Kirsten Nazarkiewicz Interkulturelles Lernen als Gesprächsarbeit
Kirsten Nazarkiewicz
Interkulturelles Lernen als Gesprächsarbeit
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. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Kea S. Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Umschlagbild: Dieter Benecke Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17141-8
Inhalt 1.
Einleitung: Wie ist interkulturelles Lernen möglich? ............................. 9
2.
Interkulturelle und antirassistische Weiterbildung: Ansätze und Methoden................................................................................................... 15
2.1 Interkulturelles Training ............................................................................. 18 2.1.1 Kulturdimensionen: Differenzen aus kulturanthropologischer Sicht ................................................................................................. 20 2.1.2 Kulturstandards: Differenzverständnis der interkulturellen Psychologie ...................................................................................... 30 2.1.3 Linguistic Awareness of Cultures: Sprach- und diskursorientierte Differenzen ...................................................................................... 39 2.2 Antirassistische Bildungsarbeit .................................................................. 47 2.2.1 Lernziele antirassistischer Bildungskonzepte .................................. 50 2.2.2 Didaktisierungsvarianten der Diskursintervention........................... 52 2.3 Interkulturelle und antirassistische Pädagogik – kritikwürdig, vereinbar oder unhintergehbar? .................................................................................. 65 3
Interkulturelles Lernen im Gespräch: Forschungs(gegen)stand, Methode und Datenbasis.......................................................................... 75
3.1 Forschungsstand ......................................................................................... 76 3.2 Impliziert jede Erwachsenenbildung interkulturelles Lernen? – Zur methodologischen Begründung des Forschungsgegenstands .............. 80 3.2.1 Grundbegriffe der konstruktivistischen Erwachsenenbildung ......... 81 3.2.2 Die Kommunikationsbedingtheit von Deutungsmustern ................. 86 3.2.3 Interkulturelles Lernen als ethnomethodologischer Untersuchungsgegenstand ............................................................... 88 3.3 Ethnomethodologische Konversationsanalyse als methodischer Ansatz.... 93 3.3.1 Interkulturelles Lernen als interaktive Leistung .............................. 94 3.3.2 Analyseprinzipien der Konversationsanalyse .................................. 95
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3.4 Datenzugang und Vorstellung der Datenbasis .......................................... 100 3.4.1 „Andere Länder, andere Sitten“: Fallbeispiele für kulturübergreifende Interkulturelle Kommunikationstrainings ..... 102 3.4.2 „Unsere Kunden aus Japan“: Fallbeispiel für kulturspezifische Trainings ........................................................................................ 108 3.4.3 „Hat der Rassismus ein Geschlecht?“: Fallbeispiel für Antirassismustrainings ................................................................... 111 3.4.4 Datenaufbereitung und Vorgehensweise ....................................... 118 4.
Analyseergebnisse: Gesprächsarbeit beim Interkulturellen Lernen ..................................................................................................... 121
4.1 Kulturreflexive Deutungsarbeit als Problem in interkulturellen Trainings................................................................................................... 121 4.1.1 Kategorische Formulierung von Normen und Werten ................... 123 4.1.2 Veranschaulichende Beispielgeschichten ...................................... 125 4.1.3 Szenische Animation kultureller Orientierungen ........................... 128 4.1.4 Stellvertretende Perspektivenübernahme ....................................... 130 4.1.5 Introspektives Sprechen ................................................................. 133 4.1.6 Perspektivenreflexive ethnische Stereotypisierung........................ 135 4.1.7 Kulturelle Perspektivenreflexion und Perspektivenwechsel .......... 137 4.1.8 Transkulturelle Analogie ............................................................... 140 4.1.9 Die multiperspektivischen Aktivitäten des Transkulturellen Sprechens ....................................................................................... 143 4.2 Erwartungsbrüche als Aufgabe der pädagogischen Gesprächsführung .... 150 4.2.1 Grundorientierungen in der pägagogischen Gesprächsführung ..... 151 4.2.2 Die Initiierung von Verunsicherung durch Rätselinszenierungen 153 4.2.3 Initiierter Erwartungsbruch von Bewertungen ............................... 157 4.2.4 Provozierter Erwartungsbruch durch Kontrastierungsstrategien ... 160 4.2.5 Befremden und vertraut machen: die pädagogische Modifikation von Erwartungsstrukturen als Rahmenmanagement...................................................................... 164 4.3 Kulturgebundene Bewertungen als Herausforderung für das Interkulturelle Lernen ............................................................................... 169 4.3.1 Wo beginnt die Stereotypisierung? ................................................ 170 4.3.2 Die interaktive Dynamik der Stereotypenkommunikation ............ 172 4.3.3 Die kommunikativen Elemente der Stereotypenkommunikation 175 6
4.3.4 Die Gefahr der Elizitierung von Stereotypisierungen .................... 180 4.3.5 Lernzielorientierte Rahmenkontrollen ........................................... 184 4.3.6 Perspektiven-Relativierungen bei Ethnischen Stereotypisierungen ....................................................................... 187 4.3.7 Perspektivenreflexion kulturgebundener Bewertungen ................. 189 4.3.8 Fachbezeichnungen zur Überwindung kulturgebundener Erklärungen ................................................................................... 193 4.3.9 Einfühlen lassen durch transkulturelle Analogien ......................... 195 4.3.10 Stereotypenelizitierung und -reflexion durch Introspektives Sprechen ........................................................................................ 198 4.3.11 Stereotypenreflexion durch Modalitätswechsel ............................ 200 4.3.12 Stereotypenreflexion durch Modulationen.................................... 205 4.3.13 Rahmentransformationen durch Moralmanagement ..................... 211 4.4 Zum Umgang mit dem Rassismusverdacht in der antirassistischen Bildungsarbeit .......................................................................................... 214 4.4.1 Konstruktion und Wirkung des ‚Generalverdachts‘ ...................... 215 4.4.2 Rechtfertigungen als Reaktionen auf den Generalverdacht ........... 218 4.4.3 Self- und We-Blaming ................................................................... 221 4.4.4 Wechselseitiges Blaming ............................................................... 225 4.4.5 Other-Blaming ............................................................................... 226 4.4.6 Positive Selbstdarstellung .............................................................. 229 4.4.7 Kategoriale Zugehörigkeit als Kommunikationsproblem .............. 232 4.4.8 Soziale Positionierung in einer unverdächtigen Identität............... 235 5.
Schluss: Interkulturelles Lernen als Gesprächsarbeit ........................ 241
5.1 Ergebnisübersicht ..................................................................................... 241 5.2 „Für uns sieht die Welt so aus“: Wie interkulturelles Lernen möglich ist .............................................................................................................. 248 5.3 Konsequenzen und Empfehlungen für die kulturreflexive Gesprächsführung ..................................................................................... 250 Literatur .......................................................................................................... 257 Anhang: Transkriptionskonventionen .......................................................... 281
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1. Einleitung: Wie ist interkulturelles Lernen möglich? Wir leben in einer Zeit, in der die eigene symbolische Weltdeutung potenziell gefährdet ist. Begegnungen zwischen Menschen, die unterschiedlichen Kulturen und Sprachgemeinschaften angehören, sind inzwischen alltäglich geworden. Auslandsaufenthalte, Migrationsbewegungen und eine vernetzte globalisierte Arbeitswelt werden häufig als Faktoren angeführt, die in unserer mobilen Weltgesellschaft die Notwendigkeit interkultureller Verständigung begründen. Doch wir haben es im Bezug auf Fremdheit mit einem weitaus allgemeineren und soziologisch hochspannenden Thema zu tun. So charakterisiert schon Simmel Anfang des letzten Jahrhunderts in seinem Exkurs über den Fremden Fremdheit als ein Symbol für die Wechselwirkungen und Verhältnisse der Menschen untereinander (Simmel 1992). Damit ist Fremdheit – wie Hahn in Anlehnung an Simmel interpretiert – „allgemeines Los“ in einer Gesellschaft geworden, die mehr als einen Deutungshorizont, eine Handlungsrationalität, Identitätsressource und Interessenslage kennt (Hahn 1994: 162). Es ist zur unhintergehbaren Aufgabe geworden, das eigene kulturelle Bezugssystem zu hinterfragen, zu überschreiten und moralische Gemeinschaften neu auszuhandeln, und die Fähigkeit hierzu muss als Kulturkompetenz bzw. Kulturreflexivität entwickelt werden. Mit der Wahl des Forschungsgegenstands „Interkulturelles Lernen“ möchte ich daher untersuchen, inwieweit kollektive symbolische Weltdeutungen verändert werden können. Am einfachsten gelingt diese Beobachtung in Situationen, in denen interkulturelles Lernen selbst im Zentrum steht, also in interkulturellen Bildungsveranstaltungen, wobei die Ergebnisse und gefundenen Antworten jedoch nicht auf das untersuchte Setting beschränkt bleiben müssen. Als ich mich 1993 erstmalig mit Analysen von Kommunikation in interkulturellen Trainings beschäftigte, hätte ich nicht geglaubt, welch entscheidenden Einfluss das Thema auf meinen Lebensweg haben würde. Angeregt durch meinen Hochschullehrer und späteren Doktorvater Jörg Bergmann interessierten mich einst Ethnische Stereotypen, die dann auch im Zentrum der 1994 abgeschlossenen Diplomarbeit mit dem Titel „Moralische Kommunikation und pädagogische Intervention bei ethnischen Stereotypen“ standen. Zu dieser Zeit waren interkulturelle Trainings in Deutschland selbst bei multinationalen Firmen noch wenig verbreitet. Auch deutsche Fachliteratur lag kaum vor. Schon damals interessierte mich im Wesentlichen die Frage, wie interkulturelles Lernen – insbesondere in Bildungsveranstaltungen – überhaupt ‚möglich‘ sein kann. Wie kann man im Rahmen eines Seminars oder Trainings in nur wenigen
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Stunden eine über viele Jahre der Sozialisation gewachsene und zudem noch geteilte kulturelle Routine im Denken, Fühlen, Interpretieren und Verhalten, kurz die kollektive Selbstverständlichkeit im Deuten der Welt reflektieren oder gar verändern? Diese Frage hat mich seither nicht mehr losgelassen und sogar dazu bewegt, zusätzlich ein erwachsenenpädagogisches Studium zu absolvieren. In der vorliegenden Arbeit habe ich einige empirisch begründete, auf Gesprächsanalysen basierende Antworten zusammengetragen. Wie für eine handlungsentlastete Betrachtung aus sicherer wissenschaftlicher Distanz nicht unüblich, drängten sich mir zu Anfang in den Daten vor allem die Probleme auf, vor denen die interkulturellen Trainerinnen in der pädagogischen Kommunikation standen. Insbesondere fiel mir die kommunikative Herausforderung durch Stereotypisierungen ins Auge, was vermutlich unter anderem der in der interkulturellen Trainingspraxis noch unerfahrenen Perspektive der Wissenschaftlerin geschuldet war. Ein anderer Grund dafür dürfte die Tatsache gewesen sein, dass sich die Trainerinnen bereit erklärt hatten, ihre ersten Seminare von mir aufzeichnen zu lassen, und dass sie zuvor nur wenige Routinen hatten entwickeln können. Seit ich vor mehr als zehn Jahren begann, selbst interkulturelle Trainings durchzuführen, hat sich meine ‚Entdeckungsperspektive‘ bei den Analysen aufgrund der jahrelangen professionellen Praxis erweitert. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen mit ‚typischen‘ Situationen in den Seminaren konnte sich mein Blick mehr auf die unspektakulären Phänomene im Datenmaterial richten. Zugleich konnte ich die aus den frühen Analysen gewonnene Einsicht, dass moralische Kommunikation mit dem interkulturellen Lernen untrennbar verknüpft bleibt, selbst konstruktiv in der Gesprächsführung einsetzen. Wissenschaft und Praxis verschränkten sich. Durch die Kombination der Erfahrungen in beiden Bereichen, die Analyse der kommunikativen Handlungszwänge in der Praxis und die Berücksichtigung meiner eigenen Forschungsergebnisse in den Seminaren selbst, fielen mir plötzlich viel stärker die von den Leiterinnen gefundenen kommunikativen Lösungen ins Auge. Um die Ergebnisse zu verifizieren, habe ich mich 2003 entschlossen, ein weiteres Seminar einer erfahrenen Trainerin zu erheben. Danach war es leichter zu erkennen, dass die in der vorliegenden Arbeit erstmals beschriebenen Aktivitäten auch schon in den ersten Datensätzen vorhanden sind, dass ich sie jedoch bis dahin (noch) nicht sehen konnte. Fokus, Zuschnitt und Resultate dieser Arbeit sind also gleichermaßen aus theoretische Überlegungen und wissenschaftliche Analyse wie praktische Erfahrungen hervorgegangen. In ihren Ergebnissen dokumentiert diese Arbeit auch eine langjährige berufliche Erfahrung mit dem interkulturellen Lernen. Was als theoretische Frage begann, wurde wissenschaftliche Leidenschaft und führte in die professionelle Arbeit. Gemeinsam mit einem Team von KollegInnen mit mehr als
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achtzehn Muttersprachen arbeite ich heute im Feld des Interkulturellen Lernens, das für mich in wissenschaftlicher wie in praktischer Hinsicht nichts von seiner Faszination verloren hat. Zwischen Beginn und Abschluss der Arbeit liegen daher auch viele Jahre der Beschäftigung mit dem Thema – nicht nur bei mir: Hochschullandschaft und Markt haben sich verändert und stark weiterentwickelt. Inzwischen boomt das Thema Interkulturalität hier wie dort. ‚Zunehmende internationale wirtschaftliche Verflechtungen‘, ‚Einwanderungsgesellschaft‘ ‚Transkulturelle Pflege‘, ‚Fremdenfeindlichkeit und Rassismus‘, ‚Antidiskriminierungsgesetze‘ oder ‚Internationalisierung aller Lebensbereiche‘ sind nur einige der Schlagworte, unter denen je nach Handlungsfeld Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis, Appelle an die Toleranz oder Forderungen an interkulturelle Kompetenz formuliert werden. Kultur und Ethnie sind zu zentralen Kategorien bei der Beschreibung von Fremdheit und zu allgegenwärtigen Deutungsressourcen geworden. Es gibt inzwischen Professuren für Interkulturelle Kommunikation, Internationales Management und sogar für Interkulturelles Training. Die Frage allerdings, wie interkulturelles Lernen möglich ist, hat zwischenzeitlich nichts von ihrer Aktualität verloren. Noch jüngst kritisierte Busch, Juniorprofessor für Interkulturelle Kommunikation an der Viadrina, unmissverständlich: „Die Frage, welche Faktoren und Prozesse den vieldiskutierten Kompetenzerwerb in Trainings herbeiführen sollen, wird in der Fachliteratur häufig vernachlässigt. Stattdessen scheint sich die interkulturelle Trainingsforschung bereits mit auch nur irgendwie als positiv bewertbaren Wissenszuwächsen seitens der Trainees zufrieden zu geben.“ (Busch 2008: 86f.)
Ich hoffe, mit den hier vorgestellten Analyseergebnissen und Überlegungen einige Elemente zur Klärung dieser Frage beizusteuern und Faktoren des interkulturellen Lernens aufzuzeigen. Im 2. Kapitel führe ich zunächst in den Gegenstandsbereich ein. Aus der inzwischen gewachsenen Zahl von Ansätzen, Einteilungsvorschlägen und Methoden stelle ich diejenigen dar, die für das Verständnis von Inhalt und Form der erhobenen Datensätze relevant sind. Basierend auf den zentralen Hintergrundtheorien und Referenzstudien erläutere ich Ziele, Inhalte und Methoden von kulturallgemeinen, kulturspezifischen und antirassistischen Weiterbildungsveranstaltungen. Das 3. Kapitel widmet sich – wie in einer empirischen Untersuchung erwartbar – Methode und Datenbasis. Das Kapitel dokumentiert neben der Referenz an diesen Gepflogenheiten allerdings auch den Versuch, dreierlei Hürden zu überwinden, mit denen mein Untersuchungsansatz konfrontiert wurde: 1. Es existiert keine anschlussfähige Gesprächsforschung im Hinblick auf
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Interkulturelles Lernen, 2. die anschlussfähige Forschung aus der konstruktivistischen Erwachsenenbildung negiert den Gegenstand des interkulturellen Lernens im Gespräch, und 3. war es über Jahre hinweg schwierig, überhaupt an Aufzeichnungen von interkulturellen Bildungsveranstaltungen für Erwachsene zu gelangen. Gesprächsarbeit beim interkulturellen Lernen in situ zu beschreiben ist Inhalt des empirischen 4. Kapitels. Trainerinnen und Beteiligte stoßen auf vielfältige Probleme – und lösen sie auch. Die gefundenen Strategien lassen sich folgendermaßen gruppieren: 1. Das multiperspektivische Transkulturelle Sprechen löst das Problem der erforderlichen Kulturreflexivität, 2. das Rahmenmanagement der Leiterinnen im Training löst das Problem der kulturgebundenen Erwartungsstrukturen im Hinblick auf die Lernziele, 3. Strategien des Transkulturellen Sprechens und bestimmte Formen des Rahmenmanagements transformieren ethnische Stereotypen und deren interaktive Dynamik, und 4. der in antirassistischen Veranstaltungen schwelende Rassismusverdacht wird durch Imagekorrekturen und eine in situ anerkannte soziale Positionierung jenseits von Ethnizität überwunden. Das 5. Kapitel bietet noch einmal einen rückschauenden Überblick über die Entwicklung des Gedankengangs im Verlauf der Arbeit, gegliedert nach Unterkapiteln, und fasst die kulturreflexiven Aktivitäten der Gesprächsarbeit beim Interkulturellen Lernen zusammen.
Glossar und Schreibweisen Ich habe die verfügbaren Bezeichnungen für Weiterbildungsveranstaltungen wie z. B. Seminar, Training, Bildungsveranstaltung der besseren Lesbarkeit und Abwechslung halber synonym benutzt. Streng genommen müsste man den Begriff ‚Training‘ für ein eher praxis- und übungsorientiertes Vorgehen verwenden, oder den Begriff ‚Seminar‘ für eher kognitiv und akademisch orientierte Vorgehensweisen. Weder in der Literatur noch in der Praxis werden die Veranstaltungsbezeichnungen im Übrigen trennscharf verwendet. Die Geschlechtsdifferenzierung wird von mir – obwohl inzwischen recht altmodisch und unüblich geworden – überall dort, wo keine neutrale Form zur Verfügung steht, in einer Pluralbildung mit großem „I“ (Teilnehmende, TeilnehmerInnen) ausgedrückt. Sollte von „Leiterinnen“ die Rede sein, so ist die so bezeichnete Gruppe auch rein weiblich zusammengesetzt. Interkulturell nenne ich Situationen und Kommunikation von Beteiligten oder von AutorInnen, wenn diese selbst davon ausgehen, dass die betreffende Situation oder Kommunikation interkulturell ist. Bei dieser und anderen
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Bezeichnungen halte ich mich – so nicht anders gekennzeichnet – an die Begriffe erster Ordnung. Das Ziel und Resultat interkulturellen Lernens wird üblicherweise Interkulturelle Kompetenz genannt. Wenn ich nicht auf Ethnobegriffe oder zitierte Autoren referiere, präferiere ich den Begriff reflexive Kulturkompetenz. Darunter verstehe ich die Summe der Fähigkeiten, Orientierungen an wechselseitig geteilten und nicht geteilten kulturellen Normen und kommunikativen Regeln zu erkennen, zu beherrschen oder aushandeln zu können. Denn gruppenspezifische Wertehorizonte und kulturelle Codes werden meist einseitig ethnisch oder national aufgefasst, können aber auch organisations-, abteilungsgebunden oder milieuspezifisch sein. Feststehende Begriffe, die auch in der Literatur als Begriffe zweiter Ordnung verwendet werden (wie z. B. ‚Interkulturelle Kompetenz‘), werden, so sie diese Konzepte bei referierten AutorInnen bezeichnen, groß geschrieben. Unter Kultur verstehe ich einen Interpretations- und Wissensvorrat, der durch lebensweltliche Routinen und kommunikative Praxis entstanden ist und in der Interaktion permanent performativ reproduziert wird. Er wird wechselseitig als selbstverständlich und als gemeinsame Sinnressource unterstellt. Als Oberbegriff kulturreflexiver Kompetenz hat sich in Literatur und Praxis der Terminus Interkulturelles Lernen durchgesetzt. Damit sind gezielte Reflexionen, organisierte Begegnungssituationen und arrangierte Bildungsmaßnahmen gemeint, welche reflexive Fähigkeiten im Bezug auf Kultur und Rassismus systematisch ausbilden wollen. Mir ist die Unzulänglichkeit dieser Bezeichnung bewusst, insbesondere im Hinblick darauf, dass die antirassistische Bildungsarbeit hier subsumiert wird. Präziser wäre es vermutlich, von „kulturreflexivem Lernen“ zu sprechen, aber ich möchte an die vorhandenen Diskurse in der Wissenschaft und die Ethnobegriffe der Praxis anschließen, wo vorwiegend von interkultureller Pädagogik oder interkulturellem Lernen gesprochen wird. Daher verwende ich diese Bezeichnung größtenteils selbst als Oberbegriff, u. a. in der Frage „wie interkulturelles Lernen möglich ist“. Zwischen dieser Frage und den darauf gegebenen Antworten – also in der Untersuchung welche kommunikativen Hürden die Vermittlung kulturreflexiver Kompetenz hat, wo also Gesprächsarbeit erforderlich ist – bewegt sich der hermeneutische Zirkel der Arbeit.
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2. Interkulturelle und antirassistische Weiterbildung: Ansätze und Methoden „Theorie ist immer nur der Umweg auf dem Weg zu etwas Wichtigerem.“ Stuart Hall
Die Arbeit widmet sich laut Fragestellung den Spezifika, besonderen Herausforderungen und Schwierigkeiten der Kommunikation beim Lernen in interkulturellen und antirassistischen Bildungsmaßnahmen. Zunächst ist also ein Verständnis der Ansätze, Ziele und Methoden in den Bildungsmaßnahmen zu entwickeln, aus denen die aufgezeichneten und analysierten Daten stammen. Ziel ist es, eine kurze Einführung in die Materie zu geben mit dem Schwerpunkt, den potenziellen Deutungsfundus, welcher den Leiterinnen der aufgezeichneten Seminare zur Verfügung standen, sowie ihre didaktischen Möglichkeiten zu skizzieren.1 Obwohl die systematische Entwicklung interkultureller Module und Materialien noch vergleichsweise in den Kinderschuhen steckt (Bolten 2001b: 89; Tschöcke/Kölling 2000: 62), gibt es inzwischen zahlreiche unterschiedliche Ansätze, Konzepte und Methodensammlungen zum interkulturellen Lernen,2 1 Sofern auf die wissenschaftliche Debatte eingegangen wird, bezieht sich die folgende Darstellung überwiegend auf den Diskussionsstand der deutschen und (sofern relevant) der europäischen Literatur in der interkulturellen und antirassistischen Erwachsenenpädagogik bezogen auf die aufgezeichneten Veranstaltungstypen. Sie geht nicht auf die amerikanische Diskussion ein, diese ist allerdings in die europäische eingeflossen. Unberücksichtigt bleiben muss ebenso die Diskussion in der transkulturellen Beratung und multikulturellen Pflege und Psychiatrie, in der interkulturellen sozialen Arbeit und Sozialpädagogik sowie in der interkulturellen Erziehungswissenschaft, die im Zusammenhang von Pädagogik in Kindergarten oder Schule in der multikulturellen Gesellschaft geführt wird. Es gibt jedoch inhaltliche Überschneidungen und Analogien der Erziehungswissenschaft zur Erwachsenenbildung und ihren Arbeitsfeldern (Auernheimer 1996: 244). Überblicke über die ideengeschichtliche Entwicklung und wissenschaftlichen Debatten in der interkulturellen Pädagogik geben z. B. zum frühen Stand Auernheimer (1996), Kiesel (1996), Nieke (1995), Niekrawitz (1990), zur Weiterentwicklung z. B. Krüger-Potratz (2005). 2 Vgl. u. a. folgende Sammlungen von Ansätzen, Methoden und Einsatzbereichen: Amt für Multikulturelle Angelegenheiten Frankfurt/M. (1993; 2000); Landis/Brislin (1983), Fowler/Mumford (1995, 1999); Götz (2000); Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V., IDA (2000); Institut für Auslandsbeziehungen, IfA (1993); Johann (1998), Kohls/Knight (1994);
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eine Reihe verschiedener Einteilungsvorschläge3 sowie eine fast unüberschaubare Debatte um Ziele und zentrale Fähigkeiten interkultureller Kompetenz.4 Neben vielen Gemeinsamkeiten in den Ansätzen gibt es deutliche Unterschiede in den Einsatzbereichen, im entsprechenden Zielgruppenzuschnitt und in den damit verbundenen konkreten Lernzielen, die sich entlang der Trennlinien zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen und Theorien festmachen lassen.5 Die meisten interkulturellen Konzepte basieren auf der Annahme vorauszusetzender kultureller Differenzen. Den so abgegrenzten Gruppen werden verschiedene kulturelle Eigenschaften zugeschrieben: „Interkulturelles Handeln findet in einer kulturellen Überschneidungssituation statt, in der gewohnte, eigenkulturell geprägte Verhaltensweisen, Denkmuster und Emotionen mit fremden, ungewohnten Verhaltensweisen, Denkmustern und Emotionen fremdkulturell geprägter Interaktionspartner zusammentreffen.“ (Thomas/Hagemann 2003: 239f.)6
Kumbruck/Derboven (2005), Landeszentrum für Zuwanderung NRW (2001); Laue/M.A.R.E. (2005), Losche 2003, Rademacher/Wilhelm (1991; 1999); Riehle (2001); Seelye (1996); Thomas/Hagemann (1992); DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. (2005), Zacharaki/Eppenstein//Krummacher (2007). 3 Einteilungsvorschläge nach inhaltlichen und didaktischen Schwerpunkten und Bildungskriterien machen Bennett, J. Milton (1986), nach den zentralen Lernzielen Brislin/Landis/Brandt (1983), nach allgemein didaktischen Merkmalen der damaligen amerikanischen und deutschen Orientierungsprogramme Dadder (1987); nach Methoden Flechsig (1999 und 2006); nach Lernarrangements, Einsatzbereichen und Methoden Grosch/Groß/Leenen (2000); nach Trainingstechniken Gudykunst/Hammer (1983), nach lernpsychologischen Kriterien Kammhuber (2000: 8ff); als annotierte Literaturauswahl O’Reilly/Arnold (2005a), nach Varianten des Trainings Rost-Roth (2007), nach Kriterien des praktischen Einsatzes Tschöcke/Kölling (2000), nach Kulturerfassungsansätzen Köppel (2002), nach Grundbegriffen, Theorien und Anwendungsfeldern das Handbuch von Straub/Weidemann (2007). 4 Vergleiche zur Auflistung verschiedener Kompetenzprofile, ihren Einsatzbereichen und zur kritischen Diskussion Antor (2007), Arnold/Gönner (1990), Auernheimer (2002), Beneke (1993), Bennett, Milton (1986), Collier (1989), Bolten (1997, 2007a), Fischer/Springer/Zacharaki (2005), Flechsig (1997), Grosch/Leenen (1998), Jakubeit/Schattenhofer (1996), Knapp (1995) KnappPotthoff (1997; 2002), Kühlmann/Stahl (1998), Lüsebrink (2005), Matthes (1999), Nicklas (1998), Rathje 2007, Otten/Scheitza/Cnyrim (2007a), Riehle (2001), Schenk (2001), Sietar Newsletter (3/2002), (Straub 2007b), Thomas (1988). 5 Theorie und Praxis interkultureller sowie antirassistischer Seminare ist in der Regel interdisziplinär, daher verzichten manche AutorInnen auf die Darstellung der Wissensbestände nach disziplinärer Herkunft (z. B. Flechsig 2005: 4). Mir erscheint jedoch gerade diese methodologische Einteilung sinnvoll, weil sie hilft, das jeweilige Kultur- und Kompetenzverständnis begrifflich zu beschreiben. 6 Der Begriff der „Überschneidungssituation“ geht zurück auf die Feldtheorie Lewins, mit der er die psychisch konflikthaften Konstellationen von Anforderungen an Personen beschreibt und wurde auf den interkulturellen Bereich übertragen (vgl. Winter 1996).
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Kultur wird als missverständnisauslösende oder konfliktverursachende Differenz vorausgesetzt, die Individuen werden als Träger der Kultur aufgefasst. Aus Sicht der Kritiker könnte man dies als kulturalisierendes Denkmuster kritisieren: „Die ‚interkulturelle Erziehung‘ stützt mit ihrer Thematisierung kultureller und ethnischer Differenzen entgegen ihren Intentionen die Unterscheidungsmuster, die in der Gesellschaft als Diskriminierungsressourcen benutzt werden.“ (Radtke 1992: 191; 204)
Fremdheit gilt als eine Beziehungskategorie, daher fokussieren insbesondere die antirassistischen Weiterbildungsmaßnahmen auf den Konstruktionsprozess von Fremdem und Eigenem. Sie problematisieren die Pädagogik der vorausgesetzten kulturellen Differenz und thematisieren das Verhältnis der unterschiedenen Gruppen als Machtungleichgewicht zwischen Akteursgruppen, meist den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Minderheitengruppen. Das ‚Fremde‘ wird nicht als Gegebenes, bereits Bestimmtes angenommen, sondern in Beziehung auf das Eigene und dem ‚Umgang mit dem Anderssein‘ verstanden. Vor dem Hintergrund dieser Kritik werde ich die Unterscheidung der Ansätze und den Überblick über ihr Spektrum daher entlang der Linie ihres Verständnisses von kultureller Differenz machen.7 Trotz der inzwischen zahlreichen Konzepte und umfangreichen Methodensammlungen ist nur eine überschaubare Anzahl interkultureller und antirassistischer Trainingsansätze wissenschaftlich verankert und basiert auf einem theoretischen Hintergrund sowie fundiert generierten Inhalten und Methoden. In der folgenden Synopse sollen gegliedert nach Wissenschaftsdisziplinen vor allem diejenigen Ansätze dargestellt werden, die den oben genannten Kriterien genügen und darüber hinaus in der Praxis weit verbreitet und sehr erfolgreich sind.8 Sie werden zusammengefasst nach ihrem Problembzw. Kulturverständnis, der methodischen Entstehung der zu vermittelnden Inhalte, ihrem obersten Lernziel und Kompetenzbegriff sowie der pädagogischen Umsetzung der Ergebnisse am Beispiel etablierter Konzepte und Methoden. Sofern vorhanden, gehe ich auch auf Hinweise zur Moderation und Kommunikation im Seminar ein, die dort gegeben werden. Eine kritische Würdigung rundet die Präsentation der Ansätze jeweils ab. 7 Eine solche Unterscheidung findet sich z. B. auch in Leiprecht/Lang (2001). Zur Vergleichbarkeit im Heterogenitätsbewusstsein zwischen dem Verlauf der feministischen Diskussion und der interkulturellen Pädagogik siehe auch Lutz/Wenning (2001). 8 Die Auswahl der dargestellten Ansätze erfolgte auch im Hinblick darauf, welche Wissensbestände und Inhalte die Leiterinnen in den Weiterbildungsmaßnahmen zur Verfügung hatten. Ich habe die Curriculae und die Leiterinnen jeweils dazu befragt. Eine Vollständigkeit strebe ich hier nicht an, allgemeine Überblicke sind in den entsprechenden fachlichen Handbüchern besser dargestellt (z. B. in Straub/Weidemann 2007).
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2.1 Interkulturelles Training Interkulturelle Trainings haben heute längst ihren traditionellen Rahmen, den der Vorbereitung auf Auslandseinsätze und -entsendungen verlassen. Sie finden in einer Vielzahl von Handlungsfeldern statt, in denen Kultur eine problematische Deutungsressource geworden ist.9 Die Debatte darum, worin interkulturelle Kompetenz bestehe, ist daher inzwischen breit und sehr kontrovers geworden.10 Doch die allgemeinen Lernziele für Weiterbildungsmaßnahmen sind wenig strittig. Es handelt sich um die Fragen: 1. Ist Kultur überhaupt das Problem? 2. Wenn kulturelle Aspekte eine Rolle spielen, welche Wissensbestände braucht man, um mehr zu verstehen oder anders zu interpretieren? 3. Wie geht es einem emotional mit den Differenzen? 4. Was wäre eine angemessene und hilfreiche Art und Weise, sich zu verhalten? Diese Lernziele lassen sich meines Erachtens am besten mit den schon früh von Brislin beschriebenen vier Fähigkeitsdimensionen erfassen: awareness, knowledge, attitudes und skills (Brislin u. a. 1983, Brislin/Yoshida 1994):11 1. Awareness ist die Voraussetzung für alle anderen interkulturellen Fähigkeiten. Es geht um das Bewusstsein der Bedeutung kultureller Unterschiede, insbesondere im Hinblick auf die eigene kulturelle Prägung, sowie den Respekt für kulturelle Differenz und die Sensibilität für die Situation der Begegnung. Anpassung an fremde Werte ist nicht grenzenlos möglich. Es muss klar sein, dass der eigene Kulturzentrismus aufgrund der „Natürlichkeit” und Werteverbundenheit des einsozialisierten Wissens nicht ignoriert werden kann. Gesamtziel in diesem Könnensbereich ist die komplexere Wahrnehmung der
9 Aktuelle Übersichten über die Handlungsfelder geben die Handbücher von Bergemann/Sourrisseaux (2003), Bolten (2007), Otten/Scheitza/Cnyrim (2007a+b), Thomas/Kammhuber/ Schroll-Machl (2003). 10 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die inzwischen von Heterogenität und Hitzigkeit geprägte Debatte einzugehen, was interkulturelle Kompetenz ist oder sein müsste. Siehe dazu die Zusammenfassung über den aktuellen Stand der Diskussion in Deutschland von Rathje (2007). 11 Ähnliche Fähigkeitsbereiche, die auch als Phasen der Entwicklung interkultureller Kompetenz formuliert werden, finden sich auch bei anderen Autoren. Hofstede (1997: 302) unterscheidet die Phasen Bewusstwerden (der kulturell geprägten Sozialisationsformen), Wissen (als die Bereitschaft etwas über andere Gesellschaften zu lernen und Fertigkeiten (bei der Anwendung kultureller Praktiken). In der Dissertation von Barmeyer (2000), verknüpft der Autor divergierende kulturelle Managementstile mit einem Profil der Lernstilanalyse. Auch er unterscheidet affektive, perzeptive, kognitive und konative Fähigkeitsbereiche.
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eigenen und fremden Kulturfaktoren und die Fähigkeit, Problemquellen interkultureller Begegnungen zu erkennen.12 2. Knowledge: Zu diesem Kompetenzbereich zählen alle kognitiv vermittelbaren Wissensbestände. Dazu gehören Fakten wie z. B. Informationen zum Land (Geographie, Geschichte) oder zu administrativen Angelegenheiten (Visabestimmungen). Aber auch Konzepte zum Identifikationsverhalten mit der eigenen Gruppe oder zu Funktionen der Vorurteilsbildung, kulturspezifisches Wissen zu Sitten und zum Rollenverständnis sind ebenso hier einordbar. 3. Attitudes/Emotional challenges: Die Einbeziehung der Gefühlsebene und Einstellungen zu den unvertrauten Verhaltensweisen und Werten ist eine anspruchsvolle Komponente interkultureller Trainings. Die Teilnehmenden sollen Freude statt Stress in der Begegnung erleben, Selbsteinsicht bei interkulturellen Schwierigkeiten üben und einen besseren Umgang mit der Angst vor dem Fremden oder Anderen. Dazu müssen gewohnte Bewertungen relativiert werden, sollen affektbesetzte Einstellungen und Attributionen verändert und die Teilnehmenden toleranter, flexibler und respektvoller gegenüber anderen Wertevorstellungen und Kulturen werden. 4. Skills/Behaviour übt die Umsetzung des erlernten Wissens in die eigenen Handlungsstrategien ein. Ziel dieser Übungen sind z. B. bessere Arbeitsbeziehungen und Arbeitsleistungen in multikulturellen Arbeitsgruppen, der bessere Umgang mit Stress in kulturübergreifenden Situationen und natürlich die Erweiterung des eigenen Handlungsrepertoires. In aktivierenden praxisnahen Übungen soll den Teilnehmenden die Möglichkeit gegeben werden, Verhalten nach anderen Sitten oder neuen Mustern auszuprobieren.13 Vor diesem Hintergrund ist der typische Aufbau von interkulturellen Seminaren meist ein Mix aus sensibilisierenden, kognitiven, erfahrungsorientiertemotionalen und praktischen Lernphasen. Die üblichen Vorgehensweisen auch schon eintägiger Workshops spiegeln die Brislinschen Ebenen und bestehen häufig in 1. einer Schärfung des Problembewusstseins, 2. der eher kognitiv orientierten Vermittlung von zielgruppenrelevanten Inhalten, 3. der pädagogischen Arbeit an affektbesetzten Einstellungen und Attributionen und schließlich 12 Zahlreiche Übungen, insbesondere Simulationsübungen, widmen sich diesem Bereich. In den Simulationen eignen sich die Teilnehmenden Regeln einer „Kultur“ an, um dann anderen zu begegnen. Die Palette reicht von einfachen Kartenspielen wie z. B. Barnga, bei dem an jedem Spieltisch unterschiedliche Spielregeln gelten, ohne dass die Teilnehmer es wissen, bis zu hochkomplexen Fallstudien-Simulationen wie z. B. Interact. Dieses Planspiel simuliert Unternehmenskooperationen in verschiedenen Bereichen und Phasen der geschäftlichen Beziehungen mit bis zu vier Kulturen (vgl. Bolten 2001b). 13 Auf die verbreitete und auch von Brislin zitierte Unterscheidung in verschiedene „Beteiligungstiefen“ (vgl. Bennett 1986, Brislin 1989), also die Frage, ob die Teilnehmenden eher rezipierend, emotional involviert oder aktiv agierend beteiligt sind, gehe ich nicht ein, weil diese kein Spezifikum interkulturellen Lernens ist, sondern für alle erwachsenenpädagogischen Fragen gilt.
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4. der Erweiterung des Verhaltensrepertoires durch Interaktionstraining. Die Bildungsmaßnahmen unterscheiden sich in ihrer Zusammenstellung darin, in welchen der Lernbereiche sie Schwerpunkte setzen und ob sie eher kulturallgemeine Ziele oder die spezifische Thematisierung einer bestimmten Kultur verfolgen.14
2.1.1 Kulturdimensionen: Differenzen aus kulturanthropologischer Sicht Basierend auf quantitativen und qualitativen Kulturvergleichsstudien konstruierten vor allem Anthropologen fundamentale Orientierungssysteme, an Hand derer sie Kulturen idealtypisch unterscheiden, wie z. B. in ihrem Verhältnis zu Raum und Zeit. Diese kulturellen Basisunterscheidungen, sogenannte „Kulturdimensionen oder -kategorien“, formulieren gegensätzliche Pole, auf denen die Ausprägungen der menschlichen Natur – wenn auch in graduell unterschiedlicher Weise – verortet sein müssen, „for it has penetrated to the roots of his nervous system and determines how he perceives the world.“ (Hall 1983: 188) Ausgehend von der sozialanthropologischen These, dass alle Gesellschaften mit den gleichen Grundproblemen konfrontiert sind, handelt es sich bei den Ausprägungen im Rahmen dieses Verständnisses um gesellschaftliche Problemlösungsvarianten für die Auseinandersetzung mit Natur (Hofstede 1997: 15). Die Dimensionen basieren auf dem Kulturbegriff der kognitiven Anthropologie, welche Kultur als „Grammatik“ begreift. „Sie ist die kollektive Programmierung des Geistes, die die Mitglieder der einen Gruppe oder Kategorie von Menschen von einer anderen unterscheidet.“ (Hofstede 1997: 4).
Demnach ist Kognition und Kultur identisch als ein in den Köpfen von Menschen befindliches Ordnungsgefüge. Kultur wird als die ‚mentale Programmierung‘ einer Kontaktgruppe verstanden, womit Geschlechter oder Nationen ebenso gemeint sein können wie Organisationen oder soziale Klassen. Durch die universalen Prinzipien des menschlichen Denkens ist die Menge möglicher kognitiver Repräsentationen begrenzt (Hirschberg 1988: 255; Kokot 1993: 335). Der Beschreibung dieser Varianten als „ideale Regelsysteme“ widmeten sich die folgenden Studien.
14 Die Kontroverse in den USA, ob die Ausrichtung interkultureller Trainings kulturallgemein oder kulturspezifisch sinnvoller ist, ist überwunden und einer Integration gewichen (vgl. dazu auch Kammhuber 2000: 11ff. oder O‘Reilly/Arnold 2005b).
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Edward T. Hall Einige der bis heute vielbeachteten Unterscheidungen gehen auf den Nestor der kulturvergleichenden Anthropologie, Edward T. Hall (1959, 1966, 1976, 1983), zurück.15 Er begründete das Forschungsgebiet „Proxemik“, also die Bewegung der Menschen zueinander und das Kontaktverhalten im Raum. Analog zum Territorialverhalten im Tierreich beschrieb er das unterschiedliche und kontextspezifische Distanzverhalten des Menschen und das Konzept der Privatsphäre in der deutschen, französischen, britischen, japanischen und arabischen Kultur (Hall 1966). In Form idealtypischer Gegensätze werden erstmals Dimensionen des Zeitverständnisses und Variationen des Kommunikationsstils beschrieben. Als „monochrone“ Kultur wird eine Grundauffassung beschrieben, die Zeit als etwas Materielles und Verfügbares auffasst. Zeit erscheint als ein Rohstoff, der „gespart“ oder „verschwendet“ werden kann und die Orientierung ist entlang eines Zeitstrahls linear: Dinge werden nacheinander abgehandelt. „Polychrone“ Kulturen dagegen werden als eine Form der Ereignisorientierung mit einem zyklischen Zeitverständnis beschrieben. Zeit läuft ab, ohne dass man darauf einen Einfluss hätte oder haben wollte. In dieser Vorstellung zerfällt Zeit in viele diskontinuierliche Momente. Beziehungen stehen im Vordergrund und man orientiert sich eher am Augenblick und seinen Erfordernissen. Das unterschiedliche Zeitverständnis wirkt auf alle Lebensbereiche, (Beziehungsaufbau, Handlungspläne, Zukunftsorientierung) und natürlich auf das Kommunikationsverhalten (Hall 1983).16 Zum anderen unterscheidet Hall zwischen einem direkten und einem indirekten Kommunikationsstil, besser ausgedrückt in den Originalvokabeln „high context“ und „low context“. Der Begriff Kontext bezieht sich auf das Verhältnis von implizitem Vorwissen und explizit formulierter Informationsmenge in der Kommunikation. Bei stark kontextualisierter Kommunikation (high context) muss die überwiegende Menge der Bedeutung aus dem Impliziten und Ungesagten in der Interaktionssituation geschlossen werden. Wichtiger als der Austausch des Sachaspekts sind Beziehungspflege und Gesichtswahrung des Gegenübers als Praktizierung des Werts „Harmonie“. Der idealtypisch 15 Erwähnt, aber nicht eigens ausgeführt, seien hier noch die einflussreichen Pionierinnen Margret Mead und Ruth Benedict. Letztere hatte in Patterns of Culture die bedeutsame Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen eingeführt und damit auf grundsätzlich differierende Verhaltensweisen aufgrund anderer Sanktionserfahrungen in der Sozialisation hingewiesen (vgl. Benedict 1989, Orig.: 1934). 16 Dem unterschiedlichen Umgang mit Zeit widmen sich auch weitere Studien, vgl. z. B. die „Landkarte der Zeit“ von Levine (1999). Er unterscheidet in seinem Vergleich von u. a. Gehgeschwindigkeiten vieler Länder zwischen „Ereigniszeiten“ und „Uhrenzeiten“, welche den eingeführten Kategorien von Hall entsprechen.
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entgegengesetzte Kommunikationsstil (low context) präferiert die wörtliche, explizite und direkte Formulierung des Gemeinten, auch wenn sich dadurch eine Konfrontation mit dem Gegenüber ergibt.17
Geert Hofstede Mit weitem Abstand am einflussreichsten gewesen sind die Ergebnisse einer Studie des niederländischen Anthropologen Geert Hofstede (1997).18 Mit einem standardisierten Bogen befragte er als Personalleiter für Europa im Rahmen einer Studie für konzerninterne Zwecke zwischen 1968 und 1972 ca. 116.000 Angestellte in 72 nationalen Tochtergesellschaften des internationalen Konzerns IBM. MitarbeiterInnen aus 38 Berufen verschiedener Hierarchieebenen in über 50 Ländern wurden aufgefordert 100 einheitliche Fragen zu beantworten. Er hatte ursprünglich nicht nach Kulturunterschieden gesucht, sondern sie im Rahmen einer Befragung gefunden. Hofstede nutzte diese Datenbasis dann für seine Fragestellungen (ebd: 363f.; 371f.). Mittels Faktorenanalyse auf der Basis von Ländermittelwerten wurden vier Dimensionen zur Erklärung der nationalen Unterschiede in der Beantwortung der Fragen herangezogen und zusätzlich mit Informationen aus anderen Quellen validiert.19 Die erste Dimension verortet die Kulturen auf der Achse Individualismus – Kollektivismus. In individualistischen Kulturen ist tendenziell eine Orientierung an der Selbstverantwortlichkeit vorherrschend. Neben den eigenen Interessen werden allenfalls noch die der engsten Familienmitglieder gewahrt. Kollektivistische Kulturen kennzeichnet die Orientierung an Gruppenzugehörigkeit und gemeinsamer Verantwortung, sei dies die Großfamilie, die KollegInnen oder die Nation. Ihnen ist das Individuum verpflichtet und verhält sich loyal, die persönlichen Interessen werden untergeordnet. Die zweite Dimension unterscheidet Lösungen zum Umgang mit Ungleichheit. Orientieren sich Kulturen an 17 Die beiden Kulturdimensionen Zeit und Kommunikationsstil werden von Hall auch zusammen betrachtet, womit eine beliebte kombinierte Betrachtungsweise von Kulturdimensionen ihren Anfang nimmt, die Verbindung bzw. „Kreuzung“ von Dimensionen, welche zur Bildung von Quadranten führt, in denen idealtypisches Verhalten geclustert und im Kulturvergleich beschreiben lässt. 18 Erste Resultate erschienen Anfang der 80er Jahre. Ich greife auf die aktualisierte deutsche Fassung von 1997 zurück, die auch neuere Studien berücksichtigt. 19 Der Grund für nur vier Hauptdimensionen liegt darin, dass Hofstede Vorhersagen in der anthropologischen Literatur und die bis dahin ca. 40 anderen Studien gesichtet sowie stichprobenartig Interviews mit erfahrenen MitarbeiterInnen in sechs Ländern geführt hat. Von den vielen möglichen Dimensionen wurden diejenigen ausgewählt, die im Arbeitsleben bedeutsam sind (und nicht etwa ästhetische Präferenzen abbilden). Das theoretische Kriterium, dass die Dimensionen Lösung fundamentaler gesellschaftlicher Probleme abbilden, wurde damit als erfüllt angesehen (Hofstede 1986: 306f.).
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der Norm der Minimierung von sozialer Ungleichheit, oder wird Ungleichheit als naturwüchsig aufgefasst und ist sogar erwünscht. Hofstede nennt diese Achse „Powerdistance“.20 Je geringer die ‚Distanz zur Macht‘, desto eher ist Macht in dem System erwerbbar und legitimierungsbedürftig. Angestellte aus Kulturen mit „größerer Machtdistanz“ bevorzugen Hierarchien und orientieren sich stärker am Senioritätsprinzip. Die dritte Dimension betrifft den Grad der Unsicherheitsakzeptanz oder –vermeidung und erfasst damit das Problem der Intransparenz der Gegenwart und Ungewissheit der Zukunft. Mitglieder von Kulturen mit hoher Unsicherheitsvermeidung verhalten sich regelorientiert, sie brauchen Struktur und klare Planung. Menschen, die mit unsicherheitstoleranten Kulturen vertraut sind, geraten auch bei Unvorhersehbarkeiten, Chaos und Unübersichtlichkeit nicht aus dem Tritt und gebrauchen persönliche Interpretations- und Handlungsspielräume. Schließlich unterscheidet Hofstede noch „maskuline“ und „feminine“ Kulturen und damit die Lösungsvarianten zur geschlechtsspezifischen Rollenverteilung. Erstere sind an leistungsorientieren Werten wie Ehrgeiz, Aufstieg und Erfolg orientiert und trennen stark zwischen den Rollenerwartungen an die Geschlechter. Letztere rücken Lebensqualität und mitmenschliche Zuwendung in den Vordergrund und die sozialen Geschlechterrollen überlappen sich. Punktwerte und Korrelationen zwischen den Dimensionen erlauben Ländervergleiche und graphische Darstellungen, wie sich die Nationalkulturen im Hinblick auf zwei Dimensionen zueinander verhalten. Hofstedes Überlegungsspektrum zum Einsatz der Dimensionsbeschreibungen bezieht sich auf alle nur denkbaren Begegnungsbereiche und Zielgruppen und reicht von der Vorbereitung auf Auslandsentsendungen bis zu internationaler Politik und globaler Entwicklung.21 Sein Hauptziel ist die Botschaft, kosmopolitischer zu werden: „Bewusstmachung“ und „Anpassung“. Er warnt davor, die in den Dimensionen mit Punktwerten angegebenen Tendenzen mit stereotypen Aussagen über Individuen bestimmter Nationalitäten zu verwechseln (Hofstede 1997: 366f.).
20 Dieser etwas sperrige Begriff stammt nicht von Hofstede selbst, er übernimmt ihn von dem niederländischen Sozialpsychologen Multer. Beschrieben wird darin das von MitarbeiterInnen gewünschte Verhältnis zu ihren Vorgesetzten (Hofstede 1997: 27). 21 In der sogenannten „Botschaft“ des Buches taucht die Prämisse der kognitiven Anthropologie und damit die hehre Ambition der Studie noch einmal deutlich auf: „Die Botschaft dieses Buches lautet, daß ein solches [gesteigertes Bewußtsein für die Grenzen unserer mentalen Programme, K.N.] entwickelt werden kann, und daß, auch wenn wir nicht erwarten können, alle gleich zu werden, wir zumindest versuchen können, in unserer Denkweise kosmopolitischer zu werden.“ (Hofstede 1997: 329)
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Weiterentwicklungen Das Denken in idealtypischen Gegenpolen hat viele weitere Wissenschaftler auch anderer Disziplinen inspiriert. Der Managementberater und Wirtschaftswissenschaftler Trompenaars, ein Schüler Hofstedes, geht ebenfalls davon aus, dass sich Kultur in der Auseinandersetzung von Natur (Umwelt), Zeit und Mitmenschen manifestiert. Er kritisiert Hofstedes bipolares Abtragen der Zuschreibungen in Gegensätzen. Seiner dialektischen Auffassung nach lösen (tertium datur) Kulturen die mit den Aufgaben für die Vergesellschaftung verbundenen Dilemmata auf je spezifische Weise (Trompenaars 1993). Mit seiner Sammlung von sieben Dimensionen werden u. a. die Fragen beantwortet, welche grundsätzliche Beziehung Menschen zur Natur haben können (Naturbeherrschung vs. Unterwerfung), welches Normen- und Regelverständnis sie haben (universell vs. partikular), wie ihre Aktivitätsorientierung ist (Seinsoder handlungsorientiert), ob Status qua Herkunft zugeschrieben wird oder erworben werden kann, wie öffentlich bestimmte Persönlichkeitsbereiche sind (spezifisch vs. diffus), ob die Dinge seriell oder parallel erledigt werden können und wie das Verhältnis von Individuum und Gruppe gelöst wird (Trompenaars/Hampden-Turner 1997, Hampden-Turner/Trompenaars 2000).22 Seine Studien basieren ebenfalls auf schriftlichen Befragungen von ca. 15.000 Personen aus unterschiedlichen internationalen Organisationen und Ländern. Die anzustrebende transkulturelle Kompetenz besteht für Trompenaars darin, scheinbar widerstreitende Werte in Einklang zu bringen. Der inzwischen emeritierte Hochschullehrer für angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Hildesheim, Jürgen Beneke hat die verschiedenen kursierenden Dimensionen zu einer Synopse von vierzehn Dimensionen zusammengestellt (Beneke 1997). Vor diesem Hintergrund formuliert sein „Hildesheimer Kompetenzprofil (HPIK)“ (Beneke 1993) Kompetenzen, auf die in einem interkulturellen Assessmentcenter geachtet werden soll. Dazu gehören interkulturelle Sensibilität als Lernfähigkeit für unscharf definierte Situationen, die Fähigkeit zur interkulturellen Handlungskompetenz durch kulturadaptive Variation von Verhaltensparametern wie Arbeits- und Führungsstil und das Vermögen, sich mit Hilfe von Regionalkompetenz oder internationaler Kompetenz rasch auf bestimmte kulturelle Gegebenheiten ein- und umstellen zu können. Ein ganzer Katalog von Kompetenzen stellt die Anforderungen zusammen: differenzierte Selbstwahrnehmung, ein breites Rollenrepertoire, metakulturelle Prozesskompetenz, Empathiefähigkeit, Ambiguitätstoleranz, 22 Seinen Kategorien ist unschwer die Herkunft anzusehen, ihre Ursprünge liegen in den value orientations von Kluckhohn/Strodtbeck und den pattern variables von Parsons und Shils (vgl. dazu auch Köppel 2002, Kapitel 6).
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Vermeidung von Ethnozentrismus u.v.m. Um dies alles leisten zu können, müssen die Teilnehmenden Dispositionen mitbringen. Wie sie mit Hilfe der Dimensionen geschult werden sollen, ist unklar.23 Das „Global Leadership and Organizational Behaviour Effectiveness Research Program”, kurz die GLOBE Studie unter der Leitung des Professors für Organizational Studies and Management an der Wharton School of Business der Universität in Pennsylvania, Robert House (House u. a. 2004) basiert ebenfalls auf dem Dimensionenansatz von insgesamt neun Kulturdimensionen und ist die mit Abstand größte Kulturvergleichsstudie seit den ersten Arbeiten von Hofstede. Sie beinhaltet einige der bereits oben genannten Kategorien, die neue Dimension „Bestimmtheit“ (Assertiveness) jedoch, ebenso wie der Titel der Studie verweist auf ihr spezifisches Thema und die damit verbundenen Fragestellungen. Gesucht werden Merkmale der Führung, die in allen Kulturen geschätzt werden, und untersucht wird u. a. die Frage, inwieweit die Kultur einer Gesellschaft Organisationskultur und Führungsverhalten beeinflusst.24 Insgesamt wurden über 17.370 Fragebögen von Führungskräften aus 951 Unternehmen und 62 Kulturen ausgewertet, aber auch qualitative Methoden wie u. a. Gruppen- und Einzelinterviews in die Auswertung mit einbezogen. Erfasst wurden dabei auch Teilkulturen wie z. B. die Differenz zwischen der deutschen und französischen Schweiz, West- und Ostdeutschland sowie der Fragebogen zur Organisationskultur von dem zur Landeskultur unterschieden.25 Die Ziele der GLOBE Studie bestanden darin, insgesamt fünfzehn Thesen zu überprüfen u. a., wie die kulturell geteilten Normen und Werte das Führungsverhalten beeinflussen, kulturunabhängige Führungsmerkmale und -dimensionen zu identifizieren und kulturtypische präferierte Führungskräfteprofile zu beschreiben. Im Unterschied zu ihren Vorläufern untersucht sie auch die Differenz zwischen Istzuständen und Sollvorstellungen. Neben vielen Einzelergebnissen zeigt die Studie, dass zum einen die „Landes“-Kultur Einfluss auf die Organisationskultur ausübt und dass 23 Die Erläuterungen zur interkulturellen Kompetenz von Flechsig (1997), Leiter des Instituts für Ethnologie und interkulturelle Didaktik in Göttingen, schließen ebenfalls kognitivistische Grundüberlegungen und die Dimensionen in Form transkultureller Kategorien an. Er geht davon aus, dass kulturelles Wissen in Form von selbstverständlichen „Skripts“ vorliegt, die durch Diskrepanzerfahrungen erschüttert und in neue Skripts erweitert werden. Zu seinen Ausführungen zur Schematheorie vgl. auch Flechsig 2006: 24.ff) 24 Die Studie durchlief mehrere Phasen und Pilotprojekte und basiert auf einem komplexen theoretischen, konzeptionellen und methodischen Rahmen, der hier nicht ausführlich dargestellt werden kann. Vgl. dazu Part I (The GLOBE research program), Part II (Prior literature) und Part III (Research methodology) der Studie (House u. a. 2004: 1-233). Eine kritische Darstellung dieses sehr komplexen Untersuchungsdesigns kann hier nicht erfolgen. 25 In der Literatur mit diesem Kulturverständnis wird häufig nicht zwischen Kulturen, Landesgrenzen, Nationen oder Kommunikationsgemeinschaften unterschieden, welche nicht deckungsgleich sind. Wie im Glossar erwähnt, folge ich in den Bezeichnungen jeweils den referierten AutorInnen.
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zum anderen auch die impliziten Führungstheorien landes- und unternehmenskulturellen Einflüssen unterliegen, weshalb es sinnvoll ist, Landes- und Organisationskultur bei der Führung von Mitarbeitern zu berücksichtigen.
Didaktische Umsetzung und Kompetenzverständnis Hinsichtlich der Art und Form der zu erwerbenden Kompetenzen machen die Erforscher der Kulturdimensionen nur wenige Aussagen. Bildungsveranstaltungskonzepte kommen bei Hall nicht und in Hofstedes Hauptwerk nur beiläufig vor. Sein Kompetenzbegriff ist: „Die wichtigste Botschaft des Seminars lautet, daß du und ich eine Kultur haben und die anderen Menschen, die anderswo aufgewachsen sind, eine Kultur in sich tragen, die in mehr oder weniger vorhersehbaren Punkten von unserer abweicht.“ (Hofstede 1997: 323)
Erst Nachfolger und Anhänger haben Übungen entwickelt, um die kulturvergleichenden Dimensionen umzusetzen. Die kulturvergleichenden Dimensionen bilden quasi den Auftakt für interkulturelles Lernen überhaupt, das mit Wissen und Fertigkeiten ergänzt werden soll (Hofstede 1997: 320ff.). Hofstedes eigene dreitägige Seminare sind kulturallgemeiner Art und zielen in nicht näher erläuterten Übungen, Vorträgen, Spielen und Diskussionen auf die Bewusstmachung der eigenen kulturellen Brille der Bedeutung von Kultur als relatives, für die jeweilige Gruppe funktionales Koordinatensystem.26 Die Dimensionen werden hauptsächlich als theoretisches Wissen vermittelt, die Didaktisierung ist aufgrund ihrer Abstraktheit eine Herausforderung.27 Die Wertekonflikte werden teilweise an Fallstudien verdeutlicht (vgl. z. B. Hampden-Turner/Trompenaars 2000) oder direkt zur Analyse von irritierenden Alltagsinteraktionen eingesetzt. Es ist erwartbar, dass sie zunehmend auch in Computer-based-Trainings (CBT’s) Anwendung finden.28 Doch obwohl bisher 26 Inzwischen hat Hofstedes Sohn ein Trainingshandbuch mit Übungen veröffentlicht (Hofstede/Pedersen/Hofstede 2002). Weitere didaktische Umsetzungen vor allem in Form von Wertereflexionen oder Selbsteinschätzungen findet man z. B. bei Storti (1999) oder Stringer/ Cassiday (2003). Storti (1994) hat in konstruierten Cross-Cultural-Dialogues die Dimensionen als Orientierungen in der Kommunikation umgesetzt. 27 Lufthansa Flight Training z. B., das Schulungscenter für das Fliegende Personal, vermittelt seit vielen Jahren einige der der Dimensionen in Form von Kleingruppenarbeit, bei der es zu didaktischen Problemen kommt (vgl. Thier 1997: 71ff.) 28 Siehe schon Hankes (2001) Analyse von Critical Incidents in einem Luftfahrtunternehmen an Hand der Dimensionen und ihr Lernprogrammvorschlag für ein CBT. Das internetbasierte interkulturelle Lernen wurde seitdem ausgebaut. Im Internet finden sich Sammlungen mit kritischen
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nicht systematisch pädagogische Methoden mit ihnen verknüpft worden sind, sind sie aus den Trainings nicht wegzudenken und ihre Präsenz in der Literatur und in Beratungskontexten ist beispiellos.
Kritische Würdigung Die Kulturdimensions-Studien haben NachahmerInnen, KritikerInnen und TrainerInnen gleichermaßen inspiriert. Es gibt kaum eine Publikation, in denen sie nicht erwähnt werden. Unbestritten haben sie wichtige Anregungen für das interkulturelle Management und Training gegeben, einige Dimensionen, z. B. die Gegenüberstellung von Individualismus und Kollektivismus sind wiederholt nachgewiesen worden. Hintergrund und Nutzen der Beschreibung von idealtypischen Tendenzen in Gesellschaftssystemen im Allgemeinen und ihre methodische Herleitung im Besonderen sind jedoch umstritten. Übergeneralisierung, statistischer Mythos und Stereotypenbildung sind die Stichworte der Kritiker. Drei Komplexe kann man dabei zusammenfassen: 29 1. Kritik an Begrifflichkeiten und methodologischen Prämissen: Kulturen werden als Entitäten, also geschlossene Einheiten und im Kern unveränderbare Systeme vorausgesetzt. Obwohl Hofstede Kultur als Kontaktgruppe beschreibt, bezieht sich die Kollektivbildung auf nationalstaatlich definierte Kulturen, die als homogen unterstellt werden (Vester 1996: 57f.). Kultur und Nation wird ebenso wie Kognition und Kultur umstandslos gleichgesetzt, sodass „nationale Kognitionen“ die Folge scheinen. Als Beispiel für viele Kritiken sei Hansens Urteil zitiert: „Alles in allem ist sein Buch für die moderne Kulturwissenschaft eine Katastrophe. Er versündigt sich an allen Fortschritten, die seit den sechziger Jahren erzielt wurden, und ausgerechnet dieses Machwerk hat die Unbelehrbaren, die den Kulturbegriff für Unfug hielten, belehrt. Jene Psychologen, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler, die nur empirischen Analysen trauen, wurden durch Hofstedes Statistik davon überzeugt, daß Kultur aus hard facts bestehe, die man messen und wiegen kann.“ (Hansen 2003: 286, Hervorhebung im Original)
Interaktionssituationen, wie z. B. auf der Plattform, die der interkulturelle Kommunikationswissenschaftler Bolten in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen aufgebaut hat: http://www.ikkompetenz.thueringen.de (Stand 1.1.2010). 29 Ich konzentriere mich bei der Zusammenstellung der Kritikpunkte auf Hofstede, da Trompenaars Arbeiten in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung eher begrenzt sind. Im Unterschied zu Hofstede hat er keine genaue Dokumentation seines Forschungsdesigns dargelegt. Die ebenfalls mit den Dimensionen arbeitende GLOBE Studie versuchte, die bekannten Kritikpunkte zu antizipieren.
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Erfasst wurden die kulturellen Unterschiede auf der Basis von Einstellungsaussagen. Der Schluss auf kollektive Mentalitäten ist dabei ebenso voreilig wie auf das tatsächliche Verhalten (Vester 1996: 78f.). Hinzu kommt, dass Kultur schwerlich eine messbare Größe ist und durch Symbole wie Sprache repräsentiert wird, daher ist zu fragen, ob über eine standardisierte Befragung das Orientierungssystem überhaupt erschließbar ist. Auch die Bezeichnungen der Dimensionen selbst sind teilweise problematisch. Ihnen liegt eine westliche Perspektive zugrunde (Bolten 2001c: 95). Deutlich wird das z. B. am Begriff „Machtdistanz“ (Powerdistance). Er trifft das, was Hofstede beschreiben will, nur ungenau. Gemeint ist eine Unterschieds- bzw. Hierarchietoleranz im Gegensatz zu einer Gleichheitsorientierung bzw. der Vorstellung, ob Macht erworben werden kann oder naturwüchsig ist (Alter, Seniorität, von Gott verliehen). Der Begriff entbehrt auch intuitiver Anschaulichkeit und muss stets erläutert und übersetzt werden, (ebenso wie Feminität und Maskulinität, die keine Geschlechter beschreiben). Die Trennschärfe zur Dimension Kollektivismus – Individualismus ist schwer, nahliegend und daher häufig sind Vermischungen und Verwechslungen. Auch Anzahl und Auswahl der Dimensionen sind letztlich unklar, die Autoren unterscheiden sich in den einzelnen Dimensionen, die sie für relevant halten (Drechsel/Behr/Schmidt 1998). 2. Kritik an Forschungsdesign und -kontext: Immer wieder wird der Studie trotz der Fülle der ausgefüllten Fragebögen die mangelnde Repräsentativität und ein "cultural bias" vorgeworfen (z. B. Vester 1996: 58). Auch die Validität der Items gilt als problematisch. Die Einbindung der Kulturgebundenheit der Forscherperspektive gilt als misslungen. Hofstede selbst schränkt ein, dass die Entwicklung des Fragebogens nur auf Tests in westlichen Ländern beruhte. Die IBM-Befragung hatte ursprünglich ja gar nicht das Ziel, kulturelle Unterschiede zu untersuchen (Hofstede 1997: 368; 371). Das Untersuchungsdesign folgt daher westlichen Standards, es erfolgte in einem einzigen Unternehmen und ist daher geprägt durch Unternehmenskultur von IBM, in deren Betrieben die Befragung durchgeführt wurde, die noch einen eigenen „bias“ hervorbringen kann. Zugleich wurden damit nur Menschen einer bestimmten Schicht in der jeweiligen Kultur erfasst, intrakulturelle Differenzen ignoriert, sodass nicht gesichert ist, dass in anderen Populationen ähnliche Ergebnisse zu finden wären. In einer akribischen Detailanalyse wirft Behrens (2007) Hofstedes Untersuchungen nicht nur die fehlende wissenschaftliche Validität vor, sondern kulturelle Voreingenommenheit und ein Unfalsifizierbarkeitsprinzip als Immunisierungsstrategie. Beide Kritikpunkte hängen nicht notwendig zusammen.30
30 „Der Vorwurf, wissenschaftliche Standards zu verletzen, ist nicht a priori identisch mit dem Vorwurf ‚ethnozentrisches Bias’ zu haben, auch wenn eine durch und durch ethnozentrische Sicht-
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3. Kritik an den Ergebnissen und Folgen: Aufgrund des politischen und damit letztlich statischen und geschlossenen Kulturbegriffs und Kulturvergleichs müssen sich die Ergebnisse mehreren Pauschalitätsvorwürfen stellen. So griffig die Pole der Dimensionen sind, so sehr kann man die Zulässigkeit der Generalisierungen für ganze Nationen und – aufgrund von Wertewandel über den Erhebungszeitraum hinaus – bezweifeln (Bolten 2001c: 95). Die hinter den Fragestellungen und Begriffen verborgenen Werthaltungen, treten bei den Ergebnisbeschreibungen zu Tage. Insbesondere die Erläuterungen zu den idealtypischen Polen der Dimensionen wirken wertend oder zumindest wertgebundenen Auffassungen nicht entgegen. Schließlich ist die Mischung von Aussagen zur Bevorzugung anderer Werte und der Beschreibung politischer Gegebenheiten zu pauschal. Z. B. stehen in der Tabelle zur Unterscheidung von Kollektivismus und Individualismus für kollektivistische Gesellschaft Aussagen untereinander wie „Das Privatleben wird von (der) Gruppe(n) beherrscht. Meinungen werden durch Gruppenzugehörigkeit vorbestimmt. Gesetze und Rechte sind je nach Gruppe unterschiedlich. Niedriges Pro-Kopf-BSP. (...) Wirtschaft gründet sich auf kollektive Interessen. politische Macht wird von Interessengruppen ausgeübt. Presse wird vom Staat kontrolliert.“ (Hofstede 1997: 99).
Behrens hegt hier sogar einen Ideologieverdacht (2007: 222ff.). Hofstede verankere ausgewählte Mentalitätsvorurteile und spalte die Welt in ‚gute ingroup Kulturen‘ und den antithetisch definierten Rest (je nach Dimension westliche Kulturen gegen ‚traditionelle‘ und ‚unvollkommene‘ Kapitalismen oder auch Niederländer und Skandinavier gegen angelsächsischen Nationen) (ebd.: 229f.). Die intellektualistischen Beschreibungen dieser offiziellen, operationalisierten Kultur müssen keineswegs mit der ‚selbstfabrizierten informellen Kultur‘ in den Köpfen der Beteiligten übereinstimmen (Sardan nach Ott 2000: 247f.). Aus handlungstheoretischer Sicht sind die Dimensionen ohnehin weit entfernt von Sprache und Sprechen, verbalem und nonverbalem Verhalten und nicht zuletzt der dynamischen situativen Praxis interkultureller Begegnungen. Eine Kategorisierung von Verhalten mit den Dimensionen kann den Blick auf aktuelle Irritationen und Konflikte sogar verstellen. Woran diese Makrokategorien sich in der Praxis festmachen und etwa kommunikativ erkennbar wären, ist völlig offen (Bittner 1996: 335). USA und Deutschland unterscheiden sich hinsichtlich der Dimension „Individualismus“, doch was macht man mit weise zu ideologisch motivierten Verletzungen von wissenschaftlichen Standards führen kann, wie dies im vorliegenden Fall wohl auch geschieht.“ (Behrens 2007: 222)
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diesem Wissen, wo sind konkret Missverständnisse zu erwarten? Die beiden Länder unterscheiden sich andererseits kaum in der „Powerdistance“ oder „Masculinity“, was die Thematisierung der sehr verschiedenen Leistungserwartungen und Führungsverhalten keineswegs obsolet macht (Bittner 1996: 335). Ein direkter Zusammenhang zwischen Werten und Kommunikationsstilen ist bei genauerer Betrachtung schwer nachweisbar (Knapp 1995: 17). Eine systematische didaktische Aufbereitung fehlt. Im Kurzschluss haben die Dimensionen eher dazu verleitet, Regelwerke für ‚richtiges‘ Verhalten abzuleiten.31
Fazit Wenn auch mit großem Maßstab in Relation gesetzt, die Kulturdimensionen bieten hilfreiche Orientierungssysteme für die globale Vergleichbarkeit und Relativität der Kulturen zueinander an. Bezogen auf interkulturelle Bildungsmaßnahmen hängt es jedoch von der pädagogischen Umsetzung und der Zielgruppe ab, ob und wie die Ergebnisse der Studie als Deutungsressource sinnvoll genutzt werden können. Hierzu gibt es keinerlei Anleitungen, dokumentierte Erfahrungen oder Trainingsforschungsergebnisse. Die Vermittlung der Dimensionen versorgt die Teilnehmenden mit neuen Metakonzepten, Kategorien und Zuschreibungen, die – abhängig von der Mikrodidaktik – ebenso verständnis- wie stereotypenfördernd wirken können.
2.1.2 Kulturstandards: Differenzverständnis der interkulturellen Psychologie Vertreter und Schüler der inzwischen etablierten „interkulturellen Psychologie“ des renommierten Regensburger Psychologen Alexander Thomas, gehen davon aus, dass Handeln von einsozialisierten kulturabhängigen Determinanten gesteuert wird, die sich zu benennbaren „Kulturstandards“ aggregieren lassen: „Unter Kulturstandards werden alle Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns verstanden, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich angesehen werden. Eigenes und fremdes Verhalten wird auf der Grundlage dieser Kulturstandards beurteilt und reguliert.“ (Thomas 1996a: 112)
31 Dies kritisiert auch Bolten (1997: 476). Die Folge sind Bücher mit holzschnittartigen Zusammenstellungen von Dimensionsbeschreibungen und Länderprofilen mit „Verhandlungstricks“ und Do‘s and Don‘ts - Listen für verschiedene Nationen (vgl. z. B. Daeubner/Hennrich 2001, Rentzsch 1999).
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Zentrale Kulturstandards verändern sich laut Thomas im Unterschied zu peripheren Kulturstandards auch unter veränderten Lebensbedingungen nur sehr langsam, denn individuelle und gruppenspezifische Abweichungen vom Verhalten werden vom sozialen Umfeld sanktioniert. Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Kulturmitglieder auch jenseits individueller Spielräume in die zentralen Kulturstandards erfolgreich einsozialisiert sind. Sie zu benennen hingegen fällt deshalb schwer, „weil sie Wahrnehmen, Beurteilen (Attribuierungen) und Verhalten gleichsam automatisch steuern“ (Thomas 1991: 66). Erst in kulturellen „Überschneidungssituationen“ kommt es aufgrund der Orientierung an unterschiedlichen Kulturstandards zu Missverständnissen und Fehlattributionen, weil sich die Beteiligten wechselseitig nicht erwartungsgemäß verhalten. Um Irritationen oder Konflikten vorzubeugen, sollen die zentralen fremden Kulturstandards und ihre Wirksamkeit vermittelt und das eigene Interpretations- und Handlungsrepertoire ergänzt und erweitert werden. Dabei schließt die pädagogische Aufbereitung an die sozialpsychologische Einsicht an, dass Menschen Differenzen nicht einfach registrieren, sondern nach einem Grund für das beobachtete Verhalten suchen (Thomas 1988: 150f.).
Kompetenzverständnis und didaktische Umsetzung Ermittelt werden die Kulturstandards induktiv über eine Sammlung typischer kritischer Interaktionssituationen von Interviewpartnern des Kontakt- und Aufgabenbereiches (z. B. Manager in der Zusammenarbeit mit ihren ausländischen Partnern, Studierende im Ausland) der beteiligten Kulturen. Zusätzlich werden sowohl Selbstbeschreibungen der Interviewten als auch Fremdbeurteilungen von Auslandsexperten zu den Situationen und damit verschiedene Erklärungen für die möglichen Hintergründe des Verhaltens erhoben. Eine Inhaltsanalyse der Ereignisse und ihrer Erklärungen identifiziert die Kulturstandards, die WissenschaftlerInnen aus verschiedenen relevanten Disziplinen zusammen mit der Beschreibung typischer Situationen vorgelegt werden. Sie verifizieren schließlich den kulturhistorischen Zusammenhang der Kulturstandards (Thomas 1996a: 118ff.). Die Ergebnisse werden methodisch in „Kultur-Assimilatoren“ (KA) umgesetzt, schriftliche Unterlagen, in denen Beispielsituationen geschildert und Erläuterungen dazu gegeben werden.32 Aus verschiedenen Erklärungen zu 32 Das Konzept des Culture Assimilator wurde zu Beginn der 60er Jahre in den USA unter anderem von den Psychologen Fiedler, Triandis und Osgood entwickelt. Wie der Begriff „Assimilator“ zeigt, sollen die Teilnehmer lernen, die Situationen aus der Perspektive der anderen Kultur zu interpretieren und entsprechend umzuattribuieren. Frühe Assimilators waren kulturall-
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typischen irritierenden Situationen sollen die Lernenden über Multiple-ChoiceVerfahren die ihnen plausibelste auswählen. Rückmeldungen zu den einzelnen Antworten kommentieren die Treffsicherheit der gegebenen Antworten. Hintergrundinformationen nach jedem Abschnitt erläutern den jeweils behandelten Kulturstandard in seiner soziohistorischen Verankerung. In den neueren Versionen der Assimilatoren werden auch Interaktionsanalysen oder Lösungsvorschläge für die ausgewählten Situation angeboten (s. Thomas/Schenk 2001). Ziel ist eine interkulturelle Handlungskompetenz, die verstanden wird als Fähigkeit, „auch ein fremdkulturelles Orientierungssystem effektiv zur Handlungssteuerung in kulturellen Überschneidungssituationen einzusetzen“ (Thomas 2002) und zur „konstruktiven Anpassung an fremdkulturelle Umwelten, sachgerechtem Entscheiden und effektivem Handeln im Umgang mit fremdkulturell geprägten Interaktionspartnern.“ (Thomas 1988: 150)
Die Zielgruppen der KAs sind Führungskräfte bei Auslandsentsendungen oder auch Studierende im Ausland. Das interkulturelle Trainingsprogramm resultiert aus der Erkenntnis, dass fachliche Qualifikationen und Fremdsprachenkenntnisse für eine erfolgreiche Mission nicht ausreichen. Genuines Interesse der KAs ist, den bei längeren Auslandsaufenthalten eintretenden „Kulturschock“, abzufedern und die Integration im Zielland zu fördern.33 Mit Untersuchungen zum „Kulturschock“ ist die Chronologie des Anpassungsverlaufs an eine Kultur mit anderen Normen und Werten beschrieben worden.34 Im zu trainierenden Kompetenzprofil zeigen sich neben theoretischen Grundannahmen auch die strategischen Ziele des Haupteinsatzfeldes. Gelernt werden sollen u. a. verhaltensregulierende Normen, die in sozialen Situationen zum Tragen kommen, kulturabhängige Rollenstrukturen, intentionale Bedeutungen von Ausdrucksmerkmalen (z. B. Erkennen von Missbilligung im Minenspiel), ein Gespür für unerwünschtes Verhalten, Kenntnisse über Verhaltensspielräume gemein angelegt, das heißt mit Beispielen aus vielen Kulturen und dienten v.a. der Aufweichung gewohnter amerikanischer Rollen- und Situationsverständnisse (z. B. Brislin 1986; Brislin/Cushner u. a. 1986). 33 Das Konzept des Kulturschocks hat mehrere Wurzeln, die meisten führen es auf den Anthropologen Oberg (1960) zurück. 34 „Anpassung“ bezieht sich auf die berufliche und private Integration im Gastland und die erfolgreiche Bewältigung des voraussichtlich eintretenden „Kulturschocks“ bei längeren Entsendungen. Diese sind von kostspieligen Abbrüchen bedroht, wenn die Entsandten durch die Höhen und Tiefen der Eingliederung in den neuen Kulturkreis gehen. Im Rahmen der Kulturschockforschung gibt es inzwischen eine breite Literaturpalette (Pedersen (1995) z. B. verbindet die Phasen mit Critical Incidents). Mit den Vorbereitungstrainings betrachte ich nur einen Abschnitt aus einer Reihe von relevanten Maßnahmen, die von der interkulturellen Personalauswahl über Formen und Folgen des Kulturschocks und ihrer Begleitung bis zu Reintegrationsmaßnahmen bei der Rückkehr reichen.
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oder der Umgang mit Belohnungserwartungen (Thomas 1988: 151f.). Die Kulturassimilatoren sind in Buchform erhältlich und können im Eigenstudium als Vorbereitung auf den Auslandseinsatz oder in Trainings eingesetzt werden.35 Sie werden von den Autoren als Teil einer übergreifenderen interkulturellen Personalentwicklung verstanden (Thomas/Kinast u. a. 2000) Zum pädagogischen Einsatz der KAs in Trainings mit Gruppen gibt es keine mikrodidaktischen Hinweise.36 Auf eine andere methodische Variante dieses Ansatzes für interkulturelle Vorbereitungsseminare hat sich der größte Anbieter offener interkultureller Trainings in Deutschland, das Institut für Interkulturelles Management (IFIM), spezialisiert: das Contrast-Culture-Training.37 Dafür werden in den Seminaren typische Szenen in Rollenspielen ‚live‘ reinszeniert. Die Vermittlung interkultureller Kompetenz verläuft in einem Prozess über mehrere Stufen: In einem ersten Schritt wird zunächst der Lernbedarf geschaffen, indem Fehlattributionen und Missverständnisse aufgezeigt werden. Im zweiten Schritt werden gewohnte Bewertungen relativiert. Drittens sollen lokale Bewertungen nicht nur toleriert, sondern partiell als erforderlicher Teil für in sich logische Rahmenbedingungen übernommen werden. Im vierten Schritt soll die Relativierung der eigenen Einflussmöglichkeiten auf das Umfeld akzeptiert werden, um fünftens positive Lernerfahrungen zu ermöglichen. Im sechsten und letzten Schritt werden neue Orientierungen geboten. Für das Lernziel „Orientierung“ werden von den möglichen Kulturstandards zielgruppenrelevante rollen-, arbeits- oder situationsspezifische Standards ausgewählt. Die Teilnehmenden beobachten zunächst Interaktionssituationen in Form von 35 Ganz zu Anfang hatte Thomas mit seinen MitarbeiterInnen Kulturassimilatoren für die USA (Müller/Alexander 1995), für Süd-Korea (Brüch/Thomas 1995), China (Thomas/Schenk 2001) und Deutschland für die Zielgruppen Führungskräfte und Studierende entwickelt. Dafür wurden noch verschiedene Handlungsfelder (Hochschule oder Management) unterschieden. Einen Überblick über die verschiedenen Kulturstandards und die interkulturellen Tätigkeitsfelder gibt der Sammelband von Thomas/Kammhuber und Schroll-Machl (2003). Seit einigen Jahren boomt die „Produktion“ der KAs. Inzwischen sind zumeist auf der Basis von Qualifikationsarbeiten mehr als 30 Monographien mit KA-Trainings von Argentinien bis Vietnam für das lukrative Handlungsfeld Management und interkulturelle Berufstätigkeit erschienen. Auf der Basis von Interviews mit Fach- und Führungskräften sind auch andere Trainingshandbücher mit derselben Methode entstanden, z. B. Stahl/Langeloh/Kühlmann (1999), Bertallo/Hettlage u. a. (2006). 36 Zum Vorschlag einer Einbettung von Critical Incidents in einen Trainingsablauf vgl. Kinast (2003). 37 Die Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung – Zentralstelle für Auslandskunde (DSEZA) verwendet diesen Ansatz ebenfalls in ihrem integrierten Rahmenkonzept. Die Methode geht auf Edward Stewarts allgemein kultursensibilisierendes Rollenspiel „Contrast-American“ zurück (vgl. Dadder 1987: 90ff., Gudykunst/Hammer 1983 oder Müller 1983: 318ff.) und wurde von der DSE-ZA Ende der siebziger Jahre u. a. von den späteren IFIM-Gründern Bittner und Reisch bei der DSE-ZA weiterentwickelt.
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Rollenspielen zwischen mindestens einer deutschen Person und einer des Gastlandes. Als Fallstudien werden wie für den Kulturassimilator häufige, typische Situationen des Begegnungskontextes ausgewählt. Daraufhin werden die eingeflossenen Kulturstandards herausgearbeitet und kontrastierend explizit gemacht. In einer Interaktionsanalyse wird die wechselseitige Wirkung der Kulturstandards aufeinander beschrieben und schließlich in einer Transferanalyse Regeln für interkulturelle Interaktionen abgleitet (Reisch 1991, Bittner/Reisch 1994: 207ff, Bittner 1996). Ziel ist auch hier, konkretes Orientierungswissen in Form einer ausbaufähigen Grundstruktur für Vorgehensweisen in einer fremden Kultur zu vermitteln und die Voraussetzung für „problemfindendes Denken“ zu schaffen. Die Hauptlernprozesse bestehen in der „kognitiven Umstrukturierung“ durch das Erlernen von anderen Reaktionsmustern auf Signale von außen, dem Aufbau eines koexistierenden Orientierungssystems sowie in der „affektiven Neubewertung“ von Situationen (Bittner/Reisch 1994: 210ff). Das Trainerteam ist bikulturell zusammengesetzt. Das Contrast Culture Training ist Bestandteil interkulturellen Personalmanagements (Bittner/Reisch 1994). Ausnahmsweise gibt es dazu auch einige Hinweise zur Moderation, hier wird die emotionale Seite der Lernerfahrung angesprochen. Empfohlen wird, auf Entindividualisierung zu achten, da die Teilnehmerinnen Lernblockaden und massive Widerstände entwickeln, wenn sie persönlich sich charakterlicher Defizite überführt fühlen. Stattdessen soll die allgemeine „deutsche Herangehensweise“ als Ursache von Missverständnissen herausgearbeitet werden (Bittner 1996: 238). Ohne persönlichen Bezug ist das Thema jedoch nicht zu verhandeln, die eigene Identität und ihre Geschichte steht immer zur Debatte ebenso wie die eigenen Werte und die Grenzen der Anpassungsbereitschaft. „Den Trainern muss (...) stets bewußt sein, welche ‚identitätsberührenden‘ Effekte ihre interkulturellen Inhalte bei den Teilnehmern auslösen können“ (ebd.: 333)
Bittner (ebd.: 331) hebt hervor, dass er für die Übernahme des Blickwinkels der anderen Kultur wirbt und Trainer authentisch bleiben sollen, um „leichtfertige“ moralische Abwertungen zu vermeiden. Positive Lernerfahrungen wie zunehmend besseres Verstehen seien die Belohnung für die Bearbeitung identitätsbedrohender Erkenntnisse.
