannt »femina profundi C«, Frau mit dem tiefen C – eine gescheite, aber unerhört schlampige Person, unachtsam bis zur Schmuddeligkeit). Sie starb 1775 u. hinterließ ihm einen Sohn u. zwei Töchter (darunter Therese, spätere Forster u. Huber). 1777 heiratete er die 24 Jahre jüngere Georgine Brandes († 1834). Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne u. vier Töchter hervor. 1763 wurde H. durch Gerlach Adolph von Münchhausen (1688–1770), dem damaligen Kammerpräsidenten von Kurhannover u. Kurator der Universität, als Nachfolger von Johann Matthias Gesner (1691–1761) zum Zweiten Bibliothekar, Professor der Beredsamkeit u. Leiter des philolog. Seminars nach Göttingen berufen. Sein Leben verlief von da an äußerlich ereignislos; das Kurfürstentum Hannover verließ er nur noch einmal 1788, um in die Schweiz zu reisen. – Noch im Jahr der Berufung wurde er Oberbibliothekar; 1770 erhielt er den Hofratstitel, 1801 den eines Geheimen Justizrats, 1810 den eines »Ritters der Westphälischen Krone«. Ein halbes Dutzend gelehrter Gesellschaften ehrte ihn durch Mitgliedschaft. Auch materiell wurde seine Leistung belohnt: Neben Pütter gehörte er zu den bestverdienenden Göttinger Gelehrten. Erst 1809 gab er seine Professur der Beredsamkeit ab; Bibliotheksdirektor u. Seminarleiter blieb er bis zum Lebensende. 1776–1789 reorganisierte H. die Göttinger Bibliothek; insbes. das bis heute benutzbare u. benutzte Katalogsystem geht auf seine Organisation u. die gewaltige Energie seines konsequenten u. unermüdl. Mitarbeiters J. D. Reuß zurück. Mehr noch bemühte H. sich um Ankauf u. systemat. Bestandsergänzung: Bei seinem Dienstantritt zählte die Göttinger
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Bibliothek 60.000 Bände – er übergab nach einem halben Jahrhundert 200.000. Lichtenberg nannte ihn einen »Riesen an Tätigkeit«; sehr zu Recht, denn die Führung jedes seiner Ämter hätte einen ganzen Mann gefordert: 1774 wurde H. zum Inspektor der Freitische ernannt; mit dem Lehrstuhl übernahm er einen Sitz im akadem. Senat; als prakt. Pädagoge wirkte er als langjähriger Inspektor des städt. Göttinger Pädagogiums u. (seit 1770) der alten Klosterschule zu Ilfeld/ Grafschaft Hohnstein, der damals einzigen staatl. (nicht städt.) Lehranstalt in Kurhannover. 1770 erfolgte seine Berufung zum Sekretär der Königlichen Sozietät der Wissenschaften. Gleichzeitig nahm er seine Tätigkeit als Redakteur der »Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen« auf. In den 45 Jahren seiner Mitarbeiterschaft hat er nicht nur durch ausgebreitete Korrespondenz für pünktl. Berichterstattung auf allen Gebieten der Wissenschaft gesorgt u. die »Anzeigen« durch alle personalen u. finanziellen Krisen gerettet, sondern auch etwa 6000 Rezensionen selbst verfasst. Nebenbei schrieb er außer zahllosen Vorreden, akadem. Nachrufen u. Anreden 50 lat. Abhandlungen zur Altertumswissenschaft in den »Commentationes« der Sozietät, ferner neun Aufsätze zu archäolog. Themen. Entsprechend überwältigend war auch seine Tätigkeit als Briefschreiber. Seine größtenteils ungedruckte Korrespondenz mit Münchhausen (von diesem sind 500 Briefe überliefert) u. die durchschnittlich zweimal wöchentlich gewechselten Briefe zwischen ihm u. dem in der hannoverschen Regierung als Betreuer der Göttinger Universität zuständigen Geheimen Kabinettsrat Georg Friedrich Brandes (1719–1791; etwa 1600 Briefe überliefert), seinem nachmaligen Schwiegervater, über Neuanschaffungen u. literar. Fragen, Berufungen, innerakadem. u. öffentl. Probleme zeigen, wie eine Universität durch moderate Weltklugheit, Weitsicht, sachbezogene u. skrupelhafte Intrige in geschickter, verantwortungsbewusster Ämterbündelung gelenkt werden konnte. Der an sich wenig originelle H. ist fraglos als akadem. Lehrer wie als Editor u. Kritiker der Wegbereiter der modernen Klassischen
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Philologie, wie sie durch Friedrich August Wolf u. Lachmann im 19. Jh. begründet wurde. Deren Verfahren hat er konsequent nur in den von ihm entschieden rationalistisch betriebenen Bereichen Archäologie, Altertümer u. Mythologie vorweggenommen. Während er aber dort die ältere Schule, insbes. Winckelmann, weiterdachte u. durch Hintansetzen ästhetischer Kategorien kritisch überflügelte, zielte er als Philologe (sowohl als akadem. Lehrer wie als textkrit. Editor) vornehmlich auf eine nicht recht definierte »Eleganz«, eine Bemühung, beim Leser u. Hörer Verständnis für poetische Schönheit zu wecken. Infolgedessen leiden seine interpretierenden Kommentare u. seine daher oft schwankenden u. ungleichen Konjekturen unter der Zurücksetzung der Überlieferungssicherung u. dem geringen Verständnis des grammat. u. metr. Arguments in der Textkritik. Das philolog. Seminar, zu dessen Teilnehmern neben zahllosen späteren Lehrern u. Theologen auch so berühmte Gestalten wie Johann Heinrich Voß (der sich mit H. alsbald wegen Nichtigkeiten überwarf u. ihn unnachsichtig verfolgte), August Wilhelm Schlegel, Boie, beide Humboldts, Gottfried Hermann, Wolf u. Lachmann gehörten, hielt H. bis wenige Tage vor seinem Tod ab. Weitere Werke: Ziemlich vollst. verzeichnet bei Johann Stephan Pütter: Versuch einer academ. Gelehrtengesch. der [...] Univ. zu Göttingen. 4 Bde., Gött. 1765–1838, s. v. – Schr.en. Hg. Arnold Hermann Ludwig Heeren. 6 Bde., Gött. 1813. – H.s Vorlesungen über die Kunst der Antike. Hg. Hermann Bräuning-Oktavio. Darmst. 1971. – Editionen: Vergil. Lpz. 1767–75. 31803. – Pindar. Gött. 1773. – Apollodor. Gött. 1782/83. – Homer. Lpz./London 1802–22. Literatur: Arnold Hermann Ludwig Heeren: C. G. H. Gött. 1813. – Friedrich Leo: C. G. H. In: FS der Kgl. Gesellsch. der Wiss.en zu Göttingen. Bln. 1901, S. 155–234. – Der Vormann der Georgia Augusta. C. G. H. zum 250. Geburtstag. Sechs akadem. Reden. Gött. 1980. – Johannes Irmscher: C. G. H. – Altertumsforscher, Wissenschaftsorganisator, Winckelmannverehrer. In: Winckelmanns Wirkung auf seine Zeit. Lessing – Herder – H. (Schr.en der Winckelmann-Gesellsch. 7). Stendal 1988, S. 113–122. – Heinz Berthold: Bewunderung u. Kritik. Zur Bedeutung der Mittlerstellung C. G.
405 H.s. In: ebd., S. 161–170. – Hartmut Döhl: Die Archäologievorlesungen C. G. H.s. Anmerkungen zu ihrem Verständnis u. ihrer Bedeutung. In: ebd., S. 123–147. – Ders.: Johann Dominicus Fiorillo u. C. G. H. Interdisziplinäre Zusammenarbeit im 18. Jh. In: Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgesch. u. die romant. Bewegung um 1800. Hg. Antje Middeldorf Kosegarten. Gött. 1997, S. 145–166. – Frank William Peter Dougherty (Hg.): C. G. H.’s Correspondence with Albrecht and Gottlieb Emanuel v. Haller. Gött. 1997. – Philippe Guilbert: Welche neuzeitl. Strategien für die Rettung der antiken Mythologie? Vergleich v. drei ›Handbüchern zur Götterlehre‹ um 1790: K. W. Ramler – C. G. H./M. G. Hermann – K. P. Moritz. In: Goethe Yearbook 9 (1999), S. 186–221. – Irene Polke: Selbstreflexion im Spiegel des Anderen. Eine wirkungsgeschichtl. Studie zum Hellenismusbild H.s u. Herders. Würzb. 1999. – Fee-Alexandra Haase: C. G. H. (1729–1812). Ein begriffsgeschichtl. Beitr. der Philologie des 18. Jh. zur wiss. Kritik. In: Jb. Int. Germ. 32 (2000), H. 2, S. 105–117. – Wolfgang Milde: Lessing u. sein bibliothekar. Kollege C. G. H. In: Ders.: Mediaevalia et Lessingiana. Kleine Schr.en. Hildesh. 2001, S. 299–318. – Sotera Fornaro: I Greci senza lumi. L’antropologia della Grecia antica in C. G. H. (1729–1812) e nel suo tempo. Gött. 2004. – Ulrich Schindel: Histor. Analyse u. Prognose im 18. Jh. C. G. H. u. die spätantike röm. Historiographie. In: Antike u. Abendland (2004), Bd. 50, S. 1–13. – Marianne Heidenreich: C. G. H. u. die Alte Gesch. Mchn./Lpz. 2006. Ulrich Joost / Red.
Heyne, Christian Leberecht, auch: Anton Wall, * 1751 Leuben bei Meißen, † 13.1. 1821 Hirschberg/Vogtland. – Dramatiker u. Erzähler, Übersetzer H. besuchte die Domschule in Naumburg u. studierte anschließend in Leipzig Rechtswissenschaft. Seine erste literar. Veröffentlichung waren die Kriegslieder mit Melodien (Lpz. 1779), zu denen er sich durch die im Siebenjährigen Krieg entstandenen Kriegslieder Gleims hatte anregen lassen. 1787 ging er als Privatsekretär nach Halle. In den 1780er Jahren erschienen in mehreren Auflagen die Bagatellen (zuerst Lpz. 1783/85), eine Sammlung dramat. u. erzählender Texte, die wohl H.s bedeutendste Leistung ist. 1788–1790 hielt er sich in Berlin auf. Nachdem er eine Anstellung bei der preuß. Regierung abgelehnt hatte, lebte er in den folgenden Jahren
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in Rochlitz u. in Geringswalde in Sachsen. 1798 wandte er sich nach Altenburg, wobei er einer Einladung des Buchhändlers Richter folgte, für den er in den folgenden Jahren eine Reihe oriental. Märchen u. einen Roman schrieb. Nach 1805 trat bei H. eine psych. Erkrankung deutlicher hervor, die ihm literar. Arbeit unmöglich machte. Zweimal noch versuchte er sich als Hauslehrer. Seine späteren Jahre verbrachte er in dürftigen Verhältnissen. Ein beträchtl. Teil der Veröffentlichungen H.s besteht aus Übersetzungen u. Bearbeitungen. Zu ihnen gehören Aemilie (Lpz. 1781), nach Fieldings Amelia (1752), sowie Die besten Werke der Frau Riccoboni (Lpz. 1781/82) u. Erzählungen nach Marmontel (Lpz. 1787). Literaturgeschichtliches Interesse verdient v. a. das Lustspiel Die beiden Billets (Lpz. 1790), eine Bearbeitung von Claris de Florians Les deux billets (1779), weil sich an ihm die Verbürgerlichung u. Sentimentalisierung der Comédie italienne bei der Aufnahme in Deutschland ablesen lässt. Symptomatisch ist, dass H. die Handlung aus der Stadt in ein ländl. Milieu verlegt, wie es aus Weisses Operetten bekannt war. Aus den ital. Masken Arlequin u. Argentine wird ein empfindsames Liebespaar, Scapin verwandelt sich in den Barbier Schnapps. Eine Weimarer Aufführung des Stücks gab im April 1793 Goethe den Anstoß, in wenigen Tagen sein Lustspiel Der Bürgergeneral niederzuschreiben, wobei er die Figur des Schnaps übernahm (vgl. Goethe: Campagne in Frankreich. Hamburger Ausg. 10, S. 358 f.). Zu den beiden Billets lieferte H. selbst eine Fortsetzung: Der Stammbaum (Lpz. 1791). Beide Stücke erfreuten sich noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. großer Beliebtheit. H.s Beitrag zur erzählenden Literatur orientiert sich z.T. an der auf Marmontel zurückgehenden Tradition der moralischen Erzählung, die rasch in Deutschland heimisch geworden war. Einige Texte der Bagatellen folgen dem Muster des Voltaire’schen Conte philosophique, das oft ein oriental. Dekor benutzt u. sich mit seiner knappen u. pointierten Erzählweise ganz auf die Demonstration einer bestimmten These ausrichtet. August Wilhelm Schlegel rechnete 1798 im
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»Athenäum« H.s Erzählungen zum Erfreulichsten auf dem Feld dieser in Deutschland noch wenig entwickelten Gattung (vgl. Bd. 12, Sämmtliche Werke. Lpz. 1846/47, S. 27). Weitere Werke: Lustspiele: Der Arrestant. Lpz. 1780. – Caroline oder So wahr ich bin ein freyer Mann. Lpz. 1780. – Der Herr im Hause. Lpz. 1783. – Persische Märchen: Amathonte. Altenburg 1799. – Murad. Altenburg 1801 (Bd. 2. v. 1805 stammt nicht v. H.). Literatur: Rudolf Fürst: Die Vorläufer der modernen Novelle im 18. Jh. Halle 1897, S. 151 ff. – Siegfried R. v. Schöppl: Von Florians ›Les deux billets‹ zu Goethes ›Bürgergeneral‹. Programm Laibach 1909. – Walter Hinck: Das dt. Lustsp. des 17. u. 18. Jh. u. die ital. Komödie. Stgt. 1965, S. 372 ff. Jürgen Jacobs
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ßenseiter u. Ausgegrenzte; sie erzählen z.B. von den typischen Konflikten heranwachsender Mädchen (Funny Fanny. Bln. 1987 u. ö.) u. der Inquisition im MA (Hexenfeuer. Bindlach 1990. Ravensburg 1999), befassen sich aber auch mit Umwelt- u. Tierschutz (Der Krötenkrieg von Selkenau. Bln. 1985. Mchn. 7 1995. Der Ferienhund. Bln. 1988. Überarb. Neuausg. Würzb. 21997), mit Rassismus u. Ausländerfeindlichkeit (Yildiz heißt Stern. Würzb. 1994 u. ö.). Weitere Werke: Kara, der Sklave aus Punt. Oldenb. 1981. Freib. i. Br. 1985 (R.). – Ankunft im Alltag. Freib. i. Br. 1986 (E.). – Gewitterblumen. Bindlach 1989 (R.). – Jerusalem ist weit. Würzb. 1993 (histor. R.). – Unter der griech. Sonne. Mchn. 2001 (R., mit Sprachführer). Literatur: Konrad Müller: I. H. In: Lexikon Deutsch. Kinder- u. Jugendlit. Hg. Jörg Knobloch u. Steffen Peltsch. Freising 1998, S. 60 f. Birgit Dankert / Christine Henschel
Heyne, Isolde, geb. Heldmann, gesch. Sämann* 4.7.1931 Prödlitz/Bezirk Aussig (Ústí nad Labem, heute Tschechische Republik). – Kinder- u. Jugendbuchautorin, Journalistin. Heynicke, Kurt, * 20.9.1891 Liegnitz/ Schlesien, † 18.3.1985 Merzhausen bei H. flüchtete nach dem Zweiten Weltkrieg Freib. i. Br. – Lyriker, Komödienschriftvom Sudetenland nach Sachsen u. studierte steller, Romancier, Hörspiel- u. Dreham Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in buchautor. Leipzig (Diplom 1964). Anschließend arbeitete sie als freie Autorin u. Journalistin. 1979 siedelte sie mit ihrem zweiten Mann in die Bundesrepublik über. Heute lebt sie wieder in Leipzig. Zentrales Thema ihrer Kinder- u. Jugendbücher waren bis 1990 die dt. Teilung u. Probleme der Übersiedlung von der DDR in die Bundesrepublik, so in den erfolgreichen Jugendromanen ... und keiner hat mich gefragt (Würzb. 1981. 51989), Treffpunkt Weltzeituhr (Würzb. 1984. 61990), für den H. den Deutschen Jugendliteraturpreis 1985 erhielt, u. Sternschnuppenzeit (Würzb. 1988. 41990). Die dt.-dt. Beziehungen beschäftigen sie auch nach der Wiedervereinigung in dem Roman Lara und Justus oder Die unsichtbare Grenze (Würzb. 1996), der von der schwierigen Annäherung eines von Hessen nach Leipzig gezogenen Jungen u. eines dort aufgewachsenen Mädchens erzählt, die sich zunächst mit Misstrauen u. Vorurteilen begegnen. H.s Texte sind um Aufklärung u. Sensibilisierung bemüht u. ergreifen Partei für Au-
Der v. a. aufgrund seiner expressionistischen Lyrik bekannt gewordene Autor stammte aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater war Klavierbauer. H. wuchs in Liegnitz, Dresden, Zeitz u. Berlin auf u. war nach der Volksschule Versicherungsangestellter u. 1914–1918 Soldat. Während des Kriegs entdeckte Herwarth Walden H.s lyr. Talent u. veröffentlichte im »Sturm« dessen Gedichte. 1917 erschien H.s erste Gedichtsammlung Rings fallen die Sterne (Bln.). Für den dritten Gedichtband, Das namenlose Angesicht (Lpz. 1919), erhielt er den Kleist-Preis. Entgegen H.s nachträgl. Distanzierung von der expressionistischen Bewegung verweisen schon Gedichttitel wie Schrei, Erhebung, Aufbruch, Brüder oder Menschen auf seine Zugehörigkeit zur damals jüngsten Literatur. H.s Lyrik war geprägt von einem religiösen Geist der Utopie u. Hoffnung, der einen Teil der expressionistischen Literatur charakterisierte. Seinen Versen fehlte dabei jedoch das provokative Element. Viele Gedichte aus die-
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ser Zeit blieben »lyrisch« in traditionellem spiele. Bln. 1935. – Das Leben sagt Ja. Stgt. 1936 Sinn. Hier singt jemand mit pantheistischer (L.). – Herz, wo liegst du im Quartier? Ein heiterer Weltfrömmigkeit in schönen Tönen von Roman. Stgt. 1938. – Der Baum, der in den Himmel Sternen, Mond u. Sonne, von Meer, Licht u. wächst. Ein heiterer Roman. Stgt. 1940. – Rosen blühen auch im Herbst. Stgt. 1942 (R.). – Es ist Ewigkeit, träumt von der Harmonie mit der schon nicht mehr wahr. Stgt. 1948 (R.). – Der Menschheit, der Natur u. mit Gott. H. stand Hellseher. Stgt. 1951 (R.). – Die Nichte aus Amerizeitweilig unter dem Einfluss der Anthropo- ka. Mchn. 1955 (Lustsp.). – Die Partei der Anstänsophie Steiners. digen. Das Lächeln der Apostel. Worms 1968 Obwohl H. weit über die Zeit des Expres- (Hörsp.e). sionismus hinaus literarisch produktiv war u. Literatur: K. H. Mit Beiträgen v. K. H., Bruno nach 1945 mit angesehenen Literaturpreisen Berger u. einer K. H.-Bibliogr. v. Hedwig Bieber. geehrt wurde (u. a. 1968 mit dem Reinhold- Dortm. 1966. – Ulrich Keicher u. Werner F. Bonin Schneider-, 1970 mit dem Andreas-Gryphius-, (Hg.): Alles Gelebte ist Leihgabe. K. H. zum 90. 1972 mit dem Eichendorff-Preis), findet seine Geburtstag. Leonberg 1981. – Gerwig Epkes: K. H. ›... von Begegnungen ... mit sich selbst!‹ Ein Porspätere literar. Laufbahn in Literaturgeträt. 1 CD. Eggingen 2001. Thomas Anz schichten keine Erwähnung. In den 1920er Jahren hatte H. als Dramaturg in Düsseldorf gearbeitet, ab 1932 für die Heynlin, Johannes de Lapide, a Lapide, Ufa in Berlin. In der Zeit des Nationalsozia- Johannes Heynlin, auch: J. H. von Stein, lismus war er einer der wenigen Verfasser von * 1430 Stein bei Pforzheim, † 12.3.1496 Thingspielen. 1943 zog er sich in den Basel. – Frühhumanist. Schwarzwald zurück, nach Merzhausen bei Freiburg. In den letzten Lebensjahren war er Das Studium führte H. über Erfurt, Leipzig (Baccalaureus artium 1450) u. Löwen 1453 blind. H. verfasste zahlreiche Hörspiele u. etl. nach Paris. Dort war er zwölfmal für die Drehbücher für den Film, später auch für das »deutsche Nation« der UniversitätsangehöFernsehen. Mit Komödien, alemann. Volksrigen als Procurator u. 1458/59 als Rezeptor stücken u. heiteren Romanen erlangte er als tätig. 1462 wurde er in die Sorbonne als Unterhaltungsschriftsteller beachtl. Publitheolog. Baccalaureus inkorporiert. Er war kumserfolge. Mit höherem Anspruch arbei1468 Prior u. 1469 Rektor; 1472 promovierte tete H. nebenher bis ins hohe Alter an seinem er zum Dr. theol. Bei der Universitätsreform lyr. Werk weiter, mit dem er trotz aller trat H. entschieden für den thomistischen Wandlungen seinen expressionistischen AnRealismus ein. Als Artes-Professor kommenfängen nahe blieb. Dieses Werk ist geprägt tierte u. las er u. a. über Aristoteles. Spektavom Vertrauen auf die läuternde Kraft der kulär war sein Zug mit Pariser Scholaren, Dichtung u. vom Glauben an die Überwin- darunter Geiler von Kaysersberg, 1465/66 dung aller Negativitäten. Der Titel des 1969 nach Basel, wo er durchsetzte, dass neben erschienenen Bands mit seinen späten Ge- dem Nominalismus der Realismus gleichbedichten ist dafür bezeichnend: Alle Finsternisse rechtigt in die Universitätsstatuten aufgesind schlafendes Licht. nommen wurde. Weitere Werke: Werkausgaben: Das lyr. Werk. 3 H.s Wirken für eine bessere Sprachbildung Bde., Worms 1974 u. 1981. – Jeder Tag. Das lyr. diente noch ganz spätmittelalterlich der ReiGesamtwerk. Herdecke 2000. – Einzeltitel: Gottes nigung der Theologie u. einer wirksameren Geigen. Mchn. 1918 (L.). – Der Kreis. Ein Spiel über Vermittlung ihrer Inhalte. Humanistisch war den Sinnen. Bln. 1920 (D.). – Die hohe Ebene. Bln. v. a. sein frühes Eintreten für den Buchdruck. 1921 (L.). – Der Weg zum Ich. Die Eroberung der So gab er zusammen mit Guilhelmus Ficheinneren Welt. Prien 1922 (Ess.). – Eros inmitten. Rudolstadt 1925 (E.en). – Das Meer. Lpz. 1925 (D.). tus 1470 als erstes in Paris gedrucktes Buch – Sturm im Blut. Lpz./Köln 1925 (D.). – Kampf um über Petrarcas De Arte punctandi seinen ComPreußen. Lpz. 1926 (D.). – Traum im Diesseits. Bln. pendiosus dialogus de arte punctandi heraus (26 1932 (L.). – Der Fanatiker v. Schönbrunn. Bln. 1933 weitere Auflagen). Ausgaben von Vallas Ele(E.). – Neurode. Der Weg ins Reich. Zwei Thing- gantiae linguae latinae (1471) u. Ciceros De of-
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ficiis (1472), weitere humanistische Sprach- Archiv des histor. Vereins des Kantons Bern 32 lehren u. antike pagane u. christl. Studien- (1934), S. 113–117. Literatur: Max Hossfeld: J. H. aus Stein. In: texte folgten. H.s Wechsel in die Praxis als Prediger nach Basler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 6 Basel (»vice plebanus« am Leonhardstift) um (1907), S. 309–359. 7 (1908), S. 79–219, 237–431 (grundlegend). – Max Burckhardt: Über zwei Bü1470 war für manche überraschend. Er hielt cherliebhaber in Basel. In: Schweizer Sammler, zwar Kontakte zur Basler Universität u. för- 1942 (Sonderdr.). – Ders.: Die Inkunabeln aus der derte den Humanismus kräftig, legte aber das Bibl. des J. de L. In: FS Christoph Vischer. Basel Hauptgewicht auf das Predigen u. die Ent- 1973, S. 15–75. – A. Gabriel: Via antiqua and Via wicklung einer neuen Homiletik. Bald wurde moderna and the Migration of Paris Students and er ein vielgesuchter Prediger, der Predigtzy- Masters to the German Universities in the 15th klen in Bern, Tübingen (wo er auch für die Century. In: Antiqui et Moderni. Miscellanea Meneu gegründete Universität tätig war) u. im diaevalia 9. Hg. Albert Zimmermann. Bln./New Badischen hielt, bis er 1484 am Basler York 1974, S. 439–483. – Beat Matthias v. Scarpatetti: Kirche u. Augustiner-Chorherrenstift St. LeMünster die Nachfolge Wilhelm Textoris’ onhard in Basel. Basel 1974. – Martin Steinmann: antrat. Er stand in engem Kontakt mit zahl- Basler Büchersammler: J. H. de L. In: Librarium 20 reichen Humanisten (Trithemius, Agricola, (1977), S. 22–49. – B. M. v. Scarpatetti: H. d. L. In: Reuchlin, Andlau, Celtis) u. spielte als Rat- VL. Heinz Holeczek geber, Herausgeber u. Autor für die von seinem Pariser Schüler Johannes Amerbach 1477 gegründete Offizin eine hervorragende Rolle. Heyse, Paul (Johann Ludwig), * 15.3.1830 Spektakulär war H.s plötzl. Entschluss, sich Berlin, † 2.4.1914 München; Grabstätte: 1487 in die Basler Kartause St. Margaretental ebd., Waldfriedhof. – Epiker, Dramatiker, zurückzuziehen, wo er sich ein Jahrzehnt Lyriker u. Übersetzer. lang auf sein Ende vorbereitete u. nur noch zum Druckhaus Amerbach-Froben Kontakt H. wuchs in einem Elternhaus auf, in dem schöngeistige Interessen hochgehalten u. inhielt. tensive Beziehungen zu Kultur- u. WissenDie Bedeutung H.s liegt in seiner Wirkung schaftskreisen gepflegt wurden. Sein Vater auf eine große Gruppe südwestdt. ReformCarl Heyse arbeitete zunächst als Hauslehrer humanisten. Den Konflikt zwischen einer (u. a. bei Wilhelm von Humboldt u. der Faaktiven Vita in der Öffentlichkeit u. einem milie Mendelssohn-Bartholdy) u. war seit Rückzug in die meditative Selbstreflexion 1829 a. o. Prof. für Klassische Philologie u. konnte er nicht vereinbaren, sondern nur Sprachwissenschaft an der Universität Berlin. traditionell mit dem Eintritt in die Kartause H.s Mutter Julie Saaling stammte aus einer lösen. Durch seine starke persönl. Spiritualireichen, konvertierten jüd. Familie u. war tät u. Frömmigkeit hat er jedoch den europ. mit den Mendelssohn-Bartholdys verwandt. Humanismus als kirchl. Reformbewegung Noch als Gymnasiast gelang es H., mit seinen nachhaltig mitgeprägt. ersten Gedichten, seinem jugendl. Charme u. Weitere Werke: Premonitio circa sermones de Übermut wichtige Mentoren zu gewinnen, conceptione gloriose virginis Marie. Basel 1488 die ihm bereitwillig den weiteren Weg ebne(Einl. zu H.s Ausg. der ›Sermones‹ Meffrets). – Reten: den Dichter Emanuel Geibel u. den solutorium dubiorum circa celebrationem missaKunsthistoriker Franz Kugler. In den nächsrum occurantium. Ebd. 1492 (43 weitere Druckausgaben). – Tractatus de arte solvendi importunas ten Jahren lernte H. Burckhardt, Menzel u. sophistarum argumentationes (an H.s Ausg. v. Fontane kennen u. wurde Mitgl. des literar. Aristoteles’ ›Organon‹) mit Komm. v. H. u. Beitr. v. Vereins »Tunnel über der Spree«, in dem er bereits 1852 den doppelten Preis für die beste S. Brant. Ebd. 1495. Ausgaben: ›Sermo habitus in Tubingen in missa Erzählung in Versen u. in Prosa erhielt. Dennoch verlief H.s Entwicklung keinesUniversitatis‹ 1478. Hg. E. Stolz. In: Theolog. Quartalsschrift 108 (1927), S. 37–49. – Sieben Ab- wegs geradlinig. Zwischen 1847 u. 1852 stulaßpredigten J. H.s v. Stein. Hg. H. v. Greyerz. In: dierte er Klassische Philologie in Berlin, be-
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teiligte sich an den Barrikadenkämpfen, wandte sich enttäuscht von der Revolution ab u. wechselte nach Bonn, wo er sich zunächst der Kunstgeschichte, dann der Romanistik widmete. Im Mai 1852 war H. wieder in Berlin (zurückgetrieben durch eine Liebesaffäre mit einer Bonner Professorengattin) u. verteidigte mit Erfolg seine Dissertation über den Refrain bei den Troubadours. Zu einer prägenden Erfahrung wurde die einjährige Italienreise, die H. im Herbst 1852 antrat. Die neuen Anregungen schlugen sich in zahlreichen ital. Novellen nieder, welche H.s Ruhm begründeten, u. ließen ihn zu einer Art überzeugtem Kulturattaché Italiens in Deutschland werden. Angefangen mit der Auswahl Italienisches Liederbuch (Bln. 1860) trug H. als Übersetzer u. Herausgeber entscheidend zur Verbreitung der ital. Literatur u. Kultur in Deutschland bei. Kaum nach Berlin zurückgekehrt, wurde H. 1854 auf Vermittlung von Geibel, u. in der Tat noch ganz unverdient, als ein kommendes Licht nach München berufen. Er bekam von Maximilian II. eine lebenslange Pension ausgesetzt u. war neben der Verpflichtung, sich an den Diskussionsrunden des Königs (»Symposien«) zu beteiligen, ein freier Schriftsteller. 1868 kündigte H. die kgl. Pension auf, weil Maximilians Nachfolger Ludwig II. erwartete, dass die Berufenen seine polit. Interessen vertraten. Damit vollzog H. den paradigmat. Übergang vom Hofdichter zum Publikumsschriftsteller. Im Unterschied zu den meisten Vertretern seiner Generation (Fontane, Storm, Keller) ging H. nie einem bürgerl. Beruf nach u. kannte keine finanziellen Sorgen. Er residierte in einer prächtigen Villa in München (seit 1874) u. besaß ein Haus in Italien (seit 1899). Wie kein anderer zeitgenöss. Autor wusste H. seine Interessen zu vertreten u. die allerhöchsten Honorare zu erreichen. Auf dem Markt der Familienzeitschriften u. des Zeitungsfeuilletons waren seine Werke äußerst begehrt. Seit den 1870er Jahren wurde H. zur Schlüsselfigur des literar. Lebens u. zu einer kulturellen Institution. Er saß im Kapitel des Maximiliansordens (1872–1887) u. der Schillerpreis-Kommission (1887–1896) u.
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wurde 1885 als einziger Dichter in den konstituierenden Vorstand der Goethe-Gesellschaft gewählt. 1871–1876 gab er zusammen mit Hermann Kurz die Anthologie Deutscher Novellenschatz (24 Bde., Mchn.) heraus. So verhalf H. verstorbenen Dichtern zur Geltung (z.B. Annette von Droste-Hülshoff mit der Judenbuche) u. förderte gleichzeitig zeitgenöss. Kollegen (u. a. Gottfried Keller mit Romeo und Julia auf dem Dorfe). 1910 wurde H. als erster dt. Dichter mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Vom bayerischen Personaladel, der ihm im selben Jahr verliehen wurde, machte er niemals Gebrauch. Zahlreichen Zeitgenossen galt H. als der wichtigste dt. Schriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jh. u. der legitime Nachfolger Goethes. Nach seinem Tod wurde er jedoch schnell vergessen, sein Werk hatte sich überlebt. Auch aus der Sicht der Forschung verschwand H. für viele Jahrzehnte. Hier wurden zunächst die harschen u. teilweise ungerechten Urteile der Naturalisten übernommen, die sich H. wegen seiner exponierten Stellung zu ihrem Popanz wählten. Seit der Ausstellung »Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter« von 1981 setzt sich eine differenziertere Sicht auf H. durch; der Autor wird zunehmend in seiner kulturgeschichtl. Rolle gewürdigt. H. gehörte zu den produktivsten Autoren seiner Zeit; er schrieb acht Romane, über 150 Novellen, mehr als 60 Theaterstücke u. unzählige Gedichte. Im Bereich der Lyrik u. des Dramas hatte er freilich keine größeren Erfolge zu verbuchen. H.s Lyrik sagte v. a. Komponisten zu, so dass seine 123 Gedichte insg. 638-mal vertont wurden, u. a. von Johannes Brahms. Das erfolgreichste Schauspiel Colberg (Erstaufführung 1865, dann umgeschrieben. Bln. 1868) profitierte hauptsächlich von der patriotischen Welle der Einigungskriege u. war Pflichtlektüre in vielen Schulen. Zum Liebling der Zeitgenossen wurde H. mit seinen Liebesnovellen, die er gern in Italien spielen ließ. Wie kaum ein anderer von seinen Zeitgenossen entwarf H. Bilder von unangepassten, aktiven u. selbstbewussten Frauen (L’ Arrabbiata. 1853. Beatrice. 1867. Die Stickerin von Treviso. 1868). Da sich seine Heldinnen oft über die üblichen An-
Hieber
standsgrenzen hinwegsetzen, haftete ihm schnell der Ruf eines unanständigen Schriftstellers an. Selbst Fontane u. Storm fanden H.s Schilderungen zu gewagt u. griffen ihn deswegen an. Tatsächlich hat H. die Sphäre der bürgerl. Moral nie verlassen (was ebenfalls für seine Romane gilt): Der Aufstand gegen die soziale Norm ist von begrenzter Dauer; am Ende triumphiert das etablierte Wertesystem. Der Leser wird mit dem ambivalenten Handlungsverlauf versöhnt, indem der ausgelebten Leidenschaft die Strafe des Schicksals oder eine freiwillige Entsagung folgt. Ein anderes Antlitz zeigte H. in seinem Spätwerk Novellen vom Gardasee (entstanden 1897–1901. Stgt. 1902), mit dem er den Anschluss an die europ. Moderne suchte. Im Zentrum der Geschichten steht die Krankheit als Hilferuf der Seele. Der Roman war die letzte Gattung, in welcher der H. reüssierte. Mit den Zeitromanen Kinder der Welt (3 Bde., Bln. 1873), Im Paradiese (3 Bde., Bln. 1875), Merlin (3 Bde., Bln. 1892) u. Über allen Gipfeln (Bln. 1895) sprach er Themen von hoher Brisanz an. Sie wurden jeweils zu einem vieldiskutierten Kulturereignis. Im Erstling Kinder der Welt huldigt H. dem Atheismus, verlangt Lehr- u. Forschungsfreiheit u. zeigt sich als Verfechter der Frauenbildung. Das Werk erlebte bis 1915 ganze 30 Auflagen u. zählte noch am Ende des 19. Jh. zu den gefragtesten Büchern in dt. Leihbibliotheken. Ausgaben: Dramat. Dichtungen. 38 Bde., Bln./ Stgt. 1864–1905. – Ges. Werke. 38 Bde., Bln./Stgt. 1872–1914. – Ges. Werke. Neue Serie. 42 Bde., Stgt. 1902–12. – Ges. Werke. 15 Bde., Stgt. 1924. – Ges. Werke (Gesamtausg.). Hildesh. u. a. 1984 ff. (bisher 5 Reihen, 26 Bde.). – Briefe: Der Briefw. v. Emanuel Geibel u. P. H. Hg. Erich Petzet. Mchn. 1922. – Theodor Storm – P. H. Briefw. Krit. Ausg. Hg. Clifford A. Bernd. 3 Bde., Bln. 1969–74. – Der Briefw. zwischen Theodor Fontane u. P. H. Hg. Gotthard Erler. Bln. 1972. – ›Du hast alles, was mir fehlt ...‹. Gottfried Keller im Briefw. mit P. H. Hg. Fridolin Stähli. Zürich 1990. – Ein Buch der Freundschaft über getrennte Welten hinweg. Die Korrespondenz zwischen Wilhelm Bolin u. P. H. Hg. Susanne Frejborg. Ffm. 1992. – Ein Gefühl der Verwandtschaft. P. H.s Briefw. mit Eduard Mörike. Hg. Rainer Hillenbrand. Ffm. 1997. – P. H.s Briefe an Wilhelm Petersen. Mit H.s Briefen an Anna Pe-
410 tersen, vier Briefen Petersens an H. u. einigen ergänzenden Schreiben aus dem Familienkreise. Hg. R. Hillenbrand. Ffm. 1998. – Der Briefw. zwischen P. H. u. Hermann Levi. Eine krit. Ed. Hg. Julia Bernhardt. Hbg. 2007. Literatur: Bibliografie: Werner Martin (Hg.): P. H. Eine Bibliogr. seiner Werke. Mit einer Einf. v. Norbert Miller. Hildesh./New York 1978. – Weitere Titel: Annemarie v. Ian: Die zeitgenöss. Kritik an P. H. 1850–1914. Diss. Mchn. 1965. – Michael Krausnick: P. H. u. der Münchner Dichterkreis. Bonn 1974. – Sigrid v. Moisy (Hg.): P. H. Münchner Dichterfürst im bürgerl. Zeitalter. Mchn. 1981 (Ausstellungskat.). – Bernhard Spies: Der Luxus der Moral. Eine Studie zu P. H.s Novellenwerk. In: Lit. für Leser (1982), S. 146–163. – Andreas Pöllinger: Der Zensurprozeß um P. H.s Drama ›Maria von Magdala‹ (1901–1903). Ein Beispiel für die Theaterzensur im Wilhelmin. Preußen. Ffm. 1989. – Gabriele Kroes-Tillmann: P. H. Italianissimo. Über seine Dichtungen u. Nachdichtungen. Würzb. 1993. – Walter Hettche: P. H.s Briefw. Möglichkeiten der Ed., dargestellt am Beispiel der Korrespondenz mit Berthold Auerbach. In: Euph. 89 (1995), S. 271–321. – Rainer Hillenbrand: H.s Novellen. Ein literar. Führer. Ffm. 1998 (mit Bibliogr., S. 963–974). – Rolf Füllmann: Die symbol. Wunden. P. H.s Novellen u. das weibl. Begehren, Teil I. In: Studia Germanica Vesprimiensis 2 (1998), S. 145–166; Teil II: Selbstbewusste Weiblichkeit in literar. u. essayist. Texten. In: ebd. 3 (1999), S. 37–57. – Nicole Nelhiebel: Epik im Realismus. Studien zu den Versnovellen von P. H. Oldenb. 2000. – Roland Berbig u. W. Hettche (Hg.): P. H. Ein Schriftsteller zwischen Dtschld. u. Italien. Ffm. 2001. – Sebastian Susteck: Geschwisterschaft, Freundschaft u. Liebe im Dreieck. Aspekte der Figurenkonstellation in P. H.s Novellen ›Die Einsamen‹ u. ›Nino u. Maso‹. In: ZfG N. F. 14 (2004), S. 311–328. – Urszula Bonter: Das Romanwerk v. P. H. Würzb. 2008. Urszula Bonter
Hieber, Gelasius (Taufnamen: Johann Melchior Joseph), * 22.9.1671 Dinkelsbühl, † 12.2.1731 München. – Augustinereremit, Prediger, Herausgeber der Gelehrtenzeitschrift »Parnassus Boicus«. Der Sohn eines Schneiders war kurz Schreiber u. besuchte dann von etwa 1688 an die Lateinschule in München, wo er 1691 in den Augustinereremitenorden eintrat. Nach der Profess (1692) studierte er in Ingolstadt Philosophie u. Theologie u. bestritt 1695 als
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Student der Metaphysik u. Moraltheologie eine philosophische Disputation De statu sensibili corporum (Praes.: Jacob Bandelie SJ). Im selben Jahr wurde er zum Priester geweiht u. war bis 1700 Klosterprediger. Nach Predigertätigkeit im Reichsstift Obermünster in Regensburg (1700–1706) u. an der Klosterkirche in München (1706–1724) war er Superior in Aufkirchen. 1730 kehrte er nach München zurück. H.s Predigten brachten ihm großen Ruhm ein, führten aber gelegentlich zu Kontroversen, so etwa seine Leichenpredigt für Kaiser Leopold Apotheosis Leopoldi Primi Caesaris (Regensb. 1705) u. die Predigt Das hohe Frohn-Wort Christi (Mchn. 1706), derentwegen ihn der Regensburger Pastor Georg Serpilius angriff (vgl. Apologie. o. O. 1710). H.s gedrucktes Œuvre gliedert sich in geistl. Schrifttum u. in fünf (sprachwiss.) Beiträge in der Gelehrtenzeitschrift »Parnassus Boicus«. Einige ungedruckte Manuskripte, darunter theolog. Abhandlungen, histor. Darstellungen u. Exzerpte, befinden sich in der Münchner Staatsbibliothek. Das geistl. Schrifttum umfasst v. a. Predigten. Unter diesen ragen die Sammlungen Gepredigte Religions-Histori (3 Tle., Augsb./Dillingen 1726–33) u. Gepredigter Catechismus (Mchn. 1732) hervor. Viele Gelegenheitspredigten H.s erschienen einzeln. Daneben verfasste er hagiograf. Werke, u. a. ein Leben des Augustinus (Mchn. 1720), u. Mirakelbücher, die für Wallfahrten nach München u. Aufkirchen warben. Für den »Parnassus Boicus, oder, neueröffneter Musen-Berg« (6 Bde., Mchn. 1722–40), den H. mit Agnellus Kandler (1692–1745) u. Eusebius Amort (1692–1775) nach dem Vorbild des »Journal de Sçavans« u. der »Philosophical Transactions« begründete, als sich ihre Pläne für eine Akademie in Bayern (›Academia Carolo Albertina‹) zerschlagen hatten, schrieb H. vorwiegend histor. u. naturwissenschaftl. Beiträge. Am bedeutsamsten sind aber seine Ausführungen über die dt. Sprache u. seine Poetik im zweiten bzw. dritten Band. In ihnen geht es H. um die Emanzipation des Deutschen sowie der kath. Literatur. Er bekundet die Bereitschaft, um der dt. Einheitssprache u. der Kulturna-
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tion willen die oberdt. sprachl. Sonderposition aufzugeben. Als Herausgeber des »Parnassus« korrespondierte H. mit Gelehrten in ganz Europa. Obwohl zumal in den geistl. Schriften noch durchaus barocken Traditionen verhaftet, kann er als einer der Wegbereiter der süddt. kath. Aufklärung gelten. Ausgabe: Textausw. in: Bayer. Bibliothek [...]. Bd. 2. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1986, S. 429–431, 886–888. Literatur: Agnellus Kandler: Kurtze LebensVerfassung [...] Gelasii H. In: Parnassus Boicus 5 (1736), S. 57–78. – Neu-fortgesetzter Parnassus Boicus. 3. Versammlung (1736), S. 57 f. – Klement Alois Baader: Das gelehrte Baiern. Bd. 1, Nürnb./ Sulzbach 1804, S. 502–505. – Eric Albert Blackall: The ›Parnassus Boicus‹ and the German Language. In: GLL N. F. 7 (1953/54), S. 98–108. – Adolar Zumkeller: Manuskripte v. Werken der Autoren des Augustiner-Eremitenordens in mitteleurop. Bibl.en. Würzb. 1966, S. 439 f. – L. Lenk: Der Parnassus Boicus. In: Bayer. Literaturgesch. [...]. Hg. Eberhard Dünninger u. Dorothee Kiesselbach. Bd. 2, Mchn. 1967, S. 124–136. – A. Zumkeller: G. H. In: Dictionnaire de Spiritualité, Bd. 7/1, Paris 1969, Sp. 437–440. – Ludwig Hammermayer: G. H. In: NDB. – G. van Gemert: Oberdt. Poetiken als Forschungsproblem. In: Ztschr. für Bayer. Landesgesch. 47 (1984), S. 277–296. – Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, Nr. 227; Bd. 2, Wien 1987, S. 658. – Aldo Scaglione: The nature and virtues of the german language in the bavarian periodical ›Parnassus Boicus‹ [...]. In: Historiographia linguistica 15 (1988), S. 331–347. – Ingo Reiffenstein: Der ›Parnassus Boicus‹ u. das Hochdeutsche. Zum Ausklang des Frühneuhochdeutschen im 18. Jh. In: Studien zum Frühneuhochdeutschen. FS Emil Skála. Hg. Peter Wiesinger. Göpp. 1988, S. 27–45. – Ders.: Gottsched u. die Bayern. Der Parnassus Boicus, die Bayer. Akademie der Wiss.en u. die Pflege der dt. Sprache im 18. Jh. In: Soziokulturelle Kontexte der Sprach- u. Literaturentwicklung. FS Rudolf Große. Hg. Sabine Heimann u. a. Stgt. 1989, S. 177–184. – BBHS. – Max Dreher: Die Augustiner-Eremiten in München [...]. Hbg. 2003, S. 328–333. – Eric Steinhauer: G. H. In: Bautz 23 (2004), Sp. 659–662. – Rudolf Springholz: Die »Stimme des Himmels« am kurfürstl. Hofe zu München Pater G. H. OESA (1671–1731). In: AltDinkelsbühl 82 (2006), S. 45–48. Guillaume van Gemert / Red.
Hiesel
Hiesel, Franz, * 11.4.1921 Wien, † 2.11. 1996 Oberpullendorf/Burgenland. – Hörspielautor, Erzähler u. Lyriker.
412 Rothenbaum. 1975. – Die gar köstl. Folgen einer mißglückten Belagerung. 1975. Stgt. 1980 – Der Tag der Friseure. 1976. – Fernsehspiele: An der schönen blauen Donau. 1965. – Das blaue Wild. 1972. – Die Ausnahme. 1977. Literatur: Robert Blauhut: Österr. Novellistik des 20. Jh. Wien 1966, S. 162 f. – Roland Heger: Das österr. Hörsp. Wien 1977.
Aus einfachen Verhältnissen stammend, musste H. das Studium aus finanziellen Gründen abbrechen u. wurde Drogist. Nach dem Krieg arbeitete er u. a. als Bibliothekar; Hermann Schreiber / Red. ab 1960 war er Hörspieldramaturg beim NDR Hamburg, 1967–1983 Leiter der HörspielabHilbig, Wolfgang, * 31.8.1941 Meuselteilung Radio Wien. H.s Lyrik aus der Arbeitswelt der Wiener witz, † 2.6.2007 Berlin. – Lyriker, ErzähNachkriegszeit erregte Aufmerksamkeit, den ler. ersten großen Erfolg jedoch errang er mit H.s Biografie ist für Jahrzehnte eng verbundem Hörspiel Auf einem Maulwurfshügel (Hbg. den mit dem sächs. Braunkohlerevier bei 1960): Die stimmungsvolle Satire auf die geLeipzig. Dieses bildet in apokalypt. Überforsellschaftl. Wirklichkeit nach dem Krieg entmung auch häufig das landschaftl. Szenario sprach dem Rundfunkmedium in bes. Weise. des Werks. Nach dem Tod des Vaters bei Die Auszeichnung dieses Werks mit dem Stalingrad wuchs H. vaterlos im Haus des Hörspielpreis der Kriegsblinden 1959 sicher- Großvaters, einem analphabetischen Bergte H.s weiteren Arbeiten größte Beachtung. mann, auf. Nach der Volksschule durchlief er Von seinen etwa 30 Hör- u. Fernsehspielen eine Ausbildung zum Bohrwerkdreher. Er bezeichnete H. das Hörspiel Was halten sie von arbeitete als Heizer in Meuselwitz; es folgten Irma Prein (BR/SFB 1976) als bes. gelungene, zahlreiche Tätigkeitswechsel (z.B. Werkrealistische Satire. Ab 1975 wandte er sich zeugmacher, Monteur, Erdarbeiter, Hilfshistor. Stoffen zu u. schrieb in dem Hörspiel schlosser, wiederum Heizer), begleitet von Jaburek (1986) die Geschichte eines Kanoniers autodidaktischen Schreibversuchen. Im Bein der Schlacht von Königgrätz 1866. wusstsein der einschlägigen Motivtradition Die meisten von H.s zahlreichen Erzäh- gehört der Heizer später zum Kernpersonal lungen sind »soziale Miniaturen« (Blauhut), H.s. (u. a. Unterm Neomond. Ffm. 1982. Die so Ich kenne den Geruch der wilden Kamille (ein- Arbeit an den Öfen. Bln. 1994). 1967/68 wurde gel. u. ausgew. von Gerhard Fritsch. Graz/ H. in den »Zirkel schreibender Arbeiter« deWien 1961) oder die Kurzgeschichten Das legiert. Eine Ironie der Literaturgeschichte Herz in der Hosentasche (Lübeck 1964). Schon liegt darin, dass H. tatsächlich einer der we1969 Mitarbeiter am Reclam-Hörspielführer, nigen Autoren ist, die im Umfeld des Bittersammelte H. gemeinsam mit Hörspieldra- felder Wegs u. der Kampagnen für schreimaturgen aus der BR Deutschland, der DDR bende Arbeiter sich als Schriftsteller etablieu. der Schweiz das Repertoire 999 (nach der ren konnte. Allerdings führte diese EntwickAnzahl der Hörspielproduktionen, die in lung nicht in eine Spielart des sozialistischen zwei Bänden in Kurzbeschreibungen vorge- Realismus sondern in die Avantgarde. Die stellt sind. Wien: Verlag des ORF 1989). Rezeption fand daher beinahe ausschließlich Weitere Werke: Hörspiele: Von Hoffnung zu im Westen statt. Neben ZeitschriftenpubliHoffnung. 1955. – Dschungel der Welt. Wien 1956. kationen erschien in der DDR nur ein Aus– Ein Kamel geht durch die Zimmertür. 1960. – Die wahlband H.s (stimme stimme. Lpz. 1983). Im Reise nach Österr. (zus. mit Gerhard Fritsch). 1960 Osten wurde Franz Fühmann zum Fürspre(fünfteilige Hörspielfolge). – Herr Pum sucht seicher H.s. Ab 1979 arbeitete H. als freier nen Mörder. 1961. – Gott liebt die Schweizer. 1963. – In allerhöchster Not: Elias Dersch. 1973. In: Die Schriftsteller, seit 1985 mit einem Visum in Pestsäule 10 (1973). – Heimkehr nach St. Pölten. der BR Deutschland, zunächst in Edenkoben, 1967. – Das Hundeherz. 1970. – Im Affenkäfig. dann in Berlin. 1971. In: LuK 9 (1974), H. 86/87, S. 344–362. – Adoptionen. 1972. – Die verwegenen Spiele am
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H. wurde zunächst als Lyriker bekannt: »die verwirrung / in worte zu kleiden / hab ich / das schreiende amt / übernommen«. Von Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Eliot, Breton über Pound, George, de Sade u. Nietzsche reichen die Gewährsleute, welche die Kritik bemühte, um die anspielungsreiche u. formenreiche Dichtung einzuordnen. Der erste Gedichtband abwesenheit (Ffm. 1979) wurde nach gescheiterter Verlagssuche schließlich in der BR Deutschland publiziert, was eine mehrwöchige Inhaftierung u. eine Geldstrafe wegen Devisenvergehen in der DDR zur Folge hatte. Die Entstehungszeit der Gedichte u. der Erzählungen in den ersten eigenständigen Publikationen reichen bis in die 1960er Jahre zurück. Mit großem zeitl. Abstand veröffentlichte H. zwei weitere Lyrikbände (die versprengung. Ffm. 1986. Bilder vom Erzählen. Ffm. 2001). Mit Erscheinen der nachgelassenen Gedichte im ersten Band der Werkausgabe (Werke. Gedichte. Mit einem Nachw. von Uwe Kolbe. Ffm. 2008) hat sich der Umfang des lyr. Werks beinahe verdoppelt. H. stellte sich noch einmal den zentralen Fragen u. Erfahrungen der Moderne, verband sie jedoch mit dem Krisen- u. Geschichtsbewusstsein des ausgehenden 20. Jh. Ich-Dissoziation, Sprachzweifel u. Sprachkritik, Desorientierung u. die Krise des Erzählens sind Prämissen u. wiederkehrende Motive, die H.s Werk beinahe obsessiv bestimmen. In einer Antwort auf Hofmannsthals ChandosBrief markierte er die eigene Schreibposition: »Mein Fall ist, in Kürze, eben derjenige, den Sie beschrieben haben: Es sei Ihnen völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. – Mit einem Unterschied: Es ist mir nie gelungen, eine solche Fähigkeit zu erlangen.« (Roland Spahr, Hubert Spiegel u. Oliver Vogel [Hg.]: »Lieber Lord Chandos«. Antworten auf einen Brief. Ffm. 2002, S. 220). Dieses Unvermögen, einhergehend mit einem Zweifel an jegl. Abstraktion, wird hergeleitet aus dem Wissen um den Holocaust u. die biogr. Situation zwischen zwei polit. Systemen. Die Analyse dieser histor. Position erfolgt in Lyrik u. Prosa jedoch nicht kognitivargumentativ, sondern in einer quälerischen Selbstsezierung des Erzählers bzw. der
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Sprechinstanz. So entwickelt sich aus den libidinösen Konfessionen u. schonungslosen Entblößungen des Erzählers in Die Weiber (Ffm. 1987) letztlich eine gesellschaftskrit. Einsicht vom »Vaterland, dem man offenbar alle weiblichen Bestandteile kastriert hat«. Die Kritik sprach auch von H.s Werk als einem Beitrag zur Krankengeschichte der DDR. Charakteristisch für H.s offene Erzählformen sind Synästhesie, assoziative Schreibweisen, Stream of consciousness u. Achronie. Die zahlreichen Erzähltexte sind daher weniger als singuläre Werke zu verstehen denn als Variationen u. Fortschreibungen. Die Bandbreite des Schreibprojekts findet sich exemplarisch in Alte Abdeckerei (Ffm. 1991), dem fiebrigen Monolog eines durch eine apokalypt. Industrielandschaft umherirrenden Protagonisten, in dem Alptraum, Kindheitserinnerung u. Wahrnehmung nicht mehr unterscheidbar sind. Die tabuisierten Vorgänge in der Abdeckerei evozieren Bilder von Holocaust u. Stalinismus, die jedoch in einem suggestiven Erzählstrom wieder abgelöst werden von neuen Ängsten u. Wunschfantasien des Erzählers. Neben die zahlreichen Diskursfäden tritt eine Metaebene, auf der das Erzählen selbst thematisiert wird, ohne sich seiner selbst jedoch habhaft werden zu können. Die parabol. Struktur von H.s Erzählungen suggeriert polit., psychoanalyt. u. allegor. Lesarten, ohne dass die Verengung auf eine einzelne den Text erfassen könnte. Schreiben wird für die Erzähler zum letzten Mittel, sich als Subjekt zu erfahren; insbes. die Romane thematisieren die Künstlerexistenz (Eine Übertragung. Ffm. 1989. Das Provisorium. Ffm. 2000). Mit »Ich« (Ffm. 1993) gelang H. eine fruchtbare Erweiterung des Themenspektrums, indem der Roman erprobt, inwieweit die psych. Befindlichkeit der Personnage H.s., bestimmt durch Wirklichkeitsverlust, Ich-Krise u. Schreibobsession, gegenüber der Staatssicherheit verführbar macht. Der Schriftsteller »W.« wird zum Spitzel, stabilisiert dadurch aber keine neue Identität, sondern verliert die eigene Biografie vollständig. Der Auftrag wird zur Farce, da Beobachter u. Beobachtete sich schließlich gleichermaßen als Stasi-Informanten entpuppen. Inmitten der auf Enthüllung u.
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Verdächtigung basierenden Debatte um Staatssicherheit u. Literatur gelang es H. mit »Ich« einen Beitrag dazu zu liefern, welche psych. u. sozialen Bedingungen eine solche Liaison überhaupt ermöglichten. H. wurde sowohl für die Lyrik als auch das erzählerische Werk vielfach ausgezeichnet. Er erhielt u. a. 1983 den Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau, 1989 den Kranichsteiner Literaturpreis u. den Ingeborg-BachmannPreis, 1994 den Bremer Literaturpreis, 1997 den Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste u. den Hans-Erich-Nossack-Preis, 2002 den Peter-Huchel-Preis für Lyrik u. den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt u. 2007 den Erwin-Strittmatter-Preis. Weitere Werke: Der Brief. Ffm. 1985 (E.en). – Die Territorien der Seele. Bln. 1986 (P.). – Die Angst vor Beethoven. Ffm. 1990 (E.). – Über den Tonfall. Bln. 1990 (P.). – Das Meer in Sachsen. Ffm. 1991 (P., L.). – Plagwitz. Fotografien v. Peter Thieme. Lpz. 1992. – Aufbrüche. Ffm. 1992 (E.en). – er, nicht ich. Lpz. 1992 (E.). – Die Kunde v. den Bäumen. Bln. 1992. Neufassung Ffm. 1994 (E.). – zwischen den paradiesen. Lpz. 1992 (P., L.). – Grünes grünes Grab. Ffm. 1993 (E.en). – Abriß der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen. Ffm. 1995. – Die Flaschen im Keller. Bln. 1995. – Der Schlaf der Gerechten. Ffm. 2003 (E.en). – Werke. Erzählungen u. Kurzprosa. Mit einem Nachw. v. Katja LangenMüller. Ffm. 2009. Literatur: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): W. H. Mchn. 1994 (Text + Kritik. H. 123). – Uwe Wittstock (Hg.): W. H. Materialien zu Leben u. Werk. Ffm. 1994. – Sylvie M. Bordeaux: Lit. als Subversion. Eine Untersuchung des Prosawerkes von W. H. Gött. 2000. – Ursula Krechel: W. H. In: LGL. – Karen Lohse: W. H. Eine motiv. Biogr. Lpz. 2008. – Harro Zimmermann: W. H. In: KLG. – W. H. Neue Rundschau 119 (2008), H. 2. – Erinnerungen an W. H. Hg. Michael Buselmeier. Heidelb. 2008. Stefan Wieczorek
Hildebrand, Wolfgang, * um 1570/80, † um 1635. – Sachbuchautor. H. lebte als Notarius Caesareus u. Ratsschreiber im thüring. Gebesee. Er bereicherte das historiografische Schrifttum mit einer Vita Alexanders des Großen (Erfurt 1620. Ffm. 1646) u. beteiligte sich an der astronomisch-astrolog. Literaturproduktion (Plane-
ten-Buch. Erfurt 1613 u. ö. KriegsPrognosticon. Nürnb. o. J. [ca. 1627]. Zehen Jährig Prognosticon. o. O. 1628. Prognostica-Auszüge in: Sechzehen [...] Calender-Schreiber. Augsb. 1628. Nürnb. 1632). Zur Information der Obrigkeit, doch auch »männiglichen zu Ergetzung«, vermehrte H. die Schriftenflut über »Zauberer«, »Hexen« u. »Unholde« mit einer Ausgabe eines vermutlich von Johann Spreter verfassten u. mit dem Namen Jakob von Liechtenbergs verknüpften Hexenbüchleins (Erstdruck o. O. u. J. [Basel ca. 1540], die im Anschluss an eine Ausgabe von Johann Jakob Wecker (1576) u. einen Abdruck im Theatrum de veneficis (1586) geschaffen u. von H. durch Zugabe zahlreicher »Historien« aus einschlägigen Sachschriften (J. Bodin, J. Weyer, A. Lercheimer u. v. a.), aus den »Volksbüchern« über J. Faust u. Ch. Wagner u. anderen popularen Schriften (H. Kornmann) stark erweitert worden ist (Goêtia, vel Theurgia [...]. Das ist [...] Entdeckunge [...] fürnehmer Articul der Zauberey. Lpz. 1631). H.s Hauptwerk, die Magia naturalis (o. O. 1609. Darmst. 1610 u. ö.), brach der deutschsprachigen »Arznei-, Kunst- u. Wunderbuch«-Literatur für den »gemeinen Mann« breite Bahn. In Konkurrenz mit M. Bapst (Arznei-, Kunst- und Wunderbuch. Mühlhausen 1590 u. ö.) u. B. Schnurr (Kunst- und Wunderbüchlein. Ffm. 1614 u. ö.) suchte H. urspr. gelehrt-lat. Wissen aus dem Physicapractica-Bereich einer deutschgebundenen Leserschaft zu vermitteln. Er zeigt sich dabei keineswegs als ein Paracelsist, sondern als ein fachlich unentschieden-eklektizistischer Kompilator, der darauf zielte, das Verlangen nach prakt. Ratschlägen zur Führung einer ackerbürgerl. Haus- u. Hofwirtschaft zu stillen, u. dabei insbes. auf Kenntnis verborgener Naturkräfte beruhende »Kunststücke« popularisierte, mit denen man »wunderbare Possen« u. »unaussprechliche Wunder« meinte bewirken zu können. Die Magia naturalis diente manchen Sachbuchpublizisten, aber auch einem Grimmelshausen als Quelle. Bis zum Anfang des 18. Jh. wurde sie weit über zehnmal gedruckt; sie gelangte ins Schwedische (17. Jh.) u. speiste u. a. Johann Gaslanders Salomoniska magiska konster (18. Jh.).
415 Literatur: Johanna Utsch: W. H. u. die Magia naturalis. Diss. masch. Gött. 1950. – Will-Erich Peuckert: Die egypt. Geheimnisse. In: Arv 10 (1954), S. 40–96. – Nils-Arvid Bringéus: Västboprästens svartkonstböcker (Die Schwarzkunstbücher des Pfarrers v. Västbo). In: Svenska Landsmål och Svenskt Folkliv 1967, S. 13–27. – W.-E. Peuckert: Gabalia. Bln. 1967, S. 312–320. – Klaus Haberkamm: ›Sensus astrologicus‹. Bonn 1972. – Hubert Gersch: Geheimpoetik. Tüb. 1973. – Joachim Telle: Die ›Magia naturalis‹ W. H.s. In: Sudhoffs Archiv 60 (1976), S. 105–122. – Kurt Lindner: Bibliogr. der dt. u. der niederländ. Jagdlit. Bln./ New York 1976, S. 338–351. – Joseph B. Dallett: Mensch u. Tierreich im ›Simplicissimus‹: Neue Perspektiven zu den Quellen. In: Daphnis 5 (1976), S. 217–265, hier S. 238–240. – Ders.: Geheimpoetik. In: Daphnis 10 (1981), S. 349–395. – Christoph Daxelmüller: Das literar. Magieangebot. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Tl. 2, Wiesb. 1985, S. 837–863. – Johanna Belkin: Ein natur- u. quellenkundl. Beitr. zur Mummelsee-Episode. In: Simpliciana 9 (1987), S. 101–138. – Laura Balbiani: W. H. e la fortuna editoriale della ›Magia naturalis‹. In: L’analisi linguistica e letteraria 5 (1997), S. 153–185. – Rosmarie Zeller: Naturwunder u. ihre Rolle in Grimmelshausens Werk. In: Simpliciana 26 (2004), S.77–104. – Barbara Molinelli-Stein: Grimmelshausen u. seine naturwiss. Quellen. In: Ebd., S. 185–209. – Misia Sophia Doms: ›Alkühmisten‹ u. ›Decoctores‹. Grimmelshausen u. die Medizin seiner Zeit. Bern 2006, s. v. Joachim Telle
Hildebrandslied und Jüngeres Hildebrandslied. – Ältester erhaltener Text eines germanischen Heldenlieds (zweite Hälfte des 8. Jh.) bzw. volkstümliche Umformung der alten Liedfabel. Die überlieferte Fassung des H. entstand in der zweiten Hälfte des 8. Jh., die einzige erhaltene, fragmentar. Aufzeichnung (68 z.T. unvollständige Stabreimverse in einer Handschrift aus dem Kloster Fulda) etwa 830/40. Die in vielen Handschriften u. Drucken des 15. bis 17. Jh. überlieferte Umformung der alten Liedfabel im J. H. (meist 20 Strophen im sangbaren Hildebrandston) geht auf Vorformen zurück, deren Spuren seit der ersten Hälfte des 13. Jh. nachweisbar sind. Nimmt man die nach dt. Quelle erzählte Prosafassung der um 1250 in Bergen/Norwegen entstandenen Thidrekssaga (Kap. 406–409) hinzu, so ergibt sich die für die
Hildebrandslied
Literaturgeschichte der german. Heldensage einmalige Möglichkeit, die Entwicklungsgeschichte ein- u. desselben Lieds in Früh-, Hoch- u. SpätMA bzw. früher Neuzeit zu erfassen. Das alte H. erzählt von Hildebrand u. seinem Sohn Hadubrand, die sich, ohne einander zu kennen, zwischen zwei Heeren als Krieger begegnen. Der Vater fragt den Sohn nach seinem Namen. Der nennt sich u. erzählt unter Berufung auf kundige alte Gewährsleute seines Volks, dass sein Vater vor Zeiten in der Schar vieler Gefolgsleute Dietrichs vor Odoakers Hass nach Osten geflohen sei. Frau u. unmündigen Sohn habe er erbelos zurückgelassen. Später habe ihn Dietrich, der Mann ohne Freunde, verloren: Hildebrand sei tot. Hildebrand ruft den allmächtigen Gott im Himmel zum Zeugen dafür an, dass Hadubrand nie mit einem näher Verwandten gesprochen habe. Er bietet dem Sohn als Zeichen der Huld einen goldenen Spiralreif von seinem Arm an, den er als Gabe des Hunnenkönigs erhalten hat. Doch Hadubrand argwöhnt eine Kriegslist u. beschimpft den Vater als alten Hunnen, der nur durch Hinterlist sich bis ins hohe Alter bewahrt habe. Nochmals bekräftigt er seine Überzeugung vom Tod des Vaters, der durch Seefahrer bezeugt sei, die westwärts übers Meer gekommen seien. Hildebrand sagt, an den Waffen des Sohns sei sichtbar, dass dieser daheim einen edlen Herrn habe u. nicht aus der Heimat ins Exil habe gehen müssen. Er richtet einen Klageruf an den waltenden Gott über das leidvolle Geschick, das nun seinen Lauf nimmt. 30 Jahre habe er als umherziehender Krieger im Exil überlebt. Nun müsse er die Schwertschläge des geliebten Sohns erleiden oder diesen im Kampf erschlagen. Leicht könne Hadubrand die Rüstung eines so alten Mannes erbeuten, wenn er darauf ein Recht habe. Wer ihm den Kampf verweigere, der sei der feigste unter den Leuten aus dem Osten. Es möge sich zeigen, wer am Ende Herr über beider Rüstungen sein werde. Die letzten Verse des Fragments schildern den Kampf, bis die Schilde der Krieger zerhauen sind. Der Ausgang des Kampfs ist nicht erhalten. Doch die isländ. Saga von Asmund dem Kämpentöter überliefert im 14. Jh. als
Hildebrandslied
Verseinlage ein Sterbelied Hildebrands, in dem dieser beklagt, unfreiwillig den geliebten Sohn getötet zu haben. Das dürfte, wie eine genau entsprechende Stelle in der lat. Dänengeschichte des Saxo Grammaticus (um 1200), auf eine dt. Liedquelle des 12. Jh. zurückzuführen sein. Über die Saga u. Saxo hinaus kennt der Marner, ein oberdt. fahrender Dichter, um 1250 ein Lied von »des jungen Alebrandes tot« u. bezeugt so das Fortleben eines H., das mit dem Tod des Sohns endet. Die alte Fassung des Lieds überträgt die internationale Erzählung vom Vater-SohnKampf in das Milieu der german. Heldensage. Dass der Sohn den Vater nicht zu erkennen vermag, wird gewöhnlich vor dem Hintergrund völkerwanderungszeitl. Erfahrung als Gestaltung einer german. »Schicksalstragödie« gedeutet. Für den durch die kriegerische Reizrede des Sohns beleidigten Vater wird als »Seelendrama« ein innerer Konflikt unterstellt, bei dem über die Vaterliebe die Kriegerehre triumphiere. Doch als tragische Notwendigkeit ist dies im Lied nicht ausreichend motiviert. Es kommt die Frage auf, ob solcher Deutung nicht ein Klischee von german. Kriegerehre zugrunde liegt u. ob nicht schon der Ansatz eines Konzepts tragisch-notwendiger Verwicklung ein klassizistischer Anachronismus ist. Der im Verständnis der Sage histor. Zusammenhang, in den der VaterSohn-Kampf gestellt ist, bleibt im H. fast ganz ausgeblendet. Doch ist dies nur Stilisierung, die das Interesse vor allem auf das Menschlich-Persönliche der Verwandtenkampf-Katastrophe lenken möchte u. das Bedingende der aktuellen histor. Konstellation im Hintergrund lässt. Die Kenntnis der histor. Hintergründe an sich ist aber als gemeinsamer Besitz von Sänger u. Publikum offensichtlich vorgegeben u. von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Lieds, wenn auch heute nur mit Hilfe von Anhaltspunkten der hoch- u. spätmittelalterl. Heldensagenüberlieferung zu rekonstruieren. Nach dem Bericht der Thidrekssaga war Dietrich vor Jahren der Übermacht Ermanarichs gewichen. Er war mit seinen Mannen u. Hildebrand, seinem alten Waffenmeister aus
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dem Geschlecht der Ylfinger, aus seinem Reich (Bern = Verona, Raben = Ravenna) ins Exil zum Hunnenkönig Attila geflohen. Nach einem gescheiterten Rückkehrversuch u. dem Verlust der letzten Gefolgsleute zieht er nur mit seiner hunn. Gemahlin u. Hildebrand ein zweites Mal in sein Reich zurück. Nahe bei Bern verbirgt er sich in einem Wald, während Hildebrand auf Kundschaft vorausreitet. Dieser erfährt, dass sein Sohn Alibrant in Bern herrsche u. ein tüchtiger Krieger sei, vor dem man ihn warnt. Er lässt sich Alibrant so genau beschreiben, dass er den Sohn bei einer Begegnung auf freiem Feld vor Bern sogleich erkennt. Ohne gegenseitige Anrede beginnen Vater u. Sohn den Kampf. In zwei Kampfpausen bietet Alibrant dem Alten Schonung seines Lebens für die Nennung seines Namens an. Hildebrand verweigert das u. fragt den Sohn, ob er aus dem Ylfingergeschlecht sei. Für diesen Fall bietet er seinerseits Schonung an. Alibrant leugnet, erhält eine schwere Beinverletzung u. bietet zum Schein sein Schwert zur Auslieferung an, führt aber, als Hildebrand es ergreifen will, einen hinterlistigen Streich damit. Der Alte pariert diesen u. sagt: »Diesen Schlag wird dich ein Weib gelehrt haben, nicht dein Vater.« Nun wird Alibrant überwältigt, u. als er lieber sein Leben hingeben als seinen Namen preisgeben will, gibt der Alte sich zu erkennen. Versöhnt reiten Vater u. Sohn nach Bern. Wenig später wird auch Dietrich heimgeholt u. in seine alten Rechte eingesetzt. Neben den allg. Parallelen zum alten H. (Verhältnis Hildebrand-Dietrich, Exil, Rückkehr, Vater-Sohn-Kampf) bietet der Bericht der Thidrekssaga den Stoff in tiefgreifender Umgestaltung. Wo, wann u. unter welchen historisch-polit. Umständen Vater u. Sohn aufeinandertreffen, ist im klar nachvollziehbaren, sagengeschichtl. Bewusstsein des Sagamannes erzählt. Dietrich kehrt mit Hildebrand vereinsamt u. ohne Heer aus dem Exil in eine Heimat zurück, die ihn bereitwillig wieder aufnimmt. An der Stelle unheilsträchtiger Verblendung, welche den Sohn daran hindert, den Vater zu erkennen, steht als primär Erzählspannung schaffendes Element die beiderseitige Namensverweigerung nach der Gepflogenheit hochmittelalterl.
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Ritterepik. Statt des unheilvollen Ausgangs gibt es ein »happy end«, wie es bereits für das frühe 13. Jh. eine Anspielung im Willehalm (439, 10–19) Wolframs von Eschenbach nahelegt. Merkwürdig ist das hier blinde Motiv des heimtück. Schlags. In außergerman. Parallelen vereitelt er die glückl. Wendung des Endes, indem er den Vater zur Tötung des Sohns zwingt. So könnte auch der unglückliche Ausgang des H. in dessen verlorenem Schluss motiviert gewesen sein. Das J. H. setzt balladenhaft in wörtl. Rede mit dem Wunsch des alten Hildebrand ein, nach 32 Jahren, während derer Frau Ute treulich seiner harrte, wieder einmal auf altbekannten Wegen Bern entgegenzureiten. Ein Herzog Abelon/Amelon (= Amelung) warnt ihn vor dem gefährl. u. angriffslustigen jungen Degen Alebrant, dem er auf der Heide begegnen wird. Im Rosengarten von Dietrichs Berner Mark treffen die Kämpen aufeinander. Der Junge verweist dem Alten das Land. Er solle daheim bleiben, wo er es bequem habe. Seine kostbare Rüstung wird als Zeichen unleugbaren Wohlstands genommen. Hildebrand betont, dass es ihm aufgegeben sei, ein Leben lang zu reisen u. zu fechten. Alebrant verlangt Rüstung oder Leben des Alten. Nun beginnt der Kampf. Ohne jede auch nur äußerl. Motivierung wird alsbald ein schlimmer Schlag erwähnt, den der Junge nach dem Vorwurf des Alten von einem Weibe gelernt haben soll. Gleich darauf ist Alebrant überwunden u. wird gefragt, ob er ein Wölfing sei. Mit einer Anspielung auf die Wolfdietrichsage versteht das J. H. die Frage im Sinne eines Vorwurfs unehrl. Geburt. Dem setzt Alebrant ohne Zögern als Rechtfertigung die Angabe seiner Abkunft von Hildebrand u. Ute entgegen. Jetzt folgt eine rührungsvolle Erkennungs- u. Versöhnungsszene. Daheim wundert sich Frau Ute, dass Alebrant seinem vermeintl. Gefangenen den obersten Platz an der Tafel zuweist. Jetzt erst lüftet der Sohn das Geheimnis seiner freudigen Überraschung für Frau Ute. Manche Fassungen setzen nach dem Vorbild der Möringerballade die Erkennung durch einen Ring, den Hildebrand aus seinem Mund in Frau Utes Becher gleiten lässt, ans Ende des Lieds.
Hildebrandslied
Wenn im alten H. die Hintergründe der Handlung absichtlich ausgeblendet sind, wenn die Thidrekssaga nüchtern einen lückenlosen sagengeschichtl. Handlungszusammenhang konstruiert, so fehlt dem J. H. fast jeder sagengeschichtl. Hintergrund. Es bietet ein loses Konglomerat alter, sinnträchtiger u. ausdrucksgeladener Wort- u. Handlungsmotive, bei denen im einzelnen schwer zu sagen ist, inwieweit sie absichtsvoll umgedeutet bzw. humorig parodiert u. inwieweit sie überhaupt noch verstanden worden sind. Ein solches Motiv ist schon die Zahl der 32 Exiljahre, dann die glänzende Rüstung als Wohlstandszeichen u. attraktives Beuteobjekt, der Argwohn des Jungen, der feige Hieb, der hier – bei Bewahrung alten Wortlauts – nicht einmal wie in der Thidrekssaga aus der Kampfhandlung als Kriegslist motiviert ist u. der hier wie dort ein blindes Motiv ohne Folgen für die weitere Handlung bleibt. Am interessantesten ist wohl die Umdeutung der Namensfrage. Sie ist hier wie im alten H. nur dem Alten gegeben, freilich erst nach dem Kampf. Sie wird gestellt ohne die erzähltechn. Aufgabe, Spannung aufzubauen, u. nur, um sogleich das gegenseitige Erkennen auszulösen. Dass aber dabei »Wölfing« als Geschlechtsname von Vater u. Sohn die Assoziation an Wolfdietrich hervorruft, der der Sage nach als angebl. Bastard der Königin verstoßen unter den Wölfen der Wildnis aufwuchs, wird im Ursprung kein echtes Missverständnis gewesen sein, sondern kennerhaft literar. Spiel mit Sagenmotivik, das von einem kundigen Publikum mit Vergnügen goutiert wurde. So ist zum köstl. Spiel geworden, was einst zum Kern der sinnhaften u. dramat. Dynamik der Fabel gehörte. Vage im Hintergrund sagengeschichtl. Relevanz bleibt die Person Dietrichs u. des Herzogs Amelung wie überhaupt der sagengeschichtl. Rahmen der Handlung. Vergleichbar ist am ehesten die mit dem Rosengartenmotiv anzitierte geschichtslose Episodenhaftigkeit der Handlungssituierung in der sog. märchenhaften Dietrichepik. Die Geschichte vom Vater-Sohn-Kampf Hildebrands u. Alebrants erscheint so als nur eines unter den vielen aufregenden Abenteuern,
Hildebrandt
die in der Umgebung Dietrichs, wie man wusste, an der Tagesordnung waren. Ausgaben: Hildebrandslied: Wilhelm Braune (Hg.): Ahd. Lesebuch. 16. Aufl. bearb. v. Ernst A. Ebbinghaus. Tüb. 1979. – Das H. Faks. der Kasseler Hs. mit einer Einl. v. Hartmut Broszinski. Kassel 2 1985. – Thidrekssaga: Henric Bertelsen (Hg.). 2 Bde., Kopenhagen 1905–11. – Übers. v. Fine Erichsen. Jena 1924. – Jüngeres Hildebrandslied: Karl Müllenhoff u. Wilhelm Scherer (Hg.): Denkmäler dt. Poesie u. Prosa. Bln. 31892. Neudr. Bln./Zürich 1964., Bd. 2, S. 20–30. – Hedwig Heger (Hg.): SpätMA. Humanismus, Reformation. Mchn. 1975, hier S. 205–209. Literatur: Bibliografien: Hermann Schneider: German. Heldensage. Bln. 21962, S. 321 f. (bis 1928), 458–541 (bis 1960). – Heinrich Beck (Hg.): Heldensage u. Heldendichtung im Germanischen. Bln./New York 1988, S. 343 f., 352–356 (bis 1988). – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1,1). 2., durchges. Aufl. Tüb. 1995, S. 114–128. – Forschungsbericht: Helmich van der Kolk: Das H. Eine forschungsgeschichtl. Darstellung. Amsterd. 1967. – Klaus Düwel: H. In: VL. – Michael Curschmann: J. H. In: VL. – Weitere Titel: Hans Fromm: Das Heldenzeitlied des dt. HochMA. In: Neuphilolog. Mitt. 62 (1961), S. 94–118. – Hugo Kuhn: Stoffgesch., Tragik u. formaler Aufbau im H. In: Ders.: Text u. Theorie. Stgt. 1969, S. 113–125. – Ders.: Hildebrand, Dietrich v. Bern u. die Nibelungen. In: ebd., S. 126–140. – Norbert Wagner: Einiges zum H. In: Sprachwiss. 22 (1997), S. 309–327. – Maria Vittoria Molinari: H. Neue Perspektiven in der textgeschichtl. Forschung. In: ABäG 50 (1998), S. 21–45. – Peter Suchsland: ›... ibu dû mî ênan sages, ik mî dê ôdre uuêt‹. Zur Syntax des H. Eine Fallstudie. In: Septuaginta quinque. FS Heinz Mettke. Heidelb. 2000, S. 355–379. – Ute Schwab: ›imo was eo fehta ti leop‹. In: Ildebrando. Quattro saggi e i testi. Hg. Maria Vittoria Molinari u. U. Schwab. Alessandria 2001, S. 81–146. – Carola L. Gottzmann: Warum muß Hildebrand vor Otachres nid fliehen? In: ZfdPh 122 (2003), S. 1–19. – Eckhard Meineke: prut in bure barn unwahsan. Hiltibrants Frau u. ihr Kind. In: Runica – Germanica – Mediaevalia. Hg. Wilhelm Heizmann u. a. Bln. 2003 (Reallexikon der german. Alterumskunde. Erg.-Bd. 37), S. 430–453. – Bernhard Sowinski: Zur Stilerfassung histor. Texte – Beispiel: H. In: Sprachstil. Zugänge und Anwendungen. Ulla Fix zum 60. Geburtstag. Hg. Irmhild Barz u. a. Heidelb. 2003, S. 295–303. – Derk Ohlenroth: Hildebrands Flucht. Zum Ver-
418 hältnis von H. u. Exilsage. In: PBB 127 (2005), S. 377–413. Ernst Hellgardt
Hildebrandt, Dieter, * 23.5.1927 Bunzlau/Schlesien. – Kabarettist u. Autor. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft machte H., Sohn eines schles. Landwirtschaftsrats, in Bayern Abitur u. studierte nach mehreren Gelegenheitsarbeiten Theaterwissenschaften, Literatur- u. Kunstgeschichte in München. Seine parallel laufende Schauspielausbildung finanzierte er mit dem Entgelt für seine Tätigkeit als Platzanweiser beim Kabarett »Die kleine Freiheit«, wo er nicht nur seine Liebe für die polit. Satire entdeckte, sondern auch das Handwerkliche so gründlich studieren konnte, dass er schon 1955 mit einem Studentenkabarett (»Die Namenlosen«) erfolgreich war. Entscheidend wurde für ihn die Begegnung mit Sammy Drechsel, der 1956 den Anstoß zur Gründung der »Münchner Lachund Schießgesellschaft« gab, deren intellektueller Mittelpunkt u. wesentl. Autor H. bis zu ihrer vorläufigen Auflösung 1972 geblieben ist. Danach stand er zwischen 1974 u. 1982 mit Werner Schneyder in fünf DuoProgrammen auf der Bühne u. erarbeitete gemeinsam mit dem Team Polt/Müller/Well an den Münchner Kammerspielen die Erfolgsproduktionen München leuchtet (1985) u. Diridari (1988). 1973–1979 moderierte H. allmonatlich im ZDF das Satire-Magazin Notizen aus der Provinz, 1980–2003 das regelmäßige TV-Kabarett Scheibenwischer bei der ARD. In der Nachfolge von Werner Finck hat H. die kabarettistische Soloconférence mit Schlagfertigkeit, Wortwitz u. Improvisationsgabe weiterentwickelt u. perfektioniert. Weil seine Aussagen fundiert sind u. auf billige Effekte verzichten, finden H.s Auftritte auch über das Unterhaltende hinaus Beachtung, was mit zahlreichen Preisen gewürdigt wurde. Seit Was bleibt mir übrig? (Mchn. 1986), einer Bilanz seiner bisherigen 30 Jahre Kabarett, in der er – wie auch in den folgenden Titeln Persönliches u. Biographisches mit zeitkrit. Anmerkungen vermengt, ist H. nicht nur bundesweit, sondern auch im deutschspra-
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chigen Ausland erfolgreich mit öffentl. Lesungen unterwegs, die er mit bissigen tagesaktuellen Passagen ergänzt. Neben zahlreichen Beiträgen in Kabarettu. Satireanthologien erschienen von H. kritisch-iron. Bestandsaufnahmen der Fußballbundesliga (Die verkaufte Haut. Luzern/Ffm. 1979. Dieter Hildebrandt wirft ein. Köln 2006; CD). Weitere Werke: Denkzettel. Mchn. 1992. – Der Anbieter. Mchn. 1994. – Gedächtnis auf Rädern. Mchn. 1997. – Tennis. Mchn. 1999. – Vater unser – gleich nach der Werbung. Mchn. 2001. – Ausgebucht. Mchn. 2004. – Ich mußte immer lachen (zus. mit Bernd Schröder). Köln 2006. – ›Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort‹. Die Weltgesch. der Lüge (zus. mit Roger Willemsen). Köln 2007 (CD). – Nie wieder achtzig. Mchn. 2007. Literatur: Klaus Peter Schreiner: Die Zeit spielt mit. Mchn. 1976. Klaus P. Schreiner
Hildebrandt, Dieter (Kurt), * 1.7.1932 Berlin. – Journalist, Erzähler, Biograf. Nach Abschluss seines Studiums der Germanistik u. der Theaterwissenschaften (Dr. phil. 1957, Der Schauspieler Bernhard Rüthling und das Münchner Hoftheater) schlug H. die journalistische Laufbahn ein, zunächst als Feuilletonredakteur, von 1961 an als Theaterkritiker u. Kulturkorrespondent in Berlin. Nach kurzer Tätigkeit als Verlagslektor bei Suhrkamp ging er 1972 für drei Jahre als Dramaturg an das Berliner Schillertheater. In dieser Zeit entstand die Monografie Odön von Horváth (Reinb. 1975). Seinen ersten Roman, eine Kriminalgroteske, schrieb H. über einen liebeslustigen, skurrilen Blaubart Mitte 40 (Hbg. 1977). Weitaus mehr Beachtung fand Lessing. Biographie einer Emanzipation (Mchn. 1979). Darin wagte H. das Experiment, den Lebenslauf dieses krit. Geistes nicht in traditioneller Weise interpretierend darzustellen. Stattdessen versuchte er, sein Charakterbild durch Montage aus Episoden u. Dokumenten lebendig werden zu lassen. Von dieser pointierten Darstellungsweise, verbunden mit solider Recherche, profitiert auch H.s kursor. Kulturgeschichte über das Pianoforte (Mchn. 1985). Aus verlegerischen Gründen wurde
Hildegard von Bingen
aus dem Untertitel Der Krieg im Saal ein Roman des Klaviers. Einen romanhaften Charakter erhält die an Anekdoten, Ironie u. Wortspielen reiche Erzählung dank H.s Idee, Bruchstücke der Musikgeschichte des 19. Jh. als Entwicklungsgeschichte des Instruments darzustellen. Der Kulturgeschichte ist H. in seinen weiteren Arbeiten verpflichtet geblieben. 2005 legte er eine Studie zu Entstehung, Deutung u. Rezeption der letzten BeethovenSymphonie vor: Die Neunte. Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolgs. Zuletzt erschien, ebenfalls aus reicher kulturgeschichtl. Perspektive, Die Sonne. Biographie unseres Sterns (2008). Weitere Werke: Die Mauer ist keine Grenze. Menschen in Ostberlin. Düsseld. 1964 (Reportagen). – Dtschld. Deine Berliner. Hbg. 1973. – Christlob Mylius. Ein Genie des Ärgernisses. Bln. 1981. – Die Leute vom Kurfürstendamm. Mchn. 1982 (R.). – Saulus Paulus. Ein Doppelleben. Mchn. 1989. Annette Decken / Tim Lörke
Hildegard von Bingen, * 1098 Bermersheim bei Alzey/Rheinhessen, † 17.9.1179 Rupertsberg bei Bingen/Rhein. – Autorin theologischer, visionärer u. naturkundlicher Schriften. H., das zehnte Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim, wurde als Achtjährige der Inkluse Jutta von Spanheim am Benediktinerkloster Disibodenberg (Nahe/Glan) zur geistl. Erziehung übergeben u. legte dort zwischen 1112 u. 1115 die Profess ab. Nach dem Tod Juttas 1136 wurde sie von der inzwischen auf Konventstärke angewachsenen Klause zur Leiterin gewählt; 1151 bezog sie als Äbtissin ihr selbst erbautes Kloster Rupertsberg bei Bingen, das sie 1165 durch ein Tochterkloster in Eibingen noch erweiterte. H.s Leben u. Werk sind bestimmt durch ihre Sehergabe u. durch das daraus entwickelte bes. Prophetenamt, das sie ausübte. Nach ihren Selbstzeugnissen von Kindheit an mit visionärer Schau begabt, begann sie erst als 42-Jährige literar. Werke zu schreiben (ab 1141). Auf der Trierer Synode 1147/48 erhielt sie nach Prüfung der fertigen Teile ihres Erstwerks Scivias (Wisse die Wege) – unter Für-
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sprache auch Bernhards von Clairvaux – die kirchl. Bestätigung ihres Sehertums u. ihrer Autorschaft. Von da an entfaltete sie in großen u. kleineren Schriften, in Briefen, Liedern, ja sogar auf Predigtreisen ihren prophetischen Auftrag. Das legitimierende Konzept dieses Auftrags fand sie nicht einfach vor, sondern entwickelte es v. a. aus der älteren prophetischen Literatur u. begründete es spezifisch neu für die Frauenvisionärin des 12. Jh. u. ihre Lehrkompetenz, so dass auch die späteren Visionärinnen u. Mystikerinnen diesen Entwurf sowohl direkt als auch über H.s unmittelbare Nachfolgerin, die mit ihr persönlich bekannte Visionärin Elisabeth von Schönau, nutzen konnten zur Legitimation der eigenen Produktion. Auf der Basis des biblisch bezeugten Visionärstums des Paulus (2 Kor 12), der Visionstheorie Augustins u. der auch poetologisch bedeutsamen Ezechielinterpretation Gregors des Großen beschrieb sie ihre eigene Position als die einer schwachen, kranken, ungelehrten Frau, die allein durch Gottes Kraft, Erneuerung u. Geistinspiration die Fähigkeit u. daher auch die Verpflichtung zur Lehre erhielt, u. zwar in geschichtlich bes. begründeter Lage: in der gefährdeten Endzeit, einer schwachen »weibischen« Zeit (»tempus muliebre«), in der bei Versagen der regulären Amtsträger der Kirche gerade die Frau in der Nachfolge Marias, die »Virgo prophetissa«, Gottes Willen, der ihr gleichsam in Inkarnationen des göttl. Worts mitgeteilt wurde, zur Rettung aus der Bedrohung durch den heraufziehenden Antichrist neu zu verkünden vermochte. Die Werke H.s entsprechen dieser Auffassung vom inspirierten Theologen-Propheten, wenn sie, die alten Wahrheiten in neuen, der eigenen Zeit angemessenen Formen aktualisierend, zur Rückkehr mahnt u. Einsichten aus der intelligiblen Welt vermittelt, um durch prophetische Lehre andere aus dem Dunkel der ird. Unwissenheit zu Weisheit u. Vollkommenheit zu führen (programmatisch daher der Titel Wisse die Wege). Eine solche didaktisch-anagog. Funktion verfolgt v. a. die große Visionstrilogie Scivias, Liber vitae meritorum (Buch der Lebensver-
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dienste) u. Liber divinorum operum (Buch der Gotteswerke), in der neue Bilderreihen gestaltet u. derart angelegt sind, dass eine zweiphasige u. zweischichtige Offenbarungsmitteilung in literaler Beschreibung der aus dem göttl. Licht geschauten Bildkomplexe u. angeschlossener allegor. Deutung durch die göttl. Stimme (also Vision u. Audition) entsteht. Gegenstand der drei großen Visionsschriften ist letztlich das Wirken der Trinität in Konstitution des Kosmos, Planung der Heilsgeschichte u. Erneuerung des wiederherzustellenden Menschen. Der Scivias, verfasst 1141–1151, behandelt in seinen 26 Visionen die Heilsgeschichte von Luzifers u. des Menschen Fall bis zum Jüngsten Gericht u. ewigen Leben. Das erste Buch ist der Ordnung des Kosmos, der Engelwelt, der Alten Zeit sowie der natürl. u. heilsfähigen Beschaffenheit des Einzelmenschen gewidmet (6 Visionen), das zweite Buch dem Erlösungswirken Christi u. der Kirche (7 Visionen), das dritte dem Aufbau des Gottesreiches (in einer Art Heilsarchitektur) mit seinen Stationen vom Anfang bis zum Ende der Welt (10 + 3 Visionen). Die drei Bücher sind damit Spiegel Gottes des Schöpfers, Christi des Erlösers u. des Hl. Geistes als des Erbauers des Heilsreiches durch die Zeiten. Der Liber vitae meritorum (1158–1163) ist die eth. Schrift unter den großen Visionswerken: Über fünf der sechs Bücher hin treten 35 Lastergestalten auf u. halten Werbereden, die in den Gegenreden der entsprechenden Tugenden widerlegt u. durch den »Eifer Gottes« beendet werden. Die Personifikationsfiguren der Laster (die entsprechenden Tugenden waren bereits im Scivias aufgetreten) werden allegorisch gedeutet, für ihre Ausübung sind Strafen u. Bußregeln aufgeführt. Dieser an Prudentius’ Psychomachie (Seelenkampf) sowie den Conflictus virtutum et vitiorum (Streit der Tugenden u. Laster) erinnernde eth. Kampf ist zgl. ein kosm. u. heilsgeschichtl.; denn er spielt sich ab vor dem Kosmosriesen u. starken Kämpfer Christus (Ps 18,6; Jes 42,13), der die Tugenden anführt (»vir« – »virtutes«), an dem die Zonen des Kosmos gemessen u. die Zeiten der Geschichte orientiert sind, u. endet mit dem Jüngsten Gericht.
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Das dritte, bedeutendste Werk, der Liber divinorum operum oder de operatione Dei, nach H.s Aussage angeregt aus der Meditation von Joh 1 »Am Anfang war das Wort« (1163–73/ 74), stellt in seinen drei Hauptteilen den natürl. Kosmos (I, 1–4), die eth. Wirklichkeit (II, 5) u. die Heilsgeschichte dar (III, 6–10) – den »mundus physicus, ethicus et historicus« –, sie jedoch nicht unmittelbar abbildend, sondern reduzierend auf Symbole, d.h. auf Ideen-Bilder, zu deren Erkenntnis u. vermittelnder Formulierung der inspirierte Prophet fähig u. kompetent ist. Die Rahmengestalt der göttl. Liebe u. die Thematik des Wirkens (»operatio«) Gottes erweisen die Schrift als das Buch des Hl. Geistes, in dem gleichwohl in den drei Teilen u. in einer Reihe von Einzelsymbolen die Trinität präsent ist. Die große Schlussformel dieser Spätschrift wie der Trilogie insg. (III, 10), der einfache u. zgl. in sich differenzierte Kreis, fasst im platonischen Bild den Hervorgang der Welt aus dem Einen u. ihre Rückkehr zu ihm mittels prophetischer Erkenntnis zusammen. Das theoret. Konzept für derartige Visionen, die Kombinationen aus signifikanten Bildzeichen sind, hatte etwa 20 Jahre vor H.s Erstwerk Hugo von St. Viktor († 1141) für das 12. Jh. neu formuliert: in seinem Kommentar zur Himmlischen Hierarchie des Ps.-Dionysius (übersetzt von Johannes Scottus Eriugena im 9. Jh.). Von den dort unterschiedenen zwei Visionsmodi nimmt der eine, Bilder aus der Sinnenwelt gebrauchende, im bes. Rücksicht auf die Erkenntnisweise des körperverhafteten Menschen u. führt ihn über die sinnl. Vorstellungen hinaus zum Intelligiblen, Unsichtbaren. Das Verfahren der Montage solcher Bildelemente heißt hier »symbolische Darstellung«. Analog der Dichtungsfiktion mit ihrer ethisch oder naturphilosophisch tieferen Wahrheit sind prophetische Bilder als »prophetische Erfindungen« (»prophetica figmenta«) mit verhülltem Wahrheitsgehalt zu verstehen, sie sind Erleuchtungen aus dem objektiv seienden Bestand der Urbilder, die im Prophetenindividuum in aktuellen Konkretisierungen erscheinen. H.s prophetische Werke intendieren die Hinführung zu diesem Aufstieg zur Ideen- u. Trinitätsschau. Der Scivias, selbst schon eine trinitar. Schrift, in
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der als Rahmengestalt Gottvater dominiert, wird fortgesetzt durch das Werk des Sohnes, der als göttl. Virtus die Tugenden anführt, u. das Buch des Hl. Geistes, der Liebe u. Wirken zgl. ist – das zielt auf eine Bestimmung nach der bekannten Trinitätsformel »potentia« – »sapientia« – »caritas« u. dem spezifisch ps.dionysisch-erigenist. Ternar »essentia« – »virtus« – »operatio«. Neben dieser originellen, theologisch wie künstlerisch bedeutenden Werktrilogie, an der H. 25 Jahre arbeitete, entstanden kleinere Schriften von kaum geringerer Qualität u. Neuartigkeit: das Singspiel Ordo Virtutum (Chor der Tugendkräfte), die erste mittelalterl. Moralität weit vor der Blütezeit dieser Dramenform, dann 77 überlieferte geistl. Gesänge (Antiphonen, Responsorien, Hymnen, Sequenzen), ungewöhnlich in Melodik u. Sprachgestaltung; ferner eine Evangelienauslegung, kleinere theolog. u. hagiografische Arbeiten, eine Geheimschrift u. Geheimsprache (Litterae ignotae u. Lingua ignota); dazu ein umfangreiches naturwissenschaftlich-medizinisches Werk (Physica u. Causae et curae), von gleicher erstaunl. Innovationskraft zeugend, u. schließlich rund 300 bisher nachgewiesene echte Briefe H.s, die sie im Gespräch zeigen mit einer großen Zahl von Zeitgenossen, Geistlichen u. Laien verschiedener Stände, mit einer Ausstrahlung über fast ganz Europa. Abgesehen von der Kenntnis über H. selbst u. die Situation mancher ihrer Briefpartner, vermitteln diese Briefe einen interessanten Einblick in die Kirchen- u. Klostergeschichte des 12. Jh. Außer in diesen schriftl. Formen u. der mündl. persönl. Konsultation wirkte die Visionärin auch, das typische Amt des Wanderpropheten ausübend, durch Reisen mit öffentl. prophetischen Mahnpredigten vor Klerus u. Volk – eine gleichfalls exzeptionelle Tätigkeit für eine Frau des 12. Jh., wie schon die Vita hervorhebt: »Außerdem ist vor allem dieses bemerkenswert an ihr, daß sie nach Köln, Metz, Würzburg und Bamberg kam, vom göttlichen Geist [...] getrieben, und [dort] Klerus und Volk verkündete, was Gott wollte.« Es werden noch weitere 15 Stationen solchen Wirkens aufgeführt.
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Diese Predigttätigkeit bedeutet die letzte Konsequenz aus H.s Prophetenamt, u. sie ist der Beweis dafür, dass die Gestalt ihres ungewöhnl. literar. Werks – bei seiner hohen künstlerischen Qualität – durch die Bedingungen diktiert war, unter denen eine Frau in der Kirche des 12. Jh. öffentlich das Wort nehmen konnte u. auch gehört wurde. Aus der Verkennung dieser literatursoziolog., d.h. in diesem Fall kirchlich-theolog. Entstehungsbedingungen, resultieren nicht wenige der zahlreichen Missverständnisse, die ein Teil der Rezeptionsgeschichte von H.s Schriften – bis hin zur heutigen Vereinnahmung durch forcierten Feminismus u. NewAge-Esoterik – gewesen sind. Ausgaben: Ältere, noch unersetzte Sammelausgaben: PL 197. – Analecta Sacra. Hg. Johannes B. Pitra. Bd. 8, Paris 1882. Neudr. Farnborough 1966. – Einzelausgaben: Scivias. Hg. Adelgundis Führkötter u. A. Carlevaris. Turnhout 1978. – Epistolarium. Hg. Lieven van Acker u. Monika Klaes-Hachmöller. 3 Bde., Turnhout 1991–2001. – Vita S. Hildegardis. Hg. Monika Klaes. Turnhout 1993. – Ordo virtutum. Hg. P. Dronke. Cambridge 1994. – Liber vite meritorum. Hg. Angela Carlevaris. Turnhout 1995. – Symphonia. Gedichte u. Gesänge. Hg. u. übers. Walter Berschin u. Heinrich Schipperges. Gerlingen 1995. – Liber divinorum operum. Hg. Albert Derolez u. Peter Dronke. Turnhout 1996. – Cause et cure. Hg. Laurence Moulinier. Bln. 2003. – Übersetzung der Hauptwerke (durch H. Schipperges, A. Fuhrkötter, Irmgard Müller, Salzb. 1953–82; jetzt mehrfach übers.: s. Bibliogr. Nr. 145–274). Literatur: Bibliografie: H. v. B. Internat. Wiss. Bibliogr. Hg. Marc-Aeilko Aris, Werner Lauter u. a. Mainz 1998. – Weitere Titel: Hans Liebeschütz: Das allegor. Weltbild der hl. H. v. B. Lpz./Bln. 1930. Neudr. Darmst. 1964. – Angela Rozumek: Die sittl. Weltanschauung der hl. H. v. B. Diss. Bonn 1934. – Heinrich Schipperges: Krankheitsursache, Krankheitswesen u. Heilung in der Klostermedizin, dargestellt am Welt-Bild H.s v. B. Diss. Bonn 1951. – Bertha Widmer: Heilsordnung u. Zeitgeschehen in der Mystik H.s v. B. Basel 1955. – Marianna Schrader u. Adelgundis Führkötter: Die Echtheit des Schrifttums der hl. H. v. B. Köln/Graz 1956. – Christel Meier: Die Bedeutung der Farben im Werk H.s v. B. In: Frühmittelalterl. Studien 6 (1972), S. 245–355. – Dies.: H. v. B. In: VL. – Dies.: Eriugena im Nonnenkloster? In: Frühmittelalterl. Studien 19 (1985), S. 466–497. – Dies.: Scientia divinorum operum. Zu H.s v. B. visionär-künstler. Rezeption Eriugenas. In: Werner Beierwaltes (Hg.):
422 Eriugena redivivus. Heidelb. 1987, S. 89–141. – Dies.: Virtus u. operatio als Kernbegriffe einer Konzeption der Mystik bei H. v. B. In: Margot Schmidt (Hg.): Grundfragen christl. Mystik. Stgt.Bad Cannstatt 1987, S. 73–101. – Edeltraut Forster u. a. (Hg.): H. v. B. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag. Freib./Basel/Wien 1997. – Charles Burnett u. Peter Dronke (Hg.): H. of B. The Context of her Thought and Art. London 1998. – Alfred Haverkamp (Hg.): H. v. B. in ihrem histor. Umfeld. Internat. wiss. Kongreß zum 900jährigen Jubiläum. Mainz 2000. – Rainer Berndt (Hg.): ›Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst‹. H. v. B. (1098–1179). Bln. 2001. – Viki Ranff: Wissen u. Weisheit bei H. v. B. Eine verborgene Philosophie bei H. v. B. Stgt.-Bad Cannstatt 2001. – Michael Embach: Die Schr.en H.s v. B. Studien zur Überlieferung u. Rezeption im MA u. in der Frühen Neuzeit. Bln. 2003. – Ders.: H. v. B. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). Christel Meier-Staubach
Hildesheimer, Wolfgang, * 9.12.1916 Hamburg, † 21.8.1991 Poschiavo/Kt. Graubünden. – Verfasser von Romanen, Erzählungen, Kurzprosa, Theaterstücken, Hörspielen, Essays u. Übersetzungen; bildender Künstler. H. wuchs als Kind einer jüd. Familie in Hamburg, Berlin, Nimwegen u. Mannheim auf. 1933 emigrierte er über England nach Palästina. 1937–1939 studierte er Malerei u. Bühnenbildnerei in London. Im Okt. 1939 kehrte er nach Palästina zurück, wo er bis 1942 als Englischlehrer in Tel Aviv, 1943–1946 als brit. Informationsoffizier in Jerusalem tätig war, 1946–1949 arbeitete H. als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. 1949 ließ er sich für vier Jahre als Maler u. Grafiker in Ambach am Starnberger See nieder. In dieser Zeit entstanden seine ersten literar. Arbeiten. Nach vierjährigem Aufenthalt in München zog H. 1957 nach Poschiavo in Graubünden, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1983 erklärte er seinen programmat. Verzicht auf literar. Tätigkeit, publizierte selten u. arbeitete v. a. als bildender Künstler. H. erhielt mehrere Literaturpreise, u. a. den Hörspielpreis der Kriegsblinden (1955) u. den Georg-BüchnerPreis (1966).
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H. begann mit literar. Satiren, dem Erzählband Lieblose Legenden (Stgt. 1952. Erw. Neuaufl. Ffm. 1983. 1991) u. dem Roman Paradies der falschen Vögel (Mchn./Wien/Basel 1953. Ffm. 2000). Beide Bücher demaskieren mit iron. Witz die kulturellen Rituale einer Gesellschaft, die ihre innere Leere u. ihren Mangel an Ethos hinter prätentiöser Bildungsbeflissenheit zu verbergen sucht. Die Lieblosen Legenden variieren dieses Thema, teils mit witzig-kalauerndem Unernst u. den Mitteln grotesker Übertreibung, teils mit parabelhaftem Ernst. Die »lieblose« Welt wird zwar noch liebevoll geschildert, aber die Heiterkeit ist mit Sarkasmus grundiert, u. der doppelbödige Witz lässt zuweilen schon existenzielle Bodenlosigkeit spüren. 1952 begann H.s lange u. vor allem im ersten Jahrzehnt ergiebige Arbeit für den Rundfunk, mit der er sich als einer der führenden westdt. Hörspiel-Autoren etablierte. Die frühen Hörspiele (An den Ufern der Plotinitza. BR 1954. Prinzessin Turandot. NDR 1954; Bühnenfassung u. d. T. Der Drachenthron. Urauff. Düsseld. 1955. Das Opfer Helena. NDR 1955) übertrugen die satir. Methode von der Sphäre der Kunst auf die der Politik, zeigten den Autor, bei aller Leichtigkeit des Tons, als Kritiker der polit. Macht u. ihres Ränkespiels. Mitte der 1950er Jahre verändern sich Stil u. Thematik von H.s literar. Arbeit. Die satir. Tendenz schwächt sich ab, an ihre Stelle tritt die Erfahrung der Ohnmacht, der Entfremdung des einzelnen in einer zunehmend als sinnlos u. unvernünftig erscheinenden Realität. H. entdeckt, auch unter dem Einfluss von Eugène Ionesco u. Albert Camus, Samuel Beckett u. Günter Eich, die »Wirklichkeit des Absurden« u. damit zugleich die Absurdität alles Wirklichen. Wirklichkeit löst sich auf in ein skurriles Spiel mit Fiktionen. Wahrheit ist, wenn überhaupt, nur noch darstellbar in der scheinbaren Irrationalität der Groteske. Diese Erkenntnis bleibt von nun an für H. bestimmend. Sie findet ihren ersten Niederschlag in Bühnenwerken (Spiele, in denen es dunkel wird. Pfullingen 1958) u. wird in der Erlanger Rede Über das absurde Theater (gehalten am 4.8.1960. In: Akzente 7, 1960) auch theoretisch auf den Begriff gebracht: »Das
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absurde Theater ist eine Parabel über die Fremdheit des Menschen in der Welt.« H.s neuer »Absurdismus« wird in den folgenden Arbeiten mit zunehmender Konsequenz ausgestaltet: in seinem Hörspiel Herrn Walsers Raben (BR 1960), dem grotesk-kom. Bühnenstück Die Verspätung (Ffm. 1961) u. der Prosa der Vergeblichen Aufzeichnungen (Ffm. 1963). Obwohl die gesellschaftlich-polit. Hintergründe individueller Verstörungen immer wieder durchscheinen, wollen diese »Parabeln« nichts lehren als die »Unverständlichkeit der Welt«. Ich u. Welt treten darin immer radikaler auseinander. Formal drückt sich das in der zunehmend monologischen Struktur der Texte aus, etwa in dem Einakter Nachtstück (Ffm. 1963) u. dem Hörspiel Monolog (NDR 1964). Beide Werke sind mit ihrer radikalen Reduktionsästhetik Vorstufen zu H.s ProsaHauptwerken Tynset (Ffm. 1965. Stgt. 1993) u. Masante (Ffm. 1973. 1992), die vom Autor ausdrücklich nicht als Romane bezeichnet wurden. Tynset ist die monologische Meditation eines einsamen Nachtwandlers, in dessen Träumen, Erinnerungen u. Fantasien die konkret erfahrenen Schrecken der Gegenwart als traumat. Wurzeln seiner allg. Weltangst noch erkennbar bleiben. Tynset ist die Hervorbringung eines spekulativen Ichs, bleibt bei aller artifiziellen Meisterschaft interpretierbar als Ausdruck solipsistischer Welterfahrung, In Masante führt H. die Tynset-Thematik auf der Ebene eines objektivierenden Realismus fort. Der Monolog des Erzählers weitet sie aus zu einer enzyklopäd. Fantasie über abendländ. Tradition u. Geschichte, zu einer Bestandsaufnahme – sie fällt vernichtend aus. In H.s spezif. Welterfahrung wird auch Geschichte zum Reich des Absurden, dem Sinn nur von außen beigelegt werden kann. Am Ende von Masante löst sich der Monolog auf, der Erzähler wird buchstäblich »in die Wüste geschickt«. Für H. sind mit Masante die Möglichkeiten fiktionalen Erzählens erschöpft. Sein 1975 in Dublin gehaltener Vortrag The End of Fiction (in: Merkur, H. 332, 1976, S. 57–70) liefert dazu lediglich die theoret. Begründung, u. zwar durch die nicht nur philosophisch, sondern jetzt auch empirisch begründete Einsicht,
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dass der technisch-naturwissenschaftlich bestimmten Welt mit literar. Fantasie nicht mehr beizukommen ist. Dass das Ende einer einst eschatologisch verstandenen Geschichte durch Menschenwerk absehbar geworden ist, bestätigt nur ihre Absurdität. H.s letztes Hörspiel Biosphärenklänge (BR 1977. Ffm. 1977) beschreibt den Weltuntergang als vollendete Tatsache. Damit ist für den Schriftsteller ein finaler Punkt erreicht. H. schrieb gleichwohl – noch – weiter. Im selben Jahr wie das Hörspiel erschien der große Essay Mozart (Ffm. 1977. 2005), vom Autor deklariert als Rückzug in Vergangenheit u. Ästhetik. H. vermeidet den Begriff »Biografie«. Sein Buch ist eher AntiBiografik, ausgehend von der These, dass das Geheimnis Mozarts sich ebensowenig ergründen lässt wie die Wurzeln genialer Kreativität überhaupt. In diesem Sinn ist H.s Mozart Kritik der Überlieferung, Korrektur von Legenden, »Versuch einer Wiederherstellung, der Reinigung eines im Lauf der Jahrhunderte mehrfach übermalten Frescos«. Was hinzugefügt werden kann, sind lediglich »Einzelaspekte einer möglichen Wirklichkeit«. Marbot (Ffm. 1981. Mchn. 2007), H.s letztes »gültiges« Buch, trägt dagegen die Gattungsbezeichnung »Biographie«. Die Paradoxie liegt darin, dass ihr Held, ein engl. Kunsthistoriker des frühen 19. Jh., eine von H. erfundene Figur ist. In synthet. Konstruktion wird in Marbot, der Biografie einer Kunstfigur, nachgeholt, was die MozartAnalyse nicht zu leisten vermochte. Zur Konstruktion gehört die Verankerung der Kunstfigur im histor., von realen Figuren bevölkerten Ambiente. Angelangt am »Ende der Fiktionen«, misstrauisch gegenüber histor. Biografik, schreibt H. ein Buch, in dem Realität u. Fiktion, Geschichte u. Erfindung, Biografie u. Erzählung ununterscheidbar werden. Mit diesem Meisterwerk erklärte er seinen Austritt aus der Literatur. H. arbeitete danach als bildender Künstler, der sich der zweckfreien Schönheit von Farben u. Formen überlässt. Die literar. Gelegenheitsarbeiten bekräftigten seine Rückzugsprogrammatik – etwa die Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes (Ffm.
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1983. 51993). Den bruchstückhaften Aufzeichnungen Die letzten Zettel (in: Text + Kritik, H. 89/90, 1986, S. 8–18) stellte er die Worte Eichs voran: »Ich will gar nichts mehr – ich will spielen.« Weitere Werke: Ges. Werke in sieben Bdn. Hg. Christiaan L. Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Ffm. 1991. – Begegnung im Balkanexpreß. NDR 1953. Hbg. 1956 (Hörsp.). – Betrachtungen über Mozart. Pfullingen 1963. – Interpr.en. James Joyce, Georg Büchner. Ffm. 1969. – Mary Stuart. Eine histor. Szene. Ffm. 1971. – Zeiten in Cornwall. Ffm. 1971. 1998. – Hauskauf. SDR 1974. Ffm. 1974 (Hörsp.). – Theaterstücke. Über das absurde Theater. Ffm. 1975. – Exerzitien mit Papst Johannes. Ffm. 1979 (P. u. Fragmente). – Endlich allein. Ffm. 1984 (Collagen). – Gedichte u. Collagen. Bamberg 1984. – Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren. Ffm. 1984. U. d. T.: Warum weinte Mozart? Ffm. 1996. – Der ferne Bach. Ffm. 1985. 5 2000 (Rede). – Collagen. Reutl. 1985. – In Erwartung der Nacht. Collagen. Ffm. 1986. – Nachlese. Ffm. 1987. – Die Hörspiele. Ffm. 1988. – Der Ruf in der Wüste. Ausw. u. Nachw. Heinz Puknus. Stgt. 1991 (E.en). – Janssen und wir. Hg. Thomas C. Garbe. Ffm./Lpz. 1996. – Bericht einer Reise [Nachw. v. Michael Rumpf]. Bayreuth 2003. – Wo wir uns wohlfühlen. Mitteilungen aus Italien u. Poschiavo. Ausgew. u. hg. v. Dietmar Pleyer. Ffm./ Lpz. 2006. – Übersetzungen (Auswahl): Djuna Barnes: Nachtgewächs. Pfullingen 1959. Ffm. 1998. – Richard Brinsley Sheridan: Die Schwiegerväter. Mchn./Wien/Basel 1962 (Bearb.). – Ders.: Die Lästerschule. Ebd. 1962 (Bearb.). – George Bernard Shaw: Die hl. Johanna. Ffm. 1965. – Ders.: Helden. Ffm. 1970. – James Joyce: Anna Livia Plurabelle. Ffm. 1970. – William Congreve: Der Lauf der Welt. Ffm. 1986. Literatur: Dierk Rodewald (Hg.): Über W. H. Ffm. 1971. – Heinz Puknus: W. H. Mchn. 1978. – Dorothea Frauenhuber: Die Prosa W. H.s. Diss. Salzb. 1979. – Volker Jehle: W. H. Eine Bibliogr. Ffm./Bern/New York 1984. – Ders.: W. H. Werkgesch. Ffm. 1990. – Patricia H. Stanley: W. H. and his critics. Columbia, SC 1993. – Heike Mallad: Komik im Werk v. W. H. Ffm. u. a. 1994. – Wolfgang Hirsch: Zwischen Wirklichkeit u. erfundener Biogr. Zum Künstlerbild bei W. H. Hbg. 1997. – Henry A. Lea: W. H.s Weg als Jude u. Deutscher. Stgt. 1997. – Lena Christolova: ›Die Zeit ist niemals in den Fugen gewesen‹. Raum-zeitl. Modelle in der poet. Welt v. W. H. Konstanz 1999. – Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüd. Autoren in der westdt. Nachkriegslit. Bln./Wien 2001. – W. H. 1916–1991. Bearb. v. Franka Köpp u. Sabine Wolf.
425 Bln. 2002. – Christine Chiadò Rana: Das Weite suchen. Unterwegs in W. H.s Prosa. Würzb. 2003. – V. Jehle: Scheiterndes. Kunst u. Leben: W. H. Nordhausen 2003. – Henrike Walter: Schreiben in Zwischen-Räumen. W. H.s Prosa im Spiegel von Migration u. Akkulturation. In: Exil 26 (2006), H. 1 , S. 71–93. Hanjo Kesting / Red.
Hillard, Gustav, eigentl.: G. Steinbömer, * 24.2.1881 Rotterdam, † 3.7.1972 Lübeck; Grabstätte: ebd., Burgtor-Friedhof. – Erzähler, Essayist, Literatur- u. Theaterkritiker; Privatgelehrter.
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gangenheit (Hbg. 1966). Im Erzählwerk gilt bes. Der Smaragd (Hbg. 1948. Neuaufl. Hbg. 1980) als Edelstein hochpointierter Novellistik. Auch die Kritiken, Glossen u. Vorträge (z.B. über Hausenstein, Hofmannsthal, Thomas Mann u. Wagner), die er v. a. in den »Neuen Deutschen Heften« u. im »Merkur« veröffentlichte, weisen H. als berufenen Wahrer kulturellen Erbes aus. Dieser »letzte Aristokrat der deutschen Literatur« (Carl Jakob Burckhardt) sieht im Bewahren nicht ein Element der Beharrung u. Erstarrung, sondern eine Kategorie des Schöpferischen, die es für die Zukunft fruchtbar zu machen gilt. – H.s Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach.
Der Sohn eines dt. Kaufmanns besuchte 1887–1892 ein holländ. Progymnasium. Nach Übersiedlung in das großelterl. Haus in Weitere Werke: Abtrünnige Bildung. Heidelb. Lübeck war er 1893–1895 – zgl. mit Thomas 1929 (Ess.s). – Staat u. Drama. Bln. 1932 (Aufsätze). Mann – Schüler des Katharineums. In der – Spiel mit der Wirklichkeit. Hbg. 1938 (R.). – Der Prinzenschule zu Plön war er von 1896 bis Brand im Dornenstrauch. Hbg. 1948 (R.). – Kaisers zum Abitur 1900 Mitschüler u. Freund des Geburtstag. Hbg. 1959 (R.). – Anruf des Lebens. dt. Kronprinzen. Die folgende Offizierslauf- Fünf E.en. Hbg. 1963. Literatur: G. H. Freie Akademie der Künste. bahn führte H. in den Großen Generalstab, Hamburger Bibliogr. Bd. 9, Hbg. 1971. – ›Hespedem er bis Kriegsende, zuletzt als Major, anrus‹. FS für G. H. Steinbömer zum 90. Geburtstag gehörte. am 24. Febr. 1971. o. O. u. J. [Hbg. 1971]. – Fritz Nach 1918 holte Max Reinhardt ihn als Usinger: G. H. In: Ders.: Miniaturen. Merzhausen Dramaturgen u. Direktionsstellvertreter an 1980, S. 151 f. Gerd Koenemann das Deutsche Theater in Berlin. Hier setzte H. auch das durch den Krieg unterbrochene Studium der Kunstgeschichte, Philosophie, Hille, Carl Gustav von, * 1590 Zachan/ Germanistik u. Archäologie bis zur PromotiPommern, † 1647 Allendorf bei Holzon (1924) fort. Als Dozent an Reinhardts minden. – Lyriker u. Historiograf. Schauspielschule u. der Lessing-Hochschule in Berlin sowie durch Studien- u. Bildungs- Der Sohn eines engl. Söldners verbrachte reisen in viele europ. Länder gewann H. ein seine Kindheit als Page am Brandenburger umfassendes Weltbild u. weitreichende Hof. Nach Studien in Wittenberg seit dem Kenntnis der geistigen, sozialen, polit. u. 10.8.1609 u. Rostock (Jan. 1612) stand er in kulturellen Kräfte der Zeit. hess. u. mecklenburgischem Dienst. 1637 Als universell gebildeter Humanist, ge- wurde H. als der »Unverdrossene« Mitgl. der prägt von antiker u. abendländ. Kultur, ver- Fruchtbringenden Gesellschaft. Seit 1639 war traut mit den großen Werken der Literatur u. er Hofmeister bei Herzogin Sophie Elisabeth, der bildenden Künste, war er fortan als freier der Gattin Herzog Augusts d.J. Sein BriefSchriftsteller tätig. wechsel mit Ludwig von Anhalt-Köthen, dem H. stellte der im Umbruch erfahrenen Welt Oberhaupt der Fruchtbringenden Geselljene gegenüber, die er sich selbst in seinem schaft, zeigt ihn als Mittler zwischen den langen, disziplinierten Leben erwarb. Die Höfen von Wolfenbüttel u. Köthen. Autobiografie Herren und Narren der Welt H. schrieb Widmungsgedichte für Werke (Mchn. 1954. Neuaufl. Hbg. 1985) bildet seiner Mitgesellschafter (Schottelius, Franz hierfür ebenso ein sinnerfülltes Zeugnis wie Julius von dem Knesebeck, Harsdörffer). Sein die Essaybände mit den sprechenden Titeln einziges selbstständiges Werk Der teutsche Wert der Dauer (Hbg. 1961) u. Recht auf Ver- Palmbaum (Nürnb. 1647. Nachdr. Hg. Martin
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Bircher. Mchn. 1970. Internet-Ed.: HAB), dessen Text 1668 von Georg Neumark weitgehend übernommen wurde, war die erste Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft u. zgl. eine erste ausführlichere Beschreibung ihrer programmat. Vorstellungen zur Erneuerung der dt. Kultur. Bis heute prägt sie das Verständnis dieser bedeutendsten dt. Sozität des 17. Jh. Weitere Werke: 20 Briefe bei Gottlieb Krause: Der Fruchtbringenden Gesellsch. ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen u. anderweitige Schriftstücke [...]. Lpz. 1855. Nachdr. Hildesh./New York 1973, S. 191 ff. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2089–2091. – Weitere Titel: Wolfgang Harms: Das angebl. altdt. Anthyriuslied in H.s ›Palmbaum‹. In: FS Ingeborg Schröbler. Tüb. 1973, S. 381–405. – Heiduk/Neumeister, S. 50, 185, 378. – Conermann FG, Bd. 3, S. 339–341. – J. Bepler: K. G. v. H.: Zu seiner Biogr. u. zu seinen Beziehungen nach England. In: FS Paul Raabe. Chloe 6 (1987), S. 253–290. – Wolfgang Adam: Poet. u. krit. Wälder [...]. Heidelb. 1988 (Register). – Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock u. Frühaufklärung. Entwürfe v. Böhme bis Leibniz. Bln./New York 1994 (Register). – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 722. – Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der ›Deutschen Poeterey‹. Heidelb. 2004 (Register). Jill Bepler / Red.
Hille, Peter, * 11.9.1854 Erwitzen/Kreis Höxter, † 7.5.1904 Großlichterfelde (heute zu Berlin); Grabstätte: Berlin-Mariendorf, St.-Matthias-Friedhof (Ehrengrab). – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Aphoristiker. Streng kath. erzogen, besuchte H., Sohn eines Lehrers und Rentmeisters, die Gymnasien in Warburg u. Münster. Dort fand er in den Brüdern Hart lebenslange Freunde. Ohne Schulabschluss – H. empfand Schulen als »Folteranstalten« – ging er über Höxter nach Leipzig u. war dort Gasthörer an der Universität u. Mitarbeiter einer Verlagsredaktion. Im Winter 1878/79 stellten ihn die Harts in Bremen beim »Bremer Tageblatt« ein. Nach dem Scheitern dieser Unternehmung lebte H. ab 1880 in London, 1882–1884 in den Niederlanden. Die Gründung einer Theatergruppe misslang, u. völlig verarmt
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kehrte H. nach Deutschland zurück. In Berlin versuchte er sich als Herausgeber u. einziger Mitarbeiter der Zeitschrift »Völkermuse – Ein kritisches Schneidemühl« (Bln. 1885). Das Projekt scheiterte nach zwei Nummern, doch gewann H. in Liliencron, der einer von zwei namentlich bekannten Abonnenten war, einen hilfreichen Freund. Er vermittelte sogleich den in Bad Pyrmont vollendeten, u. a. im Londoner u. niederländ. Sozialisten- u. Anarchistenmilieu spielenden, stark autobiografisch gefärbten Roman Die Sozialisten zum Druck (Lpz. 1886). Als nennenswerte Resonanz ausblieb, begab sich H., der sich selbst ein »Meerwunder der Erfolglosigkeit« nannte, erneut auf Wanderschaft, durch die Schweiz u. nach Italien. 1891 zurückgekehrt, lebte er bei seinem Bruder in Hamm u. ab 1895 in Berlin. Er wechselte häufig seine Wohnung, schlief nicht selten im Freien; seinen Freunden galt er zeitweilig als verschollen. Schließlich fand er im Haus der »Neuen Gemeinschaft« der Brüder Hart eine ständige Bleibe. H. veröffentlichte zahlreiche Gedichte, Prosaskizzen, Essays u. vor allem Aphorismen in Zeitschriften unterschiedlichsten Rangs. Seine Erziehungstragödie Des Platonikers Sohn (Bln. 1896), die drastisch zeigt, wie der ital. Dichter Petrarca als Vater versagt, fand kaum Beachtung. Im Winter 1902/03 gründete H., bald eine Kultfigur der Berliner Boheme, mit Hilfe seiner Freunde, zu denen Else Lasker-Schüler u. Erich Mühsam, Dehmel u. Bierbaum zählten, sein »Cabaret zum Peter Hille«, in dem er literarisch-musikal. Abende von hohem Anspruch abhielt. Wenige Wochen vor Vollendung des 50. Lebensjahres starb H. nach einem Sturz, geschwächt von einem Leben der Entbehrungen. Postum erschien Die Hassenburg – Roman aus dem Teutoburger Walde (Bln./Lpz. 1905), der in origineller Assimilation Emily Brontës Wuthering Heights ausgestaltete. 1910 veröffentlichte Herwarth Walden im »Sturm« die epische Meditation Das Mysterium Jesu (als Buch: Lpz. 1921. Wiesb. 1952). H.s Selbststilisierung als Schwärmer u. Mystiker bzw. als großes Kind hat das H.-Bild weitreichend geprägt (vgl. Ilbrig 2007). Lasker-Schülers Erhebung von H. zum heiligen
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»Petrus« (Das Peter Hille-Buch. Stgt./Bln. 1906) 1921. – Leuchtende Tropfen. Hg. Hermann Josef hatte an seiner ›Verklärung‹ großen Anteil. Berges. Stgt. u. a. 1924 (L.-Auswahl). Literatur: Heinrich Hart: P. H. Lpz. o. J. [1904]. Insbesondere die Neueditionen der Werke (Gesammelte Werke. Hg. Friedrich Kienecker. 6 – Hans Roselieb: P. H. Eine Dichterseele. Dortm. Bde., Essen 1984–86. Werke zu Lebzeiten. Hg. 1920. – Gertrud Weigert: P. H. Diss. Königsb. 1931. – Walter Pfannmüller: Der Nachl. v. P. H. Diss. Walter Gödden. 2 Bde., Bielef. 2007), eine Gotha 1940. – Alois Vogedes: P. H. – Ein Welt- u. neue Biografie (Rüdiger Bernhardt: »Ich be- Gottestrunkener. Paderb. 1947. – Rüdiger Bernstimme mich selbst.« Das traurige Leben des hardt: P. H. Ich bin, also ist Schönheit. Lpz. 1975. – glücklichen Peter Hille [1854–1904]. Jena/Qued- Bernward Pohlmann: Spontaneität u. Form. Rolinburg 2004) u. eine Briefausgabe (Martin manstrukturen im dt. Impressionismus, unterLanger: Peter Hille [1854–1904]. Bln. 2004) er- sucht an den Romanen ›Die Sozialisten‹ u. ›Die möglichen inzwischen ein nüchterneres Bild. Hassenburg‹ von P. H. Ffm. u. a. 1984. – P. H. DoObwohl H.s sorgloser Lebensstil nach wie vor kumente u. Zeugnisse [...]. Hg. Friedrich Kienecker. Paderb. 1986. – Prophet u. Prinzessin. P. H. u. durch sein Motto »Programm habe ich nicht. Else Lasker-Schüler. Hg. Walter Gödden, Michael Die Welt hat auch keins« zusammengefasst Kienecker, Hartmut Steinecke u. Günter Tiggeswerden kann, strebte er selbstbewusst nach bäumker. Bielef. 2006. – W. Gödden: Neue Impulse Erfolg im Literaturbetrieb. für die P.-H.-Forsch. In: Lit. in Westfalen. Beiträge Ausgehend von der naturalistischen Hoch- zur Forsch. 8. Hg. ders. Bielef. 2008, S. 345–352. – schätzung kleiner Prosaformen, beeinflusst P. H. im Urteil seiner Zeitgenossen u. Kritiker. von von Liliencron, Altenberg, Scheerbart u. Rezeptionszeugnisse P. H.s. Hg. Cornelia Ilbrig. ab 1896 auch von Nietzsche sowie in Kennt- Teil 1: 1884–1919. Bielef. 2007. Friedrich Kienecker / Philip Ajouri nis von Baudelaires u. Turgenjews Prosagedichten, entwickelte H. seinen eigenen Stil einer lyr. Prosa, die sich über Gattungsgren- Hillebrand, Joseph, * 1788 Großdüngen zen hinwegzusetzen trachtete. Spontaneität, bei Hildesheim, † 25.1.1871 Soden. – Lakonismus, aphorist. Konzentration ohne Philosoph, Literarhistoriker, RomanauRücksicht auf log. Folgerichtigkeit bestim- tor. men seine dichterischen Bilder. Zugleich Der Sohn eines Bauern studierte in Hildesweist die Thematik des Gesamtwerks, wie sie heim u. Göttingen kath. Theologie, Klassiin den Titeln Die Sozialisten u. Das Mysterium sche Philologie u. Orientalistik. Kurz nach Jesu deutlich wird, auf die Polarität u. Ziel- der Priesterweihe (1815) trat H. zum Protesrichtung seiner Aussage hin. Sozialkritisches tantismus über. Er verlor in der Folge seine Engagement u. sozialutop. Visionen wider- Lehrstelle am Josephinum in Hildesheim u. sprechen nicht H.s christlich-kath. Grund- brachte sich als Hofmeister durch. 1817 erüberzeugung, dass der Fortschritt der Ge- folgte die Ernennung zum a. o. Prof. für sellschaft letztlich nur durch religiös ge- Philosophie in Heidelberg. Nach Hegels Ruf prägte Humanität gesichert werden könne. an die Universität Berlin (1818) wurde er H. unterschrieb das Vorwort zu den Sozialis- 1821 dessen Nachfolger u. Ordinarius. 1822 ten mit »Humanus Peter Hille«. Darin wechselte H. nach Gießen (Rektor 1841/42). brachte er zum Ausdruck, dass zwischen Daneben leitete er das dortige Gymnasium als Werkstruktur, dichterischer Aussage u. Le- Pädagogiarch, ab 1834 als Oberstudienrat; er bensgestalt für ihn ein untrennbarer Zusam- war auch Mitgl. der Pädagogischen Kommenhang bestehe, u. in der Tat hat er auf mission Hessens. H. war ein angesehener u. seine Zeitgenossen noch mehr durch das ge- beliebter Lehrer, seine Vorlesungen über dt. wirkt, was er war, als durch das, was er Literatur fanden ein weites Echo. Als Politiker vertrat H. liberal-demokratischrieb. Weitere Werke: Cleopatra – Ein ägypt. Roman. sche Positionen. 1847–1849 war er AbgeordBln. 1902. – Semiramis. Bln. 1902 (R.). – Aus dem neter von Gießen, 1850–1856 von Mainz u. Heiligtum der Schönheit. Hg. Fritz Droop. Lpz. 1862–1865 von Offenburg in der Hessischen 1909. – Briefe P. H.s an Else Lasker-Schüler. Bln. Kammer. Als ihr Präsident geriet er in heftige
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polit. Kontroversen. Mit der Reaktion unter Minister Dalwigk verlor er 1850 seine Professorenstelle u. seinen Einfluss. Resigniert zog er sich ins Privatleben zurück. H. war ein bedeutender Vertreter eines freiheitlich-humanistischen Bildungsideals, das er in theoret. Schriften (Versuch einer allgemeinen Bildungslehre [...]. Braunschw. 1816. Über Teutschlands Nationalität und National-Bildung. Ffm. 1818) u. in Bildungsromanen (Germanikus. Lpz. 1817. Eugenius Severus. Lpz. 1819) zu verbreiten suchte. Als Philosoph stand er in der Tradition des Deutschen Idealismus. Sein bes. Interesse galt der Anthropologie u. der Ästhetik (Lehrbuch der Literar-Ästhetik [...]. 2 Bde., Mainz 1827). Seine Deutsche National-Literatur seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts [...] (3 Bde., Hbg./Gotha 1845/ 46) fand große Verbreitung. Weitere Werke: Propädeutik der Philosophie. 2 Bde., Lpz. 1819. – Grundriß der Logik. Lpz. 1820. – Paradies u. Welt, oder Liebe u. Schicksal. Mainz 1822 (R.). – Die Anthropologie als Wiss. 3 Bde., Mainz 1822–24 f. – Der Organismus der philosoph. Idee [...]. Dresden 1840. Literatur: Karl v. Prantl: J. H. In: ADB. – Hermann Uhde-Bernays: J. u. Karl Hillebrand. In: K. Hillebrand: Unbekannte Ess.s. Bern 1955, S. 283–396. Wolfram Mauser
Hillebrand, Karl, auch: Ch. A. Fuxelles, * 17.9.1829 Gießen, † 18.10.1884 Florenz. – Essayist u. Publizist. Dem Sohn von Joseph Hillebrand wurde im Elternhaus eine reiche geistig-literar. Bildung vermittelt, die Vorliebe für gepflegte Geselligkeit u. die Begeisterung für freisinnig-republikan. Ideen. 1848 begann H. das Jurastudium an der Universität Gießen. Er beteiligte sich an der revolutionären Bewegung der Studenten (Starkenburger Korps) u. wirkte im Vorstand des republikan. Vereins mit. Nach Barrikadenkämpfen in Frankfurt/ M. schloss er sich dem Aufstand in Baden an (1849). In Rastatt wurde er gefangen u. zum Tod verurteilt, doch gelang ihm im Nov. 1849 die Flucht nach Frankreich. Bis Mai 1850 hielt er sich in Paris auf, zeitweise als Sekretär Heines. Nach Deutschunterricht in Bordeaux u. Abkehr von den revolutionären Ideen be-
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gann er 1854 intensive Studien der klass. u. neueren Literatur sowie der Geschichte. Auf die Licence 1858 in Bordeaux folgte 1861 die Promotion an der Sorbonne. 1857 erhielt H. die frz. Staatsbürgerschaft. Trotz Begnadigung (1858) kehrte er nicht nach Deutschland zurück. Nach Literaturvorlesungen in Bordeaux u. an der Militärakademie in St. Cyr bei Paris erfolgte die Ernennung zum Professor für vergleichende Literaturgeschichte an der Universität Douai (1863). Als Wohnort wählte H. aber Paris, wo er intensiv am geistigen u. geselligen Leben teilnahm. Er errang hohes Ansehen als Kritiker u. wissenschaftl. Publizist. Dem Ziel, die geistigen, kulturellen u. polit. Verhältnisse Deutschlands in Frankreich zu erläutern, galten seine Übersetzung u. Herausgabe von Karl Otfried Müllers Geschichte der griechischen Literatur, die er mit einem umfangreichen Vorwort zur histor. Schule in Deutschland versah (Paris 1866), u. sein Buch La Prusse contemporaine et ses institutions (Paris 1867). Aufmerksamkeit fand die Aufsatzreihe La societé de Berlin de 1789 à 1815 in der »Revue des deux mondes« (1870). H.s Beiträge zur frz. Schulreform orientierten sich am Muster des Humboldt’schen Gymnasiums. Der Ausbruch des Kriegs 1870 zwang H. erneut zur Flucht. Er ging nach England u. berichtete 1871 im Auftrag der »Times« über den Einmarsch ital. Truppen in Rom; seine 35 Korrespondenzberichte aus der Heiligen Stadt fanden weithin Beachtung. 1871 ließ er sich als freier Schriftsteller in Florenz nieder. Hier wirkte er als angesehenes Mitgl. der dt. Kolonie (Fiedler, Hildebrand, Marées u. a.) u. als europaweit anerkannter Essayist, Kritiker u. Historiker. H.s Flucht 1870 markierte einen tiefen Einschnitt in Leben u. Wirken. Er schrieb von nun an vorwiegend auf Deutsch, aber auch auf Englisch u. Italienisch mit dem erklärten Ziel, Literatur, Geschichte, Geselligkeit u. Mentalität des einen Landes dem Leser des jeweils anderen zu verdeutlichen. Seine Aufsätze erschienen in den führenden Zeitschriften u. Zeitungen des Kontinents. Spitzenleistungen erbrachte H. als Verfasser biografischer (Torquato Tasso, Montesquieu, Daniel Defoe, Lorenzo de Medici u. a.) u. literarisch-
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soziolog. Essays (Zur Entwicklungsgeschichte der In: Maria Chiara Mocali (Hg.): Cultura tedesca a abendländischen Weltanschauung, Zur Entwick- Firenze. Firenze 2005, S. 91–100. Wolfram Mauser / Red. lungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft, Die Werther-Krankheit in Europa u. a.). Seine Kunst der Darstellung u. der geistig-intellektuelle Zuschnitt seiner Schriften gelten als Hiller, Johann Adam, eigentl.: J. A. Hüller, meisterhaft. H. stellte sich bewusst in den * 25.12.1728 Wendisch-Ossig bei Görlitz, Dienst eines humanistischen Bildungsideals † 16.6.1804 Leipzig; Grabstätte: ebd., Jou. einer liberal-konservativen Grundanschau- hannisfriedhof, – Musikschriftsteller u. ung. Bemerkenswert ist sein kosmopolitisch Komponist. orientiertes Europäertum (Nietzsche: »O Bü- Der früh verwaiste Sohn eines Schulmeisters cher, aus denen eine europäische Luft weht, trat mit 20 Jahren als Alumne in den Dresdund nicht der liebe nationale Stickstoff!«). ner Kreuzchor ein, wo er von dem BachWeitere Werke: Dino Compagni [...]. Paris schüler Gottfried August Homilius musika1861. – Des conditions de la bonne comédie. Paris lisch ausgebildet wurde. Drei Jahre später 1863 (preisgekrönt; dt. Ffm. 1973). – Etudes his- immatrikulierte er sich an der Leipziger toriques et littéraires [...]. Paris 1868. – Zwölf Universität. Nach einer Tätigkeit als HausBriefe eines ästhet. Ketzers. Bln. 1873 (anonym). – lehrer in Brühl’schen Diensten stieg H. 1763 Zeiten, Völker u. Menschen. 7 Bde., Bln. 1873–85. zum Leiter des Leipziger »Großen Concerts« Bd. 1, 1873: Frankreich u. die Franzosen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Bd. 2, 1875: Wälsches u. auf; 1775 gründete er die Musikübende GeDeutsches. Bd. 3, 1876: Aus u. über England. Bd. 4, sellschaft; die seit 1781 bestehenden Ge1878: Profile. Bd. 5, 1881: Aus dem Jh. der Revo- wandhauskonzerte gehen auf ihn zurück. lution. Bd. 6, 1882: Zeitgenossen u. Zeitgenössi- Stellungen als Hofkapellmeister in Mitau u. sches. Bd. 7, 1885: Kulturgeschichtliches (postum). als Stadtmusikdirektor in Breslau gab er bald – Gesch. Frankreichs v. der Thronbesteigung Louis wieder auf. 1789–1801 war er Thomaskantor. Philipps bis zum Fall Napoléons III. 2. Bde., Gotha Auf dem Gebiet des Musikschrifttums 1877–79 (unvollst.). – Six lectures in the History of machte H. sich durch die Herausgabe der German Thought. London 1880. – Unbekannte ersten modernen Musikzeitschrift, der »WöEss.s. Aus dem Frz. u. Engl. übers. u. hg. v. Herchentlichen Nachrichten und Anmerkungen, mann Uhde-Bernays. Bern 1955. – Herausgeber: Itadie Musik betreffend« (4 Jahrgänge, lia [...]. 4 Bde., Lpz. 1874–77. 1766–1770) verdient. Seine Tätigkeit als Literatur: Wolfram Mauser: K. H. Leben, Werk, Gründer u. Leiter der Leipziger ChorsängerWirkung. Dornbirn 1960. – Elsbeth Wolffheimschule von 1771 fand ihren Niederschlag in Dittmann: Die literar. Prinzipien H.s. Diss. Hbg. 1961. – F. C. Greeley Stahl: K. H. et la France. Diss. seinen Anweisungen zur Singekunst in der deutParis 1972. – Rudolf Vierhaus: Zeitgesch. u. Zeit- schen und italienischen Sprache (Ffm./Lpz. 1773), kritik im essayist. Werk K. H.s. In: HZ 21 (1975), Anweisungen zum musikalisch richtigen Gesang S. 304–325. – Jean Nurdin: L’idée d’Europe de la (Lpz. 1774) u. anderen Gesanglehrbüchern. Pensée Allemande à l’époque Bismarckienne. Metz Zahlreiche weitere Arbeiten beschäftigen sich 1977, S. 589–633. – Mostra di documenti a cura mit ästhetischen, pädagog., histor., musikLucia Borghese. Florenz 1984. – Lucia Borghese theoret. Themen sowie mit Biografien. H. (Hg.): K. H. Eretico d’Europa. Atti del seminario übersetzte auch Operntexte, etwa von Meta1984. Florenz 1986. – Ulrich K. Goldsmith: K. H., stasio u. Goldoni, u. philosophische Werke, bekehrter Revolutionär. In: Ders.: Studies in comu. a. von Rousseau. Sein musikal. Ruhm parison. Hg. Hazel Barnes. New York u. a. 1989, S. 271–293. – Gerwin Marahrens: Über den pro- gründet sich auf seine dt. Singspiele, die in blemat. humanist. Idealismus v. K. H. In: Gerhard ihrer empfindsamen Melodik Johann Adolf P. Knapp (Hg.): Autoren damals u. heute. Amsterd. Hasse nahe stehen. 1991, S. 321–365. – Ralph-Rainer Wuthenow: Der Essay der Spätzeit. Europ. Lit. u. Gesellsch. in K. H.s Schr.en. In: Italienisch. Ztschr. für ital. Sprache u. Lit. 13 (1991), S. 2–20. – Goedeke Forts. – Lucia Borghese: Attorno a K. H. e Adolf von Hildebrand.
Weitere Werke: (Erscheinungsort: jeweils Lpz.) Musikal. Hdb. für die Liebhaber des Gesanges u. des Claviers. 1773. – Exempelbuch der Anweisung zum Singen. 1774. – Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrten u. Tonkünstler neuerer
Hiller Zeit. 1784 (mit Autobiogr.). – Über Metastasio u. seine Werke. 1786. – Fragmente aus Händels Messias, nebst Betrachtungen über die Aufführung Händelscher Singcompositionen. 1787. – Über Alt u. Neu in der Musik. 1787. – Was ist wahre Kirchenmusik. 1789. – Beyträge zu wahrer Kirchenmusik v. J. A. Hasse u. J. A. H. 1791. Literatur: Anna Amalie Abert u. Thomas Baumann: J. A. H. In: New Grove. – Hartmut Grimm u. Hans-Günter Ottenberg: J. A. H. In: MGG. – Claudius Böhm (Hg.): J. A. H. Kapellmeister u. Kantor, Komponist u. Kritiker. Altenburg 2005. Erich Tremmel / Red.
Hiller, Kurt, * 17.8.1885 Berlin, † 1.10. 1972 Hamburg; Grabstätte: ebd., Ohlsdorfer Friedhof. – Jurist; Journalist. H. war das einzige Kind des jüd. Krawattenfabrikanten Hartwig Hiller. In Berlin studierte er u. a. bei Georg Simmel Philosophie, bei Bernhard Hübler Staatsrecht u. bei Franz von Liszt Strafrecht. In seiner Dissertation Das Recht über sich selbst (Heidelb. 1908), mit der er zum Dr. jur. promoviert wurde, forderte H. die Reform des Sexualstrafrechts. Er lernte Helene Stöcker u. Magnus Hirschfeld kennen. H. wurde Mitarbeiter am »Pan«, an der »Schau-« u. späteren »Weltbühne«, an der »Aktion« u. der »Neuen Rundschau«. 1909 gründete er zusammen mit Erich Unger, Hoddis u. Loewenson den »Neuen Club« in Berlin, ein Lese- u. Diskussionsforum junger Autoren. 1911 beteiligte er sich an dem literar. Cabaret »Gnu«. 1912 veröffentlichte H. die erste expressionistische Anthologie, Der Kondor (Heidelb. Neudr. Bln. 1989), die neben eigenen Gedichten u. a. Gedichte von Blass, Brod, Georg Heym, Lasker-Schüler, Schickele u. Werfel enthält. Mit seiner 1913 im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienenen Zeit- u. Streitschrift »Die Weisheit der Langeweile« zeigte H. sein polit.-literar. Engagement. In den folgenden Jahrzehnten wurde er zum Wortführer eines radikalen Pazifismus, zum Mitbegründer des literar. Aktivismus u. regen Initiator einer Gegenöffentlichkeit, die eine »Revolutionierung der Köpfe« beabsichtigte. Polemiken gegen weltfremde Literaten, Spießer u. Belletristen finden sich zuhauf in H.s Reden u. Pamphleten. Seine Auffassung
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von der autonomen Elite enthielt auch die Utopie eines »neuen Menschen«. Sein Motto Geist werde Herr (Bln. 1920) kennzeichnet die Zielvorstellung des Aktivismus, nach der Künstlern u. Intellektuellen die Führungsaufgabe in Gesellschaft u. Staat zu überantworten wäre. H. verstand es, geschult am Werk von Karl Kraus u. Alfred Kerr, seinen Reden u. Essays bissige Polemik u. Pathos beizufügen, verbunden mit Berliner Jargon u. fantasievollen Wortneuschöpfungen. Im Okt. des Kriegsjahrs 1914 rief H. mit den Gesinnungsfreunden Alfred Wolfenstein u. Rudolf Kayser im »Café des Westens« die Bewegung des »Aktivismus«, »Politizismus« u. »Voluntarismus« – Schlüsselbegriffe der »Geistigen Politik« – ins Leben. Diese Bewegung trug deutl. Züge einer elitären Geisteshaltung, die vor u. nach dem Ersten Weltkrieg von zahlreichen Intellektuellen geteilt wurde, weil sie ein Angriff war auf reaktionäre Tendenzen, bürgerl. Denken u. die missverstandene Weimarer Demokratie. Ab 1916 veröffentlichte H. »Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik« (bis 1924, Mchn. u. Lpz.), die zum publizistischen Organ des Aktivismus wurden. Heinrich Manns berühmter Aufsatz Geist und Tat von 1910 leitete den ersten Band ein mit dem Aufruf, den künstl. Gegensatz von Macht u. Geist zu überwinden. Der erste wie auch der 1918 erschienene zweite Band wurden wegen »revolutionärer, antireligiöser, antimilitaristischer, frauenrechtlich-pazifistischer Tendenzen« sofort verboten. H.s Einfluss auf die damalige literar. Generation lässt sich an den »Ziel«-Mitarbeitern ablesen: u. a. Heinrich Mann, Kerr, Werfel, Rubiner, Berta Lask, Rudolf Kayser, Alfred Kurella, Benjamin, Wolfenstein. Mit der Gründung des »Politischen Rats Geistiger Arbeiter« in Berlin nach der Ausrufung der Republik im Nov. 1918 wurden H.s Forderungen nach einer geistigen Politik im Sinne der »Ziel«-Vorstellungen populär: Verhinderung des Kriegs, Errichtung eines Völkerbunds, Abschaffung der Wehrpflicht, Errichtung der »Logokratie«. Nach H. hätten die Deutschen die Aufgabe gehabt, »auf die demokratische Revolution der Franzosen, auf
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die proletokratische der Russen die logokra- 1966. – Leben gegen die Zeit. Bd. 2. Eros. Reinb. tische zu türmen« (Logokratie oder ein Weltbund 1973. – Polit. Publizistik von 1918–33. Hg. Stephan des Geistes. In: Das Ziel. Viertes der Jahrbücher Reinhardt. Heidelb. 1983. Literatur: Wolfgang Rothe: Der Aktivismus für geistige Politik. Mchn. 1920). 1915–20. Mchn. 1969. – Juliane Habereder: K. H. u. Der Widerspruch in seinem Denken zwischen demokratischem Anspruch u. elitärem der literar. Aktivismus. Ffm./Bern 1981. – Ulrich Hohoff (Hg.): K.H. Ein Schriftsteller mischt sich in Prinzip bleibt konstitutiv für H.s geistige die Politik. Lpz. 1997. – Rüdiger Schmitt u. WolfHaltung, obgleich er sich in seinen Pam- gang Beutin (Hg.): ›Zu allererst antikonservativ‹. K. phleten, offenen Briefen u. Reden auch als H. Hbg. 1998. – Harald Lützenkirchen (Hg:): realpolit. Zeitkritiker zu erkennen gab; Schr.en der K.H.-Gesellsch. Fürth 2001, 2005, scharfsichtig u. weitblickend warnte er vor 2007. – Lex. dt.-jüd. Autoren. den reaktionären Kräften in der Weimarer Sabine Geese / Tim Lörke Republik, vor Nationalismus u. Militarismus u. forderte 1931 als radikaler Sozialist den Zusammenschluss aller linken GruppierunHiller, Philipp Friedrich, * 6.1.1699 gen im Kampf gegen die faschistische »GeMühlhausen/Württemberg, † 24.4.1769 sindelherrschaft«. Steinheim. – Evangelischer Pfarrer u. Auch nach dem 30.1.1933 schrieb H. für Liederdichter. die »Weltbühne« u. kämpfte gegen den Nationalsozialismus. Am Abend des Verbots der Der Pfarrerssohn H. gilt als einer der bedeu»Weltbühne« wurde H. verhaftet, dann frei- tendsten Repräsentanten des frühen schwäb. gelassen, wieder verhaftet u. im Konzentra- Pietismus biblizist. Prägung. Mit 14 Jahren tionslager Brandenburg fast zu Tode geprü- besuchte er die evang. Klosterschule Denkgelt. Im April 1934 floh er nach Prag, 1938 endorf, wo er Schüler Johann Albrecht Benins Exil nach London. Seine publizistische gels war, ab 1716 die Klosterschule MaulArbeit blieb nun weitgehend unbeachtet, bronn. 1719 nahm er in Tübingen das Stunicht zuletzt wegen seiner Schwierigkeiten, dium der Theologie auf; dort erwarb er 1720 literar. Englisch zu schreiben. Erst 1955 den Magistergrad u. legte 1724 das theolog. kehrte H. zurück u. versuchte in Hamburg Examen ab. Nach Vikariat, u. a. in Schwaierneut Einfluss zu nehmen auf die politisch- gern, u. Hauslehrertätigkeit in Nürnberg gesellschaftl. Entwicklung der BR Deutsch- verwaltete H. ab 1732 mehrere Pfarrstellen, land. Doch seine Publikationen in »Konkret«, zuletzt in Steinheim/Schwäbische Alb »Vorwärts« u. »Die Andere Zeitung« blieben (1748–1769), wo er durch eine 18 Jahre anohne nachhaltige Wirkung. H. war einer der dauernde Stimmlosigkeit an der Ausübung wichtigsten polit. Publizisten u. Essayisten seiner Amtsgeschäfte gehindert war. In dieser der Weimarer Republik, Sozialist u. Idealist, Zeit verfasste er theolog. u. erbaul. Werke, die ein »Zwischenstuhlaner«, der provozierte u. als bedeutsamer Beitrag zur Theologie- u. Frömmigkeitsgeschichte des 18. Jh. zu werpolemisierte zugunsten alles Humanen. Weitere Werke: Taugenichts – Tätiger Geist – ten sind. Unter H.s Schriften haben v. a. folgende Thomas Mann. Eine Antwort v. K. H. Bln. 1917. – Gustav Wyneken’s Erziehungslehre u. der Aktivis- Werke Beachtung gefunden: Johann Arndts mus. Hann. 1919. – Der Aufbruch zum Paradies. Paradiesgärtlein geistreicher Gebete in Liedern (4 Mchn. 1922. – Verwirklichung des Geistes im Staat. Tle., Nürnb. 1729–31 u. ö.), Nachdichtung Beiträge zu einem System des logokrat. Aktivis- eines verbreiteten Erbauungsbuchs aus dem mus. Lpz. 1925. – Der Sprung ins Helle. Reden, 17. Jh., das typische Elemente myst. Spirioffne Briefe, Zwiegespräche, Essays, Thesen, Pamtualität aufweist; das Neue System aller Vorbilder phlete gegen Krieg, Klerus u. Kapitalismus. Lpz. Jesu Christi durch das ganze Alte Testament (Stgt. 1932. – Profile. Prosa aus einem Jahrzehnt. Paris 1938. – Köpfe u. Tröpfe. Profile aus einem Viertel- 1758), eine typolog. Auslegung des AT, die in jahrhundert. Hbg./Stgt. 1950. – Ratioaktiv. Reden der Tradition heilsgeschichtlich-biblizist. 1914–1964. Ein Buch der Rechenschaft. Wiesb. Schriftauslegung (Johannes Coccejus, Bengel) 1966. – Leben gegen die Zeit. Bd. 1. Logos. Reinb. steht u. sich scharf gegen Ansätze historisch-
Hillern
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krit. Schriftauslegung (Spencer, Michaelis) Martin Brecht. Metzingen 1999. Bad Wildbad 2007. – Gerhard Schwinge: P. F. H. In: Kompoabgrenzt. Gesangbuchs. Die im Geistlichen Liederkästlein zum Lobe nisten u. Liederdichter des Evang. 2 Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 ( 2001), S. 154 f. – Gottes (2 Tle., Stgt. 1762/67) veröffentlichten Walter Stäbler: P. F. H. (1699–1769), ein erleuch732 Lieder unterscheiden sich von H.s früher teter Gottesgelehrter. In: Kirchengesch. WürttemDichtung durch ihre nüchterne Sprache u. bergs in Porträts: Pietismus u. Erweckungsbeweihren theolog. Gehalt, auf der Grundlage re- gung. Hg. Siegfried Hermle. Holzgerlingen 2001, formatorischer Heilslehre, verbunden mit S. 117–135. – Hdb. zum Evang. Gesangbuch. Bd. 3, Elementen einer biblisch begründeten Blut- H. 3, Gött. 2001, S. 90–95; Bd. 3, H. 12, Gött. 2005, u. Wunden-Theologie u. Eschatologie. – H.s S. 93–96. Irmgard Weth / Red. Lieder fanden im 18. u. 19. Jh. in pietistischen Kreisen weite Verbreitung, einige sind in das Hillern, Wilhelmine (Josephine Luise) EKG (123, 152, 253, 355) aufgenommen von, geb. Birch, auch: Ilaff Reike, * 11.3. worden. Weitere Werke: Gottfried Hoffmann (Präses): Annotationes irenicae ad dissertationem irenicam [...] Joh. Jacobi Hottingeri [...] de veritatis et charitatis amicissimo in ecclesia Protestantium connubio. Respp. u. a.: Magister P. F. H. Tüb. 1722. – Gott-geheiligte Morgen-Stunden zur poet. Betrachtung des Taues. Tüb. 1748. Nachdr. Stgt. 1934. – Das Leben Jesu Christi [...]. Tüb. 1752. – Nötige Verantwortung seines Systems der Vorbilder Jesu Christi. Tüb. 1759. – Der levit. Versöhntag. Stgt. 1762. – Vorbilder der Kirche des NT im AT. Tüb. 1766–68. – Betrachtung des Todes, der Zukunft Christi, u. der Ewigkeit [...]. Stgt. 1767. Ausgaben: Das Wort u. Christus in dem Wort. Ausgew. Betrachtungen u. Lieder. Hg. u. mit Einf. u. Anmerkungen vers. v. Irmgard Weth-Scheffbuch. Metzingen 1969. – Geistl. Liederkästlein zum Lobe Gottes. Metzingen 161994. Bad Wildbad 2007. Literatur: Bibliografie: Die Werke der württemberg. Pietisten des 17. u. 18. Jh. [...]. Bearb. v. Gottfried Mälzer. Bln./New York 1972, S. 159–168, Nr. 1188–1272. – Weitere Titel: W. Claus u. Friedrich Buck: Württemberg. Väter 1. Stgt. 1904, S. 257–268. – Julius Rössle: Von Bengel bis Blumhardt. Metzingen 21960, S. 108–117. – Walter Scheffler: P. F. H. In: NDB. – Rolf Scheffbuch: Die Verherrlichung Jesu Christi u. die Entgötterung des Menschen. Zum theolog. Vermächtnis P. F. H.s (1699–1769). In: Theolog. Beiträge 14 (1983), S. 267–274. – Wolfgang Wischmeyer: P. F. H. 1699–1769, ein Dichtertheologe der Empfindsamkeit. In: Vaihinger Köpfe. Biogr. Porträts aus fünf Jh.en. Vaihingen an der Enz 1993, S. 89–106. – Gesch. Piet., Bd. 2, S. 261–263. – Wolfram Uebele: Das Heiligungslied im Pietismus. Ein Beitr. zum geistl. Lied der württemberg.-pietist. Dichter des 18. Jh. In: Theolog. Beiträge 29 (1998), S. 196–208. – Gott ist mein Lobgesang. P. F. H. (1699–1769), der Liederdichter des württemberg. Pietismus. Hg.
1836 München, † 25.12.1916 Hohenaschau bei Prien/Obb.; Ehrengrab auf dem Friedhof in Oberammergau. – Schriftstellerin u. Dramatikerin.
Die Tochter des Schriftstellers Christian Birch u. der Schauspielerin u. Dramatikerin Charlotte Birch-Pfeiffer debütierte 1854 als Schauspielerin. 1857 musste sie ihre von ihrer Mutter tatkräftig unterstützte Bühnenkarriere abrupt beenden, da sie nach einer Liasion mit dem badischen Kammerherrn u. Freiburger Hofgerichtsdirektor Hermann von Hillern schwanger war. Das heimlich geborene Kind lebte nur wenige Tage. Aus der Ehe gingen drei Töchter hervor, darunter die Schriftstellerin Hermine Diemer (1859–1924). Nach der Hochzeit wandte sich H. dem Schreiben zu. Bereits ihr zweiter Roman, Ein Arzt der Seele (4 Bde., Bln. 1869. Erstdruck in: Deutsche Roman-Zeitung, 1868/69), wurde mehrfach aufgelegt, ebenso Aus eigener Kraft, der 1870 in der »Gartenlaube« erschien u. H. einem breiten Publikum bekannt machte. Allgemein berühmt wurde H. mit dem Roman Die Geyer-Wally. Eine Geschichte aus den Tyroler Alpen (2 Bde., Bln. 1875), der ebenso wie die vorangegangen Werke zuerst als Fortsetzungsroman erschien (Deutsche Rundschau, 1874/75), in acht Sprachen übersetzt wurde u. den sie 1880 mit großem Erfolg dramatisierte. Nach dem Tod ihres Mannes zog sie 1883 von Freiburg nach Oberammergau, wo sie bis 1911 lebte. Ihr neues Lebensumfeld u. ihre Annäherung an den Katholizismus, zu dem sie 1904 konvertierte, spiegeln sich in ihrem von der Presse lebhaft aufgenommenen Roman Am Kreuz.
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Hilsbecher
Ein Passionsroman aus Oberammergau (2 Bde., McCobb: Of women and doctors: ›Middlemarch‹ Stgt./Bln./Lpz. 1890. Erstdruck in: Vom Fels and W. v. H.’s ›Ein Arzt der Seele‹. In: Neoph. 68 zum Meer, 1889/90) u. dem folgenden Ein (1984), S. 572–586. – Das Kind ist tot, die Ehre alter Streit. Roman aus dem bayrischen Volksleben gerettet. Ein Briefw. aus dem 19. Jh. zwischen Charlotte Birch-Pfeiffer (1800–1868) ... ihrer der sechziger Jahre (Stgt. 1898). 1903 erschien Tochter Minna v. Hillern ... u. ... Hermann v. ihr letzter Roman, Ein Sklave der Freiheit (Bln./ Hillern über ein zur Unzeit geborenes Kind. Hg. Stgt.). Dem Lesepublikum blieb H. durch Gisela Ebel. Ffm. 1985. – Jeannine Blackwell: Die Neuauflagen ihrer früheren Romane noch nervöse Kunst des Frauenromans im 19. Jh. oder längere Zeit präsent. Der geistige Tod durch kränkende Handlung. In: Obgleich sie neben der Bühnenfassung der Frauen. Weiblichkeit. Schr. Hg. Renate Berger u. a. Geyer-Wally erfolgreiche Theaterstücke u. Ge- Bln. 1985, S. 145–154 [zu ›Ein Arzt der Seele‹]. – dichte schrieb, ist H. primär Erzählerin. Ihr Maire Josephine Walshe: The life and works of W. dramat. Können spiegelt sich in ihren Ro- v. H., 1836–1916. Diss. State Univ. of Buffalo 1988. – Beate Reiter: ›Mit der Feder erwerben ist sehr manen in bildkräftigen Szenen u. lebendigen, schön‹: Erfolgsdramatikerinnen des 19. Jh. In: im Dialekt der im Roman geschilderten Ge- Frauen Lit. Gesch. Schreibende Frauen vom MA bis gend gehaltenen Dialogen. H.s Themen – zur Gegenwart. Hg. Hiltrud Gnüg u. Renate Darwins Theorien u. die Rolle der Frau in der Möhrmann. 2., vollst. u. neu bearb. Aufl. Stgt. Gesellschaft in Ein Arzt der Seele oder die Po- 1999, S. 247–260. – Goedeke Forts. sition des Adels im Zeitalter der IndustrialiKarin Vorderstemann sierung in Aus eigener Kraft – sind zentrale Themen ihrer Epoche, die sie jedoch in konHilsbecher, Walter, * 9.3.1917 Frankfurt/ servativer Weise behandelt. Dies gilt auch für M. – Prosaautor, Essayist u. Übersetzer. ihren größten Erfolg, Die Geyer-Wally, mit dem sie dem Genre des Heimat- u. Bergro- H. war Mitarbeiter der Nachkriegszeitschrift mans bis dahin unerreichte Popularität ver- »Der Ruf« u. nahm an der Gründungsverschaffte. Wie schon in ihrem frühen Roman sammlung der Gruppe 47 teil. Erste aphorist. Ein Arzt der Seele wird die anfangs autarke Aufzeichnungen, die den Zerfall des IndiviProtagonistin hier durch die Ereignisse ge- duums im Atomzeitalter thematisieren, erbrochen u. findet ihr Glück in der Unter- schienen 1948 in Rainer Maria Gerhardts Liwerfung unter ihren Ehemann. Damit ver- teraturzeitschrift »fragmente«, dem innovaweigert H. ihren weibl. Figuren die Eigen- tivsten Periodikum der Nachkriegsliteratur. ständigkeit, die sie sich in ihrer Ehe u. als Diese kulturkrit. Notate hat H. fortlaufend Schriftstellerin erkämpfte. Obgleich ihre Ro- ergänzt u. in seinem Aufzeichnungsband mane ausnahmslos Unterhaltungsliteratur Sporaden (Stgt. 1969) gesammelt, einem Diasind, inspirierte H. mit ihren Schriften be- rium des skept. Bewusstseins: »Vorsicht vor deutende Künstler. So finden sich in George Paradiesen.« Auch in Aufsätzen u. RezensioEliots Roman Middlemarch (1871/72) deutl. nen zur modernen Literatur (u. a. zu Jünger, Bezüge auf Ein Arzt der Seele; 1892 wurde Al- Borges, Blanchot) reflektiert H. die Daseinsfredo Catalanis Oper La Wally uraufgeführt. verfassung des modernen Menschen u. »das Zwischen 1921 u. 2005 wurde Die Geyer-Wally Abenteuer der Existenz«. Tragik, Paradoxie, fünf Mal verfilmt u. war zuletzt Gegenstand Absurdität u. die Suche nach dem »Unerreichbaren« erscheinen als konstituierende eines »steirischen Musicals«. Weitere Werke: Doppelleben. Roman. 2 Bde., Motive literar. Moderne. In lakon. KurzgeBln. 1865. – Höher als die Kirche. Eine Erzählung schichten (Dreizehn lakonische Geschichten. Bln. aus alter Zeit. Bln. 1877. – Und sie kommt doch! 1986) u. »poetischen Traumbildern« (EulenErzählung aus einem Alpenkloster des 13. Jh. 3 flug. Grünstadt 1984) sucht H. die »BegegBde., Bln. 1879. – Die Friedhofsblume. Novelle. nung mit dem Imaginären«. Bln. 1883. Literatur: Uta Ganschow: Die Geyer-Wally. Identifikationsfigur für ein Massenpublikum. 1873 u. 1940. In: Discurs 3 (1973), S. 65–76. – E. A.