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Kritische Würdigung Die Methode der Critical Incidents-Analyse und ihre Verbindung mit CulturAssimilator-sowie Contrast Culture Trainingseinheiten gehört zu den Klassikern des interkulturellen Lernens und bietet einen leicht handhabbaren Einstieg in eine Kultur, insbesondere im Rahmen der Auslandsvorbereitung.38 Die Präsentation der Kulturstandards in Fallbeispielen ist praxisnah und bietet zugleich ein kulturspezifisches System von Kategorien an, das leicht verständlich, übersichtlich und einfach memorierbar ist (Kammhuber/SchrollMachl 2003: 19ff) Die Fallbeispiele setzen im konkreten, meist handlungsfeldoder sogar branchenspezifischen Alltag an, erzeugen durch ihre „Rätselhaftigkeit“ Aufmerksamkeit und Interesse an der Auflösung. Durch Praxisnähe, Greifbarkeit und die einfache Zugänglichkeit über den Buchmarkt ist das Konzept des KA sehr erfolgreich und dürfte über die Entwicklung von CBTProgrammen noch zunehmen. Doch Ansatz, Methode und insbesondere die methodische Ausarbeitung in Form von „Culture Assimilator-Trainings“ bergen einige Fußfallen auf dem Wege zur interkulturellen Kompetenz: 1. Kritik am Kulturbegriff: Gearbeitet wird mit einem homogenisierenden Kulturbegriff, bei dem Kultur mit Nationalstaat gleich gesetzt und der relative Status der Kulturstandards nicht bedacht wird. Auch wenn die Vertreter des Ansatzes den sozialen Wandel und zeitlichen Kontext der Standards betonen (Kammhuber/Schroll-Machl 2003: 21), der Kulturbegriff ist im Grunde starr und wird der Komplexität und Variabilität sozialer Wirklichkeit nicht gerecht (so auch Heringer 2004: 236). 2. Kritik der unspezifischen Anwendung der Attributionstheorie: Aus psychologischer Perspektive kritisiert Winter (1994: 43f.), dass von der Attributionstheorie nur ein kümmerlicher Rest realisiert worden sei. Weder würden verschiedene Attributionsarten noch personenspezifische Präferenzen oder aufmerksamkeitszentrierende Hintergrund- und Randbedingungen berücksichtigt. 3. Kritik an der Allgemeingültigkeit der Kulturstandards: Die Standards werden anhand von Vertretern zweier Kulturkreise erhoben (z. B. Deutsche/Chinesen), bei der Sammlung von kritischen Interaktionssituationen zwischen Japanern und Chinesen können indes ganz andere ‚chinesische Kulturstandards‘ evoziert und als relevant betrachtet werden. Auch das Verhalten 38 Inzwischen gibt es aus Forschungsprojekten hervorgegangene Sammlungen und Datenbanken für Critical Incidents, Buchsammlungen (z. B. Bertallo/Hettlage u. a. 2004) und natürlich bereichsspezifische CBT-Trainingskonzepte. Kammhuber (2000) hat auf der Basis von verfilmten kritischen Interaktionssituationen ein Lernprogramm für die Bundeswehr entwickelt. Natürlich basieren auch die meisten existierenden Trainingsfilme auf dieser Methode.
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in einer Kultur wird (über-)generalisiert, die Interaktion erscheint als Reifizierung kultureller Normen und damit unveränderbar. Kultur wird damit als kognitives, mentales oder psychisches Phänomen und nicht als interaktives Produkt behandelt.39 Es besteht die Gefahr der Stereotypisierung in der Beschreibung, weil die kulturelle Verankerung des von außen Beschreibenden zu stark zum Tragen kommt (Bolten 2001a: 22). 4. Kritik an der eindimensionalen Lernform des exemplarischen und programmierten Lernens: Wurden in den ersten Assimilatoren die Antworten in den Rückmeldungen noch eindeutig als „richtig“ oder „falsch“ klassifiziert, so sind die Deutungsvorschläge heute insgesamt vorsichtiger geworden. Inzwischen können Antworten auf Vierer-Skalen von „nicht“ bis „sehr zutreffend“ angegeben werden, Mehrfacherklärungen sind möglich. Doch wie der Begriff Assimilation (Anpassen, Ähnlich machen) schon sagt, hat sich an der einseitigen Vermittlung von Normen einer Zielkultur und der Hauptaktivität des ‚Ratens‘ – sofern kein Vorwissen besteht – wie sie der multiple choice-Methode inhärent ist, nichts geändert. Hinzu kommt, dass eine der Antworten als absolut präferiert dargestellt wird. Das Lernen ist auf das reflexhafte Erkennen kultureller Prinzipien ausgerichtet. Diese Gefahr besteht ebenso, wenn man die Methode im Training einsetzt. Die einseitig psychologisch-pädagogische Problemsicht auf die Interaktionsvoraussetzungen ohne Hinweise auf sprachliche Kontextualisierungshandlungen und Kommunikationsprozesse übergeht, durch welche situativen verbalen und nonverbalen Handlungen die Kulturstandards wirksam werden und woran sie zu erkennen sind. Für das Erkennen-Lernen ist im KA kein Platz und Aussagen über die Gestaltung der Beziehungen fehlen ganz.40 Kern des Trainings ist die Umattribuierung. Suggeriert wird damit eine Orientierungs- und Verhaltenssicherheit, die sich eher kontraproduktiv zu den komplexen Anforderungen interkultureller Begegnungen verhält. 5. Kritik an der Didaktisierung der Episoden: Aus interaktionistischer Sicht hat Müller (1995) die Verwendung von Critical Incidents im Allgemeinen und im KA im Besonderen fundamental kritisiert. Kritische Ereignisse werden weniger erlebt als erzählt und der gesamte KA besteht aus idealtypisierten Geschichten. Das Interaktionsgeschehen scheint neutral geschildert, das legt 39 Am Kulturbegriff wird deutlich, dass Thomas davon ausgeht, dass das Orientierungssystem die Zugehörigkeiten definiert und nicht umgekehrt: „Kultur ist ein universales, für eine Gesellschaft, Nation, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft, Gruppe usw. tradiert. Es beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller Mitglieder und definiert somit deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft.“ (Thomas 1996: 112) 40 Benett stellte schon 1984 fest: „This difference between teaching for knowledge and teaching for performance and adaptation comprises the fundamental criticism of this model“ (Benett, zit. nach Dadder 1987: 15).
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schon der Terminus „Ereignis“ nahe, obwohl es sich im Grunde um perspektivisch erzählte Sekundärerfahrungen handelt, die immer schon auf Interpretationen aufbauen. Erzählungen aber haben eine konventionelle Form und Erzähler, welche eine Intention mit den Geschichten verbinden und die Forscher sind sogar nur Nacherzähler (Heringer 2004: 235), die aus einer IchErzählung einen objektiv klingenden Bericht machen. Aus diesen kognitiven Geschichten werden nun aufbereitete funktionale Episoden als Lerngegenstand, in denen eine Gegensatzrelation aufgebaut ist. Schon daran wird deutlich, wieviele der erzählten Unterschiede, die sich (auch) auf Kommunikationsverhaltensunterschiede zurückführen lassen, welche nicht mit erzählt werden, auf der Strecke bleiben. Wörtliche Redewiedergaben oder Kommunikationswechsel kommen kaum vor. Die Episoden sind also zusammengefasste Ergebnisse einer Interaktion, die nicht als Produkt der wechselseitigen sich entwickelnden situativen Interpretationen dargestellt wird. So besteht zweifach die Gefahr, dass die KA auf ethnozentrischen Deutungen basieren (Müller-Jacquier 1995). 6. Kritik am fehlenden Kommunikationsbegriff: An der Vorstellung, dass „Träger“ von Kulturstandards sich in „Überschneidungssituationen“ begegnen und sich darin quasi Felder überlappen, kann man aus ethnomethodologischer Sicht kritisieren, dass der Vorgang der methodisch organisierten kommunikativen Verständigung selbst nicht im Blick ist.41 7. Kritik an der Übergeneralisierung und dem Abstraktheitsgrad: Eine weitere Kritik besteht in dem Vorwurf, die Methode reproduziere Klischees, da das Konzept zwischen einem vermeintlich wissenschaftlichen Kulturstandard und einem Stereotyp nicht unterscheide. Muster der alltäglichen Wahrnehmung vor dem Hintergrund kulturbedingter Maßstäbe würden nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt und verstärkt (Altmeyer 2002). Demgegenüber argumentieren Kammhuber/Schroll-Machl (2003: 21), dass dies ein Tribut an die notwendige Reduktion von Komplexität sei und Kulturstandards keine unreflektierten, sondern systematisch generierten Kategorien darstellten. In der vorliegenden Lehrform provoziere es eine rigide regelorientierte Art der Verhaltensbeurteilung (Müller 1983: 306).42
41 Garfinkel argumentiert, dass Verständigung darauf basiert, dass die Interaktionsteilnehmer sich an den verschiedenen Methoden des „Verstehbarmachens“ orientieren. Die angemessene Vorstellung von einem gemeinsamen Verständnis sei daher nicht die Überlappung von Inhalten, sondern die zusammen hergestellte operative Methode des Sich-Verständigens (1967: 30), vgl. dazu genauer Kapitel 3.2.3. 42 Beim interaktiven Einsatz von KA-Episoden mit vorgegebenen Antworten in einem Training kann man diese Gefahr in der Tat beobachten. Eine KA-Bearbeitung ohne begleitende pädagogische Reflexion ist daher problematisch. Für den Einsatz in Trainings müssten mikrodidaktische Hinweise formuliert werden, um diese Gefahr zu vermindern.
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Meines Erachtens liegt das größte Problem der meisten vorliegenden Assimilatoren der Regensburger Schule darin, dass sie ihre in den ersten KAs noch bestehende Tiefenschärfe verloren haben. Sie nähern sich im Abstraktionsgrad und vor dem Hintergrund, dass sie als Kontrast zu deutschen Kulturstandards erfasst werden, immer mehr den Kulturdimensionen an (Kapitel 2.1.1). Der Unterschied der aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt hervorgegangenen KAs z. B. zu China (Thomas/Schenk 2001; Schenk/Thomas 1996), die zwischen verschiedenen Handlungsfeldern (Berufskontext, Universität) unterscheiden, und den darauffolgend entstandenen KAs ist deutlich erkennbar. Wurden in den frühen KAs Kulturstandards mit emischem Charakter genannt und erläutert (z. B. Etikette, „Li“; Sinozentrismus oder Modernisierung), erscheinen die darauffolgenden Kulturstandards immer etischer und die inzwischen über dreißig verschiedenen Sammlungen von Kulturstandards weisen – freilich mit je kulturspezifisch unterschiedlichen Begründungen der Episoden – eine erstaunliche Redundanz mit sich selbst und den bereits in Kapitel 2.1.1 angesprochenen Kulturdimensionen auf.43
Fazit Kulturstandards an Beispielsituationen zu illustrieren, kommt den Anwendungsbedürfnissen der Zielgruppen entgegen. Die Aufbereitung mit kritischen Ereignissen ist eine praxisnahe lebendige und daher beliebte Form des interkulturellen Lernens, die sich mit verschiedenen Medien, in unterschiedlichen didaktischen Konzepten und natürlich auch im Seminar umsetzen lässt. Die berechtigte methodische Kritik richtet sich vor allem gegen die Kausalverbindung von generalisierten Wertorientierungen, den Kulturstandards, und situativ-kommunikativen Handlungen. Kulturstandards können jedoch nur sprachlich identifiziert werden (Müller 1991). Die Rollenspiele sind zwar alltagsnah, sensibilisieren jedoch nicht systematisch für sprachliche und interaktive Indikatoren.
43 So werden in vielen KAs die Kulturstandards Beziehungsorientierung, Regelflexibilität oder flexibler Umgang mit Zeit genannt, da sie gegenüber den deutschen Kulturstandards (Sach- und Regelorientierung sowie einem linearen Zeitplanungsbedürfnis) häufig zu kritischen Interaktionssituationen führen. Zwar erwähnen Kammhuber und Schroll-Machl (2003: 21), dass die jeweiligen kulturspezifischen Ausprägungen des so häufigen Kulturstandards „Beziehungsorientierung“ unterschiedlich ausgeformt seien, am inzwischen zu hoch gewordenen Abstraktionsgrad der Kulturstandards ändert das meines Erachtens nichts.
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2.1.3 Linguistic Awareness of Cultures: Sprach- und diskursorientierte Differenzen Auch aus Forschungsergebnissen der Gesprächsforschung, der interkulturellen Kommunikationsforschung, der Fremdsprachendidaktik sowie dem DAFUnterricht haben sich Trainings zur Entwicklung Interkultureller Kommunikationskompetenz entwickelt.44 Während in den vorherigen Ansätzen davon ausgegangen wird, dass nicht-sprachliche Merkmale wie Rollen, Geschlecht oder kulturelle Werte die sprachlichen Handlungen bestimmen, wird in der interaktionalen Soziolinguistik oder in diskursanalytischen Konzepten Kultur weder mentalistisch noch substanziell verstanden, sondern als Bedeutungssystem, das erst in der Interaktion relevant gemacht und dargestellt wird. Die Beziehung zwischen Sprache und Kultur wird nicht korrelativ sondern wechselseitig konstitutiv verstanden. Es wird daher nicht von vornherein von einer kulturelle „Überschneidungssituation“ ausgegangen sondern von einer neuen Situation als einer Synergie erzeugten diskursiven „Inter-Kultur“ (Thije 1997 oder Bolten 1999: 215).45 Kultur ist demnach ein Konstrukt und selbst ein diskursives performatives Produkt. Entsprechend können Unterschiede nicht vorausgesetzt werden. Die beteiligten Personen werden als Mitglieder unterschiedlicher Lebenswelten (Bolten 1999) oder mehrerer „Kommunikationsgemeinschaften“ aufgefasst (Knapp-Potthoff 1997: 194f.). Um sich zu verständigen verfügen die Handelnden über Deutungssysteme, mit denen sie sich Gesten und Sprechhandlungen erschließen können. Und so teilen sie Orientierungswissen oder es trennen sie Konventionen des Kommunizierens, des sprachlichen Wissens oder normative Wissensstandards. Wurden zu Beginn der interkulturellen Kommunikationsforschung Missverständnisse mit sprachlichen Konventionen unterschiedlicher Herkunftsländer oder Wertorientierungen 44 Für einen Überblick über das Spektrum linguistisch orientierter Arbeiten zur Ausbildung von interkultureller Kompetenz sowie eine Übersicht über das Forschungsfeld der sprach- und interaktionsorientierten interkulturellen Kommunikationsforschung siehe die frühe Bibliographie von Hinnenkamp (1994), im Hinblick auf eine linguistisch orientierte interkulturelle Kommunikationsfähigkeit und aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Knapp-Potthoff/Liedke (1997), mit deutlichem interaktionistischem Fokus den Sammelband von Lüsebrink (2004) und seine Monographie (2005), für die interkulturelle Wirtschaftskommunikation Bolten (2007), aus der Sicht der angewandten Linguistik Kotthoff/Spencer-Oatey (2007), aus ethnologischer, aber auch aus anderen Perspektiven Moosmüller (2007) und mit hohem kommunikationsorientiertem Anteil das Handbuch von Straub/Weidemann (2007). 45 Zu Recht fragt Knapp-Potthoff (1997), welche ‚Kulturen‘ denn aufeinanderträfen, wenn ein Kind türkischer Migranten der zweiten Generation im Rahmen eines deutsch-englischen Schüleraustausches bei einem britischen Jugendlichen mit indischen Vorfahren zu Gast sei. Vermutlich hätten die beiden mit ihrer jugendlichen Subkultursprache mehr Gemeinsamkeiten als ein Handwerker und eine Professorin in einer deutsch-deutschen Interaktion (siehe dazu auch Thije 2001).
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erklärt, so sind in den heutigen Analysen eher die aus dem interkulturellen Kontakt selbst entstehenden Phänomene im Blickfeld. Es geht den interaktionsorientierten Vertretern darum, sich die kommunikativ realisierten Absichten zu erschließen, wozu nicht nur Differenzen gehören. In der umfangreichen Kompetenzliste von Knapp-Potthoff wird deutlich (1997: 199ff.), dass zu interkultureller Kompetenz auch die Fähigkeit gehört, Gemeinsamkeiten (Erfahrungshintergrund, Sprache), also einen common ground, in der interkulturellen Kommunikation wahrnehmen und herstellen zu können. Statt Aussagen über kulturell andere Verhaltenspräferenzen zu treffen, wird daher die Beobachtung sprachlicher Aspekte des unterschiedlichen kommunikativen Verhaltens und der relevant gemachten wechselseitigen Erwartungen und realen Reaktionen in den Vordergrund gerückt. Da sich Kommunikationsgemeinschaften in allem unterscheiden können, womit man sich verbal, paraverbal und nonverbal verständigt (Beispiele in Knapp 1995; Knapp-Potthoff 2002), ist die Frage, worin interkulturelle Kommunikationsfähigkeit als spezifische Kompetenz besteht.46 In den sprachlich orientierten Profilen stehen „Kommunikationsbewusstheit und Kommunikationsfertigkeiten“ an oberster Stelle. Die darunter gefassten Kompetenzen umfassen Wissen um die Abhängigkeit des Deutens und Handelns von kulturabhängigen kognitiven Schemata, Kenntnisse und Einsichten über Grundprinzipien, Zusammenhänge und Bedeutung der Kommunikation für die Beziehungsgestaltung, Kommunikationskonventionen und -stile sowie Wissen um Probleme der interkulturellen, Lernersprach- und Lingua-franca-Kommunikation. Analyseund Beobachtungsfähigkeiten sind nötig, um Indizien für unterschiedliche Verstehensformen zu ermitteln. Diese werden ergänzt durch Interaktionsstrategien- und Fähigkeiten wie die metakommunikative Fähigkeit zur Prophylaxe für die Analyse von Missverständnissen und Strategien zur Klärung und Reparatur sowie verstehenssichernde Verfahren (siehe dazu genauer Bolten 1997, Knapp 1995, Knapp-Potthoff 1997; 2002, Liedke/Redder/Scheiter 1998). Der interaktionistisch orientierte Ansatz und die diskursanalytische Variante finden Anwendung im Bereich der internationalen Wirtschaftskommunikation und zur Kompetenzerweiterung in der Verwaltung oder öffentlichen Einrichtungen.
46 Knapps und Knapp-Potthoffs berechtigte Kritik lautet, dass die üblichen Kompetenztaxononomien wenig Konkretes über kulturelle Kompetenz aussagen sondern viel mehr allgemeine Persönlichkeitsmerkmale und soziale Schlüsselqualifikationen beschreiben. Die empirisch fassbaren kommunikativen und verhaltensbezogenen Dimensionen interkultureller Situationen sind konzeptionell zu unscharf, um daraus ein operationalisierbares Konstrukt interkultureller Kompetenz ableiten zu können (Knapp 1995: 9f.; Knapp-Potthoff 1997: 182).
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Kompetenzverständnis und didaktische Umsetzung Die gesprächsorientierten Ansätze sehen die Problematik interkultureller Trainings darin, dass die tatsächliche Komplexität der durch unterschiedliche Kulturen geprägten Kontexte im Training schwer abbildbar ist. Da jede Interaktion lokal durch die Beteiligten konstruiert wird, ist eine Bestimmung der Kulturunterschiede jenseits realer Interaktionen hypothetisch (vgl. dazu auch von Helmolt 2007: 763). Der darin eingelassene Kompetenzbegriff ist auf Hymes (1972) zurückführbar, kommunikative Kompetenz ist die Fähigkeit, in verschiedenen Situationen adäquat und zweckgebunden zu kommunizieren, wobei die Herausforderung darin besteht, die Situationsabhängigkeit einzelner Aspekte zu berücksichtigen. Im Anschluss an Welschs (1999) Konzept der transkulturellen Verfassung heutiger Gesellschaften kann Interkulturelle Kompetenz definiert werden als die Fähigkeit „in der Auseinandersetzung mit anderen neben der Differenz das Verbindende, die Anschluss- und Übergangsmöglichkeiten zu entdecken und diese in eine gemeinsame Lebenspraxis zu integrieren“ (von Helmolt 2007: 763f.).
Aus interaktionsorientierter Sicht ist die Kenntnis linguistischer Kategorien und die Arbeit mit authentischen Interaktionssituationen folglich conditio sine qua non für die Interkulturelle Kompetenz. Die Lernziele bestehen darin, Einsicht in die Grundprinzipien des Kommunizierens zu gewinnen, in der Fähigkeit, Kommunikationsprobleme zu erkennen, in der Kenntnis und affektiven Auseinandersetzung mit bestimmenden Faktoren des Gesprächsverhaltens aller Beteiligten (also auch des eigenen Gesprächsverhaltens), im Vermögen, handlungsleitende Normen zu reflektieren, Gemeinsamkeiten herzustellen und Handlungsalternativen zu entwickeln (von Helmolt 2007: 765f.). Die Umsetzung dieses differenzierten und mikrosoziologischen Kompetenzverständnisses ist allerdings eine didaktische Herausforderung. Idealtypischerweise beginnt ein gesprächsanalytisch basiertes Training in Arbeitskontexten mit der Analyse des Praxisfeldes in Form von Vorgesprächen. Dabei werden auch Aufzeichnungen typischer Interaktionssituationen gemacht (Becker-Mrotzek/Brünner 1999). Nach der Transkription und Analyse der Daten, werden Vorentscheidungen getroffen, welche Phänomene im Training fokussiert werden sollen. Im Training selbst wird aus Übungszwecken mit den Transkripten und vorgespielten Aufzeichnungen gearbeitet. So können die Teilnehmenden Wirkungen von kommunikativen Handlungen erkennen oder erarbeiten und erwünschte von unerwünschten Folgen unterscheiden lernen. Bei der Simulationsübung mit authentischen Fällen werden von den Experten außerdem im
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Vorfeld aus der Analyse Handlungsempfehlungen erarbeitet, die im Training neben den gesprächsanalytischen Kriterien vermittelt werden. Auf dieser Basis simulieren die Teilnehmenden eigene berufliche Interaktionssituationen, die eine ganz besondere Relevanz für die Zielgruppe haben. Diese werden auf Video aufgezeichnet und im Anschluss können die Teilnehmenden in dieser speziellen Form des Rollenspiels auf der Basis der gelernten linguistischen Kriterien ihr eigenes Gesprächsverhalten analysieren und ggf. modifizieren. Die mögliche Diskrepanz zwischen Intention und Wirkung einer kommunikativen Handlung ist durch diese Vorgehensweise gut zu erkennen.
Linguistic Awareness of Cultures Ein entsprechend dieser Perspektive zugeschnittenes Trainingskonzept namens „Linguistic Awareness of Cultures“ (LAC) (von Helmolt 1993; Müller-Jacquier 2000a) verfolgt das Ziel, ein sprach- und interaktionsorientiert kulturübergreifendes Analyseverfahren für Typen kulturbedingter Kommunikationsprobleme zu vermitteln: „Linguistic awareness of cultures means the following: All cultural differences are ‚hidden‘ in linguistic manifestations. These expressions of cultural difference are found in all languages and they can be classified in different grammatical and lexical categories or even be expressed non-verbally. They are presented in culture specific explicit or implicit forms by both speakers and listeners. This further means that there is a source of mutual misunderstanding if these linguistic indicators or manifestations are not perceived by the interactors.“ (Müller-Jacquier 2000a: 24)
Auch hier wird auf kritische Ereignisse aufgebaut, die jedoch als Produkt der „diskursiven Interkultur“ und der wechselseitigen Anpassung und Wirkung aufeinander erkannt werden sollen.47 Anders als beim Kulturassimilator wird eine Trennung zwischen kulturellen Unterschieden und den Wirkungen der Unterschiede systematisch durchgehalten, indem die Missverständnisse an sprachlichen Indikatoren festgemacht werden. Kriterien bzw. Indikatoren für die Analyse von Kommunikationsabläufen sind u. a. das Lexikon, also die soziale Bedeutung von Begriffen (z. B. unterscheiden sich die kulturgebundenen Orientierungen und Handlungsimplikationen, je nachdem, welche Konnotationen 47 Schon der Begriff zeigt, dass im Unterschied zur „kulturellen Überschneidungssituation“ hier von einer dritten Situation die Rede ist, die durch die wechselseitige Antizipation und Interpretation des „fremden Verhaltens“ entsteht. Folglich können auch spontan neue diskursive Lösungen entwickelt werden. Phänomene wie Hyperkorrektur (jeweils interkulturell trainierte Interaktionspartner treffen aufeinander) können so auch mitgedacht und mit trainiert werden.
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die Kategorien ‚Freund‘, ‚ami‘, ‚friend‘ oder ‚amigo‘ beinhalten), Sprechhandlungssequenzen, welche die Intentionen transportieren (eine Frage kann im Deutschen auch ein Vorwurf sein), Konventionen des Diskursablaufes (Überlappungen werden im Deutschen dissensmarkierend als konfrontative Unterbrechungen, im Französischen jedoch häufiger als zustimmend realisiert und interpretiert), Themen (welche sind tabu, welche sind inhaltlich, welche emphatisch zu verstehen?) oder das Register, das je nach Formalitätsgrad der Situation (Alter, Status, Geschlecht und Machtposition der Beteiligten) unterschiedlich gewählt wird. Nicht zu vergessen ist der Einfluss paraverbaler (Rhythmus, Sprechtempo, Satzmelodie) oder nonverbaler Faktoren (Gestik, und Mimik). Da Müller-Jacquier seinen Ansatz ergänzend zu dem der Kulturstandards verortet, ist ein Teil des Rasters auch die Frage nach kulturspezifischen Einstellungen wie sie in den Kulturstandards von Thomas oder den kulturellen Wertedimensionen Hofstedes formuliert werden. Das Training beginnt mit der Präsentation eines ausgewählten Fallbeispiels auf der Basis aufgezeichneter authentischer Daten, das mehre alternative Erklärungshypothesen zulässt und erarbeitet anschließend an Hand der oben genannten Kriterien systematisch linguistische Kategorien, die häufig die interkulturelle Interaktion irritieren. Dabei erhält auch die Diskussion Raum, ob und welche der Verhaltensweisen kultur- und welche interkulturspezifisch zu deuten sind. Im dritten Schritt werden die Kategorien auf selbst erlebte kritische Interaktionssituationen angewandt und somit gleich aktiv umgesetzt. Inhaltliches Ziel der Fortbildung ist also nicht, verallgemeinernde Aussagen über das „typische“ Verhalten von Mitgliedern der Kultur zu treffen, sondern die Erarbeitung einer „Checkliste“ typischer Kommunikationsindikatoren, die den Teilnehmenden hilft, weitere Fallbeispiele systematisch zu analysieren. Darauf bezieht sich auch der einzige Moderationshinweis: Bei der Diskussion sollte darauf geachtet werden, „dass keine stark generalisierten Aussagen über ‚die‘ Koreaner gemacht werden“ (Müller-Jacquier 2000a: 43). Statt reproduzierbarem Wissen und „richtigen Lösungen“ soll über das Sammeln und Festhalten multipler Erklärungsmöglichkeiten gezielt Ambiguitätstoleranz simuliert und die Interpretationsfähigkeit für die interkulturelle Situation ausgebaut werden. Erst eine abschließende Plausibilitätsprüfung gewichtet zwischen den Erklärungshypothesen.
Diskursanalytischer Ansatz Diskursanalytisch orientierte Trainingskonzeptionen (Liedke/Redder/Scheiter 1998, Thije 1997; 2001) teilen das Ziel, mit den Teilnehmenden praktisches
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sprachliches Methodenwissen zu erarbeiten. Die Teilnehmenden erfahren, wie Alltagswissen über Handlungsmuster organisiert ist, die sich in linguistischen, kulturspezifischen Routinen, Sentenzen (feste sprachliche Formulierungen wie Sprichwörter), Maximen und anderen Mustern erkennen lassen. Die VertreterInnen wenden sich gegen die Vermittlung eiliger Rezepte: „...vielmehr geht es um eine mit den Trainingsteilnehmern gemeinsam erarbeitete, analytisch fundierte und systematisierte Einsicht in die zugrundeliegenden Strukturen sprachlichen Handelns und das damit verknüpfte Denken und Entscheiden (...). Primär zielt das diskursanalytische Training auf die Fähigkeit ab, selbständig Probleme zu erkennen und Problemlösungen zu erarbeiten. Vermittelt wird also eine Art von praktischem Methodenwissen hinsichtlich sprachlicher Kommunikation.“ (Liedke/Redder/Scheiter 1998: 158)
Auch sie arbeiten mit Daten aus authentischer Kommunikation, die Datenbeispiele stammen jedoch aus institutionellen Kontexten, wie z. B. Behörden. Daher berücksichtigt das Trainingsdesign auch Erfahrungen des Berufsalltags, Probleme des Klientenkontakts, Arbeiten am Aufweichen verfestigter Ausländerbilder oder Empathieentwicklung für die Klienten. In den Trainingseinheiten wird darüber hinaus die diskursive und „repräsentative Position“ der Sprechenden beachtet (Thije 1997; 2001). Sprechen Beteiligte als Repräsentanten einer Institution, haben sie andere Spielräume als in der Rolle von Migranten mit einem Klientenanliegen. Unterschiede in der Sprechhandlungspraxis zwischen Institutionsvertreter und Klient erscheinen dann zusätzlich befremdlich und können mit interkulturellen Missverständnissen verwechselt werden. Daher werden die Teilnehmenden über Diskurstypen von Bürger-Verwaltungs-Kommunikation ebenso informiert wie über die Herstellung einer gemeinsamen Verständigungsbasis, die auch interkulturelle Kommunikation möglich macht. Erst vor diesem Hintergrund werden die Dimensionen interkultureller Missverständnisse und Handlungsalternativen ausgelotet. Weniger das Erlernen eines abstrakten Analyserasters ist bedeutsam als vielmehr die Erarbeitung und Umsetzung kommunikativer Alternativen auf der Basis von Transkriptanalysen. Darüber hinaus thematisiert man mit den Teilnehmenden die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche oder erfolglose Kommunikation und damit auch die der Machtunterschiede in der multikulturellen Gesellschaft.
Kritische Würdigung Die theoretische und praktische Stärke des Konzepts ist, dass die Frage der Zugehörigkeit zu einer Kultur nicht vorher entschieden wird, sondern dass die
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Teilnehmenden für Prozesse und Wechselwirkungen der Kommunikation und damit auch für interkulturelle Irritationen sensibilisiert werden. Der Fokus auf die „Interkultur-Situation“, in der auch neue Formen und Strukturen von Kommunikation hervorgebracht werden können, kommt der Komplexität und Indexikalität realer Interpretationsprozesse deutlich näher als die Ansätze, die von einem statischen Aufeinandertreffen von Kulturvertretern ausgehen. Indem Gemeinsamkeiten und Differenzen sich erst herausstellen müssen, werden kulturalistische Zuschreibungen vermieden und das gelernte Analyseverfahren kann auf viele andere Irritationserfahrungen angewendet werden. Denn neben den Besonderheiten interkultureller Kommunikationsprobleme wird bei der Linguistic Awareness of Cultures und dem diskursanalytischen Vorgehen auch die Regelhaftigkeit von Alltagsinteraktion oder institutioneller Kommunikation bewusst gemacht. Die Arbeit mit authentischem Material zwingt die Beteiligten auch zur Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Verlauf einer Situation, bestenfalls in ihrer eigenen beruflichen Praxis. Allerdings gibt es auch hier kritische Punkte – insbesondere aus der Trainingspraxis – anzumerken. 1. Problem der Anschlussfähigkeit: Der Ansatz kann in einem interkulturellen Training nicht alleine stehen und muss – je nach Kontext – mit Hintergrundwissen verbunden werden. Das Training bietet sich an als Ergänzung zu den Cultural Awareness und KA Trainings oder als Verbindung zwischen Fremdsprachenunterricht und den auf Landeskunde bezogenen interkulturellen Trainings (Müller-Jacquier 2001: 39; 43f.). Dabei stellt sich allerdings die Frage nach der Vereinbarkeit der Kulturbegriffe. Stehen beispielsweise bestimmte Kulturkreise im Fokus, ist die Frage, wie die Normen und Werte an die Schulung der Linguistic Awareness of Cultures angeschlossen werden können. 2. Problem der Akzeptanz bei den Zielgruppen: Die zur Verfügung stehenden Trainingszeiten werden immer kürzer und Kunden sowie Teilnehmende von interkulturellen Trainings brauchen für ihre Berufspraxis in der Regel (leider) schnell handhabbares Orientierungswissen. Sie sind daher wenig geneigt, sich auf Analysen oder gar die Stärkung der eigenen Analysefähigkeit einzulassen. Die interaktive Erarbeitung von „linguistischen Kategorien“, welche helfen, in interkulturellen Kommunikationssituationen Irritationen vorzubeugen, kann in vielen Fällen praxisfern genannt werden. Auch die Arbeit mit authentischen Daten und ihrer, den Lesegewohnheiten von Laien nicht entgegenkommenden Verschriftung mit unbekannten Transkriptionskonventionen, die nötig sind, um sprachliche Konventionen zu erkennen, ist bei aller Praxisnähe der Beispiele für die Teilnehmenden befremdlich und schwierig. Selbst eine Illustration in Form von Trainingsfilmen, wie sie ihm Rahmen dieses Ansatzes entstanden sind,
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gestaltet sich für die ungeübten Beobachter als eine Herausforderung.48 Bei der Arbeit mit eigens gesammelten Daten bei der Zielgruppe ist der nicht unerhebliche Zeitaufwand im Vorfeld zu nennen. In manchen Handlungsfeldern ist nicht nur aus pragmatischen Erfordernissen heraus, sondern auch aus Datenschutzgründen dieses Vorgehen gar nicht möglich. 3. Problem der Systematik: Um dem Lernbedarf nach Orientierung und Inhalt entgegen zu kommen, sind neben einem allgemeinen Raster der LAC auch die bestimmten Kulturen zuzuordnenden Ergebnisse der interkulturellen Kommunikationsforschung relevant. Tatsächlich ist neben der grundsätzlichen Analysefähigkeit für interkulturelle Kommunikationssituationen die Darlegung kommunikationsorientierter kultureller Differenzen für die Teilnehmenden in der Regel spannend. Inzwischen gibt es auch zahlreiche gesprächsanalytisch fundierte Forschungen, welche die Trainingskonzeptionen bereichern. Allerdings ist die interkulturelle Kommunikationsforschung weit davon entfernt, ein kanonisiertes Wissen über vermittelbare Phänomene einzelner Kommunikationsgemeinschaften bereit zu halten. Sie besteht aus einer Fülle von Einzelbefunden und Forschungsergebnissen, die sich als eher disparates Wissen präsentieren und schwer verankern lassen.
Fazit Mehr als in allen anderen Konzepten wird in diesem die in der interkulturellen Kommunikation so bedeutsame Fähigkeit trainiert, alltags- und praxisnah eigenständig Verständigungs- und Verständnisprobleme zu erkennen und an ihren Lösungen zu arbeiten. Die allgemeine Reflexion kommunikativen Handelns wird als Voraussetzung für das interkulturelle Handeln mitbedacht. Die Arbeit an authentischen Daten kommt dabei der Komplexität des Erlebens der Teilnehmenden hinreichend nah. An der diskursanalytischen Variante ist erkennbar, dass der Übergang zu Antirassismusveranstaltungen fließend ist. Der Ansatz ist in Fragen der Differenz flexibel und in vielen Praxisbereichen einsetzbar. Dort dürfte er jedoch dem jeweiligen Bedarf der Teilnehmenden nach einfachen und klaren Orientierungen nicht hinreichend entgegen kommen und müsste gegebenenfalls um weitere Module ergänzt werden. Durch seine leichte Anschließbarkeit dürfte dies kein Problem sein. Umso größer ist allerdings die pädagogische Herausforderung, den Teilnehmenden in der üblichen pragma48 Aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt ist auch eine Reihe von Trainingsfilmen entstanden, welche Interaktionssituationen zwischen Deutschen und Beteiligten anderer Muttersprachen (in Deutsch) nachstellen, in denen die Orientierung an unterschiedlichen Kontextualisierungskonventionen demonstriert wird (vgl. Müller-Jacquier 2000b).
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tischen Kürze kulturelle Beschreibungen zur Verfügung zu stellen, die zugleich in ihrem sprachlichen Konstitutionscharakter hinterfragt werden sollen.
2.2 Antirassistische Bildungsarbeit Antirassistische Bildungsarbeit kennzeichnet, kulturelle Differenzen nicht vorauszusetzen, sondern ihren Konstruktionscharakter zu thematisieren und politisch zu hinterfragen. Insbesondere die Verortung des Phänomens im „Fremden“ selbst, sei es als Idealisierung oder Problematisierung, und das Ignorieren von Machtungleichgewichten wird kritisiert. Aus der antirassistischen Perspektive wird interkulturelle Kommunikation als „ideologischer Begriff“ kritisiert, weil nur ein instrumentell-utilitaristischer Bezug auf Andere hergestellt würde: „Realistisches, inter-‚kulturelles‘ Training strebt (...) vorrangig nicht die Verständigung über ideologische, nationale, ethnische oder geschichtliche Grenzen an, stellt selbst diese Grenzen nicht in Frage, sondern es will die bessere Anpassung von kulturell bornierten Individuen an weltweite Systembedingungen erreichen. (...) Es verzichtet dabei darauf – mehr oder weniger bewußt –, die gesellschaftlichen Ursachen der Kommunikationsprobleme anzugehen.“ (Mergner 1993: 22)
In der antirassistischen Bildungsarbeit kann man daher von einem intrakulturellen Fokus sprechen, denn im Zentrum steht die Reflexion von Kulturen und ihren Wertmaßstäben vor dem Hintergrund historischer Erbmassen (z. B. Kolonialismus, Nationalsozialismus), im Kontext von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und ökonomischen Strukturen. Antirassistisches Lernen ist eines der Mittel gegen Ethnozentrismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im multikulturellen Zusammenleben. Dabei kann die antirassistische Arbeit auf eine lange Tradition von Theorieentwicklung zurückgreifen. Obwohl die genannten Begriffe unterschiedlich hergeleitet und verwendet werden und hinter ihnen große Debatten verschiedener wissenschaftliche Disziplinen stehen, kann man sagen, dass die meisten Ansätze antirassistischer Bildungsarbeit auf wiederkehrende Referenzautoren und damit auf ein Basisverständnis von Rassismus zurückgreifen, das ich kurz umreißen will.49
49 Für Überblicke über verschiedene z.T. national geführte Debatten zur Rassismustheorie siehe z. B. Auernheimer (1996: 124ff.), Kalpaka/Räthzel (1993) und Zick (1992, 1997). Es geht mir in der Darstellung der Begrifflichkeiten hier allein um ein Grundverständnis, das den folgenden pädagogischen Umsetzungen im weitesten Sinne gemeinsam ist.
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Rassismusbegriff Im deutschsprachigen Raum ist im Unterschied zum angelsächsischen oder französischsprachigen Raum umstritten, ob der Begriff Rassismus überhaupt benutzt werden soll. Es wird argumentiert, dass er u. a. durch die Verwandtschaft zum Begriff der ‚Rassen‘ diese wieder unterstelle oder rassistische Erklärungsmuster unfreiwillig übernehme (z. B. Reemtsma 1991, Haug 1992). Außerdem ist der Rassebegriff tabuisiert, weil er an mörderische Verfolgungen des Nationalsozialismus erinnert und – würden heutige Strukturen rassistisch genannt – die Greueltaten zu verharmlosen scheint. Doch die mit dem Rassismusbegriff argumentierenden WissenschaftlerInnen lehnen die verbreiteten Ersatzbegriffe wie „Ausländer-“ oder „Fremdenfeindlichkeit“ ab, weder sind alle Ausländer Ziel noch sind „Fremde“ Grund oder Ursache von „Feindlichkeit“.50 Die in Deutschland von Hoffmann und Even verwendete Begriffschöpfung in der „Soziologie der Ausländerfeindlichkeit“ erschwerte zunächst den Anschluss an die europäische und internationale Rassismusdebatte. Der Begriff transportiert nicht das eigentliche Argument der Autoren, das Feindlichkeit in einem falschen Gesellschaftsbild oder in der gesellschaftlichen Struktur selbst verortet (Kalpaka/Räthzel 1993). Denjenigen AutorInnen von Bildungskonzepten, die mit dem Rassismusbegriff argumentieren, ist gemeinsam, dass sie Rassismus als subjektübergreifende, institutionelle, strukturell bedingte Ideologie oder Ausschlusspraxis mit hegemonialem Charakter begreifen. „Rasse“ erhält damit den Rang anderer Macht- und Herrschaftskategorien wie Klasse und Geschlecht und wird mit ihnen in interdependenten Zusammenhang gebracht. Rassismus hat wie jene eine materiale Basis, sozialpsychologisch verankerte Beweggründe, erkennbare Diskursformen und Zwecke, wie z. B. die Legitimation von Herrschaft und bestätigt sich in seiner eigenen Logik, solange die Wirkmächtigkeit nicht unterbrochen wird. In der Geschichte des Rassismus und der Rassismustheorien ist der Konstruktionscharakter von rassistischen Zuordnungen zunehmend hervorgehoben worden. Die einflussreichsten Autoren, Memmi (1987) und Miles (1991), gehen davon aus, dass zwar biologische Unterschiede und offensichtliche Merkmale zu Trägern von Rassismus und damit von abwertenden Stereotypen und aggressiver Ausgrenzung gemacht werden, um Privilegien zu rechtfertigen und zu erhalten., doch insbesondere Miles macht deutlich, dass die Wissenschaften die ältere genetische Auffassung des Rassebegriffs in eine kulturelle überführt haben, in der Rasse ohne Rekurs auf genetische 50 Siehe zu dieser Debatte auch den Sammelband von Stender/Rohde/Weber (2003), der die Ergebnisse einer Tagung zur antirassistischen und interkulturellen Weiterbildung dokumentiert.
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Begründungen mit Kultur gleichgesetzt wird (Miles 1991: 42ff., Zick 1992: 359f.). In der Miles’schen Begriffsbestimmung des Rassismus als „Bedeutungskonstruktion“ ist der Prozess der gesellschaftlichen Rassenkonstruktion in analytisch getrennten Einzelschritten am präzisesten beschrieben: (1.) Aus der Fülle der möglichen somatischen oder biologisch zufälligen Eigenschaften werden Merkmale ausgewählt, (2.) ihnen wird eine Bedeutung zugeschrieben, (3.) sie werden negativ konnotiert, und (4.) diese Merkmale werden zur Ausgrenzung von Gruppen sowie (5.) zur eigenen Aufwertung benutzt. Aufgefasst als Bedeutungskonstruktion kann Rassismus vollständig als soziales und ideologisches Konstrukt betrachtet werden, bei dem auch die Merkmale selbst in ihrer „Sichtbarkeit“ hergestellt werden. Ideologie ist hier nicht als „falsches Bewusstsein“ zu verstehen, sondern dynamisch, als funktionale Form sozialer Repräsentation. Ihren rassismusgleichen Gehalt erhalten solcherart relevant gemachte Eigenschaften, indem sie enthistorisiert und naturalisiert werden, sodass sie unveränderlich erscheinen. Es müssen keine physiologischen Merkmale mehr sein. Der aus der französischen Debatte viel zitierte Balibar (1989) spricht von einem kulturalistisch begründeten „Rassismus ohne Rassen“, der sich auf neue Weise artikuliert. Die Unterschiede würden nun kulturell konstruiert, es handele sich damit um einen Rassismus, „der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf ‚beschränkt‘, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten.“ (Balibar 1989: 373)
Wie rassistischen Konstruktionen begegnet werden soll, daran scheiden sich freilich die Geister: ob sozialpsychologisches oder pädagogisches „Empowerment“, Aufklärung, Diskursintervention, -entlarvung oder -dekonstruktion, soziostrukturelle Maßnahmen der Privilegien- und Eigentumsveränderungen oder politische Anerkennungsformen wie Staatsbürgerschaftrechte Abhilfe schaffen sollen, ist eine Frage der theoretischen Argumentation. Die Unterschiede der Theorien lassen sich am besten am Ideologiebegriff darstellen (vgl. hierzu Auernheimer 1996: 153ff). Antirassistische Maßnahmen umfassen Arbeit in Initiativgruppen, Organisationen oder Netzwerken, politische Aktionen, Medienkritik, antirassistische Projektarbeit, öffentliche Appelle und Kampagnen, kulturelle Veranstaltungen, die Organisation von Begegnungen, Vorträge und Ausstellungen, Workshops und vieles mehr. Nur ein Teil der Arbeit besteht aus Bildungsmaßnahmen und Trainings. Diese sind schwer zu
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systematisieren.51 Daher habe ich die nun beginnende hochselektive Synopse nach folgenden Kriterien zusammengestellt: Die Konzepte und methodischen Elemente richten sich auf die Bildung Erwachsenener, liegen deutschsprachig vor und sind dadurch entsprechend verbreitet und sie bilden exemplarisch die Hauptdimensionen der erläuterten Rassismustheorien wie Vorurteile, Ideologie und Diskurs, Sozialisation und Identität ab.
2.2.1 Lernziele antirassistischer Bildungskonzepte Seminare, Trainings und Workshops gegen Rassismus richten sich bei Erwachsenen und älteren Jugendlichen vor allem an MultiplikatorInnen in öffentlichen, sozialpädagogischen, pädagogischen, psychosozialen oder kirchlichen Bereichen (vgl. Kampmann 1994, Müller/Scheller 1993). Sie können dem Bereich der klassischen politischen Bildungsarbeit zugerechnet werden, der u. a. folgende Ziele verfolgt: Förderung von Einsicht in komplexe gesellschaftliche und internationale Zusammenhänge und Probleme, in geistige und politische Auseinandersetzungen mit antidemokratischen Bestrebungen, Vorurteilen oder sogenannten Randgruppen, Förderung des Geschichtsbewussteins und einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der eigenen nationalen Identität sowie die Ermunterung zur Teilhabe an politischen Entscheidungsfindungen und Prozessen (vgl. Faulstich 1995: 7f.). Insbesondere geht es bei der antirassistischen Weiterbildung um die Förderung von Konfliktfähigkeit und Solidarität, die Erweiterung des Wissens über strukturelle soziale Ungleichheit und deren Ursachen und die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Es sollen individuelle Veränderungsmöglichkeiten, insbesondere im Hinblick auf Normalisierungsmuster im Kontext von Dominanzverhältnissen und die Verbesserung der Handlungsfähigkeit benachteiligter Gruppen erörtert werden. Im Hintergrund steht das Ziel, der interkulturellen Öffnung von öffentlichen Institutionen (Leiprecht 2003: 26f.).
51 In seinem Gutachten zur „Wirksamkeit von Antirassismus-Trainings“ kommt auch Zick (1998: 18f.) nach umfangreicher und europaweiter Recherche von Anbietern, Programmen, Projekten und Aktivitäten zu dem Schluss, dass „Strategien zur Änderung von Vorurteilen und Rassismus, die einigermaßen begutachtbar dokumentiert sind“, sich kaum finden lassen. „Antirassismus wird in der Regel einfach gemacht oder proklamiert“ (Zick 1998: 18). Auch eine Systematik sucht man vergeblich. Zick schlägt eine Einordnung von Antirassismus und Anti-Vorurteils-Ansätzen nach unterschiedlichen Interventionsebenen vor, je nachdem, ob die Vorurteilsreduktion durch Persönlichkeitsänderung, interpersonale Perspektivenübernahme, interpersonalen bzw. intergruppalen Kontakt, Informationskampagnen oder Handeln im gesellschaftlichen Kontext erreicht werden soll (Zick 1998: 19). Da diese Einteilung dazu führt, dass bestimmte Methoden mehrfach auftauchen, weil sie mehrere Ziele und Interventionstiefen haben, möchte ich mich der Systematik nicht anschließen.
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Bildung gegen Rassismus konzentriert sich also vor allem darauf, Funktionsmechanismen von Macht- und Herrschaftsformen darzulegen sowie deren Analyse und Veränderung zu ermöglichen. Aufgezeigt werden die Interessen der Beteiligten an der Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen und die sich daraus ergebenden Nachteile. Gefördert werden Veränderungsbereitschaft durch Einbezug eigener Unterdrückungserfahrung und Empathiefähigkeit. Letztlich geht es um die Ermöglichung von (alternativen) gesellschaftlichen Regeln durch politische Beteiligungsmöglichkeiten. „Antirassistische Ansätze verfolgen das Ziel, Machtkonstellationen zu verändern, denn die Machtverhältnisse bilden den Ort, von dem aus Widerstand möglich ist.“ (del Mar Castro Varela 1997: 256)
Um diese Lernziele zu erreichen, arbeiten die meisten Konzepte mit einer Kombination aus theoretischen Überlegungen, kognitivem Lernen und prozess-, erfahrungs- und handlungsorientierten Methoden bzw. Übungen (vgl. die verschiedenen Sammlungen in z. B. DGB Bildungswerk Thüringen 2005, Kalpaka 1995, Müller/Scheller 1993, Rademacher 1994, Kampmann 1999). Sie beinhalten in ihren Arbeitsweisen die Reflexion auf die gesellschaftlichen oder individuellen Bedingungen des Entstehens von Vorurteilen und Kategorisierungen. Daher werden stereotype Zuschreibungen anhand von Erfahrungen, Materialien, Übungen oder nachgestellten Szenen systematisch methodisch evoziert und die Arbeit an ihnen in den Vordergrund gerückt. Antirassistisches Lernen greift wie die politische Bildung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Diskriminierung auch auf die Vermittlung von Fakten und Informationen zurück. Im Zentrum stehen Theorien der sozialen Wahrnehmung und Vorurteilsbildung und der Zusammenhang von Autorität und Gehorsam mit der Entstehung von Feindbildern. Letztere werden in der Regel als Projektionsflächen von Abwehrprozessen gedeutet („Sündenbocktheorie“).52 Ziel ist hier die Erhöhung der Toleranz, die Anerkennung von Pluralität und Verschiedenheit und die Befähigung zu Demokratie in der multikulturellen Gesellschaft.53 Doch die methodische Gestaltung hat einen deutlich anderen Zug. ‚Verändern durch Bewusstmachen und Verhaltensänderung‘ könnte man die 52 Bei allen Grenzen der Aufklärungspädagogik zeigt der große Erfolg des mehrfach ausgezeichneten Buches von Ben Jelloun (1999), wie populär und notwendig diese Art von Vorurteilsbekämpfung ist. In dem vor allem bei Erwachsenen beliebten Buch rekonstruiert er Gespräche mit seiner Tochter zu Formen und Ursachen von Rassismus. 53 Siehe in diesem Zusammenhang auch das Seminarkonzept „Argumente gegen den Hass“ (Ahlheim/Heger/Kuchinke 1993), das Aufklärungs- und Argumentationsstrategien gegen Vorurteile, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit pädagogisch arrangiert. Die viel verwendeten Arbeitshilfen für die politische Bildung entstanden unter dem Eindruck rechtsextremer Ausschreitungen Anfang der 90er Jahre.
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Maßnahmen prägnant zusammenfassen. In der Orientierung an der Diskurstheorie, der Erkenntnis der eigenen Involviertheit und im Bestreben, die Machtkonstellationen durch Eigeninitiative zu verändern, sind immer wieder speziell für die Pädagogik des Antirassismus typische Methoden und Konzepte entwickelt worden.
2.2.2 Didaktisierungsvarianten der Diskursintervention Wie beim interkulturellen Lernen, so gibt es auch in der antirassistischen Bildungsarbeit unterschiedlichste Übungen, Methoden und didaktische Möglichkeiten und auch schon eine Vielzahl von praxisbezogenen Veröffentlichungen. Bislang, so bedauert auch Leiprecht (2003: 21), gibt es aber kaum eine kritische, die Entwicklung fördernde Debatte zu antirassistischen Konzepten. Daher fehlt auch eine Systematik, auf die man sich im Hinblick auf die Didaktisierungsvarianten beziehen könnte. Bei allen existierenden Überschneidungen und Gemeinsamkeiten erscheint es mir als trennscharfes Auswahlkriterium, die Methoden anzuschauen, die den Kern der antiideologischen Stoßrichtung antirassistischer Weiterbildung berühren und zudem zu den ‚Klassikern‘ gehören: bestimmte Formen der Diskursinterventionen. Denn steht Rassismus im Zentrum, so sollen bestehende Diskurse aufgegegriffen und mittransportierte Diskriminierungen unwirksam gemacht werden nach dem Motto: „Spielen Sie im System der falschen Informationen nicht mehr mit“ (Riepe/Riepe 1992: 188).54 Ein Teil der pädagogischen Maßnahmen übt daher insbesondere die sogenannten „Gegendiskurse“. Nach einer kurzen Darstellung dieser Methodenauswahl rundet eine kritische Würdigung der exemplarisch ausgewählten Beispiele die Erläuterungen ab.
Argumentationstrainings Ein in den letzten Jahren populärer werdendes Training verbindet die Ziele antirassistischer Bildung gezielt mit der strategischen Ausbildung kommunikativer und rhetorischer Kompetenzen: das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen (Hufer 2000).55 54 Riepe und Riepe (1992) z. B. haben eine beeindruckende Sammlung von Gegenständen, Zeitungsartikeln und Buchauszügen zusammengetragen, um diskriminierende symbolische Gehalte von „Mohrenkopf“ bis „Takatukaland“ aufzuzeigen. 55 Bereits Anfang der 90er Jahre entwickelt, sind die Trainings inzwischen extrem erfolgreich (Jensen 2001). Im Zusammenhang mit Vorurteils- und Stereotypenbekämpfung werden sie bei vielen
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„Das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen bietet eine ausgesprochen günstige Gelegenheit für ‚klassische‘ politische Bildungsarbeit. Denn an die Stelle von Ressentiments, Vorurteilen und Halbwissen setzt es Aufklärung, Urteilsbildung und Informationen.“ (Hufer 2000: 45)
Nachdem die Teilnehmenden aus einer Sammlung von „Stammtischparolen“ Beispiele ausgewählt haben, werden sie in Rollenspielen inszeniert, in denen je drei Personen für den Stammtisch und drei für die „Widersacher“ stehen. Die anderen beobachten, um anschließend nonverbales Verhalten oder Schlüsselsituationen zu besprechen; zusätzlich wird das Gespräch auf Tonband aufgezeichnet. In der Auswertung werden die emotionale Ebene (z. B. die Gefühle in der Rolle), die gesprächsstrategische Ebene (z. B. die durchsetzungsfähigen Mittel) und die inhaltliche Ebene (Argumente) rekonstruiert. Mit Hilfe von bereit gestellten Materialien werden dann in Kleingruppen Gegenargumente gesammelt und kondensiert. Auf eine Aussage wie „Ausländer sind krimineller als Deutsche“ kann dann u. a. geantwortet werden „Nein, denn gegen 30% der nichtdeutschen Tatverdächtigen wurde wegen eines Verstoßes gegen das Asylverfahren ermittelt, also Delikte, die von Deutschen nicht begangen werden können“ (ebd.). Aufklärung über psychologische Hintergründe von Ursachen, Funktion und Entstehung von Vorurteilen, Stereotypen, Rechtsextremismus oder Aggressionen und Übungen zum Umgang mit aggressivem Verhalten ergänzen diese Arbeitsphase. Ziel des Argumentationstrainings ist, sinn- und wirkungsvolle Gegenstrategien und Verhaltensweisen zu entwickeln. Dazu werden auch absurde Bemerkungen („Deutschland den Deutschen, Pizza den Pizzen“) oder subersives Argumentieren geübt.56 Die Leitung hat in allen Phasen eher moderierende und unterstützende Funktionen. Als einziger Autor schließt Hufer dabei explizit an die Diskussion der aktuellen Erwachsenenbildung und ihre „Ermöglichungsdidaktik“ an.57 Statt als Trainer zu lehren, zu vermitteln und zu führen wird die Selbsterschließungskompetenz der Teilnehmenden gefördert. Initiativen angeboten, vgl. als ein Beispiel „Trainings, Workshops, Seminare für gewaltfreie Konfliktlösung, Deeskalation und Antirassismus bei ARIC-NRW“, dem Anti-Rassismus-Informations-Centrum in Nordrheinwestfalen. 56 Da sich Ideologien nicht widerlegen lassen, denn „was ohne Argumente geglaubt wird, kann auch niemand mit Argumenten schlüssig widerlegen“ (Schleichert 1999: 112), will subversives Sprechen irritieren. Es rüttelt an den Fixierungen der Ideologien und demonstriert, woran in letzter Konsequenz geglaubt wird. So könnte man z. B. die Eindeutschung von Fremd- und Lehnwörtern fordern und Mumien „Dörrleichen“ nennen, statt von Pistolen von „Meuchelpuffern“ sprechen und statt Tabletten „Gesundheitsrundlinge“ schlucken (von Uthmann 1995: 14, vgl. auch Schleichert 1999: 112ff.). 57 Die Haltung der Ermöglichungsdidaktik ist, produktive Lernsituationen zu arrangieren, ihren Ausgang projektartig den Teilnehmenden zu überlassen und nicht das „richtige“ Wissen zu vermitteln. Sie folgt aus theoretischen Überlegungen der didaktischen Wende von der Belehrungsdidaktik zur Ermöglichungsdidaktik (Siebert 1998).
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„Eye-to-Eye“ – Blue Eyes/Brown Eyes - Trainings Eine weitere Variante diskursorientierten Trainings ist eine unkonventionelle Methode eines Antirassismustrainings, das die US-Amerikanerin und ehemaligen Grundschullehrerin Janet Elliott entwickelt hat. Die TrainerInnen sprechen in ihren Workshops nicht über Rassismus, sie demonstrieren ihn. Unter dem Eindruck der Ermordung Martin Luther Kings entwickelte Elliott Ende der 60er Jahre zunächst nur für ihre Schülerinnen und Schüler ein verhaltensorientiertes Training, das über Selbsterfahrung sensibilisieren soll. Inzwischen werden die Workshops seit 1996 auch in Europa an Schulen und Universitäten aber auch in Wirtschaftsbetrieben und staatlichen Einrichtungen angeboten.58 Zu Beginn der Veranstaltung werden die TeilnehmerInnen willkürlich in ‚Braun-‘ und ‚Blauäugige‘ eingeteilt, wobei Letztere durch einen farblichen Kragen gekennzeichnet werden.59 Die Blauäugigen werden durch die Leiterin von Anfang an systematisch verunsichert, diskriminiert, schikaniert und gedemütigt, die ‚Braunäugigen‘ erhalten Verhaltensregeln, um die andere Gruppe nicht zu unterstützen, und haben im Wesentlichen Zuschauer- und Chorfunktion. Für die ‚Blauäugigen‘ werden ebenfalls Regeln formuliert, die jedoch bei Bedarf geändert werden. Sie werden mit einer Dominanzkultur konfrontiert: Vorurteile werden über sie verbreitet, sie werden demotiviert und ihnen werden Fehler nachgewiesen. Elliott verhält sich ernst, bestimmend und stellenweise autoritär, dabei wechselt sie zwischen Gespräch und Meta-Gespräch, erläutert die Mechanismen der Macht und bindet die Erfahrungen an gesellschaftliche Prozesse an. Trotz des freiwiligen Arbeitsbündnisses, des deutlichen Demonstrationsgestus der TrainerInnen über die Meta-Ebene und der Kürze der Veranstaltung sind die emotionalen Effekte bei beiden Gruppen von offenkundiger Intensität, das zeigen die Evaluationen und auch der eindrückliche Film.60 Schon nach kurzer Zeit entwickelt sich nach Aussagen der „Blauäugigen“ bei ihnen Stress, fließen bei manchen ‚Diskriminierten‘ die Tränen, entsteht bei anderen Widerstand oder Resignation. Die ‚Blauäugigen‘ sind verunsichert, machen Fehler und bestätigen damit die über sie kursierenden 58 Entstehung, Konzept und Reaktionen beschreibt der Reader von Schlicher, Jürgen/Günther, Rosi u. a. 1998. Weitere Details und Workshopauswertungen findet man auch unter http: //www.eyetoeye.org/de/konzept (Stand 1.1.2010). 59 Elliott wählte die Augenfarbe als eine physische Eigenschaft, die willkürlich ist, nicht verändert werden kann und weil sie bei den Nationalsozialisten eines der Kriterien war, um jemanden in die Gaskammern zu schicken (Schlicher u. a. 1998: 8). 60 Einen beeindruckenden Einblick gibt der Film „Blue Eyed“ von Bertram Verhaag und Arlon Lik (Denkmal-Film 1996, 93 Minuten). Er hat bisher ein Dutzend internationale Preise gewonnen und wird für pädagogische Zwecke eingesetzt.
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Vorurteile. Ihre Reaktionen werden als Lernunwilligkeit, störrisches Wesen und Trotz interpretiert, worauf sie wieder hilflos reagieren – der Teufelskreis ist geschlossen. Ausgewertet wird der Workshop, indem die Teilnehmenden notieren, wie sie sich gefühlt haben und wie sie die andere Gruppe gesehen haben. Ausgehend von der Vorstellung, dass Rassismus sich nicht auf körperliche Gewalt beschränkt und Diskriminierung sowie Stereotypen erlernt werden, soll Bewusstmachen einen Beitrag zum ‚Verlernen‘ leisten.
Kritische Würdigung der Trainings von Hufer und Elliott Die meisten Elemente des Argumentationstrainings sind keineswegs so neu und unkonventionell wie sie immer wieder dargestellt werden (z. B. Jensen 2001). Es wird auf klassische Inhalte, Abläufe und Methoden z. B. des Rollenspiels) zurückgegriffen (siehe dazu schon Ahlheim/Heger/Kuchinke 1993 insbesondere S. 25f.). Neu ist der diskursorientierte Zug, der über die klassische Aufklärungsarbeit hinausgeht und das Durchhalten der eigenen Position – auch gegen Widerstände regelrecht übt. Neu ist auch der spaßig-spielerische und subversive Zugang, der sich von den immer wieder erscheinenden Argumentsammlungen und einem Aufklärungshabitus abhebt (wie z. B. bei Riepe/Riepe 2001). Besonders positiv hervorzuheben ist der ermöglichungsdidaktische Ansatz, bei dem die Teilnehmenden den Lernprozess weitgehend selbst steuern und die Leitung nur eine moderierende, keine wissensvermittelnde, belehrende Rolle ausübt (Hufer 2000: 24f.). Leider gibt Hufer keine Auskunft darüber, wie die Moderation des Verlaufs aussehen könnte. Kritisch an Argumentationstrainings wie jenen von Hufer ist die Externalisierung: Ein bestimmtes Klientel mit Problembewusstsein wird rekrutiert, das sich wechselseitig seiner antirassistischen Haltung vergewissert und sich gegen „die Rassisten“ abgrenzen kann. Problematisch ist auch die Personalisierung, die von den Voraussetzungen des rassistischen Verhaltens abstrahiert (Lange/Weber-Becker 1997: 191f.). Manche sprechen diesen pädagogischen Maßnahmen die intendierte Wirkung sogar gänzlich ab: „Weil die Prozesse, die bei der Konstruktion und der Auseinandersetzung mit dem Fremden eine Rolle spielen, in nicht wenigen Anteilen unbewußt bzw. halbbewußt sind, entziehen sie sich einer pädagogischen Strategie, die die Aufklärung über die Sprache bevorzugt. Die Aufklärung kann Zusammenhänge benennen, sie berührt aber nicht die Übertragungsdynamik, ganz zu schweigen von den zugrundliegenden Emotionen (...).“ (Müller/Scheller 1993: 10)
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Die stärksten Kritiker halten es daher für eine Illusion, über Veränderung individueller Einstellungen, rassistische Verhältnisse überwinden zu können. Eingeübt würde politisch korrektes Verhalten. Das Training von Elliott ist noch aus anderen Gründen umstritten (vgl. Leiprecht/Lang 2000; 2001, Zick 1998 30ff.). Sie erreiche das Ziel der Perspektivenübernahme mit den Opfern nicht oder nur zu einem hohen Preis. Als Hauptkritikpunkte an dem für Europa modifizierten Konzept werden genannt: 1. Das Konzept sei zu einfach: Die klare Täter-Opfer-Dichotomie bilde die komplexe Struktur von Herrschaftslogik nicht ab, in der auch die ihrerseits diskriminierten Gruppen in Teilbereichen rassistische Unterdrückung praktizieren können (so z. B. weiße Frauen gegenüber schwarzen Frauen). 2. Das Training sei zu schematisch und interaktionistisch: Das Konzept suggeriere, dass Rassismus sich hauptsächlich im direkten Kontakt abspiele und vernachlässige institutionelle und strukturelle Dimensionen. 3. Es würden keine Handlungsalternativen aufgezeigt: Der Effekt des Trainings beschränke sich auf das bloße Erfahren und reproduziere übliche rassistische Verhaltensweisen wie Aushalten und Wegsehen. Veränderndes Verhalten werde zwar von den LeiterInnen proklamiert, aber nicht zugelassen. 4. Der Umgang mit der Macht sei problematisch: Es handle sich nicht um ein harmloses Rollenspiel, sondern um ein Experiment mit einer Depersonalisierungsstrategie, in dem eine menschenverachtende Struktur simuliert werde. Für die Reflexion dieser realen Diskriminierungserfahrung würde zu wenig Raum bereit gestellt. Zwar machten die Beteiligten eine Ohnmachtserfahrung, würden aber selbst „verdinglicht“ und auch real bedrängt (dazu auch Kenngott/Steil 2003). Der Missbrauch von Macht und Autorität führe nicht selten zu genugtuender Beobachtung und Faszination. Aus diesen Gründen sei die Veranstaltung moralisch schwer verantwortbar. Trotz der Kritik ist der Ansatz innovativ, weil er nicht über Diskurse redet, sondern mit ihnen arbeitet: „Die Stärke des Konzepts besteht darin, durch alle verklärenden Nebelschwaden und Argumentationsketten zu dringen und die Mechanismen einer Gesellschaft aufzuzeigen, die in ihren Grundzügen rassistisch ist.“ (Kutsal 2002: 57)
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Rassismus wird gezielt eingesetzt und die Wirksamkeit des Achtungsentzugs auch für die Anwesenden spürbar.61 Die Methode ist von seltener Nachhaltigkeit. Mangelnde Komplexität (ad 2./3.) kann man den meisten pädagogischen Übungssettings vorwerfen, zur Verdeutlichung wird häufig vereinfacht und hier sogar bewusst auf den Effekt hin radikalisiert. Gäbe man den Gruppen jedoch in einem zweiten Schritt systematisch auch jeweils die entgegengesetzte Rolle, was Elliott ursprünglich an der Schule praktizierte und ließe der Auswertung mehr Raum, dürften die meisten Kritikpunkte obsolet werden. Die Faszination der Macht jedenfalls würde relativiert. Ohnehin wird sie vor allem bei Zuschauern des Films beschrieben, nicht bei den Teilnehmenden des Workshops. Mehr als bei allen anderen Konzepten wird über das Spiel von Diskurs und Metadiskurs die Rolle des Sprechens auf Seiten der Workshopleitung in den Fokus gerückt und ihre Wirkung deutlich. Die Kehrseite ist freilich, dass die Teilnehmenden speziell von dieser Methode mehr Passivität und Hilflosigkeit statt Lösungsmöglichkeiten erfahren. Die Besonderheit antirassistischer Diskursarbeit ist ebenso theorie- wie praxisnah: Die Fokussierung verändert sich von der inhaltlichen, aufklärungsorientierten Argumentation hin zur Konzentration auf Diskurseffekte und Interaktionsmuster. Der Ansatz berücksichtigt im Vergleich zu anderen Konzepten auch in seltener Stringenz die klar formulierte (jeweils verschiedene) Haltung der LeiterInnen, die den Teilnehmenden eindeutige Erfahrungs- und Probehandlungsräume bereit stellen. Die Integration der emotionalen Erfahrungen wird interessanterweise statt über Ursachensuche und theoretische Erläuterung durch die wirkende Seite von Sprechhandlungen und die irritierende Erfahrung ihrer rassistischen Wirkung umgesetzt.
Theaterpädagogische Methoden: Statuen, Skulpturen und szenisches Spiel Um Rassismus nicht alleine auf der Meinungs- und Einstellungsebene zu behandeln, sondern die Verhaltensebene und die Mikropolitik der Macht einzubeziehen, werden in vielen Konzepten psychodramatische und theaterpädagogische Methoden eingesetzt (vgl. z. B. Gruber/Hummel 1993, Hamzhei/ del Mar Castro Varela 1993, Heppekausen 1995, Kalpaka 1994b, Kalpaka/ Wilkening 1997, Müller/Scheller 1993, DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. 2005, Weiß 2001). Hierbei sollen die Teilnehmenden lernen, in Widersprüchen zu denken, diese zu analysieren und dabei in verschiedene Perspektiven einzutauchen. Gleichzeitig sollen sie lernen, unmittelbar einzugreifen. 61 Die SchülerInnen, mit denen Elliott trainiert hatte, konnten sich noch nach Jahrzehnten an diese zwei Tage erinnern und manche haben einen grundlegenden und nachhaltigen Einfluss dieser Erfahrung auf ihr Leben formuliert (vgl. „Blue Eyed“ von Bertram Verhaag und Arlon Lik 1996).
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Das Theater der Unterdrückten Die prominenteste Methode geht auf das politische „Theater der Unterdrückten“ des Brasilianers Augusto Boal zurück, der Anfang Mai 2009 78-jährig verstorben ist. Von den Teilnehmenden wird für das „Forumtheater“ als Momentaufnahme eines gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses eine Situation ausgewählt und diese Alltagsszene mehrfach durchgespielt. Die „ZuschauerInnen“ sind aufgerufen, sich nacheinander an die Stelle einzelner Figuren in das Bild oder die Szene zu begeben und sie zu erleben oder zu verändern. Die Diskussion im anschließende Rollenfeedback kreist um Wahrnehmung, Ursachen (in Form eigener Erklärungsansätze und Rassismustheorien), schuldhafte Anteile der Beteiligten (in Form der Zuschreibung von Opfern und Tätern) und die vorgeschlagenen Handlungsstrategien zur Überwindung der gesamtgesellschaftlichen Strukturen im Rahmen der Optionen jedes Einzelnen. Daneben gibt es die Möglichkeit von Körperarbeit zum Aufwärmen oder alternative Techniken wie z. B. „Statuenarbeit“ (mit Körper-Stand-Bildern), die auf denselben Prinzipien aufbauen.62 Die visualisierende Körperarbeit ermöglicht, nicht- oder vorsprachliche Erinnerungsbilder bzw. Deutungsmuster zu erleben und zu besprechen. Ziel ist, konventionalisiertes und internalisiertes Rollenhandeln und die eigene aktive Eingebundenheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse kritisch zu reflektieren: „Aufgabe dieser und ähnlicher Volkstheater-Techniken ist es, die Rituale, welche die menschlichen Beziehungen verdinglichen, durchschaubar zu machen, die Masken sozialen Verhaltens zu lüften, die die gesellschaftlichen Rollen und Normen dem einzelnen überstülpen. (...) Es genügt nicht, zu wissen, daß die Welt verändert werden soll; wichtig ist, sie tatsächlich zu verändern. Dazu können auch die Techniken des Theaters der Unterdrückten beitragen.“ (Boal 1979: 66f.; 69)
Beim Bewegen der Statuen und auf der Probebühne des Forumtheaters können verschiedene Perspektiven eingenommen und Handlungsalternativen erprobt werden, kurz: die Welt kann als veränderbar erlebt werden. Ausgehend von der „Pädagogik der Befreiung“ Paolo Freires will Boal mit dem Aktionstheater die Kluft zwischen Lernenden und Lehrenden aufheben und vereint in seinem Lernkonzept Reflektion und Aktion. Der ursprüngliche Hintergrund, die Militärdiktatur in Brasilien und die Parteinahme für die Unterdrückten, deren Namen das Konzept noch trägt, wird hier deutlich. Sie sollten mit diesen Arbeitsformen Selbstvertrauen gewinnen. Bei der Übertragung nach Europa 62 Einen Überblick über verschiedene Techniken des Bildertheaters gibt Wiegand (1993, 1998: 131ff.)
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wurde die Methodik auf die Bearbeitung internalisierter Herrschaftsstrukturen ausgeweitet.63 Im Zentrum steht das Subjekt in seiner Binnen- und Außenperspektive, also seiner Wahrnehmung, seiner psychischen Verarbeitung, seiner Beziehungsdefinitionen und Verhaltensorientierung. Das Theater der Unterdrückten versteht sich als eine Methode der Identitätsarbeit entlang der Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen. Sie sind die Protagonisten ihrer eigenen Lernprozesse, die durch Moderation in die Erfahrung einer Krise geführt werden, um diese zu überwinden.
Skulpturarbeit in multikulturellen Lerngruppen Als eine Variante aus dem Fundus von Boals Methoden haben die theorie-64 und praxiserfahrenen Erwachsenenpädagoginnen Kalpaka/Wilkening (1997) die Statuenarbeit zu einem eigenen Konzept für das interkulturelle Lernen entwickelt.65 In ihrem speziell für PädagogInnen entwickelten Seminarkonzept, „Multikulturelle Lerngruppen. Veränderte Anforderungen an das pädagogische Handeln“, zielen die Autorinnen auf eine zentrale Umfokussierung: Statt Probleme zu besprechen, die PädagogInnen „mit ausländischen Kindern haben“, wollen sie eine Pädagogik für eine multikulturelle, multiethnische und mehrsprachig zusammengesetzte Gesellschaft unterstützen. Ziel ist daher, zu zeigen, dass Lösungsvarianten von der eigenen Problemdefinition und Realitätswahrnehmung abhängen. Dabei soll die eigene Eingebundenheit in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erkannt werden (ebd.: 8). In sechs Seminarphasen wird u. a. mit der auf Boal zurückgehenden Skulpturarbeit gearbeitet, um eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten in der eigenen Berufspraxis zu erreichen. Ausgewählte Beispiele werden mit den anwesenden Personen als Körperbilder (Skulpturen) aufgestellt. Die jeweiligen ProtagonistInnen stellen auch für sich jeweils eine/n Stellvertreter/in ins Bild. Das Plenum äußert Vermutungen über das dargestellte Problem und die Situation (Außenperspektive). Anschließend erläutert die Protagonistin aus der eigenen Perspektive das Empfinden der Beteiligten, indem sie sich hinter die jeweiligen Figuren stellt („Doppeln“). Die Betrachtung der verschiedenen Perspektiven entsteht, indem 63 Zu Entstehung und Theorie des Ansatzes siehe Boal (1979), zur Weiterentwicklung und Übertragung auf Europa Neuroth (1994) und Wiegand (1998). 64 Annita Kalpaka hat mit einigen Frauen, insbesondere zusammen mit Nora Räthzel, deutliche Akzente in der deutschen theoretischen Debatte um die Notwendigkeit des Rassismusbegriffs gesetzt (vgl. z. B. Kalpaka/Räthzel 1994). Beide tragen maßgeblich zum Austausch mit dem europäischen Forschungsstand bei. 65 Wie sehr es dabei um Gesellschaftspolitik geht, zeigt ein Zitat von Boal: „Mein Begriff von Revolution heißt: Was tun meine Statuen?“ (Boal 1979: 55).
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auch die Zuschauerinnen „doppeln“ und schließlich die Figuren selbst ihre persönliche Sicht und Einschätzung der gesamten Lage darstellen (Innenperspektive).66 Gemeinsam wird die Erfahrung aus der Skulptur ausgewertet und verallgemeinert. In anderen Arbeitseinheiten wird ein weiterer Schritt eingeführt, die Figuren können eine Haltung einnehmen, bei der sie sich möglichst wohlfühlen. Hier werden die Konflikte besonders deutlich und spürbar gemacht: „Bei der Verwirklichung gibt es natürlich Grenzen: Nicht alle fühlen sich bei jeder von anderen beabsichtigten Veränderung wohl, besonders wenn Interessensgegensätze bestehen. Mit diesem Schritt wollen wir allerdings die Interessensgegensätze und Widersprüche sichtbar machen.“ (Kalpaka/Wilkening 1997: 54)
In Zwischenblöcken sorgen Exkurse für theoretisches Wissen über das Einwanderungsland Deutschland, das geltende Ausländergesetz, die Bedeutung von Kultur, Formen der Diskriminierung oder über den Prozess der Zweisprachigkeit. Sie werden jeweils in eigenen Transfereinheiten an die Erfahrungen der Teilnehmenden und an aktuelle Fragen gebunden. Immer wieder wird an konkreten eigenen Erlebnissen gearbeitet, dabei wechseln sich leitfadengestützte Kleingruppenarbeit zur Analyse von Problemen, eigenen Handlungsmotiven und kollegialem Austausch mit Skulpturarbeit ab. Die letzte Seminarphase konzentriert sich auf die Umsetzung in der Praxis und auf konkrete Veränderungsschritte. Dabei kommen u. a. methodische Hilfen wie der „Interkulturalitätstest“ für die gesamte Einrichtung zum Einsatz. Von Kalpaka (1994b) mit Co-LeiterInnen durchgeführte Theaterworkshops gehen ähnlich vor. An Stelle von Skulpturen wird das Forumtheater von Boal verwendet und die Bilder werden im szenischen Spiel dynamisiert. In beiden Fällen wird Lernen durch Verunsicherung der Persönlichkeitsstruktur und eine veränderte Weltwahrnehmung initiiert. Ziel ist die Erweiterung gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit. Kalpaka warnt vor mehreren Gefahren. Die Leiterinnen sollten keine Schuldgefühle erzeugen, weil diese zu Lähmung statt zu Veränderungsbereitschaft führen, sie sollten auf die Interpretationen von gezeigten Haltungen nicht diagnostizierend reagieren und Bewertungen nach gut/böse, falsch/richtig, rassistisch/antirassistisch vermeiden (ebd.: 128f.). Aufgabe der ModeratorInnen sei, – ganz im Sinne Boals – den Prozess emotional abzusichern und den Teilnehmenden zu ermöglichen, ProtagonistInnen ihres Lernens zu werden. 66 Das Arbeiten an Bildern, an den immer schon vorausgesetzten, wertenden Deutungen der Merkmale abgebildeter Personen sowie an der Aufdeckung der Bedingungen von Wahrnehmung ist im Anschluss an Cohen und Miles Grundprinzip auch weiterer Bildungsveranstaltungen von Kalpaka und anderen (vgl. Kalpaka 1994; 1995). Zum Arbeiten an Bildern siehe auch Müller/Scheller 1993, Schröer/Nazarkiewicz 1998.
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Kritische Würdigung Boals Ansatz und Methodenrepertoire hat in viele Konzeptionen und Übungssammlungen Eingang gefunden, weil es sehr plastisch und – in der modifizierten Form – einsetzbar für homogene und gemischte Zielgruppen ist.67 Kritische Stimmen sind kaum zu finden. Positiv ist die Nähe zum eigenen Erleben der Teilnehmenden und die Einbeziehung vor- und nicht-sprachlicher Ausdrücke und Zusammenhänge, die mit Statuentheater und Spiel abgedeckt werden. Die Wahrnehmung verschiedener Perspektiven wird ebenso trainiert, wie die Differenzen zwischen objektiver und subjektiver Ebene. Mit der Maxime „Suchen statt Zuschreiben“ (Kalpaka/Wilkening 1997: 16) geht es um die Erweiterung von Deutungs- und Handlungspielräumen im Bewusstsein struktureller Machtverhältnisse. Auch Lange/Weber-Becker heben die mit dem Konzept verbundene und lerntheoretisch fundierte „konstruktive Verunsicherung“ (1997: 186f.) positiv hervor. Das Ziel, in Widersprüchen denken zu lernen und in Macht-Ohnmachkonstellationen zu handeln, bietet die Nähe zur Rassismustheorie. In diesem erfahrungsbezogenen situativen Lernen werden durch aktives Durchspielen von Alternativen kognitive Aneignungsformen überschritten und über Probehandlungen der Erfahrungsraum ausgeweitet. Die Wirkungen sind, wie ich auch nach eigenen Veranstaltungen erleben konnte, nachhaltig. Meinem Eindruck nach werden die theaterpädagogischen Methoden jedoch weniger häufig eingesetzt als es erscheint. Sie brauchen Zeit, ausgebildete, erfahrene LeiterInnen und nicht zuletzt TeilnehmerInnen, welche sich bereit erklären, mit dem Körper zu arbeiten und szenisch zu spielen.
‚Bewusstseinstraining‘ Die niederländische Ombudsfrau und Direktorin des Bildungsvereins „Kantharos“, einem Büro für Ausbildung und Beratung zum Thema multikulturelle Politik in Amsterdam, Lida van den Broek hat ein Handbuch mit dem Titel „Am Ende der Weissheit“ verfasst, das Rassismustheorie mit einem Trainingskonzept verbindet und auch in Deutschland rasche Verbreitung gefunden hat.68 Der Übungsteil kombiniert die meisten der bisher vorgestellten 67 Auch die Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung, agisra e.V., setzt die Methode für die Arbeit mit Migrantinnen und in Gruppen mit schwarzen oder weißen Frauen ein (vgl. Gruber/Hummel 1993, Hamzhei/del Mar Castro Varela 1993). 68 Obwohl schon zwanzig Jahre alt, ist dieser Vorläufer für Antirassismus-Trainings immer noch aktuell, schreibt auch Kalpaka (2003: 57). Mit ihrem Ansatz, am Einzelnen anzusetzen sowie den methodischen Schritten nimmt van den Broek viele der nachfolgenden Trainingskonzepte voraus.
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Methoden. Diskussionen finden sich ebenso wie Skulpturarbeit oder Rollenspiele, auch ein Film der Elliotts Arbeit dokumentiert, „Eye of the Storm“, wird gezeigt. Was van den Broeks Trainings kennzeichnet, ist eine stringente Linie mit theoretischer Voraussetzung: Sie geht vom „Prinzip der Unschuld“ aus (ebd.: 94f.). Ihre Prämisse ist, dass jeder Mensch von Kind an eine Position einnehmen muss, die schon vor der Geburt aufgrund der gesellschaftlichen Machtverteilung festgelegt worden ist.69 Erzwungene Anpassung und Unterordnung der Kinder unter die Macht der Erwachsenen (Adultismus) ist der Urmechnismus aller Unterdrückungsformen, an den weitere wie u. a. Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus „andocken“ können. Die Frustrationen der rassistischen Sozialisation werden später durch unterdrückerisches Verhalten gegenüber anderen, insbesondere Schwächeren kompensiert. Daher sind – bei weißen wie schwarzen Menschen – starke emotionale Besetzungen, unverarbeitete Gefühle und die falsche Zufuhr von Informationen („falsche Aufklärung“, ebd.: 57ff.) sowie die Konditionierung „gegen den Willen des Einzelnen“ (ebd.: 93) aufzuarbeiten. Van den Broek konzipiert und praktiziert daher ein „Bewusstwerdungstraining“, das allen Zielgruppen gegenüber auf „Vertrauen, Sicherheit, Offenheit und Respekt“ basiert, und will damit Koalitionspartner gegen Unterdrückungsmechanismen gewinnen: Eine Befreiung von Rassismus muß primär davon ausgehen, daß rassistisches Verhalten auf Konditionierung beruht; von daher müssen die unverarbeiteten Gefühle, die zugrunde liegen, in hohem Maße berücksichtigt werden. Die wichtigste Aufgabe, die sich der antirassistischen Bewegung stellt, ist die Veränderung des Bewußtseins.“ (ebd.: 99)
Rassismus ist nach van den Broek anerzogen und erlernt und kann daher auch wieder verlernt werden, wenn man nicht mit Schuldzuweisungen arbeitet sondern an die Verantwortlichkeit der Menschen und ihre Eigenerfahrung von Unterdrückung appelliert. Das Training steht im Kontext antirassistischer Arbeit mit politischen und anderen Aufklärungsaktionen und besteht aus einem Modulsystem von Übungen, die einem Spannungsbogen folgen. Es kann von einer Tageseinheit bis zu acht Wochen mit regelmäßigen Sitzungen reichen und mit homogenen oder heterogenen Gruppen durchgeführt werden. Ziele sind, Rassismus bewusst zu machen, ihn zu durchbrechen und Menschen für die Befreiung zu organisieren. Ausgerichtet auf „bewusstes Erfahren“ sollen die 69 Ihre Rassismus-Definition lautet: „Rassismus ist die Summe aller Verhaltensweisen, Gesetze, Bestimmungen und Anschauungen, die dazu führen, schwarze Menschen nicht als gleichwertig anzusehen, sondern ihre ethnische Herkunft als minderwertig auszugeben und sie entsprechend zu beurteilen und zu behandeln. Rassismus beruht auf einem Ungleichgewicht der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf ökonomischem, politischem und sozialem Gebiet.“ (van den Broek 1993: 32)
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TeilnehmerInnen mit dem Gedanken konfrontiert werden, dass Rassismus und rassistisches Denken jeden betrifft. Und sie sollen erfahren, wie jeder durch die Sozialisation mit Unterdrückung und Rassismus „infiziert“ wurde. Wenn die Erfahrungen anerkannt und verarbeitet werden, so die Annahme, können andere Umgangsformen für den alltäglichen Rassismus gefunden werden und es entsteht „Bündnisfähigkeit“ zwischen Schwarzen und Weißen als auch gegen andere Herrschaftsformen. Daher beziehen sich die Übungen zu Beginn des Trainings auf einen einleitenden Vortrag, der Rassismus bewusst machen soll, auf die Aufdeckung und Verarbeitung der Rassismus-Sozialisation, auf Verbote, z. B. mit schwarzen Kindern zu spielen sowie auf die Erfahrung von Ängsten und Unterdrückung als Ursache der eigenen ‚Überlebensstrategie‘. Spätere Übungen dienen der Suche nach Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten im Allgemeinen und bearbeiten sie konkret in Rollenspielen. Die Grundorganisationsform des Trainings ist der Wechsel zwischen Kleingruppenarbeit, vor allem in Zweiergruppen, in denen die Übungen stattfinden, und Plenumsdiskussion, in der die Erfahrungen ausgewertet werden. Die Übungen heißen „Unzensierte Bilder“, „Wahr oder nicht wahr“, „Angst“, „Zweifel“, „Überlebensstrategie“, „Skulpturenspiel“ oder „Angst vor schwarzen Männern“. Im überwiegenden Teil der Übungen sollen Impulsfragen Assoziationen auslösen, Gefühle und Gedanken bewusst machen und für die Verarbeitung zur Verfügung stellen. Beispiel: Die Trainerin bittet die Teilnehmenden, sich vorzustellen, wie es wäre, nur noch mit schwarzen Menschen zusammenzuarbeiten. In der Zweiergruppe ist zu bearbeiten: „Was hat diese Übung bei euch wachgerufen?“ Im Plenum wird weitergearbeitet mit der Frage: „Was würdet ihr in einer solchen Arbeitssituation angenehm finden?“ (ebd.: 131). Andere Übungen dienen der Überprüfung von „Informationen“ mit dem Ziel der Kontrolle oder „Neuprogrammierung“. Zum Beispiel soll eine Liste von Vorstellungen über Ausländer in der Gruppe daraufhin befragt werden, ob sie „wahr“ sind, welche davon sachliche Aussagen und welche wertende Urteile. In einer späteren Übung werden die als unwahr identifizierten Aussagen genannt und ihnen mehrfach entgegnet: „Ich weiß, dass es nicht wahr ist“ (ebd.: 129, 136). Die Zweiergruppen ermöglichen, Gefühle zu äußern und in einen intimeren Erfahrungsaustausch einzutreten als er im Plenum möglich wäre, das Plenum dient dazu, übergreifende Mechanismen zu begreifen und neue Schritte einzuleiten.