Weitere Werke: Schreiben als Therapie. Stgt. 1967 (Ess.). – Les Adieux. Gedichte u. Kurzprosa. Bln. 1984. – An- u. Absage. Bln. 1984 (L.). – Von Träumern, Suchern u. Schimären. Bln. 1986 (P.). –
Hilscher Kopfsprünge. Bln. 1987 (L.). – Zum Beispiel Ödipus. Varianten eines Daseinsmodells. Bln. 1988 (Ess.s). – Aus Hulissers Bibl. Ausgew. Aufsätze u. Rezensionen. Bln. 1989. – Sardonisches Credo. 13 schwarzbunte Sonette. Andernach 1991 (L.). – Kuckucks-Orakel. Bln. 1997 (L.). – Zeitkäfig. Lyr. Aphorismen. Andernach 2001 (P.). Literatur: Rolf A. Burkart (Hg.): Hulisser. Hommage für W. H. Bln. 1987. Michael Braun
Hilscher, Eberhard, * 28.4.1927 Schwiebus/Mark Brandenburg (heute Swiebodzin/Polen), † 7.12.2005 Berlin. – Literaturwissenschaftler; Erzähler, Essayist, Lyriker. H., Sohn des Lehrers, Museumsdirektors u. Stadtarchivars Max Hilscher u. seiner Frau Hildegard, wurde mit 17 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen. Nach seiner Rückkehr aus amerikan. Gefangenschaft 1946 arbeitete er in einer landwirtschaftl. Erfassungsstelle u. in einer Zuckerfabrik. 1948 holte er das Abitur nach u. studierte anschließend Germanistik, Pädagogik u. Geografie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Germanistik-Diplom erwarb er 1952. Ab 1953 lebte H. als freier Schriftsteller u. Literaturwissenschaftler in Ost-Berlin. Die in den 1960er Jahren entstandenen, regelmäßig aktualisierten Leben und Werk-Biografien Arnold Zweig. Brückenbauer vom Gestern ins Morgen (Halle 1962. U. d. T. Arnold Zweig. Leben und Werk. Bln./DDR 81987), Thomas Mann (Bln./DDR 1965. 111989) u. Gerhart Hauptmann (Bln./DDR 1969, 51990. Ffm. 1988. Bln. 1996) begründeten H.s internat. Ruf. Seine erste erzählerische Arbeit war eine Novelle über Charles Darwin (Feuerland Ahoi! Mister Darwin macht eine Entdeckung. Lpz. 1961. U. d. T. Mister Darwin macht eine Entdeckung. Bln./DDR 1980. 21989). Es folgte ein histor. Roman über Walther von der Vogelweide (Der Morgenstern oder die vier Verwandlungen eines Mannes, Walther von der Vogelweide genannt. Bln./DDR 1976. 31982. U. d. T. Der Dichter und die Frauen oder Vier Verwandlungen eines Mannes, Walther von der Vogelweide genannt. Bln. 1992), der auf originelle Weise Faktentreue u. lebendiges Erzählen verknüpft. H.s wichtigster Roman Die Weltzeituhr. Roman einer Epoche
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(Bln./DDR 1983, Mchn. 1985) zeichnet anhand der Lebensgeschichte einer modernen Schelmenfigur ein vielschichtiges Panorama Deutschlands u. der Welt in den Jahren 1928–1962. Auf spielerische Weise u. mit Hilfe vielfältiger literar. Mittel (Montage, Parodie, Ironie) breitet H. darin Möglichkeiten des menschl. Wissens u. Handelns aus u. relativiert diese zugleich. Aufgrund H.s Distanz zum SED-Regime u. seinen kulturellen Normen verzögerten u. verhinderten die Zensurbehörden das Erscheinen von Teilen seines Werks (u. a. Erzählungen, Gedichte u. die seit 1947 geführten Tagebücher). Erst nach der dt. Wiedervereinigung erhielt H., seit 1986 in zweiter Ehe mit Ute Reimann verheiratet, seine erste Auszeichnung, die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung Weimar 1991. H.s letzter veröffentlichter Roman Venus bezwingt den Vulkan (Bln. 1992) erweitert sich, ausgehend von den rauschhaften Fantasien eines erblindeten Malers, zu einem grotesken Spielraum des Erzählens. Der zweite Band der Weltzeituhr sowie sein jüngeres erzählerisches Werk sind bis heute ohne Verlag. – 2000 wurde H. Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Swiebodzin. Er vermachte der Stadt Teile seines Nachlasses u. wurde dort in einem Ehrengrab bestattet. Weitere Werke: Die Entdeckung der Liebe. Historische Miniaturen. Bln./DDR 1962. 41983. – Poetische Weltbilder. Ess.s über Heinrich Mann, Thomas Mann, Hermann Hesse, Robert Musil u. Lion Feuchtwanger. Bln./DDR 1977. U. d. T. Neue poet. Weltbilder. Ess.s. Um Ess.s über Gerhart Hauptmann u. Elias Canetti erw. Ausg. Bln. 1992. – Dichtung u. Gedanken. 30 Ess.s v. Goethe bis Einstein. Stgt. 2000. Literatur: Ute Reimann-Hilscher: Bibliogr. zum Werk E. H.s. 1953–2001. 3., erw. u. verb. Ausg. Bln. 2002. – Harro Zimmermann: E. H. In: KLG. – Heidi Beutin u. Wolfgang Beutin: E. H.s Romane als Beispiel avantgardist. Kunst des 20. Jh. In: Dies.n: Schöne Seele, roter Drache. Zur dt. Lit. im Zeitalter der Revolutionen. Ffm. 2008, S. 239–257. – Dies.n: ›Einblicke geben in die weibl. Seele‹? – Zum Frauenbild E. H.s in seiner Epik. In: ebd., S. 259–281. Hannes Krauss / Robert Steinborn
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Hilsenrath, Edgar, * 2.4.1926 Leipzig. – Romancier u. Erzähler. Als Sohn einer orthodox-jüd. Kaufmannsfamilie in Halle/Saale aufgewachsen, floh H. kurz vor der Reichspogromnacht im Nov. 1938 zusammen mit seiner Mutter u. dem jüngeren Bruder zur Großmutter nach Sereth in die Bukowina, während sich der Vater nach Frankreich rettete. Im Okt. 1941 wurde die Familie in das jüd. Ghetto nach MoghilevPodolsk in der Ukraine deportiert. Nach der Befreiung des Ghettos durch die sowjetische Armee im März 1944 wanderte H. zu Fuß zurück nach Sereth, von dort weiter nach Czernowitz u. gelangte mit Hilfe der Organisation »Ben Gurion« 1945 illegal nach Palästina, wo er sich zunächst als Gelegenheitsarbeiter durchschlug. 1947 sah er seine Familie, die den Holocaust ebenfalls überlebt hatte, in Lyon wieder u. emigrierte zusammen mit ihr 1951 nach New York, wo er als freier Schriftsteller arbeitete, ehe er Ende 1975 nach Deutschland zurückkehrte u. seitdem in Berlin lebt. Die ersten Romane H.s, Nacht (Mchn. 1964) u. Der Nazi & der Friseur (Garden City 1971. Dt. Köln 1977), wurden erst spät in Deutschland bekannt. Der autobiografisch gefärbte Roman Nacht entstand bereits in seiner New Yorker Zeit u. handelt von dem verzweifelten Überlebenskampf des Paares Ranek u. Deborah im Ghetto der fiktiven ukrain. Stadt Prokow, in dem die rumän. Miliz die meist obdachlosen u. hungernden Juden dem Siechtum überlässt. H. ersetzt den in der Holocaust-Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit vorherrschenden Philosemitismus durch eine veristische, kaum einen Tabubruch aussparende Darstellung des Ghettoalltags u. verzichtet somit bewusst auf die Perspektive der mitleidigen Anteilnahme am jüd. Schicksal. In Der Nazi & der Friseur nähert sich H. dem Thema des Völkermords mit Hilfe satirisch-grotesker Schreibweisen, ohne jedoch das Geschehen zu bagatellisieren. Der Roman erzählt, ein Motiv aus Chaplins The Great Dictator kontrafaktorisch variierend, von dem SS-Oberscharführer Max Schulz, der die Identität seines ehemaligen jüd. Schulfreunds u. späteren Opfers Itzig
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Finkelstein annimmt u. so nicht nur der Bestrafung durch die Alliierten entgeht u. auf makabre Weise zu Wohlstand gelangt, sondern auch unbehelligt nach Israel auswandert. Nicht minder satirisch geben sich H.s Folgeromane Gib acht, Genosse Mandelbaum (Mchn./Wien 1979. Neuausg. u. d. T. Moskauer Orgasmus. Mchn./Zürich 1992) u. Bronskys Geständnis (Mchn./Wien 1980; 2004 im Rahmen der Werkausgabe u. d. T. Fuck America erschienen), obwohl sie die narrative Dichte ihrer Vorgänger nicht erreichen. Vor allem der Versuch, Erotik u. Pornografie als Vehikel für Systemkritik u. histor. Aufarbeitung zu nutzen, wurde von der Literaturkritik als erzähltechnisch nicht tragfähig u. als inhaltlich fragwürdig empfunden. Immerhin bleibt Bronskys Geständnis als humoreske Abrechnung mit der Erfolgsorientiertheit des »American Dream«, mit der Einwanderungspolitik der USA während des Zweitens Weltkriegs, die H. auch in den Satiren von Zibulsky oder Antenne im Bauch (Bln. 1983) in den Blick nimmt, u. mit der gescheiterten Integration des Emigranten im New York der 1950er bis 1970er Jahre lesbar. In Das Märchen vom letzten Gedanken (Mchn. 1989) greift H. mit dem türk. Völkermord an den Armeniern (1915/16) eine Thematik auf, die schon Franz Werfel in seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh entfaltet hatte, u. setzt sie erzählerisch ebenbürtig um. Auf dem Sterbebett im Schweizer Exil will der Armenier Thovma Khatisian wenigstens gedanklich noch einmal in seine Heimat zurückkehren, um das Schicksal seines Volks u. das seiner Familie, das ihm durch Erzählungen Überlebender vermittelt wurde – er selbst war seinerzeit noch ein Kind –, zu vergegenwärtigen. Dazu erfindet er den Märchenerzähler Meddah, der ihm im fingierten Dialog von seinem Vater berichtet, der dem nationalistischen Regime der Jungtürken zwar entkam, in Warschau aber von den Nationalsozialisten aufgegriffen u. als vermeintl. Türke in Auschwitz ermordet wurde. Mit der Gleichsetzung des armenischen Genozids mit dem jüd. erweist H. den Völkermord nicht nur als Konstante innerhalb der Menschheitsgeschichte, sondern sensibilisiert den Leser zgl. für ein von der Historiografie
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weitgehend ignoriertes Kapitel. Erinne- 2004 den Lion-Feuchtwanger-Preis u. 2006 rungsarbeit leistet H. ferner mit dem Roman den Armenischen Nationalpreis für Literatur. Jossel Wassermanns Heimkehr (Mchn./Zürich Werke: Ges. Werke in 10 Bdn. Hg. Helmut 1993), der die Welt des jüd. Schtetls mit sei- Braun. Köln (seit 2006 Bln.) 2003–2008. nen unverwechselbaren Typen noch einmal Literatur: Sander L. Gilman: Jüd. Literaten u. aufleben lässt, über denen bereits die Schat- dt. Lit. Antisemitismus u. die verborgene Sprache ten der bevorstehenden Deportation liegen. der Juden am Beispiel v. Jurek Becker u. E. H. In: In dem als Simpliciade gestalteten Roman Die ZfdPh 107 (1988), S. 269–294. – Susann Möller: Wo Abenteuer des Ruben Jablonski (Mchn./Zürich die Opfer zu Tätern werden, machen sich die Täter zu Opfern. Die Rezeption der beiden ersten Ro1997) entwirft H. das einfühlsame Porträt mane E. H.s in Dtschld. u. den USA. Ann Arbor/ eines Jungen, dessen Lebensstationen ihn als Mich. 1991. – Thomas Kraft (Hg.): E. H. Das Un»alter ego« des Autors ausweisen. Abseits der erzählbare erzählen. Mchn./Zürich 1996. – Norbert vertrauten Motive von Deportation, Gefan- Otto Eke: Planziel Vernichtung. Zwei Versuche genschaft, Befreiung u. Odyssee gewinnt der über das Unfaßbare des Völkermords. Franz WerRoman als literarisierte Poetologie seine Be- fels ›Die vierzig Tage des Musa Dagh‹ (1933) u. E. deutung, betrachtet Ruben die Literatur doch H.s ›Das Märchen vom letzten Gedanken‹ (1989). als Möglichkeit schlechthin, an die Vorgänge In: DVjs 71 (1997), S. 701–723. – Jennifer L. Taylor: Writing as revenge. Jewish German identity in postim Ghetto zu erinnern. Wenn Ruben Holocaust German literary works. Reading survivor schließlich in einem frz. Café in tiefer Ver- authors Jurek Becker, E. H. and Ruth Klüger. Ann zweiflung die ersten Zeilen seines Romans Arbor/Mich. 1998. – Dietrich Dopheide: Das GroNacht zu Papier bringt, verschränkt sich das teske u. der Schwarze Humor in den Romanen E. literar. Ich mit dem empirischen. Von der H.s. Bln. 2000. – Jennifer I. Bjornstad: Functions of autobiogr. Grundierung zehrt auch H.s Ro- humor in German Holocaust literature. E. H., man Endstation ... Berlin (Bln. 2006), der von Günter Grass, and Jurek Becker. Ann Arbor/Mich. den vergebl. Versuchen des aus Amerika nach 2001. – Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüd. Autoren in der westdt. Nachkriegslit. Bln./ Deutschland zurückgekehrten Schriftstellers Wien 2001. – H. Braun (Hg.): Verliebt in die dt. Joseph Leschinsky, genannt Lesche, handelt, Sprache. Bln. 2005. – Ders.: Ich bin nicht Ranek. seinen im Ausland längst erfolgreichen Ro- Annäherungen an E. H. Bln. 2006. – Patricia Vahman »Der Jude und der SS-Mann« in einem sen: Lesarten – Die Rezeption des Werks von E. H. namhaften Verlag unterzubringen, ehe sich Tüb. 2008. Ralf Georg Czapla ein kleiner Berliner Verlag des Manuskripts annimmt. Die Handlung spiegelt nicht nur H.s seinerzeitiges Bemühen wider, in Hiltalingen, Johannes, auch: Meister des Deutschland einen Verleger für Der Nazi & der Lehrgesprächs, * um 1322 Basel, † 1392 Friseur zu finden – Kindler entschloss sich aus Basel. – Verfasser dreier deutscher MeisAngst, der Roman könne das dt. Publikum in ter-Jünger-Dialoge zur Einführung in die seiner antisemit. Haltung bestärken, 1964 Theologie sowie eines umfangreichen lanur zu einer geringen Auflage –, sondern teinischen Œuvres. auch den Streit mit H.s langjährigem Verle- Hinter dem lange gebräuchl. Notnamen ger Piper. Piper gab dem Autor Ende der »Meister des Lehrgesprächs« dürfte Johannes 1990er Jahre wegen sinkender Nachfrage Hiltalingen von Basel stehen, Magister u. sämtl. Rechte zurück u. stieß ihn damit neu- Provinzial des Augustiner-Eremitenordens erlich ins publizistische Niemandsland, bis (Witte 2002; 2004). Er war Lektor am Orsich der Kölner Verleger Volker Dittrich u. H.s densstudium in Straßburg u. Paris, seit 1379 Förderer u. Entdecker Helmut Braun als General des gesamten Augustinerordens, Herausgeber seiner annahmen. 1389 Bischof von Lombès/Südfrankreich; er H. erhielt u. a. 1989 den Alfred-Döblin- ist bestattet im Chor der Augustinerkirche Preis u. den Heinz-Galinski-Preis, 1994 den (heute Museum) in Freiburg/Br. Als GutachErich-Nossack-Preis, 1996 den Jakob-Was- ter war er im Kanonisierungsprozess der hl. sermann-Preis, 1998 den Hans-Sahl-Preis, Birgitta von Schweden tätig. H. ist Verfasser
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eines umfangreichen, aber wenig rezipierten sondern entwickelt die Form des Meistertheolog. Œuvres in lat. Sprache, darunter ein Jünger-Dialogs zu einer Komplexität, die in Kommentar zu den Sentenzen des Petrus seiner Zeit u. seinem literarisch-theolog. Lombardus; er setzt sich mit dem Armuts- Umfeld alles Vergleichbare übertrifft. »Fides streit der Franziskaner auseinander u. nimmt quaerens intellectum« wird Gestaltungsausführlich zur Verteidigungsschrift Meister prinzip des Lehr- u. Lerngesprächs. Der Dialog wird zum Drama der Wahrheit. Die Eckharts Stellung (Witte 2004). Seine dt. Schriften sind drei Meister-Jün- theolog. Grundhaltung wie auch die Eckhart ger-Dialoge. Der In-principio-Dialog bietet eine folgende Gleichsetzung von Gnade, Liebe u. Einführung in die metaphys. Gotteslehre. Hl. Geist legen nahe, H. auch den Traktat von Der Verfasser gibt sich hier als Vertreter des der Minne zuzuweisen (Witte 2004). Die Wirkung des lat. Œuvre H.s ist nach augustin. Platonismus zu erkennen; darüber hinaus ist er sogar von radikaleren, neupla- derzeitiger Kenntnis gering, bedarf aber näton. Einflüssen bestimmt. Der in der Scho- herer Erforschung. Die Aufnahme der dt. lastik übl. Aristotelismus ist gemäßigt. In der Schriften lässt sich bislang nur in wenigen Seins-, Gottes- u. Ideenlehre rezipiert er ei- Zitaten in deutschsprachigen scholast. Trakgenständig Meister Eckharts Position. Wie taten des 14. u. 15. Jh. erkennen. Alle drei die Eins als das Prinzip aller Zahlen in allen volkssprachigen Werke sind nur in jeweils Zahlen enthalten ist, so sei das reine Sein, d.h. einer Handschrift überliefert. Gott, in allen Dingen. In der Trinitätslehre Ausgaben/Literatur: Georg Steer: Scholast. stützt sich H. auf Richard von Sankt Viktor u. Gnadenlehre in mhd. Sprache. Mchn. 1966 (Ed. des Bonaventura. Das Konstitutionsprinzip der ›Gratia-Dei-Traktats‹ mit Komm.). – Karl Heinz göttl. Dreifaltigkeit sei die Liebe: Die reine Witte: Der Meister des Lehrgesprächs u. sein ›InGüte des Vaters verströme sich in Liebe zu principio-Dialog‹. Untersuchung u. Ed. Mchn. einem Geliebten, dem Sohn, u. wecke Ge- 1989 (auch Inhaltsangabe u. Untersuchung zu ›Des menschen adel, val und erlösunge‹). – Kurt Ruh: genliebe. Beide Personen teilten das Glück Traktat v. der Minne. Eine Schrift zum Verständnis ihrer gegenseitigen Liebe einem Dritten, dem u. zur Verteidigung v. Meister Eckharts MetaphyHl. Geist, mit; denn vollkommene Liebe er- sik. In: Philologie als Kulturwiss. Studien zur Lit. fülle sich in einer Dreierbeziehung, wie auch u. Gesch. des MA. FS Karl Stackmann. Hg. Ludger die Liebe von Vater, Mutter u. Kind zeige. Die Grenzmann u. a. Gött. 1987, S. 208–229 (mit Ausg. Geschöpfe wiederum seien aus ihren Vor- u. des ›Traktats von der Minne‹, S. 211–220). – K. H. Ursprungsbildern in Gott ausgeflossen. Die Witte: Der Traktat v. der Minne, der Meister des myst. Kontemplation führe den Menschen zu Lehrgesprächs u. J. H. v. Basel. Ein Beitr. zur Gesch. einer aus der Liebe sich speisenden Erkennt- der Meister Eckhart-Rezeption in der Augustinernis dieses seinshaften Ursprungs alles Ge- schule des 14. Jh. In: ZfdA 131 (2002), S. 454–487. – Ders.: J. H. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). schaffenen. Karl Heinz Witte / Nikolaus Henkel Das umfangreiche Werk Des menschen adel, val und erlösunge sowie der Gratia-Dei-Traktat bieten eine umfassend ausgestaltete metaHiltbolt von Schwangau. – Minnesänger phys. Lehre von den Seelenkräften, dem Wedes 13. Jh. sen der Wahrheit u. Gerechtigkeit, der Sünde u. Schuld, der Rechtfertigung u. Gnade. Von H. sind 23 Minnelieder überliefert. Von Ausgehend von Positionen des Augustinus u. den 49 in der Großen Heidelberger LiederhandAnselms von Canterbury zielt der Verfasser schrift (C) unter seinem Namen aufgezeichauf eine deutl. Absage an jede Werkgerech- neten Strophen werden drei (C 16–18) in der tigkeit, eine Position, die der Augustinerere- Forschung gewöhnlich dem Markgrafen von mit Martin Luther in seiner Rechtferti- Hohenburg zugeschrieben, doch ist eine gungslehre wieder aufnehmen wird. Verfasserschaft H.s nicht überzeugend ausDer Autor trägt seine Gedanken weder in zuschließen (Schiendorfer). Die Weingartner streng scholastischer noch in popularisieren- Liederhandschrift überliefert 14 mit dem Beder, aszetischer oder katechetischer Form vor, stand in C übereinstimmende Strophen.
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Der Sänger gehörte der zunächst welf., dann stauf. Ministerialenfamilie von Schwangau mit Stammsitz in der Nähe von Füssen an, mit deren histor. Wappen das Wappen der Dichterminiatur in C bis auf geringe Abweichungen übereinstimmt. Bei dem Minnesänger dürfte es sich um den 1221–1256 mehrfach belegten »Hilteboltus« handeln, der im Dienst Graf Albrechts von Tirol stand. Aus stilgeschichtl. Gründen suchte man nach einem älteren Namensvertreter, der zu einer Datierung der Lieder zwischen 1190 u. 1210 passt, doch ist um diese Zeit kein H. urkundlich nachgewiesen. Aufgrund des Kreuzlieds XVII u. der Nennung von »Sürîe« in XVIII hat man eine Kreuzzugsteilnahme H.s angenommen u. dabei u.a. den Kreuzzug von 1228/29 (von Kraus) u. den von 1217, an dem auch Albrecht von Tirol teilnahm (Worstbrock), in Erwägung gezogen. Die Verwendung des gängigen Liedtyps allein beweist eine Kreuzzugsteilnahme jedoch nicht, u. gerade die Art der Argumentation in XVII spricht eher für souveränes Handhaben der literar. Tradition als für biogr. Betroffenheit. Nur XII geht von Gegenseitigkeit der Minnebeziehung u. ihrer Erfüllung aus; den Klagegestus des Sängers motiviert hier, anknüpfend an Gedankengut des frühen Minnesangs, die Trennung der Liebenden. Die Rollenbilder von Liebendem u. Dame in allen übrigen Liedern stehen in der Tradition des hohen Minnesangs. Die Dame verfügt nicht nur über äußere Vorzüge (z.B. III), sondern steht auch ethisch u. moralisch hoch (X), genießt die Anerkennung der höf. Gesellschaft (XIV, XV), hat Macht über den Liebenden (VII) u. ist Anlass für seine Sangeskunst (II, X). Selbst in dem tanzliedartigen Lied X mit Namensnennung im Refrain, das wohl die in der Miniatur in C dargestellte Tanzszene angeregt hat, bleibt die Charakterisierung der Frau durchaus höfisch. Auch der Liebende vereinigt die klass. Rollenmerkmale in sich. So stellt er sich in den Dienst der Frau (z.B. VI), ist von ihr abhängig (VII), verehrt u. preist sie (III, X), klagt (I, XIII), hofft auf Gnade (IV, V) u. fordert, wenn auch dezent, Lohn für seinen Dienst (VI).
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Besondere Beachtung verdient das Kreuzlied XVII. Anders als in den meisten Kreuzliedern der Zeit wird hier die im Liedtyp angelegte Möglichkeit zu religiöser Reflexion nicht genutzt. Die Kreuzzugsthematik ist im Rahmen einer kunstvollen Argumentation funktional auf die Minnethematik bezogen. Sie dient der Steigerung der in der Abschiedssituation eindringlich darstellbaren Ergebenheit des Liebenden u. erlaubt diesem, sich schließlich pointiert an Gott um Beistand in seiner Minneangelegenheit zu wenden. Das H. gewöhnlich abgesprochene dreistrophige Lied C 16–18 weist weitgehende Übereinstimmungen mit Strophen auf, die C Rudolf von Rotenburg u. dem Markgrafen von Hohenburg zuschreibt. Diese Mehrfachüberlieferung unter verschiedenen Namen könnte Hinweis auf eine produktive sängerische Interaktion sein: Ein Sänger, hier wohl der Hohenburger, greift, unter Umständen in parodistischer Absicht, das Liedgut eines anderen Sängers variierend auf (Schiendorfer). Man hat versucht, auf der Basis der Liedaussagen einen zykl. »Minneroman« H.s zu rekonstruieren. Eine solche biografist. Interpretation als Argumentation für eine bestimmte Chronologie der Lieder heranzuziehen (Juethe, von Kraus), ist problematisch. Auffallend ist der hohe Anteil einstrophiger (acht) u. zweistrophiger (vier) Lieder in H.s Œuvre. Man hat darin ein Anknüpfen an den zur autonomen Einzelstrophe neigenden frühen Minnesang gesehen. Fast die Hälfte der Minnekanzonen H.s sind daktyl. Neun- u. Zehnsilbler; die alternierenden Töne bestehen überwiegend aus Viertaktern. Die romanischen Strophenformen, die H. vielleicht selbst entlehnte, der Wortschatz (insbes. die Reimwörter) u. die Motivgestaltung erlauben, den Sänger in einer Tradition stauf. Minnesangkunst zu sehen, die vom Kreis um Friedrich von Hausen bis zu den späthöf. Sängern in schwäbisch-stauf. Umkreis wie Burkhard von Hohenfels, Gottfried von Neifen u. Ulrich von Winterstetten reicht. Ob H. dabei als Übergangsgestalt zwischen dem Hausenkreis u. der jüngeren Generation zu sehen ist oder ob er dieser Generation bereits angehört, kann aufgrund der unsicheren Datierung nicht eindeutig geklärt werden.
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Hiltbrunner
Auch wenn einiges für eine Entstehungszeit Worstbrock: H. In: VL. – Max Schiendorfer: der meisten Lieder zwischen 1190 u. 1210 Handschriftl. Mehrfachzuweisungen: Zeugen sänspricht (vgl. Worstbrock), gibt es doch eine ger. Interaktion im MA? In: Euph. 79 (1985), Reihe von Argumenten für eine spätere Da- S. 66–94. – Claudia Händl: Rollen u. pragmat. Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnetierung, die zu dem bezeugten Namensträger sangs nach Walther v. der Vogelweide. Göpp. 1987, passt: die Anklänge an Minnesänger des 13. S. 226 f., 286–302, 337–361 u. ö. – Manfred EikelJh., der Einsatz des Refrains mit Namens- mann: Denkformen im Minnesang. Tüb. 1988 nennung in X, v. a. aber der bewusste For- (Register). – Volker Mertens: H. v. S. Versuch über malismus u. Schematismus in Inhalt u. Form einen Minnedichter des 13. Jh. als Beitr. zu einer (Kuhn) u. die auch bei den Sängern im spät- nachklass. Ästhetik des Minnesangs. In: Dorothee höfisch-stauf. Umkreis zu beobachtende Zu- Lindemann u. a. (Hg.): ›bickelwort u. wildiu mære‹. rücknahme der pragmat. Einbindung der FS Eberhard Nellmann. Göpp. 1995, S. 294–312. – Lieder (Händl). Worstbrocks Annahme, das Uwe Meves (Hg.): Regesten dt. Minnesänger des 12. und 13. Jh. Bln./New York 2005. Claudia Händl Kreuzlied XVII sei spätestens 1217 entstanden u. mit der Stelle »Mîn teil der minne daz sult ir iu hân« (3, 1) blicke der Sänger bereits Hiltbrunner, Hermann, * 24.11.1893 auf seinen Minnesang als Vermächtnis an die Biel-Benken bei Basel, † 11.5.1961 UeriZurückbleibenden, ist nicht zwingend. Selbst kon/Zürichsee. – Lyriker, Essayist, Erwenn H. am Kreuzzug 1217 teilgenommen zähler. hat, kann das Lied durchaus später entstanDer Lehrersohn wurde zunächst auch Volksden sein. H.s Werk ist weitgehend von der stauf. schullehrer, studierte aber nach drei Jahren Minnesangtradition geprägt, doch machen Schuldienst 1914–1920 in Bern u. Zürich sich auch Einflüsse Heinrichs von Morungen, Naturwissenschaften, Philosophie u. GermaReinmars des Alten u., weniger deutlich, nistik. Danach lebte er als freier Schriftsteller Walthers von der Vogelweide bemerkbar. H. zunächst in Zürich u. ab 1935 in Uerikon/ verfügt über eine umfassende Kenntnis der Zürichsee. Vor allem in jüngeren Jahren unternahm Minnesangtradition. Der gekonnte Umgang mit traditionellen Formen, Motiven u. Rollen H. zahlreiche Reisen, die in Prosabüchern wie bei kunstvoller Steigerung des Minnethemas Nordland und Nordlicht. Träume und Erfüllungen aus meinen Wanderjahren (Basel 1924), Spitzbererweist ihn als Meister der höf. Liedkunst. gen-Sommer. Ein Buch der Entrückung und ErgrifAusgaben: Carl v. Kraus (Hg.): Dt. Liederdichter des 13. Jh. Bd. 1: Text. Tüb. 21978, S. 163–174 fenheit (Zürich 1926), Liebe zu Frankreich (Zü(I–XXII); S. 178 die Strophen C 16–18 = v. Hohen- rich 1935), Fahrt nach Nordafrika (Zürich 1944) burg VI 1–3 (Textabdr. v. C 16–18 nach der Hs. bei sowie im erfolgreichen Jugendbuch Der schweizerische Robinson auf Spitzbergen (Zürich Schiendorfer, s. Lit., S. 78). Literatur: Erich Juethe: Der Minnesänger H. v. 1926. Bern 1959) ihren Niederschlag fanden. S. Breslau 1913. Nachdr. Hildesh./New York 1977. Der passionierte Naturbeobachter wandte – Hans Naumann: Die Hohenstaufen als Lyriker u. seine Aufmerksamkeit aber auch, wie u. a. ihre Dichterkreise. In: Dichtung u. Volkstum Antlitz der Heimat. Betrachtungen (Zürich 1934). (= Euph.) 36 (1935), S. 21–49. – Friedrich Zollhoe- Das Hohelied der Berge (Zürich 1944) u. nicht fer: Der Minnesänger v. Hohenschwangau. In: zuletzt das Tagebuch Alles Gelingen ist Gnade Schwabenland 7 (1940), S. 246–253. – Hans Pörn- (Zürich 1958) zeigen, mit gleicher Leidenbacher: H. v. S. In: Lebensbilder aus dem bayer. schaft seiner engeren schweizerischen UmSchwaben 7 (1958), S. 12–22. – Hugo Kuhn: Mingebung zu. nesangs Wende. Tüb. 21967, S. 43, 80 f. – Silvia Am produktivsten war H. als Lyriker. Er Ranawake: Höf. Strophenkunst. Mchn. 1976 (Redebütierte mit Fundament. Eine Dichtung (Zügister). – Eugen Thurnher: König Heinrich (VII.) u. die dt. Dichtung. In: Dt. Archiv für die Erforsch. rich 1920) u. legte in den folgenden 40 Jahren des MA 33 (1977), S. 522–541. – Carl v. Kraus (Hg.): unter Titeln wie Von Sommer zu Herbst (Zürich Dt. Liederdichter des 13. Jh. Bd. 2: Komm., besorgt 1925), Heiliger Rausch (Zürich 1939), Geistliche v. H. Kuhn. Tüb. 21978, S. 190–223. – Franz Josef Lieder (Zürich 1945), Glanz des Todes (Zürich
Hiltebrand
1949) oder Flucht aus der Tiefe (Zürich 1954) über 20 Gedichtbände vor: an Rilke u. George orientierte, formal strikt konventionelle, meist gereimte, zu Zyklen verbundene Naturu. Bekenntnislyrik, die den Bedrohungen u. Verunsicherungen der Zeit das Bleibende eines ästhetischen, schönen Kunstwerks entgegenstellen will. H., der während u. nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Ehrismann, Hans Schumacher, Paul Adolf Brenner u. anderen einen Zürcher Lyrikerkreis bildete, erhielt 1941 den Literaturpreis der Stadt. Dennoch empfand er, wie Alles Gelingen ist Gnade auf erschütternde Weise zeigt, zuletzt seine literar. Ambitionen als überlebt bzw. durch das gesellschaftskrit. Engagement einer jüngeren Autorengeneration in Frage gestellt. – H.s Nachlass liegt in der Schweizerischen Landesbibliothek in Bern. Literatur: Paul Adolf Brenner, Hans Schumacher u. a.: ... Geburtstagspost für H. H. Zürich 1953. Charles Linsmayer
Hiltebrand, Andreas, * 25.11.1581 Stettin, † 13.2.1637 Stettin; Grabstätte: ebd., Jakobskirche. – Mediziner, Dichterarzt, Übersetzer. H. entstammte der Führungsschicht Stettins. Nach dem Besuch der städt. Ratsschule bezog er die Universität Wittenberg. Wohl aus Anlass der Magisterpromotion veröffentlichte er eine Rede über die Vorteile des Landlebens (Oratio agriculturae et agricolarum. Stettin 1601), bevor er als angehender Mediziner eine mehrjährige ›peregrinatio academica‹ durch Europa antrat u. die modernen Fremdsprachen erlernte. 1603–1605 studierte H. in Leiden Medizin, nahm an Sektionen teil u. disputierte. Einer Reise nach England u. Frankreich 1606 schloss sich ein Aufenthalt in Italien mit der Immatrikulation in Padua an. Das Medizinstudium beschloss H. in Basel, wo er von Caspar Bauhin mit einer Disputation De Apoplexia (Basel 1607) promoviert wurde, die der Empirie u. den modernen medizinischen Autoritäten verpflichtet ist. Danach wirkte er im Amt Stolp fast fünf Jahre lang als »Fürstl. Stolpischer Leibmedicus«, bevor er im heimatl. Stettin bis zu seinem Lebensende als prakt. Arzt tätig war. Eine
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standesgemäße Heirat mit Regina Eger, einer Urenkelin Melanchthons, festigte H.s Stellung in der städt. Führungsschicht Stettins. Der Dreißigjährige Krieg bestärkte H. in seiner patriotisch-protestant. Gesinnung. Er wurde zu einem Verehrer des schwed. Königs Gustav II. Adolf u. unterstützte durch genealog. Forschung die Herrschafts- u. Legitimatitonsansprüche des pommerschen Herzogshauses u. der schwed. Krone. Seine mehrfach aufgelegte Genealogia [...] Regum Sueciae (Stettin 1630 u. ö.) wurde ins Deutsche (Genealogia oder Stamm- und Geschlecht-Register der [...] Königen in Schweden. Stettin 1631. 1632. 1633 [Titelaufl. Ffm.]) u. Englische (The Genealogie and Pedigree of the [...] Kings in Sveden. [...]. London 1632) übersetzt. H.s letztes Werk, die Epigrammatum centuria (Stettin 1634), ist ein poetisches Zeugnis christl. Stoizismus, wie er für den dt. Späthumanismus typisch ist. Literarhistorische Bedeutung erlangte H. als Übersetzer aus dem Italienischen. Neben einem ital. Pesttraktat (Tractatus brevis de praeservatione et curatione pestis. Lpz. 1618) übertrug er den Aminta, das epochale Pastorale von Torquato Tasso, aus dem Italienischen ins Lateinische (Frankfurt/Oder 1616). Als H. versuchte, seine elegante Latinisierung, die in jamb. Senaren den variablen Madrigalversen des höf. Aminta zwar nahekommt, doch das ital. Original vereindeutigt u. rhetorisiert, in der zweiten Auflage (Ffm. 1624) durch moralisierende dt. Akt-Periochen zu popularisieren, war die dt.-lat. Sprachenkonkurrenz zugunsten des Deutschen entschieden. Doch beruft sich der erste deutschsprachige Übersetzer des Aminta, der Buchner-Schüler Michael Schneider, noch 1639 ausdrücklich auf H.s lat. Version als Vorbild. Im medizinischen Fachschrifttum bedeutete das Festhalten am lat. Idiom dagegen kein Hindernis, wie H.s Korrespondenz mit späthumanistischen Kollegen (Caspar Bauhin, Gregor Horstius, Johann Petrus Lotichius) zeigt. Weitere Werke: Disputatio medica de phlebotomia et arteriotomia. Leiden 1603. – Disputatio medica de crisibus et diebus decretoriis. Leiden 1605.
441 Literatur: Marin Leuschner: [Leichenprogramm für A. H.]. In: Vitae Pomeranorum. Bd. 18. – Achim Aurnhammer: A. H. – ein pommerscher Dichterarzt zwischen Späthumanismus u. Frühbarock. In: Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer (Hg.): Pommern in der Frühen Neuzeit. Lit. u. Kultur in Stadt u. Region. Tüb. 1994, S. 199–225 (Schriftenu. Briefverz). Achim Aurnhammer
Hilty, Carl (Andreas), * 28.2.1833 Werdenberg/Kt. St. Gallen, † 12.10.1909 Clarens/Genfer See. – Jurist, Laientheologe, Essayist. Der Sohn eines Arztes studierte in Göttingen u. Heidelberg Jurisprudenz, ließ sich 1855 als Rechtsanwalt in Chur nieder u. wurde 1874 Professor für Staats- u. Völkerrecht in Bern. Daneben war er Herausgeber des »Politischen Jahrbuchs der Schweiz«, Mitgl. des Nationalrats, Oberauditor der Schweizer Armee u. Vertreter der Schweiz im Haager Schiedsgericht. H., den die Zeitgenossen »Praeceptor Helvetiae« nannten, gilt als der Philosoph des schweizerischen Bundesstaats. Seiner Auffassung nach kommt der Schweiz als neutralem u. demokratischem Staat die Mission zu, Vorbild u. Sinnbild für die Welt zu sein. Weit größere Bedeutung erlangten H.s ethische Schriften, darunter v. a. Glück (3 Bde., Frauenfeld 1891–99. Zuletzt Zürich 1987). Durch schwere innere Krisen geläutert, will H. dem Materialismus u. Darwinismus seiner Zeit eine Anleitung zum christl. Alltagsleben gegenüberstellen u. damit zeigen, wie der Einzelne aus lebendigem Glauben heraus sein Glück, d.h. seinen Seelenfrieden, finden kann. Weitere Werke: Für schlaflose Nächte. Frauenfeld 1901. Tl. 2, 1919. – Briefe. Frauenfeld 1903. Tl. 2, 1906. Literatur: Alfred Stucki: C. H. Leben u. Wirken eines großen Schweizers. Basel 1946. – Hans Rudolf Hilty: C. H. u. das geistige Erbe der Goethezeit. St. Gallen 1953. – Hanspeter Mattmüller: C. H. Diss. Basel 1966. – Peter Schneider: C. H. Nachw. zu ›Glück‹. Neuausg. Zürich 1987. – Friedrich Wilhelm Bautz: C. H. In: Bautz. Charles Linsmayer / Red.
Hilty
Hilty, Hans Rudolf, * 5.12.1925 St. Gallen, † 5.7.1994 Jona/Kt. St. Gallen. – Lyriker, Erzähler, Herausgeber, Journalist u. Übersetzer. H. studierte Germanistik u. Geschichte in Basel u. Zürich, wo er bei Emil Staiger promovierte. 1951–64 war er Herausgeber der Zeitschrift »hortulus«, die er zu einem wichtigen Forum der modernen deutschsprachigen u. europ. Dichtung machte. In der gleichen Zeit war er Redakteur der »Politischen Rundschau« u. Herausgeber der »Quadrat-Bücher« im Tschudy-Verlag. Die Auseinandersetzung mit der modernen Dichtung, etwa von Ingeborg Bachmann, Günter Eich oder Odysseas Elytis, veränderte sein anfänglich traditionalistisches Schreiben nachhaltig. Die Gedichtbände Eingebrannt in den Schnee (St. Gallen 1956) u. Dass die Erde uns leicht sei (Sins 1959) dokumentieren seine Öffnung für moderne lyr. Formen u. seine Annäherung an den Existenzialismus. Das literar. Hauptwerk von H. ist der Roman Parsifal (Mchn. 1962), dessen Protagonist, der Komponist Ekkehard Gilg, durch den Verzehr von radioaktiv verseuchtem Thunfisch zur Beschäftigung mit den Fragen der Zeit gezwungen wird. Diese Intoxikation führt Gilg zu einer Selbstdistanzierung, einer ganz neuen Art des Sich-selbst-Gegenübertretens. H. bezieht sich mit dieser Konzeption auf den Quaternismus des Physikers, Philosophen und Dichters Adrien Turel, auf den auch der Name von Gilgs Geliebter anspielt. H. intensivierte sein gesellschaftl. Engagement, das sich in Parsifal durch den Bezug auf die Atomtests am Bikini-Atoll zeigte, in den folgenden Jahren durch seine Tätigkeit als Redakteur der links stehenden Zürcher Tageszeitung »Volksrecht«. Gleichzeitig entwickelte er die literar. Gattung der »Erzählerischen Recherche«, in der er die Fantasie des Schriftstellers mit der investigativen Methode des Journalisten kombinierte. Gegenstand dieser Recherchen konnte ebenso der Hl. Gallus wie der Filmstar Ursula Andress sein. Der Erzählmodus dieser Recherchen ist das von Max Frischs Mein Name sei Gantenbein inspirierte ›Ich stelle mir vor‹ u. erlaubt die Erprobung alternativer Entwürfe ›lebbaren
Himmel und Hölle
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Lebens‹. Der Prosaband Zuspitzungen (Zürich 1984) ist eine Sammlung von Glossen, Kommentaren u. Feuilletons, gleichsam Miniaturen aus dem Geist der »Erzählerischen Recherchen«, in denen sich H. kritisch mit Politik u. Sprache auseinandersetzt. H. erhielt u. a. 1986 den Kulturpreis der Stadt St. Gallen. Weitere Werke: Nachtgesang. St. Gallen 1948 (L.). – Früheste Poesie. St. Gallen 1949 (L.). – Die Entsagenden. Bern 1951 (N.). – Der kleine Totentanz. St. Gallen 1953 (D.). – Carl Hilty u. das geistige Erbe der Goethezeit. St. Gallen 1953. – Das indisch-rote Heft. Olten 1954 (N.). – Friedrich Schiller. Bern 1955. – Jeanne d’Arc bei Schiller u. Anouilh. St. Gallen 1960. – Symbol u. Exempel. Gedankengänge über sprachl. u. gesellschaftl. Strukturwandel. Itzehoe-Vosskate 1966. – Zu erfahren. Lyr. Texte 1954–1968. Bern 1969. – Mutmaßungen über Ursula. Bern 1970. – Risse. Erzählerische Recherchen. Bern 1977. – Bruder Klaus oder Zwei Männer im Wald. Eine erzähler. Recherche. Zürich 1981. – Lob der schwarzen Schafe. Zelg-Wolfhalden 2003 (L.). – Herausgeber: Die dritte Generation. 42 junge Schweizer Künstler. St. Gallen 1960. – Der schwermütige Ladekran. Japanische Lyrik unserer Tage. St. Gallen 1960. – Documenta poetica. Deutsch. Mchn. 1962. – Documenta poetica. Englisch-amerikanisch. Mchn. 1962. – Modernes Schweizer Theater. Einakter u. Szenen (zus. mit Max Schmid). Egnach 1964. – Grenzgänge. Lit. aus der Schweiz 1933–45. Ein Lesebuch. Zürich 1981. – Übersetzungen: Yves Velan: Ich. Mchn. 1959 (R.). – Carl Ferdinand Ramuz: Die Gesch. vom Soldaten. St. Gallen 1961 (R.). – Jean-Pierre Monnier: Die Helle der Nacht. Frauenfeld/Stgt. 1967 (R.). Literatur: Noisma. H. 20/21. 1988. Sonderh. H. R. H. – Jürgen Egyptien: H. R. H. In: KLG. Jürgen Egyptien
Himmel und Hölle. – Kurzes Prosastück aus dem letzten Drittel des 11. Jh. Der Text, der die Freuden der ewigen Seligkeit im Himmel u. die Qualen der ewigen Verdammnis in der Hölle antithetisch schildert, ist – formal in der dt. Literatur der Epoche einmalig – nach dem Vorbild lat., isokol. Kunstprosa gestaltet. Der größere Teil über den Himmel knüpft an Architekturmotive der Schilderung des Himmlischen Jerusalem (Apk 21) an, die z.T. allegorisch ver-
standen werden. Der durch die Appropriationen Liebe, Weisheit, Güte umschriebene trinitar. Gott herrscht über das Leben der Engel u. Seligen, dessen sinnl. u. geistige Herrlichkeit, dessen schattenlos lichte Harmonie in der Erfüllung der christl. Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe gepriesen werden. Die Höllenschilderung bietet dagegen eine Aufzählung von Schrecknissen u. Gräueln, z.T. in direkter Antithese zu einzelnen, vorher gefeierten Wonnen der Seligen. Neben bibl. Quellen verweisen allegor. Stellen auf die Bibelexegese; auch der Einfluss frühmittelalterl. Visionsliteratur u. lat. Hymnik hat Spuren hinterlassen. Stilistisch herausragend ist ein erstaunlich schöpferischer Reichtum des Wortschatzes, der nicht wenige selten oder nur hier belegte Wörter enthält. Etliche von ihnen sind offenbar Neuprägungen nach bestimmten, für den Autor charakterist. Bildungstypen. Auffallende Parallelen zu Wortschatz u. Stil von Bamberger/Erstem Wessobrunner Glauben und Beichte lassen Autoridentität für beide Denkmäler als gesichert erscheinen. Auch liegt Überlieferungsgemeinschaft in einer Handschrift tatsächlich vor, für eine zweite, die H. u. H. durch Blattverlust eingebüßt haben dürfte, lässt sie sich erschließen. Beide Werke werden mit der Hirsauer Reform des benediktin. Klosterlebens im letzten Drittel des 11. Jh. in Zusammenhang stehen. Nach sprachl. Merkmalen u. dem Zeugnis der Überlieferung reicht die Ausstrahlung der Texte vom alemann. Ursprungsgebiet bis in den ostfränk. u. oberbayer. Raum, zeitlich bis um 1125, wie die Kenntnis von H. u. H. in Frau Avas Gedicht vom Jüngsten Gericht lehrt. Ausgaben: Friedrich Wilhelm (Hg.): Denkmäler dt. Prosa des 11. u. 12. Jh. Mchn. 1914. Neudr. 1960, S. 31–35, 59–70. – Elias v. Steinmeyer (Hg.): Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler. Bln. 1916. Neudr. 1963, S. 153–155. – Walter Haug u. Benedikt Konrad Vollmann (Hg.): H. u. H. In: Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 672–677 (mit Übers.). Literatur: Ingeborg Schröbler: Zu ›H. u. H.‹. In: FS Georg Baesecke. Halle 1941, S. 138–152. – David R. McLintock: ›H. u. H.‹: Bemerkungen zum Wortschatz. In: L. Peter Johnson u. a. (Hg.): Studien
443 zur frühmhd. Lit. Bln. 1974, S. 83–102. – Ders.: H. u. H. In: VL. Ernst Hellgardt / Red.
Himmelreich dt. Lit. im späten MA. Tl. 2, Mchn. 1987, S. 153–233, hier S. 186, 195 f. Bernd Neumann / Red.
Himmelgartner Passionsspiel-Frag- Vom Himmelreich (Daz himilrîche). – mente, auch: Bruchstücke eines mittel- Geistliches Gedicht (378 Langverse), entniederdeutschen Spiels vom Leben Jesu, standen um 1160. Mitte 13. Jh. Zu den ältesten überlieferten geistl. Spieltexten in dt. Sprache zählen die H. P., die – um die Mitte des 13. Jh. in ostfäl. Mundart aufgezeichnet – nur höchst bruchstückhaft erhalten sind. Auf zwei zusammenhängenden Teilen eines Pergamentdoppelblatts finden sich Textpartien aus dem Weihnachtsgeschehen (Palmbaumwunder auf der Flucht nach Ägypten, Herodes ordnet den bethlehemit. Kindermord an) u. aus dem öffentl. Leben Jesu (Versuchung Jesu, Berufung der Jünger, Predigt Christi, Hochzeit zu Kana), die allerdings in sich wiederum sämtlich unvollständig sind. Anfang u. Schluss der H. P. fehlen ebenfalls, so dass der eigentl. Umfang des Spiels nicht definitiv zu bestimmen ist. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass die überlieferten Szenen im Kontext eines offenbar umfangreichen Passionsspiels standen, das Bergmanns Rekonstruktion (1972) zufolge zumindest mit der Geburt Christi – wenn nicht gar mit Ereignissen aus dem AT – eingesetzt haben muss, der sich ein Dreikönigsspiel anschloss. Die Szenen aus dem öffentl. Leben Jesu wiederum verweisen auf ein nachfolgendes Passionsspiel, das entweder mit Kreuzigung u. Grablegung oder – darüber hinaus – mit einem Osterspiel beschlossen wurde. Ausgaben: Eduard Sievers: H. Bruchstücke. In: ZfdPh 21 (1889), S. 393–395. Literatur: Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 104–107. – Rolf Bergmann: Studien zu Entstehung u. Gesch. der dt. Passionsspiele des 13. u. 14. Jh. Mchn. 1972. – Ders.: H. P. In: VL. – Joachim Heinzle: Wandlungen u. Neuansätze im 13. Jh. (1220/30–1280/90) (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II/2). 2., durchges. Aufl. Tüb. 1994, S. 160. – R. Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Hansjürgen Linke: Drama u. Theater. In: Ingeborg Glier (Hg.): Die
Der Text, verfasst aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Prämonstratenser der Abtei Windberg bei Straubing/Niederbayern (der wohl noch in der Schulausbildung stand), ist um 1175 als sorgfältiger Randeintrag aufgezeichnet in einer aus dem benachbarten Benediktinerkloster Oberaltaich stammenden Handschrift der Moralia in Iob Gregors des Großen. Der Schreiber ist identisch mit dem Hauptschreiber der dt. Interlinearversion des Windberger Psalters. Ein Kreis von Interessenten für dt. geistl. Literatur lässt sich für Windberg wenig später wiederum im Zusammenhang mit Albers dt. Tundaluslegende nachweisen. Das Gedicht nimmt ein kosmolog. Schema von drei Reichen zum Ausgangspunkt, das eine »terra morientium«, eine »terra viventium« u. das »himilrîche« unterscheidet, von dem es im Besonderen handeln möchte. Der Dichter spricht in der »du«-Anrede des Gebets aus einem »wir«-Kollektiv menschl. Befindlichkeit heraus u. versteht sein Sprechen als ein »lantrehten« mit Gott, in dem die Seele süßes Genügen finde (VV. 69–72). Anschließend an Motive der Apokalypse wird in der Form des Preis- u. Bittgebets die Vorstellung von Stadt, Burg, Leben u. Wesen des Himmlischen Jerusalem meditativ erinnert. Auffallend einlässlich ist das Motiv des Regenbogens gestaltet, der den Thron des Höchsten umgibt (Apk 4, 3). Sein Name wird etymologisch gedeutet (»iris« = »irin« = »fride«), sein Wesen naturkundlich abgehandelt u. geistlich ausgelegt. Dabei beruft sich der Dichter mit dem Gestus der Demutsformel auf seinen Lehrer u. bringt seine Scheu gegenüber weltl. u. geistl. Gelehrsamkeit zum Ausdruck. Breiten Raum nimmt die von Negationen geprägte Schilderung des Lebens im Himmelreich ein. Sie aktualisiert ein traditionelles Stilmuster, indem sie das Viele aufzählt,
Himmlische Jerusalem
das im Leben der ewigen Seligkeit unnütz ist, dessen der ird. Mensch aber zur schlichten Daseinsfristung oder auch zur Luxusentfaltung bedarf. Mit den Aufzählungen des Gedichts wird ein reizvoller Blick in die Sach- u. Alltagskultur der Zeit frei. Zugleich findet hier aber wohl eine auf Wort- u. Sachkunde ausgerichtete literar. Schulübung ihren poetischen Niederschlag. Einmalig ist die im Einzelnen schwer analysierbare Versform des Gedichts: fortlaufende, zäsurierte u. endreimende Langverse bei fortgeschrittenem Entwicklungsstand der Reimkunst. Unter den Stilmerkmalen fällt neben reichl. Gebrauch lat. Wendungen am meisten die Wortvariation auf der Grundlage einer reichen Synonymik auf. Die vielen selten oder nur hier belegten Worte weisen eher auf eine sonst verschüttete, hier noch bemerkenswert sicher beherrschte Technik poetischer Formelhaftigkeit als auf individuelle Sprachgestaltung. Schwungvolle, verschlungene Satz- u. Gedankenführung erinnert an die Tradition altengl./altsächs. geistl. Poesie u. Bibelepik. Ausgaben: Friedrich Maurer (Hg.): Die religiösen Dichtungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1964, S. 365–395. Literatur: Rudolf Hävemeier: D. h. Diss. Gött. 1891. – Elisabeth Peters: Quellen u. Charakter der Paradiesesvorstellungen in der dt. Dichtung vom 9.-12. Jh. Breslau 1915, S. 101–108. – Joachim Bumke: Mäzene im MA. Mchn. 1979, S. 135 f. – Wiebke Freytag: Daz himelrîche. In: VL. – Karin Schneider: Got. Schr.en in dt. Sprache 1. Textbd., Wiesb. 1987, S. 34–37. – Dieter Kartschoke: Die Metrik des Gedichts ›V. H.‹ im Urteil der Forsch. In: Karl-Friedrich Kraft u. a. (Hg.): ›triuwe‹. Studien zur Sprachgesch. u. Literaturwiss. Gedächtnisschrift für Elfriede Stutz. Heidelb. 1992, S. 159–174. Ernst Hellgardt / Red.
Das Himmlische Jerusalem. – Geistliches Gedicht (470 Verse), entstanden wohl um 1140 im oberdeutschen Raum. Die Einleitung kündigt an, dass von der Burg des Himmlischen Jerusalem die Rede sein solle, deren in der Apokalypse geschilderte Schau dem Evangelisten Johannes auf der Insel Pathmos zuteil geworden sei. Im Einzelnen wird die Deutung der drei Dimensio-
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nen der Burg, der zwölf Edelsteine, aus denen sie erbaut ist, u. ihrer zwölf Tore angesagt. Der Hauptteil handelt die drei Programmpunkte in umgekehrter Folge ab. Die Tore werden auf die Lebensalter gedeutet, in denen der Mensch sich zu Gott bekehren kann, u. (z.T.) auf die Jahreszeiten: Osten = Kindheit, Frühling; Süden = Jugend, Sommer; Norden = Alter, Winter; Westen = Lebensende. Eine mit der Warnung vor dem Fegfeuer verbundene Mahnung, sich frühzeitig zu bekehren, schließt diesen Teil ab. Während bisher nur Gleichungen zwischen Zeichen u. Bezeichnetem formuliert wurden, entfaltet die Auslegung der zwölf Edelsteine als Besonderheit dieses Gedichts eine detaillierte, manchmal schematisch wirkende Allegorese, die sich aus Namensnennung, Eigenschaftsbeschreibung u. auf diese ausdrücklich oder evident bezogener Deutung der Steine zusammensetzt. Ausgelegt werden im Anschluss an eine jahrhundertealte Tradition der Edelsteinallegorese die Farben der Steine, teilweise ihre Lage im Bauwerk der Himmelsburg u. nicht generalisierbare, bes. Eigenschaften meist im Sinne einer fabulösen Naturkunde. Im abschließenden Programmpunkt werden Länge, Breite u. Höhe der Himmelsburg wieder knapp u. ohne Eigenschaftsallegorese auf die christl. Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe gedeutet. In einer Nachrede wird die Ermahnung ausgesprochen, der Lehre des Gedichts zu folgen, die den Weg ins Himmelreich gewiesen habe, u. den breiten Weg zur Hölle zu meiden. Für den Gesamtaufbau wie für viele Einzelheiten des Gedichts konnte eine einheitl. lat. Quelle nachgewiesen werden (Meier). Diesem gelehrten Traktat gegenüber geht die Tendenz des dt. Gedichts auf erbaul. Didaxe u. predigthafte Paränese für eine ungelehrte Hörerschaft. Der Dichter, der sein Werk als »liet« (V. 17) u. »rede« (V. 447) bezeichnet, spricht sein Publikum aus der Distanz des Lehrers u. Predigers an. Dabei gibt er zunächst Furcht vor der Schelte der Vielen vor, für die das Himmelreich kein Thema sei. Am Ende aber (VV. 447–452) tadelt er seinerseits den »tumben«, der »von werltlichen dingen unt von der degenheite« zu singen befehle,
Hindemith
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eine »guote rede« wie sein Gedicht aber verachte. Ausgabe: Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1972, S. 92–111. Literatur: Elisabeth Peters: Quellen u. Charakter der Paradiesesvorstellungen in der dt. Dichtung vom 9.-12. Jh. Breslau 1915, S. 87–101. – Hans-Friedrich Reske: Jerusalem caelestis – Bildformeln u. Gestaltungsmuster. Göpp. 1973. – Christel Meier: Zur Quellenfrage des ›H. J.‹. Ein neuer Fund. In: ZfdA 104 (1975), S. 204–243. – Dies.: Gemma spiritalis. Methode u. Gebrauch der Edelsteinallegorese. Tl. 1, Mchn. 1977. – Dies.: D. H. J. In: VL. – Hermann Jung: ›Apokalypse‹ u. ›Himmlisches Jerusalem‹. Endzeit-Vorstellungen in Texten, Bildern u. Klängen. In: Studia niemcoznawcze 24 (2002), S. 81–106. Ernst Hellgardt / Red.
Hindemith, Paul, * 16.11.1895 Hanau, † 28.12.1963 Frankfurt/M.; Grabstätte: Saint-Légier bei Blonay/Schweiz. – Komponist, Bratschist u. Musikschriftsteller. H.s Affinität zur literar. Moderne schlug sich bereits während seiner Frankfurter Studienzeit bei Arnold Mendelssohn u. Bernhard Sekles in Liedkompositionen nieder, v. a. aber in den 1921/22 uraufgeführten Einaktern Mörder, Hoffnung der Frauen (Stgt. Text von Oskar Kokoschka), Das Nusch-Nuschi (Stgt. Text von Franz Blei) u. Sancta Susanna (Ffm. Text von August Stramm), die H. als selbstbewussten Avantgardisten ausweisen. So radikal der Komponist damit seine Abkehr vom spätromant. Stil artikulierte, so deutlich hatte er 1923 im Zusammenhang mit der Uraufführung des Liederzyklus Marienleben (Donaueschingen; Text von Rainer Maria Rilke) die »ethischen Notwendigkeiten der Musik und moralischen Verpflichtungen des Musikers« (Vorwort zur revidierten Fassung von 1948) empfunden. Dieses Bewusstsein u. seine Erfahrungen als Interpret – H. wurde bereits als 20-Jähriger Konzertmeister am Frankfurter Opernhaus, 1921 gründete er das Amar-Quartett – u. als Lehrer an der Berliner Musikhochschule (seit 1927) prägten zunehmend sein Komponieren u. wurden zum Anlass für die nach
1930 verstärkt einsetzende schriftstellerische Tätigkeit. In Berlin war H. mit Döblin, Brecht, Benn, Zuckmayer u. Marcellus Schiffer befreundet; letzterer verfasste die Texte zu dem Sketch Hin und zurück (Urauff. Baden-Baden 1927) u. der Zeitoper Neues vom Tage (Urauff. Bln. 1929). Im Zuge seiner Initiative für die Jugendbewegung u. Laienmusik konzipierte H. in Zusammenarbeit mit Brecht 1929 das Lehrstück, ein offenes Experimentiermodell unter Einbeziehung des Publikums ohne den Anspruch von Darbietungskunst. Meinungsverschiedenheiten über die Intention dieses Unternehmens führten 1930 zum Bruch mit Brecht, der eine eigene Textversion mit dem Titel Badener Lehrstücke vom Einverständnis geschaffen hatte, die zum Vorbild seiner später zusammen mit Hanns Eisler geschriebenen Lehrstücke wurde. H. korrespondierte in der Folge mit Benn über mehrere Opernprojekte, die teilweise auf Vorschläge des Schott Verlags zurückgingen. Obwohl Benn von der Zusammenarbeit mit H. bei dem Oratorium Das Unaufhörliche (Urauff. Bln. 1931) begeistert war, zögerte er, ein Opernlibretto zu schreiben, so dass H. schließlich selbst das Libretto zu seinem Hauptwerk Mathis der Maler (Urauff. Zürich 1938) verfasste. In der Diktion orientiert sich das Mathis-Libretto an der Sprache Hölderlins u. Benns, in seiner themat. Ausrichtung reflektiert es die Künstlerproblematik, die bereits in der Oper Cardillac (Urauff. Dresden 1926; Text von Ferdinand Lion nach E. T. A. Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi) u. später in der Kepleroper Die Harmonie der Welt (Urauff. Mchn. 1957: Text von H.) im Mittelpunkt stand. 1937 u. 1939 erschienen die beiden Teile – ein dritter Teil blieb Fragment – des kompositionstheoret. Hauptwerks Unterweisung im Tonsatz (Mainz), mit dem H. eine Gegenposition zur Zwölftontechnik des SchönbergKreises entwarf. 1949 erhielt H., der 1940 nach Aufenthalten in der Türkei u. der Schweiz in die USA emigriert war, einen Ruf auf den Lehrstuhl für Poetik an der Harvard University. Die hier gehaltenen Vorlesungen wurden von H. in seinem Buch A Composer’s World. Horizons and Limitations (Cambridge/
Hinderbach
Mass. 1952. Dt. Zürich 1959) zusammengefasst. In seinem Vortrag Sterbende Gewässer (Heidelb. 1963), einem emphat. Plädoyer für eine »totale Tonalität« als Grundlage aller Musik, zog H. eine äußerst pessimistische Bilanz der aktuellen kompositor. Entwicklung. Weitere Werke: J. S. Bach. Ein verpflichtendes Erbe. Mainz 1950. – P. H. Aufsätze, Vorträge, Reden. Hg. Giselher Schubert. Zürich 1994. – Briefwechsel: Gottfried Benn: Briefe. Briefw. mit P. H. Wiesb. 1978. – Briefe. Ffm. 1982. Literatur: Heinrich Strobel: P. H. Mainz 1928. Erw. 31948. – Theodor W. Adorno: Ad vocem H. Eine Dokumentation. In: Ders.: Impromptus. Ffm. 1968. – Andres Briner: P. H. Zürich 1971. – Hindemith-Jb. Annales H., hg. vom Paul-HindemithInstitut. Ffm. 1971 ff. (enthält Aufsätze u. Briefe H.s). – Geoffrey Skelton: P. H. The Man Behind the Music. New York 1975. – Andres Briner u. a.: P. H. Leben u. Werk in Bild u. Text. Zürich 1988. – Andres Briner: P. u. Gertrud H.s literar. Interessen. Eine Studie aufgrund der Bibl. Blonay u. einiger Materialien im Hindemith-Institut. In: Hindemith-Jb. Annales H. 22 (1993), S. 158–199. – Giselher Schubert: P. H. In: MGG. Thomas Steiert
Hinderbach, Johannes, * 1418 Rauschenberg/Hessen, † 21.9.1486 Trient; Grabstätte: ebd., Dom. – Bischof, Historiograf, Humanist. Nach dem Studium der Artes in Wien (Magister 1438) u. der Rechte in Padua trat H. Ende der 1440er Jahre in die Dienste Kaiser Friedrichs III. Als Sekretär an der Wiener Reichskanzlei lernte er Enea Silvio Piccolomini, den späteren Papst Pius II., kennen, den er bei dessen Historia austrialis mit der Übersetzung dt. Quellentexte unterstützte. In seiner eigenen, als Fortsetzung der Historia austrialis geltenden Historia Friderici expeditionis et belli, in der H. die Geschehnisse um den Bruderkrieg zwischen Friedrich III. u. Albrecht VI. 1460–1462 beschreibt, nennt er Enea als Vorbild. Auf Vermittlung Kaiserin Eleonores erhielt H. 1465 das Bistum Trient; 1466 wurde er in Rom zum Bischof geweiht. Während dieses Aufenthalts, wohl als Dankesschuld, ließ H. Eneas Erziehungsschrift für Ladislaus Postumus (1450) mit einer an die Kaiserin gerich-
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teten Widmungsvorrede in prachtvoller Ausstattung für Maximilian I. abschreiben (Österreichische Nationalbibl. Ser.n. 4643). Als Bischof blieb H. dem Wiener Hof in diplomatischen Geschäften verbunden. Schriftstellerisch trat er nicht mehr in Erscheinung; jedoch setzte er seine Studien mit dem Eifer fort, der ihn schon in Wien nach dem Weggang des Enea zu einer zentralen Figur des dortigen Humanistenkreises hatte werden lassen. Zeugnis davon geben nicht nur zahlreiche Widmungsgedichte u. Briefe ital. Humanisten, sondern auch seine umfangreiche, mit eigenhändigen Anmerkungen versehene Handschriftensammlung, die die dortige Dombibliothek begründete. Literatur: Adam Kollár: Analecta monumentorum omnis aevi Vindobonensia. Tl. 2, Wien 1762, S. 555–666 (Abdr. der ›Historia‹). – Emanuel Hannak: Ein Beitr. zur Erziehungsgesch. Kaiser Maximilians I. aus dem Jahre 1466. In: Mitt.en der Gesellsch. für dt. Erziehungs- u. Schulgesch. 2 (1892), S. 153–158 (Abdr. der Widmungsvorrede). – Victor v. Hofmann-Wellenhof: Leben u. Schr.en des Doktor H. Bischof v. Trient. In: Ztschr. des Ferdinandeums 3, 37 (1893), S. 203–262. – Alfred A. Strnad: J. H.s Obedienz-Ansprache vor Papst Pius II. In: Röm. Histor. Mitt.en 10 (1966/67), S. 43–183. – Mariano Welber: ›J. H. rerum vetustarum studiosus‹. Vita e cultura del Vescovo di Trento Giovanni IV. H. Tesi di laurea. Mailand 1969. – A. A. Strnad: J. H. In: VL. – Johannes Seidl: Thomas Ebendorfer, Enea Silvio Piccolomini u. J. H. Gelehrte im Umkreis Friedrichs III. In: Beiträge zur Wiener Diözesangesch 34 (1993), Nr. 2, S. 39–43. – Daniela Rando: Kulturaustausch an der Universität. Antonio Roselli u. J. H., ›praeceptor‹ und ›scholaris‹ in Padua (1440–1447). In: Pirckheimer Jb. für Renaissance- u. Humanismusforschung 18 (2003), S. 44–54. – Peter Dinzelbacher: Über die Seele des Bischofs J. H. v. Trient. In: Mediaevistik 17 (2004), S. 57–65. – D. Rando: Antitürkendiskurs u. antijüd. Stereotypen. Formen der Propaganda im 15. Jh. am Beispiel Trient. In: Pirckheimer Jb. für Renaissance- u. Humanismusforschung 20 (2005), S. 31–53. Frank Fürbeth / Red.
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Hinrichs, August, * 18.4.1879 Oldenburg, † 20.6.1956 Huntlosen bei Oldenburg. – Tischler; niederdeutscher Erzähler u. Bühnenautor.
Hinterberger Freude. Ein Sprech- u. Bewegungschor für Turner. Dresden 1930. – Wenn de Hahn kreiht. Buernkomödi. Hbg. 1933. – Drei Bauernkomödien, Lpz. 1943. – Die krumme Straße. Oldenb. 1949 (R.). – Kommst du heute abend? Kleine Liebesgesch.n. Oldenb. 1952. – Der kluge Heini. Weinheim 1954 (Kom.). – Das Licht der Heimat. Bremen 1954 (R.). – Eines Nachts. Bremen 1955 (E.en). – Schwarzbrot. Ausgew. E.en. Bremen 1959.
H. stammte aus einer oldenburgischen Handwerkerfamilie. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg führte er eine Tischlerwerkstatt in Oldenburg. Seit 1929 lebte er als Literatur: Heinz Grothe (Hg.): A. H. zum 60. freier Schriftsteller in Huntlosen. 1935 war Geburtstag. Stimmen der Freunde. Lpz. 1939. – H., dessen Werke von den Nationalsozialisten Anke Finster: Der oldenburg. Schriftsteller A. H. propagandistisch genutzt wurden, Landes- (1879–1956). Ein Beitr. zu den biobibliogr. leiter der Reichsschrifttumskammer. Grundlagen der niederdt. LiteraturgeschichtsBereits vor dem Krieg veröffentlichte H. schreibung. Neumünster 1990. – Ansgar Warner: hoch- u. niederdt. Lieder, Sagen- u. Fest- Förföötsch mitlopen? Der niederdt. ›Heimatdichspieltexte wie Fest-Spiel für Turner (Oldenb. ter‹ A. H. als Thingspiel-Autor im ›Dritten Reich‹. 1906) u. Frithjof. Ein Sagenspiel (Oldenb. 1911). In: Uta Beiküfner u. Hania Siebenpfeiffer (Hg.): In den 1920er Jahren erschienen Novellen u. Zwischen den Zeiten. Hbg. 2000, S. 37–57. – Klaus Romane in der Tradition Gottfried Kellers, Dede: A. H. – Ein ›Helfer des Führers‹. Der ›Heimatdichter‹ – das Symbol des Dritten Reiches u. der Stehrs u. Hesses, von denen die »Chronik eiRepublik. Oldenb. 2001. Matías Martínez / Red. nes niederdeutschen Bauerngeschlechts« Die Hartjes (Lpz. 1924/25) u. Das Volk am Meer (Lpz. 1929) mit Auflagen von über 100.000 Exemplaren am erfolgreichsten wurden. Die Hinterberger, Ernst, * 17.10.1931 Wien. Handlung dieser histor. Romane spielt im – Erzähler, Dramatiker, Hörspiel- u. niederdt. Raum, die Sprache ist hochdt. mit Drehbuchautor. gelegentl. niederdt. Figurenrede. Geschildert Nach einer Lehre als Elektroinstallateur zuwird das Leben kleiner bäuerl. Gemeinschaf- nächst arbeitslos, seit 1948 »angelernter Reten, das von Naturkatastrophen, polit. Be- volverdreher« u. Magazinarbeiter in einer drohungen u. sozialen Konflikten bedrängt Metall verarbeitenden Fabrik, besuchte H., wird. Großen Erfolg hatten auch H.’ nied- Sohn eines früh verstorbenen Schriftsetzers, erdt. Bauernstücke, v. a. die Swienskomödi ab 1952 die Polizeischule in Wien, die er je(Hbg. 1930. Hochdt. u. d. T. Krach um Jolanthe. doch 1954 aufgrund einer Sehschwäche verBln. 1931). Es sind unsentimental-realisti- lassen musste. Anschließend wieder Hilfsarsche, manchmal schwankhafte Lustspiele, beiter, wurde er nach dem Besuch der Büderen Helden ebenso schlaue wie aufrechte, chereischule der Gemeinde Wien Bibliotheheimatverbundene Bauern sind, die sich in kar an den Volksbildungshäusern Margareten Konflikten mit Gesetzgebung u. Behörden u. Ottakring. Nach Schließung dieser Instidurchzusetzen wissen. Außerdem schrieb H. tutionen 1968 war er bis zu seiner PensioTexte für kultische Spiele u. Weihnachts- nierung 1991 als Expedient in seiner frühespiele (Die Stedinger. Spiel vom Untergang eines ren Fabrik tätig. Volkes. Oldenb. 1934. Jan is König. Hbg. 1930), In Sachen Literatur Autodidakt, begann H. autobiogr. Kriegsberichte (An der breiten Straße bereits in den 1950er Jahren zu schreiben. nach Westen. Lpz. 1935) u. anekdot. olden- Seine erste Publikation, der Roman Beweisburgische Heimatliteratur (Rund um den Lap- aufnahme (Wien/Hbg. 1965), handelt von eipan. Oldenb. 1943. Neuaufl. 2005). nem Angestellten, der sich erst bei einer un1938 erhielt H. den Stavenhagen-Preis, erwarteten Vorladung im Bezirksamt kurz 1939 die Goethe-Medaille für Wissenschaft nach Kriegsende der Mitschuld für Vergehen und Kunst. der Nationalsozialisten bewusst wird u. darWeitere Werke: De Aukschon. Bremen 1922 aufhin Selbstmord begeht. Auch H.s Romane (Kom.). – Gertraudis. Lpz. 1927 (N.). – Aufruf zur Salz der Erde (Wien 1966) oder der Kriminal-
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roman Jogging (Wien/Bln. 1984. Neuaufl. 2008 kam nach einem Drehbuch H.s der Film Wien 1994) spielen in kleinbürgerl. Milieu in Echte Wiener. Die Sackbauer-Saga in die Kinos. H. wurde u. a. mit dem Anton-WildgansWien. In Salz der Erde löst sich im Lauf der Handlung das soziale Umfeld des Elektrikers Preis (1974) geehrt. Edmund Sackbauer auf, der zum Schluss Weitere Werke: Offene Gesellsch. Ein Volksmeint: »überhaupt die ganze Welt ist eine stück. Wien 1970. – Im Käfig. Einakter. Wien 1970. Hur«; antisemitische u. xenophobe Äuße- – Ein gemütl. Wiener. Wien 1973 (R.). – Wer fragt rungen fehlen z.T. in den Neuauflagen (Wien nach uns. Gesch.n v. kleinen Leuten, armen Hun1995. Wien 2007). Im Gegensatz zum ag- den u. Außenseitern. Wien 1975. – Kurze 1000 Jahre. ORF 1975 (Drehb.) – Das Abbruchhaus. Wien gressiven »Mundl« glaubt sein Bruder Jo- 1977 (R.). – Fahrerflucht. ORF (›Tatort‹) 1985 hann, dass das Leben »kein absurdes, gott- (Drehb.). – Hansi Vrba, Inländerfreund. ORF (›Akverlassenes Chaos, sondern ein harmonisches tuelles Fernsehspiel‹) 1991 (Drehb.). – Das fehlende Ablaufen sinnerfüllter Ereignisse« ist. Im W. Ein Wiener Kriminalroman. Wien 1991. 21996. Zentrum des »Romans einer Zeit und einer – ›Und über uns die Heldenahnen ...‹. Ein Wiener Familie« Kleine Leute (Wien 1989. Neuaufl. Kriminalroman. Wien 1991. – Fini u. Kurti. ORF Wien 1996), dessen erzählte Zeit die Jahre von 1992 (Hörspielserie). – Kleine Blumen. Ein Krimi1897 bis 1934 umfasst, steht der Stückmeister nalroman. Wien 1993. – Von furzenden Pferden, Ausland u. Inländern. Wien 1993. – Kaisermühlen Carl Schubert u. seine Familie. Nur am Rande Blues. Ein Wiener Roman. Wien 1994. – Mundl. gelingt es H., seinem Anspruch gerecht zu Ein echter Wiener geht nicht unter. 1994 (Drehb.). werden, zgl. eine Geschichte der Sozialde- – Zahltag in Kaisermühlen. Ein Wiener Kriminalmokratie zu schreiben. roman. Wien 1997. – Die dunkle Seite. Inspektor Ob Kriminalfall, Selbstmord oder Famili- Trautmann ermittelt. Ein Wiener Kriminalroman. entragödie – es sind die kleinen Leute, zu- Wien/Mchn. 1998. – Ein Abschied. Lebenserinnemeist aus den Wiener Arbeitervierteln, in ih- rungen. Wien 2002. – Doppelmord. Ein Fall für rer Verbohrtheit u. ihrem Spießertum, ihrem Trautmann. Wien 2005. – Mord im Prater. Ein Fall für Trautmann. Wien 2007. – Der Tod spielt mit. Hass u. ihrer Frustration, die den Autor inEin Fall für Trautmann. Wien 2008. teressieren. Insofern ist H. weniger ein ArLiteratur: Roland Heger: E. H. In: Ders.: Der beiterdichter, der aus krit. Distanz nach ge- österr. Roman des 20. Jh. Tl. 1, Wien 1971, sellschaftl. Ursachen fragt; vielmehr könnte S. 240 ff. – E. H. Zur Person. Wien 1993. – Johann man ihn als »Milieuschilderer« bezeichnen, Sonnleitner: E. H.: ›Kleine Leute. Roman einer Zeit der das Typische seiner Charaktere originell und einer Familie‹. In: Grundbücher der österr. Lit. u. authentisch zu vermitteln weiß, bisweilen seit 1945. Erste Lfg. (Profile 14). Wien 2007, nicht ohne Klischees u. triviale Versatzstücke, S. 86–94. Jutta Freund / Bruno Jahn doch oft mit humoristischen Dialogen. Schon mit ersten realistischen Volksstücken (z.B. Aus. Urauff. Innsbr. 1973) hatte H. Hiob. – Deutschordensdichtung, erste Erfolg; doch machte ihn erst das Drehbuch zu Hälfte des 14. Jh. der Fernsehserie Ein echter Wiener geht nicht Zwei Handschriften des 14. bzw. 15. Jh. unter (ORF 1975–1979, 24 Folgen) einem überliefern neben anderen Dichtungen des breiten Publikum in Österreich bekannt. Von Deutschen Ritterordens (Übersetzung der H. stammt auch das Drehbuch zu der eben- Großen u. Kleinen Propheten durch Klaus falls erfolgreichen Fernsehserie Kaisermühlen Kranc, Der apostele tat, Daniel) u. im Orden Blues (ORF 1992–1999, 64 Folgen u. eine verbreiteten Werken (Rudolfs von Ems BarSonderfolge). Schauplatz der Serie ist eine laam und Josaphat) eine Paraphrase des bibl. Gemeindebausiedlung in Kaisermühlen, ei- Buchs Hiob. Ihr Verfasser ist unbekannt; man nem Teil des 22. Wiener Gemeindebezirks wird ihn wohl nicht – wie geschehen – mit Donaustadt. In den Folgen wurden häufig dem Autor der soteriolog. Ordensdichtung aktuelle polit. Probleme aufgegriffen. Im Jahr Von siben ingesigeln gleichsetzen dürfen. Außer 2000 wurde rund um die Figur des Inspektor der im Epilog (vv. 15.525 ff.) ausgesprocheTrautmann eine eigene Krimiserie gestartet. nen Lobpreisung des Ordens, insbes. seines
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Hochmeisters Dietrich von Altenburg (1335–1341) – wohl Anreger der Übersetzung –, sprechen auch Überlieferung, bibl. Thematik, ostmitteldt. Literatursprache sowie metr. u. Stileigenheiten für die Entstehung des 1338 abgeschlossenen Werks (mehr als 15.500 Verse) im direkten Ordenszusammenhang, wohl in Preußen selbst. Im Prolog entwickelt der vermutlich geistl. Dichter sein Programm: Gott habe sich in der Hl. Schrift durch den Mund derer offenbart, nach denen die einzelnen Bücher benannt seien; durch »glosen« hätten dann »di wisen lerer« (v. 209) der kirchl. Tradition den Sinn dieser Bücher erschlossen. Aus dem Angebot der Bibel wähle der Autor Hiob aus, um ihn als Prototyp der Geduld u. des rechten Maßes vorzuführen: »selic« sei in dieser Welt nur jener, »der glich die mitelmaze kan« (V. 233 f.). Die Klagereden Hiobs werden, dieser Leitlinie folgend, dann auch nicht als Auflehnung gegen Gottes Fügung interpretiert; Hiob habe sich, anders als seine Freunde ihm vorwerfen, nicht angemaßt, mit Gott diskutieren zu wollen, sondern in einer Art Schüler-Meister-Dialog mit ihm verkehrt. Im Zentrum der Gedankenführung steht Gottes Gerechtigkeit, die sich erst im Jenseits offenbare: diesseitiges Leid sei Prüfstein für die Ewigkeit. Die Übersetzung des Bibeltextes u. seine Auslegung sind bei einer solch interpretierenden Version eng ineinander verschränkt. Jedes der 42 Kapitel des bibl. Buchs Hiob wird durch eine den Inhalt raffende Vorrede eingeleitet, danach der Bibeltext, kleinteilig in Verse u. Halbverse zergliedert, übertragen u. erläutert. Hiobs Rede geht dabei häufig in den Dichterkommentar über: Die Auslegung selbst ist unmittelbar in die Gesprächsform einbezogen. Bei seiner Kommentierungsarbeit stützte sich der Autor auf Schriften der Kirchenlehrer, von denen er Gregor den Großen, Ambrosius, Hieronymus u. Augustinus namentlich erwähnt. Vermutlich wird er jedoch, statt aus den Quellentexten selbst, eher aus gängigen Kompendien u. populartheolog. Handbüchern, wie etwa der Glossa Ordinaria, geschöpft haben. Welche Funktion dabei der Postilla litteralis super Biblia des Nikolaus von Lyra zukommt, mit der Übereinstimmungen
Hiob
bestehen, ist unsicher, da dieses dem »sensus litteralis« verpflichtete exegetische Hauptwerk des SpätMA erst unmittelbar vor der Abfassung des H. – zwischen 1322 u. 1331 – in Frankreich geschrieben worden war. Sicher waren dem Autor die Moralia in Job Gregors des Großen bekannt, dessen Kommentierungsleistung nach dem vierfachen Schriftsinn – »in vierleige wys tyef gegloset« (V. 489) – er im Prolog ausdrücklich hervorhebt. Doch mit seiner eigenen Erläuterung verfolgt er keine gelehrt-theolog. Absicht, vielmehr wolle er nur »lichtlich und slecht den text uz legen« (V. 495): die Bibelworte also durch popularisierende Umschreibung den Laien verständlich machen. Auch sprachlich ist die Leistung des H.Autors eher bescheiden. In sachl. Stil vermittelt er, ohne dichterischen Anspruch, den weder theologisch noch literarisch ambitionierten Ordensrittern Heilswissen mit Bezug auf ihre eigene gegenwärtige Existenz. Kaum ist die H.-Paraphrase – wie konstatiert wurde (Helm) – als Teil einer einheitlich konzipierten »Ordensbibel« gemeint. Dennoch aber fügt sich das Werk mit anderen, im Orden entstandenen u. benutzten Übersetzungen bibl. Bücher – Daniel, Judith, Hester, Makkabäer, Große u. Kleine Propheten, Apostelgeschichte, Apokalypse u. a. – auf der Ebene der Gebrauchsfunktion zu einer aufeinander bezogenen bibl. Laienlehre für die ritterl. Kommunikationsgemeinschaft des Ordens, wie auch die Überlieferung dieser Werke zeigt. Ausgabe: Die mitteldt. poet. Paraphrase des Buches Hiob. Hg. Thorsten E. Karsten. Bln. 1910. Literatur: Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951, S. 112–114. – Achim Masser: Bibel- u. Legendenepik des dt. MA. Bln. 1976, S. 75 f. – Ders.: H. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Graeme Dunphy: Rabengefieder, Elefantengezisch. Naturdeutung in der ›Mitteldt. H.-Paraphrase‹. In: Natur u. Kultur in der dt. Lit. des MA. Hg. Alan Robertshaw u. Gerhard Wolf. Tüb. 1999, S. 91–102. Norbert H. Ott / Red.
Hippel
Hippel, Theodor Gottlieb von, auch: Johann Heinrich Friedrich Quitenbaum, * 31.1.1741 Gerdauen/Ostpreußen, † 23.4.1796 Königsberg. – Verfasser von Romanen, moralisch-philosophischen Schriften, Dramen, geistlichen Liedern u. juristischen Traktaten. H. gehört zu den originellen Gestalten der Literaturgeschichte. Er schrieb anonym – Leben u. Werk zeigen nur wenige Berührungspunkte. H. stammte aus kleinen Verhältnissen – der Vater war Dorfschullehrer, die Mutter eine einfache Kleinbürgerin. In seiner freudlosen Jugend war der ostpreuß. Pietismus bestimmend, eine schwerblütige Frömmigkeit, die Persönlichkeit u. Werk prägte. Arm u. strebsam studierte H. an der Albertina in Königsberg Theologie u. verzeichnete frühe Erfolge als Prediger. Als Hofmeister von einem holländ. Patrizier in Königsberg großzügig gefördert, lernte der begabte Student die Atmosphäre eines internat. u. kultivierten Hauses kennen u. gewann erste Einblicke in die Jurisprudenz. In der Einladung zu einer Reise nach St. Petersburg sah er die unverhoffte Chance, seinem Leben eine neue Richtung zu geben, u. brach alle Brücken hinter sich ab. Doch ertrug er das gesellschaftl. Treiben am Zarenhof nicht, kehrte nach Königsberg zurück, wo er dann wie Kant sein Leben lang blieb, u. begann, allein auf sich gestellt, ein Jurastudium. Daneben wiederum Hofmeister, erlebte er eine persönl. Demütigung – aus Standesgründen hatte ihm der Baron von Schrötter die Hand seiner Tochter verweigert. Nach dieser Erfahrung widmete sich der junge H. seinem gesellschaftl. Aufstieg; Ruhm, Ansehen u. Reichtum wurden die bestimmenden Ziele seines Lebens. Rasch durchlief er sein Jurastudium u. versuchte sich mit literar. Arbeiten über Wasser zu halten; Freimaurer unterstützen ihn. Mit 23 Jahren Advokat u. bald ein gefragter Rechtsanwalt, arbeitete er sich fleißig u. zäh in die Spitze der preuß. Verwaltungshierarchie empor: 1771 wurde er Advokat am Königsberger Hofgericht, 1773 kgl. Kriminalrat – eine Ehrung, die ihm 1790 zur Erneuerung des Familienadels verhalf. 1778 wurde er in den Königsberger Magistrat ge-
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wählt; 1780 ernannte ihn Friedrich II. zum »Dirigierenden Bürgermeister« u. »Polizeydirector, mit dem Charakter eines Kriegsrathes«. Gesellschaftliche Stellung u. wachsendes Vermögen, der Kauf eines repräsentativen Hauses u. eines kleinen Anwesens vor der Stadt vollendeten seinen Triumph. Mit großer Willenskraft gelang es dem Stadtpräsidenten, das verkommene Verwaltungssystem der Stadt neu zu ordnen; nach der zweiten poln. Teilung wurde der Auftrag auf Danzig ausgedehnt. Ständige Überforderung u. Krankheit, nicht zuletzt Einsamkeit u. Angst vor der Aufdeckung seiner geheim gehaltenen Schriftstellerei führten zum frühen Tod mit nur 55 Jahren. H. war eine komplexe Persönlichkeit voller Widersprüche – Gespräche mit Hamann u. Kant über Glaubensfragen u. die Schriftstellerei vertrugen sich schlecht mit polit. Ehrgeiz. Doch half ihm das anonyme Schreiben, sein Leben im Gleichgewicht zu halten. Anlass für sein Abtauchen in die Anonymität war ein Verriss seines Trauerspiels Willefordt und Amalia (1768). Als geborener Spieler hatte er bald Freude an Täuschungsmanövern; nicht einmal den Freund Kant weihte er ein. Weiterhin schrieb er unterhaltsame Lustspiele im Stil der Zeit: Die ungewöhnlichen Nebenbuhler. Sobald der Vetter kommt. Der Herr da fand. Der Complimentist (1768). Bahnbrechend sind seine Schriften zur Ehe u. zur Rolle der Frau in der Gesellschaft. Obgleich Junggeselle, hat sich H. lebenslang mit diesem Thema beschäftigt, ausgelöst durch die Erfahrung der Zurückweisung in jungen Jahren. In den Lesezirkeln für gebildete Damen wurde die Schrift Über die Ehe (Bln. 1774) zum Bestseller, Goethes Werther vergleichbar. Verriet die erste Fassung noch den mürr. Weiberfeind, wurde das kleine Buch von Auflage zu Auflage (1776, 1792, 1793) frauenfreundlicher; mit dem Umfang der Bände nahmen Plädoyers für Freiheit u. Selbstständigkeit der Frau in der Ehe zu. Als frei denkender Jurist lag es für H. auf der Hand, die Ideale der Französischen Revolution auch auf Frauen anzuwenden, nachzulesen in Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (Bln. 1792), eine der führenden Schriften zur Emanzipation der Frau.
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H.s Bedeutung für die Literaturwissenschaft liegt in seinem großen humoristischen Roman Lebensläufe nach aufsteigender Linie nebst Beylagen A, B, C (4 Bde., Bln. 1778–81). Geschult an Laurence Sterne, spielt er mit seinem »Ich«, mit Situationen u. Menschen, mischt Betrachtungen u. Sentenzen in seine Fabel, die stark autobiogr. Züge trägt. Nicht nur Jean Paul hat die Lebensläufe bewundert u. den »launigen« Stil in seinem Hesperos weitergesponnen. H.s Roman ist eine Fundgrube für witzige Aphorismen, skurrile Betrachtungen – der Leser spürt, wie der Autor sich im Schutz der Anonymität über seine Königsberger amüsiert, bisweilen wenig freundlich. Selbst vor Kant macht er nicht halt, dessen Kritik der reinen Vernunft (1784) er respektlos parodiert, bevor das Werk erschienen ist. So verwundert es nicht, dass H. sich bitteren Vorwürfen ausgesetzt sah u. sein mühsam errungenes Ansehen verlor, als gegen Ende seines Lebens das Geheimnis seiner anonymen Schriftstellerei verraten wurde. Es war dann Kant, der nach H.s Tod eine Ehrenrettung für ihn schrieb (Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 9, 21.1.1797). Als talentierter Poet wurde H. schon mit 21 Jahren in die Königsberger Freimaurerloge »Zu den drey Kronen« aufgenommen – ein unschätzbarer Vorteil für seine Karriere; überdies verdankte er den Freimaurern eine Erweiterung seines geistigen Horizonts. Der zweite Roman Kreuz- und Querzüge des Ritters A bis Z (2 Bde., Bln. 1793/94), eine ebenfalls humoristisch gehaltene Satire, zeigt zwar die Faszination durch die Zeremonien geheimer Gesellschaften, v. a. aber Skepsis gegenüber der Realität des Logenlebens. Wie in den Büchern zur Stellung der Frau weist H.s Denken in den juristischen Schriften über seine Zeit hinaus. Schon als junger Rechtsanwalt plädierte er in seiner Schrift Auf die Frage: Ist es rathsam, Missethäter durch Geistliche zum Tode vorbereiten und zur Hinrichtung begleiten zu lassen (1769) dafür, im Urteil die psycholog. Situation des Verbrechers zu berücksichtigen. Der permanente Konflikt zwischen heiml. Überzeugung u. offiziellem Handeln zeigt sich in einem Fall von doppeltem Kindsmord: H. als Vorsitzender des
Hippel
»Criminalgerichts« hatte das Urteil zu sprechen, schrieb nach der Hinrichtung jedoch anonym die Urteilsschelte Nachricht über die von K*sche Untersuchung betreffend. Ein Beytrag über Verbrechen und Strafen (Königsb. 1792. Nachdr. St. Ingbert 2000). H. gab sich hart u. verschlossen, doch die Briefe an Scheffner (1765–1785) zeigen ihn als verletzl. Menschen, der auf Verständnis u. Zuspruch angewiesen ist. Seinen jungen Verwandten gegenüber blieb er ungeduldig u. reizbar, wenn er sie in seinem Haus zu Andachten um sich versammelte. Auch sein Neffe gleichen Namens, den er als Kind aufgenommen hatte u. der später seine Werke herausgab, litt unter H.s spröder Natur. Dass er diesen Verwandten sein gesamtes Vermögen hinterließ, beweist jedoch seine Zuwendung. H. gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten einer Zeit des gesellschaftl. u. polit. Umbruchs, die sich in ihrem offiziellen Verhalten noch dem aufgeklärten Absolutismus verpflichtet fühlten, deren geistiger Horizont jedoch längst offen war für den irrationalen Individualismus des Sturm und Drang u. die Ideale der Französischen Revolution. Um diese Spannung leben zu können, bedurfte er der Freimaurerloge u. der anonymen Schriftstellerei. Weitere Werke: Der Mann nach der Uhr, oder der ordentl. Mann. Königsb. 1765. – Freymäurerreden. Königsb. 1768. – Geistl. Lieder. Bln. 1772. – Handzeichnungen nach der Natur. Bln. 1790. – Nachl. über weibl. Bildung. Bln. 1801. – Biogr. Zum Theil von ihm selbst verfaßt. Gotha 1801. – Ueber Gesetzgebung u. Staatenwohl. Nachl. Bln. 1804. – T. G. v. H.’s sämmtl. Werke. Hg. Theodor Gottlieb v. Hippel d.J. 14 Bde., Bln. 1828–39. Literatur: Alexander v. Oettingen: H.’s Lebensläufe. Eine balt. Gesch. aus dem vorigen Jh. für die Gegenwart bearb. Lpz. 1878. – Joseph Kohnen: T. G. v. H. Eine zentrale Persönlichkeit der Königsberger Geistesgesch. Biogr. u. Bibliogr. Lüneb. 1987. – Anke Lindemann-Stark: Leben u. Lebensläufe des T. G. v. H. St. Ingbert 2001. – Urte v. Berg: T. G. v. H. Stadtpräsident u. Schriftsteller in Königsberg. Gött. 2004. Urte von Berg
Hirche
Hirche, Peter, * 2.6.1923 Görlitz/Schlesien, † 2003. – Dramatiker, Hörspielautor, Übersetzer.
452 Lehmann. NDR 1962. – Der Verlorene. NDR 1963. – Gemischte Gefühle. WDR/NDR 1967. Literatur: Armin P. Frank: Das Hörspiel. Vergleichende Beschreibung u. Analyse einer neuen Kunstform. Heidelb. 1963. – Werner Klose: Didaktik des Hörspiels. Stgt. 1974.
Der Sohn eines Versicherungsstatistikers war nach dem Abitur 1941–1945 Frontsoldat, nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft Christian Schwarz / Red. Bauhilfsarbeiter, Kabarettist u. Nachtwächter. Seit 1949 lebte H. als freier Schriftsteller Hirsch, Isaac, auch: Naphtali Simon, in Berlin; er gehörte zu den bemerkenswer- * 14.4.1836 Oldenburg, † 6.12.1899 Hantesten Vertretern des dt. Hörspiels nach dem nover. – Redakteur, Schriftsteller. Zweiten Weltkrieg. H.s Hörspiele wurden Als Sohn des Rabbiners u. Gründers der Isu. a. in Ungarn, der CˇSSR, den USA, in Karaelitischen Religionsgesellschaft, Samson nada u. Japan gesendet. Raphael Hirsch (1808–1888), gehörte H. 1966 erhielt H. für Miserere (WDR 1963. zeitlebens der neoorthodoxen Richtung im Köln 1965) den Hörspielpreis der KriegsJudentum an. Die Kindheit verbrachte er mit blinden. H. montierte die Erlebnisse, Erfahseinen Eltern u. zehn Geschwistern in Emden rungen u. Erinnerungen von Menschen in der u. Nikolsburg (Mähren). Nach dem Besuch Nachkriegszeit in Bewusstseinsstromtechnik des Gymnasiums erhielt er eine kaufmänn. u. veranlasste den Hörer, die Möglichkeiten Ausbildung in Wien u. Frankfurt/M. zu reflektieren, wie sie ihr Schicksal bewälti1861–1879 leitete er ein eigenes Geschäft in gen können. Charakteristisch für die HörHannover. Danach war er nur noch literarisch spiele der 1950er Jahre ist die Konzentration u. als Mitgl. des Vorstands in Angelegenheider Thematik auf den persönl., privaten Beten der Synagogengemeinde Hannover tätig. reich. 1883–1890 gab er das von seinem Vater beAls einer der ersten verwendete H. im gründete Organ der gesetzestreuen Juden, Hörspiel Die Heimkehr (NWDR 1955. Stgt. »Jeschurun«, heraus. In seinen Artikeln wie 1967), das die letzten Stunden einer aus auch im Roman Die Walldorfer (Bln. 1882) Schlesien Vertriebenen darstellt, den inneren verkündet H. seinen Glauben, dass Juden u. Monolog u. die Technik der akust. Rück- Christen gemeinsam diskriminierende Vorblende. In anderen Hörspielen u. in seiner urteile überwinden könnten. Durch AufkläDramatik bedient sich H. konventioneller rung über die wahre jüd. Lehre u. das Beispiel epischer Muster, u. a. in Nähe des Todes (NDR gelebter Humanität lasse sich Antisemitis1958. Hbg. 1958). mus abbauen. Im Roman Anna Pelzer (Hann. Ausgeblendet ist jegl. Gesellschaftsbezug 1890) werden Klassengegensätze in Ansätzen in Die seltsamste Liebesgeschichte der Welt deutlich, jedoch als mit gutem Willen kom(NWDR 1953, Stgt. 1967. Hörsp.), das die pensierbar dargestellt. Die edle u. tugendAllgemeingültigkeit des Schicksals der Lie- hafte Schauspielerin Anna Pelzer setzt sich benden zeigen soll. Wie in allen Werken H.s für die Arbeiter des Ortes ein u. appelliert ist dabei jedoch die Darstellung eines aus erfolgreich an Gerechtigkeitssinn u. Mitleid Erinnerungen entworfenen, utop., von Liebe der Arbeitgeber. Der einzige unbelehrbare u. Verständnis geprägten Bildes reiner Fabrikant wird als Schurke entlarvt u. richtet Menschlichkeit intendiert. Friedrich Knilli sich selbst. Zeitgenössisches Urteil: »rührend meinte in diesem Hörspiel »die in den fünf- schön« (Neue Illustrirte Zeitung, Nr. 24, ziger Jahren zunehmende Frustration« über 1890). »die Entfremdung zwischen den Menschen« Literatur: Lex. dt.-jüd. Autoren. zu erkennen (In: Ders. Deutsche Lautsprecher. Marianne Büning Stgt. 1970, S. 74). Weitere Werke: Hörspiele: Lob der Verschwendung. NWDR 1954. – Zum Empfang sind erschienen. 1959. – Der Unvollendete. NDR/SDR 1961. –
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Hirsch, Jenny, auch: J. N. Heynrichs, F. Arnefeldt, Franz von Busch, * 25.11.1829 Zerbst, † 10.3.1902 Berlin; Grabstätte: ebd., Jüdischer Friedhof Schönhauser Allee. – Frauenrechtlerin, Übersetzerin, Redakteurin, Schriftstellerin.
Hirsch Osnabr. 2000, S. 644. – Weitere Titel: Irmgard Maya Fassmann: Jüdinnen in der dt. Frauenbewegung 1865–1919. Hildesh. 1996, S. 93–106. – Marianne Büning: J. H. (1829–1902). Frauenrechtlerin – Redakteurin – Schriftstellerin. Bln. 2004. Marianne Büning
H. stammte aus Zerbster u. Berliner jüd. Kaufmannsfamilien. Sie besuchte die Zerbs- Hirsch, Karl Jakob, auch: Karl Böttner, Joe ter Töchterschule, lernte autodidaktisch mo- Gassner oder Gessner, Jakobus Joga u. a., derne Fremdsprachen u. leitete 1857 nach * 13.11.1892 Hannover, † 8.7.1952 Mündem Tod ihres Vaters als geprüfte Lehrerin chen. – Erzähler, Journalist u. bildender eine Elementarschule in Zerbst, bis sie in Künstler. Berlin die Literaturbeilage der Wochenzei- Der Sohn des Arztes Salomon Hirsch stammte tung »Der Bazar« redigierte (1860–1864). in direkter Linie von dem Frankfurter RabDanach lebte sie dort bis zu ihrem Tod als biner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) freie Schriftstellerin u. Übersetzerin aus dem ab, der als der Begründer der modernen jüd. Englischen, Französischen u. Schwedischen. Orthodoxie gilt. Seine Mutter Marie Hirsch Den Kampf um die rechtl. u. gesellschaftl. entstammte der angesehenen Münchener Gleichstellung der Frau in Deutschland för- Kaufmannsfamilie Marx u. stand somit in derte H. 1865 als Mitbegründerin des Allge- engem verwandtschaftl. Bezug zu Lion meinen Deutschen Frauenvereins u. Redak- Feuchtwanger. Während sein Zwillingsbruteurin von dessen Organ »Neue Bahnen«, als der Gottfried sich in den 1930er Jahren unter Schriftführerin des Vereins zur Förderung dem Druck der polit. Verhältnisse dem Zioder Erwerbsfähigkeit des weiblichen Ge- nismus zuwandte u. nach Palästina auswanschlechts (Letteverein) 1866–1883 u. als derte, entfernte sich H. früh in seinem Leben Übersetzerin der Kampfschrift The Subjection von der religiösen Tradition seiner Familie u. of Women von John Stuart Mill u. d. T. Die konvertierte 1945 im amerikan. Exil zum Hörigkeit der Frau (Bln. 1869 u. ö.). 1870–1881 protestantischen Christentum. In seiner redigierte sie das Organ des Verbands deut- künstlerischen Entwicklung stand zunächst scher Frauen- u. Erwerbvereine, »Der Frauen- die Musik im Vordergrund, dann folgten die Anwalt«, u. 1887–1892 zusammen mit Lina bildenden Künste mit beachtl. Erfolgen als Morgenstern die »Deutsche Hausfrauen-Zei- expressionistischer Maler, Grafiker u. Bühtung«. Nach 1880 verfasste sie neben Feuil- nenbildner; erst gegen Ende der 1920er Jahre letons, u. a. für die »Allgemeine Zeitung des rückte im Zuge einer regen journalistischen Judentums« u. das »Berliner Tageblatt«, über Tätigkeit der Schriftsteller H. in den Vorder30 Romane, meist Kriminalerzählungen un- grund. Dementsprechend häufig wechselte er ter dem Pseudonym F. Arnefeldt. Aus dem seinen Wohnsitz: von Hannover über MünRahmen der zeitüblichen Unterhaltungslite- chen, Worpswede, Paris nach Berlin, mit ratur fallen trotz Schwarz-Weiß-Zeichnung Unterbrechung durch große Reisen in mehder Charaktere u. oft klischeehafter Hand- rere europ. Länder u. nach Nordafrika. Nach lungsabläufe viele Gestalten, die H.s Ideal der Hitlers Machtantritt hielt er sich einige Zeit selbstständig denkenden u. handelnden Frau in Dänemark auf u. dann wieder in Berlin, nahe kommen, z.B. eine Ärztin (Löwenfelde. von wo er – entgegen allen diesbezüglich diBln. 1894), Lehrerinnen (u. a. in Camilla Fein- vergierenden Behauptungen der Sekundärliberg. Bln. 1901) oder Geschäftsfrauen (Auf teratur – erst 1936 in die Schweiz u. ein Jahr danach über Frankreich in die USA emiUmwegen. Mannheim 1900). Literatur: Bibliografien: Petra Budke u. Jutta grierte. Dort lebte er zumeist in New York, Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis bis er unmittelbar nach Kriegsende im 1945. Bln. 1995, S. 174–176. – Index Bio-Biblio- Dienste der amerikan. Zensurbehörde nach graphicus Notorum Hominum Pars C, Vol. 110. Deutschland zurückkehrte. Nach einem New
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Yorker Zwischenaufenthalt von rund einem Jahr ließ er sich 1948 endgültig in München nieder. Trotz seiner pazif. Haltung wurde H. 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, jedoch wegen seiner Kurzsichtigkeit u. schwächl. Statur zunächst als Armierungssoldat u. dann als Zeichner von feindl. Flugzeugen zu deren Rekognoszierung für die dt. Frontsoldaten. 1918 nahm er an der Novemberrevolution teil u. engagierte sich in mehreren antimilitaristischen Organisationen, u. a. dem »Rat geistiger Arbeiter« u. dem »Bund für proletarische Kunst«. Noch vor Kriegsende erhielt er eine Stelle als Bühnenbildner an der Berliner Volksbühne; 1922–1925 arbeitete er in derselben Funktion am Lessing-Theater. Während der frühen u. mittleren 1920er Jahre hielt er sich, wie zuvor schon als Kunststudent, oft in Worpswede auf, wo seine Frau Auguste (Gulo) Lotz, die er während seiner Studienzeit in München kennen gelernt u. 1916 in Berlin geheiratet hatte, eine ärztl. Praxis hatte. Seinen damaligen Ruf als bildender Künstler verdankte er v. a. seiner Mitarbeit an expressionistischen Zeitschriften, darunter »Der Ruf« u. »Die Aktion«. 1925 begegnete H. auf einer Italienreise der inzwischen geschiedenen Frau seines ehem. Worpsweder Lehrers Carl Weydemeier namens Wera Frischen-Carus; vier Jahre später u. nach seiner eigenen Scheidung von Gulo heiratete er sie in Berlin. Mit Wera zusammen führte er einen Verlag für Reklame-Schriften (Carus) in Berlin, wo dem Paar 1932 ein Sohn namens Ralph geboren wurde. Fast gleichzeitig gelang H. der literar. Durchbruch mit seinem Roman Kaiserwetter (Bln. 1931) im Verlag S. Fischer nach einer vorausgehenden Serienveröffentlichung in der »Frankfurter Zeitung« (Neuaufl. des Romans mit einem Nachw. von Paul Raabe. Ffm. 1971; u. d. T. Damals in Deutschland. Bln/DDR 1953; seit 1981 auch als Fischer-Taschenbuch). Das Werk schildert am Beispiel der Stadt Hannover zwei Familien aus dem Groß- u. Kleinbürgertum u. gibt in einer Folge von Episoden u. Genrebildern Leben u. Atmosphäre der wilhelmin. Ära mit deutl. Parallelen zu den moralischen Verfallserscheinungen der Weimarer Republik wieder. H. geißelt die Bor-
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niertheit von Menschen, die die herannahende polit. Katastrophe nicht zur Kenntnis nehmen. Mit subtiler Ironie u. in bildhafter Sprache schildert der Roman Geist u. Ungeist, Pracht u. Zerrissenheit einer dem Untergang entgegengehenden Gesellschaft. Infolge seines durch die polit. Verhältnisse der 1930er Jahre erzwungenen Exils u. H.s seit 1933 in Verwendung genommener Pseudonyme war sein Name aus dem öffentlichen dt. Gedächtnis fast gänzlich verschwunden, als er nach dem Krieg in seine alte Heimat zurückkehrte; darüber hinaus war ihm, wie den meisten ehem. Exilanten, das polit. u. literar. Klima der Nachkriegszeit für die Neuentdeckung seiner Werke nicht gewogen. Erst gegen Ende des 20. Jh. u. danach lässt sich ein Wiedererwachen des öffentl. Interesses sowohl an seinen literar. Arbeiten als auch an seinem künstlerischen Schaffen feststellen. Zu den entsprechenden Zeugnissen gehören nicht nur Ausstellungen von Arbeiten u. die Neuveröffentlichung von Werken aus seiner Vorexilzeit, sondern auch das erstmalige Erscheinen von literar. Werken, die noch nicht gedruckt oder früher nur in der »Neuen Volkszeitung« (New York) veröffentlicht worden waren, einer deutschamerikan. Zeitung, für die H. während seines Exils um die 600 Beiträge verfasste. Besondere Anerkennung verdient in diesem Zusammenhang H.s dritte Frau, Ruth Reinhart, geb. Niemann, die er nach seiner Scheidung von Wera, die sich im amerikan. Exil Vera Hamilton nannte, 1948 in München heiratete u. die sich als Typistin seiner Arbeiten u. eifrige Korrespondentin mit Verlegern für ihn einsetzte. Gute Einblicke in H.s Leben erhält man auch in seinem autobiogr. Werk Heimkehr zu Gott. Briefe an meinen Sohn (Mchn. 1946. Neuaufl., mit einem Nachw. von Walther Huder. Wuppertal 1967. Wuppertal/Zürich 1990), worin er nicht nur seine Beobachtungen als Zeitzeuge in der ersten Hälfte des 20. Jh. wiedergibt, sondern auch seine religiöse Konversion als eine bruchlose Entwicklung vom Judentum zum Christentum begründet. Eine völlig neu verfasste Autobiografie mit Ergänzungen u. chronolog. Ausweitung in die dt. Nachkriegszeit enthält das Buch
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Quintessenz meines Lebens (hg. u. mit einem Vorw. von Helmut F. Pfanner. Mainz 1990). Auch der im Exil von H. verfasste Roman Manhattan-Serenade (hg. H. Pfanner. Bern u. a. 2001) reflektiert autobiogr. Begebenheiten u. bietet – im Gegensatz zu den meisten im Exil entstandenen Werken deutschsprachiger Schriftsteller – einen authent. Einblick in das U.S.-amerikan. Alltagsleben. Weitere Werke: Revolutionäre Kunst. Bln./ Wilmersdorf 1919. Neudr. Nendeln 1973 (Ess.). – Acht unveröffentlichte Original-Holzschnitte vom Stock gedruckt u. ein Nachw. Kiel 1919. Neudr. Mchn. 1990. – Zehn Original Steinzeichnungen zu den Sinfonien Gustav Mahlers. Mit einem Vorw. v. Hans Heinz Stuckenschmidt. Hbg. 1921. – Acht Radierungen zu Liedern Gustav Mahlers. Mit einem Vorw. v. H. H. Stuckenschmidt. Dresden 1921. Neuaufl. Worpswede 1980. – (Karl Böttner:) Felix u. Felicia. Eine Sommergesch. Bln. 1933. 111935. Hg. A. J. F. Zieglschmid. New York 1939 (E.). – Hochzeitsmarsch in Moll. Nachw. v. Hans J. Schütz. Bad Homburg 1986 (R., früher als Serienveröffentlichung im ›Israelitischen Familienblatt‹, Bln. 1936). – Der alte Doktor. Roman. Eine Worpsweder Ärztin u. ihre Zeit. Hg. Helmut Stelljes. Bremen 1994. – ›Einer muss es ja tun‹. K. J. H.s letzter Roman. Hg. H. Stelljes. Weimar 2003. Literatur: K. J. H. 1892–1952. Ausstellung anläßlich der Eröffnung des K. J. H.-Archivs. Akademie der Künste. Bln. 1967 (Kat.). – Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 117- 124. – Peter Elze: K. J. H.: Das druckgraph. Werk. Worpswede 1994. – Anne Mahn: K. J. H.: Expressionist. Graphik. Stationen im Leben eines dt.-jüd. Künstlers. Hbg. 2002. – Herzl. Glückwünsche K. J. H. zum 100. Geburtstag. Eine Ausstellung der Universitätsbibl. München. Kat. Cornelia Töpelmann. Mchn. 1992. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Helmut F. Pfanner: K. J. H.: Schriftsteller, Künstler u. Exilant. Eine Biogr. mit Werkgesch. Würzb. 2008. Thomas B. Schumann / Helmut F. Pfanner
Hirsch, Marie, auch: Adalbert Meinhardt, * 12.3.1848 Hamburg, † 17.11.1911 ebd.; Grabstätte: ebd., Ohlsdorfer Friedhof. – Erzählerin, Übersetzerin. H., Tochter eines Kaufmanns, wuchs früh verwaist in Hamburg auf u. lernte neben Griechisch u. Latein auch Spanisch. Ihre literar. Arbeit begann mit Übersetzungen (aus
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dem Spanischen: Gustavo Adolfo Becquer: Legenden und Märchen. Lpz. 1880. Aus dem Italienischen: Antonio Fogazzaro: Miranda. Lpz. 1882). Seit 1870 unternahm sie größere Reisen ins europ. Ausland, aber auch in die Türkei, nach Marokko u. Ägypten. In ihre Reisenovellen fließen genaue Beobachtungen der fremden Mentalitäten u. Kulturen ein, z.B. in die vierte Prosasammlung Reise- und Heimaths-Novellen (Bln. 1891): In Eifersucht schildert sie anschaulich die ital. Lebensart u. Dorfkultur ihrer Zeit. Das Problem der Fremdsprachigkeit u. der kulturellen Differenzen thematisiert Der Lovro, Reise- u. Abenteuerlust u. die Freude am Exotismus die mehrfach nachgedruckte Geschichte eines Mahagoniestammes. Um das Leben in zwei Kulturen geht es auch in der Lebensgeschichte des Hamburgers Wittsten, der sich als vornehmer Franzose La Roche-Blanche ausgibt (Ein Regentag). H. experimentiert mit den Möglichkeiten der Zeitgestaltung in Form von Rahmen- u. Binnenerzählung, u. a. durch eingelegte Briefe, z.B. in der Erzählung Eine Studienreise über Venedig aus der Novellensammlung Weshalb? (Braunschw. 1889), oder in Form von Erinnerungsberichten der Figuren, z.B. in Ein Regentag u. Georg Hansen in Vier Novellen (Braunschw. 1887). Legendenartig sind die frühen »Märchen und Skizzen«, so der Untertitel, in Das blaue Buch (Bln. 1892). Die Titelgeschichte der Novellensammlung Weshalb? reagiert auf den Naturalismus u. den aufkommenden Psychologismus: »Solang nicht ein Ding erfunden ist, durch welches man das Denken belauscht, wie mit dem Stethoskop das Atmen, solang es nicht eine Wunderbrille giebt, die doppelsichtig [...] vergangenes und künftiges Wollen zu gleicher Zeit erspähen lässt, so lang werden wir über unserer Nächsten innerstes Fühlen im Unklaren sein.« 1898 erschien Stillleben (Bln.), ein Roman über zwei Frauen; es folgten Catarina. Das Leben einer Färberstochter (Bln. 1902), eine Heiligenvita der Catharina von Siena u. der Künstlerroman Der Bildhauer von Cauteret (Bln./Lpz. o. J.). Der Band Mädchen und Frauen (Bln. 1903) widmet sich der Darstellung unterschiedlicher weibl. Geschicke, so wie es das Titelgedicht ankündigt: »Du sollst es kün-
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den, wie wir lachen, weinen, / Zeig wie wir sind, und, ach, – wie wir nur scheinen.« Im Mittelpunkt der Erzählung Überschwemmung steht die Tochter eines Ministers, deren Bedürfnisse, sich zu bilden u. künstlerisch tätig zu werden, an den bürgerl. Verhaltenskonventionen ihrer Zeit scheitern. Ihren größten Erfolg (Nachruf im »Hamburgischen Correspondent« vom 18.11.1911) hatte H. mit dem Briefroman Heinz Kirchner (Bln. 1893), der in der Korrespondenz zwischen Mutter u. Großmutter die (fiktive) Vita des Universitätsgründers Heinz Kirchner erzählt. Weitere Werke: Reisenovellen. Bln. 1885. – Das Leben ist golden. Drei Novellen. Bln. 1887. – Mimen. Moderne Zwiegespräche. Bln. 1895. – Norddt. Leute. Bln. 1896 (N.en). – Allerleirauh. Bln. 1900 (E.en). – Frau Hellfrieds Winterpost. Bln. 1904. – Auf dem Heilwigshof. Lpz. 1907 (E.). – Glücksuchende Menschen. Bln. 1907 (E.en). – Aus vieler Herren Ländern. Ausgew. Aufsätze. Lpz. 1912. – Reim Richers. Eine Hamburger Gesch. Lpz. 1914. Literatur: Pataky. – Brümmer. – Kosch. – Lex. dt.-jüd. Autoren.– Goedeke Forts. Christine Hummel
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astroalchem. Inhalts. Seinen ebenfalls erstmals im TriumphWagen Antimonii gedruckten Prosatraktat Von den Particular- und UniversalTincturen charakterisiert eine intrikate Verschmelzung von Doktrinen der vorparacels. Transmutationsalchemie mit Lehren Hohenheims u. alchemisierender Paracelsisten. Die sämtlich postum u. anonym oder unter fremder Flagge gedruckten Schriften gelten der Metalltransmutation u. zeigen ihren Urheber im Lichte eines entschiedenen Synkretisten. Ausweislich ihrer Druckgeschichte zählten Von der Philosophia u. Von den Tinkturen bis in das 18. Jh. zum literar. Rüstzeug dt. Alchemiker; 1646 machte sie eine lat. Übersetzung von Pierre Jean Fabre der frühneuzeitl. Alchemikerinternationale bekannt. Literatur: Joachim Telle: Der Alchemist im Rosengarten. Ein Gedicht von C. v. H. [...]. In: Euph. 71 (1977), S. 283–305 (mit Textwiedergabe). – Ders.: Astrologie u. Alchemie im 16. Jh. In: August Buck (Hg.): Die okkulten Wiss.en in der Renaissance. Wiesb. 1992, S. 227–253. Joachim Telle
Hirschfeld, Christian Cay/CaiusLaurenz/ Lorenz, * 16.2.1742 Kirchnüchel/OstholHirschenberg, Christoph von. – Alche- stein, † 20.2.1792 Kiel; Grabstätte: ebd., mischer Fachschriftsteller u. Lehrdichter St.-Jürgen-Friedhof (zerstört). – Gartentheoretiker, Philosoph, Publizist, Theodes 16. Jh. loge. Spätestens seit 1574 befand sich der wohl aus Mitteldeutschland stammende H. in Krumau (Krumlov) im Alchemikerkreis Wilhelms von Rosenberg. Nach Aufenthalten in Prag (1583), Marburg (1589) u. Frankfurt/M. (1590) stand der nun Hauptmann gewordene H. 1592 wieder als vertraglich tätiger Alchemiker in Diensten Wilhelms. H. schuf ein Wilhelm von Rosenberg (1583), dann Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel (1589) u. Graf Wilhelm von Zimmern (1590) gewidmetes Gedicht Vom philosophischen Rosengarten, das mit Hilfe der Rosen- u. Rosengartenallegorik über eine mercuriale Alchemie belehrt (Erstdruck in: Alchimia vera. o. O. 1604), sowie Von der occulta chemicorum philosophia (Erstdruck in: Basilius Valentinus: Triumphwagen Antimonii. Lpz. 1604), eine zur Traum- u. Planetenpoesie gehörige u. von der Sieben-Metall/PlanetenKorrespondenzlehre geprägte Lehrdichtung
Früh auf ein Studium der Theologie vorbereitet, wurde H. nach dem Tod seines Vaters, dem Pastor von Kirchnüchel, als mittellose Waise 1756 auf die Lateinschule der Francke’schen Stiftung nach Halle geschickt, wo er anschließend 1760–1763 mit finanzieller Hilfe holsteinischer Adliger an der Universität Theologie studierte. Seine Neigung galt allerdings der Philosophie, der Geschichte sowie der in Halle zu dieser Zeit führenden Ästhetik. So hörte H. vor allem Vorlesungen in Moralphilosophie u. zur Theorie der schönen Künste. Als Schüler Georg Friedrich Meiers wurde er mit Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik vertraut, dessen rationale Systematik des Schönen ebenso wie die Aufwertung der Fantasie als Erkenntnisorgan H.s ästhetische Schriften prägten. Nach dem Examen kehrte H. nach Holstein zurück, wo er als Kandidat der
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Theologie vom Bischof des Fürstbistums Lübeck eingestellt u. zunächst als Erzieher seiner Tochter, später als Hauslehrer der Prinzen von Holstein-Gottorf beschäftigt wurde. Seine begleitenden Studien an der Universität Kiel musste er nach einem Semester abbrechen, um 1765–1767 die beiden Prinzen auf eine Bildungsreise in die Schweiz zu begleiten. In Bern veröffentlichte er, unterstützt von Teilen des aufgeklärten Stadtpatriziats, 1767 sein erstes Buch Das Landleben (Lpz. 4 1776). Die erfolgreiche Schrift steht in der neustoischen Tradition der ›laus ruris‹-Dichtung u. knüpft in der Idealisierung der Landbevölkerung an Albrecht von Hallers Alpen an. Das darin formulierte Programm einer moralpädagog. u. ästhetischen Landschaftswahrnehmung weist auf die Gartentheorie voraus. Zur gleichen Zeit wurde H. aufgrund seiner eigenständigen Ansichten zur Prinzenerziehung vorzeitig aus den Diensten entlassen. Er verließ die Schweiz u. setzte seine Studien in Halle u. Leipzig fort, wo er Adam Friedrich Oeser u. Christian Fürchtegott Gellert kennen lernte u. die lebenslange Freundschaft mit Friedrich Nicolai schloss. In seinem Beitrag Von der moralischen Erziehung der Alten, und ihrer Nachahmung, der in der moralischen Wochenschrift »Der Weise« 1768 erschien, bemühte er sich ebenso wie im Versuch über den grossen Mann (Lpz. 1768) um seine Rehabilitation als Prinzenerzieher. In dieser Zeit versuchte H., mit der Lobdichtung Der Winter, eine moralische Betrachtung (Lpz. 1769. 21775) einerseits an Das Landleben anzuknüpfen, führte mit der eigenständigen Behandlung der kalten Jahreszeit zgl. aber einen in Deutschland bis dahin ungewohnten Blick auf die geselligen Vorzüge des Winters ein, wie sie James Thomson 1726 in der Jahreszeitendichtung Seasons erstmals besungen hatte. Auch die erste Anthologie mit Romanzen der Deutschen (Lpz. 1774), die H. mit einer einführenden Bemerkung zur Gattung herausgab u. die von Karl Gottlob Küttner mit einem zweiten Band (Lpz. 1778) fortgesetzt wurde, zeigt, dass er den neuen literar. Strömungen zugewandt war u. sie beförderte. So bildeten die Studien zeitgenöss. Dichtung eine weitere Grundlage für das gartentheoret. Hauptwerk, in dem die
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systemat. Ordnung eng mit der literar. Beschreibung u. dem lyr. Zitat verbunden ist. Mit seinem Ruf zum Sekretär u. a. o. Prof. der Philosophie u. schönen Künste an das neu gegründete Kuratelkollegium der Universität Kiel endete 1770 die Phase berufl. Unsicherheit. H. hielt v. a. Vorlesungen auf dem Gebiet der Staatskunst, Geschichte u. Ästhetik u. vertrat darin eine popularphilosophische Auffassung der Aufklärung. 1773 wurde er zum o. Prof. bestellt. Während sein Engagement als Herausgeber u. Rezensent der Kieler »Gelehrten Zeitung« (1771–1778) in einem Eklat endete u. der Zuspruch zu seinen Vorlesungen bald abnahm, widmete er sich umso mehr seinem Spezialgebiet, der Gartenästhetik. H. hatte seine Ansichten über den neuen Landschaftsgarten bereits in den Anmerkungen über die Landhäuser und die Gartenkunst (Lpz. 1773. Frankfurt 21779) sowie in der einbändigen Theorie der Gartenkunst (Lpz. 1775. Bln. 4 1787) publiziert, als zwischen 1779 u. 1785 in Leipzig die Summe seiner Studien, die fünfbändige Theorie der Gartenkunst, gleichzeitig in dt. u. frz. Sprache erschien (Teilausg. Altona 1785. Faks. Hildesh./New York 1973. Teilausg. Stgt./Bln. 1990. Engl. Übers. Philadelphia 2001). Die Theorie der Gartenkunst, welche die Hinwendung zum engl. Garten in Deutschland, wenn auch nicht eingeleitet, so doch normativ begleitet u. ästhetisch durchgesetzt hat, machte H. im 18. Jh. zur unangefochtenen Autorität in Fragen der Gartenästhetik u. brachte ihm 1788 die Ehrenmitgliedschaft der Preußischen Akademie der Künste ein. Seine Gartenlehre beschreibt die wirkungsästhetischen Bedingungen einer gelungenen Anlage u. gliedert diese systematisch nach ihren verschiedenen Gattungen u. Typen. Die bedeutendste der sieben Gattungsklassen (Klima, Lage, Gegend, Jahreszeiten, Tageszeiten, Besitzer u. Bestimmung) ist die Einteilung der »Gärten nach dem Charakter der Gegend« u. der vier wirkungsästhetischen Untertypen des »angenehm/heiteren«, »sanftmelancholischen«, »romantischen« u. »feierlich/erhabenen« Gartens. Mit dem Wechsel von der Wahrnehmungsästhetik der Landschaft, wie sie H. noch in Das Landleben beschrieb, hin zur Wirkungsästhetik des
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Landschaftsgartens in den letzten Teilen der losophie, bey dem Antrit des Lehramts. Lübeck Gartenkunst wird der Garten zu einer eigen- 1770. – Betrachtung über die heroischen Tugenständigen Kunstform aufgewertet. Zugleich den. Kiel 1770. – Von der moral. Einwürkung der entwickelt H. in der Theorie der Gartenkunst aus bildenden Künste. Lpz. 1775. – Von der Gastfreundschaft. Eine Apologie für die Menschheit. den Naturwirkungen ein ästhetisch-moraliLpz. 1777. 21778. – Neue Briefe über die Schweitz. sches Programm, das der sensualistischen Kiel 1785. – Slg. einiger Abh.en aus der Philosophie Erkenntnistheorie Baumgartens folgt u. mit u. Moral. Frankfurt/Lpz. 1786. – Die Basler vor 200 der Idee eines belehrenden Volksgartens bis Jahren. Basel 1985. zur gesellschaftl. Erziehung reicht. H.s GarLiteratur: Friedrich Hoffmann: H., Niemann, tentheorie hat jedoch keine Gartenbaulehre Fabricius. Ein kleiner Beitr. zur Gesch. der alten begründet. Im Gegenteil, der Mangel an Universität Kiel. Kiel 1962. – Maria Gräfin Lanprakt. u. techn. Grundlagen in der Garten- ckoron´ska: ›Das Landleben‹ v. C. C. L. H. Empkunst trug in der Folgezeit manchen dt. findsame Liebe zur Natur im Umkreis des jungen Landschaftsgärten, die wie das Seifersdorfer Goethe. In: Jb. der Slg. Kippenberg N.F. 1 (1963), Tal von H. inspiriert waren, Goethes Verdikt S. 185–195. – Wolfgang Kehn: H. In: BLSHL, Bd. 5, 1979, S. 126–131. – Wolfgang Schepers: H.s vom Dilettantismus ein u. führte im 19. Jh. ›Theorie der Gartenkunst‹ 1779–1785. Worms zur Ablehnung von H.s Lehre. Die Leistung 1980. – W. Kehn: Die Gartenkunst der dt. Spätder Theorie besteht vielmehr darin, den aufklärung als Problem der Geistes- u. LiteraturGarten als Kunstform beschrieben u. in das gesch. In: IASL 10 (1985), S. 195–224. – Ders.: C. C. ästhetisch-psycholog. wie moralische Erzie- L. H. 1742–1792. Eine Biogr. Worms 1992. – Mihungsprogramm der Spätaufklärung inte- chael Breckwoldt: ›Das Landleben‹ als Grundlage griert zu haben. Diesem Ziel war auch der für eine Gartentheorie. Eine literaturhistor. Anazwischen 1781 u. 1788 von H. herausgege- lyse der Schr.en v. C. C. L. H. Mchn. 1995. – Ernst bene »Gartenkalender« verpflichtet. Zudem Rohmer: Lit. u. Landschaft. Zur Rolle der Lit. in C. C. L. H.s ›Theorie der Gartenkunst‹ (1779–1785). rücken die Form der Gartenbeschreibung, die In: Euph. 91 (1997), S. 1–21. – John P. Heins: H. auf mehren Reisen zwischen 1777 u. 1783 Characters of Environments, People, and Nations in verfeinert hat, sowie die Sprache u. Monta- C. C. L. H.s ›Theorie der Gartenkunst‹ (1779–1785). getechnik des Werks vermehrt in den Blick- In: Lessing Yearbook 33 (2001), S. 277–295. – punkt der Forschung. Wolfgang Adam: Horaz-Lektüre im Winter. BeobH.s. Hoffnung, dass ihm die Theorie der achtungen zu Geselligkeit u. Lesen im 18. Jh. In: Gartenkunst eine Anstellung als fürstl. Gar- Regionaler Kulturraum u. intellektuelle Kommutendirektor einbrächte, wurde enttäuscht. nikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des 1786 lehnte er aus ungeklärten Gründen die Internet. Hg. Axel E. Walter. Amsterd. 2005, S. 1–16. – Oda Vietze: ›... wo sind alle die Wörter, Gartenbauinspektion der engl. Gärten auf der die zur bestimmten Bezeichnung dieser Formen Kasseler Wilhelmshöhe ab. Zwar war die von erfordert würden?‹ H.s ›Theorie der Gartenkunst‹ H. initiierte Fruchtbaumschule in Düstern- (1779–1785). Ein Ausschnitt der sprachl. Verarbeibrook bei Kiel, deren Leitung er 1784 über- tung des Verhältnisses Mensch-Natur. Mannh. nahm u. die ihn dazu veranlasste, ein Hand- 2007. Thorsten Fitzon buch der Fruchtbaumzucht (Braunschw. 1788) zu verfassen, durchaus vom Erfolg gekrönt, den Obstanbau in Holstein zu verbreiten, sie of- Hirschfeld, Georg, * 11.2.1873 Berlin, fenbarte H. aber auch die Diskrepanz zwi- † 17.1.1942 München. – Verfasser von schen seiner Theorie u. der Praxis des Gar- Dramen, Unterhaltungsromanen, Noveltenbaus, die er nicht aufzuheben vermochte. len u. Märchen. Weitere Werke: Ehrengedächtnis des Herrn Friedrich Wilhelm Ellenberg v. Zinnendorf weiland ausserordentl. Lehrer der Weltweisheit auf der Friedrichsuniversität zu Halle. Halle 1768. – Briefe über die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Schweiz. Zum Nutzen junger Reisenden. Lpz. 1769. 31783. – Vom guten Geschmack in der Phi-
Der in Berlin aufgewachsene Sohn eines jüd. Silberwarenfabrikanten musste das Gymnasium mit 17 Jahren verlassen, um in der väterl. Fabrik eine Kaufmannslehre zu beginnen. Erst 1893 konnte er dem ungeliebten Beruf durch die Hilfe u. Unterstützung seines
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Freundes Otto Brahm entfliehen u. sich als H.s. Nach dem Tod von Brahm (1912) zwanfreier Schriftsteller etablieren. Nach abwech- gen ihn Theatermisserfolge u. materielle Not, selnden Aufenthalten in Berlin u. Wien war er sich als Unterhaltungsschriftsteller zu betäab 1905 in der Dachauer Künstlerkolonie tigen. ansässig. Vom Kriegsdienst frühzeitig entWeitere Werke: Dämon Kleist. Bln. 1895 (N.n). lassen, lebte er bis zu seinem Tod in Mün- – Pauline. Bln. 1899 (Kom.). – Das grüne Band. Bln. 1906 (R.). – Die Belowsche Ecke. Bln./Wien 1914 chen. H.s literar. Anfänge wurden von Ernst von (R.). – Lord Byron. Wien/Lpz. 1926. – Herausgeber: Wildenbruch bestimmt u. gefördert. Auf sein Otto Brahm. Briefe u. Erinnerungen. Bln. 1925. Literatur: Raimund Stiglitz: Das dramat. Werk Anraten hin, die eigenen Lebensverhältnisse zu gestalten, demnach also einen »moder- G. H.s. Diss. Wien 1958. – Mei-Ling Wang: Der nen« Stoff zu wählen, entstand 1892 das Alkoholismus. G. H.s Drama ›Steinträger Luise‹. In: Fu Jen Studies 36 (2003), S. 28–41. – Lex. dt.Drama Verloren (nicht gedruckt), das ihn thejüd. Autoren. Sabina Becker / Red. matisch u. stilistisch in die Nähe des Naturalismus, v. a. Gerhart Hauptmanns führte, der ihn als »einzig ernstlich Mitstrebenden« Hirschfeld, Magnus, auch: Th. Ramien, u. als »kongenialen Dramatiker« bezeichne* 14.5.1868 Kolberg/Pommern, † 15.5. te. Heute gilt H. als Hauptmann-Epigone, 1935 Nizza. – Begründer der Sexualwisv. a. aufgrund der literar. Hauptwerke, denen senschaft. er seinen Ruf zu verdanken hatte: Zu Hause (Bln. 1896), Die Mütter (Bln. 1896. 31900. Der Sohn eines jüd. Sanitätsrats studierte in Neudr. in: Deutsches Theater des Naturalismus. Breslau 1887 zunächst Philosophie, dann von Hg. u. eingel. von Wolfgang Rothe. Mchn. 1888 an Medizin in Straßburg, München, 1972), Agnes Jordan (Bln. 1898) u. Nebeneinan- Heidelberg u. Berlin. H. gründete 1899 das der (Bln. 1904). Alle vier Dramen variieren die »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen« (bis autobiografisch motivierten Themen des 1928), die erste Zeitschrift ihrer Art, u. leitete »verlorenen Sohnes« bzw. des Mutter-Sohn- das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, Verhältnisses, der Eheproblematik sowie die wo er sich sexolog. u. sozialhygien. Fragen des Künstlertums. widmete; gleichzeitig trat er gegen die H.s literar. Leistung liegt v. a. in seiner Strafbarkeit der Homosexualität ein. 1908 Kunst, die Hauptfiguren lebens- u. wirklich- war er Gründungsmitgl. der Berliner Psykeitsnah zu charakterisieren. Ähnlich wie bei choanalytischen Vereinigung, aus der er 1911 Barlach stehen sich zwei Personengruppen austrat, nachdem eine Zusammenarbeit mit gegenüber: Die sensiblen Künstlernaturen Freud nicht zustande gekommen war. mit »seelischer Größe« kämpfen gegen die Neben der Homosexualität interessierte ungeistigen, im Materialistischen verhafteten H. der Transvestitismus (die Bezeichnung Geschäftsnaturen. Des Weiteren kontrastie- stammt von H.), in welchem er eine bes. Form ren Personen der bürgerl. Welt mit Angehö- sexueller Zwischenstufen sah. In seinen Abrigen des Proletariats, bei H. vor allem durch handlungen über die Homosexualität bedie Gruppe der Dienstmädchen vertreten. schrieb er sechs Möglichkeiten der EntwickJedoch fehlt der Darstellung jegliches sozial- lung des Sexualtriebs, die er in drei Gruppen krit. Engagement, so dass er in einer senti- fasste: 1. Heterosexualität, Bildung eines mentalen Mitleidsdramatik verharrt. In The- Geschlechts mit Triebentwicklung zum anmenwahl, Verwendung von Dialektsprache deren; 2. Bisexualität, unvollkommene Difsowie Milieuschilderungen aus Arbeiter- u. ferenzierung der Geschlechtsneigung; 3. Kleinbürgerkreisen stehen H.s Dramen dem Homosexualität, in welcher mit der Bildung Naturalismus nahe. In impressionistischen eines Geschlechts der Trieb zum anderen Stimmungsbildern, subjektivem Erleben u. verloren geht. Dieses Einteilungsprinzip fand psycholog. Einfühlungsvermögen zeigen sie er empirisch bestätigt; die sexuellen Zwiaber auch neuromant. Züge. Die genannten schenstufen sollten »natürliche Varietäten« Dramen blieben die einzigen literar. Erfolge sein, weder Anomalien im patholog. Sinn
Hirth
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noch Degenerationserscheinungen, aber im- 1923). Register, Editionsgesch., Inhaltsbeschreimerhin biologisch u. endokrinologisch be- bungen. Hbg. 2004. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Gion Condrau † / Red. dingt. H.s »Zwischenstufentheorie« war einer somatozentr. Betrachtungsweise verhaftet u. von organolog. Spekulationen durch- Hirth, Georg, * 13.7.1841 Gräfentonna bei setzt, so dass sie auf Widerspruch stieß. Gotha, † 28.3.1916 Tegernsee; GrabstätApodiktisch erklärte er, die letzten Ursachen te: Oberaudorf. – Publizist u. Verleger. sexueller Entgleisungen seien in den Geschlechtsdrüsen zu suchen, was dazu führte, Der aus einer Thüringer Advokatenfamilie dass auch die positiven Ansätze seiner Lehre stammende H. begann bereits als 17-Jähriger für »Westermanns Monatshefte« zu schreivöllig missverstanden wurden. H. trat für eine verbesserte sexuelle Auf- ben u. veröffentlichte 1859 sein erstes Buch klärung u. für eine tolerantere Haltung ge- im Selbstverlag (Friedrich Schiller als Mann des genüber abweichendem Geschlechtsverhal- Volkes. o. O.). Nach journalistischer u. schriftten ein, befürwortete Geburtenkontrolle u. stellerischer Tätigkeit in Berlin u. Leipzig die Erleichterung der Ehescheidung. In sei- wurde er 1870/71 polit. u. Handelsredakteur ner Sexualgeschichte der Menschheit (Bln. 1929) der Cotta’schen »Allgemeinen Zeitung«. u. Sittengeschichte des Weltkriegs (Bln. 1930) 1881 übernahm H., seit 1870 verheiratet mit legte er die Ergebnisse seiner Forschungen der Tochter des Herausgebers, die Leitung über die prägende Kraft der Sexualität in der der »Münchner Neuesten Nachrichten«, die kulturellen u. polit. Wirklichkeit dar. In sei- er zur führenden Zeitung einer kämpferisch nem Leben erfuhr er zur Genüge »die Re- liberalen Richtung machte. Mit der Veröfstriktion einer Gesellschaft« (Leibbrand), fentlichung des Formenschatzes der Renaissance welche den durch Geburt »Stigmatisierten« (35 Jahrgänge, Lpz. 1877–1911) leitete H. keinen Lebensraum u. kein Lebensrecht ge- seine Bemühungen um eine Renaissance des währen wollte. Nach der Machtergreifung Kunstgewerbes in Deutschland ein. Im Zeidurch die Nationalsozialisten kehrte H. von chen seiner volkserzieherischen u. kulturpoeiner Weltreise nicht mehr nach Deutschland lit. Absichten stand auch seine maßgebl. Bezurück; er zog nach Nizza, wo er bis zu sei- teiligung an der Gründung der Münchner »Secession« von 1892 u. des »Goethebundes nem Tod wieder eine Praxis führte. zum Schutz freier Kunst und Wissenschaft« Weitere Werke: Die Homosexualität des Mannes u. des Weibes. Bln. 1914. – Sexualpathologie. 3 (1899), dessen zweiter Vorsitzender er war. Bde., Bonn 1918–21. – Geschlechtskunde. 5 Bde., Mit dem Erscheinen der »Jugend« am Stgt. 1923–30. – Sexualität u. Kriminalität. Wien 1.1.1896 in München, die H. als »Experi1924. – Sexualkatastrophen. Bilder aus dem mo- mentierfeld für moderne Kunst und Literadernen Geschlechts- u. Eheleben (Mitarbeit). Lpz. tur« verstand, erreichte seine verlegerische 1926. – Geschlecht u. Verbrechen. Bln. 1931. – Die Tätigkeit ihren bedeutsamen Höhepunkt. In Weltreise eines Sexualforschers. Brugg 1933. seiner Wirkung ist H. zu den prägenden GeLiteratur: Christian Helfer: M. H. In: NDB. – stalten der Münchner Jahrhundertwende zu Medard Boss: Sinn u. Gehalt der sexuellen Perver- zählen. 2
sion, Bern 1952. – Ralf Seidel: Sexologie als positive Wiss. u. sozialer Anspruch. Zur Sexualmorphologie v. M. H. Diss. Mchn. 1969. – Annemarie u. Werner Leibbrand: Formen des Eros. Bd. 2: Von der Reformation bis zur ›sexuellen Revolution‹. Freib. i. Br. 1972. – M. H. Leben u. Werk. Bln. 1985 (Ausstellungskat.). – Kristine v. Soden: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik. Bln. 1988. – Jens Dobler (Hg.): Prolegomena zu M. H.s ›Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‹ (1899 bis
Weitere Werke: G. H. (Hg.): Kulturgeschichtl. Bilderbuch aus drei Jahrhunderten. 6 Bde., Lpz./ Mchn. 1881–90. 21895–1901. Neubearb. v. Max v. Boehn. 2 Bde., 1923–25. – G. H. (Mithg.): Meisterholzschnitte aus vier Jahrhunderten. Mchn./Lpz. 1890–93. – Aufgaben der Kunstphysiologie. 2 Bde., Mchn. 1891. 21897. – G. H. über sich selbst. In: Das geistige München. Mchn. 1913. – Der Stil in den bildenden Künsten u. Gewerben. 3 Bde., Mchn. 1898–1902. 31922. Literatur: Franz Carl Endres: H. Ein dt. Publizist. Mchn. 1921. – Leonhard Lenk: G. H. In:
461 NDB. – Clelia Segieth: Zwischen Historismus, ›Secession‹ u. ›Jugend‹. H., ein Kunstagitator der Jahrhundertwende. In: München – Musenstadt mit Hinterhöfen. Hg. Friedrich Prinz u. Marita Krauss. Mchn. 1988, S. 253–256. – Ansgar Hillach: Heimat, Volk u. spinozist. Geist: ›Wege‹ bei Gustav Landauer u. G. H. In: Gustav Landauer. Hg. Leonhard M. Fiedler. Ffm. 1995, S. 138–156. Jörg Platiel / Red.
Hirzel, Hans Caspar, * 21.3.1725 Zürich, † 19.2.1803 Zürich. – Philanthrop, Volksaufklärer.
Hirzel Weitere Werke: Empfindung bey Betrachtung der Werke des Schöpfers. Zürich 1751. – Die Seeligkeit ehel. Liebe. Zürich 1755. – Die Wirthschaft eines philosoph. Bauers. Zürich 1761. Erw. Aufl. 1774. Neudr. u. d. T. Kleinjogg [...]. Zürich 1980. Frz. Übers. durch Rudolf Frey. Zürich 1762 mit 7 weiteren Aufl.n. Engl. Übers. durch Arthur Young. London 1770. – Denkmal Herrn Laurenz Zellweger aus Trogen im Appenzeller-Land. Zürich 1765. – Der philosoph. Kaufmann. Zürich 1775. – H. an Gleim über Sulzer den Weltweisen. 2 Bde., Zürich/ Winterthur 1779. – H., der Greis, an seinen Freund Heinrich Meister, über wahre Religiosität, mit Toleranz verbunden. Zürich 1800.
Literatur: Bruno Hirzel: Johann C. H., der ÄlH., Bruder Salomon Hirzels, entstammte einer der führenden Familien Zürichs. Er stu- tere; seine Werdejahre. Neujahrsblatt der Zentraldierte Medizin in Leiden u. kehrte nach ei- bibl. Zürich 1916. Zürich 1917. – Walter Guyer: Kleinjogg, der Zürcher Bauer 1716–85. Erlenbach nem längeren Aufenthalt in Berlin, wo er 1972. – Werner Ganz: H. C. H. In: NDB. – Heinz O. durch Vermittlung Sulzers in Kontakt mit Hirzel: Vom Einfluss der Fröhlichkeit auf die Geden Anakreontikern kam, 1747 in seine Va- sundheit des Menschen. Stadtarzt J. C. H., der Älterstadt zurück, die ihn 1751 zum Stadtarzt tere, 1725–1803. Zürich 2006. ernannte. Der vielseitig Interessierte nahm Christoph Siegrist / Red. regen Anteil an den kulturellen, polit. u. gesellschaftl. Angelegenheiten Zürichs – er war Hirzel, Salomon, * 13.5.1727 Zürich, es z.B., der 1750 jenen Ausflug organisierte, † 15.11.1818 Zürich. – Historiker; Traden Klopstock in seiner Ode Der Zürchersee gödiendichter. besang. Seit 1763 gehörte er dem Großen, seit 1778 dem Kleinen Rat an. Auch auf gesamt- H. besuchte die zwinglian. Karriereschulen schweizerischer Ebene wurde H. aktiv, zählte seiner Heimatstadt (Collegium Humanitatis, er doch 1762 zu den Gründungsmitgliedern Carolinum), wo er von Breitinger u. Bodmer der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach. unterrichtet wurde; nach dem Jurastudium Im Rahmen seiner Tätigkeit in der Natur- in Halle wurden ihm wiederholt hohe forschenden Gesellschaft publizierte der Staatsämter in Zürich übertragen. Neben na»Menschenfreund« H. nicht nur über natur- turkundl. Schriften u. umfangreichen histor. wissenschaftl. u. physiokratische Probleme, Arbeiten, insbes. nach der vorübergehenden sondern organisierte auch die Ausschreibung Entfernung aus allen öffentl. Ämtern wähvon Preisfragen für Bauern sowie öffentl. rend der Schweizer Revolution von 1798, Bauerngespräche. Im Rahmen dieser volks- verfasste H. – mit seinem Bruder Hans Caspar aufklärerischen Bemühungen lernte er Jacob u. Gessner einer der Gründer der HelvetiGujer, gen. Kleinjogg, aus Wermetschweil schen Gesellschaft – biogr. Denkmäler für kennen, über den er 1761 das Buch Die Isaak Iselin (Basel 1782) u. andere Landsleute. Wirthschaft eines philosophischen Bauers publiSein einziges dichterisches Werk ist das zierte, das rasch große Verbreitung fand u. republikan. Trauerspiel Junius Brutus (Zürich Kleinjogg zu einer Sehenswürdigkeit machte, 1761). Dieses den polit. Schauspielen Boddie sich z.B. Goethe 1775 nicht entgehen ließ. mers vergleichbare, aber poetisch gelungeSeine Tätigkeit als Arzt, Politiker u. Phil- nere Lesedrama propagiert am Exempel des anthrop war bedeutender als seine wenig legendären Begründers der altröm. Republik originellen Jugendgedichte oder die biogr. die Aufopferung des tugendhaften Patrioten Arbeiten; wie Bodmer zählt er in erster Linie für die Allgemeinheit. zu jenen Anregern u. Vermittlern, die das Weitere Werke: Edle Züge aus der SchweizerGesicht der Zürcher Aufklärung geprägt ha- Gesch. Basel 1806. – Zürcherische Jbb. 5 Bde., Züben. rich 1814–19.
Hirzelin
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Literatur: Meyer v. Knonau: S. H. In: ADB. Albert Meier
Hirzelin, um 1300. – Verfasser einer historisch-politischen Ereignisdichtung.
Literatur: Erich Kleinschmidt: H. In: VL. – Karina Kellermann: Die Fragmente zur Schlacht bei Göllheim. Frühe Zeugnisse historisch-polit. Ereignisdichtung. In: Euph. 83 (1989), S. 98–129. – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist zerbrochen.‹ Wiesb. 1997 (Register). – K. Kellermann: Abschied vom ›histor. Volkslied‹. Tüb. 2000 (Register).
Der Dichter H. ist nur durch eine, mit 314 Karina Kellermann Versen fragmentarisch überlieferte, Geschichtsdichtung bekannt, die er als Parteigänger der Habsburger auf die Schlacht bei Historia von D. Johann Fausten ! Göllheim verfasst hat. Diese zeitnah erstellte Faust-Historia Reimrede ist – gemeinsam mit jener seines rheinischen Kollegen von der gegnerischen Historien der alden E. – Bibeldichtung Seite – ein frühes Zeugnis der historisch- aus dem Deutschen Orden, um 1330/40. politischen Ereignisdichtung. Die anonym überlieferten H. (6165 VV.) geDas zugrundeliegende histor. Ereignis ist hören zu den gereimten mhd. Übertragundie nahe Alzey am 2.7.1298 geschlagene gen bibl. Bücher, die in der ersten Hälfte des Schlacht zwischen dem von den Fürsten ab14. Jh. im Deutschen Orden verfasst wurden. gesetzten König Adolf von Nassau u. dem als Sie sind sprachlich, stilistisch u. zum Teil Gegenkönig gewählten Habsburger Albrecht inhaltlich eng verwandt mit Tilos von Kulm von Österreich, dem Sohn König Rudolfs I. Von Siben Ingesigeln (1331) u. der anonymen Dem fahrenden Dichter H., der sich als HeParaphrase des Buches Hiob (1338), die dem rold stilisiert u. Albrecht das Votum der Autor offensichtlich bekannt waren. OberKurfürsten überbringt, gelingt eine Mideutsche, vielleicht auch bair. Merkmale seischung aus Heroldsdichtung, Fürstenlob u. ner Sprache könnten auf seine Herkunft verpolit. Propaganda. H. arbeitet mit intertexweisen. tuellen Bezügen, wenn er Albrechts Heerzug Im Kreis der Deutschordensliteratur sind mit dem Terramer-Kriegszug in Wolframs die H. die einzige erhaltene Bearbeitung des von Eschenbach Willehalm vergleicht u. diegesamten AT. In der Absicht, dessen »histosem selbst mit einem Zitat Walthers von der rien« verständlicher u. kürzer als die Bibel Vogelweide – »von Pulle ein chünich von darzustellen (VV. 39–42), legte der Autor seiRom ein vogt« (V. 116) – die Königswürde ner Dichtung neben der Vulgata u. nicht näzuspricht. Er sichert die Authentizität seines her bestimmten Glossen die – ebenfalls nicht Berichts durch die Rollen des Boten, Augengenannte – Historia scholastica des Petrus zeugen u. Schlachtausrufers, er markiert die Comestor (nach 1168) zugrunde. Dieses Topografie des Geschehens durch Ortsnamen Schulbuch, das vielfältig kommentiert, überu. verdichtet das histor. Ereignis mittels setzt u. bearbeitet wurde, war eine der im MA Nennung von nicht weniger als dreißig Naeinflussreichsten Quellen der Kenntnis bibl. men aus den Reihen des Habsburgers. An der u. profaner Geschichte. Der Verfasser muss literar. Technik u. Akzentuierung wird jedoch noch andere Vorlagen benützt haben, deutlich, dass es H. bei der Schilderung der die ihm u. a. rabbinische Traditionen über die Zwei-Königs-Schlacht in erster Linie auf den Buße Salomons (»ebreische bucher«, V. 2640), Glanz des Ritterethos ankommt sowie auf die eine Version der Alexandergeschichte sowie namentl. Nennung der Personen, die daran eine die H. beschließende Liste der Apostelpartizipieren, u. erst an zweiter Stelle auf die gräber boten. Parteinahme in einem reichspolit. Konflikt. Die Fülle des Stoffs überforderte den Autor Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die hissichtlich: Er erzählt manche Ereignisse enttor. Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jh. gegen der histor. Abfolge, gewichtet nach Bd. 1, Lpz. 1865. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 4, nicht erkennbaren Kriterien u. begeht viele S. 11–21. Fehler aufgrund seiner mangelhaften Lateinkenntnisse. Sein unbeholfener Stil ist ge-
Hitzig
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prägt von parenthet. Einschüben u. häufig wiederholten Füllwörtern, mit deren Hilfe er v. a. seine Reime bildet. Die H. haben offenbar keine Nachwirkung gehabt, die über die eine, von zwei Schreibern geschriebene Handschrift aus der Mitte des 14. Jh., in der das Werk erhalten ist, hinausgereicht hätte. Sie gilt als verschollen. Ausgabe: H. Hg. Wilhelm Gerhard. Lpz. 1927. Literatur: Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. Ritterordens. Gießen 1951, S. 117–120. – Peter Heesen: H. d. a. E. In: VL (Lit.). – David J. Halperin: The ›Book of remedies‹, the canonization of the Solomonic writings, and the riddle of Pseudo-Eusebius. In: Jewish Quarterly Review 72 (1982), S. 269–292. – Danielle Buschinger: Deutschordensdichtung. In: Etudes de linguistique et de littérature en l’honneur d’André Crépin. Hg. ders. u. Wolfgang Spiewok. Greifsw. 1993, S. 61–91. – Marie Lesaffre: La littérature biblique de l’Ancien Testament dans l’Ordre Teutonique au Moyen Age. Amiens 1999, S. 297–341. – http:// www/handschriftencensus.de/werke/1378. Sabine Schmolinsky
Hitzig, Julius Eduard, urkundl. Isaac Elias Itzig, auch: Eduard, * 26.3.1780 Berlin, † 26.11.1849 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Kirchhof. – Biograf, Herausgeber, Publizist, Lyriker, Übersetzer. Nicht als Dichter, sondern als Werkherausgeber u. Biograf seiner literar. Freunde E. T. A. Hoffmann, Chamisso u. Zacharias Werner erwarb sich der Sohn des Lederfabrikanten u. Stadtrats in Potsdam, Elias David Itzig (seit 1808 Hitzig), seinen Rang in der Literaturgeschichte. Nach einem Jurastudium in Halle u. Erlangen ging er 1799 als Auskultator nach Warschau, wo er Zacharias Werner zum Freund gewann. Während seiner Referendarjahre in Berlin (1801–1804) gehörte er zu den Begründern des literar. »Nordsternbunds«, aus dessen Kreis der sog. »Grüne Musenalmanach« (Hg. Chamisso u. Varnhagen, 1804–06) hervorging, zu dem auch H. unter dem Pseudonym Eduard Gedichte beisteuerte. Als Regierungsassessor 1804 wieder in Warschau, lernte er E. T. A. Hoffmann kennen, den er mit der Berliner Romantik vertraut machte. Durch den Sieg
Napoleons sah sich H. 1807 zu einem Neuanfang gezwungen, den er in einer Buchhändlerlehre bei Georg Reimer fand. 1808 gründete er einen eigenen Verlag, der u. a. Kleists »Berliner Abendblätter« verlegte, wobei es zwischen Verleger u. Redakteur zu Spannungen kam. Nach den veränderten Verhältnissen in Preußen 1814 entschied sich H. für die Rückkehr in den Staatsdienst. 1827 brachte er es zum Direktor beim Kammergerichtsinquisitoriat, musste sich aber 1835 aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand versetzen lassen. Eigentlichen Ruhm erwarb sich H. im literar. Leben Berlins, das er zwischen 1815 u. 1840 wesentlich mitbestimmte. Freundschaftsfähig sicherte er sich einen Platz unter Hoffmanns »Serapionsbrüdern«. 1824 gründete er die legendäre »Mittwochsgesellschaft« (Mitglieder: Fouqué, Eichendorff, Holtei u. andere), welche die Kenntnis der zeitgenöss. in- u. ausländ. Literatur förderte. H.s Biografien sorgten in ihrem Bemühen um Authentizität u. erzählerische Dichte auch für literar. Publizität ihres Verfassers. Aus christlich konservativer Sicht beschrieb H. publizistisch die Herausbildung des Berufsschriftstellers, reflektierte verständnisvoll Fragen des Urheberrechts u. warnte vor dem Niveauverlust durch Gewerbsschriftstellerei. Folgenreich für die dt. Kriminalliteratur wurde seine gemeinsam mit Alexis herausgegebene Neue Pitaval-Sammlung (12 Bde., Bln. 1842–47). Weitere Werke: (Mit-)Übersetzer: Germaine de Staël: Deutschland. 3 Bde., Bln. 1814. – Briefe: E. T. A. Hoffmanns Briefw. Ges. u. erl. v. Hans v. Müller u. Friedrich Schnapp. Hg. F. Schnapp. 3 Bde., Mchn. 1967–69. – Einzeltitel: Ueber belletrist. Schriftstellerei als Lebensberuf. Ein Wort der Warnung für Jung u. Alt. Bln. 1838. – Leben u. Briefe v. Adelbert v. Chamisso. 2 Bde., Lpz. 1839. – Herausgeber: Aus Hoffmann’s Leben u. Nachl. 2 Tle., Bln. 1823. – Lebens-Abriß Friedrich Ludwig Zacharias Werners. Bln. 1823. – Gelehrtes Berlin im Jahre 1825. Bln. 1826. Literatur: Franz Kugler: Zur Erinnerung an J. E. H. Bln. 1849. – Frida Nußbaum: J. E. H. als Biograph seiner Freunde. Diss. Wien 1933. – Adalbert Elschenbroich: J. E. H. In: NDB. – Nikolaus Dorsch: J. E. H. Literar. Patriarchat u. bürgerl. Karriere. Ffm. 1994. – Helmut Sembdner: Assessor
Hoburg H., Kriegsrat Peguilhen u. Heinrich v. Kleist. Eine Berliner Episode. Mit dem Faks. des Briefes v. Kleist an H. vom 2. Okt. 1910. Heilbr. 1994. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Roland Berbig / Red.
Hoburg, Hohburg, Christian, auch: Bernhardus Baumann, Christianus Montaltus, Christianus de Montaldo, Elias Praetorius, Andreas Seuberlich, * 23.7.1607 Lüneburg, † 29.10.1675 Altona (heute zu Hamburg). – Evangelischer Theologe, Spiritualist. Der früh verwaiste Sohn eines Tuchmachers besuchte in Lüneburg die Michaelisschule, studierte in Königsberg Theologie (kein Eintrag in der Matrikel) u. wurde in Lauenburg Kantor u. Hilfspfarrer, 1640 Subkonrektor u. Hilfspfarrer in Uelzen. Wegen seiner scharfen Kritik an der luth. Amtskirche musste er dann mehrfach seinen Aufenthaltsort wechseln. Er arbeitete als Hauslehrer u. Korrektor, erhielt durch Herzog August d.J. eine Pfarrstelle im braunschweigischen Borne, lebte bei Betke in Linum u. emigrierte 1649 in die Niederlande. Dort wirkte er als Schlossprediger in Cappel u. ab 1654 als Prediger der reformierten Gemeinde zu Latum. 1670 musste er sein Amt aufgeben u. ging nach Amsterdam, wo er dem Kreis um Jean de Labadie u. Antoinette Bourignon angehörte. Ab 1673 diente er der mennonitischen Gemeinde zu Altona als Prediger. Unter dem Einfluss Schwenckfelds u. Arndts vertrat H. einen myst. Spiritualismus, der, auf Verwirklichung eines inneren Christentums gerichtet, die Administration des Glaubens durch die Kirchen strikt ablehnte. Die konfessionelle Indifferenz seiner in Streitschriften energisch verfochtenen Überzeugung ermöglichte es ihm, nacheinander für luth., reformierte u. mennonitische Gemeinden tätig zu sein. Sie äußert sich auch in seinen Bearbeitungen jesuitischer Erbauungsbücher (Lebendige Hertzens-Theologie. Amsterd. 1661 u. ö.; nach Etienne Luzvic SJ. Emblemata Sacra [...]. Amsterd./Ffm. 1661 u. ö.; nach Hermann Hugo SJ). H.s irenische Haltung kommt in seinen Schriften Heutiger, langwieriger, verwirreter teutscher Krieg (Ffm. 1644) u. Teutsch-evangelisches Judenthumb (Ffm.
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1644) zum Ausdruck, in denen er den Dreißigjährigen Krieg als Strafe Gottes über die »Welthertzen und SpottChristen« deutet. Weit verbreitet war H.s Praxis Arndiana (o. O. 1642; 14 Aufl.n), die an Johann Arndts Bücher vom wahren Christentum anschloss. Acht Auflagen erlebte die Theologia mystica (3 Tle., Amsterd. 1655/56), in der H. das myst. DreiWege-Schema von der Via purgativa, Via illuminativa u. Via unitiva aufgriff. Die größte Verbreitung fand Der unbekandte Christus (Amsterd. 1669; 21 Aufl.n), in dem H. die persönl. Frömmigkeit gegen den kirchl. Christusglauben absetzt. Weitere Werke: Spiegel der Misbräuche beym Predig-Ampt im heutigen Christenthumb [...]. o. O. 1644. – Christ-fürstl. Jugend-Spiegel [...]. Ffm. 1645. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2092–2111. – VD 17. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 337–347. – Ernst Kochs: Das Kriegsproblem in der spiritualist. Gesamtanschauung C. H.s. In: ZKG 46 (1927), S. 246–267. – Mark v. Nerling: C. H.s Streit mit den geistl. Ministerien v. Hamburg, Lübeck u. Lüneburg. Diss. Kiel 1949. – Evamarie Gröschel-Willberg: C. H. u. Joachim Betke [...]. Phil. Diss. Erlangen 1954. – Martin Schmidt: Wiedergeburt u. neuer Mensch. Ges. Studien zur Gesch. des Pietismus. Witten 1969, S. 51–111 (zwei H.-Aufsätze zuerst 1960 u. 1967; hier erw. Fassungen). – Martin Kruse: Speners Kritik am landesherrl. Kirchenregiment u. ihre Vorgesch. Witten 1971. – Winfried Zeller: C. H. In: NDB. – Peter C. Erb: C. H. u. schwenckfeld. Wurzeln des Pietismus: Einige bisher unveröffentlichte Briefe. In: Jb. für Schles. Kirchengesch. N. F. 56 (1977), S. 92–126. – Hans-Jürgen Schrader: C. H. In: BLSHL, Bd. 5 (1979), S. 133–137. – Wolfgang Sommer: Gottesfurcht u. Fürstenherrschaft [...]. Gött. 1988 (Register). – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3, Tüb. 1988 (Register). – Gesch. Piet., Bd. 1 u. 2 (Register). – S. Katalin Németh: Die vergessenen Propagandisten v. Comenius: Johann Jakob Redinger u. C. H. In: Comenius-Jb. 7 (1999), S. 80–99. – Estermann/ Bürger, Tl. 2, S. 724. – Douglas H. Shantz: David Joris, Pietist saint: the appeal to Joris in the writings of C. H., Gottfried Arnold and Johann Wilhelm Petersen. In: The Mennonite quarterly review 78 (2004), S. 415–432. – Johann Anselm Steiger: Versuchung – orthodox u. heterodox. Auslegungsgeschichtl. Aspekte zur Definition v. ›tentatio‹ bei Luther u. dem myst. Spiritualisten C. H. In:
465 Gottes Wort ins Leben verwandeln. [...] FS Inge Mager. Hg. Rainer Hering u. a. Hann. 2005, S. 183–225. Michael Schilling / Red.
Hoche zu methodolog. Problemen der Medizingesch.). Gött. 1990. – Walter Müller-Seidel: A. E. H. Lebensgesch. im Spannungsfeld v. Psychiatrie, Strafrecht u. Lit. Mchn. 1999. – Ortrun Riha (Hg.): ›Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‹. Beiträge des Symposiums über Karl Binding u. A. H. [...]. Aachen 2005. Markus Knecht / Red.
Hoche, Alfred (Erich), auch: Alfred Erich, * 1.10.1865 Wildenhain/Sachsen, † 16.5. 1943 Baden-Baden. – Psychiater; Essayist, Hoche, Karl, * 11.8.1936 Schreckenstein/ Lyriker, Erzähler. Elbe, CˇSR. – Satiriker u. Parodist; KabaEinem evang. Pfarrhaus entstammend, be- rettist. suchte H. bis 1882 die Klosterschule Roßleben; anschließend studierte er in Berlin u. Heidelberg Medizin (Staatsexamen u. Promotion 1888). Nach der Habilitation für Psychiatrie in Straßburg 1890 war er Oberarzt einer psychiatr. Klinik u. betrieb vorübergehend eine eigene Praxis, bevor er 1902 das psychiatr., später auch das neuropatholog, Ordinariat in Freiburg i. Br. erhielt. Ähnlich Freud widmete sich H. zunächst anatomischen, physiolog. u. neurolog. Studien; später beschäftigte ihn die damalige Kardinalsfrage der Psychiatrie: die Abhängigkeit u. Beziehbarkeit von seel. Vorgängen u. materiellem Substrat. Zu seinen Schülern gehörte Döblin. H.s Tagebuchaufzeichnungen Jahresringe (Mchn. 1934) u. autobiogr. Schriften (z.B. Aus der Werkstatt. Mchn. 1935) sind Reflexionen eines vorurteilslosen Intellektuellen, der v. a. die Verbindung zwischen Geisteskrankheit und Kultur (Freib. i. Br. 1910) beleuchtet; seine Vorstellungen zur Eugenik wurden in den 1940er Jahren zur Legitimation der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« benutzt. In H.s Dichtung Christus der Jüngling (Freib. i. Br. 1929) diskutieren ein Pfarrer, ein »Zweifler« u. ein Dichter, der deutlich Züge H.s trägt, ihr Christus-, Gottes- u. Menschenbild; anschließend versucht der Dichter poetisch der Bedeutung Christi gerecht zu werden, dessen »dunkle Größe« er in stiller Ehrfurcht zu erahnen sucht.
Weitere Werke: Krieg u. Seelenleben. Freib. i. Br. 1915. – Dt. Nacht. Freib. i. Br. 1921. – Narrenspiel. Freib. i. Br. 1921. – Die Geisteskranken in der Dichtung. Mchn. 1939. – [Autobiogr.] In: L. R. Grote (Hg.): Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 1, Lpz. 1923, S. 1–24. Literatur: Gustav W. Schimmelpenning: A. E. H. Das wiss. Werk: ›Mittelmässigkeit?‹ (Hinweise
H., Sohn eines Chemiearbeiters u. einer Lehrerin, wurde 1945 als Sudetendeutscher aus der CˇSR ausgewiesen u. kam über die DDR nach Königstein/Taunus, wo er ein konfessionelles Gymnasium besuchte. 1956 legte er in München das Abitur ab. 1961/62 war er als Fulbright-Stipendiat in den USA. Sein Jurastudium schloss er 1968 ab. Während seiner Studienzeit war er Mitbegründer, Texter u. Darsteller des Studentenkabaretts »Die Stichlinge«, das bis 1968 bestand. H. gilt als einer der besten Vertreter der dt. Literaturparodie. Seine Vorliebe für diese spielerische Form der Satire schreibt er scherzhaft seiner noch nicht überwundenen Pubertät zu, unterscheidet jedoch zwischen Parodie u. Realsatire in seinem Werk. H. begann seine literar. Laufbahn mit einer parodistischen Kolumne in der Wochenzeitung »Die Zeit« u. wurde mit den Parodien seiner Sammlungen Schreibmaschinentypen (Mchn. 1971) u. Das Hoche Lied (Mchn. 1976) bekannt. Als Herausgeber einer Geschichte der BR Deutschland in satir. Darstellungen, Die Lage war noch nie so ernst (Ffm. 1984), trat H. ebenso hervor wie als Texter für »Das Kom(m)ödchen« u. die »Lach- und Schießgesellschaft«. Weitere Werke: ... Über Liebe. Ihr Kinderlein kommet nicht. Gesch. der Empfängnisverhütung. Luzern/Ffm. 1979. – Die Marx-Brothers. 150 Jahre, die den Kapitalismus u. das Zwerchfell erschütterten. Gesch. des Sozialismus. Mchn. 1983. – Ein Strauss Satiren. Stgt. 1983. – Die dt. Treue. Mchn. 1989. – In diesem unserem Lande. Eine Gesch. der BR in ihren Bildern. Düsseld./Zürich 1997. – Das Evangelium nach H. Düsseld. 1998. Christian Schwarz / Red.
Hochgatterer
Hochgatterer, Paulus, * 16.7.1961 Amstetten/Niederösterreich. – Erzähler, Verfasser von Romanen u. Kriminalliteratur; Psychiater.
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H. erhielt 1991 den Max-von-der-GrünPreis, 1994 den Otto-Stoessl-Preis, 1995 das Hans-Weigel-Stipendium u. den Harder Literaturpreis, 1998 den Österreichischen Förderpreis für Literatur, 2000 den Österreichischen Staatspreis für Kinder- u. Jugendliteratur, 2001 das Elias-Canetti-Stipendium u. 2007 den Deutschen Krimi-Preis (2. Platz).