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Kritische Würdigung Zu Recht kritisieren Kalpaka/Räthzel (1993: 313f.) den theoretischen Ansatz van den Broeks als zu deskriptiv, undifferenziert und vereinfacht. Statt die Bedingungen zu erklären, unter denen Ausgrenzungsmechnismen stattfinden, werden sie nur beschrieben und Kategorisierungen („schwarze Menschen“) unhinterfragt übernommen. Die zu Grunde gelegte Sozialisationstheorie macht alle zu Opfern, denen rassistische Handlungsweisen aufgezwungen werden. Der Zirkelschluss ist offensichtlich. Eine Reihe weiterer Herrschafts- und Diskriminierungsformen, Klassenherrschaft, Sexismus, Heterosexismus, Ageismus (Altendiskriminierung), Antisemitismus, Bodyismus (Diskriminierung Behinderter), „Adultismus“ (Diskriminierung von Kindern), werden ungewichtet und undifferenziert in eine Linie gestellt, was eine Verwässerung des Rassismusbegriffs zur Folge hat. Außerdem birgt das Konzept einen unaufgelösten Widerspruch: Einerseits spricht die Autorin von rassistischen Strukturen, andererseits zielt das Training auf Meinungs- und Verhaltensänderung, ohne die gesellschaftlichen Strukturen einzubeziehen. Holzkamp (1994) unterzieht pädagogische Ansätze, die von der Sozialisation ausgehen und Einstellungen verändern wollen, einer grundsätzlichen Kritik. Durch den Rekurs auf kindliche Sozialisationsprozesse werden gegenwärtige Beziehungen nicht mehr thematisierbar und die Beziehung zum Subjekt wird abgebrochen, weil über die Akteure und nicht mit ihnen gesprochen wird. Das genau entzieht der Analyse der Funktionalität gegenwärtiger rassistischer und institutionell verankerter Diskurse den Boden. Da van den Broek jedoch den „subjektiven Handlungsgründen“ (Holzkamp), die Holzkamp als Teil der Funktionalität formuliert, einen prominenten Stellenwert einräumt und sie mit der Konstruktion anderer Gruppen und der Praxis weiterer Ausgrenzungsmechnismen verbindet, ist seinem berechtigten Anliegen Rechnung getragen. Man mag daher die Lerntheorie für unterkomplex, die Übungen für einseitig aufklärerisch halten, den Rhythmuswechsel von Zweier- und Kleingruppen mit Plenumsarbeit für zu monoton und das „Umprogrammierungslernen“ für zu schlicht. Doch man muss der Autorin und Trainerin auch einiges zugute halten. Zunächst einmal ist sie keine Theoretikerin und hat das Handbuch aus der Praxis und für die Praxis entwickelt, in der es offensichtlich sehr erfolgreich ist. Und auch wenn man den theoretischen Ansatz der ubiquitären frühkindlichen Unterdrückungserziehung und die Vorstellung, Rassismus sei falsches Bewusstsein nicht teilt, so zeichnet dieses Training aus, dass rassistische Annahmen und Äußerungen nicht tabuisiert, sondern in einem geschützten Raum zugelassen und damit bearbeitbar werden. Diese Vorgehensweise setzt sich erst jetzt langsam durch. Auch emotionale Dimensionen werden ausgelotet, gezielt einbezogen und damit Intellektualisierung und Anpassungslernen verhindert. Die
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Impulsfragen und die Moderationshinweise für die LeiterInnen sind prägnant. Die breiten theoretischen Ausführungen und der besondere Fokus auf das „Umlernen“ ist dem Trainingklassiker von van den Broek eigen, aber das Konzept teilt mit anderen, neueren Ansätzen und Methodensammlungen den aufklärerischen Ansatz und damit Formen der methodischen Umsetzung (vgl. z. B. Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit vom DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. 2005). Es wird häufig zitiert und hat viele Organisationen und Trainer inspiriert (z. B. Klotz-Groeneveld/Thums-Senft 1995). Viele Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe wird erst deutlich, dass van den Broek bereits damals eine Linie verfolgte, die erst in jüngster Zeit in Europa populärer wird: der Diversity-Ansatz.70
2.3 Interkulturelle und antirassistische Pädagogik – kritikwürdig, vereinbar oder unhintergehbar? Die antirassistische Weiterbildung beinhaltet einige „Fallstricke“ und „Stolpersteine“, wie die Vertreterinnen z. T. selbstkritisch notieren (exemplarisch dazu Leiprecht 2003: 28ff.). Der Rassismusvorwurf gerate schnell zum „Totschlagsargument“, mit dem auf Ungerechtigkeiten aller Art verwiesen würde. Auch die Konstruktion der Übermächtigkeit von Rassismus und seiner Allumfassenheit sei dysfunktional und entmutigend. Es überwiege eine Defizitorientierung, und das ausgerechnet gegenüber Personen, die sich der eigenen Weiterbildung stellen. Zusätzliche Abwehr produziere die Gefahr, Rassismus auf individuelle Vorurteile zu reduzieren und strukturelle Rahmenbedingungen zu vernachlässigen. Es sei wenig hilfreich, Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die sich reflektieren wollten, Schuldgefühle zu vermitteln. Fundamentale Kritik an den gutgemeinten Zielen interkulturellen aber auch antirassistischen Lernens wird insbesondere aus Sicht der kritischen Erziehungswissenschaft (Hamburger 1991 und Radtke 1992) sowie der kritischen Psychologie (Mecheril 1997, Terkessidis 1998) formuliert. Die Überlegungen beziehen sich zwar vor allem auf interkulturelle Erziehung und curriculare Einbindung in der Schule, lassen sich aber in den Kerngedanken auf die Erwachsenenpädagogik übertragen. Die Kritik zielt auf drei zentrale Aspekte: 1. Kritik am Ethnisierungsprozess: Die Rede von Kulturdifferenzen, kulturellen Identitäten, Kulturkonflikten etc. des pädagogischen Multikulturalismus arbeite mit homogenisierenden Kategorisierungen und Stereotypisie70 Kantharos, das Büro von dem aus Broek arbeitet, nennt sich inzwischen „Beratungsbüro für Managing Diversity“, die Arbeit ist mit Organisationsberatung verbunden, bei der auch Diskriminierungserfahrungen wie Mobbing einbezogen werden (v.d. Broek 1999).
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rungen und mache Differenzen in den Fremdzuschreibungen sozial erst relevant. Das berge die Gefahr einer Verschärfung von Problemen, Gemeinsamkeiten von Kulturen gerieten aus dem Blick und aus den mannigfaltigen Merkmalen einer Person werde nur eine herausgegriffen. „Wohlmeinende Fremdbestimmung“ (Hamburger) sowie Selbstethnisierung und „Verdopplung der Ablehnungsmotive“ (Luhmann nach Radtke 1992) sei die Konsequenz. 2. Kritik am Verstehensbegriff: Angesichts rassistischer Ausschreitungen schreibt Kordes: „Wir meinen, dass es Schwachsinn ist, einander immer besser verstehen zu wollen“ (Kordes 1994: 26). Interkulturelle Bildung, die Vorurteile und Ethnozentrismus abbaut, überfordere Menschen und gesellschaftliche Realität (ebd.: 6). In einem durchkapitalisierten Zeitalter der ständigen Neuerungen, Verunsicherungs- und Befremdungserfahrungen führe interkulturelles Lernen zum „pädagogischen Schreckensszenario einer schönen neuen Welt höflicher Toleranz“ (ebd.: 27). „Der Kulturbegriff des beflissenen Pädagogen zerschellt gleich doppelt an den Glatzen und Schlipsen, an den ethnischen Kindercliquen der Vorstädte wie an der Politikerklasse der Metropolen“ (Kordes 1994: 28)
Verstehen geht aus dieser Perspektive am latenten Alltagsrassismus der Mehrheitsgesellschaft und an reflexiven Selbstethnisierungseffekten vorbei oder dient als strategisches Ziel der Aneignung bzw. Einverleibung in der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft ebenso wie in der internationalen Geschäftswelt.71 3. Kritik an der Begrenzung und Pädagogisierung: Interkulturelles Lernen berge in der Möglichkeit der Personalisierung die Gefahr, Vorurteile und Rassismus als Eigenschaft bestimmter Menschen misszuverstehen. Es wende sich an die falsche Zielgruppe. Es würden ohnehin nur Personen mit entsprechendem Problembewusstsein angesprochen. Dabei gäbe man diesen die Möglichkeit, sich positiv darzustellen und das Problem auf Randgruppen zu diskriminieren. Die „Umformulierung gesellschaftlicher Anforderungen in pädagogische Ziele“ (Radtke 1995: 118) und Verdinglichung zum „Unterrichtsstoff“ verkenne Interkulturalität als gesellschaftspolitische Querschnittsaufgabe: „Die Pädagogisierung eines gesellschaftlichen Problems setzt regelmäßig dann ein, wenn für politisches Handeln kein Ansatz gefunden oder kein Konsens zu erreichen ist.“ (Radtke 1995: 856)
71 Todorov rekonstruiert das „Paradox des todbringenden Verstehens“ am Beispiel der Konquistadoren in Mexiko und zeigt die „erschreckende Verkettung, die vom Verstehen zum Nehmen, vom Nehmen zum Zerstören führt“ (Todorov 1985: 155).
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Kritisiert wird die ‚resignative Wendung des pädagogisch halbierten AntiRassismus aufs Subjekt‘ (Radtke 1995: 856f.), welche die institutionellen Formen von interkultureller Inkompetenz, Ausgrenzung und Rassismus und deren Wurzel übersehe. Im Falle des interkulturellen Lernens sind die objektiven Bedingungen in der Organisation oft hartnäckiger als vorurteilshafte Einstellungen. Organisierte interkulturelle Pädagogik verkomme zum „Korrekturprogramm“. Aus den von den KritikerInnen genannten Dilemmata kann man sich meines Erachtens nur um den Preis der Resignation befreien oder muss sie in Kauf nehmen: Ad 1: Maßnahmen für Fremdverstehen und gegen Diskriminierung müssen die Gruppen benennen, um die es geht. Wer sich von Vorgängen des Verstehens und der Verständigung abwendet, handelt sich schnell den Vorwurf der Ignoranz ein. Ad 2: Um das Verhältnis von herrschenden Strukturen und handelnden Individuen zu thematisieren, müssen die Akteure – und zwar alle – gleichermaßen als „Opfer“ und als potentielle Subjekte ihrer Entwicklung gesehen werden. Ad 3: Auch wenn interkulturelle Kompetenz nicht allein eine individuelle Frage ist und rassistische Verhältnisse nicht über Einstellungsveränderungen überwunden werden können, so sind doch letztlich die Individuen diejenigen, die handeln oder etwas verändern können.72 Erwachsenenbildung, die nicht aller antirassistischen Pädagogik entsagen will, muss mit diesen Dilemmata umgehen.
Zur Verknüpfung von interkulturellem und antirassistischem Lernen Mit der Frage, ob interkulturelles und antirassistisches Lernen kritikwürdig ist und vermieden werden sollte oder hilfreich ist, geht auch die Frage einher, ob die beiden Ansätze vereinbar sind.73 Unter Berücksichtigung der kritischen Aspekte, 72 Mit einem von Margret Mead überlieferten Zitat gesprochen: „Never doubt that a small group of committed people can change the world. Indeed, it’s the only thing that ever has.“ 73 Die Ansätze interkulturellen Lernens erschöpfen sich natürlich nicht in den beiden dargestellten Varianten. Unter dem Label interkulturelles Lernen sind noch weitere Formen der interkulturellen Bildungsarbeit zu fassen. So wird auch die entwicklungspolitische Bildung mit dem interkulturellen Lernen verknüpft, weil es in ihrer Tradition ebenfalls um Irritationen, die Konfrontation mit anderen Denkweisen, Wahrnehmungsdifferenzierung, historische und kulturelle Reflexionen, Beziehungsgestaltung und das Aushalten von Ambivalenzen geht und für die Erfassung globaler Entwicklungsprozesse Multiperspektivität Bedingung ist (vgl. Schmidt 1987, Führing 1997, Ott 2000). Oder es werden mit dem Stichwort „globales Lernen“ Kompetenzen für ein Bewusstsein
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gibt es auch Vorschläge, statt die pädagogischen Bemühungen ganz zu unterlassen, die verschiedenen Handlungsansätze des interkulturellen und antirassistischen Lernens zu verbinden (vgl. z. B. Leiprecht 2003: 26, Attia 1997, Lange/Weber-Becker 1997, Wlecklik 2000). Denn beide pädagogischen Stoßrichtungen seien einzeln jeweils auf einem Auge „blind“: In bewußtem Gegensatz zum interkulturellen Lernen, das den gesellschaftlichpolitischen Aspekt des rassistischen Verhaltens ausblendet bzw. stark vernachlässigt, wird bei dezidiert antirassistischen Ansätzen der kulturelle Aspekt weitgehend ausgeblendet. (Lange/Weber-Becker 1997: 190)
Attia spricht sogar von der Notwendigkeit eines „antikulturrassistischen“ Programms (1997: 283f), um die Blindheit aufzuheben, da beide Ansätze dazu neigten, die Perspektive diskriminierter Minderheiten auszublenden. Der Kulturund der Machtaspekt dürften nicht unvermittelt nebeneinander stehen, sondern sollten verschränkt werden. Anderenfalls laufe das interkulturelle Lernen Gefahr, Diskriminierungen in der Pluralität der Lebenswelten zu akzeptieren und der Antirassismus negiere in seiner kulturellen Enthaltsamkeit die eigene Ansicht der MigrantInnen. Wenn man die Ansicht teilt, dass beide Vorgehensweisen wichtig und richtig sind, stellt sich die Frage, wie sie vereint werden könnten. Zwei Herangehensweisen seien beispielhaft genannt. Um ein kulturalistisches Verständnis von interkultureller Kompetenz zu überwinden, schlägt Auernheimer (2005) ein besonderes Kompetenzmodell vor. Er hat die These, dass außer den Erwartungsbrüchen durch unterschiedliche kulturelle Interpretationsrahmen auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen als Bedeutungshorizonte in der interkulturellen Begegnung präsent sind. Wenn man dem folgend die Betrachtung differenter Kulturmuster um die Dimensionen Machtasymmetrien, Kollektiverfahrungen, Fremdbilder und ethnische Grenzziehungen anreichere, sei es möglich, aus dem Machtgefälle und Teufelskreis von Negativerwartungen und -zuschreibungen auszutreten. Das erfrischende an Auernheimers Vorschlag ist seine unideologische Pragmatik, das spannende sein von der Makro- bis zur Mikroebene konsequent durchdachter, bis auf die konkrete Kommunikationssituation heruntergebrochener Ansatz. Weil er die auf der Basis unterschiedlicher Kollektiverfahrungen differierenden kulturellen Orientierungen in einem Gespräch ebenso wenig Preis gibt wie den darin eingegangenen Machtaspekt, kann er pädagogisch vermittelbare Lösungsvorschläge machen. Beispielsweise
internationaler Vernetzung und Dependenz verbunden (Stadler 1994). Für die hier behandelte grundsätzliche Frage genügt jedoch die Darstellung der beiden Ansätze.
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schlägt er vor, dass über Co-Membership von Seiten der Priviligierten Brücken gebaut werden können. Auch der unter dem Stichwort „eine Welt der Vielfalt“ aus den USA stammende und international erprobte ‚Diversity‘ - Ansatz ist Kandidat für ein integriertes Konzept. „Diversity takes many forms. It is usually thought of in terms of obvious attributes – age differences, race, gender, physical ability, sexual orientation, religion and language. Diversity in terms of background professional experience, skills and specialization, values and culture, as well as social class, is a prevailing pattern. (...) Diversity management should thus be viewed as an inclusive concept, encompassing a broader focus than employment equity would suggest. It requires one to look at the mindset and the culture of an organization and the different perspectives people bring to an organization on account of their ethnicity, social background, professional values, styles, disabilities or other differences.“ (UN zitiert nach Clements/Jones 2002: 13)
Diversity als Weiterbildungs- und Veränderungskonzept (z. B. in Form von Change Management) verbindet Akzeptanz und Umgang mit verschiedenen Formen der Gruppenzugehörigkeit (Gender, Race, Age) und damit intra- und interkulturelle Perspektiven. Ähnlich wie bei interkulturellen Trainings sieht Diversity Management im Kontext interkultureller Personalentwicklung eher den Nutzen von Synergieeffekten, Leistungs- und Qualitätssteigerung, von Wettbewerbsvorteilen und dem Gewinn strategischer Marktanpassung. Die Vielfalt einer multikulturellen Belegschaft enthält Potenzial zur Wertschöpfung und antizipiert zukünftige Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Alterspyramide. Die mit dem Diversity Management verbundenen Konzepte gehen weit über Trainings zur Verbesserung von Arbeitsklima und Teamentwicklung hinaus. Interkulturelles Change- und Personalmanagement hat die Perspektive der multikulturellen und multinationalen Organisation als wirtschaftlichen Erfolgsfaktor. Chancengleichheit ist kein Luxusprojekt mehr, sondern wird in einer vielfältigen Welt zum Kostenfaktor. Dem Diversity Ansatz in der politischen Bildung hingegen geht es – wie der antirassistischen Weiterbildung – um Anerkennung verschiedener Wertegemeinschaften und Identitätsressourcen, um Krisenprävention und -intervention, Mediation bei Konflikten, den Abbau von Gewalt, Vorurteilen und fremdenfeindlichen Einstellungen zugunsten des Aufbaus von Urteilsfähigkeit und Zivilcourage, um die Mitglieder verschiedener Gemeinschaften zu Kooperationsoder Bündnispartnern zu machen. Die einen nennen es die Erreichung einer
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Win-Win-Situation, die anderen die Entwicklung von Formen einer aktiven Solidarität. Im Diversity-Ansatz fließen die beiden Auffassungen von Differenz sich wechselseitig ergänzend zusammen.74 Einerseits sollen Zugehörigkeiten und Unterschiede zu Mitgliedern anderer Gruppen (Frauen, Kulturen, Minderheitengruppen) wahrgenommen werden, andererseits soll über die Selbstreflexion der Alltäglichkeit von Ausgrenzungen nicht nur der Abbau von diskriminierenden Urteilen und Verhaltensweisen bewirkt, sondern zugleich Differenzen in ihren positiven Bedeutungen geschätzt und in der Praxis berücksichtigt werden. Dadurch werden Defizitannahmen der beiden anderen Ansätze überwunden: Weder die strategische Bewältigung von Missverständnissen und Konflikten als Folge von Unwissenheit allein, noch die selbstkritische Reflexion einer Leitkultur mit Macht und historisch tradierten Höherwertigkeitsvorstellungen oder der „Umgang mit Problemgruppen“ bzw. Minderheiten stehen im Zentrum. Die zentralen personalen interkulturellen Kompetenzen wie Empathie, Anpassungs-, Kooperations- und Teamfähigkeit oder Verhandlungsbereitschaft gelten nicht mehr als Lösungen per se, sondern werden auf ihre Definition in ihren unterschiedlichen kulturellen Hintergründen hin betrachtet. Insbesondere geht es jedoch um Lösungen und damit um den Aufbau einer Kultur der Gleichberechtigung und Anerkennung in deren Mittelpunkt die Verständigungsarbeit steht.75 Die Leitlinie, Vielfalt zu würdigen und nach Gemeinsamkeiten zu
74 Wilpert bring die Verbindung von interkulturellem Lernen und antirassistischem Lernen im Diversity-Ansatz folgendermaßen auf den Punkt: „Aus meiner Sicht versucht der Ansatz „Eine Welt der Vielfalt“ Menschen als MultiplikatorInnen dafür zu gewinnen, die Vorteile gesellschaftlicher Vielfalt zu erkennen und gleichzeitig die Erfahrung zu vermitteln, dass Vorurteile, Stereotypen und Diskriminierung ein Nachteil für uns alle sind. Methodisch hat das Programm den Vorteil, dass es dort beginnt, wo wir selber sind: bei unserer eigenen Identität und ihrer sozialen und kulturellen Verwurzelung. Diese Vorgehensweise motiviert und baut zugleich eine Grundlage für Empathieentwicklung“ (Wilpert 2001: 66). 75 Der Ursprung des Diversity-Ansatzes liegt in Chicago, als sich vor knapp einhundert Jahren die Menschenrechtsorganisation Anti-Defamation League (ADL) gründete, anlässlich eines ungerechtfertigten Strafprozesses gegen einen Juden, der vor seinem Freispruch gelyncht wurde. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte ließ das Ursprungsziel – die Bekämpfung von Antisemitismus – schnell auf die Bekämpfung aller Formen von Diskriminierung sich ausweiten. In den USA wurden in der Folge zahlreiche Büros als Reaktion auf ethnische und religiöse Spannungen gegründet, z. B. „A World of Difference“, mit inzwischen über dreißig Dependancen. Das Bestreben, gesellschaftlicher Vielfalt zur Akzeptanz zu verhelfen, zog auch legislative Maßnahmen nach sich wie die „Equal Employment Opportunity“-Gesetzgebung oder die sogenannten „Affirmative Action Programs (AAP)“ (Wilpert 2001, Blom/Meier 2002), durch die Angehörige von Minderheitengruppen besseren Zugang zu Arbeitsplätzen ermöglicht werden sollte. Andere Institute mit denselben Zielen folgten, z. B. das „National Coalition Building Institute (NCBI)“. Mit inzwischen fünfzig Büros ist es weltweit vertreten, darunter auch in der Schweiz und in Deutschland. Die Arbeit konzentriert sich auf Training von MultiplikatorInnen, Konfliktprävention und -mediation. Inzwischen haben auch zahl-
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suchen sowie die Kombination der Methoden, überzieht die Bereiche. Folgende Ziele sind in Diversity-Trainings gängig: 1. Sensibilisierung, Reflexion der eigenen Sozialisation und Einstellung, Erkennen der Folgen von Diskriminierung, Erkennen eigener Wertestandpunkte sowie Vorurteile und an ihnen arbeiten, 2. institutionalisierte Diskriminierung und ihre Konsequenzen erkennen, 3. Unterschiede als Bereicherung wahrnehmen, Einfühlungsvermögen entwickeln und schließlich Verantwortung übernehmen durch 4. Veränderung eigener Verhaltensweisen, Einsatz gegen Diskriminierungen im Alltag und organisationale Veränderungen. Der Ansatz findet in vielen Praxisbereichen Resonanz, im interkulturellen Human Resource Management in Profit- und Nonprofitorganisationen ebenso wie in der politischen Bildung, der Lehrerfortbildung, dem Schulunterricht oder an den Hochschulen. In der politischen Arbeit und Bildung ist er zu finden und in staatlichen Institutionen z. B. in der öffentlichen Verwaltung oder der Polizei (vgl. Bertelsmann Stiftung 2002, Amt für multikulturelle Angelegenheitn 2000, Blom/Meier 2002: 237ff., Brown/Mazza 2000, Clements/Jones 2002, Hubbig 2000, Jung/Schäfer/Seibel 1994, Sepehri 2002, Stuber 2004, Wilpert 2001). Dennoch konnte der Ansatz sich in Deutschland noch nicht richtig durchsetzen.76
Zur Unhintergehbarkeit interkulturellen und antirassistischen Lernens Während die einen also Kritik an der Pädagogisierung gesellschaftspolitischer Defizite anprangern, sehen die anderen nur in einer Kombination von pädagogischen Methoden und Projekten einen Ausweg. Dass Kultur als Deutungsressource unhintergehbar geworden ist, davon gehen indes immer mehr WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen aus. Die AutorInnen der aus einem Projekt des DGB Thüringen hervorgegangenen „Bausteine zur nichtrassistischen Bildungsarbeit“ schlagen ausgehend von der Ubiquität von Rassismus gar vor, das Konzept als Prinzip für alle (gewerkschaftlichen) Seminartypen einzuführen (Berg/Bürgin u. a. 1999: 121, Bürgin 2002). Gesonderte Seminare suggerierten, dass es um ein zusätzliches Thema handele, wo es in Wirklichkeit um gesellschaftliche Grundkonflikte gehe. Friedenthal-Haase prognostizierte bereits 1992, dass Interkulturalität gänzlich zum neuen Paradigma der Erwachsenenbildung werden könnte. Inzwischen hat die Praxis die Kritiker
reiche Organisationsberatungen und –beraterInnen das Feld für sich entdeckt und bieten DiversityTrainings und Consultings für Unternehmen an. 76 Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung konstatiert im Titel: „Cultural Diversity Management in Deutschland hinkt hinterher“ (Köppel/Yan/Lüdicke 2007).
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ohnehin längst überholt. Interkulturelle Bildung als Ziel und Querschnittsaufgabe ist längst etabliert (vgl. auch Krüger-Potratz 2005: 15ff.). Hier scheint sich ein Paradigma in der Bildung abzuzeichnen, das sich den Anforderungen der Ambivalenzen der Moderne stellt, in der das Unbestimmbare und Nichterfassbare des „Fremden“ virulent bleibt (Baumann 1992). Differenz ist konfliktträchtig, Kultur und kulturelle Identität ist eine der möglichen Selbstbeschreibungskategorien und zur Zeit eine sehr durchsetzungsfähige. Kultur ist das vermeintlich eindeutige Beobachtungs- und Beschreibungsschema schlechthin meint dazu kritisch Nassehi (2006). Interkulturelle Pädagogik ist eine der Antworten auf das „Dilemma der Differenz“ (Kiesel 1996) und kann zu einem der Orte der Reflexion von Ich- und Wir-Identität werden, anschlussfähig für epochale Schlüsselprobleme. Die für weitere Aushandlungsprozesse geeignete „Fähigkeit zum Kontextwechsel“ (Schäffter 1997) könnte die geeignete interkulturelle Kompetenz für diese Herausforderung sein. Interkulturelle Bildung vermittelt dazu handlungshermeneutische Fähigkeiten und sinnerschließende Sozialkompetenz für grenzüberschreitendes Lernen auf der Basis erhöhter Sensibilität für signifikante Unterschiede. Schäffters systemtheoretisch inspirierte These überwindet auch die Kritik an antirassistischen Bildungsmaßnahmen, indem sie die Dilemmata aufgreift. Interkulturelles Lernen wirkt laut Schäffter notwendig differenzverstärkend: „Interkulturelle Bildung reproduziert, verschärft und dramatisiert soziale Divergenzen als Sinngrenzen, weil sich nur hierdurch grenzüberschreitendes Erfahrungslernen als Kontextwechsel organisieren lässt.“ (Schäffter 1997: 57)
Interkulturelles Lernen wirkt nach Schäffter grenzbildend, um Erfahrungen des Andersseins zugänglich zu machen. Die pädagogische Inszenierung wirkt notwendig grenzbetonend, um Weltdeutungen zur Geltung zu bringen und schließlich bestenfalls grenzüberschreitend, weil nur die Übernahme einer Außenperspektive in den Binnenhorizont den Lernanlass reflexiv einholt. Auch Welsch‘ (1999) Konzept der Transkulturalität lässt eine reflexive Kulturkompetenz unhintergehbar werden: „Cultures today are in general characterized by hybridization. For every culture, all other cultures have tendencially come to be inner-content or satellites. This applies on the levels of population, merchandise and information. Worldwide, in most countries, live members of all other countries of this planet; and more and more, the same articles – as exotic as they may once have been – are becoming available the world over; finally the global networking of communications technology makes all kinds of information identically available from every point in space. Henceforward there is
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no longer anything absolutely foreign. Everything is within reach. Accordingly, there is no longer anything exclusively ‚own‘ either.” (Welsch 1999)
Heutzutage ist es demnach, nicht nur in der Pädagogik, eine unhintergehbare Aufgabe geworden die jeweiligen kulturellen Bezugssysteme hinterfragen zu können und die subjektiven Verständnisse von Kultur, die performativ umgesetzt werden, mit zu reflektieren. Ebenso wenig wie es nach diesem Verständnis klare Grenzen „zwischen“ Kulturen gibt, kann von einer integrierten, homogenen globalen Einheitskultur ausgegangen werden, bei der der Wirkfaktur Kultur obsolet würde. Erforderlich für alle Beteiligten wird daher ein ganz bestimmtes Kompetenzbündel, bei dem die eigenen Vorannahmen überwunden sind und neue Konstrukte (z. B. neue Rituale) und Identitätsanteile generiert, also quasi „erfunden“ werden müssen. Den dazu gehörigen Kompetenzbegriff formulieren u. a. Mohlzahn/Schlehuber: „Kulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, den Wandlungsprozess eines Systems zu gestalten und einen Raum zu schaffen, in dem transformatives Lernen möglich wird. Statt Ursache-Wirkung wahrzunehmen, sieht der kulturell kompetente Mensch überall Informationen und Bedeutung. Er ruht sich nicht auf Bipolaritäten aus, sondern sucht das gemeinsame Dritte, was die Bipolarität erst erzeugt. Kulturelle Kompetenz konzentriert sich weniger auf den Vordergrund als auf den Hintergrund, vor dem der Vordergrund erst einer wird. Während interkulturelle Kompetenz mit den verschiedenen Landkarten der Welt vertraut ist, versucht kulturelle Kompetenz sich mit dem Geist vertraut zu machen, der die Landkarte gezeichnet hat. Kulturelle Kompetenz glaubt daran, dass das Leben uns Herausforderungen serviert, die wir brauchen, um an ihnen zu wachsen, einzeln und gemeinsam.“ (Mohlzahn & Schlehuber 2007: 391)
Diese Kompetenzen zur Reflexion und Verhandlung unterschiedlicher Handlungsrationalitäten, Identitätsressourcen, Deutungshorizonte, Sinngrenzen und Interessenslagen aber werden beim interkulturellen ebenso wie beim antirassistischen Lernen entwickelt – ohne dass man genau wüsste, wie. Gerade die Kommunikation in den Veranstaltungen und die Moderation der Übungen ist eine große Herausforderung (vgl. Kalpaka 2003: 67). Und je stärker interkulturelle Didaktik als Paradigma auf immer mehr Handlungsfelder bezogen wird, desto deutlicher muss sein, worin ihre eigentliche Besonderheit besteht und wie „interkulturelles Lernen möglich ist“. Der analytische Teil der Arbeit wird dieser Frage nachgehen.
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3 Interkulturelles Lernen im Gespräch: Forschungs(gegen)stand, Methode und Datenbasis „Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren.“ Oscar Wilde
Bei der Suche nach Forschungsergebnissen zu den Kommunikationsstrukturen in interkulturellen Bildungsmaßnahmen stößt man auf mehrere Probleme. 1. Eine anschlussfähige gesprächsanalytische Trainingsforschung gibt es noch nicht, und zum Thema interkulturelles Lernen sind bisher nur einzelne Qualifikationsarbeiten erschienen. 2. Zwar liegen aus der erwachsenenpädagogischen LehrLern-Forschung einige empirische Ergebnisse aus unterschiedlichen Bildungsmaßnahmen vor, doch sie beziehen sich nicht auf interkulturelles Lernen, und 3. sind letztere im Anschluss an den Deutungsmusteransatz entstanden; dieser wurde jedoch inzwischen in die konstruktivistische Erwachsenenbildung integriert, welche Erwachsenenpädagogik per se als interkulturelles Lernen begreift (Arnold/Siebert 1997).77 Damit wäre der hier fokussierte Untersuchungsgegenstand als solcher obsolet, da jede erwachsenenpädagogische Maßnahme als interkulturelles Lernen definiert wird. Im Folgenden werde ich kurz den Forschungsstand anreißen und mich mit der These von Arnold und Siebert auseinandersetzen, um dann in Abgrenzung zum Ansatz der konstruktivistischen Erwachsenenpädagogik den Forschungsgegenstand ethnomethodologisch zu begründen. Ein kurzer Abriss über die Prinzipien der konversationsanalytischen Methode, mit der die in dieser Arbeit vorgestellten empirischen Analysen durchgeführt wurden, leitet über zur Beschreibung der Datenbasis, ihrer Aufbereitung und Ergebnisdarstellung.
77 Das Buch „konstruktivistische Erwachsenenbildung“ von Arnold und Siebert beginnt mit der These, „daß Erwachsenenbildung per se interkulturelle Bildung ist“ (1997: 1).
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3.1 Forschungsstand Die interkulturelle Trainingsforschung ist ca. 25 Jahre alt und von einer Systematisierung noch weit entfernt (Littrell/Salas 2005).78 Auch der Tenor, dass „erheblicher Forschungsbedarf“ bestehe, hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht verändert (aktuell dazu auch Ehnert 2007: 447).79 Bei den bereits vorliegenden Untersuchungen handelt es sich zumeist um Korrelationsstudien aus dem Bereich der Evaluationsforschung, da es von vielen Seiten ein Interesse gibt, die Wirksamkeit der Bildungsmaßnahmen nachzuweisen. Der für die Fragestellung dieser Arbeit unmittelbar relevante Forschungsstand lautet daher zusammengefasst: Es existiert keine gesprächsorientierte interkulturelle Trainingsforschung. Um anschlussfähige Untersuchungen zu finden, muss man über den disziplinarischen Tellerrand schauen. Doch auch jenseits der Soziologie beschäftigen sich bislang nur wenige Studien gezielt mit dem Lehren und Lernen in interkulturellen und antirassistischen Bildungskontexten, und kaum eine mit der Kommunikation. Zu den wenigen Referenzstudien, die man heranziehen kann, gehört Stefan Kammhubers bei Alexander Thomas am Lehrstuhl für Psychologie erstellte Dissertation „Interkulturelles Lernen und Lehren“ (Kammhuber 2000).80 Die nach meinem Kenntnisstand einzige soziologische Arbeit zu diesem Thema ist Anja Weiß’ Dissertation „Rassismus wider Willen“ (2001), die bei Klaus Eder und Birgit Rommelspacher eingereicht worden ist und neben einem eigenen theoretischen Ansatz bemerkenswerterweise interaktionsorientierte Sequenzanalysen enthält.81 Inwieweit Kultur die Lehr-Lernsituation in interkulturellen Trainings beeinflusst, hat Astrid Kainzbauer (2002) in den Wirtschaftswissenschaften untersucht. Ein theoretisch und empirisch fundiertes didaktisches Modell für die Trainingspraxis legt Nadja Bleil (2005) mit ihrer 78 Littrell/Salas (2005) stellen in ihrer Synopse Richtlinien und Empfehlungen auf der Basis der englischsprachigen Forschungsergebnisse und Evaluationsstudien zusammen. 79 Schon vor zehn Jahren beklagte Kinast in ihrer bei Alexander Thomas entstandenen Dissertation zur Evaluation von Culture Assimilator Trainings das Fehlen von Forschungsergebnissen in Deutschland (Kinast 1998: 45ff.). Sie konstatiert, dass die wenigen vorhandenen Ergebnisse aus den USA und Canada stammen und überwiegend in quantitativen Fragebögen erhobene Selbsteinschätzungen zum kognitiven Lernerfolg unmittelbar nach den Trainings erfassen. Kinasts eigene Studie untersucht daher die langfristigen Wirkungen auf psychische Prozesse und Handlungen in fremdkulturellen Handlungssituationen. Ehnert hat in ihrer Arbeit die Forschungsergebnisse von knapp dreißig verschiedenen Evaluationsstudien aus dem Zeitraum von 1988 bis 2003 untersucht, um die Wirksamkeit verschiedener Methoden auf die Lernziele Wissenserweiterung, Einstellungsänderung und Verhaltensmodifikation zu bestimmen (Ehnert 2004). 80 Die Jahreszahlen beziehen sich jeweils auf die publizierten Arbeiten der AutorInnen. 81 Susanne Horstmanns am Fachbereich Germanistik eingereichte Dissertation über eine diskursanalytische Untersuchung zur interaktiven Beziehungskonstitution von Fremdem und Eigenem habe ich nicht berücksichtigt, da sie Unterrichtsgespräche von Bielefelder Grundschulklassen und keine Gespräche Erwachsener untersucht.
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Dissertation „Interkulturelle Kompetenz in der Erwachsenenbildung“ in den Interkulturellen Erziehungswissenschaften vor.82 Das Ergebnis der Sichtung der vorliegenden Studien ist ernüchternd. Kammhubers psychologische Arbeit zu Interkulturellem Lehren und Lernen hat zwar mit der von ihm entwickelten Methode der Interkulturellen Anchored Inquiry ein situiertes und kommunikationsorientiertes Lernverständnis, untersucht jedoch nicht die Kommunikation im Bildungsprozess. Weiß untersucht in ihrer soziologischen Studie zum „Rassismus wider Willen“ zwar natürliche Gespräche, kann aber aufgrund ihrer theoretischen Vorannahmen nicht nach der pädagogischen Auflösungskompetenz von Rassismus fragen. Kainzbauer befasst sich in ihrer Forschungsarbeit zwar mit Kultur im interkulturellen Training, bezieht sich aber nicht auf Kommunikation und setzt Kulturunterschiede voraus. Bleil legt basierend auf der Methode einer theoretischen Exploration ein empirisch fundiertes Modell für die Interkulturelle Kompetenz in der Erwachsenenbildung vor, kann daraus jedoch nur normative Anforderungen an das Gespräch beim Interkulturellen Lernen ableiten.83 Man kann daher von einem Forschungsdesiderat hinsichtlich Gesprächsanalysen des interkulturellen Lernens sprechen. Das Thema „Kommunikation beim Interkulturellen Lernen“ ist bisher in allen relevanten Disziplinen nicht näher betrachtet worden. Aus diesem Grund, und auch wegen der ohnehin mageren Trainingsforschung, lohnt ein Blick in die allgemeine LehrLernforschung zum Thema pädagogische Kommunikation, auch wenn diese sich nicht auf das Interkulturelle Lernen bezieht. Diesbezüglich ist die Untersuchungslage etwas reichhaltiger, es liegen viele Ergebnisse von Seiten der Gesprächsforschung zur Kommunikation in Lehr-Lernprozessen vor.84 Der 82 Darüber hinaus sind selbstverständlich noch weitere Qualifikationsarbeiten zum interkulturellen Training entstanden, die hier nicht berücksichtigt werden können. Beispielhaft seien genannt: B. Mitra Mokatefs Abschlussarbeit „Kulturvermittlung? Interkulturelle Trainings aus kulturanthropologischer Perspektive“ (2000), die bei Gisela Welz und Ina-Maria Greverus am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt eingereicht wurde; Karin Thiers Magisterarbeit „Interkulturelle Kommunikation als Gegenstand der Weiterbildung“ (1997) untersuchte Lufthansa-Trainings und entstand in der Erziehungswissenschaft bei der Erwachsenenpädagogin Christiane Schiersmann in Heidelberg. Beide Arbeiten haben einen empirischen Teil. Mokatef führte leitfadengestützte Interviews mit Trainern durch, Thiers evaluierte ein Training im Hinblick auf seinen Nutzen für die berufliche Praxis und befragte die Teilnehmenden mit einem Fragebogen nach ihren Einschätzungen hierzu. 83 Die in unterschiedlicher Tiefe und Ausführlichkeit kommentierten Zusammenfassungen der genannten Arbeiten finden sich in Nazarkiewicz 2009. 84 Beispielhaft zu nennen wären hier z. B. die Habilitationen von Gisela Brünner (1987), die gesprächsanalytische Untersuchungen zur „Kommunikation in institutionellen Lehr-Lernprozessen mit Bezug auf Instruktionen in der Betrieblichen Ausbildung“ durchgeführt hat, Götz Krummheuer (1992), der das „Lernen mit ‚Format‘“ untersucht hat und „Elemente einer interaktionistischen Lerntheorie“ am Beispiel des Mathematikunterrichts diskutiert, oder Carmen Spiegels Habilitation
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Schwerpunkt allerdings liegt – mit Ausnahmen wie z. B. die Fortbildung von Medizinern hinsichtlich der Entwicklung von Gesprächskompetenzen – nicht auf der Erwachsenenbildung, sondern auf der schulischen Unterrichtskommunikation. Interessant ist die zunehmende Zusammenführung von Praxis und Forschung. Neben wissenschaftlichen Fragestellungen wird in der „Angewandten Gesprächsforschung“ auch die Vermittlung von Gesprächskompetenzen basierend auf den Forschungsergebnissen reflektiert.85 Vergeblich sucht man in der Gesprächsforschung jedoch nach Analysen zum Interkulturellen Lernen. Die Erwachsenenpädagogik ist hinsichtlich der empirischen LehrLernforschung ebenfalls ergiebiger als die bisherigen Studien zum Interkulturellen Lernen. Neben den gesprächsanalytischen Arbeiten aus der Angewandten Linguistik basiert die Erforschung von „Deutungslernen“, so der andragogische Fachbegriff, auf der Aufzeichnung natürlicher Daten in LehrLernsituationen.86 Damit wird Lernen beobachtbar. Bestehende und kommunizierte Deutungsmuster können in ihrer Veränderung, also der Transformation beim Lernen, untersucht werden. Maßgeblich mit weiterentwickelt hat das Konzept des Deutungslernens Ingeborg Schüßler (2000).87 Nach dem (2003) über „Interaktionsprozesse in der Institution Schule im Deutschunterricht am Beispiel der Argumentationseinübung“. Eine Übersicht der Forschungsansätze und Entwicklungen im Bereich der Analyse von Unterrichtskommunikation geben Becker-Mrotzek/Vogt (2001) bezogen auf die Schule. Auch in den letzten Jahren ist die Erforschung der Unterrichtskommunikation kontinuierlich weitergegangen. Vgl. dazu Spiegel (2006) oder Schmitt auf der Basis von Videoanalysen (2009). Zunehmend wird das Thema Multikulturalität im Unterricht aufgegriffen (exemplarisch dazu Horstmanns Dissertation 2002). Auf die Debatte der schulischen Interaktionsforschung – in der es häufig um die asymmetrischen Partizipationschancen der SchülerInnen geht – kann hier nicht näher eingegangen werden. 85 Vgl. dazu Becker-Mrotzek/Brünner u. a.: „Analyse und Vermittlung von Gesprächskompetenz“ (2004) oder aktuell Meer/Spiegel: „Kommunikationstrainings im Beruf“ (2009). 86 Als eine der Leitstudien kann Sigrid Noldas Habilitation „Interaktion und Wissen“ (1996) angesehen werden. Noldas Fragestellung resultiert aus ihrem zeitdiagnostischen Befund über die Veralltäglichung von Bildung und Wissen. Sie sucht nach Lösungen dafür, wie die Beteiligten einen befriedigenden Umgang mit einem Wissen herstellen, „das weder vollständig beherrschbar ist noch soziale Macht oder gar endgültige Aufschlüsse verspricht“ (ebd.: 174). Interessant für die vorliegende Arbeit ist die Studie, weil Nolda in der Tradition des symbolischen Interaktionismus steht und an die Tradition der mikrodidaktischen Lehr-Lernforschung der 70er Jahre anknüpft. Sie hat über 20 Volkshochschulveranstaltungen auf der Basis von Transkriptionen sequenzanalytisch untersucht und beschreibt daraufhin das Verhältnis von Sprache, Interaktion, Wissen und Wissensvermittlung. Die Untersuchung der Interaktion zeigt die Strategien der Kursleiterinnen und Beteiligten. Im Fokus steht bei Nolda allerdings das Thema Umgang mit „Wissen“, was sie von „Lernen“ unterscheidet. Entsprechend zeigt sie, wie die Beteiligten ihre Wissensbestände – hier schließt sie an Soeffner (1989) an – „inszenieren“ (ebd.: 360ff.). 87 Schüßlers Leitfrage ist, wie die artikulierten Sichtweisen und Wissensstrukturen der Lehrenden und Lernenden das Kursgeschehen konstituieren bzw. wie die Deutungsabhängigkeit das Lehr-LernGeschehen beeinflusst (2000: 192). Die Datenbasis besteht unter anderem aus den Transkriptionen eines VHS-Seminars „Ausbildung zur Tagesmutter“ sowie Ausschnitten einer Veranstaltung „Ziel-
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Deutungsmusteransatz geschieht „Lehren und Lernen [stets] im Modus der Auslegung“, so der Titel einer interessanten Forschungsdokumentation (Arnold/Kade/Nolda/Schüßler 1998). Ziel ist, die Konstruktion des LehrLerngeschehens und des Lerngegenstands in der interaktiven Gestaltung der Kommunikationssituationen zu beschreiben und die empirischen Auswertungen konkret für die Praxis und die Professionalisierungsdiskussion zu nutzen. Die Beiträge greifen auf eine gemeinsame Datenbasis (Protokollausschnitte eines Seminars) zurück, das Transkript wird in einer „Forschungsinterpretationswerkstatt“ aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. Die Ergebnisse demonstrieren die aufgrund notwendiger situativer Entscheidungen entstehenden Schwierigkeiten des didaktischen Handelns. Es wird angeregt, die Erwachsenenpädagogik durch Interpretationswerkstätten für Dozentinnen zu professionalisieren. Dort sollen auf der Basis von Transkripten Einblicke in die Strukturphänomene pädagogischer Realität gewonnen und es soll hermeneutische Kompetenz erworben werden (vgl. Schüßler 2000: 394f.). Der deutungsorientierte andragogische Ansatz ist also anschlussfähig, birgt allerdings eine Schwierigkeit. Dass die Analyse der Kommunikation beim interkulturellen Lernen noch nicht mit diesem Ansatz untersucht worden ist, dürfte kein Zufall sein. Eine zentrale Referenztheorie für die ForscherInnen ist seit einigen Jahren die „konstruktivistische Erwachsenenpädagogik“.88 Diese versteht sich als Weiterentwicklung des symbolischen Interaktionismus und des Sozialkonstruktivismus der 70er und des Deutungsmusteransatzes der 80er Jahre (vgl. Schüßler 2000: 16). Sie bezeichnet jegliches Lernen als interkulturelles Lernen: „Erwachsenenbildung [ist] per se interkulturelle Bildung.“ (Arnold/Siebert 1997: 1). Man kann vor dem Hintergrund dieses Ansatzes die Frage gar nicht stellen, wie interkulturelles Lernen durch Kommunikation in Weiterbildungsveranstaltungen möglich ist, da bereits a priori davon ausgegangen wird, dass immer und stets schon interkulturelles Lernen stattfindet. Zusammengefasst kann man ein Forschungsdesiderat konstatieren: 1. Die Kommunikation beim Interkulturellen Lernen in der Weiterbildung Erwachsener wurde in den einschlägigen Disziplinen bisher nicht untersucht.
gerichtete Gesprächsführung und Zusammenarbeit“ im Rahmen eines großen Unternehmens, und die Daten werden sequenzanalytisch untersucht. In ihren Ergebnissen beschreibt Schüßler die Strategien der PädagogInnen, die mit implizitem und damit latentem und unbewusstem oder explizitem, also beabsichtigtem Deutungslernen verbunden sind. 88 Auch Bleil (vgl. Kapitel 3.1.4) orientiert sich an der konstruktivistischen Erwachsenenbildung (2006: 63).
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2.
3.
Die vorliegenden gesprächsanalytischen und erwachsenenpädagogischen Forschungsarbeiten untersuchen zwar Lernen in der Kommunikation, beziehen sich jedoch nicht auf spezifischen Fall des Interkulturellen Lernens. Und der Ansatz der Interkulturellen Andragogik, der für eine empirische Befragung des Lernens und seine interkulturellen Besonderheiten theoretisch und empirisch anschlussfähig wäre, kann diese Forschungsfrage nicht haben, weil er per definitionem jegliches Deutungslernen als Interkulturelles Lernen bezeichnet.
Zunächst ist also zu fragen, ob mein Forschungsgegenstand überhaupt existiert. Die methodologische Begründung desselben findet sich zusammen mit der Darstellung der methodischen Vorgehensweise in den nächsten Kapiteln.
3.2 Impliziert jede Erwachsenenbildung interkulturelles Lernen? – Zur methodologischen Begründung des Forschungsgegenstands Die konstruktivistische Erwachsenenbildung hat, wie der Forschungsstand zeigt, noch am ehesten eine kommunikationsorientierte Bildungsforschung inspiriert, daher ist sie für die Untersuchung interkulturellen Lernens eine zentrale Referenztheorie. Im Standardwerk von Arnold und Siebert stößt man allerdings schon auf der ersten Seite auf die These, „dass Erwachsenenbildung per se interkulturelle Bildung ist“ (1997: 1, Hervorhebung K.N.). Ein in diesem Sinne zugespitzter Begriff des Fremdverstehens, der der zwischen jeglichen Individuen bereits eine Kulturdifferenz unterstellt, würde die hier gestellte Untersuchungsfrage und den Gegenstand fragwürdig oder gar überflüssig machen. Im Folgenden will ich daher rekonstruieren, welche theoretischen Voraussetzungen der konstruktivistischen Erwachsenenbildung und des Deutungsmusteransatzes diese These stützen, und prüfen, ob sich die Aussage in ihrer Absolutheit halten lässt. Betrachtet man die für die Argumentation maßgeblichen Gedanken der konstruktivistischen Erwachsenenbildung und des Deutungsmusteransatzes, so wird deutlich, dass die zitierte These in zwei theoretischen Grundannahmen begründet ist: 1. die Annahme von der Pluralität der Perspektiven als grundlegendes Merkmal Kernelement eines postmodernen Gesellschaftsbilds, und 2. das Postulat der Autopoiesis individueller Systeme als zentrales Axiom des Konstruktivismus. Bei der theoretischen Rekonstruktion werde ich zu zeigen versuchen, dass der These erstens ein zu aufgelöster Kulturbegriff zugrunde liegt und dass zweitens das Primat der Kommunikation, wie es ursprünglich im Deutungsmusteransatz vorausgesetzt ist, aufgegeben wird. Darüber hinaus wird
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ein Verständnis von Kommunikation formuliert, das die kollektive diskursive Erzeugung kultureller Muster und gemeinsamer Orientierung missachtet. Damit wird meines Erachtens das Spezifikum interkulturellen Lernens verfehlt, nämlich die Relativierung gemeinsamer und kollektiv reproduzierter Kulturstandards, welche das Untersuchungsfeld darstellen.
3.2.1 Grundbegriffe der konstruktivistischen Erwachsenenbildung Im Ansatz der konstruktivistischen Erwachsenenbildung stellen die Autoren die Gretchenfrage der Disziplin: Wie kann ein problemadäquates Verständnis vom Lernen Erwachsener entwickelt werden? Kurz gesagt basiert Lernen für die konstruktivistische Erwachsenenbildung auf der Chance für die Teilnehmenden, bei einer Störung („Perturbation“) ihrer eingespielten lebensweltlich geprägten Deutungen über Deutungsangebote in der Bildungsmaßnahme zu erweiterten und stärker ausdifferenzierten neuen Lösungen (Deutungen, Konstrukten) zu kommen. Dies ist möglich, weil die Deutungsmuster ihre Wirksamkeit in der jeweiligen Lebenswelt („Viabilität“) verloren haben. Didaktik bedeutet dann, innerhalb von Bildungsmaßnahmen gezielt „Störungen“ zu erzeugen. Mit einer theoretischen Neubegründung der Erwachsenenbildung als einer Profession, die im Wesentlichen mit „Konstrukten“ arbeitet, wenden sich die Autoren gegen repräsentationistisches Denken eines naiven Realismus, welcher nahelegt, man habe es mit Abbildern der „Dinge selbst“ zu tun.Stattdessen ist davon auszugehen, dass Menschen über eine kognitive Selbststeuerung zu einer für sie „viablen“ Weltsicht kommen.89 Die Abkehr von der Repräsentationsvorstellung in der konstruktivistische Erwachsenenbildung ist insofern bedeutsam als selbst in der aktuellen interkulturellen Didaktik von z. B. Flechsig (2006) vorherrscht, auf der Schematheorie aufzubauen.90 Der Konstruktivismusgedanke hat Folgen für die Didaktik. Selbst in bester aufklärerischer Absicht geht es für die Erwachsenenpädagogen also nicht mehr darum, den Lernenden ein ‚besseres Verständnis‘ der Welt zu vermitteln. Die an den konstruktivistischen Ansatz anschließende Bleil schlussfolgert im Anschluss an Siebert und Arnold und ihre Forschungsergebnisse:
89 „Der Mensch bildet demnach als Beobachter der Welt diese nicht einfach ab, sondern er konstruiert und erschafft das, was er zu erkennen glaubt im Akt der Beobachtung selbst (...)“ (Arnold/Siebert 1997: 9). 90 „Schema-Theorie hebt den Umstand hervor, dass es letztlich die in den Köpfen von Einzelpersonen verfügbaren Formen kulturspezifischer und individueller Wissensrepräsentationen sind, welche die Qualität von Kulturkontakten beeinflussen.“ (Flechsig 2006: 35, Hervorheb. K.N.)
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„Erwachsenenbildnerinnen sind nicht legitimiert, Urteile über richtige oder falsche Bewertung von Erfahrung zu fällen. Ebenso können sie nicht Handlungsnormen stellvertretend für andere festlegen. Dies ist bei der Planung und Zielformulierung von Veranstaltung interkultureller Trainingskonzepte grundlegend (vgl. Siebert 2000, zit. n. Bleil 2006: 357)
Die Wirklichkeiten 2. Ordnung sind also der eigentliche Gegenstand und zugleich das Medium erwachsenenpädagogischen Handelns. Die konstruktivistische Erwachsenenbildung konzentriert sich auf das Deutungslernen: „Erwachsenenbildung stellt sich somit bereits immer schon als Deutungslernen (...), d. h. als die systematische, mehrfachreflexive und auf Selbsttätigkeit verwiesene Auseinandersetzung des Erwachsenen mit eigenen und fremden Deutungen dar. Verfügbare Konstruktionen von Wirklichkeit können in den Veranstaltungen zur Erwachsenenbildung artikuliert, miteinander verglichen, auf ihre ‚Tragfähigkeit‘ angesichts neuer Situationen überprüft und weiterentwickelt werden.“ (Arnold/Siebert 1997: 5)
Lernen vollzieht sich demnach im Deutungsmustervergleich mit anderen Beteiligten und durch die stellvertretenden Deutungen der Erwachsenenpädagogen.91 Diese missachten durch ihre stellvertretenden Deutungen nicht etwa die Mündigkeit der TeilnehmerInnen (vgl. dazu Tietgens 1996: 68f.), sondern erweitern deren Handlungsmöglichkeiten durch eine Pluralisierung der Auslegungen einer Handlungssituation. Die stellvertretenden Deutungen werden metakognitiv (im Bewusstsein aller), relativ (ohne Wahrheitsanspruch) und situativ (kommunikativ an die Biographie der Beteiligten angebunden) vollzogen. Der Begriff des Deutungsmusters hat laut Arnold seinen theoretischen Ursprung im Begriff der sozialen Topik von Negt bzw. Popitz/Bahrdt u. a. (1957) und seinen praktischen Ursprung in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit (Nuissl 1992). Der von Arnold (1985) zu einer pädagogischen Handlungstheorie ausgearbeitete Ansatz gründet in verschiedenen theoretischen Ansätzen und steht in der Tradition des interpretativen Paradigmas. Arnolds vielzitierte Definition der Deutungsmuster lautet: „Als Deutungsmuster werden im folgenden die mehr oder weniger zeitstabilen und in gewisser Weise stereotypen Sichtweisen und Interpretationen von Mitgliedern 91 Die Autoren bezeichnen die Vorstellung, dass sich Wissen vermitteln ließe, als „objektivistische Illusion“ (Arnold/Siebert 1997: 146). Die TeilnehmerInnen eignen sich die angebotenen Deutungen im positiven Sinne eigenwillig, selektiv und nur dann an, wenn sie diese als nützliche neue Orientierungen in einen vorhandenen Erfahrungsschatz integrieren können (Arnold/Siebert 1997: 146ff).
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einer sozialen Gruppe bezeichnet, die diese zu ihren alltäglichen Handlungs- und Interaktionsbereichen lebensgeschichtlich entwickelt haben. Im einzelnen bilden die Deutungsmuster ein Orientierungs- und Rechtfertigungspotential von Alltagswissensbeständen in der Form grundlegender eher latenter Situations-, Beziehungsund Selbstdefinitionen, in denen das Individuum seine Identität präsentiert und seine Handlungsfähigkeit aufrecht erhält.“ (Arnold 1985: 23)
Deutungsmuster, abstrakt beschreibbar als Ensemble miteinander verknüpfter Bedeutungselemente, sind laut Arnold durch eine Reihe spezifischer Charakteristika gekennzeichnet. Sie sind perspektivisch im interaktiven Bezugsrahmen der Lebenswelt des Individuums verankert, plausibel in Form ihrer eingespielten Routinen, latent und daher nur bedingt reflexiv verfügbar, in zum Teil stereotyper Weise komplexitätsreduzierend, aufgrund eines stabilen Beharrungsvermögens kontinuierlich, persistierend (dies gilt insbesondere für frühkindliche Sozialisationserfahrungen) und in der Regel in ihrem inneren Zusammenhang konsistent; als subjektiv-sinnhafte Relevanzstrukturen sind sie durch historische Bezüge gesellschaftlich vermittelt, in ihrer Handlungsorientierung relativ flexibel und in den Grundmustern ihrer Situations-, Beziehungs- und Selbstdefinition systematisch-hierarchisch organisiert.92 Wesentlich zu ihrem Verständnis ist zum einen, dass sie Ausdruck lebensweltlich sozialisierter individueller Biographien sind.93 Zum anderen beruht basiert das Konzept des Deutungsmusters auf einer Anreicherung der sozialpsychologischen Kategorie der Einstellung um eine kognitive Dimension (Arnold 1985: 24). Der Konstruktionsgedanke erkennt die lebensgeschichtliche und kulturelle Pluralität von Wahrnehmungen an und postuliert für alle Beteiligten gleichermaßen ein subjekthaftes und relatives Erkennen der Welt. Die jeweiligen ErwachsenenpädagogInnen müssen ihren eingeschränkten Einfluss mit „pragmatischer Gelassenheit“ hinnehmen.94 Damit rehabilitieren die Autoren die alltagsweltlichen, der persönlichen Biographie und dem individuellen Umfeld geschuldeten Deutungsmuster der Teilnehmenden und wenden sich gegen ein überhebliches Aufklärungsverständnis, das auch ‚emanzipative‘ Ansätze wider eigene Intention haben, wenn sie davon ausgehen, dass die ErwachsenenpädagogInnen gegenüber den Teilnehmenden über eine ‚weiter führende Wissensform‘ verfügen.
92 Eine gute zusammenfassende Erläuterung der Merkmale findet sich in Arnold 1992: 56ff. 93 „Die Begriffe ‚Lebenswelt’, ‚Lebenslauf’, ‚Identität’ und ‚Deutungsmuster’ sind wechselseitig aufeinander bezogen“ (Arnold 1985: 26). 94 Diesem Gedanken liegt das Autonomiepostulat der konstruktivistischen Erwachsenenbildung zugrunde.
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Es ist diese prinzipielle Pluralität und Relativität der Deutungen und ihre Fremdheit zueinander, in der die These von der Erwachsenenbildung als Interkultureller Bildung ihren Grund hat: „Thema unseres konstruktivistischen Blicks auf die Erwachsenenbildung war auch der ‚Umgang mit Fremdsein als Merkmal erwachsenenpädagogischer Deutungsarbeit‘. Dabei ging es uns darum deutlich zu machen, daß jegliche Erwachsenenbildung es mit Fremde, fremden Lebenswelten und fremden Deutungsmustern ‚zu tun‘ hat und daß der Anspruch, diese inhaltlich ‚aufklären‘ zu wollen, einer erkenntnistheoretischen Prüfung kaum stand hält“ (Arnold/Siebert 1997: 165).
Begründet werden sowohl der konstruktivistische Ansatz als auch die Relativität der Deutungsmuster zueinander mit der unhintergehbaren (Werte-)Pluralität postmoderner Gesellschaften. Das Prinzip Interkulturalität wendet sich gegen eine Rationalitätstheorie in der Andragogik, die von einem objektiven Wahrheitsanspruch ausgeht und glaubt, aus einer wertorientierten Vorstellung heraus eine ‚Höherentwicklung‘ von Mensch und Gesellschaft begründen zu können.95 Die Erwachsenenpädagogen werden so von Wissensautoritäten zu Vermittlern vielfältiger Deutungsoptionen. Die Aufgabe eines Begriffs objektiver Wahrheit hat indes Konsequenzen. In dem Maße, in dem in der als ‚Postmoderne‘ aufgefassten Gesellschaft alles ungewisser, unentscheidbarer und unbestimmbarer wird, ist Fremdheit zueinander Resultat und Kennzeichen wachsender Destabilisierung von Zukunftsorientierungen und wird ubiquitär. Die These der Generalisierung von Fremdheit findet man auch in anderen, vornehmlich systemtheoretisch inspirierten Ansätzen (vgl. dazu z. B. Hahn 1994 oder Nassehi 1995).96 Die Radikalisierung des Differenzparadigmas führt in der konstruktivistischen 95 Diese Konzeption von Erwachsenenbildung hat zunächst einmal eine erfreuliche demokratische sowie diskurs- und anerkennungstheoretische Implikation: „An die Stelle von Ethik, Identität und Normativität tritt somit auch im pädagogischen Denken die Differenz, und zwar nicht in einem die Differenz durch Muster der Höherentwicklung und Förderung (Förderung wohin?) aufhebenden Sinne, sondern in einem diese belassenden und produktiv nutzenden Sinne. (...) Bildung ist in einer konstruktivistischen Erwachsenenbildung somit offensichtlich nicht mehr als individuelle Identitätskategorie begründbar (...), sondern entstammt einem kulturellen Kontext, in welchem der einzelne sich in einer Vielfalt von Deutungsangeboten suchend, erprobend und auswählen lernend entwickeln kann. (...) So ließe sich ‚Bildung’ als Fähigkeit und Bereitschaft re-definieren, die Viabilität unserer Konstrukte hinsichtlich ihrer Human-, Sozial- und Umweltverträglichkeit zu überprüfen“ (Arnold/Siebert 1997: 38). 96 Der Gedanke korrespondiert hier implizit mit den kritischen Ansätzen zur interkulturellen Pädagogik, die ein ‚Spezialfach Interkulturelles Lernen’ ablehnen und stattdessen die Pädagogik vor neue Aufgaben gestellt und zur grundsätzlichen Reflexion über ihre gesellschaftliche Rolle veranlasst sehen (vgl. z. B. Hamburger 1990; Radtke 1992; Wenning/Hauff/Hansen 1993; Nieke 1995; Stadler 1994; Auernheimer 1996).
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Erwachsenenbildung zu einem verallgemeinerten Vorurteilsbegriff97 und zur Vorstellung der Unmöglichkeit von Verständigung überhaupt: „So betrachtet, wird die Problematik der interkulturellen Verständigung hier lediglich als Spezialfall bzw. Anwendungsfall einer mehrdimensionalen Kommunikationstheorie behandelt, die in der Lage ist, die Gründe des Zustandekommens von Mißverständnissen bzw. des Nicht- Zustandekommens von Verständigung zu erhellen. Im folgenden werden wir (...) die These stark machen, daß Verständigung generell nicht möglich ist.“ (Arnold/Siebert 1997: 138)
Interkulturelles (Nicht-)Verstehen wird in diesem Ansatz zu einem Unterfall oder Epiphänomen einer Verständigungsproblematik, die in der Variationsbreite biographisch spezifischer Symbolisierung gründet: „Es geht nicht in erster Linie um die interkulturelle Dimension. Interkulturelle Verständigung wird nicht deshalb zum Problem, weil dies der einzige Bereich ist, in dem Verständigung sich als schwierig oder gar unmöglich erweist. Zu fragen ist vielmehr: Ist Verständigung überhaupt möglich, oder sind wir alle gefangen in einer Illusion des Verstehens (...)?“ (Arnold/Siebert 1997: 137f).
Konsequent konstruktivistisch wird dann auch bei der Beschreibung des Lernens derart gegeneinander abgeschlossener individueller Systeme auf biologische Grundbegriffe zurückgriffen. Lernen besteht demnach in einer ‚Ko-Evolution‘.98 In letzter Konsequenz führt die These von der Unmöglichkeit der Verständigung, der individuellen Fremdheit und Nicht-Kommunizierbarkeit der Deutungen dazu, dass sich der Kulturbegriff auflöst: Worin sollte Kultur dann noch bestehen? Zwar sprechen die Autoren von „kulturellen Kontexten“ mit einer Vielfalt an Deutungsangeboten (Arnold/Siebert 1997: 38), doch sie brauchen den Begriff der Kultur weder für den Vorrang des Milieus (vormals der Lebenswelt, die nun in ökologischen Begriffen gefasst wird)99 noch für das Differenzparadigma, das den Fokus ohnehin auf die Einzelnen verschiebt. Die These von der Unmöglichkeit sich zu verstehen hatte auch in der Debatte um die Geschlechterdifferenz einmal Konjunktur. Populär geworden ist 97 Der sozialpsychologisch auf Gruppenstereotype beschränkte Begriff wird verallgemeinert („Nun tritt das Phänomen der Perspektivität und Relativität von Deutungsmustern keineswegs nur im Kontakt mit Angehörigen anderer Kulturen als Kommunikationsproblem auf“, Arnold 1985: 30) und erinnert an Gadamers Begriff des Vorurteils als Vorstruktur des Verstehens (1986: 270ff): „Konstruktivistisch gesehen ist jede Deutung ein Vor-Urteil“ (Arnold/Siebert 1997: 129). 98 Auf die anderen Folgen dieses Verständnisses sei hier nur exemplarisch verwiesen. Zielgruppen z. B. werden zu Sozialsystemen mit gleichen Wirklichkeitskonstruktionen bzw. „synreferentiellen Problemsystemen“ (Arnold/Siebert 1997: 159). 99 Selbst wenn hierunter eine Subkultur verstanden würde, von was sollte diese Subkultur eine Unterkategorie sein?
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sie vor allem durch den Bestseller Deborah Tannens (1990): „Du kannst mich einfach nicht verstehen“. Argumentiert wird, dass Männer und Frauen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Kommunikationsstile nicht verstehen könnten, quasi in verschiedenen Kulturen lebten. Dort wie hier wird dabei unterschlagen, dass Deutungsmuster, Wissensbestände und Kontextualisierungskonventionen nicht in individuell getrennten Welten entstehen, sondern kommunikationsgebunden sind; als Bestandteil und Voraussetzung der interaktiven Strategien der Symbolvermittlung werden sie im Rahmen der Entwicklung und sozialisatorischen Weitergabe kulturell erworben.100
3.2.2 Die Kommunikationsbedingtheit von Deutungsmustern Wie entstehen Deutungsmuster? Im Laufe der Sozialisation erwirbt und erprobt der Mensch nach Arnold (1985) Deutungsmuster, die sich in seiner konkreten Lebenswelt als Fundus alltäglichen Routinewissens bewährt haben. Dieses subjektive Sinnrepertoire ist in seiner biographischen Kontinuität als ‚Lebensgewissheit‘ ein Stabilität garantierender Teil der Identität der jeweiligen Person. Bei den theoretischen Bezügen weist Arnold (1985: 74ff) ausdrücklich und mehrfach darauf hin, dass Deutungsmuster nicht bewusstseinstheoretisch reduziert werden dürfen, und er betont, dass „Bedeutungen kommunikativ entstehen bzw. ausgehandelt werden“ (ebd.: 77).101 Die soziale Interaktion ist der Herausbildung einer subjektiven Bedeutungsstruktur also vorausgesetzt. Modifizierbar werden Deutungsmuster dadurch, dass sie in einer gegebenen Situation zu deren Interpretation verwendet werden und als Handlungsorientierung sowie Rechtfertigung der Handlung fungieren. Demzufolge stehen sie in den alltäglichen Interaktionen quasi immer wieder aufs Neue auf dem Prüfstand. Denn erst die Erfahrung, also Erfolg oder Misserfolg, bestätigt Interpretation und Handlung oder stellt die zugrunde gelegten Deutungsmuster in Frage. In den fragwürdig gewordenen Deutungsmustern sieht Arnold die Chance der Erwachsenenbildung (1985: 72). Mit anderen Worten: Es ist in erster Linie die Kommunikation, in der Deutungsmuster realisiert werden. Viele Zitate aus der konstruktivistischen 100 Vgl. dazu kritisch Susanne Günthner (1992), „Sprache und Geschlecht: Ist Kommunikation zwischen Frauen und Männern interkulturelle Kommunikation?“. Mit einer überzeugenden und empirisch belegten Kritik an der These der interkulturellen Fremdheit zwischen den Geschlechtern argumentiert sie, dass die Geschlechter über ein gemeinsames Kommunikationswissen verfügen müssen, um sich zu verstehen, selbst wenn Frauen und Männer – wie zu beobachten ist – bisweilen unterschiedliche Strategien und situationsspezifische Interaktionsziele bevorzugen. 101 Derselbe Argumentationsstrang wiederholt sich in Anknüpfung an die ideologiekritische marxsche Tradition (Arnold 1985: 79).
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Erwachsenenbildung zeigen jedoch dass eine interaktions- und kommunikationstheoretische Begründung der Entwicklung von Deutungsmustern, wie sie noch 1985 bei Arnold deutlich hervorgehoben wurde, mit zunehmender Dominanz des Konstruktivismusgedankens allmählich verschwindet. Es überwiegt eine solipsistische Sichtweise, wenn von der „selbstreferentielle[n] Geschlossenheit von Weltsichten und Weltdeutungen“ (Arnold/Siebert 1997: 19), der „in sich geschlossene[n] Zirkularität und Wirklichkeitskonstruktion“ (ebd.: 11) oder dem „Austausch von Wissensbeständen“ geschrieben wird (ebd.: 14). Durch die Ausblendung der eigenständigen Ebene der Kommunikation dominiert eine an die Kybernetik erinnernde Redeweise, wenn die „Beteiligten inter-agieren, sich anregen und wechselseitig Gedanken und Gefühle auslösen“ (ebd.: 92, Hervorhebung K.N.).102 Entsprechend wird nun auf eine nachrichtentheoretische Konzeption von Kommunikation zurückgegriffen, wie man sie etwa bei Schultz von Thun findet, auf den die Wortwahl der vier Kanäle und vier Ohren implizit verweist.103 Diesem Gedanken folgend, kann es für die konstruktivistische Erwachsenenpädagogik angesichts „der neurophysiologischen Einsicht in die operationale Geschlossenheit des Nervensystems“ (ebd.: 1) keine ‚echte‘ (was immer damit gemeint sein mag) Verständigung geben. Der Wechsel aus einem Paradigma sozialen Sinns in ein biologischsystemisches Paradigma verlässt geht einher mit einer Abwendung von Arnolds ursprünglicher Auffassung, der Entstehungsgrund von Deutungsmustern liege in einem „kommunikationstheoretisch erweiterten epistemologischen Apriori“ (1985: 78). Folgerichtig geht das Medium Kommunikation, mit welchem Deutungsmuster erzeugt und verhandelt werden, in der konstruktivistischen Erwachsenenbildung auch didaktisch verloren. Es wird eine „Animationsdidaktik“ (ebd.: 91) empfohlen, bei der die TeilnehmerInnen angeregt werden, sich aus den Deutungsangeboten der ErwachsenenbildnerInnen die für sie bedeutungsvolle ‚Information‘ auszuwählen. In dieser Kommunikationstheorie, die von vorgefertigten Gesprächsbeiträgen und von bewusstseinstheoretisch verengten ‚Nachrichten‘ ausgeht, kann ein weiterer (jedoch abgeleiteter) Grund für die 102 Hier ein Beispiel für eines der Zitate, in der die genuin eigene Dimension der Kommunikation sehr vage wird: „Ein Satz löst bei mehreren Personen unterschiedliche und oft unvorhersehbare Resonanzen aus, weil Sprache mit lebensgeschichtlich unterschiedlichen Erfahrungen und Assoziationen verknüpft ist“ (Arnold/Siebert 1997: 106). 103 „Wenn Menschen miteinander kommunizieren, senden sie jedoch nicht nur auf vier Kanälen gleichzeitig Botschaften (...) gleichzeitig hört man auch mit ‚vier Ohren’. (...) [So] wird deutlich, daß ein Gelingen von echter Verständigung, in der das vom Sender Gemeinte („Innerung“) mit dem vom Empfänger Aufgenommenen identisch ist, in unserem Alltag eher die Ausnahme als die Regel sein dürfte. Mißverständnisse sind der Regelfall, und sie entstehen dadurch, daß wir einseitig, statt vierseitig, kommunizieren.“ (Ebd.: 138)
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These gesehen werden, dass jede Erwachsenenbildung interkulturelles Lernen sei. So sympathisch der Ansatz von Arnold und Siebert in seiner „konstruktivistischen Epistemologie der Bescheidenheit“ (1997: 8,17) und seiner radikalen TeilnehmerInnenorientierung ist, aus der These der generalisierten Fremdheit von Deutungsmustern folgt ein zu weiter, wenn nicht gar gänzlich aufgelöster Kulturbegriff und ein Verständnis von Kommunikation, das auf die Nachrichtentheorie zurückgreifen muss und der interaktionistischen Herkunft nicht treu bleibt. Wenn Kommunikation und Interaktion jedoch konstitutive Grundlage von Deutungsmustern und deren Realisierungsmedium sind, wenn gemeinsame Lebenslagen bzw. -welten auch zu ähnlichen Deutungsmustern führen, wenn Erfolg und Misserfolg im (kommunikativen) Handeln sowohl auf der subjektiven als auch auf der intersubjektiven Ebene darüber entscheiden, welche Deutungsmuster persistieren, dann sind Deutungsmuster Bedingung und Produkt kommunikativer Aushandlung. Ihre Konstruktion und Bearbeitung ist nur auf der Basis eines gemeinsamen Hintergrundwissens möglich, auf das die Beteiligten zurückgreifen. Wenn also Kommunikation und sozialer Sinn als Medien der Entstehung von Deutungsmustern konsequent ernst genommen werden, kann die Frage nicht lauten ‚ist Verständigung möglich?‘, sondern ‚wie ist Verständigung – im vorliegenden Fall als interkulturelles Lernen – möglich?‘.
3.2.3 Interkulturelles Lernen als ethnomethodologischer Untersuchungsgegenstand Die Frage, wie Verständigung möglich ist, ohne dass man von einem kognitiven Konsens ausgeht, der verbindliche Verhaltensregeln festlegt, bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Ethnomethodologie (Bergmann 1988: 22ff.). Die Ethnomethodologie beantwortet die Frage nach der sozialen Ordnung in Abgrenzung zum strukturfunktionalistischen Ansatz Parsons’ mit dem Konzept der „Vollzugswirklichkeit“. Sinnhafte soziale Ordnung ist demnach kein kognitives Programm, sondern eine soziale Praxis und Resultat alltäglicher interaktiver Interpretationsprozesse (vgl. Bergmann 1994). Es war das Verdienst Harold Garfinkels, gezeigt zu haben dass die soziale Wirklichkeit nicht in den Köpfen verortet werden kann, sondern erst wirklich gemacht werden, d. h. interaktiv und kommunikativ realisiert werden muss. Soziale Tatsachen und damit auch kulturelle Wertesysteme, die uns als vorgegeben erscheinen, werden im kommunikativen Handlungsvollzug der Mitglieder einer Gesellschaft, das heißt in den sogenannten „alltagspraktischen Verfahren“ dieser Gesellschaft
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(re-)produziert.104 Aus Sicht der Ethnomethodologie wird wechselseitiges Verstehen also dadurch möglich, dass wir unsere Welt sinnhaft ordnen und in jenen Verfahren systematisch strukturieren.105 Eben diese alltäglichen kommunikativen Verfahren der Sinnproduktion, das heißt die in sozialen Interaktionen beobachtbaren Regelmäßigkeiten und Muster, bilden den Ansatzpunkt für die Untersuchung der sich darin manifestierenden sozialen Ordnung. Ähnlich der musikalischen Harmonielehre, bei der auf der Basis fester Regeln unendliche Variationen von Musikstücken komponiert werden können, die jeweils bestimmten Formen (Sonate, Symphonie, Fuge) folgen, weisen auch unsere Gespräche eine rekonstruierbare, weil methodisch erzeugte Ordnung auf. Die methodische Geordnetheit durch Regeln und kreative interaktive Vielfalt beim Sprechen schließen sich nicht aus, sie bedingen einander. Ziel des ethnomethodologischen Forschungsansatzes ist es, die sinnhaften Strukturen unserer kommunikativ erzeugten Realität zu rekonstruieren. Realität und Sinn sind diesem Ansatz zufolge nicht etwas ein für allemal Gegebenes, sondern beides wird erst im Vollzug des Handelns immer wieder als für uns sinnvolle Wirklichkeit ‚neu‘ hergestellt, ebenso wie sich die musikalische Form der Fuge erst in einem komponierten Stück ausdrückt. Dem Konzept der Vollzugswirklichkeit folgend lässt sich Kommunikation als „doing culture“ re-definieren. Kultur ermöglicht interindividuelle Verständigung, indem sie ein Reservoir an kollektiven, von den Mitgliedern der Kommunikationsgemeinschaft gewussten und praktizierten „Lösungen“ kommunikativer Probleme bereitstellt. So unterschiedlich die Lebenswelten und Deutungsmuster der SprecherInnen auch sein mögen, solange sie auf diesen gemeinsamen „kommunikativen Haushalt“ (Luckmann 1986) zurückgreifen und ihre Rede anderen im Vollzug verständlich und beschreibbar machen (können), kann Kommunikation gelingen. Dabei wird wechselseitiges Sinnverstehen unter anderem über sogenannte „Kontextualisierungskonventionen“ hergestellt (Gumperz 1982). Der vor allem in der interkulturellen Kommunikation prominente Ansatz von Gumperz beschreibt damit unscheinbare (u. a. lexikalische, prosodische oder andere) 104 Daher stammt auch der Begriff der Ethnomethodologie. Er verweist darauf, dass die Mitglieder einer Gesellschaft dies alltäglich (Ethno-) und über verschiedene systematische Verfahren (-methodologie) praktisch „tun“. 105 Basis dafür ist der sprachlich-kognitive Doppelcharakter von Äußerungen. Das heißt, „mitteilen“ und „verstehbar machen“ bzw. erklären, was gemeint ist, sind – gemäß dem ethnomethodologischen Identitätstheorem – identisch. Garfinkel argumentiert, dass man sich versteht, weil die Äußerungen reflexiv und indexikal sind und im Vollzug erklärt werden: „the activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with members’ procedures for making those settings ‚account-able’. The ‚reflexive’, or ‚incarnate’ character of accounting practices and accounts makes up the crux of that recommendation.“ (Garfinkel 1967: 1).
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Mikroverfahren, mittels derer die InteraktionsteilnehmerInnen ihre Sprechhandlungen in einen Kontext stellen. Die „contextualization cues“ sind empirisch erfassbare und kulturell geprägte Zeichen, welche den Kommunikationsbeteiligten Hinweise darauf geben, wie die Äußerung zu interpretieren ist.106 Kontextualisierungshinweise sind habituell, latent und können nur im Kommunikationsprozess selbst erfasst werden. Mit anderen Worten, sie sind keine in ihrer Bedeutung festgelegten Zeichen, die auf vorgeprägte Deutungen verweisen, sondern ihre Bedeutung wird im Rahmen des „doing culture“ erst interaktiv erzeugt.107 Um die Kommunikationsintentionen der GesprächspartnerInnen überhaupt interpretieren zu können, muss auf gemeinsame Kontextualisierungskonventionen zurückgegriffen werden. Gumperz beschreibt treffend, wie der typisch sinkende Tonfall von Sprechern mit asiatischpakistanischem Englisch von Europäern als grob und unhöflich wahrgenommen wird, da keine geteilte Interpretationsressource verfügbar ist. Die hier aus dem Fehlen gemeinsamer Kontextualisierungskonventionen resultierende ‚Unmöglichkeit’ sich ‚richtig’ zu verstehen ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, und verweist im Umkehrschluss darauf, dass diese Konventionen im Gespräch zwischen Mitgliedern derselben Sprachgemeinschaft maßgeblich zum Verstehen beitragen. Da wir in einer geteilten Kommunikationskultur gemeinsame Kontextualisierungshinweise verwenden, verweisen wir uns in der Kommunikation auf denselben sprachkulturellen Referenzhorizont. ‚Doing culture’ bezeichnet also letztlich die Deutungsmusterkommunikation als Voraussetzung wechselseitigen Verstehens. Die Fokussierung auf Kommunikation als soziale Praxis auf der Basis gemeinsamer normativer Erwartungen, und geteilter Hintergrundannahmen bedeutet nun keinesfalls, dass damit individuelle Deutungsmuster vollständig obsolet würden. Ich möchte hier nur ihre Schnittstelle zur und Bedingtheit durch die Verständigungsbasis ‚Kommunikation’ hervorheben, womit die These, dass alles Erwachsenenlernen interkulturelles Lernen sei, haltlos und interkulturelles Lernen als gemeinsames Deutungslernen im Gespräch (und nur dort) untersuchbar wird.
106 Gumperz definiert sie so: „[A] channeling of interpretation is effected by conversational implicatures based on conventionalizied co-occurence expectations between content and surface style. That is, constellations of surface features of message form are the means by which speakers signal and listeners interpret what the activitiy is, how semantic content is to be understood and how each sentence relates to what precedes or follows.“ (Gumperz 1982: 131). Kontextualisierungshinweise können syntaktisch, prosodisch oder paraverbal gegeben werden. 107 Außer Garfinkel zeigt auch Clifford Geertz überzeugend, wie das semiotische „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“ erst im Akt der situativen Ausführung hergestellt wird (theoretisch dazu Geertz 1987: 9ff. und am Fallbeispiel des balinesischen Hahnenkampfes, ebd.: 202ff.).
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Ein zweiter Beleg für die unhintergehbare Rolle der Kommunikation als Vermittler der Kulturabhängigkeit von Deutungsmustern ist ihre adressatensensitive Ausformung. Da Deutungsmuster notwendig kommunikativ vermittelt werden, wird ihre Äußerungsrealisierung dem Kontext angepasst. Sie werden interaktiv hervorgebracht. Ihre Form passt sich jeweils an situations- und beteiligtenspezifische Relevanzen an. Mit anderen Worten: Ob, wann und wie bestimmte Deutungsmuster kommunikativ realisiert werden und was sie dann ‚bedeuten’, ist eine Frage der Interaktions- und Kommunikationsstruktur. Es ist für die Bedeutung von Gesprächsbeiträgen nicht gleichgültig, an welcher Stelle einer Sequenz was gesagt wird. Goodwin hat anhand einer kurzen Videosequenz prägnant gezeigt, wie sich eine Äußerung sogar innerhalb eines einzigen Satzes im Zuschnitt verändert, ja die Geschichte geradezu neu konstruiert wird, wenn sich die Beteiligtenstruktur ändert (Goodwin 1979). Der Begriff des Äußerungszuschnitts beschreibt die dieser Beobachtung zugrunde liegende Praxis, bei der die Intentionen der Sprechenden mit dem antizipierten Vorwissen der anderen Beteiligten gekoppelt („vermittelt“) werden. Der Äußerungszuschnitt, in dem sich Deutungsmuster realisieren, ist eine der Lösungsformen, um Verstehensproblemen vorzubeugen und rasche Verständigung zu ermöglichen. Auch Arnold geht in seinen empirischen Analysen sequenzanalytisch vor (1998b: 135), der Fokus liegt jedoch immer auf den individuellen Deutungsangeboten, nicht auf kulturell geprägten Mustern ihrer kommunikativen Verkettung. Man kann die soziale Geordnetheit dieser Verkettung im Gespräch am Beispiel von Zuhörersignalen („hm hm“ oder „ja“) zeigen, die keineswegs zufällig oder individuell produziert werden. Wann wir wem gegenüber wie viele Zuhörersignale geben und welche Form diese Zuhörersignale annehmen, folgt beschreibbaren Regelmäßigkeiten. Im Deutschen wie im Amerikanischen Englisch signalisieren wir beispielsweise bei der Einführung eines neuen Themas als Zuhörer durch Hörersignale an den Äußerungs-‚Rändern’ des Sprecherbeitrags, also z. B. zu Beginn und am Ende des Themas, dass wir das Thema erkannt haben, ihm folgen können und keine weiteren Informationen benötigen. Ein Zustimmungssignal auf eine Mitteilung wie „Ich habe Holger den Bericht gegeben“ bedeutet in der Regel, dass ich weiß, wer Holger ist, und auch darüber im Bilde bin, um welchen Bericht es sich handelt. Bleibt mein Zuhörersignal aus, so kann mein Gegenüber davon ausgehen, dass mir z. B. Informationen fehlen oder ich aus anderen Gründen nicht folgen kann. Fehlt also ein Zuhörersignal an einer erwartbaren Stelle, ist das sowohl für die Sprechenden als auch für die WissenschaftlerInnen ein bemerkenswertes Indiz. Genaueren Aufschluss über die tatsächliche Bedeutung dieses Erwartungsbruchs gibt dann allerdings erst der Gesprächsfortgang. Eine Nachfrage – entweder von Seiten der
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Sprechenden („weißt du, diesen Bericht, wo wir...“) oder von Seiten der Zuhörenden („welchen Bericht meinst du?“) – würde die Hypothese fehlender Informationen stützen. Dass die Bedeutung von Gesprächssignalen in unterschiedlichen Kontexten variieren kann, zeigt sich besonders deutlich im Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen. In Japan z. B. demonstrieren Zuhörersignale, die dort viel zahlreicher sind und nicht nur an den ‚Äußerungsrändern’ produziert werden, Kooperativität und Harmonie. Sie geben dort hingegen keinen Aufschluss darüber, inwieweit die thematische Entwicklung wahrgenommen und verstanden worden ist und ob ihr zugestimmt wird. Diese Praktiken werden von JapanerInnen auch in die Fremdsprache (z. B. Englisch) übernommen.108 Ich fasse zusammen: 1. Die Interagierenden können sich trotz individuell unterschiedlicher Deutungsmuster verstehen, weil sie auf gemeinsame Orientierungen und geteilte Sinnressourcen zurückgreifen müssen, sobald sie kommunizieren. 2. Sie verstehen sich, indem die Interpretation des Gesagten durch kulturspezifische, implizite (Be-)Deutungshinweise orientiert wird, und 3. sie konstruieren und produzieren ihre Deutungsmuster kontextabhängig in der Kommunikation, denn der Zuschnitt der Deutungsmuster transportierenden und (re-)produzierenden Äußerungen und deren interaktiv ausgehandelte Bedeutung sind mindestens genauso abhängig von den RezipientInnen wie von den Sprechenden. Interkulturelles Lernen findet also nicht zwischen ‚geschlossenen Bewusstseinen’, sondern in der Kommunikation statt. Diesen reflexiven Forschungsgegenstand in der kulturellen Selbstreflexion zu untersuchen bedeutet, ein Paradoxon zu erfassen, nämlich die grundsätzlich an eine Kultur und Vollzugswirklichkeit gebundene Verstehens- und Verständigungspraxis in ihrer Infragestellung zu beobachten. Um zu ermessen, welch tiefgreifende Umstrukturierung und Reorganisation in der kollektiv geteilten sozialen Konstruktion der Wirklichkeit Interkulturelles Lernen bedeuten könnte, braucht man sich nur Garfinkels Krisenexperimente vor Augen führen. Garfinkel forderte seine Studierenden auf, als geteilt unterstellte Interpretationsressourcen bewusst zu missachten, z. B. durch penetrantes Nachfragen, was mit der Frage „Wie geht’s?“ genau gemeint sei (das eigene Befinden, die Gesundheit der Ehefrau oder des Hundes) oder indem man sich in einer Kinoschlange unter Missachtung der stillschweigend unterstellten Verhaltensregeln vordrängelt. Auf diese Weise konnte Garfinkel zeigen, zu welchen Irritationen und Aggressionen die Thematisierung oder Störung 108 Vgl. die hierzu äußerst aufschlussreiche Arbeit von Yamada (1992), in der die irritierenden Folgen für die interkulturelle Kommunikation herausgearbeitet werden.
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selbstverständlicher Hintergrundannahmen führt. Was beim interkulturellen Lernen reflektiert wird, sind nicht allein subjektive lebensweltlich sinnvolle Deutungsmuster, sondern ebenso kollektive Voraus-Setzungen sowie interaktiv relevante Orientierungen, die quasi aus der Latenz des Hintergrunds in den Thematisierungsvordergrund geraten. Nicht zuletzt verweisen die Inhalte kulturreflexiver Bildungsveranstaltungen auf die zugrunde liegende Annahme, dass in der interkulturellen Begegnung Kommunikation problematisch wird, was auch in der interkulturellen Kommunikationsforschung mit zahlreichen Studien belegt ist. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass (erfolgreiches) Interkulturelles Lernen nicht a priori in jeder Bildungsveranstaltung für Erwachsene als gegeben vorausgesetzt werden kann, sondern dass zu untersuchen ist, ob und welche (Ethno-)Methoden es als Lösungen für ‚Interkulturelles Lernen‘ geben könnte. Denn gemäß dem ethnomethodologischen Identitätstheorem kann auch interkulturelles Lernen als Begrifflichkeit und Konzept nicht vorausgesetzt werden, sondern ist „immer nur empirisch, im Ablauf konkreter Handlungsvollzüge erfaßbar und analytisch beschreibbar. (…) Der Satz, daß die soziale Wirklichkeit eine ‚Vollzugswirklichkeit‘ ist, darf nicht als ontologische Aussage mißverstanden werden; er bezeichnet vielmehr einen methodologischen Vorschlag Garfinkels, und ob dieser Vorschlag etwas taugt und zu etwas führt, kann allein die empirische Analyse zeigen, die sich von ihm anregen und leiten läßt.“ (Bergmann 1988/1: 56f.)
Es ist das vorrangige Untersuchungsziel dieser Arbeit, nach den in der Kommunikation nachweisbaren spezifischen Phänomenen für Interkulturelles Lernen zu suchen.
3.3 Ethnomethodologische Konversationsanalyse als methodischer Ansatz Als Konsequenz aus den vorangehenden Überlegungen leuchtet es unmittelbar ein, bei der Untersuchung von kommunikativ vermittelten interkulturellen Lernprozessen in der Erwachsenenbildung mit der empirischen Methode der Konversationsanalyse zu arbeiten, die sich aus der Ethnomethodologie heraus entwickelt hat und entsprechende Verfahrensschritte für die Analyse von Sprachhandlungen bereithält. „Der KA [Konversationsanalyse, K.N.] geht es um die formalen Verfahren, um die „Ethno-Methoden“, welche die Interagierenden lokal einsetzen, um den für ihr Handeln relevanten Kontext zu analysieren, die Äußerungen ihrer Handlungspartner zur interpretieren und die Verständlichkeit, Angemessenheit und Wirksamkeit ihrer eigenen Äußerungen zu produzieren.“ (Bergmann 1994: 3)
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Im Sinne der Konversationsanalyse gehe ich davon aus, dass die in Kontexten Interkulturellen Lernens auf der (Mikro-)Ebene des Gesprächs zu beobachtenden Regelmäßigkeiten auf ein zugrundeliegendes Problem verweisen, für das sie eine methodische Lösung bereitstellen. Die folgenden Analysen haben zum Ziel, der Praxis Interkulturellen Lernens als (Re-)Produktion kommunikativer Lösungen für das Problem des kulturreflexiven Umgangs mit Fremdheit auf die Spur zu kommen.
3.3.1 Interkulturelles Lernen als interaktive Leistung Nach ethnomethodologischem ebenso wie nach konversationsanalytischem Verständnis ist das Gespräch eine gemeinsame Aktivität. Ein ‚Zuhörer‘ empfängt nicht passiv eine Nachricht, sondern gestaltet deren Konstruktion wesentlich mit. So können etwa, wie schon erläutert, ausbleibende Zuhörersignale den Redner bzw. die Rednerin dazu veranlassen, expliziter zu werden (weil im Deutschen dann von den Sprechern angenommen wird, dass etwas nicht verstanden wurde), eine spannende Teilinformation ‚einzubauen‘, oder sie können die Rückfrage provozieren: „Hörst zu mir überhaupt zu?“. Die Realisierung der Zuhörersignale gibt nicht nur Auskunft darüber, ob wir den Inhalt einer Aussage zur Kenntnis genommen haben, sondern zeigt auch an, wie wir ihn interpretieren. Zuhörersignale können, je nach Häufigkeit, Betonung und Intonation, zum Beispiel Zögern, Skepsis oder Empathie ausdrücken. Diese in der Alltagskommunikation beobachtbaren Praktiken variieren je nach Beteiligtenkonstellation und institutionellem Setting. So wissen wir, dass wir als Teilnehmende bei einem Vortrag vor einer Gruppe nicht aufgefordert sind, laute Zuhörersignale zu geben, sondern dass im Gegenteil ein solches Verhalten die Vortragenden wie auch die anderen ZuhörerInnen irritieren würde. Diese Regel braucht uns niemand im Vorfeld mitzuteilen, wir halten uns qua ‚sozialer Kompetenz‘ daran. Uns sind diese Ethno-Methoden so selbstverständlich, dass wir sie zwar kompetent benutzen, ohne sie jedoch konkret benennen zu können und ohne erklären zu können, warum wir sie benutzen, oder genauer: welche kommunikativen Probleme wir mit ihrer Hilfe lösen. Es gibt also eine analytische Differenz zwischen unserer Alltagskompetenz als der Fähigkeit diese alltäglichen kommunikativen Routinen zu praktizieren einerseits und der analytischen Fähigkeit sie zu rekonstruieren andererseits. In dieser Reflexion liegt das Arbeitsfeld der Konversationsanalyse. Wenn interkulturelles Lernen nun ebenfalls solche geordneten Strukturen aufweist, dann ist es als interaktive Leistung mit spezifischen Charakteristika beschreibbar.
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Es geht hierbei nicht um spezifische Inhalte der interkulturellen Kommunikation, sondern um die wiederkehrenden Strukturen der Kommunikation beim interkulturellen Lernen, an denen wir uns orientieren. Sie sind die Basis unseres wechselseitigen kulturspezifischen Verstehens und fallen am ehesten dann als Erwartungen (und Erwartungserwartungen) auf, wenn sie irritiert werden. Am Beispiel des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Routinen in der interkulturellen und zwischengeschlechtlichen Kommunikation wurden die Folgen der Erwartungsbrüche vielfach beschrieben. Dass zum Beispiel „How are you?“ keine inhaltsbezogene Frage ist, auf die man mit längeren Ausführungen über die eigene Befindlichkeit antwortet, sondern dass es sich hierbei um ein reines Begrüßungsritual handelt, welches mit einem ebenso formelhaften „Fine, thank you“ zu beantworten ist, das wissen all diejenigen, die diese soziokulturelle Deutungspraktik im Rahmen ihrer Sozialisation erlernt haben. Zugleich sind wir dann in der Lage, die Regelmäßigkeit einerseits zu kennen und andererseits situations- und kontextbedingte Variationen anzuwenden. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin bei der Visite „How are you?“ fragt, wird in der Regel keine rituelle Antwort erfolgen, sondern eine ausführliche Schilderung der Befindlichkeit und Beschwerden. Fehlinterpretationen solcher kontextsensitiven Interaktionskonventionen haben weit reichende Folgen, wobei die zugrunde liegende Ursache-Wirkungs-Beziehung nur selten aufgedeckt wird. Im Alltag schreiben wir die Verantwortung für die aus soziokulturellen Fehldeutungen resultierenden Irritationen jeweils dem Gegenüber zu, in Form wertender Stereotypisierungen („Die Amerikaner sind oberflächlich“) und Typisierungen („Japaner sind...“/ „Deutsche sind...“). Um dieser methodischen Falle zu entgehen, hält sich die Konversationsanalyse – trotz Verzicht auf vorgefertigte Interpretationsraster – an einige grundlegende Analyseprinzipien, die beachtet werden müssen, um solide Analyseergebnisse zu gewinnen.
3.3.2 Analyseprinzipien der Konversationsanalyse Die Wahl der Ethnomethodologischen Konversationsanalyse als Analyseperspektive ist in ihrem sachgeschmeidigen methodischen Prinzip gegründet. Das Fehlen eines äußerlichen Regelkatalogs ermöglicht es im Rahmen der Datenanalyse, den Fortgang des Verstehens adäquat zum Phänomen gestalten zu können (Bergmann 1991a: 216). Obwohl nicht mit einem dogmatischen Verfahrenskanon ausgerüstet, ist die konversationsanalytische Vorgehensweise einigen zentralen und unhintergehbaren Analyseprinzipien verpflichtet, welche ihre spezifische ‚Strenge‘ gegenüber den sonst so weichen qualitativen Gesprächsforschungsmethoden ausmacht.
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Erhebung und Aufbereitung natürlicher Daten Weil in einer Äußerung nicht nur die gewählten Worte, sondern viele weitere Bedeutungsträger eine Rolle spielen (etwa der Tonfall, die Stimmqualität etc.), arbeitet die Konversationsanalyse mit registrierenden Verfahren der Datenerhebung. Erhoben werden also „natürliche“ Daten, die weder experimentell erzeugt, noch im Interview erfragt, sondern durch eine dokumentierende Audio- oder audio-visuelle Aufzeichnung des Geschehens in seiner natürlichen Umgebung gewonnen werden (vgl. dazu Bergmann 1985). Voraussetzung ist daher eine Datenbasis aus per Tonband oder Video aufgezeichneten Gesprächen, die möglichst präzise transkribiert wird, das heißt es werden keine Vorentscheidungen über wichtige oder unwichtige Äußerungen getroffen und alle in einem Datensegment hör- oder sichtbaren Phänomene wie Pausen, Räuspern oder Geräusche werden ausnahmslos erfasst.
Sequenzielle Analyse von authentischem und feintranskribiertem Untersuchungsmaterial Wie bereits erwähnt, ist die Grundvoraussetzung für die Entdeckung der Phänomene eine in natürlichen Gesprächssituationen gewonnene und registrierend dokumentierte, also aufgezeichnete und abbildlich transkribierte Kommunikationsituation. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Annahme der Geordnetheit allen sozialen Geschehens geht die Konversationsanalyse davon aus, dass in der Kommunikation auch jene Phänomene, die auf den ersten Blick als bloße ‚Fehler‘, Ungenauigkeiten oder zufällige Ereignisse erscheinen, maßgeblich zur Konstruktion von Bedeutungen beitragen: „There is order at all 109 points“ (Sacks 1984: 22). Häufig sind es gerade die kleinen ‚Unebenheiten‘ in der Realisierung von Äußerungen, wie zum Beispiel Wiederholungen, Versprecher oder Verzögerungen, die Aufschluss geben über die Produktion von Sinn beim Sprechen. Daher werden in der Verschriftung der Daten diese ganz bewusst nicht ‚bereinigt‘ oder korrigiert, sondern möglichst ‚originalgetreu‘ wiedergegeben, einschließlich Pausen, Wortverschleifungen („ich sa=mal“), ‚falscher‘ Aussprache von englischen Begriffen und Ähnlichem.
109 So konnten konversationsanalytische Studien beispielsweise zeigen, dass selbst Lachsequenzen, die auf den ersten Blick als chaotische, zufällige Aufeinanderfolge von Lachpartikeln erscheinen, sich bei genauerer Betrachtung als höchst organisiertes kommunikatives Geschehen erweisen, bei dem die Beteiligten sich eng aneinander orientieren (vgl. dazu die ausführliche Dissertation von Merziger 2005).
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Alle zu beobachtenden Phänomene sind Bedeutungsträger und werden in der Zeit betrachtet, das heißt die sinnhafte Struktur wird entlang des Verlaufs analysiert (Sequenzanalyse) und zunächst bewertungsfrei rekonstruiert. Die Suchheuristik zielt dabei auf die sozialen generativen Verfahren, welche die mit dem interkulturellen Lernen verbundenen Strukturprobleme lösen.
Suche nach Regelmäßigkeiten mit relativer oder zwingender Erwartbarkeit Die Konversationsanalyse begreift Kommunikation als soziales System und beschreibt dessen wiederkehrende Strukturen. Vornehmlichste Aufgabe ist es zu rekonstruieren, vermittels welcher Regelmäßigkeiten sich die Sprechenden interaktiv aufeinander beziehen. Was den Statistikern die Korrelation oder Kausalität ist, ist der Konversationsanalyse die Kookurrenz. Ein einfaches Beispiel für eine solche Interaktionsregel findet sich in der alltäglichen Aktivität des Grüßens: Einem Gruß folgt erwartungsgemäß) ein Gegengruß. Die Aktivität des Zurückgrüßens ist so hoch erwartbar, dass man hier sogar von „konditioneller Relevanz“ spricht, das heißt die initiierende Äußerung bedingt förmlich die nachfolgende und macht das Ausbleiben des Gegengrußes erklärungsbedürftig. Der soziologische Blick auf die Daten richtet sich auf Regelmäßigkeiten des sozialen Umgangs dieser Art und vermeidet es dabei bewusst, von beobachtbarem Verhalten auf innerpsychische Dimensionen zu schließen. Stattdessen konzentriert sich das Forschungsinteresse auf die Aufdeckung der zumeist subtil im Hintergrund bleibenden, gleichwohl wirksamen kommunikativen Praktiken. Diese können zwingend relevant sein (wie etwa auf ein „Bitte“ ein „Danke“ zu folgen hat, relativ erwartbar (indem etwa eine gestellte Frage zu beantworten ist), oder regelmäßig wiederkehrend (so sind z. B. Diskursmarker wie „also“ oder „so“ typischerweise an denjenigen Stellen in einer Sequenz zu finden, an denen Aktivitäten abgeschlossen oder angefangen werden, und sie werden vornehmlich von den ranghöheren Anwesenden produziert). Gemäß dem Prinzip des „order at all points“ besteht die Aufgabe der Analytiker zunächst darin, Ordnungsmerkmale und Gleichförmigkeiten im Material aufzufinden. Diese werden als Lösungen für wiederkehrende Probleme betrachtet (z. B. wie wissen die Beteiligten, wann ein Telefongespräch sich dem Ende zuneigt?). Im Hinblick auf die zu bearbeitende Fragestellung ist speziell nach Regelmäßigkeiten zu suchen, an Hand derer man erkennen kann, dass und wie die Gesprächsteilnehmenden mit interkulturellem Lernen beschäftigt sind: „doing intercultural learning“.
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Rekonstruktion der Relevanzstrukturen der Beteiligten Die Konversationsanalyse spekuliert nicht darüber, was in den Köpfen von Individuen vor sich gehen mag, sondern konzentriert sich auf die hör- und sichtbaren Handlungen der Kommunikationsteilnehmer. Oberstes Prinzip ist die Beschreibung der Relevanzstruktur der Beteiligten selbst, das heißt es wird beobachtet, wie die Interaktionsteilnehmer selbst ihre Umgebung, ihre Äußerungen und Handlungen wahrnehmen und interpretieren. Ob Geräusch oder ‚offensichtlich‘ abwertende Äußerung – aus Sicht der Konversationsanalytiker erhält jedes Element in der Interaktion erst dann eine Bedeutung, wenn diese von mindestens einem der Beteiligten thematisiert und ‚relevant‘ gemacht wird; geschieht dies nicht, so bleibt die Aktivität folgenlos. Entscheidend ist also nicht, wie Beobachter eine Äußerung interpretieren und ob sie eine Bewertung als stereotyp oder rassistisch einschätzen, sondern wie die Beteiligten selbst sie interpretieren. Für die Beteiligten ‚gibt‘ es ein Geräusch oder eine Bedeutung in ihrer kollaborativen Wirklichkeitskonstruktion schlichtweg nicht, wenn sie diese nicht aufgreifen. Da Bedeutung also erst interaktiv erzeugt wird, kann die Bedeutung von Äußerungen und Sprechakten nicht aus ihrer isolierten Betrachtung abgeleitet werden, sondern erschließt sich erst aus der Analyse des Gesprächszusammenhangs. Aus diesem Prinzip folgt, dass von außen an das Material heran getragene Begrifflichkeiten vermieden werden und stattdessen die in den Daten von den Beteiligten selbst relevant gemachten Aktivitäten entdeckt werden sollen.
Beachtung des Äußerungszuschnitts (Recipient Design) Auskunft über die Bedeutung, die die Aussagen für die Beteiligten selbst haben, gibt der Äußerungszuschnitt. Die unterschiedliche Realisierung oder Platzierung ein und derselben Formulierung kann deren inhaltliche Bedeutung bis ins Gegenteil verkehren. „Sehr schön“ kann ebenso ein Lob sein wie eine ironische, ablehnende Bemerkung. Konstruktion und Gestaltung von Äußerungen geben uns auch Aufschluss darüber, wer zu wem spricht, das heißt, in welcher ‚Identität‘ der Sprecher spricht bzw. der Zuhörer angesprochen wird. Hören wir einen Satz wie „das hast du aber fein gemacht“ können wir annehmen, dass ein Erwachsener zu einem (kleinen) Kind spricht. Nimmt man nun das bereits angesprochene Prinzip der Rekonstruktion der Relevanzstrukturen hinzu, so wird deutlich, dass aus dem von einem Sprecher über den Zuschnitt seiner Äußerung (Recipient Design) angebotenen Spektrum möglicher Interpretationen von Anschlussmöglichkeiten von den anderen Beteiligten in Abhängigkeit von ihrer
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Präferenz manche ausgewählt und andere nicht aufgegriffen werden (Relevanzstruktur der Beteiligten). Dieser Verzahnung gilt die Suche nach der wiederkehrenden Ordnung.
Berücksichtigung der Kontextualisierung und gegebenenfalls Hinzunahme ethnographischen Wissens Wir gehen bei der Deutung von Erwartungen, Äußerungen und Signalen nicht voraussetzungslos vor, sondern setzen Vor- und Kontextwissen ein. Ob „Flasche“ ein Schimpfwort darstellt, eine Bierflasche beschreibt oder eine Infusion anfordert, kann man erst dem Äußerungskontext entnehmen. Dieser grundsätzliche indexikale Charakter von Sprechhandlungen bedeutet, dass sie ihre Bedeutung erst durch den je spezifischen Kontext gewinnen, den sie zugleich reflexiv mit konstituieren. Je nach Forschungsfrage und Professionalitätsbereich ist es hilfreich, ethnographisches Wissen hinzu zu nehmen. Auch wenn der Gegenstandsbereich das vertraute Gebiet sozialer Interaktion ist, stellt die Rekonstruktion von Relevanzstrukturen in professionellen Arbeitsfeldern eine besondere Herausforderung dar. Jede Art von Arbeit – auch die pädagogische Deutungsarbeit – beruht auf Fach- und Erfahrungswissen, das bisweilen stark kontextualisiert ist, und es erschließen sich beispielsweise dem fachfremden Forscher andere Schichten als einer sach- und fachkundigen praxisvertrauten interkulturellen Trainerin. Mit den besonderen Qualitäten von Arbeitstätigkeiten befassen sich im Rahmen dieser Methode die „Studies of Work“.110 Sie zielen auf die empirische Analyse von Kompetenzsystemen und zeichnen sich aus durch das Bemühen, über die genaue Erfassung, Beschreibung und Analyse von realen Arbeitsvollzügen die ‚verkörperten‘ Praktiken zu bestimmen, in denen sich die für diese Arbeit spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten materialisieren. Gegenstand sind nicht idealisierte oder normative Konzepte von Arbeit, sondern reale Arbeitsabläufe mit ihrem materialen Detailreichtum. Im Zentrum des analytischen Interesses steht bei den Studies of Work also das Wissen, das sich in der selbstverständlichen Beherrschung kunstfertiger Praktiken materialisiert und das für die erfolgreiche Ausführung einer bestimmten Arbeit konstitutiv ist. Erfahrene TrainerInnen erkennen 110 „Studies of Work“ bezeichnet einen in den USA in den letzten 30 Jahren entstandenen Untersuchungsansatz in der Soziologie, der ebenfalls auf das Forschungsprogramm der von Harold Garfinkel gegründeten Ethnomethodologie gegründet ist. In den „Studies of Work“ werden die durch Routine und Professionalisierung erworbenen Regeln in den Arbeitsvollzügen herausgearbeitet. Diese regelhaften Kompetenzgrundlagen verbleiben für gewöhnlich implizit, weil sie sich weder mit dem modellhaften Lehrbuchwissen decken, noch von den Beteiligten schlicht genannt werden können, da sie sich über Erfahrung gebildet haben.
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problematische Kommunikationssituationen einerseits aus ihrer Praxis (wieder) und beherrschen gefundene, weiterentwickelte Praktiken, um sie zu lösen. In der vorliegenden Arbeit schaue ich also mit zwei Blickwinkeln auf die Daten, mit dem konversationsanalytischen Blick einerseits und andererseits mit dem intuitiven Blick der Praktikerin, die mit ungezählten Situationen ähnlicher Art umgehen musste. Die Intuition als gefühltes Wissen und verkörperte Fähigkeit, gilt es zu erkennen, hinzu zu ziehen und natürlich wissenschaftlich zu reflektieren. Im Zuge der Analysen für die vorliegende Arbeit konnte ich die Veränderung des Blickwinkels und Entdeckungsspektrums an mir selbst verfolgen. Aus einer eher kritisch-distanzierten Wissenschaftsperspektive zu Beginn der Analysen, fielen mir andere Phänomene ins Auge als nach einigen Jahren Erfahrung mit interkulturellen Bildungsmaßnahmen. Die Erfahrung half mir, die eher die unspektakulären Routinen zu entdecken. Dieses Vorgehen ist insofern innovativ, als auch O´Reilly und Arnold (2005b) in ihrer Übersicht über interkulturelle Trainings in Deutschland schreiben, dass der Dialog zwischen Wissenschaftlern und Praktikern seit Jahrzehnten beklagt, aber nicht verstärkt wird. Der konversationsanalytische Blick auf die Daten ist nicht zuletzt deshalb spannend, weil durch ihn rekonstruierbar wird, welche wiederkehrenden kommunikativen Sequenzen beim interkulturellen Lernen erwartbar sind. Zugleich kann gezeigt werden, welche der beobachteten Muster zu Problemen führen und wie damit umgegangen wird. Die Ergebnisse sind in zweierlei Hinsichten anschlussfähig. Wissenschaftlich ist neben der erstmaligen Beschreibung des Phänomens die Reflexion spannend, worin kollektives interkulturelles Lernen bestehen könnte. Die Rekonstruktion der interaktiven Interpretationsleistungen bringt systematische Verstehens- und Verständnisgrenzen ans Licht und kann für die Praxis interkultureller Weiterbildung Hinweise geben, wie diese kommunikativ bearbeitet werden können. Auf beide Fortführungen, das Weiterdenken und Umsetzen in praktische Empfehlungen muss im Rahmen der vorliegenden Arbeit leider verzichtet werden.
3.4 Datenzugang und Vorstellung der Datenbasis Ein Grund für die fehlende empirische, an den natürlichen Gesprächen in erwachsenenpädagogischen Settings ausgerichtete Forschung dürfte die Schwierigkeit sein, in den Besitz von Mitschnitten zu gelangen. Die Datengewinnung war unerwartet langwierig und mühevoll. Es war zwar zu erwarten, dass der Datenzugang nicht ganz einfach werden würde, nicht jedoch, dass die Datenerhebung Jahre in Anspruch nehmen würde. Ich kontaktierte
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Anfang der 90er Jahre vergeblich verschiedene Organisationen sowie Institutionen und deren LeiterInnen, da es mir wichtig war, dass die Trainings in einem professionellen Umfeld aufgezeichnet wurden. Die Hürden lagen u. a. darin, dass sehr viele Stakeholder die Aufnahme unterstützen müssen, Anbieter, Trainer, Leiter der Personalentwicklung, die Teilnehmenden, um nur einige der Instanzen zu nennen, die ihre Zustimmung verweigern können. Wenn nur eine Gruppe oder eine Person ihr Veto einlegte, kam Aufnahme nicht zustande. Letzlich halfen nur persönliche Kontakte, Interesse an der Fragestellung, der Aufbau von Vertrauen sowie mehrere Informationsgespräche, um das nötige Verständnis und das Vertrauen für Aufzeichnungen zu erhalten. Da ich auch Datensätze aus verschiedenen Settings (Profit- und Nonprofitbereich) gewinnen wollte und dabei Personen aufzeichnen wollte, die unabhängig voneinander trainieren, liegen allein zwischen der Aufnahme der ersten beiden Fallbeispiele 1993 und der Aufnahme der Antirassismusveranstaltung 1996 drei Jahre.111 Die ersten Aufzeichnungen zweier kulturübergreifener Seminare stammen aus der „Frühzeit“ interkultureller Trainings in Deutschland. Zur damaligen Zeit gab es das Angebot zur Entwicklung interkultureller Kompetenz, das heute zunehmend gefragt ist, noch kaum. Auch die Auswahl auf dem deutschen Buchmarkt war zur damaligen Zeit extrem eingeschränkt. Da die Texterstellung aufgrund des berufsbegleitenden Schreibens ohnehin länger dauerte, habe ich 2003 noch beschlossen, ein weiteres kulturspezifisches Seminar hinzu zu nehmen, so dass zwischen der ersten und der letzten Aufnahme zehn Jahre und eine große Professionalisierungsentwicklung hinsichtlich interkultureller Trainings liegt, die sicherlich auch spannend zu untersuchen gewesen wäre, hier aber nicht Gegenstand sein soll. Mit der Spannbreite der Datenbasis – nicht nur im Bezug auf die vergangenen Jahre – sondern auch konzeptionell (kulturallgemein und kulturspezifisch), inhaltlich (interkulturelle Kommunikation und Antirassismusveranstaltung) sowie kontextuell (Profit- und Nonprofitsektor) dürfte die Grundlage für verallgemeinerbare Aussagen hinsichtlich der Regelmäßigkeiten beim Erwerb von Kulturreflexvität gegeben sein.
111 Zwischenzeitlich hatte ich zwei weitere Datensätze aufgezeichnet, die letztendlich nicht zur Analyse herangezogen worden sind. Mangels Zugangsmöglichkeiten zu natürlichen Daten von Interkulturellen Trainings habe ich mehrere Stunden Videoaufnahmen aus einer Berufsschulklasse (Fachoberstufe) sowie einen Reflexionstag von KITA-Mitarbeiterinnen auf Tonband aufgezeichnet. Beide Aufnahmen waren durch persönliche Kontakte zustande gekommen. Wären keine weiteren Datenerhebungen möglich gewesen, hätte ich die Verwendung von Kategorien und Stereotypen einmal im Rahmen von interkulturellen Weiterbildungsveranstaltungen im Kontrast zu ihrer Verwendung in anderen Settings – untersucht.
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3.4.1 „Andere Länder, andere Sitten“: Fallbeispiele für kulturübergreifende Interkulturelle Kommunikationstrainings Zwei zweitägige Seminare einer großen europäischen Fluggesellschaft bilden die ersten beiden Fallbeispiele.112 Die Fluggesellschaft bot über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren für die Zielgruppe des fliegenden Personals in der Kabine dieses Training zur interkulturellen Kommunikation mit dem Titel „Sitten und Gebräuche rund um die Welt“ an. Als Inhalt und Ziele wurden in der sogenannten „Seminarinfo für das Kabinenpersonal“ angegeben:
Erkennen kulturgebundener Wertvorstellung und Verhaltenserwartung Wie sehen uns Menschen aus anderen Kulturkreisen, wie sehen wir sie? Wie kommt es zu Missverständnissen an Bord und im Layover? Unsere Rolle als deutsche Gastgeber bei internationalem Publikum
Schon in diesem Überblick wird deutlich, dass die Teilnehmenden allgemein für das Thema Kultur sensibilisiert werden sollen, denn ein Hinweis auf die Behandlung konkreter Kulturen fehlt. Die Schwerpunkte der Veranstaltung liegen eindeutig auf der Relativierung der eigenen kulturgebundenen Wahrnehmung, wobei die professionelle Rolle und der berufsspezifische Kontext betont werden und eine praxisnahe Thematisierung kultureller Normen erwartbar ist.113
112 Es ergab sich daraus eine Datenbasis aus Tonbandaufzeichnungen, von denen 16 Stunden und 15 Minuten verwertbar waren. Sie wurden komplett verschriftet und stellenweise feintranskribiert. Siehe dazu detaillierter die Übersicht im Anhang. 113 Inzwischen ist die diesem Seminar zugrunde liegende Idee und Struktur weiterentwickelt worden und das Training ist heute verpflichtender dreitägiger Bestandteil der allgemeinen Ausbildung für das fliegende Personal in der Kabine. Alle neuen FlugbegleiterInnen in Deutschland, aber auch die inzwischen gezielt aus Indien, Korea, Thailand, Japan und China rekrutierten regionalen FlugbegleiterInnen sowie alle „Wechsler“ die vom Kontinental- in den Interkontinentalbereich versetzt werden, erhalten eine auf der Basis dieser Struktur modifizierte Kombination aus einem zweitägigen Kommunikationstraining und einem dreitägigen interkulturellen Training, also eine auf insgesamt fünf Tage verlängerte Fortbildung. Im Zuge der steigenden Bedeutung von „Kulturkompetenz“ im Unternehmen wurde das damals eingeführte Konzept erweitert, professionalisiert und insbesondere das interkulturelle Kommunikationstraining deutlich aufgewertet.
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Konzept Mit geringfügigen Abweichungen in der Reihenfolge und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen halten sich die beiden Leiterinnen an einen Lehrplan, der folgende Elemente beinhaltete:
1. Tag:
Einstimmung und Vorstellung des Seminarplans Deutsche Kulturwerte (Film & Kleingruppenarbeit bzw. Plenumsdiskussion) Einfluss von Kultur, Normen und Werten Einführung von kulturübergreifenden Vergleichsdimensionen (Zeit-, Kontextbezug, Distanz zur Macht) Film über traditionelle Polygamie in Togo Kulturkreis Indien (mit Kurzfilm)
2. Tag:
Kulturkreis Japan (Film über das japanische Erziehungssystem) Grundsätze der Kommunikation/ selektive Wahrnehmung Nonverbale Kommunikation Attribution bzw. Stereotypenbildung Kulturwerte arabischer Länder (mit Kurzfilm) Kulturkreis USA Feedbackrunde
Das Seminar begann mit dem Thema „Deutsche Normen und Werte“, wobei nach einer Einführung und Einstimmung mit einem Kurzfilm in Gruppenarbeiten zwei Sammlungen entstanden: „typisch deutsche Eigenschaften“ und „Irritationen: Was macht die anderen anders?“. In der daran anschließenden Auswertung wurden die gesammelten Eigenschaften und Zuschreibungen (z. B. typisch deutsch ist „kategorisch, unflexibel, Vereinsmeier, pünktlich“) erläutert und begründet. Auf der Basis der kulturvergleichenden Studien von Hall und Hofstede wurden danach verschiedene basale Orientierungen eingeführt, mit denen Kulturen vergleichbar sind und die sich in der Interaktion auswirken. Insbesondere Halls Beschreibungen eines unterschiedlichen Raum- und Distanzempfindens (Proxemik), monochronen bzw. polychronen Zeitverständnisses und die Differenz zwischen indirekter (high context) und direkter (low
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context) Kommunikation standen im Mittelpunkt. Außerdem wurden einige der aus einer internationalen IBM-Studie entwickelten kulturübergreifenden Dimensionen von Hofstede vermittelt, insbesondere die „Distanz zur Macht“ oder die Differenz zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen erläutert. Das Seminar trug damals bereits den Untertitel „Training zur Interkulturelle Kommunikation“ und so zogen sich die theoretischen Konzepte, ihr Einfluss auf Wahrnehmungs-, Erlebens- und Bewertungsformen sowie die Kommunikationstile im transkulturellen Vergleich wie ein roter Faden durch das gesamte Seminar und alle thematisierten Kulturen. Da es um eine Fortbildung für sogenannte „Internationalisten“ handelte, wurden in diesem Zusammenhang trotz der Kürze der Zeit gleich mehrere Kulturen angesprochen, u. a. die als bedeutsame Kunden angesehenen Japaner, die als unbeliebte Passagiergruppe geltenden Inder sowie der wegen ihrer scheinbaren Nähe und Vertrautheit schwer als fremde Kultur wahrzunehmenden US-Amerikaner. Als weitere theoretische Konzepte wurden zwischen den Kulturen ein Kommunikationsmodell (Sender-Empfängermodell), die Bedeutung der non- und paraverbalen Kommunikation sowie die verschiedenen Funktionen von Stereotypen erläutert. Es handelt sich also um eine Mischung aus kulturallgemeinem und kulturspezifischem Zuschnitt. Mit Ausnahme der Gruppenarbeit bestand das zweitägige Seminar im Wesentlichen aus Plenumsgesprächen. Themengeleitete Diskussionen, durchsetzt mit Informationspassagen in Form von Kurzvorträgen der Leiterinnen über Landeskunde, Wertevorstellungen, Statusverständnis, geschlechtsspezifisches Verhalten, Blickkontakt, Begrüßungsrituale, Gesprächsstile u.v.m. waren deshalb die zentrale didaktische Methode. Als Medien dienten Arbeitsblätter (Auszüge aus Studien oder Trainingsmaterialien), Flipchart und vor allem Filme.114
Beteiligte Die als freiwillige Veranstaltung für das fliegende Personal in der Kabine angebotene Weiterbildungsmaßnahme stieß auch bei MitarbeiterInnen aus anderen Bereichen (Cockpit, Verwaltung, Bodenpersonal) sofort auf Interesse 114 Nicht alle Filme dienten dazu, die dargestellte Kultur zu thematisieren. So konfrontierte der Film über die traditionelle Polygamie in Togo z. B. mit einem anderen in sich stimmigen Wertesystem. Außerdem bietet der Film verschiedene Perspektiven afrikanischer Frauen auf Westeuropäerinnen im Allgemeinen und deutsche Frauen im Besonderen. Der Kurzfilm zum arabischamerikanischen Geschäftstreffen illustriert neben kulturellen Fettnäpfchen v.a. ein unterschiedliches Zeitverständnis, das in der Kommunikation zum Tragen kommt.
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und wurde von ihnen nachgefragt. Geplant für acht bis achtzehn Personen waren die beiden hier dokumentierten Seminare mit nur jeweils sieben Teilnehmenden und einer Leiterin jedoch nach Aussage der Leiterinnen in ihrer (quantitativ geringen und heterogenen) Zusammensetzung typisch. Die geringe Nachfrage ließe sich weniger auf Desinteresse am Thema zurückführen als auf die Tatsache, dass die Seminare in der Freizeit besucht werden mussten und die Ankündigung noch nicht optimal gewesen sei. Laura, eine Deutsche und Stewardess mit Abordnung für Schulungsaufgaben leitete das homogen mit Deutschen besetzte Seminar (IKK I) bestehend aus den Flugbegleiterinnen Helga, Carmen und Yvonne, den Bodenangestellten und Multiplikatorinnen Arnika und Jutta (beide Trainerinnen für das Check-inPersonal), dem Flugingenieur Ingo und Frau Ecke aus einer administrativen Abteilung. Die Engländerin Leslie, eine Kabinenchefin („Purser I“) für Kleinraumflugzeuge mit einem dauerndem Schulungsvertrag, leitete das zweite Training. Die Teilnehmenden waren die deutschen Flugbegleiterinnen Barbara, Daniela und Susanne, die aus dem Elsaß stammende französische Flugbegleiterin Valerie, der Großraumdienstvorgesetzte und Kabinenchef („Purser II“) Peter und Herr Rahr aus einer administrativen Abteilung des Unternehmens. Außerdem nahm aus Interesse am ersten Tag noch Anna teil, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt.
Pädagogische Ziele Zur Zeit der Konzeptionierung dieses interkulturellen Trainings waren die im ersten Kapitel beschriebenen Ansätze des deutschsprachigen Raums allesamt noch nicht publiziert. Die Trainerinnen waren Vorreiterinnen in einer Umgebung, die interkulturelle Trainings als Luxus ansah und hatten entsprechende Durchsetzungsschwierigkeiten. Sie griffen auf die englischsprachig erschienenen Methoden und Konzepte zurück, luden sich Experten ein und „schneiderten“ sich mit umfangreichen Vorarbeiten ein Curriculum zu, das genau den Bedarf der Zielgruppe abdecken sollte. Dem in der eigenen Schulungsabteilung entwickelten Konzept ging eine aufwändige konzern- und arbeitsbereichsbezogene Recherche voraus. In der zweieinhalbjährigen Planungsphase wurden Fragebögen an ausländische Stationen verschickt, Beschwerdebriefe von Passagieren ausgewertet und Stewardessen anderer Nationen befragt. Auf dieser und auf der Basis von Literaturrecherchen wurde ein ausführliches Curriculum schriftlich ausgearbeitet, das von Hintergrundinformationen über Beispiele und Methoden bis hin
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zu didaktischen Hinweisen, ja sogar Anekdoten, Inhalt und Ablauf des Trainings festlegt.115 Der Schwerpunkt in der pädagogischen Ausrichtung orientiert sich zielgruppen- und rollenbezogen an der unmittelbaren Interaktion mit anderen Kulturen in einer Dienstleistungstätigkeit: „Da Verständnis und Akzeptanz mit eine Grundvoraussetzung für angemessenes FB [Flugbegleiter, K.N.] -Verhalten ist, wäre es wichtig, folgende Fähigkeiten zu entwickeln: (...) die eigene Welt nicht für die einzig mögliche und einzig ‚richtige‘ zu halten, also die Fähigkeit und Bereitschaft zu besitzen, eigene Standpunkte zu relativieren (Empathiefähigkeit) (...) darüberhinaus in unscharf oder widersprüchlich definierten Situationen nicht in Panik zu geraten, bzw. mit Ungeduld oder Unmut zu reagieren. (Ambiguitätstoleranz) (Schulungsmodul Interkulturelle Kommunikation: „Bridging the Cultural Gap“, 1993: 33; Hervorhebung im Original, K.N.)”
Die formulierten Kernkompetenzen sind auch heute noch zentral für den interkulturellen und waren typisch für den damals in den USA bedeutsamen Cultural Awareness-Ansatz, bei dem vor allem die Bedeutung der Kulturdifferenzen hinsichtlich persönlicher Werte und Eigenschaften in den Vordergrund gerückt werden (Brislin/Landis/Brandt 1983: 13ff.). Empathiefähigkeit und Ambiguitätstoleranz sollten jedoch nicht abstrakt eingefordert, sondern vorgeführt und erlebt werden. Vermittels Elizitierung spontaner Reaktionen sollten die Teilnehmenden sich ihrer kulturellen Wahrnehmungsund Bewertungsfolie bewusst werden. Um den dabei drohenden Vorführeffekt zu vermeiden, lautet die Empfehlung des Curriculums, Bewertungen bezüglich der Äußerungen der Teilnehmenden zu vermeiden: „Ziel des sich nun anschließenden Unterrichts ist es, anhand von zahlreichen Beispielen aufzuzeigen, wann und inwiefern diese [die deutschen, K.N.] Wertvorstellungen unser Verhalten beeinflussen. Die LTN [Lehrgangsteilnehmenden, K.N.] müssen dabei stark in das Unterrichtsgeschehen eingebunden werden; wann immer möglich, sollte der Lehrer die Beispielsituation so darstellen, daß den LTN spontane Reaktionen entlockt werden. In der anschließenden Betrachtung können dann die der Reaktion zugrundeliegenden Wertorientierungen herausgearbeitet werden. (...) Der Lehrer muß bei solchen Situationen unbedingt darauf achten, daß sich die LTN nicht 115 Unter der Rubrik Unterrichtsdurchführung sind z. B. Leitfragen für die Diskussion, zentrale Begriffe oder herauszuarbeitende Punkte bzw. Merksätze oder Fazits formuliert. Notiert wurde auch, welche Skizzen, wann am Flipchart entwickelt werden, wann ein Lehrvortrag beginnen sollte und wie er in die Diskussion übergeht. Als Literaturquellen werden die prominenten Experten der interkulturellen Kommunikation genannt bzw. verarbeitet: der auf interkulturelle Psychologie spezialisierte Regensburger Professor Alexander Thomas, der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall und der Hildesheimer Experte für interkulturelles Management Jürgen Beneke (vgl. dazu Kapitel 2.1) , der zuvor auch Vorträge im Unternehmen gehalten hatte.
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vorgeführt fühlen und negative Gefühle aufkommen.“ (Schulungsmodul Interkulturelle Kommunikation: „Bridging the Cultural Gap“, 1993: 7f.)
Vorurteile und Stereotypen gelten in dem zugrundeliegenden Ansatz als alltägliches Urteilsverhalten, das nicht zensiert werden sollte, um die Teilnehmenden zur Kooperation zu motivieren: „...der Lehrer kann persönliche Tips einbringen, sollte aber in jedem Fall den moralisch erhobenen Zeigefinger vermeiden, um keine Abwehrreaktion gegen das Thema an sich zu provozieren.“ (ebd.: 32)
Allerdings sollte den spontanen Äußerungen der Teilnehmenden dann Hintergrundinformationen bezüglich des fremdkulturellen Verhaltens entgegengestellt werden, um Verständnis für andere Orientierungen zu erzeugen. Das pädagogische Ziel besteht also in einer Form von Aufklärung: Vorurteile offen legen, bewusst machen, um an ihnen durch die Thematisierung von Missverständnissen und Unterschieden metakommunikativ zu arbeiten.116 Das Seminar ist für die damalige Zeit als protoypisch zu bezeichnen, betrachtet man Literaturbasis und inhaltlichen Aufbau im Vergleich zu anderen firmeninternen Schulungsmaßnahmen oder Angeboten freier Trainer. Deutlich ist eine bildungslogische Struktur erkennbar. Man kann drei der vier von Brislin entwickelten Dimensionen erkennen: „awareness“, „knowledge“ und „attitudes“. Die Teilnehmenden wurden sensibilisert und ein Problembewußtsein über die Thematisierung der deutschen „eigenen“ Kultur vermittelt.117 Das durchgängige Ziel, sich des Einflusses von Kultur überhaupt und ihrer jeweiligen Normen und Werte gewahr zu werden, fällt in die Lernebene Bewusstheit (awareness). Mit den theoretischen Konzepten und Hintergrundinformationen zu einzelnen Kulturkreisen wurden kognitiv orientiert Faktenwissen oder theoretische Konzepte vermittelt (knowledge). In der Reflexion der Inhalte und mithilfe der Gesprächsführung sowie der theoretischen Behandlung von Stereotypen wurden affektbesetzte Einstellungen (attribution) berührt und bewegt. Die Erweiterung des Verhaltensrepertoires durch ein Interaktionstraining blieb ausgespart, allenfalls wurden Überlegungen zum Handeln in Situationen beim Service und gelegentlich auch Tipps für den Umgang mit bestimmten Passagiergruppen 116 Dieser Ansatz lässt sich auch in der Literatur immer wieder als Anleitung finden (vgl. z. B. Rademacher 1994 oder Reisch 1991). 117 Der Begriff „eigene“ Kultur wird hier nur im rekonstruktiven Sinn nach dem Wirklichkeitsverständnis der Leiterinnen bzw. TeilnehmerInnen verwendet. Genauer müßte die deutsche Kultur eher als „Dominanzkultur“ z. B. des deutschen Unternehmens bezeichnet werden, da die Seminare nicht national homogen zusammengesetzt sind. So ist in IKK II bspw. die Trainerin aus Großbritannien und eine Teilnehmerin Französin.
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gegeben. Durch den deutlichen Schwerpunkt auf Kognition und Emotion und dem Fehlen von Interaktionsübungen kann man von einem niedrigen bis mittleren Beteiligungsniveau sprechen (Brislin 1989).118
3.4.2 „Unsere Kunden aus Japan“: Fallbeispiel für kulturspezifische Trainings Beim dritten Fallbeispiel handelt es sich um ein zweitägiges kulturspezifisches Training im selben Unternehmen, das ausschließlich Japan und den Umgang mit japanischen Kunden thematisiert. Es wird seit vielen Jahren regelmäßig mehrfach im Jahr angeboten und wurde 2003 aufgezeichnet.119 Es ist Teil eines übergreifenden Personalentwicklungskonzepts und internen Schulungsangebots. Das Kabinenpersonal kann dabei unter verschiedenen Weiterbildungsangeboten und Schwerpunktthemen wie Führung, Wirtschaft, Work Life Balance etc. Seminare auswählen, worunter auch die interkulturelle Kompetenz fällt.
Konzept und pädagogische Ziele Inhalte und Themen werden in diesen vertiefenden Qualifikationsschulungen von den durchführenden Trainern selbst zusammengestellt. Sie sind nicht an ein festes schriftliches Curriculum gebunden, wiewohl im Vorfeld ein Konzept mit Ausschreibung, Lernzielen, Methoden und Inhalten mit den verantwortlichen Abteilungen der Personalförderung. abgestimmt wird. Das Training wird dann intern offen ausgeschrieben und die Teilnehmenden melden sich freiwillig aufgrund der Ausschreibungen an.
118 Brislins Matrix über die Tiefe der Involvierung unterscheidet Denken/Wahrnehmen, Gefühle und Verhalten auf drei Stufen: niedrig, wenn die Teilnehmenden passiv rezipieren, mittel, wenn ihr Interesse geweckt wird und emotionale Veränderungen angestrebt werden und hoch, wenn es zu praktischen Übungen kommt. Filme und Erfahrungsberichte bewirken demnach eine niedrige Teilnahme bezüglich der Emotionen, eine höhere allerdings schon, wenn es zu Gruppendiskussionen über Werte und Rassismus kommt (vgl. Brislin 1989). 119 Die verwertbare Datenbasis besteht aus ca. 9 Stunden Gesprächsaufzeichnungen, daraus wurden ca. 60 Seiten Feintranskripte erstellt. Vgl. dazu die Übersicht im Anhang.
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Abbildung 1:
Seminarausschreibung „Unsere Kunden aus Japan“
„Unsere Kunden aus Japan - Ja - panisch?“ „Mit dem Herzen fragen und mit der Seele hören“, so lautet der Geheimtipp eines Japaners an die Deutschen. Kein Japaner meint nur „ja“, wenn er „hai“ sagt. „Nein“ gibt es bei ihm schon gar nicht.Während bei uns das „Diktat der Logik“ regiert, zählt in Japan die „Frucht der Gedanken“. Weder Kopf noch Kehlkopf, weder scharfe Augen noch Ohren genügen, um die Japaner zu verstehen. Zwölf Begriffe sollen Ihnen das „Land der aufgehenden Sonne“ näher bringen: Gesicht, Logik, Asien, Höflichkeit, Etikette, Formen, Geschenke, Nationalstolz, Moral, Privates und Überraschungen. Inhalte: – – – – – –
Warum kommunizieren Japaner so anders? Welche Bedeutung hat das „Gesicht“? Was ist Höflichkeit Welche Besonderheiten bietet die japanische Küche und unser Service an Bord? Was können wir von regionalen Flugbegleitern lernen? Was bedeutet das für die Flugbegleiter?
Man erkennt schon an der vorliegenden Ausschreibung den stark interaktionsund kommunikationsorientierten Zuschnitt. Entgegen einer oft anzutreffenden akademischen Tendenz, bei kulturspezifischen Seminaren landeskundlich vorzugehen, werden hier die unmittelbar in der Praxis und dem Arbeitsalltag relevanten Kulturkonzepte thematisiert. In dieser Hinsicht bleibt die Fluggesellschaft wie beim Basistraining ihrer praxis- und kommunikationsorientierten Grundausrichtung treu. Die Trainingsziele können wir den Aussagen der Trainerin entnehmen, sie nennt diese im Verlauf des Trainings selbst: Sie will das Wissen über die japanische Kultur „möglichst bordbezogen“ übertragen. Außerdem möchte sie erreichen, dass die Teilnehmenden wohlwollender auf Japaner zuzugehen und sich besser einlassen können. Dazu begann sie mit einem sensorischen Einstieg in das Training, bei dem die Teilnehmenden mit verbundenen Augen Gegenstände und Gerüche aus Japan wahrnehmen und identifizieren sollten. Nach der anschließenden Vorstellungsrunde und Erwartungsabfrage gab sie einen Überblick über Geographie und Geschichte Japans und zeigte einen Film, der den Wertewandel in Japan thematisiert. Beim Durcharbeiten der Fragen der Teilnehmenden, die in der
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Vorstellungsrunde abgefragt wurden, kam sie auf Hintergründe für Verhaltensweisen wie u. a. das Reiseverhalten, „Gesichtswahrung“ oder „uchi“ und „soto“ (innen und außen) zu sprechen. Anschließend wurde gemeinsam japanischer grüner Tee verkostet und dabei neben dem Thema Tee die Etiketteregeln für den Bordservice besprochen. Der Tag endete mit dem Erlernen für die Arbeit hilfreicher japanischer Vokabeln und Redewendungen. Am zweiten Tag behandelte die Trainerin zunächst die japanische Sprache, Schrift sowie Kommunikationsbesonderheiten und erweiterte das Thema auf den Umgang mit japanischen Kunden mit Schwerpunkt Beschwerdemanagement. Inputs der Trainerin zum Konfuzianismus, japanische Werte und Religion erläuterten Hintergründe des Verhaltens. In Zusammenhang mit dem Thema Religion zeigte sie einen Film zum Shintoismus. Anschließend erarbeiteten die Teilnehmenden anhand von Texten in Kleingruppen die wichtigsten Höflichkeitsregeln zu den Bereichen „Begrüßung und Verbeugung“, „Geschenke“, Bad und Toilette“, „Umgang mit Japanern“, „zu Gast und Besuch bei Japanern“ und „Umgang mit Stäbchen“ und präsentierten die Ergebnisse im Plenum. Ein gemeinsames Sushi-Essen, bei dem weitere Etiketteregeln thematisiert wurden, schloss das Training thematisch ab.
Beteiligte Bei der Leiterin „Christina“ handelt es sich um eine Deutsche mit langjähriger Trainingserfahrung in der Schulung und zusätzlicher Spezialisierung auf interkulturelle Themen. Darüber hinaus erlernt sie seit drei Jahren die japanische Sprache und ist Führungskraft an Bord. Die elf Teilnehmenden arbeiten auf unterschiedlichen Stationen der Fluggesellschaft und nehmen an dem Training teilweise freiwillig teil.120 Sie verfügen über sehr unterschiedliche fliegerische und interkulturelle Erfahrungen. Manche fliegen ausschließlich innereuropäisch, andere kennen Japan von eigenen Flügen oder haben japanische Freunde, eine Teilnehmerin stammt aus Neuseeland. Auch in diesem Training überwiegt das Plenumsgespräch, mit dem alle Inputs, Gruppenarbeiten, Filme und andere Methoden ausgewertet werden und Bedeutung gewinnen. Mit seiner Mischung von Hintergrundinformationen und 120 Im Rahmen einer Betriebsvereinbarung sind tarifliche Gehaltssteigerungen an die Belegung von Qualifikationstagen in der Schulungsabteilung gebunden. Dabei können die Teilnehmenden ihre Seminare aus einem sehr breiten Spektrum von über 80 Angeboten – vorbehaltlich freier Plätze – aussuchen. So ergibt sich, dass ein Teil der Anwesenden gezielt dieses Seminar gewählt hat, während ein anderer Teil lediglich aus terminlichen oder anderen Gründen ein Seminar genommen hat, in dem noch freie Plätze waren.
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Praxis sowie dem umsetzungsorientierte Ansatz bis hin zum Üben von Etiketteregeln kann auch dieses Training als typisch für seine Art bezeichnet werden.121
3.4.3 „Hat der Rassismus ein Geschlecht?“: Fallbeispiel für Antirassismustrainings Der zweite Datensatz besteht aus einem vollständig aufgezeichneten Seminar eines einwöchigen Bildungsurlaubs, das von einem großen deutschen Bildungswerks speziell für Frauen (und mit Kinderbetreuung) angeboten wurde.122 Das bundesweite Bildungswerk bietet neben Beratungen, Publikationen und Projekten in einem umfassenden Angebot jährlich Hunderte von Seminaren, Workshops und Tagungen unter verschiedenen Schwerpunktthemen an. Das Thema Rassismus ist dabei bis heute kontinuierlich vertreten. Mit dem Angebot, das sich speziell an Frauen wendet, bildet dieses Seminar nicht etwa eine Ausnahme, sondern lag zur damaligen Zeit im Trend.123
Inhalte Der aufgezeichnete Bildungsurlaub fand in einem Tagungshaus im Grünen statt, das mit Arbeitsräumen entsprechend ausgestattet ist. Abbildung 2 gibt einen Überblick über den (realisierten) Seminarverlauf: 124 121 Ein Blick auf das Trainingsangebot von freien Trainern, Unternehmensberatungen oder Ausbildungsinstituten zeigt, dass die Kombination von theoretischen Konzepten und Kommunikationskontexten üblich ist. Bestimmte Themen kehren immer wieder, aber je nach Zielgruppe und Praxisbereich verändern sich selbstverständlich die Inhalte beim Praxisbezug. So werden bei Geschäftskontakten Beziehungspflege und Kommunikation mehr im Kontext von z. B. Meetings oder Verhandlungen thematisiert Eine Ausnahme bilden Vorbereitungsseminar auf Auslandsaufenthalte, die speziellere Fragestellungen behandeln. 122 Er umfasst inklusive der Aufnahmen aller parallel laufenden Arbeitsgruppen insgesamt 24 Kassetten à 90 Minuten, die jedoch nicht alle voll oder verwertbar waren. Insgesamt waren von den Datenaufzeichnung 27 Stunden und 40 Minuten für Feinanalysen auswertbar. Aus diesem Datensatz wurden 325 Seiten Transkripte erstellt. Ein tabellarisches Inhaltsverzeichnis im Anhang zeigt den Ort und die Länge der Feintranskripte an. 123 Nach einer Erhebung, die das Soester Landesinstituts für Schule und Weiterbildung 1994 in außerschulischen Bildungseinrichtungen durchgeführt hat, richtete sich zu der Zeit auffälligerweise ein Drittel der Veranstaltungen zu einem interkulturellen Thema gezielt an Frauen (Information WB in NRW 1996: 35f. zit. n. Siebert 1996: 5). Das hat sich offenbar nicht wesentlich geändert. Auch Bleil schreibt: „häufig werden solche Veranstaltungen für Frauen angeboten und von Frauen besucht“ (2006: 94). 124 Der Verlauf entspricht dem zu Seminarbeginn ausgeteilten Handout und damit weitgehend der Planung der Leiterinnen. Kursive Kommentare sind die von mir gekennzeichneten leichten Ab-
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Abbildung 2:
Seminar „Hat der Rassismus ein Geschlecht“ - Handout zum Seminarablauf
SEMINARPLAN: „HAT DER RASSISMUS EIN GESCHLECHT?“ Montag
Vormittags:
Nachmittags:
Dienstag
Vormittags:
Nachmittags:
Thema „Ankommen und Kennenlernen“ Begrüßung, Vorstellungsrunde Thematische Partnerinneninterviews Organisatorisches (Erläuterung Seminarplan, Verteilung der Seminarreader) (Beginn der Aufzeichung* Ø) Thema „Das Eigene und das Fremde“ Erstellung von Collagen Auswerten der Collagen Fortsetzung Collagenauswertung (4 Personen) Thema „Rassismus“ Gruppendiskussion über den Begriff „Rassismus“ Arbeitsgruppen zum Text von Nora Rätzhel („Formen des Rassismus in der Bundesrepublik“) Entwicklung einer gemeinsamen Definition von „Rassismus“ Thema „Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus“ (wg. Ausflug auf den nächsten Tag verschoben)
weichungen. Die Datenaufnahme beginnt mit dem Nachmittag des ersten Tages, da am Vormittag zunächst die Bereitschaft der angereisten und zu der Zeit noch ahnungslosen TN erfragt werden musste. Um keinen zusätzlichen Druck zu erzeugen, bin ich erst mittags eingetroffen, daher konnte der gesamte Vormittag auch nicht teilnehmend beobachtet werden.
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Mittwoch
Vormittags:
Nachmittags: Abends:
Donnerstag Vormittags:
Nachmittags: Freitag
Vormittags:
Thema „Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus“ Gruppendiskussion Thema: „Die neue Frauenbewegung und die Diskussion über Rassismus“ Arbeitsgruppen zu vier unterschiedlichen Tex ten zum Thema Diskussion der Ergebnisse Film: „Schwarze Frauen bekennen Farbe“ mit anschließender Diskussion Thema „Der rassistische Diskurs in den Medien“ Einführung in die Thematik am Beispiel der Zeitschrift EMMA Zeitschriftenanalyse in Arbeitsgruppen Gemeinsame Auswertung der Ergebnisse Thema „Rassismus im Alltag“ Plenums-Diskussion: Hat der Rassismus ein Geschlecht? Anti-rassistische Praxis als Handlungs perspektive Gemeinsame Seminarreflexion
Der Einstieg in das Thema (und die Aufzeichnung) beginnt mit einer Einzelarbeit der TN, in der aus Illustrierten eine Collage zum Thema „das Eigene und das Fremde“ und pro Person ein Plakat erstellt wurde, auf das das mitgebrachte Foto von sich hinein zu kleben war. Die Präsentation der Einzelarbeit mündete in eine Diskussion zum Thema Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Collagen. Die Diskussion zum Begriff Rassismus wurde dann eingeleitet mit einer Gruppenarbeit, in der zunächst in Kleingruppen ein Textausschnitt aus einem Text der Rassismusforscherin und AntirassismusTrainerin Nora Räthzel gelesen und diskutiert wurde.125 Die anschließende Plenumsdiskussion widmete sich der Notwendigkeit der Verwendung des Begriffs Rassismus und wurde von den Leiterinnen am Folgetag wieder 125 Es handelte sich um einen Auszug aus dem Text „Formen von Rassismus in der Bundesrepublik“, aus Jäger, S. und M. (1991), in dem Räthzel eine Begründung für die Verwendung des Begriffs und ihre Definition von Rassismus darlegt.
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aufgegriffen, um eine gemeinsame Definition des Begriffes zu versuchen. Der daran anschließende Themenblock rückte das Verhältnis von Sexismus und Rassismus ins Zentrum. Vier Kleingruppen erhielten je unterschiedliche Texte, die sich um das Thema Frauen(-bewegung) und Rassismus drehten.126 Die Fragen, die als Diskussionshilfen dienten, waren für alle Kleingruppen gleich: „1. Wie werden in den Texten Differenzen unter Frauen thematisiert? 2. Kann von einer gemeinsamen Unterdrückungserfahrung ausgegangen werden? 3. Ist die Kritik an deutschen Frauen berechtigt und 4. Welche Konsequenzen ergeben sich für eine antirassistische Praxis?“, und die Texte gaben darauf keine wesentlich verschiedenen Antworten. Der am Abend gezeigte Film „Schwarze Frauen bekennen Farbe“ portraitiert das Leben schwarzer deutscher Frauen in West- und Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung und thematisiert die alltäglichen Erfahrungen der Betroffenen. Sie schildern, dass in Deutschland eine schwarze Hautfarbe mit deutscher Herkunft und einem deutschen Pass nicht verbunden zu werden scheint. An den Film schloss sich ein Austausch der Teilnehmenden über Assoziationen und Erfahrungen an. Der das Seminar abschließende Themenblock widmete sich der kritischen Lektüre von Artikeln aus der feministischen Zeitschrift EMMA und den darin enthaltenen ‚rassistischen Diskursen‘. Mit Hilfe von Fragen nach der „Darstellung von MigrantInnen“, der Verwendung von „Gleichsetzungen, unzulässigen Verallgemeinerungen und Symbolen“ analysierten und diskutierten die Teilnehmerinnen erneut in Arbeitsgruppen die Quelltexte. Wieder wurden die Ergebnisse der Arbeitsgruppendiskussionen in der Plenumsrunde diskutiert. Am letzten Vormittag beendete eine Diskussion zum Seminartitel und Gesamtzusammenhang sowie Überlegungen der gewonnen Erkenntnisse zum Transfer in den Alltag den inhaltlichen Teil. Ein Feedback über den Seminarerfolg rundete die gemeinsame Woche ab.
126 Zu den hier ausgeteilten ideologiekritischen Texte zählten u. a.: Annita Kalpaka, Die Hälfte des (geteilten) Himmels: Frauen und Rassismus, in: Uremovic, Olga (Hrsg.) Frauen zwischen Grenzen. Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion, Frankfurt/New York. 1994; Irmgard Klönne, Feministische Theorien und Rassismus – Aktuelle Debatten in der Frauenbewegung, in: Nestvogel (Hrsg.), Fremdes und Eigenes. Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus aus Frauensicht, Frankfurt, 1994; Helma Lutz, Sind wir uns immer noch so fremd? Konstruktionen von Fremdheit in der weißen Frauenbewegung, in: Hügel, Ika u. a. (Hrsg.) Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus und Klassenunterdrückung. Berlin 1993 und Nora Räthzel, Zum Zusammenhang von ethnischen Verhältnissen und Geschlechterverhältnissen – Rassismus und Sexismus, in: dyalog, Zeitschrift für MigrantInnen/Politik und Kultur, Frankfurt, Nr. 4/1994, S. 12-16.
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Methodik Bis auf die Erstellung der Collagen, regelmäßig durchgeführte „Blitzlichtrunden“127 und Auflockerungsspiele ähneln Form und Lehr-Lern-Stil der Bildungsveranstaltung weitgehend dem eines Universitätsseminars: Plenumsdiskussionen und arbeitsteilig arbeitende Kleingruppen auf der Basis von mit Fragen angeleiteter Textlektüre und daraus teilweise enstandenen „Referaten“ wechselten einander ab. Denn die Ergebnisse der Arbeitsgruppendiskussionen wurden jeweils im Plenum präsentiert und diskutiert. Typisch für diese an Universitäten verbreitete Vorgehensweise ist auch der dafür eigens erstellte „Reader“, eine Zusammenstellung verschiedener Texte und Textauszügen, die Verwendung fanden sowie weiteren Textauszügen und einer Literaturliste zum Weiterlesen. Die eingesetzte Struktur ist insofern nicht verwunderlich als beide Leiterinnen einen akademischen Hintergrund haben. Beide sind Soziologinnen und verfügen über Lehrerfahrung, eine von ihnen ist promoviert. Grundlage für das Thema, den Titel der Veranstaltung und die Auswahl der überwiegend wissenschaftlichen Textauszüge war die gerade entstandene Qualifikationsarbeit zum Thema Geschlecht und Rassismus. In ihr analysiert die Autorin anhand der ‚Kritischen Diskursanalyse‘ Artikel aus der feministischen Zeitschrift EMMA und das darin dargestellte Bild des Fremden.
Beteiligte Auch in diesem Datenbeispiel handelt es sich um eine für diesen Bereich tyische Veranstaltungsbesetzung, sowohl, was der Hintergrund der Leiterinnen als auch die Zusammensetzung der Teilnehmerinnen angeht. Laut Auskunft der beiden Leiterinnen werden in diesem Unterbereich des Bildungswerkes alle Seminare v. a. durch AkademikerInnen der Sozial-, Politik und Gesellschaftswissenschaften durchgeführt. Auch die Zusammensetzung der Teilehmerinnen sei üblich. Teilgenommen haben insgesamt 16 Frauen mit heterogenem Hintergrund bezüglich der Ausbildungs- und Erfahrungsstruktur. Sie arbeiten als Angestellte, Erzieherinnen, Sekretärinnen und Sozialarbeiterinnen, auch eine Arbeiterin war dabei. Etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen verfügt über viele Erfahrungen mit anderen Kulturen. Als Sozialarbeiterin oder Erzieherin haben sie in der Suchtberatung, in der Asylstelle oder im Frauenreferat mit MigrantInnen beruflich zu 127 Das „Blitzlicht“ ist eine erwachsenenpädagogische Methode, bei der die Teilnehmenden auf Fragen antworten oder Satzanfänge ergänzen und reihum ihre Meinungen, Befindlichkeiten oder Wünsche äußern. Die Beiträge werden weder kommentiert noch diskutiert, sondern dienen der Transparenz der Kommunikation und Prozesssteuerung.
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tun. Die Erfahrungen erstrecken sich aber auch auf den persönlichen Bereich. Allein 7 der 16 Frauen haben oder hatten einen Partner aus einer anderen Kultur (und z. T. Kinder mit ihm). Eine der Teilnehmerinnen ist aus Italien emigriert, lebt seit vielen Jahrzehnten in Deutschland und war mit einem Deutschen verheiratet. Bei ca. einem Drittel der Frauen, die als Angestellte oder Sekretärinnen arbeiten, konnten keine besonderen Erfahrungen ausgemacht werden.
Pädagogische Ziele Die pädagogischen Ziele sind zwar keinem ausformulierten Curriculum zu entnehmen, anhand der Ausschreibung, der vorliegenden Magisterarbeit und auf der Basis der aufgezeichneten Daten lassen sie sich jedoch analytisch rekonstruieren. Schon in der Ausschreibung wird deutlich, dass die Leiterinnen eine Selbstreflexion der anwesenden Frauen anstreben:
Abbildung 3:
Abbildung 3: Seminarausschreibung „Hat der Rassismus ein Geschlecht?“
Hat der Rassismus ein Geschlecht ? In der deutschen Frauenbewegung haben sich Frauen jahrzehntelang als „Opfer“ männlicher Machtverhältnisse gesehen. Durch die Rassismus-Debatte, ausgelöst von Migrantinnen, werden sie aber auch als „Täterinnen“ thematisiert. Am Beispiel von Texten, Zeitschriften und Filmen wollen wir uns mit der Konstruktion eines vorherrschenden Frauenbildes und der daraus resultierenden Ausgrenzung beschäftigen. Mit Hilfe des Theaters der Unterdrückten wollen wir auch konkrete Alltags- und Arbeitssi tuationen bearbeiten. - Sind „europäische Mittelschichtsfrauen“ das Maß aller Dinge? - Brauchen wir das Bild der „unterdrückten islamischen Frau“ als Beweis unserer Emanzipation? Zeit: Ort: Teilnahmebetrag: Kinder: Für jedes Kind 12 bis 15 Jahre
xxxxxxxx xxxxxxxx DM xxxx DM xxxxx DM xxxxx
Kinderbetreuung erfolgt für Kinder zwischen 3 und 12 Jahren.
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Der als Frage formulierte Seminartitel „Hat der Rassismus ein Geschlecht?“ unterscheidet durch die Kategorie Geschlecht zunächst einmal nur implizit zwischen einem männlichen und einem weiblichen Rassismus. Dass es um Ausgrenzungen von Frauen gegenüber weiblichen Migrantinnen gehen wird, zeigen die nächsten beiden Sätze, in denen die Kategorien „Frauen in der deutschen Frauenbewegung“ und „Migrantinnen“ gegenübergestellt werden. Die Pluralbildung von Migrantin mit kleinem „i“ gibt dabei die Geschlechtsspezifik an. Die Ausschreibung zeigt auf auf mehrere Weisen noch genauer, dass das Ziel die Reflexion einer Form diskursiver Abgrenzung durch gesellschaftlich existierende Kategorien und Bilder ist: Die Kategorisierungen „Opfer“ und „Täterinnen“ oder weiter unten „europäische Mittelschichtsfrauen“ und „unterdrückte islamische Frauen“ sind jeweils in Anführungszeichen gesetzt und werden damit als zitierte Zuschreibungen markiert. Die Verben in den ersten beiden Sätzen „gesehen“ und „thematisiert“ verweisen auf sprach-bildliche kategoriale Diskurskonstruktionen. Der erste Satz rekurriert damit auf die Selbstbeschreibung deutscher Frauen, der zweite Satz auf ihre Fremdbeschreibung durch Migrantinnen. Der dritte Satz thematisiert das Hauptlernziel explizit, die Beschäftigung mit „der Konstruktion eines vorherrschenden Frauenbildes und der daraus resultierenden Ausgrenzung“. Die beiden abschließenden Fragen zeigen, dass es nicht nur um eine Reflexion, sondern auch um eine relativierende Dekonstruktion geht. Die auf den ersten Blick wertfrei scheinende Kategorie „europäische Mittelschichtsfrauen“ enthält implizite Wertungen, das legt die hyperbolische idiomatische Formulierung „Maß aller Dinge“ nah sowie das in der letzten Frage wertend dagegengesetzte „Bild der unterdrückten islamischen Frau“. Schließlich spricht die Frage mit „wir“ jene als „europäische Mittelschichtsfrauen“ kategorisierten Frauen direkt an und verweist auf die Funktion der Abgrenzung als Emanzipationsbeleg. Die den Ausschreibungstext rahmenden Fragen stellen seinen appellativen Charakter her: angesprochen fühlen dürfen sich emanzipatorisch orientierte Frauen, die bereit sind, ihre eigenen Bilder und Emanzipationsmaßstäbe sowie ihren Beitrag zum (als existierend vorausgesetzten) Rassismus zu hinterfragen. Aufbau und Lernziele können als typisch für eine Gruppe von antirassisischen Bildungsmaßnahmen bezeichnet werden. Im Unterschied zu den interkulturellen Trainings werden die Trennlinien zwischen Kulturen in Frage gestellt. Es geht in dieser Bildungsarbeit darum, Fremdes und Eigenes nicht als Eigenschaften, sondern als Produkt eines gesellschaftichen Konstruktionsvorganges zu erkennen und dabei gesellschaftliche und globale Machtverhältnisse zu thematisieren. Bildungsveranstaltungen wie diese haben daher auch eine
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politische Ambition. Sie wollen einen Beitrag zur gesellschaftlichen und politischen Integration von MigrantInnen leisten und Ausgrenzungsdiskursen entgegenwirken.
3.4.4 Datenaufbereitung und Vorgehensweise Gemäß des methodischen Postulats der registrierenden Konservierung wurden die Fallbeispiele vollständig auf Tonband aufgezeichnet. Anschließend stellt sich angesichts der Menge gesammelter sprachlicher Daten bei einer so feinmaschigen Methode wie der Konversationsanalyse stets die Frage der Aufbereitung des Datenmaterials für die weitere feinere Analyse. Ein so „großflächiger“ und tendenziell unabgeschlossener Interaktionszusammenhang wie der des interkulturellen Lernens bietet kaum natürliche Grenzen (wie etwa ein mehrminütiger Feuerwehrnotruf oder eine abgeschlossene Sendung das „Wort zum Sonntag“), dafür eine Fülle zwar natürlicher, aber in sich verschachtelter Einschnitte unterschiedlichster Phänomene – abhängig von der Relevanzsetzung der Beteiligten. Auch die Heuristik der Forschungsfrage fokussiert nicht von vornherein bestimmte Sequenzen wie etwa die Frage nach der interaktiven Lösung für den Abschluss von Telefongesprächen (Deppermann 2001). Um methodisch gestützte Auswahlkriterien für die Erstellung von Feintranskripten zu finden, hat sich auch die Erstellung von Gesprächsinventaren für die einzelnen Tonbandkassetten als wenig weiterführend erwiesen.128 Es waren angesichts der Datenfülle zu viele zeitraubende Rückgriffe auf die Tonbänder zu Vergleichszwecken und für die Transkriptentscheidungen notwendig. Trotz des nicht unerheblichen Aufwandes war es schließlich praktikabler, die Daten vollständig zu verschriften. Das heißt, alle hör- und verstehbaren gesprochenen Interaktionen im Seminar wurden ohne Bereinigungen, also einschließlich doppelter Worte, Füllwörter etc., jedoch ohne Satzzeichen oder interpretierende Hinweise transkribiert und die Äußerungen den SprecherInnen (bzw. ihrem Namenscode) soweit wie möglich zugeordnet.129 Auf diese Weise entstanden bei einer Textbreite von 10 cm, Schriftart Courier und Schrifttype 12 für die beiden ersten Fallbeispiele jeweils ca. 1000 Seiten Abschriften, das Fallbeispiel des kulturspezifischen Trainings zu Japan fügt dem weitere 300 Seiten Abschriften hinzu. Auch die Abschriften der verschiedenen, z. T. parallel 128 Bei einem Gesprächsinventar oder Inhaltsverzeichnis werden in einer Tabelle die Laufzeit des Tonbands, SprecherInnen, Inhalt der Handlungen, Aktivitäten und Notizen etc. stichwortartig notiert (vgl. als Bsp. Deppermann 2001: 34). 129 Ausgelassen wurden dabei Spiele zur Auflockerung oder die Klärung organisatorischer Fragen außerhalb des Seminarkontextes wie z. B. Essenswünsche oder Formalitäten.
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mit mehreren Aufnahmegeräten (wegen paralleler Kleingruppenarbeit) zeitgleich aufgezeichneten Daten umfassen noch einmal mehr als 1000 Seiten. Insgesamt besteht die Datenbasis daher aus knapp 3500 Seiten verwertbarer Daten.
Auswahl der Transkriptstellen Die Abschriften, die in einer Tabelle dargestellt sind, konnten auf Regelmäßigkeiten umfänglich untersucht werden. Relevante Stellen, Aktivitäten und Sequenzen habe ich farbig markiert und in der rechten Spalte beschrieben. Via Suchbefehl ließen sich darüber hinaus Kontexte spezifischer Aktivitäten, beispielsweise Adressierungsvarianten oder die Verwendung leerer Deskriptoren betrachten. Erst nach diesen Beschreibungen und Voranalysen fiel die Entscheidung für die Erstellung von Feintranskripten nach folgenden Kriterien: Nähere Betrachtung der Anfangsphasen (soweit vorhanden) und Einleitungen in die verschiedenen Thematiken und einzelnen Seminarabschnitte durch die Leiterinnen, da sie die Eröffnung des pädagogischen Rahmens darstellen Verwendung von themenrelevanten Ethnokategorien durch die Beteiligten (z. B. Vorurteile, Stereotypen, Rassismus) Erstellung von Kollektionen bestimmter Aktivitäten wie Kategorisierungen, Einwände, Prädikationen, Perspektivenwechsel Häufung und Dichte (Kookurrenz) von mehreren Phänomenen mit Aufschlusscharakter für die heuristische Forschungsfrage Erstellung von Transkripten aus den verschiedenen Phasen und Arbeitsformen des Seminars, um die Durchgängigkeit der Ordnungsprinzipien zu gewährleisten Zusätzlich geachtet habe ich auf folgende Aspekte: Den Umgang mit den curricularen Vorgaben, also die Nennung und Umsetzung der Grundprinzipien und des Ansatzes der Lehrenden sowie die Arten und Weisen der Verfolgung der genannten Lernziele Generell auf die Aktivitäten der Leiterinnen Bewertungen und den Umgang mit Bewertungen Kategorisierungen, Typisierungen, Stereotypisierungen Den Wechsel in der Interaktionsdynamik: Konsens-Dissens-Rhythmen Als Heuristik dürfte nicht zuletzt die eigene Erfahrung mit gewirkt haben, die im Verlauf der berufsbegleitend geschriebenen Arbeit immer mehr zum Tragen
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kam. Zu Beginn der ersten Analysen Anfang der 90er Jahre hatte ich noch wenig praktische Berührungspunkte mit dem Thema interkulturelles Lernen, dafür ein umso höheres Forschungsinteresse an bestimmten – besonders auffälligen – Phänomenen wie ethnischen Stereotypen. Mit zunehmender Praxis bin ich immer weiter in die Tiefe der Daten gedrungen und habe mich kleineren und auf den ersten Blick unscheinbaren Aspekten beschäftigt wie der jeweiligen Perspektive der Sprechenden, ihren Sprechpositonen oder kleinen pädagogischen Interventionen der Tainerinnen. Mehr und mehr konnte ich auch aus der eigenen Trainingserfahrung typische ‚neuralgischen Punkte‘ schneller erkennen. So ist die Auswahl der Transkripte sicherlich zusätzlich und zunehmend auf weicheren Erfahrungskriterien aufgebaut, wie „typische Situation im Training“ oder „wiedererkannte Herausforderung durch eine Teilnehmeräußerung für eine Trainerin“.
Herkunft und Darstellung der Transkriptstellen Insgesamt wurden über alle Veranstaltungen hinweg 607 Seiten Feintranskripte für die Detailanalyse erstellt. Aufgrund der hohen Anzahl der entdeckten Phänomene habe ich mich für eine ergebnisorientierte Präsentation der Analysen entscheiden müssen. Die LeserInnen können daher leider die Entdeckungsreise nicht mitmachen, erleben jedoch eine Führung am ‚Ankunftsort‘. Die Ausschnitte belegen demnach die Erkenntnisse. Bei der Darlegung der Analysen und der Darstellung der Transkripte im Text wurde folgendermaßen verfahren: Die Ausschnitte haben nicht alle denselben Detaillierungsgrad in der Transkription, sondern nur jeweils den, der für die Darlegung erforderlich ist. Aus Platzgründen wurden die Transkripte daher teilweise vereinfacht. Starke Vereinfachungen sind im Titel des Transkripts kenntlich gemacht. Die Ausschnitte haben eine fortlaufende Nummerierung, Seminartyp und Fortsetzungen werden ebenfalls in der Titelzeile gekennzeichnet. Um die Lesbarkeit der Rekonstruktionen zu gewährleisten und ein Springen beim Lesen zwischen Text und Transkript zu vermeiden, wurden die Äußerungen der Sprechenden aus den Transkripten im Text bei der Darstellung der Analysen soweit wie nötig zitiert. Die Zitate sind wörtlich und dann auch in doppelte Anführungszeichen („“) gesetzt, wenn die Syntax oder die prosodischen Detailphänomene relevant für die Analyse und Argumentation sind; sie wurden nur sinngemäß und in einfachen Anführungszeichen (‚‘) zitiert, wenn dies zur Darstellung der Ergebnisse ausreichend war.
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4. Analyseergebnisse: Gesprächsarbeit beim Interkulturellen Lernen
SOKRATES: ...ist es nicht allgemein anerkannt, dass durch die Lehre dem Menschen nichts anderes beigebracht wird als Wissen? MENON: Mir wenigstens scheint es so. SOKRATES: Wenn also die Tugend ein Wissen ist, so ist sie offenbar lehrbar? MENON: Unstreitig. SOKRATES: Damit wären wir also schnell fertig geworden. Nämlich: ist die Tugend von dieser Art, so ist sie lehrbar, ist sie von anderer Art, dann nicht. MENON: Gewiss. SOKRATES: Demnächst gilt es nun also wohl zu untersuchen, ob die Tugend ein Wissen ist oder etwas vom Wissen Verschiedenes. MENON: Ja, das müssen wir wohl nunmehr untersuchen.
4.1 Kulturreflexive Deutungsarbeit als Problem in interkulturellen Trainings Interkulturelle Trainings und Antirassistische Bildungsveranstaltungen unterscheiden sich, wie im zweiten Kapitel beschrieben, in ihren Zielen und Inhalten. Dennoch haben sie vor dem Hintergrund der Frage nach der Interaktionsform der kulturreflexiven Deutungsarbeit viele Überschneidungsbereiche. In den interkulturellen Trainings werden Normen und Wertsysteme verschiedener Kulturen vermittelt, aber auch die Reflexivität bezüglich eigener kultureller Vorannahmen thematisiert. In Antirassismusseminaren wird vor allem die Wertgebundenheit der Perspektive einer Dominanzkultur reflektiert. In beiden Fällen wird die Problematik der präreflexiven Interpretationen und Attributionen zum Thema gemacht. Wie immer man interkulturelle Kompetenz oder eine antirassistische Haltung definieren mag, stets geht es um die Berücksichtigung der Bedeutung kultureller und damit im Alltag ganz selbstverständlicher Orientierungen, Perspektiven und Kategorien, die beim Interkulturellen Lernen zielgemäß erschüttert werden.