H. studierte ab 1979 Medizin u. Psychologie an der Universität Wien, promovierte 1985 zum Dr. med. u. war ab 1992 Facharzt für Psychiatrie u. Neurologie des Kinder- u. JuWeitere Werke: Rückblickpunkte. St. Pölten gendalters an einer Wiener Neurologischen 1983 (E.). – Die Nystensche Regel. Wien 1995 Klinik. Er ist heute als Kinder- u. Jugend- (E.en). psychiater in Wien tätig u. leitet das Institut Literatur: Franz Lettner: Der Blick des Analyfür Erziehungshilfe in Floridsdorf. tikers. Der Arzt u. Autor P. H. In: Bulletin Jugend & H.s Erzähltexte basieren auf seinen berufl. Literatur 7 (2001), S. 5. – Elisabeth Mayr: P. H. u. Erfahrungen als Psychiater. In seinem Erst- sein Anteil an der Entwicklung des Adoleszenzroling Der Aufenthalt (Salzb. 1990) u. im Roman mans in Österreich. Dipl.-Arb. Univ. Wien, 2006. – Florian Christopher Michl: Strategien der Ich-EntÜber die Chirurgie (Wien 1993) stellt H. die wicklung in der Prosa v. P. H. Dipl.-Arb. Univ. Abläufe u. institutionellen Rituale einer Wien 2006. – Daniela Strigl: Lauter Fälle – nicht Nervenklinik bzw. die Welt der verwalteten nur für die Literaturwiss. Über den Hang zum Medizin dar. In seinen späteren Texten ste- Medizinischen zum Beispiel bei P. H., Melitta hen immer wieder psychisch Kranke u. so- Breznik u. Thomas Raab. In: (Nichts) Neues. ziale Außenseiter im Mittelpunkt. Sie weisen Trends u. Motive in der (österr.) Gegenwartslit. Hg. Strukturen von Fallgeschichten auf, so schon Friedbert Aspetsberger. Innsbr. u. a. 2003, die Erzählung Wildwasser (Wien/Mchn. 1997). S. 158–179. – Robert G. Weigel: Zerfetztheit u. Ganzheit. Zu P. H.s Roman ›Über die Chirurgie‹. In ihr reißt ein Sohn von Zuhause aus, um das In: MAL 31 (1998), Nr. 3/4, S. 161–175. Verschwinden seines Vaters bei einer WildLothar van Laak wasserkanufahrt aufzuklären. H. gelingt es, die Psyche von Kindern u. Jugendlichen präzise darzustellen, etwa die des Strichjungen Hochhuth, Rolf, * 1.4.1931 Eschwege/ Dominik in Caretta Caretta (Wien/Mchn. 1999) Hessen. – Dramatiker, Erzähler, Lyriker. oder des Mädchens in Über Raben (Wien/Ffm. H., Sohn eines Fabrikanten, arbeitete nach 2002), indem Schulalltag u. Jugendkultur der Lehre als Buchhändler in Marburg, Kassel einlässlich, bisweilen auch komisch dargeu. München. 1951–1955 war er Gasthörer an stellt werden. In Eine kurze Geschichte vom den Universitäten Heidelberg u. München, Fliegenfischen (Wien/Ffm. 2003) reflektiert H. 1955–1963 Verlagslektor. H. gab Werkausdie Ereignisse des 11. September 2001 im gaben von Busch, Flake u. Friedrich Schnack Mikrokosmos dreier Psychiater beim Flie- u. Prosaanthologien heraus. Seit 1963 arbeigenfischen, wobei er in der Alpenidylle un- tet er als freier Schriftsteller. H. lebt in terschwellig ihre Gewaltfantasien u. Tag- Grenzach-Wyhlen bei Basel u. in Berlin. träume spürbar macht u. zum Teil selbstiroGroße Anerkennung errang H. als Dramanisch reflektiert. Der Roman Die Süße des Le- tiker, wobei seine Stücke sowohl inhaltlich als bens (Wien 2006) versetzt seine erzählerische auch bezüglich der literar. Qualität umstritStrategie literar. Aufklärens u. Aufdeckens in ten blieben. Erbitterte Kontroversen rief das das Genre des psycholog. Kriminalromans. In Drama Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerihm werden verschiedene Krankheitsge- spiel (Urauff. Bln. 1963. Regie: Erwin Piscaschichten in wechselnden personalen Per- tor. Reinb. 1963) hervor, in dem sich H. mit spektiven erzählt u. zgl. so miteinander ver- der Rolle der kath. Kirche u. insbes. des woben, dass ein ebenso bedrohlich-bedrü- Papstes während der NS-Zeit auseinanderckendes wie sozial überaus genaues Psycho- setzte. Es zeigt wesentl. Züge der dramat. Konzeption H.s: den direkten Zugriff auf die gramm einer österr. Kleinstadt entsteht.
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zeitgenöss. Realität u. die jüngste Vergangenheit, die Verarbeitung einer Fülle dokumentar. Materials, die Personalisierung der Problematik durch die dramat. Konfrontation von Antipoden, die jeweils bestimmte moralisch-polit. Grundpositionen repräsentieren. Die moralisch integre Haltung des Jesuitenpaters Riccardo, der Papst Pius XII. zu einer eindeutigen Verurteilung der nationalsozialistischen Judenpolitik bewegen will, stößt auf die lavierende, letztlich von Eigeninteresse bestimmte Handlungsweise der Amtskirche. Anknüpfend an das Zeitstück der Weimarer Republik (Friedrich Wolf) wurde H. mit dem Stellvertreter neben Kipphardt u. Weiss zu einem Vertreter des sog. Dokumentartheaters der 1960er Jahre. Allerdings beschränkt sich H. nicht auf die möglichst exakte Wiedergabe histor. Fakten, sondern bezieht sich auf Schillers Vorstellung vom Theater als moralischer Anstalt. Es geht ihm nicht um die Darstellung sozialer Mechanismen, die das Handeln des Einzelnen determinieren. Denn obwohl er als »utopischer Pessimist« (Raddatz) von der Unmöglichkeit wirkl. Veränderung ausgeht, ist er überzeugt von der Notwendigkeit der Aufklärung u. der subjektiven Verantwortlichkeit des Individuums. Hierin liegt die Ursache für sein Spannungsverhältnis zum Marxismus u. zur Kritischen Theorie. Adorno hatte ihm gegenüber bereits 1967 (Offener Brief an Rolf Hochhuth) die klass. Tragödienkonzeption als der modernen Objekthaftigkeit des Individuums inadäquat verworfen. Gleichwohl war es auch H.s Verdienst, trotz aller Kritik an seiner Position wie auch an literarisch-stilistischen Schwächen seiner Stücke (Tendenz zu deklamator. Wortkaskaden, Inkonsequenz der Komposition, Überladung mit dokumentar. Material, »Zitiersucht«), dass das dt. Nachkriegstheater wieder eine gesellschaftlich bedeutsame Position gewann. Die am Stellvertreter aufgewiesenen Charakteristika bestimmen auch die folgenden Werke H.s. Die Tragödie Soldaten (Reinb. 1967) ist der Versuch, in der Rezeption traditioneller Dramenformen (v. a. des Mysterienspiels) u. durch eine differenzierte Komposition (Spiel im Spiel) das Problem des Schutzes der Zi-
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vilbevölkerung gegen Luftangriffe darzustellen. Besonders in Großbritannien entfachte das Stück Kontroversen, da es von der Verantwortung Churchills für den Tod des poln. Exilpremiers Sikorski ausgeht. Eine heldenhaft-konsequente Figur steht im Mittelpunkt der Komödie Die Hebamme (Reinb. 1971), wobei an der Person der Hebamme Sophie die Notwendigkeit ungesetzl. Aktionen angesichts des Elends der sozial Deklassierten demonstriert wird. Großes öffentl. Aufsehen erregte auch H.s Drama Juristen (Reinb. 1979), das die Aufdeckung der NS-Vergangenheit eines Ministers zum Thema hat. Der Bezug zwischen dem ehem. Militärrichter Heilmayer u. dem damaligen Ministerpräsidenten von BadenWürttemberg, Hans Filbinger, war eindeutig, was zu einer Klage gegen den Autor führte, schließlich jedoch den Rücktritt des Politikers forcierte. Als nach dessen Tod im April 2007 der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger in einer Trauerrede behauptete, es habe kein Urteil von Filbinger gegeben, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte, reagierte H. u. bezeichnete diese Aussage als Erfindung, geriet dann aber selbst wegen histor. Ungenauigkeiten in seiner Argumentation in die Kritik. Nach dem Vorbild von Hebbels gleichnamigem Drama gestaltete H. die Tragödie Judith (Reinb. 1984). Auch hier geht es um das »Problem des Einzeltäters, ob u. wieweit ein Einzelner wirklich etwas zu ändern vermag« (Mitscherlich-Nielsen). Am Beispiel des von der Journalistin Judith geplanten Attentats auf den amerikan. Präsidenten rechtfertigt H. die Tat als »Rebellion der sonst Ohnmächtigen«. Wie schon in Lysistrate und die NATO (Reinb. 1973) verkörpert auch hier eine weibl. Figur gesellschaftlich wirksamen Widerstand. Auch in seinem epischen Werk gestaltet H. das Leiden des Einzelnen an der Geschichte u. den Versuch individuellen Widerstands: Die Berliner Antigone (Reinb. 1975) handelt in Prosa u. Versen von der Beerdigung eines von den Nationalsozialisten hingerichteten Widerstandskämpfers durch seine Schwester; in Eine Liebe in Deutschland (Reinb. 1978) geht es um die Beziehung einer Deutschen zu einem
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poln. Kriegsgefangenen während des Kriegs; Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg. FrankH.s Erzählung Alan Turing (Reinb. 1987) furter Poetikvorlesungen. Ffm. 2001. – Vorbeugeschildert die Situation eines engl. Mathema- haft. Neue Gedichte. Reinb. 2008. – Sammelbände: tikers, der durch die Dechiffrierung dt. Ge- Dramen. Reinb. 1972. – Spitze des Eisbergs. Ein Reader. Hg. Dietrich Simon. Reinb. 1982. – Atlanheimmeldungen kriegsentscheidende Betik-Novelle. E.en. Reinb. 1985. – Schwarze Segel. deutung erhielt u. zgl. in einem persönl. Ess.s u. Gedichte. Mit einem Vorw. v. Karl Krolow. tragischen Konflikt mit den Normalitätsan- Reinb. 1986. – War hier Europa? Reden, Gedichte, sprüchen der ihn umgebenden Gesellschaft Ess.s. Mit einem Vorw. v. Heinz Friedrich. Mchn. steht. 1987. – Jede Zeit baut Pyramiden. E.en u. Gedichte. In seinen späteren Dramen setzt sich H. Hg. D. Simon. Bln. 1988. – Alle Dramen. 2 Bde., u. a. kritisch mit den Folgen des modernen Reinb. 1991. – Alle Erzählungen, Gedichte u. RoKapitalismus auseinander. In Wessis in Wei- mane. Mit einem Nachw. v. Albert von Schirnding. mar. Szenen aus einem besetzten Land (Bln. 1993) Reinb. 2001. Literatur: Reinhold Grimm u. a. (Hg.): Der prangert er die Praktiken der Treuhand-Gesellschaft im Osten Deutschlands an. Auch die Streit um H.s ›Stellvertreter‹. Basel/Stgt. 1963. – beiden Stücke Das Recht auf Arbeit (Reinb. Fritz J. Raddatz (Hg.): Summa iniuria oder Durfte der Papst schweigen? H.s. ›Stellvertreter‹ in der 2000) u. McKinsey kommt (Mchn. 2003) the- öffentl. Kritik. Reinb. 1963. – Jan Berg: H.s ›Stellmatisieren die negativen Auswirkungen vertreter‹ u. die ›Stellvertreter‹-Debatte. Verganneoliberaler Wirtschaftspolitik. genheitsbewältigung in Theater u. Presse der H.s Drama Heil Hitler! (Reinb. 2004) be- sechziger Jahre. Kronberg/Ts. 1977. – Rainer Taëni: handelt erneut die Möglichkeiten des indivi- R. H. Mchn. 1977. – Heinz Ludwig Arnold: R. H. duellen Widerstands: Ein 17-Jähriger ent- Mchn. 1978 (Text + Kritik. H. 58). – Reinhart zieht sich im »Dritten Reich« trickreich dem Hofmeister (Hg.): R. H. Dokumente zur polit. Wehrdienst, um seinen im Konzentrations- Wirkung. Mchn. 1980. – Walter Hinck (Hg.): R. H. Eingriff in die Zeitgesch. Ess.s zum Werk. Reinb. lager ermordeten Vater rächen zu können. 1981 (hierin auch Auswahlbibliogr. v. Andreas F. H. erhielt 1963 den Preis »Junge GeneraKelletat). – Rudolf Wolff (Hg.): R. H. Werk u. Wirtion« zum Kunstpreis Berlin, 1976 den kung. Bonn 1987. – Peter Bekes: R. H. In: KLG. – Kunstpreis der Stadt Basel, 1980 den Ge- Norbert Göttler u. Heinz Puknus: R. H. Monogr. schwister-Scholl-Preis, 1981 den Lessing- Reinb. 2006. Preis der Freien und Hansestadt Hamburg, Johannes G. Pankau / Michaela Wirtz 1990 den Jacob-Burckhardt-Preis, 1991 den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis u. 2001 Hochwälder, Fritz, * 28.5.1911 Wien, den Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache. † 20.10.1986 Zürich; Grabstätte: Wien, Seit 1986 ist er Mitgl. der Akademie der Zentralfriedhof. – Dramatiker. Künste in Berlin u. seit 1989 der Bayerischen H., dessen Eltern 1942 im KonzentrationslaAkademie der Schönen Künste. Weitere Werke: Guerillas. Reinb. 1970 (Trag.). ger ermordet wurden, erlernte das väterl. – Krieg u. Klassenkrieg. Studien. Reinb. 1971. – Handwerk eines Tapezierermeisters. 1930 Zwischenspiel in Baden-Baden. Reinb. 1974 (E.). – begann er Dramen u. Hörspiele zu schreiben. Tod eines Jägers. Reinb. 1976. – Tell 38. Dankrede Nach der Machtübernahme durch die Natiofür den Basler Kunstpreis 1976. Reinb. 1977. – nalsozialisten emigrierte er 1938 nach ZüÄrztinnen. Reinb. 1980 (D.). – Räuber-Rede. Drei rich, wo er bis zu seinem Tod lebte. In den dt. Vorwürfe. Schiller, Lessing, Geschwister Scholl. 1950er u. 1960er Jahren war H. ein weltweit Reinb. 1982. – Täter u. Denker. Profile u. Probleme vielgespielter Theaterautor, der u. a. 1956 mit v. Cäsar bis Jünger. Stgt. 1987. – Unbefleckte dem Grillparzer-Preis u. 1966 mit dem GroEmpfängnis. Ein Kreidekreis. Reinb. 1988. – Somßen Österreichischen Staatspreis für Literatur mer 14. Ein Totentanz. Reinb. 1989. – Tell gegen Hitler. Histor. Studien. Mit einer Rede v. Karl Pes- ausgezeichnet wurde. H.s Dramen, v. a. der talozzi. Ffm./Lpz. 1992. – Und Brecht sah das frühen u. mittleren Schaffensperiode, sind Tragische nicht. Plädoyers, Polemiken, Profile. Hg. traditionellen Formen u. der strikten EinWalter Homolka u. Rosemarie v. dem Knesebeck. haltung der klassisch-aristotel. Dramennorm Mchn. 1996. – Effis Nacht. Monolog. Reinb. 1996. – verpflichtet. H. griff histor. Stoffe auf (Das
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heilige Experiment. Elgg/Kt. Zürich 1947. Stgt. 1993. Donadieu. Nach der Ballade Die Füße im Feuer von C. F. Meyer. Hbg. 1953. Neuaufl. Zürich 1958. Der öffentliche Ankläger. Hbg. 1954. Stgt. 1975) oder bearbeitete literar. Vorlagen, wie in der Komödie Hôtel du Commerce (Zürich 1954. Belp 1993) nach Maupassants Novelle Boule de suif; Meier Helmbrecht (Zürich 1958) nach Wernher dem Gärtner; Esther (Elgg/Kt. Zürich 1960) nach dem gleichnamigen bibl. Buch. Zentrales Thema ist der Konflikt zwischen einem Ideal oder einer Idee u. der polit. oder individuellen Realität. Die Handlung ist meist auf eine Hauptfigur in einer modellhaften Situation konzentriert, die diesen Konflikt paradigmatisch austrägt. In dem bereits 1940 entstandenen Stück Esther wird anhand eines fiktiven Staats die Genese der Judenverfolgung dargestellt. Die Juden, eine »harmlose, machtlose und [...] vermögende Minderheit«, sollen geopfert werden, um die Machtgelüste eines skrupellosen Volkstribuns zu befriedigen u. gleichzeitig den korrupten Staat vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Auch wenn ein Pogrom in letzter Minute verhindert werden kann, bleibt der Gegensatz zwischen Gerechtigkeit u. (scheinbarer) polit. Notwendigkeit bestehen: Die Juden bleiben rechtlos, sie sind die Opfer der Regularitäten des geschlossenen Systems »Staat«. Ein ähnl. Widerspruch bestimmt den Konflikt in H.s wohl bekanntestem Drama, dem 1941/42 entstandenen Schauspiel Das heilige Experiment (Urauff. Biel/Solothurn 1943). Vordergründig wegen der Vorwürfe span. Siedler soll der Jesuitenstaat in Paraguay, der Versuch der »Aufrichtung von Gottes Reich« auf Erden, aufgelöst werden; der span. Krone ist dieser Staat zu mächtig u. ihrem eigenen Ansehen schädlich geworden. Zentrum der Handlung ist ein Prozess, in dessen Verlauf die haltlosen Vorwürfe entkräftet werden u. die wahren Motivationen der polit. Machthaber zum Vorschein kommen. Das »heilige Experiment« scheitert nicht aus internen Gründen, sondern wird in polit. Machtkämpfen aufgerieben. Der öffentliche Ankläger (entstanden 1947/48) spielt zur Zeit der Französischen Revolution u. ist auf
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die Titelfigur zentriert: Fouquier-Tinville, der öffentl. Ankläger, bekommt von Theresia Tallien, deren Mann die Schreckensherrschaft zu beenden sucht, den Auftrag, einen Geheimprozess gegen einen Unbekannten zu führen. Ohne zu wissen, dass er der Angeklagte ist, verurteilt er sich selbst zum Tod. Die skrupellosen Methoden der polit. Macht verselbstständigen sich u. richten sich gegen ihren Urheber. Das Motiv des »Täters als Ermittler« greift H. in seinem 1966/67 zunächst als Fernsehspiel geschriebenen Stück Der Befehl (Graz 1967) mit der Bearbeitung eines zeitgeschichtl. Stoffs nochmals auf. Ein Kriminalbeamter soll gegen einen unbekannten nationalsozialistischen Kriegsverbrecher ermitteln; allerdings weiß hier der Protagonist von Anfang an, dass er selbst der Gesuchte ist. Eindringlicher noch werden die nationalsozialistische Vergangenheit u. deren Weiterwirken im Nachkriegsösterreich in Der Himbeerpflücker (Mchn./Wien 1965. Urspr. Fernsehfassung 1964. Mit Helmut Qualtinger in der Rolle des Gastwirts) dargestellt. In seinem späteren Werk hat sich H. an experimentellen, nicht-mimet. Dramenformen versucht. Im Mittelpunkt von Donnerstag (Mchn. 1959. Graz 1995), einem für die Salzburger Festspiele verfassten Mysterienspiel, u. 1003 (Mchn./Wien 1964) steht der »moderne Nichtmensch« (1003) bzw. der Mensch, »der bei lebendigem Leib tot ist« (Donnerstag). Vor dem Hintergrund einer konservativen Moral werden Lebensformen – moralisierend u. vereinfachend in allegor. Szenenfolge einander gegenübergestellt – abgewertet u. als »oberflächlich« diffamiert. Von der Kritik wurden diese Dramen meist negativ bewertet; in der Tat liegt die Stärke H.s mehr im handwerklich souveränen Umgang mit traditionell-realistischen Formen. H. selbst betrachtete die Tradition, in der sein Werk steht, als »die des Wiener Volkstheaters. [...] mit Vergnügen bleibe ich Analphabet, um auf meine Weise Stücke auf die Bühne zu stellen – unliterarisch, unprätentiös, volkstümlich.« Weitere Werke: Der Flüchtling. Nach einem Entwurf v. Georg Kaiser. Mchn. o. J. [1948]. Neufassung u. d. T.: Der Flüchtling. Einzig maßgebl.
Hochzeit Spieltext. Auf Wunsch u. nach Ideen des Dichters Georg Kaiser. Elgg/Kt. Zürich 1955. – Die Herberge. Dramat. Legende in drei Akten. Zürich 1956. – Der Unschuldige. Elgg/Kt. Zürich 1958 (Kom.). – Lazaretti oder Der Säbeltiger. Graz/Wien/Köln 1975. Urauff. Salzburger Festspiele 1975. – Dramen. 4 Bde., Graz 1975–85. – Im Wechsel der Zeit. Autobiogr. Skizzen u. Ess.s. Graz/Wien/Köln 1980. – Die Prinzessin v. Chimay. Ebd. 1982 (Kom.). – Holokaust. Totengericht. Graz 1998. Literatur: Wilhelm Bortenschlager: Der Dramatiker F. H. Innsbr. 1979. – Wolfram Buddecke u. Helmut Fuhrmann: F. H. In: Das deutschsprachige Drama seit 1945. Mchn. 1981, S. 183–186. – Hans Vogelsang: F. H. In: Ders.: Österr. Dramatik des 20. Jh. Wien 1981, S. 189–202. – Anthony J. Harper: Tradition and Experiment in the Drama of F. H. In: Ders.: Time and Change. Essays on German and European Literature. Ffm. 1982, S. 47–54. – F. H. Ausstellung der Wiener Stadt- u. Landesbibl. u. des Österr. Kulturzentrums im Palais Palffy, 1991. Hg. Herwig Würtz u. Hermann Böhm. Wien 1991. – Alice Bolterauer: Trag. Konflikt oder literar. Beobachtungen des Politischen? Überlegungen zu F. H. In: Der Schriftsteller u. der Staat. Lublin 1999. – Walter Dimter: F. H. (1911–1986). In: Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke (Hg.): Dt. Dramatiker des 20. Jh. Bln. 2000, S. 355–369. – Rowland Paul Baker: A Question of Conscience: the Dramas of F. H. Dunedin 2001. – Ulrich Henry Gerlach: Das Motiv des unterdrückten Gewissens in den Dramen F. H.s. wie auch Vergelten, Vergeben, Vergessen? Zum Wandel eines Motivs in F. H.s Werk. In: Ders.: Einwände u. Einsichten. Revidierte Deutungen deutschsprachiger Lit. des 19. u. 20. Jh. Mchn. 2002, S. 213–231, 246–264. – Todd C. Hanlin: Wer ist schuldlos? – Einzig jene, die ins Gas mußten: F. H. u. sein Nachkriegsstück ›Holokaust‹. In: Jörg Thunecke (Hg.): Echo des Exils. Wuppertal 2006. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Michael Müller / Red.
Die Hochzeit. – Geistliches, allegorisches Gedicht (1089 Verse) eines anonymen oberdeutschen Dichters des 12. Jh. In einer beträchtl. Anzahl von wörtl. u. motivl. Parallelen sowie in Stil u. Kompositionsweise stimmt die H., die nur in der Millstätter Sammelhandschrift (um 1200) erhalten ist, mit dem ihr dort vorausgehenden, ebenfalls allein hier überlieferten, anonymen Gedicht Vom Rechte überein. Die Überlieferungsqualität des H.-Textes ist – nicht nur wegen des Erhaltungszustands der Hand-
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schrift – außerordentlich schlecht. Möglicherweise stammen beide Gedichte vom gleichen Verfasser; erwogen wurde auch, dass die H. durch den Autor des Gedichts Vom Rechte überarbeitet worden sein könnte. Das Gedicht von der H. erzählt die Geschichte eines mächtigen Königs, der mit seiner Gefolgschaft hoch u. unerreichbar im Gebirge residiert. Die edelsten unter seinen Leuten verraten ihn u. werden zur Strafe in den Kerker eines mit Schlangen gefüllten Abgrunds geworfen. Für die Qualen, die sie dort unten erdulden müssen, rächen sie sich. Sie verführen andere Untergebene des Königs dazu, gegen dessen Huld zu handeln. Auch diese Unbotsamen verfallen dem Zorn des Herrn u. stürzen ins Elend. – In einem liebl. Tal lebt ein Mädchen von edler Abkunft, vollkommener Schönheit u. Tugend. Der Herr vom Gebirge beschließt, um sie zu werben, damit sein Reich einen rechtmäßigen Erben erhalte, der die ungestörte Herrschaft über Berge u. Täler endgültig sichern soll. Er sendet einen Boten aus. Auf den Rat ihrer Verwandten nimmt das Mädchen die Werbung an; das Verlöbnis wird rechtmäßig mit der Übergabe eines Rings geschlossen u. ein Tag für die Heimholung der Braut festgesetzt. Einstweilen bleibt ihre Ehre in der Obhut der Verwandten. Zur vereinbarten Zeit sendet der Herr einen Boten mit der Aufforderung, die Braut möge sich für die Heimholung ausstatten. Sie legt prächtige Kleidung an. Mit höf. Gepränge naht der Bräutigam selbst u. lässt durch die Edelsten seiner Gefolgschaft sein Kommen melden. Die Braut schmückt sich u. empfängt ihn in einem strahlenden Auftritt. Mit festl. Geleitzug findet die Heimholung statt. Die Daheimgebliebenen warten unterdes mit einem Festmahl auf die Brautleute. Nach deren Ankunft findet ein Hochzeitsfest statt, das alles Dagewesene in den Schatten stellt. Mit dieser Erzählung hat der Dichter den Mythos der christl. Heilsgeschichte in einer erdichteten »fabula« verhüllend umstilisiert u. nach dem internationalen, ihm aus mündl. Dichtungstradition zugekommenen Modell der Brautwerbungsformel neu erzählt: Ein Fürst sichert sein Herrschaftsheil durch Werbung u. Heimführung einer standesge-
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mäßen Braut, die einen legitimen Nachfolger erwarten lässt. Die Umstilisierung nach diesem Modell ermöglicht wiederum eine ausführliche, auf den Gang der Handlung im ganzen wie auf zahlreiche Details der Erzählung gerichtete allegor. Auslegung ihrer »significatio« im Sinne der christl. Heilsgeschichte. Der Herr vom Gebirge ist Gott, die Abtrünnigen sind Luzifer u. sein Chor, die den Menschen zum Sündenfall verführen usw. Das Mädchen vom Tal ist die Seele des Menschen als Gottesbraut, aber auch Maria, die als Mutter Gottes die Sünde des Menschengeschlechts sühnt usw. Im Zentrum der Auslegung steht die anagog. Deutung des Tags der Heimholung u. des Hochzeitstags auf den Tag des Jüngsten Gerichts u. auf die ewige Seligkeit der Erlösten. Man hat von einer geistl. Kontrafaktur auf mündl. Heldendichtung gesprochen. Der Dichter erklärt den heilsgeschichtl. Sinngehalt seiner Erzählung, indem er, ihrem Ablauf folgend – dabei assoziative, wiederum allegorisierende Abschweifungen nicht scheuend –, immer wieder einzelne Passagen der »fabula« seines Gedichts in Paraphrase oder wörtl. Zitat aufgreift u. allegorisch auslegt. So überträgt er frei u. in erstaunlich kreativer Weise das Grundmuster des Funktionsgefüges von Bibellesung, homilet. Paraphrase u. allegor. Auslegung auf seine Dichtung. Dass er sich seiner Verfahrensweise u. seiner Verantwortung als Vermittler der christl. Wahrheit in der Form der Allegorie vollkommen bewusst ist, zeigt die – ihrerseits allegorisch strukturierte – poetolog. Reflexion in der Einleitung des Gedichts. Diese schildert das Tun des Dichters im Bilde des Goldschmieds, der dem Gold der Wahrheit in der Gestaltung seines Werkstücks gleichsam die schöne Form des Allegorischen verleiht. Weiterhin erzählt u. reflektiert die Einleitung die Parabel von einer schönen Frau, die ein kostbares Kleinod verliert, vergebens sucht u. schließlich mit dem Kehricht vors Haus fegt, ohne es zu merken. Der weise Mann aber, der sein Wissen nicht an andere weitergibt, gleicht dem Unrat, der das Gold der Wahrheit bedeckt, u. wird beim Jüngsten Gericht vor die Himmelspforte gefegt werden. Auf solche Weise sind dem Dichter Al-
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legorie u. Allegorese zum eigenständig gestalteten, sich selbst reflektierenden Medium seines Dichtens u. Denkens geworden. Eine unmittelbare lat. Quelle des Gedichts u. insbes. der Hochzeitsparabel hat sich nicht nachweisen lassen. Die heute aufgedeckte Vertrautheit des Dichters mit der Tradition der lat. Bibelexegese u. vor allem mit einem hochentwickelten Stand der Brautmystik in der Hoheliedauslegung des 12. Jh. legt eine Datierung um 1160 nahe. Grundlage der früher üblichen Datierung um 1130–1150 war die primitive Vers- u. Reimkunst der H. Sie stimmt mit derjenigen des Gedichts Vom Rechte überein, für welches der sozialgeschichtl. Hintergrund eher zu einer Frühdatierung passen würde. Die Frage der genaueren Datierung muss unter solchen Umständen für beide Texte vorerst offenbleiben. Ausgabe: Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1972, S. 132–170 (Lit.). Literatur: Heinrich Löbner: ›D. H.‹. Bln. 1887. – Carl v. Kraus: ›Vom Rechte‹ u. ›d. H.‹. Wien 1891. – Hans-Friedrich Reske: Jerusalem caelestis – Bildformeln u. Gestaltungsmuster. Göpp. 1973, S. 157–203. – Peter F. Ganz: ›D. H.‹: ›fabula‹ u. ›significatio‹. In: L. Peter Johnson u. a. (Hg.): Studien zur frühmhd. Lit. Bln. 1974, S. 58–73. – Hugo Kuhn: Allegorie u. Erzählstruktur. In: Walter Haug (Hg.): Formen u. Funktionen der Allegorie. Stgt. 1979, S. 206–218. – P. F. Ganz: D. H. In: VL. – Ernst Hellgardt: Zur Poetik frühmhd. Dichtung. In: Klaus Grubmüller u. a. (Hg.): Geistl. Denkformen in der Lit. des MA. Mchn. 1984, S. 131–138. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit I/2). Ffm. 1986, S. 71–85. – Inga Persson: Ehe u. Zeichen. Studien zur Eheschließung u. zur Ehepraxis anhand der frühmhd. Lehrdichtungen ›Vom Rechte‹, ›Hochzeit‹ u. ›Schopf von dem lône‹. Göpp. 1995. Ernst Hellgardt
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Hock, Höck(h), Theobald, geadelt (1602): von Zweybruck(en), auch: Otheblad Öckh, * 23.(?)8.1573 Limbach/Pfalz-Zweibrücken (heute: Saarland), † zwischen 4.7. 1622 (letzte eigenhändige Briefausfertigung) u. Dez. 1624 (Frau urkundlich Witwe). – Diplomat, Agent; Lyriker. H. besuchte 1586–1589 die nach Sturmschen Grundsätzen eingerichtete Landesschule zu Hornbach. Vermutet bzw. erschlossen werden können: Reisen nach Italien, Frankreich, (Spanien?); Teilnahme am Zug Christians von Anhalt gegen die frz. Liga 1591/92 (?); Aufenthalte in der Oberpfalz u. in Prag (?). Seit April 1600 stand H. als dt. Sekretär im Dienst des böhm. Magnaten Peter Wok von Rosenberg, zunächst in Krumau (Krumlov), dann in Wittingau (Treˇbonˇ) u. wurde zur Schlüsselfigur in der Verbindung der böhmisch-österr. Ständeopposition (Kontakte u. a. zu G. Erasmus Tschernembl, Karl von Zierotin [Karel ze Zerotína]) mit den antihabsburgischen Operationen der pfälz. Politik unter Führung Christians von Anhalt. Mit ihm führte H. einen lebhaften polit. u. persönl. Briefwechsel. H. u. sein »Vetter« Hans Hock (am Appellationsgericht in Prag) verschafften sich mit gefälschten Urkunden den Reichs- (1602), später auch den böhm. Adel (1607). Nach der Wahl Ferdinands zum böhm. König (1617) wurde H. auf Druck der kath. Partei wegen Urkundenfälschung u. Hochverrat angeklagt, gefoltert u. zum Tod verurteilt (23.3.1619). Der Umschwung der Machtverhältnisse (Ständeregierung) bewirkte den Freispruch (1.9.1619). Kurz vorher verfasste H. mehrere, z.T. auch gedruckte Defensionsschriften, berief sich dabei auf sein antijesuitisches Commonitorium sive Admonitio de Roberti Bellarmini scriptis atque libris (gedruckt mit fingierten Angaben; erhalten in einer Druckhandschrift der Bibliotheca Vaticana) u. bekundete seinen Willen, die protestantische Sache »bis zum letzten Blutstropfen« zu verteidigen. Nach der Freilassung übernahm H. ein Kommando über böhm. Truppen, trat jedenfalls bald in den Dienst des Grafen Ernst von Mansfeld. Als dessen Sekretär u. »Commissarius« verhan-
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delte er zwischen Sept. 1621 u. Juli 1622 mit den elsäss. Städten. H.s literaturgeschichtl. Bedeutung gründet sich auf seine Gedichtsammlung Schönes Blumenfeld, die pseudonym u. mit fingierten Angaben auf dem Kolophon in Brünn bei Bartholomaeus Albrecht Forman gedruckt wurde. Erhalten sind vier Exemplare mit Varianten (Presskorrekturen). Das Druckbild des Texts wirft mannigfache, v. a. prosod. Probleme auf. Hinter H.s Absicht, »Deutsches Carmen [zu] schreiben / Die Kunst zu treiben«, steht ein humanistisch geprägter Kunstanspruch; sein Kulturpatriotismus stützt sich auf die Quellen humanistischer Nationalromantik (v. a. Aventin). Als ausgesprochener Einzelgänger repräsentiert H. voropitzian. Strömungen dt. Renaissancelyrik, v. a. in der Aufnahme von Mustern ital. Lieddichtung. Daneben finden sich starke Rückbindungen u. Reminiszenzen an Volksliedtraditionen u. ältere Literatur (Fischart). Im Zeichen einer »witz- und sinnreichen« Poetik setzte sich H. ausdrücklich von populären Lesestoffen ab. Autobiografische Referenzen sind deutlich, jedoch einbezogen in allgemeine satirischdidakt., zeitkrit. Reflexionen (Hofkritik, Frauenschelte). H. kombiniert die Moralistik der Sprichwortüberlieferungen (z.T. reformatorisch-bibl. Herkunft) mit Argumenten antiker Popularphilosophie. Sein humanistisches Bildungsprofil schließt die Kenntnis neuerer volkssprachl. Renaissanceliteratur ein. Ausgaben: Schönes Blumenfeld / Auff jetzigen Allgemeinen gantz betrübten Standt / fürnemblich aber den Hoff-Practicanten [...] gestellet: Durch Othebladen öckhen von Ichamp Eltzapffern Bermeorgisschen Secretarien [...] Im Jahre M.DCI. (Kolophon: Gedruckt zur Lignitz im Elsas / durch Nickel Schöpssen / 1601). Neuausg. v. Max Koch. Halle/Saale 1899. – Klaus Hanson: T. H. ›Schönes Blumenfeld‹. Krit. Textausg. Bonn 1975. Dazu Rez. v. Dieter Lohmeier in: Daphnis 5 (1976), S. 179–186. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2112–2114. – Teilverzeichnis der polit. Korrespondenz in: Oswald Crollius [enger Vertrauter H.s]: Alchemomedizinische Briefe [...]. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Stgt. 1998, S. 212–218, 220. – Weitere Titel: Albert Köster:
473 T. H., Schönes Blumenfeld. In: AfdA 26 (1900), S. 286–319. – Max H. Jellinek: T. H.s Sprache u. Heimat. In: ZfdPh 23 (1901), S. 84–122. – Alfred Goetze: Zu T. H. In: PBB 27 (1902), S. 154–165. – Hans Georg Uflaker: Christian I. v. Anhalt u. Peter Wok v. Rosenberg. Diss. Mchn. 1926. – Arthur Hübscher: Zu T. H., Biographisches u. Textkritisches. In: ZfdPh 52 (1927), S. 123–126. – Arnost Kraus: T. H. Prag 1936. – Walter Brauer: T. H. In: ZfdPh 63 (1938), S. 254–284 (mit Aufstellung der handschriftl. Quellen; ergänzend Kühlmann 1981). – Brunhilde Vetters: Studien zum lyr. Werk T. H.s. Diss. Wien 1952. – W. Kühlmann: Vom Weiterleben eines Verschollenen. In: WBN 8 (1981), S. 189. – Eckehard Czucka: Poetolog. Metapher u. poet. Diskurs. Zu T. H.s ›Von Art der Deutschen Poeterey‹. In: Neoph. 71 (1987), S. 1–23. – László Jónácsik: Poetik u. Liebe.[...]. Ffm. 1998, S. 244–247 u. ö. Wilhelm Kühlmann
Hocke, Gustav René (Rainer), * 1.3.1908 Brüssel, † 14.7.1985 Genzano di Roma. – Journalist, Essayist, Romancier.
Hodann
tanzende Gott (Mchn. 1948) sowie in seinen zeitdiagnost. Reflexionen zur modernen Kunst deutlich zu machen versucht. Weitere Werke: Die Welt als Labyrinth. Hbg. 1957. – Manierismus in der Lit. Hbg. 1959. (Beide zus. u. d. T. Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europ. Kunst u. Lit. Durchges. u. erw. Ausg. Reinb. 1987. 1991) – Das europ. Tgb. Wiesb. 1963. – Verzweiflung u. Zuversicht. Zu Kunst u. Lit. am Ende unseres Jh. Mchn. 1974. – G. R. H. (Hg.): Der frz. Geist. Die Meister des Ess. v. Montaigne bis zur Gegenwart. Dessau 1938. Neudr. Zürich 1988. – Im Schatten des Leviathan. Lebenserinnerungen 1908–1984. Hg. u. komm. v. Detlef Haberland. Mchn. 2004. Literatur: Jutta Busch u. Albert Pauly (Red.): Hommage à G. R. H. – Die Welt als Labyrinth. Viersen 1989. – Hans Mayer: Erinnerung an G. R. H. In: Ders.: Zeitgenossen. Ffm. 1998, S. 260–268. – Helmut Peitsch: Kalligraphie u. Realismus in G. R. H.s ›Das verschwundene Gesicht. Ein Abenteuer in Italien‹. In: Alexander Honold u. Manuel Köppen (Hg.): ›Die andere Stimme‹. Köln u. a. 1999, S. 51–67. – Viktor Otto: Ganymed in der Unterwelt. Hadesfahrt u. Homoerotik. Thomas Mann, Egon Vietta, G. R. H. In: Studi germanici 38 (2000), S. 475–497. – H. Peitsch: Tradition and Modernism in G. R. H.’s Travel Books, 1937–9. In: Charles Burdett u. Derek Duncan (Hg.): Cultural Encounters. New York/Oxford 2002, S. 121–130.
Nach dem Studium der Romanistik, das der Kaufmannssohn – seine Mutter war die Tochter des Brüsseler Hofmalers Gustav de Nève – in Bonn bei Ernst Robert Curtius abschloss, ging H. zur »Kölnischen Zeitung«, deren Sonntagsbeilage er später als NachfolOtto Lorenz / Red. ger Max Rychners betreute. 1940 war er Korrespondent für das Kölner Blatt in Rom. Hodann, Max, * 30.8.1894 Neiße/SchleDorthin kehrte er – 1945 hatte er für einige sien, † 17.12.1946 Stockholm. – SexualMonate in den USA die Kriegsgefangenenreformer. zeitschrift »Der Ruf« geleitet – 1949 als Italien-Korrespondent zahlreicher Zeitungen u. H. war einer der bekanntesten SexualwisZeitschriften zurück. senschaftler in der Weimarer Republik. Er Geleitet von den motivtypolog. Fragestel- schrieb zahlreiche Aufklärungsbroschüren lungen seines Lehrers Curtius, interessierte (Bub und Mädel. Gespräche unter Kameraden über sich H. für die Vielfalt aller gegenklass. Aus- die Geschlechterfrage. Lpz. 1924. Onanie weder drucksformen. Seiner Bestandsaufnahme Laster noch Krankheit. Bln. 1929); aufgrund dieser von ihm als manieristisch bezeichneten seiner großen didakt. Fähigkeiten wurde er Stiltendenzen in der Kunst u. Literatur des von Gewerkschaften u. ArbeiterjugendorgaAbendlands stellte er umfangreich kommen- nisationen, Schulen u. medizinischen Geselltierte Anthologien mit frz. Essays u. europ. schaften immer wieder zu Vorträgen über die Tagebüchern zur Seite. In allen diesen regel- sexuelle Frage eingeladen. los subjektiven u. absichtsvoll fragmentar. H. studierte in Berlin Medizin u. promoMitteilungsweisen sah er Zeugnisse eines vierte 1920 über Die sozialhygienische Bedeutung problemat. Selbst- u. Weltverständnisses, das der Beratungsstellen für Geschlechtskranke. kein begriffl. Erfassen u. kein plast. Abbilden 1922–1933 war er Stadtarzt u. Leiter des Gedes Gegebenen oder Vorstellbaren erlaube. sundheitsamts in Berlin-Reinickendorf. 1928 Diese Einsicht hat er in seinem Roman Der nahm er am Gründungskongress der Weltliga
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für Sexualreform in Kopenhagen teil u. war Zur Naturgesch. des dt. Schamgefühls. Rudolstadt Mitgl. im Internationalen Ausschuss. Von der 1928. Literatur: Manfred Herzen: M. H. u. Magnus Mitte der 1920er Jahre an leitete H. die Sexualberatungsstelle am Berliner Institut für Hirschfeld: Sexualpädagogik am Institut für SeSexualwissenschaft. Seine Beratungstätigkeit xualwiss. In: Mitt.en der Magnus-Hirschfeld-Geergänzte er durch sexualwissenschaftl. Fra- sellsch. 5 (1985). – Kristine v. Soden: Die Sexualberatungsstellen der Weimarer Republik geabende, die einmal monatlich im Institut (1919–1932). Bln. 1988. – Hans-Joachim Bergstattfanden. Aus diesen prakt. Erfahrungen mann: ›Dtschld. ist eine Republik, die v. Rudolgingen die Abhandlungen über Geschlecht und stadt aus regiert wird‹. Das Strafverfahren gegen M. Liebe in biologischer und gesellschaftlicher Bezie- H. u. Karl Dietz im Rudolstadt des Jahres 1928 – hung (Bln. 1926) u. Sexualelend und Sexualbera- zgl. ein Beitr. zur Gesch. des Greifenverlags. In: tung. Briefe aus der Praxis (Rudolstadt 1928) Marginalien (1990), H. 117, S. 35–43. – Wilfried hervor. H. interessierte sich für die Freudsche Wolff: M. H. (1894–1946). Sozialist u. SexualreTriebtheorie u. für die psychoanalyt. Deu- former. Hbg. 1993 (mit Bibliogr.). – Michael tung sexueller Störungen, sein Augenmerk Schwartz: Ein ›Soldat der Freiheit‹. Der sozialist. Mediziner M. H. im Zwielicht der Progressivität. lag jedoch auf der Aufklärung durch WisIn: Sozialwissenschaftl. Lit.-Rundschau 19 (1996), sensvermittlung insbes. für benachteiligte S. 28–35. Kristine von Soden / Red. Sozialschichten. Er stand durch seine Tätigkeit der Arbeiterbewegung sehr nahe. Gleichwohl war er kein Marxist; er gehörte Hoddis, Jakob van, eigentl.: Hans Davidweder der KPD noch der SPD an, war aber sohn, * 16.5.1887 Berlin, † Mai 1942 Mitgl. des »Vereins Sozialistischer Ärzte« Bel/ zec, Chelmno oder Sobibor/Polen. – (VSÄ) u. des »Bunds der Freunde der Sowjet- Lyriker. union«, dessen Zeitschrift »Freund der SoDer Arztsohn studierte nach den Berliner wjets« er 1929/30 herausgab. Am 28.2.1933 wurde H. von den Natio- Schuljahren (1893–1906) in München, Jena u. nalsozialisten verhaftet. Nach vier Monaten Berlin, zuerst Architektur, dann griech. freigelassen, verließ er Deutschland u. schloss Sprache u. Philosophie. 1909 nahm der 22sich 1937/38 den Internationalen Brigaden Jährige nach dem Tod des Vaters sein Pseudim Spanischen Bürgerkrieg an. Aus dieser onym an; im selben Jahr gründete er in Berlin Zeit stammen seine Erfahrungsberichte, die zusammen mit Erwin Loewenson u. Hiller er in der Moskauer Emigrantenzeitschrift den »Neuen Club«, die Keimzelle des literar. »Das Wort« u. in der von Willi Münzenberg Expressionismus, in der H. zu einem eigenen in Paris herausgegebenen Zeitschrift »Die Stil fand. Hier machte sein Anfang 1910 entZukunft« veröffentlichte. Von 1939 an lebte standenes Gedicht Weltende Furore, das zu H. in Stockholm – als Ausländer nur geduldet einem der berühmtesten des Expressionisu. mit Berufsverbot belegt. Zusammen mit mus wurde. Diesen acht Versen, die am anderen dt. Emigranten, vorwiegend Kom- 11.1.1911 in Franz Pfemferts Zeitschrift »Der munisten u. Sozialdemokraten, gründete H. Demokrat« erschienen, verdankt H. seine lidort 1943 den »Freien Deutschen Kultur- terar. Bedeutung. Als 1910 die Wiederkehr des Halley’schen Kometen den apokalypt. bund«, dem er bis 1944 vorstand. Peter Weiss setzte ihm mit der Hauptfigur Fantasien seiner Zeitgenossen u. dem Katain seinem Roman Ästhetik des Widerstands (3 strophenhunger der Sensationspresse willkommene Nahrung bot, glossierte das WelBde., 1975–81) ein Denkmal. tende-Gedicht die kollektive UntergangsWeitere Werke: Erziehungsarbeit u. Klassenstimmung mit groteskem Spott: »Dem Bürkampf. In: Der lebendige Marxismus. Festgabe zum 70. Geburtstag v. Karl Kautsky. Jena 1924. – ger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Die Wohlfahrtseinrichtungen in der Stadtgemein- Lüften hallt es wie Geschrei, / Dachdecker de Berlin. Bln. 1927. – Sexualpädagogik. Ges. stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Aufsätze u. Vorträge (1916–27). Rudolstadt 1928. – Küsten – liest man – steigt die Flut [...].« Die M. H. (Hg.): Unzucht! Unzucht! Herr Staatsanwalt! Naturgewalt des Sturms fegt die Zeichen
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bürgerl. Zivilisation wie lächerl. Spielzeug hinweg. Der damals (u. noch heute) vielfach imitierte Text lieferte das Muster des expressionistischen Grotesk- u. Simultanstils, der mit der Aneinanderreihung kurzer Sätze u. unverbundener Einzelheiten neue Formen der Wahrnehmung in einer durch Zeitung, Kino, Reklame, Technik u. Verkehr veränderten Großstadtwelt vermittelte. Für den enormen Erfolg, den H. mit dem Gedicht hatte, zahlte er einen hohen Preis. Weltende ließ die übrige Lyrik des Dichters, darunter etliches von Rang, in Vergessenheit geraten. Vor dem Vergessen zu bewahren ist nur ein schmales, zu weiten Teilen fragmentarisch überliefertes Werk, ein paar Prosaskizzen u. etwa 70 Gedichte, von denen viele in der Zeitschrift »Der Sturm«, die meisten in der Zeitschrift »Die Aktion« erschienen. H. schrieb wenig u. langsam, u. er soll an seinen Texten unablässig gefeilt haben. Es blieben ihm aber kaum fünf Jahre zur Entfaltung seiner Fähigkeiten. Als Kurt Pinthus 1919 die expressionistische Lyrikanthologie Menschheitsdämmerung mit Weltende eröffnete, hatte der Autor dem literar. Leben seiner Zeit längst den Rücken gekehrt. Fast 40 Jahre seines Lebens verbrachte H. in privater Pflege u. in psychiatr. Anstalten. 1912 war der sich zwischen Münchner Boheme- u. Berliner Intellektuellenkreisen bewegende Autor anscheinend im psychiatr. Sinne »auffällig« geworden. Persönliche Rivalitäten im »Neuen Club«, der Tod des Clubmitglieds u. geachteten Konkurrenten Georg Heym, die unerwiderte Liebe zu der Puppenkünstlerin Lotte Pritzel belasteten H. erheblich. Unter dem Einfluss von Emmy Hennings (der Frau von Ball) entwickelte er katholizist. Neigungen. Am 31.10.1912 wurde er auf Veranlassung seiner Mutter, der gegenüber er Erbansprüche geltend machte, gewaltsam in eine Nervenheilanstalt gebracht. Nach gut einem Monat entfloh er, verschwand aus Berlin, tauchte dann ziemlich verwahrlost in Heidelberg, Paris u. München auf, kehrte schließlich, psychisch einigermaßen stabilisiert, wieder in seine Heimatstadt zurück. Noch schrieb u. publizierte er Gedichte, en-
gagierte sich im »Neuen Club«, beteiligte sich an den Autorenabenden von Pfemferts »Aktion«. 1914 verschlechterte sich sein Zustand erheblich; im April trat er zum letzten Mal öffentlich auf. Im Mai erschien in der »Aktion« als einer seiner spätesten Erstdrucke das Gedicht Der Visionarr. André Breton, der H. »an der Spitze der deutschen Poesie« gesehen wissen wollte, nahm es später in seine surrealistische Anthologie de l’humour noir auf. Kurz nach Beginn des Weltkrieges wurde der Kranke unter nicht geklärten Umständen in eine Anstalt eingeliefert u. bald darauf, da er als »harmlos« galt, in der Familie eines Lehrers in Thyringen, sieben Jahre später bei einem Gastwirt in Tübingen zur Betreuung untergebracht. Zwölf Jahre lebte er so in relativ friedl. Abgeschiedenheit. Die vorletzte Station seiner Krankenkarriere war die israelitische Kuranstalt in Sayn bei Koblenz, aus der die Nationalsozialisten ihn nach acht Jahren, am 30.4.1942, zusammen mit hundert anderen Juden nach Polen in eine ihrer Menschenvernichtungsfabriken deportierten u. Anfang Mai ermordeten, in Belzec, Chelmno oder Sobibor. /
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Weitere Werke: Weltende. Bln.-Wilmersdorf 1918. Nachdr. Nendeln 1973. – Ausgaben: Weltende. Die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte. Hg. Paul Raabe. Zürich 2001. – J. v. H.: Dichtungen u. Briefe. Hg. Regina Nörtemann. Zürich 1987. Neuausg. Gött. 2007. Literatur: Udo Reiter: J. v. H. Leben u. lyr. Werk. Göpp. 1970. – Hansjörg Schneider: J. v. H. Bln. 1972. – Helmut Hornbogen: J. v. H. Die Odyssee eines Verschollenen. Mchn. 1986. 2., überarb. Aufl. 2001 (mit Bibliogr.). – Bernd Läufer: ›Entdecke dir die Häßlichkeit der Welt‹. Bedrohung, Deformation, Desillusionierung u. Zerstörung bei J. v. H. Ffm. u. a. 1996. – Wulf Kirsten (Hg.): Wandern über dem Abgrund. J. v. H. nachgegangen. Eine Hommage. Bucha/Jena 1999. – Fritz Bremer: In allen Lüften hallt es wie Geschrei. J. v. H. Fragmente einer Biogr. Bonn 1996. Neumünster 2001. – Irene Stratenwerth u. a. (Hg.): All meine Pfade rangen mit der Nacht. J. v. H., Hans Davidsohn (1887–1942). Ffm. u. a. 2001. – AnneChristin Nau: Schizophrenie als literar. Wahrnehmungsstruktur am Beispiel der Lyrik v. Jakob Michael Reinhold Lenz u. J. v. H. Ffm. u. a. 2003. – Stefan Wieczorek: J. v. H. In. Ursula Heukenkamp u. Peter Geist (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des
Hodjak 20. Jh. Bln. 2007, S. 166–172. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Thomas Anz / Red.
Hodjak, Franz, * 27.9.1944 Hermannstadt (Sibiu/Rumänien). – Verfasser von Lyrik, Prosa u. Kinderbüchern, Übersetzer. Nach dem Abitur in Hermannstadt arbeitete H. als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle, bevor ihm die rumän. Behörden 1965 erlaubten, ein Studium der Germanistik u. Romanistik im siebenbürg. Klausenburg (Cluj) zu beginnen. 1970–1992 lebte er als Lektor des dreisprachigen Dacia-Verlags in Cluj. Für seine Lyrik, die teilweise auch ins Ungarische u. Rumänische übertragen wurde, erhielt er in Rumänien einige Auszeichnungen, u. a. den Literaturpreis des Verbands der Kommunistischen Jugend u. den Preis des Schriftstellerverbands der SRR 1976. Das Stadtschreiberstipendium der Stadt Mannheim, das ihm 1982 zugesprochen wurde, durfte er nicht annehmen; er stand unter der Beobachtung der Geheimpolizei. 1992 siedelte H. in die Bundesrepublik über u. lebt seitdem in Usingen bei Frankfurt/M. 1993 hielt er in Frankfurt/M. Poetikvorlesungen. H. ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, die erst spät aus Rumänien auswanderten, einer, der »mit rumänischem Pass Einlass in die deutsche Literatur« begehrte. Als Lyriker u. Erzähler war er ein Störenfried im literar. Rumänien, weniger durch polit. Agitation als vielmehr durch die Beharrlichkeit, mit der er das Recht des Einzelnen auf Individualität gegenüber dem Totalitätsanspruch des Staats verteidigte. Die Sprache seiner Gedichte ist in den frühen Werken der binnendeutschen Alltagssprache nachempfunden; sie kommt breit daher wie ein mäanderhaftes Parlando, durchsetzt mit tück. Ironie. Eine geschickte Dialektik verbirgt vieles zwischen den Zeilen; das Paradoxon ist seine Lieblingsfigur: »die freiheit / die täglich / uns spielraum / gewährt / ist immer so groß wie / der Spielraum / den täglich / wir der freiheit gewähren« (Spielräume. Bukarest 1974). Viele seiner Gedichte sind vor dem Hintergrund »der historischen Perspektivlosigkeit einer deutschen Sprachgemeinschaft« zu lesen, vor einem »schmerzli-
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chen insularen Auflösungsprozeß«, andere wiederum, darunter zahlreiche Porträtgedichte, knüpfen den Gesprächsfaden mit den ausgewanderten, den toten Freunden wieder an oder evozieren die heimatl. Karpatenlandschaft in Spannung zu neuen topografischen u. mentalen Impressionen (etwa die Gedichte Lorelei u. Donaudelta in dem Lyrikband Ankunft. Konjunktiv. Ffm. 1997). Generell bewegt sich der Lyriker H. in einem weiten Themen- u. Formenspektrum, in dem stroph. Ordnungen, manchmal als Chanson gedacht, vorherrschen. Sinnlich gesättigte Alltagserfahrungen lösen pointierte Reflexionen, situative Porträts, bildhafte Brechungen u. iron. Kommentare aus. Privates u. Erotisches wird einbezogen, dabei auch die regelrechte Form des Sonetts nicht verschmäht. Die Erfahrung der Freiheit nach der Wende bewirkte bei H. den Wechsel zur Prosa. Seine späteren Romane u. Erzählungen verarbeiten mit autobiogr. Tönungen kafkaeske Existenzformen im kommunistischen Rumänien (Grenzsteine. Ffm. 1995) oder das Schicksal von Spätaussiedlern (Ein Koffer voll Sand. Ffm. 2003). Bedeutsam werden des Öfteren histor. Reminiszenzen u. projektive literar. Spiegelungsfiguren. In Franz, Geschichtensammler. Ein Monodrama (Ffm. 1992) lümmelt sich unter den Pariser Seinebrücken François Villon, der Gauner u. Dichter des 15. Jh., ein anarch. Subjekt, bewaffnet mit einem fast unerschöpfl. Vorrat von Weinflaschen u. seiner Gitarre. Villon »konversiert« mit einem imaginären Hauptmann, der die Macht verkörpert. Nur unterbrochen durch Regieanweisungen, präsentiert sich der Redefluss des Clochards. Der Vagabund erfährt Freiheit als Ahnung von Unendlichkeit, tanzt, lacht, singt u. denkt an seine Kollegen der Zukunft, die nicht in Ruhe schreiben können, denkt auch an die Opfer, die ein Richter in die Salzgruben verbannte. Villon wird zum »Geschichtensammler«, der sich »allen Erfahrungen öffnen will, auch denen seiner Unterdrücker und Antipoden«. Der Friede aber, in dessen Dienst der Hauptmann steht, ist nicht »der kleine, alltägliche Friede, den man braucht, um frei atmen zu können«. Dem »ewigen Gleichgewicht des Scherzes«, den
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der Teufel oder Gott mit der Welt treiben, Höcker, Katharina, * 26.7.1960 Kiel. – steht Villon gelassen gegenüber, amüsiert, Verfasserin erzählender Prosa, Lyrikerin doch mit wachem Gedächtnis u. untrügl. u. Drehbuchautorin. Spürsinn. Der Dichter u. Vagabund findet sich damit ab, in den Augen der anderen zum Bereits mit ihrem Erstlingswerk, dem auto»Trottel« zu werden. In Villon hat H. ein biografisch-essayistischen Sachbuch Durstfernes Traum-Ich gefunden, auch die Figur strecken. Zwischen Abhängigkeit und Aufbruch. einer großen Freiheit, die von Stiefel u. Sporn Frauen und Alkohol (Ffm 1989) positioniert sich die in Hamburg lebende Schriftstellerin H. nicht bedroht ist. H. erhielt 1990 den Ingeborg-Bachmann- im Umfeld feministisch-psychologisierender Preis, 1996 den Nikolaus-Lenau Preis u. 2005 Gesellschaftskritik. Alkoholismus wird hier eine Ehrengabe der Deutschen Schillerstif- zum Symptom der Unterdrückung gleichgeschlechtl. Begehrens; »die Entdeckung lesbitung. scher Fantasien und Wünsche im Prozeß des Weitere Werke: Brachland. Klausenburg 1970 Trockenwerdens« biete die Gelegenheit zum (L.). – Offene Briefe. Bukarest 1976. – Das Maß der Köpfe. Bukarest 1978 (P.). – Die humorist. Katzen. Aufbau einer selbstbestimmten, solidar. Bukarest 1979 (Kinderverse). – Mit Polly Knall Identität. Bemerkenswert ist daher der Prospricht man über selbstverständl. Dinge als wären zess des Trockenwerdens einer lesb. Beziesie selbstverständlich. Bukarest 1979 (L.). – Flieder hung, der in der Erzählung Schwesternehe (Bln. im Ohr. Bukarest 1983 (L.). – An einem Ecktisch. 1993, Hamburger Literaturförderpreis 1997, Bukarest 1984 (P.). – Der Hund Joho. Bukarest 1985 Hebbelpreis 1998) aus der Sicht der psychisch (Kinderbuch). – Augenlicht. Bukarest 1986 (L.). – instabilen u. zur Magersucht neigenden Friedl. Runde. Bukarest 1987 (P.). – Poesiealbum Protagonistin teils in Tagebuchsequenzen, 232. Bukarest 1987 (L.). – Luftveränderung. Bukateils auktorial geschildert wird. Elisabeth, als rest 1988 (L.). – Sehnsucht nach Feigenschnaps. Ausgew. Gedichte. Hg. Wulf Kirsten. Bln./Weimar freiberufl. Lektorin tätig, lebt mit ihrer 1988. – Siebenbürg. Sprechübungen. Ffm. 1990 Freundin Judith eine unauffällige, als glück(L.). – Zahltag. Ffm. 1991 (E.n). – Landverlust. Ffm. lich ausgewiesene Beziehung u. verfasst ge1993 (L.). – Der Junge in der Nagold. Calw 1998 wissenhaft, ja »mit rigider Strenge« einen (Ess.). – Der Sängerstreit. Ffm. 2000 (R.). – Links (vielleicht autobiogr.) Roman. Er wird zum von Eden. Aschersleben 2004 (L.).2004. – Was wäre Anlass einer problemat. Bekanntschaft, als schon ein Unglück ohne Worte. Aphorismen, No- die Therapeutin Jan auf Einladung Elisabeths tate. Lpz. 2006. – Die Faszination eines Tages, den zum Wochenendbesuch erscheint, um ihre es nicht gibt. Weilerswist 2008 (L.). Manuskripte durchzusehen. Die Beziehung Literatur: Emmerich Reichrath (Hg.): Reflexe. beider Frauen bleibt zwar distanziert, doch Beiträge zur rumäniendt. Lit. Bukarest 1977. – fühlt Elisabeth sich erstmals als Autorin ernst Heinrich Stiehler: Paul Celan, Oscar Walter Cisek u. genommen u. justiert nun ihr Verhältnis zu die rumäniendt. Gegenwartslit. Ffm./New York 1979. – Peter Motzan: Die rumäniendt. Lyrik nach sich selber u. zu Judith neu (»Sie waren kör1945. Klausenburg 1980. – András F. Balogh: perlos geworden, ohne Begierde, ohne Lust, Dichterbilder in der Lyrik F. H.s. In: Jb. der ungar. ohne Phantasie«). So kann Elisabeth am Ende Germanistik 1995, S. 73–91. – Stefan Sienerth: ihr auf Jan gerichtetes Begehren als erotisches ›Von der Suche nach einem Ort‹. F. H. im Gespräch. erkennen; die Beziehung wird intim u. führt In: Südostdt. Vierteljahresbl. 45 (1996), S. 9–18. – zum prospektiven Bruch der »SchwesternPeter Motzan: F. H. In: LGL. – Olivia Spiridon: Der ehe« – ein Begriff, mit dessen Hilfe Jan die Heimkehrer u. der Ausreißer. Über das Verhältnis Selbstfindung Elisabeths betreibt. Poetolozur Heimat bei Georg Scherg u. F. H. In: Brücken gisch relevant ist hierbei die Funktion als schlagen. FS George Gut¸ u. Hg. Anton Schwob u. a. Mchn. 2004, S. 371–383. – A. F. Balogh: Von der Aphrodisiakum, die Elisabeths Roman durch verlorenen Hoffnung bis zur Ironie. Das südöstl. Jans (u. durch ihr eigenes) verborgenes BeMitteleuropa des Hans Bergel u. F. H. In: Schau- gehren erst ex post gewinnt. platz Kultur. Zentraleuropa. Hg. Johannes FeichDieselbe »Poesie des Hinterhalts« – »Doktinger u. a. Innsbr. 2006, S. 353–360. trin der Beschwerlichkeit« – ist auch für H.s Klaus Hensel / Wilhelm Kühlmann Text In einem Mietshauskörper (Hbg. 2002)
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symptomatisch, wo sich die monströse Organizität des Hauses (»Augengeschoß«, »Brustraumgeschoß«, »Kniegeschoß«, »Geschlechtraumgeschoß«) im zunehmenden Wahnsinn seiner Mieterin zur Geltung bringt. Nach ihrer Scheidung aus dem ehel. Einfamilienhaus hinausverwiesen u. in eine Mietskaserne einquartiert, verliert die exmatrikulierte Kunststudentin Wilma sämtl. Sozialkontakte u. entwickelt eine klass. Psychose, die sie mit der Produktion eines monströsen »Gehörbildes« als »Medium der Verkapselung« vergeblich zu kompensieren versucht. Zu einem solchen wird am Ende die Erzählung selbst, die als erlebte Rede der Protagonistin ihre Spannung aus den Rationalisierungsangeboten Wilmas (vom »embryonalen Schock« bis zur Verschwörungstheorie) gewinnt u. – wie die Heldin – eine reflexive, »niemals abreißende Mehrzüngigkeit« produziert. Weitere Werke: Liebe dein Symptom wie dich selbst. 1996 (Drehb.). – weiss. 1998 (Drehb.). – Préludes. Gedichte. Lüneb. 1998. – nacht für nichts. dichtungen. Lüneb. 2001. – Sendungen 1–24. http://www.digitab.de/hoecker/index.htm. Robert Matthias Erdbeer
Hoefer, Edmund (Franz Andreas), * 15.10. 1819 Greifswald, † 22.5.1882 Cannstatt (heute zu Stuttgart). – Verfasser von philologischen Schriften, Romanen u. Novellen. H., Sohn eines Ratsherrn u. Stadtgerichtsdirektors, studierte in Greifswald, Heidelberg u. Berlin (u. a. bei J. Grimm u. L. von Ranke) Geschichte u. Philologie. 1842 absolvierte er seinen einjährigen Militärdienst in der Heimatstadt; in den folgenden zwölf Jahren sorgte er für seinen kränkelnden Vater. Gleichwohl suchte H. krit. u. schöpferisches Schaffen zu verbinden: 1845 veröffentlichte er noch anonym im Cotta’schen »Morgenblatt« seine erste Erzählung; 1854 promovierte er in Jena über griech. Kolonien auf Sizilien zum Dr. phil. Unter seinen histor. u. philolog. Studien gewann insbes. die 1855 erstmals erschienene, in zehn Aufl. immer wieder erweitere Sprichwortsammlung Wie das Volk spricht (Stgt.) Bedeutung.
Sein Verleger Adolph Krabbe machte ihm 1854 das Angebot, zusammen mit F. W. Hackländer die »Hausblätter« (1855–1867) herauszugeben, woraufhin H. nach Stuttgart zog u. sich dort u. a. mit F. Freiligrath, K. Gerok, F. Pfeiffer u. insbes. mit W. Raabe anfreundete. Lange trug sich H. mit dem Gedanken einer Goethe-Biografie, welche jedoch – im Gegensatz zu den kleineren Schriften Goethe’s Stellung zu Weimar’s Fürstenhause (Stgt. 1872) u. Goethe und Charlotte von Stein (Stgt. 1878) – zu keinem Abschluss kam. Als Redakteur u. Kritiker der »Hausblätter« sowie der Zeitschrift »Der Literaturfreund« (1872 f.) gewann H. Ansehen. Als Novellist war er zwar von einer erstaunl. literar. Produktivität, jedoch gelangen ihm in seinen Novellen u. Romanen nur selten einheitliche, in sich geschlossene Leistungen. Die meisten der in über fünfzig Bänden veröffentlichten Erzählungen gehören dem Genre der Dorf- u. Volksgeschichten an u. werden von lokalrealist. Elementen wie Sitten, Bräuchen, Sagen oder Schwänken geprägt. Einige Werke situiert H. explizit in seiner vorpommerschen Heimat, darunter den Entwicklungsroman Pap Kuhn: ’ne Geschicht’ ut de oll plattdütsch Tid (Stgt. 1878), der zgl. unter den Romanen H.s als der eigenständigste gelten kann. Weitere Werke: Aus dem Volk. Gesch.n. Stgt. 1852. – Erzählungen eines alten Tambours. Stgt. 1855. – Schwanwiek. Skizzenbuch aus Norddtschld. Stgt. 1856. – Unter der Fremdherrschaft: Eine Gesch. v. 1812 u. 1813. 3 Bde., Stgt. 1863. – Erzählende Schr.en. 12 Bde., Stgt. 1865. – Altermann Ryke. Eine Gesch. aus dem Jahre 1806. 4 Bde., Stgt. 1865. – Neue Gesch.n. 2 Bde., Breslau 1867. – Erzählungen aus der Heimat. 2 Bde., Jena 1874. – Dt. Literaturgesch. für Frauen u. Jungfrauen. Stgt. 1876. – Küstenfahrten an der Nord- u. Ostsee (zus. mit anderen). Stgt. [1880]. – In der letzten Stunde u. a. Erzählungen. 2 Bde., Jena 1881. – Ausgew. Schr.en. 14 Bde., Jena 1882. Literatur: Alexander Reifferscheid: E. H. In: ADB 50. – Bruno Sauer: E. H. Beitr. zu dem Leben u. Schaffen des pommer. Dichters. Diss. Greifswald 1922. – Johannes Iltz: E. H. In: Wilhelm Raabe u. sein Freundeskreis. Hg. Heinrich Spiero. Bln.Grunewald 1931, S. 163–170. – Erich Gülzow: E. H. u. seine Heimat. Grimmen 1938. – Ders.: E. H. u. die pommer. Volkskunde. In: Beitr. zur Volkskunde Pommerns. Hg. Karl Kaiser. Greifsw. 1939,
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symptomatisch, wo sich die monströse Organizität des Hauses (»Augengeschoß«, »Brustraumgeschoß«, »Kniegeschoß«, »Geschlechtraumgeschoß«) im zunehmenden Wahnsinn seiner Mieterin zur Geltung bringt. Nach ihrer Scheidung aus dem ehel. Einfamilienhaus hinausverwiesen u. in eine Mietskaserne einquartiert, verliert die exmatrikulierte Kunststudentin Wilma sämtl. Sozialkontakte u. entwickelt eine klass. Psychose, die sie mit der Produktion eines monströsen »Gehörbildes« als »Medium der Verkapselung« vergeblich zu kompensieren versucht. Zu einem solchen wird am Ende die Erzählung selbst, die als erlebte Rede der Protagonistin ihre Spannung aus den Rationalisierungsangeboten Wilmas (vom »embryonalen Schock« bis zur Verschwörungstheorie) gewinnt u. – wie die Heldin – eine reflexive, »niemals abreißende Mehrzüngigkeit« produziert. Weitere Werke: Liebe dein Symptom wie dich selbst. 1996 (Drehb.). – weiss. 1998 (Drehb.). – Préludes. Gedichte. Lüneb. 1998. – nacht für nichts. dichtungen. Lüneb. 2001. – Sendungen 1–24. http://www.digitab.de/hoecker/index.htm. Robert Matthias Erdbeer
Hoefer, Edmund (Franz Andreas), * 15.10. 1819 Greifswald, † 22.5.1882 Cannstatt (heute zu Stuttgart). – Verfasser von philologischen Schriften, Romanen u. Novellen. H., Sohn eines Ratsherrn u. Stadtgerichtsdirektors, studierte in Greifswald, Heidelberg u. Berlin (u. a. bei J. Grimm u. L. von Ranke) Geschichte u. Philologie. 1842 absolvierte er seinen einjährigen Militärdienst in der Heimatstadt; in den folgenden zwölf Jahren sorgte er für seinen kränkelnden Vater. Gleichwohl suchte H. krit. u. schöpferisches Schaffen zu verbinden: 1845 veröffentlichte er noch anonym im Cotta’schen »Morgenblatt« seine erste Erzählung; 1854 promovierte er in Jena über griech. Kolonien auf Sizilien zum Dr. phil. Unter seinen histor. u. philolog. Studien gewann insbes. die 1855 erstmals erschienene, in zehn Aufl. immer wieder erweitere Sprichwortsammlung Wie das Volk spricht (Stgt.) Bedeutung.
Sein Verleger Adolph Krabbe machte ihm 1854 das Angebot, zusammen mit F. W. Hackländer die »Hausblätter« (1855–1867) herauszugeben, woraufhin H. nach Stuttgart zog u. sich dort u. a. mit F. Freiligrath, K. Gerok, F. Pfeiffer u. insbes. mit W. Raabe anfreundete. Lange trug sich H. mit dem Gedanken einer Goethe-Biografie, welche jedoch – im Gegensatz zu den kleineren Schriften Goethe’s Stellung zu Weimar’s Fürstenhause (Stgt. 1872) u. Goethe und Charlotte von Stein (Stgt. 1878) – zu keinem Abschluss kam. Als Redakteur u. Kritiker der »Hausblätter« sowie der Zeitschrift »Der Literaturfreund« (1872 f.) gewann H. Ansehen. Als Novellist war er zwar von einer erstaunl. literar. Produktivität, jedoch gelangen ihm in seinen Novellen u. Romanen nur selten einheitliche, in sich geschlossene Leistungen. Die meisten der in über fünfzig Bänden veröffentlichten Erzählungen gehören dem Genre der Dorf- u. Volksgeschichten an u. werden von lokalrealist. Elementen wie Sitten, Bräuchen, Sagen oder Schwänken geprägt. Einige Werke situiert H. explizit in seiner vorpommerschen Heimat, darunter den Entwicklungsroman Pap Kuhn: ’ne Geschicht’ ut de oll plattdütsch Tid (Stgt. 1878), der zgl. unter den Romanen H.s als der eigenständigste gelten kann. Weitere Werke: Aus dem Volk. Gesch.n. Stgt. 1852. – Erzählungen eines alten Tambours. Stgt. 1855. – Schwanwiek. Skizzenbuch aus Norddtschld. Stgt. 1856. – Unter der Fremdherrschaft: Eine Gesch. v. 1812 u. 1813. 3 Bde., Stgt. 1863. – Erzählende Schr.en. 12 Bde., Stgt. 1865. – Altermann Ryke. Eine Gesch. aus dem Jahre 1806. 4 Bde., Stgt. 1865. – Neue Gesch.n. 2 Bde., Breslau 1867. – Erzählungen aus der Heimat. 2 Bde., Jena 1874. – Dt. Literaturgesch. für Frauen u. Jungfrauen. Stgt. 1876. – Küstenfahrten an der Nord- u. Ostsee (zus. mit anderen). Stgt. [1880]. – In der letzten Stunde u. a. Erzählungen. 2 Bde., Jena 1881. – Ausgew. Schr.en. 14 Bde., Jena 1882. Literatur: Alexander Reifferscheid: E. H. In: ADB 50. – Bruno Sauer: E. H. Beitr. zu dem Leben u. Schaffen des pommer. Dichters. Diss. Greifswald 1922. – Johannes Iltz: E. H. In: Wilhelm Raabe u. sein Freundeskreis. Hg. Heinrich Spiero. Bln.Grunewald 1931, S. 163–170. – Erich Gülzow: E. H. u. seine Heimat. Grimmen 1938. – Ders.: E. H. u. die pommer. Volkskunde. In: Beitr. zur Volkskunde Pommerns. Hg. Karl Kaiser. Greifsw. 1939,
479 S. 34–39. – B. Sauer: E. H. (1819–1882). In: Pommern des 18., 19. u. 20. Jh. (Pommersche Lebensbilder. Bd. 3). Hg. Adolf Hofmeister u. Wilhelm Braun. Stettin 1939, S. 297–307. – Ders.: E. H. In: NDB. – Gunnar Müller-Waldeck: Begonnen als hochbegabter Erzähler – E. H. In: Ders.: Literar. Spuren in Greifswald. Greifsw. 1990, S. 62–64, 148. – Wolfgang Mieder: [Vorw.]. In. E. H.: Wie das Volk spricht [Repr. der 9. Aufl. Stgt. 1885]. Hildesh. u. a. 1995, S. V–XLIII. – Goedeke Forts. Hans Peter Buohler
Hölderlin, (Johann Christian) Friedrich, * 20.3.1770 Lauffen/Neckar, † 7.6.1843 Tübingen; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Lyriker, Romanautor, Dramatiker, Übersetzer, Philosoph. H.s Eltern, Heinrich Friedrich Hölderlin u. Johanna Christiana, geb. Heyn, gehörten der politisch einflussreichen bürgerl. »Ehrbarkeit« Alt-Württembergs an. Der Vater war Jurist u. herzogl. Beamter. Die Mutter entstammte einer Pfarrersfamilie. Nach dem frühen Tod des Vaters u. nach dem Tod ihres zweiten Mannes, Johann Christoph Gok, der 1776 in Nürtingen, wohin die Mutter 1774 umgezogen war, Bürgermeister geworden war, erzog ihn die Mutter allein. Vom Tod des Vaters u. zumal des geliebten Stiefvaters sowie von der starken Abhängigkeit von der Mutter mag seine psych. Labilität herrühren. H. hat später seinen »Hang zur Trauer« vom »unbegreiflichen Schmerz« über den Verlust seines »zweiten Vaters« u. von der Mutter »tägliche[n] Trauer und Tränen« hergeleitet. Mit »Ewig Ebb und Flut« charakterisierte der 20-Jährige seine Wechsel von depressiven u. euphor. Zuständen. Dass er »zerstörbar« u. daher ein »fester, getreuer Sinn« sein »täglichster Wunsch« sei, schrieb er im Jan. 1799 an die Mutter. H. wird auf der Verbindung von »Begeisterung« u. »Nüchternheit« im Leben u. in der dichterischen Arbeit programmatisch bestehen. Die für H.s Poetik zentrale Kategorie des »Wechsels« poetischer Stimmungen verdankt sich sowohl ästhetischer Reflexion als auch lebensgeschichtl. Erfahrung. 1784–1788 besuchte H. die Klosterschulen in Denkendorf u. Maulbronn. Sie waren dem württembergischen Pietismus verbunden,
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dessen Frömmigkeit Gesellschaftskritik u. aufklärerisches Denken keineswegs ausschloss. H. erfuhr diese Schulen als bedrückend. 1788–1793 studierte er Theologie u. Philosophie im Tübinger Stift. Hier lebte er zeitweise mit Hegel u. Schelling in einer Stube. 1793 legte er das theolog. Konsistorialexamen ab. Das Tübinger Stift war die Eliteschule der württembergischen Landeskirche. Ende des 18. Jh. wurde das Stift vom »Geist des Zeitalters« erfasst. Bei den Stipendiaten kamen Begeisterung für die Französische Revolution u. für die Kantische Philosophie zusammen, die als Philosophie der Freiheit u. der Menschenrechte verstanden wurde. In einem Geflecht von Freundschaften, im gemeinsamen Protest gegen polit. u. theolog. Zustände entstand ein einzigartiges intellektuelles Klima. 1790 schloss H. mit Christian Ludwig Neuffer u. Rudolf Magenau einen Freundschafts- u. Dichterbund nach dem Vorbild des Göttinger Hainbunds. Für seine Mitglieder verwirklichte der Bund eine gesellschaftl. Utopie. Freundschaft u. Liebe stellen im Werk H.s zentrale Werte dar. Viele seiner Gedichte sind Widmungsgedichte. Der nach dem Studium im Stift vorbestimmte u. von der Mutter gewünschte Beruf des Pfarrers kam für ihn nicht in Frage. Sein literar. »Ehrgeiz«, schrieb der junge H. (Juni 1791) an seine Mutter, werde ihn in einer »friedlichen Pfarre« u. im »ruhigen Ehestande« nie glücklich sein lassen. Um Pfarrstellen bewarb H. sich nicht, auch weil sein Glaubensbekenntnis nicht mehr das der »Theologen von Profession« war. Bürgerliches »Amt«, auch die Ehe, u. Poesie, die ein »ganzes Menschenleben« fordere, schlossen sich für ihn aus. Absolventen des Stifts, die keine kirchl. Stelle antreten wollten, blieben Ende des 18. Jh. als Möglichkeiten nur die Existenz als freier Schriftsteller, als Universitätsdozent oder als Hofmeister. H. war viermal Hauslehrer in adligen oder großbürgerl. Häusern. Die erste Anstellung in Waltershausen bei der Familie von Kalb (1793–1795) endete in einer pädagog. Krise; die zweite, pädagogisch erfolgreicher, bei der Frankfurter Kaufmannsu. Bankiersfamilie Gontard (1796–1798) endete in einem Bruch wegen des musischen u.
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erot. Verhältnisses zwischen H. u. der Mutter seines Zöglings, Susette Gontard, die als »Diotima« in Gedichten u. im Roman Hyperion figuriert. In der Wirkungsgeschichte H.s ist dieses Verhältnis zu einer unglückl. »großen Liebeselegie« (Adolf Beck) stilisiert worden. Das Verhältnis beider war komplizierter, von Anfang an stand es unter wechselseitigen Projektionen nach literar. Modellen. Für H. war die Freundin eine Verkörperung griech., ewiger Schönheit, verirrt in ein barbarisches Jahrhundert, für Susette war H. der große, von der Gesellschaft unverstandene Dichter, ein neuer Tasso, dessen Muse zu sein, Unsterblichkeit versprach. Die Anstellungen bei patriz. Familien in Hauptwil in der Schweiz (1801) u. in Bordeaux (1802) waren kurz. Ihr Ende hing offenbar mit H.s psych. Krankheit zusammen. Zwischen 1802 u. dem zweiten Homburger Aufenthalt (1804–1806) hielt er sich ruhelos bei Freunden in Stuttgart u. bei der Familie in Nürtingen auf. H.s Versuch in seiner ersten Homburger Zeit (1798–1800) nach der Frankfurter Katastrophe, sich als freier Schriftsteller zu etablieren, zerschlug sich. Die mit dem Verleger Steinkopf 1799 projektierte literar. Zeitschrift »Iduna« kam nicht zustande. Schiller riet von diesem Projekt ab, andere – »auch solche, die nicht ohne wahrhaften Undank mir eine Teilnahme versagen konnten« (an Susette Gontard, 12.(?)9.1799) – reagierten nicht auf H.s Einladung zur Mitarbeit. Auch aus dem Plan, an der Universität Jena über griech. Literatur Vorlesungen zu halten, wurde nichts. In seiner bürgerl. Existenz, mit seiner Absicht, als freier Schriftsteller zu leben, war H. gescheitert. Seine späten Reflexionen über das »Handwerksmäßige[n]« antiker u. moderner Kunstwerke in den Anmerkungen zum Ödipus betreffen auch seine unsichere soziale Rolle u. setzen sich zum Ziel, »den Dichtern, auch bei uns, eine bürgerliche Existenz zu sichern«. Neben seinem Gehalt als Hofmeister u. wenigen Honorarzahlungen lebte H. von den sparsamen Zuwendungen aus den Zinsen seines stattl. Erbes, das die Mutter verwaltete. In Homburg erfuhr H. das Wohlwollen der landgräfl. Familie. Einer Tochter des Landgrafen, Auguste, die ihn verschwiegen liebte,
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widmete er eine Geburtstagsode (Der Prinzessin Auguste von Homburg. Den 28. Nov. 1799, welche die programmat. Verse enthält: »[...] Beruf ist mir’s, / zu rühmen Höhers, darum gab die / Sprache der Gott und den Dank ins Herz mir«) u. später seine Übersetzung der Trauerspiele des Sophokles (Ffm. 1804). Hier genoss er die – auch spannungsreiche – Freundschaft mit Isaak von Sinclair, den er 1793 als Demokraten kennen gelernt hatte u. der jetzt der höchste Verwaltungsbeamte der Landgrafschaft war. Mit ihm reiste er 1798 auf den Rastatter Kongress, voll Hoffnung auf eine polit. Erneuerung Deutschlands, u. 1802 zum Reichstag nach Regensburg. Auf Betreiben Sinclairs wurde H. während seines zweiten Homburger Aufenthalts als Bibliothekar angestellt. Zum Freundeskreis H.s in der ersten Homburger Zeit zählten neben Sinclair Hofrat Franz Wilhelm Jung, Hegel, der seit 1797 in Frankfurt Hofmeister war, die Dichter Siegfried Schmid aus dem nahen Friedberg, Casimir Ulrich Boehlendorff u. der aus Wetzlar stammende Publizist Friedrich Emerich. Verbunden waren sie alle in gemeinsamer republikan. Überzeugung. Emerich u. Boehlendorff sollten, ähnlich wie H., mit ihren literar. u. polit. Hoffnungen scheitern u. psychisch zerbrechen. 1806 wurde H. als Geisteskranker in das Tübinger »Clinicum« von Johann Heinrich Ferdinand von Autenrieth eingeliefert. Diese Erkrankung verhinderte eine Verhaftung im Zusammenhang mit einer jakobin. Verschwörung in Württemberg, in die Sinclair verwickelt war. 1807 wurde H. als unheilbar u. pflegebedürftig entlassen. Der Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer nahm ihn in seinen Haushalt auf. Die Kosten der achtsamen Pflege wurden aus den Zinsen seines Erbes u. aus einem Zuschuss der Landesregierung bestritten. Die Mutter besuchte ihn nicht mehr. Bei Zimmer lebte H. in einem turmartigen Anbau zum Neckar hin bis zu seinem Tod 1843. In dieser Zeit schrieb er weiterhin Gedichte, die er mit »Hölderlin« oder mit »Scardanelli« unterzeichnete. In der Maulbronner Zeit hatte H. zu dichten begonnen. Seine frühen literar. Vorbilder waren Ossian, Hölty, Friedrich L. von Stolberg, Bürger u. vor allem Klopstock, der
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»große Messiassänger«. In Tübingen schrieb H. Oden, Lieder u. Hymnen. Zu seinen Vorbildern trat nun Schiller. Die pathet. Energie, die Verwendung mytholog. Motive, die rhetorische Struktur, die philosophische Reflexivität u. die Form der Reimstrophe in Schillers Hymnen waren für H. musterbildend. Schiller wurde für ihn eine Vaterfigur, die er mit »Anhänglichkeit« verehrte, deren Nähe er suchte, die er als Förderer umwarb u. unter der er litt, mit der er offen u. verdeckt rivalisierte. Diese Auseinandersetzung verstand er als Teil eines literar. Generationenkonflikts. So wollte H. seine ästhetische Theorie, die er sich in dieser Zeit erarbeitete, u. d. T. Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen veröffentlichen, der eine Überbietung von Schillers Ästhetischen Briefen ankündigt. Am nächsten kam H. Schiller während eines Aufenthalts in Jena 1794/95. In diesen Jahren war Jena ein intellektuelles Zentrum Deutschlands. Hier hörte H. fasziniert Fichtes Wissenschaftslehre, hier verkehrte er mit Schiller, der sich »sehr freundschaftlich« verhielt. Hier traf er Novalis u. öfter Goethe, der ihn distanziert u. kritisch wahrnahm, als »wirklich liebenswürdig und mit Bescheidenheit, ja mit Ängstlichkeit offen« (an Schiller, 23.8.1797). Schiller förderte H. Er vermittelte die Hofmeisterstelle bei der Familie von Kalb, er beriet ihn u. veröffentlichte Gedichte von ihm in seiner Zeitschrift »Neue Thalia«, in seinem »Musen-Almanach für das Jahr 1796« u. in den »Horen«; er veröffentlichte das Hyperion-Fragment in der »Neuen Thalia« (1794) u. gewann für den Roman Johann Friedrich Cotta als Verleger. H.s Flucht aus Jena 1795 nach Nürtingen hängt wohl auch mit der erdrückenden intellektuellen Macht Schillers u. Fichtes zusammen. Die Tübinger Hymnen H.s sind formal gekennzeichnet durch die hymn. Reimstrophe mit meist acht jamb. oder trochäischen Versen. Sie sind »Preisgesänge«, vorgetragen in der Rolle eines auserwählten Sängers, der sich an Freunde u. Eingeweihte wendet. Die Verkündigung des Dichters umfasst neuzeitl. Kosmologie, christl. Eschatologie u. polit. Utopie u. greift zu einer Bilderwelt des Großen u. Erhabenen. Gepriesen werden
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Freundschaft, Freiheit, Liebe, Schönheit, die Muse, die Menschheit, die Harmonie, die Unendlichkeit, die Jugend. In der Verkündigung dieser Ideen legitimiert sich, wie in der Hymne an die Göttin der Harmonie (1790/91), die schöpferische Rolle des Dichters: »Herrlicher mein Bild in dir zu finden, / Haucht ich Kräfte dir und Kühnheit ein, / Meines Reichs Gesetze zu ergründen, / Schöpfer meiner Schöpfungen zu sein.« Zukunftsoptimismus, Kritik despotischer Herrschaft u. Kosmopolitismus verweisen auf den Horizont der Aufklärung u. der Französischen Revolution. H. wird sich von nun an als Dichter in einer revolutionären Zeit verstehen; er erhoffte sich von der Französischen Revolution auch eine Revolutionierung Deutschlands, zu der seine Dichtung als »Volkserziehung« beitragen sollte (vgl. Brief vom Febr. 1792 an die Schwester; Nov. 1792 an die Mutter; Sept. 1793 an den Bruder). Die dt. Revolution stellte er sich jedoch als eine Entwicklung vor, als eine »künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten«, zu der Deutschland mit seiner Bildung mehr als andere Staaten beitragen könne (an Ebel, 10.1.1797). Solche Gedanken waren bei dt. Intellektuellen in den 1790er Jahren verbreitet. Das Thema der Revolution steht im Hyperion-Roman u. im Empedokles-Dramenprojekt im Zentrum. In der Widmung des Hyperion an Auguste von Homburg, in den Homburger poetolog. Fragmenten u. in den Anmerkungen zu den sophokleischen Tragödien wird der geschichtsphilosophische Ort des Dichters bestimmt als der eines Epochenübergangs. Dichtung soll »Halt« in der Krise solcher Übergänge geben, sie soll Zusammenhang u. Sinn durch Erinnerung u. Deutung des Geschichtsverlaufs stiften. H. hat trotz aller Kritik an einer »stockfinsteren Aufklärung« (an den Bruder, 21.8.1794) u. an den »eisernen Begriffen« des Verstandes, der die deswegen »Barbaren« genannten Deutschen charakterisiere (Scheltrede in Hyperion II, 2), am Impuls der Aufklärung festgehalten. Er fordert jedoch, in der Tradition der Aufklärung selbst, eine »höhere«, d.h. über sich selbst u. ihre Grenzen aufgeklärte Aufklärung. An den Bruder schrieb er am 4.6.1799, »daß sich der Mensch
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[...] fromm vor dem Geiste der Natur beuge, den er in sich trägt, den er um sich hat, und der ihm Stoff und Kräfte gibt [...]«.Von der Aufklärung übernahm er auch die Rolle eines Schriftstellers, der seine »Arbeiten« als »öffentliche Äußerungen« (Brief an die Mutter, 29.1.1800) versteht. Im Spätwerk nach 1800 betont H. stärker die bewusstseins- u. identitätsschützende Macht des Verstandes gegenüber dem »ewig menschenfeindlichen Naturgang«, wie es nun in den Anmerkungen zu Antigone (1804) heißt. Mit der Hymne an den Genius Griechenlands u. der Magisterarbeit Geschichte der schönen Künste unter den Griechen (beide 1790) setzt in der Tübinger Zeit H.s Beschäftigung mit der griech. Antike ein. Entsprechend seiner Hauptquelle, Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764), erscheinen in der Magisterarbeit griech. Kunst u. Humanität als zeitlose Muster. Wie Winckelmann hatte H. Griechenland nie selbst gesehen. Sinnlich vergegenwärtigte er sich antikes Leben bei seinem Aufenthalt 1802 in Bordeaux u. in der Landschaft des frz. Südwestens. Für H., der, wie Christoph Schwab berichtet, »das Altertum, das lebendig vor seiner Seele stand, gerne bei jeder Gelegenheit mit der Gegenwart« verknüpfte, bildeten griech. Antike, Deutschland u. die Französische Revolution eine geschichtsphilosophische u. ästhetische Konstellation. H.s Beschäftigung mit der griech. Antike führte über die Gedichte Hymne an den Genius Griechenlands, Griechenland (1793), An Herkules (1795/96) über den Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (Arbeit daran seit 1792), das Drama Empedokles (1797–1800), das Aufsatzfragment Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben (1799) zu den Oden, Elegien u. Hymnen nach 1800 (z.B. Tränen; Brot und Wein; Der Archipelagus; Die Wanderung; Der Einzige; Mnemosyne), zu den Pindar-Fragmenten (1803?) u. zu der 1803 abgeschlossenen Übersetzung u. Kommentierung der sophokleischen Trauerspiele Ödipus der Tyrann u. Antigone. In seinem Brief an Boehlendorff vom 4.12.1801 reflektiert er über das Verhältnis der antiken Epoche zur modernen. Seine Reflexionen stehen in der Tradition der »Querelles des anciens et des modernes« des
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europ. Klassizismus, die in Deutschland von Winckelmann über Schiller bis zu Friedrich Schlegel reicht. Dem Streit um die Legitimität der Moderne gibt H. eine neue geschichtsphilosophische u. ästhetische Perspektive. Die Epoche der Gegenwart u. die der Antike sind jeweils unterschiedl. Synthesen von Geschichtstendenzen. Das in seinem Ursprung leidenschaftl., oriental. Griechenland benötigte zum Ausgleich abendländ. Nüchternheit u. Kunstverstand; das in seinem Ursprung nüchterne Abendland, für das die Deutschen stehen, benötigt zum Ausgleich griech. Leidenschaft. »Aber das Eigene muß so gut gelernt sein wie das Fremde. Deswegen sind uns die Griechen unentbehrlich.« Das strukturell andere Weltverhältnis der Moderne verändert auch ihre poetischen Ausdrucksformen. Eine Übersetzung der griech. Tragödien muss diese unterschiedl. Ausdruckformen berücksichtigen. Seine Poetik, in der das 20. Jh. eine frühe Modernität entdeckte, entwickelte H. in der Auseinandersetzung mit der griech. Antike. Im Tübinger Stift, in Waltershausen u. in Jena erarbeitete sich H. seine theoret. u. ästhetischen Grundlagen. Er gewann sie in produktiver Auseinandersetzung mit den philosophischen Lehren Platons (Symposion, Phaidros), Spinozas, Herders, Kants (Kritik der Urteilskraft. 1790), Fichtes (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. 1794) u. Schillers (Die Künstler. 1789. Über Anmut und Würde. 1793. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. 1795). H. verband dabei zwei Denkfiguren: eine platonische, im 18. Jh. wieder aufgenommene Vereinigungsphilosophie u. eine v. a. von Fichte formulierte Entgegensetzungsphilosophie. Menschliches Bewusstsein ist ohne Entgegensetzung von Subjekt u. Welt nicht möglich, aber auch nicht ohne die unvordenkl. Einheit eines »Seins«. Dieses Sein ist in der Schönheit, in der Liebe oder in der Natur erfahrbar. Die Legitimierung der Kunst als Darstellung dieser Einheit des Seins führt über Schillers ästhetische Position hinaus u. setzt mit der Einsicht in den Sinn von Entgegensetzungen, von Leid im Leben auch die Einsicht in den Sinn geschichtl. Veränderungen u. Verläufe frei. Die Trennungen u.
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Wechsel des Lebens sind die Bedingungen, unter denen u. in denen bewusstes Leben, die Erfahrung des Seins u. der Schönheit allein möglich sind. Die Kunst muss sich auf das Leben einlassen, wenn sie schön sein will. Die Entwicklung dieser philosophischen u. ästhetischen Theorie liegt im Fragment Urteil und Sein (1795), im Brief an Hegel vom 26.1.1795, im Brief an den Bruder vom 13.4.1795, im Gedicht An die Unerkannte (1795) u. in den Vorfassungen des HyperionRomans (1794/95) vor. H. entwickelte im dt. Idealismus eine eigenständige philosophische Position, von der Hegel starke Anstöße erhielt. Das Kunstwerk wird als Darstellung der wesentl. Verläufe der Geschichte u. des Lebens begriffen, als »Welt im verringerten Maßstab«, wie es später in den Anmerkungen zu Antigone heißt. Wie diese Darstellung durch das Kunstwerk möglich ist, wie in den Trennungen u. Wechseln des Lebens die Einheit dieses Lebens artikuliert werden kann, sucht das Fragment Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes (1798/99) zu beantworten. Das Verfahren besteht in einer Dynamisierung der poetischen Mittel u. in der Darstellung durch Gegensatz. Die Einheit des poetischen Geistes wird an seinem Gegensatz, am Wechsel der »sinnlichen« Teile des Gedichts dargestellt. Zwischen der Einheit des »Geistes« u. dem Wechsel des sinnl. »Ausdrucks« vermittelt die »Bedeutung«. Seinen Ausdruck erhält das Gedicht durch den dynam. Wechsel der drei »Töne« des Naiven, Heroischen u. Idealischen. Im Wechsel dieser Töne sollen sich der Wechsel u. die Einheit der Grundtendenzen des Lebens wiederholen u. darstellen. Die poetolog. »Regel« des Gegensatzes hat eine lebensprakt. Analogie: »Setze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre, so wie du in dir selber in harmonischer Entgegensetzung bist, von Natur, aber unerkennbarer Weise, solange du in dir selbst bleibst.« Das Fragment Das untergehende Vaterland ... (1798/ 99) erklärt den geschichtl. Umbruch einer Epoche (»Vaterland«) als eine »Darstellung« der Einheit der Geschichte in der u. durch die Zeit. Innerhalb seiner Gattungstheorie ist es die Tragödie, welche die Macht dieses Umbruchs, des »Ursprüngliche[n]«, wie es in
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dem Fragment Die Bedeutung der Tragödien (1798/1800/1803?) heißt, am stärksten darstellt. In der Katastrophe, im Untergang eines Helden oder in der Auflösung einer Epoche, zeigt sich das »Ganze« der Welt in seiner unmittelbaren, daher vernichtenden Macht. Ein Distichon, Sophokles (1799) überschrieben, lautet: »Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen, / hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.« Gattungstheoretische Überlegungen enthalten auch die Fragmente Über die verschiednen Arten zu dichten (1798/99), Über den Unterschied der Dichtarten (1798/99), Das untergehende Vaterland ... (1798/99) u. der Grund zum Empedokles (1799) sowie die Rezension Über Siegfried Schmids Schauspiel ›Die Heroine‹ (1801) u. der Brief an Neuffer vom 3.7.1799. Diese poetolog. Theorie sollte für die Moderne einen »durch und durch bestimmten und überdachten Gang« der Kunstwerke gewinnen, der in seinem Rang den »alten Kunstwerken« gleichkommen würde. Im programmat. Brief an den Bruder vom 1.1.1799 wird aus der Einheitsstruktur des poetischen Werks eine Vereinigungswirkung abgeleitet. Die Poesie vereinigt die Menschen »mit all dem mannigfachen Leid und Glück und Streben und Hoffen und Fürchten, mit all ihren Meinungen und Fehlern [...] immer mehr zu einem lebendigen tausendfach gegliederten, innigen Ganzen, denn eben dies soll die Poesie selber sein und wie die Ursache, so die Wirkung«. Die Poesie soll den »höheren Zusammenhang« (Über Religion. 1798/99) zwischen den Menschen untereinander u. zwischen den Menschen u. der Welt darstellen. Diese Überlegungen sind in Form von fragmentar. Texten u. vorläufigen Formulierungen oder in Briefen überliefert, die als Ersatz für die gescheiterte Publikation seiner Zeitschrift dienen mussten. Der reflexive, lehrhafte Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (2 Bde., Tüb. 1797–99) hat H.s Gedanken über den Zusammenhang von Einheit u. Differenz, von Sein u. Zeit, über die Bedeutung von Schönheit u. Liebe, über die Bedeutung der Natur, über das Verhältnis von Antike u. Moderne u. über die Aufgabe der Kunst in der Gegenwart in sich aufgenommen. Die Arbeit am Roman
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1792–1796/97 begleitete u. umfasste die Ausbildung seiner philosophischen u. ästhetischen Theorie. Hyperion ist ein experimenteller Roman, der vielfältige literar. Traditionen integriert: die Tradition des Briefromans, zumal Goethes Die Leiden des jungen Werthers, die Tradition des antiquarischen Romans, z.B. Wielands Geschichte des Agathon, die Tradition des philosophischen Romans u. des modernen Bildungs- u. Künstlerromans. Er ist auch intendiert als polit. u. nationaler Roman: Die Vorrede wendet sich nicht an die Leser, sondern an die »Liebe der Deutschen«. Der Adressat der Briefe Hyperions trägt den sprechenden Namen Bellarmin; er enthält die semant. Elemente: das Schöne, das Heroische u. das Deutsche. Die Briefe sind, in appellativer Absicht, an den u. an die Deutschen gerichtet. Die Anlage der Handlung, der Aufstand der Griechen gegen die türk. Unterdrückung im russisch-türk. Krieg, soll Analogien zur dt. Situation während der ersten Koalitionskriege suggerieren. Mit der Kritik am Bund der »Nemesis« u. an Alabanda enthält der Roman auch eine Verurteilung des jakobin. Terrors. Die Geschichte Athens wird als Antithese zur Französischen Revolution entworfen, an deren polit. Zielen Freiheit, Gleichheit u. Brüderlichkeit jedoch festgehalten wird. Gegen die Revolution wirbt der Roman für stetige Entwicklungen u. aufgeklärte Reformen. Die Sprache des Briefe schreibenden Hyperion ist eine lyr., empfindsame Sprache mit epischen u. lehrhaften Elementen. Der Gang der Handlung ist als Bildungsgang des Helden konzipiert, der »exzentrische« Strebungen integrieren soll (Vorrede zum Thalia-Fragment). Vergleichbar Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren (1795/96), führt der Bildungsgang den Helden mit Figuren zusammen, die verschiedene Lebensaspekte verkörpern: Adamas, dem Weisen; Diotima, der Schönheit; Alabanda, dem Heroischen. Hyperions Bildungsgang verläuft jedoch nicht in kontinuierl. Entwicklung, sondern in Auf- u. Abschwüngen. Von Diotima inspiriert, beschließt Hyperion, sich zum Dichter u. Erzieher seines Volkes zu bilden. Dieser Entschluss entsteht aus einem Gespräch in den Ruinen von Athen über die Staatsform u.
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Kultur Athens. Das »Wesen« der Schönheit bildete demnach den Gegenstand der athenischen Philosophie, Religion u. Kunst. Es wird bestimmt mit einer Formel, welche die Struktur des Seins u. der Schönheit zusammenfassen soll: »Das Eine in sich selber unterschiedne.« Dadurch enthält die ästhetische Erfahrung einen, in der Epoche einzigartigen, systemat. Vorrang gegenüber Religion, Philosophie u. Naturwissenschaft. Getragen von dieser Schönheitserfahrung konnte sich auch die Staatsform der Athener zur »schönen Mitte« einer liberalen Humanität ausbilden. Der erste Band des Romans endet mit der Verheißung einer neuen Welt nach dem Vorbild des antiken Athen. Im zweiten Band wird versucht, dieses Vorbild zu verwirklichen. Hyperion nimmt wieder am revolutionären Kampf teil. Wieder muss er das Scheitern seiner Ideale erfahren. Jedoch gehört das letzte Wort des Romans nicht der Verzweiflung, sondern dem Aushalten u. dem Anerkennen des leidvollen Geschichtsgangs. Hyperion, der wie Werther als narzisstischer Charakter entworfen ist – deswegen hat Mörike vom »peinlichstglücklichst-komplizieresten« Eindruck gesprochen (an Johannes Mährlen, 21.5.1832) –, muss erfahren, »dass, wie Nachtigallgesang im Dunkeln, göttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt uns tönt«. Die Durchführung u. der offene Schluss des Romans: »So dacht’ ich. Nächstens mehr« relativieren die Vorrede, wonach der Roman von der, musikalisch gesprochen, »Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter« handelt. In die erste Homburger Zeit fällt H.s Arbeit an seinem Empedokles-Projekt. Hier entstehen die drei fragmentarisch gebliebenen Fassungen u. die theoret. Studie Grund zum Empedokles. Die erste u. dritte Fassung sind in Blankversen, die zweite ist in freien Rhythmen verfasst. Im Mittelpunkt des Dramas steht der Untergang des Helden Empedokles. H. knüpft an die antike Überlieferung an, nach der Empedokles (5. Jh. v. Chr.) ein Naturphilosoph, Dichter, Arzt, Priester u. Zauberer war. Er habe sich in den Ätna gestürzt, um sich mit der Natur zu vereinen. In diese Figur integriert H. Anspielungen auf den
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Opfertod Christi u. auf den kulturkrit. Rousseau, also antike u. moderne Elemente. In den beiden ersten Fassungen wird die Tragödie als eine Tragödie des Wissens konzipiert. Der Untergang des Empedokles folgt aus seiner Hybris, sich zum Herrscher über die Natur zu erklären. In seinem Opfertod will Empedokles die Natur u. die Götter wieder versöhnen. Zugleich soll dieser Tod das Volk politisch in die Mündigkeit entlassen: »Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr« (erste Fassung, V. 1418). Ganz im Sinne spätaufklärerischer polit. Ideen wird Freiheit nicht so sehr erkämpft als gegeben. Im Grund zum Empedokles werden die Figur u. der Untergang des Empedokles geschichtsphilosophisch im Blick auf die großen Personen der Zeitgeschichte wie z.B. Napoleon entworfen. In der Figur des Empedokles sind die Widersprüche der Zeit vorläufig vereinigt. Sein Opfer ist notwendig, um eine allg. Versöhnung freizugeben. Der geschichtsphilosophische Ansatz dieser Studie steht dem fünften der Ästhetischen Briefe Schillers u. dem Scheltbrief im Hyperion nahe. In der dritten Fassung hat H. die Figur eines Antagonisten eingeführt, um einen genuin dramat. Konflikt zu exponieren. Für das lyr. Schaffen H.s bis 1796 ist die Reimstrophe charakteristisch. Die Jahre 1796/97 bilden eine Wende. Es ist die Zeit der Liebe zu Susette Gontard, der Deutung zeitgeschichtl. Ereignisse in weltgeschichtl. Perspektive, der Reflexion auf Möglichkeiten der Dichtung, der Versuche, als freier Schriftsteller zu leben. H. verwendet nun antike Versmaße; seine Bildsprache löst sich vom Vorbild Schillers. Naturbilder gewinnen eine neue, ebenso konkrete wie symbolische Qualität. Im poetischen Bild wird die Identität von Geschichts- u. Naturprozessen gesucht. An den 1797 entstandenen Gedichten Die Eichbäume, Der Wanderer u. An den Äther ist dieser Wandel schon ablesbar. Die Gedichte Die Völker schwiegen, schlummerten u. Die Muße deuten die Bewegung der Geschichte als konfliktreichen, dynam. Prozess von Ruhe u. Unruhe. In ihm wird die Revolution als Moment des Geschichtsprozesses gerechtfertigt. In den Kurzoden der Jahre 1797/98 (z.B. An Diotima; Diotima; Empedokles; An die Parzen;
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Lebenslauf; An die Deutschen) findet H. seine eigene poetische Form. Charakteristisch sind die Exposition einer dichterischen Subjektivität, die durch antike Formen u. Reflexionen distanzierte Expressivität, der rhetorische, epideiktische Gestus, Schlüsselwörter wie »heilig, Natur, fromm, hold, schön, golden, heiter, herrlich«, Komposita wie »ewigbang, allausgleichend, alliebend, allbelebend«. Die Bedeutung u. die Aufgabe von Dichtung werden in diesen Gedichten immer wieder reflektiert, z.B. in den Oden An die jungen Dichter, Die scheinheiligen Dichter, An unsre großen Dichter (alle 1798), Dichtermut (erste Fassung 1799/1800; zweite Fassung 1801), Dichterberuf (1800/1801). In Dichterberuf wird dem Dichter ein geschichtl. u. öffentl. »Beruf« zuerkannt. Er ist »des Tages Engel«, der die »Gesetze« u. »Leben« gibt, er ist der »Sänger des Volks« (Dichtermut). Klopstocks Dichterverständnis hat diese Rolle des Dichters als »Sänger« inspiriert. Im produktiven Jahr 1800 entstehen viele Oden als Umarbeitungen u. Erweiterungen von Oden der Frankfurter u. Homburger Zeit, z.B. Lebenslauf u. Der Abschied. Erweiterungen, Umarbeitungen, Überarbeitungen kennzeichnen H.s poetische Praxis, zumal seines Spätwerks. Sie werfen die Frage nach der Abgeschlossenheit des einzelnen Gedichts auf. (Methodisch geht davon die Edition der Werke H.s in der Frankfurter Ausgabe aus.) Die Oden Der Main (1798), Heidelberg u. Der Neckar sowie die Elegie Stuttgart (alle 1800) vergegenwärtigen heimatl. Schönheit als Bilder versöhnter Geschichte. In Orten, in Städten u. an Strömen werden die Einheit u. die Dissonanzen des Lebens in ihrem Zusammenhang dargestellt. Schon früh hat H. dem Umfangensein im Kleinen u. dem Ausgriff ins Große gleiche Bedeutung zugesprochen. Die 1800/1801 entstandenen Elegien Menons Klagen um Diotima, Der Wanderer, Der Gang aufs Land, Stuttgart, Brot und Wein u. Heimkunft sowie das lange hexametr. Gedicht Der Archipelagus bilden in ihrer Formensprache einen Übergang zu den Hymnen des Spätwerks. Hymnische, eleg. u. lehrhafte Elemente, Zukunftsvisionen u. Vergangenheitsdeutung durchdringen einander. Immer mehr exponiert sich der Dichter in der Rolle des Deuters
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u. Künders des weltgeschichtl. Gangs. In diesen Elegien u. in den späten Hymnen werden Geschichtsräume u. Geschichtszeiten vom Orient bis zum Abendland, zur unmittelbaren Heimat, bis zur neuen Welt Amerikas (Kolomb), entworfen u. gedeutet. Als Darstellungs- u. Vermittlungsmedium der Welt löst Dichtung Religion u. Philosophie ab: Der »Geist« der Götter »wehet« im »Liede« (Wie wenn am Feiertage ... 1799). Der Gang der Geschichte wird als »Zeichen« des »Gottes« oder des »Vaters« imaginiert, die Geschichte als Resultat subjektiven Handelns u. als »göttlich« verstandener natürl. u. histor. Prozesse begriffen. Als Erfüllung u. Überbietung wird das Abendland auf die griech. Antike bezogen. In der nachrevolutionären Gegenwart, die H. die allg. Verwirklichung der bürgerl. Freiheit u. die wechselseitige Ausbildung von Individualität u. Allgemeinheit versprach, soll sich die Verheißung antiker Humanität erfüllen. Ein Beispiel für die unorthodoxe, synkretistische Geschichtsdeutung H.s ist die Elegie Brot und Wein. In den Symbolen Brot u. Wein wird der Zusammenhang von Dionysos u. Christus, von Antike u. christl. Neuzeit gefasst. In »dürftiger Zeit« stellen Brot u. Wein »Zeichen« der Erinnerung u. der zukünftigen Erfüllung der Geschichte im Abendland dar. Als »Priester« haben die Dichter die Aufgabe, in der »Nacht« der verwirrten Zwischenzeit zu wirken, die deswegen »heilig« genannt wird, weil sie auch als Vorbereitungszeit wirkt. Aus dieser Nacht-Metapher leitet sich der Titel Nachtgesänge ab, mit dem H. neun Gedichte überschrieb, die 1802, nach der Rückkehr aus Frankreich, entstanden sind (Chiron, An die Hoffnung, Blödigkeit, Ganymed, Tränen, Vulkan, Hälfte des Lebens, Lebensalter, Der Winkel von Hardt). Es sind die letzten von ihm publizierten Gedichte. Vier von ihnen sind Umarbeitungen früherer Gedichte. 1801 u. 1802 entstanden die großen Hymnen Die Wanderung, Der Rhein, Germanien u. Friedensfeier. Unvollendet blieben die Hymnen Der Mutter Erde, Deutscher Gesang u. Am Quell der Donau. Ihnen folgten die Hymne Patmos (erste Fassung 1802, Reinschrift 1803, danach weitere Überarbeitungen), Andenken (1803), die zweite u. dritte Fassung von Der Einzige
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(erste Fassung 1801), Der Ister (1803), Mnemosyne (1803), die Entwürfe An die Madonna, Die Titanen (die vermutlich zusammengehören), Wenn aber die Himmlischen ... Diese Gedichte sind von unerhörter themat. u. formaler Kraft; sie begründeten H.s Ruhm u. Modernität im 20. Jh. Vorbereitet wurde die sprachl. Kühnheit dieser Gedichte durch H.s Übersetzung der Epinikien Pindars (1800). In der Magisterarbeit Geschichte der schönen Künste unter den Griechen wird Pindars Werk als das »Summum der Dichtkunst« gefeiert. Pindars Chorlyrik abgewonnen sind der triad. Strophenbau, die syntaktisch harten Fügungen, die unregelmäßigen, prosanahen, synkopierten Rhythmen, die Mischung von hohen u. niedrigen Sprachregistern, die Verbindung von pathet. Hymnik, sententiösen, narrativen u. alltagssprachl. Elementen. Kontextbrechungen erzeugen eine Verselbstständigung des einzelnen Worts, das »stehend und für sich selbst« wirken soll, »so dass die Sicherheit in diesem Sinne die höchste Art des Zeichens ist«. H. war sich bewusst, dass die Poetik dieser Hymnen Anstoß erregen musste. Der Friedensfeier, die einzeln publiziert werden sollte, setzte er die luth. Bemerkung voran: »Ich bitte, dieses Blatt nur gutmütig zu lesen. So wird es sicher nicht unfasslich, noch weniger anstößig sein. Sollten aber dennoch einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muss ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders.« Die neue Poetik dieser Hymnen ist jedoch auch der »vaterländischen« Welt verpflichtet. Mit »Vaterland« sind sowohl die vaterländ. dt. Geschichte als auch die gegenwärtige Epoche u. darüber hinaus die ganze Neuzeit gemeint, die »hesperische« Heimat. H.s Nationalismus ist, charakteristisch für das Nationalgefühl der Intellektuellen um 1800, ein kosmopolitischer, freiheitl. Nationalismus. Daher nennt H. diese Hymnen »vaterländische Gesänge« (an Friedrich Wilmans, Weihnachten 1803). »Vaterländisch« meint die Sprache dieser Gedichte u. den »Inhalt«, der »unmittelbar das Vaterland angehen soll oder die Zeit« (an Wilmans, 8.12.1803). Bewusst formuliert H. dieses Programm im Gegensatz zur Klassik Schillers u. Goethes, nur Klop-
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stock lässt er als Vorbild gelten: »ich denke, dass wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht kommentieren werden, sondern dass die Sangart überhaupt wird einen anderen Charakter nehmen und dass wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen« (Brief an Boehlendorff, Nov. 1802). Dichtung soll die Natur (»natürlich«), das Eigene (»eigentlich«) u. den Ursprung (»originell«) des Vaterlands darstellen. Der Rhein ist ein solches vaterländ. Gedicht. Der Lauf des »freigeborenen« Rheins symbolisiert den vaterländ. Geschichtsgang. Von seiner Geburt an treibt es ihn sehnsüchtig nach Asien, kämpft er gegen die Fesseln des Gebirges, bis der »Vater« ihn in den Westen lenkt, damit er ruhig u. nützlich werde. Wie in Der Ister (Donau) muss der vaterländ. Geschichtsgang Momente des Aufbruchs u. der festen Mäßigung integrieren. Das Gedicht apostrophiert Rousseau als Deuter der Geschichte, Sinclair, dem das Gedicht gewidmet ist, als Freund u. geschichtl. Handelnden. Die Erfüllung der vaterländ. Geschichte wird imaginiert als »Brautfest« der Menschen u. Götter. Doch dieser Ausgleich der Geschichte dauert nur »eine Weile« lang. Er wird sich wieder auflösen. Das Geschichtsmodell dieses Gedichts umfasst evolutionäre u. revolutionäre, fortschrittl. u. zykl. Momente. Die Hymne Friedensfeier (erst 1954 publiziert), entstanden aus den überschwängl. Hoffnungen nach dem Friedensschluss von Lunéville (1801), entwirft am »Abend« der Zeit eine Friedensfeier, in der die Geschichte zu sich selbst kommt. »Verklärt« tritt der als Künstler vorgestellte »Meister« der Geschichte aus seiner »Werkstatt«. Jetzt gilt nicht mehr Herrschaft, sondern nur »der Liebe Gesetz, / das schönausgleichende«. Die Enttäuschungen nach 1801, die Erfahrung des nachrevolutionären Frankreich, der ausbleibenden polit. Reformen in Deutschland, die Erfahrung einer elementaren Bedrohung des Bewusstseins durch die betäubende »Naturmacht«, die neuen Reflexionen über die Gleichheit u. die Unterschiede der modernen u. der griech. Epoche bilden den Horizont der Hymnen Der Einzige, Patmos,
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Andenken u. Mnemosyne. Diese Gedichte sind hermeneutische Gedichte, konzipiert als Deutung des Lebens u. der Weltgeschichte. Gegen die Schwermut, gegen die Sehnsucht ins »Ungebundene«, in die Auflösung des Bewusstseins insistieren sie auf der sinnstiftenden u. existenzwahrenden Bedeutung des »Bleibens«, der »Treue«, des »Andenkens«, der Erinnerung. Dichtung vermag als Bewusstsein eines Ganzen dies zu leisten. Mit der Aufforderung, dass »Bestehendes gut / gedeutet« werde, endet Patmos. Die Anspielung von »gedeutet« auf »deutsch« verweist auf das Programm der »vaterländischen Gesänge«. In der Geschichtsdeutung dieser Hymnen kommt Christus u. seinem Zusammenhang mit den antiken Göttern eine bes. Rolle zu. Er wird, schon in Brot und Wein, dem Ende der griech. Welt zugeordnet. Mit Herkules u. Dionysos bildet er ein »Kleeblatt« (Der Einzige). Während Herkules die antike Welt eröffnet, Dionysos den »Gemeingeist« vertritt, bildet Christus das Ende. In ihm endet die antike Welt u. beginnt die individualisierte Welt der Neuzeit. Darin ist er Antigone in H.s Deutung vergleichbar u. daher wird er der »Einzige« genannt. Nach der Rückkehr aus Frankreich arbeitete H. 1802/03 an den Übersetzungen der Tragödien des Sophokles Ödipus der Tyrann u. Antigone. In diesen – lange verkannten – Übersetzungen suchte H. den oriental. Ursprung der griech. Kultur herauszuarbeiten. Sie stellen zgl. Einübungen in seine vaterländ. »Sangart« dar. Die Anmerkungen zu den sophokleischen Tragödien fragen nach der immanenten »poetischen Logik« der Dramen u. interpretieren sie als polit. u. religiöse Tragödien eines geschichtl. Übergangs. Ergebnis dieser »vaterländischen Umkehr« ist eine »humane« Zeit (Antigone). Antigone u. Ödipus stellen tragische Figuren im Übergang von der antiken in die moderne, individualisierte, christl., bürgerl. Welt dar. Auf den Gang der Handlung, der den Menschen in die »exzentrische« Sphäre des Bewusstseinsverlusts reißt, antwortet das Kunstwerk mit der festen Struktur seiner »poetischen Logik«. Die »vaterländischen Formen« sind dazu da, den »Geist der Zeit verstehen zu lernen«, ihn »festzuhalten« u. zu »fühlen,
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wenn er einmal begriffen und gelernt ist«. Die Übertragung u. Kommentierung von neun Pindar-Fragmenten (1803? 1805?) konzentrieren sich auf das Verhältnis von Mensch u. Gott u. dasjenige der Menschen in der Gesellschaft u. der Geschichte. Im Kommentar zum Fragment Das Höchste wird als das »Gesetz« des Lebens die »strenge Mittelbarkeit« bezeichnet, der alles, der Gott u. der Mensch, unterworfen ist. Denn das »Unmittelbare [...] ist für die Sterblichen unmöglich wie für die Unsterblichen«. Diese Konzeption ist für H. insg. charakteristisch, sie wird aber jetzt entschieden verstärkt. Die sog. spätesten Gedichte wurden bis weit in das 20. Jh. als Werke eines Geisteskranken abgetan. In ihnen sucht H. die Sicherheit einer regelmäßigen Form; er übernimmt die Rolle eines Betrachtenden. Die Schönheit ihrer formelhaften, zeremoniellen poetischen Diktion wird erst in letzter Zeit gewürdigt. Ihre strophische u. syntakt. Form, ihre Reimstruktur, ihre Bilder brechen mit den poetischen Formen des früheren Werks, wahren aber doch Grundmotive u. Grundmetaphern. Die »Bilder« der Natur u. der Jahreszeiten, das Offene, der Geist, die Freude, der Frieden, die Beziehungen u. Begrenzungen des Menschen stellen ihre Themen dar, so in dem Gedicht An Zimmern (1812): »Die Linien des Lebens sind verschieden / Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen. / Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen / Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.« Den Zeitgenossen galt H. als einer der kleineren Vertreter der klassisch-romant. Literatur. Nur wenige erkannten den Rang seines zerstreut u. unvollständig erschienenen Werks. Die meisten Besprechungen waren negativ. Auf die romant. Generation, auf Brentano, seine Schwester Bettine, Achim von Arnim, Görres, Kerner, Schwab, Uhland, Wilhelm Waiblinger, den jungen Mörike, übte sein Spätwerk jedoch eine starke Faszination aus. H. wurde als der »arme«, wahnsinnig-geniale Dichter mythisiert. Brentano bezeichnete die erste Strophe von Brot und Wein, die 1807 u. d. T. Die Nacht erschienen war, als »eines der gelungensten Gedichte überhaupt« (an Philipp O. Runge, 21.1.1810).
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Mit dieser enthusiastischen Lektüre in Zirkeln der Romantik u. des Vormärz setzte zögernd die Wirkungsgeschichte H.s ein. 1822 wurde Hyperion (Stgt./Tüb.) wieder aufgelegt, Uhland u. Gustav Schwab gaben 1826 eine Ausgabe seiner Gedichte heraus (Gedichte von Friedrich Hölderlin. Stgt. 1826), eine zweite Ausgabe, zusammen mit dem Roman, dem Empedokles, Briefen u. einem Lebensabriss edierten Schwab u. sein Sohn Christoph (Friedrich Hölderlin’s sämmtliche Werke. 2 Bde., Tüb. 1846). Diese Ausgaben enthielten nur Teile von H.s Werk. Die großen Gedichte des Spätwerks wurden erst im 20. Jh. erkannt u. ediert. Mit Nietzsche begann eine kulturkrit. Rezeption H.s, welche die H.-Renaissance Anfang des 20. Jh. motivierte. Zumal im GeorgeKreis wurde H. als der »grosse seher für sein volk« (George) verkündet. Im Umkreis Georges entstand die erste wissenschaftl. Ausgabe der Werke H.s durch Norbert von Hellingrath (1913 ff.). Er sah in H.s Spätwerk den Beweis, »daß die Sage, echtes mythisches Denken, unter uns Spätgeborenen noch nicht erstorben ist«. Im Umkreis Georges verfasste auch Max Kommerell sein Buch Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928), in dem H. als »des Volkes Führer«, der »immer mehr Führer wird«, figuriert. Einflussreich für die internat. Rezeption H.s nach 1945 war Heideggers Deutung H.s als »Dichter des Dichters« (Hölderlin und das Wesen der Dichtung. 1937). Der Nationalsozialismus beutete den H.-Kult aus u. richtete H. als Verkünder einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft her. Die propagandistische Vereinnahmung H.s ermöglichte – in vorsichtiger Distanz zum nationalsozialistischen H.-Bild – 1943, zum 100. Todestag, eine neue historisch-krit. Ausgabe, die »Große Stuttgarter Ausgabe«, u. die Gründung der H.-Gesellschaft, die Einrichtung eines Archivs u. die Herausgabe eines Jahrbuchs (1943 ff.). Die Rezeption in der Nachkriegszeit ist gekennzeichnet durch produktive Auseinandersetzungen. H. fungiert in vielen Gedichten als Kontrast- u. Identifikationsfigur, z.B. in Eichs Gedicht Latrine (1948), Rühmkorfs Variation auf ›Gesang des Deutschen‹ von Friedrich Hölderlin (1962), Bobrowskis Hölderlin in Tü-
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bingen (1962), Celans Tübingen, Jänner (1962), Meisters Neulich in Tübingen (1969), Laschens ... haben die Rede unterbrochen (1983). Die Figur des an der dt. Gesellschaft leidenden u. zerbrechenden Dichters bildet ein Rezeptions- u. Identifikationsmuster bis in die 1980er Jahre, sowohl in der BR Deutschland als auch in der DDR, beispielhaft in Biermanns Das HölderlinLied (1972). Die Betonung der – verdrängten – polit. Dimension von H.s Werk führte Ende der 1960er Jahre zu neuen, intensiven Auseinandersetzungen. Diesen polit. H. stellt auch das Drama Hölderlin (1971) von Peter Weiss heraus. Von großer Wirkung für das neue H.-Bild war Peter Härtlings Hölderlin. Ein Roman (1976). Wie kaum ein anderer Autor wurde H. in der Musik der Moderne vertont (Hindemith, Henze, Rihm, Nono, Ligeti, Kurtág, Killmayer u. a.). Der bis in die Feuilletons geführte Streit um die Edition zumal der schwer lesbaren Handschriften des Spätwerks, entfacht durch die krit. Wendung der »Frankfurter Ausgabe« (1975 ff.) gegen die »Stuttgarter Ausgabe«, hält bis heute an. Ausgaben: Sämtl. Werke. Große Stuttgarter H.Ausg. Hg. Friedrich Beißner, Adolf Beck u. Ute Oelmann. 8 Bde., Stgt. 1943–85. – Sämtl. Werke. Frankfurter Ausg. Hg. Dietrich E. Sattler. 20 Bde. u. 3 Suppl., Ffm. 1975–2008. – Sämtl. Werke u. Briefe. Hg. Jochen Schmidt. 3 Bde., Ffm 1992–94. – Sämtl. Werke u. Briefe. Hg. Michael Knaupp. 3 Bde., Mchn. 1992/93. – Teilausgaben: F. H. ›Bevestigter Gesang‹. Die neu zu entdeckende Spätdichtung bis 1806. Hg. Dietrich Uffhausen. Stgt. 1989. – J. C. F. H.: Theoret. Schr.en. Hg. Johann Kreuzer. Hbg. 1998. – F. H. Gedichte. Hg. Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Braungart. Stgt. 2000. Literatur: Bibliografie: Internat. H.-Bibliogr. Hg. H.-Archiv der Württ. Landesbibl. Stgt. 1985 ff., seit 2001 Internat. H.-Bibliogr. online (www. stala.bwl.de/hoelderlin). – Weitere Titel: Norbert v. Hellingrath: Pindarübertragungen v. H. Jena 1911. – Lothar Kempter: H. u. die Mythologie. Zürich/ Lpz. 1924. – Günter Zuntz: Über H.s Pindar-Übers. Marb. 1928. – F. Beißner: H.s Übers.en aus dem Griech. Stgt. 1933. 21961. – Lawrence J. Ryan: H.s Lehre vom Wechsel der Töne. Stgt. 1960. – F. Beißner: H. Reden u. Aufsätze. Weimar 1961. – Ulrich Gaier: Der gesetzl. Kalkül. H.s Dichtungslehre. Tüb. 1962. – Werner Kirchner: Der Hochverratsprozeß gegen Sinclair. Ffm. 1969. – Pierre Bertaux: H. u. die Frz. Revolution. Ffm. 1969. –
Hölderlin Jochen Schmidt: H.s letzte Hymnen. Tüb. 1970. – A. Beck u. Paul Raabe: H. Eine Chronik in Text u. Bild. Ffm. 1970. – Peter Szondi: H.-Studien. Ffm. 1970. – Wolfgang Binder: H.-Aufsätze. Ffm. 1970. – Willfried Thürmer: Zur poet. Verfahrensweise in der spätesten Lyrik H.s. Marb. 1970. – Dieter Henrich: Hegel im Kontext. Ffm. 1971. – Gerhard Kurz: Mittelbarkeit u. Vereinigung. Zum Verhältnis v. Poesie, Reflexion u. Revolution bei H. Stgt. 1975. – Robin B. Harrison: H. and Greek Literature. Oxford 1975. – Friedrich Strack: Ästhetik u. Freiheit. H.s Idee v. Schönheit, Sittlichkeit u. Gesch. in der Frühzeit. Tüb. 1976. – Roman Jakobson: H. Klee. Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte. Ffm. 1976. – Jochen Schmidt: H.s später Widerruf in den Oden ›Chiron‹, ›Blödigkeit‹ u. ›Ganymed‹. Tüb. 1978. – Günter Mieth: F. H. Bln./DDR 1978. – Martin Heidegger: Erläuterungen zu H.s Dichtung. In: Gesamtausg., Abt. 1, Bd. 4, Ffm. 1981. – A. Beck: H.s Weg zu Dtschld. Stgt. 1982. – Rolf Zuberbühler: Die Sprache des Herzens. H.s Widmungsdichtung. Gött. 1982. – Albrecht Seifert: Untersuchungen zu H.s Pindar-Rezeption. Mchn. 1982. – Rainer Nägele: Text. Gesch. u. Subjektivität in H.s Dichtung [...]. Stgt. 1985. – Christoph Jamme: Ein ungelehrtes Buch. Die philosoph. Gemeinschaft zwischen H. u. Hegel in Frankfurt 1797–1800. Bonn 21985. – D. Henrich: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen u. Gedanken zu H.s Gedicht. Stgt. 1986. – W. Binder: F. H. Hg. Elisabeth Binder u. Klaus Weimar. Ffm. 1987. – Bernhard Böschenstein: ›Frucht des Gewitters‹. H.s Dionysos als Gott der Revolution. Ffm. 1989. – Jochen Schmidt: H.s geschichtsphilosoph. Hymnen ›Friedensfeier‹, ›Der Einzige‹, ›Patmos‹. Darmst. 1990. – Henning Bothe: ›Ein Zeichen sind wir, deutungslos‹. Die Rezeption H.s v. ihren Anfängen bis zu Stefan George. Stgt. 1992. – Sabine Doering: Aber was ist diß? Formen u. Funktionen der Frage in H.s dichter. Werk. Gött. 1992. – D. Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu H.s Denken (1794–1795). Stgt. 1992. – Werner Volke, Bruno Pieger, Nils Kahlefeld u. Dieter Burdorf: H. entdecken. Lesarten 1826–1993. Tüb. 1993. – U. Gaier: H. Eine Einf. Tüb./Basel 1993. – D. Burdorf: H.s späte Gedichtfragmente: ›Unendlicher Deutung voll‹. Stgt./Weimar 1993. – Peter Härtling u. G. Kurz (Hg.): H. u. Nürtingen. Stgt./Weimar 1994. – Uwe Beyer (Hg.): Neue Wege zu H. Würzb. 1994. – U. Gaier, Valérie Lawitschka, Stefan Metzger, Wolfgang Rapp u. Violetta Waibel: H. Texturen. Tüb. 1995 ff. – G. Kurz, V. Lawitschka u. Jürgen Wertheimer (Hg.): H. u. die Moderne. Tüb. 1995. – Theresia Birkenhauer: Legende u. Dichtung. Der Tod des Philosophen u. H.s Empedokles. Bln. 1996. – Gunter Martens: F. H. Reinb. 1996. – G. Kurz
Höllefeuer (Hg.): Interpr.en. Gedichte v. F. H. Stgt. 1996. – Ulrich Port: ›Die Schönheit der Natur erbeuten‹. Problemgeschichtl. Untersuchungen zum ästhet. Modell v. H.s ›Hyperion‹. Würzb. 1996. – Helmut Hühn: Mnemosyne. Zeit u. Erinnerung in H.s Denken. Stgt./Weimar 1997. – Martin Vöhler: ›Danken möcht’ ich, aber wofür?‹ Zu Tradition u. Komposition v. H.s Hymnik. Mchn. 1997. – Charlie Louth: H. and the Dynamics of Translation. Oxford 1998. – Anke Bennholdt-Thomsen u. Alfredo Guzzoni: Analecta Hölderliana. 3 Bde., Würzb. 1999–2007. – Jürgen Link: H.-Rousseau: Inventive Rückkehr. Opladen/Wiesb. 1999. – Alexander Honold: Nach Olympia. H. u. die Erfindung der Antike. Bln. 2002. – Johann Kreuzer (Hg.): H.-Hdb. Leben – Werk – Wirkung. Stgt/Weimar 2002. – Thomas Roberg (Hg.): F. H. Darmst. 2003. – C. Jamme u. Frank Völkel (Hg.): H. u. der dt. Idealismus. 4 Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 2003. – Michael Franz u. Wilhelm G. Jacobs (Hg.): ›... so hat mir / Das Kloster etwas genüzet‹. H.s u. Schellings Schulbildung in der Nürtinger Lateinschule u. den württemberg. Klosterschulen. Eggingen 2004. – C. Jamme u. Anja Lemke (Hg.): ›Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes‹. Zur späten Hymnik u. Tragödientheorie F. H.s. Mchn. 2004. – M. Franz (Hg.): ›... im Reiche des Wissens cavalieremente‹? H.s, Hegels u. Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen. Eggingen 2005. – A. Honold: H.s Kalender. Astronomie u. Revolution um 1800. Bln. 2005. – Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über H.’s Poetik. Ffm. 2005. – Gideon Stiening: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in F. H.s Briefroman ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹. Tüb. 2005. – Christian Oestersandfort: Immanente Poetik u. poet. Diätetik in H.s Turmdichtung. Tüb. 2006. – B. Böschenstein: Von Morgen nach Abend. Filiationen der Dichtung von H. zu Celan. Mchn. 2006. – Jürg Friedrich: Dichtung als ›Gesang‹. H.s ›Wie wenn am Feiertage ...‹ im Kontext der Schriften zur Philosophie u. Poetik 1795–1802. Paderb./Mchn. 2007. – Michael Luhnen: Organisation der Natur. Zur Verbindung v. Naturerkenntnis, Erinnerungstheorie u. ästhet. Experiment in H.s philosoph. Fragment ›Das untergehende Vaterland‹. Heidelb. 2007. – Günter Mieth: F. H. Zeit u. Schicksal. Würzb. 2007. – Uta Degner: Bilder im Wechsel der Töne. H.s Elegien u. ›Nachtgesänge‹. Heidelb. 2008. – V. Lawitschka (Hg.): H.: Sprache u. Raum. Tüb. 2008. Gerhard Kurz
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Höllefeuer. – Sangspruchdichter aus der 2. Hälfte des 13. Jh. Allein die Jenaer Liederhandschrift (J, um 1330) überliefert unter der Corpusüberschrift »Der Hellevivr»« sieben Strophen gleichen Tons. Der Überlieferungszusammenhang lässt mehr noch als die Reimsprache eine Zuordnung in den mitteldt. Raum möglich erscheinen, wie man sie auch bei anderen Unica in J annimmt. Rumelant von Sachsen führt H. in einem Spruch gegen den Kollegen Singauf (VIII, 3) unter den Meistern, die noch leben (Meißner, Konrad von Würzburg, Der Unverzagte). Konrad von Würzburg starb 1287. Da H. selbst den Zustand des Reiches nach dem Ableben Friedrichs II. (1250) und Konrads IV. (1254) beklagt (I, 3) und das Interregnum bis 1273 andauerte, lässt sich sein Schaffen zeitlich relativ gut eingrenzen. Der oberdt. Franziskanerprediger Berthold von Regensburg (gest. 1272) scheint wenigstens den Namen H. gehört zu haben (Predigt X). Obwohl ein umfangreicheres Œuvre H.s also nicht auszuschließen ist, muss sich jede Einordnung mit der J-Überlieferung begnügen. H. bearbeitete die seinem Publikum geläufigen Themen: Tugend- u. Lasterlehre (I, 5: über den ungetreuen Freund), Zeitklage (I, 3.4) u., mit beidem verbunden, das betrübl. Schicksal des Dichters (I, 6.7). In seiner das Corpus u. wahrscheinlich auch den Vortrag eröffnenden Tonweihe (I, 1) reflektiert H. die stellvertretende Erlösungstat Christi u. mahnt seine Hörer zu dessen Verehrung. Eine Strophe über die Bedeutung des Grußes für den Gast (I, 2) changiert zwischen allg. Tugendlehre u. konkreter Aufforderung an den Gönner. Wie seine Kollegen echauffiert sich H. über das von Bestechung u. Missgunst geprägte Wahlverhalten der Fürsten nach dem Ende der Staufer; nun liege das Reich in Armut (I, 4). »aremuot« lässt auch den mittellosen Sänger ergrauen, worüber er in minnesängerischer Diktion beredte Klage führt (1, 6). Die respektlose Haltung der Herren bewirkt, dass er ihnen sein Lob vorenthalten muss (I, 7). Mehrstrophigkeit, wie Tervooren sie aus I, 1.1 ableitet, erscheint auch unter themat. Aspekt möglich (etwa I, 3.4; I, 6.7).
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Nur ein einziger Ton H.s ist überkommen, ein relativ breit ausladendes zehnzeiliges Gebilde mit Stegverdoppelung. Allerdings gibt es signifikante Übereinstimmungen mit Fegfeuers Ton I (doch andere Melodie!). Das Verhältnis, mithin die Chronologie der beiden harrt weiterhin der Klärung. Ausgaben: Esther Collmann-Weiß: Kleinere Spruchdichter des dreizehnten Jh. Stgt. 2005, S. 83–99 (zit.). – Georg Holz, Franz Saran u. Eduard Bernoulli (Hg.): Die Jenaer Liederhs. I. Lpz. 1901, S. 56–58. Literatur: Wolfgang v. Wangenheim: Das Basler Fragment einer mitteldt.-niederdt. Liederhs. u. sein Spruchdichter-Repertoire (Kelin, Fegfeuer). Ffm. 1972, S. 152–154. – Erdmute Pickerodt-Uthleb: Die Jenaer Liederhs. Göpp. 1975, S. 390 f., 439. – Udo Gerdes: Fegfeuer. In: VL. – Helmut Lomnitzer: H. In: VL. – RSM. – Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Innovation. Tüb. 1993, S. 154 f. – Helmut Tervooren: Sangspruchdichtung. Stgt. 1995. Christoph Fasbender
Höllerer, Walter (Friedrich), auch: Friedrich Handt, * 19.12.1922 Sulzbach (heute Sulzbach-Rosenberg/Oberpfalz), † 20.5. 2003 Berlin; Grabstätte: ebd., Waldfriedhod Heerstraße. – Literaturwissenschaftler, Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Essayist. Nach der Teilnahme am Zweiten Weltkrieg studierte H., Sohn eines Lehrers, zuerst Theologie, dann Philosophie, Geschichte, Germanistik u. Vergleichende Literaturwissenschaft in Erlangen, Göttingen u. Heidelberg. 1949 promovierte er mit einer Studie über Gottfried Keller, habilitierte sich 1956 mit der Untersuchung Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit (Stgt. 1958. Neuausg. Köln 2005) in Frankfurt/M., wo er bis 1959 Privatdozent für dt. Literatur war; 1959–1987 lehrte H. als Ordinarius für Literaturwissenschaft an der TU Berlin. 1954–59 war er zudem als freier Berater u. Außenlektor für den Suhrkamp Verlag tätig u. gab seit 1958 (anfangs zusammen mit Kurt May, dessen Assistent er seit 1956 war) die wissenschaftl. Buchreihe Literatur als Kunst im Hanser Verlag heraus. Seit 1965 war H. mit der Fotografin Renate von Mangoldt verheiratet.
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1954–1967 gab H. (zusammen mit Hans Bender) »Akzente. Zeitschrift für Dichtung« heraus; seit 1961 war er (ab 1973 zusammen mit Norbert Miller, seit 1991 zusätzlich mit Joachim Sartorius) Herausgeber von »Sprache im technischen Zeitalter«, einer Zeitschrift, mit der er ein literaturwissenschaftlich u. literarisch orientiertes Forum schuf, in dem der Gebrauch u. der Widerstand der Sprache des durch die Technik beeinflussten Jahrhunderts diskutiert werden. Wegweisend für die Literatur der Nachkriegszeit war die von H. herausgegebene u. mit Randnotizen versehene Anthologie Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte (Ffm. 1956). Nach dem »Kahlschlag« dokumentierte u. propagierte sie die Spurensuche der neuen Lyrik. Stets war H. auch als Organisator tätig. So gründete er 1963 (mit Unterstützung der Ford Foundation) das Literarische Colloquium Berlin, 1965 das Institut für Sprache im technischen Zeitalter, 1977 das Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Er pflegte intensive Beziehungen u. a. zu Günter Eich, Paul Celan, Ingeborg Bachmann u. bes. zu Günter Grass, der auch Autor des ersten u. fünften Bandes der 1968 gegründeten »LCB-Editionen« war. Literarisch debütierte H., der als Kritiker u. Autor seit 1954 an den Tagungen der Gruppe 47 teilnahm, mit dem 1952 in München erschienenen Gedichtband Der andere Gast (Neuaufl. Mchn. 1964. Mchn. 2000), in dem – von Georg Britting beeinflusst – Naturmagie, Kriegserfahrungen u. Sprachreflexion in prägnanten Rhythmen kontrastieren. In einem poetolog. Entwurf vom März 1953 mit dem Titel Bewahren und Aufbruch, der sich im Nachlass erhalten hat, heißt es: »Wir gehen weiter. Wir blicken zurück, aber nur, um weiterzugehen. Wir empfinden die mancherlei Wirklichkeiten als den Rhythmus, der uns trägt. [...] So weit können wir gerade noch gehen: an der Grenze das Andere, Ferne ahnbar zu machen, ohne das Nächste zu verlieren. [...] Die Worte darnach auszuschicken.« In den Gedichten der 1960er Jahre (Gedichte. Wie entsteht ein Gedicht. Ffm. 1964. 2 1968. Systeme. Neue Gedichte. Bln. 1969) dominieren perspektivenreiche, an der amerikan. Lyrik – v. a. der der »beat generation« –
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angelehnte »lange Gedichte«, für die H. auch in theoret. Schriften eintrat. In dem Roman Die Elephantenuhr (Ffm. 1973. Gekürzte Taschenbuchausg. Ffm. 1975) schildert H. den Versuch des Museumsangestellten u. Semiologen Gustaf Lorch, eine Ausstellung über das Verhältnis von Sprache u. Zeichen vorzubereiten. Als Lorchs Unternehmen vereitelt wird, sprengt er das Schillermonument u. einen begonnenen Betontrakt des Museums. In der 1978 (Ffm.) veröffentlichten u. 1982 uraufgeführten Komödie Alle Vögel alle steht ein aktueller Stoff im Vordergrund: Dem Plan, Island zu einer Tourismusattraktion zu machen, setzt H. die fantastische Welt eines im Traumzustand sich wandelnden Touristikunternehmers entgegen. H. verwendet vielfältige sprachl. Mittel, die vom Pop-Song bis zum umgangssprachl. Slogan reichen. Eine 1987 u. d. T. Walter Höllerers oberpfälzische Weltei-Erkundungen (Weiden) erschienene Sammlung, herausgegeben von Werner Gotzmann, vereint Vorträge, Aufsätze, Essays u. Erzählungen. Sie dokumentiert in einem Querschnitt durch sein Werk H.s Wiederentdeckung der Utopie vom Weltei im Zusammenhang mit einer Neuentdeckung der Provinz als heimatl. Lebensraum u. sein Engagement für die Probleme der Umwelt u. der Gesellschaft. H. erhielt u. a. 1966 den Berliner Kunstpreis für Literatur (Fontane-Preis), 1975 den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, u. 1993 den Horst-Bienek-Preis für Lyrik der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (zusammen mit Robert Creeley). Er war seit 1959 Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, seit 1961 der Akademie der Künste in Berlin u. 1966–68 dort Stellvertretender Direktor der Abteilung Literatur. Weitere Werke: Thesen zum langen Gedicht. In: Akzente 12 (1965), H. 2, S. 128–130. – Außerhalb der Saison. Hopfengärten in drei Gedichten u. neunzehn Fotos (zus. mit Renate v. Mangoldt). Bln. 1967. – Berlin. Übern Damm u. durch die Dörfer. Mit 382 Fotografien v. Renate v. Mangoldt. Zwölf Ess.s v. W. H. Bln. 1977. 21978. – Gedichte 1942–1982. Ffm. 1982. – Zurufe, Widerspiele.
492 Aufsätze zu Dichtern u. Gedichten. Hg. Michael Krüger, Norbert Miller u. Siegfried Unseld. Bln. 1992. – Herausgeber: Movens. Dokumente u. Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur. In Zusammenarbeit mit W. H. u. Manfred de la Motte hg. v. Franz Mon. Wiesb. 1960. – Spiele in einem Akt. 35 exemplar. Stücke (zus. mit Marianne Heyland u. N. Miller). Ffm. 1961. – Junge amerikan. Lyrik (zus. mit Gregory Corso). Mchn. 1961. U. d. T. Lyrik der Beat Generation. Mchn. 1985. – (Pseud. Friedrich Handt:) Deutsch – Gefrorene Sprache in einem gefrorenen Land. Polemik, Analysen, Aufsätze. Bln. 1964. – Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik. Reinb. 1965. Aktualisierte u. um einen zweiten Tl. erg. Ausg. hg. v. N. Miller u. Harald Hartung. 2 Bde., Mchn. 2003. – Ein Gedicht u. sein Autor. Bln. 1967. – Das literar. Profil v. Rom (zus. mit Gerald Bisinger). Bln. 1970. – Autoren im Haus. Zwanzig Jahre Literar. Colloquium Berlin (zus. mit G. Bisinger u. a.). Bln. 1982. – Briefe: Max Frisch: Dramaturgisches. Ein Briefw. mit W. H. Bln. 1969. – Gespräche: Manfred Durzak: Wir leben in einer unüberblickbaren Welt. Gespräch mit W. H. In: Ders.: Gespräche über den Roman. Ffm. 1976, S. 482–511. – Porträt W. H. Ein Gespräch mit Ruth Lorbe. In: GQ 59 (1986), 1, S. 85–102. Literatur: Bibliografie: Wilfried Ihrig: Bibliogr. zu W. H. In: W. H.: Zurufe, Widerspiele, a. a. O., S. 345–355. – Weitere Titel: Ruth Lorbe: Wechselseitige Erhellung der Künste im Deutschunterricht. In: DU (1955), H. 4, S. 20–47 (zu: ›Der andere Gast‹). – M. Durzak: Der Roman als offenes System. W. H.s ›Elephantenuhr‹. In: Ders.: Gespräche über den Roman, a. a. O., S. 512–528. – Detlef Krumme: Lesemodelle. Elias Canetti – Günter Graß – W. H. Mchn./Wien 1983, S. 143–187, 207–211 (zu: ›Die Elephantenuhr‹). – Irmgard Elsner Hunt: Utopia ist oval, oder: Weltei gegen Denkmal – Der utop. Gedanke im Werk v. W. H. In: GR 63 (1988), 3, S. 140–146. – W. H. zu Ehren. Bln. 1994. – Lit. der Gegenwart im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Begleitbuch zu Ausstellung u. Archivbestand. Hg. Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg e.V. Konzeption u. Red.: Barbara Baumann-Eisenack u. Patricia Preuß. Sulzbach-Rosenberg o. J. [1996]. – Jutta Unger u. Deborah Huf-Rezvani: Maria Mathi, ›Kaspar [Hauser]‹ (1927), W. H., ›Gaspard‹ (1955). In: ›Warum fliegen da lauter so schwarze Würmer herum?‹ Das Kaspar-Hauser-Syndrom in Lit. u. Film, Forsch. u. Lehre. Hg. Jutta Schlich. Würzb. 1999, S. 87–118. – B. Baumann-Eisenack: W. H. Zu seinen Gedichten u. seiner Lyrik-Anthologie ›Transit‹. Sulzbach-Rosenberg 2002. – P. Preuß: Ingeborg Bachmann. Zu ihren Ess.s, Gedichten u.
493 Briefen an den ›Akzente‹-Herausgeber W. H. Sulzbach-Rosenberg 2002. – IGL. – B. Baumann-Eisenack: W. H. In: KLG. – Helmut Böttiger, unter Mitarbeit v. Lutz Dittrich: Elefantenrunden. W. H. u. die Erfindung des Literaturbetriebs. Ausstellungsbuch. Bln. 2005. – Michael Kämper-van den Boogaart: ›Und einmal muß es gesagt werden ...‹. Der Autor u. Germanist W. H. im Dienste der Gruppe 47. Ein Vorfall aus dem Jahr 1966. In: ZfG N. F. 17 (2007), H. 1, S. 108–127. – Roland Berbig u. Alexander Krüger: Ein Novum unter der Ägis eines Lehrstuhlinhabers. W. H. im Jahr 1959. In: Berliner H.e zur Gesch. des literar. Lebens 8 (2008), S. 89–99. Lutz Zimmermann / Bruno Jahn
Hölmann, Christian, auch: C. H., * 28.12. 1677 Breslau, † 28.1.1744 Breslau; Grabstätte: ebd., St.-Maria-Magdalena-Kirche. – Arzt, Lyriker u. Herausgeber.
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Von 1714 bis kurz vor seinem Tod lebte er als angesehener Arzt in Lissa. Sein Briefwechsel mit Dr. Johann Georg Kulmus, Vater von Louise Adelgunde Gottsched, ist von bes. Interesse. Weitere Werke: Galante Gedichte. Mit Christoph G. Burgharts Gedichten. Hg. Franz Heiduk. Mchn. 1969. – Briefe: [Johann Kanold:] Einiger Medicorum Schreiben, von der in Preussen An. 1708. in Dantzig An. 1709. in Rosenberg An. 1708. u. in Fraustadt An. 1709. grassireten Pest [...]. Breslau 1711. 21713. Literatur: Walter Dimter: Zwei schles. Dichter der Galanten Zeit identifiziert. C. H. u. Christoph G. Burghart. In: Schlesien 14 (1969), S. 196–200. – F. Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern/ Mchn. 1971. – Ders.: C. H. In: NDB. – Angelo George de Capua: The onslaught of old age. A comparison of poems by Hoffmannswaldau and C. H. In: Rezeption u. Produktion zwischen 1570 bis 1730. FS Günther Weydt. Hg. Wolfdietrich Rasch u. a. Bern/Mchn. 1972, S. 473–480. – Dieter Lohmeier: Eine zeitgenöss. Äußerung über C. H. In: WBN 6 (1979), S. 342. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd./Atlanta 1994, S. 426 f. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 4/2, Tüb. 2006 (Register).
H. besuchte als Stipendiat bis 1699 das Magdalenen-Gymnasium in Breslau u. studierte dann ab dem 16. Mai dieses Jahres Medizin an der Universität Wittenberg. Hier schloss er Freundschaft mit Christoph Gottehr Burghart u. gehörte wohl zu einer »Deutschen Gesellschaft«. Auch seine Kommilitonen MiErika A. Metzger / Red. chael Richey, Barthold Feind u. Ephraim Gerhard zählten zu seinem Freundeskreis. Hölty, Ludwig Christoph Heinrich, H. edierte 1704 u. 1705 die Erstausgabe der * 21.12.1748 Mariensee bei Hannover, Teile IV u. V der Neukirch’schen Sammlung † 1.9.1776 Hannover. – Lyriker. bei Gotthilff Lehmann in Glückstadt. Zum ersten Mal tauchte dabei im Titel des vierten H.s Bildungsgang war für einen Pfarrerssohn Teils die Bezeichnung »andrer Schlesier« auf, seiner Generation naheliegend: Gymnasium die bei der sofort folgenden Neuauflage wie- in Celle, 1769–1772 Theologiestudium in der zu dem urspr. »andrer Deutschen« ver- Göttingen, daneben philolog. u. histor. Wisändert wurde. senschaften. Generationstypisch ist auch die Beide Bände sowie Teil VI (1709) enthalten Abkehr vom theolog. Brotberuf zugunsten zahlreiche Gedichte von H., galante u. ver- der Literatur, die er seinem Vater gegenüber liebte Lyrik, Arien, Schäfer-, Hochzeit-, Be- mit einer wieder ausgebrochenen Tuberkugräbnis- u. Sinngedichte. Realistisches Beob- lose begründete. Der Brief erreichte den Vaachtungsvermögen, witzige Pointen u. spie- ter, der an derselben Krankheit starb, nicht lerische Galanterie zeichnen die Verse aus. mehr. H. blieb in Göttingen, bestritt seinen Einige Texte, z.B. die Grabschrift Eines uner- Lebensunterhalt durch Sprachunterricht u. fahrenen Artztes u. das »Sinn-Gedicht« Der Übersetzungen aus dem Englischen, GrieArtzt im vierten Band, spielen auf H.s medi- chischen u. Italienischen u. widmete sich zinische Tätigkeit an, die ihm bald immer weiter der Poesie. 1770 hatte er sich mit weniger Zeit zum Schreiben ließ. Vermutlich Proben in Rokokomanier u. einem religiösen ließ sich H. 1704 als Arzt zunächst in Breslau Hymnus um Aufnahme in die Göttinger nieder, später in Rosenberg u. in der Nähe Deutsche Gesellschaft beworben, der schon von Fraustadt. Unermüdlich kämpfte er ge- sein Vater angehört hatte. Sein erstes gegen die Pest, die er zweimal selbst überlebte. drucktes Gedicht ist ein konventionelles
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Trauerpoem Auf den Tod Sr. Exzellenz des Herrn Premierministers Gerlach Adolph von Münchhausen, des Mitbegründers der Göttinger Universität. Den eigenen Ton fand H. im Kreis der jungen Poeten u. Literaturliebhaber um Boie u. dessen Göttinger »Musen-Almanach«, die sich am 12.9.1772 feierlich in einer Mondnacht zum Göttinger Hainbund zusammenschlossen. Klopstock war das große Vorbild der jungen Dichter, die das Kostüm seiner germanisch-bard. Mythologie übernahmen u. sich anfangs spielerisch Bardennamen gaben. (H. hieß »Haining«). Sie unterwarfen ihre Gedichte der Gruppenkritik u. spielten mit den Möglichkeiten kollektiver Autorschaft, wobei H., die größte dichterische Begabung des Bunds, die Kritik der Freunde begrüßte, seine unbedingten Autorambitionen für seine ernste, zur Veröffentlichung bestimmte Dichtung aber dennoch nicht preisgab. Mit den Freunden unternahm H., der als menschenscheu, linkisch u. nachlässig gekleidet geschildert wird, Ausflüge in die Umgebung, wo man in Dorfgasthöfen u. -gärten Klopstocks Oden u. Ewald von Kleists Frühling las. 1774 lernte er bei dem Konrektor Johann Konrad von Einem in Münden dessen 18-jährige Tochter (»das kleine Entzücken«) kennen; es entwickelten sich eine harmlose Freundschaft u. ein kurzer Briefwechsel. Charlotte von Einem schildert den von Kindheit an blatternarbigen Poeten in ihren Erinnerungen: Bei ihm habe »in dem allerhässlichsten Körper die schönste Engelseele« gewohnt. Der Bund löste sich 1774 mit dem Weggang der meisten Freunde aus Göttingen auf; H. kehrte ins Elternhaus nach Mariensee zurück. Der Ausbruch seiner Tuberkulose 1775 vereitelte den Plan, nach Wandsbek zu ziehen u. in der Nähe von Voß u. Claudius zu leben u. zu arbeiten. Die von dem kgl. Leibarzt Johann Georg Zimmermann in Hannover verordneten Molken- u. Brunnenkuren halfen nicht. Außer zu einer kurzen Reise mit Johann Martin Miller nach Leipzig, wo mit dem Verleger Weygand Übersetzungen verabredet wurden, u. einem Besuch bei Voß in Hamburg im Juli 1775, der auch ein Zusammentreffen mit Klopstock u. Claudius brachte, hat
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H. seine engere Heimat nicht mehr verlassen. Er starb mit 27 Jahren. H.s Lyrik erschien zuerst verstreut in Zeitungen u. Musenalmanachen der Freunde, insbes. im »Göttinger« u. »Vossischen Musenalmanach«. Als der Raubdrucker Adam Friedrich Geisler 1782 eine Ausgabe ankündigte, brachten Voß u. Friedrich Leopold Stolberg 1783 aus H.s Nachlass eine eigene Sammlung heraus, mit Änderungen von Voß. In der erweiterten Ausgabe von 1804 sind die Eingriffe noch gravierender. Nachdem Karl Halm 1869 die Gedichte nach den Drucken ediert hatte (problematisch, weil Eigenes u. Bearbeitungen anderer nicht zu trennen waren), legte Wilhelm Michael 1914/18 eine historisch-krit. Ausgabe nach den Handschriften vor. Sie wurde 1998 durch die Kritische Studienausgabe von Walter Hettche überholt; allerdings stießen dessen Annahme einer durchgehend gemeinschaftl. Erarbeitung der Gedichte u. die darauf beruhende Entscheidung, alle Fassungen als eigenständige u. gleichwertige »Variationen« zu drucken, auf Widerspruch. H.s überschaubares Werk (nach Michaels Zählung 134 Gedichte) zeigt bemerkenswerte Formenvielfalt u. sprachl. Virtuosität. Er experimentierte mit allen mögl. lyr. Gattungen. Am Anfang stehen anakreont. Verse, Idyllen, Nachdichtungen aus dem Englischen, Elegien u. Romanzen in der Nachfolge Gleims u. unter dem Eindruck von Percy’s Reliques of Ancient English Poetry (1765). In den Romanzen, die klass. mytholog. Stoffe (Hero u. Leander, Apoll u. Daphne) u. volkstüml. Überlieferungen (angeregt durch Herder) aufgreifen, zeigt sich eine ausgeprägte parodistische Ader, wobei H. zwischen Komik u. der Absicht zu rühren, zwischen dem Ton der ernsten Schauerballade, ihrer Darstellung leidenschaftl. Gefühle (Übergang zum Sturm und Drang) u. humoristischem Umgang mit der Bänkelsängerfiktion schwankt. Gelungene Beispiele sind Adelstan und Röschen, Die Nonne, Töffel und Käthe (1773), das erste dt. Gedicht mit der Gattungsbezeichnung »Ballade«. H. gab die Balladen- u. Romanzenform auf, vielleicht unter dem Eindruck der Konkurrenz Bürgers, der ihn mit seiner Lenore (1773) auszustechen suchte, v. a. aber weil der
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ironische »Balladensänger«-Gestus seinem Selbstanspruch nicht genügte. Auch die Versuche im mittelalterl. Kostüm (Zitate aus dem gerade wiederentdeckten Minnesang) im selben Jahr blieben Episode. Ein großes »Romantisches Gedicht aus der Zeit der Kreuzzüge«, das H. nach Millers Bericht plante, wurde nicht geschrieben. H.s eigentliche, für die Geschichte der Lyrik folgenreiche Leistung ist seine individuelle Aneignung u. Weiterentwicklung der Klopstock-Sprache in antiken Formen wie Ode, Elegie u. Idylle. Hier entwickelte er seinen unverwechselbaren lyr. Stil. Nach einigen enthusiastischen Freundschaftsoden mit vaterländ. Pathos, erwachsen aus dem Bundeszusammenhang (Bundsgesang; An Hahn; auch Gedichte wie Vaterlandslied oder Lied eines befreiten Türkensklaven) fand er zu der für ihn charakteristischen eleg. Ode. H. stimmte den hohen Ton Klopstocks herab ins Liedhafte; es gelang ihm, in der Ode (bevorzugte Maße asklepiadeisch u. alkäisch), aber auch in anderen antikisierenden Formen, den Ton wirkl. Erfahrung u. Empfindung zu treffen. »Den größten Hang habe ich zur ländlichen Poesie und zu süßen melancholischen Schwärmereien in Gedichten.« Zu den gelungensten Beispielen gehören Das Landleben (»Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh«), Die Maynacht (»Wenn der silberne Mond«), Maylied (»Alles liebet! Liebe gleitet«) u. Maygesang (»Röther färbt sich der Himmel«). Die frühlingshafte Natur wird zur Stimmungsfolie für melanchol. Betrachtungen u. den Ausdruck einer Irdisches transzendierenden Liebessehnsucht: Laura, (»Bald wird des Grabes Ruhe mich decken«) An die Apfelbäume wo ich Julien erblickte, Die Geliebte, Die künftige Geliebte (»Brächte der nächste Frühling«), Die Liebe (»Diese Erd ist so schön, wann sie der Lenz beblümt«), Das Traumbild (»Im jungen Nachtigallenhayn«) stehen in petrarkistisch-platonischer Tradition mit bemerkenswerten Traumfantasien u. Todesahnungen, die sich aus eigenem Erleben wie aus literar. Reminiszenzen speisen (engl. Friedhofselegien, Klopstock). Hierher gehört auch das Odenfragment, dem Voß später den Titel Auftrag gab (»Ihr Freunde
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hänget, wann ich gestorben bin«), wobei er eine dritte Strophe hinzudichtete. Es sind diese Gedichte mit ihrer »Trias ›Liebe, Natur, Tod‹« (Martin Rector), die – zusammen mit der Kenntnis von H.s frühem Tod – die Dichter beeindruckten u. anregten, von Hölderlin, Novalis, Mörike bis hin zu Bobrowski (v. a. bei Hölderlin sprachl. Anklänge an H.), während bei einem breiteren Publikum bis ins ausgehende 19. Jh. die volkstümlich-geselligen u. moralischen Lieder, von denen viele in den letzten Lebensjahren entstanden (Üb immer treu und Redlichkeit; Rosen auf den Weg gestreut; Aufmunterung zur Freude), die größte Wirkung entfalteten. Bereits zu Lebzeiten wurden H.s Lieder vertont (u. a. von J. F. Reichardt, Juliane Benda, A. P. Schulz), bald nach seinem Tod setzt eine Fülle von Vertonungen ein, die von C. P. E. Bach über J. André, Mozart, Schubert, Brahms u. vielen heute weniger bekannten Komponisten bis ins 20. Jh. reichen (Harald Müller zählt 614 Vertonungen von 77 H.Gedichten). Weitere Werke: Ausgaben: Gedichte von L. H. C. H. Mit Einl. u. Anmerkungen hg. v. Karl Halm. Lpz. 1870. – Sämtl. Werke. Kritisch u. chronologisch hg. v. Wilhelm Michael. 2 Bde., Weimar 1914–18. Neudr. Hildesh. 1969. – Werke u. Briefe. Hg. Uwe Berger. Bln./Weimar 1966. – Ges. Werke u. Briefe. Krit. Studienausg. Hg. Walter Hettche. Gött. 1998. Literatur: Lewis A. Rhoades: H.s Verhältnis zur engl. Lit. Diss. Gött. 1892. – Wilhelm Michael: Überlieferung u. Reihenfolge der Gedichte H.s. Halle 1909. Neudr. Walluf bei Wiesb. 1973. – Rohtraut Bäsken: Die Dichter des Göttinger Hains u. die Bürgerlichkeit. Eine literatursoziolog. Studie. Königsb./Bln. 1937. – Karl August Schleiden: Die Dichter des Göttinger Hains. In: DU 10 (1958), S. 62–85. – Thymiane Oberlin-Kaiser: L. C. H. H. Diss. Zürich 1964. – Rudolf Lennert: ›Leise wie Bienenton ...‹ Die Gesch. eines Gedichtes u. einer Freundschaft. In: Ders.: Verschlossenheit u. Verborgenheit. Über einige Phänomene der inneren Erfahrung. Stgt. 1965, S. 76–120. – Der Göttinger Hain. Hg. u. Nachw. v. Alfred Kelletat. Stgt. 1967. – Ders.: H.s Ode ›Ihr Freunde hänget, wann ich gestorben bin‹. In Göttinger Jb. 20 (1972), S. 121–132. – Dietmar Goltschnigg: Die Entwicklung der dt. Kunstballade v. Gleim bis H. In: Goethe-Jb. 77 (1973), S. 43–67. – Jörg-Ulrich Fechner: Petarchism – Antipetrarchism. 1774. Some remarks on L. C. H.
Hoelz H.’s ›Petrarchische Bettlerode‹. In: Lessing Yearbook 6 (1974), S. 162–178. – Adalbert Elschenbroich: L. C. H. H. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 619–640. – Ludwig Völker: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in der dt. Lyrik v. H. bis Benn. Mchn. 1978, bes. S. 30–47. – Wolfgang Promies: H. aus dem Hain. In: Aufklärung u. literar. Öffentlichkeit. Hg. Christa u. Peter Bürger u. Jochen Schulte-Sasse. Ffm. 1980, S. 238–264. – Marga Ingeborg Weigel: Elemente der Empfindsamkeit in der Lyrik H.s. Diss. Waterloo/Ontario 1980 (Microfiche). – Angelika Beck: ›Der Bund ist ewig‹. Zur Physiognomie einer Lebensform im 18. Jh. Erlangen 1982. – Ernst Müller: L. C. H. H. Leben u. Werk. Hann. 1986. Neuaufl. Egelsbach 2001. – A. Kelletat: L. C. H. H. In: Dt. Dichter. Bd. 4. Hg. Christa u. Peter Bürger u. Jochen Schulte-Sasse. Stgt. 1989, S. 87–95. – Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen u. Per Øhrgard: Der Göttinger Hain u. die Lyrik im Umkreis des Bundes. In: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 6: Aufklärung, Sturm u. Drang, Frühe Klassik. 1740–1789. Mchn. 1990, S. 403–411. – Petra Feil: L. C. H. H. ›Üb’ immer Treu u. Redlichkeit.‹ In: Von Dichterfürsten u. a. Poeten. Kleine niedersächs. Literaturgesch. Hg. Jürgen Peters u. Wilhelm Heinrich Pott. Hann. 1993, Bd. 1, S. 88–93. – Harald Müller: L. C. H. H.s Gedichte in Vertonungen. Zur Wirkungsgesch. des Dichters in der Musik. Mit einer Bibliogr. v. H.s Werken sowie einem Anhang zu Hermann Hölty. Bielef. 1998. – Martin Rector: 250 Jahre H. Vortrag zum 250. Geburtstag v. L. C. H. H. im HöltyGymnasium Wunstorf (21.12.1998). In: 250 Jahre H. Hg. Peter Brink u. Christoph Oppermann. Wunstorf 1999, S. 9–20. – Hans-Georg Kemper: ›Süße Schwermut‹ (H.). In: Ders.: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/III: Sturm u. Drang: Göttinger Hain u. Grenzgänger. Tüb. 2002, S.167–193. – Simon Bunke: Immer H.s Geist gefragt. Inszenierungen v. Autorschaft u. Autorisation zwischen Göttinger Hain, H. u. Voß. In: Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literar. Texte. Hg. Ethel Matala de Mazza u. Clemens Pornschlegel. Freib. i. Br. 2003, S. 271–295. – Jürgen Hebel: H. Melancholie u. poet. Existenz. Münster 2004. – Paul Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains. Ed. – Histor. Untersuchung – Komm. Tüb. 2006. Annelen Kranefuss
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Hoelz, Hölz, Max, * 14.10.1889 Moritz/ Riesa, † Mitte September 1933 Gorki. – Revolutionär; Verfasser eines Lebensberichts. Aufgewachsen in Elbdörfern zwischen Meißen u. Riesa, kam der Sohn eines Ackerknechts u. einer Tagelöhnerin als Gelegenheitsarbeiter mit 16 Jahren nach London. 1909 kehrte er nach Deutschland zurück, schloss sich dem CVJM u. dem »Weissen Kreuz«, einem Sittlichkeitsbund, an u. zog – immer auf der Suche nach Arbeit – 1912 ins Vogtland. Im Ersten Weltkrieg Meldereiter, gründete er 1918 in Falckenstein/Vogtland den örtl. Arbeiter- u. Soldatenrat u. 1919 den Ortsverein der KPD. 1920 scheiterte H., der sich nie mit revolutionären oder gar marxistischen Theorien beschäftigt hatte, mit dem Versuch, den Generalstreik gegen den KappPutsch 1920 nach dem Vorbild der Roten Ruhr-Armee zu militarisieren. Der Generalstreik im Mansfeldischen u. im Vogtland rief H. 1921 erneut zur revolutionären Tat. Nach der Niederschlagung von H.’ »Märzaktion« wurde er in Berlin verhaftet, des Mordes angeklagt u. trotz fehlender Beweise zu lebenslängl. Zuchthaus (Isolationshaft) verurteilt. 1928 aufgrund einer Generalamnestie entlassen, ging er im folgenden Jahr auf Einladung Stalins in die Sowjetunion; die Umstände seines Todes 1933 sind bis heute nicht geklärt. Die widersprüchl. Darstellung in der DDR-Biografie Manfred Gebhardts lässt vermuten, dass H. tatsächlich den Stalin’schen Säuberungen zum Opfer fiel, wie es der NS-Propagandist Karl J. Albrecht erstmals behauptete. Die Entstehung von H.’ Lebensbericht fällt zeitlich mit der Veröffentlichung der von der KPD geförderten proletar. Romane über den Kapp-Putsch u. die mitteldt. Aufstände zusammen, ist aber mit den Produkten dieser neuen proletar. Literatur nicht zu vergleichen. H.’ Vom »Weissen Kreuz« zur roten Fahne. Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse (Bln. 1929. Ffm. 1969. Halle 1984. 41989. Ffm. 1990 [Nachdr. der Ausg. 1929]) ist auf die individualistische Sicht des Helden fixiert, der Darstellungsstil den Kolportageromanen der Jahrhundertwende entnommen. Die
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Neuausgabe Ende der 1960er Jahre war anarchistisch Interessierten zu verdanken, die in H.’ Abenteuern mit der Staatsmacht den eigenen rigoristischen Moralismus beschrieben sahen. Weitere Werke: Anklagerede gegen die bürgerl. Gesellschaft. Lpz./Bln. 1921. Hbg. 1978. – Briefe aus dem Zuchthaus. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Egon Erwin Kisch. Bln. 1927. – M. H.: ›Ich grüße u. küsse Dich – Rot Front!‹ Tagebücher u. Briefe, Moskau 1929 bis 1933. Hg. Ulla Plener. Bln. 2005. Literatur: Karl J. Albrecht: Der verratene Sozialismus. Bln./Lpz. 1939. – Manfred Gebhardt: M. H. Wege u. Irrwege eines Revolutionärs. Bln./DDR 1983. 31989. – Peter Giersich u. Bernd Kramer: M. H. Man nannte ihn: Brandstifter u. Revolutionär, Robin Hood, Che Guevara, einen Anarchisten, den roten General. Sein Leben u. sein Kampf. Bln. 2000. – Rolf Selbmann: Zwischen M. H. u. Adolf Hitler: Kurt Tucholsky, Ernst Toller u. ›Die Weltbühne‹. In: Stefan Neuhaus, R. Selbmann u. Thorsten Unger (Hg.): Engagierte Lit. zwischen den Weltkriegen. Würzb. 2002, S. 131–140. – Christian Heisenberg: Vorabdruck aus einer wiss. Arbeit zum Thema Das schwarze Herz oder die wahre Gesch. vom Leben u. Sterben des M. H. Eine polit. Biogr. Bln. 2002. – Ulla Plener: Vorw. In: M. H.: ›Ich grüße u. küsse Dich – Rot Front!‹, a. a. O., S. 9–52. – Diethart Kerbs: M. H. (1889–1933): Sozialrebell u. Sozialrevolutionär. In: Ders.: Lebenslinien. Dt. Biogr.n aus dem 20. Jh. Essen 2007, S. 55–60. Johannes Schulz / Red.
Hölzer, Max (Anton Ernest), * 8.9.1915 Graz/St. Andrä, † 26.12.1984 Paris; Grabstätte: ebd. – Lyriker, Übersetzer, Essayist. H., Sohn eines Veterinärdirektors, studierte in Graz Rechtswissenschaften, legte anschließend die Richteramtsprüfung ab u. war 1950–1952 als Sprengelrichter am Oberlandesgericht Graz tätig. Angeregt durch die Bekanntschaft mit den Grazer Malern Kurt Weber u. Ferdinand Bilger entwickelte H. ein starkes Interesse für den frz. Surrealismus. 1950 gab er zusammen mit dem Maler u. Grafiker Edgar Jené das erste Heft der »Surrealistischen Publikationen« (Klagenf.) heraus. Der Band enthielt Texte u. a. von André Breton, Julien Gracq, Celan u. H. (Ode an Breton, Die Sphinx, Drei
Gedichte) sowie Bilder u. Zeichnungen u. a. von Max Ernst u. Yves Tanguy. Ein zweites Heft (1952) wurde gedruckt, aber nicht mehr ausgeliefert. H.s erste Publikationen stehen unter dem Eindruck des Surrealismus (vgl. dazu sein Essay Mit geschlossenen Lidern. In: Hans Bender, Hg.: Mein Gedicht ist mein Messer. Heidelb. 1955, S. 74–84). In den Gedichten nach 1960 wird die Abwendung vom Surrealismus u. der psychoanalyt. Schreibweise erkennbar. H.s Lyrik weist eine hermet. Form auf, es entstehen jedoch ausdrucksstarke Bilder. Von H.s zahlreichen Übertragungen frz. Dichtung sind André Bretons Nadja (Pfullingen 1960. Ffm. 111994) u. die Gedichtsammlung Im Labyrinth. Französische Lyrik nach dem Symbolismus (Mchn. 1959) bes. erwähnenswert. Im Aufsatz Zur Übersetzung von Gedichten (in: Sprache im technischen Zeitalter 21, 1967, S. 59–64) äußert sich H. zu den Möglichkeiten u. Aufgaben des Übersetzers. 1969 erhielt H. die »Ehrengabe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste«, 1970 den Trakl-Preis u. 1977 den Literaturpreis der Steiermark. Weitere Werke: Entstehung eines Sternbilds. Stierstadt 1958. Aachen 1992. – Der Doppelgänger. Pfullingen 1959 (L.). – Nigredo. Ffm. 1962. Aachen 2005 (L.). – Gesicht ohne Gesicht. Ffm. 1968. Aachen 1989 (L.). – Tönende Imagination. In: Palazuelo. Ölbilder. Gouachen. Zürich 1972 (Ausstellungskat.). – Mare occidentis. Das verborgene Licht. Chrysopöe. Pfullingen 1976. – Frau u. Vogel. Ausgew. Gedichte. Mit einem Vorw. v. Michael Guttenbrunner. Hg. Christian Teissl. Klagenf./ Wien 2004. – Übersetzungen: Nathalie Sarraute: Tropismen. Pfullingen 1959. Stgt. 2004. – Henry de Montherlant: Über die Frauen. Köln/Bln. 1960. Literatur: Hans Bender: Die Weisheit der unausgesprochenen Worte. In: Merkur 15 (1961), S. 182 f. – Otto Breicha: M. H. In: Wort in der Zeit 9 (1963), S. 5–10. – Kurt Klinger: Amfortiade – M. H. In: LuK 10 (1975), H. 92, S. 86–88. – Gudrun Grabher: Die Lyrik M. H.s. Ffm. 1982. – Jean-Marie Valentin: Le surréalisme en Autriche. M. H. et les ›Surrealist. Publikationen‹. In: Henri Béhar (Hg.): L’Europe surréaliste. Paris 1994, S. 157–175. – Wieland Schmied: Erinnerung an M. H. (1915–1984). In: Osiris (2000), H. 9, S. 79 ff. – Andreas Puff-Trojan: Krieg als surrealist. Ode: M. H. u. die ›Surrealistischen Publikationen‹. In: Ders.:
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SchattenSchriften. Deutschsprachige u. frz. Avantgarde-Lit. nach 1945. Wien 2008, S. 102–110. Martin Grill / Red.
Hönes, Winfried, * 22.2.1934 Düsseldorf, † 24.4.1996 Kleve. – Diplombibliothekar, Kritiker, Dokumentarist. Der Sohn eines Dekorationsmalers arbeitete als Finanzbeamter u. Jugendleiter. 1974 wurde er Leiter der Stadtbücherei in Kleve. 1968 gründete H. das private »Archiv zur Rezeptionsgeschichte«, das v. a. Äußerungen von Schriftstellern über Schriftsteller sammelt u. bundesweit die einzige Spezialbibliothek dieser Art ist. Aus dem Archivbestand (50.000 Exzerpte) erstellte H. viele Dokumentationen (u. a. über Lichtenberg, Shaw, Bloch, Dürrenmatt). Der Band Des Wassers Spuren (Krefeld 1984) enthält nach Jahreszeiten geordnete Haikus, in denen H. seine literar. Arbeit vorstellt. Im Aphorismenband Blitze in den heiteren Himmel (Geldern 1985. 1991) zeichnet er in satir. Form ein zeitkrit. Bild gesellschaftl. Zustände. Ende der 1980er Jahre gab er aus seinem Archiv zu bestimmten Themen Aphorismenbände heraus (u. a. Das Mädchen Justitia. Wiesb. 1987. Lob der Kritik. Wiesb. 1989). Weitere Werke: Herausgeber: Was ist Glück ...? Köln 1991 (Zitatenslg.). – ›Auch frisset er entsetzlich‹. Dichter über Dichter. Kettwig 1991. Klaus W. Hübner / Red.
Höniger von Königshofen, Nikolaus, auch: Niklas Hönninger, Hönger, Henninger, Pseud.: Calonius Ghönneirus (Anagramm), * 1548 Königshofen ob d. Tauber (bei Rothenburg/Franken), † September 1598 Haltingen (heute zu Weil a. Rhein). – Populär-humanistischer Schriftsteller, Korrektor, Übersetzer u. Kompilator, evang. Pastor. Wohl kath. getauft, da die fränk. Heimatstadt an der Tauber politisch zu Kurmainz gehörte u. Protestanten dort seit den Verheerungen des Bauernkrieges oft nicht mehr toleriert wurden, übersiedelte die Familie bald nach Neumarkt in der Oberpfalz, wo H. eine evang. Erziehung zuteil wurde. Nach dem Besuch der Lateinschule in Rothenburg ging
er an das Pädagogium in Rostock u. beendete seine Studien am Akademischen Gymnasium Johann Sturms in Straßburg. In Basel studierte er anschließend protestant. Theologie bei dem Lutheraner Simon Sulzer, der als Nachfolger Sebastian Münsters Hebräisch an der Universität lehrte u. zugleich Superintendent im Badischen war. Um 1570 wurde H. in Basel als Prediger ordiniert, übernahm aber zunächst keine Pfarrstelle, sondern arbeitete die folgenden zwölf Jahre als Korrektor in der Offizin des Drucker-Verlegers Heinrich Petri (Henric-Petri, † 1579) u. seiner Söhne u. Nachfolger Adam u. Sebastian in Basel, eine Tätigkeit, die er schon als Student um 1567/68 aufgenommen hatte. Seit der Frühdruckzeit spielten die in der Regel akademisch gebildeten Korrektoren eine bedeutende Rolle bei der krit. Bearbeitung u. Edition der Manuskripte u. waren nicht selten auch maßgebl. Berater in Fragen der Begutachtung u. Auswahl der Werke für das Verlagsprogramm, wie man an der manchmal lebenslangen Verlagstätigkeit vieler prominenter Humanisten wie Sebastian Brant, Ortwin Gratius, Erasmus, Beatus Rhenanus, Melanchthon, Konrad Pellikan, den Brüdern Amerbach, Sebastian Castellio oder Thomas Platter studieren kann. Gerade in Basel waren jedoch auch die meisten der großen Buchdrucker wie Amerbach, Froben, Oporin oder Pietro Perna gelehrte Philologen u. Theologen (eingehend Gilly 1985). Um 1570/71 heiratete H. Elisabeth Grasser. Die Familie hatte insg. neun Kinder, von denen sechs Mädchen in Basel geboren sind. Wie in vielen anderen Fällen waren die Beziehungen des Korrektors zur Familie des Verlegers eng, Heinrich Petri u. sein Sohn Adam werden als Taufpaten mehrerer Kinder von H. genannt (Albert 1926). Abgesehen von dem mit Jakob Cellarius bearbeiteten griech.-lat. Dictionarium für den Schulgebrauch u. lat. Kasualgedichten, sind alle Werke H.s Übersetzungen u./oder (oft auch zgl.) mehr oder weniger freie Bearbeitungen u. Kompilationen aus vorliegenden lat. oder deutschsprachigen Werken, die nicht selten ihrerseits Kompilate aus verschiedenen anderen Büchern gewesen sind. Zu den erfolgreichsten u. typischen Unter-
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nehmen H.s u. seines Verlegers Petri gehört die Kompilation der Historie Der Newen Welt von 1579, die offenbar aufgrund des raschen Absatzes zu einer Trilogie ausgebaut wurde (1582 in folio, die 3 Seiten beanspruchenden vollen Titel in: Bibliotheca Americana 1915). Es handelt sich dabei um das erste Buch dieser Art in dt. Sprache seit den verschiedenen Ausgaben des Werks des ital. Humanisten Pietro Martire d’Anghiera (Petrus Martyr de Anghiera, 1457–1526). Das Hauptwerk dieses Pioniers der frühen Amerikahistorie war De orbe novo decades (der Titel nach der Gliederung von Livius’ Ab urbe condita nach Dekaden), dessen erste Fassung mit den ersten drei Dekaden bereits 1516 in Alcalá erschienen ist. 1533 wurde in Basel bei Johann Bebel diese erste Ausgabe nachgedruckt, ohne dass man sich darum gekümmert hätte, dass drei Jahre zuvor die vollständige, nun alle acht Dekaden umfassende postume Ausgabe Anghieras in Spanien erschienen war. Und diese Bebel’sche Version übersetzte auch H. u. legte sie dem dritten Teil seiner Amerikatrilogie zugrunde, neben De Peruviae regionis inventione eines gewissen Levinus Apollonius – ohne zu bemerken, dass es sich bei dem Autor um ein Pseudonym u. bei dessen lat. Traktat um ein plumpes Plagiat von Agustín de Zárates Historia del descubrimiento y conquista del Perú handelte, das 1555 auf Befehl Philipps II. gedruckt worden war (Verlinden 1965, Nachweise bei Gilly 1985). Die andere denkwürdige Leistung H.s ist eine dt. Prosaversion (von vielen) des Narrenschiffs von 1574, die auch die Straßburger Predigten Geilers von Kaysersberg in dt. Übersetzung enthält, die den betreffenden Kapiteln bei Brant zugeordnet sind. H. scheint trotz seines entschieden luth. Bekenntnisses u. seiner humanist. Gelehrsamkeit ziemlich fern stehenden Brotarbeit im Dienste des gut verdienenden Verlegers durchaus den Basler Humanistenkreisen nahegestanden zu haben. Wahrscheinlich ist seine Beziehung zu dem Satiriker u. Rhetorikprofessor Celio Secondo Curione (1503–1569), dessen Basler Haus ein Zentrum nicht nur ital. Glaubensflüchtlinge gewesen ist. 1580 hat H. Curiones Historia Saracenica (1567) übersetzt, aber gelehrte
Höniger von Königshofen
Werke solcher Autoren sind eher die Ausnahme bei der Wahl seiner Vorlagen. Wohl aus Sorge für die sich vergrößernde Familie gab H. 1582 seine Tätigkeit als Verlagsmitarbeiter auf. Korrektoren wurden in jener Zeit sehr schlecht bezahlt u. nach Möglichkeit mit Naturalien oder »voller Pension«, d. h. Mahlzeiten u. Wohnung auf Kosten oder auch im Hause des Verlegers abgefunden. Seine erste Pfarrstelle fand er in dem Dorf Kirchen, das zur Herrschaft Rötteln gehörte, dem badisch-markgräfl. Amtsbereich seines Basler theolog. Lehrers Sulzer. Da sich bei geringen Einkünften u. allgemeiner Krankheit u. Not seine Verhältnisse nicht besserten, wechselte er 1587 auf die wiederum evang. Pfarrstelle im nahegelegenen Weinbauerndorf Haltingen, wo er elf Jahre lang als aufrechter Streiter gegen Papisten u. Calvinisten seinen Dienst tat, weitere zwei Bücher zum Druck beförderte u. die Zahl seiner Kinder auf neun vermehrte. »Die Weinsäufer haben nicht vil Platz bei ihme gehabt«, betonte sein strenger Generalsuperintendent in der Leichenpredigt. Die beiden letzten Bücher, die gegen das Papsttum gerichtet waren, wurden nicht bei Henricpetri, sondern bei Ulrich Frölich gedruckt. Werke: Übers. u. Bearb.: Hoffhaltung des Türckischen Kaisers u. Othomanischen Reichs Beschreibung. Basel 1573. Erw. um einen 2. Teil 1578. Erneut erw. 1596. Lat. Bearb.: Aulae turcicae, Othomannicique imperii Descriptio [...]. 2 Bde., Basel 1577 (nach Antoine Geuffre in der lat. Übers. v. Wilhelm Godelevaeus, 1573). – Praefatio. In: Giovanni u. Gianfrancesco Pico della Mirandola: Opera omnia. Bd. 2, Basel 1573. Nachdr. Hildesh. 1969. – Übers. u. Bearb.: Welt Spiegel, oder Narren Schiff [...] alles auff Sebastian Brands Reimen gerichtet [...]. Weilandt durch den hochgelerten Johan. Geyler Doctoren der H. Schrifft in Lateinischer sprach beschrieben, jetzt aber mit sondern fleiß [...] inn das recht hoch Teutsch gebracht [...]. Basel 1574. – Propugnaculum, castitatis, ac pudicitiae [...] tam virginum, quam uxorum [...]. Basel 1575. – Bearb.: Reformation oder Ordnung aller Ständen, geistlicher u. weltlicher, der allerdurchleuchtigsten u. großmechtigsten etc. Römischen Keyser. Basel 1577 (nach Friedrichs v. Landskron Übers. der lat. ›Reformatio Sigismundi‹). – Übers.: Leonhard Gorecius: Walachischen Kriegs oder Geschichten warhaffte Beschreibung. Basel 1578. – Bearb.: Der Newenn Weldt u. Indianischen Königreichs, Newe
Höpp u. warhaffte History [...]. Basel 1579 (Kurztitel: India, nach der lat. Übers. ›Novae novi orbis historiae‹ v. Urbain Chauveton des Werks v. Girolamo Benzoni: Historia del mondo novo, 1565, u. dessen Descriptio insularum Canariae). Erw. zu einer Trilogie (mit den zusätzl. Bearb. v. Benzoni: Res Brasilianorum; Petrus Martyr Anghiera: De orbe novo, 1516/1533; Nicolas La Challeux: Tractatus de Gallorum in Floridam expeditione, 1578; Levinus Apollonius [Pseud.]: De Peruviae regionis inventione, 1567). 3 Bde., Basel 1582. – Celio Secondo Curione: Sarracen. Gesch. u. schröckl. Kriegsrüstung. Basel 1580 (Kurztitel: ›Sarracenisch History‹, nach Curione: Historia Saracenica. Descriptio de bello Melitensi a Turcis gesto, 1567). – Übers. u. Bearb.: Africanischen Kriegs Beschreibung, sampt der Portugallesern schröckl. Niderlag. Basel 1581 (nach einer lat. Version v. Thomas Freigius: Historia de bello Africano, die ihrerseits auf einer Kompilation fußt, u. a. aus einer portugies. Version v. Vespuccis ›Navigationes‹). – Bearb., mit Jakob Cellarius: Lexikòn Helle¯noro¯maïkón [griech.], hoc est: Dictionarium Graeco-Latinum. Basel 1584. – Bearb. u. Forts.: Calonius Ghönneirus (Pseud.): Chronick: Geschichte u. Zeitbuch aller nammhafftigsten u. Gedechtnußwierdigsten geystlichen u. weltlichen sachen. Basel 1585 (nach Sebastian Franck: GeschichtBibel, 1531; mit Angaben über die eigene Person). – Übers. u. Bearb.: Spiegel, des weltlichen Römischen Bapsts [...]. Basel 1586 (nach dem ›Speculum Romanorum Pontificum‹ des Stephan Szegedinus). – Übers. u. Bearb.: Examen, das ist: Ergründungen u. Widerlegungen des Tridentinischen Conciliums. Basel 1587 (nach dem ›Examen Concilii Tridentini‹ v. Joachimus Ursinus, d. i. Pseud. des reformierten Politikers Innocent Gentillet, Genf 1586; Widmung an den 1588 zum kath. Glauben konvertierten Theologen Johannes Pistorius Niddanus). Literatur: Bibliografien: Bibliotheca Americana. Catalogue of the John Carter Brown Library, Providence, RI 1915, Bd. 1. – VD 16. – Weitere Titel: Johannes Weininger: Eine christl. Leichpredigt bey der Begräbnis des Ehrwürdigen u. wolgelehrten Herrn Nicolai Hönningeri gewesnen Pfarrers zu Haltingen in der Grafschafft Rötteln. Tüb. 1600. – Jakob Franck: N. H. In: ADB (unergiebig). – Peter P. Albert: N. H. v. K., ein bad. Pfarrer u. Schriftsteller des 16. Jh. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 78, N. F. 39 (1926), S. 219–286 (grundlegend). – Charles Verlinden: Une fausse source de l’histoire clobiale du Pérou: Levinus Apollonius, ›De Peruviae regionis inventione‹ (1566). In: Documenta. Revista peruana de historia 4 (1965), S. 307–315. – Werner Keppner: N. H. aus Tauberkönigshofen
500 schrieb Druckgesch. Er lebte u. wirkte 1548 bis 1598 in Franken. Artikelserie in: Fränk. Chronik (Bad Mergentheim), 4.1.1984 ff. – Carlos Gilly: Spanien u. der Basler Buchdruck bis 1600. Basel/ Ffm. 1985. Herbert Jaumann
Höpp, Höp, Ulrich, um 1460–1480, ggf. Augsburg oder Memmingen. – Autor zweier politisch-allegorischer Reimpaargedichte. H. nennt sich selbst als Autor in zwei Reimpaarreden, die zwischen 1480 und 1489 in eine medizinische Sammelhandschrift eingetragen wurden (Memmingen, Stadtbibliothek, cod. Pap. 2,39.48, IVv–VIIIv und 93r–99v). Die Klage der Treue (255 Verse) bedient sich der klass. Einkleidungsformen der Minnerede (Ich-Sprecher, Spaziergangseinleitung, Naturbeschreibung, personifizierte Tugenden, Unterweisung im Gespräch, Wappenauslegung, Zeitklage), hat aber polit. Missstände zum Thema: Die vertriebene ›Frau Treue‹ benennt als letzte Hoffnung in ihrem Kampf gegen ›Frau Untreue‹ Kaiser Friedrich III. Die monologische Türkenmahnung an Kaiser Friedrich (344 Verse) ist direkt an den Herrscher gerichtet: Er solle ›St. Peters Schiff‹, das sich in schwerer Seenot befinde, wieder in sichere Bahnen lenken. Gemeint ist mit diesem Bild die Bedrohung des christl. Abendlands durch die Türken (genannt wird u. a. die verlorene Schlacht von Histiaea auf Euböa 1470). Eingelegt in die Ermahnung ist ein Lob des Hauses Habsburgs sowie eine panegyr. Rekapitulation von Friedrichs Heldenvita (mit detaillierter Schilderung seiner Kür 1440, der Kaiserkrönung in Rom 1452 sowie der Huldigung durch die Reichsstände in Regensburg 1471). Über Leben u. gesellschaftl. Stellung von H. lässt sich nichts ermitteln. Die geringe erhaltene Produktion spricht dafür, in ihm einen »reichsstädtischen Gelegenheitsdichter« (I. Glier) zu sehen, der aber über umfangreiche polit., geschichtl. u. literar. Kenntnisse verfügt u. sich in Inhalt und Stil (Wappenauslegung, Panegyrik, Autornennung) deutlich an die Herolds- u. Wappen-
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dichtung der Zeit anlehnt. Neben der Memminger Handschrift einziges weiteres Rezeptionszeugnis von H.s Dichtung ist die wörtl. Aufnahme einiger Passagen der Türkenmahnung durch den aus Augsburg stammenden Nürnberger Herold Hans Schneider in seinem Spruch zum Lob des Hauses Österreich (1507). Ausgaben: S. Weber: Abschrift zweier Gedichte aus dem fünfzehnten Jh. In: Herrigs Archiv 37 (1865), 203–209 (›Klage der Treue‹) u. 209–217 (›Türkenmahnung‹). – Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder der Deutschen vom 13.-16. Jh. Bd. 2, Lpz. 1866. Nachdr. Hildeh. 1966, S. 3–9 Nr. 126 (›Türkenmahnung‹). Literatur: Ingeborg Glier: Artes Amandi. Mchn 1971, S. 344–346 – Dies.: U. H. In: VL. Jacob Klingner
Hörler, Rolf, * 26.9.1933 Uster/Kt. Zürich, † 17.08.2007 Wädenswil/Kt. Zürich. – Lyriker.
sätzlich entgleitet. Eine bedeutende Metapher für die bisweilen nihilistisch ausgeprägte Seinsskepsis, »die Ausweglosigkeit aller Dinge«, ist bei H. der Weg, der einmal »ins Zeitlose«, ein andermal »ins Nichts« führt u. dann wieder »im Weglosen« endet; der Gang der Dinge spült in seiner Dichtung alles fort. An keinem dieser Inhalte u. Ideen fand der Verfasser Genüge u. gab seinem Wissen um die Nichterfüllung dichterischer Suche beständig Ausdruck. Ein Beispiel für die Alltagslyrik ist der Band Hilfe kommt vielleicht aus Biberbrugg (Zürich 1980), der Gedichte versammelt, die in Bahnhöfen, Gasthäusern u. auf Reisen entstanden sind. H. wurde 1976 mit dem Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke: Erlkönigs Tochter u. die Achillesverse. Gedichte 1970–1997. Zelg-Wolfhalden 1997. – Die Seelentänzerin u. der nordsüdl. Diwan. Wädenswil 1998. – Ein Dachzimmer fürs kommende Jahrhundert. Wädenswil 2000. – Federlesen. Zürich 2003.
H. wuchs in St. Gallen auf. Nach dem Besuch Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek des Lehrerseminars in Rorschach war er als Lehrer tätig. Er gab die Zeitschrift »reflexe« heraus. Hoerner, Herbert von, * 9.8.1884 Gut Ih1970 trat H. mit dem Gedichtband Mein len/Kurland, † 9.5.1950 Torgau. – ErzähSteinbruch (Zürich), einem Credo des debütieler, Übersetzer; Maler. renden Dichters, hervor u. veröffentlichte fortan regelmäßig Lyrik. Mit dieser ersten H., Sohn eines Kreisadelsmarschalls, stuGedichtsammlung präsentiert er in der Poe- dierte Architektur u. Malerei in München u. tik freier Rhythmen ein voll ausgereiftes Breslau. Nach der Teilnahme am Ersten Programm, in dem gewichtige Motive der Weltkrieg meldete er sich zur balt. Landwehr Lyrik als solcher zusammenfließen u. auch in u. zu einem dt. Freikorps. Anschließend lebte seinen weiteren Texten wiederkehren: der er als Zeichenlehrer u. Maler in Görlitz, bis er Gedanke vom Individualismus (das Ich als mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs frei»unübersetzbar«), die gegenseitige Bedingt- willig wieder Soldat wurde. Er starb in soheit von Wort u. Tat, von Denken u. Leben, wjetischer Gefangenschaft. die Begegnung mit der Zeitlichkeit des In der ersten Hälfte der 1920er Jahre trat H. menschl. Daseins, das Anschauen der Realität vor allem als Übersetzer von Gogol, Puschkin, u. Ableiten der poetischen Erkenntnis aus Tolstoj u. Turgenjew hervor. Als Autor wurde Beobachtung (H. lauscht auf »die Nuancen er einem größeren Publikum in der NS-Zeit des Blaus«, »die Dimensionen des Klangs«) u. durch wenige Erzählungen (Die Kutscherin des schließlich das Ausdrucksbedürfnis, die Zaren. Stgt. 1936. 1989) u. einen BauernroQualität des Schaffensprozesses, in dem man in der Tradition von Storms SchimmelWorte »Fährten und Gefährten« des Dichters reiter (Der graue Reiter. Stgt. 1940) bekannt. In sind. H.s Interesse galt immer wieder der seinen erzählenden Texten bevorzugte H. die Erweckung des Worts, der Morphologie des Form der Novelle. Durch seine stark symSchreibakts. Er folgte eingelebten poetischen bolhafte Darstellung, die Menschen u. LandTraditionen, »dem nie gehörten Laut, / dem schaften seiner balt. Heimat in schicksalhafungesagten Wort«, das ihm jedoch grund- ten Entscheidungssituationen u. Bewäh-
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rungsproben zeigt, kamen seine Arbeiten der »Blut-und-Boden«-Dichtung entgegen. H. wurde daher auch in die NS-Anthologie Deutsche Gegenwartsdichtung (Hg. Hellmuth Langenbucher. Bln. 1939) aufgenommen u. erhielt für seinen Bauernroman als Beispiel »volkhafter Dichtung« den Literaturpreis der Stadt Berlin (1941). Weitere Werke: Villa Gudrun. Stücke einer Slg. Lpz. 1922. – Des Frosches Auferstehung. Eine Tieru. Tanzfabel. Chemnitz 1927. – Der Zauberkreis. Ein Tanzsp. mit begleitenden Versen. Chemnitz 1928. – Bruder im Felde u. a. E.en. Dresden 1936. – Die letzte Kugel. Stgt. 1937 (E.). – Der große Baum. Stgt. 1938 (E.). – Die Welle. Stgt. 1942 (L.). – Die grüne Limonade. Bln. 1952 (E.). Literatur: Grete Hausmann: H. v. H. zum Gedenken. In: Ostdt. Monatsh.e 24 (1958), S.122 f. – Heinrich Klempt: H. v. H. ›Die letzte Kugel‹. Versuch einer Interpr. In: DU 10, H. 5 (1958), S. 103–115. – Jlse Molzahn: Andenken an einen Dichter. In: Kranich 8 (1966), S. 113–125. – John Whiton: H. v. H.’s Novel ›Der graue Reiter‹. A Latvian-German Allegory. In: Germano-Slavica 10 (1997), H. 1, S. 39–47. Wolfgang Weismantel / Red.
Hörnigk, Hornigk, Philipp Wilhelm von, * 23.1.1640 Frankfurt/M., † 23.10.1714 Passau. – Verfasser politischer, ökonomischer u. historiografischer Schriften. Mit seinem Vater, dem Mediziner u. Juristen Ludwig von Hörnigk, kam der Zehnjährige nach Mainz, wo er bereits 1654 als »Logicus« in der Universitätsmatrikel genannt ist. 1660 wechselte er nach Ingolstadt; 1661 disputierte er dort über Fragen der Rechtssprechung. In diesen Jahren dürfte H. mit seinem späteren Mentor, dem kaiserl. Gesandten u. Bischof von Tina, Christobál Rojas y Spinola, zusammengetroffen sein; wahrscheinlich hat er ihn auf Reisen bis nach Spanien (1654) begleitet. Seit Ende 1665 in Wien, trat er mit dem Hofbibliothekar u. Historiker Peter Lambeck in Verbindung. Bedeutsam wurde auch die Beziehung zu Johann Joachim Becher, einem Hauptvertreter des Kameralismus, der Schüler u. Schwiegersohn von H.s Vater war. Seine Stellung als Sekretär des Bischofs Rojas ließ H. genug Zeit, an den Reinschriften der Arbeiten Bechers mitzuwirken.
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Rojas schickte H. 1668 als Verwalter auf die landesfürstl. Pfarre Hartberg (Oststeiermark). Mit Unterbrechungen sammelte er hier neun Jahre Erfahrungen mit der Ökonomie einer Grundherrschaft, erprobte dabei praktisch die Lehren des Merkantilismus u. legte Inventare u. Urbarien an. Zur gleichen Zeit entstand eine Übersetzung der Lebensbeschreibung der Schwester Margaretha vom Hl. Kreuz aus dem Spanischen, die 1675 als Beitrag zu A. Stöcklers Tugent-Spiegel erschien. H.s 1673 in kaiserl. Auftrag angelegte Aufzeichnungen über das Handwerkertum in 92 Städten u. 16 Märkten zählen zu den ersten empir. volkswirtschaftl. Erhebungen. Becher skizzierte danach die wirtschaftl. Lage Österreichs. Die Jahre nach 1676 waren geprägt von Reisetätigkeit. Zunächst fuhr H. mit Becher durch das Reich, um im Auftrag des Kaisers ein Einfuhrverbot für frz. Waren zu propagieren; von Köln aus ging es nach Rom, wo er seinen Dienstherrn bei diplomatischen Aktionen zur Herbeiführung eines Ausgleichs unter den Konfessionen unterstützte. 1678/ 79 folgte eine Reise zu dt. Fürstenhöfen mit Rojas, der für eine Reorganisation der Reichsverfassung warb. Dabei kam es zu Kontakten mit Leibniz (Briefwechsel bis zu dessen Tod) u. mit Graf Johann Philipp von Lamberg, dem kaiserl. Gesandten in Berlin, in dessen Dienste H. 1680 wechselte. Der Vormarsch der Türken u. die offensive Haltung Ludwigs XIV. verlangten dem Diplomaten Lamberg u. seinem Sekretär ein Höchstmaß an Aktivität in Berlin u. auch in Dresden ab. H. publizierte in diesen dramat. Jahren seine drei »Francopolitae-Schriften« (o. O. 1682; Sammelausg. Regensb. 1708): H. G. D. C. Francopolitae Wahrer Bericht Von dem Alten Königreich Austrasien, [...] Von dem alten Königreich Lothringen u. [...] Franco-Germania: reichspatriotische u. antifrz. Publizistik, in der sich H. für die Organisation einer schlagkräftigen Reichsarmee u. die Etablierung einer Allianz gegen Frankreich ausspricht. Er vertritt gegen die Hegemonialansprüche Ludwigs XIV. die These, das Heilige Römische Reich deutscher Nation sei der legitime Erbe des mittelalterl. Frankenreichs.
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Der Sieg am Kahlenberg über die Türken jährl. Pension von 300 fl. verbunden war. Im (1683) schien die Panegyriker des habsburgi- Dienst Lambergs, der Prinzipalkommissar schen Kaisertums zu bestätigen. Das Datum am Regensburger Reichstag geworden war, der Befreiung Wiens markiert zgl. den Be- lernte er seit 1686 den Gesandtenkongress ginn eines neuen Aufschwungs der Reichs- u. kennen, in dem sich wie nirgendwo sonst die Kaiseridee, die ihre glanzvolle Artikulation in Staatsnatur des Heiligen Römischen Reichs einer wahrhaft imperialen Kunst unter der konkretisierte. 1689 folgte er Lamberg, der Herrschaft Karls VI. finden sollte. Ausdruck Fürstbischof von Passau geworden war, in dieser Aufbruchsstimmung ist das Werk, das dessen Residenz, wurde hier Wirklicher GeH.s Namen bis heute bekannt bleiben ließ: heimer Rat, dann ständiger Beisitzer im Oesterreich über alles wann es nur will (o. O. 1684. Hofrat u. blieb bis über den Tod Lambergs Nachdr. Düsseld. 1997. Nürnb. 21684; min- (1712) hinaus im Dienst des Fürstbistums. destens 20 weitere Aufl.n), laut Untertitel ein Manuskripte histor. Arbeiten aus diesen Jah»wohlmeinende[r] Fürschlag Wie mittelst ei- ren, v. a. zur Geschichte des Bistums Passau, ner wolbestellten Lands-Oeconomie die Kay- sind erhalten. serl. Erbland in kurzem über alle andere Staat Literatur: Heinrich Gerstenberg: P. W. v. H. In: von Europa zu erheben«. Das Werk, die Pa- Jbb. für Nationalökonomie u. Statistik 133. Jena radeschrift des Kameralismus u. zgl. Aus- 1930, S. 813–871. – Walter Dührkoop: Einzelwirtdruck der prakt. Erfahrung H.s, enthält v. a. schaftl. Erörterungen in den Hauptwerken der almerkantilistische Vorschläge: Rohstoffe sol- ten österr. Kameralisten. Bottrop 1935. – Fritz len im Inland verarbeitet u. vorzugsweise Posch: P. W. v. H. Werdejahre u. österr.-steir. Beziehungen. In: MIÖG 61 (1953), S. 335 ff. – Gustav Fertigprodukte ausgeführt werden; die InOtruba: P. W. v. H. In: NDB. – Fritz Blaich: Die landsnachfrage soll stimuliert u. damit das Epoche des Merkantilismus. Wiesb. 1973, S. 60–67. einheim. Gewerbe gefördert werden; bes. – Heinz-Joachim Brauleke: Leben u. Werk des KaAugenmerk sei auf die Ausbildung qualifi- meralisten P. W. v. H. Ffm. 1978. – Angela Rauzierter Arbeitskräfte zu legen. Spezielles In- pach: Zum Verhältnis v. Politik u. Ökonomie im teresse widmete der Kenner grundherr- Kameralismus. Diss. Hbg. 1983. – Herbert Matis: P. schaftl. Verhältnisse der Entwicklung der W. v. H.: Leben, Werk u. ökonom. Umfeld. In: Vademecum zu einem Klassiker absolutist. WirtLandwirtschaft. Die Schrift war ein nicht weniger polit. als schaftspolitik. Hg. Bertram Schefold. Düsseld. ökonomisches Werk: Ausdruck eines territo- 1997, S. 67-136. – Erich W. Streissler u. Monika Streissler: P. W. v. H. u. die wirtschaftstheoret. u. rialstaatl. Patriotismus, der Rückbesinnung -polit. Vorstellungen des Kameralismus. In: ebd., auf die Potenz der dt. Führungsmacht S. 139-242. Bernd Roeck / Erich W. Streissler Österreich unter Vernachlässigung der Ambitionen des Kaisertums. Auch wenn die Gegensätze zwischen Kaisertum u. habsburgiHoernle, Edwin, auch: H. Georgi, * 11.2. schem Territorialismus nicht zu scharf kon1883 Bad Cannstatt (heute zu Stuttgart), turiert gesehen werden dürfen, zog das Werk † 21.7.1952 Bad Liebenstein/DDR. – Lydoch die Konsequenz aus den Strukturriker, Erzähler; Agrarpolitiker u. Pädaschwächen der Reichsverfassung u. der Eingoge. sicht, dass die polit. Zukunft des Habsburgerstaats entweder in einem »Herauswach- Der Sohn eines Missionars in Ostindien stusen« aus dem Reich oder in einer Dominie- dierte 1904–1909 Theologie in Göttingen, rung des Reichs »von außen« lag. Berlin u. Tübingen u. wurde Landvikar. Seit H. wollte sich mit seinem Bestseller, 1688 1910 Mitgl. der SPD, gehörte er mit Artur noch mit einer weiteren Schrift, welche die Crispien u. Clara Zetkin, die ihn 1912 zum führende Stellung Österreichs im Reich zweiten polit. Redakteur der »Schwäbischen nachzuweisen suchte, für eine Stellung in Tagwacht« machte, zur linken Opposition kaiserl. Diensten empfehlen. Indessen blieb der Stuttgarter Parteiorganisation; er war es bei der Verleihung des Ehrentitels eines Mitbegründer des Spartakusbunds – 1918/19 »kaiserlichen Secretarius«, der mit einer war er führender Kopf im Stuttgarter Arbei-
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ter- u. Soldatenrat – u. der KPD, von 1920 die leninistische Forderung nach einer Kolan Mitgl. des Zentralkomitees, 1924–1932 lektivierung u. Mechanisierung der LandReichstagsabgeordneter. 1933 emigrierte H. wirtschaft als linksradikales Oktroy zurücküber die Schweiz nach Moskau, wo er am wies: Die Landverteilung auf FamilienbeInternationalen Agrarinstitut u. am Welt- triebe entspreche dem technolog. Stand u. wirtschaftsinstitut arbeitete. 1945 kehrte er dem bäuerl. Bewusstsein. nach Berlin zurück. Weitere Werke: Literarisches: Die Oculi-Fabeln. H.s Arbeiten lassen drei Schwerpunkte er- Stgt. 1920. – Arbeiter, Bauern. Spartakus. Ein kennen: Zunächst, auch chronologisch als Bühnensp. Bln. 1921. – Aus Krieg u. Kerker. Stgt. erstes, sein pädagog. Engagement in der o. J. (L.). – Rote Lieder. Wien 1924. – Bauern unterm Freien Sozialistischen Jugend u. der KPD, das Joch. Moskau 1936 (E.). – Rote Lieder. Bln./Weimar ihn zu einem der wenigen Erziehungstheo- 1968 (neue Ausw.). – Politische Schriften: Zum Bündnis zwischen Arbeitern u. Bauern. Bln./DDR retiker der Partei machte. Unverkennbar ist 1972 (Ausw. aus Reden u. Schr.en). – Grundfragen hier H.s theolog. Herkunft, wie eine Ausein- proletar. Erziehung. Darmst. 1969 (Ausw. der andersetzung um die Jugendweihe 1922 Schr.en). – Herausgeber: Aufstand! Stgt. 1920. zeigt. Als zweites sind die dichterischen Literatur: Wolfgang Mehnert: Der Beitr. E. H.s Kampflieder u. Erzählungen zu nennen, der zum schulpolit. Kampf der KPD in der Zeit der polit. Massenagitation verpflichtet, im Ton Weimarer Republik. Bln./DDR 1958. – E. H. Ein an die Dichter des Vormärz, an Ferdinand Leben für die Bauernbefreiung. Bln./DDR 1965 Freiligrath erinnernd. Nach der Wahl in den (mit Schr.en H.s). – Michael Hugh Fritton: Lit. u. Reichstag 1924 wagte sich H. nur noch gele- Politik in der Novemberrevolution 1918/1919. gentlich an dichterische Versuche; seine Lyrik Theorie u. Praxis revolutionärer Schriftsteller in wurde bald durch Johannes R. Becher u. Erich Stuttgart u. München. Ffm. u. a. 1986. Detlef Holland / Red. Weinert übertroffen, seine Prosa durch die Arbeiterkorrespondentenbewegung, so dass sie selbst in der DDR nicht zum Bestand des Hoerschelmann, Fred von, eigentl.: Fritz sozialistischen Erbes gehören; doch hatte H. von Hörschel, * 16.11.1901 Hapsal/Estfrüher als seine Nachfolger – schon zu Beginn land, † 2.6.1976 Tübingen. – Verfasser des Ersten Weltkriegs – Antikriegs- u. Litevon Hörspielen, Dramen u. Erzählungen. ratur der Arbeiterbewegung geschrieben. Der wichtigste Zweig seiner Schriften sind In Dorpat u. München studierte H., Sohn eidie agrarpolit. Reden u. Arbeiten. H. war der nes balt. Barons, Kunstgeschichte u. PhilosoTheoretiker der Agrarpolitik der KPD u. phie. Seine ersten Kurzgeschichten publispäter der SED. Unbeeindruckt von der so- zierte er 1927 im »Berliner Tageblatt«, in der wjetischen Entwicklung u. noch lange vor »Vossischen Zeitung« u. im »SimplicissiMao forderte er bereits 1928 die Organisation mus«. 1928 entstand sein erstes Hörspiel, der Klein- u. – das ist wichtig – der Mittel- Flucht vor der Freiheit (Hbg. 1960. Stgt. 1989), bauern in Genossenschaften, in denen er nach das 1933 vom Kölner Sender u. – in einer der Errichtung der Herrschaft des Proletariats durch Arnolt Bronnens dramaturgische Ein»Organe des Bündnisses der Arbeiter und griffe stark modifizierten Version – unter arbeitenden Bauern« sah. Nach 1933 er- Mitwirkung Heinrich Georges als Weg in die kannte H. allerdings, dass eine erfolgver- Freiheit von der Berliner Funkstunde gesendet sprechende Landwirtschaftspolitik auch ohne wurde. 1936 emigrierte H. nach Estland, ging proletar. Revolution möglich sein müsste, die 1939 nach Polen u. war ab 1942 Soldat. Nach Enteignung des Großgrundbesitzes u. die dem Krieg lebte er in Tübingen, schrieb HörEntwicklung der Klein- u. Mittelbauern also u. Fernsehspiele u. bearbeitete auch Texte selbst ein Schritt auf dem Weg zum Sozialis- anderer Autoren. mus sei. H.s Rundfunkarbeiten sind »realistische Die von H. angetriebene Bodenreform in Problemhörspiele« (Schwitzke); die dramat. der sowjetischen Zone 1945/46 war die Ver- Konflikte seiner Figuren vollziehen sich wirklichung der H.schen Theorie, wobei er häufig in inhuman organisierten, »geschlos-
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senen« sozialen Welten, in die, ähnlich wie Höschel, Hoeschelius, Heschelius, David, im naturalistischen Drama, Figuren von au- * 8.4.1556 Augsburg, † 19.10.1617 ßen eindringen, die die schicksalhaften Er- Augsburg. – Späthumanist, Gräzist, Päeignisse zu verhindern suchen. Ihr Handeln dagoge. ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Dieses Modell ist bereits in Flucht vor der Freiheit Der Sohn eines Augsburger Schulmeisters vorgeprägt u. gilt exemplarisch für H.s be- war früh, während des Besuchs der ersten kanntestes Hörspiel, Das Schiff Esperanza Klassen des Gymnasiums bei St. Anna in sei(Stgt./Hbg. 1953. Paderb. 2005). Kapitän ner Heimatstadt, der Lieblingsschüler des Grove, sozialdarwinistischer Marineoffizier, großen Philologen u. Bibliothekars Hieronygibt vor, auf seinem Frachter soziale Außen- mus Wolf aus Oettingen, des Melanchthonseiter illegal nach Amerika zu befördern. Die Schülers u. Begründers der dt. Byzantinistik, Überfahrt kommt einer Deportation in den dem er sowohl in seinem späteren Beruf als sicheren Tod gleich, denn die Passagiere Schulrektor wie v. a. in seinen philolog. Arwerden von ihm auf hoher See ausgesetzt. Als beiten nachfolgte. Mit Unterstützung Matsein Sohn Axel, den er seit dessen Kindheit thäus Welsers besuchte H. anschließend das nicht mehr gesehen hat, anheuert, will er in Gymnasium illustre im damals zur reforeinem Akt der Selbstläuterung die »Fracht« mierten Kurpfalz gehörenden Lauingen an an Land setzen lassen. Indem Axel jedoch die der oberen Donau (heute: Albertus-GymnaAnonymität zwischen Besatzung u. Passa- sium), das in den 60er Jahren des 16. Jh. im gieren durchbricht u. dadurch Groves Plan späthumanist. Geist der »sapiens atque elodurchkreuzt, verschuldet er ungewollt dessen quens pietas« zu einer Gelehrtenschule nach dem Straßburger Modell des SchulreformaTod. Die Ohnmacht gegenüber einem inhuma- tors Johann Sturm (wie Schulpforta, Coburg, nen System zeigt auch das Hörspiel Die ver- Altdorf) umgestaltet worden war, mit Schüschlossene Tür (Stgt./Hbg. 1952. Stgt. 1987), lern aus dem Adel u. städt. Bürgertum. Es das zwischen Winter 1939 u. Sommer 1944 wurde ein Internat für auswärtige Schüler spielt. Kedell, ein durch die Nationalsozia- unterhalten, u. neben den Lateinklassen gab listen auf ein Gut in Posen umgesiedelter es in diesen ›Akademischen Gymnasien‹ eibalt. Adliger, gibt den jüd. Gutsbesitzer Levi nen Vorlesungs- u. Disputationsbetrieb. Befür seinen verstorbenen Bruder aus u. be- sonders gepflegt wurden in Lauingen Mediwahrt ihn bis zum Näherrücken der Front vor zin u. Jurisprudenz, der Ausbau zu einer dem Tod. Die geliehene Identität ist jedoch Hohen Schule oder Universität mit vollen Graduierungsprivilegien gelang dort jedoch für Levi am Ende tödlich. Weitere Werke: Das Fenster. 1961 (Fernsehsp.). nicht. Das griech.-lat. Synonymenlexikon von – Sieben Tage, sieben Nächte. Mchn. 1963 (E.en). – Martin Ruland d.Ä. (1532–1602), in Lauingen Die schweigsame Insel. Vier E.en. Nachw. v. Dieter Prof. der Medicina practica (Arzneikunde) u. Hasselblatt. Stgt. 1985. – Hörspiele: Amtmann En- Stadtphysicus, hat H. später (1590) bearbeiders. Baden-Baden 1949. – Eine Stunde Aufenthalt. tet, erweitert u. wiederholt herausgegeben Stgt. 1952. – Sabab u. Illah. Stgt. 1952. – Ich höre (seit 1594 in 2 Bdn.). An die Lauinger Jahre Namen. Stgt./Hbg. 1954. – Ein Weg v. acht Minu- schlossen sich nach 1577 Studien in Leipzig u. ten. Hbg. 1955. – Dichter Nebel. Hbg./Stgt. 1961. – Wittenberg an, wo H. 1579 den Magistergrad Die blaue Küste. 1970. erwarb. Seit 1581 als Lehrer der obersten Literatur: Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Klasse am St. Anna-Gymnasium in Augsburg, Gesch. u. Dramaturgie. Köln 1963. – Hans-Ulrich Wagner: Radio-Romancier. F. v. H. u. die Entste- wurde er dort 1593 Gymnasiarch (Rektor), hung des Hörspiels ›Das Schiff Esperanza‹. In: tie- darin wie auch im Amt des Direktors der Stadtbibliothek Nachfolger H. Wolfs († 1580), fenschärfe (2002/03), S. 22 ff. Ursula von Keitz / Red. der seine bedeutende Privatbibliothek dem Gymnasium in Lauingen vermacht hatte. H. neigte später den Vorstellungen des Reformdidaktikers Ratichius zu, der sich 1614 auf
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Einladung des Rektors in Augsburg zu einem Lehrversuch aufgehalten hat. Seine Ausbildung wie auch seine Ämter in der Reichsstadt verdankte H. der großzügigen Förderung durch die Welser. Neben dem pädagog. Beruf widmete er sich mit großem Fleiß, philolog. Akribie u. prakt. Verstand der Herausgabe antiker, bes. griech. Handschriften aus den Schätzen der Augsburger Bibliothek, die im Wesentlichen auf die Handschriften aus dem Besitz des Bischofs Antonius von Eparchos auf Zypern zurückgingen, die die Stadt für die stolze Summe von 800 Goldgulden 1545 erworben hatte. H. arbeitete bei vielen seiner Projekte mit den Augsburger Druckern Michael Manger, Johann Praetorius u. David Franck zusammen. Entscheidend für das Gelingen aller dieser Vorhaben war das mäzenat. Engagement des Historikers u. Archäologen Marcus (Marx) Welser († 1614), auch er ein Schüler von Hieronymus Wolf. Er gründete, »in glücklicher Vereinigung von Reichtum und gediegener Gelehrsamkeit« (Lenk 1968, S. 160 f.), um 1595 eine Verlagsdruckerei, unter einem eigenen Namen u. mit eigenem Signet: »Ad insigne pinus« (dazu bei Lenk, S. 160 ff.). Man achtete auf die Verwendung hochwertigen Papiers (»charta pulchra, firma & candida«: Brucker 1738), u. wohl nach dem Vorbild des Aldus Manutius entwickelte Welser speziell für die griech., aber auch für die lat. Editionen selbst eigene Drucktypen: die von vielen Zeitgenossen bewunderten »typi Velseriani«, die Lipsius in einem Brief an H. wegen ihrer Eleganz gelobt hat, auf die man nur neidisch sein könne (»ad invidiam elegantes«). Seit 1595 erschienen so fast Jahr für Jahr unter dem Namen Ad insigne pinus in schmalen Kleinoktavbänden knapp kommentierte Editionen griech. Kirchenväter, Historiker u. Geografen der byzantin. Hemisphäre (die Liste der Bücher bei Lenk, S. 221–224), auch in Zusammenarbeit mit dem Augsburger Schulkollegen u. als Mathematiker, Mediziner, Astronom u. Kalenderautor weithin bekannten Georg Henisch († 1618). Weitere Editionen, auch in größeren Formaten, wurden von den anderen Augsburger Offizinen herausgebracht, denen ohnehin meist der Druck u. die techn. Herstel-
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lung übertragen wurden. So erschienen Ausgaben von Gennadius, Phrynichos, Basilios, Johannes Chrysostomos, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa, Athanasios, Origenes, Andronikos von Rhodos u. Markianos Herakleotes, Matthaeus Kamariota, Philo Judaeus u. Anna Komnena, auch Sammlungen kürzerer Texte von mehreren Autoren waren darunter, die den in ganz Europa beliebten Klassikerausgaben des Verlags Elzevier in Leiden (später auch in Amsterdam) glichen. Diese begannen um diese Zeit zu erscheinen u. repräsentierten im 17. Jh. den Typus einer eleganten, weltkundigen Philologie, die in Frankreich u. den Niederlanden zu Hause war, das Gegenstück zu den schweren Quartanten u. Folianten (»cum notis variorum«) einer altmodisch werdenden Gelehrsamkeit u. bereits auf das neue Medium des Journals vorausweisend. Hochberühmt wurden H.s Editionen der Hieroglyphica des sog. Horapollo (1595) u. der astrolog. Iatromathematica des sog. Hermes Trismegistos von 1597, u. ebenso unter dem Zeichen der Augsburger Pinie (oder Fichte) erschien die Editio princeps des sog. Myriobiblíon des Patriarchen Photios aus Byzanz aus dem 9. Jh., eine der frühesten Sammlungen von Bücherkommentaren in der Geschichte der Literaturkritik (1601 mit dem griech. Text, die lat. Übersetzung von Andreas Schott SJ erschien in Augsb. 1606). H. arbeitete bei seinen Editionen mit wichtigen Bibliotheken u. den Großen der um diese Zeit philologisch dominierten europ. Gelehrtenrepublik zusammen, mit denen er einen ausgedehnten Briefwechsel unterhielt u. die mit Annotationen, Vorreden u. Begleitepisteln in seinen Ausgaben vertreten sind, darunter Joseph Scaliger, Isaac Casaubon, Daniel Heinsius, die Brüder Joachim u. Philipp Camerarius u. Justus Lipsius, der über H. gesagt haben soll, »mit dem Griechischen ist es nicht weit her, aber er arbeitet mit größter Sorgfalt« (non est magnus Graecus, sed diligentissimus), Sir Henry Savile (in Oxford u. Eton, der ebenfalls eigene Lettern für seine Bücher entwickelt hat) sowie der Heidelberger Bibliothekar Janus Gruter u. der auch am Neckar lehrende Ausburger Jurist u. Diplomat Marquard Freher. Besonders
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produktiv war von früh an die briefl. Partnerschaft mit dem griech. Bischof von Zypern, Maximos Margounios (Margunius), dessen geistl. Poemata H. 1592 herausbrachte u. der als Berater u. Manuskriptlieferant an mehreren Editionen beteiligt war. Im liberaliren. Geist des Augsburger Späthumanismus um 1600 pflegte H. auch eine Verbindung mit Gelehrten des Jesuitenordens. Besonders nahe stand ihm der herzoglich-bayer. Kanzler Johann Georg Hörwarth von Hohenburg, der für das kaiserl. Privileg der Druckerei gesorgt hatte. Viele Texte des Bandes der griech. Geographi minores z.B. (Geographica. 1600) gehen auf Manuskripte aus Hörwarths Besitz zurück. Werke: De humani generis lapsu eiusdemque restitutione oratio graeca. Lauingen 1577 (mit Widmung an Welser). – Synonymia Latino-Graeca. Dictionarium Latinograecum sive synonymorum copia. Augsb. 1590 (Bearb. des Werks v. Martin Ruland. Augsb. 1563). In 2 Bdn. 1594. Erw. 1607. – Hg.: Basilius, Gregor v. Nyssa, Gregor v. Nazianz, Johannes Chrysostomus, Cyrus Germanus: [zuerst griech. Titel] Homiliae quaedam sacrae. Augsb. 1587. – Hg.: Gregor v. Nyssa: Oratio de Filii et Spiritus S. deitate. Augsb. 1591. – Hg.: Gregor v. Nazianz: Definitiones rerum simplices. (Heidelb.) 1591 (lat. Übers. v. Johann Löwenklau / Leunclavius). Augsb. 1599. – Hg.: Maximos Margounios (Margunius) Episcopus Cytherensis: Poemata aliquot sacra, Graece nunc primum publicata. Leiden 1592. – Hg.: Gregor v. Nyssa: Opuscula quinque. Leiden 1593. – Hg.: Gennadius: De praedestinatione. Augsb. 1594. – Hg.: Johannes Chrysostomos: Oratio in diem natalem Servatoris nostri J. Christi. Augsb. 1594 (Widmung an Joachim u. Philipp Camerarius). – Nomenclator, sive index vocum trilinguis. Augsb. 1593. – Hg.: Andrónikos von Rhodos: Libellus perí patho¯n [griech.], id est, de animi affectionibus. / Anonymus: De virtutibus et vitiis. Augsb. 1594. 1617. – Catalogus Graecorum codicum qui sunt in Bibliotheca Reipublicae Augustanae Vindelicorum. Augsb. 1595 (vierfach erw. Ausg. des Kat. v. Hieronymus Wolf, 1575). – Hg.: Hieroglyphica Horapollinis, fide codicis Augustani msc. correcta, suppleta, illustrata. Lat. Übers. v. Bernardus Trebatius. Augsb. 1595. Erw. Utrecht 1727 (mit griech.-lat. Komm.). – Hg.: Nicolaus Cabasila: Oratio in foeneratores. Ms. v. Margunius. Augsb. 1595. – Hg.: Matthaeus Camariota: Synoptike¯ parado¯sis te¯s Rhetorike¯s [griech.] / Compendium Rhetoricae. Mitarb. v. Margunius. Augsb. 1597. – Hg.: Hermes Trismegistos: Iatromathematica ad
Höschel Ammonem Aegyptium. Augsb. 1597 (griech.-lat., cum notis). – Hg.: Ioannes Chrysostomos: De sacerdotio libri VI. Amplius locis emendati, aucti, illustrati. Mitarb. v. Margunius. Augsb. 1599 (griech.-lat.). – Hg.: Georg Henisch: Catalogus Bibliothecae inclytae Reipublicae Augustanae utriusque tum Graecae tum Latinae librorum impressorum et manu exaratorum. Augsb. 1600. – Hg.: Geographica. Marciani Heracleotae, Scylacis Caryandensis, Artemidori Ephesii, Dicaearchi Messenii, Isidori Characeni. Omnia nunc primum, praeter Dicaearchi illa, ex manuscript. codd. edita. Augsb. 1600 [Texte nur griech.]. – Hg.: Maximos Margounios: Hymni anacreontici. Lat. Übers. v. Konrad Rittershausen. Augsb. 1601. – Phrynichos: Epitome dictionum Atticarum sive Ecloga. Augsb. 1601. – Bibliothéke¯ tu Pho¯tíu [griech.] / Librorum, quos legit Photius Patriarcha excerpta et censurae (griech.-lat.). Quatuor msc. codicibus ex Graecia, Germania, Italia, Gallia collatis. D. H. Augustanus primus edidit, notas, in quibus multa veterum fragmenta antehac inedita illustravit. Augsb. 1601. Erw. u. d. T.: Pho¯tíu Myriobiblíon e¯ Bibliothéke¯ [griech.] / Photii Myriobiblion. Genf 1611. 1612. Rouen 1653. Eingegangen in die Ausg.: Photios: Bibliothèque. Hg. René Henry. 9 Bde., Paris 1959–77 (griech.-franz.). – Hg.: Johannes Chrysostomos: Contra Judaeos homiliae VI. Augsb. 1602 (griech. u. lat., mit Beiträgen v. J. Scaliger u. a. Enthält auch: Isidor Pelusiota: Epistola de abolita Judaeorum politia). – Hg.: Eclogae legationum: Dexippi Atheniensis, Eunapii Sardiani [...] cum corollario excerptorum e libris Diodori Siculi amissis [...]. Augsb. 1603 (Widmung an den Kaiserl. Rat Matthaeus Wacker v. Wackenfels). – Hg.: Origenes: Contra Celsum libri VIII. Augsb. 1605 (nach einem Ms. aus der Bibliotheca Palatina Boja; griech. u. lat., mit Beiträgen v. Isaac Casaubon u. a.). – Hg.: Anna Komnena: Alexiados libri VIII ab A. Comnena de rebus patre gestis scripti. Augsb. 1610 (Widmung an M. Welser u. J. J. Rehm). – Hg.: Athanasios: Vita S. Antonii Eremitae. Augsb. 1611 (Widmung an Anton Welser). – Hg. u. Übers. (mit Matthäus Schenck): Terenz: Comoediae VI germanico-latinae. Augsb. 1624. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Jean-Jacques Boissard u. Theodor de Bry: Bibliotheca chalcographica [...]. Heidelb. 1669 (Porträt H.s). – Theophil Spizelius: Templum honoris reseratum, in quo [...] orthodoxorum ac beate defunctorum theologorum philologorumque imagines exhibentur. Augsb. 1673, S. 328 ff. – Pierre Bayle: Dictionaire historique et critique. Bd. 2, Rotterdam 21702, S. 1579. Dt. Lpz. 1742. Nachdr. Hildesh. 1997, Tl. 2, S. 830 f. – Johann Jacob
Höß Brucker: Diss. epistolica, qua de meritis in rem literariam, praecipue Graecam, Davidii Hoeschelii [...] quaedam exponit. Augsb. 1738. – Rudolf Sillib: D. H.s Beziehungen zur Heidelberger Palatina. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 37 (1920), S. 174–178. – Karl Köberlin: Gesch. des humanist. Gymnasiums St. Anna v. 1531–1931. Augsb. 1931. – Richard Schmidbauer: Die Augsburger Stadtbibliothekare durch vier Jahrhunderte (1537–1952). Augsb. 1963 (mit Porträt). – Hans-Georg Beck: Hieronymus Wolf. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben 9 (1966), S. 169 ff. – Leonhard Lenk: Augsburger Bürgertum im Späthumanismus u. Frühbarock (1580–1700). Augsb. 1968. – L. Lenk: D. H. In: NDB. – Robert John Weston Evans: Rantzau and Welser. Aspects of later German Humanism. In: History of European Ideas 5 (1984), S. 257–272. – Augsburg in der Frühen Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsprogramm. Hg. Jochen Brüning u. Friedrich Niewöhner. Bln. 1995. – Donald F. Jackson: Augsburg Greek manuscript acquisitions 1545–1633. In: Codices manuscripti. Ztschr. für Handschriftenkunde, H. 29 (2000), S. 1–10. – Markus Völkel: Das Verhältnis v. ›religio patriae‹, ›confessio‹ u. ›eruditio‹ bei Marx Welser. In: Die europ. Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Hg. H. Jaumann. Wiesb. 2001, S. 127–140. Herbert Jaumann
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Lied wohl über seine Großmutter Sophie La Roche (geb. in Kaufbeuren) Kenntnis hatte, in Des Knaben Wunderhorn (Bd. 2, 1808) auf. Weitere Gedichte der 1900 Selig- u. 2001 Heiliggesprochenen sind das Lied von dem Todt (»Der Todt ist vor der thür«) u. das Kreuzweglied; an Betrachtungen sind erhalten geblieben: Gebete, ihr Testament u. die Gemütsversammlungen, alles geschrieben in einer schlichten, natürl. Sprache, ohne die zeittypische Rhetorik. Ausgaben: Johannes Gatz (Hg.): Briefe v., an u. über C. v. Kaufbeuren. Mchn. 1961 (Ausw. mit Verz. aller Briefe). – Rupert Gläser (Hg.): Die selige C. v. Kaufbeuren. St. Ottilien 1984. – Karl Pörnbacher (Hg.): Der Kreuzweg der heiligen C. H. v. Kaufbeuren. Lindenberg 2008. Literatur: Ignatius Jeiler: Leben der ehrwürdigen Klosterfrau M. C. H. Dülmen 41893. – M. Alfonsa Wanner: C. H. v. Kaufbeuren. In: Lebensbilder aus dem Bayer. Schwaben 4 (1955), S. 283–298. – Arthur Maximilian Miller: C. v. Kaufbeuren. Augsb. 1968. – Manfred Weitlauff: Die selige C. H. v. Kaufbeuren. In: Georg Schwaiger (Hg.): Bavaria Sancta. Bd. 2, Regensb. 1971, S. 242–282. – K. Pörnbacher: Die heilige C. H. v. Kaufbeuren. Lindenberg 22002. Hans Pörnbacher
Höß, Crescentia, Taufname: Anna, * 20.10. Hoest, Stephan, * um 1435 Ladenburg, 1682 Kaufbeuren, † 5.4.1744 Kaufbeuren; † 13.12.1472 Heidelberg. – Theologe, Grabstätte: ebd., Crescentia-Klosterkir- Humanist. che. – Erbauungsschriftstellerin u. Lied1468 u. 1469 hielt H., der nach dem Studium dichterin. Die Wollweberstochter trat 1703 in das Kaufbeurener Franziskanerinnenkloster ein. Bereits zu Lebzeiten genoss die mystisch begnadete Frau wegen ihrer Frömmigkeit u. ihrer lebensnahen Klugheit Verehrung bei allen Schichten. Ihr bescheidenes schriftstellerisches Werk, Briefe, Lieder u. fromme Betrachtungen, ist ein bedeutsames Zeugnis der »zweiten Mystik« im süddt. Raum u. für die Kulturgeschichte des 18. Jh. Ihre Briefe richten sich an Fürsten, gerade auch aus dem Haus Wittelsbach (Clemens August, Erzbischof von Köln; Kurfürstin Maria Amalia; Prinzessin Emanuela), an die Äbte von Ottobeuren, Irsee u. Kempten, an Geistliche u. Ordensleute, an Hilfesuchende aus allen Ständen. Ihr Leidenslied Tribulatio Salomonis nahm Brentano, der von diesem
in Heidelberg dort von 1467 bis zu seinem Tod Theologie lehrte, als Vizekanzler der Universität die Promotionsreden auf die Absolventen der via antiqua wie auf die der via moderna. Die Reden spiegeln H.s vermittelnde Stellung: Weiß er in der ersten den Verzicht der Antiqui auf die Quästionenliteratur zu loben, entwirft er in der zweiten zwar ein Bild der Aristoteles-Interpretation, in dem den Antiqui nur mehr die Rolle der Wegbereiter der Moderni zugestanden wird, neigt aber in theolog. Fragen doch eher dem Scotismus zu. An der Artistenfakultät las H. während seiner theolog. Studienzeit in der Nachfolge Peter Luders über Terenz, Cicero u. Vergil. Auch als Heidelberger Hofprediger u. Kanonikus zu Speyer versuchte er später, die Studia der Theologie nutzbar zu machen. Anders
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als Luder sah er die Rhetorik nur in dienender Funktion; in seiner Vorrede zu Augustinus’ De arte predicandi (Straßb. um 1465) u. in den von seinem Schüler Jakob Wimpfeling postum edierten Werken (Brevis modus predicandi; Oracio ad clerum Spirensem; Tetrastichon. Straßb. 1513) verweist H. bes. auf den Wert der Beredsamkeit für die pastorale Tätigkeit. Literatur: Gerhard Ritter: Via antiqua u. via moderna auf den dt. Universitäten des XV. Jh. In: Sitzungsber.e der Heidelberger Akademie der Wiss.en 7 (1922), S. 69–75, 102–106, 147–153. – Frank Baron: S. H., Reden u. Briefe. Mchn. 1971 (S. 100–239: Ausg. u. Übers. der Werke u. zeitgenöss. Zeugnisse). – Klaus Arnold: S. H. In: VL. Frank Fürbeth / Red.
Hövelen, Höfel, Conrad von, auch: Candorin, * 22.2.1630 Altona (heute zu Hamburg), † 15.11.1689 Brandholm/Jütland. – Schriftsteller, Sprachreformer. H. entstammte einer niedersächs. Familie, wohl aus Lebenstedt bei Braunschweig. Nach frühem Verlust des Vaters, der als Offizier in schwed. Diensten gestanden war, arbeitete H. seit 1647 als dän. Kanzlist in Glückstadt, dann (1651/52) als Postverwalter des schwed. Residenten in Hamburg u. war in untergeordneter Stellung auch bei den Friedensverhandlungen in Münster u. Osnabrück dabei. Hauslehrertätigkeiten bei den dän. Adelsfamilien Skeel u. Thott (seit 1652) auf Seeland schlossen sich an. H. interessierte sich dort für Runenschrift (Korrespondenz mit Ole Worm 1655) u. verfasste u. a. Rationes orthographicae (o. O. 1655), Philipp von Zesen u. Søren Terkelsen verpflichtete Anweisungen zur Reform der dt. u. dän. Rechtschreibung. Im Dänisch-Schwedischen Krieg 1657/58 besang er in Gedichten zunächst noch die dän. Erfolge; nach dem schwed. Sieg jedoch schrieb er in Stockholm Ballett-Libretti (erhalten ist das Danz-Lust-Spihl der Tugend Lohn. Stockholm 1659). Seit 1656 war H. heimlich mit Sibylle Gjøe, einer Nichte der Thotts, verlobt; 1661 floh sie zu ihm nach Schonen, wo er als Gutsverwalter tätig war. Beide verließen Schweden sofort u. heirateten 1662 auf der Reise nach Braunschweig, gegen den Willen der Brauteltern.
In Deutschland wurde H. als »der Höfliche« in Zesens u. als »Candorin« in Rists Gesellschaft aufgenommen. Nach je drei Jahren in Braunschweig (bis 1665) u. Lübeck (bis 1668) kehrte die Familie nach Dänemark zurück u. lebte, von Sibylles Familie wegen der Mesalliance praktisch geächtet, in kargen bäuerl. Verhältnissen, erst auf Fünen, schließlich auf dem Hof Brandholm bei Brande in Jütland. H. publizierte in Deutschland eine Reihe von Schriften über Kometenerscheinungen (u. a. Candorins abgefasseter Cometen-Entwurff. o. O. 1665. Candorins bemärkete weitaus-sähende Wunder über Wunder, samt den neuen Stern-Erscheinungen. Lübeck o. J. [1665]), des Weiteren mehrere geschichtl. Stadtbeschreibungen (von Lübeck, Ratzeburg, Hamburg u. Lüneburg). Bedeutend bleiben seine Gesellschaftsbücher des Elbschwanenordens: Des hochlöblich-ädelen Swanen-Ordens deudscher Zimber-Swan (Lübeck 1666. Aktualisierte Aufl.en mit neuen Titeln 1667 u. 1669). Außerdem stammt von ihm eine im Manuskript erhaltene Autobiogr. Der stätes geplagte Leidtrager Hiob, d. i. Kunrat von Hövelens Leben-Lauf. Ausgabe: Der kaiserl. freien Reichs-Stadt Lübek, glaub- u. besähewürdige Herrligkeit [...]. Lübeck 1666. Internet-Ed.: VD17. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2115–2122. – VD 17. – Weitere Titel: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 3, Hbg. 1857, S. 300–303. – Karl F. Otto: Die Sprachgesellsch.en des 17. Jh. Stgt. 1972, S. 52–54. – Vello Helk: Digteren C. v. H. (1630–89). In: Personalhistorisk tidsskrift 92 (1972), S. 29–46. – Herbert Blume: Søren Terkelsen, Philipp v. Zesen, Gottfried Hegenitz u. Konrad v. H. In: Daphnis 2 (1973). S. 54–70. – V. Helk: C. v. H. In: Daphnis 4 (1975), S. 144–171. – Ders.: C. v. H. In: BLSHL, Bd. 4 (1976), S. 110–112. – Heiduk/ Neumeister, S. 51, 186, 379 f. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellsch. [...]. Reihe II, Abt. C, Halle, Bd. 1. Hg. Martin Bircher u. Andreas Herz. Tüb. 1997 (Register). Herbert Blume / Red.
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Höxter, John, * 2.1.1884 Hannover, † 16.11.1938 Berlin. – Essayist, Autobiograf; Grafiker.
510 bin ein ungeübter Selbstmörder‹. Anmerkungen zu J. H. In: die horen 30 (1985), H. 137, S. 112–118. – Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 124–128. Heinrich Detering / Red.
Der Sohn eines jüd. Kaufmanns veröffentlichte bereits als Jugendlicher erste Arbeiten in der »Deutschen Theater-Zeitschrift«. Bis Hofbauer, Josef, * 20.1.1886 Wien, † 25.9. zu seinem Tod gehörte H. zu den bekann- 1948 Frankfurt/M. – Journalist u. Rotesten u. schillerndsten Gestalten der Berliner manschriftsteller. Boheme. Er war u. a. einer der ersten Mitarbeiter der Zeitschrift »Die Aktion«, des Der Sohn eines Arbeiters erlernte den »Neuen Club« u. des »Neopathetischen Ca- Schriftsetzerberuf u. schloss sich der sozialbarets«. Einige Zeit teilte er seine Wohnung demokratischen Jugendbewegung an. 1910 mit Jakob van Hoddis. Als ein »Ahasver des wurde er in die Redaktion der Zeitschrift Café Größenwahn« (Emil Szittya), als »ein auf »Freiheit« nach Teplitz-Schönau berufen, eigene Faust dadaisierender Vagant« (Walter 1914–1918 leistete er Kriegsdienst; 1919 Mehring) wurde der morphiumsüchtige H. wurde er Chefredakteur der »Freiheit«, wiederholt Gegenstand literar. Darstellung 1921–1923 der »Sozialistischen Jugend«. (u. a. in Else Lasker-Schülers Roman Mein 1924 ging er als Redakteur des »Sozialdemokrat« u. der Frauenzeitschrift »Gleichheit Herz. 1912). Sein eigenes poetisches Werk blieb schmal. und Frauenwelt« nach Prag. Als Mitgl. des 1919 begründete er die Zeitschrift »Der blu- Vorstands der Deutschen Sozialdemokratiˇ tige Ernst« (fortgeführt von Carl Einstein u. schen Arbeiterpartei in der CSR emigrierte er 1938 nach Schweden, wo er an mehreren George Grosz). Außer verstreuten Beiträgen Exilzeitschriften mitarbeitete. 1948 kehrte H. in Zeitschriften sowie einigen Mappen mit nach Deutschland zurück, um in Frankfurt/ Grafiken in der Nachfolge Aubrey Vincent M. die Redaktion der »Sozialistischen TribüBeardsleys veröffentlichte H. den Prosaband »So lebten wir«. 25 Jahre Berliner Bohème. Erin- ne« zu übernehmen. Neben polit. u. biogr. Schriften verfasste H. nerungen (Bln. 1929) u. als Privatdruck die sozialkritisch-kämpferische Lyrik; einen ZyGedichtsammlung Apropoésies Bohémiennes klus von Gedichten, der um die Frage nach (o. O. u. J.), die neben den von ihm stets bevorzugten parodistischen, gelegentlich da- den Ursachen des Scheiterns des Arbeiterdaistischen Sprachspielen u. Wortwitzen aufstands im Febr. 1934 kreist, hat H. als auch überzeugende Beispiele expressionisti- Chorwerk mit dem iron. Titel Wien, Stadt der Lieder (als Manuskript gedr. Bodenbach 1934) scher Lyrik enthält. eingerichtet. Seine bedeutendste Leistung als Nach der Pogromnacht 1938 nahm sich H. Erzähler legte er mit dem Kriegsroman Der das Leben, um »der dauernd wachsenden Marsch ins Chaos. Österreichs Kriegsbuch von der Entwürdigung« zu entgehen. In seinem Abitalienischen Front (Wien 1930) vor; die realisschiedsbrief an Leo von König schrieb er: tische Darstellung der gesellschaftl. demora»Die Werke, die man von mir hätte erwarten lisierenden Wirkung des Kriegs trat den dürfen, sind nie gereift – wol aber mehrten zeitgenöss. Tendenzen zur Mythisierung des sich gerade in den letzten Jahren die StimFronterlebnisses als Entstehungsort einer men, die mein ganzes Dasein als solches beineuen »Volksgemeinschaft« entgegen. spielhaft und künstlerisch-philosophisch als Weitere Werke: Der Kampf um Deutschböheine fortwirkende Legende empfinden.« Weitere Werke: Gedichte u. Prosa. Hg. FranzJosef Weber u. Karl Riha. Siegen 1984. 31985. – Ich bin noch ein ungeübter Selbstmörder. Mit einem Nachw. v. K. Riha. Hann. 1988. Literatur: Alfred Bergmann: J. H. Ein Denkstein. Detmold 1971. – F.-J. Weber u. K. Riha: ›Ich
men. Lpz. 1919. – Was will der Sozialismus? Versuch einer gemeinverständl. Darstellung. TeplitzSchönau 1925. – Im roten Wien. Studien-Reise dt. Arbeiter aus der Tschechoslowakei. Prag 1926. – Josef Seliger. Ein Lebensbild (zus. mit Emil Strauß). Prag 1930. – Dorf in Scherben. Ein Glasarbeiterroman. Bratislava 1937. – Der große alte Mann. Ein
511 Masaryk-Buch. Bratislava 1938. – Späte Ernte. Gedichte, zusammengestellt v. Adolf Hasenöhrl. Stgt. 1973 (teilweise veränderte Fassung der Ausg. Stockholm 1944). Literatur: Helmut Müssener: Exil in Schweden. Polit. u. kulturelle Emigration nach 1933. Mchn. 1974, S. 390 ff. Ernst Fischer
Hofé, Günter, auch: Bernd Elberger, * 17.3.1914 Berlin, † 27.12.1988 Königs Wusterhausen bei Berlin. – Erzähler, Film- u. Hörspielautor.
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Hofer, Cuno, * 9.6.1886 Genua, † 9.1.1931 St. Moritz. – Jurist; Prosaschriftsteller. Als Sohn von Auslandsschweizern kam H. mit 15 Jahren in die Schweiz u. studierte nach der Matura in Berlin, Bonn u. Zürich Rechtswissenschaften (Dr. jur. 1910). Er trat in den diplomatischen Dienst u. wurde 1914 Privatdozent für Völkerrecht in Genf. H. war Mitbegründer der Zeitschrift »Schweizerland« (1914–1921), die der inneren Konsolidierung der mehrsprachigen Schweiz dienen wollte. Während des Ersten Weltkriegs wurde er Mitgl. des schweizerischen Generalstabs. Tief betroffen vom Ausmaß des Völkerringens, ging er in Die Keime des großen Krieges (Zürich 1917) bzw. in Der Ausbruch des großen Krieges (Zürich 1919) dessen Ursachen nach u. vertiefte seine Schau dichterisch in Das Spiel der Hölle. Legende der modernen Menschheit (Lpz. 1922) u. in Das Nachspiel der Hölle. Eine Satire (Lpz. 1923). Verheiratet mit einer Gräfin Dessewffy, lebte er nach 1919 auf Schloss Bencsellö in Ungarn, wo sein einziger großer Roman Meine Geschichte und die meiner Gäste (Wien 1930) entstand: ein romantisierender Entwicklungsroman in der Tradition Stifters, der verschlüsselt das Leben des Autors u. dessen Leiden an der schweizerischen Enge gestaltet, aber auch die Enttäuschung über die polit. Entwicklung Ungarns nach 1918 spüren lässt. H. starb als Opfer eines Eifersuchtsdramas: Eine Engländerin streckte den 44-jährigen im Palace-Hotel St. Moritz mit vier Pistolenschüssen nieder.
Der Schlossersohn machte nach dem Abitur eine Lehre als Bankkaufmann, wurde 1939 Mitgl. der NSDAP, nahm als Offizier am Zweiten Weltkrieg teil u. war nach Kriegsende zunächst Transportarbeiter. 1946–1949 Journalist u. Lehrer, wurde er 1950 Direktor des Verlags der Nation in Ost-Berlin; 1950–1954 studierte er in Potsdam-Babelsberg Jura. H. war Mitgl. des P.E.N.-Zentrums der DDR. Nach dem anspruchslosen Rennfahrerroman Rivalen am Steuer (Bln./DDR 1957) verlegte sich H. auf Landser- u. Kriegsromane, die unter Einbeziehung dokumentar. Materials den Charakter der nationalsozialistischer Kriegsführung enthüllen. Diesem Thema ist sein auf eigene Erlebnisse u. Erfahrungen zurückgreifendes Buch Roter Schnee (Bln./DDR 1962. 241994. Ffm. 1966) gewidmet, das die Wandlung eines Offiziers der Hitlerwehrmacht darstellt. Sein Soldatenroman Merci, Kamerad (Bln./DDR 1970. 161999. Ffm. 1971) musste sich von Heinz Plavius Charles Linsmayer »Mangel an sprachlicher Sorgfalt« vorwerfen lassen; Metaphern u. Symbole rückten bei H. »nicht selten in die Nähe von Klischees«. Hofer, Klara, eigentl.: K. Höffner, geb. Weitere Werke: Monolog in der Hölle. Bln./ DDR 1968 (E.en). – Schlußakkord. Bln./DDR 1974. 11 1990 (R.). – Der dalmatin. Dolch. Bln./DDR 1980. 4 1990 (E.en). – Unser Dackel Max u. andere satir. Geschichten. Schkeuditz 2001. Literatur: Heinz Plavius: Vorstoß zu Breite u. Tiefe. In: Einf. in den sozialist. Realismus. Bln./ DDR 1975, S. 249. – Michael Dunkel: Verlegerpersönlichkeit u. Zensur. G. H. u. der Verlag der Nation. In: Leipziger Jb. zur Buchgesch. 12 (2003), S. 167–193. Birgit Baum / Red.
Gutsche, * 13.5.1875 Bromberg, † 1.9. 1955 Schloss Pilsach bei Neumarkt/Oberpfalz. – Erzählerin. Die Tochter eines Schulrats, verheiratet mit dem Pfarrer Johannes Höffner, begann wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zu schreiben. In ihren historisch-biogr. Romanen nähert sich H. der Lebens- u. Gefühlswelt Hebbels, Goethes, Luthers, Tolstojs u. Novalis’. Die Romane lesen sich wie nachgestellte Genrebilder, geschrieben im Geist bürgerl. Gemütsbildung. Die histor. Distanz ist auf-
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gehoben, stattdessen dominiert einfühlendes Nacherleben. In dem Roman Sonja Kowalewsky. Die Geschichte einer geistigen Frau (Bln./Stgt. 1927) erzählt H. vom Scheitern einer Frau im Konflikt zwischen Liebe u. Wissenschaft u. von ihrem Weg zu Innerlichkeit u. Gefühl. Auch in Inhalt u. Form ihrer Erzählungen, Novellen u. nichtbiogr. Romane bleibt H. Tochter der Gründerzeit. Weitere Werke: Weh dir, daß du ein Enkel bist. Bln. 1912 (R.). – Alles Leben ist Raub. Der Weg Friedrich Hebbels. Bln./Stgt. 1913. – Das Spiel mit dem Feuer. Bln. 1915 (R.). – Bruder Martinius. Ein Buch vom dt. Gewissen. Stgt./Bln. 1917. – Goethes Ehe. Stgt./Bln. 1920. – Das Schicksal einer Seele. Die Gesch. v. Kaspar Hauser. Nürnb. 1924. Offenbach/Main 2004. – Zur Hochzeit ruft der Tod. Die Gesch. vom Herzen des Novalis. Nürnb. 1925. – Ein osteurop. Schicksal. Die Gesch. des Artillerieleutnants L. N. Tolstoi. Tüb. 1929. – Das letzte Jahr. Roman um Theodor Körner. Bln. 1936. – Das Eichhörnchen. Eine rührende Gesch. Mchn. 1952 (Neufassung der Novelle ›Maria im Baum‹. Stgt. 1915). Literatur: G. Heine: H.s Hebbeldeutung u. die Frage des biogr. Romans. In: Persönlichkeit 1 (1914). – Otto Jungmann: Kaspar Hauser, Stoff u. Problem in ihrer literar. Gestaltung. Diss. Ffm. 1935. – Ingrid Mittenzwei: K. H. In: NDB. Sabine Geese / Red.
Hoff, Kay, eigentl.: Adolf Max H., * 15.8. 1924 Neustadt/Holstein. – Lyriker, Erzähler, Hörspielautor. Ab 1942 Mitgl. der Wehrmacht, geriet H. bei Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft. Ab 1945 studierte er Germanistik, Kunstgeschichte u. Psychologie in Kiel u. promovierte 1949 mit der Dissertation Die Wandlung des dichterischen Selbstverständnisses in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dargestellt an der Lyrik dieser Zeit. 1950–1952 arbeitete er als Bibliothekar in Düsseldorf, danach als freier Journalist u. Schriftsteller. 1970–1973 leitete er das Deutsche Kulturzentrum u. die Hirschbibliothek in Tel Aviv u. war anschließend wieder freiberuflich tätig. H.s umfangreiches Œuvre, das Romane, Erzählungen, Gedichte, journalistische Arbeiten u. Hörspiele umfasst, kennzeichnet
insg. die krit. Auseinandersetzung mit der bundesrepublikan. Nachkriegsgesellschaft sowie mit der jüngeren dt. Zeitgeschichte. Dabei vertritt H. ausdrücklich den Standpunkt eines engagierten Schriftstellers: »Schreiben vor allem aus dem Bewußtsein, daß in dieser Welt etwas bewirkt, etwas verändert werden müsse.« Dieses kritisch-aufklärerische Selbstverständnis, das H. auf seine desillusionierenden Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus u. im Krieg zurückführt, zeigt sich unverstellt in dem Hörspiel Kein Gericht dieser Welt (SDR 1961). Geschildert wird der Traum eines von den Erlebnissen des Krieges zutiefst traumatisierten Mannes, der in einem Gerichtsprozess sich u. seine ungeklärte Schuld aus undurchsichtigen Kriegszeiten rechtfertigen muss: »vorsichtig sein, vorsichtig, sage nichts weiter, du weißt nichts, sie wollen unser Vergessen nicht dulden, vorsichtig, der Richter will mich verurteilen [...].« Diese Verbindung von Vergangenheitsbearbeitung u. krit. Gegenwartsanalyse zeichnet auch den Roman Bödelstedt oder Würstchen bürgerlich (Hbg. 1966) aus: Anhand der Geschichte einer kleinen Stadt von den dreißiger Jahren bis in die sechziger Jahre wird gezeigt, wie ein bis in die erzählte Gegenwart ungebrochener Nationalismus, wie Opportunismus u. Kritiklosigkeit dem Nationalsozialismus den Weg ebneten. Die Anwendung der Montagetechnik ermöglicht dabei eine multiperspektiv. Darlegung (ein Erzählverfahren, das H. auch in späterer Prosa immer wieder einsetzt u. weiter entwickelt). Den Kommentaren des fiktiven Herausgebers, eines ehem. Nationalsozialisten, stehen kontrastierend verschiedene Aufzeichnungen seines Schwiegersohns gegenüber, die dessen erstarkendes krit. Bewusstsein dokumentieren. Dieses erwartet H. ausdrücklich auch von seinen Lesern, wie das dem Roman vorgeschaltete Motto verdeutlicht: »Wenn der, der erzählt, von Sinnen ist, muß der, der ihm zuhört, vernünftig sein.« H.s Gedichte hingegen formulieren »Chiffren einer reduzierten Welt« (H. Hartung), die, wie etwa in dem Band Bestandsaufnahme (Düsseld. 1977), polit. Argwohn (»Keine Schatten, kein Schritt / von gestern. Gutes Gewissen / spiegeln die Fenster«),
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Zweifel an sprachl. Repräsentation (»Unter verbrauchten Wörtern / meine Trauer, ausgespart«) u. die resignative Absage an weltanschaul. Letztbegründungen (»Kein Versprechen außer der Zeit«) miteinander verbinden. H. erhielt neben verschiedenen Stipendien u. a. 1965 den Ernst-Reuter-Preis u. 1968 den Georg-Mackensen-Literaturpreis. 1994 war er Ehrengast der Villa Massimo in Rom. Weitere Werke: In Babel zuhaus. Stierstadt/ Taunus 1958 (L.). – Zeitzeichen. Düsseld. 1962 (L.). – Skept. Psalmen. Duisb. 1965 (L.). – Eine Gesch. Krefeld 1968 (E.). – Zwischenzeilen. Darmst. 1970 (L.). – Gegen den Stundenschlag. Düsseld. 1982 (L.). – Janus. Düsseld. 1984 (R.). – Der Kopf in der Schlinge. Kiel 2000 (R.) – Ges. Werke in Einzelausg.n. Siegen 2002 ff. – Reminiszenzen. Vier Elegien. Siegen 2006 (L.). Literatur: Harald Hartung: Neue Gedichtbücher. In: NR (1977), H. 2, S. 289–295. – Jürgen H. Petersen: K. H. In: KLG. – Thomas Wörther: Schr.en eines Unbequemen. Das Prosawerk v. K. H. Diss. TU Bln. 2008 (Online-Dokument: http:// opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2008/1820/). Kai Sina
Hoffer, Klaus, * 27.12.1942 Graz. – Erzähler, Essayist u. Übersetzer. Nach dem Studium der Altphilologie, Germanistik, Kunstgeschichte u. Anglistik in Graz promovierte H. 1970 mit einer Arbeit über Franz Kafka. Auf einen Studienaufenthalt in den USA folgte 1966 die Veröffentlichung erster Texte in der Zeitschrift »manuskripte«. H. arbeitete zunächst als freier Journalist u. war 1973–2002 als Lehrer tätig. 1973–1975 war er Generalsekretär der Grazer Autorenversammlung. Bis 1974 erschienen literarisch-theoret. Beiträge u. wissenschaftl. Studien zu Werken Kafkas u. Handkes, aber auch kulturpolit. Essays u. kürzere Prosatexte. Erst danach begann seine Arbeit an der differenziert u. umfangreich angelegten Erzählung Bei den Bieresch, deren erster Teil Halbwegs (Ffm.) 1979 vorlag: Hans, der Ich-Erzähler, reist, den archaischen Gesetzen seiner Herkunft folgend, aus der Stadt in den entlegenen »Osten des Reiches«, um im Dorf »Zick« die Stelle seines verstorbenen Onkels, eines Briefträgers, ein-
zunehmen. Der Leser folgt dem Helden auf seiner Odyssee durch ein Labyrinth des Grauens. Auf der Folie des traditionellen Bildungsromans entwirft H. das Modell von dessen Umkehrung: Hans erlebt die Auflösung seiner alten u. die Zuweisung einer neuen Identität (u. des neuen Namens »Halbwegs«) als Prozess äußerster phys. u. psych. Gefährdung. In Der große Potlatsch. Bei den Bieresch 2 (Ffm. 1983) begreift der Ich-Erzähler die Mythen, Bräuche u. Redensarten der Bieresch als Fortschreibungen eines fatalen Geschichtsverlaufs. Ein umfangreiches Montage- u. Vexierspiel mit Zitaten aus der abendländ. Kultur- u. Literaturgeschichte bestimmt Aufbau u. Komposition der Bieresch-Erzählung, die 2007 (Graz/Wien) wieder aufgelegt wurde. Auch der Prosatext Am Magnetberg. Ein Fragment (Graz 1982) variiert u. radikalisiert die Metapher des Lesers als Deuter von Welt. In tagebuchartigen Aufzeichnungen rekapituliert ein Außenseiter die Verstümmelungen u. Verstörungen seiner Existenz: »Gelebt habe ich, jetzt ist Lesen mein Leben.« H. hat der hochgelobten Bieresch-Prosa kein umfangreicheres literar. Werk mehr an die Seite gestellt, weil sich ihm das Schreiben, wie er sagt, »hartnäckig verweigert«. Sein einziger Roman bleibt für ihn weiterhin wichtiger Bezugspunkt: In dem Essay Pusztavolk (Graz/ Wien 1991) beschreibt er u. a. den Entstehungsanlass von Bei den Bieresch. 2008 erschien die Essaysammlung Die Nähe des Fremden (Graz/Wien). Wie schon in seiner Dissertation u. auch der Grazer Poetikvorlesung Methoden der Verwirrung (Graz/Wien 1986) spielt Kafka eine wichtige Rolle. Die hier versammelten Vorträge u. Essays kreisen um autobiogr. Themen; sie beziehen sich auf Werke der Literatur u. der Bildenden Kunst. H. stellt u. a. die Frage nach der Herkunft des Individuums, nach personaler u. kollektiver Identität. Es geht hier um Annäherungen an den Begriff ›Heimat‹. H. erhielt u. a. 1980 den Rauriser Literaturpreis, 1981 den Alfred-Döblin-Preis u. 1992 den »manuskripte«-Preis der Landes Steiermark.
Hofferichter Weitere Werke: Unter Schweinen. In: manuskripte 21 (1967/68), S. 8–10 (Auszug). – Lesen & Schreiben. Für Heinz F. Schafroth. In: Neue Rundschau 3 (1980), S. 283–290. – Niemand will mehr wissen, was wirklich los ist. Ein Zeit-Gespräch mit Kurt Vonnegut über den Roman ›Galgenvogel‹. In: Die Zeit, 10.10.1980. – Graz von außen. Hg. zus. mit Alfred Kolleritsch. Graz/Wien 2003. – Übersetzungen: Kurt Vonnegut: Galgenvogel – Jailbird. Mchn./Zürich 1980. – Jakov Lind: Reisen zu den Enu. Wien/Bln. 1982. – Joseph Conrad: Lord Jim. Zürich 1998. – Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Graz/Wien 2008. Literatur: Peter Handke: Von einem redelustigen Gottesvolk. In: Der Spiegel, 25.6.1979. – Hanns-Josef Ortheil: Potlatsch. In: Die Zeit, 22.4.1983 (über ›Bei den Bieresch‹ 1 u. 2). – Rainer Landvogt: Schrift als Schicksal. Zur Textualität u. Intertextualität in K. H.s Roman ›Bei den Bieresch‹. Würzb. 1990. – Madeleine Napetschnig: K. H. Graz/Wien 1998. – Daniele Bartens: K. H. In: LGL. – Stefanie Kreuzer: Literar. Phantastik in der Postmoderne. K. H.s Methoden der Verwirrung. Heidelb. 2007. Andrea Stoll / Thomas Combrink
Hofferichter, Theodor Alexander Konstantin, * 11.3.1815 Liegnitz/Niederschlesien, † 17.1.1886 Magdeburg. – Evangelischer Theologe, Verfasser von Gedichten, religiösen u. politischen Schriften. Aufgewachsen in Liegnitz, studierte H. 1834–1837 in Breslau evang. Theologie u. wurde nach einer Anstellung als Hauslehrer 1843 zum Rektor der evang. Stadtschule u. zum Hilfsprediger im oberpfälz. Neumarkt ernannt. Zwei Jahre später wandte er sich von der Kirche ab u. kehrte als Prediger der christkath. (später freireligiösen) Gemeinde nach Breslau zurück, wo er seine Gesänge für den Gottesdienst christkatholischer Gemeinden (1846) publizierte. Mehr noch als in anderen Regionen war die religiöse Erneuerungsbewegung der 1840er Jahre – ausgelöst durch den offenen Brief des kath. Priesters Johannes Ronge an den Trierer Bischof Arnoldi zur Heilig-Rock-Ausstellung in Trier (1844) – im von Massenarmut und -elend bes. betroffenen Schlesien auch eine soziale u. polit. Protestbewegung. Zwar relativierte H. in seiner Schrift Die kirchliche Bewegung. Briefe an seine Freunde (Breslau 1847) wie viele andere seiner
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Zeitgenossen die polit. Handlungsmotivationen der Bewegung, doch weisen seine späteren Schriften (Die Union der freien Gemeinden des Katholizismus und der Protestantismus. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Bewegung dieser Zeit. Lpz. 1850. Religionslehre. In Vorträgen. [Joh. Ronge gewidmet] 3 Bde., Breslau 1861–65), in denen H. ein auf das Diesseits u. die sozialen Lebensumstände der Menschen ausgerichtetes Religionsverständnis propagiert, eine eklatante Nähe zu liberalen bzw. demokratischen u. sozialistischen Positionen der Vormärzzeit auf. Schon an den Entwicklungen im Frankfurter Vorparlament nahm H., der im März 1848 Mitbegründer des Demokratischen Vereins in Breslau war, regen Anteil, indem er der Forderung nach einem einheitl. Deutschland in seiner zusammen mit Friedrich Reder publizierten Sammlung Deutsche Lieder (Breslau 1848) Ausdruck verlieh u. im ersten Heft seiner Zeitfragen (Der Entwurf des deutschen Reichsgrundgesetzes. Beleuchtet von T. H. Breslau 1848) neben anderen Artikeln auch die Entscheidung für ein Erbkaisertum im Verfassungsentwurf der Bundesversammlung vom April 1848 zugunsten der Volkssouveränität kritisierte. Nach dem polizeil. Verbot der freireligiösen Gemeinde in Breslau 1852 bis zur Übersiedlung nach Magdeburg zwei Jahre vor seinem Tod verdiente H. seinen Lebensunterhalt als Kaufmann u. war 1865–1874 u. 1877–1884 daselbst Stadtverordneter. Weitere Werke: Predigten. Bd. 1: Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind. 12 Predigten gehalten in Breslau, Friedeberg a. Q., Görlitz. Lauban 1845. – Die einundzwanzig Artikel des Dr. Ottmar Behnsch. Breslau 1847. – Vom Himmel zur Erde. Bln. 1871. – Kriegs-Sonette. Breslau 1872. Literatur: Ferdinand Kampe: Gesch. der religiösen Bewegung der neuern Zeit. Bd. 2, Lpz. 1854, S. 79–115 (Breslau). – Jörn Brederlow: ›Lichtfreunde‹ u. ›Freie Gemeinden‹. Religiöser Protest u. Freiheitsbewegung im Vormärz u. in der Revolution v. 1848/49. Mchn. 1976. – Friedrich Heyer (Hg.): Religion ohne Kirche. Die Bewegung der Freireligiösen. Ein Hdb. Stgt. 1977. – Lexikon freireligiöser Personen. Hg. Eckhart Pilick. Rohrbach/Pf. 1997. Bernhard Walcher
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Hoffman, Hof(f)mann, Melchior, * um 1500 Schwäbisch Hall, † Ende 1543 Straßburg. – Frühreformatorischer Laienprädikant, später Täuferführer; Verfasser apokalyptischer Traktate u. biblischer Kommentare. Der Kürschner H. versuchte 1523–1526, in Livland eine antiklerikale Reformation im Geiste Andreas Karlstadts voranzutreiben. Seine Prophezeiung des Weltendes für 1533 führte zu Konflikten mit dem Deutschen Orden (Einkerkerung in Wolmar) u. nach dem Bildersturm in Dorpat (Jan. 1525) auch mit den luth. Geistlichen u. Stadträten von Dorpat, Riga u. Reval. Diese Streitigkeiten endeten mit seiner Verbannung. König Gustav I. Wasa wies ihn auch aus Stockholm aus, doch gewährte ihm der dän. König Friedrich I. die Stelle eines Diakons an der Kieler Nikolai-Kirche (1527). H. gründete die erste Kieler Druckerei, die er in der Auseinandersetzung mit Nikolaus von Amsdorff zur Verteidigung seiner Apokalyptik u. im Kampf gegen die luth. Abendmahlslehre benutzte. In der Flensburger Disputation (April 1529) wurde seine spiritualistische Sakramentsauffassung von Johannes Bugenhagen verurteilt, worauf der dän. König ihn des Landes verwies. H. zog mit Karlstadt zu den »Sakramentariern« nach Ostfriesland, dann nach Straßburg, dessen Reformatoren H.s Apokalyptik u. seine allegorisch-typolog. Hermeneutik nach anfängl. Sympathien für seine Abendmahlslehre verwarfen. Darauf schloss H. sich den »Straßburger Propheten« an, die als Täufer glaubten, unmittelbare Offenbarungen Gottes zu empfangen. In Straßburg veröffentlichte er einen großen Teil seiner insg. 40, nur z.T. erhaltenen Schriften. Nachdem er im Frühjahr 1530 vom Straßburger Rat eine eigene Kirche für die Täufer verlangt hatte, erließ dieser Haftbefehl gegen ihn. H. entkam nach Emden. 1530–1532 gewann H. in Ostfriesland u. in Holland viele Anhänger. 1533 kehrte er nach Straßburg zurück, weil er aufgrund eigener Berechnungen u. der Träume der »Straßburger Propheten« glaubte, dass dort der apokalypt. Endkampf toben u. die Stadt das neue
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Jerusalem sein würde. Angesichts der vielen taufgesinnten Flüchtlinge in der Stadt erwartete Martin Bucer einen Umsturzversuch der »Melchioriten«. Auf der Straßburger Synode (Juni 1533) wurde H. wegen seiner monophysit. Christologie, der Lehre vom freien Willen, von der Universalität der göttl. Gnade, der Verwerfung der Säuglingstaufe u. der Doktrin von der Unvergebbarkeit der Sünden nach der Bekehrung verdammt. Als unbelehrbarer Ketzer u. potentieller Anführer blieb er bis zum Tod eingekerkert. H. schuf die geistigen Grundlagen des Münsteraner Täuferreichs. Er konzipierte die »messianischen Wirren« als militärischen Endkampf zwischen den freien Reichsstädten, angeführt von Straßburg u. den Mächten des Bösen, vertreten durch Kaiser Karl V. als Hauptmann, unterstützt vom Papst u. allen übrigen »Irrlehrern«. Am »Tag der Rache« müsse der »ganze Haufen der Pfaffen untergehen«. Die Täufer sollten – wie die perfecti der Katharer – in diesem blutigen Ringen nicht die Waffen führen, diesen Kampf aber durch Gebete u. Schanzarbeiten fördern. Noch vor Christi Wiederkunft würde ein theokratisches Zwischenreich entstehen, von einem frommen König u. einem erleuchteten Propheten gemeinsam regiert. Jan Matthijs, Jan van Leiden u. Bernd Rothmann griffen diese Ideen auf u. bezogen sie auf Münster, eliminierten aber das pazifistische Element. H. muss als eigentl. Stifter des ostfries. u. des niederländ. Täufertums (»Mennoniten«) gelten, das sich von den süddt.-schweizerischen Täufern lange aufgrund der von H. entwickelten monophysit. Christologie unterschied, wonach Jesus Christus nicht das Fleisch Marias angenommen habe. Ausgabe: Ausw. an Texten in: Flugschr.en vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535). Hg. Adolf Laube u. a. 2 Bde., Bln. 1992. Literatur: Peter Kawerau: M. H. In: NDB. – Klaus Deppermann: M. H. Soziale Unruhen u. apokalypt. Visionen im Zeitalter der Reformation. Gött. 1979 (mit Werk- u. Quellenverz.). – Sjouke Voolstra: Het Woord is Vlees geworden. Kampen 1982. – Calvin A. Pater: Karlstadt as the Father of the Baptist Movements. Toronto 1984. – Ralf Klötzer: The Melchiorites and Münster. In: John D. Roth u. James M. Stayer (Hg.): A Companion to
Hoffmann Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700. Leiden/ Boston 2007, S. 217–256. – Samme Zijlstra: M. H. In: Biogr. Lexikon für Ostfriesland. Bd. 4, Aurich 2007, S. 205 f. Klaus Deppermann / Hans-Jürgen Goertz
Hoffmann, Camill, auch: Kamil H., * 31.10.1878 Kolin/Böhmen, † Ende Oktober 1944 Konzentrationslager Auschwitz. – Lyriker, Journalist u. Übersetzer; Diplomat. Als zwölftes Kind einer deutschsprachigen jüd. Familie wuchs H. – sein Vater war Gastwirt – in bescheidenen Verhältnissen in der böhm. Kleinstadt Kolin auf. Er besuchte in Prag das k. k. Staats-Obergymnasium (Stephansgymnasium) in der Neustadt u. anschließend die Deutsche Handelsakademie in der Altstadt, wo er 1899 die Matura bestand. Nach dem Militärdienst ging er nach Wien u. wurde 1902 Feuilletonredakteur bei der linksliberalen Tageszeitung »Die Zeit«; 1912–1918 war er Redakteur u. Kritiker der »Dresdner Neuesten Nachrichten«. Bald nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zog H., der mit Jakob Hegner befreundet war, nach Hellerau. Er schrieb auch für die »Neue Freie Presse« (Wien), das »Prager Tagblatt« oder überregionale Berliner Zeitungen wie die »Vossische Zeitung« u. »Die Schaubühne«. H. machte früh auf Werfel u. auf Kafka aufmerksam; später förderte er Hermann Ungar. Im Nov. 1918 erklärte er sich solidarisch mit der »Sozialistischen Gruppe der Geistesarbeiter«. In Paul Leppins Flugschrift »Frühling« (H. 1, 2 u. 3, Prag 1900) veröffentlichte H. erste Gedichte, die den Einfluss tschech. Volkslieder zeigen. Die u. a. an Rilke u. den frz. Symbolisten orientierten neuromantischmelanchol. Lyrikbände Adagio stiller Abende (Bln./Lpz. 1902) u. Die Vase (Bln.-Charlottenburg 1910) blieben H.s einzige eigenständige Publikationen. Mit Stefan Zweig, den er bei Hugo von Hofmannsthal in Rodaun kennen gelernt hatte, übersetzte er Charles Baudelaires Gedichte in Vers und Prosa (Lpz. 1902); die von ihm allein übersetzten Gedichte in Prosa erschienen später auch in der »Insel-Bücherei« (Lpz. 1914).
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Für den Aufbau des deutschsprachigen Regierungsblatts »Prager Presse« holte ihn Staatspräsident Masaryk, den er seit seiner Mitarbeit an der Wiener »Zeit« kannte, im Frühjahr 1919 in die CˇSR zurück u. betraute ihn 1920 mit der Leitung der Presseabteilung an der neu eingerichteten tschechoslowak. Vertretung in Berlin; 1921 wurde er zum Presseattaché, 1925 zum Direktor der Presseabteilung u. 1927 zum Ministerialrat des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten ernannt. Nach der Pensionierung Ende Jan. 1939 lebte H. wieder in Prag. Im April 1942 wurden er u. seine Frau Irma nach Theresienstadt u. Ende Okt. 1944 weiter nach Auschwitz deportiert, wo sie gleich nach der Ankunft ermordet wurden. H.s Werk, das auch Übersetzungen aus dem Tschechischen umfasst (u. a. Tomásˇ G. Masaryk: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914–1918. Bln. 1925. Edvard Benesˇ : Der Aufstand der Nationen. Der Weltkrieg und die tschechoslowakische Revolution. Bln. 1928), steht im Zeichen des Ausgleichs der tschech., jüd. u. dt. Kultur. Am Neujahrstag 1932 begann H. ein Politisches Tagebuch (hg. u. kommentiert von Dieter Sudhoff. Klagenf. 1995), das er mit größeren Lücken bis zum 7.5.1939 fortführte; es ist ein zeitgeschichtlich wichtiges Dokument zum Entstehen des NS-Regimes u. zu den tschechisch-dt. Beziehungen. Weitere Werke: St. Moritz-Bad. Zürich 1895. Nachdr. Zürich 1987. – Zuflucht. Späte Gedichte u. Erzählungen. Hg. Dieter Sudhoff. Siegen 1990. – Die drei faulen Bauern. In: Prager dt. Erzählungen. Hg. D. Sudhoff u. Michael M. Schardt. Stgt. 1992, S. 125–136. – Herausgeber: Dt. Lyrik aus Österr. seit Grillparzer. Bln. 1912. – Briefe der Liebe. Dokumente des Herzens aus Zwei Jahrhunderten europ. Kultur. Bln. u. a. o. J. [1913]. – Übersetzungen: Charles-Louis Philippe: Bübü vom Montparnasse. Ein Roman mit zwanzig Holzschnitten v. Frans Masereel. Mchn. 1920. Neuaufl. Stgt. 1986. – Ru8 zˇena Svobodová: Der aufmerksame Liebhaber. Mchn. 1921. – Honoré de Balzac: Kleine Leiden des Ehestandes. Mit Illustrationen v. Bertall. Mchn. 1922. Neuausg. Bln. 1989. 21990. – Kamil Krofta: Gesch. der Tschechoslowakei. Bln. 1932. – Masaryk erzählt sein Leben. Gespräche mit Karel Cˇapek. Bln. 1936. Zürich 1938. Wieder als Bd. 1 der K.-CˇapekWerkausg: Gspräche mit Masaryk. Hg. Eckhard
517 Thiele. Mindelheim 1990 (mit einigen Ergänzungen der Übers. durch E. Thiele). Neuausg. Stgt./ Mchn. 2001. Literatur: Dieter Sudhoff: Nachw. in: C. H.: Zuflucht, a. a. O., S. 44–54. – Ders.: Wanderer zwischen den Welten. Vom Leben u. Sterben des Prager Dichters u. Berliner Diplomaten C. H. In: Brennpunkt Berlin. Prager Schriftsteller in der dt. Metropole. Hg. Hartmut Binder. Bonn 1995, S.101–143. – Jindrˇich Dejmek: C. H. and his Berlin Political Diaries. An Important New Source on the History of Czechoslovak Diplomacy and Czechoslovak-German Relations in the 1930s. In: Prague Yearbook of Contemporary History 1998 (1999), S. 39–63. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Herbert Ohrlinger / Bruno Jahn
Hoffmann, Christian, * 1634 Breslau, † 16.4.1674 Breslau. – Lehrdichter u. Rhetoriker.
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Die Bergprobe wurde bald nach ihrer Entstehung von Daniel Czepko den Liegnitzer Herzögen vorgetragen; Neumeister rügte stilistische ›Dunkelheit‹; Bouterwek hingegen erblickte in der Bergprobe das Werk eines »würdigen Schülers« Opitzens u. lobte den »poetischen Reiz« ihrer »unterirdischen Naturgemählde«. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wollte man in ihr weniger ein montanistisches Lehrgedicht als eine von Opitz dichterisch weit entfernt stehende Ehrdichtung u. Fürstenprunkrede gelten lassen (Albertsen). Weitere Werke: Umbra in luce. Jena 1667. 1680. – Freud u. Leid aus einem Munde. Jena 1670. – Das unsterbl. Breßlau. Breslau 1671. – Dt. RedeUbungen. Lpz. 1695. Nachdr. Kronberg 1974 (fälschlich Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau zugeschrieben). Literatur: Friedrich Bouterwek: Gesch. der
Nach Schulbesuch in Liegnitz u. Breslau ob- Poesie u. Beredsamkeit [...]. Bd. 10, Gött. 1817, lag H. seit 1653 philosophisch-theolog. Stu- S. 233–236 (mit Textproben). – Colmar Grünhadien in Leipzig; dann stand er vermutlich als gen: C. H. In: Ztschr. des Vereins für Gesch. u. Albergmänn. Offiziant im Dienst der Herzöge terthum Schlesiens 5 (1863), S. 168–171 (mit Abdr. von Liegnitz, Brieg u. Wohlau. Seit 1664 eines Briefs v. 1667). – Leif Ludwig Albertsen: Das studierte er in Jena, wo er vor 1667 die theo- Lehrgedicht. Aarhus 1967, S. 114–117. – Franz log. Magisterwürde erlangte u. dann an der Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern/ Philosophischen Fakultät lehrte. Ab 1671 Mchn. 1971, S. 190–192. – Heiduk/Neumeister, S. 51, 186 f., 380 f. Joachim Telle unterrichtete er am Breslauer ElisabethGymnasium. Nachruhm verdankte H. weniger seinen Hoffmann, Dieter, auch: Anton ThorLehrschriften für Redner oder den in Jena müller, * 2.8.1934 Dresden. – Lyriker u. unter seiner Ägide 1668/71 entstandenen Essayist; Kunstschriftsteller. Disputationen als seiner Berg-Probe: Oder Der Sohn eines Speditionskaufmanns begann Reichsteinischer Göldner Esel (1659; gedr. Jena als Kunstkritiker der Ost-CDU-Zeitung »Die 1674), die zu den wenigen nach antik-huUnion« in Dresden. Ende 1957 siedelte er manistischen Mustern geschaffenen deutschnach Süddeutschland über u. arbeitete für sprachigen Sachepen des 17. Jh. gehört u. in verschiedene Zeitungen, u. a. unter dem Naihrem Verfasser einen frühen Opitz-Anhänmen Anton Thormüller als Kunstkritiker für ger zu erkennen gibt. Die 704 paargereimten die »FAZ«. 1963 war er Villa-Massimo-StiAlexandriner schildern auf der Grundlage pendiat. 1990 nahm er die Poetikdozentur aktueller Fachschriften u. aus »eigener Beder Mainzer Akademie wahr. Seit 1953 versichtigung« das Berg- u. Hüttenwesen um öffentlichte H., oft in enger Zusammenarbeit den Goldenen Esel in den nördl. Sudeten, mit bildenden Künstlern, zahlreiche Gebieten montanistisch-metallogenet. Lehrgut, dichtbände sowie literar. u. kunstkrit. Essays, zeichnen sich durch die Verarbeitung der Monografien u. Anthologien. Daneben gab er »bergmännischen Redens-Art« aus u. bergen ausgewählte Werke Reinhard Goerings nach dem Vorbild des hohen Epos geformte (Mchn. 1961) u. Martin Raschkes (Heidelb./ Aufbauteile (Preis des Vaterlands, HerrscherDarmst. 1963) heraus. H. lebt seit 1994 in lob). Ebersbrunn/Unterfranken. 2001 wurde ihm die Wilhelm-Heinse-Medaille für Essayistik
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der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur verliehen. H.s erste Gedichte entstanden in der DDR (Aufzücke deine Sternenhände. Privatdr. 1953). Mit dem Band Eros im Steinlaub (Neuwied/Bln. 1961) datiert H. selbst einen Stilwandel. Seine folgenden Arbeiten sind zunehmend geprägt von lakonisch-sachl. Tonfall u. nüchterner Genauigkeit im Erfassen signifikanter Bilder u. zeigen H.s Nähe zu Huchel, zum Frühwerk Eichs, aber auch zur bildenden Kunst. Neben die von Beginn an dominierenden Naturgedichte treten zunehmend poetisch-histor. Porträts. Die Darstellungen von Landschaften u. Auseinandersetzungen mit Personen, Orten u. Werken der Literatur- u. Kunstgeschichte werden dabei häufig ironisch verschränkt – so in den Bänden Veduten (Ffm. 1969), Lebende Bilder. Gedichte aus einem Jahrzehnt (Mainz 1971), Sub rosa. Historische Portraits (Darmst. 1976) u. vor allem in Farbige Kreiden (Mainz 1984). Trotz wiederholter Hinwendungen zur Geschichte u. literar. Tradition Italiens u. Frankreichs (Il Giardino Italiano. Kransberg 1975. Villa Palagonia. Usingen 1976. Schlösser der Loire. Kransberg 1977) steht im Mittelpunkt des H.schen Werks die Beschäftigung mit den Landschaften u. der Geschichte Deutschlands. Eine bes. Rolle spielt dabei die DDR, in die er seit 1974 wiederholt gereist ist. Seine überwiegend in Sachsen entstandenen Gedichte aus der Augustäischen DDR (Pfullingen 1977), die ironisch Reminiszenzen an das 17. u. 18. Jh. mit Gegenwartskritik verknüpfen, nennt H. selbst »DDR-Lyrik auf Zeit«. Mit der Frage nach Möglichkeiten der Literatur u. zumal des Naturgedichts angesichts der ökolog. Krise befasste sich H. in den Akademievorträgen Das Weltende in der zeitgenössischen Literatur (Mainz/Wiesb. 1972) u. Zerstörte Landschaft, gestörtes Gedicht (ebd. 1980). Mit den Gedichtbänden Drei ländliche Bilder (Mainz 1989) u. Graskrone (Mainz 1993) setzte H. die Erkundung von Natur u. Landleben fort. Er hält in seinen knappen Medaillons neben Topografischem auch Gebäude, dörfl. Berufe u. Brauchtümer fest. Neben diese kulturhistor. Dimension seiner Texte tritt eine spracharchäologische. Die vorwiegend der sächs. Landschaft entwachsenden Ge-
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dichte verwenden ein reiches regionalsprachl. Vokabular, dessen poetische Bewahrung H. mit der Dichtung des gleichaltrigen Wulf Kirsten verbindet. In dem Band Glockenspeise (Berlin 1996) lösen sich die Gedichte weitgehend aus einer Lokalisierbarkeit u. wenden sich den Themen Zeit u. Vergänglichkeit zu. 2001 erschien H.s ›Florilegium‹ Streublumenmuster (Darmst.) mit Betrachtungen zu Literatur u. Kunst. Es sind Texte, die von einer oft persönl. Vertrautheit mit ihren Gegenständen zeugen, zu denen namhafte (u. a. Max Ackermann, Horst Antes, Hans Meid) oder nur dem intimen Kenner sächs. Kunst geläufige Maler zählen. Der kenntnisreiche, das Anekdotische nicht verschmähende Kommentar wird im Stil eines Causeurs dargeboten, das Thema assoziativ u. dekorativ umspielend. Dabei vermag H., der einen Typus von Kunstschriftstellerei fortsetzt, wie ihn Theodor Däubler oder Erhart Kästner verkörpern, erhellende Einsichten in die handwerkl. Produktionsvorgänge zu vermitteln. Der Leichtigkeit des Tons korrespondiert die immer wieder durchschimmernde Vorliebe für Formen des Rokoko und des Biedermeier, die H. in der zeitgenöss. Kunst aufspürt. Weitere Werke: Ziselierte Blutbahn. Stgt. 1964. – Stierstädter Gartenbuch. Stierstadt/Taunus 1964. – Elf Kinder-Gedichte. Ffm. 1972. – Papiers peints. Usingen 1974. – Moritzburger Spiele. Kransberg 1977. – Engel am Pflug. Mainz 1980 (mr 48). – Ernst Hassebrauk – Leben u. Werk. Stgt./ Zürich 1981. – Aufforderung zur Freude. Mainz/ Wiesb. 1982. – Eugen Batz – Leben u. Werk. Stgt./ Zürich 1984. – Gedichte aus der DDR selig. Darmst. 1999 (mr 90) – Ges. Ged. in [48] Einzelbänden. Darmst. 2005. – Herausgeber: Max Ackermann – Zeichnungen u. Bilder. Ffm. 1965. – Personen – Lyr. Porträts. Ffm. 1966. – Wasserringe. Kransberg 1972. – Lit. als Gepäck. Mainz 1979. – Vor Bildern. Gedichte u. Prosa. Darmst. 1999 (mr 86). Literatur: Schwanengesangsstunde. Notizen zur Literatur und Kunst im Werk von D. H. Hg. v. Eckart Kleßmann. Warmbronn 2005. – Das Wort liebt Bilder. D. H. – Arbeit mit Künstlern und Pressen. AK Leipzig, Ffm., Berlin 2005. Heinrich Detering / Jürgen Egyptien
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Hoffmann, E(rnst) T(heodor) A(madeus), (durch »Amadeus« ersetzte H. 1805 aus Verehrung für Mozart das ursprüngliche »Wilhelm«), * 24.1.1776 Königsberg/ Preußen, † 25.6.1822 Berlin; Grabstätte: ebd., Jerusalemer Friedhof. – Erzähler; Komponist, Musikkritiker. H.s Vater Christoph Ludwig Hoffmann (1736–1797) war Hofgerichtsadvokat, seine Mutter Lovisa Albertina (1748–1796), geb. Dörffer, eine Advokatentochter. Mit ihr wohnte er nach der Scheidung der Eltern 1778 bei der Großmutter. Die Erziehung übernahm, fromm, beschränkt u. streng, ein Onkel. H. wuchs fern von Altersgenossen auf. Früh erhielt er jedoch Unterricht in Musik u. Zeichnen. An der reformierten Schule schloss er dann Freundschaft mit Theodor Gottlieb von Hippel, dem Neffen des Romanciers. Gemeinsam entdeckten sie die zeitgenöss. Literatur. 1792 nahm er das Jurastudium auf. Daneben malte, zeichnete, komponierte er u. verfasste seinen ersten, nicht erhaltenen Roman Cornaro. Er erteilte Musikunterricht u. verliebte sich dabei leidenschaftlich in eine Schülerin, die verheiratete Dora (»Cora«) Hart. 1795 bestand H. sein erstes Examen; 1796 ging er ans Gericht in Glogau. 1798 verlobte er sich mit Minna Dörffer u. wechselte nach dem Referendarexamen an das Berliner Kammergericht. H. stürzte sich in das städt. Leben, besuchte Konzerte u. Theater, Museen u. Künstlergesellschaften u. nahm Musikunterricht bei Johann Friedrich Reichardt. Doch schon nach dem Assessorexamen im Febr. 1800 wurde er nach Posen versetzt. Dort beschränkte sich H.s Gesellschaft auf Beamte u. Offiziere, mit denen ihn nur die Lust zu feuchtfröhl. Nächten verband. Einige bissige Karikaturen der lokalen Stützen der Gesellschaft trugen ihm 1802 eine Strafversetzung nach Plock/Weichsel ein. Inzwischen hatte er die Verlobung mit Minna gelöst u. heiratete am 26.7.1802 die Polin Michaelina (»Mischa«) Roter. Die Arbeit in Plock ließ ihm genügend Zeit zum Zeichnen, Schreiben u. vor allem zum Komponieren. 1804 nach Warschau versetzt, konnte er eigene Werke aufführen. Als Dirigent der dortigen »Musi-
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kalischen Gesellschaft« suchte er dem Publikum die neue Musik von Gluck, Mozart u. Beethoven nahezubringen. Julius Eduard Hitzig, neben Hippel nun sein engster Freund, machte ihn auf die Romantik aufmerksam. 1807 rückten frz. Truppen ein u. entließen alle preuß. Beamten, die nicht auf Napoleons Seite traten. H. war plötzlich ohne Stellung. Er wandte sich nach Berlin, doch blieb die Stellungssuche erfolglos. So musste er im Herbst 1808 als Kapellmeister ans Bamberger Theater gehen. Zwar brachte ihn ein Wechsel in der Theaterleitung bald wieder außer Lohn, gleichwohl war der Bamberger Aufenthalt eine fruchtbare Zeit. Als Mitarbeiter der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« (= AMZ) setzte er neue Maßstäbe der Musikkritik. Der befreundete Weinhändler Carl Friedrich Kunz öffnete ihm seine umfängl. Bibliothek; ein enges Verhältnis zu den bedeutenden Ärzten der Bamberger Irrenanstalt verschaffte ihm Einblick in Psychiatrie u. Magnetismus. Bei den Musikstunden, mit denen H. nun wieder Geld verdienen musste, verliebte er sich abermals in eine Schülerin: Julia Mark, die bereits einem Anderen versprochen war. Diese Passion ging vielfältig in H.s Dichtungen ein. Die seit der Empfindsamkeit geübte Kunst, Poesie aus dem Stoff des eigenen Lebens zu verfertigen u. umgekehrt das eigene Leben nach poetischen Vorbildern zu stilisieren, wurde von H. mit außergewöhnl. Konsequenz verwirklicht. Kunst u. Leben traten in ein so produktives wie leidvolles Wechselverhältnis. Hier liegt der Ursprung für jene romant. Legende, die sich H.s schon zu Lebzeiten bemächtigte: dass seine Dichtungen nur durchsichtige Bilder dessen gäben, was den Dichter im realen Leben gequält u. gefährdet habe. Obwohl H. in Bamberg v. a. als Musiker wirkte rezensierend, lehrend u. komponierend, 1810–1812 sogar wieder fürs Theater , brachte die Bamberger Zeit den vielfach Begabten endgültig zur Literatur. Ein Engagement als Theaterkapellmeister in Dresden (1813) hielt nur ein Jahr; 1814 vollendete er die in Bamberg begonnene Oper Undine. Danach hat er nicht mehr viel komponiert. Seit 1809 hatte die AMZ Erzählungen von ihm publiziert. Nun entstanden
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in rascher Folge weitere Werke. 1814 erschienen die ersten drei Bände der Fantasiestücke in Callot’s Manier (Bamberg), darin auch das Märchen vom Goldnen Topf, für H. zeitlebens das liebste seiner Werke. Im selben Jahr schrieb er den ersten Teil der Elixiere des Teufels. Nach dem Dresdner Zwischenspiel kehrte H. in seinen bürgerl. Beruf zurück. 1814 trat er ins Berliner Kammergericht ein u. verschaffte sich dort rasch den Respekt seiner Vorgesetzten; 1816 wurde er Kammergerichtsrat. 1819 berief man ihn in die Kommission, die gemäß den Karlsbader Beschlüssen gegen »hochverräterische Verbindungen u. andere gefährliche Unruhen« ermitteln sollte. H. u. seine Kollegen bewiesen Rückgrat u. Augenmaß. Ihre Gutachten verteidigten vielfach die Angeklagten gegen die Übergriffe der polizeil. »Demagogen-Verfolgungen«. Die Beförderung in den Oberappellationssenat befreite H. 1821 von dem heiklen Posten, doch rächte sich der Berliner Polizeidirektor noch an dem todkranken Autor mit gerichtl. Anklage u. Beschlagnahme des Meister Floh (Ffm. 1822; von der Zensur gekürzt). Neben der berufl. Sicherheit fand H. in Berlin, im privaten Kreis der Hitzig, Koreff, Devrient, Chamisso, Fouqué, Contessa wie im Café oder in Lutters Weinkeller, die Gesellschaft von Freunden u. Bewunderern. Zwischen pflichtbewusst ausgeübtem Beruf u. nächtl. Geselligkeit entfaltete er eine reiche literar. Produktivität u. schrieb u. diktierte selbst noch weiter, als seine Rückenmarkserkrankung ihn zunehmend lähmte. Schon in seiner ersten Erzählungssammlung, den Fantasiestücken, entfaltet H. die komplexe Thematik seines Lebenswerks. Aus der Doppelung der Realität in äußere Wirklichkeit u. menschl. Innenwelt entspringt ein Widerstreit zwischen bürgerlich-vernünftiger Normalität u. fremdartig-fantastischer Kunst. Im Märchen vom Goldnen Topf wird der Student Anselmus aus der teils realistisch, teils satirisch gefassten zeitgenöss. Dresdner Bürgerwelt in das poetische Reich des Archivarius Lindhorst hinübergezogen. Den Hintergrund bildet, mit deutl. Anklängen an Wackenroder, Tieck u. Novalis, die Ge-
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schichte von Feuerlilie u. Phosphorus. Dieses Märchen im Märchen erzählt von einer Urzeit, in der innere u. äußere Welt noch ungeschieden waren u. die Natur dem Menschen mit verständl. Stimme sprach; indem sie »Glaube und Liebe« durch Zweifel u. Vernunft verdrängte, hat die Menschheit zwar die Allharmonie verlassen, doch besteht das Paradies als ein fernes Atlantis weiter. Die Liebe zu Lindhorsts Tochter Serpentina weckt in Anselmus mit der Erinnerung auch die Sehnsucht nach diesem wunderbaren Reich. Indem ihm so die Augen aufgehen, fällt er aus der in sich geschlossenen, eindeutigen Vernünftigkeit des Weltbilds wie der Lebensordnung seiner Umwelt heraus. Die Erscheinungen der äußeren Wirklichkeit verdoppeln sich u. enthüllen ihm einen neuen Sinn. Hinu. hergerissen zwischen vernünftigem Zweifel u. liebender Sehnsucht, entscheidet er sich am Ende für das Wunder. Der »ehemalige Student, jetzige Dichter Anselmus« darf sich mit Serpentina verbinden u. gelangt nach Atlantis. Gilt das Leben in Atlantis als das »Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret«, so erscheint der goldne Topf, in dem sich dieser Einklang »in blendendem herrlichen Widerschein« spiegelt, als ein Bild der Kunst, in deren Spiegel allein der Mensch auf Erden jenen Einklang erblicken kann. Indem er innere u. äußere Welt zusammenzuschauen vermag, wird Anselmus zum Dichter. Ähnlich beschreibt H. in der Skizze Jaques Callot (im ersten Bd. der Fantasiestücke) das poetolog. Prinzip seines eigenen Erzählens. Der Dichter stellt »die Gestalten des gewöhnlichen Lebens« dar, wie sie ihm »in seinem innern romantischen Geisterreiche erscheinen«; so gewinnen die Figuren »etwas fremdartig Bekanntes«. Nichts anderes meint H.s später formuliertes »serapiontisches Prinzip«: »Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich« nämlich mit äußerem u. innerem Auge »das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden.« Im Goldnen Topf lassen sich vielfache Anleihen bei Novalis, Schelling, Schubert, Kanne u. anderen nachweisen. Doch hat H. das
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Übernommene nur als Material verwendet u. mit entsprechend spielerischer Freiheit gehandhabt. Sein Märchen im Märchen bietet weder Geschichts- noch Naturphilosophie, sondern eine poetische Deutung jenes grundsätzl. Dualismus, der es manchen Menschen verwehrt, sich in der einsinnigen Vernunft u. gewöhnl. Wirklichkeit einzurichten. So kräftig satirisch die bürgerl. Realität auch traktiert wird, rückt dabei, ähnlich wie in der späten Prinzessin Brambilla (Breslau 1821), doch die Möglichkeit der Harmonie in den Vordergrund. Gleichwohl bleibt das Wissen von dieser Harmonie prekär. Lindhorst, der aus Atlantis verbannte Salamander, erwehrt sich seiner vernünftig-beschränkten Umwelt durch eine Launenhaftigkeit, die an die groteske Exzentrik des Kapellmeisters der Kreisleriana (im ersten u. vierten Bd. der Fantasiestücke. Bamberg 1814/15) gemahnt. Kreisler erachtet die Musik, weil sie, anders als bildende u. sprachl. Kunst, nichts Gegenständliches nachahmt, als die höchste der Künste: »nur das Unendliche« sei ihr Gegenstand. In der Musik gewinnt die dem Menschen sonst stumme Natur ihre Sprache zurück u. weckt die Sehnsucht nach dem »romantischen Geisterreich«. Dieses Geisterreich selbst bleibt, hier wie in H.s anderen Werken, undeutlich. Musik erscheint als Sprache aus einer anderen Welt, sei es als Klingen eines harmon. Kosmos, sei es als Hieroglyphen eines göttl. Geistes. H. übernimmt Motive aus der romant. Naturphilosophie (Novalis, Schubert u. a.) u. Musiktheorie (Wackenroder, Tieck), lässt aber die dadurch evozierte Transzendenz offen: Poesie, Rausch, Traum, Kindheitserinnerung eröffnen nur fragmentar. Einblicke in eine andere Welt; die Musik spricht davon in einer übermenschlich-ungegenständl. Sprache. Gelegentlich schreibt Kreisler auch vom »fernen Geisterreich der Töne«: Plötzlich erscheint die Kunst selbst schon als das ersehnte Andere. Den feindl. Gegensatz zwischen gewöhnl. Leben u. hl. Kunst vermag der Komponist Kreisler nicht zu vermitteln. Aus der Sprache der Kunst kann er kein Werk formen, das zu seiner Umwelt spricht; die Gesellschaft sucht in seinem Heiligsten nur Unterhaltung u. Zerstreuung. Diese Widersprüche
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zerreißen ihn bis an die Grenze des Wahnsinns. Die Abentheuer der Sylvester-Nacht (im vierten Bd. der Fantasiestücke) verkehren die Konstellation des Goldnen Topfes. Die Liebe zu Julie entzündet in einem reisenden Enthusiasten die Poesie; die Grenze von innerem u. äußerem Leben schwindet. Aber die Poesie droht dem mit Bewusstseinsspaltung, der die unerbittl. Scheidung von Kunst u. Leben, die »Duplizität des Seins«, nicht anerkennt. Der reisende Enthusiast spiegelt sein Schicksal in der Geschichte von Erasmus Spikher, der die von der Hölle gesandte Giulietta für ein Engelsbild hält u. so um sein Spiegelbild gebracht wird. Mit dem Spiegelbild löst sich der »Traum des Ichs« vom wahren Ich ab. Innen u. Außen reißen im Leben auseinander. Der Enthusiast erkennt in der Doppelung von himml. u. höll. Giulietta die Doppelung von himml. u. irdisch-bornierter Julie wieder u. rettet sich damit vor der Zerstörung seines Bewusstseins. Der Nathanael im Sandmann der Nachtstücke (2 Bde., Bln. 1816/17) hingegen kann die Verdoppelung der ihm begegnenden Figuren nicht mehr auflösen. Eine mag. Brille verzerrt ihm die Realität zur Illusion. Er endet in Wahnsinn u. Selbstmord. Die mag. Aufladung von Brille u. Perspektiv sowie das Scheinleben der Menschenmaschine Olimpia verdächtigen zum einen die moderne Technik eines geheimen prometheischen Anspruchs, dienen zum anderen als Metaphern für die Erkundung der Untiefen des menschl. Unbewussten u. figurieren drittens im Spiel zwischen diesen beiden Momenten bereits eine differenzierte Medienreflexion. Innerhalb dieses bereits in den frühen Texten ausgesteckten Themenfelds bewegen sich sämtl. Werke H.s: die Sammlung der Serapions-Brüder (4 Bde., Bln. 1819–21) u. die späten Erzählungen, die vom Schauerroman abkünftigen Elixiere des Teufels (2 Bde., Bln. 1815/16) u. die Lebens-Ansichten des Katers Murr (2 Bde., Bln. 1820–22). Die Thematik der gedoppelten oder zerrissenen Wirklichkeit führt H. wiederholt zu formalen Experimenten. In den Abentheuern der Sylvester-Nacht verschränkt eine komplizierte Staffelung von Erzählperspektiven mehrere Erzählebenen.
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Das Schicksal des reisenden Enthusiasten spiegelt sich in der Geschichte vom verlorenen Spiegelbild wie in der Künstlerzerrissenheit des Autors. Für den Leser drohen die Grenzen von Wirklichkeit u. Schein zu zerfließen. Auch in anderen Erzählungen hat H. höchst kunstvoll mit der Kombination unterschiedl. Erzählformen experimentiert. Als Vorbilder zitiert er gelegentlich Sterne u. Diderot. Sein formal kühnstes Werk, der Kater Murr, schiebt zwei ganz verschiedene Bücher ineinander. Bürgersatire steht gegen Künstlertragödie, kontinuierlich berichtete Autobiografie gegen fragmentarisch zerrissene Erzählung. Die beiden Stränge wechseln einander mit wohlkalkulierter Zufälligkeit ab u. haben vorgeblich nicht mehr gemein als die Buchdeckel. Die Künstlerbiografie entwirft einen neuen Kreisler, der, wiewohl immer noch im scharfen Widerspruch zu seiner Zeit, durchaus bedeutende Kompositionen hervorbringt. Die Autobiografie parodiert aus der Perspektive eines bildungsbeflissenen Katers die Kunstform des Bildungsromans, gibt ein satir. Spottbild der Zeit u. ironisiert gelegentlich auch Kreislers hohes Kunstpathos. Das hochkomplexe Spiel mit Zitaten, die Parodie, Kontrafaktur u. Hybridisierung der verschiedensten Gattungen u. die raffinierten Verschränkungen zwischen poetolog. Reflexion u. mehrschichtiger Narration tragen dazu bei, dass der Kater Murr wie kaum ein anderes Werk der Epoche jene Möglichkeiten ausmisst, welche die Romantik dem Roman zugetraut hat. Der dritte u. letzte Teil wurde nicht mehr geschrieben, doch lassen die erhaltenen Zeugnisse kaum einen Zweifel, dass H. den Roman vollenden u. so die auseinanderstrebenden Teile, einschließlich der fragmentar. Offenheit des Kreisler-Buchs, durch die zusammenschauende Kraft des Erzählens zu einem humoristischen Kunstganzen einigen wollte. Die spätesten Erzählungen zeigen eine neue Entwicklung. Am Ende des Meister Floh wächst, trotz des satir. Tons, durch die poetisch-enthusiastische Liebe von Peregrinus u. Röschen der Kleinbürgeridylle eine eigene Würde zu. In der Erzählung Des Vetters Eckfenster (in: Der Zuschauer, 1822), in der manches schon aufs Biedermeier vorausweist,
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erweitert die Kunst des rechten Schauens die äußeren Erscheinungen weder ins Märchennoch ins Wahnhafte, sondern sie ergänzt die einzelnen, mit großer Sorgfalt betrachteten Bilder zu Geschichten. Das Wirkliche wird um seine eigenen Möglichkeiten erweitert. Im Angesicht des nahenden Todes gewinnt das gewöhnl. Leben einen Wert, der unsichtbar blieb, solange es nur gegen das verlorene Paradies gehalten wurde. H.s Werk eroberte breite Leserkreise, stieß aber auf die Ablehnung fast aller bedeutenden zeitgenöss. Autoren, von Goethe u. Hegel über Jean Paul, Tieck u. Brentano bis Börne. Die Kritik galt v. a. der neuartigen Erzähltechnik, die immer wieder die gewohnte Distanz des Lesers zu den Schrecken des Dargestellten zerstört. Entscheidenden Einfluss auf die Rezeption nach H.s Tod gewann Walter Scott, dessen vielbeachtete Rezension, in Deutschland durch Goethe verbreitet, von Fieberträumen eines kranken Gehirns sprach u. dazu die H.-Legende übernahm, die all die Motive von Kunst u. Wahnsinn, Liebesleid, Bürgerverachtung u. Punschvergnügen als Elemente einer großen, wenn auch ziemlich liederl. Konfession las. Sie bestimmt, nicht zuletzt kraft Offenbachs Oper, das populäre H.-Bild bis heute. Ein gerechteres Urteil bahnte sich in Deutschland erst um 1900 an. Künstler wie Hugo Steiner-Prag, Alfred Kubin u. Paul Klee zeigten ein neues Interesse. 1919 pries Sigmund Freud H. als den »unerreichten Meister des Unheimlichen« u. entzifferte, mit beträchtl. Folgen für die moderne Rezeption wie für die Forschung, die Motive seiner Fantastik als neurot. Ich-Störungen. Scotts Rezension überschattete auch die Aufnahme in England u. den USA, so dass sich eine produktive Rezeption fast nur an Dickens u. Poe beobachten lässt. Dagegen begeisterte man sich in Frankreich, von Nodier über Balzac u. Hugo bis zu Baudelaire, für H. als den Begründer der fantastischen Literatur; hier zählt er noch heute zu den größten Autoren dt. Sprache. In Russland hat er etwa auf Puschkin, Gogol u. Dostojewskij gewirkt; eine bedeutende Literatengruppe der frühen 1920er Jahre nannte sich »Serapionsbrüder«. Delibes u. Tschaikowski schufen aus H.schen Erzählungen höchst erfolg-
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reiche Ballette. Vielfältige Präsenz zeigt er in der Weltliteratur der Gegenwart: von Thomas Pynchon bis zu Robertson Davies, von Italo Calvino über Angela Carter bis zu einem Filmszenario von Andrej Tarkowski. Die DDR-Literatur faszinierte er als geheimes Gegenbild zum verordneten Realismus (Seghers, Wolf, Schädlich, Fühmann). Aus der neuesten dt. Literatur seien nur Wollschlägers Herzgewächse (1982), Kirchhoffs Sandmann (1992), Kronauers Teufelsbrück (2000) u. Härtlings Hoffmann (2001) genannt. Weitere Werke: Historisch-kritische Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Carl Georg v. Maassen. Bde. 1–4 u. 6–10 ersch., Mchn. u. a. 1908–28. Werke in 15 Tln. Hg. Georg Ellinger. Bln./Lpz. 1912. 21927. Wichtige neuere Ausgaben: [Sämtl. Werke in 6 Einzelbdn.] Hg. Walter Müller-Seidel u. a. Mchn. 1960–81. Ges. Werke in Einzelausg.n. Hg. HansJoachim Kruse u. a. 8 Bde., Bln./Weimar 1976–83. Sämtl. Werke. Hg. Hartmut Steinecke, Wulf Segebrecht u. a. 6 Bde., Ffm. 1985–2004. Teilausgaben: Juristische Arbeiten. Hg. Friedrich Schnapp. Mchn. 1973. Dichter über ihre Dichtungen. E. T. A. H. Hg. F. Schnapp. Mchn. 1974. Briefe: Briefw. Hg. Hans v. Müller u. F. Schnapp. 3 Bde., Mchn. 1967–69. Tagebücher: Nach der Ausg. v. H. v. Müller hg. v. F. Schnapp. Mchn. 1971. Weitere literarische Einzelwerke: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Bd. 1: Jacques Callot (Aufs.). Ritter Gluck (E.; Erstdr. 1809). Kreisleriana (E.en u. Aufsätze; z.T. 1810–14 einzeln ersch.). Don Juan (E.; Erstdr. 1813). Bd. 2: Nachrichten v. den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza (E.). Der Magnetiseur (E.). Bd. 3: Der goldne Topf (E.). Bd. 4: Die Abentheuer der Sylvester-Nacht (E.). [Weitere] Kreisleriana. Bamberg 1814/15. Dass., 2 Bde., 21819 (durchges.). Nachtstücke (E.en): Bd. 1: Der Sandmann. Ignaz Denner. Die Jesuiterkirche in G. Das Sanctus. Bd. 2: Das öde Haus. Das Majorat. Das Gelübde. Das steinerne Herz. Bln. 1817. Seltsame Leiden eines Theater-Direktors. Bln. 1819 (E.; Erstfassung 1817). Haimatochare (E.). In: Der Freimüthige (1819). Die Serapions-Brüder (E.en): Bd. 1: [Der Einsiedler Serapion (Erstdr. 1819).] [Rath Krespel (Erstdr. 1818).] Die Fermate (erw. Fassung in: Frauentaschenbuch, 1815). Der Dichter u. der Componist (Erstdr. 1813). Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde (Erstfassung in: Der Wintergarten, 1818). Der Artushof (Erstdr. 1816). Die Bergwerke zu Falun. Nußknacker u. Mäusekönig (Erstdr. Bln. 1816). Bd. 2: Der Kampf der Sänger (Erstdr. 1818). [Eine Spukgesch. (Erstdr. 1819).] Die Automate (Erstdr. 1814). Doge u. Do-
Hoffmann garesse (Erstdr. 1818). [Alte u. neue Kirchenmusik (Aufs. Aus zwei 1813 u. 1814 ersch. Rez.en).] Meister Martin der Küfner u. seine Gesellen (Erstdr. 1818). Das fremde Kind (Erstdr. Bln. 1817). Bd. 3: [Aus dem Leben eines bekannten Mannes (Erstdr. 1819).] Die Brautwahl (Erstfassung in: Berlinischer Taschenkalender, 1819). Der unheiml. Gast (Erstdr. 1819). Das Fräulein v. Scuderi (Erstdr. 1819). Spieler-Glück (Erstdr. 1819). [Der Baron von B. (Erstdr. 1819).] Bd. 4: Signor Formica (Erstdr. 1819). [Zacharias Werner.] Erscheinungen (Erstdr. 1817). Der Zusammenhang der Dinge (Erstdr. 1820). [Eine Vampir-Gesch.] [Die ästhet. Teegesellsch. (Erstfassung in: Der Freimüthige, 1819).] Die Königsbraut. Bln. 1819–21. Die Marquise de la Pivardiere. In: Tb. zum geselligen Vergnügen, 1820 (E.). Die Irrungen. In: Berlinischer Taschenkalender, 1820 (E.). Die Geheimnisse. In: ebd., 1821 (E.). Der Elementargeist. In: Tb, zum geselligen Vergnügen, 1821 (E.). Die Räuber. In: Rhein. Tb., 1821 (E.). Die Doppeltgänger. In: Feierstunden, 1822 (E.). Die Genesung. In: Der Zuschauer, 1822 (E.). Datura fastuosa. In: Tb. für 1823 (E.). Meister Johannes Wacht. Breslau 1823 (E.). Der Feind. In: Frauentaschenbuch, 1823 (E.). Nichtliterarische Werke: Die Zeichnungen. Hg. Leopold Hirschberg. Potsdam 1921. Handzeichnungen E. T. A. H.s in Faksimiledruck. Hg. Hans v. Müller. 2 Bde., Bln. 1925. Neudr. Hildesh. 1973. E. T. A. H. als Zeichner. 15 Kunstkarten mit einer Einf. v. Bernhard Schemmel. Bamberg 2002. E. T. A. H.: Ausgew. musikal. Werke. Bd. 1–12. Mainz u. a. 1971–2006. Literatur: Bibliografien: Jürgen Voerster: 160 Jahre E. T. A. H.-Forsch. 1805–1965. Stgt. 1967. Gerhard Allroggen: E. T. A. H.s Kompositionen. Regensb. 1970. Hartmut Steinecke: Zur E. T. A. H.-Forsch. In: ZfdPh 89 (1970), S. 222–234. Klaus Kanzog: Grundzüge der E. T. A. H.-Forsch. seit 1945. In: Mitt.en der E. T. A. H.-Gesellsch. 27 (1981), S. 55–103. Andreas Olbrich u. Anja Pohsner: Bibliogr. der Sekundärlit. über E. T. A. H. 1994–1996 (Mit Nachträgen). In: E. T. A. H.-Jb. 6 (1998), S. 72–112. Siehe auch die Online-Bibliogr. auf den Seiten der E. T. A. H.-Gesellsch. unter www.etahg.de/bibliographie. Gesamtdarstellungen: Georg Ellinger: E. T. A. H. Hbg./Lpz 1894. Hans-Georg Werner: E. T. A. H. Weimar 1962. 2 1971. Lothar Köhn: Vieldeutige Welt. Tüb. 1966. Brigitte Feldges u. Ulrich Stadler: E. T. A. H. Mchn. 1986. Gerhard R. Kaiser: E. T. A. H. Stgt. 1988. Detlef Kremer: E. T. A. H. Erzählungen u. Romane. Bln. 1999. H. Steinecke: Die Kunst der Fantasie. Ffm./Lpz. 2004. E. T. A. H. Leben, Werk, Rezeption. Hg. Detlef Kremer. Bln./
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New York 2009. Biografie: [Julius Eduard Hitzig:] Aus H.s Leben u. Nachl. 2 Bde., Bln. 1823. 3., erw. Aufl. Stgt. 1939. E. T. A. H. in Aufzeichnungen seiner Freunde u. Bekannten. Hg. Friedrich Schnapp. Mchn. 1974. Eckart Kleßmann: E. T. A. H. Stgt. 1984. Rüdiger Safranski: E. T. A. H. Eine Biogr. Reinb. 1992. Peter Barun: E. T. A. H. Dichter, Zeichner, Musiker. Biogr. Düsseld./Zürich 2004. Hartmut Steinecke: Die Kunst der Fantasie. E. T. A. H.s Leben u. Werk. Ffm./Lpz. 2004. Poetik: Hans Mayer: Die Wirklichkeit E. T. A. H.s. In: Ders.: Von Lessing bis Thomas Mann. Pfullingen 1959. Wolfgang Preisendanz: Humor als dichter. Einbildungskraft. Mchn. 1963. Peter v. Matt: Die Augen der Automaten. Tüb. 1971. Norbert Miller: E. T. A. H.s doppelte Wirklichkeit. In: Literaturwiss. u. Geschichtsphilosophie. FS Wilhelm Emrich. Hg. Helmut Arntzen. Bln./New York 1975, S. 357–372. Detlef Kremer: E. T. A. H. zur Einf. Hbg. 1998. Verschiedenes: Wulf Segebrecht: Autobiogr. u. Dichtung. Stgt. 1967. Helmut Prang (Hg.): E. T. A. H. Darmst. 1976. ZfdPh 95 (1976): Sonderh. E. T. A. H. JEGPh 75 (1976): Sonderh. E. T. A. H. Claudio Magris: Die andere Vernunft. Königstein/Taunus 1980. Sarah Kofman: Schreiben wie eine Katze ... Graz/Wien 1985. Friedhelm Auhuber: In einem fernen dunklen Spiegel. E. T. A. H.s Poetisierung der Medizin. Opladen 1986. Werner Keil: E. T. A. H. als Komponist. Studien zur Kompositionstechnik an ausgew. Werken. Wiesb. 1986. Lothar Pikulik: E. T. A. H. als Erzähler. Komm. zu den ›SerapionsBrüdern‹. Gött. 1987. Gerhard R. Kaiser: E. T. A. H. Stgt. 1988. Heinz Ludwig Arnold (Hg.): E. T. A. H. (Text + Kritik. Sonderbd.). Mchn. 1992. Claudia Liebrand: Aporie des Kunstmythos. Freib. i. Br. 1996. W. Segebrecht: Heterogenität u. Integration. Studien zu Leben, Werk u. Wirkung E. T. A. H.s. Ffm. u. a. 1996. H. Steinecke: E. T. A. H. Stgt. 1997. Bettina Schäfer: Ohne Anfang ohne Ende. Bielef. 2001. H. Steinecke (Hg.): E. T. A. H. Darmst. 2006. Klaus Deterding: H.s Erzählungen. Würzb. 2007. Michael Neumann
mend auch in Essays, Sachbüchern u. journalistischen Arbeiten auseinandersetzte. Sein Augenmerk gilt dabei v. a. gesellschaftspolit. u. medienkrit. Aspekten. H. hat selbst in u. mit unterschiedl. Medien experimentiert – so in den Hörspielen suchen sechsstimmig (1970) u. erkennen vielstimmig. Daten-Krimi (1971), der »Wort-Ton-Beschreibung« 50 Welten fremder Entzückung (zus. mit K. H. Wahren. 1970) u. einer Reihe von Hörbildern (u. a. Wenn ich Vishnu Sharma hieße. 1980. Puerto Rico. 1989). Seine nach kybernet. Regeln organisierten poetischen »Beschreibungen« Chromofehle (Stierstadt/Taunus 1967), Chirugame (ebd. 1969) u. Bellasten (ebd. 1971) bilden ein komplexes Spiel mit mathematisch-musikal. Formen, religiösen u. literar. Traditionen: »Wort, Bild, Musik, Tanz gleichzeitig« (Heinrich Böll). Das von H. herausgegebene Handbuch P. E. N. international (Mchn. 1986) ist die weltweit erste Publikation zu diesem Thema. In Tropenzeit (Mchn. 1993) berichtet er als Co-Autor seiner Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Angelika Mechtel, von zwei gemeinsamen Reisen nach Puerto Rico, das beiden zur neuen Heimat wird. Persönliche Erlebnisse u. Begegnungen münden in eine postkoloniale Kritik ein, die v. a. von der völligen polit. u. wirtschaftl. Abhängigkeit der Insel von den USA handelt u. Licht auf die problemat. Identitätsfindung der Bevölkerung wirft.
Hoffmann, Gerd E., * 6.6.1932 DeutschEylau. – Verfasser von Hörspielen, Prosatexten u. Sachbüchern, Essayist.
Literatur: Heinrich Böll: Zuschreibung. In: G. E. H.: Chirugame. Stierstadt/Taunus 1969. Auch in: H. Böll: Essayistische Schr.en u. Reden 2. 1964–1972. Köln 1979. Heinrich Detering / Harald Jakobs
Nach journalistischer u. kaufmänn. Ausbildung lebt H. als freier Autor in Köln. 1969/70 war er Villa-Massimo-Stipendiat in Rom. Im Mittelpunkt von H.s Werk stehen Probleme der von elektron. Medien bestimmten Gegenwart u. Zukunft, mit denen er sich zunächst in poetischen Texten, dann zuneh-
Weitere Werke: Glückliche v. morgen. 1971 (Hörsp.). – Computer-Steckbrief. Bad Homburg 1972. – Computer, Macht u. Menschenwürde. Mchn./Zürich 1976. – Erfaßt, registriert, entmündigt. Ffm. 1979. – Die elektron. Umarmung. Würzb. 1982 (E.). – Computer. Stgt. 1983. – Im Jahrzehnt der Großen Brüder. Ffm. 1983. – Schaffen wir das Jahr 2000? Hg. u. mit einem Vorw. v. Robert Jungk. Düsseld./Wien 1984.
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Hoffmann, Hans, * 27.7.1848 Stettin, † 11.7.1909 Weimar. – Lyriker, Erzähler, Reiseschriftsteller.
Hoffmann Bln. 1909. – Das Sonnenland u. a. E.en. Hg. Carl Schüddekopf. Mchn. 1911. Literatur: Adolf Stern: H. In: Ders.: Studien zur Lit. der Gegenwart N. F. Dresden/Lpz. 1904. – Otto Ladendorf: H. H. Sein Lebensgang u. seine Werke. Bln. 1908. – Wilhelm Arminius: H. Lpz. 1909. – Rudolf Hoffmann: H. H. In: Martin Wehrmann (Hg.): Pommersche Lebensbilder. Bd. 2, Stettin 1936. – Rainer Hillenbrand: Der Briefw. zwischen H. H. u. Paul Heyse. In: CG 38 (2005), S. 123–153. Christian Schwarz / Red.
Der Pfarrerssohn H. studierte in Bonn, Berlin u. Halle Philosophie u. Philologie (Promotion 1871) u. war Lehrer an verschiedenen Orten, ehe er 1879 freier Schriftsteller wurde. Nach längeren Auslandsaufenthalten in Italien u. Griechenland ließ er sich 1882 in Berlin nieder, wo er 1884–1886 die »Deutsche Illustrierte Zeitung« leitete. Seit 1902 war er Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung Hoffmann, Heinrich, auch: Polykarpus in Weimar. H., an dessen Werk die Zeitgenossen »Le- Gastfenger, Heulalius von Heulenburg, bensfreude und tiefstes Schönheitsgefühl« Reimerich Kinderlieb, Peter Struwwel, rühmten, fasste seine Gedichte (Vom Lebens- * 13.6.1809 Frankfurt/M., † 20.9.1894 wege. Lpz. 1893) als eine Autobiografie in ebd.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Versen auf. Als Erzähler schuf er v. a. histor. Lyriker, Satiriker, Kinderbuchautor u. Novellen (u. a. Die heilige Barbara, Der Hexen- -illustrator. prediger. Bln. 1883). Stärker psychologisierend H., Sohn eines Architekten u. städt. Bauinsind die Neuen Korfugeschichten (Bln. 1887), in spektors, studierte Medizin in Heidelberg u. denen etwa religiöser Wahn dargestellt wird Halle (Promotion 1833). Nach einem Fort(Die Gekreuzigten); konzeptionell schließt sich bildungsaufenthalt in Paris errichtete er 1835 H. hier an die ältere Novellistengeneration eine Praxis in Frankfurt/M. u. wurde Lei(Keller, Storm, Heyse) an. Seine eindrucks- cheninspektor in Sachsenhausen; 1844–1851 volle Schilderung der Mittelmeerlandschaft war er Anatomiedozent am Senckenbergisicherte den Novellen positive Aufnahme schen Institut. 1845 wirkte er an der Grünbeim neuhumanistisch gestimmten Lesepu- dung eines »Ärztlichen Vereins« mit; zuvor blikum. Auch in der Schulhumoreske, die hatte er sich an einer von Freunden gegrünLehrer- u. Schülertypen u. -schicksale, deten Armenklinik beteiligt. Als bürgerl. LiSchulatmosphäre u. verhaltene Kritik am beraler saß H. 1848 im Frankfurter »Vorparwilhelmin. Schulsystem lebensnah transpor- lament«. 1851–1888 war er als leitender Arzt tierte (vgl. die Sammlung Das Gymnasium zu in der »Anstalt für Irre und Epileptische« in Stolpenburg. Bln. 1891), traf H. den Publi- Frankfurt/M. tätig. Er erwarb sich beachtl. kumsgeschmack. Die histor. Romane versu- Verdienste um die Entwicklung der psychiachen, wenig erfolgreich, historisch-polit. As- tr. Praxis, v. a. der Jugendpsychiatrie. pekte mit persönl. Schicksalen der handelnAls Schriftsteller berühmt wurde H. mit den Figuren zu verbinden, u. führen in die seinem in der Vorweihnachtszeit 1844 für Nähe der Heimatkunst (Wider den Kurfürsten. 3 seinen dreijährigen Sohn geschriebenen u. Bde., Bln. 1894). gezeichneten Lustige Geschichten und drollige Weitere Werke: Der feige Waldemar. Lpz. 1883 Bilder für Kinder von 3–6 Jahren, das ab der (Kleinepos.). – Im Lande der Phäaken. Bln. 1884 dritten Auflage 1846 Der Struwwelpeter hieß (N.n). – Von Frühling zu Frühling. Bln. 1889 (Bil- (Urmanuskript 1845. Neuausg. 1987, mit der u. Skizzen). – Iwan der Schreckliche u. sein kolorierten Federzeichnungen u. Versen Hund. Stgt. 1889 (R.). – Der eiserne Rittmeister. 3 u. d. T. ›Drollige Geschichten und lustige Bde., Bln. 1890 (R.). – Ruhm. Bln. 1891 (N.). – Bozener Märchen u. Mären. Lpz. 1896. – Ostsee- Bilder‹, in: Germanisches Nationalmuseum, märchen. Lpz. 1897. – Allerlei Gelehrte. Bln. 1897 Nürnberg; veränderte Fassung 1859, nach (Humoresken). – Aus der Sommerfrische. Kleine dieser Fassung die späteren Ausgaben). Schon Gesch.n. Bln. 1898. – Spätglück-Sturmwolken. Ende des 19. Jh. hatte das neben Max und Wiesb. 1901 (E.). – Tante Fritzchens Testament. Moritz erfolgreichste deutschsprachige Kin-
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derbilderbuch aller Zeiten 215 Auflagen erreicht. Neben Übersetzungen in fast alle europ. Sprachen (insg. über 35 fremdsprachige Ausg.n) erschienen über 100 Nachahmungen u. ernsthafte wie parodistische Bearbeitungen, sog. »Struwwelpetriaden«. Mit einprägsamen, witzig-gereimten Versen u. fantasievollen, teils karikaturistischen Illustrationen wurde der Struwwelpeter zu einer Art Hausfibel bürgerl. Werte u. Wohlerzogenheit für den Kindergebrauch. Er steht in der Tradition aufklärerisch-utilitaristischer Pädagogik u. markiert zgl. den eigentl. Beginn des Kinderbilderbuchs in Deutschland durch die Verknüpfung konventioneller formaler Elemente, populärer Grafik u. didakt. Poesie mit avancierteren wie der Karikatur, des Pamphlets u. der prägnant anschaul. Sprache. Der bis heute andauernde Streit um den pädagog. Wert entzündet sich an der drakon. Strafpädagogik u. der rigiden Erziehung zur Triebunterdrückung. Der Struwwelpeter, der auch fortschrittl. pädagog. Maximen enthält (etwa gegen die Tierquälerei), gilt als literar. »Modell bürgerlicher Sozialisation und Selbstdarstellung« (Könneker). H.s weitere Kinderbücher, künstlerisch z.T. ambitionierter, konnten an den Erfolg des Struwwelpeter nicht anknüpfen, haben aber ebenfalls ihren Platz in der Geschichte des Kinderbilderbuchs (z.B. König Nußknacker und der arme Reinhold. Ffm. 1851. Neudr.e Mchn. 1975. Ffm. 1982 u. ö. Im Himmel und auf der Erde. Herzliches und Scherzliches aus der Kinderwelt. Ffm. 1857. Neudr. 1985. Prinz Grünewald und Perlenfein mit ihrem lieben Eselein. Ffm. 1871. Neudr. 1984). Darüber hinaus betätigte sich H. als Lyriker, Satiriker u. Publizist. Die Lyrik (Gedichte. Ffm. 1842. 21873 u. d. T. Auf heiteren Pfaden. Gesammelte Gedichte) bietet ein breites Spektrum bürgerl. Dilettantenpoesie mit eingängigen Balladen u. geselligen Liedern (Liebesu. Trinklieder). Als Publizist wirkte H. kurzzeitig in der Nachfolge Hebels (»Der wahre und ächte Hinkende Bote«. 2 Bde., Ffm. 1850 u. 1851); als versierter Satiriker verspottete er den philosophischen Idealismus in der aristophan. Komödie Die Mondzügler (Ffm. 1843. Dann in: Humoristische Studien. Ffm. 1847). Aufsehen erregten bei Erscheinen seine polit.
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Satiren Handbüchlein für Wühler oder kurzgefaßte Anleitung in wenigen Tagen ein Volksmann zu werden (Lpz. 1848. Neuausg. Zürich 1973) gegen die radikalen 48er Demokraten u. der Heulerspiegel. Mitteilungen aus dem Tagebuch des Herrn Heulalius von Heulenburg (Lpz. 1849) gegen die polit. »Reaktion«. 1977 wurde in Frankfurt/M. das mittlerweile in Struwwelpeter-Museum umbenannte Heinrich-Hoffmann-Museum gegründet. Weitere Werke: Die Physiologie der SinnesHallucinationen. Ffm. 1851. – Das Breviarium der Ehe. Lpz. 1853. – Bastian der Faulpelz. Ffm. 1854. Neudr. 1984. – Allerseelen-Büchlein, eine humorist. Friedhofsanth. Ffm. 1858. – Beobachtungen u. Erfahrungen über Seelenstörungen u. Epilepsie in der Irrenanstalt zu Frankfurt, 1851–1858. Ffm. 1859. – Der Badeort Salzloch [...]. Ffm. 1860 (Satire). – Ein Liederbuch für Naturforscher u. Ärzte. Ffm. 1867. – Besuch bei Frau Sonne. Hg. Eduard u. Walter Hessenburg. Ffm. 1924. Neudr.e Freib. i. Br. 1966. Ffm. 1985. – Struwwelpeter-H. erzählt aus seinem Leben. Hg. E. Hessenberg. Ffm. 1926. Neuausg. u. d. T. Lebenserinnerungen. Ffm. 1985. – Ges. Gedichte, Zeichnungen u. Karikaturen. Hg. G. H. Herzog u. Helmut Siefert. Ffm. 1987. – Schr.en zur Psychiatrie. Hg. H. Siefert u. a. Ffm. 1990. – Dukatenbilder. Hg. Marion Herzog-Hoinkis u. Rainer Hessenberg. Ffm./Lpz. 2009. Literatur: Helmut Müller: ›Der Struwwelpeter‹. In: Klass. Kinder- u. Jugendbücher. Hg. Klaus Doderer. Weinheim u. a. 1969, S. 55–97. – Ders.: ›Struwwelpeter‹ u. Struwwelpetriaden. In: Das Bilderbuch. Hg. ders. u. H. Müller. Weinheim/Basel 1973, S. 141–182. – Marie-Luise Könneker: Dr. H. H.s ›Struwwelpeter‹. Untersuchungen zur Entstehungs- u. Funktionsgesch. eines bürgerl. Bilderbuchs. Stgt. 1977. – Die Kinder des ›Struwwelpeter‹. Ffm. 1984 (H.-H.-Museum, Ausstellungskat.). – Roland Hoede u. Thomas Bauer: H. H. Ein Leben zwischen Wahn ... u. Witz. Hg. Stadtgesundheitsamt Frankfurt/M. Ffm. 1994. – Gerhard H. Herzog: H. H. Leben u. Werk in Textern u. Bildern. Ffm./Lpz. 1995. – Günther Mahal: Doktor Faust u. Struwwelpeter. Eine Suche nach haarigen Verbindungen. Kieselbronn 1998. – Anita Eckstaedt: ›Der Struwwelpeter‹. Dichtung u. Deutung. Eine psychoanalyt. Studie. Ffm. 1998. – Reiner Rühle: ›Böse Kinder‹. Komm. Bibliogr. v. Struwwelpetriaden u. Max-u.-Moritziaden mit biogr. Daten zu Verfassern u. Illustratoren. Osnabr. 1999. – Struwwelpeter-H. gestern u. heute. Hg. Gerhard H. Herzog. Ffm. 1999. – Susanne Martina Sabine Rinnert geb. Holtz: ›Hanns Guck-in-die-Luft‹. H.
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527 H.s Kindergesch. als histor. Darstellung einer Absence-Epilepsie? Diss. med. Bonn 2002. – Walter Sauer: Der Struwwelpeter u. sein Schöpfer Dr. H. H. Bibliogr. der Sekundärlit. Neckarsteinach 2003. – Ursula Peters: ›Drollige Geschichten und lustige Bilder‹, H. H.s Urmanuskript des ›Struwwelpeter‹. In: monats anzeiger. Museen u. Ausstellungen in Nürnberg 269, Aug. 2003, S. 2 f. – Elisabeth Wesseling: Visuelle Narrativität im Bilderbuch. H. H.s Struwelpeter. In: Kinder- u. Jugendliteraturforsch. 2003/04 (2004), S. 27–43. – Reimar Klein: ›Sieh einmal, hier steht er!‹ Struwwelpeters beschädigte Kinderwelt. Ffm./Lpz. 2005. – ›Wenn die Kinder artig sind ...‹ Zur Aktualität des Bilderbuchklassikers ›Struwwelpeter‹. Hg. Ortrun Niethammer. Münster 2006. – Lies Wesseling: H. H.s ›Der Struwwelpeter‹ (1845/1859). Een parodie op de romantische cultus dan het kind. In: Gewina (Rotterdam) 29 (2006), H. 4, S. 46–60. – Barbara Smith Chalou: Struwwelpeter, humor or horror? 160 years later. Lanham, Md. 2007. – W. Sauer: H. H. In: KJL. – H. H. – Peter Struwwel. Ein Frankfurter Leben 1809–1894. Hg. Wolfgang P. Cilleßen u. Jan Willem Huntebrinker. Petersberg 2009. Wilhelm Haefs
zu den verbreitetsten philosophischen Schriften des frühen 18. Jh. Besondere Bedeutung erlangten die Politischen Anmerkungen über die wahre und falsche Staatskunst (Hbg. 1725. 21740), in denen H. seine Sittenlehre mit volkswirtschaftl. Ideen verband, sowie fünf nachgewiesene Aufsätze im »Patrioten« (Nr. 49, 74, 78, 94 u. 138). Ausgaben: Als [...] Herr Theophilus Dimpel [...] auff der [...] Universität Wittenberg [...] die wohlverdiente Magister-Würde erlangte wolte seinen [...] Freunde [...] beehren dessen verbundenster J. A. H. Wittenb. 1696. Internet-Ed.: VD 17. – Zwey Bücher von der Zufriedenheit nach den Gründen der Vernunft u. des Glaubens. Hbg. 1731. Nachdr. Ffm. 1972. Literatur: Hans Schröder: Lexikon der Hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 3, Hbg. 1857, S. 316–319 (mit vollst. Werkverz.). – Nachricht v. dem Leben u. den Schr.en des Verfassers. Anonym in den postumen Aufl.n v. ›Zwey Bücher v. der Zufriedenheit‹ – Hans Mathias Wolff: Die Weltanschauung der dt. Aufklärung in geschichtl. Entwicklung. Mchn. 1949, S. 50–65. – Peter Nasse: Die Frauenzimmer-Bibl. des Hamburger ›Patrioten‹ v. 1724 [...]. Bd. 1, Stgt. 1976, S. 138–151.