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In einer gemeinsamen Kultur gehen wir von der Reziprozität der Perspektiven aus, d. h. ich nehme an, der oder die andere an meiner Stelle sieht die Situation in derselben Art und Weise wie ich. Das ist die Basis aller Interpretation sozialer Handlungen und des wechselseitig unterstellten Verstehens. Hinzu kommt, dass wir in der Sprachgemeinschaft auf geteilte und in der Kommunikation praktizierte Muster zurückgreifen. Mein Gesprächspartner deutet z. B. im Gespräch meine Frage als Frage, mein Ausweichen als Ausweichen. Ich erwarte im ersten Fall auf die Frage eine Antwort, im zweiten Fall, dass nicht ‚nachgebohrt‘ wird. Diese „natürlichen Einstellung“ (Schütz/Luckmann) zur sozialen Welt erscheint uns normalerweise unproblematisch: „Ich werde in sie hineingeboren und ich nehme es als gegeben an, daß sie vor mir bestand. Sie ist der unbefragte Boden aller Gegebenheiten sowie der fraglose Rahmen, in dem sich mir die Probleme stellen, die ich bewältigen muß.“ (Schütz/Luckmann 1979: 47).
Die Selbstverständlichkeit dieser ‚Normalität‘ wird in interkulturellen Begegnungen und in der interkulturellen Weiterbildung massiv irritiert. Wir erfahren, dass unsere Interaktionspartner aus China z. B. mit der Frage „Haben Sie schon gegessen?“ einen Gruß ausdrücken und die Frage nicht inhaltlich beantwortet wird, oder dass das Gegenüber höflich sein kann, ohne – wie in Deutschland üblich – „Bitte“ und „Danke“ zu benutzen, weil man sich – mit genau derselben Selbstverständlichkeit – an anderen Werten und Ausdrucksformen für Höflichkeit orientiert. Aus der Praxis ist zu berichten, dass die Kunden bzw. Teilnehmer von interkulturellen Bildungsmaßnahmen interkulturelles Lernen immer noch als ein leicht überschaubares Set von einzelnen Regeln und ‚Zusatz-Wissen‘ missverstehen und annehmen, man könne einfach zu bestehendem Wissen einige fremdkulturelle Verhaltensnormen ‚hinzulernen‘. Diese Vorstellung ist natürlich nicht hinreichend, auch wenn die Thematisierung kultureller Normen und Werte sowie einzelner Verhaltensregeln durchaus eine Rolle spielt. Begreift man Kultur als eine permanent in situ rekonstruierte und konstruierte Praxis, so sind mannigfaltige und in der Sozialisation über Jahre und Jahrzehnte erworbene wertegebundene und identitätskonstituierende Deutungsschemata und Praktiken zu reflektieren und gegebenenfalls zu modifizieren. Auch die Reflexion der Wirkmechanismen von Rassismus hat Dimensionen, in denen ggf. ein ganzes Weltbild verändert werden muss. Wie kann das innerhalb einer auf Tage oder zunehmend auf Stunden begrenzten Veranstaltung überhaupt gehen? Die bisherigen Studien verweisen immer nur auf die ‚großen Herausforderungen‘, die auf allen Ebenen mit dem Thema verbunden sind. Spannend
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und bisher weitgehend unerforscht ist, mit welchen Vermittlungs- oder Aneignungsstrategien in den interkulturellen Bildungsmaßnahmen gearbeitet wird. Im Folgenden sollen die typischen Phänomene aller vorliegenden Veranstaltungstypen unter der Fragestellung „wie ist interkulturelles Lernen möglich“ als Gesprächsarbeit beschrieben und reflektiert werden.
4.1.1 Kategorische Formulierung von Normen und Werten Den Leiterinnen von interkulturellen Seminaren ist es ein zentrales Anliegen, die Normen anderer Kulturen zu vermitteln.130 Die explizite Formulierung von Normen und Werten ist im Material der interkulturellen Trainings allerdings seltener als man vielleicht erwarten würde. Gleichwohl bilden kulturelle Werte durchgängig den thematischen Hintergrund für alle Gespräche in den Trainings und für alle im Folgenden untersuchten Phänomene und Muster. Ihre explizite Thematisierung ist geprägt durch charakteristische Merkmale wie man folgenden Ausschnitt aus dem Japan-Seminar sehen kann, in dem die Höflichkeitssprache thematisiert wird. Kontext ist das auffällig differenzierte Register in der japanischen Sprache, das je nach Teilnehmerkonstellation zu wählen ist. In der Höflichkeitssprache spiegelt sich die asymmetrische Kommunikation wider, die in Japan den Regelfall darstellt. Die Trainerin erläutert: TS #1
HÖFLICHKEITSSPRACHE (JAP)
Wenn Normen und Werte explizit genannt oder neu eingeführt werden, so ist damit die Formulierung abstrakter Regeln verbunden („als frau setzt man sich NOCHmal tiefer.“, Z. 120) und die Verhaltensnormen werden mittels präskriptiver Modalkonstruktionen formuliert, z. B. ‚wollen‘, ‚sollen‘, ‚dürfen‘ oder – wie hier – ‚müssen‘: „müssen=immer (.) Osake“. Andere Varianten der Regelbenennung sind imperativische Infinitive (‚für Indien gilt, keine Komplimente machen‘ (Zitat aus einem hier nicht aufgeführten TS „Berühren“, IKK II) oder kategorische Formulierungen: 130 Kultur- und wertevermittelnde kommunikative Aktivitäten sind nur in den interkulturellen Trainings zu finden, da das Antirassismusseminar Normen nicht vermittelt, sondern ausschließlich reflektiert.
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TS #2
KARMA131 (IKK II)
Um das komplexe Ausgleichsgesetz der hinduistischen Wiedergeburtslehre zu erläutern, verwendet die Leiterin eine kategorische Formulierung: ‚Wenn man ein schlechter Mensch war, dann kann es einem blühn, im nächsten Leben als Frau wiedergeboren zu werden‘, Z. 81-84). Kategorische Formulierungen konservieren laut Ayaß (1996) Normen und Werte.132 Meist wird die kategorische Formulierung mit dem Indefinitpronomen verbunden (vgl. hierzu auch Transkript #12 in diesem Kapitel: „also in der indischen höflichkeit is ähm: Usus dass man mehrfach ABlehnt bevor man dann doch zUsagt“). Diese Generalisierung über das Indefinitpronomen repräsentiert den Verbindlichkeitscharakter der Normen im Alltag und liefert sie zugleich quasi als ‚Merksätze‘. Einige Elemente dieser Form des Wissenstransfers sind auch charakteristisch für die Thematisierung von moralischen Normen in der interkulturellen Kommunikation (Günthner 1999).133 Im Unterschied zur moralisierenden Alltagskommunikation finden sich hier jedoch zusammen mit der prägnanten Zuspitzung Gegenpole – i.d.R. Einschränkungen, welche die Verbindlichkeit der Norm abschwächen oder Begründungen, die das Verhalten erklären. Hier wird außerdem aus der Perspektive einer spezifischeren Kategorisierung gesprochen. In beiden Beispielen fällt auch auf, dass die Leiterinnen repräsentativ sprechen, also die Sprechposition eines Mitglieds der jeweiligen Wertegemeinschaft einnehmen, in dem entweder das inkludierende „wir“ verwendet wird oder innerhalb einer Aussage zwischen verschiedenen Pronomen gewechselt wird und 131 Die spirituelle Vorstellung des „Karma“ bezieht sich auf eine Vergeltungs- oder Ausgleichslogik, bei der alle Taten, Konsequenzen haben, die sich auch in einem „Folgeleben“ manifestieren können. 132 In ihrer Gattungsanalyse Kategorischer Formulierungen in Formaten wie u. a. „wer/der“ oder „wenn/dann“, beschreibt Ayaß (1996) diese als Vehikel und indirekte Form moralischer Kommunikation in der Face-to-Face-Interaktion. Normen und Werte konservierend bilden diese Formate zugleich die Grundlage für die Herausbildung von Sprichworten und sind mit ihnen verwandt. Zeitgeschichtlich prominentes Beispiel ist sicherlich „Wer zu spät kommt, den straft das Leben“. Kategorische Formulierungen sind also Transporteure von Normen und Werten. 133 Günthner (1999) hat in ihrer Analyse der Thematisierungvarianten moralischer Normen in der interkulturellen Kommunikation herausgearbeitet, wie abstrakte kulturelle Regeln mit Beispielrekonstruktionen unter affektiver Beteiligung der Anwesenden reinszeniert werden. Auch bei der pädagogischen Thematisierung von Kulturwerten findet man die regelhafte Formulierung und Verbeispielung. Im Unterschied zu Günthners Analysen halten sich die Trainerinnen jedoch mit eigenen Bewertungen auffallend zurück und auch die Einladungen zum Moralisieren entfallen.
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diese dadurch verschmolzen werden („wir als FRAU: dürfen eigentlich nich sake, (.) sagen“, Z. 122f; „also man war vielleicht vorher kshatria (…) da: ss ich jetzt nich so ne hohe stellung habe“, Z. 82/86). Damit schließen die Trainerinnen zweierlei aus, einmal immunisieren sie ihre Formulierung gegen Gegenevidenzen aus dem Erfahrungsbereich der Teilnehmenden, zum anderen vermeiden sie damit eine stereotypisierende und moralisierende Rede.
4.1.2 Veranschaulichende Beispielgeschichten Charakteristisch für die Thematisierung von Normen im interkulturellen Training ist deren unmittelbare lebensnahe Erläuterung. So liefert die Trainerin im oben gezeigten Ausschnitt „Höflichkeitssprache“ direkt im Anschluss an die explizite Benennung der Norm ein illustrierendes Beispiel. TS #3
HÖFLICHKEITSSPRACHE (JAP)
Das Exempel ist die Urform aller pädagogischen Veranschaulichungen abstrakter Regeln. Es affiziert im Unterschied zur Regel, welche die Ratio adressiert, die Empfindsamkeit und appelliert an die Identifikationsfähigkeit mit den dargestellten Beispielfiguren.134 Das Exempel kann auch die Form einer exemplarischen Geschichte annehmen:
134 Der Aufklärungspädagoge und frühe Didaktiker Basedow (1724-90), hatte zwar nicht die interkulturelle Pädagogik vor Augen, beschreibt den Effekt von Exempeln jedoch unübertroffen: „Die moralischen Regeln, wenn sie nicht durch Erzählung bestätigt werden, beschäftigen nur den Verstand, nicht aber zugleich die Einbildungskraft. Solche Vorstellungen aber haben in der Seele weder eine starke noch eine dauerhafte Wirkung, sie werden leicht vergessen und selten wiederholt, weil die Wiederholung derselben nicht anders kann veranlaßt werden als durch Worte, nicht aber durch den Anblick oder durch die Erinnerung der sinnlichen Gegenstände. Hingegen, wenn die Regeln durch Erzählungen bestärkt werden, sie finden sie leichteren Eingang in das Herz des Menschen“ (Basedow, 1965, 123).
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TS #4
MONOCHRON POLYCHRON (IKK II)
Rahmung der Beispielgeschichte im ausgewählten Ausschnitt ist auch hier wieder eine Regel als ‚Merksatz‘ (Z. 64f.: „bei dem monochronen men:sch, ist der termin, (-) wichtiger, (.) als eine persönliche beziehung.“, Z. 65f.), bevor als Beispiel („ganz einfach,“, Z. 65) eine Geschichte folgt. Die steigende Endintonation bei „ganz einfach“ erzeugt dramaturgisch die dafür erforderliche Aufmerksamkeit. Das Besondere an diesen illustrierenden Geschichten ist ihr oft deutlich erkennbarer konstruierter Charakter. Als Zeit wählt die Trainerin das Präsens (‚ich treffe einen guten freund‘ und weiter: ‚wir kommen‘, ‚da sacht er‘ usw.), was deutlich macht, dass es sich nicht um ein rekonstruiertes Erlebnis handelt. Und auch der Inhalt selbst gibt vor dem Hintergrund ethnographischen Wissens deutliche Hinweise auf die gerade quasi ‚erfundene‘ Beispielgeschichte. Es ist in unserem deutschen Kulturkreis mehr als unwahrscheinlich, dass jemand, selbst wenn er als Freund kategorisiert wird, spontan aufgefordert wird, bei einem Problem zu helfen, wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat und sich „schrecklich viel=zu=erzähln“ hat (kurz markiert ist dieser Erwartungsbruch in der Einleitung zur direkten Rede: „und da sacht er jetzt doch zu mir“, Z. 69). Zwar können die narrativen Veranschaulichungen der Konzepte, Normen und Regeln auch aus dem Erfahrungsschatz der Trainerinnen stammen oder als rekonstruierte Geschichte nicht-anwesender Personen zur Illustration und Authentifizerung herangezogen werden, dies birgt jedoch einige Gefahren. Persönlich erlebte Geschichten unterliegen eher dem Verdacht der Subjektivität als ein konstruiertes Beispiel, zweitens neigen sie in der Interaktion zur Serialisierung. Dadurch können drittens Gegenevidenzen aus dem Erfahrungsschatz der Teilnehmenden mobilisiert werden. Präferiert wird daher die exemplarische Demonstration der kulturellen Regeln anhand der Inszenierung einer fiktiven Geschichte. Das im obigen Ausschnitt von der
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Trainerin gewählte Alltagsbeispiel führt den TeilnehmerInnen gewissermaßen wie in einer Filmszene die Handlungsimplikationen fremder Werte und Normen vor Augen, behält dabei aber zugleich eine abstrakte Qualität. In der direkten Rede stellt die Leiterin durch unterschiedliche Sprechstile zwei interagierende Personen dar. Während sie den einen um Hilfe bittenden Protagonisten schnell sprechen lässt, stilisiert sie den anderen in einer mit Pausen durchsetzten Rede. 135 Dies könnte eine Umsetzung der zuvor erläuterten Zeitkonzepte in den Sprachstil bedeuten.136 Die normativ zugespitzte Endrahmung „das is streng monochron;“ (Z. 78) weist die Geschichte noch einmal als Exempel für das eine der beiden thematisierten Kulturkonzepte aus. Denn eng verbunden mit der Formulierung von Normen oder anstelle derer können auch Konzepte der besprochenen Kultur(en)137 oder Fachbegriffe aus der interkulturellen Kommunikationsforschung genannt werden wie hier die beiden Konzepte „monochron“ und „polychron“ (vgl. dazu näher Kapitel 4.3.8).138 Sie werden mit ihrer handlungsbestimmenden Normativität als unübersetzbare Vokabeln eingeführt und dann wie die kulturellen Werte erläutert. Dadurch, dass die Norm mit einem Fremdwort bezeichnet wird, wird ermöglicht, dass die Teilnehmenden sie mit einer anderen Interpretations- und Handlungslogik verbinden können. Dieser kulturell und assoziativ unbesetzte Terminus liefert ihnen ein Deutungskonzept, mit dem sie beobachtbares und bisher nicht, schwer oder auf
135 Wie im Fall rekonstruierter Geschichten ist auch hier ein Merkmal, dass den Geschichten Inszenierungen eigen sind. Bei der Analyse der „Stimmenvielfalt im Diskurs“ beschreibt Günthner (2002), wie die Charaktere in den Geschichten durch prosodische und paraverbale Aktivitäten animiert werden und wie den Rezipienten „kleine Dramen“ (Goffman) dargeboten werden. Siehe dazu auch das folgende Unterkapitel „Szenische Animation“. 136 Der schnelle Sprechstil könnte auf die Multiaktivität polychroner Zeitorientierung hinweisen, der langsame auf die lineare „Eins-nach-dem-anderen-Orientierung“ des monochronen Zeitkonzepts. Da die Pausen jedoch auch die Ablehnung der Bitte markieren können, muss man mit dieser Interpretation vorsichtig sein. 137 Dazu gehören z. B. Begriffe wie die hinduistische Vorstellung des gelebten Schicksals (Karma) oder Kulturkonzepte wie die japanische Trennung von innen und außen im Bezug auf Gruppenzugehörigkeiten (uchi und soto). Sie werden auch in der Fachliteratur an Hand der landessprachlichen Originalbegriffe erläutert, da damit ganze Konstellationen von Orientierungen und Konzepten verbunden sind, die in ihrer Eigenheit nicht übersetzbar sind. 138 Hier erläutert die Leiterin den in interkulturellen Trainings häufig thematisierten Unterschied zwischen zwei verschiedenen Zeitorientierungen, wie er von Edward T. Hall (1983) eingeführt worden ist (vgl. Kapitel 2.1.1). Als „monochrone“ Kulturen wird ein Orientierungstyp beschrieben, der Zeit als etwas Materielles und Verfügbares auffasst. Der Umgang mit Zeit orientiert sich an der Vorstellung eines linearen Zeitstrahls: Dinge finden nacheinander oder zu festgelegten Zeiten statt (Der Bus fährt um 12 Uhr). „Polychrone“ Kulturen hingegen werden als eine durch ein zyklisches Zeitverständnis geprägte Form der Ereignisorientierung und parallelen Abhandlung von Dingen beschrieben. Die Zeit zerfällt in viele Momente und die InterakteurInnen orientieren sich an den Erfordernissen der Situation und ihren Beziehungen (Das Sammeltaxi fährt los, wenn es voll ist).
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der Basis eigener kultureller Deutungskonzepte falsch interpretiertes Verhalten mental einordnen können.139
4.1.3 Szenische Animation kultureller Orientierungen Die szenische Animation der Normen und Werte ist eine durchgängige Technik, die immer wieder auch ohne große narrative Rahmung eingesetzt wird. Die Leiterinnen führen kleine Situationen in direkter Rede vor, animieren meist namenlose Beispielfiguren und inszenieren fiktive Begegnungen wie kleine Szenen aus einem Drehbuch. Der folgende Ausschnitt stammt aus dem Themenbereich ‚Gesicht wahren‘. Die Trainerin des Japanseminars geht auf das Problem der Teilnehmenden ein, bei den freundlich lächelnden Japanern nicht erkennen zu können, wann diese eine Ablehnung formulieren. Sie greift in ihrer szenischen Animation eine von Japanbesuchern häufig gemachte Erfahrung auf. Bei der Frage nach dem Weg, werden sie im Zweifelsfall eher in die Irre geschickt, als dass ihnen ihr japanischer Gesprächspartner mitteilen würde, dass er den Weg selbst nicht kennt: TS #5
DIESES JA UND NEIN (IKK JAPAN, VEREINFACHT)
139 Das Belassen des Fremdwortes in diesem Beispiel ist leicht zu erklären, da es sich nicht um Kategorien erster Ordnung handelt, sondern um wissenschaftliche Konzepte zweiter Ordnung. Interessanterweise werden manche Werte oder Konzepte wie z. B. Ai, japanisch für Harmonie, nicht im Original belassen, sondern durchweg übersetzt (auch in der Fachliteratur). Im Unterschied dazu werden Konzepte wie z. B. Guanxi (Chinesisch für Beziehungen) oder Dharma (Hindi für Schicksal) im Original belassen. Vielleicht liegt es daran, dass die Übersetzung ihre Eigenheit vollständig verkennen würde, da damit ein anderes kulturelles Konzept abgerufen würde, das sich schwerer relativieren ließe (da man eine bekannte Vokabel wie „Beziehungen“ neu lesen muss) als gleich ein Fremdwort mit einem neuen Interpretations- und Verhaltensmuster zu lernen.
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Bevor sie die Szene vorführt, rahmt die Leiterin ihre Darbietung mit einer Fokussierung, die ankündigt, dass die Äußerungen japanischer Gesprächspartner bestimmte Deutungshilfen in (für uns als Nicht-Japaner) versteckter – man könnte auch sagen: fremdcodierter – Form enthalten (man ‚muss genau hinhören‘). Sie fordert die Teilnehmenden damit auf, ihr nun erworbenes Wissen einzusetzen, um die Zeichen wahrzunehmen, die signalisieren, dass es sich um eine freundliche Ablehnung handelt. Und damit diese auch niemandem entgehen, werden sie vor der Vorführung explizit und in ‚Merksatzform‘ benannt: „wenn die nämlich lange rumzögern.“ (Z. 43). Nun nimmt die Trainerin eine der Teilnehmenden als hypothetisch Beteiligte (das nähert die Szene den Anwesenden noch mehr an) und schlüpft selbst in die Rolle des angesprochenen Japaners („pamela fragt mich“, Z. 44). Wieder wird im Präsens inszeniert, und die Trainerin rahmt ein weiteres Mal die Folgeäußerung („und dann kommt so“, Z.45), bevor sie schließlich mit dem Zögern und Wiederholen der Frage die Signale inszeniert, die mitteilen, dass der Angesprochene überfragt ist. Der Merksatz in kategorischer Formulierung und das Beispiel werden eng verzahnt. Als sie dann die Wegbeschreibung ‚als Japaner‘ erläutert, lachen die Anwesenden. Das Lachen kann durch mehrere Faktoren initiiert werden: die Plastizität der Szene (einschließlich Wiedererkennungsfaktor), die Vorstellung der Trainerin als Japanerin oder der Kontrast zwischen dem inszenierten langen Zögern und der plötzlichen präzisen Antwort, also dem Widerspruch zwischen der offensichtlichen Inkorrektheit der Information und ihrer Präzision. Wie schnell die Teilnehmenden eine wichtige Lesart und interkulturelle Orientierung („der hat (.) keine nahnung.“, Z. 56) ummünzen in eine Stereotypisierung („das is n schwätzer.“), zeigt die leise gesprochene Attribuierung von Harry in Zeile 63. Die Trainerin überhört das und nennt noch einmal die Anzeichen, an denen man eine Ablehnung erkennen kann: „hat VIEL zu lange gedau`ert.“ (Z. 64). Die Funktion der szenischen Animation wird damit deutlich: Den Teilnehmenden wird ermöglicht, ein Kommunikationsverhalten als Indikator für kulturspezifische Werte und in seinem kulturellen Kontext zu interpretieren, statt
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wie bislang kulturgebundene Deutungen, ethnische Stereotypen, Charaktereigenschaften oder intentionalistische Zuschreibungen zur Deutung einzusetzen.
4.1.4 Stellvertretende Perspektivenübernahme Im vergangenen Abschnitt wurde bereits eine weitere Aktivität aus der Sammlung charakteristischer Strategien bei der Erschließung von Kultur als Deutungsressource sichtbar, als die Leiterin aus der Perspektive des befragten Japaners antwortete: die erläuternde Perspektivenübernahme. Die Trainerinnen sprechen gezielt aus der Perspektive anwesender und vor allem nicht anwesender Vertreter ausgewählter Kulturen und bringen damit den Beteiligten die handlungssteuernden Werte noch näher. Im Zusammenhang mit dem stets emotional aufgeladenen Thema der (untergeordneten) Stellung der Frau in Indien, insbesondere im Kontext wiederkehrender Medienberichterstattungen über Witwenverbrennungen und Mitgiftmorde, versucht die Trainerin den Anwesenden die Logik der Hierarchie und Beziehungssteuerung verständlich zu machen: TS #6
KARMA (IKK II)
Im Zuge ihrer Begründungen für das Verhalten der Männer und Frauen in indischen Familien wechselt die Trainerin Schritt für Schritt in die Perspektive
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einer indischen Schwiegermutter.140 Zunächst schildert sie den Zusammenhang noch aus einer Außenperspektive und endet mit einer Begründung (‚da die Töchter die Familie später verlassen, wird weniger emotional in sie investiert‘). Die argumentative Verbindung zwischen der Tatsache, dass die Töchter die eigene Familie verlassen, und der Vermutung, dass dann weniger in sie emotional „investiert“ wird, rahmt die Trainerin vorsichtig („kann man dann sagen“, Z. 39) und markiert damit neben der Außenperspektive auch den Konstruktionscharakter des Zusammenhangs bzw. dieser Behauptung. Die Trainerin schließt damit an die einleitende Rahmung an, dass es einen „richtigen (.) Teufelskreis.“ (Z. 37) gibt. Interessant sind hier auch die passivischen Formulierungen. So wird der im Hintergrund wirkende Kultureinfluss betont und der möglichen Vorannahme begegnet, dass das Verhalten der Protagonisten durch bewusste Intentionen motiviert sei. Wie sich das für ‚die‘ InderInnen anfühlt, macht die Trainerin unmittelbar danach explizit. Das für nicht Kulturmitglieder grausam oder utilitaristisch anmutende Verhalten, Kinder als ‚Investionsfaktor‘ zu beschreiben, erhält eine immanente und subjektiv nachvollziehbare Logik: die Mütter müssen damit ihre eigene zukünftige Altersvorsorge sichern. Die nachfolgenden Äußerungen werden aus einer indischen Perspektive formuliert, darauf verweisen die Kategorien (Töchter, Z. 38/40; Söhne Z. 45), die als Perspektive das Kategorienpaar Kinder-Eltern relevant machen.141 Zugleich führt das 140 In Indien ist auch heute noch ein weit überwiegender Prozentsatz der Eheschließungen die von den Eltern arrangierte Ehe. Die von den Brauteltern zu entrichtende Mitgift ist – obwohl offiziell verboten – gebräuchlich und die Eltern oder Brüder von Mädchen fangen oft schon bei deren Geburt an zu sparen, damit eine ausreichende Mitgift die Partnerwahl erleichtert. Einmal verheiratet, verlassen die Frauen das Elternhaus, um zukünftig mit ihrem Ehemann bei den Schwiegereltern zu leben. Dort stehen sie in der internen Familienhierarchie bis zur Geburt des ersten Kindes am niedrigsten und müssen nicht selten Demütigungen erfahren. Die Perspektive der Schwiegermutter ist für die Teilnehmenden am schwersten nachvollziehbar, ist sie doch diejenige in der Beziehungskonstellation, die sich am ehesten in das (mögliche) Leid der Schwiegertochter einfühlen könnte, da sie selbst einmal am unteren Ende der Hierarchie gestanden hatte. Erst dadurch, dass dies in Indien quasi „die Rentenversicherung“ darstellt, macht es das Verhalten nachvollziehbar. 141 Dieser Gedanke geht zurück auf Sacks’ Entwicklung von membership categoriziation devices (MIR: M = membership, I = inference-rich, R = representative) und category bound activities (CBA). Beides sind Selektionskriterien, mit deren Hilfe über Referenzierungen ein Wahrnehmungsfeld im Gespräch erschlossen wird, das sich auf der Basis geteilten Kulturwissens eröffnet. Sacks’ (1972) berühmtes Belegbeispiel ist die (Mini-) Geschichte, die ein Kind erzählte: „The Baby cried, the mummy picked it up.“ [ CBA1, child ] [ MIR ] [ CBA2, mother ] p family Wir hören intuitiv „the“ mummy als die Mutter des Kindes, obwohl sie keineswegs so bezeichnet wurde. Weil wir über unsere zugrunde gelegte normative Ordnung wissen, dass Säuglinge „gewöhnlich“ von ihren eigenen Müttern (MIR) betreut werden und werden sollten (CBA2), wenn sie weinen
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Indefinitpronomen „man“ hier quasi in den indischen common sense ein, denn das Modalverb (müssen) verbalisiert die sozialen Zwänge. Daraus folgt die zuvor angesprochene pragmatische Gefühlsteuerung (weniger investiert): man weiß (Z. 43), dass die Töchter früh gehen und die Söhne bleiben, d. h. für die Eltern im Alter sorgen werden. Ein weiterer wichtiger Indikator für die Perspektivenübernahme ist die konkretisierende Äußerung im Personalpronomen („sie verlässt die Familie sowieso“, Z. 44f), also der Übergang von ‚den Söhnen und Töchtern‘ zu einer bestimmten Tochter. Am Modaladverb „hoffentlich“ wird deutlich, dass die Trainerin nun immer mehr in die Perspektive der indischen Eltern schlüpft, indem sie die Hoffnung der indischen Eltern formuliert, dass die Söhne beruflich erfolgreich werden. Die Leiterin endet schließlich als ‚Sprachrohr‘ der indischen Mutter, als die sie sich explizit kategorisiert: ‚und dazu beitragen, dass es mir als mutter von drei söhnen gut geht‘. Gänzlich in die Lebenswelt und Perspektive der Mutter einer indischen Großfamilie (von vier Kindern ist bisher mindestens schon die Rede) hineinversetzt, haben wir Hoffnung, Bangen und Leid von Mitgiftsparen über Zukunftsängste bis hin zu Alterswünschen im Zeitraffer miterlebt. Mit dieser Perspektivenübernahme von exemplarisch ausgewählten Repräsentanten der angesprochenen Kulturen finden die Trainerinnen eine geschickte Lösung für zwei Probleme: Zum einen erschließen sie einen neuen Deutungshorizont und binden dabei eine entsprechende emotionale Qualität ein. Zum anderen verhindern sie dadurch, dass sie anstelle der Inderin sprechen, dass diese kulturellen Werte angegriffen werden können, was durchaus erwartbar ist. Die Praxis der Geschlechterordnung in Indien ist für europäische und gleicheitsorientierte Teilnehmende erfahrungsgemäß ein Reizthema. Wer nun jedoch die indische Orientierung kritisieren würde, würde sich zugleich gegen die Person der Trainerin aussprechen, das legt die Hürde entsprechend hoch. Dieses perspektivenverschmelzende Kunststück ermöglicht es den Anwesenden, sich nun leichter in die Mutter hineinzuversetzen, die – sobald die Söhne heiraten und die Schwiegertöchter ins Haus kommen – Schwiegermutter wird. Durch „Schwiegertochter“ wird diese Kategorie aufgerufen, und der Satz „jetzt kommt ( ) die schwiegertochter,“ (Z. 52) macht aus der Perspektive der Schwiegermutter den ganzen Teufelskreis mit einem Mal und ohne, dass es ausgesprochen wird, deutlich. Noch ist die Schwiegertochter die rangniedrigste Person im Haushalt, aber sie wird einmal diejenige sein, welche selbst den Platz der Schwiegermutter einnehmen wird. Der Satz ist ambivalent, er kann aus der Außenperspektive gesprochen sein (darauf würde der schnelle Anschluss mit der (CBA1), wird der immanente Zusammenhang gebildet. Alle weiteren in der Folge auftauchenden Personen, würden über das MIR „Familie“ angeschlossen werden. MIR steht für M=membership, I=inference-rich, R=representative (Sacks 1965, Lecture 6: 41).
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Etikettierung „=sie ist dann die rang(.)niedrigste,“ verweisen Z. 52) oder – in der Kontinuität der vorangegangenen Äußerungen – die Binnenperspektive der indischen Schwiegermutter darstellen. In diesem Fall würde eine Aktivität fortgesetzt, die über die kategoriale Perspektivenübernahme hinausgeht, das ‚Introspektive Sprechen‘, das ich als weiteres typisches Charakteristikum im Folgenden beschreiben werde. Denn im Verlauf der Trainings geben die Leiterinnen immer wieder stellvertretende Selbstauskünfte, also tiefe Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der von ihnen animierten Figuren.
4.1.5 Introspektives Sprechen Bei der regelmäßig auftretenden Aktivität der Verbalisierung einer innerlichen Rede werden von den Leiterinnen demonstrativ und verständnisgenerierend üblicherweise nicht explizierte innere kognitive und emotionale Vorgänge von zuvor eingeführten Protagonisten verbalisiert.142 (Kognitives) Verstehen und (emotionales) Verständnis fallen darin unmittelbar zusammen, denn nur dann kann der Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) – wie diese Figurenrede in der Literaturwissenschaft heißt – (nach)vollzogen werden. Im folgenden Beispiel erläutert die Trainerin, zu welchen Fehleinschätzungen es kommen kann, wenn die Orientierungen in der Begegnung differieren. Außer dem neuen Phänomen des introspektiven Sprechens sehen wir hier wieder einige der bereits eingeführten Aktivitäten:
142 Bei der Introspektion, einem von Wilhelm Wundt entwickelten Training, berichtet eine Person Erfahrungen aus der Perspektive der Selbstbeobachtung und kann die Inhalte des eigenen Bewusstseins in Komponenten wie Empfindungen, Bilder und Gefühle zerlegen (Zimbardo 1992: 305). Sprechen die Trainerinnen die Selbstbeobachtung aus der Perspektive fiktiver Mitglieder anderer Kulturen, muss dem natürlich wie im vorangegangenen Beispiel eine Perspektivenübernahme vorausgehen.
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TS #7
MONOCHRON POLYCHRON (IKK I)
Auch in dieser Sequenz setzt die Trainerin die schon vorgestellten Strategien ein: ein fiktives teilnehmernahes Beispiel (Z. 172ff.) mit szenischer Erläuterung (Z. 177ff.), explizite Kategorisierungen (Z. 174 und 177) und Perspektivenübernahmen (Z. 168 und 179ff.). Zunächst rahmt sie das kommende Beispiel als thematisch neuen Aspekt („das geht ja so weit“, Z. 167) und markiert damit, dass sie als vertiefenden Schritt auf wechselseitiges Erleben eingehen wird. In der wiederum ersichtlich konstruierten, aber für die Anwesenden realitätsnahen Beispielgeschichte, die die Trainerin unter Bezugnahme auf die anstehende Mittagspause inszeniert, kategorisiert sie sich selbst zugespitzt und repräsentativ als „ICH streng monochron,“ (Z. 174) und beschreibt dann ihr (fiktives) typisch monochrones Verhalten: Sie ist nach der Mittagspause pünktlich wieder im Seminarraum und wartet auf die Teilnehmenden. Das polychrone Verständnis der Situation wird in zwei Varianten erläutert, zunächst bildlich am äußerlich wahrnehmbaren Verhalten des ‚Nacheinander-Hereintröpfelns‘ der Teilnehmenden, danach im Spiegel der Wahrnehmung und Bewertung aus der Binnenperspektive polychron orientierter Menschen: Eine festgesetzte Zeit erscheint willkürlich und abstrakt. Zu diesen bereits bekannten Aktivitäten hinzu kommt nun die interaktiv gestaltete Veranschaulichung des Wahrnehmens und Erlebens eines Verhaltens bzw. einer zuvor von außen beschriebenen Szene. Ihre
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Interpretation, die sie als repräsentativ für ein monochrones Zeitverständnis einführt, beschreibt die Trainerin schon in der Rahmung einleitend als heftigen Gefühlsaffekt („persönlich (b/g)etroffen“, Z. 168) und fordert nun die Anwesenden ausdrücklich auf, sich in ihre Perspektive zu versetzen und zu beschreiben, was bei ihr dann ‚im Kopf abgehen‘ würde (Z. 180). Damit elizitiert sie bei einer Teilnehmerin eine Zuschreibung („die interessiern sich nicht“, Z. 181). Sie bestätigt diese Fehlattribution zwar mit eigener expliziter Bewertung, mit der sie sich affiliativ an die Teilnehmerin schmiegt, doch offenbar kommt es ihr mehr darauf an, die eigene Introspektion fortzuführen und als ein Urteil zu elizitieren, denn sie expliziert daraufhin die Gedanken und Gefühle aus der Selbstbeobachtung: „ich bin das gar nich nWERT dass die hier pünktlich kommen; (-) war wohl nix mit dem thema ne?“ (Z. 184f.). Konsequent kehrt sie zur Ausgangsrahmung zurück, dass es bei diesen Empfindungen nicht mehr um Pünktlichkeit gehe, sondern dass die Beziehungen gedeutet würden. Und sie bleibt dabei bei der Technik des introspektiven Sprechens, mittels derer sie deutlich macht, wie Wahrnehmung und Deutungsfähigkeit aufgrund des kulturellen Interpretationsrahmens eingeschränkt bleiben: „ich käm=(auch=nich =auf=die) (.) ich=würd zwar noch FRAgen, .h aber ich hä=wüsste ja schon die antwort warum kommt ihr denn so spät, (---) war schon=bisschen beLEIdicht, (.) und so, (--) ne?“, (Z. 187ff.). Die schnell gesprochenen unvollständigen und abgebrochenen Sätze zeugen von der Geschwindigkeit des stream of consciousness und fordern die Teilnehmenden zugleich auf, die Gedanken und Gefühle nachzuvollziehen und sinnvoll zu ergänzen. In Ergänzung zu den Beispielgeschichten und szenischen Animationen zur Illustration anderer Kulturkonzepte, Normen und Werte, führt das introspektive Sprechen nun äußerlich beobachtbares, auf der Basis der erlernten kulturellen Werte neu und anders interpretierbares Verhalten mit den möglichen kulturgebundenen Fehlinterpretationen zusammen.
4.1.6 Perspektivenreflexive ethnische Stereotypisierung In dem Moment, wo Trainerinnen und Teilnehmende gezielt in die Perspektiven der jeweiligen Kulturmitglieder schlüpfen (Perspektivenübernahme) und ihre Selbstbeobachtungen verbalisieren (Introspektives Sprechen), werden nicht nur Fehlinterpretationen durch kulturgebundene Bewertungen, sondern auch regelmäßig stereotypisierende Fremdeinschätzungen formuliert.143 Denn ein Teil 143 Unter ethnischen Stereotypen werden in der Regel Attributionen verstanden, bei denen Personengruppen in abwertender Manier bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Vergleiche dazu genauer Kapitel 4.3.1.
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der Selbstbeobachtung gilt neben den Gefühlen, die die (vorgestellten oder real erlebten) Interaktionspartner und Situationen erregen, den kulturgebundenen bzw. ethnozentrischen Interpretation des Verhaltens des Gegenübers und mithin der Zuschreibung von Intentionen oder Eigenschaften. Durch die Perspektivenreflexion verlieren die Stereotypisierungen ihren unmittelbar wertenden Charakter und sind nur noch Zitate kulturgebundener Deutungen. Die elizitierte reflexive Stereotypisierung im vorangegangen Transkriptausschnitt gab bereits eine Vorschau auf die Kookkurrenz dieser Aktivitäten. Wie der Überblick über die Ansätze des interkulturellen Lernens in Kapitel 2 zeigte, konzentriert sich ein großer Teil insbesondere der psychologisch inspirierten Literatur und Trainer auf den Aspekt der Umattribuierung von wahrgenommenen Handlungen und Verhaltensweisen. Auch die Trainerinnen in den erhobenen Datensätzen widmen den ethnischen Stereotypisierungen als theoretischem Thema einen Raum in der Vermittlung und ‚üben‘ damit – psychologisch gesprochen – Umattribuierungen, konversationsanalytisch gesprochen die Perspektivenreflexivität ethnischer Stereotypisierungen in der pädagogischen Kommunikation immer wieder ein. In der Fortsetzung des Ausschnitts „Monochron Polychron“ setzt die Trainerin, nachdem sie die unterschiedlichen Zeitvorstellungen eingeführt, exemplifiziert und einschließlich Introspektivem Sprechen perspektivisch erläutert hat, ihre pädagogische Perspektivenexplizierung fort: TS #8
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MONOCHRON/POLYCHRON (IKK 1, FORTSETZUNG NACH AUSLASSUNG)
Die Rahmung „(es) geht noch nweiter.“ (Z. 219) fungiert als Diskursmarker und dramatisierendes Element. Denn die Trainerin zeigt damit den Teilnehmenden bereits vorwegnehmend an, dass es sich bei den folgenden Äußerungen nicht um unreflektierte Moralisierungen, sondern um gezielt eingesetzte Zitate handelt. Die bereits eingeführte Perspektivenübernahme und das introspektive Sprechen lassen die von ihr geäußerten ethnischen Stereotypisierungen zu Beispielzitaten aus einem kulturgebundenen Deutungssystem werden. Darauf verweisen auch die jeweils eingesetzten rhetorischen ‚Kunstpausen‘ nach den deiktischen Hinweisen („DIE hier,“, Z. 221 und 227).144 Und damit auch kein Zweifel aufkommt, dass es sich nicht um Stereotypisierungen handelt, benennt die Trainerin reflexiv die Perspektive, aus der gesprochen wird. („aus unsrer sicht; (.) ich kann ja nur aus dER sicht Kucken.“, Z. 230). Die Einseitigkeit ethnischer Stereotypen wird aufgelöst durch den prompt folgenden Perspektivenwechsel mit -übernahme und anschließender introspektiv zitierter ethnischer Stereotypisierung: „nUmgekehrt; (-) wär ich polychron, (---) dann würd ich sagen; (-) ne? (.) wIr sind (-) flexibel sponta: n, (-) und die sind (.) sch: =tur.“ (Z. 231ff.). Schön zu sehen sind bei diesem Ausschnitt in jeder Zeile die charakteristischerweise auftretenden Pausen oder kurzen Absetzer vor jedem Perspektivenwechsel, hier zusätzlich mit nonverbalen Zeichen unterstrichen (Klopfen auf eine vermutlich beschriftete Tafel bzw. einen Flip Chart). Die auf der Bandaufnahme hörbare Veränderung der Sprechrichtung deutet darauf hin, dass der Perspektivenwechsel möglicherweise sogar mit einem Platzwechsel der Trainerin im Raum verdeutlich wird.
4.1.7 Kulturelle Perspektivenreflexion und Perspektivenwechsel Mit der zuletzt angesprochenen Aktivität der Trainerin, den permanenten Perspektivenrelativierungen und Perspektivenwechseln, sind wir beim Kern der Überwindung kulturgebundener Deutungssysteme angekommen, der permanenten Antizipation anderer Wertehorizonte, vor deren Hintergrund davon ‚abweichendes‘ Handeln interpretiert und be- oder ver-urteilt wird. In der durchgängigen kulturellen Perspektivenreflexion wird die Reziprozität der Perspektiven vor demselben kulturellen Referenzsystem nicht mehr einfach vorausgesetzt, sondern die Bedeutung von Konzepten, Situationen, Konzepten und Handlungen wird nach je unterschiedlichen kulturellen Deutungssystemen interpretiert. Das setzt natürlich voraus, dass die jeweiligen kulturellen 144 Offenbar unterstreicht sie den wechselnden Blickwinkel auch visuell an einer Tafel, darauf verweisen die Klopfgeräusche und die deiktischen Hinweise („die hier“).
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Interpretationslogiken bekannt sind. Wie die kulturelle Perspektivenreflexion einschließlich zitierter und somit reflexiver Falschattribuierung im Training geübt wird, zeigt das folgende Beispiel. Thema ist die Zusammenarbeit von deutschen und japanischen KollegInnen, die nicht immer reibungslos verläuft. Die auftretenden Schwierigkeiten lassen sich darauf zurückführen, dass jeweils das eigene kulturelle Referenzsystem und die vertrauten Handlungswege zur Lösung von Problemen eingesetzt werden. Im Vorlauf zu der im Folgenden präsentierten Sequenz hat die Trainerin schon eine ganze Weile das differierende Konfliktlösungsverhalten der Japaner über Vermittlungspersonen sowie deren Gesichtskonzept erläutert, sodass die Teilnehmenden bereits eine Interpretationsressource haben, um die Situation aus verschiedenen Perspektiven deuten zu können. TS #9
SO’N BISSCHEN UCHI IM UCHI145 (IKK JAPAN, VEREINFACHT)
Eingeleitet durch ein schlussfolgerndes „also“ (Z. 123) präsentiert die Leiterin gewissermaßen den Schlüssel zur Interpretation aller Manifestationen der 145 Uchi („innen“) bezeichnet den Raum für die relative Geltung einer spezifischen partikularen Gruppenmoral. Das Gegenstück soto („außen“) bezeichnet eine moralische Distanz zu denjenigen, für die die Normen nicht gelten. Zum Beispiel sind Höflichkeitsbekundungen, die im Westen als Teil der abstrakten Verkehrsmoral Gültigkeit beanspruchen – etwa das Sich-Entschuldigen, wenn man einen Fremden versehentlich in der Öffentlichkeit anrempelt – in Japan nicht üblich. Man ist Fremden gegenüber nicht verpflichtet. Im hier angesprochenen Kontext der Harmonie bedeutet „uchi“, dass die japanischen KollegInnen ihre gruppenspezifische Moral auch auf die westlichen KollegInnen ausdehnen, da sie mit ihnen in einer Crew sind.
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japanischen Kultur, einen, wenn nicht den zentralen Kulturwert Japans („Überhaupt“, Z. 124): Harmonie. Interessant ist hier zweierlei. Rhetorisch fällt der Aufbau eines Spannungsbogens durch die besondere grammatische Satzkonstruktion ins Auge: Statt ‚B ist das Ziel von A.‘ wählt die Leiterin die Konstruktion ‚Was das Ziel von A ist, ist B‘ und hält dadurch die Information ihrer Aussage bis zum Schluss zurück. Zweitens fallen die verschiedenen sprachlichen Mechanismen zur Unterstreichung der Hauptaussage auf, dass der Wert der Harmonie die gesamte japanische Kultur in allen Bereichen und durch und durch bestimme: eine Quantität suggerierende aufzählenden Dreierliste (Kommunikation, Sprache, Verhalten), die dann durch das ergänzende „und überhaupt“ im Sinne einer verallgemeinernden Ausdehnung auf das Ganze erweitert wird. Interessant dabei ist, wie die Sprecherin im Sinne einer pädagogischen Redundanz den Wert „Harmonie“ zweimal in Singsongintonation wiederholt und ihn so rhetorisch geschickt jedem Topos als Antwort zuordnet. Die Wiederholung stellt auch eine Unterstreichung des „und Überhaupt“ dar: in allen Bereichen und Situationen geht es an erster Stelle immer um Harmonie. Die zweifache Wiederholung evoziert die Monotonie und Erwartbarkeit des immer und überall Gleichen. Das ist typisch für die lehrende Vermittlung eines wichtigen Prinzips, das sich in verschiedenen Anwendungsbereichen ‚durchdeklinieren‘ lässt. Darauf folgt die kulturelle Perspektivenreflexion mit Perspektivenwechsel und perspektivenreflexiver ethnischer Stereotypisierung aus der Sicht der Japanerinnen, diese ‚empfinden etwas als harmonisch, wenn sie KOllegInnen nicht direkt ansprechen, sondern sogar zum höchsten Vorgesetzten gehen („p zwei“, Z. 132). Noch während die Trainerinnen die Kulturlogik im Bezug auf Harmonie aus japanischer Perspektive erläutert, fällt eine Teilnehmerin ihr überlappend in die Rede und nennt die reflexiv markierte ethnische Stereotypisierung aus deutscher Sicht: „aber für uns: is das dann so (hintenrum/hinterrücks). (.) (sind da) zu feige zu,“ (Z. 136f.). Die Trainerin bestätigt dies als korrekt („´ge`nau.“, Z. 138) und bezieht den Einwurf in ihre Erläuterung ein, indem sie mit einer einfühlenden Perspektivenübernahme und einer Negation anschließt: „für uns (.) is (.) zerstört es eher die harmonie.“ (Z. 143f.). Sie macht damit auch deutlich, dass man vielleicht denselben Wert haben kann, es jedoch unterschiedliche kulturelle Praktiken gibt, diesen mit Leben zu erfüllen. Auffällig ist hier die Selbstkorrektur von „is“ auf „zerstört“. Statt mit einer reflexiven Stereotypisierung zu antworten, die sich in dem eine Prädikation einleitenden Verb andeutet, bindet sie durch die Korrektur Nadjas Beitrag an den zuvor erläuterten Kulturwert Harmonie an. Man kann hier sehr gut sehen, wie blitzschnell pädagogische Vermittlungs- und Reflexionsentscheidungen bei der Deutungsarbeit getroffen werden (müssen).
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Wir können natürlich nur spekulieren, was die Trainerin zu dieser Entscheidung bewogen hat. Die bloße Wiederholung der von Nadja bereits ausgesprochenen reflexiven Stereotypisierung hätte keinen zusätzlichen Reflexionsgewinn gebracht. Die Rückbindung an das Lernziel, das japanische Verständnis von Harmonie zu erläutern, bringt demgegenüber einen kleinen Reflexionsfortschritt. Durch die Negation spielt die Trainerin auf das deutsche Harmonieverständnis an, das die Teilnehmenden kennen und das sie sich im Fall eines Erwartungsbruchs abrufen können. Eine Pflege harmonischer Beziehungen bestünde hier im Benennen und symmetrischen Austragen des Konflikts. Die Leiterin reflektiert die deutsche Perspektive damit in einem neuen Rahmen, dem der japanischen Werteorientierung. Man sieht anhand dieses Beispiels gut, wie in interkulturellen Seminaren stark vereinfachte positive Verallgemeinerungen (also z. B. ‚Japaner streben immer und überall nach Harmonie‘) vermittelt werden, die a) an die Stelle von kulturgebundenen negativen Deutungen fremden Handelns (‚die Sumiko hat das so hintenrum gemacht‘) bzw. b) an die Stelle von negativen Stereotypen (‚die Japaner machen das immer so hintenrum‘) treten sollen. So wird an der Ersetzung von ‚falschen‘, da emotional negativ gefärbten, durch „richtige“, da kulturell informierte, aber nicht weniger vereinfachte Erklärungs- und Deutungsmuster gearbeitet.
4.1.8 Transkulturelle Analogie Fremde Orientierungen und vielleicht sogar unbekannte Gefühlslagen zu vermitteln, gehört zu den schwierigsten Aufgaben beim interkulturellen Lehren. Verstehens- und Empathieprozesse, die ansonsten über viele Jahre hinweg durch Sozialisationserfahrungen angeeignet werden, können nicht wie Informationen vermittelt werden. Entsprechend geben die Trainerinnen den Teilnehmenden auch die Möglichkeit, kondensierte Gefühlserfahrungen bzw. Analogieübertragungen zu machen. Ich nenne diese Aktivität Transkulturelle Analogie, da ein in der eigenen Kultur nachvollziehbares Pendant zum vergleichenden ‚Hineinspüren‘ herangezogen wird: TS #10 HÖFLICHKEITSSPRACHE (IKK JAPAN)
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In dem bereits mit dem ersten Transkriptausschnitt eingeführten Beispiel zum Thema Höflichkeitssprache bemüht sich die Trainerin den Teilnehmenden ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie bedeutsam in Japan die Wahl verschiedener Register und Kommunikationsstile in Abhängigkeit vom jeweiligen Gesprächspartner und vom Kommunikationskontext ist. Sie greift dabei auf eine Analogie zurück, wie sie auch den deutschsprachigen Teilnehmern vertraut ist. Der Unterschied bei der Registerwahl zur Adressierung des Vorstandsvorsitzenden als des obersten Vorgesetzten im Unternehmen, der hier namentlich genannt wird, und der eigenen Mutter als Beispielperson aus dem intimen Familienkreis könnte extremer nicht sein. Die Trainerin initiiert damit einen besonderen Lernprozess: Den Teilnehmenden wird die Übertragung einer bereits bekannten situationsangemessenen Orientierung nahe gelegt. Dadurch können sie ein Gefühl dafür entwickeln, was es für JapanerInnen bedeutet, sich in der Registerwahl zu vergreifen, denn die lachende und von Peinlichkeit zeugende Reaktion einer Teilnehmenden macht deutlich, dass eine Verwechslung der Register mitgedacht wurde. Zugleich wird klar, dass den Anwesenden das Phänomen durchaus vertraut ist, wenngleich es in der deutschsprachigen Kultur nicht mit derselben Differenziertheit angewendet wird wie im Japanischen. Mit dieser Strategie der transkulturellen Analogiebildung füllen die Trainerinnen ihre Kulturinformationen mit Leben und führen die sonst als Fakten leicht vorbeiziehenden und doch zu vermittelnden Inhalte näher an den Erfahrungsraum der Teilnehmenden heran. Je mehr die Trainerinnen kommunikativ demonstrieren, wie man eigenes und fremdes Verhalten mit Hilfe der verschiedenen kulturerschließenden Strategien aus wechselnden Perspektiven interpretieren und bewerten kann, desto besser gelingt es den Teilnehmenden, diese Bewegung nachzuvollziehen oder aktiv selbst vorzunehmen. Im folgenden Ausschnitt aus der Sequenz „Karma“ nimmt Daniela von sich aus eine transkulturelle Analogisierung vor, um sich in die Wiedergeburtslogik einzufühlen, die die Trainerin zuvor über die Begriffe Samsara (Kreislauf des Werdens und Vergehens) und Karma (moralische Rückwirkung der Handlungen auf den Akteur beim Zyklus der Wiedergeburten) eingeführt hatte:
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TS #11 KARMA (IKK II)
Mit kategorischen Wenn-dann-Formulierungen erläutert die Leiterin am Beispiel der indischen Kasten die moralische Vergeltungslogik und bedient sich dabei der typischen Präsentationsform der Normen, wie sie zu Anfang dieses Kapitels beschrieben worden ist (siehe Kapitel 4.1.1); dies wird auch noch in der kleinen Auslassung weitergeführt. Daniela knüpft zunächst in Form einer Reformulierung an die Aussage der Leiterin über die Rückwirkung der eigenen Taten auf das nächste Leben an. Während die Leiterin diesen Sachverhalt am Beispiel von negativen Sanktionen illustriert hatte, macht Daniela den Umkehrschluss: Wer sich moralisch richtig verhält, steigt in der Kastenhierarchie auf. Damit zeigt sie, von der Trainerin bestätigt („´ge`nau.“, Z. 103), dass sie die Funktionsweise der Normen verstanden hat. Die Leiterin reformuliert das Prinzip des Karma mit einer indischen Perspektivenübernahme („dass ich (-) meine KAstenmäßige (.) pflicht in dIEsem leben erfülle,“, Z. 105f.). In Zeile 111 macht Daniela dann den transkulturellen Analogieschluss, indem sie die Vergeltungslogik des Karma mit
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der Hoffnung auf das Jenseits im Christentum (als Belohnung für ein gottgefälliges Leben, wie es im Christentum heißt) vergleicht. Diese Verstehens- und Nachempfindungsleistung wird offenbar auch von anderen Seminarteilnehmern vollzogen, wie man am Zustimmungssignal von Peter (Z. 118) sehen kann.
4.1.9 Die multiperspektivischen Aktivitäten des Transkulturellen Sprechens Kommunikationsprägend ist die durchgängige Perspektivenvariation, -reflexion und -pluralisierung der Leiterinnen. Sie sprechen ausnahmslos aus einer transkulturellen Perspektive. Was Menschen wahrnehmen und interpretieren könnten wird auf der Basis ‚mein kultureller Wertehorizont‘ und ihr beobachtbares Verhalten auf der Folie ‚Orientierung an anderen kulturellen Werten‘ erläutert und interpretiert. Das folgende Beispiel zeigt die meisten der typischerweise damit verbundenen Aktivitäten einmal auf engstem Raum. Fokus des hier von der Leiterin initiierten thematischen Einschubs ist die Illustration des indirekten Kommunikationsstils am Beispiel von Ablehnungsritualen im Rahmen des Themas ‚Gästebetreuung‘: TS #12 NOCH FRAGEN ZUM INDER (IKK II)
Mit Hinweis auf den Zeitfaktor schließt die Leiterin an das zuvor thematisierte Verhalten von Passagieren an Bord von Flugzeugen an, sie zieht also ein zusätzliches Thema (Zeit) zur Erläuterung kultureller Normen heran, was am Displacement Marker „übrigens“ (Z. 97) erkennbar ist. Normen in anderen Kulturen können für die FlugbegleiterInnen (vor dem Hintergrund strukturierter und zeitlich begrenzter Serviceabläufe) Zeit kosten, haben jedoch ihren Grund in anderen kulturellen Höflichkeitsformen wie Ablehnungsritualen – so könnte man die ‚Botschaft‘ kurz zusammenfassen. Doch das sagt die Trainerin so nicht. Interessant ist der interaktive Aufbau ihres Einschubs: Zunächst nimmt sie die Perspektive der FlugbegleiterInnen ein und bewertet das Phänomen, noch bevor
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sie es beschrieben hat, aus der beruflichen Alltagsperspektive der FlugbegleiterInnen als „lästig“.146 Indem sie den Konjunktiv verwendet („lästig sein könnte“, Z. 97), gesteht sie den Flugbegleiterinnen quasi die Empfindung zu, ohne ihnen eine wertende Haltung zu unterstellen. Zugleich macht sie das Verhalten der indischen Gäste, auf das sie Bezug nimmt, damit für die Zielgruppe relevant. Die Trainerin nennt nun zunächst den Wert als Hintergrund für das Verhalten (Höflichkeit, Z. 98) und den Brauch, worin er sich ausdrückt (mehrfache Ablehnung, Z. 99). Anschließend listet sie weitere, geographisch nähere und vertrautere Kulturkreise (England, Belgien, Z. 101f.) auf, in denen dieses Handeln ebenfalls erwartbar ist. England wirkt als Beispielkultur zusätzlich autorisierend für die Aussage der Leiterin, da sie selbst Engländerin und dort aufgewachsen ist, was die Teilnehmenden wissen. Dennoch vermeidet sie eine Verallgemeinerung, indem sie die Verbreitetheit des Rituals mit „ziemlich üblich“ (Z. 102) leicht einschränkt. Dann fällt ein Fachbegriff, ‚indirektere Kommunikation‘, der bereits eingeführt ist, worauf der direkte Artikel „die“ verweist (Z. 104). Er lässt unausgesprochen einen Relativsatz assoziieren wie ‚die wir schon thematisiert haben‘. Schließlich illustriert die Trainerin in einer kleinen Szene, die durch einen Wechsel in die englische Sprache deutlich als Inszenierung markiert wird, wie dieses Ritual aussehen kann. Sie führt die Ablehnung aus Höflichkeit und wiederholtes Anbieten in direkter Rede vor. Die Reflexhaftigkeit der Ablehnung des angebotenen Tees kommt im schnellen Anschluss der Ablehnung zum Ausdruck („would you like a cup of tea;=oh no.“, Z. 105). Der ritualisierte Protest gegen die Ablehnung wird wiederum in der Intonation, im hoch gesprochenen Laut „noch“ und im erneuten Anbieten deutlich (Z. 105f.). Dann reformuliert die Trainerin auf Deutsch das Muster auch noch aus der Binnenperspektive des Ablehnenden („man lässt sich dann dazu überrEden“, Z. 106f.).
Zusammenfassung Auf engstem Raum haben wir hier die meisten der bereits beschriebenen Aktivitäten versammelt.147 Um Kultur als Deutungsressource kenntlich zu
146 Die Umbewertungsarbeit, die hier versteckt ist, ist an dieser Stelle nur mit ethnographischem Wissen erschließbar. Mit dem Zitat der binnenperspektivischen Attribution „was lästig sein könnte“ im Bezug auf indisches Höflichkeitsverhalten an Bord bezieht sich die Leiterin auf einen im kommunikativen Haushalt der Angestellten äußerst verbreiteten Topos des „lästigen Inders“, der in vielen Variationen kommuniziert wird. 147 Die zitierte Passage enthält bis auf die Transkulturelle Analogie und das Introspektive Sprechen alle bisher beschriebenen Strategien.
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machen, setzen die Trainerinnen regelmäßig vor allem die folgenden Strategien ein, die auch multifunktional eingesetzt werden können: Sie thematisieren und benennen unterschiedliche kulturelle Normen, Werte oder Orientierungen (hier: „Höflichkeit“) in mehr oder weniger kategorischem Format; sie geben dem herauszuhebenden ‚Muster‘ eine Bezeichnung 2. Ordnung (Konzept oder Fachbegriff) und formulieren ein kulturelles Konzept, ggf. in einer andere Sprache oder aus der wissenschaftlichen Literatur, als neue Deutungsperspektive (‚indirektere Kommunikation‘, Z. 104); dies wird typischerweise mit Pausen abgesetzt; sie nennen als Kategorie mindestens eine Kultur oder entsprechende Vertreter, bei denen das Verhalten tendenziell erwartbar ist (Indien, Belgien, England), sie stellen gegenüber oder vergleichen; sie arbeiten mit abgeschwächten Generalisierungen, d. h. sie verallgemeinern und schränken zugleich ein (‚ziemlich üblich‘, Z. 102); sie veranschaulichen oder animieren die Unterschiede in den kulturgebundenen Perspektiven beispielhaft mit einer Geschichte oder kulturerschließenden Szene (‚would you like a cup of tea;=oh no. noch go on‘, Z. 105f.); sie benennen Verhalten(smuster), an denen diese Orientierung ablesbar ist (‚so ein Spiel hin und her‘, Z. 107); sie vollziehen Perspektivenwechsel und Perspektivenreflexionen (‚man lässt sich dann dazu überreden‘, Z. 106f.); sie benennen die Interpretationen, Attributionen oder Perspektiven derjenigen Person(en), welche diese Orientierung nicht teilen bis hin zu Stereotypen (‚könnte lästig sein‘, Z. 97f.) sie beschreiben Sichtweisen und das ‚Innenleben‘ (Gefühle, Gedanken) der beteiligten Personen und explizieren sie (‚man lässt sich dann dazu überreden‘, Z. 106f.) Die hier präsentierten Aktivitäten bilden quasi das Repertoire, mit dem die Seminarleiterinnen kulturreflexiv arbeiten und Deutungserweiterungen einführen.148 Die Regelmäßigkeit der vorgestellten Aktivitäten ist bereits darin deutlich ge148 Die Metaphorik des Repertoires verweist auf die Flexibilität des Einsatzes der verschiedenen ermittelten Strategien. Ebenfalls mit einer – wenn auch etwas starreren – Metaphorik argumentiert Nothdurft (1984), der bei der vergleichenden gesprächsanalytischen Untersuchung von Beratungsgesprächen in verschiedenen institutionellen Kontexten nicht eine Sequenz rekonstruierte, sondern einen „Bausatz“ für typische Ordnungsstrukturen der Beratungskommunikation zusammenstellte. Er nennt die Ordnungsstrukturen, die er zu einer Liste zusammenstellt, „Stücke“. Sie leisten einen je spezifischen Beitrag zur Problempräsentation im Handlungsschema ‚Beratungskommunikation’. Als Zwischenebene zwischen den „Versatz-Stücken“ und Handlungsschema ermittelt er Prinzipien, die typische Kombinationsmöglichkeiten enthalten.
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worden, dass jeder der bisher präsentierten Ausschnitte auch einige der anderen Phänomene enthielt. Reihenfolge, Häufung und Vielfältigkeit der Aktivitäten können variieren, einzelne Elemente aus diesem Fundus können miteinander verwoben und die Aktivitäten multifunktional sein.149 Die Bestandteile werden einzeln, interaktiv oder kollaborativ realisiert oder von den Leiterinnen im Zuge von Interventionen im Anschluss an Teilnehmeräußerungen eingesetzt, wie ich noch zeigen werde. Ein Kennzeichen dieser spezifischen Kommunikationsweise der Leiterinnen ist die permanente Vergegenwärtigung anderer und damit die Nutzung pluraler kultureller Perspektiven zur Deutung von Situationen. Sie bewegen sich jeweils gezielt in wechselnden Kontexten und vollziehen dadurch quasi ein ‚Transkulturelles Sprechen‘ (siehe folgendes Bild die horizontale Bewegung). Ein weiteres Kennzeichen ist die Durchlässigkeit der Reflexionsebenen, angefangen von der jeweiligen kulturellen Norm bis zur deren Sichtbarkeit in der alltäglichen Interaktion oder interkulturellen Kommunikation (im folgenden Bild die vertikale Bewegung).
149 Dies ist u. a. der Fall, wenn das Fachwort zugleich ein Wertekonzept darstellt, das in der Originalsprache belassen wird, wie z. B. „Karma“, oder wenn die Geschichte auf eine Szene mit direkter Redewiedergabe kondensiert ist.
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Abbildung 4:
Transkulturelle Perspektivenarbeit der Leiterinnen
Transkulturelle Perspektive der Leiterinnen150 Wechsel der Referenzhorizonte mit Hilfe von Kulturerfassungskonzepten151
KULTURKREIS 1
KULTURKREIS 2
KULTURKREIS 3
geteilte Werte und Normen explizit machen
geteilte Werte und Normen explizit machen
geteilte Werte und Normen explizit machen
gemeinsame Orientierungen (Konzepte) benennen
gemeinsame Orientierungen (Konzepte) benennen
gemeinsame Orientierungen (Konzepte) benennen
Darstellung in Handlung und Interaktion (Szene)
Darstellung in Handlung und Interaktion (Szene)
Darstellung in Handlung und Interaktion (Szene)
kulturgebundene Binnenperspektive ausführen (introspektiv)
kulturgebundene Binnenperspektive ausführen (introspektiv)
kulturgebundene Binnenperspektive ausführen (introspektiv)
Stereotypisierung benennen Î
Fremdbild
Í Stereotypisierungen benennen Î
Fremdbild
Í Stereotypisierungen benennen
150 Die scheinbare „Abgeschlossenheit“ der Kulturkreise und der hier eingerahmten Metaperspektive des Transkulturellen Sprechens ist der notwendigen Vereinfachung einer bildlichen Darstellung geschuldet. Tatsächlich ist der Prozess dynamisch, blitzschnell, verschachtelt und die Perspektiven werden parallel im Auge behalten. 151 „Kulturerfassungskonzepte“ sind wissenschaftsbasierte Begriffe zweiter Ordnung, welche die in Begegnungssituationen entstehenden Differenzen anhand des jeweiligen Wissenschaftsverständnisses von Kultur identifizieren, erfassen und erläutern (vgl. dazu auch Köppel 2002). Die für das interkulturelle Lernen zentralen Ansätze wurden im zweiten Kapitel dargelegt.
147
Das Besondere an interkulturellen Bildungsmaßnahmen ist, dass sie die jeweiligen kulturellen Referenzhorizonte (Roth 2002) überschreiten (müssen) und damit das gesamte System kultureller Routinen von der sichtbaren Verhaltensweise bis zur darin eingelassenen Werteorientierung.152 Indem meine kulturelle Selbstverständlichkeit in interkulturellen Bildungsmaßnahmen relativiert wird und andere Selbstverständlichkeiten daneben gestellt werden, verliere ich quasi meine präfreflexive ‚kulturelle Unschuld‘. Ich kann eine Situation oder Handlung jetzt nicht mehr nur ‚als Deutsche‘, sondern auch vor dem Hintergrund eines amerikanischen oder koreanischen oder auch eines subkulturellen Referenzhorizontes interpretieren. Wir benennen und reflektieren im Alltag unsere kulturelle Perspektive in der Regel nicht, da sie für uns selbstverständlich ist, und die Interpretationskonzepte, auf denen jegliches Verstehen aufbaut, bleiben unbewusst. Das transkulturelle Sprechen, das die Trainerinnen praktizieren, kann daher im goffmanschen Sinne als ‚unnatürliches Sprechen‘ bezeichnet werden.153 Träte man aus dieser (jeweils kulturspezifischen) Perspektive des Selbstverständlichen und Erwartbaren heraus, so müsste man sich entweder permanent wundern oder die Welt für chaotisch, regellos und unerklärlich halten.154
152 In seiner Habilitation „Kultur und Kommunikation“ (2002) verwendet Roth den Ausdruck „Kultur als Referenzhorizont“. Denn aus einer interaktionsorientierten Perspektive betrachtet ist Kultur keine „mentale Programmierung“ (Hofstede 1997), sondern wird permanent als Bedeutungszusammenhang in der Kommunikation hergestellt. Roth definiert seinen Begriff wie folgt: „Kultur als Referenzhorizont meint also nicht einfach den schlichten Verweisungscharakter von Zeichen, sondern sieht den Horizont als ein System kultureller Routinen, Techniken, Skripts und Codes, das überindividuell nur virtuellen Charakter hat (...)“ (Roth 2002: 502f.). 153 In der „Rahmen-Analyse“ (1993) untersucht Goffman, auf welchen Organisationsprinzipien unsere Situationsinterpretationen basieren. In Anlehnung an Bateson definiert er den Terminus „Rahmen“ als die Form der Erfahrungsorganisation, die unseren Erlebnissen Sinn verleiht. (ebd.: 19). Die grundlegendsten Interpretationsschemata bezeichnet er als „primäre Rahmen“ (Goffman 1993: 31ff). Zu den zwei großen Klassen primärer Rahmen gehören „natürliche Rahmen“, die Geschehnisse auf physikalische und „natürliche“ Ursachen zurückführen und „soziale Rahmen“, welche den Verständnishintergrund für voluntaristische Handlungen bilden. Man tendiert laut Goffman dazu, die Ereignisse im Sinne primärer Rahmen zu beschreiben, sie bilden den Hauptbestandteil der Kultur einer sozialen Gruppe (ebd.: 27), mit der diese sich die Welt erklärt. Genau genommen sind die primären Rahmen unhintergehbar, da „allgemein die sehr bedeutsame Annahme gemacht [wird], dass alle Ereignisse – ohne jede Ausnahme – in das herkömmliche Vorstellungssystem hineinpassen und mit seinen Mitteln bewältigt werden können. Man nimmt das Unerklärte hin, aber nicht das Unerklärliche“ (ebd.: 40). Insofern ist die permanente Infragestellung primärer (sozialer) Rahmen ein „unnatürliches Sprechen“. 154 Vgl. dazu auch Tannen: “People approach the world not as naive, blank-slate receptacles (...), but rather as (...) veterans of perception who have stored their prior experiences as ‘an organized mass’, and who see events and objects in the worlds in relation to each other and in relation to their prior experience. This prior experience or organized knowledge then takes the form of expectations about the world, and in the vast majority of cases, the world, being a systematic place, confirms these
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„Kultur als der unser Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebende, gedeutete und ausgeleuchtete Sinnhorizont ist nicht nur in unseren Lebensäußerungen allgegenwärtig, sondern auch der von uns allen – in je unterschiedlichen konkreten Rahmungen – berücksichtigte, aufrechterhaltene und immer wieder hergestellte Ordnungszusammenhang, der das Geordnete und Sinnhafte vom bloß Zufälligen und Sinnlosen abgrenzt.“ (Soeffner 2000: 167f.)
In den primären sozialen Rahmen sind also Erfahrungsverarbeitungen und Sinnhaftigkeit vorausgesetzt und sie werden nur unter bestimmten Bedingungen (z. B. im unmittelbaren interkulturellen Kontakt oder in gesellschaftlichen Umbruchssituationen) fragwürdig und kommunikationsbedürftig.155 Auch die Trainerinnen können die transkulturelle Perspektivenvielfalt nicht durchgängig beibehalten. An vielen kleinen Selbstkorrekturen wird deutlich, wie sehr die Äußerungen auch von ihnen selbst kontrolliert werden müssen. Im folgenden Ausschnitt sieht man, wie Leslie eine Zuschreibung abbricht und neu formuliert: TS #13 KOPFWACKELN (IKK II)
Thema ist die besondere Gestik von Personen aus dem Kulturkreis Indien. Der Indikator für die Unterscheidung zwischen einer Zustimmung und einer Ablehnung ist aus nicht-indischer Sicht die Handbewegung des indischen Gegenübers, welche die Ablehnung gestisch stärker ausdrückt als der Kopf. Leslie beginnt, die Bewegung zu beschreiben (es ist zu vermuten, dass sie diese auch vorführt). Zunächst attribuiert sie unmittelbar (Z. 52), bricht die Äußerung jedoch ab und ergänzt in einer Selbstkorrektur („für uns“, Z. 53) die perspektivische Wahrnehmung: „dann komm: t eine ab‘ für uns (.) ABfällige Handbewegung“. Ähnliche Korrekturen an weiteren Stellen im Hinblick darauf, dass etwas nicht so ‚ist‘, sondern so ‚wirkt‘, zeigen die Bemühungen der Trainerinnen um die ‚Entontologisierung‘ beim Interpretieren und Sprechen. Ungleich schwerer fällt es den Teilnehmenden, sich von der Selbstverständlichkeit ihres kulturellen Standpunkts reflexiv zu distanzieren. Er gibt uns eine Identität und moralische Position, von der aus wir das Handeln anderer interpretieren, einschätzen und bewerten können. expectations, saving the individual the trouble of figuring things out anew all the time.” (Tannen 1993: 20f.) 155 Siehe dazu beispielhaft die Analysen zur Thematisierung von Geld von Blöcher/Bergmann (1999) und zur Kommunikation von Zugehörigkeit von Hausendorf (2002).
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Die kleine Korrektur innerhalb der bewertenden Äußerung durch die Rahmung „für uns“, durch die Leiterin ist der Unterschied ums Ganze. In der Um-Rahmung liegt die Relativierung der Perspektive, wechselt sie quasi den kulturellen Sinnhorizont, blickt aus der Metaperspektive und kommuniziert aus dem Bewusstsein verschiedener Wirklichkeitskonstruktionen heraus. An diesen mikrofeinen Rahmengrenzen vollzieht sich die Gesprächsarbeit beim interkulturellen Lehren und Lernen.
4.2 Erwartungsbrüche als Aufgabe der pädagogischen Gesprächsführung Die Analyse der kommunikativen Tätigkeiten der Leiterinnen hat gezeigt, dass diese bei ihrer kulturenvermittelnden Lehrinteraktion eine multiperspektivische Reflexionsarbeit vornehmen, die ihnen ermöglicht, vermittelst des transkulturellen Sprechens die jeweiligen kulturellen Referenzhorizonte zu wechseln und zu kombinieren. Um mit den Teilnehmenden eine kulturreflexive Deutungskompetenz zu entwickeln, müssen sie die vertrauten Rahmen bzw. „Sinntatsachen“,156 die wir im Alltag üblicherweise selbstverständlich voraussetzen, in Frage stellen, reflektieren und im Gespräch verbalisieren sowie kontrollieren. Als allgemeiner Begriff kann auf der Basis des Konzepts des Rahmens diese kommunikative Tätigkeit als „Framework“ bezeichnet werden. Rahmen geben laut Goffman eine Sinndeutung dessen ab, ‚was hier eigentlich vor sich geht‘. So statisch die Metapher des Rahmens anmutet, so dynamisch muss er gedacht werden. Rahmen sind nicht allein kognitive Strukturen gespeicherten Wissens, sondern, auf die Kommunikation bezogen, kann man sagen: „Gesprochene Sätze enthalten Beispiele für die meisten Rahmungsmethoden (...)“ (Goffman 1980: 53).157 Mit Rahmungen oder Einklammerungen geben die Beteiligten an, in welchem Zusammenhang sie die ablaufende Situation bzw. in welchen Sinnhorizont sie die Interaktion stellen oder Äußerungen interpretieren. Dabei können laut Goffman Rahmen sowohl vorgegeben als auch transformiert und sogar ex post umdefiniert werden. Rahmenverschachtelungen, also mehrere Bezugsrahmen, sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Rahmungen sind in interkulturellen Trainings in mehrfachem Sinne relevant. Es werden thematische Rahmungen eingeführt und transformiert und man spricht auch metakommunikativ über (kulturelle) Rahmungen. Das Training 156 „Rahmen sind Sinntatsachen, die die Serialität des sozialen Lebens die ‚Ketten’ (…) und Verkettungen von Handlungen und Interaktionen, ermöglichen und strukturieren.“ (Willems 1997: 35) 157 Auch Tannen betont den interaktiven Charakter des Rahmenkonzepts „the key aspect of frames is what the people are doing when they speak“ (Tannen 1993: 19; Hervorhebung im Original).
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selbst mit seinen didaktischen Zielen bildet einen speziell modulierten Rahmen, das „Einüben“ (practicing; Goffman 1980: 72). Die Bewertungen, Deutungen und kollektive Erwartungshaltungen werden fern vom Alltag, quasi als kognitive, aber auch interaktive Probeläufe durchgespielt. In ihren Initiierungen und Kommentaren geben die LeiterInnen jeweils in den metakognitiv und metakommunikativ geführten Rahmungen ‚bekannt‘, um was es im jeweiligen Moment der Kommunikation geht (Thema), wie das Thema zu deuten ist (Kontext) und wie darüber gesprochen werden soll (Interaktionsform). Im Folgenden sehen wir, auf welchen Prinzipien die lernzielorientierte Gesprächsführung der Leiterinnen beruht und welche Lerneffekte sie damit ermöglichen können.
4.2.1 Grundorientierungen in der pägagogischen Gesprächsführung Um die Deutungsaushandlung steuern zu können, brauchen die Leiterinnen Lernziele. Diese werden mehr oder weniger explizit genannt und auch mehr oder weniger stringent verfolgt. Ein Beispiel, in dem das Lehr- und Lernziel explizit genannt wird, sehen wir in der folgenden Sequenz. In der Einleitung zu Ausschnitt 6 fokussiert Leslie den Sinnhorizont präzise, bevor sie der Teilnehmerin Valerie ihre Frage stellt: TS #14 MISSVERSTÄNDNISSE (IKK II)
Die Leiterin Leslie nennt das übergreifende Seminarthema (interkulturelle Kommunikation), den besonderen Schwerpunkt ihres Vorgehens (Missverständnisse in der Kommunikation) und das aktuelle Lernziel (verschiedene Kommunikationsstile) bevor sie Valerie adressiert. Die Angesprochene kann also eine Frage aus dem Bereich der Kommunikationsstile erwarten, wie er dann auch folgt (vgl. Ausschnitt 1). Ab jetzt beginnt das pädagogische Lehrgespräch mit dem jeweils wie hier explizit genannten oder implizit verfolgten Lehr- bzw. Trainingsziel. Im weiteren Verlauf geht es nun darum, die jeweiligen Ziele mit den Anwesenden im Lehrgespräch zu erreichen.
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Ermöglicht wird diese Deutungshoheit der Leiterinnen durch zwei grundlegende Orientierungen in der Unterrichtsorganisation, die auch in der Erwachsenenpädagogik den Anwesenden als prinzipielle Orientierung dient: 1. der vororganisierte Sprecherwechsel und 2. die Orientierung an der Bewertungshegemonie der Leiterinnen. 1. Vororganisierter Sprecherwechsel: Die Leiterinnen-zentrierte Gesprächsführung ist vor allem an der Regelung des Rederechts erkennbar, die sich vom lokalen Managment der Alltagskonversation (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974) durch eine deutliche Vorverteilung unterscheidet (McHoul 1978, Füssenich 1981, Mazeland 1983, Redder 1984). Das Hauptrederecht und damit den floor hat die Leitung, die sie an die Teilnehmenden weitergeben kann oder automatisch behält. Die Äußerungen der Teilnehmenden richten sich wiederum an die Leiterin als primäre Adressatin, diese gibt beispielsweise die Zuhörersignale, wenn jemand spricht oder eine Geschichte erzählt. Danach können auch andere Beteiltigte einen Beitrag äußern, behalten allerdings das Rederecht nur so lange, wie die jeweilige Leiterin es nicht für sich beansprucht und dadurch offene Positionen schafft. Natürlich geht es in den analysierten Seminaren nicht so streng zu wie in der Schule, so entfällt z. B. das Meldesystem und überlappende Beiträge aufgrund nicht-programmierter Selbstauswahl sind wesentlich häufiger, aber an der Grundorganisation des Sprecherwechsel ändert dies nichts. 2. Bewertungsorientierung: Bei der Verhandlung der Themen richten sich die Beteiligten der Seminare nach der die Rederechtsverteilung stützenden sequentiellen Organisation, welche in der Verknüpfung einer doppelten Paarsequenz besteht. Aus der Perspektive der Konversationsanalyse ist die sogenannte Lehrerfrage nicht durch eine Antwort kennzeichnet, wie sie auf jede Frage erwartbar folgen würde, sondern wird erst dadurch ersichtlich, dass im dritten Zug, der wieder an die fragende Person geht, eine Bewertung der Antwortäußerung folgt (Mehan 1979; 1982): Abbildung 5: Doppelte Paarsequenz im Unterrichtsgespräch, Mehan (1987), Übersetzung K.N.
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Diese Elizitierungssequenz wird zur Wissensvermittlung, indem durch die Bewertungen sukzessive Äußerungen akkumuliert werden und damit das ‚richtige Wissen‘ kommunikativ hergestellt wird.158 Entscheidend ist, daß die Fragen Antworten aus einer anderen logischen Ebene erwarten, was alle Beteiligten antizipieren. Wenn die Struktur ‚Leitung-fragt-gewußtes-Wissen‘ etabliert wird, ist die Erwartung aller Beteiligten nicht, Informationen auszutauschen, sondern einem Lernziel zu folgen. Denise teilt also nicht die Uhrzeit mit, sondern demonstriert, daß sie die Uhr lesen kann. Aus dieser Konstruktion folgt, daß das Erreichen des Lernziels in der Herstellung der Symmetrie zwischen Frage und akzeptierter Antwort besteht, eher wird das Thema nicht gewechselt (Streeck 1979). Die Differenz zwischen Initiierung und der ‚richtigen‘ Antwort aus der Menge der auf die Frage möglichen Anworten minimiert sich durch verschiedene Strategien, die mindestens eines der zwei Elemente Akzeptanz (Inhaltsebene) und/oder Lob (Beziehungsebene) enthalten. Interkulturelles Lernen hat nun das Charakteristikum, dass es bei diesem Thema kein ‚richtiges‘ oder ‚falsches Wissen‘, sondern vor allem Perspektiven und soziokulturell entstandene Erwartungshaltungen gibt. Im Unterschied zur Lösung einer Mathematikaufgabe können die Beiträge der Teilnehmenden nicht mit falsch oder richtig bewertet werden. Denn sie haben kein ‚falsches‘ Wissen, sondern verwenden allenfalls einen eingeschränkten kulturgebundenen – eben, mit Goffman gesproche, „natürlichen“ Deutungshorizont. Und doch sollen die Anwesenden eine ‚bessere‘ Deutungskompetenz als vorher erwerben. Wie gehen die Leiterinnen mit dieser Aufgabe um?
4.2.2 Die Initiierung von Verunsicherung durch Rätselinszenierungen Natürlich kann man in einer Bildungsveranstaltung wichtige Fakten und Eckdaten z. B. zur Geographie eines Landes (Fläche, Einwohnerzahl, geographische Struktur, Klima usw.) schlicht nennen und es den Beteiligten überlassen, eigene Relevanzsetzungen und einen Vergleich mit der eigenen Wissensbasis vorzunehmen. Doch im folgenden Beispiel gestaltet die Trainerin die Informationsvermittlung auf eine besondere Weise:
158 Auch größere Aufgabenlösungsprozesse (vgl. z. B. Voigt 1983) basieren letztlich auf dieser Mikrogrundstruktur. Zu Korrektur und anderen Verfahren der Ergebniserzeugung vgl. Kalthoff 1995. Ehlich nennt sie kritisch „Regiefrage“ und demonstriert die Ähnlichkeit dieser Organisation mit dem altbekannten Lehrvortrag. Beim Transport von Wissen wird nur mit verteilten Rollen gespielt (vgl. Ehlich/Rehbein 1986).
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TS #15 KNAPP DANEBEN (IKK JAPAN)
Nachdem sie die vier Hauptinseln Japans auf der Karte gezeigt und benannt hat, lässt die Trainerin die Teilnehmenden für eine Weile rätseln, aus wie vielen Inseln Japan besteht, und diese versuchen offenbar, die Punkte auf der Karte zu überschlagen. Es scheint auf den ersten Blick wenig Sinn zu machen, eine Schätzung anzuregen bzw. eine Frage zu stellen, die niemand beantworten kann, denn nicht vorhandenes Wissen kann man auch nicht eliziteren. Es ist der
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Leiterin offenbar jedoch bewusst, dass den Teilnehmenden die Anzahl der Inseln in der Regel nicht bekannt ist, denn sie stellt am Anfang die Frage danach, was die Anwesenden „meinen“ (Z. 36), wobei mitgedacht werden muss, dass eine präzise Zahl nicht ins Spektrum der ‚Meinungen‘ gehören kann. Kurz darauf ermutigt die Trainerin gezielt, die Anzahl der Inseln zu schätzen (Z.50). Nach den ersten vorsichtigen bzw. scherzhaften Einwürfen („ACHT“, Z. 38 und dem der Lösung schon nahe kommenden „ziemlich viele“ in Z. 42) ermuntert die Trainerin, auf das Zögern der Teilnehmenden reagierend, erneut zur Nennung von Zahlen mit dem Hinweis, dass es nichts zu verlieren oder zu gewinnen gäbe, nachdem die Teilnehmenden zögern. Manche TeilnehmerInnen nehmen vermutlich die visualisierte Karte zur Hilfe (Z. 47-49; 53, 55). Offenbar ist ihnen nicht nur klar, dass sie die Antwort nicht wissen, sondern auch, dass sie sich auf dem Weg zur ‚Blamage‘ befinden und es vermutlich gar nicht erraten können. Mit einer Prosodie, die keinerlei Aufschluss darüber gibt, ob eine der genannten Schätzungen nah oder fern der gesuchten Zahl ist, wiederholt die Leiterin die verschiedenen Nennungen derer, die sich mit einer Zahlennennung vorwagen (Z. 60: „zwanzich“, Z. 65: „hundert“, Z. 70: „achtzich“) und zitiert dabei den Duktus einer Versteigerung (Z. 60, 62: „zwanzig“, „angebot“). Bei einer Versteigerung gibt es auch kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern nur Einsätze. Wie bei einer Versteigerung ist der Einsatz jedoch auch ein Risiko, wobei in diesem Falle das Risiko darin besteht, sich als Unwissende mit ‚begrenztem Horizont‘ zu präsentieren oder gar zu blamieren. Schließlich nennt die Leiterin selbst die Anzahl der Inseln: TS #16 KNAPP DANEBEN (IKK JAPAN, FORTSETZUNG)
Heftige Reaktionen der Teilnehmenden folgen auf die Nennung der tatsächlichen Anzahl, von ‚Schreckensatmen‘ (Z. 83) über Lachen bis zum ironischen Kommentar „knapp daneben“ (Z. 89). Wie Blöcher und Bergmann (1999) am Beispiel von Preisnennungen in ostdeutschen Familientischgesprächen nach der
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Wende zeigen, sind (bei Geld-Thematisierungen) Zahlen an sich in der Regel nicht moralisch aufgeladen. Der Neuigkeitswert evoziert weder moralische Reaktionen noch emotionale Teilnahme (ebd.: 287). Umso deutlicher tritt hier hervor, wie mit der Art der Informationspräsentation emotionale Reaktionen provoziert werden. Die explizite Thematisierung des Erwartungsbruches in Zeile 93 zeigt, dass die Trainerin den Überraschungseffekt gezielt initiiert hat. Der Karte war die Anzahl der Inseln nicht zu entnehmen, und offenbar ist die Leiterin auch davon ausgegangen, dass niemand die Antwort auf ihre Frage weiß, sonst hätte sie vermutlich eine klassische Lehr-Frage gestellt (‚Wieviele Inseln hat Japan?‘) und nicht von Anfang an schätzen lassen. Man kann daher sagen, dass die Beteiligten systematisch verunsichert werden, indem sie auf ihre Unkenntnis bzw. auf ihre falschen Schätzungen, respektive Erwartungen zurückgeworfen werden. Durch die emotionale Verunsicherung kann die Bereitschaft für das Sich-Einlassen auf die besondere Binnenlogik einer fremden Kultur vorbereitet werden, und Fakten werden anders wahrgenommen.159 Tatsächlich steuert die Leiterin auf dieses Ziel zu. Sie weist auf die hohe Einwohnerdichte des aufgrund der Zersplitterung in viele zum Teil nicht bewohnbare Inseln weithin unbesiedelbaren Landes hin, dessen Gesamtfläche die Landesfläche Deutschlands nur unwesentlich übersteigt, aber für eine 50% höhere Population ausreichen muss. Ihr langfristiges Ziel ist, die starke Regelgeleitetheit der Japaner auch auf die Einwohnerdichte zurückzuführen. Um diese Information nicht nur zu wissen, sondern auch emotional ermessen zu können, setzt die Trainerin immer wieder solche ‚schockierenden Informationsinszenierungen‘ und ähnliche Strategien ein. Der Effekt entsteht dadurch, dass die Leiterin Kontraste zwischen erwartet oder gewohnt und unerwartet oder ungewohnt aufmacht und die Teilnehmenden jeweils in die eine oder andere Richtung verleitet, um sie dann mit Überraschungen zu konfrontieren. Wir sehen dies gleich an weiteren Beispielen.