Hoffmann, Johann Adolf, * 26.8.1676 Jürgen Rathje / Red. Zarpen bei Lübeck, † 17.11.1731 Hamburg. – Philosophischer Schriftsteller u. Übersetzer. Hoffmann, Leopold Alois, * 29.1.1760 Niederwittig/Nordböhmen, † 2.9.1806 H. besuchte ab 1694 die vier obersten Klassen Wiener Neustadt. – Publizist u. Dramatides Katharineums in Lübeck u. studierte seit ker. dem 2.5.1696 in Wittenberg Philosophie u. Theologie. 1701 kehrte er nach Holstein zurück u. setzte sein Studium 1702 an der Universität Kopenhagen fort. H. wurde dort Hofmeister u. bereiste in dieser Eigenschaft einige Jahre mit jungen Adligen europ. Länder. Danach ließ er sich als Kunst- u. Juwelenhändler u. Privatgelehrter in Amsterdam nieder. 1719 siedelte H. nach Hamburg über, wo er 1723 Mitgl. der ersten Patriotischen Gesellschaft wurde. Drei Monate nach der Rückkehr von einer weiteren Auslandsreise (1729–1731) starb er. Wie Thomasius u. der »Patriot« (Hbg. 1724–1726) machte H. das Gedankengut der Frühaufklärung in dt. Sprache einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Seine Zwey Bücher von der Zufriedenheit nach den Gründen der Vernunft und des Glaubens (Hbg. 1722. 5., verb. Aufl. 1731. 101766. Biel 121757 [sic]) gehörten
H. stammte aus kleinbürgerl. Verhältnissen, studierte nach dem Besuch des Breslauer Jesuitengymnasiums kurze Zeit in Wien u. ging 1777 nach Prag. Dort veröffentlichte er den Band Gedichte (1778), dessen – von Denis beeinflusste – vaterländ. u. religiöse Oden sich bewusst von der im österr. Raum allmählich zum Zug kommenden scherzhaften Lyrik norddt. Prägung absetzten, sowie einige Lustspiele. Daneben betätigte er sich in verschiedenen Prager Wochenschriften als überzeugter Parteigänger der josephin. Aufklärung. Ab 1782 in Wien, entwickelte H. eine reiche Tätigkeit innerhalb der zeitgenöss. »Broschürenflut« u. vertrat in vielen oft anonym erscheinenden Polemiken eine radikaljosephin. Linie. Bekannt wurde er v. a. als Herausgeber der »Wöchentlichen Wahrheiten für und über die Prediger in Wien«
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(1782–84), einer Wochenschrift, welche die Hoffmann, Ruth, verh. Scheye, * 19.7. an Wiener Kirchen gehaltenen Predigten an 1893 Breslau, † 10.5.1974 Berlin; Grabden eth. u. ästhetischen Normen der Aufklä- stätte: Berlin-Zehlendorf, Waldfriedhof. – rung maß. Auch als Dramatiker war H. wei- Prosaautorin, Lyrikerin, Jugendbuchterhin im aufklärerischen Sinn tätig: Das schriftstellerin. 1785 aufgeführte Lustspiel Das Werther-Fieber verband Hofkritik (allerdings unter den Prä- Nach dem Besuch der Frauenschule in Weimissen des aufgeklärten Absolutismus) mit mar studierte H. 1917–1919 an der Kunstder für die Josephiner symptomat. Kritik am akademie in Breslau. Anschließend arbeitete sie als Malerin u. Grafikerin. Geniewesen des Sturm und Drang. 1935 erschien H.s erster Roman Pauline aus Nach seiner Ernennung zum Professor für Kreuzburg (Lpz.), in dem sie die Geschichte dt. Sprache an der Universität Pest (1785) begann sich H. von der Aufklärung zu dis- ihrer Großmutter erzählt. Der Stil dieser tanzieren. 1790 von Leopold II. an die Uni- schles. Familienchronik u. die realistische versität Wien berufen, avancierte er zum Darstellungsweise fanden großen Anklang. Vertrauten des Kaisers u. denunzierte in der Da H. jedoch mit dem jüd. Bankbeamten 1791 gegründeten »Wiener Zeitschrift« die Erich Scheye verheiratet war, wurde ihr Buch Aufklärung als schuldig an der Revolution. verboten. Ihre während des »Dritten Reichs« H. wurde in der Folge von den Aufklärern des entstandenen Romane, Novellen u. Gedichte dt. Sprachraums (in Wien v. a. von Alxinger u. konnten erst nach 1945 veröffentlicht werRetzer) heftig angegriffen. Nach dem Tod den. Die schles. Heimat, das Familien- u. FrauLeopolds II. (1792) musste er die Zeitschrift einstellen. Verbittert zog er sich nach Wiener enleben sowie der Tod des Ehemanns, der Neustadt zurück u. fuhr bis zu seinem Tod 1943 in Auschwitz ermordet wurde, sind die fort, in vielen Schriften die jüngste Ge- Hauptmotive ihrer Werke. So schildert z.B. schichte als Verschwörung der Freimaurer u. der Roman Die schlesische Barmherzigkeit (Bln. 1950) das entbehrungsreiche Leben einer Illuminaten zu deuten. Literatur: Ingrid Fuchs: L. A. H. Seine Ideen u. schles. Magd. Obwohl die Skizze Meine seine Bedeutung als Konfident Kaiser Leopold II. Freunde aus Davids Geschlecht (Bln. 1947) u. der Diss. Wien 1963. – Leslie Bodi: Tauwetter in Wien. Roman Ich kam zu Johnny Giovanni (Bln. 1954) Zur Prosa der österr. Aufklärung 1781–95. Ffm. sich u. a. mit der NS-Herrschaft beschäftigen, 1977. – Bernhard M. Hoppe: Wöchentl. Wahrhei- können auch sie die generelle Kritik an H.s ten für u. über die Prediger in Wien. Ein Periodi- Sentimentalität u. polit. Naivität nicht wikum des Josephin. Zeitalters. Diss. Mchn. 1989. – derlegen. Helmut Reinalter: Gegen die ›Tollwuth der AufWeitgehend unbeachtet blieben die Lyrikklärungsbarbarei‹. L. A. H. u. der frühe Konservabände Das goldene Seil (Lpz. 1946), Dunkler tismus in Österreich. In: Von ›Obscuranten‹ u. ›Eudämonisten‹. Hg. Christoph Weiß. St. Ingbert Engel (Lpz. 1947) u. der Zwillingsweg (Bln. 1997, S. 221–244. – Catherine Julliard: La ›Wiener 1954), die, noch gefühlsbetonter als die Prosa, Zeitschrift‹ de L. A. H. In: Voix Conservatrices et ausschließlich Persönliches thematisieren. Réactionnaires dans les Périodiques Allemands de Erfolgreich waren H.s immer wieder neula Révolution Française à la Restauration. Hg. aufgelegte Jugendbücher Poosie aus WashingPierre-André Bois u. a. Bern u. a. 1999, S. 299–323. ton (Bln. 1953), Poosie in Europa (Bln. 1954) u. Wynfrid Kriegleder / Red. Poosie entdeckt Amerika (Bln. 1956), in denen sie Erlebnisse mit einem ihrer Enkel verarbeitet. Weitere Werke: Franziska Lauterbach. Mchn./ Lpz. 1947 (R.). – Abersee oder Die Wunder der Zuflucht. Bln. 1953 (E.). – Der Wolf u. die Trappe. Stgt. 1963 (R.). – Die Häuser, in denen ich lebte. Stgt. 1969 (Erinnerungen). Literatur: Heinz Rein: Die neue Lit. Versuch eines Querschnitts. Bln. 1950, S. 121–124. – Alois
529 M. Kosler: R. H. u. ihr Werk. In: Schlesien 18 (1973), S. 163–170. – Arno Lubos: Gesch. der schles. Lit. Bd. 3, Mchn. 1974, S. 312–316. Bettina Mähler
Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich, * 2.4.1798 Fallersleben, † 19.1. 1874 Corvey; Grabstätte: ebd., Klosterfriedhof. – Lyriker u. Germanist. Nach Gymnasialjahren in Helmstedt u. Braunschweig begann H. 1816 in Göttingen ein Studium der Theologie, wechselte jedoch bald zur Klassischen Philologie u. Archäologie. Den Ehrgeiz, »ein zweiter Winckelmann« zu werden, gab er nach einer Begegnung mit Jacob Grimm in Kassel 1818 auf u. widmete sich in Bonn den »vaterländischen Studien«; Volkskunde, Sprach-, Literatur- u. Kulturgeschichte der german. Völker wurden dort sein Arbeitsgebiet. Seine wissenschaftl. Lebensaufgabe sah H. im Entdecken, Sammeln u. bibliografischen Erfassen der Quellen. Zu seinen Funden zählen die Bruchstücke vom Otfried (Bonn 1821) u. das ahd. Ludwigslied (1837); seine Sammlungen waren dem Kinderlied, dem Volkslied, dem – von ihm so benannten – »Gesellschaftslied« u. dem Kirchenlied gewidmet. Mit einer Hollandreise von April bis Okt. 1821 begannen seine »literarischen Reisen«, die immer wieder der Erforschung der fläm. Kultur gewidmet waren; deren Kampf um ihre Nation erschien H. als Modell für Deutschland. Schon 1823, lange vor dem Erscheinen seiner Horae Belgicae (12 Bde., Breslau 1830–62), zeichnete ihn die Universität Leiden mit dem Ehrendoktorat aus. Seit Herbst 1821 bemühte sich H. in Berlin, eingeführt in den Zirkeln des Büchersammlers u. Philologen Meusebach u. der Bettine von Arnim, um eine Anstellung. In Breslau wurde ihm 1823 die Stelle eines Kustos an der Zentralbibliothek angetragen, die er bis 1838 – sich vielfach beklagend – versah; gegen den Willen der Fakultät berief ihn der preuß. Kultusminister Altenstein 1829 zum a. o., 1835 zum o. Professor. Seit 1830 steigerte sich H.s deutschpatriotische Ablehnung der Restauration; im Dez. 1837 verfasste er, empört über die Amtsenthebung der Göttinger
Hoffmann von Fallersleben
Sieben, das Gedicht Knüppel aus dem Sack; im Schweizer Parteienkampf nahm er bei einer Reise 1839 entschieden für die Liberalen Partei. Seine Unpolitischen Lieder bedeuteten dann »die erste energische und unermüdlich erneuerte Opposition durch politische Lyrik« (Prutz). Ihre beiden Teile erschienen bei Julius Campe 1840 u. 1841, in der Ära patriotischliberaler Hoffnungen nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. Sie enthielten Attacken gegen Aristokratie, Regierung u. Polizei, gegen Zensur u. Frömmlertum. Er habe, so verteidigte sich H., »die Stimmung der Zeit und des Volkes wiedergegeben«. Dennoch wurde er Ende 1842 ohne Pension seines Amts enthoben; bis 1848 zog er, stets polizeilich beobachtet, häufig ausgewiesen, als »singender Agitator« (Neef) durch Deutschland u. »erneuerte im eigentlichsten Verstande die Bänkelsängerei« (Ruge); v. a. bei Banketten des bürgerl. Mittelstands u. in studentischen Kreisen fand der prominente Märtyrer des Liberalismus sein Publikum. Neben Herwegh ist H. mit seinen Sammlungen der erfolgreichste polit. Lyriker im Vormärz. Laube pries ihn als »deutschen Béranger«, doch wusste er sich von dem frz. Lyriker ebenso getrennt wie von Heines »undeutscher« Frivolität. Formal schlicht, eingängig u. sangbar sind auch die polit. Verse H.s. Ihr Motivvorrat – »Freiheit, Lieb und Wein« – ist v. a. auf die gesellige polit. Kultur des bürgerl. Liberalismus zugeschnitten. H.s Programm wiederum – verfassungsmäßige Einheit Deutschlands, Volksherrschaft, bürgerl. Freiheitsrechte u. »Freiheit« in allen »menschlichen Verhältnissen«, für »das Religiöse, Gesellige und Häusliche« – stand hinter den radikaleren Forderungen etwa der Junghegelianer zurück. »Könnte der Philister eine Revolution machen, so würde sie Hoffmann machen«, spottete etwa Ruge. Der Dichter H. freilich begriff sich, gemäß der Volksliedtheorie der frühen Germanistik, als Sprecher des Volks u. eines als Sprachnation gefassten Deutschland. Er legitimierte sein Schaffen aus einer Tradition polit. Lyrik u. Polemik seit dem MA, wie sie seine Anthologie Politische Gedichte aus der deutschen Vorzeit (Lpz. 1843) vor-
Hoffmann von Fallersleben
stellte. Sein bekanntestes Gedicht, das 1841 entstandene Lied der Deutschen, das seit 1922 als Nationalhymne dient, lehnt sich an die Grenzziehung des Reichs bei Walther von der Vogelweide an. Wie er in seine Quellensammlungen eigene Verse einflocht, so begriff H. sein dichterisches Schaffen insg. als künftige Quelle vaterländ. Studien. In seinem Kampf für eine Volkskultur – etwa in dem Gedicht Schulpoeten (1842) – begegnet er der Bildungsdichtung mit virtuoser politischsatir. Kontrafaktur. So wird im Lied der Deutschen – mit der Melodie von Haydn – der Kontrast zwischen Melodie u. Text zu einer demokratischen Korrektur des Typus der Kaiserhymne genutzt. Doch entstanden seit 1845, angeregt von Ludwig Erk, auch Kinderlieder – wie Frühlings Ankunft (»Alle Vögel sind schon da [...]«) oder Frühlingsbotschaft (»Kuckuck, Kuckuck ruft aus dem Wald [...]«); sie waren »für ein neues Geschlecht« bestimmt; »denn von dem jetzigen erwartete ich nichts mehr«. An der Revolution von 1848 nahm H. kaum Anteil. Dem Amnestieerlass des preuß. Königs verdankte er ein Wartegeld, das ihm die ersehnte Heirat mit seiner Nichte Ida vom Berge ermöglichte. Seit 1854 wirkte er, empfohlen von Franz Liszt, in Weimar als Herausgeber der »Weimarischen Jahrbücher für deutsche Sprache, Literatur und Kunst« (zus. mit Oskar Schade. Weimar 1854–57) u. rühriges Mitgl. des Neu-Weimar-Vereins. H.s höf. Freundeskreis vermittelte ihm die Berufung als Schlossbibliothekar nach Corvey 1860; die letzten Lebensjahre waren v. a. der Ausarbeitung seiner Autobiografie gewidmet. Wie die meisten patriotischen Lyriker seiner Generation feierte H. die Reichsgründung 1871: »Was uns von Jugend an verband, / Der höchste Wunsch hienieden: / ein einig, freies Vaterland, / ward endlich uns beschieden.« Doch verraten seine Gründerlieder wachsende Enttäuschung. Weitere Werke: Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Heinrich Gerstenberg. 8 Bde., Bln. 1890–93. – An meine Freunde. Briefe. Hg. ders. Bln. 1907. – Gedichte u. Lieder. Hg. Hermann Wendebourg u. Anneliese Gerbert. Hbg. 1974. – Einzeltitel: Gedichte. Breslau 1827. – Dt. Philologie im Grundriß. Breslau 1836. – Gedichte. Neue Slg. Breslau 1837. –
530 Dt. Lieder aus der Schweiz. Zürich 1843. – Dt. Gassenlieder. Zürich 1843. – Dt. Salonlieder. Zürich 1844. – H.sche Tropfen. Zürich 1844. – Diavolini. Zürich 1845. – 37 Lieder für das junge Dtschld. Lpz. 1848. – Lieder aus Weimar. Hann. 1854. – Mein Leben. Hann. 1868. – Vaterlandslieder. Hbg. 1871. Literatur: Bibliografie: Goedeke 13, S. 329–394. 15, S. 828–853. – Sammelbände: Hans-Joachim Behr, Herbert Blume u. Eberhard Rohse (Hg.): A. H. H. v. F. FS zum 200. Geburtstag. Bielef. 1999. – Marek Halub u. Kurt G. P. Schuster (Hg.): H. v. F. Internat. Symposion. Wroclaw/Breslau 2003. Bielef. 2005. – Norbert Otto Eke, K. G. P. Schuster u. Günter Tiggesbäumker (Hg.): H. v. F. Internat. Symposion Corvey/Höxter 2008. Bielef. 2009. – Gesamtdarstellungen und Biografisches: Robert Blum: Lebensbeschreibung des H. v. F. In: Vorwärts! Volkstaschenbuch für das Jahr 1843. Lpz. 1843, S. 120–138. – Arnold Ruge: Die polit. Lyriker unserer Zeit. Lpz. 1847, S. 75–77. – Theodor Neef: H. v. F. als vaterländ. u. polit. Dichter. Münster 1912. – Heinrich Gerstenberg: Dtschld., Dtschld. über alles. Ein Lebensbild des Dichters H. v. F. Mchn. 1916. – Fritz Andrée: H. v. F. Des Dichters Leben, Wirken u. Gedenkstätten in Wort u. Bild. Fallersleben 1972. – Ingrid Heinrich-Jost: A. H. H. v. F. Bln. 1982. – Jürgen Borchert: H. v. F. Ein dt. Dichterschicksal. Bln. 1991. – Karl-Wilhelm Frhr. v. Wintzingerode-Knorr: H. v. F. Ein Leben im 19. Jh. In: Behr/Blume/Rohse, a. a. O., S. 11–33. – G. Tiggesbäumker: H. v. F. als Bibliothekar in Corvey. Ebd., S. 35–48. – M. Halub: Im schles. Makrokosmos. A. H. H. v. F. Eine kulturgeschichtl. Studie. Wroclaw 2005. – K. Schuster: H. v. F. – ökonomisch betrachtet. In: Eke/Schuster/Tiggesbäumker, a. a. O., S. 15–38. – E. Rohse: Gelehrsamkeit, Deutschlandpathos, Poesie des Grimms. H. v. F. u. Göttingen. In: ebd., S. 125–178. – Politische Lyrik: K. Schuster: Poesie des Grimms. Wie politisch war der Dichter der ›Unpolit. Lieder‹? In: Behr/Blume/ Rohse, a. a. O., S. 121–139. – E. Rohse: ›Frankfurt ist nicht Betlehem‹. Paulskirchenparlament u. 48er Revolution im Spiegel literar. Texte. In: Sprache des dt. Parlamentarismus. Studien zu 150 Jahren parlamentar. Kommunikation. Hg. Armin Burkhardt u. Cornelia Pape. Wiesb. 2000, S. 40–67. – K. Schuster: Poesie des Grimms II. H.s polit. Ansichten zwischen Revolution u. Kaiserreich. In: Halub/ Schuster, a. a. O., S. 41–69. – N. O. Eke: H. v. F. u. der Vormärz. In: Eke/Schuster/Tiggesbäumker, a. a. O., S. 295–313. – Deutschlandlied: Gerhard Seiffert: Das ganze Deutschlandlied ist unsere Nationalhymne. Fallersleben 1964. – Hans Peter Neureuter: F.s ›Dt. Sang‹. Versuch einer histor. /
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Hoffmannswaldau
531 Auslegung. In: Interpr.en 4. Hg. Günter Häntzschel. Stgt. 1983, S. 223–234. – Hermann Kurzke: Hymnen u. Lieder der Deutschen. Mainz 1990, S. 42–63. – E. Rohse: ›Das Lied der Deutschen‹ in seiner polit., literar. u. literaturwiss. Rezeption. In: Behr/Blume/Rohse, a. a. O., S. 51–100. – H. Blume: Maas, Memel, Etsch u. Belt. Die Gewässer in H.s ›Lied der Deutschen‹ u. die Grenzen des ›Vaterlands‹. In: Halub/Schuster, a. a. O., S. 247–266. – Germanistik: Dieter Cherubim: H. v. F. in der Gesch. der Germanistik. In: Behr/Blume/Rohse, a. a. O., S. 143–167. – H.-J. Behr: Eilige Philologie. H. v. F. als Editor mittelalterl. Texte. Ebd., S. 169–181. – Otto Holzapfel: H. v. F. u. der Beginn krit. Volksliedforsch. in Dtschld. Ebd., S. 83–198. – E. Rohse: Im Vorfeld der Bote-Forsch. ›Van veleme rade‹ als ›Findling‹ des Germanisten H. v. F. In: Vulpis Adolatio. FS Hubertus Menke. Hg. Horst P. Pütz u. Ulrich Weber. Heidelb. 2001, S. 603–623. – Anna Man´ko-Matysiak: H. v. F. u. sein Beitr. zur hymnolog. Forsch. In: Halub/Schuster, a. a. O., S. 179–198. – Stephan Müller: Findige Philologie. H. v. F. u. die frühe Germanistik. In: Eke/Schuster/ Tiggesbäumker, a. a. O., S. 179–193 – H. Blume: Zweimal ›Henneke Knecht‹. H. v. F. u. Karl Friedrich Arend Scheller als Editoren mittelniederdt. Texte. In: ebd., S. 195–226. – Niederlandistik: Stefan Kiedron´ : ›Horae Belgicae‹. Mittelalterl. Poesie in den Niederlanden. In: Halub/Schuster, a. a. O., S. 163–175. – Stanislaw Predota: H.s ›Horae Belgicae‹ u. die mittelniederländ. Philologie. Ebd., S. 247–265. – Erika Pöttgens: Ein dt. Reisender in den Niederlanden u. Belgien. H.s Bild der niederländ. Sprache u. Kultur. In: Eke/Schuster/Tiggesbäumker, a. a. O., S. 79–103. /
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Walter Schmitz / Eberhard Rohse
Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von, früher auch: C. Hofmann von Hofmannswaldau, * 25.12.1616 Breslau, † 18.4.1679 ebd.; Grabstätte: ebd. – Lyriker. H. gehört zu den kaum bekannten dt. Dichtern, obschon er Texte höchster künstlerischer Qualität schuf. Kurz nach seinem Tod galt er bereits als einer der bedeutendsten Poeten des 17. Jh., der unter dem Etikett der Galanten zahlreiche Nachahmer fand. Seit der Aufklärung aber verwarf man ihn als Vertreter einer von Schwulst u. Manierismus geprägten Stilform, die lange Zeit als pejorative Charakterisierung von dt. Barockliteratur überhaupt diente. Unter diesen Auspi-
zien übte auch die Forschung Zurückhaltung, doch jüngere Beiträge zeichnen sich durch fundierte u. luzide Untersuchungen aus, die seine Verdienste angemessen würdigen. H.s Vita dürfte zur Irritation beigesteuert haben, weil sie im Vergleich zum Gros der Barockpoeten weitgehend atypisch verlief. Davon zeugt bereits die von seinem Kollegen Lohenstein verfasste Leichabdankung, die ausführlich das langjährige Wirken im Dienste für die schles. Metropole Breslau lobt u. nur kurz auf seine literar. Leistungen eingeht. Das entsprach durchaus dem Selbstverständnis H.s, der seinem Amt absoluten Vorrang einräumte u. die Beschäftigung mit Poesie den Mußestunden vorbehielt. Wohnsitz u. Herkunft begünstigten entschieden seinen Werdegang wie auch sein souveränes poetisches Schaffen. Der Vater, 1612 nobilitiert, zählte als schles. Kammersekretär u. Kaiserlicher Rat zum angesehenen Patriziat. Seine Ehefrauen gehörten adligen Familien an u. vermehrten sein Vermögen. Von den Kriegswirren wurde Schlesien vielfach heimgesucht, doch das wohlbefestigte Breslau blieb davon weitgehend verschont. Zudem genoss die reiche Handelsstadt – im Unterschied zu den vom kath. Kaiserhaus dominierten Landesteilen – Privilegien, die dem 1616 Geborenen u. a. ungestörten Zugang zum protestant. Elisabeth-Gymnasium gewährten. Hier kam er in Kontakt mit Opitz u. bedeutenden Gelehrten wie Colerus u. Major u. genoss er eine umfassende humanistische Bildung, die er 1636–1638 am Akademischen Gymnasium in Danzig u. 1638/39 v. a. an der Universität Leiden vertiefte. Diese besaß den Ruf der modernsten Hochschule, an der nach dem Universalgelehrten u. weltweit geschätzten Justus Lipsius weitere Koryphäen wie Scaliger, Heinsius, Vossius u. Salmasius lehrten. Im Unterschied zu seinem Landsmann Andreas Gryphius, der rund sechs Jahre an dieser Universität studierte u. dozierte, brach H. noch 1639 zu einer Reise nach England, Frankreich u. Italien auf, »weil er wol wuste: dass nützlich Reisen die beste Schule des Lebens were« (Lohenstein). Er machte sich mit den Kulturen dieser Länder vertraut u. fand in Begleitung eines
Hoffmannswaldau
Fürsten Zugang zu höf. Kreisen, was einer Kavalierstour entsprach. Damit förderte er seine berufl. Karriere in der Nachfolge u. unter Druck seines Vaters, der 1641 zu rascher Heimkehr u. zwei Jahre später zur Heirat drängte, »um ihn unbeweglich zu machen«. Ab 1641 Ratsherr, wurde er 1647 Ratsschöffe, 1657 Senator, 1670 Schöffenpräses sowie Ratsältester u. 1677 Präses bzw. Bürgermeister. Damit war er bis zu seinem Tod 1679 Belastungen vielfacher Art ausgesetzt, die ihn jedoch nicht daran hinderten, sein poetisches Talent voll zu entfalten. In seinem Amt musste er sich von Anfang an mit Querelen der Habsburger auseinandersetzen, die bes. nach der Niederlage des Winterkönigs ihre absolutistischen Bestrebungen verstärkten u. deshalb den Breslauern gewährte Konzessionen in konfessionellen Fragen einzuschränken bzw. aufzuheben begannen. Besonders erfolgreich erwiesen sich die Jesuiten, die widerrechtlich u. trickreich in der Stadt Fuß fassten u. die kath. Klientel stärkten. Da eine Universitätsgründung verhindert worden war, fanden ihre beachtl. Bildungsangebote zunehmend Interesse u. bewirkten Konversionen, die öffentlich zelebriert oft Ausschreitungen bewirkten. Rigorose Zensurbestimmungen zwangen auch den Dichter H. zu permanenten Rücksichtnahmen. Hinzu kamen kriegerische Bedrohungen durch schwed. Ambitionen u. das Vordringen der Türken. Das zwang zum Lavieren, wobei sich H.s diplomatisches Geschick bes. bei Gesandtschaften zum Regensburger Reichstag (1653) u. an den Wiener Hof (1657, 1660 u. 1669/70) bewährte. Nach dem ersten Wiener Aufenthalt wurde er zum Kaiserlichen Rat ernannt. Angesichts dieser Bedrängnisse u. weil er nicht zu den allenthalben agierenden Vielschreibern gehören wollte, verzichtete er auf Publikationen seiner Gedichte. Sie kursierten lediglich handschriftlich im engsten Freundeskreis. Dass dennoch seine Poetischen Grabschriften als Raubdrucke (insg. fünf) in den fünfziger Jahren erschienen, musste ihn beunruhigen, weil einige Epigramme Kaiserhaus u. kath. Institutionen deutlich verspotteten. Gedruckt wurden lediglich Texte anlässlich von Todesfällen u. Hochzeiten. Zur
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Edition einer Gesamtausgabe entschloss er sich erst kurz vor seinem Tod 1679, die noch im selben Jahr herauskam. Knapp zwei Jahrzehnte später publizierte Benjamin Neukirch in seiner umfangreichen erot. Anthologie (ab 1697) eine Reihe musterhafter freizügiger Gedichte, die H. zurückgehalten hatte, dessen Namen der Herausgeber bereits im Titel werbewirksam verwendete. Schon damals galt Lohensteins Urteil: »Opitz that es den Alten und Ausländern nach / Unser Herr von Hofmannswaldau aber zuvor.« Damit verwies er auf die kulturellen Defizite der dt. Poesie, die durch Übersetzungen u. Nachahmungen überwunden werden sollten. H. übertrug 1646 u. 1647 Biondis LÉromena u. Guarinis Pastor fido sowie Viaus Mort de Socrate, um die »Lieblichkeit« v. a. romanischer Sprachen der eigenen Nationalliteratur zuzuführen. Indem er sich zudem fast ausschließlich in seinen Werken auf erot. Sujets konzentrierte, weil sie in Deutschland bes. tabuisiert waren, schuf er Texte von musterhafter Qualität. Dafür nutzte er Quellen der Griechen u. Römer ebenso wie deren Wiederbelebung in der Folgezeit u. setzte sich kritisch mit aktuellen moraltheolog. Diskursen christl. oder stoischer Provenienz auseinander. Seine freizügigen Darstellungen sexueller Themen entfernten sich von konventioneller Scherzhaftigkeit u. nutzten das Inventar des Petrarkismus, wobei sie den Liebesvollzug nicht aussparten. Dass sie niemals ins Obszöne abglitten, verdankt sich dem souveränen Einsatz rhetorisch-artifizieller Kunstmittel, wobei er u. a. Marino u. Loredano folgte u. deren Artistik erweiterte. Seine Concetti als »artige Verknüpfungen« u. ein originaler Metaphernreichtum zeichnen fast alle Texte aus u. reizten zahlreiche Dichter über Jahrzehnte zu Nachahmung u. Übertrumpfung. Offenbar sehr früh entstanden die Geistlichen Oden, die dem Kirchenlied verpflichtet sind u. in der Verurteilung der Leidenschaften der Konvention entsprechen. Sie zeigen zumeist sehr persönl. Züge u. erinnern z.T. an Paul Gerhardts schlichte Erbauungslieder. Durchweg der Tradition folgt H. in den Hochzeit- u. Begräbnüß-Gedichten, während in einigen der etwa gleichzeitig entstandenen
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Poetischen Geschichtreden die für seine erot. Gedichte typischen Stilmittel hervortreten. Das gilt im hohen Maße von der Beichte, der vielfach beschworenen Magna peccatrix, deren Sündenbekenntnis zum Lustgewinn pervertiert. Im Zustand der Erleuchtung beschreibt sie detailliert ihre Brunst, die sie sich selbst u. vermehrt mit Partnern verschaffte, bis sie bemerkt, dass intensives Erinnern die Lustgefühle wiedererweckt. Damit schuf er ein raffiniertes Exempel seiner poetischen Strategie, die zutreffend mit »Apologien der Lust« charakterisiert worden ist. Seine erot. Oden, Sonette u. Epigramme verdanken sich einem völlig sinnlich bestimmten Menschenbild u. gehen auf Distanz zum universalen Memento-mori-Weltverständnis, dem viele Zeitgenossen anhingen. Während seine dt. Vorgänger (u. a. Opitz, Fleming, Zesen) sich nicht von der petrark. Tradition entfernten u. sich stark an frz. u. ital. Literaten orientierten, schöpfte H. zusätzlich aus antiken Quellen bzw. Thesauren, deren erot. Konzeptionen schon in der frühen Neuzeit aufgegriffen u. als Lizenzen für einen freieren Umgang mit der Thematik verstanden wurden. Dabei vermied H. die Konfrontation mit religiösem Rigorismus ebenso wie eindeutige Wertungen u. überließ in kontroversen Aussagen dem Leser die Entscheidung. Dass er christl. Topik mit einem proteischen Metaphernspiel verband u. fixierte Deutungen kunstvoll problematisierte, verschaffte den Texten eine Ambivalenz, an der sich bis heute Interpreten abarbeiten. Gerade dadurch wies er auf die Moderne voraus u. erweiterte er Techniken des Sprachspiels. Besonders frivole bzw. laszive u. politisch wie konfessionell brisante Poeme nahm er nicht in seine Ausgabe auf; sie erschienen erst in der erot. Anthologie Benjamin Neukirchs, in der seine Nachahmer weitere Tabubrüche ausloteten. Als Höhepunkt seines Schaffens gelten mit vollem Recht seine 1663 u. 1664 entstandenen Helden-Briefe, eine Sonderform der damals verbreiteten stilisierenden Briefkunst, die auf antike Muster zurückgriff. H. beruft sich auf Ovids Heroides, orientierte sich jedoch bes. an Draytons England’s Heroicall Epistles, mit denen sein Werk die Verwendung jeweils eines
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Briefpaares, die Sprengung sozialer Grenzen durch Liebesleidenschaft sowie die Wahl von Beispielen v. a. aus der eigenen Landesgeschichte teilt. Handschriftlich sind als Abschriften von fremder Hand zwölf von insg. vierzehn Briefpaaren überliefert, deren Anordnung von der Druckfassung abweicht. Insofern besteht Ungewissheit hinsichtlich eines Ordnungsprinzips. Die Verwendung von Pseudonymen, deren Entschlüsselung rasch gelang, verweist auf diplomatische Rücksichtnahmen hinsichtlich des konfessionell brisanten histor. Kontextes. Das betraf auch die Dominanz der Bigamiethematik, die in zeitgenöss. naturrechtl. u. protestant. Ehediskussionen neue Aspekte eröffnete. Die von H. ausgewählten histor. Beispiele präsentieren Varianten des Liebesaffekts mit tragischen Folgen oder glückl. Ausgang u. gewähren Einblick in die Emanzipation erot. Leidenschaften. Die Liebe überspringt nicht nur Standesgrenzen, sondern setzt auch geistl. Bindungen außer Kraft oder gerät in Konflikt mit der vieldiskutierten Staatsräson. Eine Steigerung bilden Darstellungen einer listig arrangierten ehebrecherischen Beziehung in blasphem. Drapierung u. des Gattenmords unter Verzicht auf definitive Bewertungen überhaupt. Davon heben sich exempla virtutis ab, indem todeswürdige Sünden dank der Großmütigkeit der Patriarchen Vergebung u. sogar Belohnung finden. Das beginnt sogleich mit dem Verhalten Karls des Großen u. endet mit der posthumen Rechtfertigung des Schicksals von Abälard u. Heloise, die als »Spiritualisierung der Liebesleidenschaft als eines innerweltlichen Absolutum« gilt u. so bereits auf Schöpfungen der Goethezeit vorausweist. Besondere Qualitäten bezieht diese jeweils in hundert Alexandrinern vorgetragene Doppelkorrespondenz aus einer Artistik, die sich souverän u. angemessen der Formen u. Mittel zeitgemäßer Rhetorikpraxis bedient. Dabei spielt die Spezies der Gerichtsrede eine tragende Rolle. Orientierte er sich dabei v. a. an Vorbildern der ital. Literatur (Petrarkismus, Marinismus), deren »Lieblichkeit« ins Deutsche zu transponieren ihm gelang, so übertraf er vielfach dank eines Reichtums an Metaphorik, arguter Bildlichkeit u. Concet-
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tismus die Dichtungen der Vorgänger. Polyvalenz u. Intertextualität bereichern die Semantik u. führen des öfteren zu einem Subtext, der weitere Sinnbezüge erschließt u. Sprachspiele vielfach an die Sachsphäre zurückbindet. In welchem Maße die blasphem. Umschreibung sexueller Handlungen durch zentrale heilsgeschichtl. Befunde dem Autor selbst zugerechnet werden darf, bleibt umstritten. Dass sich die Konzentration auf höf. Vorgänge der Gattungsnorm, aber auch seiner Weltläufigkeit verdankt, ist nicht zweifelhaft, ebenso wie die Erhöhung der Frau dank ihrer intellektuellen u. sprachl. Ebenbürtigkeit. Ein wesentl. Motiv seines Schaffens verrät er in der Vorrede an den Leser. Angesichts einer bes. in Deutschland vorherrschenden Prüderie versteht er es als eine therapeutische Leistung. Wenn man bedenkt, das sich seine Wirkungsgeschichte – als Vorbild galanter Poesie – auf wenige Jahrzehnte beschränkte, erweist sich seine Diagnose bis heute als zutreffend. Sein verantwortungsvolles Amt erforderte Diskretion u. damit auch Zurückhaltung bei persönl. Bekenntnissen. Um so ergiebiger erweisen sich zwei Beiträge, die 1680 u. 1700 veröffentlicht wurden u. als programmatisch gelten dürfen. Seine Vorrede zur ersten Gesamtausgabe enthält poetolog. Überlegungen, die von tradierten normativen Vorgaben z.T. abweichen u. der bis heute praktizierten Literaturgeschichtsschreibung entschieden vorarbeiten. Er beruft sich nicht wie das Gros der Schriftsteller auf die Regelpoetik seines langjährigen Freundes Opitz, sondern betont, dass er sich an dessen Gedichten eingeübt habe, um eine gewisse Selbstständigkeit zu demonstrieren. In diesem Sinne eignet er sich auch Texte ausländ. Autoren an u. bezeugt er seine Vorliebe für die Italiener, wobei er Petrarcas Wirkung bes. hervorhebt. Im Rahmen apologetischer Konkurrenzdarlegungen würdigt er in einem histor. Abriss die Leistungen dt. Dichter seit Otfried, lässt aber keinen Zweifel daran, dass seit Opitz Texte von hoher Vollkommenheit entstanden, wie sie auch ihm gelangen. Bereits 1656 entwarf er für den Sohn einer befreundeten Ratsfamilie eine Studienanweisung (Curriculum studiorum), in der er be-
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wusst auf gelehrte Erörterungen verzichtet, deren Gedanken aber, wie er sogleich betont, die »Offenheit des Geistes [...] dem sie entstammen«, spiegeln. Dem entspricht schon, dass er die obligator. Ermahnung zur Frömmigkeit mit der Kenntnis anderer Religionen verknüpft u. von der Lektüre entsprechender Kampf- u. Streitschriften entschieden abrät. Dank eines krit. Blicks warnt er vor gelehrten u. didakt. Übertreibungen u. betont den Nutzen des Studiums. Wenn er bereits im Titel die Politesse u. das Delectare erwähnt, enthüllt er zgl. das leitende Interesse seines Wirkens u. Lebens. Dass er Gottes Gnade sicher sein könne, folgert er aus seinen Verdiensten für das Gemeinwesen u. seine Mitmenschen. Ausgaben: Gesamtausgabe: Ges. Werke. Hg. Franz Heiduk. 5 Bde., Hildesh. u. a. 1984 u. 1993 (bisher Bd. 1 u. 2). – Teilausgaben: Neukirchsche Slg. Hg. Angelo George de Capua u. a. 7 Bde., Tüb. 1961–91. – Sinnreiche Heldenbriefe (Ausw.). Hg. Friedhelm Kemp. Ffm. 1962. – Gedichte. Hg. Johannes Hübner. Bln. 1962. – Gedichte. Hg. Manfred Windfuhr. Stgt. 1964. Bibliogr. erg. Ausg. 1994. – Gedichte. Hg. Helmut Heißenbüttel. Ffm. u. a. 1968. – Vorrede zu ›Dt. Übers.en u. Gedichte‹. Hg. Klaus Günther Just. In: Poetica 2 (1968), S. 541–557. – F. Heiduk: Unbekannte Gedichte v. H. In: Daphnis 7 (1978), S. 667–713. – Anselm Schubert: H. Briefe an Gronovius. In: Euph 90 (1996), S. 469–494. – Marie-Thérèse Mourey: Der Briefw. des Dichters u. Diplomaten H. In: Daphnis 26 (1997), S. 113–147. – Ausw. v. Texten in: duennhaupt digital. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2123–2150. – Franz Heiduk: H. u. die Überlieferung seiner Werke. In: JbFDH 1975, S. 1–72. – Weitere Titel: Josef Ettlinger: C. H. v. H. Halle 1891. – Rudolf Ibel: C. H. v. H. Bln. 1928. – Hedwig Geibel: Der Einfluß Marinos auf C. H. v. H. Gießen 1938. – Erwin Rotermund: C. H. v. H. Stgt. 1963. – Manfred Windfuhr: Barocke Bildlichkeit. Stgt 1966. – Peter Rusterholz: Theatrum vitae humanae. Bln. 1970. – Cornelia Niekus Moore: The Secularization of Religous Language. Indiana 1971. – Dies.: The Lover and the Beloved in H.’ Poetry. In: Daphnis 1 (1972), S. 150–167. – Wolfdietrich Rasch: Lust u. Tugend. Bern u. a. 1972, S. 447–471. – E. Rotermund: Affekt u. Artistik. Studien zur Leidenschaftsdarstellung u. zum Argumentationsverfahren bei C. H. v. H. Mchn. 1972. – Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stgt. 1973. –
535 Leonard Forster: Das eiskalte Feuer (Übers. JörgUlrich Fechner). Kronberg 1976. – F. Heiduk: C. H. v. H. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 473–496. – Eberhard Mannack: C. H. v. H. Stgt. 1988 u. 1991, S. 95–98. – Lothar Noack: Die hs. Überlieferung der Heldenbriefe H.s. In: Daphnis 19 (1990), S. 653–686. – Veronique Helmridge-Marsillian: The Heroisme of Love in H.s Heldenbriefen. Tüb 1991. – Thomas Borgstedt: Kuß, Schoß u. Altar. In: GRM N. F. 44 (1994), S. 288–323. – Anselm Schubert: Auf der Suche nach der menschl. Natur. In: Daphnis 25 (1996), S. 423–465. – Marie-Thérèse Mourey: Poésie et éthique au XVIIe siecle. Les traductions et poèmes allemands de C. H. v. H. (1616–1679). Wiesb. 1998. – L. Noack: C. H. v. H. Leben u. Werk. Tüb. 1999 (mit ausführl. Bibliogr.). – Harry Fröhlich: Apologien der Lust. Tüb. 2005. Eberhard Mannack
Hofmann, Gert, * 29.1.1931 Limbach/ Sachsen, † 1.7.1993 München. – Germanist; Hörspielautor, Erzähler. H.s Kindheit u. Jugend fiel in die Zeit des Nationalsozialismus. Die damit verbundenen Erlebnisse u. Erfahrungen bilden den Hintergrund vieler seiner Texte. Das zweite Hauptthema seines Werks ist Glanz u. Elend der Künstlerexistenz. H. wuchs überwiegend bei den Großeltern auf (sein Roman Der Kinoerzähler ist eine Hommage an den Großvater), legte 1949 in Leipzig das Dolmetscher-Diplom für Russisch u. Englisch ab u. nahm dann ein Studium der Romanistik, Anglistik u. Germanistik auf, das er ab 1951 in Freiburg fortsetzte u. dort 1957 mit einer Promotion über Henry James abschloss. Schon während des Studiums waren erste Arbeiten für den Hörfunk (u. a. Schulfunksendungen zu literar. Themen) entstanden. 1960 wurde H.s erstes literar. Hörspiel gesendet, das, in formaler Hinsicht angelehnt an Brecht u. Thornton Wilder, den Romeo-u.-Julia-Stoff auf originelle Weise aufgreift (Die Beiden aus Verona). Im Folgejahr hatte sein erstes Theaterstück, die Bearbeitung einer altfrz. Farce, in Freiburg Premiere (Advokat Patelin). Im selben Jahr 1961 übersiedelte die inzwischen vierköpfige Familie nach Bristol, wo H. als DAAD-Lektor zu arbeiten begann. Er war bis 1981 für den Deutschen Akade-
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mischen Austauschdienst tätig (weitere Stationen waren Edinburgh u. Ljubljana). 1963 hatte er mit dem Theaterstück Der Bürgermeister, einer Parabel auf die totalitären Neigungen des duckmäuserischen Kleinbürgers, großen Erfolg. Das an Frischs Biedermann und die Brandstifter erinnernde Stück wurde nach der Londoner Premiere in vielen Ländern Europas aufgeführt u. brachte H. ein zweijähriges USA-Stipendium ein (1965–1967). Jedoch gelang es ihm in den Folgejahren nicht, diesen Erfolg zu wiederholen u. sich als Bühnenautor zu etablieren. Seine Hörspiele hingegen waren in dt. Rundfunkanstalten begehrt, wurden teilweise mehrfach inszeniert u. mit zahlreichen, auch internat. Preisen ausgestattet, etwa mit dem Internationalen Hörspielpreis Radio Prag (1968 für den oratoriumartigen Bericht über die Pest in London), dem Prix Italia / Prix de la Rai (1980 für Die Überflutung, die von der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit handelt) u. dem Hörspielpreis der Kriegsblinden (1983 für das liebevolle Porträt Die Brautschau des Dichters Robert Walser im Hof der Anstaltswäscherei von Bellelay, Kanton Bern). H. verfasste insgesamt 43 Hörspiele, die Mehrzahl davon Originalhörspiele, nach 1978 jedoch ganz überwiegend Bearbeitungen eigener Erzähltexte. Die Wendung zur Prosa vollzog sich in den Siebzigerjahren, nachdem H. hatte einsehen müssen, dass »Hörspiele und alles, was über den Äther geht, [...] ›literarisch‹ in den Wind gesagt« ist (Gespräch mit Hans Altenhein). Sein erster Roman, Die Fistelstimme (Salzb./ Wien 1980), ist die grotesk-kom. Suada eines seelisch schwer verstörten gescheiterten Akademikers, der sich einer ausländ. Universität als Lektor aufzudrängen versucht. Der an der Erzählweise von Thomas Bernhard geschulte Text wurde 1979 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Noch vor dem Roman war im selben Jahr als H.s erste Prosaveröffentlichung die virtuos mehrere aufeinander bezogene Handlungsebenen verschränkende Novelle Die Denunziation (Salzb./Wien) erschienen, in der ein Anwalt, dessen Familie im »Dritten Reich« Opfer einer Denunziation geworden ist, damit kon-
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frontiert ist, dass er selbst zum Helfershelfer Hofmannsthal, Hugo von, auch: Loris, von Ausgrenzung u. Intoleranz geworden ist. Loris Melikow, Theophil Morren, eiBis zu seinem Tod veröffentlichte H. noch gentl.: Hofmann Edler von H., * 1.2.1874 sieben Romane sowie sechs Bände mit Er- Wien, † 15.7.1929 Rodaun (heute zu zählungen. In der Mehrzahl dieser Texte geht Wien); Grabstätte: Wien, Kalksburger es um die oft grotesk in Szene gesetzte Kon- Friedhof. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, frontation eigensinniger, isolierter (H.s Essayist. Künstlerfiguren) oder durch traumat. Erfahrungen beschädigter Existenzen (die Opfer H. wuchs als einziges Kind in einer begüternationalsozialistischen Terrors wie der jüd. ten Familie in Wien auf. Der Urgroßvater Professor Veilchenfeld) mit einer verständ- väterlicherseits war in der ungarischen Seinislosen Umwelt. In den späteren Romanen denraupenzucht zu Reichtum gelangt, hatte weicht die Groteske dabei tendenziell einem als Philanthrop Ansehen erworben u. war 1835 als »Edler von H.« in den erbländ. idyllisierenden Humor. Eine besondere erzähltechn. Innovation Adelsstand erhoben worden. Sein Sohn H.s lässt sich als »Wir-Erzählung« bezeich- brachte das lombardische Zweighaus der nen. Sie kommt in der Erzählung Der Blin- Firma zur Blüte u. konvertierte bei seiner densturz, insbes. aber im Roman Unsere Erobe- Heirat zum kath. Bekenntnis. H.s Vater, Jurung zur Geltung, der vom Kriegsende in der rist u. Direktor der Wiener Central-BodenProvinzstadt L. erzählt. Geschildert wird creditanstalt, »eine vornehme und höchst dieser Tag aus der Perspektive der kleinen gewinnende Gestalt, von reicher Bildung, siImbachs (L. u. Imbach ergeben H.s Geburts- cherem und weltmäßigem Urteile der zur stadt Limbach), der Söhne eines Peitschenfa- zweiten Natur gewordenen Diskretion« brikanten. Die Erzähler bleiben ohne eigene (Borchardt), entstammte einer seit Langem in Kontur u. werden systematisch immer wieder Wien ansässigen Fabrikantenfamilie. Die in Situationen gebracht, die eigentlich nur Mutter, geb. Fohleutner, von nervöser u. einem Jungen zustoßen können. Auf diese kränkl. Veranlagung, war die Tochter eines Weise demonstriert H. hier die Gleichschal- Richters. Noch als Schüler des Akademischen Gymtung auch des kindl. Bewusstseins in einem nasiums veröffentlichte H. unter dem Pseud. nationalsozialistisch geprägten Elternhaus. Weitere Werke: Fuhlrotts Vergesslichkeit / Loris in dem Wiener Unterhaltungsblatt »An Portrait eines uns bekannten Kopfes. Graz 1981. – der schönen blauen Donau« die Sonette Frage Gespräch über Balzacs Pferd. Vier Novellen. Salzb./ u. Was ist die Welt? u. erhielt durch Gustav Wien 1981. – Auf dem Turm. Darmst./Neuwied Schwarzkopf Zugang zu dem im Café 1982. – Unsere Eroberung. Ebd. 1984. – Der Blin- Griensteidl verkehrenden Kreis der Autoren densturz. Ebd. 1985. – Die Weltmaschine. Bln. der Wiener Moderne. Dort gewann er die 1986. – Veilchenfeld. Darmst./Neuwied 1986. – Freundschaft von Bahr, Beer-Hofmann, SalUnsere Vergeßlichkeit. Ebd. 1987. – Vor der Reten, Schnitzler u. a. genzeit. Mchn./Wien 1988. – Der Kinoerzähler. H. studierte an der Wiener Universität zuEbd. 1990. – Tolstois Kopf. Erzählungen. Ebd. 1991. – Das Glück. Ebd. 1992. – Die kleine Ste- nächst 1892–1894 Jura bis zum ersten Staatsexamen, leistete bis 1895 ein Freiwilchardin. Ebd. 1993. Literatur: Hans Christian Kosler (Hg.): G. H. ligenjahr beim Dragonerregiment in Brünn Auskunft für Leser. Darmst./Neuwied 1987. – u. Göding ab u. studierte dann bis 1899 RoDers.: Schauplatz Menschenkopf. Der Erzähler G. manistik. Er besuchte auch Kollegs von Ernst H. Mchn./Wien 1997. – Hans-Georg Schede: G. H. Mach, dessen Werk Analyse der Empfindungen, Werkmonogr. Würzb. 1999. – Walter Grünzweig: die »Philosophie des Impressionismus« G. H. In: KLG. – Verena Auffermann: G. H. In: LGL. (Bahr), H. bereits 1891 gelesen hatte. Nach Hans-Georg Schede dem bewunderten Erstling Gestern (Wien 1891. Bln. 31904) schrieb H. in den 1890er Jahren die Werke, die seinen frühen Ruhm, aber auch das Klischee des lebensfernen u.
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sozial distanzierten Ästhetentums begründeten: die Gedichte Vorfrühling (1892), Ballade des äußeren Lebens (1895), Manche freilich ... (1896), Lebenslied (1896) u. Der Jüngling und die Spinne (1897) sowie die kleinen lyr. Dramen Der Tod des Tizian (1892), Der Tor und der Tod (1893), Die Hochzeit der Sobeide (1897), Der weiße Fächer (1897) u. Der Kaiser und die Hexe (1897). Diese frühen Arbeiten erschienen zuerst in Periodika, u. a. der »Wiener Allgemeinen Zeitung«, Otto Julius Bierbaums »Modernem Musen-Almanach«, der von Eberhard von Bodenhausen u. Harry Graf Kessler herausgegebenen Zeitschrift »Pan«, v. a. aber in Stefan Georges »Blättern für die Kunst«. Ihre Buchveröffentlichung folgte meist erst Jahre später (Theater in Versen. Bln. 1899. 51905. Ausgewählte Gedichte. Bln. 1903. 21904). Sie thematisieren impressionistische Lebensformen (Absolutheit des Augenblicks, Stimmungswechsel), stellen diese aber zgl. schon sittlich in Frage (Treue/Untreue). Ihre formale Antithetik entstammt dem frz. »proverbe dramatique«. Mit Georges drängendem Werben begann 1891 eine poetisch so fruchtbare wie menschlich quälende Beziehung, die nach wiederholten Zerwürfnissen 1906 endgültig zerbrach, ohne dass dies H.s lebenslange Bewunderung für Georges Dichtung gemindert hätte. George sah in H.s Zusammenarbeit mit naturalistisch orientierten Schauspielern u. Regisseuren den schärfsten Widerspruch zu seinen eigenen Vorstellungen einer Erneuerung der Bühne ohne Konzessionen an die Theaterpraxis. H. hatte sich inzwischen an der Schauspielkunst der Eleonora Duse begeistert u. wollte seine kleinen Dramen aufgeführt sehen. Otto Brahm brachte 1898 u. 1899 an der »Freien Bühne« in Berlin Die Frau im Fenster, Der Abenteurer und die Sängerin u. Die Hochzeit der Sobeide heraus. 1896 u. 1898 nahm H. an Übungen in Ostgalizien teil. Reflexe »der Konfrontation des Dichters mit der Armut und der Häßlichkeit, der Öde und dem Schmutz galizischer Garnisonsstädte« (Rasch) finden sich allenthalben in H.s Werk. Ausgewirkt hat sich diese »Konfrontation« bes. auf H.s Auffassung des Zusammenhangs von Leben u. Dichtung, die sich aus impressionistischem
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Ästhetentum auf das »Soziale« hin weitet, wie dies etwa die Rede Der Dichter und diese Zeit (1906. Neue Rundschau, 1907) formuliert. Dieses »Soziale« ist bei H. freilich gerade nicht eine Chiffre für forcierte Elendsschilderung im Sinne des Naturalismus noch gar eine gesellschaftsanalyt. Kategorie, sondern meint den Inbegriff für das Ganze eines Lebens, das von der Summe aller Begegnungen eines Individuums ausgemacht wird. 1898 wurde H. mit einer seit längerem verschollenen Dissertation zum Sprachgebrauch bei den Dichtern der Plejade in Wien zum Dr. phil. promoviert. Die Absicht, sich mit der Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo für Romanistik zu habilitieren, gab er 1901 auf. Im selben Jahr heiratete H. die Bankierstochter Gertrud (Gerty) Schlesinger u. bezog in Rodaun bei Wien ein barockes Haus, in dem er bis zu seinem Tod als freier Schriftsteller lebte. Zu seinen Nachbarn gehörte der Kunsthändler Benno Geiger. Neben Lyrik u. lyr. Dramatik entstanden bis zur Jahrhundertwende zahlreiche, meist erst aus dem Nachlass bekannt gemachte Erzählungen, aber auch von H. selbst in Druck gegebene, wie etwa Das Märchen der 672. Nacht (1895. In: Die Zeit, 1895), Reitergeschichte (1898. In: Neue Freie Presse, 1899) u. Erlebnis des Marschalls von Bassompierre (1900. In: Die Zeit, 1900), ferner ein ausgedehntes krit., feuilletonistisches u. essayistisches Œuvre. Die frühen krit. u. feuilletonistischen Arbeiten lassen schon H.s ausgreifende Aneignung kultureller Überlieferung erkennen. Mit der rezeptiven Anverwandlung verband sich die produktive in formaler u. themat. Hinsicht: Schon die frühen Werke amalgamieren Techniken, Inhalte u. Elemente sprachl. Tradition einer Vielzahl literar. Vorbilder, wie Lenz, Heine, Nietzsche, Ibsen, Bourget, Bahr u.v.a. Der »Brief des Lord Chandos« (Ein Brief. In: Der Tag, 1902) ist keine Zäsur in der Geschichte des H.schen Schaffens. Er ist bald biografisch als Existenzkrise H.s oder auch als Dokument des Selbstzweifels des Dichters am eigenen künstlerischen Vermögen, bald als Wendepunkt von Sprachmagie zu einem Verständnis von Dichtung als einem sozialen Amt, bald gar als eine Art Geburtsurkunde
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der modernen Literatur überhaupt gedeutet worden, die eine Skepsis gegenüber der Sprache vorwegnehme, wie sie später die Expressionisten zur Zerschlagung u. völligen Umgestaltung der poetischen Sprache veranlasst habe. Deutungen des Briefes als des autobiogr. Dokuments einer Krise stoßen rasch an die paradoxe Grenze, nicht erklären zu können, warum ein Dichter, der vorgab, alles gesagt zu haben u. zu verstummen versprach, während er das Versprechen niederschrieb, es schon vergessen hatte u. weiterdichtete. Der Brief entstand vielmehr in einer Phase reicher Produktivität H.s. In ihm handelte der Dichter im Medium der Sprache von der Sprache – ein Thema, das sein ganzes Werk durchzieht. Später, im Schwierigen, machte er die Sprache in Wort, Gebärde u. Gestik selbst zum Thema der Handlung, das er im Brief noch in einer Weise erörtert hatte, die seine erfundenen Gespräche u. Briefe um die Jahrhundertwende kennzeichnet: nämlich in einer Prosa, die Essayistisches in die Form der Fiktion transponiert. Ähnlich verfuhr H. auch im Brief des letzten Contarin u. in dem Gespräch zwischen Balzac u. Hammer-Purgstall Über Charaktere im Roman und im Drama, das fiktiv auf 1842 datiert ist. Das 1893 geschriebene »Trauerspiel nach Euripides« Alkestis (Lpz. 1911) präludiert den späteren Griechendramen Elektra (Bln. 1904), Ödipus und die Sphinx (Bln. 1906) u. König Ödipus (Bln. 1911), in die H. zum Teil auch vorhandene philolog. Übersetzungen übernommen hat. Inhaltlich spiegeln die Griechendramen auch H.s Beschäftigung mit der Freud’schen Psychoanalyse. »Meine Antikenstücke haben es alle drei mit der Auflösung des Individualbegriffes zu tun«, notierte der Dichter einmal. Er sah in diesen dramaturgisch in eine Sackgasse gelaufenen Bühnenwerken später aber auch schon die in den Aufzeichnungen »Ad me ipsum« auf Begriffe gebrachten Antinomien vorweggenommen, wie die »Unbegreiflichkeit des Tuns« oder die »Unbegreiflichkeit der Zeit: eigentliche Antinomie von Sein und Werden. Elektra – Chrysothemis. Variation: Ariadne – Zerbinetta«. Immer ist dabei die leitende Idee, dass Treue erst in der Selbstaufgabe liege, im Schritt von der »Prae-Existenz« zur
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»Existenz«. Der Briefwechsel H.s mit Gertrud Eysoldt, der Elektra in der Uraufführung in Max Reinhardts »Kleinem Theater« (1903), zeugt von der wechselseitigen Überwältigung beider Künstler in der »Auflösung des Individualbegriffes«. Das Bergwerk zu Falun von 1899 (vollst. zuerst Wien 1933) bezeichnet den Übergang von der lyr. Dramatik des Frühwerks zur großen Dramenform in fünf Akten. Der erste Akt geriet überlang, die Gesamtkonzeption misslang. Ebenso war die Otway-Bearbeitung Das gerettete Venedig (Bln. 1904) nicht mehr als ein Versuch, sich die dramat. Technik der Shakespeare-Zeit anzueignen. Auch die ersten Ansätze zu Komödien – zwischen 1907 u. 1909 konzipierte H. Silvia im ›Stern‹, Florindo/ Cristinas Heimreise, Der Schwierige, Der Rosenkavalier u. Lucidor – zeigen die Schwierigkeit, überkommene Formen, etwa solche der ital. commedia dell’arte, zgl. zu erfüllen u. für die Aufnahme neuer Gehalte zu erweitern. Immer wichtiger für sein eigenes Komödienschaffen wurde H.s intensive Beschäftigung mit Molière. Viele Pläne bedurften mehrfach erneuter Ansätze u. langer Reifung: So wuchs die 1901 begonnene freie Calderón-Bearbeitung Das Leben ein Traum über fast drei Jahrzehnte zum Trauerspiel Der Turm, das H. 1925 u. 1927 in abweichenden Fassungen ausarbeitete. Fast gleichzeitig mit dem endgültigen Bruch zwischen H. u. George begann H.s Zusammenarbeit mit Richard Strauss u. Max Reinhardt, aus der diejenigen Werke hervorgingen, die als feste Bestandteile der Theaterspielpläne H.s Namen bis heute im Bewusstsein eines breiteren Publikums erhalten haben: Der Rosenkavalier, an dessen ersten Skizzen auch Harry Graf Kessler in Gesprächen mitwirkte, Ariadne auf Naxos, Jedermann, Die Frau ohne Schatten, Der Schwierige u. Arabella. Die Libretti unter diesen Werken verstand H. nicht als Nebenarbeiten: »Text und Musik wirklich wie Hand und Handschuh« (an Strauss am 13.8.1928) – so beschrieb er seine Vorstellung vom idealen Verhältnis von Libretto u. Musik, u. so dachte auch Strauss, wie die intensiven Brieferörterungen textl. Details belegen. Der Briefwechsel ist keine Ästhetik oder Dramaturgie der Oper, sondern
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ein reiner »Werkstattbericht« (Volke), der aber beider Partner Vorstellung vom Theater als festl. Anstalt spiegelt. Zu Beginn des Weltkriegs wurde H. vom Kriegsministerium mit kulturpolit. Aufgaben im Kriegsfürsorgeamt betraut. Aus dieser Tätigkeit erwuchsen editorische u. publizistische Projekte, deren Programm bereits ein 1914 gehaltener Vortrag Die Bejahung Österreichs als des Erbes des Heiligen Römischen Reichs enthielt. So plante er u. a. ein »auch für breite Kreise leicht erschwingliches patriotisches Bilderbuch« (Stern) mit dem Titel Ehrenstätten Österreichs u. gab eine Österreichische Bibliothek heraus, an der Freunde wie die Dichter Leopold von Andrian, Felix Braun, Max Mell u. Robert Michel sowie der Staatsmann Josef Redlich mitarbeiteten. 1917 hielt H. in Bern einen Vortrag über Die Idee Europa, in den er auch Gedanken Borchardts aufnahm. Die Gesellschaft Österreichs in Geschichte u. Gegenwart hatte H.s Interesse lange vor dem Ersten Weltkrieg erregt, als sich die Zeichen für das bevorstehende Auseinanderbrechen der Habsburger-Monarchie vor seinen Augen schon häuften; sie beschäftigten ihn nach Kriegsende um so mehr, als er in ihnen die Bedingungen wechselseitiger Verschlingung von Ende u. Anfang wahrnahm. Der Rosenkavalier, Der Schwierige u. Arabella belegen die für H.s Gesellschaftskomödien charakterist. Technik, histor. Fakten in »eine Sphäre nicht der Un-, wohl aber der Halbwirklichkeit« zu transponieren u. als eine Spielart seines Komödienschaffens des »verbergenden Enthüllens« (Stern) eine vordergründig anachronistisch erscheinende Verschränkung von Epochen zu nutzen, um Themen der Gegenwart statt in plane Widerspiegelung der Wirklichkeit in mythisierende Symbolik umzusetzen. 1917 kehrte H. mit der Ausarbeitung des Schwierigen aus wirkungsloser u. endlich als solcher begriffenen Kriegspublizistik zur poetischen Darstellung zurück. Der Abschluss der Komposition der Frau ohne Schatten durch Strauss 1917 – der Kriegseinsatz H.s hatte den Abschluss des 1911 begonnenen Librettos verzögert – bestimmte H., sich wieder intensiv der Prosafassung zuzuwenden, die er als die
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gemäßere für den symbolträchtigen Märchenstoff schon lange vor Augen hatte. Die Erzählung erschien 1919 (Bln.) im Druck, im Jahr der Erstaufführung der Oper. In der Erzählung hat H. »das zur Form der Oper gehörende Springende, Bequeme, Oberflächliche ganz ausgeschaltet, an seine Stelle geschlossene Bilder und Horizonte gesetzt [...]. Sie ist, obwohl fortlaufend und hinreißend, so doch in einer Weise gebaut, daß man an jeder Stelle wie in der Mitte ist und eine Runde um sich ausgegossen hat, [...] wie die Architektonik Maréesscher Gemälde« (Rudolf Pannwitz). Auch dem Plan eines österr. Bildungsromans Andreas oder die Vereinigten, zu dem erste Notizen bis 1907 zurückreichen u. der in den Kriegsjahren liegengeblieben war, wandte sich H. erneut zu. Der Roman blieb Fragment u. wurde erst auf Veranlassung von H.s Schwiegersohn Heinrich Zimmer, zunächst 1930 im ersten Jahrgang der von Martin Bodmer u. Herbert Steiner besorgten Zeitschrift »Corona« veröffentlicht, dann 1932 als Buch bei S. Fischer mit einem Nachwort von Jakob Wassermann. Das Werk sollte die Thematik individueller Persönlichkeitsspaltung mit der übergreifenden von Individuation u. sozialer Verknüpfung verbinden. Neben der Arbeit an den Dichtungen verfasste H. jedoch auch in den 1920er Jahren noch wiederholt kulturpolit. Aufsätze u. Reden. Sie spiegeln das Dilemma, dass er zwar auf breite Wirkung bedacht, aber nicht bereit war, sich den neuen wirkungsvollen publizistischen Medien auszuliefern. Zu den späten kulturpolit. Äußerungen zählen etwa die Aufsätze zur Konzeption der Salzburger Festspiele, v. a. aber die auf Einladung des Dante-Übersetzers u. damaligen Rektors der Münchner Universität Karl Vossler 1927 gehaltene Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (Mchn. 1927). Die Rede stellte ein Idealbild klarer frz. Geistigkeit der »deutschen Zerfahrenheit« gegenüber. H. benutzte in der Rede auch den seinerzeit noch nicht – wie etwa bei Arthur Moeller van den Bruck oder Karl Anton Rohan durch die Ausrichtung auf einen vordergründigen Traditionalismus – verkürzten Begriff der »konservativen Revolution«, um seine Ideen einer Inte-
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gration überkommener Werte in eine neu zu schaffende Ordnung der Gegenwart darzustellen: Ideen, die über weite Strecken durch die Kulturphilosophie von Rudolf Pannwitz bestimmt waren, aber auch durch Josef Nadlers problemat. kulturräuml. Literaturinterpretation aus stammesgeschichtl. Ansatz. Die von H. zusammen mit Reinhardt u. Strauss begründeten Salzburger Festspiele, in deren Programm Jedermann (Bln. 1911) u. die Calderón-Erneuerung Das Salzburger große Welttheater (Lpz. 1922) einen festen Platz hatten, waren ebenso kulturpolit. u. kulturpädagog. Wirkungswillen verpflichtet wie die Herausgebertätigkeit, die H. für den bibliophilen Verlag der Bremer Presse unternahm: Deutsches Lesebuch (2 Bde., Mchn. 1922/ 23), Deutsche Epigramme (Mchn. 1923), Schillers Selbstcharakteristik (Mchn. 1926), Wert und Ehre deutscher Sprache (Mchn. 1927). Dort erschien auch die Freundesgabe Eranos von 1924, zu der u. a. Borchardt, Walther Brecht, Konrad Burdach, Rudolf Kassner, Max Liebermann, Kurt Riezler u. Jakob Wassermann beitrugen. In den »Neuen deutschen Beiträgen« (1922–1927) veröffentlichte H. unter anderem Walter Benjamins WahlverwandtschaftenAufsatz sowie Teile aus dem Ursprung des deutschen Trauerspiels. Benjamins theoretisch-histor. Analyse des Trauerspiels beeinflusste H.s späte Arbeit am Turm (Bln. 1927) in der Form merklich, während er für die Thematik wesentl. Anregungen aus dem Briefgespräch mit Carl J. Burckhardt empfing. Von tiefem Pessimismus über die Zukunft zeugt die Fassung von 1927, etwa durch die Verwandlung des öffentl. Sterbens Sigismunds mit eth. u. polit. Sinn in einen Tod in völliger Verlassenheit, der jedes Sinns beraubt ist, »der nicht in einem einsamen, keine Gemeinschaft mehr erreichenden Ethos der Selbstbewahrung liegt« (Altenhofer). Man kann den Turm als eine Vorahnung heraufziehender polit. Verhängnisse lesen. Der Resignation dieser deprimierten Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Macht folgte in der 1927 begonnenen Arabella noch einmal die halb zuversichtliche, halb iron. Behandlung der neuen Situation Österreichs im operettenhaft aufgefassten Lust-
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spiel. Ein begeistertes Telegramm von Strauss zum Arabella-Libretto traf am 15.7.1929 in Rodaun ein. H. hat es nicht mehr geöffnet. An diesem Tag erlitt er beim Aufbruch zum Begräbnis seines älteren Sohns Franz, der sich zwei Tage zuvor das Leben genommen hatte, den tödl. Schlaganfall. Trotz zahlreicher Studien ist bis heute weder die Stellung H.s in seiner eigenen Zeit noch die Geschichte der Wirkung seines Werks, die unter vielen anderen auch Walter Kappachers Roman Der Fliegenpalast (2009) einschließt, hinreichend erschlossen. Zahlreiche erst jüngst zugängl. Quellen, etwa neu edierte Briefwechsel, zeigen, dass er an den Auseinandersetzungen der widerstreitenden geistigen Strömungen seiner Zeit noch intensiver Anteil nahm, als man bisher schon gewusst hat. So hatten z.B. auch die Ideen von Gustav Landauer, Max Scheler, Georg Simmel, Paul Tillich u. a. im geistigen Kräftefeld des Dichters wechselnde Positionen der Anziehung u. Abstoßung inne. Unter den Beziehungen zu Zeitgenossen sind einige aufgrund der Quellenlage an Umfang u. Tiefe noch gar nicht absehbar. Das gilt etwa für Rudolf Alexander Schröder oder Lili Schalk. Auch H.s Stellung zur Religion ist alles andere als geklärt: Unter den drei Lebensformen, die um die Jahrhundertwende bei Autoren jüd. Herkommens anzutreffen sind – der konsequenten Religiosität der Väter, wie sie etwa Richard Beer-Hofmann pflegte, dem Indifferentismus, wie ihn Arthur Schnitzler bezeigte, u. der forcierten Konversion –, folgte H. der dritten Variante. Nach der Jahrhundertwende wollte er auf seine jüd. Vorfahren nicht mehr angesprochen werden u. reagierte auf das Ungehaltenste, als der Literaturkritiker Willy Haas im Bild des ›Ahasver‹ einmal davon schrieb. Viele Züge im Werk des Dichters lassen die Nähe zum traditionellen österr. Katholizismus u. seiner Kultur erkennen. Begraben ist der Dichter im Ordensgewand der Franziskaner-Tertiarier. Die Literaturgeschichte war lange Zeit von der Annahme einer »Wandlung« (Alewyn) von einem dem Ästhetismus huldigenden Frühwerk zu einem das »Soziale« (H. in Ad me ipsum) spiegelnden Werk der Reife bestimmt. Man hat durch die Anwendung von Katego-
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rien der späten Selbstreflexion H.s in Ad me ipsum auf die Werke (Prae-existenz/ambivalenter Zustand/Existenz; Antinomien wie Dauer/Vergehen, Treue/Untreue, »Allomatik« als Inbegriff individueller Wandlung) dem Œuvre des Dichters bald neue Einsichten abgewonnen, aber auch Wege zu einer noch zu leistenden historisch-krit. Analyse verstellt, die v. a. H.s poetischer Technik zu gelten hätte, Probleme seiner Gegenwart im Gewand histor. Stoffe behandeln u. den Quellen sowie der Form seiner ästhetischen u. histor. Bildung nachgehen müsste. Diese Bildung, »ganzer Völker Müdigkeiten«, verband den Dichter mit manchen Zeitgenossen auf das Engste, so etwa mit R. A. Schröder; anderen entfremdete gerade sie ihn schon früh. Das weit ausgreifende Werk zeigt überall die Anspannung, dem Überkommenen das Neue zu amalgamieren. Den geistigen Austausch mit vielen Zeitgenossen bezeugen die zahlreichen Briefwechsel, die an Umfang durchaus, an sprachl. Gestaltungswillen auf H.s Seite allerdings nur selten ein zweites literar. Werk ausmachen. Ausgaben: Werke: Ges. Werke in Einzelausg.n. Hg. Herbert Steiner. Bde. 1–15, Stockholm (später: Ffm.) 1945 ff. (trotz Fehlerhaftigkeit grundlegend für die Rezeption nach 1945; auch wegen des Bezugs zum Index Nominum von R. Exner; s. u.). – Buch der Freunde. Hg. Ernst Zinn. Ffm. 1965. – Sämtl. Werke. Krit. Ausg. Hg. Rudolf Hirsch, ... Heinz Rölleke. Bde. 1–38, Ffm. 1975 ff. [fast abgeschlossene Ausg.]. – Ges. Werke in 10 Einzelbdn. Hg. Bernd Schoeller. Ffm. 1979/80. – Quellen und Briefe: H. v. H.: Briefchronik. Regest-Ausg. Hg. Martin E. Schmid unter Mitarbeit v. Regula Hauser u. a. 3 Bde., Heidelb. 2003. – Briefe 1890–1901. Bln. 1913. – Briefe 1900–1909. Wien 1937. – Briefw. zwischen George u. H. Hg. Robert Boehringer. 2., erg. Aufl. Mchn. 1953. – H. v. H./Eberhard v. Bodenhausen: Briefe der Freundschaft. Hg. v. Dora v. Bodenhausen. Düsseld. 1953. – H. v. H./ Arthur Schnitzler: Briefw. Hg. Therese Nickl u. Heinrich Schnitzler. Ffm. 1964. Neuausg. Ffm. 1983. – H. v. H./Helene v. Nostitz: Briefw. Hg. Oswald v. Nostitz. Ffm. 1965. – H. v. H./Edgar Karg v. Bebenburg: Briefw. Hg. Mary E. Gilbert. Ffm. 1966. – H. v. H.: Briefe an Marie Herzfeld. Hg. Horst Weber. Heidelb. 1967. – H. v. H./Leopold v. Andrian: Briefw. Hg. Walter Perl. Ffm. 1968. – H. v. H./Willy Haas: Ein Briefw. Hg. Rudolf Italiaander. Bln. 1968. – H. v. H./Harry Graf Kessler:
Hofmannsthal Briefw. 1898–1929. Hg. Hilde Burger. Ffm. 1968. – H. v. H./Josef Redlich: Briefw. Hg. Helga Fußgänger. Ffm. 1971. – H. v. H./Richard Beer-Hofmann: Briefw. Hg. Eugene Weber. Ffm. 1972. – Richard Strauss/H. v. H.: Briefw. Hg. Willi Schuh. 5., erg. Aufl. Zürich u. a. 1978. Neuausg. Mchn. u. a. 1990. – H. v. H./Rainer Maria Rilke: Briefw. 1899–1925. Hg. R. Hirsch u. Ingeborg Schnack. Ffm. 1978. – H. v. H./Max Mell: Briefw. 1907–1929. Hg. Margarete Dietrich u. Heinz Kindermann. Heidelb. 1982. – H. v. H.: Briefw. mit Ottonie Gräfin Degenfeld u. Julie Freifrau v. Wendelstadt. Hg. Marie Therese MillerDegenfeld. 2., erw. Aufl. Ffm. 1986. Erw. amerikan. Ausg.: The poet and the countess. H. v. H.’s correspondence with Countess Ottonie Degenfeld. Hg. M. T. Miller-Degenfeld. Übers. v. W. Eric Barcel. Rochester/Woodbridge 2000. – Christiane v. H.: Tagebücher 1918–1923 u. Briefe des Vaters an die Tochter 1903–1929. Hg. Maya Rauch u. Gerhard Schuster. Ffm. 1991. – H. v. H./Carl J. Burckhardt: Briefw. Hg. Carl J. Burckhardt. Erw. Neuausg. Ffm. 1991. – Rudolf Borchardt/H. v. H.: Briefw. Bearb. v. G. Schuster. Mchn. 1994. – H. v. H./Rudolf Pannwitz: Briefw. 1907–1926. Hg. G. Schuster. Ffm. 1994. – Gertrud Eysoldt/H. v. H.: Der Sturm Elektra. Briefe. Hg. Leonhard M. Fiedler. Salzb./Wien 1996. – H. v. H.: Briefw. mit Clemens v. Franckenstein 1894–1928. Hg. Ulrike Landfester. Freib. i. Br. 1998. – H. v. H.: Briefw. mit Julius Meier-Graefe. 1905–1929. Hg. Ursula Renner. Freib. i. Br. 1998. – H. v. H./Christiane Gräfin Thun-Salm: Briefw. Mit Briefen H.s an Paul Graf Thun-Hohenstein. Hg. Renate Moering. Ffm. 1999. – H. v. H.: Briefw. mit Marie v. Gomperz 1892–1916. Hg. Ulrike Tanzer. Freib. i. Br. 2001. – H. v. H./Rudolf Kassner: Briefe u. Dokumente. Mitgeteilt u. komm. v. Klaus E. Bohnenkamp. Freib. i. Br./Bln. 2005. – H. v. H./Walther Brecht: Briefw. Mit Briefen H. v. H.s an Erika Brecht. Hg. Christoph König u. David Oels. Gött. 2005. – Zahlr. Briefw. oder Briefe H.s an Einzelne sind unselbstständig in Ztschr.en oder Sammelwerken veröffentlicht, u. a. mit Raoul Auernheimer, Felix Braun, Dora v. Bodenhausen, Hans Carossa, Richard Dehmel, Efraim Frisch, Ludwig Ganghofer, Jaroslav Kvapil, Fritz Mauthner, Josef Nadler, Ernst Sander, Stefan Gruss, Paul Zifferer, Stefan Zweig. Literatur: Bibliografien: Horst Weber: H. v. H. Bibliogr. des Schrifttums 1892–1963. Bln. 1966. – Ders.: H. v. H. Bibliogr. Bln./New York 1972. – Hans-Albrecht Koch u. Uta Koch: H. v. H. Bibliogr. 1964–76. Freib. i. Br. 1976. – Zeitschriften: H.-Bll. 1 (1968) - 41/42 (1991/92) nebst Gesamtregister. 1994. – H.-Jb. für europ. Moderne. 1 ff. (1993 ff.) (mit Bibliogr., diese seit 15 (2007) nur noch online.
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Hofmiller, Josef, * 26.4.1872 Kranzegg/ Allgäu, † 11.10.1933 Rosenheim. – Literaturkritiker, Essayist, Übersetzer.
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bewusst subjektiven Literaturkritik, selbst hohen literar. Rang besitzt.
die
Weitere Werke: Zeitgenossen. Mchn. 1910. – Über den Umgang mit Büchern. Mchn. 1927. – Franzosen. Mchn. 1928. – Wanderbilder. Altötting 1928. – Pilgerfahrten. Lpz. 1932. – Nietzsche. Lübeck 1933 (Biogr.). – Nordische Märchen. Lpz. 1933. – Letzte Versuche. Mchn./Zürich 1933. – Wege zu Goethe. Hbg. 1947 (Slg.). – Neuere Ausgaben: Ausgew. Briefe. Hg. Hulda Hofmiller. Memmingen 1955. – Briefw. mit Rudolf Borchardt. In: NDH 3 (1956/57). 5 (1958/59). – Ausgew. Werke. Rosenheim 1975. – Ausgew. Ess.s zur Lit. Münster [2007].
Der Sohn eines Volksschullehrers brach 1892 das Theologiestudium zugunsten eines neuphilolog. Studiums in München ab. 1901 promovierte er mit einer Arbeit über Ben Jonson. Als Lehrer wirkte er 1902–1925 in München u. Freising, seit 1925 in Rosenheim, wo er trotz ehrenvoller Rufe als Kritiker nach Berlin u. als Professor für Romanistik nach Köln bis zu seinem Tod blieb. Seit 1894 entfaltete H. eine lebhafte TätigLiteratur: Ralph-Reiner Wuthenow: J. H. als keit als Theater-, Literatur- u. Musikkritiker Essayist. Diss. Heidelb. 1953. – Werner Volke u. u. a. in der »Allgemeinen Zeitung« u. in Heidrun Güttinger (Bearbeiter): J. H. Kritiker, Hardens »Zukunft«. 1903 war er Mitbe- Übersetzer, Essayist. Marbach 1986 (= Marbacher gründer der »Süddeutschen Monatshefte«, in Magazin 38). – David Marc Hoffmann: Zur Gesch. denen bis zu seinem Tod ein großer Teil sei- des Nietzsche-Archivs. Bln./New York 1991, S. 286–336. – Bernd Vischner: J. H. u. seine Beziener Kritiken u. Essays erschien. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als hungen zu England. Diss. Innsbr. 1992. – Harald patriotischer Publizist hervorgetreten war, Werner: Heimaten des Geistes. Erinnerung an J. H. Heinrich Detering / Red. wurde H. ständiger Mitarbeiter der »Mün- Freising 1997. chener Neuesten Nachrichten«, des »Kunstwart« u. anderer Zeitschriften. Daneben veröffentlichte er pädagog. Abhandlungen, Hofstätter, Hofstäter, Hofstetter, Hoffstäter, Übersetzungen aus der frz. (z.B. Claude Til- Hoffstädter, Felix Franz, * 4.10.1741 Wien, lier, Marcel Prévost) u. mhd. Literatur (Meier † 22.8.1814 Großtajax bei Znaim. – KaHelmbrecht). Er gab – u. a. als literar. Berater tholischer Theologe, Bibliothekar u. Pudes Verlags Albert Langen – historisch-polit. blizist. Schriften u. zahlreiche Anthologien dt. u. H. trat 1756 in den Jesuitenorden ein, stuausländ. Dichtung heraus. 1909 erschien in dierte in Raab u. Wien u. lehrte zunächst in München die erste Sammlung seiner Essays Passau u. Linz, nach der Aufhebung des Or(Versuche. Mchn. 21938), der noch zahlreiche dens ab 1773 an der Theresianischen Ritterweitere Bände folgten. akademie in Wien. Als Hauslehrer begleitete H.s Essays beeinflussten den literar. Ge- er den Fürsten Karl Lichtenstein bis 1788 an schmack einer ganzen Generation. Sie zeigen die Univ. Göttingen u. anschließend auf einer ihn als philosophisch von Schopenhauer u. Italienreise. Ab 1795 war er erster BibliotheNietzsche geprägten, in seinem literar. Urteil kar an der Univ. Wien, ab 1797 Direktor der v. a. an der Weimarer Klassik orientierten u. Theresianischen Akademie. 1803 entlassen, politisch konservativen Kritiker. Trotz seines war er kurz zweiter Custos der Hofbibliothek, zunehmenden Eintretens für eine boden- ehe ihm 1806 – durch Vermittlung der Faständig-»volkstümliche« Literatur u. trotz milie Liechtenstein – die reiche Pfarre seiner Skepsis gegenüber der Moderne (bes. Großtajax bei Znaim verliehen wurde. Dort Wedekind, Hauptmann, zeitweise Hof- wirkte er als Pfarrer bis zu seinem Tod. mannsthal) erwies er sich als subtiler InterNeben einigen Gedichte in J. F. Ratschkys pret auch von Autoren wie Thomas Mann. Wiener Musenalmanach veröffentlichte H. Die fortdauernde Wirkung seines Werks mehrere wissenschaftl. Werke, darunter Von gründet weniger in seinem rückwärtsge- der Übereinstimmung der Werke der Dichter mit wandten politisch-pädagog. Ethos als viel- den Werken der Künstler, nach dem Englischen des mehr in der stilistischen Meisterschaft seiner [Joseph] Spence (2 Tle., Wien 1773–76), zwei
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Bände Nachrichten von Kunstsachen in Italien (Wien 1792) u. Altdeutsche Gedichte aus der Zeit der Tafelrunde. Aus Handschriften der k. k. Hofbibliothek in die heutige Sprache übertragen (2 Bde., Wien 1811). Schon in den 1780er Jahren verteidigte er in polem. Schriften (z.B. Wahrmund, oder Antwort auf alte Verleumdungen wider Jesuiten, wie sie in den neuesten Schmähschriften wiederholt sind) den Jesuitenorden gegen Angriffe der Aufklärung. Berüchtigt wurde er als Herausgeber des »Magazins der Kunst und Litteratur« (1793–1797), in dem er, in der Nachfolge von Leopold Aloys Hoffmanns »Wiener Zeitschrift«, aus katholisch-restaurativer Sicht die Französische Revolution als Resultat einer großen Verschwörung der Aufklärer gegen die kath. Kirche begriff u. Leute wie Friedrich Nicolai heftig attackierte. Ein antipreuß. u. antijüd. Affekt ist unübersehbar. In Wien wurde H. von J. B. v. Alxinger u. J. Schreyvogel bekämpft. Literatur: Wynfrid Kriegleder: Ein ›Hoffmann elevatus ad secundam potentiam‹ – F. F. H. In: Von ›Obscuranten‹ u. ›Eudämonisten‹. Gegenaufklärerische, konservative u. antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jh. Hg. Christoph Weiß in Zusammenarbeit mit Wolfgang Albrecht. St. Ingbert 1997, S. 245–267. Wynfrid Kriegleder
Hohberg, Wolf Helmhard Frhr. von, auch: Der Sinnreiche, * 20.10.1612 Schloss Lengenfeld/Niederösterreich, † 28.6.1688 Regensburg; Grabstätte: Nürnberg, Bartholomäuskirche. – Verfasser von ritterlicher Epik, Erbauungs- u. Hausväterliteratur. Nach dem Tod des Vaters 1621 verhinderten wirtschaftl. u. polit. Schwierigkeiten, in welche die Familie geraten war, eine gründlichere Schulbildung H.s. Erst während seines Dienstes als Hauptmann im kaiserl. Heer 1632–1641 fand H. Gelegenheit, Französisch, Italienisch u. Spanisch zu lernen, sein Latein zu vervollkommnen u. sich Kenntnisse des Griechischen u. Hebräischen anzueignen. In den folgenden zwei Jahrzehnten widmete er sich der Verwaltung seiner beiden bescheidenen niederösterr. Rittergüter Süßenbach u. Oberthumeritz. 1659 in den Freiherrnstand erhoben, erwarb er die Herr-
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schaften Rohrbach u. Klingenbrunn, die er 1664 veräußerte. Nach einer kurzen Phase als Pächter des Guts St. Pantaleon im DonauEnns-Winkel bewogen ihn wachsende Schwierigkeiten, denen er wegen seines protestantischen Glaubens ausgesetzt war, vielleicht auch wirtschaftl. Überlegungen, sich in Regensburg ansässig zu machen, wo er bis zu seinem Tod blieb. Über die Lebensumstände dieser Jahre ist nichts Näheres bekannt; H. wird dort im Kreis der zahlreichen österr. Emigranten von der Rente aus dem Verkauf seines Landbesitzes gelebt u. sich v. a. seinen literar. Interessen gewidmet haben. H.s erste literar. Versuche wurden nur einem kleinen Freundeskreis bekannt, dem u. a. die Autoren Georg Adam Graf Kuffstein, Hans Wilhelm von Stubenberg u., wenngleich nur am Rande, Catharina Regina von Greiffenberg angehörten. 1649 schrieb er zum Tod der Kaiserin Maria Leopoldina ein Klaggedicht über den unzeitigen Abschied und Todesfall der [...] Fürstin, das nur in einem dem Kaiser übergebenen Autograf erhalten ist. Die Fürsprache Stubenbergs verschaffte H. 1652 die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft. 1661 erschien die Unvergnügte Proserpina in Regensburg als erstes Werk H.s im Druck. Das über 14.000 Alexandriner umfassende mytholog. Epos schildert den Raub der Fruchtbarkeitsgöttin Persephone durch den Gott der Unterwelt. H. benutzte Claudians De raptu Proserpinae als Vorlage, die er um Elemente hellenistischer u. spätmittelalterl. Liebes- u. Abenteuerromane, um Momente pikar. Erzählens u. um bukol. wie auch didakt. Züge erweiterte. In seinem 1664 in Erfurt erschienenen Habspurgischen Ottobert, dem mit nahezu 40.000 Alexandrinern längsten dt. Versepos des 17. Jh., erzählt H. die Heldentaten des fiktiven Ahnherrn des österr. Kaiserhauses. Der erste Teil berichtet von der Teilnahme des Helden an einem Kreuzzug gegen die Sarazenen, der zweite Teil erzählt den Kampf Ottoberts gegen die Tataren auf dt. Boden. Zwischen beide Teile ist eine Traumvision von der zukünftigen Größe des Hauses Habsburg eingefügt. In Struktur u. Funktion schließt das Werk an Vergils Aeneis an, greift aber auch Motive Tassos u. Ariosts auf. Das Thema des Hei-
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denkampfes besaß angesichts der Kriege ge- Beschreibungen zahlreicher Tier- u. Plangen die Türken bes. Aktualität. H.s Ottobert zenarten u. ist so zum »Sammelbecken der steht dem barocken Staatsroman nahe; Bir- verschiedensten Wissensgebiete« (Brunner) ken nennt ihn in der Vorrede zur Durchleuch- geworden, das als kompendiöses Handbuch tigen Syrerin Aramena unter Anton Ulrichs den Vorständen größerer Haushaltungen u. Landgüter dienen sollte. Vorgängern. H. hat in seine Georgica Curiosa zahlreiche Der Lust- und Artzeney-Garten des Königlichen Propheten Davids (Regensb. 1675. Teilneudr. Werke der ökonomischen u. agrikulturellen Graz 1969) verbindet eine versifizierte Para- Fachliteratur eingearbeitet, von denen ihm phrase des Psalters mit neu komponierten Johann Colers Oeconomia ruralis et domestica in Melodien u. einem zweifachen Emblemzy- Anlage u. Umfang am nächsten steht. Immer klus. Diese »multimediale Verbund-Technik« wieder greift er aber auch auf die Erfahrun(Schöne) begegnet in der zeitgenöss. Erbau- gen zurück, die er bei der Verwaltung seiner ungsliteratur häufiger. Eine unmittelbare eigenen Landgüter gemacht hatte. Das Buch Anregung könnte von Andreas Pressons Kla- erlebte wenigstens sieben Auflagen u. entwigen Der büssenden Seel, einer dt. Übersetzung ckelte sich zum Standardwerk, das bis weit der Pia Desideria des Hermann Hugo SJ, aus- ins 18. Jh. in Gebrauch blieb. Erst nach dem Tod H.s wurde seine, der gegangen sein, die in zeitl. u. regionaler Nachbarschaft erschienen (Bamberg 1672) u. luth. Theologia Crucis zuzurechnende Histogleichfalls die eher seltene Beigabe von Noten ria passionis et mortis Jesu Christi gedruckt aufweisen. Zu jeder Psalmenversifikation H.s (Zerbst 1725). gehören zwei Embleme, von denen das Ausgabe: Georgica curiosa [...]. Ausgew. u. einzweite aus dem Bereich der Pflanzenwelt ge- gel. v. Heinrich Wehmüller. Wien 1984. 21995. nommen ist. Die Garten- u. PflanzenmetaLiteratur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. phorik schließt an verbreitete Erbauungsbü- Bd. 2, S. 906–912. – Weitere Titel: Adolf Krutiak: Die cher (z.B. Arndts Paradiesgärtlein, 1612; Jo- unvergnügte Proserpina v. W. H. Frhr. v. H. Diss. hann Heinrich Ursinus’ Arboretum Biblicum, Wien 1935. – Irmgard Jerschke: W. H. v. H. als 1663) u. Emblemwerke an (Joachim Camera- barocker Dichter. Emsdetten 1936. – Otto Brunner: rius’ Symbolorum et Emblematum ex re herbaria Adeliges Landleben u. europ. Geist. Leben u. Werk W. H.s v. H. Salzb. 1949. – Albrecht Schöne: H.s desumptorum Centuria, 1593); zgl. spielt H. Psalter-Embleme. In: DVjs 44 (1970), S. 655–669. – damit auf die Fruchtbringende Gesellschaft Martin Bircher: W. H. v. H. Briefe u. frühe Gelean, deren Mitglieder je ein Pflanzenemblem genheitsdichtungen. In: LitJb 11 (1970), S. 37–66. – zugewiesen bekamen u. deren Oberhaupt das Gotthardt Frühsorge: ›Georgica Curiosa‹. Vom Werk gewidmet ist. Der Lust- und Artzeney- geistl. Sinn der Anleitungslit. bei W. H. v. H. In: Garten erfuhr drei weitere Auflagen u. wurde Zeman 1, 2, S. 1071–1086. – Ulrich Seelbach: H. u. in der Emblematik mehrfach rezipiert (Cor- Czepko. In: Daphnis 16 (1987), S. 711–716. – Ernst nelis Sweerts, Lucas Heinrich Thering, Fas- Rohmer: Das epische Projekt. Poetik u. Funktion sadenmalerei in Schaffhausen, bemalte Ka- des ›carmen heroicum‹ in der dt. Lit. des 17. Jh. Heidelb. 1998, S. 259–339. – Heinz Meyer: Barocke cheln auf Öfen Schweizer Manufakturen). u. mittelalterl. Bildlichkeit in Psalter-Emblemen Als Hauptwerk H.s gelten die Georgica Cudes 17. Jh. In: Frühmittelalterl. Studien 33 (1999), riosa, das ist Umständlicher Bericht und klarer S. 428–445. – Klaus Dürrschmid: W. H. v. H. Unterricht von dem adelichen Land- und Feldleben (1612–1688). In: LuK 35 (2000), H. 347/348, (Regensb. 1682). Das in zwölf Bücher unter- S. 101–108. Michael Schilling teilte Opus behandelt sämtl. Bereiche der Haus- u. Landwirtschaft, von den Pflichten des Hausvaters u. der Hausmutter über den Hohenburg, Markgraf von. – MinnesänWein-, Garten- u. Ackerbau, über die Pferdeger des 13. Jh. zucht, Viehhaltung, Imkerei u. Fischzucht bis hin zu Forstwirtschaft u. Fragen der Jagd. Es Aufgrund der übl. Datierung der H. in den enthält einen Arbeitskalender, Hinweise zur Handschriften zugeschriebenen Lieder zwimedizinischen Versorgung, umfangreiche schen 1220 u. 1240/50 hat man als den Min-
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nesänger zwei Angehörige des bayerischen duktive sängerische Interaktion sein (SchienAdelsgeschlechts der Diepoldinger in Erwä- dorfer). gung gezogen, die sich nach 1210 u. a. auch Ausgaben: Carl v. Kraus (Hg.): Dt. Liederdichter Markgrafen von Hohenburg nennen: Graf des 13. Jh. Bd. 1: Text. Tüb. 21978, S. 173–179, 386 Diepolt v. H., bezeugt 1205–1225, u. seinen (Rotenburg x) u. 393 (Rotenburg XVII). Sohn Berthold III., bezeugt 1230–1254. Beide Literatur: Walther Busse: Der Markgraf v. H. spielten in stauf. Diensten v. a. in Italien eine Diss. Lpz. 1904. – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. 2 wichtige Rolle. Wegen der uneinheitl. Zu- Tüb. 1967, S. 83. – Friedrich Neumann: Der M. v. schreibung von Strophen an H. in den H. In: ZfdA 86 (1955/56), S. 119–160. – C. v. Kraus Handschriften ist eine annähernd sichere (Hg.): Dt. Liederdichter des 13. Jh. Bd. 2: Komm., besorgt v. H. Kuhn. a. a. O., S. 223–239, 462–470, Abgrenzung des Œuvres u. damit eine stil478 f. – Alois Wolf: Variation u. Integration. geschichtlich begründete überzeugende Da- Darmst. 1979, S. 75–79 u. ö. – Volker Mertens: H. tierung der Lieder jedoch schwierig, so dass In: VL. – Max Schiendorfer: Handschriftl. Mehrauch ein anderes Familienmitgl. in Frage fachzuweisungen. In: Euph. 79 (1985), S. 66–94. – kommen könnte. Für eine dichterische Tä- Jens Köhler: Der Wechsel. Textstruktur u. Funktitigkeit Bertholds III. spricht ein in Italien on einer mhd. Liedgattung. Heidelb. 1997, entstandenes, ihm zugeschriebenes Klagege- S. 236–239. Claudia Händl dicht, in dem der Dichter erwähnt, er habe »carmina« verfasst. Dabei könnte es sich jedoch auch um Dichtungen im »volgare« Hohenhausen, Elise (Friederike Felicitas) handeln, wie sie am sizilian. Hof Friedrichs Freifrau von, verh. Rüdiger, * 7.3.1812 II. gepflegt wurden. Denkbar ist auch eine Eschwege, † 31.1.1899 Berlin. – ErzähleVerfasserschaft von Vater u. Sohn (Mertens). rin. Der Herausgeber Carl von Kraus spricht H. H. war die Tochter der Scott- u. Byron-Übersechs Lieder (II-VII) zu; dazu kommt ein auch setzerin Elise von Hohenhausen. Im Berliner unter dem Namen Rudolfs von Rotenburg Elternhaus der frühen 1820er Jahre verkehrüberliefertes Lied (I = Rotenburg x), das von ten Heine, Fouqué, Chamisso u. andere; RaKraus H. wohl zu Unrecht abspricht. hel Varnhagen fasste eine Vorliebe zu H. Ins Sprachliche u. motivl. Bezüge zu Friedrich heimatl. Westfalen zurückgekehrt, schrieb sie von Hausen haben von Kraus zu der Annah- Skizzen u. Novellen u. erarbeitete Übersetme veranlasst, H. sei dessen Schüler, doch zungen aus dem Englischen u. Französischen lassen sich diese Anklänge auch durch für die von ihrem Vater gegründeten »SonnKenntnis der vom Kreis um Hausen ausge- tagsblätter«. H. wurde zur Vermittlerin litehenden stauf. Liedtradition erklären, die bis rar. Kontakte für Droste-Hülshoff, mit der sie weit ins 13. Jh. wirkt. befreundet war. Auf Wunsch der Eltern heiH. verfügt über das Formel- u. Motivin- ratete sie 1831 den Oberregierungsrat Karl ventar des hochhöf. Minnesangs. Konventio- Friedrich von Rüdiger; nach seinem Tod nell sind der Preis der äußeren u. inneren (1862) schrieb sie wieder unter ihrem eigenen Vorzüge der Dame (II, IV, VI), die Tren- Namen. In ihrem Salon in Berlin trafen sich nungsklage (III), der Dienst mit Singen (I, III), u. a. Gutzkow, Wildenbruch, der hier seine die Abhängigkeit von der Frau (III) u. die ersten Dramen vorlas, u. Luise Mühlbach. H. Trennung von Leib u. Herz (VI): Während der wurde als Autorin viel gelesener AnstandsLeib dem König folgt, bleibt das Herz bei der bücher u. biogr. Werke bekannt, wie z.B. Die Geliebten. Das Tagelied (V) mit Anklängen an feine junge Dame. Ein Buch des Rates für alle Ottos von Botenlauben Lied III u. eine »alba« Fragen des feineren geselligen Verkehrs [...] (Stgt. des Guiraut de Bornelh ist ein Dialog zwi- 1902) u. Aus Goethes Herzensleben. Wahrheitsgeschen Wächter u. Dame, der die traditionellen treue Darstellungen (Lpz. 1884). Motive des Tagwerdens u. Abschiednehmens Literatur: Annelinde Esche: E. v. H. Diss. ausspart u. als bewusste Variation des Genres Münster 1939. – Günter Häntzschel (Hg.): Bildung gelten darf. Die handschriftl. Mehrfachzu- u. Kultur bürgerl. Frauen 1850–1918. Mchn. 1986, weisungen könnten Hinweis auf eine pro- S. 439, 491. – Annette v. Droste-Hülshoff: ›Mein
547 lieb lieb Lies!‹ Die Briefe der Annette v. DrosteHülshoff an Elise Rüdiger. Hg. u. Nachw. Ursula Naumann. Ffm u. a. 1992. – Petra Wilhelmy-Dollinger: Die Berliner Salons. Bln./New York. 2000, S. 136–138. – Kerstin Wiedemann: Zwischen Irritation u. Faszination. George Sand u. ihre dt. Leserschaft im 19. Jh. Tüb. 2003, S. 257–263 u. ö. (Register). Eda Sagarra
Hohenwang, Ludwig, * um 1440 Elchingen (heute: Oberelchingen) bei Ulm, † nach 1506. – Übersetzer, Herausgeber, Drucker.
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Resonanz fand, zeigen drei im 16. Jh. gedruckte Neuausgaben (Erfurt 1511. Augsb. 1529. 1534), die sich auf H.s Werk stützten, ohne mit ihm identisch zu sein. Literatur: Hermann Weichardt: L. H. – ein Übersetzer des 15. Jh. Neudamm 1933. – E. K. Heller: L. H.s ›Von der ritterschaft‹. In: University of California Publications in Modern Philology 36 (1952), S. 173–184. – Werner Fechter: L. H. als Schreiber. In: Gutenberg-Jb. 1977, S. 29–41. – Eckhard Bernstein: Die Lit. des dt. Frühhumanismus. Stgt. 1978, S. 94–96. – Volker Schmidtchen: L. H. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). Eckhard Bernstein / Red.
H. wurde 1461 an der ein Jahr vorher geHohl, Ludwig, * 9.4.1904 Netstal/Kt. Glagründeten Basler Universität immatrikuliert. rus, † 3.11.1980 Genf. – Essayist, Denker, Zwischen 1475 u. 1477 war er im Kreis der Erzähler. Augsburger Frühhumanisten als Buchdrucker tätig. Acht lat. u. dt. Drucke aus seiner Nach Gymnasialjahren in Frauenfeld u. ZüWerkstatt wurden nachgewiesen, darunter rich brachte der Sohn eines protestantischen die Guldin Bibel des Bindo de Seni, ein Hand- Pfarrers sich mit Privatstunden durch u. trat buch für Prediger, das anhand zahlreicher 1925 mit selbstverlegten Gedichten erstmals Beispielfiguren aus AT u. NT »belonung der als Schriftsteller in Erscheinung. Seit Herbst tugent unnd strouf der laster« demonstriert. 1924 lebte er in Paris, wo er sich autodidak1487–1492 arbeitete H. in Basel bei dem tisch weiterbildete. 1930 erschien in der Buchdrucker Michael Wenßler. Auch nach »Neuen Schweizer Rundschau«, die 1924 seinem vermutl. Weggang hielt er Verbin- auch schon Gedichte von ihm gebracht hatte, dung mit den Basler Humanisten. Zwei klei- seine erste gedruckte Erzählung Das Pferdchen ne Satiren auf die Geistlichkeit (Paulus Olea- (H. 12, Dez. 1930). 1931 zog H. nach Den rius: De fide concubinarum in sacerdotes u. Jakob Haag u. lebte dort »in der grössten geistigen Wimpfeling: De fide meretricum in suos amato- Einöde« (Einl. zu den Notizen) bis 1937 als res) gab er 1501 heraus. 1506 besorgte er eine freier Schriftsteller u. Essayist. Obwohl er in Albertus-Magnus-Ausgabe; 1508 erschien in jener Zeit praktisch nichts veröffentlichte, Straßburg, wahrscheinlich postum, eine von entstanden in den Niederlanden die Grundihm betreute Ausgabe des Manuale Vergilia- manuskripte seiner wichtigsten Werke Nunum. ancen und Details (1931–1935) u. Die Notizen Bekannt wurde H. hauptsächlich durch oder Von der unvoreiligen Versöhnung seine dt. Übersetzung des kriegswissen- (1934–1936). Im Herbst 1937 kehrte H. in die schaftl. Werks Epitoma rei militaris des spä- Schweiz zurück u. ließ sich in Genf nieder, tröm. Militärschriftstellers Flavius Vegetius wo er bis zu seinem Tod unter zeitweise beRenatus (um 400 n. Chr.). Unter dem Titel die drückenden sozialen u. materiellen Bedinkurcze red von der ritterschaft erschien es 1475 gungen lebte. Die Legende von dem einsamen bei Johann Wienner in Augsburg. Da er sich Asketen bedarf jedoch einer gewissen Kordem »puren layen verstentlich« machen will, rektur: H., der sich fünfmal verheiratete, galt schreibt H. ein klares u. schmuckloses in jüngeren Jahren als sehr sinnl., von beiden Deutsch. Militärische Fachbegriffe versucht Geschlechtern begehrter Mann u. war kulier einzudeutschen. Zur bildl. Veranschauli- nar. Genüssen ebensowenig abgeneigt wie chung fügte H. seiner Ausgabe einen Atlas dem Tabak bzw. dem Alkohol. Zeitweise von 64 weitgehend dem 1472 erschienenen nahm er auch Drogen. Dennoch arbeitete er Werk des Italieners Roberto Valturio ent- niemals anders als nüchtern u. zeigte in seilehnte Tafeln bei. Dass seine Übersetzung nem streng geregelten Tagesablauf eine be-
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wundernswerte Arbeitsdisziplin. Überzeugt von der Wichtigkeit seiner selbstgestellten Aufgabe, kannte er keinen Kompromiss, wenn es um sein literar. Schaffen ging, das v. a. im intensiven Nachdenken über durch Lektüre gewonnene Erkenntnisse u. im Ausformulieren u. Präzisieren der dabei erarbeiteten Thesen u. Feststellungen bestand. Am bedeutsamsten waren dabei für H. die Werke Goethes; daneben spielten aber auch Balzac, Gide, Hölderlin, Thomas Mann, Katherine Mansfield, Proust, Rilke, Spinoza u. Valéry eine maßgebl. Rolle. Zugleich kreiste H.s Denken immer auch um die eigene Situation als Außenseiter der (schweizerischen) Gesellschaft u. um das eigene schriftstellerische Arbeiten. Die zwölf Titel der Notizen umreißen gleichzeitig die Bandbreite seiner Thematik: Vom Arbeiten, Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren, Reden, Schwatzen, Schweigen, Der Leser, Kunst, Vom Schreiben (Teil 1), Varia (enthält eine Reihe von Erzählungen sowie Helvetisches u. Von den Briefen), Apotheker (für H. der Inbegriff des Spießbürgers), Literatur, Traum und Träume, Vom Tod, Bild (Teil 2). Obwohl er sich intensiv mit ihr auseinandersetzte u. ihr in vielem – z.B. der Arbeitsmoral – näher stand, als ihm bewusst war, blieb seine Haltung der Schweiz gegenüber stets diejenige einer konsequenten Verweigerung. Da der dt. Buchmarkt ihm nicht offenstand u. das Klima in der Schweiz zwischen 1938 u. 1950 durch die »geistige Landesverteidigung« u. deren Zwang zum Konsens bestimmt war, führte dies dazu, dass sein Werk erst in den 1970er Jahren, als der Suhrkamp Verlag es im gesamten dt. Sprachraum zu verbreiten begann, die ihm gebührende Resonanz fand. Die vorangehenden, meist bruchstückhaften schweizerischen Editionen waren den Umständen entsprechend fast durchwegs Misserfolge gewesen. 1939 hatte der linksstehende Zürcher Oprecht Verlag erstmals Prosa von H. verlegt: Nuancen und Details (Teil 1 u. 2). Bereits die Fortsetzung (Teil 3) musste H. dann aber 1943 in Genf im Selbstverlag publizieren. 1939 edierte der Zürcher Morgarten Verlag die 13 Erzählungen Nächtlicher Weg, deren Titelgeschichte, eine Metapher für die Ausweglosigkeit des modernen Menschen, zu
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H.s vollendetsten Texten gehört. Der Morgarten Verlag hatte auch zugesichert, Die Notizen herauszubringen, eine Verpflichtung, die an den neu gegründeten Artemis Verlag (Zürich) überging, der 1943 einen ersten Band mit den Teilen 1–4 veröffentlichte. Als der Verlag sich weigerte, auch den zweiten Band herauszubringen – Friedrich Witz bemängelte die Qualität, die z.T. autobiogr. Tendenz u. die Spitzen gegen Schweizer Zeitungen –, kam es zu einem Prozess vor dem Zürcher Handelsgericht, durch den der Verlag gezwungen wurde, 1954 auch die Fortsetzung zu publizieren. Abgesehen von zwei kleineren Publikationen im St. Galler Tschudy Verlag, den Erzählungen Vernunft und Güte (1956) u. dem Prosaband Wirklichkeiten (hg. u. komm. von Heinz Weder. 1963), blieb es im folgenden Jahrzehnt still um H., bis sich Otto F. Walter u. der Walter Verlag (Olten) seines Werks annahmen. 1964 erschienen dort die erste vollständige Ausgabe von Nuancen und Details (Nachw. von Helmut Heißenbüttel) sowie u. d. T. Daß fast alles anders ist (1967) Auszüge aus Von den hereinbrechenden Rändern. 1971–1981 publizierte dann der Suhrkamp Verlag praktisch das ganze bis dahin vorliegende Werk H.s neu. 1975 konnte Suhrkamp auch die Erzählung Bergfahrt (Ffm.) präsentieren, deren Entstehungsgeschichte bis ins Jahr 1926 zurückreicht u. die H. 1973 ein letztes Mal überarbeitet hatte. Die strenge, an Camus’ Mythe de Sisyphe (1943) erinnernde Parabel handelt von zwei Alpinisten, Ull u. Johann. Während Johann vor dem Berg kapituliert u. umkehrt, bezwingt Ull ihn zwar, stürzt aber beim Abstieg in den Tod. Johann seinerseits ertrinkt auf dem Heimweg in einem Bach. Die Bergfahrt wird hier zu einer Chiffre für die Existenz überhaupt, u. die Art u. Weise, wie H. sie gestaltet, liefert ein halbes Jahrhundert Schweizer Bergliteratur der Fragwürdigkeit aus. Die Erzählung überraschte selbst genuine H.-Kenner u. übte maßgebl. Einfluss auf jüngere Schweizer Autoren (z.B. Christoph Geiser) aus. Postum gaben Johannes Beringer u. Hugo Sarbach auch H.s dritten großen, allerdings nur fragmentarisch erhaltenen Reflexionenzyklus, die »Nachnotizen« Von
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den hereinbrechenden Rändern (2 Bde., Ffm. bei L. H., Annemarie Schwarzenbach, Walther Kauer u. Lorenz Lotmar. Zürich 2008. 1986), heraus. Charles Linsmayer / Red. Während das breite Lesepublikum seinem Werk oft ratlos gegenüberstand, fand H., wie Robert Walser, schon früh Anerkennung u. Hohlbaum, Robert, * 28.8.1886 JägernFörderung durch Schriftstellerkollegen wie dorf/Schlesien (Krnov), † 4.2.1955 Graz. – Zollinger, Bänninger, Traugott Vogel u. Max Romancier, Lyriker, Dramatiker. Frisch. Inzwischen hat sich gezeigt, dass auch eine jüngere Schriftstellergeneration (u. a. Der Fabrikantensohn H., der seine »grenzBichsel, Handke, Adolf Muschg u. Martin deutsche« Herkunft immer als bes. Auftrag Walser) im kompromisslosen Denker u. wertete, studierte Germanistik in Graz u. strikten Verweigerer H. einen geistigen Vor- Wien (Dr. phil. 1910, Die Marienburg im Draläufer sieht. Seit 1985 nimmt sich eine in ma). Durch die Mitgliedschaft in akadem. Zürich domizilierte Ludwig-Hohl-Stiftung Burschenschaften erfuhr sein polit. Denken H.s Werk an u. bereitet weitere Ausgaben aus die maßgebl. deutschnationale Prägung. Eine dem Nachlass vor. Bibliothekarsstelle in Wien bot materielle Weitere Werke: Drei alte Weiber in einem Absicherung; zgl. schloss sich H. dem Kreis Bergdorf. Mit einem Nachw. v. Elisabeth Brock- um die satir. Wochenschrift »Die Muskete« Sulzer. Bern 1970 (Neudr. aus: Nächtl. Weg). – an. Hier befreundete er sich u.a. mit Mirko Teildrucke aus: Die Notizen: Vom Erreichbaren u. vom Jelusich. Als Artillerieoffizier nahm er am Unerreichbaren. Ffm. 1972. – Nuancen u. Details. Ersten Weltkrieg teil. Vom Zusammenbruch Ffm. 1975. – Varia. Ffm. 1977. – Vom Arbeiten. der Mittelmächte 1918 schwer getroffen, Bild. Ffm. 1978. – Das Wort faßt nicht jeden. Über wandte sich H., inzwischen wieder als BiLit. Ffm. 1980. – Die Notizen oder Von der unvorbliothekar tätig, »kulturpolitischen« Aufgaeiligen Versöhnung. Ffm. 1981 (vollst. Ausg. in 1 Bd.). – Und eine neue Erde. Hg. Johannes Beringer. ben – etwa im Rahmen der Großdeutschen Ffm. 1990. – Mut u. Wahl. Aufsätze zur Lit. Hg. Volkspartei – zu, die ihn zu einer Zentralfigur Johannes Beringer. Ffm. 1992. – Jugendtgb. Hg. der rechten Literaturszene der Ersten RepuHugo Sarbach. Ffm. 1998. – Die verläßlichste blik werden ließen. »Empfehlungen« von meiner Freuden. Hanny Fries u. L. H. Gespräche, ihm konnten für die Karriere jüngerer AutoBriefe, Zeichnungen u. Dokumente. Hg. Werner ren (z.B. Weinheber) entscheidend werden. Morlang. Zürich u. a. 2003. – Aus der Tiefsee. Paris Nach 1933 nutzte H. seine Kontakte zu hohen 1926. Hg. Ulrich Stadler Ffm. 2004. – Mitter- NS-Kulturfunktionären, um missliebiger nachtsgesellsch. Ffm. 2005 (E.en). Konkurrenz den dt. Markt zu versperren. Literatur: Xaver Kronig: L. H. Seine Erzähl- 1937 nahm er die »reichsdeutsche« Staatsprosa. Mit einer Einf. in das Gesamtwerk. Diss. bürgerschaft an u. wurde Direktor der Bern 1972. – Adrian Ewald Bänninger: Fragment u. Stadtbibliothek Duisburg, 1942 Leiter der Weltbild in L. H.s ›Notizen‹. Diss. Zürich 1973. – Werner Fuchs: Möglichkeitswelt. Zu L. H.s Dich- Thüringischen Landesbibliothek in Weimar. H.s Aufstieg zu einem der meistgelesenen tung u. Denkformen. Diss. Bern. 1980. – Johannes Beringer (Hg.): L. H. Ffm. 1981 (mit Bibliogr.). – österr. Autoren der Zwischenkriegszeit beJean-Marie Valentin (Hg.): L. H. Akten des Pariser gann mit dem Novellenband Der ewige LenzKolloquiums 14.-16.1.1993. Bern u. a. 1994. – Sa- kampf (Lpz. 1912. Neuaufl. u. d. T. Prager Stubine Haupt: ›Schwer wie ein weißer Stein‹. L. H.s denten. Lpz. 1942). Das Verhältnis Preußen – ambivalente Bewältigung der Melancholie. Bern Österreich thematisiert der im Kriegsjahr u. a. 1996. – L. H. Mchn. 2004 (Text + Kritik 161). – 1866 spielende Roman Österreicher (Lpz. Drehpunkt 36 (2004), H. 118. – Peter Erismann u. a. 1914). Nach dem kulturgeschichtl. Roman (Hg.): L. H.: ›Alles ist Werk‹. Ffm. 2004. – Jattie Das Vorspiel (Lpz. 1918) reagierte H. zuseEnklaar: Sohnschaft in der Krise. Zu L. H.s Notiz ›Der verlorene Sohn‹. In: Neoph. 89 (2005), hends konkreter auf die neue polit. Lage: S. 287–298. – Hugo Sarbach: L. H. Bern 2006. – Verbleibt der an die Jugend der NachkriegsElio Pellin: ›Mit dampfendem Leib‹. Sportl. Körper zeit gerichtete Roman Zukunft (Lpz. 1922) noch in dem bloßen Appell, den Glauben an den »Tag der deutschen Vergeltung« nicht zu
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verlieren, so benützt H. später v. a. den histor. Hohler, Franz, * 1.3.1943 Biel. – Erzähler, Roman als Vehikel unverhüllter polit. Agita- Lyriker, Kinderbuch-, Theater-, Drehtion. Den Weg zur »deutschen Heilsge- buch- u. Hörspielautor, Kabarettist u. schichte« beschreibt die Romantrilogie Früh- Musiker. lingssturm (Bln. 1940. Einzelbde.: Die deutsche H. wuchs in Olten auf u. studierte GermaPassion. Lpz. 1924. Der Weg nach Emmaus. Lpz. nistik u. Romanistik in Zürich. Der Erfolg 1925. Die Pfingsten von Weimar. Lpz. 1926). seines ersten Soloprogramms pizzicato (1965) Inspiriert durch zeitgenöss. faschistische führte zum Abbruch des Studiums. Mit Ideologeme, formuliert H.s zweite Romankünstlerischen Ein-Mann-Programmen gastrilogie Volk und Mann die Bedingungen einer tierte er in Deutschland, Österreich, Frankpolit. Umsetzung der imaginierten Wiederreich, Italien, Spanien, Portugal, Schweden, erstarkung Deutschlands unter einem geDänemark, Marokko, Israel, den USA u. in schichtsmächtigen Führer bereits genauer Kanada. (König Volk. Lpz. 1931. Der Mann aus dem Chaos. Im Gegensatz zum traditionellen Kabarett, Lpz. 1933. Stein. Mchn. 1935). Auch vor dem das meist Ensembleleistungen zeigt, ist H. polit. Pamphlet (Die Ahnen des Bolschewismus. Autor, Darsteller, Komponist u. Musiker in Herrsching 1937) schreckte er nicht zurück. Personalunion. In seinen Soloprogrammen H.s Beliebtheit gründete sich nicht zuletzt zeigt sich eine Entwicklung vom »Spiel mit auf seine Künstlernovellen u. -romane, z.B. Bildungsballast« über alltagsbezogene Situadie Novellensammlungen Unsterbliche (Lpz. tionskomik zu immer mehr Zivilisationskri1919) u. Von ewiger Kunst (Lpz. 1927) oder den tik. Die Sparharfe (1967) enthält v. a. sprachGoethe-Roman Sonnenspektrum (Salzb. 1951). spielerische Nummern; H. parodiert den H. wurde 1921 mit dem Bauernfeld-Preis Berner Dialekt durch Anreicherung mit lautu. 1951 mit dem Adalbert-Stifter-Preis aus- malerischen Elementen. In Doppelgriffe (1970) gezeichnet. beginnt er Reaktionen des Publikums in den Weitere Werke: Aus Sturm- u. Sonnentagen. Ablauf des Programms einzubeziehen u. lässt Bln. 1908 (L.). – Ein Leben. Bln. 1909 (L.). – Dt. dann mehr u. mehr Raum für freie ImproviGedichte. Lpz. 1916. – Grenzland. Lpz. 1921 (R.). – sation. So simuliert der Künstler in Die Der wilde Christian. Wien 1921 (R.). – Über alles in Nachtübung (1973) Maßnahmen für eine erder Welt! Gedichte eines Sudetendeutschen. Eger 1921. – Dtschld. Eine Sonettenfolge. Reichenberg wartete Katastrophe, in Der Flug nach Milano 1923. – Vaterland. Lpz. 1925 (Balladen). – Die Ra- (1985) eine Flugzeugentführung. Mit seiner ben des Kyffhäuser. Lpz. 1927 (R.). – Sänger u. zunehmend zeitkrit. Haltung u. dem EngaKönige. Lpz. 1929 (N.n). – Das klingende Gift. Lpz. gement gegen die Kernenergie provoziert H. 1930 (R.). – Getrennt marschieren. Mchn. 1935 (E.). auch Gegendruck: Die Zürcher Kantonsre– Zweikampf um Dtschld. Mchn. 1936 (R.). – Mein gierung verweigerte ihm 1982 die Vergabe Leben. Bln. 1936 (Autobiogr.). – Lombardische eines Literaturpreises; eine Satiresendung im Nacht. Lpz. 1938 (D.). – Die stumme Schlacht. Schweizer Fernsehen wurde 1983 wegen eiMchn. 1939 (R.). – Gewitter im Vormärz. Lpz. 1942 nes armeekrit. Lieds abgesetzt. (D.). – Der Herbst des Grafen v. Avricourt. Graz Als Schriftsteller ist H. vor allem mit seiner 1943 (R.). – Balladen vom Geist. Lpz. 1943. – TeKurzprosa bedeutend; mit Hörspielen u. deum. Speyer 1950 (R.). – Der König v. Österr. Graz Theatertexten hat er bisher kaum Resonanz 1956. Neuaufl. 1986 (R.). außerhalb der Schweiz gefunden. Sein ErLiteratur: Johann Sonnleitner: Die Geschäfte zähldebüt gab er 1967 mit Das verlorene Gähdes Herrn R. H. Die Schriftstellerkarriere eines Österreichers in der Zwischenkriegszeit u. im nen und andere nutzlose Geschichten (Bern). BeDritten Reich. Wien 1989. – Johannes Sachslehner: reits hier lässt sich das für ihn typische NeNachprüfung. Zu den Autobiogr.n v. R. H., Paula beneinander von Sachlichkeit u. Fantasie Grogger, Gertrud Fussenegger u. Franz Tumler. In: feststellen. In seiner Erzählsammlung Der Klaus Amann u. Karl Wagner (Hg.): Autobiogr.n in Rand von Ostermundigen (Darmst./Neuwied der österr. Lit. Innsbr./Wien 1998, S. 125–140. 1973) übersteigert H. kleine AlltagsirritatioJohannes Sachslehner / Red. nen ins Surreale: Ein Kuscheltier entpuppt
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sich als leibhaftiger Teufel, ein Kleinkind Kolonne. Ein Theaterstück für zwei Frauen u. eine wird durch einfühlend antiautoritäre Erzie- Gegensprechanlage. Weinfelden 1984. – Hin- u. hung zum Tyrannen. Die Sammlung Ein ei- Hergesch.n (zus. mit Jürg Schubiger). Zürich 1986. genartiger Tag (Darmst./Neuwied 1979) enthält – Das Kabarettbuch. Darmst. 1987. – Vierzig vorbei. Darmst. 1988. – Da, wo ich wohne. Hbg. 1993. zusätzlich Texte, die das Normale durch mi– Die blaue Amsel. Mchn. 1995. – Drachenjagen. nutiöse Detailbeschreibung seltsam erschei- Das neue Kabarettbuch. Mchn. 1996. – Das vernen lassen. Die pointierte Prägnanz von H.s speiste Buch. Eine Fortsetzungsgesch. Ffm. 1996. – Kurzprosa lässt sich wohl auch aus seiner Zur Mündung. 37 Gesch.n v. Leben u. Tod. Mchn. Erfahrung auf Kleinbühnen herleiten, die ihn 2000. – Die Karawane am Boden des Milchkrugs. in direkten Kontakt mit einem krit. Publi- Groteske Gesch.n. Mchn. 2003. – Die Torte u. a. kum gebracht hat. In der parabelhaften, ka- E.en. Mchn. 2004. – 52 Wanderungen. Mchn. 2005. tastrophisch-visionären Titelgeschichte des – Vom richtigen Gebrauch der Zeit. Mchn. 2006. – Erzählbands Die Rückeroberung (Darmst. 1982) Das Ende eines ganz normalen Tages. Mchn. 2008 wird vorgeführt, wie die Wildnis sich gegen (P.). – Kinder- und Jugendbücher: Tschipo. Darmst. 1978. – In einem Schloss in Schottland lebte einmal das Voranschreiten der Zivilisation wehren ein junges Gespenst. Aarau 1979. – Der Granitblock kann. Seinen besonderen Reiz erhält dieser im Kino u. a. Gesch.n für Kinder. Darmst. 1981. – Text durch den Kontrast zwischen lakonisch Tschipo u. die Pinguine. Darmst. 1985. – Der Riese berichtender Erzählweise u. fantastischem u. die Erdbeerkonfitüre u. a. Gesch.n. Ravensburg Inhalt. Den Erzählungen Die Rückeroberung 1993. – Tschipo in der Steinzeit. Ravensburg 1995. stehen in Thema u. Aussage der Roman Der – Der grosse Zwerg u. andere Gesch.n. Mchn. 2003. neue Berg (Ffm. 1989) u. die Novelle Die Stein- – Der Tanz im versunkenen Dorf. Mchn. 2005. – flut (Mchn. 1998) nahe. Die Steinflut, ein viel Das große Buch. Gesch.n für Kinder. Illustriert v. beachtetes Prosawerk, ist ein Gleichnis be- Nikolaus Heidelbach. Mchn. 2009. Literatur: Dieter Bachmann (Hg.): Fortschreidrohl. Bergnatur, die für die gedrückte Stimmung der Dorfbewohner u. die Unge- ben. 98 Autoren der dt. Schweiz. Zürich/Mchn. wissheit ihres Daseins sorgt. In seinem Ro- 1977. – Beatrice v. Matt (Hg.): Antworten. Die Lit. man Es klopft (Mchn. 2007) liefert H. die der deutschsprachigen Schweiz in den achtziger Jahren. Zürich 1991. – Michael Bauer u. Klaus Siebenso parabelhaft konstruierte Lebensgeblewski (Hg.): F. H. Texte, Daten, Bilder. Darmst. schichte eines Mannes, dessen längst vergan- 1993. – Marc Aeschbacher: Vom Stummsein zur gener Fehltritt durch die fortschreitende Zeit Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. aus der dt. nicht getilgt wird. Die Lust am Erzählen, ein Schweiz (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern u. a. bedeutendes narratives Merkmal dieses Ro- 1998. – Michael Koetzle u. Klaus Hübner: W. H. In: mans, ist im Grunde dem Gesamtprosawerk KLG. – Ulrich Dittmann: F. H. In: LGL. – Gabriele Gien: F. H. In: KJL. – Klaus Pezold (Hg.): Schweizer H.s eigen. H. wurde mit zahlreichen Literaturpreisen Literaturgesch. Die deutschsprachige Lit. im 20. Jh. ausgezeichnet; er erhielt u. a. den Conrad- Lpz. 2007. Guido Stefani / Zygmunt Mielczarek Ferdinand-Meyer-Preis (1968), den Deutschen Kleinkunstpreis (1973), den Hans Sachs-Preis für kurze Theaterstücke (1976), Hohoff, Curt, * 18.3.1913 Emden. – Puden Deutschen Schallplattenpreis für Kaba- blizist, Romanautor, Erzähler, Verfasser rett (1981), das Diploma of Merit Hans literaturkritischer Arbeiten. Christian Andersen-Preis (1988), den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1991), H. lebt seit 1934 in München, das er nur zu den Liederpreis des Südwestfunks (1997), den kurzen Studienaufenthalten verließ. Er stuKasseler Literaturpreis für grotesken Humor dierte Germanistik, Philosophie u. Geschich(2002) u. den Kunstpreis der Stadt Zürich te u. promovierte 1937 über Heinrich von Kleist. Prägend waren für ihn die Begegnung (2005). Weitere Werke: Idyllen. Neuwied/Bln. 1970. – mit Britting u. die Bekanntschaft mit Henri Wegwerfgeschichten. Bern 1974. – Wo? Darmst./ Nannen u. Carl Hanser, über die er in seiner Neuwied 1975. – Der Wunsch, in einem Hühnerhof Autobiografie Unter den Fischen (Mchn. 1982) zu leben. Feldmeilen/Zürich 1977. – Die dritte schreibt.
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Nach dem Krieg gründete H. 1945 das 1989. Kreuzlingen u. a. 2006. – Scheda – im Flug Feuilleton des »Rheinischen Merkur«. 1949 vorbei. Roman einer Jugend. Ffm./Bln. 1993. – wurde er Leiter des Feuilletons der »Süd- Veritas Christiana. Aufsätze zur Lit. Köln. 1994. – deutschen Zeitung«. Seit 1963 ist er freier Der Glanz des Wirklichen. Gelehrte Prosa als Kunst. Wien/Lpz. 1998 (Ess.s). Schriftsteller. Literatur: Max Rychner: Junge dt. LiteraturLiterarisch bekannt wurde H. mit der Aufkritik. In: Ders.: Arachne. Aufsätze zur Lit. (1975), zeichnung seiner Erlebnisse in russ. Kriegs- S. 279–310. – Hans Egon Holthusen: Krit. Sachgefangenschaft (Woina, Woina. Düsseld. 1951. verstand. In: Ders.: Plädoyer für den Einzelnen Mchn. 1983), in denen sich die Faszination (1967), S. 147–151. – Rolf Düsterberg: Masse u. Russlands, authent. Kriegsbericht u. Ele- Elite. Krieg, Wehrmacht u. Nationalsozialismus in mente eines katholisch fundierten Humanis- C. H.: ›Woina-Woina‹ (1951). In: Hans Wagener mus mischen. Hervorzuheben ist im Früh- (Hg.): Von Böll bis Buchheim. Dt. Kriegsprosa nach werk auch der Roman Paulus in Babylon (Freib. 1945. Amsterd./Atlanta, GA 1997, S. 155–181. Reinhard Knodt / Red. i. Br. 1956), eine Darstellung der Persönlichkeit des Paulus u. der Christenverfolgung unter Nero anhand fingierter Briefzeugnisse. Holbach, Paul (Heinrich) Thiry Baron von, Unter den wissenschaftl. Arbeiten fanden Edesheim/Pfalz, getauft 8.12.1723, v. a. die Neubearbeitung von Albert Soergels † 21.1.1789 Paris; Grabstätte: ebd., KirDichtung und Dichter der Zeit (Düsseld. 1961) che St. Roch. – Philosoph, Enzyklopädist. sowie die histor. Arbeiten über Stifter, Lenz u. Goethe viel Beachtung. In den Essays H. war Sohn des Winzers Johann Jakob Thiry (Schnittpunkte. Gesammelte Aufsätze. Stgt. 1963. aus Edesheim. Die Mutter, eine geb. Holbach, Was ist christliche Literatur? Freib. i. Br. 1966. war die Tochter des dortigen fürstbischöfl. Gegen die Zeit, Theologie, Literatur, Politik. Stgt. Steuereinnehmers. Sein lediger Onkel Franz 1970) gehen kath. Existenzialismus u. ein von Adam Holbach, der ein Millionenvermögen Elitarismus freier apolit. Klassizismus ein besaß, ließ den Neffen zunächst auf seinem Edesheimer Landsitz, seit 1731 in Paris erBündnis ein. Als Versuch, aus diesem selbstgesetzten ziehen. 1744–1748 studierte der junge Thiry Rahmen auszubrechen, kann man einige an der als liberal geltenden Universität Leiden Natur- u. Rechtswissenschaft, wahrVeröffentlichungen der 1970er Jahre sehen. scheinlich auch Sprachen. Wieder in Paris, Bezeichnend ist etwa der Roman Die Nachtierhielt er durch Adoption Namen u. Titel des gall (Mchn. 1977), der vom Studentenmilieu in Wien geadelten Onkels. Durch seine Heirat der 68er-Generation handelt. mit Basile Geneviève (1750) u., nach ihrem H.s polit. Desillusionismus wie auch seine Tod, mit deren Schwester Charlotte (1756) – akadem. Literaturauffassung stießen in den den Töchtern seiner vom Onkel ebenfalls 1960er u. 1970er Jahren auf wenig Zustimadoptierten Cousine Suzanne – hielt der Primung, was punktuell auch in schroffer Abvatgelehrte das Familienerbe als Grundlage lehnung durch die Kritik (z.B. durch Horst seines Lebensstils klug zusammen. Vom Krüger) sichtbar wurde. Andererseits zeigen Schwiegervater Nicolas D’Aine übernahm er viel besprochene Neuauflagen, dass H. eine den Titel eines »Conseiller du Roi« u. gehörte feste Leserschaft gewinnen konnte. damit auch dem frz. Adel an. Der Salon seines Weitere Werke: Erzählungen, Romane: Hoch- Pariser Stadthauses in der Rue Royale Saint wasser. Mchn. 1948. – Feuermohn im Weizen. Roch sowie sein nahegelegener Landsitz Düsseld. 1953. – Die verbotene Stadt. Mchn. 1956. Grandval waren berühmte Treffpunkte der Ffm. 1989. – Die Märzhasen. Stgt. 1966. – Venus im europ. Geisteswelt u. galten als Zentrum der Sept. Mchn. 1986. – Wissenschaftliche Arbeiten: Adalbert Stifter. Düsseld. 1949. – Geist u. Ur- vorrevolutionären Aufklärung (»Zitadelle der sprung. Zur modernen Lit. Mchn. 1954. – Heinrich Enzyklopädisten«). Erwähnenswert sind die v. Kleist. Hbg. 1958. [Reinb.] 291995. – Christoph v. anfängl. Freundschaft mit Rousseau, die BeGrimmelshausen. Reinb. 1978. 31995. – Johann kanntschaft mit Helvetius, David Hume, dem Wolfgang v. Goethe, Dichtung u. Leben. Mchn. Schauspieler Garrick u. die tiefe Beziehung
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zu Melchior Grimm. Vor allem aber wurde H.s Familie Diderot zur zweiten Heimat. H. war Mitgl. der Akademien von Berlin (1754), Mannheim (1766) u. Petersburg (1780). Die Bekanntschaft mit Diderot (1749) im Anfangsstadium von dessen Encyclopédie gab H.s Wirken die entscheidende Richtung. Durch Übersetzungen deutschsprachiger Werke mit technisch-anwendungsbezogener Thematik aus Glasherstellung, Mineralogie u. Metallurgie trug H. zur Förderung der frz. Wirtschaft bei. Aus diesem Fundus verfasste er für jenes umfassende, von ihm auch finanziell geförderte Lexikon (»Mäzen der Enzyklopädie«), das zu einem der wirksamsten Transportmittel des Aufklärungsgedankens wurde, mindestens 400 (vielleicht sogar 1100) Artikel, davon auch zahlreiche zu Kulturgeschichte u. Ethnologie. Um 1760 verlagerte sich H.s Interesse auf die Kritik der Religion in allen ihren Erscheinungsformen. Die Religion sei der eigentl. Feind der Aufklärung u. des Fortschritts; Unwissenheit u. Geistesträgheit, Angst u. Schwärmerei seien ihr Nährboden. Vor allem diene sie dem Machterhalt des Klerus u. seiner Allianz mit dem Adel. Einziger Erklärungsgrund für alle Erscheinungen sei die aus sich selbst wirkende Natur. Sein Hauptwerk Système de la nature, das schon 1783 in dt. Übersetzung vorlag, formuliert H.s Anschauungen: Sinn des Lebens sei das Streben nach ird. Glück, zu dessen Erreichen man aber auch das Glück des Mitmenschen wollen müsse. H. forderte Bildung für alle. Ihm schwebte eine Gesellschaft der allg. Wohlfahrt unter Führung des Bürgertums vor. Das Buch entfachte einen Sturm der Entrüstung, wurde von den Behörden öffentlich verbrannt u. zog viele Gegenschriften nach sich. Voltaire verurteilte es wegen seiner Radikalität, Friedrich II. wegen der Angriffe auf den Adel. Goethe, der es als Student in Straßburg las, nannte es »tot« u. »grau«, da es seine religiösschwärmerische Naturverehrung enttäuschte. H. selbst blieb unerkannt, da er, wie bei allen seinen religionskrit. Werken, durch fingierte Angaben zu Autorschaft u. Druckort die Zensur irreführte. Die Zuweisung einiger Werke ist bis heute nicht ganz geklärt, zumal heimlich umlaufende
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religionskrit. Handschriften aus Frankreich u. Literatur aus England ebenfalls in H.s Werkstatt (»Synagoge des Atheismus«) bearbeitet, übersetzt u. zum Druck befördert wurden. H.s bleibende Bedeutung liegt im Einfluss seiner Religionskritik auf das 19. Jh. Indem er die Positionen seiner Vorgänger zusammenfasst, systematisiert u. radikalisiert, wird er zur Quelle für Feuerbach, Marx u. Freud. Die philosophischen, gesellschaftl. u. psycholog. Aspekte ihrer Religionskritik sind bei H. vorgebildet. Weitere Werke: Boulangez (Pseud.): Le christianisme dévoilé [...]. Londres (?) 1767. – La contagion sacrée [...]. Londres, recte Amsterd. 1768. – Mirabaud (Pseud.): Système de la nature ou des loix du monde physique & du monde moral. Londres, recte Amsterd. 1770. – La politique naturelle [...]. Londres, recte Amsterd. 1773. – L’Auteur du Système de la nature: Système social. Londres, recte Amsterd. 1773. – La Morale universelle ou les devoirs de l’homme fondés sur sa nature. Amsterd. 1776. – Briefe: P. T. Baron d’H. Die gesamte erhaltene Korrespondenz. Hg. Hermann Sauter u. Erich Loos. Wiesb. 1986 (frz.). – Übersetzungen (ins Deutsche): Manfred Naumann (Hg., Einl.): P. H. T. Baron d’H. Ausgew. Texte. Bln./DDR 1959. – Ders. (Hg., Einl.) u. Fritz Georg Voigt (Übers.): P. T. d’H. System der Natur [...]. Bln./DDR 1960. – Ders. (Hg., Einl.): P. H. d’H. Religionskrit. Schr.en. Das entschleierte Christentum. Taschentheologie. Briefe an Eugenie. Bln./DDR 1970. Literatur: Bibliografie: Jeroom Vercruysse: Bibliogr. descriptive des écrits du baron d’H. Paris 1971. – Weitere Titel: Hermann Sauter: P. Tiry v. H. In: Pfälzer Lebensbilder. Bd. 1, Speyer 1964. – Pierre Naville: D’H. et la philosophie scientifique au XVIIIe siècle. Paris 21967. – Rudolf Besthorn: Textkrit. Studien zum Werk H.s. Bln./DDR 1969. – Denis Lecompte: Marx et le baron H. Paris 1983. – Michael Haupt: Von H. zu Marx. Hbg. 1987. – Hartmut Harthausen, Hans Mercker u. Hans Schröter: P. T. v. H. Philosoph der Aufklärung. Kat. zur Ausstellung [...]. Speyer 1989. – Matérialistes français du XVIIIe siècle. La Mettrie, Helvétius, d’H. Hg. Sophie Audidière. Paris 2006 (mit Lit.). Hans J. Mercker / Red.
Holbein
Holbein, Franz (Ignaz) von, Edler von Holbeinsberg, * 27.8.1779 Zistersdorf bei Wien, † 6.9.1855 Wien. – Dramatiker, Theaterdirektor u. Schauspieler.
554 erlogene Lüge. Hann. 1839. – Dt. Bühnenwesen. Wien 1853. Literatur: Otto Mang: Die Direktionszeit H.s am Wiener Burgtheater 1841–49. Diss. Wien 1949. – Günther Emig: F. v. H.s Amazonendrama ›Mirina‹ (1806). In: Heilbronner Kleist-Bl. 15 (2003), S. 58–62. Cornelia Lutz / Red.
Als 17-Jähriger brach H., zu dessen Ahnen Hans Holbein zählte, mit der Tradition seiner Beamtenfamilie. Er gab die sichere Stellung bei der staatl. Lottoverwaltung in Lemberg Holbein, Ulrich, auch: Uriel Bohnlich, auf, legte sich den Künstlernamen »Fontano« Heino Brichnull, Heinrich Bullo, Lili zu u. ging mit seiner Gitarre auf Reisen. Sein Chonhuber, * 24.1.1953 Erfurt. – Essayist, Weg führte ihn über Petersburg nach Berlin, Prosa- u. Hörspielautor. wo er 1798 E. T. A. Hoffmann begegnete, der H.s Talent erkannte u. ihm ein kurzes Enga- Nach dem Besuch Fachschule für Sozialpädgement beim Berliner Hoftheater vermittel- agogik in Darmstadt (ab 1972) studierte H., te; hier nahm ihn Iffland unter seine Fittiche. Sohn eines Ingenieurs, 1976–1982 Theologie Bei einer Tournee lernte H. die 27 Jahre ältere u. Biologie in Tübingen, zgl. Malerei an der Gräfin Lichtenau, eine frühere Maitresse Hochschule für Bildende Kunst in Kassel. Seit Friedrich Wilhelms II., näher kennen. In 1977 ist er als freier Schriftsteller tätig. H. Breslau, wo das skandalträchtige Ehepaar lebt seit 1983 im hess. Knüllgebirge (All(seit 1801) bis zur Trennung (1806) wohnte, muthshausen) u. schreibt seit Beginn der schrieb H. sein erfolgreichstes Stück Fridolin 1990er Jahre für Zeitungen, Zeitschriften u. (Wien 1808), eine Dramatisierung von Schil- den Rundfunk, u. a. für die »Frankfurter lers Ballade Gang nach dem Eisenhammer; es Allgemeine Zeitung«, »Die Zeit«, die »Südbrachte ihm die Stelle eines Hausdichters deutsche Zeitung«, die »Neue Zürcher Zeitung«, die »Frankfurter Rundschau« u. beim Theater an der Wien ein. H. verfasste zahlreiche Libretti, Lust- u. »konkret«. Als egozentr. Humorist u. stilgewandter Trauerspiele, die v. a. den Schauspielern Gelegenheit gaben, sich effektvoll in Szene zu Essayist mehrfach preisgekrönt, hat H. seit setzen. Mit seiner zweiten Frau, der gefeier- seinem Erstling Der illustrierte Homunculus ten Darstellerin Marie Renner, zog er nach (Mchn. 1989) zahlreiche Bücher publiziert, Bamberg, wo er 1810 die Leitung des Thea- die sich meist aus seinen Glossen zusamters übernahm. Sein Organisationstalent, mensetzen bzw. die iron. Zitat- u. Collagehandwerklich-techn. Geschick u. der sichere kunst, die er dort perfektioniert, zu neuen Blick für Begabungen machten ihn weithin Kollidiereskapaden bündeln. Eines seiner bekannt. Die Türen der großen Häuser stan- wichtigsten Werke ist der bereits 1993 abgeden ihm offen: 1812/13 war er Theaterdi- schlossene, jedoch erst 2000 erschienene rektor in Würzburg, 1819–1824 Bühnenleiter »Roman« Isis entschleiert (Heidelb.), der aus am Prager Ständischen Theater, 1825–1841 5437 Zitaten von 732 Autoren u. verstreut Direktor des Hoftheaters in Hannover. 1841 einmontierten (historischen) Abbildungen folgte die Krönung seiner Laufbahn mit der besteht. Schon der Titel zitiert Helena PetroBerufung zum Direktor des Burgtheaters in vna Blavatskys 1877 publiziertes dubioses Wien (bis 1850). Energisch ging er die Reor- Grundlagenwerk der Theosophie, Isis Unganisation der erstarrten Institution an, ent- veiled. Mit »enzyklopädische[r] Belesenheit« rümpelte das Repertoire, gründete den Büh- arrangiert hier H. eine »Phänomenologie des nenkartellverein (1846) u. führte die Zahlung Zitierens« (Bockelmann) u. avanciert dabei zum intertextuellen Flaneur, der kulturkrit. von Autorentantiemen ein. Weitere Werke: Ida. Wien 1807. – Theater. 2 Ansätze Walter Benjamins u. Theodor W. Bde., Rudolstadt 1811/12. – Die Waffenbrüder. Adornos in ein myst. Lachprogramm verWien 1824. – Die Doppelgänger. Hann. 1833. – Die wandelt.
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Holek
Typisch für H. sind Porträts wie das des mich nicht? Zürich 1993 (R.). – Werden auch Sie ein 1273 gestorbenen »greatest pantheistic poet Genie! 66 Tips. Ffm. 1997. – Nekrolog auf den of mankind«, des Persers Rumi (FR, Ladenhüter u. andere. Ffm. 1999. – Narratorium. 29.9.2007), die einer eurozentr. Literaturge- 255 Lebensbilder. Zürich 2008. Literatur: Rolf Michaelis: U. H. In: LGL. – Eske schichtsschreibung mit entlegenem Detailwissen entgegenarbeiten. Kaum weniger ex- Bockelmann: U. H. In: KLG. Jan Süselbeck zentrisch kommt aber auch die assoziativ überfrachtete Beschreibung eines OnanieHolek, Wenzel, * 20.1.1864 Schönhof/ Exzesses daher, wie sie unter dem Titel NaBöhmen, † 4.1.1935 Berlin. – Autor proturwix mit Magdalena Fricke erschienen ist (in: letarischer Lebenserinnerungen. Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der Erotik XIX. Tüb. 2004, S. 272–283). In sol- Getreu zeichnet H.s Lebensgang eines deutschchen, meist aus atemlosen Aufzählungen u. tschechischen Handarbeiters (Jena 1909) die Stagewählten Wortkaskaden bestehenden Text- gnationsphasen u. Sprünge in seiner Entgeweben entsteht bei H. ein eigentüml. Witz, wicklung nach. Dem Wanderarbeitersohn der es im »Wechselspiel des Akzidentiellen war eine ordentl. Ausbildung versagt. Als und Kontingenten« unternimmt, »auch das Bettelmusikant, dann mit Fabrikarbeit u. im Inkommensurable ins gleiche Geschirr zu Kohlentagebau hatte er früh die Familie spannen« (Lutz Hagestedt, SZ, 30.9.2000). mitzuversorgen. In einer Glasfabrik in Aussig H. beruft sich in seinem poetolog. Beitrag wird H. mit der Arbeiterbewegung bekannt, »Dichterpriester-Humor und Hordenclown- er tritt der SPD bei, bemüht sich eifrig um Mystik« (Peter Handke. Hg. Heinz Ludwig Weiterbildung u. wird Delegierter. H. findet Arnold. Mchn. 61999, S. 110–123) explizit auf bald keine Arbeit mehr u. hält sich über Arno Schmidts Selbststilisierung als »Hor- Wasser durch Tätigkeiten als Redakteur, denclown«, einen Gegenentwurf zum über- Kaufmann, dann Verkäufer eines Konsumkommenen schriftstellerischen Selbstver- vereins, dessen Zahlungsprobleme ihm zur ständnis als »Dichterpriester«. Gegen den Last gelegt werden (Folge: Parteiausschluss). »Mainstream SPD- und CDU-kompatibler H. gerät in immer größere Not, bis er 1904 in Normalprosa« rückt sich H. hier in die Nähe Dresden in den Werkstätten für HandwerksEckhard Henscheids, dessen »unnachahmlich kunst eine adäquatere Stellung findet. Göhre als Herausgeber präsentierte H.s nuancen- und farbenreicher Wortschatz sich in Regionen« bewege, »wo nur noch so [...] an- Autobiografie, wie vorher schon die Fischers merkungsbedürftige Dauersonnen wie James u. Brommes, als Dokument zum Kennenlernen der Arbeiterschicht, zgl. als Warnung vor Joyce, Arno Schmidt, Jean Paul rotieren«. 2002 erschien Januskopfweh (Bln.), eine der SPD, die H. »alles Höchste im Leben gab« Sammlung von »Glossen, Quickies und Gro- u. »alles Notwendige raubte«. Der düstere, tesken«. Auch hier präsentiert sich H. als Verelendung u. Ausbeutung bildkräftig vor »Anthroposoph unter den Kolumnisten, der Augen führende Erfahrungsbericht eines orZen-Buddhist unter den aufgeregten Satiri- ganisierten, klassenbewussten Arbeiters kern, der gewaltlose Konfuzius unter den machte in der Fortsetzung Vom Handarbeiter bewaffneten Jägern und Sammlern« (Martin zum Jugenderzieher (Hg. Theodor Greyerz. Jena 1921) einer Geschichte individuellen Erfolgs Halter, FAZ, 9.3.2004). H. erhielt 1986 den Ernst-Robert-Curtius- – 1912 wurde H. Jugenderzieher in Leipzig, Förderpreis für Essayistik, 1992 ein Arno- 1916 in Berlin – durch Teilhabe an bürgerl. Schmidt-Stipendium u. den Ernst-Willner- Bildung Platz. Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Literatur: Ursula Münchow: Frühe dt. Arbeiin Klagenfurt, 1993 den Hugo-Ball-Preis u. terbiogr. Bln./DDR 1973. – Georg Bollenbeck: Zur 1994 das Märkische Stipendium für Literatur. Theorie u. Gesch. der frühen ArbeiterlebenserinWeitere Werke: Samthase u. Odradek. Ffm. 1990. – Der belauschte Lärm. Ffm. 1991. – Ozeanische Sekunde. Ffm. 1993. – Warum zeugst Du
nerungen. Kronberg/Taunus 1976. – Rolf Lindner: Einl. zu: W. H. Meine Erfahrungen in Berlin-Ost. Köln. u. a. 1998. Arno Matschiner / Red.
Holgersen
Holgersen, Alma, geb. Ptaczek, * 27.4. 1896 Innsbruck, † 18.2.1976 Innsbruck. – Dramatikerin, Lyrikerin, Roman- u. Jugendbuchautorin.
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moralischem Ethos. Im Roman Die Reichen hungern (Wien/Bln./Stgt. 1955) beschreibt H. das Leben in der modernen Zivilisation als sittlich-moralischen Verfall. Für ihre zahlreichen Berg-, Abenteuer- u. religiösen Kinderu. Jugendbücher – eine Sparte, der H. sich im Alter verstärkt zuwandte – erhielt sie 1961 den Österreichischen Staatspreis für Kinderbücher. Viele ihrer Werke wurden in andere Sprachen übersetzt.
Mütterlicherseits aus einem alten Bauerngeschlecht abstammend, verbrachte H. ihre Kindheit in Wien, wo der Vater hoher Beamter im k. k. Staatsdienst war. H. studierte an der Musikakademie u. war preisgekrönte Skifahrerin. Als freie Schriftstellerin lebte sie Weitere Werke: Fahrt in den Schnee. Paderb. abwechselnd in Wien u. Tirol. 1943 (R.). – Franziskus. Wien 1951 (R.). – Das H.s Werk bewegt sich thematisch zwischen Mädchen v. Lourdes. Wien/Mchn. 1958 (E.). – PieGroßstadt- u. Gebirgsmilieu u. strebt eine li- tro schreibt dem lieben Gott. Wien/Mchn. 1959 terar. Synthese von Natur, sozialem Engage- (Kinderbuch). – Abenteuer in den Bergen. Wien/ ment für den unverbildeten Bauernstand u. Mchn./Zürich 1972 (R.). einer tiefen Religiosität an. Ihr Werk ist geLiteratur: Norbert Langer: Dichter aus Österr. prägt von der Suche nach dem einfachen Le- Wien/Mchn. 1957. – Franz Xaver Hollnsteiner: ben jenseits der zivilisator. Schädigungen. Einl. in: A. H.: Ein Reh zu Gast. Graz/Wien/Köln Mit dieser zunehmend fragwürdig geworde- 1965. Christine Schmidjell nen Traditions- u. Heimatverbundenheit als Gegengewicht zur Entwurzelung des verstädterten Menschen (Großstadtlegende. Wien Holitscher, Arthur, * 22.8.1869 Budapest, 1946) gliedert sich H. in die restaurativ-kon- † 14.10.1941 Genf. – Reiseschriftsteller, servative Traditionslinie der österr. Literatur Essayist, Romancier, Novellist, Dramatinach 1945 ein. H., die nach ersten dramat. ker, Autor zweier Autobiografien. Erfolgen (Die verschlossenen Herzen. 1936; aus- H. entstammte einer Budapester großbürgezeichnet mit dem Julius-Reich-Preis u. gerlichen jüd. Kaufmannsfamilie. Nach dem 1937 mit dem Dramatikerpreis der Stadt Abitur wurde er auf Wunsch der Familie für Wien) auch in der NS-Zeit mit dem religiös- sechs Jahre Bankangestellter in Budapest, histor. Roman Kinderkreuzzug (Wien 1940) u. Fiume u. Wien. Unter dem Eindruck der mit moralischen Erzählungen für die Jugend Lektüre Hamsuns sowie der literar. u. per(Die Reise zur Urgroßmutter. Bln. 1943) an die sönl. Bekanntschaft mit Pariser Anarchisten Öffentlichkeit trat, gehört zu jenen Autoren, folgte er seinen schriftstellerischen Neigundie, sich dem »inneren Widerstand« zuzäh- gen u. ging 1895 als freier Autor nach Paris. lend, nach 1945 ihre polit. Unbedenklichkeit Dort lernte er Albert Langen kennen, der H.s glaubhaft machen konnten. 1949, nach Er- ersten Roman Weiße Liebe, ein Roman aus dem scheinen ihres Lyrikbands Sursum corda (Wien) Quartier Latin (Mchn. 1896) verlegte u. dessen mit sinnbildl. Landschafts- u. Stimmungsge- Redakteur für den »Simplicissimus« er 1897 dichten, erhielt sie den Preis der Stadt Wien. in München wurde. H.s erste Bauernerzählung Der Aufstand der Nach Jahren eines unsteten Reiselebens Kinder (Lpz. 1935) leitet eine Serie von Werken zwischen Paris, Budapest, Brüssel, Rom u. über religiös-myth. Kinderschicksale ein. Neapel, v. a. aber München, seinem HauptHauptthema ihrer Romane sind die Lebens- wohnsitz von 1900 bis 1905, übersiedelte er geschichten von Menschen, die trotz aller 1907 nach Berlin, wo er Lektor von Cassirer Verflechtungen (NS-Zeit, Liebesabenteuer) wurde. Bereits in Paris u. München hatte H. die rechte Schicksals- u. Gottgläubigkeit er- versucht, das Gefühl sozialer Wurzellosiglangen (Es brausen die Wälder. Innsbr./Wien keit, das er als deutschstämmiger ungarischer 1956). Das Buch von Fatima (Innsbr./Wien/ Jude empfand, durch überschwengl. ZuwenMchn. 1954) u. Das Buch von La Salette (ebd. dung zur Boheme loszuwerden. Er hatte sich 1956) sind Kinderbiografien mit christlich- mit Wassermann u. Wedekind angefreundet,
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mit Thomas Mann Bekanntschaft geschlossen u. mit Dauthendey Pläne für eine insulare lebensreformerische Künstlerkolonie entworfen. In Berlin trat neben die Boheme der Literatur die des Theaters, v. a. um Max Reinhardt. In seinem ersten Drama Golem (Bln. 1908), 1920 von Paul Wegener für seinen gleichnamigen Film referenzlos ausgebeutet, gestaltete H. das Schicksal des Monsters als Beispiel für soziales Ausgeschlossensein. »Ein Denker, der nicht denken gelernt hat«, folgte er in den folgenden Jahrzehnten den philosophischen u. polit. Impulsen, von denen er sich eine antibürgerl. Erneuerung des Lebens versprach. Als Reiseschriftsteller sah er zunächst die USA – er bereiste sie im Auftrag Samuel Fischers, an den ihn seit 1907 ein über 25 Jahre währender Dauerkontrakt band – mit der Sehnsucht Walt Whitmans nach Brüderlichkeit (Amerika heute und morgen. Bln. 1912). Kafka entlehnte daraus manche Einzelheiten seines Amerika-Romans. Der Mitarbeiter von Pfemferts »Aktion«, Teilnehmer der Zweiten Internationale in Stockholm u. der Beratungen des pazifistischen Bunds »Neues Vaterland« nahm zuerst eine religiös-anarchistische, später eine sozialistische Haltung ein, so dass er 1918 Beauftragter des Arbeiter- u. Soldatenrats, Mitgl. des »Rats geistiger Arbeiter« u. 1919 Mitgründer des »Bunds für proletarische Kultur« u. des »Proletarischen Theaters« wurde. Seinem stets mit Misstrauen aufgenommenen Wunsch, bei den Arbeiterparteien heimisch zu werden, entsprach seine erste Reise (insg. fünf) in die Sowjetunion 1920, während der er Anatolij Lunatscharskij u. Karl Radek interviewte (Drei Monate in Sowjetrußland. Bln. 1921). Im folgenden Jahr begeisterte sich der Kritiker des bürokratischen Zentralismus der UdSSR für den utop. Sozialismus der Chaluzim (Reise durch das jüdische Palästina. Bln. 1922). 1925/26 bereiste H. Indien, China u. Japan u. führte Gespräche mit Gandhi u. den Führern der Chinesischen Revolution; er war bei seiner Russlandreise einer der ersten europ. Intellektuellen mit dem Anspruch auf authent. Augenzeugenschaft (Das unruhige Asien.
Holitscher
Bln. 1926). Seine Reise zu den Kriegsschauplätzen des Ersten Weltkriegs nahm er zum Anlass, vor einem zweiten Weltkrieg zu warnen (Der Narrenbaedeker. Illustriert von Frans Masereel. Bln. 1925. U. d. T. Der Narrenführer. Bln. 21986). Ähnlich hellsichtig war 1931 seine Warnung vor der »Verbrecherherrschaft, von deren Ausmaß heute noch kein Begriff besteht« (Ein Mensch ganz frei. Bln.). 1933 wurden seine Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt. Nach einem Selbstmordversuch in Paris nahm H. seinen Wohnsitz in Ascona. Ab 1939 lebte er völlig verarmt, verlassen u. fast erblindet in einem Quartier der Heilsarmee in Genf, wo Musil 1941 die Grabrede auf ihn hielt. H. war neben Kisch u. Paquet einer der produktivsten Reiseschriftsteller des Jahrhunderts. Seine gesellschaftskrit. Reportagen sind von einer messianisch-utop. Grundströmung getragen, die er nach seinem Austritt aus der Jüdischen Gemeinde im Sinn der Liebesgemeinschaft des Urchristentums artikulierte. In seinen über 30 Büchern hat er seine polit. Überzeugungen meist ebenso unselbstständig wie vorläufig formuliert, seine moralischen Impulse dagegen so empfindungsstark u. individuell wie integer. Der Stoff seiner kaleidoskopartig zusammengesetzten, vorwiegend impressionistischen Reiseschilderungen ist das Leben der Unterprivilegierten. Neben der NS-Herrschaft hat seine nur sporad. polit. Parteigängerschaft dazu beigetragen, sein Werk vergessen zu machen. Weitere Werke: Charles Baudelaire. Bln. 1905 (Ess.). – Leben mit Menschen. Bln. 1906 (Ess.). – Worauf wartest du? Bln. 1910 (R.). – Das amerikan. Gesicht. Bln. 1916. – Bruder Wurm. Ein Bekenntnisbuch. Bln. 1918. – Adela Bourkes Begegnung. Bln. 1920 (R.). – Gesang an Palästina (zus. mit Hermann Struck). Bln. 1923. – Frans Masereel (zus. mit Stefan Zweig). Bln. 1923. – Das Theater des revolutionären Rußland. Bln. 1924. – Lebensgesch. eines Rebellen. Bln. 1924. – Ravachol u. die Pariser Anarchisten. Bln. 1925. – Es geschieht in Berlin. Bln. 1931 (R.). – Reisen. Ausgew. Reportagen u. autobiogr. Ber.e. Hg. Frank Beer. Bln. 1973. – Ansichten. Essays, Aufsätze, Notizen, Reportagen 1904–38. Hg. ders. Bln. 1979. Literatur: Marianne Bruchmann: A. H. Ein Dichter zwischen Lit. u. Politik. Diss. Graz 1972. –
Holl Heribert Seifert: Objektiv u. gläubig. Einige Hinweise zu Leben u. Werk A. H.s. In: Jüd. Intelligenz in Dtschld. Hg. Jost Hermand u. Gert Mattenklott. Hbg. 1988. – LöE. – Manfred Chobot: A. H. In: LuK 39 (2004), H. 389/390, S. 99–110. – R. Seth C. Knox: Weimar Germany between two worlds. New York u. a. 2006. – Andreas Herzog: ›Writing culture‹. Poetik u. Politik. A. H.s ›Das unruhige Asien‹. In: KulturPoetik 6 (2006), S. 20–36. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Gert Mattenklott / Red.
Holl, Elias, * 28.2.1573 Augsburg, † 6.1. 1646 Augsburg. – Stadtwerkmeister, Verfasser von Architekturtraktaten u. einer Lebens- u. Werkbeschreibung. H. entstammte einer alten Augsburger Maurerfamilie. Schon sein Vater Hans Holl war neben dem Bau von Augsburger Bürgerhäusern, Kirchenbauten u. Schlössern für die patriz. Oberschicht der Stadt ebenso wie für benachbarte Fürstbischöfe tätig. Insbesondere die Familie Fugger beschäftigte H.s Vater u. als dessen Lehrling u. Gesellen auch den jungen E. H. Seit seinem 13. Lebensjahr wurde er als Bauhandwerker durch seinen Vater im Maurerhandwerk ausgebildet. Ein Angebot Jakob Fuggers an den Vater Holl, E. mit seinem Sohn auf Grand Tour nach Italien zu schicken, widerstand der Vater aus moralischen Gründen. Auch nach dessen Tod 1594 wurde H. durch die Fugger u. weitere Auftraggeber aus der städtisch-patriz. Oberschicht beschäftigt, da er durch die Augsburger Zunftmeister wegen noch nicht abgelegter Meisterprüfung an Tätigkeiten in Augsburg gehindert wurde. Nach Heirat (1595) und »Meister-Stuck« (1596) begleitete H. einen seiner Auftraggeber, den Kaufmann Anton Garb, zwei Monate nach Oberitalien u. Venedig (1600/1601), um die Stadt u. ihre Sehenswürdigkeiten, in erster Linie aber die Architektur Andrea Palladios u. Jacopo Sansovinos zu studieren. Später führte er in seiner Chronik aus, dass gerade diese Reise ihn zusätzlich für das Amt des Stadtwerkmeisters qualifiziert habe, das er seit 1602 in seiner Heimatstadt neben dem des Stadtgeometers bis 1631 bzw. 1635 versah. Er prägte die urbanist. Umgestaltung Augsburgs in den ersten Dekaden des 17. Jh.
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H.s Tätigkeit u. Werdegang sind uns nicht nur durch zahlreiche Schriftstücke, sondern auch durch eine von H. selbst verfasste Lebens- u. Werkbeschreibung, die sog. Hauschronik überliefert. Darüber hinaus ist von ihm ein nicht gedruckter Traktat der »Meßkunst- und Baumaterialienlehre« erhalten, welcher ihn zwar als Kenner zeitgenöss. Traktate – wie des von Sebastiano Serlio – ausweist, jedoch nicht als Theoretiker. Er ist eher als praxisnaher Kopf zu charakterisieren, der aber nicht nur in der Lage war, die mehr als 100 größeren u. kleineren Baumaßnahmen seines Lebenswerks zu koordinieren, sondern auch der »Mammutbehörde« des Baumeisteramtes vorzustehen, das neben den Bauaufgaben mit bis zu 550 allein an den Bauten Beschäftigten die Verteidigung der Stadt, ihre Reinigung, die Besoldung der Stadtbediensteten u. auch Funktionen eines Bankinstituts wahrnahm. H. zählt zu den theoretisch gebildeten Stadtwerkmeistern des 16. und 17. Jh., die durch Abhandlungen, Reisen, bauorganisatorisches u. prakt. Wissen versuchten, in den Städten in gehobene, Theorie, Leitung u. Praxis vereinigende Positionen vorzustoßen. Diesem Aufstieg des Stadtwerkmeisters aus dem Bereich der Handwerkerebene entsprach auch H.s Gehalt, das etwa dem vierfachen Jahreseinkommen eines Maurermeisters entsprach. Dennoch ist wohl – trotz all seiner Kenntnisse – als spiritus rector der urbanist. Umgestaltung Augsburgs ebenso wie des ikonografischen Programms v. a. in seinem Hauptwerk, dem Bau des Augsburger Rathauses 1615–1620, der Stadtpfleger u. einer der beiden Vorgesetzten H.s, der patriz. Baumeister Marx Welser zu sehen. Welser, ein Humanist, Kaufmann, Verleger, Historiker u. Philologe, verfügte denn auch über eine entsprechende Bibliothek; er gab in seinem Verlag u. a. Bernardino Baldis Reallexikon zu Vitruvs Lehrgebäude De verborum Vitruvianum significatione (Augsb. 1612) heraus. Infolge des Restitutionsedikts wurde H. wegen seines luth. Glaubens in allen Ehren 1631 entlassen; seine Wiedereinstellung während der schwed. Besatzung 1632–35 endete mit der erneuten kaiserl. Devotion. In seinem letzten Lebensjahrzehnt war er mit der Ab-
Hollander
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fassung seines Traktats u. der Hauschronik befasst, in der bezeichnenderweise die Venedigreise nur kurz gestreift wird, während ingenieurmäßig-techn. Gerüste u. Geräte breiten Raum einnehmen. H.s Karriereende trug mit zu seinem Mythos bei. Insbesondere seit dem 19. Jh. wurde er in die Reihe der panegyrisch überhöhten dt. Werkmeister der Renaissance eingereiht. Holl-Theaterstücke, Gedichte u. Romane entstanden, die ihn neben Dürer zum baukünstlerischen Genie der dt. Renaissance stilisierten. Werke: E. H. Die Selbstbiographie. Augsb. 1873. Literatur: Die Hauschronik der Familie H. (1487–1646), insbes. Die Lebensbeschreibung des E. H., Baumeisters der Stadt Augsburg. Hg. Christian Meyer. Mchn. 1910. (Neuausg. geplant). – Eckhard v. Knorre: Handwerker – Genie – Märtyrer? E. H. im Urteil seiner Biographen u. Interpreten. In: Ztschr. des Histor. Vereins für Schwaben 68 (1974), S. 130–162. – Renate v. Walter: Das Augsburger Rathaus. Architektur u. Bildgehalt. Augsb. 1972. 22001. – E. H. u. das Augsburger Rathaus. Hg. Wolfram Baer, Hanno-Walter Kruft u. Bernd Roeck. Regensb. 1985. – H.-W. Kruft u. Andres René Lepik: Das Geometrie- u. Messbuch v. E. H. In: Architectura 1985, S. 1–12. – B. Roeck: E. H. Architekt einer europ. Stadt. Regensb. 1985. – Arnold Bartetzky: Die Baumeister der Renaissance – ein Mythos der Kunstgeschichte? Beucha 2004. – B. Roeck: E. H. Ein Architekt der Renaissance. Regensb. 2004. – Romane über H.:Hans Franck: Die Stadt des E. H. Hann. 1938. Bln. 21941. – Paul Johannes Arnold: E. H. Der Lebensroman des großen dt. Baumeisters der Renaissance. Hbg. 1948. Eva-Maria Seng
Hollaender, Felix, * 1.11.1867 Leobschütz/Oberschlesien, † 29.5.1931 Berlin. – Romancier, Dramatiker, Kritiker; Dramaturg u. Intendant. H., Sohn einer Familie des jüd. Bürgertums, wuchs in Berlin auf. Er hatte früh mit der naturalistischen Bewegung Kontakt; sein erster Roman Jesus und Judas (Bln. 1891) kreist um die soziale Frage u. greift, wie viele seiner späteren Arbeiten, ein Thema der aktuellen Diskussion auf. 1902–1913 arbeitete H., der auch einzelne Dramen verfasste (Die heilige Ehe. Zus. mit Hans Land. Bln. 1893), als Dramaturg bei Max Reinhardt u. leitete nach
kurzer Intendanz am Schauspielhaus Frankfurt/M. 1920–1924 das Große Schauspielhaus in Berlin. H.s Stärke lag in der geschickten Aufnahme u. Verarbeitung der Zeitfragen. Sein Nachlass befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Weitere Werke: Ges. Werke (mit Nachw. v. Willi Flemming). 6 Bde., Rostock 1926. – Einzeltitel: Erlösung. Bln. 1899 (R.). – Ackermann (zus. mit Lothar Schmidt). Bln. 1903 (D.). – Der Baumeister. Bln. 1904 (R.). – Die Witwe. Bln. 1908 (E.en). – Unser Haus. Bln. 1911 (autobiogr. R.). – Die Kastellanin. Bln. 1919 (R.). – Der Demütige u. die Sängerin. Bln. 1925 (R.). – Das Erwachen des Donald Westhof. Bln. 1927 (R.). – Das Schiff der Abenteuer. Bln. 1929 (R.). – Ein Mensch geht seinen Weg. Bln. 1931 (R.). – Lebendiges Theater. Eine Berliner Dramaturgie. Bln. 1932. Literatur: Rudolf Novak: Das epische Werk F. H.s. Diss. Wien 1970. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Stephan Speicher / Red.
Hollander, Walther (Georg Heinrich) von, * 29.1.1892 Blankenburg/Harz, † 30.9. 1973 Ratzeburg. – Erzähler, Sachbuch- u. Drehbuchautor. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie u. Nationalökonomie in Berlin, Heidelberg, Jena u. München, wo er 1914 zum Dr. phil. promovierte (Das Verhältnis des jüngeren Wieland zu Klopstock), nahm der Pastorensohn am Ersten Weltkrieg teil. 1918–1920 lebte H. in München als Schauspieler, Verlagslektor u. Theaterkritiker, 1922–1924 als Buchhändler in Berlin, bevor er freier Schriftsteller wurde. In seinen Romanen mit zeitgeschichtl. Bezügen von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart stellte H. Menschen vor individuell zu bewältigende Bewährungsproben. Er bearbeitete gesellschaftskrit. Themen wie das Emigrantenschicksal (Der Eine und der Andere. Bln. 1925), Zwischenkriegszeit u. Inflation (Das fiebernde Haus. Bln. 1926), Großstadtprobleme (Zehn Jahre, zehn Tage. Bln. 1930), das Krisenjahr 1929, in dem er den Aufstieg der Nationalsozialisten kritisch kommentierte (Schattenfänger. Stgt. 1932), oder die Tage des Zusammenbruchs u. ihre Überwindung (Es wächst schon Gras darüber. Hbg. 1947). Ab 1933 verfasste H. vorwiegend
Hollonius
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Liebes- u. Schicksalsromane nach dem Muster von Lebenserfüllung oder Einsicht in ein höheres Geschick. Auch die während der NSZeit u. danach entstandenen zahlreichen Filmdrehbücher schrieb er mit der Absicht, zu unterhalten (z.B. Favorit der Kaiserin. 1933. Gauner im Frack. 1935. Mädchen im Vorzimmer. 1940. Liebe kann wie Gift sein. 1958). H. verband seine literar. Bedeutung mit seinem Erzählwerk, das bes. vom weibl. Publikum rezipiert wurde. Bekannt wurde er jedoch mit Ratgebern zu Problemen des Ehealltags u. zum Altern. Diese von einem humanistischen Grundton bestimmten Schriften wurden wiederholt aufgelegt u. z.T. in mehrere Sprachen übersetzt (Der Mensch über vierzig. Bln. 1938. Ffm. 1993). Weitere Werke: Gegen Morgen. Bln. 1924 (R.). – Alle Straßen fuhren nach Haus. Bln. 1933 (R.). – Der Gott zwischen den Schlachten. Bln. 1942 (R.). – Fibel für Erwachsene. Hbg. 1945 (Aufsätze). – Moderne Eheprobleme. Flensburg 1951. – Der Mensch neben dir. Gütersloh 1960. – Psychologie des Ehemanns. Stgt./Zürich 1961. – Psychologie der Ehefrau. Stgt./Zürich 1961. – Perlhuhnfedern. Hbg. 1966 (E.). Literatur: Werner Kayser: W. v. H. Eingel. v. Günter Schab. Hbg. 1971. – Monika Melchert: Mann u. Frau nach dem Krieg. Wie die Heimkehr der Männer die Geschlechterverhältnisse veränderte. In: Ursula Heukenkamp (Hg.): Schuld u. Sühne? Amsterd. 2001, S. 275–281. Wolfgang Weismantel / Red.
Hollonius, Ludovicus, eigentl.: Ludwig Holle, * um 1570 Raum Höxter oder Holle bei Hildesheim, † 1621 Pölitz. – Lutherischer Pfarrer, Dramatiker u. Lyriker. Nach der Ausbildung zum luth. Pastor an der Universität Rostock (ab Okt. 1590) – zu seinen Lehrern zählte David Chytraeus – war H. bis zu seinem Tod Pfarrer im Umkreis von Stettin, v. a. in Pölitz. In diesem Amt verfasste er u. a. Zwo christliche Predigten, aus dem XII. Capittel Lucae, vom reichen Menschen, dem die Scheune zu klein wird, und nur fressen und sauffen wil, aber des Nachts plötzlich stirbt (Alten Stettin 1607). 1612 wurde er zum Dichter gekrönt. Einen Platz in der Literaturgeschichte verdankt H. allein der Komödie Somnium vitae humanae (Alten Stettin 1605). Zum ersten Mal
in Deutschland wird darin von einem betrunkenen Bauern berichtet, der schlafend in ein Schloss gebracht, beim Erwachen als Prinz behandelt u. einen Tag lang gefeiert wird, um nach einem rauschenden Fest wieder besinnungslos in der Gosse zu landen. Im Rückblick deutet er sein Erlebnis als Traum: »Ein traum ist nur diß zeitlich lebn«. Oft als Vorahnung des barocken Empfindens interpretiert, versucht das Werk vielmehr, soziale Missstände in Pommern zu kritisieren. Es kann auch vor dem Hintergrund von Konventionen des höf. Festes (Königreichsspiel) gedeutet werden. Zu Recht blieben die Carminum libri IV priores (Stettin 1610 u. 1616) weitgehend unbekannt. Die biederen lat. Epigramme u. Gelegenheitsgedichte sind freilich gelegentlich im autobiogr. (Symbolum meum), zeit- u. geistesgeschichtl. (De armis Ducatus Stetinensis, De brevitate vitae et vanitate humani generis) Kontext aufschlussreich. Wie im apologetischen Vorwort zum Drama setzt sich H. in der Lyrik amtsgemäß mahnend mit seiner endzeitlich anmutenden Umwelt auseinander. Weitere Werke: Carmen heroicum, de veteris Saxoniae provincia amplissima, et celeberrima, quae Westphalia hodie nominatur. Rostock 1592. – Freimut, d. i. vom verlornen Sohn [...]. Eine newe Comoedia. Alten Stettin 1603. Ausgaben: Somnium vitae humanae, das ist: Ein newes Spiel [...]. Alten Stettin 1605. Internet-Ed.: HAB. – Somnium vitae humanae. Drama. 1605. Hg. Franz Spengler. Halle/Saale 1891. – Somnium vitae humanae. Drama. Text u. Materialien zur Interpr. Hg. Dorothea Glodny-Wiercinsky. Bln. 1970. – Somnium vitae humanae. In: Dt. Dramen v. Hans Sachs bis Arthur Schnitzler. Hg. Markus Finkbeiner. Ffm. 2005 (CD-ROM). Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Wilhelm Scherer. L. H. In: ADB. – Die evang. Geistlichen Pommerns v. der Reformation bis zur Gegenwart. Bearb. Hans Moderow. Tl. 1: Der Regierungsbezirk Stettin. Stettin 1903, S. 174, 524. – Richard E. Schade: Lutheran apologists for drama. In: MLN 92 (1977), S. 583–594. – John Parente: Baroque comedy and the stability of the state. In: GQ 56 (1983), S. 419–430. – R. E. Schade: Anmerkungen zum Leben L. H.’ In: WBN 10 (1983), S. 479–482. – Ders.: The King-For-A-Day theme. In: Daphnis 17 (1988), S. 37–54. – Ders.: Studies in early German comedy. Columbia, SC
Holstenius
561 1988, S. 149–170. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 898 f. Richard Erich Schade / Red.
Holmsten, Georg, auch: Peter Holm, Michael Ravensberg, * 4.8.1913 Riga/Lettland. – Romancier u. Sachbuchautor. H. kam 1922 nach Berlin u. begann 1934 ein Geschichtsstudium, das er aus polit. Gründen aufgeben musste. Bis 1946 Nachrichtenjournalist, war er danach als freier Schriftsteller tätig. Eine Vorliebe für histor. Stoffe, für Anekdoten u. außergewöhnl. authent. Details sowie eine flüssige, lebendige Darstellung machen H. zu einem gern gelesenen Romanschriftsteller (u. a. Ludwig XIV.Bln./Düsseld. 1952), Chronisten (u. a. Die Berlin-Chronik, Geschichtskalendarium. Düsseld. 1984. 31990) u. Biografen (u. a. Voltaire in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinb. 1971. 131999). Zahlreiche histor. Sachbücher u. Stadtführer weisen H. als hervorragenden Kenner der europ. Geistesgeschichte u. insbes. der Stadt Berlin aus, der in der Lage ist, bestens zu unterhalten u. zu informieren, indem er genau u. einfühlsam, heiter u. milde urteilend histor. Gestalten u. Orte den Lesern nahebringt. Weitere Werke: Berliner Miniaturen. Bln. 1946. 1985. – Der Brückenkopf. Bln. 1948 (Bez.). – Lucrezia Borgia. Bln./Düsseld. 1951 (Histor. R.). – Rembrandt. Bln./Düsseld. 1952 (Histor. R.). – Friedrich II. in Selbstzeugnissen u Bilddokumenten. Reinb. 1969. 122000. – Potsdam, Gesch. der Stadt, der Bürger u. Regenten. Bln. 1971. 51990. – Rousseau in Selbstzeugnissen u Bilddokumenten. Reinb. 1972. 151997. – Brandenburg. Gesch. der Mark, ihrer Städte u. Regenten. Bln. 1973. 21991. – Frhr. vom Stein in Selbstzeugnissen u Bilddokumenten. Reinb. 1975. – Baedeker Stadtführer v. Berlin-Wilmersdorf, Wedding, Tempelhof, Kreuzberg, Steglitz u. Charlottenburg. Freib. i. Br. 1975–80. – Dtschld. Juli 1944. Düsseld. 1982 (Ber.). – Kriegsalltag 1939–45. Düsseld. 1982. 1989 (Ber.). – Als keiner wußte, ob er überlebt. Zwischen den Sommern 1944/45. Düsseld. 1995. Dorothea Bolte / Red.
Holstenius, Lucas, * 17./27.09.1596 Hamburg, † 2.2.1661 Rom. – Philologe, Altertumswissenschaftler, Bibliothekar. Am 26.5.1616 nahm H. im niederländ. Leiden das Studium der Literatur auf. Angeregt
u. gefördert durch den Philologen Daniel Heinsius bildete er rasch einen Schwerpunkt im Bereich der platonischen Philosophie u. ihrer Wirkung. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit der Geografie des Altertums, einem Wissenszweig, der damals insbesondere durch Philipp Cluver (1580–1622) in der ehrwürdigen Universität repräsentiert wurde. Mit Cluver unternahm H. vom Jahreswechsel 1617/18 bis Ende Sept. 1618 entsprechende Feldforschungen, die ihn durch ganz Italien, bis nach Sizilien u. möglicherweise auch nach Sardinien u. Korsika geführt haben. Es ist anzunehmen, dass H. zumindest an der Materialsammlung für Cluvers Kompendien Sicilia antiqua (1619) u. Italia antiqua (1624 von D. Heinsius herausgegeben) beteiligt war. 1622 u. 1623 sichtete H. in der Bodleian Library in Oxford Manuskripte mit Beziehung auf die Geografie der alten Welt u. die antike Astronomie. Seit Sommer 1625 war er in Paris als Bibliothekar im Hause des Parlamentspräsidenten Henri de Mesmes tätig u. erweiterte seine Kenntnis einschlägiger Handschriften in der Bibliothèque royale insbes. im Blick auf die neuplaton. Tradition (Proklos, Hermeias, Olympiodor etc.). Nach dem Vorbild von Justus Lipsius’ erschöpfender Darstellung der stoischen Philosophie hatte H. damals die Absicht, die Geschichte des Platonismus u. seiner Wirkung unter Einschluss der frühchristl. Tradition aufzuarbeiten. Als Teilnehmer des gelehrten Zirkels der Brüder Jacques u. Pierre Dupuy (der sog. Académie Putéane) machte er Bekanntschaft mit dem röm. Gelehrten Girolamo Aleandro d.J. (1574–1629), der sich im Rahmen diplomatischer Verhandlungen des jungen Kardinals u. Papstneffen Francesco Barberini in Paris aufhielt. Nach Übertritt zum kath. Glauben u. durch Vermittlung des in Aix-en-Provence lebenden Altertumswissenschaftlers Nicolas Claude Fabri de Peiresc wurde H. mit der Verwaltung der Bibliothek des Kardinals betraut u. traf am 28.7.1628 in Rom ein. Abgesehen von einigen diplomatischen Missionen, die ihn im Auftrag Barberinis u. a. nach Warschau, Innsbruck (Konversion der Königin Christina von Schweden) u. zusammen mit Athanasius Kircher nach Malta (Konversion des Landgrafen Friedrich
Holstenius
von Hessen-Darmstadt) führten, wirkte er bis zu seinem Lebensende in Rom. Bald wurde er zum päpstl. Konsistorialsekretär u. Apostolischen Protonotar ernannt. 1643 übertrug ihm der Papst ein Kanonikat an San Pietro in Vaticano. Am 2.9.1653 erfolgte die Ernennung zum Kustos (Leiter) der Vatikanischen Bibliothek. Das von seinem Dienstherrn Barberini gestiftete Kenotaph befindet sich in S. Maria dell’Anima, der Kirche der Deutschen in Rom. H. entfaltete in Rom sehr rasch eine bemerkenswert reiche Wirksamkeit, die durch die Bekanntschaft mit Mitgliedern der »famiglia« Barberinis, wie Aleandro oder Aubri du Mesnil, ebenso wie durch den gelehrten Austausch mit Persönlichkeiten wie dem Altertumswissenschaftler Claude Ménestrier, dem Kunstsammler Cassiano Dal Pozzo, dem Musikwissenschaftler Giovanni Battista Doni u. möglicherweise auch dem Maler Nicolas Poussin gefördert wurde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er durch Aleandro in den Kreis der Accademia degli Humoristi eingeführt, der damals führenden, von Paolo Mancini 1603 gegründeten u. von namhaften Kardinälen protegierten Pflanzstätte des intellektuellen u. gesellschaftl. Lebens Roms. Unter den Akten der Akademie (Festvorträgen mit üblicherweise stark marinistischer Tendenz) haben sich drei Reden von H. erhalten: Die wichtigste ist die Dissertatio Academica de Poëtica et triplici eius genere secundum Platonem vom 21.10.1629, bei der es sich im Wesentlichen um eine Paraphrase des entsprechenden Abschnitts von Proklos’ Kommentar zu Platons Politeia handelt. Daneben sind die Laudatio Boreae (ein Lobpreis des Boreas-Windes) u. eine bibliothekstechn. Abhandlung (De selectioribus compositionibus Academicis asservandis ac publicandis Dissertatio) zu nennen. Eine bes. Rolle kam H. im Vorfeld der zweiten Verurteilung des Astronomen Galileo Galilei zu. H. hatte wiederholt Gutachten über Werke verfasst, die der päpstl. Zensurbehörde (der sog. Index-Kongregation) zur Beurteilung vorlagen. Sehr oft vermochte es seine kluge Argumentation, die Freiheit des Denkens vor der anmaßenden Beschränktheit der Behörde zu sichern. Seit seinen frühesten
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Studien in Leiden u. Oxford besaß H. eine ausgezeichnete Kenntnis der alten Astronomie. So lag es nahe, dass ihn F. Barberini, der ebenso wie Papst Urban VIII. Galilei so lange wie möglich protegierte, um eine Stellungnahme zu Galileis neuer Weltsicht bat. Unter dem Titel De systemate mundi Copernici & Lanspergij sammelte H. Zeugnisse, die belegten, dass der Heliozentrismus keine frivole Neuerung (im Sinne des »libertinage érudit«) darstellte, sondern vielmehr seit der Antike von eminenten Wissenschaftlern immer wieder in Betracht gezogen worden war. Auch wenn Galilei in dem höchst komplexen Konflikt 1633 schließlich nicht obsiegte, dokumentiert H.’ Skizze mit Nachdruck die Bemühungen, die man im Umkreis der Papstfamilie zur ›Rettung‹ des Florentiner Astronomen unternommen hatte. H.’ Editionsprojekte blieben aus persönl. u. äußeren (drucktechn.) Gründen weitgehend unausgeführt. Unter den Arbeiten zur platonischen Tradition sind zu nennen die handschriftlich erhaltenen lat. Übertragungen der Hymnen des Proklos (ediert in Häfner 2003) u. des zweiten Buchs von Iamblichs De vita Pythagorae. Im Druck erschienen u. a. Porphyrs Liber de vita Pythagorae. Eiusdem sententiae ad intelligibilia ducentes. De antro Nympharum quod in Odyssea describitur (Rom 1630), begleitet von H.’ Abhandlung De vita & scriptis Porphyrii, sowie die Edition von Demophili, Democratis et Secundi veterum philosophorum sententiae morales nunc primum editae a Luca Holstenio (Rom 1638). Für die neuplatonischallegor. Auslegung der heidn. Altertümer bes. bedeutsam ist H.’ Abhandlung Vetus pictura nymphaeum referens commentariolo explicata, die in mehreren Handschriften überliefert ist, jedoch erst Jahre nach dem Tod des Autors im Druck erschien (Rom 1676). Sie enthält die Deutung eines antiken Freskos, das beim Bau des Palazzo Barberini alle Quattro Fontane zum Vorschein gekommen war. Daneben sind H.’ Arbeiten zur alten Geografie (u. a. Notae et castigationes postumae in Stephani Byzantii ’Eqnika´. Hg. Theodor Ryck. Leiden 1684), zur frühen Kirchengeschichte (u. a. der von ihm entdeckte Liber diurnus romanorum pontificum. Rom 1658) u. zur Geschichte des Mönchstums (Codex regularum quas sancti patres
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monachis et virginibus sanctimonialibus servandas praescripsere, collectus olim a S. Benedicto. Rom 1661) zu nennen, die z.T. bis weit ins 18. Jh. hinein gewirkt haben. Einzigartige Einblicke in den Ideenhaushalt der Zeit gewährt H.’ Korrespondenz mit den führenden Gelehrten der Zeit (Lucae Holstenii epistolae ad diversos. Hg. Jean François Boissonade. Paris 1817). Literatur: Nicolaus Wilckens: Leben des Gelehrten Lucae Holstenii, Protonotarii apostolici, S. Petri Basilicae Canonici, u. Bibliothecae Vaticanae Custodis. Hbg. 1723. – Léon-G. Pélissier: Les amis d’H. In: Mélanges d’archéologie et d’histoire, École française de Rome, 6 (1886), S. 554–587. 7 (1887), S. 62–128. 8 (1888), S. 323–402, 521–608. – Hugo Rabe: Aus L. H.’ Nachlaß. In: Centralblatt für Bibliothekswesen 12 (1895), S. 441–448. – Ferdinand Wagner: Aus dem Leben des L. H. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 11 (1901–1903), S. 388–410. – Walter Friedensburg: Zur Lebensgesch. des L. H. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 12 (1904–08), S. 95–116. – Roberto Almagià: L’opera geografica di Luca Holstenio. Città del Vaticano 1942. Neudr. 1984. – Joseph Mogenet: H. et l’horoscope de Proclus. In: Collectanea Vaticana in honorem Anselmi M. Card. Albareda a bibliotheca apostolica edita. Bd. 2, Città del Vaticano 1962, S. 280–308. – Peter J. A. N. Rietbergen: L. H. (1596–1661), seventeenth-century scholar, librarian and book-collector. A preliminary note. In: Quaerendo 17 (1987), S. 205–231. – Markus Völkel: Individuelle Konversion u. die Rolle der ›Famiglia‹. Lukas H. (1596–1661) u. die dt. Konvertiten im Umkreis der Kurie. In: Quellen u. Forsch.en aus ital. Archiven u. Bibl.en 67 (1987), S. 221–281. – Ders.: Röm. Kardinalshaushalte des 17. Jh. Borghese – Barberini – Chigi. Tüb. 1993. – Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitl. Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christl. Apologetik u. philolog. Kritik (ca. 1590–1736). Tüb. 2003. – Ders.: L. H. u. die neue Astronomie am Hofe Papst Urbans VIII. In: Philologie als Wissensmodell. Philologie u. Philosophie in der Frühen Neuzeit. Hg. Denis Thouard (im Druck). Ralph Häfner
Holtei, Karl von, * 24.1.1798 Breslau, † 12.2.1880 Breslau; Grabstätte: ebd., St.-Bernhardin-Friedhof. – Schriftsteller, Schauspieler, Theaterdirektor, Publizist. H. wurde als Sohn eines österr. Rittmeisters geboren u. wuchs nach dem frühen Tod seiner Mutter bei Verwandten in Breslau auf. Bereits als Gymnasiast entwickelte er eine
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große Leidenschaft für das Theater. Nach der Matura war er zunächst Landwirtschaftseleve in Obernigk, bevor er nach einem kurzen Intermezzo als freiwilliger Jäger am Ende der Befreiungskriege ein Studium der Rechtswissenschaft in Breslau aufnahm. Die juristische Laufbahn brach er jedoch 1819 ab, um sich, unterstützt durch seinen Freund u. Lehrer Karl Schall, als Schauspieler, Dramaturg, Regisseur u. Bühnendichter ganz dem Theater zu widmen. Vergeblich versuchte er, 1827 Anschluss an den Weimarer Kreis um Goethe zu finden. Zahlreiche Engagements u. Gastspielreisen führten ihn auf die bedeutendsten Bühnen des deutschsprachigen Raums. Es folgten feste Engagements als Theaterdichter u. -direktor in Breslau, Dresden, Darmstadt, Berlin u. Riga, die sich mit einem bewegten Wanderleben abwechselten. 1864 kehrte H. nach Breslau zurück u. verbrachte dort ab 1876 seine letzen Lebensjahre als Protestant im Kloster der Barmherzigen Brüder. H., der sich Jean Paul zum Vorbild nahm (Geistiges und Gemüthliches aus Jean Paul’s Werken. Breslau 1858) schuf ein umfangreiches Werk, das beinahe alle Gattungen abdeckt. Liederpossen (Vaudevilles) im Stil des Wiener Volksstücks u. Erzählungen wie der Krimi Ein Mord in Riga (Lpz./Prag 1855. Neuausg. Michelstadt 1992) waren ebenso wie die viel gelesenen Schlesischen Gedichte (Bln. 1830. 18 1883) in ihren Stoffen uneigenständig u. einer epigonalen Formensprache verhaftet. Von H.s Bühnenstücken waren zwar einige – wie das von Nestroy parodierte Lorbeerbaum und Bettelstab (Urauff. 1833. Schleusingen 1840) oder Ein Trauerspiel in Berlin (Urauff. 1832. Bln. 1838), das die später bei Glaßbrenner sprichwörtliche Figur des Eckenstehers Nante einführte – zu ihrer Zeit sehr populär, ohne aber zu überdauern. Literaturgeschichtliche Bedeutung besaß H. hingegen als literar. Vermittler zwischen dem Wiener u. dem Berliner Theaterleben (Die Wiener in Berlin. Urauff. 1824. Die Berliner in Wien. Urauff. 1825) u. als Rezitator. In der Dramendeklamation übertraf er an Breitenwirksamkeit sogar Tieck, den er in Dresden kennen gelernt hatte u. an dem er sich zunächst orientierte. Als Förderer des Lesedramas u. als
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populärer Bearbeiter Shakespeares (Die Ko- Jb. dt. Bühnensp. 1829. – Lenore. Bln. 1829. – Heil mödie der Irrungen. Bln. 1849. Viel Lärm um dem Könige! Bln. 1831 (L.). – Erzählungen. nichts. Bln. 1849) machte er sich verdient. Braunschw. 1833. – Don Juan. Paris [Lpz.] 1834. – Seine lebenslange Hoffnung, Vorleser beim Des Adler’s Horst. In: Jb. dt. Bühnensp. 1835 (Oper). – Die beschuhte Katze. Bln. 1843 (M.). – preuß. König zu werden, erfüllte sich allerChristian Lammfell. 5 Bde., Breslau 1853 (R.). – Ein dings nicht. Mit Blättern wie »Der Obernig- Schneider. 3 Bde., Breslau 1854 (R.). – Jung oder ker Bote« (Bln. 1822) oder dem »Jahrbuch Alt? Graz 1855. – Schwarzwaldau. 2 Bde., Prag/ deutscher Nachspiele [ab 1825: Bühnenspie- Lpz. 1856 (R.). – Noch ein Jahr in Schlesien! 2 Bde., le]« (Breslau 1822–31) suchte H. ohne blei- Breslau 1864 (Autobiogr.). – Charpie. Eine Slg. benden Erfolg neue Theaterzeitschriften vermischter Aufsätze. Breslau 1866. – Haus Treueinzuführen. Die Gedichtsammlungen Ge- stein. 3 Bde., Breslau 1866 (R.). – Erlebnisse eines dichte (Bln. 1827. Breslau 51861), Deutsche Lie- Livreedieners. 3 Bde., Breslau 1868 (R.). – Lieder eines Alten. Bln. 1870 (L.). – Nachlese. E.en u. der (Schleusingen 1834) u. Preußische KriegsPlaudereien. 3 Bde., Breslau 1870. und Siegeslieder (Breslau 1867) spiegeln nicht Literatur: Wilhelm L. Höffe: H. als Dramennur im Titel eine Entwicklung H.s vom unvorleser. Diss. Breslau 1939. – Editha Pribik: K. v. polit. Biedermeierdichter zum konservativ- H., seine Beziehungen zu Wien. Diss. Wien 1947. – nationalen Hurrapartrioten wider. Wolfgang Baumgart: Carl v. H. Würzb. 1958. – K. Nach 1850 schränkte H. seine Gastspiel- B. Beaton: Der Tendenzroman zwischen 1848 u. reisen u. Vortragstourneen stark ein u. wid- 1866 unter bes. Berücksichtigung der konservatimete sich der Herausgabe seiner Theaterstü- ven Romane K. v. H.s. Diss. Birmingham 1964/65. – cke (Theater. Breslau 1845). Daneben ver- Peter J. Brenner: Verspätetes Biedermeier. K. v. H.s suchte er sich zunehmend als Romanautor. Romane zwischen Restaurationslit. u. Realismus. In: JbDSG 26 (1982), S. 204–234. – Walter Hettche: Seine behäbig humoristisch erzählenden RoK. v. H. u. Paul Heyse. Elf bisher unbekannte Briefe. mane waren als leichtes Lesefutter ohne lite- In: Nestroyana 16 (1996), S. 112–131. – Henk J. rar. Anspruch gedacht. Sie spielten zumeist Koning: H.s Epik. Überlegungen zur Spätphase im Theatermilieu, das H. aus eigenem Erle- seines künstler. Schaffens. In: Jb. der Schles. ben farbig u. detailgenau darstellte (Die Va- Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 42/44 gabunden. 4 Bde., Breslau 1852. Der letzte Ko- (2001/2003), S. 345–358. – P. Brenner: Behaglichmödiant. 3 Bde., Breslau/Trewendt 1863). Ihre keit. Konservatives Erzählen in H.s Romanen. In: Bedeutung liegt nicht im weit ausholenden Jb. der Raabe-Gesellsch. Tüb. 2002, S. 111–129. – Plauderton, sondern im kulturgeschichtl. Christian Andree (Hg.): K. v. H. (1798–1880). Ein schles. Dichter zwischen Biedermeier u. Realismus. Detail, im Zeit- u. Lokalkolorit. Diese FasziWürzb. 2005. – Leszek Dziemianko: Der junge K. v. nation einer unmittelbaren Augenzeugen- H. Leben u. Werk. Dresden 2007. schaft üben auch seine Lebenserinnerungen Rolf Selbmann / Thorsten Fitzon Vierzig Jahre (8 Bde., Bln./Breslau 1843–50) aus, die aus der Perspektive des Epigonen von Holthusen, Hans Egon, * 15.4.1913 Begegnungen mit den Größen seiner Zeit, Rendsburg/Schleswig-Holstein, † 21.1. u. a. mit Goethe u. Johanna Schopenhauer, 1997 München. – Lyriker, Essayist, Erberichten u. das Theatermilieu des Bieder- zähler u. Literaturkritiker. meier detailliert u. farbig schildern. Weitere Werke: Ausgaben: Briefe aus u. nach Der Sohn eines evang. Pfarrers besuchte das Grafenort. Altona 1841. – Briefe an Ludwig Tieck. 4 Gymnasium in Hildesheim, wo er 1931 das Bde., 1864. – Erzählende Schr.en. 41 Bde., Breslau Abitur ablegte. Das Studium der dt. Literatur, 1861–66. – Theater. 6 Bde., Breslau 1867. – Jugend Geschichte u. Philosophie an den Universitäin Breslau. Hg. Helmut Koopmann. Bln. 1988. – ten Tübingen, Berlin u. München schloss er Ausgew. Werke. Bd. 1 von 2 Bdn. Hg. Jürgen Hein 1937 mit der Dissertation über Rilkes Sonette u. Henk J. Koning. Würzb. 1992. – Einzelwerke: an Orpheus (Mchn.) ab. Erste VeröffentliVermischte Gedichte. Quedlinb. 1815. – Breslauer chungen in Zeitschriften (»Neue RundCommersbuch. Breslau 1819 (L.). – Erinnerungen. schau«, »Hochland« u. »Eckart«) folgten. Breslau 1822 (E.en u. L.). – Festspiele, Prologe u. Theaterreden. Breslau 1823. – Der alte Feldherr. In:
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1939–1945 war H. Soldat an verschiedenen Fronten, drei Jahre davon in Russland. Ab Mai 1945 lebte er als freier Schriftsteller in München. Seit 1959 hatte er mehrere Gastprofessuren an amerikan. Universitäten inne, 1961–1964 war er Direktor des amerikanischdt. Kulturinstituts Goethe House in New York, 1968–1981 Professor an der Northwestern University in Evanston, Illinois, 1981/82 Mitgl. am neu gegründeten Wissenschaftskolleg (Institute for Advanced Study) in Berlin. H.s erste Gedichte – ein dem gefallenen Bruder gewidmeter Zyklus Sonette (Klage um den Bruder. Mchn. 1947) – zeigen deutlich den Einfluss Rilkes. Zwei weitere Lyrikbände (Hier in der Zeit. Mchn. 1949. Labyrinthische Jahre. Mchn. 1952) sind an der Dichtungstheorie T. S. Eliots orientiert. Mit ihnen hatte H. in den ersten Jahren nach 1945 Erfolg. Er selbst beschrieb sich als »Transzendentalisten«, der »hinter den Erscheinungen des irdischen Zustandes suchen« müsse. Seine Aufgabe als Lyriker sah er darin, »der zeitgenössischen Wirklichkeit ihre Wahrheit abzulesen, die zeitliche Gegebenheit und das ewige Gesetz«. Jeglicher Poésie engagée, die ihm als »nichtswürdige Mischung von Demagogie und kleinbürgerlicher Sentimentalität« (in: Programm eines jungen Dichters. In: Echo der Woche, 12.6.1948) galt, stand er ablehnend gegenüber. Seinen Ruf als eines führenden Kritikers u. Essayisten begründete H. 1951 mit einer Sammlung von Arbeiten über Motive und Probleme der modernen Literatur, deren Titel Der unbehauste Mensch (Mchn.) das Lebensgefühl der Nachkriegszeit programmatisch auf den Begriff brachte. Als exemplarisch galten seine Arbeiten über Rilke, Thomas Mann, Benn, Brecht, Jünger u. damalige Gegenwartsautoren (Andersch, Piontek, Krolow, Celan u. Hans Magnus Enzensberger). Seine beherrschende Stellung trug ihm auch viel Kritik ein: Er verwalte die dt. Nachkriegsliteratur als »Erzdiözese« u. »Weihbischof der Moderne«. Gelegentlich wurde er als »kulturpolitischer Großinquisitor« etikettiert. Seine programmat., selbstkrit. Auffassung vom Beruf des Kritikers legte er 1954 in der Schrift Ja und Nein (Mchn.) nieder. Als »Transzen-
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dentalist« war er überzeugt von der »perspektivischen Bedingtheit und horrenden Vergänglichkeit« allen Urteilens. Auch als Erzähler trat H. hervor mit einem amerikan. Tagebuch (Indiana Campus. Mchn. 1969) u. in einem Porträt Chicagos (Chicago. Metropolis am Michigansee. Mchn. 1981). Bereits 1956 hatte H. einen Roman (Das Schiff. Aufzeichnungen eines Passagiers. Mchn.) vorgelegt. Die krit. Neigung u. das Talent eines Epikers miteinander verbindend, veröffentlichte er 1986 den ersten Teil der Biografie Gottfried Benn 1886–1922. Leben, Werk, Widerspruch (Stgt.). Weitere Werke: Der späte Rilke. Zürich 1949. – Die Welt ohne Transzendenz. Eine Studie zu Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ u. dessen Nebenschr.en. Hbg. 1949. – Das Schöne u. das Wahre. Neue Studien zur modernen Lit. Mchn. 1958. – Rainer Maria Rilke in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1958. 291996. – Krit. Verstehen. Neue Aufsätze zur Lit. Mchn. 1961. – Avantgardismus u. die Zukunft der modernen Kunst. Mchn. 1964. – Plädoyer für den Einzelnen. Krit. Beiträge zur literar. Diskussion. Mchn. 1967. – Krit. Versuche. Ausgew. Ess.s. Darmst. 1968. – Eduard Mörike in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1971. 112000. – Kreiselkompaß. Krit. Versuche zur Lit. der Epoche. Mchn. 1976. – Sartre in Stammheim. Zwei Themen aus den Jahren der großen Turbulenz. Stgt. 1982. – Opus 19. Reden u. Widerreden aus 25 Jahren. Mchn. 1983. – Vom Eigensinn der Lit. Krit. Versuche aus den achtziger Jahren. Stgt. 1989. Literatur: Rudolf Hartung: Im Kreuzfeuer der Kritik. H. E. H.s ›Schiff‹ u. frühere Aufzeichnungen. In: Der Monat 9 (1957), S. 66–71. – Peter Demetz: Der Kritiker H., Wandlungen u. Motive. In: Merkur 14 (1960), S. 277–283. – John Joseph Rock: Toward Orientation. The Life and Work of H. E. H. Diss. Pennsylvania 1980. – Peter Wapnewski: Alles Seinige ins Treffen führend. Laudatio auf H. E. H. In: Jb. der dt. Akademie für Sprache u. Dichtung 7 (1993), S. 127–138. – Volker Dürr: H. E. H. Metamorphosen; die amerikan. Jahre. In: Jb. der dt. Akademie für Sprache u. Dichtung 12 (1998), S. 337–346. – Mechthild Raabe: H. E. H. Bibliogr. 1931–1997. Hildesh. 2000. – Friedhelm Kemp: Dt. Sonettisten des Zweiten Weltkriegs. Johannes R. Becher, H. E. H., Rudolf Hagelstange, Albrecht Haushofer, Jesse Thoor. In: Ders.: Das europ. Sonett. Bd. 2, Gött. 2002, S. 379–395. – Marina Mar-
Holtz-Baumert
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zia Brambilla: H. E. H. Eine Darstellung seiner schriftsteller. Tätigkeit. Aachen 2006. Jörg-Dieter Kogel / Red.
Holtz-Baumert, Gerhard, auch: Bäumchen, Günter Ebenholz, * 25.12.1927 Berlin, † 17.10.1996 Heinrichsfelde. – Kinder- u. Jugendschriftsteller; Essayist; Übersetzer; Literatur- u. Kulturpolitiker. Der Arbeitersohn wurde als Gymnasiast vor Kriegsende noch Flakhelfer u. Soldat. Die Kriegserfahrung, der »brennende Wunsch mitzuhelfen, daß etwas ganz neu entsteht«, führte H.-B. zu den Kommunisten. In der DDR übernahm er zentrale Funktionen in der FDJ; nach einem Lehrerfernstudium war er 1951–1958 Chefredakteur der Kinderzeitschriften »ABC-Zeitung« u. »Schulpost«. Danach studierte er zwei Jahre am Literaturinstitut »Johannes-R.-Becher« in Leipzig. 1960/61 war er Sekretär, später Vizepräsident des Schriftstellerverbands der DDR, 1962–1988 Chefredakteur der Zeitschrift »Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur«. Politisch wirkte der freischaffende Schriftsteller viele Jahre lang als Mitgl. im ZK der SED u. als Kulturbundabgeordneter in der Volkskammer der DDR. Kindheit u. Jugend in einem Berliner Arbeiterviertel, in Nationalsozialismus u. Krieg u. sein daraus erwachsendes polit. Engagement beschrieb H.-B. mosaikartig in seinem autobiogr. Rückblick Die pucklige Verwandtschaft (Bln./DDR u. Dortm. 1985. Neuaufl. Bln. 2001). Seit den 1950er Jahren gehörte er zu den wichtigsten Förderern u. Theoretikern sozialistischer Kinderliteratur, was sich v. a. darin äußerte, dass er Übersetzungen sowjetischer Kinder- u. Jugendliteratur herausgab oder selber schuf (v. a. Arkadi Petrowitsch Gaidar). In eigenen Analysen setzte sich H.-B. mit den Anfängen proletar. Kinderliteratur auseinander (Überhaupt brauchen wir eine sozialistische Literatur... Bln./DDR 1972), plädierte für eine parteiliche, aber nicht schablonenhafte Dichtung, von der er sich mehr Selbstbewusstsein u. sprachl. »Grenzüberschreitungen« wünschte. In späteren essayistischen Arbeiten beschäftigte sich H.-B. mehrfach mit dem literar. Leben
der Hauptstadt Berlin (nachzulesen z.B. in der postum veröffentlichten Sammlung Nichts ist hier heilig. Literaten in Berlin – Berlin in der Literatur. Bln. 2004). Mit seinen eigenen literar. Werken Alfons Zitterbacke (Bln./DDR 1958 u. ö.) u. Alfons Zitterbacke hat wieder Ärger (Bln./DDR 1962. Neuaufl. in einem Bd., Bln./DDR 1969, Mchn. 1974 u. ö.) führte H.-B. das Genre der Lausbubengeschichten in die DDR-Literatur ein. Die immer wieder nachgedruckten »heiteren Geschichten eines Pechvogels« gehören zu den wichtigsten Büchern der DDR-Kinderliteratur; sie sind auch heute noch lesenswert. Kein Wunder, dass H.-B. im geeinten Deutschland an diesen Erfolg anknüpfen wollte. 1995 erschien in Leipzig der Band Alfons Zitterbackes neuer Ärger, erweckte allerdings bei den meisten Rezensenten eher »zwiespältige Gefühle«. Was vierzig Jahre zuvor den Lebensnerv der Kinder getroffen hatte, jetzt wirkte es geradezu antiquiert. Hervorzuheben sind darüber hinaus H.-B.s zahlreiche Jugenderzählungen. In einigen älteren Büchern wie Der kleine Trompeter und sein Freund (Bln./DDR 1959), in denen es um histor. Episoden aus der Arbeiterbewegung geht, verzichtete H.-B. allerdings nicht immer auf das von ihm selbst kritisierte »einseitige Moralisieren«; andererseits jedoch bewies er Sinn für Situationskomik u. bot jüngsten Lesern märchenhaften oder fantastisch verfremdeten Lesespaß (Sieben und dreimal sieben Geschichten. Bln./DDR 1979). Überall in seinen Erzählungen konfrontiert H.-B. gesellschaftl. Ideale mit einer unzulängl. Wirklichkeit, so etwa in Erscheinen Pflicht (Bln./DDR 1981; verfilmt 1984), zeigt Ausschnitte aus dem Alltag von Kindern u. Jugendlichen u. beschreibt aus ihrer Sicht den Wunsch nach Selbstverwirklichung u. die Suche nach Werten. Dazu in scharfem Kontrast setzt H. die Selbstgefälligkeit u. den Egoismus der Erwachsenen. 1984 nimmt H.B. den antiken Stoff vom Künstler u. Erfinder Daidalos zum Anlass, um parabelhaft über Fragen der moralischen Verantwortung des Wissenschaftlers zu diskutieren (Daidalos und Ikaros. Bln./DDR u. Weinheim). In dem 1991 erschienenen »Miniroman« Großes Menü für kleines Biest (Bln.) behandelt H.-B. auf satir.
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Weise die Beziehung eines alternden Schriftstellers zu einem siebzehnjährigen Mädchen. Das ist einerseits eine klass. Lolita-Geschichte, andererseits aber auch die literar. Reflexion über den Alterungsprozess eines bestimmten, von sich selbst besessenen Schriftstellertyps. Nach den Büchern von H.-B. entstanden in der DDR zahlreiche Kino- u. Fernsehfilme. Für seine literar. u. polit. Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet. Weitere Werke: Guten Tag, Hops. Bln./DDR 1959. – Vier Pferde gehen fort. Bln./DDR 1961. – Paule Prinz. Bln./DDR 1964. – Von lustigen Wichteln zwölf kleine Gesch.n. Bln./DDR 1968. – Die drei Frauen u. ich. Bln./DDR 1973. – Trampen nach Norden. Bln./DDR 1975. – Hasenjunge Dreiläufer. Bln./DDR 1976. – Die seltsame Zeit des Knaben Friedrich. Bln./DDR 1978. – Der Wunderpilz u. a. Gesch.n aus der Nachbarschaft. Bln./DDR 1982. – Seppls Kopfsprung. Bln./DDR 1983. – Der entführte Prinz u. das Nachbarmädchen. Erlangen 1988. – Schreiben in dieser Zeit. In: Positionen 4. Halle 1988. – Der kleine Lehrer. Bln./DDR 1989. – Ein bißchen Angst. Würzb. 1991. – Berlin wie es im Buche steht. Literar. Spaziergänge. Bln. 1996. – Isa u. das schöne Tierchen. Bln. 1996. – Berlin wie es im Buche steht. Bd. 2: Neue literar. Spaziergänge. Bln. 1999. Literatur: G. H.-B. In: Besprechungen zur Gegenwartslit. Bd. 1: Kinder- u. Jugendlit. Bln./DDR 1979. – Reiner Neubert: Humor- u. poesievoller Moralist. G. H.-B. In: Deutsch als Fremdsprache 22 (1985), Sonderh., S. 61–65. – Uta Morgenstern. G. H.-B. Eine Monogr. Halle 1987. – Michael Hoffmann: Zur stilist. Über- u. Untercodierung der belehrenden Botschaft. G. H.-B. u. seine ›Sieben und dreimal sieben Geschichten‹ für Kinder. In: Sprache u. Stil in Texten für junge Leser. FS HansJoachim Siebert. Hg. Angelika Feine u. Karl-Ernst Sommerfeldt. Ffm. u. a. 1995, S. 95–107. – Reiner Neubert: G. H.-B. In: KJL. Horst Heidtmann / Marco Schüller
Holtzwart, Mathias, Mathis, * um 1540 Horburg/Oberelsass, † vor 1579 (Wiederverheiratung seiner Frau). – Dramatiker; Verfasser panegyrischer, didaktischer u. satirischer Dichtungen. Aus Vorreden u. Widmungen konnten nur dürftige biogr. Daten erschlossen werden. H.s Eltern standen im Dienst des Grafen Georg
von Württemberg-Mömpelgart in dessen Schloss Horburg, in dem H. wohl um 1540 geboren wurde. Angaben über Erziehung u. Studium, für das Graf Georg aufkam, fehlen, doch erwarb H. den Magistergrad. Mehrere Jahre führte er ein Wanderleben. Spätestens ab 1567 stand er in Diensten des Grafen Egenolf III. von Rappoltstein. In den 1570er Jahren ist er als Stadtschreiber von Rappoltsweiler nachweisbar. H.s Schriften sind vielgestaltig, wohl häufig durch äußeren Anlass angeregt. So ist das früheste bekannte Werk, der Lustgart Newer Deüttscher Poëtri (Straßb. 1568), eine Huldigung an das Haus Württemberg, ein umfängl. Lehrgedicht in dt. Knittelversen, in dem der Autor, von allegor. Figuren – v. a. den Musen – geführt, durch mytholog. u. histor. Tableaus wandert. Das Drama in Knittelversen Saul. Ein schön new Spil von Künig Saul und dem Hirten David (Basel 1571) wurde nach der Widmungsvorrede durch einflussreiche Freunde in Basel veranlasst u. ist dem Rat der Stadt gewidmet. Es wurde am 5./ 6.8.1571 von 100 Agierenden u. 500 Statisten auf dem Kornmarkt in Basel aufgeführt. Ab 1573 erscheint H. in enger Verbindung zum Verlag von Bernhard Jobin in Straßburg u. damit zu dessen Schwager Fischart u. dem »Formschneider« Tobias Stimmer. Fischarts Flö Hatz Weiber Tratz (Straßb. 1573) enthält eine von »M. H. H. M.« (= Mathias Holtzwart Horburgensis Magister?) verfasste Vorrede in lat. Distichen u. die von H. stammende Flohklage in rund 900 Knittelversen, in denen ein Floh vor dem Richterstuhl Jupiters Klage über die Grausamkeit der Weiber führt. Im selben Jahr erschien bei Jobin eine Sammlung von 15 Holzschnitten Stimmers, die alte german. Könige von Tuiscon bis zu Karl dem Großen darstellen: Eikones (Bildnisse). H. schrieb hier zu den dt. Versen des Burkard Waldis lat. Epigramme. Das letzte Werk, die Emblematum Tyrocinia sive picta poesis latinogermanica (Emblematische Probstücke. Straßb. 1581. Neuausg. von Peter von Düffel u. Klaus Schmidt. Stgt. 1968. 2006), ist Friedrich von Württemberg gewidmet, der in diesem Jahr die Herrschaft antrat. Der Band enthält eine Einführung in die Sinnbildkunst von Fischart u. 72 von Stimmer entworfene emblemat.
Holz
Holzschnitte mit lat. Erklärungen u. dt. Übersetzungen von H. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Jakob Franck: M. H. In: ADB. – Alfred Merz: M. H. Rappoltsweiler 1885. – Eduard Sitzmann: Dictionnaire de Biographie. Bd. 1, Rixheim 1910, S. 802. – Adolf Hauffen: Johann Fischart. Bd. 2, Lpz./Bln. 1922. – Erich Kleinschmidt: Stadt u. Lit. in der frühen Neuzeit. Köln/Wien 1982, bes. S. 322–326. – Spätrenaissance am Oberrhein. Tobias Stimmer (1539–1584). Ausstellungskat. Basel 1984, S. 216 f. – Lina Baillet: M. H. In: NDBA. – Dietmar Peil: Das Sprichwort in den ›Emblematum Tyrocinia‹ des M. H. In: Kleinstformen der Lit. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1994, S. 132–164. – Michael Lailach: ›Der Gelehrten Symbolia‹. Studien zu den ›Emblematum Tyrocinia‹ v. M. H. (Straßburg 1581). Diss. Tüb. 2000. – Elisabeth Klecker u. Sonja Schreiner: How to gild emblems. From M. H.’s Emblematum Tyrocinia to Nicolaus Reusner’s Aureola Emblemata. In: Mundus emblematicus. Hg. Karl A. E. Enenkel. Turnhout 2003, S. 131–172. – CP II, S. 342–344. Walter E. Schäfer / Wilhelm Kühlmann
Holz, Arno (Hermann Oscar Alfred), auch: Bjarne P. Holmsen, Hans Volkmar, * 26.4. 1863 Rastenburg/Ostpreußen (heute: Ketrzyn/Polen), † 26.10.1929 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof Heerstraße. – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Literaturtheoretiker. Die literar. Tätigkeit von H. zeigt bei aller Vielseitigkeit eine Reihe von Konstanten. Dazu gehören zunächst seine Bindung an Berlin als Hauptstadt des neuen Reichs u. große Industriestadt – H. kam 1875 mit seinen Eltern (der Vater war Apotheker) dorthin – sowie die frühe Entscheidung, sein Leben ganz der literar. Arbeit zu widmen. In Zusammenhang damit entstand seine Überzeugung, zum Reformator der dt. Literatur berufen zu sein, die sich dem techn. Zeitalter öffnen u. nach ebensolchen festen Gesetzen verfahren müsse, wie sie in den Naturwissenschaften gelten. Das bedeutete, dass sich H. zuerst stark am literar. Leben Berlins beteiligte, wegen seines Anspruchs jedoch bald in Konflikte u. schließlich in die Isolation geriet, was er mit wirtschaftl. Not bezahlen musste. Innerhalb seines Werks jedoch bildet sein großes lyr. Talent die eigentl. Konstante,
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auch wenn er in anderen Genres Interessantes geleistet hat. H.’ erste eigenständige lyr. Publikationen waren die Gedichtbände Klinginsherz! (Bln. 1883), Deutsche Weisen (zus. mit Oskar Jerschke. Bln. 1884) sowie Das Buch der Zeit (Zürich 1886. Neuaufl.n 1892, 1905, 1920). In ihm zeigte er zuerst seine Fähigkeit zu scharf zugespitzten sozialkrit. Attacken in eleganter lyr. Formulierung. Zola, Tolstoj u. Ibsen wurden als Vorbilder einer modernen, »realistischen« Literatur gefeiert. Von H.’ ersten lyr. Versuchen blieb jedoch zgl. die Neigung zur Sentimentalität erhalten, bes. wenn es sich um die Darstellung einer ländl. oder märchenhaft stilisierten, künstl. Gegenwelt zur Industriestadt handelte. Hier ging H.’ intendierter Naturalismus in den ornamentalen, mythenträchtigen Jugendstil über. Das zeigt sich am deutlichsten in dem Gedicht Phantasus über das Schicksal des in der Dachkammer einer Berliner Mietskaserne träumenden, aber zgl. verhungernden Dichters. H. hat sich mit dieser Figur weithin identifiziert; das Gedicht wurde der Keim seines umfangreichsten Werks. In Berlin trat H. in Verbindung mit den Brüdern Hart u. ihrem literar. Verein »Durch« (mit Bleibtreu, Bölsche, Conradi, Hauptmann, Kretzer, Wille u. anderen). 1887–1892 lebte u. arbeitete er in Gemeinschaft mit Johannes Schlaf. Gemeinsam veröffentlichten sie unter dem Pseud. Bjarne P. Holmsen die Skizzen u. Erzählungen Papa Hamlet (Lpz. 1889) u. das Drama Die Familie Selicke (Bln. 1890); ihre Versuche fassten sie 1892 in dem Band Neue Gleise (Bln.) zusammen. Damit wurden sie zu Pionieren des dt. Naturalismus. Naturalistisch war das Ziel, Charaktere in ihrem Milieu u. somit in ihrer Bedingtheit durch soziale u. ökonomische Umstände darzustellen. H. wollte nicht aus einem »idealistischen« Standpunkt Urteile fällen, sondern aus dem des »consequenten Realisten« für seine Gestalten Verständnis suchen, ihnen gegenüber nicht »fühlen, sondern aus ihnen heraus denken« (Brief an Trippenbach, 10.2.1889). Naturalistisch waren auch die Mittel: phonetisch genaue Wiedergabe von milieubedingter Sprache, also von Dialekten u. Soziolekten, von fragmen-
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tar. Sprechen u. Interjektionen (»Sekundenstil«), bei gleichzeitigem Zurücktreten des Erzählers u. Beseitigung unnatürl. Darstellungsverfahren (etwa des Monologs). Die Gestalten erschienen so in ihrer Determiniertheit u. Hilflosigkeit gegenüber den Umständen, die sie nicht ändern konnten, während das Kunstwerk die Erkenntnis solchen Zustandes beabsichtigte. In der Schrift Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (2 Bde., Bln. 1891/92) hat H. seine Versuche theoretisch abgestützt. Grundlage ist die Überzeugung, dass es auch für die Kunst wissenschaftlich festgelegte allg. Gesetze gebe, dass das Streben aller Kunst auf die Nachbildung der Natur hinauslaufe, aber durch die jeweiligen »Reproduktionsbedingungen« u. ihre Handhabung begrenzt sei, also durch die Kunstmittel ebenso wie durch die Persönlichkeit des Künstlers. Das soll die Formel »Kunst = Natur – x« ausdrücken. Wie sein weiteres Werk zeigt, bewegte sich H. weit von einem äußerl. mimetischen Naturalismus hinweg, indem er den Begriff der Natur auch auf psych. Phänomene ausdehnte. Mit der Komödie Sozialaristokraten (Rudolstadt/Lpz. 1896) über den Friedrichshagener Dichterkreis begann H. eine Serie von Dramen über moderne Kunst, Gesellschaft u. Wissenschaft. Sonnenfinsternis (Bln. 1908) u. Ignorabimus (Dresden 1913) demonstrieren H.’ erweiterten Naturbegriff ebenso wie seine begrenzte gedankl. Ausrüstung zur Darstellung großer Zusammenhänge; diese Stücke gerieten ihm zu monumentalen Selbstdarstellungen als eines mutigen, verzweifelten Kämpfers gegen nicht erfasste Widerstände. H.’ eigentl. Lebenswerk wurde die Fortgestaltung des Phantasus aus dem Gedicht von 1886. Unter diesem Titel erschienen 1898/99 in Berlin zwei Hefte mit jeweils 50 reimlosen Gedichten, in denen durch die Anordnung der Zeilen auf Mittelachse die konventionellen Strophenformen aufgegeben waren. H. wollte damit eine »Revolution der Lyrik« einleiten. Eine erweiterte Ausgabe des Phantasus (1913) wurde von H. bis auf 24 Exemplare sistiert; 1916 erschien bei Insel der Folio-Phantasus (336 S.), 1924/25 die erste Gesamtausgabe (3 Bde. mit 1345 S.) u. 1961/62 eine Nachlassausgabe (3 Bde. mit 1584 S.).
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Grundgedanke des Phantasus ist, dass das Ich des Dichters die gesamte Welt in Zeit u. Raum in sich aufnimmt, entsprechend dem biogenet. Grundgesetz Ernst Haeckels, nach dem die Entwicklung des Einzelnen (»Ontogenesis«) eine abgekürzte Wiederholung der Stammesentwicklung (»Phylogenesis«) ist. Das Ich des Dichters erscheint also bei H. in den vielfältigsten Verwandlungen von der »Schwertlilie« »sieben Billionen Jahre« vor der Geburt des Dichters über Erscheinungen als Gewaltherrscher, Bürger u. Künstler bis zu seiner Erhebung unter die Sterne. Für dieses als »Weltgedicht« konzipierte Werk hat H. eine eigene Sprache geschaffen. Mit der Absicht der Präzisierung u. Universalisierung des Auszudrückenden entstand ein immenser, sich aus Assoziationen u. Konnotationen entwickelnder, einen Bewusstseinsu. Unterbewusstseinsstrom bezeichnender, ins Wort- u. Klangspiel übergehender Wortschatz. Als Sprachexperimentator wurde H. ein wesentl. Anreger moderner Poesie, während der gleichzeitige Anspruch auf universelle Darstellung gegenwärtigen Denkens u. Empfindens sich nicht aufrechterhalten ließ. H.’ bedeutendes sprachmimisches Talent bewährte sich am populärsten in dem parodistisch angelegten Dafnis (Mchn. 1904), einem »lyrischen Portrait aus dem 17. Jahrhundert«, das in der genau beobachteten Sprech- u. Schreibweise der Barockliteratur moderne Antibürgerlichkeit u. freigeistige Lebenslust in kunstvoller Leichtigkeit zum Ausdruck bringt. Das Werk von H. wirkt fort in Einzelnem: in der Experimentierfreudigkeit, in den vielfältigen Versuchen, an tradierten Glaubenssätzen zu rütteln, u. durch die überall sichtbare Überzeugung, dass die Kunst eine »ebenso lebensnotwendige Funktion der Menschheit« sei »wie das Aufstellen von Logarithmentafeln, das Feldbebauen und das Konstruiren von Panzerschiffen« (aus einem Brief an Oskar Jerschke, 8.2.1903). 1997 wurde die Arno-Holz-Gesellschaft für polnisch-deutsche Verständigung mit Sitz in Ketrzyn/Polen gegründet. Weitere Werke: Ausgaben: Das Werk. Gesamtausg. in 10 Bdn. Hg. Hans W. Fischer. Bln. 1924/25. – Werke. Hg. Wilhelm Emrich u. Anita Holz.
Homann 7 Bde., Neuwied/Bln. 1961–64. – Einzeltitel: Der geschundne Pegasus (zus. mit J. Schlaf). Bln. 1892 (Verserzählung). – Revolution der Lyrik. Bln. 1899. – Johannes Schlaf. Ein nothgedrungenes Kapitel. Dresden 1902. – Die Blechschmiede. Lyr.-satir. Drama. Lpz. 1902. Erw. Ausg.n 1917, 1921, 1924, 1963. – Heimkehr (zus. mit Oskar Jerschke). Bln. 1903 (D.). – Traumulus (zus. mit O. Jerschke). Mchn. 1905 (D.). – Frei! (zus. mit O. Jerschke). Mchn. 1907 (D.). – Gaudeamus! (zus. mit O. Jerschke). Bln. 1908 (D.). – Büxl (zus. mit O. Jerschke). Dresden 1911 (D.). – Die befreite dt. Wortkunst. Wien/Lpz. 1921. – Der erste Schultag. Bln. 1924 (E.). – Entwurf einer ›Dt. Akademie‹ als Vertreterin der geeinten dt. Geistesarbeiterschaft. Bln. 1926. – Briefe. Hg. Anita Holz u. Max Wagner. Mchn. 1948. Literatur: Alfred Döblin: Grabrede auf A. H. (1929). In: Ders.: Aufsätze zur Lit. Olten/Freib. i. Br. 1963, S. 133–138. – Fritz Martini: A. H. ›Papa Hamlet‹. In: Ders.: Das Wagnis der Sprache. Stgt. 1956, S. 99–132. – Hans-Georg Rappl: Die Wortkunstlehre v. A. H. Diss. Köln 1957. – Wilhelm Emrich: A. H. u. die moderne Kunst. In: Ders.: Protest u. Verheißung. Ffm./Bonn 1960, S. 111–122. – Heinrich Fauteck: A. H. In: NR 77 (1963), S. 459–476. – Karl Geisendörfer: Die Entwicklung eines lyr. Weltbildes im ›Phantasus‹ v. A. H. In: ZfdPh 82 (1963), S. 231–248. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: Sprache u. Wirklichkeit bei A. H. In: Poetica 1 (1967), S. 44–66. – Helmut Heißenbüttel: Vater A. H. In: Ders.: Über Lit. Mchn. 1970, S. 32–35. – Helmut Scheuer: A. H. im literar. Leben des ausgehenden 19. Jh. (1883–96). Mchn. 1971. – Gerhard Schulz: A. H. Dilemma eines bürgerl. Dichterlebens. Mchn. 1974. – Rob Burns: The Quest for Modernity. The Place of A. H. in Modern German Literature. Ffm./Bern 1981. – Robert Oeste: A. H. The Long Poem and the Tradition of Poetic Experiment. Bonn 1982. – G. Schulz: A. H. In: Dt. Dichter. Bd. 6, Stgt. 1989, S. 357–367. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): A. H. Mchn. 1994 (Text + Kritik. H. 121). – Simone Winko: ›Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steigt der Mond auf‹. Japanrezeption u. Wahrnehmungsstrukturen in A. H.’ frühem ›Phantasus‹. In: JbDSG 38 (1994), S. 171–206. – Peter Sprengel: Wo liegt Friedrichshagen? Zur Sozialgesch. der ›Sozialaristokraten‹ (A. H.). In: Lit. im Wandel. Hg. Marijan Bobinac. Zagreb 1999, S. 139–152. – Jens Stüben: ›Ich warte sehnsüchtig [...] auf den ›Stoff, den Du mir schenken solltest‹. A. H.’ Produktionsgemeinschaft mit Oskar Jerschke. In: Literar. Zusammenarbeit. HG. Bodo Plachta. Tüb. 2001, S. 197–215. – Erich Kleinschmidt: ›Wunderpapierkorb‹. Literar. Enzyklopädismus als Kultur-
570 poetik der Moderne bei A. H. In: Musil-Forum 28. 2003/04 (2005), S. 183–212. Gerhard Schulz
Homann, Ludwig, * 5.2.1942 Gläsersdorf/ Schlesien. – Erzähler u. Romancier. Der als Sohn bäuerl. westf. Siedler geborene H. flüchtete nach der poln. Besetzung Schlesiens mit seiner Familie nach Westfalen. Er absolvierte nach dem Besuch der Volksschule in Beckum zunächst eine landwirtschaftl. Lehre. Daran schloss sich eine polizeil. Ausbildung u. 1961–1963 der Polizeidienst in Ahlen an. 1963–1965 besuchte H. ein Abendgymnasium in Frankfurt/Main; 1969/ 70 war er als Entwicklungshelfer in Tunesien. 1974–1981 studierte er in Münster Pädagogik u. war danach vorübergehend im Schuldienst. Seit 1982 lebt H. als freier Schriftsteller in Glandorf bei Warendorf. Die meist in Westfalen spielenden Erzählungen u. Romane basieren auf genauen Beobachtungen des ländl. Milieus u. schildern in ihren detaillierten Psychogrammen gefährdete ambivalente Charaktere in konfliktgeladenen Situationen. Dabei durchzieht ein beklemmender Pessimismus weite Strecken des Werks, das sich in seinem karg-distanzierten Erzählton durch sprachl. Klarheit u. Präzision in der Wirklichkeitswahrnehmung auszeichnet. Der spannend erzählte Kriminalroman Ada Pizonka (Zürich 1995) bietet ein düster-brutales dörfl. »Sittengemälde«, in dem die Titelfigur nicht nur Täterin, sondern auch Opfer ist. Die Romane Der weiße Jude (Zürich 1998) u. Der Hunne am Tor (Zürich 2001) setzen sich in differenzierter Weise mit der Anfälligkeit von Jugendlichen für nationalsozialistsiche u. rechtsradikale Ideologien sowie mit der quälenden Frage nach Schuld u. Sühne auseinander. Auch im Roman Befiehl dem Meer (Bln. 2006) steht ein sonderbarer, psychisch gestörter Charakter im Mittelpunkt, der infolge seiner Schuldkomplexe u. eines traumat. Ereignisses zunächst völlig aus dem Gleichgewicht gerät, dann jedoch aufgrund einer außergewöhnl. Erfahrung überraschend geheilt wird u. ein neues Leben beginnt.
571 Weitere Werke: Gesch.n aus der Provinz. Ffm. 1968 (E.en). – Der schwarze Hinnerich v. Sünnig u. sein Nachtgänger. Ffm. 1970 (E.). – Jenseits v. Lalligalli. Ffm. 1973 (R.). – Engelchen. Zürich 1994 (E.). – Klaus Ant. Zürich 1996 (R.). Literatur: Westf. Autorenlex. 4. – Walter Gödden: Der Dämon in uns. L. H.s ›Der weiße Jude‹. In: Jüd. Lit. in Westfalen. Hg. Hartmut Steinecke, Iris Nölle-Hornkamp u. Günter Tiggesbäumker. Bielef. 2004, S. 195–212. Peter Heßelmann
Homburg, Ernst Christoph, auch: Erasmus Chrysophilus Homburgensis, * 1.3. 1605 Mihla bei Eisenach, bestattet 27.6. 1681 Naumburg. – Jurist, Lyriker u. Übersetzer.
Hommel
Angelus Silesius sein wichtigstes Vorbild. Etliche seiner Lieder wurden vertont, u. a. von Johann Sebastian Bach. Einige seiner Kirchenlieder finden sich noch heute in Gesangbüchern. Weitere Werke: Tragico-Comoedia von der verliebten Schäfferin Dulcimunda. Jena 1643. – Geistlicher Lieder erster [-ander] Theil. Jena/ Naumb. 1659. Ausgaben: Auserlesene Gedichte v. Julius Wilhelm Zinckgref, Andreas Tscherning, E. C. H. u. Paul Gerhard. Hg. Wilhelm Müller. Lpz. 1825. – Fischer/Tümpel 4, S. 283–307. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2160–2167. – VD 17. – Weitere Titel: Max Crone: Quellen u. Vorbilder E. C. H.s. Phil. Diss. Heidelb. 1911. – Günther Müller: Gesch. des dt. Liedes. Mchn. 1925. Nachdr. Darmst. 1959. – Klaus Haberkamm: E. C. H. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 56 f., 192, 384 f., Register. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis [...]. Köln/Wien 1974, passim. – Ferdinand van Ingen: Die singende Muse u. der ›Kunst-Verstand‹. Zu E. C. v. H. In: Virtus u. Fortuna [...]. FS HansGert Roloff. Hg. Joseph P. Strelka u. Jörg Jungmayr. Bern u. a. 1983, S. 406–426. – Conermann FG, Bd. 3, S. 625 f. (Nr. 499). – Guillaume van Gemert: ›Clio‹ u. ›Zeeusche Nachtegael‹. E. C. H.s poet. Verfahren in der Auseinandersetzung mit niederländ. Vorlagen. In: Chloe 10 (1990), S. 201–231. – Michael Hanst: E. C. H. In: Bautz. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft [...]. Reihe II, Abt. C, Halle, Bd. 1. Hg. Martin Bircher u. Andreas Herz. Tüb. 1997 (Register). – Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit [...]. Stgt.-Bad Cannstatt 1998 (Register). – Georg Bießecker: E. C. H. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 22001, S. 159 f. – C. Caemmerer: ›Sylvie‹ u. ›Dulcimunda‹. Dt. Schäferspiele der Frühen Neuzeit im Spiegel des interkulturellen Texttransfers [...]. In: Ed. u. Übers. [...]. Hg. Bodo Plachta u. a. Tüb. 2002, S. 377–387. – Anthony J. Harper: German secular song-books of the mid-seventeenth century [...]. Aldershot 2003, passim. Bernd Prätorius / Red.
Der aus einem Pfarrhaus stammende H. studierte ab Juli 1632 Jura in Wittenberg. Erste Dichtungsversuche entstanden unter dem Einfluss Buchners u. der Leipziger Lyriker. Nach prägendem Aufenthalt an der Universität Groningen (als Lic. jur. Immatrikulation am 9.11.1635) lebte H. bis 1638 in Hamburg, ging dann nach Dresden u. Jena u. arbeitete ab 1642 in Naumburg als Jurist u. Gerichtsschreiber. H.s Lyrik galt den Zeitgenossen als beispielhaft für die von Opitz u. Buchner geforderte neue Kunstdichtung. In der Sangbarkeit seiner geistl. u. weltl. Lieder zeigt sich die Nachwirkung Scheins. Themen u. Motive seiner weltl. Lyrik entlehnte H. vornehmlich niederländ. Dichtung, in erster Linie der Lyrik des Daniel Heinsius. Lateinische Vorbilder waren u. a. Horaz u. Owen. Den größten Teil seiner weltl. Liebeslieder, Oden, Sonette u. Epigramme publizierte er in seiner 1638 in Hamburg unter dem Pseud. Erasmus Chrysophilus Homburgensis erstmals erschienenen umfangreichen Sammlung Schimpff- und ernsthaffte Clio (2 Tle. Erw. Hbg. 1642). Für die Übersetzung von Jacob Cats’ Self-Stryt (1620), einer Josephsdichtung, u. d. T. Selbststreit, das ist, kräfftige Bewegung deß Fleisches wider den Hommel, Karl Ferdinand, auch: AlexanGeist (Nürnb. o. J. [1647]) wurde er auf Anreder von Joch, * 6.1.1722 Leipzig, † 16.5. gung Harsdörffers 1648 als »der Keusche« 1781 Leipzig. – Jurist u. Rechtsphilosoph. Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft. Wie viele dt. Dichter des 17. Jh. rückte H. Von seinem Vater, dem Leipziger Rechtsprospäter von seiner Liebesdichtung ab u. wid- fessor Ferdinand August Hommel, gedrängt, mete sich v. a. der geistl. Dichtung. Dabei war studierte H. widerwillig Jurisprudenz u.
Hondorf
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promovierte 1744 zum Doktor beider Rechte. Hondorf, Andreas, auch: Hohndorf(f), 1750 erhielt er eine a. o. Professur für Staats- * um 1530 Naumburg/Saale, † 13.1.1572 recht, 1752 eine solche des Lehnsrechts. 1756 Droyßig. – Lutherischer Theologe, Prediwurde er Professor der Institutionen u. Mitgl. ger, Universalkompilator. des Leipziger Spruchkollegiums, dessen Vorsitz er 1763 neben dem Ordinariat u. dem Über Herkunft u. Kindheit des luth. ExemAmt des ersten Beisitzers auf der Gelehrten- pelsammlers H. ist kaum etwas bekannt, so dass der Eintrag ins Bürgerbuch der Stadt bank des Oberhofgerichts übernahm. Anlässlich einer Disputation Principis cura Naumburg vom 1.8.1541 als frühestes biogr. leges (30.4.1765. Diss. Lpz. 1765. Neudr. Dokument zu gelten hat. H. nahm 1545 in Karlsr. 1975), der auch die kursächs. Fürs- Wittenberg das Studium der Theologie auf u. tenfamilie beiwohnte, setzte sich H. für eine wechselte nach Luthers Tod 1546 an die Univ. einheitl. Rechtsordnung u. – belletristischen Leipzig. Akademische Abschlüsse sind nicht Neigungen folgend – für eine allgemeinver- bezeugt. Nach seiner Ordination 1547 in ständl. Gesetzessprache ein. Montesquieus De Merseburg arbeitete H. zunächst als Subsidil’esprit des lois würdigte er ausführlich u. nicht ar für Dietrich von Eltfeld in der Parochie unkritisch; er forderte die Anpassung der Goldschau. Es folgten Tätigkeiten als Pfarrer Gesetze an die Zeitumstände sowie eine Mil- in Großgestewitz (1551–1562) u. in Kistritz derung des Strafrechts. In Über Belohnung und bei Weißenfels (1563–1567), ehe er im April Strafe nach türkischen Gesetzen (Bayreuth/Lpz. 1567 nach Droyßig versetzt wurde, wo er bis 2 1772. Neudr. Bln. 1970) vertritt H., v. a. im zu seinem Tod wirkte. Außer in der Seelsorge Anschluss an Luther, einen strengen Deter- profilierte sich H. v. a. in der Homiletik. Als minismus, begreift den Menschen als Werk- Autor trat er erstmals 1568 in Erscheinung. zeug des göttl. Willens u. gelangt zu einer Mit seinem Promptuarium exemplorum, einem metaphys. Rechtfertigung des humanen »Historien- u. Exempelbuch«, das bis in die Strafvollzugs. Des Herrn Marquis von Beccaria 1680er Jahre in rund 40 Auflagen u. Bearunsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen beitungen erschien u. seit 1575 u. d. T. Thea(Breslau 1778. Neudr. Bln. 1966), in dt. trum historicum illustrium exemplorum auch in Übersetzung herausgegeben u. von H. kom- einer lat. Übersetzung Philipp Lonicers vormentiert, will die Todesstrafe abschaffen, was lag, wurde er zu einem konfessionsübergreiH. jedoch ablehnt. Er befürwortet die Tren- fend wirkmächtigen Kompilator. Mit dem nung von Staat u. Kirche u. bekämpft, in Titel des Buchs, dessen Anfänge bis in seine Abhängigkeit von Christian Thomasius, als Studienzeit zurückgehen, knüpft H. an die Tradition der kath. Exempelsammlungen Aufklärer energisch den Aberglauben. Weitere Werke: Rhapsodia quaestionum in (Martin von Troppau, Johannes Herolt) an. foro quotidie obvenientium neque tamen legibus Die Einteilung des Promptuarium folgt dem decisarum. 7 Bde., Bayreuth 41782–87 (Werkverz. Dekalog; jedes Gebot wiederum ist nach acht in Bd. 7, S. 79–96). – Philosophische Gedanken bis zehn »loci communes« gegliedert, denen über das Criminalrecht. Breslau 1784. Nachdr. er das thematisch heterogene ExempelmateHildesh. 1998. – Teutscher Flavius. Bayreuth rial zuordnete; H. nennt, als erster protes4 1800. tantische Exempelsammler überhaupt, insg. Literatur: Alfred Rosenbaum: Carl F. H. in 65 Quellen, darunter die Bibel, die Kirchenseinen Beziehungen zum Naturrecht u. zur jurist. väter u. -historiker, pagane Autoren von der Aufklärung im 18. Jh. Diss. Lpz. 1907. – Karl v. Antike bis zur Reformationszeit, Predigt-, Zahn: K. F. H. als Strafrechtsphilosoph u. Strafrechtslehrer. Lpz. 1911. – Rainer Polley: Die Lehre Exempel- u. Legendensammlungen kath. vom gerechten Strafmaß bei K. F. H. u. Benedikt Provenienz sowie Erbauungsschriften aus dem protestantischen Umkreis. In seiner Carpzov. Diss. Kiel 1972. – Kleinheyer/Schröder. Hanspeter Marti / Red. Vorrede heißt es, das Buch solle sowohl dem Prediger zur Veranschaulichung seines Anliegens als auch dem Laien zur Unterweisung u. Erbauung dienen. Neben den Bibelstellen
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Honegger
misst H. den Exempeln, die er »Historien« tiger Menschen erweiterte Übersetzung von nennt, bes. Gewicht für die christl. Unter- Lilius’ De fugacitate, miseria et constantia vitae et weisung zu, da sie anders als die volkstüml. rerum humanarum declamatio (1553, 1564), dem Erzählstoffe autoritativ beglaubigt seien. Sie Leser Tod u. Jüngstes Gericht vor Augen u. erzählen von den Aposteln, Märtyrern, Kir- sucht ihm in den Stunden der Krankheit u. chenvätern, Bischöfen u. Heiligen v. a. der des Sterbens Trost zuzusprechen. Das Calenalten Kirche, von Glaubenszeugen u. Beken- darium erschien 1573 als Legendensammlung nern (u. a. der Reformation), von weltl. Herr- für den Predigtgebrauch. Es ist mit einer schern u. Angehörigen aller Stände u. Berufe, Vorrede von Vinzenz Sturm versehen, der deren Tugenden u. Laster zu einem Spiegel nach dem Tod seines Freundes auch spätere der Welt werden. Unter diesen Exempeln Auflagen des Promptuarium betreute. finden sich sog. protestantische Legenden, Ausgabe: Theatrum historicum, sive promtua»christliche Allegorien« im Verständnis Lu- rium illustrium exemplorum [...]. Ffm. 31598. Inthers, die das Leiden u. Sterben von Glau- ternet-Ed. in: CAMENA (Abt.: Thesaurus). benszeugen in den Blick nehmen, ohne jeLiteratur: H. Wendroth: H. als eine Quelle des doch deren Wundertaten zu thematisieren. Faustbuches. In: Euph. 11 (1904), S. 702–705. – Auch auf die Physiologus-Tradition greift H. Heidemarie Schade: A. H.s ›Promptuarium Exemzu, deutet die Tiergeschichten aber zuweilen plorum‹. In: Volkserzählung u. Reformation. Ein um. Das Buch fand zahlreiche Nachahmer, so Hdb. zur Tradierung u. Funktion v. Erzählstoffen u. Erzähllit. im Protestantismus. Hg. Wolfgang u. a. in Zacharias Rivander, der in Ander Theil Brückner. Bln. 1974, S. 646–703. – Ernst Heinrich Promptuarii exemplorum (Ffm. 1581) die Orga- Rehermann: Das Predigtexempel bei protestant. nisation des Vorbilds übernahm. Theologen des 16. u. 17. Jh. Gött. 1977, bes. Zeitgleich mit der ersten Ausgabe des S. 38–43, 180–197. – Burghart Wachinger: Der Promptuarium exemplorum erschienen 1568 Dekalog als Ordnungsschema für Exempelslg.en. zwei Gebrauchsbüchlein H.s. Im Falle von Lob Der ›Große Seelentrost‹, das ›Promptuarium exund Unschuldt der Ehefrawen (Lpz. Auch 1569) emplorum‹ des A. H. u. die ›Locorum communium handelt es sich um die hochdt. Übertragung collectanea‹ des Johannes Manlius. In: Exempel u. von Johannes Freders niederdt. Ehebüchlein Exempelsammlungen. Hg. Walter Haug u. B. Wa(1543), einem Streitgespräch zwischen Jo- chinger. Tüb. 1991, S. 239–263. – Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede hannes u. Antiochus über den Wert der Ehe, volkssprachiger Sammlungen v. Exempeln, Fabeln, das H. zum Zweck der stärkeren Akzentuie- Sprichwörtern u. Schwänken des 16. Jh. Tüb. 1996. rung u. Illustration der Kerngedanken der – H. Schade: A. H. In: EM 6 (1999), Sp. 1229–1233. Ehelehre durch zahlreiche histor., bibl. u. Ralf Georg Czapla mytholog. Exempla erweiterte. Dank der Übersetzung ins Lateinische war dem Buch nicht nur eine über den dt. Sprachraum hinHonegger, Arthur, * 27.9.1924 St. Gallen. ausgehende Rezeption, sondern auch die – Romancier. Wertschätzung der Jesuiten beschieden. Analog verfuhr H. in dem auf Lk 2 basieren- H. wuchs bei Pflegeeltern in Tann (Zürcher den Erziehungsbüchlein Der Eltern und Kinder Oberland) auf, kam 14-jährig in ein ErzieSpiegel (Lpz. Auch 1569, 1596), das die hungsheim u. war 1941–1944 Zögling der Grundsätze einer christl. Erziehung sowie die Arbeitserziehungsanstalt Uitikon. Danach Pflichten von Eltern u. Kindern mit histor. arbeitete er viele Jahre als Knecht u. Kellner. Exempla illustriert. Mit der Declamatio Lilii Eigene Initiative u. der Besuch von Schulen u. Vicentini (Ffm. 1571) u. dem postum erschie- Kursen förderten seine Weiterbildung. Nach nenen Calendarium sanctorum et historiarum Tätigkeiten als Parteisekretär der SP des (Lpz. 1573. Auch 1575, 1576, 1579, 1580, Kantons Thurgau, Reporter beim Boulevard1587, 1589, 1595, 1599, 1600, 1610) liegen blatt »Blick« u. als Redakteur beim »Diner’s weitere Exempelsammlungen von H. vor. Als Club Magazin« ließ sich H. als freier SchriftSterbebüchlein stellt die Declamatio, eine um steller in Krummenau im Toggenburg nieBeispiele vom Leiden u. Sterben gottesfürch- der. 1991–2000 war er Mitgl. der sozialde-
Honigmann
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mokratischen Fraktion im Großen Rat des in den großen Rat. 1992 (R.). – Armut. 1994 (R.). – Bernies Welt. 1996 (R.). – Zwillinge. 2000 (R.). – Kantons St. Gallen. 1974 erschien H.s erster Roman Die Fertig- Der rote Huber. 2007 (Reportagen). Literatur: Max v. der Grün: Gegen Verführung. macher (Zürich. Erw. Neuausg. Frauenfeld In: Dt. Volkszeitung, 29.4.1976. – Heinz Hug: 2004), in dem er durch die Figur Bernie Oberholzer realistisch seine eigene Kindheit Engagement u. Resignation. Zu einigen neuen Werken deutschschweizer. Prosalit. In: kürbiskern in den 1930er Jahren schildert. Die Anklage (1986), H. 1. – Beatrice Eichmann-Leutenegger: Ein gegen Bevormundung u. Unterdrückung Anwalt der Stiefkinder des Lebens. In: NZZ, findet ihre Fortsetzung in den Romanen Der 3.11.1994. – Bruno H. Weder: A. H. In: KLG. Ehemalige (Frauenfeld 1979) u. Wegmacher Klaus W. Hübner (ebd. 1982), in dem er auch zeitgeschichtl. Aspekte verarbeitet, die die schweizerischen Honigmann, Barbara, * 12.2.1949 Berlin. Verhältnisse vor dem u. während des Zweiten – Verfasserin von Theaterstücken u. ErWeltkriegs beleuchten. Freitag oder die Angst zählungen; Malerin. vor dem Zahltag (Zürich/Köln 1976) behandelt die Zeit von Hitlers Machtergreifung bis zur H. wuchs in Ost-Berlin als Tochter jüd. Mobilmachung. Der auch in der Schweiz Kommunisten auf, die nach dem Krieg aus drohende Nationalsozialismus ist Thema des dem Londoner Exil zurückgekehrt waren, Romans Wenn sie morgen kommen (Frauenfeld um ein »neues Deutschland« aufzubauen. 1977). H. zeichnet ein Bild einfacher Leute, Der Vater Georg Honigmann hatte in Engdie entscheiden müssen, ob sie dem neuen land für die Nachrichtenagentur Reuters geZeitgeist folgen oder Widerstand leisten. arbeitet u. zählte in den Aufbaujahren der Dieses Thema greift er erneut im Roman DDR als Chefredakteur der »Berliner ZeiBühler (ebd. 2002) auf. In den Romanen Der tung«, als DEFA-Autor u. als Leiter des KaNationalrat (ebd. 1982) u. Götti (ebd. 2006) baretts »Die Distel« zur linksbourgeoisen beschreibt H. Aufstieg u. Fall von Kommu- Elite des neuen Staates. Die aus Wien stamnal- u. Landespolitikern. Auch in weiteren mende Mutter Lizzy Kohlmann war vor ihrer Romanen verknüpft er eigene Erfahrungen Ehe mit Honigmann zwölfeinhalb Jahre mit mit dem gesellschaftl. Alltag der Schweiz u. dem »Meisterspion« u. Doppelagenten Kim prangert soziales Unrecht an. Seine Vergan- Philby zusammen. H. studierte nach dem genheit als »Verdingkind«, deren ausgebeu- Abitur ab 1967 an der Humboldt-Universität tete Existenzen an Sklaverei erinnern, the- Theaterwissenschaften, arbeitete anschliematisiert er zusammen mit Lotty Wohlwend ßend drei Jahre als Dramaturgin in Branin dem Report Gestohlene Seelen. Verdingkinder denburg u. am Deutschen Theater Berlin, in der Schweiz (ebd. 2004). H. verhilft dem dann – seit 1975 – als freischaffende Malerin. schweren Schicksal von Kindern, die mit 1984 übersiedelte sie, die in einem nichtreliamtl. Duldung als Leibeigene u. billige Ar- giösen Elternhaus aufgewachsen war, mit beitskräfte phys. u. psych. Torturen erlitten, ihrer Familie nach Straßburg u. schloss sich der dortigen orthodoxen jüd. Gemeinde an. zu einer eigenen Sprache. H. zählt – neben Thomas Brasch, Maxim H. erhielt 1974 den Preis der Stadt Zürich, 1976 den Preis der Schweizer Schillerstif- Biller, Gila Lustiger u. Minka Pradelski – zur tung, 1999 den Anerkennungspreis des Kan- »zweiten Generation« dt. Juden nach dem tons St. Gallen u. 2000 die Ehrengabe der Holocaust. »Ohne es zu bemerken«, sagt H., sei sie Schriftstellerin geworden. 1980 wurde Literaturkommission des Kantons Zürich. ihre Märchenadaptation Das singende sprinWeitere Werke (Erscheinungsort jeweils Fraugende Löweneckerchen (in: Spielplatz 3. Fünf enfeld): Der Schulpfleger. 1978 (R.). – Alpträume. 1981 (R.). – Der Schneekönig u. a. Gesch.n aus dem Theaterstücke für Kinder. Hg. Marion Victor. Toggenburg. 1982 (E.). – Der Weg des Thomas J. Ffm. 1990, S. 125–160) in Zwickau uraufge1983 (R.). – Ein Flecken Erde. 1984 (R.). – Das führt. 1986 folgte der hochgelobte erzähleDenkmal. 1985 (R.). – Dobermänner reizt man rische Erstling Roman von einem Kinde nicht. 1988 (R.). – Der fremde Fötzel oder die Wahl (Darmst./Neuwied). Die sehr privaten Skiz-
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Honorius Augustodunensis
H. erhielt u. a. den aspekte-Literaturpreis zen sprechen von der Schwierigkeit, eine fromme jüd. Identität in einer säkularen (1986), den Stefan-Andres-Preis (1992), den Umwelt zurück zu gewinnen. Sie sind in ei- Nicolas-Born-Preis (1994), den Kleist-Preis nem unprätentiösen Sinn selbst religiöse Li- (2000), den Jeanette-Schocken-Preis (2001), teratur. Der Sprung vom Osten in den Wes- den Koret Jewish Book Award (2004, zusamten, von Deutschland nach Frankreich u. von men mit Ahron Megged), den Solothurner der Assimilation in das Thora-Judentum be- Literaturpreis (2004) u. den Spycher: Literagründen für H. eine Fremdheit der Existenz, turpreis Leuk (2005). Weitere Werke: Soharas Reise. Bln. 1996 (E.). – wie sie die Situation der jüd. Diaspora immer schon auszeichnete. Ihr Schreiben themati- Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball. Heidelb. siert diese Fremdheit; es wird zur »Entde- 1998 (Pr.). – Damals, dann u. danach. Mchn./Wien ckungsreise in das Innere des Judentums«. 1999 (Pr.). – Alles, alles Liebe! Mchn./Wien 2000 (R.). – Blick übers Tal. Zu Fotos v. Arnold Zwahlen. Zunehmend eignet sich H. die rätselhafte u. Hg. Thomas Hettche. Basel/Weil am Rhein 2007. – widersprüchl. Geschichte der eigenen Familie Das überird. Licht. Rückkehr nach New York. an, die, typisch für die gesamte Generation Mchn. 2008. von Holocaust-Opfern wie -tätern, über ihre Literatur: Thomas Kraft: B. H. In: LGL. – MiErfahrungen während der NS-Zeit ihren chael Braun u. Ulrike Pohl-Braun: B. H. In: KLG. – Kindern gegenüber geschwiegen hatte. Eine Petra Renneke: Im Schatten des Verstehens – B. H. Liebe aus nichts (Bln. 1991) ist die Auseinan- Würzb. 2007. – Petra S. Fiero: Zwischen Enthüllen dersetzung der Tochter mit dem Vater, dem u. Verstecken. Eine Analyse v. B. H.s Prosawerk. im Leben »irgendwie alles nicht geglückt« Tüb. 2008. Rainer Hank war. Mit Ein Kapitel aus meinem Leben (Mchn./ Wien 2004) folgt, erzählerisch überzeugender Honorius Augustodunensis, auch: H. noch, das Porträt der Mutter, einer Frau, de- von Autun, H. von Regensburg, * 1080/ ren Leben von Geheimnissen umhüllt war. 90, † 1156. – Presbyter u. Scholasticus. Die Mutter lehrte die Tochter die »hohe Weithin ungeklärt sind H.’ Lebensdaten. Mit Kunst, so nah wie möglich an der Wahrheit einiger Sicherheit lassen sich nur gedankl. zu lügen«, eine Fähigkeit, die das Vertrauen Beziehungen zu Anselm von Canterbury u. in die eigene Existenz destabilisiert, aber geografische zu Regensburg erschließen. Gevorzüglich als poetolog. Maxime dienen boren in England oder Irland, trat er in den kann. Benediktinerorden (in Canterbury?) ein u. Über ihr Verständnis autobiogr. Schreibens gelangte nach 1110 über Siegburg nach Regibt H. Auskunft im Essayband Das Gesicht gensburg. Nach langer Forschungsdiskussion wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und dürfte die Zuweisung von Augustodunensis Judentum (Mchn./Wien 2006): Die Bücher über statt zu Autun, Canterbury oder Augsburg die Eltern sind für sie nicht auf faktisch-his- auf Regensburg nun gesichert sein. Als Intor. Wahrheit ausgerichtete Spurensuche, sie kluse gehörte H. wohl zu den irischen Mönähneln vielmehr Porträts der Malerei, bei chen der Schottenabtei St. Jakob in Regensdenen nicht ausgeschlossen ist, dass ihnen burg. weitere, abweichende Versuche zum selben H. zählt zu den großen VermittlungstheoGegenstand folgen werden. H. verlangt von logen des 12. Jh. Seine pädagog. Absicht war ihrer Prosa, sie müsse so »wahr sein, wie es es, dem durch Büchermangel an Erkenntnis nur Fiktion sein kann«. H.s Sprache ist der Wahrheit gehinderten Klerus das geistige nüchtern, unaufgeregt, unspektakulär, zu- Rüstzeug für seine pastorale Tätigkeit zu weilen gar naiv: »Kein prunkender Stil und vermitteln. Äußerlich bereits zeigen die erst recht keine Erzähltechnik soll die meisten seiner Werke seine didaktischSchwere des Inhalts überwölben.« Dem kor- pädagog. Absicht durch die Dialogform. Sein respondiert eine präzise Wahrnehmung, die Ziel war kein eigenes theolog. System, sonvon der doppelten Schulung der Autorin als dern die handbuchartige Zusammenfassung Dramaturgin u. Malerin zeugt. des naturwissenschaftl., exeget., liturg.,
Honorius Augustodunensis
philosophischen u. histor. Grundwissens seiner Zeit. Ein sich auf Anselm stützender rationaler Denkansatz macht ihn zu einem der wichtigsten Wegbereiter der sog. Renaissance des 12. Jh. Das Œuvre des H. umfasst mehr als 30 Schriften, die nur z. T. in modernen Editionen zugänglich sind, alle in lat. Sprache. Bei folgenden Werken ist eine Wirkung auf die dt. Literatur nachgewiesen: Das Elucidarium (Hg. Yves Lefèvre. Paris 1954) ist ein katechetisches Handbuch, das auf der Basis von Anselm u. Johannes Scotus Eriugena komplexe theolog. Zusammenhänge vereinfacht darstellt für weniger gebildete Kleriker zum prakt. Gebrauch. Mit über 300 Handschriften vom 12.-16. Jh. in ganz Europa verbreitet, übersetzt in zahlreiche Volkssprachen, zählt diese neuartige systemat. Heilslehre zu den bekanntesten theolog. Traktaten des MA. Groß ist seine Wirkung im Bereich der volkssprachl. Predigt u. geistl. Dichtung. Die enzyklopäd. Imago mundi (Hg. Valerie Flint. In: Archives d’histoire doctrinale et littéraire 57, 1982, S. 1–531) gibt in drei Büchern eine Beschreibung der Welt, gegliedert nach Raum, Zeit u. Geschichte auf der Basis von Isidor, Beda, Hrabanus Maurus. Von Herrad von Hohenburg, dem dt. Lucidarius u. der Weltchronik Rudolfs von Ems bis hin zu Comenius ist die Imago mundi Quelle aller systemat. Lehrbücher u. enzyklopäd. Werke für Kleriker u. Laien. Die große Predigtsammlung Speculum ecclesiae (in: Patrologia Latina 172, Sp. 807–1108) u. die Gemma animae, eine Liturgieerklärung in vier Büchern nach Amalar von Metz (in: ebd. 172, Sp. 541–738), sind Grundlage vieler dt. Predigtu. Beichtbücher. Ein Großteil der geistl. Dichtung des 12. Jh. (z.B. Ezzos Gesang, Summa theologiae, Anegenge) verrät den Einfluss des H. Die Clavis Physicae (Hg. Paolo Lucentini. Rom 1974) ist ein Exzerpt in Dialogform aus Johannes Scotus Eriugenas De divisione naturae, in dem H. eine rationale Einsicht in das Wesen der Natur fordert. Dadurch wollte er zu einem vertieften Gottesverständnis verhelfen. Ihre Wirkung auf den sog. Heinrich von Melk, auf Berthold von Moosburg u. Nikolaus von Kues sowie auf volkssprachliche an-
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onyme Mystik wurde nachgewiesen (Lucentini). Am deutlichsten fassbar ist die Rezeption des H. im dt. Lucidarius, der ersten dt. Enzyklopädie um 1190. Der anonyme Verfasser kompilierte aus verschiedenen Werken des H. (Elucidarium, Imago mundi, Gemma animae) u. weiteren Quellen u. entnimmt sein gesamtes pädagogisch-didakt. Programm u. die Werkkonzeption dem H., ohne diesen jedoch zu nennen. So entsteht erstmals in einem dt. Prosatraktat eine systemat. Lehre von Gott, der Welt u. dem Heil, die einem nicht gelehrten volkssprachigen Publikum ausgewählte Bildungsinhalte der klerikalen Kultur vermittelt. Die Popularisierungsbemühungen des H. werden damit einem neuen Rezipientenkreis zugänglich. H. hat dadurch Anteil an der Entwicklung einer eigenständigen laikalen Bildung, die aus der Partizipation an der lat. Literatur u. geistlich-seelsorgerischen Lehre erwuchs. Weitere Werke: PL 172, Sp. 1–1270. Literatur: Joseph Endres: H.’ A. Beitr. zur Gesch. des geistigen Lebens im 12. Jh. Kempten/ Mchn. 1906. – Valerie Flint: The Place and Purpose of the Works of H. A. In: Revue Bénédictine 87 (1977), S. 97–127. – Dies.: World History in the Early Twelfth Century: The ›Imago Mundi‹ of H. A. In: Essays presented to Richard W. Southern. London 1981, S. 211–238. – Hartmut Freytag: H. A. In: VL. – Maria Ludovica Arduini: ›Rerum mutabilitas‹. Welt, Zeit, Menschenbild u. ›Corpus EcclesiaeChristianitatis‹ bei H. v. R. (A.). In: Recherches de Théologie ancienne et médievale 52 (1985), S. 78–108. – Marie-Odile Garrigues: L’œuvre d’H. A.: inventaire critique. In: Abh.en der Braunschweig. Wissenschaftl. Gesellsch. 38 (1986), S. 7–138. 39 (1987), S. 123–228. – Rhaban Haacke u. M. L. Arduini: H. A. In: TRE. – Aaron J. Gurjewitsch: Mittelalterl. Volkskultur. Mchn. 1987. – Dagmar Gottschall: Das Elucidarium des H. A. Untersuchungen zu seiner Überlieferungs- u. Rezeptionsgesch. im deutschsprachigen Raum mit Ausg. der niederdt. Übers. Tüb. 1992. – Loris Sturlese: Zwischen Anselm v. Aosta u. Johannes Eriugena: Der merkwürdige Fall des H., des Mönchs v. Regensburg. In: Ders.: Die dt. Philosophie im MA. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen 748–1280. Mchn. 1993, S. 119–142. – Marlies Hamm: Der dt. Lucidarius. Bd. 3: Komm. Tüb. 2002. Marlies Hamm / Dagmar Gottschall
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Hopfen, Hans (Demetrius) Ritter von (geadelt 1888), urspr. Mayer von Lindenthal, * 3.1.1835 München, † 19.11.1904 Großlichterfelde (heute zu Berlin). – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Kritiker.
Hopp
später u. d. T. Die Engelmacherin) oder erzählte aus dem Großstadtleben Berlins (Im Schlaf geschenkt. Bln. o.J. [um 1895]). Seine Dramen gab er gesammelt in Theater (Bln. 1889) bzw. Neues Theater (2 Bde., Bln. 1892/93) heraus, seine krit. Schriften z.T. in Streitfragen und Erinnerungen (Stgt. 1876). In einem Nachruf bescheinigte Heinrich Hart H., zwischen Klassik u. Romantik, Realismus u. Moderne zu schwanken u. zu der jungen Generation »kein rechtes Verhältnis« gefunden zu haben (Hans Hopfen. Ein Gedenkwort. 1904).
Der unehel. Sohn eines Kaufmanns (adoptiert 1845) studierte 1853–1858 in München Rechtswissenschaften u. Geschichte. Er praktizierte am Stadt- u. Landgericht, legte die beiden juristischen Examina ab u. arbeitete am Historischen Seminar unter Heinrich von Sybel. Nachdem Emanuel Geibel 1860 Weitere Werke: Verdorben zu Paris. 2 Bde., H.s Gedichte wertgeschätzt hatte, entschied Stgt./Lpz. 1868 (R). – Der graue Freund. 4 Bde., sich H. für den Dichterberuf. 1862 wurde er Stgt. 1874 (R.). – Mein Onkel Don Juan. Eine Gesch. als Beiträger des von Geibel herausgegebenen aus dem vorigen Jh. 2 Bde., Bln. 1881. – Tiroler Münchner Dichterbuchs der Öffentlichkeit be- Gesch.n. 2 Bde., Dresden/Lpz. 1884/85. – Ein kannt. Die dort enthaltene Ballade Die Send- wunderl. Heiliger. Eine Wiener Gesch. Lpz. 1886. – linger Bauernschlacht zählt zu seinen bedeu- Robert Leichtfuß. 2 Bde., Stgt. 1888 (R.). – Wie ich tendsten Leistungen. Im selben Jahr führte anfing u. wie ich in die Litteratur kam. In: Dt. man ihn in den einflussreichen »Münchner Dichtung 16 (1894), S. 81–86, 105–110. – Der Väter zweie. Eine Gesch. aus dem modernen Berlin. 2 Dichterkreis« u. die »Gesellschaft der KroBde., Stgt. 1898. – Zehn oder Elf ? Eine Erzählung kodile« ein. Im Anschluss an eine Bildungs- aus dem Süden. Stgt. 1901. – Soll der Dichter einen reise nach Venedig (1862) ging er über Paris bürgerl. Beruf haben? In: Das litterar. Echo 4 (1863) nach Wien, wo er in Grillparzer u. (1901/02), Sp. 437–445. – Gotthard Lingens Fahrt Friedrich Halm Freunde u. Förderer fand. nach dem Glück. Bln. 1902 (R.). 1864 wurde er an der Univ. Tübingen zum Literatur: Franz Muncker: H. H. In: WesterDr. phil. promoviert u. debütierte als Erzäh- manns illustrierte Monatsbl. 59 (1885/86), ler mit dem Roman Peregretta (Bln.). 1865/66 S. 781–797. – Conrad Alberti: H. H. In: Das litterar. war H. in Wien Generalsekretär der Deut- Echo 1 (1898/99), Sp. 413–418. – Karl Muth: H. v. schen Schillerstiftung. In dieser Eigenschaft H. In: Hochland 2 (1904/05), S. 505. – Lili Schalkschrieb er literar. Gutachten (vgl. Rudolf Hopfen: H. H. In: BJ 9 (1906), S. 340 ff. – Ernst Lissauer: H. H. als Lyriker u. Balladendichter. In: Goehler: Die deutsche Schillerstiftung 1859–1909. Die Rheinlande 18 (1909), S. 386–388. – Helmut Bd. 2, Bln. 1909). 1866 heiratete H., kündigte Habersbrunner: Die Gedichte H. v. H. auf ihre bei der Schillerstiftung u. zog nach Berlin, wo Vorbilder hin untersucht. Diss. Mchn. 1925. – Karl er als freier Schriftsteller in hohem Ansehen Schindler: H. H. In: NDB. – Goedeke Forts. lebte, bis es in den 1890er Jahren ruhiger um Philip Ajouri ihn wurde. Nachdem 1878 seine Frau gestorben war, heiratete er 1882 erneut. Hopp, Friedrich Ernst, * 23.8.1789 Brünn, H.s Lyrik (Gedichte. Bln. 1883), von seinen † 23.6.1869 Wien. – Theaterdichter u. Förderern Geibel u. Halm sowie der Ironie Schauspieler. Heines geprägt, zeichnet sich gleichermaßen durch die eleganten Stanzen der Literatursa- Der Sohn eines Fabrikanten arbeitete nach tire Der Pinsel Ming’s (1868) wie den derben dem Besuch der Realschule zunächst in der Vagantenton der Sendlinger Bauernschlacht aus. Landwirtschaftsverwaltung in Oberwitz u. Als Erzähler orientierte sich H. u. a. an den 1806–1819 als Buchhalter u. Kaufmann in frz. Realisten. Seine Prosa schildert das Brünn. 1808 leitete er ein Privattheater; Münchner Studentenmilieu ebenso wie das 1815–1818 war er Schauspieler am Brünner ländl. Leben (Bayrische Dorfgeschichten. Stgt./ Stadttheater, danach in Graz u. 1820–1822 in Lpz. 1878). Er kritisierte den Religionsfana- Pressburg u. Baden bei Wien. 1822–1845 tismus der Tiroler Bergbauern (Um den Engel, wirkte H. am Theater an der Wien u. am Jo-
Hoppe
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sephstädter Theater. Sein Konkurrent war Nestroy, dessen bedeutendster Rivale als Possendichter H. bis zu Beginn der 1840er Jahre blieb. 1845 verließ H., erfolglos geworden, Wien u. ging als Schauspieler u. Regisseur nach Pest. 1847 kehrte er nach Wien zurück u. wirkte bis 1849 am Leopoldstädter Theater. Danach war er Harfenist u. Volkssänger, bis er 1853/54 als Schauspieler in Ödenburg Anstellung fand. 1855–1860 engagierte ihn Nestroy am Theater in der Leopoldstadt. 1860–1862 wirkte H. am Theater am Franz-Josefs-Kai. Seine Possen gewinnen aus traditionellen Elementen der Altwiener Volkskomödie eine neue Synthese, die einen sonst nur von Nestroy erreichten sozialen Realismus erschließt. Dieser ist v. a. an den unteren Publikumsschichten orientiert, ohne jedoch jenen moralistischen Tendenzen zu verfallen, die den Wirklichkeitsgehalt in den Stücken seiner Rivalen Friedrich Kaiser u. Karl Haffner unterlaufen. H.s Schaffen erreicht den Höhepunkt mit den sozialpolitisch profilierten Vormärzpossen Doctor Fausts Hauskäppchen (Urauff. 1840. Lpz. o. J.) u. Der Pelzpalatin (Urauff. 1840. Wien 1853). Weitere Werke: Die Bekanntschaft im Paradiesgarten. Wien 1839 (Posse). – Hutmacher u. Strumpfwirker. Wien 1839 (Posse). – Das Gut Waldegg. Wien 1841 (Posse). – Atlasshawl u. Harrasbinde. Wien 1849 (Posse). – Elias Regenwurm. Wien 1853 (Posse). Literatur: Max Pfeiler: Der Volksdichter F. E. H. Diss. Wien 1949. – Otto Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Wien 1952. – Erich Joachim May: Wiener Volkskomödie u. Vormärz. Bln./DDR 1975. – Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. 3., neu bearb. Aufl. Darmst. 1997. – Goedeke Forts. Wolfgang Neuber
Hoppe, Felicitas, * 22.12.1960 Hameln/ Niedersachsen. – Verfasserin von Erzählungen, Romanen u. Kinderbüchern. Nach dem Abitur 1980 studierte H. Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft, Russisch, Italienisch u. Rhetorik in Hildesheim, Tübingen, Eugene/Oregon (USA), Rom u. Berlin. Sie arbeitete als Dramaturgin u. Journalistin u. a. für die »taz«, die »Frankfurter Rundschau« u. die »Frankfurter All-
gemeine Zeitung«. Nach Unglückselige Begebenheiten (Eppelheim 1991) wurde Picknick der Friseure (Reinb. 1996) H.s erster Erfolg: Die zwölf surrealistischen, teils parabelhaften Erzählungen gewannen beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb den Ernst-Willnerpreis u. erhielten den »aspekte«-Literaturpreis des ZDF. Zahlreiche weitere Auszeichnungen folgten. Das Preisgeld investierte H. in eine Weltreise. 1997 bestieg sie in Hamburg einen Containerfrachter u. umrundete in vier Monaten die Erde. Literarischen Niederschlag fand die Seefahrt in H.s erstem Roman Pigafetta (Reinb. 1999), benannt nach Antonio Pigafetta, der 1519 mit Magellan zu der ersten Weltumsegelung aufbrach. Der Roman kombiniert Elemente aus Pigafettas Reisebericht mit H.s Reiseerfahrungen u. zahlreichen literaturgeschichtl. Anspielungen aus der Abenteuer- u. Seefahrerliteratur wie Moby Dick oder dem Fliegenden Holländer. Auch in ihrem 2003 erschienenen episod. Roman Paradiese, Übersee (Reinb.) spielt H. mit histor. Personal. Das von Ritter- u. Schelmenromanen inspirierte Leitmotiv der Reise u. der Suche nach Abenteuer verfestigt sich in dem Erzählband Verbrecher und Versager (Hbg. 2004). In fünf Porträts schildert H. histor. »Männer aus zweiter Reihe«, die ihr Heil in der Ferne suchten: einen Schiffsgärtner, einen Schiller-Kumpan, der als Soldat nach Afrika zog, John Hagenbeck, Bruder des berühmten Hamburger Zoologen, eine fiktive Gestalt sowie Franz Wilhelm Junghuhn, dem in der Heimat der Selbstmord misslang u. der in der Ferne als »Humboldt von Java« starb. Seine Geschichte verarbeitete H. auch in dem Kinderbuch Die Reise nach Java (Bln. 2003). In Johanna (Ffm. 2006) widmet sich H. der Figur der Jungfrau von Orléans. Sie selbst bezeichnet ihr Buch als »historischen Gegenwartsroman«, der anders als der histor. Roman so tue, »als lebte diese historische Gestalt heute« (Auge in Auge. In: Neue Rundschau 118, 2007, S. 63). Das bruchlose Nebeneinander von Vergangenem u. Gegenwärtigem, Faktischem u. Möglichem ist charakteristisch für H.s Literatur. Ihre rhythmisierte u. symbolische Sprache macht sie zu einer der originellsten Autorinnen der dt. Gegenwartsliteratur.
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Horbach
H. erhielt 1997 den Rauriser Literaturpreis, 2004 den Nicolas Born-Preis des Landes Niedersachsen u. den Heimito von Doderer-Literaturpreis, 2005 den Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau, 2007 den Literaturpreis der Stadt Bremen u. den Roswitha-Preis. 2007 wurde sie in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, aufgenommen.
poetischen Kostbarkeiten: »Du bist Miraclia / Aus Portugalia, / Mit heißen Nylonlippen / Und sieben Kupferrippen. / Du rote Glocke, du / Wenn ich dich seh, hat Ruh / Mein Haifischherz. Nie welke, / Du messerscharfe Nelke« (Miraclia).
Weitere Werke: Das Richtfest. Bln. 1997. – Drei Kapitäne. Bln. 1998. – Vom Bäcker u. seiner Frau. Bln. 1999. – Die Torte. Bln. 2000. – Fakire u. Flötisten. Bln. 2001. – Ingrids Affen. Ein Berliner Geburtstag. Bln. 2006. – Iwein Löwenritter. Nach einem Roman v. Hartmann v. Aue. Ffm. 2008. – Sieben Schätze. Ausgburger Vorlesungen. Ffm. 2009.
Literatur: Rolf Bossert: ›Die Liebe der kommenden Zeiten ...‹ In: Neuer Weg, Bukarest 24.12.1983. – Hans Bergel: Der Fall des siebenbürg. Lyrikers G. H. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 36 (1987), S. 193–197. – ›Die wirre Nacht ist nicht verraucht ...‹. Der Lyriker G. H. u. zwei Dokumente des Terrors. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 39 (1990), S. 13 f. – Ingmar Brantsch: Flügelschläge im Schatten des Totalitarismus. G. H., dem trag. Frühvollendeten, zum 25. Todestag. In: Kulturpolit. Korrespondenz (1994), H. 896, S. 11–14.
Literatur: Stefan Neuhaus: F. H. In: KLG. – Ders. u. Martin Hellström (Hg.): F. H. im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartslit. Innsbr. 2008. Sven Behrisch
Weitere Werke: Gedichte. Aus dem Nachl. hg. u. mit einem Vorw. v. Stefan Sienezth. Bukarest 1983.
Klaus Hensel / Red.
Hoprich, Georg, * 29.12.1938 Thalheim/ Horbach, Michael, auch: M. Donrath, Daia, † 9.4.1969 Heltau/Cìsna˘die – Lyri- * 13.12.1924 Aachen, † 1.11.1986 Marseille. – Romanautor, Verfasser von Doker. kumentarberichten u. Drehbüchern. 1956 begann H. ein Germanistikstudium in Bukarest. Im Juni 1961 wurde er von den rumän. Stalinisten beschuldigt, staatsfeindl. Propaganda betrieben zu haben, u. zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Im Aug. 1964 wurde er entlassen u. konnte 1967 sein Studium abschließen. Der Eintritt ins Lehramt wurde ihm jedoch verweigert, was einem Berufsverbot gleichkam. In einem Abschiedsbrief gab er polit. Gründe für seinen Freitod an. H. war innerhalb der rumäniendt. Literaturszene ein Einzelgänger. In seinen frühen Gedichten finden sich Anklänge an Rilke u. an die Expressionisten Heym u. Trakl. Was ihn von den Schriftstellern seiner Generation unterschied, war die Konsequenz, mit der er die Lobhudeleien in der Manier des Sozialistischen Realismus ablehnte. Manchmal gelangen ihm ungewöhnl. Bilder, die seinem verspielt-melanchol. Wesen zu entsprechen schienen: »Ich weine ungenau / um eine andre Welt, / ich acht mich nicht, ich trau / mir nicht als wär ich Geld« (Ich bleibe manchmal stehn). Die Überraschungen gipfeln in kleinen
H. wurde mit 18 Jahren Soldat an der Ostfront, arbeitete nach dem Krieg als Journalist u. Korrespondent für verschiedene Nachrichtenagenturen, u. a. in Bonn, u. lebte in Château-neuf-du-Pape/Frankreich sowie in Aachen. Nachdem er seine Frau, die Schriftstellerin Alexandra Cordes, getötet hatte, beging H. Selbstmord. In seiner ersten Publikation, dem Antikriegsroman Die verratenen Söhne (Hbg. 1957. Herrsching 1989), unternahm H. den Versuch einer Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Er beschrieb die letzten Kriegsmonate einer dt. Infanterieeinheit an der Ostfront u. wurde damit, ähnl. wie Gert Ledig, zum Sprecher der Kriegsgeneration. In Gestern war der jüngste Tag (Mchn. 1959) wird dieses Thema nach dem Krieg fortgeführt: Der im Krieg schwerverwundete Korrespondent einer amerikan. Nachrichtenagentur kann sich in Bonn, der bundesdt. Hauptstadt mit ihren restaurativen Tendenzen u. der Korruption unter den Politikern, nicht von seinen Erinnerungen befreien.
Horkheimer
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Der Dokumentarbericht Wenige. Zeugnisse toten Augen‹ u. Manfred Gregors ›Die Brücke‹. In: der Menschlichkeit 1933–45 (Mchn. 1964. Treibhaus 3 (2007), S. 99–124. Hans Wagener / Red. U. d. T. So überlebten sie den Holocaust. Mchn. 1979. 41995) beschreibt in einzelnen Lebensberichten das Schicksal von Juden im »Drit- Horkheimer, Max, auch: Heinrich Regiten Reich«, denen von Deutschen selbstlos us, Sapiens, * 14.2.1895 Zuffenhausen, geholfen wurde. † 7.7.1973 Nürnberg; Grabstätte: Bern, Der Roman Der gestohlene Traum (Mchn. Jüdischer Friedhof. – Sozialphilosoph. 1982) thematisiert die Pervertierung von Idealen im »Dritten Reich« u. zeigt die viel- Der Fabrikantensohn, zunächst zum Kauffältigen persönl. Gründe zur Zustimmung u. mann bestimmt, studierte von 1919 an u. a. in Desillusionierung. H. versuchte einerseits ei- Frankfurt/M. Psychologie u. Philosophie. nen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der 1922 bei Hans Cornelius mit der Arbeit Über dt. Geschichte, v. a. mit dem »Dritten Reich«, die Antinomie der teleologischen Urteilskraft prozu leisten; andererseits nahm er auch aktuelle moviert, habilitierte er sich 1925 mit einer Themen wie die bundesdt. Restauration, das Untersuchung über Kants Kritik der Urteilskraft Wirtschaftswunder oder den Nahostkonflikt als Verbindungsglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. 1930 wurde er Ordinazum Handlungshintergrund seiner Romane. rius für Sozialphilosophie u. Direktor des Mit ihrem episod., dialogreichen Stil, einer Frankfurter Instituts für Sozialforschung. emotionalen, oft auch pathet. Sprache, die 1933 emigrierte H. u. verlegte 1934 das InKlischees u. Gemeinplätze nicht vermeidet, stitut nach New York. In der von ihm herbewegen sich seine Erfolgsromane oft auf Ilausgegebenen »Zeitschrift für Sozialforlustriertenniveau. schung« (Lpz., später Paris, dann New York Weitere Werke: Romane: Bevor die Nacht be- 1932–41. Neudr. Mchn. 1980) erschienen die gann. Mchn. 1960. – Liebe in Babylon. Mchn. 1961. Essays, die ihn als Spiritus rector der Kriti– Nach zwanzig Jahren Treue. Mchn. 1966. – schen Theorie der Frankfurter Schule ausDoktor Lesius, der Teufel. Bergisch Gladbach 1967. wiesen. 1941 zog H. nach Kalifornien, wo in – Arab. Nächte. Ebd. 1968. – Das Lied des Regenvogels. Bayreuth 1968. – Sühne im All. Ebd. 1970. – enger Zusammenarbeit mit Theodor W. Die Titanen. Mchn. 1970. – Nächstes Jahr in Jeru- Adorno die Dialektik der Aufklärung (Amsterd. salem. Der Kampf um das gelobte Land. Mchn. 1947. Ffm. 2003) u. H.s eigenes Hauptwerk 1973. – Die Kanzlerreise. Bern 1974. – Die Löwin. Eclipse of Reason (New York 1947. Dt. Zur Kritik Bern 1976. – Allah ist groß. Bern 1977. – Das dt. der instrumentellen Vernunft. Ffm. 1967. 2007) Herz. Mchn. 1978. – Laub vor dem Sturm. Mchn. entstanden. Nach der Rückkehr aus dem Exil 1980. – Kommando Grabeskirche. Mchn. 1981. – widmete er sich dem Wiederaufbau des Das Dach der Sterne. Mchn. 1983. – Eines Mannes Frankfurter Instituts; er lehrte dort u. in Leben. Mchn. 1983. – Kaninchen am Potsdamer Chicago bis zu seiner Emeritierung 1960. Platz. Mchn. 1984. – Mein Bruder Kain. Mchn. In H.s Werk kommen Protest gegen ge1984. – Und doch nicht allein. Mchn. 1984. – Die sellschaftl. Unrecht, Hoffnung auf eine mengläserne Maske. Mchn. 1985. – Das Mädchen im schenwürdige Welt u. pessimistische MetaSilbermond. Mchn. 1985. – Agentenroulett. Mchn. physik zusammen. Sein Denken bewegt sich 1986. – Unternehmen Morgenröte. Mchn. 1986. – zwischen Marx u. Schopenhauer: Marx’ KriWilde Hunde. Mchn. 1987. – Dokumentarbericht: Gespräch mit dem Mörder. 12 Interviews mit Le- tik der polit. Ökonomie steht für die Aufhebbarkeit ungerechter Verhältnisse, Schobenslänglichen. Bayreuth 1965. penhauers Pessimismus für die unaufhebbare Literatur: Erich Schaake: Lieben u. Sterben in der Provence. Die Gesch. der Alexandra Cordes. Negativität des Weltlaufs. H. wendet sich Mchn. 2005. – Jürgen Egyptien: Figurenkonzep- daher gegen sinnstiftende Metaphysik ebenso tionen im Kriegsroman. Die Darstellung v. An- wie gegen die positivistische Hinnahme des hängern, Mitläufern u. Gegnern des Nationalso- Gegebenen. Diese doppelte Frontstellung zialismus in Gert Ledigs ›Vergeltung‹, M. H.s ›Die verweist auf Kant. Dessen Idee eines in der verratenen Söhne‹, Harry Thürks ›Die Stunde der Vernunft angelegten Reichs der Freiheit war
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Hormayr zu Hortenburg
Weitere Werke: Krit. Theorie. Hg. Alfred für H. von entscheidender Bedeutung. Das hinderte ihn freilich nicht, in der Erkennt- Schmidt. 2 Bde., Ffm. 1968. – Aus der Pubertät. nistheorie Kants auch ein kalkulierendes Mchn. 1974. – Ges. Schr.en. Hg. Alfred Schmidt u. Denken zu sehen, das die Welt lediglich für Gunzelin Schmid Noerr. 18 Bde., Ffm. 1985 ff. – Briefe u. Briefw. Theodor W. Adorno – M. H. Hg. die Zwecke der menschl. Selbsterhaltung zu- Christoph Gödde u. Henri Lonitz. 4 Bde., Ffm. richte. Die Kritik am instrumentellen Cha- 2003–06. rakter der transzendentalen Kategorien u. Literatur: Helmut Gumnior u. Rudolf Ringbes. des Schematismus, wie er sie in der Dia- guth: M. H. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenlektik der Aufklärung entwickelte (im Juliette- ten. Reinb. 1973. 61997. – Alfred Schmidt: Die Kapitel), trat in H.s späterem Denken stark geistige Physiognomie M. H.s. In: Drei Studien zurück u. wich einer emphat. Herausstellung über Materialismus. Mchn./Wien 1977, S. 81–134. – Heidrun Hesse: Vernunft u. Selbstbehauptung. der eth. Bedeutung der Kantischen Lehre. Nach den neukantianisch geprägten Lehr- Krit. Theorie als Kritik der neuzeitl. Rationalität. Ffm. 1984. – Alfred Schmidt u. a. (Hg.): M. H. jahren wandte sich H. Ende der 1920er Jahre heute. Werk u. Wirkung. Ffm. 1986. – Willem van dem Marxismus zu. Dessen Lehre vom Primat Reijen: H. zur Einf. Hann. 1986. – Seyla Benhabib des Seins über das Bewusstsein verstand er (Hg.): On M. H. New perspectives. Cambridge/ von ihrer mögl. Aufhebung her. In einer London 1993. – Zvi Rosen: M. H. Mchn. 1995. – wahrhaft menschl. Gesellschaft wäre sie au- Rolf Wiggershaus: M. H. zur Einf. Hbg. 1998. – ßer Kraft gesetzt. In den 1930er Jahren ver- Alex Demirovic´ : Der nonkonformist. Intellektuelwirklichte H. durch seine wissenschaftspolit. le. Die Entwicklung der krit. Theorie zur FrankTätigkeit als Leiter des Instituts für Sozial- furter Schule. Ffm. 1999. – Christian Kreis: Das forschung u. in den großen Essays dieser Verhältnis der ›Krit. Theorie‹ v. M. H. u. Theodor W. Adorno zum utop. Denken. Stgt. 2006. – CleJahre das Konzept eines interdisziplinären mens Albrecht (Hg.): M. H. Gedanken zur polit. Materialismus, der in eine krit., der Mög- Erziehung der Deutschen. Eine Dokumentation. lichkeit des Besseren dienende Theorie der Wiesb. 2007. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Gesellschaft münden sollte. H.s Mitarbeiter Matthias Jung / Red. stellten in den Beiträgen der »Zeitschrift für Sozialforschung« u. den großen Studien über Autorität und Familie (Paris 1936) sowie den Hormayr zu Hortenburg, Joseph Frhr. Studies in Prejudice (New York 1949/50) die von, * 20.1.1781 Innsbruck, † 5.11.1848 Fruchtbarkeit dieses Konzepts unter Beweis. München; Grabstätte: ebd., NordfriedDie Schriften der 1940er Jahre entwickeln hof. – Historiker, Publizist u. Dramatiker. eine skept. Geschichtsphilosophie, die den H., dessen Familie schon im 14. Jh. unter den Durchbruch der Tendenzen zum Besseren Adligen Tirols bezeugt ist – der Großvater bezweifelt u. vor allem die »Dialektik der war Kanzler von Tirol, der Vater Landrat –, Aufklärung«, ihren mögl. Umschlag in Bar- studierte in Innsbruck Rechtswissenschaft u. barei betont. In Eclipse of Reason kritisierte H. trat 1797 beim Stadt- u. Landesgericht Innsdie »instrumentelle«, allein auf die Beherr- bruck in den Staatsdienst ein. 1800 wurde er schung innerer u. äußerer Natur ausgerich- zur Tiroler Landeswehr eingezogen; vom tete Vernunft. Die späten Notizen (Notizen Feldzug dieses Jahres kehrte er als Major 1950–1969 und Dämmerung. Ffm. 1974) poin- heim. Johannes von Müller riet dem schon tieren die Negativität des Weltlaufs. Im Motiv früh mit Abhandlungen hervorgetretenen der Sehnsucht nach dem ganz Anderen (Hbg. H., nach Wien zu gehen. Seine Karriere 1970; Interview) nähern sie sich theolog. führte, begünstigt durch eine außergewöhnl. Fragen, ohne aber den Atheismus preiszuge- Begabung u. einflussreiche Gönner, steil ben. bergauf: 1802 noch Hofkonzipist in der H.s Werk hat wie die Kritische Theorie, mit Staatskanzlei, war er 1808 bereits Direktor der es unlösbar verknüpft ist, im westl. Mar- des Geheimen Staats-, Hof- u. Hausarchivs xismus u. auf die Studentenbewegung einen sowie Hofrat. 1809 erfolgte die Ernennung entscheidenden Einfluss ausgeübt. zum Hofkommissär für Tirol u. Vorarlberg,
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wobei er sich sowohl organisatorisch als auch reichischen Plutarch (20 Tle., Wien 1807–12), publizistisch durch Aufrufe u. die Herausga- einem Höhepunkt der österr. polit. Publizisbe von Kampf- u. Propagandaschriften her- tik in der Abwehr Napoleons. vortat. Als H. nach der durch den Frieden von Weitere Werke: Historisch statist. Archiv für Schönbrunn erzwungenen Räumung Tirols Süddtschld. 2 Bde., Ffm./Lpz. 1807/08. – Österr. u. u. dem Scheitern der Volkserhebung unter Dtschld. Gotha 1814 (polit. Tendenzschr.). – Gesch. Andreas Hofer im »Alpenbund« – u. a. unter Andreas Hofers. Lpz./Altenburg 1817. – Wien, seiBeteiligung von Erzherzog Johann – einen ne Geschicke u. seine Denkwürdigkeiten. 9 Bde., neuerl. Aufstand plante, geriet er in Gegen- Wien 1823–25. – Anemonen aus dem Tgb. eines alten Pilgersmannes. 4 Bde., Jena 1845–47. – Polisatz zur Politik Metternichs, wurde im März tisch-histor. Schr.en, Briefe u. Akten. Hg. Helmut 1813 verhaftet u. bis Mai 1814 festgehalten. Reinalter. Ffm. 2003. Diese persönl. Kränkung konnte auch die Literatur: Karl Glossy: H. u. Karoline Pichler. 1816 erfolgte Ernennung zum Reichshisto- In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 12 (1902), S. 212–343. riografen durch Kaiser Franz II. nicht kom- – Maria Bezdeka: Biogr. des Frhr. J. v. H. Diss. Wien pensieren. Da H. eine Rückkehr auf die Ar- 1933. – Robert André: L’idée nationale autrichichivdirektorstelle unmöglich gemacht wur- enne et les guerres de Napoléon. L’apostolat du de, trat er 1828 in bayerische Dienste. Von Baron de H. et le salon de Caroline Pichler. Paris König Ludwig I. gefördert, übernahm H. zu- 1933. – Blanca Horacek: Grillparzer u. H. Diss. nächst im bayerischen Außenministerium die Wien 1942. – Alfred Mayrhofer-Schmid: H. u. die Bereiche Thronlehen u. Kirche, im Innenmi- Romantik 1802–13. Diss. Wien 1950. – Pál Deréky: nisterium das Reichsarchivreferat u. in der H.s ungar. Kreis. Diss. Wien 1980. – Lisa Christina Türkel: Das publizist. Wirken des J. Frhr. v. H. Akademie der Wissenschaften die HerausgaDiss. Wien 1980. – Wilhelm Haefs: J. v. H.s ›Tabe der »Monumenta boica«; daneben wurde schenbuch für die vaterländische Geschichte‹. Ein er zum Geschichtslehrer des Kronprinzen ›Magazin für Historienmaler, Balladen- und Robestellt. 1832 wurde er zum Ministerresi- manzendichter‹. In: Literar. Leitmedien. Almanach denten in Hannover ernannt; 1835 kam H. als u. Taschenbuch im kulturwiss. Kontext. Hg. Paul Vertreter Bayerns bei den Hansestädten nach Gerhard Klussmann u. York-Gothart Mix. Wiesb. Bremen. 1847 wurde er nach München zu- 1998, S. 211–227. Johannes Sachslehner / Red. rückberufen u. mit der Leitung des dortigen allg. Reichsarchivs betraut. Horn, Franz (Christoph), auch: Karl DorH.s Bedeutung liegt in seiner Rolle als ner, Friedrich Frei, J. G. Marquard, * 30.7. Förderer zahlreicher Wissenschaftler, Dichter 1781 Braunschweig, † 19.7.1837 Berlin; (Grillparzer, Seidl, Castelli) u. Künstler, deGrabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer nen er vielfache Publikationsmöglichkeiten Friedhof. – Dramatiker, Erzähler, Biograf zur Verfügung stellte, so etwa als Herausgeu. Literaturhistoriker. ber des »Archivs für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst« (Wien 1809–28) u. des Großbürgerliche Familienverhältnisse er»Taschenbuchs für die vaterländische Ge- möglichten H. eine umfassende Ausbildung. schichte« (mit wechselnden Verlagsorten u. Dem Besuch renommierter Braunschweiger Unterbrechungen 1811–1848). Beide Sam- Gymnasien (Carolinum, Catharineum) folgmelwerke bilden auch eine literarhistorisch ten in Jena 1799 rechtswissenschaftl., danach bedeutsame Quelle. in Leipzig philosophische, histor. u. ästhetiH.s eigene literar. Arbeiten illustrieren in sche Studien; bereits 1802 promoviert, wurde pathet. Überhöhung seine histor. Abhand- er 1803 Lehrer am Berliner Gymnasium zum lungen; als »historische Gemälde« konzi- Grauen Kloster. Dort erregten H.s »Vorlepierte H. seine Dramen Friedrich von Österreich sungstalent und Ideenreichtum« (Achim von (Wien 1805. 21824) u. Leopold der Schöne (Wien Arnim) Aufmerksamkeit; freilich kostete ihn 1806). Großen Einfluss auf die Herausbil- der gemäßigte Nationalismus seiner Gedung eines spezifisch gesamtösterr. Kultur- schichte und Kritik der deutschen Poesie und Beverständnisses u. Patriotismus hatten auch redtsamkeit (Bln. 1805) nach dem Einspruch die von ihm verfassten Biografien im Öster- Nicolais die Anwartschaft auf eine Erlanger
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Professur. Verbittert wechselte H. 1805 als Deutschen von Luthers Zeit bis zur Gegenwart. 4 Gymnasiallehrer an das Bremer Lyzeum. Bde., Bln. 1822–29). Diese Methodik u. die Schon 1809 erzwang eine fortschreitende internat. Rezeption seiner literarhistor. AbRheumaerkrankung seinen Rückzug aus dem handlungen (Einfluss auf Carlyle) beförderöffentl. Leben u. die Übersiedlung nach Ber- ten das populäre, idyllisch-altdeutsch u. prilin; als produktiver Erfolgsschriftsteller, ge- vat-biedermeierlich geprägte Bild der literar. schätzter Briefpartner zeitgenöss. Autoren u. Romantik. prominentes Mitgl. der Berliner LiteraturWeitere Werke: Eginhard u. Emma. Vaterländ. szene lebte er hier – von der literar. Avant- Schausp.e. Die Pilgerfahrt. Nachdr. der Ausg. garde zunehmend angefeindet – bis zu sei- Nürnberg 1811, Berlin 1811 und Nürnberg 1816. Hildesh. 1998. nem Tod. Literatur: Goedeke. – Lisel Grützmacher: F. Neben verstreut publizierten Rezensionen, Essays u. popularphilosophischen Abhand- H., ein Nachfahre der Romantik. Diss. Münster lungen (u. a. Philosophische Fragmente [...]. Bln. 1927. – Ernst Keller: Einf. In: F. H.: Umrisse zur 1807) veröffentlichte H. eine Vielzahl biogr. Gesch. u. Kritik der schönen Lit. Dtschlds. [...] 1790–1818. Neudr. Bern 1984. (Das Leben Friedrich Wilhelms des Großen [...]. Adrian Hummel / Red. Bln. 1814. Friedrich der Dritte [...]. Bln. 1816), literaturhistor. u. belletristischer Werke. Beachtung fanden dabei zunächst seine dramat. Horn, Hornius, Georg, auch: Honorius Eigenproduktion (u. a. Der Fall der Schweiz. Reggius Kemnathensis, * 1620 Kemnath/ Lpz. 1800), entsprechende ÜbersetzungsverOberpfalz, † 10.11.1670 Leiden. – Geosuche (Thyestes, Trauerspiel des Seneca, übersetzt graf u. Universalhistoriker. mit Einleitung über das Wesen der römischen Tragödie. Penig 1802) u. ihre poetolog. Fundie- Die Rekatholisierung der Oberpfalz nach der rung (Einige Worte über die Schauspiele der Fran- Schlacht am Weißen Berg zwang H.s Vater, zosen. Lpz. 1801. Shakespeare’s Schauspiele er- einen reformierten Pfarrer, ins brandenburgläutert. 5 Bde., Lpz. 1823–31). Der theoret. kulmbachische Exil nach Creußen. H. beSynthese Schiller’scher Sturm-und-Drang- suchte dort seit 1632 die Schule. Zeitweilig Dramatik mit romant. Schicksalsgläubigkeit hielt er sich auch bei seinem Onkel, dem Arzt entsprach allerdings eine ungenügende Pra- u. Alchemisten Caspar Horn, in Nürnberg xis voller Blutrünstigkeit u. hohlem Titanis- auf. Der Einmarsch der Schweden in Südmus; noch Heine fühlte sich deshalb zu ei- deutschland veranlasste die Familie erneut nem sarkast. Urteil über Franz, den »wilden zur Flucht, so nach Bayreuth u. Kulmbach. Jäger« (Atta Troll. Caput 18), herausgefordert. Nach dem Tod der Mutter (um 1634) wurde Ein anderes Bild vermittelt H.s Prosa: An H. zum Kriegsdienst im schwed. Heer geGoethes Wilhelm Meister u. Fouqués Ritterro- zwungen. Erst nach dem Prager Frieden mantik orientiert, reduzieren H.s »fromme (1635) konnte er unter der Obhut Caspar Novellen« (Hauff) u. Entwicklungsromane Horns in Nürnberg das Egidien-Gymnasium, (u. a. Guiskardo, der Dichter oder das Ideal. Lpz. dann die Universität Altdorf besuchen, wo er 1801. Otto. Bremen 1810. Die Dichter. Bln. u. a. bei Theodor Hackspan Hebräisch u. bei 1817/18. Novellen. 2 Bde., Bln. 1819/20) den Caspar Hofmann Medizin hörte. 18-jährig verschlungenen Reifungsvorgang des Prot- reiste H. in die Niederlande, wo er als Hausagonisten auf eine Serie von Prüfungen im lehrer tätig war. Ab 1644 studierte er in Lei»irdischen Jammertal«. Pietistische Inner- den Theologie (Promotion 1648). Zwischen lichkeit, inniges Harmoniestreben u. iren. 1645 u. 1647 besuchte er als Privatlehrer Christlichkeit gelten H. auch als zentrale Be- England. Frucht dieser Reise waren zwei wertungskriterien dt. »National-Individuali- Abhandlungen zur Geschichte des engl. Bürtät« u. nationaler (Literatur-)Geschichts- gerkriegs: Rerum Britannicarum libri VII u. De schreibung (Die Schöne Litteratur Deutschlands, statu ecclesiae Britannicae hodierno. während des achtzehnten Jahrhunderts. 2 Bde., Eine steile Universitätskarriere folgte. 1648 Bln. 1812/13. Die Poesie und Beredtsamkeit der erhielt H. einen Ruf als Professor für Ge-
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schichte, Politik u. Erdkunde an die neue Universität Hardervijk, wo er 33-jährig das Amt des Rektors übernahm. Rufe nach Heidelberg u. Frankfurt/O. schlug er aus, übernahm jedoch 1635 den Lehrstuhl für Geschichte u. Geografie in Leiden. Hier blieb er bis an sein Lebensende, höchst erfolgreich u. literarisch tätig – selbst als sich vor seinem Tod Anzeichen einer Geisteskrankheit bemerkbar machten. Die maritime Expansion der Generalstaaten hatte das Interesse an erdkundl. Fragen verstärkt; seit 1616 bestand in Leiden ein Lehrstuhl für Geografie, den anfangs Philipp Clüver (Cluverius) innehatte. Nach Clüvers Vorbild publizierte H. 1652 eine Introductio ad geographiam antiquam, die nicht mehr nur von der philolog. Interpretation klass. Texte ausging, sondern die durch die Seefahrt gewonnenen Beobachtungen in ein histor. Weltbild zu integrieren suchte. In der ebenfalls 1652 publizierten Schrift De originibus Americanis beschäftigte er sich mit dem Problem der Herkunft der neu entdeckten überseeischen Völker, in Form einer Kritik der dazu seit dem 16. Jh. vertretenen Auffassungen. H. selbst ging von zwei Einwanderungsbewegungen aus: der der Phönizier, denen er zutraute, bereits in der Antike den Atlantik überquert zu haben; dann von einer zu Lande erfolgten Immigration durch die »SkythenVölker«, die »Hunni«, »Kithae« u. »Sinae«, die von Asien über das Eis nach Amerika gekommen seien. Diese Spekulationen – die er mit diversen völkerkundl. u. etymolog. Erwägungen begründete – bilden die Grundlage eines universalhistor. Modells, das H. zuerst in der Brevis introductio ad historiam universalem (Leiden 1655) vortrug u. in der Arca Noae sive historia imperiorum et regnorum a condito orbe ad nostra usque tempora (Leiden 1666) erweiterte u. differenzierte. Nach H. zerfiel die gesamte Weltgeschichte in eine vorsintflutl. u. eine nachsintflutl. Geschichte. Zwei Gründe lassen sich für diese Grenzziehung angeben. Einmal ging es um die Absicherung des vorsintflutl. bibl. Geschichtsraums angesichts von dessen Infragestellung durch heterodoxe Ursprungsspekulationen, die (wie Isaac La Peyrères Hypothese über die Existenz von Menschen vor
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Adam) in Folge der Ausweitung des geografischen Erfahrungshorizonts entstanden waren. Über die vorsintflutl. Zeit ist nach H. nur das bekannt, was Moses darüber berichtet; alles andere hat keinen Anspruch auf histor. Wahrheit. Das begründet die Exklusivität der vorsintflutl. hebräischen Geschichte. Zum anderen steht diese Geschlossenheit gegen das Disparate der folgenden Geschichte. H. gliedert die »historia postdiluviana« wiederum in zwei differente histor. Blöcke: »historia antiqua« u. »historia recentior«. Die alte Geschichte ist die zerfallene u. zusammenhanglos gewordene Geschichte. Ihre hist. Rekonstruktion hat die Bibel als einzig gewissen Leitfaden, auf den die »unsicheren« u. »mythischen« Überlieferungen zu beziehen sind. Mit der neuen Geschichte – deren Beginn H. mit dem Untergang des röm. Weltreichs ansetzt u. bei der er bereits einen mittleren u. neueren Teil (»historia medii aevi et recentioris aevi«) unterscheidet – endet die Erklärungskraft der bibl. Historien u. beginnt jener Geschichtsraum, der noch die gegenwärtige Mächtekonstellation u. Weltordnung bestimmt. Der Werktitel Arca Noae ist so Sinnbild für die Kontinuität der rekonstruierten Geschichte. Die alte (bibl.) Arche sicherte die Verbindung mit den »heiligen« Anfängen, die neue Arche steht für profane Schiffe, die eine »neue« Welt eroberten. Entdeckungen u. ausgeweiteter Handelsverkehr, so H., hätten die Völker der Welt wieder neu miteinander verbunden u. die weltumspannende Gemeinschaft der Völker restituiert. H. gab dem traditionellen bibl. Geschichtsbild moderne Signaturen, indem er für die neuere Geschichte Asien, Afrika u. Amerika, ja sogar einen hypothet. südl. Erdteil zu integrieren suchte. Eine Entkräftung der bibl. Historie war nicht H.s Absicht, vielmehr wollte er mit seinem Neukonzept der Universalhistorie die »heilige« Geschichte neu befestigen. Als deren Apologet erwies er sich auch in einer Auseinandersetzung mit dem holländ., in England wirkenden Philologen Isaac Vossius um die Geltung der bibl. Chronologie (Dissertatio de vera aetate Mundi. Leiden 1659. Defensio dissertationis de vera aetate mundi contra castigationes J. Vossii. Leiden 1659).
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Allerdings hatte die Beschränkung der der Lit. Westeuropas v. Guiccardini bis Saint-EvreReichweite der Erklärungskraft bibl. Ge- mond. Bern 1978, bes. S. 127–136. – Luciano Maschichte in Verbindung mit der Aufwertung lusa: Le prime storie generali della filosofia in der neueren Geschichte eine Marginalisie- Inghilterra e nei Paesi Bassi. In: Storia delle storie generali. Hg. Giovanni Santinello. Bd. 1. Brescia rung der bibl. Geschichte zur Konsequenz, 1981, S. 167–402, bes. S. 252–279. – Paolo Rossi: die aber erst im 18. Jh. voll zum tragen kam. The Dark Abyss of Time. The History of the Earth Die Ambivalenz zwischen bibl. u. säkularer and the History of Nations from Hooke to Vico. Geschichtsauffassung prägt auch H.s univer- Chicago-London 1984 (zuerst Milano 1979: I segni sal angelegte Philosophiegeschichte Historiae del tempo. Storia della terra e storia delle nazioni da philosophicae libri VII (Leiden 1655. 1659), die Hooke a Vico), bes. S. 145–161. – Helmut Zedelvon Adam als dem ersten Philosophen bis zu maier: Sintflut als Anfang der Gesch. In: Sintflut u. neueren philosophischen »Sekten« reicht u. Gedächtnis. Erinnern u. Vergessen des Ursprungs. auch Fragen der philosophischen Praxis the- Hg. Martin Mulsow u. Jan Assmann. Mchn. 2006, S. 253–261, bes. S. 254–257. matisiert. Bernd Roeck / Helmut Zedelmaier H.s Werke hatten trotz seiner oft flüchtigen Arbeitsweise bis zum frühen 18. Jh. eine große Wirkung. Der dt. Frühaufklärer Horn, Johann, tschechisch: Jan Roh, * um Christian Thomasius orientierte sich etwa in 1490 Taus/Böhmen, † 11.2.1547 Jungseiner Philosophiegeschichte weitgehend an bunzlau. – Bischof der Böhmischen BrüH.s Modell. Erst unter dem Vorzeichen des der; Herausgeber des BrüdergesangGeltungsverlusts bibl. Geschichtsauffassung buchs. fielen auch H.s Werke der Vergessenheit anheim. Ihre Ambivalenz spiegelt sich noch im H. wurde 1518 zum Priester der Brüderunität Urteil der Forschung. Während Adalbert geweiht, stand dann der Gemeinde WeißKlempt H. eine »bahnbrechende Leistung [...] wasser u. später Leitomischl vor. Durch Mifür die Erschließung der neuen welthaft-ge- chael Weiße u. Ritter Ulrich Velensky´ beeinschichtlichen Betrachtungsweise« zubilligt, flusst, wurde er der wichtigste Vertreter der ist er für Erich Hassinger ein »geistloser Pla- luth. Gruppe der Brüder u. besuchte Luther giator«. In der Forschung zur Geschichte der 1521/22 u. 1524 in ihrem Auftrag. Er überPhilosophiegeschichtsschreibung wird er als setzte Luthers Vom Anbeten des Sakraments (1523) ins Tschechische. 1529 wurde er zum wichtige Figur des Übergangs markiert. Bischof (mit Wohnsitz in Jungbunzlau) geWeitere Werke: Disputatio politica de India Orientali. Hardervijk 1651. – Orbis delineatio sive wählt; seit 1532 leitete er als »Richter« die Geographia sacra et profana. Amsterd. 1660. Den Unität. H. redigierte das brüderische Bekenntnis Haag 1740. – Historia ecclesiastica et politica. Leiden 1665. Lpz. 1677. – Arca Mosis sive historia Rechenschafft des Glaubens (Zürich 1532. Witmundi. Leiden/Rotterdam 1669. – Historia natu- tenb. 1533) im luth. Sinn u. war wesentlich an ralis [...] libri VII. Leiden 1670. – Historia naturalis der Entstehung der nach dem Vorbild der et civilis. Leiden 1670. 1679. Confessio Augustana formulierten Confessio fidei Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: L. J. ac religionis (Wittenb. 1538) beteiligt. Doerffler: Ad vitam Georgii Hornii. Bayreuth 1738. Er gab 1541 das tschech. u. 1544 das dt. – Isenader v. Schmitz-Auerbach: G. H., ein dt. Ge- Brüdergesangbuch von Weiße (1531), das er schichtsschreiber (Gymnasialprospekt). Karlsr. auch vor der Erstveröffentlichung schon 1880. – P. G. Herrmann: Prof. G. H. In: Die Ober- durchgesehen hatte, erweitert u. bereinigt pfalz 42 (1954), S. 228–235. – Adalbert Klempt: Die heraus: Ein Gesangbuch der Brüder inn Behemen Säkularisierung der universal-histor. Auffassung. und Merherrn (Nürnb. 1544). H. ist nach heuGött. 1960, bes. S. 113–122. – Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo. La nascità dell’antro- tiger Erkenntnis nicht der Verfasser der 32 pologia come ideologia coloniale dalle genealogie neu hinzugefügten Lieder, die eher von bibliche alle teorie razziali (1500–1700). Firenze Weiße oder Michael Tham stammen, sondern 1977, bes. S. 497–506. – Erich Hassinger: Empi- der luth. Redaktor, bes. der Lieder Vom Sarisch-rationaler Historismus. Seine Ausbildung in crament des Nachtmals (Titel u. Vorrede). Das
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Hornsche Gesangbuch wollte den dt. Lesern Bekenntnis u. Frömmigkeit der Brüder vorstellen u. erlebte in Nürnberg bis 1611 allein 13 Auflagen. H. selbst freilich lenkte seit der Brüdersynode 1546 wieder zu den altbrüderischen Anschauungen des Lukas von Prag zurück. Ausgabe: S. 350–368.
Wackernagel
3,
Nr.
418–445,
Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Rudolf Wolkan: J. H. In: ADB. – Joseph Theodor Müller: Gesch. der Böhm. Brüder. 3 Bde., Herrnhut 1922–31. – Ders.: Hymnolog. Hdb. zum Gesangbuch der Brüdergemeine. Herrnhut 1916. Nachdr. Hildesh. 1977. – Hdb. zum EKG 2,1, S. 82 f. – Peter Poscharsky: J. H. In: NDB. – Amedeo Molnar: Cˇesky´ ekumenismus. Prag 1976, S. 57–98. – Ders.: Luther u. die Böhm. Brüder. In: Unitas Fratrum, H. 9 (1981), S. 3–23. – Friedrich Wilhelm Bautz: J. H. In: Bautz. – Annekathrin Moeseritz: Die Weisen der Böhm. Brüder v. 1531 [...]. Diss. Bonn 1990. – Rudolf Rˇícˇan: Die Böhm. Brüder. Ursprung u. Gesch. 2., überarb. Aufl. Basel 2007 (11961).
auf Zustimmung: Richard Wagner erschienen sie als »ungeheure Erbärmlichkeit« (Brief an Theodor Uhlig, 31.5.1852). Seine zahlreichen späteren Werke, zu denen Theaterstücke, Novellen, Humoresken u. Romane gehören, zeichnet ein realistischer, z.T. stark moralisierender Darstellungsstil aus. So stellt er in seinem umfangreichen Roman Dämonen (2 Bde., Lpz. 1862) an dem Werdegang zweier junger Männer dar, wie der eine durch den selbstsüchtigen Einfluss eines falschen Freundes in gesellschaftl. Elend gerät, der andere aber durch Gottvertrauen u. hilfreiche Anleitung zu einer ehrbaren bürgerl. Existenz gelangt. Weitere Werke: Erzählungen u. Humoresken. 2 Bde., Zittau 1858. – Drei Dinge nenn’ ich euch! Erfurt 1871. 21886 (Lustsp.). Literatur: Heinrich Kurz: Gesch. der neuesten dt. Lit. [...]. Lpz. 41881, S. 442–444. – SchrammMacdonald: H. M. H. In: ADB. – Brümmer 3. – Kosch. – Goedeke Forts. Peter Langemeyer
Dietrich Meyer / Red.
Horn, (Heinrich) Moritz, * 14.11.1814 Chemnitz, † 24.8.1874 Zittau/Sachsen. – Verfasser von Versdichtungen, Erzählungen, Romanen u. Schauspielen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Chemnitz studierte H. ab 1833 in Leipzig die Rechte; 1837 beendete er in Dresden den prakt. Teil seiner Ausbildung. In seiner Heimatstadt wurde er 1841 Aktuar. Dort gründete er auch einen dramat. Verein, der ihn zum Verfassen eigener Schauspiele u. zur Bearbeitung frz. Stücke anregte. Seit 1857 lebte er als Assessor in Zittau. Durch Robert Schumanns Vertonung seiner ersten Veröffentlichung, der Märchendichtung Die Pilgerfahrt der Rose (Lpz. 1852. 4 1882), wurde H. einem größeren Publikum bekannt. Die Elfe Rosenblüte wird auf ihren Wunsch in ein Mädchen verwandelt u. erlebt die Freuden u. Leiden ird. Liebe. Als der von ihr geliebte Försterssohn bald nach der Heirat von einem Wilddieb erschossen wird, stirbt auch sie. Mit dem Ausblick auf himml. Tröstung schließt die Dichtung. Die rührseligen, im Volksliedton gehaltenen Verse stießen bei den Zeitgenossen allerdings nicht nur
Horn, Uffo (Daniel), * 18.5.1817 Trautenau (Trutnov/Böhmen), † 28.5.1860 Trautenau – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Journalist. Der Sohn eines k. k. Offiziers u. späteren k. k. Tabakverlegers studierte Jura in Prag u. Wien. Er unternahm frühzeitig dramat. Versuche u. erhielt 1835 für das Lustspiel Die Vormundschaft (zus. mit Wolfgang Adolf Gerle) einen von Cotta ausgesetzten Preis. 1839 ließ sich H. in Hamburg als freier Schriftsteller u. Journalist nieder (u. a. als Mitbegründer der »Zeit« u. für Gutzkows »Telegraphen«). Bei Hoffmann und Campe veröffentlichte er Broschüren über Österreich (Österreich, Städte, Länder, Personen und Zustände. Hbg. 1842). Zu ihnen zählt wohl auch die anonym (mit dem Verlagsort »Frey-Sing«) erschienene Schrift Oesterreichischer Parnass bestiegen von einem heruntergekommenen Antiquar (1840), die karikierende Kurzartikel über österr. Schriftsteller enthält. 1842 nach Prag zurückgekehrt, gehörte er zu den Begründern des Taschenbuchs »Libussa« (1842), in dem v. a. deutschsprachige Literatur aus Böhmen veröffentlicht wurde (darunter eine Reihe von Erzählungen u. Dramenauszüge H.s, die bei
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der Literaturkritik im ganzen freundl. Aufnahme fanden). Eine Reise nach Oberitalien (1845) wurde in der Erzählung Isola Bella u. in Gedichten verarbeitet. 1848 trat H. für die tschech. Nationalbewegung ein. Er ging dann über Dresden nach Schleswig u. nahm als Freiwilliger an der Schlussphase des DeutschDänischen Kriegs teil, von dem er tagebuchartig in Von Idstedt bis zum Ende (Hbg. 1851) berichtete. Danach kehrte H. nach Trautenau zurück u. heiratete 1856 eine böhm. Adlige. 1859 trat er noch als Redner bei einem Schillerbankett in Prag auf. H. veröffentlichte zahlreiche Gedichte u. Erzählungen in Zeitschriften u. Almanachen; v. a. mit den »Novellen« der Sammlung Böhmische Dörfer (2 Bde., Lpz. 1847) orientierte er sich an der vormärzl. Dorfgeschichte. Hervorzuheben ist dabei die Erzählung Der Bauernesel, in der ein letztlich scheiternder Aufstand böhm. Kleinbauern u. Häusler gegen die arrogante Obrigkeit geschildert wird. Das Drama König Otakar (Prag 1845. Neuaufl. u. d. T. König Ottokar. 1851) galt als böhm. Gegenstück zu Grillparzers Bearbeitung des Stoffs. Die urspr. Parteinahme für die »bürgerlichen Schichten« wurde in der nachmärzl. Bearbeitung deutlich abgeschwächt. Weitere Werke: Camöens im Exil. Dramat. Gedicht. Lpz. 1839. – Gedichte. Lpz. 1847. – Bunte Kiesel. Lpz. 1859 (E.en). – Ges. Werke. Hg. Eduard Langer. Braunau 1902. Literatur: Schramm-Macdonald: U. D. H. In: ADB. – Jaromír Louzil: U. H. u. sein Trauerspiel ›König Ottokar‹. In: Philologica Pragensia 12 (1969), S. 193–220. – Ludvík E. Václavek: U. H. In: Beiträge zur deutschsprachigen Lit. in Tschechien. Hg. Lucy Topol’ská u. a. Olomouc 2000, S. 278–287. – Goedeke Forts. – Hans Veigl: U. H. Demontierte Dichter-Denkmäler. In: Ders.: Einzelgänger & Exzentriker. Außenseiter wider den Zeitgeist. Wien u. a. 2008, S. 89–102. Joachim Linder / Red.
Hornburg, Lupold, * erste Hälfte des 14. Jh., Rothenburg ob der Tauber. – Verfasser von Reimreden u. Strophen. H.s Name u. sein in ostfränk. Dialekt geschriebenes Werk sind nur in der sog. Würzburger (Lieder-)Handschrift überliefert, dem um 1350 angelegten Hausbuch des Würzburger
Notars Michael de Leone († 1355), zu dessen Kreis H. spätestens seit 1348 zählte. Da er sich als »knappe« bezeichnet, war er wohl Laie. Seine Identität mit einem 1316 in Rothenburg bezeugten Bürger seines Namens lässt sich so wenig beweisen, wie seine mutmaßl. Zugehörigkeit zu dem seit 1319 dort belegten ratsfähigen Geschlecht der Hornburg. In seinen 1347 u. 1348 entstandenen Reimreden beschäftigt sich H. vornehmlich mit polit. Kritik an Kaiser Karl IV. u. den Zuständen im Reich. In der ersten, Lantpredige genannten Rede beklagt er die Verlogenheit u. Unfähigkeit der Herrscher, die der Habgier des Klerus freie Hand lassen; endzeitliche Plagen wie Pest u. Ketzerei bezeichnen die Verderbnis u. aktualisieren die – den Zeitgenossen aus Prophetien bekannte – Hoffnung auf einen rettenden König. Von des Ryches klage, die zweite Rede, ist die als Traumvision dargestellte Klage der Personifikation des Römischen Reichs, die H. die großen Herrscher bis zu Kaiser Heinrich VII. im Gegensatz zu den gegenwärtig regierenden »weichen« Ehrsüchtigen vorführt. H. trug sie auf dem Fürstentag zu Passau im Juli 1348 vor. Der Text stammt jedoch nur zum kleineren Teil von ihm, da ihm das lat. Ritmaticum querulosum von 1340 des Lupold von Bebenburg in der mhd. Übertragung des Otto Baldemann zugrunde liegt. Die dritte Rede, Der zunge striet, greift die dem sog. falschen Woldemar (von Brandenburg) anhängenden Fürsten an u. mündet in ein Gebet um einen besseren Kaiser. Ein derbermeliche clage schließlich, im Aufbau den späteren Ehrenreden Peter Suchenwirts ähnelnd, ist eine Totenklage um den im Würzburger Städtekrieg 1347 gefallenen Reichsfreiherrn Konrad III. von Schlüsselberg, die seine Verdienste preist. Die andernorts in der Handschrift überlieferten, ebenfalls einem L. H. zugeschriebenen drei »liet« Von allen singern im Langen Ton des »alten Meisters« Marner sind in geblümtem Stil verfasst u. gelten dem Lob Reinmars von Zweter im Rahmen eines Lobs zwölf namentlich genannter Dichter des ausgehenden 12. bis beginnenden 14. Jh. In zwei rahmenden Katalogstrophen werden diese als vor-
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bildl. Meister gerühmt, während die mittlere Strophe ihn als den besten von allen preist. Ausgaben: The Poems of L. H. Hg. Clair Hayden Bell u. Erwin G. Gudde. Berkeley/Los Angeles 1945. – Horst Brunner (Hg.): Das Hausbuch des Michael de Leone. Würzburger Liederhs. der Universitätsbibl. München (28 Cod. ms. 731) in Abb. Göpp. 1983 (Faks.). Literatur: Gisela Kornrumpf: L. H. In: NDB. – Frieder Schanze: L. H. In: VL (Lit.). – Hubert Herkommer: Kritik u. Panegyrik. Zum literar. Bild Karls IV. (1346–1378). In: Rhein. Vierteljahrsbll. 44 (1980), S. 68–116. – Nikolaus Henkel: Die zwölf alten Meister. In: PBB 109 (1987), S. 375–389. – RSM 4, Tüb. 1988, S. 124. – Walter Röll: L. H. v. Rothenburg, ›Herr Reinmar ...‹. Frauenlob u. Frauenlob-Nachfolge im 14. Jh. In: Würzburg, der Große Löwenhof u. die dt. Lit. des SpätMA. Hg. Horst Brunner. Wiesb. 2004, S. 251–281 (mit diplomat. Textabdruck). – http://www.handschriftencensus.de/werke/2349. Sabine Schmolinsky
Hornmold, Sebastian, * 1562, † 25.6. 1637. – Jurist, Psalmen- u. Gelegenheitsdichter, Verfasser von rhetorisch-stilistischen Lehrbüchern. Der Sohn des Rechtsgelehrten Samuel Hornmold (1537–1601) u. Enkel des Bietigheimer Stadtschreibers, Stadtvogts u. württembergischen Kirchenratsdirektors Sebastian Hornmold (1500–1581) studierte seit 1581 Rechtswissenschaft in Tübingen u. wirkte nach seiner Promotion als Advokat u. württemberg. Kammerprokurator in Stuttgart. Einen prominenten Förderer seines poet. Talents fand er in dem pfälz. Späthumanisten Paulus Schedius Melissus, der ihn 1595 in einer Ode (Meletemata 3,13) zur Herausgabe seiner lat. Psalmenübertragung ermunterte u. nach deren Erscheinen (T. Davidis Regii Prophetae Psalmi iambis expressi. Tüb. 1596) zum Dichter krönte. Melissus gehört neben Johannes Posthius u. Ulrich Bollinger zu den Verfassern der Geleitgedichte für die fünf Kaiser Rudolf II. gewidmeten Bücher. Sprachlich u. formengeschichtlich schließt sich H. an die antike Dichtung an. Wie er metrisch die ersten neun Epoden des Horaz imitiert, so sucht er auch in seiner Diktion Anschluss an den Römer, während er sich vom Sprachgebrauch der Bibel weitestgehend
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emanzipiert. 1604 stellte H. mit Dess Königl. Propheten Davids Psalter, von reinen, klaren und gantzen Jambis, auff ein neue, besondere Art bereit und verfertiget (Tüb.) seiner lat. Nachdichtung ein dt. Pendant an die Seite, das auf den mytholog. Apparat völlig verzichtet. In seiner Widmungsvorrede an das württembergische Fürstenpaar Friedrich u. Sibilla räumt er zwar ein, dass er den Text der Luther-Übersetzung gewahrt habe, entschuldigt sich aber zgl. für die ungewöhnliche poetische Form, die prosodisch noch ganz den quantitierenden Konzeptionen des 16. Jh. verpflichtet ist. H. entfernt sich von der evang. Liedtradition u. entscheidet sich für eine Form der Bibelparaphrase, wie er sie bereits für seine lat. Übertragung favorisiert hatte, so dass zu vermuten ist, dass sein Psalter eher für die private Andacht als für den Gemeindegesang bestimmt war. Am 17.1.1617 wurde H. in Prag zum Pfalzgrafen ernannt u. erhielt damit seinerseits das Recht, Dichter zu krönen, von dem er wenigstens zweimal Gebrauch machte (1620 Johann Leibe; 1625 Johann Heinrich Risius). 1619 gab H. in Basel Schedius’ 1573 in Zusammenarbeit mit dem Arzt u. Dichter Johannes Posthius entstandene Edition von Gedichten zur Enthaltsamkeit u. zur Mäßigung (Collegii Posthimelissaei votum, hoc est, ebrietatis detestatio. Ffm. 1573) in einer erweiterten Fassung u. d. T. In crapulam de sobrietate seu votum Posthi-Melissaeum, de vitanda et fugienda ebrietate heraus. H.s Kasualdichtung ist disparat überliefert u. umfasst verschiedene literar. Gattungen. So finden sich u. a. Nänien auf den Tod von Agnes Engelhard, der Gattin des Tübinger Professors der Humaniora Leonhard Engelhard (Leichpredigt bey der Begräbnus der Agnes Engelhart, gehalten durch M. Henricum Efferhen. Tüb. 1597), auf Aegidius Hunnius (Threnologia. Wittenb. 1603), auf Conradus Rittershusius (Lessus sive oratio funebris, cum terrae mandaretur Dn. Conradus Rittershusius, scripta a Casparo Pansa. Nürnb. 1614), auf Scipione Gentile (De unione, Scipionis Gentilis oratio. Nürnb. 1617) u. auf Markgräfin Barbara von Baden (Panegyricus exequialis beatis manibus Serenissimae Principis ac Dominae Barbarae dictus. Durlach 1628), Gratulationsgedichte für
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Matthias anlässlich seiner Krönung zum Kaiser des Hl. Röm. Reiches (Corona imperialis. Nürnb. 1613) u. für den Heilbronner Prediger Ludwig Münster zu dessen fünfzigjährigem Amts- u. Ehejubiläum (Glykypikron Münsterianum: Hoc est: De M. Ludovici Münsteri & Margaretae conjugis jubilaeo gemino, panegyricus. Tüb. 1622) sowie Geleitgedichte zu Georg Mundig von Rodachs Odeion Horatio parodiacum (Coburg 1622) u. Johann Leibs Studentica (Coburg 1627). Gruter nahm H.s Gedichte gegen die Trunkenheit u. auf den Heilbronner Cäcilienbrunnen in den dritten Band seiner Delitiae poetarum Germanorum (1612) auf. Weitere Gelegenheitsgedichte verzeichnet Flood (s. u.). Weitere Werke: Jean Avenarii precationes sacrae in singulos septimanae dies distributae & ex puris ac perpetuis jambis sine elisione expressae. Tüb. 1596. U. d. T. Johannis Avenarii Theologi precationes elegiaco et iambico senario carmine expressae. Nürnb. 21604. – Opus plane novum quod praeter iucunditatem styli poetici singularem omnium facultatum studiosis, & poëseos cumprimis cultoribus, variis de rebus scribendi carmina materias suppeditare potest. Speyer 1605. – Repertorium sententiarum, regularum, conclusionum, itemque axiomatum, sive locorum communium, ex universo iuris utriusque corpore, glossis etiam atque interpretum. Speyer 1611. Literatur: Günther Bentele: S. H. u. seine Zeit. Dokumente, Bilder, Geräte. Ausstellung zum 400. Todestag S. H.s. Bietigheim-Bissingen 1981, passim. – Inka Bach u. Helmut Galle: Dt. Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jh. Untersuchungen zur Gesch. einer lyr. Gattung. Bln./New York 1989, S. 120–125, 137–141. – EH, Bd. I/2, S. 680 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 910–912. Ralf Georg Czapla
Horst, Eberhard, * 1.2.1924 Düsseldorf. – Erzähler, Essayist, Sachbuchautor. Aus frz. Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, begann H., Sohn eines Handelsvertreters, 1948 in Bonn das Studium der kath. Theologie u. Philosophie. An seinem zweiten Studienort München, wo er zeitweise die Studiobühne der Universität leitete, kamen zwei Jahre später als neue Schwerpunkte Literatur- u. Theaterwissenschaft hinzu. 1956 schloss H. das Studium mit einer Dissertation über Elisabeth Langgässer ab. Seit 1958 lebt
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er, verheiratet mit der Bildhauerin Eva Moskopf, als freier Schriftsteller in Gröbenzell bei München. H. ist Mitgl. des P.E.N.-Zentrums Deutschland u. der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Nach literaturkrit. Arbeiten, die sich überwiegend mit der modernen Lyrik auseinander setzten (gesammelt in Geh ein Wort weiter. Düsseld. 1983), nach Fernsehspielen u. Hörbildern, Reisebüchern u. Essays über die mediterrane Welt fand H. mit seinem 1975 erschienenen Buch Friedrich der Staufer (Düsseld.) zu der ihm gemäßen Kunstform: der exakt recherchierten, literarisch anspruchsvollen Biografie, die eine histor. Persönlichkeit aus ihrer Zeit u. ihren Verhältnissen heraus zu begreifen sucht, wobei sie allerdings die Diskurse der Gegenwart durchaus berücksichtigt. Das führt zu interessanten Ergebnissen, mitunter aber auch zu schiefen Deutungen, etwa wenn H. den Stauferkaiser als das »einzige Genie unter den deutschen Herrschern« bezeichnet. Die Verschränkung von Quellenstudium, Aktualisierung u. literar. Gestaltung bestimmt auch H.s weitere Biografien, angefangen bei Julius Caesar (Düsseld. 1980) über Konstantin der Große (Düsseld. 1984) bis zu seinem trilogisch angelegten Porträt dreier Frauen des span. »Goldenen Zeitalters« (Die spanische Trilogie. Isabella. Johanna. Teresa. Düsseld. 1989). Während der Jahre, in denen diese Biografien entstanden, schrieb H. zudem einige Erzählungen, die er 1987 unter dem Titel Die kurze Dauer des Glücks (Düsseld.) herausbrachte. Sie verdeutlichen dem Leser in konzentrierter Form, wie unsicher u. unvorhersehbar die menschl. Existenz ist. Diese Erzählungen blieben für H. eine Zwischenstation. In der Folge wandte er sich beinahe ausschließlich dem Feld der histor. Biografik zu. Wie schon in der Spanischen Trilogie beschäftigten ihn dabei abermals nicht die ›großen‹ Männer der Geschichte, sondern die maßgebenden u. zugleich ungewöhnl. Frauen v. a. des europ. MA. Als Erstes widmete sich H. in Geliebte Theophanu (Mchn. 1995) der byzantin. Gemahlin Kaiser Ottos II. u. Mutter Ottos III. Der Titel des Werks gibt die Deutungsrichtung vor: Anfangs zwischen den Welten stehend, habe Theophanu ihre Fremdheit überwinden können u. sei zur
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geliebten Frau u. Kaiserin geworden. Im Gegensatz etwa zu H.s Buch über Friedrich zeichnet sich diese Biografie durch stark fiktionale Anteile aus. Die laufende Erzählung wird von erfundenen, historisch aber keineswegs abwegigen Einschüben unterbrochen, in denen H. ausgewählte Zeitzeugen aus der Ich-Perspektive zu Wort kommen lässt. 2000 veröffentlichte H. eine Biografie über die Äbtissin u. Ärztin Hildegard von Bingen (Mchn. 2000). Er entwirft darin das Porträt einer von realistisch-krit. Mut beseelten, verwegenkühnen Klosterfrau mit prakt. Geschick. Zugleich sieht er in Hildegard eine progressive Denkerin, die ihrer eigenen Epoche, dem 12. Jh., so weit voraus gewesen sei, dass sie freimütig über den ›ganzen Menschen‹ u. damit auch über die menschl. Sexualität schreiben konnte. Weitere Werke: Sizilien. Ein Reiseführer. Olten/Freib. i. Br. 1964. – Venedig. Ein Reiseführer. Olten/Freib. i. Br. 1967. – 15mal Spanien. Mchn./ Zürich 1973. – Südl. Licht. Düsseld. 1978 (Ess.). – Rede auf den Preisträger Heinz Piontek. In: Büchner-Preis-Reden 1872–1983. Mit einem Vorw. v. Herbert Heckmann. Stgt. 1984, S. 84–88. Literatur: Heinz Piontek: Über E. H. anläßl. einer Preisverleihung. In: Ders.: Das Handwerk des Lesers. Erfahrungen mit Büchern u. Autoren. Mchn. 1979, S. 238–243. Hans-Rüdiger Schwab / Alexander Schüller
Horst, Karl August, * 10.8.1913 Darmstadt, † 30.12.1973 Ried bei Benediktbeuern; Grabstätte: Benediktbeuern. – Erzähler, Essayist, Literaturkritiker u. Übersetzer. H. studierte nach dem Abitur in München, Berlin u. Göttingen german. u. roman. Sprachwissenschaft sowie Philosophie. 1937 legte er das Staatsexamen ab. Nach dem Militärdienst 1940–1945 in Norwegen, Griechenland u. Jugoslawien beendete er als Assistent von Ernst Robert Curtius 1945–1948 seine Dissertation Die Metapher in der weltlichen Comedia Calderóns (Bonn). Seit 1949 lebte H. als Schriftsteller in München, Starnberg u. zuletzt in Ried im Haus von Franz Marc. Er war verheiratet mit Maria Brockmüller, der Tochter des Düsseldorfer Malers Josef Brockmüller.
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Als Schriftsteller konnte H. sich weder mit dem Roman Zero (Ffm. 1951) noch mit den Erzählbänden Der Skorpion (Mchn. 1963) u. Zwischen den Stühlen (Mainz 1972) durchsetzen, obwohl sie auszugsweise in wichtigen Zeitschriften vorabgedruckt wurden. Viel Anerkennung fanden dafür seine Essays u. literaturwissenschaftl. Arbeiten wie die über Friedrich Schlegel, Ich und Gnade (Freib. i. Br. 1951), über Ina Seidel, Wesen und Werk (Stgt. 1956), sowie die beiden großen Darstellungen Kritischer Führer durch die deutsche Literatur der Gegenwart (Mchn. 1962) u. Das Spektrum des modernen Romans (Mchn. 1960. 2., erw. Aufl. 1964). Seine Kritiken erschienen in den wichtigsten Organen der Nachkriegszeit. Sie sind analytisch u. im Urteil entschieden, aber ohne Bösartigkeit. H.s bes. Leistung war es, dass er die Leser mit einer Literatur vertraut machte, die 1933–1945 nicht gelesen wurde oder die mangels einer Übersetzung nicht zur Kenntnis genommen werden konnte, so z.B. Texte von Valéry, Rabelais, Gay-Lussac oder Montherlant aus dem Französischen; Arenal, Carpentier, Dias, Ramirez u. Ortega y Gasset aus dem Spanischen. Viele Teile des umfangreichen Werks von Borges übersetzte H. erstmals ins Deutsche. 1971 erhielt er den Übersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung. Weitere Werke: Die dt. Lit. der Gegenwart. Mchn. 1957. – Strukturen u. Strömungen. Deutschsprachige Lit. im 20. Jh. Mchn. 1963. U. d. T. Das Abenteuer der dt. Lit. im 20. Jh. Mchn. 1964. – Die Reduktion des Begriffs Wirklichkeit in der inneren erzählenden Lit. Mainz 1972. – Bald wird die Vogelschrift entsiegelt. Hg. u. Nachw. v. Bernd Goldmann. Mainz 1983. – Herausgeber: Erzähler der Welt. 24 Bde., Freib. i. Br. 1967–73. Literatur: Clara Menck: K. A. H. In: Jahresring 1974–75 (1974), S. 218–220. – Heinrich Schirmbeck: Das Abenteuer der Lit. im 20. Jh. K. A. H. In: Ders.: Gestalten u. Perspektiven. Ess.s, Porträts u. Reflexionen aus fünf Jahrzehnten. Hg. Gerald Funk. Darmst. 2000, S. 265–274. Bernd Goldmann / Red.