159 In ähnlicher Weise lasse ich in interkulturellen Trainings zum Thema Islam oft die Anzahl der Muslime weltweit schätzen. Meist wird eine viel zu hohe Zahl angenommen (manche schätzen 2 oder gar 3 Milliarden Menschen). Allein die Nennung des richtigen Verhältnisses der großen Religionsgemeinschaften von mehrheitlich Christen und (je nach statistischer Grundlage) 800 Millionen bis 1,2 Milliarden Muslimen macht deutlich, dass das Bedrohungsempfinden die Faktenwahrnehmung verzerrt. Dies ist eine Form, in der eine über Emotionen vermittelte „Aufklärung durch Fakten“ angenommen werden kann.
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4.2.3 Initiierter Erwartungsbruch von Bewertungen Das zweite Beispiel entstammt einer Phase im Seminar, in der die Trainerin aufgrund vieler interessierter Nachfragen der Teilnehmenden über die japanische Sprache referiert, die sie sich selbst seit einigen Jahren aneignet. Sie erläutert dabei die Silbenstruktur des Japanischen, die verschiedenen Schriftsysteme, Schreibweisen, grammatische Besonderheiten usw. Interaktiv macht sie jedoch weit mehr, als Fakten weiterzugeben: TS #17 DIESES SCHWIERIGE PLURALLERNEN (IKK JAPAN)
Mit ihrer Bewertung „was es EINfach macht“ (Z. 18) nimmt die Trainerin die kulturgebundene Perspektive einer Deutschen ein. Vor dem Hintergrund komplizierter Pluralbildungen in der deutschen Sprache (wie Baum/Bäume) und der drei verschiedenen Artikel, erscheint das Japanische einfach, das diese Deklinationen nicht kennt. Durch die schlichte und parallele Satzkonstruktion im Sinne einer Wiederholungsstruktur („es gibt kein plUral. (-) es gibt auch keine artIkel. (--) also=es gibt nur BUCH: ;“ Z. 18-21) und durch die kleinen Pausen, mit denen die Trainerin ihre Aussagen voneinander absetzt, sind diese Aussagen eindringlich und leicht zu merken. Die Negationen verdeutlichen noch einmal die eingenommene ‚deutsche Perspektive‘, aus der heraus die japanische Sprache ex negativo betrachtet wird. Zusätzlich führt die Trainerin die ‚einfache‘ Pluralbildung noch vor („ein buch zwei buch drei buch.“, Z. 23), was für deutsche Muttersprachler grammatisch falsch klingt. Diese Befremdung wirkt.
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Als erste Reaktion hört man das leise Auflachen einer Teilnehmerin in Zeile 24, vermutlich erzeugt durch den Erwartungsbruch in der falschen Pluralbildung. Daraufhin lässt die Trainerin eine Pause, sodass sich der Eindruck von der relativen ‚Einfachheit‘ (dieses Ausschnitts) der japanischen Grammatik quasi ‚setzen kann‘ und die Anwesenden Gelegenheit haben, für sich die Bedeutung dieser ‚Einfachheit‘ zu ermessen. Dieser Raum wird erweitert, indem die Trainerin nun kontrastierend aus der Perspektive einer Nichtmuttersprachlerin die entsprechenden, ungleich komplizierteren Regeln der deutschen Grammatik aufzeigt, die das Erlernen der deutschen Sprache erschweren und umgekehrt beim Erlernen der japanischen Sprache wegfallen (Z. 26-31). Auffällig ist auch hier die explizite Bewertung „dieses schwierige plurallernen“ (Z. 26). Zwei Hörersignale und ein unverständlicher Kommentar sind die Reaktionen darauf. Eine abgeschwächte Bewertung schließt diese Phase ab („das is eigentlich “, Z. 33), wobei die Abschwächungen die nun folgende Relativierung der Bewertung bereits zart vorwegnehmen. Damit elizitiert die Leiterin eine im Jugendjargon formulierte stärkere Bewertung vonseiten einer Teilnehmerin: „prall.“ (Z. 34). Mit ihrer aus zwei Perspektiven untermauerten Bewertung führt die Leiterin die Teilnehmenden allerdings buchstäblich auf die falsche Fährte, sollten sie nun (fälschlicherweise) generalisierend annehmen, Japanisch sei eine ‚einfache Sprache‘. Kaum, dass die Teilnehmenden der Bewertung gefolgt sind, wird ihnen der vermeintlich sichere Boden unter den Füßen auch schon wieder entzogen: TS #18 DIESES SCHWIERIGE PLURALLERNEN (IKK JAPAN, FORTSETZUNG)
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Mit einem Kontrastierungsmarker führt die Trainerin den Erwartungsbruch ein, sie erläutert dass es „dafür“ vierundfünfzig verschiedene Zählarten gebe. Der Tonfall unterstützt die widersprüchliche Mischung aus beiläufiger Erwähnung (der hohen Zahl vierundfünfzig) und prononcierter Hervorhebung (‚Zählarten‘), die zusammen mit den ‚vorbereitenden‘ Ausführungen über den Wegfall des schwierigen Artikel- und Plurallernens und mit dem dadurch konstruierten Kontrast den Überraschungseffekt erzeugt. Die Teilnehmenden reagieren, wie in der Inszenierung angelegt, mit Überraschungssignalen: Sie stöhnen, hauchen, lachen, und die einsekündige Pause zwischen diesen Reaktionen und der sie auslösenden Information (Z. 38) zeigt, dass die Leiterin dafür wieder Zeit lässt. Erst nachdem vier TeilnehmerInnen reagiert haben, macht sie die falsche Fährte explizit. Zwar kann man im Japanischen ‚ein Buch, zwei Buch‘ sagen, ohne sich um etwaige Variationen des Subjekts in Singular und Plural Gedanken zu machen, dafür verändert sich jedoch das Zählen in Abhängigkeit von dem, was gezählt wird. Denn je nachdem, ob ein Gegenstand hoch oder flach, hohl oder massiv ist, werden andere Zählwörter verwendet. So entscheidet z. B. die Zählweise darüber, ob man in einem Restaurant gezapftes oder Flaschenbier erhält. Wider Erwarten ist also nicht die Pluralbildung das variable Element, sondern die Zahlen. Etwas, was im deutschen bzw. westlich abstrakten Zahlwort völlig losgelöst vom konkreten Objekt benennbar ist, muss man sich ‚überlegen‘ – ein ungleich komplexerer Vorgang als die Pluralbildungen oder die Verwendung der drei Artikel. Damit wird eine Vergleichslogik außer Kraft gesetzt, welche den Bewertungsmaßstab der eigenen auf die andere Kultur überträgt. Die japanische Sprache ist weder einfacher noch schwieriger (als die deutsche) – sie ist anders konstruiert. Es gibt im Vergleich Einfacheres und Schwierigeres beim Erwerb der deutschen im Vergleich zur japanischen Sprachkompetenz. Hinsichtlich effektiver Informationsvermittlung wäre es ausreichend gewesen, den Teilnehmenden das Prinzip zu erläutern, dass sich im Japanischen die Zählweise mit der Art und dem Zustand eines Gegenstands verändert. Das gilt auch für andere Bereiche, denn während wir im Deutschen, Englischen und Französischen nur den Begriff ‚Reis‘ kennen, ungeachtet dessen, ob wir über die Reispflanze, geschälten, gekochten oder weichgekochten Reis sprechen, gibt es dafür im Japanischen ebenfalls verschiedene Begriffe. Kognitiv werden die Teilnehmenden aus der Umkehrschlusslogik falscher Verallgemeinerungen herausgeführt. Welche weiteren emotional vermittelten Lerneffekte die Trainerinnen durch die gezielte Verunsicherung und den initiierten Erwartungsbruch bewirken, zeigt der nächste Ausschnitt.
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4.2.4 Provozierter Erwartungsbruch durch Kontrastierungsstrategien Wie in den vorangegangenen Kapiteln schon deutlich wurde, ist ein zentrales Mittel der Befremdung die Kombination von zunächst ‚neutralen‘ Fakten mit einer Bedeutung, die besonders geeignet ist, Bewertungen hervorzurufen. Während sich im vorangehenden Beispiel die Teilnehmenden über ihre Schätzungswerte in ihren Aussage positionieren und exponieren mussten, nimmt die Trainerin im Folgenden selbst eine Bewertung eines Sachverhalts vor, allerdings aus der Binnenperspektive von Japanern: TS #19 SONNTAGS IN TOKIO (IKK JAPAN)
Im Zusammenhang mit den sehr langen Arbeitstagen werden die Anfahrtswege bzw. die Anfahrtszeit (offenbar zusammengezogen zu „die ANfahrtsweg“, Z. 3) thematisiert. Mit einer Perspektivenübernahme schildert die Trainerin die Bewertung aus der Binnenperspektive Japans, wo es „Glück“ (Z. 6) bedeutet, nur eine halbe Stunde Anfahrtsweg zu haben. Gerahmt von Modaladverbien wie „natürlich“, und im selben gezielt neutralen Tonfall, in dem sie auch die Schätzungen der TeilnehmerInnen zur Inselzahl wiederholte und schließlich die Information weitergab, dass Japan aus 3500 Inseln besteht, nennt sie nun die aus deutscher Sicht erstaunlichen Zahlen und Fakten bezüglich des in Japan üblichen Zeitaufwands für die Anfahrt zur Arbeit. Da sie von „morgens“ spricht ist auch klar, dass sich ihre Angaben von durchschnittlich eineinhalb, „meistens eher ZWEI stunden“ Fahrtzeit auf die einfache Wegstrecke beziehen. Dies erzeugt bereits Befremden, schließlich adressiert die Trainerin als Japanerin sprechend hier Deutsche, für die eineinhalb Stunden einfache Fahrtzeit zur Arbeit nicht üblich sind. Sie provoziert den Erwartungsbruch noch weiter. Mitten in die Erstaunensausrufe wiederholt sie ihre binnenperspektivische Bewertung mit einem leisen, in sinkendem Tonfall gesprochenem „is wirklich norma: l.“ (Z. 11). Wieder lässt sie eine spannungserzeugende kurze Pause.
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Dasselbe Vorgehen – eine Normalisierung, diesmal mit Kategorischen Formulierungen und einem expliziten Vergleich verbunden – praktiziert sie kurz danach, um einen Überraschungseffekt und Erwartungsbruch vorzubereiten. Die dreifache Wiederholung von „wenn...“ erzeugt dabei eine dramaturgische Spannung und mündet in eine Bewertung („für dIE is es einfach normal“, Z. 26), die als Kontrastfolie für das dann als Folie aufgelegte Bild fungiert: TS #20 SONNTAGS IN TOKIO (IKK JAPAN, FORTSETZUNG NACH AUSLASSUNG)
In diesem Moment legt die Seminarleiterin eine Folie mit einem Bild aus einem Zeitschriftenartikel auf den Overheadprojektor. Das Foto zeigt eine Szene aus einem japanischen Freibad und trägt die Bildüberschrift „So gehen Japaner schwimmen…!“. In einem stadionähnlichen Oval sieht man aus der Vogelperspektive ein Meer von Köpfen um ein Schwimmbecken und es ist so gut wie keine freie Liegefläche mehr erkennbar. Im Becken selbst befinden sich so viele Menschen, dass sie darin stehen. Auch im Becken selbst stehen die Menschen relativ dicht gedrängt in einem maximalen Abstand von etwa einem Meter zueinander. Es ist offensichtlich, dass keiner „schwimmt“, ja nicht schwimmen kann, weil das Bassin so voll ist. Zwischen Bildüberschrift und Abbildung liegt also eine ironischer Bruch, den die Leiterin während ihrer Rede gezielt einsetzt. TS #21 SONNTAGS IN TOKIO (IKK JAPAN, FORTSETZUNG)
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Die Strategie des gezielt eingeleiteten Erwartungsbruchs nach einer Normalisierung, ist an der als Anschluss fungierenden und betont gesprochenen Partikel „AUCH“ (Z. 31) zu erkennen. Der Moment, in dem die Leiterin die oben abgebildete Folie auflegt, ist im Transkript deutlich erkennbar an den Erstaunensausrufen der Teilnehmer. Die handlungsbegleitende Äußerung der Trainerin, mit der sie die aufgelegte Folie kommentiert, ist in zwei Teile gegliedert, nach „AUCH sonntags in tokio“ (Z. 31-32) lässt sie Raum für die Reaktionen, bevor sie in Zeile 43 ihre Äußerung komplettiert: „ins schwimmbad zu gehen“. Die Teilnehmenden reagieren mit Lachen und, noch mehr als in den vergangenen Ausschnitten, mit verschiedenen response cries (Goffman 1981), also mit Ausdrücken, durch die die jeweils sprechende Person kundtut, dass sie von einem Ereignis so bewegt ist, dass die Emotionen förmlich ‚aus ihr herausbrechen‘. Die response cries reichen in diesem Fall von heftigem Atmen (Z. 39), über Stöhnen (Z. 36) bis hin zu semantisch interpretierbaren VokalKonsonantverbindungen („HOACH: : “, Z. 33). Angelehnt an Goodwin/Goodwin (2000) halte ich die Gefühlsausdrücke und -ausbrüche hier nicht für individuelle unkontrollierte Reaktionen, sondern für sozial organisierte „verkörperte Darstellungen“ („embodied performances“). Die artikulierten Affekte sind eine spezifische Form der Erfahrung und setzen einen Zugang zum Gesamtsetting voraus. Sie stellen geregelte Einschätzungen von Ereignissen dar und beinhalten eine soziale Orientierung am verbalen und nonverbalen Kontext sowie eine sequentielle Ordnung. Diese ist hier sehr schön an der kaskadenartigen Abfolge der Teilnehmerreaktionen auf das Bild und aufeinander zu sehen (Z. 33-37 und Z. 39-45). Goodwins und Goodwins Analysen über die Performanz von Gefühlen in Response Cries zeigen ebenfalls, dass diese sorgfältig orchestrierte soziale Ereignisse und Aktivitätsmuster der CoErfahrung sind. Ihre Komplexität liegt jenseits semantischer Gefühlsbeschreibungen in der sequentiellen Co-Organisation.160 Man kann sagen, dass die 160 In ihrem Aufsatz „Emotion within situated activity“ bezeichnen Goodwin/Goodwin (2000) Goffmans Terminus „Response Cry“ als zwar elegant, aber unglücklich gewählt (ebd.: 18), weil dieser suggeriere, der emotionale „Ausbruch“ sei die kontingente Reaktion auf ein auslösendes Ereignis. Sie vergleichen auf der Basis von Videodaten die soziale Organisation und Kommunikation
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Trainerin hier einen Gegensatz zwischen ‚normal‘ und ‚unnormal‘ so konstruiert, dass die Teilnehmenden gezielt ‚geschockt‘ oder ‚überrascht‘ werden, also kollektive Gefühlserfahrungen machen.161 Im Anschluss (im Transkript ausgelassen) gibt die Leiterin den Teilnehmenden mit der Frage „wie findet ihr das?“ auch noch die Gelegenheit, ihre Gefühle semantisch auszudrücken (sie finden es „grausam“, „unglaublich“, können „kaum atmen“). Schließlich arbeitet sie gemeinsam mit den Teilnehmenden heraus, dass für das Leben in solcher Enge ein hohes Maß an Disziplin und Ordnung erforderlich ist, und diese Lernsequenz mündet in der Feststellung: „So was kann nur funktionieren, wenn man Regeln hat.“ Der Rahmen für diese Passage ist die Thematisierung von sozialen Regeln und des gruppenkonformen Verhaltens in Japan, wie sie als Sachverhalten ausländischen Besuchern (in diesem Ausmaß) fremd sind. Wenn die Leiterin schließlich erläutert, dass es in den Hallenschwimmbädern „slow“ und „fast lanes“ gibt, dass Bademeister streng darüber wachen, dass keiner der Schwimmenden überholt wird, und dass alle Schwimmer jede halbe Stunde zehn Minuten Pause machen und das Becken räumen müssen, damit Erholung gewährleistet ist und nach Verletzten gesucht werden kann, so sind die Teilnehmenden weniger geneigt, diese Organisation abwehrend zu stereotypisieren, sondern steuern ernsthaft eigene Erlebnisse als Beispiele für die besonderen in Japan geltenden Regeln bei. Die in Stereotypisierungen im Rahmen von kollektiv inszenierten und serialisierten Entrüstungsgeschichten zelebrierten Emotionen wurden in diesem Fall durch die gezielte Evokation antizipiert, und die Teilnehmenden hatten Raum für den Ausdruck dieser Emotionen erhalten; auf der Basis der emotionalen Irritation ist nun der Weg für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Fremden und für die kollektive Neuorganisation von Bewertungen geebnet.
von Emotionen bei Schulkindern, die „Himmel und Hölle“ spielen, und der Interaktion in einer Familie mit einem Aphasiker, der nur mit vier Worten kommunizieren kann („ja“, „nein“, „und“ sowie „oh“). Dabei sind vermeintliche „Gefühlsausbrüche“ regelhafte soziale Aktivitäten mit komplexen Strukturen: „In each [setting, K.N.] a triggering event made relevant a subsequent assessment (Triggering Event) + (Assessment). The public nature of the assessment makes possible an interactive organization of co-experience. Participants treat the assessment slot as a place for heightened mutual orientation and action.“ (ebd.: 25). 161 Der Konstruktionscharakter dieser provozierten Erwartungsbrüche wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass diverse deutsche Freibäder an besonders heißen Sommertagen und Wochenenden nicht viel anders aussehen dürften.
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4.2.5 Befremden und vertraut machen: die pädagogische Modifikation von Erwartungsstrukturen als Rahmenmanagement Die Strategie des Befremdens von vertrauten Erwartungen erzeugt gezielt eine Krise des kulturellen Erfahrungshorizonts, beteiligt die Anwesenden auch emotional und bereitet das Verstehen und Ermessen eines anderskulturellen Horizonts vor. Beim Vergleich der beschriebenen Ausschnitte kann man die Gemeinsamkeiten und Geordnetheit des Vorgehens erkennen und ich möchte die Struktur samt ihres pädagogischen Ziels – der Überwindung von Erwartungsstrukturen des kulturellen Bewertungshorizonts – zusammenfassend an der folgenden Sequenz erläutern. Nachdem die Teilnehmenden eine Menge befremdliches über die japanische Sprache erfahren haben, u. a. dass es quasi drei Alphabete (Silbenschriften) für das Japanische gibt, von oben nach unten und von rechts nach links geschrieben wird, man 54 verschiedene Zählarten sowie eine Männer-, eine Frauensprache und viele andere Varianten des höflichen Registers verwendet usf., kommt die Leiterin auf Lehnwörter zu sprechen, die in den vergangenen Jahrhunderten eingeführt und japanisiert worden sind. Dazu gehören u. a. das aus dem Deutschen eingeführte „arubeito“ (Arbeit) und die aus dem Englischen übernommene Bezeichnung für Dusche „schawaa“ (shower) oder „koohi“ aus dem Holländischen für Koffie/Coffee. Die Trainerin teilt ein Handout aus, auf dem die japanischen Begriffe in transponierter Silbenschrift zu finden sind, und ermutigt die Teilnehmenden, laut zu lesen. Sie finden heraus, dass „konpyuuta“ Computer und „doa“ Tür (door) heißt. Dass es der Leiterin um mehr als um einen Gag geht, zeigt die abschließende Passage dieser Übungseinheit: TS #22 BISSCHEN ÜBEN NOCH (IKK JAPAN)
Die Seminarleiterin sagt nicht einfach, welches Lehnwort sie am liebsten mag, sondern kreiert zunächst ein neues Substantiv mit hohem Bewertungsfaktor. Indem sie auf ihr „lieblingsjapAnisches wort“ hinweist, betont sie explizit, dass
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es sich um eine japanische Vokabel handelt, ohne diese sofort zu nennen. Dadurch entsteht wieder ein Rätsel, das die Teilnehmenden (offenbar mit dem ihnen vorliegenden Handout) vergeblich (zu lösen versuchen (Z. 4-8). Die Trainerin nennt dann das Wort, wobei sie es langsam und in Aussprache und Sprechmelodie betont japanisch artikuliert. Durch den Klang ist die Vokabel leicht als ‚coffeemaker‘ verstehbar, woraufhin die Teilnehmenden über den Erwartungsbruch lachen. Die Trainerin lässt sie das Erlebnis noch eine Weile ‚nachverbrennen‘. Wie bei den vorangegangenen Ausschnitten enthält der provozierte Erwartungsbruch folgende Bestandteile: Einnehmen einer bewertenden Perspektive und/oder Elizitieren von eindeutigen Festlegungen (Z. 1) Einsatz von Verzögerungen: Pausen, Rätselerzeugung, Wiederholungen, Fragen (Z. 1 und 2) gezielt eingesetzte Prosodie, die einen ‚beiläufigen‘ oder ‚neutralen‘, Selbstverständlichkeit und Normalität präsupponierenden Ton herstellt (hier durch die Abwesenheit von intonatorischen Besonderheiten erkennbar) Herstellen eines Überraschungseffekts, gezielte Verunsicherung durch Kontrastierungstechniken/Konstruktion eines Erwartungsbruchs, Informationsinput (Z. 9) Raum lassen für die emotionalen Teilnehmer-Reaktionen (Z. 10ff.) Abarbeitung der so erzeugten Irritationen: Reflexion der eigenen Erwartungsstrukturen, Ableitung der Bedeutungen, Erläuterung anderer kultureller Systeme Zur Illustration der pädagogischen Auswertung sei nun das Ende der Passage präsentiert. Die Teilnehmenden sprechen den Begriff nach und lachen immer wieder (im Transkript ausgelassen), bis die Seminarleiterin abschließend das Lernziel benennt:
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TS #23 BISSCHEN ÜBEN NOCH (IKK JAPAN, FORTSETZUNG)
Auf einer kognitiven Ebene geht es tatsächlich um Vokabeln, welche den Teilnehmenden beim Aufenthalt im Land oder bei der Abwicklung des Verkaufs zollfreier Waren an Bord helfen sollen, zugleich korrigiert die Leiterin im Rahmen dieser Übungseinheit aber auch eine Fehlwahrnehmung. Mit Elementen des transkulturellen Sprechens demonstriert sie ihr zweites Lernziel. Während die Japaner korrekt japanisch sprechen (szenische Darstellung bei der Reihung der Begriffe ‚sunglasses‘, ‚credit card‘, ‚ice-cream‘, Z. 30f.; und 43f.), mag das Gehörte nicht japanisch Sprechenden ‚komisch‘ bis inkompetent erscheinen (introspektives Sprechen mit Singsongintonation, Z. 32-33), da die Worte nach falschem Englisch klingen. Die Trainerin referiert auf das dahinter stehende Muster (Denk- bzw. Sprachstruktur in Silben), das sie bereits zuvor ausführlich geschildert hatte, und greift erneut empathisch introspektiv sprechend die ‚Verwirrung‘ über diese zugleich bekannt und doch auch verfremdet klingenden Vokabeln auf. Wiederum lässt sie Raum für emotionale Reaktionen wie Lachen
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(Z. 45f.). Abschließend nennt sie auch das zweite Lernziel, sie will Verstehen „erleichtern“ (Z. 48f.), was hier bedeutet, quasi mit japanischen Ohren zu hören und die häufig angehängten U-Vokale bewusst zu registrieren, damit man ‚eisukurimhu‘ ggf. wieder in ice-cream übersetzen kann. Die Frucht ihrer Bemühungen ist eine explizit demonstrierte Einsicht der Teilnehmenden in unmittelbarem Anschluss: TS #24 BISSCHEN ÜBEN NOCH (IKK JAPAN, FORTSETZUNG)
Die Teilnehmerin Pamela ‚bekennt sich‘ zu ihrer missverständlichen Annahme, dass sie stets („auch immer“, Z. 54) davon ausgegangen war, die Japaner könnten ‚nicht richtig Englisch‘ sprechen, wenn sie beispielsweise das japanische Wort „tomato juso“ höre. Zwar sagt sie genau das Gegenteil („ 1 ((lacht))“, Z. 62f.) Harrys Spaßmodulation stimmt in die Selbstironie ein. Sein stark inszeniertes „und=dabei wars japnanisch; du hast ja´PAnisch verstanden“ (Z. 65f./68) macht sich letztlich über die Unkenntnis der eigenen Sprachgemeinschaft lustig.
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Mit der in situ-Rahmungsübung (practicing) ‚Wiedererkennen von Lehnwörtern in einer ansonsten völlig unbekannten Sprache‘ und den kommunikativ provozierten Erwartungsbrüchen hat die Trainerin mehrere Ziele erreicht. Die Teilnehmenden haben sich mit einem fremdem Klang aufmerksam auseinander gesetzt, etwas Vertrautes im Fremden wieder gefunden und die eigenen Interpretationen als abwertende Muster erkannt. Die Rahmenübersetzungen gleichen hier – wie die Vokabeln selbst – einem Vexierbild: statt ein vertrautes Wort als verfremdet zu erleben, können fremde Vokabeln nun als vertraut erlebt werden. Es ist, als ob die stark verschliffene Aussage von Pamela die Rahmengrenzen förmlich ‚verwischt‘ und zwei kulturelle Deutungen verschmelzen. Die Aktivitäten der Trainerinnen lassen sich zusammenfassend als Management von Rahmungsdifferenzen und ‚Spiel‘ mit den darin eingelassenen und emotional bedeutsamen Erwartungs- und Bewertungsstrukturen bezeichnen. Rahmungen können als Schnittpunkte zwischen individueller und kollektiver Deutungspraxis gesehen werden und sind daher niemals abgeschlossen, sie haben einen routinisi erenden und kreativ-weiterentwickelnden Aspekt (Goffman 1974: 138-245), was die Basis des „korrektiven“ Austauschs in der Interaktion und den Raum für die Aushandlung von Bedeutungen bildet. An den Rahmungsdifferenzen setzt das auf die Unterrichtskommunikation übertragene Verständnis von Rahmungsaktivitäten durch Lehrende von Krummheuer (1992: 113) an: Er begreift sie als Lernchance.162 Die zwischen den Lehrenden und Lernenden bestehenden Rahmendifferenzen werden im Bildungssetting sukzessive entschärft und bestenfalls wird eine gemeinsam geteilte Deutung der Situation als Übereinkunft ausgehandelt. Die Rahmendifferenzen zwischen den Beteiligten können leicht oder schwer überbrückbar und auch unüberwindbar sein. Ebenso können die als geteilte Deutungen ausgehandelten Arbeitsübereinkünfte nach Krummheuer einen unterschiedlichen Status haben. Er unterscheidet zwischen Arbeitsinterim (einer vorläufigen und brüchigen Übereinkunft) und dem weniger fragilen Arbeitskonsens (working consensus, Goffman), der auf einer Übereinstimmung und der geteilten Deutung einer Situation beruht (Krummheuer 1991: 17ff., 40ff.). Krummheuers Analysen zeigen, dass die Herstellung von Arbeitsinterims schon für den Mathematikunterricht schwierig ist, erst recht ist dies beim interkulturellen Lernen der Fall. Hinzu kommt die Dopplung der Aufgabe: Die interaktive Bedeutungsaus162 Dabei überzeugt die stringente Kommunikationsorientierung bei Krummheuer im Anschluss an die Bedeutungsaushandlung des symbolischen Interaktionismus’: „Streng genommen ist diese Deutung zunächst nur in der Interaktion zwischen den Individuen lokalisierbar. Sie muß nicht notwendig in der Kognition der einzelnen Individuen repräsentiert sein.“ (Krummheuer 1992: 29 Hervorhebung im Orig.)
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handlung selbst betrifft kollektive Erwartungsstrukturen. In allen Datentranskripten sieht man die mühevolle Deutungsarbeit über Rahmenkorrekturen und die Stellen, in denen die Teilnehmenden in der beobachtbaren Kommunikation Einsicht, Verstehen oder Verständnis explizit kund tun, sind rar. Das liegt u. a. daran – wie die Analysen auch deutlich gemacht haben dürften –, dass interkulturelles Lernen starke affektive Bezüge hat und daher vor allem emotionales Lernen ist.163 Emotionales Lernen bedeutet die Transformation ‚liebgewonnener‘ Weltsichten und vertrauter Emotionsmuster“ (Arnold 2003: 116), also eine Reflexion der bewertenden Stellungnahmen, welche die Basis unserer Denk- und Deutungsmöglichkeiten bilden. Neue Wissensbestände und Einsichten können zwar kognitiv erfasst, nicht aber nachhaltig umgesetzt werden, wenn der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Reaktionen nicht reflektiert wahrgenommen wird, wie Goleman (1998: 336) emotionales Lernen definiert. Mit den Aktivitäten des transkulturellen Sprechens und dem Management von Erwartungsbrüchen ermöglichen die interkulturellen Trainerinnen auch emotionales Lernen über die Erzeugung ‚innerer Erfahrungen‘.164
4.3 Kulturgebundene Bewertungen als Herausforderung für das Interkulturelle Lernen Wie die vorangangenen Kapitel gezeigt haben, wird die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden dahingehend geschult, dass diese ihre ‚kulturelle Brille‘ erkennen, sich also der Tatsache bewusst werden, dass sie ihre Deutungen, Bewertungen und Handlungen aus der Perspektive der in ihrer eigenen Kultur wertgeschätzten Normen vornehmen. Wenn die gewohnten Sinnzuschreibungen irritiert werden, ist dies ein Eingriff in kulturell vertraute Maßstäbe und die daraus resultierenden moralischen Standpunkte. Es ist zu erwarten, dass die
163 Kognitives Lernen beschränkt sich auf die Verarbeitung und Aneignung „äußerer Erfahrungen“. „Innere Erfahrungen“ bezeichnet den Prozess, bei dem emotionale Deutungs- und Reaktionsmuster reflektiert und neu organisiert werden. Zum emotionalen Lernen gehören Bewusstheit und damit die Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu verstehen, Kommunikationsfähigkeit, um diese Gefühle sinnvoll zum Ausdruck zu bringen und Beziehungsfähigkeit, wozu gehört, den anderen zuzuhören und sich in die Gefühle anderer hineinversetzen zu können (Grieger-Langner 2000, zit. nach Arnold 2003: 18f.) 164 Hier wäre der Anschluss für die Praktiker hinsichtlich aller Übungen zu finden, die beim interkulturellen Lernen gezielt Erwartungsstrukturen irritieren wie Simulationen und andere Methoden erfahrungsbasierten Lernens. Für die Moderation multikultureller Veranstaltungen stellt sich die Herausforderung der Herstellung eines Arbeitskonsenses auf konfliktträchtige Art auch in situ.
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Teilnehmenden ihre vertraute Weltsicht nicht ohne weiteres aufgeben. Im Gegenteil: Sie halten bisweilen vehement daran fest, wie auch Reisch schreibt: „Die am schwersten zu überwindenden Lernbarrieren ergeben sich aus dem kulturgeprägten ‚moralischen Bewußtsein‘ und der emotionalen Identifikation mit kulturspezifischen Normen und Werten.“ (Reisch 1991, 82; Hervorhebung im Original)
Am deutlichsten zeigt sich der Unterschied zwischen den im Perspektivenwechsel und in der Perpektivenreflexion geübten Trainerinnen und den noch ungeübten Teilnehmerinnen beim Vergleich zwischen dem kulturgebundenen Interpretieren und dem Transkulturellen Sprechen im Rahmen von ethnischen Stereotypisierungen. Hier wird die Abweichung von dem, was die Sprechenden als normal und für sich richtig betrachten, am prägnantesten formuliert, man könnte auch sagen, der kulturelle Horizont ist hier am ‚engsten‘ und am wenigsten abweichungstolerant.165 In interkulturellen und antirassistischen Bildungsveranstaltungen wird keineswegs weniger stereotypisiert als in Alltagsgesprächen, im Gegenteil. Die permanente pädagogische Irritation des kulturellen Referenzhorizonts und die Infragestellung der Bewertungsgrundlagen machen diese besonders relevant. Nach einer kurzen Präsentation der charakteristischen Phänomene von kollektiven Stereotypisierungen („Stereotypenkommunikation“, Nazarkiewicz 1997) möchte ich im Folgenden darstellen, wie die Stereotypisierungen pädagogisch bearbeitet werden, wenn sie im Kontext solcher Veranstaltungen auftreten.
4.3.1 Wo beginnt die Stereotypisierung? Interkulturelle Trainings kommen ohne verallgemeinernde Aussagen kaum aus.166 Schon die Trainerinnen sprechen ‚pauschal‘ und nicht immer mit 165 Fasst man Stereotypen mit Luckmann wissenssoziologisch als Elemente des Gewohnheits- und Gebrauchswissens auf, so sind sie im Unterschied zu Typisierungen noch allgemeiner, noch ungenauer und werden noch hartnäckiger gegen widersprüchliche Gegenevidenzen aufrechterhalten (Luckmann 1983: 94). 166 In seinem Aufsatz „Kann man Kulturen beschreiben oder erklären, ohne Stereotypen zu verwenden? Einige programmatische Überlegungen zur kulturellen Stilforschung“ argumentiert Bolten richtig (2001c), dass die (Über-)Generalisierung bei der Wissensvermittlung in interkulturellen Trainings schwer vermeidbar ist. Seine Lösung, basierend auf der Analyse kultureller wissenschaftlicher Schriftstile, ist die Empfehlung, die Teilnehmenden die Varianz von kommunikativen Stilelementen selbst z. B. auf Homepages von Firmen entdecken zu lassen. Er versucht damit einer makrodidaktischen Verkürzung von Verhaltensbeschreibungen über Kulturdimensionen einerseits und einer Verwirrung durch mikroanalytische Details aus der Sprachforschung andererseits zu entgehen. Neben dieser etwas akademisch anmutenden didaktischen Empfehlung, die sicherlich eine gute Abwechselung zum Fakteninput beinhaltet, ist das Problem der kommunikativen Reaktualisierung von Stereotypisierungen im Seminar selbst nicht angesprochen.
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distanzmarkierendem Augenzwinkern über ‚den Inder als solchen‘, ‚die Asiaten‘, und schreiben ihnen Eigenschaften zu. Wo beginnt also die ethnische Stereotypisierung? Unter ethnischen Stereotypen werden in der Regel Vorgänge verstanden, bei denen Personengruppen in abwertender Manier Eigenschaften zugeschrieben werden.167 Als prototypisch für die impliziten Inferenzen gilt die sprachliche Grundform einer Prädikation wie z. B. im Satz „Der Deutsche ist fleißig“ (Quasthoff 1987, 794f.). Das Beispiel von Uta Quasthoff zeigt allerdings ein Hauptproblem der bisherigen Stereotypenforschung. Es bedarf zusätzlicher ‚Definitionen‘ bezüglich der Frage was außer der Generalisierung das Abwertende an der Zuschreibung ist.168 Schließlich ist die Aussage, Vertreter einer Nation seien „fleißig“, zunächst keineswegs negativ zu verstehen. In konversationsanalytischen Untersuchungen werden Stereotypen als Abgrenzung ethnischer Identitäten in enger Verbindung mit dem allgemeinen Problem von Kategorisierungen bzw. Typisierungen behandelt (z. B. Hausendorf 1995, 2002). Sacks argumentiert (1992, Lecture 11), dass selbst allgemeinste Klassifikationen nur unter Relevanzgesichtspunkten erfolgen und Zuordnungen bereits praktische Erklärungen über Zusammenhänge enthalten. Beispiel: „In the last year and a half 26 Negroes were killed in the South, in unsolved murders.“ (ebd.: 511, Herv. K.N.) Indem die Bezeichnung ‚Negroes‘ anstelle der unspezifischeren Formulierung ‚Persons‘ gewählt wurde, ist bereits eine Vermutung über die Motive der Tat enthalten. Die Wahl der Bezeichnung ‚Negroes‘ mit der Ortsangabe ‚South‘ legt einen rassistischen Hintergrund als Tatmotivation nahe. Sacks versucht anhand dieses Beispiels den sozialen Erläuterungscharakter von Kategorien zu betonen, ohne bestimmte Erläuterungen als stereotyp zu
167 Die wissenschaftliche Stereotypenforschung ist ein interdisziplinäres Feld, in der soziologische, kultur- und literaturwissenschaftliche und linguistische Beschreibungen existieren. Als prägend kann sicherlich die psychologische Tradition bezeichnet werden. In der Wahrnehmungspsychologie werden Stereotypen als Attributionen und Eilverfahren der Urteilsbildung beschrieben, in der Kognitionspsychologie werden sie als kategoriale Prototypen aufgefasst und in der Sozialpsychologie werden Stereotypen als Mechanismen der Konstruktion von Gruppenzugehörigkeit und als Repräsentanz von Vorurteilshaftigkeit definiert. Stereotypen stellen demnach ethnozentrische Gruppenperspektiven dar. 168 In ihrer klassischen Arbeit zur linguistischen Beschreibung von Stereotypen definiert Quasthoff: „Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar.“ (Quasthoff 1973: 167; Hervorhebung, K.N.). Erst in jüngster Zeit verlagert auch Quasthoff ihren Fokus von Eigenschaftszuschreibungen in Satzform und vom propositionalen Gehalt in Richtung eines stärker interaktionsorientierten „prozessualen“ Ansatzes (Quasthoff 1998: 48).
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stigmatisieren.169 Wenn aber Kategorien ebenso wie Stereotypen nicht neutral sind und alle kategorialen Abgrenzungen moralische Zuordnungen von Handlungen beinhalten, dann kann man moralisch abwertende Stereotypen von klassifikatorischen nur in ihrer Kommunikations- und Interaktionsform unterscheiden. Mit einer konversationsanalytischen Untersuchung des Moralisierens über Ethnien in Alltagsgesprächen konnte ich zeigen, dass die Kommunikation von ethnischen Stereotypen mit charakteristischen kommunikativen Aktivitäten verbunden und durch eine sich sequentiell entwickelnde Dynamik charakterisiert ist, die ich Stereotypenkommunikation genannt habe (Nazarkiewicz 1997). Stereotypisieren in alltäglichen Face-to-face-Gesprächen bedarf bestimmter interaktiver Bedingungen, damit Einstellungen zur Sprache kommen und – dies ist für ihre Veränderung besonders wichtig – ratifiziert werden können oder eben nicht. Speziell der Aspekt der intersubjektiven Ratifizierung ist für die pädagogische Bearbeitung bedeutsam, ebenso wie die erkennbaren Elemente der Stereotypenkommunikation. Werden Stereotypisierungen reaktiviert und kommuniziert, folgt die Kommunikation wiederkehrenden kommunikativen Mustern.
4.3.2 Die interaktive Dynamik der Stereotypenkommunikation Ein prägnantes Merkmal der Stereotypisierungen ist die emotional aufgeladene Dynamik der Bewertungen, anhand derer die kollektiven Stereotypisierungen vom Rest des Trainingsdiskurses zu unterscheiden sind. Im nächsten Trainingsausschnitt – einem Auszug aus einer Stereotypisierungssequenz – geht es um verschiedene Stimmlagen in unterschiedlichen Kulturen. Die Leiterin Leslie, die aus England stammt, hatte berichtet, wie sie nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland bei einem Besuch in ihrem Ursprungsland England plötzlich mit ihrer Stimmlage auffiel, und thematisiert daran anknüpfend kulturelle Differenzen. Die Teilnehmenden haben jedoch eine andere Perspektive, sie finden ihre Stimmlage „normal“ und die der anderen nicht „normal“:
169 Sacks interessiert sich mehr für die sozialen Zusammenhänge, die in den Klassifizierungen ausgedrückt werden, und etabliert so einen fließenden Übergang zwischen Kategorisierungsleistungen allgemein und Stereotypen im Besonderen. „Lots of people think that these things – often talked about roughly as ‘stereotypes’ – are terrible sorts of things, and the world would be a lot better if we did away with them. In that regard I offer a caution: One of the basic ways they get used is, if some action is done and one wants to find who did it, the existence of a ‘Y do X’ statement is an instruction ‘look for such a one’. Or, if there is a somebody to whom something happened and now your task is to identify them – where they could be identified in many ways – then the existence of such a statement tells you which one to use.“ (Sacks 1967: 511)
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TS #25 NORMALE STIMME (IKK II)
Mit einer örtlichen Referenz (Südengland) und einer durch kurze Assoziationspausen gerahmten Rückfrage („(.) kennt ihr das? (-)“ Z. 47) lädt die Leiterin die Teilnehmenden zur Zustimmung zu einer Bewertung ein. Dort sei es ganz ‚normal‘ für Frauen, eine hohe Stimmlage zu verwenden (Z. 47-49). Die beiden Extremformulierungen „immer“ und „so ganz hOch“ stehen in einem gewissen Kontrast zur inhaltlichen Aussage über die Normalität mit einer höheren Stimme zu sprechen. Sie gibt quasi mit angezogener Handbremse Gas. Die Initiierung gelingt. Daniela deutet mit einem „mh“ Bekanntheit und Erinnerung an. Und da Bewertungen tendenziell eine gesteigerte Bewertung nach sich ziehen,170 schließt sie – deutlich stärker – sogar mit einem Stereotyp an: „=die sprechen fUrchtbar SCHRILL“, (Z. 50f.). Die starke Bewertung ist nicht nur in dem verschärfenden Adjektiv („furchtbar“) und der wertenden Wortwahl („schrill“) zu erkennen, sondern – und typisch für Stereotypisierungen – in der doppelten prosodischen Akzentuierung. Diese Hervorhebung der ersten Silbe von „furchtbar“ und der einzigen Silbe im Wort „schrill“ stellt zusätzlich einen Ton der ‚Abfälligkeit‘ her und macht die Wertung zu einer Abwertung. Darin einstimmend erinnert sich auch Barbara und führt die Amerikanerinnen an (Z. 52). Charakteristisch ist auch, dass jetzt verschiedene Kulturen (immer mindestens zwei, die eigene und eine oder bevorzugt mehrere Vergleichskulturen) unter das Stereotyp subsumiert werden, das die thematische Progression bestimmt. Die durch die Stereotypenkommunikation freigesetzte ‚Energie‘ ist hier gut an der Beteiligung mehrerer Personen und der hyperbolischen Steigerung zu sehen. Es schließt sich ein weiterer Teilnehmer, Peter, 170 Bewertungen in Alltagsgesprächen tendieren dazu, weitere Bewertungen nach sich zu ziehen, wobei Nichtübereinstimmungen generell dispräferiert sind und zur Expansion führen (Auer/Uhmann 1982; Pomerantz 1984).
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an. Er steigert die Bewertungssequenz, indem er in einigen englischen Floskeln und Fragen die Stimmlage imitiert und karikiert (Z. 53f.,57). Die Karikatur wird zusätzlich zu den heulenden Tönen dadurch verstärkt, dass er als Mann mit der Imitation der hohen Stimme einen komischen Effekt erzielt. Die Passage findet ihren vorläufigen Höhepunkt in einem semantisch nicht weiter entschlüsselbaren ‚Aufjaulen‘ (Z. 59) einer Teilnehmerin. Das Einstimmen mehrerer Beteiligter und die Steigerung der Inszenierung ins Absurde ist typische für Stereotypisierungssequenzen. Auch die Leiterin hält sich nicht gänzlich, wie sonst üblich, aus dieser moralisierenden und stereotypisierenden Passage heraus, sondern stimmt mit mehreren Ja’s zu (Z. 55, 58, 60). Durch den fallenden Tonfall des Ja enthält sie sich jedoch der intonatorisch inszenierten Bewertung und Karikatur. Man kann sagen, sie stimmt damit dem Inhalt (fremde Stimmlage), nicht aber der Abwertung zu. Dass die Teilnehmenden die amerikanische Stimmlage im Unterschied zu ihrer eigenen als unnatürlich empfinden, zeigt auch der Fortgang der Passage: TS #26 NORMALE STIMME (IKK II, FORTSETZUNG)
Typisch für die Stereotypisierung ist außerdem, dass von den Beteiligten mehrfach und in verschiedenen Formen wiederholt wird, dass das andere Verhalten, das ‚unnormale‘ abweichende ist. Barbara macht deutlich, dass die Stimmlage künstlich sei, also nicht die eigene, was Daniela noch einmal intonatorisch karikiert, bevor sie den Vergleich zu Mickey Maus anstellt. Peter hebt mit einer Zuschreibung („die sind“, Z. 71) an, einzustimmen. Die Leiterin schließt an diese Stereotypisierung an, indem sie den Aussagen einerseits zustimmt und ein bewertendes, mit einem Schärfeindikator versehenes Prädikat verwendet „(sind/es=wird) also sEHr gezüchtet“, (Z. 72). Zugleich überlappt sie damit Peter, unterbricht seine Attribution, und mit dem konkludierenden „also“ und der von ihr gelieferten Begründung für die Stimmlage erhält sie den Turn zurück.
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Diese expansive, expressive, mit Entrüstung aufgeladene Form moralischer Interaktion ist das ‚Herzstück‘ der Stereotypenkommunikation.171 Sie entsteht nicht immer wie im obigen Beispiel ‚aus dem Stand‘, meist bahnt sie sich über kommunikative Absicherungsmaßnahmen und zahlreiche Modalisierungen als kooperatives Handlungsmuster an. Die zentralen Elemente seien im Folgenden im Überblick dargestellt.
4.3.3 Die kommunikativen Elemente der Stereotypenkommunikation Der im Folgenden zur Demonstration exemplarisch ausgewählte Ausschnitt, der aus einer Lesepause stammt, kann die zentralen Merkmale von interaktiv und kooperativ inszenierten Stereotypisierungen auf engem Raum zeigen. Zwar handelt es sich hier um ein Autostereotyp von Deutschen über deutsche ‚Eigenschaften‘, es unterscheidet sich jedoch im Hinblick auf die darin auftauchenden Elemente nicht von der Artikulation von Fremdstereotypen. Zugleich wird sichtbar, dass die Dynamik und emotionale ‚Aufladung‘, die Stereotypisierungen eigen ist, auch für Autostereotypen gilt. Thema ist die zur damaligen Zeit öffentlich heftig diskutierte und politisch umstrittene Änderung des Ladenschlussgesetzes in der BRD. Der prägnanten Darstellung wegen wird der Interaktionsverlauf leicht gekürzt, und seine wesentlichen Elemente werden jeweils vor einem neuen Sequenzabschnitt angezeigt:
171 Die Stereotypen-Definition des Klassikers Lippmann erhält vor diesem Hintergrund eine neue Aktualität. Er schrieb schon 1964: „Ein Stereotypenmodell ist nicht neutral. Es ist nicht nur eine Methode, der großen blühenden, summenden Unordnung der Wirklichkeit eine Ordnung unterzuschieben. Es ist nicht nur ein Kurzschluß. Es ist dies alles und noch etwas mehr. Es ist die Garantie unserer Selbstachtung; es ist die Projektion unseres eigenen Wertbewußtseins, unserer eigenen Stellung und unserer eigenen Rechte auf der Welt. Stereotypen sind daher in hohem Grade mit Gefühlen belastet, die ihnen zugehören. Sie sind die Festung unserer Tradition. Hinter ihren Verteidigungsanlagen können wir uns weiterhin in der von uns gehaltenen Stellung sicher fühlen.“ (Lippmann 1964: 72).
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TS #27 DEUTSCHER FORMALISMUS (SEMINARGESPRÄCH, VEREINFACHT)
Bewertung als Moralisierungsangebot
Disproportionalitätskonstruktion
Kontraststereotypisierungen und Authentizitätshinweise
Interaktive Absicherungen bei direkter Attribution
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Rehabilitierungsversuch
Expressivität/Entrüstungshöhepunkt
Kollaborative Produktion
Arbeitsblätter aus für Amerikaner konzipierten Trainings zum Thema Deutschland werden herumgereicht. Beschrieben ist auf ihnen der „Kulturschock“ der Amerikaner angesichts deutscher Selbstverständlichkeiten, z. B. dass man lange auf bestellte Möbel warten muss. Es kehrt gerade Stille zum Lesen ein, als die Sequenz beginnt. Den Materialien entnimmt Elvira die Stichworte „hinterwäldlerisch“ und „Kulturschock“. Zunächst hört man nur eine geflüsterte Nebenkommunikation zwischen ihr und Yvonne, in der sie einen nicht verständlichen Gegenstand als hinterwäldlerisch bezeichnet (Z. 5ff.) und unmittelbar eine emphatische Zustimmung von Yvonne. Daraufhin wiederholt Elvira – bestätigt durch Yvonnes Kooperation – ihre Bewertung, aber immer noch nicht in üblicher Seminarlautstärke für alle: Das deutsche Ladenschlussgesetz sei ein Kulturschock. Sie erhält von der Leiterin ebenfalls unmittelbare Zustimmung. Der ansonsten selten anzutreffende Fall, dass die Leiterin (hier Laura) in die Bewertungen einstimmt, ist hier vermutlich der Autostereotypisierung geschuldet. Diese Zustimmung bildet zugleich die Eröffnung einer gemeinsamen Moralisierung als einer Nebensequenz (‚außerhalb-des-Lesens-imSeminar-sprechen‘). Carmen und die anderen fallen durcheinanderredend ein (Z. 15f.). Erste Angebote zum Moralisieren, oft in Form eines noch vorsichtigeren Vortastens als hier, sind charakteristische Eröffnungen für Stereotypisierungen. In anderen Fällen können es auch Lachpartikel oder Spaßmodulationen sein, die die Schärfe des moralischen Urteils kooperationsheischend abschwächen und zum Moralisieren verlocken. Auch Abschwächungen, die das Problematische von Sinnentwürfen antizipieren, tauchen in diesem Umfeld vermehrt auf.
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Bewertungen in Alltagsgesprächen tendieren dazu, weitere Bewertungen nach sich zu ziehen, wobei Nichtübereinstimmungen generell dispräferiert sind und zur Expansion führen (Auer/Uhmann 1982; Pomerantz 1984). Typisch für jede Stereotypenkommunikation ist nun, dass mit der zweiten Bewertung die Sequenz in der Regel nicht abgeschlossen ist, sondern trotz deutlicher Übereinstimmung expandiert wird; dies war auch bei dem Ausschnitt „Normale Stimme“ der Fall. Man kann daher das Bewertungsangebot als „moralisierende Klammer“ für eine dann folgende Entrüstung lesen.172 Nach Elvira lädt die Leiterin mit einer ersten unvollständigen „Konstruktion von Disproportionalität“ („schon allein die tatsache dass man sich da überhaupt GedANken drum macht;“, Z. 20f.) zur weiteren Entrüstung ein: Die überflüssige Beschäftigung der Politiker steht für sie in keinem Verhältnis zu (dieser Teil wird implizit gelassen) der Selbstverständlichkeit einer liberaleren Haltung, die für sie, Helga und Carmen klar zu sein scheint. Letztere reagieren schon auf den ersten Teil der Relation, und die Leiterin stellt nun Vergleiche mit den LadenschlussRegelungen anderer Länder an, genauer gesagt, mit der Perspektive anderer Nationalitäten auf die Problematik der Ladenöffnungszeiten (sie nimmt Bezug auf Amerika, was angesichts des Arbeitsblattes naheliegt, sowie auf Italien und Schweden). Kennzeichnend sind wie zu Beginn der Sequenz die Formen interaktiver Absicherungen, welche die Beteiligten u. a. in einer Stereotypenkommunikation einsetzen. Hier ist es die in die von der Leiterin erzählte Geschichte integrierte Authentifizierung des Urteils mit einer Medienreferenz, denn sie erzählt, wie sie beim Autofahren Radio gehört hat. Dieser Hinweis, ebenso wie die ganze Geschichte, dient der Wissensautorisierung und Wahrung des Gesichts (vgl. dazu auch Bergmann 1987 für das Klatschen). Zur Stärkung der Disproportionalität bei der gemeinsamen Verurteilung ‚deutscher Verhältnisse‘ dienen hier Kontraststereotypisierungen, insbesondere zu Schweden. Dort lautet die Öffnungszeitenregelung als extremste Alternative „je: der wi: e er nWILL: : . .hhh also’“ (Z. 38/40), was die Rigidität des hiesigen Reglements besonders hervorhebt. So tragen die Kontraste zu einer „Dramatisierung“ bei.173 Die schlussfolgernde Partikel „also“ verleitet Carmen zur unterstützenden implizit vergleichenden Gegenbewertung.174 Wie es dort ist, findet sie 172 Entrüstungen und Entrüstungsgeschichten sind eine präferierte Aktivität beim Stereotypisieren. Zu deren Strukturbeschreibung siehe Christmann/Günthner (1996), zu Entrüstungsgeschichten siehe Günthner 1995). Die in Anführungszeichen gesetzten Begriffe sind diesen Analysen entnommen. 173 In vielen Fällen werden weitere Geschichten mit Einladungen zur Entrüstung erzählt und serialisiert. 174 Anhand von Ost-West-Vergleichen hat Blöcher (1999) das Problematisch-Werden von Einschätzungen und die Entstehung einer „Übergangsmoral“ gezeigt, Symptom der Entlegitimierung alter und der Aneignung neuer Wissensbestände. Vergleiche und Kontraste stellen dabei moralische Bewertungen dar und bewirken die werterhaltende Stabilisierung durch die Aufspaltung der Gemein-
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optimal. Kontraste haben ebenfalls stereotypisierende Effekte, weil sie einzig zur Verschärfung der im Zentrum stehenden Stereotypisierung dienen. Ihr Gehalt scheint willkürlich, und sie können beinahe beliebig nach dem Motto ‚es geht auch anders‘ zitiert werden. So verleiten sie schnell dazu, in einen unterstützenden Bewertungsreigen einzusteigen, in dessen Verlauf mehrere ethnische Stereotypisierungen auftreten können. In diesem Ausschnitt schließt die Leiterin im Grunde redundant und nicht zufällig mit dem Kontraststereotyp über die ‚liberalen Schweden‘ an. Die Prädikation ist gleichermaßen mit verschärfenden Elementen wie mit einer Reihe von Abschwächungen und Abbrüchen durchsetzt, was der kommunikativen Vorsicht bei einer direkten Attribution geschuldet ist. Mit angezogener Bremse Gas zu geben ist ein Hauptmerkmal der Stereotypenkommunikation. Nach einem kurzen Abschnitt über die Vorstellung, was wäre, wenn die Regelung gelockert würde (im obigen Ausschnitt ausgelassen), kommt es zu einem hier für die Gesamtdynamik folgenlosen Rehabilitierungsversuch durch einen Einwurf von Yvonne. Sie weist darauf hin, dass in Südafrika die Geschäfte noch früher schließen (Z. 51). Rehabilitierungen stehen oft am Ende des gemeinsamen Stereotypisierens, quasi als Abkühlung und Nachverbrennung, indem man sich wechselseitig beschwichtigend versichert, dass man auch andere Perspektiven kennt. Sie dienen einerseits dazu, Wissen und die Differenziertheit des eigenen Urteils zu demonstrieren, und haben andererseits auch die Funktion, beim Opfer der Stereotypisierung Wiedergutmachung zu betreiben.175 Aufgrund der starken Kooperation in der Beurteilung kommt es, wie für Entrüstungen typisch, zu einer semantischen und prosodischen Eskalation, gekennzeichnet durch Expressivitätsmarkierungen wie Extremformulierungen, Betonungen und einen Registerwechsel („völliger SCHWACHsinn“, „mist“; Z. 53). Auch ohne einen langen Vorlauf ist den Stereotypisierungen trotz aller Absicherungsstrategien Expressivität und Affektgeladenheit eigen. Scharfe Bewertungen und Extremformulierungen, dass etwas ‚schlimm‘ oder ‚furchtbar‘ sei, tauchen auf dem Höhepunkt gemeinsamer Empörung auf. Auch einander ergänzende Äußerungen komplettieren dabei die gemeinsame Bewertung. Die Entrüstungssequenz endet schließlich eskalierend in einer kooperativen expliziten und abschließenden Attribuierung von Elvira („STARR: ; völlig
schaften in eine „gute“ (meist anwesende) und eine „schlechte“ (meist abwesende) Partei. Hier ist es umgekehrt, die Anwesenden verurteilen die Maßstäbe bzw. Regelungen des eigenen Kulturkreises und bestätigen sich wechselseitig ihre moralische Position, indem Alternativen als bessere Lösungen aus anderen Kulturkreisen genannt werden. 175 So sagt z. B. eine Teilnehmerin, nachdem ausgiebig über die Doppelmoral der Amerikaner moralisiert wurde: „ich mag Amerika gerne“ (TS KONFORMISTISCHE AMERIKANER, IKK II).
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STARR“, Z. 77), und die Leiterin bestätigt dies, indem sie das Stereotyp benennt: „ja! deutscher formalISmus;“ (Z. 78f.). Zusammenfassend formuliert, zeichnet sich ethnisches Stereotypisieren dadurch aus, dass es eine Form gemeinsam entwickelter moralischer Kommunikation ist. Die Beteiligten drängen ebenso affektgeladen auf Artikulation ihrer Beurteilungen wie sie sich – stets auf Einwände und Gegenstimmen gefasst – vorsichtig und gesichtswahrend der Kooperation der anderen Beteiligten versichern. Diese Aktivitäten der Stereotypenkommunikation durchziehen die interkulturellen Trainings auf Teilnehmerseite wie ein roter Faden und begegnen den Trainerinnen als heftig artikulierte moralische ‚Front‘.
4.3.4 Die Gefahr der Elizitierung von Stereotypisierungen ‚Harmlose‘ Verallgemeinerungsaussagen, Erfahrungserzählungen mit ethnischen Kategorisierungen, beiläufige Bewertungen und nicht zuletzt die Aktivitäten des transkulturellen Sprechens bergen ständig die Gefahr, ethnische Stereotypisierungen zu elizitieren. Der folgende Ausschnitt stammt aus einer Diskussion im Anschluss an eine Dokumentation des Filmemachers Gordian Troeller über Frauen in Afrika. Der Film aus der Reihe „Frauen der Welt“ thematisiert die traditionelle Polygamie in Togo und zeigt vor allem die wirtschaftliche Unabhängigkeit der in ländlichen Gebieten lebenden Frauen. Die in diesem Film vorgestellten Stoffhändlerinnen leben in der afrikanischen Vielehe und sind teilweise mehrfache Millionärinnen, wie der Autor kommentiert. Die Trainerin verbindet diesen Aspekt mit dem Auftreten afrikanischer Passagiere an Bord der Flugzeuge, da insbesondere von Lagosflügen Horrorgeschichten über das Verhalten nigerianischer Gäste kursieren.176 Sie versucht, das (unterstellte) kolonialistische Weltbild der Flugbegleiter 176 Im kommunikativen Haushalt der Flugbegleiter existieren Topoi und berufsgruppenspezifische Stereotypen über das Verhalten bestimmter – kategorial und vor allem ethnisch definierter – Gästegruppen. Da gibt es die „arrogante Düsseldorferin“, die sich auf Nizzaflügen „produziert“, den „arroganten Inder“, der grundsätzlich nicht mit Dienstpersonal spricht, und den nigerianischen Lagospassagier, der sich „unmöglich“ benimmt. Auch diejenigen, welche diese Strecken nie geflogen sind, kennen die stereotypisierten Gästegruppen samt der dazugehörigen Horrorgeschichten, die als Atrocity Stories (Dingwall 1977) kursieren. Dingwall untersuchte Funktionen, die solche „Geschichten über Abscheulichkeiten“ unter Berufskollegen haben, die in hierarchischen, anonymen, machtlosen Strukturen gefangen sind (Sozialarbeiter oder Krankenschwestern). Die bekanntesten Atrocity Stories sind bei der Berufsgruppe der FlugbegleiterInnen in kurzen Redewendungen kondensiert, wie z. B. „ „What’s the magic word?“. Hintergrund ist die Erfahrung, dass indische Fluggäste die Rituale „Danke“ und „Bitte“ wenig benutzen, was bei den FlugbegleiterInnen zu Unmut und – so die immer wieder kolportierte Geschichte – zu folgender Äußerung (ver)führt: „What’s the magic word?“ Auf diese ethnozentrische gefärbte Frage antworten indische Fluggäste
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mit Hilfe von Informationen zu korrigieren und die Verbindung zwischen wirtschaftlicher Unabhängigkeit und selbstbewusstem Auftreten herzustellen. Ihre Bemühungen führen zu folgendem Effekt: TS #28 TOGO / ÜBERSELBSTBEWUSST (IKK II)
Dadurch, dass die Leiterin sich mit einer – durch eine metakommunikative Rahmung abgepolsterte („kann man das auch so bezeichnen“, Z. 07), – Bewertung ‚vorwagt‘ („sehr selbstbewusst, diese Passagiere, oder?“, Z. 08), liefert sie die Möglichkeit zur Stereotypisierung. Denn die Bewertung stellt – wie oben beschrieben – ein Bewertungs- und damit Moralisierungsangebot dar, das von Peter auch sofort aufgegriffen wird. Typisch für Stereotypisierung treten hier wieder Verschärfungsmarkierungen auf („Über(.)sELBstbewusst“, „überzie: hn“, „mit vIELn dINgen“), eine Tag Question, die nach Zustimmung fragt (Z. 08: „oder?“), und die Abgrenzung zwischen „normalem“, also erwartetem und vor dem eigenen moralischen Horizont als angemessenes Verhalten kategorisiertem, und unnormalem Verhalten. Deutlich wird an der Passage aber auch, dass die Empörung über das Passagierverhalten und das Gepäckproblem, die Peter formuliert, eher auf Handlungsprobleme als auf ethnische Stereotypen schließen lässt. Die angesprochenen Fluggäste verhalten sich seiner Äußerung nach nicht „wie normale Passagiere“ (Z. 14f.), und das heißt, sie machen Koordination und Mehraufwand erforderlich. Dieses Handlungsproblem wird in der thematischen Anbindung an das Seminar nun im Folgenden ethnisch angebunden begründet, ein Effekt, den die Trainerin sicherlich nicht hervorrufen wollte. Nachdem der Diskurs auf diese Weise in Richtung Stereotypenkommunikation gewendet wurde, macht Peter moralisierend weiter:
dann – so die Geschichte – statt mit der erwarteten Höflichkeitsformel „Bitte“ mit dem Befehl „Move“. Zur kontextualisierten Bedeutung von Geschichten mit ethnischen Stereotypen als Erfahrungsbewältigung vgl. „My wife doesn’t talk to servants“ (Nazarkiewicz 1996). Dort habe ich die Verbindung von Stereotypen und den zum Teil auf einen Satz kondensierten „Geschichten“ als Form der Erfahrungsverarbeitung beschrieben, (vgl. dazu auch Geoffrey Baruch 1981).
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TS #29 TOGO/ ÜBERSELBSTBEWUSST (IKK II, FORTSETZUNG)
Peter begründet das Verhalten der afrikanischen Passagiere nun damit, dass sie zu den priviligierten Afrikanern gehören, und bindet seine Erklärungen an die Filminformationen an.177 Deutlich als Stereotypisierung erkennbar ist die Passage durch erneute Schärfeindikatoren („sUPerpriviligiert“, Z. 17) und fehlende Relativierungen („das problem mit dem amerika: nnischen neger=ma grUNdsätzlich“, Z. 21f., „SIND supertoll geklEIdet“, Z. 36). In den von Peter genannten Begründungen für das Verhalten der afrikanischen Passagiere sind zwar versuchte Perspektivenwechsel enthalten („die fühlt sich MEHR als=n weißer“, Z. 19), die aber in intentionalistische Deutungen münden („die wolln alle zu schnell zu vIE: l“, Z. 23; „der amerka: nischen neger, der will ja gar nicht glEICHberechtigt sein =der will ja MEHR sein als der weiße.“, Z. 30ff.). Die Nennung anderer Gruppen bzw. Kategorien und Typisierungen (der „amerikanische Neger“, die „Frau“) ist typisches Kennzeichen der Stereotypenkommunikation. Aber auch die Reflexivität ist gegeben, Peter ist sich des provozierenden Charakters seiner Äußerungen durchaus bewusst, als er in die Runde sagt: „jetzt komm ich ja (.) krieg gleich provokatION“ (Z. 22f.). 177 Diese Bemerkung bezieht sich auf eine Akademikerin aus Togo, die in Deutschland gelebt hat, fließend Deutsch spricht und in einem Interview im Film den Vergleich z. B. zwischen afrikanischen und deutschen Schönheitsidealen und Liebesvorstellungen zieht.
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Die Passage zeigt auch die Begrenztheit aufklärerischer Versuche, denn es wird deutlich, dass sich das Informationsmaterial des Films nahtlos in die stereotypisierenden ‚Erklärungen‘ einfügen lässt. Und die Trainerin reagiert wie an vielen Stellen im Datenmaterial, sie geht auf die von Peter geäußerten Stereotypen nicht ein und wechselt das Thema. Der displacement marker „apropos“ schließt – ein Stichwort aus Peters Rede aufgreifend – einen Themenwechsel und vor allem einen Wechsel der kommunikativen Aktivität an. Mit der Rückfrage („hat euch das nicht übernrASCHt,“, Z. 40) bricht die Trainerin die Stereotypisierungskommunikation ab (indem sie nicht darauf eingeht) und übernimmt wieder die Gesprächsführung. Interessant ist die Selbstkorrektur in Zeile 38f. Verfolgt man den inhaltlichen Fortgang ihrer Themenführung im Anschluss, so zielt sie auf Erwartungsbruch hinsichtlich der Kleidung der Marktfrauen, die für die deutsche Wahrnehmung nicht als Millionärinnen erkannt werden können. Der begonnene und dann abgebrochene Satz („apropos klEIHndung, wir ham doch auch oft ehm,“ Z. 39) könnte weitergehen mit ‚solche Frauen als Passagiere an Bord, denen man ihren Reichtum gar nicht ansieht‘. Sie unterbricht jedoch die Referenz auf die Bordsituation, eventuell, weil die Gefahr die Stereotypenkommunikation unfreiwillig fortzusetzen, hoch ist. Hier ist eine der bereits erwähnten Selbstkorrekturen, welche die reflexive Disziplinierung zur Einhaltung des transkulturellen Sprechens der Trainerinnen aufzeigt. Mit der Frage „hat euch das nicht überrascht wie viel Geld die verdienen?“ (Z. 40), unterbricht die Leiterin die Stereotypisierung und führt das Lehrziel der Reflexion fort. Vier Kontextfaktoren machen Stereotypenkommunikation in interkulturellen Trainings erwartbar. Erstens ist ein interkulturelles Seminar ohne Verallgemeinerungen und Bewertungen kaum durchführbar, wenn Werte und Normen von Kulturen vermittelt werden sollen. Zweitens werden durch die permanente Erschütterung des kulturellen Wertehorizonts und durch die Benennung von Normen oder Zuschreibungen Stereotypen in interkulturellen Bildungsmaßnahmen zwangsläufig berührt. Drittens sind die einzelnen kommunikativen Elemente der Stereotypenkommunikation denen des transkulturellen Sprechens bisweilen zum Verwechseln ähnlich – einzig die bewertende Dynamik und reflexive Distanz ist eine andere. Auch beim transkulturellen Sprechen werden Geschichten erzählt, Szenen reinszeniert, Normen und Beispielkulturen genannt, was die Teilnehmenden als Anknüpfungspunkt für das Stereotypisieren nehmen. Zudem praktizieren die Seminarleiterinnen das transkulturelle Sprechen nicht durchgehend diszipliniert und machen dadurch unfreiwillig Angebote zum Stereotypisieren. Viertens schließlich ist in solchen Trainings mit einer tendenziellen Ethnisierung der Beiträge zur Gewährleistung des thematischen
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Anschlusses zu rechnen. Aus diesen Gründen besteht in der Seminardiskussion ständig die Chance zu Stereotypisierungen – und sie wird von den Teilnehmenden natürlich auch ergriffen. Bildhaft ausgedrückt gleicht also das Bestreben, stereotypenfrei über andere Kulturen zu sprechen, dem Versuch, einen dunklen Raum voller offener Benzinfässer mit Streichhölzern auszuleuchten – man weiß nie, wann ein Funke überspringt und es anfängt zu brennen. Die Leiterinnen kämpfen sichtlich mit der dynamischen Kraft der Moralisierungen. Eigendynamik und Rigidität der Stereotypenkommunikation scheinen ihnen Probleme zu bereiten. Sie halten sich oft auffällig zurück, wenn die Teilnehmenden stereotypisieren, ignorieren diese Passagen, wechseln das Thema oder machen an solchen Stellen ‚zufällig‘ eine Seminarpause. In meiner Diplomarbeit (Nazarkiewicz 1994), in der ich mich vor allem auf die Darstellung von Stereotypisierungen konzentriert habe, habe ich gezeigt, welche Probleme die Moral den Trainerinnen bereitet und wie sie mit ihren Aufklärungsversuchen förmlich daran scheitern, indem sie versuchen, Moralisierungen zu vermeiden. Hier und im Folgenden möchte ich mich auf die Lösungen für dieses Problem konzentrieren. Denn abgesehen von der Beobachtung, dass die Trainerinnen die explizite Auseinandersetzung mit Stereotypisierungen der SeminarteilnehmerInnen meiden, finden sie auch intuitiv Wege und Lösungen für den kommunikativen Umgang mit verengenden Bewertungen und Abwertungen. Dadurch bleiben sie nicht nur am Gespräch beteiligt, sondern leiten es konstruktiv weiter in Richtung der Lernziele. Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Aktivitäten der kulturreflexiven Deutungsarbeit im Einzelnen darstellen und insbesondere vorführen, wie sie pädagogisch für die Reflexion kulturgebundener Bewertungen und Stereotypisierungen eingesetzt werden.
4.3.5 Lernzielorientierte Rahmenkontrollen Auch wenn pädagogische Veranstaltungen tendenziell ‚feindliche Umgebungen‘ (hostile environment) für die Reproduktion von Stereotypen darstellen, konnte man bisher an den Daten sehen, dass diese zugleich ständig relevant sind und dass die Teilnehmenden sich moralisch durchaus nicht zurückhalten. Sprechen in kulturgebundenen und bewertenden Kategorien sowie die individuelle und kollektive Aktualisierung von ethnischen Stereotypisierungen bilden die Hauptprobleme in den Seminaren. Hieran zeigt sich deutlich, dass es sich beim interkulturellen Lernen um die Vermittlung eines ganz besonderen ‚Wissensbestands‘ handelt, da es den Teilnehmenden immer wieder schwer fällt, den kulturellen Referenzhorizont zu reflektieren.
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Die Trainerinnen korrigieren die kulturelle Brille der Teilnehmenden über verschiedene Rahmungsaktivitäten. Dazu setzen sie Rahmenkontrollen und punktuell einige Elemente der Sequenz ein, mit der sie Kultur als Deutungsressource etablieren (Kapitel 4.1). Im folgenden Ausschnitt öffnet die Leiterin Leslie das Gespräch für die Beteiligten im Kontext eines bestimten Lernziels: TS #30 SPAZIERENGEHEN #1 (SEMINARGESPRÄCH)
Die Leiterin Leslie rahmt ihre Äußerung mit dem Hinweis, dass nun ein weiteres Beispiel für die menschliche Neigung zu Attributionen folge (Z. 1f.). Die in Zeile 5 angesetzte Äußerung „also in amerika:;“ soll von den Teilnehmenden nicht so verstanden werden, dass es so in Amerika ‚wirklich ist‘, sondern als Form der bereits begonnenen szenischen Inszenierung, in der Amerika exemplarisch für die nun folgende Konkretion für eine Attribution dient. Die vorweggenommene Ortsangabe fungiert hier als weiteres Rahmungselement: Der Schauplatz Amerika wird eingeführt, typischerweise durch eine Pause abgesetzt. Die abstrakte Qualität des Beispielhaften des Attributionsvorgangs zeigt sich noch in der allgemeinen personalen Referenz, „wenn jemand (1.0) a: h jemanden beobachtet“ (Z. 7), mit der Leslie jegliche ethnische oder nationale Kategori-
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sierung ausspart. Die Frage in Zeile 9 enthält nun innerhalb dieser Übung die Initiierung, innerhalb des Rahmens eigene Erfahrungen zu erinnern und durch die in ihr enthaltene Negation gleichzeitig eine Aufforderung zur Bestätigung: ‚Habt ihr nie so eigene Erfahrungen gemacht?‘ Leslie lässt die Figuren sprechen: Mit einem Code-Switching zitiert sie auf Englisch zwei mögliche Reaktionen auf ‚Spazierengehen‘ und weist dadurch den beobachtenden ‚Jemand‘ als USAmerikaner aus. Die beiden Reaktionen ‚Can I help you‘ und ‚You want a lift‘ demonstrieren die Fehlattribution des (idealtypischen) Amerikaners, der dadurch zu erkennen gibt, dass Laufen am Straßenrand für ihn kein Selbstzweck sein kann. Mit einem ähnlichen Zitat („did your car break down“, Z. 15) schließt Daniela an. Die Initiierung ist gelungen und die Leiterin wiederholt diesen Satz bestätigend mit einem „Ja“. Gerade die häufig zur Initiierung eingesetzte Frage nach den Erfahrungen ist allerdings ‚rahmentechnisch‘ betrachtet heikel. Das zeigt Danielas anschließender Satz „da läuft echt keine menschenseele“ in Zeile 18, sie wechselt damit in die Rahmung ‚wie sich Amerikaner (wirklich) verhalten‘. Peter setzt in Zeile 21 mit seiner Äußerung, es gebe „wirklich auch“ (sic!) so ein Beispiel an, eine Geschichte zu erzählen. Auch das ist erwartbar, wenn nach Erfahrungen gefragt wird. Bevor jedoch ein Rahmenwechsel beginnen kann, unterbricht ihn Leslie und erläutert den Attributionsvorgang aus der amerikanischen Perspektive als ‚unmotiviertes Handeln‘. Damit kehrt sie konsequent zu ihrer Ausgangsrahmung, ‚ein Beispiel für Attribution zu geben‘, zurück. An dieser Reflexionsstufe zwischen unmittelbaren Bewertungen und Reflexion der Bewertungen als Überschreitung des kulturgebundenen Bewertungshorizonts arbeiten sich die pädagogischen Leiterinnen vornehmlich ab. Die Teilnehmenden lassen sich wie im vorangegangenen Beispiel nicht immer problemlos von einer Rahmenkorrektur leiten und weichen in verschiedenen Formen in andere Sinnhorizonte ab. Immer wieder verbleiben sie in einer kulturgebundenen Perspektive. Um die Kommunikationsbeteiligung zu erhalten, können die Leiterinnen die Teilnehmenden auch nicht immer gleich ‚abwürgen‘. Daher finden die Trainerinnen noch weitere Strategien, mit denen sie die Teilnehmenden darin unterstützen, ihre Sinn- und Deutungshorizonte zu vervielfältigen und ihre Bewertungsableitungen als kulturgebunden zu reflektieren.
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4.3.6 Perspektiven-Relativierungen bei Ethnischen Stereotypisierungen Im bereits eingeführten Beispiel „normale Stimme“ beteiligen sich einige der Teilnehmenden an der Empörung über die ‚Künstlichkeit‘ der Stimmlage Englisch sprechender Frauen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde die Trainerin und Engländerin Leslie in die Bewertungen einstimmen. Auch sie imitiert in dieser Sequenz mit hoher Stimmlage die Intonationsgewohnheit der Mutter ihres damaligen Freundes und spart auch nicht mit rekonstruierten Bewertungen: TS #31 NORMALE STIMME (IKK II, FORTSETZUNG NACH AUSLASSUNG)
Bei der Analyse dieser und ähnlicher Passagen erweist sich das Vorgehen der Trainerin jedoch als Strategie, die Gefühle der Teilnehmenden zu akzeptieren und ihre Zuschreibungen dennoch zu relativieren. Sie holt die Teilnehmenden quasi dort ab, wo sie stehen. Zunächst erzählt Leslie eine Geschichte, in der sie die Mutter ihres damaligen Freundes mit einer hohen, piepsigen Stimme zitiert. Indem sie die Geschichte mit „in südengland“ einleitet (Z. 78), referiert sie auf das Beispiel von dem Schauplatz, von dem sie schon berichtet hatte (TS #25, Kapitel 4.3.2). Indem sie die Begrüßung der südenglischen Frau (‚Oh hello Leslie, I am delighted to see you‘, Z. 83ff.) laut und hoch auf Englisch karikiert, stimmt sie in das Nachäffen der Teilnehmenden ein, die ihre Karikatur wiederum mit lautem Jaulen begleiten. Es handelt sich hier wieder um eine polyphone Inszenierung, wie von Günthner (2002) beschrieben. Dabei hat die Rede der Leiterin noch Bedeutung, die polyphone Begleitung der Teilnehmenden greift
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das Thema nur noch lautmalerisch auf. Damit taucht die Leiterin gänzlich in die kulturgebundene Perspektive ein. Angesichts der Karikatur beginnen Daniela und vermutlich auch die anderen Anwesenden zu Lachen (Z. 88, 90f.). Doch die Trainerin macht sofort im Anschluss deutlich, dass sie damit nur demonstriert, dass ihr die Perspektive der Teilnehmenden vertraut ist. Zugleich spricht sie aus einer kulturreflexiven Perspektive, denn bevor sie ihre Bewertung ausspricht, leitet sie diese jeweils reflexiv ein. Sie bewertet das Verhalten nicht unmittelbar, sondern rekonstruiert mit dem Wissen von heute, was sie dachte: „ich dachte“ (‚you’re never going to get on with this woman‘, Z. 89/92) bzw. „ich fand die“ (exaltiert, Z. 93). Die Bewertungen werden intonatorisch deutlich ‚abgekühlter‘ produziert und nehmen dadurch die Dynamik aus der Situation. Und Leslie beendet ihre Geschichte mit einer anderen ‚Moral‘ als die Teilnehmenden: Sie empfand es nur so, weil selbst sie als Engländerin diese Stimmlage nicht mehr gewohnt war (Z. 96). So ratifiziert die Trainerin einerseits die kulturgebundenen Bewertungen der Teilnehmenden, macht aber andererseits zugleich klar, dass es sich um eine relative Bewertung handelt: Nicht die anderen sind ‚unnormal‘, man selbst ist etwas nicht (mehr) gewohnt. Die Form, welche die Trainerin hier einsetzt, ist die Reflexion der ‚natürlichen“ Weltwahrnehmung, der Perspektive, aus der heraus die Bewertung vorgenommen wird, in eine Perspektivenrelativierung. Sie spricht von ihrer damaligen Perspektive (auf die englischen Frauen) mit dem heutigen Wissen, und sie erwähnt auch umgekehrt die Reaktionen der britischen männlichen Mitbewohner auf sie selbst. Mit diesen Relativierungen aus dem transkulturellen Raum sprechend reflektiert sie auch im Fortgang des Beispiels „normale Stimme“ konsequent die kulturgebundenen Bewertungen der Teilnehmenden, indem sie die Wahrnehmung ihrer nun der deutschen Kultur angepassten ‚tiefen‘ Stimmlage durch ihre damaligen englischen Mitbewohner schildert: TS #32 NORMALE STIMME (IKK II, FORTSETZUNG NACH AUSLASSUNG)
Aus der Perspektive der (britischen) Männer klang ihre Stimme „nICHT sehr feminin“ (Z. 108), weil sie „nICHT (-) diese sprache habe“ (Z. 109), also nicht
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die in England für englische Frauen vertraute Stimmlage. Damit reproduziert sie in abgeschwächter Form ein Stereotyp, also die falsche Fremdzuschreibung der englischen Männer. Interessant ist hier die doppelte Negation, welche die Wahrnehmung der Abweichung von der gewohnten Stimmlage aus der Perspektive der englischen Männer unterstreicht. Obwohl Leslie die bereits erwähnte Normalität in Südengland nur wiederholt (mit „wie gesagt“ in Z. 106 bezieht sie sich auf ihre Einführung in Ausschnitt TS #25, Z. 47f.: „in Südengland, kennt ihr das?, dass es ganz normal is dass frauen dann immer so ganz hoch sprechen“), bringen Peter und Daniela mit einem von Überraschung zeugenden Hörersignal („ach“, Z. 110 und „ach ja: “, Z. 111) ihre Verwunderung über diese Interpretation zum Ausdruck. Die Perspektivierung der Bewertung aus Sicht der englischen Männer hat offensichtlich einen pädagogischen Effekt erzeugt. Die Trainerin fungiert wie ein Katalysator für verschiedene Weltwahrnehmungen. Die Stimmlage der Mutter des Freundes wirkte in den Augen der Anwesenden und der Leiterin zu hoch, die ihrer Trainerin, die ihnen vermutlich ‚normal‘ vorkommt, war wiederum den britischen Männern zu niedrig usw. Die Teilnehmenden nehmen nun erkennbar wahr, dass es noch einen anderen Bewertungsmaßstab für ‚richtiges und normales‘ Sprechen gibt als ihren eigenen. So ergänzt die Trainerin, woran die Wahrnehmung der Männer festgemacht war, an ihrer „tiefen Stimme“ (Z. 113). Diese „tiefe Stimme“ wird nun von Barbara aus ihrer Kulturperspektive erneut als „normale Stimme“ (Z. 114) kategorisiert. Und die Leiterin korrigiert Barbara indirekt, indem sie deren Beitrag einerseits mit „ja“ bestätigt und andererseits sofort die Perspektive der Aussage reflexiv markiert: „ja was wir als nnormAl finden ja“ (Z. 115). Eingerahmt ist die Korrektur zusätzlich in zwei Zustimmungssignale, was sie besonders affiliativ macht. Die Betonung des Wortes „normal‘ stellt durch das high onset zudem einen begütigenden Klang her: Für uns ist das völlig in Ordnung. Dort ist es eben anders. Dadurch wird einerseits Barbaras Äußerung nicht als falsch bewertet, andererseits wird ihre Bewertung von der Leiterin auf die Perspektive reflektiert, aus der gesprochen wird. Erst jetzt mit der Perspektivenreflexion ist die Äußerung im Sinne des Lernziels ‚korrekt‘.