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Horstmann, Ulrich, auch: Klaus Steintal, * 31.5.1949 Bünde/Westfalen. – Anglist, Amerikanist; Essayist, Feuilletonist, Kritiker, Übersetzer, Verfasser von Romanen, Kurzprosa, Theaterstücken, Gedichten u. Hörspielen.
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schaftsbetrieb u. die westfäl. Heimat an. Die Nachgedichte (Essen 1980) entwerfen ein Postszenario des atomaren Untergangs u. konfrontieren in nüchtern-nominalem Ton mit einer Ästhetik des Nicht-Menschlichen. Wo H. vorgibt, den nuklearen Untergang als Erlösung anzusehen, versucht die Kritik bisweilen, den Texten eine leise Hoffnung auf Selbsteinsicht u. Wandel des menschl. Wesens zu entbergen. Die anthropofugale Distanz zur eigenen Gattung – H. vergleicht seinen Blick auf die Dinge »einer Raumkapsel, die in immer weiteren Ellipsen um die Erde kreist, um sich eines Tages ganz von ihr zu lösen« (Das Untier) – enthebt H.s Werk jeder didaktisch-moralischen Intention, was in durch Provokation anstoßenden Texten jedoch nie ohne Selbstwiderspruch möglich ist.
H., häufig als Melancholiker, Misanthrop u. Querdenker bezeichnet, studierte Philosophie, Anglistik, Pädagogik u. Geschichte u. promovierte 1974 über die Dichtung Edgar Allan Poes. Danach lehrte er als Dozent an der University of South Africa, Pretoria. Nach seiner Habilitation über Ästhetizismus und Dekadenz (Mchn. 1983), einer Untersuchung zu literaturtheoret. Paradigmen des engl. Ästhetizismus im späten 19. Jh., nahm er eine Stelle als Hochschullehrer in Münster an u. lehrte dort bis 1987 engl. u. amerikan. LiteWeitere Werke: Steintals Vandalenpark. Siegen ratur. Seit 1991 unterrichtet der in Marburg 1981 (E.). – Hirnschlag. Gött. 1984. – Der lange lebende H. in Gießen. 1988 erhielt er den Schatten der Melancholie. Essen 1985 (Ess.). – Ufo Kleist-Preis für sein schriftstellerisches oder der dritte Stand. Mchn. 1987 (D.). – SchweSchaffen, von dem der Essay Das Untier (Wien/ dentrunk. Ffm. 1989 (L.). – Patzer. Zürich 1990 (R.). – Ansichten vom Großen Umsonst. Gütersloh 1991 Bln. 1983) am meisten Beachtung erfuhr. 1976 veröffentlichte H. in der inszenierten (Aufsätze). – Altstadt mit Skins. Paderb. 1995 (L.). – Rolle des Nachlassverwalters einer erfunde- Einfallstor. Oldenb. 1998 (Aphorismen). – Göttinnen Autorenfigur eigene erste Schriften unter nen, leicht verderblich. Oldenb. 2000 (L.). – J. Ein Halbweltroman. Oldenb. 2002. – Picknick am dessen Namen Klaus Steintal (»Er starb aus Schlagfluß. Oldenb. 2005 (L.). – Ein Lächeln aus der freiem Entschluß«. Hg. u. mit einem Nachw. v. Löwengrube. Hbg. 2007. – Rückfall. Warendorf U. H. Obertshausen 1976). Indem H. Steintal 2007 (R.). fortan als literar. Figur, Basismetapher u. Literatur: Burkhard Biella: Zur Kritik des anMetatext einsetzt (Autze/Müller), verhilft thropofugalen Denkens. Essen 1986. – Günter Kuihm diese Quellen- u. Rollenfiktion über sein nert: ›Traum von der Menschenleere‹. Laudatio ganzes Werk hinweg zu einer vorbehaltlosen, anlässlich der Verleihung des Kleist-Preises. In: Die radikal-jenseitigen Stimme fern von Glaub- Zeit, 28.10.1988. – Rainer Moritz: U. H. In: KLG. – haftigkeitsdefiziten u. Selbstwidersprüchen Rajan Autze u. Frank Müller: Steintal-Gesch.n. bei den Sympathiebekundungen an das Me- Auskünfte zu U. H. Oldenb. 2000. – Thomas Kraft: U. H. In: LGL. – Frank Müller. Der Weltuntergang lancholisch-Suizidale. findet nicht statt. Strategien apokalypt. Simulation In Das Untier, in dem mit Theoretikern wie im Werk U. H.s. In: Fantasia (2004), Nr. 172/173, Montaigne, Schopenhauer, Freud u. Foucault S. 151–176. Raffaele Louis die Einschätzung untermauert wird, dass die evolutionäre Entwicklung auf die Selbstvernichtung der Menschheit zulaufe, erörtert H. Horváth, Ödön (Edmund) von, * 9.12. die philosophisch-anthropolog. Basis, auf der 1901 Fiume (Rijeka), † 1.6.1938 Paris; er mit schwarzem Humor u. unpathet. Grabstätte: ebd., Friedhof St. Quen; seit Skepsis sein literar. Gesamtwerk gestaltet. 1988 Ehrengrab in Wien, Heiligenstädter Wie in Das Glück von OmB’assa (Ffm. 1985), ein Friedhof. – Dramatiker u. Erzähler. Gattungshybrid aus utop. Fabel, Science-Fiction-Roman u. Satire, schreibt H. mit Vorlie- H. entstammt einer großbürgerl. Beamtenbe gegen die ökolog. u. pazifist. Bewegungen familie der österr.-ungar. Monarchie. Als er der 1970er u. 1980er Jahre, den Wissen- geboren wurde, war sein Vater Ministerial-
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Concepts-Adjunkt am kgl. Gubernium in Fiume (heute Rijeka, Kroatien). Aus berufl. Gründen übersiedelte die Familie bereits 1902 nach Belgrad u. 1908, ein Jahr bevor H.s Vater den Adelstitel erhielt, weiter nach Budapest, wo H. ab 1911 das Rákoczy-Gymnasium besuchte; in der Familie wurde deutsch gesprochen. Im Sommer 1913 folgte H. seinem Vater nach München. Nach schwachen schul. Leistungen schickte man ihn 1916 nach Pressburg (Bratislava). Das Schuljahr 1918 verbrachte er in Budapest, im Sommer 1919 besuchte er einige Monate eine private Wiener Maturaschule u. bestand das Abitur. Gewohnt hat er in dieser Zeit bei einem leichtlebigen Verwandten, dem er in der Prosaskizze Mein Onkel Pepi (in KW 11, S. 160 f.) ein Denkmal setzte. Die Wohnung des Onkels lag in der Langen Gasse im achten Wiener Gemeindebezirk u. damit genau dort, wo später einer der Hauptschauplätze von H.s berühmtestem Stück, Geschichten aus dem Wiener Wald, zu finden ist. Im Herbst 1919 zog H. zu seinen Eltern nach München u. hörte an der Ludwig-Maximilians-Universität zwei Semester Theaterwissenschaft u. Germanistik. Die Vorlesungen bei Arthur Kutscher machten ihn mit der aktuellen Theaterszene vertraut. Daneben besuchte er Seminare in Kunstgeschichte u. Psychologie, darunter eine Lehrveranstaltung zur Bekämpfung der Prostitution – ein Thema, das er Ende der 1920er Jahre in Fragment gebliebenen Dramen wie Die Mädchenhändler u. Ein Fräulein wird verkauft (beide in Ein Fräulein wird verkauft. Ffm. 2005) aufgriff u. in der 1928 entstandenen Posse Rund um den Kongreß (Urauff. Wien 1959, in KW 1) ironisch gestaltete. Noch in Budapest hatte H. zum »Galilei«Kreis Kontakt, einer Gruppe junger, progressiver Intellektueller, die sich für die national-revolutionäre Lyrik Endre Adys begeisterte. Erste eigene schriftstellerische Versuche, darunter einige Gedichte (in KW 11, S. 11–21), sind ab Beginn der 1920er Jahre dokumentiert. Der Komponist Siegfried Kallenberg forderte H. auf, Ballettpantomimen zu schreiben, von denen einige aufgeführt u. 1922 in dem schmalen Band Buch der Tänze veröffentlicht wurden. Später distanzierte
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sich H. von dieser Publikation u. kaufte alle erreichbaren Exemplare auf, um sie zu vernichten. In dem unvollendet gebliebenen Stück Dósa. Chronik aus dem Jahr 1495 (in Ein Fräulein wird verkauft, a. a. O.) setzte er sich mit dem Bauernführer György Dósa auseinander, dessen Name in Ungarn als zeitloses Synonym der Revolution gilt. Das erste abgeschlossene Theaterstück H.s. (1923/24 entstanden) ist Mord in der Mohrengasse (Urauff. Wien 1980, in KW 1) – ein Kriminalstück, in dem (wie in H.s Dramen später noch oft) die Frage nach individueller u. kollektiver Schuld im Mittelpunkt steht. Ab 1920 besuchte H.s Familie regelmäßig den oberbayer. Ort Murnau am Staffelsee; ab Herbst 1924 stand ihr dort als Sommerresidenz eine eigene Villa zur Verfügung. Ab 1923 hielt sich H. abwechselnd in Berlin u. Murnau, seltener in München auf. In der 1926/27 geschriebenen Komödie Zur schönen Aussicht (Urauff. Graz 1969, in KW 1) wird der Einfluss der bayer. Feriengegend deutlich. Ort der Handlung ist ein »heruntergekommenes Hotel am Rand eines mitteleuropäischen Dorfes«, in dem sich eine großstädt. Gesellschaft aus Schiebern u. Gaunern eingenistet hat. Die Identitäten der Figuren sind brüchig; mit Ausnahme der engelsgleichen Christine, welche die Frauenfiguren in H.s späteren Volksstücken präfiguriert, ist eine jede Figur etwas anderes, als sie zu sein vorgibt. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre etablierte sich H. im literar. Leben Berlins. Im »Simplicissimus« u. anderen populären Zeitschriften u. Zeitungen machte er sich mit Prosatexten, darunter die Sportmärchen (in KW 11), einen Namen. In diesen kurzen Texten lieferte er bissige, aber auch durchaus sentimentale Kommentare zum Zeitgeschehen, oft unter Einbeziehung der oberbayr. u. Nordtiroler Provinz. H.s Schreiben politisierte sich. Das Volksstück Revolte auf Côte 3018 (Urauff. Hamburg 1927; später umgearbeitet zu Die Bergbahn, Urauff. Berlin 1929; beide in KW 1) hat die miserablen Arbeitsbedingungen beim Bau der Tiroler Zugspitzbahn 1925/ 26 zum Inhalt. In Sladek oder Die schwarze Armee (Urauff. München 1972, später umgearbeitet in Sladek, der schwarze Reichswehrmann,
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Urauff. Berlin 1929; beide in KW 2) stehen die illegalen vaterländ. Verbände im Zentrum, die sich in Deutschland unter Umgehung des Friedensvertrags von Versailles gebildet hatten. Sladek ist eine geschundene Kreatur, die an Georg Büchners Woyzeck erinnert. All diese Stücke erschienen als Theatermanuskripte in dem links stehenden Berliner Volksbühne-Verlag. 1929 wechselte H. zum Ullstein-Verlag u. bekam für die Überlassung seiner gesamten schriftstellerischen Produktion einen Vertrag mit einem monatl. Fixum. Dies sicherte ihm nicht nur eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit, sondern auch neue Publikationsmöglichkeiten in den zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften u. Verlagen, die zum Ullstein-Konzern gehörten. 1930 erschien der Roman Der ewige Spießer (in KW 12). In ihn fließen Erlebnisse ein, die H. im Rahmen einer Spanienreise 1929 gemacht hatte. Mit kleinen Angestellten wie den beiden Hauptfiguren des Buchs, dem von dubiosen Männern umschwärmten Fräulein Pollinger u. dem arbeitslosen Kellner Herrn Reithofer, hatte sich H. schon in mehreren unvollendeten Prosatexten seit Mitte der 1920er Jahre beschäftigt. Auch den skurrilen Roman Sechsunddreißig Stunden (in KW 12), der von Teilen der Forschung heute als ein Höhepunkt seines Prosaschreibens angesehen wird, arbeitete er in den formal gesetzteren Ewigen Spießer ein. Seinen ersten großen Erfolg am Theater brachte H. das Volksstück Italienische Nacht (Urauff. Berlin Frühjahr 1931, in KW 3). Ein Wirt einer süddt. Provinzstadt verspricht sein Lokal zur Abhaltung einer Feierstunde gleichzeitig dem sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbund u. dessen polit. Gegner. Daraus entwickelt sich bei H. eine Farce, die die phrasenhafte Politisierung des alltägl. Lebens zeigt. Die Angriffe rechter Kritikerkreise verstärkten sich. Auch deshalb, weil H. als Zeuge des »Murnauer Saalschlacht-Prozesses« gegen einen NS-Schlägertrupp aussagte. Auf Vorschlag seines Freundes Carl Zuckmayer erhielt er im Herbst 1931 den Kleist-Preis. Die rechtsgerichtete dt. Presse wütete dagegen ebenso wie gegen die nur wenige Tage später stattfin-
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dende Uraufführung der Geschichten aus dem Wiener Wald in Berlin. Mit Geschichten aus dem Wiener Wald, Kasimir und Karoline u. Glaube Liebe Hoffnung etablierte H. vollständig, was er unter dem »neuen Volksstück« verstand: eine Form des Theaters, die (anders als bei Bertolt Brecht) nicht auf lehrhaft-polit. Wirkung zielt, sondern an der Sprache u. am Bewusstsein der Figuren ansetzt. In der Gebrauchsanweisung (in KW 11, S. 215–221), die zu Lebzeiten unpubliziert blieb, formuliert er die theoret. Grundlagen. Im neuen Volksstück gehe es darum, die vollständige Zersetzung der Dialekte durch den »Bildungsjargon« zu zeigen u. anhand der Sprache der Figuren eine »Demaskierung des Bewusstseins« herbeizuführen. Die weibl. Hauptfigur der Geschichten aus dem Wiener Wald (Urauff. Berlin Herbst 1931. Neuedition: Stgt. 2009), Marianne, geht im Werk H.s. auf eine lange Genealogie von Plänen u. Projekten zurück, worunter auch die Auseinandersetzung mit dem sozialen Problem der Prostitution fällt. In diesem Stück nun erscheint das Fräulein im Verband der Familie. Ihr Vater, der ein heruntergewirtschaftetes Spielwarengeschäft betreibt, hat sie dem gutsituierten Fleischermeister Oskar versprochen. Marianne jedoch geht mit Alfred durch, einem windigen Typen, der ihr gemeinsames Kind zu seiner Mutter u. Großmutter in die Wachau gibt u. Marianne ins Rotlichtmilieu vermittelt. Am Ende des Stücks sind alle Figuren wieder dort, wo sie am Anfang waren. Nur der kleine Leopold ist tot. Marianne steht stumm auf der Bühne u. sagt kein Wort mehr. Unter den Klängen von Johann Strauß’ gleichnamigem Walzer wird sie von Oskar heimgeführt. Kasimir und Karoline (Urauff. Leipzig 1932. Neuedition: Stgt. 2009) bezeichnete H. als eine »Ballade vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Braut«. Schauplatz ist das Münchner Oktoberfest. Auf dem Rummel sind in verborgenen Räumen menschl. »Abnormitäten« zu sehen; Massenbegeisterung wird hinsichtlich eines über den Festzelten kreisenden Zeppelins sichtbar. Karoline verlässt ihren arbeitslos gewordenen Bräutigam u. schließt sich, um auch ein bisschen Spaß zu haben, einer Gruppe alter, vermögender
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Verehrer an. Getragen ist das Stück von einem Rhythmus, der die vielen kleinen Szenen musikalisch rahmt u. mit »Stille« durchsetzt. So erscheinen die brüchigen Sätze, die gesprochen werden, oft wie eigene Gegenstände auf der Bühne. In Glaube Liebe Hoffnung (Urauff. Wien 1936, in KW 6) tritt das soziale Moment stärker in den Vordergrund. Das Stück basiert auf einer realen Begebenheit, die der Journalist Lukas Kristl dem Autor hinterbracht hat: Eine fahrende Korsettenverkäuferin gerät aufgrund eines Bagatelldelikts auf die schiefe Bahn u. macht ihrem Leben ein Ende. H. akzentuiert die Handlung hinsichtlich des »gigantischen Kampfes zwischen Individuum und Gesellschaft« (Randbemerkung in KW 6, S. 12) – ein Thema, das seinen drei großen Volksstücken den gemeinsamen Rahmen gibt. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im März 1933 konnte die geplante Uraufführung von Glaube Liebe Hoffnung in Deutschland nicht mehr stattfinden. Nach einer Hausdurchsuchung der SA in Murnau setzte sich H. nach Österreich ab, wo er vorwiegend in Wien lebte u. zuweilen Gast in Carl Zuckmayers Villa in Henndorf bei Salzburg war. Die Einladung zur Mitarbeit an der Exilzeitschrift »Die Sammlung« lehnte er brüsk ab. Am 11.7.1934 wurde er auf eigenen Antrag in den nationalsozialistischen »Reichsverband Deutscher Schriftsteller« aufgenommen; Mitgliedsbeiträge zahlte er nur bis 1935, weshalb er im Februar 1937 aus der Mitgliederliste gestrichen wurde. Mehrmals u. oft viele Monate lang hielt sich H. 1933–36 in Berlin auf. Es bestand zwar keinerlei Aussicht, dass seine Stücke in Deutschland wieder gespielt werden dürften, jedoch verfertigte er unter einem Pseudonym Exposés u. Filmdialoge für die nationalsozialistische Filmindustrie (in: Himmelwärts. Ffm. 2001, S. 147–191). 1936/37 gab H. die Hoffnung auf eine (wohl auch ökonomische) Zukunft in Deutschland auf. Auf einem Blatt aus dem Nachlass (in KW 11, S. 227 f.) distanzierte er sich emphatisch von den letzten Stücken, die er geschrieben hatte, u. kündigte ein moralisch geläutertes Schreiben an, das fortan unter dem Gesamttitel »Komödie des Menschen« stehen sollte.
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Nachdem er Deutschland 1933 verlassen hatte, beendete H. zunächst das letzte seiner großen Volkstücke, Eine Unbekannte aus der Seine (Urauff. Linz 1947, in KW 7), in dem die weibl. Hauptfigur, basierend auf der berühmten Totenmaske, mythisch überhöht erscheint. Anschließend schrieb H. die Komödie Hin und her (Urauff. Zürich 1934, in KW 7), die auf einer Grenzbrücke zwischen zwei Staaten spielt u. das skurrile Schicksal der dort Festgehaltenen zum Inhalt hat. In Stücken wie Figaro lässt sich scheiden (Urauff. Prag 1937, in KW 8) u. Don Juan kommt aus dem Krieg (Urauff. Wien 1952, in KW 9) greift H. klass. Stoffe auf, die er vor dem Hintergrund der existenziellen Erfahrungen seines eigenen Halbexils gestaltet. Vom Programm der moralischen Läuterung ist das Stück Der jüngste Tag (Urauff. Mährisch-Ostrau 1937. Neuedition: Stgt. 2009) geprägt. Am Beispiel eines Eisenbahnunglücks mit zahlreichen Toten stellt H. die Frage nach kollektiver oder individueller Schuld. Mit den beiden Romanen Jugend ohne Gott (ein Lehrer steht einer Gruppe faschistoider Jugendlicher gegenüber; Neuedition: Stgt. 2009) u. Ein Kind unserer Zeit (in KW 14) definierte sich H. neu: Sie erschienen 1937 u. 1938 im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange u. zeigen eine klar antifaschistische Stoßrichtung. Nach dem Einmarsch dt. Truppen in Österreich im März 1938 plante H., ins Exil zu gehen. Der Weg führte ihn über Budapest, Jugoslawien, Triest, Venedig, Mailand, Zürich, Brüssel u. Amsterdam nach Paris, wo er am 1. Juni mit dem Regisseur Robert Siodmak zusammentraf, um über eine amerikan. Verfilmung von Jugend ohne Gott zu sprechen. Am Abend desselben Tages zog über der Stadt ein schweres Gewitter auf; H. wurde auf den Champs-Élysées von einem umstürzenden Baum getötet. Nach 1945 deutete man H.s. Werk zunächst metaphysisch; programmatisch dafür ist die Aufführung von Der jüngste Tag Ende 1945 im Theater in der Josefstadt in Wien. Die Aufführung der Geschichten aus dem Wiener Wald am Wiener Burgtheater geriet 1948 zu einem Skandal; man warf dem Autor Gehässigkeit gegenüber Wien u. Österreich vor. Zu einem Zeitpunkt, da H. fast völlig vergessen
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war, versuchte der schmale Auswahlband Unvollendet ..., herausgegeben von seinem Freund Franz Theodor Csokor (Wien 1961), H. als ein zu früh verstorbenes Genie zu etablieren. Auch Lajos von Horváths Bemühungen, die Stücke seines Bruders auf deutschsprachigen Bühnen unterzubringen, waren nur mäßig erfolgreich. Ende der 1960er Jahre änderte sich die Situation schlagartig. H. wurde als moderner Klassiker rezipiert; unter dem Einfluss der Studentenbewegung avancierte er zu einem Lieblingsautor der krit. Intelligenz. 1970/71 erschien die erste Gesamtausgabe; H. gehört seither zu den meistgespielten Autoren des deutschsprachigen Raums u. Jugend ohne Gott zum Kanon der Schullektüre. Die literatur- u. theaterwissenschaftl. Forschung hat sich in den 1970er Jahren v. a. mit dem ideologiekrit. Gehalt von H.s Volksstücken beschäftigt u. hierbei einen starken Akzent auf die Sprachbehandlung des Autors (Nolting) gesetzt. Dabei wurde die Frage diskutiert, ob H. eher metaphysisch oder realistisch zu lesen u. zu spielen sei. Interpretationen der 1980er u. 1990er Jahre lassen beide Antworten zu. In ihnen werden die Komplexität von H.s Werken (Gamper) herausgestrichen u. andere Lesarten, darunter auch psychoanalytisch motivierte (Haag, Bossinade), forciert. In den letzten Jahren sind themat. Zugänge festzustellen, die sich gleichermaßen mit H.s dramat. Werken u. Prosaarbeiten (bislang eher ein Stiefkind der Forschung) beschäftigen. Methodisch gesehen hat in der Auseinandersetzung mit H.s. Texten schon früh die Berücksichtigung von genet. Werkmaterialien (Kurzenberger) eine Rolle gespielt, denn schon in der ersten Gesamtausgabe wurde entsprechendes Textmaterial zumindest in Teilen ediert. Gerade in der Produktion der Texte, deren Darstellung die neue historischkrit. »Wiener Ausgabe« zum umfassenden Ziel hat, erscheint H. als ein Autor, bei dem es auf jedes sprachl. u. strukturelle Detail ankommt. Von der spezif. Wirkung dieses bis heute aktuellen »Sounds« zeigten sich während der letzten fünf Jahrzehnte nicht nur das Theaterpublikum u. die Leserschaft angetan. Auch viele Autoren betonten den Einfluss,
Horváth
den H.s Schreiben auf sie genommen hat: von Franz Xaver Kroetz über Peter Turrini, Peter Handke u. Botho Strauß bis zu Elfriede Jelinek. Weitere Werke: Gesamtausgaben: Ges. Werke. 4 Bde., Ffm. 1970/71. 3., verb. Aufl. 1978. – Komm. Werkausg. in Einzelbdn. (= KW). 15 Bde. (nur 14 ersch.), Ffm. 1983 ff., dazu Supplementbd. 1: ›Himmelwärts‹ u. andere Prosa aus dem Nachl. (2001) u. 2: ›Ein Fräulein wird verkauft‹ u. andere Stücke aus dem Nachl. (2005). – Hist.-krit. ›Wiener Ausg.‹ sämtl. Werke u. Briefe. Hg. Klaus Kastberger. Bln. 2009 ff. (darin: Kasimir u. Karoline. Hg. K. Kastberger u. Kerstin Reimann. Bln. 2009). – Teilausgaben: Zeitalter der Fische. Zwei Romane in einem Bd. Wien 1953. – Stücke. Hg. Traugott Krischke. Reinb. 1961. – Einzeltitel: Ital. Nacht. Bln. 1931. – Gesch.n aus dem Wiener Wald. Bln. 1931. – Der jüngste Tag. Schausp. in sieben Bildern. Emsdetten 1955. Literatur: Bibliografie in: Klaus Kastberger u. Nicole Streitler (Hg.): Vampir u. Engel. Zur Genese u. Funktion der Fräulein-Figur im Werk Ö. v. H.s. Wien 2006, S. 129–160. – Gesamtdarstellungen: Axel Fritz: Ö. v. H. als Kritiker seiner Zeit. Mchn. 1973. – Christian Schnitzler: Der polit. H. Untersuchungen zu Leben u. Werk. Ffm. 1990. – Stefan Heil: Die Rede v. Gott im Werk Ö. v. H.s. Ostfildern 1999. – Kurt Bartsch: Ö. v. H. Stgt. 2000. – Janusz Golec: Alltag u. Glück im Werk Ö. v. H.s. Lublin 2002. – Peter Baumann: Ö. v. H. Jugend ohne Gott – Autor mit Gott? Bern 2003. – Biografien: Dieter Hildebrandt: Ö. v. H. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1975. – Traugott Krischke: Ö. v. H. Kind seiner Zeit. Mchn. 1980. – Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos u. Elisabeth Tworek: H. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzb. 2001. – Einzelne Gattungen: Hajo Kurzenberger: H.s Volksstücke. Mchn. 1974. – Winfried Nolting: Der totale Jargon. Die dramat. Beispiele Ö. v. H.s. Mchn. 1976. – Martin Hell: Kitsch als Element der Dramaturgie Ö. v. H.s. Bern 1983. – Herbert Gamper: H.s komplexe Textur. Zürich 1987. – H.s Stücke. Hg. T. Krischke. Ffm. 1987. – H.s Prosa. Hg. ders. Ffm. 1988. – Johanna Bossinade: Vom Kleinbürger zum Menschen. Die späten Dramen Ö. v. H.s. Bonn 1988. – Ingrid Haag: Fassaden-Dramaturgie. Beschreibung eines literar. Verfahrens. Ffm. 1995. – Weitere Titel: H.-Diskussion. Hg. Kurt Bartsch, Uwe Baur u. Dietmar Goltschnigg. Kronberg/Taunus 1976. – H.s Lehrerin v. Regensburg. Der Fall Elly Maldaque. Hg. Jürgen Schröder. Ffm. 1982 – Geboren in Fiume. Ö. v. H. Hg. Ute Karlavaris-Bremer, Karl Müller u. Ulrich Schulburg. Wien 2001. – Ö. v. H.: Unendl. Dummheit – dumme Unend-
Hosäus lichkeit. Mit einem Dossier ›Geborgte Leben‹. H. u. der Film. Hg. K. Kastberger. Wien 2001. – Leben ohne Geländer. Internat. H.-Symposium. Hg. Matthias Kratz u. Gabi Rudnicki-Dotzer. Murnau 2003. Klaus Kastberger
Hosäus, Friedrich Wilhelm, * 7.9.1827 Dessau, † 17.7.1900 Dessau. – Literat u. Kunsthistoriker.
596 Lieder. Dessau 1866. – Ahasverus u. Lehndorff. Dessau 1866. – Absalom. Trauersp. in 5 Akten. Paderb. 1868. – Die Verlobte. Trauersp. in 1 Akt. Dessau 1869. – Don Silvio’s Brautfahrt. Ein Fastnachtsspiel in 7 Bildern. Paderb. 1869. – Johanna v. Castilien. Trauersp. in 5 Aufzügen. Nach dem Span. des Don Manuel Tamayo y Baus für die dt. Bühne bearbeitet. Dessau 1871. – Die Altertümer Anhalts. Dessau 1879. – Askania. Vaterländ. Gedichte. Köthen 1885. – Balladen u. Elegien. Dessau 1886. – Gedichte. Dessau 1896.
Literatur: Brümmer 1. – Adolf Hinrichsen: Das Als Sohn eines Musikers beschäftigte sich H. 2 früh mit Musik u. erhielt Orgel- u. Klavier- literar. Dtschld. Bln. 1891, S. 603. – Wilhelm Oeke: F. W. H. Ein Gedenkblatt zum 70. Geburtsunterricht. Nach dem Besuch des Gymnasitag. In: Dichterstimmen der Gegenwart. Poetisches ums in Dessau studierte er ab 1846 in Halle, Organ für das kath. Dtschld. 11 (1897), S. 361–364. im folgenden Jahr in Leipzig Theologie u. – BJ 5 (1903), Sp. 97. – Karl Bader: Lexikon dt. legte 1849 in Dessau die theolog. Staatsprü- Bibliothekare. Im Haupt- und Nebenamt, bei fung ab. Zunächst Hauslehrer in Meißen, war Fürsten, Staaten und Städten. Lpz. 1925, S. 113. er seit 1850 als Hilfsprediger der Lutheraner Lea Marquart in Breslau u. Waldenburg tätig, musste diese Stellung aber 1852 aus gesundheitl. Gründen aufgeben. Hotho, Heinrich Gustav, * 22.5.1802 BerDie folgenden elf Jahre verbrachte H. als lin, † 24.12.1873 Berlin. – KunsthistoriBegleiter u. Lehrer der Söhne des Erbland- ker. marschalls Graf Friedrich Hahn auf Basedow zumeist auf Reisen. Er besuchte Frankreich, Der Fabrikantensohn H. wandte sich nach Italien, Spanien, Belgien, Holland, England, Abschluss seines rechtswissenschaftl. StudiSchottland, Irland, die Schweiz u. viele Teile ums (Berlin u. Breslau 1820–1822) der PhiDeutschlands. Er interessierte sich v. a. für die losophie Hegels zu, die für sein Denken beSprache u. Literatur der bereisten Länder. stimmend blieb. 1826 in Berlin mit einer Nach dreijähriger Tätigkeit als Oberlehrer am Arbeit über die Philosophie Descartes’ proGymnasium in Dessau wurde H. 1866 Erzie- moviert, habilitierte er sich 1827 für Kunsther der Prinzen Leopold u. Friedrich von geschichte u. Ästhetik. 1829 wurde er zum Anhalt. 1868 wurde er zum anhaltischen a. o. Prof. (der er bis zu seiner Emeritierung Hofrat, 1887 zum Geheimen Hofrat ernannt. blieb), 1860 auch zum Direktor des KupferSeit 1872 war H. herzogl. Bibliothekar. 1875 stichkabinetts des Berliner Museums ergründete er den Verein für anhaltische Ge- nannt. Sein Freund Karl Rosenkranz sah in ihm schichte u. Altertumskunde. das Musterbild eines allseitig gebildeten ÄsSchriftstellerisch beschäftigte sich H. vor theten. Die Liebe zur bildenden Kunst hatte allem mit anhaltischen Gemäldegalerien u. veröffentlichte biogr. u. kunsthistor. Werke. H. auf Kunstreisen nach London, Paris u. Hinzu kommen verschiedene literar. Versu- Holland frühzeitig entwickelt; ebenso verche u. einige Übersetzungen, so etwa H.s tiefte er seine Liebe zur Literatur u. Musik. In erste Veröffentlichung, die Spanischen Volks- den Vorstudien für Leben und Kunst (Stgt./Tüb. lieder und Volksreime (Paderb. 1862), eine 1835), die nicht nur zeigen sollten, dass die Übertragung der Sammlung von Fernan Ca- Kunstwerke »denkend durchdrungen, sondern mit allen Sinnen, mit Empfindung, ballero. Seele und Gemüt ergriffen und im Innersten Weitere Werke: Die Amazone. Trauersp. in 1 Akt. Bln. 1863. – Prinz Louis Ferdinand. Vaterländ. wiedergeboren worden« seien (Vorrede), legte Schausp. in 5 Akten. Bln. 1865. – Kriemhild. H. Rechenschaft ab über seine ganzheitl. Trauersp. in 5 Akten. Paderb. 1865. – Rosalinde. Aneignung der mittelalterl. u. neuzeitl. MaRomant. Humoreske. Paderb. 1866. – Arendsee’er lerei, aber auch der Dichtung u. Musik –
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Goethe u. Mozart bilden die Kulminationspunkte einer gesetzmäßig aufsteigenden Entwicklung der Kunst. Zur neuesten Kunst, insbes. zur Romantik, übernahm er Goethes u. Hegels Kritik. Aus den Vorstudien gingen die beiden Bände der Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei (Bln. 1840–43) hervor, die mit einer umfangreichen Abhandlung im Geist von Hegels Auffassung zur Weltgeschichte der Kunst beginnen. Auch Die Malerschule Huberts van Eyck nebst deutschen Vorgängern und Zeitgenossen (2 Bde., Bln. 1855–58) führt Ideen der Vorstudien weiter aus. Sein Verdienst um die philosophische Ästhetik beschränkt sich auf eine pietätvoll rekonstruierende Edition von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (Bln. 1835–38). Seinem wissenschaftl. Hauptanliegen, die Geschichte der Künste im Geist der Hegel’schen Ästhetik zu durchdringen, dienen auch die vielen Korrespondenzberichte H.s für Cottas »Morgenblatt« u. andere Zeitungen. Unvollendet blieben Die Meisterwerke der Malerei vom Ende des 3. und Anfang des 18. Jahrhunderts in photound photolitographischen Nachbildungen (Bln. 1865 ff.), die ihn unter den Ersten zeigen, die für das »imaginäre Museum« (Benjamin, Malraux) eingetreten sind. Unvollendet blieb auch die Geschichte der christlichen Malerei (3 Lfg.en, Bln. 1867–72). Literatur: Wilhelm Waetzoldt: Dt. Kunsthistoriker. Bd. 2, Lpz. 1924, S. 53–70. – Annemarie Gethmann-Siefert: H. G. H.: Kunst als Bildungserlebnis u. Kunsthistorie in systemat. Absicht – oder entpolitisierte Version der ästhet. Erziehung des Menschen. In: Kunsterfahrung u. Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hg. dies. u. Otto Pöggeler. Bonn 1983, S. 229–261. – Elisabeth Ziemer: H. G. H. Bln. 1994. – Francesca Iannelli: Friedrich Theodor Vischer zwischen Hegel u. H. Ed. u. Komm. der Notizen Friedrich Theodor Vischers zu H.s Ästhetikvorlesung v. 1833. In: Hegel-Studien 37 (2002), S. 11–53. – MKunsthistL. Wolfhart Henckmann / Red.
Hotopp, Albert, * 20.9.1886 Berlin, † Juli 1941 (?) UdSSR. – Erzähler, Politiker. H., Sohn eines Schmieds, arbeitete zunächst als Kellner, dann als Maschinist u. Seemann. 1918 nahm er an der Novemberrevolution teil u. trat 1920 der KPD bei. Wegen »Hochver-
rats« wurde er 1923 zu drei Jahren Haft verurteilt. In dieser Zeit entstanden erste Erzählungen. Bis 1929 war er polit. Leiter eines KPD-Bezirks in Berlin u. vor 1933 auch Stadtverordneter. H., der seine literar. Arbeit als »Nebenprodukte eines Parteifunktionärs« ansah, veröffentlichte 1930 seinen proletarisch-revolutionären Roman Fischkutter H. F. 13 (Bln. 1930. Engels 1933). In ihm desillusioniert er die sentimentale Seefahrerromantik u. schildert den Existenzkampf der kleinen Fischer gegen die Großunternehmer. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten lebte H. ein Jahr illegal in Deutschland u. emigrierte 1934 in die Sowjetunion. Dort arbeitete er als Lektor für dt. Sprache u. Literatur u. schrieb Erzählungen über den kommunistischen Widerstand in Deutschland (Die Unbesiegbaren. Engels 1935). Nach Kriegsbeginn in der UdSSR wurde H. verhaftet u. ist seitdem verschollen. Weitere Werke: Stürme überm Meer. Engels 1933 (E.en). – Stander ›Z‹. Moskau 1936 (E.). Literatur: Ulrike Jarnach: A. H. Autor des proletar. Alltags in Hbg.? In: Inge Stephan u. HansGerd Winter (Hg.): ›Liebe, die im Abgrund Anker wirft‹. Bln./Hbg. 1990, S. 111–128. Heiner Widdig / Red.
Hotschnig, Alois, * 3.10.1959 Berg im Drautal/Kärnten. – Verfasser von Erzählungen, Hörspielen, Theaterstücken, Essays u. Romanen. H. wuchs in der österr. Provinz auf, die seine Beobachtung u. Wahrnehmung determiniert u. den Ausgangspunkt für sein Schreiben darstellt (Interview mit L. Decloedt für Duitse Kroniek). Mit dem Eintritt in das Gymnasium fand erstmals eine Initiation in die Bücherwelt statt (Lienz, Maximilianstraße. 1994). Begegnungen mit Texten von Borchert, Kafka, Beckett, Bachmann, Celan u. Kant prägen noch heute H.s Schreiben (Alle Bücher meines Lebens. 1990). Die obsessive Faszination durch die Literatur ist verbunden mit dem Wissen um die große Aufgabe, die es zu übernehmen gilt, gepaart mit der Angst vor dem Scheitern. Diese Ambivalenz ist ein zentrales Thema von H.s Texten. Der junge Schüler, der zaghaft vor den Toren der Schule steht u. den Satz
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»Ich will« ausspricht (Lienz, Maximilianstraße), dem Leser u. Erzähler verändert hervorgehen. verdeutlicht diese Ambivalenz ebenso wie die Die durch die Lektüre gemachten ErfahrunSchilderung der Marienhände in dem Roman gen führen schließlich zu einer krit. SelbstLeonardos Hände (Hbg./Zürich 1992). So bildet befragung, durch die sowohl der eigene H. in seinen Texten stets die Dichotomie von Standort als auch die eigene Stimme in der Kunst u. Gesellschaft ab; Heimat ist – ange- Gesellschaft überprüft werden. »Es geht um sichts der Fragilität des Lebens – infolgedes- Haltung, auch um Erzählhaltung, und um sen nur als Sprachheimat denkbar. Während Strategie, um Erzählstrategie. [...] [W]ohl in dem 1991 produzierten Hörspiel Augen- auch, um dem zu begegnen und den kennen schnitt (1988) der Ausbruch aus der sprachl. zu lernen, der spricht, auch in mir selbst« Enge des Dorfes in den Wahnsinn der Kunst (Wer spricht?). H., der seit 1989 als freier Schriftsteller mündet, möchte Anna aus Leonardos Hände ihre Geschichte erzählen, um sich selbst eine tätig ist, lebt in Innsbruck/Tirol. Er erhielt Stimme bzw. sprachl. Identität zu verleihen. 1985 den Liechtenstein-Preis, 1989 den FörDoch auch dieser Versuch ist zum Scheitern derpreis u. 1992 den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, 1992 verurteilt. H.s Texte sind Erinnerungsarbeit u. kon- den Literaturpreis des Deutschen Literaturfrontieren mit einer nie abgeschlossenen in- fonds Darmstadt (New-York-Stipendium), dividuellen wie kollektiven Vergangenheit. 1993 den Anna-Seghers-Preis, 2002 den ItaloWährend in den fantastischen Erzählungen Svevo-Preis, 2003 den Österreichischer Fördes Bandes Die Kinder beruhigte das nicht (Köln derpreis für Literatur, 2004 den Leopold-Figl2006) mehr die eigene Geschichte im Mittel- Preis u. 2008 den Erich-Fried-Preis. punkt steht, wird diese in Ludwigs Zimmer Literatur: Konrad Paul Liessmann: Konstruk(Köln 2000) zum Ausgangspunkt für die tion u. Erfahrung. Anmerkungen zur Prosa v. RoAuseinandersetzung mit dem Nationalsozia- bert Menasse, Norbert Gstrein u. A. H. In: Walter lismus. Indem H.s Texte zerbrechl. Lebens- Delabar u. a. (Hg.): Neue Generation – Neues Erentwürfe vorstellen, führen sie an die Ränder zählen. Dt. Prosa-Lit. der achtziger Jahre. Opladen der Existenz (Absolution. Köln 1994. Urauff. 1993, S. 195–206. – Marianne Baltl u. Axel Ruckaberle: A. H. In: KLG. Stephanie Waldow Schauspielhaus Wien, Regie: Hans Gratzer, 1995). Täter/Opfer-Dichotomien werden aufgebrochen, Krankheit u. Tod zu zentralen Hottinger, Johann Jacob, * 2.2.1750 HauMotiven. Bereits in seiner ersten Erzählung sen bei Ossingen/Kt. Zürich, † 4.2.1819 Aus (Ffm. 1989) beschreibt H. diese Verwo- Zürich. – Philologe u. Satiriker. benheit von Täter- u. Opferdasein. Der vom Als Schüler u. Freund von Johann Jakob Vater tyrannisierte Protagonist Kofler wird Steinbrüchel widmete H. seine Studien v. a. schließlich selbst zum Täter, indem er dem den lat. Klassikern. 1771 wurde er zum sterbenden Vater seine letzte Ruhe nicht Geistlichen geweiht u. trat mit einem Stigönnt u. damit dessen Leiden verlängert. pendium eine Reise nach Holland u. Auch die zweite Erzählung Eine Art Glück Deutschland an. 1774 promovierte er in (Ffm. 1990) macht anhand des beinlos gebo- Göttingen u. blieb Heyne freundschaftlich renen Paul die Verkrüppelung der Gesell- verbunden. Mit lat. u. dt. Aufsätzen gewann schaft deutlich u. zeigt v. a. die Sehnsucht er akadem. Ehrungen von Leyden (1774, nach einem (sprachl.) Gegenüber. Die rhyth- 1785), Padua (1784) u. Mannheim (1789, mische wie atemlose Rede Pauls erzählt von 1792). Trotz Einladung von Heyne nach der Unmöglichkeit, ein selbstbestimmtes LeGöttingen u. Empfehlung von Goethe nach ben zu führen. Zugleich macht sie Hoffnung, Kopenhagen blieb H. zeitlebens in Zürich, wo Identität zumindest in der Sprache finden zu er am Karolinum Professor der Eloquenz, des können. H.s Texte beziehen ihre LebendigLateinischen u. Griechischen u. nach Steinkeit u. Authentizität v. a. aus der Auseinanbrüchel Chorherr wurde. dersetzung mit der Unvollständigkeit der Sprache. Sie bieten stets ein Gespräch an, aus
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H. schuf sich zuerst einen Ruf als Satiriker Hotzel, Curt, * 20.4.1894 Leipzig, † 10.8. gegen Lavater u. Goethe: Sendschreiben an den 1967 Berlin. – Journalist, Erzähler u. Verfasser der Nachricht von den Zürcherischen Ge- Dramatiker. lehrten im ersten Band der allgemeinen theologiNach dem Gymnasium u. einer Lehrzeit als schen Bibliothek [...] (Bln. u. Lpz. 1775), MenBankkaufmann studierte H. ab 1913 in Berlin schen Thiere und Göthe eine Farce [...] (Zürich zunächst an der Handelshochschule, dann an 1775), Briefe von Selkof an Welmar. Herausgegeben der Universität Philosophie. 1919 ging er von Welmar (Zürich 1777). Das letztgenannte zum Studium der Literaturwissenschaft nach Werk war als Erwiderung auf Goethes Werther Heidelberg. Im selben Jahr wurde seine Traentstanden, enthält wie sein Vorlagetext aber gödie Alboin und Rosimund am Harzer Bergauch biogr. Elemente. Mit der zeitgenöss. theater uraufgeführt, dessen Gründer u. LeiLiteratur setzte sich H. zudem in seiner 1778 ter Ernst Wachler er in Berlin kennen gelernt erschienenen Aphorismensammlung Brelohatte. Ab 1921 war H. in Berlin Journalist u. cken aus Allerley der Groß- und Kleinmänner Redakteur, u. a. Chefredakteur der satir. auseinander. Zeitschrift »Kladderadatsch« bis zu deren Als ein maßgebender Vertreter der Zürcher Einstellung 1944. Nach dem Krieg lebte er als Schule von Bodmer u. Breitinger wirkte H. freier Schriftsteller in West-Berlin. belehrend u. kritisch im Sinn des aufgeklärAls Erzähler bevorzugte H. historisch-kulten Geschmacks; er veröffentlichte zahlreiche turgeschichtl. Stoffe, die er detailgenau an Untersuchungen zeitgenöss. Literatur u. ihbedeutenden Gestalten in unterhaltsamer res Verhältnisses zur Antike: Von den Ursachen Weise, z.T. auch in krit. Absicht, entfaltete; der Seltenheit classischer Prosaisten unter den u. a. in den Romanen Kaspar Schlick (Prag/Bln./ Deutschen (1792. In: Zürcherische Beyträge Lpz. 1944) um den Kanzler Kaiser Sigiszur wissenschaftlichen und geselligen Unmunds u. Tat und Traum des Bildschnitzers Veit terhaltung. Hg. J. J. H. u. a. 3 Bde., Zürich Stoß (Bln. 1960. Bayreuth/Zürich 51996). In 1815/16. Bd. 3, H. 1, S. 3–49) sowie Übersetder teilweise autobiogr. Erzählung Germaine zungen lat. u. griech. Werke. – Nebst Geoder der Irrtum von Locarno (Bln. 1956) verdichten u. einigen histor. Dramen für die suchte H. selbstkritisch die in mangelnder Jugend schrieb H. auch Biografien berühmter polit. Wachsamkeit liegenden Fehler eines in Mitbürger, so von Bodmer u. Steinbrüchel der NS-Zeit loyalen Autors anhand der entauf Lateinisch, auf Deutsch die vielbeachtete scheidenden Lebensphase (1924–1954) zu u. übersetzte Biografie Salomon Gessner (Züverarbeiten. H. verfasste auch Komödien (Der rich 1796). maßlose Fähnrich. Bühnenmanuskript Bln. Weitere Werke: Das Geniewesen, ein Lustspiel 1940). in fünf Aufzügen. Ffm./Lpz. 1781. – Etwas über die neusten Uebersetzerfabriken der Griechen u. Römer. Zürich 1782. – Bibl. der neuesten theolog., philosoph. u. schönen Litteratur. 3 Bde., Zürich 1784–86. – Rectoratsreden. Zürich 1813. Literatur: Georg v. Wyß: J. J. H. In: ADB. – [Ludwig Hirzel:] Goethe’s Beziehungen zu Zürich u. zu Bewohnern der Stadt u. Landschaft Zürich. Neujahrsblatt hg. v. der Stadtbibl. in Zürich auf das Jahr 1888. Zürich 1888. – Urs Viktor Kamber: J. J. H.: Briefe v. Selkof an Welmar. [...] Zu einer rationalist. Version des Briefromans im 18. Jh. In: DVjs 47 (1973), S. 381–399. Barbara Schnetzler / Karin Vorderstemann
Weitere Werke: Blutweihe. Gedanken über dt. Zukunft. Mchn. 1919. – Die Stadt des guten Gewissens. Erfurt 1920 (Satiren). – Ernst Wachler. Kassel/Lpz. 1921 (Ess.). – Fremde Götter am Rhein. Bln. 1935 (Histor. R.). – Der Eselskopf. Bln. 1938 (R.). – Der unverblümte Amor. Bayreuth 1944 (N.n). – Die Schuld des Schwarzen Eicken. Roman eines Burschenschafters. Bln. 1952. – Bauern gegen Bonaparte. Bln. 1953 (E.). – Nettelbeck. Bln. 1953 (E.). – Der span. Fächer. Bln. 1962 (R.). Literatur: Ute Gerdes: C. H. In: Wulf Segebrecht (Hg.): Der Bamberger Dichterkreis 1936–1943. Ffm. u. a. 1987, S. 174–178. Christian Schwarz / Red.
Houben
Houben, Heinrich Hubert, * 31.3.1875 Aachen, † 27.7.1935 Berlin. – Literaturwissenschaftler, Biograf, Kritiker.
600 nerin Sibylle Mertens-Schaaffhausen. Essen 1935, S. 7–12. – Gerhard Rudolph: H. H. H. In: NDB. Lutz Zimmermann / Red.
Nach einem Studium in Bonn, Berlin u. Greifswald war H., Sohn eines Kaufmanns, Houwald, (Christoph) Ernst Frhr. von, zunächst Redakteur, 1898–1905 Dozent an auch: Ernst, Waludho, * 29.11.1778 † 28.1.1845 der Humboldt-Akademie u. der Reinhardt- Straupitz/Niederlausitz, Theaterschule in Berlin. Im literar. Beirat des Neuhaus bei Lübben. – Dramatiker, ErVerlags F. A. Brockhaus wirkte er 1907–1919, zähler u. Jugendschriftsteller. ab 1921 als Direktor des Deutschen Verlags in Von Privatlehrern erzogen, schrieb H., Sohn Berlin, schließlich als freier Schriftsteller u. eines Landgerichtspräsidenten, im Spreewald als Kultur- u. Theaterkritiker. seine ersten, von histor. Stoffen inspirierten Die literar. Arbeiten H.s gerieten schnell in dichterischen Versuche. 1793 zog er nach Vergessenheit. Zu seiner Zeit war er jedoch Halle, wo er als Student des Pädagogiums ein einflussreicher Kritiker u. genauer, krit. Carl Wilhelm Salice-Contessa kennen lernte. Biograf (u. a. Emil Devrient. Sein Leben, sein 1799 nahm er an der dortigen Universität ein Wirken, sein Nachlaß. Ffm. 1903. Heinrich Lau- Studium der Kameralwissenschaften auf; bei bes Leben und Schriften. Lpz. 1906). Als Litera- seinen Besuchen auf Reichardts Besitztum turwissenschaftler widmete sich H. vor allem Giebichenstein begegnete er u. a. Tieck, Waden Vormärz-Autoren, insbes. Gutzkow ckenroder, Novalis, Brentano u. Eichendorff. (Gutzkow-Funde. Bln. 1901. Neuhdr. u. Mi- Nach dem Tod des Vaters (1802) brach er sein krofiche Egelsbach 1993), dessen Werke (Lpz. Studium ab u. erwarb das Rittergut Craupe, 1908) er herausgab. das er bis 1805, als er zum Landesdeputierten Mit großem Engagement setzte sich H. mit der Niederlausitzer Stände gewählt wurde, dem Problem der Zensur auseinander, wobei bewirtschaftete; daneben verfasste er noveler stets für die Interessen der Autoren eintrat listische Skizzen, die unter seinem Vornamen (u. a. Hier Zensur – Wer dort? Lpz. 1918. Neudr. Ernst oder dem Anagramm Waludho erEgelsbach 1993. Mikrofiche Bln. 2006. Polizei schienen. und Zensur. Bln. 1926. Neudr. Egelsbach 1806 fiel ihm durch Heirat das Gut Sell1993). Mit der Sammlung Verbotene Literatur endorf zu, was ihm kaum finanzielle Vorteile von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart (Dessau verschaffte, denn aufgrund der schlechten 1925–28) dokumentierte H. die Geschichte ökonomisch-polit. Entwicklung (Napoleoniunterdrückter, zensierter oder indizierter Li- sche Kriege, Viehseuchen u. Wertverlust des teratur. Grundeigentums) musste H. Craupe verkauWeitere Werke: Ztschr.en der Romantik. Bln. fen u. Sellendorf größtenteils verpachten. Dass H. erst 1816 hinreichend Zeit zu lite1904. – Ztschr.en des Jungen Dtschld. Bln. 1906–09. – Jungdt. Sturm u. Drang. Lpz. 1911. – rar. Produktion fand, erklärt sich zum einen Christoph Columbus. Bln. 1932 (Histor. E.). – Der aus der Einsetzung der kgl. Landräte, durch polizeiwidrige Goethe. Bln. 1932. Neudr. Egels- die er vieler bisher übernommener Amtsgebach 1992. Mikrofiche Ffm. 1998. – Hier Zensur – schäfte enthoben war, dann aus der Anwewer dort? Antworten v. gestern auf Fragen v. heute. senheit Contessas, der aus Berlin zu ihm geDer gefesselte Biedermeier. Lit., Kultur, Zensur in zogen war u. ihn zu erneuter schriftstellerider guten alten Zeit. Mit einem Essay v. Günter de Bruyn. Lpz. 1990. – Herausgeber: Heinrich Laube: scher Arbeit anregte; 1817 gab er H.s RoGes. Werke. Lpz. 1908 ff. – Dt. Revolution. 12 Bde., mantische Akkorde (Lpz.) heraus. Mit seinen stark didaktisch gefärbten, für Lpz. 1919/20. – Biedermeierzeit u. Vormärz. DesKinder gedachten Erzählbändchen, die in sau 1925. Literatur: H. H. H. In: Archiv für Buchgewerbe bunter Abwechslung Schauspiele, Märchen, u. Gebrauchsgraphik 72 (1935), S. 412. – Hanns Romanzen, Erzählungen u. Gedichte brachMartin Elster: H. H. H. Sein Leben u. sein Schaffen. ten, buchte H. Erfolge als JugendschriftstelIn: H. H. H.: Die Rheingräfin. Das Leben der Köl- ler. Der Großteil seiner Epik war jedoch der
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Biedermeierzeit durch ihre rückwärtsge- Schmidtborn: C. E. Frhr. v. H. als Dramatiker. Diss. wandte Einstellung den niederen Volksklas- Marburg 1909. – Albin Lenhard: Didakt. Mimikry. sen gegenüber u. die oft stark betonte Senti- Zur Kinder- u. Jugendlit. E. v. H.s. In: Lit. für mentalität zu sehr verhaftet, um einem spä- Kinder. Hg. Maria Lypp. Gött. 1977, S. 170–195. – Henk J. Koning: Carl Salice-Contessa. Diss. Utrecht teren Lesepublikum gefallen zu können. 1987, S. 53–62. – Hans-Heino Ewers: Familie im Der Nachwelt ist H. vor allem durch seine Kinderschauspiel des ausgehenden 18. u. frühen der Schicksalsdramatik zugehörigen Büh- 19. Jh. In: Familienszenen. Hg. ders. Weinheim nenstücke bekannt geblieben, die verhäng- u. a. 1999, S. 25–40. – H. J. Koning: E. v. H.s Epik. nisvolle Ereignisse mit effektvollen Mitteln In: Im Schatten der Literaturgesch. Hg. Jattie Endarstellen. Im Gegensatz zu Müllner u. Wer- klaar. Amsterd. 2005, S. 251–267. ner biegt H. jedoch die Katastrophe zu einer Henk J. Koning / Red. rührseligen Szene um; die festen Motive Heimkehr, Blutsünde, Unheilsprophezeiung, Hoven, Friedrich Wilhelm von, * 11.3. Verwandtenmord u. Familienfluch verlieren 1759 Ludwigsburg, † 6.2.1838 Nördlinso am Ende ihren unheilschwangeren Inhalt. gen. – Arzt, Jugendfreund Friedrich Von Zeitgenossen wie Tieck u. Börne wegen Schillers. ihrer langen, baufälligen Monologe, schwach motivierten Handlung u. verfehlten Charak- Der Sohn eines württembergischen Offiziers terzeichnung verspottet, konnten die Dra- aus urspr. holländ. Adelsgeschlecht kam 1771 men aber bei einem breiten Theaterpublikum als Eleve an die Stuttgarter Militärakademie Nervenkitzel erregen: Das Bild (Lpz. 1821) u. spätere Hohe Karlsschule, studierte hier 1775–1780 Medizin u. wurde der engste Juwurde in Berlin u. Dresden zum Erfolg. H.s erhaltene umfangreiche Korrespon- gendfreund seines Mitzöglings Schiller, der denz dokumentiert seine vielfältigen Kon- ihn zu poetischen Versuchen anregte: Gotttakte zu Schriftstellern u. Literaten. Intensiv hold Friedrich Stäudlins »Schwäbischer Muwar v. a. seine Beziehung zu den Dresdner senalmanach auf das Jahr 1782« u. Schillers Pseudoromantikern: Er veröffentlichte in der »Anthologie auf das Jahr 1782« enthalten von Friedrich Kind u. Theodor Hell heraus- einige Oden u. Epigramme H.s. Seit 1803 Professor der Heilkunde in gegebenen »Abend-Zeitung« u. sonnte sich Würzburg, beschloss H. seine Karriere als im Ruhm dieser kritiklosen Trivialdichter. 1821 von den Ständen der Niederlausitz königlich-bayerischer Obermedizinalrat u. zum Landessyndikus gewählt, musste H. sein Direktor aller Hospitäler zu Nürnberg. Er geliebtes Tuskulum Sellendorf verlassen u. war zeitweilig entschiedener Verfechter des übersiedelte mit seiner Familie u. Contessa von John Brown propagierten u. im 19. Jh. nach Neuhaus. Unter seiner engagierten Lei- populär gewordenen Systems sthen. u. tung gelang es, die durch die Kriegsjahre asthen. Krankheiten (Vertheidigung der Erreimmens gestiegene Provinzialschuld größ- gungstheorie gegen einige hauptsächliche Einwürfe. tenteils zu tilgen; seiner Initiative war auch Ludwigsburg 1802. Handbuch der praktischen 1824 die Gründung einer (bis 1945 beste- Heilkunde. Heilbr./Rothenburg 1805). Nicht henden) Hauptsparkasse in Lübben zu ver- ohne literaturgeschichtl. Interesse, v. a. hinsichtlich der Freundschaft mit Schiller, ist danken. seine Autobiografie Biographie des Doctor Weitere Werke: Buch für Kinder gebildeter Stände. 3 Bde., Lpz. 1819–24. – Fluch u. Segen. Friedrich Wilhelm von Hoven [...], herausgegeben Lpz. 1821 (D.). – Der Leuchtthurm. Die Heimkehr. von einem [...] Verehrer [Heinrich Merkel] Zwei Trauersp.e. Lpz. 1821. – Die alten Spielka- (Nürnb. 1840. Komm. Neuausg.: F. W. v. H.: meraden. Weimar 1823 (Lustsp.). – Die Feinde. Lpz. Lebenserinnerungen. Hg. Hans-Günther Thal1825 (Trauersp.). – Abend-Unterhaltungen für heim. Bln./DDR 1984). Kinder. Lpz. 1833. – Sämmtl. Werke. Hg. Friedrich Adami. 5 Bde., Lpz. 1851. 21858/59. Literatur: Jacob Minor: Die Schicksalstragödie in ihren Hauptvertretern. Ffm. 1883. – Otto
Literatur: Adolph Carl Peter Callisen: Medicinisches Schriftsteller-Lexicon. Bd. 9, Kopenhagen 1832, S. 185–187 (mit Bibliogr.). – Julius Hartmann: Schillers Jugendfreunde. Stgt. 1904. – Au-
Hoyers
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gust Hirsch (Hg.): Biogr. Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten u. Völker. Bd. 3, Mchn./ Bln. 31962, S. 312 f. – Robert Uhland (Hg.): Lebensbilder aus Schwaben u. Franken. Bd. 15, Stgt. 1983, S. 139–154. – Sabine Häusner: Der Arzt u. Medizinalrat F. W. v. H. Würzb. 2003. Wolfgang Riedel / Red.
Hoyers, Anna Ovena, geb. Ovens, * 1584 Koldenbüttel bei Friedrichstadt/Schleswig, † 27.11.1655 Gut Sittwick bei Stockholm. – Spiritualistin; Verfasserin polemischer u. satirischer Gedichte. Aus einer reichen u. gebildeten Bauernfamilie stammend – ihr Vater war der Hofbesitzer Hans Ovens –, erhielt H. eine für Frauen ihrer Zeit ungewöhnlich gute Bildung. Sie beherrschte das Lateinische u. das Griechische u. las hebräisch. 1599 heiratete sie Hermann Hoyer, den Staller (= Amtmann) von Eiderstedt, mit dem sie ab 1603 im herzogl. Schloss zu Tönning residierte. H. soll bereits sehr früh zu sektiererischen Ansichten geneigt haben. Sichere Belege dafür gibt es aber erst für die Zeit nach dem Tod ihres Mannes (1622), als sie sich auf ihr Gut Hoyerswort zurückzog u. dort den als Rosenkreuzer angefeindeten Arzt u. Alchemisten Nicolaus Teting aufnahm. Sie wurde in die religiösen Streitigkeiten hineingezogen, die 1624 mit Tetings Landesverweisung endeten, blieb selbst aber durch ihre gesellschaftl. Stellung geschützt. Ihre Vermögensverhältnisse verschlechterten sich jedoch so sehr, dass sie einige Jahre später ihren Besitz verkaufen musste u. (wohl 1632) nach Schweden auswanderte, wo sie allem Anschein nach einen Kreis bürgerl. u. adliger Gesinnungsfreunde fand. Sie verfasste geistl. Gedichte als Kontrafakturen weltl. Lieder u. komponierte auch selbst. Königinwitwe Maria Eleonora von Schweden schenkte ihr einen Hof in der Nähe von Stockholm. Bereits 1617 war in Schleswig pseudonym H.’ Versifikation von Nikolaus von Wyles Fassung der Novelle Euryalus und Lucretia u. d. T. Süßbittere Freude; oder eine wahrhafftige Historie von zwey liebhabenden Personen erschienen. Einen Teil ihrer späteren, z.T. plattdt. Gedichte bietet die Sammlung Geistliche und
weltliche Poemata (Amsterd. 1650). Manuskripte weiterer Gedichte, darunter bedeutender, von Weltabsage u. Vertrauen auf Christus geprägter Kirchenlieder, befinden sich in der Königlichen Bibliothek in Stockholm. H.’ Gedichte halten sich formal u. stilistisch kaum an die Opitz’schen Regeln, die ihr nachweislich bekannt waren. Deutlich ist die Nachwirkung der luth. Bibelübersetzung; auch Lobwassers Psalmenübertragungen klingen an. H. verwendet häufig den Knittelvers; didaktisch, polemisch, satirisch scharf u. oft schonungslos drastisch, erinnern ihre Gedichte an Flugschriften der Reformationszeit: »Es ist gewagt / Ich habs gesagt / Ders hören will / mag hören; / Der Herr wird beid / Soldaten streit / Auch Pfaffen neid zerstören.« Getragen von der Hoffnung auf eine nahe bevorstehende apokalypt. Befriedung der Welt, auf das Ende von Fürsten- u. Pfaffenherrschaft, setzen sie der Amtskirche (vgl. das schwankhafte Gedicht De denische Dörp-Pape) u. der verwissenschaftlichten Theologie ein insbes. Schwenckfeld u. Weigel sowie Joris verpflichtetes Laienchristentum entgegen. Zwar wurde H., nicht zuletzt dank radikaler Pietisten wie Gottfried Arnold, nie gänzlich vergessen; doch als Vertreterin einer »zweiten Reformation«, als Verächterin der zeitgenöss. Gelehrtenrepublik u. als Frau – die »bei aller Unweiblichkeit, Eckigkeit« v. a. »Mitgefühl« erweckt (Erich Schmidt) – blieb ihr breiteres Interesse bis in die jüngste Zeit versagt. Ausgaben: Fischer/Tümpel 3, S. 291–294. – Geistl. u. weltl. Poemata. Amsterd. 1650. Nachdr. hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Tüb. 1986 (mit umfangreichem Nachw. sowie Auszügen aus der Stockholmer Liederhs.). – Dt. Dichterinnen vom 16. Jh. bis zur Gegenwart. Gedichte u. Lebensläufe. Hg. u. eingel. v. Gisela Brinker-Gabler. Ffm. 1991, S. 74–81. – Geistl. u. weltl. Poemata. In: Dt. Lyrik v. Luther bis Rilke. Ffm. 2005 (CD-ROM). – Dass. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Bln. 2005 (CDROM). Literatur: Bibliografien: Barbara Becker-Cantarino: Werkbibliogr. der A. O. H. In: WBN 12 (1985), S. 97–101. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2168–2172. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Tüb. 1992, Bd. I/2, Nr. 0902,
603 S. 964. – VD 17. – Weitere Titel: Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen- u. Ketzerhistorie. Bd. 3, Ffm. 1729, S. 14 ff. – Johann Moller: Cimbria literata. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 263–265. – Paul Schütze: A. O. H. u. ihre niederdt. Satire ›De Denische Dörp-Pape‹. In: Ztschr. der Gesellsch. für Schleswig-Holstein-Lauenburg. Gesch. 15 (1885), S. 243–299. – Erich Schmidt: A. O. Hoyer. In: ADB. – Adah Blanche Roe: A. O. H., a poetess of the seventeenth century. Baltimore 1915. – Hans Joachim Schoeps: A. O. H. u. ihre ungedr. schwed. Gedichte. In Euph. 46 (1952), S. 138–148. – Johanna Fries: Die dt. Kirchenlieddichtung in Schleswig-Holstein im 17. Jh. Diss. Kiel 1962, S. 261 ff. – Johanna Goedeking-Fries: A. O. H. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 57, 192, 385, 545. – Dieter Lohmeier: A. O. H. In: BLSHL, Bd. 3 (1974), S. 156–159. – Cornelia Niekus Moore: ›Mein Kindt, nimm diß in acht‹ [...]. In: PuN 6 (1980), S. 164–185. – Jean M. Woods u. Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen u. gelehrte Frauen des dt. Barock. Ein Lexikon. Stgt. 1984, S. 55 f. (fehlerhaft). – Boy Hinrichs: A. O. H. u. ihre beiden Sturmflutlieder v. 1634. Das im sensus spiritualis deutende u. gedeutete Ich. In: Nordfries. Jb. N. F. 21 (1985), S. 195–221. – Hans-Georg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3, Tüb. 1988 (Register). – HKJL. Von 1570 bis 1750, S. 122–132, 1421–1423, Register. – C. N. Moore: A. O. H. (1584–1655). In: Dt. Frauen der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Kerstin Merkel u. Heide Wunder. Darmst. 2000, S. 65–76. – Albrecht Classen: Die ›Querelle des femmes‹ im 16. Jh. im Kontext des theolog. Gelehrtenstreits. Die literar. Beiträge v. Argula v. Grumbach u. A. O. H. In: WW 50 (2000), S. 189–213. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur: Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, S. 419–429, Register. Dieter Lohmeier / Red.
Hrabanus Maurus, * um 780 (nach neuesten Ermittlungen 783) Mainz, † 4.2.856 Mainz; Grabstätte: ebd., Kloster St. Alban. – Kirchenschriftsteller u. -lehrer. H.’ Eltern Walram u. Waltrat entstammten dem rheinfränk. Hochadel in u. um Mainz; sie übergaben H. in jugendl. Alter der Obhut des Klosters Fulda. Umstritten ist der genauere Zeitpunkt u. ob dies in der rechtsverbindl. Form der Oblation (möglicherweise am 5.5.788) geschah. Beide Fragen sind nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung der frühen Biografie u. Entwicklung H.’ sowie seiner späteren Haltung in der Auseinandersetzung
Hrabanus Maurus
mit Gottschalk dem Sachsen. Anspielungen in einem Gedicht des Theodulf von Orléans erlauben den Schluss, dass H. noch vor 800 an die Hofschule Karls des Großen geschickt wurde. 801 wurde er in Fulda zum Diakon geweiht. Abt Ratgar (802–817) gab ihn gemeinsam mit Hatto, seinem Freund u. späteren Nachfolger in der Abtswürde, zum Studium der Sieben Freien Künste zu Alkuin nach Tours. Von Alkuin erhielt H. den Beinamen Maurus, den einst der Lieblingsschüler des hl. Benedikt geführt hatte. Nach Fulda zurückgekehrt, wurde H. Lehrer an der Schule des Klosters u. am 23.12.814 durch Bischof Haistulf von Mainz zum Priester geweiht. In dieser Zeit war er auch Lehrer des um 814 als »puer oblatus« in das Kloster aufgenommenen Gottschalk, der später die endgültige Profess verweigerte u. von H. als Abt zur Tonsur gezwungen wurde, jedoch durch Mainzer Synodalbeschluss von 829 die Freiheit erhielt. Klosterinterne Spannungen unter Abt Ratgar beeinträchtigten u. a. auch die Lehrtätigkeit H.’, die erst unter Abt Eigil (818–822), der ihm die Leitung der Schule übertrug, zu freier Entfaltung kam. Nach seiner Wahl zum Abt (822) verlor H. die Schule nicht aus dem Auge. Seine bedeutendsten Schüler, Rudolf von Fulda, Walahfrid Strabo, Lupus von Ferrières u. Otfrid von Weißenburg, studierten während seines Abbatiats in Fulda. Auch für die Mehrung der Bibliotheksbestände seines Klosters trug H. sehr wirkungsvoll Sorge. Ebenso war wohl sein Einsatz für volkssprachige Literatur im Dienst von Mission, Katechese, Schule u. Laienerbauung in dieser Zeit wirksam. Doch die Schwerpunkte in der Tätigkeit des Abts verlagerten sich nun naturgemäß auf die geistig-seelsorgerische u. materielle Organisation u. Verwaltung des klösterl. Gemeinwesens. H. organisierte eine umfassende Memorialüberlieferung seines Konvents in Profess-, Nekrolog- u. Gebetsverbrüderungslisten. Er regelte die Kontrolle über Besitzsicherung u. -mehrung durch ein verzweigtes Urkundenwesen. Er nahm sich der seelsorgerischen Aufgaben an, die ihm nicht nur für seine Mönche, sondern auch für die Bewohner der Grundherrschaft des Klosters vielfäl-
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tig zuwuchsen. Über 30 Kirchen u. Kapellen soll er gestiftet oder ausgestattet haben. Die Dänen- u. Schwedenmission unterstützte er materiell. Als erster Mann der bedeutendsten Reichsabtei hatte H. nicht zuletzt auch Pflichten im Reichsdienst. So soll er beispielsweise 828 am Bulgarenfeldzug Ludwigs des Deutschen teilgenommen haben. Später wurde er in die Probleme der karoling. Reichsteilung hineingezogen. Sein Festhalten am Gedanken der Reichseinheit führte zum Konflikt mit Ludwig dem Deutschen, in dessen Folge H. 842 als Abt zurücktrat. Nach Beilegung des Zwists wurde er am 26.6.847 als Erzbischof von Mainz eingesetzt u. so zum führenden Mann der Kirche im ostfränk. Reich. In seiner Amtsführung hielt er sich von der Mitwirkung am reichspolit. Geschehen fern u. konzentrierte sich auf kirchen-polit., kirchenrechtl. u. theologisch-seelsorgerische Aufgaben. Er erneuerte mit den drei von ihm einberufenen Reichssynoden (847, 848, 852) eine alte, in Vergessenheit geratene Tradition aus der Zeit Karls des Großen. Soziale u. kirchenrechtl. Fragen, religiöse Irrlehren u. seelsorgerische Aufgaben bildeten den Gegenstand wichtiger Canones von H.’ Synoden, durch welche insbes. auch das alte Gebot der Predigt in der Volkssprache erneuert wurde. H.’ Werke sind in etwa 1200 Handschriften des 9.-16. Jh. tradiert. Die Erschließung u. überlieferungsgeschichtl. Behandlung dieses Bestands ist noch nicht abgeschlossen. H.’ schriftstellerische Methode ist die der gelehrten Kompilation. Exzerpte aus der autoritativen Tradition der lat. Kirchenväter werden zu bestimmten Einzelfragen oder im Dienst der umfassenden Darstellung eines größeren Themenkomplexes aus den Original- oder auch aus Mittelquellen gesammelt, oft kürzend u. vereinfachend redigiert u. mit möglichst wenigen, verbindenden Worten zu einer neuen Werkeinheit zusammengefügt. Die Herkunft der einzelnen Exzerpte sollte nach altem, auf Bedas Vorbild zurückweisendem Herkommen u. nach H.’ Willen durch Autorensiglen am Rand der Texte durchweg eindeutig gekennzeichnet werden, wenngleich dies von den Schreibern später
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vielfach nicht oder nur ungenügend befolgt wurde. Für eigene Zusätze sah H. die Initiale M seines Beinamens Maurus als Sigle vor. Das für seine Zeit typische u. verbindl. Verfahren der gelehrten Kompilation wird bei ihm mit aller Perfektion durchgeführt. Es verzichtet absichtlich auf den Anspruch gedankl. Originalität u. legt den eigentl. Wert auf integre Dokumentation der in der Tradition autoritativ bewährten u. gesicherten Wahrheit. Neben dieser inneren Rechtfertigung konnte das kompilatorische Verfahren den prakt. Bedürfnissen einer bücherarmen Zeit entsprechen, in der nur selten die Vielzahl der in einer Kompilation verarbeiteten Originalwerke an ein u. demselben Ort zugänglich war. Von H.’ Beiträgen zur Dichtung, Exegese u. Dogmatik der Zeit, seinen Arbeiten über Fragen der kirchl. Organisation u. des Kirchenrechts, seinen für die Schule bestimmten Werken seien hier nur die wichtigsten genannt u. kurz charakterisiert. Mit dem noch in alkuinischen Studienzeiten durch den Freund Hatto angeregten, um 810 abgeschlossenen Zyklus von 28 Figurengedichten De laudibus sanctae crucis erlangte H. schlagartig großen u. dauerhaften Dichterruhm. Mit dieser Dichtung führt H. die ihm sicherlich durch Alkuin vermittelte, bis in den spätgriech. Hellenismus zurückreichende u. von den Angelsachsen wiederaufgenommene Tradition des Bildgedichts auf einen nie dagewesenen u. nie mehr erreichten artifiziellen Höhepunkt. Wiederholt ließ er in den folgenden Jahrzehnten Prachtexemplare des eher buchkünstlerisch als literarisch bedeutenden Werks als Repräsentationsgabe an hohe geistl. u. weltl. Würdenträger überreichen. Mehr als 80 Handschriften aus ganz Europa bezeugen das Ansehen, in welchem das Buch während des Früh- u. HochMA stand. Reuchlin entdeckte es neu u. veranlasste Wimpfeling zu der ersten Druckausgabe (Pforzheim 1503). Weitere Ausgaben des 16. u. 17. Jh. folgten. – Die übrigen Gedichte H.’, Epitaphien, Tituli u. Inschriften für Kirchen, Altäre u. Reliquiare, gehören dem Bereich der Gelegenheitspoesie an. Bei den zahlreichen Hymnen, die ihm zugeschrieben wurden, ist seine Verfasserschaft oft unsicher;
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die berühmteste, Veni Creator Spiritus, dürfte jedoch nach letzten Forschungen wirklich von ihm stammen. Die exegetischen Schriften H.’ bilden den quantitativ bedeutendsten Teil seines Werks u. den zentralen Bereich seiner kompilatorischen Tätigkeit. Als Exeget kam es H. zunächst auf den histor. Sinn der Schrift an. Darüber hinaus bietet er aber auch regelmäßig u. im Anschluss an die Tradition allegor. u. moralisch-tropolog. Auslegungen. Hervorzuheben ist der vor 822 entstandene Matthäus-Kommentar, doch hat H. mit wenigen Ausnahmen alle Bücher des AT u. NT ausgelegt. Als systemat. Hilfsmittel für die Bibelauslegung ist sein umfangreichstes Werk, die bald nach 842 verfasste Enzyklopädie De rerum naturis zu verstehen. Sie bietet im Wesentlichen den Stoff der älteren Enzyklopädie Isidors von Sevilla im Arrangement einer neuen Systematik u. vor allem vermehrt um die allegor. Bedeutungen, die ein jedes Ding als Sinnträger verstehen lassen. Quellen der Allegorese waren die Schriften der Kirchenväter von Hieronymus bis zu Alkuin; auch einige ältere Schriften zog H. hier heran. Als einzige mittelalterl. Enzyklopädie ist dieses Werk seit dem 11. Jh. auch illustriert überliefert. Große Verbreitung bis ins 12. Jh. fand mit über 40 Handschriften die Schrift De institutione clericorum. Ihre Gegenstände sind die hierarch. Organisation des Klerus, die liturg. Aufgaben der Geistlichen in Messfeier u. Sakramentenspendung (Buch 1), Bibelkunde, Katechese u. Kenntnis der kirchl. Festfeiern (Buch 2) sowie Inhalte u. Ziele der Bildung des Geistlichen (Buch 3). Sammlungen u. Bearbeitungen von Musterpredigten für das Kirchenjahr, ein Martyrolog, Bußbücher u. andere verfasste H. als Hilfsmittel für die Seelsorge. Die beiden Kontroversen mit Gottschalk gaben Veranlassung zu den Schriften De oblatione puerorum (nach 829) u. De praedestinatione (840); zum letzten Themenkomplex gehören ferner einige Briefe an Hincmar von Reims aus den Jahren 848–850. Dem Bereich der Schule lassen sich schließlich außer dem dritten Buch von De institutione clericorum noch die beiden Schrif-
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ten De arte grammatica (Excerptio ex arte grammatica Prisciani) u. De computo, ein Lehrbuch der Kalender- u. Zeitrechnung in der Form des Lehrer-Schüler-Dialogs, zuordnen. Für die Geschichte der ahd. u. altsächs. Literatur ist die Frage von beträchtl. Bedeutung, wie weit H. insbes. als Lehrer u. Abt des bedeutendsten literar. Zentrums im ostfränk. Reich seiner Zeit die Entwicklung einer volkssprachigen Literatur u. Schriftkultur beförderte. Die Authentizität der unter seinem Namen gehenden kleinen Schrift De inventione linguarum (eigentlich litterarum), in der u. a. eine Runenreihe festgehalten wurde, ist noch nicht endgültig gesichert. Im übrigen hat die Forschung unterschieden, was an dt. Texten in Fulda selbst entstanden sein soll, was andernorts entstanden, aber in fuldaischer Überlieferung erhalten ist u. was seinen geistigen Ursprung in Fulda hat, wenn es auch anderswo entstanden u. überliefert ist. Über 20 Denkmäler unterschiedl. Umfangs u. Gewichts wurden so auf die eine oder andere Weise Fulda zugeordnet. Mehr als die Hälfte von ihnen würden mit der Wirkung H.’ im Zusammenhang stehen. In Verbindung mit verfeinerten paläograf. Expertisen hat v. a. die Sprachforschung auf der Grundlage des neu u. umfassend erschlossenen, umfangreichen Materials an fuldaischen Personennamen den Kreis der Texte erheblich eingeschränkt, für die Entstehung u./oder Aufzeichnung im Fulda der Zeit H.’ hinreichend wahrscheinlich ist. Es sind dies im einzelnen die Fuldaer Beichte, das Fränkische Taufgelöbnis, das Fragment des Hildebrandsliedes, die ahd. Tatian-Übersetzung u. die Hammelburger Markbeschreibung – außer dem Hildebrandslied also lauter Texte, die sich mit der Klerikerschulung bzw. Laienkatechese oder, so im Fall der Hammelburger Markbeschreibung, mit der Besitzverwaltung des Klosters in Zusammenhang bringen lassen. Sicherlich hat H. von der Aufzeichnung solcher volkssprachiger Texte in seiner unmittelbaren Umgebung gewusst. Vor allem für die Übersetzung der Evangelienharmonie des Tatian wird man den unmittelbaren Anstoß bei ihm selbst vermuten dürfen, auch wenn sich die einst gewagte Identifizierung H.’ mit einem der Schreiber der Fuldaer Handschrift widerle-
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gen ließ. Ob darüber hinaus die dt. Evange- diales Kunstwerk. Textualität – Ikonizität – Nuliendichtung Otfrids von Weißenburg, der meralität. In: Wissen u. neue Medien. Bilder u. sich selbst als Schüler H.’ bezeichnet, auf Zeichen von 800 bis 2000. Hg. Ulrich Schmitz u. a. dessen unmittelbare Anregung zurückführ- Bln. 2003, S. 13–38. – Franz J. Felten u. Barbara Nichtweiß (Hg.): H. M. Gelehrter, Abt v. Fulda u. bar ist, wird sich kaum endgültig feststellen Erzbischof von Mainz. Mainz. 2006. lassen. Ebenso bleibt die Beziehung der altErnst Hellgardt sächs. Heliand-Dichtung zu Fulda u. zu H. trotz ihres nahen Quellenverhältnisses zum (ahd.?) Tatian und zum Mt-Kommentar H.s Hrotsvit von Gandersheim, auch: Rosfragwürdig. witha von G., * um 935, † nach 973. – Ausgaben: Gesamtausgabe: PL 107–112. – Briefe: MGH Ep. 5, S. 381–516. – Gedichte: MGH Poetae 2, S. 154–258; IV/2, S. 928. – De institutione clericorum: Hg. Alois Knöpfler. Mchn. 1900. – De laudibus sanctae crucis: Faks.-Ausg. der Wiener Hs. Cod. Vind. 652 v. Kurt Holter. Graz 1972/73. – Faks.-Ausg. der vatikan. Hs. Reg. Lat. 124 v. Hans Georg Müller. Ratingen 1973. – Rabani Mauri: In honorem sanctae crucis. Cura et studio Michel Perrin. Turnholt 1997. – Il ›Liber sanctae crucis‹ di Rabano Mauro. Testo – immagine – contesto. Hg. Michele Camillo Ferrari. Pref. di Claudio Leonardi. Bern u. a. 1999. – Martyrologum u. De computo: Corpus Christianorum Continuatio Medievalis 44. Literatur: Bibliografie: Helmut Spelsberg. In: FS H.-M.-Schule 1980. Fulda 1980, S. 210–230. – Raymund Kottje: H. M. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Weitere Titel: Ingeborg Schröbler: Fulda u. die ahd. Lit. In: LitJb N. F. 1 (1960), S. 1–26. – Elisabeth Heyse: H. M.’ Enzyklopädie ›De rerum naturis‹. Mchn. 1969. – Maria Rissel: Rezeption antiker u. patrist. Wiss. bei H. M. Bern/ Ffm. 1976. – Dieter Geuenich: Zur ahd. Lit. aus Fulda. In: Von der Klosterbibl. zur Landesbibl. Beiträge zum zweihundertjährigen Bestehen der Hess. Landesbibl. Fulda. Hg. Artur Brall. Stgt. 1978, S. 99–124. – Wilhelm Weber: Rabanus M. in seiner Zeit. 780–1980. Mainz 1980. – R. Kottje u. Harald Zimmermann (Hg.): H. M. Wiesb. 1982. – Wolfgang Haubrichs: Ahd. in Fulda u. Weißenburg – H. M. u. Otfrid v. Weißenburg. In: ebd, S. 182–193. – Ders.: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1,1). Ffm. 1988, passim. – Ulrich Ernst: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts v. den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des MA. Köln u. a. 1991, S. 222–332. – Bernhard Langer: H. M.’ Wirken in Fulda. Zu den Fuldaer Schreib-, Mal- u. Handwerkerschulen im 9. Jh. Dt. Zentrum für Handwerk u. Denkmalpflege 1995. – Gangolf Schrimpf (Hg.): Kloster Fulda in der Welt der Karolinger u. Ottonen. Ffm. 1996. – Ulrich Ernst: Die Kreuzgedichte des H. M. als multime-
Dichterin mittellateinischer Legenden, Dramen u. Epen. Das unabhängige Reichsstift Gandersheim, in dem H. den größten Teil ihres Lebens verbrachte, war seit seiner Gründung eng mit dem sächs. Herrscherhaus verbunden: Drei Töchter des Herzogspaars Liudolf u. Oda waren die ersten Äbtissinnen; ihr Urenkel, Kaiser Otto I., bestätigte Sonderprivilegien u. fügte neue Schenkungen hinzu. H. – der Exklusivität des Stifts entsprechend wohl von adliger Herkunft – rühmt in ihren histor. Dichtungen die sächs. Herrscher; zgl. wird H.s innere Verbundenheit mit dem heimatl. Stift u. seiner Geschichte deutlich. Die Kanonissinnen waren nicht an die Benediktinerregel gebunden u. unterlagen nicht der strengen Klausur, doch auch sie verpflichteten sich durch ein Gelübde zum klösterl. Leben in der Gemeinschaft, wie H. in ihrem Epos über die Anfänge des Stifts betont. Dieses geistl. Lebensideal bestimmt als Grundthema den größten Teil ihres Werks. Von ihrem Leben ist wenig bekannt; man ist auf Rückschlüsse aus H.s eigenen Angaben angewiesen. Die Voraussetzung dafür, sich als Frau an metr. lat. Dichtungen zu wagen, legte der Unterricht, den sie v. a. bei Gerberg (940–1001) erhielt: Die Nichte Ottos I. hatte ihre Kenntnisse wohl bei den Mönchen von St. Emmeram in Regensburg erworben. Dorthin gelangte eine um 1000 entstandene Abschrift von H.s Werken (heute in München). Sie enthält acht Legenden (Hexameter mit Binnenreim), sechs dramatisierte Legenden (rhythm., z.T. gereimte Prosa) sowie ein Hexameterepos über Otto den Großen, die Gesta Ottonis. Die Verteilung auf drei Bücher wurde von H. selbst festgelegt. Gesondert überliefert wurden die Gründungsgeschichte
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(Primordia coenobii Gandeshemensis) u. zwei (nicht erhaltene) Papstviten der Stiftspatrone Anastasius u. Innocentius. Wie aus den Vorreden u. Widmungen hervorgeht, entstanden Legenden u. Dramen nacheinander in jeweils zwei Phasen. Die Arbeit am Legendenbuch wurde unterbrochen, bevor Gerberg Äbtissin wurde (959), u. kurz nach 962 abgeschlossen. Die ersten vier Dramen legte H. zunächst drei »gelehrten Förderern« vor (Geleitbrief zum zweiten Buch). Gesta u. Primordia schließlich, die beiden Epen, wurden vor 968 bzw. vor 973 vollendet. Aus der stoffl. Parallelität ergibt sich ein wohlüberlegter Gesamtplan für das Legenden- u. das Dramenbuch. (Im Folgenden werden nur die gebräuchl. Kurztitel zitiert.) Am Anfang steht jeweils die Auseinandersetzung zwischen Jungfräulichkeit u. Ehe (vgl. die Legende Maria aus dem früheren Buch mit dem ersten Teil des Dramas Gallicanus aus dem späteren Buch). Darauf folgen kurze inhaltl. Ergänzungen: die Himmelfahrt Christi (Ascensio) bzw. das Martyrium des Gallicanus (Gallicanus, Tl. 2). Die Legende Gongolf bzw. das Drama Dulcitius, burleske Märtyrergeschichten, entsprechen sich ebenso wie Pelagius bzw. Calimachus – der eine opfert sich, um päderastischen Gelüsten zu entgehen, den anderen treibt seine abnorme Leidenschaft bis zur Leichenschändung. Den tiefsten Fall des Christen zeigen die Legenden Theophilus u. Basilius als Teufelsbündnis, die Hetärendramen Abraham u. Pafnutius dagegen als Verrat der Virginitas im Bordell. Jeweils zwischen diesen beiden Legenden bzw. Dramen liegen die oben erwähnten Schaffenspausen. Nach einer Unterbrechung werden also in beiden Büchern frühere Themen wiederaufgenommen. Dies gilt auch für die Legende vom gelehrten Dionysius bzw. für das Drama von den drei Töchtern der Sapientia, in denen wieder das Martyrium im Mittelpunkt steht. Im ersten Buch führt dann die achte Legende mit dem Preis einer hl. Jungfrau (Agnes) zum Ausgangspunkt, der Marienlegende, zurück. Die Johannes-Apokalypse (35 Hexameter) schließt das Dramenbuch ab. Damit wird über den doppelten Kreislauf der beiden Bücher hinaus ein übergeordneter Zusammenhang sichtbar: Was mit Christi
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Geburt in der Marienlegende begann, erfüllt sich im ewigen Lohn der Jungfrauen u. Märtyrer am Ende der Zeiten. Zum Heilsplan Gottes gehört sein wunderwirkendes Eingreifen in die Welt, wie es das Leben der Heiligen immer wieder bezeugt. In diesem Sinn ist etwa die Gongolf-Legende gegenüber der recht abstrusen Prosavorlage konsequent motiviert. Die kom. Züge, die bei einem Martyrium kaum angemessen scheinen, erweisen gerade die Lächerlichkeit der Gegner des wahren Glaubens. Ähnlich wird die Macht u. die Gnade Gottes in den situativ zugespitzten Bekehrungen im Bordell bes. deutlich. Diese gattungsübergreifenden Anliegen sind auch in H.s Epen erkennbar: Alle Geschehnisse gründen – wie bei anderen Geschichtsschreibern der Zeit – in der Allgegenwart Gottes. Sie offenbart sich in den Wundern bei der Stiftsgründung, aber auch in den Taten Ottos, der sein Herrscheramt in göttl. Auftrag ausübt. Er erscheint daher in den Gesta als eine den damaligen Konflikten enthobene Idealgestalt: Nur einzelne polit. Ereignisse aus der Zeit bis zur Kaiserkrönung sind aufgegriffen, andere wie Auseinandersetzungen Ottos mit den Päpsten sind vielleicht bewusst übergangen. Über H.s Persönlichkeit, die Intentionen u. Schwierigkeiten ihres Schreibens geben die Prosaprologe der drei Bücher in ungewöhnl. Deutlichkeit Auskunft. Ihre Rolle als schreibende Frau reflektiert sie in allen Vorreden; dabei nutzt sie die (auch bei männl. Autoren üblichen) Mittel der Publikumsgewinnung für ihre Situation: Die Mängel bei einem Unterfangen, das die Kenntnisse eines Mannes verlange, werden mit der weibl. Schwäche entschuldigt; dennoch verteidigt sie ihr Tun entschieden: »Wenn einem meine fromme Hingabe [in meinem Werk] gefällt, freue ich mich; wenn sie aber wegen meiner Verächtlichkeit oder der mangelhaften, unkultivierten Sprache niemandem gefällt, so freut doch mich selbst, was ich geschaffen habe [...]« (Praefatio II, 9). Diese Eigenwilligkeit zeigt sich bereits im Bericht über ihre schriftstellerischen Anfänge. Im Gegensatz zu den meisten zeitgenöss. Autoren beruft sie sich nicht auf einen Auftraggeber; sie habe aus eigenem Antrieb begonnen, Schriften der
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Stiftsbibliothek zu sammeln u. daraus Verse zu formen (Praefatio I, 5–6). Die Zweifel, ob ihr Werk den metr. u. stilistischen Ansprüchen genügen könne, werden durch die Anerkennung, die sie gefunden hatte, zunehmend ausgeräumt: Die Gutachter des Dramenbuchs bestärken sie, in diesem neu geschaffenen Genus fortzufahren; die Gesta Ottonis, in denen sie mangels schriftl. Quellen von ihrer gewohnten Arbeitsweise abweichen musste, entstanden im Auftrag der Äbtissin Gerberg; die beiden Prologe sind an Otto I. u. Otto II. gerichtet. Ihr Dichten führt H. immer wieder auf Gott zurück: Nur ihm verdanke sie ihre Begabung, die sie nicht ungenutzt lassen darf; ihm gereicht es zum Ruhm, wenn in den Dramen Märtyrerinnen triumphieren, wenn »weibliche Schwäche siegt und männliche Stärke schmählich unterliegt« (Praefatio II, 5). In diesem Sinn sucht sie ihr formales Vorbild, den röm. Komödiendichter Terenz, inhaltlich zu widerlegen: Nicht Verführung u. Laster siegen, sondern die Keuschheit. Ihre Dialogtechnik – lebhafte Wechselreden, Aufu. Abtritte, in denen Ortswechsel u. größere Zeitspannen überbrückt werden – ist an Terenz geschult. An die Aufführung ihrer Stücke – eine lang umstrittene Frage – dachte H. nicht; das spezifisch »Dramatische« sahen frühmittelalterl. Theoretiker (etwa Hrabanus Maurus) v. a. im Dialog u. in der szen. Abfolge. Der individuelle Gestaltungswille, der hinter dieser literar. Neuerung steht, verbindet H. mit anderen Autoren der otton. Zeit. Das geistl. Spiel des MA jedoch sollte sich erst später u. unabhängig von ihr entwickeln. – Stehen die Dramen seit jeher im Zentrum des wissenschaftl. Interesses, versucht man nunmehr, die Ausnahmeerscheinung der »dichtenden Nonne« verständlicher zu machen: Ihre Lebenswelt, spätantike bzw. zeitgenöss. Dichtungstheorie, Hagiografie u. Theologie werden verstärkt miteinbezogen. Vielfältige neue Facetten eröffnen sich dabei auch durch die »gender«-Forschung, sofern sie geschlechterbezogene Wahrnehmungen im histor. Kontext erschließt (etwa durch Quellenvergleiche); so können die Einseitigkeiten einer feministischen Lektüre korrigiert werden.
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H.s Werke wurden im MA wenig rezipiert: Sie sind v. a. in der genannten Handschrift aus Regensburg überliefert. Um so bemerkenswerter ist die emphat. Begeisterung, mit der die dt. Humanisten – unter ihnen die Nürnberger Äbtissin Caritas Pirckheimer – die Wiederentdeckung dieser Handschrift durch Conrad Celtis (1493) feierten. In zahlreichen Lobgedichten wird H.s Leistung als erste dt. Dichterin u. Gelehrte bewundert. Daneben ist auch ein Bewusstsein geistiger Verwandtschaft erkennbar – in H.s Dramen sah man die eigenen Bemühungen verwirklicht, durch Aufführung oder Umarbeitung der röm. Komödien ein Stück lebendiger Antike zurückzugewinnen. Erzieherischen Zwecken diente die erste dt. Übersetzung des Abraham durch Adam von Themar (1503). Ab Mitte des 16. Jh. wurde H. zunehmend historisiert u. auf den Typus der gelehrten Frau reduziert; neue Ausgaben entstanden erst zu Beginn des 18. Jh. Gottsched nahm H. 1757 mit einer ausführl. Würdigung ihrer Dramen u. einer eigenen Übersetzung des Gallicanus in seine Dramensammlung auf, die den Reichtum der dt. Schaubühne dokumentieren sollte – kein anderes Volk Europas habe damals eine solch geistreiche Dichterin u. Kennerin des Altertums hervorgebracht. – Seit 1830 wurde H. zunächst durch Übersetzungen ins Französische, seit 1850 ins Deutsche einem breiteren Publikum bekannt. Deutsche u. engl. Frauenrechtlerinnen bezogen sich ebenso auf sie wie Romanciers (u. a. Anatole France, J. K. Toole) u. Dramatiker (Peter Hacks). Zahlreiche Liebhaberaufführungen (auch im angelsächs. Raum), nicht zuletzt der Gandersheimer Literaturpreis (seit 1973) u. die Dankreden u. a. von Luise Rinser oder Irmtraud Morgner zeigen, dass H.s Persönlichkeit, ihre dramat. Kunst u. ihre Themen aktuell u. inspirierend geblieben sind. Weitere Werke: Historische Ausgaben: Hg. Conrad Celtis. Nürnb. 1501 (nach der Hs. aus Regensb., http://www.rarebookroom.org/Control/hvaopa/index.html). Neudr. Hildesh./Zürich 2000. – Hg. Heinrich Leonhard Schurzfleisch. Wittenb. 1707 (http://daten.digitale-sammlungen.de/db/0003/ bsb00030340/images/). 21717 (auch in PL 137). – ›Primordia‹. Hg. Gottfried Wilhelm Leibniz. In:
609 Scriptores rerum Brunsvicensium 2. Hann. 1710. – Kritische Ausgaben: Hg. Paul v. Winterfeld. Bln. 1902. Neudr. Bln./Zürich 1965. Mchn. 1978. – Hg. Helene Homeyer. Mchn./Paderb./Wien 1970 (Text nach P. v. Winterfeld, mit Einl. u. Komm.). – Hg. Walter Berschin. Mchn./Lpz. 2001. – Übersetzungen: Sämtl. Dichtungen. Übertragen v. Otto Baumhauer (Legenden), Jacob Bendixen (Dramen, 1850/1853) u. Theodor G. Pfund (Epen, 1860). Mchn. 1966. – Werke. In dt. Übertragung v. H. Homeyer. Mchn./ Paderb./Wien 1973. – Dulcitius. Abraham. Übers. u. Nachw. v. Karl Langosch. Stgt. 1957 u. ö. Zuletzt 1986. Literatur: Gesamtdarstellungen: Hugo Kuhn: H.s v. G. dichter. Programm. In: DVjs 24 (1950), S. 181–196. – Anne Lyons Haight (Hg.): H. v. G. Her life, times and works, and a comprehensive bibliography. New York 1965. – Bert Nagel: H. v. G. Stgt. 1965 (mit Lit. bes. zur Wirkung). – Fidel Rädle: H. v. G. In: VL. – Katharina M.Wilson: H. of G. The ethics of authorial stance. Leiden u. a. 1988. – Eva Cescutti: H. u. die Männer. Konstruktionen v. ›Männlichkeit‹ u. ›Weiblichkeit‹ in der lat. Lit. im Umfeld der Ottonen. Mchn. 1998. – Margaret Jennings: ›Like shining from shook foil‹. Liturgical typology in H.s legends and dramas. In: Mlat. Jb. 33 (1998), S. 37–58. – Sabine Gäbe: Schwaches Weib u. starker Schrei. Schriftstellerisches Selbstverständnis u. Exordialtopik bei lat. Autorinnen des frühen MA. In: AKG 85 (2003), S. 437–469. – Maud B. McInerney: Eloquent virgins from Thecla to Joan of Arc. New York 2003, bes. S. 1–13, 85–110, 143–163. – Stephen L. Wailes: Spirituality and politics in the works of H. of G. Selinsgrove 2006. – Tino Licht: Hrotsvitspuren in otton. Dichtung (nebst einem neuen Hrotsvitgedicht). In: Mlat. Jb. 43 (2008) S. 347–353. – Wirkungen: Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Gesch. der dt. dramat. Dichtkunst. Lpz. 1757. Neudr. Hildesh./New York 1970. – Gustav Freytag: De Hrothsvitha poetria. Diss. Breslau 1839. – Maurus Carnot: Roswitha. Eine Klostergeschichte. Zürich 2 1919 (R.). – Dörthe Ulmer-Stichel: H. v. G. Mainz 1957 (R.). – Hanna Klose-Greger: H. v. G. Bln. 1961 (R.). – Heinrich Grimm: Des Conradus Celtis editio princeps der ›Opera Hrotsvite‹ v. 1501 u. Albrecht Dürers Anteil daran. In: Philobiblon 18 (1974), S. 3–25. – Peter Hacks: Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Rosie träumt. Bln./Weimar 1976. Düsseld. 1977. Mchn. 1981 (›Rosie träumt‹: H.Travestie). – Fritz Wagner: J. C. Gottsched u. H. v. G. In: Mlat. Jb. 13 (1978), S. 253–266. – B. Nagel: H. v. G. u. das moderne Theater. In: Ders.: Kleine Schr.en zur dt. Lit. Göpp. 1981, S. 21–53. – Karl A. Zaenker: ›Eyn hübsche Comedia Abraham genant‹.
Huber H.s v. G. ›Abraham‹ in der Übers. des Adam Werner v. Themar. In: Mlat. Jb. 17 (1982), S. 217–229. – Walter Berschin: Konrad Weiß über H. v. G. In: LitJb N. F. 24 (1983), S. 235–243. – K. M. Wilson (Hg.): H. of G., rara avis in Saxonia? Ann Arbor, MI 1987, S. 239–283 (III. H. and the future). – Ruth Finckh u. Gerhard Diehl: ›Monialis nostra‹. H. v. G. als kulturelle Leitfigur in der Frühen Neuzeit. In: FS Volker Honemann. Hg. Nine R. Miedema u. Rudolf Suntrup. Ffm. u. a. 2003, S. 53–72. – Phyllis R. Brown, Linda A. McMillin u. K. M. Wilson (Hg.): H. of G. Contexts, identities, affinities, and performances. Toronto u. a. 2004, S. 211–282 (Section 4). Anette Syndikus
Huber, Franz Xaver, * 10.10.1755 Beneschau/Böhmen, † 25.7.1814 Mainz. – Journalist, Dramatiker u. Satiriker. H. war seit 1780 als Schriftsteller u. Publizist in Prag, ab 1781 in Wien tätig. Seine aufklärerischen Ideen kamen in den von ihm mitbegründeten zahlreichen liberalen Zeitungen zum Ausdruck. Wegen positiver Äußerungen zur Französischen Revolution musste er nach Deutschland fliehen, kehrte aber um die Jahrhundertwende nach Wien zurück. Für seinen Freund Beethoven verfasste H. den Text des Oratoriums Christus am Ölberg (o. O. 1803). 1809 wegen pronapoleon. Artikel in seiner Zeitschrift »Morgenbote« (o. O. 1809) erneut zur Flucht gezwungen, ging H. nach München. Sein weiterer Lebensweg liegt weitgehend im Dunkeln. H.s Werk wird bisweilen mit dem Franz Xaver Hubers aus Munderfing/Oberösterreich (1760 bis um 1810) verwechselt. H.s zeitkrit. Kommentare erregten Aufsehen. Besonders sein Beytrag zur Characteristik und Regierungsgeschichte der Kaiser Joseph II, Leopold II u. Franz II [...] (Paris 1796) hatte großen Einfluss auf die Wiener Vertreter des literar. Jakobinismus. Antiklerikalismus u. Kritik am gesellschaftl. Rang des Adels prägen H.s Werk. Seine einfache, volksnahe Sprache erhält durch Wortspiele u. Übertreibungen ihren iron. Grundton. Neben populären Lustu. Singspielen sowie Operntexten – Julchen, oder liebe Mädchen spiegelt euch (Wien 1793) – schrieb H. satir. Romane. Seine verbreiteten Geschichten des überkorrekten Richters
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»Schlendrian« greifen die zeitgenöss. Rechtspraxis an (Herr Schlendrian, oder der Richter nach den neuen Gesetzen. Bln. 1787; anonym). Weitere Werke: Religion u. Priester. Prag/Wien 1780–82 (Aufsätze). – Der blaue Esel. Lpz. 1786 (R.). – Der Richter über den Herrn Schlendrian [...]. Bln. 1787. Literatur: Gustav Gugitz: Ein Deutschböhme als literar. Parteigänger der Franzosen im Jahre 1809. In: Dt. Arbeit 8 (1909), S. 612–620. – Ders.: F. X. H. In: NDB. – Helmut Reinalter: Der Jakobinismus in Mitteleuropa. Stgt. u. a. 1981, S. 110 f. Carmen Asshoff
Huber, Johann Ludwig, * 21.3.1723 Großheppach/Württemberg, † 30.9.1800 Stuttgart. – Lyriker.
1787) u. das Schreiben eines Predigers an seinen Collegen über die hie zu Lande gewöhnlichen TischGebete (Tüb. 1786), sondern auch sein Nachspiel Das Lotto oder der redliche Schulze (Tüb. 1779) u. das Duodrama Tamira (Tüb. 1791). Die Schrift Etwas von meinem Lebenslauf und meiner Muse auf der Festung (Stgt./Lpz. 1798), die H. wie alle seine Werke dem langjährigen Freund u. Förderer Eberhard von Gemmingen widmete, zeigt, wie Vaterlandsliebe, Pflichtgefühl u. Gottvertrauen sein Leben geprägt haben. In ihrem Nachruf würdigte die »National-Zeitung der Teutschen« H. als »Verbindungsglied der schönen Geister« zwischen »Helvetien und dem nördlichen Teutschlande« (27.11.1800). Weiteres Werk: Denkmal des [...] Eberhard v. Gemmingen. Stgt. 1793/94. Literatur: Ersch/Gruber 2, 11 (1834), S. 319 f. – Adolf Wohlwill: J. L. H. In: ADB. – Ernst Marquardt: Gesch. Württembergs. Stgt. 1961. – Friedrich Wilhelm Bautz: J. L. H. In: Bautz. Julei M. Habisreutinger / Red.
Seit früher Kindheit vom Vater, Pfarrer in Großheppach, in Klassische Philologie unterrichtet, besuchte H. bald die Niederen Klosterschulen Denkendorf u. Maulbronn u. wurde dann Stipendiat des Tübinger Stifts. Nach Abschluss des Theologiestudiums (MaHuber, Ludwig Ferdinand, * 15.8.1764 gister 1743) wandte er sich der Jurisprudenz Paris, † 24.12.1804 Ulm; Grabstätte: Söfzu, wurde 1747 Advokat in Stuttgart u. verlingen, katholischer Friedhof. – Dramatiwaltete die Vogteien Nagold, Lustnau-Beker, Journalist, Übersetzer. benhausen u. Tübingen. Als Regierungsrat u. Oberamtmann in Tübingen überzeugte er H., Sohn des Sprachlehres u. Übersetzers 1764 Landstände u. Amtskollegien von der Michael Huber, wuchs in Leipzig auf, wo er Unrechtmäßigkeit der von Herzog Karl Eu- ab etwa 1782 in enger Verbindung zu Minna gen zur Konsolidierung des Militärbudgets u. Dora Stock, Körner u. Schiller stand, unter geplanten Steuerverordnungen, so dass das dessen Einfluss sein erstes Drama Das heimliherzogl. Projekt scheiterte. Daraufhin ließ che Gericht (Lpz. 1790) entstand. 1788 wurde ihn der Herzog für sechs Monate auf der er als sächs. Legationssekretär nach Mainz Festung Hohenasperg inhaftieren. H. verlor berufen, befreundete sich dort mit Georg sein Amt, doch die Landstände gewährten Forster u. wurde zum Befürworter der Franihm eine Pension, die es ihm erlaubte, sich zösischen Revolution. 1792 zog er mit Forganz der Dichtkunst zu widmen. sters Frau Therese, die er nach dessen Tod Während seine ersten dichterischen Versu- 1794 heiratete, in die Schweiz. Während des che Oden, Lieder und Erzehlungen (Ffm./Lpz. Aufenthalts in Neuchâtel u. Dôle verfertigte 1751) »anakreontischen Tändeleien« glei- er zusammen mit ihr zahlreiche Übersetchen, wenden sich die späteren Vermischten zungen u. gab die Zeitschriften »FriedensGedichte (Erlangen 1783. Braunschw. 1791) Präliminarien« (10 Bde., Bln. 1794–96), gezielt der Darstellung von Tugend u. Laster »Neue Klio, eine Monatsschrift für französiim satirisch pointierten Epigramm zu. Wie sche Zeitgeschichte« (3 Bde., Lpz. 1797/98) u. sehr für H. im Sinne der Aufklärung die »Flora« (Tüb. 1793–1803) heraus. 1798 ging »Gemeinnützlichkeit« der Endzweck seiner er als Mitredakteur von Cottas »Neuester Dichtung war, beweisen nicht nur die Versu- Welt-Kunde« nach Tübingen u. als erster che, mit Gott zu reden (Reutl. 1775/76. Tüb. Redakteur des Nachfolgeorgans »Allgemeine
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Zeitung« nach Stuttgart. Deren Redaktion hatte er bis zu seinem Tod inne, ab 1803 in Ulm, wo er 1804 zum Landesdirektionsrat der Provinz Schwaben in der Schulabteilung ernannt wurde. Während H. als Dramatiker keinen nennenswerten Erfolg zu verzeichnen hatte, gewann er als literar. Kritiker u. liberaler, republikan. Ideen vertretender Publizist einige Bedeutung. Neben Besprechungen zu Werken Goethes, Schillers u. der Schlegels sind seine Rezensionen zu Kleists Familie Schroffenstein u. Sades Justine hervorzuheben. Weitere Werke: Vermischte Schr.en. 2 Bde., Bln. 1793. – Neues frz. Theater. 3 Bde., Lpz. 1795–97 (Übers.en). – L. F. H.s sämtl. Werke seit dem Jahre 1802, nebst seiner Biogr. Hg. Therese Huber. 2 Bde., Tüb./Stgt. 1806 u. 1810. – Das große Schauspiel. Ausgew. Schr.en zur Frz. Revolution. Hg. Sabine Dorothea Jordan. Stgt. 1994. Literatur: Richard Luerzer-Zehendthal: L. F. H. Diss. Wien 1933. – S. D. Jordan: L. F. H. (1764–1804). His Life and Works. Diss. Stgt. 1978. – Bakoly Razafindralambo: Les préliminaires de paix. Une révue politique allemande (1793–1796) de L. F. H. Diss. Besançon 1992. – Geneviève Roche: Übersetzen am laufenden Band. Zum Beispiel L. F. H. & Co. In: Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Dtschld. 1770 bis 1815. Hg. HansJürgen Lüsebrink. Bd. 1, Lpz. 1997, S. 331–359. – Waltraut Fiedler: L. F. H.s Streit mit dem ›Athenäum‹. In: Germanica Wratislaviensia 67 (1988), S. 19–23. – Marita Gilli: Les revues de L.-F. H., médiatrices des lettres françaises. In: Les lettres françaises dans les revues allemandes du XVIIIe siècle. Hg. Pierre-André Bois. Bern u. a. 1997, S. 49–71. – Justus Erich Bollmann: Briefe an Therese Forster u. L. F. H. 1793/94. In: Lichtenberg-Jb. 2002, S. 160–195. Andrea Hahn / Red.
Huber, Therese, geb. Theresia Wilhelmina Heyne, verw. Forster, verw. Huber, * 7.5. 1764 Göttingen, † 15.6.1829 Augsburg. – Schriftstellerin, Übersetzerin u. Redakteurin. H. war eine der bedeutenden u. interessanten Persönlichkeiten der kultur- u. modernisierungsgeschichtlich wichtigen Schwellenzeit um 1800. Sie war die älteste u. Lieblingstochter des Altphilologen Christian Gottlob Heyne, des über Jahrzehnte einflussreichsten Professors der Universität Göttingen. Die
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Grundlagen ihrer autodidaktisch erworbenen, unsystemat. Bildung erhielt H. durch ihren Umgang in Gelehrtenkreisen u. durch ihre umfassende Lektüre, die der nahezu unbeschränkte Zugriff auf die Bestände der von ihrem Vater geleiteten Bibliothek ihr ermöglichte. Von früher Jugend an war sie außerdem eine leidenschaftl. Briefschreiberin, die das Gelesene u. Erlebte darstellte u. reflektierte u. sich durch ihre Korrespondenz allmählich ein breites Netzwerk von Verbindungen schuf. Darin u. in ihrer disziplinierten Arbeitshaltung lagen die Voraussetzungen für ihre spätere erfolgreiche Berufstätigkeit als Schriftstellerin u. Redakteurin. 1785 heiratete sie den Natur- u. Völkerkundler Georg Forster, mit dem sie zwei Jahre in Wilna/Polen, 1787/88 in Göttingen u. 1788–1792 in Mainz lebte, während der Zeit der Französischen Revolution u. der Vorbereitung der Mainzer Republikgründung, deren führender Kopf u. Mitglied des dortigen Jakobinerklubs Forster wurde. H. blieb lebenslang Sympathisantin der Französischen Revolution u. erinnerte sich u. andere immer wieder an die polit. Ideale u. die Aufbruchstimmung dieser Jahre. Vor der drohenden Rückeroberung von Mainz durch die Koalitionstruppen verließ sie die Stadt mit ihren zwei Kindern in Richtung Neuchâtel/ Schweiz. Zur eingeleiteten Scheidung der Ehe kam es nicht mehr, weil Forster im Januar 1794 in Paris starb. Im April 1794 heiratete H. den Schriftsteller u. Redakteur Ludwig Ferdinand Huber, Freund der Forsters in Mainz. Zwischen H. u. ihm hatte sich im Frühsommer 1790 eine nähere Beziehung entwickelt, Ende Juni 1793 war er ihr nach Neuchâtel gefolgt. Die Familie Huber lebte bis 1798 in sehr bescheidenen Verhältnissen in dem kleinen Dorf Bôle bei Neuchâtel. Ihr einziger intellektueller Kontakt in den Jahren war der mit Isabelle de Charrière, der frz. Schriftstellerin niederländ. Herkunft, die im benachbarten Colombier wohnte; zu deren Zirkel gehörten Benjamin Constant u. Germaine de Staël. In diese Zeit fällt der Beginn von H.s schriftstellerischer Tätigkeit (bis 1811/6 unter L. F. Hubers Namen), durch die sie zum Lebensunterhalt der Familie beitrug. 1798 übernahm L. F. Huber die Redaktion von Jo-
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hann Friedrich Cottas »Allgemeiner Zeitung«. Die Übersiedlung nach Stuttgart hatte eine deutl. Verbesserung der Familiensituation zur Folge u. eröffnete neue intellektuell anregende Kontakte, z.B. in dem ›literarischen Kränzchen‹. Dort trafen sich regelmäßig u. a. die Literaten Friedrich Haug u. Friedrich Matthisson, der Künstler Johann Heinrich Dannecker, J. F. Cotta u. die ersten Redakteure u. Mitarbeiter des ab 1807 erscheinenden »Morgenblatts für gebildete Stände«. Auswärtige Besucher, darunter August Wilhelm Iffland u. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, wurden dorthin eingeladen. 1803/04 zog die Familie wieder um; die Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« war zensurbedingt ins bayerische Ulm verlegt worden. Dort starb Huber unerwartet Ende 1804. Als Witwe wohnte H. bei der Familie ihrer zweiten Tochter Claire von Greyerz in der Abgeschiedenheit von Stoffenried u. in Günzburg, immer auf der Suche nach einer Berufstätigkeit. Nach ihrem Umzug Ende August 1816 zurück nach Stuttgart wurde ihr von Cotta im Zuge einer gründl. Neugestaltung des »Kunstblatts«, einer Beilage zum »Morgenblatt«, in Rücksprache mit Carl August Böttiger die Übernahme der Redaktion dieser Beilage vorgeschlagen. Anfang Januar 1817 erhielt sie das Angebot, zusätzlich auch die Redaktion des »Morgenblatts« u. die der Beilage »Literatur-Blatt« zu übernehmen. H. führte ihre Redaktionstätigkeit mit hoher Professionalität aus; das Niveau des Blatts verbesserte sich, die Auflage erreichte in ihrer Zeit den Höchststand. Aufgrund eines Missverständnisses mit Cotta verlegte H. Ende Nov. 1823 ihren Wohnort nach Augsburg, wodurch sie de facto die Redaktion des »Morgenblatts« verlor; 1826 schied sie endgültig aus. Fast erblindet, starb sie 1829 im Alter von 65 Jahren in Augsburg. H. hat zehn Kinder geboren, von denen vier das Erwachsenenalter erreicht haben: Therese Forster, Claire von Greyerz, Luise von Herder u. Victor Aimé Huber. H. war in ihrer Zeit berühmt u. erwarb sich als Schriftstellerin bald breite Anerkennung. In ihren Romanen u. Erzählungen setzte sie sich in eigenständiger u. krit. Weise mit Fragen ihrer Zeit auseinander, insbes. mit den
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Bedingungen u. Möglichkeiten weibl. Lebenszusammenhänge um 1800: Zeitgeschichte (Die Familie Seldorf. 2 Tle., Tüb. 1795/ 96. Neudr. Hildesh. 1989), Erziehung durch Schicksale (Ellen Percy oder Erziehung durch Schicksale. 2 Tle., Lpz. 1822. Neudr. Hildesh. 1996. Jugendmuth. Eine Erzählung. 2 Tle., Lpz. 1824), Ehe u. Ehelosigkeit (Die Ehelosen. 2 Bde., Lpz. 1829), Krankheit/Melancholie (Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. Lpz. 1796. Neudr. Hildesh. 1991), Altern (Sophie. In: Erzählungen. 1801/1802. Die Frau von vierzig Jahren. In: Erzählungen. 1830–33), religiöse Schwärmerei (Hannah, der Herrnhuterin Deborah Findling. Lpz. 1821. Neudr. Hildesh. 2001), gesellschaftl. Außenseitertum (Geschichte eines armen Juden; Die Hässliche. Beide in: Erzählungen. 1830–33). Sie schrieb in didaktisch-aufklärerischer Absicht u. benutzte konventionelle Erzählformen, die in der Literatur um 1800 gebräuchlich waren, z.B. Briefe u. Narration von Lebensgeschichten. Sie verfasste die von ausgewählten Briefen begleiteten Biografien ihrer Ehemänner L. F. Huber (1806) u. – gegen restaurative Tendenzen der Zeit u. mit einem deutl. Plädoyer für ihn geschrieben – G. Forster (1829), letztere eine bis heute unterschätzte Leistung. In den Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau (Lpz. 1811) verknüpfte H. gegenwarts- u. realitätsbezogene Beobachtungen auf ihrer Reise mit biogr. Erinnerungen u. Reflexionen. Die Veröffentlichung brachte ihr endlich die lange vorenthaltene Anerkennung ihres Vaters, der die Schriftstellerei seiner Tochter grundsätzlich ablehnte. Sie übersetzte aus dem Französischen u. Englischen. Einen bedeutenden Teil von H.s literar. Œuvre machen ihre etwa 4700 überwiegend handschriftlich überlieferten Privat- u. Geschäftsbriefe aus. Die meisten sind an berühmte Zeitgenossen gerichtet, die sie durch ihre soziale Stellung im Elternhaus u. in ihren Ehen sowie durch ihre berufl. Aktivitäten kennen lernte. Das inhaltl. Spektrum von H.s Korrespondenz ist, ihren komplexen Lebenszusammenhängen entsprechend, sehr breit gestreut. Sie schrieb ebenso über Ereignisse, Personen u. Belange des Alltags wie über allg. Themen von intellektuellem Interesse – lebendig, pointiert,
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analytisch, respektlos. In ihren Beiträgen u. Notizen zum »Morgenblatt« u. in ihrer Redaktionskorrespondenz war ihr Ton sachorientiert, kritisch u. unabhängig. H.s geistige Wurzeln lagen in der Spätaufklärung; sie bewunderte die Klassik, stand der Romantik skeptisch gegenüber u. war in manchen der von ihr vertretenen Positionen ihrer Zeit weit voraus. Im Verlauf des 19. Jh. geriet sie bald in Vergessenheit. Weitere Werke: Erzählungen von L. F. Huber [recte: T. H.]. 3 Slg.en. Braunschw. 1801/02. Neudr. Hildesh. 1999. – Das Urtheil der Welt, eine herrnhuth. Erzählung. In: Tb. für Damen auf das Jahr 1803. Tüb. [1802], S. 63–193. Neudr. Hildesh. 2001. – L. F. H.’s sämtl. Werke seit dem Jahre 1802, nebst seiner Biogr. 4 Bde., Tüb./Stgt. 1806–19. – Johann Georg Forster’s Briefw. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben. 2 Tle., Lpz. 1829. – Erzählungen. Gesammelt u. hg. v. V[ictor] A[imé] H[uber]. 6 Tle., Lpz. 1830–33. Neudr. Hildesh. 2006. – Briefe. Hg. Magdalene Heuser u. (ab Bd. 5) Petra Wulbusch. 9 Bde., Tüb. 1999 ff. Literatur: Bibliografien: Goedeke, Bd. 17/1 (1989), S. 591–603. – Weitere Titel: Ludwig Geiger: T. H. 1764 bis 1829. Leben u. Briefe einer dt. Frau. Stgt. 1901. – Irmgard Panoff: T. H. Diss. Wien 1931. – Helmut Peitsch: Die Revolution im Familienroman. Aktuelles polit. Thema u. konventionelle Romanstruktur in T. H.s ›Die Familie Seldorf‹. In: Schiller-Jb. 28 (1984), S. 248–269. – Wulf Köpke: Immer noch im Schatten der Männer? T. H. als Schriftstellerin. In: Der Weltumsegler u. seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftl. Schriftsteller der Goethezeit. Hg. Detlef Rasmussen. Tüb. 1988, S. 116–132. – M. Heuser: Jakobinerin, Demokratin u. Revolutionär. In: Sklavin oder Bürgerin? Frz. Revolution u. Neue Weiblichkeit 1760–1830. Hg. Viktoria Schmidt-Linsenhoff. Marburg 1989, S. 143–157. – Jeannine Blackwell: T. H. In: Dictionary of literary biography. Bd. 90: German Writers in the Age of Goethe, 1789–1832. Hg. James Hardin u. Christoph E. Schweitzer. Detroit u. a. 1989, S. 187–192. – Dies.: Marriage by the Book: Matrimony, Divorce, and Single Life in T. H.’s Life and Works. In: In the Shadow of Olympus. German Women Writers Around 1800. Hg. Katherine R. Goodman u. Edith Waldstein. Albany 1992, S. 137–156. – ›Alles ... von mir!‹ T. H. (1764–1829). Schriftstellerin u. Redakteurin. Bearb. v. Andrea Hahn u. Bernhard Fischer. Marbach/N. 1993. – B. Fischer: Cottas ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ in der Zeit v. 1807 bis 1823 u. die Mitarbeit T. H.s. In: AGB 43 (1995), S. 203–239. – M. Heuser:
Hubert Fragmentierung einer Autobiogr. – T. H. In: Das schwierige neunzehnte Jh. Hg. Jürgen Barkhoff u. a. Tüb. 2000, S. 403–416. – Dies.: Georg u. T. Forster – Aspekte einer gescheiterten Zusammenarbeit. In: Literar. Zusammenarbeit. Hg. Bodo Plachta. Tüb. 2001, S. 101–119. – Dies., Jessica Kewitz, Dieter Neiteler u. P. Wulbusch: ›Meine Zeit ist völlig beschränkt mit [...] Briefen die kein Ende nehmen‹. Die Briefausg. T. H. In: BIOS 15 (2002), H. 1, S. 102–116. – Anna Richards: Suffering, Silence, and the Female Voice in German Fiction. In: Women in German Yearbook 18 (2002), S. 89–110. – Peter Uwe Hohendahl: Anton Reisers Schwester – T. H.s Roman ›Luise‹. In: ZfG N. F. 1.14 (2004), S. 19–38. – Eda Sagarra: Zur Kultur der Umgangsformen junger Frauen in der Aufklärung. Therese Heynes Jugendbriefe. In: Gefühlskultur in der bürgerl. Aufklärung. Hg. Achim Aurnhammer u. a. Tüb. 2004, S. 177–188. – P. Wulbusch: T. H. u. Emil v. Herder. Zum Geschlechterdiskurs um 1800. Tüb. 2005. Magdalene Heuser
Hubert, Huber, Hubrecht, Humbert, Hunbart, Konrad, auch: Ornipogon, Pulbarba, * 1507 Bergzabern/Pfalz, † 13.4.1577 Straßburg. – Lutherischer Theologe, Verfasser von Kirchenliedern, Sekretär Martin Bucers und Herausgeber von dessen Schriften. Der Sohn eines Fleischers studierte ab 1519 in Heidelberg u. ab 1523 in Basel, wo er sich der Reformation anschloss u. Famulus Johannes Oekolampads wurde. Auf dessen Empfehlung übernahm ihn Martin Bucer als Sekretär während der Einführung der Reformation in Ulm 1531. H. folgte dem Reformator nach Straßburg u. wurde Bucers treuer Amanuensis bis zu dessen Weggang nach England 1549. Nach Bucers Tod 1551 übernahm er die Fürsorge für dessen Hinterbliebene u. bereitete den gesamten schriftl. Nachlass, der ohnehin bereits zu einem erhebl. Teil in H.s Hand überliefert war, für den Druck auf. Ab 1531 hatte er zugleich das Amt eines Diakonen sowie ab 1545 dasjenige eines Stiftsherrn an St. Thomas inne. Zerwürfnisse mit der neuen Generation der Straßburger Geistlichen, die unter dem Einfluss Johannes Marbachs v. a. ab 1552 eine konfessionell engere luth. Position vertraten, führten für H. 1563 zum Verlust seiner Ämter.
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H.s überragendes Interesse galt nicht der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit, sondern der Erhaltung der Korrespondenz u. des literar. Erbes Bucers. Von zehn geplanten Folio-Bänden mit dessen Werken gelang ihm jedoch nur die wenige Monate vor seinem Tod erfolgte Drucklegung der Scripta Anglicana. Durch seine Mitwirkung am Großen Straßburger Gesangbuch hat H. eine literar. Spur als Kirchenliederdichter hinterlassen. Im heutigen Evangelischen Gesangbuch sind noch Nr. 194 (O Gott, Du höchster Gnadenhort) und Nr. 232 (Allein zu dir, Herr Jesu Christ) aus seiner Feder zu finden. Wackernagel weist ihm vier weitere Lieder zu. Ausgaben: Wackernagel 3, S. 944–946. Literatur: Timotheus-Wilhelm Röhrich: Mittheilungen aus der evang. Gesch. des Elsasses III. Straßb./Paris 1855, S. 245–274. – Richard Raubenheimer: K. H. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit. In: Bl. für pfälz. Kirchengesch. 20 (1953), S. 17–23, 40–53, 65–78 u. 97–102. – Jean Rott: C. H. In: NDBA. – Roger Trunk: C. H. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangsbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 1999 (22001), S. 162 f. Stephen Buckwalter
Hubmaier, Huebmör, Balthasar, auch: Friedberger, Pacimontanus, * um 1480/85 Friedberg bei Augsburg, † 10.3.1528 Wien. – Theologe, Reformator u. Täuferführer. H. wurde 1503 als Kleriker der Diözese Augsburg an der Univ. Freiburg i. Br. immatrikuliert. 1507 vorübergehend als Schulmeister in Schaffhausen tätig, setzte er sein Studium an der Theologischen Fakultät unter Johannes Eck fort u. folgte 1512, inzwischen Priester, dem 1510 nach Ingolstadt gewechselten Eck, wurde dort im selben Jahr zum Dr. theol. promoviert u. trat eine mit der Pfarre am Liebfrauenmünster verbundene Professur an. Seit 1516 Domprediger in Regensburg, war er an der Vertreibung der Juden beteiligt (1519) u. wirkte anschließend als Wallfahrtsprediger an der Kapelle der »Schönen Maria«. 1520 ging H. als Pfarrer ins vorderösterr. Waldshut. Dort ist in den folgenden Jahren eine schrittweise theolog. Neuorientierung an Erasmus von Rotterdam,
Martin Luther u. der Zürcher Reformation erkennbar. Im 1523 ausgebrochenen Konflikt zwischen Ulrich Zwingli u. den proto-täuferischen Radikalen um Konrad Grebel stellte sich H. auf die Seite der Radikalen u. führte seit 1523 in Waldshut eine lokale Reformation frühzwinglianischen, nach Einführung der Taufe der Gläubigen zu Ostern 1525 täuferischen Charakters durch. Nach Niederschlagung des Bauernkriegs musste er Ende 1525 aus Waldshut, das ein Schutzbündnis mit den aufständ. Bauern eingegangen war, fliehen u. ging über Zürich, wo er inhaftiert u. zum Widerruf seiner Tauflehre gezwungen wurde, u. Augsburg nach Nikolsburg/Mikulov (Südmähren). Dort führte er zwischen Juni 1526 u. Juli 1527 mit der Unterstützung der Herren von Liechtenstein eine täuferische Lokalreformation durch. Im Sommer 1527 erzwang der neue mähr. Landesherr, Ferdinand I., H.s Auslieferung. Nach langer Haft auf der Burg Kreuzenstein (Niederösterreich) wurde H. aufgrund des Waldshuter Bündnisses mit den Bauern (1525) als Hochverräter u. Irrlehrer verurteilt u. in Wien verbrannt. Über die Verhöre während der Haftzeit u. den Prozess liegen zeitgenöss. Schriften des einstigen Studienfreundes H.s u. späteren Bischofs von Wien, Johann Fabri, vor. H.s Frau, Elisabeth Hüglin aus Reichenau, wurde wenige Tage nach H. in Wien ertränkt. Von H. erschienen in den Jahren 1524–1527 24 Schriften im Druck; weitere Texte u. einige Briefe sind handschriftlich überliefert. H.s Druckschriften sind bis auf eine lat. Schrift durchweg frühnhd. verfasst. Mehrfach nachgedruckt, auch ins Niederdeutsche übersetzt, wurde die Thesenreihe Achtzehn Schlußreden (1524), in der sich H., ebenso wie in weiteren Schriften aus dem Jahr 1524, als theolog. Parteigänger Zwinglis versteht. Hervorzuheben ist die als frühes Zeugnis religiöser Toleranz geltende Schrift Von Ketzern und ihren Verbrennern (1524). Den Bruch mit Zwingli über der Frage der Kindertaufe dokumentiert die Schrift Von der christlichen Taufe der Gläubigen (1525), in der H. seine Tauflehre entfaltete. Aus seiner Nikolsburger Zeit stammen mehrere Darstellungen prakt. Reformanliegen, u. a. der Neuordnung von Taufe, Abendmahl u. des
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Kirchenbanns in den Pfarrkirchen der Herr- Martin Rothkegel: Anabaptism in Moravia and Sischaft Nikolsburg, u. der Katechismus Eine lesia. In: A Companion to Anabaptism and Spirichristliche Lehrtafel (1526). Im Streit zwischen tualism. Hg. John D. Roth u. James M. Stayer. LeiLuther u. Erasmus über die Willensfreiheit den 2007, S. 163–215. – C. Arnold Snyder: Swiss Anabaptism. In: ebd., S. 45–81. bezog H. in zwei Schriften von 1527 unter Marion Kobelt-Groch / Martin Rothkegel Rückgriff auf nominalistische Argumente eine mittlere Position. In seinen Abendmahlsschriften Ein einfältiger Unterricht auf die Huby, Felix, auch: Frederic Knock, eiWorte: Das ist der Leib mein (1526) u. Eine Form gentl.: Eberhard Hungerbühler, * 21.12. des Nachtmahls Christi (1526/27) nahm er, un- 1938 Dettenhausen. – Journalist, Verfaster leichter Akzentverschiebung gegenüber ser von Kriminalromanen, Sach- u. KinZwingli, zum Abendmahlsstreit Stellung. H.s derbüchern, Fernsehautor. letzte datierte Schrift Vom Schwert (1527) verteidigt Recht u. Pflicht des Christen, obrig- H. verließ das Gymnasium ohne Abitur, war keitl. Ämter auszuüben, gegen den aufkom- dann Redaktionsvolontär, Lokalredakteur u. Reporter, anschließend Werbetexter. Bereits menden täuferischen Pazifismus. H.s Reformationsversuch in Waldshut seit 1960 schrieb er für den Rundfunk u. für scheiterte bereits Ende 1525 mit der Reka- die satir. Zeitschrift »Pardon«. Bis 1979 artholisierung durch die habsburgische Regie- beitete H. hauptberuflich als Journalist. Er rung; die Täuferkirche von Nikolsburg be- war Chefredakteur der Zeitschriften »DM«, stand lediglich bis 1535. H. besaß zwar unter »x-magazin« u. 1972–1979 verantwortl. den Vertretern des frühen Täufertums die »Spiegel«-Korrespondent für Baden-Würtgründlichste theolog. Bildung, seine Nach- temberg. Seither lebt H. als freier Schriftwirkung innerhalb des Täufertums wurde steller in Stuttgart. 1989 wurde er zum stelljedoch durch den Umstand gehemmt, dass vertretenden Vorsitzenden des Verbands im oberdt. Raum die von H. explizit abge- Deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Medien lehnten separatistisch-pazifistischen Kon- gewählt. Unter seinem eigentl. Namen verzepte die täuferische Gruppenbildung nach öffentlichte H. populäre Sachbücher mit 1528 bestimmten. H.s Auslegungen des Va- überwiegend histor., polit. u. ökolog. Theterunsers (1526) und des Apostolischen men; er schrieb Hörspiele, zudem viele Kriminalromane u. Abenteuerbücher für Kinder Glaubensbekenntnisses (1526/27) wurden u. Jugendliche. In diesem Kontext sind der mehrfach anonym in luth. ErbauungsschrifDetektiv »Paul Pepper« u. seine Freunde ten des 16. Jh. nachgedruckt. Johann Fabri hervorzuheben, die H. als dt. Antwort auf behauptete H.s Verfasserschaft von drei proHitchcocks drei Fragezeichen konzipierte. grammat. Flugschriften des Bauernkrieges. Bekannt wurde H. als KriminalschriftstelFerner wird in täuferischen Handschriften ler u. Autor zahlreicher Fernsehspiele u. -sedas Lied »Freut euch, freut euch in dieser rien. Sein erstes Drehbuch überhaupt schrieb Zeit« (Wackernagel 3, Nr. 165) H. zugeer 1981 für einen Pilotfilm für den Tatortschrieben. Kommissar Horst Schimanski. Auch die FiAusgabe: B. H. Schr.en. Hg. Gunnar Westin u. guren Rosa Roth, Jan Casstorff u. Max Palu Torsten Bergsten. Gütersloh 1962. wurden von H. entwickelt. Seine Erzählweise Literatur: Torsten Bergsten: B. H. Kassel 1961. ist prinzipiell realistisch, stets um die Ver– Christof Windhorst: Täufer. Taufverständnis. B. bindung von genregerechter Unterhaltung u. H.s Lehre zwischen traditioneller u. reformator. engagierter Sozialkritik bemüht. Hauptfigur Theologie. Leiden 1976. – Ders.: B. H. In: TRE. – mehrerer Kriminalromane ist der integre, Essays in anabaptist theology. Hg. H. Wayne Pipkin. Elkhart, Ind., 1994. – Gottfried Seebaß: Die querköpfige u. allzu menschl. schwäb. Reformation u. ihre Außenseiter. Ges. Aufsätze u. Hauptkommissar Bienzle, der etwa in Bienzle Vorträge. Hg. Irene Dingel. Gött. 1997 (Register). – und das Narrenspiel (Reinb. 1988) die Unschuld Melanchthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. Heinz eines vorverurteilten Außenseiters beweist. Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 331 f. – Vorbild für H. sind gleichermaßen die So-
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ziokrimis von Sjöwall/Wahlöö oder -ky u. die – Das Schlitzohr v. Köpenick (zus. mit Hans heimatbezogenen Studer-Romane von Fried- Münch). Bln. 2006. – Selbscht ist dr’ Mann (zus. mit rich Glauser. Bienzles Nachfolger ist sein D. de Lazzer). Stgt. 2006. – Die Nibelungen vom Schüler Peter Heiland, der in Berlin ermittelt. Killesberg. Stgt. 2008. Literatur: Irene Bayer: Juristen u. KriminalbeIm ersten Band Der Heckenschütze (Ffm. 2005) amte als Autoren des neuen dt. Kriminalromans. führt Heiland die Spur des Verbrechers zuFfm./Bern 1989. – Lexikon der deutsprachigen rück ins Schwabenland. Hier bekommt er bei Krimi-Autoren. Hg. Angelika Jockers. 2., aktualiden schwierigen Ermittlungen Unterstüt- sierte u. erw. Aufl. Mchn. 2005, S. 131–135 (mit zung von Bienzle (Verfilmung: ZDF 2008). H. Bibliogr.). Volker Busch / Elke Kasper gehört zu den meistbeschäftigten Drehbuchautoren des dt. Fernsehens. Der größte Huch, Felix, * 6.9.1880 Braunschweig, Fernseherfolg war neben einzelnen Folgen † 6.7.1952 Tutzing. – Verfasser von bioder Reihe Tatort die 13-teilige Familienserie grafischen Romanen; Arzt. Oh Gott, Herr Pfarrer (SDR 1988). Lokalkolorit prägt auch H.s Theaterstücke wie Grüß Gott, H. war der Enkel Friedrich Gerstäckers, der Herr Minischter (Stgt. 2005) oder Bienzle und der Bruder von Friedrich Huch u. der Vetter von Ricarda u. Rudolf Huch. Aufgewachsen in Mord am Neckar (Stgt. 2006). H. erhielt 1988 den Robert-Geisendörfer- Dresden, studierte er in Leipzig, Berlin u. Preis, 1999 den »Ehrenglauser«, 2002 den Heidelberg Medizin, promovierte 1904 zum Berliner Krimipreis u. 2007 die Goldene Dr. med. u. lebte nach einem dreijährigen Aufenthalt in Südamerika als Landarzt u. Romy. Weitere Werke: Der Atomkrieg in Weihers- Regierungsmedizinalrat in Thüringen, später bronn. Reinb. 1976. – Sein letzter Wille. Reinb. in Würzburg u. Bad Godesberg. Das intensive Interesse an der Musik führte 1979. – Bienzle stochert im Nebel. Reinb. 1983. – Bienzle u. die schöne Lau. Reinb. 1984. – Bienzles den geschulten Violinisten nach dem Tod Mann im Untergrund. Reinb. 1986. – Der Falsch- seiner Frau zu seinem späten literar. Debüt, spieler. Ffm. 2006. – Der Bluthändler. Ffm. 2007. – dem erfolgreichen biogr. Roman Der junge Fast wie von selbst. Ein Gespräch mit Dieter de Beethoven (Ebenhausen 1927. Bergisch GladLazzer. Ffm. 2008. – Sachbücher: Rettet uns die bach 1979). Die lebendige Ausgestaltung Sonne vor der Energiekatastrophe? Ravensburg biogr. Fakten zur Darstellung der Genese u. 1975. – Recycling. Neuer Rohstoff Müll. RavensEntfaltung des musikal. Genies im Erzählburg 1975. – Warum sagst Du nicht ›Nein Danke‹? gestus des 19. Jh. prägt auch die Fortsetzung, Drogen sind der falsche Trip (zus. mit Klaus Mellenthin). Ffm. 1982. – Jugendbücher: Vier Freunde Beethovens Vollendung (Ebenhausen 1931), u. auf heißer Spur. Wien 1976. – Das abenteuerl. Le- die zweiteilige Biografie Mozart. Der Roman ben des Doktor Faust. Stgt. 1980. – Paul Pepper u. seines Werdens (Ebenhausen 1941) u. Mozart in das schleichende Gift. Stgt. 1984. – Paul Pepper u. Wien (Mchn. 1948). Es folgten die Novelle der Brandstifter. Stgt. 1986. – Hörspiele: Sieg über Dresdner Capriccio. Die Geschichte einer jungen die Tiefe. WDR 1978. – Ein Toter hört nicht auf. Liebe (Bonn 1948) um eine Episode aus dem SWF 1981. – Geh nie mit leeren Händen. SWF/HR Leben Friedrich Gerstäckers u. der histor. 1982. – Leiche in Öl oder der Traum v. Costa Rica. Roman Der Kaiser von Mexiko (Mchn. 1949). SWF 1995. – Die Luftbrücke – Berlin Airlift. WDR 1998. – Schattenbilder. WDR 1998. – Einbruch ins Labor. SWR 2000. – Das Stuttgarter Hutzelmännlein. SWR 2004. – Drehbücher: Didi auf vollen Touren. 1986. – Der Fischerkrieg vom Bodensee. 1997. – Theaterstücke: 30-60-90 Grad: Durchgehend geöffnet. Musical (zus. mit Heinz Kahlau). Bln 1998. – Mach Spucke druff (zus. mit H. Kahlau). Nordhorn 2001. – Das Stuttgarter Hutzelmännlein u. Die schöne Lau. Stgt. 2003. – Ich knall euch ab! Ringurauff. in Rostock, Dresden u. Düsseld. 2004. – Schwabenblues. ›Mei Feld ischt d’Welt‹. Stgt. 2005.
Weiteres Werk: Musik hieß mich schreiben. Ein Selbstporträt. In: Welt u. Wort 6 (1951), S. 183 f. Dirk Göttsche
Huch, Friedrich, * 19.6.1873 Braunschweig, † 12.5.1913 München; Grabstätte: Braunschweig, Hauptfriedhof. – Romanautor. Der Notarssohn verbrachte die Kinder- u. Jugendzeit bis 1892 in Braunschweig. Seit
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1893 studierte er Philosophie und Philologie lassenes Bruchstück. Mchn. 1922. – Die Lebenserin München, Berlin u. Paris (1900 Dr. phil.). innerungen aus der Braunschweiger Zeit (zus. mit Um 1895 machte er die ihn prägende Be- Marie Huch). Hg. Karlwalther Rohmann. Braunkanntschaft mit Klages u. dem Münchener schw. 1978. Literatur: Helene Huller: Der Schriftsteller F. Kreis (George, Wolfskehl). Nach Studienabschluss einer bürgerl. Karriere bewusst aus- H. Studien zur Lit. u. Gesellsch. um die Jahrhundertwende. Diss. Mchn. 1974. – Wolf Wucherweichend, arbeitete er als Privaterzieher in pfennig: Kindheitskult u. Irrationalismus in der Hamburg u. Leipzig. In dieser Zeit erschien Lit. um 1900. F. H. u. seine Zeit. Mchn. 1980. – der »komische« Roman Peter Michel (Hbg. Beatrix Bachmann: F. H.: ›Mao‹. Dekadenz u. 1901), in dem er den Protagonisten als Schizophrenie. In: Dekadenz in Dtschld. Hg. Dieter Spießbürger enden lässt u. so die Möglichkeit Kafitz. Ffm. 1987, S. 225–241. – Wenchao Li: Das der Bildung des Individuums in Frage stellt. Motiv der Kindheit u. die Gestalt des Kindes in der In den folgenden Romanen (Geschwister. Bln. dt. Lit. der Jahrhundertwende. Diss. Bln. 1989. – 1903. Forts. in: Wandlungen. Bln. 1905), die Frédéric Weinmann: ›Peter Michel‹ de F. H. ou la formal vom Jugendstil geprägt sind, stehen réécriture du passé. In: Cahiers d’Etudes Germaniques 46 (2004), S. 45–58. die in ihrem Charakter gegensätzl. Mitglieder Ute Mennecke-Haustein / Red. einer Grafenfamilie im Mittelpunkt. 1904 ließ sich H. endgültig als Schriftsteller in München-Schwabing nieder u. arbeitete Huch, Ricarda, auch: Richard Hugo, u. a. als Redakteur der »Jugend«. 1907 er- * 18.7.1864 Braunschweig, † 17.11.1947 schien der unverkennbar von Klages’scher Schönberg/Taunus; Grabstätte: FrankWeltanschauung geprägte Roman Mao (Bln.), furt/M., Hauptfriedhof. – Erzählerin, Lyin dem ein Junge sich in einem alten, ge- rikerin, Dramatikerin u. Historikerin. heimnisvollen Haus, dessen Vorbild das von H.s Familie bewohnte Prinzenpalais war, eine H. stammte aus einer wohlhabenden, kultumyth. Welt aufbaut, in der er mit den ihn rell u. politisch interessierten Kaufmannsfaumgebenden Dingen eins wird. Der Abriss milie. Nach dem Bankrott des väterl. Geschäfts verließ sie 1887 Braunschweig, um des Hauses zieht so auch ihn in den Tod. In seinem bekanntesten Roman Pitt und einen Skandal abzuwenden, der ihrer Familie Fox. Die Liebeswege der Brüder Sintrup (Mchn. durch die Liebesbeziehung zu ihrem Schwa1909) greift H. die Philistersatire wieder auf. ger u. Vetter Richard Huch drohte. Sie überDem »schwierigen«, introvertierten, bin- siedelte nach Zürich, holte dort das Abitur dungs- u. entscheidungsscheuen, die Men- nach u. studierte Geschichte u. Philologie. 1891 schloss H. ihr Studium mit einer Proschen lächelnd durchschauenden Pitt steht in motion über die Neutralität der EidgenosFox die Karikatur des gründerzeitl. Tat- u. senschaft während des span. Erbfolgekriegs Erfolgsmenschen gegenüber. Erzählerisch ab. Anschließend war sie in Zürich als Biwirkungsvoll sind der Kontrast zwischen der bliothekarin u. Lehrerin (vgl. Frühling in der einerseits ernsten u. andererseits burlesk-koSchweiz. Zürich 1938) tätig. 1896 wechselte sie mischen Handlung u. die treffsichere Satire nach Bremen, wo sie am Aufbau einer höheauf die phrasenhafte u. verlogene, geschäftl. ren Mädchenschule mitwirkte. Nach dem Kalkül u. sentimentalen Schwulst verbinScheitern dieses Projekts kehrte sie für kurze dende Sprache der Jahrhundertwende. Zeit nach Zürich zurück. Seither war sie als Weitere Werke: Ausgabe: Ges. Werke in 4 Bdn. freie Schriftstellerin tätig, u. a. in Wien, wo sie Vorw. v. Thomas Mann. Stgt. 1925. – Einzeltitel: mit wichtigen Vertretern der Wiener ModerTräume. Bln. 1904. – Enzio. Ein musikal. Roman. ne in Kontakt stand. Hier lernte sie den Mchn. 1911. – Tristan u. Isolde. Lohengrin. Der fliegende Holländer. Drei groteske Komödien. Zahnarzt Ermanno Ceconi kennen, den sie Mchn. 1911. – Erzählungen. Mchn. 1914. – Neue 1898 heiratete u. mit dem sie anschließend Träume (mit Illustrationen v. Alfred Kubin). Mchn. ein Jahr in Triest verbrachte. Seit 1900 lebte 1917. – Shakespeare, Sonette. Mchn. 1921 (Übers.). H. mit ihrem Mann u. der 1899 geborenen – Karl Wilhelm Ferdinand. Ein Roman. Nachge- Tochter in München; mit einigen Mitglie-
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dern des George-Kreises (wie Karl u. Hanna Wolfskehl) stand sie in engerem Kontakt. Ihre Ehe wurde 1906 geschieden; auch eine 1907 mit Richard Huch eingegangene Verbindung zerbrach nach wenigen Jahren. H.s frühe Gedichte (Dresden 1891) thematisieren unerfüllte Sehnsucht, Liebe u. Tod; häufig auf der Grundlage histor. bzw. mytholog. Themen, stehen sie in formaler Hinsicht in der Tradition des 19. Jh. Ihr enthusiastisches Drama Evoë! (Bln. 1892), das im Rom Leos X. spielt, spiegelt das neue Interesse an der Renaissance am Ende des Jahrhunderts wider. Neben einigen histor. Novellen in der Nachfolge C. F. Meyers entstanden in dieser Zeit v. a. Erzählungen, die sich in humorvoller u. fantastischer Weise gegen Vorurteile, Aberglauben, ein verknöchertes Christentum u. saturierte Nützlichkeitsvorstellungen richten (u. a. Der Mondreigen von Schlaraffis. Lpz. 1896. Teufeleien. Lpz. 1897. Fra Celeste und andere Erzählungen. Lpz. 1899). Autobiografische Züge tragen die Romane Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren (Bln. 1893) u. Vita somnium breve (Lpz. 1903. Ab 51913 u. d. T. Michael Unger), mit denen H. bekannt wurde. Während sie sich in dem frühen Roman noch erkennbar am poetischen Realismus orientierte, ging sie nach der Jahrhundertwende zu einer stärkeren Stilisierung über. In dem Roman Aus der Triumphgasse (Lpz./Jena 1902), der in Triest spielt, setzt H. die Härte sozialer Armut mit verklärten bürgerl. Vorstellungen vom Leben der unteren Schichten in scharfen Kontrast. Neben erzählerischen Werken stehen H.s Texte zur Geschichte der dt. Literatur. Ihre in zwei Bänden gesammelten Essays zur dt. Romantik (Blütezeit der Romantik. Lpz. 1899. Ausbreitung und Verfall der Romantik. Lpz. 1902. Ab 4/31908 u. d. T. Die Romantik. Lpz.) versuchten – in Abgrenzung zur nationalliberalen Literaturgeschichtsschreibung – den Innovationen der romant. Bewegung auf dem Gebiet der Kritik, der ästhetischen Theorie u. der Wissenschaft in neuer Weise gerecht zu werden. Jedoch erst Gottfried Keller habe der modernen Literatur die »gereiften Früchte der Romantik gereicht«. H. widmete ihm 1904 eine eigene kleine Monografie u. wür-
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digte später sein Gesamtwerk in seiner Entwicklung u. Vielschichtigkeit differenziert (Gottfried Keller. Bln. 1904. Einleitung zu Gottfried Kellers gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 1, Lpz. 1921, S. 7–27). Zu Beginn des neuen Jahrhunderts wandte sich H. stärker Themen der polit. Geschichte zu. Das histor. Epos Die Geschichte von Garibaldi (2 Bde., Stgt./Lpz. 1906/07) zeigt modellhaft eine Nationalstaatswerdung aus der Einheit von Adel u. Volk, mit deren Darstellung sich H. von der dt. Reichsgründung distanzierte. Dem Wirken charismat. Persönlichkeiten, ihrer Tatkraft u. Entschlossenheit schrieb H. im histor. Prozess eine bes. Bedeutung zu. Mit ihren biogr. Studien u. Romanen wollte sie solche Persönlichkeiten für die dt. Leserschaft vorbildhaft lebendig werden lassen (u. a. Das Risorgimento. Lpz. 1908. Ab 1918 u. d. T. Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento. Lpz. Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri. Lpz. 1910. Wallenstein. Lpz. 1915). Dichterische Fantasie u. wissenschaftl. Genauigkeit verbindet H.s an Schillers Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs angelehnte »Darstellung« Der große Krieg in Deutschland (3 Bde., Lpz. 1912–14. Ab 1929 u. d. T. Der Dreißigjährige Krieg. Lpz.), in der sie in loser chronolog. Folge große polit. Konflikte u. kleine Alltagserlebnisse des Kriegs zu einem Mosaik zusammensetzt, welches eine Epoche der Zerstörung u. des kulturellen Verlusts anschaulich werden lässt. Im Umfeld des ersten Weltkriegs entstand eine Reihe von religionsphilosophischen Abhandlungen, in denen H. der von ihr diagnostizierten Entfremdung u. Vereinzelung des modernen Menschen einen auf Gefühl u. Intuition gegründeten Glauben entgegenstellte. Luthers Glaube (Lpz. 1916) stellt den Versuch dar, die Glaubensinhalte des Reformators für die Gegenwart verständlich zu machen. Dieser »Luthertranslation« folgte eine »Bibelübersetzung«: Der Sinn der Heiligen Schrift (Lpz. 1919) sollte dem zeitgenöss. Leser die Sprache u. Bildlichkeit der Bibel, auch in ihren Paradoxien, wieder näher bringen. Im Alter kehrte H. noch einmal zu den Ereignissen u. Persönlichkeiten des 19. Jh. zurück. Neben den Biografien großer Männer
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(Michael Bakunin und die Anarchie. Lpz. 1923. Stein. Wien/Lpz. 1925. Ab 21932 u. d. T. Stein, der Erwecker des Reichsgedankens. Bln.) entstand das in großen Teilen ebenfalls biografisch strukturierte Panorama der Revolution von 1848 (Alte und neue Götter. Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Bln./Zürich 1930), in dem H. aus konservativer Sicht auf undogmat. Weise auch moderne polit. Strömungen wie den Anarchismus u. den Sozialismus darstellte. Dem Absolutismus wie dem modernen zentralisierten Nationalstaat setzte sie die Idee des mittelalterl. Reichs entgegen, einer föderativen Gemeinschaft »aus Selbstverwaltung des Volkes und Einzelherrschaft gemischt, ein Rechtszustand zwischen Freiheit und Gehorsam, wie er nur aus Kämpfen erwächst«. Freiherr vom Stein wurde für sie zum Idealbild des »heimlichen Kaisers«, der die alten Ideen zu erneuern suchte. In dem aus der Ständeordnung des MA entstandenen städt. Bürgertum sah sie den Träger ihres Ideals einer »Mitte zwischen äußersten Tendenzen«. Ihr letztes großes Geschichtswerk, die drei Bände umfassende Deutsche Geschichte (Bln. 1934. Zürich 1937/49), erzählt die Entwicklung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation von seinen mittelalterl. Anfängen bis zu seinem Ende im 19. Jh. Für die krit. Gegenwartsbezüge dieses Werks wurde H. von nationalsozialistischer Seite angegriffen. H. lebte seit 1927 im Haus ihrer Tochter Marietta u. ihres Schwiegersohns Franz Böhm – zunächst in Berlin, zwischenzeitlich in Heidelberg (bei ihrer Freundin Marie Baum), später in Freiburg u. Jena. Obwohl die Nationalsozialisten um die konservative Schriftstellerin warben, trat sie im April 1933 aus Protest gegen die ideolog. Gleichschaltung u. die Ausgrenzung jüd. bzw. anders denkender Kollegen aus der Preußischen Akademie der Künste aus, in welche sie 1926 als erste Frau der Sektion für Dichtkunst gewählt worden war. Nach dem ersten gesamtdt. Schriftstellerkongress im Okt. 1947 übersiedelte H. – ohne Genehmigung der Besatzungsbehörden – von Jena nach Frankfurt/M. Sie starb an den Folgen der Anstrengungen dieser Reise. Ihr
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letztes nationalpädagog. Projekt, das »Gedenkbuch«, in dem sie die Biografien dt. Widerstandskämpfer sammelte, um ihre Landsleute an die Möglichkeit mutigen individuellen Handelns zu erinnern, blieb unvollendet. Weitere Werke: Erzählungen. 3 Tle., Lpz. 1897. – Neue Gedichte. Lpz. 1907. – Liebesgedichte. Lpz. 1912. – Jeremias Gotthelfs Weltanschauung. Vortrag. Bern 1917. – Entpersönlichung. Lpz. 1921. – Im alten Reich. Lebensbilder dt. Städte. Lpz. 1927. – Ges. Gedichte. Lpz. 1929. – Weiße Nächte. Zürich 1943 (N.). – Urphänomene. Zürich 1946. – Ges. Werke. Hg. Wilhelm Emrich. 11 Bde., Köln/Bln. 1966–74. – In einem Gedenkbuch zu sammeln ... Bilder dt. Widerstandskämpfer. Hg. Wolfgang-Matthias Schwiedrzik. Lpz. 1993. – Briefe: Briefe an die Freunde. Hg. Marie Baum. Tüb. 1955. Neu bearb. v. Jens Jessen. Zürich 1986. – Joseph Viktor Widmann. Briefw. mit Henriette Feuerbach u. R. H. Hg. Charlotte v. Dach. Zürich/Stgt. 1965. – Sabina Streiter: Frieda v. Bülow u. R. H. Briefe aus dem Jahr 1895. In: JbDSG 32 (1988), S. 51–73. – Du, mein Dämon, meine Schlange ... Briefe an Richard Huch 1887–1897. Hg. Anne Gabrisch. Gött. 1998. – Myriam Richter u. Dorit Krusche: Zwischen Wiss. u. Lit. Briefe v. Richard M. Meyer an R. H. In: Gesch. der Germanistik. Mitt.en (2005), Nr. 27/28, S. 45–66. Literatur: Bibliografie: Brigitte Weber: R. H. Dortm. 1964. – Michael Meyer: R. H.-Bibliogr. Wien 2005. – Weitere Titel: Elfriede Gottlieb: R. H. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Epik. Lpz./Bln. 1914. – Oskar Walzel: R. H. Ein Wort über die Kunst des Erzählens. Lpz. 1916. – Gertrud Grote: Die Erzählungskunst R. H.s u. ihr Verhältnis zur Erzählungskunst des 19. Jh. Bln. 1931. – R. H. Persönlichkeit u. Werk in Darstellungen ihrer Freunde. Bln. 1934. – Else Hoppe: R. H. Weg, Persönlichkeit, Werk. Hbg. 1936. Stgt. 21951. – Gertrud Bäumer: R. H. Tüb. 1949. – Marie Baum: Leuchtende Spur. Das Leben R. H.s. Tüb. 1950 (mit Briefen v. R. H.). – Helene Baumgarten: R. H. Weimar 1964. Köln/ Graz 21968. – Helene Rass: Das Geschichtsbild in der Dichtung R. H.s. Diss. Innsbr. 1968. – Erika Meyer-Erlach: Zu Form u. Inhalt der novellist. E.en R. H.s. Diss. Univ. of Toronto. 1975. – Hans-Henning Kappel: Epische Gestaltung bei R. H. Ffm./ Bern 1976. – Karl-Heinz Köhler: Poetische Sprache u. Sprachbewußtsein um 1900. Stgt. 1977. – Ilse Langner: R. H. dreißig Jahre nach ihrem Tode. In: NDH 24 (1977), S. 724–740. – Cesare Cases: Italien als unbürgerl. Raum bei R. H. In: Annali. Studi tedeschi 26 (1983), S. 291–321. – Karl-Heinz Hahn: ›Gesch. u. Gegenwart‹. Zum Geschichtsbild der R.
Huch H. In: Zeit der Moderne. Zur dt. Lit. v. der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. FS Bernhard Zeller. Hg. Hans-Henrik Krummacher u. a. Stgt. 1984, S. 261–280. – Hans-W. Peter (Hg.): R. H. Studien zu ihrem Leben u. Werk. 6 Bde., Braunschw. 1985–95. – Stefanie Viereck: So weit die Welt geht. R. H. Geschichte eines Lebens. Reinb. 1990. – Jutta Bendt, Karin Schmidgall u. Ursula Weigl: R. H. 1864–1947. Eine Ausstellung des Dt. Literaturarchivs Marbach. Marbach 1994. – Monika Fick: Sinnenwelt u. Weltseele. Der psychophys. Monismus in der Lit. der Jahrhundertwende. Tüb. 1993. – Cordula Koepcke: R. H. Ihr Leben u. ihr Werk. Ffm. 1996. – Hans-Werner Peter (Hg.): R. H. (1864–1947). Einf. in ihr Leben u. Werk. Braunschw. 1997. – M. Meyer: Willensverneinung u. Lebensbejahung. Zur Bedeutung v. Schopenhauer u. Nietzsche im Werk R. H.s. Ffm. 1998. – Anne Gabrisch: In den Abgrund werf ich meine Seele. Die Liebesgesch. v. R. u. Richard H. Zürich 2000. – Barbara Hahn: ›Wunderbar artikulierte Herrscherin im Reich des Bewußten‹. R. H. u. ihre Zeitgenossen. In: Gendered Academia. Wiss. u. Geschlechterdifferenz 1890–1945. Hg. Miriam Kauko. Gött. 2005, S. 223–236. – Gesa Dane: Histor. Vergegenwärtigung: R. H.s Romantik u. Der Dreißigjährige Krieg. In: ebd., S. 127–145. – James Martin Skidmore: The trauma of defeat. R. H.’s historiography during the Weimar Republic. Bern 2005. – Barbara Bronnen: Fliegen mit gestutzten Flügeln. Die letzten Jahre der R. H. 1933–1947. Zürich 2007. – Heike Fielmann: Mythos u. Interpr. R. H.s Versuch einer Rettung des christl. Glaubens. Ffm. 2008. Dorit Krusche
Huch, Rudolf, auch: A. Schuster, * 28.2. 1862 Porto Alegre/Brasilien, † 19.1.1943 Bad Harzburg; Grabstätte: Braunschweig, Hauptfriedhof. – Erzähler, Dramatiker u. Essayist. Aufgewachsen in Braunschweig, studierte der Bruder von Ricarda Huch in Heidelberg u. Göttingen Jura u. arbeitete seit 1888 als Rechtsanwalt u. Notar in Wolfenbüttel (bis 1897), Helmstedt (1915–1920) u. Bad Harzburg (1897–1915 u. ab 1920). Sein umfangreiches Werk ist durch die krit. Auseinandersetzung mit der Moderne bestimmt, der er eine Besinnung auf die literar. u. philosophische Tradition entgegenzusetzen suchte. Bereits die kultur- u. literaturkrit. Polemik der Glossen u. Aphorismen in den Schriften Mehr Goethe! (Lpz. 1899) u. Krisis
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(Mchn. 1904) spielt Schopenhauer u. Goethe gegen den Nietzsche-Kult einer modischen Décadence, gegen die Unterhaltungsliteratur, den Naturalismus u. das Berlinertum in Literatur, Musik und Kunst (Wolfenb. 1894) aus. Der Gleichzeitigkeit von Fortschritt u. kulturellem Verfall in der neuen Metropole Berlin stellt das erzählerische Werk seit dem Roman Aus dem Tagebuch eines Höhlenmolches (Lpz. 1896; Pseud. A. Schuster) das philiströse Selbstbewusstsein des Provinzbürgertums zur Seite. Die satir. Entlarvung bürgerl. Lebens-, Denk- u. Sprachgewohnheiten steht im Mittelpunkt der großen Entwicklungs- u. Gesellschaftsromane Die beiden Ritterhelm (Mchn. 1908), Familie Hellmann (Mchn. 1909), Die Rübenstedter (Mchn. 1910) u. des Schelmenromans Wilhelm Brinkmeyers Abenteuer (Mchn. 1911). Neben diesen humoristischen Werken u. den dramat. Versuchen der Jahrhundertwende, wie Der Menschenfreund (Wolfenb. 1895), Der Kirchenbau (Lpz. 1900) u. Krankheit (Lpz. 1903), entstanden Romane, die ihre literar. Qualität gerade der Gestaltung moderner Orientierungskrisen verdanken, denen eindeutige Lösungen verweigert werden: Der Bildungsroman Hans der Träumer (Lpz. 1903) verschärft die trag. Lebensschwäche des Protagonisten zu einer »Krankheit zum Tode«, der Titelheld des Reformationsromans Junker Ottos Romfahrt (Bln. 1914) verfällt einer ausweglosen Identitätsproblematik, der Konflikt von Geist u. Leben in dem Zeitroman Talion (Mchn. 1913) bleibt aporetisch. Hier schließen nach dem Ersten Weltkrieg die zeitkrit. Romane Das unbekannte Land (Lpz. 1920), Spiel am Ufer (Ebenhausen 1927) u. Anno 1922 (Hbg. 1929) an, in deren Pessimismus H.s Enttäuschung über die histor. Entwicklung u. über die geringe Resonanz seines literar. Engagements zum Ausdruck kommt. Im Kontext der Kulturkritik stehen auch die Erinnerungen Aus einem engen Leben (Lpz. 1924), Mein Leben (Bln. 1935) u. Mein Weg (Zeulenroda 1937). Mit seinem Antimodernismus u. dem völk. Antisemitismus des »Zwiegesprächs« Israel und wir (Bln. 1934) näherte sich H. um 1930 dem Nationalsozialismus (Aufnahme in die Deutsche Akademie der Dichtung 1933). Dem stehen jedoch der
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kompromisslose Skeptizismus seiner Romane u. seine Hommage an den Widerstand gegen jede Form von Opportunismus (Die Tragödie Bismarck. Herrsching 1938) ebenso entgegen wie der Tenor seiner Erinnerungen. Weitere Werke: Was liegt denn dran? Lebensbilder. Lpz. 1898. – Teufelslist. Eine Gesch. aus alter Zeit. Bln. 1900. – Kobolde im Bauernhaus. Ein Bühnenscherz. Lpz. 1901. – Preisturnier. Ein Renaissance-Drama. Bln. 1901. – Hohe Schule. Zwei N.n. Bln. 1901. – Der Frauen wunderl. Wesen. Bln. 1905 (R.). – Komödianten des Lebens. Bln. 1906 (R.). – Max Gebhard. Bln. 1907 (R.). – Dies u. das u. anderes. Mchn. 1912. U. d. T. Vom Diesseits u. Jenseits. Lpz. 1917. – Der tolle Halberstädter. Der Herr Kammerrat u. seine Söhne. Bln. 1918 (E.en). – Das Lied der Parzen. Lpz. 1920 (R.). – Humoristische E.en. Zeulenroda 1936. – Kilian u. die Kobolde. Bayreuth 1942 (E.). – William Shakespeare. Eine Studie. Hbg. 1942. Literatur: Hellmuth Langenbucher: R. H. In: Die Neue Lit. 34 (1933), S. 189–198 (mit Bibliogr.). – Dorothea Glaser: R. H., der Bürger. Diss. Wien 1942. – Hans Roth: Das Werk R. H.s. Ein Beitr. zur Problematik spätbürgerl. Dichtung. Diss. Jena 1967. – Hermann Weber: R. H. Im Schatten der Schwester oder Spätbürger im Widerspruch. In: Ders. (Hg.): Juristen als Dichter. Baden-Baden 2002, S. 97–139. Dirk Göttsche / Red.