4.3.7 Perspektivenreflexion kulturgebundener Bewertungen Die Teilnehmenden reagieren selten mit unmittelbarer Einsicht auf diese pädagogischen Interventionen. Zur Überwindung der kulturgebundenen Perspektive bedarf es der wiederholten Perspektivierungsarbeit durch die Trainerinnen. Daher möchte ich an einem zweiten Beispiel zeigen, wie die Leiterin sanft und hartnäckig die Äußerungen der Teilnehmenden mehrfach durch Perspektiven-
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reflexion korrigiert. Die Teilnehmerin Helga zitiert im folgenden Ausschnitt aus der bereits eingeführten Sequenz über verschiedene Zeitvorstellungen einen Teil der Ausführungen der Trainerin Laura. Diese hatte zuvor die wechselseitigen Wahrnehmungen von Menschen unterschiedlicher Zeitorientierung erläutert. Helga bezieht sich in ihrem Zitat mit einer Bewertung auf das zuvor Gesagte: TS #33 POLYCHRON MONOCHRON (IKK I)
Als Begründung für ein Argument („weil“) zitiert Helga die Leiterin (‚du hast gesacht, der polychrone ist...‘), mit einer ungerahmten Prädikation (Z. 383f.). Das erweckt den Eindruck, die Leiterin hätte eine Bewertung im Hinblick auf polychron orientierte Menschen vorgenommen („der polychrone ist auch flexibel;“, Z. 384). Helga lässt nach ihrem Zitat eine Pause für ein Bestätigungssignal der Trainerin (Z. 389). Als diese nicht unmittelbar reagiert, interpretiert Helga die Pause offensichtlich dahingehend, dass die Trainerin den Kontext nicht mehr erinnert, und sie beginnt, mehr zu erläutern („das war des“, Z. 386). Doch die fehlende Reaktion hat einen anderen Grund. Die Leiterin wurde nicht korrekt zitiert. Sie hatte bei ihrer Prädikation die beiden Perspektiven explizit gemacht, wie der von Helga zitierte Ausschnitt zeigt: TS #34 POLYCHRON MONOCHRON (IKK I) [VORANGEGANGENER AUSSCHNITT]
Die Leiterin war zuvor demonstrativ in die Perspektive der von ihr erläuterten polychronen Zeitorientierung geschlüpft („wär ich polychron,“) und hatte die Welt aus dieser Sicht bewertet. Die eigene Gruppe erschien so flexibel und die monochron orientierten Menschen stur. Daher korrigiert die Trainerin Helgas Zitat in Ausschnitt TS #33 in der Form, dass sie die fehlende Perspektive als Selbst- und Fremdbild hinzufügt: „der hält sich für flexibel“ (Z. 387) und nach einer weiteren kurzen Pause „der hält uns für stur“ (Z. 388). Typisch sind die
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kurzen Pausen vor den Perspektivenwechseln. Auf diese Weise hat die Leiterin Helgas Aussage nicht zurückgewiesen, sondern sie hat diese Aussage mit Hilfe der beiden Perspektiven in eine transkulturelle Variante gebracht. Helga hat in die in der Korrektur liegende Sinnverschiebung offenbar wahrgenommen. Ihr geht es um etwas anderes. Mit einem relvance downgrader „aber“ (Z. 390) verlässt sie den Fokus (im Sinne von ‚ist ja auch egal, mir geht es um einen anderen Aspekt‘) und deutet einen Dissens zur Leiterin an. Helga fährt mit ihrem Argument fort, ohne ihre Perspektive zu verlassen. Kurz darauf bildet Laura erneut eine Brücke zwischen der kulturgebundenen und der transkulturellen Perspektive: TS #35 POLYCHRON MONOCHRON (IKK I)
Bevor die Trainerin ihre kleine ‚polychrone Inszenierung‘ vorführt, betont sie in ihrer Einleitung, dass es „nDORT“ nur so aussähe als würde nicht gearbeitet (Z. 559) (transkulturelle Perspektive). Dann demonstriert sie wieder an einem fiktiven szenischen Beispiel den sozialen Umgang im Büro. Diese Szene schildert sie aus der bewertenden Perspektive monochron orientierter Menschen vor („das sieht so aus“, Z. 559). Das Adverb „nur“ (Z. 560) und die eher auf den Kontext der Freizeitkommunikation verweisende Wortwahl „schnacken“ lassen die Gespräche der so Beobachteten belanglos und für die Arbeit irrelevant erscheinen. Die Sing-Song-Intonation suggeriert zusätzlich eine ‚lockere Atmosphäre‘. Mit mehreren expliziten Rahmungen aus der kulturreflexiven Perspektive („gehn wer davon `a=u: s,“ Z. 565; „für uns sieht die Welt so aus.“, Z. 568) kommt die Leiterin auf die Einwände von Helga zurück. Sie hebt diese zwar als wichtige Wahrnehmung hervor, allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass das prononciert gesprochene „so kann man nicht arbeiten.“ (Z. 569) eine von mehreren möglichen Perspektiven ist. Mit dieser positiven Hervorhebung von Helgas Beitrag schafft sie eine zweite Verbindung zwischen Helgas Äußerung und der transkulturellen Perspektive.
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Durch die Verschmelzung der beiden Perspektiven im selben Redezug schlägt die Trainerin eine Brücke zu den kulturgebundenen Bewertungen der Anwesenden. Zusätzlich ‚brückenbildend‘ bei der Arbeit mit den Perspektiven ist, dass die Leiterinnen sich mit Pronomen wie ICH, UNS oder WIR in die Fehlwahrnehmungen kulturgebundener Bewertungen einbeziehen. Abschließend sei noch der Erfolg von Lauras Bemühungen demonstriert. Obwohl sie lange Ausführungen zum Zeitempfinden und viele Beispiele gegeben hatte und trotz der mehrfachen deutlichen Perspektivierung, wie in den vorangegangenen Ausschnitten gezeigt, ‚überhört‘ Helga diese Relativierung und bringt hartnäckig einen weiteren Grund dafür ein, dass man ‚so nicht arbeiten kann‘, den die Leiterin nun aber entkräften kann: TS # 36 POLYCHRON MONOCHRON (IKK I)
An Helgas Beitrag ist die Wirkung der szenischen Darstellung durch die Leiterin ablesbar. Sie geht auf das fiktive Beispiel ein, indem sie sich in die Lage der zuvor eingeführten Führungskraft versetzt und aus (deren) Ich-Perspektive spricht. Doch diese Ich-Perspektive ist die Perspektive einer monochron orientierten Chefin, die das polychrone Verhalten als Arbeitsablenkung wertet. Dabei übernimmt Helga die Wortwahl der Leiterin: „UNwichtigen schnack“ (Z. 579). Die Trainerin korrigiert Helgas Blickwinkel mit deutlicher Betonung auf der Perspektive: „UNS in jedem `fall“ (Z. 583). Als Helga erneut anhebt, aus der Perspektive der monochronen Führungskraft zu sprechen („ich kann“ Z. 584), wiederholt die Leiterin ihre Relativierung der Perspektive. Ob Helga daraufhin ein Verstehenssignal gibt („ach so“, Z. 586) oder fortfährt, ist nicht richtig zu hören, auf jeden Fall wird sie von der Leiterin übertönt, und ihr Beitrag wird
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damit zu einem, der ‚richtig‘ ist, also dem Lernziel angepasst ist. Danach formuliert Helga keine Argumente oder Einwände mehr.178
4.3.8 Fachbezeichnungen zur Überwindung kulturgebundener Erklärungen Da die Trainerinnen aufgrund der Vorverteilung des Rederechts und ihrer zugeschriebenen Wissensautortät eine gewisse Deutungshoheit inne haben, können die pädagogischen Interventionen und Korrekturen auch in anderen Formaten erfolgen. Als Gegenfolie möchte ich nun eine direktere Strategie vorstellen. Mit der abstrakten Bezeichnung und mit größtenteils fachlichen Charakterisierungen des bei anderen Kulturen beobachteten Verhaltens verweisen die Trainerinnen die Teilnehmenden auf einen Blickwinkel, der außerhalb ihrer kulturgebundenen Bewertung liegt. Im folgenden Ausschnitt erläutert die Leiterin den Intonationsverlauf von indischen SeminarteilnehmerInnen, die sie geschult hatte. Ihr Ziel ist zu zeigen, dass der Tonfall nicht den Erwartungen entspricht und auf die Anwesenden unhöflich wirken könnte. TS # 37 NOCH FRAGEN ZUM INDER (IKK II)
Die Trainerin benennt zunächst das sprachliche Muster (Satzmelodie, Intonation), welches das unangenehme Gefühl auslöst. Nachdem sie Satzmelodie als „für uns unangenehm“ und das abrupte Beenden von Sätzen als ‚Neigung‘, also als habitualisiertes Verhalten beschrieben hat, hebt sie hervor, dass der Tonfall lediglich herablassend „klingt“ (Z. 9). Dabei schwächt sie die Bewertung ‚herablassend‘ noch zweifach ab („eher so herablassend“, Z. 9). Interessant ist 178 Ob die Teilnehmerin diese Perspektive auch „eingesehen“ oder „gelernt“ hat, bleibt offen, es fehlt hier eine unmittelbare Ratifizierung. Mir geht es hierbei vor allem um die pädagogische und affiliative Gesprächsarbeit.
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auch ihre Intonation. Sowohl in „frnage“ als auch in „hernablassend“ (Z. 9) macht sie einen Tonhöhensprung, und die so betonten Silben drücken die – aus transkultureller Perspektive erwartbare – Verwunderung oder Irritation des deutschen Gegenübers aus. Doch Peter reagiert mit einer stereotypisierenden Erklärung, indem er eine intentionalistische Begründung für das Verhalten der Inder (beziehungsweise für den Eindruck, den dieses Verhalten bei „uns“ erzeugt) liefert. Er geht davon aus („weil“), dass die besondere Sprechweise der Inder in einer diskriminierenden Haltung begründet sei: Die beschriebenen Inder sähen die Anwesenden („wir“) als Domestiken an (Z. 11). Die Trainerin verneint augenblicklich die Richtigkeit dieser Erklärung und nennt den korrekten Grund mit dem Fachbegriff: „das is ( ) des sprachmuster.“ (Z. 12). Der Fachbegriff fungiert hier also als (konkurrierende) Erklärung, indem er verdeutlicht, dass die fallende Intonation eine andere als die von Peter unterstellte Bedeutung hat, und diese Erklärung rehabilitiert zugleich die Intentionen der Inder gegenüber Peters Unterstellung: Sie möchten gern etwas Nettes sagen (Z. 14). Mit einem Sprachwechsel zum Englischen inszeniert die Leiterin als Beispiel eine mögliche Formulierung, die von ihrem Inhalt her ummissverständlich positiv ist, den Ausdruck von Dankbarkeit: „oh (.) leslie thank you for doing this and this“ (Z. 15). Hier hält sie die Intonation flach und imitiert damit den gleichförmigen Tonfall der Inder. Zusätzlich beschreibt sie erneut auf Deutsch eine potenzielle Überraschtheit eines nicht mit diesem Aspekt der indischen Kultur vertrauten Gesprächspartners („und dann kommt der tonfall“, Z. 17) Sie beschreibt damit die Inkongruenz von Intention und Wirkung, quasi den ungewollten ‚Outcome‘ und das interkulturell bedingte ‚Scheitern‘. Sie wiederholt, dass es sich um einen Eindruck und damit eine Bewertung handelt, indem sie wiederholt erwähnt, dass der Tonfall lediglich unfreundlich „klingt“ (Z.16). Es ist deutlich erkennbar, dass die Trainerin zusätzlich auf mehrere der vorhin beschriebenen Mittel zur Vermittlung einer transkulturellen Perspektive zurückgreift: zu Beginn des Ausschnitts die Wahrnehmung und innere Befindlichkeit der Personen, welche diese Orientierung nicht teilen („ist unangenehm für uns“, „klingt herablassend“), am Ende eine kleine Szene mit direkter Rede zur Demonstration. Zur Korrektur der Äußerung Peters setzt sie jedoch, wie beschrieben, einen Fachbegriff (Sprachmuster) ein. Diese Form der pädagogischen Intervention ist weniger gesichtswahrend. Die Trainerinnen setzen sich dabei deutlich von der Gruppe ab, gehen aus der Wir/uns-Integration heraus, welche die beiden anderen Methoden kennzeichnet, und stellen ihren Status als Expertinnen mit dem korrekteren Wissen in den Vordergrund.179 179 Mit anderen direkten Korrekturstrategien, die nicht über Wissensautorität gesichert sind, sind die Leiterinnen eher vorsichtigt und das aus gutem Grund. Wenn sie eine kulturgebundene Bewertung metakommunikativ als solche bezeichnen, wird ihnen sehr schnell Widerstand und
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4.3.9 Einfühlen lassen durch transkulturelle Analogien Während die Fachbezeichnung eine Intervention auf der kognitiven Lernebene darstellt, zielt die transkulturelle Analogie im Anschluss an eine kulturgebundene stereotypisierende Bewertung auf die emotionale Lernebene bei der Zumutung des Perspektivenwechsels. Im Zusammenhang mit dem japanischen Norm-Wert-Konzept „on“180, erläutert die Trainerin im folgenden Ausschnitt den Zusammenhang zwischen einer kulturellen Norm (Ehre/Verpflichtung), dem damit zusammenhängenden Gesichtskonzept (keine offene Konfrontation) und der Manifestation auf der Kommunikationsebene (keine direkten Ablehnungen aussprechen) im Umgang mit Japanern: TS #38 ONE’S DUTY TO ADMIT NO FAILURE OR IGNORANCE (IKK II)
Widerspruch entgegengebracht. Die Teilnehmenden geben ihre kulturell und lebensgeschichtlich erworbenen und gefühlten Perspektiven nicht ohne weiteres auf. 180 „On“ ist eines jener unübersetzbaren Konzepte, die Normen und Werte beinhalten und nur im kulturellen Kontext verstanden werden können. Basierend auf der konfuzianischen Ethik der sogenannten fünf Wu lun, zur Regelung der asymmetrischen Elementarbeziehungen zwischen u. a. Vater und Sohn, Kaiser und Untertan, Mann und Frau, älterem Freund und jüngerem Freund, welche die Stabilität der Gemeinschaft gewährleisten, formuliert „on“ die Verpflichtung gegenüber den höherrangigen Personen, die niemals ganz abgegolten werden kann und durch ständige Beziehungspflege und „Rückerstattung“ („giri“) gepflegt wird. Giri-Handlungen, das wechselseitige Geben und Nehmen, wahren das Gesicht im Sinne des „on“, das nur unzureichend mit dem Begriff „Verpflichtung“ übersetzbar ist (vgl. dazu Winkels/Schlütermann-Sugiyama 2000).
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Sehr schön ist wieder die kurze Abfolge einiger Elemente des transkulturellen Sprechens und das Herunterbrechen von Normen zur Erfahrungsebene zu erkennen: 1. die Benennung der kulturellen Norm im indikativen Stil (‚one’s duty to admit no failure or ignorance‘, Z. 1), die sie aus einer schriftlichen Vorlage zitiert, 2. die passivisch formulierte Ableitung der Handlung Z. 1ff.) und schließlich 3. die Anbindung an die Erfahrung (auf Ämtern und so weiter, Z. 6ff.), die sofort ein Beispiel von Seiten einer Teilnehmerin elizitiert: (‚ist es nicht auch so, dass wenn man nach dem Weg fragt ...‘, Z. 9ff.). Die Trainerin ratifiziert das Beispiel durch eine Bewertung mit einem leeren Deskriptor („ja. (-) das is sehr schwierig.“, Z. 14), welche – der Präferenz folgend – von Daniela gesteigert wird und einen stereotypen Vorstoß ahnen lässt. Natürlich mag es für denjenigen, der sich gerade in Tokio verlaufen hat, nicht allein ethnisch, sondern insbesondere handlungspragmatisch eine ‚Katastrophe‘ sein, aber die Nähe zur Abwertung über die ‚Verrücktheit‘ solcher Konzepte ist unverkennbar. Die Trainerin reagiert mit der Reformulierung der Verhaltensnorm, welche nach dem japanischen Konzept auch den Fragenden einschließt.181 Denn es ist nicht so, dass man falschen Informationen völlig ausgeliefert wäre, sondern es handelt sich um ein interaktiv praktiziertes Konzept, bei dem der Fragende in die Gesichtswahrung mit einbezogen ist und durchaus Hinweise bekommt, wenn der andere es nicht weiß (vgl. TS #5, „dieses ja und nein“). Bevor nun weitere Bewertungen folgen können, setzt die Leiterin eine transkulturelle Analogie ein, welche den Teilnehmenden die Empfindungen der Japaner nahe zu bringen versucht:
181 Für Ausländer wäre dies z. B. zu praktizieren, indem sie darauf achten, nur Japaner zu fragen, von denen sie annehmen können, dass diese auch Englisch sprechen, Angestellte in Hotels z. B. Eine andere, die japanische Variante wäre, sich demonstrativ hilflos zu verhalten und dann von Japanern ansprechen zu lassen, die dies bei Ausländern nur tun, wenn sie in Englisch kommunizieren können.
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TS #39 ONE’S DUTY TO ADMIT NO FAILURE OR IGNORANCE (KK II)
Im Rahmen einer fiktiven auf die Anwesenden bezogenen Beispielgeschichte bzw. Dialogszene (Susanne ist eine der Teilnehmenden), als einem weiteren Element transkulturellen Sprechens konstruiert die Leiterin den Fall einer direkten, unverblümten Ablehnung auf die Bitte, sie nach Hause zu fahren. Der Überraschungseffekt den diese Antwort bei den Teilnehmenden – also auch hierzulande – hätte, zeigt sich an der kleinen Pause (Z. 46) und die Normüberschreitung an dem anschließenden leisen Kichern einzelner TeilnehmerInnen, das Peinlichkeit ausdrückt. Die Trainerin überzeugt mit dieser Szene ohne weiteres Argument. Sie sagt nur trocken „jA“ (Z. 49), was sich hier im Sinne eines ‚seht ihr‘ interpretieren ließe, und fährt mit einer Übung fort, indem sie die gerade in die fiktive Geschichte eingebaute Teilnehmerin Susanne direkt anspricht („wie würdest du ANtworten.“, Z. 52). Die Teilnehmerin formuliert dann im Anschluss (ausgelassen) eine gesichtsschonende Antwort, wie sie diese Bitte negativ beantworten würde. Mit der transkulturellen Analogie und anschließenden Übung wurde es den Answesenden ermöglicht, im eigenen Verhaltenskodex eine Entsprechung zu finden, welche die japanische Norm nachvollziehbar macht. Am Ende überträgt Susanne ganz im Sinne des Lernziels die Verantwortung für die Gesichtswahrung und Vermeidung von Ablehnung auch auf die Fragende und reformuliert dann sogar deren Bitte noch so, dass sie im japanischen Sinne ‚überhört‘ werden könnte und keine Ablehnung erforderlich macht. So demonstriert sie, dass sie diese Form der indirekten Kommunikation ansatzweise nachfühlen und sogar nachahmen kann. Natürlich hält auch eine transkulturelle Analogie die Teilnehmenden im Nachklapp oft nicht davon ab, etwas ‚umständlich‘, ‚kompliziert‘ oder ‚steif‘ zu finden, aber es wird im Material auch deutlich, dass die Bewertungshaltung in der Folge weniger ‚abwehrend‘ ist, dass
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eine Reorganisation des Blickwinkels erfolgt und anderen Wertekonstruktionen eine höhere Akzeptanz entgegengebracht wird, nach dem Motto ‚das ist eben deren System‘.
4.3.10
Stereotypenelizitierung und -reflexion durch Introspektives Sprechen
In den vorangegangenen Kapiteln ist deutlich geworden, dass die Leiterinnen die Teilnehmenden in ihrer Bewertungsperspektive nicht alleine lassen und sie sanft aber hartnäckig animieren, Kultur als reflexive Deutungsressource zu nutzen und unmittelbare Bewertungen zu überwinden. Mit der öffentlichen Preisgabe eigener Vorurteile und Stereotypen unterstützen die Trainerinnen diese Deutungsarbeit und Haltungsänderung noch auf eine ganz besondere Weise. Sie elizitieren über introspektives Sprechen die Reflexion der eigenen bzw. kollektiven Stereotypen der Teilnehmenden und leisten so einen Beitrag zu deren Überwindung. Im folgenden Ausschnitt offenbart die Trainerin Laura, dass sie die Menschen anhand der Beschaffenheit ihres Gebisses zu beurteilen neigt. TS #40 SOLITAIRE (IKK I)
Interessant ist die Selbstkorrektur zu Beginn der Sequenz in Zeile 22-23. Die Trainerin setzt an, davon zu berichten, was ihr auffalle und wie es ihr in bestimmten Fällen gehe. Doch sie bricht ab und erläutert zunächst mit einer offenen Frage, worauf sie bei der Wahrnehmung achte (‚wie ist das gebiss beschaffen‘, Z. 23), und stellt damit die selektive Wahrnehmung in den Vordergrund. Aus dem, was auffällt, wird ein aus der Vielfalt der vorhandenen Eindrücke und wahrgenommenen Merkmale als Kriterium herausgegriffenes Merkmal. Den Automatismus der Stereotypisierung reflektiert sie mit der
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rahmenden Bemerkung ‚dann spult bei mir ja hier oben gleich n film ab‘ (Z. 24). Es folgt eine rhythmisch gesprochene Introspektion mit der Reproduktion einer kategorischen Formulierung (‚wer so marode Zähne hat...‘, Z. 25) und weiterer ‚Fragen‘, die sie sich stelle, etwa nach der Körperhygiene eine Betrachtungsweise und (geschilderte) Einordnung des Gegenübers, die implizit auf die zugrundeliegenden deutschen Werte der Sauberkaut und Ordnung verweist. Die Rede wird durch Lachen begleitet, was auf den Tabubruch hinweist. Die Selbstbezichtigung hinsichtlich des Stereotypisierens wirkt als Einladung. Carmen bestätigt und schließt mit einer eigenen Geschichte aus Thailand an: „das stimmt aber wir warn jetzt in BANgkok ...“ (Z. 35). Sie erzählt von einem Taxifahrer, der nur einen Zahn hatte, was ihr unangenehm war und sie daran hinderte, sich ihm als Fahrgast anzuvertrauen. Carmen beendet die Geschichte ebenfalls mit der Offenbarung ihrer Bewertungen: TS #41 SOLITAIRE (IKK II, FORTSETZUNG)182
Carmen schwankt noch sichtlich zwischen dem Bemühen um Perspektivenreflexion („also ich“) und der Bewertung des Mannes, ‚der war unangenehm‘ (Z. 59), er ‚sah ungepflegt und unattraktiv aus‘. Zunächst reagiert die Trainerin mit einem „ah“ (Z. 61), eine verkürzte Form von „aha“, das klingt wie eine antizipierte Überraschung: ‚da sieht man es wieder‘. Die Bewertungen Carmens 182 Mit „diese Liste“ bezieht sich die Leiterin auf ein Flipchart, auf dem sie Elemente notiert hat, die in der Kommunikation, auch als nonverbale Signale wie Körpergeruch etc., eine Rolle spielen.
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nimmt sie anschließend als Beispiel, um daran das pädagogische Lernziel der Erschließung wertegebundener Deutungsmuster festzumachen: ‚und darum gehts und das ist wichtig‘ (Z. 70). So ermöglicht sie die Reflexion ‚wie es zu Bewertungen kommt‘. Dabei bindet sie die bewertungsauslösende Wahrnehmung, ‚ich seh, der hat n marodes Gebiss‘ (Z. 82), in die Liste der kommunikationsbestimmenden Elemente ein (die sie zuvor entwickelt hatte) und beginnt, den Wahrnehmungs- und Bewertungsvorgang als kognitiven Übungsvorgang aus einer repräsentativen Ich-Perspektive zu wiederholen. Kollaborativ ergänzen daraufhin Elvira und Ingo, dass auf diese Wahrnehmung sofort eine Ableitung (Z. 83) im Sinne eines Vorurteils (Z. 86) folge. Der Beitrag von Carmen wird damit aufgegriffen, statt tabuisiert zu werden, er steht im Dienste der Verdeutlichung des Lehrziels, das Gespräch bleibt in Gang und führt bei allen Beteiligten zu einer Reflexion eigener Zuschreibungs- und Bewertungsmuster. Deutlich ist hier erkennbar, wie die Perspektivenerweiterung der Deutungsmuster in einem Gruppenprozess vonstatten geht und nicht etwa allein in der Einsichtsfähigkeit einzelner Personen beruht. Das Introspektive Spechen bildet hierbei eine Brücke zwischen der unmittelbaren kulturgebundenen Bewertung und der perspektivenreflexiven Deutung.
4.3.11
Stereotypenreflexion durch Modalitätswechsel
Indem die Leiterinnen mit dem Introspektiven Sprechen selbst stereotypisieren, verstoßen sie nicht nur gegen eine Norm der politischen Korrektheit im Alltag, Vorurteile zu reproduzieren, sie bewegen sich insbesondere in einem interkulturellen Seminar auf der Ebene des Tabubruchs. Wenn allerdings die pädagogische Gesprächsführung dabei geschickt vollzogen wird, können die Trainerinnen mit den Bildern regelrecht spielen Der dabei initiierte Modalitätswechsel regt die Teilnehmenden dazu an, sich über die eigenen Stereotypsierungen zu amüsieren und sie dadurch zu reflektieren Der bereits erwähnte und gezeigte Film über die wirtschaftlich selbständigen Frauen in Togo elizitiert viele Erfahrungen aus der täglichen Arbeit der Anwesenden und natürlich ihre Bilder und Bewertungen. Eine der Teilnehmerinnen schildert ihre Erfahrungen, die sie mit Gästen an den Check-in Schaltern hat:
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TS #42 HERRISCHE AFRIKANERINNEN (IKK I, VEREINFACHT)
Wie für Stereotypisierungen typisch, formuliert Arnika, eine Bodenstewardess, die Prädikation hinsichtlich des ‚herrischen Auftretens‘ afrikanischer Gäste mit der Ambiguität von Abschwächung und Verschärfung. Die mit einer Einschränkung versehene Subjektivierungsstrategie vor der Prädikation, man habe am Boden „manchmal den Eindruck“, lässt das Stereotyp der ‚herrischen Afrikanerin‘ reflexiv als persönliche Wahrnehmung erscheinen. Im nächsten Moment wird über die Verschärfungsmarkierer „sehr sehr herrisch (Z. 72) jedoch wieder in Richtung Abwertung ‚Gas gegeben. Arnika kann ihre Erfahrungen nicht mit einem Bild im zuvor betrachteten Film, den afrikanischen Frauen, die sich zu viert mit einem einzigen Ehemann arrangieren, in Einklang bringen (Z. 74ff.). Die Trainerin setzt eine interessante Intervention ein. Sie stimmt ihrer Bodenkollegin explizit zu und reformuliert dabei ihre Zustimmung mehrmals (Z. 78). Die ersten drei ihrer insgesamt vier beipflichtenden Aussagen stellen inhaltlich gewissermaßen ‚leere‘, einzig und allein Zustimmung ausdrückende Elemente dar: ein zustimmendes Rezipientensignal („stimmt“), reformuliert als Formulation („ich stimm dir zu“) und als Tatsachenaussage („das is so“), was man als ‚das Gefühl ist so‘ übersetzen könnte. Zum Abschluss dieser Zustimmungssequenz betont dann allerdings die Trainerin mittels einer nachgeschobenen Spezifizierung die perspektivenreflexive Subjektivität des von der Teilnehmerin geäußerten Eindrucks („sie wirken so“). Dadurch bleibt sie
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affiliativ im Gespräch und ratifiziert das Gefühl der Sprecherin, jedoch ohne die Prädikation „herrisch“ zu bestätigen. Zugleich ermuntert sie Arnika, weiter zu sprechen, indem sie nach einer Begründung für deren Eindruck von den afrikanischen Passagierinnen fragt („woran liegt das“, Z. 77). Entsprechend dieser gezielten Aufforderung beschreibt die Teilnehmerin nun nicht, was sie erlebt hat, sondern sucht nach Erklärungen. Sie bietet eine kategoriale Unterscheidung an zwischen den beschriebenen ländlich lebenden Frauen und jenen einer vermeintlichen Oberschicht, die sich die Flüge leisten können (und entsprechend auftreten).183 Daraufhin interveniert die Trainerin mit einem Einwand. Sie korrigiert nicht das das Bild von der afrikanischen Frau, das aus dem Verhalten der afrikanischen Passagierinnen resultiert, sondern nimmt Bezug auf den Erwartungsbruch, der den Hintergrund für die Wahrnehmung und Bewertung ihres Verhaltens bildet. Statt in solchen Fällen mit ‚politisch korrektem‘ Vorstoß die Bilder zu korrigieren, stellen sich die Leiterinnen an die Seite der Anwesenden und thematisieren den Erwartungsbruch quasi ‚am eigenen Leib‘: TS #43 HERRISCHE AFRIKANERINNEN (IKK I; Z. 94-100 VEREINFACHT)
183 Der Film macht diese Unterscheidung nicht in diesem Sinne, sondern beschreibt genau gerade jene Frauen, die als Händlerinnen in ländlichen Gebieten wohnen, als die vermögenderen, wirtschaftlich unabhängigeren im Unterschied zu den städtischen Frauen, die – beeinflusst durch die Lebensweisen der ehemaligen Kolonialmächte – in der Tätigkeit als Hausfrau in der monogamen Ehe diese spezifisch afrikanische Form der Unabhängigkeit verlieren. Hier zeigt sich, wie schwer sich das Bild von der Rückständigkeit der ‚ländlichen‘ (afrikanischen) Bevölkerung im Unterschied zur ‚fortschrittlichen‘ Stadtbevölkerung aufweichen lässt. Der Filmemacher argumentiert dagegen, dass genau die Nachahmung des bürgerlichen Ehemodells der Kolonialmächte den Frauen die Unfreiheit gebracht habe.
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Die Leiterin adressiert in ihrem Redezug nicht nur Arnika, sondern regt alle an, sich metakognitiv den Widerspruch zur eigenen Erwartungshaltung vor Augen zu führen („wenn ihr euch überlegt“, Z. 94). Sie nennt eigene ‚Schlüsselerlebnisse‘ und damit repräsentative Situationen aus der Lebenswelt der Beteiligten in der ersten Klasse an Bord der Flugzeuge, und indem sie das zitierte (falsche) Bild ausschmückt, nämlich wie die Frauen auf sie gewirkt haben („grande dame raushängen ließen“, Z. 100), ‚klärt‘ sie keineswegs die zugrunde liegende Übergeneralisierung ‚auf‘. Die Trainerin zitiert und nutzt die Stereotypenkommunikation, um zur Perspektivenreflexion anzuregen. Ziel der Deutungsübung ist offensichtlich nicht, das ‚korrektere Wissen‘ zu vermitteln, also den TeilnehmerInnen vor Augen zu führen, wie die Afrikanerinnen aus Togo ‚sind‘, sondern die eigene Deutung und Erwartungshaltung in der Begegnung zu reflektieren. An den Hinweis der Trainerin, dass diese Frauen nicht in ihr Bild des klassischen First Class Passagiers passten, knüpft Carmen bereits selbstreflexiv mit dem Verweis auf eine typische Tätigkeit der Flugbegleiterinnen an: im Akt des Kontrollierens der Bordkarte steckt die – im Seminarkontext nun reflektierte – falsche Annahme, die Personen hätten sich – ob absichtlich oder versehentlich – in die falsche höhere Klasse gesetzt. Damit bestätigt Carmen bis in die Handlungsebene hinein, wie wirksam die Bilder sein können. Zugleich kann das Lachen auch darauf hindeuten, dass die Szene fiktiv und hyperbolisch weitergesponnen wird und man sich – nun der Fehldeutung bewusst – genüsslich dem Normbruch hingibt, das Verhalten eines First Class Passagiers derart in Frage zu stellen. Die Trainerin reagiert, wie auch mehrere andere TeilnehmerInnen, mit einem Lachen macht daraufhin am Beispiel der eigenen Erfahrungen und Irritationen die ‚in ihrem Kopf‘ ablaufenden (Fehl-) Schlüsse mit dem introspektiven Sprechen öffentlich. Sie rehabilitiert Deutung und Verhalten in dieser Inszenierung sogar mit dem Adjektiv ‚logisch‘ (Z. 108), denn vor dem
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Hintergrund der eigenen kategorialen Ableitungen, erscheint die Fehldeutung zwangsläufig. Dabei macht sie am Beispiel der eigenen Erfahrungen und Irritationen die inneren (Fehl-) Schlüsse mit dem introspektiven Sprechen öffentlich. Explizit rahmt sie die rhythmisch gesprochene nachfolgende ‚innere Logik‘ ihrer stereotypengeleiteten Beurteilung der Afrikanerinnen. Sie inszeniert durch den Rhythmus beim Sprechen sozusagen den Automatismus dieser Ableitungen. Die selbstbeschreibenden Rahmungen („ratterte in meinem kopf ab“, Z. 110; „was de so alles an: an ste(he)reoty(hy)pen im kopf nhast“, Z. 117f.) sind mit einer Spaßmodulation versehen (lächelnde Stimme oder auflachend). Das Lachen ist eine Methode der Problemlösung. Wie Jefferson, Sacks und Schegloff (1987) beschrieben haben, dient es dazu, Intimität zu erheischen, die vor allem bei moralisch prekären Interaktionen – wie z. B. beim Austausch von Obszönitäten, bei Stereotypen oder anderen sanktionierten Gesprächstypen (improper talk) – bedeutsam ist.184 Zwar hat das Lachen seine eigene Interaktionsdynamik, es dient aber meistens als „Zubehör“ (accessory activity) für eine Sequenz, welche die anderen GesprächsteilnehmerInnen zum Mitziehen (affiliation) bewegen soll. Der Grund liegt darin, dass einzig die intime Interaktionsbasis unangemessene Redeweisen ungeschützt zulässt. Mit der Spaßmodalität wird die eigene Vorurteilshaftigkeit ins Visier genommen, aber abgeschwächt kommuniziert. Diese gesichtswahrende Vorgehensweise ermuntert die Teilnehmenden zu Rezipientensignalen in Zustimmungsform (Z. 112, 114, 115), also dazu, diese Gedanken zuzugeben. Am Ende des Redezugs steht, wie für die Stereotypenkommunikation üblich, die doppelte Rehabilitierung, in einer ernsten Tonlage gesprochen. Die Strategie der Leiterin hat Erfolg. In der Scherzmodalität wird die Sequenz von den Teilnehmenden als ‚Selbstbezichtigung‘ im Sinne einer augenzwinkernden Aufdeckung der eigenen Vorurteile fortgesetzt:
184 Diese These beruht auf einer Analyse des Lachens als einer systematisch produzierten, organisierten sozialen Interaktion, die als offizielle Konversationsaktivität gelten kann und die Sprecher so koordiniert, dass die präferierten Antworten angezeigt werden. Sowohl der Übergang von Sprache zu den verschiedenen Lachlauten als auch das Lachen selbst ist geordnet. Die ausweitbare eigene Dynamik des Lachens besteht aus onset Partikeln, einem simultanen Ausbruch und endet mit Schlußatmen (Jefferson/Sacks/Schegloff 1987).
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TS #44 HERRISCHE AFRIKANERINNEN (IKK I, FORTSETZUNG)
Elviras Anschluss steigert die innere introspektive und damit reflexive Stereotypisierungskaskade, denn zuvor war erläutert worden, dass die Frauen, um deren Wahrnehmung es hier geht, mehrfache Millionärinnen sind. Ganz sicher werden sie also ihre Flugtickets nicht aus Geldern der Entwicklungshilfe finanzieren. So wird die eigene Fehleinschätzung hyperbolisch übertrieben. Zielscheibe der Spaßmodalität und des Scherzes sind jedoch nicht, wie bei ernsten Stereotypisierungen, deren Opfer, sondern die Verursacher bzw. die Produzenten der Stereotypisierung. Die Teilnehmenden machen sich über ihre eigenen Vorurteile lustig, die sie damit auch als solche reflektieren.
4.3.12
Stereotypenreflexion durch Modulationen
Die subtilste Form, den kulturellen Horizont zu reflektieren und kulturgebundene Deutungen in Form von Stereotypisierungen zu transformieren, realisieren die Trainerinnen mit paraverbalen Mitteln und Performanzvarianzen. Dabei werden die bisher vorgestellten Strategien verknüpft und die Trainerinnen bewirken mit ihren Modulationen ein ‚pädagogisches Oszillieren‘ zwischen dem Bewusstsein eigener kulturellen Werte (Perspektivenreflexion), zitierten Vorurteilen qua introspektivem Sprechen und kulturgebundener Bewertung unmittelbarer Stereotypisierungen. Die damit verbundenen ‚Rahmenaufweichungen‘ und -brüche verändern Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Beteiligten. Eine solche Passage möchte ich nun ausführlich vorstellen. Betrachtet man die Reaktion der Trainerin auf das laute und bewertende ‚Sich-Wundern‘ zweier Teilnehmerinnen im folgenden Ausschnitt, so ist man zunächst irritiert:
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TS #45 VORURTEILE VORURTEILE VORURTEILE (IKK I)
Zuvor waren im Rahmen des Themas ‚Kommunikation und selektive Wahrnehmung von Signalen‘ u. a. Schönheitsmerkmale aus anderen Kulturen und speziell in einer Geschichte jene aus Thailand angesprochen worden. Mit „die“ referiert Yvonne daher auf Thailänder und sie spezifiziert, dass in diesem Fall die Kategorie der (thailändischen) Männer gemeint ist. Bei ihnen hatte sie einzelne lange Haare im Gesicht bemerkt (meist aus Warzen wachsend, was in Thailand als glücksbringend gilt). Offensichtlich ist weder ihr noch Helga die Bedeutung des Brauchs bekannt. Die Verwendung von „solche“ stellt eine Distanzierung her und zusammen mit der Betonung der ersten Silbe in „hAAre“ (Z .2) interpretiert eine weitere Teilnehmerin, Helga, dies als Wertung, in die sie einstimmt. Denn sie schließt sich („auch“) mit einer eigenen Bewertung an („seltsam“, Z. 5). In der von Helga genannten Handlungsunterlassung (Abschneiden der Haare) steckt die Erkenntnis, dass dies offenbar intentional erfolgt, denn sie hätten als alternative Umgangsweise ja die Möglichkeit, die Haare abzuschneiden. Helgas gedehnter prädikativer Ausdruck „ko: misch“ (Z. 9) oszilliert in diesem Zusammenhang zwischen Irritation und Abwertung. Yvonnes Kommentare dazu sind zwar nicht verstehbar, aber die Intonation ihres Hörersignals deutet keinerlei Dissens zu Helgas Kommentar an. Dieser Beginn ist für die Beteiligten ohne Weiteres geeignet, in eine Moralisierung z. B. in Form einer Aneinanderreihung von ‚Merkwürdigkeiten‘ und ekligen ‚Absurditäten‘ einzusteigen, über die man dann – gemeinsam stereotypisierend – den Kopf schütteln könnte. Doch die Trainerin Laura interveniert. Interessanterweise liefert sie nicht die hier leicht anzubringende Erklärung für das Phänomen. Auch kommentiert sie die Teilnehmerbeiträge nicht als kulturgebundene Bewertungen. Stattdessen wiederholt sie zweimal die Prädikation ‚richtich schön‘ (Z. 10 und 12). Zum einen erfüllt sie damit die Präferenzregel, dass eine Bewertung eine nachfolgende und gesteigerte Bewertung erwartbar macht. Doch die Prädikation enthält einen ironischen Zug, denn sie folgt einer negativen Bewertung und stellt selbst semantisch eine positive Aussage dar. In einer umfangreichen
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gesprächsanalytischen Studie von Hartung (1998) werden mehr als dreißig Formen von Ironie in der Alltagskommunikation beschrieben. Hartung zeigt, dass Ironie als indirektes kommunikatives Mittel für negative Bewertungen eingesetzt wird, bei denen es vor allem um Bestätigung und Abgrenzung von gemeinsamen Wertmaßstäben geht. Ironie dient dabei der gesichtsschonenden Konstituierung und Kontextualisierung von Wir-Gemeinschaften. Die hier von der Trainerin verwendete Variante kann als „hörerbewertendes Rückmeldeverhalten“ bezeichnet werden (Hartung 1998: 124ff.). Das heißt, die ironische Bemerkung kommentiert einen vertretenen Standpunkt entweder positiv oder negativ. In diesem Fall wird der von Helga vertretene Standpunkt positiv kommentiert, denn die Leiterin kooperiert durch die Ironie ihrer Aussage insofern mit Helgas Bewertung, als diese Haare im Gesicht aus ihrer (eigentlichen, nicht-ironischen) Sicht nicht schön, sondern „seltsam“ sind. Durch die ironische Verkehrung wird der Maßstab jedoch nicht explizit ratifiziert (1. Brechung). Als Besonderheit der beiden ironischen Prädikationen fällt zudem deren Intonation auf. Sie werden mit lächelnder bzw. lachender Stimme gesprochen, was eine Spaßmodalität einführt und die einmal gebrochene Bewertung noch einmal überformt (2. Brechung). Eine ironische Äußerung erhält ihre Kraft aber vor allem aus der trockenen Verkehrung des Inhalts. Indem eine Äußerung, die von ihrem Inhalt und vom Kontext bzw. von ihrer konditionellen Relevanz her ironisch gemeint sein müsste, paraverbal im Hinblick auf die Prosodie in Ironie-atypischer Weise realisiert wird, wird sie noch ambiguer, als ironische Äußerungen (die ja potentiell immer auch ernst gemeint sein können) ohnehin schon sind. Die Leiterin erzeugt also damit eine starke Irritation. Was hat diese Modalisierung zu bedeuten? Welche Korrektur die Leiterin hier vornimmt, wird erst mit der Erläuterung weiterer Abschnitte deutlich. Im Anschluss an ihre ironische Co-Bewertung kehrt die Trainerin – wie bei der Einleitung beim Einstieg in die Spaßmodalität – in der Modulation abgestuft wieder in den Ausgangs-‚Modus‘ der ernsthaften Reflexion von Vorurteilen zurück:
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TS #46 VORURTEILE VORURTEILE VORURTEILE (IKK I, FORTSETZUNG)
Eine Auflösung der rätselhaften Bedeutung der Haare erfolgt zu keinem Zeitpunkt. Die Trainerin bezieht sich auf die innere, nicht auf die äußere Realität. Mit Bezug auf etwas offensichtlich Visualisiertes (es ist ein Klopfen zu hören) kommt sie angesichts der Teilnehmeräußerungen auf deren Interpretationsfolie und die damit verbundenen Gefühle zu sprechen (‚Irritation‘, ‚Probleme kriegen‘, Z. 17-19). Die Irritationen und Probleme sind ihrer Aussage nach auf die ‚Kettenschlüsse‘ zurückzuführen (Z. 20). Die Trainerin setzt zunächst zu einer kausalen Erklärung an und verwendet dabei das sie selbst einbeziehende Pronomen „wir“, sie bricht jedoch ihre Äußerung in Zeile 19 vorzeitig ab, das Verb fehlt. So vermeidet sie zu sagen, dass ‚wir dann Kettenschlüsse machen‘ oder ‚Vorurteile haben und es zu Kettenschlüssen kommt‘. Der Verzicht auf explizite negative (Selbst-)Zuschreibungen mit Blick auf die Anwesenden könnte auch der Grund für die sich häufenden Abbrüche in der unmittelbar vorangehenden Passage sein (Z. 12, 13), wodurch dort zunächst nicht klar wird, was die Leiterin sagen will. Sie vermeidet es, die Teilnehmeräußerungen als Vorurteile oder Stereotypen zu bezeichnen. Stattdessen führt sie mit deutlich abgesetzter Intonationskurve die inneren Ableitungen vor (Z. 24ff.). Die
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Wer-der-Aussagen haben moralischen Charakter (Ayaß 1996), werden jedoch als innerer Monolog präsentiert: in Form des bereits beschriebenen ‚introspektiven Sprechens‘. Die leiernde Stimme der Sing-Song-Intonation bringt die wiederkehrende, klischeehafte Schlusslogik zum Ausdruck und macht den Zitatcharakter deutlich. Mit davon klar abgesetzter Stimmlage betont die Leiterin den „WERT“, der den Hintergrund dieser Schlüsse bildet („sauberkeit“, Z. 26). Durch diese Modulation setzt sie den Erkenntnisrahmen des übergeordneten Wertes von den vorgeführten ‚inneren‘ Monologen ab. In einer zweiten Runde wiederholt sich das introspektive Sprechen ab Zeile 29, diesmal ohne den Bezug zum Hintergrundwert, markiert allein durch die Stimmveränderung. Als Abschluss – fast wie eine Versöhnung für die Zumutung der unerlaubten Rede – formuliert die Trainerin noch eine Rehabilitierung mit doppeltem Bedeutungsraum. Ihre Einschätzung in Zeile 39, „MUSS auch=n ARmer teufel sein“, bleibt semantisch noch in der Zuschreibungsform der introspektiven Rede, kehrt aber in der Stimmlagenmodulation in die offizielle Rede zurück. Auf diese Weise nimmt die Trainerin hier eine für Stereoypenkommunikation typische Rehabilitierung des ‚Opfers‘ der Attribution vor (vgl. Nazarkiewicz 1997). Mit der Tonlage signalisiert sie paraverbal die Rückkehr in die erlaubte Rede, wobei hier ein Hintergrund des Mitgefühls präsupponiert wird, durch den die betreffende Aussage einen weniger gesichtsbedrohenden Charakter erhält. Die Trainerin rehabilitiert damit diejenigen, welche so denken. Die Strategie und Performanz des introspektiven Sprechens mit Spaßmodulation und der abschließende intonatorisch markierte Übergang in den ernsten Modus ist ein wiederkehrendes Muster, welches uns einen Schritt näher an die Beantwortung der Frage bringt, was die Leiterin mit der Scherzmodulation im ersten Teil dieses Transkriptausschnitts (TS #45) bewirkt hat. Dieselbe Strategie des inneren Monologs wird im Fortgang der Sequenz zweifach gerahmt realisiert. Die Leiterin fordert die Teilnehmenden auf, sich eine Szene vorzustellen, die sie im Folgenden vor dem Hintergrund der eigenen Erwartungen an Statussymbole beschreibt. Wie in dem zuvor angeschauten Film gezeigt wurde, ist das einzige für die Teilnehmenden erkennbare Statussymbol der Mercedes Benz, den die Frauen fahren, daher werden sie auch „Nana Benz“ (ausgelassen) genannt:
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TS #47 VORURTEILE VORURTEILE VORURTEILE (IKK I, FORTSETZUNG NACH AUSLASSUNG)
Die Leiterin beschreibt das Gesamtbild der (kulturgebundenen und bewertenden) Eindrücke, welche schon der Film in den Teilnehmenden hervorgerufen haben könnte. Sie führt den Teilnehmenden die Szene gezielt durch die Brille ihrer Fehlwahrnehmungen und -erwartungen vor. Der Rhythmus der Stimme ist charakteristisch für das introspektive Sprechen, die jeweils abwertenden lexikalischen Ausdrücke für die Personen, „mutte: r,“ (Z. 64), und Kleidung, „entsprechendem klamott“ (Z. 71), werden lachend gesprochen. Der jeweilige Vorsatz ‚entsprechend‘ transportiert eine interessante Doppeldeutung. Einmal erlaubt er der Phantasie der Zuhörenden die abwertende Variante zu hören, zum anderen kann das Äußere auch den dortigen Konventionen ‚entsprechen‘. Dass die Scherzmodulation eine besondere Form des Rahmens ist, wird in den Zeilen 69/70 bei der Thematisierung der Figur und in der vollkommen implizit bleibenden Anspielung auf die Korpulenz der reichen Afrikanerinnen deutlich. Hier unterbleibt die lexikalische Veränderung, stattdessen wird stimmlich klar abgesetzt der Hintergrund für die Bewertung genannt, das differierende Schönheitsideal. Die Anspielung auf das Gebiss hat ihre Vorgeschichte in der vorangehenden Thematisierung von Zahnlücken und verweist auf die abweichende/besondere (Be-) Deutung ‚schlechter‘ Zähne im Kontext der hiesigen Kultur. Auf die Art des Gebisses wird ebenfalls mit ‚entsprechend‘ referiert (Z. 72). Es ist diese ‚Technik‘, Vorurteile beim introspektiven Sprechen als solche zu benennen, sie öffentlich zu machen, als Faktum gelten zu lassen und zugleich scherzhaft als unpassend zu entlarven, die die Trainerin mit der Modulation ‚richtig schön‘ in verkürzter Form einsetzt. Die Sinnüberlagerung und uno actu Perspektivenüberlagerung entsteht hauptsächlich durch die paraverbalen Tätigkeiten: Aus der Strategie des
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introspektiven Sprechens, bei dem die inneren Ableitungen dargestellt werden, ist insbesondere die rhythmische Sprechweise geblieben. Allerdings werden die Frauen auf dem Markt in Togo jetzt nicht in Form der inneren Wahrnehmung geschildert wie beim introspektiven Sprechen, sondern in Form der bereits ‚falschen‘ zuschreibenden Ableitungen. Die vibrierend lachende Überformung kommt hinzu und macht diese Ableitungen selbst zur Zielscheibe des Spaßes. Nun wird die tiefere Bedeutung der Modalitätswechsel und Spaßmodulationen als Rahmung deutlich: Über Intonationsverlauf, Lautstärke, Sprechrhythmus und Tonhöhe macht die Leiterin Kontexte deutlich und nimmt subtile „Sinnüberschneidungen“ (Plessner 1941)185 vor. Diese Verfahren werden sowohl zur Verdeutlichung von kulturgebundenem Denken und Wahrnehmen als auch zur Korrektur entsprechender Teilnehmerbeiträge und damit zur Überschreitung von Rahmungen eingesetzt. Komik und Kollision von Normen hängen eng zusammen. Durch das Lachen wird der Mensch mit „mehrdeutigen, gegensinnigen Verbindungen“ fertig und löst Verstehen und Unverständnis, Sinn und Sinnlosigkeit im Lachen auf (Plessner 1961: 106ff.). Inkongruente Bezugsrahmen, die überraschend zusammengezogen werden, sind ein Auslöser für gemeinsames Lachen. Kotthoff zeigt in ihren Arbeiten zu Humor in Gesprächen (Kotthoff 2003), dass Humoraktivitäten einen impliziten Austausch über Moral erlauben und auf Rahmenüberschneidungen bzw. -brüchen basieren. Mit den Modalitätswechseln unterstützen die Leiterinnen daher die Teilnehmenden darin, neue Zusammenhänge zu denken, sich andere Normkonstellationen anzueigenen und andere Bewertungsperspektiven einzunehmen.
4.3.13
Rahmentransformationen durch Moralmanagement
Das soziologisch Spannende an den Analysen ist die Beobachtung der Transformation von Bedeutungen und die Entwicklung neuer individueller und kollektiver Deutungsperspektiven.186 Bedeutung hat das, was unseren Erfahrun185 Die blitzartige Überlagerung von Bedeutungen – der „Sinnüberschneidung“ mit Plessner gesprochen – lässt die Witzigkeit entstehen. Das „Komische“ hängt dabei eng zusammen mit der Kollision von Normen. „Eigentlich komisch ist nur der Mensch, weil er mehreren Ebenen des Daseins zugleich angehört. Die Verschränkung seiner individuellen in die soziale Existenz, seiner moralischen Person in den leibseelisch bedingten Charakter und Typus, seiner Geistigkeit in den Körper eröfnet immer wieder neue Chancen der Kollision mit irgendeiner Norm.“ (Plessner 1961: 116). Durch das Lachen wird der Mensch mit „mehrdeutigen, gegensinnigen Verbindungen“ fertig und löst Verstehen und Unverständnis, Sinn und Sinnlosigkeit im Lachen auf (ebd.: 116). 186 Da zur Ratifizierung der gelernten neuen oder reflektierten Bedeutungsperspektive jeweils nur einzelne Teilnehmeräußerungen zur Verfügung stehen, kann natürlich nicht in jedem individuellen Fall davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmenden ihre subjektiven Perspektiven trans-
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gen Sinn und Zusammenhang verleiht, und Lernen – als kommunikativ beobachtbares Deutungslernen verstanden – vollzieht sich im Rahmen von Bedeutungen und gemeinsamen Bedeutungsverschiebungen. In früheren Analysen zum Umgang mit Ethnischen Stereotypsierungen als moralische Herausforderung in interkulturellen Trainings hatte ich bereits argumentiert, dass die Leiterinnen das Reflexionsvermögen im Bezug auf kulturelle Bewertungen in einem Kommunikationsprozess erarbeiten (Nazarkiewicz 1999). Dabei agieren sie als „moralische Unternehmerinnen wider Willen“, unter anderem weil – bis heute – in der Literatur und in der Selbstreflexion der Praktiker verlangt wird, man möge sich aller Bewertungen beim Interkulturellen Lernen enthalten.187 Neutralität ist bei dieser Lernmaterie aber schlechterdings nicht möglich. Der ‚Stoff Kultur‘ ist moralisch kontaminiert (Kapitel 4.1), das Setting der pädagogischen Aushandlung geltender Bewertungsperspektiven ist es (Kapitel 4.2) und die Kommunikation, in der Interkulturelles Lernen verhandelt wird, ist es ebenfalls (Kapitel 4.3). Mit den verschiedenen Interventionsstrategien, den Rahmenreflexionen und -modulationen – kurz dem Moralmanagement – insbesondere im Kontext von Stereotypisierungen gelingt es den Leiterinnen dennoch, Reflexionsräume zu erschließen. Sie transformieren in affiliativer Weise die Bewertungen der Teilnehmenden und verweisen auf deren kulturgebundenen Ableitungscharakter. Sie intervenieren nicht allein gegenüber Einzeläußerungen, sondern sie moderieren die interaktiven Realisierungen von kulturgebundenen Bewertungen. Das heißt, in der gelingenden Form korrigieren sie auch nicht den inhaltlichen (Einzel-)Gehalt einer Bewertung (konfrontieren also nicht ‚falsche‘ Zuschreibungen mit der ‚richtigen‘ Deutung oder verwenden gar eine gegenmoralisierende Bewertungskorrektur), sondern reflektieren die Voraussetzungen, unter denen die Wahrnehmung interpretiert und die Bewertung abgeleitet wird. Damit intervenieren sie im Grunde epistemisch und vollziehen eine kollektive Prämissenreflexion, indem sie das Lernziel verfolgen, welche Frage man sich stellen sollte: Aufgrund welcher Kriterien und kulturellen Werte kommen wir zu dieser Zuschreibung?
formieren. Die einzelnen Beispiele des Mitlachens und der ratifizierenden Transformation dürfen hier exemplarisch gesehen werden für die durch diese Strategien entstehende Lernchance dieses „Arbeitsinterims“. Die wechselseitige Bedingtheit von individuellem und kollektivem Lernen bringt Miller auf den Punkt: „Zwar kann eine soziale Gruppe nur dann lernen, wenn der Einzelne dazu in der Lage ist. Aber der Einzelne kann nur dann etwas grundlegend Neues erlernen, wenn seine Lernprozesse eine integrative Komponente eines sozialen Interaktionsprozesses darstellen.“ (Miller 1986: 5). 187 Vgl. dazu auch in Kapitel 3.1.4 die Ergebnisse aus Theorie und Alltagstheorien von Bleil (2006).
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Diesen Vorgang differenziert theoretisch beschrieben zu haben, ist der Beitrag der transformativen Theorie der Erwachsenenbildung (Mezirow 1997).188 Bei Erwachsenen heißt Lernen, dass eine früher erfahrene Bedeutung und Anleitung, wie über etwas zu denken oder zu fühlen sei (formatives Lernen in der Kindheit), erweitert oder gar revidiert wird.189 Das Ausmaß der Transformation von Bedeutungsschematas ist abhängig von der Art Reflexion. Dazu hat Mezirow drei Reflexionsformen unterschieden: 1. Gehaltsreflexion: Reflexion des Inhalts eines Problems (z. B. die Art und Weise unserer Wahrnehmung der Problemlage). Nehmen wir als Beispiel den amerikanischen Gruß „How are you“, der aus deutscher Gewohnheit heraus gerne mit der Schilderung der Befindlichkeit beantwortet wird. Die Gehaltsreflexion wäre zu erkennen, dass die Interpretation falsch war und man den Satz nicht als Frage, sondern als Gruß aufzufassen hat. 2. Prozessreflexion: Reflexion der Verfahren und Strategien der Problemlösung, einschließlich der Methoden und einzelnen Lösungsschritte. Im genannten Beispiel bedeutet dies folglich, von der inhaltlichen Antwort Abstand zu nehmen und eine rituelle Antwort zu geben, etwa in Form eines »Fine, thank you« (ungeachtet der tatsächlichen Befindlichkeit). Schließlich können wir 3. eine Prämissenreflexion vollziehen, also die eigenen, zugrunde gelegten Vorannahmen des Problemlösungsverfahrens bedenken. Erst dadurch
188 Mezirow knüpft in der Entwicklung seiner Theorie des transformativen Lernens Erwachsener insbesondere an Habermas Unterscheidung des instrumentellen vom kommunikativen Lernen und Batesons verstufige Lerntheorie an (Mezirow 1997: 53-81). 189 Bezieht man die Formen der Reflexion auf verschiedene Lernstufen, so kann man mit Mezirow unterscheiden. Zunächst lernt man generell durch Bedeutungsschemata und die Hinzunahme neuer Bedeutungsschemata. Lernen heißt, Fakten innerhalb des als gegeben angesehenen Bezugrahmens hinzuzunehmen. Nehmen wir ein Beispiel und formulieren es als fremdkulturelle Etikettenregel. Die Teilnehmenden erfahren, dass die geläufige nordamerikanische Grußformel ‚How are you‘ lautet und dass der Gesprächspartner keine wahrheitsgemäße ‚Antwort‘ erwartet. Die Formel gehört vielmehr zum Ritual der Begrüßung, und sie ist einer Grußformel wie dem deutschen ‚Guten Tag‘ gleichzusetzen. Hier lernt man also, eine Erfahrung in einen neuen Zusammenhang zu stellen, diese korrekt zu interpretieren bzw. eine spezifische Erwartungshaltung einzunehmen. Beim Erlernen neuer Bedeutungsschemata wird der Anwendungsbereich von Bedeutungsperspektiven erweitert, die vorherrschende Perspektive jedoch bestätigt und verstärkt. Die Teilnehmenden lernen dann z. B., dass man die Entgegnung auf ein ‚How are you‘ unter Bekannten oder Freunden durchaus leicht abwandeln, wahrheitsgemäße Andeutungen machen und stets fließend in einen kleinen Smalltalk übergehen kann. Die gewohnte Bedeutungsperspektive, also der perzeptuelle und konzeptuelle lebensgeschichtlich erworbene Code aus dem formativen Lernen, kann dabei durchaus erhalten bleiben. All dieses Wissen muss deutsche Muttersprachler also tendenziell nicht davon abhalten, Gruß und Smalltalk ‚oberflächlich‘ oder ‚überflüssig‘ zu finden. Die analysierten pädagogischen Uminterpretationen greifen in diesen kulturell gelernten Ableitungsmodus derart ein, dass transformatives Lernen möglich wird.
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„durchschauen wir die von Gewohnheit bestimmte Art, mit der wir die im alltäglichen Leben gemachten Erfahrungen interpretiert haben, um zu einer rationalen Neubewertung des impliziten Gültigkeitsanspruchs zu gelangen, der von einem früher nicht in Frage gestellten Bedeutungsschema (...) erhoben wurde“ (Mezirow 1997, 85, Hervorhebung K.N.).
Im genannten Beispiel könnte dies z. B. heißen, sich zu fragen, wie Äußerungen von englischen Muttersprachlern grundsätzlich zu dechiffrieren sind, da man diese trotz Sprachkompetenz offenbar auch missverstehen kann. Die untersuchten Seminare zielen – mit allen Schwierigkeiten, auf die sie dabei treffen – auf genau jene Prämissenreflexion. Demnach lernen wir dann transformatorisch, wenn wir die Bedingungen unserer Interpretationen reflektieren. Die Trainerinnen arbeiten hierzu – wie die Analysen zeigen – mit Sinnüberschneidungen, Rahmenbrüchen und Reflexionen und schaffen damit neue Bedeutungsperspektiven.
4.4 Zum Umgang mit dem Rassismusverdacht in der antirassistischen Bildungsarbeit Schon das interkulturelle Lernen hat einen hohen Selbstreflexionsanteil, erst recht gilt dies für die antirassistische Bildungsarbeit – sie zielt auf rein transformatives Lernen, indem sie jegliche Unterscheidung von Fremdem und Eigenem in Frage stellt. Das untersuchte Seminar konzentriert sich in seiner Vorgehensweise wie viele dieser Art auf die Reflexion der gesellschaftlichen oder individuellen Bedingungen des Entstehens von Bildern, Vorurteilen und Kategorisierungen, kurz auf die Mitwirkung der Beteiligten bei der Reproduktion rassistischer Diskurse.190 Die Vermittlung der Thematik konzentriert sich auf die Förderung von Reflexionsleistungen und die Thematisierung von ‚kulturbedingten‘ Wissensbeständen wird vermieden, da sie dieses Vorgehen, die aufzuhebende Trennung zwischen Eigenem und Fremdem wieder etablieren würde.191 190 Man sieht daran auch das Alter der Daten, die Aufnahmen stammen von 1996. Heute, nach einigen Erfahrungen mehr mit antirassistischen Bildungsveranstaltungen, wäre man vorsichtiger mit dieser einseitigen Reflexionsanforderung. Für die hier durchgeführte Untersuchung ist dies jedoch eher von Vorteil, denn so können die ansonsten leicht implizit bleibenden Schwierigkeiten hier deutlich beobachtet werden. 191 Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass es bis auf die gemeinsame Thematik und Reflexionstiefe kaum Gemeinsamkeiten in den Datensätzen gibt. Meine Suche nach ähnlichen Strukturen bei interkulturellen und antirassistischen Seminaren war bislang wenig ergiebig. Einzig die reflexive Verwendung von sozialen Kategorisierungen wäre zu nennen. Wie in Kapitel 2.2 beschrieben, konzentriert sich antirassistisches Lernen vor allem darauf, die Funktionsmechanismen
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Bei der Darstellung der gesprächsanalytischen Ergebnisse konzentriere ich mich auf ein in den Daten entdecktes und bisher wenig thematisiertes Grundproblem bezüglich der lokal konstruierten Identitäten der Beteiligten. Diese Schwierigkeit lässt sich am besten im Rahmen der kommunikativen Konstruktion und des Umgangs der Beteiligten mit dem Rassismusverdacht zeigen. Es zeigt sich dabei, dass die interaktive Realisierung des Seminarthemas eine Belastung der rituellen Ordnung (Goffman) darstellt, denn die Beteiligten korrigieren interaktiv die von ihnen als Imagebedrohung erlebten Reflexionsleistungen. Die Analysen können damit einen Einblick geben in typische Thematisierungsschwierigkeiten in Antirassismusseminaren.
4.4.1 Konstruktion und Wirkung des ‚Generalverdachts‘ Im Verlauf des Seminars haben die Leiterinnen erstaunlich wenig eigene Redeanteile. Sie beschränken sich weitestgehend auf die Organisation des Lernund Austauschprozesses. Das liegt zum einen an der Größe der Gruppe, deren Diskussion vor allem moderiert wird. Es liegt aber auch an den Lernzielen, die weniger in der Vermittlung von Wissensbeständen als in der Förderung von Reflexionsleistungen liegt. Sie leiten daher die Arbeits- und Diskussionseinheiten vor allem ein, strukturieren die Arbeitsgruppenarbeit mit vorbereiteten Fragen und Texten und moderieren die Diskussion im Plenum, wobei jeweils eine der beiden Leiterinnen dann auch eine inhaltliche Position vertritt, während die andere moderiert.192 Aber an den Stellen, an denen die Leiterinnen sich einbringen, Inhalte und Zielsetzung des Seminars formulieren, sind wiederholt interessante kommunikative Phänomene zu beobachten. Im Anschluss an die Vorstellung der Einzelarbeit, bei der die Frauen aufgefordert waren, zu dem Begriffspaar „Eigenes“ und „Fremdes“ eine Collage zu basteln, formuliert eine der Leiterinnen die Überleitung zum Thema des Seminars:
von Macht und verschiedenen Herrschaftsformen darzulegen sowie deren Analyse zu ermöglichen. Theoretisch und praktisch werden die Interessen der Beteiligten und ihre individuelle Beteiligung an den Machtverhältnissen aufgezeigt, reflektiert und Gründe für deren Aufrechterhaltung diskutiert. Obwohl beide Veranstaltungsausrichtungen daher zumindest die Reflexion der kulturellen Werte gemeinsam haben, ist tatsächlich die Kommunikationsstruktur verschieden – zumindest in den mir vorliegenden Daten und nach dem jetzigen Stand meiner Erkenntnisse. 192 Die Referenztheorien und -autorInnen der Leiterinnen sind durch die Texte und Beiträge offensichtlich, zumal sie diese auch explizit benennen. Inhaltlich deckt sich ihr theoretischer Hintergrund mit dem der im Seminar verwendeten und in Kapitel 2.2 referierten AutorInnen wie u. a. Miles, Balibar, Räthzel, Kalpaka etc. Siehe dazu auch die Liste der verwendeten Texte in Kapitel 3.4.3 bei der Beschreibung des Fallbeispiels.
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TS #48 VIELLEICHT HAT DES AUCH GANZ VIEL MIT DEM RASSISMUS ZU TUN (RAS, VEREINFACHT)
Schaut man sich den interaktiven Zuschnitt der Äußerung an, fallen einige Besonderheiten ins Auge. Die Rede der Leiterin Ilse enthält eine auffällige Unbestimmtheit. Im Rahmen der ex-post Begründung für die Collagenarbeit und bei der Herstellung des Zusammenhangs von Rassismus mit der Trennung zwischen Eigenem und Fremden verwendet die Leiterin die rhetorische Figur der Litotes, also die Verneinung des Gegenteils: „dass es halt dann doch nicht so wertneutral ist“. Mit anderen Worten: Wer Eigenes und Fremdes trennt, nimmt eine von der Leiterin nicht näher definierte Bewertung vor. Wie Bergmann (1999) bei der Bestimmung der kommunikativen Funktion von Litotes als „diskrete Beschreibungen“ in psychiatrischen Aufnahmegesprächen zeigt, wird mit diesem indirekten Stilmittel eine Einschätzung zurückgehalten und gerade wegen der unbestimmten Referenz eine Moralisierung erzeugt: „Die Litotes weist darauf hin, daß sich hinter dem so Umschriebenen etwas Besonderes verbirgt, das aber nicht bezeichnet wird. Damit ist die Litotes eine typische Anspielungsfigur, die es einem Sprecher ermöglicht, auf etwas Peinliches, Unangenehmes, Ungehöriges, Anstößiges, das man selbst nicht direkt benennen möchte, verdeckt hinzuweisen. Pointierter formuliert: Die Verneinung des Gegenteils ist als Redefigur eine jener Methoden, mittels derer man über einen Gegenstand taktvoll und diskret sprechen – und ihm damit eine moralische Qualität verleihen kann. Zwar lokalisiert die Litotes das Objekt für den Gesprächspartner (dessen Mitwissen dabei stillschweigend in Anspruch genommen wird), doch dieses Objekt wird nicht beim Namen genannt und eben dadurch moralisch eingefärbt.“ (Bergmann 1999: 184)
Die „diskrete Beschreibung“ mittels Litotes lässt das eigentlich Thematische unbenannt mit dem Effekt, dass es dadurch erst anrüchig wird. Im Klartext, also
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auf der Sachebene, sagt die Leiterin nur, dass gemäß der Logik der Reproduktion von Rassismus durch kategoriale Abgrenzungen wie die Trennung von Eigenem und Fremdem schon Bewertungen enthalten sein können. Diese in theoretischen Ansätzen fundierte These erhält aber durch den Anspielungscharakter ihrer kommunikativen Realisierung eine hohe moralische Brisanz, weil durch die Andeutung erstens suggeriert wird, es handele sich um etwas hochproblematisches und zweitens, die so Angesprochenen unterlägen einem Irrtum: „dass es dann doch nicht wertneutral ist“‚ was man erläutern könnte mit ‚wie ihr bzw. man glaubt‘. Schließlich wird drittens einer Ablehnung der Unterstellung mit dem Rückzug auf eine ‚wertneutrale‘ Haltung vorgebeugt.193 Die Verdächtigung wird durch andere Indirektheitsmittel noch verstärkt. Was genau dem Fremden geschieht, wird ebenso vorsichtig ausgedrückt. Ein Abbruch wie nach dem Generalisierer „oftmals“ (‚dass das Fremde ja oftmals‘, Z. 216f.) erlaubt es den Hörerinnen lediglich auf dem Wege der Schlussfolgerung abzuschätzen, was danach hätte folgen können: ‚abgewertet‘ oder ‚ausgegrenzt‘ oder Ähnliches. Denn statt diese Äußerung fortzusetzen, unterbricht sich die Leiterin, korrigiert sich („oder mh ja“, Z. 217) und setzt mit einer Passivformulierung neu an („ja eben besetzt ist“, Z. 217), bevor sie die Qualitäten nennt, mit denen das Fremde „besetzt“ wird: „mit Negativem, mit Minderwertigem auch“. Die Akteure schließlich werden nur mit einem Indefinitpronomen „man“ bezeichnet („von dem man sich selbst auch abgrenzt oder über das man sich drüber stellt“), wobei das mehrfach in dieser Passage verwendete Personalpronomen „wir“ ahnen lässt, um wen es sich handeln könnte: mindestens um alle Anwesenden. Doch die moralischen Akteure werden weder direkt angesprochen noch genannt, stattdessen folgen wieder Passivformulierungen (‚hat oft auch den Beiklang oder es wird so definiert‘, ‚wird es auch problematisch‘ und ‚weil es ausgeht von‘). Auch was ‚problematisch‘ ist, wird nur indirekt angedeutet, ein leerer Deskriptor (‚bestimmten Sichtweise‘) lässt ahnen, dass diese Sichtweise als unangemessen beurteilt wird. Diese Kombination von Abschwächungen, Andeutungen und Abbrüchen sowie Verallgemeinerungen mit unklaren Akteursbeschreibungen ist in zwei Hinsichten bedeutsam. Zum einen scheint die Kommunikation der theoretischen Annahmen über die Allgegenwart von Rassismus an sich heikel zu sein, das zeigen die vielen defensiven Sprachmittel. Zum anderen haben diese defensiven 193 Den Teilnehmenden muss dies umso mehr zusetzen, als sie durch die zuvor erfüllte Aufgabenstellung der Trainerinnen ja direkt aufgefordert worden waren, Bilder und Elemente für das Eigene und das Fremde, dargestellt durch zwei getrennte und verschiedenfarbige Metaplankarten an der Wand, zu sammeln. Die dadurch quasi zwangsläufig herbeigeführte ‘Überführungshermeneutik’ war mit Sicherheit von den Leiterinnen nicht bezweckt, sondern zeigt ein weiteres Problem der methodisch-didaktischen Umsetzung von Antirassismusinhalten.
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sprachlichen Formen, die als Lösungen gewählt wurden, einen nachhaltigen Effekt auf die gesamte Diskursstruktur der Bildungsmaßnahme: Sie erzeugen einen ‚Generalverdacht‘. Die Anspielungen beschreiben eine nicht näher umrissene ‚Tat‘ von einem nicht genau beschriebenen Akteur. Es drängt sich hier der Vergleich zu einem Krimi auf: Solange Tat und Täter im Dunkeln bleiben, ist jeder verdächtig. In einer Untersuchung über die kommunikative Realisierung von Beschuldigungen (blamings) zeigt Pomerantz (1978), dass bei der Beschreibung einer Handlung ohne Akteur die Aufforderung zur Verantwortungsübernahme entsteht: „If an event can be turned into a consequent event, an attribution of responsibility is performable.“ (Pomerantz 1978: 119, Hervorhebung im Original) Der Rassismusvorwurf schwebt – gerade, wenn er nicht ausgesprochen wird – wie ein Damoklesschwert über den Anwesenden. Dies zeigt sich daran, dass er neben den durch ihn provozierten unmittelbaren Reaktionen auch weiter reichende Effekte hat. Denn nach der oben dargestellten einführenden thematischen Rahmung und vagen Anspielungen durch eine der Leiterinnen durchzieht eine Frage bzw. ein Problem den gesamten Datensatz: Wer ist verantwortlich, wer produziert den Rassismus, wer verhält sich rassistisch?194
4.4.2 Rechtfertigungen als Reaktionen auf den Generalverdacht Der Beleg dafür, dass der Verdacht auch unmittelbar von den Teilnehmenden wahrgenommen wurde, ist die anschließende Reaktion von zwei Frauen, die sich ‚erklären‘. Die Äußerung von Erklärungen im Sinne von Rechtfertigungen (accounts) zeigt in der Regel an, dass Handlungen problematisch geworden sind, denn nur für problematische Handlungen müssen Rechtfertigungen angeboten werden (Scott/Lyman 1976: 74f). Corinna rechtfertigt sich im Anschluss an die Worte der Leiterin:
194 Die Daten und auch die folgenden Ausschnitte sind ein Fundus für viele spannende Entdeckungen, die ich hier leider nicht berücksichtigen kann. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, konzentriere ich mich bei der nun folgenden Darstellung der Analyseergebnisse allein auf den kategorialen Umgang mit dem Generalverdacht.
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TS #49 VIELLEICHT HAT DES AUCH GANZ VIEL MIT DEM RASSISMUS ZU TUN (RAS)
Mit einem Dissens markierenden „aber“ ergreifen Brigitte und Corinna beinahe zeitgleich das Wort, und zunächst schließt Corinna mit einer rechtfertigenden Erklärung an, ‚das, was man als fremd deklariert, ist das, wovor man Angst hat‘. Damit übernimmt sie die Verantwortung dafür, Fremdes und Eigenes getrennt zu haben, weist jedoch – auch explizit – die negative Bewertung dieser Handlung zurück. Scott/Lyman (1976: 82) beschreiben diese Kombination aus Zugeben der fraglichen Handlung und Zurückweisung der daran geknüpften moralischen Bewertung als ein typisches kommunikatives Muster von Rechtfertigungen. Als Begründung für die rechtfertigende eigene Handlungsweise wird im vorliegenden Fall ein wiederholt von den Teilnehmerinnen genanntes Motiv für die Trennung von Fremdem und Eigenem angeführt: „Angst“ (Z. 278f.). Damit wird der Auslöser für die eigene Reaktion nach außen verlagert und – wie Scott/Lyman schreiben – die Unschuld des Opfers geleugnet, indem dieses implizit als Angstauslöser gekennzeichnet wird. Mit dem Pronomen „wir“ spricht Corinna zudem für mehrere oder alle Anwesenden (z. B. „das, wovor wir nANGST haben“, Z. 279). Auffällig ist auch, dass sie die Bewertung ebenso vage umschreibt wie die Leiterin, deren Wortwahl („anderes Niveau“) und Anspielungen („oder so“) sie übernimmt (Z. 282). Mit anderen Worten: Sie leugnet nicht die Tat, sondern sie lehnt die daraus sich ergebende Schlussfolgerung der moralischen Verfehlung für sich und die anderen ab. Auch Brigitte, die als weitere Sprecherin aus dem Teilnehmerinnenkreis schon das Wort ergriffen hatte („aber“, Z. 277) und zunächst Corinna den floor überlassen hatte, fährt im Anschluss an ihre Vorrednerin erklärend fort. Sie nimmt dabei ebenfalls die anderen Anwesenden in Schutz:
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TK #50 VIELLEICHT HAT DES AUCH GANZ VIEL MIT DEM RASSISMUS ZU TUN (FORTSETZUNG)
Brigitte lehnt für sich und die anderen Anwesenden beide Elemente ab, die ‚Tat‘ selbst (also die Verantwortung) und damit auch deren moralische Bewertung. Sie habe ‚zwar stark differenziert zwischen dem, was ihr nahe steht und dem, was ihr fern ist, aber es trotzdem nicht von sich gewiesen‘, Z. 293f.) In ihrer Anknüpfung paraphrasiert sie die Leiterin und zeigt damit, dass sie die angedeuteten verdächtigen Handlungen erkannt hat: erstens die Trennung (von Fremdem und Eigenem), zweitens die Abwertung des Fremden („was fremd ist gehört sonst wohin“, Z. 290f.). Beides will sie nicht auf sich bezogen sehen: ‚das ist bei mir nicht so‘ (Z. 291). Sie kontrastiert das verdächtige Handeln (Fremdes abkoppeln und als minderwertig betrachten), das „so=nRassismuseffekt“ (Z. 307) beinhaltet, mit der eigenen unverdächtigen Handlung (differenzieren und ein Miteinander von Gleichwertigem). Zugleich nimmt sie in ihrem Beitrag mit leichten Einschränkungen die anderen Teilnehmerinnen des Seminars vor dem Generalverdacht in Schutz (‚das kommt auch bei vielen andern raus‘, „also jetzt in diesen Collagen“, Z. 310/311f). Diese Korrektive zeigen an, wie imagebedrohlich der Generalverdacht erlebt wird. Beim Aufbau und bei der kommunikativen Realisierung des Seminars gibt es für die Beteiligten ein systematisches Problem. Schon der Inhalt des Seminars lässt insbesondere zwei Kategorien verdächtig werden: Erstens stehen alle Deutsche im Verdacht, Rassismus zu produzieren, zweitens stehen alle deutschen Frauen in diesem Verdacht. Da es sich bis auf eine Ausnahme bei
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den Teilnehmenden um deutsche Frauen handelt und sie auch in der Kommunikation als solche angesprochen werden, stehen zwei der möglichen lokalen Identitäten unter Rassismusverdacht. Damit wird das „rituelle Gleichgewicht“ (Goffman) der Kommunikation nachhaltig gestört. Es ist ein zentraler Punkt in Erving Goffmans (1982, 1986) Analyse sozialer Interaktionen, dass wir uns in der Regel in Begegnungen wechselseitig in unserem moralischen Status bestätigen. Goffman beschreibt die direkte Kommunikation als rituelle Handlung, deren Objekte die teilnehmenden Individuen sind, die sich in wechselseitiger Kooperation ein positives Selbstbild (Image) aufbauen. Vor diesem Hintergrund wird die rituelle Ordnung im Seminar offenbar gestört und die Selbstbilder irritiert und beschädigt. Zwar bestehen die Seminargespräche aus langen inhaltlichen Diskussionen, bei denen vor allem Argumentationen stattfinden, doch gleichzeitig sind die Teilnehmenden durchgängig mit „Imagepflege“ beschäftigt, wie Goffman die Wiederherstellung des rituellen Gleichgewichts nennt. Dies zeigt vor allem die wiederkehrenden Imagekorrekturen, welche die Seminargespräche durchziehen, denn „normalerweise ist die Aufrechterhaltung des Images eine Bedingung für Interaktion, nicht ihr Ziel“ (Goffman 1986: 17). Neben den eben beschriebenen Erklärungen und Rechtfertigungen gehören dazu weitere regelmäßige Formen der Imagearbeit, die ich im Folgenden beschreiben werde.
4.4.3 Self- und We-Blaming Der Generalverdacht erzeugt eine ganze Reihe von Folgekosten. Eine Konsequenz ist, dass die Seminarteilnehmerinnen sich in den einzelnen Arbeitseinheiten, den Arbeitsgruppen aber auch in der Plenumsdiskussion wechselseitig ‚überwachen‘. Bildlich gesprochen heißt dies, in dem Maße, in dem das Foucaultsche Panoptikum ins Bewusstsein gerät, beanspruchen die so Adressierten allesamt im Turm in der Mitte zu sitzen. Eine weitere Folge ist, dass sie sich auch selbst in ihrem Denken und Bezeichnen kontrollieren. Bei der Kommunikation des Überprüfungsprozesses kommt es zu individuellen und interaktiven self-blamings, bei denen sich die Sprechenden selbst eingeschränkte und bewertende Perspektiven zuschreiben. Das heißt, Sprecher und moralischer Adressat fallen zusammen, wie im folgenden Ausschnitt. Er entstammt einer Kleingruppendiskussion, bei der es um die Definition von Rassismus geht und in deren Verlauf die Arbeitsgruppe den Begriff „Rasse“ diskutiert:
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TS #51 ES GEHT WAS VOR IN EINEM (RAS)
Pia argumentiert hier gegen Helga, die zuvor behauptet hatte, Rasseneinteilungen seien in ihrem Kopf „nicht drin“ und erzählt eine Geschichte, in der sie eine eigene Fehlwahrnehmung und -interpretation beim Frauenarzt rekonstruiert. Dort hatte sie zwei wartende Frauen wahrgenommen, die sie in der Geschichte kontrastiv darstellt. Eine der beiden wird als „total verschleiert“ beschrieben, die zweite – quasi das moderne Pendant – „in jEAns und; kurzhaarschnitt und so weiter“ (Z. 90f.). Die Erzählerin Pia hatte fälschlicherweise angenommen, dass die „europäisch“ gekleidete der beiden die Übersetzerin sei, in Wirklichkeit war es umgekehrt. Diese Geschichte dient hier als Beleg für die vorangehende Behauptung „es geht trotzdem was in dir vor“ (Z. 84). Als Pia öffentlich macht, was ihr „automatisch“ durch den Kopf ging, ergänzt Helga die Erklärung („kein Deutsch kann“) und zeigt damit, dass ihr die (falsche) Schlussfolgerung, die muslimisch gekleidete Frau könne kein Deutsch, vertraut sei. Geschickt inszeniert Pia ihren
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Überraschungseffekt mit einem dramatisierenden Vorlauf („die steht auf“, Z. 97), bevor sie dann ihre Verblüffung formuliert, dass es sich im Gegensatz zu ihrer Annahme bei der verschleierten Frau um die Übersetzerin gehandelt habe. Deren muttersprachähnliche Sprachkompetenz bringt sie mit dem dialektalen „schwätzt in einem Deutsch daher“ (Z. 100f.) zum Ausdruck. Ihre eigene in der berichteten Situation empfundene Überraschung oder Beschämung markiert sie in den Lachpartikeln. Dann folgt der rekonstruierte Selbstvorwurf mit einem Schreckensausruf und dem Interrogativpronomen was: ‚Dass ich gedacht habe: Oh Gott, was hast du da wieder im Kopf‘ (Z. 101f.). Wie Warum-Formate sind auch die Was-Formate bei Vorwürfen durch ihren moralischen Subtext und die negative Bewertung des Sachverhalts gekennzeichnet (Günthner 1999: 220ff.). In der Regel machen rekonstruierte Selbstvorwürfe Beschwichtigungen der anderen Anwesenden erwartbar (vgl. Günthner ebd.: 210), hier stellt es sich etwas anders ein. Die Beteiligten stimmen in die Moral der Geschichte und damit in das self-blaming ein: „du siehst jemanden und bewertest“ (Z.108). Ariane stimmt verallgemeinernd zu: „es geht was vor in einem“ (Z. 109). Eine weitere beteiligte Frau stimmt ebenfalls zu. Interaktiv liegt in der Verschiebung vom self- zum we-blaming eine Beschwichtigung, denn die Selbstanklägerin wird durch die kollektive Verantwortungsübernahme ein Stück weit entlastet. Mit ihrer Geschichte hat Pia mindestens zwei der fünf an der Arbeitsgruppe beteiligten Frauen zur kooperativen Teilnahme und zum we-blaming bewegt. Im Kontext des Generalverdachts zielen die self-blamings nicht auf individuelle ‚Vergehen‘, sondern auf Reflexion der kategorialen Selbstverortung überhaupt. Alle Kategorien verlieren ihre Unschuld, sie werden im Wortsinn Vor-Urteile. Dies zeigt sich auch daran, dass bei we-blamings häufig die Kategorien der Sprechenden mitreflektiert werden: TS #52 SIND WIR SO (RAS)
Die Gruppe diskutiert den Zusammenhang von Rassismus und Macht. Brigitte spricht hier explizit als Repräsentantin eines Kollektivs („nICH (-) als ethnische MEHRheit“, Z. 733), das sie im zweiten Satzteil noch genauer bezeichnet „als
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weiße DEUTsche frau“, (Z. 734) bevor sie das self-blaming produziert. Es besteht darin, zu formulieren, worin die potenzielle Tat besteht: „in der lage bin andere gruppen zu unterdrücken“ (Z. 735). Die Äußerungen changieren zwischen Verdacht und Vorwurf. Die Frage, die sie stellt, wer Macht ausüben könne, wird zu einer rhetorischen, da sie sie im selben Redezug als blaming beantwortet („wir können uns ALLe ankucken; also jEde einzelne von UNS ist in der `LAge;“, Z. 737f.). Durch den Einsatz prosodischer Elemente, in diesem Fall die Betonung der Pronomen „alle“, „jede“ und „uns“ sowie eine behauchte Stimme bei der Nennung der Handlungsoption, ergibt sich ein verdächtiger Klang. Und im Bild des wechselseitigen ‚Ankuckens‘ wird jeder Anwesenden die Möglichkeit der Machtausübung zugeschrieben, die sie als ‚weiße deutsche Frau‘ hat.195 Die Stärke der Wirkung des Generalverdachts und seiner kommunikativen Folgen sind hier auch insofern bemerkenswert, als die Anwesenden nun in das andere Extrem mangelnder Differenzierung verfallen. Sie ‚übersehen‘ – nicht nur in dem „alle“, sondern auch während des gesamten Seminargesprächs – dass Gina, die einzige Teilnehmerin mit italienischem Migrationshintergrund, zwar eine ‚weiße‘, aber keine ‚deutsche Frau‘ ist. Da Gina mit starkem italienischem Akzent und teilweise gebrochenem Deutsch spricht, ist dieses ‚Überhören‘ eine interaktive und permanent hergestellte Ignorierensleistung und nicht etwa ein in Vergessenheit geratenes oder nicht vorhandenes Wissen über die gebürtige Herkunft und Sozialisation einer Teilnehmenden. Im vorliegenden Fall wird Gina dadurch auch in die Fraktion der potenziell Tatverdächtigen subsumiert. Diese selbstkritischen Schuldbekenntnisse können als öffentliche Selbstkorrekturen aufgefasst werden, da sie durch die Aufspaltung des Selbst in einen schuldigen und einen sich von der Tat distanzierenden Teil die Bedrohung des eigenen Images abzuwenden bzw. zu mildern suchen. Zugleich stimmen die Beteiligten damit auch der moralischen Richtung des Seminars zu. Üblicherweise stellen Schuldbekenntnisse die Ordnung wieder her („schon ein bloßes Bekenntnis leistet die Korrektur“, Holly 1979: 69), aber im Datenmaterial des Seminars genügt es nicht zur Rehabilitierung, wie man an weiteren Phänomenen sehen kann.
195 Hier kann man eine Verbindung zur humorvollen „Selbstbezichtigung“ im Kap. 4.3.11 im Kontext der kollektiven Rahmentransformation von Stereotypisierungen herstellen, wiewohl die Tonlage eine völlig andere ist. Ich enthalte mich hier aus methodischen und Platzgründen eines Urteils, welche der in den Analysen gefundenen Lösungen der Beteiligten, den höheren Lern- und Transformationseffekt hat.
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4.4.4 Wechselseitiges Blaming Wirkung und Wiederkehr des Generalverdachts mit der Suche nach den Verantwortlichen zeigt sich in Form engagierter und emotional geführter Diskussionen und an den Stellen, an denen die Teilnehmenden sich gegenseitig des Rassismus bezichtigen, wie im folgenden Ausschnitt. Bei der Besprechung der Frage, warum zwar von Rassismus gesprochen werden kann, die Verwendung des Begriffs ‚Rasse‘ selbst aber problematisch ist, entsteht ganz plötzlich eine emotional aufgeladene Stimmung: TS #53 ES GEHT UM MENSCHEN (RAS)
Als die Teilnehmerin Susanne eine vermeintliche Wahrnehmungsgewissheit über das unterschiedliche Aussehen von Menschen anführt, die nicht wegzudiskutieren sei, reagiert die Leiterin Ilse ungeachtet der Rednerinnenliste, die geführt wird und an die sie sich für gewöhnlich hält, spontan mit einem dissensmarkierten („ja gut aber“) und einer Frage im ‚Warum-Format‘: „GUT aber warnUM warum isses so WICHtig jetzt zu sagen der gehört `DIESER rasse an“, (Z. 379/381). Sie wiederholt dabei zweimal das Fragepronomen „warum“ und zusammen mit der Betonung erzeugt das die rhetorische Qualität der Frage und stellt damit die Realiserung eines Vorwurfs dar (Günthner 1999: 216ff.) Daher
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handelt es sich nicht um eine harmlose Rückfrage, zumal sie von der mit entsprechender Autorität versehenen Leiterin gestellt wird. Die Frage stellt den unterstellten Konsens der Vernünftigkeit der Handlung des Gegenübers in Frage und fordert dieses zu einer Erklärung auf (ebd.: 219). Die indirekte Vorwurfsrealisierung wird dadurch verstärkt, dass die abgebrochene Äußerung der Leiterin wieder Andeutungscharakter hat („ich mein, des ist doch“, Z. 381). Das darauf folgende Durcheinanderreden mehrerer Teilnehmerinnen zeugt von der erhöhten Interaktionsdynamik, welche durch die Moralisierung initiiert wird. Als die direkt angesprochene Teilnehmerin Susanne auf Ilses Frage zu antworten beginnt und erklärt, dass es ihr um die Differenzierung gehe, ruft die andere Leiterin eine Teilnehmerin von der Rednerinnenliste auf. Brigitte macht das von der Leiterin Ilse implizite blaming explizit, indem sie Susannes Wortwahl aufgreifend den anderen mit entsprechenden prosodischen Markierungen auf den Tätern („ihr“) und der Tat (‚nicht differenzieren‘) vorwirft: „ja ebenwas IHR macht ist eben NICHT differenziert“ (Z. 391). Am Ende ihrer kurzen Ausführung (ausgelassen) reproduziert Brigitte die Norm in einem imperativischen Format, das Strenge markiert: „dass wir uns auch davor hÜten sollten also dann in solchen Begriffen auch zu kategorisIERN“ (Z. 410f.). Mit einer parallelen kategorischen Konstruktion beginnt Rita daraufhin eine Gegenmoralisierung („aber mer muss sich auch davor hüten jetzt“, Z. 413), bricht diese aber ab und kommt auf die Ausgangsdebatte um das unterschiedliche Aussehen der Menschen zurück. Die hier zitierte Passage des wechselseitigen blamings zeigt, wie dünn der Firnis der sachlichen Argumentation ist, wie schnell der unterschwellige Generalverdacht Beschuldigungen evoziert und quasi als geteiltes Referenzsystem genutzt werden kann. Einige der Teilnehmenden (und vielleicht nicht zufällig diejenigen, welche weder beruflich noch privat regelmäßigen Umgang mit MigrantInnen haben) halten sich in den Plenumsdiskussionen auffällig zurück und beteiligen sich kaum noch an der Plenumsdebatte. Die Aktiveren hingegen finden verschiedene wiederkehrende kommunikative Lösungen zur Bewältigung des Generalverdachts.
4.4.5 Other-Blaming Es scheint zur Entlastung vom Generalverdacht beizutragen, ihm nicht alleine zu unterliegen, das wird schon bei der kollektiven Verantwortungsübernahme beim We-blaming deutlich. Eine weitere Korrekturstrategie der Teilnehmenden besteht darin, Rassismus (auch) bei anderen zu identifizieren. Immer wieder finden sich daher Sequenzen, in denen er auf andere Gruppen ausgeweitet wird. Dabei
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achten die Beteiligten, abgesehen von einzelnen Ausnahmefällen darauf, nicht ins Moralisieren oder Stereotypisieren zu geraten. Das macht deutlich, dass es nicht um das Zelebrieren einer Gesinnungsgemeinschaft geht, die sich vermittels des Moralisierens über andere der eigenen Werte versichert, sondern um die Pflege des eigenen Images. Die Schwere der ‚Schuld‘ wird in dem Maße verringert, wie auch mehr oder weniger vage umrissene Andere im Verdacht stehen, Rassismus zu praktizieren. Gleich zu Beginn des Seminars, noch vor der ersten Textlektüre zum Rassismusbegriff, sagt Rita im Plenum: TS #54 WAS IHR DAMIT ÜBERHAUPT ANFANGEN KÖNNT (RAS)
Rita rahmt ihren Einwurf als ‚spontanen Einfall‘, was in einem gewissen Widerspruch zur Schwere der belastenden Inhalte steht. Um auf die Krimimetapher zurück zu kommen, es ist, als würde ein mutmaßlicher Täter sagen, ihm falle „spontan“ ein, dass ja auch der Gärtner der Mörder sein könne. Interessant ist darüber hinaus die Modalpartikel „auch“, mit der sie auf die im Fokus stehenden ‚dringend Tatverdächtigen‘ referiert, bevor sie Rassismus und Fremdenhass in „anderen Kulturen“ konstatiert. Explizit weist sie darauf hin, dass es ja „kein tYpisch deutsches phänomen“ sei, Z. 317f.). Charakteristisch für blamings ist nach Pomerantz (1978: 118), dass mit der Benennung des Akteurs zugleich eine Zuschreibung von Verantwortung erfolgt. Dadurch wird eine Entlastung von der eigenen erreicht. In den Sequenzen des other-blamings im vorliegenden Datenmaterial ist jedoch auffällig, dass zusätzlich eine explizite Abgrenzung zu einer Selbstkategorisierung vorgenommen wird, hier die Kategorie der Deutschen. Das blaming wird somit quasi ‚umgelenkt‘, wie auch im folgenden Ausschnitt:
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TS #55 SIND WIR SO (RAS)
Im Rahmen der inhaltlichen Diskussion über Rassismus als ‚soziale Praxis, bei der eine Gruppe die Macht hat, Rassenkonstruktionen durchzusetzen‘, nimmt Carola gleich mehrere kategoriale Abgrenzungen vor. Alle Kategorialen Nennungen werden dabei entweder durch kurze Absetzer oder Betonungen als problematisch markiert. Die Frage „wer hat denn die macht in diesem nstAAt“, Z. 399) impliziert mit dem Demonstrativpronomen „diesem“ vor der betonten Kategorie „Staat“ die Kategorie Bürger bzw. verschiedene Bürgergruppen Deutschlands. Die daran anschließende Frage, „wird die macht ausgeübt (-) vOn den wEIssen? > (-) Generell,“ Z. 404) wird sofort selbst beantwortet. Nicht die ‚weißen Deutschen‘ hätten die Macht, sondern – die „mächtigen“ Deutschen. Carola entkoppelt ‚Macht haben‘ von ‚weiß‘ und ‚Deutsche sein‘ und weist damit explizit die Verantwortung der Macht für die Anwesenden zurück: „so wie wir hier sitzen schätze ich mal nicht ein, dass wir die Mächtigen in diesem `lAnd sind.“, Z. 407f.). Zugleich wird dadurch der Fokus von den Kategorien der Nationalität und der Hautfarben, welche der Diskussion zugrunde lagen, auf das Kategorienpaar Mächtige – Ohnmächtige umgelenkt und die Anwesenden werden teilweise entlastet. Die aufgeworfenen Fragen sind gleichermaßen rhetorisch und vorwurfsimplikativ. Rhetorisch sind die Fragen, weil Carola sie im Anschluss selbst beantwortet. Vorwurfsimplikativ sind zum einen die starken prosodischen Merkmale und Affektmarkierungen, die Erregung und einen ‚vorwurfsvollen Ton‘ ausdrücken. Zum anderen enthält das Frageformat moralische Anspielungen, wie wir sie auch von Vorwürfen kennen wie ‚Wer lässt denn hier den Müll stehen?‘. In diesem Fall unterscheiden sich allerdings im Vergleich zu den im vorigen Abschnitt dargestellten blamings kommunikativer und moralischer Adressat. Letzterer wird nach außen verlagert, indem Abwesende verdächtigt werden. Die letzte Wer-Frage („wer definiert“) realisiert in der Anspielung die Umlenkung des Generalverdachts auf ‚die Mächtigen in diesem Land‘. Während we-blamings von den Leiterinnen unterstützt und verstärkt werden, intervenieren sie, wenn andere des Rassismus verdächtigt werden. Sie
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lenken dann den Fokus wieder auf die zentrale Kategorisierung „deutsche Frauen“ zurück.196 Die Folge sind wiederkehrende other-blamings, mittels derer die Anwesenden sich aus dem Fokus des Generalverdachts, der vor allem auf der Kategorisierung „deutsche Frauen“ liegt, winden. Zugleich suchen die Teilnehmerinnen Zuflucht in einer ‚unverfänglichen‘ lokalen Identität (hier z. B. Nicht-Machtinhaberinnen, an anderen Stellen ‚Mütter‘ oder Ähnliches.). Diese unverfänglichen Kategorien werden im Zuge dessen mitkonstruiert (vgl. dazu Kapitel 4.4.7).
4.4.6 Positive Selbstdarstellung Die bisherigen Analysen zeigen, dass die kollektive Identität als „deutsche Frauen“ durch das Seminarthema und die ausgesprochenen Verdächtigungen in ihrer moralischen Integrität beschädigt wird. Daher durchzieht ein weiteres Element das Material, mit denen die Teilnehmerinnen Korrekturen am Selbstbild vornehmen. An vielen Stellen heben die Teilnehmerinnen ihre angemessenen und vernünftigen Wahrnehmungs- und Handlungsweisen explizit hervor. Die im Folgenden zitierte Kleingruppe diskutiert den Rassismusbegriff, und nachdem sich die Anwesenden von vorurteilshaften Menschen abgegrenzt haben, beschreibt Rita im Rahmen der immer wieder stattfindenden Selbstkontrolle ihre Wahrnehmungs- und Bewertungsweise: TS #56 DIE UNTERSCHIEDE MUSS MER AUCH SEHN (RAS)
196 Nach einer dieser Diskussionen bemerkt die Leiterin Ilse auch explizit: „Und wir fändens halt auch noch gut, wenn wir nicht so schnell eben auf andere Kulturen oder wie es auch äh vor der Pause war irgendwie wie es Rassismus eben in anderen Ländern, anderen Kulturen – sondern wir fänden es halt spannender, wenn es mehr bei uns bleibt auch, also mehr selbstreflexiv bezogen auf die deutsche Gesellschaft und bezogen auch auf uns als deutsche Frauen“.
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Es gibt einen langen erklärenden Anlauf, bevor die im Asylbewerberheim arbeitende Sozialarbeiterin Rita am Ende ihre Regel nennt. Sie lautet, dass sie von anderen Verhaltensweisen ausgeht, wenn Menschen in anderen Kulturen aufgewachsen sind. Sie verwendet viel Aufwand darauf, zum Ausdruck zu bringen, dass es moralisch in Ordnung sei, dass sie zwar keinen Unterschied zwischen schwarzen und weißen Deutschen, aber eine Differenz zwischen schwarzen Deutschen und Afrikanern mache, weil sie auf die Herkunftskulturen achte. Ihre Selbstkorrekturen, Pausen und immer wieder neu angesetzten Äußerungen insbesondere vor Hautfarbenzuschreibungen wie in Zeile 78 („n: en=en: n: dunkelhäutisches Mädchen“) zeigen, wie stark sie ihre Äußerungen kontrolliert und sich bewusst ist, dass sie in einer Umgebung ist, in der jedes Wort quasi ‚auf die Goldwaage gelegt wird‘. Sie bricht den Satz, mit dem sie ihre Wahrnehmung beschreibt, ab und korrigiert sich. Aus ‚merk ich überhaupt keinen [Unterschied]’ wird „äh=äh=wü’ die würde ich=auch in gar keiner weise anders beurteiln oder benhANdeln oder sonstirgendwas“ Z. 81ff.). Mit der ersten unkorrigierten Behauptung hätte sie einen performativen Selbstwiderspruch riskiert, denn sie benutzt ja die Kategorie „dunkelhäutiges Mädchen“ und kann somit nicht mehr behaupten, keine Unterschiede zu bemerken. Also differenziert sie – wie in bereits beschriebener Regelmäßigkeit – zwischen der Tat und moralischem Vergehen, hier zwischen der Tatsache einer kategorialen Unterscheidung und einer damit vorgenommenen ‚Beurteilung‘ des in Anspruch genommenen Unterschieds. Auch eine ‚Andersbehandlung‘ oder jegliche andere Konsequenz schließt sie in der aufgeführte Dreierliste aus („anders beurteiln oder benhANdeln oder sonstirgendwas“, Z. 82). Damit verbunden nimmt sie eine Imagekorrektur gegen die Unterstellungen des Generalverdachts vor, das zeigen die ablehnenden und mit Schärfeindikatoren versehenen Pronomen, dass sie hier
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„überhaupt keinen“ bzw. „in gar keiner Weise“ verschiedene Bewertungen vornähme. Bevor ihre Aussage folgt, dass sie jedoch Kulturunterschiede mache, folgt als Einschub eine positive Selbstdarstellung: Gegen das deutsche Bescheidenheitsgebot verstoßend (davon zeugt auch, dass sie lächelnd spricht) stellt sie die Orientierung an Kulturen als das Handeln jeder vernünftigen, kompetenten und moralisch korrekt handelnden Person dar: „aber natÜRlich, (-) äh äh (-) und das (-) das denk=ich=is=auch ganz normal=und gan: z äh (-) intelligent und ganz richtisch >“ (Z. 83ff.). Das dreimal wiederholte Indefinitpronomen ganz hat eine interessante mehrdeutige Funktion, es kann verstärkend und abschwächend gehört werden. Auf diese Weise verbindet die Sprecherin elegant die umfassende Qualität ihres Selbstlobs als einer „normal“, „intelligent“ und „richtig“ Handelnden (im Sinne eines ‚ganz und gar‘) mit einer Abschwächung und Trivialisierung (im Sinne von ‚ganz gut‘). Durch diese Ambiguität wirken die positiven Selbstbeschreibungen reflektiert, geprüft und gefiltert, denn sie kann Norm (Eigenlob stinkt) und den Normbruch amalgamieren. Wieder folgt eine korrigierte Äußerung: Aus ‚wenn ich Kulturunterschiede annehme behandele ich (...) an[ders]’ wird ‚gehe ich von anderen Dingen aus‘. Anderenfalls wäre die Sprecherin moralisch über das Ziel ‚hinausgeschossen‘, denn Menschen anders zu behandeln steht wieder im Verdacht der Diskriminierung. Unterstützt von Susannes Hörersignal, das auch als Zustimmung gehört werden kann, schließt sie die Begründung ihres Handelns an, wieder verbunden mit der Abwehr des Generalverdachts: „weil er in=ner=andern kulntUr groß geworden ist=net weil er schwArz is.“ (Z. 90f.). Sie korrigiert damit ihren Differenzierungsbedarf aus einer Ethnoperspektive, die Rassismus noch an vermeintlich ‚biologischen‘ Merkmalen festmacht, auf eine kulturelle Unterscheidung. Damit ist sie den Verdacht laut dem Seminar zugrunde liegenden Theorien allerdings nicht los, hier würde ihr ja dann „Kulturrassismus“ vorgeworfen (vgl. Kapitel 2.2). Handlungspragmatisch allerdings nimmt sie Unterschiede vor dem Hintergrund ihrer Berufserfahrung wahr und in Anspruch. Sie verallgemeinert die Aussage schließlich mit dem vierten Deskriptor („ganz logisch“), mit dem sie keinen Zweifel an der allgemeinen Rationalität dieses Handelns lässt. Hat sie ihre Äußerung noch mit einer Subjektivierungsstrategie („für mich“) eingeleitet, bietet sich hier jetzt den anderen die Möglichkeit, sich anzuschließen. Denn ‚Eigenlob stinkt‘, sagt ein deutsches Sprichwort, und in ihrer Analyse positiver Moralisierungen zeigt Ayaß, wie riskant üblicherweise ein Eigenlob ist: „Positives Reden über sich selbst kann offensichtlich die Gefahr mit sich bringen, dass ein anderer Beteiligter empirische Fakten liefert, die beweisen, dass dem nicht ganz so ist,
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wie die Person von sich behauptet.“ (Ayaß 1999: 306). Gina, die Migrantin in der Gruppe, die stets besonders affiliativ auf den moralischen Gehalt von Äußerungen anderer Teilnehmerinnen reagiert, schmiegt sich auch hier auffällig und redundant an Rita an und betont ihrerseits die Gleichgültigkeit der Hautfarbe. Wortwahl und Überlappungen drücken die Kooperation der beiden Sprecherinnen aus und Gina formuliert ihre eigene Äußerung schließlich gar nicht mehr zu Ende, sondern bricht mit einem Zustimmungssignal („genau“) ab. Somit haben die drei Sprecherinnen, Rita, Susanne und Gina sich kooperativ an einer positiven Selbstdarstellung beteiligt und diese dem Generalverdacht entgegengestellt.
4.4.7 Kategoriale Zugehörigkeit als Kommunikationsproblem Die provozierende Frage des Veranstaltungstitels „Hat der Rassismus ein Geschlecht“ und das Programm der Veranstaltung (Kapitel 3.4.3) greifen eine spannende theoretische Debatte zur Zeit der Datenaufnahmen auf, die auch in der aktiven Frauenbewegung für reichlich Diskussionen gesorgt hat. Die bisherigen Analyseergebnisse haben gezeigt, dass eine pädagogische Veranstaltung die Beteiligten damit unter einen Generalverdacht stellt, der nur schwer reflexiv einholbar ist. Darüber hinaus sind zwei Zugehörigkeitszuschreibungen problematisiert, die für alle Anwesenden gelten. Es handelt sich – mit Ausnahme der einzigen Migrantin – um Deutsche und ausnahmslos um Frauen. Beide Kollektive sind unter Generalverdacht geraten. Welche grundsätzliche Wirkung der Generalverdacht hat, äußert Erika, eine der eher schweigsamen Teilnehmerinnen, am Ende des Seminars mit starker emotionaler Einfärbung. Sie beschreibt, wie sie die gesamte Veranstaltung erlebt hat:
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TS #57 ICH KANN JA NET NUR ANGEGRIFFEN WERDEN (RAS)
Dieser Ausschnitt entstammt einer längeren Passage, in der Erika am letzten Tag des Bildungsurlaubs zwischen Wut und Tränen schwankend ihre Empfindungen vor der Gruppe formuliert. Sie beginnt zunächst mit einem Vorwurf in Zeile 119: „wi’ wieso muss ich mich benschimpfen lassen eigntlich.“197 Laut Günthners Gattungsanalyse zu Vorwürfen artikulieren diese Regelverletzungen von anwesenden Personen. Die Vorwurfsproduzentinnen orientieren sich an einer sozialen Norm, deren Gültigkeit für alle Beteiligten angenommenen wird, und gehen davon aus, dass den Akteuren Handlungsalternativen zur Verfügung gestanden hätten, die sie nicht gewählt haben (Günthner 1999: 211f.). Offenbar erlebte Erika eine Einseitigkeit, der sie mit dem Vorwurf begegnet („wenn=mers von dER seite mal sieht.“, Z. 138), dass „immer nur die ANdere seite“, also die Beschimpfung, „gekommen“ sei (Z. 121). Die Passivformulierung lässt keinen Schluss darauf, wer die Adressaten des Vorwurfs sind. Daraufhin nennt sie eine dieser Beschimpfungen und wie sie sie empfunden hat. Interessanterweise korrigiert sie sich selbst bei der rekonstruierten Beschimpfung von „ich“ zu „wir“ und spielt damit bereits auf ein Kollektiv von Betroffenen an: „was bin i’ was sind wir doch alle SCHLECHT“ (Z. 122). Erika schwächt ab, dass die Vorwürfe als solche nicht geäußert wurden, sondern dass sie diese ‚so empfunden’ habe (Z.123). Schließlich äußert sie sich mit mehrfachen Abbrüchen sehr distanziert bis abfällig über ‚diesen ganzen Kurs, oder was das auch immer sein sollte hier‘ (Z. 124-125). Hier finden sich wieder mehrere für Vorwurfs197 Obwohl eine Frage, ist die Äußerung als Vorwurf zu interpretieren, der häufig im Warum- oder Wieso-Format auftritt. Zur Gattungsanalyse von Vorwürfen vgl. Günthner (1999).
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handlungen typische Merkmale wieder: Es wird eine antagonistische Gesprächssituation aufgemacht, Erikas Rede ist gekennzeichnet durch negativ aufgeladene Terminologie („angegriffen“), starke Affektmarkierungen wie Tonhöhensprünge und Extremformulierungen („immer nur“, „das ganze“). Als Erika ihr Gefühl des Angegriffenseins explizit zum Ausdruck bringt, erhält sie Zustimmung von Carola, die aus Erikas individuellen Angegriffensein ein gemeinsames macht, indem sie deren Formulierung „des mein rECHT!“ (Z. 187) aufgreift und auf ein „wir“ bezieht („des ist auch unser recht“, Z. 190f.). Erika vollzieht nun ebenfalls diese Bewegung vom „ich“ zum „wir“, indem sie ihren Vorwurf des Angegriffenwerdens in exakt gleichem Wortlaut wiederholt, ihn nun aber auf die Kategorie ‚des Deutschen‘ bezieht: „der deutsche kann ja net nur nANgegriffen werden“ (Z. 237). Interessant ist auch der Wechsel des Geschlechts auf ‚der Deutsche‘, obwohl alle Anwesenden Frauen sind und sich auch in der Regel so bezeichnen. Hier findet also eine kollaborative Fokusverschiebung bei der Formulierung der Subjektpersepktive statt. Aus ‚ich fühle mich hier im Seminar nur angegriffen‘ wird ‚der Deutsche wird im Rassismusdiskurs nur angegriffen‘. Auch die Zuspitzung des Vorwurfs durch immer stärkere Explizierung und Behauptung einer eigenen Haltung erlebt diese Fokusverschiebung von ‚des is mein recht‘ – ‚ich kann ja net nur angegriffen werden‘ zu ‚der Deutsche kann ja net nur angegriffen werden‘. Damit expliziert Erika eine Identitätsposition, aus der das Ich als ‚deutsches Ich‘ konstruiert wird: „Ich als Deutsche kann ja nicht nur angegriffen werden“ Diese Zuspitzung spiegelt sich auch auf der paraverbalen Ebene durch eine sich immer weiter steigernde prosodische Markierung von Empörung. Damit stellt sie die gesamte Veranstaltung in Frage. Offenbar hat sie das Seminar als ‚Beschimpfung‘ (Z. 119) und Angriff auf ihre Identität als Deutsche erlebt („was bin i’ was sind wir doch alle SCHLECHT“, Z. 122; „ich kann ja net nur Angegriffen werden“, Z. 189f.) Man kann nun diese Reaktion einer einzelnen Teilnehmerin je nach Perspektive unterschiedlich beschreiben. Psychologisch könnte man sie als subjektiven Widerstand auffassen, soziologisch als milieu- oder generationsbedingte Borniertheit, gesellschaftskritisch als Reproduktion von symbolischen Kapital und Distinktionsstrategie oder sozialpsychologisch als Ausdruck eines kollektiven Ressentiments. Im Kontext der Fragestellung dieser Arbeit jedoch erweist sie sich als offensichtliches Symptom für ein Grundproblem. Wenn Zugehörigkeit hervorgehoben wird, so ist sie nach Hausendorf (1998) zu einem Kommunikationsproblem geworden. Und dann ist mit einer ganzen Reihe von Aktivitäten zu rechnen, die in der Regel im Hintergrund ablaufen, im Falle einer Problematisierung von Zugehörigkeit, jedoch hervorgebracht werden. Hier sehen wir vor allem Mittel des moralischen Bewertens. Die „Kundgabe moralisch
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gefärbter Gemütsbewegungen“ (ebd.: 323), also Affekte und Betroffenheitsdarstellungen, die Kommunikation von ‚Stolz‘ als eine auf die eigene Gruppe gerichtete Anerkennung wie im Ausschnitt oben, signalisiert den Bedarf nach Rehabilitierung der Selbstachtung. Vorwürfe und Appelle signalisieren dabei die erforderlichen Achtungsbedingungen (Hausendorf 1998: 311). Im Unterschied zu Hausendorfs Daten gibt es hier allerdings keine ‚Anderen‘ mehr. Erika spricht ‚als Deutsche‘ zu ‚Deutschen‘, die ‚den Deutschen‘ die Achtung entzogen haben. Die „kommunizierte Fremdheit“ (Hausendorf 2002) ist als Kommunikationsproblem im Kollektiv der Beteiligten angekommen und muss immanent gelöst werden. Die Teilnehmenden finden dafür eigene Strategien, um aus diesem Dilemma zu entfliehen. Sie konstruieren sich moralisch sichere kollektive Identitäten jenseits der kulturellen Referenzebene.
4.4.8 Soziale Positionierung in einer unverdächtigen Identität Üblicherweise versichern wir uns in Interaktionen wechselseitig der moralischen Angemessenheit unseres Auftretens und erwarten von Mitgliedern einer Gruppe, dass sie Selbstachtung zeigen (Goffman 1986: 10-17). Offenbar führt der Generalverdacht bei der Thematisierung von Rassismus in den eigenen Reihen daher zu einer Störung der rituellen Ordnung und Kooperation. Die Imagepflege der Teilnehmenden besteht darin, viele Differenzierungen einzuführen und die Liste der verschiedenen Varianten von Imagekorrekturen ist lang: Die Teilnehmerinnen geben entweder an, von etwas nichts zu verstehen (z. B. von ‚Rassen‘), oder Unterschiede nicht zu beachten und nicht in Rassen zu denken, dass sie andere entweder nicht einordnen oder, wenn sie es tun, dabei nicht bewerten, oder aber, wenn sie bewerten, dies mit positiven Intentionen tun (z. B. um den kulturellen Hintergrund zu achten). Sie betonen, dass sie alle gleich behandeln, niemanden diskriminieren und Menschen oder Sachverhalte verurteilen, welche dies tun, dass sie sich mit Menschen, welche rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt sind, solidarisieren und ihnen helfen usw. Ausgewählt für die Darstellung der Strategien habe ich die Formen, in denen der Verdacht kategorial bearbeitet wird und sich die Frage nach der Verantwortungsübernahme stellt. Besonders schwer wiegt bei den Beteiligten offensichtlich, dass den üblicherweise als moralisch angemessen behandelten konventionalisierten Zugehörigkeiten und Identifikationen, wie z. B. eine ‚deutsche Frau‘ zu sein, systematisch die Achtung und Anerkennung entzogen wird, verstärkt durch die moralisierenden Anspielungen der Leiterinnen. Der folgende Ausschnitt zeigt nun noch einmal alle bisher aufgeführten Phänomene in einer einzigen Sequenz
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versammelt und ergänzt sie um einen entscheidenden Schritt. Denn die Varianten der Imagepflege werden solange fortgesetzt, bis die Sprechenden sich in einer unbeschädigten sozial anerkannten Kategorie und Identität positioniert haben, welche sie zuvor im Rahmen ihrer Imagearbeit soweit als möglich gegen den Generalverdacht abgeschirmt haben. TS #58 DIFFERENZEN UNTER FRAUEN (RAS)
Während einer Kleingruppendiskussion nimmt Britta Bezug auf Passagen aus einem Text zur deutschen Frauenbewegung, welcher deren fehlende Differenzierung hinsichtlich der Emanzipationsvorstellungen kritisiert, die sich alleine auf Emanzipation durch Arbeit konzentriere. Britta referiert verdichtet den Gedanken ‚Die deutsche Frau fühlt sich unterdrückt‘ (Z. 565), der zugleich ein other-blaming (in der Form) und ein we-blaming (im Inhalt) darstellt. Diese Doppelstruktur kommt zustande, da sie über die deutsche Frau in der dritten
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Person spricht, alle Anwesenden jedoch wissen, dass sie deutsche Frauen sind. Prompt wendet Helga einschränkend ein „aber ne ALle“ (Z. 569) und reklamiert Ausnahmen. Das veranlasst Britta zu einer überlappenden Relativierung ihrer vorangehenden Aussage, indem sie diese als ‚plumpe‘ Vereinfachung etikettiert (Z. 570). Dann erfolgt eine interessante Verschiebung des nun im Raum schwebenden Verdachts durch Änderungen der kategorialen Konstruktionen. Britta stellt zwei Gruppen von Frauen gegenüber. Mit „die ANdere hat sich eben selbst (.) verwirklicht“ (Z. 578), vollzieht sie eine Unterteilung in verschiedene Gruppen deutscher Frauen; zum einen diejenigen, die sich im Beruf verwirklicht haben in Abgrenzung zu jenen, die dies im Beruf nicht getan haben und zum anderen kategorisiert sie als Gegenpol die „näherin, die da irgendwo sitzt“ (Z. 579). Damit kritisiert sie die Frauen, welche zwar z. B. in Deutschland beruflich emanzipiert sind, ihren geschäftlichen Erfolg jedoch auf der Ausbeutung von schlecht entlohnten Näherinnen in anderen Breiten („irgendwo“) aufbauen, und vollzieht damit ein other-blaming. Das damit aufgerufene Kategorienpaar ist Arbeitnehmerin/Arbeitgeberin bzw. Nutznießerin. Noch nicht besetzt ist die bereits aufgerufene Kategorie der sich nicht auf Kosten anderer selbst verwirklichenden Frauen. Helga füllt diese Lücke dann im Anschluss: „manche frau (…) arbeitet wie ICH jetzt zum beispiel in so ner untergeordneten positiON“ (Z. 583ff.) und konstruiert sich und den anderen anwesenden Frauen eine unverfängliche lokale Identität als eine in einer untergeordneten Position arbeitende Frau, also einer Arbeitnehmerin (wie die Näherin auch), die sich mühsam hochgearbeitet hat und keine großen emanzipatorischen Gewinne hat. Die subtile Herstellung von Co-Membership mit der Näherin umgeht hier alle kulturellen, ethnischen oder rassistischen Verdachtsmomente: Als Arbeitnehmerin kann man eben in Nicaragua oder in Deutschland arbeiten, dabei mit schwarzer oder weißer Hautfarbe zur Welt gekommen und muslimischen oder buddhistischen Glaubens sein. Die Kategorie liegt quer zu allen verdächtigen Kategorien und ist damit ‚unschuldig‘. Es folgen weitere unverdächtige Selbstkategorisierungen. Da zu Beginn des Segments der Kulturrassismusverdacht daraus resultierte, dass eine sich als unterdrückt fühlende deutsche nicht berufstätige Hausfrau sich (qua Projektion) aufwertet, indem sie verschleierte Musliminnen bedauert, gilt es für die Anwesenden, diese lokale Identität zu vermeiden und sich eine unverfängliche, des Rassismus unverdächtige lokale Sprechposition zu konstruieren. Aus dieser Position heraus gesprochen imaginiert sich Helga nun beinahe sehnsüchtig in die Perspektive der demgegenüber von mühevoller Lohnarbeit entlasteten Hausfrau und wagt sich, die des Rassismus verdächte Projektionsempfindung zu verändern: es ist vorstellbar, sich dann nicht unterdrückt zu fühlen und folgerichtig
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gibt es dann auch keinen projektiven Rassismus. Um den dahinterliegenden Mangel gänzlich zu ersetzen, führt sie eine weitere Kategorie ein, die der Mutter ‚mit Leib und Seele‘ (Z. 594), wenn man die Redewendung vervollständigt. Das ist eine hilfreiche Kategorie, denn alle anwesenden dieser Kleingruppe haben Kinder. Kurz: Wer wie die Anwesenden Mutter ist, in untergeordneter Position ist und die Hausfrauentätigkeit nicht vollzeitlich, sondern quasi nebenberuflich ausführt, gehört nicht zu den Frauen, die sich auf Kosten anderer selbst verwirklichen und muslimische Hausfrauen bedauern müssen, um sich aufzuwerten. Weder ‚Deutsche sein“, noch zum Kollektiv der ‚Frauen‘ zu gehören, stellt jetzt noch ein Problem dar. 198 Da, wie im vorausgegangenen Kapitel gezeigt wurde, die kollektive Identität als Frauen und als Deutsche qua Thema desavouiert sind, konstruieren sich die Anwesenden moralisch unangreifbare soziale Zugehörigkeiten (z. B. als Mütter, ‚kleine‘ Arbeitnehmerinnen oder Wissenschaftlerinnen. Das berührt den Kern der Veranstaltung, denn nun sind die Anwesenden nicht – wie die schon die Ausschreibung nahe legte – verdächtigt, ‚das Maß aller Dinge‘ sein zu wollen. Wolf argumentiert in ihrem gesprächsrhetorischen Konzept der „sozialen Positionierung“ (Wolf 1999), dass die Gesprächsteilnehmer über ihre Aktivitäten der sozialen Zuordnungen ihre Handlungsbedingungen zu kontrollieren suchen, indem sie sich über die Zuordnung zu sozialen Kategorien bestimmte Eigenschaften zuweisen. Über die soziale Positionierung stellen sie quasi Informationen bereit, welche die Interpretationen und Folgeaktivitäten der GesprächspartnerInnen beeinflussen können. Insbesondere sind soziale Positionierungen geeignet, situationssensitiv interaktive Störungen zu bearbeiten. Man kann daher mit Wolf sagen, dass die Teilnehmerinnen in der Antirassismusveranstaltung auch mit den sozialen (Re-)Positionierungen das rituelle Gleichgewicht wieder herstellen. Die Entlastung hier besteht darin, dass sie sich zusammen mit den anderen als eine derjenigen Frauen darstellt, die für die eigene Emanzipation nicht das Bild der ‚unterdrückten islamischen Frau‘ brauchen, wie in der Seminarausschreibung rhetorisch gefragt wurde. Britta stimmt zu und damit haben sie sich als Frauen konstruiert, welche nicht zu den ‚Verdächtigen‘ gehören (können).199 Zugleich wurde das beschädigte Image 198 Mit denselben Mustern (aus Platzgründen nicht dargestellt) kommunizieren auch die beiden Seminarleiterinnen, was wenig verwundert, da sie ja dasselbe Problem haben. Sie kritisieren die deutsche Gesellschaft als rassistisch (We-blaming), konstruieren sich eine lokale Identität als Wissenschaftlerinnen mit umfassenden Expertenkenntnissen (positive Selbstdarstellung) und betreiben entweder self-blaming oder grenzen sich mit Hilfe der Selbstkategorisierung von wechselnden anderen Gruppen ab (z. B. den Laien), die unter Verdacht stehen (other-blaming). 199 Diese Abgrenzung und Suche nach einer unverdächtigen Kategorisierung ist naheliegend. Feest (1971) zeigt in seiner Studie über „die Situation des Verdachts“ bei der Polizei, dass „die Methode des Verdachts im wesentlichen auf einer Dichotomisierung der Bevölkerung in zwei
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kooperativ korrigiert und das rituelle Gleichgewicht der Achtungskommunikation wiederhergestellt. Die Analysen haben gezeigt, dass die Thematisierung von Rassismus die Grundprinzipien der sozialen Interaktion, der Achtungskommunikation, verletzen kann. Offenbar antizipieren die Leiterinnen diese Problematik, verstärken aber paradoxerweise gerade durch ihre Rücksichtnahme den Generalverdacht und veranlassen Moralisierungs- und Rehabilitierungssequenzen. Der ständige Verdacht, unter dem die Kategorien und damit die möglichen kollektiven Identitäten (wie u. a. Frauen, weiße Frauen, Deutsche usw.) der Anwesenden stehen, hat hohe unfreiwillige Folgekosten. Sie bestehen darin, dass sich die Beteiligten mehr mit der Korrektur und Pflege ihres Images beschäftigen als mit der didaktisch gewünschten Reflexion. Sie verdächtigen sich selbst und untereinander (blaming/we-blaming), heben die Rationalität und Sinnhaftigkeit ihrer Handlungen hervor (accounts) formulieren ihre positiven Absichten und loben sich (positive Selbstdarstellung), entlasten sich durch die Suche nach weiteren Verantwortlichen (other-blaming) und konstruieren kooperativ unbeschadete soziale Positionierungen und Identitäten, die sie zuvor gegen den Rassismusverdacht immunisiert haben. Es scheint, dass ein Erlernen der Prämissenreflexion unter der Bedingung einer unter Verdacht stehenden kollektiven Identität extrem erschwert ist. Die pädagogische Ambition also, kultur- und bewertungsreflexiv und zwar radikal bis auf die im Hintergrund ablaufenden Grundkategorien kollektiver Zugehörigkeiten zu arbeiten, stößt hier an Grenze der Notwendigkeit, dass die Beteiligten der Zugehörigkeit zu einer positiven sozialen und kollektiven Identität bedürfen, um interkulturell zu lernen.
Gruppen, die ‚Anständigen’ und die damit über jeden Verdacht Erhabenen einerseits und die eigentlich ‚verdächtigen Subjekte’ hinausläuft (ebd.: 169).
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5. Schluss: Interkulturelles Lernen als Gesprächsarbeit
Ausgangspunkt und Leitlinie dieser empirischen Arbeit war die Frage, wie eine im Laufe der Sozialisation über Jahre hinweg gewachsene kulturelle Deutungsgewohnheit im Rahmen einer Bildungsveranstaltung verändert werden kann und und welche Spezifika interkulturellen Lernens sich in der Kommunikation erkennen und beschreiben lassen. Die durch diese Frage orientierten Analysen führten zur Entdeckung einer ganzen Reihe von kommunikativen Phänomenen, die Aufschluss darüber geben können, wie interkulturelles Lernen initiiert, gesteuert und gefördert werden kann.
5.1 Ergebnisübersicht Ich begann im 2. Kapitel mit einem Überblick über die verschiedenen Ansätze zur Vermittlung interkultureller und antirassistischer Kompetenz und nahm damit Bezug auf die Wissensbestände, die in der interkulturellen Erwachsenenpädagogik als Referenztheorien – nicht zuletzt von den aufgezeichneten Trainerinnen selbst – zu Rate gezogen werden. Hierbei habe ich mich für eine methodologische Einteilung und Darstellung entschieden, da letztlich die wissenschaftliche Disziplin, der Kulturbegriff und die daraus resultierenden Deutungskonzepte sowie die daran anschließenden Methoden ausschlaggebend für Zuschnitt und Wortwahl der pädagogisch vermittelten Metakonzepte sind. Die Unterscheidung zwischen interkulturellen Trainings (2.1) und antirassistischer Bildungsarbeit (2.2) lag nahe, da es – von wenigen Methoden einmal abgesehen – bislang kaum Überschneidungen zwischen den Ansätzen gibt. Für beide Handlungsfelder wurden jeweils die grundlegenden Ansätze und Studien sowie deren theoretischer Hintergrund kurz zusammengefasst, die Hauptautoren genannt, das Kompetenzverständnis umrissen und die bedeutendsten Methoden erläutert. Eine kritische Würdigung rundete die Darstellung der einzelnen Ansätze jeweils ab. Die Synopse begann mit den am stärksten verbreiteten Kulturvergleichskonzepten. Sie sind kulturanthropologischen Ursprungs und beschreiben
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Kulturen anhand von „Kulturdimensionen“. Die internationalen Studien sowie die Vertreter dieses Ansatzes haben die interkulturelle Pädagogikszene nachhaltig beeinflusst (2.1.1). Die ebenfalls sehr einflussreiche interkulturelle Psychologie hat den Begriff der Kulturstandards entwickelt, um Kulturen und deren Werte zu beschreiben. Die auf der Basis dieses Ansatzes entwickelten didaktischen Umsetzungen wie Critical Incidents, Culture Assimilator und die Contrast Culture-Methode gehören zum Standardrepertoire in interkulturellen Trainings (2.1.2). Vor dem Hintergrund von interkultureller Kommunikationsforschung, Fremdsprachendidaktik und angewandten Sprachwissenschaften wurde eine kommunikationsorientierte Vergleichsfolie, das Konzept der „Linguistic Awareness of Cultures“, für Phänomene entwickelt, die in der Interaktion zu Irritationen führen können und auf das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen schließen lassen. Auf dieser Basis lassen sich Lösungsmöglichkeiten für Handlungsprobleme in der Praxis erarbeiten (2.1.3). In der Antirassistischen Bildungsarbeit werden diese Formen interkulturellen Lernens grundsätzlich als „kulturalistisch“ kritisiert. Dementsprechend war zunächst einmal der mit dem Rassismusbegriff verknüpfte theoretische und ideologiekritische Ansatz darzulegen, der den Bildungsmaßnahmen zugrunde liegt (2.2). Die Lernziele antirassistischer Bildungskonzepte fokussieren die Funktionsmechanismen von Macht und stellen die Reflexion des individuellen Beitrags zum gesellschaftlichen Rassismus ins Zentrum (2.2.1). Die verschiedenen methodischen Varianten, antirassistische Diskursinterventionen zu gestalten, wie Argumentations- und Bewusstseinstrainings oder körperorientierte und theaterpädagogische Formen, stellte ich exemplarisch mit kritischer Würdigung vor (2.2.2). Zum Abschluss überlegte ich, ob interkulturelles Lernen kritikwürdig oder unhintergebar ist. Dazu warf ich einen Blick auf die von verschiedenen Disziplinen geäußerte Kritik an der interkulturellen und sogar an der antirassistischen Pädagogik, welche aus Sicht der AutorInnen die gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesse und hegemonialen Effekte von ‚Verstehensprozessen‘ unterschätzt und pädagogisiert. Daneben gibt es zunehmend Konzepte, welche interkulturelles und antirassistische Bildungsarbeit notwendig finden und sogar vereinbaren können bis hin zu den Diskussionen der Ubiquitarität und Unhintergehbarkeit von Fremdheit, die einer gesellschaftlichen und damit auch pädagogische Reflexion von Kultur (2.3). Das 3. Kapitel leitete den empirischen Teil ein und fokussierte mit dem Forschungsstand auch den eigentlich untersuchten Gegenstand der Arbeit: das Interkulturelle Lernen im Gespräch. Dabei mussten drei Probleme gelöst werden: 1. Die fehlende Anschlussfähigkeit des Forschungsstandes, 2. der bisher noch nicht geleistete Anschluss der Thematik des interkulturellen Lernens an die vorliegende andragogische und an authentischen Gesprächen orientierte Forschung,
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in der bislang noch nicht auf die Thematik des interkulturellen Lernens Bezug genommen wurde, und 3. die diesen Forschungsarbeiten zugrunde liegende theoretische Annahme der konstruktivistischen Erwachsenenbildung, dass alles Lernen interkulturell sei. Nach Betrachtung der Qualifikationsarbeiten und Studien aus anderen Disziplinen und der vorliegenden Gesprächsforschung zur pädagogischen Kommunikation, die sich nicht auf Interkulturelles Lernen Erwachsener bezieht sowie der andragogischen Studien zur Lehr-Lernkommunikation in Erwachsenenbildung, für die jegliches Lernen ein interkulturelles Lernen ist, bleibt nur, den Gegenstand als Desiderat zu formulieren (3.1). Da es mit der Konstruktivistischen Erwachsenenbildung, die gesprächsorientierte Forschung im Bereich der Erwachsenenbildung neu initiiert hat, einen ernst zu nehmenden andragogischen Ansatz gibt, der jegliches Lernen als interkulturelles Lernen beschreibt, was die Forschungsfrage obsolet gemacht hätte, setzte ich mich zunächst mit dieser Theorie auseinander, um in Abgrenzung dazu den Untersuchungsgegenstand (ethno-)methodologisch zu begründen (3.2). Ihrem Grundverständnis nach begreift die konstruktivistische Erwachsenenpädagogik Lernen als Deutungslernen, d. h. die ErwachsenenpädagogInnen in der Postmoderne regen ohne Wahrheitsanspruch die selbstreferentiellen Deutungsmuster der Individuen zur Veränderung an. Die Deutungsmuster der Einzelnen sind laut diesem Ansatz aufgrund der Wertepluralität kaum vermittelbar und eine Verständigung darüber sei nicht mehr möglich, daher sei alles Lernen interkulturell (3.2.1). Das folgende Kapitel erinnert daran, dass die in der Konstruktivistischen Erwachsenenpädagogik zwischenzeitlich bewusstseinstheoretisch verengten Deutungsmuster ihrem Ursprung nach der symbolisch vermittelten sozialen Interaktion entstammen und die kommunikative Basis, auf der sie beruhen, vergessen wurde (3.2.2). Wie kultur- und kommunikationsabhängig Deutungsmuster kommuniziert werden müssen, wurde anschließend mit mehreren Grundbegriffen begründet: „Vollzugswirklichkeit“, „Kontextualisierungshinweise“ und „Rezipientenzuschnitt“ der kommunzierten Deutungsmuster. Daraus folgt, dass interkulturelles Lernen in der Kommunikation – dem „doing culture“ – stattfindet und beobachtet werden kann. Dabei war ein reflexiver und in gewisser Hinsicht paradoxer Prozess zu erfassen: Untersucht wurde die soziale Geregeltheit von kulturellen Verstehens- und Verständigungsprozessen in ihrer Infragestellung, denn dabei müssen sich die Beteiligten zugleich auf eine diskursive Ordnung beziehen und diese reproduzieren (3.2.3). Im Anschluss an die ethnomethodologische Begründung des Forschungsgegenstandes erwies sich die Konversationsanalyse als Methode der Wahl, um dem Phänomen „Interkulturelles Lernen“ als Ethnomethode näher zu kommen (3.3). Untersucht werden konnte auf der Basis der vorangegangenen Begründungen und unter Berücksichtigung der in der
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Kommunikation aufscheinenden Geordnetheit, wie interkulturelles Lernen als interaktive Leistung vollzogen wird (3.3.1). Obwohl sehr flexibel bezüglich des Gegenstands, folgt die Konversationsanalyse bei der Untersuchung einigen grundlegenden Analyseprinzipien, die anschließend erläutert wurden (3.3.2). Nach der Darstellung der Methodik wendete ich mich dann den Daten, ihrer Gewinnung, Aufbereitung, Feinanalyse und Darstellung zu. Bevor die letztlich doch reichhaltige Datenbasis von vier Fallbeispielen aus drei verschiedenen Veranstaltungstypen und insgesamt rund 53 Stunden Seminaraufzeichnungen vorgestellt wurde, berichtete ich kurz von den Schwierigkeiten des Datenzugangs (3.4). Danach beschrieb ich die vier hart errungenen Fallbeispiele mit ihrem Konzept, den verwendeten Inhalten und verfolgten Lernzielen sowie in ihrer Beteiligtenstruktur. Bei den ersten beiden Fallbeispielen handelt es sich um Aufnahmen von zwei zweitägigen kulturübergreifenden bzw. kulturallgemeinen Trainings zur interkulturellen Kommunikation, die von zwei verschiedenen Trainerinnen geleitet wurden; sie tragen den Titel „Andere Länder, andere Sitten“ (3.4.1). Beim zweiten Veranstaltungstyp, der aufgezeichnet wurde, meinem dritten Fallbeispiel, handelt es sich um ein zweitägiges kulturspezifisches Training zum Thema „Unsere Kunden aus Japan“ (3.4.2). Ein einwöchiger Bildungsurlaub eines großen Bildungsträgers ist als Antirassismustraining der dritte aufgezeichnete Veranstaltungstyp und das vierte Fallbeispiel (3.4.3). Bei einer empirischen Arbeit mit diesem Datenumfang und einer nur heuristischen Ausgangsfrage stellt sich stets die Frage nach der Datenaufbereitung und Vorgehensweise, die ich anschließend beschrieb (3.4.4). Hier wurde erläutert, warum alle Audiodatenaufzeichnungen wörtlich transkribiert und nach welchen Kriterien daran anschließend die Feintranskripte ausgewählt worden waren. Die Konventionen der Darstellung sowie die Inhaltsund Transkriptübersichten über die Seminare, welche den LeserInnen einen Überblick geben, wie sich die Auswahl der Transkriptstellen über die Seminarzeiten verteilen, sind im Anhang zu finden. Im Zentrum der Arbeit steht der empirische Teil im 4. Kapitel mit der Darstellung der Analyseergebnisse. Aufgrund der hohen Zahl der entdeckten Phänomene habe ich mich für eine ergebnisorientierte Präsentation entscheiden müssen. Das Kapitel ist in vier Unterkapitel gegliedert, die jeweils einen hermeneutischen Entdeckungszirkel beinhalten und neben der Beschreibung der interaktiven Phänomene durch eine Reflexionsstufe in Bezug auf die Kommunikation beim interkulturellen Lernen ergänzt werden. Die Unterkapitel beginnen jeweils mit dem erkennbaren, von den Beteiligten zu lösenden Problem und zeigen die im Gespräch gefundenen Auswege. Der letzte Abschnitt jedes Unterkapitels fasst
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dann jeweils die kollaborativ gefundene Strategie im Umgang mit der jeweiligen Herausforderung zusammen und reflektiert sie kurz theoretisch. Die Präsentation der Ergebnisse begann mit einem Potpourri an Kommunikationsformen und Strategien, welche die Leiterinnen einsetzen, um kulturreflexive Deutungsarbeit in den interkulturellen Trainings zu ermöglichen (4.1). Sie formulieren Normen und Werte anderer Kulturen in regelmäßig wiederkehrenden kategorischen Formaten (4.1.1), veranschaulichen diese kulturellen Werte anhand von Beispielgeschichten (4.1.2) und animieren die kulturellen Orientierungen in szenischen Animationen (4.1.3). Darüber hinaus übernehmen sie stellvertretend die Perspektive fiktiver Repräsentanten anderer Kulturen um die handlungsleitende Orientierung an den Werten zu demonstrieren (4.1.4). Mit dem „Introspektiven Sprechen“ (4.1.5) geben sie kund, welche Gedanken, Gefühle und Interpretationen Befremdungen der eigenen kulturellen Orientierungen auslösen können und erlauben sich dabei auch ethnische Stereotypisierungen, die sie allerdings perspektivisch reflektieren (4.1.6). Wie verschiedene Figuren in einem Tanz reflektieren und wechseln die Leiterinnen die kulturellen Perspektiven (4.1.7) und ermöglichen so einen mehrperspektivischen Blick auf eine Situation, die je nach kulturellem Wertehintergrund unterschiedlich ausgelegt werden kann. Mit der „Transkulturellen Analogie“ schließlich vermitteln die Leiterinnen den Teilnehmenden eine ‚Gefühlserfahrung‘, mit der sie in anderskulturelle Orientierungen hinein spüren können (4.1.8). Die multiperspektivischen Aktivitäten lassen sich als eine Form „Transkulturellen Sprechens“ begreifen, das typische wiederkehrende und damit beschreibbare Strategien beinhaltet, mit denen der kulturelle Referenzhorizont ausgelotet, gewechselt und reflektiert werden kann (4.1.9). Diese Strategien, die auch als „Rahmenarbeit“ zusammengefasst werden können, so argumentierte das nächste Unterkapitel, werden nicht beliebig eingesetzt, sondern stehen im Dienste der Lernziele (4.2). D. h. die Gespräche werden systematisch gelenkt, also im Hinblick auf den Umgang mit Erwartungen geführt, und Teilnehmerbeiträge werden dementsprechend initiiert. Basis für die Deutungshoheit der Seminarleiterinnen sind zwei Grundorientierungen, an die sich alle Anwesenden halten und wie sie aus der Unterrichtsforschung bereits bekannt sind, der institutionalisierte Sprecherwechsel und die Bewertungsorientierung der Beteiligten (4.2.1). Im Unterschied zu Bildungsinhalten wie beispielsweise der Mathematik gibt es beim interkulturellen Lernen allerdings nicht wirklich ‚falsche‘, sondern höchstens unzureichende kulturgebundene Deutungen, wofür die binnenkulturelle Sicherheit in pädagogischer Absicht irritiert wird. Die Trainerinnen initiieren daher verschiedene Erwartungsbrüche. Vermittelst Rätselinszenierungen ‚locken‘ sie die Teilnehmenden in die Verunsicherung (4.2.2) und mit Hilfe von selektiven Bewertungen (4.2.3) und
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Kontrastierungsstrategien (4.2.4) führen sie Erwartungsbrüche herbei. Ziel der Übungen ist das Verstehen von und das Verständnis für anderskulturelle Verhaltensweisen. Befremden des Vertrauten und Vertraut machen mit etwas zuvor Fremden scheinen einander zu bedingen und so können vermittelst des Rahmenmanagements Erwartungsstrukturen modifiziert, d. h. Deutungsrahmen verschoben und Emotionen umorganisiert werden (4.2.5). Die bis dahin gezeigte Gesprächsführung beim interkulturellen Lernen wirkt leichter als sie in der Praxis tatsächlich ist. Im nächsten Unterkapitel widmete ich mich den Herausforderungen für die kulturreflexive Deutungsarbeit, welche in den kollektiven kulturgebundenen Bewertungen – insbesondere ethnischen Stereotypen – besteht (4.3). Da in den interkulturellen und antirassistischen Bildungsveranstaltungen notwendig klassifiziert, kategorisiert und verallgemeinert werden muss, stellte sich zunächst die Frage, woran man Stereotypisierungen erkennen kann (4.3.1). Auf der Basis vorangegangener Forschungsarbeiten konnte ich zusammenfassend an der interaktiven Dynamik, die der Stereotypenkommunikation nachweislich inne ist, zeigen, worin die moralische Brisanz dieser Pauschalisierungen sowie deren kollektive Resistenz gegen Kulturreflexivität besteht (4.3.2). Die charakteristischen kommunikativen Elemente der Stereotypenkommunikation werden im Anschluss im Überblick dargestellt (4.3.3). Die Gefahr des Elizitierens von Stereotypen ist stets gegeben, Inhalte und Thematisierungsformen in interkulturellen Trainings bieten hinreichend viele Gelegenheiten, die schwer überwindbaren Ethnische Stereotypisierungen aufzurufen (4.3.4). Mit verschiedenen Strategien gelingt es den Leiterinnen allerdings, die ‚Geister, die sie riefen‘ wieder zu bändigen. Eine Variante ist die enge, lernzielorientierte Rahmenkontrolle (4.3.5). Affiliativer ist die Strategie der Perspektivenrelativierung, bei der die Leiterinnen auf der Beziehungsebene im Kontakt mit den Teilnehmenden bleiben, die Gültigkeit der Bewertungsaussage auf der Sachebene jedoch perspektivisch einschränken (4.3.6). Kulturgebundene Bewertungen sind hartnäckig, daher bemühen sich die Trainerinnen um permanente Perspektivenreflexion, bevor die Teilnehmenden in kollektive Stereotypisierungen verfallen können (4.3.7). Je unmittelbarer kulturgebunden bewertet wird, desto direkter ist bisweilen auch die pädagogische Intervention der Trainerinnen. Sie finden dem jeweiligen Kontext angemessene Interventionen aus dem Fundus des transkulturellen Sprechens. Gelegentlich setzen die Leiterinnen ihre ganze Autorität mit entsprechenden Fachbezeichnungen ein, um kulturgebundene Erklärungen zu modifizieren (4.3.8). Bei heftigen Gefühlsäußerungen geben sie den Teilnehmenden über transkulturelle Analogien die Möglichkeit, sich emotional in die bewertete Verhaltensweise einzufühlen (4.3.9). Keineswegs gehen die Trainerinnen im Hinblick auf kulturgebundene Bewertungen und Stereotypisierungen immer defensiv vor.
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Über die Aktivität des introspektiven Sprechens elizitieren sie auch Stereotypen, um sie mit den Anwesenden zu reflektieren (4.3.10). Besonders kunstvoll ist die pädagogische Stereotypenreflexion vermittelst eingesetzter Modalitätswechsel. Sie ermöglichen allen Beteiligten über eigene stereotype Zuschreibungen zu lachen und ihre kategorialen Inferenzen zu reflektieren (4.3.11). Als Rahmenüberschneidungen können auch subtile prosodische Modulationen reflexiv wirken, die Leiterinnen unterstützen dadurch die Teilnehmenden, neue Bewertungsperspektiven einzunehmen (4.3.12). Zusammengefasst konnten diese Strategien des Rahmenmanagements, der Rahmentransformation, Erzeugung von Rahmenbrüchen und -reflexion als Ermöglichen „Transformativen Lernens“ gefasst werden, da durch diese kommunikativen Aktivitäten im Umgang mit Stereotypisierungen, die kollektiven kulturellen Konnotations- und Assoziationsketten in ihren Prämissen in Frage gestellt werden (4.3.13). Im vierten Unterkapitel arbeitete ich das Spezifikum der Herausforderungen in dem mir vorliegenden Antirassismus-Seminar heraus. Stehen beim interkulturellen Lernen kulturgebundene kategoriale Bewertungen bis hin zu abwertende Verallgemeinerungen im Zentrum der Reflexionsarbeit, so ist in der Antirassismus-Arbeit jegliche Klassifizierung, die Eigenes und Fremdes unterscheidet, unter Verdacht, rassistisch zu sein (4.4). Dies ist keine theoretische Überlegung, sondern zeigte sich in den Daten in Form eines verbal konstruierten ‚Generalverdachts‘, dessen Wirkung darin besteht, dass das rituelle Gleichgewicht in der Interaktion gestört wird und die Teilnehmenden daraufhin mehr mit Imagepflege als mit Selbstreflexion beschäftigt sind (4.4.1). Bei der Suche nach und bei der Identifizierung von Verantwortlichen, die daraufhin entsteht, versuchen die Beteiligten, sich zu rechtfertigen (4.4.2) oder über „Selfund We-blamings“ ihre moralische Integrität wieder herzustellen (4.4.3). Auch wechselseitige Beschuldigungen (4.4.4) und Other-blamings (4.4.5) sind Mittel der Imagekorrektur. Die Folgekosten des ex- und implizit schwelenden Generalverdachts führen sogar entgegen unserer kulturellen Maßgabe, sich nicht selbst zu loben, zu positiven Selbstdarstellungen bei den Anwesenden (4.4.6). Gleich mehrere kategoriale Zugehörigkeiten der allesamt ‚weiblichen‘ und bis auf eine Ausnahme ‚deutschen‘ Anwesenden werden zum Kommunikationsproblem, das zeigt der affektgeladene und die Bedingungen der Achtungskommunikation signalisierende Ausbruch einer der Teilnehmerinnen (4.4.7). Erst wenn eine unbeschadete lokale Identität in Form einer unverdächtigen Kategorie wie ‚Mütter‘ oder ‚Arbeitnehmerin‘ jenseits von Ethnizität konstruiert wurde, sind die Bedingungen der Achtungskommunikation für die Anwesenden wieder hergestellt. Eine anerkannte positive soziale Positionierung im Gespräch scheint die Bedingung für die transformative Reflexionsleistung zu sein, welche das Thema allen Beteiligten abverlangt (4.4.8). In den daraus abgeleiteten
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Konsequenzen und konkreten Empfehlungen wird deutlich, dass die Ergebnisse dazu beitragen können, in der Pädagogik wie im Alltag so zu kommunizieren, dass interkulturelles Lernen zu jeder Zeit möglich ist, und sie zeigen, wie Vergesellschaftung in der globalisierten Welt über kulturreflexives Sprechen gefördert wird (4.5).
5.2 „Für uns sieht die Welt so aus“: Wie interkulturelles Lernen möglich ist200 Mit der in Seminaren der Erwachsenenbildung geleisteten Gesprächsarbeit im Fokus war ich auf der Suche nach Antworten auf die Frage, wie interkulturelles Lernen ‚möglich ist‘. Hierbei identifizierte ich eine Reihe eng mit dem Interkulturellen Lernen verwobene ‚To Do’s‘ (im Sinne eines zu lösenden Problems, einer zu bearbeitenden Aufgabe). Ich habe die Notwendigkeit, Kultur ständig im Transkulturellen Sprechen als Referenzhorizont reflektieren zu müssen, ein interaktives „Problem“ genannt, weil diese permanente Reflexionsanforderung eine spürbare Hürde in der vertrauten Art und Weise des Sprechens darstellt (4.1). Die damit verbundene pädagogische „Aufgabe“ stellt sich den Leiterinnen ebenso wie den Teilnehmenden, nämlich die Veränderung der Erwartungsstrukturen (4.2). Eine „Herausforderung“ an die Moderations- und Gesprächsführungskompetenz bilden die ethnozentrischen, in Form moralischer Kommunikation interaktiv reproduzierten Stereotypisierungen (4.3). Als regelrechten „Fallstrick“ für das Lernen kann man den Rassismusverdacht bezeichnen, weil er die (kollektiven) Identitäten der Beteiligten beschädigt (4.4). Zugleich konnte ich in den Datenanalysen zeigen, dass die Beteiligten im Zuge des Interkulturellen Lernens beschreibbare Lösungen für diese To Do’s hervorbringen. Wie das zur Illustration aller vier Aspekte herangezogene Zitat aus den Daten zeigt, handelt es sich bei diesen kommunikativen Problemlösungen nicht um disparate Phänomene, sondern um Perspektiven, die – wenn die Überlegungen stimmen – auch miteinander einhergehen können. Interkulturelles Lernen ist nach meinem jetzigen Ergebnisstand möglich unter folgenden Bedingungen:
200 Zitat aus dem Transkript Nr. 35 „POLYCHRON MONOCHRON“ (IKK I) in Kapitel 4.3.7. Diese pädagogische Intervention enthält in multifunktionaler Weise die gefundenen Lösungen.
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1.
Der (kulturelle) Referenzhorizont wird reflektiert vermittelst des Transkulturellen Sprechens : „Für uns sieht die Welt so aus“
Das erste und grundsätzliche Problem, das sich beim Interkulturellen Lernen auftut, ist die Irritation der natürlichen Grundannahme jeglicher sozialer Begegnung: der Reziprozität der Perspektiven. Die fraglose Gegebenheit der vorausgesetzten Normalität ist nicht mehr gegeben – das ist natürlich auch das inhaltliche Thema der interkulturellen Weiterbildungsveranstaltungen. Zunächst zeigten die Analysen, wie mit verschiedenen Strategien des Transkulturellen Sprechens multiperspektivisch Wahrnehmungs-, Zuordnungs- und Bewertungswechsel vollzogen werden. Der Referenzhorizont einer Kultur wird damit ‚überschritten‘ bzw. jegliche Perspektive wird reflektiert und dadurch relativiert. Interkulturelles Lernen ist möglich, wenn etwas im Bewusstsein mehrerer (kultureller) Referenzhorizonte gedeutet wird, was ein gewissermaßen (noch) ‚unnatürliches‘, weil ständig perspektivenreflexives Sprechen relevant macht. 2.
Die Gesprächsführung verschmilzt Fremdes und Eigenes zielabhängig in gemeinsamen Deutungs- und emotionalen Erwartungsrahmen („Für uns sieht die Welt so aus“)
Bestenfalls verändert und erweitert Pädagogik individuelle und kollektive Deutungen. Diese Option ist als Reduktion von Rahmendifferenzen zwischen den LeiterInnen und den Teilnehmenden in der pädagogischen Gesprächsführung grundsätzlich angelegt. Damit verbunden ist das Problem, dass es kein ‚richtiges’ oder ‚falsches’ Wissen, sondern nur unterschiedliche Erwartungsstrukturen gibt. Beim Interkulturellen Lernen werden außerdem nicht nur individuelle Bedeutungsmuster berührt, die Aufgabe ist vielmehr, in situ kollektive Erwartungshaltungen zu verändern und damit Umbewertungen von in den primären Rahmen eingelassenen emotional verankerten Erfahrungen zu befördern. Dies kann durch ein lernzielorientiertes Rahmenmanagement gelingen, das die Grenzen zwischen Fremdem und Vertrautem verwischt. 3.
Kollektive moralisierende Bewertungsmuster wie Ethnische Stereotypisierungen werden nicht ‚aufgeklärt’, sondern durch Prämissenreflexion in Form von Rahmentransformationen bewegt: „Für uns sieht die Welt so aus“
Zu den großen Herausforderungen beim Interkulturellen Lernen gehören Ethnische Stereotypen. Mehr als kulturgebundene und abwertende Urteile sind sie, wie die Analyse der Stereotypenkommunikation gezeigt hat, Formen moralischer Kommunikation und damit auch kollektive, sich in der Interaktion zeigende Lernhindernisse. Im Kontext des interkulturellen Lernens längst
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reflexiv geworden, antizipiert ihre kollektive Reproduktion also Einwände. Die pädagogischen Interventionen zeigten jedoch, dass selbst hier ein Erkennen der Kulturgebundenheit der Ableitungen und damit der Prämissen möglich ist, insbesondere Rahmenmodulationen können transformatives Lernen ermöglichen. 4.
Es werden im Gespräch interaktiv anerkannte soziale Positionierungen jenseits ethnischer Zugehörigkeiten realisiert, um diese Reflexionsleistungen vollziehen zu können: „Für uns sieht die Welt so aus“
Spätestens mit der Behandlung des Rassismusthemas wird ein radikale, das heißt bis auf die Wurzel der Selbst- und Fremdunterscheidung gehende Selbstüberprüfung kollektiver Bewertungsperspektiven relevant. Der darin implizierte „Generalverdacht“ kann sich als echter Fallstrick für das Interkulturelle Lernen erweisen, wenn die Beteiligten keine legitime, positive und interaktiv anerkannte Identität als soziale Positionierung im Gespräch mehr haben. Sie wird benötigt, damit die Bedingungen der Achtungskommunikation gewährleistet sind und individuelles wie kollektives Lernen möglich wird. In nuce: Interkulturelles Lernen wird durch Gesprächsarbeit ermöglicht, wenn sie permanent perspektivenreflexiv ist, rahmenbewusst Erwartungsmanagement betreibt, Rahmen kollektiv moduliert und transformiert und kollaborativ soziale Positionierung jenseits ethnischer Zugehörigkeiten herstellt. 5.3 Konsequenzen und Empfehlungen für die kulturreflexive Gesprächsführung Unserer alltäglichen natürlichen Weltauffassung ist die umfassende Dimension des „selbstgesponnenen Bedeutungsgewebes“ (Geertz 1983: 9) von Kultur nicht präsent. Kultur erscheint als Regelwerk für Etikette oder als folkloristische Besonderheit, manchmal auch als unveränderbare personenabhängige Mentalität, selten aber als interaktive Praxis, die alle Beteiligten beständig reproduzieren. Hier kann man nun mit dem induktiv gewonnenen Wissen um die erforderlichen Formen des kulturreflexiven Lernens arbeiten. Für die Gesprächsführung sind im Anschluss daran – gleich in welchem Kontext – folgende Aspekte zu berücksichtigen, um interkulturelles Lernen zu vollziehen. 1.
250
Permanente Kulturreflexivität beachten: Der größte Reflexionsschritt ist, die als selbstverständlich erlebten Wirklichkeitsinterpretationen als konstruierte und perspektivische Deutungen auszudrücken, also kulturreflexiv zu denken und zu formulieren. Kulturreflexivität heißt, sich stets bewusst zu sein, dass jegliches Wahrnehmen, Empfinden, Interpretieren und Handeln auf
(sub-)kulturellen Deutungen basiert und nicht neutral sein kann. Immer schon werden Interpretationen, Bewertungen oder gar Urteile zur Komplexitätsreduktion eingesetzt, die also zu hinterfragen sind. 2.
Perspektiven und Sprechpositionen explizit benennen: Will man im Zuge dessen transkulturell sprechen, so ist die jeweilige kategoriale Bezugnahme hinzuzufügen und Sprechpositionen und Perspektiven sind explizit zu benennen. Ich spreche dann also nicht als Kirsten Nazarkiewicz, sondern ggf. als Deutsche, Frau, Person, mit polnischem Migrationshintergrund, Wissenschaftlerin, Trainerin, Mensch etc. Auch deiktische Referenzen wie „wir“, „hier“, „bei uns“ usw. sind in dieser Weise zu explizieren. Wie bereits erwähnt, sind wir im Alltag zwar in der Lage, diese kategorialen Referenzen „mit zu hören“, doch ist genau dieser Vorgang präreflexiv. Kulturreflexives Sprechen bedeutet, die Zuordnungen ins Bewusstsein und ins Gespräch zu holen und damit transparent und verhandelbar zu machen.
3.
Perspektivenreflexive Interventionen setzen: Das konsequente Bewusstsein der eigenen Perspektive bedeutet eine De-Ontologisierung201 und hebt den Konstruktionscharakter sowie die Vielfalt möglicher Interpretationen hervor. Da die Multiplizierung von Deutungspositionen ungewohnt ist, wird es immer wieder zu Äußerungen mit nicht explizierten Voraussetzungen oder Zuschreibungen und verkürzten Bewertungen kommen. Hier gilt es, die Perspektive zu erfragen oder hinzuzufügen und damit bereits einen entscheidenden interkulturellen Lernschritt zu vollziehen. Speziell im pädagogischen Setting laufen an diesen verengten Deutungen inhaltliche Erklärungen ansonsten ins Leere, da die kulturreflexive Grundhaltung noch gar nicht eingenommen ist.
4.
Metakommunikation praktizieren: Die perspektivenreflexive Formulierungsarbeit in Form des transkulturellen Sprechens führt dazu, dass die eigene und die fremde Rede und damit das „doing culture“ durchgängig metakommunikativ kommentiert werden. Die Selbstbeobachtung ordnet die Sprechenden dann den jeweils ihrer selbst bewussten Gemeinschaften zu und hilft zu unterscheiden, welche Kategorie in Anspruch genommen wird. Metakommunikative Kompetenz hilft, die Komplexität im Auge zu behalten. Im Training ist es empfehlenswert, diese Reflexionsebene gezielt einzuführen und von Anfang an zu betonen, dass der Blick auf die Welt im
201 Die Beteiligten wollen z. B. wissen, wie es in China „ist“. Wenn das Alltagsbewusstsein das Thema Kultur reflektiert, dann erscheinen Kulturen als geschlossene Entitäten und jeweils gegebene Praxis, nicht als kollektive und veränderbare Bedeutungskonstruktionen.
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Kontext des Trainings ausschließlich unter gruppenspezifischen Aspekten erfolgt und dass weder das „allgemein menschliche“ noch die individuelle Perspektive dadurch obsolet werden. Im Alltag hilft diese Differenzierung dabei, die eigenen vielfältigen Identitäten und Zugehörigkeiten sowie die damit verbundenen Implikationen für die Kommunikation verfügbar zu machen. Zugleich „repariert“ die Metakommunikation eventuell auftauchende Störungen des natürlichen, nicht kulturreflexiven Gesprächs. 5.
Kognitivistischen Bias antizipieren und korrigieren: Die Analysen zum Umgang mit Erwartungsbrüchen zeigen, dass interkulturelles Lernen in der Transformation von einsozialisierten kollektiven Gefühlslagen besteht. Erst das über Verunsicherung ermöglichte „Umfühlen“ führt zu jener Modifikation der Interpretationen, welche einen tatsächlich empathischen Perspektivenwechsel ermöglicht. Interkulturelles Lernen, ob im pädagogischen oder alltäglichen diskursiven Handeln, darf also nicht kognitivistisch verkürzt werden. Aufklärungsversuche oder die Vermittlung größerer Mengen an Informationen und ‚Fakten‘, wie sie in den Seminaren von den TeilnehmerInnen häufig erfragt werden, führen nicht zu jener Erschütterung symbolischer Deutungen, die erforderlich ist, um einen transkulturellen Perspektivwechsel zu vollziehen. Es geht beim interkulturellen Lernen weniger um fehlendes Wissen als um ein Vertrautmachen. Es bedarf des Vorschussvertrauens und der Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, indem man sich auf eine zunächst fremde, also nicht reziproke Situation einlässt.
6.
Kategoriengebundenes von stereotypem Sprechen unterscheiden: Nicht jede kulturgebundene Interpretation ist bereits ein Stereotyp. Fehldeutungen aufgrund eines unpassenden Referenzhorizonts unterscheiden sich in ihrer Interaktionsdynamik deutlich von kollektiven, mit Ressentiments aufgeladenen Stereotypisierungen. Ungewohntes und als „merkwürdig“ empfundenes Verhalten kann bei entsprechender Erläuterung auf der Basis von Kulturkenntnis leicht umgedeutet werden. Affektgeladene Muster zur Stabilisierung kollektiver Weltdeutungen und Abwehrstrategien indes lassen sich nicht einfach „aufklären“ und widerstehen den Versuchen, mit Hilfe von Informationen korrigiert zu werden. Insofern ist es wichtig, den Unterschied in der Kommunikation und Interaktion zu (er-)kennen, was anhand der Analyseergebnisse möglich ist.
7.
Bewertungen (nur) zitieren: Wer kulturreflexive Gesprächsarbeit vollziehen will, kommt nicht umhin, Bewertungen zu produzieren. Sich neutral zu
252
verhalten, ist im interkulturellen Diskurs schlechterdings nicht möglich, ohne die Gesprächsteilhabe zu verlieren und die Gesprächspartner kognitiv zu hegemonialisieren. Nur über bewertende Interpretationen hat man Anteil an den diversen moralischen Gemeinschaften und demonstriert, dass man die Perspektive(n) teilen, also empathisch nachvollziehen kann. Die Lösung liegt nicht in der Neutralität, sondern in der Allparteilichkeit. Transkulturelles Sprechen macht es möglich, an Bewertungen anzuschließen und empathisch auf sie einzugehen, ohne sie zu reproduzieren. Mittels der entsprechenden perspektivenreflexiven Rahmungen können sie zugleich als kulturgebundenes Zitat markiert werden. 8.
Moralisierungsangebote annehmen, um kulturreflexiv zu intervenieren: Für die Stereotypenkommunikation gilt dementsprechend, dass politisch korrektes Verhalten, wie z. B. die Vermeidung von Stereotypen oder die eigene Enthaltsamkeit bei der kollektiven Stereotypenkommunikation, ebenfalls nicht hilfreich ist. Vielmehr ist interkulturelles Lernen nur möglich, wenn Stereotypen nicht unterdrückt, sondern kommuniziert und damit bearbeitbar werden. Ebenso wie bei kulturgebundenen Bewertungen ist es die Rahmung, die entscheidet, ob Stereotypen schlechterdings reproduziert oder nur referiert werden. Im letzteren Fall beteiligt man sich am Gespräch, markiert, dass der inhaltliche Teil bekannt ist, ohne das unterliegende Ressentiment emotional zu ratifizieren. Die mögliche Beteiligungsform zur Bearbeitung der Stereotypen liegt dann in der Solidarisierung mit den Gesprächsbeteiligten auf der Beziehungs- und Erlebensebene bei gleichzeitiger kulturreflexiver Distanzierung in Form der beschriebenen Interventionen.
9.
Gezielt Stereotypen enttabuisieren, um sie zu transformieren: Den Anhängern der Political Correctness dürfte die Praxis der Tolerierung und sogar Elizitierung von Stereotypen zum Zwecke ihrer Bearbeitung gefährlich erscheinen. Doch die umfassenden Analysen zeigen, dass Stereotypisierungen längst reflexiv geworden sind, dass also den Beteiligten das Tabu, Stereotypen zu äußern, bekannt ist. Enttabuisieren bedeutet nicht, Stereotypen ungehinderten Lauf zu lassen, sondern ihre Existenz – ebenso wie die von kulturgebundenen Bewertungen – zuzugestehen, um gemeinsam neue Deutungsmöglichkeiten zu erschließen. Erst dieses anschmiegende Verfahren ermöglicht jene emotionale Eingebundenheit und Anerkennung, die benötigt wird, um sich selbst zu reflektieren.
10. Beschädigungen des Images und der rituellen Ordnung vermeiden: Eine Schlussfolgerung aus den Analyseergebnissen ist, dass Selbstverdächtigun-
253
gen oder Fremdbeschuldigungen im Zusammenhang mit zu reflektierendem Rassismus lernhinderlich sind. Sie erzeugen eine Dissonanz zwischen dem Wissen um die Unzulänglichkeit von Abwertungen und ihrem Schädigungspotenzial einerseits und dem emotionalen Bedürfnis nach anerkannten und interaktiv legitimierten kollektiven Identitäten andererseits. Folglich sind alle Formen von Verdächtigungen, moralischen Bewertungen und Hierarchie erzeugenden Korrekturen dysfunktional. 11. Legitime Sprechpositionen ermöglichen: Ebenso wenig förderlich ist die Reduktion der Beteiligten auf eine sie beschreibende Identitätskategorie und Zugehörigkeit. Kollektives und individuelles Interkulturelles Lernen auf der Basis von kognitiver Selbsterkenntnis und emotionaler Einsicht gelingen nur, wenn die Anwesenden eine positiv besetzte soziale Sprechposition und lokale Identität bestätigt finden. Dann lässt sich der zu reflektierende, in der Regel der ethnische Identitätsanteil mit seinen Einflussgrößen betrachten und bearbeiten.
In der konsequenten Ableitung der Bedingungen der Möglichkeit für interkulturelles Lernen zeigt sich die soziologische Relevanz der Überlegungen für unsere Identität(en). Zur Vergemeinschaftung der Individuen in der transkulturellen Verfasstheitunserer Gesellschaft gehören spezifische Formen der Kommunikation. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Wertegemeinschaften und deren Inkompatibilität ist außerdem nicht nur ein Thema zwischen Individuen, die sich begegnen, sondern Fremdheit als Wechselverhältnis findet auch innerhalb, quasi im Binnenverhältnis der Teilidentitäten des Individuums statt. Welche Folgerungen sich daraus für die hybride Identitätsbildung ergeben, sei weiterführenden Untersuchungen überlassen. Die in dieser Arbeit vorgestellten, anhand der Fragestellung ausgewählten Datensequenzen und die aus ihrer Analyse abgeleiteten Antworten und Ergebnisse erwecken den Anschein, dass interkulturelles Lernen gezielt vollzogen, systematisch durchgeführt wird und stets erfolgreich ist. Das Gegenteil ist der Fall. In der Mehrheit der Fälle ‚scheitert‘ das interkulturelle Lernen, d. h. die Teilnehmenden äußern oder zeigen keine kulturreflexiven Deutungen im Anschluss an die Bemühungen um transkulturelles Verstehen. Sie bestehen auf einem exklusiven Deutungshorizont, verteidigen ihre Perspektiven und Bewertungen und beanspruchen Selbstkategorisierungen und kollektive Identitäten, die sie als unhinterfragbar präsentieren. Es bedurfte einer akribischen Suche, um aus dem Material diejenigen Stellen herauszufiltern, welche die Forschungsfrage beantworten können. Umso wegweisender sind die Ergebnisse.
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Sie erlauben einen Ausblick auf diejenigen Formen kommunikativen Handelns, die in einer globalisierten Welt erforderlich sind, um Verständigung zwischen Menschen zu ermöglichen, die verschiedenen Wertegemeinschaften angehören, unterschiedliche Deutungspraktiken haben oder sich über Fragen mit ethischen Implikationen einigen müssen. Die induktiv gewonnenen Ergebnisse geben einige Hinweise darauf, was im Bezug auf die Konstruktion von kollektiven symbolischen Weltdeutung zu tun und zu beachten ist. Doch wie stets werfen gefundene Antworten weitere Fragen auf. Theorieinteressierte vermissen mit Recht weitergehende Reflexionen und Thesen, GesprächsanalytikerInnen dürften ohne Frage bedauern, dass viele Phänomene nicht erwähnt, nicht weitreichend genug analysiert und an die bestehende Forschung angebunden worden sind, und diejenigen, die in der Praxis stehen, suchen berechtigterweise, aber vergeblich weitere aus den Ergebnissen abgeleitete Handlungsempfehlungen. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten interkulturellen Lernens ist daher noch lange nicht beantwortet und stellt sich auf immer komplexere Art und Weise.
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280
Anhang: Transkriptionskonventionen202 Sequenzielle Struktur A: also B: wenn wir A: also= B: =ich würde
Überlappungen schneller Anschluss
Sprechpausen (.)
Mikropause, kurzes Absetzen
(-) / (--) / (---)
kurze Sprechpausen (jeder Strich repräsentiert 0.25 Sekunden)
(1,0) / (1,25) etc.
Sprechpausen (in Sekunden)
Darstellung paraverbaler Phänomene sag=ich >
Der paraverbale Deskriptor bezieht sich auf den Text zwischen öffnender Klammer () und schließender Klammer (>)
aber 2>
Wenn mehrere paraverbale Phänomene sich überlappen, warden die zusammengehörenden Klammern durch hochgestellte Nummern gekennzeichnet (im Beispiel ist „okay mach mal” mit tiefer Stimmme gesprochen und „okay” wird zusätzlich laut gesprochen)
Veränderungen der Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit ... >
mezzoforte, etwas lauter als normal
forte, laut
fortissimo, sehr laut
... >
mezzopiano, etwas leiser als normal
202
Modifiziert nach Gesprächsananlytisches Transkriptionssysteme (GAT). Selting, Margret et al. (1998): „Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT)“. Linguistische Berichte 173, S. 91-122.
281
piano, leise
pianissimo, sehr leise
allegro, schnell
lento, langsam
crescendo, lauter werdend
diminuendo, leiser werdend
accelerando, schneller werdend
rallentando, langsamer werdend
Tonhöhenbewegungen so,
End-Intonation leicht ansteigend
so?
End-Intonation stark ansteigend
so;
End-Intonation leicht fallend
so.
End-Intonation stark ansteigend
al´so
Tonhöhe zum Ende der Silbe leicht abfallend
al`so
Tonhöhe zum Ende der Silbe leicht steigend
n
Tonhöhensprung nach oben / hoher Ansatz
p
Tonhöhensprung nach unten / tiefer Ansatz
tiefe Stimme
hohe Stimme
Andere paraverbale Phänomene naJA
Betonung
ja: / ja:: / ja:::
Dehnung, je nach Dauer
sagn=wer=mal
Verschleifungen, Zusammenziehung von Silben
aber'
Glottalverschluss (Abbruch)
.h / .hh / .hhh
Einatmen, je nach Dauer
h / hh / hhh
Ausatmen, je nach Dauer
282
als(h)o
Lachpulse beim Sprechen
((lacht)) ((Schnalzlaut))
Para- und nonverbale Aktivitäten
((klopft auf den Tisch)) ja >
staccato, sehr kurz / abgehackt gesprochen
Verständnisprobleme (dann)
unsichere Transkription
a(b)er / (n=)moment
vermuteter Sprechtext / Silbe
(aber / auch)
alternative Hörweisen
(
unverständliche Passage, je nach Dauer
)
Sonstige Konventionen (…)
Auslassung im Transkript
283