Huchel, Peter, Taufname: Helmut, * 3.4. 1903 Lichterfelde (heute zu Berlin), † 30.4.1981 Staufen i. Br.; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Lyriker, Herausgeber. H.s Lebensgang u. Schaffensperiode sind exemplarisch für die geschichtlich-soziale Entwicklung des 20. Jh. Als Dreijähriger mit den Eltern (Friedrich, Beamter im Preußischen Kultusministerium; Maria) nach Potsdam gekommen (Abitur 1923), erlebte er sehr bewusst noch die vorindustrielle Welt des großelterl. Bauernhofs im nahen Alt-Langerwisch. 1920 im Kapp-Putsch (Freikorps) verwundet, teilte er das Krankenzimmer mit Arbeitern, die ihm den Anti-Kriegsroman Le Feu des frz. Kommunisten Henri Barbusse zu lesen gaben: »Von da an war ich vollkommen rot«, sagte er später leicht selbstironisch. Nach Literatur- u. Philosophiestudium in Berlin, Wien u. Freiburg (ohne Abschluss) schloss er Freundschaften in jüd. Kreisen:
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Ernst Bloch, Oscar Goldberg, Hans A. Joachim, Alfred Kantorowicz. Besonders wichtig wurde Willy Haas, für dessen »Literarische Welt« er, bis zur zwangsweisen Einstellung der Zeitschrift unter Hitler, Erzählungen u. Gedichte schrieb u. Redaktionelles erledigte. Längere Reisen führten ihn nach Paris, Südfrankreich, auf den Balkan. Durch die von Martin Raschke in Dresden herausgegebene »Zeitschrift für Dichtung« »Die Kolonne«, deren Lyrikpreis er 1932 erhielt, lernte er Günter Eich kennen. Durch ihn kam H. zum Rundfunk (Berlin), der 1933–1940 rund 20 Hörspiele von ihm sendete, so Die Magd und das Kind (1935), lyr. Evokation der Kindheitsgeborgenheit in der märk. Heimat, u. das große, Recht u. Menschlichkeit einklagende Blankvers-Hördrama Margarethe Minde (1939), in dem H. zum ersten Mal – mit dem von ihm dann in der DDR zur Meisterschaft entwickelten Mittel – Politisches im versteckten Zitat (Jes 1,21) verschlüsselt u. erhellt: »Die Stadt, / sie war voll Rechts, nun ist sie eine Mördergrube.« Schon 1931, in der Prosastudie eines NSMitläufers aus dem Kleinbürgertum (Im Jahre 1930) hatte er den Nationalsozialismus durchschaut. Einen ersten für den Jess-Verlag, Dresden, geplanten Lyrikband, Der Knabenteich, zog er kurz vor Drucklegung zurück, wohl weil er seine Kindheits- u. Landschaftsgedichte nicht als Blut- u. Bodendichtung missverstanden sehen wollte. 1934 heiratete er eine Rumäniendeutsche, Dora Lassel (eine Tochter), u. lebte – bis zur Einberufung zu einer Flak-Einheit bei Berlin – in Michendorf/Kreis Potsdam. Sowjetische Kulturoffiziere holten H. im Herbst 1945 aus dem Kriegsgefangenenlager in den Rüdersdorfer Kalkbergen zur Einrichtung einer Hörspielabteilung an den (Ost-)Berliner Rundfunk, dessen Sendeleiter u. künstlerischer Direktor er dann wurde. 1946 trennte er sich von Dora u. lebte mit Monica Rosenthal (Heirat 1953). 1948 erschienen Gedichte (Bln. u. Weimar), paradigmat. Kontrapunktierungen z.T. von Kindheitsidylle (17 Texte aus Der Knabenteich) u. Unbehaustsein auf den Fluchtwegen, den Chausseen von Krieg u. Vertreibung: »Wenn laut die schwarzen Hähne krähn, / vom Dorf
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her Rauch und Klöppel wehn, / rauscht ins Geläut rehbraun der Wald, / ruft mich die Magd, die Vesper hallt« (Die Magd). – »Auf der Chaussee, / den Schotter als Kissen, / vom Sturz zersplitterter Pappeln erschlagen / liegt eine Frau im schwarzen Geäst« (Der Rückzug). 1949 übernahm H., auf Wunsch von Johannes R. Becher, die Redaktion der neuen DDRKulturzeitschrift »Sinn und Form«, mit der H. eine bald auch gesamtdt. Leserschaft an die internat. Moderne heranführte. Seine eher humanistische als orthodox marxistische Editionspolitik erregte jedoch zunehmend offiziellen Unwillen. Nach wiederholten schweren Vorwürfen, u. a. auf der Bitterfelder Konferenz 1959, musste H. mit Heft 5/6 1962 aufgeben, druckte dort aber noch einige seiner berühmtesten u. politisch deutlichsten Gedichte: Der Garten des Theophrast, Traum im Tellereisen, Winterpsalm. Sein Leben war fortan das »des Verfemten, / der hinter der Mauer lebt« (Pe-Lo-Thien), isoliert, gemieden, bespitzelt. Nur im Westen, in den Sammelbänden Chausseen Chausseen (Ffm. 1963) sowie Die Sternenreuse (Mchn. 1967), ein leicht veränderter Nachdruck das Bandes Gedichte, konnten die z.T. herausgeschmuggelten Texte erscheinen. 1971, nach Intervention des internat. P.E.N., durfte H. mit Frau u. Sohn ausreisen, zunächst nach Rom (Villa Massimo). Die letzten Lebensjahre verbrachte er, mit vielen Preisen geehrt (u. a. FontanePreis, Österreichischer Staatspreis, EuropaliaPreis), in Staufen. Den Verlust der märk. Landschaft, »Urgrund« seiner Bildersprache, hat er nie verwunden. 1972 erschien der Gedichtband Gezählte Tage, 1979 der Band Die neunte Stunde (beide Ffm.). Eine vom Geschilderten nahegelegte Zweiteilung, die H.s Frühwerk auf die Begriffe »Naturlyrik« oder »Lehmann-Schule« bringen, die späteren Texte jedoch nach autobiografischen u. politisch dissidenten Inhalten befragen wollte, greift zu kurz. Erst die Konstanten erschließen das Werk als Ganzes. Zur Wichtigsten erklärte H. noch 1974 das Naturbild als Ausdrucksmittel: »ein großer Vorrat an ländlichen Bildern, [...] Metaphern [...], von dem ich heute noch zehre, [...] der eigentliche Urgrund des Schaffens.« Umgekehrt gilt, dass das später
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so prominente politisch-soziale Thema schon früh erscheint. Die Landschaft ist nicht, wie bei Wilhelm Lehmann, heile Welt u. unberührter Fluchtraum, sondern – darin Brecht näher stehend – eine vom Menschen belebte u. gestaltete, u. bleibt doch sachlich in ihrem indifferenten Sosein erfasst: »ich sah die grausame Seite der Natur, Fressen und Gefressenwerden, die Welt der Knechte, Mägde, Holzfäller, polnischer Schnitter [...]. Die Landschaft des Kindes war [...] auch ein sozialer Begriff.« Dieser Zug war es, den Johannes Bobrowski als Vorbild rühmte: »Da habe ich es her, Menschen in der Landschaft zu sehen.« H.s zyklisches, den Menschen in die Naturabläufe einbindendes Weltverständnis leitet sogar in dem umfangreichen, aber Fragment gebliebenen Hymnus auf die Bodenreform der frühen DDR Das Gesetz (in: Sinn und Form, H. 4, 1950, S. 127–136) den »Aufbau«-Optimismus weniger aus einer marxistischen Geschichtsvorstellung als aus dem ewigen Naturkreislauf her: »Aber noch dreht sich, [...] das alte Schöpfrad der Nacht.« Die Personifizierung des Naturzyklischen hatte H. nach eigener Aussage in den archaischen Mythen zur Erdmutter gefunden, dargestellt bes. im Werk J. J. Bachofens. Im Gegensatzpaar Demeter-Persephone gibt sie dem Gebären u. Verschlingen (Fressen und Gefressenwerden) Gestalt: »Uralte Mutter, die alles gebar« (Eine Herbstnacht) – »Die Abgründige kam, / stieg aus der Erde, / aufgleißend im Mondlicht« (Persephone). In diese Spannung reihen sich die Frauengestalten Magd, Frau, Alte, Greisin, Hexe u. ihre Attribute Mond, Kuh, Katze ebenso wie der tellurische Zeugungsgrund von Sumpf u. Teich, die H. bis zuletzt – nun Zeichen des Todes – mit seiner märk. Heimat verband: »Sie kommen wieder, [...] / durchtränkt / vom Schilfdunst märkischer Wiesen, / die wendischen Weidenmütter, / die warzigen Alten / mit klaffender Brust, / am Rand der Teiche.« (Ölbaum und Weide) Zum Sozialen u. Naturmythischen kommt als dritte Konstante schon in den Juvenilia die existenzielle hinzu. Aus der anfängl., z.T. noch im Rilke-Ton vorgetragenen Gottsuche (»Du Name Gott, wie kann ich dich begrei-
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fen? / Du schweigst bewölkt.« I, 265) wird bald Anklage (»Die Trän‘ der Welt, den Herbst von Müttern, / spürst du das noch, o Jesukind?« I, 67) u. schließlich Negation der Offenbarung: »Kein Himmel / reißt in Feuern auf, / wo die Gefangenen liegen / am Wasser Chebar« (I, 205; vgl. Hes. 1, 1–4). H.s letzter Bandtitel erhebt, mit Christi Worten in der »neunten Stunde«, die Frage nach der Gottverlassenheit. H. beantwortet sie mit Bildern der Vereisung u. Verfinsterung, der Entleerung u. Entzauberung (I, 246) u. setzt so eine Hauptströmung der europ. Lyrik des Transzendenzzerfalls fort. Der Vielschichtigkeit entspricht die heterogene Vorbildreihe, die H. selbst angibt: Augustinus, Pascal, Jacob Böhme, Thomas Müntzer, Büchner, Baudelaire, Rimbaud, Trakl. Besonders Böhmes Gedanke einer »inneren geistlichen Welt«, die »mit dieser sichtbaren Welt, als mit einem sichtbaren Gleichnis, offenbaret werde« (De Signatura Rerum) hat H.’s Weltbild u. poetische Technik – »das Bild als Gleichnis« (II, 310) – beeinflusst. In der resultierenden Zeichensprache transzendiert das sinnl. Erscheinende auf ein dahinter liegendes anderes, das sich erst im Nachgehen der Verweise auf Historie, Mythologie, Literatur u. Bibel erschließt. So transportiert in Ankunft (I, 177) das als Schlüssel gegebene Ephraim (»Weh der prächtigen Krone der Trunkenen von Ephraim.« Jes. 28,1) die märkisch-ländl. erscheinende Landschaft in den Zusammenhang der Zerstörung u. Teilung des alten Reiches Israel u. der Belagerung Jerusalems als Strafe für Sünde u. Abfall von Gott, Analogon für das Schicksal Deutschlands u. des geteilten Berlin. Hinter Natur u. Politik steht wiederum Existenzielles: Jesajas Gewissheit, ein »Geist« werde »den Unflat der Töchter Zion waschen und die Blutschuld Jerusalems vertreiben [...] und ein Feuer anzünden«, wird bei H. zur Frage: » Wer zündet [...] / das Feuer an?« Dieses sich versteckende u. lange verstecken müssende Sprechen umschreibt H. einmal: »Unter der Wurzel der Distel / Wohnt nun die Sprache« (I, 156). Dem ist jeder Text abgerungen: »Hier liegt einer, / Der wollte noch singen / Mit einer Distel im Mund« (I, 150). Sichtbar wird hier, neben dem Verweis, eine
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zweite, »das Bild als Gleichnis« konstituierende Technik: ein Naturbild und Einzelwort erst verständlich machendes, werkvernetzendes Zeichengeflecht, das immer mitgelesen werden muss, – so wenn man hinter den späten Zeilen »Eine Distel, / deren Gedächtnis der Wind zerfasert« (I, 216) das eigentl. Gemeinte erkennen will: die bescheidene Erwartung, die H. an das Nachleben seines Sprachkunstwerks richtet. Der hohe Schwierigkeitsgrad, bes. seiner hermet. Spätlyrik, sollte nicht davon abhalten, diese Erwartung Lügen zu strafen. Der Leser wird belohnt durch eine Lyrik, die an zeitl. Weite, an Erfahrungsbreite, an intensiver Bildtiefe u. künstlerischer Folgerichtigkeit zu den bedeutendsten im dt. Sprachraum seit den 1930er Jahren gehört. Weitere Werke: Hans Henny Jahnn, P. H. Ein Briefw. 1951–59. Hg. Bernd Goldmann. Mainz 1974. – Der Tod des Büdners. St. Gallen 1976. – Ges. Werke in 2 Bdn. Hg. Axel Vieregg. Ffm. 1984 (zitiert). – Gedichte. Ausw. u. Nachw. v. Peter Wapnewski. Ffm. 1989. – Johannes Bobrowski, P. H. Briefw. Hg. Eberhard Haufe. Marbach 1993. – P. H. Wie soll man da Gedichte schreiben. Briefe 1925–1977. Hg. Hub Nijssen. Ffm. 2000. Literatur: Otto F. Best (Hg.): Hommage für P. H. Mchn. 1968. – Hans Mayer (Hg.): Über P. H. Ffm. 1973. – Axel Vieregg: Die Lyrik P. H.s. Zeichensprache u. Privatmythologie. Bln. 1976. – Ders. (Hg.): P. H. Materialien. Ffm. 1986. – Ders.: The Truth about P. H.? In: GLL 41 (1988), Nr. 2, S. 159–183. – Hub Nijssen: Der heiml. König. Leben u. Werk von P. H. Würzb. 1995. – Christof Siemes: Das Testament gestürzter Tannen. Das lyr. Werk P. H.s. Freib. i. Br. 1996. – Peter Walther (Hg.): P. H. Leben u. Werk in Texten u. Bildern. Ffm. 1996. – Uwe Schoor: Das geheime Journal der Nation. Die Ztschr. ›Sinn u. Form‹. Chefredakteur P. H. 1949–1962. Würzb. 1998. – Cornelia Freytag: Weltsituationen in der Lyrik P. H.s. Ffm. 1998. – Stephen Parker: H. A Literary Life in 20th-Century Germany. Bln./Ffm. 1998. – Thomas Götz: Die brüchige Idylle. P. H.s Lyrik zwischen Magie u. Entzauberung. Ffm. 1999. – Knut Kiesant (Hg.): Die Ordnung der Gewitter. Positionen u. Perspektiven in der internat. Rezeption P. H.s. Bern/Bln./ Ffm. 1999. – A. Vieregg (Hg.): Wegzeichen. Ein Lesebuch. Potsdam-Wilhelmshorst 1999. – Stefan Wieczorek: Erich Arendt u. P. H. Kleine Duographie sowie vergleichende Lektüren der lyr. Werke.
Hudemann Marburg 2001. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): P. H. Mchn. 2003 (Text + Kritik. H. 157). Axel Vieregg
Hudemann, Henrich, * um 1595 Beidenfleth, † 1628 Wewelsfleth. – Evangelischer Theologe u. Lyriker.
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geblich um eine Edition der Divitiae bei den Elzeviers; die Embleme erschienen ohne Kupferstiche oder Holzschnitte), wurde schon von Rist nicht mehr erwähnt u. blieb bis zu seiner Wiederentdeckung durch Trunz vergessen. Ausgabe: Divitiae poeticae. Hbg. 1625. Internet-
Der Sohn eines Pastors studierte ab 1615 Ed.: UB Heidelberg. – Ausw. mit Übers. in: Thomas Theologie in Rostock. 1620 zurückgekehrt, Haye: Humanismus in Schleswig-Holstein. Kiel wurde er zweiter Geistlicher neben seinem 2001, S. 24–61. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Vater in Wewelsfleth, 1626 dessen Amtsnachfolger. Nach Einfall ligist. Truppen in Bd. 3, S. 2173 f. – Weitere Titel: Erich Trunz: H. H. Holstein 1627 hielt er bei seiner Gemeinde u. Martin Ruarus, zwei holstein. Dichter des aus; vermutl. wurde er von kaiserl. Offizieren Frühbarock (zuerst 1935). In: Ders.: Dt. Lit. zwischen Späthumanismus u. Barock. Acht Studien. vergiftet. Mchn. 1995, S. 287–349 (u. Register). – Ulrich H. korrespondierte mit Gelehrten wie Da- Moerke: Die Anfänge der weltl. Barocklyrik in niel Heinsius u. Johannes Meursius, war be- Schleswig-Holstein. H., Rist, Lund. Mit einem freundet mit dem Sozinianer u. Grotius- Textanhang: Briefe u. Gedichte von H. H., Johann Freund Martin Ruarus u. dem als Theosoph Rist u. Zacharias Lund. Neumünster 1972. – E. verfolgten Joachim Morsius. Wie diese per- Trunz: H. H. In: BLSHL 3 (1974), S. 159–161. – sönl. Beziehungen weisen ihn seine Edition David Halsted: Ships, The Sea and Constancy: A der Carmina gnomica graeca, et latina des Jo- Classical Image in the Baroque Lyric. In: Neoph. 74 hannes Caselius (Hbg. 1624) u. seine eigene (1990), S. 545–560. – Estermann/Bürger, Tl. 2, Freundschaftslyrik (Divitiae Poeticae. Hbg. S. 781. Dieter Lohmeier / Red. 1625) als Angehörigen der späthumanistischen Gelehrtenrepublik aus. Hudemann, Ludwig Friedrich, * 3.9.1703 Bemerkenswert ist H. vor allem, weil er Friedrichstadt/Nordfriesland, † 16.2. früh eine der lateinischen gleichrangige dt. 1770 Hennstedt/Norderdithmarschen. – Kunstlyrik anstrebte; seine Vorbilder fand er Jurist, Lyriker, Dramatiker, Übersetzer. dabei bes. in der zeitgenöss. Literatur der Niederlande. Bereits seiner Caselius-Ausgabe H. studierte ab 1722 in Hamburg am Akadegab er drei eigene dt. Gedichte bei. Die Divi- mischen Gymnasium, ab dem 11.5.1725 Jura tiae enthalten u. d. T. Musa Patria, Teutsche in Halle, danach in Leipzig (24.2.1727) u. ab Musa auch ein – bereits vor der Veröffentli- Juni 1730 schließlich in Kiel, wo er im selben chung von Opitz’ Buch von der deutschen Poete- Jahr mit einer Dissertatio inauguralis prudentiae rey geschriebenes – Buch dt. Gedichte. H., der legislatoriae specimen exhibens (Praes.: Franz sich als »eigenständigen Erneuerer dt. Dich- Ernst Vogt) zum Dr. jur. promoviert wurde. tung« (Moerke) begriff, verband in ihnen Er bereiste die Niederlande u. Frankreich, kulturpatriotische Gedanken mit traditio- privatisierte einige Jahre in Hamburg, hielt nellen Argumenten zum Lob der Poesie. In sich 1734 u. 1736 in Schleswig auf u. ließ sich der häufigen Anlehnung an lat. Syntax u. der als Anwalt in Hennstedt nieder, wo er heiraBevorzugung eines noch nicht alternierenden tete (sechs Kinder). H. war Mitgl. der dt. GeAlexandriners wirken H.s Verse unbeholfen. sellschaften zu Greifswald, Leipzig (1736) u. Das erste dt. Emblembuch in Alexandri- Göttingen (1753). Enge Freundschaft vernern ist H.s Hirnschleiffer. Das ist: Außerlesene band ihn mit Johann Mattheson. Gedichte teutsche Emblemata (o. O. [Hbg.] 1626). Seine H.s deuten auf Verbindungen zu Brockes u. wichtigste Quelle waren neben dem Hiren Michael Richey. schleiffer des Aegidius Albertinus die erot. In Hamburg hatte H. als anakreont. DichEmbleme des Heinsius. ter u. Verteidiger der Oper gegen Gottsched H., dessen Werke nur unvollkommen ge- begonnen. Er wurde jedoch selbst Gottschedruckt wurden (Heinsius bemühte sich ver- dianer, übersetzte Werke von Racine u.
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schrieb eigene klassizistische Tragödien. Im Sinne Gottscheds u. Schönaichs unterstützte er Georg Volquarts’ Polemik gegen Klopstocks Messias u. schrieb später selbst geistl. Epen, die sich, obwohl anfangs nicht ohne Wirkung, mit Klopstock’scher Dichtung nicht messen konnten, vielmehr einen Rückfall in die von H. selbst überwunden geglaubte Poesie der Lohenstein’schen Schule glichen. Den Gedichten seiner Harmonischen Belustigungen des Geistes (Wismar/Lpz. 1749) liegen Melodien des dem Gottsched-Kreis nahestehenden Johann Friedrich Gräfe (1711–1787) zugrunde. Von Daniel Heinsius übersetzte H. Vier Bücher von der Verachtung des Todes (Wismar/Lpz. 1749. Rostock 21755). Weitere Werke: Oratio de spectaculis [...]. Schleswig 1735. – Der Brudermord des Kains. Ein prosaisches Trauerspiel. Bützow/Wismar 1765. – Der Tod Johannes des Täufers. Ein Trauersp. Bützow 1770. Literatur: Bibliografie: Bibliogr. dt. Übers.en aus dem Französischen 1700–1948. Bearb. Hans Fromm. 6 Bde., Baden-Baden 1950–53. Nachdr. Nendeln 1981 (Register). – Weitere Titel: Johann Heinrich Fehse: Versuch einer Nachricht v. den evang.-luth. Predigern in dem Nordertheil Dithmarschens [...]. Stück 11, Flensburg 1772, S. 791–798. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 3, Hbg. 1857, S. 385–391 (mit vollst. Werkverz.). – Carsten Erich Carstens: L. F. H. In: ADB. – Albert Malte Wagner: Klopstock u. Holstein. In: Ztschr. für Schleswig-Holstein. Gesch. 56 (1927), S. 253–270. – Frels, S. 143. – Robert R. Heitner: German tragedy in the age of enlightenment [...]. Berkeley 1963. – Alberto Martino: Gesch. der dramat. Theorien in Dtschld. im 18. Jh. I [...]. Tüb. 1972 (Register). Jürgen Rathje / Red.
Hueber, Fortunatus, bürgerlich: Adam H., * 21.11.1639 Neustadt/Donau, † 12.2. 1706 München. – Franziskaner; Verfasser geistlicher Schriften u. Übersetzer. H. trat 1654 in Landshut in den Franziskanerorden ein. Er wirkte 1671–1687 als Domprediger in Freising, ferner als Provinzial, Generaldefinitor u. Generallektor u. bereiste als Generalkommissar die böhm., ungar. u. tirolische Provinz. Vom Besuch des Generalkapitels in Toledo soll er ein Tagebuch hinterlassen haben. Mit seinen weitreichenden
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Erfahrungen diente er Fürstbischof Joseph Clemens, Herzog von Bayern u. Kurfürst zu Köln, als persönl. Ratgeber. Zu den bedeutenderen Werken H.s gehört das im Zeichen der Marienverehrung in Bayern u. Böhmen stehende Mirakelbuch Zeitiger Granat-apfel der allerscheinbaristen Wunderzierden in denen wunderthätigen Bildsaulen Unser L. Frawen (Mchn. 1671. Nachdr. hg. v. Guillaume van Gemert. Amsterd. 1983). Naturwissenschaftliche Kenntnisse u. poetische Begabung bewies er in der Ornithologia moralis, per discursus praedicabiles (2 Tle., Mchn. 1678), einer dem Physiologus nachempfundenen Vogelkunde mit allegor. Ausdeutung auf Tugenden u. Laster. Darin finden sich neben lat. Lyrik auch dt. Gedichte, Sprichwörter u. sprichwörtl. Redensarten. Sein Interesse an der Kloster- u. Missionsgeschichte hatte H. schon 1670 mit der Schrift Unsterbliche Gedächtnus der vortrefflichen Geschichten, heiligen Stifftungen und wunderlichen Stands Veränderungen, welche dem bayrischen hohen Alter haben eingedruckt die [...] Hölden von Thaurn, Andechs und Hohenwarth (Ingolst.) an den Tag gelegt. Als offiziell bestellter »Geschicht-Schreiber« brachte er eine Dreyfache Chronickh von dem dreyfachen Orden deß grossen H. Seraphinischen Ordens-Stiffters Francisci (Mchn. 1686) zum Druck, die laut Titelblatt »Ober: und Nider Teutschland«, auch die »angrentzenden Länderen« umfasste. Alle »underloffnen wichtigen Geschichten, Veränderungen, Würckungen und Denckwürdigkeiten« hatte H. aus für ihn erreichbaren »Schrifft-Läden oder Archiven« zusammengetragen. Dafür wurde er 1698 zum »Scriptor Ordinis« ernannt. Weitere Werke: Quadruplex theologia ad mentem subtilis doctoris Ioannis Duns Scoti [...]. Praes.: F. H. Ingolst. 1666. – Newes Wunder-Liecht u. weltberühmbter Himmelsglantz, von der seraphischen Flammen S. Francisci bestrahlet, u. scheinbar außgegossen. Durch die gantze römischcatholische, allein seeligmachende Kirchen, im Leben, Tugend, Gnadenwahl u. Wunderwercken, deß grossen Freund Gottes u. heiligen Petri von Alcantara [...]. Mchn. 1669. – Primus et secundus homo in mundum prolatus et disputationi theologicae expositus ad mentem subtilis doctoris Joannis Duns Scoti [...]. Praes. F. H. Ingolst. 1670. – Stammenbuch: Oder ordentliche Vorstellung u.
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jährliche Gedächtnuß aller Heyligen, Seeligen, Vortrefflichen, Wunderthättigen, Himmelswürdigen [...] von Anfang biß zu jetzigen Zeiten [...]. Mchn. 1693. – Menologium, seu brevis, et compendiosa illuminatio, relucens in splendoribus sanctorum, beatorum, miraculosorum, incorruptorum [...]. Mchn. 1698. Ausgaben: Textausw. in: Bayer. Bibl. [...]. Bd. 2. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1986, S. 420–422, 436–439, 1077–1084, 1260, 1320 f. – Übersetzungen: Petrus de Alcántara: Seraphische Lehrschuel der geistl. Ubungen [...] in span. Sprach auffgerichtet [...] jetzt aber [...] ans teutsche Liecht gebracht [...]. Mchn. 1670. Nachdr. Wildberg 1994 (MikroficheAusg.). – Dass. in: Digital mysticism & theology 16th-19th centuries. Boyle 2002 (CD-ROM). Literatur: Bibliografien: Bernardin Lins: Scriptores provinciae bavariae fratrum minorum [...]. Florenz 1954. – VD 17. – Weitere Titel: Edmund Frh. von Oefele: F. H. In: ADB. – Parthenius Minges: Gesch. der Franziskaner in Bayern. Mchn. 1896. – Rudolf Birkner: Dt. Gedichte u. Sprüche aus des F. H. Ornithologia moralis. In: Frisinga 10, Nr. 15 (1933), S. 2. Nr. 16, S. 1–4. – Friedrich Wilhelm Bautz: F. H. In: Bautz.
folgten, eine Parodie auf Aloys Blumauers Travestie der Äneide Vergils. Wenn auch das Werk insg. gescheitert ist u. Blumauers Propaganda für eine gemäßigte Aufklärung nicht intendiert war, so gibt es doch gelegentlich aufrührerische Töne gegen Fürstenwillkür. – 1791 veröffentlichte H. eine aus dem Rahmen fallende grobianische Geschichte, B...r der Schieferdecker, nicht Falstaff, nicht Eulenspiegel, sondern Er (Stgt.); in dieser wird sehr viel getrunken, gegessen u. unmäßig geflucht. 1799 erschien (Petersburg, Stgt., London) die Sammlung satir. Gedichte Johann Martin Spasser’s Hofnarren und Hofpoeten [...] Pritschenschläge. Die Verse fließen meist beliebig, u. gelegentlich wird für die »deutsche Freiheit« u. gegen die »Neufranken« geeifert. Weitere Werke: Gesch.n u. Ursachen der holländ. Unruhen. Ffm./Lpz. 1786. – Scizze des 18. Jh. Braunschw. 1801. Literatur: Rudolf Krauß: Schwäb. Litteraturgesch. Bd. 1, Freib. i. Br., S. 254. Peter Fischer
Elfriede Moser-Rath † / Red.
Hübner, Eberhard Friedrich, * 17.12.1763 Neuenstadt an der Linde/Württemberg, † 22.4.1799 Stuttgart. – Erzähler u. Lyriker. H. wurde schon 18-jährig Unterlehrer für Latein u. Griechisch an der Karlsschule. Hier hörte er auch juristische Vorlesungen u. promovierte zum Doktor der Rechte. Nach Auflösung der Hohen Karlsschule 1794 erhielt er die Stelle eines Regierungsregistrators in Stuttgart, dann die eines Regierungssekretärs. Gedichte von H. erschienen 1786 u. 1793 im »Schwäbischen Musenalmanach«. Dazu gesellte sich eine Sammlung Vermischte Gedichte (2 Bde., Stgt. 1788–91). Hier versuchte er, ohne nennenswerten Erfolg, Wieland u. Bürger nachzueifern. 1788/89 folgte Franz von der Trenk, Pandurenobrist [...]. Mit einer Vorrede und Familiengeschichte von Schubart (3 Bde., Stgt.). H. machte aus dem üblen Haudegen Trenck (1711–1749) einen »ächten teutschen Mann«, der gleichzeitig empfindsamer Held ist. – Verwandelte Ovidische Verwandlungen ad modum Blumaueri (5 Bücher, Stgt. 1790–92)
Huebner, Friedrich Markus, * 12.4.1886 Dresden, † 24.5.1964 Amsterdam. – Lyriker, Epiker, Dramatiker, Philosoph, Übersetzer, Kunsthistoriker. H. studierte Philosophie u. Kunstgeschichte in Lausanne, Heidelberg, Berlin u. Straßburg u. ging nach der Promotion zum Dr. phil. u. dem Wehrdienst in die Niederlande, wo er ab 1920 in Den Haag u. später in Amsterdam als Schriftsteller, Publizist u. Privatgelehrter lebte. Der außerordentlich produktive H. war Mitarbeiter der Zeitschriften »Cicerone«, »Weltkunst« u. »Kunst«, schrieb Romane, Gedichte, Dramen, Essays, philosophische Schriften u. übersetzte u. a. Werke von Felix Timmermans u. Jan van Ruisbroeck aus dem Niederländischen. Als Kunsthistoriker beschäftigte er sich mit der niederländ. Malerei, bes. der Romantik. Von rezeptionsgeschichtl. Bedeutung ist H.s philosophische Schrift Zugang zur Welt. Magische Deutungen (Lpz. 1929). Auszüge aus dieser neoromant. Abhandlung wurden in der »Kolonne« veröffentlicht; das hier entworfene »magische Weltbild« hat Autoren des »Kolonne-Kreises« wie Martin Raschke, Horst Lange, Oda Schäfer, Elisabeth
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Langgässer, Günter Eich u. Peter Huchel beeinflusst. Weitere Werke: Nichts ist ganz wahr. Heidelb. 1927 (Schausp.). – Peregrina. Maastricht/Weimar 1932 (G.). – Zeichensprache der Seele. Kampen 1933. St. Goar 2007 (Ess.). – Satan im Tulpenfeld. Bln. 1935 (R.). – Sterne über Amsterdam. Bln. 1939 (R.). – Wann war gestern? Bln. 1941 (R.). – Seel. Wetterkunde. Winke für die Erkenntnis unserer Plus- u. Minus-Tage. Mchn. 1962. Literatur: Guillaume van Gemert: Das Niederlandebild in F. M. H.s Romantrilogie ›Im Lande der Windmühlen‹. In: Gunter E. Grimm, Wilhelm Amann u. Uwe Werlein (Hg.): Annäherungen. Münster u. a. 2004, S. 133–145. – Christiaan Janssen: Der Kulturvermittler F. M. H. Kunst, Lit. u. die richtige Lebensführung. In: Jattie Enklaar u. Hans Ester (Hg.): Im Schatten der Literaturgesch. Autoren, die keiner mehr kennt? Plädoyer gegen das Vergessen. Amsterd.New York 2005, S. 173–191. Michael Scheffel / Red.
Hübner, Johann, * 15.4.1668 Türchau bei Hirschfeld/Oberlausitz (heute: Tuvoszów), † 21.5.1731 Hamburg. – Pädagoge, Polyhistor. H.s Vater, ein Dorfrichter, war Sohn eines wegen Glaubensschwierigkeiten aus Nordböhmen geflohenen Protestanten. 1678–1688 besuchte H. das Gymnasium in Zittau, dessen Rektor Christian Weise ihn in sein Haus aufnahm. 1688 ging H. zum Studium der Theologie nach Leipzig; bereits 1691 legte er das Magisterexamen ab u. begann (außerordentlich erfolgreich), als Universitätslehrer v. a. in den »politischen« Disziplinen zu wirken. 1693 erschien mit Kurtze Fragen aus der neuen und alten Geographie (Lpz.) sein erstes Lehrbuch, das es auf über 50 Auflagen brachte. 1694 wurde er Rektor des Merseburger Gymnasiums; von 1711 bis zu seinem Tod leitete er das Hamburger Johanneum. H. war einer der wegweisenden Popularaufklärer des frühen 18. Jh.; seine Bücher vermittelten der aufsteigenden bürgerl. Elite einen wichtigen Teil des nötigen Orientierungswissens. H.s bes. Fachgebiete waren »Politik« (also Geschichte, Geografie, Genealogie, Staatenkunde), Religion u. Rhetorik; seine eigentl. Kennerschaft lag auf dem Feld der polit. Geografie. Den Schwerpunkt seiner
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Schriften bildeten Realien u. Gegenwartsprobleme; der didaktisch-prakt. Aufbereitung des Wissens zu systemat. Speichern galt seine ganze Aufmerksamkeit. Seine deutsch geschriebenen, häufig in Frageform gebrachten Darstellungen des gelehrten Wissens erreichten sensationelle Auflagenhöhen, wurden in die wichtigsten europ. Sprachen übersetzt u. bis ins ausgehende 18. Jh. eifrig benutzt. Ein bes. Verdienst kommt H.s farbiger u. übersichtl. Gestaltung von Landkarten zu. Zudem gilt er als einer der frühen Vertreter der »sokratischen« Lehrmethode. Weitere Werke: Dissertatio logico-oratoriopolitica de dilemmatibus politicorum [...]. Praes.: Magister J. H. Lpz. 1691. – Dissertatio de prudentia ex historiarum lectione comparanda [...]. Praes.: J. H. Lpz. 1694. – Poetisches Hdb., das ist, ein vollst. Reim-Register, nebst einem ausführl. Unterricht v. den dt. Reimen [...]. Lpz. 1696 u. ö. – Gründl. Vertheidigung der kurtzen Fragen aus der neuen u. alten Geographie wider M. Martin Grünwalden [...]. Lpz. 1696. – Kurtze Fragen aus der polit. Historia, den Lehrenden u. Lernenden zur Erleichterung aufgesetzet. Lpz. 1697. – Kurtze Fragen aus der polit. Historia [...]. 10 Tle., Lpz. 1698–1707 u. ö. (Tl. 10 u. d. T.: Kurtze Einleitung zur polit. Historia [...]). Zahlreiche Suppl.e 1708/ 09 ff. in verschiedenen Aufl.n. – Des frommen Thomae v. Kempis Todes-Betrachtung [...]. Lpz. 1700 u. ö. – Kurtze Fragen aus der Oratoria [...]. Lpz. 1701. – Drey hundert u. drey u. dreyßig genealog. Tabellen, nebst denen darzu gehörigen genealog. Fragen, zur Erläuterung der polit. Historie [...]. Lpz. 1708 u. ö. – Kleiner Atlas scholasticus [...]. Nürnb. 1710. – Museum geographicum [...]. Lpz. 1712 u. ö. – Reales Staats-, Zeitungs- u. Conversationslexikon [...]. Lpz. 51711. – J. H., Johann Albert Fabricius u. Michael Richey: Hamburgische Bibliotheca historica [...]. 11 Bde., Lpz. 1715–29. – Des frommen Thomae a Kempis goldnes Büchlein v. der Nachfolge Jesu Christi aus dem lat. Original in dt. Verse übersetzet von J. H. Lpz. 1727 u. ö. Ausgaben: Curieuses Natur- Kunst- Gewerck- u. Handlungs-Lexicon. Lpz. 1712 (in H.s Mentorschaft). Mikrofiche-Ed. aller deutschsprachigen Ausg.n. Erlangen 1995. – Neu-vermehrtes poet. Hand-Buch [...]. Lpz. 1712. Nachdr. Bern 1969. – Zweymal zwey u. funffzig auserlesene bibl. Historien [...]. Lpz. 1714. 1731. Nachdr. mit einer Einl. u. einem theologie- u. illustrationsgeschichtl. Anhang hg. v. Rainer Lachmann u. a. Hildesh. 1986. –
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Christ-Comoedia. Ein Weihnachtsspiel. Hg. Friedrich Brachmann. Bln. 1899. Nachdr. Nendeln 1968.
heraus, außerdem das Jahrbuch für Dichtung »Speichen« (Bln. 1971).
Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Bibliotheca Hübneriana, sive Catalogus librorum a Johanne Hübnero [...] relictorum [...] qui [...] publice divendentur. Hbg. 1731. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 3, Hbg. 1857, S. 413–419. – Heinrich Kämmel: J. H. In: ADB. – Friedrich Brachmann: J. H., Johannei Rector 1711–1731 [...]. Hbg. 1899. – Frels, S. 143. – Heiduk/Neumeister, S. 57, 192 f., 385 f., 545. – Günter Mühlpfordt: Popularaufklärung als Bildungsmacht. J. H.: Werk u. Wirkung im 18. Jh. In: Gesellsch. u. Kultur Rußlands in der 2. Hälfte des 18. Jh. Tl. 2, Halle 1983, S. 232–264. – Christine Reents: Die Bibel als Schul- u. Hausbuch für Kinder [...]. Gött. 1984. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 231–259, 1423–1432, Register. – Walther Killy: Große dt. Lexika u. ihre Lexikographen, 1711–1835: Hederich, H., Walch, Pierer. Mchn. u. a. o. J. (1993). – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 14 (31998), S. 129 f. – Rainer Lachmann: Bebilderungen u. Bebilderungstraditionen zu J. H.s Biblischen Historien. In: Illustrationen in Kinderbibeln, v. Luther bis zum Internet. Hg. Gottfried Adam. Jena 2005, S. 55–116. – C. Reents: Bildung durch bibl. Historien am Beispiel von J. H.: Zur Verbürgerlichung bibl. Gestalten. In: Kinderbibeln. Ein Leseu. Studienbuch. Hg. G. Adam u. a. Wien 2006, S. 43–49. Uwe-K. Ketelsen / Red.
Weitere Werke: Fährte u. Lichtung. Bln. 1959 (L.). – Stern auf der Schwelle. Bln. 1971. Aachen 1992 (L.). – Vororte der Liebe. Mit Lithographien v. Mikos Meininger. Hg. Maximilian Barck. Bln. 1999. – Angel u. Fuß. Mit Radierungen v. Frank Siewert. Aus dem Nachl. zusammengestellt v. Jürgen Brôcan u. a. Bln. 2002.
Hübner, Johannes, * 27.9.1921 Berlin, † 11.3.1977 Berlin. – Lyriker u. Übersetzer. Der in Berlin lebende H. machte in den 1950er u. 1960er Jahren durch seine Übersetzungen von Werken Maurice Blanchots u. der surrealistischen Lyriker René Char u. Paul Éluard wichtige Vertreter der neueren frz. Moderne in dt. Sprache zugänglich. Auch mit seinen eigenen Gedichtbänden Spielraum (Heidelb. 1955), Herren der Gezeiten (Pfullingen 1960) u. Zwischen den Feuern (Bln. 1976) steht er in der Tradition der frz. Moderne. Die Gedichte sind in freien Versen, manchmal in lyr. Prosa gehalten u. bedienen sich einer modernistischen, aber unpathet. Metaphorik. Ihre Themen reichen von Natur u. Liebe bis zu Problemen der polit. Gegenwart. H. gab auch Gedichtsammlungen von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau u. Éluard
Literatur: Lothar Klünner (Hg.): Im Spiegel. J. H. zum Gedenken. Bln. 1983. Matías Martínez / Red.
Hübner, Lorenz, * 2.8.1751 Donauwörth, † 9.2.1807 München. – Katholischer Aufklärer, Publizist, Dramatiker. Der Sohn eines Feldwebels trat 1768 in die Gesellschaft Jesu ein, der er bis zur Aufhebung des Ordens 1773 angehörte, studierte Philosophie, Theologie u. Jurisprudenz in Ingolstadt (1770–1774, 1773 Dr. phil.) u. empfing 1774 die Priesterweihe. Danach wirkte er als Lehrer für Französisch u. Italienisch, ab 1776 als Prof. der Rhetorik u. Moralphilosophie am kurfürstl. Gymnasium in Burghausen/Oberbayern. 1779 übernahm er die Redaktion der »Münchner Zeitung« (ab 1780 »Münchner staats-, gelehrte, und vermischte Nachrichten«), die er in aufklärerischer Absicht zu einem modernen Organ umgestaltete. Zu einem ausgedehnten Wohnungs- u. Stellenmarkt für Dienstboten traten literar. Beiträge (im sog. Samstagsblatt, ab 1782) u. Buchbesprechungen, gelehrte Nachrichten sowie Nachrufe auf verstorbene Schriftsteller (im Beiblatt »Gelehrte Zeitung«, ab 1783). Das erwachende Interesse an vaterländ. Historie spiegeln Ritter- u. Patriotendramen (Hainz von Stain der Wilde. Mchn. 1782), die am Nationaltheater in München aufgeführt wurden. Unter dem wachsenden Druck der Reaktion im Kurfürstentum Bayern zog sich H. Ende 1783 in das Erzstift Salzburg zurück, wo er mit der »Oberdeutschen Staatszeitung« (Salzb. 1784–99) ein Medium herausgab, das gleichermaßen ökonomisch-lebensprakt. (Volks-)Erziehung u. kulturell-nationaler Selbstverständigung diente; hinzu kam eine
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krit. Berichterstattung über polit. u. kirchl. burg. In: Gesch. Salzburgs. Bd. 2,1. Hg. Heinz Zeitumstände, die 1787 in Bayern zum Ver- Dopsch u. Hans Spatzenegger. Salzb. 1988, bot der beliebten Zeitung führte. Im Bestre- S. 434–441. – Michael Schaich: Staat u. Öffentben, der Literatur oberdt. Territorien im Be- lichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. Mchn. 2001. – Manfred Knedlik: L. H. In: wusstsein der aufgeklärten Öffentlichkeit zu Bautz. Manfred Knedlik größerer Geltung zu verhelfen, gründete H. die »Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung« (Salzb. 1788–99, Mchn. 1800–12), die Hübner, Tobias, * 5.4.1578 Halle, † 5.5. sich zum bedeutendsten Rezensionsorgan im 1636 Dessau. – Übersetzer u. Dichtungskath. Deutschland entwickelte. Als Gegen- theoretiker. stück zur »Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung« verfolgte das Blatt die Absicht, die Als Sohn eines adligen anhaltischen Kanzlers kulturellen Fortschritte in den von (»protes- studierte H. nach dem Besuch des Zerbster tantischen«) Rezensenten gemeinhin als Gymnasium illustre (u. einer pro forma Imrückständig eingeschätzten kath. Territorien matrikulation in Leipzig im Sommer 1587) ab zu dokumentieren. Weniger erfolgreich war Okt. 1596 in Frankfurt/O. bei Elias Röber u. hingegen H.s Versuch, »die Freude an der ab dem 7.8.1600 in Heidelberg bei Reinhard edlen Dichtkunst« mit einer eigenen Blüten- Bachovius Jurisprudenz. Danach erwarb er in lese »zu wekken«; der Salzburger Musenalma- Frankreich Kenntnisse der romanischen nanach (1788) musste bereits nach zwei Bän- Sprachen. 1608–1610 begleitete H. als Hofden sein Erscheinen einstellen. Seine aufklä- meister den Erbprinzen Joachim Ernst von rerische Moral artikulierte sich auch in einer Anhalt-Dessau zum Studium in die Schweiz Reihe von historisch-topografischen Schrif- (Immatrikulation in Genf am 18.8.1608) u. ten (Beschreibung der [...] Haupt- und Residenz- nach Frankreich (Saumur). Nach Tätigkeiten stadt Salzburg. 2 Bde., Salzb. 1792/93), die bei Hof in Ansbach kehrte er im Sept. 1613 dokumentarischen Ehrgeiz u. nationalerzie- nach Dessau zurück, war zunächst Hofmeisherische Bestrebungen miteinander verbin- ter des Prinzen, später Kanzler u. geheimer Rat. 1619 wurde er als »Der Nutzbare« das den. 25. Mitgl. der Fruchtbringenden GesellDer Regierungsantritt des bayerischen schaft. Kurfürsten Max IV. Joseph bedeutete eine H.s Werk steht zwischen Früh- u. HochVeränderung des polit. Klimas, so dass H. barock. Eine erste Werkgruppe (1612–1615) 1799 nach München zurückkehren konnte, umfasst Aufzüge zu höf. Festen, Ritterspiele wo er in die Bayerische Akademie der Wisalso, welche Stoffe der span. Hofkultur mit senschaften aufgenommen wurde. Als HerAllegorien der klass. Mythologie in Prosa ausgeber des »Baierischen Wochenblatts« oder in versmetr. Form behandeln. Die zweite (Mchn. 1799–1807) führte er die publizistiWerkgruppe steht in Zusammenhang mit sche Aufklärungsarbeit bis zu seinem Tod den Bestrebungen der Fruchtbringenden fort. Gesellschaft. H. übersetzte das SchöpfungsWeitere Werke: Camma, die Heldinn Bojoari- epos La Sepmaine ou Création du Monde des ens. Mchn. 1784 (Schausp.). – Lebensgesch. Josephs Calvinisten Guillaume de Saluste sieur Du II. Kaisers der Deutschen oder Rosen auf dessen Bartas (Paris 1578. 2. Tl. zuerst 1584). Nach Grab. 2 Bde., Salzb. 1790. – Beschreibung des vereinzelten Vorläufern setzte er mit seinen Erzstiftes u. Reichsfürstenthums Salzburg. 3 Bde., Salzb. 1796. Faks.-Ausg. Salzb. 1983. – Reise durch sprach- u. versgetreuen Übersetzungen den das Erzstift Salzburg zum Unterricht u. Vergnü- Alexandriner im dt. Sprachbereich durch. H.s gen. Salzb. 1796. Neudr. Salzb. 2000. – Beschrei- Versbehandlung begnügt sich mit einem bung der kurbaier. Haupt- u. Residenzstadt. 2 wägenden Prinzip, das mechanisch Silbenzahl, Zäsur u. Endreim in Übereinstimmung Bde., Mchn. 1803–05. Literatur: Heide Ruby: L. H. Leben u. Werk. mit dem übersetzten Original hervorhebt. Diss. Wien 1966. – Manfred Brandl. L. H. In: NDB. Diese Leistung wurde ab 1624 durch die – Ludwig Hammermayer: Die Aufklärung in Salz- Opitz’sche Reform überboten. Bedeutend für
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die Herausbildung einer dt. Barockliteratur ist H.s Wahl hoher Stoffe, der Einsatz hochbarocker Stilmittel u. die Vermeidung von Fremdwörtern. Weitere Werke: Wilhelms von Saluste Herrn v. Bartas Reimen-Gedichte genand die Alt-Väter. Köthen 1619 (Les Pères). – La seconde sepmaine [...]. Die andere Woche Wilhelms v. Saluste [...]. Köthen 1622 (Teilabdr. der Vorrede bei Wagenknecht). – Wilhelms v. Saluste [...] Erste Woche, v. Erschaffung der Welt [...]. Lpz./Köthen 1631. 1641. 1661. – Die erste u. andere Woche Wilhelms v. Saluste [...]. Köthen 1640 (noch v. H. verb., v. Fürst Ludwig v. Anhalt-Köthen u. Diederich v. dem Werder postum verm. Gesamtausg.). Ausgaben: Beschreibung der Reiß: Empfahung deß Ritterl. Ordens: Vollbringung des Heyraths [...] Friederichen deß Fünften [...] mit [...] Princessin / Elisabethen [...]. Heidelb. 1613. Internet-Ed.: HAB. – Cartel, Auffzüge, Vers u. Abrisse, so bey der fürstl. Kindtauff [...] zu Dessa [...] 1613 [...] praesentiret worden [...]. Lpz. 1614. Internet-Ed.: HAB. – Abbildung u. Repraesentation der fürstl. Inventionen, Auffzüge, Ritter-Spiel, auch Ballet, so [...] bey [...] Georg Rudolph, Hertzogen in Schlesien [...] mit [...] Sophia Elisabeth [...] hochzeitl. Frewdenfest [...] seyn gebracht [...] worden [...]. Lpz. 1615. Internet-Ed.: HAB. – La vocation oder der Beruff Wilhelms v. Saluste [...]. Köthen 1619. InternetEd.: HAB. – L’Uranie. La Judith [...] etc. de Guillaume de Saluste [...]. Das ist: Die himml. Musa: Die History v. Judith [...]. Köthen 1623. InternetEd.: HAB. – Wilhelms v. Saluste [...] Uranie oder himml. Muse [...]. Köthen 1641. Internet-Ed.: HAB. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft [...]. Reihe I (Briefe der FG u. Beilagen), Abt. A: Köthen, Bd. 1–4 (1617–1638). Hg. Klaus Conermann. Tüb. 1992–2006 (Register), bes. Bd. 3, S. 306–328, 543–578. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2175–2183. – VD 17. – Weitere Titel: Johannes Hofmeister: Klag- u. Trost Predigt, bey der [...] Leichbegängnüß deß [...] T. H. [...]. Zerbst 1636. – Ernst Höpfner: Reformbestrebungen auf dem Gebiete der dt. Dichtung des XVI. u. XVII. Jh. Bln. 1866. – Ferdinand Siebigk: T. H. In: ADB. – Georg Witkowski: Diederich v. dem Werder. Lpz. 1887. – James MacLellan Hawkes: T. H., a study in the beginnings of modern German poetic style. Diss. Cambridge 1942. – Christian Wagenknecht: Weckherlin u. Opitz. Mchn. 1971. – Jörg Ulrich Fechner: T. H.s Renaissancevers. In: Jb. Int. Germ., Reihe A, Bd. 2,3, Bern/Ffm. 1976, S. 110–118. – Heiduk/Neumeister, S. 57, 193, 386 f., Register. – Gerhard Dünnhaupt: Die Fürstl. Druckerei zu Kö-
630 then. In: AGB 20 (1979), Sp. 895–950. – Conermann FG, Bd. 3, S. 27–29. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 684. – Erich Trunz: Dt. Lit. zwischen Späthumanismus u. Barock. Acht Studien. Mchn. 1995 (Register). – Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Die europ. Akademien der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Klaus Garber u. a. 2 Bde., Tüb. 1996 (Register). – Dieter Merzbacher: ›Lambendo demum ursus conformatur‹. Die Ed. der Werke Dietrich v. dem Werders u. T. H.s. In: Editionsdesiderate der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. Amsterd./Atlanta 1997, S. 491–510. – Gilles Banderier: T. H., traducteur des ›Pères‹ de Du Bartas. In: Germanistik Luxembourg 13 (1998), S. 1–6. Jörg-Ulrich Fechner / Red.
Hübsch, Hadayatullah, eigentl.: Paul Gerhard H., auch: Hadayat Ullah, Hadayatullah Jamil, Gerhard Jamil, * 8.1. 1946 Chemnitz. – Verfasser von Lyrik, Prosa u. Hörspielen; Publizist, Übersetzer. H. wuchs in Frankfurt/M. auf, veröffentlichte noch während der Schulzeit erste Gedichte in Anthologien (Primanerlyrik. Hg. Peter Rühmkorf. Reinb. 1965. Aussichten. Hg. Peter Hamm. Mchn. 1966) u. war Herausgeber der Literaturzeitschrift »Törn« (1965–1968). In den späten 1960er Jahren wurde H. zu einem der Protagonisten der Protestbewegung. In seinem ersten Gedichtband mit dem programmat. Titel mach was du willst (Neuwied 1969) finden die Rebellion gegen bürgerl. Autoritäten u. die Ausbruchsfantasien seiner Generation ihren Ausdruck. Collageartig sind in die Gedichte Fetzen aus Popsongs u. Schlagworte der Underground-Kultur einbezogen. Der nur zwei Jahre später erschienene Gedichtband ausgeflippt (Neuwied 1971) stellt den Versuch einer Überwindung der vorausgegangenen Lebensphase dar, in der H. Drogen nahm, in der Berliner Kommune 1 lebte, nach Spanien u. Marokko reiste, einen Selbstmordversuch unternahm u. sich in Gefängnissen u. Nervenheilanstalten aufhalten musste. Aufgrund eines visionären Erlebnisses konvertierte H. 1970 zum Islam, nahm den Namen Hadayat Ullah (»der von Allah Geleitete«) an u. begann ein Studium der
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Islamwissenschaften. Gleichzeitig wurde er zum Krieg. 2002 (Hörb.) – Vorkriegsgedichte. Bln. Herausgeber der islamischen Zeitschriften 2003. – Das Wegwerfbuch. Nienburg 2004 (L.). Bernhard Iglhaut / Friederike Reents »Wudd« (1970–1975) u. »Sadid« (1975 bis 1980). Für das Hörspiel Keine Zeit für Trips erhielt H. 1973 den Kurt-Magnus-Preis der Hückstädt, Hauke, * 20.8.1969 Schwedt/ ARD. H.s weiteres schriftstellerisches Schaf- Oder. – Lyriker, Essayist, Übersetzer. fen ist geprägt durch die Hinwendung zum Als Sohn des Malers Eberhard Hückstädt im islamischen Glauben, dem allein er die Fä- Nordosten der DDR aufgewachsen, reiste H. higkeit zur gesellschaftl. Veränderung u. 1984 mit der Familie nach Westdeutschland persönl. Erfüllung zuschreibt. Deutlich arti- aus. Nach dem Schulabschluss in Hannover kuliert er dieses Bewusstsein in den Ge- 1986 durchlief er eine dreijährige Tischlerdichtbänden liebe gedichte (Düsseld. 1983) u. lehre u. legte 1992 das Abitur ab. 1993–1999 Ich hab meine Blumen verloren. Ein Poem (Düs- studierte H. in Hannover Germanistik u. seld. 1987), seit den 1990er Jahren aber auch Geschichte. Ab 1994 war er dort in der Leiin seinen zahlreichen Sachbüchern, darunter tung des Literarischen Salons tätig u. an der der Erfahrungsbericht Mein Weg zum Islam Organisation des Literaturprogramms bei der (Ffm. 1996), Muslima. Zur Position der Frauen im EXPO 2000 beteiligt. Islam (Ffm. 1992) u. Mein erstes Buch der Tiere. Nachdem H.s Erstling Matrjoschkaschritt Islam für Kinder (Ffm. 2007). Von der Konver- (Bergen/Niederlande 1995) nur in einer bision zum Islam handelt auch H.s Biografie bliophilen Kleinauflage erschienen war, des Sängers Cat Stevens (später Yussuf Islam) machte er 2001 mit der Sammlung Neue Heiterkeit (Lüneb. 2001) auf sich aufmerksam. Peace Train (Heidelb. 2008). H. war acht Jahre lang Vorsitzender des Der in drei Abschnitte geteilte Band mit seiVerbands deutscher Schriftsteller in Hessen; nen »Erzählgedichten« lebt von einem nahe seit 1990 leitet er den Verlag Der Islam in an der Alltagssprache gehaltenen Parlando u. lakon. Bildern. Der erste Abschnitt »OstelbiFrankfurt/M. Weitere Werke: pornoper. Stgt. 1968. – un- sche Briefmarke« versammelt virtuose, teilderground. Villingen 1968 (Ess.). – die v. der ge- weise kontrovers aufgenommene Reminisneration KAMIKAZE. 4 Poems. Gersthofen 1970. – zenzen an H.s ostdt. Jugend. In den LandRamadan. Ein Tgb. Ffm. 1972. – Lächelnd wie ein schaftsschilderungen werden Anklänge an Haupt voll Wunden. SR 1973 (Hörsp.). – Der Tag als Naturlyriker wie Johannes Bobrowski, Peter Elvis Presley lebenslänglich wurde. HR 1976 Huchel u. Lutz Seiler spürbar. Der mittlere (Hörsp.). – Stadtplan. BR 1977 (Hörsp.). – Was wahr Abschnitt handelt von Kunsterlebnissen, war u. was wirr war. SFB 1979 (Hörsp.). – abge- wobei H. dessen Titelgedicht »Hopper in dichtetes. 40 Texte zu Zeitungsmeldungen. Siegen Düsseldorf« als lyr. Selbstporträt versteht, 1979. – Gleichzeitigkeit. NDR 1981 (Hörsp.). – »abgerichtet« auf Kunstwerke wie »auf ein Heimat-Blues. Gött. 1987. – Innenhaut. 15 GeKlingeln, eine Diode, ganz Laika im All«. Der dichte. Hbg. 1988. – Die Katdolen-Tonbänder. dritte Teil »Ende der Legislaturperiode« beFfm. 1988. – a mind shown/a mind blown. Tagesteht vorwiegend aus Liebes- u. zeitkrit. Gebuchfragment. Heidelb. 1988. – The Lost Planet Boy. Text-Bild-Collage. Heidelb. 1988. – born to dichten. H. veröffentlicht ferner verstreute kill. Geiselnehmerdrama-Satire. Heidelb. 1988. – Gedichte u. a. in der »Süddeutschen Zeitung« Keine Zeit für Trips. Autobiogr. Ber. Ffm. 1991. – u. der »Zeit«, aber auch in kleineren literar. Jazz hat keine Worte. Über Jazz u. Lyrik. Gött. Zeitschriften u. Anthologien; einzelne Texte 1991. – Stop Mond 18. Bielef. 1991. – PENG. Lan- sind bereits ins Englische u. Französische ger Brief eines 68ers an seine Tochter. Nienburg übersetzt. Neben den genannten Autoren 1993. – Konferenz der Vögel. 1995 (Hörsp.) – Alles orientiert sich H. an Lyrikern wie Joseph war Geheimnis. Vom LSD zum Islam. In: Claus-M. Brodsky, Les Murray, Adam Zagajewski, ToWolfschlag (Hg.): Bye-bye ’68 ... Renegaten der mas Tranströmer u. dem brit. Germanisten Linken, APO-Abweichler u. allerlei Querdenker David Constantine, dessen Gedichte er geberichten. Graz 1998, S. 161–170. – Macht den Weg frei. Unkel 2002. (L.) – Terror u. Paradies. Gedichte
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meinsam mit Johanna Dehnerdt übersetzt hat (Etwas für die Geister. Gött. 2007). Daneben findet H. Echo als Essayist. Kontrovers diskutiert wurde sein Artikel Gedichtblindheit (Frankfurter Rundschau, 29.6.2002), in dem er dem deutschsprachigen Literaturbetrieb mangelnde Aufmerksamkeit für die hohe Qualität der Gegenwartslyrik vorwirft. Als Leiter des Literarischen Zentrums in Göttingen (seit 2000) nimmt H. eine zentrale Rolle im norddt. Kulturbetrieb ein. Der Band Das begehbare Feuilleton: Gespräche und Berichte aus dem Kulturbetrieb (Hg. mit Katrin Blumenkamp. Gött. 2007) enthält Gespräche u. Diskussionen mit Autoren u. Kulturschaffenden, die dort zu Gast waren. 2006 erhielt H. ein Stipendium des Autoren-Förderprogramms der Stiftung Niedersachsen. Weitere Werke: Herausgeber: Dominik Graf: Verstörung im Kino. Der Regisseur v. DIE SIEGER im Gespräch mit Stefan Stosch über die Arbeit am Film. Mit einem Vorw. v. Peter Körte. Hann. 1998. – Sujata Bhatt: Nothing is Black, Really Nothing. Gedichte. Übers. Jürgen Dierking. Mit einem Nachw. v. Adam Zagajewski. Hann. 1998. Literatur: Jan Wagner: Lagebesprechung [13] – H. H. – Lebensstudien. In: Ostragehege 37 (2005), S. 48 f. Stefan Höppner
Hüge, Bernd-Dieter, * 9.5.1944 Königsberg/Ostpreußen, † 24.1.2000 Halle/Saale. – Lyriker, Prosa- u. Hörspielautor. Nach der Umsiedlung der Familie von Königsberg nach Heide/Holstein 1945 besuchte H. 1951–1959 die Grund- u. Mittelschule, die er ohne Abschluss verließ. Er machte eine Malerlehre, ging auf die Seefahrtsschule u. wurde Matrose. 1962/63 hielt er sich in Frankreich auf, wo er u. a. als Autolackierer arbeitete. 1964 übersiedelte H. in die DDR zu seinem Vater, der ihm jedoch fremd blieb. Nach versuchter Republikflucht wurde H. von April 1967 bis Aug. 1970 wegen Passvergehens inhaftiert. Nach der Entlassung heiratete er u. arbeitete bis 1984 im Braunkohletagebau Senftenberg als Technologe für EDV, später als Parkplatzwächter. Ab 1984 war er freier Schriftsteller. Die Ehe, aus der
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zwei Kinder hervorgingen, wurde 1993 geschieden. Ein »bewegtes Leben« wird H. von Karl Mickel im Nachwort zu H.s Band Kaderakte eines Zugvogels. Gedichte 1966–1982 (Bln./Weimar 1984) bescheinigt. Mickel deutet dies klassisch: »die poetische Existenz zehrt zuletzt die bürgerliche« auf. Richtiger ist: sie muss für jene aufkommen, z.B. für eine spröde Kindheit: »Holzig und hart / von oben bis unten, so / bin ich gewachsen, ein Rahmen nur, / und ich erinnere mich nicht / an Fruchtfleisch noch Blut, nie Kind ...« H.s Lyrik setzt auf unübersetzbare Bilder u. Fügungen, scheut nicht Personifikationen u. Expressionismen, auch nicht grammat. u. syntaktisch-stilist. Störungen, die den Leser aktivieren. Der Band Beichte vor dem Hund (Bln./Weimar 1986) sammelt Gedichte u. Prosa. Der Titelzyklus arbeitet eine Geschichte aus u. ein Symbol: »Der Hund ist Sinnbild des Lebens und zugleich des Todes« (H. in einem beigegebenen Brief). Pathetische Formeln u. expressionistische Anleihen kommen weiterhin vor. Doch v. a. in seinen Elegien (Kolkwitzer Elegoiden) gewinnt H. einen eigenen Ton, der Nicht-Identität einschließt: »Bin selber in mir nicht zu Haus.« Seine rissige Sprache versteht sich auch als Arbeit am Riss, der durch sein Land u. seine Familie geht. Der autobiogr. inspirierte, mythopoet. Roman Das Steinkind (Bln./Weimar 1989) behandelt erneut die Spaltung von Individuum u. Familie. Ihr Symbol ist das Steinkind als das quälende Alter Ego des Protagonisten, das er nicht ablegen kann. In bisweilen ausufernder Sprache schildert H. exemplarisch das innere Vertriebensein der Nachkriegsgeneration. Nachdem er die Familienerbsünde von Hurerei u. Trunksucht im Inzest mit der Mutter fortgesetzt hat, lebt der an der Seele verkrüppelte Protagonist als lebender Toter weiter. Im autobiogr. Mein Knastbuch (Bln./Weimar 1991) schildert H. in nüchterner Prosa den von endloser Langeweile geprägten Alltag als Strafgefangener. Ausreisegesuche haben keinen Erfolg, ebenso wenig werden H. Anklageschrift u. Urteil ausgehändigt. Nach dem Mauerfall scheitern Versuche, die Herausgabe
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der Dokumente, Rehabilitation oder Kassation des Urteils sowie eine Haftentschädigung zu erreichen, an bürokratischen Hürden. Flucht und Welle, namenlos, die Fortsetzung zu Das Steinkind, blieb unvollendet. Zu Lebzeiten wurden nur Bruchstücke in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Weitere Werke: Das Sandschiff u. a. Seltsamigkeiten. 1983 (Hörsp.). – Gedichte in: Die eigene Stimme. Lyrik der DDR. Bln./DDR 1988. – In: Der neue Zwiebelmarkt. Bln./DDR 1988. – Enteisung eines Himmels. Ausgew. Gedichte. Halle/Saale 2002. Literatur: Dorothea v. Törne: Universum eines Zugvogels [Rez. zu ›Kaderakte eines Zugvogels‹]. In: NDL 33 (1985), H. 6, S. 149–154. – Dies.: Ein Fenster ist geöffnet noch [Rez. zu ›Beichte vor dem Hund‹]. In: NDL 36 (1988), H. 5, S. 151–155. – Beatrice Roesmer: Nachruf auf den Tod einer Familie [Rez. zu ›Das Steinkind‹]. In: NDL 38 (1990), H. 8, S. 152–155. – Arthur Williams: The Elusive First Person Plural. Real Absences in Reiner Kunze, B. D. H., and W. G. Sebald. In: Ders. (Hg.): ›Whose Story?‹ – Continuities in Contemporary GermanLanguage Literature. Bern u. a. 1998, S. 85–113. Alexander von Bormann / Harald Jakobs
Hühne, Johannes ! Heune, Johannes Hülsen, August Ludwig, * 2.3.1765 Aken/ Elbe, † 24.9.1809 Lentzke bei Fehrbellin. – Philosoph u. Pädagoge. Der aus einer Pfarrersfamilie stammende H. studierte in Halle Theologie u. Philologie (bei Wolf), wurde danach Hauslehrer bei der Familie Fouqué u. gehörte seit 1795 zum engsten Kreis der sich um Fichte u. die Brüder Schlegel sammelnden philosophisch-literar. Avantgarde. Er schloss sich der »Gesellschaft der freien Männer« an, einer Vereinigung von Schülern Fichtes (u. a. Boehlendorff, Gries, Herbart), die sich seiner politisch-erkenntnisethischen Freiheitsphilosophie verpflichtet fühlten u. den Bildungsidealen Rousseaus durch pädagog. Handeln Wirksamkeit verschaffen wollten. Als entschiedener Verfechter naturrechtl. Gleichheitspostulate u. einer pantheistischen Erweiterung der Bewusstseinsphilosophie erwarb sich H. die Achtung der Frühromantiker: »Baader, Fichte, Schelling, Hülsen und Schlegel möcht ich das
philosophische Directorium in Deutschland nennen« (Novalis). Nach Friedrich Schlegel gehörte H. »zu den wenigen reinen Idealisten«. H.s schmales philosophisches Werk ist geprägt von der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Vernunft als selbsttätig-bildender, idealer Kraft, die den Menschen zur Freiheit bestimmt, u. der Welt als ihrem Objekt oder als »Ausdruck« der Vernunft. Anders als Fichte, für den die Differenz von Denken u. Sein in der reinen Idealität des absoluten Ich aufgehoben ist, verleiht H. dem »Daseyn« die Bedeutung einer Sphäre des Übergangs u. der potentiellen bzw. transfigurierten Gegenwart des Absoluten. Damit greift er ein Grundmotiv des frühromant. Denkens auf, das sich bei ihm mit einer entschiedenen Kritik an gesellschaftl. Lebensverhältnissen u. mit sozialutop. Ideen verbindet. H.s Versuche, zunächst in der Schweiz (1796–1798), danach in Lentzke (Fouqué hatte ihm dort sein Landhaus zur Verfügung gestellt) ein privates Erziehungsinstitut einzurichten, schlugen fehl. 1803 übernahm er ein Gut in Wagersrott bei Schleswig, wo mehrere gleichgesinnte »freie Männer« sich als Landwirte angesiedelt hatten, um gemeinsam ihre Vorstellungen von einem Leben in Harmonie mit der Natur u. mit sich selbst zu verwirklichen – nach F. Schlegel eine »Flucht vor der Bildung des Zeitalters – in [...] das Häusliche«. Weitere Werke: Prüfung der v. der Akademie der Wiss.en zu Berlin. aufgestellten Preisfrage: Was hat die Metaphysik seit Leibnitz u. Wolf für Progressen gemacht? Altona 1796. – Philosoph. Briefe an Herrn v. Bries in Neuhausen. 1. Brief: Über Popularität in der Philosophie. In: Philosoph. Journal 7,1 (1797), S. 71–103. – Über den Bildungsbetrieb. In: ebd. 9,2 (1798), S. 99–129. – Über die natürl. Gleichheit der Menschen. In: Athenaeum 2,1 (1799), S. 152–180. – Naturbetrachtungen auf einer Reise durch die Schweiz. In: ebd. 3,1 (1800), S. 34–57. – Philosoph. Fragmente, aus H.s literar. Nachl. Hg. Fouqué. In: Allg. Ztschr. v. Deutschen für Deutsche 2 (1813), S. 264–302. Literatur: Karl Obenauer: A. L. H. Seine Schr.en u. seine Beziehungen zur Romantik. Diss. Mchn. 1910. – Willy Flitner: A. L. H. u. der Bund der Freien Männer. Naumburg 1913 (Diss. Jena). –
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Paul Raabe: Das Protokollbuch der Gesellsch. der freien Männer. In: FS Eduard Berend. Hg. Werner Seiffert. Weimar 1959, S. 356–381. – Steffen Dietzsch: Natur u. Gleichheit. In: A. L. H.s ›Athenaeums‹-Aufs. In: Wiss. Ztschr. der FriedrichSchiller-Univ. Jena 27 (1978), S. 549–551. – Martin Oesch: H.s idealist. Romantik. In: Gisela Dischner u. Richard Faber (Hg.): Romant. Utopie – Utop. Romantik. Hildesh. 1979, S. 106–118. – Klaus Rek: Die Jenaer ›Gesellsch. der freien Männer‹. In: Wiss. Ztschr. (Lpz.) 33 (1983), S. 577–583. – Guido Naschert: A. L. H.s erster Beitr. zur philosoph. Frühromantik. In: Athenäum 8 (1998), S. 111–135. – Ulrich Krämer: A. L. H. Leben u. Schreiben eines Selbstdenkers u. Symphilosophen zur Zeit der Frühromantik. Ffm. u. a. 2001. Jochen Fried / Red.
Hülsen, Hans von, eigentl.: Johannes Bruno von, * 5.4.1890 Warlubien/Westpreußen, † 14.4.1968 Rom. – Erzähler, Verfasser von Biografien u. Sachbüchern.
In Essays beschäftigte sich H. mit zwei Geldfürsten aus dem Rom des 18. Jh. (Torlonia. Krösus von Rom. Mchn. 1940), mit dem dt. Ritterorden (Tragödie der Ritterorden. Mchn. 1948) u. mit Archäologie (Römische Funde. Gött. 1960). Weitere Werke: Die seidene Fessel. Mchn. 1912 (E.en). – Die Aufzeichnungen des Mörders Sigrist. Mchn. 1913 (Studie). – Versprengte Edelleute. Bln. 1919 (E.en). – Fortuna v. Danzig. Bln. 1924 (R.) – Der Finkensteinsche Orden. Lpz. 1926 (R.). – Der Schatz im Acker. Lpz. 1929 (R.). – Der verschollene Liebesruf. Bln. 1929 (E.en). – Die Bucht v. Sant’Agata. Lpz. 1932 (R.). – Ein Haus der Dämonen. Bln. 1932 (R.). – Freikorps Droyst. Bln. 1934 (R.). – Villa Paolina. Lebensgesch. eines merkwürdigen Hauses. Mchn. 1943. – Das Teppichbeet. Danzig 1943 (N.n). – Gerichtstag. Sonette. Hbg. 1947 (L.). Literatur: Wolfgang Popp: Der Dichter u. seine Gemeinde. Platen in literar. Texten seiner Verehrer. H. v. H., Albert H. Rausch, Hubert Fichte. In: Forum Homosexualität u. Lit. 27 (1996), S. 104–129. – Peter Oliver Loew: H. v. H. Ein Schriftsteller zwischen Danzig u. Rom. In: Studia Germanica Gedanensia 6 (1998), S. 81–92. – Peter Sprengel: Kandidat für den Hauptmann-Orden: H. v. H. (1890–1968). In: Klaus Hildebrandt u. Krzysztof A. Kuczyn´ski (Hg.): Weggefährten Gerhart Hauptmanns. Würzb. 2002, S. 157–174.
Der Pfarrerssohn aus bekannter Gelehrten- u. Künstlerfamilie studierte in Breslau, Berlin u. Lausanne Germanistik, Geschichte u. Kunstgeschichte. Er war Korrespondent verschiedener wichtiger ausländ. Zeitungen, u. a. bis 1938 Chefkorrespondent von »Dagens NyHermann Schreiber / Red. heter«. Während H.s Belletristik heute weitgehend Huelsenbeck, Richard, bis 1936: Hülsenvergessen ist, finden seine Sachbücher u. beck, auch: Charles R. Hulbeck, * 23.4. Biografien immer noch Interesse. Ihnen ka1892 Frankenau/Hessen, † 20.4.1974 Mimen H.s Kenntnis der röm. Antike, seine nusio/Tessin; Grabstätte: Dortmund, Liebe zu Italien u. seine Funktion als anreSüdwestfriedhof. – Lyriker, Erzähler, gender Freund anderer Autoren zugute. NeReiseschriftsteller, Journalist; Arzt, Psyben Max Halbe u. Felix Braun widmete er choanalytiker. sich v. a. Gerhart Hauptmann mit lebenslanger Zuneigung, die sich in wichtigen Arbei- Aufgewachsen in gutbürgerl. Verhältnissen, ten niederschlug, aber auch in einem bedeu- begann der Sohn eines Apothekers 1911 das tenden Briefwechsel (Gerhart Hauptmann. Lpz. Studium der Literatur u. Kunstgeschichte in 1927. Freundschaft mit einem Genius. Mchn. München. Nach einem Aufenthalt in Paris, 1947). wo er sich für das Wintersemester 1912/13 als Freundschaft verband H. außerdem mit Student der Philosophie einschrieb, ging er Ulrich von Hassell, dem ehem. dt. Botschafter 1914 nach Berlin u. studierte dort Medizin. in Rom u. bedeutenden Mitgl. des Kreises Im März desselben Jahres veröffentlichte H., vom 20. Juli 1944. Diese Beziehung spielt der auch in der von Hans Leybold herausgeauch eine Rolle in H.s autobiogr. Schriften Die gebenen Zeitschrift »Revolution« vertreten Wendeltreppe (Danzig 1941. E.en) u. Zwillings- war, erste Glossen u. Gedichte in Franz Seele (Bln./Mchn. 1947/48). Seine Jugender- Pfemferts »Aktion«. 1916 hielt er sich auf innerungen erschienen u. d. T. Der Kinder- Einladung Hugo Balls für ein Jahr in der schrank (Mchn. 1946). Schweiz auf.
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1918 erschienen zwei in Stil u. Darstellung verschiedene Novellen, die der expressionistischen Prosa zugeordnet werden können: die 1913 entstandene, das Bürgertum der Kaiserzeit karikierende »militärische« Novelle Azteken oder die Knallbude (Bln. Neuausg., mit einem Nachw. hg. v. Herbert Kapfer. Gießen 1992) u. die groteske Novelle Verwandlungen (Mchn. Neuausg., mit einem Nachw. hg. v. H. Kapfer. Gießen 1992), in welcher der Journalist Kakadu u. die ehem. Schauspielerin Jamaika die »bourgoise Hauptforderung: Ruhe, absolute Ruhe«, der Zirkusartist (Froschschlucker) Butterweg H.s späteren Dada-Vorstellungen nahekommende Positionen vertreten. Gemeinsam mit Hans Arp, Ball, Emmy Hennings, Marcel Janco u. Tristan Tzara war H. Mitbegründer des Dadaismus, der Kunstströmung, in der Literatur sich verband mit den Ausdrucksformen des Tanzes, der Musik, der Malerei u. zur Aktion wurde gegen bürgerl. Kunsttraditionen. In dem von Ball gegründeten »Cabaret Voltaire« trug er, von der großen Trommel, Brüllen, Pfeifen u. Gelächter begleitet, seine Gedichte vor. Sie zeigten H.s Auseinandersetzung mit Balls Lyrikexperimenten (Lautgedicht) u. stellten einen neuen Umgang mit der Sprache dar. Durch alogische, absurde Assoziationen zerstörte er den semant. Sinnzusammenhang, um so die sinnlich assoziative Qualität der Sprache hervorzuheben u. gegen die Beschränkung auf eine bloß rationale Bezeichnungsfunktion zu protestieren. Die Gedichte erschienen in den Sammlungen Schalaben, Schalabai, Schalamezomai (Zürich 1916) u. Phantastische Gebete (Zürich 1916. Erw. Neuaufl. Zürich 1960. Nachdr. der Ausgaben von 1916 u. 1920. Gießen 1993), ergänzt jeweils durch abstrakte Illustrationen Arps, in der zweiten Auflage (1920) durch aggressive Karikaturen George Grosz’. Bald nachdem Ball Zürich verlassen hatte, kehrte H. nach Berlin zurück u. propagierte den Dadaismus im »Graphischen Kabinett«. Auf dem Vortragsabend in der Berliner Sezession am 12.4.1918 verlas er das gemeinsam von den Dadaisten Zürichs u. Berlins (Franz Jung, Raoul Hausmann, Grosz u. anderen) unterzeichnete Dadaistische Manifest.
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Aufgabe des Dadaismus sei es, »den Deutschen ihren Güte-, Menschlichkeits- und Expressionismusschwindel zusammenzuschlagen und dafür den Typus eines naiven Menschen zu setzen, der außerhalb der Zweiteilung der konventionellen Moral steht«. Gegen die verinnerlichenden Tendenzen des Expressionismus u. das bürgerl. Pathos proklamierte H. eine vitalistische Kunstform mit den Mitteln des Bruitismus u. der Simultaneität (»Was wollte der Expressionismus? Er ›wollte‹ etwas, das bleibt für ihn charakteristisch. Dada will nichts, Dada wächst«). Das wurde v. a. in den spektakulären Dada-Soiréen realisiert, die durch aggressive Aktionen die Provokation des Publikums beabsichtigten u. häufig tumultartig endeten. 1920 erschienen H.s Dada-Chroniken Dada siegt! Eine Bilanz des Dadaismus (Bln.), En avant Dada. Eine Geschichte des Dadaismus (Hann./Lpz./Wien) u. der Dada-Almanach (Bln. Nachdr. Hbg. 1980. 2 1987), in denen er die Aktionen des Dadaismus dokumentierte u. als ernst zu nehmende anarchistische Bewegung zu legitimieren versuchte. Ein Jahr später folgte die Veröffentlichung seines satir. Romans Doctor Billig am Ende (Mchn. 1921. Ffm. 1973. Hofheim 1992). Angesiedelt in der Zeit des Ersten Weltkriegs im Prostituiertenmilieu, zeigt er am Beispiel des Dr. Billig den Untergang der bürgerl. Welt. 1923–1933 arbeitete H. vorwiegend publizistisch, versuchte aber auch, eine Existenz als Arzt aufzubauen. Zwischen 1924 u. 1927 reiste er als Schiffsarzt der Hapag nach Ostasien u. Afrika. Anschließend veröffentlichte er zahlreiche Artikel (u. a. im »Vorwärts« u. im »Berliner Börsen-Courier«) über die polit. u. kulturelle Situation der Länder sowie die mit großem Interesse aufgenommenen gesellschaftskrit. Reiseberichte Afrika in Sicht. Ein Reisebericht über fremde Länder und abenteuerliche Menschen u. Der Sprung nach Osten. Bericht einer Frachtdampferfahrt nach Japan, China und Indien (beide Dresden 1928). 1930 erschien der Roman China frißt Menschen (Zürich/Lpz. 1930. 21933. Ffm. 1957. Neuaufl. hg. v. H. Kapfer u. Lisbeth Exner. Mchn. 2006), in dem H. vor dem Hintergrund der Boykottbewegung u. des Bürgerkriegs in China in den Jahren 1924 bis 1927 ein ein-
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drucksvolles Szenario mit geldgierigen ame- u. Bedeutung mentaler Heilmethoden. Versuch eirikan. Missionaren, dt. Matrosen als Werk- ner histor. Darstellung. Ffm. 1959. – Reise bis ans zeug cleverer Waffenschieber, frz. Ärzten, Ende der Freiheit. Autobiogr. Fragmente. Hg. Ulruss. Militärberatern, chines. Revolutionären rich Karthaus u. Horst Krüger. Heidelb. 1984. – Wozu Dada. Texte 1916–1936. Hg. H. Kapfer. u. gewissenlosen Geschäftsleuten entwirft. Gießen 1994. – Die Sonne v. Black-Point. Ein Lie1931 war er als Korrespondent der »Münch- besroman aus den Tropen. Hg. u. mit einem ner Illustrierten Presse« in Nord- u. Mittel- Nachw. v. H. Kapfer u. Lisbeth Exner. Mchn. 1996 amerika unterwegs. H.s Werke wurden 1933 (zuerst 1934/35 in 12 Folgen in der Ullstein-Ztg. verboten; er emigrierte 1936 mit seiner Fa- ›Die Dame‹). – R. H. Lesebuch. Zusammengestellt milie in die USA, nahm die amerikan. u. mit einem Nachw. v. Karl Riha. Köln 2008. – Staatsbürgerschaft an u. ließ sich in New York Briefwechsel: Zürich – Dadaco – Dadaglobe. The als Psychiater u. Psychoanalytiker unter dem correspondence between R. H., Tristan Tzara and Namen Charles R. Hulbeck (seit 1939) nieder. Kurt Wolff (1916–1924). Hg. Richard Sheppard. Tayport 1982. – Weltdada H. Eine Biogr. in Briefen Erst 1952 erschien wieder ein Gedichtband u. Bildern. Hg. Herbert Kapfer u. Lisbeth Exner. von ihm, New Yorker Kantaten (Paris/New Innsbr. 1996. York). Zwei Jahre später folgte der Band Die Literatur: R. Sheppard u. a.: R. H. Hbg. 1982 Antwort der Tiefe (Wiesb. 1954). Die Lyrik die- (Hamburger Bibliogr.n, Bd. 22). – Karin Füllner: R. ser Jahre setzt seine dadaistischen Arbeiten H. Texte u. Aktionen eines Dadaisten. Heidelb. nicht fort, sondern knüpft eher an seine ex- 1983. – Dies.: Wahnsinn als Anklage. Sozialkritik pressionistischen Anfänge an. Ab den 1940er in Georg Büchners ›Woyzeck‹ u. R. H.s ›Azteken Jahren engagierte er sich auch im Bereich der oder die Knallbude‹. In: Georg-Büchner-Jb. 5 bildenden Kunst u. stellte, z.T. gemeinsam (1985), S. 320–327. – Hanne Bergius: ›Unberührt mit seiner Frau Beate Wolff, in New York aus. und doch erschüttert‹. ›Weltdada‹ R. H. In: Dies.: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten u. ihre H. charakterisierte sich im Alter v. a. als Aktionen. Gießen 1989, S. 100–113. – Hildegard Dadaist. Im Zusammenhang mit dem wach- Feidel-Mertz (Hg.): Der junge H. Entwicklungssenden Interesse am Dadaismus in den jahre eines Dadaisten. Gießen 1992. – Reinhard 1950er Jahren lebte die Rezeption auch seiner Nenzel: Der frühe R. H. Kleinkarierte Avantgarde. Werke wieder auf. Er hielt eine Reihe von Zur Neubewertung des dt. Dadaismus. Sein Leben Vorträgen u. gab 1964 mit dem Almanach u. Werk bis 1916 in Darstellung u. Interpr. Bonn Dada. Eine literarische Dokumentation (Reinb.) 1994. – Ki-Chung Bae: Chinaromane in der dt. Lit. noch einmal, ähnlich wie 1920, eine umfas- der Weimarer Republik. Marburg 1999. – Herbert sende Darstellung des Dadaismus heraus. Kapfer u. Lisbeth Exner: ›nun soll weiss und blau rot sein‹. R. H. in u. über China. In: R. H., China Nach seiner Rückkehr aus den USA lebte er frißt Menschen, a. a. O., 2006, S. 375–410. – Thoseit 1969 im Tessin. mas Kornbichler: Flucht nach Amerika. Emigration H.s dadaistische Arbeiten hatten Einfluss der Psychotherapeuten. R. H., Wilhelm Reich, auf die experimentelle Literatur der Wiener Erich Fromm. Stgt. 2006. Gruppe um H. C. Artmann u. die konkrete Mechthild Widdig / Bruno Jahn Poesie (Franz Mon, Eugen Gomringer u. andere) sowie im Bereich der bildenden Kunst auf die Aktionsformen der Happening- u. Hülswitt, Tobias, * 13.4.1973 Hannover. – Schriftsteller. Pop-Art. Weitere Werke: Dtschld. muss untergehen! Erinnerungen eines alten dadaist. Revolutionärs. Bln. 1920. – Warum lacht Frau Balsam? Schmugglerstück v. der dt. Westgrenze (zus. mit Günther Weisenborn). Bln. 1932 (D.). – Der Traum vom großen Glück. Bln. 1933 (R.; zuerst 1932/33 in 69 Folgen im ›Berliner Börsen-Courier‹). – Mit Witz, Licht u. Grütze. Auf den Spuren des Dadaismus. Wiesb. 1957. Neuausg. hg. Reinhard Nenzel. Hbg. 1992. – Sexualität u. Persönlichkeit. Entwicklung
Aufgewachsen in der Pfalz, studierte H. nach einer Steinmetzlehre 1997–2001 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Während seines Studiums war er Herausgeber der Literaturzeitschrift »EDIT« u. begann, für überregionale Zeitungen u. Zeitschriften zu schreiben. Er veröffentlichte die Lyrik-Erzählung So ist das Leben (Mainz 1997) u. seinen ersten Roman Saga (Köln 2000), neunzehn
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Geschichten über eine Jugend in der Provinz, erzählt in einem leichten, humorvollen Ton, strukturiert durch Rückblenden u. Assoziationen, die sich linearen Erzählmustern widersetzen u. alltägl. Begebenheiten für unerwartete, plötzlich aufbrechende Perspektiven öffnen. Seit dem Abschluss des Studiums lebt H. als freier Autor in Berlin. 2004 erschien sein zweiter Roman, Ich kann dir eine Wunde schminken (Köln), eine Geschichte aus dem TVComedy-Milieu, angelegt als tragikom. Eifersuchtsdrama. Der Roman Der kleine Herr Mister (Köln 2006) verwickelt einen Künstler in einen faustischen Pakt u. schickt ihn auf eine phantasmatische Suche nach dem Glück. Zusammen mit der Illustratorin Glummie Riday publizierte H. 2007 das Kinderbuch Bernhard Bonsai geht sich rächen (Lpz. 2007); im folgenden Jahr erschien die Erzählung Dinge bei Licht (Köln). Seit 2003 arbeitet H. mit dem Medienkünstler Florian Thalhofer an Konzepten nonlinearer Narration, die er auch in der Kooperation mit dem Filmemacher Heinz Emigholz u. im Rahmen von Lehraufträgen an der Universität der Künste Berlin (2003), am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (2005) u. an der Akademie der bildenden Künste München (2008) verfolgt. 2008 gründete er zusammen mit Florian Thalhofer u. Matt Soar das Korsakow-Institut für Nonlineare Erzählkultur, das sich mit der Theorie, Praxis u. Vermittlung nonlinearer Erzählformen befasst, u. a. im Rahmen der Gesprächsreihe Hilfe, Freiheit! an den Münchner Kammerspielen (Spielzeit 2008/09). H. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz (1998), ein Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin (2001), ein Stipendium als Stadtschreiber von Kairo (2002) u. ein Stipendium der Villa Aurora in Los Angeles (2007). Eckhard Schumacher
Hürlimann, Thomas, * 21.12.1950 Zug/ Schweiz. – Erzähler u. Dramatiker. Der Sohn von Alt-Bundesrat Hans Hürlimann studierte in Zürich u. an der FU Berlin Phi-
losophie. H. arbeitete zwei Jahre als Regieassistent u. Produktionsdramaturg am Schiller-Theater in Berlin. Seit 1985 lebt er als freier Schriftsteller in Ebmatingen/Kt. Zürich u. in Berlin-Kreuzberg. Im Mittelpunkt seines literar. Schaffens steht die Beschäftigung mit Sterben u. Tod sowie die Erfahrung des Fremdseins. Für seinen ersten Erzählband Die Tessinerin (Zürich 1981) erhielt H. den »aspekte«-Literaturpreis des ZDF u. den Rauriser Literaturpreis. In sechs unterschiedl. Erzählanordnungen werden die Grenzen der Existenz erkundet. Am eindrucksvollsten – auch aus der Perspektive der Schweizer Literatur der frühen 1980er Jahre – geschieht dies in der Titelerzählung. Sie schildert das langsame Sterben der »Tessinerin«, der Frau des Dorfschullehrers, die seit 20 Jahren in der kleinen Innerschweizer Berggemeinde Eutel wohnt. H. schildert in einer schonungslosen u. präzisen Sprache den unaufhaltsamen Zerfall des Körpers u. die gleichzeitige Isolation der Frau, die in der existenziellen Erfahrung des Fremdseins u. im Zerfall von Zeit u. Raum gipfelt. In der Novelle Das Gartenhaus (Zürich 1989) wird der frühe Tod des Sohnes dem Gebirgsoffizier im Ruhestand u. seiner Gattin zum Verhängnis. Am obsessiven Trauerritual des Oberst – er füttert heimlich eine Katze auf dem Grab des Sohnes – wird die Scheinhaftigkeit seiner gutbürgerl. Ehe offenbar u. die schmale Schranke zum »Niemandsland des Wahnsinns« durchsichtig. Mit der Innerschweizer Trilogie (Zürich 1991) unternahm H. einen Abstecher in die schweizer. Heimatwelt; sie enthält die Komödie Der Franzos im Ybrig, die Keller-Novelle Der Dämmerschoppen u. die Inglin-Adaption Lymbacher. Es schlossen sich apokalypt. Kurzgeschichten aus der Vorstadt an (Die Satellitenstadt. Zürich 1992). Mit seinem lang erwarteten ersten Roman Der große Kater (Zürich 1998) leuchtet H. die Befindlichkeit des schweizer. Bundespräsidenten Kater während 20 Stunden aus: der Besuch des span. Königspaares fällt mit dem Putschversuch der eidgenöss. Sicherheitspolizei zusammen. Der Politiker ist gegenüber der medialen Inszenierung machtlos; es bleibt nur der Rückzug auf privates Terrain – auch dies vermintes Gelände: der Sohn ist
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krebskrank, die Ehe ein Schattenspiel. Der Roman stieß auf Kritik der schweizer. Öffentlichkeit, da Kater nach dem Vorbild von H.s Vater geformt ist. In Fräulein Stark (Zürich 2001) gibt der Onkel H.s die Vorlage. Während der Sommerferien in der berühmten Bibliothek erlebt der zwölfjährige Neffe des St. Galler Stiftsbibliothekars das verschwiegene Verhältnis zwischen dem Onkel u. seiner titelgebenden (kath.) Haushälterin. Onkel u. Neffe entstammen einer jüd. Familie; dass H. beide triebenthemmt zeichnet, führte in der Literaturkritik zu einer lebhaften Debatte u. sorgte für reißenden Absatz. H. erhielt 1992 den Berliner Literaturpreis u. den Marieluise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt, 1997 den Literaturpreis der KonradAdenauer-Stiftung, 1998 den Solothurner Literaturpreis, 2001 den Joseph-BreitbachPreis (zusammen mit Dieter Wellershoff u. Ingo Schulze), 2003 den Jean-Paul-Preis, 2007 den Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung u. den Stefan-Andres-Preis der Stadt Schweich u. 2008 den Caroline-Schlegel-Preis der Stadt Jena für Feuilleton u. Essay. Weitere Werke: Großvater u. Halbbruder. Urauff. Zürich 1981. Gedr. Ffm. 1980 (D). – Stichtag. Urauff. Düsseld. u. Stgt. 1984. Gedr. Ffm. 1984 (D). – Der Ball. Zürich 1986 (E.). – Der letzte Gast. Urauff. Zürich 1991 (D.). – Der Gesandte. Urauff. Zürich 1991. Gedr. Zürich 1991 (D). – Güdelmäntig. Urauff. Einsiedeln 1993. Gedr. Zürich 1993 (Kom.). – Unter diesen Sternen. Weilheim 1993. – Carleton. Urauff. Zürich 1996. Gedr. Zürich 1996 (D.). – Zwischen Fels u. See. Ausw. u. Vorw. v. Martin Walser. Mchn. 1996. – Das Holztheater. Gesch.n u. Gedanken am Rand. Zürich 1997. – Das Lied der Heimat. Alle Stücke. Ffm. 1998. – Das Einsiedler Welttheater. Nach Calderón de la Barca. Urauff. Einsiedeln 2000. Gedr. Zürich 2000. 2007. – Himmelsöhi, hilf! Über die Schweiz u. a. Nester. Kleine Schr.en vermischten Inhalts. Zürich 2002. – Vierzig Rosen. Zürich 2006 (R.). – Der Sprung in den Papierkorb. Gesch.n, Gedanken u. Notizen am Rand. Zürich 2008. Pia Reinacher / Christoph Schmitt-Maaß
Hürnen Seyfried (Lied vom H. S.). – Spätmittelalterliche Siegfried-Biografie. Das Lied, 179 Strophen im Hildebrandston, erzählt die Geschichte Siegfrieds in drei un-
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gleich großen u. ohne Einebnung von Widersprüchen kompilierten Teilen. H. S. 1 (Str. 1–15) berichtet vom niederländ. König Sigmund u. dessen überstarkem u. ungebärdigem Sohn Seyfried, der zur Besserung seiner Sitten in die Fremde geschickt wird. Bei einem Schmied, wo er Dienst nimmt, zertrümmert er Eisen, schlägt den Amboss in den Boden u. misshandelt Meister u. Gesellen. Schließlich wird er, in der Absicht, ihn zum Opfer eines schreckl. Drachens zu machen, um Kohlen in den Wald geschickt. Seyfried erschlägt den Drachen u. weitere Untiere mit ausgerissenen Bäumen. Er verbrennt die Tiere, deren Haut zu Horn schmilzt, u. schmiert sich am ganzen Leib mit der schmelzenden Masse ein, nur nicht zwischen den Schultern. Hier wird er, wie es mit Verweis auf andere Gedichte heißt, tödlich verwundet werden. Auch die nun folgende Angabe, dass er an König Gybichs Hof um die Königstochter gedient u. sie dann acht Jahre lang zur Frau gehabt habe, ist wohl als Hinweis auf andere Lieder zu verstehen. Zunächst aber ist die Rede vom Hort des Zwergs Nybling, den Seyfried, gehütet von dessen drei Söhnen, in einer Felswand findet. Dies lässt sich als Vorausdeutung auf die Handlung in H. S. II verstehen. Mit Verweis auf noch lebendige Tradition heißt es, dass dieser Hort die Ursache der hunn. Katastrophe wurde, die nur Dietrich von Bern u. Meister Hildebrand überlebten. H. S. II (Str. 16–172) setzt neu ein u. erzählt von König Gybich zu Worms, seinen drei Söhnen u. seiner Tochter, um derentwillen viele Helden hätten sterben müssen. Sie wird eines Tages von einem verzauberten Drachen – einem Jüngling, der um einer Buhlschaft willen von einer Frau verwandelt wurde – auf einen Felsen entführt. Zur gleichen Zeit wächst der wunderstarke Königssohn Seyfried heran. Auf der Jagd findet er die Spur des Drachens u. verirrt sich zu dessen Felsen. Im Begriff, den Rückweg zu suchen, trifft er auf den Zwerg Eugel, einen der drei Nyblingssöhne, die den Hort hüten. Eugel kennt Seyfried u. nennt ihm die Namen seiner Eltern (Siglinde, Sigmund). Denn Seyfried, so wird nun erzählt, ist, ohne von Vater u. Mutter zu wissen, bei einem Meister im Wald
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aufgewachsen. Eugel warnt Seyfried vor dem Drachen, doch Seyfried will Krimhilt, mit der er einst befreundet war, befreien. Er besiegt zunächst den heimtück. Riesen Kuperan, der den Felsen bewacht u. ihm das Schwert zeigt, mit dem allein der Drache getötet werden kann. – Der Name Kuperan ist um 1250 in Ulrichs von Türheim Rennewart u. im Reinfried von Braunschweig belegt. – Seyfrieds Drachenkampf lässt den Felsen erzittern. Daraufhin bringen die Brüder Eugels ohne dessen Wissen den hier verwahrten Nyblinghort an einen sicheren Ort in der Nähe, wo ihn Seyfried in einer Kampfpause entdeckt. Eugel weissagt schließlich dem mit Krimhilt abziehenden Seyfried seine Ermordung nach acht Jahren u. Krimhilts Rache. Seyfried belädt sein Pferd mit dem Hort. Noch unterwegs jedoch wirft er ihn in den Rhein, als er bedenkt, wie wenig der Schatz seiner eigenen, kurz bemessenen Lebensfrist von Nutzen sein werde, u. wie wenig all den Recken, die um seines Todes willen sterben müssten. H. S. III (Str. 173–179): In Worms entfaltet Seyfried nach seiner Vermählung mit Krimhilt großes Gepränge. Er erregt so den Neid der drei Gybichsöhne Günther, Hagen u. Gyrnot, die sich gegen ihren Schwager verschwören. Hagen ermordet Seyfried beim Trinken aus einer Odenwaldquelle durch einen Stich zwischen die Schultern, wo allein er nicht durch seine Hornhaut geschützt war. Wer mehr über die Krimhiltbrüder u. die acht Jahre vor Seyfrieds Tod wissen wolle, solle Seyfrides hochzeyt lesen. Seine Wirkung im 16., 17. u. 18. Jh. (tschech. Übersetzung 1615, niederländ. Volksboek 1641, dt. Volksbuch 1726) verdankt der aus mittelalterl. Überlieferung nicht erhaltene H. S. wohl v. a. der bieder-gottesfürchtigen Einfärbung des Haupthelden, dessen Biografie gestaltet zu denken ist nach einem Entwicklungsschema »vom ungebärdigen Edelknaben zum tragisch-melancholischen Helden«. Für die Forschung zur Heldensage ist der H. S., der sich selbst in einer lebendigen u. vielseitigen Sagentradition aufgehoben weiß, bes. dadurch wichtig, dass hier in Übereinstimmung mit der skandinav. Tradition (Völsungen- u. Thidrekssaga, Eddalieder) Stoff-, Motiv- u. Namenmaterial erhalten
Hürnen Seyfried
ist, das die dt. Tradition sonst nicht oder nur in undeutl. Spuren bewahrt hat. Auch gibt es gemeinsame Erzählmotive mit dem ›Rosengarten A‹ (14. Jh.) u. dem ›Wolfdietrich D‹ (um 1300). Schwer entscheidbar ist, ob solche Spuren in der dt. Heldendichtung des 13. u. 14. Jh. auf gemeinsame Tradition zurückzuführen oder als Wirkung einer urspr. Fassung des H. S. zu deuten ist, die dann mindestens in die erste Hälfte des 13. Jh. zu datieren wäre. Die neuere Forschung hat das Interesse auf die Bebilderung der ältesten Drucke gelenkt. Ausgaben: Das Lied vom H. S. Hg. K. C. King. Manchester 1958. – Das Lied vom H. Seyfrid. Hg. u. neu illustriert v. Siegfried Holzbauer. Klagenf. 2001. Literatur: Hermann Schneider: German. Heldensage 1. Bln. 21962, S. 115–124. – Helmut de Boor: Die Bearb. m des Nibelungenlieds. In: PBB 81 (1959), S. 176–195. – Philipp Gerhard: Metrum, Reim u. Strophe im ›Lied vom Hürnen Seyfrid‹. Göpp. 1975. – Jürgen Vorderstemann: Eine unbekannte Hs. des Nibelungenlieds. In: ZfdA 105 (1976), S. 115–122. – Roswitha Wisniewski: Das Heldenleben-Schema im ›H. S.‹. In: FS Otto Höfler. Wien 1976, S. 704–720. – Horst Brunner: H. S. In: VL. – Norbert H. Ott: Seyfrid der Hürne. In: LexMA. – Volker-Jeske Kreyher: Der H. S. Die Deutung der Siegfriedgestalt im SpätMA. Ffm. u. a. 1986. – Frieder Schanze: Der verlorene Nürnberger Erstdr. des ›H. S.‹ mit den Originalholzschnitten Sebald Behams. In: Gutenberg-Jb. 32 (1987), S. 301–305. – Ralph Breyer: Der ›H. S‹. Die Form des Inhalts. In: 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Die Rezeption des Nibelungenliedes. Hg. Klaus Zatloukal. Wien 1995, S. 53–65. – Claude Lecouteux: S., Kuperan et le dragon. Contribution à l’étude de la légende. In: EG 49 (1994), S. 257–266. – Ders.: La légende de Siegfried d’après la chanson de Seyfried à la Peau de Corne. Paris 1995. – Jürgen Beyer u. John L. Flood: Siegfried in Livland? Ein handschriftl. Fragment des Liedes vom H. S. aus dem Baltikum. In: Jb. für Volksliedforschung 45 (2000). Münster 2001, S.52–59. – Ralph Breyer: Über ›Das Lied vom H. S.‹. In: Das Lied vom H. S. (s. Ausgaben), S. 69–102. – Heinz Gappmayr: Bilder als Sprache. Die Illustrationen von Siegfried Holzbauer zum H. S. In: ebd., S.63–68. – S. Holzbauer: Der H. S. & die 7 weisen Meister. Ein westl. u. ein östl. Weisheitsweg. 2003 (CD-ROM). – Verio Santoro: La ricezione della materia nibelungica tra Medioevo ed età moderna: Der hürnen Seyfrid. Salerno 2003. – Sigrid Schmidt: ›Die Bilder sind zugleich der Text‹. Erzähltechn. u.
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visuelle Strukturierung des ›Lied vom H. Seyfrid‹ (1530 u. 2001). In: Strukturen u. Funktionen in Gegenwart und Gesch. FS Franz Simmler. Hg. Claudia Wich-Reif. Bln. 2007, S. 371–390. Ernst Hellgardt
Hüsch, Hanns Dieter, * 6.5.1925 Moers, † 6.12.2005 Windeck-Werfen; Grabstätte: Moers-Hülsdonk, Hauptfriedhof. – Kabarettist, Schriftsteller, Liedermacher. Der Sohn eines preuß. Beamten verbrachte seine Kindheit u. Jugend wegen einer Körperbehinderung in sozialer Isolation u. entwickelte so sein Talent zur genauen Beobachtung seiner Umwelt, das ihn während seines Studiums der Literatur- u. Theaterwissenschaften 1946–1951 in Mainz – zuvor hatte er ein Semester lang in Gießen lust- u. erfolglos Medizin studiert – zum Kabarett finden u. in den Folgejahrzehnten zu einem der profiliertesten Vertreter seines Fachs werden ließ. Nachdem sich H. 1947/48 dem studentischen Ensemble »Die Tol(l)eranten« angeschlossen hatte, trat er nur ein Jahr später mit seinem ersten Soloprogramm »Das literarische Klavier« auf. In den 1950er Jahren lebte er mit seiner Frau Marianne Lüttgenau u. der gemeinsamen Tochter in bescheidenen Verhältnissen, die er in Frieda auf Erden (Zürich 1959) u. Von Windeln verweht. Neue Frieda-Geschichten (Zürich 1961) literarisch verarbeitete. Auftragsarbeiten u. eine Tätigkeit als Nachrichtensprecher beim Süddeutschen Rundfunk sicherten ihm sein Auskommen. Zu einer allmähl. Prosperisierung seiner wirtschaftl. Situation kam es nach der Gründung des Kabaretts »arche nova« 1956, dessen Leiter H. bis 1962 blieb. Seit dem Beginn der 1960er Jahre gewannen H.s nun überwiegend solistischen Kabarettvorträge verstärkt polit. Tendenz. Seine 1959 im Auftrag des WDR geschriebenen Carmina Urana – Vier Gesänge gegen die Bombe, die seinerzeit nicht gesendet worden waren, erschienen 1963 auf Schallplatte. Mit der Studentenbewegung kam es nach einer kurzfristigen Annäherung zum Bruch, weil H. ihr als zu kleinbürgerlich u. zu wenig revolutionär galt. Rüde Störungen seiner Auftritte empfand er als »öffentliche Hinrich-
tung« u. beantwortete sie 1970 mit dem Programm Enthauptungen. Bis 1973 trat H. nur noch in der Schweiz auf. Für das ZDF führte er als satir. Reiseleiter den Zuschauer in ferne Länder; außerdem lieh er als Synchronsprecher rund 400 Filmen der Stummfilm-Klamotte (u. a. Dick & Doof, Die kleinen Strolche, Pat & Patachon, Väter der Klamotte) seine Stimme. Tagespolitische Themen griff H. nur selten auf. Seine Stoffe fand er v. a. im Alltag u. in der Provinz. Geradezu seismografisch erfasste er die Eigenarten der kleinen Leute vom Niederrhein u. überzeichnete sie – mitunter freilich bis zur Redundanz – in ihrer Liebenswürdigkeit, Schrulligkeit u. – mit krit. Blick auf die gesamtgesellschaftl. Situation – in ihrem Provinzialismus u. ihrem Hang zum unverbindl. Smalltalk, den er als Form der Verdrängung bzw. Sublimierung existenzieller Nöte entlarvt. H. interpretierte das Kabarett als Medium nicht der Agitation u. der Aktion, sondern v. a. der Reflexion. Mit Hagenbuch kreierte er in den 1970er Jahren eine Alter-ego-Figur, die ihm nach eigener Aussage als Sprachrohr einer »auf die Spitze getriebenen Skepsis der Welt gegenüber« dient (Hagenbuch hat jetzt zugegeben und andere Rede- und Schreibweisen. Köln 1979. Der Fall Hagenbuch Mchn. 1983. Hagenbuch. Ketzerische Gedanken. Mchn. 1985). Programme wie Das neue Programm (1980) oder Und sie bewegt mich doch (1985) u. eine ständige Präsenz im dt. Fernsehen sowie auf dem Buch- u. Schallplattenmarkt ließen H.s Popularität steigen. Nach dem Tod seiner Frau Marianne zog H. 1988 von seiner Wahlheimat Mainz nach Köln. Vermehrt bestimmten nun religiöse Gehalte seine Texte, so etwa in Das Schwere leicht gesagt (Düsseld. 1991). Rezitativ-musikalische Interpretationen von Bibeltexten, v. a. der Psalmen (Ich stehe unter Gottes Schutz. Psalmen für Alletage, Düsseld. 1999), sowie die Adaptation liturg. Formen wie etwa der Predigt gehörten inzwischen zu festen Bestandteilen seiner Programme. In Wir sehen uns wieder. Geschichten zwischen Himmel und Erde (Mchn. 1995) wird H. von Gottvater als Unterhalter in den Himmel eingeladen, wo er nicht nur verstorbene Weggefährten wiedertrifft, sondern auch seinem »lieben Gott« in Augenhöhe begegnet. 1990 erschien seine
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Hüttenegger
Autobiografie Du kommst auch drin vor. Ge- sein. Düsseld. 2002. – Zugabe. Unveröffentlichte dankengänge eines fahrenden Poeten (Mchn.), in Texte aus fünf Jahrzehnten. Köln 2003. Literatur: Elke Frühling: H. D. H. Ein Mainzer der er freimütig die Bilanz eines an Höhen u. Tiefen reichen Lebens zieht. Nach einer Kabarettist. Mainz 1983. – Bernd Schroeder: H. D. schweren Lungenkrebserkrankung beendete H. hat jetzt zugegeben. Zürich 1985. – Georg Guntermann: Gesch.(n) aus der Reihe. Zur großen H. 2000 seine Auftritte. Kleinkunst des H. D. H. In: WW 44 (1994), Mit ihrem Anspielungsreichtum, ihren S. 439–456. – Martin Buchholz: Was machen wir Verfremdungseffekten u. ihrem artistischen hinterher? H. D. H. – Bekenntnisse eines KabaretZitatismus setzen H.s Texte da, wo sie den tisten. Moers 2000. – Jürgen Schmude u. Wilhelm Horizont des Allgemein-Menschlichen ver- Brunswick (Hg.): Untersteht euch – Es wird nix lassen, beim Rezipienten mitunter ein hohes gemacht. H. D. H. zum 80sten. Moers 2005. – MiMaß an humanist. Bildung voraus. Die Ein- chael Koetzle: H. D. H. In: KLG. Ralf Georg Czapla fachheit u. Verbindlichkeit seiner Sprache brachte ihm jedoch auch außerhalb bildungsbürgerl. Kreise Zustimmung u. Aner- Hüttenegger, Bernhard, * 27.8.1948 Rotkennung. H. erhielt zahlreiche Auszeich- tenmann/Steiermark. – Prosa- und Hörnungen, darunter 1977 die Ehrenbürger- spielautor. würde der Universität Mainz, 1978 die GuNach der Ausbildung zum Volksschullehrer tenberg-Plakette der Stadt Mainz, 1989 die studierte H. in Graz zunächst Germanistik u. Carl-Zuckmayer-Medaille für kulturelles Geschichte, brach das Studium aber nach Wirken des Landes Rheinland-Pfalz u. den kurzer Zeit ab u. entschied sich für eine Ehrenring der Stadt Mainz, 2000 den PreExistenz als freier Schriftsteller. Zwischendigtpreis sowie 1972 u. 1982 den Deutschen zeitlich in Wien wohnhaft, lebt er heute in Kleinkunstpreis. Klein-St. Veit/Kärnten. Weitere Werke: Kabarettprogramme: NikolausiAb Mitte der siebziger Jahre gehörte H. ge Zeiten. 1952. – Opus Pokus. 1961. – Cabaretü- zum Autorenkreis um das Grazer Forum den. 1967. – Quartett ’68. Zus. mit Franz Josef Stadtpark u. dessen Zeitschrift »manuskripDegenhardt, Dieter Süverkrüp u. Wolfgang Neuss. te« u. war einige Jahre lang freier Mitarbeiter 1968. – Heil Dir im Lorbeerkranz. 1970. – Privades Österreichischen Rundfunks (in der Litetissime. 1974. – Das schwarze Schaf vom Niederrhein. 1976. – Preis am Stiel. 1979. – Das neue raturabteilung des Landesstudios Steiermark) Programm. 1981–84. – Tabula rasa. Dt. Gesch. in sowie verschiedener deutschsprachiger Zei90 Minuten. 1982. – Meine Gesch.n. 1994–97. – tungen (u. a. der »Neuen Zürcher Zeitung«). Schallplatten: Das Wort zum Montag. Safari zwi- In seinem 2007 erschienenen, fälschlicherschen Maas u. Memel. 1968. – Joseph Goebbels: weise als Roman ausgewiesenen Buch des Michael. Ein dt. Schicksal in Tagebuchblättern. Schweigens (Klagenf./Wien), einer Sammlung 1974. – Das schwarze Schaf vom Niederrhein. 1978. autobiogr. Skizzen u. Momentaufnahmen, – Hagenbuch hat jetzt zugegeben. 1979. – Das neue erinnert sich H. an diese Zeit seiner literar. Programm. 1981. – 40 Jahre unterwegs. 1988. – Ich Anfänge. Rasch erlangte er damals Bekanntstehe unter Gottes Schutz. Psalmen. 1996. – Das heit u. Anerkennung als ein Verfasser von Nibelungenlied in Schüttelreimen. 1996. – Meine detailgenauen Erzählungen, die in Methode Bibel. 1999. – Buchveröffentlichungen: Das schwarze u. Diktion an Peter Weiss’ u. Ror Wolfs Schaf vom Niederrhein. Texte u. Lieder vom fla»Poetik der Wahrnehmung« anknüpfen u. chen Land. Mchn. 1983. – Das H. D. H. Buch. Hbg. sich durch große sprachl. Präzision aus1993. – Tach zusammen. Gesch.n u.Bilder vom zeichnen. In seinem Frühwerk ist es H. vor Niederrhein. Duisburg 1993. – Mein Traum vom Niederrhein. Duisburg 1996. – Kabarett auf eigene allen Dingen um die »Rückverwandlung der Faust. 50 Bühnenjahre. Mchn. 1997. – Meine als Wirklichkeit mißverstandenen ›realen‹ Gesch.n. Kempen 1997. – Ich setze auf die Liebe. Welt in eine ›Kunstwelt‹« zu tun. Intensive Moers 1998. – Es kommt immer was dazwischen. Wahrnehmung u. sinnl. Erfahrung dienen Mchn. 1999. – Ein gütiges Machtwort. Alle meine ihm dabei als Gegengewichte zu einer in Predigten. Düsseld. 2001. – Ich möchte ein Clown Utilitarismus u. Nivellierung erstarrten Welt.
Hüttenegger
So ist der Protagonist der in einem mediterranen Fischerdorf angesiedelten Erzählung Die sibirische Freundlichkeit (Salzb. 1977) mit dem Entwurf einer Fingerspitzenerotik beschäftigt – ein für H.s Werk exemplarischer Versuch, Leben u. alltägl. Zusammenleben auf Sinnlichkeit u. Unmittelbarkeit zu gründen. Wie ein Naturforscher – u. damit aus einer verfremdenden Perspektive – betrachtet H. in vielen seiner Prosatexte die Gesellschaft, in der er lebt, seine Zeit u. seinen Alltag. Seine ersten beiden Romane Reise über das Eis (Salzb./Wien 1979) u. Die sanften Wölfe (Reinb. 1982) zeichnen sich infolgedessen v. a. durch eine Verquickung realistischer u. fantastischer Elemente aus. An die Stelle eines konventionellen Handlungsgefüges tritt ein Labyrinth aus Metaphern; die herkömmliche narrative Logik weicht einem assoziativen Denken in Bildern. Nach den Sanften Wölfen veröffentlichte H. nur noch zwei Romane: Die Tarnfarbe (Wien 1991), einen in der österr. Provinz angesiedelten Künstlerroman, u. Abendland (Wien/ Klosterneuburg 2001), sein bis dato umfangreichstes Erzählwerk, das von der Kritik weitgehend ignoriert wurde. Darin lässt H. sein Alter Ego, den resignativen Schriftsteller Albin Kienberger in einer mühelos als Wien erkennbaren »alten Kaiserstadt« den Beruf eines Warenhausdetektivs ergreifen u. schließlich mit obskuren Zirkeln u. Geheimbünden in Berührung kommen, wodurch er in weiterer Folge immer mehr abdriftet in ein Paralleluniversum, in jene Art von Möglichkeitswelt, deren Umrisse sich bereits in H.s früheren Büchern deutlich abzeichneten. Im Ganzen ist Abendland eine zeitgenöss. Odyssee, wobei die eigene, österr. u. europ. Gegenwart wie in einem Zerrspiegel eingefangen u. ins Groteske übersteigert erscheint. Der Undurchschaubarkeit u. Komplexität des Erzählten korrespondiert eine formale Vielfalt u. Heterogenität: enzyklopäd. Einschübe, Reiseberichte, Texte im Text machen aus diesem Roman ein episches Mosaik, das von Spenglers Untergang des Abendlandes ebenso beeinflusst ist wie von den Romanen Thomas Pynchons.
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Neben seinen Erzählungen u. Romanen publizierte H. das Kinderbuch Felix, der Floh (Klagenf./Salzb. 1993) sowie drei Sammlungen von Reiseskizzen u. -protokollen – Die Unschuld am Morgen (Wien/Klosterneuburg 2000), Insel aller Inseln (Klagenf./Wien 2004) u. Weg von allem (Klagenf./Wien 2006) – u. verfasste eine Reihe von Hörspielen. Das bedeutendste davon, Quasi una fanatasia (1991), erschien, zusammen mit einer Auswahl von H.s Gedichten, auch in Buchform (Klagenf./Wien 2006). Es handelt von einer fantasierten Zweisamkeit, von einem Mann u. einer Frau, die einander nie begegnet sind, doch in ihren Tag- u. Nachtträumen ständig miteinander Zwiesprache halten. Von einem Hoffnungsträger der österr. Literatur wurde H. mehr u. mehr zu einem ihrer Außenseiter. Seit den späten achtziger Jahren ist er im Literaturbetrieb kaum noch präsent. Seine Isolation als Schriftsteller spiegelt sich in seinen Erzählungen u. Romanen deutlich wider, in denen immer wieder Situationen existenzieller Isolation thematisiert werden, von Der Glaskäfig (Reinb. 1985) bis zu dem Kurzroman Rockall (Klagenf./Wien 2006), den H. als »sein Vermächtnis« bezeichnet. Darin wird von einem Mann erzählt, den die totalitäre Macht einer nicht näher definierten nahen Zukunft auf einem Vogelfelsen im Nordatlantik ausgesetzt hat. H. erhielt für sein literar. Schaffen nur wenige Preise, u. a. 1980 den Literaturpreis des Landes Steiermark. Weitere Werke: Beobachtungen eines Blindläufers. Wien 1975 (P.). – Schöne Stille. ORF 1978 (Hörsp.). – Ein Tag ohne Gesch. Pfaffenweiler 1980 (E.en). – Verfolgung der Traumräuber. Tagesverläufe. Graz 1980 (P.). – Atlantis. ORF 1983 (Hörsp.). – Wie man nicht berühmt wird. Wahre Gesch.n. Wien 1990. (E.en). – Der Hundefriedhof v. Paris. Klagenf./Salzb. 1994 (E.en). – Wer seinen Sohn liebt. Erzählung. Klagenf./Wien 2003. – Alphabet der Einsamkeit. Notizbuch 1973–2006. Klagenf./ Wien 2008. Literatur: Günter Eichberger: Die Falten am Bild der Wirklichkeit. B. H. In: Ders.: Die Theorie der Praxis, die Praxis der Theorie. Das poetolog. Selbstverständnis österr. Gegenwartsautoren. Diss. Graz 1984, S. 225–234. – Irmgard Wurz: Die Struktur des Wortschatzes bei B. H. am Beispiel des
643 Romans ›Reise über das Eis‹. Diplomarb. Wien 1984. – Petra Ernst: B. H. In: LGL. – Gerhard Melzer: B. H. In: KLG. – Maria Wölflingseder: Das vielsagende ›Buch des Schweigens‹. B. H.s Bilanz seines Schreibabenteuers. In: LuK 42 (2007), H. 413/414, S. 90–93. Christian Teissl
Hütter, Leonhart, aúch: Leonhardus Hutterus, * Jan. 1563 Nellingen (bei Ulm), † 23.10.1616 Wittenberg. – Lutherischer Theologe, theologischer Fachschriftsteller. Nach dem Schulbesuch in seiner Vaterstadt studierte der Pfarrerssohn von 1581 an in Straßburg die Artes liberales u. Theologie u. erwarb 1583 den Magistergrad. H. setzte seine Studien in Heidelberg (Immatrikulation am 22.9.1582, erneut 9.2.1593), Jena (Sommersemester 1590) u. Leipzig (Wintersemester 1590) fort u. wurde am 21.12.1593 unter dem Vorsitz von Georg Mylius in Jena mit einer Disputation über die Prädestinationslehre zum Dr. theol. promoviert. 1596 wurde H. als Nachfolger des aufgrund seines Gnadenuniversalismus 1595 amtsenthobenen u. des Landes verwiesenen Samuel Huber auf eine Professur für Theologie nach Wittenberg berufen, die er bis zu seinem Lebensende innehatte. Seine Berufung an die Leucorea war integraler Bestandteil des Bestrebens, das konkordistische Luthertum in Kursachsen nach der zweiten Niederringung des sog. Kryptocalvinismus (1591) zu konsolidieren. H., dem bereits vor seiner Berufung nach Wittenberg der Ruf vorauseilte, ein »alter Lutherus« zu sein, u. dem Johann Conrad Dannhauer 1648 die anagrammat. Bezeichnung »redonatus Lutherus« zuteil werden ließ (Steiger, in: Hütter: Compendium, S. 699), ist einer der wichtigsten Vertreter der luth. Orthodoxie. Seine erfolgreichste Schrift ist das Compendium Locorum Theologicorum (1610; dt. Übers. von H., 1613), ein im Auftrag des sächs. Kurfürsten Christian II. erarbeitetes Lehrbuch für den Gebrauch in Schule u. Universität, das bis ins 20. Jh. mehr als hundertmal neu aufgelegt wurde. Das Compendium ist das bedeutendste u. wirkungsträchtigste Lehrbuch des barocken Luthertums,
Hütter
vermittelt in bestechend klarer sowie knapper Weise einen Einblick in das Gesamte der Theologie u. hat zahlreichen Vertretern der geistigen Elite des 17. Jh. (Paul Gerhardt, Paul Fleming, Johann Sebastian Bach u. v. a.) theolog. Grundlagen vermittelt. Das Compendium speist sich aus der Hl. Schrift, den im Konkordienbuch versammelten Bekenntnisschriften sowie Texten der Kirchenväter u. Luthers, v. a. aber Melanchthons, dem H. eine genuin luth. Rezeption angedeihen ließ. Eine wie hohe Bedeutung der Konkordienformel bereits zu Beginn des 17. Jh. zukam, zeigt sich u. a. anhand von H.s umfänglicher, aus Vorlesungen entstandener Schrift Libri christianae concordiae (1608). H.s großes dogmat. Werk, die Loci communes theologici, geht auf seine Vorlesungstätigkeit in den Jahren 1596–1602 zurück, wurde aber erst postum 1619 publiziert. Ebenfalls im Auftrag des sächs. Kurfürsten entstand H.s Reaktion auf des reformierten Theologen Rudolf Hospinian polemisches, gegen die Konkordienformel gerichtetes Werk Concordia discors (1607), die 1614 unter dem Titel Concordia concors erschien. Mit dem Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg zur reformierten Konfession (1613), der Außerkraftsetzung der Konkordienformel u. dem Verbot für brandenburgische Studenten, die Universität Wittenberg zu besuchen, setzte sich H. kritisch in Calvinista AulicoPolitico alter (1614) auseinander. Auf seine akadem. Tätigkeit als Prediger gehen H.s Meditationes crucis Christi (1612) zurück. Ausgaben: Compendium locorum theologicorum [...]. Hg. Wolfgang Trillhaas. Bln. 1961. – Dass. Dt. Ausg., übers., eingel. u. hg. v. Wolfgang Schnabel. Waltrop 2000. – Dass. Lat.-dt.-engl. Kritisch hg., komm. u. mit einem Nachw. sowie einer Bibliogr. sämtl. Drucke des Compendium vers. v. Johann Anselm Steiger. 2 Teilbde. Stgt.-Bad Cannstatt 2006. Literatur: Friedrich Balduin: Des Heiligen Propheten Eliae Himmelfahrt [Leichenpredigt]. Wittenb. 1617. – Helmar Junghans: Philipp Melanchthons ›Loci theologici‹ u. ihre Rezeption in dt. Universitäten u. Schulen. In: Werk u. Rezeption Philipp Melanchthons in Universität u. Schule bis ins 18. Jh. Hg. Günther Wartenberg. Lpz. 1999,
Hufeland
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S. 9–30. – Walter Sparn: L. H. In: RGG, 4. Aufl. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2., S. 935–939. Johann Anselm Steiger
Hufeland, Christoph Wilhelm, * 12.8. 1762 Langensalza, † 25.8.1836 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Arzt u. Medizinschriftsteller.
»Bibliothek der praktischen Wundarzneikunst« (1799–1843; ersch. seit 1808 u. d. T. »Bibliothek der praktischen Arzneikunde und Heilkunde«) wichtige Periodika begründet. Für seine Verdienste wurde er vielfach ausgezeichnet; Rufe an bedeutende Universitäten lehnte er jedoch ab; 1810 wurde er Mitgl. der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin.
Der Sohn des Weimarer Leibmedikus Johann Weitere Werke: Über die Ungewißheit des Friedrich Hufeland (1730–1787) studierte Todes u. das einzig untrügl. Mittel, [...] das Le1780 Medizin in Jena bei Justus Christian bendigbegraben unmöglich zu machen [...]. Lpz. Loder u. seit 1781 in Göttingen, wo er 1783 1791. – Gemeinnützige Aufsätze zur Beförderung bei Lichtenberg mit einer Arbeit über die der Gesundheit [...]. Jena 1794. – Guter Rath an Möglichkeit der Wiederbelebung Scheintoter Mütter über die wichtigsten Punkte der phys. Erziehung der Kinder in den ersten Jahren. Wien durch Elektrisieren promovierte. 1783–1793 1799. – Enchiridion medicum [...]. Vermächtnis wirkte er als Arzt in Weimar, wo Goethe, einer 50jährigen Erfahrung. Herisau 1836 u. ö. Schiller, Herder u. Wieland zu seinen PatiLiteratur: Walter v. Braun (Hg.): H., Leibarzt u. enten u. Freunden gehörten. 1792 von Her- Volkserzieher. Selbstbiogr. Stgt. 1937. – Markwart zog Karl August zum Professor ernannt, Michler: C. W. H. In: NDB. – Hans Ewers: C. W. H. übernahm H. Ostern 1793 den medizinischen – ein Freund Goethes u. der Menschen. In: GoetheLehrstuhl der Universität Jena. Jb. 104 (1987), S. 382–386. – Dietmar Kruczek: Der In seiner bekanntesten Veröffentlichung, Mann, der das Leben verlängern wollte. Aus dem der Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben des Arztes C. W. H. Bln. 1989. – Stefan Leben zu verlängern (Jena 1796 u. ö. Neudr. Goldmann: C. W. H. im Goethekreis. Eine psyFfm. 1984), propagierte H. seine Thesen von choanalyt. Studie zur Autobiogr. u. ihrer Topik. der Notwendigkeit einer prophylakt. Medi- Stgt. 1993. – Klaus Pfeifer: Medizin der Goethezeit. C. W. H. u. die Heilkunst des 18. Jh. Köln u. a. 2000. zin, von der Bedeutung der Naturheilkunde Walter Hettche / Red. sowie einer öffentl. Gesundheitsfürsorge, die in ihrer sozialen Ausrichtung – etwa der Forderung nach kostenloser medizinischer Huggenberger, Alfred, * 26.12.1867 BeBetreuung, bes. auch der unteren Bevölkewangen/Kt. Zürich, † 14.2.1960 St. Karungsschichten – für diese Zeit revolutionär tharinental bei Diessenhofen/Kt. Thurwaren. gau. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. 1801 wurde H. zum Ersten Direktor der Charité u. als kgl. Leibarzt nach Berlin beru- Als Sohn eines Bauern war H. von Kind auf in fen; gleichzeitig leitete er das Collegium der Landwirtschaft tätig u. musste auf eine Medico-chirurgicum u. wurde nach dessen höhere Schulbildung verzichten, weil seine Auflösung 1810 der erste Dekan der Medizi- Arbeitskraft benötigt wurde. 1896 übernahm nischen Fakultät an der von ihm mitbegrün- er den väterl. Hof u. arbeitete sich allmählich deten Berliner Universität. Zu seinen medi- zum Großbauern empor, so dass er 1908 mit zinhistorisch bedeutendsten Leistungen ge- seiner Familie ein kleineres Gut in Gerlikon/ hört die Einrichtung des ersten poliklin. In- Kt. Thurgau beziehen konnte, das er bis zu stituts in Deutschland, in dem seine Forde- seinem Tod selbst bewirtschaftete. rung nach kostenloser Behandlung der ArAls Autor war H. unbedingter Autodidakt men verwirklicht wurde. u. bezog seine Stoffe u. Themen aus dem H. hat etwa 400 medizinische Abhandlun- Umfeld seines bäuerl. Alltags. Er hatte bereits gen publiziert u. mit dem »Journal der unzählige volkstüml. Verse, Schwänke u. praktischen Arzneikunde und Wundarznei- humoristische Szenen publiziert u. besaß inkunst« (1795–1836; seit 1808 u. d. T. »Jour- nerhalb des schweizerischen Dialekttheaters nal für praktische Heilkunde«) sowie mit der einen guten Namen, als der Gedichtband
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Hugo von Langenstein
Hinterm Pflug. Verse eines Bauern (Frauenfeld Hugo von Langenstein. – Verfasser einer 1907) ihn unversehens im gesamten dt. 1293 beendeten, voluminösen Legende Sprachbereich bekannt machte. Hermann (32.588 Verse) von der römischen MärtyHesse, Ludwig Thoma u. Josef Hofmiller rerin Martina. förderten ihn, u. bald erschienen seine Gedichte u. Erzählungen im »März«, in den H. stammte aus dem Ministerialenadel am »Süddeutschen Monatsheften« u. im »Sim- Bodensee u. trat 1271 zusammen mit seinen plicissimus«. Mit Die Bauern von Steig (Lpz. drei Brüdern u. seinem Vater Arnold, Stifter 1912) vermochte er den Erfolg auf die Gat- der Kommende Mainau u. zeitweilig Klostung des bäuerl. Romans auszudehnen u. terministeriale der Reichenau, dem Deutfand mit Werken wie Die Geschichte des Heinrich schen Orden bei. Er wird in Urkunden des Lentz (Lpz. 1916), Die Frauen von Siebenacker Ordens 1291 in der Kommende Beuggen u. (Lpz. 1925) u. Die Schicksalswiese (Lpz. 1937) 1298 in der Kommende Freiburg i. Br. als v. a. auch in Deutschland eine große Leser- Priesterbruder genannt. Er verfügte über gemeinde. H.s Romanfiguren sind bisweilen gute theolog. Kenntnisse; aber auch Werke von imponierender, packender Eigenwillig- der höf. Dichtung waren ihm bekannt. Sein keit, u. seine Schilderungen besitzen über literar. Vorbild war Konrad von Würzburg, weite Strecken unmittelbare Anschaulichkeit den er vielleicht auch persönlich kannte. Vor u. Glaubwürdigkeit. Mit seiner Verherrli- allem dessen Goldene Schmiede schätzte er sehr. chung der bäuerl. Welt erschien der Schwei- Stilistisch ist der Einfluss Konrads unüberzer in der NS-Zeit unvermittelt als Vorbild für sehbar. Die Anregung, die Martina zu verfassen, die parteiamtlich geförderte Blut- und Boden-Literatur, u. es gehört zu den trag. Mo- stammte von einer Dominikanerin, bei der es menten seines Lebens, dass er der Versuchung sich um H.s Schwester Adelheid handeln nicht widerstand u. sich zum Instrument ei- könnte, die im Kloster Löwental bei Buchner Politik machen ließ, die ihm im Grunde heim lebte. H.s Legende ist eine der ältesten fremd war: 1937 nahm er den Johann-Peter- geistl. Dichtungen des Deutschen Ordens. Hebel-Preis entgegen u. ließ sich von Goeb- Die hl. Martina gehört jedoch nicht zu den bels dazu gratulieren, 1942 wurde er Ehren- bekannteren Heiligen; ihre Legende bietet senator der Deutschen Akademie in Mün- eine durchschnittl. Jungfrauen-Passion: Aufgrund ihrer Standhaftigkeit im Glauben wird chen. H.s Nachlass befindet sich in der Kantons- sie von den Heiden gequält u. grausam hingerichtet. H. ist bestrebt, Martina als Orbibliothek Frauenfeld. Ausgaben und weitere Werke: Gedenkausg. densheilige aufzubauen. Er stellt ihre wahren zum 100. Geburtstag. Hg. Hans Brauchli. 4 Bde., christl. Rittertugenden heraus, die auch für Weinfelden 1967. – Dorf u. Acker. Gedichte u. E.en. den Orden im Kampf gegen das Heidentum Belp 1992. – A. H. erzählt sein Leben. Eine innere vorbildlich sein müssten. Biogr. Hg. Dino Larese. Belp 2000 (Autobiogr.). Die Martina gehört zu den außergewöhnLiteratur: Fritz Wartenweiler: A. H. Elgg 1967. lichsten volkssprachl. Legenden des dt. MA, – Hermann Wahlen: A. H. In: Dichter u. Maler des da sich H. nicht nur auf die Handlung u. deBauernstandes. Bern 1973. – Rosmary Küng: A. H. ren Explikation beschränkt, sondern in den Nachlaßverz. u. Bibliogr. Frauenfeld 1977. – Text auch eine umfassende, anspruchsvolle Christine Schaller: A. H. Aufarbeitung des NachLebenslehre integriert. Unter Benutzung lasses. Frauenfeld 1987. – Bruno Oetterli Hohlenbaum: A. H. u. das Nazi-Regime. In: Harass 5 zentraler theolog. Werke, wie des Compendium (2001), H. 13, S. 177–186. – Rudolf Weiler: A. H. – theologicae veritatis Hugo Ripelins, der Schrift Bauerndichter als Erfolgsautor im Dritten Reich. De miseria conditionis humanae Papst Innozenz’ III. oder des Physiologus, sucht er, seinen In: Harass 6 (2002), H. 14. Charles Linsmayer / Red. ungebildeten Mitbrüdern theolog. u. spirituelles Wissen zu vermitteln. Vornehmlich unter Verwendung von Glossen u. Allegorese äußert sich H. zur Heilsgeschichte, zum
Hugo von Montfort
Antichrist, zu den christl. Tugenden u. anderem. Das Werk ist im Hinblick auf seine Verwendung bei der Tischlesung in 292 Vorleseabschnitte gegliedert. Die Mitbrüder sollten sowohl erbaut, als auch in theolog. Grundfragen eingeführt werden. Die Martina ist zwar unikal überliefert, scheint aber trotzdem bekannt gewesen zu sein. Sie erreichte offenbar das preuß. Ordensland, denn der Dichter des Daniel hat sie verwendet. Auch Johannes von Tepl könnte sie gekannt haben. In der Moderne hat Arno Schmidt in Abend mit Goldrand (1975) die Martina direkt zitiert u. die Märtyrerin als Identifikationsfigur für seine Heldin Martina reklamiert. Ausgabe: Martina. Hg. Adelbert v. Keller. Stgt. 1856. Neudr. 1978. Literatur: Arno Borst: Mönche am Bodensee, 610–1525. Sigmaringen 1978. – Georg Steer: H. v. L. In: VL. – Martina Horn: Zu H. v. L.s ›Martina‹. In: Ergebnisse der 22. und 23. Jahrestagung des Arbeitskreises ›Deutsche Literatur des Mittelalters‹. Greifsw. 1990, S. 130–140. – Eckart Conrad Lutz: Ein Reimwörterbuch zur ›Martina‹ des H. v. L. In: ZfdPh 114 (1995), S. 116–118. – Dorothee Steeb: Entgrenzung u. Erlösung. Die ›Martina‹ des H. v. L. In: Genderdiskurse u. Körperbilder im MA. Münster u. a. 2002, S. 221–231. – Steffen Fahl: Dichte u. Wahrheit. Zu H. v. L.s ›Martina‹ in Schmidts ›Abend mit Goldrand‹. In: Zettelkasten 20 (2001), S. 25–81. Werner Williams-Krapp / Red.
Hugo von Montfort, * 1357, † 5.4.1423. – Verfasser von Liedern, Briefen u. Reden. Über das Leben des Dichters geben neben Urkunden auch Chroniken u. literar. Zeugnisse Auskunft. H. stammt aus dem vorderösterr. Grafengeschlecht derer von Montfort-Bregenz. Den Bregenzer Besitz, den er beim Tod seines Vaters Wilhelm 1378 erbte, konnte er durch drei Heiraten – 1373 mit Margarethe von Pfannberg († um 1388), um 1395 mit Clementia von Toggenburg († um 1400) u. 1402 mit Anna von Neuhaus u. Stadeck – um ein Beträchtliches erweitern. Er spielte eine herausragende polit. Rolle insbes. in der steiermärk. Landespolitik. 1377 nahm er an einem Kreuzzug Herzog Albrechts III. gegen die Preußen teil; weitere Kriegszüge im Dienste der Habsburger nach Italien u. in
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die Schweiz folgten. 1388 war er österr. Landvogt in Thurgau, Aargau u. auf dem Schwarzwald, 1395–1397 Hofmeister Herzog Leopolds IV. Höhepunkt seines polit. Lebens war seine Tätigkeit als Landeshauptmann der Steiermark 1413–1415. Zur Zeit seines Todes war H. einer der einflussreichsten Männer in der Steiermark u. im Bodenseegebiet. H.s Gedichte sind in einer in Heidelberg aufbewahrten Prunkhandschrift (cpg 329) überliefert, die der Autor mit zieml. Sicherheit selbst in Auftrag gegeben hat. Vermutlich geht sie auf eine Sammlung des Jahres 1401 (vgl. XXXI) zurück. Sie dürfte bald nach dem 4.7.1414 (vgl. XXXVIII) beendet u. 1414/ 15 von Heinrich Aurhaym illustriert worden sein. Die Texte H.s in alemann. Sprache wurden wohl erst beim Abschreiben mit steir. Dialektformen gefärbt. Der Kodex, der auch Melodien enthält, ist vielleicht die erste dt. Liederhandschrift überhaupt, die das Œuvre eines Dichters noch zu seinen Lebzeiten u. in dessen Auftrag aufzeichnete. Von den 40 unter H.s Namen überlieferten Gedichten werden ihm die beiden letzten (XXXIX, XL) von der Forschung abgesprochen. Gegen H.s Verfasserschaft sprechen u. a. mitteldt. Sprachformen, der – jüngere – musikal. Stil, der komplizierte Strophenbau u. inhaltl. Züge. Die verbleibenden 38 Gedichte gliedern sich in folgende drei Gattungen: Briefe (7), Lieder (11) u. Reden (20), wobei die Gattungsgrenzen insbes. durch gattungsfremd eingesetzte Motive u. die metr. Gestaltung oft verwischt werden. In einem Rückblick des Jahres 1401 auf sein dichterisches Schaffen teilt H. sein bis zu diesem Zeitpunkt vorliegendes Œuvre in 17 Reden, 3 Briefe u. 10 Lieder ein (vgl. XXXI, 161–176). Diese 30 erwähnten Gedichte dürften den ersten 30 Texten des Heidelberger Kodex entsprechen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Anordnung in der Handschrift mit der chronolog. Reihenfolge der Gedichte übereinstimmt; allerdings lassen sich in der Sammlung von 1401 (I–XXXI) Ansätze einer Reihung nach Gattungen erkennen, die nicht chronologisch sein muss. Sechs Gedichte sind im Text selbst datiert: XXIII (1396), XXXI (1401), XXXIV–XXXVI (1402), XXXVIII (4.7. 1414); dazu kann man aufgrund von biogr. u.
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zeitgeschichtl. Bezügen V (1391/93), XXVIII (1400/1401) u. XXXVII (nach 1402) zumindest annähernd datieren. Grundthemen H.s sind Liebe, Morallehre, Toten-, Welt- u. Sündenklage, häufig kombiniert u. auf keine der einzelnen Gattungen beschränkt. Der belehrende Charakter ist Grundtendenz der Gedichte. Das vermittelte Wissen ist nicht auf einen eindeutig bestimmbaren Bildungsgang H.s zurückzuführen. Offenbar kannte er sich gut in der deutschsprachigen Dichtung aus u. schöpfte daraus; weitere Kenntnisse könnte er Predigten verdanken. Bei der metr. Gestaltung seiner Gedichte bevorzugt H. vierhebige Verse. Neben Paarreimen setzt er überwiegend Kreuzreime als Viererstrophen u. Bauelemente für umfangreichere Strophen ein. Daneben versucht er sich in der Nachahmung der Titurelstrophe (vgl. XV). Die sieben Briefe stehen in der Tradition gereimter Liebesbriefe. Außer dem konventionellen III richten sich die Briefe offensichtlich an reale Adressatinnen, die Ehefrauen Clementia (XIX, XX, XXIII) u. Anna (XXXIV–XXXVI); dieser historisch-realistische Rahmen führt jedoch zu keinen »privaten« Äußerungen des Dichters. Liebespreis u. Ergebenheitsversicherung sind traditionell, die Namen bleiben verschwiegen. Auffallend ist die Betonung der Tugenden »trüwe«, »zucht« u. »er« (vgl. die briefähnl. Rede XXVI mit einer an eine Frau gerichteten Tugend- u. Verhaltenslehre; gerade das Beispiel XXVI mit seiner ausgeprägten didakt. Intention zeigt, dass die Übergänge zwischen der Gattung Brief u. Rede im Werk H.s fließend sind). Von den Liedern sind acht mit Melodien überliefert (VII, X–XIII, XXII, XXIX, XXXVI), die nach Ausweis von XXXI, 177–190 nicht H. selbst komponiert hat, sondern »Bürk Mangolt unser getrewer knecht ze Pregentz«. Fünf dieser Lieder stehen im Kontext des Liedtyps Tagelied: VIII zeigt Anklänge an die (provenzal.) Serena; X u. XII sind geistl. Wächterlieder mit Mahnung zu religiöser Besinnung u. Umkehr; in XI vereinen sich Elemente von geistl. Wächterlied, weltl. Tagelied u. Frauenpreis zu einem neuen Ganzen (mit Absage an die »Tanzlieder«). In XXXVII
Hugo von Montfort
mit Stilisierung des Liebenden als alterndem Ehemann verliert der Wächter seine urspr. Funktion: Die Liebenden sind verheiratet; das Lied enthält in der Hauptsache einen Preis der Ehefrau. Die belehrend religiösen Lieder reichen vom Hilferuf des Sünders zur Gottesmutter (XIII) über die religiöse Unterweisung an die Ehefrau (XXII) bis zum Streitgespräch mit Frau Welt (XXIX). Daneben stehen drei ohne Melodien überlieferte Lieder mit Refrain, meist als Tanzlieder bezeichnet: VI, VII u. IX, eine Jagdallegorie. Gerade in der Lieddichtung zeigt sich die Freiheit des adligen Gelegenheitsdichters im Umgang mit der Tradition bes. deutlich. H. verfasst keine zur Formelhaftigkeit erstarrten schemat. Lieder, sondern löst sich durch eine Art »Personalisierung« von der herkömml. Lieddichtung, funktionalisiert traditionelle Liedtypen um (XI u. XXXVIII) u. führt als Neuerung das autobiografisch zu verstehende Ich als Spannungselement ein (Brunner). Dass hinter H.s dichterischer Produktion ein verändertes Kunstverständnis steht, hat Bennewitz-Behr in ihrer Interpretation von XXIX verdeutlicht: In dieser Bearbeitung des traditionellen »Frau-Welt«-Themas wird das v. a. im Hohen Sang postulierte Selbstverständnis von Dichtung als einem notwendigen Bestandteil gesellschaftl. Identitätsbildung nachhaltig erschüttert. Die verbleibenden Gedichte gehören der Gattung der Rede an, den eingestreuten Publikumsanreden nach wohl zum Vorlesen bestimmt (vgl. die immer wieder gebrauchte Formel vom »lesen hören«, z.B. in XXVII, 726). Wachinger gliedert die Reden nach inhaltl. Gesichtspunkten in adlige Tugendlehre (XIV: Vater-Sohn-Lehre; vergleichbar ist die briefähnl. Übergangsform XXVI, s. o.), Minnereden (I, II, XVI–XVIII, XXI), geistl. Reden (IV, XV, XXV, XVII, XVIII, XXX, XXXII, XXXIII) u. geistl. Reflexionen über Liebe u. Dichtung (V, XVIII, XXIV, XXXI, XXXVIII). In den Minnereflexionen u. -lehren vereint H. die zeitlos gewordene höf. Idealität mit seiner ehel. Realität u. schafft damit wie schon in den Briefen etwas Neues. Die geistl. Reden umfassen Gebete, Welt- u. Sündenklagen; XXV u. XXVIII stützen sich dabei auf ein allegor. Handlungsgerüst (XXV: Spaziergang
Hugo Ripelin von Straßburg
zum Beinhaus; XXVIII: Spaziergang zu einem Schloss, das als Gralsschloss für das Himmelreich steht). Als H.s persönlichste Leistung gelten die Reden der letzten Themengruppe. H. kennt die Tradition höf. Lieddichtung mit ihren geistl. Varianten, Albrechts Jüngeren Titurel, Die Jagd Hadamars von Laber (vgl. IX) u. Peter Suchenwirts Reden. Mit Oswald von Wolkenstein kam er persönlich in Berührung. Von den Berufsliteraten (»meistern«) hebt er sich in XXXI, 141–160 selbst ab: er habe seine Gedichte z.T. zu Pferd verfasst u. nehme es mit »rimen« u. »silben« nicht so genau. H. knüpft mit seinem Werk an Traditionslinien an, er bildet weiter u. formt um. Ein tiefer reichender Einfluss literar. Vorbilder lässt sich dabei jedoch nicht bestimmen. Ausgaben: H. v. M. Hg. Karl Bartsch. Tüb. 1879 (zitiert). – H. v. M. Hg. Joseph E. Wackernell. Innsbr. 1881. – Paul Runge: Die Lieder des H. v. M. mit den Melodien des Burk Mangolt. Lpz. 1906. – H. v. M. Hg. Eugen Thurnher, Franz V. Spechtler, George F. Jones u. Ulrich Müller. Bd. 1 (Faks.) u. 2 (Transkription). Göpp. 1978. – H. v. M. Faks.-Ausg. des cpg 329. Wiesb. 1988. – H. v. M. Das poet. Werk. Hg. Wernfried Hofmeister, mit einem Melodie-Anhang v. Agnes Grond. Bln./New York 2005 (zu dieser Ausg. kritisch: Eva Willms, in: ZfdA 135, 2006, S. 525–533). Literatur: Bibliografien: In: Eugen Thurnher u. a., Bd. 1 (s. o. Ausg.), S. 21 f. – Christine Gehrer: Bibliogr. zu den Grafen v. Montfort. In: Montfort 34 (1982), S. 350–358. – Einzeltitel und Ergänzungen: Karl Weinhold: Über den Dichter Graf H. VIII. v. M. In: Mitt.en des histor. Vereins für Steiermark (1856), H. 7, S. 127–180 (als Sonderdr.: Graz 1857). – Joseph E. Wackernell (s. o. Ausg.). – Ewald Jammers: Die Melodien H.s v. M. In: Archiv für Musikwiss. 13 (1956), S. 217–235. – Annemarie KayserPetersen: H. v. M. Diss. Mchn. 1960. – Gustav Moczygemba: H. v. M. Fürstenfeld 1967. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 225–235. – Melitta Rheinheimer: Rhein. Minnereden. Göpp. 1975, S. 179–183, 190–193, 242 f., 251 f. u. 254. – Horst Brunner: Das dt. Liebeslied um 1400. In: Hans-Dieter Mück u. a. (Hg.): Ges. Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds v. Wolkenstein. Göpp. 1978, S. 105–146, hier S. 129–135. – Jutta Goheen: H.s v. M. Version vom Paradies auf Erden. In: Carleton Germanic Papers 7 (1979), S. 26–36. – Franz V. Spechtler: H. v. M. In: FS Eugen Thurnher. Innsbr. 1982, S. 111–125. – Burghart Wachinger: H. v. M.
648 In: VL. – H. v. M. Einf. zum Faks. des cpg 329 mit Beiträgen v. Franz V. Spechtler, Vera Trost, Ewald M. Vetter, Lorenz Welker u. Wilfried Werner. Die Texte der Hs. mit vollständiger Übers. v. Franz V. Spechtler. Wiesb. 1986. – Ingrid Bennewitz-Behr: [...]. Die ›Frau-Welt‹-Lieder der Hss. mgf 779 u. cpg 329. In: JOWG 4 (1986/87), S. 117–136. – Anke Sophie Meyer: H. v. M.: Autorenrolle u. Repräsentationstätigkeit. Göpp. 1995. – Herfried Vögel: Die Pragmatik des Buches. Beobachtungen u. Überlegungen zur Liebeslyrik H.s v. M. In: Michael Schilling u. Peter Strohschneider (Hg.): Wechselspiele. Kommunikationsformen u. Gattungsinterferenzen mhd. Lyrik. Heidelb. 1996, S. 245–273. – Johannes Spicker: Singen u. Sammeln. Autorschaft bei Oswald v. Wolkenstein u. H. v. M. In: ZfdA 126 (1997), S. 174–192. – Zeman Gesch. Bd. 2,2, S. 397–412. – Siehe auch die Beiträge der Tagung ›Aller weishait anevang ist ze brûfen an dem aussgang‹. Symposium zum 650. Geburtstag H.s v. M. Dornbirn, 19.-22. Sept. 2007. Claudia Händl
Hugo Ripelin von Straßburg,* im ersten Jahrzehnt nach 1200, † 1268 vermutlich Straßburg. – Dominikanertheologe u. Prediger. H. entstammt einer bedeutenden Strassburger Patrizierfamilie. Er trat bald nach der Klostergründung der Dominikaner in Straßburg 1224 dem Predigerorden bei. 1232–1259 war er Prior u. abwechselnd auch Subprior des Zürcher Predigerklosters. Um 1260 dürfte er an seinen Heimatkonvent zurückgekehrt sein, dem er wohl bis zu seinem Tod als Prior vorstand. Die Colmarer Annalen (um 1298) rühmen H. als guten Sänger, Schreiblehrer, Maler u. als hervorragenden Prediger. Wir kennen von H. nur das Compendium theologicae veritatis. Unter den Compendia theologiae des MA ist es neben dem Compendium des Thomas von Aquin u. dem Breviloquium Bonaventuras das bekannteste u., nach den erhaltenen Handschriften (über 1000) u. seiner literar. Wirkung zu schließen, das verbreitetste u. einflussreichste. Im Aufbau folgt es dem Breviloquium, das H. mehrfach zitiert, u. den Sentenzen des Petrus Lombardus (Buch I: allg. Gottes- u. Trinitätslehre; Buch II u. III: Himmel, Planeten, Elemente, Zeit, Engel, Mensch, Seele, Paradies, Sündenfall, Sündenlehre; Buch IV: Inkarnationslehre;
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Buch V: Gnaden- u. Tugendlehre; Buch VI: Sakramentenlehre; Buch VII: Eschatologie). Im Prolog bekennt H., sein Werk aus Schriften großer Theologen zusammengetragen zu haben. Zu erschließen sind die Enzyklopädie De proprietatibus rerum u. die Summa theologica des Franziskaners Bartholomäus Anglicus u. Alexanders von Hales, die Summa aurea des Wilhelm von Auxerre u. Schriften Alberts des Großen mit nachweisl. Zitaten aus De animalibus u. De anima, was den »terminus post quem« für die Abfassung des Compendium stellt, nämlich die frühen 60er Jahre des 13. Jh. Inwieweit H. den vom Neuplatonismus beeinflussten Ideen Alberts des Großen verpflichtet ist, lässt sich bei seiner eklekt. Arbeitsweise u. der Tendenz, die Inhalte unter mnemotechn. Gesichtspunkten zu präsentieren, nur schwer ermitteln. H. schrieb praxisbezogen zunächst für Prediger, Seelsorger u. Theologiestudenten, letztlich aber für die Weisen (»sapientes«) u. Guten (»boni«). Mit Bernhard von Clairvaux ist er der Ansicht, dass einzig die Guten Gott »schmeckend erkennen«. Das Werk verbreitete sich rasch über ganz Deutschland u. die übrigen Länder Westeuropas. Groß ist die Zahl derer, die vom Compendium literarisch Nutzen ziehen, u. a. Johannes Rigaldus, Gerhard von Sterngassen, Nikolaus von Kues, Heinrich von Langenstein, Jakob Wimpfeling. Den Handschriften folgten 59 Früh- u. Nachdrucke von 1470 bis 1895. Nicht minder mächtig ist der Einfluss des Compendiums auf die Volkssprachen. Neben niederländ., frz., ital., isländ. u. armenischen Übersetzungen existieren 15 verschiedene Übertragungen u. Bearbeitungen ins Deutsche. Im Prozess dieser Eindeutschung formt sich im 14. Jh. eine eigenständige dt. philosophische u. theolog. Terminologie aus, die zusammen mit dem speziellen Vokabular der dt. Mystik die neuzeitl. Fachsprache maßgeblich prägt. Erst unvollständig erforscht ist die Wirkung des Compendiums auf dt. Autoren des SpätMA. Ein früher Niederschlag findet sich in der Martina-Legende (1293) des Hugo von Langenstein. Der Stoff von Buch VII ist dichterischer Gegenstand für Heinrich von Neu-
Hugo Ripelin von Straßburg
stadt in Gottes Zukunft. Michel Beheim versifizierte im 15. Jh. ein Leben des Antichrist, das H.s Compendium zur Quelle hat. Vielfach zitiert u. ausgeschrieben wird es in katechetischen Traktaten u. in der Predigtliteratur, so im Gewissensspiegel Martins von Amberg u. in den Predigten des Johannes Pauli. Auch die Autoren der dt. Mystik kennen u. schätzen es, nachweislich Seuse, Tauler u. Nikolaus von Straßburg. Dass es auch im Blickfeld Meister Eckharts stand, ist zu vermuten. Zumindest ein lat. Zitat aus dem Compendium in Eckharts Kommentar zum Johannesevangelium wurde von Sturlese nachgewiesen. Der anonyme Verfasser der spätmittelalterl. mystisch-theolog. Kompilation Spiegel der Seele benutzte neben Predigten Eckharts u. ps.-eckhartischen Texten eine bair. Übersetzung des Compendiums als Quelle. Ausgaben: A. C. Peltier (Hg.): S. R. E. Cardinalis S. Bonaventurae Opera omnia. Bd. 8, Paris 1866, S. 61–246. – St. C. A. Borgnet (Hg.): B. Alberti Magni [...] Opera omnia. Bd. 34, Paris 1895, S. 1–306 (krit. Ausg. fehlt). – Christa Michler: Le Somme abregiet de Theologie. Krit. Ed. der frz. Übers. v. H. R. v. S. ›Compendium theologicae veritatis‹. Mchn. 1982. – (Krit. Ausg. der drei oberdt. Übers.en in Vorb.) Literatur: Luzian Pfleger: H. v. S. u. das Compendium theologicae veritatis. In: ZKTh 28 (1904), S. 429–440. – Kurt Ruh: Die trinitar. Spekulation in dt. Mystik u. Scholastik. In: ZfdPh 72 (1953), S. 24–53. – Georg Boner: Über den Dominikanertheologen H. v. S. In: Archivum Fratrum Praedicatorum 24 (1954), S. 269–286. – K. Ruh: Bonaventura dt. Bern 1956, S. 34–36. – Georg Steer: Scholast. Gnadenlehre in mhd. Sprache. Mchn. 1966, S. 23–28, 80–122. – Ders.: H. R. v. S. Zur Rezeptions- u. Wirkungsgesch. des ›Compendium theologicae veritatis‹ im dt. SpätMA. Tüb. 1981. – Ders.: H. R. v. S. In: VL. – Alain de Libera: Introduction à la Mystique Rhénane [...]. Paris 1984, S. 74–98. – G. Steer: Geistl. Prosa. In: Ingeborg Glier (Hg.): Die dt. Lit. im späten MA. Tl. 2, Mchn. 1987, S. 358–365. – Loris Sturlese: Storia della filosofia tedesca nel Medioevo. Il secolo XIII. Firenze 1996, S. 151–158. – Heidemarie Vogl: Der ›Spiegel der Seele‹. Eine spätmittelalterl. mystischtheolog. Kompilation. Stgt. 2007, S. 179–217. Georg Steer / Dagmar Gottschall
Hugo von Trimberg
Hugo von Trimberg, * nach 1230, † nach 1313. – Verfasser lateinischer u. deutscher Lehrgedichte. H. nennt sich nach Trimberg (bei Hammelburg) oder nach Wern(a) (Ober- u. Niederwerrn bei Schweinfurt). Franken ist sein Geburts- u. Lebensraum, den er vielleicht gar nicht verlassen hat. H. besuchte vermutlich die Schule in Würzburg, an einer der großen Universitäten studierte er nicht. Um 1260 kam er als Lehrer an das Stift St. Gangolf im Bamberger Vorort Teuerstadt, wo er später als »rector scolarum«, d.h. als laikaler Vertreter des geistl. Schulvorstandes wirkte. Nach seinen Angaben im Registrum (s. u.) verfasste er acht dt. u. vier lat. Werke, später erwähnt er im Renner sieben dt. u. »viereinhalb« lat. Werke. Nicht alles ist erhalten. Das wohl älteste u. erfolgreichste lat. Werk ist die Laurea Sanctorum (»Lorbeerkranz der Heiligen«), ein Kalendergedicht von 422 Versen (v. a. Hexametern, auch leoninischen, Pentametern u. Vagantenzeilen). Es ist als Lese- u. Stilübung für Schüler gedacht u. informiert über die Feste des Kirchenjahres u. die – z.T. fränkischen – Tagesheiligen. Das Solsequium (»Heliotrop«, verstanden als »Wegwarte«, deren Blüten sich nach der Sonne der Gerechtigkeit u. Wahrheit wenden u. zur »Nachfolge der wahren Sonne« einladen) ist eine Sammlung von 166 Exempeln, Erzählungen mit moralisierender Auslegung, die v. a. Geistlichen als Predigtmärlein dienen konnten. Sie sind in Gruppen nach verschiedenen Quellen (wenig mündl. Gut) geordnet; einige kehren in anderer Bearbeitung auch im Renner wieder. Nicht sicher ist die Entstehung des Werks vor oder nach (vielleicht als Neubearbeitung nach) dem Registrum multorum auctorum (um 1280), einem Katalog von Schulautoren in Vagantenversen. Es behandelt 80 Autoren mit fast 100 Werken, durchweg Versdichtungen, von denen nach dem Vorbild von Augustins Retractationes die Titel u. Anfangszeilen zitiert werden. In den drei Abschnitten erscheinen zuerst die »ethici maiores«, d.h. Texte, die wie üblich außer dem Grammatik- u. Literaturunterricht v. a. der Morallehre dienten, hier für ältere Schüler; H. unterteilt nach klassisch antiken u.
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»modernen« Autoren. Es folgen als Mittelstück die »theorici«, christl. Dichter mit religiöser Thematik, u. als Schlussteil die »ethici minores« für jüngere Schüler. H. fußt v. a. auf dem Dialogus super auctores des Konrad von Hirsau, den er nicht nennt. In der Tradition der Literaturkataloge seit dem Verzeichnis der christl. Autoren des Hieronymus stehend, ist H.s Registrum in Versform u. in eigenständiger Anordnung innovativ. Kleinere lat. Arbeiten H.s sind die 61 Schlussverse zu einer von ihm verbesserten u. mit Überschriften versehenen Fassung der Vita beatae Mariae rhythmica u. Spruchstrophen über Jugend u. Alter mit dt. Pendants. Zur Entstehung des Hauptwerks Der Renner gibt der Prolog Hinweise (Abkehr von Jugenddichtung, Alterswerk, Erwartung des Todes), die aber nicht biografisch verstanden werden müssen. Vielleicht sind frühere dt. Arbeiten wie der im Epilog erwähnte, nicht erhaltene Samener (V. 24.592) in das didakt. Großwerk eingeflossen. Dieses wurde 1300 abgeschlossen, aber noch weiter ergänzt (datierbare Nachträge bis 1313). Der Renner mit seinen fast 25.000 Versen ist das umfangreichste mhd. Lehrgedicht; er zählt mit ca. 65 Handschriften bzw. Fragmenten zu den meisttradierten mhd. Dichtungen. Zwei Redaktionen scheinen auf H. selbst zurückführbar. Langfassungen stehen neben kürzeren Versionen. Zahlreiche Handschriften sind illuminiert. Die Stoffmassen des Renner werden von einer rahmenden Allegorie zusammengehalten: Auf einem Wiesenrain erhebt sich ein Birnbaum, der seine Früchte auf unterschiedl. Terrain schüttelt. Er bezeichnet Eva u. ihre Kinder, welche in den Dornbusch der Hochfahrt, den Brunnen der Habgier usw. oder auf das grüne Gras der Reue fallen. Der Hauptteil des Gedichts ist in sechs Kapitel nach den sieben Kardinalsünden gegliedert. Es folgen nacheinander 1. hôchvart/superbia, 2. gîtikeit/avaritia, 3. frâz/gula, 4. unkiusche/ luxuria, 5. zorn/ira u. nît/invidia, 6. lâzheit/ acedia. Ein »Exkurs« (ab V. 18.001, deutlicher ab V. 19.243) enthält als Schwerpunkt eine v. a. auf Thomas von Chantimpré fußende Naturlehre (Tiere, Pflanzen, Brunnen mit moralischer Auslegung). Der Schlussteil (ab
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V. 20.347) fügt der Lasterkritik einen positiven Entwurf des menschl. Wegs zu Gott an u. spricht von Gebet u. guten Werken, von Beichte, Buße u. den letzten Dingen. Im einzelnen folgt das Werk keiner festen Gliederung, sondern lässt sich in Auslegung des Titels wie ein schweifendes Rennpferd von einem Gegenstand zum andern treiben (vgl. V. 13.899 ff.). Die Verknüpfungen sind assoziativ, der Autor hat immer vieles im Blick. Abwechslung soll die Vielfalt der Welt einfangen, anderseits den Leser bei der Stange halten. H. bringt seine Bildung in zahllosen Autoritätsverweisen ein; er zitiert allem voran die Bibel, Kirchenväter u. neuere Theologen, antike Klassiker u. als dt. Autorität bes. Freidank. Die Lehren werden durch Exempel und Anekdoten, durch Fabeln, Mären u. allegorisierende Bispelerzählungen illustriert. Hier wird meist tradiertes Gut aufgegriffen u. modifiziert, manchmal fließen aber auch eigene Beobachtungen u. erlebte Begebenheiten ein. H. wendet sich mit seiner Sittenkritik grundsätzlich an alle Menschen, die zum ersten Mal in der Rahmenallegorie u. dann immer neu gruppiert werden. Im Anfangsteil äußert er sich zur Ungleichheit der Stände (V. 1309 ff.); seine Satire gilt den Bauern, den Adligen (mit scharfer Kritik am höf. Rittertum) wie den Geistlichen (quer durch die Hierarchien, mit Ausfällen gegen den Papst u. die Kurie). Oder er gliedert die Stände nach Geschlecht (z.B. Mädchen, Frauen), nach Lebensaltern (Kinder, Jugend, Schüler, alte Leute) u. Berufen (Kaufleute, Juristen). Den Armen u. Außenseitern begegnet er mit Sympathie. Bemerkenswert sind die literaturkrit. Passagen (Listen von dt. u. lat. Autoren, von epischen Stoffen aus der Heldenepik u. dem Roman) sowie die Abhandlung zu den verschiedenen Sprachen mit einer Charakteristik der dt. Dialekte (V. 22.253 ff.). H. versammelt ein fundiertes Bildungswissen ohne philosophisch-systemat. Ambitionen. Er umreißt ein christl. Ordnungsdenken von konservativem Zuschnitt, was sich in der Auswahl u. Verarbeitung seiner Quellen spiegelt. Dabei gelingt es ihm aber, Zeittypisches einzufangen, Tradiertes zu akzentuieren, seine Argumente eigenwillig zu
Hugo von Trimberg
entwickeln u. so einen spezif. Beitrag zur dt. Lehrdichtung zu leisten, der auch als mentalitätsgeschichtl. Zeugnis Aufmerksamkeit verdient. Der Erfolg des Werks spricht aus der reichen Textüberlieferung. Ein Teil dieser Überlieferung geht auf eine Redaktion des Michael de Leone aus Würzburg († 1355) zurück, der dem Werk ein Register mit Distinktioneneinteilung beigab. Eine völlige Neuordnung des Textbestands (gut 11.000 Verse) wurde von dem Nürnberger Stadtschreiber Johannes Vorster († 1444) in einer für den eigenen Gebrauch geschriebenen, mit bemerkenswerten Miniaturen ausgestatteten Handschrift vorgenommen (das Prologblatt, datiert 1431, enthält eine der frühesten reinen Landschaftsdarstellungen der mittelalterl. Buchmalerei). Die Gliederung nach den Kardinallastern ist beibehalten, inhaltlich wird neu akzentuiert. Eine modernisierte u. protestantisch redigierte Druckfassung brachte 1549 Cyriacus Jacobus zum Bock in Frankfurt heraus. Das Werk wurde auch in der Neuzeit nie ganz vergessen. Gottsched u. Gellert zollten ihm Beachtung, Lessing plante eine Ausgabe. Der in einer Handschrift erhaltene Kleine Renner, eine Ständesatire von 437 Versen, ist erst um 1330/40 anzusetzen; er lehnt sich an H.s Titel an u. könnte unter Umständen eine Bearbeitung des Samener sein. Ausgaben: Laurea Sanctorum: Hg. Hermann Grotefend. In: Anzeiger für Kunde der dt. Vorzeit 17 (1870), S. 279–284, 301–311. – Solsequium: Hg. Angelika Strauss. Wiesb. 2002. – Registrum: Karl Langosch: Das ›Registrum Multorum Auctorum‹ des H. v. T. Untersuchungen u. komm. Textausg. Bln. 1942. Neudr. Nendeln 1969. – Renner: Hg. Gustav Ehrismann. Neudr. mit einem Nachw. u. Ergänzungen v. Günther Schweikle. 4 Bde., Bln. 1970. – Weitere Ausg.n bei Schemmel (1971), S. 23 f. – Die Redaktion Vorsters in: Lähnemann 1998 (s. u.). Literatur: Heinz Rupp: Zum ›Renner‹ H.s v. T. In: FS Max Wehrli. Zürich/Freib. i. Br. 1969, S. 233–259. – Bernhard Schemmel: H. v. T. In: Gerhard Pfeiffer (Hg.): Fränk. Lebensbilder. Bd. 4, Würzb. 1971, S. 1–26 (mit Bibliogr.). – Helmuth Stahleder: Arbeit in der mittelalterl. Gesellsch. Mchn. 1972. – Dietrich Schmidtke: Die künstler. Selbstauffassung H.s v. T. In: WW 24 (1979),
Hugo von Trimberg S. 325–339. – Klaus Grubmüller: Nôês Fluch. Zur Begründung v. Herrschaft u. Unfreiheit in mittelalterl. Lit. In: FS Kurt Ruh. Tüb. 1979, S. 99–119. – Lutz Rosenplenter: Zitat u. Autoritätenberufung im Renner H.s v. T. Ffm./Bern 1982. – Günther Schweikle: H. v. T. In: VL (Lit.). – Jutta Goheen: Mensch u. Moral im MA. Geschichte u. Fiktion in H. v. T.s ›Der Renner‹. Darmst. 1990. – Christoph Huber: Bemerkungen H.s v. T. zum Reisen. In: Dietrich Huschenbett (Hg.): Reisen u. Welterfahrung in der dt. Lit. des MA. Würzb. 1991, S. 110–124. – William F. Carrol: ›Der Welsche Gast‹ Thomasins v. Zerklaere u. ›Der Renner‹ H.s v. T. Perspektiven des Fremden in der didakt. Lit. des 13. Jh. In: Wolfgang Harms u. a.: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Stgt. 1997, S. 137–152. – Inés de la Cuadra: Die Funktion v. Aussagen zur Zeitgesch. im ›Renner‹ H.s v. T. In: Eckart Conrad Lutz (Hg.): Mittelalterl. Lit. im Lebenszusammenhang. Freib./Schweiz 1997, S. 191–223. – Henrike Lähnemann: Der ›Renner‹ des Johannes Vorster. Untersuchung u. Edition des cpg 471. Tüb./Basel 1998. – Dies.: Landschaftsdarstellung u. Moraldidaxe. Die Bilder der ›Renner‹Bearbeitung cpg 471. In: Alan Robertshaw u. a.
652 (Hg.): Natur u. Kultur in der dt. Lit. des MA. Tüb. 1999, S. 103–118. – I. de la Cuadra: Diskurse über soziale Mobilität im Spiegel v. Fiktion u. Historie: Die ›Bauernszene‹ im ›Renner‹ H.s v. T. (V. 1309–2280) u. das achte Gedicht der ›Seifried Helbing‹-Slg. In: ZfdPh 119 (2000), S. 75–97. – Rüdiger Schnell: Luxuria u. Gender oder Moraldidaxe u. Geschlechtergesch. Zur vierten ›Distinctio‹ im ›Renner‹ H.s v. T. (V. 11727–13964). In: Anna Keck u. a. (Hg.): ›Ze hove und an der strâzen‹. Die dt. Lit. des MA u. ihr ›Sitz im Leben‹. FS Volker Schupp zum 65. Geburtstag. Stgt. 1999, S. 71–83. – Rudolf Kilian Weigand: Der ›Renner‹ des H. v. T. Überlieferung, Quellenabhängigkeit u. Struktur einer spätmittelalterl. Lehrdichtung. Wiesb. 2000. – Ders.: Halbritter u. Schuldknechte (oder Raub u. Brand). Zur Kategorisierung u. Illustrierung sozialer Randgruppen im ›Renner‹ H.s v. T. In: HansJochen Schiewer u. a. (Hg.): Die Präsenz des MA in seinen Hss. Tüb. 2002, S. 83–105. – K. Grubmüller: Laiengelehrsamkeit. Über volkssprachl. Wiss. im MA. In: Norbert Elsner u. a. (Hg.): ›Scientia poetica‹. Lit. u. Naturwiss.en. Gött. 2004, S. 53–75. Christoph Huber